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Nietzsche in Israel
' Alisa Klausner-Eschkol, Der Einfluß Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers auf Micha Joseph
Bin-Gorion (hebräisch), Tel Aviv 1954.
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406 Moshe Zimmermann
Seit der Gründung des Staates Israel dienten weite Bereiche des öffentlichen
Diskurses um Nietzsche nur als Aufhänger für die verschiedensten und seltsam-
sten Ziele oder Bestrebungen teils politischer, teils ideologischer Natur. Die nach
ihrer Identität suchende israelische Gesellschaft machte unter anderem eben
auch von Nietzsche Gebrauch, und es sieht so aus, als ob der Nietzschediskurs
prinzipiell in die enge Arena gestellt wurde, die für den israelischen Diskurs so
charakteristisch ist. Das Thema ist demnach ideologisch und politisch belastet.
In dieser Hinsicht ist Nietzsche in Israel jedoch nicht weniger problematisch als
in Deutschland, wo es schon in den dreißiger Jahren zur öffentlichen Diskussion
um die Frage kam, ob Nietzsche etwa als ein Meilenstein in der Entwicklung
des Dritten Reiches zu gelten habe.
Aufgrund der Natur der Selbstdefinition des Staates Israel ist auch dort die
Frage nach der Rolle Nietzsches für die Entwicklung des Nationalsozialismus
eine Schlüsselfrage. Doch dieses Problem steht eigentlich im Schatten einer an-
deren, weitaus wichtigeren Frage für die Absteckung des Definitionsrahmens
des Staates Israel: Inwieweit war Nietzsche Wegbereiter für den Antisemitismus
allgemein und für den nationalsozialistischen Antisemitismus insbesondere? Hier
steht man in Israel vor einer ähnlichen Schwierigkeit wie bei der Behandlung
des italienischen Faschismus: In einer Gesellschaft, in der der Antisemitismus
der alles beurteilende Maßstab ist, verwischt Nietzsche, wie Mussolini bis 1938,
das eindeutige, klare Bild, dem gemäß Faschismus, Nationalsozialismus und
Antisemitismus unweigerlich und absolut ineinander verwoben sein müssen. In
einer Gesellschaft, in der „der Deutsche" mit Amalek, dem mythischen Erzfeind
des jüdischen Volkes, identifiziert wird, also nicht nur mit dem Phänomen des
Nationalsozialismus überhaupt, sondern auch mit der Shoah des jüdischen Vol-
kes 2 —, kann ein Deutscher wie Nietzsche ein störender Faktor sein, wenn sich
herausstellen sollte, daß er nicht Antisemit par exellence war; denn wer nicht
Antisemit ist, dem sieht man in Israel manchen anderen Fehler nach; der
alleinige Maßstab für Gut und Böse ist in der israelischen Gesellschaft eben
immer noch die Einstellung zum jüdischen Volk. Und das ist keine Angelegen-
heit von sekundärem Charakter, denn in Israel, wo eben nicht alles aus der Per-
spektive des Antisemitismus gesehen werden und man über den Positionen des
Exiljudentums stehen sollte, dürfte dieser Maßstab keine derartig zentrale Rolle
spielen. Nach diesem Maßstab stellt Nietzsche, wenigstens a priori, kein aus-
drückliches Angriffsziel dar.
Es ist überaus sinnvoll, gleich zu Beginn die Aufmerksamkeit auf ein weite-
res Paradox zu lenken, das die Rezeption und den Einsatz Nietzsches als Etikett
2 Moshe Zimmermann, „Amalek? Zur Einstellung der israelischen Gesellschaft gegenüber Deut-
schen", in: Shmuel Bahagon (Hrsg.), Recht und Wahrheit bringen Frieden. Festschrift aus Israelfur Nils
Hansen, Gerlingen 1994, S. 3 0 9 - 3 1 9 .
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Nietzsche in Israel 407
erschwert: Wer in Israel prozionistisch gesonnen ist, dem wird ebenfalls andere
Schuld gerne vergeben; und für das entgegengesetzte Lager gilt Entsprechendes,
nur umgekehrt: Man vergibt leicht einem Antizionisten seine Schuld. Hier ist
Sombart ein vorzügliches Beispiel, der trotz seines heftigen Antisemitismus von
einigen Zionisten positiv beurteilt werden konnte, da die Schlußfolgerungen aus
seiner Geschichtsauffassung (neben einigen seiner Grundpositionen) gut in das
zionistische Konzept paßten. 3 Gleiches trifft auch auf Nietzsche zu: Es gibt
etliche Versuche, selbst Nietzsche in das Raster von Gegnern und Befürwortern
des Zionismus einzuordnen. Und auch in diesem Zusammenhang tritt relativ
rasch der auffallende Widerspruch zwischen dieser Position und der Lokalisie-
rung Nietzsches im Entwicklungsprozeß des Dritten Reiches hervor. Um nun
die Angelegenheit zu verdeutlichen, ist zunächst einmal zu veranschaulichen,
wie diese Tendenzen praktisch zum Ausdruck kommen: Nietzsches Schriften
wurden von Israel Eldad, der selbst in das radikale rechte Spektrum der zioni-
stisch-israelischen Gesellschaft einzuordnen ist, in die hebräische Sprache über-
setzt. Eldad begann im Jahre 1962 mit seiner Ubersetzung. Diese Jahreszahl
steht nicht von ungefähr im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß in Jeru-
salem. 1977, drei Monate vor der Wende in Israel, die die rechtsorientierte zioni-
stisch-revisionistische Bewegung an die Macht brachte, erhielt der Übersetzer
der Schriften Nietzsches dann den Tschernichowski-Literaturpreis (der Schrift-
steller Tschernichowski hatte in den Jahren 1889 bis 1907 selbst eine nietzsche-
anische Epoche durchlaufen). In der Begründung des Preiskomitees zur Verlei-
hung des Preises an Eldad hieß es: 4 „Nietzsche verabscheute die Antisemiten
und den Antisemitismus. Anders als die Antisemiten schätzte er Juden außeror-
dentlich hoch und sah in ihnen ,das auserwählte Volk unter den Völkern ... ,
und zwar, weil sie das moralische Genie unter den Völkern sind,' (Die Fröhliche
Wissenschaft, 136) und hielt die Juden für ,die stärkste, zäheste und reinste Rasse,
die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten
Bedingungen sich durchzusetzen' (Jenseits von Gut und Böse, 251). Auch zeigte
Nietzsche gegenüber der Hebräischen Bibel höchste Wertschätzung." Um die
Verleihung des Preises zu legitimieren, führten die Preisrichter im weiteren Ver-
lauf ihrer Begründung die Tatsache an, daß Neumark, Zeidin, Gordon, Brenner,
Berdyczewski und andere Zionisten von Nietzsche beeinflußt waren. Und um
nun nicht gänzlich in einer provinziellen Enklave verharren zu müssen, erinnern
die Jurymitglieder an einige große, nichtjüdische Persönlichkeiten, die ebenfalls
unter dem Einfluß Nietzsches gestanden haben sollen, darunter Heidegger und
Marinetti ... Nietzsche erhielt somit seine israelische Legitimation aus eben je-
nem für die israelische Gesellschaft so typischen Blickwinkel: Wer nicht Antise-
mit ist, dem sieht man manchen anderen Fehler nach, denn der alleinige Maßstab
für Gut und Böse in Israel ist die Einstellung zum jüdischen Volk. Israel, so
erweist sich, hat den Antisemitismus zu einem zentralen Element seiner Identi-
tätsdefinition gemacht und kann daher auf Nietzsche Bezug nehmen, ohne sich
Gedanken über den Nietzscheanismus oder Anti-Nietzscheanismus im üblichen
Sinne zu machen. So überraschend ein derartiger Maßstab, wie gesagt, auch im
ersten Moment im Hinblick auf Israel ist, seine Gültigkeit wird doch eindeutig
durch die zitierte Entscheidung des Preiskomitees belegt. Auf den Preisträger
selbst wird im weiteren Verlauf der Darstellung eingegangen werden.
Die Diskussion um Nietzsche spielt sich also im Zirkel zwischen zwei Polen
ab, die keineswegs jenseits von Gut und Böse sind, sondern Gut und Böse
definieren: 1) Ist Nietzsche der „gute" Nietzsche, der Judenfreund, der Antise-
mitengegner (ja vielleicht sogar der Zionist) oder der „böse" Nietzsche, der
Judenfeind und Antisemit? Und: 2) Ist Nietzsche als Verkünder des Nationalso-
zialismus zu sehen oder als Philosoph, der mit dem Nationalsozialismus in kei-
nerlei Verbindung stand? Mit anderen Worten: War Nietzsche ein Philosoph,
der allein durch sein Deutschsein den Weg zur Shoah ebnete, oder ein Denker,
dessen Positionen mit allem, woran der Nationalsozialismus glaubte, unvereinbar
waren?
Auch der öffentliche Diskurs in Israel war insgesamt nicht einfältig und
pauschal, im guten wie im bösen Sinne. Besonnene Akademiker verwiesen
selbstverständlich stets auf die Ambivalenz von Nietzsche, auf das Unverständ-
nis, das sich aus seinen Schriften ergebe, ganz ähnlich wie im Diskurs um Nietz-
sche in Deutschland oder Europa. Und die Diskussion um die Ambivalenz
Nietzsches, insofern sie überhaupt stattfand, führte in Israel, wie in anderen
Ländern auch, nicht nur zur Relativierung von Nietzsche, sondern zur Relativie-
rung des Nationalsozialismus überhaupt.
Hier soll zunächst ein frühes und insbesondere angesichts des bitteren Hi-
storikerstreits in Deutschland in den achtziger Jahren über die Relativierung
des Nationalsozialismus und der Shoah zugegeben extremes Beispiel angeführt
werden: Als im Jahre 1956 die Diskussion um die Aufführung der Werke Richard
Wagners in Israel einsetzte, die seit der Reichspogromnacht vom November
1938 in Israel verboten waren, fiel nebenbei auch der Name des Wagnerfreundes
Friedrich Nietzsche als eines für die Gestaltung des Nationalsozialismus Verant-
wortlichen. Scharfe Abwehr fand die Konstruktion dieser Affinität in dem Arti-
kel „Zwischen Nietzsche und Wagner" des liberalen Zeitungsherausgebers Gers-
hom Schocken. 5 Für eine derartige Anschuldigung gebe es keinerlei Ursachen,
5 Gershom Schocken, „Zwischen Nietzsche und Wagner" (hebräisch), in: HaArefy 14.12.1956.
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Nietzsche in Israel 409
6 „Die jüdischen Aspekte Nietzsches in historischer Perspektive", Vortrag auf dem Kongreß für
Jüdische Studien, Jerusalem, 08.08.1969 (hebräisch), in: HaAre% 12.09.1969, S. 50.
7 Jakob Talmon, Mythos der Nation und Revolutionsvision (hebräisch), Tel Aviv 1982.
8 Talmon, .Jüdische Aspekte" (Anm. 6).
9 Talmon, Mythos der Nation (Anm. 7).
10 Talmon, Mythos der Nation (Anm. 7), S. 259.
11 Sowohl in „Jüdische Aspekte" (Anm. 6), S. 69, als auch in Mythos der Nation (Anm. 7).
12 Ebd.
13 Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 1937.
1 4 Talmon, „Jüdische Aspekte" (Anm. 6).
15 Talmon, Mythos der Nation (Anm. 7), S. 594.
Vorherrschaft der Juden in Europa geht, übersehen habe); dennoch fällt Talmon
nicht ins entgegengesetzte Extrem. Das System wird für ihn von der Genealogie
der Moral und den Ausführungen über den Kampf zwischen Rom und Judäa
definiert.16 Von hieraus gelangt er zu der ambivalenten Schlußfolgerung: „Es
wäre töricht, Nietzsche für die Shoah .verantwortlich' zu machen ... doch ihn
ohne Schuld zu endassen, das ist auch nicht möglich. Er gehörte zu denjenigen,
die das Klima schufen, zu denjenigen, die die Denkstrukturen festlegten."17
Nietzsche ist also für Talmon nicht der direkte Wegbereiter, sondern derjenige,
der die terminologischen Konturen skizziert hat. In seinem Aufsatz „Die euro-
päische Geschichte als Hintergrund der Shoah" 18 stellt Talmon fest, daß die
Ablehnung der Friedensbereitschaft und die Bejahung des Kampfes durch
Nietzsche ein Geschenk an die Vertreter der Rassenlehre und die Anhänger des
antisemitischen Kults waren. Überdies bedeutete dies, nach Meinung Talmons,
ein Uberschreiten der wesentlichen Trennlinie: Wer gegen den Frieden ist, der
stellt sich auch gegen das Gebot „Du sollst nicht töten!"
Die nietzscheanische Ambivalenz wird auch von David Ochana, einem jun-
gen israelischen Historiker und Schüler Talmons, betont. Ochana hob bereits in
seiner Dissertation diese Ambivalenz auch im Hinblick auf den jüdischen Aspekt
hervor. Doch konzentriert sich Ochana nicht allein auf diesen Gesichtspunkt,
denn im Zentrum seiner Arbeit steht die „nihilistische Revolution" und die Rolle
Nietzsches im Nihilismus. Es besteht kein Zweifel, daß Friedrich Nietzsche für
Ochana zu den Vätern des Nihilismus des 20. Jahrhunderts gehört und als sol-
cher eben auch zu den Wegbereitern des Nationalsozialismus. Im Kontext dieses
Gedankenganges ist Nietzsche noch negativer zu bewerten als bei Talmon, auch
auf dem Wege, der zur Shoah führt. Hier, bei Ochana, wird von Nietzsche
exemplarisch Gebrauch gemacht, um das Wesen des Faschismus und des Natio-
nalsozialismus zu erklären.19
Auf der anderen Seite des akademischen Spektrums, auf der Seite der Philo-
sophie also, vertritt der Jerusalemer Philosoph Jacob Golomb eine Position, die
stärker als Talmon, und vielleicht eher wie Kaufmann, dazu neigt, die positiven
Aspekte im ambivalenten Komparationsverhältnis zu betonen. Nietzsche sei
demnach nicht nur kein Antisemit, sondern Philosemit gewesen! Golomb ver-
wirft nicht nur prinzipiell die Versuche des Nationalsozialisten Bäumler, sondern
auch die Versuche eines Brinton oder Danto, Nietzsche dem Antisemitismus
zuzuordnen. Rivka Schächter (deren Position im weiteren Verlauf erläutert wer-
16 GM I 1 6 - 1 7
17 Talmon, „Jüdische Aspekte" (Anm. 6).
18 Jakob Talmon, „Die europäische Geschichte als Hintergrund der Schoa" (hebräisch), in: Schoa
den soll) wird von ihm aufs heftigste angegriffen. Grundsätzlich unterscheidet
sich Golombs Position nicht von der Position Talmons, der ja ebenfalls die
Ambivalenz in Nietzsche hervorhob. Doch Golomb versucht das Gleichgewicht
eher im allgemeinen Kontext der Arbeiten Nietzsches und seiner psychologi-
schen Lehre zu finden. Daraus, und keineswegs aus der einfachen Lektüre im
Verständnis des heutigen Lesers, erkläre sich das Wesen der ambivalenten Bezie-
hung Nietzsches zu Juden. Wie gesagt, weder Talmon noch Ochana oder Go-
lomb bringen Nietzsche unbefangen zum Sprechen. Sie verkünden eine öffentli-
che Botschaft. Diese entscheidende und vor allem für Israelis relevante Bot-
schaft lautet bei Golomb, eine positive Einstellung zur Immunisierung der Juden
durch das Leiden im Exil führe gerade (!) zu einer Bejahung des jüdischen
Exils, 20 auch wenn hier ein Widerspruch zu einer weiteren Schlußfolgerung
Golombs besteht, 21 nach der Nietzsche zwischen dem negativen Diasporajuden-
tum und dem jüdischen Volk des positiv beurteilten Alten Testaments unter-
schieden haben soll. Golomb verweist darüber hinaus ausdrücklich auf Nietz-
sches Ausführungen über die zukünftig notwendige Rolle der Juden in Europa,
die den Juden als unverzichtbar für „die intellektuelle Therapie des modernen
Menschen" beschreiben. 22 Diese Beurteilung steht neben dem ausdrücklichen
Urteil (das selbst Talmon nicht zu fällen gewagt hat), Nietzsche hätte den Zio-
nismus, wenn er ihn denn gekannt hätte, abgelehnt, da er der Assimilation der
Juden und ihrer Bereitschaft zu Mischehen vertraut und den Nationalstaat ver-
achtet habe. Golomb ist sich vielleicht dessen nicht bewußt — aber es ist mög-
lich, daß die geistige Kraft ohne Staat, die Nietzsche am Judentum so schätzte,
gerade den autonomistischen jüdischen Nationalismus (der inzwischen vom
Erdboden verschwunden ist) — stärker als die nicht-nationale Exilswirklichkeit
— zu einem wirklichen Nietzscheanismus macht. Angesichts dessen wäre eine
erneute Untersuchung der Ausführungen des Historikers Simon Dubnows, des
führenden Vertreters eines jüdischen Autonomismus in Europa, dringend ange-
bracht. Der einzige von Golomb bei Nietzsche gefundene Hinweis auf eine
indirekte Befürwortung des Zionismus durch den Philosophen ist das Streben
zurück in die Vorzeit als positiver Wert. Hier ist jedoch auf eine entscheidende
Anmerkung Golombs achtzugeben: so wie .Deutschland über alles' eine Zer-
mürbung der Kraft des deutschen Geistes bedeute, so auch die Parallele bei ,den
Hebräern unserer Tage'. 23
Golomb führt uns hier direkt in das Zentrum des Problems der Nietzschere-
zeption in Israel — Nietzsche ist nicht nur für die existentialistische Frage „Wer
20 Jacob Golomb, „Der Jude, das Judentum und der Zionismus bei Nietzsche" (hebräisch), in:
Mechkere Jeruschalajim be-machscbevet Jisrael 2 (1983), S. 451.
21 Ebd., S. 463.
22 Ebd., S. 468.
23 Ebd., S. 470.
ist Antisemit?" relevant, sondern auch für die Frage „Wer ist Zionist?". Wichtig
ist in diesem Kontext, daß Golomb seine Ausführungen keineswegs nur in ei-
nem Beitrag in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, sondern einem
breiten, wenn auch elitären, Publikum in Gestalt der Leser der Zeitung „Ha-
Aretz" zugänglich gemacht hat. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden,
daß diese Beiträge Golombs im Februar 1983 24 auf dem Hintergrund des Liba-
nonkrieges veröffentlicht wurden! Nietzsche ist im israelischen Diskurs eben ein
politisch aktuelles Element.
Auf dem Hintergrund der anscheinend antizionistischen Position Nietz-
sches, nicht auf dem Hintergrund seiner Wertschätzung des Judentums, erklärt
Golomb die Sympathie der antizionistischen Orthodoxie in Israel für Nietzsche.
Doch hier sollte man vorsichtiger sein — Grund für diese Berufung auf Nietz-
sche in Israel ist nicht allein sein angeblicher Antizionismus, denn es gab ja auch
Zionisten, die in Nietzsche einen Vertreter ihrer Sache sehen konnten. Und
gerade extreme Zionisten erweisen sich in Israel öfter als Sympathisanten Nietz-
sches. Andererseits gab es sehr wohl zionistische Orthodoxe (wie Moshe Soleh),
die Nietzsche für einen Judenfeind hielten. Auch hier trifft zu, was für die ge-
samte Diskussion gilt — Nietzsche kann auf beiden Seiten stehen und konnte
bisher jedes Lager erfolgreich spalten. Doch darf in diesem Zusammenhang
nicht zu hoch gegriffen werden — weder die Extremgruppe auf der einen, noch
die auf der anderen Seite ist wirklich nietzscheanisch. Auffallend ist jedoch, daß
gerade extreme Gruppen prinzipiell eine Neigung zu dem Verlangen zeigen, sich
auf Nietzsche zu berufen.
Ein Beispiel, das Golombs These vom Bund zwischen Antizionismus und
extremer Orthodoxie in Israel allerdings bestätigen könnte, ist die Arbeit des
exotischen Außenseiters Leib Weisfisch aus dem orthodoxen Lager. Man darf
wohl davon ausgehen, daß Weisfisch sich Nietzsche zum höchsten Propheten
auserkor, weil er ihn in die Nähe der Zionismuskritiker und der Anhänger eines
traditionellen Judentums stellen konnte. Doch damit sind die Ursachen für die
Wertschätzung, die Weisfisch dem Philosophen Nietzsche zukommen läßt, ge-
rade aus israelischer Perspektive noch nicht erschöpft.
In einem Interview vom 20,05.1983 in der Feuilletonbeilage der Zeitung
„HaAretz" formulierte Weisfisch seine Position folgendermaßen: 25 „Dieser Goj
(so bezeichnet er Nietzsche — Μ. Z.) hat den Juden ihre Größe zeigen müssen."
Hier wird die Intention deutlich: „vor aller Welt den Mißbrauch Nietzsches
und die fürchterliche Verfälschung seiner Schriften durch die Nationalsozialisten
gegen die Juden abzustreiten". Und Weisfisch fährt sogleich mit einem weiteren
24 Jakob Golomb, „Nietzsche, der Hebräer" (hebräisch), in: HaAret£ 04.02.1983, S. 18.
25 Niza Melinijak, „Jeder mit seinem eigenen Nietzsche" (hebräisch), in: Mussaf HaArefy 20.5.1983,
S. 16.
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414 Moshe Zimmermann
Im folgenden ist um der Vollständigkeit willen die andere Seite der israeli-
schen Gesellschaft darzustellen — das zionistische Extrem. Israel Eldad (Scheib)
darf als rechtsradikaler Außenseiter im israelisch-zionistischen Spektrum gelten.
Daher wäre es interessant, zu untersuchen, wie und warum bei ihm eine Sympa-
thie für Nietzsche entstand. Nach einem Selbstzeugnis 28 hatte Eldad sich bereits
in seiner Schulzeit in Polen für Nietzsche als Reaktion auf die Lektüre der Schrif-
ten Achad Haams begeistert. Das würde bedeuten, Nietzsche stellte von Anfang
an die militante zionistische Antwort Eldads auf den geistigen, von Achad Haam
geprägten, Zionismus dar. Gegen Achad Haam las Eldad Berdyczewski und
durch Berdyczewski („Umwertung aller Werte, Aufstand gegen die Exilswirk-
lichkeit" 29 ) gelangte er zu Nietzsche, ein Weg, der in den zwanziger Jahren
für Juden nicht unbedingt außergewöhnlich war. Doch zur aktiven Umsetzung
Nietzsches gelangte Eldad konkret erst durch den Kampf in der Organisation
„Lechi", der extremsten Terrororganisation des jüdischen Jischuw in Palästina
während der britischen Mandatszeit: Eldad suchte nach einer Rechtfertigung für
nicht-demokratisches Handeln im Namen der nationalen Vision. Deshalb fand er in
dem „Willen zur Macht" und in dem „Ubermenschen" eine argumentative Basis.
Die nietzscheanische Anschauung von der Moral der Massen als einer Sklaven-
moral bot, wenn man so will, ebenfalls eine Bestätigung der nichtdemokrati-
schen Positionen. Genau in diesen Kontext setzte Eldad Nietzsches Ausführun-
gen in seinem Aufsatz „Zentrum und Peripherie in Nietzsches Philosophie" 30
aus dem Jahre 1944 (ein Jahr vor Kriegsende!) anläßlich der hundertsten Wieder-
kehr des Geburtstages des Philosophen. Für Israel Eldad und Uri Zwi Grinberg,
einen Dichter der extremen zionistischen Rechten, wurde Nietzsche in erster
Linie aufgrund seiner antidemokratischen Position, auf die sich zionistische Dissidenten
von der Art der Lechi-Anhänger berufen konnten, nicht aber aufgrund seiner
positiven Haltung zum Judentum akzeptierbar (diese sollte Scheib überhaupt
erst später entdecken). Außerhalb des nietzscheanischen Kontexts gelangte El-
dad zur Anschauung, man dürfe nicht auf die Übergabe der Verfügungsgewalt,
das Volk zum Aufstand zu führen, mittels einer Abstimmung warten. Die Weni-
gen, die vor ihrem geistigen Auge die Katastrophe erkennen, seien nach Eldad
zum Handeln verpflichtet. „Wir — drei Männer — haben die Autorität auf uns
genommen und Krieg über den Jischuw verhängt ... und wir haben kraft der
Vision der Freiheit Israels, die man dem Volk wie eine Wanne aufstülpen muß,
gehandelt." 31 Was Eldad zu Beginn seiner Erfahrung mit Nietzsche entdeckte,
das paßte demnach auch zu seinem politischen Weg.
28 Adda Amichal Jevin, Sambatjon. Ideologie auf dem Prüfstand (hebräisch), Beth El 1995.
29 Israel Eldad, „Nietzsche über Jerusalem" (hebräisch), in: Svivot 26 (April 1991), S. 65.
30 „Zentrum und Peripherie in Nietzsches Philosophie", Die Front, Ausgabe 14, Cheschwan 5705 (1944).
31 Israel Eldad, Die erste Zehntabgabe. Erinnerungen und die Moral von der Geschichte (hebräisch), Tel Aviv
3 1976, S. 243.
Erst später sollte Eldad Nietzsches Sympathien für das Judentum kennenler-
nen, wodurch es ihm möglich wurde, offen seine Unterstützung für diesen Pro-
pheten so zu rechtfertigen, wie es auch die „weniger exotischen" Nietzschean-
hänger in Israel taten. Zu Eldads antidemokratischen Positionen aus der Zeit
des Weltkrieges trat nun ein weiteres Element hinzu, das für Nietzsche sprach:
seine Verehrung des Judentums und die Infragestellung der nationalsozialisti-
schen Interpretation zum Thema Macht und Rasse bei Nietzsche. Doch in die-
sem Fall darf davon ausgegangen werden, daß, selbst wenn Scheib in Nietzsches
Schriften stärker auf Antisemitismus gestoßen wäre, als dies der Fall war, das
Schicksal des Philosophen ebenso positiv ausgefallen wäre wie Sombarts Beur-
teilung durch Zionisten, die in ihm trotz seines Antisemitismus einen Förderer
des Zionismus im innerjüdischen Diskurs sahen! Eldad wird spekulativ, wenn er
zu der Ansicht kommt: „Ohne Zweifel wäre der Nationalsozialismus von ihm
(Nietzsche) abgelehnt worden, wenn er sich zu seiner Zeit entwickelt hätte". 32
Nach Eldad war Nietzsche demnach weder Antisemit noch Wegbereiter des
Ν ationalsozialismus.
Eldad hat Nietzsches Schriften, wie bereits erwähnt, in die hebräische Spra-
che übertragen. Die Initiative zu dieser Übersetzung ging kurz nach dem Eich-
mann-Prozeß vom Verlagshaus Schocken aus. Eldad zögerte, das Projekt zu
übernehmen, schwankte er doch zwischen den beiden für jene Zeit typischen
Polen — entweder in allem Deutschen eine Quelle des Nationalsozialismus zu
sehen oder einzelne Elemente der deutschen Kultur aufzugreifen, die israeli-
schen oder jüdischen Interessen förderlich und nützlich sein könnten. Eldad traf
die Entscheidung zugunsten der zweiten Möglichkeit und übersetzte Nietzsches
Schriften ins Hebräische, was aus seiner Sicht, insbesondere angesichts der oben
gemachten Ausführungen, nur konsequent war. Eldad fand auch eine Parallele
zwischen dem jüdischen Gebot „und er wird durch sie (die Satzungen Gottes)
leben" 33 und Nietzsches Position über die Bedeutung des Lebens an sich. Aus
der Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben gewann Eldad
darüber hinaus stützende Belege für die Idee eines Königtums Israel (die Be-
schäftigung mit der Geschichte dient dem Leben). 34 1964 nahm Eldad die Ar-
beit an der Ubersetzung auf. Der erste Band — Jenseits von Gut und Böse —
erschien kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg, der letzte — Der Wille t^ur Macht —
kurz nach der Regierungsübernahme des nationalen Blocks unter der Führung
Begins im Jahre 1977 35 — einer Zeit des Wertewandels in der israelischen Gesell-
schaft, als der Wille zur Macht in eine Machtdemonstration übersetzt wurde!
Kurz nachdem im Jahre 1983 die Übersetzung von Kaufmanns Buch über
Nietzsche ins Hebräische den Philosophen erneut in die öffentliche Diskussion
gebracht hatte, 36 publizierte Eldad seine Überlegungen zum Thema „Nietzsche
und die Hebräische Bibel". 37 Die Wertschätzung des Alten Testaments, die Ach-
tung vor der biblischen Geschichte Israels, die Erkenntnis vom Gott, der seine
Feinde hassen kann, die Betrachtung des lebendigen Gottes eines Volkes, des
zürnenden Jehova, das Ja zum Leben, 38 — alle diese Elemente der Verehrung
des Alten Testaments — des „mächtigsten Buches und des wirkungsvollsten
Sittengesetzes der Welt" (Menschliches Λ Unmenschliches I, 475) — wurden von
Nietzsche hoch geschätzt und dementsprechend — auch von Eldad. Abschnitt
26 des „Antichristen" ist für Eldad eine Beschreibung „der Mißhandlung, die
dem Alten Testament durch das Exil (Galut) und die Diaspora widerfahren ist".
So macht Eldad Nietzsche zum Zionisten, da auch Nietzsche sich, nach Mei-
nung Eldads, für eine Beseitigung der Diaspora ausgesprochen und die Gesund-
heit und Natürlichkeit der frühen jüdischen Gesellschaft begrüßt habe. Wenn
Nietzsche dem Diasporajudentum jedoch seine Sympathie nicht entzog, dann
allein deswegen, „weil es seine nationale Existenz unter den widrigsten Umstän-
den bewahrte". Hier gehen Eldads Spekulationen noch weiter: „Was Nietzsche
sich noch nicht vorstellen konnte, ... war die Möglichkeit einer politischen Auf-
erstehung des jüdischen Volkes, seine Rückkehr zum Volk der Kämpfer und
Bauern". Da Eldad sich jedoch des hier bestehenden Widerspruchs bewußt ist,
fügt er hinzu: „Wenn wir seinem Charakter treu bleiben und nicht dem Inhalt
seiner Lehre ... wer weiß".
Eldad gehört demnach zur Gruppe derjenigen, die Nietzsches Schriften zum
Preis der Juden und zur Förderung der zionistischen Lösung einsetzten; doch
zeigt sich dadurch bei ihm, wie bei vielen anderen Schülern Nietzsches, eine
Epigonen-Haltung: Er benutzt Nietzsche ebenso wie die antidemokratischen
Kräfte in Europa, und er nutzt ihn für diesen spezifischen Zweck innerhalb der
nationaljüdischen Gesellschaft.
In den sechziger Jahren wuchsen in Israel nach dem Eichmann-Prozeß Be-
wußtsein und Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus. Dadurch
entstand ein breiterer Rahmen für die Diskussion um Nietzsche. Der wesentli-
che Beitrag zum populären Diskurs um Nietzsche wird in diesem Rahmen auch
heute noch von Autoren geleistet, die man als nicht-politische und halbprofes-
sionelle „Außenseiter" bezeichnen darf. Der „negative" Nietzsche wird dabei im
wesentlichen von zwei Persönlichkeiten aus dieser Gruppe angegriffen — näm-
36 Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton Ν. J. 1950, 4 1974; hebräi-
sche Ausgabe: Tel Aviv 1982.
3 7 Israel Eldad, „Nietzsche und die Hebräische Bibel" (hebräisch), in: Sehut. Klav et li-^ira jehudit 3
(1983), S. 7 3 - 8 6 .
3 8 Friedrich Nietzsche, Göt^endämmerung, 38.
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418 Moshe Zimmermann
lieh von Rivka Schächter und Giora Schoham. Doch wie schon die umfangrei-
che Kritik an der Überset2ung der Schriften Nietzsches ins Hebräische gezeigt
hat, stehen diese beiden „exotischen Extremisten" in einem weitaus größeren
Umfeld, in dem auch David Ochana mit seiner Einordnung Nietzsches unter
die Väter der nihilistischen Revolution zu finden ist. Ochanas Beurteilung Nietz-
sches als desjenigen, der die Identifizierung des Modernen und Vernünftigen
zerbrochen hat, 39 und seine Kritik an Kaufmann, bei dem Nietzsche nicht als
Wegbereiter des Nationalsozialismus beschrieben wird, ist zugleich eine Kritik
an der Kompromißhaltung gegenüber Nietzsche in der israelischen Gesellschaft
der achtziger Jahre. Ochana steht hier am Anfang eines Weges, der zu der pau-
schalen Kritik der extremen Außenseiter im Diskurs über Nietzsche geführt hat.
Wichtig ist, daß Schächter und Schoham sich in methodologischer Hinsicht
nicht von der methodologischen Vorgehensweise derjenigen, die Nietzsche beju-
beln, unterscheiden — man studiert prinzipiell nicht die Schriften und den Text
als solchen, sondern geht von der Kenntnis dessen aus, was man für den „wah-
ren" Nietzsche hält. Den „wahren" Nietzsche aber identifiziert man entweder
in Anlehnung an Beschreibungen des Nietzscheschen Charakters oder aufgrund
seiner Rezeptionsweise. In beiden Fällen wird der philosophische Text überflüs-
sig.
Schächter und Schoham sind in der Diskussion zu berücksichtigen, weil sie
zunächst zu den israelischen Vertretern der Theorie vom Sonderweg in der
deutschen Geschichte gehören und weil sie darüber hinaus vielleicht die wichtig-
ste Rolle für die Darstellung Nietzsches in der israelischen Öffentlichkeit jenseits
eines engbegrenzten akademischen Publikums von Experten, wie Ascher Brin-
ker und Golomb, spielen. Deutsches kann nach Schächters und Schohams Auf-
fassung nur zu der Kontinuität gehören, die vom Nationalismus zum National-
sozialismus und vom Antisemitismus zur Shoah führt. Hier schließen sich beide
der Position Allan Blooms an, die im absoluten Gegensatz zu Kaufmanns An-
sicht steht. Für Bloom ist Nietzsche der Erzvater der Unzulänglichkeit einer
vollkommen degenerierten westlichen Kultur.40 Schon 1965 trat Schächter mit
ihrem Aufsatz „Gegen die Rehabilitierung Nietzsches" hervor. 41 Zehn Jahre
später konnte sie dann sogar behaupten, 42 daß, auch wenn Nietzsche gesagt
habe, „Deutschland über alles" sei das Ende des deutschen Geistes, die
nietzscheanische Umwertung aller Werte nicht nur eine allgemein europäische
Tendenz, sondern „die schlummernde Gewalt des deutschen Nationalismus"
zum Ausdruck gebracht habe. Ohne den Einfluß Nietzsches außerhalb Deutsch-
39 David Ochana, „Europa blickt auf seine Vergangenheit", in: HaArefy 12.05.1989.
40 Allan Bloom, The Closing of the American Mind\ New York 1987.
41 Rivka Schächter, „Gegen die Rehabilitierung Nietzsches" (hebräisch), in: Mosnajim 5 (1965),
S. 394-398.
42 Rivka Schächter, „Der Ubermensch" (hebräisch), in: Achschav, Jerusalem 1975, S. 99.
43 Rivka Schächter, Kosmischer Feind. Der geläuterte deutsche Geist in der Gestalt eines geläuterten Barbaren-
tums, Tel Aviv 1988, S. 122.
4 4 Ebd., S. 129.
45 Ebd., S. 137.
4 6 Ebd., S. 143.
meint Schächter, es sei ein Fehler, zu glauben, Schüler würden die Lehren ihres
Meisters verändern. Doch was gilt dann für Nietzscheschüler wie Scheib und
Weisfisch?
Eines der Paradoxa, die infolge der Diskussion um Nietzsche ebenso wie in
der Diskussion um die Shoah entstanden sind, ist der Umstand, daß die Verteidi-
ger des Judentums zugleich zu Verteidigern des Christentums werden. Im vorlie-
genden Fall möchte man in der Ablehnung des Christentums durch Nietzsche
das Einfallstor für die nationalsozialistische Ideologie finden. So erfolgt die son-
derbare Verteidigung des Christentums gegen Nietzsche oder die Nationalsozia-
listen mit dem Zweck, auch das Judentum verteidigen zu können. In diesem
Ansatz liegt nun natürlich ein Körnchen Wahrheit und Vernunft, denn ohne
Zweifel hat der Nationalsozialismus antichristliche Elemente enthalten. Es ist
jedoch sicherlich ein Fehler, hier den Schlüssel für die Problematik zu finden:
basierte nicht die gesellschaftliche Legitimation, die dem Dritten Reich zuteil
wurde, gerade auf christlichen Positionen (die im allgemeinen sehr wohl von
jüdischen Historikern mit nicht weniger Berechtigung angegriffen werden). Hier
mit Nietzsche zu argumentieren, ist künstlich!
Schoham hält eine derartige Argumentation jedoch für konsequent und sy-
stematisch: Er übernimmt willig die Verteidigung des Christentums gegen ein
Heidentum, in dem er den wesentlichen Beitrag Nietzsches zum Nationalsozia-
lismus zu erkennen glaubt. „Nietzsche hat den christlich-monotheistischen Gott
getötet und dem deutschen Heidentum (!) den Ausbruch erlaubt." 47 Da sich
seiner Meinung nach auch bei Nietzsche die deutsche Neigung zur Heldenvereh-
rung zeigt — und da die bevorzugte Beschäftigung des Deutschen, auch mit
Empfehlung Nietzsches, nun einmal der Krieg ist 48 — ist Nietzsche also durch
und durch deutsch, so daß man ihm die Verantwortung für Hider zuweisen und
ihn aus dem europäischen Kontext lösen kann. „Hier schließt sich also der
Zirkel der rassistischen Ideologie — von dem völkistischen Triumvirat Lagarde,
Langbehn und Möller van den Bruck über Nietzsche und die wissenschaftlichen
Rassisten, Gobineau und H. S. Chamberlain, bis zu Alfred Rosenberg, Eckart
und Hider." 49 Wer nicht die Schriften Nietzsches oder die Geschichte des Natio-
nalsozialismus kennt, mag dies für eine überzeugende Erklärung halten - hier
liegt anscheinend der Schlüssel für das Verständnis des gesamten Problemkom-
plexes verborgen. Schoham sieht auch keinerlei Notwendigkeit, die jüdische
Seite bei Nietzsche zu untersuchen. Er zieht es vor, diesen Themenbereich zu
ignorieren, um die Ambivalenz zu vermeiden, seine These von dem bösen Deut-
schen aufrechterhalten und so zur Entscheidung der wirklich wichtigen Frage
47 Giora Schoham, Antisemitismus: Walhalla, Golgatha und Auschwitz (hebräisch), Tel Aviv 1992, S. 217.
48 Ebd., S. 224.
49 Ebd., S. 237.
50 Baruch Kurzweil, „Abschied von der bürgerlichen Kultur" (hebräisch), in: HaAret^ 23.04.1948.
51 Baruch Kurzweil, „Nietzsches Einfluß auf die hebräische Literatur", in: HaAret^ 17.01.1958.
52 Menachem Brinker, Bis %ur tiberianischen Gasse (hebräisch), Tel Aviv 1990.
53 Die Offene Universität (Hg.), Von Shoah und Schicksal (hebräisch), Tel Aviv 1983, S. 8 4 - 8 5 .
wird betont, daß, obwohl Nietzsche kein Antisemit oder Nationalist war, „viele
Intellektuelle seinen Pessimismus im Hinblick auf die moderne Welt adaptiert
... [und] unter Veränderung ihrer Inhalte einzelne zentrale Begriffe seiner Lehre
übernommen haben, so daß einige der nietzscheanischen Begriffe fortan ein
selbständiges Leben zu führen begannen." Auf der Ebene der Schulen hat ein
derartig differenzierter Ansatz bereits keinen Platz mehr. Weisfischs Bemerkun-
gen über die Ausbildung seiner Tochter im Lehrerseminar sind treffend: Die
politisch-kulturelle Darstellung der Machtübernahme der Nationalsozialisten
nimmt wiederholt auf Nietzsche Bezug — dadurch wird er zum Vater des Natio-
nalsozialismus. So und ähnlich findet man es in einem säkularen Lehrbuch für
die Oberstufe und auch in Arie Carmons Buch „Die Shoah", 54 und natürlich in
den Lehrbüchern für die religiösen Schulen. 55 „Alle Eigenschaften, die Nietz-
sche der blonden Bestie zuweist... sind die ausdrücklichen Merkmale des Natio-
nalsozialismus ... und ganz sicher bringt er die latenten inneren Begierden der
deutschen Nation zu ihrem vollsten und schärfsten Ausdruck." Um der Ambiva-
lenz zu entgehen, zeichnet Moshe Prager, der religiöse Verfasser dieses Buches,
auch ein einseitiges Bild in bezug auf das jüdische Thema: Der Angriff auf
das Christentum sei eigentlich ein Angriff auf das Judentum, und Nietzsches
Ausführungen über das Judentum dürften nicht positiv interpretiert werden.
Dieses Verständnis entspricht den orthodoxen Positionen nach der Shoah, die
auch die antichristliche Haltung des Nationalsozialismus als Teil einer Antireli-
giosität verstanden wissen wollen, welche zur Katastrophe und zur Shoah ge-
führt hat! Im Geschichts-, Literatur- und Philosophieunterricht der Schulen
taucht Nietzsche heute weniger als in der Vergangenheit auf, so daß die Ausein-
andersetzung mit Nietzsche für den Durchschnittsbürger in Israel erst in einer
relativ späten Phase beginnt, nämlich in dem Augenblick, in dem er an die
Übersetzung oder die Universität kommt.
Auch in diesem Kontext, wie überhaupt im Zusammenhang der Frage nach
dem Nationalsozialismus, erweist sich, daß die zeitliche Entfernung zu den Er-
eignissen eine pauschale Sichtweise in Stereotypen verstärkt. Man darf davon
ausgehen, daß mit der Etablierung des Zionismus — „Israel über alles" — der
jüdische Nietzscheanismus, zumindest in Israel, seine Kraft verloren hat. Ein-
zelne nietzscheanische Außenseiter stehen einer größeren Gruppe von Anti-
Nietzscheanern und einer Mehrheit gegenüber, der Nietzsche nichts bedeutet
oder der er eben nicht eindeutig ausreicht, um die historische Kontinuität zur
Shoah und zur Gründung des Staates Israel zu erklären. Und im Hinblick auf
54 Arie Carmon, Die Shoah. Themen für die Oberstufe der allgemeinbildenden Schulen (hebräisch), Jerusalem
1981, S. 127.
55 Moshe Prager, Quellen und Arbeiten %ur Shoah. Ein Lesebuch fur Schüler der religiösen Oberschulen. „Der