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STEVEN Ε .

A S C H H E I M

Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord*

Jede Generation konstruiert sich ihren eigenen, ihr am meisten passenden


Nietzsche — oder ihre Nietzsches. In den Jahren des Dritten Reichs (und unmit-
telbar danach) schien Nietzsche auf paradigmatische Weise ein Nazi zu sein
(wobei der Nationalsozialismus sich am besten als eine Art nietzscheanisches
Projekt verstehen zu lassen schien)1. Nationalsozialisten und ihre Gegner kon-
vergierten darin, daß Nietzsche der Denker war, der die Bewegung am meisten
prägte und beeinflußte, der Visionär einer biologistischen Lebensphilosopbie*-Ge-
sellschaft, die gespeist wurde von auf Erneuerung zielenden, postdemokrati-
schen, postchristlichen Impulsen, mit denen den Schwachen, Gebrechlichen und
Nutzlosen das Recht auf Dasein abgesprochen werden sollte. Für die in dieser
Weise an Nietzsche Interessierten fanden sich jede Menge prophetischer The-
men und passende Zitate. „Es wird von nun an", schrieb Nietzsche, „günstige
Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, deren Gleichen
es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das Wichtigste; es ist die
Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, wel-
che sich die Aufgabe setzten, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünfti-
gen ,Herren der Erde' [...] die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen
wird."2
Der paradigmatische Nietzsche der 30er, 40er und frühen 50er Jahre des
20. Jahrhunderts war also der Nietzsche, der als entschiedenster und zuinnerst
vollendeter Nazi-Denker betrachtet wurde. Natürlich hat es auch abweichende
Stimmen (inner- und außerhalb des Nazi-Lagers) gegeben; aber die vorherr-
schende Meinung war, daß Nietzsche ein Proto-Nazi gewesen sei, daß er den
Nationalsozialismus auf unheimliche Art vorgeprägt, ja in mancher Hinsicht
,verursacht' habe und daß die Bewegung selbst in fundamentalen Hinsichten als

* Mit * bezeichnete W ö r t e r im Original deutsch.


1 Ich habe all das detailliert in meinem Buch The Nietzsche Legaty in Germany, 1890— 1990 (Berkeley

1992) erörtert.
2 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 bis Herbst 1886, K G W VIII 2 [57]
( = K S A 12.87 f.). [Der Autor zitiert nach dem „Willen zur Macht" in der Übersetzung v o n
Walter K a u f m a n n , New York 1 9 6 8 - d. Übers.].
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,nietzscheanisch' betrachtet werden müsse3. Diese Wahrnehmung begann sich


ungefähr Mitte der 50er Jahre umzukehren, und obwohl es immer wieder Ein-
wände dagegen gegeben hat, verbreitete sich die neue Wahrnehmung so schnell,
daß vielen jungen Menschen, die ungefähr von den 70er Jahren an ihre Ausbil-
dung erhalten haben, die frühere Identifikation praktisch unverständlich schien.
Nietzsches Entnazifizierung — und die Ent-Nietzscheanisierung des Nazismus
— ist, wie ich meine, in der westlichen Kultur (zumindest in den englischsprachi-
gen Ländern und in Frankreich) fast zu einem fait accompli geworden. Dies war
im wesentlichen das Ergebnis zweier ganz unterschiedlicher intellektueller
Kräfte, das — im Einklang mit weitreichenden politischen Veränderungen — die
einzige andere, früher schon gewichtige Konkurrentin und Gegeninterpretation,
Georg Lukäcs' Zerstörung der Vernunft mit ihrer Leitthese, daß Hider „der Testa-
mentsvollstrecker Nietzsches und der nach ihm, aus ihm folgenden philosophi-
schen Entwicklung"4 gewesen sei, wenn nicht geradezu abwegig, so sicher ziem-
lich anachronistisch gemacht hat.
Ich bin nicht sicher, ob es eine Ubertreibung ist zu behaupten, daß die
grundlegende Absicht Walter Kaufmanns, der nach dem Krieg am nachdrück-
lichsten und einflußreichsten Nietzsche vorgestellt, übersetzt und popularisiert
hat, gewesen ist, Nietzsche Punkt für Punkt von diesen Befleckungen zu be-
freien und ihn mit einer Art von liberal-humanistischem Antlitz zu versehen,
das mit amerikanischen akademischen Werten dieser Zeit im Einklang stand.
Sein Meisterwerk von 1950 stellte den nazifizierten Nietzsche als eine reine,
nahezu unerklärliche Entstellung dar. Im Wesen ein guter Europäer, war er ein
Denker, der erfaßt werden müsse im Hinblick auf seine Hervorhebung von
Kreativität, Kultur und kritischem Individualismus und dessen Ablehnung von
Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus nicht augenscheinlicher hätte sein
können.5

3 Es gibt eine endlose Zahl an zeitgenössischen Beispielen, die das belegen. Auf den „höheren"
Ebenen des Diskurses wurde dies am besten von Heidegger illustriert, der anfangs den Nazis-
mus (und Faschismus) als im wesentlichen nietzschesche Entwürfe, als die radikalsten Versuche,
den westlichen Nihilismus zu überwinden, betrachtet hat. „Es ist [...] bekannt", sagte er in
seinen im Sommersemester 1936 gehaltenen Vorlesungen über Schelling, „daß die beiden Män-
ner, die in Europa von der politischen Gestaltung der Nation bzw. des Volkes her — und zwar
in je verschiedener Weise — Gegenbewegungen [sc. zum Nihilismus — d. Ubers.] eingeleitet
haben, daß sowohl Mussolini wie Hitler von Nietzsche wiederum in verschiedener Hinsicht
wesentlich bestimmt sind und dieses, ohne daß dabei der eigentliche metaphysische Bereich des
Nietzscheschen Denkens unmittelbar zur Geltung käme". (Martin Heidegger, „Schelling: Vom
Wesen der menschlichen Freiheit (1809)", in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 42 (II. Abteilung, Vorle-
sungen 1919 — 1944, Freiburger Vorlesung Sommersemester 1936), hrsg. von Ingrid Schüßler,
Frankfurt / M. 1988, 40 f. [Der Autor zitiert nach Thomas Sheehan, „Heidegger and the Nazis",
in: New York Review of Books 16 (Juni 1988) - d. Übers.]
4 Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, 598. Das Werk wurde 1952 vollendet,
beruhte aber auf Aufsätzen, die Lukäcs in den 30er und 40er Jahren geschrieben hatte.
5 Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton (New Jersey) 1950.
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Kaufmann war natürlich ein mehr oder weniger systematischer Philosoph,


der darauf bestand, Nietzsches Denken in ein faßbares und umfassendes System
zu pressen. Eine derartige Systematisierung ist natürlich Teufelszeug für die,
die seitdem, in einer anderen, weniger liberal geprägten und bestimmten Zeit,
Nietzsche am dominantesten für sich vereinnahmt haben (und zugleich von ihm
entscheidend geprägt worden sind) — die verschiedenen Exponenten dessen,
was wir, in Ermangelung eines besseren Namens, Postmodernismus und Dekon-
struktionismus nennen (Foucault, Deleuze, de Man etc.). Für sie bleibt — im
Unterschied zu Kaufmann — der Punkt im großen und ganzen unerwähnt,
unbemerkt; die bloße Notwendigkeit, die vermeintliche Nietzsche-Nazi-Verbin-
dung zurückzuweisen, hat sich überholt. Ihr Nietzsche ist dem Kaufmanns
ziemlich unähnlich. Hier ist er der radikal skeptische Perspektivist, der anti-
totalisierende Prophet der Heterogenität, der differatice, der Fragmentierung und
der Diskontinuität.6 Aber wie Kaufmann haben auch sie einen ziemlich sterili-
sierten Nietzsche geschaffen 7 , dessen Projekt als diametraler Gegensatz zum
Nationalsozialismus, ja als eine therapeutische Antwort darauf erscheint. Mit der
wichtigen Ausnahme Jacques Derridas (der weiter unten in extenso zitiert wer-
den wird) tilgen sie für gewöhnlich die kompromittierenderen Aspekte von
Nietzsches Denken, die, die weniger gut zu ihrem Heros ironischer Unbe-
stimmtheit passen.
Es mag keinesfalls überraschen, daß die Nachkriegs-Entnazifizierung Nietz-
sches sich in Frankreich und in den USA vor allem ereignete, wo Nietzsche
angesichts der Brillianz und bemerkenswerten Elastizität seines Werks in neue
kulturelle und politische Zielstellungen eingespannt werden konnte. In Deutsch-
land war es natürlich etwas anderes, Nietzsche aus diesen Bindungen herauszulö-
sen. In dem Land, wo der Nazismus aufgekommen und gediehen war und wo
Nietzsche so sehr mit dem Regime identifiziert wurde, sollte es uns vielleicht
nicht überraschen, daß der Widerstand gegenüber diesem neuerlichen Einfluß
bei den Befürwortern des neuen liberal-demokratischen Regimes vielleicht am
größten war. Es ist daher kein Zufall, daß der lauteste gegenwärtige Kritiker
Nietzsches — wie des Postmodernismus und dessen, was er als seine irrationali-
stische Parallele betrachtet: die Anti-Aufklärungs-Bewegung — Jürgen Habermas

6 Unsere Kultur ist überflutet mit diesem Nietzsche. Die Werke all der oben erwähnten Autoren
sollten dazu konsultiert werden. Als typische Beispiele dieser Art unter vielen vgl. Clayton Koelb
(Hrsg.), Nietzsche as Postmodernist: Essays Pro and Contra, Albany 1990; David B. Allison (Hrsg.),
The New Nietzsche: Contemporary Styles of Interpretation, Cambridge (Mass.) 1985.
7 Zu Kaufmanns Entstellung von Nietzsches machtpolitischen Dimensionen vgl. Walter Sokel,
„Political Uses and Abuses of Nietzsche in Walter Kaufmann's Image of Nietzsche", in: Niet%-
sche-Studien 12 (1983), 4 3 6 - 4 4 2 .
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ist. 8 Es gibt, denke ich, Anzeichen dafür, daß — vielleicht mit dem langsamen
Ableben des dekonstruktionistischen Denkens — nicht nur in Deutschland, son-
dern auch anderswo eine andere Wendung oder ein Umdenken einzusetzen be-
gonnen hat, das auf einer entwickelteren, qualifizierteren Grundlage imstande
sein wird, diese Frage ernsthaft anzugehen. Der vorliegende Aufsatz ist ein
Versuch, dieser erneuerten Diskussion Rechnung zu tragen.
Natürlich werden bestimmte Passagen und Urteile Nietzsches Klarheit dar-
über schaffen, ob wir ihn mit dem Nazismus in Verbindung bringen sollen. Und
auf der anderen Seite werden bestimmte Interpretationen des Nationalsozialis-
mus unsere Bereitschaft stärken, ihn in dessen Konturen einzubeziehen. Aber
die Schwierigkeit, sich hier überhaupt eine Meinung zu bilden, hängt auch mit
der äußerst belasteten Natur des Gegenstandes zusammen. Immerhin bleiben
sowohl Nietzsche als auch der Nationalsozialismus zentral für die Erfahrung
des 20. Jahrhunderts und für unser Kultur-, Ideologie- und Selbstverständnis.9
Und dieser Aufsatz beschäftigt sich natürlich mit der Verquickung beider in ihrer
explosivsten Dimension: nicht mit der allgemeinen Frage der Wechselbeziehung
zwischen Nietzsche und dem Dritten Reich (dies habe ich anderenorts ausführ-
lich dargelegt 10 ), sondern mit den Verbindungen zwischen dem Philosophen
und dem radikalen Judenhaß ebenso wie mit den möglichen Verbindungen zwi-
schen seinem Denken und dem Völkermord-Projekt (und den anderen größeren
Massenmorden), das die dunkelste Seite des Dritten Reichs ausmachte.
Wie kann der Historiker mit solch umstrittenen Themen umgehen, und
welche Annahmen und Materialien muß er zum Tragen bringen? Jeder, der auch
nur etwas vertraut ist mit Nietzsches politischer und kultureller Wirkungsge-
schichte, wird wissen, wie mannigfaltig, eindringlich und widersprüchlich sie war.
Es ist klar, daß keine „unmittelbare", ursächlich direkte Beziehung unterstellt
oder nachgewiesen werden kann. Es wäre ein Irrtum, Nietzsches äußerst zwei-
deutiges, proteisches, biegsames Werk auf eine Essenz zu reduzieren, die eine
einzige, klare und autoritative Bedeutung besäße und in einer linear bestimmten
historischen Richtung wirkte. Es kann kein feststehendes Bild des „authenti-
schen" Nietzsche geben noch eine dogmatische Gewißheit über seine eigentliche
Intention. Offensichtlich entscheiden die essentiaüstischen Darstellungen so-
wohl Kaufmanns als auch Lukäcs' — Nietzsches Denken dort innerlich antithetisch

8 Der in dieser Hinsicht relevanteste Text ist Habermas' Buch „Der philosophische Diskurs der
Moderne", Frankfurt / M. 1985. Habermas erklärte 1968 voreilig, daß Nietzsche „nichts Anstek-
kendes mehr" habe, um dann ein beträchdiches Maß an Zeit darauf zu verwenden, die Seuche zu
bekämpfen. Was seine zeitlich verfehlte Proklamation betrifft, vgl. seine Schrift „Zu Nietzsches
Erkenntnistheorie" in: Friedrich Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt / M. 1968 [der
Aufsatz wurde von Habermas in die 5., erweiterte Aufl. seines Buchs Zur Logik der So^ialwissen-
schafien, Frankfurt / M. 1982 aufgenommen; das „voreilige" Zitat steht auf S. 505 - d. Übers.].
9 „Nietzsche and National Socialism", in: Michael 13 (1993), 1 1 - 2 7 ; vgl. besonders 11.
10 Vgl. The Nietzsche Legacy in Germany, besonders die Kapitel 8 — 10 und das Nachwort.
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388 Steven Ε. Aschheim

%um Na^i-Projekt, hier dessen prototypische Reflexion, seine wesensmäßige Verkörperung —


genau die Frage, um die es geht, schon vorweg. Was so genau wie möglich
gesichtet und analysiert werden muß, sind die konkreten vermittelnden Glieder,
die Transmissionsriemen, die bewußte Aneignungen, explizite Eingeständnisse
von Nähe und Einfluß aufzeigen, sind die erkannten thematischen Parallelen
und (was mehr spekulativ ist) die Vorbedingungen, die Schöpfungen des Den-
kens und Empfindens, die den Schrecken des Dritten Reichs Nahrung gaben
und sie überhaupt erst vorstellbar machten.
Wenden wir uns zunächst der Frage „Nietzsche und Antisemitismus" und,
was am wichtigsten ist, seiner Aneignung — oder, vielleicht, Ablehnung — durch
deutsche Antisemiten vom Zweiten Reich an zu! Wie immer bieten Nietzsches
Texte selbst eine ausgesprochene Goldgrube verschiedener Möglichkeiten, voll
von Ambiguitäten, die seine Anhänger — und Kritiker — zusammenkehren und
in zahlreiche, oft ganz entgegengesetzte Richtungen wenden konnten (dies war
für die Nietzsche-Rezeption auf so ziemlich jedem Gebiet typisch). Wie immer
man das interpretieren mag, man muß die Tatsache betonen, daß Juden und
Judentum tief in Nietzsches Werk eingeschlossen, wenn nicht sogar sein eigentli-
ches Zentrum waren; sowohl in seinen feindseligen als auch in seinen freundli-
chen Überlegungen bestand er auf ihrer absolut schicksalhaften historischen
Rolle innerhalb der europäischen Zivilisation. (Wer sonst hätte in solch einem
zugleich affirmativen und ominösen Ton schreiben können: „Zu den Schauspie-
len, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet, gehört die Entscheidung
im Schicksale der europäischen Juden. Dass sie ihren Würfel geworfen, ihren
Rubikon überschritten haben, greift man jetzt mit beiden Händen: es bleibt
ihnen nur noch übrig, entweder die Herren Europa's zu werden oder Europa
zu verlieren". 11 )
Aus unserer Sicht ist es im Grunde unerheblich, ob Nietzsches Ansichten
über Juden und Judentum als einheitliches und zusammenhängendes Element
eines breiteren systematischen Entwurfs oder als disparat und selbst-wider-
sprüchlich betrachtet werden müssen. 12 Für den Kulturhistoriker sind die Inter-
pretationsspiel-Räume wichtig, die denen offenstehen, die die Texte selektiv le-
sen und rezipieren. Es gab deutlich hinreichend viele Anspielungen, Hinweise
und Themen, um so gut wie jede Richtung zufriedenzustellen. Juden und Antise-
miten waren sich gleichermaßen bewußt, daß sie Nietzsches Werk nützlich fin-

11 Μ 205 (KSA 3.180 f.). Die gesamte Stelle ist voller Zweideutigkeiten, verbunden mit Ehrfurcht,
Abscheu und Furcht.
12 Zu neueren Versuchen, Nietzsches Auffassungen über Juden und Judentum im Verhältnis zu
seiner gesamten Philosophie zu untersuchen, vgl. Arnold M. Eisen, „Nietzsche and the Jews
Reconsidered", in: Jewish Social Studies 48. 1 (1986); Μ. F. Duffy / Williard Mitdeman, „Nietzsche's
Attitude toward the Jews", in: Journal of the History of Ideas 49. 2 (1988); Jacob Golomb, „Nietz-
sche's Judaism of Power", in: Revue des etudes juives 147 (1988).
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den konnten (und wandten viel Zeit auf, um die Stellen, die mit ihrer eigenen
bestimmten Anschauung nicht vereinbar waren, Punkt für Punkt wegzuerklä-
ren). Völkische* Antisemiten, die Nietzsche für sich beanspruchen wollten, hat-
ten sich damit auseinanderzusetzen, daß er kein Nationalist war, ja daß er viel-
leicht der erklärteste Kritiker der Deutschen seiner Zeit und vor allem der frei-
mütigste Gegner des antisemitischen „Schwindels" war. Die Basis seines Begriffs
Ressentiment umkehrend, brandmarkte er eben die Herden-, die Massenbewegung
des Antisemitismus selbst als eine Art Sklavenrevolte.13 Um den Antisemiten
noch eins draufzugeben, verschwendete er mehr als jeder andere europäische
Denker ausschweifendes Lob an das Alte Testament: „Alle Achtung vor dem
Alten Testament! In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft
und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des
starken Her^enr, mehr noch, ich finde ein Volk. Im Neuen dagegen lauter kleine
Sekten-Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges,
Wunderliches."14 Und ebenso pries er die vergleichbaren Eigenschaften der eu-
ropäischen Juden seiner eigenen Zeit: „Die Juden unter bloßen Deutschen im-
mer die höhere Rasse -", notierte er, „feiner, geistiger, liebenswürdiger ... L'ado-
rable Heine sagt man in Paris."15
Diese positiven jüdischen Botschaften Nietzsches ließen sich leicht auflesen
und verbreiten (und genau das taten viele in der jüdischen Gemeinschaft unent-
wegt16). Und dies war denn auch der Grund dafür, daß viele Antisemiten von
der Zeit des Zweiten Reichs an und auch während der Nazi-Periode Nietzsche
entweder gänzlich ablehnten (Theodor Fritsch, Dietrich Eckart und Ernst
Krieck sind nur die bekanntesten von vielen Beispielen) oder, wo sie sich seine
Ideen aneigneten, dies in eingeschränkter, selektiver Weise taten (ζ. B. Adolf Bar-
tels, Wilhelm Schallmeyer, Heinrich Haertle).17 Selbst die vielen Antisemiten
und Nazis, die mit ganzem Herzen Nietzscheaner waren (u. a. Franz Haiser,
Ernst Wachler, Alfred Schuler, Ludwig Klages und Alfred Baeumler), waren
sich bewußt, daß für Nietzsches pro-jüdische Kommentare und seine beißende
Verachtung des politischen Antisemitismus kasuistische Erklärung vonnöten
war. Variationen über dieses Thema wurden in Überfülle geboten: Der wahre

13 Vgl. ζ. B. GM III 14. Vgl. auch Yirmiyahu Yovel, „Nietzsche, the Jews and Ressentiment", in:
Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche's On the Genealog) of
Morals, Berkeley 1994, 2 1 4 - 3 6 . Siehe insbes. S. 224!
14 GM III 22 (KSA 5.393).
15 Es handelt sich um einen von Nietzsche wieder fallengelassenen Entwurf für eine Passage aus
EH. Unmittelbar zuvor heißt es: „Wer mich heute in Deutschland liest, hat sich gründlich vorher,
gleich mir selber, entdeutscht: man kennt meine Formel ,gut deutsch sein heißt sich entdeut-
schen' oder ist - keine kleine Distinktion unter Deutschen - jüdischer Herkunft." (KSA
14.482).
16 Ich habe all das behandelt in: „Nietzsche and the Nietzschean Moment in Jewish Life
(1890-1939)", in: Leo Baeck Institute Yearbook 37 (1992).
17 All diese Variationen sind in The Nietzsche Legacy dargestellt.
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„germanische", ja rassische Nietzsche sei unentwegt von seinen jüdischen Ver-


mittlern versteckt worden, die ihn bösartig in einen freidenkenden, nihilistischen
Internationalisten umgedeutet hätten.18 Nietzsche war, schrieb Alfred Baeumler,
den Juden „im Innersten abgeneigt"19. Seine philosemitischen Kommentare wa-
ren schlicht ein Kunstgriff, um Aufmerksamkeit zu erlangen — die Juden gegen
die Deutschen auszuspielen war Teil seiner Strategie, die Deutschen dazu zu
bringen, „damit man ihn hört"20. Aber die wichtigste Behauptung war, daß
Nietzsche, indem er die Termini der Debatte umbesetzte, die Frage unendlich
radikalisierte und über all ihre konventionellen Formen hinausging, tatsächlich
der „schärfste Antisemit" gewesen sei, den es je gegeben habe.21 Er habe sich
nur, so wurde argumentiert, den traditionellen Spielarten des Antisemitismus im
19. Jahrhundert und deren christlichen Versionen entgegengestellt, weil er für
eine neuere und radikalere Form stand, eine, deren antichristliche und biologi-
sche Quellen ihn weit über konfessionelle, ökonomische und soziale Schranken
hinaustrieb.22
Wie selektiv auch immer diese Übung war, diese Antisemiten stützten sich
auf und fanden Inspiration in bestimmten Lesarten von manchen von Nietz-
sches kraftvollsten — und extremen — Texten. (Ihre Lesart wurde übrigens von
Nietzsches engem Freund und Vertrautem, Franz Overbeck, geteilt, der be-
merkte, daß, obwohl Nietzsche ein überzeugter Feind des Antisemitismus, so
wie er ihn erfahren habe, gewesen sei, dies nicht ausschließe, daß seine Meinun-
gen über die Juden, wenn er freiheraus sprach, eine Schärfe hatten, die bei
weitem jeden Antisemitismus übertrafen. Seine Haltung zum Christentum sei
zuallererst im Antisemitismus begründet gewesen.23) Der Philosoph hatte im-
merhin die Juden mit einem welthistorischen Makel ausgestattet, mit einem Ma-
kel, den seine ganze Philosophie aufzudecken, zu diagnostizieren und zu über-
winden suchte. In Zur Genealogie der Moral hielt er das „priesterliche Volk" für
nichts weniger verantwortlich als für den Beginn „des Sklavenaufstands in der
Moral": „jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich
hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er — siegreich
gewesen ist".24 Und wie Nietzsche im Anüchrist sagte, waren die Juden mit ihrem

18 Auch dies war gängige Meinung. Vgl., um nur ein Beispiel zu nennen, „Friedrich Nietzsche und
die Modernen", in: Deutsche Zeitung, Nr. 10294 vom 28. August 1900.
19 Alfred Baeumler, Nietzsche als Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 158.
20 Ebd., 157.
21 Heinrich Römer, „Nietzsche und das Rasseproblem", in: Rasse: Monatsschrift fiir den nordischen
Gedanken 7 (1940), 63.
22 Wiederum sei hier nur eine Quelle angeführt: Kurt Kassler, Nietzsche und das Recht, München
1941, 74 ff.
23 Franz Overbeck, „Kirchenlexikon, Nietzsche und das Judentum" (Nachlaß Basel A 232), in:
R. Brändle / E. Stegmann (Hrsg.), Fran^ Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München
1988. Ich danke Hubert und Hildegard Cancik für diesen Hinweis.
24 GM I 7.
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Verlangen, „um jeden Preis" zu überleben, „das verhängnisvollste Volk der Welt-
geschichte". Ihre Sünde war unbegreiflich abscheulich, sie war
die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen
inneren Welt so gut als der äusseren [...] sie schufen aus sich einen Gegensatz-
Begriff zu natürlichen Bedingungen, — sie haben, der Reihe nach, die Religion,
den Cultus, die Moral, die Geschichte, die Psychologie auf eine unheilbare
Weise in den Widerspruch deren Natur-Werthen umgedreht [...] in ihrer Nach-
wirkung haben sie die Menschheit dermaassen falsch gemacht, dass heute noch
der Christ antijüdisch fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische Consequent^ zu
verstehn. 25

Sicher bezog sich Nietzsche in der Hauptsache auf die Priester-Periode, aber
die Kraft der Texte selbst ließ dies ziemlich untergehen, und interessierte Aneig-
ner hielten sich gewiß nicht mit solchen scholastischen Unterscheidungen auf!
(Es mag auch sein, daß Nietzsches Unterscheidung zwischen den Hebräern und
dem — priesterlichen — Judentum demselben Gegensatz zwischen Vitalität und
Dekadenz entsprach, den er zwischen dem vor- und nachsokratischen Griechen-
land aufstellte. Dies mag der Fall gewesen sein oder nicht, doch in bezug auf
Wirkungsgeschichte und politische Konsequenzen bildeten die Griechen im Eu-
ropa des späten 19. Jahrhunderts nicht eine politisch verletzliche und bedrohte
Minorität, noch besaß Athen dieselbe negative emotionale Wertigkeit, die das
Problem der Juden und des Judentums im Deutschland dieser Zeit umgab. Es
kann keine vergleichbare Nietzscheanische ethnische Anti-Alexandria-Bewegung
identifiziert werden.)
Es waren diese radikalen Themen, die von extremen Antisemiten und be-
stimmten Nazi-Parteigängern aufgegriffen wurden und die deren Alltagsrhetorik
prägten. Der Nationalsozialismus, schrieb Heinrich Römer 1940, sei Nietzsches
kardinaler Einsicht verpflichtet, daß Israel die natürlichen Werte entnatürlicht
habe. Die klare Implikation war, daß Nationalsozialismus als die Gegenbewe-
gung betrachtet werden sollte, die zur Wiederherstellung der natürlichen Werte
führte. 26 Für solche Kommentatoren bestand die Bedeutung von Nietzsches
antichristlicher Haltung in ihrer anti-jüdischen Basis. Sein Schluß, daß das Chri-
stentum die letzte jüdische Konsequenz gewesen sei und daß es die Verbreitung
der jüdischen „Blutvergiftung" (Nietzsches Worte) bewirkt habe 2 7 , machte die
Juden zum schicksalhaftesten Volk der Weltgeschichte. Das judaisierte Christen-

25 AC 24 (KSA 6.191 f.).


26 Römer, Nietzsche und das Rasseproblem, 61.
27 So schrieb Nietzsche von der „welthistorischen Mission" der Juden:
„ ,Die Herren' sind abgethan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg
zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (es hat die Rassen durch einander gemengt) — ich
widerspreche nicht; unzweifelhaft ist aber diese Intoxikation gelungen. Die .Erlösung' des Men-
schengeschlechtes (nämlich von ,den Herren") ist auf dem besten Wege; alles verjüdelt oder
verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an Worten!)." (GM I 9).
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tum sei, wie ein Anhänger, Hans Eggert Schröder, sagte, „unter dem Gesichts-
punkt des antirassischen Prinzips gegen das Rassige" „Ausdruck [...] des Ras-
senzerfalls, der Dekadenz". 28 In dieser Weise fand Nietzsche — nach diesen
nietzscheanischen Nazis — seinen Weg zum Rasseproblem und schließlich zur
Lösung einer Rassenhygiene in dem Versuch, „diesen grandiosen Kampf ...
gegen tausendjährigen Niedergang und Entartung" 29 aufzunehmen.
Diese Art von Rhetorik spielte auf jeder Ebene des Nazi-Diskurses mit, und
wenn sie auch nicht die einzige Quelle war, so diente sie doch dazu, schon
vorhandene antisemitische Kräfte zu kanalisieren, zu stärken und signifikant zu
radikalisieren. Freilich ist es fast sicher, daß Hider Nietzsche niemals direkt oder
doch sehr wenig gelesen hat. 30 Nichtsdestoweniger verbanden sich seine Gedan-
ken, Aussprüche und Reden klar mit einem popularisierten Nietzscheanismus,
wie er während und nach dem Ersten Weltkrieg zu ihm herabgesickert war.
Eine bestimmte brutalisierte nietzscheanische Münze war zur Basiswährung der
radikalen Rechten in dieser Periode geworden. Sie war es, die er selektiv benutzte
und in seine melange mischte, die seine eigentümliche Art zu denken bestimmte. 31
Historische Transmissionsriemen — die Arten, auf die Gedanken, Ideen,
Stimmungen und Empfinden in Politik übersetzt werden — sind in der Tat
komplex, und das, was ich bisher gesagt habe, soll nicht bedeuten, daß eine
kausal gerade Linie zwischen Nietzsche, seinen Epigonen und der Vernichtung
des europäischen Judentums gezogen werden könnte. Wie wir bereits herausge-
stellt haben, war Nietzsches Einfluß wie seine Schriften: immer multivalent und
niemals simplizistisch auf eine einzelne politische oder kulturelle Strömung oder
Richtung reduzierbar. 32 Gleichwohl bin ich der Meinung, daß diese Texte und
das vermittelte Empfinden, das sie verkörpern konnten, Bedeutung für das in
Rede stehende Problem besitzen. Sie machten einen ausdrücklichen Bestandteil
dieser Art von antisemitischem Bewußtsein und eine besonders radikale Weise,

28 Hans Eggert Schröder, Nietzsche und das Christentum, Berlin-Lichterfelde 1937, 75.
29 Römer, Nietzsche und das Rasseproblem, 64.
30 Hitlers Jugendfreund, August Kubizek, behauptet in seinen Memoiren Hitler: mein Jugendfreund
(Graz 1953), daß der junge Hider Nietzsche zwar gelesen, sich jedoch kein Werk des Philoso-
phen in seinem Bücherschrank befunden habe (obschon er einen kleinen Band enthielt, den
Himmler ihm gewidmet hatte, mit dem Titel Von Taätus bis Nietzsche). Vgl. Robert L. Waite,
Hitler: The Psychopathic God, New York 1977, 62.
31 Selbst wenn man nicht die vielen von Nietzsche inspirierten Hider-Zitate aus den heute eher
angezweifelten Schriften von Hermann Rauschning beachtet, so wird dies ganz offensichtlich
in Hitlers Tischgesprächen im Führerhauptquartier 1941- 1942, von Henry Picker geordnet, eingeleitet
und veröffentlicht, Bonn 1951.
32 Die ganze Tendenz meines Buches The Nietzsche Legacy in Germany (1890- 1990) geht dahin, die
vielschichtige, oft widersprüchliche Natur von Nietzsches Einfluß und die Unmöglichkeit, die-
sen auf eine „wesentliche" politische Richtung oder Position zu reduzieren, hervorzuheben.
Dies sollte hier immer im Auge behalten werden. Die vorliegende Untersuchung behandelt
bewußt nur einen Strang dieses Einflusses.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 393

es zu kanalisieren, aus, einen Einfluß, der (von vielen, wenngleich offenkundig


nicht von allen) offen anerkannt wurde und der ein entscheidendes Element
einer radikalisierten Denkhaltung bildete, die eine Art Vorbedingung war für
das, was kommen sollte.
So jedenfalls haben einige jüngere Historiker die Sache gesehen. Es war also
Nietzsche, wie Conor Cruise O'Brien meinte, der die entscheidende Kraft war
im verhängnisvollen Umschlagen eines „begrenzten" christlichen-theologischen
Judenhasses in eine unbegrenzte, säkulare Feuersbrunst und der also konkret
den Weg zum Holocaust geebnet hat. Hitler, schreibt er, habe von Nietzsche
gelernt, „daß die traditionelle christliche Grenze im Antisemitismus selbst Teil
einer jüdischen List war. Wenn die Werte, die die Juden verkehrt hätten, wieder-
hergestellt würden, gäbe es keine Grenzen und keine Juden". 33 (Wir wissen
nicht, ob Hitler die folgende Stelle aus Nietzsches Werk gekannt hat; aber seine
Äußerungen sind sicher ein Widerhall solcher Empfindungen: „Die decadence
ist, für die im Juden- und Christenthum zur Macht verlangende Art von Mensch,
eine priesterliche Art, nur Mittel·, diese Art von Mensch hat ein Lebens-Interesse
daran, die Menschheit krank zu machen und die Begriffe ,gut' und ,böse', ,wahr'
und ,falsch' in einen lebensgefahrlichen und weltverleumderischen Sinn umzu-
drehen." 34 ). Und, wie George Lichtheim es darstellte, Auschwitz wurde nur
möglich, nachdem Nietzschesche Ideen, die im Gegensatz zum jüdisch-christli-
chen Erbe und dessen humanistischen Auswirkungen standen, gewisse deutsche
Köpfe nach und nach durchdrungen und erfolgreich ergriffen hatten: „Es ist
nicht übertrieben, wenn man sagt, daß ohne Nietzsche der SS — Hitlers Stoß-
truppen und der Kern der ganzen Bewegung — die Inspiration gefehlt hätte,
die sie instandsetzte, ihr Programm des Massenmordes in Osteuropa auszufüh-
ren." 35
Bevor wir mit der Argumentation fortfahren und versuchen, einige beson-
dere historische Unterscheidungen zu klären, seien einige allgemeine Bemerkun-
gen gestattet. Wenn ich hier und anderswo immer wieder betone, daß der Kul-
turhistoriker, der bestrebt ist, die Rolle, die Dynamik und die Auswirkungen von
Ideen innerhalb einer politischen Kultur zu erfassen, die Frage von „gültigen"
oder „ungültigen" Interpretationen und Bezugnahmen hintanstellen muß, so
macht das natürlich die Rolle des Textes — und hier des Nietzscheschen Textes
— in diesem Prozeß nicht irrelevant. Selbst wenn wir uns für einen Augenblick
der Rede von „Entstellung" und „Fehlinterpretation" bedienen, Ansätze wie die
von Kaufmann lassen uns die Möglichkeit vergessen, daß, wie Martin Jay es
ausgedrückt hat, „das Potential für die spezifischen Entstellungen, die vorkom-

33 Conor C. O'Brien, The Siege. The Saga of Israel and Zionism, London 1986, 59. Vgl. allgemein 57 — 59
und 85.
34 AC 24 (KSA 6.193).
35 George Lichtheim, Europe in the Twentieth Century.; London 1974, 185 f.
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394 Steven Ε. Aschheim

men, als dem Originaltext latent innewohnend betrachtet werden kann. So ist
es, wenn es auch fragwürdig sein mag, Marx die Verantwortung für den Archipel
Gulag aufzubürden oder Nietzsche die Schuld für Auschwitz zu geben, nichtsde-
stoweniger wahr, daß ihre Schriften als Rechtfertigungen für diese Schrecken
fehlgedeutet werden konnten in einer Art, wie es etwa die Schriften von John
Stuart Mill oder Alexis de Tocqueville nicht konnten". 36 Jacques Derrida, ob-
gleich er so sehr ein Teil des „neuen" Nietzsche ist, den wir zu Beginn unserer
Untersuchung erörtert haben, hat dennoch in ähnlicher Weise für eine gewisse
komplizierte Komplizenschaft argumentiert. Man könne eben nicht alles verfäl-
schen, sagt er. Und er macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, mit der Mög-
lichkeit dieser mimetischen Inversion und Perversion zu rechnen:
Verbietet man sich, aus der Unterscheidung von unbewußten und absichtlichen
Programmen ... ein absolutes Kriterium zu machen, berücksichtigt man beim
Lesen eines Textes nicht nur das — bewußte oder unbewußte — Meinen, dann
muß die pervertierende Vereinfachung das Gesetz ihrer Möglichkeit in der
Struktur des „verbleibenden" Textes haben ...; [dann] gibt es nichts absolut
Kontingentes in der Tatsache, daß die einzige Politik, die ihn wirklich wie ein
höchstes und offizielles Banner geschwenkt hat, die Nazi-Politik war. Damit
sage ich nicht, diese „nietzschesche" Politik sei die einzige je mögliche, auch
nicht, daß sie der besten Lektüre des Erbes entspricht, und nicht einmal, daß
die, die sich nicht darauf bezogen, ihn besser gelesen haben. Nein. Die Zukunft
des Textes Nietzsche ist nicht abgeschlossen. Aber wenn in den noch offenen
Umrissen einer Epoche die einzige nietzscheanisch genannte (sogenannte) Po-
litik eine Nazi-Politik gewesen ist, ist das notwendig signifikant und muß in
seiner ganzen Tragweite befragt werden.
Nicht das wir wüßten oder zu wissen glaubten, was der Nazismus ist, und von
daher „Nietzsche" und seine große Politik wiederzulesen hätten. Ich glaube
nicht, daß wir den Nazismus schon zu denken wüßten. Diese Aufgabe bleibt
vor uns und die politische Lektüre des nietzscheschen Körpers oder Korpus
gehört dazu.37

Allerdings haben andere Historiker und Denker, von denen Berel Lang das
jüngste Beispiel ist, das genaue Gegenteil behauptet, indem sie meinten, daß
Ideen zwar wesentlich sind, wenn man den nazistischen Drang zum Völkermord
erfassen will, daß aber, was Nietzsches geschichtliche Nachwirkung betrifft, es
sich um ein Beispiel von falscher Aneignung handelt, nicht von Ableitung und
noch nicht einmal von Anschluß: „Weit entfernt, aus den Prämissen von Nietz-
sches Standpunkt zu folgen, sind die gezogenen Schlußfolgerungen mit diesen

36 Martin Jay, „Should Intellectual History Take a Linguistic Turn? Reflections on the Habermas-
Gadamer-Debate", in: ders., Fin-de-siecle Sodalism, New York 1988, 33.
37 Jacques Derrida, Otobiographies: L'enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris 1984.
Deutsch: J. D., Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens, übers, von Friedrich
A. Kittler, in: M. Frank, F. A. Kittler, S. Weber (Hrsg.), Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch fir
Text-Analytik, Olten/Freiburg i. Br. 1980, 6 4 - 9 8 , 90 f.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 395

unvereinbar. Rekonstruiert man sich gedanklich die Ereignisse, die zu dem natio-
nalsozialistischen Völkermord an den Juden geführt haben, ohne den Namen
oder die Gegenwart Nietzsches, so wird man an dem Bild fast nichts ändern
müssen." 38
Dies scheint mir absolut nicht überzeugend. Gewiß hat Nietzsche viele —
entgegengesetzte — politische und kulturelle Tendenzen durchdrungen; aber
eine außerordentlich große Zahl von historischen Figuren selbst (viele Nazis
und ihre Gegner) sowie auch ungezählte spätere Kritiker haben, mehr oder
weniger differenziert, eine tiefgehende Verwandtschaft und thematische Kompli-
zenschaft Nietzschescher Impulse mit dem definitiven Tabubrechen, dem Über-
alle-Grenzen-Hinausgehen und den zum Programm gemachten mörderischen
Trieben des Nazismus festgestellt. Sicherlich sollten nicht nur die Gemeinsam-
keiten, sondern auch die Unterschiede hervorgehoben werden. Es ist bemer-
kenswert, daß zahlreiche Opfer des Nationalsozialismus eine solche Beziehung
zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus in ähnlicher Weise intuitiv
erfaßt haben und daß ein Auschwitz-Uberlebender, Primo Levi, (ob erfolgreich
oder nicht) sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die abgrenzenden Unter-
schiede festzustellen suchte. Es lohnt sich, ihn hier in Gänze zu zitieren:
„Weder Nietzsche noch Hitler, noch Rosenberg", schrieb er, als ob die Be-
ziehungen zwischen ihnen gänzlich klar wären,
„waren irrsinnig, als sie sich selber und ihre Anhänger mit der Verkündigung
des Mythos vom Ubermenschen berauschten, dem alles in Anerkennung seiner
zum Dogma erhobenen angeborenen Überlegenheit erlaubt ist. Aber die Tatsa-
che ist nachdenkenswert, daß alle, der Meister wie seine Schüler, nach und
nach die Wirklichkeit hinter sich gelassen haben, und zwar in dem Maß, wie
sich ihre Moral zunehmend von jener ablöste, die allen Zeiten und Kulturen
gemeinsam und Teil unseres menschlichen Erbes ist und die wir letzten Endes
denn doch anerkennen müssen.
Die Rationalität verschwindet, die Schüler haben ihren Meister gerade in der
Anwendung sinnloser Gewalt übertroffen (und verraten!). Die Lehre Nietz-
sches stößt mich zutiefst ab, ich habe Mühe, darin eine Behauptung zu finden,
die nicht einhergeht mit dem Gegenteil dessen, was ich gern denke; sein Ora-
kelton ist mir zuwider. Und doch, so scheint mir, taucht darin niemals das
Verlangen nach dem Leid des Nächsten auf. Wohl Indifferenz, beinahe auf
jeder Seite, aber niemals Schadenfreude* und noch viel weniger die Freude dar-
über, jemandem absichtlich Leid zuzufügen. Der Schmerz des Pöbels, der Un-
gestalteti*, der unedel Geborenen ist ein Preis, den man für die Heraufkunft des
Reichs des Auserwählten zu zahlen hat; er ist ein geringes Übel, aber ein Übel
bleibt es; er ist nicht wünschenswert an sich. Ganz anders waren Lehre und
Praxis der Hider-Zeit." 39

38 Berel Lang, Act and Idea in the Na^i Genocide, Chicago and London 1990, 197 f.
39 Primo Levi, „Sinnlose Gewalt", in: ders., Die Untergegangenen und die Geretteten, aus d. Italienischen
von Moshe Kohn, München 1990, 107 f.
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396 Steven Ε. Aschheim

(Andere überlebende Intellektuelle stimmten nicht unbedingt mit dieser


Sicht überein. So sah ein anderer Auschwitz-Häftling, Jean Amery, den Philoso-
phen ganz anders als Levi. Nietzsche, schrieb er, war der Mann, „der von der
Synthese des Un- mit dem Ubermenschen träumte. Ihm ist zu antworten von
jenen, die Zeugen waren der Vereinignung des Unmenschen mit dem Unter-
menschen; sie waren in Opfergestalt präsent, als eine gewisse Menschheit die
Grausamkeit in Festfreude realisierte, wie Nietzsche selbst es [...] ausgesprochen
hatte [...]" 40 ).
Wie auch immer, ich behaupte, daß es deutliche Hinweise gibt auf Parallelen
zwischen der allgegenwärtigen bio-eugenischen politischen und medizinischen
Vision und der programmatischen Besessenheit von Degeneration und Regene-
ration (ob in parodistischer Form oder nicht) des Nazismus auf der einen Seite
und zentralen Nietzscheschen Kategorien und Zielen auf der anderen. In gewis-
ser Hinsicht ist der Nazismus, wie Robert Jay Lifton jüngst überzeugend darge-
stellt hat, so etwas wie eine „Medizinierung des Tötens" (medicalisation of kill-
ing). Sein Drang zum Völkermord war eingebunden in eine bio-medizinische
Vision und deren ungeheuerliche, selbst-proklamierte, programmatische Zielset-
zung von rassischer und eugenischer Hygiene. In einem noch nie dagewesenen
Maße wollte er die Kontrolle über die menschliche biologische Zukunft ausüben,
indem er für positive rassische Abkunft Gesundheit sichern und die Menschheit
von ihren kranken, degenerativen Elementen reinigen wollte. In seiner Vision
von „Gewaltkur", von Mord und Völkermord als einem „therapeutischen Impe-
rativ" schwingen, so Lifton, derlei Nietzscheanische Themen mit. 41
Wenn jede Generation ihren besonderen Nietzsche-Wert herausstellt, dann
kann es kaum Zweifel geben, daß in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts meh-
rere politische Kreise in Europa dahin kamen, Nietzsche als den tiefsten Diagno-
stiker von Krankheit und Degeneration und als deren gründlichsten Regenera-
tions-Therapeuten zu betrachten. „Die Krankhaften", schrieb Nietzsche, „sind
des Menschen grosse Gefahr: nicht die. Bösen, nicht die ,Raubthiere'". 42 Natürlich
gebrauchte er, wie es seine Gewohnheit war, diese Begriffe in mannigfaltiger,
wechselnder Weise, als Metapher und Ironie (er hat sogar einen Paragraphen zur
„Veredelung durch Entartung" 43 ); aber am häufigsten und am entscheidendsten
wurde, was er sagte, dargestellt (und verstanden) als substantielle, wörtlich zu

40 Vgl. S. 110 und überhaupt das ganze Kapitel „Ressentiments" in Jean Amerys erstaunlichem
Buch Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Uberwältigten, Neuausgabe Stuttgart 1977.
Wir sollten erwähnen, daß Amery Nietzsches Theorie des Ressentiments umformte in eine
positive Tugend zur Aufrechterhaltung eines ethischen Bewußtseins gegenüber den „natürlichen"
Prozessen der Zeit und des Vergessens begangener, aber nicht eingestandener Verbrechen.
41 Robert J. Lifton, The Na^i Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide, London 1987; vgl.
bes. 1 5 - 2 7 , Kap. 21 und S. 486.
42 GM III 14 (KSA 5.368).
43 ΜΑ I , 224 (KSA 2.187 ff.).
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 397

nehmende Gefahr, die durch drastische Maßnahmen zu überwinden Vorausset-


zung war für die dringend gebotene Wiederherstellung einer „natürlichen",
nicht-dekadenten Menschheit. Obgleich er nicht allein in dem breiten quasi-bio-
medizinischen, moralischen Degenerations-Diskurs des 19. Jahrhunderts war 44
— dieses hochflexible, politisch anpassungsfähige Instrument, das sich durch
das gesamte ideologische Spektrum bewegte und das imstande war, ein vorherr-
schendes, wenn auch inchoatives Empfinden einer Sozial- und Kulturkrise durch
die Einübung einer eugenischen Etikettierung und durch ein Gerede von bio-
sozialer Pathologie und potentieller Erneuerung 45 gleichermaßen zu lokalisieren,
zu diagnostizieren und zu befreien —, bildete er einen wesentlichen Bestandteil
in der Definierung und Radikalisierung dieses Diskurses. Er bewirkte sicherlich
die wichtigste Kanalisierung hin zum Aufkommen der radikalen Rechten. Was
sonst war Nietzsches Lebensphilosophie*, seine neue Betonung des Instinkts und
sein Vorschlag einer Umwertung aller Werte, durch die eine gesund-natürliche
Ethik die krank-moralische ersetzen sollte (ein zentrales Thema, das von den
gegenwärtigen poststrukturalistischen Nietzsche-Meistern gern übersehen oder
getilgt wird)? „Sagt mir, meine Brüder", fragt Zarathustra, „was gilt uns als
Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht Entartung"46 In dieser Welt beruht
die neue Betonung von allem, was natürlich und gesund ist, auf der erbarmungs-
losen Ausrottung jener widernatürlichen Ressentiment-Kräfte der Entartung,
welche die natürlichen und aristokratischen Grundlagen des Lebens durch und
durch geschwächt und verfälscht haben. Immer wieder und auf verschiedene
Weisen erklärte Nietzsche, daß „die Gattung [...] den Untergang der Mißrathe-
nen, Schwachen, Degenerirten" brauche.47
Das nationalsozialistische bio-politische Verständnis und die Lösung des
„Entartungs"-Problems war, wie ich hier und anderenorts zu zeigen versucht
habe, in vielschichtiger Weise Nietzsche-inspiriert. Vom Ersten Weltkrieg bis
zu ihrer Realisierung durch die Nazis hatten Nietzsches Warnungen vor der
Fortpflanzung „lebensfeindlicher" Elemente und seine Verteidigung der Eutha-
nasie, dessen, was er „heilige Grausamkeit" nannte („das Bibel-Verbot ,du sollst
nicht tödten!'", hieß es im sog. Willen ψτ Macht, „ist eine Naivetät im Vergleich
zum Ernst des Verbots an die decadents ,ihr sollt nicht zeugen!' [...] Mitleid
mit den decadents — das wäre die tiefste Unmoralität, die Widernatur selber als

44 Vgl. dazu meinen Aufsatz „Max Nordau, Friedrich Nietzsche and Degeneration", in: Journal of
Contemporary History 28. 4 (October 1993).
45 Vgl., was die politisch unterschiedliche Anwendung des Begriffes und seine weite Verbreitung
betrifft, Daniel Pick, Faces of Degeneration: Α European Disorder, 1848— 1918, Cambridge 1989.
46 Za I (Von der schenkenden Tugend 1). Hervorhebung von Nietzsche.
47 Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, K G W VIII 15[110] (KSA 13.470).
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398 Steven Ε. Aschheim

Moral." 48 ), eine „höhere" Argumentationsebene für Theoretiker und Praktizie-


rer solcher Maßnahmen inspiriert und bereitgestellt. 49
Die Umsetzung traditioneller antijüdischer Kräfte in Völkermord und die
mörderische Politik, die in verschiedenen Graden gegen andere zu Außenseitern
Gestempelte angewandt wurde (Zigeuner, körperlich und geistig Behinderte,
Homosexuelle, Kriminelle, inferiore Ostvölker und kommunistische politische
Feinde), geschah in dem klaren Kontext dieser medizinisch-bio-eugenischen Vi-
sion. Gewiß gab es viele Elemente, die in die Konzeption und Ausführung des
Völker- und Massenmords eingingen; aber ich meine, daß dieses Nietzschesche
Denken eine Art radikaler Empfänglichkeit geschaffen hat, die mit als Auslöser
für die Realisierung all dessen diente.
Mit Bezug auf diese programmatischen Parallelen und Verbindungen, aber
auch über diese hinaus müssen wir eine andere sehr spekulative, aber notwendige
Frage aufwerfen: die umstrittene Frage der Schaffung von Vorbedingungen und
psychologischen Motivationen. Sicherlich werden für solch umfängliche und
komplexe Ereignisse wie diese kein einzelner theoretischer oder methodologi-
scher Ansatz und keine Methodologie hinreichen. Doch bei der außerordent-
lichen Natur der Ereignisse werden herkömmlichere Formen historischer Ana-
lyse bald an ihre Grenzen stoßen und neue Antworten verlangen (das Studium
des Nazismus hat sie in Fülle hervorgebracht, die einen mehr, die anderen weni-
ger überzeugend). 50 Ich beanspruche damit nicht Ausschließlichkeit für das
Nietzscheanische Element auf dieser Ebene der Erklärung, aber trete doch für
seine fortdauernde große Relevanz ein. Sicherlich hat es in der letzten Zeit viele
Darstellungen der Ideen gegeben, die hinter dem Massenmord standen und
seine psychologischen Quellen sprudeln ließen, Darstellungen, die in jedem Fall
anti-Nietzscheanisch im Inhalt waren. Für Christopher Browning war es nicht
so sehr die nietzscheanische Intoxikation, der nihilistische Glaube, daß „alles
erlaubt" sei, was die „gewöhnlichen Mörder" motiviert habe, sondern eher nüch-
terne psychologische Gewöhnungsmechanismen wie Gruppenkonformität,
Autoritätszwang, die abstumpfenden Wirkungen des Alkohols und die einfachen
(aber mächtigen) Prozesse der Routinisierung.51 Für George L. Mosse, weit da-
von entfernt, eine dynamische antibürgerliche Nietzsche-Revolte namhaft zu
machen, repräsentierten die Massenmorde eine Verteidigung bürgerlicher Moral,

48 Nachgelassene Fragmente Oktober 1888, K G W VIII 23[10] (KSA 13.611 f.). Mit derartigen Gefühlen
ist das ganze Nietzschesche Werk übersät. Vgl. den sog. Willen ^ur Macht passim, Za I Vom freien
Tode (auch wenn hier die Freiheit zu sterben betont wird) und GM III 14.
49 Zu Beispielen dafür vgl. The Nietzsche Legacy, 161, 163, 243 f.
50 Ich arbeite zur Zeit an einer Studie über „Nazism and Western Consciousness 1933 — 1993",
die versuchen wird, diese verschiedenen Analysen zu untersuchen und in ein kontextuales und
konzeptionelles System einzuordnen.
51 Christopher Browning, Ordinary Man: Reserve Police Bataillon 101 and the Final Solution in Poland,
New York 1992.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 399

den Versuch, eine saubere, ordentliche Mittelstandswelt gegen all jene Außensei-
ter und abweichende Gruppen zu bewahren, die sie zu bedrohen schienen.52
Diese Untersuchungen enthalten wertvolle Einsichten, lassen m. E. aber
wichtige Erfahrungsgrößen außer acht, die eng mit der nietzscheanischen Di-
mension zusammenhängen und die zumindest einen Teil des Bildes ausmachen
müssen. An dem einen oder anderen Punkte mußte denen, die als Vordenker
oder als Täter an diesem Ereignis beteiligt waren, klar werden, daß hier etwas
ganz Außerordentliches, noch nie Dagewesenes vor sich ging und daß die or-
dentlichen Mittelstandsmenschen radikal Grenzen überschreitende, tabubre-
chende, ganz „unbürgerliche" Taten begingen.53 Selbst wenn wir die problemati-
sche Behauptung, daß solche Taten begangen wurden, um bürgerliche Interes-
sen und Werte zu verteidigen, durchgehen ließen, wollten wir doch mehr wissen
über die stimulierenden, radikalisierenden Auslöser, die den Entscheidungsträ-
gern und den Tätern in gleichem Maße ermöglicht haben, diese Richtung einzu-
schlagen und die Tat zu tun. Zu meinen, es sei nur der „Rassismus" gewesen,
wirft die Argumentation einen Schritt zurück; denn „Rassismus" mußte — ob-
gleich er immer verderbenbringend ist — selbst erst völkermörderisch werden (für
gewöhnlich geht er einher mit der Politik von Emigration, Separation, Verskla-
vung und Willkür-Herrschaft oder auch Paternalismus).
Das Problem der radikalisierenden, auslösenden Kraft bleibt. Es mag viele
solcher Kräfte gegeben haben; aber mir scheint, daß Nietzsches entschiedener
Antihumanismus (ein Atheismus, der, wie George Lichtheim bemerkte, sich vom
Feuerbachschen Versuch unterschied, Theismus durch Humanismus zu erset-
zen54) und seine apokalyptischen Vorstellungen und visionären Warnungen dazu
beitrugen, solch eine Möglichkeit, solch einen Akt allererst denkbar zu machen (oder
zuallermindest — bei entsprechend selektiven Lesarten — die geeignete ideologi-
sche Hülle dafür zu schaffen). Diese Nietzschesche Art zu denken, zu reden
und zu fühlen bildet eine wichtige (wenn nicht die einzige) dauerhafte Vorbedin-
gung für derlei radikale Elemente im Nazismus.
Mit all seinen Affinitäten zu einem älteren Konservativismus machte die
radikal experimentelle, Moral provozierende, Tradition zerstörende Nietzsche-

52 George L. Mosse, Nationalism and Sexuality: Respectability and Abnormal Sexuality in Modern Europe,
New York 1985.
53 Dies ist jüngst interessant von Saul Friedländer untersucht worden, in: „,The Final Solution':
On the Unease in Historical Interpretation", in: ders., Memory, History, and the Extermination of
the Jews of Europe, Indiana 1993; vgl. bes. 110.
54 George Lichtheim, Europe in the Twentieth Centuty, 186. Zu oft ist dies ausschließlich und ideolo-
gisch in Bezug gesetzt worden zu dem in Nietzsches „Atheismus" angeblich innewohnenden
Niedergang, der den Menschen zu unbegrenzter Macht befähigt habe, durch die er, da nichts
mehr heilig war, die totale Erlaubnis zum Töten hatte. Diese Position kann hier nicht gestützt
werden, weil mit diesen Ereignissen, wie ich denke, eine Bewegung verbunden ist, die gegen die
Aufklärung und antihumanistisch orientiert war, die aber nicht eine Säkularisierungsbewegung
per se war.
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400 Steven Ε. Aschheim

sehe Mentalität das ungeheuerliche transformative Ausmaß des Nazi-Projekts


denkbar. Nietzsche bereitete, wie ein Kommentator unserer Zeit zeigte, „ein
Bewußtsein vor, das nichts ausschloß, was jedermann denken, fühlen oder tun
konnte, einschließlich unvorstellbarer, in gigantischer Ordnung ausgetragener
Greueltaten". 55 Die, die auf ihn blickten, um ihre Vorstellungen durch ihn inspi-
rieren — oder begründen — zu lassen, konnten leicht finden, was sie suchten,
und es auf ihre eigene Situation anwenden. Ζ. B. solche Stellen, wo Nietzsche
betont, daß „eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt
und mit der Kraft, zu organisieren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf
eine [...] noch gestaldose, noch schweifende Bevölkerung legt" 56 , und daß große
Führer wie Napoleon eine „Synthesis von Unmensch und Ubermensch" repräsen-
tierten 57 : „Wer befehlen kann, wer von Natur ,Herr' ist, wer gewaltthätig in
Werk und Gebärde auftritt - was hat der mit Verträgen zu schaffen! Mit solchen
Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft,
Rücksicht, Vorwand, sie sind da wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich,
zu überzeugend, zu ,anders', um selbst auch nur gehasst zu werden. Ihr Werk
ist ein instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken [...] Sie wissen nicht,
was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen Organi-
satoren." 58
Gewiß war der Nazismus ein vielschichtiges historisches Phänomen, und
sein revolutionärer Schub ging einher mit kleinbürgerlichen, provinziellen, tradi-
tionellen und konservativen Anstößen. 59 Aber gewiß ist auch, daß die morali-
sche und historische Bedeutung des Nazismus — über seine doktrinäre Beto-
nung von Zerstörung und gewaltsamer Regeneration, von Gesundheit und
Krankheit hinaus — gerade in seinen nie dagewesenen Umwertungen und
Schranken brechenden Extremen, in seinen überschreitenden Akten und im
Zerstören vormals intakter Tabus liegt. In dieser Hinsicht wird uns das Denken
des Nazismus, sein Projekt und seine experimentelle Dynamik, wenn auch paro-
distisch, selektiv vermittelt oder verfälscht, als eine Art Nietzschescher Großer
Politik weiter verfolgen.

Nachwort

Ich habe absichtlich bisher Ernst Noltes sehr wichtige und oft äußerst ein-
sichtsreiche Analyse der Nietzsche-Holocaust-Verbindung (und des Anstoßes

55 Kurt Rudolf Fischer, „Nazism as a Nietzschean Experiment", in: Nietzsche-Studien 6 (1977), 121.
56 GM II 17 (KSA 5.324).
57 GM I 16 (KSA 5.288).
58 GM II 17 (KSA 5.324 f.).
59 Zu einer guten Auswertung dieser verschiedenen Seiten vgl. Hans Sluga, Heidegger's Crisis: Philoso-
phy and Politics in Ναζί Germany, Cambridge (Mass.) 1993.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 401

zum Völkermord im allgemeinen) übergangen, weil sie, wie ich glaube, eine Art
von Fallstudie in sich selbst darstellt und zugleich die Art und Weise beleuchtet,
in der unsere Auffassungen Nietzsches gewöhnlich in größere politische Frage-
und Zielstellungen eingebunden sind und sich unter sie trefflich unterordnen
lassen. In seiner Interpretation, beginnend mit dem inzwischen zum Klassiker
gewordenen Buch „Der Faschismus in seiner Epoche" von 1963 60 , wird Nietz-
sche als die entscheidende Gestalt einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit
der bürgerlichen und der marxistischen „Realisierung" dargestellt. Er vor allem
verkörpere den Drang nach einer sinnenfrohen „Renaturalisierung" der Welt
und weise auf die Schaffung eines neuen, gänzlich nicht-dekadenten Menschen.
Das Nietzschesche und das Nazi-Projekt werden so praktisch identisch. „Es
wird deutlich", schrieb Nolte, daß Hider „von ,etwas' besessen war und daß
dieses ,etwas' alles andere als ein Beiläufiges und Bedeutungsloses darstellte" 61 .
Als „Abschluß eines Weltalters" 62 war Hider in der Tat die radikalste Manifesta-
tion einer Kraft gewesen, die am besten von Nietzsche artikuliert wurde. 63
In dieser Sicht war der Begriff der Zerstörung oder Ausrottung — der Ver-
nichtungsgedanke*, wie Nolte es ausdrückt — bestimmt, zum Zentrum von Nietz-
sches Spätphilosophie zu werden. 64 Es lohnt, ihn in diesem Zusammenhang in
extenso zu zitieren:
Es zeigt sich, daß der Begriff der Realisierung Nietzsches eigentlicher Gegner
ist, ihn vor allem wollen Termini wie „ressentiment", „decadence", oder „Ge-
samt-Entartung" treffen. Philosophisch gibt es offenbar nur eine Gegenkon-
zeption von unangreifbarer Entschiedenheit: es ist der Begriff des ganz und
gar nicht dekadenten Menschen, des „Raubtiers, der prachtvoll nach Beute und
Sieg lüstern schweifenden blonden Bestie", der prachtvollen Animalität des
„Rudels blonder Raubtiere" [...]
Es läßt sich kaum bezweifeln, daß sich Nietzsches ganzes Denken als radikaler,
von der Logik der eigenen Konsequenzen unerbitdich getriebener Gegenzug
gegen die Marxsche Konzeption darstellt und daß der Vernichtungsgedanke
den negativen Aspekt seines innersten Kerns darstellt. Denn wenn die Ge-
schichte nicht Verwirklichung ist, sondern ein jahrtausendealtes Attentat, dann

60 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963.


61 A. a. O., 511 f.
62 A. a. O., 512.
63 Während Nolte bemerkte, daß sich gegen Lukäcs sehr viel einwenden lasse und dessen These
eine ganz andere war, stimmte Nolte darin mit ihm überein, daß am Ende des 19. Jahrhunderts
ein größerer Wechsel im geistigen Klima Europas stattfand. Nietzsches Rolle war klar: „Und
ganz ohne unmittelbaren Zusammenhang mit den politischen Tagesereignissen ist von einem
Kranz faschistoider Autoren die Nietzschesche Lehre aufgenommen und fortentwickelt worden,
die allein den Sozialismus, den Liberalismus und den traditionellen Konservativismus in eine
Reihe zu stellen erlaubte: die Lehre vom Sklavenaufstand und von der Verarmung des Lebens
durch das jüdisch-christliche Ressentiment." (Nolte a. a. O., 29).
64 A. a. O., 533. Die Wahl des Ausdruckes „Vernichtung" in der Nach-Holocaust-Ära spricht für
sich. Weit mehr als der Begriff „Zerstörung" wird er mit dem Begriff „Ausrottung" assoziiert.
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402 Steven Ε. Aschheim

kann nur die Vernichtung des Attentäters die Dinge wieder ins Lot bringen.
Nietzsche ist nicht in einem banalen Sinne der geistige Vater des Faschismus.
Aber er bringt als erster und in umfassendster Weise jenes spirituelle Zentrum
zu Wort, auf das hin aller Faschismus gravitieren muß: den Angriff auf die
praktische und die theoretische Transzendenz, aber um einer „schöneren" Ge-
stalt des „Lebens" willen. 65

Die Ausrottungen durch die Nazis ließen sich so am besten verstehen als
der „verzweifeltste" (und wesentlich Nietzscheanische) „Angriff, der je gegen
das menschliche Wesen und die Transzendenz in ihm geführt wurde" 66 . Obwohl
Nolte selbst die Verbindungen, wie wir bereits gesehen haben, nicht aufgezeigt
hat, ähnelte dies in der Tat sehr der Art, in der verschiedene Nietzscheanische
Nazi-Quellen ihr eigenes Vorhaben definierten — als die Schöpfung einer imma-
nenten, renaturalisierten und anti-transzendenten Gesellschaft.
In einem viel späteren Werk hat Nolte die speziell jüdische Wende, die der
Nazismus diesem Nietzscheschen Entwurf gegeben hat, herausgestellt. Was Hit-
ler mit dem Wort „Jude" meinte, schrieb Nolte in seinem umstrittenen Buch
„Der europäische Bürgerkrieg 1917 — 1945" von 1988, war jener
Komplex von wachsender Naturbeherrschung und Naturentfremdung, von In-
dustrialisierung und Handelsfreiheit, Emanzipation und Individualismus, den
erstmals Nietzsche und nach ihm einige Lebensphilosophen wie Ludwig Kla-
ges und Theodor Lessing für eine Gefährdung des Lebens erklärt hatten. Hitler
hat also den gleichen weltgeschichtlichen Prozeß im Auge, der für Marx zu-
gleich Fortschritt und Niedergang gewesen war, jenen Prozeß, den man die
Intellektualisierung der Welt nennen könnte. Aber trotz einiger Ansätze waren
Marx und Nietzsche, Lessing und selbst Klages immer weit von der Behaup-
tung entfernt geblieben, es lasse sich eine konkrete, menschliche Ursache dieses
Prozesses aufweisen. Hitler jedoch tat diesen Schritt, der eine radikale Umkeh-
rung aller bisherigen Ideologie war, [...] weil er einer Menschengruppe die
Macht zuschreibt, einen transzendentalen Prozeß hervorzurufen. 67

In Noltes neuem Buch „Nietzsche und der Nietzscheanismus" (1990) bleibt


Nietzsche das geistige Zentrum der Nazi-Ausrottungs-Maschinerie. Hier kon-

65 A. a. O., 533 f.
66 A. a. O., 512. In seinem Buch Bluebeard's Castle: Some Notes towards the Re definition of Culture
(London 1971) bringt George Steiner eine ziemlich ähnliche These. Obwohl er Nietzsche in
diesem Zusammenhang nicht nennt, stellt er den Holocaust als ein Ereignis dar, das motiviert
worden sei durch die Wut auf die Schwächung durch Moralität und Gewissen und durch den
Glauben, daß letztere „eine jüdische Erfindung" [a Jewish invention] gewesen seien (35 ff.). Aber
Steiner begrenzt seine respektvolle Behandlung Nietzsches nicht auf diese implizit vorhandene
Dimension. Denn wo Nietzsche explizit angeführt wird, wird er es nicht als geistiger Wegberei-
ter, sondern eher als einer, der dieses Ereignis vorhergesagt und glänzend diagnostiziert habe (38
und 42), weil er sich (wie Kierkegaard) der barbarisierenden — viel mehr als humanisierenden —
Eigenschaften, die der Kultur innewohnen, stark bewußt gewesen sei (63 — 64).
67 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917— 1945: Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frank-
f u r t / M . 1987, 514 f.
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Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord 403

zentriert sich Nolte auf das Wesen des „Vernichtungs"-Denkens und -Sprechens
im Nietzscheschen Corpus. Und wieder wird Nietzsches positive Suche nach
„Lebensbejahung" verbunden mit seiner Forderung nach brutaler Zerstörung
jener lebensverneinenden, „emanzipatorischen" Formen, die verantwortlich
seien für die vorherrschende Decadence, Degeneration und für den gesamten
Niedergang der Vitalität. 68 Nolte nimmt eine (bisweilen unbeachtete) Stelle aus
dem Ecce homo (Die Geburt der Tragödie 4) als herausragendes Beispiel für derlei
Intentionen:
W e r f e n wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, dass mein
Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung gelingt.
Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüch-
tung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose
Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben
auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand
wieder erwachsen muss. 6 9

Die Liste von Nietzsches lebensfeindlichen Opponenten — christlichen Prie-


stern, Vulgär-Aufklärern, Demokraten, Sozialisten, den „Herden der Entarte-
ten" 70 — sei so groß, so Nolte, daß sie in gewissem Sinn die Taten der Nazis
klein erscheinen lasse·?1 „Wenn [Nietzsches] .Vernichtung' im Wortsinne verstanden
wird, müßte das Ergebnis ein Massenmord sein, mit dem verglichen die später
real gewordene ,Endlösung' der Nationalsozialisten geradezu mikroskopische
Dimensionen aufwiese. Das ,Reine' der Vorstellung wäre viel gigantischer als
das ,Unreine' der Realität." 72
Ton und Grammatik dieser Stelle zeigen, daß Noltes Nietzsche nunmehr
sauber in sein ideologisches Netzwerk nach dem Historikerstreit eingeflochten
ist. Nach Nolte liegt dieselbe Logik sowohl den bolschewistischen wie den natio-
nalsozialistischen Ausführungen zugrunde. In charakteristisch ausweichender, ja
gewundener Sprache (was macht „reine" und „unreine" Vernichtung aus?) er-
klärt Nolte diese (unmittelbaren) Prozesse so: die Marxsche Revolution nahm
einen „unreine" Gestalt an, als sie auf eine „ .Bourgeoisie' traf, welche ihre ,histo-
rische Aufgabe noch nicht vollendet' hatte", als „sie einem Bauerntum konfron-
tiert wurde, das noch nicht zur unbedeutenden Minorität der Bevölkerung ge-

68 Ernst Nolte, Nietzsche und der Niet^scheanismus, Frankfurt / M. — Propyläen, 1990, 192 f.
69 KSA 6.313. Bei Nolte, Nietzsche ..., 193 f. Man beachte auch, daß Nolte dieses Zitat bereits in
Der Faschismus in seiner Epoche angeführt hat (533).
70 Nolte, Nietzsche . . . , 1 9 5 .
71 In Der Faschismus in seiner Epoche hat Nolte in einer ziemlich obskuren Passage auf dieses Thema
hingewiesen. Der positive Aspekt von Hitlers und Nietzsches Ideen, schrieb er, sei gewichdos
geblieben „vor der Konkretheit des negativen Willens. Dem politischen radikalen Antimarxismus
des Faschismus hat Nietzsche Jahrzehnte zuvor das geistige Urbild gegeben, dem selbst Hitler
sich niemals voll gewachsen zeigte" (535).
72 Nolte, Nietzsche ..., 195.
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404 Steven Ε. Aschheim

worden war" 73 . Was die Geschichte nicht „natürlich" beenden konnte, sollte
durch eine menschliche Vernichtungs-Agentur vollzogen werden. Den Fall
Nietzsche beschreibt Nolte mit folgenden (sehr unklaren) Begriffen: Nietzsches
Konzeption mußte eine „unreine" Gestalt annehmen, als klar wurde, „daß nicht
die wenigen Starken die vielen Schwachen vernichteten, sondern daß die Vielen
sich als Bedrohte selbst zu Starken machen wollten und eine biologische, ja
meta-biologische Vernichtung ins Werk setzten, welche die Menschheit und vor-
nehmlich deren Herren- und Uberrasse gegen das gefährlichste aller Attentate
[...] sichern und insofern erlösen sollte."74
Der Philosoph erscheint hier als ein zentraler Protagonist, als Prophet von
Noltes allumfassender Vision des weltgeschichtlichen Bürgerkriegs* im 20. Jahr-
hundert, des Krieges zwischen den dialektisch verbundenen Kräften des Bol-
schewismus und des Nationalsozialismus. Hier fungiert Noltes Nietzsche als
Vorhersaget* des großen Bürgerkrieges und des Konzepts einer unausweichlichen
Vernichtung. Bezeichnenderweise webt er dieses Vernichtungskonzept in seine
chronologische und substantielle Darstellung der Beziehung zwischen diesen
zwei geschichtlichen Kräften und ihren destruktiven Tendenzen ein. Danach sah
sich der Kulturmensch Nietzsche, „gleichsam gegen seinen Willen gezwungen,
[...] den großen Weltbürgerkrieg vorherzusehen und für eine Partei dieses Bür-
gerkrieges das Vernichtungskon^pt zu schaffen, welches das Gegenkonzept zu
einem anderen und ursprünglicheren Vernichtungsgedanken war" 75 . Nietzsche
ist jetzt eingebunden in Noltes dubiose Reduktion des Nazismus und seiner
Grausamkeiten auf eine Reaktion auf eine frühere marxistische Version dessel-
ben Gedankens 76 , indem der Holocaust als eine Art Vorwegnahme deutscher
Selbstverteidigung dargestellt wird, als eine Präventivmaßnahme gegen das Be-
wußtsein jüdischer (bolschewistischer) Völkermordpläne.77
Die Möglichkeiten, Nietzsche zu verwenden, sind, wie es scheint, nach wie
vor unvorhersagbar und unerschöpflich.

Ubersetzt von Wolfgang Schneider, Niko Schüler und Werner Stegmaier

73 Ebd., 269.
74 Ebd., 269.
75 Ebd., 89. Nolte schreibt, daß Marx und Nietzsche gegensätzliche Konzeptionen entwickelten,
die an die Bedingungen der Zeit gebunden waren und die „nicht eigentlich Bürgerkriegskonzep-
tionen sein wollten. Sie mußten aber dazu werden, sobald ein entscheidender Schritt zur Realisie-
rung hin getan wurde" (ebd., 276).
76 Nolte hat sich übrigens genau in der Art von zweifelhafter ideologischer Rezeptionsgeschichte
verfangen, die für seine „essentialistische" Geschichtsbetrachtung charakteristisch ist. Bei seiner
Konzeption — zu betrachten, wie es dazu kommen mußte, daß Nietzsche zum Verfechter der
Partei des Lebens wurde — kann er nur Verwunderung darüber äußern, daß „der Begriff der
.Partei des Lebens' ... nirgendwo" auftaucht „und die nicht ganz seltenen Erörterungen über
,Marx und Nietzsche' ... am ehesten von dem Gegensatz zwischen dem ,Kollektivisten' und
dem .Individualisten'" handeln (ebd., 268).
77 Vgl. Noltes „A Past that will not Pass Away", in: Yad Vashem Studies 19 (1988), 71.
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