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MOSHE ZIMMERMANN

Nietzsche in Israel

Die folgenden Ausführungen fallen im Rahmen eines Symposiums über „Jü-


dischen Nietzscheanismus" sicherlich in den Bereich des Exotischen. Es handelt
sich um Ausführungen eines Historikers. Hier spricht kein Philosoph, kein
Theologe oder Linguist. Die folgende Nietzsche-Betrachtung eines Historikers
ist die Darstellung des israelischen Diskurses über Nietzsche, keine Analyse der
Philosophie Nietzsches und ihrer Bedeutung oder Schwächen. Das ist entschei-
dend für die Auswahl der Quellen, die bei der Erarbeitung der folgenden Dar-
stellung eingesehen und ihr zugrunde gelegt wurden: Zur Diskussion um Nietz-
sche in Israel ist zunächst keine Untersuchung der akademischen Beschäftigung
philosophischer Gelehrter in Israel mit Nietzsche als Philosophen notwendig.
Vielmehr ist eine Einsicht in Dokumente über die Stellung Nietzsches im politi-
schen, kulturellen und gesellschaftlichen Diskurs in Israel erforderlich. Auf die
Arbeiten der Kollegen, die sich mit der Philosophie Nietzsches beschäftigen,
darunter natürlich Jacob Golomb, Menachem Brinker und Jirmijahu Jovel, soll
konsequenterweise erst dann Bezug genommen werden, wenn sie in den öffent-
lichen Diskurs über Nietzsche eintreten. Nur in der Perspektive des öffentlichen
Diskurses ist es möglich, sie in einem Atemzug mit Außenseitern, wie Rivka
Schächter, Giora Schoham und Israel Eldad, zu nennen, bei denen es sich um
von der Norm abweichende Philosophen bzw. Quasi-Philosophen mit auffallen-
der Idiosynkrasie handelt. Im Rahmen dieses Diskurses spielen darüber hinaus
selbstverständlich Historiker wie ζ. B. Jakob Talmon und David Ochana sowie
mehrere Lehrbuchautoren eine nicht minder bedeutende Rolle.
Die Beschäftigung mit Nietzsche im Kontext des öffentlichen Diskurses in
Israel bringt nicht unbedingt Nietzscheanismus, oder einen speziell jüdischen
Nietzscheanismus, zum Ausdruck. Die Gründung des Staates Israel trug sogar
wesentlich zum Rückgang jener Dimension des Nietzscheanismus bei, die den
Zionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts beeinflußt hatte. Die Untersuchung
des Einflusses Friedrich Nietzsches auf den Zionismus durch die israelische
Forschung in den ersten Jahren nach der Staatsgründung, zum Beispiel durch
Alisa Klausner-Eschkol,1 war bereits das Zeichen für das Ende des Phänomens.

' Alisa Klausner-Eschkol, Der Einfluß Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers auf Micha Joseph
Bin-Gorion (hebräisch), Tel Aviv 1954.
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Seit der Gründung des Staates Israel dienten weite Bereiche des öffentlichen
Diskurses um Nietzsche nur als Aufhänger für die verschiedensten und seltsam-
sten Ziele oder Bestrebungen teils politischer, teils ideologischer Natur. Die nach
ihrer Identität suchende israelische Gesellschaft machte unter anderem eben
auch von Nietzsche Gebrauch, und es sieht so aus, als ob der Nietzschediskurs
prinzipiell in die enge Arena gestellt wurde, die für den israelischen Diskurs so
charakteristisch ist. Das Thema ist demnach ideologisch und politisch belastet.
In dieser Hinsicht ist Nietzsche in Israel jedoch nicht weniger problematisch als
in Deutschland, wo es schon in den dreißiger Jahren zur öffentlichen Diskussion
um die Frage kam, ob Nietzsche etwa als ein Meilenstein in der Entwicklung
des Dritten Reiches zu gelten habe.
Aufgrund der Natur der Selbstdefinition des Staates Israel ist auch dort die
Frage nach der Rolle Nietzsches für die Entwicklung des Nationalsozialismus
eine Schlüsselfrage. Doch dieses Problem steht eigentlich im Schatten einer an-
deren, weitaus wichtigeren Frage für die Absteckung des Definitionsrahmens
des Staates Israel: Inwieweit war Nietzsche Wegbereiter für den Antisemitismus
allgemein und für den nationalsozialistischen Antisemitismus insbesondere? Hier
steht man in Israel vor einer ähnlichen Schwierigkeit wie bei der Behandlung
des italienischen Faschismus: In einer Gesellschaft, in der der Antisemitismus
der alles beurteilende Maßstab ist, verwischt Nietzsche, wie Mussolini bis 1938,
das eindeutige, klare Bild, dem gemäß Faschismus, Nationalsozialismus und
Antisemitismus unweigerlich und absolut ineinander verwoben sein müssen. In
einer Gesellschaft, in der „der Deutsche" mit Amalek, dem mythischen Erzfeind
des jüdischen Volkes, identifiziert wird, also nicht nur mit dem Phänomen des
Nationalsozialismus überhaupt, sondern auch mit der Shoah des jüdischen Vol-
kes 2 —, kann ein Deutscher wie Nietzsche ein störender Faktor sein, wenn sich
herausstellen sollte, daß er nicht Antisemit par exellence war; denn wer nicht
Antisemit ist, dem sieht man in Israel manchen anderen Fehler nach; der
alleinige Maßstab für Gut und Böse ist in der israelischen Gesellschaft eben
immer noch die Einstellung zum jüdischen Volk. Und das ist keine Angelegen-
heit von sekundärem Charakter, denn in Israel, wo eben nicht alles aus der Per-
spektive des Antisemitismus gesehen werden und man über den Positionen des
Exiljudentums stehen sollte, dürfte dieser Maßstab keine derartig zentrale Rolle
spielen. Nach diesem Maßstab stellt Nietzsche, wenigstens a priori, kein aus-
drückliches Angriffsziel dar.
Es ist überaus sinnvoll, gleich zu Beginn die Aufmerksamkeit auf ein weite-
res Paradox zu lenken, das die Rezeption und den Einsatz Nietzsches als Etikett

2 Moshe Zimmermann, „Amalek? Zur Einstellung der israelischen Gesellschaft gegenüber Deut-
schen", in: Shmuel Bahagon (Hrsg.), Recht und Wahrheit bringen Frieden. Festschrift aus Israelfur Nils
Hansen, Gerlingen 1994, S. 3 0 9 - 3 1 9 .
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erschwert: Wer in Israel prozionistisch gesonnen ist, dem wird ebenfalls andere
Schuld gerne vergeben; und für das entgegengesetzte Lager gilt Entsprechendes,
nur umgekehrt: Man vergibt leicht einem Antizionisten seine Schuld. Hier ist
Sombart ein vorzügliches Beispiel, der trotz seines heftigen Antisemitismus von
einigen Zionisten positiv beurteilt werden konnte, da die Schlußfolgerungen aus
seiner Geschichtsauffassung (neben einigen seiner Grundpositionen) gut in das
zionistische Konzept paßten. 3 Gleiches trifft auch auf Nietzsche zu: Es gibt
etliche Versuche, selbst Nietzsche in das Raster von Gegnern und Befürwortern
des Zionismus einzuordnen. Und auch in diesem Zusammenhang tritt relativ
rasch der auffallende Widerspruch zwischen dieser Position und der Lokalisie-
rung Nietzsches im Entwicklungsprozeß des Dritten Reiches hervor. Um nun
die Angelegenheit zu verdeutlichen, ist zunächst einmal zu veranschaulichen,
wie diese Tendenzen praktisch zum Ausdruck kommen: Nietzsches Schriften
wurden von Israel Eldad, der selbst in das radikale rechte Spektrum der zioni-
stisch-israelischen Gesellschaft einzuordnen ist, in die hebräische Sprache über-
setzt. Eldad begann im Jahre 1962 mit seiner Ubersetzung. Diese Jahreszahl
steht nicht von ungefähr im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß in Jeru-
salem. 1977, drei Monate vor der Wende in Israel, die die rechtsorientierte zioni-
stisch-revisionistische Bewegung an die Macht brachte, erhielt der Übersetzer
der Schriften Nietzsches dann den Tschernichowski-Literaturpreis (der Schrift-
steller Tschernichowski hatte in den Jahren 1889 bis 1907 selbst eine nietzsche-
anische Epoche durchlaufen). In der Begründung des Preiskomitees zur Verlei-
hung des Preises an Eldad hieß es: 4 „Nietzsche verabscheute die Antisemiten
und den Antisemitismus. Anders als die Antisemiten schätzte er Juden außeror-
dentlich hoch und sah in ihnen ,das auserwählte Volk unter den Völkern ... ,
und zwar, weil sie das moralische Genie unter den Völkern sind,' (Die Fröhliche
Wissenschaft, 136) und hielt die Juden für ,die stärkste, zäheste und reinste Rasse,
die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten
Bedingungen sich durchzusetzen' (Jenseits von Gut und Böse, 251). Auch zeigte
Nietzsche gegenüber der Hebräischen Bibel höchste Wertschätzung." Um die
Verleihung des Preises zu legitimieren, führten die Preisrichter im weiteren Ver-
lauf ihrer Begründung die Tatsache an, daß Neumark, Zeidin, Gordon, Brenner,
Berdyczewski und andere Zionisten von Nietzsche beeinflußt waren. Und um
nun nicht gänzlich in einer provinziellen Enklave verharren zu müssen, erinnern
die Jurymitglieder an einige große, nichtjüdische Persönlichkeiten, die ebenfalls
unter dem Einfluß Nietzsches gestanden haben sollen, darunter Heidegger und
Marinetti ... Nietzsche erhielt somit seine israelische Legitimation aus eben je-

3 Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1991.


4 „Zur Übersetzung Nietzsches ins Hebräische", (hebräisch), in: HaArefy 04.03.1977. Mitglieder des Preis-
komitees waren Ja'akov Bahat, Chajim Rabin, Haggai Ben Schammai.
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nem für die israelische Gesellschaft so typischen Blickwinkel: Wer nicht Antise-
mit ist, dem sieht man manchen anderen Fehler nach, denn der alleinige Maßstab
für Gut und Böse in Israel ist die Einstellung zum jüdischen Volk. Israel, so
erweist sich, hat den Antisemitismus zu einem zentralen Element seiner Identi-
tätsdefinition gemacht und kann daher auf Nietzsche Bezug nehmen, ohne sich
Gedanken über den Nietzscheanismus oder Anti-Nietzscheanismus im üblichen
Sinne zu machen. So überraschend ein derartiger Maßstab, wie gesagt, auch im
ersten Moment im Hinblick auf Israel ist, seine Gültigkeit wird doch eindeutig
durch die zitierte Entscheidung des Preiskomitees belegt. Auf den Preisträger
selbst wird im weiteren Verlauf der Darstellung eingegangen werden.

Die Diskussion um Nietzsche spielt sich also im Zirkel zwischen zwei Polen
ab, die keineswegs jenseits von Gut und Böse sind, sondern Gut und Böse
definieren: 1) Ist Nietzsche der „gute" Nietzsche, der Judenfreund, der Antise-
mitengegner (ja vielleicht sogar der Zionist) oder der „böse" Nietzsche, der
Judenfeind und Antisemit? Und: 2) Ist Nietzsche als Verkünder des Nationalso-
zialismus zu sehen oder als Philosoph, der mit dem Nationalsozialismus in kei-
nerlei Verbindung stand? Mit anderen Worten: War Nietzsche ein Philosoph,
der allein durch sein Deutschsein den Weg zur Shoah ebnete, oder ein Denker,
dessen Positionen mit allem, woran der Nationalsozialismus glaubte, unvereinbar
waren?
Auch der öffentliche Diskurs in Israel war insgesamt nicht einfältig und
pauschal, im guten wie im bösen Sinne. Besonnene Akademiker verwiesen
selbstverständlich stets auf die Ambivalenz von Nietzsche, auf das Unverständ-
nis, das sich aus seinen Schriften ergebe, ganz ähnlich wie im Diskurs um Nietz-
sche in Deutschland oder Europa. Und die Diskussion um die Ambivalenz
Nietzsches, insofern sie überhaupt stattfand, führte in Israel, wie in anderen
Ländern auch, nicht nur zur Relativierung von Nietzsche, sondern zur Relativie-
rung des Nationalsozialismus überhaupt.
Hier soll zunächst ein frühes und insbesondere angesichts des bitteren Hi-
storikerstreits in Deutschland in den achtziger Jahren über die Relativierung
des Nationalsozialismus und der Shoah zugegeben extremes Beispiel angeführt
werden: Als im Jahre 1956 die Diskussion um die Aufführung der Werke Richard
Wagners in Israel einsetzte, die seit der Reichspogromnacht vom November
1938 in Israel verboten waren, fiel nebenbei auch der Name des Wagnerfreundes
Friedrich Nietzsche als eines für die Gestaltung des Nationalsozialismus Verant-
wortlichen. Scharfe Abwehr fand die Konstruktion dieser Affinität in dem Arti-
kel „Zwischen Nietzsche und Wagner" des liberalen Zeitungsherausgebers Gers-
hom Schocken. 5 Für eine derartige Anschuldigung gebe es keinerlei Ursachen,

5 Gershom Schocken, „Zwischen Nietzsche und Wagner" (hebräisch), in: HaArefy 14.12.1956.
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argumentierte Schocken. Nietzsche sei kein Nationalist gewesen, die „Rassen-


lehre war ihm fremd", und prinzipiell gelte: „Nietzsche für die Verbrechen Hit-
lers verantwortlich zu machen, ist ebensowenig gerechtfertigt, wie Karl Marx
die Verantwortung für die Morde Stalins aufzubürden, oder Achad Haam oder
Herzl als die Verantwortlichen für das Gemetzel in Kefar Kassem zu bezeich-
nen." Dieser Satz Schockens, der Ernst Nolte gewiß große Genugtuung bereiten
würde, läßt erkennen, wie stark die Diskussion um Nietzsche in Israel eigentlich
eine aktuelle politische Diskussion im Rahmen der historischen Relativierung
ist. Schon dieser frühe Artikel Schockens zeigt, wohin die Diskussion führen
kann: zu den zwei entlastenden Elementen, nach denen Nietzsche weder Antise-
mit noch Wegbereiter des Nationalsozialismus war.
Das ambivalente Element in den Schriften Friedrich Nietzsches, auch im
Hinblick auf die israelische Post-Shoah-Gesellschaft, wurde natürlich von den
Historikern gesehen. In diesem Kontext übernahm insbesondere Jakob Talmon,
der seine wissenschaftliche Tätigkeit der Erforschung der „totalitären Demokra-
tie" gewidmet hatte, eine zentrale Rolle. Uber die Einordnung Nietzsches in das
Lager der Antisemiten heißt es bei Talmon: „Kein Zweifel, daß Nietzsche den
Antisemitismus zutiefst abgelehnt hat",6 doch: „Trotz allen Spottes für den ple-
bejischen Antisemitismus und den überzogenen Nationalismus überhaupt, trotz
der Glorifizierung von Juden durch Nietzsche — als bestes Beispiel für die
zukünftigen guten Europäer warnte Nietzsche doch vor einer weiteren Zuwan-
derung von Ostjuden, in der Furcht, der deutsche Magen könne mit ihnen
dann nicht mehr fertig werden {Jenseits von Gut und Böse, 251). Auch war er der
Uberzeugung, der jugendliche Börsen-Jude sei die widerlichste Erfindung des
Menschengeschlechtes überhaupt' (Menschliches, All^umenschItches I, 475)".7 Be-
wunderung gibt es also bei Nietzsche und Feindschaft. Und: „Beides ist rich-
tig."8 Somit kann Nietzsche, nach Meinung Talmons, nicht von den Antisemiten
losgelöst betrachtet werden. Und aus diesem Grunde muß Talmon auch in dem
Kapitel „Der Rassismus — der Weg nach Auschwitz" auf Nietzsche eingehen,
wo dem Philosophen ein Platz zwischen Treitschke und Stöcker reserviert ist.9
An anderer Stelle bei Talmon wird Nietzsche wegen der Verwandschaft der
Denkstrukturen zwischen R. Wagner und H. S. Chamberlain eingeordnet. Eine
aussagekräftige Bestimmung! Dennoch ist die Gesamtnote, die Nietzsche von
Talmon erhält, nicht schlecht — denn er steht nicht zwischen denjenigen, die
eine Aufhebung der Gleichberechtigung von Juden forderten.10 Die Ambivalenz

6 „Die jüdischen Aspekte Nietzsches in historischer Perspektive", Vortrag auf dem Kongreß für
Jüdische Studien, Jerusalem, 08.08.1969 (hebräisch), in: HaAre% 12.09.1969, S. 50.
7 Jakob Talmon, Mythos der Nation und Revolutionsvision (hebräisch), Tel Aviv 1982.
8 Talmon, .Jüdische Aspekte" (Anm. 6).
9 Talmon, Mythos der Nation (Anm. 7).
10 Talmon, Mythos der Nation (Anm. 7), S. 259.

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liegt jedoch selbstverständlich nicht nur in Nietzsches Schriften, sondern auch in


Talmons Haltung gegenüber Judentum, Zionismus und israelischer Gesellschaft.
Aber der Historiker setzt hier die Grenzen: Nietzsche zum Vater des Natio-
nalsozialismus oder des Antisemitismus zu machen, ist eine Verzerrung. Talmon
bringt lange Zitate aus der Morgenröte (205).11 Zu dem Abschnitt, in dem es
heißt, „es bleibt ihnen nur noch übrig, entweder die Herren Europas zu werden
oder Europa zu verlieren", aus dem sich bei Nietzsche im weiteren Verlauf die
Erwartung der Zunahme von Mischehen mit Juden und die positive Beurteilung
dieser Ehen ergibt, schreibt Talmon, 12 er wäre bereit, sein gesamtes Vermögen
hinzugeben, um zu erfahren, ob Hitler diesen Abschnitt jemals gelesen habe.
Anreiz für diese Äußerung war die bekannte Rede Hitlers vom 30. Januar 1939,
die von Talmon in seiner Darstellung paraphrasiert wird, eine Rede, die ebenfalls
auf der Alternative — entweder sie oder wir — aufbaut. Talmons Wunsch ist
m. E. überflüssig, denn wer ζ. B. Theodor Fritsch 13 gelesen hat, muß seine Ge-
danken nicht durch einen Nietzsche dieser Art in Schwierigkeiten bringen. Bei
Hider findet sich ein nach den typischen antisemitischen Denkmustern gespon-
nenes Netz. Nietzsche trägt hier weder Schuld noch Verantwortung. Talmon
ging bei seiner Einordnung Nietzsches auf dem Weg zum Nationalsozialismus
also ein Stück zu weit.
Faßt man Talmons Position nun zusammen, so zeigt sich, daß Nietzsche
sehr wohl in die zum Nationalsozialismus führenden Kontinuitäten gehört, doch
mit erheblicher Distanzierung, denn er „wurde von dem scheinheiligen Nationa-
lismus abgestoßen" 14 und „lehnte die biologische Rassenlehre ab". Darüber hin-
aus hat die Nietzsche-Rezeption den Philosophen Nietzsche, in Talmons Sicht,
befleckt, während Valois als Nietzsche-Schüler vorgestellt wird und Talmon sich
ausgerechnet auf Ernst Noltes Buch „Marx und Nietzsche" beruft, um den
Einfluß Nietzsches auf den frühen, prärassistischen Mussolini nachzuweisen. 15
Zudem wird auch Hitler als sich wörtlich auf Nietzsche stützend gesehen. Im
Hinblick auf das zweite Kriterium, den Antisemitismus, ist nach Talmon festzu-
halten: Nietzsche ist nur dann Antisemit, wenn man ihn nicht korrekt liest und
die Ambivalenz ignoriert — Feindseligkeit und Verachtung für die Sklaven- und
Priestermoral steht bei Nietzsche der Bewunderung der asketischen Moral ge-
genüber. Talmon ist wesentlich vorsichtiger als Kaufmann (den er in einem
Aufsatz aus dem Jahre 1969 mit der Behauptung scharf angriff, Kaufmann
würde versuchen, Nietzsche auf eine keineswegs zulässige Art vor seiner eigenen
Monstrosität zu retten, da er den Abschnitt bei Nietzsche, in dem es um die

11 Sowohl in „Jüdische Aspekte" (Anm. 6), S. 69, als auch in Mythos der Nation (Anm. 7).
12 Ebd.
13 Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 1937.
1 4 Talmon, „Jüdische Aspekte" (Anm. 6).
15 Talmon, Mythos der Nation (Anm. 7), S. 594.

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Vorherrschaft der Juden in Europa geht, übersehen habe); dennoch fällt Talmon
nicht ins entgegengesetzte Extrem. Das System wird für ihn von der Genealogie
der Moral und den Ausführungen über den Kampf zwischen Rom und Judäa
definiert.16 Von hieraus gelangt er zu der ambivalenten Schlußfolgerung: „Es
wäre töricht, Nietzsche für die Shoah .verantwortlich' zu machen ... doch ihn
ohne Schuld zu endassen, das ist auch nicht möglich. Er gehörte zu denjenigen,
die das Klima schufen, zu denjenigen, die die Denkstrukturen festlegten."17
Nietzsche ist also für Talmon nicht der direkte Wegbereiter, sondern derjenige,
der die terminologischen Konturen skizziert hat. In seinem Aufsatz „Die euro-
päische Geschichte als Hintergrund der Shoah" 18 stellt Talmon fest, daß die
Ablehnung der Friedensbereitschaft und die Bejahung des Kampfes durch
Nietzsche ein Geschenk an die Vertreter der Rassenlehre und die Anhänger des
antisemitischen Kults waren. Überdies bedeutete dies, nach Meinung Talmons,
ein Uberschreiten der wesentlichen Trennlinie: Wer gegen den Frieden ist, der
stellt sich auch gegen das Gebot „Du sollst nicht töten!"
Die nietzscheanische Ambivalenz wird auch von David Ochana, einem jun-
gen israelischen Historiker und Schüler Talmons, betont. Ochana hob bereits in
seiner Dissertation diese Ambivalenz auch im Hinblick auf den jüdischen Aspekt
hervor. Doch konzentriert sich Ochana nicht allein auf diesen Gesichtspunkt,
denn im Zentrum seiner Arbeit steht die „nihilistische Revolution" und die Rolle
Nietzsches im Nihilismus. Es besteht kein Zweifel, daß Friedrich Nietzsche für
Ochana zu den Vätern des Nihilismus des 20. Jahrhunderts gehört und als sol-
cher eben auch zu den Wegbereitern des Nationalsozialismus. Im Kontext dieses
Gedankenganges ist Nietzsche noch negativer zu bewerten als bei Talmon, auch
auf dem Wege, der zur Shoah führt. Hier, bei Ochana, wird von Nietzsche
exemplarisch Gebrauch gemacht, um das Wesen des Faschismus und des Natio-
nalsozialismus zu erklären.19
Auf der anderen Seite des akademischen Spektrums, auf der Seite der Philo-
sophie also, vertritt der Jerusalemer Philosoph Jacob Golomb eine Position, die
stärker als Talmon, und vielleicht eher wie Kaufmann, dazu neigt, die positiven
Aspekte im ambivalenten Komparationsverhältnis zu betonen. Nietzsche sei
demnach nicht nur kein Antisemit, sondern Philosemit gewesen! Golomb ver-
wirft nicht nur prinzipiell die Versuche des Nationalsozialisten Bäumler, sondern
auch die Versuche eines Brinton oder Danto, Nietzsche dem Antisemitismus
zuzuordnen. Rivka Schächter (deren Position im weiteren Verlauf erläutert wer-

16 GM I 1 6 - 1 7
17 Talmon, „Jüdische Aspekte" (Anm. 6).
18 Jakob Talmon, „Die europäische Geschichte als Hintergrund der Schoa" (hebräisch), in: Schoa

und Auferstehung, Yad Vashem/Jerusalem 1976, S. 11—48.


19 David Ochana, From Nihilism to Totalitarianism, (Diss.) Jerusalem 1987; sowie: „Europa blickt

auf seine Vergangenheit", in: HaArefy 12.05.1989.


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den soll) wird von ihm aufs heftigste angegriffen. Grundsätzlich unterscheidet
sich Golombs Position nicht von der Position Talmons, der ja ebenfalls die
Ambivalenz in Nietzsche hervorhob. Doch Golomb versucht das Gleichgewicht
eher im allgemeinen Kontext der Arbeiten Nietzsches und seiner psychologi-
schen Lehre zu finden. Daraus, und keineswegs aus der einfachen Lektüre im
Verständnis des heutigen Lesers, erkläre sich das Wesen der ambivalenten Bezie-
hung Nietzsches zu Juden. Wie gesagt, weder Talmon noch Ochana oder Go-
lomb bringen Nietzsche unbefangen zum Sprechen. Sie verkünden eine öffentli-
che Botschaft. Diese entscheidende und vor allem für Israelis relevante Bot-
schaft lautet bei Golomb, eine positive Einstellung zur Immunisierung der Juden
durch das Leiden im Exil führe gerade (!) zu einer Bejahung des jüdischen
Exils, 20 auch wenn hier ein Widerspruch zu einer weiteren Schlußfolgerung
Golombs besteht, 21 nach der Nietzsche zwischen dem negativen Diasporajuden-
tum und dem jüdischen Volk des positiv beurteilten Alten Testaments unter-
schieden haben soll. Golomb verweist darüber hinaus ausdrücklich auf Nietz-
sches Ausführungen über die zukünftig notwendige Rolle der Juden in Europa,
die den Juden als unverzichtbar für „die intellektuelle Therapie des modernen
Menschen" beschreiben. 22 Diese Beurteilung steht neben dem ausdrücklichen
Urteil (das selbst Talmon nicht zu fällen gewagt hat), Nietzsche hätte den Zio-
nismus, wenn er ihn denn gekannt hätte, abgelehnt, da er der Assimilation der
Juden und ihrer Bereitschaft zu Mischehen vertraut und den Nationalstaat ver-
achtet habe. Golomb ist sich vielleicht dessen nicht bewußt — aber es ist mög-
lich, daß die geistige Kraft ohne Staat, die Nietzsche am Judentum so schätzte,
gerade den autonomistischen jüdischen Nationalismus (der inzwischen vom
Erdboden verschwunden ist) — stärker als die nicht-nationale Exilswirklichkeit
— zu einem wirklichen Nietzscheanismus macht. Angesichts dessen wäre eine
erneute Untersuchung der Ausführungen des Historikers Simon Dubnows, des
führenden Vertreters eines jüdischen Autonomismus in Europa, dringend ange-
bracht. Der einzige von Golomb bei Nietzsche gefundene Hinweis auf eine
indirekte Befürwortung des Zionismus durch den Philosophen ist das Streben
zurück in die Vorzeit als positiver Wert. Hier ist jedoch auf eine entscheidende
Anmerkung Golombs achtzugeben: so wie .Deutschland über alles' eine Zer-
mürbung der Kraft des deutschen Geistes bedeute, so auch die Parallele bei ,den
Hebräern unserer Tage'. 23

Golomb führt uns hier direkt in das Zentrum des Problems der Nietzschere-
zeption in Israel — Nietzsche ist nicht nur für die existentialistische Frage „Wer

20 Jacob Golomb, „Der Jude, das Judentum und der Zionismus bei Nietzsche" (hebräisch), in:
Mechkere Jeruschalajim be-machscbevet Jisrael 2 (1983), S. 451.
21 Ebd., S. 463.
22 Ebd., S. 468.
23 Ebd., S. 470.

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ist Antisemit?" relevant, sondern auch für die Frage „Wer ist Zionist?". Wichtig
ist in diesem Kontext, daß Golomb seine Ausführungen keineswegs nur in ei-
nem Beitrag in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, sondern einem
breiten, wenn auch elitären, Publikum in Gestalt der Leser der Zeitung „Ha-
Aretz" zugänglich gemacht hat. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden,
daß diese Beiträge Golombs im Februar 1983 24 auf dem Hintergrund des Liba-
nonkrieges veröffentlicht wurden! Nietzsche ist im israelischen Diskurs eben ein
politisch aktuelles Element.
Auf dem Hintergrund der anscheinend antizionistischen Position Nietz-
sches, nicht auf dem Hintergrund seiner Wertschätzung des Judentums, erklärt
Golomb die Sympathie der antizionistischen Orthodoxie in Israel für Nietzsche.
Doch hier sollte man vorsichtiger sein — Grund für diese Berufung auf Nietz-
sche in Israel ist nicht allein sein angeblicher Antizionismus, denn es gab ja auch
Zionisten, die in Nietzsche einen Vertreter ihrer Sache sehen konnten. Und
gerade extreme Zionisten erweisen sich in Israel öfter als Sympathisanten Nietz-
sches. Andererseits gab es sehr wohl zionistische Orthodoxe (wie Moshe Soleh),
die Nietzsche für einen Judenfeind hielten. Auch hier trifft zu, was für die ge-
samte Diskussion gilt — Nietzsche kann auf beiden Seiten stehen und konnte
bisher jedes Lager erfolgreich spalten. Doch darf in diesem Zusammenhang
nicht zu hoch gegriffen werden — weder die Extremgruppe auf der einen, noch
die auf der anderen Seite ist wirklich nietzscheanisch. Auffallend ist jedoch, daß
gerade extreme Gruppen prinzipiell eine Neigung zu dem Verlangen zeigen, sich
auf Nietzsche zu berufen.
Ein Beispiel, das Golombs These vom Bund zwischen Antizionismus und
extremer Orthodoxie in Israel allerdings bestätigen könnte, ist die Arbeit des
exotischen Außenseiters Leib Weisfisch aus dem orthodoxen Lager. Man darf
wohl davon ausgehen, daß Weisfisch sich Nietzsche zum höchsten Propheten
auserkor, weil er ihn in die Nähe der Zionismuskritiker und der Anhänger eines
traditionellen Judentums stellen konnte. Doch damit sind die Ursachen für die
Wertschätzung, die Weisfisch dem Philosophen Nietzsche zukommen läßt, ge-
rade aus israelischer Perspektive noch nicht erschöpft.
In einem Interview vom 20,05.1983 in der Feuilletonbeilage der Zeitung
„HaAretz" formulierte Weisfisch seine Position folgendermaßen: 25 „Dieser Goj
(so bezeichnet er Nietzsche — Μ. Z.) hat den Juden ihre Größe zeigen müssen."
Hier wird die Intention deutlich: „vor aller Welt den Mißbrauch Nietzsches
und die fürchterliche Verfälschung seiner Schriften durch die Nationalsozialisten
gegen die Juden abzustreiten". Und Weisfisch fährt sogleich mit einem weiteren

24 Jakob Golomb, „Nietzsche, der Hebräer" (hebräisch), in: HaAret£ 04.02.1983, S. 18.
25 Niza Melinijak, „Jeder mit seinem eigenen Nietzsche" (hebräisch), in: Mussaf HaArefy 20.5.1983,
S. 16.
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Basiselement seines Nietzschestudiums fort: Nicht nur im Hinblick auf Juden,


sondern prinzipiell könne Nietzsche nicht als der Vater des Nationalsozialismus
gelten, ganz im Gegensatz zum Beispiel zu dem, was Weisfischs Tochter im
Lehrerseminar gelernt habe. Doch um diese Erkenntnis aus dem Munde eines
orthodoxen Juden zu vernehmen, hätte man nicht bis zum Jahr 1983 warten
müssen. Schon in der Ausgabe der „HaAretz" vom 16.08.1946, also relativ un-
mittelbar nach dem Weltkrieg, schrieb Jitzchak Ben Pinchas in seinen „Anmer-
kungen zu unserer Geschichte", daß Nietzsche „tiefer in das Geheimnis der
Existenz des jüdischen Volkes eingedrungen ist als jeder Jude oder alle ,Maski-
lim' zusammen". 26 Darüber hinaus darf man jedoch keineswegs vergessen, daß
die Mehrheit der Ultraorthodoxie zu Nietzsche in keinerlei Verbindung steht
und grundsätzlich keine Kenntnis von diesem Philosophen besitzt, denn zur
ausgewählten Lektüre der Orthodoxie gehört prinzipiell keine säkulare Literatur
dieser Art.
In einem Vorschlag zu einem Internationalen Kongreß zur Philosophie
Nietzsches aus dem Jahre 1981 betonte Weisfisch, daß Nietzsche nicht nur ver-
fälscht wurde, sondern daß man auch das Ziel seines Angriffs, den Nationalis-
mus, ungerecht gegen ihn gewandt habe. Und hier läßt der antizionistische,
orthodoxe Weisfisch die politische Katze aus dem Sack, wenn er zu der Feststel-
lung gelangt: „Denn was verbindet die arabische Welt gegen das Judentum, wenn
nicht der inhaltslose Nationalismus, und was verbirgt sich hinter der kommuni-
stischen Gleichheit, wenn nicht der russische Patriotismus." 27 Die jüdischen,
arabischen und russischen Nationalismen sind für Weisfisch die Ursache für die
Unordnung im Nahen Osten und überhaupt auf der ganzen Welt. Weisfisch
sucht in diesem Zusammenhang nach einer Alternative. Und Prophet dieser
Alternative wird für ihn Friedrich Nietzsche. Da Weisfisch zur Zeit der Abfas-
sung seiner Darstellung die Meinung vertreten konnte, „der Westen löst sich
von selbst auf, und der russische Krebs wird die Welt erobern", sah er sich in
einer Situation, in der nur das Judentum (in der nietzscheanischen Interpreta-
tion) das Problem der defizitären Ordnung auf der Welt lösen könne. So tritt
Nietzsche an die Stelle des zweiten Kapitels des Jesajabuches, er wird zum
Kämpfer gegen Zionismus und Kommunismus, also gegen beide Feinde der
Religion oder der Orthodoxie. Nach 1989 ist nun allerdings der Nietzscheanis-
mus eines Leib Weisfischs einer Revision zu unterziehen, auch wenn der arabi-
sche oder russische Nationalismus nach der großen Revolution unter Umstän-
den in Kontinuität zu dem Feind der Vergangenheit gesehen werden kann.

26 Jitzchak Ben Pinchas, „Anmerkungen zu unserer Geschichte" (hebräisch), in: HaAret£


16.08.1946.
27 Arieh Leib Weisfisch, „Nietzsche über Juden, Deutsche und Antisemiten!" (undatiert, höchst-
wahrscheinlich 1 9 8 1 ) , sowie: „Vorschlag für einen Internationalen Kongreß zur Philosophie
Nietzsches", 1 9 8 1 .
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Nietzsche in Israel 415

Im folgenden ist um der Vollständigkeit willen die andere Seite der israeli-
schen Gesellschaft darzustellen — das zionistische Extrem. Israel Eldad (Scheib)
darf als rechtsradikaler Außenseiter im israelisch-zionistischen Spektrum gelten.
Daher wäre es interessant, zu untersuchen, wie und warum bei ihm eine Sympa-
thie für Nietzsche entstand. Nach einem Selbstzeugnis 28 hatte Eldad sich bereits
in seiner Schulzeit in Polen für Nietzsche als Reaktion auf die Lektüre der Schrif-
ten Achad Haams begeistert. Das würde bedeuten, Nietzsche stellte von Anfang
an die militante zionistische Antwort Eldads auf den geistigen, von Achad Haam
geprägten, Zionismus dar. Gegen Achad Haam las Eldad Berdyczewski und
durch Berdyczewski („Umwertung aller Werte, Aufstand gegen die Exilswirk-
lichkeit" 29 ) gelangte er zu Nietzsche, ein Weg, der in den zwanziger Jahren
für Juden nicht unbedingt außergewöhnlich war. Doch zur aktiven Umsetzung
Nietzsches gelangte Eldad konkret erst durch den Kampf in der Organisation
„Lechi", der extremsten Terrororganisation des jüdischen Jischuw in Palästina
während der britischen Mandatszeit: Eldad suchte nach einer Rechtfertigung für
nicht-demokratisches Handeln im Namen der nationalen Vision. Deshalb fand er in
dem „Willen zur Macht" und in dem „Ubermenschen" eine argumentative Basis.
Die nietzscheanische Anschauung von der Moral der Massen als einer Sklaven-
moral bot, wenn man so will, ebenfalls eine Bestätigung der nichtdemokrati-
schen Positionen. Genau in diesen Kontext setzte Eldad Nietzsches Ausführun-
gen in seinem Aufsatz „Zentrum und Peripherie in Nietzsches Philosophie" 30
aus dem Jahre 1944 (ein Jahr vor Kriegsende!) anläßlich der hundertsten Wieder-
kehr des Geburtstages des Philosophen. Für Israel Eldad und Uri Zwi Grinberg,
einen Dichter der extremen zionistischen Rechten, wurde Nietzsche in erster
Linie aufgrund seiner antidemokratischen Position, auf die sich zionistische Dissidenten
von der Art der Lechi-Anhänger berufen konnten, nicht aber aufgrund seiner
positiven Haltung zum Judentum akzeptierbar (diese sollte Scheib überhaupt
erst später entdecken). Außerhalb des nietzscheanischen Kontexts gelangte El-
dad zur Anschauung, man dürfe nicht auf die Übergabe der Verfügungsgewalt,
das Volk zum Aufstand zu führen, mittels einer Abstimmung warten. Die Weni-
gen, die vor ihrem geistigen Auge die Katastrophe erkennen, seien nach Eldad
zum Handeln verpflichtet. „Wir — drei Männer — haben die Autorität auf uns
genommen und Krieg über den Jischuw verhängt ... und wir haben kraft der
Vision der Freiheit Israels, die man dem Volk wie eine Wanne aufstülpen muß,
gehandelt." 31 Was Eldad zu Beginn seiner Erfahrung mit Nietzsche entdeckte,
das paßte demnach auch zu seinem politischen Weg.

28 Adda Amichal Jevin, Sambatjon. Ideologie auf dem Prüfstand (hebräisch), Beth El 1995.
29 Israel Eldad, „Nietzsche über Jerusalem" (hebräisch), in: Svivot 26 (April 1991), S. 65.
30 „Zentrum und Peripherie in Nietzsches Philosophie", Die Front, Ausgabe 14, Cheschwan 5705 (1944).
31 Israel Eldad, Die erste Zehntabgabe. Erinnerungen und die Moral von der Geschichte (hebräisch), Tel Aviv
3 1976, S. 243.

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Erst später sollte Eldad Nietzsches Sympathien für das Judentum kennenler-
nen, wodurch es ihm möglich wurde, offen seine Unterstützung für diesen Pro-
pheten so zu rechtfertigen, wie es auch die „weniger exotischen" Nietzschean-
hänger in Israel taten. Zu Eldads antidemokratischen Positionen aus der Zeit
des Weltkrieges trat nun ein weiteres Element hinzu, das für Nietzsche sprach:
seine Verehrung des Judentums und die Infragestellung der nationalsozialisti-
schen Interpretation zum Thema Macht und Rasse bei Nietzsche. Doch in die-
sem Fall darf davon ausgegangen werden, daß, selbst wenn Scheib in Nietzsches
Schriften stärker auf Antisemitismus gestoßen wäre, als dies der Fall war, das
Schicksal des Philosophen ebenso positiv ausgefallen wäre wie Sombarts Beur-
teilung durch Zionisten, die in ihm trotz seines Antisemitismus einen Förderer
des Zionismus im innerjüdischen Diskurs sahen! Eldad wird spekulativ, wenn er
zu der Ansicht kommt: „Ohne Zweifel wäre der Nationalsozialismus von ihm
(Nietzsche) abgelehnt worden, wenn er sich zu seiner Zeit entwickelt hätte". 32
Nach Eldad war Nietzsche demnach weder Antisemit noch Wegbereiter des
Ν ationalsozialismus.
Eldad hat Nietzsches Schriften, wie bereits erwähnt, in die hebräische Spra-
che übertragen. Die Initiative zu dieser Übersetzung ging kurz nach dem Eich-
mann-Prozeß vom Verlagshaus Schocken aus. Eldad zögerte, das Projekt zu
übernehmen, schwankte er doch zwischen den beiden für jene Zeit typischen
Polen — entweder in allem Deutschen eine Quelle des Nationalsozialismus zu
sehen oder einzelne Elemente der deutschen Kultur aufzugreifen, die israeli-
schen oder jüdischen Interessen förderlich und nützlich sein könnten. Eldad traf
die Entscheidung zugunsten der zweiten Möglichkeit und übersetzte Nietzsches
Schriften ins Hebräische, was aus seiner Sicht, insbesondere angesichts der oben
gemachten Ausführungen, nur konsequent war. Eldad fand auch eine Parallele
zwischen dem jüdischen Gebot „und er wird durch sie (die Satzungen Gottes)
leben" 33 und Nietzsches Position über die Bedeutung des Lebens an sich. Aus
der Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben gewann Eldad
darüber hinaus stützende Belege für die Idee eines Königtums Israel (die Be-
schäftigung mit der Geschichte dient dem Leben). 34 1964 nahm Eldad die Ar-
beit an der Ubersetzung auf. Der erste Band — Jenseits von Gut und Böse —
erschien kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg, der letzte — Der Wille t^ur Macht —
kurz nach der Regierungsübernahme des nationalen Blocks unter der Führung
Begins im Jahre 1977 35 — einer Zeit des Wertewandels in der israelischen Gesell-
schaft, als der Wille zur Macht in eine Machtdemonstration übersetzt wurde!

32 Eldad, „Nietzsche über Jerusalem" (Anm. 29), S. 65.


33 Leviticus 18, 5.
34 Jevin, Sambat/on (Anm. 28), S. 243.
35
Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1968) Der Wille ψΓ Macht (1978).
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Nietzsche in Israel 417

Kurz nachdem im Jahre 1983 die Übersetzung von Kaufmanns Buch über
Nietzsche ins Hebräische den Philosophen erneut in die öffentliche Diskussion
gebracht hatte, 36 publizierte Eldad seine Überlegungen zum Thema „Nietzsche
und die Hebräische Bibel". 37 Die Wertschätzung des Alten Testaments, die Ach-
tung vor der biblischen Geschichte Israels, die Erkenntnis vom Gott, der seine
Feinde hassen kann, die Betrachtung des lebendigen Gottes eines Volkes, des
zürnenden Jehova, das Ja zum Leben, 38 — alle diese Elemente der Verehrung
des Alten Testaments — des „mächtigsten Buches und des wirkungsvollsten
Sittengesetzes der Welt" (Menschliches Λ Unmenschliches I, 475) — wurden von
Nietzsche hoch geschätzt und dementsprechend — auch von Eldad. Abschnitt
26 des „Antichristen" ist für Eldad eine Beschreibung „der Mißhandlung, die
dem Alten Testament durch das Exil (Galut) und die Diaspora widerfahren ist".
So macht Eldad Nietzsche zum Zionisten, da auch Nietzsche sich, nach Mei-
nung Eldads, für eine Beseitigung der Diaspora ausgesprochen und die Gesund-
heit und Natürlichkeit der frühen jüdischen Gesellschaft begrüßt habe. Wenn
Nietzsche dem Diasporajudentum jedoch seine Sympathie nicht entzog, dann
allein deswegen, „weil es seine nationale Existenz unter den widrigsten Umstän-
den bewahrte". Hier gehen Eldads Spekulationen noch weiter: „Was Nietzsche
sich noch nicht vorstellen konnte, ... war die Möglichkeit einer politischen Auf-
erstehung des jüdischen Volkes, seine Rückkehr zum Volk der Kämpfer und
Bauern". Da Eldad sich jedoch des hier bestehenden Widerspruchs bewußt ist,
fügt er hinzu: „Wenn wir seinem Charakter treu bleiben und nicht dem Inhalt
seiner Lehre ... wer weiß".
Eldad gehört demnach zur Gruppe derjenigen, die Nietzsches Schriften zum
Preis der Juden und zur Förderung der zionistischen Lösung einsetzten; doch
zeigt sich dadurch bei ihm, wie bei vielen anderen Schülern Nietzsches, eine
Epigonen-Haltung: Er benutzt Nietzsche ebenso wie die antidemokratischen
Kräfte in Europa, und er nutzt ihn für diesen spezifischen Zweck innerhalb der
nationaljüdischen Gesellschaft.
In den sechziger Jahren wuchsen in Israel nach dem Eichmann-Prozeß Be-
wußtsein und Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus. Dadurch
entstand ein breiterer Rahmen für die Diskussion um Nietzsche. Der wesentli-
che Beitrag zum populären Diskurs um Nietzsche wird in diesem Rahmen auch
heute noch von Autoren geleistet, die man als nicht-politische und halbprofes-
sionelle „Außenseiter" bezeichnen darf. Der „negative" Nietzsche wird dabei im
wesentlichen von zwei Persönlichkeiten aus dieser Gruppe angegriffen — näm-

36 Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton Ν. J. 1950, 4 1974; hebräi-
sche Ausgabe: Tel Aviv 1982.
3 7 Israel Eldad, „Nietzsche und die Hebräische Bibel" (hebräisch), in: Sehut. Klav et li-^ira jehudit 3
(1983), S. 7 3 - 8 6 .
3 8 Friedrich Nietzsche, Göt^endämmerung, 38.
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418 Moshe Zimmermann

lieh von Rivka Schächter und Giora Schoham. Doch wie schon die umfangrei-
che Kritik an der Überset2ung der Schriften Nietzsches ins Hebräische gezeigt
hat, stehen diese beiden „exotischen Extremisten" in einem weitaus größeren
Umfeld, in dem auch David Ochana mit seiner Einordnung Nietzsches unter
die Väter der nihilistischen Revolution zu finden ist. Ochanas Beurteilung Nietz-
sches als desjenigen, der die Identifizierung des Modernen und Vernünftigen
zerbrochen hat, 39 und seine Kritik an Kaufmann, bei dem Nietzsche nicht als
Wegbereiter des Nationalsozialismus beschrieben wird, ist zugleich eine Kritik
an der Kompromißhaltung gegenüber Nietzsche in der israelischen Gesellschaft
der achtziger Jahre. Ochana steht hier am Anfang eines Weges, der zu der pau-
schalen Kritik der extremen Außenseiter im Diskurs über Nietzsche geführt hat.
Wichtig ist, daß Schächter und Schoham sich in methodologischer Hinsicht
nicht von der methodologischen Vorgehensweise derjenigen, die Nietzsche beju-
beln, unterscheiden — man studiert prinzipiell nicht die Schriften und den Text
als solchen, sondern geht von der Kenntnis dessen aus, was man für den „wah-
ren" Nietzsche hält. Den „wahren" Nietzsche aber identifiziert man entweder
in Anlehnung an Beschreibungen des Nietzscheschen Charakters oder aufgrund
seiner Rezeptionsweise. In beiden Fällen wird der philosophische Text überflüs-
sig.
Schächter und Schoham sind in der Diskussion zu berücksichtigen, weil sie
zunächst zu den israelischen Vertretern der Theorie vom Sonderweg in der
deutschen Geschichte gehören und weil sie darüber hinaus vielleicht die wichtig-
ste Rolle für die Darstellung Nietzsches in der israelischen Öffentlichkeit jenseits
eines engbegrenzten akademischen Publikums von Experten, wie Ascher Brin-
ker und Golomb, spielen. Deutsches kann nach Schächters und Schohams Auf-
fassung nur zu der Kontinuität gehören, die vom Nationalismus zum National-
sozialismus und vom Antisemitismus zur Shoah führt. Hier schließen sich beide
der Position Allan Blooms an, die im absoluten Gegensatz zu Kaufmanns An-
sicht steht. Für Bloom ist Nietzsche der Erzvater der Unzulänglichkeit einer
vollkommen degenerierten westlichen Kultur.40 Schon 1965 trat Schächter mit
ihrem Aufsatz „Gegen die Rehabilitierung Nietzsches" hervor. 41 Zehn Jahre
später konnte sie dann sogar behaupten, 42 daß, auch wenn Nietzsche gesagt
habe, „Deutschland über alles" sei das Ende des deutschen Geistes, die
nietzscheanische Umwertung aller Werte nicht nur eine allgemein europäische
Tendenz, sondern „die schlummernde Gewalt des deutschen Nationalismus"
zum Ausdruck gebracht habe. Ohne den Einfluß Nietzsches außerhalb Deutsch-

39 David Ochana, „Europa blickt auf seine Vergangenheit", in: HaArefy 12.05.1989.
40 Allan Bloom, The Closing of the American Mind\ New York 1987.
41 Rivka Schächter, „Gegen die Rehabilitierung Nietzsches" (hebräisch), in: Mosnajim 5 (1965),

S. 394-398.
42 Rivka Schächter, „Der Ubermensch" (hebräisch), in: Achschav, Jerusalem 1975, S. 99.

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Nietzsche in Israel 419

lands zu berücksichtigen, kommt Schächter darüber hinaus zu der Ansicht:


„Wenn Nietzsche nicht nationale Macht zum Ausdruck gebracht hätte ... so
wäre sein Einfluß gering geblieben ... Menschen wollten ihr moralisches Joch
aus einem Machtgefühl heraus abwerfen; dies galt insbesondere in Deutsch-
land". Derartige Anschauungen werden von Schächter ohne eine einzige bele-
gende Fußnote vorgetragen. So steht sie schon weit außerhalb dessen, was von
Talmon oder selbst von Ochana scharfer Kritik gewürdigt wurde. Schächters
Argumentation erreicht in ihrem Buch „Kosmischer Feind. Der geläuterte deut-
sche Geist in der Gestalt eines geläuterten Barbarentums" (1984) ihren Höhe-
punkt. Hier wird Nietzsche als Mystiker beschrieben, der sich in die Tradition
einer deutschen Mystik einreiht, die von Anfang an aggressiv 43 nach Krieg —
um des Krieges willen - strebte. Nietzsches metaphorische Sprache wird von
Schächter als eine reale Einladung zum Krieg zwischen Staaten oder Nationen 44
verstanden, seine gesamte Philosophie wird von ihr ausschließlich als aggressive
Mystik interpretiert, die den direkten Weg von Luther zu Hitler ebnete.
Wie verhält es sich nun bei diesen Autoren mit dem jüdischen Thema, das
andere Forscher trotz ihrer antideutschen Haltung dazu brachte, ihre Position
gegenüber Nietzsche zu differenzieren? Auch Schächter muß zugeben, daß
Nietzsche sich in seinen Texten in bezug auf Juden ambivalent äußerte. Doch
Nietzsches Intention ist — natürlich — für Schächter eine negative, ja der allge-
meine Eindruck ist, ihrer Meinung nach, negativ. 45 Und als Beweis führt sie an:
Das Judentum sei die Antithese zu Nietzsches Bestrebungen, zu den deutschen
Ambitionen nach Krieg und Herrschaft, und selbstverständlich sei das Judentum
in seinem Wesen ein Antagonist der Mystik (man muß sich fragen, ob Schächter
jemals in die Schriften Gershom Scholems geschaut hat). Die positiven Erklä-
rungen Nietzsches {Jenseits von Gut und Böse) dürften „nicht so verstanden werden,
als ob Nietzsche wirklich positiv gegenüber dem Judentum eingestellt war." 46
Auf der Basis dieser Argumentationskonstruktion kann Schächter dann sagen,
daß „er in seiner negativen Haltung gegenüber dem Judentum allen Repräsentan-
ten der ideologischen Nazibewegung entsprochen habe." (sie!) Diese Haltung
resultiert allein daraus, daß Nietzsche für Schächter, trotz gegenteiliger Zeug-
nisse, „ein typischer Deutscher gewesen ist, der die deutschen Bestrebungen
zum Ausdruck bringt". So kann sie zu der Schlußfolgerung gelangen, daß Nietz-
sche „schlechthin der Ideologe der nationalsozialistischen Bewegung gewesen ist,
... der Ideologe des Dritten Reiches." Anders als diejenigen, die davon ausgehen,
daß Nietzsche von den Nationalsozialisten verfälscht und mißbraucht wurde,

43 Rivka Schächter, Kosmischer Feind. Der geläuterte deutsche Geist in der Gestalt eines geläuterten Barbaren-
tums, Tel Aviv 1988, S. 122.
4 4 Ebd., S. 129.
45 Ebd., S. 137.
4 6 Ebd., S. 143.

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420 Moshe Zimmermann

meint Schächter, es sei ein Fehler, zu glauben, Schüler würden die Lehren ihres
Meisters verändern. Doch was gilt dann für Nietzscheschüler wie Scheib und
Weisfisch?
Eines der Paradoxa, die infolge der Diskussion um Nietzsche ebenso wie in
der Diskussion um die Shoah entstanden sind, ist der Umstand, daß die Verteidi-
ger des Judentums zugleich zu Verteidigern des Christentums werden. Im vorlie-
genden Fall möchte man in der Ablehnung des Christentums durch Nietzsche
das Einfallstor für die nationalsozialistische Ideologie finden. So erfolgt die son-
derbare Verteidigung des Christentums gegen Nietzsche oder die Nationalsozia-
listen mit dem Zweck, auch das Judentum verteidigen zu können. In diesem
Ansatz liegt nun natürlich ein Körnchen Wahrheit und Vernunft, denn ohne
Zweifel hat der Nationalsozialismus antichristliche Elemente enthalten. Es ist
jedoch sicherlich ein Fehler, hier den Schlüssel für die Problematik zu finden:
basierte nicht die gesellschaftliche Legitimation, die dem Dritten Reich zuteil
wurde, gerade auf christlichen Positionen (die im allgemeinen sehr wohl von
jüdischen Historikern mit nicht weniger Berechtigung angegriffen werden). Hier
mit Nietzsche zu argumentieren, ist künstlich!
Schoham hält eine derartige Argumentation jedoch für konsequent und sy-
stematisch: Er übernimmt willig die Verteidigung des Christentums gegen ein
Heidentum, in dem er den wesentlichen Beitrag Nietzsches zum Nationalsozia-
lismus zu erkennen glaubt. „Nietzsche hat den christlich-monotheistischen Gott
getötet und dem deutschen Heidentum (!) den Ausbruch erlaubt." 47 Da sich
seiner Meinung nach auch bei Nietzsche die deutsche Neigung zur Heldenvereh-
rung zeigt — und da die bevorzugte Beschäftigung des Deutschen, auch mit
Empfehlung Nietzsches, nun einmal der Krieg ist 48 — ist Nietzsche also durch
und durch deutsch, so daß man ihm die Verantwortung für Hider zuweisen und
ihn aus dem europäischen Kontext lösen kann. „Hier schließt sich also der
Zirkel der rassistischen Ideologie — von dem völkistischen Triumvirat Lagarde,
Langbehn und Möller van den Bruck über Nietzsche und die wissenschaftlichen
Rassisten, Gobineau und H. S. Chamberlain, bis zu Alfred Rosenberg, Eckart
und Hider." 49 Wer nicht die Schriften Nietzsches oder die Geschichte des Natio-
nalsozialismus kennt, mag dies für eine überzeugende Erklärung halten - hier
liegt anscheinend der Schlüssel für das Verständnis des gesamten Problemkom-
plexes verborgen. Schoham sieht auch keinerlei Notwendigkeit, die jüdische
Seite bei Nietzsche zu untersuchen. Er zieht es vor, diesen Themenbereich zu
ignorieren, um die Ambivalenz zu vermeiden, seine These von dem bösen Deut-
schen aufrechterhalten und so zur Entscheidung der wirklich wichtigen Frage

47 Giora Schoham, Antisemitismus: Walhalla, Golgatha und Auschwitz (hebräisch), Tel Aviv 1992, S. 217.
48 Ebd., S. 224.
49 Ebd., S. 237.

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im israelischen Diskurs über Nietzsche gelangen zu können — der Beantwor-


tung der Frage nach Deutschland und dem „anderen Deutschland".
Einen indirekten Beitrag zur aktuellen Diskussion über Nietzsche bietet dar-
über hinaus die Analyse des Nietzsche-Einflusses auf die hebräische Literatur.
Diese Diskussion setzte bereits kurz nach der Gründung des Staates Israel ein.
Chava Eschkols Dissertation über Berdyczewski ist ein hervorragendes Beispiel.
Ein weiteres Beispiel von größerer Bedeutung für die intellektuelle Öffentlich-
keit in Israel ist die Haltung Baruch Kurzweils. Wenige Tage vor der Deklaration
des Staates Israel erörterte Kurzweil Nietzsche unter der Uberschrift „Abschied
von der bürgerlichen Kultur", 50 einem Titel, der dem sich bildenden israelischen
Ethos entsprach. Zehn Jahre später schrieb Kurzweil in seinem Beitrag „Nietz-
sches Einfluß auf die hebräische Literatur", 51 Nietzsches Philosophie, die
,Lebensphilosophie', „ist in unsere Literatur eingedrungen. Dieser Umstand hat
schwerwiegende Konsequenzen, und zwar auch für das, was bei uns der Weg
der nationalen Renaissance genannt wird". Dem stimmte später auch Menachem
Brinker in seinen nicht nur für ein exklusives Publikum verfaßten Abhandlun-
gen 52 zu, in denen er eindeutig Nietzsches Einfluß auf Berdyczewski, Brenner
und andere hebräische Schriftsteller nachwies. Bei Brinker findet nicht nur die
obsessive Beschäftigung mit der Frage, ob Nietzsche nun wirklich Antisemit
oder Künder des Nationalsozialismus war, eine Revision, sondern auch die ein-
seitige Perspektive, aus der heraus Nietzsche im deutschen Raster gesehen
wurde. Brinker weist überzeugend nach, daß Brenner von Nietzsche durch den
russischen Nietzscheanismus beeinflußt wurde, so daß die Frage des Nietzsche-
anismus im frühen Zionismus keine direkte Verbindung zu Deutschland und
der Shoah trug. Vielleicht liegt hierin eine Erklärung für das Ende des jüdischen
Nietzscheanismus gerade in Israel mit dem Erreichen des Hauptziels des Zionis-
mus.
Ein nicht weniger wichtiger Maßstab für die Beurteilung der Stellung Nietz-
sches im israelischen Diskurs ist der Ort, den Nietzsche in den Lehrplänen der
Schulen einnimmt. Infolge der Ambivalenz existieren hier nur zwei Möglichkei-
ten — entweder ist Nietzsche aus dem Narrativ der europäischen Kultur und
der Wurzeln des Dritten Reiches zu entfernen, oder er ist auch in einen Antise-
miten und Rassisten zu verwandeln. Ihn in seiner Ambivalenz zu belassen, das
ist eine schwierige Aufgabe und in den Augen vieler Verfasser von Schulge-
schichtsbüchern wenig effektiv. Die Offene Universität, die sich in ihren Publika-
tionen an Studenten und Schüler mit speziellen Interessengebieten wendet, kann
hier ihrer Aufgabe noch gerecht werden: In einer Publikation über die Shoah 53

50 Baruch Kurzweil, „Abschied von der bürgerlichen Kultur" (hebräisch), in: HaAret^ 23.04.1948.
51 Baruch Kurzweil, „Nietzsches Einfluß auf die hebräische Literatur", in: HaAret^ 17.01.1958.
52 Menachem Brinker, Bis %ur tiberianischen Gasse (hebräisch), Tel Aviv 1990.
53 Die Offene Universität (Hg.), Von Shoah und Schicksal (hebräisch), Tel Aviv 1983, S. 8 4 - 8 5 .

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422 Moshe Zimmermann

wird betont, daß, obwohl Nietzsche kein Antisemit oder Nationalist war, „viele
Intellektuelle seinen Pessimismus im Hinblick auf die moderne Welt adaptiert
... [und] unter Veränderung ihrer Inhalte einzelne zentrale Begriffe seiner Lehre
übernommen haben, so daß einige der nietzscheanischen Begriffe fortan ein
selbständiges Leben zu führen begannen." Auf der Ebene der Schulen hat ein
derartig differenzierter Ansatz bereits keinen Platz mehr. Weisfischs Bemerkun-
gen über die Ausbildung seiner Tochter im Lehrerseminar sind treffend: Die
politisch-kulturelle Darstellung der Machtübernahme der Nationalsozialisten
nimmt wiederholt auf Nietzsche Bezug — dadurch wird er zum Vater des Natio-
nalsozialismus. So und ähnlich findet man es in einem säkularen Lehrbuch für
die Oberstufe und auch in Arie Carmons Buch „Die Shoah", 54 und natürlich in
den Lehrbüchern für die religiösen Schulen. 55 „Alle Eigenschaften, die Nietz-
sche der blonden Bestie zuweist... sind die ausdrücklichen Merkmale des Natio-
nalsozialismus ... und ganz sicher bringt er die latenten inneren Begierden der
deutschen Nation zu ihrem vollsten und schärfsten Ausdruck." Um der Ambiva-
lenz zu entgehen, zeichnet Moshe Prager, der religiöse Verfasser dieses Buches,
auch ein einseitiges Bild in bezug auf das jüdische Thema: Der Angriff auf
das Christentum sei eigentlich ein Angriff auf das Judentum, und Nietzsches
Ausführungen über das Judentum dürften nicht positiv interpretiert werden.
Dieses Verständnis entspricht den orthodoxen Positionen nach der Shoah, die
auch die antichristliche Haltung des Nationalsozialismus als Teil einer Antireli-
giosität verstanden wissen wollen, welche zur Katastrophe und zur Shoah ge-
führt hat! Im Geschichts-, Literatur- und Philosophieunterricht der Schulen
taucht Nietzsche heute weniger als in der Vergangenheit auf, so daß die Ausein-
andersetzung mit Nietzsche für den Durchschnittsbürger in Israel erst in einer
relativ späten Phase beginnt, nämlich in dem Augenblick, in dem er an die
Übersetzung oder die Universität kommt.
Auch in diesem Kontext, wie überhaupt im Zusammenhang der Frage nach
dem Nationalsozialismus, erweist sich, daß die zeitliche Entfernung zu den Er-
eignissen eine pauschale Sichtweise in Stereotypen verstärkt. Man darf davon
ausgehen, daß mit der Etablierung des Zionismus — „Israel über alles" — der
jüdische Nietzscheanismus, zumindest in Israel, seine Kraft verloren hat. Ein-
zelne nietzscheanische Außenseiter stehen einer größeren Gruppe von Anti-
Nietzscheanern und einer Mehrheit gegenüber, der Nietzsche nichts bedeutet
oder der er eben nicht eindeutig ausreicht, um die historische Kontinuität zur
Shoah und zur Gründung des Staates Israel zu erklären. Und im Hinblick auf

54 Arie Carmon, Die Shoah. Themen für die Oberstufe der allgemeinbildenden Schulen (hebräisch), Jerusalem
1981, S. 127.
55 Moshe Prager, Quellen und Arbeiten %ur Shoah. Ein Lesebuch fur Schüler der religiösen Oberschulen. „Der

nationalsozialistische Aufstand in der Geschichte" (hebräisch), Jerusalem.


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Nietzsche in Israel 423

die existierende Versuchung etlicher Dilettanten, nietzscheanische Aphorismen


zur Bekräftigung ihrer Slogans und Anschauungen einzusetzen — nun, eher
besteht in Israel die Versuchung, von der sich hierzu anbietenden natürlichen
Alternative Gebrauch zu machen — der Aphorismensammlung der Hebräischen
Bibel.

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