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A S C H H E I M
1992) erörtert.
2 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 bis Herbst 1886, K G W VIII 2 [57]
( = K S A 12.87 f.). [Der Autor zitiert nach dem „Willen zur Macht" in der Übersetzung v o n
Walter K a u f m a n n , New York 1 9 6 8 - d. Übers.].
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 385
3 Es gibt eine endlose Zahl an zeitgenössischen Beispielen, die das belegen. Auf den „höheren"
Ebenen des Diskurses wurde dies am besten von Heidegger illustriert, der anfangs den Nazis-
mus (und Faschismus) als im wesentlichen nietzschesche Entwürfe, als die radikalsten Versuche,
den westlichen Nihilismus zu überwinden, betrachtet hat. „Es ist [...] bekannt", sagte er in
seinen im Sommersemester 1936 gehaltenen Vorlesungen über Schelling, „daß die beiden Män-
ner, die in Europa von der politischen Gestaltung der Nation bzw. des Volkes her — und zwar
in je verschiedener Weise — Gegenbewegungen [sc. zum Nihilismus — d. Ubers.] eingeleitet
haben, daß sowohl Mussolini wie Hitler von Nietzsche wiederum in verschiedener Hinsicht
wesentlich bestimmt sind und dieses, ohne daß dabei der eigentliche metaphysische Bereich des
Nietzscheschen Denkens unmittelbar zur Geltung käme". (Martin Heidegger, „Schelling: Vom
Wesen der menschlichen Freiheit (1809)", in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 42 (II. Abteilung, Vorle-
sungen 1919 — 1944, Freiburger Vorlesung Sommersemester 1936), hrsg. von Ingrid Schüßler,
Frankfurt / M. 1988, 40 f. [Der Autor zitiert nach Thomas Sheehan, „Heidegger and the Nazis",
in: New York Review of Books 16 (Juni 1988) - d. Übers.]
4 Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, 598. Das Werk wurde 1952 vollendet,
beruhte aber auf Aufsätzen, die Lukäcs in den 30er und 40er Jahren geschrieben hatte.
5 Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton (New Jersey) 1950.
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6 Unsere Kultur ist überflutet mit diesem Nietzsche. Die Werke all der oben erwähnten Autoren
sollten dazu konsultiert werden. Als typische Beispiele dieser Art unter vielen vgl. Clayton Koelb
(Hrsg.), Nietzsche as Postmodernist: Essays Pro and Contra, Albany 1990; David B. Allison (Hrsg.),
The New Nietzsche: Contemporary Styles of Interpretation, Cambridge (Mass.) 1985.
7 Zu Kaufmanns Entstellung von Nietzsches machtpolitischen Dimensionen vgl. Walter Sokel,
„Political Uses and Abuses of Nietzsche in Walter Kaufmann's Image of Nietzsche", in: Niet%-
sche-Studien 12 (1983), 4 3 6 - 4 4 2 .
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 387
ist. 8 Es gibt, denke ich, Anzeichen dafür, daß — vielleicht mit dem langsamen
Ableben des dekonstruktionistischen Denkens — nicht nur in Deutschland, son-
dern auch anderswo eine andere Wendung oder ein Umdenken einzusetzen be-
gonnen hat, das auf einer entwickelteren, qualifizierteren Grundlage imstande
sein wird, diese Frage ernsthaft anzugehen. Der vorliegende Aufsatz ist ein
Versuch, dieser erneuerten Diskussion Rechnung zu tragen.
Natürlich werden bestimmte Passagen und Urteile Nietzsches Klarheit dar-
über schaffen, ob wir ihn mit dem Nazismus in Verbindung bringen sollen. Und
auf der anderen Seite werden bestimmte Interpretationen des Nationalsozialis-
mus unsere Bereitschaft stärken, ihn in dessen Konturen einzubeziehen. Aber
die Schwierigkeit, sich hier überhaupt eine Meinung zu bilden, hängt auch mit
der äußerst belasteten Natur des Gegenstandes zusammen. Immerhin bleiben
sowohl Nietzsche als auch der Nationalsozialismus zentral für die Erfahrung
des 20. Jahrhunderts und für unser Kultur-, Ideologie- und Selbstverständnis.9
Und dieser Aufsatz beschäftigt sich natürlich mit der Verquickung beider in ihrer
explosivsten Dimension: nicht mit der allgemeinen Frage der Wechselbeziehung
zwischen Nietzsche und dem Dritten Reich (dies habe ich anderenorts ausführ-
lich dargelegt 10 ), sondern mit den Verbindungen zwischen dem Philosophen
und dem radikalen Judenhaß ebenso wie mit den möglichen Verbindungen zwi-
schen seinem Denken und dem Völkermord-Projekt (und den anderen größeren
Massenmorden), das die dunkelste Seite des Dritten Reichs ausmachte.
Wie kann der Historiker mit solch umstrittenen Themen umgehen, und
welche Annahmen und Materialien muß er zum Tragen bringen? Jeder, der auch
nur etwas vertraut ist mit Nietzsches politischer und kultureller Wirkungsge-
schichte, wird wissen, wie mannigfaltig, eindringlich und widersprüchlich sie war.
Es ist klar, daß keine „unmittelbare", ursächlich direkte Beziehung unterstellt
oder nachgewiesen werden kann. Es wäre ein Irrtum, Nietzsches äußerst zwei-
deutiges, proteisches, biegsames Werk auf eine Essenz zu reduzieren, die eine
einzige, klare und autoritative Bedeutung besäße und in einer linear bestimmten
historischen Richtung wirkte. Es kann kein feststehendes Bild des „authenti-
schen" Nietzsche geben noch eine dogmatische Gewißheit über seine eigentliche
Intention. Offensichtlich entscheiden die essentiaüstischen Darstellungen so-
wohl Kaufmanns als auch Lukäcs' — Nietzsches Denken dort innerlich antithetisch
8 Der in dieser Hinsicht relevanteste Text ist Habermas' Buch „Der philosophische Diskurs der
Moderne", Frankfurt / M. 1985. Habermas erklärte 1968 voreilig, daß Nietzsche „nichts Anstek-
kendes mehr" habe, um dann ein beträchdiches Maß an Zeit darauf zu verwenden, die Seuche zu
bekämpfen. Was seine zeitlich verfehlte Proklamation betrifft, vgl. seine Schrift „Zu Nietzsches
Erkenntnistheorie" in: Friedrich Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt / M. 1968 [der
Aufsatz wurde von Habermas in die 5., erweiterte Aufl. seines Buchs Zur Logik der So^ialwissen-
schafien, Frankfurt / M. 1982 aufgenommen; das „voreilige" Zitat steht auf S. 505 - d. Übers.].
9 „Nietzsche and National Socialism", in: Michael 13 (1993), 1 1 - 2 7 ; vgl. besonders 11.
10 Vgl. The Nietzsche Legacy in Germany, besonders die Kapitel 8 — 10 und das Nachwort.
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11 Μ 205 (KSA 3.180 f.). Die gesamte Stelle ist voller Zweideutigkeiten, verbunden mit Ehrfurcht,
Abscheu und Furcht.
12 Zu neueren Versuchen, Nietzsches Auffassungen über Juden und Judentum im Verhältnis zu
seiner gesamten Philosophie zu untersuchen, vgl. Arnold M. Eisen, „Nietzsche and the Jews
Reconsidered", in: Jewish Social Studies 48. 1 (1986); Μ. F. Duffy / Williard Mitdeman, „Nietzsche's
Attitude toward the Jews", in: Journal of the History of Ideas 49. 2 (1988); Jacob Golomb, „Nietz-
sche's Judaism of Power", in: Revue des etudes juives 147 (1988).
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den konnten (und wandten viel Zeit auf, um die Stellen, die mit ihrer eigenen
bestimmten Anschauung nicht vereinbar waren, Punkt für Punkt wegzuerklä-
ren). Völkische* Antisemiten, die Nietzsche für sich beanspruchen wollten, hat-
ten sich damit auseinanderzusetzen, daß er kein Nationalist war, ja daß er viel-
leicht der erklärteste Kritiker der Deutschen seiner Zeit und vor allem der frei-
mütigste Gegner des antisemitischen „Schwindels" war. Die Basis seines Begriffs
Ressentiment umkehrend, brandmarkte er eben die Herden-, die Massenbewegung
des Antisemitismus selbst als eine Art Sklavenrevolte.13 Um den Antisemiten
noch eins draufzugeben, verschwendete er mehr als jeder andere europäische
Denker ausschweifendes Lob an das Alte Testament: „Alle Achtung vor dem
Alten Testament! In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft
und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des
starken Her^enr, mehr noch, ich finde ein Volk. Im Neuen dagegen lauter kleine
Sekten-Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges,
Wunderliches."14 Und ebenso pries er die vergleichbaren Eigenschaften der eu-
ropäischen Juden seiner eigenen Zeit: „Die Juden unter bloßen Deutschen im-
mer die höhere Rasse -", notierte er, „feiner, geistiger, liebenswürdiger ... L'ado-
rable Heine sagt man in Paris."15
Diese positiven jüdischen Botschaften Nietzsches ließen sich leicht auflesen
und verbreiten (und genau das taten viele in der jüdischen Gemeinschaft unent-
wegt16). Und dies war denn auch der Grund dafür, daß viele Antisemiten von
der Zeit des Zweiten Reichs an und auch während der Nazi-Periode Nietzsche
entweder gänzlich ablehnten (Theodor Fritsch, Dietrich Eckart und Ernst
Krieck sind nur die bekanntesten von vielen Beispielen) oder, wo sie sich seine
Ideen aneigneten, dies in eingeschränkter, selektiver Weise taten (ζ. B. Adolf Bar-
tels, Wilhelm Schallmeyer, Heinrich Haertle).17 Selbst die vielen Antisemiten
und Nazis, die mit ganzem Herzen Nietzscheaner waren (u. a. Franz Haiser,
Ernst Wachler, Alfred Schuler, Ludwig Klages und Alfred Baeumler), waren
sich bewußt, daß für Nietzsches pro-jüdische Kommentare und seine beißende
Verachtung des politischen Antisemitismus kasuistische Erklärung vonnöten
war. Variationen über dieses Thema wurden in Überfülle geboten: Der wahre
13 Vgl. ζ. B. GM III 14. Vgl. auch Yirmiyahu Yovel, „Nietzsche, the Jews and Ressentiment", in:
Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche's On the Genealog) of
Morals, Berkeley 1994, 2 1 4 - 3 6 . Siehe insbes. S. 224!
14 GM III 22 (KSA 5.393).
15 Es handelt sich um einen von Nietzsche wieder fallengelassenen Entwurf für eine Passage aus
EH. Unmittelbar zuvor heißt es: „Wer mich heute in Deutschland liest, hat sich gründlich vorher,
gleich mir selber, entdeutscht: man kennt meine Formel ,gut deutsch sein heißt sich entdeut-
schen' oder ist - keine kleine Distinktion unter Deutschen - jüdischer Herkunft." (KSA
14.482).
16 Ich habe all das behandelt in: „Nietzsche and the Nietzschean Moment in Jewish Life
(1890-1939)", in: Leo Baeck Institute Yearbook 37 (1992).
17 All diese Variationen sind in The Nietzsche Legacy dargestellt.
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18 Auch dies war gängige Meinung. Vgl., um nur ein Beispiel zu nennen, „Friedrich Nietzsche und
die Modernen", in: Deutsche Zeitung, Nr. 10294 vom 28. August 1900.
19 Alfred Baeumler, Nietzsche als Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 158.
20 Ebd., 157.
21 Heinrich Römer, „Nietzsche und das Rasseproblem", in: Rasse: Monatsschrift fiir den nordischen
Gedanken 7 (1940), 63.
22 Wiederum sei hier nur eine Quelle angeführt: Kurt Kassler, Nietzsche und das Recht, München
1941, 74 ff.
23 Franz Overbeck, „Kirchenlexikon, Nietzsche und das Judentum" (Nachlaß Basel A 232), in:
R. Brändle / E. Stegmann (Hrsg.), Fran^ Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München
1988. Ich danke Hubert und Hildegard Cancik für diesen Hinweis.
24 GM I 7.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 391
Verlangen, „um jeden Preis" zu überleben, „das verhängnisvollste Volk der Welt-
geschichte". Ihre Sünde war unbegreiflich abscheulich, sie war
die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen
inneren Welt so gut als der äusseren [...] sie schufen aus sich einen Gegensatz-
Begriff zu natürlichen Bedingungen, — sie haben, der Reihe nach, die Religion,
den Cultus, die Moral, die Geschichte, die Psychologie auf eine unheilbare
Weise in den Widerspruch deren Natur-Werthen umgedreht [...] in ihrer Nach-
wirkung haben sie die Menschheit dermaassen falsch gemacht, dass heute noch
der Christ antijüdisch fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische Consequent^ zu
verstehn. 25
Sicher bezog sich Nietzsche in der Hauptsache auf die Priester-Periode, aber
die Kraft der Texte selbst ließ dies ziemlich untergehen, und interessierte Aneig-
ner hielten sich gewiß nicht mit solchen scholastischen Unterscheidungen auf!
(Es mag auch sein, daß Nietzsches Unterscheidung zwischen den Hebräern und
dem — priesterlichen — Judentum demselben Gegensatz zwischen Vitalität und
Dekadenz entsprach, den er zwischen dem vor- und nachsokratischen Griechen-
land aufstellte. Dies mag der Fall gewesen sein oder nicht, doch in bezug auf
Wirkungsgeschichte und politische Konsequenzen bildeten die Griechen im Eu-
ropa des späten 19. Jahrhunderts nicht eine politisch verletzliche und bedrohte
Minorität, noch besaß Athen dieselbe negative emotionale Wertigkeit, die das
Problem der Juden und des Judentums im Deutschland dieser Zeit umgab. Es
kann keine vergleichbare Nietzscheanische ethnische Anti-Alexandria-Bewegung
identifiziert werden.)
Es waren diese radikalen Themen, die von extremen Antisemiten und be-
stimmten Nazi-Parteigängern aufgegriffen wurden und die deren Alltagsrhetorik
prägten. Der Nationalsozialismus, schrieb Heinrich Römer 1940, sei Nietzsches
kardinaler Einsicht verpflichtet, daß Israel die natürlichen Werte entnatürlicht
habe. Die klare Implikation war, daß Nationalsozialismus als die Gegenbewe-
gung betrachtet werden sollte, die zur Wiederherstellung der natürlichen Werte
führte. 26 Für solche Kommentatoren bestand die Bedeutung von Nietzsches
antichristlicher Haltung in ihrer anti-jüdischen Basis. Sein Schluß, daß das Chri-
stentum die letzte jüdische Konsequenz gewesen sei und daß es die Verbreitung
der jüdischen „Blutvergiftung" (Nietzsches Worte) bewirkt habe 2 7 , machte die
Juden zum schicksalhaftesten Volk der Weltgeschichte. Das judaisierte Christen-
tum sei, wie ein Anhänger, Hans Eggert Schröder, sagte, „unter dem Gesichts-
punkt des antirassischen Prinzips gegen das Rassige" „Ausdruck [...] des Ras-
senzerfalls, der Dekadenz". 28 In dieser Weise fand Nietzsche — nach diesen
nietzscheanischen Nazis — seinen Weg zum Rasseproblem und schließlich zur
Lösung einer Rassenhygiene in dem Versuch, „diesen grandiosen Kampf ...
gegen tausendjährigen Niedergang und Entartung" 29 aufzunehmen.
Diese Art von Rhetorik spielte auf jeder Ebene des Nazi-Diskurses mit, und
wenn sie auch nicht die einzige Quelle war, so diente sie doch dazu, schon
vorhandene antisemitische Kräfte zu kanalisieren, zu stärken und signifikant zu
radikalisieren. Freilich ist es fast sicher, daß Hider Nietzsche niemals direkt oder
doch sehr wenig gelesen hat. 30 Nichtsdestoweniger verbanden sich seine Gedan-
ken, Aussprüche und Reden klar mit einem popularisierten Nietzscheanismus,
wie er während und nach dem Ersten Weltkrieg zu ihm herabgesickert war.
Eine bestimmte brutalisierte nietzscheanische Münze war zur Basiswährung der
radikalen Rechten in dieser Periode geworden. Sie war es, die er selektiv benutzte
und in seine melange mischte, die seine eigentümliche Art zu denken bestimmte. 31
Historische Transmissionsriemen — die Arten, auf die Gedanken, Ideen,
Stimmungen und Empfinden in Politik übersetzt werden — sind in der Tat
komplex, und das, was ich bisher gesagt habe, soll nicht bedeuten, daß eine
kausal gerade Linie zwischen Nietzsche, seinen Epigonen und der Vernichtung
des europäischen Judentums gezogen werden könnte. Wie wir bereits herausge-
stellt haben, war Nietzsches Einfluß wie seine Schriften: immer multivalent und
niemals simplizistisch auf eine einzelne politische oder kulturelle Strömung oder
Richtung reduzierbar. 32 Gleichwohl bin ich der Meinung, daß diese Texte und
das vermittelte Empfinden, das sie verkörpern konnten, Bedeutung für das in
Rede stehende Problem besitzen. Sie machten einen ausdrücklichen Bestandteil
dieser Art von antisemitischem Bewußtsein und eine besonders radikale Weise,
28 Hans Eggert Schröder, Nietzsche und das Christentum, Berlin-Lichterfelde 1937, 75.
29 Römer, Nietzsche und das Rasseproblem, 64.
30 Hitlers Jugendfreund, August Kubizek, behauptet in seinen Memoiren Hitler: mein Jugendfreund
(Graz 1953), daß der junge Hider Nietzsche zwar gelesen, sich jedoch kein Werk des Philoso-
phen in seinem Bücherschrank befunden habe (obschon er einen kleinen Band enthielt, den
Himmler ihm gewidmet hatte, mit dem Titel Von Taätus bis Nietzsche). Vgl. Robert L. Waite,
Hitler: The Psychopathic God, New York 1977, 62.
31 Selbst wenn man nicht die vielen von Nietzsche inspirierten Hider-Zitate aus den heute eher
angezweifelten Schriften von Hermann Rauschning beachtet, so wird dies ganz offensichtlich
in Hitlers Tischgesprächen im Führerhauptquartier 1941- 1942, von Henry Picker geordnet, eingeleitet
und veröffentlicht, Bonn 1951.
32 Die ganze Tendenz meines Buches The Nietzsche Legacy in Germany (1890- 1990) geht dahin, die
vielschichtige, oft widersprüchliche Natur von Nietzsches Einfluß und die Unmöglichkeit, die-
sen auf eine „wesentliche" politische Richtung oder Position zu reduzieren, hervorzuheben.
Dies sollte hier immer im Auge behalten werden. Die vorliegende Untersuchung behandelt
bewußt nur einen Strang dieses Einflusses.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 393
33 Conor C. O'Brien, The Siege. The Saga of Israel and Zionism, London 1986, 59. Vgl. allgemein 57 — 59
und 85.
34 AC 24 (KSA 6.193).
35 George Lichtheim, Europe in the Twentieth Century.; London 1974, 185 f.
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men, als dem Originaltext latent innewohnend betrachtet werden kann. So ist
es, wenn es auch fragwürdig sein mag, Marx die Verantwortung für den Archipel
Gulag aufzubürden oder Nietzsche die Schuld für Auschwitz zu geben, nichtsde-
stoweniger wahr, daß ihre Schriften als Rechtfertigungen für diese Schrecken
fehlgedeutet werden konnten in einer Art, wie es etwa die Schriften von John
Stuart Mill oder Alexis de Tocqueville nicht konnten". 36 Jacques Derrida, ob-
gleich er so sehr ein Teil des „neuen" Nietzsche ist, den wir zu Beginn unserer
Untersuchung erörtert haben, hat dennoch in ähnlicher Weise für eine gewisse
komplizierte Komplizenschaft argumentiert. Man könne eben nicht alles verfäl-
schen, sagt er. Und er macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, mit der Mög-
lichkeit dieser mimetischen Inversion und Perversion zu rechnen:
Verbietet man sich, aus der Unterscheidung von unbewußten und absichtlichen
Programmen ... ein absolutes Kriterium zu machen, berücksichtigt man beim
Lesen eines Textes nicht nur das — bewußte oder unbewußte — Meinen, dann
muß die pervertierende Vereinfachung das Gesetz ihrer Möglichkeit in der
Struktur des „verbleibenden" Textes haben ...; [dann] gibt es nichts absolut
Kontingentes in der Tatsache, daß die einzige Politik, die ihn wirklich wie ein
höchstes und offizielles Banner geschwenkt hat, die Nazi-Politik war. Damit
sage ich nicht, diese „nietzschesche" Politik sei die einzige je mögliche, auch
nicht, daß sie der besten Lektüre des Erbes entspricht, und nicht einmal, daß
die, die sich nicht darauf bezogen, ihn besser gelesen haben. Nein. Die Zukunft
des Textes Nietzsche ist nicht abgeschlossen. Aber wenn in den noch offenen
Umrissen einer Epoche die einzige nietzscheanisch genannte (sogenannte) Po-
litik eine Nazi-Politik gewesen ist, ist das notwendig signifikant und muß in
seiner ganzen Tragweite befragt werden.
Nicht das wir wüßten oder zu wissen glaubten, was der Nazismus ist, und von
daher „Nietzsche" und seine große Politik wiederzulesen hätten. Ich glaube
nicht, daß wir den Nazismus schon zu denken wüßten. Diese Aufgabe bleibt
vor uns und die politische Lektüre des nietzscheschen Körpers oder Korpus
gehört dazu.37
Allerdings haben andere Historiker und Denker, von denen Berel Lang das
jüngste Beispiel ist, das genaue Gegenteil behauptet, indem sie meinten, daß
Ideen zwar wesentlich sind, wenn man den nazistischen Drang zum Völkermord
erfassen will, daß aber, was Nietzsches geschichtliche Nachwirkung betrifft, es
sich um ein Beispiel von falscher Aneignung handelt, nicht von Ableitung und
noch nicht einmal von Anschluß: „Weit entfernt, aus den Prämissen von Nietz-
sches Standpunkt zu folgen, sind die gezogenen Schlußfolgerungen mit diesen
36 Martin Jay, „Should Intellectual History Take a Linguistic Turn? Reflections on the Habermas-
Gadamer-Debate", in: ders., Fin-de-siecle Sodalism, New York 1988, 33.
37 Jacques Derrida, Otobiographies: L'enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris 1984.
Deutsch: J. D., Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens, übers, von Friedrich
A. Kittler, in: M. Frank, F. A. Kittler, S. Weber (Hrsg.), Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch fir
Text-Analytik, Olten/Freiburg i. Br. 1980, 6 4 - 9 8 , 90 f.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 395
unvereinbar. Rekonstruiert man sich gedanklich die Ereignisse, die zu dem natio-
nalsozialistischen Völkermord an den Juden geführt haben, ohne den Namen
oder die Gegenwart Nietzsches, so wird man an dem Bild fast nichts ändern
müssen." 38
Dies scheint mir absolut nicht überzeugend. Gewiß hat Nietzsche viele —
entgegengesetzte — politische und kulturelle Tendenzen durchdrungen; aber
eine außerordentlich große Zahl von historischen Figuren selbst (viele Nazis
und ihre Gegner) sowie auch ungezählte spätere Kritiker haben, mehr oder
weniger differenziert, eine tiefgehende Verwandtschaft und thematische Kompli-
zenschaft Nietzschescher Impulse mit dem definitiven Tabubrechen, dem Über-
alle-Grenzen-Hinausgehen und den zum Programm gemachten mörderischen
Trieben des Nazismus festgestellt. Sicherlich sollten nicht nur die Gemeinsam-
keiten, sondern auch die Unterschiede hervorgehoben werden. Es ist bemer-
kenswert, daß zahlreiche Opfer des Nationalsozialismus eine solche Beziehung
zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus in ähnlicher Weise intuitiv
erfaßt haben und daß ein Auschwitz-Uberlebender, Primo Levi, (ob erfolgreich
oder nicht) sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die abgrenzenden Unter-
schiede festzustellen suchte. Es lohnt sich, ihn hier in Gänze zu zitieren:
„Weder Nietzsche noch Hitler, noch Rosenberg", schrieb er, als ob die Be-
ziehungen zwischen ihnen gänzlich klar wären,
„waren irrsinnig, als sie sich selber und ihre Anhänger mit der Verkündigung
des Mythos vom Ubermenschen berauschten, dem alles in Anerkennung seiner
zum Dogma erhobenen angeborenen Überlegenheit erlaubt ist. Aber die Tatsa-
che ist nachdenkenswert, daß alle, der Meister wie seine Schüler, nach und
nach die Wirklichkeit hinter sich gelassen haben, und zwar in dem Maß, wie
sich ihre Moral zunehmend von jener ablöste, die allen Zeiten und Kulturen
gemeinsam und Teil unseres menschlichen Erbes ist und die wir letzten Endes
denn doch anerkennen müssen.
Die Rationalität verschwindet, die Schüler haben ihren Meister gerade in der
Anwendung sinnloser Gewalt übertroffen (und verraten!). Die Lehre Nietz-
sches stößt mich zutiefst ab, ich habe Mühe, darin eine Behauptung zu finden,
die nicht einhergeht mit dem Gegenteil dessen, was ich gern denke; sein Ora-
kelton ist mir zuwider. Und doch, so scheint mir, taucht darin niemals das
Verlangen nach dem Leid des Nächsten auf. Wohl Indifferenz, beinahe auf
jeder Seite, aber niemals Schadenfreude* und noch viel weniger die Freude dar-
über, jemandem absichtlich Leid zuzufügen. Der Schmerz des Pöbels, der Un-
gestalteti*, der unedel Geborenen ist ein Preis, den man für die Heraufkunft des
Reichs des Auserwählten zu zahlen hat; er ist ein geringes Übel, aber ein Übel
bleibt es; er ist nicht wünschenswert an sich. Ganz anders waren Lehre und
Praxis der Hider-Zeit." 39
38 Berel Lang, Act and Idea in the Na^i Genocide, Chicago and London 1990, 197 f.
39 Primo Levi, „Sinnlose Gewalt", in: ders., Die Untergegangenen und die Geretteten, aus d. Italienischen
von Moshe Kohn, München 1990, 107 f.
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396 Steven Ε. Aschheim
40 Vgl. S. 110 und überhaupt das ganze Kapitel „Ressentiments" in Jean Amerys erstaunlichem
Buch Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Uberwältigten, Neuausgabe Stuttgart 1977.
Wir sollten erwähnen, daß Amery Nietzsches Theorie des Ressentiments umformte in eine
positive Tugend zur Aufrechterhaltung eines ethischen Bewußtseins gegenüber den „natürlichen"
Prozessen der Zeit und des Vergessens begangener, aber nicht eingestandener Verbrechen.
41 Robert J. Lifton, The Na^i Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide, London 1987; vgl.
bes. 1 5 - 2 7 , Kap. 21 und S. 486.
42 GM III 14 (KSA 5.368).
43 ΜΑ I , 224 (KSA 2.187 ff.).
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 397
44 Vgl. dazu meinen Aufsatz „Max Nordau, Friedrich Nietzsche and Degeneration", in: Journal of
Contemporary History 28. 4 (October 1993).
45 Vgl., was die politisch unterschiedliche Anwendung des Begriffes und seine weite Verbreitung
betrifft, Daniel Pick, Faces of Degeneration: Α European Disorder, 1848— 1918, Cambridge 1989.
46 Za I (Von der schenkenden Tugend 1). Hervorhebung von Nietzsche.
47 Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, K G W VIII 15[110] (KSA 13.470).
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398 Steven Ε. Aschheim
48 Nachgelassene Fragmente Oktober 1888, K G W VIII 23[10] (KSA 13.611 f.). Mit derartigen Gefühlen
ist das ganze Nietzschesche Werk übersät. Vgl. den sog. Willen ^ur Macht passim, Za I Vom freien
Tode (auch wenn hier die Freiheit zu sterben betont wird) und GM III 14.
49 Zu Beispielen dafür vgl. The Nietzsche Legacy, 161, 163, 243 f.
50 Ich arbeite zur Zeit an einer Studie über „Nazism and Western Consciousness 1933 — 1993",
die versuchen wird, diese verschiedenen Analysen zu untersuchen und in ein kontextuales und
konzeptionelles System einzuordnen.
51 Christopher Browning, Ordinary Man: Reserve Police Bataillon 101 and the Final Solution in Poland,
New York 1992.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 399
den Versuch, eine saubere, ordentliche Mittelstandswelt gegen all jene Außensei-
ter und abweichende Gruppen zu bewahren, die sie zu bedrohen schienen.52
Diese Untersuchungen enthalten wertvolle Einsichten, lassen m. E. aber
wichtige Erfahrungsgrößen außer acht, die eng mit der nietzscheanischen Di-
mension zusammenhängen und die zumindest einen Teil des Bildes ausmachen
müssen. An dem einen oder anderen Punkte mußte denen, die als Vordenker
oder als Täter an diesem Ereignis beteiligt waren, klar werden, daß hier etwas
ganz Außerordentliches, noch nie Dagewesenes vor sich ging und daß die or-
dentlichen Mittelstandsmenschen radikal Grenzen überschreitende, tabubre-
chende, ganz „unbürgerliche" Taten begingen.53 Selbst wenn wir die problemati-
sche Behauptung, daß solche Taten begangen wurden, um bürgerliche Interes-
sen und Werte zu verteidigen, durchgehen ließen, wollten wir doch mehr wissen
über die stimulierenden, radikalisierenden Auslöser, die den Entscheidungsträ-
gern und den Tätern in gleichem Maße ermöglicht haben, diese Richtung einzu-
schlagen und die Tat zu tun. Zu meinen, es sei nur der „Rassismus" gewesen,
wirft die Argumentation einen Schritt zurück; denn „Rassismus" mußte — ob-
gleich er immer verderbenbringend ist — selbst erst völkermörderisch werden (für
gewöhnlich geht er einher mit der Politik von Emigration, Separation, Verskla-
vung und Willkür-Herrschaft oder auch Paternalismus).
Das Problem der radikalisierenden, auslösenden Kraft bleibt. Es mag viele
solcher Kräfte gegeben haben; aber mir scheint, daß Nietzsches entschiedener
Antihumanismus (ein Atheismus, der, wie George Lichtheim bemerkte, sich vom
Feuerbachschen Versuch unterschied, Theismus durch Humanismus zu erset-
zen54) und seine apokalyptischen Vorstellungen und visionären Warnungen dazu
beitrugen, solch eine Möglichkeit, solch einen Akt allererst denkbar zu machen (oder
zuallermindest — bei entsprechend selektiven Lesarten — die geeignete ideologi-
sche Hülle dafür zu schaffen). Diese Nietzschesche Art zu denken, zu reden
und zu fühlen bildet eine wichtige (wenn nicht die einzige) dauerhafte Vorbedin-
gung für derlei radikale Elemente im Nazismus.
Mit all seinen Affinitäten zu einem älteren Konservativismus machte die
radikal experimentelle, Moral provozierende, Tradition zerstörende Nietzsche-
52 George L. Mosse, Nationalism and Sexuality: Respectability and Abnormal Sexuality in Modern Europe,
New York 1985.
53 Dies ist jüngst interessant von Saul Friedländer untersucht worden, in: „,The Final Solution':
On the Unease in Historical Interpretation", in: ders., Memory, History, and the Extermination of
the Jews of Europe, Indiana 1993; vgl. bes. 110.
54 George Lichtheim, Europe in the Twentieth Centuty, 186. Zu oft ist dies ausschließlich und ideolo-
gisch in Bezug gesetzt worden zu dem in Nietzsches „Atheismus" angeblich innewohnenden
Niedergang, der den Menschen zu unbegrenzter Macht befähigt habe, durch die er, da nichts
mehr heilig war, die totale Erlaubnis zum Töten hatte. Diese Position kann hier nicht gestützt
werden, weil mit diesen Ereignissen, wie ich denke, eine Bewegung verbunden ist, die gegen die
Aufklärung und antihumanistisch orientiert war, die aber nicht eine Säkularisierungsbewegung
per se war.
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400 Steven Ε. Aschheim
Nachwort
Ich habe absichtlich bisher Ernst Noltes sehr wichtige und oft äußerst ein-
sichtsreiche Analyse der Nietzsche-Holocaust-Verbindung (und des Anstoßes
55 Kurt Rudolf Fischer, „Nazism as a Nietzschean Experiment", in: Nietzsche-Studien 6 (1977), 121.
56 GM II 17 (KSA 5.324).
57 GM I 16 (KSA 5.288).
58 GM II 17 (KSA 5.324 f.).
59 Zu einer guten Auswertung dieser verschiedenen Seiten vgl. Hans Sluga, Heidegger's Crisis: Philoso-
phy and Politics in Ναζί Germany, Cambridge (Mass.) 1993.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 401
zum Völkermord im allgemeinen) übergangen, weil sie, wie ich glaube, eine Art
von Fallstudie in sich selbst darstellt und zugleich die Art und Weise beleuchtet,
in der unsere Auffassungen Nietzsches gewöhnlich in größere politische Frage-
und Zielstellungen eingebunden sind und sich unter sie trefflich unterordnen
lassen. In seiner Interpretation, beginnend mit dem inzwischen zum Klassiker
gewordenen Buch „Der Faschismus in seiner Epoche" von 1963 60 , wird Nietz-
sche als die entscheidende Gestalt einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit
der bürgerlichen und der marxistischen „Realisierung" dargestellt. Er vor allem
verkörpere den Drang nach einer sinnenfrohen „Renaturalisierung" der Welt
und weise auf die Schaffung eines neuen, gänzlich nicht-dekadenten Menschen.
Das Nietzschesche und das Nazi-Projekt werden so praktisch identisch. „Es
wird deutlich", schrieb Nolte, daß Hider „von ,etwas' besessen war und daß
dieses ,etwas' alles andere als ein Beiläufiges und Bedeutungsloses darstellte" 61 .
Als „Abschluß eines Weltalters" 62 war Hider in der Tat die radikalste Manifesta-
tion einer Kraft gewesen, die am besten von Nietzsche artikuliert wurde. 63
In dieser Sicht war der Begriff der Zerstörung oder Ausrottung — der Ver-
nichtungsgedanke*, wie Nolte es ausdrückt — bestimmt, zum Zentrum von Nietz-
sches Spätphilosophie zu werden. 64 Es lohnt, ihn in diesem Zusammenhang in
extenso zu zitieren:
Es zeigt sich, daß der Begriff der Realisierung Nietzsches eigentlicher Gegner
ist, ihn vor allem wollen Termini wie „ressentiment", „decadence", oder „Ge-
samt-Entartung" treffen. Philosophisch gibt es offenbar nur eine Gegenkon-
zeption von unangreifbarer Entschiedenheit: es ist der Begriff des ganz und
gar nicht dekadenten Menschen, des „Raubtiers, der prachtvoll nach Beute und
Sieg lüstern schweifenden blonden Bestie", der prachtvollen Animalität des
„Rudels blonder Raubtiere" [...]
Es läßt sich kaum bezweifeln, daß sich Nietzsches ganzes Denken als radikaler,
von der Logik der eigenen Konsequenzen unerbitdich getriebener Gegenzug
gegen die Marxsche Konzeption darstellt und daß der Vernichtungsgedanke
den negativen Aspekt seines innersten Kerns darstellt. Denn wenn die Ge-
schichte nicht Verwirklichung ist, sondern ein jahrtausendealtes Attentat, dann
kann nur die Vernichtung des Attentäters die Dinge wieder ins Lot bringen.
Nietzsche ist nicht in einem banalen Sinne der geistige Vater des Faschismus.
Aber er bringt als erster und in umfassendster Weise jenes spirituelle Zentrum
zu Wort, auf das hin aller Faschismus gravitieren muß: den Angriff auf die
praktische und die theoretische Transzendenz, aber um einer „schöneren" Ge-
stalt des „Lebens" willen. 65
Die Ausrottungen durch die Nazis ließen sich so am besten verstehen als
der „verzweifeltste" (und wesentlich Nietzscheanische) „Angriff, der je gegen
das menschliche Wesen und die Transzendenz in ihm geführt wurde" 66 . Obwohl
Nolte selbst die Verbindungen, wie wir bereits gesehen haben, nicht aufgezeigt
hat, ähnelte dies in der Tat sehr der Art, in der verschiedene Nietzscheanische
Nazi-Quellen ihr eigenes Vorhaben definierten — als die Schöpfung einer imma-
nenten, renaturalisierten und anti-transzendenten Gesellschaft.
In einem viel späteren Werk hat Nolte die speziell jüdische Wende, die der
Nazismus diesem Nietzscheschen Entwurf gegeben hat, herausgestellt. Was Hit-
ler mit dem Wort „Jude" meinte, schrieb Nolte in seinem umstrittenen Buch
„Der europäische Bürgerkrieg 1917 — 1945" von 1988, war jener
Komplex von wachsender Naturbeherrschung und Naturentfremdung, von In-
dustrialisierung und Handelsfreiheit, Emanzipation und Individualismus, den
erstmals Nietzsche und nach ihm einige Lebensphilosophen wie Ludwig Kla-
ges und Theodor Lessing für eine Gefährdung des Lebens erklärt hatten. Hitler
hat also den gleichen weltgeschichtlichen Prozeß im Auge, der für Marx zu-
gleich Fortschritt und Niedergang gewesen war, jenen Prozeß, den man die
Intellektualisierung der Welt nennen könnte. Aber trotz einiger Ansätze waren
Marx und Nietzsche, Lessing und selbst Klages immer weit von der Behaup-
tung entfernt geblieben, es lasse sich eine konkrete, menschliche Ursache dieses
Prozesses aufweisen. Hitler jedoch tat diesen Schritt, der eine radikale Umkeh-
rung aller bisherigen Ideologie war, [...] weil er einer Menschengruppe die
Macht zuschreibt, einen transzendentalen Prozeß hervorzurufen. 67
65 A. a. O., 533 f.
66 A. a. O., 512. In seinem Buch Bluebeard's Castle: Some Notes towards the Re definition of Culture
(London 1971) bringt George Steiner eine ziemlich ähnliche These. Obwohl er Nietzsche in
diesem Zusammenhang nicht nennt, stellt er den Holocaust als ein Ereignis dar, das motiviert
worden sei durch die Wut auf die Schwächung durch Moralität und Gewissen und durch den
Glauben, daß letztere „eine jüdische Erfindung" [a Jewish invention] gewesen seien (35 ff.). Aber
Steiner begrenzt seine respektvolle Behandlung Nietzsches nicht auf diese implizit vorhandene
Dimension. Denn wo Nietzsche explizit angeführt wird, wird er es nicht als geistiger Wegberei-
ter, sondern eher als einer, der dieses Ereignis vorhergesagt und glänzend diagnostiziert habe (38
und 42), weil er sich (wie Kierkegaard) der barbarisierenden — viel mehr als humanisierenden —
Eigenschaften, die der Kultur innewohnen, stark bewußt gewesen sei (63 — 64).
67 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917— 1945: Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frank-
f u r t / M . 1987, 514 f.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 403
zentriert sich Nolte auf das Wesen des „Vernichtungs"-Denkens und -Sprechens
im Nietzscheschen Corpus. Und wieder wird Nietzsches positive Suche nach
„Lebensbejahung" verbunden mit seiner Forderung nach brutaler Zerstörung
jener lebensverneinenden, „emanzipatorischen" Formen, die verantwortlich
seien für die vorherrschende Decadence, Degeneration und für den gesamten
Niedergang der Vitalität. 68 Nolte nimmt eine (bisweilen unbeachtete) Stelle aus
dem Ecce homo (Die Geburt der Tragödie 4) als herausragendes Beispiel für derlei
Intentionen:
W e r f e n wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, dass mein
Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung gelingt.
Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüch-
tung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose
Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben
auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand
wieder erwachsen muss. 6 9
68 Ernst Nolte, Nietzsche und der Niet^scheanismus, Frankfurt / M. — Propyläen, 1990, 192 f.
69 KSA 6.313. Bei Nolte, Nietzsche ..., 193 f. Man beachte auch, daß Nolte dieses Zitat bereits in
Der Faschismus in seiner Epoche angeführt hat (533).
70 Nolte, Nietzsche . . . , 1 9 5 .
71 In Der Faschismus in seiner Epoche hat Nolte in einer ziemlich obskuren Passage auf dieses Thema
hingewiesen. Der positive Aspekt von Hitlers und Nietzsches Ideen, schrieb er, sei gewichdos
geblieben „vor der Konkretheit des negativen Willens. Dem politischen radikalen Antimarxismus
des Faschismus hat Nietzsche Jahrzehnte zuvor das geistige Urbild gegeben, dem selbst Hitler
sich niemals voll gewachsen zeigte" (535).
72 Nolte, Nietzsche ..., 195.
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404 Steven Ε. Aschheim
worden war" 73 . Was die Geschichte nicht „natürlich" beenden konnte, sollte
durch eine menschliche Vernichtungs-Agentur vollzogen werden. Den Fall
Nietzsche beschreibt Nolte mit folgenden (sehr unklaren) Begriffen: Nietzsches
Konzeption mußte eine „unreine" Gestalt annehmen, als klar wurde, „daß nicht
die wenigen Starken die vielen Schwachen vernichteten, sondern daß die Vielen
sich als Bedrohte selbst zu Starken machen wollten und eine biologische, ja
meta-biologische Vernichtung ins Werk setzten, welche die Menschheit und vor-
nehmlich deren Herren- und Uberrasse gegen das gefährlichste aller Attentate
[...] sichern und insofern erlösen sollte."74
Der Philosoph erscheint hier als ein zentraler Protagonist, als Prophet von
Noltes allumfassender Vision des weltgeschichtlichen Bürgerkriegs* im 20. Jahr-
hundert, des Krieges zwischen den dialektisch verbundenen Kräften des Bol-
schewismus und des Nationalsozialismus. Hier fungiert Noltes Nietzsche als
Vorhersaget* des großen Bürgerkrieges und des Konzepts einer unausweichlichen
Vernichtung. Bezeichnenderweise webt er dieses Vernichtungskonzept in seine
chronologische und substantielle Darstellung der Beziehung zwischen diesen
zwei geschichtlichen Kräften und ihren destruktiven Tendenzen ein. Danach sah
sich der Kulturmensch Nietzsche, „gleichsam gegen seinen Willen gezwungen,
[...] den großen Weltbürgerkrieg vorherzusehen und für eine Partei dieses Bür-
gerkrieges das Vernichtungskon^pt zu schaffen, welches das Gegenkonzept zu
einem anderen und ursprünglicheren Vernichtungsgedanken war" 75 . Nietzsche
ist jetzt eingebunden in Noltes dubiose Reduktion des Nazismus und seiner
Grausamkeiten auf eine Reaktion auf eine frühere marxistische Version dessel-
ben Gedankens 76 , indem der Holocaust als eine Art Vorwegnahme deutscher
Selbstverteidigung dargestellt wird, als eine Präventivmaßnahme gegen das Be-
wußtsein jüdischer (bolschewistischer) Völkermordpläne.77
Die Möglichkeiten, Nietzsche zu verwenden, sind, wie es scheint, nach wie
vor unvorhersagbar und unerschöpflich.
73 Ebd., 269.
74 Ebd., 269.
75 Ebd., 89. Nolte schreibt, daß Marx und Nietzsche gegensätzliche Konzeptionen entwickelten,
die an die Bedingungen der Zeit gebunden waren und die „nicht eigentlich Bürgerkriegskonzep-
tionen sein wollten. Sie mußten aber dazu werden, sobald ein entscheidender Schritt zur Realisie-
rung hin getan wurde" (ebd., 276).
76 Nolte hat sich übrigens genau in der Art von zweifelhafter ideologischer Rezeptionsgeschichte
verfangen, die für seine „essentialistische" Geschichtsbetrachtung charakteristisch ist. Bei seiner
Konzeption — zu betrachten, wie es dazu kommen mußte, daß Nietzsche zum Verfechter der
Partei des Lebens wurde — kann er nur Verwunderung darüber äußern, daß „der Begriff der
.Partei des Lebens' ... nirgendwo" auftaucht „und die nicht ganz seltenen Erörterungen über
,Marx und Nietzsche' ... am ehesten von dem Gegensatz zwischen dem ,Kollektivisten' und
dem .Individualisten'" handeln (ebd., 268).
77 Vgl. Noltes „A Past that will not Pass Away", in: Yad Vashem Studies 19 (1988), 71.
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