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Jeder von uns hat eine Lieblingsfarbe.

Jeder weiß, was er am


liebsten isst und welche die beste neue Kultserie ist. Aber was
steckt wirklich dahinter, wenn wir etwas mögen? Wie entscheiden
wir, was gut ist? Sind diese Entscheidungen biologisch begründet
oder von persönlichen Erfahrungen geprägt? Und wie nutzen
Unternehmen diese Informationen? Tom Vanderbilt beantwortet die
Frage nach den Ursprüngen unseres Geschmacks so plastisch wie
sonst keiner. Von den komplizierten Hintergründen der
Essensauswahl über die Nonstop-Vergabe von Daumen und Likes im
Netz bis zu unserer Unsicherheit beim Anblick eines ungewohnten
Kunstwerks. Er zeigt, welcher Anteil der alltäglichen Präferenzen
hartverdrahtet in unseren Gehirnen angelegt und welcher von
unserem kulturellen Umfeld beeinflusst wird. Ein Standardwerk
unseres Geschmacks, umfassend und dabei sehr unterhaltsam
geschrieben.
Hanser E-Book
Tom Vanderbilt

GESCHMACK
Warum wir mögen,
was wir mögen

Aus dem Englischen von


Christine Ammann

Carl Hanser Verlag


Titel der Originalausgabe:
You May Also Like. Taste in an Age of Endless Choice.
United States: Alfred A. Knopf,
a division of Penguin Random House LLC, New York, 2016.
Canada: Alfred A. Knopf Canada,
a division of Penguin Random House Limited, Toronto, 2016.

ISBN 978-3-446-44893-3
Copyright © 2016 by Tom Vanderbilt
First published in the US.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
You May Also Like bei Knopf US.
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Motiv: © Ming Lok Fung / Getty Images und
© Kat Chadwick / Getty Images
Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu

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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Sylvie,
die wissen wollte, warum
INHALT

Einleitung
Was ist Ihre Lieblingsfarbe
(und warum haben Sie überhaupt eine)?

1
Was hätten Sie denn gern?
Gedanken über unseren Geschmack beim Essen

2
Das Problem sind nicht unsere Sterne,
sondern wir
Geschmack in einer vernetzten Welt

3
Wie vorhersehbar ist unser Geschmack?
Was Ihre Playlist über Sie sagt
(und was Sie über Ihre Playlist sagen)

4
Woher wissen wir, was uns gefällt?
Über Hype und Streit in der Kunst

5
Warum (und wie) sich
unser Geschmack verändert

6
Katzen, Schmutz und Bier
Wie bestimmen Experten, was gut ist?

Schlussfolgerungen
Reine Geschmackssache
Oder doch nicht?

Anmerkungen

Register
»Und ihr sagt mir, Freunde, daß nicht zu streiten sei
über Geschmack und Schmecken? Aber alles Leben ist
Streit um Geschmack und Schmecken!«
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Einleitung

WAS IST IHRE LIEBLINGSFARBE


(UND WARUM HABEN SIE
ÜBERHAUPT EINE)?

»Was ist deine Lieblingsfarbe?«


Die Frage stellte mir meine fünfjährige Tochter eines Morgens auf
dem Weg zur Schule. Sie hat neuerdings ihre »Lieblingssachen«
entdeckt, erzählt mir von ihren und erkundigt sich nach meinen.
»Blau«, antworte ich und fühle mich wie das Aushängeschild für
den westlichen Mann: Blau ist in der westlichen Welt beliebt, bei
Männern noch mehr als bei Frauen.
Pause. »Und warum ist dein Auto dann nicht blau?«
»Tja, Blau gefällt mir, aber blaue Autos eben nicht so.«
Meine Tochter denkt ein Weilchen nach, dann: »Meine
Lieblingsfarbe ist Rot.« Das war neu. Letzte Woche war es noch
Rosa. Bald kommt wahrscheinlich sogar Grün ins Spiel.
»Trägst du darum heute eine rote Hose?«, frage ich.
Sie lächelt. »Hast du auch eine rote Hose?«
»Nein.« Als ich noch in Spanien lebte, kaufte ich mir eine rote
Hose und trug sie auch, weil ich das bei den Spaniern so gesehen
hatte. Aber als ich nach New York umzog, wo kaum ein Mann rote
Hosen trug, blieb die Hose im Schrank. Was in Madrid damals
verbreitet war, war in Amerika, zumindest in meinen Augen, 1991
noch Trendsettern vorbehalten. Aber all das behalte ich für mich.
»Am besten kaufst du dir eine rote Hose.«
»Meinst du?«
Sie nickt. »Was ist deine Lieblingszahl?«
Jetzt bin ich platt. »Hm. Ich weiß nicht, ob ich eine Lieblingszahl
habe.« Dann sage ich: »Vielleicht acht.« Und versuche im selben
Moment zu verstehen, warum »acht«? Weil ich diese Zahl als Kind
am liebsten schrieb?
»Meine ist sechs«, sagt meine Tochter.
»Warum?«
Sie zuckt mit den Schultern und runzelt die Stirn. »Ich weiß nicht.
›Sechs‹ gefällt mir einfach.«

Warum gefällt uns, was uns gefällt? In unserer kurzen Unterhaltung


haben meine Tochter und ich mindestens fünf Grundprinzipien
gestreift, die in der Geschmacksforschung eine Rolle spielen. So
beziehen sich unsere Vorlieben, erstens, normalerweise auf
Kategorien: Blau gefällt mir, aber eben nicht am Auto. Vielleicht
mögen Sie Orangensaft, aber nicht im Cocktail. Zweitens sind
unsere Vorlieben meist kontextabhängig. In Spanien fand ich rote
Hosen toll, in New York eher weniger. Wahrscheinlich haben Sie
auch schon einmal heißgeliebte Souvenirs wie Espadrilles oder
bunte Decken aus dem Urlaub mitgebracht, die nun zu Hause ein
kümmerliches Dasein in der Abstellkammer fristen. In der
Sommerhitze kaufen die Leute seltener schwarze Autos und sind
bereit, mehr für ein Haus mit Swimmingpool zu zahlen. 1 Drittens
sind unsere Vorlieben häufig konstruiert. Als ich meine Lieblingszahl
verraten sollte, tauchte vor meinen Augen eine Zahl auf – mit der
Begründung gleich im Schlepptau. Viertens sind Vorlieben inhärent
vergleichend. Noch ehe Kinder sprechen können, fühlen sie sich
offenbar stärker zu denen hingezogen, die ihre Vorlieben teilen. So
ließ eine klug angelegte – und für den Zuschauer zweifellos lustige
Studie – Kleinkinder zunächst zwischen zwei Gerichten wählen.
Dann zeigte man den Kindern Puppen, die eine offene »Vorliebe«
oder »Abneigung« für das gewählte Gericht ausdrückten. Als man
den Kindern die Puppen schließlich hinhielt, griffen sie tendenziell
nach denen, die dasselbe Gericht »bevorzugten« wie sie. 2 Fünftens
sind unsere Vorlieben ärgerlicherweise selten angeboren:3 Wir
versuchen, auf unsere Kinder einzuwirken, und geben ihnen jede
Menge Erbgut mit, und doch haben sie selten dieselben Vorlieben
wie wir.
Die Unterhaltung zwischen meiner Tochter und mir endete mit
einer der bekanntesten Einsichten in puncto Geschmackssachen:
Vorlieben und Abneigungen sind manchmal verdammt schwer zu
begründen. So bedauerte der Philosoph Edmund Burke schon vor
dreihundert Jahren in einer der ersten Abhandlungen über den
Geschmack, »daß diese feine und geistige Fähigkeit, die zu
volatilisch scheint, die Fesseln einer Definition zu vertragen, noch
weit weniger auf einen gewissen Probierstein gebracht, und nach
einem sichern Maßstabe ausgemessen werden« kann. 4
Und wer sich dennoch abmühte, den Geschmack zu verstehen,
vermeinte am Ende oft, da gebe es wohl nicht viel zu erklären.
»Angenommene Geschmacksunterschiede konnten noch nie zur
Erklärung eines signifikanten Verhaltens beitragen«, schreiben die
Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler George Stigler
und Gary Becker. 5 Da jedes Verhalten, wie die Vorliebe meiner
Tochter für die Zahl sechs, reine Geschmackssache sei, könne der
Geschmack offensichtlich »alles und darum nichts« erklären. 6 Wer
über Geschmack streite, könne genauso gut über die Rocky
Mountains streiten: »Beide existieren heute, genauso in einem Jahr
und für alle Menschen gleichermaßen.«
Doch die Rocky Mountains verändern sich, wie andere
Wirtschaftswissenschaftler eingewendet haben, wenn auch nicht in
einer für uns wahrnehmbaren Geschwindigkeit. 7 In zahllosen
Studien wiesen Psychologen, häufig unterstützt durch
Neurowissenschaftler, nach, dass sich der Geschmack verändert, oft
sogar in ein- und demselben Versuch: Das Essen schmeckt uns
besser, wenn wir dazu eine bestimmte Musik hören, oder ein
Musikstück gefällt uns schlechter, wenn wir Negatives über den
Komponisten hören.
Unser Geschmack scheint geradezu endlos »anpassungsfähig« –
um es mit dem einflussreichen norwegischen Sozialwissenschaftler
Jon Elster zu sagen. Elster zitiert die Fabel vom glücklosen Fuchs,
der die begehrten, aber unerreichbaren Trauben kurzerhand für zu
»sauer« erklärt. Der Fuchs begnüge sich nicht einfach mit der
zweitbesten Wahl – wie vielleicht die Theoretiker einer »rationalen
Entscheidung« –, sondern mache die Trauben im Nachhinein
schlecht. Die Trauben waren nicht sauer, und der Fuchs liebte
Trauben noch immer. Doch Vorlieben können, so Elster, der
Anpassung auch zuwiderlaufen. In einer anderen Situation hätte der
Fuchs die unerreichbaren Trauben womöglich umso mehr begehrt.
Wie dem auch sei, Vorlieben sind offenbar auch durch momentane
Zwänge bestimmt. Was die Frage aufwirft: »Was möchte der Fuchs
eigentlich wirklich?
Während die Ökonomen Entscheidungen meist für den Ausdruck
von Vorlieben halten, hegen Psychologen eher den Verdacht, dass
Vorlieben erst durch die Entscheidung entstehen. 8 Angenommen,
der Fuchs hat die freie Wahl zwischen Trauben und Kirschen, und
sagt nach dem Essen, die getroffene Wahl habe ihm besser
geschmeckt. 9 Hat er dann gewählt, was ihm schmeckt, oder
schmeckt ihm, was er gewählt hat? Beide Annahmen könnten
zutreffen, denn mit dem Geschmack ist es so eine Sache. Vielleicht
fragen Sie sich an dieser Stelle schon, ob es hier wohl nur um das
sensorische Geschmackserlebnis geht? Oder um unseren
Kleidungsgeschmack? Oder um das, was in der Gesellschaft als
»guter Geschmack« gilt? Das alles hängt auf gewisse Weise
zusammen. Mag sein, dass dem Fuchs die Trauben wirklich
schmecken, vielleicht gefällt ihm aber auch nur die Vorstellung, der
einzige Fuchs zu sein, der Trauben liebt.
Denken Sie beim Geschmack einfach an alles, was einem gefällt –
aus welchen Gründen auch immer. Dann bleibt immer noch die
Frage offen, wie man weiß, was einem gefällt, oder erkennt,
welchen Leuten was gefällt und warum. Oder, warum anderen, die
uns ansonsten ähnlich sind, etwas nicht gefällt, was wir mögen, oder
warum sich der Geschmack verändert, wofür er überhaupt gut ist
und so weiter. Der Designkritiker Stephen Bayley hat irgendwann
das Handtuch geworfen und gemeint: »Eine Historie des
Geschmacks zu schreiben, ist mehr als schwierig, es ist
unmöglich.«10 Ich glaube trotzdem, dass man Geschmack
begründen kann. Wir können etwa erklären, warum wir einen
bestimmten Geschmack haben und was in uns vorgeht, wenn wir uns
aus dem Füllhorn der Möglichkeiten etwas herauspicken und zu
unserer Vorliebe erklären.

Was ist Ihre Lieblingszahl? Wenn Sie wie die meisten ticken, dann
ist es die »Sieben«. In den westlichen Industrienationen ist Sieben
das Blau der Zahlen. In mehreren Studien der 1970er Jahre wurden
beide so oft gemeinsam genannt, dass die Psychologie sogar vom
»Blue-Seven«-Phänomen sprach, als hätte das eine mit dem anderen
zu tun. 11 Doch lassen wir die Farben für einen Moment außer Acht
und fragen wir uns, warum die Sieben?
Wie bei den meisten Vorlieben ist die Antwort darauf eine
Gemengelage aus kulturellem Lernen, psychologischer Verzerrung,
inhärenten Eigenschaften und Einflüssen des Entscheidungsumfelds.
Die simpelste Begründung ist die einfache Tatsache, dass die Sieben
in unserem Kulturkreis so beliebt ist. Sie gilt als Glückszahl,
vermutlich weil sie die »heilige Zahl par excellence« ist, so ein
Forscher, und in der Bibel und der rabbinischen Literatur immer
wieder auftaucht. 12 Eine Rolle könnte auch spielen, dass unser
Arbeitsspeicher für Ziffernfolgen bei der »magischen« Sieben ins
Stocken gerät (und amerikanische Telefonnummern darum stets
siebenstellig sind). 13
Oder liegt es etwa an der Sieben selber? Fragt man Leute, welche
Zahl zwischen eins und zehn ihnen zuerst in den Kopf kommt,
nennen die meisten die Sieben – und an zweiter Stelle die Drei. Sie
wollen vermutlich eine Zahl nennen, die möglichst »zufällig« wirkt,
und aus geheimnisvollen »mathematischen« Gründen ist das die
Sieben. Wir müssen uns den Gedankengang in etwa so vorstellen:
»Eins oder zehn? Zu auffällig. Fünf? Genau in der Mitte. Zwei?
Gerade Zahlen wirken weniger zufällig als ungerade, oder? Null? Ist
das eine Zahl?« Weil Sieben eine Primzahl ist, erscheint sie von
anderen Zahlen unabhängig und darum zufälliger. Sie steht allein
und verrät kein Muster. Aber so überzeugend das klingen mag,
wenn man den Kontext verändert – etwa: »Denken Sie an eine Zahl
zwischen sechs und zweiundzwanzig« –, ist die Sieben nicht mehr
die erste Wahl. Doch ihr Einfluss wirkt fort:14 An ihre Stelle tritt die
Siebzehn.
Tagtäglich wird von uns auf die eine oder andere Weise verlangt
zu erklären, warum uns das eine besser gefällt als das andere.
Warum haben wir gerade bei dem Song den Sender verstellt oder
gerade diesen Facebook-Eintrag »geliked«? Wieso schmeckt einem
»richtige« Cola besser als Diät-Cola? All diese winzigen
Alltagsentscheidungen sind zum einen bloß eine bescheidene
Möglichkeit, ein wenig Ordnung in unsere Welt zu bringen – etwa
wenn wir unser Frühstück »ordern«: »Wie möchten Sie die Eier?
Brötchen oder Brot? Marmelade oder Honig?« Eigentlich
unbedeutende Entscheidungen, aber jeder hat wohl schon erlebt,
wie unschön es sich anfühlt, wenn der Kellner dann doch das Falsche
bringt. Andererseits kann sich eine Vorliebe auch in ein
umfassendes, tiefgreifendes Geschmacksurteil verwandeln, das
etwas darüber aussagt, wer wir sind: »Ich liebe Country-Musik.«
»Die französische Sprache klingt in meinen Ohren einfach
wunderbar.« »Sci-Fi-Filme gefallen mir überhaupt nicht.«
Warum meine Tochter allerdings plötzlich eine Leidenschaft für
Lieblingssachen aller Art entwickelte, ist bislang kaum erforscht. 15
Leicht alarmiert las ich in einem der raren Artikel zu dem Thema, es
gebe einen Zusammenhang zwischen »Lieblingszahlen« und
Zwangsstörungen. 16 Auch ohne große Theoriegebäude leuchtet es
ein, dass man durch »Lieblingssachen« seine Identität auf
preiswerte, leicht erkennbare Weise verdeutlichen und zeigen kann,
dass man anderen ähnlich und unähnlich ist. Wenn mir meine
Tochter von einer neuen Freundin erzählt, erfahre ich immer zuerst,
wann die Freundin Geburtstag hat, und dann ihre Lieblingsfarbe.
Mancher mag jetzt einwenden, diese flatterhaften Vorlieben
würden sich doch irgendwann auswachsen und als Erwachsene
besäßen wir schließlich einen vernünftigen, verlässlichen
Geschmack. Doch das stimmt nur bedingt. Als wären wir
abergläubisch, zeigen wir beispielsweise ausgeprägte Vorlieben für
Dinge, die sich im Grunde durch nichts von anderen unterscheiden.
Welche Kabine nehmen Sie zum Beispiel auf einer öffentlichen
Toilette? Vorausgesetzt, alle Kabinen sind frei, eher eine Kabine am
Ende oder in der Mitte? Wie eine Studie an einem »öffentlichen
Strand-WC in Kalifornien« zeigt, zweifellos ein Bericht direkt von
der soziologischen Front, bevorzugen die Besucher in der Regel die
mittleren Kabinen. 17 Man hat keinen danach gefragt, aber die
Besucher hatten, ähnlich wie bei der Sieben, vermutlich ihre Gründe
dafür. Die erste Kabine könnte zu nah am Eingang liegen und die
letzte zu weit davon weg. Dann wären die mittleren Kabinen »genau
richtig«. Aber ist das auch die beste Entscheidung? Das hängt von
den Kriterien ab – doch laut dem Mikrobiologen, der die
Bakterienmenge bewertete, sind die beliebtesten Kabinen leider
auch die schmutzigsten.
Und um bei den Toiletten zu bleiben: Es gibt ja nicht wirklich
einen rationalen Grund, warum man das Toilettenpapier besser »von
oben« oder »von unten« abrollen sollte. Oder hat sich das
Toilettenpapier schon irgendwann einmal nicht ordnungsgemäß
abreißen lassen?18 Obwohl es also vollkommen beliebig scheint, wie
man die Klopapierrolle aufhängt, berichtet die Kolumnistin Ann
Landers, dass sie noch nie, ob zu Abtreibung oder Waffengesetzen,
so viele Zuschriften bekommen habe wie zu diesem Thema.
Möglicherweise liegt es am intimen Charakter des Badezimmers,
dass darüber so vehement gestritten wird. Andererseits können
Vorlieben aber auch so schwach sein, dass die Psychologie sie als
»unmotivierte Präferenzen« oder völlig unbegründete Vorlieben
bezeichnet. Unmotivierte Präferenzen sind, so eine Studie, »der
experimentelle Abfall, den die ordnungsliebenden psychologischen
Theorien noch zusammenfegen müssen«. Es könnte sein, dass wir
uns bei diesen Vorlieben nach einer uns unbekannten oder kaum
bewussten Regel entscheiden – ohne eine Entscheidung zu treffen.
Da die meisten Leute allerdings dieselben Vorlieben hegen, darf
man vermuten, dass auch die scheinbar willkürlichste Entscheidung
irgendwelche Gründe hat – also nicht wirklich unbegründet ist.
Aber wo kommen solche Vorlieben her? In einem klassischen
linguistischen Versuch sollten Probanden unter mehreren Wörtern
wie »blick« oder »bnick« dasjenige auswählen, das am ehesten ein
englisches Wort sein könnte. Man muss kein Scrabble-Held sein, um
zu erkennen, dass »blick« am ehesten englisch ist. Einfach, weil es
englische Wörter gibt, die mit »bl«, aber keine, die mit »bn«
beginnen. Doch was, so Adam Albright, Linguist am MIT, wenn die
Leute unter mehreren, offensichtlich nicht englischen Wörtern wie
»bnick«, »bdick« oder »bzick« das auswählen sollen, das ihnen am
besten gefällt? Wie und warum äußert jemand eine Vorliebe für
etwas, wenn es eigentlich keine Entscheidungsgrundlage gibt und er
wählen muss – »Zwangsentscheidung« nennt das die Wissenschaft.
Entscheiden sich die Leute für »bnick«, weil es englischer klingt –
auch wenn das nicht stimmt?19 Oder weil sie einer angeborenen
»phonologischen Verzerrung« erliegen: weil das sogenannte
»Anfangscluster«, die Anfangskonsonanten in »bnick« oder »bzick«,
in ihren Ohren besser klingt? Die richtige Antwort scheint eine
unbeschreibbare Kombination aus Erlerntem und dem zu sein, was
uns von Natur aus besser gefällt. Beides lässt sich kaum
auseinanderhalten. Denn auch, wenn wir etwas erst lieben lernen,
passiert das unterhalb der Bewusstseinsschwelle.

Und das bringt uns zur Farbe Blau zurück. Kurz nachdem meine
Tochter mir ihre Lieblingsfarbe verkündet hatte, besuchte ich
Stephen Palmer in Berkeley, Professor für Psychologie an der
University of California. Er leitet das Forschungsinstitut für visuelle
Wahrnehmung und Ästhetik, das Palmer Lab, und hat mit seinen
Kollegen eine der überzeugendsten Theorien zu unseren
Lieblingsfarben entwickelt.
Wie er mir in seinem engen Büro, dessen institutionelle
Nüchternheit nur durch Palmers Interpretation von van Goghs
Sternennacht ein wenig gemildert wird, erzählt, sei sein Interesse
für Ästhetik durch seine Fotoleidenschaft geweckt worden – und
seine Sternennacht in einem Malkurs entstanden, mit dem er
künstlerische Vorgehensweisen besser verstehen wollte. Wie bei
jeder Kunst müsse man zunächst mehrere Entscheidungen treffen:
Was möchte ich fotografieren? Welche Perspektive führt zu dem
besten Foto? Wie platziere ich das Fotoobjekt? Ambitionierten
Fotografen wie Palmer wird normalerweise geraten, sich an den
»Goldenen Schnitt« zu halten und das zentrale Fotoobjekt entlang
der horizontalen oder vertikalen Linien zu platzieren, die das Bild
dreiteilen. Doch wenn Palmer Leute fragte, wie ihnen ein
bestimmtes Foto gefiel, oder ihnen eine Kamera in die Hand drückte
und sie um eine schöne Aufnahme bat, befand sich das Fotoobjekt
bei der überwiegenden Mehrheit in der Bildmitte.
Was eine neue Frage aufwirft: Warum werden Künstler
angehalten, Bilder zu schaffen, die den Leuten offenbar gar nicht so
gefallen?20 Warum stimmen die Vorlieben von Künstlern nicht mit
denen der breiten Allgemeinheit überein? Um das herauszufinden,
befragte Palmer Kunst- und Musikstudenten – sowie
Psychologiestudenten als Kontrollgruppe – nach ihrer sogenannten
Harmoniepräferenz. 21 Die Probanden lauschten verschiedenen
Komponisten, betrachteten Farbkompositionen und schauten sich
Kreise an, die in Rechtecken an unterschiedlicher Stelle platziert
waren. Alle empfanden mehr oder weniger dasselbe als harmonisch
und etwa Maurice Ravel als harmonischer als den Zwölftöner
Arnold Schönberg. Doch was den Kunst- und Musikstudenten gefiel,
war nicht unbedingt das, was sie als harmonisch bewerteten.
Waren sie einfach nur Snobs? Oder interessiert man sich durch
ein künstlerisches Studium weniger für Harmonie? Oder werden vor
allem Leute mit geringerem Harmoniebedürfnis Künstler? Palmer
ist sich nicht sicher. Menschen, die sich ausgiebig mit Kunst
beschäftigen, bräuchten vielleicht einfach einen stärkeren »Reiz«,
um ihr Interesse daran zu erhalten. »Teilweise liegt es wohl an
einer Art Übersättigung«, sagte er. »Immer dasselbe langweilt.
Zunächst positioniert man das Wichtigste in der Bildmitte, aber
irgendwann wird das fade. Außerdem verlangt der Lehrer ständig
Neues und will, dass sich die Objekte außerhalb der Bildmitte
befinden.«
Doch wir alle, ob Künstler oder Laien, besitzen ein ästhetisches
Empfinden. Bewusst oder unbewusst fragen wir uns unweigerlich,
ob uns etwas gefällt oder nicht. So zeigen Säuglinge schon wenige
Tage nach der Geburt eine starke Vorliebe für Gesichter, die ihnen
zugewandt sind. 22 Doch warum lieben die Leute bloß die Farbe
Blau? Blau steht seit den Anfangstagen der Psychologie, als der
Pionier Joseph Jastrow 1893 Tausenden von Besuchern der
Chicagoer Weltausstellung Farbmuster aushändigte, unangefochten
an der Spitze. 23
Trifft die Farbe einfach einen idealen chromatischen Punkt? Wenn
die Lieblingsfarbe Blau beim Menschen angeboren wäre, müssten
die meisten Säuglinge diese Farbe bevorzugen. Palmer ließ darum in
einer Studie Babys – sofern sie nicht wegen »allgemeiner
Aufgeregtheit« ausschieden – Farbkreise betrachten. 24 Bei
Säuglingen und in geringerem Maße auch bei Erwachsenen gilt die
»Blickdauer« als Zeichen der Vorliebe. Je länger man hinguckt,
desto besser gefällt’s. Derselbe Test wurde zugleich mit
Erwachsenen durchgeführt. Während die erwachsenen Probanden
erwartungsgemäß am längsten bei der Farbe Blau verweilten,
zeigten die Säuglinge nicht nur kein besonderes Interesse dafür,
sondern bevorzugten sogar die bei Erwachsenen normalerweise
unbeliebteste Farbe: »dunkelgelb«. Palmer hat für diese bräunliche
Farbpalette eine eigene wissenschaftliche Bezeichnung: »eklige
Kaka-Farben«.
Was war da los? Palmer und seine Kollegin Karen Schloss glauben,
die ökologische Valenztheorie könne die Farbvorliebe von
Erwachsenen und Säuglingen erklären. Danach gefallen uns nämlich
die Farben der Dinge am besten, die wir besonders mögen. Um ihre
Annahme zu belegen, entwickelten die Forscher eine ebenso
einfache wie elegante Versuchsanordnung. Zunächst musste eine
Probandengruppe angeben, wie gut ihnen 32 Farben gefielen. Dann
bat man eine zweite Gruppe, in 20 Sekunden möglichst viele Dinge
dieser Farbe aufzuzählen. Eine dritte Gruppe musste schließlich
sagen, wie gut ihnen diese Dinge gefielen. Was dieser Gruppe gefiel,
erlaubte eine 80-prozentige Vorhersage darüber, welche Farben sie
mochten. Wie nicht anders zu erwarten, nahm Blau die
Spitzenstellung ein, denn an was denken wir nicht alles bei Blau? An
einen strahlenden Himmel, an sauberes Wasser. Wem gefiele das
nicht, und wer bräuchte das nicht zum Überleben? Hat die
Vorherrschaft von blauen Hemden und hellbraunen Hosen im
männlichen Kleiderschrank also etwas mit der Natur zu tun? »Das
ist der Strand«, erklärte der Journalist Peter Kaplan, als man ihn
einmal auf sein Lieblingsoutfit aus hellblauem Hemd und beiger
Hose ansprach. 25 »Da trifft das Meer auf die Küste.« Und wem
gefällt es schließlich nicht am Strand?
Braungelb schnitt in Palmers Test dagegen eher schlecht ab und
versammelte massenhaft unangenehme Assoziationen auf sich:
dunkler Schleim, Erbrochenes, Eiter oder den Dreitürer AMC Pacer
aus den Siebzigern. Doch warum war die Farbe dann bei Säuglingen
so beliebt?
Das Reizvolle an der Theorie ist, dass unsere Lieblingsfarben, wie
unser Lieblingsessen, danach evolutionär verankert wären – wir
mögen, was uns guttut –, aber ebenso durch adaptives Lernen
erworben würden – wir lernen, womit wir uns gut fühlen. Säuglinge
haben noch nicht gelernt, Kot mit Ekel zu assoziieren – wie alle
Eltern bestätigen werden, die den Kampf am Wickeltisch geführt
haben. Es könnte also sein, so Palmer, »um das Ganze rund zu
machen«, dass Säuglinge das dunkelgelbe bis bräunliche Spektrum
evolutionär bedingt mögen, weil es an die mütterliche Brustwarze
erinnert, von der sie sich eines Tages freiwillig oder durch einen
Lernprozess abwenden.
Die ökologische Valenztheorie wurde auch noch anderweitig
überprüft. So befragten Palmer und seine Kollegen Studenten in
Berkeley und Stanford und stellten fest, dass diese die eigenen
Unifarben denen der Konkurrenzuni vorzogen. 26 Je besser ihnen die
Uni gefiel, desto besser gefielen ihnen auch die Farben. Das deutet
Palmer zufolge darauf hin, dass Farbpräferenzen weniger auf der
Farbe selbst beruhen als vielmehr auf dem, was wir damit
verbinden. Denn dass jemand nach Berkeley geht, weil ihm die
Unifarben gefallen, ist wohl eher unwahrscheinlich. Wenn man
Leuten nur angenehme rote Dinge wie Erdbeeren oder Tomaten
zeigt, gehen die Werte für die Farbe Rot auf der Stelle nach oben.
Präsentiert man dagegen offene Wunden oder Schorf, nimmt die
Leidenschaft für Rot empfindlich ab. Ebenso gefällt den Demokraten
und Republikanern »ihre« Farbe sofort leicht besser, wenn man sie
am Wahltag zu ihren »Parteifarben« Blau und Rot befragt. 27
Auch wer in der Farbenindustrie tätig ist, kann Dinge über
adaptives Lernen erzählen, die der ökologischen Valenztheorie
verdächtig ähneln. Wie die bekannte Farbberaterin Leatrice
Eiseman erzählt – die bei HP schon Monate, bevor Apple mit dem
bahnbrechenden iMac auf den Markt kam, auf einen blaugrünen
Computer drängte –, haben die Leute manchmal vielleicht eine
Aversion gegen Modefarben wie Chartreuse, würden der Farbe
aber dann doch eine zweite Chance geben. »Ich nenne das den
peripheren Blick«, sagte sie mir gegenüber. »Oh, da gibt es gelb-
grün und da auch. Hm, so schlecht ist die Farbe gar nicht. An einem
Hemd sieht sie gar nicht übel aus.« Und plötzlich wisse man gar
nicht mehr, wieso einem die Farbe ursprünglich nicht gefallen habe.
Tom Mirabile, in leitender Position beim Unternehmen Lifetime
Brands, das als eines der ersten bunte Küchengeräte auf den Markt
brachte, hat es so gesagt: »Man sieht die Farbe so oft, dass man
irgendwann denkt, genau die Farbe suche ich.«
Einigen geht die Annahme, alle Vorlieben seien konstruiert,
allerdings zu weit. Sie argumentieren, dass es etwa bei
Konsumgütern »inhärente«, also seit Urzeiten existierende
Vorlieben gebe, die wie verdrängte Erinnerungen nur darauf warten
würden, geweckt zu werden. 28 So habe das iPhone gezeigt, dass die
Leute, anders als vielfach angenommen, keine mechanische
Handytastatur wollen. Doch häufig steckt hinter den angeblich
»natürlichen« Vorlieben jede Menge Kultur. Die Vorstellung etwa,
Mädchen würden von Natur aus Rosa lieben, wird dadurch leicht
verkompliziert, dass Rosa Anfang des vorigen Jahrhunderts als
typische Jungenfarbe galt. 29 Mädchen lieben Rosa
höchstwahrscheinlich, weil sie es bei anderen Mädchen sehen. Denn
selbst wenn Frauen manchen Studien zufolge eher zu »rötlichen«
Farbtönen tendieren, kann das nicht erklären, warum Rosa nicht als
passende Farbe für Jungenfahrräder gilt oder es kaum rote
Mädchenfahrräder gibt. Und wieso sind Damenfahrräder dann so
gut wie nie rosa?
Es setzt quasi eine Rückkopplungsschleife ein: Je häufiger man
eine Farbe sieht und je stärker sie mit positiven Erlebnissen wie der
rosa Geburtstagstorte oder dem dunkelroten Männerhemd
assoziiert wird, desto besser gefällt sie einem. Und je besser sie
einem gefällt, desto häufiger wird sie zu einem positiven Erlebnis
beitragen: Rot ist eine tolle Farbe für einen Ferrari, wieso also nicht
für einen Mixer? »Wir führen in unserem Leben sozusagen Statistik
über die Farben der Dinge, die uns gefallen oder missfallen«, so
Palmer, »und weil wir eine besondere Antenne dafür besitzen, sind
unsere Assoziationen stets aktuell.« So wie meine Tochter ständig
ihre Lieblingssachen umsortiert, »kalkulieren wir all das im
Handumdrehen«, erklärte Palmer. Eine Lieblingsfarbe ist also eine
Art chromatische Bilanz über alles, was uns jemals ein gutes Gefühl
gegeben hat.

***

Vor einigen Jahren fiel mir irgendwann auf, wie oft ich an jedem x-
beliebigen Tag gefragt wurde, ob mir etwas gefiel oder nicht
(manchmal fragte ich mich das auch selber), und wie oft meine
Antwort vage ausfiel.

»Ich hab den Film xy gesehen.« »Wie fandest du den?«


»Eigentlich ganz gut.«

Oder:

»Wir waren bei dem neuen Thailänder.« »Wie ist er?« »Gut, aber
nicht so gut, wie ich dachte.«

Und natürlich:

Ihre Meinung ist uns wichtig. Bewerten Sie Ihren Einkauf bitte
auf einer Skala von 1 bis 5 (1 = sehr schlecht, 5 = sehr gut).

Aber was bedeutete das alles überhaupt? Wie viele Abstufungen


konnte es bei einem hedonistischen Erlebnis geben? Reichten fünf?
Was wollte ich damit sagen, wenn ich ein Instagram-Foto mit einem
»Like« bewertete? Gefiel mir, was auf dem Foto zu sehen oder wie
das Foto aufgenommen war oder wer es gepostet hatte? Hing mein
»Like« auch davon ab, wie viele andere Menschen das Foto schon
geliked hatten? Und wenn ein Foto keinen »Like« von mir bekam,
hieß das, dass es mir nicht gefiel? Wusste ich überhaupt, was in
meinem Kopf vorging, wenn das Gehirn die elektrischen Impulse an
den Daumen schickte? Wenn auf einem Instagram-Foto ein Gesicht
zu sehen ist, so sagen Studien, liege die Anzahl der Likes um 30
Prozent höher – egal, ob ein altes oder junges, männliches oder
weibliches Gesicht, ob ein oder zehn Gesichter.30 Habe ich das
berücksichtigt, als ich meinen Daumen in Gang setzte?
Wir werden heute mit einer unaufhaltsam wachsenden Flut an
Dingen konfrontiert, von denen wir wissen sollen, ob sie uns gefallen
oder nicht. Gleichzeitig werden die allgemeinen Regeln und
Normen, um uns bei unserer Entscheidung zu unterstützen, immer
rarer. Im Internet bewegen wir uns im Meinungsstrom der anderen
– die Vier-Sterne-Bewertung auf Yelp, der YouTube-Dislike –, doch
was davon verdient unsere Aufmerksamkeit? Wie entscheiden wir,
welchen Song wir hören wollen und welcher uns gefällt, wenn wir
eigentlich alle Songs der Welt hören könnten? Unsere Welt steht
Kopf: Einst unerreichbar scheinende Lebensmittel und Moden sind
heute das Normalste von der Welt, und das Alltägliche wird zum
Produkt für den echten Kenner hochstilisiert. Ist überhaupt noch
irgendetwas schlecht, wenn doch »alles gut« ist?
Ich möchte Fragen stellen, über die wir heute kaum noch
nachdenken, wenn wir im Handumdrehen beurteilen, wie nützlich
oder schön bestimmte Dinge und Erlebnisse sind. Liegen unsere
Vorlieben und Abneigungen als entgegengesetzte Zustände auf ein-
und derselben Skala oder handelt es sich dabei um
grundverschiedene Dinge?31 Wieso gefällt uns auf einmal, was wir
früher abgelehnt haben? Inwieweit lassen sich Vorlieben
quantifizieren? Warum haben Experten und Laien oft einen so
unterschiedlichen Geschmack? Ist die Freude an Dingen, die uns
gefallen, weil sie uns gefallen sollen, ein ausreichender Ersatz für
die Freude an dem, was uns eigentlich gefällt? Und wissen wir
überhaupt, was uns eigentlich gefällt, oder gefällt uns etwas bloß,
weil wir es kennen?
Im Jahr 2000 berichteten italienische Neurowissenschaftler über
den ungewöhnlichen Fall eines älteren Mannes, der an
Frontotemporaldemenz litt. 32 Aus heiterem Himmel liebte er
italienische Popmusik, die er als eingefleischter Klassikfan bislang
nur »Krach« genannt hatte. Er hatte seine frühere Vorliebe nicht
etwa »vergessen«. 33 Ästhetische Präferenzen bleiben etwa bei
Alzheimerpatienten bestehen, auch wenn andere Erinnerungen
schwinden. Die Forscher nahmen darum an, dass die neuronale
Wirkung der Behandlung den Wunsch nach Neuem in ihm geweckt
hatte.
Ein derart rascher, radikaler Geschmackswandel wirft
verschiedene Fragen auf. Wie offen sind wir für Neues? Was
passiert in unserem Gehirn, wenn wir etwas plötzlich nicht mehr
ablehnen und uns »Krach« auf einmal gefällt? Sind manche
Menschen, bedingt durch ihre neuronale Struktur, offener für Neues
oder neigen bestimmten Tonlagen und Rhythmen stärker als andere
zu?
Nehmen wir einmal an, in dem Mann sei in Wahrheit eine bereits
bestehende, aber bislang unterdrückte Vorliebe für Popmusik
geweckt worden. Eine abwegige Vorstellung? Doch wie gut kennen
wir unseren eigenen Geschmack überhaupt, dieses Sammelsurium
aus Vorlieben und Neigungen?
So bat man etwa Besucher einer deutschen
Landwirtschaftsausstellung im Rahmen eines Versuchs, zwei
Ketchup-Sorten zu testen. 34 Es handelte sich in beiden Fällen um
Kraft-Ketchup, nur hatte man dem einen ein wenig Vanillin
beigemischt, den Aromastoff der Vanilleschote. Warum? In
Deutschland steckt dieser Stoff gewöhnlich in Säuglingsnahrung. Die
Forscher stellten den Besuchern Fragen zu ihren
Nahrungsmittelvorlieben und erkundigten sich beiläufig auch, ob sie
Flaschen- oder Brustkinder gewesen seien. Wie sich zeigte,
bevorzugte die überwiegende Mehrheit der Brustkinder den
»natürlichen« Ketchup, während den Flaschenkindern der Ketchup
mit dem Hauch Vanille besser schmeckte. Man darf wohl
ausschließen, dass die Besucher hier irgendeine bewusste
Verbindung herstellten. 35 Der Ketchup schmeckte ihnen einfach
besser.
»Über Geschmack lässt sich nicht streiten«, hört man die Leute
oft kopfschüttelnd sagen. In der Regel bringt jemand damit seine
Verblüffung angesichts des Geschmacks anderer zum Ausdruck. Nur
selten will er damit sagen, dass er sich auf seinen eigenen
Geschmack keinen Reim machen kann. Denn kaum etwas halten wir
für einen authentischeren Ausdruck unser selbst als das, was uns
gefällt. Doch Versuche zum Geschmack fördern manchmal überaus
überraschende und auch beunruhigende Wahrheiten zutage. So hat
sich die französische Soziologin Claudia Fritz in verschiedenen
Versuchen mit der Vorliebe versierter Geigerinnen und Geiger für
alte italienische Instrumente beschäftigt. Jedermann weiß, und sei
es nur durch Berichte über unglaublich wertvolle im Taxi
zurückgelassene Geigen, wie satt und voll eine Stradivari klingen
muss: Sie scheint ein uralter Zauber zu umgeben, nach dem wir
heute vergeblich suchen. Wer wollte so ein Instrument nicht
spielen? Doch als Fritz Berufsmusiker in Blindversuchen befragte,
gefiel ihnen der Klang der modernen Geigen offenbar besser. 36
Wie Timothy Wilson in seinem Buch Gestatten, mein Name ist
Ich37 feststellt, ist uns häufig nicht bewusst, warum wir auf Dinge so
reagieren, wie wir es tun. Unser Verhalten werde größtenteils, so
Wilson, von unserem »adaptiven Unbewussten« bestimmt. 38 Doch
wir wiegen uns in der Illusion unserer Authentizität, weil wir
glauben, wir würden wissen, warum wir so fühlen: Es sind ja
schließlich unsere Gefühle. Nehmen wir einmal Wilsons Beispiel:39
Wie finden Sie das Cover von dem Buch, das Sie gerade in der Hand
halten? Gefällt es Ihnen? Versuchen Sie nun, sich vorzustellen, wie
ein Fremder auf das Cover reagieren würde. Wenn das Cover bei
Ihnen keine besondere Saite anschlägt – Sie vielleicht an ein Buch
erinnert, das Ihnen gefallen hat, oder Sie zufälligerweise
Grafikdesign studieren –, dann erklären Sie sich Ihre Reaktion auf
das Cover höchstwahrscheinlich ähnlich wie den Prozess, den Sie
für den Fremden annehmen: Das Cover hat Ihre Aufmerksamkeit
geweckt, die Farbkomposition ist gelungen … Kurzum, Sie raten. I
Eigentlich ist uns unser eigener Geschmack fremd. Also höchste
Zeit, dass wir ihn besser kennenlernen. Und den Anfang machen wir
am besten mit dem, was uns schmeckt, »dem Urbild einer jeden
Ausprägung von Geschmack«. 40

__________
I Spaßeshalber können Sie jetzt noch versuchen zu erklären, warum international
erscheinende Bücher in jedem Land mit anderen Covern versehen werden.
1

WAS HÄTTEN SIE DENN GERN?


Gedanken über unseren Geschmack
beim Essen

Das klingt alles so lecker oder: Warum es so


wenig gibt, was uns nicht schmeckt

Nirgendwo werden wir mit der Frage nach unserem Geschmack so


umfassend, eindringlich und instinktiv konfrontiert wie bei einem
Restaurantbesuch. Wenn wir am Tisch Platz nehmen, geht es nicht
um ein bloßes Ernährungsritual, sondern um eine runde Geschichte.
Wir tasten uns durch die Menüfolge und begegnen einem Narrativ,
mit Einleitung, Höhepunkt und langsamer Auflösung. Aber bei jeder
Mahlzeit geht es auch um eine konzentrierte Übung in Auswahl und
Genuss, um Verlangen und Reue, um Bedürfnisbefriedigung und
plötzlich aufflammende Wünsche.
Darum beginnt dieses Kapitel mit einem Restaurantbesuch. Es ist
ein eisiger Wintertag, und auf der Westseite von Manhattan weht
ein stürmischer Wind, aber wir sitzen im Del Posto, dem
italienischen Restaurant von Mario Batali und Jo und Lidia
Bastianich: Die holzvertäfelten Räume sind in warmes Licht
getaucht, ein Pianist spielt hingebungsvoll »Send in the Clowns«, und
ein Kellner, mit italienischem Akzent und dezentem Charme, schenkt
uns Rotwein nach.
Was könnte uns daran missfallen?
Kaum etwas, wirklich. Wenn man sich an einen perfekt gedeckten
Tisch in einem Restaurant setzt, dem die New York Times vier
Sterne verliehen hat, wird einem normalerweise kein
ungenießbares Zeug serviert. Schon dass die Gerichte es auf die
Menükarte geschafft haben, eine Menükarte mit langer
kulinarischer Tradition, zeigt, dass sie allgemein beliebt sind.
Anders als unsere frühen Vorfahren müssen wir nicht durch eine
kulinarische Steppenwüste streifen, unter unbekannten Pflanzen
und trügerischer Beute nach Essbarem suchen und dann warten, bis
uns unser Körper irgendwann verrät, ob ihm die Wahl gefällt und
wir überleben.
Doch diesen uralten Kitzel irgendwo in einem Winkel des Gehirns
– iss dies, nicht das! – sind wir nie wirklich losgeworden. Kaum auf
der Welt, wissen wir zwei Dinge sehr genau: Süß ist gut (viele
Kalorien!) und Bitter schlecht (Achtung Giftgefahr!). Zudem
besitzen wir von Anfang an ungewöhnlich breitgefächerte Vorlieben
und Abneigungen, allerdings in einer seltsamen Kombination: Wir
sind einerseits Allesfresser und können fast alles essen. Diesen
»Generalisten«-Status teilen wir, wie Paul Rozin, Psychologe an der
University of Pennsylvania, uns dankenswerterweise erklärt, »mit
anderen nützlichen Arten wie Ratten und Küchenschaben«. 1 Doch
genau wie Ratten sind wir auch höchst »neophobisch« und fürchten
uns vor unbekannten Nahrungsmitteln. Die Kombination aus
Allesfressertum und Neophobie hat allerdings ihren evolutionären
Vorteil: Letzteres bewahrt uns häufig davor, das Falsche zu essen,
und Ersteres sorgt dafür, dass das Richtige in rauen Mengen
vorhanden ist. Man kann es mit der Neophobie aber auch
übertreiben. In einigen Versuchen entwickelten Ratten nach einer
leichten Vergiftung durch ein neues Futter eine solche Panik vor
unbekannter Nahrung, dass sie schließlich verhungerten. 2
Wir achten offenbar vor allem auf das, was uns nicht schmeckt.
Als besäßen wir einen siebten Sinn dafür, dass irgendetwas nicht
stimmt, fällt uns die geringste Veränderung an unserer
Lieblingsspeise sofort auf. 3 Wenn mir der Kellner etwa aus Versehen
Diätlimonade bringt, die mir nicht schmeckt und die ich darum nicht
trinke, reagiere ich beinah instinktiv mit dem Gefühl: Achtung
Gefahr! Unser Alarmsystem besitzt vor allem gute Sensoren für
Bitterstoffe, und wir reagieren auf »gefährliche« Aromen zudem
empfindlicher als auf angenehme. 4 Wenn wir beim letzten Bissen in
einen köstlichen Apfel einen Wurm entdecken, ist der leckere
Apfelgeschmack sofort vergessen. Darunter mag unsere Fähigkeit,
das Leben zu genießen, ein wenig leiden, aber unser siebter Sinn für
alles Schlechte hilft uns, überhaupt ein Leben zu genießen.
Schon wenige Tage nach der Geburt zeigen wir eindeutige
Vorlieben: Wir trinken lieber gesüßtes Wasser als Mineralwasser
und verziehen bei (manchem) Bitteren das Gesicht. Es geht uns
dabei ums nackte Überleben, um die lebensnotwendige
Nahrungsaufnahme. Wirklich wählerisch werden wir erst als
ungefähr Zweijährige, wenn wir gemerkt haben, dass wir hier wohl
(a) noch eine Weile herumkrauchen werden und (b) den Luxus der
Wahl genießen. 5 Das pure Sättigungsbedürfnis erklärt, warum
Säuglingen ihre Nahrung gar nicht süß genug sein kann: Es handelt
sich um eine naturgegebene Vorliebe. Unser Bedürfnis nach Salz
wird dagegen erst nach einigen Monaten geweckt6 – auch wenn das
Salz für den menschlichen Handel und Wandel so bedeutsam ist,
dass Städte wie Salzburg oder englische Orte mit der Endsilbe
»wich« (Salzbergwerke hießen »wich houses«) danach benannt
wurden. 7
Die Liebe zum Süßen ist die Liebe zum Leben. Gary Beauchamp,
der ehemalige Leiter des führenden amerikanischen Geschmacks-
und Geruchsforschungsinstituts Monell Chemical Senses Center in
Philadelphia, sagte sogar einmal zu mir: »Ich möchte behaupten,
dass sich aller menschlicher Genuss aus dem Zucker entwickelt. Das
ist der Prototyp: die eine Verbindung, die bestimmte Rezeptoren
anspricht.« Dabei hielt er mir beiläufig eine Dose mit der Aufschrift
»Ameisen, salzig« zum Kosten hin. Manche Substanzen, wie
gesalzene Ameisen, so Beauchamp, mögen nur über Schleichwege
ins Gehirn gelangen, aber beim Zucker führe »der Weg direkt in die
für Emotionen und Genuss zuständigen Bereiche«. Selbst Babys, die
an Anenzephalie leiden und ohne die für das Bewusstsein zentralen
Gehirnregionen zur Welt kommen, reagieren positiv auf Süßes und
zeigen eine sogenannte Gustofazial-Reaktion. 8 Kein Lebewesen ist
Süßem wirklich abgeneigt. Nur schmeckt es manchen weniger gut
als anderen. 9
Allerdings sind die wenigsten unserer gustatorischen Vorlieben
angeboren, wie etwa die für das Stück Zucker, die Prise Salz,
vielleicht noch das Gefühl von Fett, das über unsere Zunge gleitet.
Aber nicht einmal sie sind vor Veränderungen gefeit. Das gilt auch
für die meisten unserer Abneigungen. Manche Menschen mögen auf
Bestimmtes sensibler reagieren, doch geht es dabei oft nicht um
Geschmack im engeren Sinne. So hat Koriander für manche
Menschen zwar eine »seifige« Note, aber vermutlich liegt das an
der genetischen Variation ihrer Geruchsrezeptoren. 10 Auch kann
wohl nur die Hälfte der Bevölkerung beim Braten von
Schweinekoteletts oder Grillwürstchen einen »Ebergeruch«
wahrnehmen, der oft als unangenehmer Geruch nach
»Verdorbenem« beschrieben wird, der an »Urin« erinnere oder
einfach »nach Schwein riecht«. Der Geruch entsteht durch den
steroidbestimmten Moschusduftstoff Androsten, der von
paarungsbereiten Ebern zur Erhöhung ihrer Attraktivität
abgesondert wird. Die menschliche Fähigkeit, den Ebergeruch
wahrzunehmen, ist genetisch bedingt, kann aber auch antrainiert
werden – aus beruflichen Gründen, versteht sich, weniger als
Hobby. 11
Doch es gibt keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der
Sensibilität für bestimmte Stoffe und dem, was einem schmeckt.
Beauchamp vermutet hier eher einen bevölkerungsweiten
Anpassungsmechanismus. Die eine Gruppe bevorzugte einfach die
eine Pflanze und die andere Gruppe eine andere. Wenn die eine
Pflanze nährstoffarmer war als die andere, bedeutete das
schließlich nicht das Ende der Spezies. Wer einen Stoff als bitterer
empfindet als andere, dem schmeckt er aber nicht unbedingt
schlechter. 12 Ein Forscher drückt es so aus: »Die Rolle der Genetik
ist erstaunlich gering, wenn es darum geht, ob einem etwas
schmeckt oder nicht.«13
Trotzdem entdeckt wohl jeder auf der Speisekarte eines
Restaurants, und sei es ein so hoch gelobtes wie das Del Posto mit
seiner beliebten Küche, Gerichte, die ihm besser schmecken als
andere, und welche das sind, kann sich sogar von Tag zu Tag
ändern. Das breitgefächerte Angebot, angefangen mit der
Eröffnungsfrage »Stilles Wasser oder Medium?«, sagt schon alles.
Doch was genau geht in unserem Kopf vor, wenn wir die scheinbar
völlig unerhebliche Frage beantworten, ob das Wasser prickeln soll
oder nicht? Sind wir auf der Suche nach dem gewissen Extra-Kitzel?
Oder nach einem wohlig-sanften Mundgefühl? Wie wichtig ist es uns,
oder ist es uns eigentlich egal? Angenommen, Sie bevorzugen stilles
Wasser. Dann haben Sie noch mal die Qual der Wahl: »Darf es
Leitungswasser sein oder lieber in der Flasche?« Für Ihre
Entscheidung werden Sie Ihre Gründe haben, höchstwahrscheinlich
haben diese allerdings nichts mit Ihrem Geschmackssinn zu tun. Wie
Studien zeigen, können die meisten von uns das eine nicht vom
anderen unterscheiden. 14
Auch wenn wir unsere Vorlieben mit großer Hartnäckigkeit
verteidigen – »Ich liebe Spaghetti Bolognese« –, bei unseren
Abneigungen sind wir noch unerbittlicher. »Ich kann Auberginen
nicht ausstehen«, sagte meine Frau mehr als einmal zu mir. Doch
wenn wir dafür Gründe anführen sollen, fällt das meistens schwer.
Sind hier vielleicht alte evolutionsgeschichtliche Ängste am Werk?
Schließlich gehören Auberginen zu den Nachtschattengewächsen
und ihre Blätter können in gewisser Menge giftig sein. 15 Doch
Tomaten und Kartoffeln gehören ebenfalls zur Solanum-Gattung,
und die isst meine Gattin mit Vergnügen. 16
Allerdings ist meine Frau wohl nicht die Einzige, die Auberginen
zum Abgewöhnen findet. 17 Auberginen werden in kulinarischen
Magazinen oft mit schmeichelnden Halbsätzen wie »Ob Sie sie
mögen oder nicht« oder »Selbst wenn sie nicht Ihr Lieblingsgemüse
sind« eingeführt, und in einer Umfrage wurden sie von japanischen
Schulkindern zum »unbeliebtesten« Gemüse gewählt. 18 Vermutlich
ist ihre Textur der Grund. Bei falscher Zubereitung wird das
Auberginenfleisch leicht schleimig, was uns in der Regel wenig
behagt. Überhaupt sollte man die Textur oder das Mundgefühl nicht
unterschätzen: Wir können die Textur nämlich nicht nur
buchstäblich »schmecken«, sondern, wie die Lebensmittelforscherin
Alina Surmacka Szczesniak sagt: »Der Mensch hat auch gern die
volle Kontrolle über das, was er im Mund hat. Faserige,
gummiartige oder schleimige Nahrung oder Speisen mit
überraschenden Klümpchen oder harten Stückchen lehnen wir
darum ab. Wir fürchten, dass wir würgen müssen oder im
schlimmsten Fall ersticken.«19
Oft lassen sich unsere geschmacklichen Vorlieben und
Abneigungen allerdings nicht so leicht begründen. Von potentiell
giftigen Blättern abgesehen, gibt es keine biologisch motivierten
Gründe dafür, warum uns Auberginen oder andere Lebensmittel
nicht schmecken sollten. Der Psychologe Paul Rozin, wegen seiner
»Aversions«-Forschung auch der »König des Ekels« genannt, sagte
einmal in Philadelphia bei einem Teller süß-saurer Shrimps zu mir:
»Unsere Erklärungen für unsere Vorlieben und Abneigungen sind
reichlich dürftig, und darum zaubern wir Gründe aus dem Hut.«
Doch wo sonst sind unsere Vorlieben und Abneigungen so
elementar wie beim Essen? Die Wahl unserer Nahrungsmittel wirkt
sich auf unser Wohlergehen aus. Ganz davon zu schweigen, dass wir
dabei Dinge in den Mund nehmen. »Etwas herunterzuschlucken
kann man als eine sehr persönliche und gefährliche Handlung
betrachten«, schrieb Rozin, »und das erklärt die starken Emotionen,
die mit der Nahrungsaufnahme einhergehen«. Und dann wäre da
noch die simple Tatsache, dass wir ständig essen. Brian Wansink von
der Cornell University schätzt, dass wir täglich zweihundert
Entscheidungen im Zusammenhang damit fällen. 20 Wir entscheiden
häufiger darüber, was wir essen, als was wir anziehen, was wir
lesen oder wohin wir in den Urlaub fahren. Und besteht Urlaub
nicht eigentlich aus dem Versprechen einer ungeahnten Auswahl an
neuen Gerichten?
Nicht dass es beim Essen ständig nur um die Suche nach dem
nächsten Genuss ginge. Wie Danielle Reed vom Monell-Labor zu mir
sagte, gibt es beim Essen verschiedene Arten von Vorlieben. Wenn
man im Labor jemandem etwas zu essen gebe und frage, wie es ihm
schmeckt, so Reed, dann gehe es um Geschmacksvorlieben. Das sei
relativ einfach, jedenfalls einfacher als die Frage, warum es einem
schmeckt. Aber auch wenn ich einkaufen gehe und etwas auswähle,
gehe es um Vorlieben. Das sei schon komplizierter. »Und dann ist da
die Frage, was man tagtäglich isst«, so Reed, »und wie Sie sich
denken können, hat das nicht nur damit zu tun, was einem wirklich
schmeckt.« Dabei zeigte sie auf einige Einkaufswagen, die wir unten
auf der Straße sehen konnten. »Ich hatte was Scheußliches zu
Mittag. Nicht weil ich es so gern gegessen hätte, sondern weil es
einfach bequem sein musste.« Manchmal sei es schwer zu
unterscheiden, ob es einem wirklich schmeckt oder ob etwas nur
das Beste unter mehreren ungeliebten Alternativen ist. Und
»interessant« sei auch die Frage – auf die ich später im Buch noch
zurückkommen werde –, inwiefern der Mensch überhaupt nach
seinen Vorlieben handele. Während der eine sich an seinen
Vorlieben orientiere, lege der andere bei seinem Handeln vielleicht
ganz andere Maßstäbe an.
Doch der Geschmack unserer Speisen ist uns nicht nur darum
überaus wichtig, weil wir so oft essen, sondern auch, weil alle
unsere Sinne daran beteiligt sind. Von Synästhetikern abgesehen,
liebt niemand den Klang eines Gemäldes oder den Duft eines Songs.
Aber an einem Gericht gefällt uns in der Regel nicht nur der
Geschmack, sondern auch, wie es duftet, wie es auf der Zunge
zergeht und wie es aussieht: Im Dunkeln schmeckt uns das Essen
schlechter. 21 Und uns gefällt sogar der Klang unserer
Nahrungsmittel. Wenn man die hohen »Knusper«-Töne 22 von
Kartoffelchips verstärkt, dann, so zeigen Studien, scheinen uns die
Chips sofort knuspriger – und schmecken uns vermutlich auch
besser. 23
Oft fällt es uns schwer, genau zu sagen, warum uns etwas
schmeckt: Wie Studien zeigen, empfinden wir Fruchtsäfte als
schmackhafter, wenn sie eine dunklere Farbe haben. 24 Und wenn
wir mit einem dieser »sensorischen Reize« experimentieren, kann
das alles verändern. So können geschulte Geschmackstester den
Fettgehalt von Milch kaum noch bestimmen, wenn sie die Milch
nicht sehen – weil ihnen die optische Information der »Weiße«
fehlt. 25 Und wenn man bei einer Mahlzeit einen bestimmten
Schalter umlegt und das Steak plötzlich bläulich-grün schimmert,
kann dem Esser laut einer Marketingstudie allein dadurch übel
werden. 26
Musik, Mode, Kunst: Unser »Geschmack« kann sich auf vieles
beziehen. Interessanterweise und keineswegs zufällig verwenden
wir dafür dasselbe Wort wie für unseren »Geschmacks«-sinn.
Früher, so Carolyn Korsmeyer, Professorin für Philosophie an der
University of Buffalo, meinte der Begriff »leibliche Genüsse« beides.
Man genoss ein Gemälde oder Musik auf ähnliche Weise wie sein
Essen.
Im 18. Jahrhundert sollte sich das ändern, zumindest für die
Philosophen. Der Geschmackssinn als »niedriger«, »körperlicher«
Genuss, bei dem man sich etwas einverleibte, passte auf einmal
nicht mehr zu dem einflussreichen Begriff des »interesselosen
Wohlgefallens« von Immanuel Kant und der kühlen Beurteilung
»freier Schönheit«. Wie Korsmeyer in Making Sense of Taste: Food
and Philosophy schreibt: »In allen Schriften zum Geschmack in der
westlichen Philosophie galt die Distanz zwischen Gegenstand und
Betrachter nun als erkenntnistheoretischer, moralischer und
ästhetischer Vorteil.«27 Wenn wir ein Gemälde betrachten oder
einen Film schauen, verschwinden wir nicht darin oder umgekehrt.
Aber wie sollte man den Geschmackssinn vom »leiblichen Genuss«
trennen? Unser Essensgeschmack gilt daher seitdem als urwüchsig
und instinktgesteuert, aber auch als hoffnungslos individuell und
relativ. »Unser Geschmackssinn hatte mit der ernsten
Geschmacksfrage anscheinend nichts zu tun und wurde darum
ausgeklammert.«

***

Solcherart philosophische und wissenschaftliche Gedanken


diskutierend, aß ich mit Debra Zellner im Del Posto zu Mittag.
Zellner, Professorin für Psychologie an der Montclair State
University, erforscht seit Jahrzehnten die Schnittmenge zwischen
Ernährung und »positivem Affekt«, wie man in der Fachsprache
sagt. Die ehemalige Studentin von Paul Rozin – eine Hofdame am
Königshof des Ekels, wenn man so will – hat Ratten beobachtet, die
an tröpfelnden Tuben schleckten, oder am Culinary Institute of
America auf angenehmere Art untersucht, inwiefern die
Präsentation von Speisen die Essmenge beeinflusst.
Bei Ratten ist die Sache klar: Sie essen, was ihnen schmeckt. Und
je mehr sie davon essen, desto besser schmeckt’s. Und genauso
umgekehrt. Das Fressverhalten von Ratten ändert sich nicht durch
Zuschauer, Schuldgefühle oder weil sie tapfer sein wollen. Der
Mensch ist da komplizierter. Fragt man jemanden, was ihm
schmeckt, heißt das nicht unbedingt, dass er das auch tatsächlich
isst, und wenn jemand etwas isst, muss es ihm nicht unbedingt
schmecken. In Zellners Versuchen zur Präsentation von Speisen
servierte man in einem Restaurant dasselbe Gericht an einem
Abend alltäglich angerichtet und an einem anderen mit etwas mehr
Flair. 28 Das ansprechender präsentierte Gericht schmeckte den
Leuten besser. Als man die Teller schließlich jedoch wog, ließ sich
bei der gegessenen Menge kein Unterschied zwischen
»alltäglicher« Präsentation und dem »Teller mit Flair« feststellen.
Zellner hat nicht nur jahrzehntelang den Geschmack erforscht, sie
ist auch selbst ein Fallbeispiel für unsere launischen Vorlieben. Als
wir Platz nahmen, teilte sie mir mit, dass sie auf Milchprodukte
allergisch reagiere. Bedeutet das nun, dass sie Milch instinktiv
ablehnt? Keineswegs. Um eine »konditionierte
Geschmacksaversion«, also eine echte Abneigung zu entwickeln,
muss man sich normalerweise nach einem Essen übergeben haben.
Warum das so ist, bleibt rätselhaft. Paul Rozin bemerkte dazu:
»Worin soll, etwa verglichen mit Magenschmerzen, der adaptive
Nutzen der Übelkeit bestehen, die man sich durch eine qualitativ
andere (hedonistische) Veränderung einhandelt?«29 Möglicherweise
brennt sich uns einfach das starke Gefühl des Unwohlseins ins
Gedächtnis, das wir empfinden, wenn Nahrung aus dem Magen
wieder hochkommt.
Und vielleicht spielt die Übelkeitsreaktion sogar über die
Nahrung hinaus eine Rolle: Laut Rozin hat der Gesichtsausdruck des
»angewiderten Staunens«, bei dem wir mit den Zähnen malmen und
den Mund leicht öffnen, »die Funktion, Substanzen aus dem Mund zu
befördern«30 – wobei wir übrigens generell mehr
Gesichtsmuskeln31 benutzen, um zu zeigen, dass es uns nicht
schmeckt. Diesen Gesichtsausdruck zeigen wir bei Ekelgefühlen
jeder Art, ob bei Gestank, unangenehmen Fotos oder moralischen
Fehltritten. 32 Das Ekelgefühl, so Rozin, entstand ursprünglich durch
ungeliebte Nahrung: Der Mund fungierte als Torwart, der staunend
geöffnete Mund als Botschaft. Möglicherweise ist unsere mimische
Reaktion auf Verhaltensweisen, die uns anwidern, »einen schlechten
Geschmack zurücklassen oder ein Geschmäckle haben«, evolutionär
oder metaphorisch mit dem schlechten Geschmack im Mund
verwandt, den wir nach draußen befördern wollen. 33
Aber weil Zellner auf Milchprodukte von jeher allergisch reagiert,
hat sie davon nie so viel gegessen, dass ihr übel wurde. Sie verweilt
also in einer Art geschmacklicher Vorhölle, irgendwo zwischen
Begierde und Abscheu. Ihr liege allerdings nichts an der Cremigkeit
vieler Milchprodukte, sagt sie. »Vielleicht weil mir bewusst ist, dass
ich dann etwas esse, das mir nicht guttut. Keine Ahnung.« Und um
die Sache noch zu verkomplizieren: Bei besonders verführerischem
Käse schummelt sie ab und zu und nascht davon winzige Stückchen.
Der Kellner trat an unseren Tisch. »Sind Sie zum ersten Mal im
Del Posto?« Eine unverfängliche Frage, aber nicht ohne Bedeutung,
wie wir noch sehen werden. Während wir die Menükarte studierten,
stießen wir sogleich auf ein Grundproblem bei Fragen des
Geschmacks. »Wovon hängt Ihre Entscheidung überhaupt ab?«,
fragte mich Zellner, als ich zwischen »Traditionellem Trio vom
Schwein« mit »Ribollita alla Casella und Palmkohleintopf« und
»Wildem Felsenbarsch« mit »weichen Erdbirnen, Romana-Blattsalat
und warmer Occelli-Butter« schwankte. »Geht es dabei wirklich um
den Geschmack?«, fuhr sie fort. »Um den Geschmackssinn jedenfalls
nicht. Sie haben ja nichts im Mund.« Wäre ich schon einmal in dem
Restaurant gewesen und hätte dort ein Lieblingsgericht, könnte ich
mich wahrscheinlich noch an einen Geschmack erinnern. Man
könnte sogar die Meinung vertreten, dass Vorlieben allein auf
Erinnerung beruhen. Denn der sicherste einzelne Prädikator dafür,
ob einem etwas schmeckt, sei, ob man es schon einmal gegessen
hat. (Dazu später mehr.)
Doch nehmen wir an, ich kenne die Gerichte nicht. Dann gefällt
mir vielleicht die Vorstellung davon, weil sie mich an ähnliche
Gerichte erinnern. »Entscheidungen hängen von
Geschmacksvorlieben ab«, wie ein Wirtschaftswissenschaftler
schrieb, »und die Vorlieben hängen von früheren Entscheidungen
ab.«34 Vielleicht hat mich aber auch angesprochen, wie die
Vorspeise beschrieben wird. Mit Sprache können wir ein Gericht
köstlich würzen. Wörter wie »warm«, »weich« oder »traditionell«
sind nicht sinnlos, sondern Antipasti fürs Gehirn. Wie der
Neurowissenschaftler John S. Allen in The Omnivorous Mind
schreibt, brauchen wir ein lautmalerisches und laut Chefkoch Mario
Batali »von Natur aus attraktives«35 Wort wie »knusprig« nur zu
hören, um sofort »das Gefühl zu haben, ein solches Nahrungsmittel
zu essen«. 36 Je verführerischer die Sprache, desto stärker spielt
man den Akt des Essens durch. 37 Um solchen Versuchungen zu
widerstehen, empfiehlt der Ökonom Tyler Cowen, auf der
Speisekarte immer das zu wählen, das am wenigsten lecker klingt.
»Wenn etwas auf der Menükarte steht, dann gibt es dafür gute
Gründe«, so Cowen, »und wenn sich etwas schlecht anhört, könnte
es besonders gut sein.«38
Aber auf dieser Menükarte klingt so gut wie alles köstlich. »Es
hört sich alles so gut an«, sagt Zellner – eine eigentlich seltsame
Bemerkung, da wir die Karte ja leise für uns lesen. Bisher wissen
wir im Grunde nur, dass uns eins gefällt: zu wählen. Denn wenn wir
von einer Speisekarte wählen können, so zeigen Studien, gefallen
uns alle Gerichte auf der Karte sofort besser. 39 Während wir unsere
Wahl antizipieren und in angenehm gespannter Erwartungshaltung
sind, kommt es, wie bildgebende Verfahren der Hirnforschung
zeigen, zu einer verstärkten neuronalen Aktivität, weil wir auch die
Wahlmöglichkeit an sich antizipieren und nicht nur freudig erwarten,
was wir uns nicht aussuchen können. 40
Wir können ein Gericht, wie gesagt, durch die Sprache schon
einmal »vorkosten«. Und etwas Ähnliches passiert auch, wenn wir
überlegen, welches Gericht wir denn nun nehmen sollen.
»Vorgefühl« nennen dies die Psychologen Timothy Wilson und Daniel
Gilbert. Demnach »probieren« wir verschiedene künftige Szenarien
aus und beurteilen anhand unserer momentanen hedonistischen
Reaktion, wie wir unsere Wahl später empfinden werden. Schon der
Gedanke an eine Belohnung löst offenbar, wenig überraschend,
dieselben Gehirnaktivitäten aus wie die tatsächliche Belohnung.
Doch auch wenn wir an die Zukunft denken, greifen wir auf die
Vergangenheit zurück. Menschen, die an Amnesie leiden, können, so
Wilson und Gilbert, oft nur schwer »planen«, weil »das Gedächtnis
nicht die notwendigen Simulationsbausteine liefert«. 41 Ob einem
etwas schmeckt, das man noch nie gegessen hat, weiß man erst,
wenn man gekostet hat.
Und das wirft eine Frage auf: Tut man nun besser daran, sein
Lieblingsgericht zu bestellen oder Neues zu wagen? Wie Rozin mir
sagte, hängt das davon ab, ob man vor, während oder nach dem
Essen genießen möchte: »Beim Lieblingsessen ist die Vorfreude
größer, weil man es schon gegessen hat, kennt und weiß, wie es
schmeckt. Der tatsächliche Genuss ist bei der Lieblingsspeise
vermutlich größer«, erläuterte er. »Aber wenn man möglichst lange
an das Genusserlebnis zurückdenken will, dann sollte man besser
etwas Neues bestellen. Der Genuss der Lieblingsspeise ist ja kein
Erlebnis, sondern ein alter Hut.«
Vorlieben haben in der Tat mit Antizipation und Erinnerung zu tun.
Selbst wenn man sich auf Künftiges freut, erinnert man sich in
Wahrheit an das letzte Mal, als es so lecker geschmeckt hat. Wie
Pascal einmal klagte: »Wir halten uns nie an die Gegenwart.«42
Unsere Gedanken scheinen von Vergangenheit und Zukunft
beherrscht. Vielleicht weil Vergangenheit und Zukunft einfach
länger dauern als die Gegenwart. Man kann Wochen auf das
»Genusserlebnis seines Lebens« warten, und dann ist es in ein paar
Stunden vorbei. Natürlich können wir versuchen, »im Moment zu
leben«, aber wie lange dauert so ein »Moment«, ehe wir ihn in
unser Gedächtnis verbannen und mit den vagen Instagram-Filtern
unseres eigenen Gehirns verschlüsseln? Dass so viele Leute ein
»unvergessliches« Gericht fotografieren, verrät uns nicht nur etwas
über die Flüchtigkeit solcher Erlebnisse, sondern auch, dass ein
Erlebnis durch ein Foto »unvergesslich« werden kann. So lautet der
Slogan von Field Notes, meiner Lieblingsnotizbuchmarke, sehr
zutreffend: »I’m not writing it down to remember it later, I’m writing
it down to remember it now.«43

Doch leider können uns weder Antizipation noch Erinnerung


zuverlässig sagen, wie gut uns etwas schmecken wird oder
geschmeckt hat. Als man in einer Studie Leute fragte, wie gut ihnen
ihre Lieblingseiscreme voraussichtlich schmecken würde, wenn sie
sie eine Woche lang täglich essen würden, lagen Einschätzungen und
Erfahrungsberichte nach dieser Woche ziemlich weit auseinander. 44
Der Geschmack der Probanden hatte sich in dieser Woche auf
verschiedene, kaum vorhersehbare Weise verändert. »Die
Korrelation zwischen erwartetem und tatsächlichem
Geschmackserlebnis tendiert gegen null«, bemerkte Rozin. 45
Zudem gefällt uns Abwechslung offenbar sehr, solange wir auf der
Karte etwas Neues auswählen, aber schon erheblich weniger, wenn
es dann auf den Tisch kommt. 46 Als Junge war ich beispielsweise
restlos begeistert von den Kelloggs-Multipackungen. Angelockt von
Apple Jacks und Frosted Flakes, die sich dicht an dicht drängten,
bearbeitete ich meine Eltern so lange, bis sie mir die größte
Packung im Angebot kauften, ein Riesenkarton voller
folienverpackter Verheißungen. Doch nachdem ich mich hastig
durch meine Lieblingssorten gegessen hatte, ging es mit meiner
Cerealien-Liebe steil bergab: von schwindelnden Apple-Jacks-Höhen
bis ins traurige Tal der Ernüchterung, mit Päckchen zerbröselndem
Special K und All-Bran, die häufig genug übrig blieben und den
langsamen Tod im Foliengrab starben. Ich hätte wohl besser
mehrere Packungen meiner Lieblingssorten gekauft. Die hätte ich
garantiert tagtäglich gegessen.
Doch auch der Blick zurück auf vergangene Mahlzeiten, und sei es
nur, um eine erneute Entscheidung zu treffen, ist nicht frei von
Verzerrungen. So gelang es Psychologen in einem Experiment,
Menschen nach einer Mahlzeit – dem Fertiggericht »Heinz’ Weight
Watchers Hühnchen, Tomaten und Basilikum« – in ihrem
Geschmacksurteil zu beeinflussen. 47 Und zwar nicht, wie bei
Rattenversuchen, durch physische Manipulation des Gehirns. Die
Forscher ließen lediglich jemanden über die »angenehmen Aspekte«
der gerade genossenen Mahlzeit reden. Dadurch wird vermutlich
der »Zugriff« auf die schönen Momente im Gedächtnis erleichtert,
so dass sich diese in den Vordergrund drängen, wenn man später an
die Mahlzeit denkt. Voilà! Das Gericht schmeckte plötzlich nicht nur
besser, die Leute wollten auch mehr davon. Wenn Ihnen eine
Mahlzeit, die Sie gerade gegessen haben, also besser zusagen soll,
müssen Sie einfach nur jemandem erzählen, was daran so lecker
war.
Im Del Posto habe ich endlich meine Wahl getroffen – und das
könnte auch der Schlüssel zu unseren Vorlieben sein: dass wir uns
dafür entschieden haben. Waren mir bis dahin alle
Wahlmöglichkeiten gleichwertig erschienen, erstrahlt das gewählte
Gericht nun in völlig neuem Licht. Schon scheint mir das Schwein
viel besser als eben noch, als es eins unter mehreren verlockenden
Gerichten war. Mehrere Dinge sind passiert. Seit Leon Festingers
Theorie der »kognitiven Dissonanz« von 1957 weiß die Psychologie,
dass uns unsere Wahl, einmal entschieden, noch besser gefällt (Oh,
diese Pasta ist göttlich!) und die verschmähte Wahl, um
unangenehme Gefühle zu vermeiden (Vielleicht hätte ich doch den
Fisch nehmen sollen?), noch schlechter: sozusagen als eingebautes
System zur Vermeidung ständiger Kaufreue. Doch das funktioniert
bekanntlich nicht immer. Wie oft habe ich im Restaurant schon auf
den Nachbarteller geblickt und gedacht: »Der hat es richtig
gemacht.« Nach Ansicht der Forschung kommt es zur sogenannten
Kaufreue, weil wir etwas in einem »affektiven« Gemütszustand
kaufen (Das möchte ich unbedingt), aber anschließend in einem eher
»kognitiven« Zustand (Was habe ich mir bloß dabei gedacht?) über
unseren Kopf nachdenken. 48
So wie unsere Vorlieben unsere Entscheidungen beeinflussen,
beeinflussen unsere Entscheidungen unsere Vorlieben. Selbst an
Amnesie leidende Menschen, die sich an ihre Entscheidung nicht
erinnern konnten, mochten das Gewählte nun offensichtlich lieber. 49
Interessanterweise gilt das auch für Menschen ohne Amnesie, wenn
sie eine Entscheidung vorübergehend vergessen haben. 50 Und wenn
Studienteilnehmer sich auch nur hypothetisch für ein Urlaubsziel
entschieden hatten, so der Neurowissenschaftler Tali Sharot und
seine Kollegen, zeigte ihr Gehirn bei dem Gedanken an das
»gewählte« Ziel eine stärkere Aktivität als bei den »abgelehnten«
Zielen. 51 Mit anderen Worten, die Probanden hatten bei dem
angepeilten Ziel nun ein besseres Gefühl und »spielten herunter«,
was sie aussortiert hatten. In einer Folgestudie sollten Probanden
zudem aus »unterschwellig« präsentierten Urlaubszielen wählen. 52
Sie »sahen« im Grunde nichts als sinnlose Sätze. Doch als man ihnen
ihre »Wahl«, einen zufälligen, nie gesehenen Ort, das nächste Mal
zeigte, fanden sie diesen besser als die »abgelehnten« Alternativen.
Offenbar neigen wir dazu, eine Neigung für unsere Neigungen zu
haben.
Man könnte nun einwenden, dass die Teilnehmer hereingelegt
wurden. Doch was passiert eigentlich, wenn man mich fragt: »Was
hätten Sie gern?« und mir eine Auswahl anbietet? In Wahrheit
müsste die Frage doch lauten: »Worauf fällt Ihre Wahl?« Dass uns
die Wahl gefällt, kommt oft erst später. Nach Meinung einiger
beginnt der »Neubewertungsprozess« sogar schon, während wir
noch entscheiden, und wir rationalisieren unsere Entscheidungen
nicht erst, wie andere meinen, nachträglich. 53
Als ich dann meine Wahl treffe, passiert wohl noch etwas anderes:
Ich überschätze die Zahl der Menschen, die sich für dasselbe
entscheiden würden wie ich. Man nennt das den »falschen
Konsensus-Effekt«. So bat man Studenten in einer Studie der
University of Michigan, verschiedene Eissortenkombinationen zu
bewerten. Anschließend fragte man sie, wie viele Personen wohl
ebenso entscheiden würden. Vor allem bei den Vorlieben dachten
die Probanden: die meisten. Ich habe hierzu noch ein ganz
persönliches Eiscreme-Beispiel. Jahrelang bot mir mein
Schwiegervater, wann immer wir bei einem Familientreffen Torte
aßen, Eiscreme dazu an, obwohl ich jedes Mal lauthals verkündete,
dass ich diesen modischen Schnickschnack ablehnen würde.
Irgendwann kam mir der Gedanke, dass mein Schwiegervater nicht
vergesslich war, sondern wohl einfach dachte: Wenn ich Torte mit
Eiscreme mag, schmeckt Tom das bestimmt auch. Wieso auch nicht?
Im Del Posto hat uns derweil der Kellner, der zugleich als Sommelier
fungiert, nach unseren Weinwünschen gefragt. Ich erkundigte mich
nach dem friaulischen Rotwein von der Karte, einem Antico Broilo
von 2004. Natürlich sagte der Kellner nicht einfach: »ein guter
Wein« oder »Der wird Ihnen schmecken«. Später werde ich noch
auf Sommeliers und andere Fachleute zu sprechen kommen.
Lauschen wir für den Moment einfach dem, was der Kellner gesagt
hat: »Es ist ein etwas körperreicherer Wein mit leichter Pfeffernote.
Zu Schwein genau das Richtige.« Und er fügte noch hinzu: »Man
schmeckt, wo er herkommt, die Dolomiten sind ganz in der Nähe,
man spürt das Mineralische im Gaumen. Das Terroir liegt auf
demselben Längengrad wie die Bordeaux-Region, man schmeckt die
Kräuter, ein bisschen Minze, Salbei.« Wir bestellten den friaulischen
Rotwein.
Ich nahm den ersten Schluck, und schon kam noch etwas anderes
ins Spiel: Wie gut einem etwas schmeckt, hängt davon ab, als was
man es bewertet. Ist es ein guter Wein? Ist es ein guter Rotwein?
Ist es ein guter Wein aus der Refosco-Traube? Ist es ein guter
Rotwein aus dem Friaul? Ist er gut für den Preis? Fachleute
verwenden, wie wir später sehen werden, noch engmaschigere
Kategorien als Laien. Die Kategorienbildung, so Zellner, hat Folgen.
»Wenn man einmal einen wirklich guten Wein gekostet hat, kann
man nicht mehr dahinter zurück«, sagte sie. »Man vergleicht
unweigerlich alles damit.« Wenn meine Messlatte bei Rotwein ein
Château Margaux, Jahrgang 1990, ist, wird mir alles andere
vermutlich nicht mehr wirklich munden.
Aber kann man dann wirklich keinen anderen Wein der Welt mehr
mit Genuss trinken? Können wir nicht doch noch irgendwas an
einem billigen 08/15-Wein finden? Zellner hat dazu Bier- und Kaffee-
Studien durchgeführt und die Leute gefragt, ob sie
»Bierspezialitäten« und »Gourmet-Kaffee« trinken und lieber mögen
als »normale« Sorten wie Budweiser oder Folgers. 54 Wer in
Kategorien dachte, bewertete die Alltagsgetränke besser als
diejenigen, die einfach alles in den Topf »Bier« oder »Kaffee«
warfen. Ihr »hedonistischer Kontrast« war geringer. Anders gesagt,
je besser jemand wusste, was an dem sehr Guten gut war, desto
eher konnte er sich auch an dem weniger Guten erfreuen, obwohl er
es weiterhin als weniger gut empfand. Wahrscheinlich haben Sie
auch schon mal aus einem Bauchgefühl heraus gesagt: »Nicht
schlecht, für Fast-Food.« So grenzen Sie nicht nur ein, womit Sie das
Essen vergleichen, sondern können es auch eher genießen – oder
sind zumindest weniger unzufrieden.
Nun kam das Essen an die Reihe. Wie heute in gehobenen
Restaurants üblich, beginnt ein Menü im Del Posto mit einem
Amuse-Gueule – einem »Appetithäppchen«. Der Name ist gut
gewählt. »Schon wenn man wenig im Mund hat«, so Zellner, »wird
Insulin gebildet, das Blutzucker in die Zellen schickt. Das
signalisiert Hunger. Wenn man also eine Kleinigkeit isst, wird man
noch hungriger, als man schon war.« Schon der Volksmund weiß:
»Der Appetit kommt mit dem Essen.« Ein leckerer Starter kann, so
die Forschung, unseren Appetit anregen – und uns veranlassen,
schneller zu essen. Es gibt allerdings noch eine andere Seite der
Medaille. Wenn wir uns am Amuse-Gueule erfreuen, vergessen wir
schnell die Tragik, die jedem Genuss innewohnt: Sobald wir den
ersten Biss tun, schmeckt es uns schon weniger. Wir erleben
zunächst die schwindelerregenden Höhen der brennenden
Sehnsucht (»Oh mein Gott«), gleiten unmerklich hinüber in die sich
langsam eintrübende Liebe (»Das ist wirklich gut«, sagen wir nur
mehr halbwegs überzeugt), verweilen längere Zeit auf einer
diffusen Ebene (»Lass dir noch Platz fürs Dessert!«), und dann
kommt der langsame, nervenaufreibende Abstieg (»Ich hätte
wirklich etwas anderes nehmen sollen«, sagen wir mit nervösem
Lachen), an dessen Ende wir uns in einem Anfall von Ekel winden
(»Nehmen Sie das weg«, sagen wir und schieben das einst so
heißgeliebte Gericht weit von uns). II
Der Höhepunkt unserer plötzlichen Abneigung ist offenbar
erreicht, wenn wir zu Ende gegessen haben. 55 Mit der sogenannten
»sinnesspezifischen Sättigung« signalisiert unser Körper, dass er
von einem bestimmten Nahrungsmittel genug hat. Dann sind wir
nicht einfach nur »völlig gesättigt«, sondern von diesem
Nahrungsmittel völlig gesättigt. So zeigt eine bahnbrechende
Studie: »Was wir gerade gegessen haben, verliert für uns mehr von
seinem Wohlgeschmack als das, was wir nicht gegessen haben.«56
Dazu reicht es schon, dass wir die Speise nur in den Mund nehmen,
ohne sie herunterzuschlucken. Bei Affen sorgte sogar der bloße
Anblick von Futter, das sie schon einmal gegessen hatten, dafür, dass
weniger Neuronen angeregt wurden als bei Futter, das sie noch
nicht gegessen hatten. 57
Und ein vielfältiges Angebot regt nicht nur das Gehirn an, sondern
auch den Appetit. Wenn Studienteilnehmer auswählen konnten, aßen
manche 40 Prozent mehr. Die »sinnesspezifische Sättigung«, so
vermuten Wissenschaftler, ist ein evolutionärer
Anpassungsmechanismus, der eine abwechslungsreiche Ernährung
fördert. 58 Und der sich hinter vielen unserer Entscheidungen
verbirgt. So genießen Sie am Wochenende vielleicht ein
ausgedehntes Sonntagsfrühstück mit zuckersüßen Pfannkuchen und
reichlich Schokocreme, sehnen sich zu Mittag dann aber nach
Herzhaftem, möglichst ohne Ei. Süße Pfannkuchen finden Sie
theoretisch noch immer herrlich, nur bitte nicht im Moment. Es ist,
als trügen wir einen winzigen hedonistischen Thermostat in uns, der
seine Einstellungen laufend an unseren Nährstoffbedarf anpasst. So
durften in den berühmten Experimenten der Wissenschaftlerin
Clara Davis aus den 1920er und 1930er Jahren abgestillte
Säuglinge frei wählen, was sie essen wollten (»Füttern mit
Selbstauswahl«). Man bot ihnen dazu auf einem Tablett
verschiedene gesunde, wenn auch mit Hirn oder Knochenmark uns
heute eher fremde Lebensmittel an. Bei den Experimenten ging es
Davis weniger um antiautoritäre Erziehung als um das häufig zu
beobachtende Problem, dass Kleinkinder die »von Ärzten
verordneten Diäten« ablehnen. Ihr Forschungsergebnis, das
allerdings auf sehr wenigen Daten beruht, war eindeutig: »Die
Kinder haben sich ausnahmslos gesund ernährt. Alle hatten einen
guten Appetit und gediehen prächtig.«59
Geschmacksvorlieben sind langlebig, können aber selbst während
ein- und derselben Mahlzeit schwanken. Oder schmecken Ihnen die
letzten durchgeweichten Müsliflocken, die Sie aus der Schüssel
fischen, noch genauso wie die ersten Löffel voll knuspriger Flocken?
Vielleicht lieben Sie den Zimtgeschmack von Altoids Minzbonbons,
aber auch dann, wenn Sie ihn Minuten später noch im Mund spüren?
Die sinnesspezifische Sättigung ist ein Grund dafür, warum wir
unsere Mahlzeit gern in mehreren Gängen zu uns nehmen, wobei
drei Gänge und drei Farben auf dem Teller offenbar die optimale
Mischung sind. 60 Wenn wir Salat als Vorspeise hatten, wollen wir
nicht noch mal Salat. Aber Schwein dann gerne. Interessanterweise
wird die sinnesspezifische Sättigung nicht nur durch den Geschmack
gesteuert. Wenn Probanden aus verschiedenfarbigen Smarties
wählen durften, gaben sie an, dass ihnen die Smarties mit den
Farben, die sie noch nicht gegessen hatten, besser schmecken
würden als die anderen. 61 Und laut einer Kartoffelchips-Studie tritt
das Sättigungsgefühl bei Ruffles, die bekanntlich Rillen haben,
früher ein als bei anderen Sorten. 62 Wie auch Studien mit Baguettes
zeigen, »ermüden« uns Lebensmittel offenbar schneller, wenn sie
anstrengender zu kauen sind. Und für den sogenannten Eiscreme-
Effekt nehmen die Lebensmittelforscher Robert Hyde und Steven
Witherly an, dass uns Eiscreme darum so gut schmeckt, weil sich
Textur, Temperatur und andere sensorische Eigenschaften während
des Essens verändern. 63 Wir sind sozusagen zwischen
verschiedenen Genüssen hin- und hergerissen und erkaufen uns
damit ein klein wenig Zeit, ehe uns die Sättigung den Spaß verdirbt.
Wo wir gerade von Eiscreme sprechen: Im Del Posto ist es Zeit für
das Dessert, und plötzlich sehen wir uns, gut gesättigt wie wir sind,
völlig anderen Geschmackserlebnissen gegenüber. So anders, dass
wir den Eindruck haben, »ein Dessert geht immer«. Zudem verfallen
wir dem Zauber des sogenannten Dessert-Effekts. 64 Wenn wir beim
Dessert angekommen sind – oder was immer es am Ende einer
Mahlzeit gibt –, spüren wir schon die ersten positiven Wirkungen
der aufgenommenen Nährstoffe. Die Schokocreme schmeckt
natürlich gut, aber vielleicht fühlen wir uns eigentlich wegen des
zuvor gegessenen Gemüses so zufrieden. Würden wir das Dessert
zu Beginn der Mahlzeit essen, wäre es nicht halb so gut. Weil es uns
umso weniger schmeckt, je satter wir sind, so Zellner, »brauchen
wir zum Abschluss etwas wirklich Leckeres und nehmen darum ein
extravagantes Dessert«. Diese Schokocreme wird uns schon nicht
umbringen.
Am Ende verschwimmt dann alles in der Erinnerung.
Seltsamerweise spielt es, so Rozin, für die Erinnerung kaum eine
Rolle, wie viel oder wie lange wir essen. »Duration neglect« nennt
man das in der Fachsprache. »Der Erinnerung reicht es, wenn wir
bei einer Mahlzeit ein paar Happen unseres Lieblingsgerichts
verspeisen«, schreibt Rozin, und wie er mir in Philadelphia sagte,
»schmeckt uns das Essen keineswegs besser, wenn wir von unserem
Lieblingsgericht die doppelte Menge kriegen«. 65 Der Punkt geht
schon mal an die »Small Plates«-Bewegung. Die bekannten
»Schluss«- und »Höhepunkt«-Effekte, durch die wir uns vor allem an
die letzten oder intensivsten Momente eines Erlebnisses erinnern,
spielen Rozin zufolge für die Erinnerung an unsere Mahlzeiten keine
Rolle. 66 Eine Mahlzeit schmeckt uns also nicht unbedingt besser,
wenn wir unsere Lieblingsspeise am Schluss genießen. Überhaupt
werde der Anfang, so Rozin, generell unterbewertet. So zeigen auch
Studien zur »Geschmacksdynamik«, dass uns die ersten Bissen
manchmal besser munden als die letzten. Doch nun haben mich
meine Gedanken lange genug von meiner künftigen
Genusserinnerung abgehalten, und ich wende mich dem zu, was vor
mir auf dem Teller liegt.
Besser als erwartet, aber nicht so gut
wie in meiner Erinnerung

Wenn wir in ein Restaurant gehen, freuen wir uns auf gutes Essen.
Doch um herauszufinden, was uns schmeckt und warum, könnten
wir ebenso gut darüber nachdenken, was uns weniger mundet.
Ich habe dabei die Armeerationen im Kopf, die im »Warfighter
Café« auf einer tarnfarbenen Tischdecke vor mir ausgebreitet
lagen. Ich hatte das U. S. Army’s Soldier Systems Center in Natick,
Massachusetts, zu dem das Café gehört, aufgesucht, um die
herausfordernde Aufgabe besser zu verstehen, aus einem
vielgehassten Essen – der Einmannpackung oder EPa – ein
irgendwie schmackhaftes Gericht zu machen. Natick, wie das
Forschungszentrum mit seinen flachen 1960er-Jahre-
Behördenbauten meist genannt wird, beherbergt neben
Tarnforschung, Wind-, Regentunneln und Freifalltürmen auch das
Verpflegungsamt der amerikanischen Armee, das »Combat Feeding
Directorate of the Department of Defense«. »Schon bald auf einem
Kriegsschauplatz in deiner Nähe!«, verkündete der Slogan über
einer Liste mit verschiedenen Gerichten. Gerald Darsch und Kathy
Evangelos, meine Gastgeber, leiten das Verpflegungsamt. »Ein
Panzer muss Diesel tanken, damit er läuft«, sagte Darsch. »Unser
Job ist es, die Soldaten am Laufen zu halten.«
Was mich an dem, was da ausgebreitet vor mir lag – von
transfettfreiem Vanillekuchen über Kräuter-Focaccia bis zum
»koffeinierten Fleischstück« –, am meisten verblüffte: Ich könnte in
drei Jahren wiederkommen und genau dasselbe essen. Ich meine
wirklich genau das.
»Die EPa muss mindestens drei Jahre haltbar sein«, erklärte mir
Darsch. Sie unterliege ihren ganz eigenen Zwängen: »Kraft muss
sich keine Gedanken darüber machen, ob man seine Produkte aus
dem Flugzeug wirft.« Ein Großteil der technologischen Forschung
beschäftige sich darum damit, sicherzustellen, dass Nahrung und
Packung selbst härteste Bedingungen überstehen. Die Sandwiches
würden im nahen Krankenhaus durch den Kernspintomographen
geschickt, um zu gewährleisten, dass sie keine überflüssige
Feuchtigkeit und somit Schimmel enthalten. Doch diese
Herausforderungen seien keineswegs neu. Die Ursprünge der
neuen Natick-Technologie »Hitzesterilisation unter Druck« fänden
sich bereits in dem »Einkoch-Verfahren«, das der Pariser
Meisterkoch Nicolas Appert auf Napoleons Aufruf hin entwickelte,
die Methoden der Lebensmittelkonservierung zu verbessern.
»Napoleon hat mehr Soldaten durch Mangelernährung und
Nahrungsmittelvergiftungen als durch feindliche Kugeln verloren«,
erklärte Darsch.
Aber abgesehen von reichlich Technologie, die in die Haltbarkeit
der Nahrung fließt – »eine Willy-Wonka-Fabrik für
Soldatennahrung«, scherzte Kathy Evangelos –, sei da noch die
ebenso wichtige Frage, wie man den Geschmack der Nahrung
verbessern kann beziehungsweise ihre »Akzeptanz«, wie man hier
sagt. Das ist die simpelste Messlatte für den Geschmack: ob man
bereit ist, etwas in den Mund zu stecken. »Wir wussten, dass wir
möglichst viele Kalorien und Nährstoffe auf kleinsten Raum packen
konnten«, sagte Darsch. »Das hört sich auf dem Papier gut an, doch
haben wir dabei ein winziges Rezeptdetail vernachlässigt. Würden
unsere Soldaten das akzeptabel finden, würden sie das also essen?«
Am Ende des Tages musste die Ration »ansprechend aussehen, gut
schmecken und ein Drittel des empfohlenen militärischen
Nährstoffbedarfs liefern«.
Einer der wichtigsten Kriegsschauplätze des Verpflegungsamts ist
der Kampf gegen die Erwartungshaltung. Denn eine wichtige
Geschmacksregel lautet: Wenn wir erwarten, etwas zu mögen,
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir es mögen. Armeerationen
blicken leider auf eine lange Geschichte kümmerlicher
Erwartungshaltungen zurück. So brachte der amerikanische
Bürgerkrieg, wie der Historiker William C. Davis in A Taste for War
schreibt, eine Reihe neuartiger Lebensmittel wie »Trockengemüse«
hervor: runde Platten, in denen alles von Kohlblättern über
Pastinaken bis zu »nicht löslichen und unlösbaren Reststoffen« auf
zweieinhalb Zentimeter zusammengepresst war. 67 Durch Kochen
quoll es auf – und erinnerte manchen Soldaten an »verdreckte
Bäche«, auf denen »überall braunes Laub herumschwimmt«. Die
Soldaten tauften es denn auch »totes Gemüse«.
Während die Lebensmittelforschung an schmackhafteren Speisen
arbeitet, versuchen Wissenschaftler wie Armand Cardello vom
Natick seit Jahrzehnten, die psychologische Frage aufzudröseln, wie
Soldaten essen und was ihnen schmeckt. Und ihre Arbeit hat die
Lebensmittelindustrie wiederum enorm beeinflusst. »Welche
Umfrage man auch durchführt, ob es darum geht, warum man sich
für etwas entscheidet oder etwas kauft, ob um den Preis oder die
Ernährung«, sagte Cardello am überquellenden Schreibtisch seines
kleinen Büros, »am Ende kommt es immer auf den Geschmack an.
Und wenn wir über Geschmack reden, dann reden wir darüber, was
uns schmeckt.«
Die Armeeverpflegung bietet oft wenig Anlass, sie zu mögen. Die
Soldaten erhalten eine seltsame Packung mit etwas halbwegs
Definierbarem, die, so Cardello, »drei Monate bei 50 Grad Celsius
im Wüstenlager hinter sich hat«. Vielleicht schmecke es sogar
besser als gedacht, aber die Soldaten würden sich unweigerlich
fragen, welcher alchimistischen Kunst es sich verdankt, dass das
Ganze unter extremen Kampfbedingungen noch essbar ist. Darum
versuche das Forscherteam, die Lebensmittel möglichst so aussehen
zu lassen wie ihr Gegenstück in der echten Welt da draußen. Oder
einfach das Echte zu nehmen.
Darsch zeigte mir eine flache Packung mit der Aufschrift »Toaster-
Gebäck, Brauner Zucker«. »Es ist eine Pop-Tart!«, sagte er. Keine
Armee-Pop-Tart, sondern eine echte Pop-Tart, wenngleich in
armeegrüner Verpackung. Durch Cardellos Studien weiß das
Verpflegungsamt sehr wohl, dass den Soldaten die Pop-Tart besser
schmecken würde, wenn sie so bunt verpackt wäre wie Pop-Tarts
sonst. Warum bekommen sie dann nicht einfach die aus dem
Supermarkt? »Die Verpackung besitzt nicht die
Schutzeigenschaften, die wir brauchen, um Feuchtigkeit, Sauerstoff
und Licht draußen zu halten«, sagte Darsch.
Supermarktlagerfähigkeit ist eben nicht militärische Lagerfähigkeit.
Diese Pop-Tart trägt Kevlar.

Erwartungen haben Einfluss auf den Geschmack. Wir verbringen


mindestens genauso viel Zeit mit der Frage, ob uns etwas gefallen
würde, wie damit, es tatsächlich zu genießen. Wenn Ihnen jemand
von einem Film vorschwärmt, kann zweierlei eintreten, wenn Sie
den Film schließlich anschauen. Erstens »Assimilation«: Dann gefällt
Ihnen der Film durch Ihre Erwartungshaltung besser. Oder zweitens
ein »Kontrasteffekt«: Dann sind Sie am Ende enttäuscht, weil Ihre
Erwartungen in schwindelnde Höhen getrieben wurden.
Wenn es ums Essen geht, neigen wir eher zur Assimilation. »Das
Auge isst mit«, wie der Volksmund weiß, aber noch bevor wir
prüfend auf den Teller schauen, haben wir schon im Geiste probiert.
Naticks Problem sind darum die häufig niedrigen Erwartungen. So
steckte Cardellos Team für eine Studie Green-Giant-Mais in EPa-
Packungen und umgekehrt. »In der Green-Giant-Packung schmeckt
den Leuten derselbe Mais definitiv besser«, so Cardello. Dabei
lieben die Soldaten nicht einmal unbedingt Green Giant, »aber das
Armeeessen schmeckt ihnen durch die negativen Vorurteile einfach
schlechter«.
Bei der Assimilation spielt noch eine andere Geschmacksregel
eine Rolle: Je stärker ein Produkt den Erwartungen entspricht,
desto besser gefällt es einem und umgekehrt. Beim Essen findet
dieser Abgleich dauernd statt, und unser tatsächliches sensorisches
Empfinden hat dabei oft wenig zu melden. Wenn man jemandem
erzählt, dieser Kaffee sei bitter, wird er den Kaffee bitterer
finden. 68 Und das Gleiche gilt umgekehrt, wie uns die Wissenschaft
sagt: Wenn wir keinen bitteren Kaffee erwarten, »unterdrücken«
wir unsere Bitterreaktion. 69 Man muss den Leuten nur sagen, im
Orangensaft sei Wodka, und schon schmeckt er ihnen besser als der
andere ohne – selbst wenn beide keinen Wodka enthalten. 70 (Wohl
überflüssig zu erwähnen, dass es sich bei den Probanden um
College-Studenten handelte.)
Bei einem unbekannten Lebensmittel – in einem Natick-Versuch
waren es arktische Multbeeren – muss man jemandem nur
irgendwie erzählen, was auf ihn zukommt, und schon schmeckt es
ihm besser. Wenn es sich um »seltsame Astronautennahrung«
handelt, dann soll sie auch so heißen! Es wird den Leuten trotzdem
besser schmecken – die Probanden waren Astronauten. 71 Als man
Soldaten bei Natick im Dunkeln essen ließ, bei Einsätzen keine
unwahrscheinliche Situation, schmeckte es ihnen besser, wenn man
ihnen sagte, was sie aßen.
Wenn unsere Erwartungen enttäuscht werden, passieren
interessante Dinge. So sollten Leute in einer bekannten Studie
Eiscreme mit Lachsgeschmack probieren, die man ihnen als
»Eiscreme« oder »Gefrorenes herzhaftes Mousse« servierte. 72 Das
Mousse schmeckte den Probanden besser als die Eiscreme. Die
Abneigung gegenüber dem Eis war sogar so heftig, dass, so die
besorgten Forscher, »viele Teilnehmer das Eis als ekelhaft
beschrieben«. Assimilation und Kontrast sind auch der Grund dafür,
warum auf Speisekarten stets vermerkt ist, wenn Schoko- oder
Karamellcreme salzig schmecken könnten. Wie mir ein bekannter
Konditor sagte: »Wir machen damit auf das Salz aufmerksam. Die
Leute sind nicht überrascht und können den Kontrast zwischen
salzig und süß genießen.«73 Kurzum, es schmeckt ihnen besser. Wie
gesagt, wir haben einen siebten Sinn dafür, wenn mit unserem Essen
»etwas nicht stimmt«.
Doch wie das Lachseis-Experiment zeigt, geht es beim Geschmack
nicht nur um den Geschmack selbst. Genauso wichtig kann sein, als
was uns etwas schmeckt. In einer Studie zu »neuartigen
Lebensmitteln« – US-Armee und NASA benötigen häufig
»neuartige« Lebensmittel für Extrembedingungen – gab Cardello
seinen Probanden »Suppe« (Campbell Pilzcremesuppe vom
Konzentrat) und »Flüssignahrung« (eine pulverisierte, zähflüssige
Hähnchen-Cacciatore-Masse für Patienten nach einer
Kieferoperation, die ich in meiner Schulcafeteria vermutlich auch
schon aufgetischt bekam) zum Kosten. 74 Beides wurde sowohl in
einer Keramikschüssel als auch im Glas mit Strohhalm serviert.
Beides hieß »Suppe«. Wie zu erwarten, schmeckte den Leuten die
echte Suppe besser. Beim zweiten Versuch nannte man die
Glasversion allerdings »Flüssignahrung für die Zähne«. Und
plötzlich schmeckte den Leuten die Zahnflüssigkeit besser als die
Suppe im Glas. »Die veränderte Erwartungshaltung durch die neue
Bezeichnung passte nicht zur Suppe und führte darum zu einer
geringeren affektiven Reaktion.«
Die sogenannte Erwartungsdissonanz beschränkt sich nicht auf
seltsame Lebensmittel aus Armeelaboren. Eines Nachmittags
besuchte ich Garrett Oliver, den stylischen, urbanen und
selbstbewussten Braumeister der Brooklyn Brewery. Als wir bei
einigen »Ghost Bottles« zusammensaßen und ein im Bourbonfass
gereiftes limitiertes Bier mit den Hefesedimenten einer Riesling-
Gärung tranken, erzählte er mir von einer limitierten Biersorte, die
er vor einigen Jahren neu herausgebracht hatte. Das Bier basierte
auf einem beliebten Cocktail namens Penicillin, einem Mix aus
Scotch, Ingwer, Honig und Zitrone. »Der Cocktail schmeckt leicht
sauer, aber auch ein wenig süß«, so Oliver. »Mir gefiel das
harmonische Ganze, das sich daraus ergab.« Oliver fragte sich, ob
man das Wunder nicht auch als Bier trinken konnte, und kreierte
eine Mischung aus torfgeräuchertem Malz, Bio-Zitronensaft,
Wildblumenhonig und feingehacktem Ingwer.
Die Reaktion war überaus gespalten. »Das Draft-Magazin wählte
es unter die 25 besten Biere 2011«, sagte Oliver, »aber andere
hätten uns am liebsten den Kopf eingeschlagen.« Das Problem lag
vermutlich darin, so Oliver, dass manche Barkeeper das Bier nicht
so präsentierten, wie sie sollten. »Die Barkeeper sollten eigentlich
jedem erklären, dass das Bier auf einem Cocktail aus Scotch,
Ingwer, Honig und Zitrone beruhte. Aber das haben nicht alle
getan.« Manche Biertrinker erwarteten also auch ein Bier auf
Cocktailbasis und bekamen als Gag vielleicht noch den Original-
Cocktail dazu. Andere hingegen hörten nur, so Oliver: »›Hier, ein
neues Bier der Brooklyn Brewery, wohl ein Helles oder so‹, und
waren auf das fremde Geschmackserlebnis nicht vorbereitet. Sie
nahmen einen Schluck und dachten nur ›Igittigitt‹.« Man hatte ihnen
eben nicht gesagt, wie es ihnen schmecken sollte.

Auf einer Skala von eins bis neun:


Wie kann man Geschmack messen?

Wie wir gesehen haben, kann das Spiel mit


Verbrauchererwartungen gefährlich sein.
Zu den bekanntesten Beispielen im Bereich Lebensmittel und
verfehlte Erwartungen gehört Crystal Pepsi, die durchsichtige Cola
aus den frühen 1990er Jahren. Man entwickelte das Getränk
aufgrund steigender Mineralwasserverkäufe und einem
offensichtlichen Trend zu »durchsichtigen« Produkten, von
Spülmittel bis zu Deodorant. Es wurde als »leichter« in puncto
Farbe und Kalorien, als die »natürlichere« Alternative zu Pepsi-Cola
positioniert – und schien vielversprechend. Die ersten Testverkäufe
in Colorado waren »ein Riesenerfolg«, so der damalige Pepsi-CEO
David Novak. Drei Monate später startete der landesweite Verkauf,
und Crystal Pepsi konnte einen beachtlichen Marktanteil von 2,4
Prozent erringen. 75 Dabei war das Produkt sogar teurer als Pepsi-
Cola. Damit wollte man sein Premium-Image betonen.
Dann platzte die Blase. Im Jahr 1994 wurde Crystal Pepsi vom
Markt genommen, eine unrühmliche Fußnote mehr in der
Geschichte der Marketingflops. Was war schiefgelaufen? Einmal
davon abgesehen, dass die meisten Neuheiten scheitern, gab es von
Anfang an Anzeichen eines gewissen Unbehagens. Bei einer
Blindverkostung durch eine Tageszeitung deutete sich das Problem
bereits an: Die Leute tranken Crystal Pepsi nur mit geschlossenen
Augen lieber. 76 Wenn sie Crystal Pepsi sahen, erwarteten sie einen
bestimmten Geschmack und waren klar enttäuscht. Die Marke
Pepsi, so erinnert sich Novak, führte noch zu einer weiteren
Enttäuschung: Crystal Pepsi »schmeckte nicht genug nach Pepsi«. 77
Der Name Pepsi ließ die Verbraucher einen Pepsi-ähnlichen
Geschmack erwarten. Mit dem Namen Crystal wäre es
wahrscheinlich besser gelaufen. Aber das Beispiel warf noch eine
verzwickte Frage auf: Wenn der »Hauptverwendungsbereich« einer
Farbe der Geschmackserkennung dient, wie eine Studie sagt, was
schmecken wir dann ohne die Farbe?78
Doch abgesehen vom Problem der enttäuschten Erwartung zeigt
uns das Crystal-Pepsi-Debakel noch etwas anderes: nämlich, wie
schwer es ist, den Geschmack der Verbraucher vorherzusagen. Es
scheint zunächst einfach: Denn warum sollte etwas im echten Leben
nicht schmecken, wenn es bei einem Geschmackstest vielen Leuten
gefällt? Pepsi hat Crystal Pepsi gewiss nicht aus einer Laune heraus
auf den Markt geworfen. Wie man hörte, arbeiteten dort ungefähr
90 Leute 15 Monate lang an dem optimalen Produkt und verwarfen
dabei Tausende von Varianten. Und ehe es das Produkt auf
irgendeinen regionalen Testmarkt schaffte, musste es sich bestimmt
zahllosen sensorischen Prüfungen und Verbrauchertests
unterziehen. Und das Ergebnis war wohl überwiegend positiv, darf
man annehmen.
Wie es der Zufall wollte, wurde der springende Punkt dabei,
nämlich die Geschmacksbeurteilung durch »Verbraucherpanels«,
von Natick entwickelt und perfektioniert. Mit dem Ziel, das Problem
der mangelnden Verpflegungsqualität und ihrer Folgen für die
Truppenmoral zu lösen, lief das entsprechende Programm 1944 im
Quartermaster Food and Container Institute der US-Armee in
Chicago an. 79 Man stellte ein Team aus Psychologen zusammen, von
denen später viele Bahnbrechendes für die Lebensmittelindustrie
leisteten. »Und schon bald tauchte eine wichtige Frage auf«, sagte
Cardello. »Wie konnte man messen, wie gut oder schlecht etwas
schmeckte?«
Pioniere auf dem Feld der Psychologie wie der deutsche Wilhelm
Wundt hatten mit Hilfe der »Psychophysik« bereits versucht, die
Ungenauigkeit zu quantifizieren, mit der unsere Sinne auf einen
Reiz reagieren: So schmeckt es beispielsweise nicht doppelt so süß,
wenn man doppelt so süß backt.
Doch bis dahin konnte niemand den Geschmack quantifizieren –
oder hatte es noch nicht wirklich versucht. Und so kam die
»neunteilige hedonistische Skala« in die Welt. Die Skala, zunächst
für das Militär entwickelt, schaffte es schließlich in die
Versuchsküche fast aller größeren Lebensmittelhersteller. Alles,
was Sie momentan im Kühlschrank haben, wurde vermutlich mit
Hilfe der neunteiligen Skala geschmacklich bewertet. Angeblich
habe man damals auch an eine elfteilige Skala gedacht, nur habe sie
nicht auf das behördliche Papier gepasst. 80 Es wurden sogar schon
Probanden gebeten, Katzenfutter auf einer Skala von eins bis neun
zu bewerten. Warum? Katzen, so der begleitende
Forschungsbericht, seien »eindeutig nicht in der Lage, Vorlieben und
Abneigungen zu verbalisieren«. Möglicherweise stolzieren sie
hochmütig davon, ihr Schwanz nichts als Verachtung, aber das lässt
sich nur schwer in Zahlen übersetzen. Der Bericht schließt mit den
Worten: »Eher überraschenderweise lag der überwiegende
Durchschnitt für alle hedonistischen Skalen bei 4,7 und damit
zwischen ›weder gut noch schlecht‹ und ›eher gut‹«. Die Leute
hielten das Katzenfutter anscheinend nicht für so übel, zumindest
als Katzenfutter betrachtet. 81
Die Einfachheit und relative Genauigkeit der hedonistischen Skala
sowie ihre Bedeutung als Industriestandard konnten darüber
hinwegtäuschen, dass es methodisch nicht unproblematisch ist, den
Geschmack nach Ziffern zu bemessen. Zudem haben andere
Methoden wie Lügendetektoren kläglich versagt. 82 Doch es
wimmelt nur so vor Problemen. Vor Problemen semantischer Natur.
Bedeutet »eher gut« für jeden dasselbe? Und vor mathematischen
Problemen. Acht heißt ja nicht, dass es einem doppelt so gut
schmeckt wie bei Vier, so Cardello. 83 Und kann man Vorlieben und
Abneigungen überhaupt auf derselben Skala festhalten? Wie die
Arbeit von Timothy Wilson und Kollegen an der University of
Virginia zudem eindeutig belegt, ändern Leute ihre Meinung häufig,
wenn man sie fragt, warum sie eine bestimmte Bewertung
abgegeben haben – und zwar meistens nicht zum Positiven. 84
Doch selbst die Frage, was einem schmeckt, ist nicht so einfach,
wie man meinen könnte. Bei der weitverbreiteten »Genau richtig«-
Methode kosten Leute verschiedene Produktproben. Diese
unterscheiden sich beispielsweise in ihrem Süßegrad. Dann geben
sie an, was sie als »genau richtig« empfinden. Hört sich logisch an,
oder? Da ist nur ein kleines Problem: Was jemand als »genau
richtig« bezeichnet, ist nicht unbedingt das, was ihm am besten
schmeckt. 85
Dann ist da noch das Problem, dass fast niemand die Ziffern eins
und neun nimmt. Sie erscheinen als zu abseitig. Der Mensch neigt ja
zur Vorsicht. Und so wird die Skala zwangsläufig zur siebenteiligen
Skala. »Man weiß nie, ob man nicht als nächste Probe etwas noch
Besseres bekommt«, sagte Cardello.
Unsere geschmackliche Unsicherheit entpuppt sich bei
Geschmackstests als Problem. Wenn es um Geschmacksvorlieben
geht, neigen wir generell zur »Regression zur Mitte«. Fragt man
Leute beispielsweise, wie ihnen die im Allgemeinen beliebte
Lasagne oder die eher unbeliebte Leber schmecken, und wiederholt
die Frage, nachdem sie beides gerade gegessen haben, bewerten
sie ihr Lieblingsgericht stets etwas schlechter und ihr
ungeliebtestes Gericht etwas besser. 86 Unsere Erwartungen spuken
durch unseren Geschmack und verwirren uns. Wer sich länger mit
der Geschmacksforschung beschäftigt, begegnet irgendwann so
einer Art Mantra: Das Schlechte ist nie so schlecht, wie wir
glauben, und das Gute nie so gut.

Natick konnte auch darum so einflussreich sein, weil das


Forschungsinstitut Jahr für Jahr über ihm quasi ausgelieferte
Probanden verfügt. Zudem kann sich Natick dem Geschmack
vollkommen ungestört von der Außenwelt widmen. Wenn die
Soldaten ihre Einmannpackung essen, sehen sie weder Preisschild
noch Werbung – und haben keine Wahl. Gegenstand der Forschung
war auch die Frage der »Eintönigkeit«: Wie lange kann ein Soldat
nichts als EPas essen? Die Armee kam bei ihren Analysen, so
Darsch, auf 21 Tage. Das war aber vermutlich »eher konservativ
geschätzt«, ergänzte Darsch. »Auch nach mehr als 30 Tagen wird
man noch keinen statistischen Rückgang bei Körpermasse und
Muskeln feststellen können.«
Dennoch hat Natick lange und gründlich darüber nachgedacht,
wie man Soldaten abwechslungsreiche Kost bieten kann, die
logistisch machbar und trotzdem beliebt ist. Denn auch hungrige
Soldaten essen nicht einfach alles. Wenn die Akzeptanz sinkt, lässt
der Verbrauch nach, von Gesundheit und Moral der Truppe ganz zu
schweigen. Doch wer eine ganze Armee satt kriegen will, muss
verschiedenen Vorlieben gerecht werden. »Und selbst hochbeliebte
Gerichte«, so eine frühe Studie, »eignen sich nicht fürs Militär, wenn
sie nur einem bestimmten Kreis schmecken.« So sagte Darsch:
»Gerichte wie Muschelsuppe New England fielen durch, weil viele
von den Jungs gar nicht wussten, was sie da aßen.«87
Der bekannte Lebensmittelforscher Howard Moskowitz, der
später in die Industrie ging, arbeitete in den 1950er Jahren an
einem mathematischen Modell zur »Speiseplan-Optimierung«. Wie
er beim Frühstück im New Yorker Harvard Club zu mir sagte, sei
seine Fragestellung ganz simpel gewesen: »Wie oft können wir
etwas auftischen, ehe es langweilig wird?« Für den Speiseplan
spielen seiner Meinung nach zwei Dinge eine Rolle:
Geschmacksvorlieben und Dauer. Manche Gerichte schmecken uns
gut, aber wie schnell haben wir sie satt? Bei Geschmackstests
werden die beliebtesten Gerichte nach mehreren Verkostungen
häufig zu den unbeliebtesten. 88 Crystal Pepsi mag im
Geschmackstest frisch und aufregend gewesen sein, aber würde der
Verbraucher seinen Kühlschrank damit befüllen? Der intensive
Zuckerpush oder der neuartige Geschmack seien beim ersten Mal
vielleicht spannend, »aber dann kommt der Alltag«, so Moskowitz.
»Und wählt man wirklich das, was einem besser schmeckt?«, so
Moskowitz weiter. Nicht unbedingt. Vermutlich damit unser
Lieblingsessen unser Lieblingsessen bleibt, entscheiden wir uns
auch für das, was wir nicht ganz so gern mögen. 89 »So will man den
›Schnitzel-Tod‹ vermeiden«, wie Moskowitz sagte. Aber warum wird
uns etwas überhaupt irgendwann über, wollte ich wissen. Weil unser
Nährstoffbedarf aufgrund der sinnesspezifischen Sättigung gedeckt
ist? Oder ist uns der Wunsch nach Neuem angeboren? »Ich weiß es
nicht«, seufzte Moskowitz. »Warum gewöhnen wir uns an ein
bestimmtes Parfüm? Warum hört man die Züge irgendwann nicht
mehr, wenn man neben den Bahngleisen wohnt?« Warum brauchen
wir überhaupt eine Auswahl? »Wir gehen ins Restaurant«, so
Moskowitz, »und die Speisekarte hat sieben Seiten. Trotzdem
bestellen wir immer dasselbe. Wir wollen gar keine Auswahl. Wir
wollen nur die Illusion einer Auswahl.«
Bei der täglichen Diskussion um das Mittagessen höre er oft
verwundert, so der vielleicht lebensmittelaffinste Ökonom Tyler
Cowen, dass die Leute so etwas sagen wie: »Heute habe ich keine
Lust auf Thai, das hatte ich gestern gerade.« In Thailand essen die
Leute doch jeden Tag Thai. »Wäre es wirklich so schrecklich«,
fragte er sich, »Tag für Tag, zu Hause und unterwegs nur indisch zu
essen?«90 Doch wenn wir etwas satthaben, haben wir vielleicht
auch einfach nur vergessen, wie abwechslungsreich unsere
Ernährung war. (Das Phänomen nennt sich »Varietäten-
Vergesslichkeit«.)91 Schmackhafte Speisen langweilen uns nicht so
schnell, könnte man denken, doch die Natick-Forscher haben das
genaue Gegenteil bewiesen: Je fader, desto länger schmeckt es den
Soldaten. Schließlich hat man ein fades Essen schneller vergessen
als ein tolles Gericht. Je schlechter man sich an ein Gericht erinnert,
desto später hat man es satt.
Natick musste sich auch mit der Frage herumschlagen, wo
gegessen wird. Im Restaurant wird dasselbe Gericht besser
bewertet als in der Cafeteria einer Behörde – oder des
Forschungsinstituts. Bei einem Einsatz müssen die Soldaten zudem
zwei Herausforderungen meistern: Sie müssen die wenig
abwechslungsreiche Einmannpackung mit der eher undefinierbaren
Geschmacksnote und Textur auch noch an dem entlegenen,
unwirtlichen Ort essen, für die sie gedacht ist. In einer
bahnbrechenden Versuchsreihe hat man eine auf Hawaii
biwakierende Soldatengruppe und eine MIT-Studentengruppe auf
dem Campus ausschließlich mit EPas verköstigt. Die Soldaten
bekamen 34 Tage nichts anderes, die Studenten 45 Tage. Beide
bewerteten das Essen als »annehmbar« (was wenig Gutes über die
MIT-Mensa verheißt). Beide Gruppen verloren an Gewicht. Doch die
Studenten auf dem Campus aßen mehr als die Soldaten im Biwak.
Die Experimente belegen die Bedeutung des Kontexts für den
Geschmack. Aus vielerlei Gründen ist es schwieriger, die Leute im
Einsatz zum Essen zu bewegen.
Aber in der Welt der Normalos ist der Kontext genauso wichtig. In
einem ethnischen Restaurant mit passender Inneneinrichtung
schmeckt es uns nachweislich besser. 92 Da reichen ein paar
rotweißkarierte Tischdecken und ein Sergio-Leone-Poster, und
schon verspeisen wir mehr Pasta. Auch Lautstärke und Art der
Musik beeinflussen, wie uns das Essen zusagt. Und in größeren
Gruppen essen wir mehr. Das Geschirr, das Gewicht der Teller, ob
das Gericht farblich zum Teller passt, sogar wie lange wir auf das
Essen warten müssen, haben laut Studien Einfluss darauf, wie gut es
uns mundet und wie viel wir essen.
In dem Film Sideways gibt es diese ergreifende Szene, in der
Miles, der glücklose Protagonist, in einem Anfall von Wut und
Verzweiflung eine langgehütete Flasche Cheval Blanc, Jahrgang
1961, in ein Fast-Food-Restaurant schmuggelt. Verstohlen schlürft
er, im grellen Licht und stinkenden Fettgeruch, zu Burger und
Zwiebelringen, seinen »Wein für den besonderen Anlass« aus einem
Styroporbecher. Der Wein hat sich nicht verändert, und wenn es
beim Trinken allein ums Trinken ginge, müsste der Genuss derselbe
sein. Doch der Kontext ist »voll daneben«: Miles ist allein, isst
mäßiges Essen, trinkt aus keinem richtigen Glas, und die
Einrichtung ist grauenhaft. Er trinkt mit Rachegefühlen, nicht mit
Genuss.
Der Kontext hat mit dem Ort zu tun, aber auch mit der Uhrzeit.
Vielleicht mögen Sie zum Frühstück liebend gern Müsli, aber
vermutlich nicht zum Abendessen. Das Frühstück sei überhaupt eine
seltsame Mahlzeit, so der niederländische Forscher E. P. Köster.
Dabei geben sich nämlich selbst die experimentierfreudigsten
Feinschmecker tagein tagaus mit demselben zufrieden. 93 Was beim
Abendessen wohl kaum in Frage käme. Die pure Gewohnheit kann
da manches erklären, aber wie die Forschung zeigt, werden beim
Frühstück komplette, je nach Kultur allerdings andere Texturklassen
abgelehnt. Wenn nach einem reichlichen Abendessen das Dessert in
greifbare Nähe rückt, hungert uns nach Abwechslung. Nach dem
Aufstehen sind wir offenbar weniger abenteuerlustig. Der Reiz des
Neuen gewinnt wohl erst im Lauf des Tages an Attraktivität.
Im Warfighter Café betrachtete ich, was ausgebreitet vor mir lag.
Wie würden sich die EPas von morgen schlagen? Hätten sie noch
immer so unschöne Spitznamen verdient wie »Erbrochenes,
portionsweise abgepackt«? Ich biss vom »MATS Lachs« ab –
»MATS« steht für »Mikrowellen-assistierte Thermo-Sterilisation«.
Vielleicht hätte man an den Namen noch einen Gedanken mehr
verschwenden können, und der Fisch war zugegebenermaßen etwas
zäh. »Er ist ein bisschen gummiartiger, als wir es gern hätten«,
sagte Darsch. Kein Wunder. Der Fisch wurde mit Druckkräften von
über 8300 bar bombardiert, um die Zellwände eventueller
Bakterien schonungslos wie mit einer bunkersprengenden Bombe
einzureißen. Doch er schmeckte nach etwas, zumindest nach mehr,
als man von einem folienverpackten, bei Zimmertemperatur
gelagerten Fisch ohne absehbares Mindesthaltbarkeitsdatum
erwartet hätte. Würde er auch im Del Posto durchgehen? Nein.
Aber einem Soldaten, dem eine lange Patrouillenfahrt in einer
heißen Wüste bevorsteht, schmeckt er wahrscheinlich gerade gut
genug.

Ich weiß ungefähr, was mir schmeckt, aber was ich


genau weiß: Was ich nicht kenne, schmeckt mir nicht.
Lieben heißt Lernen

Als ich mich eines Morgens in Richtung Philadelphia aufmachte, um


am Monell-Institut die langjährige Forscherin Marcia Pelchat
aufzusuchen, dokterte ich an einer leichten Erkältung herum. Am
Institut angekommen, bot mir Pelchat, eine quirlige, freundliche
Frau mit entwaffnendem Humor, einen Kaffee an. Ich fragte, ob ich
auch Tee bekommen könne, und erklärte, dass mir bei einer
Erkältung Tee plötzlich besser schmecke als Kaffee. Pelchat
überlegte einen Moment und sagte: »Ohne den Duft käme mir
Kaffee wie Asche vor.«
Wir vergessen das unglaublich leicht und sind darum jedes Mal
verblüfft, wenn wir es am eigenen Leib erleben: Geschmack hat zum
Gutteil mit der Nase zu tun. Kaffee riecht besser, als er schmeckt,
und ohne seinen Duft fehlt uns, was wir an ihm lieben. Um sich diese
grundlegende sensorische Tatsache ab und zu wieder ins Gedächtnis
zu rufen, kann man zum Beispiel den Jelly-Bean-Test machen:
Pelchat gab mir an diesem Morgen drei verschiedene Jelly-Beans
und bat mich, mir meine ohnehin verschnupfte Nase zuzuhalten. Alle
drei schmeckten einfach nur süß. Als ich die Nase wieder losließ,
spürte ich selbst mit meiner Erkältung, dass sich hinten in Mund und
Nase ein Geschmack wie Häagen-Dazs-»Coffee«-Eis ausbreitete. In
der Tat hatte ich gerade eine Jelly-Bean mit Kaffeegeschmack
gegessen, neben den Verwandten mit Bananen- und Lakritz-Aroma.
Unsere Zunge, die voller Geschmacksknospen ist, ist für die
sensorische Grobeinteilung zuständig: süß, sauer, bitter, salzig,
weniger offiziell auch umami – und eventuell noch fettig. Doch alle
feineren Unterscheidungen, Mango oder Papaya, Lamm oder
Schwein, übernimmt »retronasal« – über Rachen- und Nasenraum –
der Geruch. Ob es sich um Erdbeeren, Coca-Cola oder Sriracha-
Sauce handelt, sagt uns eigentlich nicht unser Geschmackssinn,
sondern ein olfaktorischer Reiz. Streng genommen gibt es keinen
Honig-»geschmack«, sondern nur einen »retronasalen Honig-
Geruch«. Damit Honig Honig ist, muss ein eingeatmeter Duftschwall
an unserem Nasenrachenraum entlangstreichen. Selbst der
scheinbar starke Zitronengeschmack ist für unsere Zunge nur eine
Mischung aus Sauer, Bitter und Süß. Erst Rezeptoren in der
Riechschleimhaut, die Terpene freisetzen, machen die Zitrone zur
Zitrone. 94
Der Geruch beeinflusst, so Paul Rozin, wie uns etwas schmeckt. 95
Auch wer den Kaffeegeschmack nicht mag, kann den Kaffeeduft
zweifellos lieben. Oder andersherum: Ein Stück Limburger auf
unserem Teller empfinden wir durch den starken Käsegeruch
vielleicht als unangenehm. Doch einmal im Mund, verwandelt er sich
auf wundersame Weise in etwas Angenehmes. Als würde das Gehirn,
ist die Speise einmal im Mund und keine äußere Gefahr mehr, ein
völlig neues Bild erstellen. Wenn man jemandem mit stark
verstopfter Nase eine Tasse gelb eingefärbte Rinderbrühe zu
kosten gebe, sagte Pelchat, halte er sie unweigerlich für
Hühnerbrühe. Ohne die retronasale Wahrnehmung wechselt man
quasi vom Kabelfernsehen mit endlos vielen Programmen zu einer
bescheidenen Anzahl altmodischer Sender, die Tag für Tag dasselbe
zeigen.
Doch eigentlich habe ich Pelchat aufgesucht, um mit ihr über
Geschmacksvorlieben zu sprechen. Egal, ob mich nun Mund oder
Nase über den Geschmack informieren, was gibt mir das Gefühl,
dass es mir schmeckt? Virginia Woolf schrieb einst, Lesen sei ein
längerer, komplizierterer Prozess als Sehen. 96 Das gilt ähnlich für
die Frage, ob Geschmack mehr ist als ein bloßer sensorischer Reiz
bezüglich etwas, was wir in den Mund stecken. Manchmal wird
unser Geschmack beispielsweise dadurch korrumpiert, dass wir zu
wissen meinen, was uns schmeckt. 97 Wenn man Verbrauchern etwa
verschiedene Ananas zum Testen gibt, werden Ananas aus »Fair
Trade« und »biologischer Landwirtschaft« von denen bevorzugt, die
generell Bio- und Fair-Trade-Produkte befürworteten. Wer weniger
Wert auf Bio legt, dem sagen diese Ananas weniger zu. »Dieselbe
kognitive Information bewirkte bei unterschiedlichen Probanden
gegensätzliche affektive Reaktionen«, so die Forscher. 98
Wie sich herausstellte, hatte Pelchat eine Tasse Tee für mich.
Doch zunächst gab sie mir eine Kapsel, die entweder Zucker oder
hundertprozentig kalorienfreie Zellulose enthalten konnte. Sie
wollte mir den Mechanismus der sogenannten Geschmack-
Nährstoff-Konditionierung vorführen: Uns schmeckt, wodurch wir
uns gut fühlen, auch wenn uns das nicht bewusst ist.
Wie stark diese Konditionierung ist, wurde in unzähligen Studien
mit Ratten nachgewiesen, neophobe Allesfresser wie wir. 99 In
solchen Versuchen darf eine Ratte trinken, so viel sie will,
beispielsweise Kool-Aid Orange. Wie ein Blick in die
wissenschaftliche Literatur zeigt, trinkt sie gern ziemlich viel Kool-
Aid Orange. Vor, während oder nach dem Trinken wird zudem über
einen »intragastrischen Katheter« Süßstoff direkt in den Magen
geleitet. Später bekommt die Ratte dann Kool-Aid Grapefruit zu
kosten, ohne dass Zucker in den Magen tröpfelt. Wenn man
anschließend beide Geschmacksrichtungen testet, bevorzugt die
Ratte das zuvor »versüßte« Getränk, obwohl nun beide nicht gesüßt
werden. Manchmal hängt sie sogar noch an der alten Sorte, wenn
längst eine neue Sorte gesüßt wurde.
Warum die Ratte den einen Geschmack dem anderen vorzieht,
hatte interessanterweise nichts mit dem Geschmackssinn zu tun.
Woher die Forscher das wissen? »Die Speiseröhre der Ratten«,
sagte Pelchat mit leicht gesenkter Stimme, »wurde nach außen
verlegt.« Die Ratten können den Zucker also nicht schmecken oder
aufstoßen. Doch die in den Magen geleitete Süße wirkte trotzdem
als Belohnung. »Irgendetwas im Darm oder Verdauungssystem sorgt
dafür, dass ihnen der Geschmack gefällt«, sagte Pelchat.
Pelchat interessierte auch, ob sich die sensorischen Mechanismen
beim Menschen ebenso leicht umgehen ließen, natürlich ohne
Extremoperation. Sie schluckte darum für einen Tag einen
nasogastrischen Schlauch und versuchte, sich Zucker einzuflößen.
»Ich dachte, ich weiß schon, was ich tue. Ich stelle mir einfach vor,
es wäre etwas zu essen und schlucke es, ich schaffe das. Aber ich
fing an, zu würgen, es ging nicht.« Schließlich verfiel sie auf die
Kapseln, die erst im Magen Zucker freigeben oder eben nicht. Eine
Placebo-Kapsel mit kalorienfreier Zellulose ist für den Körper
wertlos. Also fast wertlos. »Sie fördert zufälligerweise die
Verdauung«, sagte Pelchat lachend, als ich die Kapsel inspizierte.
Wer in Pelchats Studie die – geschmacklose – Zuckerkapsel
schluckte, mochte den Tee lieber als anderen Tee, den er mit der
ungesüßten Kapsel trank. 100
Das heißt, die Leute mochten den einen Tee lieber als den
anderen, ohne zu wissen, warum. (Unser eigener Geschmack ist uns
fremd.) Sie erhielten nach dem Trinken ein Signal in Form einer
Nährstoffbelohnung, durch die ihnen der eine Tee besser schmeckte
als der andere. »Ich betone gern, dass Belohnung und Genuss nicht
dasselbe sind«, sagte Pelchat. »Essen kann eine Belohnung sein,
auch wenn wir es nicht genießen.« Erleben wir das nicht eigentlich
alle, wenn wir vorm Fernseher essen? Aber auch das Gegenteil kann
passieren. Wenn Krebspatienten vor einer Chemotherapie, die
bekanntlich mit Übelkeit einhergeht, eine neue Eissorte
ausprobierten, entwickelten sie eine Abneigung gegen diese Sorte –
die stärker war als alle Abneigungen gegen bereits bekannte
Sorten. Wenn es einem generell kaum schmeckt, hat man wenig Lust
auf Neues. Interessanterweise konnte aber ein neuer
»Sündenbock«-Geschmack zu den normalen Mahlzeiten – ähnlich
wie Rescue-Pillen – den appetithemmenden Folgen
entgegenwirken. 101 Besser als bekannte Nahrungsmittel
absorbierte der Sündenbock-Geschmack einen Großteil der
Übelkeit. Hierbei spielte offensichtlich unsere Neigung eine Rolle,
vertraute Speisen zu mögen und Neues abzulehnen.
Wie Pelchats Studie zeigt – die übrigens von einer Teefirma
gesponsert wurde, die wissen wollte, ob Amerikaner auch
ungesüßten Tee trinken würden –, schmeckte den Probanden Tee
ohne Zuckerzusatz schließlich sogar besser. Warum? Ganz einfach,
weil sie ihn mehr als einmal getrunken hatten. Schon 1968 führte
der Psychologe Robert B. Zajonc mit einem einflussreichen Aufsatz
den Begriff »Mere-Exposure-Effekt« ein:102 »Jemanden wiederholt
einem Reiz auszusetzen ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass
sich seine Einstellung dazu verbessert.« Zajonc bezog sich dabei
nicht aufs Essen, aber die Darbietungshäufigkeit ist heute ein
zentraler Begriff, wenn es um Geschmacksvorlieben geht. So gab
man in einer Studie gerade einmal zwei Jahre alten Kindern an 26
aufeinanderfolgenden Tagen unbekannte Obst- und Käsesorten zu
essen. 103 Forderte man sie später auf, aus Zufallspaaren der
getesteten Sorten zu wählen, entschieden sie sich jeweils für die
Sorte, die sie häufiger gegessen hatten – selbst wenn sie sie anfangs
ausgespuckt hatten.
»Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht«, weiß schon der
Volksmund. 104 Eltern haben selten die Geduld von Forschern – und
auch keine Magenschläuche zur Hand. Wenn sie ihren Kindern
Neues schmackhaft machen wollen, geben sie meistens nach dem
dritten oder vierten Anlauf auf. 105 Eine britische Studie aber ließ
eine Probandengruppe wiederholt den eher unbeliebten Spinat
essen. 106 Eine andere Gruppe bekam dagegen die allgemein
beliebteren Erbsen. Der Spinat-Gruppe schmeckte der Spinat nach
und nach besser, besonders denjenigen, die ihn anfangs verabscheut
hatten. In der Erbsen-Gruppe waren und blieben die Erbsen
beliebt. Die Probanden mochten die Erbsen, weil sie daran gewöhnt
waren. 107
Um etwas zu kennen, müssen wir es allerdings erst einmal essen,
selbst wenn wir es nicht mögen. Schon nach ein paar Mal schmeckte
den Leuten in einer Studie eine leicht salzige Suppe, obwohl sie sie
anfangs nicht gemocht hatten. 108 Die Suppe wurde allerdings nicht
als leicht salzig deklariert, um den Test nicht negativ zu
beeinflussen. 109 In einer anderen Studie aßen Probanden Dosen-
Ratatouille, dem nach und nach mehr Chili beigegeben wurde. 110 Je
schärfer die Suppe, desto beliebter wurde sie. George Orwell hat
den Gewohnheitseffekt bereits in seinem Essay »A Nice Cup of Tea«
von 1946 beschrieben:111 »Manche wenden jetzt vielleicht ein, dass
Tee an sich nicht schmecke und sie ihn nur trinken, weil er wärmt
und anregt, und darum Zucker bräuchten. Diesen Irregeleiteten
möchte ich sagen: Versuchen Sie nur einmal zwei Wochen lang,
Ihren Tee ohne Zucker zu trinken, und höchstwahrscheinlich werden
Sie seinen köstlichen Geschmack anschließend nie mehr durch
Süßes ruinieren wollen.«
Einen Geschmack zu lieben heißt, ihn lieben zu lernen: eine
Binsenwahrheit, die für ganze Kulturräume wie für den Einzelnen
gilt. Der »Mere-Exposure«-Effekt setzt sogar schon vor unserer
Geburt ein. Sie mochten als Säugling Karottensaft? Dann trank ihn
vermutlich Ihre Mutter gern. 112 Schon im Fruchtwasser, Ihrer
allerersten Geschmackswelt, waren Sie von Gerüchen und Düften
umgeben. Erfahrene sensorische Tester können allein aufgrund des
Fruchtwassergeruchs sagen, welche Mutter Knoblauchpillen
geschluckt hat. 113 Einmal auf der Welt, recken wir uns nach dem,
was uns schmeckt (also vertraut ist), und verziehen das Gesicht,
wenn es uns nicht mundet. 114 Die Mimik gehört zum Schmecken
dazu, ob Vorliebe oder Abneigung:115 Wir senden beim Essen
Signale aus und verfolgen aufmerksam, welche Informationen uns
andere über ihr Essen übermitteln.
Manchmal kann schon allein der Anblick eines Gerichts, das ein
anderer isst, unsere Vorliebe dafür fördern. 116 So wurden die
Geschmacksvorlieben von Kindern in einem Frauengefängnis, wie
eine Studie aus den 1930er Jahren beobachtete, offenbar durch
diejenigen geformt, die die Kinder fütterten. »Babys, denen
Tomatensaft nicht schmeckte, waren durch Erwachsene gefüttert
worden, die angaben, Tomatensaft abzulehnen.«117 In einer
anderen Studie mit Vorschulkindern setzte man ein »Ziel«-Kind, das
ein bestimmtes Gemüse lieber aß als andere, mit drei Kindern
zusammen, die dieses nicht mochten. 118 Schon am zweiten Tag der
Studie hatte das Zielkind seine Vorliebe revidiert. Unsere
Geschmacksvorlieben werden nicht nur dadurch beeinflusst, wie oft
wir ein Gericht essen, sondern auch dadurch, dass wir anderen beim
Essen des Gerichts zugucken.

Viele Geschmacksrätsel sind noch ungelöst. Warum schmeckt uns


auf einmal etwas, das wir bis dahin nicht ausstehen konnten? So
mögen beispielsweise die wenigsten unter uns Getränke wie Kaffee
oder Bier, wenn sie sie zum ersten Mal probieren, doch meistens
lernen wir irgendwann, sie zu lieben. Alle Geschmacksvorlieben sind
letzten Endes erlernt. Oder wie Pelchat sagte: »Eigentlich sollten
wir nur noch von erworbenem Geschmack sprechen.«
Und noch besser sollten wir von »erworbenem Geschmacksbild«
sprechen, so Dana Small, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
John B. Pierce-Institut der Yale University die Neuropsychologie des
Essens erforscht. Wenn wir auf die Welt kommen, kennen wir keine
Genussmittel wie Kaffee. Kaffee schmeckt für uns bitter und somit
schlecht. »Der Bittergeschmack verrät uns, dass die Nahrung giftig
sein könnte«, sagte Small. »Das will man wissen, ohne es erst lernen
zu müssen.«
Aber niemand kommt mit einer Vorliebe oder Abneigung für
Hühnerfüße auf die Welt. Der Geschmackssinn, unser »Torhüter«,
könnte die Füße vermutlich nicht von Flügeln unterscheiden. Es ist
eben Huhn. Wenn wir im Leben das erste Mal mit Nahrung
konfrontiert werden, hat die Kultur für uns zudem schon vorsortiert
und die Grenzen des Akzeptablen abgesteckt. »Die Franzosen essen
Pferd und Frösche, die Engländer nicht«, bemerkte Jared
Diamond. 119 Aber wie bei jeder Speise haben die Franzosen in
einem bestimmten historischen Moment gelernt, Pferdefleisch zu
mögen. 120 Doch was unserem eigentlichen Geschmackssinn gefällt,
ist, anders als beim erworbenen Geschmack, weltweit ziemlich
ähnlich. So schreibt John Prescott in Taste Matters: »Überall auf
der Welt, ob in Japan, Taiwan oder Australien, wird in Wasser
gelöster Zucker bei einem Gewichtsanteil von zehn bis zwölf
Prozent am angenehmsten empfunden – was ungefähr der Süße
reifer Früchte entspricht.«121
Die Geschmackskonditionierung hilft uns, einen Geschmack zu
mögen oder nicht. Der Nutzen für uns liegt darin, so Small, dass wir
»lernen, die verfügbaren Nahrungsmittel zu mögen, und nur
bestimmte Nahrungsmittel statt ganzer Nährstoffgruppen
ablehnen«. In ihrer Heimatstadt Victoria in British Columbia nahm
Small in jungen Jahren einmal an einem beliebten Segelevent teil
und trank wie ihre Freunde ein paar Drinks zu viel: ein
grauenhaftes, unseliges Gebräu aus Malibu und 7Up, also ziemlich
viel Zucker, Kokus-Rum und Zitruslimo. »Das war vor 20 Jahren«,
sagte sie, »aber noch heute kann ich nicht mal Kokos-Sonnencreme
benutzen, ohne dass mir übel wird.«122
Bei allem, was wir essen, so Small, erlernen wir über eine
komplexe Aktivitätskette im Gehirn »Geschmacksobjekte«, eine
»perzeptive Gestalt« aus haptischen Eigenschaften, Geschmack und
Geruch. »Hat mich das Gericht krank gemacht? Hat es mir Kraft
gegeben? Unsere Vorlieben erlernen wir auf Basis des vollständigen
Geschmacksobjekts.« Das Geschmacksobjekt wird im Gehirn durch
ein neuronales Aktivitätsnetz »erschaffen« – »durch einen verteilten
Schaltkreis, der auch das Geruchsobjekt neuronal abbildet, mit
unimodalen Geschmackszellen, unimodalen oralen
somatosensorischen Zellen, multimodalen Zellen und einem
›Bindungsmechanismus‹«. 123 Wir »schmecken« eine Erdbeere nicht
einfach. Wir beschwören sie förmlich herauf.
Wenn wir Kaffee zum hundertsten Mal trinken, ist er nicht
weniger bitter als beim ersten Mal. Doch derweil hat sich einiges
getan. »Er ist zu Kaffee geworden«, so Small. »Das Gehirn hat
gelernt, dass Kaffee kein potentiell gefährliches Signal ist.« Viele
Menschen trinken Kaffee anfangs mit Milch oder Zucker, also mit
etwas, das ihnen schmeckt. Damit mildern sie nicht nur den
Bittergeschmack ab, sondern sorgen auch dafür, dass sie mit Kaffee
Positives verbinden. Allerdings ist die Beziehung ziemlich einseitig,
so John Prescott: Wir lernen nicht, den Zucker durch Kaffeetrinken
zu lieben. Wir lernen nur, Kaffee durch die Beigabe von Zucker zu
lieben. Dann nehme man noch die angenehme Wirkung von Koffein
hinzu, und schon haben wir ein Getränk, das uns – beinah gegen
unseren eigenen Willen – bestens schmeckt. Vielleicht denken Sie
jetzt, dass wir ja schon durch die angenehme Wirkung von Koffein
oder Whiskey darauf konditioniert werden, diese Getränke zu
mögen. Doch warum fügen wir sie dann nicht Dingen zu, die uns
ohnehin schmecken? Warum gefällt uns das am besten, was wir
anfangs am stärksten verabscheuten?
Es muss einen Moment geben, in dem aus Abneigung Liebe wird.
Small hat versucht, diesen neurologischen Zeitpunkt und Ort zu
lokalisieren. In einem ihrer Versuche sollten die Teilnehmer
komplett kalorienfreie Getränke mit neuen Geschmacksrichtungen
testen. 124 Nach einigen Wochen fügte sie einer Geschmacksrichtung
kalorienhaltiges, aber geschmackloses Maltodextrin zu. Obwohl die
Probanden das Maltodextrin in dem Getränk nicht schmecken
konnten, gefiel ihnen die Geschmacksrichtung jetzt besser als die
anderen. Genauso wurde in der Teestudie von Pelchat die
Geschmacksvorliebe durch ein Signal aus dem Verdauungstrakt
beeinflusst – wo das Maltodextrin praktischerweise in Zucker
umgewandelt wird.
Small wählte für ihre Studie allerdings Getränke, die »leicht
beliebt« waren. Und daher ist die Frage, wie unsere Abneigung in
Liebe umschlägt, noch nicht beantwortet. Aber was, wenn ein
Forscher ein allseits gehasstes Nahrungsmittel nehmen würde und
wir es quasi auf Knopfdruck plötzlich heiß begehren würden? Genau
das tat Kent Berridge von der University of Michigan in einem
Experiment zur Pawlowschen Konditionierung von Ratten. 125 Die
Ratten bekamen zunächst »Impulse« einer wohlschmeckenden
Zuckerlösung und hörten dazu ein Geräusch. Dann erhielten sie
zusammen mit einem anderen Geräusch eine widerliche »Totes-
Meer«-Salzlösung, dreimal so salzig wie Meerwasser.
Die Ratten hassten das Salz – so sehr, dass man ihnen die Lösung
über eine »implantierte Kanüle« einflößen musste. Wenn die Ratten
den dazugehörigen Ton hörten, wendeten sie sich entweder ab oder
zeigten, wenn sie sich der Futterquelle näherten, einen
entsprechenden Gesichtsausdruck. Schließlich veränderte man das
Gehirn der Ratten mittels Injektionen, die ein extremes Verlangen
nach Salz auslösen. Als man den Ratten am nächsten Tag wieder die
Geräusche vorspielte, rannten sie sofort zum »Totes-Meer«-Salz,
und ehe sie überhaupt von dem neuen, angenehmen Reiz gekostet
hatten, zeigte ihr Gesicht das für Wohlschmeckendes typische
Lippenlecken. Sie gierten also nach dem Salz, ehe sie wussten, wie
es wirklich schmeckt.
Diese Erkenntnis kann nicht nur dazu beitragen, Suchtverhalten
besser zu erklären, sondern auch unsere alltäglichen
Geschmacksvorlieben. In einer Studie baten Berridge und seine
Kollegen Studenten, das Geschlecht von Gesichtern am
Computerbildschirm zu bestimmen. Eher unterschwellig, nämlich
nur eine Sechzigstelsekunde lang, sahen die Studenten zudem
wütende oder lachende Gesichter. Anschließend reichte man ihnen
ein Fruchtsaftgetränk, das angeblich noch in der Entwicklung
begriffen sei, und fragte sie, ob es schmecken würde. Von den
Probanden, die die »lachenden« Gesichter gesehen hatten,
schmeckte es doppelt so vielen. Die lachenden Gesichter hatten
»das positive Belohnungssystem im Gehirn der Studenten auf
›Wunsch‹ geschaltet, und die Schaltung bestand unbemerkt auch
noch Minuten später, als sie ihre Lust auf das Getränk bewerteten«,
schreibt Berridge. 126 »Der ›Wunsch‹ trat nur dann zutage, wenn
ihnen ein geeignetes Zielobjekt in Form eines positiven süßen
Reizes geboten wurde, von dem sie probieren und dann trinken
konnten oder nicht.« Es war, als hätten sie, um es mit einem
abgewandelten Filmtitel zu sagen, nach dem »Objekt ihrer
Begierde« gesucht und endlich gefunden, was sie begehrten.
Solche Mechanismen können erklären, warum Abneigungen in
Vorlieben umschlagen. »Geschmack« findet auf einer sehr
grundlegenden Ebene Eingang ins Gehirn. Schon Babys, die nicht
viel mehr als den Hirnstamm besitzen, »können erkennen, bewerten
und entscheiden«. Aber sie bilden, erklärte mir Berridge, kein
»Geschmacksobjekt«. Das passiert erst auf einer höheren Ebene.
So sollten Probanden in einer Studie von Ivan de Araújo und
Kollegen kurz an einer Mischung aus Isovaleriansäure und Cheddar-
Käse schnüffeln, die ihnen entweder als Körpergeruch oder als Käse
präsentiert wurde. Wer vermeintlich an Körpergeruch roch,
bewertete die Mischung schlechter als diejenigen, die sie für Käse
hielten. Das überrascht nicht. Doch die Käse-Gruppe zeigte
außerdem mehr Gehirnaktivitäten in stärker vernetzten
Gehirnregionen, und das wiederum passt zu der allgemeinen
Erkenntnis, dass an unseren »Vorlieben« eine größere Kette an
Gehirnaktivitäten beteiligt ist als an unseren Abneigungen.
Scheinbar verlangt es von uns mehr Energie, herauszufinden, was
uns gefällt, als was uns nicht gefällt.
Körpergeruch und Käse werden vom Gehirn unterschiedlich
interpretiert. Doch im ersten Schritt »ist das Signal im Gehirn noch
dasselbe«, sagte Berridge. »Durch Erwartung und Antizipation kann
es aber ziemlich früh in der Erregungsleitung verändert werden. An
welchem Punkt genau es unterschiedlichen Gehirnregionen
zugeordnet wird?« Erwartung und Antizipation überformen das
Signal so stark, dass sich in der Araújo-Studie vergleichbare
Gehirnaktivitäten selbst bei Probanden nachweisen ließen, die an
einem »sauberen«, aber als Käse oder Körpergeruch deklarierten
Duft schnüffelten. Sie bereiteten sich mit Phantomfreude oder -
missfallen darauf vor, einen Geruch zu mögen oder abzulehnen, der
dann niemals kam.
»Irgendwann nimmt unser Bewusstsein dann ein endgültiges
Produkt wahr«, so Berridge, »aber wir wissen nicht, welcher
Prozess dazu geführt hat.« Das Bittersignal, das der Hirnstamm
empfängt, bleibt dasselbe, aber durch höhere kognitive Prozesse
nimmt der »Kaffee« irgendwann Gestalt an. Lernen bedeutet in
diesem Fall Interaktion mit dem Geschmackssinn, um ein Lustgefühl
hervorzurufen. »Jedes Wohlgefühl beruht vermutlich auf den
grundlegenden Belohnungsschaltkreisen, für die Süße eine
besondere Rolle spielt«, sagte Berridge. Das Gehirn hat Ihren
Kaffee versüßt.

Die Antwort auf die Frage, wann und wo genau eine Abneigung in
Vorliebe umschlägt, wird noch dadurch verkompliziert, dass bei
beiden dieselben Gehirnregionen aktiviert werden. 127 So reagiert
offenbar die Amygdala – oder der Mandelkern – im selben Maße auf
Dinge, die wir mögen oder nicht mögen. Vielleicht wird die
Wissenschaft eines Tages einen Weiß nicht-Schaltkreis entdecken
und feststellen, dass wir im Grunde häufig ziemlich unentschieden
sind. Möglicherweise liegt es nur an einer bestimmten Synapse, die
gerade feuert, oder an dem Menschen, mit dem wir zu Mittag essen,
oder an einem Song im Radio, ob wir uns für das eine oder andere
entscheiden.
Doch obwohl unsere Abneigungen und Vorlieben so anfällig für
Verzerrungen und Manipulationen durch unser Gehirn oder äußere
Einflüsse sind, halten wir komischerweise hartnäckig daran fest.
Vermutlich spüren wir instinktiv, wie bedroht und beliebig sie sind,
und klammern darum erst recht. Fest steht jedenfalls, dass unser
Verhältnis zum Geschmack, im buchstäblichen und metaphorischen
Sinne, beim Essen am engsten und persönlichsten ist. Wie
Beauchamp im Monell-Institut zu mir sagte: »Die wichtigste
tagtägliche Entscheidung für jeden Menschen ist, was er sich in den
Mund steckt und was nicht.« Einst ging es dabei um Leben und Tod,
heute nur noch um den persönlichen Geschmack.
Doch das macht unsere Entscheidungen offenbar noch
komplizierter und lässt uns in unserer Wahl noch schwankender
werden. Als wir in dem chinesischen Restaurant saßen, sagte Rozin
über unsere »affektive« Beziehung zum Essen: »Sie ist fundamental,
archaisch und regelmäßig. Nicht so regelmäßig wie unser Atmen,
aber das hat ja auch nichts mit Geschmack zu tun.« Dann hielt er
inne, schob seinen letzten Bissen süß-saure Shrimps auf die Gabel
und steckte ihn in den Mund. »Aber die Öffnung ist dieselbe«, sagte
er dann.

__________
IIUnd dann kommt die Rechnung. Der Komiker Jerry Seinfeld meint darum, wir sollten
die Rechnung besser vor dem Essen bezahlen, und bemerkt: »Wir haben doch gar
keinen Hunger. Wofür sollen wir bloß das ganze Essen kaufen?«
»Aber die Geschmacksurteile begründen an sich auch
gar kein Interesse. Nur in der Gesellschaft wird es
interessant, Geschmack zu haben.«
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft

DAS PROBLEM SIND NICHT UNSERE


STERNE, SONDERN WIR
Geschmack in einer vernetzten Welt

Nicht Ihre Worte, sondern Ihre Taten


sagen, was Ihnen gefällt

Als ich eines Abends auf Netflix nach einem passenden Film suchte,
erschien im Pop-up-Fenster The Rocking Horse Winner – »weil
Ihnen Psycho, Der Stadtneurotiker, Fargo gefallen haben«. Ich
klickte weiter und stieß auf einen britischen Film von 1949. Der
Film, nach einer Kurzgeschichte von D. H. Lawrence, handelte von
einem Jungen, der den Sieger von Pferderennen vorhersagen
konnte, indem er ungestüm auf seinem Schaukelpferd ritt. Ich
kannte weder Geschichte noch Film.
Da sind die algorithmischen Empfehlungssysteme doch wirklich
genial, dachte ich. Mit einer unsichtbaren, mir rätselhaften
Zauberformel fischen sie irgendeinen vergessenen Streifen aus dem
Papierkorb der Filmgeschichte. Doch was hatte The Rocking Horse
Winner mit Woody Allens Kult-Komödie, Alfred Hitchcocks
Psychothriller und dem düsteren Film der Coen-Brüder aus dem
Mittleren Westen gemein? Was an meinem Bewertungsverhalten
hatte zu dieser filmischen Ménage à quatre geführt? Was, wenn ich
den Hitchcock-Film in den Himmel gehoben, der Stadtneurotiker
mir aber nicht gefallen hätte? Hätte man mir dann einen anderen
Film ans Herz gelegt?
Greg Linden, der den bahnbrechenden Algorithmus von Amazon
mitentwickelte, meint, man dürfe nicht zu viel in die Systeme
hineingeheimnissen, auch wenn sie manchmal irgendwelche
merkwürdig passenden Vorschläge machen. »Der Computer
analysiert lediglich, was die Menschen tun«, sagte er. Allerdings
räumten selbst die Computererfinder ein, dass die zunehmend
komplexeren mathematischen Systeme zu HAL-ähnlichen
»Blackboxen« werden könnten, deren Verhalten wir im Einzelnen
nicht mehr wirklich bestimmen oder vorhersagen können, um uns so
wenigstens noch irgendwie damit zu identifizieren. 1
Manchmal habe ich mich auch gegen eine Netflix-Empfehlung
gesträubt: ein Adam Sandler-Film? Soll das ein Witz sein? Doch die
Kehrseite der riesigen Filmauswahl ist, dass wir heute immer mehr
Zeit für die Auswahl des richtigen Films aufwenden müssen. Da mir
in dieser Epoche der gigantischen Möglichkeiten die Zeit fehlt, um
mich durch alte Filmzeitschriften zu kämpfen oder im Plattenladen
die Ramschkisten zu durchstöbern, habe ich irgendwann
eingesehen, dass es durchaus seine Vorteile hat, den Entscheidungs-
und Entdeckungsprozess an Computer outzusourcen. Schließlich
lagern wir unsere Gedächtnislücken ja auch großteils an Google
aus.
Immerhin habe ich meinen Netflix-Algorithmus eine Zeitlang
rigoros trainiert. Ich bewertete jeden Film, den ich sah, und
studierte mit protestantischer Gewissenhaftigkeit alles, was mir
»auch noch gefallen könnte«. Ich wollte dieses Ding so fein
justieren, dass es mit meinem komplexen Geschmacksprofil wirklich
klarkam. Es sollte zur Kenntnis nehmen, dass mir trotz meiner
Begeisterung für den Tanz der Teufel nicht einfach jeder Horrorfilm
gefiel. Es sollte nicht nur wissen, was mir gefiel, sondern auch,
warum mir etwas gefiel. Ich verlangte wohl zu viel.
Als ich mich schließlich am Netflix-Hauptsitz im kalifornischen Los
Gatos wiederfand, einem Gebäude mit rotem Ziegeldach, einer
Mischung aus altehrwürdigem Hollywood und La Quinta Inn,
wimmelte es in meinem Kopf daher vor Bewertungssternen. Ich war
geradezu besessen von den Sternen. Ich verschwendete endlose
Gedanken daran, ob ich mir einen Film, der für mich eine
Bewertung von 2,9 vorhersagte, wirklich anschauen sollte – die
Differenz zwischen 2,9 und 3,0 schien mir wie eine Offenbarung.
Filme mit nur einem Stern gehörten geradezu ins Reich des
Verbotenen. Und wenn ich auf einen Film stieß, den ich noch nicht
kannte, der aber eine 4,7-Bewertung für mich prognostizierte,
schwanden mir beinah die Sinne.
Ich wusste, dass ich damit nicht allein war. Die
Computerwissenschaftler, die die prognostizierten Bewertungen bei
Netflix um zehn Prozent verbessern konnten, waren von dem
Unternehmen mit dem berühmten »Optimization Prize« in Höhe von
einer Million Dollar ausgezeichnet worden. Viele kluge Leute hatten
sich dafür stundenlang den Kopf über Dinge wie etwa das
»Napoleon Dynamite«-Problem zerbrochen: Was sollte man mit
Filmen machen, die kaum vorhersehbar polarisierten? Ich stellte
mir vor, ich würde hier in Los Gatos einer Art wohlwollender
Geschmacks-Stasi begegnen, die über alle Filmliebhaber bestens
Bescheid wusste und eine riesige Geschmacksfundgrube ihr Eigen
nannte. Mich interessierten durchaus auch geheime Dinge, die man
mir natürlich nicht verraten würde: Wie stark reagierte der
Algorithmus auf Bewertungen? Wie schnell sickerte in mein
Bewertungs-Ökosystem ein, dass ich einem Film nur 2,7 Sterne gab,
obwohl Netflix 3,2 für mich prognostiziert hatte? Bei welchem Film
gab es die breiteste Verteilung von extrem negativen und extrem
positiven Bewertungen?
Als ich mit Todd Yellin, Leiter für Produktinnovation bei Netflix, im
Top Gun-Raum saß – alle Netflix-Räume sind nach Filmen oder
Fernsehserien benannt –, hörte ich also das Gras förmlich wachsen.
»Ich war im Unternehmen zunächst für die Produktpersonalisierung
zuständig«, sagte er. »Es ging damals darum, wie wir Ratings
erhalten und daraus bessere Prognosen ableiten können und an
welcher Stelle der Benutzerschnittstelle diese angesiedelt sein
sollen.« So weit, so gut. Doch dann sagte er: »Im Lauf der Jahre
weiteten wir dann die Personalisierung aus, und unsere
Begeisterung für die Bewertungsprognosen hat erheblich
nachgelassen.«
Das musste ich erst mal verdauen. Die Begeisterung hat
erheblich nachgelassen. Vermutlich wirkte ich leicht geknickt. Ich
spürte förmlich, dass Yellin mir meine Enttäuschung ansah. Ich war
gekommen, um die raffinierteste Engine zur Geschmacksprognose
bei Filmen besser zu verstehen, und die Leute sagten mir, ihre
Begeisterung für den Geschmack, zumindest in Form einer
Bewertung, habe erheblich nachgelassen. »Bei uns wurden mehr
Filmen und Fernsehserien Sterne verliehen als bei jedem anderen
Unternehmen auf der Welt«, sagte Yellin. »Und wir haben zahllose
Algorithmus-Rezepte für eine höhere Prognosegenauigkeit
entwickelt.« Aber das, so Yellin, war 2005 oder 2006. Meine
schlauen Fragen wirkten auf einmal schrecklich gestrig. Netflix
sollte so viel Zeit und Mühe darauf verwendet haben, das perfekte
bewertungsbasierte Empfehlungssystem zu entwickeln, und hatte
ihm dann einfach den Rücken gekehrt?
Nicht ganz. »Es werden noch immer Bewertungen abgegeben,
und wir betrachten sie weiterhin als nützliche Informationen«, sagte
Yellin. »Aber sie sind mittlerweile zweitrangig.« Zweierlei hat den
Nutzen der Sterne verdunkelt: Erstens, so Xavier Amatriain, Leiter
Empfehlungssysteme bei Netflix, hatte das Unternehmen bei der
Geschwindigkeit der Geschmacksprognosen gewissermaßen das
Ende der Fahnenstange erreicht. »Es ist wie mit vielem in der Welt
der Algorithmen«, sagte er. »Man braucht zwanzig Prozent der Zeit
für eine neunzigprozentige Genauigkeit und achtzig Prozent der Zeit
für die restlichen zehn.« Ob sich die Investitionen in die restlichen
zehn Prozent lohnen würden, war höchst ungewiss – auch wegen der
dadurch zunehmenden Komplexität des Empfehlungssystems, das
schon unter der Last von »Restricted Boltzmann Machines«,
»Random Forests« und »latenten Dirichlet-Allokationen« ächzte.
Und noch etwas hatte sich verändert. Seit dem »Netflix Prize«
war Netflix von einem Unternehmen, das DVDs per Post
verschickte, zu einem Streaming-Dienst geworden. »Wenn die Leute
früher eine Bewertung abgaben«, so Amatriain, »ließen sie uns an
einem Meinungsbildungsprozess teilhaben. Sie fügten ihrer
Warteschlange etwas hinzu und schauten den Film zwei Tage später
an. Dann äußerten sie ihre Meinung und wussten, dass sie damit
langfristig etwas bewirken konnten.« Aber beim Streaming sei das
anders. »Das ist ein völlig anderes Konzept. Wenn einem etwas nicht
gefällt, was soll’s. Man schaut einfach einen anderen Film. Die
Umtauschkosten sind erheblich gesunken.«
Netflix bekam beim Streaming vielleicht weniger explizites
Feedback zu sehen, dafür aber mehr implizites Verhalten. »Heute
können wir die Abspieldaten in Echtzeit verfolgen«, sagte Yellin,
»und die sind aussagekräftiger als das, was man über seine
Wunschfilme sagt.« Netflix weiß heute unendlich mehr darüber, was
und wie man schaut: wann und wo man schaut, an welcher Stelle
man abbricht, was man als Nächstes guckt, ob man etwas mehrmals
anschaut. Auch wonach man sucht – noch ein Geschmackssignal.
Yellin erzählt mir das mit leidenschaftlicher Begeisterung. Er wirkt
mit seinem nervösen Gehabe, dem kantigen Kopf und dem leicht
verhärmten Gesichtsausdruck, der durch den kahlen Kopf noch
verstärkt wird, wie ein allwissender Videothekmitarbeiter aus
Zeiten, als es diese noch gab. Ein Videothekmitarbeiter mit
allumfassendem Einblick, der weiß, was seine Landsleute in den
Videorekorder schieben und an welcher Stelle sie auf »Rewind«
drücken. Wenn das ein Verstoß gegen den Datenschutz sein sollte,
wird das am ehesten daran deutlich, dass man sich nicht länger vor
seinem eigenen Geschmack drücken kann.
Unternehmen wie Netflix haben mit ihren Daten-Petabytes über
Vorlieben und Abneigungen ihrer Kunden, mit den unzähligen
Daumen und Favoriten, nie dagewesene Einblicke in bislang schwer
fassbare Bereiche erlangt: in Urteilsbildung, Äußerung von
Vorlieben oder Geschmacksbildung. Dank der gigantischen
Internetaktivitäten, der sogenannten »digitalen Mundpropaganda«,
fanden die »unerklärbaren« abstrakten Geschmacksäußerungen
Eingang in das empirische Internetsystem mit seinen kollaborativen
Filter-Algorithmen, ausladenden Datensätzen und scheinbar
ununterbrochenen Aktivitätsaufzeichnungen. Die einzelne
Bewertung, ob Daumen oder »Like«, ist dabei im Grunde nutzlos,
weil sie unter dem Problem des »Lippenbekenntnisses« leidet, wie
Raymond Fisman es nennt. 2 Erst in der Gesamtheit und durch die
schiere Zahl können das Geraune gefiltert, Ausreißer aussortiert
und eine statistische Meinung gebildet werden.
Soziologen wie etwa Pierre Bourdieu – der vielleicht mehr über
den Geschmack nachgedacht hat als irgendwer sonst und auf den
wir noch zurückkommen werden – standen stets vor dem Problem
der Selbstaussage. Leute nach ihren Vorlieben zu befragen ist nicht
dasselbe, wie ihr Verhalten zu beobachten. Zum Glück für die
Forschung kann man im Internet zunehmend zuverlässiger
beobachten, was jemand tut, und zwar unabhängig davon, was er
sagt. Fast alle Bereiche des menschlichen Geschmacks, die einst
Bourdieu interessierten, werden im Internet tagtäglich in
Größenordnungen erfasst, von denen jeder Soziologe nur träumen
kann. Welche Musik gefällt Ihnen? (Spotify, Pandora) Wie sieht Ihr
Idealgesicht aus? (OkCupid, Match.com) Welche Fotoobjekte sind
ideal? (Flickr, Instagram)
Während Netflix sich früher stark darauf verließ, was die Leute
über ihre Vorlieben sagen, und damit einen relativ neuen
Ausgangspunkt für sein Empfehlungssystem nutzte, setzt das
Unternehmen heute schwerpunktmäßig darauf, was die Leute
tatsächlich gucken. 3 »Das hat viele Vorteile«, sagte Amatriain.
»Was übrigens auch damit zu tun hat, dass die Leute häufig zu
Wunschbewertungen tendieren. Sie geben an, was sie gern schauen
würden oder was für ein Filmkonsument sie gern wären.« Wie
Carlos Gómez Uribe, Netflix-Leiter Produktinnovation, erläuterte,
»gibt beispielsweise ein relativ hoher Prozentsatz an, häufig
ausländische Filme oder Dokumentarfilme zu schauen, obwohl das
in der Praxis eher selten vorkommt.«

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit war Netflix schon


lange aufgefallen. So verfolgte das Unternehmen früher
beispielsweise, wie lange seine Kunden eine DVD zu Hause
behielten – ohne sie vermutlich anzuschauen – »wie Eine
unbequeme Wahrheit von Al Gore«, sagte Yellin, während seine
Kollegen wissend nickten. »Der Film blieb ewig bei den Leuten.
Wahrscheinlich als praktischer Glasuntersetzer.« Dann wurden die
detaillierteren Echtzeit-Einblicke möglich: Da hat jemand den
Bergman-Film abgebrochen und lieber Voll auf die Nüsse geguckt?
Damit hat er einen Datenpunkt erzeugt.
Die Leute, so Yellin, »möchten sich selbst gut finden. Manchmal
werden sie auch Opfer eines Selbstbetrugs, und das, was ihnen
angeblich gefällt, die Filme, die sie mit reichlich Sternen bewerten,
und das, was sie in Wirklichkeit gucken, passt nicht zusammen.
Dann bewerten sie Hotel Ruanda mit fünf und Captain America mit
zwei Sternen, schauen sich aber lieber Captain America an.«
Die Erkenntnis ist nicht besonders neu. So sprechen Ökonomen
seit Thorstein Veblen von geschmacklichem »Geltungskonsum«, ob
wir diesen nun nur vorgeben oder nicht. 4 Er strebt in der Regel
sozial nach oben: Niemand gibt Captain America fünf Sterne, Hotel
Ruanda nur zwei und schaut sich heimlich Letzteres an. Der
Soziologe Erving Goffman hat unsere tägliche Selbstdarstellung
bekanntlich als »Theater« beschrieben: »Wir stellen allgemein fest,
daß zum sozialen Aufstieg angemessene Selbstdarstellungen
gehören und daß die Bemühungen, aufzusteigen, wie die
Anstrengungen, nicht abzusteigen, sich in den Opfern, die zur
Aufrechterhaltung der Fassade gebracht werden, manifestieren.«5
Jeder von uns hatte bestimmt schon einmal den Wunsch, ein
idealisiertes Selbst zu präsentieren. »Ich bin nämlich eigentlich
ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu«, schrieb Ödön von
Horváth. 6 Oder denken Sie nur an die Stelle in Mach’s noch einmal,
Sam, wo der von Woody Allen gespielte Allan Felix sich alle Mühe
gibt, in Erwartung eines Dates prestigeträchtige Bücher auf seinem
Couchtisch zu drapieren. Als sein Freund meint, er könne doch
keine Bücher herumliegen lassen, die er gar nicht gelesen habe,
entgegnet er, das mache aber Eindruck. Bei den Netflix-Daten
handelte es sich interessanterweise um private Nutzerdaten.
Niemand anders konnte die erlesene Geschmacksauswahl oder die
vielsagende Warteschlange sehen. Man spielt wohl auch Theater für
sich selbst, vermutete Yellin.
Was uns wiederum zu der interessanten Frage führt, die der
Anthropologe Robert Trivers und der Psychologe William von Hippel
in den Raum stellten: »Wer ist überhaupt das Publikum des
Selbstbetrugs?« Goffman schrieb dazu, der Einzelne richte sich
häufig nach bestimmten Maßstäben, »weil er die Strafe des
unsichtbaren Publikums fürchtet«. 7 Daher auch das Gefühl der
»süßen Sünde«, auf das ich später zurückkommen werde. Wenn
Betrug eine evolutionsgeschichtlich nützliche und auch für die
»tierische Kommunikation grundlegende« Strategie ist, so sei auch
der Selbstbetrug eine »Angriffsstrategie zur Täuschung anderer«. 8
Wenn Woody Allen alias Allan Felix »gute« Bücher auf seinem
Couchtisch ausbreitet, fühlt er sich selbst besser und bestärkt sich
in seiner eigenen Überzeugung, jemand zu sein, der solche Bücher
liest – und kann auch den heißersehnten Gast besser überzeugen.
Wenn dem Selbstbetrug der Spiegel vorgehalten wird, kann es
allerdings leicht zu Missklängen kommen. So beschweren sich bei
Netflix häufig Kunden: »Warum empfehlen Sie mir diese ganzen
Filme mit ein und zwei Sternen?« Anders gesagt, warum soll ich
diesen Kram angucken, der mir nicht gefällt? Doch Netflix
betrachtet es nicht als seine Aufgabe, uns alle zu Cineasten zu
erziehen. Das Unternehmen will uns als Kunden behalten. Netflix
verhält sich wie ein Casino, das mit geschickter Berechnung dafür
sorgt, dass Sie die Automaten weiter füttern. Netflix empfiehlt
Ihnen, was Sie vermutlich sehen wollen. 9 »Kundenbindung« heißt
das bei Netflix. »Filme wie Schindlers Liste«, so Gómez Uribe,
»bekommen meistens viele Sterne – anders als Hot Tub – Der
Whirlpool … eine idiotische Comedy, die ich gern gucke …« Und
wenn man den Leuten nur Filme mit vier oder fünf Sternen anbieten
würde, »wollen sie die wahrscheinlich auch nicht unbedingt
Mittwochabend nach einem langen Arbeitstag sehen«.
Das Bewertungssystem mit seinen Sternen ist an sich schon
fehleranfällig. So werden Anfang und Ende der Skala in der Regel
gemieden – durch die sogenannte »Tendenz zur Mitte«. 10 Man
erhält also wesentlich mehr Bewertungen mit zwei oder vier
Sternen als mit einem oder fünf. Zudem »wissen wir«, so Amatriain,
»dass die Bewertungsskala nicht linear verläuft. Der Abstand
zwischen einem und zwei Sternen ist nicht derselbe wie zwischen
zwei und drei Sternen.« Der Mittelbereich der Filmbewertungen,
die Weiß nicht-Landschaft scheint ziemlich schwammig, wenn es um
den richtigen Film geht. Sodann neigt der Mensch bei Bewertungen
offensichtlich dazu, ganzen Zahlen den Vorzug zu geben. 11
Die Sternebewertung von Kulturgütern ist per se schon ein
seltsames Unterfangen, das lange Zeit auch hoch umstritten war.
Alles begann wohl mit einem Buch: der Sammlung Best American
Short Stories, die Edward O’Brien 1915 erstmals herausbrachte.
Die darin versammelten Geschichten könne man, so O’Brien, auf
natürliche Weise in vier Gruppen einteilen, die durch Sterne
gekennzeichnet seien. Die Geschichten mit der Höchstzahl von drei
Sternen seien von einem gewissen bleibenden literarischen Wert.
O’Brien sah sich als unvoreingenommenen Kritiker: »Ich habe
jegliche persönliche Vorliebe oder Voreingenommenheit außen
vorgelassen, die mein Urteil zugunsten oder zuungunsten einer
Geschichte hätten beeinflussen können.« Wie schwierig das ist,
werden wir später noch sehen. O’Briens Sternesystem – und
überhaupt das Vorhaben, die »besten« Geschichten eines Jahres
auszuwählen – sah sich mitunter vernichtender Kritik ausgesetzt. III
In einer Besprechung von The Best American Short Stories of 1925
tadelte der Kritiker der New York Times O’Briens »dogmatisches«
Bewertungssystem und erklärte: »Viele Leute glauben beinah alles,
wenn man es ihnen nur schmackhaft genug macht.«12 Später
verblassten die Sterne ein wenig, aber nur, um schließlich im Film
wieder neu zu glänzen. Am 31. Juli 1928 schrieb Irene Thirer in den
New Yorker Daily News: »Die Bewertung von Filmen mittels
Sternen werden wir von nun an dauerhaft einführen« – was
demnach also bereits so gehandhabt wurde. Thirer verpasste Port
of Missing Girls bei dieser Gelegenheit einen einzigen Stern. IV
An den Sternen wurde schon immer herumgekrittelt. Allein
darum, weil die Geschmäcker verschieden sind und mein Drei-
Sterne-Streifen für Sie vielleicht ein Fünf-Sterne-Film ist. Netflix
unterscheidet deshalb zwischen Sternen an sich und einer
persönlichen Einschätzung für den Kunden. Der persönliche
Geschmack liegt damit Schwarz auf Weiß auf dem Tisch. Der Film
gefiel mir um 0,7 besser als anderen. Man möchte dies nun gern als
eindeutigen Ausdruck »seines« Geschmacks begreifen, vergisst
dabei aber, dass diese Angabe, wie bei allen Empfehlungsengines,
auch davon abhängt, was die anderen sagen. 13 Hinzu kommt, dass
die einen Leute Filme generell höher oder niedriger bewerten als
andere, unabhängig davon, was sie von einem Film halten. »Manche
Leute«, so Amatriain, »sind mit hohen Bewertungen sehr
zurückhaltend. Zwei oder drei Sterne sind für sie kein schlechter
Wert.«
Damit sind wir bei einem weiteren interessanten Punkt, was
Netflix und seine Bewertungen betrifft. Vermutlich als Überbleibsel
aus alten Kritikerzeiten und ihren Bewertungssystemen halten wir
die Sterne für einen fixen Maßstab, um Qualität oder zumindest
Geschmack zu bewerten. Doch sowohl auf individueller als auf
Gesamtebene sind Netflix-Sterne alles andere als Fixsterne. Sie
ähneln eher dem freien Markt: Sie sind anfällig für Bereinigungen,
Blasenbildung, Hedgegeschäfte, Inflation und andere statistische
»Störgeräusche«.
So gab es bei Netflix Anfang 2004 »plötzlich eine höhere
durchschnittliche Filmbewertung«. Waren die Hollywood-Filme auf
einmal besser geworden? Jedenfalls das Empfehlungssystem. »Die
Nutzer bewerten zunehmend Filme, die ihrem Geschmack
entsprechen«, schrieb Yehuda Koren, der als Forscher am Netflix
Prize mitwirkte. 14 Kurzum, die Filme wurden besser, weil sie
vermehrt von Leuten bewertet wurden, die sie von vornherein für
besser erachteten. Je nach Standpunkt kann man dies nun für einen
Stichprobenfehler halten, weil man einen Film günstiger bewertet,
wenn er dem eigenen Geschmack entspricht, oder für eine Form von
Marktgleichgewicht: Die Leute konnten gezielter nach Filmen
suchen, die ihnen voraussichtlich gefielen. Angebot und Nachfrage
waren also besser aufeinander abgestimmt.
Auf individueller Ebene liegen die Dinge noch komplizierter. Bitten
Sie einmal jemanden, einen Film, den er bereits gesehen hat,
nochmals zu bewerten. Höchstwahrscheinlich wird sein Urteil
diesmal anders ausfallen. 15 Wie Experimente zeigen, erhält man
außerdem eine andere Zweitbewertung, wenn man die erste
Bewertung eines Nutzers ändert. Zudem werden Filme offenbar
anders bewertet, wenn man mehrere Filme als Ganzes und nicht nur
einen einzelnen Film beurteilen soll. 16 Fernsehserien werden
anderes bewertet als Filme. »Für Fernsehserien fällt die
durchschnittliche Bewertung wesentlich höher aus als für Filme«,
sagte Yellin. Ist Fernsehen heutzutage besser als Kino? »Ich würde
hier eher eine Vorauswahl vermuten«, so Yellin. »Denn wer
bewertet Die Sopranos? Wohl kaum jemand, der nur kurz
hereinschaut und feststellt, dass ihm das nichts sagt, sondern wer in
seinem Leben schon Hunderte Stunden mit der Serie zugebracht
hat.« Und wer gibt eine Bewertung für Der Kaufhaus Cop ab? »Das
mag kein besonders guter Film sein, aber er dauert neunzig
Minuten. Der Maßstab oder die Messlatte sind da wohl andere.«
Auch ob ich einen Film über Streaming oder auf DVD sehe, kann
die Bewertung beeinflussen. »Das gilt vor allem für spannende,
mitreißende Filme«, so Yellin, wie einen »hochemotionalen«
Spielberg-Film. »Der Film entfaltet eine Wirkung, und man ist
momentan beeindruckt, aber das hält nicht ewig an. Wer den Film
schon beim Abspann bewertet, gibt ihm daher eher mehr Sterne.
Eine Woche später kann die Sache dann ganz anders aussehen.«
Außerdem beurteilt man einen Film tendenziell schlechter, wenn
man ihn allein schaut, als wenn begeisterte Freunde dabei sitzen.
Und so weiter. »Ich habe mich jahrelang intensiv mit diesem Kram
beschäftigt«, sagte Yellin mit ernster Stimme und hörte sich dabei
an wie ein erschöpfter Gangster, der über seine schrecklichen Jahre
auf der Straße nachsinnt. Man spürte förmlich, dass er eigentlich
nach der Bewertung in Reinkultur, nach einem platonischen,
perfekten Idealbild unseres Geschmacks suchte. »Sie wollen wissen,
wie viele Haare ich noch auf dem Kopf habe? Die letzten habe ich
mir bei dem Versuch ausgerissen, das alles hier zu verstehen.«
Letztendlich zeigte sich, dass die Bewertungen nicht so viel über die
Filmwünsche der Leute verrieten wie gedacht. Und Geschlecht oder
Region waren ebenso wenig hilfreich. »Das hat vielleicht einen
gewissen Nutzen, wenn man keine anderen Informationen hat«, so
Yellin. »Doch wenn einer fünf Sachen auf Netflix geguckt hat, dann
wissen wir unendlich viel mehr über ihn als durch Alter, Geschlecht
oder Wohnort.« Man ist, was man guckt.

Dass die Begeisterung für die Bewertungen aus den genannten


Gründen nachgelassen hat, bedeutet allerdings nicht, dass die
Empfehlungen weniger wichtig geworden wären. Im Gegenteil. Sie
spielen für die Netflix-Algorithmen eine zentralere Rolle denn je und
stehen ungefähr hinter 75 Prozent aller gesehenen Filme und
Fernsehserien.
Doch sie sind mittlerweile indirekter geworden. Heute erzählt
Netflix dem Kunden weniger, was ihm gefällt, sondern führt es ihm
vor: mit »personalisierten« Bannern, die im Wesentlichen auf
Grundlage des Kundenverhaltens zusammengesetzt werden. »Alles
ist Empfehlung«, so Amatriain über das neue Denken »jenseits von
fünf Sternen«. In die Empfehlungsengine fließt sogar ein, wenn der
Kunde nach einem anderen Film sucht und damit verrät, »dass
Netflix ihm nicht das Richtige zeigen konnte«. Wer nämlich weiß,
wonach Sie suchen, weiß, was Ihnen vermutlich gefällt. Schon die
Tatsache, überhaupt auf Netflix zu sein, ist quasi eine Meta-
Empfehlung: Wie vieles im Internet ist die Website ein fortlaufender
Versuch über unsere Vorlieben, eine endlose Reihe aus »A/B-Tests«,
an denen vermutlich auch Sie schon unwissentlich teilgenommen
haben. Kaufen Sie mehr Produkte, wenn man das Suchfeld rechts
statt links vom Online-Schuhhändler platziert? Oder hat die
Bannerzeile »Ausländische Filme aus den Achtzigern« auf Ihrer
Landingpage Sie dazu bewogen, sich mehr ausländische Filme aus
den Achtzigern anzuschauen?
Die personalisierten Banner sind eine Art Mittelweg zwischen
zwei Extremsignalen, die als solche und für sich allein nicht
unbedingt sinnvoll sind. Das erste sind die Likes, die in eine Art
Geschmacks-Sackgasse führen können, in der es jede Menge
unbekannter, interessanter Filme gibt, die Sie sich aber in Wahrheit
kaum anschauen. »Überanpassung« nennt sich das in der Welt der
Algorithmen: Das System macht Vorschläge, die gewissermaßen zu
vollkommen sind – und vor allem vollkommen steril.
Das zweite ist die Popularität. Sie ist der Gegenspieler der
»Personalisierung«, erklärte Amatriain. Wenn man versuche, den
Konsum zu optimieren, dann »schaut ein Abonnent
höchstwahrscheinlich das, was die Mehrzahl schaut«. Allerdings
könne das zum sogenannten Die Verurteilten-Problem führen, zur
reichlich überflüssigen Empfehlung von Filmen, die alle Welt schon
gesehen hat. Die Verurteilten ist der bestbewertete Netflix-Film
aller Zeiten. Er wird bei Netflix allseits dermaßen gelobt, dass er
eigentlich zu keiner prognostischen Aussage mehr taugt, abgesehen
von der seiner außerordentlichen Beliebtheit. »In diesen
verdammten Film sind die Leute überall vernarrt«, wunderte sich
Yellin kopfschüttelnd.
Vermutlich als Konzession an die erbarmungslosen Störgeräusche
des menschlichen Geschmacks vertraut Netflix bei seinen
Empfehlungen nicht nur auf das Verhalten seiner Nutzer. 17 Das
Unternehmen beschäftigt eine riesige Schar bezahlter »Tagger«,
die ein Labyrinth aus Meta-Filmdaten entwickeln. Statt
herauszufinden, warum zwei Leute denselben Geschmack haben,
bestimmt Netflix lieber, was zwei Filme gemeinsam haben.
Manchmal ergeben sich daraus interessante Erkenntnisse. So
schafft der Regisseur Pedro Almodóvar, was sonst niemandem
gelingt: eine Verbindung zwischen vollkommen unterschiedlichen
Filmen herzustellen. Doch Metadaten können auch in die Irre
führen. Wenn man einem begeisterten Fan von The Hours oder
Moulin Rouge als weiteren Film mit Nicole Kidman den hoch
umstrittenen Film Dogville vorschlägt, könnte sich das als fataler
Fehler erweisen.
Allerdings können Metadaten auch Ähnlichkeiten ans Licht
bringen, die wir sonst nicht entdeckt hätten. Die oft sonderbar
präzisen, menschengemachten Genre-Banner zeigen uns, so habe
ich festgestellt, wie Kategorien unsere Vorlieben beeinflussen. Uns
gefallen Dinge als etwas, auch wenn wir wie bei The Big Lebowski
vielleicht eine Weile brauchen, bis wir dieses »etwas« erkennen.
Mit seinen seltsamen Genres versucht Netflix, etwas Bedeutung zu
verleihen, was sonst eher nach einer launigen Empfehlung aussähe.
»Empfehlungen können zu abwegig sein«, sagte Yellin, »dann denkt
man, ›Ey, nur weil ich Rote Laterne fünf Sterne gegeben habe, soll
ich mir jetzt diesen japanischen Kinderfilm angucken?‹« Yellin zeigte
auf seinen Laptop. Auf seiner Netflix-Seite wurde ihm alles Mögliche
empfohlen: Gomorrah, Walhalla Rising, Enter the Void und Ein
andalusischer Hund. Alle fielen unter das Genre:
Bewusstseinsverändernde ausländische Dramen. »Ich war von der
Auswahl hellauf begeistert«, so Yellin, »aber ich hätte sie wohl kaum
so spannend gefunden, wenn man mir die Filme ohne jeden Kontext
gezeigt hätte.« Wie der Autor Alexis Madrigal sagte: »Netflix zeigt
einem nicht nur, welcher Film einem wahrscheinlich gefällt, sondern
sagt einem auch, um welche Art von Film es sich handelt.«
Dass sich beides gegenseitig beeinflusst, ist nicht nur eine
seltsame Quantenverschränkung im Big Data der
Empfehlungssysteme, sondern trifft ebenso auf den menschlichen
Geschmack zu.

Jeder Mensch ist ein Kritiker:


Lasst tausend Nörgler sprechen

Mein Mann und ich stießen eines Abends auf diesen Ort »abseits
ausgetretener Pfade«, als wir in der Dunkelheit auf einem
Wüsten-Highway unterwegs waren. Das Zimmer war ein
bisschen altmodisch – mit Spiegeln an der Decke (LOL) –, aber
erfreulicherweise bekamen wir überraschend ein kostenloses
Upgrade. Es gab sogar eisgekühlten Champagner auf dem
Zimmer! Aber es war leider sehr laut: Mitten in der Nacht
wurden wir durch Stimmen aus dem Schlaf gerissen, die von
irgendwo auf dem Korridor kamen. Ich bin derselben Meinung
wie der vorige Bewerter: Der Ort ist »such a lovely place!«. Aber
ich habe doch eher gemischte Gefühle. Am schlimmsten waren
meiner Meinung nach die Check-out-Regeln, die ich absolut
unannehmbar fand.

Vielleicht haben Sie es gemerkt. Hier wurden zwei bekannte


Narrative vermischt: der Song »Hotel California« von den Eagles
und eine Bewertung des Reiseportals TripAdvisor.com. »Hotel
California« kennen Sie, weil es bis zum Abwinken im Radio lief, und
wenn Sie schon einmal auf TripAdvisor.com waren, dürften Sie
spätestens nach der 28. Hotelbewertung mit dem
charakteristischen Tonfall vertraut gewesen sein: mit dem lockeren
Bekennerton, dem kurzen Geplänkel mit anderen Bewertern und
der typischen Bewerterpersönlichkeit, einer Mischung aus
geschädigtem Jedermann und beleidigter Diva mit Sinn für
besondere Ansprüche. Dann ist da noch das »aber« – als Merkmal
des sogenannten »Sprechakts« der Beschwerde. Wie der Linguist
Harvey Sacks einmal feststellte, folgt die Beschwerde häufig einem
bestimmten Muster: »ein Lob plus ›aber‹ etwas anderes.«18
Üblicherweise kommt das Lob zuerst, als wolle man sagen: »Ich bin
ja nicht unverschämt …«
Wenn ich die zahllosen Bewertungen lese, frage ich mich oft
verwundert, wo die Leute den gigantischen Meinungsschwall bloß
vor den Zeiten von Internet und sozialen Medien loswurden? Wem
außer dem unfreiwilligen Publikum an der Rezeption konnte man
seinen Unmut entgegenschleudern, wenn der Wasserdruck der
Dusche nicht den eigenen Vorstellungen entsprach? Wer verärgert
war, schwor sich vermutlich damals wie heute, niemals
wiederzukommen. Vielleicht beklagte er sich auch bei Freunden und
Familie, und so sprach sich die Info manchmal herum. Aber wie
konnte er x-beliebige Fremde auf dem Weg zum »Hotel California«
davor warnen, dass sie ihr Geld zum Fenster rausschmissen?
Man kann sich ja kaum noch daran erinnern, aber wenn man vor
den Zeiten von Internet und Smartphone in einem Restaurant essen
wollte, das man nicht kannte, blieb einem nichts anderes übrig, als
auf ein paar schnöde schwammige Verhaltensregeln zu vertrauen.
Viele einsame LKW-Fahrer oder Polizisten an den Tischen verhießen
für die Qualität nichts Gutes. Vielleicht gab es in der Gegend aber
auch bloß nichts anderes. Der Klassiker für die »landestypische«
Küche lautete: »Wir waren die einzigen Nicht-[Nationalität hier
eintragen] im Lokal.« Oder man drückte sich verstohlen auf dem
Bürgersteig herum und studierte unter dem aufmerksamen Blick
des Wirts vergilbte, wellige Restaurantkritiken aus der Lokalzeitung
und fragte sich, ob das Geschmacksurteil des 1987 sanft
entschlafenen Kritikers wohl noch Gültigkeit hatte.
Man lebte damals in einem informationsarmen Umfeld. Wenn man
ein Hotel in einer fremden Stadt suchte, konnte man einen
Reiseführer konsultieren. Doch was, wenn der Reiseführer nur
wenige Hotels enthielt oder nicht mehr aktuell war? Dann konnte
man sich auf Marken verlassen: Die Kette kenne ich von Akron,
dann nehme ich die auch in Davenport. Aber wenn das Hotel in
Akron besser geführt wurde?
»Dass man gute und schlechte Qualität oft nur schwer
unterscheiden kann, spielt für die Wirtschaft eine große Rolle«,
schrieb der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger
George Akerlof. 19 Mit seinem berühmten »Lemon problem« – auf
Deutsch etwa »Schrottmöhren-Problem« – verdeutlichte er die
Folgen der Informationsasymmetrie am Beispiel des
Gebrauchtwagenmarkts: Der Verkäufer weiß über die Qualität des
Angebots weit mehr als der Käufer. Der Käufer kann also übers Ohr
gehauen werden, und diese Gefahr drückt den zu erzielenden
Verkaufspreis. Laut Akerlof sind Marken für den Verbraucher eine
Möglichkeit, sich zu »rächen« und den Gebrauchtwagenhändler
künftig großräumig zu meiden. Auch Händlerketten, deren
Markenschriftzüge sich in der Landschaft erheben, bieten eine
solche Sicherheit. Der Käufer weiß, was ihn erwartet. Und sei die
Erwartung noch so gering, immer noch besser als eine
Enttäuschung.
Unterwegs in dem Restaurant einer Kette einzukehren, bringt
sein eigenes Informationsproblem mit sich. »Die Kunden kommen
selten aus der Gegend«, schrieb Akerlof. 20 »Darum sind die
Hamburger der bekannten Ketten meist besser als die in einem
durchschnittlichen Restaurant der Gegend. Die Kunden vor Ort
dagegen kennen ihre Gegend und haben normalerweise
Lieblingsrestaurants.«
Nennen wir es das »Schrotthühnchen«-Problem. Die Kunden vor
Ort aßen damals stets besser als der Durchreisende, weil sie mehr
Informationen besaßen. Auch in einem informationsarmen Umfeld
konnte man zweifellos einwandfreie durchschnittliche
Restauranterfahrungen machen, aber niemals den »Geheimtipp«
finden, über den es in Reisemagazinen gerne heißt: »Dort tummeln
sich die Einheimischen.« Natürlich tummelten sich dort irgendwann
auch die Touristen, der Laden kümmerte sich immer weniger darum,
was die Leute der Gegend von ihm hielten, und die Qualität sank
vielleicht – weil die Gäste ja eh nie wiederkommen. Im Notfall
konnte man selbstverständlich auch einfach ein Lokal nach dem
Bauchgefühl wählen. Wenn man es dann verließ, hielt man sich den
dann womöglich.
Als dann Portale wie Yelp, TripAdvisor oder Amazon die Welt
eroberten, veränderte das alles. Der Schimmel am Duschvorhang in
Zimmer 224? Die ganze Welt soll das erfahren! Das abgelegene
Lokal an der Bundesstraße 57 mit dem phantastischen Apfelkuchen?
Ein Tastendruck aufs Navigationsgerät, ein Blick auf die
»benutzergenerierten Inhalte«, und schon gehören Sie zu den
Insidern und genießen einen Kuchen, den Sie früher verpasst hätten.
Die »digitale Mundpropaganda« kann zweifellos den Markt
beeinflussen. Wie das Statistische US-Bundesamt feststellte, führen
mehr »durchschnittliche Sterne« eines Buchs auf Amazon dazu, dass
der »relative Anteil« des Buchs an den Verkäufen aller Bücher der
Website steigt. 21 Und eine Forschergruppe aus Irland entdeckte den
»TripAdvisor-Effekt«: Nach der Markteinführung in Irland
verbesserten sich die TripAdvisor-Hotelbewertungen zwei Jahre in
Folge. Entweder reagierten die Hotels auf die Online-
Rückmeldungen oder versuchten, von ihren Gästen höhere
Bewertungen zu erhalten. 22 Wie dem auch sei, die Gäste bekamen
bessere Zimmer. Bei den Hotels in Las Vegas, wo es TripAdvisor
schon länger gab, änderte sich hingegen nichts. In die Bewertungen
der Las-Vegas-Hotels waren – quasi als Beleg für die
Markteffizienzhypothese – schon alle Informationen »eingepreist«.
Michael Luca, Ökonom in Harvard, konnte für die Region Seattle
zeigen, dass ein zusätzlicher Stern in der Yelp-Restaurantbewertung
den Umsatz eines Restaurants um neun Prozent steigerte.
Allerdings »nur bei unabhängigen Restaurants«. Das klingt logisch:
Da Ketten in der Regel jede Leerstelle in der Mundpropaganda
verfüllen, sind sie darauf nicht angewiesen. Was gäbe es auch Neues
über eine Kette zu sagen, die jeder kennt? Und wen schert es, wenn
Ihnen die rätselhafte Soße auf dem Big Mac bei McDonald’s nicht
zusagt? Keinen, weil sie Milliarden anderen offenbar schmeckt.
Nach Einführung von Yelp mussten die Ketten zudem, so Luca,
Marktanteile an unabhängige Restaurants abgeben. Stellen wir uns
einfach mal einen prototypischen Akerlof-Gast von 1963 vor, der
unterwegs in einer Restaurantkette seinen leicht
überdurchschnittlichen Hamburger verspeist und plötzlich wie von
Geisterhand ein Smartphone in der Hand hält: Er wüsste nun, wo er
einen wirklich tollen Hamburger bekäme. Der »Nutzen«, in ein
unabhängiges Restaurants zu gehen, ist, so Luca, damit gestiegen.
Die Gäste hatten nichts dabei zu verlieren, die Ketten hingegen viel.
Hier begegnen wir wieder der »Markteffizienz«: Wenn bei
Aktienkursen oder Restaurantbewertungen alle »bekannten
Informationen« bereits berücksichtigt wurden, können auch
Privatanleger oder Amateur-Restaurantbesucher zu Experten
werden. 23 Man darf sogar annehmen, dass das Aufkommen von Yelp
und die größere Öffentlichkeit von Geschmackserlebnissen durch
das Internet zum Entstehen neuer, besserer Restaurantketten
beigetragen haben.
Aber die digitale Mundpropaganda bringt wiederum eigene
Probleme mit sich. Statt an Informationsmangel leiden wir heute
eher an dem gegenteiligen Problem: einem Informationsüberfluss.
Da klickt man auf einen Yelp-Eintrag, weil man mal eben feststellen
will, ob ein bestimmtes Restaurant sein Geld wohl wert ist, und
stößt auf ein Hickhack von Meinungen: Das Gericht war »zum
Dahinschmelzen« und dann wieder »ziemlich fad«. Oder man findet
sich im Dschungel der menschlichen Vorlieben wieder: Die
Hintergrundmusik gefällt nicht, und das bemängelte Besteckdesign
wird ausführlich gewürdigt. Irgendwann, wenn man sich durch die
zigste Bewertung gekämpft hat, dreht sich alles im Kopf. Dann lässt
man das Restaurant entweder ganz oder fühlt sich, wenn man
endlich dort sitzt, vom Erwartungsdruck förmlich erschöpft, so als
hätte man schon gegessen und hakt jetzt alles nur noch ab.
Wenn man sich durch die Restaurantbewertungen liest, ertappt
man sich wahrscheinlich irgendwann dabei, dass man versucht, den
Bewerter zu bewerten. Die Frage, wie ihm das Essen gemundet hat,
scheint nun genauso wichtig wie die Frage: Ist er oder sie wie wir?
Man hält nach Hinweisen auf eine gewisse Kompetenz oder nach
gemeinsamen Anschauungen Ausschau. Beim Wort »phantastisch«
schrillen bei mir beispielsweise die Alarmglocken. Das Wort hat
meiner Meinung nach nicht nur seine ursprüngliche Konnotation fast
vollständig verloren; wer mir von einer »phantastischen Margarita«
vorschwärmt, dem vertraue ich einfach nur bedingt. Die Wörter
»Geburtstag« und »Flitterwochen« deuten offenbar darauf hin, dass
jemand das Lokal mit den überzogenen Erwartungen an einen
besonderen Abend besucht. Klagen über irgendwelche Mängel,
durch die das Restaurant dem würdigen Anlass nicht gerecht
geworden sei, betreffen mich vermutlich nicht. Und Bewerter, die
das klebrige Gesäusel von Hotelbroschüren (»So schmeckt
Vollkommenheit«) übernehmen oder abgedroschene
Scheußlichkeiten wie »sündhaft lecker« verwenden, stufe ich
instinktiv herunter.
Dass wir uns ebenso sehr dafür interessieren, was eine
Bewertung über ihren Verfasser, wie dafür, was der Verfasser über
ein Restaurant oder Hotel verrät, ist eigentlich keine neue
Erkenntnis. Früher ließen wir uns bei Entscheidungen oft von
Freunden beeinflussen, denen wir vertrauten, oder von Kritikern,
die wir für maßgeblich hielten. Doch plötzlich wurden einer
gigantischen Stimmenflut Tür und Tor geöffnet, einer Stimmenflut,
die durch keinerlei bezeugte Kompetenz oder
Vertrauensverhältnisse legitimiert ist. Kritiker wurden schon immer
persönlicher Vorlieben und Vorurteile verdächtigt, doch mit dem
Internet ist das Kritikerwesen zu ungeahnter Blüte gelangt, und
plötzlich liegt die chaotische, komplexe, sonst meist versteckte Welt
der Vorlieben und Abneigungen – und der Kampf darum – offen vor
uns da.

Die massenhaften Amateurkritiker werden heute allgemein als ein


wunderbar blühendes egalitäres Kritikerwesen begrüßt, das den
Verbraucher endlich von der Tyrannei der elitären
Elfenbeinbewohner erlöst, die allesamt ihre eigenen Geschichten
und Geschmäcker pflegen. »Die Kritik durch Fachleute wird
flächendeckend an den Rand gedrängt«, erklärte die Autorin
Suzanne Moore im Guardian. 24 »Wer braucht noch Fachwissen,
wenn Tom, Dick oder Harriet von nebenan alles und jedes und noch
dazu kostenlos besprechen? Ist das nicht echte Demokratie? Kritik
erfährt heute einen Bedeutungswandel, und der Wert des
Fachwissens zerbröselt.«
In José Ortega y Gassets Essay Der Aufstand der Massen von
1930 klingen Phänomene wie Yelp bereits schon an: Die Menge,
einst »in kleinen Gruppen oder einzeln über die Welt verteilt«, sei
plötzlich »zu Verbänden zusammengefaßt« und auf einmal »sichtbar
geworden«.25 Während sie früher »im Hintergrund der sozialen
Szene« stand, habe sie sich jetzt »an die Rampe vorgeschoben; sie
ist Hauptperson geworden«. Nach einem ärgerlichen oder
überflüssigen Restaurantbesuch kann der kollektive Wille über Hop
oder Top eines Lokals entscheiden. Die neue Kritikermacht ruft nun
die alte Garde auf den Plan. So wetterte Ruth Reichl, ehemalige
Gourmet-Chefredakteurin: »Wer Yelp vertraut, ist selber schuld.
Die meisten Leute auf Yelp haben keine Ahnung, wovon sie
reden.«26
Dass das Internet mit Fachleuten und Kritikerkompetenz endgültig
aufgeräumt habe, klingt auf den ersten Blick einleuchtend. Doch so
einfach liegen die Dinge nicht. Erstens fließt bei Yelp viel
Bewertungsenergie in das Bemühen, die eigene
Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Der Bewerter eines indischen
Restaurants in Manhattan etwa legitimiert sich gleich dreifach: »Ich
bin ein Feinschmecker, und kaum ein anderer dürfte indisches Essen
so lieben wie ich (ich bin Inder). Ich gehe mindestens einmal
wöchentlich in das Lokal. Wirklich innovative Zutatenkombinationen
und doch vollkommen authentisch.« Der Bewerter ist nicht nur
Feinschmecker, sondern indischer Feinschmecker, und wie jeder
gute Kritiker hat er öfter als einmal in dem Lokal gegessen. Von
dem haarigen Begriff »authentisch« lassen wir jetzt mal die Finger.
Begriffe wie »authentisch«, so schwammig sie sind, führen bei Yelp
offenbar zu einer besseren Restaurantbewertung. 27
Auf Yelp wimmelt es vor »Signaling«, wie
Wirtschaftswissenschaftler die subtilen Hinweise nennen, mit denen
man seine Kompetenz gegenüber der Masse vergleichbarer
Bewerter herausstellen möchte. Zum Beispiel: »Ich kenne den Koch
noch von seinem vorherigen Job« oder »Es ist das beste der vielen
Henan-Lokale, in denen ich schon gegessen habe.« Es handelt sich
dabei um »rein konventionelle Signale«: Abgesehen von der
Aussage, die ich damit treffe, kann das Zeichen das Gesagte nicht
weiter verifizieren. Aber warum sollten wir jemandem nicht
glauben, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck »I ♥ NYC« trägt? Das
Zeichen »kostet« ihn wenig an Geld oder Aufwand. Und ist darum
wenig glaubwürdig. Doch warum haben solche Zeichen nicht jede
Glaubwürdigkeit verloren? Vermutlich, so Judith Donath, »weil es
wenig Gründe dafür gibt, unehrlich zu sein«. 28 Und ebenso wenig
Gründe, die Ehrlichkeit in Zweifel zu ziehen. Wie kann man also im
anonymen Internet, wo »alles zum Signal wird«, wie Donath sagt,
schnell einschätzen, wie gut eine Bewertung ist?
Auf Yelp versammelt sich zwar die demokratische Masse, aber das
Portal führt durch die Ernennung von »Elite«-Bewertern wieder
eine Hierarchie ein. 29 Die Elite-Bewerter tragen »Profilabzeichen«
– wieder ein Zeichen – und werden jährlich ausgewählt. »Wie das
genau geschieht, muss geheim bleiben«, sagte ein Yelp-
Pressesprecher, als gehe es um die versteckte Anwerbung von
Michelin-Testern. Doch liegt hier ein gewisser Widerspruch vor. Die
traditionellen Fachleute – von der Presse über den Staat bis hin zum
Gesundheitswesen – scheinen der heutigen Welt verdächtig. Aber
sind die Amazon-Top-Rezensenten und TripAdvisor-Stufen der
Bewertungsportale nicht eine neue Form des Expertentums,
sozusagen »Amateur-Experten«?30
Wie viel Vertrauen setzen wir in die neuen Experten? Achten Sie
nur auf die Anzahl der Sterne oder kämpfen Sie sich durch das
Dickicht der Einzelmeinungen, wenn Sie sich im Internet nach
Restaurants, Hotels oder Büchern umsehen? Wenn die Macht der
Internet-Mundpropaganda darin besteht, die kollektive Meinung zu
quantifizieren und uns endlich von der Begrenztheit persönlicher
Meinungen zu befreien, warum müssen wir dann überhaupt noch
Einzelbewertungen lesen?
Luca beobachtete in seiner Yelp-Studie »bayessches Lernen«: Die
Leute reagierten stärker auf Bewertungen, die informativer
schienen. Elite-Yelper hatten zudem statistisch doppelt so viel
Einfluss wie die Nicht-Elite. Außerdem besaßen die Nutzer der
Groupon-Website eine übergroße Wirkmacht. Groupon-Nutzer, so
zeigte die Studie, schreiben auf Yelp längere Bewertungen, die
beliebter sind als die der durchschnittlichen Yelp-Nutzer. Das zeitigt
reale Folgen: Damit senken sie nämlich die durchschnittliche
Restaurantbewertung. Sie sind interessanterweise nicht unbedingt
übertrieben kritisch, so die Studie, sondern »insgesamt
gemäßigter«. 31
Die Hoffnung, die Massen würden das Objekt der Kritik endlich
von der Tyrannei der Kritiker befreien, dürfte auch angesichts der
vielen Bewerter, die zu kleinkariertem Despotismus neigen, einen
Dämpfer erleiden. Vor allem bei den Ein-Stern-Bewertungen auf
Yelp oder TripAdvisor fällt schnell auf, welche Keule hier
geschwungen wird: Beim »Mädelsabend« warf die Wirtin der
Gruppe den »falschen« Blick zu; der Kellner reagierte nicht
wahnsinnig begeistert auf das süße Baby der Runde; die Bedienung
zeigte sich nicht »vorurteilsfrei«, die Begrüßung schien zu
überschwänglich oder zu knapp, der Kellner seiner Sache »zu
unsicher«. Kurzum, vieles – die Beispiele stammen von der Website
– hat kaum mit dem Essen an sich zu tun. Hier geht es eigentlich um
einen Arbeitskonflikt: zwischen dem kapitalistischen Gastwirt und
der unendlich subjektiven Erwartung, was man für sein Geld
bekommen sollte.
Da sich im Dienstleistungsbereich heute vieles um die »affektive
Arbeit« dreht und die Mitarbeiter angehalten werden, »ihre Gäste«
anzulächeln, werden die »Produkt«-Bewertungen zunehmend zu
einer subjektiven, zwischenmenschlichen Angelegenheit. »Bei der
Arbeit soll zunehmend nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich
etwas produziert werden«, so der Autor Paul Myerscough, »sondern
die physischen und psychischen Energien sollen in den Dienst
anderer gestellt werden.«32 Und wer das Gefühl hat, nicht die
richtige Form der psychischen Energie zu bekommen, kann auf Yelp
all seine Klagen loswerden. Doch woher wissen wir, ob der
Bewerter nicht einfach nur einen schlechten Tag hatte?

Im Extremfall kann eine Internet-Bewertungen auch ein Fake sein:


eine bewusst falsche Bewertung durch das Nachbarlokal, einen
neidischen Autor oder sitzengelassenen Hotelgast. Beinah ein
Viertel der Yelp-Bewertungen wird vom Authentizitätsfilter der
Website abgelehnt. 33 Bei falschen Bewertungen lassen sich, so Luca
und Georgios Zervas, recht vorhersagbare Muster erkennen. Je
schlechter der Ruf eines Restaurants und je geringer die Zahl der
Bewertungen, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer falschen
Positivbewertung. Die Chance auf eine falsche Negativbewertung
steigt dagegen, wenn Restaurants ähnlich sind, beispielsweise
»Thai« oder »vegan«, und nah beieinander liegen. Vergleichbares
lässt sich auch für TripAdvisor feststellen.
Manchmal sind die Gründe einer Fälschung auch unklar: So
stellten Eric Anderson und Duncan Simester für eine Bekleidungs-
Website fest, dass fünf Prozent der Bewertenden das Kleidungsstück
gar nicht gekauft hatten – wohl aber zig anderes auf der Seite. Die
Bewertungen waren hauptsächlich negativ, und die Autoren
vermuten daher, dass die Kunden quasi als »Marken-Manager«
agierten, um sich, wie Akerlof schrieb, zu »rächen«.
Doch wenn wir von den Gründen einmal absehen, woran könnte
ich erkennen, ob eine Bewertung gefälscht ist? Nehmen wir zwei
Beispiele:

Ich habe als Geschäftsreisender und Urlauber in vielen Hotels


übernachtet, und kann ehrlich sagen, dass »The James« top ist.
Der Service des Hotels ist erstklassig. Die Zimmer sind modern
und sehr komfortabel.

Mein Mann und ich haben an unserem Hochzeitstag im »James


Chicago Hotel« übernachtet. Das Hotel ist phantastisch! Schon
bei unserer Ankunft wussten wir, dass wir alles richtig gemacht
hatten! Die Zimmer sind TOLL, und das Personal ist aufmerksam
und einfach wundervoll!!

Falsch ist die Nummer zwei. Forschern der Cornell University ist es
gelungen, eine selbstlernende Software zu entwickeln, die mit 90-
prozentiger Sicherheit feststellen kann, ob eine Bewertung echt ist
oder nicht. 34 Die Trefferquote ist damit weitaus besser als die, die
ein geübter Mensch normalerweise erzielt. Wir leiden nämlich
unter anderem unter dem »Wahrheitsbias«: Wir nehmen gern an,
dass Menschen die Wahrheit sagen.
Bei der Entwicklung des Algorithmus konnte das Cornell-Team auf
die jahrzehntelange Forschung zum Sprechverhalten von
Plaudertaschen zurückgreifen. »Erfundene Berichte« sind weniger
detailgenau, weil der Sprecher nicht wirklich vor Ort war. Die
gefälschten Hotel-Bewertungen enthielten, so die Forscher, weniger
Angaben zu Details wie Zimmergröße oder Lage. Sie verwendeten
außerdem mehr Superlative wie das Beste! oder das Schlimmste!
Weil Lügen anstrengend ist, sind falsche Bewertungen in der Regel
auch kürzer. Außerdem verwendet man beim Lügen eher Verben als
Substantive, weil es leichter ist, zu beschreiben, was man getan hat,
als wie etwas beschaffen ist. 35 Und man benutzt tendenziell
weniger Personalpronomen als ehrliche Sprecher, vermutlich, weil
man zwischen sich und dem Betrug eine gewisse Distanz schaffen
will.
Aber gibt es in dem obigen Täuschungsmanöver nicht jede Menge
Personalpronomen? In Fake-Bewertungen, so das Cornell-Team,
beziehen sich Menschen tatsächlich häufiger auf sich selbst, weil sie
wahrscheinlich hoffen, so glaubwürdiger zu klingen.
Interessanterweise werden in falschen Negativbewertungen aber
weniger Personalpronomen verwendet als in positiven. 36
Anscheinend ist die Distanz wichtiger, wenn die Lüge noch dazu
gemein ist. Im Internet ist das Lügen, so darf man annehmen, zudem
einfacher, weil man nicht aus dem Stegreif und Aug in Aug etwas
erfinden muss. Wie einfach genau? Review Skeptic, eine von einem
Cornell-Teammitglied entwickelte Website, stufte zumindest meine
erfundene »Hotel California«-Bewertung als glaubwürdig ein. 37
Gefälschte Bewertungen sind Realität und zeitigen zweifellos
wirtschaftliche Folgen. Die geballte Aufmerksamkeit, die die
gefälschten Bewertungen in den Medien genießen, und die
gewaltigen Anstrengungen, sie automatisch herauszufiltern, könnten
nun zu der bequemen Annahme verleiten, alle anderen Bewertungen
seien schlicht und ergreifend »wahr«. Sie sind nicht bewusst
gefälscht, doch gibt es noch endlose andere versteckte und offene
Verzerrungen und Fehlerquellen.
Ein Problem liegt schon darin, dass kaum jemand Bewertungen
schreibt. Bei einem Online-Händler waren es nicht einmal fünf
Prozent der Kunden – was man kaum als demokratisch bezeichnen
kann. 38 Zudem unterscheiden sich die ersten Produktbewerter von
denen, die sich erst ein Jahr später äußern. Und sei es nur, weil jede
Bewertung die nachkommenden beeinflusst. Hinzu kommt, dass man
vermutlich von vornherein positiv eingestellt ist, wenn man etwas
auf einer Internetseite kauft. Wer auf Amazon ein Buch bewertet,
das er woanders gekauft hat, so Simester und Anderson, beurteilt
das Buch mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit negativ.
Schließlich motiviert einen vor allem eine besonders positive oder
negative Erfahrung, eine Bewertung zu schreiben. Die Bewertungen
zeigen daher eine tendenziell »bimodale« Verteilung: Es gibt
überdurchschnittlich viele Sterne im oberen und unteren Bereich.
Man nennt das »j-förmige Verteilung« oder etwas plastischer das
»Angeber- und Meckerer-Phänomen«. 39
Die Verteilungskurve ist j-förmig und nicht Zuckerstangen-förmig,
weil es bei Online-Bewertungen noch ein weiteres Phänomen gibt:
das »Positivitätsbias«. So werden auf Goodreads.com
durchschnittlich 3,8 von 5 Sternen vergeben. Auch bei Yelp leiden
die Bewertungen laut einer Analyse an einem »künstlich hohen
Grundstandard«. 40 Die durchschnittliche Bewertung bei TripAdvisor
liegt bei 3,7 Sternen, und wenn ein vergleichbares Appartement bei
Airbnb erscheint, fällt die Bewertung sogar noch höher aus, weil
Eigentümer ihre Gäste bewerten können. 41 Bei eBay gibt es
ebenfalls kaum negative Feedbacks, unter anderem, weil sich
Käufer und Verkäufer in Abwandlung des berühmten
»Ultimatumspiels« gegenseitig bewerten können. 42 Das
Positivitätsbias nahm bei eBay irgendwann so hemmungslose
Formen an, dass das Unternehmen sein System 2009 überarbeiten
musste. Seitdem gewährleistet nicht mehr eine Mindestanzahl an
Sternen den »Mindeststandard« eines Verkäufers, vielmehr muss er
eine bestimmte »Mängelquote«, eine gewisse Anzahl an
Negativbewertungen vorzeigen können. Nur wer auch mal schlecht
ist, kann wirklich gut sein. 43
Vor einigen Jahren hatte auch YouTube ein Problem. Jeder
hinterließ als Bewertung fünf Sterne. »Scheinbar gibt es nur alles
oder nichts«, stellte der Blog der Website fest. 44 Offenbar wurde
die Bewertung in erster Linie als »Genehmigungsstempel« genutzt,
so ein YouTube-Techniker, als ein grundsätzliches »Gefällt mir« und
nicht als »redaktioneller Kommentar«. Die zweitbeliebteste
Bewertung war übrigens ein Stern – für alle, denen es nicht gefiel.
Angesichts des massiv verzerrten, statistisch mehr oder minder
nutzlosen Bewertungssystems entschied sich YouTube dann für
»Daumen rauf« und »Daumen runter«. Aber auch dieses
zweigleisige System ist nicht frei von Mängeln. So wird das
Katzenvideo mit den halbwegs süßen Kätzchen – wenn wir ehrlich
sind, eine ziemlich niedrige Messlatte – mit demselben Gefühl
bedacht wie das weltweit süßeste Katzenvideo. Aber in der
oberflächlichen, schnelllebigen Welt des Internets, in der
Informationen billig und der Tastendruck so gut wie umsonst zu
haben sind, wollen die Menschen vermutlich kein
Bewertungssystem, das so lange dauert wie das Videoerlebnis
selbst. Und darum ist jedes »Like« einfach ein »Like«.
Und dann wäre da noch die Bewertung der Bewertung – oder des
Bewerters. Sehr hilfreiche Produktbewertungen erhöhen die
Wahrscheinlichkeit, dass jemand etwas kauft, besonders wenn es um
sogenannte »Long-Tail-«, also Nischenprodukte geht. 45 Aber diese
Bewertungen leiden an einer seltsamen Dynamik. Frühe
Bewertungen werden häufiger als »hilfreich« eingestuft, und je
mehr Stimmen eine Bewertung auf sich vereinigen kann, umso mehr
Stimmen zieht sie wiederum an. Wenn Bewertungen bei Amazon als
»hilfreich« eingestuft werden, können sie die Verkäufe steigern –
und zwar unabhängig davon, wie viele Sterne das Produkt erhielt. 46
Wann ist eine Bewertung hilfreich? Ein Team der Cornell
University und Forscher von Google untersuchten dazu das
Bewertungsverhalten auf Amazon.com. Wie sie feststellten, nimmt
die Einschätzung einer Bewertung als »hilfreich« ab, wenn die
Anzahl ihrer Sterne vom Durchschnitt der Sterne abweicht. Und
was genau bedeutet überhaupt »hilfreich«? Konnte die Bewertung
bei einer Kaufentscheidung helfen, oder wurde sie als »hilfreich«
ausgezeichnet, weil sie die Aussagen anderer bestätigte? Um diese
Frage zu klären, suchten die Forscher nach Bewertungen mit
identischem Text – wie sie schreiben, eine Praxis, die bei Amazon
offenbar zunehmend um sich greift und bei der ein- und dieselbe
Bewertung für unterschiedliche Produkte verwendet wird. Wie sich
bei der Untersuchung der Bewertungszwillinge dann herausstellte,
wurde jeweils der Zwilling als hilfreicher eingeschätzt, der näher an
der Anzahl der Sterne aller Bewertungen lag. Kurzum: Eine
Bewertung galt unabhängig vom Inhalt als besser, wenn sie eher
dem entsprach, was auch andere sagten.

Geschmack heißt »sozialer Vergleich«. »Man kann das immer


wieder beobachten«, sagte Todd Yellin bei Netflix zu mir: »In einer
ungewohnten Situation blicken sich die Leute nach allen Seiten um,
weil sie, etwa beim allerersten Opernbesuch, feststellen wollen, wie
die Oper wohl ist!« Ob man sich nach der Aufführung den Standing
Ovations anschließt, hängt vermutlich ebenso davon ab, was die
Leute um einen herum tun, wie davon, wie es einem gefällt. 47 Wenn
wir hingegen nicht sehen können, wie andere sich entscheiden,
stehen laut Studien die Chancen nicht schlecht, dass wir uns anders
entscheiden.
Da wundert es kaum, dass sich für die sozialen Medien mit ihren
allgegenwärtigen Meinungen ein »Fehler durch sozialen Einfluss«
nachweisen lässt, wie Sinan Aral, Professor für Management am
MIT, es nennt. Aral und seine Kollegen wollten wissen, inwieweit das
beim Bewertungsverhalten weitverbreitete Positivitätsbias auch von
vorherigen Bewertungen abhängt. Inwieweit darf sich ein
Restaurant die viereinhalb Sterne selbst zuschreiben, und inwieweit
verdankt es sie denen, die ihm bislang schon viereinhalb Sterne
gegeben haben? Führt ein erstes Instagram-»Like« zu mehr »Likes«
als ein Foto ohne »Likes«?
Aral und seine Kollegen entwickelten ein raffiniertes Experiment.
Sie nahmen ein dem Anbieter von Social Bookmarks Digg ähnliches
Social-Media-Filterportal, auf dem Nutzer Artikel einstellen,
kommentieren und Kommentare mit »Daumen hoch« und »Daumen
runter« bewerten können, und unterteilten ungefähr 100000
Kommentare in drei Gruppen: in eine »positive« Gruppe mit
Kommentaren, denen sie ein »Daumen hoch« hinzufügten, eine
»negative« Gruppe mit Kommentaren, die sie mit »Daumen runter«
bewerteten, und eine Kontrollgruppe ohne Kommentare.
Wie auf anderen Portalen auch kamen die Dinge zunächst mit
einem Positivitätsbias ans Laufen. Die Leute stimmten mit einer 4,6
Mal höheren Wahrscheinlichkeit für »Daumen hoch« als für
»runter«. Wenn die Forscher aber einen Kommentar als Erstes mit
»Daumen hoch« bewerteten, erhielt die positive Welle zusätzlichen
Schwung. Dabei fiel nicht nur die folgende Bewertung mit größerer
Wahrscheinlichkeit positiv aus, sondern dies galt auch für die darauf
folgenden. Zeigte der erste Daumen hingegen nach unten, waren
auch die folgenden Bewertungen mit größerer Wahrscheinlichkeit
negativ. Manchmal wurde die negative Bewertung allerdings durch
den »Gegenangriff« positiver Bewerter neutralisiert, die quasi als
rettende Kavallerie zur Hilfe eilten.
Was war da los? Die Forscher nehmen an, dass ihre Bewertungen
niemanden auf den Plan riefen, der sowieso gern positive oder
negative Bewertungen abgibt, aber mehr Leute animierte,
überhaupt eine Bewertung abzugeben – die dann positiver ausfiel
als zu erwarten. Sogar wer bei den unbewerteten
Kontrollkommentaren mit »Daumen runter« stimmte, bewertete die
Kommentare mit dem »Daumen runter« tendenziell eher positiv.
»Wir neigen dazu, uns positiven Meinungsäußerungen
anzuschließen und negativen gegenüber skeptisch zu sein«, erklärte
Aral. 48
Und es geht nicht nur um ein paar Klicks, die einen Artikel bei
Digg momentan aus der Masse herausheben. Eine frühe positive
Bewertung, ob echt oder nicht, kann sich als Welle in allen
folgenden Bewertungen fortpflanzen. Die positive Aufwertung eines
Kommentars führte, so Aral, zu einer um 25 Prozent besseren
Gesamtbewertung. Frühe positive Bewertungen konnten zudem zur
sogenannten Pfadabhängigkeit führen. Selbst wenn die falsche
Bewertung später von jemandem entfernt wurde, war der Schaden
nicht mehr gutzumachen. Vermutlich hatte sie schon »echte«
Bewertungen beeinflusst. »Die Bewertungssysteme im Netz bieten
uns angeblich einen unvoreingenommenen Blick auf die Meinung der
Masse«, so Aral. Aber ist es nicht eher wie mit den Standing
Ovations und wir können unsere eigene Meinung in dem ganzen
Getöse kaum noch erkennen?
Bewertungen fallen allerdings nicht in jedem Fall besser aus,
wenn man sie in eine positive Richtung lenkt. So entwickeln sich
Buchbewertungen auf der Amazon-Website, für die sich übrigens
»Verzerrungen durch die Reihenfolge« nachweisen lassen, im Lauf
der Zeit eher negativ. »Je mehr Bewertungen ein Produkt auf sich
versammeln kann, desto niedriger fällt die Gesamtbewertung aus«,
so eine Studie. 49 Im Unterschied zum einfachen Klick »Daumen
hoch« oder »Daumen runter« in Arals Experiment verlangt Amazon
mehr Einsatz: Man kann ein Produkt nicht einfach gut oder schlecht
finden, man muss das irgendwie begründen.
Offenbar führt das zu einem anderen Verhalten. Laut Fang Wu und
Bernardo Huberman von den HP Labs zeigen sich bei Amazon-
Rezensenten keine »Herden- und Polarisations«-Effekte wie bei den
sozialen Filter-Websites, vielmehr reagieren diese auf
vorangegangene »Extrem«-Bewertungen. 50 Wenn der nächste
Rezensent dem Produkt eigentlich zwei Sterne geben wollte, fühlt
er sich angesichts einer Ein-Stern-Bewertung vermutlich bemüßigt,
mit einer »Drei-Sterne-Bewertung« für Ausgleich zu sorgen. Im Lauf
der Zeit kann ein solches Verhalten gegenüber Extremhaltungen zu
einem »milderen« Urteil führen.
Hierbei spielt womöglich auch der Wunsch eine Rolle, so die
Forscher, sich von der Masse abzuheben, das Ergebnis tatsächlich
zu beeinflussen oder sein Selbstwertgefühl zu steigern. »Warum soll
man etwas noch fünf Sterne geben«, so Wu und Huberman, »wenn
das schon Hunderte vor einem getan haben?« Dafür gibt es ebenso
wenig einen vernünftigen Grund wie beim »Wahlparadoxon«:51 Am
Wahlsonntag wählen zu gehen macht rational wenig Sinn, weil die
einzelne Stimme das Ergebnis nicht beeinflussen kann – wobei
Internetbewertungen ja noch Einfluss auf die Verkäufe haben. Aber
wer seine Meinung erst nach einiger Zeit kundtut, weicht
tendenziell von der Meinung seiner Vorgänger ab.
Welchen Phasenverlauf eine Buchbewertung bei Amazon nimmt,
kann man sich leicht ausmalen. Die ersten Rezensionen kommen vor
allem von Leuten, die sich für das Buch stark interessieren – von
Freunden und Verwandten des Autors und vielleicht sogar ihm
selbst. Ihnen gefällt das Buch höchstwahrscheinlich.
Geschmack heißt Selbstselektion, wie sie im Buche steht. Wenn
die Fans des Autors und andere motivierte Konsumenten ihr Gewicht
dann in die Waagschale geworfen haben, folgt mit der Zeit ein
breiteres Publikum mit »schwächer ausgeprägten Präferenzen«, so
die Forscher David Godes und José Silva. Ob diese Rezensenten nun
klarer sehen und objektiver sind oder das Buch weniger
»durchschauen« als die frühen Rezensenten, sei dahingestellt.
Jedenfalls beginnt sich die Meinung zu dem Buch zu ändern. Bei
vielen Büchern kommt es nun zu einem deutlichen Einbruch: Die
Bewertungen unterschreiten noch den späteren niedrigeren
Durchschnitt, da nun viele Käufer, vielleicht durch das
»Positivitätsbias« zum Buch überredet, einen Fehlkauf tätigen und
sich deutlich Gehör verschaffen: Man könnte das »Traut dem Hype
nicht«-Effekt nennen. 52 Jetzt setzt die Abwärtsspirale ein. »Je mehr
Rezensionen es gibt«, so Godes und Silva, »desto geringer die
Informationsqualität. Es kommt zu weiteren Fehlkäufen und
schlechten Bewertungen.« Zum Schluss findet man häufig ziemlich
viele Rezensionen mit nur einem Stern und ein oder zwei verblüfften
Sätzen wie: »Es hat mir einfach nicht gefallen.«
Wenn die Zahl der Rezensionen auf der Website zunimmt, äußern
sich die Rezensenten immer weniger inhaltlich – das haben
schließlich schon zig Leute vor ihnen getan – als vielmehr zum Inhalt
anderer Rezensionen. Wenn eine Rezension auf vorige Rezensionen
Bezug nimmt, ist sie tendenziell eher negativ. 53 Der Kontext
übernimmt das Ruder. 54
Und das bringt uns wieder zurück zu Aral. Woran kann man
erkennen, ob eine Rezension durch eine vorherige Rezension
beeinflusst wurde oder ob es sich einfach um soziale Homophilie
handelt: um eine Gruppenpräferenz oder kurzum, um »Gleich und
gleich gesellt sich gern«? Aral führt dazu ein Beispiel des Soziologen
Max Weber an: Wenn man auf der Straße mehrere Leute sehe, die
bei einsetzendem Regen ihren Schirm aufspannen, werde man nicht
annehmen, dass sie sich gegenseitig beeinflussen, sondern auf einen
bestimmten Umstand einfach mit derselben Gruppenpräferenz,
nicht nass werden zu wollen, reagieren. Wenn jemand allerdings bei
Sonnenschein durch Öffnen seines Regenschirms andere dazu
bewegen könne, es ihm nachzutun, müsse man von sozialem Einfluss
sprechen.

Wer bei Internetbewertungen wirklich durchblicken will, muss sich,


wie beim Geschmack im Allgemeinen, auf ein weites und
unübersichtliches Feld gefasst machen. Aral schlägt sich schon seit
zehn Jahren damit herum. Kaufen die Leute in meiner Subaru-
lastigen Nachbarschaft Subarus, weil andere sie kaufen, oder sind
Subaru-Käufer ein Menschenschlag, den es bevorzugt in bestimmte
Viertel zieht? Wohnen in meiner Nachbarschaft so viele schlanke
Menschen, weil sie von den anderen Schlanken beeinflusst werden,
oder ziehen Menschen, die zum Schlanksein neigen, gern in mein
Viertel? Um das jemals zu erfahren, gibt es nur eine Möglichkeit:
Leute, die nicht unbedingt nach Brooklyn wollen, nach dem
Zufallsprinzip auszuwählen und dorthin zu verpflanzen.
Darauf werden wir im folgenden Kapitel noch zurückkommen,
doch wenden wir uns zunächst einem weiteren Phänomen zu, das
sich mit wachsendem Feedback auf Portalen wie Amazon einstellt.
Mit der steigenden Zahl an Rezensionen, so Godes und Silva,
»gleichen die Käufer immer weniger der vorangegangenen
Rezensentengruppe«. Kurzum, nun geht es um Geschmack. Die
Leute bringen ihre Enttäuschung über ein Buch zum Ausdruck und
äußern sich gleichzeitig zu den begeisterten Reaktionen der
anderen. Wenn man auf Dinge stößt, die einem nicht gefallen, stößt
man nämlich mit beunruhigender Wahrscheinlichkeit auf Leute, die
anders sind als man selbst.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schreibt dazu: »Die
Geschmacksäußerungen und Neigungen (d.h. die zum Ausdruck
gebrachten Vorlieben) sind die praktische Bestätigung einer
unabwendbaren Differenz. Nicht zufällig behaupten sie sich dann,
wenn sie sich rechtfertigen sollen, rein negativ, durch die Ablehnung
oder durch die Abhebung von anderen Geschmacksäußerungen.«55
Wenn es beim Geschmack um mehr geht, kann der Ton auch
schärfer werden. Gewinnt ein Roman etwa einen wichtigen Preis,
fallen die Rezensionen auf der nutzergenerierten Amazon-Website
Goodreads noch negativer aus. Balázs Kovács und Amanda Sharkey
nennen dies in ihrer Analyse das »Öffentlichkeitsparadoxon«. 56 Es
ist nicht etwa so, dass die Jury keine guten Bücher auswählen würde
oder die Leser deren Vorzüge nicht zu schätzen wüssten. Bücher,
die es nur auf die Shortlist schaffen, werden durchaus schlechter
bewertet als das zum Sieger gekürte Buch – bis es den Preis erhält.
Trägt es schließlich den begehrten Aufkleber mit der Auszeichnung,
stürzen seine Bewertungen stärker ab als die der Bücher auf der
Shortlist, die den Kürzeren gezogen haben. 57
Woher diese Gegenreaktion auf das offensichtliche
Qualitätsmerkmal? Preise können den Verkauf von Büchern
ankurbeln, sind aber ein zweischneidiges Schwert. Der Preis, so
vermuten die Autoren, lässt die Erwartungen hochschnellen, und aus
einem Buch, das einem gefallen könnte, wird nun ein Buch, das
einem gefallen sollte. Zudem verleitet die Auszeichnung
Konsumenten zum Kauf, zu denen das Buch weniger passt als zu
denen, die es bereits vorher bewertet haben. Es passiert also das
Gegenteil von dem, was sich Anfang des 21. Jahrhunderts bei Netflix
ereignete: Die Filmbewertungen schossen darum in den Himmel,
nicht weil die Filme besser, sondern die Algorithmen treffsicherer
wurden. Wenn sich das Buch nun auf Goodreads durch den Preis
»verbessert«, werden – wie die Motten vom Licht – die »falschen«
Leser angezogen.
Das endet erfahrungsgemäß oft mit Enttäuschung. Auch die
Erwartungen der Groupon-Nutzer auf Yelp wurden vermutlich
ähnlich enttäuscht, weil hier eher gelegentliche Restaurantbesucher
durch »unnatürliche« Gründe angezogen wurden. Anders als bei
durchschnittlichen Büchern, über die die Meinungen auf Amazon nur
leicht auseinandergehen, führte der »Schock« der Preisverleihung
zu einer stärkeren Polarisierung. Plötzlich, so erzählte mir Kovács,
betraten nicht nur mehr Rezensionen mit einem und zwei Sternen
die Bühne, auch die Anzahl der »Likes« für diese Rezensionen »ging
durch die Decke«. Die Rezensionen im Mittelfeld – die Weiß nicht-
Landschaft – konnten kaum noch etwas bewegen. Neider eben, die
noch dazu Online-Bewertungen schreiben.
Die Studie, in der ungefähr 30000 Rezensionen ausgewertet
wurden, bestätigte sodann eine schon lange befürchtete
Binsenwahrweit: Ein Buch kann von der Kritik bewundert werden
oder von der breiten Masse der Leser, selten von beiden. Die
langjährigen Fans halten sich vermutlich vornehm zurück, wenn
»ihr« einstiger Lieblingsautor urplötzlich allseits beliebt ist. Der
bekanntlich bissige Produzent und Punkmusiker Steve Albini aus
Chicago beschrieb einmal die Dynamik, die einsetzte, als aus dem
Geheimtipp »Big Black« eine bekannte Band wurde: »Wenn du
bekannt bist, hast du bei Auftritten plötzlich Leute, die völlig anders
drauf sind. Die wollen sich nur einen netten Abend machen.«58 Die
Band war den Leuten im Grunde nicht nur gleichgültig, wie Albini
sagte, »sie hätten sich uns gegenüber in einem anderen Rahmen
wahrscheinlich sogar ablehnend verhalten«.
Das lässt allerdings ein ziemlich trauriges Spiel vermuten: Die
Künstler machen ihre Kunst nur für Leute, die ihnen sympathisch
sind, und die Leute werden nur von Künstlern angezogen, die ihnen
sympathisch sind. Kann uns die Welt des Online-Geschmacks da nun
neue Welten eröffnen oder findet unsere kleine voreingenommene
Herde dadurch nur noch besser zusammen?
Wir suchen in all dem Getöse nach »Signalen der
Vertrauenswürdigkeit«. Bewertungen von Rezensenten, die ihren
wirklichen Namen angeben, werden als hilfreicher eingestuft.
Ebenso gelten Bewertungen, wie erwähnt, als hilfreicher, wenn sie
näher an der durchschnittlichen Sternezahl liegen. Wie die Studie
allerdings herausfand, ist diese Verzerrung nicht symmetrisch
verteilt: »Leicht negative Rezensionen werden schneller abgestraft
als leicht positive Rezensionen.«59 Im Zweifel verzerren wir lieber
ins Positive.
Aber es gibt Ausnahmen. Ob uns eine negative Bewertung gefällt
oder nicht, hängt nämlich von einer entscheidenden Variablen ab:
Handelt es sich bei der Bewertung um Erfahrungsgüter wie Bücher
und Filme oder um Suchgüter wie Kameras und
Ersatzscheibenwischer? So stellten Susan Mudambi und David
Schuff bei der Analyse von Amazon-Bewertungen fest, dass negative
Bewertungen zwar allgemein als weniger hilfreich beurteilt werden
als »mittlere« Bewertungen, das Urteil bei Büchern oder Filmen
aber besonders streng ausfällt. Warum? »Bei Erfahrungsgütern
spielt der persönliche Geschmack häufig eine große Rolle«,
erläutern sie, »wobei die Verbraucher von ihrem eigenen
Geschmack oder subjektiven Urteil stark überzeugt sind, sich aber
gegenüber extremen Bewertungen anderer sehr skeptisch zeigen.«
Anders als bei Scheibenwischern haben sich die Leute vielleicht
schon ein Bild gemacht, wenn sie in den Rezensionen von Büchern
oder Filmen stöbern, und filtern Ein-Stern-Bewertungen heraus,
weil sie sie sozusagen als kognitive Dissonanz erleben. 60
In einer meiner Lieblings-Ein-Stern-Rezensionen des Romans Die
Straße von Cormac McCarthy spürt man förmlich, wie der
Rezensent der Negativfalle durch eine Verteidigungsstrategie
entkommen möchte:

Ich weiß, dass viele Leute das Buch sehr bewundern. Aber auch
wenn ich anderer Meinung sein sollte als Sie, dürfen Sie nicht
vergessen, dass meine Informationen für alle nützlich sein können,
die noch nicht wissen, ob sie das Buch kaufen sollen oder nicht.
Darum geht es mir. Ich möchte McCarthy oder Ihren persönlichen
Geschmack nicht schlechtreden. Ich möchte das Buch nur unter
einem anderen Blickwinkel besprechen.

Der Rezensent führt einen förmlichen Eiertanz auf, als wäre es


geradezu unanständig, über »Geschmack« zu reden. »Weil
Geschmack gnadenlos die eigenen sozialen und kulturellen
Einstellungen verrät, ist er ein größeres Tabu als Sex oder Geld«,
stellt Stephen Bayley hierzu fest. 61
Bei Suchgütern wünschen die Leute hingegen technische
Informationen, Nutzertipps, Hinweise auf Produktmängel und
Ähnliches. Sie haben wahrscheinlich keine verzerrte Wahrnehmung
und keine Präferenzen. Schließlich kann sich hinter einer negativen
Bewertung ein handfester Produktmangel verbergen.
Die negativsten Bewertungen etwa einer OXO Salatschleuder
verweisen in der Regel auf einen Produktfehler. Aber in den Ein-
Stern-Rezensionen des (preisgekrönten) Romans Flammenwerfer
von Rachel Kushner, die ich für die Arbeit an diesem Kapitel las,
wimmelte es nur so vor Sätzen wie: »Mein Hauptproblem ist wohl,
dass ich mit keiner der Figuren in dem Buch etwas anfangen
konnte.« Liegt das nun am Buch oder am Leser? Bücher können
floppen oder toppen, aber bei jedem aus anderen Gründen. Um es
mit Tolstoi zu sagen: Jeder unglückliche Leser ist auf seine eigene
Weise unglücklich. Mit einer Salatschleuder können die Leute aber
immer etwas anfangen. Auch auf die Gefahr hin, mich zu
wiederholen: Ein Gerät zum Trocknen von Salat verrät vermutlich
weniger über eine Person als ein Buch, das jemand kauft. Wie die
Wirtschaftspsychologin Sheena Iyengar schreibt: »Je weniger es bei
einer Entscheidung um Nützliches geht, desto mehr hat sie mit
Identität zu tun.«62
Interessanterweise zeigte die Studie zu den preisgekrönten
Büchern auch, dass der Bewertungsabsturz nach der
Preisverkündigung bei Sachbüchern geringer ausfiel. Es dürfte sich
bei ihnen eher um nützliche Produkte handeln, die dem Geschmack
nicht so viel Platz einräumen. Wir sind offenbar fast instinktiv so
gepolt, dass wir Geschmacksäußerungen anderer auf der Stelle
wahrnehmen – vor allem, wenn sie von unseren abweichen.
Man kann sich hier fragen, ob die Ablehnung fremder
Geschmacksäußerungen nicht auch mit dem ursprünglichen
Ekelmechanismus zusammenhängt, der, wie erwähnt, im
Zusammenhang mit unserer Nahrung eine Rolle spielt. 63 Als man
Probanden Negativbewertungen verschiedener »nützlicher« und
»hedonistischer« Produkte vorlegte, sahen sie die Gründe für die
Negativbewertung nützlicher Produkte eher in dem Gegenstand,
aber die für die hedonistischen Produkte eher in der Person. 64
»Geschmack klassifiziert«, schrieb Bourdieu, »– nicht zuletzt den,
der die Klassifikation vornimmt.«65 Und wir klassifizieren dann die
Klassifikation.

Mancher wird nun einwenden, es sei etwas völlig anderes, ob ich ein
Restaurant auf Yelp, Bücher oder Salatschleudern auf Amazon oder
Filme auf Netflix bewerte. Dennoch führt im Internet eine seltsame
Meta-Logik Regie: Normalerweise ordnet keiner ein Werk in den
historischen Kontext ein oder zerbricht sich über ähnliche Dinge
den Kopf, für die Kritiker früher einmal bezahlt wurden. Jeder
schreibt nur über sein Konsumerlebnis.
Wie eine »Inhaltsanalyse« zu den Unterschieden zwischen
herkömmlichen Kritikern und Online-»Mundpropaganda« anhand
von Filmrezensionen im Internet ergab, äußern sich Kritiker
regelmäßiger als durchschnittliche Kinobesucher zu Plot, Regie und
Schauspielerleistung. 66 Wenn sie allerdings von sich selbst
sprechen, weichen ihre Rezensionen interessanterweise stärker
vom Durchschnitt ab. Nichts verweist mehr auf den Geschmack als
das Wörtchen »ich«. Amateurkritiker schreiben dagegen häufiger
darüber, was ihnen der Film persönlich bedeutet – in 33 Prozent der
Filme versus null bei den Kritikern. Zudem bezog sich beinah die
Hälfte der Rezensionen der Kinogänger auf herkömmliche
Filmkritiken, während – logischerweise – kein Kritiker die
Besprechungen durchschnittlicher Kinobesucher erwähnte. 67
Während uns Kritiker also sagen, warum uns ein Film gefallen
sollte – oder nicht –, reden durchschnittliche Kinogänger eher
darüber, warum ihnen etwas gefallen hat. Komischerweise wird
Kritikern häufig vorgeworfen, sie würden ihren Geschmack »allen
anderen« aufzwingen wollen. Doch in Wahrheit ist es genau
umgekehrt: Der Vorwurf stimmt vor allem für »alle anderen«.
Viele haben sich mittlerweile so daran gewöhnt, alles und jedes zu
bewerten, dass man manchmal leicht seltsamen
»Produktbewertungen« etwa von Büroklammern begegnet: »Was
soll man da sagen, es sind Büroklammern!« Vier Sterne! Dass eine
Seite wie Amazon quasi alles verkauft, führt dazu, dass sich vieles
verwischt oder verflacht. So werden Bücher verrissen, weil sie nicht
als E-Book erhältlich sind oder wegen ihrer Schrifttype. 68 Im Netz
verschwimmen die Grenzen der Fachkompetenz. Was kann der
kompetente Kritiker der Büroklammern über die französischen
Gedichte des Symbolismus sagen? Nach welchen Kriterien wird so
etwas wie ein »White Noise«-Gerät bewertet und was befähigt den
Bewerter dazu? Um nur einen Satz zu zitieren: »Das weiße
Rauschen klingt für uns ein wenig zu tief.« Der einsame Kritiker
mag durch die massenhaften Online-Bewertungen vom Thron
gestoßen worden sein. Aber mit seinem Sturz ist der Geschmack in
tausend Stücke zerbrochen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die
Scherben zu sichten und aus den Aussagen anderer über die
Bedeutung, die bestimmte Dinge für sie haben, eine mögliche
Bedeutung herauszulesen.
Doch nun wollen wir die Frage einmal umdrehen: Im nächsten
Kapitel interessiert uns nicht, was wir über unsere Vorlieben sagen,
sondern, was unsere Vorlieben über uns sagen.

__________
III O’Briens Sammlung erhielt bei Goodreads.com 3,75 von 5 möglichen Sternen.

IV Die Zeit war mit dem Film gnädiger. Auf IMDb.com erhielt er 6,5 von 10 Sternen.
»Er glaubte ausgeprägte kleine Vorlieben und
schroffe kleine Abweisungen zu erraten,
einen tiefen Argwohn gegen das Gewöhnliche
und eine eigenwillige Auffassung von dem, was sich gehört.«
Henry James, Die Gesandten

WIE VORHERSEHBAR IST


UNSER GESCHMACK?
Was Ihre Playlist über Sie sagt
(und was Sie über Ihre Playlist sagen)

Verschollen im Geschmacksall

Was glaubt Google, wer Sie sind?


Um das herauszufinden, müssen Sie nur
»http://www.google.com/ads/preferences« in die Suchleiste
eingeben.
Google hält mich für einen englischsprachigen Mann zwischen
fünfundzwanzig und vierunddreißig Jahren, der sich vor allem für
»Flugreisen« und »Action- und Abenteuerfilme« interessiert. »Nicht
schlecht«, ist mein erster Gedanke. »Und wie praktisch. Man hält
mich für zehn Jahre jünger!« Doch dann kommt mir ein furchtbarer
Verdacht: Verhalte ich mich etwa so, als wäre ich zehn Jahre
jünger? Meine ausgedehnten Google-Recherchen haben mich auf
einen Vielflieger zusammenschnurren lassen, der dauernd
Actionfilme guckt – wahrscheinlich im Flugzeug. »Die kennen mich
doch gar nicht«, will ich einwenden, mit einer Leidensmiene à la Ray
Charles, aber vielleicht kenne ich mich einfach nur schlechter als
mein Google-Ich. Ein solches Porträt ist ähnlich beunruhigend wie
das Spiegelbild, das einem vom Smartphone-Bildschirm
entgegenlächelt. Das soll wirklich ich sein?
Natürlich sind wir mehr als unsere Suchbegriffe. Was weiß man
schon über mich, wenn ich nach irgendwelchen
Druckerersatzpatronen suche, außer dass ich neue
Druckerpatronen brauche?
»Was daran ist überhaupt Geschmack, wenn jemand im Internet
öfter nach Katzen oder Kinderwagenteilen sucht?«, sagte Hugo Liu,
Chef-Datenwissenschaftler des Start-up-Empfehlungsdienstes
Hunch.com, eines Nachmittags bei einem Kaffee im New Yorker
Chelsea-Viertel zu mir. Liu, mit dunkler Sonnenbrille und kunstvoll
zerzaustem Schopf ganz der Datenfreak, hat lange darüber
nachgegrübelt, wie man im menschlichen Online-Verhalten Muster
erkennen, modellieren und vorhersagen kann. Am MIT Media Lab –
als Student von Pattie Maes, die unter anderem den
bahnbrechenden kollaborativen Filter-Empfehlungsdienst Firefly
entwickelte – beschäftigte er sich mit der mangelnden
Mehrdimensionalität solcher Systeme. »Die Systeme meinen
Menschen, repräsentieren sie aber nicht, weil sie nur ihr Verhalten
in einer bestimmten Domain betrachten«, sagte Liu. Wenn ich also
bei Amazon einkaufe oder einen Film bei Netflix gucke. »Doch was
wäre mit einem Modell, das Domain-übergreifend arbeitet?«
Kurzum, wenn man die Filme, die jemand auf Netflix guckt, mit
seinen Hörvorlieben auf Pandora verbindet und vielleicht sogar
noch mit seinen Einkäufen bei Amazon und anderen Online-
Händlern? Dann nehme man noch die Leute hinzu, die ihn auf
Match.com interessierten, und die eingekauften Lebensmittel aus
dem letzten Monat. Und mische all das mit zig persönlichen
Merkmalen – wie jemand spricht, seine Bilder im Rorschachtest,
sein Glaube an die Wissenschaft oder Gott – und korreliere all das
schließlich mit Millionen Daten anderer Menschen. Hätte man so
nicht eine zuverlässigere Methode, um den Menschen als konkrete
Variable zu begreifen? Dahinter verbarg sich eine noch tiefer
gehende Frage: Wie vorhersehbar ist unser Geschmack überhaupt?
Das war der springende Punkt, an dem Liu bei Hunch arbeitete,
einer Website, die Empfehlungen jeder Art gab. Dazu musste der
Nutzer auf HunchV ein paar einfache, oft skurrile und scheinbar
zusammenhanglose Fragen beantworten: Haben Sie schon einmal
bei einer Dauerwerbesendung gekauft? Welchen Salat essen Sie
normalerweise am liebsten? Man sah dann Bilder von Eisbergsalat,
Romanasalat, Lollo rosso oder Rucola. Mögen Sie es, wenn die
Crew im Flugzeug Witze macht?
Ursprünglich war Hunch als eine personalisierte »Decision
engine« gedacht, die alle möglichen Fragen beantworten sollte,
beispielsweise, auf welche Uni soll ich gehen? Doch der
Zusammenhang zwischen der Frage, wie man seinen Toast
durchschneidet – diagonal oder quer –, und »Welchen Blu-Ray-
Player soll ich kaufen?« kann manchmal verdammt schwach sein.
Und wie sollte man jemals beurteilen, ob Hunchs Empfehlungen
richtig waren? Außerdem zeigte sich, dass die Leute bei der
Beantwortung der skurrilen persönlichen Fragen »liebend gern
über sich redeten«. Hunch nahm darum, so Liu, »die
Geschmackskomponente« heraus und machte sie zum Inhalt der
Website. Die Grundidee hinter Hunch war eine Art Meta-
Empfehlungsdienst.
Für mich hatte die Beantwortung der Fragen auf Hunch immer
etwas von einem Zeitschriften-Psychotest, aber auch von ELIZA,
dem alten Künstlichen Intelligenz-Programm. Man merkte
irgendwie, dass man manipuliert wurde, war aber spontan angefixt
und machte einfach weiter. Die meisten Fragen ließen auf rein gar
nichts schließen. Hunch hatte keine psychologische Theorie, die
sagte, welchen Leuten eine witzige Kabinencrew gefiel. Bei den
Fragen, so Liu, ging es eher darum, die Leute bei der Stange zu
halten. Durchschnittlich, so stellte er fest, beantworteten die
Nutzer 110 Fragen. Und manchmal sollten die Fragen auch bewusst
schräg sein. »Die Leute geben auf so vieles eine vorgefertigte
Antwort«, erklärte Liu, und vielleicht konnte man so ja die üblichen
Antworten vermeiden. »Wenn ich jemanden frage, ›Bist du ein guter
Mensch?‹, könnte ich ihn genauso gut fragen, ob er zur Mittelklasse
gehört. In Amerika sagt doch jeder, dass er zur Mittelklasse
gehört!«
Aber was war mit der Frage: »Würdest du einen Umweg machen,
um auf knisterndes Laub zu treten?« Darüber hatten sich die Leute
wahrscheinlich noch keine Gedanken gemacht. Ihre Antwort konnte
darum vermutlich mehr über sie verraten, jedenfalls mehr als die
Frage »Bist du ein guter Mensch?«. Warum sollte man also nicht
fragen: »Würden Sie aus einem öffentlichen Trinkbrunnen trinken?«
und die Tendenz, diese Frage zu bejahen, dann mit der Antwort auf
die Frage korrelieren, ob man sein Leben riskieren würde, um
jemanden zu retten?
Die Idee hinter Hunch war, dass man nur genug solcher Fragen –
unverfängliche und scheinbar bedeutungsschwere Fragen und alles
andere dazwischen – stellen und die Antworten korrelieren musste.
Auf diese Weise würde ein riesiges »Geschmacksdiagramm«
entstehen, eine mathematische Darstellung, die zeigte, wo sich die
Menschen und ihre kollektiven Vorlieben im Verhältnis zueinander
befanden: ein zweidimensionales Abbild menschlichen Verhaltens.
Man würde wissen, »wer« »was« bevorzugte, wobei das »Warum«
allerdings keine Rolle spielte. Die Frage, warum die Laubtreter
Toyotas bevorzugten, konnte man getrost den Psychologen
überlassen.
Die Korrelationen waren verblüffend. Einige wurden in der
Zeitschrift Wired beschrieben: »Leute, die Fliegen totschlagen,
schwören auf die Zeitung USA Today. Wer an Entführungen durch
Außerirdische glaubt, zieht häufiger Pepsi vor als Leute, die nicht
daran glauben. Wer täglich frisches Obst isst, wünscht sich mit
höherer Wahrscheinlichkeit eine teure Canon EOS 7D-Kamera. Und
Männer, die ihren Toast diagonal statt vertikal durchschneiden,
tragen mit größerer Wahrscheinlichkeit Ray-Ban-Sonnenbrillen.«
Ob das alles einen Sinn ergab oder im Einzelfall zutraf, war dabei
unerheblich. Hunch durchschaute einen Menschen einfach durch
Ausleuchtung des riesigen Assoziationsnetzes. »Das ist ein ziemlich
radikales Versprechen«, schrieb Wired, »und impliziert, dass unser
Geschmack nicht nur durch das definiert wird, was wir kaufen oder
uns in der Vergangenheit gefallen hat, sondern auch dadurch, was
für ein Mensch wir sind.«1

So radikal war das Versprechen gar nicht. Und nicht einmal wirklich
neu. Schon 1905 schrieb der deutsche Soziologe Georg Simmel,
dass »Mode einerseits den Anschluß an die Gleichgestellten«
bedeute, »und eben damit den Abschluß dieser Gruppe gegen die
tiefer Stehenden, die Charakterisierung dieser als nicht zu jener
gehörig«. 2 Da wundert es nicht, dass Georg Simmel dies gerade im
viktorianischen Zeitalter schrieb, das auf soziale Distinktion größten
Wert legte. Als Erstes hatten sich die Philosophen in den Salons des
18. Jahrhunderts ernsthaft mit dem ästhetischen Geschmack
auseinandergesetzt, animiert durch das aufstrebende Bürgertum.
Denn, wie die Historikerin Jennifer Tsien schreibt: »Jeder Bürger
hatte das Gefühl, dass er das Recht habe, über Gemälde und Bücher
zu urteilen.«3
Im 19. Jahrhundert verließ der Geschmack dann den Bereich des
philosophischen Sinnierens und wurde zur gesellschaftlichen
Obsession. Da mehr Menschen mehr Geld besaßen, wurde es zu
einer Art Gesellschaftsspiel, das zeigte, wer man war. 4 Die soziale
und kulturelle Identität definierte sich immer weniger über
bewährte Institutionen wie Kirche oder Adel, sondern zunehmend
über Geld: darüber, wie viel man hatte, und vor allem, wofür man es
ausgab. VI Selbst wie man sich kleidete, konnte verraten, wer man
war. Und je unklarer es wurde, wer man war, desto wichtiger
wurde, was man trug.
»Je nervöser ein Zeitalter«, schrieb Simmel, »desto rascher
werden seine Moden wechseln.« Man denke dazu nur an »Das
Einrichtungskommando« des viktorianischen Zeitalters: Als ein
Kunde der oberen Mittelschicht den renommierten Londoner
Innenausstatter Morris & Co. zu Rate zog und Dante Gabriel
Rossetti fragte, wie er sein trautes Heim neu ausstatten könne,
erhielt er prompt die entschiedene und jeder heutigen Reality-Show
würdige Antwort: »Am besten verbrennen Sie alles, was Sie
haben.«5 Der Kunde zeigte sich später voll des Lobes, weil die
Firma zahllose Leute davor bewahrt habe, »inmitten von
Schäferinnen, Vögeln und Schmetterlingen oder geschmacklosen
Ornamenten und anderen stilistischen Verirrungen zu sitzen«.
In einem Roman wie Norden und Süden (1855) von Elizabeth
Gaskell ist die geographische Grenze denn auch in Wahrheit eine
geschmackliche Grenze zwischen der Londoner Gentlemen-
Gesellschaft und der aufsteigenden Kaufmannsschicht im englischen
Norden. Nichts ist zu unbedeutend, um die geschmacklichen
Verwerfungslinien zu berühren: nicht das Tapetenmuster und nicht
die richtige Anzahl der Köstlichkeiten bei Tisch. Die Begriffe »guter
Geschmack« und »schlechter Geschmack« tauchten im Grunde erst
im 20. Jahrhundert auf (dies gilt zumindest für das Englische in der
Google-Buchdatenbank Ngram) und stabilisierten sich dann in den
1950er Jahren, als der »Spießer« zum Mehrheitsbürger wurde – ein
Witzbold definierte ihn einmal als die Leute, »die hoffen, sich
irgendwann an den Kram zu gewöhnen, der ihnen gefallen soll«. 6
Niemand hat die Taxonomie des Geschmacks – was er ist und
wofür er steht – so gründlich ausgelotet wie der französische
Soziologe Pierre Bourdieu. Sein bahnbrechendes Werk Die feinen
Unterschiede von 1979 wurde als »die kopernikanische Wende der
Geschmacksforschung« bezeichnet. 7 Auf Basis von 1217 Franzosen
entwickelte Bourdieu »Geschmacksprofile«, wie heutige Websites es
nennen würden. Er verknüpfte dazu die Methode der
ethnographischen Beobachtung mit einer umfangreichen,
innovativen Umfrage, die alles Mögliche wissen wollte: »Welche drei
der unter genannten Maler sind Ihre Lieblingsmaler?« »Wo haben
Sie Ihre Möbel her?« Sogar, wie die Leute ihr Haar trugen, wollte
er wissen.
All das glich er dann mit den demographischen Daten der
Befragten ab, die er wiederum streng in Gruppen wie »leitende
Angestellte, Ingenieure« oder »klerikale, mittlere Führungskräfte« –
dies sei ein sehr französisches Buch, wie er warnte – unterteilt
hatte. Und schließlich fand er durch statistische Korrelation heraus:
»Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre
Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich
voneinander durch die Unterschiede, die sie […] machen.«8 Das war
nicht unbedingt neu, doch Bourdieu konnte zeigen, wie winzig die
geschmacklichen Unterschiede sein konnten, wie eng sie offenbar
mit der sozialen Stellung zusammenhingen und wie häufig sie
weniger durch das Vermögen als vielmehr durch die Bildung eines
Menschen bestimmt waren.
Die Korrelationen waren beeindruckend: Bei der Musik
bevorzugte die »herrschende Klasse« Werke wie Ravels Konzert für
die linke Hand, die »Mittelklassen« aber die Ungarische
Rhapsodie, die in den Zeichentrickfilmen der Jahrhundertmitte so
beliebt war, während den »unteren Klassen« eher »leichtere« Stoffe
wie An der schönen blauen Donau gefielen. Der Geschmack eines
Menschen ließ sich anhand des »Bildungskapitals« zuverlässiger
vorhersagen als anhand des aktuellen Vermögens. Mehr als Geld
verband die Menschen das Bildungskapital: Während die Pariser
Architekten Kandinsky mochten, waren die Zahnärzte eher für
Renoir.
Und der Geschmack zeigte sich nicht nur darin, welche Filme man
sah. Die Art, wie man darüber sprach, fungierte ebenfalls als kaum
verhülltes Signal des Bildungskapitals, das »den eigenen Rang und
die Distanz zu anderen bekräftigt«. Hat jemand den neuesten »Film
mit George Clooney« gesehen oder den aktuellen »Film von
Alexander Payne«? Wer über den Regisseur spricht, signalisiert,
dass er in der sozialen Hierarchie einen bestimmten Platz einnimmt.
Er besitzt damit einen dezenten Stallgeruch, der Zugang zu einer
Art Club gewährt, ebenso wie wenn man weiß, dass Ray Eames eine
amerikanische Designerin war oder Ortega y Gasset nicht zwei
Personen sind, sondern ein spanischer Philosoph. (Beides gehörte
übrigens zu meinen frühen Irrtümern.)9
Bourdieu betonte wiederholt, dass diese »Gegensätze« nicht nur
in den »kulturellen Praktiken«, sondern auch in banalen Dingen wie
den »Eßgewohnheiten« zum Ausdruck kämen. Er wollte mit den
alten Grenzen aufräumen, die seit Kant den »ästhetischen Konsum«
– Kunst, die uns gefällt – vom »Bereich des ordinären Konsums« –
niederen Vergnügungen wie Essen und Konsumgüter – trennt.
Geschmack sah er überall am Werk: »Der Geschmack ist die
Grundlage all dessen, was man hat – Personen und Sachen –, wie
dessen, was man für die anderen ist«,10 schrieb er. »Die
Wissenschaft vom Geschmack (…) hat jene sakrale Schranke
niederzureißen, die legitime Kultur zu einer separaten Sphäre
werden läßt, um zu jenen intelligiblen Beziehungen vorzudringen,
die die scheinbar isolierten ›Optionen‹: für Musik und Küche,
Malerei und Sport, Literatur und Frisur, zu einer Einheit fügen.«11
Das Hunch-Portal versuchte auf seine Weise, solche »intelligiblen
Beziehungen« zu entdecken. Hunch war quasi Bourdieu zum
Quadrat: Von jeder soziologischen Last befreit, arbeitete die Seite
mit einer gigantischen Datenmenge von 55 Millionen Antworten und
geradezu lachhaft vielen Verhaltensmustern. Längst ging es nicht
mehr nur um Bourdieus Malerei und Essgewohnheiten, sondern
genauso um den Weihnachtsbaum – Natur oder Plastik –, wie man
seine Pommes Frites am liebsten aß oder was man auf die Frage
antwortete: »Hältst du es für falsch, dass man Delphine in
Gefangenschaft hält und ihnen Tricks beibringt?« Mit jeder Antwort
auf eine Hunch-Frage, so Liu, »traten die persönlichen Koordinaten
im Geschmacksdiagramm klarer zutage«. So wie die GPS-
Technologie mit der Triangulation von Längen- und Breitengraden
Ihre Position auf der Erdoberfläche bestimmt, versuchte Hunch, mit
einem System aus 50 Koordinaten Ihre gesellschaftliche Position zu
bestimmen.
Angesichts von Hunchs popularisierter Bourdieu-Anmutung
überrascht es nicht, dass Liu zu seinen MIT-Zeiten manche
Anregung bei dem französischen Soziologen fand. 12 Doch dessen
Forschungsergebnisse stammten großteils aus dem Frankreich der
1960er Jahre, und die Wissenschaft meldete mittlerweile erhebliche
Zweifel an Bourdieus strengen Klassen- und Geschmackshierarchien
an. 13 Einfach gesagt, hielt man Geschmack nicht mehr länger für
eine Strategie der höheren Klassen, um die unteren zu beherrschen,
sondern für ein horizontales System aus koexistierenden
Interessengemeinschaften, den »Geschmackswelten«.
Die traditionellen Geschmacksmarker waren trügerisch geworden
und, zumindest in der Theorie, demokratischer. 14 Wenn bei Hunch
und anderen Internet-Start-ups alle gleich alt wirkten, niemand
mehr ein Büro besaß und offenbar jeder Jeans und T-Shirt trug, war
eine soziale Hierarchie nicht mehr unmittelbar erkennbar. Es schien
vielmehr eine neue Regel zu gelten: Wenn die Einkommensschere
auseinandergeht, gleicht sich das Outfit an. Aber sind die Sandalen,
die Google-Mitbegründer Sergey Brin trägt, wirklich ein
Gegensignal und kleidet er sich so, um seinen Reichtum zu
verbergen?15 Oder sind sie doch noch ein Signal? Dass ich offenbar
keinen Wert auf mein Äußeres lege, ist eigentlich ein
aussagekräftiges unterschwelliges Zeichen meiner Macht. Aber wo
lassen sich die sozioökonomischen Unterschiede noch erkennen,
wenn jeder das gleiche Smartphone auf den Tisch legt? An den
leider unsichtbaren Gigabytes? Oder hebe ich mich gar durch eine
handgearbeitete Straußenlederhülle ab, mit hochglanzpolierten
Initialen in auffälligem Design? Oder durch die gänzlich fehlende
Hülle, weil mir das Schicksal meines Handys egal ist und ich sowieso
bald die nächste Version kaufe? Die ultimative soziale Abgrenzung
könnte auch darin bestehen, gar kein Handy mehr zu besitzen.
Die Signale, sagte Liu, sind unscharf geworden. Das teuer
wirkende Hemd war vielleicht ein Schnäppchen von H&M. Vieles
von dem, was Bourdieu in Die feinen Unterschiede auflistet, hat sich
heute ins Netz verlagert. Der Habitus eines Menschen kommt heute
etwa in dem lässigen Instagram-Foto zum Ausdruck, das den von
den Großeltern vererbten trendigen Vintage-Sessel zeigt oder den
Espresso aus exklusiven Bohnen mit dichter crema – ein Wort, das
vor wenigen Jahren ja noch kein Mensch kannte.
Die besorgte Standortbestimmung von Bourdieu findet sich heute
in den getwitterten »Humblebrags« wieder, in dem Versuch, sein
kulturelles Kapital zur Schau zu stellen, ohne es so aussehen zu
lassen. 16 »Als wir im Taxi saßen, lief gerade unser Song im Radio.
Wie peinlich!«17 So lauten die typischen Tweets von
Nachwuchsbands. Und im Facebook-Profil kann man etwa seine
Musikfavoriten veröffentlichen. Allerdings besser nicht aufs
Geratewohl: Wie eine Universitätsstudie zu Facebook-Konten zeigt,
konnten nur die Favoriten »Klassik« und »Jazz«, aber nicht »Indie«
oder »Dance« andere dazu bewegen, einem zu folgen. Nur Erstere
umgibt ein gewisses Prestige.
Wenn man allerdings wahllos alle Hunch-Daten heranzieht,
können durchaus zweifelhafte Korrelationen und Theorien ohne
Hand und Fuß entstehen. So vermutete Liu, dass Menschen, die das
Kino verlassen, wenn ihnen ein Film nicht gefällt, psychologisch auch
eher bereit seien, sich scheiden zu lassen. »Eine schlechte Ehe ist
wie ein schlechter Film«, sagte er. »Kann man sich davon loseisen
oder nicht?« In solchen Momenten fällt es schwer, in Hunch mehr zu
sehen als ein nettes Datenspielzeug. Doch als wir wieder in der
Decision Lounge saßen, dem einzigen separaten Raum bei Hunch,
führte mir Liu den »Twitter-Prädiktor« der Website vor. Hunch
nahm dazu meine Twitter-Follower und alle, denen ich folgte,
verortete unsere sämtlichen Geschmackskoordinaten und
generierte daraus mein persönliches Geschmacksdiagramm.
»Geschmack per Assoziation«, nannte das Liu.
Dann stellte mir der Twitter-Prädiktor Fragen und versuchte,
meine Antworten zu erraten. »Würdest du bei einem bekannten
Land wissen, ob man die Uhr vor oder zurückstellen muss?« Ja.
»Hast du bei der letzten großen Wahl in deinem Land gewählt?« Ja.
»Schaust du dir Dokumentarfilme an?« Ja. Bis dahin kannte mich der
Twitter-Prädiktor verdammt gut. Ich fühlte mich, als wäre ich auf
der Partnerbörse OkCupid mir selbst begegnet. VII Doch waren diese
Fragen wirklich eng genug gestellt? Oder zeigte sich hier nicht
vielmehr der sogenannte Forer-Effekt, durch den wir uns in
Psychotests oder beim Wahrsager gern wiedererkennen, weil die
Aussagen so allgemein sind?
Die nächsten Fragen schienen da schon spezifischer und nicht so
offensichtlich an Faktoren wie Politik gekoppelt. »Hältst du es für
eine gute Idee, saubere Nadeln an Drogenabhängige zu verteilen?«
»Spielst du auf Facebook Spiele?« »Sollten Ärzte Patienten beim
Suizid helfen dürfen?« Doch Hunch geriet nicht ein einziges Mal ins
Straucheln. Liu überprüfte mein Ergebnis. »19:0 für Hunch.« Hunch
könne die Antworten zu 90 Prozent richtig vorhersagen, erklärte
Liu. Oder wie es Hunch-Gründer Chris Dixon ausdrückte: »Die
Leute in unseren Studien stimmen einfach zu über 90 Prozent der
Zeit mit sich selbst überein.«18

Ein seltsames Gefühl und sehr beeindruckend. Im Zeitalter des


Individualismus halten sich die meisten von uns für komplexe Wesen,
die ihren eigenen Weg gehen und denen man kein Schild mit
irgendeiner Aufschrift auf die Stirn heften kann. »In meinem
Geschmack spiegelt sich meine Einzigartigkeit wieder«, so fasst es
der Musikkritiker Carl Wilson zusammen, »nur alle anderen richten
sich nach der Masse.«19 Aber nun saß ich in der Decision Lounge,
und scheinbar konnte man mich mit Hilfe von 50 Koordinaten wie
einen Schmetterling an die Wand heften. Die Umrisse meiner
Vorlieben traten so klar zutage wie beim Malen nach Zahlen. »Das
Faszinierende daran ist«, sagte Liu, »dass wir damit nicht die
direkten Antworten auf die Fragen erfassen, sondern die Position
eines Menschen im Geschmacksraum.«
Und eigentlich hatte ich sogar noch einen Schritt übersprungen:
Da ich Hunchs Fragen zuvor nicht beantwortet hatte, wurde ich
einfach durch die gesammelten Antworten all jener erfasst, denen
ich auf Twitter folgte. »Geschmack ist ein bestimmter Ort in einem
Diagramm«, sagte Liu. »Man kann dort wohnen, ohne dass man
unbedingt wissen muss, welchem Glauben man dort im Einzelnen
anhängt und wie man dort lebt.« Das bestätigt die These von der
sozialen Homophilie – der Neigung zur Gruppenbildung –, die Thema
des vorigen Kapitels war. Ich habe auf die Fragen nicht in
bestimmter Weise geantwortet, weil ich durch spezielle Tweets
dahingehend beeinflusst worden wäre – obwohl »uns viele Nutzer
verdächtigten«, so Liu, »ihre Tweets zu lesen«, damit der Twitter-
Prädiktor überhaupt funktionierte. Ich schloss mich vielmehr auf
Twitter den Menschen an, die mir ähnelten: Man twittert mit
Leuten, mit denen man auf derselben Wellenlänge ist. 20
Weil man sich so oft über den Geschmack der anderen wundert,
stimmen viele der Aussage zu: »Über Geschmack lässt sich nicht
streiten.« »Viele halten Geschmack für unerklärbar«, sagte Liu,
»und denken: ›Ich bin einzigartig und anders als alle anderen.‹ Doch
natürlich lässt sich Geschmack erklären«, fügte er dann hinzu.
»Man muss nur nach den richtigen Merkmalen suchen.«
Nach Bourdieus Meinung gibt es eine Sache, die den Geschmack
eines Menschen wie unter dem Brennglas erkennen lässt. »Nichts
hilft eindrucksvoller, die eigene ›Klasse‹ in Geltung zu setzen, nichts
unfehlbarer auch die eigene ›Klassenzugehörigkeit‹ zu
dokumentieren als der musikalische Geschmack.«21

Musik ist der Schlüssel

Was für Musik gefällt Ihnen?


Welche Frage wäre sonst noch so eng gefasst und doch nach allen
Richtungen offen, so banal und gleichzeitig so
bedeutungsschwanger?
Studien haben gezeigt: Wenn einander fremde Personen
versuchen sollen, sich kennenzulernen, kommt als Erstes das Thema
Musik auf den Tisch – okay, die Teilnehmer waren Studenten. Aber
Musik ist mehr als Smalltalk. Aus den Musikvorlieben eines
Menschen lassen sich präzise Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit
ziehen oder zumindest auf die Persönlichkeit, die er verkörpern
möchte. 22
Über Vorlieben redet man dabei leichter als über Abneigungen.
Vorlieben zeige man öffentlich, so Hugo Liu. Die Kleidung eines
Menschen etwa offenbare, was er gut findet, aber nicht unbedingt,
was nicht. 23 Abneigungen bleiben eher privat – obwohl sie für den
Geschmack eine so wichtige Rolle spielen. Doch Internetportale wie
Facebook bieten keine Option »Gefällt mir nicht«. VIII Wenn man
über Vorlieben spricht, kann man herausfinden, ob man mit
jemandem befreundet sein könnte. Aber über seine Abneigungen
redet man normalerweise nur in seinem eigenen sozialen Netz. Liu
hat Gespräche über Abneigungen mit Tratsch verglichen. Wie
dieser würden sie dazu dienen, Beziehungen zu festigen. Die simple
Äußerung musikalischer Vorlieben, so Liu, hänge wiederum von
verschiedenen Faktoren ab: wer fragt, was man in letzter Zeit
gehört hat, wo man ist oder woran man sich erinnert.
Solche Fragen treiben Echo Nest um, ein »Music Intelligence«-
Unternehmen in Cambridge, Massachusetts, eine Art Mix aus seinen
Nachbarn, dem MIT und dem Berklee College of Music: Datenfreak
trifft Musikfreak. In einem Zeitalter, in dem das Musikangebot
eigentlich endlos ist, ist es der Job von Echo Nest, das Spotify
gehört, Menschen und Musik zusammenzubringen.
Als ich eines Nachmittags die Büros von Echo Nest betrat, kam
das Gespräch, wie kaum anders zu erwarten, als Erstes auf den
Musikgeschmack. Glenn McDonald, der wichtigste ITler des
Unternehmens, und ich setzten uns, und ich fragte ihn, welche
Musik da gerade lief. Und wie man in einem Büro, in dem es vor
Meinungen nur so wimmeln musste, darüber entschied? »Die Regel
lautet: Alles außer Coldplay«, antwortete er mit sarkastischem
Unterton. Da war sie wieder, die rote Linie, die die Menschheit,
wenn auch halb im Spaß, mit kühlem Strich in Lager unterteilte: in
Coldplay-Fans und Coldplay-Gegner und alle übrigen
Unentschiedenen, die den Witz vermutlich zu goutieren wussten.
Coldplay ist anscheinend ein guter Lackmustest für den
Musikgeschmack. Man muss nur einmal »Coldplay ist« in Google
eingeben, und schon erhält man: »Coldplay ist die beste Band aller
Zeiten« und »Coldplay ist die schlechteste Band aller Zeiten«. Ein
Großteil der Häme, die Coldplay auf sich versammelt, rührt
vermutlich von der übergroßen Verehrung der Band her. Der
Mensch bildet einfach gern Fronten. Man muss nur genügend
solcher Fronten hernehmen, und schon kann man »seine Musik« und
sich selbst im Geschmacksdiagramm verorten.
De gustibus non est disputandum. Über Geschmack lässt sich
nicht streiten. Der Philosoph Roger Scruton wendet dagegen
allerdings ein: »Niemand glaubt offenbar an die lateinische Maxime.
Denn über Geschmack streitet der Mensch besonders gern.«24 Die
Musik gehört laut der Anthropologin Mary Douglas zu den Gütern
oder Dingen des Geschmacks, die als »Zäune oder Brücken«
fungieren und die Menschen auch dann noch verbinden, wenn sie sie
trennen. »Mit der Musik ist es gewissermaßen wie mit der
Religion«, sagte einmal der unverbesserliche Besitzer eines Hippie-
Plattenladens in Greenwich Village zu mir. »Warum hassen die Leute
einen sonst, wie man Psychedelic Rock aus San Francisco hört, aber
keinen japanischen Psychedelic Rock?«
Natürlich hassen die meisten Leute andere nicht, nur weil sie
japanischen Psychedelic Rock mögen; vermutlich haben sie sogar
nicht einmal die leiseste Ahnung, was japanischer Psychedelic Rock
überhaupt ist. Und das verweist wiederum auf einen seltsamen
Aspekt, den schon Bourdieu hinsichtlich des Geschmacks festgestellt
hat:25 Je näher sich Menschen gesellschaftlich stehen, desto mehr
streiten sie über Geschmack. Je kleiner das Gebiet, desto härter der
Kampf. Das ist Freuds »Narzißmus der kleinen Differenzen«: Die
kleinen Abweichungen »unter den sonst gleichgestellten Menschen«
bilden »die Quelle der Feindseligkeit unter ihnen«. 26
Das liegt sicherlich teilweise daran, dass Geschmack Kenntnisse
voraussetzt – oder zumindest ihre Zurschaustellung. Nur die Fans
von Pavement können sich darüber in die Haare kriegen, ob Wowee
Zowee ihr bestes Album war. So waren laut einer Geschmacksstudie
etwa die Liebhaber des Werks Einstein on the Beach von Philip
Glass in enger sozialer Nachbarschaft derer angesiedelt, die die
Oper ablehnten. 27 Warum? Wem ein relativ unbekanntes Werk nicht
gefällt, der muss es dennoch erst einmal kennen, und das rückt ihn
in die gesellschaftliche Nähe derer, denen das Werk gefällt. Bei
allgemein Bekannterem wie Vivaldis Vier Jahreszeiten ist die soziale
Kluft zwischen Anhängern und Gegnern hingegen größer – und die
Gründe für die Ablehnung werden vielfältiger. Ist die soziale Kluft
groß genug, kann sich die Ablehnung sogar in eine elitäre Form der
Anerkennung verwandeln, die aufgrund der sozialen Distanz zu dem,
was einem normalerweise gefällt, wiederum Macht und Sicherheit
verheißt. Wie Bourdieu schreibt: »Die ›Scheußlichkeiten‹ des
volkstümlichen Kitsches sind leichter zu ›vereinnahmen‹ als der
kleinbürgerliche Talmi.«28
Was sagt die Musik, die Ihnen gefällt, über Sie aus? Bevor ich zu
Echo Nest ging, hatte ich an einem ihrer witzigen Tests
teilgenommen: »Welches Klischee passt zu dir?« Dazu gibt man ein
paar seiner Lieblingsgruppen ein und erhält dann ein Profil wie
»Verrücktes Elfentraum-Girl« oder »Rachsüchtiger Dad« (»Auf
Basis deiner Nähe zu Bands wie Iron Maiden«). Mich titulierte man
als »Hipster Barista«, was mir ziemlich zutreffend schien, da ich die
meiste Musik momentan in irgendwelchen Coffeeshops von Brooklyn
höre. Der bärtige, coole Mitbegründer von Echo Nest, Brian
Whitman, klang wie ein moderner Bourdieu, als er mir eröffnete,
dass die Musikvorlieben mehr über eine Person verraten würden als
alles andere. »Wenn ich die letzten fünf Bücher kenne, die jemand
gelesen hat, wüsste ich wahrscheinlich nicht allzu viel über ihn«,
sagt er. »Aber wenn ich die fünf Songs kenne, die er zuletzt über
einen Streamingdienst gehört hat, könnte ich vermutlich schon jede
Menge über ihn sagen.«
Auch Filme seien nicht so aussagekräftig. Es gebe davon weniger,
und es sei schwieriger, sie zu sehen. Es komme auf das Genre an,
aber es fehle die Haarspalterei wie in der Musik. »Und das Soziale
spielt unmittelbar mit«, sagte er. »Vielleicht schauen Sie sich den
Film nur Ihrer Frau zuliebe an.« Über die Musik entscheide man
dagegen selbst: bei der Autofahrt, über Kopfhörer, mit Playlists und
personalisierten Radioprogrammen. Musikvorlieben seien etwas
sehr Persönliches. Über »meine Musik« rede man anders als über
»meine Filme«. Und wenn Leute auf sozialen Netzwerken wie
Facebook ihre Lieblingsbands posten, erwärmen sich andere
Nutzer, wie Studien zeigen, nicht unbedingt für ihre Musik. Mitunter
kann sogar das Gegenteil eintreten. 29

In einem Zeitalter, in dem man »fast seine gesamte Plattensammlung


in der Hosentasche mit sich herumtragen kann«, so der Echo-Nest-
Ingenieur Paul Lamere, gestalte sich die Frage danach, was man als
Nächstes hören soll, zunehmend schwieriger. Viele Leute, die sich
bei einem Musik-Streamingdienst probeweise anmelden, so
Whitman, hören sich dann nie etwas an. »Sie blicken auf ein leeres
Suchefeld. Was sollen sie jetzt machen?« Manche, vermutet
McDonald, »hören sich dann vielleicht das Album von Dave
Matthews an, dessen CD bei ihnen gerade in irgendwelchen noch
unausgepackten Umzugskartons verstaubt.« Und sind 42 Minuten
lang glücklich.
Und dann? Man könnte es »Suchangst« nennen. Man meldet sich
bei einem Dienst an, der alles bietet, was das Herz jemals begehren
könnte, und plötzlich entpuppt sich die Vorstellung als erdrückend,
irgendein Stück zu hören. »Music Discovery«-Programme, wie sie
heute heißen, sehen es daher als ihre Aufgabe an, den Hörer durch
den Morast zu führen, ihm Wege innerhalb der Grenzen des
Zulässigen aufzuzeigen und ihn durch die Untiefen der
Unzufriedenheit zu leiten. »Woran soll man die zehn Millionen Songs
erkennen, die man sowieso nicht leiden kann, weil sie entweder
furchtbar sind oder man sie nicht einordnen kann?«, sagte
McDonald. »Und wie soll man sie von den anderen zehn Millionen
unterscheiden, die das Zeug zum Lieblingssong hätten, wenn man
sie bloß finden würde?«
Echo Nest steht auf der anderen Seite des Computerbildschirms
vor dem sogenannten »Kaltstart-Problem«, das alle
Empfehlungsdienste quält: Welchen Song soll ich als Erstes für
jemanden spielen, wenn ich ihn nicht wirklich gut kenne? Um
jemanden auf der Seite zu halten, ist es nach Ansicht von Echo Nest
wichtig, herauszufinden, welcher Typ Musikhörer er ist, und nicht
nur, welche Songs er bisher gehört hat. Dazu modelliert das
Unternehmen Eigenschaften wie »Mainstream-Nähe«: Wie weit
geht der Geschmack über das hinaus, was andere Hörer des
Dienstes mögen? Empfindet er Radiohead als beängstigend
experimentell oder als eine populäre Band, die er gerne hört?
In seinen Anfängen wollte Echo Nest die riesige Welt der Musik
durch Datensätze und lernende Computer verstehen und verband
dazu zwei zentrale Merkmale von Musik: wie sie klingt und wie wir
darüber reden. Whitman hatte einige Jahre zuvor unter dem Namen
»Blitter« sogenannte »Intelligent Dance Music« aufgenommen –
»das einzige Genre«, wie er witzelte, »das sich glücklicherweise
schon im Namen lobt«. Und wie viele Musiker fand er es schwierig,
»die Massen anzusprechen«. Was Insider-Talk ist für: Das hörte
kein Mensch. »Irgendwo gab es ein Publikum«, so Whitman, »aber
es war schwer zu finden.« Wie konnte er seine Fans finden und mit
der Musik zusammenbringen? Als er dann an die Uni zurückkehrte,
beschäftigte er sich mit der Verarbeitung von natürlicher Sprache
und erinnerte sich dabei an sein ursprüngliches Problem. »Jeder
schreibt im Netz über Musik. Irgendwie musste man doch
automatisch erkennen können, was die Leute darüber sagten.«
Es zeigte sich, dass wir ziemlich berechenbar sind, wenn wir über
Musik sprechen. »Die Leute reden über den Kontext von Musik und
verknüpfen das mit allem Möglichen«, sagte er. »Und das ist genau
der Text, den man braucht.« Musikalische Details dagegen sind
relativ unwichtig. Tonart oder Tonlage helfen nicht weiter, um die
Leute zum nächsten Song zu locken, so Whitman. Man will wissen,
wo eine Band herkommt und was und wer sie beeinflusst hat.
Tristan Jehan, der andere Mitbegründer von Echo Nest, schuftete
derweil in der Welt des »Music Information Retrieval«, einer
breitgefächerten Disziplin, die Musik in Daten verwandelt, um sie
besser zu verstehen. Doch der Versuch, Songs einen emotionalen
Wert zuzuschreiben, kann Computer überfordern. Ist die
vorwärtstreibende, aber leicht eingetrübte Durtonart von New
Orders »Ceremony« nun fröhlich oder traurig? Computer haben
auch Schwierigkeiten, Cembalo und Gitarre auseinanderzuhalten.
»Letztendlich werden bei beiden Saiten gezupft«, sagte Jehan, ein
stylischer Franzose, der mit seinen langen, glatten Haaren eher
aussieht, als ob er Musik macht und nicht analysiert. »Der
Unterschied liegt in der Spielweise.«
Und Computer sind keine Meister darin, menschliche
Klassifikationssysteme wie Genres zu erkennen – zumindest nicht
akustisch. McDonald nutzte bei dem raumgreifenden Projekt »Every
Noise at Once« die semantische Engine von Echo Nest, um den
weltweiten Corpus der Musikgenres zu verorten: vom »rumänischen
Pop« über »finnischen Hip-Hop« bis zu »polnischem Reggae«.
Interessanterweise vertraute er dabei nicht darauf, wie die Genres
klingen. (Im Gegensatz zum Computer erkennt der Mensch das
Genre schneller, als er »Genre« denken kann.)30
Musikgenres sind, um es mit dem Musikkritiker Simon Frith zu
sagen, ebenso soziale wie musikalische Abgrenzungen. 31 Für das
menschliche Ohr mag etwas nach polnischem Reggae klingen.
Dieser, so McDonald, hat manchmal eine »irgendwie Polka-ähnliche
Melodie«. Und der Text ist polnisch. Doch Computer tun sich damit
schwer. Es gibt Reggae-Bands von Bulgarien bis ins amerikanische
Omaha, und sie klingen, nimmt man nur ihre Audiosignale, recht
ähnlich. »Aber ›polnischer Reggae‹ ist etwas ganz Eigenes«, sagte
McDonald, »und die Bands von Bulgarien bis Omaha gehören nicht
dazu, egal wie sie klingen.« Die Computer von Echo Nest können
uns also etwas über unsere Musik verraten: Auch wenn wir
behaupten, dass uns bestimmte Musik gefällt, weil sie so gut klingt,
mögen wir sie in Wahrheit meistens darum, weil sie etwas
Bestimmtes für uns bedeutet. Und da ist noch etwas: Uns gefällt
Musik besser, wenn wir wissen, wie wir sie benennen sollen.

Lamere führte als Beispiel Miley Cyrus an, die seine damals 15-
jährige Tochter vor einigen Jahren anhimmelte. Akustisch, so
Lamere, könne man Cyrus in eine Reihe mit »einigen Singer-
Songwritern der Indie-Szene« stellen. Den Noten nach zu urteilen,
klingen sie ziemlich ähnlich. Doch niemand würde sich bei einem
Musikanbieter als Nächstes diese Singer-Songwriter herunterladen,
wenn er Miley Cyrus gehört hat. »Die kulturelle Unverträglichkeit
wäre einfach zu groß«, erläuterte er.
Was Lamere in der schrägen Sprache des ITlers beschreibt, war
möglicherweise die größte Herausforderung für den lernenden
Computer: der menschliche Geschmack. Menschen beurteilen, ob
Miley Cyrus zu einer Gruppe anderer ähnlich klingender Singer-
Songwriter passt. Menschen beurteilen, zu welchem Musikgenre
ein Musiker gehört und ob etwas unter ein bestimmtes Genre fällt.
Wobei sich die Genres natürlich ständig wandeln.
Die Sängerin Lucinda Williams erzählte einmal, wie sie früher mit
einer Demoaufnahme die Labels abklapperte und ständig abgelehnt
wurde. »Sony hier in L.A. fand, das klinge für Rockmusik zu sehr
nach Country. Wir schickten es also nach Nashville. In Nashville
sagten sie dann: ›Für Country hört es sich zu sehr nach Rockmusik
an.‹«32 Irgendwann veröffentliche schließlich ein englisches Label,
das eigentlich Punk herausbrachte, ihr Album. Und es wurde zur
Benchmark des neuen Genres »Alternative Country« – »whatever
that is«, wie der berühmte Untertitel von No Depression, der
Zeitschrift der Bewegung, besagte. Lucinda Williams’ Song
»Passionate Kisses« schaffte es sogar in die Charts von Nashville,
allerdings in einer von Mary Chapin Carpenter gesungenen Version,
die die Computer von Echo Nest allerdings kaum von der anderen
unterscheiden könnten. 33
Wie Whitman einräumte, gelang es den Algorithmen des
Unternehmens zwar recht gut, die Musik selbst automatisch zu
erfassen – dank über einer Billiarde Datenpunkte aus über 35
Millionen Songs und über 2,5 Millionen Musikerinnen und Musikern
–, »die Beziehung zwischen Hörer und Musik« aber bekamen sie
weniger gut in den Griff. Als ich das Unternehmen besuchte, testete
es gerade eine neue »Geschmacksprofil«-Technologie. Eines fernen
Tages soll sie mittels der Musik auch andere menschliche Vorlieben
erkennen können. In einem Versuch à la Bourdieu korrelierte Echo
Nest die Musikvorlieben von US-Amerikanern mit deren politischer
Zugehörigkeit. 34 »Können uns allein die iTunes-Downloads verraten,
ob jemand Republikaner ist?«, fragte sich Whitman. Einige
Ergebnisse überraschten wenig: Republikanern gefiel öfter
Country-Musik und Demokraten öfter Rap.
Andere Korrelationen verblüfften allerdings. Pink Floyd, so zeigte
sich, gefällt überwiegend Republikanern – trotz des eher liberalen
Erscheinungsbilds der Band. Whitman führte dies vor allem auf die
veränderte Demographie der alternden Fans zurück. Doch im Laufe
der Zeit hat sich auch die Band musikalisch verändert, daher
machte Whitman eine Zweiteilung aus: Die Fans der früheren, mehr
psychedelischen Band mit Syd Barrett neigten stärker den
Demokraten zu. Und Data-Mining förderte noch weiteres zutage:
Den Demokraten gefielen mehr Musikgenres (zehn) als den
Republikanern (sieben). Und wenn jemand die Beatles gut fand,
sagte das nicht das Geringste über seine politischen Präferenzen
aus.
Das am wenigsten aussagekräftige Musikgenre, was die politische
Zugehörigkeit betraf, war interessanterweise Metal. Laut und
rebellisch kann offenbar viele Spielarten annehmen. »Dazu muss
man bedenken, wie viele unterschiedliche Ausprägungen von Metal
es gibt«, sagte Whitman. Allein für »Black Metal« nennt die
Genrekarte von »Every Noise at Once« fast ein Dutzend Varianten:
von Radio-kompatiblen Headbanging-Hymnen bis zu
»kirchenstürmerischem Metal«, wie Whitman es scherzhaft nannte.
Alle Spielarten verbindet ein heftiger, wenn auch frei schwebender
»Freiheitsdrang«, wie es der englische Musiksoziologe Adrian
North mir gegenüber ausdrückte. Vermutlich würde man in den
Tiefen der Metal-Untergenres wie »symphonischer Black Metal«,
»Neo Black Metal« oder »Deathcore« stärkere politische
Korrelationen finden. Vielleicht verbergen sich dort unerschlossene
Wählerschichten von »Mathcore-Liberalen« oder »Synth-Pop-
Sozialdemokraten«. Musik kann uns eine Menge über Menschen
erzählen – wenn man die Musik bloß kennen würde.
Als einen der Gründe, warum gerade Musik, historisch gesehen,
so viel über die Klassenzugehörigkeit eines Menschen aussagt,
führte Bourdieu an, dass musikalische Kenntnisse wie die Fähigkeit,
ein »vornehmes Instrument« zu spielen, so schwer zu erwerben
seien. In Museen und Theatern fände man einfacheres,
preisgünstigeres »kulturelles Kapital«. Doch mit dem Aufkommen
des Grammophons stürzte dieses Argument in sich zusammen. »Man
kann darauf berühmte Musikstücke so einfach hören, wie man ein
Glas Bier bestellt«, bemerkte der Komponist Claude Debussy leicht
pikiert. 35
Heute sind die Reproduktionskosten quasi auf null
zusammengeschrumpft. Und auf Spotify kann man so viele Songs
hören, dass laut Forgotify-Website um 2013 ungefähr 4 der 20
Millionen Tracks nie gespielt wurden – »I need a Girl [with a Car]«
von den Desperation Squads mag seine Qualitäten haben, bei der
Weltöffentlichkeit stieß es auf taube Ohren. Aber was passiert mit
dem Geschmack, wenn die meisten Menschen gleichermaßen
Zugang zu fast der kompletten Musik haben, die jemals
aufgenommen wurde? Wie der Soziologe Richard Peterson schreibt:
»Die Vorliebe für klassische Musik, Rockmusik, Techno oder
Country wird ihre statusbildende Bedeutung kaum bewahren
können, wenn diese laufend weiter kommerzialisiert werden und
einfach zu erwerben sind.«36 Gibt es heute überhaupt noch etwas,
was weniger knapp ist als der Zugang zur Musik?
Aber natürlich hat Bourdieu auch gesagt, die Musik, die man nicht
höre, sage über einen genauso viel aus wie das, was man höre. Die
Liebe zur Oper schloss nach seinen Daten aus, dass einem Country-
und Westernmusik gefiel. Als Peterson und sein Kollege Albert
Simkus jedoch in den frühen 90er Jahren über den Kunstdaten des
Statistischen US-Bundesamtes brüteten, beobachteten sie einen
interessanten Trend: Zwischen 1982 und 1992 begannen die
»Eliten«, vielfältigere Musik zu mögen, darunter sogar die Genres
der »Kulturbanausen« wie Country und Blues.
Peterson und Simkus nannten diese Leute »Omnivores« –
Allesfresser. Doch damit verschwanden nicht sämtliche
Zusammenhänge zwischen Musik und sozialer Schicht. Die Hörer
klassischer Musik waren weiterhin eher älter, wohlhabender und
gebildeter. Und die Hörer weniger prestigeträchtiger Genres
mieteten nicht plötzlich eine Loge in der Oper. Es entstand eher eine
neue Form der »Distinktion«, bei der es weniger um den
symbolträchtigen Ausschluss als vielmehr um breitgefächerte,
inkludierende Vorlieben ging. Es schien also wohl nur so, als würden
Bourdieus alte Kategorien wegbröckeln. Oder taten sie es doch?
Massenmedien und Internet machten plötzlich alle möglichen
Kulturformen zugänglich. Wie der Musikkritiker Nitsuh Abebe es
ausdrückte: »Es gibt einfach zu viel Musik auf dieser Welt, um
wirklich sicher sein zu können, dass das, was einem über den Weg
läuft, wirklich bedeutsamer ist als der ganze Rest.«37
Die alten Eliten schichteten ihr kulturelles Kapital – unter der
Flagge des Allesfressers – um: Sie gingen nun mehr in die Breite als
in die Tiefe und errichteten eher durch waagerechte als senkrechte
Grenzziehungen neue Geschmackshierarchien. 38 Ein Snob zu sein
konnte sich nun als kontraproduktiv erweisen, da man sich so
weniger geschickt durch die verschiedenen sozialen Netzwerke
bewegen konnte. Bei der MP3-Playlist-Kultur – bei der man physisch
nichts besaß – ging es weniger um die Auswahl der richtigen Musik,
sondern vielmehr um eine möglichst vielseitige Auswahl, weniger
darum, Musikgenres von vornherein abzulehnen, als um die
»interessanten« Gründe dafür, sie seinem Mix einzuverleiben – wie
Bourdieu sagte, darum, »dasselbe auf andere Art zu mögen«. 39
Bourdieu hat stets betont, dass die Art, wie wir Dinge
konsumieren, genauso viel über uns sagt wie das, was wir
konsumieren. Der Omnivore, stellte mancher fest, übernehme
einfach die alte Strategie der Oberschicht – die Fähigkeit, so
Bourdieu, »beliebige oder sogar ›vulgäre‹ Objekte zu ästhetisieren«
– und wende sie auf die bis dahin ausgeschlossenen Musikgenres an.
In Kontaktanzeigen in der New York Review of Books, einer
scheinbar ewig sprudelnden Quelle des Geschmacks der gebildeten
oberen Mittelschicht, stößt man auf die »Allesfresser« ebenso
unvermeidlich wie auf Wandern und Frankreich. 40 Um nur ein
Beispiel aus der Ausgabe (pardon, dem kulturellen Kapital) zu
nehmen, die gerade neben mir liegt: »Meine Interessen sind gutes
Essen, anspruchsvolle Filme, spannende Reisen, Kammermusik,
Jazz, Rock …« Subtext: Mein Geschmack ist genauso aufregend
wie ich, aber ich habe Geschmack. Hingegen fällt es schwer, sich
vorzustellen, wie ein 50er-Jahre-Leser mit Hornbrille und
Strickjacke verkündet, er schwärme für Bill Haley genauso wie für
Bebop und Brahms. 41
Es sei nicht etwa so, sagt der Soziologe Omar Lizardo, dass den
Allesfressern diese ganze neue Musik wirklich gefallen würde, aber
es gelinge ihnen offenbar, schwach ausgeprägte, breitgefächerte
Vorlieben, also viele kleine Töpfe, am Köcheln zu halten. Denn
letztendlich kostet es Zeit, Dinge zu mögen. Wie der Soziologe Noah
Marks sagt, verleiben sich die Leute nicht nur die Musik ein, »die
musikalischen Formen verleiben sich auch die Leute ein«. 42 Je mehr
einem ein Genre gefällt, desto weniger Zeit hat man für all die
anderen. Auch bei Echo Nest fielen Whitman die Allesfresser auf:
»Wir haben Hörermodelle mit breitgefächerten Geschmacksprofilen
generiert und das Hörverhalten eine Woche lang mit den
Hörerprofilen der zwölf wichtigsten Radioformate verglichen. Ein
durchschnittlicher On-Demand-Hörer konsumierte in einer Woche
5,6 Radioformate.« Hier hat natürlich schon eine Vorauswahl
stattgefunden. Omnivores suchen in der Regel nach der gigantischen
Vielfalt, die die Online-Dienste bieten. Offenbar wollen die meisten
Menschen aber noch immer die Hits: Laut einer Analyse entfallen
77 Prozent aller Tonträgereinnahmen auf nur ein Prozent aller
Interpreten. 43
Doch sogar die Allesfresser müssen noch Platz für Abneigungen
lassen. Als die Soziologin Bethany Bryson 1996 ebenfalls die
Geschmacksdaten des Statistischen US-Bundesamtes durchforstete,
aber dabei den Schwerpunkt auf die Abneigungen legte, stellte sie
fest, dass bei den »toleranten« Personen Heavy Metal und Rap – so
die etwas grobschlächtige amtliche Einteilung – auf die geringste
Gegenliebe stießen. Das überrascht allerdings nicht: Beide Genres
waren auch bei den Befragten insgesamt am unbeliebtesten. IX
Doch Bryson fand zudem heraus, dass die toleranten Hörer auch
Country und Gospel ablehnten, zwei der drei in der
Gesamtbevölkerung beliebtesten Genres. Warum? »Die bei den
toleranten Personen unbeliebtesten Genres«, so Bryson, »sind jene,
die die Personen mit dem niedrigsten Bildungsniveau am meisten
schätzen.« Bei aller Gefräßigkeit zogen also auch die Allesfresser
sorgsame – und statistisch vorhersagbare – Grenzen um das, was
gefallen durfte – und das wurde wohl weniger von der Musik
bestimmt als davon, wem diese Musik sonst noch gefiel.
Das Gegenstück zum Omnivore ist der sogenannte »Univore«: Er
mag am wenigsten Genres und äußert sich am ablehnendsten
gegenüber den anderen. Univores sind tendenziell Personen mit
geringer Bildung, die einer Gruppe mit niedrigem kulturellem Status
angehören. Peterson erwähnt aber interessanterweise auch
»univore Angehörige der Oberschicht«. Sie seien genauso restriktiv,
nur aus anderen Gründen. Tendenziell bevorzugen Univores, in
einer Art Symbiose, die Genres, die bei den Omnivores am
unbeliebtesten sind. Auch Echo Nest fand dafür Belege, als es mit
seinem sogenannten »Passion-Index« arbeitete. Welche Musiker,
wollte man wissen, »dominieren wirklich die Playlists ihrer Fans«?
Metal-Bands, das Schreckgespenst des Allesfressers, nahmen dabei
großen Raum ein. Metal-Fans wollten ausschließlicher Metal hören
– und nichts anderes – als die Anhänger anderer Genres ihre
Lieblingsmusik. Möglicherweise als Gegenreaktion auf die erlebte
symbolische – und reale – Ausgrenzung errichten Univores ihre
eigenen, mächtigen kulturellen Grenzzäune.
Nehmen wir eine der meistgeschmähten Bands, die
»Horrorcore«X-Rap-Rockgruppe Insane Clown Posse. Die Magazine
Blender und Spin hielten sie für die schlechteste Band aller Zeiten.
Die Gruppe und ihre Fans werden vom breiten Publikum verachtet,
von der Kritik in der Luft zerrissen und genießen nicht einmal die
ironische Anerkennung der coolen, ästhetisierenden Allesfresser.
Trotzdem und obwohl sie, wie das Magazin n+1 betont, kaum
gespielt werden, sind ihre Alben in den Independent-Charts
erfolgreicher als die von den White Stripes, Arcade Fire oder den
Arctic Monkeys. Nur die eigenen Fans, die sogenannten Juggalos,
eine locker definierte, aber sich stark selbstidentifizierende
»Familie«, geben zu, dass ihnen diese Musik gefällt. Was diesen
»proto-utopischen Karnevalsverein«, wie ein Soziologe die Juggalos
scherzhaft nannte, so interessant macht, ist, dass sie einen Großteil
ihrer Anziehungskraft anscheinend aus ihrer symbolischen
Ausgrenzung beziehen; Bourdieu bezeichnete dies als »die
Ablehnung aller Ablehnungen«. 44 »Die werden irgendwie so
akzeptiert, wie sie sind«, sagte ein Juggalo über andere
»Familienmitglieder«. »Du bist, wie du bist. Man muss sich nicht
modisch kleiden oder ein schickes Auto fahren.«
Bei diesen Betrachtungen über Insane Clown Posse hört man
förmlich Bourdieu, der über die bei der Arbeiterklasse beliebten
»populären Spektakel« sagte: »[Sie befriedigen] Geschmack und
Sinne am Fest, am offenen Drauflosen-Reden und am offenen
Gelächter, die befreien, indem sie die soziale Welt auf den Kopf
stellen, indem sie die Konventionen, Anstand und Sitte, für Momente
außer Kraft setzen.« Vielleicht geht es dabei gar nicht um die Musik
selbst, sondern vielmehr um eine Rückkehr zu älteren musikalischen
Ritualen – als die Musik noch kein isolierter, zufälliger
Konsumgegenstand auf einer riesigen Playlist war, sondern ein
Mittel zur Festigung der Gruppenidentität. Dass weder die Musik
noch die soziale Gruppe besonders beliebt sind, festigt den
Gruppenzusammenhalt nur noch. Es geht um die Ablehnung
jeglichen Geschmacks, um eine Oase der Toleranz, die den Sitten
aller anderen widerspricht, auch denen der angeblich so toleranten
Allesfresser. Wie Bourdieu schrieb: »Die Auffassung von dem
Klassifikationssystem [hängt] von der eigenen Stellung innerhalb
der Klassifikationen ab.«45 Oder wie es der Autor Kent Russell
ausdrückte: »Man kann ein Juggalo sein oder White Trash – der
erste Begriff gehört einem selbst, der andere kommt von außen.«46
Menschen stecken die Musik in Schubladen und werden selbst
durch die Musik in Schubladen gesteckt. Das Interessante daran ist,
wie die Schubladen mancher Leute mit der Musik zusammenpassen
oder nicht, die sie wirklich hören. Denn was die Leute über ihre
Abneigungen sagen, verrät häufig mehr über sie als das, was sie
tatsächlich tun.
Die Geschmacksbüchse der Pandora:
Wie kann uns etwas gefallen, das wir gar nicht kennen?

Eines Samstagabends im Jahr 1950 spielte das dänische Radio unter


dem Titel »populäre Schallplattenmusik« verschiedene nicht näher
bezeichnete Musikstücke. Am Samstag darauf, einem Tag, an dem
die Hörerzahlen üblicherweise am höchsten sind, lief an selber
Stelle eine Sendung mit »klassischer« Musik. Wie Sie sich
vermutlich schon gedacht haben, war das Publikum der ersten
Sendung erheblich größer, genauer gesagt, hörten doppelt so viele
zu.
Doch die Geschichte hat einen Clou: An beiden Samstagen wurde
nämlich dieselbe Musik gespielt. Allerdings nannte man in der
zweiten Woche die Titel mit Tonart, Opuszahl und so weiter. Die
dänischen Hörer waren, ohne es zu wissen, zum Gegenstand eines
Versuchs des Soziologen Theodor Geiger von der Universität Aarhus
geworden. Der dänische Radiosender war besorgt, weil klassische
Musik und »ernstere Spielarten der modernen Musik« beim
Publikum anscheinend auf wenig Interesse stießen. 47 Und Geiger
wollte wissen: Gefiel den Leuten wirklich keine klassische Musik?
Oder glaubten sie nur, sie könne ihnen nicht gefallen, weil ihnen das
musikalische Vorwissen fehle oder sie für ihre soziale Schicht
»unpassend« sei?
Interessanterweise nahmen die Hörerzahlen während der ersten
Sendung sogar noch zu. Die Leute wurden nicht etwa durch das
Etikett »populär« angelockt und schalteten dann angesichts der, wie
Geiger schrieb, »keineswegs ohrenschmeichelnden Musik« ab. Die
meisten Hörer blieben dran. Manche – vermutlich eingefleischte
Klassik-Fans – riefen sogar beim Sender an und fragten verärgert,
wieso man diese Musik als »populär« bezeichne.
Geiger lehrte der Versuch nur eins: »Das breite Publikum hat
einen besseren Musikgeschmack, als es bereit ist, zuzugeben.«
Oder um es ohne den gewissen Anflug von Elitebewusstsein der
1950er Jahre zu sagen: Wie viele Leute die Musik hörten, hing
davon ab, welchen Namen man ihr gab. Wir wissen natürlich nicht,
was in den Köpfen der Zuhörer vorging. Gefiel ihnen die Musik
wirklich? Oder signalisierte die Bezeichnung »populär« für sie, dass
ihnen die Musik gefallen müsse, da sie offensichtlich so beliebt war?
Warum vergraulte sie die Bezeichnung »klassisch«? War die Musik
das Problem oder nur die Schublade?
Dahinter versteckt sich die tiefergehende Frage, wie oft uns unser
»Geschmack« bei Dingen in die Quere kommt, die wir sonst
vielleicht mögen würden?48 Was wäre gewesen, fragte sich der
französische Philosoph Jacques Rancière, wenn beispielsweise
Bourdieu seinen Versuchsgruppen die Musik ohne sozioökonomische
Fallstricke präsentiert hätte? So wie der argentinische Komponist
Miguel Àngel Estrella, der sein Klavier einfach in ein »Andendorf«
schleppte und vor bäuerlichem Publikum nach Versuch und Irrtum
spielte? Die Dorfbevölkerung hörte anscheinend am liebsten Bach.
Und dabei kann scheinbar allein der Name Bach schon gewogen
machen. In einer Studie gefiel den Leuten dasselbe Musikstück
besser, wenn es Bach und nicht seinem Zeitgenossen Buxtehude
zugeschrieben wurde. 49 Man erzähle den Leuten, eine bestimmte
Musik habe auch Hitler gefallen, und sie wird ihnen schlechter
gefallen, als wenn man sie einfach als »romantisch« bezeichnet
hätte. 50 Das lässt auch an Paul Rozins Versuch zum Ekel und der
»sympathetischen Magie« denken: Rozin hat Probanden einmal
Schokoladenpudding in Hundekotform serviert. 51 Allein die
Assoziation verschlug den meisten schon den Appetit. Dabei war
Hitler ja nicht der Komponist der Musik und der Hundekot nicht
real. Aber die Information genügte, um etwas symbolisch zu
beschmutzen. Wenn es um Geschmack geht, ist das Symbolische
wohl Wirklichkeit genug.
In den Anfangstagen von Pandora Radio, dem beliebten
amerikanischen Online-Musikdienst, machte Mitbegründer Tim
Westergren einen radikalen Vorschlag: Vielleicht sollte man den
Hörern keine Informationen zu den gespielten Songs geben?
»Dahinter stand die Idee«, erläuterte er mir gegenüber, »dass
unsere Wahrnehmung von Musik unheimlich stark davon beeinflusst
wird, wofür ein Musiker oder ein Genre stehen. Man hört Musik
nicht objektiv. Man reagiert auf einen Song spontan, ohne dass das
unbedingt mit der Musik selbst zu tun haben muss.« Diese
Erkenntnis floss auch in das Music Genome Project von Pandora ein,
ein riesiges Netz aus handcodierten musikologischen Eigenschaften,
die bestimmen, welche Songs für einen Nutzer gespielt werden.
»Das Genom sollte die Musik von all dem entkleiden, und die
Auswahl stattdessen nur auf Musikologie beruhen«, sagte
Westergren. So wie man mit Hilfe der DNA entfernte Verwandte
aufspüren konnte, sollte das Genom jemanden zu einem Song mit
verborgenen gemeinsamen Blutslinien führen. »Die Namen und
Bilder der Musiker wegzulassen, hätte auch den Hörer dazu
bewegen können, das zu tun.« Aber man hielt die Idee, so
Westergren, »für idiotisch«.
Westergren arbeitete als Filmkomponist, ehe er Pandora ins
Leben rief. Sein Job war es, die passende Musik für einen Film zu
finden und dabei den Geschmack des Regisseurs zu treffen. »Ich
spielte dem Regisseur eine Reihe Songs vor und bekam dann ein
Feedback«, erläuterte Westergren. »So versuchte ich, mir ein Bild
von seinem Geschmack zu machen.« Westergren verglich dies mit
dem Spiel »Schiffe versenken«. »Es ist genauso, nur tastet man sich
langsam in Richtung Geschmack vor.« Und das übertrug Westergren
dann auf Pandora: Der Online-Dienst will den
Geschmackserkennungsprozess kodifizieren, indem er dem Hörer
eine Reihe Songs vorspielt und sein Feedback darauf erfasst.
Und noch etwas anderes ließ Westergren keine Ruhe. In einem
Artikel über die Sängerin Aimee Mann las er, wie schwierig es für
sie war, ihre Musik bekannter zu machen. »Aber die Frau hat ihre
Fans«, sagte sich Westergren, »es muss eine kostengünstige
Möglichkeit geben, sie und ihre Fans zusammenzubringen.«
Vielleicht würde Aimee Mann ja vielen gefallen, wenn sie sie erst
einmal hören würden – weil sie bestimmte musikalische
Eigenschaften mit Musikern gemeinsam hatte, die die Leute bereits
kannten und mochten. Man denke nur an die vielen Musiker, die aus
dem Dunkel ins Licht getreten sind, nachdem ihr Song in einem Film-
Soundtrack auftauchte, etwa »I’m Gonna Be (500 Miles)« von The
Proclaimers. Im Film begegnen wir Musik quasi blind und ohne
vorgefasste Meinungen, wie von Westergren angedacht: Man weiß
nicht, was man hört und wer es singt. Man muss sich die Musik
anhören.
Ob einem ein Song gefällt, hängt nämlich auch entscheidend davon
ab, ob man ihn schon einmal gehört hat. Wie beim Essen auch ist
Kennen alles: Je öfter man etwas hört, desto besser gefällt es einem
– zu den Ausnahmen später. Zum sogenannten »Mere-Exposure-
Effekt« – dem Effekt der Darbietungshäufigkeit – gibt es jede
Menge Literatur. 52 So spielte man englischen Schülern und
Studenten in einer Studie fremde pakistanische Volksmusik vor, und
mit jedem Hören gefiel sie ihnen besser. Darum tragen auch DJs
zum Entstehen von Hits bei. Er sei neidisch auf das Radio, weil es
keine Taste zum »Überspringen« gebe, gab Whitman von Echo Nest
zu. »Wahrscheinlich könnte mancher DJ mehr darüber sagen, ob es
reicht, die ›Bohemian Rhapsody‹ einfach zwanzig Mal zu spielen«,
sagte er, »damit sich das pathetische Zeug mit den grauen Zellen
verdrahtet und einem irgendwann gefällt.«
Viele Psychologen sind der Ansicht, dass unsere sogenannte
»perzeptuelle Geläufigkeit« steigt, wenn wir Reizen – Musik,
Formen oder chinesischen Schriftzeichen – wiederholt ausgesetzt
sind; wir können diese Reize dann leichter verarbeiten. Diese
leichte Verarbeitung empfinden wir als angenehm und übertragen
sie auf die Sache selbst. 53 Wenn wir ein Dreieck zum vierten Mal
sehen, so die Psychologin Elizabeth Hellmuth Margulis, denken wir
nicht unbedingt: »Ich kenne das Dreieck, weil ich das schon einmal
gesehen habe.« Wir denken eher: »Ey, das Dreieck gefällt mir.
Damit fühle ich mich schlau.«54 Zudem können wir Dinge leichter
verarbeiten, je »prototypischer« sie sind. Digital montierte
Gesichter – oder Vögel oder Autos oder Formen55 – wirken in
Studien attraktiver auf Menschen als alle anderen Gesichter, Vögel
oder Autos, weil sie durch ihre Durchschnittlichkeit am ehesten den
Erwartungen daran entsprechen, wie etwas auszusehen hat. 56
Sogar die Reihenfolge, in der wir etwas hören, kann unseren
Geschmack beeinflussen. In einer Studie wurden Radiohörern
verschiedene Songs und Coverversionen vorgespielt. Wie Sie sich
vielleicht denken können, gefielen den Leuten die Originalversionen
besser, wenn sie selbst älter waren und zwischen beiden Versionen
eine große Zeitspanne lag. Diese Leute kannten das Original einfach
besser. Doch wer bis dahin keine der beiden Versionen kannte,
bevorzugte schlicht diejenige, die er zuerst hörte. »Ein neuer Reiz«,
so die Autoren der Studie, »hinterlässt im Gehirn mehr Spuren und
wird darum leichter verarbeitet als ein späterer ähnlicher Reiz.«57
Ehe die Bezeichnung »Mere-Exposure-Effekt« aus der Taufe
gehoben wurde, sprach man über das Phänomen mehr oder minder
in einer Tautologie: Danach gefallen uns Dinge, die uns vertraut
sind, weil uns ihre Vertrautheit gefällt. Es stellte sich dabei
allerdings das Problem, so der Psychologe und Erfinder des Begriffs
Robert Zajonc, dass den Leuten auch Dinge gefielen, an die sie sich
gar nicht erinnerten. 58 Bei häufiger Darbietung gefällt uns
manchmal sogar das besser, so Zajonc, von dem uns gar nicht
bewusst ist, dass wir es kennen.
Vor Jahren reiste ich einmal durch Mexiko, als mir im Radio auf
einmal ein Song auffiel: »Burbujas de Amor« von dem
dominikanischen Sänger Juan Luis Guerra. Dem Lied entkam man
damals einfach nicht. Aber warum hatte es mich jetzt plötzlich
angesprungen? Klar, der Song war eingängig, aber das war alles
andere im Radio auch. Und normalerweise hätte ich so etwas eher
als schnulzig abgetan. Vermutlich hatte ich den Song bis dahin schon
etliche Male gehört, bis er schließlich in mein Bewusstsein getreten
war. Langsam, aber sicher erkannte ich seinen Rhythmus wieder
und konnte den vertraut gewordenen Refrain »ey ey ey ey« nun
antizipieren. Dann hatte mir noch jemand erzählt, dass der Text, den
ich mit meinem frischgebackenen Spanisch gerade anfing zu
verstehen – steigende perzeptuelle Geläufigkeit –, voller
schlüpfriger Zweideutigkeiten war. Meine Sprachfertigkeit – und
perzeptuelle Geläufigkeit – nahm also zu. Und plötzlich, ohne dass
ich es gewollt hätte, gefiel mir der Bachata-Song – nur weil ich ihn
in mexikanischen Bussen und Bars immer wieder gehört hatte.
Lieben heißt auch Lernen, und Lernen Lieben – auch wenn uns das
nicht immer bewusst ist. Bei Musik kann das Liebenlernen
unglaublich schnell gehen, ein paar Mal Hören reichen schon. Eines
Abends im Sommer 1985, als in Chicago »House Music« gerade
groß angesagt war, spielte ein Klarinettist und ehrgeiziger DJ mit
seinen Teenagerkumpels an einem Roland TB-303 Basssynthesizer
herum. Die Jungs probierten alle Knöpfe aus, mit vielen schrägen
Klängen. Besonders gut gefiel ihnen die Live-Bassgitarre des
Synthesizers. Nicht nur, weil sie nach Live-Bass klang, sondern weil
sie sich, wie einer sagte, »nach tanzbarer Musik anhörte«. Der
Musikkritiker Bob Stanley sollte den Sound später »schmelzendes
Hirn« taufen.
Und eines anderen Abends trugen die Jungs ein Tape mit dem Titel
»In Your Mind« in einen Club namens Music Box, wo sie es dem DJ
überreichten. »Als er die Musik zum ersten Mal auflegte, wussten
die Leute nicht, was sie machen sollten«, erinnerte sich einer. »Aber
beim zweiten Mal fingen sie an zu tanzen. Und als die Musik zum
dritten Mal kam, schrien sie vor Begeisterung. Beim vierten Mal
tanzten sie auf den Händen. Es riss sie einfach mit.«59 In nur einer
Nacht ward ein neues Genre geboren: Acid House – weil es sich
anfühlte, als wäre an dem Abend irgendwas im Club-Wasser
gewesen. Wie viele Musikerkarrieren sind wohl daran gescheitert,
dass ein Song buchstäblich keine zweite Chance erhielt?
Doch in der Wiederholung lauert auch eine Gefahr: Manches gefällt
uns weniger, je häufiger es uns dargeboten wird. Das gilt besonders
für alles, was wir zunächst nicht mochten. 60 Auch wenn sich keine
exakte Regel dafür aufstellen lässt, laut der führenden Theorie des
Psychologen Daniel Berlyne verhält sich unsere Vorliebe etwa für
einen Song wie ein umgekehrtes U und ist dabei abhängig vom
Faktor »Komplexität«. 61 Dinge gefallen uns umso schlechter, je
einfacher oder je komplexer sie sind. Für die meisten Menschen
liegt der Idealpunkt dabei irgendwo in der Mitte.
Doch mit jedem Hören klingt eine Musik für uns weniger komplex.
Der ansteckende Popsong mit dem eingängigen Rhythmus, der die
Charts im Handumdrehen stürmt, stürzt darum schon am Ende des
Sommers über die Klippen des Geschmacks. Einen Song mit
komplizierterem Arrangement und mehr Tiefgründigkeit in Melodie
und Bedeutung lernt man dagegen vielleicht nach und nach
schätzen. Pink Moon von Nick Drake, mit hochpoetischem Text und
komplexen Akkorden, verfehlte beispielsweise bei weitem die
britischen Charts von 1972. Doch den Titelsong des Albums haben
Sie vermutlich in den letzten Jahren in Film, Werbung oder Radio
öfter gehört als die Hits aus demselben Jahr – »Puppy Love« von
Donny Osmond oder »My Ding-a-Ling« von Chuck Berry.
Offensichtlich brauchte es etwas länger, bis Nick Drake gefiel. Und
ordnet man die Beatles-Alben nach ihrer Komplexität, so die
Musikwissenschaftler Adrian North und Davie Hargreaves, dann
erfreuten sich ehemalige Chart-Stürmer wie Please Please me
kürzere Zeit großer Beliebtheit als musikalisch und textlich
komplexere Werke, etwa Abbey Road. 62
Und mit dem Essen ist es dasselbe. So verhält sich unsere
Vorliebe für Süßes tendenziell wie ein umgedrehtes U: zu viel oder
zu wenig Zucker, und schon war’s das mit der Liebe zum Süßen. Der
Lebensmittelforscher Howard Moskowitz testete eine
»Gewürzmischung mit Knoblauchnote« und ließ dazu Verbraucher
Produkte mit unterschiedlich starkem Aromagehalt probieren. 63 »Je
kräftiger das Gewürz schmeckt, desto höher seine Beliebtheit«,
stellte er fest. Das klingt logisch. Doch dann fiel ihm etwas
Seltsames auf. »Das gilt allerdings auch für seine potentielle
Langeweile.« Was anfangs aufregend ist, wirkt schnell ermüdend.
Vermutlich hat dies mit der perzeptuellen Geläufigkeit zu tun. »Oh,
das schmeckt ja echt nach Knoblauch!«, denkt man beim ersten
Mal. »Oh, da ist Knoblauch drin«, beim zweiten Mal. Und beim
dritten Mal schmeckt man nichts als Knoblauch. Wenn Cola, wie
Moskowitz annimmt,64 vor allem darum so beliebt ist,65 weil man
nicht sagen kann, was drin ist, dann könnte man ein Genre wie Jazz
als die Cola der Musik bezeichnen; und Popmusik wäre die
Orangenlimonade. Beim ersten Mal noch prickelnd, aber bald schon
nur noch klebrig-süß. Musikwissenschaftler beobachteten bei der
Erforschung der alten Hitparaden sogar ein Phänomen der
sogenannten »Übersättigung«: Je schneller ein Song unter den Top
10 war, desto schneller war er auch wieder draußen. Als würden
wir etwas zu schnell in uns hineinstopfen und dann einen
Zuckerschock erleiden. 66
Doch lassen wir die Komplexität einmal beiseite. Warum gefällt
uns scheinbar all das, was uns vertraut ist? Bei Essbarem handelt es
sich offensichtlich um einen evolutionären Anpassungsprozess: Was
einen das letzte Mal nicht umgebracht hat, muss irgendwie gut sein.
Wir begegnen hier Paul Rozins »Omnivoren-Dilemma«: Ähnlich wie
Ratten sind wir bei der Speisenauswahl nicht pingelig, aber darum,
so Michael Pollan, »muss eine enorme Menge an Gehirnraum und
Zeit dafür verwendet werden herauszufinden, welche von all den
potenziellen Gerichten, die die Natur zur Verfügung stellt,
bedenkenlos genießbar sind.«67 Bei der Musik und anderen
Geschmacksfragen quält uns ein ähnliches Allesfresser-Problem: Es
gibt mehr Songs, als man je in seinem Leben hören könnte. Die
digitale Musikrevolution, so der Musiker Peter Gabriel, hat uns
anfangs die große Wahlfreiheit versprochen. Doch als unsere
Festplatten überquollen und es in der Cloud vor Musik nur so
wimmelte, wollten wir plötzlich vom Wahlzwang befreit werden.
Und sind wieder zum Altbekannten zurückgekehrt. 68 Warum soll
uns nicht gefallen, was wir bestens kennen – selbst wenn es
irgendwo da draußen vielleicht etwas gibt, was uns noch besser
gefallen könnte? Wir sparen damit Zeit und Energie und müssen
nicht in den unendlichen Weiten der musikalischen Wildnis nach
Dingen stöbern, die wir eh nur schwer verarbeiten können. 69
Vielleicht lieben viele darum vor allem die Musik, die sie in »einer
kritischen Periode maximaler Sensibilität« gehört haben und die die
Forscher Morris Holbrook und Robert Schindler bei 23,5 Jahren
ausgemacht haben. Auch das könnte Vertrautheit sein. Wenn einem
Siebzigjährigen »Smoke Rings« von den Mills Brothers nicht besser
gefallen würde als »Sledgehammer« von Peter Gabriel, dann wäre
das seltsam – wenn auch nur darum, weil ihm Ersteres vertrauter
ist. 70

Abgesehen von Darbietungshäufigkeit und Vertrautheit trägt aber


vermutlich noch etwas anderes dazu bei, dass die Musik unserer
Jugend einen besonderen Platz in unserem Herzen einnimmt.
Holbrook und Schindler sprechen von einer Art Prägung à la Konrad
Lorenz, von »biologisch festgelegten« Perioden, in denen sich etwa
die Elternbindung ausbilden oder wir Sprachen lernen würden –
auch wenn die langgehegte Vorstellung von einer altersabhängigen
für den Spracherwerb »kritischen Periode« kürzlich in Frage
gestellt wurde. 71
Meiner Meinung nach liegen die Dinge allerdings einfacher. Wir
haben im Studium normalerweise einfach am meisten Zeit, um uns
um Musik zu kümmern und Musik zu hören. Ich spüre förmlich noch
den steifen Nacken, den ich hatte, wenn ich mich im Laden
stundenlang über die Platten beugte. Heute finde ich kaum noch die
Zeit, durch meine Playlist zu scrollen.
Weil die meisten von uns in diesem Lebensabschnitt keine schicke
Uhr oder ein schnittiges Auto besitzen, wird die Musik zu einem
preisgünstigen, sozial bedeutsamen Zeichen der sozialen
Distinktion. Wir streifen uns probeweise verschiedene Identitäten
wie bedruckte T-Shirts über. In meinen Uniheften wimmelte es vor
Band-Logos, und in einer alten Zigarrenkiste bewahrte ich wie
Fetische zahllose alte Konzertkarten auf, Abbilder meiner Seele.
Gespräche über Bands waren immer auch Gespräche darüber, wer
wir sein oder nicht sein wollten. Wie könnten derart starke
Bindungen den Übergang zum Erwachsenendasein überleben? In
dem Dokumentarfilm Rush: Beyond the Lighted Stage sagt Matt
Stone, der Schöpfer von South Park, er habe damals zu denen
gehört, die ihre skeptischen Peers – die eher »von der Kritik
abgesegneten« Musikern wie Elvis Costello zuneigten – von dem
progressiven kanadischen Rocktrio Rush überzeugen wollten. »Aber
jetzt sind wir alle so alt«, so Stone, »dass man Rush einfach gut
findet, selbst wenn man sie in den Siebzigern und Achtzigern
gehasst hat. Das geht gar nicht anders.«
Und tatsächlich: Wenn ich heute einen Song von Rush wie »Spirit
of Radio« höre, dann freue ich mich einfach total. Aber lag ich denn
mit meinem Urteil über Rush all die Jahre falsch? Ist meine neue
Einschätzung wirklich so ungetrübt oder mit einem Hauch Ironie
gespickt? Oder fehlt mir nicht nur die Zeit, mich um aktuellere
Lieblingsmusik zu kümmern, sondern auch, um an meinen
Abneigungen festzuhalten?XI Ich habe einfach keinen Biss mehr. Ich
leide an einer »Geschmacksblockade«. 72 Doch lohnt es sich denn
noch, jedem Newcomer hinterherzuhecheln, wenn er in den eigenen
Ohren wie ein fahler Abklatsch von etwas aus der Jugend klingt?
Dem sogenannten »Höhepunkt der Reminiszenz« entkommt man nur
schwer: »Die am stärksten erinnerungswürdigen Ereignisse und
Veränderungen finden in der Jugend und dem jungen
Erwachsenenalter eines Jahrgangs statt.«73
Angesichts dieser Analyse drängt sich der Verdacht auf, dass
Woodstock nicht wegen seiner Musik eine so bedeutsame kulturelle
Rolle spielte, sondern eher aus Gründen der Statistik: Der
geburtenstärkste Jahrgang der USA erreichte damals gerade das
Alter der maximalen Erinnerungswürdigkeit. 74 Doch warum glaubt
jeder – und nicht nur die 68er-Generation –, dass die Musik seiner
Jugend besser war? Wie Carey Morewedge von der Carnegie
Mellon University richtig bemerkt, kann das nicht stimmen, weil es
jeder glaubt. Morewedge vermutet, dass es mit der Musik ähnlich
ist wie mit allem anderen auch. Weil wir uns an die positiven
Erlebnisse in unserem Leben besser erinnern als an die negativen,
bleibt die »gute« Musik uns besser im Gedächtnis. Derweil hören
wir in der rauen, ungeschminkten Gegenwart die Musik, die uns
gefällt, und Musik, von der wir wissen, dass sie uns nicht gefällt.
Das Gedächtnis, so Morewedge, ist wie ein Radiosender, der nur
spielt, was wir hören wollen. Da wir so viel Zeit damit zugebracht
haben, uns über diese Musik Gedanken zu machen, wundert es
nicht, dass wir noch immer in unseren Erinnerungen daran
schwelgen und eine Schwäche dafür haben.
Wie aber können wir den sicheren Bereich verlassen, auf dem wir
üblicherweise grasen, und uns in neue verheißungsvolle, wenn auch
angsteinflößende Gebiete vorwagen, in denen noch unbekannte
Freuden auf uns warten? Ganz einfach: Wir suchen uns jemanden,
der uns dort hinbringt. Wie Westergren im Scherz zu mir sagte:
»Wir gestatten dem trägen Mann mittleren Alters, wieder in den
Ring zu steigen.«

***

Zu Pandora konnte ich erst nach einem eher quälenden Hickhack


mit den Leuten aus der PR-Abteilung gehen. Der Stein des Anstoßes
war offenbar das Wort »Geschmack«. Man setzte mir auseinander,
dass Pandora »keinesfalls irgendwelche Geschmacksmaßstäbe
setzen« und sich vielmehr bemühen würde, »jedem Hörer ein
unverwechselbares Erlebnis zu ermöglichen«. Mir schien das
wieder einmal ein Hinweis darauf, wie tief die Vorstellung von einem
verbindlichen Geschmack seit der Jahrhundertmitte gesunken ist.
Als wären Geschmacksvorschriften ähnlich gestrig, wie zum
Mittagessen einen Martini zu nehmen.
Die Leute drücken sich heute vorsichtiger aus und reden recht
geschmeidig von »Entdeckung« oder »Bewahrung«. Bei seiner
Gründung 1926 versicherte der Buchclub The-Book-of-the-Month
noch, jedes ausgewählte Buch sei zweifellos »außergewöhnlich, da
es dem ›vielfältigen Geschmack‹ und der ›Urteilsfähigkeit‹ der Jury
standgehalten habe«. Knapp ein Jahrhundert später heißt es eher
zurückhaltend, »dass Ihnen unsere neuen Lieblingstitel mit
Sicherheit gefallen werden«. Der Fokus hat sich verschoben: von
objektiven, von oben verordneten Normen zum persönlichen
Lesergeschmack.
Aber sind damit nun alle Auswahlkriterien verschwunden?
Westergren gab sich alle Mühe, die Pandora-Playlists möglichst
beliebig erscheinen zu lassen. »Wir wollen nicht urteilen«, sagte er.
»Manche Leute wollen zig Mal dieselben zehn Songs hören, und das
sollen sie dann auch.« Aber wozu braucht Pandora dann
Heerscharen von Musikanalysten und die vielen klugen
Algorithmen? Einen Moment später fügte Westergren hinzu: »Wir
pflegen unsere Sammlung. Wir sortieren jede Menge furchtbare
Musik aus, weil es dann insgesamt befriedigender wird.«
Dieselbe Frage stellte ich auch Michael Zapruder, dem
langjährigen Chef-Musikkurator des Unternehmens. 75 Sein Job war
es, unter den ihm großteils unbekannten Songs die auszuwählen, die
es ins Music Genome schaffen sollten. Er hatte dabei mit dem
Zwiespalt zwischen demokratischer Inklusion und elitärer Auswahl
zu kämpfen, wobei er sich, wie er sagte, wie der Juror eines Baby-
Schönheitswettbewerbs vorkam. (Auf diese nicht leichte
Problemstellung werde ich später noch zurückkommen.)
Zapruder sprach von einem Grundwiderspruch und zitierte, leicht
abgewandelt, George Orwells Roman Animal Farm: Manche Lieder
sind gleicher als gleich. Geschmack spielte also sehr wohl eine
Rolle, auch wenn es nicht der Geschmack von Pandora an sich war.
Aber es funktionierte offenbar: Wie Westergren sagte, wurden 95
Prozent der über eine Million Songs bei Pandora jeden Monat auch
gespielt.
Pandora hat einen gigantischen musikalischen Sandkasten
erschaffen, mit jeder Menge interessantem Spielzeug, aber alles in
einem bestimmten Rahmen. Wie der Manager Music Operations des
Unternehmens, Steve Hogan, sagte: »Darum haben wir nur eine
Million Songs.« Andere Dienste mögen 18 Millionen haben, sagte er,
»aber bei uns wird die Musik von Menschen bewertet. Wenn uns ein
Label ein Paket mit Karaoke-Musik schickt, dann fällt die durch.«
Die Pandora-Analysten, so Hogan, »wählen eher Songs aus, die
einen Musiker ihrem Gefühl nach am besten repräsentieren und
ihrer Meinung nach am erfolgversprechendsten sind«.
Während im Radio nur jeweils ein Song im vom Hörer erwarteten
Format läuft, wollte Pandora mit Hilfe von Mathematik und
Musikwissenschaften eine Heerschar unsichtbarer DJs kreieren, die
jedem Hörer einen Mix aus dem boten, was ihm gefiel oder gefallen
könnte. Angeblich hat jemand bei einer Art Bürgerversammlung
einmal zu Tim Westergren gesagt, er habe ja gar nicht gewusst,
dass es auf der Welt so viele Marschmusikfans gebe. Pandora besaß
wirklich ein Marschmusikprogramm, und für den Hörer war
Pandora ein Marschmusikdienst. Tom Conrad, der Chefingenieur
des Unternehmens, erklärte dazu: »Die Leute sollen das Gefühl
haben, dass Pandora ihr Sender ist, und wir wollen uns da mit
unserem Musikgeschmack oder dem anderer Leute nicht
einmischen.«
Die Frage, welche Musik die Leute wohl hören wollen, war nur ein
kleiner Teil des Problems. Mit dem Versuch, personalisierte
Radiosender zu schaffen, öffnete der Online-Dienst auch die Büchse
der Pandora. Denn wie unser Geschmack beim Essen ist unser
Musikgeschmack von zig Faktoren abhängig. Man hört zu oft
dasselbe hintereinander? Dann kann es zur sinnesspezifischen
Übersättigung kommen. Und was hat man davor gehört? Nach
mehreren fröhlichen Songs klingt ein trauriger Song womöglich
nicht mehr ganz so traurig. Wo hört jemand die Musik? Als Student
ging ich regelmäßig in einen angesagten Plattenladen, einen
geheimnisumwobenen Schrein, wo man sich vage geschmeichelt
fühlte, wenn der Verkäufer die eigene Wahl mit wortlosem Nicken
quittierte. Schon bald erkannte ich, dass keine Musik jemals an die
herankommen würde, die jene schlaksigen, gestrengen Weisen auf
dem Plattenteller hinter der Theke auflegten.

Manchmal begegnet man auch der Vorstellung, in der Musik gäbe es


grundlegende Geschmacksmuster: statt Salzgehalt und Süße etwa
Synkopierung, rauchige Stimme oder Trommelmärsche. Aber wir
lernen, bestimmte »Geschmacksnoten« zu mögen oder eben nicht.
Vor einigen Jahren kamen von Pandora-Hörern besonders oft
negative Rückmeldungen zur Electro Dance Music. »Wir
analysierten über 45000 Tracks und stellten fest, dass die Club
Dance Music oft wahllos gemischt war«, sagte Hogan. »Denn im
Genom haben alle denselben ›Wum, wum, wum‹-Rhythmus.« Aber
die Fans bekamen auf ihren Trance-Sendern nun Techno zu hören.
Und Techno, so Eric Bieschke, »ist etwas ganz anderes, wenn man
auf Electro schwört. Mein Vater würde vielleicht sagen, alles, was
ich höre, sei Techno.« Pandora reicherte, so Bieschke, das Genom
darum mit einem Dutzend neuer »Attribute« an. »Wie viel Hall und
Atmosphäre gibt es? Welche EQ-Effekte oder Filter-Sweeps werden
eingesetzt?«
Zudem kann eine Band auch eine neue Geschmacksrichtung
einschlagen. Und manchmal verändern sich die Zuhörer, und der
Song bleibt derselbe. Wie beispielsweise beim Hit »We Are Young«
von Fun. Noch vor einem Jahr, sagte Conrad, war Fun »eine von den
unzähligen gesichtslosen Bands, die eine CD herausbringen, bei
Pitchfork eine Rezension bekommen und die ansonsten kein Mensch
kennt«. Der Song, so Conrad, war »jahrelang auf Pandora und
wurde nur von einem harten Kern gehört, der das Gefühl hatte,
gerade eine wichtige Band zu entdecken.« Doch dann war der Song
plötzlich in der populären Fernsehserie Glee zu hören und hatte
über Nacht eine riesige neue Fangemeinde. Sie kam nun mit einer
anderen Erwartungshaltung, wenn sie die Musik auf Pandora hörte.
Sie wollte andere Songs aus Glee hören.«
Die Welt der reproduzierten Musik, so Zapruder, ist wie ein
riesiger Ozean. »Jeder Song kann zur Einstiegsstelle werden. Man
steigt vielleicht mit den Beatles ins Meer, aber einmal im Wasser,
kann man überall hin.« Manche Leute klammern sich dann ans
rettende Ufer, andere aber wagen sich weit hinaus. Wie ein mutiger
DJ könne Pandora neue glückliche Verbindungen stiften und etwa
auf die Beatles den Song »Lemons Never Forget« von den Bee Gees
folgen lassen. Beide Songs seien im Sound nicht unähnlich. Doch
weil die meisten Leute die Bee Gees in die Schublade Discomusik
gesteckt haben, lassen sie das nicht zu. »Die heilige Dreieinigkeit
bei Pandora«, so Bieschke, »heißt ›Abwechslung, Neues,
Vertrautes‹.« Die Website arbeitet mit einem mathematischen
Modell, das bestimmt, wo auf der Achse vom »aktiven« bis zum
»passiven« Hörer jemand angesiedelt ist. Die Sender, die der Hörer
erstellt, spiegeln seine Geschmacksbandbreite wider. »Wenn jemand
schon mal einen Jazzsender kreiert hat, hat er wahrscheinlich
Sender im gesamten Geschmacksraum«, erläuterte Bieschke. »Und
wenn jemand schon einmal ›Coltrane‹ eingegeben hat, besitzt er
vermutlich auch eher breitgefächerte Hörgewohnheiten.«
Doch letztendlich kommt es auf den Daumen an. Anfang 2015
wurde bei Pandora der 50-milliardenste Daumen gehoben oder
gesenkt. Der Daumen ist das aussagefähigste Signal, stärker noch
als der Button »Überspringen«. Doch auch da bleiben Fragen offen.
Möchte das jemand momentan nicht hören? Oder gefällt ihm die
Band nicht oder meint er, das passe nicht in seinen Sender? »Wir
haben einmal einen Test gemacht«, sagte Bieschke. »Wir haben ein
halbes Prozent unserer Hörer ausgewählt, und wenn ihr Daumen
nach oben oder unten zeigte, haben wir nachgehakt, warum.« Die
Befragten konnten ihre Gründe dann in einem Textfeld anführen.
»Aber das Problem war, dass die genannten Gründe auf der
gesamten Geschmackskarte verteilt waren. Da kamen so Sachen
wie, ›Ich habe den Daumen gehoben, weil dies der erste Tanz bei
der Hochzeit meiner Tochter war.‹ Was soll ich als Algorithmus-
Mann damit anfangen?« Der Test wurde abgebrochen und die
Büchse der Pandora mit der Frage nach dem Warum – warum gefällt
etwas oder nicht? – wieder fest verschlossen.
»Über Geschmack lässt sich angeblich nicht streiten, weil man ihn
nicht erklären kann«, sagte Hogan. »Aber wir können Erklärungen
en masse liefern. So können wir beispielsweise sagen, dass Leute,
die den Rolling-Stones-Sender hören, auch mit 84-prozentiger
Wahrscheinlichkeit diesen oder jenen Song gut finden. Das ist eine
ziemlich sichere Bank. Und ich habe damit eine Erklärung für den
Geschmack einer riesigen Gruppe geliefert.« Hogan hält inne, starrt
einen Moment vor sich hin und sagt: »Was man wohl nicht erklären
kann, ist, warum der Song jemandem nicht gefiel.«

_________
V Bei meinem Treffen mit Liu stand der Verkauf der Website an eBay bevor, und
seitdem ist der Zugriff auf die Seite nicht mehr möglich.

VIDas verkündet auch heute noch etwa die Wochenendbeilage der Financial Times
mit dem vielsagenden Titel How to Spend It.

VII Das erinnert an die Szene in Ghost World, wo der Protagonist Seymour erklärt:
»Vielleicht möchte ich niemanden mit meinen Interessen treffen. Ich hasse meine
Interessen nämlich.«

VIIIEnde 2015 wurde allerdings diskutiert, ob es eine solche Option geben sollte.
Jedoch ging es dabei darum, anderen sein Mitgefühl auszudrücken, also schlechte
Nachrichten von anderen zu »disliken«.

IX Zumindest 1996. Wie bei allen einstigen »Außenseiter«-Genres deutet vieles darauf
hin, dass Metal es mittlerweile ins Mainstream-Fach geschafft hat. So trat der Pianist
Lang Lang bei den Grammy Awards 2014 gemeinsam mit Metallica auf – beide
wollten sich dadurch vermutlich legitimieren.
X
Die Website »Every Noise at Once« (http://everynoise.com/engenremap.html) führt
dies allerdings nicht als Genre, dafür aber »Juggalo«, wie die Anhänger der Band
heißen.

XI Als in dem Film Gefühlt Mitte Zwanzig ein hipper junger »Allesfresser«
offensichtlich voller Bewunderung »Eye of the Tiger« von Survivor hört, bemerkt der
von Ben Stiller verkörperte Generation-X-Vertreter: »Ich erinnere mich noch an Zeiten,
als man diesen Song für schlecht hielt.«
4

WOHER WISSEN WIR,


WAS UNS GEFÄLLT?
Über Hype und Streit in der Kunst

Uns gefällt, was wir sehen, und


wir sehen, was uns gefällt:
Was Museumsbesucher so machen

Am Morgen des 9. April 2008 wurde an einem tristen Antwerpener


Fußgängerweg in aller Stille ein Bild enthüllt: Direkt auf die
Betonwand waren in Schwarz, Weiß und Grau kopulierende Affen
gemalt. XII
Das Werk stammte von dem bekannten belgischen Maler Luc
Tuymans. Auftraggeber war ein belgischer Fernsehsender, der
damit eine einfache Frage klären wollte: Erkennt der Mensch,
wenngleich er vielleicht kein erklärter Fan moderner Kunst ist, die
Kunst als Kunst?
In dem Kurzfilm über das Experiment sieht man mehrere
Kuratoren großer Museen, die sich vor der Enthüllung des
Kunstwerks zu der Frage äußern: Sie sind angesichts der Bedeutung
Tuymans vollkommen davon überzeugt, dass die Passanten die
Arbeit bemerken werden. Sie könnten gar nicht anders. Die
nichtsahnenden Bürger von Antwerpen, so ein Kurator, »müssten
sich zwangsläufig« fragen, »warum dieses Werk in ihr Leben
getreten ist«. Ein anderer sagte: »Die Leute werden innehalten,
nachdenken und aufwachen.«
In den 48 Stunden, die der Versuch dauerte, hielten trotz des
auffallenden, fesselnden Motivs nur 4 Prozent der fast 3000
Passanten inne und betrachteten das Bild. Das Tuymans-Werk
mochte künstlerisch wertvoll sein, doch den meisten Bürgern stach
es nicht ins Auge. »Kann man durch solche Experimente das
Interesse an Kunst fördern?«, hatte der Fernsehsender wissen
wollen. Die Menschen stimmten mit den Füßen ab. Sie gingen
einfach weiter.
Gegen die Versuchsmethode oder überhaupt gegen den
Versuchsansatz gibt es einiges einzuwenden. So bedeutet es nicht
unbedingt, dass jemand Kunst nicht zu schätzen weiß, wenn er vor
einem zufälligen Bild auf einer zufälligen Straße nicht stehenbleibt.
Der durchschnittliche Passant bewegt sich inmitten unzähliger
Geräusche, Gerüche und vor allem Bilder. Zeugt es da tatsächlich
von einem Mangel an Wertschätzung, wenn man ein Tuymans-
Wandgemälde nicht bemerkt, wo einem das Riemchenmuster am
Boden oder der ungewöhnliche Vogel auf der Laterne genauso
entgehen? So schrieb schon W. H. Auden angesichts von Brueghels
berühmtem Bild Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, auf dem ein
hilfloser Flügelmensch im Wasser treibt, dem niemand, wohl nicht
mal Brueghel selbst, besondere Aufmerksamkeit schenkt: Sogar das
Leiden geschieht, »während einige essen, ein andrer ein Fenster
öffnet oder gelangweilt hingeht«. 1
Das Tuymans-Bild liegt also im kognitiven Dunkel. Um es
überhaupt wahrzunehmen, braucht man überschüssige neuronale
Energie. Dann wäre da noch die »Erwartung«. Auf städtischen
Häuserwänden tauchen alle Nase lang Graffiti, Plakate und
Ähnliches auf. Originalgemälde hervorragender zeitgenössischer
Künstler erwarten wir dort allerdings nicht; sieht man einmal von
Banksy ab, nach dessen Werken die Londoner Ausschau halten. Und
was wir nicht erwarten, entdecken wir mit einiger
Wahrscheinlichkeit auch nicht.
Und was, wenn das Gemälde den Passanten trotz aller
Geschäftigkeit ins Auge gefallen ist? Wie viele Leute das Gemälde
wahrgenommen haben, ohne stehenzubleiben, wissen wir ja gar
nicht. Vielleicht haben manche sogar registriert, dass da jemand
etwas Interessantes, Provokantes oder sogar Schönes gemalt hat.
Na und? Interessante Bilder gibt es zuhauf. Ohne einen Kontext
laufen Inhalte ins Leere. Wer weiß, vielleicht hat jemand den
Tuymans-Stil sogar erkannt, doch woher sollte er wissen, dass es
sich um ein Original handelte? Wie soll sich dem Betrachter die
Bedeutsamkeit eines einzelnen Werks offenbaren, wenn es nicht im
Museum hängt und eine Bildbeschreibung fehlt? Mit mehreren
Tuymans-Gemälden, als »echte« Werke beworben, hätte man
zweifellos mehr Leute angezogen. Originale lassen unsere
Neuronen nämlich ziemlich feuern. 2
Jemand könnte das Gemälde auch gesehen, kurz gedacht haben,
gefällt mir nicht, und einfach weitergegangen sein. Das Verb
»gefallen« steht allerdings, vor allem in der zeitgenössischen Kunst,
nicht hoch im Kurs. Nicht selten liest man Sätze wie »Die Frage, ob
einem Nauman ›gefällt‹, scheint mir fehl am Platze« (man beachte
die tödlichen Anführungszeichen). 3
Das Misstrauen gegen Kunst, die gefällt, hat natürlich in der
philosophischen Ästhetik eine lange Tradition. So bezeichnete Kant
in der Kritik der Urteilskraft die rein hedonistische Reaktion als das
bloß »Angenehme«, »was den Sinnen in der Empfindung gefällt«. 4
Dem sei nicht zu trauen, denn einem Hungrigen schmecke eben
mehr oder minder alles. Es handle sich zudem um reine
»Privaturteile«, von denen man gewöhnlich sagt: »Über Geschmack
lässt sich nicht streiten.« Kant ging es um Größeres: um das
»interesselose Wohlgefallen«. Man müsse dazu nicht wissen, ob es
sich um einen Tuymans handelt, und grüble nicht über Stil oder
Maltechniken nach. Man denke nicht einmal an das Gemälde. Man
lasse seine Schönheit einfach auf sich wirken. David Hume,
Philosoph des Empirismus und zweites Schwergewicht der Ästhetik
der Aufklärung, hätte dem vermutlich entgegengehalten, ob einem
Tuymans gefalle oder nicht, sei völlig unerheblich, denn unabhängig
von den Gründen könne man dafür schließlich nichts, es handle sich
dabei bloß um eins von »tausenderlei Gefühlen«. XIII Hume suchte
nämlich nach einer festen Regel, die eine Aussage darüber zuließ,
ob in unserem Falle Tuymans mehr war als pures Vergnügen.
Kant und Hume hatten den idealen Kritiker vor Augen und nicht
geschäftige Passanten in Antwerpen, die es wohl eher mit dem
Kritiker Clement Greenberg hielten: »Zuallererst geht es bei Kunst
darum, ob sie einem gefällt oder nicht. So einfach ist das.«5
Vermutlich haben unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere
»Affekte«, wie die Psychologie sagt, mehr Macht über uns, als wir
allgemein denken. Sie bestimmen nämlich nicht nur, wie uns ein
Kunstwerk gefällt, sondern auch, wie wir es sehen. 6

***

Das Tuymans-Experiment zeigt uns trotz aller Mängel, dass wir,


obwohl uns das nicht immer bewusst sein mag, in einer »Top-down«-
Welt leben: Wir sehen, was wir zu sehen erwarten oder sehen
wollen, und registrieren die Welt um uns nicht unbedingt »Bottom-
up«. »Wir leben in zwei Welten zugleich«, so der
Neurowissenschaftler Eric Kandel: »Top-down und Bottom-up, und
unser kontinuierliches visuelles Erleben ist ein Zwiegespräch
zwischen beiden.«7 Wenn ein Bottom-up-Reiz ausreichend groß,
lebhaft oder sogar gefährlich sei, seien wir vielleicht »gezwungen«,
etwa ein Tuymans-Gemälde wahrzunehmen. Unsere
Aufmerksamkeit werde aber eher durch unsere Top-down-
Wahrnehmung geweckt, also weil wir sowieso gerade auf dem Weg
von oder zu einer Tuymans-Ausstellung sind und mit unseren
Gedanken schon bei dem Künstler oder Kunst im Allgemeinen.
Lange galt das Gehirn, erklärte mir Lisa Feldman Barrett, Leiterin
des Bereichs Interdisciplinary Affective Science an der
Northeastern University, vor allem als ein Bottom-up-Organ. Das
Drehbuch sah in etwa so aus: Die Neuronen im Gehirn ruhen, bis sie
durch einen äußeren Reiz, sagen wir ein zufälliges Tuymans-Werk,
geweckt werden. Das Gehirn nimmt dann den Reiz wahr, bewertet
ihn gegebenenfalls auf seine persönliche Relevanz, Kenne ich das
schon?, und entscheidet sich für eine passende emotionale oder
affektive Reaktion (Wie finde ich das?). Der Philosoph Karl Popper
nannte das wenig schmeichelhaft die »Kübeltheorie des Geistes«:
Man betrachte das Gehirn als leeren Kübel, der gefüllt werden
will. 8
»Aber so funktioniert das Gehirn nicht«, sagte Barrett, »womit ich
nicht sage, dass es keine Bottom-up-Prozesse gibt.« Aber in den
meisten Fällen, so Barrett, »erzeugt unser Gehirn auf Basis
vorangegangener Erfahrungen ein Modell unserer Welt«. Wie ein
leidenschaftlicher Instagram-User hat unser Gehirn jedes Ereignis
unseres Lebens abgespeichert: jeden Spaziergang bei
Sonnenuntergang, wem immer wir begegnet sind, alle Kunstwerke,
die wir je gesehen haben, und wie wir all das fanden.
Seltsamerweise ist unsere Erinnerung daran, wie uns etwas gefallen
hat, häufig sogar stärker als die Erinnerung an das Ereignis selbst. 9
»Je nach Kontext trifft das Gehirn eine Vorhersage darüber, welche
Reize zu erwarten sind«, so Barrett.
Das Gefühl, dass einem etwas gefällt, ist im Gehirn schon da, ehe
man den Reiz überhaupt wahrnimmt. Natürlich könne man, so
Barrett, den Tuymans erst sehen und dann entscheiden, dass er
einem gefällt. Wahrscheinlicher aber sei, dass man Tuymans-Bilder
generell gut findet und sich dann erst entscheidet, sie
wahrzunehmen. »Das gehört zur Vorhersage«, so Barrett, »und
beeinflusst wesentlich, welcher Reiz unsere Aufmerksamkeit
weckt.« Wenn wir die Welt gut (oder schlecht) finden, sucht unser
Gehirn nach Dingen, die zu dem passen, was die Welt für uns
angenehm (oder unangenehm) macht.
Banksy hat dazu einmal sehr treffend auf einen Lastwagen
gesprüht: »The grumpier you are, the more assholes you meet.«XIV
Ganz ähnlich lenken Liebhaber zeitgenössischer Kunst ihre
Aufmerksamkeit stärker auf Dinge, die nach zeitgenössischer Kunst
aussehen. 10 Oder finden hungrige Menschen schneller Wörter, die
mit Essen zu tun haben. Das Gehirn macht aus dem Zufall gern ein
wiedererkennbares Muster. Hinzu kommt, dass uns eine belebte
Straße meistens zu laut und chaotisch ist, um Kunst zu betrachten,
zumindest als Kunst. So stellte der Kritiker Edwin Denby einmal
fest: »Die Betrachtung des alltäglichen Lebens ist für mich etwas
anderes als die Betrachtung von Kunst.«11 Dabei sei die
Betrachtung selbst nicht unbedingt anders. »Aber wenn ich Kunst
betrachte«, schrieb Denby, »sehe ich eine geordnete, erdachte Welt,
die subjektiv und verdichtet ist.« Kunst ist für uns darum
außergewöhnlich, weil wir ihr nicht tagtäglich begegnen.
Um Kunst zu sehen, begeben wir uns ins Museum. Nicht nur, um
renommierte Kunst zu betrachten, sondern um sie überhaupt zu
sehen. Wie die Anthropologin Mary Douglas schreibt, bilden Rituale
den Rahmen, der bestimmte Erlebnisse aus dem Alltag heraushebt.
Ein Museum lenkt wie ein Bilderrahmen die Aufmerksamkeit auf
das, was in ihm zu sehen ist, und legt damit fest, was als Kunst gilt.
Wir betreten ein Museum, um etwas Besonderes zu sehen: Wir
wollen die »himmlische Luft« atmen und die demonstrativ
hedonistische Aura spüren, die wahre Kunst ausstrahlt. 12 Wir
betrachten Kunst im Museum außerdem mit einem Blick, der von
täglichen Sorgen und Zwängen befreit ist. Museen wurden auch
»eine Art der Betrachtung« genannt, die unseren Blick auf die Welt
weiten kann. 13
Denken wir etwa an die vielen Zeitungsmeldungen über Besucher
zeitgenössischer Kunstausstellungen, die das Inventar irrtümlich für
Kunst hielten: Besonders Feuerlöscher scheinen da beliebt zu
sein. 14 Wie viele Witzbolde haben dazu schon angemerkt, dass der
Unterschied angesichts von Konzeptkünstlern wie Duchamp, Warhol
oder Koons ja kaum noch auszumachen sei. Doch den Irrtum kann
man auch unter einem anderen Blickwinkel betrachten: Wir sind im
Museum so darauf gepolt, optische Eindrücke zu verarbeiten, dass
unserem begierigen Blick auffällt, was uns sonst entgeht. So wie wir
den Tuymans auf der Straße übersehen, erscheint uns das
Museumsinventar auf einmal in einem anderen Licht.

***

Doch was passiert genau, wenn wir Bilder im Museum betrachten?


Viel ist darüber geschrieben worden, was passieren sollte. Laut
dem Philosophen John Dewey und seinem Klassiker Kunst als
Erfahrung müsse der Kunstbetrachter sein eigenes Kunsterlebnis
kreieren. 15 Kurzum, er muss sich dem Schaffensprozess, der das
Werk hervorgebracht hat, ebenso engagiert annähern wie der
Künstler selbst: Wie ist das Werk gemacht? Welche Absicht verfolgt
es? Welche Entscheidungen stehen dahinter? Wenn der Betrachter
zu faul, zu eitel oder zu sehr den Konventionen verhaftet sei, könne
er diese Arbeit nicht leisten, poltert Dewey, und würde eben nichts
sehen oder hören.
Es gibt sogar wahre Heldengeschichten über hochentzückte
Kunstbetrachter. »Wie angewurzelt stand ich eine Viertelstunde,
oder war es gar eine halbe, vor dem Gemälde«, schrieb etwa
Thomas Jefferson, nachdem er im Louvre Drouais’ Meisterwerk
Marius zu Minturnä gesehen hatte. »Ich verlor jegliches Zeitgefühl
und vergaß, wo und wer ich war.« Das passiert einem wohl heute
höchstens noch in der endlosen Warteschlange vor dem Louvre. Der
Philosoph Richard Wollheim konnte gar zwei Stunden vor einem
Gemälde verbringen: »Es dauerte häufig zunächst eine Stunde oder
so, bis sich alle zufälligen Assoziationen oder Fehlinterpretationen
verflüchtigt hatten«, schrieb er in Painting as an Art. 16 »Und erst,
wenn ich das Bild noch einmal so lange betrachtete, entfaltete es
sich als das, was es war.«
Eigentlich weiß keiner genau, wie lange man braucht, um ein
Gemälde wirklich zu »erfassen«, oder was das überhaupt
bedeutet. 17 Doch wie verhalten sich die Besucher im Museum, sieht
man von einzelnen Höchstleistungen in punkto Ausdauer einmal ab?
Der Museumsbesucher ist ein schwer zu fassendes Wesen. »Der
durchschnittliche Besucher ist und bleibt ein Rätsel«, stellte schon
ein Bericht von 1928 fest. 18 Und Jahrzehnte und zahlreiche
»Besucherstudien« später klagt ein Museumsforscher: »Tatsache
ist, dass wir außer ein paar Grunddaten wenig über unsere
Besucher wissen.«19 Und am rätselhaftesten dabei ist, was die
Besucher im Museum eigentlich tun.
Eins weiß man allerdings: Sie schauen sich die Bilder nicht
besonders lange an. So analysierte Jeffrey Smith, langjähriger
Leiter Forschung und Evaluation am New Yorker Metropolitan
Museum of Art, die Verweilzeit der Met-Besucher vor mehreren
Gemälden, etwa vor Aristoteles vor der Büste des Homer von
Rembrandt oder Washington überquert den Delaware von Emanuel
Leutze, und stellte fest, dass die durchschnittliche Betrachtungszeit
gerade einmal siebzehn Sekunden betrug.
Doch was bedeutete das? Dass wir in einem Zeitalter der
geringen Aufmerksamkeitsspanne leben und nicht zu der tiefen
Betrachtung fähig sind, wie sie Dewey und andere beschworen?
Vorsicht. Erstens handelt es sich um einen Durchschnittswert; vor
einigen Bildern blieben die Leute länger stehen, durchschnittlich 27
Sekunden. Und laut einer weniger wissenschaftlichen Untersuchung
des Kunstkritikers Philip Hensher widmeten die Besucher der
Londoner Tate Gallery zwar zeitgenössischen Werken von Künstlern
wie Tracey Emin nur fünf Sekunden, verweilten vor den Werken von
Turner oder Constable aber mehrere Minuten. 20
Nicht vergessen darf man zudem, dass ein Museum wie das Met
gigantisch groß ist. Haben Sie sich auch schon gewundert, dass Sie
nach einem Museumsbesuch vollkommen erschöpft waren? Viel
erschöpfter als nach anderen Aktivitäten, bei denen Sie gleichzeitig
laufen und schauen? Die Forschung entdeckte Anfang des
20. Jahrhunderts leicht alarmiert die sogenannte
»Museumserschöpfung«. Schuld daran war wohl teilweise das
damals bescheidene Bewusstsein für Ergonomie in den Museen. So
zeigt The Scientific Monthly von 1916 einen recht eleganten Herrn
mit Schnurrbart, einen »intelligenten Mann mit guten Augen«, der
einen Zehnkampf in Ästhetik ausficht:21 Er beugt sich tief über die
Vitrinen, geht in die Hocke, um die Beschriftungen zu lesen, und
reckt und streckt sich, um die obere Reihe der Gemälde zu
betrachten, die sich dicht an dicht, in »Salon-Hängung«, vom Boden
bis zur Decke erstrecken. Heute sieht man die Salon-Hängung nur
noch auf historischen Gemälden. Im ergonomisch bewussteren
20. Jahrhundert sind die Museen zu einer sparsameren Hängung
übergegangen, sieht man einmal von den früher seltenen Wandtafeln
ab, die heute bei erklärungsbedürftiger Kunst besonders hoch im
Kurs stehen. Doch je sparsamer die Hängung, desto größer wurden
die Museen. Die Wände sind zwar inzwischen leerer, aber es gibt
mehr davon.
Ein Museumsbesuch erschöpft aber nicht nur den Körper, sondern
auch den Geist. Nehmen wir zum Vergleich den Einkaufsbummel:
Normalerweise hält man im Laden nicht an jedem Kleidungsstück
inne, liest das Etikett, um zu erfahren, wo die Kleidung herkommt
und woraus sie besteht, fragt sich, was sie uns »sagen« will oder
was sich der Designer dabei gedacht hat, oder wundert sich, warum
einem nicht gefallen will, was andere begeistert usw. Im Grunde
überlegen wir nur, ob uns etwas stehen könnte, und gehen dann
weiter. Die hohe Dichte an Sinneseindrücken im Museum kann
vielleicht auch erklären, warum die Besucher überschätzen, wie viel
Zeit sie im Museum verbringen. 22
Die Umstände eines heutigen Museumsbesuchs können eine
ausdauernde Bildbetrachtung ebenfalls fast unmöglich machen.
Kunst inmitten von Massen zu betrachten ist wohl ein eher
seltsames Konzept. Oder würden Sie gern ein Buch lesen, wenn
Ihnen dabei sechs Mann über die Schulter schauen? Oder einen
Film angucken, wenn hinter Ihnen ständig jemand murmelt: »Der
sieht aus wie der Hund von Onkel Erich.« Man muss sich also
fragen, ob »an Bildern entlangzuflanieren« wirklich der optimale
Weg zum Kunstgenuss ist. 23 Sind wir, wie der Museumskritiker
Kenneth Hudson bemerkt, nicht eigentlich aufnahmefähiger, wenn
wir bequem sitzen? Es ist wohl ein Überbleibsel des
19. Jahrhunderts und seiner gestrengen ästhetischen Theorien, dass
wir Kunstgenuss mit einer Form der Bußübung gleichsetzen, mit
rigoroser innerer Einkehr in streng bewachten Räumen aus Beton.
Es war nicht nur ein Museumsberater, der darauf hingewiesen hat,
dass man das Interesse an Kunst ganz einfach fördern könne: mit
mehr Kaffee und mehr Sitzgelegenheiten. 24

Schon früh hat die Forschung ein bestimmtes Muster erkannt: Je


mehr Gemälde in einem Museum hängen, desto weniger Zeit
verbringen die Besucher vor dem einzelnen Werk. Mit der Größe
des Museums sinkt für ein Bild die Wahrscheinlichkeit, überhaupt
gesehen zu werden. Wie Edward S. Robinson, Psychologieprofessor
an der Yale University, schon 1928 feststellte, »liegt die
Wahrscheinlichkeit, dass ein Bild von einem Besucher betrachtet
wird, im größten Museum bei eins zu zwanzig und in kleinen
Museen im günstigsten Fall bei eins zu drei.«25 Tuymans dürfte
erleichtert sein: Bilder werden auch im Museum übersehen.
Der Besucher des Metropolitan oder eines anderen großen
Museums verhält sich also am ehesten wie ein Tiefseetaucher: Er
will möglichst viel sehen, bevor ihm die Puste ausgeht. 26 Jedenfalls,
so Wollheim, würde sich im Met niemand, zumindest kein Einmal-
Besucher, ein Bild herauspicken und zwei Stunden davor meditieren.
Die Besucher wollen so viel große Kunst wie möglich mitnehmen.
Daher auch das nagende Gefühl, wenn wir, vor einem Gemälde
stehend, aus den Augenwinkeln sehen, wie viele Leute sich vor
Vermeers Studie einer jungen Frau versammelt haben.
Forschungen bestätigen, dass wir beim Betrachten des einen Werks
bereits mit dem daneben beschäftigt sind. In großen Museen mag
man mehr zu sehen bekommen, doch in kleinen sieht man vermutlich
mehr. 27
Dem Wissenschaftler Stephen Bitgood zufolge gehen wir als
Museumsbesucher nach dem Grundsatz der Nutzenmaximierung
vor: Wir wollen möglichst viel Geist und Gefühl für unser Geld. Wir
wenden uns darum beim Betreten des Museums normalerweise
nach rechts, weil wir zuvor auf der rechten Seite gegangen sind und
so schneller vor dem ersten Bild stehen. XV Museumsbesucher
kehren auch nicht um, um ein Bild aus einem vorhergehenden Raum
noch mal zu betrachten. Studien zufolge sehen Besucher, die
irrtümlich die falsche Richtung eingeschlagen haben, sogar noch
weniger Bilder, weil sie aufgeregt nach dem richtigen Weg suchen.
Wie viel Aufmerksamkeit ein Werk bei den Besuchern genießt,
kann zudem stärker davon abhängen, wo es im Saal hängt, als von
seiner Qualität. Als man für ein Experiment ein Gemälde in einem
Schweizer Museum von der Raummitte in die Ecke verbannte, fiel
die Zahl der Betrachter im Untersuchungszeitraum schlagartig von
207 auf 17. 28 Auch lange Wandtexte wurden übrigens ungern
gelesen. Unterteilte man den Text mit 150 Wörtern aber in drei
»Häppchen«, verdoppelte sich die Zahl seiner Leser – und je näher
der Text am Bild, desto besser.
Ob der Besucher die Bildbeschriftung allerdings liest oder nicht,
ändert kaum etwas an der durchschnittlichen Betrachtungszeit. Es
scheint, als plane der Besucher für jedes Bild ein bestimmtes
Zeitbudget ein. 29 So neigen die Leute selbst als Gruppe dazu, die
ausgestellten Werke allein zu betrachten. Offenbar wollen sie ihre
Aufmerksamkeit optimieren:30 Wenn man sich im Museum unterhält,
bleibt weniger Zeit für die Kunst und man wird weniger davon
berührt. 31 Videoinstallationen, so Bitgood, würden in Museen darum
so wenig beachtet, weil man vorher kaum weiß, was man am Ende
davon hat. Das gelte besonders, wenn es in sichtbarer Nähe Kunst
zu »geringeren Kosten« gebe. »Höhere Anzahlungen sollten tabu
sein«, so ein Museumsberater. 32

Angesichts der mit Bilderschätzen vollgestopften Lagerhallen, was


das Met und alle anderen Museen im Grunde sind, klingt eine
durchschnittliche Betrachtungszeit von siebzehn Sekunden sogar
sehr vernünftig. Als ich mich mit der Frage beschäftigte, was wir bei
der Betrachtung von Kunst eigentlich genau tun, streifte mich sogar
der Gedanke, noch weniger Zeit täte es auch.
So traf ich mich eines Tages im Met mit Paul Locher,
Psychologieprofessor an der Montclair State University. Mit Hilfe
eines Tachistoskops hatte er Probanden Gemäldefotos nur für
Sekundenbruchteile gezeigt, genauer gesagt 50 Millisekunden. Eine
»Maske« verhinderte dabei, dass das Bild im Auge des Betrachters
nachwirken konnte. In der Kürze, so Locher, würden die Gemälde
nur noch vorbewusst wahrgenommen. Doch diese »Kern«-Reaktion
sage uns schon eine Menge über das Bild, obwohl wir prozentual
gesehen reichlich wenig von dem Schatz erfasst haben.
Wenn wir ein Gemälde, sagen wir Vermeers Studie einer jungen
Frau, nur 50 oder 100 Millisekunden lang sehen, könnten wir schon
sagen, welche Farben das Bild habe, ob es einen Mann oder eine
Frau zeige und wie es insgesamt aufgebaut sei, etwa symmetrisch
oder nicht. 33 Und weil das Werk eine menschliche Figur darstellt,
wanderten unsere Augen instinktiv, wie im echten Leben, zum
Gesicht der jungen Frau. 34 Bei Landschaftsbildern seien wir
dagegen freier. 35 Das Eyetracking verrate uns, dass unser Blick
stets zunächst in die Bildmitte gehe. 36 »Wir schauen uns nie zuerst
die Ränder an«, sagte Locher. »Offenbar wissen auch die Künstler,
dass foveales Sehen selten ist, und packen alles Wichtige in die
Bildmitte.« Was den Rahmen angehe, von dem der Philosoph José
Ortega y Gasset einst sagte, er habe »eine Tendenz (…), alles in Bild
zu verwandeln, was man durch ihn sieht«,37 scheinen wir ihn kaum
zu bemerken.
Wenn der Blick des Betrachters dann länger auf einem Gemälde
verweilt, wird ein »dualer Prozess« in Gang gesetzt. Es entwickelt
sich sozusagen ein Zwiegespräch zwischen unseren Bottom-up-
Sinnesorganen und unserer kognitiven Top-down-Maschinerie, bei
dem, im Anschluss an die reine Objekterkennung, etwa der Stil oder
semantische Bedeutungen abgehandelt werden. Wir müssen uns das
in etwa so vorstellen: Bottom: Ey! Hier sind Augen, Nase, ein
Mund. Top: Hmh … Sieht nach einer Frau aus. Keine echte
allerdings. Es ist das Bild einer jungen Frau. Bottom: Hey, aber
auch die Farben sind schön! Top: Könnte ein niederländischer
Künstler sein. (Rennt in die Gedächtniskammer.) Vielleicht Vermeer.
Kannst du nicht mal die Lichtqualität checken? Bottom: Bin gleich
zurück!
Je höher entwickelt der »Top« und je fähiger der »Bottom«, umso
lebhafter kann sich das Gespräch natürlich entwickeln. Man sagt,
Kunstexperten besäßen ein »gutes Auge«, eigentlich haben sie aber
vor allem einen klugen Kopf. Sie sehen nicht besser, aber sie wissen,
worauf sie ihren Blick richten müssen. So zeigen zahlreiche Studien,
dass der Blickverlauf von Fachleuten und Laien beträchtlich
voneinander abweicht. 38
Was wir nach den knappen 50 Millisekunden auf jeden Fall wissen,
ist, ob uns das Bild gefällt. »Das ästhetische Urteil«, so der
Psychologe Hans Eysenck, »fällen wir manchmal schon in dem
Moment, in dem wir das Bild überhaupt wahrnehmen.«39 Als Locher
die Probanden nach einer zweiten, 100 Millisekunden langen
Darbietung fragte, wie gut ihnen die Gemälde gefallen hätten,
wichen die Ergebnisse kaum von denen nach knapp 30 Sekunden
Bildbetrachtung ab. Je länger die Leute schauten, desto besser
gefiel ihnen ein Bild allerdings. 40 »Wenn man Museumsbesucher
beobachtet«, so Locher, »dann sieht man, dass sie in der Regel sehr
schnell wissen, womit sie keine Zeit verschwenden wollen.«
Bei einer so kurzen Bildbetrachtung fragen sich die Leute nicht
gerade, warum ihnen ein Bild gefällt oder nicht. Der bekannten
Kunstpädagogin Abigail Housen zufolge befinden sie sich noch auf
»Stufe eins« der ästhetischen Verarbeitung: Sie erfassen die
grundlegenden Bildmerkmale und treffen ein Geschmacksurteil, das
wiederum wesentlich auf ihrem Vorwissen beruht. Die Stufe zwei,
mit ersten Gedanken zu einer möglichen Meinung zu diesem Bild, so
Housen, setze Fragen wie »Was in dem Bild veranlasst mich zu
diesem Urteil?« voraus. Und damit einen zweiten Blick. 41
Die wenigsten von uns, so Housen, würden über Stufe zwei
hinausgehen und dem Werk einen dritten oder vierten Blick gönnen.
Doch dann werde das Bild erst zu einem »alten Freund«, an dem wir
plötzlich die wahren Vorzüge entdecken, die womöglich ganz andere
sind als die, die uns zunächst ins Auge gefallen waren. 42 Besonders
schlecht meinte es das Schicksal in Lochers Studie übrigens, wie
kaum anders zu erwarten, mit dem Maler Brueghel. Seine Gemälde
wirken auf den ersten Blick, um es mit Kant zu sagen, wenig
»angenehm«. Die Figuren sind häufig grotesk, die Farben bräunlich
und stumpf. Zahlreichen Kunsthistorikern zufolge sei es bei
Brueghels Gemälden oft sogar schwierig, das Blickzentrum
auszumachen. 43
Der springende Punkt jedoch ist, dass uns etwas oft schon gefällt
oder eben nicht, ehe wir überhaupt wissen, um was es sich wirklich
handelt. Wie der Psychologe Robert Zajonc sagt, bilden wir uns ein
Geschmacksurteil über etwas nicht erst dann, wenn wir es
tatsächlich wahrgenommen haben, wenn wir also etwas darüber
wissen, sondern schon im selben Moment, in dem wir es bemerken,
oder sogar noch früher. »Bei den meisten Geschmacksurteilen«, so
Zajonc, »lässt sich kaum nachweisen, dass vorher irgendein
kognitiver Prozess stattgefunden hat.«44 Wie hätte das bei einer
»Bildbetrachtung« von 100 Millisekunden auch gehen sollen? Der
Affekt erscheint, so Zajonc, wie ein mächtiges, ursprüngliches und
unabhängiges Frühwarnsystem. »Der Hase hat auch keine Zeit, sich
lange mit Giftzähnen oder der Hautmusterung einer Schlange
aufzuhalten.« Er muss sich über die Schlange ein Urteil bilden, ehe
er weiß, ob es sich wirklich um eine Schlange handelt. Darum haken
wir so viele Dinge innerlich ab, ohne ihnen einen zweiten Blick zu
schenken.

***
Weil sich diese Reaktion so richtig anfühlt, sagt Zajonc, ist sie für
uns fast unumstößlich. Natürlich hat das Bauchgefühl, das uns sagt,
wie wir ein Kunstwerk finden, seine Berechtigung. Die Kunstkritiker
richten sich alle naselang danach. Es hilft uns, unsere Welt zu
scannen. Denn was ist der Geschmack schließlich anderes als eine
Art kognitiver Mechanismus, um unsere tägliche Reizüberflutung
irgendwie in den Griff zu bekommen? Dennoch spricht einiges für
eine gesunde Skepsis. Wir interpretieren unser Bauchgefühl nämlich
nicht immer richtig.
Manchmal ist uns sogar unser eigener Geschmack fremd. Haben
Sie von einer Reise auch schon einmal Erinnerungsstücke
mitgebracht? Eine Flasche italienischen Wein vielleicht oder
Kunsthandwerk aus Bali? Bestimmt waren Sie davon begeistert,
doch zu Hause wussten Sie plötzlich nicht mehr, was Sie jemals
daran fanden. Vermutlich waren Sie eigentlich von Ihrem Urlaub in
Italien oder Bali begeistert. »Weil sich affektive Urteile ohne unser
Zutun einstellen«, so Zajonc, »lassen sie sich nicht so leicht
einordnen wie Wahrnehmungs- oder kognitive Prozesse.« Affektive
Urteile sind beeinflussbarer und schwerer zu kontrollieren. Wie uns
ein Gemälde gefällt, wird beispielsweise dadurch beeinflusst, ob und
wie jemand anders es betrachtet. Wenn der Besucher neben Ihnen
beim Anblick des Vermeer lächelt, gefällt Ihnen das Bild eher, als
wenn er die Stirn runzelt. 45 Selbst der mürrische Blick eines
übereifrigen Museumwärters kann Sie aus dem Konzept bringen. 46
Einstellungen oder, genauer gesagt, Gefühle zu ändern ist
anstrengend. »Affekte bleiben häufig selbst dann noch bestehen,
wenn ihre ursprüngliche kognitive Basis schon vollkommen
widerlegt ist«, so Zajonc. 47 Außerdem reagiert unser Gehirn, diese
Mustererkennungs-Engine, auf Unbekanntes nur selten positiv. So
witzelte der Kritiker Clement Greenberg einmal: »Jede originelle
Kunst ist erst mal hässlich.«48 Und was uns nicht gefällt, sehen wir
vielleicht gar nicht. »Ich glaube, bei Kunst müssen wir uns selbst
erst einmal eine Chance geben«, so die Kunsthistorikerin Linda
Nochlin. 49 »Was einem auf den ersten Blick gefällt, ist nämlich nicht
immer das, was einen beim zweiten, dritten oder vierten Hingucken
begeistert.« Die Annahme, wir könnten das »Wesen« eines
Gemäldes sofort erfassen, beruht auf der Illusion, wir hätten alles
darauf gesehen. 50 Doch es sei ihm schon passiert, so der
Kunstkritiker Kenneth Clark, dass er vom langsam fahrenden Bus
aus ein imposantes Gemälde im Schaufenster entdeckt habe, an der
nächsten Haltestelle ausgestiegen und zurückgelaufen sei, aber
»meinen ersten Eindruck aufgrund einer mangelhaften Maltechnik
oder seltsamen Ausführung revidieren musste«. 51
Inwiefern wird unser Geschmacksurteil dadurch beeinflusst, wie
wir durchs Museum gehen? Einer Studie zufolge schlendern die
meisten Besucher so lange durchs Museum, bis ihnen irgendwann
ein Bild ins Auge sticht. 52 Das scheint eine kluge Strategie: Warum
Zeit mit Dingen verschwenden, die einem nicht gefallen? Was einem
zuerst ins Auge sticht, muss allerdings nicht unbedingt das sein,
wonach man sucht. Vielleicht fiel unser Blick unwillkürlich auf ein
großes, auffälliges Werk, das der Kurator als »wichtiges Werk« noch
dazu mittig gehängt hatte, weil er wusste, dass wir dort zuerst
hinschauen. Außerdem sticht uns vor allem ins Auge, was wir zu
sehen erwarten.
Solche Top-down-Einflüsse wirken gewissermaßen wie die
ausführlichen Erklärungen neben Gemälden, die Studien zufolge
beeinflussen, wo Laien bei einem Gemälde hinschauen. 53 In dem
hervorragenden Film Museum Hours besichtigt eine Reisegruppe
den beeindruckenden Brueghel-Raum im Kunsthistorischen Museum
Wien. Vor Die Bekehrung des Paulus bleibt der Reiseleiter
schließlich stehen und erläutert, wie schwierig es sei, das
Blickzentrum des Gemäldes auszumachen. (Wie bei dem Ikarus-Bild
bereits erwähnt, ist dies ein typisches Brueghel-Merkmal.) Könnte
es Saulus sein? Ja, sagt einer aus der Gruppe, das verrate ja schon
der Bildtitel. Aber warum ist der gestürzte Reiter dort am Boden
dann kaum zu sehen? Und warum fällt der »Pferdehintern« weit
mehr ins Auge? Am Ende erklärt der Reiseleiter, nicht ohne
Widerspruch von Seiten der Gruppe, das Blickzentrum sei ein
kleiner Junge, »ein Soldat, zu jung für den Krieg«, dem der Helm
über die Augen rutsche und der sich hinter diesem »kunstvollen
Baum« verstecke. Das sei lediglich seine Interpretation, fügt er
noch hinzu. Doch seitdem ich den für mich bis dahin unsichtbaren
Jungen entdeckt habe, fällt mein Blick zuerst unweigerlich darauf.
Anders als im Theater oder Konzert, so der Kritiker Philip
Hensher, bestimmen wir bei einem Gemälde selbst, »wie viel Zeit
wir ihm widmen«. 54 Die Betrachtungszeit sei »ein guter Maßstab
dafür, wie stark uns ein Werk interessiert«. Der Maßstab ist
allerdings nicht ohne Mängel. Selbst wenn einem ein Bild gefällt,
kann es einen drängen, weiterzugehen, weil es ja noch so viel mehr
zu sehen gibt, das einen genauso interessieren könnte. Etwa dieses
abstrakte Bild von de Kooning:55 Wussten Sie, dass er mit gängigen
Anstreicherfarben gemalt hat, weil er so knapp bei Kasse war? Eine
Rückkopplungsschleife hält uns gefangen:56 Wir widmen uns einem
Gemälde, damit wir es besser verstehen, aber wie viel Zeit wir
davor verbringen, hängt davon ab, wie gut wir es verstehen.
Bei manchen Werken gibt es natürlich eher wenig zu
interpretieren. »Obwohl sich uns die Bedeutung dieses Werks bis
heute nicht erschließt«, schreibt Robert Hughes über Goyas einsam
und verloren ins Ungewisse blickenden Hund, »werden wir
unterhalb einer narrativen Ebene davon berührt«. XVI Dann gibt es
auf Gemälden aber auch Dinge, die niemand wirklich sieht oder
fühlt. So hat ein anderes Werk im Prado, Las Meninas von
Velázquez, beispielsweise seine Bedeutung verloren, die es im
Arbeitszimmer von Philip IV. einst hatte. 57 Der Kunsthistoriker
Michael Baxandall spricht vom »Blick der Zeit«, der den
Nachfahren abhandenkomme: Selbst wenn wir wüssten, wie
sündhaft teuer die Farbe Ultramarinblau einst war, könnten wir die
italienischen Gemälde des 15. Jahrhunderts nicht mehr mit dem
damaligen Blick betrachten und so ihren »exotischen, gefährlichen
Charakter« spüren. 58
Sogar wenn wir meinen, aufmerksam hinzuschauen, können uns
Dinge entgehen: So verbrachten die Besucher des Whitney
Museums einer Studie zufolge zwar mehr Zeit vor den Bildern,
wenn sie einen Audioguide benutzten. 59 Als man sie später aber zu
den Werken befragte, die nicht vom Audioguide erklärt worden
waren, konnten sie weniger darüber sagen als diejenigen, die
einfach nur geguckt hatten. Wer glaubt, er habe »sich nun ein Bild
gemacht« und wisse, welche Gemälde ihm gefallen und welche nicht,
kann in einem Teufelskreis gefangen sein: Wahrscheinlich hat er die
Werke nicht so betrachtet, dass er dafür »belohnt« wird, was
wiederum zu mehr Aufmerksamkeit und zur Entdeckung von
weiteren Details und Belohnungen geführt hätte.
Man begegnet in all diesen Studien immer wieder der Vorstellung
von einer zutiefst emotionalen Reaktion auf Kunst. Die Leute wollen
berührt werden. Sie möchten so etwas wie das Stendhal-Syndrom
erleben und sich durch rein ästhetische Wonnen wie im siebten
Himmel fühlen. Eher »intellektuelle« Reaktionen und weitergehende
Überlegungen, warum einem etwas gefällt, scheinen ihnen eher
suspekt zu sein. Das passt zu Zajoncs Theorie. Es falle dem
Menschen schwer, so Zajonc, über instinktive Gefühle zu sprechen,
weil er Gefühle nonverbal ausdrückte, solange er noch nicht
sprechen konnte. (Unser Gesicht verrät schon, dass es uns nicht
schmeckt, noch ehe wir ein Wort darüber verloren haben.) Wir
greifen darum bei Gefühlen gern nach so vagen Begriffen wie
»cool«, »furchtbar« oder sogar »schön«.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein monierte besonders den
Gebrauch von »lieblich« und bemerkte dazu: »Natürlich benutzen
eine Menge Leute, die sich nicht richtig ausdrücken können, solche
Wörter häufig.«60 Mit Emoticon-ähnlichen Gesichtern – die dann
Jahrzehnte später Einzug in die sozialen Medien halten sollten –
könnten wir unsere ästhetischen Reaktionen besser ausdrücken als
mit solchen Adjektiven. »Selbst bei allseits gefeierten und überall
beliebten Bildern«, so Alain de Botton, »verfallen wir in
schmerzliches Schweigen, wenn uns jemand danach fragt, warum
sie uns gefallen.«61
Darum das Unbehagen angesichts von Kunst:62 Wir sind nicht nur
unsicher, ob uns etwas gefällt (oder gefallen sollte), wir können auch
keinem erklären, warum uns etwas gefällt. Man hat daher auch
schon vermutet, dass uns Bilder desto besser gefallen, je leichter
wir darüber sprechen können. Und manchmal frage ich mich, ob die
Feindseligkeit vieler Leute gegenüber Kritikern, die ihnen angeblich
etwas vorschreiben wollen, nicht eigentlich daher rührt, dass sich
da offenbar jemand so wortreich über das Warum äußern kann.

Allerdings wäre es falsch, nun so weit zu gehen und zu behaupten,


das Nachdenken über Kunst und eine emotionale Reaktion darauf
würden sich ausschließen. »Gefühle finden nicht ohne Gedanken und
Gedanken nicht ohne Gefühle statt«, so Zajonc. Viele Besucher der
Tate Britain, die nach den Räumen der Alten Meister die mit
moderner Kunst betreten, seien vermutlich auch darum enttäuscht,
so ein Museumsberater, weil Erstere nicht nur äußerst kunstreich,
sondern auch reich an Interpretationen und Geschichten über Kunst
sind und die Besucher unvermittelt in kargen Räumen mit karger
Kunst und kargem Interpretationsangebot stehen. 63 »Sie ärgern
sich – mit den üblichen Kommentaren: ›Das könnte mein vierjähriger
Sohn genauso‹ –, weil sie sich quasi im freien Fall befinden, sie
niemand an die Hand nimmt oder die Werke in einen Kontext stellt.«
Jeffrey Smith etwa erzählt, wie er eines Tages einen Kurator im
Met über ein neuerworbenes Gemälde von Delacroix jubeln hörte.
Das Werk, das heute in Gallery 801 hängt, zeigt Félicité Longrois.
Smith erfuhr, dass die Dame Delacroix sehr nahe gestanden habe,
für den Künstler eine mütterliche Förderin und viele Jahre zuvor
kurzzeitig Napoleons Mätresse gewesen sei. Das »nette Bild einer
alten Dame« habe durch diese Informationen, so Smith, plötzlich
sein Interesse geweckt. Jetzt musste er »genauer hinschauen«. Wer
war diese Frau, deren Tod, wie Delacroix an George Sand schrieb,
»für mich den Verlust einer Gefühlswelt bedeutete, die durch keine
andere Beziehung zu ersetzen war«? Wo offenbarte das Gemälde
den innigen Blick des Malers? Das Bild war noch dasselbe, aber
doch nicht mehr dasselbe, weil der Betrachter nicht mehr derselbe
war. Je mehr Smith über das Werk erfuhr, umso mehr empfand er.
Das Bild fesselte nicht bloß sein Auge, sondern vielmehr sein Herz.
Doch dafür musste es erst mal bis in sein Gehirn vordringen.

Eine Betrachtung des Kunst


betrachtenden Gehirns

Wie kann Kunst auf uns wirken? Wie nistet sie sich in unseren
Köpfen ein und verändert uns? Was passiert, wenn wir auf Kunst
»reagieren«? Zeigen wir bei Kunst eine andere biologische oder
neurologische Reaktion als bei einem köstlichen Mahl? Wenn man
bedenkt, wie schwer wir Kunst erkennen, obwohl wir uns gern
davon berühren lassen, dann stellt sich zudem die Frage: Gibt es
unter all den Eindrücken, denen wir in einem Museum oder auch im
Alltag begegnen, welche, zu denen wir uns instinktiv hingezogen
fühlen?
Eines Tages fand ich mich in einem Unternehmen namens
NeuroFocus wieder, in Berkeley, Kalifornien, gegenüber einem
Skaterpark. Ich blickte auf einen Flachbildschirm, wo der Trailer
für Planet Erde im Discovery Channel lief. Die bunten Bilder waren
wunderschön (ein Pilz entfaltete im Zeitraffer seinen Schirm),
eindrucksvoll (Unterwasserbilder von schwimmenden Elefanten)
und spannend (gleich würde der Gepard das gehetzte Zebra töten).
Mit bombastischer Musik untermalt, die dramatisch anschwoll, als
sich ein Hai aus dem Wasser erhob, wirkten die Bilder einfach
gewaltig und erhaben. Doch für die Forscher stellte sich die Frage:
Der Hai war vielleicht aus dem Wasser gesprungen, aber hatte das
mein Gehirn registriert?
»Zu meiner Überraschung gehören Sie zu den wenigen Leute,
denen der Hai nicht sonderlich imponiert hat«, sagte Andrew
Pohlmann, Marketingchef des Unternehmens, später zu mir. Vor uns
auf dem Tisch lag ein sperriger Ausdruck mit dürren, unruhigen
Linien, die irgendwie mit meinen flimmernden
elektrophysiologischen Gehirnaktivitäten zusammenhingen. Um
meine Gehirnaktivitäten zu messen, hatte man mir eine Art
Küchenhelferhaube auf den Kopf gesetzt, mit jeder Menge
eingenähten EEG-Sensoren. Die für die Elektroenzephalographie
notwendige Leitfähigkeit wurde durch einen Leave-in-Haarfestiger
garantiert.
»Es sind 64 Sensoren«, erklärte mir der CEO, A. K. Pradeep.
»Jeder misst das Gehirn zweitausend Mal in der Sekunde: Damit
haben wir in jeder Sekunde 128000 Datenpunkte.« Eine Linie
namens »EXO2« zeigte die größten Zacken. »Das ist ein Blinzeln«,
meinte Robert Knight, Leiter des Helen Wills Neuroscience Institue
an der University of California in Berkeley und wissenschaftlicher
Chefberater bei NeuroFocus. »Ein riesiges Störsignal. Wenn Ihre
Augen nach oben rollen, schicken sie ein Aktionspotential durchs
Gehirn.«
Aber »Störsignale« beiseite: NeuroFocus, ein
Tochterunternehmen des Marktforschungsgiganten Nielsen, suchte
in den Zacken des EEG nach Anzeichen meiner inneren Beteiligung.
Die gigantischen elektrischen Aktivitätsströme sollten ihnen sagen,
ob ich reglos auf den Bildschirm starrte, ob ich wahrnahm und
abspeicherte, was ich sah, oder vielleicht sogar davon berührt
wurde.
Das war ein Traum, den die Werbewelt schon lange hegte. Bereits
Ende des 19. Jahrhunderts hatte Harlow Gale, der an der University
of Minnesota »physiologische Psychologie« lehrte, eine Studie zu
dem »Problem der unwillkürlichen Aufmerksamkeit« durchgeführt,
wie er es nannte. Ihm ging es um Werbung.
Gale ließ die Teilnehmer seines gleichermaßen simplen wie
raffinierten Experiments in einem abgedunkelten Raum Platz
nehmen. Dann beleuchtete er einen Moment lang eine Wand, auf
der verschiedene Zeitschriftenseiten mit Werbetexten und -bildern
zu sehen waren. Anschließend fragte Gale die Probanden, an was
sie sich erinnerten. Gale interessierte sich nicht nur für das, was die
Leute bewusst sahen, sondern auch für die unbewusste Wirkung von
Werbung. »Die linke Hälfte der Zeitschriftenseite ist erheblich
vorteilhafter«, stellte er fest, weil dies den Lesegewohnheiten
entspreche. Bei Männern finde schwarzer Text auf weißem Grund
zudem die meiste Aufmerksamkeit, bei Frauen hingegen roter Text.
Die frischgebackene Psychologie und die neue Disziplin der
Massenwerbung waren eine Liaison eingegangen.
Gale wollte nicht nur wissen, welche Werbung den Leuten auffiel,
sondern auch, warum sie auf die eine stärker reagierten als auf die
andere. Das Experiment hinterließ bei ihm einen bleibenden
Eindruck, der wohl auch für unsere Frage des Kunstgeschmacks
gilt: »Wie unbewusst manche Leute urteilen! Und selbst, wenn sie
es versuchen, können sie keinen Grund dafür angeben!«64

Im Jahr 1871 strömten die Bewohner Dresdens in eine Ausstellung


mit Gemälden von Hans Holbein dem Jüngeren. Sie kamen, weil sie
die Alten Meister bewunderten, aber auch, wie The Art-Journal in
London schrieb, »wegen eines der interessantesten Kunststreits,
den es je gegeben hat«. 65 Im Mittelpunkt der Ausstellung standen
zwei Versionen der Madonna des Bürgermeisters Meyer, eines
Werks, das weithin als das größte des Malers galt. Doch leider
wusste niemand wirklich, welche Version die echte war: die
Dresdener oder die Darmstädter Madonna. Kunsthistoriker und
Kritiker hatten jahrelang die Provenienz geprüft, den Pinselstrich
genauestens unter die Lupe genommen und am Ende verblüfft
festgestellt, dass das Darmstädter Gemälde, das lange als die
Fälschung galt, wohl das Original war. »Die Darmstädter Madonna
zeigt im Vergleich zu dem Konkurrenzbild gewiss die größere
Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit in der Ausführung«, schrieb
damals The New York Times. 66
In die hitzige Debatte mischte sich auch Gustav Fechner ein,
ehemaliger Physikprofessor und Begründer der »Psychophysik«, mit
der er die menschliche Sinneswahrnehmung quantifizieren wollte.
Fechners Einfluss zeigt sich bis heute in unseren Verbrauchertests.
Unter dem Deckmäntelchen einer Studie zur Echtheit der beiden
Gemälde verteilte Fechner unter den Besucher der Holbein-
Ausstellung über elftausend Fragebögen. Auch wenn er die
Besucher fragte, welches Gemälde die Madonna ihrer Meinung
nach auf schönere Art darstellte, wollte er in Wirklichkeit
herausfinden, welches Bild ihnen besser gefiel.
Die Studie entpuppte sich als ziemlicher Reinfall, weil fast keiner
den Fragebogen ausfüllte. 67 Aber wer geantwortet hatte, der
mochte die Darmstädter Madonna lieber. XVII Fechner war
überrascht, denn er hatte das dunklere, älter wirkende Darmstädter
Gemälde für weniger ansprechend gehalten. 68 Er vermutete daher,
dass die Besucher das »altertümliche Erscheinungsbild« als echter
und darum auch schöner einschätzten. 69 Spätere Psychologen
mäkelten an Fechners Methode herum. Niemand könne wissen,
welche Faktoren das Urteil der Besucher beeinflusst hätten. So sei
die Madonna aus Darmstadt etwa in der Presse häufig favorisiert
worden.
Doch Fechner hatte mit seiner Studie Neuland betreten: Er nahm
zwei beinah identische Kunstwerke und fragte den
Durchschnittsbürger nach seiner Meinung. Er wollte mit seiner
wissenschaftlichen Arbeit, die man heute als »experimentelle
Ästhetik« bezeichnen würde, den Geschmack des Normalbürgers
»von unten« entschlüsseln. 70
Fechner interessierte nicht, was dem kultivierten Kopf laut
philosophischer Ästhetik des 19. Jahrhunderts gefallen sollte,
sondern, ob den Leuten etwas tatsächlich gefiel, wenn er es ihnen
unter kontrollierten Versuchsbedingungen präsentierte. Er wusste,
dass man Kunst auch aus gesellschaftlichen Gründen lieben konnte.
»Jedermann weiss, dass ihm Raphael, Michel Angelo [sic], Tizian,
Albrecht Dürer und die niederländischen Genrebilder gefallen
müssen«, schrieb er. 71 Aber was, wenn die Leute mit neuen,
unbekannten Werken konfrontiert wurden?
Fechner ging der Frage mit Hilfe grundlegender Reize nach. Er
bombardierte seine Probanden mit geometrischen Formen. Als
Ergebnis erhielt er den berühmten »Goldenen Schnitt«: Rechtecke
mit einem Längen-Breiten-Verhältnis im Goldenen Schnitt schienen
bei den meisten einen empfindlichen Nerv zu treffen. Fechner
suchte nun nach einer Begründung für den Geschmack: Das
Rechteck nach dem Goldenen Schnitt – oder der Mensch laut Hume
– musste, so nahm er an, etwas an sich haben, das es einzigartig
machte. Doch stimmte seine Begründung? Fechners Kritikern
zufolge bewiesen seine Studien lediglich eine Vorliebe für
Rechtecke, denen man an jeder Ecke begegnete. 72 Die Leute
wählten wahrscheinlich einfach die Rechtecke, an die sie gewöhnt
waren. 73 Womöglich waren Vorlieben nichts als Sitte und
Gewohnheit. Wer konnte das schon auseinanderhalten?

Fechners Vorstellung, man könne unser komplexes ästhetisches


Empfinden auf eine einzelne messbare Variable reduzieren, sei es
Schönheit, Lustgewinn oder anderes, stand man in der Folge
vielfach kritisch gegenüber. 74 Die moderne Neurowissenschaft hat
neue Hoffnungen geweckt: Kann vielleicht die Hirnforschung unsere
Reaktion auf Kunst erklären? Doch auch die alte Kritik ist in neuem
Gewand zurückgekehrt: Man kann unser Kunstempfinden doch nicht
auf ein elektrisches Signal reduzieren!
Was können uns unsere neuronalen Aktivitäten Neues über unser
ästhetisches Empfinden verraten? Mit dieser Frage im Kopf suchte
ich Semir Zeki auf, der als Professor für Neurowissenschaften am
University College London den Begriff »Neuroästhetik« geprägt hat.
»Neuroästhetik« ist empirische Ästhetik im Zeitalter von fMRI. Sie
sucht nach den »neuronalen Gesetzen«, die unserem ästhetischen
Empfinden zugrundeliegen. Künstler sind Neurowissenschaftler,
schrieb Zeki, was allerdings nicht unwidersprochen blieb. 75
»Künstler erforschen das Potential und die Möglichkeiten unseres
Gehirns« und erahnen manchmal auf geradezu unheimliche Weise,
was unser, wie Zeki es nennt, »visuelles Gehirn« stimuliert. 76
So spreche Mondrian wohl Nervenzellen an, die
Linienanordnungen wie die des Malers bevorzugen, schreibt Zeki in
Inner Vision. 77 Gefällt ein Bild von Mondrian also vor allem den
Kunst betrachtenden Nervenzellen? Doch würden diese nicht wie
ein Pawlowscher Hund auf alle Linien der Welt reagieren? Und
müssen wir uns, wenn Mondrian uns nicht zusagt, Sorgen machen,
dass mit unseren für Linienanordnung zuständigen Zellen etwas
nicht stimmt? Könnten wir sie vielleicht sogar so schulen, dass wir
zum Mondrian-Liebhaber werden? Das ist keineswegs
ausgeschlossen: Wenn man den linken dorsolateralen präfrontalen
Cortex von Probanden mit transkraniellem Gleichstrom stimuliert,
gefallen ihnen die präsentierten Bilder offenbar besser. 78
Als ich Zekis Büro betrete, in dem es vor Mondrian-Bechern und
anderem Krimskrams nur so wimmelt, lerne ich keinen verrückten
Vernunftsideologen kennen, der uns unsere rätselhafte Lust an der
Kunst rauben will, sondern einen höflichen, humorvollen Mann,
dessen große Leidenschaft unserem Gehirn gilt, aber beinah ebenso
der Kunst und der völlig vernünftigen Frage, was das eine mit dem
anderen zu tun haben könnte. »Die Neurowissenschaft könne
Schönheit und Kunst niemals erklären, sagen unsere Kritiker«, so
Zeki. »Doch erstens vermengen wir nicht Schönheit und Kunst, und
zweitens wollen wir weder Schönheit noch Kunst erklären. Selbst
wenn wir alles über das menschliche Gehirn wüssten, könnten wir
Beethovens Symphonien nicht besser machen.« Ich gewann den
Eindruck, da sprach jemand, der sich gegen manche erlittene
Kränkung hatte verteidigen müssen, dem seine Kollegen vermutlich
freundlich erklärt hatten, Kunst sei doch unter seiner Würde, und
mancher Künstler, Kunst sei ja wohl mehr als Neurowissenschaft.
Doch was passiert im Gehirn eines Durchschnittsmenschen, wenn
er ein Gemälde betrachtet? Unabhängig davon, ob die ästhetische
Reaktion auf ein Werk damit zu tun hat, warum das Werk als Kunst
gilt, scheint es unangebracht, gar unwissenschaftlich, diese
Erkenntnisse bei der Beurteilung dieses Werks nicht zu
berücksichtigen. Nehmen wir etwa Francis Bacon, mit seinen
berühmten verrutschten Gesichtern: »Keiner hat das Werk von
Francis Bacon jemals als schön bezeichnet«, so Zeki. »Man schreibt
ihm viele andere, etwa handwerkliche Qualitäten zu, spricht von
tiefer Wahrheit und Ähnlichem, aber von schön? Nein, eher von
einem Gruselkabinett.« Zeki zufolge könne das an der instinktiven
Reaktion unseres Gehirns auf stark verunstaltete Gesichter liegen.
Unser Gehirn reagiert auf nichts so zuverlässig wie auf Gesichter,
vor allem auf attraktive Gesichter. So stimmen Säuglinge schon nach
wenigen Wochen mit den Augen ab: Ihr Blick verweilt auf
attraktiven Gesichtern länger. Die Attraktivität eines Gesichts
bewerten wir offenbar, ehe wir es überhaupt als Gesicht erkennen.
Dieses Verhalten scheint übrigens so instinktiv, dass Studien zufolge
jedes Nachdenken unser Vergnügen daran mindert. 79 Unsere
Vorliebe für ein Bild korreliert offensichtlich mit der Attraktivität
des abgebildeten Sujets. 80
Doch leider erlischt das lustvolle Feuer mit der Zeit und mit
zunehmender Darbietungshäufigkeit, zumindest das Nervensignal
wird schwächer. Bei einem Gesichtsmerkmal jedoch, so Zeki,
erlahmt die Gehirnreaktion nie: bei starker Verunstaltung. »Zeigt
man Leuten Bilder von entstellten Gesichtern und entstellten
Objekten, gewöhnen sie sich schnell an die entstellten Objekte. Die
Aktivität im präfrontalen Cortex erlischt«, erklärte Zeki. »Aber sie
gewöhnen sich nicht an entstellte Gesichter. Daran gewöhnt man
sich offenbar nie.« Der visuelle Schock, den Bacon nach eigenen
Worten suchte, macht sich diese angeborene Reaktion zunutze. Für
die Kubisten gilt das dagegen nicht. Ihre Entstellungen, so vermutet
Zeki, sind nicht gewaltsam genug. 81« Wie der Biograf von Bacon,
Michael Peppiatt, scharfsinnig bemerkte, erwartet man bei einem
Werk wie Kopf I »mit gespannten Nerven sofort etwas
Ungewöhnliches, erschreckend Unangenehmes, bevor das Gehirn
das Bild entziffern kann«. 82
Die Neurowissenschaft stützt diese Ansicht. Solche Bilder können
wie ein intensiver visueller Schock empfunden werden, der genauso
intensiv ist wie andere entstellte Bilder: perfekt symmetrische
Gesichter. »Symmetrie« galt lange als Synonym für schöne
Gesichter. Doch eigentlich ist jedes menschliche Gesicht irgendwie
asymmetrisch. »Ein perfekt symmetrisches Gesicht ist unnatürlich«,
erklärte mir Dahlia Zaidel, Professorin für Neurowissenschaften an
der UCLA. Es gibt hier allerdings keinen »Goldenen Schnitt« einer
universell beliebten Asymmetrie. Aber wie der andere berühmte
Francis Bacon sagte: »Es gibt keine erlesene Schönheit, deren
Proportionen nicht irgendwie eigentümlich wären.« So ist die linke
Gesichtshälfte häufig ausdrucksstärker – und darum faltiger. »Dass
es diese Asymmetrien gibt«, so Zaidel, »sagt uns, dass das Gehirn
des Beobachters sie auch wahrnimmt.«83 Derartige Asymmetrien
sind den europäischen Malern vermutlich längst aufgefallen, denn
seit der Renaissance bevorzugen sie besonders bei Frauen die linke
Profilansicht. 84
Schaut man sich computergenerierte, perfekt symmetrische
Gesichter an, spürt man einen Kitzel im Gehirn, ähnlich dem, wenn
ein komplexes Kippbild wie der Necker-Würfel umschlägt.
»Symmetrie ist eigentlich ein Monstrum«, so Zaidel, »weil sie in
unserer natürlichen Welt nicht vorkommt.« Der Gyrus fusiformis,
die für die Gesichterverarbeitung zuständige Spindelwindung
unserer rechten Gehirnhälfte, registriert in diesem Fall eine
Verletzung ihrer Annahme über die Welt. »Das Gehirn hat sehr
genaue Vorstellungen davon, wie ein Gesicht auszusehen hat«, so
Zaidel. »Es muss dann zweimal hingucken.« Und vermutlich wie bei
Bacon, ehe man überhaupt weiß, um was es sich genau handelt. Das
alles kann aber nicht erklären, warum wir Bacon für einen großen
Künstler oder überhaupt einen Künstler halten. Wir könnten uns ja
auch in einer skurrilen medizinischen Zeitschrift stark entstellte
Gesichter anschauen. Doch gewinnt unsere Betrachtung eines
Bacon nicht, wenn wir wissen, dass uns das Gemälde auf einer tiefen
Ebene unweigerlich berührt? So wie Smith das Gemälde von
Delacroix besser würdigen konnte, als er von der Lebensgeschichte
des Sujets erfuhr? Kunstgenuss sei etwas anderes als ein leiblicher
Genuss, wandte der Philosoph Rudolf Arnheim einst ein. Kann denn
die Neurowissenschaft nicht irgendwie beweisen, dass das nicht
bloß die Illusion eines großen Kunstliebhabers ist?
Später am Vormittag machten Semir Zeki und ich uns auf, reale
Kunst zu betrachten. Wir schauten uns in der National Gallery ein
Selbstporträt an, das Tizian zugeschrieben wird. »Das Gesicht auf
diesem Gemälde ist halb abgewandt«, stellte Zeki fest. 85 »In
Venedig blickte man damals auf alle anderen gern mit
Geringschätzung und Überheblichkeit herab. Und dass dieses halb
abgewandte Gesicht für uns noch immer Geringschätzigkeit
ausdrückt, zeigt, dass diese Haltung vom menschlichen Gehirn
allgemein ähnlich interpretiert wird.«
Als wir anschließend im Garrick Club zu Mittag aßen – die
lachhaft vornehmen Clubmitglieder verschicken keine SMS, sondern
hinterlegen cremeweiße Briefumschläge mit Nachrichten in der
Lobby –, sagte Zeki: »Unser Gehirn besitzt wohl ein Grundgerüst,
mit dem es Schönheit wahrnehmen kann. Welche Merkmale das im
Einzelnen sind, würde ich gern den Kunsthistorikern überlassen.«

Vermutlich spricht erfolgreiche Kunst weniger angeborene


Präferenzen an oder spiegelt sie wider. Sie reizt vielmehr deren
Grenzen aus. Offenbar hat der Mensch eine Schwäche für fraktale
Muster: für sich wiederholende geometrische Formen wie
Schneeflocken oder Zweige. So lassen etwa Jackson Pollocks
Monumentalwerke des abstrakten Expressionismus, wie Analysen
belegen, fraktale Muster erkennen. Allerdings kann das allein den
Erfolg seiner anfangs heftig umstrittenen Werke kaum erklären.
Wichtiger scheint dagegen, so der Physiker Richard Taylor und
seine Kollegen,86 dass Pollock in seinem berühmten reifen Spätwerk
von der schmalen Bandbreite beliebter fraktaler Muster abwich. 87
Es scheint, so die Forscher, als habe er den Betrachter
herausfordern oder gar verwirren und die Grenzen des »Gefälligen«
austesten wollen: Was könnte es dazu Besseres geben, als die
Gesetze der Symmetrie zu verletzen, auf die unser Gehirn gepolt
ist? Wenig überraschend bevorzugen wir Schriftarten, die besser
lesbar sind. Denn wir lieben ja die leichte Verarbeitung. Doch wie
Forschungen belegen, bleiben Informationen besser im Gedächtnis
haften, wenn die Schrift weniger flüssig, also schwerer lesbar ist.
Leicht verdauliche Kunst wird darum wohl leichter vergessen.
Kritiker argumentieren, die Neuroästhetik sei wohl kaum zu
gebrauchen, wenn sie Duchamps berühmtes Urinal nicht von einem
Urinal im Sanitätsfachhandel unterscheiden könne. Aber bis
Duchamp die Bühne betrat und uns den Unterschied erläuterte,
konnte das auch niemand sonst. Er sei »entsetzt«, sagte Duchamp
später, dass die Leute seine Readymades wegen ihrer »Schönheit«
bewunderten. 88 Die Kunst selbst hat sich bei der Frage, ob etwas
Kunst oder sogar gute Kunst ist, als wenig hilfreich erwiesen. Wie
der Kritiker Arthur Danto schrieb, könne man sich bei den
gestapelten Brillo-Kartons von Andy Warhol zwar fragen, ob das
Kunst sei, wesentlich interessanter aber sei die Frage, warum die
wirklichen, vollkommen identischen Brillo-Kartons, die von dem
Künstler James Harvey entworfen wurden, keine Kunst seien. Die
Gründe, so Danto, »haben nichts mit dem Auge zu tun«, sondern
seien zweifellos im Kopf des Betrachters zu suchen. Man könnte die
Kartons, so Danto, vielleicht als »Gebrauchskunst« bezeichnen. 89
Dantos Unterscheidung lässt sich durchaus nachvollziehen, doch
mindestens ein Experiment konnte zeigen, dass bei der
Kunstbetrachtung andere Gehirnbereiche aktiviert werden, als
wenn wir einfach nur Bilder anschauen. 90 Demnach wäre vielleicht
nicht alles Kunst, aber wir könnten alles unter dem Blickwinkel von
Kunst betrachten. (Warhol hat schließlich gesagt: »Ich male ganz
einfache Dinge, die ich schon immer schön fand.«91) Was aber
erhebt die Dinge dann zur Kunst? Der Philosoph und Kunstkritiker
Danto hat es bekanntlich auf den Punkt gebracht: Kunst ist, was die
Kunstwelt zu Kunst erklärt. Seine schnoddrige Tautologie führt uns
schon zur nächsten Frage und damit zurück zu Tuymans’ Versuch:92
In welchem Maße hängt unsere Reaktion auf Kunst davon ab, ob uns
etwas als Kunst präsentiert wird? (Antwort: in hohem Maße.)
Selbst der leidenschaftliche Kunstliebhaber betrachtet die
ausgestellten Werke im Museum meist nicht unter dem Blickwinkel
der philosophischen Ästhetik. Wir versuchen kaum, die Werke
kunstgeschichtlich einzuordnen, ihre Sinnhaftigkeit zu ergründen
oder den aktuellen Kunstdiskurs an einem bestimmten Werk
festzumachen. Wir schauen uns an, was uns ins Auge fällt – im
wörtlichen und übertragenen Sinn. Und dabei verweilt unser Blick
länger auf dem, was uns gefällt.
Schauen kann das reinste Vergnügen sein. So sagte mir der
leitende Neurowissenschaftler des ArtLab der New York University,
Edward Vessel, als ich ihn in seinem Büro in Lower Manhattan
aufsuchte, er und sein Kollege Irving Biederman hätten vor einigen
Jahren zu ihrer großen Überraschung Opioidrezeptoren in der
ventralen Sehbahn des Gehirns entdeckt. 93 Normalerweise sei
diese Hirnregion für die Formerkennung zuständig, und bis dahin
seien Opioide vor allem mit synthetischen Opiaten wie Heroin in den
»Belohnungs«- oder »Schmerz«-Bahnen in Verbindung gebracht
worden. Was hatten sie also in der Sehregion zu suchen? Stellten sie
etwa eine Verbindung zwischen der Erzeugung von optischen
Repräsentationen sowie ihrer Bedeutung im Gehirn und dem
Lustempfinden her, fragten sich die Forscher. Gehe man in der
sensorischen Verarbeitungshierarchie des Gehirns weiter nach
oben, so ihre Theorie, komme die Belohnung ins Spiel.
An diesem Punkt schien es nur logisch, sich als Nächstes die Frage
zu stellen, warum wir ein bestimmtes Bildmotiv als angenehm
empfinden. »Wenn Sie und ich eine gemeinsame Vorliebe haben«, so
Vessel, »dann könnte es irgendwo da draußen eine Ursache für
unsere Präferenz geben. Es könnte aber genauso gut sein, dass
unsere innere Repräsentation der Welt ziemlich ähnlich ist und der
Grund unserer gemeinsamen Vorliebe in dieser inneren Simulation
liegt.«
In einer Studie fragten Vessel und seine Kollegen daher
Probanden, wie gut ihnen bestimmte gegenständliche Motive und
»abstrakte Reize« gefielen. Bei den gegenständlichen Motiven
waren die Vorlieben ziemlich eindeutig: Naturbilder waren
allgemein beliebter als Parkplatzfotos. 94 Doch bei den abstrakten
Bildern gefiel beinah jedem etwas anderes. Als Grund dafür
vermutet Vessel, dass gegenständliche Motive mehr »semantische
Bedeutung« besitzen und die Probanden eigentlich eine gemeinsame
Vorliebe für diese Bedeutung hatten. Bei den abstrakten Bildern
dagegen mussten die Probanden – und ihr Gehirn – dem Bild erst
Bedeutung verleihen, genau wie der hilflose Betrachter vor einem
nicht näher beschrifteten gegenstandslosen Gemälde. Daher wichen
ihre Vorlieben voneinander ab.
Während der Glanzzeiten des abstrakten Expressionismus gegen
Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde die gegenstandslose Malerei
als »universelle Sprache« beschworen, da sie von allen kulturellen
Bezügen befreit sei. 95 Doch wie verschiedene Studien zeigen, ist es
mit der abstrakten Kunst so eine Sache. Offenbar mögen die Leute
Bilder mit Bedeutungsinhalt lieber. Das Abstrakte kommt schon
besser an, wenn man es in einen Kontext stellt, und sei es nur mit
einem Titel. 96
Die Neurowissenschaft ist weit davon entfernt, unserem
ästhetischen Empfinden etwas von seinem Geheimnis und seiner
Intensität zu nehmen. Im Gegenteil. Legt man Leuten Fotos von
Gesichtern vor, können Algorithmen anhand der neuronalen
Signatur im Gehirn heute mit mehr als statistischer
Wahrscheinlichkeit erkennen, welches Foto jemand gerade
angeschaut hat. 97 Doch solche neuronalen »Decoder« funktionieren
nur für diese eine Person. Das heißt, Ihre neuronale Reaktion auf
ein Kunstwerk sieht anders aus als meine und vielleicht sogar als
Ihre noch einen Moment zuvor.
Aber unsere Gehirnaktivität kann teilweise auch verblüffend
ähnlich sein, obwohl unsere Vorlieben stark voneinander abweichen
– und das sogar, wenn wir unterschiedliche Bilder betrachten. Vessel
und seine Kollegen haben mehrere verführerisch vielsagende
Untersuchungen zu der Frage durchgeführt, was Kunst, die uns
gefällt, mit uns macht. In einer Studie lagen die Probanden in einem
Scanner – zugegebenermaßen nicht gerade die Situation, in der wir
gewöhnlich Kunst genießen – und sollten auf einer Skala von eins bis
vier angeben, wie stark sie ein Gemälde berührte. Von etwas
»berührt« zu werden mag, wie jede andere einzelne Kennzahl, ein
fragwürdiger Maßstab sein, aber es ist eine Reaktion. Die
Probanden sahen verschiedenste Werke: moderne und alte,
bekannte und unbekannte Kunst. Insgesamt zeigten ihre
Bewertungen nur wenige Gemeinsamkeiten. Aber interessant war,
was passierte, wenn sie ein Bild mit vier bewerteten. Bei diesen
»Lieblingsbildern« – und nur dabei – wurden Gehirnregionen wie
der mediale präfrontale Kortex aktiviert, die man als Default Mode
Network (DMN) bezeichnet.
Das DMN oder Ruhezustandsnetzwerk wurde mehr oder weniger
zufällig in frühen Studien mit bildgebenden Verfahren entdeckt. In
diesen Versuchen sollten Probanden Aufgaben erledigen, während
man ihre Gehirnaktivität beobachtete. Dabei fiel den Forschern auf,
dass bestimmte Gehirnregionen aufflackerten, wenn die Probanden
auf die nächste Aufgabe warteten und nichts taten. Die genaue
Funktion dieses DMN ist bis heute ungeklärt. Handelt es sich um
eine Art Überwachungssystem im Hintergrund, oder macht das
Gehirn in aller Ruhe einen Ausflug? Wenn die Probanden die
Aufgabe dann ausführten, wurde das DMN unterdrückt.
Schickt uns ein Kunstwerk, das uns wirklich berührt, in einen
ästhetischen Tagtraum? Doch wo finden sich die Zacken der
neuronalen Erhabenheit? Wie sich zeigte, so Vessel, wird das DMN
auch in Situationen »nach innen gerichteter Aufmerksamkeit« zum
Leben erweckt, wenn wir also über uns selbst nachdenken. Das
neuronale Feuerwerk, das die Betrachtung eines Kunstwerks
auslöst, ähnelt dem in Momenten unserer Selbstreflexion. »Mir fiel
sofort Kant ein«, sagte Vessel, »wie er über Schönheit spricht und
wie der Anblick eines äußeren Gegenstands einen Widerhall in
unserem Geist findet.«
Wenn wir allerdings im Alltag um uns schauen, ist das
Ruhezustandsnetz normalerweise inaktiv. Nur beim »Chillen« ist die
Aktivität der für das Sehen zuständigen Hirnregionen herabgesetzt.
»Man nimmt dann eigentlich nichts auf«, erklärte Vessel. Doch als
die Probanden Kunst betrachteten, die sie wirklich berührte, waren
offenbar beide Netze aktiv. Dies könnte, so Vessel, »daher ein
typisches Indiz für ästhetisches Erleben sein« – oder wie John
Dewey es beschrieb, für ein völliges Versunkensein, bei dem das
Werk und die dadurch hervorgerufenen Gefühle untrennbar
miteinander verschmelzen. 98 Wir blicken, so Vessel, dann
gleichzeitig nach innen und nach außen und erleben »einen Aha-
Moment, der uns etwas über uns und die Welt verrät«.

Woher wissen wir, was gut ist?

Ist Ihnen in einem abgelegenen Museumswinkel auch schon mal ein


geheimnisvolles Gemälde ins Auge gesprungen, das Sie spontan
begeisterte? Und Sie haben sich gewundert, warum es sonst
anscheinend niemandem auffiel? Wenn bloß mehr Leute dieses
Meisterwerk sehen würden, dachten Sie, wäre es bestimmt schon
bald berühmt. Vielleicht argwöhnten Sie auch, dass andersherum
manch hochgelobtes Werk, vor dem sich die Massen tummeln, nicht
so gut ist wie manches Bild, das irgendwo ein einsames Dasein
fristet.
Anfang der 1990er Jahre ging der Psychologe James Cutting der
Frage nach, ob der Kunstkanon nicht einfach nur eine Frage der
Darbietungshäufigkeit ist. 99 Wie Sie sich vermutlich aus Kapitel eins
erinnern, besagt die Mere-Exposure-Theorie, dass uns Dinge, ob
Nouvelle Cuisine oder ein neuer Song, mit großer
Wahrscheinlichkeit besser gefallen, wenn wir ihnen schon einmal
begegnet sind. Die Theorie besagt weiter, dass unser Gehirn, das
die »Geläufigkeit« liebt, die Dinge dann leichter verarbeiten kann.
Wie Cutting mir erklärte, wurden die meisten Studien zur
Darbietungshäufigkeit allerdings mit Bildern durchgeführt, die im
normalen Leben kaum eine Rolle spielen: zufällige geometrische
Formen oder chinesische Schriftzeichen – sofern der Proband diese
nicht lesen konnte.
Es habe zwar Versuche mit Gemälden gegeben, aber es handelte
sich dabei meist um unbekannte und gegenstandslose Werke. Aber
was war mit den kanonisierten Werken, die vermutlich jeder in
seinem Leben schon einmal gesehen hat? Entsprechende Studien
mussten zunächst erkunden, welche Kunst die Probanden kannten.
Sie einfach danach zu fragen, hätte problematisch sein können, weil
die Darbietungshäufigkeit, wie wir gesehen haben, auch wirksam
ist, wenn man etwas nicht bewusst kennt.
Cutting löste dieses Problem auf interessante Weise. Er wählte als
Stichprobe die Sammlung von Gustave Caillebotte, einem
französischen Impressionisten, dessen Straße in Paris an einem
regnerischen Tag von 1877 Ihnen vermutlich schon begegnet ist –
wenn auch vielleicht nicht unbedingt als Original im Art Institute of
Chicago. Caillebotte war ein leidenschaftlicher Sammler
impressionistischer Werke und trug einen wahren Schatz aus
Cézannes, Monets und Renoirs zusammen. Zumindest heute
erscheint seine Sammlung, die mittlerweile im Musée d’Orsay
präsentiert wird, als wahrer Schatz. Damals wollte der französische
Staat sie kaum annehmen.
Cutting wählte 66 Bilder aus Caillebottes Sammlung. Dann
ordnete er jedem ein zweites Werk zu: von demselben Künstler, im
selben Stil, mit ungefähr demselben Sujet und ähnlicher
Entstehungszeit. Diese Bilder, so vermutete Cutting, waren
Caillebotte entgangen. Um die Bekanntheit der ausgewählten
Werke zu bestimmen, nahm Cutting eine irrsinnige Fleißarbeit auf
sich: Er und einige unermüdliche Studenten hockten wie Borges’
Figuren stundenlang in die Bibliothek der Cornell University und
überprüften den beträchtlichen Kunstbuchbestand genauestens
daraufhin, wie oft jedes der 132 Werke reproduziert worden war.
Die Methode, sozusagen ein Google Ngram Viewer für Bilder,
schien Cutting geeignet, nachzuvollziehen, inwiefern ein Gemälde
Eingang in die Kultur gefunden hatte. »Es ging mir damals nicht
besonders«, erklärte mir Cutting und erzählte, dass seine erste
Frau damals gerade gestorben war. Eine derart »mechanische«
Arbeit sei darum genau das Richtige gewesen, außerdem habe er
»die Nase von dieser schlampigen Forschung voll gehabt, die mir
überall begegnete. Ich wollte einmal wirklich gründlich arbeiten.«
Nach Abschluss seiner Fleißarbeit zeigte Cutting die Bilderpaare
einer Studentengruppe und befragte sie, welches Bild »ihnen am
besten gefiel«. Wie sich herausstellte, waren die häufiger
reproduzierten Werke »leicht signifikant« beliebter – obwohl es bei
den Angaben der Probanden, ob sie die Werke kannten, kaum
Unterschiede gab. Dasselbe Ergebnis zeigte sich auch bei einer
älteren Probandengruppe. Aber natürlich hieß das noch längst nicht,
dass die Darbietungshäufigkeit die Ursache der Vorlieben war.
Vielleicht wurden die Bilder ja öfter reproduziert, weil sie besser
waren als andere. Selbst wenn sich eine Rückkopplungsschleife
bestätigen ließ, schloss das nicht aus, dass es gute Gründe dafür
gab. Dann hätte der Kanon ganze Arbeit geleistet und die
künstlerische Crème de la Crème nach oben gespült.
Mit einem letzten Experiment wollte Cutting schließlich
herausfinden, ob eine konzentrierte Darbietung zufälliger Bilder das
Ergebnis nicht doch noch revidieren konnte. 100 Ein Jahr lang zeigte
er im Einführungskurs Wahrnehmung zu Beginn oder mitten in der
Stunde für zwei Sekunden kommentarlos die Bilder der
vorangegangenen Studien. Allerdings zeigte er dieser
Studentengruppe die weniger bekannten Bilder häufiger. In den
meisten Fällen entwickelten die Studenten eine Vorliebe für die
Bilder. Cutting interessierte weniger, warum es die einen Bilder in
den Kanon schafften, sondern hauptsächlich, warum es den anderen
nicht gelang. Waren sie nicht so gut oder hatte man sie durch eine
Laune, Zufall oder Machtverhältnisse einfach übersehen und darum
»unterbewertet«?
Doch was bedeutete das alles überhaupt? Hatte sich die Frage
nach der Qualität eines Bilds nun erübrigt? Hing die Beliebtheit
eines Bilds im Grunde allein davon ab, wie oft man es sah, wie
Cutting nahelegte? Qualitätsurteile und Vertrautheit mussten sich ja
nicht unbedingt ausschließen: Vielleicht war einfach ein mehrfaches
Hingucken nötig, um zu erkennen, ob und warum etwas gut war –
Caillebotte wurde schließlich auch fast hundert Jahre später »neu
entdeckt«. 101 Wenn eine häufige Darbietung dazu beitrug, die
Qualität eines Werks zu erkennen, und nicht nur eine bloße
Vertrautheit schuf, dann konnte das allerdings nur für Gemälde
gelten, die tatsächlich gut waren. Forscher der University of Leeds
machten diese Feststellung daher zum Ausgangspunkt einer Studie,
mit der sie an Cutting anknüpften.
Im Zentrum dieser Studie sollten keine Sammlung mehr oder
weniger guter impressionistischer Werk stehen, sondern ein fest im
Kanon verankerter Maler und einer, der entschieden nicht
dazugehörte. Die Wahl der Forscher fiel auf den englischen Maler
des 19. Jahrhunderts John Everett Millais und den zeitgenössischen
amerikanischen Maler Thomas Kinkade. Der »Painter of Light«, wie
Kinkade von seinen zahlreichen Fans genannt wird, verkaufte sich
eine Zeitlang sehr gut, allerdings nicht in Mainstream-Galerien,
sondern in eigenen Shoppingcenter-Boutiquen. Kinkade ist wohl bis
heute der einzige Künstler, nach dem ein La-Z-Boy-Liegesessel
benannt wurde. Bei Millais wählten die Forscher weniger bekannte
Landschaften, die »Kinkades Motiven und Palette grob
entsprachen«. 102
Wie bei Cuttings Studie zeigte man Studenten die Bilder kurz und
wie zufällig. Die meisten der 60 Bilder stammten von Kinkade, nur
etwa ein Dutzend von Millais. Die Ergebnisse für die Millais-Werke
bestätigten die von Cutting: Je öfter die Studenten die Werke sahen,
desto besser gefielen sie ihnen. Die Bilder von Kinkade aber wurden
unbeliebter, je öfter die Studenten sie sahen – und zwar schon ab
der zweiten Darbietung. Konnte es sein, dass Millais für die
englischen Studenten einfach aussah wie Kunst, die im Museum hing
und ihrer Vorstellung von echter Kunst entsprach? Und Kinkade,
was immer man von seinem Stil oder seiner Technik halten mochte,
einfach weniger an Werke erinnerte, die jeder aus Museen kannte?
Verglich man hier vielleicht Äpfel und Birnen?
Ich habe diese Frage Matthew Kieran gestellt,
Philosophieprofessor in Leeds und Mitautor der Studie. Wir trafen
uns auf einen Kaffee in der Tate Britain – vor der jahrelang eine
Statue von John Everett Millais stand. »Eigentlich sollte das keine
Rolle spielen«, sagte er. »Selbst wenn man Millais zuerst mit neun
und Kinkade mit drei bewertet hat, müsste die Beliebtheit für beide
ja nach der Mere-Exposure-Hypothese nach oben gehen.«
Allerdings wollte Kieran nicht ausschließen, dass die Probanden
einen bestimmten Malstil bevorzugten, was durch die Darbietung
dann verstärkt wurde.
Man könnte als Ursache natürlich auch annehmen, so Kieran, dass
Kinkade in England eben nicht so bekannt ist. Doch bei der ersten
Darbietung seien seine Bilder seltsamerweise beliebter gewesen als
die von Millais. Oder vielleicht hielten die Probanden mit ihrer
Meinung zunächst hinterm Berg? Denn wer konnte schon wissen, ob
die gezeigten Werke zu den besseren oder schlechteren Bildern der
Maler gehörten? Nach der Theorie der perzeptuellen Geläufigkeit
müsste man allerdings davon ausgehen, dass einen die subtilen
Arbeiten von Millais beim ersten Anblick nicht gerade vom Stuhl
hauen, aber bei wiederholter Betrachtung gewinnen. So wie Italo
Calvino für die Literatur festgestellt hat, dass ein Klassiker einem
bei jedem erneuten Lesen Neues zu sagen habe. 103
Kinkades Gemälde gehen auf den ersten Blick, so Kieran, runter
wie süße Limonade an einem heißen Sommertag – denn wem gefiele
ein gemütlich erleuchtetes Bauernhaus in verschneiter Landschaft
nicht? –, doch bei mehrmaliger Betrachtung offenbare sich ihre
Begrenztheit in Motivauswahl oder Ausführung oder ihre
Überladenheit. In seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des
Seins habe Milan Kundera Kitsch als »zwei Tränen«: definiert: »Die
erste Träne besagt: Wie schön sind doch auf dem Rasen rennende
Kinder! Die zweite Träne besagt: Wie schön ist es doch,
gemeinsam mit der Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen
rennenden Kindern gerührt zu sein! Erst diese zweite Träne
macht den Kitsch zum Kitsch.«104 Und der Kunsthistoriker Alexis
Boylan habe über Kinkade geschrieben, er male keine Gegenstände,
sondern »die Sehnsucht nach Gefühl«:105 Der Betrachter werde von
den gefühligen, vom Kerzenschein erleuchteten Fenstern förmlich
geblendet. 106 Die »zweite Träne« kann wohl zu viel sein, so wie den
Studenten in Leeds schon der zweite Blick auf Kinkade zu viel war.

Aber was ist mit den Leuten, denen Kinkade gefällt?XVIII Ist ihr
Kunstgenuss etwa nicht authentisch? Würde ein Gehirnscanner,
wenn wir Kinkade betrachten, eine ebenso starke neuronale
Reaktion feststellen wie bei, sagen wir, Raphael? »Nur wenn es
zwischen der Bedeutung eines großen Kunstwerks und unserem
eigenen Leben eine Verbindung gibt, kann es unseren Geist
erheben«, so der Kritiker Kenneth Clark. 107 Wenn man die
Aussagen von Kinkade-Fans liest, tut seine Kunst genau das. Aber
Clark sagt auch: »Kunst muss mehr sein als nur Vergnügen.«
Warum genau, sagt er allerdings nicht, aber er bringt uns damit
wieder zu Kant und Hume zurück. Wenn wir über Geschmack und
vor allem darüber nachdenken, wie unser Geschmack beschaffen
sein sollte, stehen die Theorien der beiden Philosophen noch immer
im Raum. Kant und Hume lebten in einem Zeitalter, in dem die
soziale Mobilität beängstigend zunahm, sich neue kulturelle
Stimmen zu Wort meldeten, die Urteile über Kunst, Literatur oder
Mode individueller und subjektiver wurden, und daher plötzlich
mehr über den eigenen Charakter verrieten und erschreckend
bedeutungsschwer waren. 108 Die Philosophen wollten den
Geschmacksdiskurs vor den Wirren des puren Relativismus und der
Korruption durch belanglose Launen in Sicherheit bringen. 109
Mit seinem »schwierigen« Werk Kritik der Urteilskraft von 1790
galt Kant lange als der Maßstab, wenn es um ästhetisches
Empfinden ging. 110 Kants Ideal eines ästhetischen
Geschmacksurteils ist allerdings ziemlich rigoros: Man müsse
vollkommen »interesselos« sein. Was nicht uninteressiert heiße,
aber man dürfe bezüglich des fraglichen Gegenstands keine
persönlichen Ziele verfolgen oder Begehrlichkeiten hegen. Gefragt
war die »bloße Betrachtung«. Etwas konnte nur schön sein, wenn es
eine »freie Schönheit« war. Frei von bestimmten Konzepten,
Zuschreibungen, Zwecken oder vorgefassten Meinungen. Etwas von
Kant scheint bis heute in der Neuroästhetik durch, wenn sie nach
»angeborenen« Reaktionen auf ästhetische Objekte wie Pollocks
fraktale Muster sucht und man auf keinen Fall wissen darf, dass es
sich um einen Pollock handelt!
Kants »interesseloses Wohlgefallen« hat natürlich eher wenig mit
dem zu tun, wie wir im Großen und Ganzen Schönheit beurteilen.
Blumen oder Muscheln sind Kant zufolge zwar ebenfalls freie
Schönheiten, doch nur ein Wesen vom fremden Stern – wo es keine
Blumen und Muscheln gibt – kann sie dem Kant’schen Ideal gemäß
betrachten. 111 Wie der Philosoph Denis Dutton jedoch darlegt,
findet man zunächst etwa eine Muschel am Strand und bewundert
sie. Dann entdeckt man noch eine, die oh noch schöner ist! Nun holt
man vielleicht ein Buch aus dem Schrank, informiert sich über die
gefundenen Muscheln, ihre Namen und Klassifizierung. »All das«, so
Dutton, »das Heraussuchen, Einordnen, Vergleichen und
Bewundern, setzt ein Konzept voraus.«112 Selbst die Muschel als
Muschel zu erkennen erfordere ein Konzept. 113
Vielleicht ahnte Kant, dass es beinah unmöglich war, seinem hohen
ästhetischen Maßstab gerecht zu werden, jedenfalls ließ er auch
das bloß »Angenehme« gelten, was allerdings durch unseren
Geschmack korrumpiert sei. Angenehmes würde uns einfach
gefallen, und eben darum, weil es uns gefiel, durften wir von
anderen nicht denselben Geschmack erwarten. Hier melde sich bloß
unser »Privat-Geschmack« zu Wort. Die Werke von Kinkade, fürchte
ich, fallen unter Kants Verdikt: »Das reine Geschmacksurteil ist von
Reiz und Rührung unabhängig.«114 Nicht, dass Schönheit ohne Reiz
oder Rührung wäre, aber sie dürfe sich nicht dadurch definieren.
David Hume musste sich, wenn es um Geschmackssachen ging,
jahrhundertelang mit einem Platz in Kants Schatten begnügen, doch
sein Stern ist in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gestiegen.
Philosophische Zeitschriften melden ein »steigendes« Interesse an
dem bislang »unterschätzten« Hume. 115 Vermutlich, weil absolute
ästhetische Urteile in unserem Zeitalter endgültig passé scheinen
oder seine Theorien eher dem entsprechen, wie der Mensch
tatsächlich ist.
Obwohl Humes eigener Geschmack als durchaus fragwürdig
bezeichnet wurde, scheint seine Abhandlung »Of the Standard of
Taste« heute aktueller denn je. 116 Als Philosoph des Empirismus
beschäftigte sich Hume eher damit, wie die Dinge tatsächlich liegen,
als damit, wie sie sein sollten. »Die Geschmacksvielfalt ist so
offensichtlich, dass sie niemandem entgehen kann«, schreibt
Hume. 117 Und das hänge nicht nur, wie Bourdieu später postulieren
sollte, von der Gesellschaftsschicht ab. »Auch die gebildetsten
Menschen kennen jemanden in ihrem engsten Umkreis, der ihren
Geschmack nicht teilt; dabei können sie sogar dieselbe Erziehung
genossen und dieselben Vorurteile eingeimpft bekommen haben.«118
Hume hat ganz richtig erkannt, dass wir zwar sagen Ȇber
Geschmack lässt sich nicht streiten«, den eigenen aber trotzdem
meist als besser empfinden.

Aber das war für Hume okay, und das sollte es auch für Sie sein,
meinte er: »Es ist beinah unmöglich, keine Vorliebe für das zu
empfinden, was zur persönlichen Situation und Disposition passt.«
Natürlich mag man als Teenager die Rockband Van Halen – um
Humes Beispiele Ovid und Tacitus zu aktualisieren –, liebe als 23-
Jähriger dann die Pixies und als 50-Jähriger eher Leonard Cohen.
Wir verurteilen niemanden. Aber wir müssen, so Hume,
Geschmacksurteile fällen. Trotz oder wegen der Geschmacks- und
Meinungsvielfalt »suchen wir vergebens nach einer Norm, die die
verschiedenen Haltungen versöhnt«.
Aber wer soll die Geschmacksurteile fällen? Dafür brauchen wir
laut Hume gute Kritiker. Doch die seien rar: »Nur wenige können
Kunst wirklich beurteilen oder ihr eigenes Empfinden zur
Schönheitsnorm erheben.« Ein guter Kritiker brauche vieles, etwa
einen »erlesenen Geschmack«, womit Hume nicht bloß auf das Auge
anspielte, sondern auch auf den Gaumen. Man hielt »Geschmack«
als sensorisches Erlebnis und als Inbegriff raffinierter Urteilskraft
damals nämlich erst seit kurzem auseinander. 119
Der gute Kritiker brauche zudem Zeit, um »launenhafte und
vorschnelle Schlüsse« zu vermeiden, die sich »störend in das reine
Schönheitsempfinden einmischen.«120 Als wolle er die Kinkade-
Studie erläutern, führt Hume aus, dass gute Kritiker mehrmals
hinschauen müssten. »Eine gewisse überladene, oberflächliche
Schönheit gefällt zwar zunächst«, so Hume. »Doch weil sie weder
Vernunft noch Leidenschaft angemessen zum Ausdruck bringt, wirkt
sie schnell schal und wird schließlich sogar verachtet oder
zumindest geringgeschätzt.«
Möglicherweise sind Ihnen bezüglich Hume bereits einige Zweifel
gekommen, wie sie auch die neuere Philosophie beschäftigen. Spielt
er den Ball nicht einfach wieder zurück, wenn er die
Geschmacksurteile fähigen Kritikern überlassen will?121 Was ist,
wenn zwei hervorragende Kritiker ein vollkommen anderes Urteil
über ein und dasselbe Werk fällen? Ein Kritiker müsse seinen Geist
von »jedem Vorurteil befreien«, betonte Hume, sagte aber auch,
dass man bei der Beurteilung von Werken anderer Epochen oder
Kulturkreise »den besonderen Blick oder die Vorurteile« dieser
Epoche oder Kultur übernehmen müsse. Wollte Hume, so fragte sich
die Philosophieprofessorin Michelle Mason, dass die Kritiker »ihre
eigenen Vorurteile aufgaben, um dann andere zu übernehmen«?122
Hume ahnte, in welch tiefen Sumpf er sich da begab. Er stelle
»unangenehme« Fragen, schrieb er, die ihn auch wieder in den
Tümpel der »Ungewissheit« zurückführen könnten, aus dem er sich
zu befreien versuche. Ein Zeitgenosse von Hume bedauerte, »dass
unser Autor nicht, wie wir erwarten, eine Geschmacksnorm aufstellt
oder bestätigt, sondern uns in Ungewissheit zurücklässt«. 123
Doch Jahrhunderte später wirkt Humes Abhandlung faszinierend
aktuell, wenngleich vielleicht auch nur, weil wir der Antwort noch
kein Stück näher gekommen sind – oder weil sie wie die Bibel viel
Raum für Interpretationen lässt. Hume spreche uns heute so stark
an, meint der Philosophieprofessor James Shelley, weil wir
unbedingt daran glauben wollen, dass es uns gelingen könne, eine
Geschmacksnorm zu finden. 124 Humes einzige Hoffnung bestand
aber lediglich darin, dass man den Geschmacksurteilen der besten
Kritiker die gebührende Aufmerksamkeit zollt. Diese
»gemeinsamen« Geschmacksurteile würden dann durch das Urteil
der Zeit bestätigt werden. »Macht oder Vorurteile mögen einen
schlechten Dichter oder Redner zeitweilig emporheben«, schrieb
Hume, »aber dieses Ansehen wird nie von Dauer sein.« Mit anderen
Worten: Darbietungshäufigkeit allein reicht nicht aus. Kinkade125
mag in einem von zwanzig US-amerikanischen Haushalten hängen,
aber die Werke von Maxfield Parrish126 fanden sich angeblich einst
in einem von fünf. Haben Sie heute noch irgendwo eines gesehen?
127

»Solange man sich noch in den Klauen des Zeitgeists befindet«,


sagte Matthew Kieran zu mir, »ist es schwer zu beurteilen, ob etwas
wirklich gute Kunst ist oder nur eine ziemlich gute Version von
etwas allgemein Beliebtem.« Erst später bemerkte ich, dass wir
witzigerweise in einer Ausstellung mit dem Titel Die vergessenen
Maler standen. Zu sehen waren Werke wie die Diana of the Uplands
von Charles Wellington Furse, ein Gemälde, das, so eine Wandtafel,
einst genauso beliebt war wie die Ophelia von John Everett Millais –
vor der die Museumsbesucher heute, so eine Studie, am längsten
stehen bleiben. Die gezeigten Werke, so das Museum, seien einst
die »Stars« der Sammlung gewesen, dann aber »aus der Mode
gekommen«. Die besten Werke bleiben, sagt Hume, und darum
werde »der schon vor zweitausend Jahren bei Athenern und Römern
so beliebte Homer in Paris und London noch heute bewundert«.
Doch wie soll man wissen, ob ein Werk gut ist, oder es lieben lernen,
wenn es nirgendwo »dargeboten« wird? Und was, wenn die nächste
Mode gleichermaßen Gutes und Schlechtes aussortiert? Und noch
ein Punkt bringt Humes Ansatz in Bedrängnis: Warum genau
verändert sich der Geschmack überhaupt?
Im nächsten Kapitel werden wir diese Frage erörtern. Doch
zunächst gibt es noch eine weitere ungelöste Frage bezüglich
Hume, die eine nähere Betrachtung verdient. In seiner Abhandlung
sieht Hume eine enge Verknüpfung von Qualität und Geschmack: Er
geht davon aus, dass uns oder zumindest dem idealen Kritiker nur
das qualitativ Hochwertige gefällt. Doch könnte die Sache nicht ein
bisschen komplizierter sein?
Es kommt nicht darauf an, was,
sondern wie uns etwas gefällt

Wenn Forscher genauer herausfinden wollen, wie Leute eigentlich


auf Kunst reagieren, die ihnen gefällt oder die sie ablehnen, stehen
sie vor einem Problem: Wo gibt es Kunst, die allgemein als schlecht
gilt? Manche Wissenschaftler begeben sich darum ins Museum of
Bad Art (MOBA), eine jahrzehntealte Institution nahe Boston, die
sich, nach dem Motto »zu schlecht, um ignoriert zu werden«, auf das
Sammeln von kulturellem Ausschuss spezialisiert hat. Die Forscher
wählen dann einige Bilder aus und zeigen sie ihren Probanden
neben Werken aus dem Museum of Modern Art (MoMA). Meistens,
aber nicht immer, sticht das MoMA das MOBA aus.
Der Tenor der MOBA-Sammlung wird vielleicht am ehesten durch
das Transkript eines Gesprächs auf den Punkt gebracht, das ich mit
dem Kurator der Sammlung, Michael Frank, führte. Er lenkte mich,
am Telefon, zu einem Bild auf der Museums-Website: »Sind Sie
schon an der Liza Minnelli mit den Jazz-Händen vorbei? Sehen Sie
das Auge, durch das eine Zunge geht? Den Penis mit Zähnen?«
Schließlich stoße ich auf das Werk, um das es geht. Swamp Picnic
von Ted Cate Jr. zeigt ein Paar in einer grasgrünen Lilly-Pulitzer-
Version der Ganzkörperanzüge von George Lucas’ Dystopie THX
1138, beim Picknick an dem namensgebenden Sumpf. Das Gemälde
wirkt wie ein seltsamer Hybrid, als hätte jemand die Figuren eines
Fantasy-Buchcovers der Zukunft entrissen und in ein typisches
Hotel-Lobby-Landschaftsbild zurückgebeamt. »Dem Maler fehlt es
nicht unbedingt an Technik«, erklärte Frank. »Aber bei dem Bild
kratzt man sich doch unweigerlich am Kopf und fragt sich: ›Was hat
der sich bloß gedacht?‹«
Nicht, dass hier vollkommen unverfroren von »schlecht« die Rede
ist, wo Qualitätsurteile derzeit doch eher Tabu sind, fällt am MOBA
besonders auf, sondern die offenbar raffinierten, wenn auch
eklektischen Kriterien, mit denen das Museum bestimmt, was als
solches gelten soll. Gegenstandslose Kunst schafft es meist nicht ins
MOBA, so Frank, weil »sie schwer zu beurteilen ist«. Aber das
Museum nimmt durchschnittlich nur ungefähr die Hälfte aller
Schenkungen an. Vermutlich ist der Rest zu schlecht, um schlecht zu
sein. »Wir sammeln keinen Kitsch«, erläuterte Frank. Keinen Elvis
in Samt, keinen Bob Ross. Das Museum suche Werke, mit denen sich
jemand »künstlerisch ausdrücken« will, aber bei denen in puncto
Technik oder Sujet etwas schiefgelaufen ist. Das Bild müsse trotz
oder gerade wegen dieses Mangels etwas haben, das ins Auge falle
oder die Phantasie anrege.
Wer in der Sammlung stöbert, stößt ab und zu auf Werke, bei
denen sich kein wissendes Lachen einstellen will, sondern eher ein
Gefühl des Unbehagens, wie man es aus dem Auktionshaus oder
modernen Kunstausstellungen kennt: Ist das jetzt gut oder
schlecht? Wie Hume feststellte, kann der erste kurze Blick auf ein
Werk unser wahres ästhetisches Empfinden trüben: »Vorlieben und
Abneigungen können sich unter einem Zustand der Verwirrung
verbergen.«
Wichtiger, als wie man ein Werk empfindet, ist darum, dass man
überhaupt etwas empfindet – und der Funke zündet, der zum
zweiten Blick motiviert. So hört man von Kunstkritikern immer
wieder, dass sie sich zunächst an Werken »gestört« hätten, die
später zu ihren Lieblingsbildern zählten. »Manchmal hasst man
etwas geradezu«, so die Kritikerin Linda Nochlin, »aber genau
dieses starke Gefühl kann ungewollt den Funken der Liebe
überspringen lassen.«128

In einer Studie über »neuronale Korrelate von Hassgefühlen«


zeigte Semir Zeki den Probanden Fotos von Leuten, die sie hassten,
und stellte fest, dass dabei »teilweise dieselben Hirnregionen feuern
wie bei der großen, romantischen Liebe«. 129 Es ist ähnlich wie mit
dem Wort »Wahnsinn«, das zwei entgegengesetzte starke Gefühle
zum Ausdruck bringen kann. Etwas kann »Wahnsinn«, also
»unglaublich schlimm« sein oder »unglaublich toll«. Das hängt vom
Kontext ab.
In seinem Buch Über die Liebe beschreibt Stendhal, dass »selbst
die kleinen Mängel« eines Gesichts »rührend« wirken können, wenn
jemand verliebt sei: »Wenn man dazu kommt, die Häßlichkeit
vorzuziehen und zu lieben, so liegt das daran, daß in diesem Falle
die Häßlichkeit Schönheit ist.« Doch einen Moment lang ist unser
Urteil in der Schwebe, und aus einem Makel kann noch eine
charmante Laune der Natur oder ein Anklagepunkt werden.
Das gilt für unsere Empfindungen gegenüber Kunst genauso wie
gegenüber einem Menschen. Wenn man Science-Fiction-Filme
»liebt«, sieht man sie mit anderen Augen. Man kann einen Sci-fi-
Film dann kaum noch unabhängig von der Liebe zum Genre
betrachten. Wenn einen ein Freund fragt: »Kannst du mir den Sci-fi-
Film xy empfehlen?«, lautet die Antwort: »Wenn dir Sci-fi-Filme
gefallen, dann ja …« Wenn eine Vorliebe übermächtig ist, macht sie
uns blind. So schrieb der Designer Jason Kottke auf seiner Website
einmal über einen Internetspot: »Er entspricht so stark den
Vorstellungen von kottke.org, dass ich gar nicht mehr sagen kann,
ob er gut ist oder nicht.«
Unsere Einstellung zu der Kategorie, unter der wir etwas
betrachten, beeinflusst, wie uns etwas gefällt. So wie unser
Geruchsempfinden durch die Information beeinflusst wird, ob es sich
bei einem Geruch um den von gutem Käse oder ungewaschenen
Socken handelt, hängen unsere ästhetischen Vorlieben und
Abneigungen auch davon ab, zu welcher Kategorie wir etwas
zählen. Wie der Kunsthistoriker Kendall Walton feststellt, empfinden
wir kubistische Gemälde oder chinesische Musik – sofern wir kein
Chinese sind – bei der ersten Begegnung als »formlos, inkohärent
oder verstörend«, weil wir sie nicht im Rahmen ihrer Kategorien
beurteilen. 130 Neue Kunstformen oder eigentlich jeder neue
kulturelle Trend leben davon, dass man sie kategorisieren kann und
somit einen Anknüpfungspunkt für die Betrachtung hat. Es ist eine
Art Kausalschleife: Wenn wir die Kategorie kennen, in die etwas
gehört, gefällt es uns eher, doch wir versuchen auch, wie die
Forschung zeigt, zu kategorisieren, wenn uns etwas gefällt. 131
Mein Lieblingsplattenladen sortierte, als es ihn noch gab, die
Platten nicht einfach nach »Rock« oder »Jazz«, sondern höchst
sorgfältig nach so kryptischen Kategorien wie »Freakbeat«, »Acid
Folk« oder »Soft Psych«. 132 Der Normalbürger konnte damit
vermutlich wenig anfangen, aber allen Stammkunden war die
Bedeutung sonnenklar. Mir jedenfalls gefielen die Platten zweifellos
noch besser, weil ich sie als Teil von etwas Größerem wahrnahm.
Was uns dagegen nicht gefällt, verdammen wir schnell in Bausch
und Bogen. Wir sagen etwa: »Die spanische Küche schmeckt mir
nicht« statt: »Aus dieser speziellen Paella aus Valencia, bei der der
Reis in Öl gedünstet wird, mache ich mir nichts.«133 Vorlieben
erfordern offenbar feinere Abstufungen auf der hedonistischen
Skala als Abneigungen. 134 Wenn wir einmal entschieden haben, dass
uns etwas nicht gefällt, reichen uns wenige Worte, und wir weigern
uns, noch unnötig geistige Energie zu verschwenden.
Wenn der Kunstkritiker Walton sagt, man könne ein sehr schlecht
bewertetes Gemälde nach »irgendwelchen ausgedachten, weit
hergeholten Kategorien« beurteilen und bekomme damit »ein
erstklassiges Werk, ein Meisterstück«, nimmt er die Idee des MOBA
quasi vorweg. Ein »störendes Merkmal«, so Walton, könne zu einer
»herausragenden Charakteristik« werden oder ein abgedroschenes
Klischee einem Werk plötzlich Frische verleihen. Wenn man, so der
Musikkritiker Simon Frith, über die Discosongs der 1970er Jahre
sage, sie klängen alle gleich, sei das ein Negativurteil, weil es sich
danach um bloße »Versatzstücke« handle. Sage man aber über
Folkloremusik einer bestimmten Zeit und Kultur, »alles klingt
gleich«, sei das eine positive Feststellung, weil dies von »kollektiven
Wurzeln« zeugt. 135 Wenn man manch einem MOBA-Werk auf einer
»Außenseiter«-Ausstellung begegnen würde, würde man bei seinem
Anblick wohl nicht unbedingt die Stirn runzeln oder es zumindest
nicht als schlecht bezeichnen. Manchmal, so Frank, rufen Leute
beim MOBA an und sagen, »etwas gehöre nicht dahin. Es sei zu gut
und gefalle ihnen.« Frank antwortet dann: »Mir gefällt es auch.
Sonst wäre es nicht in der Sammlung.«

Dass sich jemand an etwas anerkannt Schlechtem delektieren


könnte, wäre Hume oder einem anderen renommierten Philosophen
der Ästhetik nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen. Jeder
mochte seinen eigenen Geschmack haben und unser
Geschmacksurteil zunächst vielleicht unscharf sein, aber früher
oder später würde jeder fähige Kritiker das Gute unweigerlich
erkennen. Wenn jemandem »nicht Regelkonformes« gefallen sollte,
als Beispiel wählte Hume ein Gedicht, dann nicht »wegen, sondern
trotz der Regel- oder Ordnungsverstöße«. 136
Die Kunst im MOBA fällt unter die seltsame Kategorie »Camp«.
»Camp sieht alles in Anführungsstrichen«, wie Susan Sontag sagt.
Die Werke, seien sie Kitsch oder nicht, versuchten, »etwas
Außergewöhnliches zu tun«, und zeigten »eine Ernsthaftigkeit, die
ihren Zweck verfehlt«. 137 Es gehe darum, mit jemandem zu lachen,
statt ihn auszulachen. Camp, so Sontag, »wendet sich vom Gut-
schlecht-Schema ab«. Stattdessen biete es neue Normen: »es ist
gut, weil es schrecklich ist.« Das wirft die Frage auf, ob es für Hume
»gute Kritiker« von »schlechter Kunst« geben könnte. Nach Franks
Bauchgefühl-Kriterium muss ein MOBA-Werk interessant sein. Nur
schlecht, das ist nicht interessant. Ein Werk muss, um eine alte
Kategorie von George Orwell – der damit G. K. Chesterton zitiert –
zu entstauben, »gut schlecht« sein. Das ist schwieriger, als man
denkt. Frank muss jede Menge Werke ablehnen, weil sie »bewusst
albern« sind, und auch Sontag warnte vor Werken, die »schlecht bis
zur Lächerlichkeit sind, nicht aber bis zur Erfreulichkeit«.
Camp kennt erst das 20. Jahrhundert. Die Kunstform konnte, so
Sontag, nur in »reichen Gesellschaften« zur Blüte gelangen, weil
diese, vom guten Geschmack gelangweilt, nach einem neuen Kick
suchten und sich endlich von der lästigen Frage befreien wollten, ob
etwas gut sei oder nicht. Über den Filmemacher Ed Wood, der unter
anderem den grottenschlechten Kultfilm Plan 9 aus dem Weltall
drehte, schrieb ein Kurator, seine Filme seien »holprig,
widersprüchlich und hässlich, aber wenn man sie vor diesem
Hintergrund sieht, stellt sich die Frage nach Gut oder Schlecht nicht
mehr«. 138 Natürlich kann die Wertschätzung von Camp, wie das
kulturelle »Allesfressertum«, auch eine Möglichkeit sein, seine
kulturelle Kompetenz unter Beweis zu stellen, weil man guten Camp
erkennt, also »einen guten Geschmack des schlechten Geschmacks«
besitzt, wie Sontag schreibt.
Camp ist nur eine von zahlreichen komplexen Möglichkeiten, sich
mit Geschmacksobjekten auseinanderzusetzen. Würde David Hume
heute beispielsweise einen neuen »Standard of Taste« verfassen,
würde ihn die komplexe Taxonomie unseres modernen
»Geschmackswettbewerbs« mit Sicherheit irritieren. So müsste er
etwa verstehen, wo der Unterschied zwischen Camp und dem
»ironischen« Genuss eines schlechten Gemäldes oder einer
schlechten Fernsehserie liegt. Bei Ironie geht es um Distanz und
Lachen, durch die man sich schützt. Man schaut »ernstgemeintes«,
aber schlechtes Fernsehen, um zu lachen. Auch Camp kann »es
frivol mit dem Ernsten« meinen, wie Sontag sagte, achte dabei aber
das misslungene Werk und nähere sich ihm so an. Ironie ist eine
emotionale Sackgasse. Man kann nicht ewig nur ironisch lieben. 139
Hume müsste sich auch mit dem Begriff »Hate-watching«
herumschlagen, der durch die Fernsehkritikerin Emily Nussbaum
populär wurde und meint, dass man eine Sendung schaut, die einem
ausdrücklich missfällt: »Warum will ich unbedingt etwas gucken, das
mich wahnsinnig macht?« Man müsse es »auf einer gewissen
Ebene« genießen können, obwohl es »einfach unglaublich schlecht«
sei. Hate-Watching ist vielleicht das Gegenteil von Camp: Man liebt
ein Kunstwerk nicht, weil es an seinem Willen zur Großartigkeit
gescheitert ist; stattdessen hasst man es, weil es den ernsthaften
Willen zur Großartigkeit vermissen lässt und ärgerlicher- und
keineswegs bezaubernderweise seine Qualitätsmängel (oder sein
»schlechtes Gutes« nach Orwell) nicht erkennt. 140 Wie Stendhal
schon andeutete, können auch furchtbar hassenswert scheinende
Dinge auf einmal liebenswert sein.
Hume würde sich heute vielleicht auch ein wenig mit dem Konzept
der süßen Sünde beschäftigen wollen. Der Begriff war ihm durchaus
bekannt, wenn auch nicht im heutigen Kontext. So schilderte Samuel
Johnson 1750 in seiner Zeitschrift The Rambler einen Mann, der
sich recht selbstzufrieden ȟber einen erfolgreichen Trickbetrug,
eine ausschweifende, lasterhafte Nacht oder eine Liebe voll süßer
Sünde ausließ«. 141 Zu Johnsons Zeit war die süße Sünde natürlich
noch eine erotische Sünde, und nicht das zweite Stück Schokotorte.
Sie bezog sich auf einen Bordellbesuch oder andere Verstöße gegen
die öffentliche Moral. Ähnlich wie Schillers »Der Wahn ist kurz, die
Reu ist lang« warnte Johnson vor den unweigerlich eintretenden
Schuldgefühlen.
Wie die Eingabe bei Google Ngram zeigt, hat der Begriff der
»süßen Sünde« erst in den letzten Jahrzehnten wieder an Bedeutung
gewonnen. Heute verwenden wir ihn hauptsächlich und wohl
besonders Frauen, wenn wir über unsere »verbotene« Naschlust
reden:142 Manchen Dingen können wir einfach nicht widerstehen,
obwohl wir genau wissen, dass sie »uns nicht guttun«. Ganz ähnlich
können wir eine »Schwäche für etwas« haben, womit wir die Sünde
der Trägheit begehen. So vergleicht der Komponist Nicholas
McGegan seine Liebe zu Strauss-Walzern mit einem
cholesterinhaltigen Dessert, das ihm eigentlich nicht schmecken
sollte: »Abends lausche ich verstohlen einem Walzer, wie andere
vielleicht heimlich eine große Portion Schokoladentorte
verschlingen.«143
»Süße Sünde« ist ein seltsamer Begriff. Man fragt sich, was hier
Ursache und Wirkung ist. Ist die Süße so sündhaft oder ist die Sünde
so süß? Wären süße Sünden ohne Sünde genauso süß? Oder liegt die
Sünde darin, dass wir keine Schuld empfinden, weil wir die Süße
genießen?
Wenn wir die süße Sünde oder unsere Schwäche aufrichtig
bereuen würden, würden wir wohl nicht darüber reden. Dass wir
unsere Sünden lauthals kundtun, weist uns als Durchreisende in der
Abflughalle des schlechten Geschmacks aus. Wenn wir etwas süße
Sünde nennen, gestehen wir uns zu, es zu genießen. So bot man
Probanden in einer Studie ein Stück Schokotorte an – scheint’s der
Inbegriff der süßen Sünde. 144 Die meisten wollten das Stück trotz
des Vorgefühls künftiger Reue verspeisen. Nur wer von vornherein
kaum Appetit auf Schokotorte verspürte, schob es angesichts der
Aussicht auf spätere Reue zur Seite. Die Forscher vermuten, dass
durch die im Gehirn ausgelösten Schuldgefühle ein Pfad zu den
Lustgefühlen gebahnt wird, so als glaubten wir förmlich, Sündiges
würde uns guttun. 145 Das tut es vermutlich auch, zumindest vor der
Sünde. Wie Samuel Johnson beobachtete, »schweben künftige
Ereignisse und Möglichkeiten für uns im freien Raum und
erscheinen uns kaum mit ihren Ursachen verknüpft. Darum
genießen wir die Freiheit, uns mit einer lustvollen Wahl zu
belohnen.«146
Wenn wir die »süße Sünde« oder eine Schwäche für
Schundliteratur wirklich bereuen würden, empfänden wir Scham
und nicht Schuld. Vermutlich überlagern sich beide Begriffe in Ihrer
Vorstellung, aber Psychologen konnten überzeugend nachweisen,
dass es sich um zweierlei handelt.
Demnach ist Scham, anders als Schuld, ein »rein affektiver
Zustand«. 147 Man entdeckt das Gefühl an sich selbst – oder im
Gesicht der anderen. Schuld hingegen ist ein »affektiv-kognitiver
Hybrid«. 148 Man muss häufig erst darüber nachdenken, warum man
sich schuldig fühlen soll. Scham meint, so die Forscher, öfter das
Selbst, Schuld hingegen eine bestimmte Handlung. Bei
Schamgefühlen fühlt man sich als schlechter Mensch, bei
Schuldgefühlen hat man etwas Schlechtes getan. Schuld kann
gesühnt werden, und darum kann man anderen »beichten«, dass
man sich eine miese Reality Show angesehen hat. Die Strafe
verhängt man dabei ganz allein. Wenn wir jemandem geschadet
haben und unsere Schuldgefühle beschwichtigen wollen, so die
Forscher, bieten wir vermehrte Hilfe an oder wenden unsere
negativen Gefühle gegen das Opfer – besonders wenn es einer
Fremdgruppe angehört. 149 So verhalten wir uns wohl bei unseren
»Schwächen«: Wir gucken uns eine Sendung an, die wir für unter
unserer Würde halten, und deklarieren sie – nicht uns – als Müll. 150
Die süße Sünde oder die »Schwäche« ist nicht nur »eine Lizenz
zum Konsum«, sondern ein Signal: Du und ich wissen ja, dass das
unter unserer Würde ist, oder empfinden sogar diesen Gedanken
schon als unter unserer Würde. Wenn wir etwas als unsere
Schwäche bezeichnen, wollen wir genau das uns selbst und anderen
gegenüber bestätigen. Aber wir können etwas nur dann eine
Schwäche nennen, wenn unser Gegenüber dies auch so sieht. 151
Wer es eher als Luxus empfindet, im Fast-Food-Restaurant zu essen,
so wie ich in meiner Jugend, wird das nicht als Schwäche
bezeichnen. Der Begriff der »Schwäche« ist sozial nach unten
gerichtet. Wenn ein Typ, der Abend für Abend auf dem Sofa
herumlümmelt, irgendwelche Kungfu-Filmchen guckt und dabei
massenhaft Chicken Wings in sich hineinstopft, plötzlich Lust
verspürt, in der Metropolitan Opera einen Logenplatz zu
reservieren und sich Rigoletto anzuschauen, wird er das kaum als
Schwäche bezeichnen.
Doch die Forderung, eine Schwäche für Schund dürfe es darum
gar nicht geben, hat, wenngleich sie sich mit ihrem demokratischen
Anspruch brüstet, einen genauso herablassenden Beigeschmack.
Wer erklärt, man dürfe das nicht als Schwäche bezeichnen, verhält
sich genauso abwertend wie derjenige, der sich mit der Schwäche
brüstet. Und sogar noch weiter zu gehen und zu sagen, wir dürften
nichts von dem, was wir essen, gucken, hören oder lesen, ohne
Gewissensbisse tun, weil es ja immer irgendwo noch Besseres gibt,
zeugt von der Selbstgefälligkeit der Leute, die genau wissen, wo sie
das Bessere finden. Das beliebige, wertfreie Allesfressertum ist
womöglich der neue Snobismus. Man sieht das mitleidig-
geringschätzige Staunen förmlich vor sich, mit dem man gefragt
wird: »Wie, dich wundert, dass mir das gefällt?« Auch wenn wir die
Vorstellung allgemeingültiger Normen mittlerweile über Bord
geworfen haben, werden tagtäglich tausend weitere erfunden, und
die aktuelle lautet eben, es komme nicht drauf an, was einem gefällt
oder gefallen soll, sondern nur, wie es einem gefällt. Das umstrittene
Grenzgebiet zwischen dem persönlichen Geschmack und einer
möglichen Geschmacksnorm, das Hume so verdrießlich stimmte,
scheint heute ein hoffnungslos vermintes Gelände in einer ansonsten
entmilitarisierten Geschmackszone. Jeder versucht, es möglichst
nicht zu erwähnen, doch unser Schweigen ist mehr als beredt.

__________
XII
Eine offensichtliche Hommage an ausgestopfte Affen im Naturhistorischen
Museum von Tokio.

XIII
Es gibt natürlich noch weitere Mitspieler im extravaganten Gerangel um das
Schöne: von Lord Shaftesbury über Edmund Burke bis zu Nietzsche. Doch die
Theorien von Kant und Hume fanden die meiste Beachtung.

XIV Deutsch: Je mürrischer man ist, desto mehr Arschlöcher trifft man.

XV Das hängt natürlich davon ab, auf welcher Seite wir vorher gegangen sind. In
Großbritannien gehen die Leute eher links und wenden sich darum beim Betreten des
Museums nach links.

XVI Interessanterweise wurde die Provenienz des Werks kürzlich in Frage gestellt, was
eine spannende philosophische Frage aufwirft: Muss man sich die Lust am
Unauthentischen als eine authentische Lust vorstellen?

XVIIDie Darmstädter Madonna gilt heute als das echte Gemälde; der Punkt geht also
an die ästhetische Klugheit der Massen. Anfang 2014 wurde es für 70 Millionen Dollar
verkauft.

XVIII
Die gibt es: Man schätzt, dass in einer von zwanzig US-amerikanischen
Wohnungen ein Kinkade hängt.
»Es gefiel mir, wenn mir etwas gefiel,
ehe es cool war, es cool zu finden.«
Joss Whedon

WARUM (UND WIE) SICH


UNSER GESCHMACK VERÄNDERT

Wirst du mich lieben, immer noch lieben …

Im Jahr 1882 wurde im Londoner Auktionshaus Christie’s ein neuer


Rekordpreis (6000 Pfund) für das Werk eines lebenden Künstlers
gezahlt. Das Werk? Der Heiratsmarkt in Babylon von Edwin
Longsden Long. Falls es jetzt in Ihnen arbeitet und Sie vergeblich in
Ihrem Gedächtnis kramen, keine Sorge: Long und sein
Monumentalwerk muss man heute nicht kennen.
Doch als Thomas Holloway, Starlieferant dubioser und angeblich
sogar von Queen Victoria geschätzter Medikamente wie etwa den
Holloway’s Pills, 1882 die stolze Summe zahlte, sah das naturgemäß
anders aus. Das große, dramatische Gemälde mit der detailreichen,
sorgfältig ausgeführten Darstellung eines antiken Heiratsmarkts –
auf dem mittellose Mädchen durch höhere Preise für
begehrenswertere Bräute subventioniert wurden, wie Herodot in
einer »weit hergeholten« Geschichte erzählt – war in aller Munde,
ob bei Kritikern oder allgemeinem Publikum. 1 Kein Geringerer als
der berühmte John Ruskin nannte das Werk ein »Gemälde von
höchstem Wert«. 2
Trotz seines antiken Motivs war das Gemälde hochaktuell. Die
erotisierte, orientalische Bilderwelt und beinah unverhohlene
Anspielung auf den zeitgenössischen geldgeprägten Heiratsmarkt
versetzten das viktorianische Publikum in Verzücken. Der Royal
Academy zufolge ließ das Werk keine Wünsche offen; neben
»Reichtum und Archäologie, dramatischer Szenerie, Vergnügen und
jeder Menge Schönheit« bot es »komische Nebenhandlungen, antike
Fakten und moderne Anspielungen«. 3 Zudem sprach das Werk, nicht
unklug, den wachsenden oder, wie mancher meinte, inflationär
aufgeblasenen Kunstmarkt an, den reiche Geschäftsleute wie
Holloway beherrschten. 4 Der Auktionator im Bild sah angeblich ein
wenig aus wie der Auktionator von Christie’s, und die potentiellen
Brautkäufer spielten subtil mit dem Bild des Kunsthändlers. 5
Der produktive und damals populäre Long beendete die Arbeit an
seinem Publikumsmagneten 1875. Just in jenem Jahr fand noch eine
andere bemerkenswerte Auktion statt, allerdings völlig anderer
Natur. Bei Drouot in Paris wurden Werke von Künstlern wie Monet,
Sisley oder Renoir versteigert. Sie hatten keine historischen,
detailverliebten Gemälde oder die höhere Gesellschaft im Angebot,
sondern malten Alltagsszenen in einem Stil, der wirkte, als »habe
man einem Affen einen Farbkasten in die Hand gedrückt«, wie ein
französischer Kritiker schrieb und damit wohl die allgemeine
Stimmung wiedergab. Die Werke erzielten alles andere als
Rekordpreise, die Preise waren vielmehr, so Philip Hook,
ehemaliger Chefauktionator von Christie’s, »entmutigend niedrig«. 6
Heute wissen wir, wie die Sache ausging. Der einst hochgelobte
Maler Long ist aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden,
während die verhöhnten Impressionisten, die ihre Werke oft gar
nicht loswurden, heute Rockstars ähneln, die ganze Stadien füllen:
Jeder kennt sie, ob er sich für Kunst interessiert oder nicht. Die
Loge von Renoir, die auf der Auktion von 1875 für erbärmliche 220
Francs wegging, erzielte 2008 14,8 Millionen US-Dollar. 7
Was hatte sich verändert? Die Gemälde nicht, wohl aber der
Geschmack: wie man impressionistische Bilder sah, was sie zu
sagen schienen und die Regeln, denen sie gehorchten oder eben
nicht. Long traf mit seiner akademischen Malerei zwar den
viktorianischen Zeitgeist, sagte aber nachfolgenden Generationen
nichts mehr und ließ spätere Kritiker kalt. Das Feld des Realismus
wurde nun von der Fotografie beackert. Doch die einstigen
»Mängel« der Impressionisten verwandelten sich in Vorzüge. »Die
grellen Farben wirkten plötzlich aufregend«, schreibt Hook. »Aus
der mangelhaften Ausführung wurde ein interessanter, befreiter
Pinselstrich, und das banale Motiv bot auf einmal die Gewissheit des
Alltäglichen und bestätigte die Universalität der bürgerlichen
Lebenswelt.«8
Allerdings könnte sich, wenngleich es unwahrscheinlich scheint,
das Blatt noch einmal wenden. Long und seine viktorianischen Fans
könnten eine neue Wertschätzung erfahren und die Impressionisten
in den unergründlichen Papierkorb der Geschichte verschoben
werden. 9 Hume war sich der Flüchtigkeit des Geschmacks, des
Handels und Wandels der Welt durchaus bewusst: »Autoritäten oder
Vorurteile können einen schlechten Dichter oder Redner durch eine
vorübergehende Mode nach oben schwemmen«, schrieb er,
»dennoch wird sein Ruf niemals von Dauer oder allgemeiner
Gültigkeit sein.«10 Hume vertraute geduldig auf den Lauf der Zeit:
»Die Werke eines wahres Genies aber werden umso mehr
Bewunderung erfahren, je länger und je mehr Leuten sie bekannt
sind.« Doch das kann nicht wirklich überzeugen. Sind die
Impressionisten qualitativ wirklich so viel besser als Long, was der
Geschmacksumschwung demnach ja heißen müsste, oder hat hier
nicht vielmehr ein allgemeiner Geschmackswandel seine Hand im
Spiel? Wie viele »verlorengegangene Meisterwerke« wurden schon
wiederentdeckt? Wie konnten sie überhaupt verlorengehen, wenn
sie so großartig waren? Möglicherweise wird Hume dadurch aber
nur bestätigt. Dann wäre den Werken durch eine »vorübergehende
Mode« die Gunst entzogen worden; wiederentdeckt und durch
qualifizierte Kritiker entsprechend gewürdigt, wären sie aber
wieder da und so gut wie eh und je. Ihr wohlverdienter Platz im
Kunstkanon wäre nur noch eine Frage der Zeit.
Der springende Punkt ist allerdings: Es gibt wenig Anlass zu
glauben, dass heute hochgefeierte und hochgeschätzte Werke
zwangsläufig auch morgen noch hochgefeiert und hochgeschätzt
sind. Doch warum ist der Geschmack, der uns als sicherer Anker in
unserem Alltag Halt gibt, überhaupt so schwankend?

Wenn man mich im Alter von zehn gefragt hätte, wie mein künftiges
Leben wohl aussehen würde, hätte ich mir in etwa Folgendes
ausgemalt: Ich würde einen Trans Am, eine Corvette oder ein
anderes schnittiges Auto fahren. Meine Wohnung würde eine riesige
Flippersammlung beherbergen. Ich würde raffinierte Drinks wie
Baileys Irish Cream schlürfen, Bücher von Robert Ludlum lesen
oder mich mit cooler Sonnenbrille à la Maxell-Werbung auf dem
Sofa fläzen und volles Rohr Van Halen hören. Doch heute, wo ich
mir jeden meiner Wünsche eins zu eins erfüllen könnte, interessiert
mich das alles nicht mehr, wenn wir mal von Flippern in schwachen
Momenten absehen.
Mein zehnjähriges Ich konnte sich nicht nur nicht vorstellen, wer
ich einmal sein würde, sondern genauso wenig, dass sich mein
Geschmack einmal völlig ändern würde. Woher sollte ich auch
wissen, was ich einmal wollen würde, wenn ich nicht wusste, wer ich
einmal sein würde? Der Psychologe George Loewenstein nennt das
»Projektionsbias«. »Der Mensch geht bei seinem Verhalten davon
aus, dass seine künftigen Vorlieben aktuellen Vorlieben ähnlicher
sind, als dies tatsächlich der Fall ist«, schreibt er. »Wir projizieren
unsere aktuellen Vorlieben quasi auf unser künftiges Ich.«11
Wie wir schon in den vorigen Kapiteln über Nahrungsmittel und
Musik gesehen haben, ahnen wir häufig nicht, welche Wirkung es
auf uns hat, wenn wir etwas tatsächlich genießen. Vielleicht wissen
wir sogar instinktiv, dass uns unsere Lieblingsspeise nicht mehr so
gut schmeckt, wenn wir sie zu oft essen, aber wir unterschätzen,
wie viel besser uns manches schmecken würde, wenn wir es nur
öfter äßen. Ein weiteres Problem, so Loewenstein, sei die
psychologische »Salienz« (Auffälligkeit). Wenn uns per Post ein
Konsumgut mit Rabattgutschein angeboten wird, springt es uns
förmlich ins Auge, und wir gehen los und kaufen es womöglich. Doch
schon auf dem Weg nach Hause nimmt die Salienz ab, und wir lösen
den Rabattgutschein nie ein. 12 Als Zehnjährigem fiel mir ein Auto
ins Auge, wenn es »cool« und schnell war. Monatsraten,
Seitenaufprallschutz, Platz für Kinderwagen und Co. oder das
Bedürfnis, den Anschein einer Midlife-Crisis zu vermeiden, sah ich
dagegen nicht.
Und selbst wenn wir merken, dass sich unser Geschmack in der
Vergangenheit verändert hat, glauben wir kaum, dass das in Zukunft
genauso geschehen könnte. Genau davon leben
Tattooentfernungsstudios. 13 Der Psychologe Timothy Wilson und
seine Kollegen nennen das die »Illusion vom Ende der Geschichte«,
der Glaube, dass die Gegenwart endlich der »Wendepunkt sei, an
dem wir zu dem geworden sind, der wir eigentlich sind«. 14
So waren Probanden in einem Experiment, so Wilson, bereit,
mehr für den Auftritt ihrer aktuellen Lieblingsband in zehn Jahren
zu zahlen, als für den Auftritt ihrer Lieblingsband von vor zehn
Jahren jetzt. Das erinnert an unsere Reaktion beim Durchblättern
alter Fotoalben: »Mein Gott, diese Frisur!« oder »diese
Cordhosen!«, rufen wir entsetzt beim Anblick alter Fotos aus. So
wie wir uns auf manchen Fotos befremdlich finden, weil wir uns
normalerweise nicht mit dem Blick der andern betrachten,
überrascht uns unser ehemaliger Geschmack, weil wir ihn durch die
Brille des heutigen Geschmacks sehen. Vermutlich war Ihre
damalige Frisur weder gut noch schlecht, sondern entsprach einfach
dem Zeitgeschmack. Wenn wir so herablassende Sätze von uns
geben wie: »Unglaublich, dass die Leute damals so rumgelaufen
sind«, vergessen wir, dass unser aktuelles Outfit der schlechte
Geschmack von morgen ist.
Die Leute, die sich 1882 im Londoner Auktionshaus vor Longs
Gemälde scharten, glaubten vermutlich, damit dem Gipfel aller
künstlerischen – und finanziellen – Höhenflüge begegnet zu sein,
einem Werk, das ihnen und ihren Nachkommen noch jahrzehntelang
etwas zu sagen haben würde. Ein bedeutender, renommierter
Künstler malte in einem bekannten Stil ein monumentales Werk, das
den Nerv der Zeit traf. Die Impressionisten? Soziale Außenseiter
mit versponnenen Ideen und kaum erkennbaren Fähigkeiten. Wohin
sollte das führen?
Mich erinnert das an das, was ich gern das »Der Beliebteste der
ganzen Schule«-Problem nenne. Wir alle kennen den strahlenden
Star, der in sämtlichen Sportarten brilliert, ein Alphamännchen,
umlagert von der Schar seiner ergebenen Freunde und
schmachtenden Mädchen. Scheinbar für Großes bestimmt, führt er
später ein ruhiges, unauffälliges Leben. Dann gibt es noch den
schrecklich schüchternen Typ, auf dem jeder gern herumhackt oder
den man demonstrativ links liegenlässt, das Mängelexemplar, das
aber später die Welt verändert.
Auch hier geht es um Salienz. Doch was in der Schule für
allgemeine Aufmerksamkeit sorgt, wie Wettkampfsiege, eine kuriose
Konformität, ein kleines, aber unfreiwilliges Publikum, besitzt für
den Erfolg im Leben wenig Aussagekraft. Wenn man die
kontextuellen Scheuklappen ablegen würde, die uns weismachen,
die Schule sei »das Ende der Geschichte«, würde man
wahrscheinlich erkennen, dass mancher »Underachiever« häufig
nur darum als Versager gilt, weil er den engen schulischen Normen
nicht entspricht. Man würde dann den zündenden Funken spüren,
der nur auf die richtige Umgebung und Zuhörerschaft wartet. So
wie einige wenige clevere Kunsthändler erkannten, dass die
impressionistischen Werken irgendetwas – und sei es nur eine
Gewinnmarge – verhießen, das zwar dem aktuellen Publikum nichts,
aber einem künftigen umso mehr sagen könnte.

Seltsamerweise ist ein Grund, warum wir unsere künftigen


Vorlieben oft kaum vorhersagen können, einer der Gründe, warum
sich Vorlieben überhaupt verändern: nämlich das Neue.
Neuartigkeit gilt in der Wissenschaft vom Geschmack und unseren
Vorlieben eher als ein schwammiges Phänomen. Einerseits sehnen
wir uns nach Neuem, woraus sich beispielsweise das Feld der Mode
speist, über die Oscar Wilde einst witzelte: Mode ist so unerträglich
hässlich, dass wir sie alle Halbjahre wechseln müssen. 15 So verriet
mir Ronald Frasch, der elegante Präsident von Saks Fifth Avenue,
einmal über die Damenabteilung seines Flagship-Stores: »Wenn
unsere Kundinnen den Laden betreten, fragen sie als Erstes: ›Was
habt ihr Neues?‹ Sie wollen nicht wissen, was früher angesagt war,
sondern was jetzt angesagt ist.« Wie stark ist dieser Impuls?
»Sechzig Prozent unserer Neuware verkaufen wir in den ersten vier
Wochen.«
Doch wir sehnen uns auch nach Vertrautem. »Wir lieben das
Gewohnte«, schrieb Charlotte Perkins Gilman. 16 Doch wäre das
unumschränkt wahr, würde sich nie etwas ändern. Der
Nationalökonom Joseph Schumpeter hielt es für die Aufgabe des
Kapitalismus, den Leuten beizubringen, das Neue zu mögen und zu
kaufen. 17 Die Produzenten, so Schumpeter, sollten den
wirtschaftlichen Wandel fördern und den Verbrauchern beibringen,
Neues oder irgendwie anderes als das Gewohnte zu mögen.
Oder wie Steve Jobs es sagte: »Meistens wissen die Leute erst,
was sie wollen, wenn man es ihnen zeigt.«18 Und selbst dann wollen
sie es manchmal nicht. Der unglückselige Apple Newton PDA mag
heute, im Zeitalter von Smartphones als Armfortsatz, kurios wirken,
aber damals war er seiner Zeit wohl zu weit voraus. Er nahm
Wünsche und Verhaltensweisen vorweg, die wir noch nicht realisiert
hatten. Wired beschrieb ihn »als eine völlig neue Geräteklasse, die
auf einer völlig neuen Architektur läuft und mit ihrem Gehäuse eine
völlig neuartige, kraftvolle Designsprache repräsentiert«. 19
Wie jetzt? Neues oder Vertrautes? Wie so oft liegt die Antwort
irgendwo in der Mitte, genauer gesagt, am Scheitelpunkt einer
optimalen U-Kurve, die Neues und Bekanntes abbildet. Der
bekannte Industriedesigner Raymond Loewy sah dieses Optimum
auf der sogenannten »MAYA-Stufe« verwirklicht, bei Produkten also,
die »most advanced, yet acceptable«, möglichst fortschrittlich, aber
noch akzeptabel seien. Das sei der Punkt im
Produktentwicklungszyklus, so Loewy, wo »der Widerstand gegen
das Fremde die Schockschwelle erreicht und der Kaufwiderstand
einsetzt«. 20 Das Neue gefällt also nur, wenn es irgendwie an das
Alte erinnert.
Unseren Geschmack von morgen zu erahnen ist auch darum so
schwierig, weil wir nicht über diesen Widerstand hinausblicken. Und
wenn wir es doch tun, sehen wir nicht, wie sehr wir uns in Zukunft
verändern werden und inwieweit diese Veränderung die Tür zur
nächsten aufstößt. Wir vergessen, wie flüchtig selbst die schrillste
Neuheit sein kann. Erinnern wir uns daran, warum uns ein
Nahrungsmittel dann doch schmeckt, obwohl wir es anfangs
abgelehnt haben. Als Sie Bier oder Whiskey zum ersten Mal
probiert haben, haben Sie sich vermutlich nicht an die Stirn
geschlagen und gerufen: »Hey, warum trinke ich das nicht schon
längst?«, sondern: »Und das soll schmecken?«
Irgendwann schmeckt uns Bier dann. Dennoch sollten wir Bier, so
der Philosoph Daniel Dennett, nicht als »erworbenen Geschmack«
bezeichnen, weil es nicht der anfängliche Geschmack ist, der uns
später mundet. »Würde mir Bier noch genauso schmecken wie
damals beim ersten Schluck«, schreibt er, »hätte ich wohl nie ein
nächstes Bier getrunken!«21 Hier spielt auch das Problem hinein,
dass Alkohol für unseren Körper ein Schock ist: Er schmeckt anders
als alles Bekannte oder zumindest nicht angenehm. Unbekannte
Musik oder Kunst können eine ähnliche Wirkung entfalten. So
berichtet der Musikproduzent Rick Rubin im New Yorker, dass das
Album Pretty Hate Machine von Nine Inch Nails heute sein
Lieblingsalbum sei, ihm aber beim ersten Hören überhaupt nicht
gefallen habe. Wenn etwas neu und nicht harmonisch ist, »besitzen
wir oft keinen Anknüpfungspunkt, um es sensorisch wahrzunehmen
und zu verarbeiten«, so Rubin. »Wir müssen quasi eine neue
Sprache lernen.« Wie das Bier auch war das Album kein
erworbener Geschmack, weil Rubin später nicht mehr dasselbe
Album hörte.
Oft können wir kaum glauben, dass uns, was uns heute gefällt,
früher nicht gefiel. 22 Wir vergessen, weil wir die Popularität
ebenfalls gern in die Vergangenheit projizieren, dass der
mittlerweile allgegenwärtige Song »What I Like About You« der
Romantics niemals ein Hit war oder die derzeit angesagten »alten«
Mädchennamen wie Isabella oder Chloe, die wir wegen ihrer
traditionellen Anmutung lieben, nie weit verbreitet waren. Anfang
des 20. Jahrhunderts nannte man seine Töchter Elisabeth oder
Charlotte. 23
So können wir uns heute kaum vorstellen, dass das allseits
bewunderte Opernhaus von Sydney einst einen Skandal
heraufbeschwor. Der dänische Architekt Jørn Utzon wurde quasi aus
dem Land gescheucht, sein Name blieb bei der Eröffnungsfeier
unerwähnt, das Ungetüm am Hafen zog den Zorn eines ganzen
Landes auf sich. Das Bauwerk sah weder aus wie ein übliches
Opernhaus, noch überhaupt wie ein übliches Gebäude. Es war
»möglichst fortschrittlich, aber eben nicht akzeptabel«. Genauso
fremd wie sein Architekt.
Wahrscheinlich wussten die meisten wohl einfach nicht, was sie
damit anfangen sollten, denn beim Anblick von Neuem, das uns
verunsichert, schalten wir routinemäßig auf Ablehnung. So sagte
Frank Gehry über sein geradezu zum Kult erhobenes Guggenheim
Museum in Bilbao: »Es dauerte ein paar Jahre, bis es mir wirklich
gefiel.«24 Und der Architekt Mark Wigley stellte fest, dass »wir
wohl nur dann Neues lernen, wenn uns eine unbekannte Form
provoziert und wir ihr standhalten. Wenn wir standhalten, kommt es
manchmal oder sogar häufig vor, dass uns ›dieses Ding‹, was uns
provoziert hat, plötzlich gefällt.«25 Allerdings ist »dieses Ding« dann
nicht mehr dasselbe, das uns anfangs provoziert hat.
Die »Geläufigkeit« fördert Vorlieben. Architekten bewerteten
Gebäude, von denen man ihnen Fotos zeigte, als »weniger komplex«
als Laien. 26 Sie konnten sie, anders gesagt, flüssiger »lesen«, und
sie erschienen ihnen weniger »fremd«. Es sei nicht Aufgabe von
Architekten, so Wigley, »genau das zu bauen, was der Bauherr
wünscht«, also den aktuellen Geschmack zu bedienen, sondern »die
Vorstellung von dem zu verändern, was man sich wünschen kann«,
oder Geschmacksvorlieben des Bauherrn zu bedienen, von denen er
bislang noch nichts ahnte. Damals glaubte keiner, dass eine Oper so
aussehen könnte wie das Opernhaus von Sydney. Bis Utzon kam, die
Idee mit der Orangenschale hatte und sagte, dass es das wohl
könnte. Die Welt um das Opernhaus drehte sich weiter, und heute
schreibt ein Architekturkritiker witzigerweise sogar: »Utzons
atemberaubendes Bauwerk sieht heute besser aus denn je.«27
Und in einigen Jahrzehnten wird unweigerlich jemand kommen,
angewidert ein nagelneues Bauwerk betrachten und sagen: »Das
Opernhaus von Sydney, das war noch Architektur. Wieso können wir
heute bloß nicht mehr so bauen?« Die Aussage: »Warum ist die
Musik heute bloß nicht mehr so gut wie früher?«, leidet ebenso
unter einem historischen Selektionsbias, den der Designer Frank
Chimero einmal eindringlich so erläuterte: »Ich will Ihnen ein
kleines Geheimnis verraten. Wenn jemand von früher erzählt, sind
das fast immer positive Dinge. Und warum? Weil keiner Lust hat,
über vergangenen Mist zu reden, aber sehr wohl über aktuellen
Mist, weil er noch nicht entschieden hat, ob es Mist ist oder nicht.
Die Vergangenheit war nicht besser, nur haben wir den Mist von
damals vergessen.«
Über den Geschmack wissen wir mit Gewissheit nur eins: dass er
sich verändert. Wie, das wollen wir uns im Folgenden genauer
anschauen.

Konformistische Distinktion:
Über den Wunsch, anders gleich zu sein
Die Comedy-Serie Portlandia nimmt die Hipster-Szene von Portland
in Oregon satirisch aufs Korn. In einem Sketch sieht man einen
extrovertierten Typen namens Spyke – perfekt mit Ziegenbart,
Tunnel im gedehnten Ohrläppchen und Fixie Bike. Er schlendert an
einer Bar vorbei, blickt hinein und nickt den Gästen, die mindestens
so hip sind wie er, wohlwollend zu. Einige Tage später entdeckt er in
derselben Bar einen glattrasierten Mann mit Bundfaltenhosen und
Oberhemd. »Ey, was ist das?«, brüllt er. »Solch Typen hängen jetzt
hier rum? Die Bar ist ja so was von out!« Aber es sollte noch
schlimmer kommen: Irgendwann besitzt sein Erzfeind ein Fixie, ist
offenbar »Muschelkunst«-Fan und trägt Ziegenbart – was nun samt
und sonders, wie Spyke ihm pöbelhaft deutlich macht, »out« sei. Ein
Jahr später sehen wir Spyke wieder, glattrasiert, in lässigem
Businessgewand und in gepflegter Unterhaltung in der Bar, die der
Ausgangspunkt des ganzen Spiels war. Der Erzfeind? Lungert
draußen herum und erklärt verächtlich, die Bar sei ja so was von
»out«.
Der Sketch bringt die Vorstellung von unserem Geschmack als
Perpetuum mobile wunderbar auf den Punkt. Motor des seltsamen
Kreislaufs ist unser ständiges Hin und Her zwischen Neu und
Vertraut, Hunger und Übersättigung, der seltsame psychophysische
Kalkulator in unserem Inneren, der dafür sorgt, dass wir Speisen,
Songs oder die Farbe Orange irgendwann satthaben. Als Motor
dient aber auch das fast unmerklich veränderte Verhalten all jener,
die sein wollen wie alle anderen oder anders sein wollen als alle
anderen. Jeder kämpft gewissermaßen darum, das Verhalten der
anderen richtig vorherzusagen, ein Kampf, der den Strategen des
Kalten Kriegs nicht fremd war – die als Anhänger der Spieltheorie
davon ausgingen, dass Spieler selten aufgrund »vollständiger
Informationen« agieren. Auch den Lesern der Sneetches von
Dr. Seuss dürfte dies bekannt vorkommen. Als die mythischen
Geschöpfe mit dem Sternnabel entdecken, dass die gegnerische
sternnabellose Gruppe plötzlich »Sterne hat«, entledigen sie sich
umgehend ihres Schmucks.
Dass sich in puncto Geschmack, wie von Portlandia postuliert, die
Katze in den Schwanz beißt, ist kein so abwegiger Gedanke. So
beobachtete ein französischer Mathematiker namens Jonathan
Touboul »ein neues, nicht abgestimmtes, kollektives Phänomen, bei
dem alle gleichermaßen versuchen, anders auszusehen«. 28 Er
nannte dies den »Hipster-Effekt«. Anders als in »kooperativen
Systemen«, in denen jeder bei einer allgemeinen Mode mitmacht,
kommt es zum Hipster-Effekt, wenn Leute versuchen, anders als die
meisten auszusehen.
Weil niemand genau weiß, wie sich die anderen als Nächstes
verhalten werden, und Informationen unter Umständen verzerrt
oder verzögert ankommen, kann es auch kurze »Synchronisations«-
Perioden geben, in denen es den Nonkonformisten nicht gelingt, sich
»anders als die meisten« zu verhalten. 29 Eigentlich hätte Spyke
wohl mehreren Muschelkunst-Fans oder gar Muschelkunst im
Einkaufszentrum begegnen müssen, um sein Hobby aufzugeben.
Zudem gibt es Hipster-Abstufungen, der eine schließt sich Trends
später an als der andere, ihm folgen wieder andere und so weiter,
bis sich alles, wie der bei Astronomen heißbegehrte längst
erloschene Stern, in Wohlgefallen auflöst. XIX Ein anderer Modelling-
Analytiker drückte es so aus: »Die Sehnsucht nach
Nonkonformismus kann Konformismus hervorbringen.«30
Der Portlandia-Sketch wirft nicht nur ein Licht auf unseren
Geschmack, sondern beleuchtet auch zwei zentrale, scheinbar
widersprüchliche menschliche Verhaltensweisen: einmal unsere
Sehnsucht, so zu sein wie andere. »Das soziale Wesen ist in sozialer
Hinsicht grundsätzlich von Nachahmung bestimmt«, schrieb der
allgemein unterschätzte französische Soziologe Gabriel Tarde 1890
in seinem Werk Die Gesetze der Nachahmung. 31 Andere
nachzuahmen, »soziales Lernen« also, ist eine evolutionäre
Anpassungsstrategie: Sie hilft uns, zu überleben und uns
weiterzuentwickeln. Soziales Lernen kommt auch bei anderen Arten
vor, aber keine kann wie der Mensch auf erworbenen Erfahrungen
und Kenntnissen vorangegangener Generationen aufbauen.
Die Summe des sozialen Lernens – die Kultur – macht den
einzigartigen Erfolg des Menschen aus und befähigte ihn, den
gesamten Globus zu besiedeln. Obwohl die Menschen untereinander
genetisch ähnlicher seien als andere Primaten, so der Anthropologe
Joseph Henrich, sei es ihnen gelungen, Tiere in der Arktis zu
erbeuten, Früchte in den Tropen zu sammeln oder als Nomaden die
Wüste zu bewohnen und somit in einer größeren Bandbreite von
Regionen zu überleben als alle anderen Primaten zusammen. 32
Die Anthropologen Robert Boyd und Peter Richerson führen in
ihrem Buch Not by Genes alone als Beispiel an, dass Menschen
auch bittere Heilpflanzen verzehren. Unser sensorisches System
interpretiere das Merkmal bitter eigentlich als potentiell gefährlich
und damit ungenießbar. Instinktiv möchten wir die Pflanze nicht
essen. Doch irgendwann probiert jemand versehentlich davon und
bemerkt die überraschende positive Wirkung. Das sieht ein anderer
und kostet ebenfalls davon. »Eine bittere Arznei«, so die Autoren,
»schlucken wir nicht, weil sich unser sensorisches System
weiterentwickelt und wir die Pille als weniger bitter empfinden,
sondern weil sich ihre medizinische Wirkung in der Bevölkerung
herumspricht.«33 Das sei quasi wie »der erste Schluck Bier« für
eine ganze Kultur.
Der Mensch ahmt andere nach und passt sich kulturell an, so die
Autoren, weil es effizienter sei, von anderen zu lernen, als alles und
jedes per kostspieligem Versuch und Irrtum auszuprobieren. Das
trifft auf urzeitliche Jäger, die wissen mussten, welche
Nahrungsmittel giftig sind oder wo sie Trinkwasser finden, genauso
zu wie auf alle, die sich heute durch Netflix- oder TripAdvisor-
Bewertungen lesen. Bei zu vielen Optionen oder wenn die richtige
Entscheidung nicht unbedingt auf der Hand liegt, ist es offensichtlich
besser, mit dem Strom zu schwimmen. Zumindest kann man so
nichts verpassen.
Mein Lieblingsbeispiel in dieser Hinsicht stammt aus einer
schottischen Studie über Schimpansen in Uganda. 34 Eines der
Schimpansenmännchen, von den Forschern Tinka getauft, litt an
einer beinah vollständigen Lähmung seiner Hände, weil es in eine
Stellfalle geraten war, und zudem an einer chronischen
Hautkrankheit. Da es nicht zu den ranghöheren Affen gehörte,
konnte es nicht auf die Hautpflege der anderen Affen vertrauen.
Also improvisierte Tinka: Der Schimpanse packte mit dem Fuß eine
Liane und zog sie ähnlich über den Rücken, wie wir uns mit dem
Handtuch den Rücken abtrocknen.
Coole Sache. Das dachten offenbar auch einige junge
Schimpansen. Sie kratzten sich nämlich auf dieselbe Weise wie
Tinka, obwohl für sie keine Notwendigkeit dazu bestand. Zunächst
vermuteten die Forscher, die Affen würden sich über Tinka lustig
machen, aber das, so Richard Byrne, »setzt eine größere
Mentalisierungsfähigkeit voraus, als man für Schimpansen
annehmen kann«. Wahrscheinlich wollten sie einfach nur sehen,
welchen Sinn das wohl hatte und was sie verpassten. »Es hatte für
sie natürlich keinen Sinn«, so Byrne, »und sie ließen es bald
wieder.« Doch interessanterweise können sich selbst willkürliche,
sinnlose Verhaltensweisen so verbreiten. Im Jahr 2010
beobachteten Forscher vom Max-Planck-Institut in einer
Schimpansenstation in Sambia einen Affen, den sie Julie nannten. 35
Julie steckte sich einen Grashalm ins Ohr, womit sie aber offenbar,
anders als Tinka, keinen bestimmten Zweck verfolgte. Trotzdem
trugen die meisten Affen schon nach kurzer Zeit stolz einen
Grashalm im Ohr.
Man hat nachahmendes Verhalten oft für primitiv und unterwürfig
gehalten, und ein Wort wie »nachäffen« hat nicht umsonst eine
negative Konnotation. Dabei liebt niemand das Nachäffen mehr als
der Mensch. So führten die Forscher Victoria Horner und Andrew
Whiten einem Schimpansen in einer faszinierenden Studie vor, wie
man eine Futterkiste öffnen konnte. Die Kiste war einmal
undurchsichtig, ein anderes Mal transparent. Einige der
vorgeführten Handgriffe waren tatsächlich notwendig, andere
überflüssig. Als man zuerst die transparente Kiste nahm, begriffen
die Schimpansen schnell, worum es ging, und ließen die
überflüssigen Handgriffe aus. Aber sie taten dies später ebenso
beim Öffnen der undurchsichtigen Kiste. Sie hatten das Gelernte auf
eine andere Situation übertragen.
Vorschulkinder dagegen tendierten bei einem ähnlichen Versuch
dazu, »die beobachteten Handlungen zu wiederholen, ohne ihre
kausale Effizienz zu berücksichtigen«. 36 Die Kinder waren nicht
etwa unfähig, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu
erkennen, oder empfanden das Öffnen der Kiste als zu schwierig.
Auch als man die Aufgabe vereinfachte, ahmten sie das Vorgemachte
»sklavisch« nach. Horner und Whiten nehmen an, dass die Kinder
sich stärker auf das Vorbild als auf die Aufgabe konzentrierten und
das Vorbild deshalb auch dann nachahmten, wenn es nicht den
einfachsten Weg zum Öffnen der Kiste zeigte. Nachäffen ist eben
menschlich.

Wer ein kleines Kind hat so wie ich, weiß vermutlich auch ohne
wissenschaftliche Experimente, dass Kinder gerne nachahmen. So
erkundigte ich mich eines Tages bei meiner Tochter, warum sie die
Hosenbeine leicht hochgeschoben habe. Das mache ihre Freundin
Madeleine auch so, erhielt ich zur Antwort. »Magst du es, oder tust
du es, weil du deine Freundin magst?« Offenbar verwirrte sie die
Frage. Ich glaube, sie wollte »beides« antworten, konnte ihre
Gedanken aber nicht wirklich entwirren. Egal, der Hosenbeintrend
war es jedenfalls wert, nachgeahmt zu werden.
Wir ahmen paradoxerweise oft das Nutzlose nach, etwa kleine
Modegags. Und zwar genau deshalb, wie der Soziologe Georg
Simmel schon vor über hundert Jahren schrieb: Dort wird »die
Unabhängigkeit gegen jede andere Motivierung positiv fühlbar«. 37
Durch ihre vollkommene Sinnfreiheit entfalten kleine modische
Veränderungen eine gewaltige Macht; zudem ist die Veränderung
billig zu haben. Wie schon Adam Smith bemerkte: »Die Moden des
Hausrates ändern sich weniger rasch als jene der Kleidung, weil
Möbel gewöhnlich dauerhafter sind.«38
Aber Nachahmung gibt es, wo immer man hinschaut. Denken Sie
nur an den Versuch mit den Vorschulkindern aus dem ersten Kapitel:
Die Kinder aßen, was die anderen Kinder am Tisch bevorzugten.
Der Mensch scheint auf soziales Lernen programmiert und vertraut,
wenn er unsicher ist, offenbar instinktiv darauf, was andere tun.
Dabei gucken wir uns nicht nur die Verhaltensweisen anderer ab,
sondern entscheiden uns auch für Dinge, die andere bloß angucken.
So führten Henrich und andere Forscher der University of British
Columbia Kindern Videos vor, in denen erwachsene »Vorbilder«
etwas verzehrten. 39 In manchen Videos schaute jemand den Essern
zu, in anderen schaute der Beobachter weg. Als man die Kinder
später fragte, welches Gericht sie lieber essen würden, wählten sie
tendenziell das, das das beobachtete Vorbild verzehrt hatte. »Wenn
die Umwelt nicht genügend zuverlässige Entscheidungsgrundlagen
bietet«, so Henrich und Robert Boyd, »ahmt der Mensch andere
nach.«40
Haben Sie schon einmal von dem berühmten Experiment gehört,
bei dem Stanley Milgram Leute an einer New Yorker Straßenecke
veranlasste, nach oben zu blicken, obwohl es dort nichts zu sehen
gab? Je mehr Leute hochschauten, desto mehr Passanten gesellten
sich dazu. Warum auch nicht? Wenn so viele hochblicken, muss es ja
wohl etwas zu sehen geben. XX

Doch wenn soziales Lernen so einfach und erfolgreich ist und die
Nachahmung anderer das Überleben unserer Gene so prima
gewährleistet, stellt sich natürlich die Frage, warum sich plötzlich
jemand anders verhält. Oder warum ein Typ wie Spyke wieder
hinter das Neue zurückfällt. Die Frage muss sich die Evolution
gefallen lassen: Warum muss sich die natürliche Zuchtwahl durch
solchen Krimskrams kämpfen? Das »Überleben des Stärkeren«, so
der Biologe Hugo de Vries, kann schließlich nicht erklären, warum
der »Stärkere überhaupt auf der Bildfläche erscheint«. 41 So hätte
Jørn Utzon genauso einlenken und ein traditionelles Opernhaus
bauen oder die Impressionisten sich dem Kunstmarkt beugen
können. Künstler und Erfinder, die zu Lebzeiten angefeindet
werden, scheinen genetische Altruisten zu sein, die auf den
persönlichen Erfolg verzichten, um den Erfolg der Gruppe in einer
fernen Zukunft zu sichern. 42
Boyd und Richerson zufolge gibt es in Gruppen ein optimales
Gleichgewicht aus sozialen und individuellen Lernern. Wenn zu viele
Gruppenmitglieder ausschließlich sozial lernen, fehlt es an
Innovation: Die Menschen wissen dann vielleicht, wie sie die eine
Fischart fangen, weil sie es von Älteren gelernt haben, aber was ist,
wenn die Art ausstirbt? Wenn dagegen zu wenige
Gruppenmitglieder sozial lernen, sind die Menschen so damit
beschäftigt, auf Teufel komm raus Neues auszuprobieren, dass die
Gruppe nicht gedeihen kann. Dann erfindet jeder Pfeil und Bogen
neu, aber an die Jagd denkt keiner mehr.
Der tiefere evolutionsgeschichtliche Sinn dieses Verhaltens könnte
auch erklären, warum der Mensch besonders in den
Industrienationen zwischen zwei Sehnsüchten hin- und hergerissen
ist. Er will einer Gruppe angehören und zugleich ein
unverwechselbares Individuum sein. Wir können das
konformistische Distinktion nennen. Man will nicht der Einzige mit
diesem Geschmack sein, »leidet« aber, wenn einem jemand sagt,
man sei wie alle anderen. 43 Wer hätte nicht ein komisches Gefühl,
wenn eines Tages ein Kollege mit einem ähnlichen Outfit ins Büro
kommt wie man selbst? Das »Habt ihr euch abgesprochen?« kommt
so sicher wie das Amen in der Kirche. Wir alle suchen den
glücklichen Mittelweg. Abweichende Meinungen müsse man
tolerieren, sagt die Miss America in der Gerichtsszene von Woody
Allens Film Bananas, sie dürften allerdings nicht zu stark
abweichen. 44
Der Optimal-Distinctiveness-Theorie zufolge wollen Menschen in
einer Gruppe das Gefühl haben, dazuzugehören, aber dennoch als
individuelle Persönlichkeit wahrgenommen zu werden, was man
beispielsweise gut bei Gruppenbestellungen im Restaurant
beobachten kann. 45 Wenn jeder angepasst wäre, gäbe es keinen
Geschmack, und auch nicht, wenn sich keiner anpassen würde. Wir
passen uns unserer lokalen Umgebung an und sind global anders.
Wie uns das gelingt, haben sich die Psychologen Matthew Hornsey
und Jolanda Jetten gefragt: Demnach sucht man sich eine Gruppe
geeigneter Größe, und ist sie zu groß, eine entsprechende
Untergruppe. 46 Man ist dann kein Sozialdemokrat, sondern ein
linker Sozialdemokrat. Man schwärmt nicht einfach für die Beatles,
sondern nur für die frühen Beatles.
Eine weitere Strategie der konformistischen Distinktion ist die
sogenannte überlegene Konformität. Man erfüllt dann jede
Gruppennorm überkorrekt, um seine Individualität zu
demonstrieren. Man sagt quasi: »Ich bin der bessere Punk/Country-
Fan/Christdemokrat/Veganer.« So spürten in einer Studie zum
Bodypiercing diejenigen das größte Bedürfnis, sich vom Mainstream
abzuheben, die sich am stärksten mit der Gruppe identifizierten. 47
Wenn es zu mühsam wird, sich ständig vom Mainstream
abzugrenzen, kann man den Mainstream auch »anders« nachahmen.
Das war der Gedanke hinter dem »Normcore«-Anti-Modetrend,48
bei dem es einst modebewusste Leute angeblich satthatten und auf
langweilige New-Balance-Sneaker und unauffällige Jeans
umstiegen. 49 Normcore war wohl mehr Konzeptkunst als realer
Business-Fall, doch der Gedanke dahinter, dass »man am besten
anders ist, wenn man gar nicht anders sein will«, wirkte höchst
plausibel und wurde von den Medien, die jede Neuigkeit so gierig
verschlingen wie Saturn seinen Sohn, begeistert aufgegriffen. 50
Dabei war Normcore gar nicht so neu: Georg Simmel schrieb schon
vor einhundert Jahren, »wenn Modernität Nachahmung des sozialen
Beispiels ist, so ist die absichtliche Unmodernität seine
Nachahmung mit umgekehrtem Vorzeichen.«51
Doch zurück zu Spyke. Sobald er seine Individualität, die er
ebenso anstrebte wie alle anderen seiner Gruppe, durch jemand
Fremden bedroht sah, zog er einfach weiter. Der als bedroht
empfundene Kinnbart oder die Muschelkunst, von der er sich nun
abwandte, waren keine funktionalen Dinge. Unsere Identität
signalisieren wir, so Jonah Berger und Chip Heath, nämlich nur auf
bestimmten Feldern. So wird Spyke kaum seine Klopapier- oder
Zahnbürstenmarke wechseln, wenn er hört, dass seine Erzfeinde
dieselbe Marke bevorzugen. Als noch jeder Langspielplatten besaß,
spielte man damit eben Musik ab. Langspielplatten konnten erst
zum identitätsstiftenden Merkmal werden, als sie durch neue
Technologien vom Aussterben bedroht waren. Und wie ich schon
einmal geschrieben habe, mehren sich die Anzeichen, dass
Kassetten heute ein Revival erleben.
Berger und Heath führten an der Stanford University ein
vielsagendes Experiment durch. In einem »Target«-
Studentenwohnheim verkauften sie die damals angesagten »Lance
Armstrong Foundation«-Livestrong-Armbänder. Eine Woche später
boten sie die Armbänder in einem Studentenwohnheim an, das
allgemein als »freakig« galt. Schon nach einer Woche war die
Anzahl der Armbandträger im Target-Wohnheim um 32 Prozent
gefallen. Wie die Studenten des Target-Wohnheims angaben, lehnten
sie die Freaks nicht ab, hielten sie aber für anders als sich selbst.
Aus dem gelben Plastikstück für einen guten Zweck war ein
Identitätssignal, ein Geschmackssignal geworden. Um nicht mit den
Freaks in Verbindung gebracht zu werden, blieb der Target-Gruppe
nichts anderes übrig, als das Armband »aufzugeben«. Geschmack
verändert sich nicht nur, weil man Lust auf Neues hat, sondern auch,
weil man das Alte bewusst ablehnt und sich von allen distanzieren
will, die diesem neuerdings frönen. Üblicherweise heißt es dann:
»Mir gefiel das Armband, aber jetzt trägt es ja Hinz und Kunz.«
Seine Vorlieben zeigt man in der Öffentlichkeit, so der
Anthropologe Richard Wilk, wesentlich unbefangener als seine
Abneigungen. »Dies könnte auch erklären«, so Wilk, »warum man
Konsumgüter so gern zur Schau stellt, Vermeidung und Tabu aber
normalerweise nur andeutet oder unterdrückt.«52 Für den
Gruppenzusammenhalt spielen unsere Abneigungen allerdings wohl
eine größere Rolle als unsere Vorlieben. So handelt eine der, dem
Historiker John Mullan zufolge, ersten englischen Quellen für
»guten Geschmack«, das Doppelspiel von William Congreve aus dem
Jahr 1693, davon, dass »jemand keinen hat« – und das bezieht sich
wohlgemerkt nicht aufs Essen. 53 Und auch in der Kunstgeschichte
haben, so Ernst H. Gombrich, gemeinsame Gruppenabneigungen
eine beträchtliche Rolle gespielt. 54 Demnach haben die meisten
Bewegungen ein neues Tabu aufgestellt, einen Negativgrundsatz,
der auf dem Ausschlussprinzip basierte. Vom Impressionismus bis
zum Punk grenzten sich die Künstler gegen ihre Vorgänger ab. Die
Dadaisten, die einfach »gegen alles« waren, trieben dies bis zum
Extrem.
Unser Geschmack »sagt über uns« vor allem eins: Wir wollen wie
die sein, die diesen Geschmack – noch – haben und uns gefallen, und
anders als die mit anderem Geschmack. 55 Doch hier wird es dann
kompliziert mit der »konformistischen Übertragung«, wonach wir
also einfach durch soziales Lernen andere nachahmen. Manchmal
sehen wir nämlich, was andere tun, und hören daraufhin auf, es
selbst zu tun. Wir betreiben also wie die Sneetches von Dr. Seuss
Anti-Nachahmung. 56
Dann wäre da noch die Frage, ob wir das Verhalten anderer
bewusst übernehmen. Wenn man weiß, dass man von jemandem
beeinflusst wird, und derjenige weiß es ebenso, dann nennt man das
Überzeugung, wenn man sich aber unbewusst beeinflussen lässt und
dies dem anderen ebenso wenig bewusst ist, soziale Ansteckung. 57
Beim Geschmack nimmt man allgemein an, dass wir bestimmte
Verhaltensmuster nicht zufällig übernehmen, sondern etwa mittels
des »Prestige-Bias« von Leuten lernen, die wir als gesellschaftlich
bedeutsam erachten. Die klassische Soziologie hat dies als einen
Sickerprozess von oben nach unten beschrieben: Die Oberschicht
entwickle eine Vorliebe, die soziale Schicht darunter übernehme
diese, woraufhin die Oberschicht die Vorliebe ablehne und eine neue
Vorliebe entwickle. »Denn naturgemäß sehen und streben die
unteren Stände nach oben«, schrieb Simmel – wie über ein
Naturgesetz.
Doch so klar liegen die Dinge nicht unbedingt. So haben es etwa
»Kraftausdrücke«, früher als Kennzeichen von »Schmuddelkindern«
gebrandmarkt, heute sogar bis auf die Buchtitel geschafft. 58 Und
auch die kulturellen »Allesfresser« schauen sich, wie wir im dritten
Kapitel gesehen haben, routinemäßig »unten« um. Oder
Nahrungsmittel wie Hummer unterlagen im Lauf der Geschichte
starken Schwankungen: einmal das Essen sozialer Aufsteiger, dann
ein Zeichen für »Armut und Zerfall«. 59 Schließlich wäre da noch das
lästige Problem, das Bourdieu hat unter den Tisch fallen lassen:60
Auch innerhalb einer sozialen Schicht herrschen unterschiedliche
Vorlieben. Woran kann das liegen?
Der Geschmack kann sich ändern, weil man sich von anderen
abheben will oder aber genauso wie andere sein will. Gruppen
»übertragen« ihre Vorlieben auf andere Gruppen, aber Vorlieben
tragen auch zur Gruppenbildung bei. 61 Winzige, scheinbar banale
Unterschiede, etwa die bevorzugte Kaffeesorte, können so zum
»echten« Streitpunkt werden. 62 Je mehr Menschen Zugang zum
vorgeblich guten Geschmack haben, desto feiner die Abstufungen.
Man denke etwa an die zahllosen Möglichkeiten der sozialen
Abgrenzung durch einst eher homogene Gebrauchsgüter wie Kaffee
oder Jeans. Wem haben denn vor wenigen Jahrzehnten schon
Begriffe wie Single Origin oder Selvage etwas gesagt? Konformität
und Abgrenzung sind wie Ebbe und Flut und bilden beinah einen
paradoxen Zirkel: So möchte jemand wie Spyke in Portland anders
sein. Doch um dies zu erreichen, hält er nach Leuten Ausschau, die
anders sind, und passt sich dieser Gruppe an. Die Nonkonformisten
dieser Gruppe aber, die wiederum gleich sind, spüren nun das
Bedürfnis, sich stärker abzugrenzen – so wie die Träger des
Livestrong-Armbands ihr Armband abgelegt haben, als sie das
Armband bei anderen sahen. 63 Der nicht aufzuhaltende
Geschmackswandel wird durch das soziale Gerangel, durch Lernen
und Vermeiden vorangetrieben. Doch das ist noch nicht das ganze
Bild. Manchmal sind es auch nur Missverständnisse oder Zufälle,
durch die sich der Geschmack ändert.

Versehentlich berühmt:
Über Zufall und Unberechenbarkeit in Geschmacksfragen

Über Jahrzehnte haben Forscher der University of Massachusetts


auf einer kleinen Lichtung in den Berkshire Mountains, an der sich
die Stromleitungen durch den Wald schlängeln, den Gesang des
Gelbscheitelwaldsängers aufgezeichnet, eines Sperlingsvogels mit
kecker, gelber Krone. Laut dem Audubon-Vogelführer Guide to
North American Birds ist der Gesang des Vogels »vielfältig und
melodisch mit starker Endbetonung«. 64 Er singt in zwei Varianten:
»betont« und »unbetont«. Der betonte Gesang ist durch eine »laute,
deutlich absteigende Schlusssilbe« gekennzeichnet, die in der
unbetonten Variante fehlt. Mit dem betonten Lied will der Vogel vor
allem seine Partnerin beeindrucken. Wie Ehemänner, die sich nach
der Hochzeit gehen lassen, geben die Männchen nach erfolgreicher
Brautschau den betonten Gesang auf. Der unbetonte Gesang kommt
vor allem bei männlichen Revierkämpfen zum Einsatz.
Bei der Durchsicht ihrer Gesangsaufzeichnungen fiel den
Forschern irgendwann auf, dass der unbetonte Gesang 1988 eine
Blütezeit erlebt hatte, 1995 aber fast völlig verschwunden und
durch ein neues Repertoire ersetzt worden war. Die
Gelbscheitelwaldsänger-Musikkultur hatte sich, wie die Billboard-
Hot-100-Charts, in recht kurzer Zeit verändert und neue Vorlieben
entwickelt. Was ging da vor sich? Die Anpassung einer Art oder
eines einzelnen Vogels, seine Fähigkeit, Gene an die nächste
Generation weiterzugeben, setzt bei der Kommunikation doch meist
auf Konformität: Man singt Lieder, die man kennt, und man singt sie
so, wie man sie kennt. Wieso also jetzt plötzlich etwas Neues?
Hatten die Waldsängermännchen etwa, wie die New Yorker Hip-
Hop-DJs in den 1980 ern, einen spontanen Sängerwettstreit
ausgerufen und wollten ihre Gegner durch Virtuosität und
überraschende Wendungen im musikalischen Ausdruck ausstechen?
Bruce Byers, Biologe an der University of Massachusetts und
Leiter der Studie, nimmt eher einen prosaischen Grund an: Die
Vögel singen einfach falsch. »Individuen einer Art können nicht alle
gleichermaßen präzise nachahmen«, erläuterte er. »Wie der
Mensch auch.« Perfekte Nachahmung habe, so Byers, »außerdem
ihre Kosten. Das Gehirn muss mehr arbeiten, wenn die Nachahmung
hochpräzise sein soll. Natürlich steht dem Aufwand auch ein Nutzen
gegenüber, der ihn wieder wettmacht, aber trotzdem zeigen sich in
der Kopie meistens gewisse Nachlässigkeiten, also leichte
Abweichungen von dem Gesang, den der Vogel nachahmt.« Und wie
bei dem Kinderspiel »Stille Post« »akkumulieren sich die kleinen
Abweichungen, so dass der Gesang schon nach einem Jahrzehnt
ganz anders klingen kann«.
Dagegen veränderte sich der betonte Gesang der Partnersuche
kaum. Diese Lieder, so Byers, müssten einfach stimmen. Die
Weibchen würden nämlich Männchen bevorzugen, die wie ein
Marvin Gaye der Vogelwelt »gleichmäßig und hoch« singen. Und der
Vergleich falle leichter, wenn alle dasselbe Lied zwitschern. Wenn
man ein Männchen ist – und seine Gene weitergeben will –, tue man
also gut daran, das Lied richtig gut hinzukriegen.
Ursache für den neuen unbetonten Gesang der Waldsänger war
also nicht der brennende Wunsch nach Abwechslung oder die
besondere Kreativität eines einzelnen Vogels, der damit einen neuen
Stil prägte. Ebenso wenig ahmten die Waldsänger sklavisch eine
neue Variante nach, die ihnen ein ranghoher Vogel vorsang. Ihr
Gesang veränderte sich außerdem nicht über Nacht. Vermutlich war
jedes neue Lied, nach dem Motto von Raymond Loewy »möglichst
fortschrittlich, aber noch akzeptabel«, dem Vorgängerlied noch
erkennbar ähnlich, aber ein klein wenig anders. 65 Da die
unbetonten Lieder seltener gesungen und nur aus der Schublade
geholt werden, wenn ein Rivale auftaucht, sind die Vögel wohl
einfach ein bisschen aus der Übung.
Wie Sie sich vielleicht denken können, verschwinden selten
geträllerte Lieder zuerst. 66 Vogellieder haben in diesem Punkt
einiges mit den – sehr treffend so benannten – Twitter-Tweets
gemein: Um zu überleben, benötigen die Meme, die unter der
Vogelpopulation ähnlich wie Twitter-Hashtags gedeihen, eine große
Verbreitung – mehr Follower – und eine häufige Wiederholung –
viele Retweets also. 67 Sonst sterben sie irgendwann aus.
Zu den Veränderungen in der Vogelkultur führten also Fehler und
ihre zufällige Nachahmung, wobei andere Elemente wiederum
unverändert blieben. Die unveränderten, betonten Lieder kann man
vielleicht mit den menschlichen »Kern«-Überzeugungen wie
Religion, Moral oder Selbstgefühl vergleichen. Wir investieren mehr
Energie darein, weil sie langfristig und evolutionsgeschichtlich
bedeutsam sind. Der unbetonte Gesang ähnelt dagegen eher der
Mode oder anderen wankelmütigen Präferenzen, die für unseren
evolutionären Erfolg weniger wichtig sind und sich darum ruhig
verändern dürfen. Das könnte auch die geringe Erfolgsquote von
Internet-Partnerbörsen erklären: Sie vertrauen leider vor allem auf
statistische Übereinstimmungen leicht vermittelbarer Informationen
wie Lieblingsmusik oder Hobbys.
Ein greifbares menschliches Beispiel für das, was beim
Vogelgesang passiert, sind die unregelmäßigen englischen Verben.
Warum wurden manche mit der Zeit regelmäßig, während andere
unregelmäßig blieben? So heißt das Präteritum von »thrive« heute
nicht mehr »throve«, sondern »thrived«. Wie die
Datenwissenschaftler Erez Aiden und Jean-Baptiste Michel anhand
einer Datenbank mit englischen Texten feststellten, blieben
unregelmäßige Verben umso eher unregelmäßig, je häufiger sie
verwendet wurden. 68 Warum? Weil man sich an die seltenen
unregelmäßigen Verben schlecht erinnert und sie irrtümlich
regelmäßig bildet.
Es handle sich dabei, so die Forscher, um einen kulturellen
Selektionsprozess: »Je häufiger ein Verb, desto überlebensfähiger.«
Weder gab es eine verschworene Gemeinschaft, die »throve«
ausrotten wollte, noch klang »thrived« irgendwie ansprechender.
»Thrived« verbreitete sich, weil die Leute sich kaum noch an die
unregelmäßige Form erinnerten. 69 Jemand machte also einen
Fehler, jemand anders ahmte ihn mehr oder weniger zufällig nach,
und irgendwann, nach einigen Hundert Jahren, wurde aus dem
Präteritum von »thrive«, wie beim Vogelgesang, etwas Neues.

Das wirft die Frage auf, inwiefern sich unser Geschmack,


gesellschaftlich betrachtet, mehr oder weniger zufällig verändert:
durch kulturelle »Mutationen«, die nicht unbedingt besser, aber
anders als das Vorherige sind. Die Musikgeschichte kennt eine
Menge Fehler, die zur Innovation wurden und schließlich den neuen
Geschmack prägten, ob das »Scratching« im Hip-Hop oder die
übermäßige Auto-Tune-Nutzung von Cher in »Believe«. 70 Die erste
verzerrte Gitarre auf einer Platte wurde anfangs, wie alle kreativen
Ideen, heiß diskutiert. Irgendein Gitarrist besaß zweifellos eine
fehlerhafte Gitarre oder hatte sie zu laut gestellt, doch der »Fehler«
gefiel ihm. Dann hörte jemand anders den Sound, machte ihn nach
und verlieh ihm seine persönliche Note. Der Effekt entwickelte sich.
So wurde das angedeutete, damals aber sicher unerhörte Surren
eines vergessenen, Rock-ähnlichen Songs wie Goree Carters »Rock
Awhile« von 1949 einige Jahrzehnte später in »You Really Got Me«
von den Kinks zu einem kräftigen Brummen (das berühmt wurde,
weil Dave Davies den Verstärker mit der Rasierklinge bearbeitete)
und noch später bei Jimi Hendrix zu einem gewaltigen, nun
elektronisch per Fuzzbox und großen Marshall-Verstärkern
erzeugten Aufheulen. 71 Keiner der Gitarristen konnte wissen, ob
ihm der Sound gefallen würde, solange er ihn nicht ausprobiert
hatte. Sonst hätte er ja schon vorher so gespielt. Auch dass Pete
Townshend regelmäßig seine Gitarre zerschmetterte, hatte mit
einem »Unfall« auf der Bühne begonnen. 72 Wenn man entdecke, was
einem gefällt, schrieb schon Bourdieu, entdecke man sich selbst:
was man zu sagen habe, bislang aber nicht ausdrücken konnte und
einem folglich auch nicht bewusst war. 73
Der Geschmackswandel ähnelt der »Symmetrischen Irrfahrt« der
Wall Street; hier wie dort erlaubt die Vergangenheit keine
Rückschlüsse auf die Gegenwart. Doch obwohl wir genau wissen,
dass sich die Charts laufend ändern, reden wir von den beliebtesten
Möbelfarben, den verbreitetsten Hunderassen und den Top-Ten der
Babynamen. Es gibt eine jährliche Rangliste. Allerdings sah die vor
fünf Jahren höchstwahrscheinlich anders aus als heute und sieht in
fünf Jahren wieder anders aus. Lässt sich dieser Wandel erklären
oder sogar vorhersagen? Ich meine nicht die Vorhersage, welche
Hunderassen, Babynamen oder Farben »in« oder »out« sein
werden. Denn wenn wir wüssten, was in Zukunft »in« ist, so die
Markteffizienztheorie der Wall Street, wäre es längst »in«. Aber
können wir nicht wenigstens den Grad der Veränderung
vorhersagen? Das verspricht uns jedenfalls das »neutrale Modell«
der kulturellen Veränderung.
Dieses Modell entwickelte sich aus der »neutralen Theorie« der
Genetik, die zur Zeit ihrer Entstehung 1968 revolutionär war und
»annahm, dass die meisten evolutionären Veränderungen auf
molekularer Ebene nicht durch Selektion, sondern zufällige
Abweichungen selektiv neutraler Mutanten verursacht wurden«. 74
Kurzum, die meisten genetischen Veränderungen passierten einfach.
Sie entstanden nicht durch den äußeren, funktionalen
Selektionsdruck des lokalen Umfelds, sondern aus sich heraus, quasi
durch eine innere Logik, für die sich bestimmte
Wahrscheinlichkeiten vorhersagen ließen.
Auf die Kultur übertragen, besagt die »neutrale Theorie«, dass
sich etwa die Rangfolge der beliebtesten Hunderassen regelmäßig
verändert, eine Rasse aber nicht darum auf einmal beliebt wird,
weil sie besser wäre als andere oder die Oberschicht plötzlich ihre
Liebe dazu entdeckt hat. Die Beliebtheit verändert sich vielmehr
durch »zufällige Nachahmung«, weil sich also jemand einen Hund
wünscht, den er bei anderen gesehen hat. Das fanden R. Alexander
Bentley, Anthropologe an der englischen University of Durham, und
seine Kollegen heraus, als sie die Hunderegister aus zahlreichen
Jahren durchforsteten. 75 Der Beliebtheitsindex der Hunderassen
folgt einem statistischen Potenzgesetz: Jahr für Jahr werden die
Registrierungen von nur ungefähr einem Dutzend Rassen dominiert.
Doch welche das sind, ändert sich, und die Veränderungen sind
offenbar vollkommen zufällig. Der Beliebtheitswert einer Rasse
kann, auch ohne Werbekampagne im Rücken, urplötzlich steigen
oder aus unerklärlichen Gründen fallen.
Die Spitzenreiter sind nicht etwa so beliebt, weil ihre Rasse
irgendwie besser wäre. So lässt sich einer Studie zufolge kein
Zusammenhang zwischen positiven Rassemerkmalen wie gutem
Benehmen, langer Lebenserwartung oder geringen genetischen
Störungen und der Beliebtheit der Rasse feststellen. 76 Manchmal
sind die gesundheitlich anfälligsten Rassen sogar am beliebtesten,
was quasi eine »unnatürliche Zuchtwahl« ist. Oft entscheidet sich
der Mensch nicht einmal für einen Hund, der besonders
menschentauglich ist. Wie Harold Herzog, Co-Autor von Bentley
und Psychologieprofessor an der Western Carolina University,
anmerkt, schaffte es der Rottweiler in den USA in nur einem
Jahrzehnt von Platz 25 auf Platz eins. 77 Was folgte, waren ein steiler
Anstieg bei den Todesfällen durch Rottweiler und danach, wenig
überraschend, ein starker Rückgang der Registrierungszahlen für
die Rasse.
Sicher gibt es einen gewissen Selektionsdruck, der sich auf die
Beliebtheit von Hunderassen auswirkt. Der stärkste Druck geht von
Kinderfilmen aus: Nach den Disneyfilmen 101 Dalmatiner und
Shaggy Dog – Hör mal, wer da bellt stiegen die
Registrierungszahlen für Dalmatiner und Hütehunde beträchtlich. Je
höher der Kartenverkauf, desto höher der Beliebtheitszuwachs. 78
Vielleicht wurden manchmal aber auch nur schlafende Hunde
geweckt: Die Rasse wurde langsam beliebter und darum für den
Film ausgewählt. Hundemoden als Filmbegleiterscheinung, so
Herzog, seien »die Ausnahme, nicht die Regel« und nähmen in ihrer
Bedeutung heute ab. Nach der bekannten amerikanischen
Chihuahua-Kampagne von Taco Bell gingen die Registrierungszahlen
für die Rasse sogar in den Keller. Was für Taco Bell zumindest
anfangs gut war, war für die Rasse schlecht. Aber was ist mit den
Siegern der Westminster Dog Show? Dadurch erkläre sich, so hört
man, der »märchenhafte Beliebtheitszuwachs beim Pudel« in den
1950er Jahren. 79 Das mag damals gestimmt haben, heute stimmt es
jedenfalls nicht mehr: Die Sieger von Westminster geben
offensichtlich nicht mehr den Ausschlag, was die Beliebtheit der
Rassen in den Folgejahren betrifft.
Es ist ähnlich wie mit Edwin Longs Heiratsmarkt in Babylon. Egal,
welche Rasse gerade an der Spitze steht und wie sehr wir auch
glauben möchten, sie sei damit die Beste, über den künftigen
Geschmack wissen wir nur eins: Er wird anders sein als heute.
Eines Tages durfte ich einer Geheimkonferenz in den oberen
Gemächern einer Kunstuniversität beiwohnen: dem streng
vertraulichen Jahrestreffen des Farbunternehmens Pantone.
Zahlreiche Farbexperten waren geladen, Leute, die nicht einfach
nur die Farbe Schwarz sehen, sondern sich gepflegt über die
»Farbfamilie Schwarz« unterhalten. Auf dem Treffen sollten die
Farben der nächsten Saison prognostiziert werden. Wie der
Filmproduzent auf der Suche nach dem idealen Hund, der in
bestimmten Nischen zwar schon sichtbar, aber noch nicht
allgegenwärtig ist, spürten die Farbfachleute dem nach, was gerade
Fahrt aufnahm oder sich neue Anwendungsbereiche erschloss. Sie
sagten beispielsweise: »Ein gutes Marineblau übernimmt aktuell die
Rolle von Schwarz«. Wenn die »Prognostiker« des Unternehmens
einen Funken entdeckten, schürten sie das Feuer.
Als das Unternehmen beispielsweise für den Sommer 2011
Orange vorhersagte, wie mir später ein leitender Mitarbeiter des
Aromen- und Duftstoffherstellers Firmenich erläuterte, »hat man
sich auf dem Markt umgeschaut, was es so gab, da ein Rot-Orange,
dort ein flammendes Orange«. Die konnte man am neuen Camaro,
dem Sony Vaio Laptop oder der neuen Linie »Orange« von Hugo
Boss entdecken. »Man verbindet die einzelnen Punkte, die man
aufgespürt hat«, so der Mitarbeiter weiter. Die Prognostiker stiegen
also wie Surfer in die Welle ein, die bereits lief: Nach den
komplizierten Gesetzen der Physik, die die quasi »aus dem Nichts
auftauchenden Monsterwellen« erklären, hatte der Ozean der
möglichen Farben offenbar gerade Orange ausgespuckt. Wie die
Monsterwelle entwickelt sich auch die Beliebtheit nicht linear:
Wenn die Beliebtheitswelle einmal angelaufen ist, wird sie größer
als gedacht. 80 (So wie Monsterwelle Energie von anderen Wellen
»klauen«, »klauen« beliebte Hunderassen zusätzliche Schwungkraft
von anderen Rassen.)
Das neutrale Modell sei so attraktiv, so Bentley, weil es auf
»bevölkerungsweiter Ebene« erklären kann, warum etwas wie der
Geschmack einfach kommt und geht. Der statistische
Umschlagsfaktor scheint für die unterschiedlichsten
Beliebtheitsskalen, von den Billboard-Hot-100-Charts über
Babynamen bis hin zu »Schlüsselwörtern« in wissenschaftlichen
Aufsätzen, ähnlich auszusehen. Es scheint ein Naturgesetz des
Wandels zu geben.
Was die Babynamen betreffe, so Bentley, verändere sich ihre
statistische Beliebtheit insgesamt kaum, obwohl die Bevölkerung
wachse, neue Namen entstehen, andere verschwinden und die
Beliebtheit von Namen zu- oder abnehme. Denn die Namen würden
nur mehr oder minder zufällig übernommen. Der neutralen Theorie
der Genetik zufolge können Gene, wie wir gesehen haben, nicht
unter Selektionsdruck geraten. Sie können nicht aus Gründen der
»Anpassung«, weil das eine »an sich« besser passt als das andere,
ausgewählt werden. Doch sind Babynamen, fragt sich Bentley,
wirklich »wertneutrale kulturelle Merkmale, die man aus
vorhandenen Namen auswählt, die durch ›Mutationen‹ entstehen
oder durch Sampling verlorengehen?«
Die Geschmacksforschung war von den Babynamen lange
fasziniert. Vornamen seien, anders als andere Moden, für ein ganzes
Leben bestimmt, so Stanley Lieberson, Soziologe in Harvard. Keine
Werbung schwatze einem einen Namen auf, und Namen seien,
geldmäßig gesehen, »wertneutral«. »Es kostet mich nicht mehr,
meine Tochter Lauren oder Elizabeth zu nennen als Crystal oder
Tammy«, so Lieberson. 81 Der Vorname sei einst weitgehend durch
Tradition und soziale Vorgaben bestimmt gewesen. Man wählte
einen Namen aus der Verwandtschaft oder einen religiösen Namen,
obwohl die Auswahl dadurch mitunter arg zusammenschrumpfte. Im
Verwandtschaftsfall etwa war die Auswahl streng geregelt, darum
wimmelte es im England des 19. Jahrhunderts vor Williams, Johns
und Henrys. Doch ab dem späten 19. Jahrhundert wurde die
Namenswahl wie anderes auch vermehrt der persönlichen Vorliebe
überlassen und hing nun davon ab, »ob den Eltern ein Name gefiel
oder nicht«.
Aus Tradition wurde Mode. Und die Mode, so Lieberson, werde
durch zwei starke, unterschiedliche Kräfte in Gang gehalten.
Erstens durch äußere Faktoren, große soziale Wellenbewegungen.
So habe etwa in den USA ab 1961 die Beliebtheit von Jacqueline
durch die berühmte First Lady zugenommen. Doch häufig würden
solche äußeren Faktoren keine Wirkung entfalten. So gehe die
Zunahme biblischer Namen mit einem Rückgang bei den
Kirchenbesuchern einher. Zudem würden biblische Namen von den
am wenigsten religiösen Menschen gewählt.
Wichtiger seien daher, so Lieberson, »interne Mechanismen«, die
den Geschmackswandel auch »ohne äußere Veränderungen«
fördern: kleine neue Geschmacksnuancen, von Lieberson »Ratchet
Effects« genannt: etwa Jenna statt Jenny. Eine Mutation also wie bei
dem genetischen Modell. Darauf folge dann fast unmerklich eine
weitere Veränderung, die meistens in dieselbe Richtung gehe.
Rocksaum oder Haar würden ein wenig länger, dann noch ein wenig
länger, bis sie schließlich unpraktisch oder einfach lächerlich seien.
Das erinnert einen an Loewys »Möglichst fortschrittlich, aber noch
akzeptabel«.
Natürlich könne man auch versuchen, den Geschmackswandel auf
soziale Faktoren zurückzuführen: X wurde modern, weil Y. Doch es
sei schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass es hier um
Zufälligkeit und Nachahmung gehe. Lieberson zufolge waren in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA Jungennamen
modern, die auf n endeten. Ihren Zenit erreichten diese Namen
etwa 1975, als der jahrzehntelang völlig unbeliebte »Jason« Platz
zwei erklomm. Danach begann ihr Abstieg. Was war da passiert?
Der Laut n hat für uns weder einen besonderen inhärenten Wert,
noch sind wir biologisch auf Namen mit n-Endung programmiert.
Warum sank ihr Stern dann irgendwann? Es ist wohl eher so, dass
wir, wie die Waldsänger, einen bestimmten Laut hören, er uns gefällt
und wir ihn übernehmen. So zeigt eine statistische Analyse der
Vornamen eines ganzen Jahrhunderts, dass die Wahrscheinlichkeit
für einen Namen, selbst nach Berücksichtigung seiner vorherigen
Beliebtheit, steigt, wenn ein Laut des Namens schon im Vorjahr
beliebt war. 82
Ist der Laut einmal eingeführt, sind auch »Fehlern« Tür und Tor
geöffnet: Nachahmungen also, die leicht danebenliegen. So habe der
in den 1970ern beliebte Name Jennifer das Interesse an ähnlich
klingenden Namen geweckt. Welcher Laut gerade beliebt sei, bleibe
dabei dem Zufall überlassen. Einer Studie zufolge, die die
Namensmuster im Windschatten von Hurricanes untersuchte, deren
Namen bekanntlich aus einer Liste zufällig gewählt werden,
beginnen die Vornamen häufig mit demselben Buchstaben wie der
jeweilige Hurricane. 83 Je stärker der Hurricane, desto stärker der
Beliebtheitszuwachs, bis zu einem bestimmten Punkt. Und das alles
nur, weil plötzlich ein bestimmtes »Phonem« in der Luft liegt.
Genauso kann übrigens ein »Genre«-Buch, das auf der
Bestsellerliste der New York Times landet, den Verkauf von Nicht-
Bestsellern des Genres ankurbeln, weil die Leser durch das eine
Buch offenbar bewogen werden, weitere Bücher des Genres zu
lesen. 84
Spätestens an dieser Stelle möchten Sie wahrscheinlich
einwenden, das höre sich ja an, als wären wir allesamt hirnlose
Automaten, die im Gleichschritt marschieren, ihre Kinder nach dem
benennen, was wir gerade im Laden um die Ecke oder im
Wetterbericht aufgeschnappt haben, und sich ansonsten jedes
vernünftigen Gedankens enthalten. Die Kritik an dem neutralen
Modell lautet denn auch, dass es fast immer einen Selektionsbias
gibt. Am häufigsten durch die Beliebtheit selber: Was beliebt sei,
werde nachgeahmt, weil es beliebt sei.
Es gibt allerdings noch einen entgegengesetzten Selektionsdruck,
der seine Wirkung entfaltet: wenn die Leute etwas irgendwann nicht
mehr tun, einen Babynamen nicht mehr wählen, einen Tweet nicht
mehr retweeten, weil sie das Gefühl haben, das mache ja jeder.
Ökonomen nennen das eine »nicht-funktionale Nachfrage«, weil sie
durch etwas bestimmt wird, das nichts mit der »inhärenten
Produktqualität zu tun« hat. 85
Auch wenn neutrale Abweichung bedeutet, eine Wahl sei so gut
wie die andere, besitzen Vornamen doch einen gewissen inhärenten
Wert. So werden einer Studie zufolge Stellenbewerber mit
ausländisch klingenden Namen wie Latonya oder Tremayne nach
einem Bewerbungsgespräch seltener zurückgerufen. 86 Wer nach
dem Ersten Weltkrieg in Amerika einen deutschen Namen besaß,
hatte es schwerer, einen Platz in der New Yorker Börse zu
ergattern, abgesehen davon, dass man weniger Kinder Wilhelm oder
Otto taufte. 87 Der inhärente Wert eines Namens wird durchaus
auch bewusst wahrgenommen, als eine Art soziales Gütesiegel. XXI
So können die in einer Gesellschaft scheinbar neutral verteilten
Namen unter eine Art Selektionsdruck geraten. 88 Eltern
entscheiden sich dann etwa nach der Lektüre von Wir müssen über
Kevin reden, dem Bericht einer Mutter über ihren gewalttätigen
Sohn, ihr Kind doch nicht Kevin zu nennen, weil sie den Namen mit
einer negativen, wenn auch allgemein eher wenig bekannten
Konnotation verbinden. Folglich kann dann auch keiner den Namen
nachahmen.
Als ich Bentley auf diesen Punkt ansprach, betonte er, dass genau
hier der Wert des neutralen Modells liege: Wenn man davon
ausgehe, dass kulturelle Veränderungen auf allgemeiner,
bevölkerungsweiter Ebene durch zufällige Nachahmung entstehen,
erhalte man ein statistisches Hintergrundrauschen, das es
erleichtere, den tatsächlichen Selektionsdruck zu identifizieren.
Blicke man von oben auf eine überfüllte Stadtautobahn im
Berufsverkehr, scheine es, als würde jeder Fahrer es dem anderen
nachtun. Der Verkehr scheine neutral dahinzufließen. Doch bei
näherem Hinschauen würde man wahrscheinlich sehen, dass ein
Fahrer zu dicht aufgefahren ist und so einen »Selektionsdruck«
ausübt, der sich auf den Vorausfahrenden auswirkt. Unser
Geschmack sei wie der Straßenverkehr: ein riesiges, komplexes
System mit bestimmten Parametern und Regeln, eine rauschende
Feedback-Kammer, in der der eine es dem anderen nachtut und
umgekehrt. Doch wir können kaum mehr darüber vorhersagen, als
dass gegen Ende des Tages eine bestimmte Anzahl von Autos auf
einer bestimmten Strecke unterwegs sein wird, wie auch eine
bestimmte Anzahl von Songs an der Spitze der Charts stehen wird.
Da drängt sich unweigerlich eine Frage auf. Wenn sich der
Geschmack durch soziales Lernen beständig wandelt, ob zufällig
oder nicht, ob »verzerrt« oder nicht, sei dahingestellt, kann es doch
nicht ohne Auswirkungen bleiben, wenn der Mensch durch das
Internet noch besser und genauer sehen kann, was andere tun,
oder?

Als ich in den 1980er Jahren ein Teenager war, geriet ich eines
Tages bei der Sendersuche im Radio ein wenig zu weit nach links
und landete bei einer Sendung, die Punk Rock und andere spezielle
Musik brachte. Ich fühlte mich, als wäre ich in ein privates
Gespräch geplatzt, das in einer fremden Sprache geführt wurde. Ich
hatte diese Songs noch nie gehört – mein Geschmack war
zugegebenermaßen ziemlich durchschnittlich –, und sie klangen
anders als alles, was ich kannte.
Schon bald wurde ich zum begeisterten Fan dieser seltsamen
Kakophonie und merkte, wie zeitraubend das war: Ich brachte
Stunden damit zu, in obskuren Plattenläden in obskuren Vierteln der
Stadt nach obskuren Alben zu suchen, fuhr zu Acts, die in stickigen,
baufälligen Sälen vor stark gemischten Fangruppen gegeben
wurden, sprach mit den paar Mitschülern, die wussten, wovon ich
redete, und hatte null Ahnung, wie viele Leute in anderen Städten
diese Musik noch gut fanden. Und die ganze Zeit dachte ich, dass
die Musik bestimmt populärer würde, wenn nur mehr Leute davon
erfahren könnten, und verdrängte die heikle Frage, ob dann nicht
meine Liebe zu der Musik aus Gründen der optimalen Distinktion
schwinden würde.
Heute sieht die Sache vollkommen anders aus. Mit einem
Mausklick kann man im Internet fast alles hören, was die Musik der
Welt zu bieten hat, und Fans der abseitigsten Genres begegnen sich
in Chatrooms und Foren. Sämtliche Vertriebshindernisse haben sich
durch die neuen Technologien in Luft aufgelöst: Jeder kann heute
billig und einfach seine eigene Platte veröffentlichen. Wie Echo Nest
gezeigt hat, können quasi über Nacht neue Genres auftauchen und
Fans für sich begeistern. Eigentlich ist meine jugendliche Hoffnung
Wirklichkeit geworden: Theoretisch kann heute jeder alles hören.
Die Musik ist nun horizontal strukturiert: Es kostet nicht mehr
Mühe, obskuren Bands zu lauschen, als dem Mainstream
anzuhängen. Damals hatte ich mir ausgemalt, wie die einstige
Nischenmusik dann populärer werden und dem Mainstream Fans
abjagen würde, weil die Leute ja mehr Auswahl hätten. Zumindest,
so dachte ich, würden sich die abgenudelten Radiohits nicht mehr so
lange halten können, weil die Konkurrenz einfach größer wäre.
Das alles hat sich nicht unbedingt bewahrheitet, wie mir der
Musikkritiker Chris Molanphy sagte, der akribisch die Popcharts
analysierte. »Viele haben angenommen, dass diese gewaltige
Demokratisierung, die den Musikgeschmack allgemein sichtbar
machte, mehr Vielfalt hervorbringen würde«, sagte Molanphy.
»Doch guckt man sich die Charts an, ist genau das Gegenteil
passiert. Die Großen sind noch größer geworden.« Der Musikabsatz
habe zwar insgesamt unter der neuen digitalen Umgebung gelitten,
doch die Platten weiter hinten in den Charts, Platz 200 bis 800,
habe es am härtesten getroffen. Die großen Hits konnten sich
dagegen dank des Internets noch mehr vom Kuchen abschneiden. 89
Der Kurvenverlauf der Download-Charts, so Molanphy, sehe eher
wie ein rechter Winkel aus. 90 »Es ist, als habe Amerika irgendwann
entschieden, dass wir uns nun für ›Fancy‹ von Iggy Azalea oder
›Happy‹ von Pharrell, zwei Hits von 2014, interessieren, und alle
hören es.«
Molanphy nennt das die »Schneeball-Superhits«. Sie rollen immer
geschwinder und nehmen alles andere dabei mit. Und verlängern
damit ihre eigene Lebensdauer. So hielt sich »Radioactive« von den
Imagine Dragons zwei Jahre lang in den Billboard-Hot-100-Charts.
»Yesterday« von den Beatles, »der meistgecoverte Song aller
Zeiten«, blieb dagegen, so Molanphy, nur lächerliche elf Wochen in
den Charts.
Nicht nur die Popularität kann selbsterfüllend sein. Dasselbe gilt
für die mangelnde Popularität. Der Sozialwissenschaftler William
McPhee führte in seinem Klassiker von 1963, Formal Theories of
Mass Behavior, die sogenannte Theorie der »Doppelbestrafung«
ein. Als er sich Meinungsumfragen zur Beliebtheit von Filmstars
oder Radiosendungen anschaute, stellte er verblüfft fest, dass
weniger populäre Kulturgüter nicht nur allgemein unbekannter
waren und die Wahl darum seltener auf sie fiel, sondern sich die
Leute auch seltener dafür entschieden, wenn sie sie kannten, darum
Doppelbestrafung. Aber bedeutete das nun, dass nur die Besten es
an die Spitze der Charts schafften? Nicht unbedingt. McPhee
vermutete, dass »eher diejenigen unbekanntere Alternativen
kennen, die allgemein viele konkurrierende Alternativen kennen«. 91
Die Favoriten »kennen dagegen diejenigen, die sonst wenig anderes
kennen. Kurzum, die Leute, die eher obskure Musik hören, können
sich vermutlich für jede Menge Musik ein wenig erwärmen,
während sich die Liebe der begeisterten Charts-Hörer ganz auf die
Top 10 konzentriert. Allein durch die statistische Verteilung, so
McPhee, sei ein »natürliches« Monopol entstanden. 92
Doch wenn das schon vor Jahrzehnten so war, warum ist das alles
dann heute noch Top-10-lastiger und zäher geworden? Es könnte
daran liegen, wie schon im dritten Kapitel erwähnt, dass wir uns von
dem gigantischen Musikangebot, das quasi alle Musik der Welt auf
Tastendruck bereithält, förmlich erschlagen fühlen, angesichts des
leeren Suchfelds, in das wir den nächsten gewünschten Song
eingeben sollen, zurückschrecken und uns lieber in vertraute
Gefilde flüchten. Oder aber, wir hören noch mehr das, was andere
hören, weil wir dank sozialer Medien genauer wissen, was sie
hören.
Das jedenfalls war das Ergebnis eines berühmten Experiments,
das die Netzforscher Duncan Watts und Kollegen 2006 durchgeführt
haben. Ihre Probandengruppen sollten sich bestimmte Songs
anhören, nach Beliebtheit ordnen und konnten sich dann kostenlos
Songs von einer Website herunterladen. Wenn die Teilnehmer sehen
konnten, was die anderen heruntergeladen hatten, wählten sie mit
größerer Wahrscheinlichkeit dasselbe: »Beliebte« Songs wurden so
noch beliebter und unbeliebte noch unbeliebter. Zudem war es bei
der sozial beeinflussten Entscheidung schwieriger, die Beliebtheit
eines Songs aufgrund seiner Qualität vorherzusagen. Wenn die
Probanden allein entschieden, war die Songauswahl vielfältiger und
besser vorhersagbar. Die Probanden entschieden sich mit größerer
Wahrscheinlichkeit für die Songs, die sie für die besten hielten.
Allerdings krempelten die Leute ihren Musikgeschmack nicht
komplett um, wenn sie erfuhren, was andere hörten. 93 »Die ›besten‹
Songs schneiden nie wirklich schlecht und die ›furchtbarsten‹ nie
wirklich gut ab«, so Watts und sein Co-Autor Matthew Salganik.
Doch wenn die Auswahl der anderen Probanden sichtbar war,
besaßen die weniger guten Songs eine größere Chance, besser
abzuschneiden und umgekehrt. »Wenn individuelle Entscheidungen
sozialen Einflüssen unterliegen«, so die Autoren, »summiert der
Markt nicht einfach die bestehenden individuellen Vorlieben.«94
Kurzum, die Charts finden, wie Geschmack auch sonst, nicht im
luftleeren Raum statt.
Der Aufstieg an die Spitze der Charts ist heute theoretisch
demokratischer geworden, also weniger top-down, aber auch
weniger vorhersehbar. »Happy« von Pharrell wurde durch ein
erfolgreiches Musikvideo in einem Jahr zum Hit. Doch die Spitze der
Hierarchie ist schmaler geworden. So konnte 2013
schätzungsweise ein Prozent aller Acts 77 Prozent aller Einnahmen
auf sich versammeln. 95
Die Plattenfirmen versuchen natürlich noch immer, Hits zu
produzieren, doch laut Molanphy »entscheidet heute das allgemeine
Publikum, welcher Song zum Hit wird, weil Vorlieben ansteckend
sind«. Der virale Welterfolg »Gangnam Style« wurde den
Radiosendern quasi aufgezwungen, so Molanphy, und der Song stand
dann auf Platz zwölf der US-Charts – wobei YouTube, wo der Song
vor allem gehört wurde, noch gar nicht mitgerechnet ist. »Den
Erfolg hat keiner bewusst herbeigeführt. Das allgemeine Publikum
war einfach von dem leicht albernen Video begeistert und sagte
Freunden und Bekannten: ›Das Video musst du dir einfach
angucken.‹« Der Schneeballeffekt, so Molanphy, zeige sich aber
auch im Radio. So lief der in den USA meistgespielte Song von 2013,
»Blurred Lines«, doppelt so oft im Radio wie der meistgespielte
Song von 2003.
In den 1970er Jahren, als ich wie ein Besessener die Top 40 rauf
und runter hörte, sah das noch ganz anders aus. Damals galt es als
Binsenwahrheit, so der frühere Radioberater Sean Ross, dass der
Hörer eine gefühlte Ewigkeit vorm Radio saß, darauf wartete, dass
sein Lieblingssong endlich lief, und danach ausschaltete. Er hatte
sein Ziel ja erreicht. Hätte das Radio schon damals den heutigen
Zugang zu Absatzzahlen und Hörerdaten gehabt, wären die
Lieblingssongs, so Molanphy, auch damals häufiger gespielt
worden. 96 Ein Song wie »Yesterday« wäre wesentlich öfter zu hören
gewesen. Die immer präziser werdenden Echtzeitdaten zum
Hörerverhalten führten dazu, dass die Feedback-Schleife erheblich
verstärkt werde. »Dass Vertrautes gern gehört wird, wusste man
schon immer«, so Molanphy. »Aber jetzt weiß man genau, wann
jemand den Sender wechselt und, hey, er wechselt den Sender
wirklich, wenn er etwas nicht kennt.« Daher versuche man
geradezu verzweifelt, Unbekanntes so schnell wie möglich in
Bekanntes zu verwandeln.

Popsongs waren schon immer eine flüchtige Angelegenheit. Doch


was ist mit den Vornamen, die ja eher langlebiger sind? Hier ist die
Beliebtheit heute gleichmäßiger verteilt. In den 1880er Jahren
dagegen war Robert, wie die Forscher Todd Gureckis und Robert
Goldstone herausfanden, der »Schneeball-Superhit«. Fast einer von
zehn Jungen wurde auf den Namen Robert getauft. Im Jahr 2007
erhielten dagegen nur noch 1,1 Prozent der Jungen den beliebtesten
Namen, Jacob. Die beliebtesten Namen mussten »Marktanteile«
abgeben, so die Forscher. Doch noch etwas änderte sich im Lauf der
Zeit. An der Wende zum 20. Jahrhundert gerieten die beliebtesten
Namen wohl eher zufällig ins Wanken. Vielleicht, so kann man
vermuten, bekamen damals einfach mehr Familien mit Vätern
namens Robert Söhne.
Seit einigen Jahrzehnten zeigt sich aber ein statistisches Muster:
Plötzlich ließ sich aus der Entwicklung eines Namens in einem Jahr,
mit mehr als statistischer Wahrscheinlichkeit, vorhersagen, wie sich
der Name im folgenden Jahr entwickeln würde. Wenn die
Beliebtheit von Tom in einem Jahr abnahm, setzte sich diese
Tendenz im nächsten Jahr voraussichtlich fort. Namen besaßen auf
einmal Schwungkraft. Woran orientierten sich die Leute bei der
Wahl der Vornamen jetzt, nachdem die Namenstraditionen an
Bedeutung verloren hatten? An den Vornamen der anderen. Wenn
man schon 1880 den Vornamen seines Kindes hätte frei wählen
können, hätte es wohl eine Weile gebraucht, bis sich die Beliebtheit
eines Namens herumgesprochen hätte. Heute müssen werdende
Eltern nur eine datengefütterte Website mit Babynamen besuchen
oder probehalber Namen auf Facebook eingeben, um auf
mysteriöse Weise zu erahnen, wie sich ein Name entwickeln wird.
Man hält sich an die erstarkenden Namen, die allerdings nicht zu
schnell erstarken dürfen, weil das als Zeichen launenhafter
Modetrends gilt, und meidet die in der Gunst fallenden Namen. Man
verhält sich also ähnlich wie an der Börse, wenn man trotz lästiger
kurzfristiger Kursschwankungen ein langfristiges Aktiendepot
erwerben will.
Bei Popmusik und Namensgebung zeigen sich also ähnliche
Entwicklungen. Die Dinge sind horizontaler geworden – es gibt
mehr Songs und mehr mögliche Vornamen –, aber auch mehr auf
Spitzen fokussiert. Angesichts der heute quasi endlosen
Möglichkeiten neigen die Leute offenbar stärker dazu, sich an
anderen zu orientieren. Aus sozialem Lernen ist hypersoziales
Lernen geworden. Schon 1930 beschrieb der spanische Philosoph
José Ortega y Gasset in seinem berühmten Werk Der Aufstand der
Massen, wie »die Welt über Nacht gewachsen ist«. 97 Dank
moderner Medien »erlebt jeder einzelne gewohnheitsmäßig die
ganze Erde«. Die Menschen in Sevilla konnten nun verfolgen, »was
einigen Menschen am Pol zustieß«. Der Mensch bekam zudem
Zugang zu viel mehr Dingen: »Die Möglichkeiten für den heutigen
Käufer sind praktisch unbegrenzt.« Die sozialen Unterschiede
ebneten sich ein, was eine Fülle neuer Möglichkeiten eröffnete:
»Daher der wunderliche Zwiespalt zwischen Machtgefühl und
Unsicherheit, der in der zeitgenössischen Seele haust.« Die
moderne Zeit »fühlt sich verloren in ihrem eigenen Überfluss«.
Heute scheint uns Ortegas Welt geradezu idyllisch. In einer
Großstadt wie New York lebt man im reißenden Strudel der
Möglichkeiten: Angeblich kann man in New York mehr und zwar um
ein Vielfaches mehr Produkte kaufen, als es Arten auf der Erde
gibt. 98 Bentley nannte mir ein Beispiel: »Nach meiner Zählung gibt
es derzeit 3500 unterschiedliche Laptops auf dem Markt. Wie kann
da noch jemand nach dem Kriterium der ›Nutzenmaximierung‹
kaufen?« Die Kosten, um herauszufinden, welches denn nun
tatsächlich der beste ist, würden die Möglichkeiten des Einzelnen
übersteigen. Vermutlich, so Bentley, unterscheiden sich die Laptops
in der Qualität eher wenig, so dass es sich bei jeder
Kaufentscheidung eigentlich um eine zufällige Nachahmung handle –
bei der, so Bentley, wiederum »neutrale Abweichungen« am Werk
seien. Es sei besser, und hier entlehnte Bentley einen Satz aus
Harry und Sally, einfach zu sagen: »Ich möchte genau, was sie
hatte.«
Oh Mann, wir wissen, was sie hatte. Wenn der Mensch schon
durch Zeitungsmeldungen über Nordpolforscher in einen
schwindelerregenden Abgrund gestürzt wurde, was hätte Ortega
dann über unsere Welt gesagt? Die Twitter-Gewitter gehen um die
Welt, ehe die Eilmeldung überhaupt erscheint, auf der Twitterwall
dann ihren Niederschlag findet und am nächsten Tag als Leitartikel
in der Tageszeitung wiederaufersteht. Heute müsste Ortega die
sozialen Medien einbeziehen, die einem oft das Gefühl vermitteln,
man würde tatsächlich »die ganze Welt« erleben. Auf beliebig vielen
Plattformen können wir nebenbei und in Echtzeit beliebig vielen
Menschen folgen. Wir kennen ihren Aufenthaltsort, ihre Erfolge
oder ihre Status-Aktualisierung.
Ortega nannte das »Wachstum des Lebens«, obwohl es oft mit
dem Verlust an eigener Lebenszeit oder sogar Lebensglück
einherzugehen scheint. Wie Studien zeigen, können sich die sozialen
Medien negativ auf das Selbstwertgefühl auswirken. 99 Während sich
Ortegas Zeitalter über die Massenmedien, weitverbreitete Medien
also mit einem breiten Publikum, definierte, können heute die
sozialen Medien, also ein Publikum mit noch mehr Publikum, unser
Zeitalter der Massenindividualisierung definieren. Internet heißt
exponentielles soziales Lernen: Man erfährt heute besser denn je,
was andere Menschen machen. Wie viele der über 13000
TripAdvisor-Bewertungen des Bellagio in Las Vegas müssen Sie
studieren, um eine Entscheidung zu treffen? Man erfährt heute
einfacher denn je, dass das, was man selber erlebt, erst letzte
Woche jemand anders erlebt hat, oder sogar, dass die Person, die
einem gefällt, zufällig auch anderen gefällt, die man gar nicht kennt.
Internet heißt soziales Lernen durch Platzhalter. Wer ein tolles
Instagram-Foto mit der kunstvoll verzierten Torte einer Konditorei
im weitentfernten San Francisco »liked«, weckt in anderen die Lust,
sie zu essen. 100 Ganz ähnlich funktionierte Julies Trick mit dem
Gras im Ohr.
Der Mensch wollte schon immer andere Menschen um sich haben
und von ihnen lernen. Lange haben die Städte die soziale Dynamik
beschleunigt. Sie waren Schmelztiegel, die Kunst-, Musik- und
Modetrends hervorbrachten. Szenesprachen oder, falls das besser
klingt, »sprachliche Innovationen« nahmen stets in den Städten
ihren Anfang, weil die verschiedensten Menschen dort dicht an dicht
lebten und sahen, was andere machten. 101 Dann verbreitete sich die
Innovation ähnlich wie eine ansteckende Krankheit – deren
Ausgangsherde übrigens auch in den Städten liegen. 102 Wenn die
Art und Weise, wie jemand spricht, »das Ergebnis dessen ist, was er
bisher gehört hat«, wie es der bekannte Linguist Leonard
Bloomfield ausdrückt, dann entstehen sprachliche Innovationen
dort, wo mehr Menschen reden und hören, was andere sagen. 103
Städte beflügeln den Geschmackswandel, weil dort mehr Menschen
aufeinandertreffen, und nicht zufällig fühlen sich vor allem Kreative
von der Stadt angezogen. Und je globaler und umfassender die
Medien, umso schneller können sich die Innovationen verbreiten. 104
So hat sich in japanischen Wörterbüchern die Zahl der englischen
Lehnwörter zwischen 1970 und 2000 mehr als verdoppelt.
Das Internet ist eine Art geistige Stadt. Die Menschen
konsumieren das Medium nicht einfach, sondern bewohnen es.
Allerdings scheint es häufig nur bestehende Städte abzubilden und
zu vergrößern. So sind die dicht an dicht lebenden New Yorker
zugleich die aktivsten Twitternutzer. 105 »Der Mensch«, so Bentley,
»hat vermutlich noch nie so viel (da kostenlos), so präzise und so
wahllos nachgeahmt wie heute, wo er online lebt und arbeitet.«106
Alles verbreitet sich schneller und kostengünstiger. Mehr Menschen
können mehr andere Menschen nachahmen.
Aber woher wissen wir, was oder wen wir nachahmen sollen? Die
herkömmlichen Quellen, die uns gesagt haben, was uns gefallen
sollte, ob Radiosendungen, Restaurantführer, Literaturkritiker oder
auch Marken, wurden durch Ortegas »Mengen« ersetzt: Doch sie
handeln nicht als Masse, sondern als Masse von Individuen; sie sind
verbunden, aber einzeln, vereint und doch getrennt. Wem sollen wir
bloß folgen? Wofür uns entscheiden? Wem können wir vertrauen?
Heute ist alles zugleich flacher und schwieriger, und in dem Reich
der unendlichen Möglichkeiten fällt unsere Wahl oft von vornherein
auf das, was wir bei anderen sehen – oder läuft dem entgegen,
wenn wir meinen, das mache ja jeder. Doch was wir auch tun, die
experimentelle Forschung hat jedenfalls gezeigt, dass Menschen in
»klugen Massen«, in denen sichtbar ist, was andere denken, und in
denen es zu viel »sozialen Einfluss« gibt, dazu tendieren, wie andere
zu denken (und nicht wie der »ideale Kritiker«, von dem das nächste
Kapitel handelt). 107 Sie berücksichtigen bei ihren Entscheidungen
eine geringere Menge an Informationen, aber weil mehr Menschen
so denken wie sie, sind sie zugleich stärker davon überzeugt, dass
ihre Entscheidungen richtig sind. 108 Die soziale Nachahmung ist wie
der Hochfrequenzhandel an der Börse einfacher, schneller und
schwankungsanfälliger geworden. Doch die unzähligen Mikro-
Beweggründe, wie andere sein zu wollen und doch anders, können
sich zu einem explosiven Gemisch zusammenballen und ein Makro-
Verhalten auslösen. Die großen Wellen sind noch größer geworden.
Wir wissen, sie werden kommen, doch es ist schwieriger geworden,
vorherzusagen, wo genau in den Weiten des unberechenbaren
Ozeans sie sich bilden werden.

__________
XIX Manchmal gibt es auch pure Zufälle wie den »versehentlichen Hipster«, wie ihn
ein Freund von mir einmal nannte: der alte Typ an der Bushaltestelle mit den billigen
Klamotten, die er aus ökonomischen Gründen trägt – und die zufällig mit denen
identisch sind, die von den abgrenzungsbewussten Hipstern aktuell gehypt werden.

XX Soziales Lernen kann aber natürlich auch maladaptiv sein. Jeder hat von jemand
anderem »gelernt« zu rauchen, und manch einer sogar von Gesundheitsfachleuten.

XXI So habe ich das Gefühl, dass manche Eltern in meiner Brooklyner Nachbarschaft
die Namen ihrer Kinder geradezu als Marke betrachten, eine Art Product Placement
ihrer eigenen Lifestyle-Marketingkampagne.
6

KATZEN, SCHMUTZ UND BIER


Wie bestimmen Experten, was gut ist?

Normgerecht: Was macht das Ideal zum Ideal?

Auf mehr als zweihundert Seiten habe ich nun ausgeführt, wie
trügerisch unser Geschmack sein kann. Manchmal ist er sogar uns
selber fremd. Unweigerlich unterliegt er sozialen Einflüssen, zudem
nehmen wir meist nur höchst flüchtig wahr, was wir gerade in den
Mund stecken oder vor Augen haben. Wenn das alles so verworren
ist, so dachte ich, sollte ich mich vielleicht mal mit Leuten
unterhalten, die über ihren Geschmack zwangsläufig reflektieren
und das Ganze auch noch in überzeugende Worte packen – oder
zumindest begründen müssen, warum das eine besser als das
andere ist. Ich meine Wettkampfrichter und Gutachter. Sie müssten
den Nebel unserer Neigungen doch mit kühlem Blick lichten und
dank ihrer glasklaren Neutralität ein wenig Ordnung in das
undurchdringliche Geschmacksdickicht bringen können. Was können
wir von ihnen lernen, um endlich klarer zu sehen?
Als erstes möchte ich einer Frage nachgehen, die bestimmt so
manch einen schon einmal beschäftigt hat: Was macht eine gute
Katze aus? Um die Frage zu beantworten, habe ich mich nach Paris
begeben, wo in einem kleinen Konferenzzentrum im
12. Arrondissement eine internationale Katzenausstellung stattfand,
der »Salon International du Chat«. Das hört sich pompös an, es
handelt sich aber eher um eine regionale Angelegenheit: Blauäugige
Ragdoll-Katzen, wollig gelockte Selkirk-Rex-Katzen oder schlanke
Burmakatzen präsentieren sich in einem mittelgroßen Saal. Ein
Blindenhund führt seinen Besitzer, wohl in dem Gefühl, es könne hier
was zu holen geben, durch die Gänge, aber die unerschütterlichen
Katzen lassen sich selbst durch den großen Hund nicht aus der Ruhe
bringen.
Ich bin nicht hier, weil das eine überaus wichtige
Katzenausstellung wäre. Im Übrigen genießen Katzenausstellungen
und Katzenbesitzer generell weniger Ansehen als Hundeshows und
Hundebesitzer. Ich bin hier, weil einer der Preisrichter, der
Niederländer Peter Moormann, nicht nur Katzen bewertet, sondern
auch Professor für Psychologie an der Universität Leiden ist. Und
um die Sache rund zu machen, hat er über die Psyche von
Preisrichtern geforscht.
Moormann, mit silbrig-gewelltem Haar und freundlichem Blick
ganz Europäer alter Schule, interessiert sich für Katzen schon
genauso lange wie für Psychologie. Er ist noch im Indonesien der
Kolonialzeit zur Welt gekommen. Seine Eltern überlebten die
Thailand-Burma-Todeseisenbahn und das japanische
Kriegsgefangenenlager und flohen dann mit ihm in die Niederlande.
Dort beschäftigten sich gute Freunde aus Indonesien mit der
Perserkatzenzucht, und weil Moormann offenbar gut mit Tieren
konnte, fragten sie ihn, ob er sie zu einer Ausstellung begleiten
wolle. Nach und nach durchlief er die Katzenausstellungslaufbahn:
Ordner, Juniorrichter, Richter. Mittlerweile studierte er zudem
Psychologie und trat bei Meisterschaften im Inlineskating und
später Eiskunstlauf an. »Ich habe immer mehreres gleichzeitig
gemacht«, so Moormann. Seine Dissertation schrieb er über die
Psychologie der Bewertung im Eiskunstlauf, ein in den Eiskunstlauf-
besessenen Niederlanden hochgehandeltes Thema. Ein Kapitel
seiner Dissertation hieß: »Unwillkürliche Verzerrungen bei der
Bewertung von Eiskunstläufern«. Vermutlich versuchte Moormann
solche Fehler zu vermeiden, als er später in der Jury von Sterren
Dansen op het Ijs, dem holländischen Dancing on Ice, saß.
Als ich neben Moormann an einem Klapptisch im Richterbereich
saß, stolzierten lächelnde Katzenbesitzer mit ihren Tieren und
erwartungsvollem Blick an seinem Tisch entlang. Wenn eine Katze
auf dem Tisch Platz nahm, fragte man sich unweigerlich, wer hier
überhaupt wen beurteilte. Den Katzen gelang ein erstaunlicher
Doppelaxel aus Lässigkeit und Arroganz: Sie schauten um sich, als
wäre das ihr Tisch, und schienen leicht gelangweilt, wenn man sie
vor diesem fröhlichen Niederländer absetzte, der vor ihrer Nase
mit einer Feder wedelte. Die Feder ist eine typische
Preisrichtermasche und soll die Katzen vor allem dazu animieren,
sich wie Katzen zu benehmen. Wie ein Richter mir erklärte: »Wenn
man das Spielzeug rausholt, will man Ausdruck sehen, aufgestellte
Ohren.«
Man schreibt Menschen oder Tieren ja nur ungern nationale
Eigenheiten zu, aber beim Anblick dieser französischen Katzen fällt
es schwer, nicht an die berühmte grenzenlose Gleichgültigkeit der
französischen Kellner zu denken, die ihre wartenden Gäste beinah
mitfühlend beobachten, als würden sie Zeuge eines existentiellen
Dramas, das sich außerhalb ihres Einflussbereichs abspielt. Manche
Katzen schauen Moormanns Feder genauso gelangweilt und
mitleidig an, wie der Garçon den Gast, der offenbar zu zahlen
wünscht.
Moormann stupste und stieß die Katze an, spürte
Schädelverformungen nach und suchte nach »Schwanzfehlern«,
unklaren Zeichnungen oder fehlenden Hoden. Das Äußere kann, wie
beim Gebrauchtwagen, täuschen. Manche Katzen schieden
umgehend als »Lackierarbeit« aus: Ihr Fell hatte einfach einen
neuen Anstrich oder eine neue Zeichnung erhalten. Ein guter Teil
der Preisrichterarbeit gilt der Anmutung: der Länge der Katze, dem
Muskeltonus oder, wie ein Richter sagte, »der irren Frontpartie«.
Während der Prüfung gab Moormann dann und wann ein Wort des
Lobes von sich: »bonne« oder »très expressif«. »Bei jeder Katze«,
so Moormann, »kann man irgendwas finden und Punkte abziehen.
Es gibt keine perfekte Katze.« Und keinen Preisrichter, der ein
Roboter wäre. Vor Moormann steht ein Katzenbesitzer, der unter
anderem dafür gezahlt hat, dass der Preisrichter zu dieser
Ausstellung gekommen ist. »Man möchte die Leute einfach …«,
Moormann sucht nach dem richtigen Wort: »glücklich machen.«
Während Moormann die Katzen studierte, studierte ich die
Katzenbesitzer. Die Frau mit den Katzenpfoten auf ihren
Fingernägeln oder die, die sich entschuldigte, weil sie ihre Katze
kaum bändigen konnte. »Einmal hat mir eine Perserkatze den
Fingernagel durchgebissen«, murmelte Moormann. Das Klischee,
dass Haustier und Besitzer sich unweigerlich ähneln, fand ich, war
nicht völlig von der Hand zu weisen. Die Frauen, die eine
orientalische Kurzhaarkatze unter dem Arm trugen, besaßen
ähnlich lange, gerade Nasen. Als Moormann einer Perserkatze über
den Schwanz strich, sah ich, wie sich die Besitzerin durchs Haar
fuhr.
Laut Moormann gibt es zwei Möglichkeiten, Katzen zu bewerten.
Da sei einmal der »analytische Ansatz«, bei dem »das Ganze die
Summe seiner Teile ist«. Dabei gebe es Punkte für bestimmte
Eigenschaften jeder Katzenrasse: für Augen, Farbe oder Schwanz.
Die beste Katze sei dann die, die in allen Kategorien die meisten
Punkte erhält. Ein scheinbar objektives Verfahren, doch wie
Moormann schrieb, »steht dafür kein objektives Messinstrument
außer dem Richtergehirn zur Verfügung«. 1 Beim »ganzheitlichen
Ansatz«, so Moormann, könne »das Ganze dagegen mehr sein als
die Summe seiner Teile«. Der Preisrichter gehe dabei »von der
idealen Katze« aus und bewerte die Katze umso höher, je näher sie
seiner Idealvorstellung kommt. »Die Katze insgesamt sollte dann
etwas Besonderes, Charismatisches haben«, so Moormann, »eine
ansprechende Anmutung, die sich aber nicht wirklich beschreiben
lässt. Es passt eben alles zusammen, und daraus ergibt sich etwas
sehr Schönes.« Hier bestehe die Gefahr, so Moormann, dass der
Richter die Bäume vor lauter Wald nicht sieht und durch den »Halo-
Effekt« des Gesamteindrucks Fehler nicht bemerkt.
Wenn die Katzen den Tisch verließen, kritzelte Moormann sofort
ein paar Sterne neben den entsprechenden Katzennamen.
Manchmal schrieb er auch »BV« für »beste Varietät«. Die Sterne
sind Moormanns persönliches Bewertungssystem, weniger eine
Michelin-Qualitätsangabe als ein System, um die Katzen, eine lange
Abfolge von Fellen, Pfoten und Buckeln, auseinanderzuhalten und
sich später daran zu erinnern. »Zu viele Katzen an einem Tag geht
nicht. Dann überlagern sie sich. Katze bleibt Katze.« Katzen zu
beurteilen ist anscheinend mindestens so schwierig, wie Katzen zu
hüten.

Das Wichtigste für einen Preisrichter ist vielleicht ein gutes


Gedächtnis. Ein »geschultes Auge« weiß, wo es hinschauen muss.
Doch um ein zuverlässiges Qualitätsurteil zu fällen, muss der
Richter nicht nur im Kopf behalten, was er den lieben langen Tag
begutachtet hat, sondern dies auch noch mit allen Katzen oder
Eiskunstläufern vergleichen, die er je gesehen hat. Wir erinnern uns
an das, was uns gefällt, aber mehr noch gilt: Uns gefällt, woran wir
uns erinnern.
Die Wahrnehmung von Preisrichtern kann aus verschiedenen
Gründen verzerrt sein. Wenn ein Preisrichter bei einem
Turnwettkampf dieselbe Sprache wie ein Turner spricht, bewertet
er diesen womöglich besser – darum sitzt in einer französischen
Katzenausstellung ein niederländischer Preisrichter. Oder wenn ein
Jurymitglied bei American Idol Popmusik liebt, wird es von der
Heavy-Metal-Band weniger begeistert sein. Eine starke
Richterpersönlichkeit kann zudem andere Richter beeinflussen. So
hat sich eine belgische Studie – wobei man hier auf ein klares
Benelux-Bias in der Jury-Forschung hinweisen muss – näher mit
Wettkämpfen im Seilspringen (ja, das gibt es) beschäftigt. 2 Wenn
man Richtern, so die Studie, Videos mit »künstlich hoch bewerteten«
Seilspringern zeigte, fiel ihre Bewertung positiver aus. Korrigierte
man die Bewertungen dagegen künstlich nach unten, lagen auch die
Bewertungen niedriger. Anscheinend wollen auch Richter von ihren
Richterkollegen gut bewertet werden.
Aber eine arglose, simple Verzerrung liegt auch im Gedächtnis
selbst begründet. So konnte für verschiedene Wettkämpfe gezeigt
werden, dass später aufgerufene Wettkampfteilnehmer besser
abschnitten. Viele halten es wahrscheinlich für einen Nachteil, wenn
sie bei Bewerbungsgesprächen oder in anderen
Konkurrenzsituationen zu den späten Kandidaten gehören. Die
Entscheider sind dann müde, denkt man. Oder haben sich schon
entschieden. Doch Studien zu allen erdenklichen Wettbewerben –
von klassischer Musik3 bis zum Synchronschwimmen4 – belegen ein
klares, zwingendes Muster: Je später ein Bewerber an die Reihe
kommt, desto besser das Ergebnis.
Die belgische Forscherin Wändi Bruine de Bruin hat die
Stimmvergabe beim Eurovision Song Contest über Jahrzehnte
analysiert – was vermutlich angenehmer war, als sich die Songs
anzuhören. Zunächst nahm sie den möglichen »Heimvorteil« unter
die Lupe und stellte fest, dass etwa deutsche Jurymitglieder nicht
nur die deutschen Interpreten leicht besser bewerteten, sondern
auch die der deutschen Nachbarländer. Zudem zeigte sich ein
weiterer starker, linearer Zusammenhang: Später auftretende
Interpreten schnitten besser ab. »Die Bewertung«, so Bruine de
Bruin, »hängt wohl auch davon ab, wie gut sich die Jury an einen
Auftritt erinnert.«5
Weil die Jury ihre Wertung erst abgibt, nachdem sie sämtliche
Wettbewerbsteilnehmer begutachtet hat, klingt das plausibel. Das
passt auch zu dem sogenannten »Primäreffekt« und »Rezenzeffekt«,
die man bei der Rekapitulation von Listen beobachtet hat: An den
ersten und letzten Eintrag von Listen und anderen Aufzählungen
erinnern wir uns besser. Der Grund könnte sein, dass wir diese
Einträge ins Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis verschieben oder
dass sie an sich auffälliger sind, weil vorher oder nachher nichts
anderes kommt. 6 Dass man dem Computer bei der
Sicherheitsabfrage das »erste« Auto, Haustier usw. nennen soll, ist
kein Zufall. Daran erinnern wir uns schlicht besser als an das dritte.
Dichter und Sänger denken schließlich auch nicht an ihre vierte
Liebe zurück.
Aber was passiert, wenn die Jury ihre Bewertung unmittelbar
nach jedem Teilnehmerauftritt abgibt und die Leistung im
Gedächtnis noch deutlich präsent ist? Auch hier kommt es
seltsamerweise zum »Später ist besser«-Effekt. Die Punktvergabe
bei den Welt- und Europameisterschaften im Eiskunstlauf etwa, die
nach jedem Lauf erfolgt, lässt selbst dann noch einen linearen
Anstieg erkennen, so Bruine de Bruin, wenn die Reihenfolge
ausgelost wird. Was geht da vor sich? Die Punktrichter, so Bruine de
Bruin, betrachten den ersten Lauf gesondert, beurteilen aber alle
anderen daraufhin, was verglichen mit den Vorgängern besser oder
anders war.
Der Psychologe Amos Tversky hat dafür den Begriff »Richtung des
Kontrasteffekts« eingeführt. 7 Denn spätere Leistungen können zwar
mit früheren verglichen werden, frühere aber nicht mit späteren.
Daher bewegt sich die Punktvergabe tendenziell in eine Richtung,
allerdings unter einer Bedingung, auf die ich gleich noch
zurückkommen werde: Die Preisrichter müssen nach
Verbesserungen gegenüber dem Vorgänger Ausschau halten. 8
Jurybewertungen, die nach den einzelnen Auftritten erfolgen,
leiden noch an einer weiteren Verzerrung, die ich als den »Das
Beste kommt noch«-Effekt bezeichnen möchte. Die Bewertungen
neigen zum Ende hin stärker den Rändern zu. Wahrscheinlich sind
die Punktrichter bei den frühen Teilnehmern noch unsicher, wie gut
oder schlecht sie wirklich sind, und heben sich die extremen
Punktzahlen darum bis zum Schluss auf. Zudem legen sich spätere
Teilnehmer vielleicht mehr ins Zeug, weil sie wissen, wie die
anderen abgeschnitten haben. So ist die Aussage des englischen
Turners Louis Smith durchaus typisch: »Wenn mein größter
Konkurrent seine Kür absolviert hat und eine hohe Punktzahl
bekommt, denke ich: ›Dann muss ich wohl meine anspruchsvollere
Variante nehmen.‹«9 Die Sportler ahnen wohl, dass sie mehr Punkte
erhalten, wenn sie sich durch eine beeindruckende Figur vom
unmittelbaren Konkurrenten abheben. Eine Studie hat sich das
zweifache Bewertungssystem nach »Schwierigkeitsgrad« und
»Ausführung« zunutze gemacht, das nach dem Bewertungsfiasko bei
den Olympischen Spielen 2014 in Athen eingeführt wurde, und dabei
eine sogenannte »Schwierigkeitsverzerrung« entdeckt. 10 Eigentlich
sollen beide Wertungen unabhängig voneinander erfolgen, doch
wenn die Turner schwierigere Figuren wagten, so die Studie,
wurden die Ausführungspunkte »künstlich aufgebläht«.
Doch mehr als die besonderen Anstrengungen der Sportler, so die
deutschen Forscher Thomas Mussweiler und Lysann Damisch, sind
es wohl Bewertungsverzerrungen, die die Punkte nach oben gehen
lassen. So fiel den Forschern zunächst auf, dass Turner tendenziell
höher bewertet wurden, wenn »der vorige Turner eine eher gute als
schlechte Leistung zeigte«. 11 Auch hier könnte sich der Turner noch
angepasst haben: Wenn sein Vorgänger schlecht abgeschnitten hat,
geht er vermutlich »auf Nummer sicher«, um eine solide Punktzahl
zu erzielen, und »setzt nicht alles aufs Spiel«.
Mussweiler und Damisch sehen hier jedoch noch anderes am
Werk. Denn bei vergleichenden Bewertungen achten wir, so die
Forscher, instinktiv auf Ähnlichkeiten oder Unterschiede. Unser
Augenmerk liegt normalerweise stärker auf den Ähnlichkeiten,
»einem wichtigen Baustein menschlicher Wahrnehmung«, so
Mussweiler, weil das sehr nützlich, aber auch schnell und einfach
sei. 12 Man muss vor allem Kindern nicht erst erklären, dass es beim
Puzzle um Ähnlichkeiten geht. Wenn wir jemand Neues
kennenlernen, erinnert er oder sie uns möglicherweise sofort an
Bekannte, aber wir achten nicht darauf, was die Person von anderen
unterscheidet. Und selbst wenn wir nach Unterschieden suchen,
schauen wir meist zuerst, wo die Ähnlichkeiten liegen. Unsere erste
unbewusste Frage, ob etwas eher ähnlich oder anders ist,
beeinflusst zutiefst, wie uns etwas gefällt. Wenn uns etwas ähnlich
wie anderes scheint, neigen wir zur »Assimilation«: Wir mögen es
dann tendenziell lieber. Ein guter Wein schmeckt besser, wenn man
ihn nach einem phantastischen Wein trinkt. Wenn wir dagegen vor
allem Unterschiede zu anderem bemerken, kommt es zum
»Kontrast«. Preisrichter achten, anders als Laien, also im Grunde
auf das, was ihnen nicht gefällt. 13
Für einen anderen Versuch führten Mussweiler und Damisch
mehreren in Turnwettkämpfen erfahrenen deutschen Punktrichtern
Videos mit zwei einfachen Sprüngen vor. Die Richter wurden dabei
in zwei Gruppen unterteilt: Die einen sahen eine sehr gute, die
anderen eine eher schlechte Leistung. Beide Gruppen sahen zudem
eine »mittlere«, also recht gute Leistung. Dann gab es noch eine
Unterteilung: Der einen Richtergruppe wurden die Turner der
beiden Übungen als »Australier« präsentiert. Den anderen
präsentierte man dagegen einen »australischen« und einen
»kanadischen« Turner – wobei auf beiden Videos in Wahrheit
dieselben Turner zu sehen waren. Bei diesem Versuch entdeckten
die Forscher einen interessanten Effekt: Wenn beide Turner
»Australier« waren, profitierte der zweite Turner punktmäßig von
der guten Leistung des ersten, kam er dagegen nach der schlechten
Leistung an die Reihe, sank seine Bewertung. Als Australier wurde
er von den Preisrichtern offenbar mit seinem Vorgänger in
Verbindung gebracht – im Guten wie im Schlechten. War der zweite
Turner aber angeblich ein »Kanadier«, drehte sich der Effekt um:
Nun bekam er weniger Punkte, wenn er nach dem guten
»Australier« bewertet wurde, aber mehr Punkte nach der
schlechten Vorgängerleistung. 14 Kurzum, dieselbe Leistung wurde je
nach Leistung des Vorgängers und nach der Verbindung, die die
Richter zwischen ihnen herstellten, unterschiedlich bewertet. Die
Turner wurden nicht nur hinsichtlich ihrer Leistung, sondern
gewissermaßen auch hinsichtlich ihrer Nationalität verglichen und
bewertet, was ihnen zum Vor- oder Nachteil gereichen konnte.
Ehe die deutschen Punktrichter zur eigentlichen Bewertung
übergingen, hatten sie also schon eine Bewertung durch die
Bewertung der Ähnlichkeit beider Turner vorgenommen. Dass beide
Sportler »unterschiedlichen« Nationalitäten angehörten, war zwar
keine bewusste qualitative Bewertung, aber die Bewertung fiel
schon allein dadurch anders aus. 15
Offenbar leidet der Mensch an einer »Ähnlichkeitsverzerrung«,
weil er möchte, dass sich die Menschen, denen er begegnet, ähneln.
Wenn sich etwas unserer Meinung nach ähnelt, wird es sogar
buchstäblich ähnlicher. Dank des sogenannten »Cheerleader-
Effekts« halten Probanden Personen für attraktiver, wenn sich diese
in einer Gruppe befinden, als wenn sie allein sind. 16 Macken, die
jemand als Einzelner haben mag und die Gefühle der Abneigung
hervorrufen können, werden durch die Gruppe offenbar abgemildert
oder weniger auffällig. Darum hält man Personen auf einem Video
auch für attraktiver als auf einem Foto: Unser Urteil hängt so nicht
von einem einzigen Top- oder Flop-Eindruck ab. 17
Doch nicht nur in Wettkampfsituationen zeigen sich solche
Effekte. Wir stellen laufend Vergleiche an, die Einfluss darauf
nehmen, wie wir etwas finden, auch uns selbst. Und häufig ist uns
gar nicht bewusst, dass wir gerade vergleichen. So bat Mussweiler
Studenten für eine andere Studie, sich eine Minute lang Gedanken
über ihre »sportlichen Fähigkeiten zu machen«. Auf einem
Computerbildschirm blitzten derweil fünfzehn Millisekunden lang,
also unterschwellig, Fotos auf. Die Studenten konnten sich zwar
nicht daran erinnern, Fotos von Michael Jordan oder Bill Clinton
gesehen zu haben, trotzdem wurde die Selbsteinschätzung ihrer
sportlichen Fähigkeiten davon beeinflusst, mit wem sie sich
unbewusst verglichen. Je »extremer« der Vergleich, also der mit
Jordan, desto schlechter fanden sie sich. Hatten sie dagegen einen
Blick auf Bill Clinton erhascht, »verbesserten« sich ihre sportlichen
Fähigkeiten. »Die Teilnehmer verglichen sich mit einer potentiellen
Norm«, so Mussweiler, »ohne dass es ihnen bewusst war.«18
Es kommt also darauf an, womit wir etwas vergleichen. In einer
Studie von Tversky sollten sich die Probanden entweder für sechs
Dollar oder einen »eleganten Cross-Kugelschreiber« entscheiden,
dessen Wert nicht beziffert wurde, aber höher liegen dürfte als
sechs Dollar. Ein knappes Drittel entschied sich für den Kuli, alle
anderen nahmen lieber Bargeld. Eine zweite Probandengruppe
sollte dagegen zwischen dem Cross-Kuli, dem Bargeld und einem
anderen »deutlich unattraktiveren« Stift wählen. Jetzt wollten
deutlich mehr Leute den Cross-Kugelschreiber. Der weniger
attraktive Stift hatte den attraktiven Stift noch attraktiver
erscheinen lassen. Doch es kann auch der umgekehrte Fall
eintreten. So waren Männer bei Speed-Dating-Experimenten,
unabhängig davon, wie attraktiv sie eine Frau fanden, weniger an
einem Treffen interessiert, wenn die Vorgängerin in der Dating-
Runde attraktiver war. 19
Außerdem kommt es darauf an, wie wir etwas vergleichen. Wenn
man darauf achtet, durch welche positiven Merkmale sich
nacheinander dargebotene Dinge unterscheiden, schneiden die
letzten Optionen, wie erwähnt, besser ab. Konzentriert man sich
aber bei dem Vergleich auf die herausragenden Negativmerkmale,
erscheinen auf einmal die ersten Optionen als die besseren.
So präsentierte man etwa den Probanden einer Studie eine Liste
mit den Eigenschaften potentieller Blind-Date-Kandidaten. 20 Besaß
der zweite mögliche Kandidat auf der Liste positive Qualitäten, die
dem ersten fehlten, fiel die Wahl auf den zweiten Kandidaten. Hatte
der zweite Kandidat aber negative Eigenschaften, die sich von
denen des ersten unterschieden, bevorzugten die Probanden den
ersten Kandidaten. Weil man sich an die positiven Qualitäten der
Kandidaten mit derselben Deutlichkeit erinnere, so die Autoren der
Studie, würden im Gedächtnis die Qualitäten des einen durch die des
anderen gelöscht. Es stehe uns auf einmal sonnenklar vor Augen,
was den zweiten Kandidaten vom ersten unterscheide, und die
herausragenden Qualitäten des zweiten scheinen uns darum besser.
Doch auch die negativen Eigenschaften des zweiten Kandidaten
kommen uns schlimmer vor als die des ersten, so dass wir dabei
umgekehrt den ersten vorziehen.

»Die Bewertung einer Erfahrung«, schreiben die Autoren einer


Studie der Carnegie Mellon University, »kann unsere Bewertung
nachfolgender Erfahrungen ungebührlich beeinflussen und somit
eine ganze Abfolge von Erfahrungen ›einfärben‹.«21 Was wir für
ziemlich unumstößliche Vorlieben halten, kann sich darum manchmal
im Handumdrehen verändern.
Betrachten wir einmal das »anerkanntermaßen objektivierende«
Gedankenspiel »11th Person«, frei übersetzt »Elfter sein«, das von
dem Interaktionsdesigner Chris Noessel entwickelt wurde: Dazu
wählen Sie, wenn Sie sich das nächste Mal auf einem öffentlichen
Platz befinden, eine beliebige Eingangstür und bitten einen Freund,
eine der zehn Personen, die als Nächste durch die Tür spazieren,
zum potentiellen Dating-Partner zu erwählen. Es gibt dabei nur
zwei Regeln: Sie dürfen keinen im Nachhinein wählen, den Sie schon
haben passieren lassen, und wenn Sie keinen der zehn erwählen,
fällt die Wahl unweigerlich auf den elften.
Wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben, handelt es sich um einen
Wettkampf mit Wertung nach jedem Kandidaten. Anders als bei
anderen Wettbewerben kann man also nicht mehr »zurückgehen«.
Für Richter ist es übrigens, wie psychologische Studien zeigen,
häufig schwer, »zurückzugehen« und angesichts der späteren
Teilnehmer eine Neubewertung der früheren Kandidaten
vorzunehmen. Und es wird umso schwieriger, je länger die Liste ist
und je mehr Kandidaten den Wettkampfstandard auf »Reset« setzen.
Bei dem Spiel »Elfter sein«, so Noessel, wurden die potentiellen
Kandidaten zunächst entschieden abgelehnt. Doch je näher der
mögliche Elfte rücke und je stärker die Zahl der Optionen
schrumpfe, desto weniger suchten die Leute nach möglichen
Mängeln und desto mehr stattdessen nach dem, was »an der Person
okay sein« könnte. Aus dem leicht hilflosen Grinsen wurde ein
gewinnendes, zauberhaftes Lächeln. Durch die veränderte Wahl
ordneten sich Vorlieben und Suchstrategie plötzlich neu. 22 Der
Standard hatte sich verändert.
Moormann war sich in Paris der möglichen Fallstricke sehr wohl
bewusst, die der Katzenvergleich vor allem dann bereithielt, wenn
die Tiere für das normale Auge ununterscheidbar waren. Beim
Wettbewerb müssen die Katzen zuerst in Kategorien unterteilt
werden: gut, sehr gut und exzellent. Eine natürliche »Stückelungs«-
Übung, um Gedächtnis und Unterscheidungsfähigkeit zu verbessern.
Doch schon die Gruppeneinteilung lässt die Tiere womöglich
ähnlicher scheinen, als sie eigentlich sind. So schreibt Tversky: »Die
Ähnlichkeit dient als Grundlage der Objektklassifizierung, doch wird
die Ähnlichkeit wiederum durch die gewählte Klassifizierung
beeinflusst.«23 Die beste »gute« Katze ist von der schlechtesten
»exzellenten« Katze vielleicht gar nicht so weit entfernt, wird aber
nun durch den Vergleich mit anderen in ihrer Gruppe besser oder
schlechter bewertet.
Was ist aber, wenn es viele fast identische gute Katzen gibt? »Das
ist nicht leicht«, antwortet Moormann seufzend. Die Katzen
erhalten gewichtete Punkte für bestimmte Merkmale, und die
»Untermerkmale« einer Katze, so Moormann, »müssen gleichzeitig
mit allen Untermerkmalen der anderen Katzen in der Gruppe
verglichen werden«. 24 Das sei ein »gewaltiges geistiges
Unterfangen«. Katzenausstellungen finden zudem nicht im
Nirgendwo statt. Katzen bewegen sich, Besitzer meckern,
Zuschauer glotzen, und dazu noch das allgemeine Tohuwabohu und
die typische Geräuschkulisse einer Ausstellung. Wenn man Katze auf
Katze auf Katze prüft, »kann ein durchschnittlicher Richter
vermutlich nicht mehr als drei Merkmale gleichzeitig erfassen«.
Manche Richter, so Moormann, fällen ihr Urteil vermutlich »allein
aufgrund der Kopfform«.
Und über all dem lauert der Standard. Wie jede Rasse auszusehen
hat, ist schriftlich und in beträchtlicher Ausführlichkeit festgelegt.
Die Richter, so Moormann, würden auf allgemeine Merkmale
achten, »ob die Katze ansprechend aussieht oder ob die Linien
stimmen«, aber jede Rasse besitze ja ihre eigenen Qualitäten. Als
ich an jenem Nachmittag neben Moormann saß, blätterte ich durch
das Buch mit dem Rassenstandard. Ein seltsames Dokument. Die
Schönheitsvorschriften sind peinlich genau: So darf die Chausie
»einige Flecken und Tupfen am Bauch« aufweisen, diese dürfen
aber, so der mahnende Hinweis, »nicht das Ausmaß von
Bauchflecken« haben. Die Burmakatze dagegen darf »keinerlei
Anzeichen von Feistheit, Fettleibigkeit, Schwäche oder Apathie«
zeigen. Bei der einen Rasse sind »lange, wippende Schwänze«
erwünscht, bei der anderen wären sie ein Ausschlusskriterium.
Je länger ich in dem Buch blätterte, desto mehr Zweifel tauchten
auf. »Die ideale Bombay-Katze«, las ich, »sieht unverwechselbar
aus.«25 Aber galt das nicht für jede Rasse? Warum sollte es sonst
mehrere Rassen geben? Oder wie bewertete man einen »lieblichen
Ausdruck«?
»Glauben Sie nicht alles, was da steht«, hatte mich Moormann
gewarnt. 26 »Die Katzenwelt ist phantasiebegabt und liebt
Geschichten.« In der »Vogelwelt«, erklärte er mir später – ja, dieser
Universalgelehrte hat auch schon Vögel bewertet –, gehe es
»wesentlich wissenschaftlicher« zu. »Die Katzenwelt liebt den
Firlefanz.« Und dann sagte er allen Ernstes: »Ein Standard macht
noch keine Katze.« Aber wer oder was macht dann den Standard?

Was Katzenrassen betrifft, lautet eine einfache, wenngleich nicht


immer offensichtliche Tatsache: Sie sind die Geschöpfe menschlicher
Vorlieben.
Als der Mensch vor über zehntausend Jahren zwischen Euphrat
und Tigris sesshaft wurde, folgten ihm Mäuse und andere
Schädlinge auf dem Fuße. Auch die Wildkatzen ließen nicht lange
auf sich warten, denn wo es Menschen gab, gab es auch Mäuse und
Ratten. Aber der Mensch wollte keine großen, gefährlichen Katzen.
Das war der erste selektive Druck durch unsere Vorlieben. Während
Ratten im Zusammenleben mit dem Menschen größer wurden, so
die Autorin Sue Hubbell, schrumpften die Katzen. 27
Möglicherweise gefiel uns, wie die Katzen aussahen: die großen,
runden Augen oder die hohe Stirn. Doch anders als Hunde, die der
Mensch für bestimmte Aufgaben züchtete, taten Katzen schon sehr
effektiv, was wir wollten: Mäuse fangen. Und seien wir ehrlich,
Katzen haben wohl auch wenig Lust, andere Aufgaben für uns zu
übernehmen. 28 So blieb neben der Größe als Selektionsdruck nur
die Schönheit, so Leslie Lyons, Professorin für Veterinärmedizin.
Wir blätterten quasi durch den Modekatalog der Natur und
zermarterten uns darüber den Kopf, welche Fellfarbe oder
Schwanzlänge uns lieber wäre.
Einige Katzen wurden zwar schon vor langer Zeit beschrieben,
doch erst mit der aufkommenden Tier-»Liebhaberei« im
viktorianischen England des 19. Jahrhunderts gerieten die
Katzenrassen ins Visier. Nun wurden, wie das Wort verrät, Tiere
nicht mehr für bestimmte Zwecke gezüchtet, sondern um uns zu
gefallen. Und schon mit der ersten Katzenausstellung 1871 im
Londoner Crystal Palace entwickelte sich daraus ein gigantisches
Gewerbe, das die Zucht und Definition idealer Katzenrassen zu
seiner Aufgabe erkor. So schrieb Harrison William Weir, unter
anderem Maler, Geflügelzüchter und »Vater der
Katzenliebhaberei«, 1889 in seinem Buch Our Cats and All About
Them: »Da die Katze nun zum Liebhabertier geworden ist, dürfen
wir nun gänzlich unvorhersehbare Formen, Farben, Zeichnungen
oder andere Varianten durch jene erwarten, die wissen, was eine
sorgfältige, durchdachte Zucht und geschickte Zuchtwahl
vermögen.«29
Doch was machte eine gute Katze aus? Was war eine sorgfältige,
durchdachte Zucht, und wer entschied, wenn nicht die Natur, was
eine geschickte Zuchtwahl war? Die neuen Schönheitsregeln
wurden von Katzenliebhabern wie Weir aufgestellt, die manchmal
eher wie Innenarchitekten klangen: Die »weiße Kurzhaarkatze«
sollte »blaue Augen besitzen. Grüne Augen sind ein Fehler, Hellgelb
ist zulässig … Orange wirkt schwer, aber Gelb passt gut und sieht
bei einer grauweißen Katze gut aus.« Diese »Punkte« besaßen »die
Macht einer Offenbarung«, wie der Naturwissenschaftler Walker
Van Riper ironisch feststellte. 30
Weil die Form beim Schwanz im Wesentlichen von der Funktion
befreit war, hatten die Züchter hier quasi eine Tabula rasa. 31 Das
einst kaum beachtete reinrassige Tier war plötzlich zum Lifestyle-
Accessoire geworden und verkörperte die starke Sehnsucht nach
sozialer Distinktion einer ob der sozialen Durchlässigkeit besorgten
viktorianischen Gesellschaft. Die Tierzucht war die logische
vierbeinige Folge der »vernünftigen Zucht«, die Francis Galton und
andere Eugeniker für den Menschen postulierten. 32 Hunde mussten
oft stellvertretend für menschliche Rassetheorien herhalten. 33 Der
Hund konnte den Menschen aufwerten, aber der Mensch auch den
Hund. Hunde wurden als standesgemäße Begleiter gezüchtet.
Nehmen wir etwa die Bulldogge. 34 Sie galt, so die Historikerin
Harriet Ritvo, zunächst keineswegs als nobler Begleiter, sondern als
»stierhetzender«, »blutrünstiger« Kampfhund, der »nicht so klug«
war wie Jagdhunde. Doch man konnte die einst verdächtige Rasse
durch sorgfältige Zuchtwahl, wenngleich dabei einige funktionale
Fähigkeiten auf der Strecke blieben, genetisch umbauen und erhielt
so ein geachtetes Mitglied der höflichen Hunde- und
Menschengesellschaft, ein Gütesiegel des englischen Gentlemans.
Die Tierliebhaber diskutierten aber, wie heute auch, nicht nur
darüber, was ein Tier zu einem guten Vertreter von Rasse X machte,
sondern auch, wie Rasse X beschaffen sein sollte. Bei der Bulldogge
aus dem 19. Jahrhundert, so Ritvo, wurde ȟber fast jedes Merkmal
gestritten«. Während etwa für die einen die fleischfarbene Nase der
Inbegriff des Bulldoggenwesens war, war sie für die anderen ein
Ausbund an Bulldoggenhässlichkeit.
Verhandelt wurde der menschliche Geschmack, mit der Bulldogge
hatte das wenig zu tun. Daher das Problem, einen schriftlichen
Standard für Aussehen oder Wesen eines Tiers festzulegen. Heutige
Preisrichter wissen, wie problematisch der Standard ist, und
Rassestandards sind in ihren Formulierungen daher sehr vorsichtig.
So heißt es im Vorwort zu den Ausstellungsrichtlinien eines
Katzenliebhaberverbands: »Der Standard beschreibt keine lebende
Katze. Bei dem Standard handelt es sich vielmehr um ein
künstliches Ideal, das niemals vollständig erreicht werden kann.«35

Nehmen wir beispielsweise die Perserkatze, ein besonders


deutliches Beispiel dafür, was passiert, wenn sich unser Geschmack
wandelt und mit dem launenhaften Rassestandard eine Liaison
eingeht. Die Perserkatze ist das Urtier der Katzenliebhaberwelt.
Bei der ersten Katzenausstellung im Crystal Palace 1871 ging die
höchste Auszeichnung an eine Perserkatze. Queen Victoria
höchstpersönlich besaß ein blaues Perserkatzenpaar. Und dem
berühmten Perserkater Silver Lambkin, einem Chinchilla, widmete
The New York Times sogar einen Nachruf: »Seine Nachfahren
werden, wo immer Katzen gezüchtet werden, eine führende Position
einnehmen.«36 Die sterblichen Überreste des Katers befinden sich
bis heute im British Museum.
Doch heute in Paris würde man diese Perserkatzen kaum mehr als
solche anerkennen. Betrachtet man eine Perserkatze von damals
und eine von heute, würde man beide kaum für ein- und dasselbe
Tier halten. Die Katze, so Moormann, sei heute insgesamt
»gedrungener« – was Katzenliebhabersprache ist und »untersetzt«
heißt. Das Gesicht sei flacher, die Nase wesentlich kürzer und
außerdem wie bei einer Eule häufig zusammengequetscht. Wenn
man uns bäte, eine Katze zu zeichnen, sie sähe wohl anders aus. 37
Am furchtbarsten seien, so mahnt das Journal of Feline Medicine
and Surgery, die sogenannten brachyzephalischen Katzen: »Sie sind
eine Verfälschung all dessen, was eine Katze so besonders
macht.«38 Man wundert sich, dass diese Katzen nicht etwa unter
einem Geburtsfehler oder Missbildungen leiden, sondern über
Generationen sorgfältig gezüchtet wurden. Doch obwohl sich die
Perserkatze, so Moormann, »beträchtlich verändert« hat, hat sich
»der schriftliche Standard kaum gewandelt«.
Was ist also passiert? Wieso hat sich die Katze aus Fleisch und
Blut so stark verändert, aber nicht die Katze auf dem Papier? Den
Preisrichtern fällt eine Erklärung schwer. »Die Veränderungen sind
immer nur minimal«, sagte Vickie Fisher, Präsidentin der
International Cat Association. »Und ständig wird darüber diskutiert,
wer dafür verantwortlich ist: die Züchter oder die Richter, die
bestimmte Merkmale bevorzugen.« Als sie noch Main-Coon-Katzen
gezüchtet habe, »besaßen einige Exemplare sehr lange Ohren. Der
Standard fordert große Ohren.« Doch was heiße groß? Die Ohren
würden nicht nach Millimetern vermessen. Aus groß wurde also
größer. Wenn einige wenige Rassemerkmale zu stark hervortreten
und das Erscheinungsbild der Katze beeinträchtigen, sprechen die
Richter von »Übertypisierung«. Mitunter leiden die Züchter an
»Katzenblindheit«, weil sie so in ihre Katzen verliebt sind, dass sie
nicht merken, wie weit sie sich vom Standard entfernt haben.
Aber wenn nicht der Standard das neue Erscheinungsbild der
Perserkatze hervorbrachte, was dann? Wirkte die neue Perserkatze
möglicherweise »süßer« und entsprach besser dem
Kindchenschema von Konrad Lorenz?39 Oder lag es einfach an dem
»Ratchet-Effekt« von Lieberson, also an einer zufälligen Mutation,
die einen Geschmackswandel zur Folge hatte? Oder war es das
Neue, das reizte? Louise Engberg, dänische Züchterin
»traditioneller Perserkatzen«, vermutet, dass in den 1980er-Jahren,
als die Katze in den Ausstellungshallen auftauchte, »einfach jeder so
eine Katze haben wollte«. Dass sie alle Preise abgeräumt habe,
zeige, dass die »Richter eine ziemlich radikale Kehrtwende bei der
Bewertung vollzogen haben«.
Doch Katzenrassen können sich in nur wenigen Generationen
beträchtlich verändern. Woher rührt so ein plötzlicher, radikaler
Wandel nach einem Jahrhundert, in dem die Rasse ziemlich
unverändert war? Das könne an den zahllosen neuen Rassen liegen,
die auf den Ausstellungen zu sehen seien, sagte Engberg. Je mehr
Rassen es gebe, »desto mehr muss sich die eine von der anderen
abheben. »Mit der Entwicklung zu einer Perserkatze mit kürzerer
Nase«, so Vickie Fisher, »wollten die Leute der Katze nicht bewusst
schaden. Aber sie machten einfach immer weiter. Man dreht das
Rad nicht zurück.«
Tversky würde sagen: Der Fixpunkt hat sich verändert. Die Katze
mit dem zerknautschten Gesicht ist nach und nach zur »Referenz«
für die Beurteilung anderer Katzen geworden. Zunächst fällt
irgendeinem Richter die Katze mit der kurzen Nase auf, und sie
gewinnt. Nun suchen einige Züchter bewusst nach Katzen mit
kurzer Nase. Und je mehr die Züchter die neue Perserkatze im
Blick haben, umso mehr gewöhnen sie sich daran, und irgendwann
erscheint sie ihnen nicht mehr neu.
Wie es die Ironie des Schicksals will, ist die Beliebtheit der
Perserkatze in den letzten Jahren in den Keller gegangen.
Anscheinend empfinden die Leute die übermäßige Typisierung nun
als oberflächliche Modeerscheinung. »Vor einigen Jahren noch
waren 70 Prozent aller Katzen Perserkatzen«, sagte Moormann in
Paris. »Heute sind es vielleicht noch 30.« Wieso? »Der Zeitgeist,
das, was in den Köpfen der Leute ist. Sie wollen diesen künstlichen
Kram nicht mehr. Sie wollen natürliche Katzen.« Perserkatzen, die
zudem jeder Menge Pflege bedürften, seien, so Fisher, »nichts für
schwache Nerven«. Nur Russland, so Moormann, bilde beim Trend
zur natürlichen Katze eine Ausnahme. »In Russland liebt man
auffällige Katzen mit seltsamen Ohren oder kurzen Beinen.
Exzentrische Katzen, bloß keinen Durchschnitt, weil es ja zu
Sowjetzeiten nichts als Durchschnitt gab.«
Als ich zu bedenken gab, dass sich die heutigen Katzen von den
einst abenteuerlustigen Mausejägern der Getreidespeicher
hoffnungslos entfernt hätten, was ja mit natürlicher Selektion nichts
mehr zu tun habe, zuckte Moormann nur mit den Schultern und
sagte: »Und was ist dann mit den Models in der Modewelt? Mit
ihren weit auseinanderstehenden Beinen und den Oberschenkeln,
die genauso dürr sind wie die Unterschenkel? Sieht das natürlich
aus?«

Das Problem eines allgemeinen Standards beschränkt sich jedoch


nicht auf die aufgeheizten, stickigen Wettkampfarenen von
Tierliebhabern. Da wäre etwa auch noch die scheinbar verschlafene
Welt der Bodenbeurteilung. Sie wussten gar nicht, dass es eine
»Welt der Bodenbeurteilung« gibt, oder? Dabei ist die Begutachtung
von Bodeneigenschaften und -qualitäten bei allem, wo es auf das
Erdreich ankommt, eine wichtige, hoch gefragte Aufgabe: Ist das
Straßenbett ausreichend stabil? Eignet sich die Agrarfläche eher für
Weizen oder Gerste? Es gibt Ausbildungsstätten, Ausbilder und
sogar eine US-Meisterschaft der Bodensachverständigen. Die
Virginia Tech und Kansas State University sind in den USA die
unumstrittenen Elite-Adressen. Eigentlich schade, dass die US-
Meisterschaft nicht »Schmutz-Bowl« heißt.
James Shanteau, emeritierter Professor für Psychologie an der
Kansas State University, hat Studien zu Bodengutachtern und
anderen Fachleuten durchgeführt. Es sei teuer und zeitaufwendig,
erklärte er mir, Bodenproben an ein Labor zu schicken, das diese
dann maschinell auswertet. Daher brauche man Bodengutachter, die
nach der sogenannten »Fühlmethode« vorgingen: Sie sieben das
Erdreich, zerdrücken es auf der Handfläche, zerreiben es und
streichen es mit Wasser glatt. Danach ordne der
Bodensachverständige das Erdreich einem von zwölf Bodentypen
des sogenannten Dreiecksdiagramms zu. Manche Sachverständige
nähmen den Begriff des Terroir sogar sehr ernst und die Erde in den
Mund. »Nicht wegen des Geschmacks«, so Shanteau. »Sie
untersuchen die Erde mit Zunge und Zähnen auf Sand und Lehm.«
Vielleicht haben Sie auf einer Nutztierschau schon mal gesehen,
wie jemand ein Tier prüft, und sich gewundert, was er da genau
prüft. Die Antwort lautet: jede Menge. Studien zu Fachleuten
belegen, dass ihre Entscheidungen auf sechs informativen
»Faktoren« beruhen. Manche Preisrichter, so hat Shanteau
festgestellt, begutachten Jungsäue sogar nach elf informativen
Faktoren, von der »Schinkendicke« bis zur »Freiheit des Gangs«.
Anders als unerfahrene Gutachter wissen sie vor allem, welche
Informationen sie unbeachtet lassen können. Und das inmitten einer
schlammigen Arena voll zappeliger Schweine. Ein Computermodell
zu entwickeln, das das Verhalten der Richter abbildet, scheiterte
daran, so Shanteau, »dass die verdammten Schweine nicht
stillhielten«.
Allerdings heißt das nicht, dass Preisrichter nicht anfällig für
Verzerrungen oder irrelevante Informationen wären. So hörte
Shanteau etwa von einem Preisrichter, dass mancher Richter
offenbar Schweine mit Ringelschwänzchen mag. »Ist das
Ringelschwänzchen denn wichtig?«, fragte Shanteau.
»Wahrscheinlich sieht das Schwein dann so aus, wie sich viele ein
Schwein vorstellen«, erhielt er zur Antwort. Manche Richter, so
Shanteau, fanden Schweine auch »süß«. Das erinnert an eine
Bemerkung von Edmund Burke über das Erhabene: Reine
»Geschicklichkeit« reiche zur Begründung von Schönheit nicht aus.
»Denn nach diesen Grundsätzen«, so schrieb er, »müßte die
keilförmige Schnauze eines Schweins, mit ihren zähen Knorpeln an
der Spitze, müßten seine kleinen tiefliegenden Augen, und das ganze
Gemächte seines Kopfes, daß zu dem Geschäffte desselben, dem
Durchwühlen und Umgraben der Erde, so geschickt ist, ausnehmend
schön seyn.«40
Man sollte meinen, dass die Bewertung von Nutztieren, anders als
die von Liebhabertieren, unabhängig von Geschmacksvorlieben ist,
schließlich handelt es sich um Nahrung und nicht um Mode. Doch
auch die Vorstellung vom idealen Schwein hat sich im Lauf der Jahre
gewandelt, weil sich unsere Vorlieben gewandelt haben. Heute
wollen wir schlankere Schweine verzehren. Die fetten Schinken der
Studien aus den 1970er Jahren sind, so Shanteau, heute genauso
»überholt« wie manche menschliche Rundung, die man noch in alten
Zeitschriften sehen kann, aber heute nicht mehr gefragt ist. 41
Was macht nun einen guten Preisrichter oder Sachverständigen
aus? Erstens Vertrauen. Shanteau zufolge müsse ein Experte
andere davon überzeugen können, dass er ein echter Experte ist.
Auch gute Richter mögen kleine Fehler machen, aber »große Fehler
unterlaufen ihnen im Allgemeinen nicht«. Fachleute können zudem in
begründeten Ausnahmefällen »von ihren Entscheidungsmustern
abweichen«. Unerfahrene Gutachter hielten sich dagegen auch dann
stur an die Regeln, wenn es nicht angebracht sei.
Am wichtigsten für einen Sachverständigen sei es aber, so
Shanteau, dass er Informationen richtig erfassen könne. Wenn man
Neulingen detaillierte Informationen zu einem Tier gebe, sei ihre
Bewertung genauso gut wie die von Experten. »Aber«, so schrieb
Shanteau, »der Nutztierexperte erkennt Informationsmuster, die
dem Neuling verborgen bleiben.«
Ich erinnere mich etwa daran, um bei einem einfachen Beispiel zu
bleiben, wie mich ein Grafikdesigner zu meinem großen Erstaunen
auf den Pfeil im FedEx-Logo hinwies, zwischen dem E und x. Der
Pfeil war mir bislang nicht aufgefallen, aber heute kann ich gar nicht
anders, als ihn sehen. Vielleicht war er in meinem Unterbewusstsein
sogar schon immer da, und FedEx erschien mir darum als ein so
prompter Kurierdienst? Ein Grafikfachmann kann einem mit
Sicherheit einiges über das Logo-Design verraten, in allen seinen
Kategorien wie Unterschneidung, also dem Raum zwischen den
Buchstaben, Gewichtung oder Striche.
Weil wir der Welt eine verständliche Form geben wollen, stecken
wir alles in Kategorien, aber die Kategorien formen auch uns.
Sachverständige oder Preisrichter fällen ihr Urteil nach bestimmten
Kriterien, werden aber ihrerseits nach diesen Kriterien beurteilt. Je
mehr Fachwissen wir besitzen, umso mehr Kategorien bilden wir.
Ein Sachverständiger oder Preisrichter sieht und ordnet die Welt,
zumindest seinen kleinen Ausschnitt daraus, anders als Sie und ich.
Meistens arbeiten wir lediglich auf einer Abstraktionsebene, die
die Psychologie »Grundstufe« nennt. Wir wenden im Alltag
üblicherweise unsere Basiskategorien an: Hast du gesehen, wie
schnell der Wagen gefahren ist? Möchtest du Rotwein oder
Weißwein? Wenn eine Durchschnittsperson und ein begeisterter
Vogelbeobachter beschreiben sollen, was sie auf einem Vogelbild
sehen, erhält man allerdings unterschiedliche Antworten: »einen
Vogel« oder »eine Schwarzkopfmeise«. Der Vogelkenner hat den
Vogel in eine »Unterkategorie« eingeordnet, und ein Preisrichter
würde sogar noch weiter gehen und mehrere Faktoren bewerten.
Unser Blick auf die Welt ist überraschend tief in unserer Psyche
verankert. In ihrem Fachbereich halten sich Experten, so die
Psychologen James Tanaka und Marjorie Taylor, nicht lange mit der
Grundstufe auf. 42 Denn sie können auf Unterkategorien genauso
schnell zugreifen wie auf Basiskategorien. So können erfahrene
Vogelbeobachter genauso viele Unterschiede zwischen Krähe und
Rotkehlchen aufzählen wie zwischen Vogel und Hund und erkennen
auf einem Rotkehlchenbild schneller, dass darauf kein Spatz als kein
Hund zu sehen ist.
Ihr Blick auf die Welt wird also durch ihr Wissen bereichert (und
umgekehrt). Aber das ist noch nicht alles. Experten müssen auch
darüber reden können.

Sie möchten Geschmacksexperte werden?


Wie man erkennt, was auf der Zunge liegt

Ganz fix, wie schmeckt eine Karotte?


Geben Sie’s zu, das ist Ihnen schwergefallen. Sie schmeckt
»fröhlich«, dachten Sie vielleicht. Doch »fröhlich« ist nicht wirklich
eine Geschmacksempfindung. Vielleicht ist Ihnen »knackig« durch
den Kopf gegangen. Das bezieht sich aber auf die Textur. Oder ist
auch die Farbe Orange in Ihrem Kopf aufgetaucht? Sie hat auch
nichts mit dem Geschmack zu tun. Manche Karotten sind nicht
einmal orange. Gemüseartig vielleicht? Dass gilt leider für zig
andere Gemüsesorten genauso.
Wahrscheinlich sind Sie irgendwann zu dem Schluss gekommen,
dass sie einfach karottig schmeckt. Doch erinnern Sie sich noch an
die Hausaufgaben aus Kapitel eins? Karottig ist ein
Gesamteindruck, nicht der Geschmack auf der Zunge, das simple
Verhältnis von süß, salzig usw. Das muss Ihnen aber jetzt nicht
peinlich sein. Wenn professionelle Geschmackstester, die ja in der
sensorischen Bewertung von Karotten geübt sind, die
Geschmackseigenschaften von Karotten in Studien beschreiben
sollen, taucht an prominenter Stelle stets karottig auf.
Klar, ein bisschen besser sind die Experten schon, weil sie
Begriffe wie »harzig« oder »erdig« oder »Nelken« hinzufügen. Doch
offenbar können auch geschulte Geschmackstester von der Idee
nicht lassen, dass eine Karotte nach Karotte schmeckt. 43
Über Geschmack zu reden ist offensichtlich schwer. Das
beunruhigte, schon lange vor den Leuten in der
Lebensmittelindustrie, auch Philosophen wie John Locke. So
schreibt er in seinem Versuch über den menschlichen Verstand,
nachdem er angemerkt hat, dass den meisten Gerüche »die Namen
fehlen«: »Auch sind die verschiedenen Geschmacksarten, von denen
wir durch unseren Gaumen Ideen erhalten, kaum besser mit Namen
versehen. Süß, bitter, sauer, herb und salzig sind beinah die einzigen
Eigenschaftsworte, die wir haben, um die unendliche
Mannigfaltigkeit von Geschmacksempfindungen zu bezeichnen.«44
Das liege zumindest teilweise daran, so der
Wissenschaftshistoriker Steven Shapin, dass unser Geschmack
traditionell eher gering geachtet wurde. Geschmack galt weniger
als ein raffinierter Weg zum leiblichen Genuss, sondern als ein
Mittel, um zu gewährleisten, dass Nahrungsmittel genießbar und
unbedenklich waren.
Gourmets und Lebensmittelhersteller mit feinerem Geschmack
gab es natürlich schon immer, aber erst im 20. Jahrhundert
entwickelte sich daraus eine angewandte Wissenschaft. Als die
Lebensmittel zum globalen, industriellen und standardisierten
Produkt wurden, mit neuen verwirrenden Geschmacksrichtungen,
und der Verbraucher sich langsam mit Begriffen wie Terroir oder
Provenienz bekannt machte, benötigte man Methoden, um ein
konsistentes Geschmackserlebnis sicherzustellen. Wenn ein
Unternehmen heute ein »Apfel-Zimt-Müsli« verkauft, wissen wir
ungefähr, was mit »Apfel« gemeint ist. Und selbstredend ist der
Apfelgeschmack überall und jederzeit derselbe.
Auch wenn an der sensorischen Analyse alle Sinne beteiligt sind,
informiert über das sensorische Erlebnis am Ende natürlich die
Sprache. Die Zunge herrscht, mit ihren Geschmacksknospen, nicht
nur über den Geschmack. Niemand weiß genau, was ein anderer
schmeckt oder riecht, doch man kann immerhin darüber reden. Eine
bekannte Technik zur Geschmacksbeschreibung ist etwa die
»deskriptive Analyse«. In einem Lehrbuch heißt es dazu, dies sei
eine »sensorische Methode, die auf Grundlage der Wahrnehmung
einer qualifizierten Probandengruppe quantitative
Produktbeschreibungen liefert«. 45 Mit anderen Worten, die Leute
setzen sich an einen Tisch und versuchen zu bestimmen, wie etwas
schmeckt.
Das Ergebnis sind unzählige sensorische »Räder« und Lexika, ob
für Whiskey oder Cheddar. Was immer irgendwie typisch scheint,
etwa Ahornsirup, bekommt sein eigenes Rad. Es gibt sogar ein
Lexikon der Karbonisierung, mit Begriffen wie »bissige, brennende
oder langweilige Kohlensäure«. 46 Oder wie ein Mandelbauer beinah
neiderfüllt feststellt, »sind die sensorischen Eigenschaften von
Erdnüssen hervorragend dokumentiert, nur hat bis heute noch
niemand den Versuch unternommen, Aussehen, Geschmack, Geruch
und Textur von Mandeln zu quantifizieren«. 47 Der Geschmack von
Mandeln, so stellte sich schließlich heraus, kann von »frisch
geschlagenem Holz« bis zu einem wohl ziemlich vernichtendem
»Walnuss« reichen.
Die verzweifelte Suche nach einem sensorischen Vokabular lässt
sich bis zu einem anderen philosophischen Problem
zurückverfolgen, das John Locke beschäftigte, nämlich wie man
über Ananas reden soll. Die »königliche« Karibikfrucht hatte im
England des späten 17. Jahrhunderts quasi Kultstatus; Geschmack
und Erscheinungsbild waren damals noch verführerisch neu. So
präsentiert der königliche Gärtner, John Rose, König Karl II. auf
einem berühmten Stich seine erste selbstgezüchtete Ananas.
Vergleichbares hatte man nicht nur noch nicht gekostet, sondern
auch noch nicht beschrieben. Den Epistemologen Locke quälte, dass
Worte diese Geschmacksnote nur unzureichend beschreiben
konnten. Dafür brauchte man immer noch die echte Ananas. Wer
davon kostete, konnte den Geschmack vielleicht mit Bekanntem
vergleichen, kam dem Wesen der Ananas damit aber nicht näher. »In
diesem Fall wird uns die Idee nicht durch eine Definition vermittelt«,
schrieb Locke, »sondern andere einfache Ideen werden durch ihre
uns bekannten Namen in uns wachgerufen; dabei werden sie von
dem wahren Geschmack jener Frucht selbst noch immer recht
verschieden sein.«48 Vermutlich würde sich Locke bestätigt fühlen,
wenn er einen Geschmack »wie frische Ananas« Jahrhunderte
später als Beschreibung in einem Cheddar Cheese-Lexikon
entdecken würde.

Für kaum ein Unternehmen weltweit spielt die Frage, wie und
wonach etwas schmeckt, eine größere Rolle als für den globalen
Gewürz- und Aromahersteller McCormick. Darum machte ich mich
eines Tages von Brooklyn, wo ich wohne, in die Vorstadt von
Baltimore auf, wo das Unternehmen seinen Hauptsitz hat. Ich wollte
Leuten bei der Arbeit zusehen, die für das Verkosten bezahlt
werden.
Als ich auf den Parkplatz fuhr, stieg mir eine zarte Gewürzwolke in
die Nase, deren Düfte ich nicht näher benennen konnte. (John
Locke, ich fühle mit dir.) Marianne Gillette, im Unternehmen für
angewandte Forschung verantwortlich, erklärte mir später, dass die
älteren Bewohner von Baltimore, die das Unternehmen noch
kannten, als es an der Küste beheimatet war, »bei dem Geruch von
Baltimore an McCormick denken«.
»Zimt erkennt jeder«, so Gillette. Was nicht weiter überrasche,
weil Zimt nicht nur das meistverkaufte Gewürz sei, sondern, wie
eine interne Studie des Unternehmens zu Essen und Emotionen
zeige, auch »das liebenswerteste«. Zimt führe geradewegs ins
Gedächtnis, für viele sei Zimt mit der stärkste Geruch ihrer
Kindheit. Auch ich erinnere mich noch sehr gut an die längliche,
weiße Zimtdose von McCormick, nicht aber an das Oregano. Doch
auch wenn viele McCormick mit Gewürzdöschen oder Würzflaschen
in Verbindung bringen, ein wesentlicher Geschäftsbereich des
Unternehmens bietet heute »maßgeschneiderte Aromalösungen« für
Produkte weiter oben in der Nahrungsmittelkette an. »Wir sind in
jedem Supermarktregal vertreten«, sagte Gillette, und in unzähligen
»Schnellrestaurants«.
Beim Besuch des McCormick-Aromalabors kann man erleben, wie
vager menschlicher Geschmackssinn auf wissenschaftliche
Gewissheit trifft. Als ich einige Testtuben, die auf einem Arbeitstisch
lagen, neugierig beäugte, meinte Silvia King, Forschungsleiterin im
weißen Kittel, ich könne ruhig daran riechen. Ich roch Tomate oder
genauer gesagt, den Geruch, der an den Fingern haften bleibt, wenn
man Tomatenblätter berührt. »Einmal kam ein Kunde mit einem
verarbeiteten Tomatenprodukt zu uns«, erzählte King, »in dem
einfach das Geschmacksprofil frisch gepflückter Tomaten fehlte.«
Die McCormick-Forscher können dann unter Tausenden, aus
natürlichen Bestandteilen gewonnenen Molekülen nach der
Kopfnote (die, die man zuerst schmeckt) suchen, die den frischen
Tomatengeschmack herbeizaubert. Dabei werden die Moleküle in
lächerlich geringen Mengen beigemischt. »Wenn man einen einzigen
Tropfen dieser Thiazolverbindung hier in ein
Olympiaschwimmbecken geben würde«, sagte King und zeigte auf
die Testtube, »würde das komplette Becken nach Tomatenpflanze
riechen«.
Dem Labor stehen viele Werkzeuge zur Verfügung, um
herauszufinden, was Tomaten den Tomatengeschmack verleiht. King
deutete auf einen Computerbildschirm, auf dem ich gekappte
Zacken sah. »Dieses sogenannte Gas-Chromatogramm ist für mich
wie ein Rezept. Jede Zacke steht für einen bestimmten Bestandteil.«
So könne man Thiazol etwa mit Dimethylsulfid mischen, dem Geruch
nach geschäumtem Mais, oder mit Phenylethylalkohol, der nach
»Rosen oder Bier« rieche, oder mit Isovaleriansäure: Schokolade
und Käse. »Mit dieser Mischung«, so King, erhalte »man eine
wunderbare Kopfnote«, die bei gekochten oder älteren Tomaten oft
fehle. In der gigantischen Datenbank des Unternehmens verstecken
sich unter anderem auch »die molekularen Fingerabdrücke, die
mexikanischen von israelischem Oregano unterscheiden«.
Das Problem mit all dem Computerwissen ist allerdings, dass der
Mensch kein Computer ist. Wir kosten nicht von irgendetwas und
liefern dann wie ein Refraktometer einen Brix-Wert, um den
Zuckergehalt einer wässrigen Lösung als Gewichtsanteil
anzugeben. Der Mensch bringt eigene sensorische und
interpretatorische Vorrichtungen mit. 49 Anders als beim Computer
kann beim Menschen etwa eine winzige Aromaveränderung alles
Mögliche in Gang setzen. Wenn man nur ein bisschen Vanilleextrakt
in fettarme Milch gibt, scheint uns die Milch nicht nur süßer,
sondern auch sahniger und dickflüssiger. Dabei hat Vanille keinerlei
Einfluss auf Süße, Fettgehalt oder Viskosität. 50
Genau zu bestimmen, was ein Aroma für uns bedeutet, ist harte
Arbeit. Wie King erzählt, kommt ein Kunde vielleicht zu McCormick
und wünscht sich ein Avocadoaroma. »Er sagt uns: ›Ich weiß nicht,
womit man bei der Entwicklung des Aromas anfangen könnte. Ich
weiß nicht, ob ich eher eine Avocado-Guacamole oder lieber eine
frisch geschälte Avocado möchte.‹« Das Team entwickelt die ganze
Bandbreite. Manchmal seien die Kundenangaben noch
verwirrender, erzählt Gillette. »Wenn ein Kunde sagt, ›Ich möchte
Avocado oder Guacamole‹, schwebt ihm oft etwas ganz Bestimmtes
vor, was aber gar nicht Avocado ist, sondern eher Mais oder die
Limettennote in der Guacamole.« Oder das »Ritual« der Guacamole,
die er jedes Wochenende in seinem mexikanischen
Lieblingsrestaurant isst.
Auf der Suche nach mehr Klarheit greift McCormick, wie Gillette
schmunzelnd sagt, auf »menschliche Chromatographen« zurück,
geschulte Geschmackstester. Ich treffe Jason Ridgway und Tess
Aldredge, zwei erfahrene sensorische Tester, in einem kleinen
Nebenraum. Durch einen Spionspiegel schauen wir in einen rötlich
erleuchteten Raum mit rundem Tisch, an dem mehrere Leute
bedächtig an Brezeln aus kleinen Pappbechern knabbern. »Die
Geschmackstests finden unter Rotlicht statt«, hatte mir Gillette
erklärt. »Wenn man zwei Bratensoßen testet, von der die eine
dunkler als die andere ist, hält man die dunklere sonst für fleischiger
und gehaltvoller.« Das Fehlen von Licht und Farbe erschwere den
Testerjob noch, sagte Aldredge. »Wenn man die Rotverzerrung nicht
berücksichtigt, schmeckt es ›wie Erdbeere‹. Man muss genau
nachdenken. Das ist psychisch sehr anstrengend.«
Ridgway legte einen Schalter um. Aus dem anderen Raum
drangen Töne herüber, wie eine Übertragung aus einem entfernten
Raumschiff. Der Testleiter fragte die Gruppe nach der
»Knusprigkeitsdauer«, was mir Ridgway als den Zeitraum erklärte,
»nach dem sich die Qualität beim Kauen vollkommen verändert
hat«. Die Testgruppe erhielt eine Skala zur Bewertung der
»Knusprigkeitsdauer«, die von Cornflakes bis zu Pringles-
Kartoffelchips reichte. Der Testleiter fragte: »Schmeckt sonst noch
jemand die angebrannten Stücke?«
Dann warf jemand das Wort »modrig« in den Raum. Ich wunderte
mich. Was hat Moder mit Brezeln zu tun? Und möchte irgendjemand
modrige Brezeln? »Wenn Sie hier Fachbegriffe wie angebrannt oder
modrig hören«, erklärte mir Ridgway, »müssen Sie immer daran
denken, dass das sensorische Beschreibungen sind. Eine
angebrannte oder modrige Note ist nichts Negatives.« Und
Aldredge fügte hinzu: »Viele Produkte haben eine modrige Note. Oft
bezeichnen die Leute dieses Wasser« – dabei zeigte sie auf die
Pappbecher zur Reinigung des Gaumens – »als leicht modrig.«
»Dann ist es Zeit, den Filter in unserer Filteranlage zu wechseln«,
sagte Ridgway. Die modrige Note rühre zwar von einem chemischen
Bestandteil her, Alpha-Phenylalkohol, aber, so Ridgway, Begriffe wie
»modrig«, »nasser Hund« oder »dreckige Socken« seien irgendwie
»benutzerfreundlicher«. Ridgway wies mich auch darauf hin, »dass
jeder modrig ein wenig anders interpretiert. Da gibt es alles vom
feuchten Keller bis zu alten Büchern.« »Für mich ist es Wasser aus
dem Gartenschlauch«, warf Aldredge ein.
Die Worte wollen sorgfältig abgewogen sein. 51 Man braucht einen
sensorischen Begriff wie »frische Ananas« nämlich nur zu
erwähnen, und schon macht die Testgruppe diesen etwa in Cheddar-
Käse aus. Die Tester schmecken dann »Phantom«-Eigenschaften.
Sie werden in die falsche Richtung geschickt und die Verbraucher
am Ende auch. »Es ist schon vorgekommen, dass jemand sagte:
›Hier der Käse schmeckt mir.‹ Wir sind ihn dann durchgegangen,
haben ihn mit unseren Begriffen beschrieben, und plötzlich
bemerkte jemand: ›Ey, der riecht echt nach Babykotze.‹ Dann essen
die Leute den Käse nicht mal mehr zu Hause.« Jedes
Nahrungsmittel verwandelt sich. Zwiebeln haben eine
»Gumminote«. Mango riecht nach Schwefel. »Eine wirklich gute
Papaya«, so Gillette, »hat eine starke Müll-Note.« (Merke: Wer
jemals zum Müllessen gezwungen werden sollte, denke dabei am
besten an Papayas.)
Es überrascht angesichts des verfügbaren Vokabulars wohl kaum,
dass die Frage, die uns beim Verkosten als Erstes einfallen würde,
bei Geschmackstests nie gestellt wird: Schmeckt es gut oder
schlecht? Das liegt unter anderem daran, dass sich die
Wahrnehmung der Geschmackstester durch die Äußerung von
Vorlieben und Abneigungen wohl verändern würde. Professionellen
Geschmackstestern schmeckt zudem oft nicht dasselbe wie
Laientestern, den Verbrauchern also. Der Titel einer Studie im
Australian Journal of Dairy Technology sagt schon alles:
»Käsebewertungen contra Verbraucherakzeptanz: eine
unvermeidliche Kluft.«
Die Berücksichtigung von Präferenzen bei Geschmackstests
würde nur unnötig Staub aufwirbeln. Wie der einflussreiche
Lebensmittelwissenschaftler Harry Lawless sagt: »Man fragt auch
keinen Gas-Chromatographen oder ein pH-Messgerät, wie es
schmeckt, warum also eine Testgruppe, die einen Geschmack
analysieren soll?« Angenommen, man fragt Tester, ob Produkt A
oder B salziger sei, und anschließend, welches ihnen besser
schmecke. 52 Was macht man, wenn die Leute beim Salztest falsch
liegen? Hält man ihr hedonistisches Urteil dann immer noch für
glaubwürdig? Außerdem mag nicht jeder dasselbe oder aus
denselben Gründen. Eine frühere Ausgabe des McCormick-
Gewürzlexikons kannte noch die Kategorie »schlechte
Geschmacksnote«, beispielsweise »seifig« bei Sellerie. Doch wer
auf »seifig« abschätzig herunterblickt, ignoriert, dass die »seifige«
Note zum Selleriecharakter gehört. Sensorische Lexika vermeiden
Begriffe, die eine Qualitätsaussage beinhalten oder nicht für jeden
dasselbe bedeuten könnten. Vieles aus typischen »Weingesprächen«
wie »rund« oder »weich« kommt in professionellen Weinlexika nicht
vor. 53
Ein weiteres Problem ist, dass sensorische Geschmackstests nicht
in der Umgebung stattfinden, in der man normalerweise seine
Mahlzeiten einnimmt. Was einer kleinen Runde im Labor gut genug
erscheint, wirkt am abendlichen Esstisch vielleicht weniger
ansprechend. Man kann das Geschmacksprofil eines Softdrinks im
Labor analysieren, so Nancy Farace, Managerin für
Lebensmittelerkenntnisse bei McCormick, aber wenn man das
Getränk dann in die Wildnis entlässt, also dem Verbraucher
übergibt, entpuppt es sich möglicherweise als ein völlig anderes
Tier. »Wie trinkt der Verbraucher das Getränk? Mit Eis? Oder bei
null Grad? Aus einem Plastikbecher, einem Glas oder aus der Dose
oder mit Deckel und Strohhalm? Was isst er vorher und nachher? Es
geht nicht nur darum, wie dem Verbraucher das Getränk schmeckt,
sondern auch, wie und wann er es konsumiert.« Wenn man
jemanden fragt, wie ihm etwas schmeckt, so der niederländische
Lebensmittelforscher E. P. Köster, dann ist er sofort in
Habachtstellung: Er »prüft den Geschmack aufmerksam und urteilt
möglicherweise nach anderen Kriterien, als wenn er einfach nur
isst.«54 Würde man aber durchschnittliche Verbraucher bitten,
analytischer zu denken, könnte das ihre vorbehaltlose
Wahrnehmung stören.
Kurz und gut, zumindest in der Lebensmittelindustrie will man im
Allgemeinen nicht wissen, was den Fachleuten gut schmeckt – weil
dasselbe den meisten Verbrauchern vermutlich nicht schmeckt –,
und man will auch nicht allzu genau wissen, warum dem
Verbraucher etwas schmeckt – weil er dies kaum mit brauchbaren
Begriffen erklären kann. Nehmen wir den Kaffee. Die Leute mögen
als sensorisches Merkmal vor allem die Bitterkeit, erklärte mir
Moskowitz, aber beim Verkauf von Kaffee würde man den Begriff
niemals in den Mund nehmen. Doch wenn man einfach nur
verkaufen will, was den Leuten schmeckt, müsste man sich doch gar
nicht mit solch raffinierten Geschmackstests und Testern, deren
Unterscheidungsfähigkeit auf Höchstleistung getrimmt ist,
herumschlagen. Wie mir Gillette erklärte, sind die Geschmackstests
unter anderem dazu da, die sensorischen Bestandteile auf den
Verbrauchergeschmack abzustimmen. Man testet nicht 50
Vanillesorten und versucht, herauszufinden, welche dem
Verbraucher schmecken, sondern man analysiert das Aromaprofil
von dem, was dem Verbraucher bekanntlich schmeckt und
entwickelt davon ausgehend neue Produkte.
Gillette hatte mich vor den Geschmacksexperten gewarnt, Leuten,
mit »denen ich nicht gemeinsam Mittagessen wollte«. Doch da
waren wir, in der Kantine von McCormick, und aßen Udon-Nudeln
mit frittiertem Hühnchen und Oregano und andere Köstlichkeiten
von der modernen Aromafront. Als geschulter Geschmackstester, so
Gillette, reagiere man »auf alte Lebensmittel und Öle besonders
empfindlich. Öle werden sehr schnell ranzig. Der durchschnittliche
Verbraucher isst wahrscheinlich hochzufrieden manches, was wir
schon als ranzig empfinden.« Wie Aldredge sagte, passiere es ihr
manchmal, dass sie mitten in einer Mahlzeit nicht mehr weiteressen
könne. »Freunde fragen dann, ›warum isst du nicht weiter?‹ Ich
sage: ›Darüber möchte ich jetzt nicht reden.‹ Aber dann sind sie
natürlich erst recht neugierig.«

Den Gourmet mit der goldenen Zunge oder die »Riechnase« der
Duftindustrie, die dank ihrer göttlichen Begabung zig für uns
ununterscheidbare Bestandteile wahrnehmen, hat man lange Zeit
geradezu kultähnlich verehrt. So berichtet Brillat-Savarin in The
Physiology of Taste von »römischen Gourmets«, die »allein am
Geschmack erkennen, ob ein Fisch unter einer Stadtbrücke oder
weiter unten im Flusslauf geangelt wurde«. 55 Oder Sancho Pansa,
selbst mit einem »ausgeprägten, angeborenen Riecher für den
Wein« gesegnet, erzählt im Don Quijote, wie zwei seiner
Verwandten von Dörflern aufgefordert werden, einen Fasswein zu
beschreiben: »Der eine kostete ihn mit der Zungenspitze, der andre
führte ihn bloß an die Nase. Der Erste sagte, der Wein schmecke
nach Eisen, der Zweite, eher nach feinem Ziegenleder.«56 Der
Winzer protestiert, das Fass sei sauber. Doch als aller Wein
schließlich verkauft und das Fass gereinigt wird, kommt ein
Schlüsselchen mit einem kleinen Riemen aus Ziegenleder zum
Vorschein.
Dennoch sollten wir skeptisch sein, wenn Leute sich in blumigen
Wein- oder Kaffeebeschreibungen ergehen. 57 Unsere Fähigkeit, die
Bestandteile komplexer Duftmischungen richtig herauszuriechen,
stößt nämlich schon bei drei Inhaltsstoffen an ihre Grenzen. Danach
fangen die Leute an zu raten und liegen dabei noch schlechter als
die statistische Wahrscheinlichkeit.
Auch über den »ausgeprägten, angeborenen Riecher« von Sancho
Pansa haben Geschmacksexperten einiges zu sagen. Ein geborenes
Talent gibt es nicht, sagen sie. In dem Dokumentarfilm Somm von
2013 erläutert ein angehender Meister-Sommelier: »Wer
großartige Samurai-Schwerter fertigen kann, hatte einen Lehrer.
Doch bei Wein denken wir, man müsse ein Naturtalent sein. Bei
einem Schwertmacher würde niemand von einer natürlichen Gabe
reden.« Auch Aldredge gestand mir: »Ehrlich gesagt glaube ich
nicht, dass ich einen feineren Geschmack als andere besitze. Ich
weiß allerdings, was ich schmecke, und kann es benennen.« Es gibt
natürlich individuelle Unterschiede in der sensorischen
Wahrnehmung, die für Testgruppen auch eine Rolle spielen. Doch
Geschmackstester brauchen noch andere grundlegende
Fähigkeiten. So müssen sie etwa den »Triangel-Test« bestehen, also
unter drei Dingen das bestimmen können, das sich von den beiden
anderen unterscheidet. Jedenfalls ist die Schlüsselfertigkeit für
einen professionellen Geschmackstester nicht die begnadete Zunge.
Ihr Geheimnis, das gar kein Geheimnis ist, ist genau das, was wir
schon bei anderen Experten gesehen haben. Erstens die Praxis: Bei
McCormick absolvieren die Experten ungefähr 150
Schulungsstunden, ehe sie an ihrem ersten Test teilnehmen. Und
ehe sie überhaupt angenommen werden, müssen sie Fragen
beantworten wie: »Sind Sie bereit, zwar Ungefährliches, aber
Unangenehmes zu essen?« Dass die Praxis wichtiger ist als
angeborene Fähigkeiten, haben schon viele Versuche belegt, in
denen man Experten, die in einem Aromabereich erfahren waren,
anderes zum Testen vorlegte. 58 Die neuen Aromen konnten sie nicht
so zuverlässig erkennen und zuordnen. Oder sie übertrugen auf den
neuen Bereich schon bekannte Begriffe, obwohl diese ungeeignet
waren.
Zweitens das Gedächtnis: Wer wissen will, ob eine Brezel
ungefähr dieselbe »Knusprigkeitdauer« wie Ritz-Cracker hat, muss
sich erinnern können, wie knusprig Ritz-Cracker sind. Wer sagt,
eine Karotte rieche heuähnlich, muss den Heugeruch in seinem
Gedächtnis abrufen können. Vergleichsstudien mit erfahrenen und
unerfahrenen Weinverkostern zeigen, dass erfahrene Tester die
Noten des Weinbouquets nicht absolut besser wahrnehmen,
sondern vor allem besser bestimmen können. 59 Bei unbekannten
Duftnoten schneiden erfahrene und unerfahrene Verkoster fast
gleich gut ab.
Doch am wichtigsten ist vielleicht die Sprache. Man kann, wie
schon John Locke festgestellt hat, den Geschmack einer Ananas nur
richtig beschreiben, wenn man schon einmal eine gegessen hat.
Doch dann kann die Sprache hervorlocken, was genau wir
geschmeckt haben. Geschmackstester berichten häufig von einer
Rückkopplungsschleife: Je mehr Aromen man schmeckt, desto mehr
Wörter fallen einem ein, die dann noch mehr Aromen hervorlocken.
Wie viel von dem Minzgeschmack entsteht erst durch das Wort
»Minze«?
Sprache und Gedächtnis sind bei Geschmackserlebnissen
untrennbar verknüpft. So untersuchte eine australische Studie, wie
zuverlässig erfahrene und weniger erfahrene Weinverkoster Listen
mit Weinvokabeln zur »üblichen Beschreibung bestimmter Weine«
wiedergeben konnten. Die Probanden erhielten zunächst Kartensets
mit typischen sensorischen Merkmalen bestimmter Weine. Den
Wein selber bekamen sie leider nicht. Riesling etwa schmeckte
»nach Mineralien und Kalk« und hatte ein »spritziges, blumiges«
Bouquet. Dann gab man den Probanden gemischte Kartensets, die
keinen bestimmten Wein beschrieben. Nun erinnerten sich die
erfahrenen Weinverkoster an weniger Weinvokabeln als die
unerfahrenen Verkoster. Ähnlich ergeht es Schachexperten: Ihr
grandioses Gedächtnis für Schachpositionen löst sich in nichts auf,
wenn die Schachfiguren zufällig und anders angeordnet sind, als sie
es tausendmal auf dem Schachbrett gesehen haben. 60
Weinexperten und Sommeliers haben eine bestimmte Weinsprache
verinnerlicht. 61 Normalerweise beruht diese auf
»Verkostungskarten«, die die Eigenschaften eines Weins in einer
bestimmten Reihenfolge auflisten, übrigens eine ähnliche Strategie,
wie sie Schachmeister verwenden. Die Reihenfolge der Begriffe
wird im Gedächtnis schließlich so dominant, dass einzelne Wörter
ohne ihren Zusammenhang schlechter erinnert werden. Doch
erinnert oder nicht, Wörter sind jedenfalls genauso wichtig wie die
Verkostung selber.
Wir stellen uns in der Regel vor, dass Weintester um einen Tisch
sitzen, sich durch die Weine schnüffeln oder atmen und dann die
rätselhaften Geheimnisse des Weins in ihrer blumigen Sprache
beschreiben. Doch meist ist es genau umgekehrt. Die Weinexperten
berücksichtigen zunächst die Kategorie des Weins, etwa Sauvignon
Blanc aus Neuseeland, beschwören einen Prototyp dieses Weins
herauf und schauen dann, inwieweit der verkostete Wein dem
Prototyp entspricht. 62 Wenn man weiß, wonach man sucht, ist es
wesentlich einfacher, etwa das Aroma eines Weins wahrzunehmen.
Wie die Psychologin Sylvie Chollet und ihre Kollegen schreiben, ist
»denken, dann schnüffeln« eine bessere Strategie zur
Identifizierung von Gerüchen als »schnüffeln, dann denken«. 63
Weinexperten sind so auf Prototypen programmiert, dass das auch
nach hinten losgehen kann, wenn man Ungewöhnliches unter einen
Wein mischt. 64 So gab die Wahrnehmungsforscherin Rose Marie
Pangborn rote Lebensmittelfarbe in Weißwein, und die erfahrenen,
nicht die unerfahrenen Verkoster hielten den Wein sofort für süßer.
»Das liegt vermutlich daran«, so Pangborn, »dass sie viele süße
Roséweine kennen.«65 Wie die Lebensmittelfarbe auf den Wein,
färbt das Wissen der Weinexperten auf den Geschmack ab. 66
Einmal angenommen, wir hielten Verkostungsexperten für
Naturtalente, weil wir in den getesteten Produkten nicht das
»sehen« können, was sie sehen. Dann stehen wir, so der Professor
für Philosophie Barry Smith, vor einem Dilemma: »Denn entweder
hat ein Wein einen bestimmten Geschmack und Geruch, den alle
wahrnehmen können, oder Geschmack und Geruch können nur von
Auserwählten wahrgenommen werden, die über ein besonderes
Geschmacksempfinden, also eine spezielle sensorische Ausstattung
verfügen.«67 Es dürfte bis hierin klargeworden sein, dass zweifellos
Ersteres richtig ist. Geschmack ist weniger eine Gabe als ein
Ergebnis. 68 Es geht weniger darum, was man hat, als was man
draus macht.
Die meisten von uns machen eher wenig daraus. Üblicherweise
kratzen wir lediglich an der Oberfläche der sensorischen Welt, und
der Geschmack macht da keine Ausnahme. Der »Akustik-Ökologe«
Murray Schafer sagte einmal, wenn man wirklich hören wolle,
müsse man die akustische Verarbeitung im Gehirn umtrainieren. 69
Er schlug dazu verschiedene Übungen vor: die Augen zu schließen,
um weniger abgelenkt zu sein, oder Klängen einen
»onomatopoetischen«, lautmalerischen, Namen zu geben – was an
die Bemühungen erinnert, Geschmack durch Sprache zu
beschreiben. Meistens sind wir beim Essen und Trinken jedoch
stark abgelenkt, und zudem kennen wir nur wenige Wörter, um zu
beschreiben, was im Mund passiert. Was wir von einer Mahlzeit
wahrnehmen und woran wir uns erinnern, bleibt meist dem Zufall
oder gar dem Unterbewusstsein überlassen.
Samuel Renshaw, ehemals Psychologe an der Ohio State
University, hat bekanntlich ein Schulungssystem entwickelt, durch
das die amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg feindliche
Flugzeuge und Schiffe besser erkennen sollten. Er hat aber ebenso
mit Destillerien zusammengearbeitet, damit deren
Geschmackstester Abweichungen besser herausschmecken
konnten. Renshaw zufolge nutzen die meisten im Alltag »nur etwa
zwanzig Prozent ihrer sensorischen Fähigkeiten«. 70 Besitzen wir
also Sensibilitätsreserven, die nur darauf warten, durch die
richtigen Methoden oder Umstände zum Leben erweckt zu werden?
In einer beeindruckenden niederländischen Studie sollten
Probanden aus fünf Milchsorten mit unterschiedlichem Fettgehalt
die fettarme Milch heraussuchen, die sie normalerweise kaufen. 71
Nur wenigen gelang das wirklich. Alle Optionen schienen der
»eigenen« Milch zu ähneln. Als aber eine zweite Gruppe aus
denselben Milchsorten ihre »echte holländische Milch« unter den
ansonsten »billigen, minderwertigen, ausländischen Sorten«
heraussuchen sollte, konnten die Probanden »ihre« Milch plötzlich
viel besser identifizieren. Auf einmal waren sie motiviert,
Unterschiede herauszuschmecken. (Wie könnte ich meine schöne
Milch mit diesem billigen ausländischen Zeug verwechseln!) Durch
ihre emotionale Reaktion wurden implizite Präferenzen
»freigesetzt«, die auch vorher schon da waren. 72 Das Experiment
lehrt uns, dass uns unsere eigenen Vorlieben oft verborgen bleiben:
Unser eigener Geschmack ist uns fremd. Darum kann die simple
Frage, was uns schmeckt, kaum zu befriedigenden Antworten
führen.

Als ich mit den Experten von McCormick über die sensorischen
Eigenschaften von Brezeln sprach, lenkte mich eine Dose Dr Pepper
ab, die mit anderen Erfrischungsgetränken auf dem Tisch stand. Mir
fiel plötzlich auf, dass ich, ähnlich wie Locke mit seiner Ananas, gar
nicht richtig wusste, nach was Dr Pepper eigentlich schmeckt; ich
hatte auch noch nie wirklich darüber nachgedacht. Mein erster
Gedanke war: Das schmeckt »nach Dr Pepper«. Doch wie würde ich
jemandem die Geschmacksnoten beschreiben, der das Getränk nicht
kennt? Das Unternehmen nutzt das epistemologische Dunkel
natürlich aus und wirbt auf der Dose mit »23 Aromen«. Das macht
Gusto darauf, das Geheimnis zu lüften. Welche Aromen könnten das
sein? Und 23 sind doch bestimmt besser als 11!
Das Rätsel lässt an die Geschichte der Marke denken. Das Image
von Dr Pepper, so Joseph Plummer, war in den 1960er Jahren vor
allem durch Missverständnisse geprägt: Das Getränk galt als Arznei
oder bestand angeblich aus Pflaumensaft. Dem Unternehmen gelang
es jedoch, die komischen Noten seines Schmeckt-nicht-nach-Cola-
Getränks in Stärken zu verwandeln. Anfang der 1970er Jahre war
Dr Pepper der viertbeliebteste Softdrink. 73 Es kann nämlich eine
Stärke sein, wenn ein Geschmack nur schwer zu entschlüsseln ist.
Eine Coca-Cola, so Howard Moskowitz, sei auch wegen ihres
komplexen Aromas beliebter als Orangenlimo. Die Verbraucher
haben sie nicht so schnell satt wie eine Orangenlimo, die mit ihrem
einfachen, leicht wiedererkennbaren Geschmacksprofil zunächst
vielleicht »leichter zu lieben« sei. Je besser man einen Geschmack
bestimmen könne, desto eher setze er sich im Gedächtnis fest und
werde wiedererkannt.
Wie es der Zufall will, ist mir Dr Pepper ziemlich schnuppe.
Normalerweise kaufe ich das Getränk nicht, gehe ihm aber auch
nicht reflexhaft aus dem Weg. Und egal, wie gut es mir vielleicht
sogar schmeckt, mein Gefühl bezieht sich eher auf das Getränk als
Ganzes und nicht auf eine Analyse seiner sensorischen und
trigeminalen Eigenschaften. Meine Gefühle wurden unter anderem
durch die Darbietungshäufigkeit geformt. Dr Pepper ist eher im
Süden der Vereinigten Staaten verbreitet, und weil ich nicht dort
aufgewachsen bin, hatte ich nicht so viel Gelegenheit, davon zu
kosten. Aber spielt dabei nicht vielleicht doch eine negative
Einschätzung eine Rolle? Würde ich das Getränk möglicherweise
lieber trinken, wenn ich mehr darüber wüsste?
Da schoss mir durch den Kopf, dass das doch die Gelegenheit war.
Ich saß mit lauter sensorischen Experten am Tisch. Die Gelegenheit
für einen Geschmackstest also. »Wir sollten Herrn Vanderbilt in den
Dr-Pepper-Aromastoffen schulen«, sagte Gillette sofort. Ich führte
das Glas zur Nase. »Nach was riecht es?«, fragte Ridgway. »Wenn
Sie es nicht beschreiben können, an was erinnert es Sie?« Ich roch
etwas, wusste aber nicht, was. Ich spürte geradezu, wie eine
frustrierte Synapse feuern wollte, die meine sensorischen
Vorrichtungen mit meinem Gedächtnis verband. Gillette erkannte
mein Problem und roch an dem Glas. »Für mich riecht es nach
etwas, das kein Getränk ist und das ich liebend gern zum Dessert
esse.« Vor meinem inneren Auge erschien ein vages Bild. »Ohne die
richtige Sprache ist es immer schwer«, sagte Ridgway mitfühlend.
Gillette fragte, ob sie mir helfen dürfe: »Mich erinnert es an
Burgundy-Cherry-Eiscreme. Vanille, die cremige Note,
Traubenkirschen.«
Es war, als öffnete sich eine Tür. Ich roch noch einmal, und da
hatte ich es, quasi in Großbuchstaben tauchte es vor meinen Augen
auf. Wieso hatte ich das nicht gleich gemerkt? Natürlich kannte ich
den Geruch. Das war nicht Lockes Ananas. Aber besaß ich nun doch
eine schwache Erinnerung an das, was ich dachte, was es war, oder
sorgte erst die Terminologie dafür, dass ich mich erinnerte?
Gerüche, besonders unangenehme Gerüche, können ja, so sagt man,
alte Erinnerungen heraufbeschwören. 74 Aber was beschwört die
Erinnerung an die Gerüche herauf?
Die Wissenschaft ist in der Frage eher gespalten. 75 Werden
Geruchserinnerungen durch Worte, also eine semantische
Vermittlung, geweckt, oder arbeitet das Geruchsgedächtnis quasi
allein? Wie auch immer, ich fand es seltsam, dass ich beim Geruch
von Dr Pepper eine ganz klare Empfindung hatte, genau wusste,
dass es nicht Coca-Cola und auch nicht 7Up war, aber nicht, was es
denn eigentlich war. Wie viel Zeit verbringen wir in unserem Leben
als sensorische Schlafwandler, die Dinge nur unbewusst
wahrnehmen? Und wo liegt der Unterschied zwischen meiner
seltsamen Empfindung und einem Song, den wir keinem Genre
zuordnen können, oder einem weitentfernten Gegenstand, den wir
nur ungenau erkennen?
Wenn man zu aufmerksam ist, kann man verrückt werden. Das
dachte ich, als wir unsere Geschmacksnoten verglichen. »Ich fand
das Getränk fad«, sagte Aldredge. »Für mich war es eher kein
Lebensmittel, sondern Mulch.« »Oh«, sagte Gillette mit
hochgezogenen Augenbrauen. »Es hat erdige Noten«, sagte
Aldredge, »holzig.« Ein wenig verlegen warf ich »Klee?« in die
Runde. »Könnte sein«, sagte Ridgway unbeeindruckt. Jedenfalls
konnte keiner im Raum alle 23 Aromen benennen. Vergessen wir
nicht: Die sensorische Spitzenleistung liegt bei drei Zutaten. Wir
sprachen über Aromen, versuchten, sie durch Sprache
hervorzulocken, und erweckten damit neue Erinnerungen – und
neue Geschmacksrichtungen – zum Leben. Gillette hatte mich
gewarnt: »Danach schmeckt Dr Pepper für Sie nie mehr wie
vorher.«76

Was ist Ihr Lieblingsbier?


Woher weiß ich, was mir schmeckt?

Die theoretisch objektiven ästhetischen Urteile der Katzenjury


hinterließen bei mir einen ebenso nachhaltigen Eindruck wie die
rigorose und unparteiische sensorische Analyse durch »menschliche
Instrumente« bei McCormick. Es schienen mir die zwei Seiten des
Gehirns zu sein, und ich fragte mich, was passiert, wenn man beides
kombiniert, also versucht, ein qualitatives Urteil über etwas zu
fällen, das man in den Mund steckt.
Und darum machte ich mich nach Denver, Colorado, auf, wo in den
Konferenzräumen im Untergeschoss eines großen Hotels das Great
American Beer Festival (GABF) stattfand, sozusagen der Super
Bowl der amerikanischen Craftbeer-Renaissance. Den Festivalleiter,
Chris Swersey, fand ich schließlich in einem großen »Lagerraum«,
umgeben von massenhaft, genau auf 3,3 Grad heruntergekühlten
Stouts und Pale Ales, die nur darauf warteten, eingeschenkt,
randomisiert und an die Testgruppen in den benachbarten Räumen
verteilt zu werden. Schnelligkeit war gefragt. »Schon nach zwanzig
Minuten schmeckt das Bier völlig anders«, sagte Swersey und
schaute sich skeptisch um.
Wie mir Swersey erklärte, ein Mann mittleren Alters, mit
Ziegenbart und, wie viele Bierfachleute, denen ich begegnet bin,
sehr umgänglich und engagiert, sei das GABF eine Art
»Zwischending«. »Wir sind weder hundertprozentig subjektiv noch
hundertprozentig objektiv.« Eine zu hundert Prozent objektive
Bewertung müsste sich streng an Normen halten und International
Bitterness Units (IBUs) und »Stammwürze« genauestens messen.
Die in »Grad Plato« angegebene Stammwürze bezeichnet den Anteil
der im Wasser gelösten, nicht flüchtigen Stoffe bei der Gärung. Laut
Garrett Oliver, dem Braumeister der Brooklyn Brewery, würden
Bierfachleute gern wie Wissenschaftler sprechen. »Hier ist unser
EBV, hier unser IBU, da unsere Stammwürze«, während »der
Weintyp lieber über Hänge und Hügel redet«.
Bei einer rein subjektiven Bewertung würden die Richter dagegen
eine Liste mit zig Bieren durchgehen und sagen, wie gut ihnen jedes
schmeckt. »Dann gibt einer einem Bier eine Eins, weil er Aprikosen
mag«, sagte Swersey, »oder er hasst es, weil er Aprikosen nicht
ausstehen kann.« Manche Bewertungssysteme würden vor allem auf
Vorlieben und Abneigungen beruhen. So würden Preisrichter bei
manchen englischen Bierwettbewerben etwa gefragt: »Würden Sie
für dieses Bier einen Umweg in Kauf nehmen?«
In Denver unterlag die Bewertung der üblichen
Geheimniskrämerei. Richter mit einem Handy in der Hosentasche
schieden aus. Swersey unterlief das Protokoll, als er mir erlaubte,
mich kurz dazuzusetzen und zuzuschauen, wie die amerikanische
Stout-Kategorie bewertet wurde, »aber natürlich keine Aufnahmen
und keine Aufzeichnungen!«. Als Erstes erklärte er mir, dass
Bierrichter nicht ausspucken. Nicht etwa, weil es Bierexperten an
Willensstärke mangeln würde. »Unterhalb des Adamsapfels
befinden sich Geschmacksknospen, die stark auf Hopfenbestandteile
reagieren«, so Swersey. »Das ist wissenschaftlich bewiesen: Bier
muss man runterschlucken, um das Profil vollständig zu erfassen.«
Doch Schlucken ist nur der eine Teil. Das Erste, so Swersey, sei der
Geruch. »Duftaromen sind sehr flüchtig und verschwinden schnell,
und dann hat man ein ganz anderes Getränk. Man muss beim Bier
schnell erfassen, wie es riecht.«
Als die Richter mit der Bewertung begannen und ich hörte, was
sie sagten, kam mir das wie eine heitere, eigensinnige Version einer
McCormick-Testgruppe vor. Die Sprache war ähnlich:
»Kondensmilch«, »angebranntes Gemüse« – oder meine
Lieblingsbemerkung: »Also, als Pferdedecke würde ich das nicht
bezeichnen.« Daneben hörte ich natürlich auch verständlichere
Kommentare wie »ziemlich beeindruckend«, »wirklich klar« oder
einfach »Das Bier schmeckt mir«. Als ich die Kommission so
beobachtete, fiel mir ein, was der Psychologe für Expertise, James
Shanteau, einmal zu mir gesagt hatte: Fachleute sind Leute, die
derselben Ansicht sind wie andere Fachleute. Die Bier-
Kommissionen hier, so Swersey, seien keine Geschmackstyrannen,
die anderen ihren Willen aufzwingen wollten, sondern würden
sorgfältig abwägen, welches Bier den jeweiligen Richtlinien am
besten entspreche. »Ich kann keine Gespräche leiden wie: ›Ich war
letzten Monat in Belgien und habe das und das und das getrunken,
aber das hier schmeckt ganz anders.‹«
Zwischen einem Bierwettbewerb und der Pariser
Katzenausstellung scheinen Welten zu liegen, doch die Problematik
ist dieselbe. So gibt es auch hier Standards, die sich verändern.
Nehmen wir das India Pale Ale (IPA). Pale Ales, die zu den stärker
gebrauten Ales gehören, werden in der Regel wegen ihres
ausgeprägten Hopfencharakters, also einer gewissen Bitterkeit,
geschätzt. Und genau daran erkennt man den echten Bierkenner. So
analysierten die Computerwissenschaftler Julian McAuley und Jure
Leskovec von der Standford University in einer interessanten Studie
die Bierbewertungen auf der Website RateBeer.com. Während sich
die Bewertungen von unerfahrenen und erfahrenen Bewertern
insgesamt kaum unterschieden, so die Forscher, fielen sie bei
manchen Biersorten jedoch fast diametral entgegengesetzt aus.
»Anfänger bewerten fast alle Lagerbiere höher, erfahrene Bewerter
dagegen fast alle starken Ales.« Und obwohl sich auf RateBeer.com
eigentlich niemand für Bud Light interessiert, wird es von den
Experten geradezu gehasst. Ein starkes Ale, ein »erworbener
Geschmack«, zeige, wo man in puncto Bier stehe. So wie Velvet
Underground den persönlichen Musikgeschmack wie ein Totempfahl
markiert.
Was ein India Pale Ale ausmacht, scheint also eigentlich klar. »In
seiner Blütezeit war India Pale Ale wahrscheinlich das speziellste
Bier, was man sich denken kann«, so Oliver von der Brooklyn
Brewery. »Man sollte damit eine Überfahrt von England nach Indien
überstehen können. Es war immer trocken, immer bitter und immer
hell.« Doch auch Bier bleibt von Zeit und Markt nicht unberührt.
Zum Leidwesen Olivers gibt es heute Biere wie etwa das eigentlich
paradoxe Black IPA. Oder im Lagerraum in Denver schenkte mir
Swersey ein Mojo IPA von Boulder Beer aus Colorado ein. »Das ist
ein wirklich hopfiges IPA, gebraut mit Amarillo-Hopfen, der stark
nach Grapefruit schmeckt«, sagte er. Und es habe eine Fichtennote.
»Ein starkes Hopfenöl mit solchen Bestandteilen«, so Swersey,
»ähnelt dem, was man in einer Fichte findet.« All das, so Swersey,
nage jedoch am GABF-Standard für amerikanisches India Pale Ale:
»Hopfen schmeckt kräftig, stark blumig, fruchtig, zitronig, harzig
oder in Amerika schwefelartig.«
Auf einmal ist Swersey hellwach. »Das wurde als starkes Pale Ale
eingereicht«, sagt er mit Blick auf eine andere GABF-Kategorie, mit
geringerem Alkoholgehalt. »Das ist zu tief gegriffen.« Da könne man
genauso einen Schwergewichtsboxer in der Mittelgewichtsklasse
anmelden. Es könne sein, so Swersey, dass Mojo IPA in Amerika als
starkes Pale Ale eingestuft werde, obwohl es als IPA vermarktet
wird. Doch vermutlich sei es eher so, dass sich die IPA-Landschaft
insgesamt verschoben habe und heute hopfiger, also bitterer sei. Ein
einst perfektes IPA wirke darum plötzlich wie ein bloßes Pale-Imitat.
»Dieses Bier ist sieben oder acht Jahre alt«, sagt Swersey.
»Inzwischen sind andere IPAs nachgekommen und haben es
überholt.«
Wie die Perserkatzen hat sich auch das Bier langsam in eine
extremere Richtung entwickelt, obwohl der verschriftlichte
Standard offensichtlich unverändert gültig ist. Betrachten wir eins
der verbreitetsten amerikanischen IPAs, das Sierra Nevada Pale
Ale. Es wurde in den frühen 1980er Jahren erstmals gebraut und
zählt heute zu den beliebtesten Craftbeers im Land. »Damals war
das ein bahnbrechendes Bier, weltweit einmalig«, so Swersey. »Es
hat die Leute verändert.« Heute hätten er und andere Bierbrauer,
die er kenne, noch immer ein »Sierra im Kühlschrank«, aber
mittlerweile liege es weit abgeschlagen hinter einem Mojo. Es
wirke heute wie ein Pale Ale mit Stützrädern. Schon bei der
Bitterkeit sei die Veränderung dramatisch: Ein Sierra Nevada hat
38, ein Mojo 70 Bittereinheiten.
Kategorien prägen die Geschmackslandschaft. Beim GABF-
Wettbewerb haben sogar die großen Mainstream-Biere wie
Budweiser oder Pabst Blue Ribbon, die industriell gebrauten,
geschmacksneutraleren Biere also, gegen die sich die Craft-
Bewegung bewusst abgrenzt, ihre eigene Kategorie:
amerikanisches Lagerbier. (»Schmeckt nicht oder kaum nach
Hopfen«; »Oft wird Mais, Reis, anderes Getreide oder Zucker
zugesetzt.«) Ich fand das ein wenig merkwürdig. Genauso gut
könnte das alternative Sundance Film Festival eine Kategorie
»Große Hollywood-Actionfilme« einführen. Aber es zeigt die Macht
der Kategorien. Ehe man weiß, ob etwas gut ist, muss man erst mal
wissen, gut als was?
Mancher würde Budweiser nicht als »echtes« Bier bezeichnen.
Viele trinken Budweiser allerdings gern. Der US-Biermarkt
verharre, so die Wirtschaftsprofessoren David Choi und Martin
Stack, »in einem suboptimalen Gleichgewicht, wobei die meisten
Verbraucher nicht wissen, welche Biere es gibt und wie ein Bier
schmecken kann«. 77 Aber warum nicht? Schuld sei die Prohibition.
Die Leute hätten schlichtweg vergessen, wie Bier schmeckt. Nach
der Prohibition braute man dann, vielleicht unter dem Einfluss von
Softdrinks, Biere mit höherem Kohlensäuregehalt und stetig
abnehmenden Malz- und Hopfenanteilen. Die Biere verloren
förmlich an Geschmack. Hinzu komme, dass Bier nach der
Prohibition nicht mehr aus dem Fass kam, sondern in Flaschen und
Dosen abgefüllt und zudem »eiskalt« serviert wurde, was die
Geschmacksnerven »betäubt«. Unter Bier »hat sich der
Verbraucher mit der Zeit eine zunehmend schmalere
Geschmackspalette vorgestellt«. Und warum sollte man das Bier
verändern, wenn das, was man trinkt, gut genug ist und vor allem
Bier? Mit einer eigenen Kategorie für diese Biere umschifft das
GABF diese heikle Frage.
Wie bei den Katzen begegnete ich bei dem Bier quasi einer
Endlosschleife. Was ist ein gutes Bier? Ein gutes Bier muss dem
Standard entsprechen. Was bestimmt den Standard? Was für die
Leute ein gutes Bier ist. Nochmal von vorn. Oder: Ein gutes Bier
muss dem Standard optimal entsprechen. Warum hat sich der
Standard dann verändert? Weil die Leute heute unter einem guten
Bier etwas anderes verstehen. Heißt das, ein Bier, das früher gut
war, ist jetzt nicht mehr gut?
Doch kann es überhaupt ein universell gutes Bier oder eine
universell gute Katze geben? In seiner Kritik der Urteilskraft war
der Philosoph Immanuel Kant der Meinung, unsere Vorlieben seien,
was das »Angenehme« wie Wein oder Bier oder Katzen betreffe,
hoffnungslos subjektiv:

Dem einen ist die violette Farbe sanft und lieblich, dem andern tot
und erstorben. Einer liebt den Ton der Blasinstrumente, der andre
den von den Saiteninstrumenten. Darüber in der Absicht zu
streiten um das Urteil anderer, welches von dem unsrigen
verschieden ist, gleich als ob es diesem logisch entgegengesetzt
wäre, für unrichtig zu schelten, wäre Torheit; in Ansehung des
Angenehmen gilt also der Grundsatz: ein jeder hat seinen eigenen
Geschmack (der Sinne). 78

Ein Geschmacksurteil ist, so Kant, nur »sofern rein, als kein bloß
empirisches Wohlgefallen dem Bestimmungsgrunde desselben
beigemischt wird.«79 Nach Kant sind die Geschmacksurteile der
Richter auf der Katzenausstellung oder dem Beer Festival zwar
»interesselos«, weil sie eigene Vorlieben zugunsten allgemeiner
Kriterien zurückstellen, aber dass die zu bewertenden Objekte
unter bestimmten Begriffen betrachtet werden, macht die Urteile
verdächtig. Wer diese »Regeln«, »nur generale (wie die empirischen
alle sind), nicht universale Regeln«,80 festlegt, »setzt einen Begriff
vom Zwecke voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll,
mithin einen Begriff seiner Vollkommenheit; und das ist also bloß
adhärierende Schönheit«. 81 Vielleicht hätte Kant über Bier gesagt,
so der Philosoph Matt Lawrence: »Es gibt in dem Bier selber etwas,
das es so großartig macht.«82
Mit seinem berühmten, dornigen und »verbotenen« Text
versuchte Kant, so der Kant-Experte Christian Wenzel, das Problem
zu lösen, das auch für mich bei der Frage nach dem Wandel
ästhetischer Normen auftauchte: Ist Geschmack subjektiv oder
objektiv? »Das Lustgefühl, das mit einem Geschmacksurteil
einhergeht«, so Wenzel, »kann auf der einen Seite nicht völlig
subjektiv sein. Sonst gäbe es keine Rechtfertigung für den
allgemeinen Anspruch, den man damit erhebt. Ein solcher Anspruch
könnte gar nicht erst entstehen, und es käme zu keinen
Auseinandersetzungen über den Geschmack.«83
Man kann eine Katze oder ein Bier also nicht nach Gutdünken als
gut bezeichnen. Denn was wäre das für eine Aussage, und woher
wüssten wir dann, welche Katze besser ist? »Unser Lustgefühl bei
der Betrachtung von Schönheit kann aber auf der anderen Seite«,
so Wenzel, »auch nicht völlig objektiv sein, weil Streitigkeiten in
puncto Geschmack dann, wie in der Physik, mit wissenschaftlichen
Methoden entschieden werden könnten.« Ein Computer könnte uns
dann sagen, welches Bier das beste ist. Unser Geschmack, auf dem
unser Urteil beruht, scheint also eine undurchsichtige Mittelstellung
einzunehmen. Und mit dem Richterwesen gibt man Leuten offenbar
die Möglichkeit, über Geschmack zu reden, ohne wirklich über
Geschmack oder zumindest nicht über persönlichen Geschmack zu
reden.

Was also ist ein gutes Bier? Die Frage stellte ich einer kleinen
Richterrunde am Ende eines langen Festivaltags, an dem die Richter
jede Menge Geschmackstests absolviert hatten. Passender- oder
vielleicht seltsamerweise fand die Unterhaltung bei einem Bier
statt, Pilsner von Left Hand Brewing. »Die Richtertätigkeit
erfordert eine hohe Konzentration«, erklärte mir Jamie Floyd, der
tätowierte, verstrubbelte und offenbar mit endloser Energie
gesegnete Eigentümer von Ninkasi Brewing in Eugene, Oregon. »Da
tut ein schönes, klares Pils einfach gut.«
Die Richter verklickerten mir als Erstes, dass sie natürlich so
analytisch vorgingen wie möglich, aber sie seien schließlich auch
nur Menschen, und jeder habe eben seine Vorlieben. »Wir
versuchen, objektiv zu sein und anhand der detaillierten Richtlinien
zu urteilen«, sagte Brad Kraus, der schlaksige maestro cervecero
mit Cowboy-Hut von der panamesischen Brauerei La Rana Dorada.
»Aber ein bisschen subjektiv müssen wir schon sein, sonst könnte ja
ein Computer unseren Job machen.« Ein Bier kann der Richtlinie
perfekt entsprechen, aber ist es darum schon ein gutes Bier? »Zu
unserer Brauerei gehört ein Analyselabor, aber auch ein
sensorisches Labor«, ergänzte Floyd. »Wir haben beides, eine
Laboreinrichtung trinkt schließlich kein Bier.«
Shanteau hatte mir gesagt, ein Experte zeichne sich unter
anderem dadurch aus, dass er andere davon überzeugen könne, ein
Experte zu sein. Doch die Richter, mit denen ich am Tisch saß,
machten überraschenderweise keinen Hehl aus ihren Zweifeln.
Vorhin war mir aufgefallen, dass die Stout-Richter wie eine
Pokerrunde wirkten: Sie saßen um einen runden Tisch und
begutachteten, was sie vor sich hatten, mit möglichst regloser
Miene. Dabei sind die Biere zufällig gruppiert: Man kann sein
»Blatt« also nicht durch seine Mimik verraten.
Fal Allen, Braumeister von Anderson Valley Brewing, Bartträger
mit schlauem Blick, sagte, häufig würden die Richter zunächst auf
Fehler verweisen. Der Grund dafür könne sein, dass unsere Sinne
Fehler zuerst bemerken. Aber vielleicht sei es auch einfach leichter,
auf Fehler hinzuweisen als vage positive Qualitäten zu verteidigen:
»Heute habe ich es gesagt: ›Mir gefällt dieses Bier.‹ Und jemand
fragte: ›Wow, was daran gefällt dir?‹ Und ich dachte, ›Oh nein, jetzt
muss ich meinen Geschmack vor all diesen Experten begründen und
rede bestimmt Blödsinn.‹ Manchmal ist es einfach leichter, sich die
negativen Punkte herauszupicken.«
Es mag am Richtertisch tausenderlei äußere Einflüsse geben, das
vorherige Bier, die Raumtemperatur oder die Stimmen der anderen
Richter, doch in der rauen Wirklichkeit ist die Frage, warum uns ein
bestimmtes Bier schmeckt, noch viel schwieriger zu beantworten.
Das Bier muss damit nicht einmal was zu tun haben. Kein Mensch
trinkt sein Bier wie ein Richter, ohne die Marke zu kennen, in
winzigen Schlückchen und nur auf das konzentriert, was er im Mund
hat. Ein Richter trinkt nicht zum Vergnügen, sondern mit einem Ziel.
Er isst zwischen zwei Bieren ein Stück Schokolade oder schnüffelt
an seinem eigenen Arm, um seinen Gaumen »auf null zu setzen«.
Wer würde das in der Kneipe tun? »In einer vollen Kneipe gibt es
neben dem Bier noch vieles andere«, sagte Floyd. »Musik,
interessante Menschen, Gerüche oder schiefen Karaokegesang. Da
kann man schon mal drei oder vier Bier runterkippen, ohne dass sie
irgendwie Eindruck machen. Und plötzlich konzentriert man sich auf
das Bier und fragt sich verblüfft: ›Was schmeckt mir überhaupt
daran?‹«
Vorige Woche, so erzählte ich den Richtern, hätte ich mir in einem
Ramen-Laden in Brooklyn eine billige Dose des Biers Pabst Blue
Ribbon genehmigt. Seit meiner College-Zeit hatte ich
wahrscheinlich kein Pabst mehr getrunken und auch keine
besondere Sehnsucht danach verspürt. Doch zufälligerweise erfreut
sich Pabst seit Anfang des 21. Jahrhunderts wachsender
Beliebtheit. 84 Im Jahr 2009 verzeichnete das Bier eine
Absatzsteigerung von 25,9 Prozent, und in den Kneipen wurde es
sogar teurer. Seine Popularität, schrieb der Autor Rob Walker, liege
offenbar an einer seltsamen, das Gesetz von Angebot und
Nachfrage ignorierenden Kombination aus niedrigem Preis,
relativer Knappheit und einer klugen Marketingkampagne, die auf
die »Authentizität« des Biers setzte, ohne die Stammkunden, die
dem Bier diese Authentizität verliehen, zu verprellen. Der
Geschmack des Biers wird, zumindest von den zigtausend
Bewertern auf RateBeer.com, leicht widerstrebend und quasi
entschuldigend so beschrieben: »ein anständiges Bier fürs
Rasenmähen«, »das richtige Bier, wenn man auf einem Konzert in
der Menge steht«, »das perfekte Bier für den Collegestudenten, der
sich einen Aufsatz aus den Fingern saugen muss«. Pabst hat beim
GABF übrigens gerade den ersten Preis in der Kategorie American
Light Lager davongetragen, und wie mir ein Richter glucksend
zuraunte: »Wie könnte es auch anders sein?«

Als ich das Pabst trank, fragte ich mich: Wieso kann ich überhaupt
noch so ein farbloses Bier trinken, wo es heute so viele andere
Biere gibt? Schmeckt es mir »als das, was es ist«, und passe ich
meine Top-down-Erwartungen entsprechend an? Und inwiefern
unterscheidet sich mein Trinkerlebnis von dem eines Pabst-
Liebhabers, dem man auf einmal ein ausgefallenes Craftbeer
kredenzt? Ist sinnliches Vergnügen nur im Verhältnis zum eigenen
Wissen zu haben, oder entsteht es auch aus sich heraus? Die
vielleicht unbedarfteste Antwort würde lauten: Der Pabst-Liebhaber
wird von dem einfach überlegenen Geschmack des Craftbeer so
überwältigt sein, dass er sich fragt: »Mein Gott, wieso habe ich bloß
mein Leben lang so ein Gesöff getrunken?«
In der Craft-Welt begegnet einem hin und wieder der Begriff
»Einsteigerbier«: ein Anfänger-Craftbeer, mit dem man sich
langsam an das Bier gewöhnt, nicht zu ausgefallen, vielleicht sogar
einfach eine gehaltvollere und qualitativ bessere Version der Sorte,
die man gewöhnlich trinkt. Früher war das wohl ein Heineken,
heute vielleicht ein Sam Adams. Doch ein Einsteigerbier allein
genügt nicht, um jemanden zum echten Bierkenner zu machen.
Die Macht der Top-down-Konditionierung kann die
Erwartungshaltung und die Biervorlieben so stark prägen, dass der
Einsteiger das neuartige oder fremde Bier aus der Privatbrauerei
gar nicht als Bier wahrnimmt. Unsere Sinnesorgane mögen keine
Überraschungen. »Wenn jemand zum ersten Mal ein Guinness
trinkt«, sagte Fal Allen, »ist er normalerweise nicht auf das
vorbereitet, was ihn erwartet. Er trinkt und denkt: ›Au Mann, was
soll das sein?‹ Besser sollte man ihm vorher erklären: ›Das
schmeckt anders als die Biere, die du gewohnt bist, schokoladig, und
achte mal auf die Espresso-Note.‹ Dann ist man offener für das, was
kommt.« Ebenso fehl am Platze, fügte Floyd hinzu, sei allerdings
auch die Ankündigung, »das wird dein Leben für immer verändern«.
Jemandem ein teures Trapist Ale hinzuknallen und zu erklären,
»Danach will ich in deinem Kühlschrank keine Coors-Büchse mehr
sehen!, käme nicht so gut«.
Aber was passiert, wenn der Einstieg gelingt? In seiner
Auseinandersetzung mit dem philosophischen Begriff der qualia, der
»Art und Weise, wie wir Dinge subjektiv erleben«, schildert der
Philosoph Daniel Dennett zwei hypothetische Kaffeetester bei
Maxwell House. 85 Nach sechs Jahren in der Firma beichten sie sich
gegenseitig, dass ihnen der Kaffee nicht mehr schmeckt. Aber über
die Gründe sind sie sich uneins. Der eine führt an, seine Standards
hätten sich gewandelt und er sei nun ein besserer Kaffeetester. Der
Geschmack von Maxwell-Kaffee gefalle ihm nicht mehr. Der andere
sagt dagegen, etwas in seinem Wahrnehmungsapparat habe sich
verändert: »Der Kaffee schmeckt jetzt einfach anders.« Würde er
noch genauso schmecken, würde er ihn noch mögen. Dennett
schließt daraus, dass wir »die Frage möglicherweise nicht endgültig
klären können«. Beide Ansichten hätten, wie in der Theorie vom
»Geschmacksobjekt«, etwas für sich, weil das »innere Abbild vom
Kaffee im Gehirn« über zahlreiche neuronale Netze mit den
sensorischen Rezeptoren in unserem Körper interagiere. Wie
könnte der Standard auch unverändert bleiben, wenn sich unsere
Sinne verändern, weil sie »mehr« Kaffee bekommen, und wie könnte
ein veränderter Standard nicht die Sinne verändern, die nun nach
»mehr« verlangen.
Was immer mit den Kaffeetestern passiert ist, es hat sich etwas
verändert. Was für den Einsteigerbierkonsumenten die Frage
aufwirft, was passiert, wenn er wieder »kehrtmacht«. Hat mir das
Pabst, das ich getrunken habe, wirklich geschmeckt? Und wenn ja,
habe ich tatsächlich seinen Geschmack genossen? Oder habe ich
daran gedacht, wie viel ich damit spare? Oder an seinen seltsamen
Hipster-Touch? Oder fühlte ich mich einen Moment lang von den
Mühen des Bierkennertums entlastet und schwelgte in den
einfachen Genüssen?
Der Braumeister Garrett Oliver, ein echter Gourmet, vertraute
mir an, dass er, wenn er jemanden mit einer Tüte White Castle
Cheeseburger hereinkommen sehe, »sofort zehn davon verschlingen
könnte. Ich halte nicht besonders viel von White Castle
Cheeseburgern, aber das ändert nichts daran, dass sie ein Teil
meiner Kindheit sind und ich mir damals kaum Besseres vorstellen
konnte.« Doch sie schmecken nie so gut wie in der Erinnerung.
Wenn wir als Erwachsene die Orte unserer Kindheit, unser Zimmer
oder den Garten, aufsuchen, scheinen sie, wie Dennett feststellt,
plötzlich geschrumpft, weil unser Gedächtnis mit unseren aktuellen
Größenmaßstäben kollidiert. Man kann ein Pabst nicht mehr
genauso trinken wie früher, ebenso wie man sein ehemaliges
Kinderzimmer nicht mit dem Körper und dem Geist des Kindes
erleben kann, das man einmal war.
Aber was ist, wenn der Einstieg einmal geschafft ist? Liegt vor
einem dann ein endloser, Escher-ähnlicher Reigen weiterer
Einstiegstore? Macht es den Menschen glücklicher, wenn er mehr
Biersorten zu genießen weiß und mehr Freuden auskostet, oder
riskiert er damit einen Lust-Kater? »In Oregon sind heute 38
Prozent aller verkauften Biere Craft-Biere«, sagte Floyd. »Die
Leute kennen sich da mit Bier aus. Aber es gibt auch jede Menge
zutiefst unglückliche Biertrinker. Zu Bier fällt ihnen nichts Gutes
mehr ein. Sie merken nur noch, was daran nicht stimmt. Manchmal
haben die Leute, glaube ich, eine so einseitige Wahrnehmung, dass
sie gar nicht mehr wissen, was sie anfangs so begeistert hat.«
Und wer glücklicher ist, ist noch längst nicht ausgemacht: Wer
tagein tagaus ein- und dieselbe, womöglich mittelmäßige Biersorte
trinkt und kaum ahnt, welche Biere er damit verpasst, oder der
wahre Bierkenner, ständig auf der Suche nach Neuem, der alles
kennt und immer ahnt, dass es bestimmt ein noch besseres Bier gibt
als das, das er gerade trinkt? Brad Kraus empfiehlt da einen
pragmatischen Ansatz, eine mittlere Strategie, die, wenn auch
bescheiden, der Weg zum Glück sein könnte: »Die Leute fragen mich
oft: ›Welches Bier trinken Sie am liebsten?‹ Ich habe nicht das eine
Lieblingsbier. Normalerweise sage ich, das, das ich gerade in der
Hand halte. Das hört sich für mich irgendwie gut an.«
Schlussfolgerungen

REINE GESCHMACKSSACHE
Oder doch nicht?

Was ich über die Welt des Geschmacks berichten konnte, klingt eher
beunruhigend. Wir wissen scheinbar oft gar nicht, was und warum
uns etwas gefällt. Unsere Geschmacksvorlieben leiden unter
unserer vielfältig verzerrten und unbewussten Wahrnehmung und
können durch Kontext und soziale Einflüsse sehr leicht ins Wanken
geraten. Dass uns morgen noch dasselbe gefällt wie heute, ist längst
nicht so wahrscheinlich, wie wir denken. Noch unwahrscheinlicher
ist allerdings, dass wir uns später erinnern, warum uns etwas
irgendwann einmal gefiel. Wie wir zudem gesehen haben, sind
selbst Experten nicht unfehlbar und können uns nicht sagen, wo wir
das Wahre und Gute finden oder von welchen Gefühlen sie sich bei
einer Entscheidung leiten lassen. Obwohl unser
Geschmackskompass, der uns bei Speisen, Musik, Kunst oder auch
Joghurtmarken den »richtigen« Weg weist, untrennbar zu unserer
Identität zu gehören scheint, können wir über dieses dauerhaft
aktivierte System kaum bewusst reflektieren. Im Lauf unserer
Betrachtungen haben sich jedoch einige Punkte, winzige Wegweiser
entlang eines verwirrenden, schwierigen Pfads, herauskristallisiert.
Mit diesen Wegweisern, die uns ein wenig Mut machen und etwas
Licht ins Dunkel bringen können, möchte ich dieses Buch beenden,
mit einer Art »Praxisleitfaden für Geschmackssachen« in unserer
Welt der unendlichen Möglichkeiten.

Ob uns etwas gefällt oder nicht, wissen wir, noch ehe wir wissen,
warum. Wir fällen »affektive Urteile« in Millisekunden. In unserer
komplexen Welt ist das eine tolle Fähigkeit, die uns wie ein
effizienter Filter durch unsere pralle Lebenswirklichkeit navigiert.
Doch Kurzbefehle haben ihren Preis: Wir übersehen mitunter, was
uns eigentlich gefallen hätte, sortieren voreilig aus, was uns später
doch gefällt, oder verstehen nicht, wo die wirklichen Gründe
unserer Vorlieben liegen.

Es gibt mehr als »Gefällt mir« oder »Gefällt mir nicht«. In der Welt
der sensorischen Geschmackstests rät man von Aussagen wie
»Gefällt mir« und »Gefällt mir nicht« allgemein ab. Wieso? Weil sie
die Urteilsfähigkeit der Geschmackstester beeinträchtigen.
Vorlieben und Abneigungen sind Top-down-Konzepte, die häufig
verhindern, dass wir Dinge wirklich wahrnehmen. Die Frage, ob uns
etwas gefällt oder nicht, kann ein Gespräch, das eigentlich
interessant zu werden versprach, vorschnell beenden.

Wissen Sie, warum Ihnen etwas gefällt? Erinnern Sie sich noch an
die Leute auf der Landwirtschaftsmesse, denen die eine von zwei
fast identischen Ketchup-Sorten besser schmeckte? Ihre Vorliebe
hatte unbewusste, tief in ihren Kindheitserinnerungen verborgene
Gründe. Wir halten unsere Vorlieben gern für authentisch, doch in
Wahrheit sind sie durch den Kontext beeinflusst (der Wein aus dem
Italienurlaub, der uns besser schmeckte als alles, was wir kennen)
oder durch unsere Erwartung gefärbt (Napa-Valley-Wein ist immer
beliebter als New-Jersey-Wein, egal, wo der Wein herkommt). 1
Unser persönlicher Geschmack kann Ausdruck eines größeren
kulturellen »Rahmens« sein, der uns zur Gewohnheit geworden ist:
So war dem Wissenschaftler Evgeny Yakovlev zufolge der billige,
leicht verfügbare Wodka in Russland jahrzehntelang hochbeliebt,
doch nachdem die Marktbeschränkungen aufgehoben worden
waren, explodierte der Bierkonsum – bei jungen Verbrauchern. 2
Und die älteren Wodka-Liebhaber? Trinken meist weiterhin Wodka.

Erzählen Sie, warum Ihnen etwas gefällt. Die Sprache kann


Vorlieben herauskitzeln. Wenn wir eine sensorische Erfahrung
machen, genügt es uns meistens, dass unsere Sinne ihre Arbeit tun.
»Man kann das mit Worten nicht beschreiben«, lautet das Mantra
der Online-Bewertung. Doch wenn uns gefällt, was wir kennen,
können wir auch nur kennen, woran wir uns erinnern, und wir
erinnern uns an ein Erlebnis besser, wenn wir es in Worte fassen.
Aber Vorsicht: Manchmal erklären wir etwas nur darum zu unserer
Vorliebe, weil es sich leichter begründen lässt als eine Abneigung
oder weil die Qualitäten von dem, was uns eigentlich gefällt, schwer
zu beschreiben sind.

Uns gefällt besser, was wir in Schubladen stecken können. Weil


unser Gehirn in Mustern denkt, sind wir darauf geeicht, die Welt
durch die Brille der Kategorien zu sehen. Und offenbar gefallen uns
Dinge besser, wenn sie so sind, wie sie unserer Vorstellung nach sein
sollten. Welches Foto uns etwa bei der Betrachtung von Fotos
gemischtrassiger Gesichter besser gefällt, hängt, so die Forschung,
von den Kategorien ab, die wir dabei anlegen. 3 So halten wir einen
Amerikaner mit chinesischen Wurzeln möglicherweise für
attraktiver als den Durchschnittsamerikaner, aber für weniger
attraktiv als einen Chinesen. Was wir »kaum kategorisieren«
können, gefällt uns auch kaum, es sei denn, wir bilden neue
Kategorien. Uns gefällt besser, was wir in Schubladen stecken
können, und Schubladen tragen dazu bei, dass uns etwas gefällt –
sogar dann, wenn es eigentlich nicht gut genug ist, um uns zu
gefallen.

Misstrauen Sie dem allzu »Gefälligen«. Weil wir nach perzeptueller


Geläufigkeit und Kontrolle lechzen, reagieren wir oft positiv auf
Dinge, die wir »schnell erfassen« können: der einfache, eingängige
Popsong, das Kunstwerk, dessen Bedeutung und Stil sich sofort
erschließen, der zuckersüße Cocktail. Doch was wir leicht
verarbeiten, bleibt mitunter nicht lange im Gedächtnis, oder der
Reiz führt schon bald zu einem Gefühl der Übersättigung. Was es
uns nicht allzu leicht macht, weil wir es nur durch größere geistige
Flexibilität verstehen können, hält langfristig wohl mehr
Belohnungen in Form von Lustgefühlen für uns bereit. Nur die
wenigsten der heute hochgeachteten Maler der Kunstgeschichte
waren zu ihren Lebzeiten unumstritten.

Uns gefällt, was wir sehen, doch wir sehen auch, was uns gefällt.
Wir interpretieren die Welt durch unsere Sinne, aber unsere Sinne
interpretieren die Welt so, wie sie unserer Vorstellung nach ist.

Lieben heißt Lernen. Der Geschmack »an sich« ist ein Märchen.
Was wir für unsere »natürlichen« Vorlieben halten, ist oft kulturell
erworben und kommt bloß im biologischen Gewand daher.

Uns gefällt, worauf wir uns freuen; uns gefällt, woran wir uns
erinnern. Der Romanautor Julian Barnes nannte die Vorfreude in
Anlehnung an Flaubert »die sicherste Freude«, weil sie nicht durch
die Realität getrübt werde. Die Erinnerung ist eine ähnlich sichere
Bank. Vergangene Freuden bewerten wir nämlich nur selten neu.
Der »momentane« Genuss ist häufig noch für alles offen, ein
neuronales Feuer, das sich noch in beide Richtungen entwickeln
kann.

Neuartigkeit oder Vertrautheit, Konformität oder Distinktion,


Einfachheit oder Komplexität. Die drei Gegensatzpaare und ihr
inneres Spannungsverhältnis können viel zur Erklärung unseres
Geschmacks und seiner Gründe beitragen.

Abneigungen sind schwerer auszumachen, aber aussagekräftiger.


Wir leben heute in einer positiven Welt. Den Bestseller Die Macht
des negativen Denkens hat noch keiner geschrieben. Auf Facebook
gibt es keinen »Gefällt mir nicht«-Button. Wir warten nicht
sehnsüchtig auf »negatives Feedback«. Doch auch wenn wir stets
auf der Suche nach positiven Erfahrungen sind: Unsere
Abneigungen schlagen stärker zu Buche. Unsere Gesichtsmuskeln
arbeiten härter, wenn es uns nicht schmeckt. 4 Wir besitzen viel
mehr Wörter für negative als für positive Emotionen, und eine
einzige negative Aussage fällt unter sonst positiven Bewertungen
schwerer ins Gewicht als eine positive unter sonst negativen.
Abneigungen können mehr über jemanden verraten als Vorlieben.

Reine Geschmackssache oder doch nicht? Wer den persönlichen


Geschmack, auch den eigenen, begründen oder erklären will, begibt
sich stets auf glattes Eis. Doch wie jemand dazu kommt, einen
bestimmten Geschmack zu entwickeln, lässt sich durch
psychologische und soziale Vorgänge erklären, die, ob im
Supermarkt oder Kunstmuseum, meist ähnlich verlaufen.
Interessanter als die Frage, was einem gefällt, ist darum die Frage,
warum einem etwas gefällt.
ANMERKUNGEN

Einleitung
Was ist Ihre Lieblingsfarbe
(und warum haben Sie überhaupt eine)?

1 Siehe Meghan R. Busse, et al., »Projection Bias in the Car and Housing Markets«,
Working Paper 18212, National Bureau of Economic Research, Washington D.C., Juli
2012.

2 Da die Puppen nicht »sehen« konnten, welches Gericht die Kinder bevorzugten,
gingen die Forscher davon aus, dass die Kinder die Puppen bevorzugten, die
dieselben Vorlieben »hatten« wie sie selbst und nicht die, die diesen Geschmack
lediglich »äußerten«, um sich irgendwie beliebt zu machen. Siehe Neha Mehajan und
Karen Wynn, »Origins of ›Us‹ Versus ›Them‹: Prelinguistic Infants Prefer Similar
Others«, Cognition 124, 2012, S. 227–233. In einer anderen Studie verschwand dieser
Effekt, wenn die Puppen sich offensichtlich »unsozial« verhielten. J. Kiley und Karen
Wynn, »Who Knows Whats Good to Eat? Infants Fail to Match the food Preferences of
Antisocial Others«, Cognitive Development 27, 2012, S. 227–239.

3 Wie Paul Rozin feststellt, »geben Eltern, obwohl sie dieselben Gene wie ihre
Kinder haben und die Umgebung ihrer Kinder in den ersten Lebensjahren größtenteils
steuern, ihre Nahrungsmittelpräferenzen und andere Präferenzen eher selten an ihre
Kinder weiter. Die Eltern-Kind-Korrelationen liegen bei Nahrungsmitteln oder Musik
nur bei 0 bis 30.« Rozin, »From Trying to Understand Food Choice to Conditioned
Taste Aversion and Back«,
http://w.american.edu/cas/psychology/cta/highlights/rozin_highlight.pdf.

4
Edmund Burke, Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer
Begriffe vom Erhabenen und Schönen, Hartknoch, Riga 1773, S. 2.

5 Gary Becker, Accounting for Tastes, Harvard University Press, Cambridge, Mass.,
S. 49.

6 Siehe Bryan Caplan, »Stigler-Becker Versus Myers-Briggs: Why Preference-Based


Explanations Are Scientifically Meaningful and Empirically Important«,
http://econfaculty.gmu.edu/bcaplan/pdfs/sbvsmb.pdf.

7 Siehe Paul Albanese, »Introduction to the Symposium on Preference Formation«,


Journal of Behavioral Economics 17, Nr. 1, 1988, S. 1–5. Wie Ernst Fehr und Karla Hoff
zudem schreiben, ist die traditionelle Sicht der Ökonomen – die die Präferenzen von
Individuen und eine Gesellschaft, die daraus resultiert, beschreiben und annehmen,
»dass Präferenzen unabhängig von einer veränderten Gesellschaft bestehen bleiben«
– nachweislich falsch. Siehe Fehr und Hoff, Economic Journal 121, Nov. 2011, S. f396–
f412.

8 Laut Dan Ariely und Michael Norton denken wir häufig, wir würden uns für etwas
entscheiden, weil es das Beste sei, greifen aber eigentlich auf erinnerte vergangene
Entscheidungen zurück, die wir fälschlicherweise für bewusste Entscheidungen halten:
»Wir gehen davon aus, dass Verhalten weniger auf einem hedonistischen Nutzen
gründet, sondern teilweise auf der Beobachtung vergangener Handlungen beruht, die
von im Wesentlichen zufälligen Umständen wie dem Wetter beeinflusst wurden, aber
nun als dauerhafte Vorliebe interpretiert werden.« Ariely und Norton, »How Actions
Create – Not Just Reveal – Preferences«, Trends in Cognitive Science 12, Nr. 1, Jan.
2008, S. 16.

9 Zahlreiche Studien haben versucht, diese Dynamik zu ergründen. Häufig bat man
dazu Probanden, eine Liste zu ordnen, ihr Lieblingsobjekt auszuwählen und die Liste
anschließend erneut zu ordnen. Theoretisch konnte man daraus schließen, dass
Leuten ein Objekt, nachdem sie es ausgewählt hatten, besser gefiel – und ihnen die
nicht ausgewählten schlechter gefielen. Anders gesagt: Ihre Auswahl bestimmte die
Präferenz, nicht umgekehrt. Wie Forscher in einer Studie allerdings feststellten,
würden Anordnungen in einem Versuch mit »freier Wahl« von Natur aus variieren,
auch wenn die »Vorlieben stabil bleiben«. Sie schreiben: »Es scheint so, als würden
den Teilnehmern Objekte besser gefallen, nachdem sie sie ausgewählt haben,
eigentlich fanden sie die höher bewerteten Objekte aber schon ›besser‹, ehe sie sie
auswählten – sofern sie sie auswählten. Die neue Anordnung, die man für eine
Verhaltensveränderung durch die Auswahl halten könnte, sollte man daher besser als
Beleg für die Bedeutung der Information einer Wahl interpretieren.« Siehe M. Keith
Chen und Jane L. Risen, »How Choice Affects and Reflects Preferences: Revisiting the
Free-Choice Paradigm«, Journal of Personal Social Psychology 99, Nr. 4, Okt. 2010,
S. 573–94.

10 Stephen Bayley, Taste: The Secret Meaning of Things, Pantheon, N.Y. 1991, S. Xviii.

11 Siehe William E. Simon und Louis H. Primavera, »Investigation of the ›Blue Seven
Phenomenon‹ in Elementary and Junior High School Children«, Psychological Reports
31, 1972, S. 128ff. Das Phänomen konnte durch zahlreiche weitere Studien belegt
werden; siehe beispielsweise Julian Paciak und Robert Williams, »Note on the ›Blue-
Seven Phenomenon‹ Among Male Senior High Students«, Psychological Reports 35,
1974, S. 394.

12 Louis Jacobs, »The Numbered Sequence as a Literary Device in the Babylonian


Talmud«, Hebrew Annual Review 7, 1983, S. 143.

13 Die bahnbrechende Forschungsarbeit leistete George Miller, »The Magical


Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing
Information«, Psychological Review 63, Nr. 2, 1956, S. 81–87.

14 Siehe beispielsweise Dave Munger, »Is 17 the ›Most Random‹ Number?«,


Cognitive Daily (blog), 5. Feb. 2007,
http://scienceblogs.com/cognitivedaily/2007/02/05/is-17-the-most-random-number/.

15 Laut einer Theorie sind das Äußern von Präferenzen und das Bewusstsein,
inwiefern diese von denen anderer abweichen, wichtige Schritte in der kindlichen
Entwicklung einer Theory of Mind – Theorie des Geistes –, wozu auch die Empathie
gehört.

16 Carol Zaremba Berg et al., »The Survey Form of the Leyton Obsessional
Inventory-Child Version: Norms from an Epidemiological Study«, Journal of the
American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 27, Nr. 6, Nov. 1988, S. 759–763.
17 Siehe Nicholas Christenfeld, »Choices from Identical Options«, Psychological
Science 6, Nr. 1, Jan. 1995. Die Präferenz für die mittleren Kabinen sorgt
ironischerweise dafür, dass diese am schmutzigsten sind, zumindest laut dem
Mikrobiologen Charles Gerba von der University of Arizona, auch Dr. Keim genannt.
Siehe beispielsweise Elizabeth Landau, »Conquering the ›Ewww‹ Factor of the Public
Potty«, CNN, 9. Dez. 2008,
http://www.cnn.com/2008/HEALTH/10/03/bathroom.hygiene/index.html?eref=rss_latest.

18 Siehe beispielsweise »Ending the Over-Under Debate on Toilet Paper«, NPR,


http://www.npr.org/2015/03/19/393982199/ending-the-over-under-debate-on-toilet-
paper.

19 Laut einem Aufsatz »lassen Studien vermuten, dass eine stark steigende
Sonorität (z.B. blif) gegenüber einer geringer steigenden Sonorität (z.B. bnif)
bevorzugt wird, welche wiederum gegenüber einer gleichbleibenden Sonorität (z.B.
bdif) bevorzugt wird; eine gleichbleibende Sonorität wird jedoch gegenüber einer
sinkenden Sonorität bevorzugt (z.B. lbif)«. Und dies, obwohl »die lexikalische Struktur
des Englischen dem Sprecher wenig Anhaltspunkte für eine Sonoritätshierarchie
bietet«. Siehe Iris Berent et al., »What We Know About What We Have Never Heard:
Evidence from Perceptual Illusions«, Cognition 104, 2007, S. 590–631.

20 Diese Kluft findet sich beinah in jedem kreativen Beruf. Als Erklärung dafür wird
unter anderem angeführt, dass Fachleute und Laien unterschiedliche
Bewertungskriterien anlegen würden. So gaben laut einer Studie zur Architektur »zwar
sowohl Architekten als auch Laien an, dass ein ausdrucksstarkes Gebäude für sie ein
ästhetisch gelungenes Gebäude sei, beide Gruppen nannten aber keine gemeinsamen
konkreten Merkmale, um darüber zu entscheiden, inwiefern ein Gebäude
ausdrucksstark ist«. Die Autoren der Studie empfahlen eine »Kampagne zur geistigen
Versöhnung«, um diesen Unterschied bewusst zu machen. Siehe Robert Gifford et al.,
»Why Architects and Laypersons Judge Buildings Differently: Cognitive Properties and
Physical Bases«, Journal of Architectural and Planning Research 19, Nr. 2, Sommer
2002, S. 131–148.

21 Siehe Stephen Palmer und William Griscom, »Accounting for Taste: Individual
Differences in Preference for Harmony«, Psychonomic Bulletin Review 20, Nr. 3, 2013,
S. 453–461.

22 Teresa Farroni, Enrica Menon und Mark H. Johnson, »Factors Influencing


Newborns’ Preference for Faces with Eye Contact«, Journal of Experimental Child
Psychology 95, Nr. 4, 2006, S. 298–308.

23 Jastrow stellte in seiner Studie fest, dass Frauen Rot bevorzugen. Siehe Joseph
Jastrow, »The Popular Esthetics of Color«, Popular Science Monthly, Jan. 1897. Jastrow
wies allerdings darauf hin, dass nur eine bestimmte Farbpalette zur Auswahl stand
und dass die Vorlieben auch durch die Anordnung der Farben auf der Seite
beeinflusst worden sein könnten. Dennoch belegen zahlreiche Studien, dass Blau
generell beliebt – und Dunkelgelb eher unbeliebt ist. Einen hervorragenden Überblick
über die Forschung zu menschlichen Farbpräferenzen findet sich in: A. Hurlbert und Y.
Ling, »Understanding Colour Perception and Preference«, Colour Design: Theories
and Applications, Hrsg. Janet Best, Woodhead, Oxford 2012, S. 129, 157. Die Autoren
weisen darauf hin, man müsse »trotz der allgemein so überzeugenden Argumente
betonen, dass weder die Vertreter der Evolution noch der Ontogenese ihre These
belegen konnten. Die Frage, inwiefern Präferenzen genetisch festgelegt oder
individuell formbar sind, ist noch zu beantworten.«

24 Chloe Taylor et al., »Color Preferences in Infants and Adults Are Different«,
Psychonomic Bulletin and Review 20, Nr. 1, Feb. 2013.

25 Siehe Nathan Heller, »The Cranky Wisdom of Peter Kaplan«, New Republic,
14. Sept. 2012.

26 Karen Schloss, Rosa Poggesi und Stephen Palmer, »Effects of University


Affiliation and ›School Spirit‹ on Color Preferences: Berkeley Versus Stanford«,
Psychonomic Bulletin Review 18, 2011, S. 498–504.

27 Karen Schloss und Stephen Palmer, »The Politics of Color: Preferences for
Republican Red Versus Democratic Blue«, Physochonomic Bulletin Review 21, Nr. 2,
April 2014. Der Effekt lässt sich demnach für Nicht-Wahltage nicht belegen. Dies
könnte daran liegen, dass die Republikaner allgemein mit Blau und die Demokraten
mit Rot assoziiert werden. In den Medien werden »Rotes Amerika« und »Blaues
Amerika« erst in letzter Zeit verwendet. »Als der Republikaner Reagan 1984 die
Präsidentschaftswahlen gewann«, so die Autoren, »wurden die Reagan-Siege auf den
Wahlkreiskarten blau gekennzeichnet, und man nannte die entsprechenden Regionen
den ›Vorstadt-Swimmingpool‹«.

28 Der Hauptvertreter dieser Denkrichtung ist Itamar Simonson. Er hält konstruierte


Präferenzen gewissermaßen für einen Forschungsfehler: »Die Literatur zur
konstruierten Präferenz beschränkt sich größtenteils auf begrenzte Entscheidungen
und sagt wenig über dauerhafte Präferenzen aus.« Innovationen wie die Nintendo Wii
sprechen laut Simonson angeborene Präferenzen an. Dass jemandem etwas gefällt,
das er bislang ablehnte, sei ein »nachträglicher Indikator für die angeborene
Präferenz«. Simonson, »Will I Like a ›Medium‹ Pillow? Another Look at Constructed
and Inherent Preferences«, Journal of Consumer Psychology 18, 2008, S. 155–169.
Kritiker entgegneten jedoch, dass Simonson eine »unfalsifizierbare« Bedingung
aufgestellt habe, da wir nicht wissen können, ob jemand, der eine Vorliebe für etwas
entwickelt, was er bisher ablehnte, sich bloß daran gewöhnt hat oder es ihm
eigentlich schon immer gefiel – ohne es zu wissen. Siehe James Battman et al.,
»Preference Construction and Preference Stability: Putting the Pillow to Rest«, Journal
of Consumer Psychology 18, 2008, S. 170–174.

29 Mehr zu diesem Thema siehe Jo Paoletti, Pink and Blue: Telling the Boys from the
Girls in America, Indiana University Press, Bloomington 2013.

30 Siehe Saeideh Bakhshi, David A. Shamma und Eric Gilbert, »Faces Engage Us:
Photos with Faces Attract More Likes and Comments on Instagram«. ACM:
Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems, 2014,
S. 965–974.

31 Wie der Philosoph Karl Duncker schreibt, können »das Unlustgefühl bei
Zahnschmerzen und das Lustgefühl beim Anblick einer schönen Landschaft nur
schwer koexistieren, und zwar weniger, weil der unterschiedliche hedonistische Tonus
entgegengesetzte Signale mit sich bringt, sondern weil die zugrundeliegenden
Erfahrungen oder Haltungen unvereinbar sind.« Siehe Duncker, »On Pleasure,
Emotion, and Striving«, Philosophy and Phenomenological Research 1, Nr. 4, Juni
1941, S. 391–430.

32 C. Geroldi et al., »Pop Music and Frontotemporal Dementia«, Neurology 55, 2000,
S. 1935f. In einem anderen Fall ging die ästhetische Kehrtwende eher in die andere
Richtung: Wie mehrere Neurowissenschaftler berichten, wurde bei einem Patienten
mit vorübergehender linksseitiger Lobektomie aus einer Vorliebe für Hardrock
plötzlich eine Vorliebe für »polyphonen keltischen und korsischen Gesang«. Der
Patient sei »von seiner Geschmacksveränderung überrascht worden und hielt sie nicht
für ein Zeichen von Reife, sondern bedauerte sie«. François Sellal et al., »Dramatic
Changes in Artistic Preference After Left Temporal Lobectomy«, Epilepsy and
Behavior 4, 2003, S. 449f.

33 Siehe beispielsweise Daniel J. Graham, Simone Stockinger und Helmut Leder, »An
Island of Stability: Art Images and Natural Scenes – but Not Natural Faces – Show
Consistent Esthetic Response in Alzheimer’s-Related Dementia«, Frontiers in
Psychology 4, März 2013, Artikel 107. Wie die Studie herausfand, war die Erinnerung
an Fotos von Gesichtern wesentlich unstabiler als die Vorliebe für Landschaftsmalerei
und andere Gemälde. Laut den Autoren waren die Alzheimerpatienten beim
Betrachten von Gesichtern eventuell durch eine »kognitive Interferenz« beeinträchtigt,
etwa durch den nagenden Gedanken, das Foto irgendwo schon einmal gesehen zu
haben. Gemälde hingegen können vermutlich »einfacher nach ästhetischen Regeln
bewertet werden, mit weniger Interferenzen aus Gesichtserkennung und
Wahrnehmungssystemen«.

34 R. Haller et al., »The Influence of Early Experience with Vanillin on Food


Preference Later in Life«, Chemical Senses 24, Nr. 4, 1999, S. 465ff. Die Autoren
weisen auf den interessanten Punkt hin, »dass Kinder, lange bevor sie sprechen
können, von der Flasche entwöhnt werden« und das Experiment darum nahelege, dass
es ein vom »Sprachgedächtnis« unabhängiges »Geruchsgedächtnis« gebe. Wir
erinnern uns demnach an einen Geruch, ohne zu wissen, was für ein Geruch es ist.

35 Kevin Melchionne merkt interessanterweise an, dass »wir unsere unmittelbare,


sinnliche Reaktion auf Nahrungsmittel nur schwer anzweifeln – selbst wenn wir über
die Gründe dafür nichts Genaues sagen können – und dieses Vertrauen in unser
eigenes Urteil auf andere Bereiche wie Kunst, wo wir wissen müssen, was uns gefällt,
übertragen«. Siehe Melchionne, »On the Old Saw ›I Know Nothing About Art but I
Know What I Like‹«, Journal of Aesthetics and Art Criticism 68, Nr. 2, Frühjahr 2010,
S. 131–140.

36 Siehe Claudia Fritz et al., »Player Preferences Among New and Old Violins«,
PNAS 109, Nr. 3, 2012, S. 760–763. Die meisten Musiker konnten in der Studie die
alten nicht von den neuen Instrumenten unterscheiden. Kritisiert wurde, dass die
Studie in einem Hotelzimmer stattfand. Doch als man die Folgestudie an anderen
Orten wie Proberäumen und Konzertsälen durchführte, wurden die neuen Instrumente
von mehr Musikern bevorzugt. Fritz weist allerdings darauf hin, dass »wir nicht wissen
können, inwiefern unsere alten und neuen Testinstrumente repräsentativ sind«, – was
man auch über die Musiker sagen könnte – »und die Ergebnisse daher nicht auf eine
größere Zahl guter Violinen übertragen werden können«. Man darf aber jedenfalls
vermuten, dass die Leute an alten italienischen Geigen vor allem die Vorstellung
lieben, dass es sich um eine alte italienische Geige handelt, und weniger die
inhärenten Klangeigenschaften. Fritz et al., »Soloist Evaluations of Six Old Italian and
Six New Violins«, PNAS 111, Nr. 20, 2014, S. 7224–7229.

37 Englischer Originaltitel: Strangers to Ourselves.

38 Siehe Timothy Wilson, »Self-Knowledge and the Adaptive Unconscious«, in:


Neuroscience and the Human Person: New Perspectives on Human Activities, Pontifical
Academy of Sciences, Scripta Varia 121, Vatikanstadt 2013.

39 Ein Grafiker entwickelte ein Buch mit Gesichtserkennung, das sich erst öffnen
ließ, wenn das Gesicht des Lesers vollkommen neutral war und daher keine Vorurteile
einflossen. Siehe Alison Flood, »The Book That Judges You by the Cover«, Books
(blog), Guardian, 2. Feb. 2015,
http://www.theguardian.com/global/booksblog/2015/feb/02/book-judges-you-by-your-
cover-moore-thijs-biersteker.

40 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Suhrkamp, Frankfurt 2012, 22. Aufl.,
S. 142.

1
Was hätten Sie denn gern?

1 Siehe Paul Rozin, »Preadaptation and the Puzzles and Properties of Pleasure«, in:
Well-Being: Foundations of Hedonic Psychology, Hrsg. Daniel Kahneman, Edward
Diener und Norbert Schwarz, Russell Sage Foundation, New York 1999, S. 114.

2 Curt P. Richter, »Experimentally Produced Reactions to Food Poisoning in Wild


and Domesticated Rats«, Annals of the New York Academy of Science 56, 1953, S. 225–
239. Hier muss angemerkt werden, dass Richter vermutlich mehr zum Verständnis des
Rattenverhaltens beigetragen hat als jeder andere. Wie es an einer Stelle heißt:
»Richter führte von 1919 bis 1977 fortlaufend Forschungsprojekte zu
psychobiologischen Phänomenen bei Ratten durch: zur spontanen Aktivität,
biologischen Uhr, zu den physiologischen Auswirkungen der Adrenalektomie, zu
Selbstauswahl von Nährstoffen, Vergiftung, Stress und Domestizierung.« Siehe Mark
A. Suckow, Steven H. Weisbroth und Craig L. Franklin, Hrsg., The Laboratory Rat,
Academic Press, New York 2005, S. 14.

3 Siehe beispielsweise Léri Morin-Audebrand et al., »The Role of Novelty Detection


in Food Memory«, Acta Psychologica 139, 2012, S. 233–238. Wie die Autoren
ausführen, »braucht man normalerweise lange, um zehn Unterschiede in zwei
ähnlichen Rätselbildern zu finden, bemerkt aber sofort, wenn sich Nahrungsmittel
auch nur im Geringsten in Geruch, Geschmack und Mundgefühl unterscheiden, auch
wenn man die Unterschiede dann nicht beschreiben kann.«

4 Wie der berühmte Psychologe Wilhelm Wundt vor über einem Jahrhundert
schrieb: »Lässt man die Empfindung Süß allmählich bei gleicher Stärke in Sauer oder
Bitter übergehen, so bemerkt man, dass das Saure, und noch mehr das Bittere, bei
gleicher Empfindungsintensität eine stärkere Gefühlserregung als das Süße
hervorbringt.« Siehe Wilhelm Max Wundt, Grundriß der Psychologie, Engelmann,
Leipzig 1896, S. 92.

5 Siehe beispielsweise Gillian Harris, »Development of Taste and Food Preferences


in Children«, Current Opinion in Clinical Nutrition and Metabolic Care 3, Nr. 3, Mai
2008, S. 315–319.

6 B. J. Cowart, G. K. Beauchamp und J. A. Mennella, »Development of Taste and


Smell in the Neonate«, in: Fetal and Neonatal Physiology, 3. Aufl., Bd. 2, Hrsg. R. A.
Polin, W. W. Fox und S. H. Abman, W. B. Saunders, Philadelphia 2004, S. 1819–1827.

7 Dieses Detail stammt aus Robert P. Erickson, »A Study of the Science of Taste: On
the Origins and Influence of the Core Ideas«, Behavioral and Brain Sciences 31, 2008,
S. 59–105.

8 J. E. Steiner, »The Gustofacial Response: Observation on Normal and


Anencephalic Newborn Infants«, in: Symposium on Oral Sensation and Perception – IV
(Development in the Fetus and Infant), Hrsg. J. F. Bosma, Bethesda, Md.: NIH- DHEW,
1973, S. 254–278.

9 Ein weiterer interessanter Indikator für die Tatsache, dass wir Süße besonders
schätzen, ist laut einer Studie, dass wir uns an die Süße einer Mahlzeit besser
erinnern als etwa an ihre Textur. Sieh Léri Morin-Audebrand et al., »Different Sensory
Aspects of a Food Are Not Remembered with Equal Acuity«, Food Quality and
Preference 20, 2009, S. 92–99.

10 Nicholas Eriksson et al., »A Genetic Variant near Olfactory Receptor Genes


Influences Cilantro Preference«, Flavour 1, Nr. 22, 2012.

11 Siehe JinLiang Xue und Gary D. Dial, »Raising Intact Male Pigs for Meat:
Detecting and Preventing Boar Taint«, Swine Health and Production 5, Nr. 4, 1997,
S. 151–158. Die Vielfältigkeit der sensorischen Empfindung belege, so schreiben die
Autoren, auch die Tatsache, dass Ebergeruch mit den verschiedensten angenehmen
und unangenehmen Gerüchen verglichen wurde. »Fleisch mit Ebergeruch wurde als
›widerlich‹ oder ›Eber‹-geruch, als ähnlich wie Zwiebeln, Schweiß, Urin, Parfüm, Holz,
Moschus oder ›Elfenbein‹-Seife beschrieben; er rieche süß, fruchtig, nach Ammoniak
und Tier, nach Fäkalien oder bitter.«

12 Jane Wardle und Lucy Cooke schreiben über die berühmte Aversion von
»Superschmeckern« gegenüber der sogenannten chemischen PROP-Verbindung: »Die
Vorstellung, dass eine unterschiedliche Geschmackssensibilität der Grund für die
Ablehnung von Nahrungsmitteln sei, klingt verlockend, aber wie sich nachweisen
lässt, hat die Fähigkeit, PROP zu schmecken, nur wenig Einfluss auf
Nahrungsmittelpräferenzen im Alltag.« Siehe Wardle und Cooke, »Genetic and
Environmental Determinants of Children’s Food Preferences«, Supplement, British
Journal of Nutrition 99, Nr. S. 1, 2000, S. 15–21.

13 Martin Yeomans, »Development of Human Learned Flavor Likes and Dislikes«, in:
Obesity Prevention: The Role of Brain and Society on Individual Behavior, Hrsg.
Laurette Dubé et al., Academic Press, New York 2010, S. 164.

14 Siehe Peter H. Gleick, Bottled and Sold: The Story Behind Our Obsession with
Bottled Water, Island Press, New York 2010, S. 81.

15 Siehe »Plant Guide«, U.S. Department of Agriculture, Zugriff am 1. Nov. 2013,


http://plants.usda.gov/plantguide/pdf/pg some.pdf.

16 Und glücklicherweise scheint es, wie ein Forscher schreibt, auch


unwahrscheinlich, dass wir durch Tomaten, Kartoffeln oder andere
Nachtschattengewächse umkommen: »Todesfälle durch Kartoffelgift sind in der
modernen medizinischen Literatur nicht wirklich dokumentiert.« Donald G. Barceloux,
»Potatoes, Tomatoes, and Solanine Toxicity (Solanum tuberosum L., Solanum
lycopersicum L.)«, Disease-a-Month 55, Nr. 6, June 2009, S. 391–402.
17 In dem Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez
erfahren wir über die Hauptfigur: Fermina Daza »verabscheute Auberginen seit ihrer
Kindheit, noch bevor sie diese probiert hatte, da sie immer der Meinung gewesen war,
sie hätten die Farbe von Gift«, García Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera,
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, S. 208. Und Fermina lernte schließlich, Auberginen
zu lieben.

18 Japan Today, 4. Sept. 2001, Zugriff 14. Okt. 2013,


http://www.japantoday.com/category/food/view/eggplant–most–hated–vegetable–
among–kids.

19 Zitat: H. T. Lawless, Sensory Evaluation of Food, Springer, New York 2010, S. 260.

20 Brian Wansink und Jeffery Sobal, »Mindless Eating: The 200 Daily Food Decisions
We Overlook«, Environment and Behavior 39, Nr. 1, 2007, S. 106–123. Von Brian
Wansink gibt es auf Deutsch: Essen ohne Sinn und Verstand, Campus, Frankfurt 2008.

21 Brian Wansink et al., »Dining in the Dark: How Uncertainty Influences Food
Acceptance in the Absence of Light«, Food Quality and Preference 24, Nr. 1, 2012,
S. 209–212.

22 In »Rheologie«-Kreisen ist »knusprig« etwas sehr Spezifisches, das sich von dem
tieferen, länger andauernden »knackig« unterscheidet. In einer Studie heißt es:
»Knusprige Lebensmittel erzeugen hohe Töne mit Frequenzen von über 5 kHz,
knackige Lebensmittel hingegen niedrigere Töne mit Spitzen im Frequenzbereich
zwischen 1,25–2 kHz.« Siehe Mayyawadee Saeleaw und Gerhard Schleining, »A Review:
Crispness in Dry Foods and Quality Measurements Based on Acoustic-Mechanical
Destructive Techniques«, Journal of Food Engineering 105, Nr. 3, 2011, S. 387– 399.

23 Massimiliano Zampini und Charles Spence, »The Role of Auditory Cues in


Modulating the Perceived Crispness and Staleness of Potato Chips«, Journal of
Sensory Studies 19, Nr. 5, Okt. 2004, S. 347–363.

24 Hierzu gibt es zahlreiche Studien, beispielsweise Cynthia DuBose et al., »Effects


of Colorants and Flavorants on Identification, Perceived Flavor Intensity, and Hedonic
Quality of Fruit-Flavored Beverages and Cake«, Journal of Food Science 45, 1980,
S. 1393– 1399.

25 Siehe Lance G. Philips et al., »The Influence of Nonfat Dry Milk on the Sensory
Properties, Viscosity, and Color of Lowfat Milks«, Journal of Dairy Science 78, Nr. 10,
Okt. 1995, S. 2113–2118.

26 Dies wird berichtet in: Herbert Mieselman und Halliday McFie, Food Acceptance
and Consumption, Springer, New York 1996, S. 13. Und bezieht sich auf die Studie: J.
Wheatley, »Putting Color into Marketing«, Marketing, 23.–29. Okt. 1973, S. 67.

27 Carolyn Korsmeyer, Making Sense of Taste: Food and Philosophy, Cornell


University Press, Ithaca, N.Y. 2014, S. 51.

28 Interessanterweise stellten die Forscher fest, dass Stangenbohnen, die ebenfalls


auf den Teller kamen, unabhängig von ihrer Präsentation immer gleich bewertet
wurden. Sie schreiben, was Eltern auf der ganzen Welt bestätigen werden: »Gemüse
hat vielleicht etwas Besonders an sich, das es schwer macht, den Beliebtheitsgrad bei
den Leuten zu verändern.« Debra Zellner et al., »It Tastes as Good as It Looks! The
Effect of Food Presentation on Liking for the Flavor of Food«, Appetite 77, Juni 2014,
S. 31–35.

29 Rozin, »Preadaptation and the Puzzles and Properties of Pleasure«, S. 16.

30
Paul Rozin, J. Haidt und C. R. McCauley, »Disgust«, in: Handbook of Emotions,
Hrsg. M. Lewis und J. M. Haviland-Jones, Guilford Press, New York 2000, S. 638.

31 Tsuyoshi Horio, »EMG Activities of Facial and Chewing Muscles in Human Adults
in Response to Taste Stimuli«, Perceptual and Motor Skills 97, 2003, S. 289–298.

32 Siehe H. A. Chapman et al., »In Bad Taste: Evidence for the Oral Origins of Moral
Disgust«, Science 323, Nr. 5918, 2009, S. 1222–1226.

33
Ebd., S. 644.

34 W. M. Gorman, »Tastes, Habits, and Choice«, International Economic Review 8,


Nr. 2, Juni 1967, S. 218.

35 Siehe Sam Sifton, »Always Be Crisping«, New York Times, 13. Sept. 2012.

36 John S. Allen, The Omnivorous Mind: Our Evolving Relationship with Food,
Harvard University Press, Cambridge, Mass. 2012, S. 36.

37 Siehe Esther K. Papies, »Tempting Food Words Activate Eating Stimulation«,


Frontiers in Psychology 4, 2013.

38Tyler Cowen, An Economist Gets Lunch: New Rules for Everyday Foodies, Penguin,
New York 2012, S. 71.

39 Siehe D. Bernstein, M. Ottenfeld und C. L. Witte, »A Study of Consumer Attitudes


Regarding Variability of Menu Offerings in the Context of an Upscale Seafood
Restaurant«, Journal of Foodservice Business Research 11, Nr. 4, 2008, S. 398–411.

40 Lauren A. Leotti und Mauricio R. Delgado, »The Inherent Reward of Choice«,


Psychological Science 22, Nr. 10, 2011, S. 1310–1318.

41 Daniel T. Gilbert und Timothy Wilson, »Prospection: Experiencing the Future«,


Science, 7. Sept. 2007, S. 1351–1354. Dort heißt es: »Mittels mentaler Simulation
erkennt das Gehirn, was es schon weiß. Bei Entscheidungen über künftige Ereignisse
erzeugt der Cortex Simulationen, lässt die subkortikalen Systeme kurz in dem
Glauben, dass die Ereignisse in der Gegenwart stattfinden, und registriert, welche
Gefühle die Systeme hervorbringen.« Als würden wir die künftigen Lust- oder
Unlustgefühle schon einmal proben.

42 Blaise Pascal, Gedanken, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2012, S. 83.

43 Deutsch: Ich notiere es mir nicht, damit ich mich später daran erinnere. Ich
notiere es mir, damit ich mich jetzt daran erinnere.

44 Daniel Kahneman und Jackie Snell, »Predicting a Changing Taste: Do People


Know What They Will Like?«, Journal of Behavioral Decision Making 5, Nr. 3, Sept.
1992, S. 187–200.

45 Debra A. Zellner et al., »Conditioned Enhancement of Humans’ Liking for Flavor


by Pairing with Sweetness«, Learning and Motivation 14, 1983, S. 338–350.

46 Dies wurde »diversification bias« genannt. Daniel Read und George Loewenstein
führten verschiedene Ursachen dafür an, warum wir uns irrtümlich für mehr
Vielfältigkeit entscheiden, als wir eigentlich wollen. Bei einigen Ursachen liegt eine
Verzerrung vor, bei anderen nicht. Bei Letzteren, so schreiben die Autoren, »suchen
die Leute nach Vielfältigkeit, weil sie das Risiko scheuen und hinsichtlich ihrer
Präferenzen unsicher sind. Vielfalt verringert die Gefahr, wiederholt Unerwünschtes zu
kaufen.« Vielfalt trägt außerdem dazu bei, neue Lieblingsdinge zu finden. Zu den
möglichen Erklärungen gehört auch, dass Leute bei einer Entscheidung »die
Zeiträume zwischen dem Verbrauch subjektiv verkürzen«. Wenn man Leuten die
Möglichkeit gibt, eine Woche lang jeden Tag ihre Lieblingseiscreme zu essen, hört
sich das nach sehr viel Eis an. Aber ein Tag ist lang – und Eiscreme doch lecker.
»Trotzdem setzt schnell die Sättigung ein. Schon nach kurzer Zeit kehren wir
normalerweise zu unserer vorigen Verbrauchsmenge zurück.« Read und Loewenstein,
»Diversification Bias: Explaining the Discrepancy in Variety Seeking Between
Combined and Separated Choices«, Journal of Experimental Psychology: Applied 1,
Nr. 1, 1995, S. 34–49.

47 Siehe E. Robinson, J. Blissett und S. Higgs, »Changing Memory of Food Enjoyment


to Increase Food Liking, Choice, and Intake«, British Journal of Nutrition 108, Nr. 8,
2012, S. 1505–1510.

48 Siehe Yan Zhang, »Buyer’s Remorse: When Evaluation Is Affect-Based Before You
Choose but Deliberation-Based Afterwards«, Ph. D. diss., University of Chicago, Booth
School of Business, 2009.

49 Matthew D. Lieberman et al., »Do Amnesics Exhibit Cognitive Dissonance


Reduction? The Role of Explicit Memory and Attention in Attitude Change«,
Psychological Science 12, 2. März 2001, S. 135–140.

50
Siehe Geraldine Coppin et al., »I’m No Longer Torn after Choice: How Explicit
Choices Implicitly Shape Preference of Odors«, Physical Science 21, 2010, S. 489–493.
Hier heißt es: »Wir konnten das Vorhandensein von veränderten Präferenzen nach
einer Entscheidung nicht nur zeigen, wenn man sich an die Entscheidungen erinnerte,
sondern auch, wenn man sie vergessen hatte.«

51 Tali Sharot et al., »How Choice Reveals and Shapes Expected Hedonic Outcome«,
Journal of Neuroscience, 25. März 2009, S. 3760–3765. Wie die Forscher anmerken,
hatten die Probanden möglicherweise schon eine Urlaubspräferenz, bevor sie sich
entschieden, aber »diese Differenzen waren als Vorentscheidung nicht groß genug,
um sie mit Standardbewertungen als Verhalten zu erfassen«. Aber, so schreiben sie
weiter, »Differenzen nach der Präferenzentscheidung waren groß genug, um mit
derselben Bewertungsskala beobachtet werden zu können. Das entscheidende
Ergebnis ist, dass die Differenz in der Aktivität des Nucleus caudatus, die mit der
gewählten im Gegenteil zur abgelehnten Option assoziiert wurde, sich weiter
verstärkte.« Eine andere Studie stellte fest, dass eine CD besser gefiel, nachdem man
sich dafür entschieden hatte (assoziiert mit einer bestimmten Gehirnaktivität), siehe
Jungang Qin et al., »How Choice Modifies Preference: Neural Correlates of Choice
Justification«, NeuroImage 55, 2011, S. 240–246.
52 Die Autoren weisen darauf hin, dass sie mit ihrer Studie einer Methodenkritik
entgegenwirken wollten, die sich gegen die These richtet, Präferenzen kämen erst
nach der Entscheidung: »Das Hauptargument lautet dabei, dass man Präferenzen
nicht zuverlässig messen könne und es Bewertungsfehler gebe. Weil die Probanden
besser mit der Bewertungsskala vertraut wären, würden sie genauere Bewertungen
abgeben, und ihre veränderte Bewertung nach einer Entscheidung enthülle daher
einfach nur ihre ursprünglichen Präferenzen – die sich durch ihre Entscheidungen
vorhersagen ließen – und deutete nicht auf durch die Entscheidung veränderte
Präferenzen hin.« In dieser Studie werden die Präferenzen jedoch vollständig vom
Entscheidungsprozess abgekoppelt. Siehe Tali Sharot et al., »Do Decisions Shape
Preference? Evidence from Blind Choice«, Psychological Science 9, 2010, S. 1231–
1235.

53 Siehe Carlos Alós-Ferrer et al., »Choices and Preferences: Evidence from Implicit
Choices and Response Times«, Journal of Experimental Social Psychology 48, Nr. 6,
Nov. 2012, S. 1336–1342.

54 Siehe Debra Z. Zellner et al., »Protection for the Good: Subcategorization


Reduces Hedonic Contrast«, Appetite 3, 2002, S. 175–180. Zellner schreibt: »Hierbei
ist darauf hinzuweisen, dass die Probanden auf der Bewertungsskala ausreichend
Raum hatten, um anzugeben, dass die Testreize nicht so gut waren wie die (guten)
Kontextreize, ohne damit anzugeben, dass sie diese nicht mochten.«

55 »Die Vorliebe für die gerade gegessene Mahlzeit nahm hinsichtlich aller
gemessenen Wahrnehmungsvariablen und aller verkosteten Nahrungsmittel zwei
Minuten nach dem Essen am stärksten ab.« Siehe Marion Heterington, Barbara J.
Rolls und Victoria J. Burley, »The Time Course of Sensory-Specific Satiety«, Appetite
12, 1989, S. 57–68.

56 Barbara J. Rolls et al., »How Sensory Properties of Foods Affect Human Feeding
Behavior«, Physiological Behavior 29, 1982, S. 409– 417.

57 Die Abnahme war, auch nach der Sättigung, für die nicht gegessenen
Nahrungsmittel wesentlich schwächer ausgeprägt. Hugo D. Critchley und Edmund T.
Rolls, »Hunger and Satiety Modify the Olfactory and Visual Neurons in the Primate
Orbitofrontal Cortex«, Journal of Neurophysiology 75, Nr. 4, April 1996, S. 1673–1686.

58 Siehe beispielsweise Edmund T. Rolls, »Multisensory Neuronal Convergence of


Taste, Somatosensory, Visual, Olfactory and Auditory Inputs«, in: The Handbook of
Multisensory Processes, Hrsg. Gemma Calvert, Charles Spence und Barry E. Stein, MIT
Press, Cambridge, Mass. 2004, S. 319.

59 Siehe Clara M. Davis, »Results of the Self-Selection of Diets by Young Children«,


Canadian Medical Association Journal, Sept. 1939, S.257–261. Eine exzellente
Darstellung von Kontext und Wirkung der Arbeit von Davis findet man in: Stephen
Strauss, »Clara M. Davis and the Wisdom of Letting Children Choose Their Own
Diets«, Canadian Medical Association Journal, 7. Nov. 2006, S. 1199ff. Wie Strauss
schreibt, plante Davis ein Folgeexperiment, um zu beobachten, was passierte, wenn
die Kinder aus weniger gesunden, verarbeiteten Nahrungsmitteln wählen konnten.
»Doch leider kam es nicht dazu: ›Die Depression machte alle Hoffnung zunichte‹,
bemerkte Davis lakonisch, als der Geldmangel sie 1931 zwang, das erste Experiment
zu beenden.«
60
F. Zampollo et al., »Food Plating Preferences of Children: The Importance of
Presentation on Desire for Diversity«, Acta Paediatrica 101, 2012, S. 61–66. Wie es in
derselben Studie heißt, wünschten sich die Kinder offenbar maximal sieben
Lebensmittel und Farben.

61 Barbara J. Rolls, Edward A. Rowe und Edmund T. Rolls, »How Sensory Properties
of Foods Affect Human Feeding Behavior«, Appetite 12, 1989, S. 57–68. Die Forscher
führten auch ein interessantes Nudel-Experiment durch, um festzustellen, ob die
»Form« von Nahrungsmitteln – Farfalle, Hoops und Spaghetti – Einfluss auf die
sinnesspezifische Sättigung hat. Wie sie berichteten, »nahm die Vorliebe für die
bereits gegessenen Formen stärker ab als die für noch nicht gegessene Formen«.

62 Andrea Maier, Zata Vickers und J. Jeffrey Inman, »Sensory-Specific Satiety, Its
Crossovers, and Subsequent Choice of Potato Chip Flavors«, Appetite 49, 2007,
S. 419–428.

63 Robert J. Hyde und Steven A. Witherly, »Dynamic Contrast: A Sensory


Contribution to Palatability«, Appetite 21, 1993, S. 1–16.

64 Elizabeth Capaldi schreibt: »Unsere Gewohnheit, nach der Mahlzeit ein Dessert
zu essen, verstärkt unsere Vorliebe für den süßen Geschmack, weil wir die
›postingestiven‹ Wirkungen der Mahlzeit stärker mit dem Dessert assoziieren als mit
der Mahlzeit.« Siehe Capaldi, »Conditioned Food Preferences«, Psychology of
Learning and Motivation, Hrsg. Douglas Medin, Academic Press, San Diego 1992, S. 9.

65 Elizabeth Rode, Paul Rozin und Paula Durlach, »Experience and Remembered
Pleasure for Meals: Duration Neglect but Minimal Peak, End (Recency) or Primacy
Effects«, Appetite 49, 2007, S. 18–29.

66 Ebd.

67 William C. Davis, A Taste for War: The Culinary History of the Blue and the Gray,
Stackpole Books, Mechanicsburg, Pa. 2003, S. 22.

68 Dies zeigt sich wohl nur, wenn extrinsische und intrinsische Informationen
zueinander passen. In einer faszinierenden Studie reichte man Leuten Wein zum
Kosten, der sauer sei, da ein schlechter Jahrgang – andere Probanden erhielten
hingegen keine Information zu dem Wein. Manchen Probanden gab man einfach den
Wein, für andere war der Wein angeblich mit einer »Wunderfrucht« gewürzt, die das
Saure in Süßes verwandelt. Denjenigen, die den sauren Wein ohne »Wunderfrucht«
tranken, gefiel er weniger als denen, die keine Information zum Wein erhielten. Wer
die Wunderfrucht-Version trank und die Information erhielt, der Wein sei eigentlich
sauer, mochte den Wein lieber als diejenigen, die keine Informationen erhielten. Wie
die Autoren schreiben, »wurde der Wein besser bewertet, wenn er als eigentlich sauer,
aber nun verbessert angekündigt wurde, als wenn der Kontrast zu diesem
extrinsischen Signal fehlte.« Kurzum: Die Leute ließen sich nicht von der Information,
der Wein sei sauer, beeindrucken, wenn dies angeblich nicht sein konnte. Siehe Ab Litt
und Baba Shiv, »Manipulating Basic Taste Perception to Explore How Product
Information Affects Experience«, Journal of Consumer Psychology 22, Nr. 1, Jan. 2012,
S. 55–66.

69 Siehe Issidoros Sarinopoulos et al., »Brain Mechanisms of Expectation


Associated with Insula and Amygdala Response to Aversive Taste: Implications for
Placebo«, Brain, Behavior and Immunity 20, Nr. 2, März 2006, S. 120–132.
70 Siehe Gerard J. Connors et al., »Extension of the Taste-Test Analogue as an
Unobtrusive Measure of Preference for Alcohol«, Behavioral Research and Therapy 16,
1978, S. 289ff. Die Autoren schreiben: »Wenn Probanden schätzen sollten, wie viel
Alkohol sie bei dem Geschmackstest getrunken hatten, lag die durchschnittliche
Schätzung bei 100 ml; die Werte variierten dabei von 30 bis 300 ml.«

71
Siehe Joel Wolfson und Naomi S. Oshinsky, »Food Names and Acceptability«, The
Journal of Advertising Research 6, 1961, S. 21ff.

72 Martin R. Yeomans et al., »The Role of Expectancy in Sensory and Hedonic


Evaluation: The Case of Smoked Salmon Ice-Cream«, Food Quality and Preference 19,
Nr. 6, Sept. 2008, S. 565–573.

73 Melissa Clark, »The Best in the Box«, New York Times, 5. Feb. 2003.

74
Armand Cardello et al., »Role of Consumer Expectancies in the Acceptance of
Novel Foods«, Journal of Food Science 50, 1985, S. 1707–1714.

75 Siehe Wei Xiao, »The Competitive and Welfare Effects of New Product
Introduction: The Case of Crystal Pepsi«, Food Marketing Policy Center, Research
Report Number 112, University of Connecticut, Nov. 2008.

76 Larry Brown, »A New Generation: Pepsi Offers Clear Choices«, Seattle Times,
13. Jan. 1993.

77 David Novak, »It Tasted Great in the Lab«, Conference Board Review,
http://tcbreview.com/tcbr-quick-insights/it-tasted-great-in-the-lab.html.

78 Lawrence Garber, Eva Hyatt und Richard Starr, »The Effects of Food Color on
Perceived Flavor«, Journal of Marketing Theory and Practice 8, 2003, S. 59–72.

79 Eine gute Geschichte der Nahrungsmittelforschung bei Natick und den


Vorläuferbehörden findet man in: Herbert L. Meiselman und Howard G. Schutz,
»History of Food Acceptance Research in the U.S. Army«, Appetite 40, 2003, S. 199–
216.

80 Siehe beispielsweise Warren D. Smith, »Rating Scale Research to Scale Voting«,


http://www.rangevoting.org/RateScaleResearch.html. Die Originalquelle lautet D. R.
Peryam und F. J. Pilgrim, »Hedonic Scale Method of Measuring Food Preferences«,
Food Technology, Sept. 1957, S. 9–14.

81 »Optimizing the Sensory Characteristics and Acceptance of Canned Cat Food:


Use of a Human Taste Panel«, Journal of Animal Physiology and Animal Nutrition 93,
Nr. 1, 2009, S. 52–60.

82 Siehe Meiselman und Schutz, »History of Food Acceptance Research in the


U.S. Army«.

83Komplexere Methoden wie das »Magnitude-Estimation«-Verfahren versuchen,


dem Problem Rechnung zu tragen.

84 Timothy Wilson et al., »Introspecting About Reasons Can Reduce Post-choice


Satisfaction«, Personal Social Psychology Bulletin 18, Nr. 3, Juni 1993, S. 331–339.

85 Siehe Richard Popper und Daniel R. Kroll, »Just-About-Right Scales in Consumer


Research«, Chemosense 7, Nr. 3, Juni 2005. Demnach treten bei anderen Verfahren,
die nicht die Intensität eines bestimmten Merkmals messen, weniger Abweichungen
auf – obwohl die gemessenen Merkmale dieselben sind. »Bei der Beantwortung von
JAR-Fragen müssen die Probanden darüber nachdenken, inwiefern das Produkt von
einem Ideal abweicht, und dadurch denken sie vermutlich über Gründe nach, warum
ihnen das Produkt gefällt oder nicht. Bei Fragen zur Intensität ist das dagegen nicht
der Fall.«

86 Wie Cardello einmal schrieb, scheint es, »dass eine Nahrungsmittelpräferenz


eigentlich eine Bilanz, ein idealisiertes Bild oder eine Gedächtnisspur des
Nahrungsmittels ist und das aktuelle Gericht darum nie so gut oder schlecht wie das
Abbild im Gehirn ist«. Siehe A. V. Cardello und O. Maller, »Relationship Between Food
Preferences and Food Acceptance Ratings«, Journal of Food Science 47, 1982,
S. 1553–1557.

87Lyle V. Jones, David B. Peryam und L. L. Thurstone, »Development of a Scale for


Measuring Soldiers’ Food Preferences«, paper presented at the Fourteenth Annual
Meeting of the Institute of Food Technologists, Los Angeles, 29. Juni 1954.

88 Siehe beispielsweise Seo-Jin Chung und Zata Vickers, »Influence of Sweetness on


the Sensory-Specific Satiety and Long-Term Acceptability of Tea«, Food Quality and
Preference 18, 2007, S. 256–264. Wie sie in der Studie feststellten, verändert sich die
ideale Süße für die Probanden mit der Zeit. »Im Laufe der neunzehn Testtage
verbesserte sich die Bewertung für den schwach gesüßten Tee und lag schließlich
genauso hoch wie die für den optimal gesüßten Tee in der zweiten Hälfte der Studie.«
Und in einer anderen Studie stellten Vickers und ihre Kollegen fest, dass der süßeste
Joghurt zwar am besten bewertet, aber davon weniger gegessen wurde. Was uns
gefällt, ist nicht immer der sicherste oder einzigste Anhaltspunkt für unsere
Präferenzen. Siehe Z. Vickers, E. Holton und J. Wang, »Effect of Ideal-Relative
Sweetness on Yogurt Consumption«, Food Quality and Preference 12, 2001, S. 521–
526.

89
Siehe Rebecca K. Ratner, Barbara E. Kahn und Daniel Kahneman, »Choosing
Less-Preferred Experiences for the Sake of Variety«, Journal of Consumer Research 26,
Nr. 1, Juni 1999, S. 1–15.

90 Siehe Tyler Cowen, »But We Just Had Indian Food Yesterday!«, Marginal
Revolution, 16. Okt. 2013,
http://marginalrevolution.com/marginalrevolution/2013/10/but-we-just-had-indian-
food-yesterday.html.

91 Siehe Jeff Galak und Joseph P. Redden, »Variety Amnesia: Recalling Past Variety
Can Accelerate Recovery from Satiation«, Journal of Consumer Research 36, Dez.
2009, Zugriff am 1. Nov. 2013, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?
abstract_id=1344541. Was Cowens Problem betrifft, schreiben sie: »Die aktuellen
Erkenntnisse halten für Verbraucher, die gegen die Sättigung ankämpfen wollen,
brauchbare Handlungsanweisungen bereit. Die Empfehlung ist klar: Wer sein
Lieblingserlebnis auch in Zukunft noch lieben will, sollte einfach an alle anderen
entsprechenden Erlebnisse der letzten Zeit denken. Wenn Sie beispielsweise in der
bekannten Situation sind, dass Sie schon wieder dasselbe zu Mittag essen müssen,
sollten Sie an all die anderen Dinge denken, die Sie seit dem gestrigen Mittagessen zu
sich genommen haben. Wie unsere Erkenntnisse zeigen, wird Ihnen das Mittagessen
dann ein wenig besser schmecken.«

92 Meiselman und Schutz, »History of Food Acceptance Research in the U.S. Army«.

93 E. P. Köster, »The Psychology of Food Choice: Some Often Encountered Fallacies«,


Food Quality and Preference 14, 2003, S. 359–373. In einer persönlichen
Korrespondenz führte Köster aus: »Ich denke, dass es beim Essen am Ende des Tages
eigentlich nur darum geht, unsere Bedürfnisse zu stillen. Unsere Tagesplanung und
unsere sonstigen Aktivitäten sind uns wichtiger.« Manche Leute, so Köster, scheinen
hochzufrieden, wenn sie tagtäglich das Gleiche essen, was er einst für
unwahrscheinlich gehalten habe. »Mein Glaube wurde durch zwei Ereignisse
erschüttert. In einem kleinen indianischen Dorf in Suriname aßen die Leute jeden Tag
Cassava, weil es nichts anderes gab, und schienen ganz zufrieden. Aber wenn es
möglich war, aßen sie auch anderes. Noch erstaunlicher war aber ein Erlebnis in
Nepal, wo die Leute jeden Tag ein Reisgericht namens Bat aßen. Die einzige
Abwechslung war, dass es im Sommer Gurken und im Winter Blumenkohl dazu gab.
Bat ist ein sehr schmackhaftes Gericht, gut gewürzt und sensorisch überaus komplex.
Es schmeckte mir zu meiner eigenen Überraschung auch noch nach zwei Wochen, die
ich in einer Familie verbrachte. Der Familie schmeckte es offensichtlich auch noch
immer, denn als ich sie in Kathmandu in ein Restaurant einlud, wählten sie genau das
Gericht. Ich lernte daraus, dass man wohl nicht nach Abwechslung sucht, wenn ein
Gericht ausreichend Abwechslung und Komplexität bietet.«

94 Siehe Massimiliano Zampini und Charles Spence, »Assessing the Role of Visual
and Auditory Cues in Multisensory Perception of Flavor«, The Neural Bases of
Multisensory Processes, Hrsg. M. M. Murray und M. T. Wallace, CRC Press, Boca Raton,
Fla. 2012, Zugriff am 28. Okt. 2013,
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK92852/#ch37_r118.

95 Paul Rozin, »›Taste-Smell Confusions‹ and the Duality of the Olfactory Sense«,
Perception and Psychophysics 31, 1983, S. 397–401.

96 Die Woolf-Aussage fand ich bei Katerina Koutsantoni, Virginia Woolf’s Common
Reader, Ashgate, London 2013, S. 71.

97 Bekanntlich war die Vorliebe der Probanden für Coca-Cola gegenüber Pepsi in
einem Geschmackstest dadurch beeinflusst, dass die Probanden
Markeninformationen erhielten. Samuel McClure et al., »Neural Correlates of
Behavioral Preference for Culturally Familiar Drinks«, Neuron 44, 2004, S. 379–387.

98 Siehe Astrid Poelman et al., »The Influence of Information About Organic


Production and Fair Trade on Preferences for and Perception of Pineapple«, Food
Quality and Preference 19, Nr. 1, Jan. 2008, S. 114–121. Die Autoren wiesen auf einen
interessanten Effekt hin: »Wenn die Probanden als Gruppe betrachtet werden, bleiben
die individuellen Unterschiede verborgen, die auf unterschiedliche Ergebnisse
zugrundeliegender kognitiver Prozesse hindeuten.« Dennoch: »Wenn die Probanden
gemäß ihrer affektiven Einstellungen hinsichtlich Bio- oder Fair-Trade-Produkten
gruppiert wurden, unterschied sich die Wahrnehmung als Folge der gegebenen
Informationen. Probanden mit einer positiven Einstellung zu Bio- und Fair-Trade-
Produkten empfanden die Produkte, wenn man sie darüber informierte, als sensorisch
stärker als ohne diese Information. Probanden mit einer negativen Haltung gegenüber
Bio- und Fair-Trade-Produkten empfanden die Produkte, wenn man sie darüber
informierte, als sensorisch schwächer als ohne die Information.«
99 Siehe beispielsweise Kevin P. Myers und Margaret C. Whitney, »Rats’ Learned
Preferences for Flavors Encountered Early or Late in a Meal Paired with the
Postingestive Effects of Glucose«, Physiology and Behavior 102, Nr. 5, März 2011,
S. 466–474.

100Siehe M. L. Pelchat und G. M. Carfagno, »GI Glucose Enhances ›Mere‹ Exposure in


Humans«, Appetite 54, 2010, S. 669.

101 Graciela V. Andresen, Leann L. Birch und Patricia A. Johnson, »The Scapegoat
Effect on Food Aversions After Chemotherapy«, Cancer 66, Nr. 7, 1990, S. 1649–1653.

102 R. B. Zajonc, »Attitudinal Effects of Mere Exposure«, Journal of Personality and


Social Psychology 9, Nr. 2, Teil 2, Juni 1968, S. 1–27.

103 Leann L. Birch und Diane Wolfe Marlin, »I Don’t Like It; I Never Tried It: Effects of
Exposure on Two-Year-Old Children’s Food Preferences«, Appetite 3, Nr. 4, Dez. 1982,
S. 353–360.

104 Oder wie der Lebensmittelautor Jeffrey Steingarten schrieb: »Nachdem ich
wiederholt zehn von sechzig Kimchi-Varianten, dem koreanischen Nationalgericht,
probiert hatte, war Kimchi auch mein eingelegtes Lieblingsgemüse.« Steingarten, The
Man Who Ate Everything, Alfred A. Knopf, New York 1997, S. 4.

105 Siehe B. R. Carruth, P. J. Ziegler und S. I. Barr, »Prevalence of Picky Eaters Among
Infants and Toddlers and Their Caregivers’ Decisions About Offering a New Food«,
Journal of the American Dietetic Association 104, 2004, S. 57–64.

106 A. Bingham, R. Hurling und J. Stocks, »Acquisition of Liking for Spinach


Products«, Food Quality and Preference 16, Nr. 5, Juli 2005, S. 461–469.

107 Aber was ist mit den Spinathassern? Bedeutet Darbietungshäufigkeit, dass man
etwas mag, oder ist die Abneigung nur geringer geworden? Zur Beantwortung dieser
Frage führte der Psychologe Christian Crandall in einer Lachsfabrik in Alaska ein
innovatives Experiment durch. In einem kontrollierten Versuch stellte er nichts
Unbekanntes vor, sondern etwas allgemein Beliebtes, das in der Fabrik aber neu war:
Doughnuts. Je länger die Doughnuts in dem Aufenthaltsraum der Fabrik angeboten
wurden, desto mehr aßen die Leute davon. Crandall vermutet aber auch, dass die
reine Langeweile dazu geführt haben könnte, dass die Fischfabrikarbeiter mehr
Süßigkeiten aßen, obwohl der Verbrauch von anderen Süßigkeiten in dem Zeitraum
nicht zunahm. Man fragt sich allerdings, ob hier nicht auch die Neuigkeit eine Rolle
spielte und ob sich der Verbrauch nicht im Lauf der Zeit stabilisiert hätte oder
gesunken wäre. Oder vielleicht haben Doughnuts auch etwas Leckeres – oder sogar
Süchtigmachendes – an sich. Siehe Crandall, »The Liking of Foods as a Result of
Exposure: Eating Doughnuts in Alaska«, Journal of Social Psychology 125, Nr. 2, 1995,
S. 187–194.

108 Lisa Methven, Elodie Langreney und John Prescott, »Changes in Liking for a No
Added Salt Soup as a Function of Exposure«, Food Quality and Preference 26, Nr. 2,
Dez. 2012, S. 135–140.

109 Siehe D. G. Liem, N. Toraman Aydin und E. H. Zandstra, »Effects of Health Labels
on Expected and Actual Taste Perception of Soup«, Food Quality and Preference 25,
Nr. 2, Sept. 2012, S. 192–197. Wie Fredrik Fernquist und Lena Ekelund feststellen,
bestimmt aber offenbar die Art des Nahrungsmittels, ob eine Gesundheitsinformation
sich auf die hedonistische Reaktion auswirkt. In früheren Studien spielten
Gesundheitsaspekte keine Rolle für die Geschmacksvorlieben, wenn bei allgemein als
gesund geltenden Nahrungsmitteln beispielsweise der Fettgehalt angegeben wurde.
Fernquist und Ekelund, »Credence and the Effect on Consumer Liking of Food – a
Review«, Food Quality and Preference, im Druck, Internetzugriff auf das Manuskript
am 1. Nov. 2013.

110 Richard J. Stevenson und Martin R. Yeomans, »Does Exposure Enhance Liking for
the Chilli Burn?«, Appetite 24, Nr. 2, 1995, S. 107–120. Wie die Autoren schreiben,
»beschrieb keiner der Probanden das Experiment als ein spezielles Experiment zu
Geschmack oder Vorlieben, einige vermuteten aber, dass es um eine sensorische
Anpassung an scharfen Chili ging.« Man kann sich also fragen, ob dies nicht dazu
führte, dass den Probanden der Chili umso besser schmeckte, je schärfer er war, da
sie vielleicht den Forschern gefallen oder ihre Tapferkeit unter Beweis stellen wollten.
Vor und nach dem Versuch tranken die Probanden jedenfalls einen Tomatensaft mit
Capsaicin, der ihnen nicht besser schmeckte.

111 George Orwell, As I Please: 1944–1945, David R. Godine, Boston 2000, S. 42.

112 Julie A. Mennella, Coren P. Jagnow und Gary K. Beauchamp, »Prenatal and
Postnatal Flavor Learning by Human Infants«, Pediatrics 107, Nr. 6, Juni 2001, Zugriff
am 1. Nov. 2013. Hier heißt es: »Zum Geschmacksbild eines Nahrungsmittels gehören
neben anderen sensorischen Reizen die orale Geschmacksempfindung und die
retronasale Geruchsempfindung. Vieles legt nahe, dass die Geruchsvorlieben im
Vergleich zur oralen Geschmacksempfindung, bei der hedonistischer Tonus und
Vorlieben stärker festgelegt sind, in größerem Maße durch individuelle Erfahrungen
bestimmt werden.«

113 Siehe J. A. Mennella, A. Johnson und G. K. Beauchamp, »Garlic Ingestion by


Pregnant Women Alters the Odor of Amniotic Fluid«, Chemical Senses 20, 1995,
S. 207ff.

114 Bei Erwachsenen verlieren solche Reaktionen an Bedeutung, sind aber stets so
deutlich, dass eine Gesichtserkennungssoftware in einem Versuch erkennen konnte, ob
ein Proband einen Orangensaft trank, der ihm nach eigener Aussage nicht schmeckte.
Siehe Lukas Danner et al., »Make a Face! Implicit and Explicit Measurement of Facial
Expressions Elicited by Orange Juices Using Face Reading Technology«, Food Quality
and Preference 32, Teil B, März 2014, S. 167–172.

115 Laut einer Studie lösten nur abgelehnte Nahrungsmittel »typische


Mikrogesichtszüge für negative Emotionen« aus, insbesondere beim erstmaligen
Kosten. René A. De Wijk, »Autonomic Nervous System Responses on and Facial
Expressions to the Sight, Smell and Taste of Liked and Disliked Foods«, Food Quality
and Preference 26, Nr. 2, 2012, S. 196–203.

116 Besonders, wenn das fragliche Nahrungsmittel als gesund betrachtet wird. Wie
Morgan Poor in einer Studie feststellte, bewerteten Probanden Schokolade höher,
wenn sie die Schokolade nur sahen, als wenn sie jemand aß. Bei Äpfeln war es genau
umgekehrt. Morgan Poor, Adam Duhachek und H. Shanker Krishnan, »How Images of
Other Consumers Influence Subsequent Taste Perceptions«, Journal of Marketing 77,
Nr. 6, Nov. 2013, S. 124–139.
117
Sibylle K. Escalona, »Feeding Disturbances in Very Young Children«, American
Journal of Orthopsychiatry 15, Nr. 1, Jan. 1945, S. 76–80.

118 L. L. Birch, »Effect of Peer Models’ Food Choices and Eating Behaviors on
Preschoolers’ Food Preferences«, Child Development 51, 1980, S. 489–496.

119Siehe Gillian Tett, »The Science Interview: Jared Diamond«, Financial Times
Magazine, 11. Okt. 2013.

120 Siehe den hervorragenden Essay von Kari Weil, »They Eat Horses, Don’t They?
Hippophagy and Frenchness«, Gastronomica 7, Nr. 2, Frühjahr 2007.

121 John Prescott, Taste Matters, Reaktion Books, London 2012, S. 31.

122 Small bemerkt dazu: »Wird ein Geruch zusammen mit einem Geschmack erlebt,
riecht der Geruch später ähnlich wie der Geschmack, mit dem er erlebt wurde. Die
Sonnencreme wird wirklich zu Malibu.« Siehe Dana Small und Barry Green, »A
Proposed Model of a Flavor Modality«, in: Murray and Wallace, Neural Bases of
Multisensory Processes.

123 Siehe ebd.

124 Ivan E. de Araújo et al., »Metabolic Regulation of Brain Response to Food Cues«,
Current Biology 23, Nr. 10, Mai 2013, S. 878–883.

125 Mike J. F. Robinson und Kent Berridge, »Instant Transformation of Learned


Repulsion«, Current Biology 23, Nr. 4, 2013, S. 282–289. Wie die Autoren schreiben,
»war es bislang nicht klar, ob eine sofortige Transformation stark genug ist, um einen
erworbenen intensiven Widerwillen – etwa durch einen bedingten Reiz für eine 9-
Prozent-NaCl-Totes-Meer-Salzlösung – in starkes Verlangen zu verwandeln. Unsere
Ergebnisse zeigen, dass beides geht: Ein bedingter Reiz, der sofort stark genug ist,
kann einen Auslösewert von stark negativ in stark positiv umkehren.«

126 Kent Berridge, »Wanting and Liking: Observations from the Neuroscience and
Psychology Laboratory«, Inquiry, Oslo, 52, Nr. 4, 2009, S. 378.

127 Wie ein Neurowissenschaftler schrieb: »Nicht ein einziger Bereich, der in der
Literatur für die Lust eine Rolle spielt, spielt nicht auch bei Unlustprozessen eine
Rolle.« Das Zitat stammt von Siri Leknes, in: Morten L. Kringelbach und Kent C.
Berridge, Pleasures of the Brain, Oxford University Press, New York 2010, S. 15.

2
Das Problem sind nicht unsere Sterne,
sondern wir

1 Eine fundierte Auseinandersetzung mit dem »Netflix Optimization Prize« und der
Entwicklung von Bewertungssystemen durch Netflix findet man in: Clive Thompson, »If
You Liked This, You’re Sure to Love This«, New York Times Magazine, 23. Nov. 2008.
2 Siehe Raymond Fisman und Edward Miguel, Economic Gangsters: Corruption,
Violence, and the Poverty of Nations, Princeton University Press, Princeton, N.J. 2008.

3 So sagte beispielsweise John Riedl, ehemaliger Leiter von GroupLens an der


University of Minnesota, der zur Filterung der zunehmenden Usenet-Artikelflut schon
früh ein System auf Basis von Nutzerbewertungen entwickelte, gegenüber The New
Yorker: »Was uns jemand über seine Vorlieben sagt, verrät uns mehr über seine
künftigen Vorlieben als alles andere, was wir getestet haben … Das klingt banal, aber
wenn ich das Marketingleuten sage, gucken sie mich oft erstaunt an.« Riedl selber
erkannte allerdings auch die Grenzen der auf Bewertungen basierenden Systeme,
angefangen damit, wie man die Leute zu Bewertungen animierte. »Manche
Wissenschaftler haben Vergütungssysteme vorgeschlagen, um die Leute für
Bewertungen zu belohnen. Die ökonomische Seite daran ist natürlich interessant, aber
wir fragen uns, ob solche Systeme noch nötig sind, wenn man die Bewertungen ohne
jede Mühe für den Nutzer erheben könnte. Eine ideale Lösung wäre unserer Meinung
nach eine Benutzerschnittstelle, die durch die Beobachtung des Nutzerverhaltens
indirekte Bewertungen erfasst. Dazu gehört etwa die Erfassung des Nutzerinteresses,
ob der Nutzer einen Artikel liest und wie viel Zeit er dafür aufwendet. Unsere ersten
Studien zeigen, dass wir durch indirekte Bewertungen wesentlich mehr Bewertungen
erhalten können und dass Prognosen auf Basis der Lesezeit beinah genauso präzise
sind wie die auf Basis ausdrücklicher numerischer Bewertungen.« Siehe Joseph A.
Konstan et al., »Grouplens: Applying Collaborative Filtering to Usenet News«,
Communications of the ACM 40, 1997, S. 77–87.

4 Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der
Institutionen, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1997.

5 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.


Übersetzt von Peter Weber-Schäfer, 10. Auflage. Piper, München 2011, S. 36.

6 Zur schönen Aussicht, in: Ödön von Horváth, Gesammelte Werke, Suhrkamp,
Frankfurt 2. Aufl. 1978, Bd. 3, S. 67.

7 Goffman, a.a.O., S. 77.

8 Robert Trivers und William von Hippel, »The Evolution and Psychology of Self-
Deception«, Behavioral and Brain Sciences 34, Nr. 1, 2011, S. 1–56.

9 Was Ihnen dann gefallen kann oder nicht. Wie Xavier Amatriain in einem Aufsatz
schrieb, bevor er für Netflix arbeitete, »hat das Modelling von Nutzerpräferenzen auf
Basis von indirektem Feedback einen großen Haken: Man legt als Annahme zugrunde,
die Lesezeit hänge direkt proportional davon ab, wie gut dem Nutzer ein Content
gefällt«. Xavier Amatriain et al., »I Like It … I Like It Not: Evaluating User Noise in
Recommender Systems«, UMAP: Proceedings of the 17th International Conference on
User Modelling, Adaptation and Personalization, 2009, S. 247–258.

10 Siehe E. C. Poulton, Bias in Quantifying Judgments, Taylor und Francis, London


1989, S. 172.

11 Siehe beispielsweise »A Better Way to Rate Films«, Bad Films Are Bad (Blog),
http://goodfil.ms/blog/posts/2011/10/07/a-better-way-to-rate-films/
12
Francis Newman, »Short Stories of 1925«, New York Times, 7. Feb. 1926.

13 Offenbar sind chinesische Online-Filmbewertungen beispielsweise freundlicher


und gleichmäßiger verteilt als ihre US-Pendants. Als Grund dafür nimmt man die
stärkere Neigung zum Konsens in der chinesischen Gesellschaft an, die zu einer
abgeschwächten Äußerung von Vorlieben und Abneigungen führt. Siehe Noi Sian Koh,
Nan Hu und Eric K. Clemons, »Do Online Reviews Reflect a Product’s True Perceived
Quality? An Investigation of Online Movie Reviews Across Cultures«, Electronic
Commerce Research and Applications 9, Nr. 5, Sept.–Okt. 2010, S. 374–384. Die
Autoren schreiben: »Im Westen neigen Kritiken dazu, im Lauf der Zeit extremer zu
werden. In China hingegen ist die Verteilung eher glockenförmig, und neu
hinzugefügte Bewertungen neigen mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit stärker
zum Durchschnitt als zu den Extremen.«

14Siehe Yehuda Koren, »Collaborative Filtering with Temporal Dynamics«,


Communications of the ACM 53, Nr. 4, April 2010, S. 89–97.

15 Dan Cosley et al., »Is Seeing Believing? How Recommender System Interfaces
Affect Users’ Opinions«, Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in
Computing Systems, ACM, New York 2003, S. 585–592.

16 Siehe »Statistics Can Find You a Movie, Part 2«, Website-Artikel von AT&T Labs,
http://www.research.att.com/articles/featured_stories/2010_05/201005_netflix2_article.html?
fbid=rU6tcyhaq6J.

17 Und die Störgeräusche halten an. So müssen sich die Netflix-Techniker auch
durch scheinbar gegensätzliche Geschmackssignale derselben Nutzer kämpfen. Das
anfängliche Problem eines »Haushalts«-Accounts, in dem der Geschmack aller – vom
Kinderfilm über romantische Komödien bis zu Actionkrimis – verschwamm, wurde
bald durch die Einführung von getrennten Profilen gelöst. Aber was, wenn der
Account einer einzigen Person in alle Richtungen ausschlägt? Netflix nennt das
»Launen«. »Man kann in Horror-Laune sein, wenn der Cousin zu Besuch kommt, der
Horrorfilme liebt«, sagte Yellin. Ist das ein »echtes« Signal? Wie lange darf so ein
Signal anhalten?

18 Der Beitrag von Harvey Sacks stammt aus der interessanten Studie von Camilla
Vásquez über die Natur von Beschwerden, »Complaints Online: The Case of
TripAdvisor«, Journal of Pragmatics 43, 2011, S. 1707–1717. Sie schreibt:
»Beschwerden entwickeln sich in Online-Foren zweifellos anders, weil die Leute sich
nicht wie in einer Face-to-Face-Begegnung ›kennen‹. Wie wir zeigen konnten, waren
Online-Beschwerden durch die andere Teilnehmerstruktur gleichzeitig direkt und
indirekt. Wie Heinemann und Traverso, 2009, bezüglich anderer Beschwerdemerkmale
feststellen, erfordern Face-to-Face-Begegnungen Feinfühligkeit und Indirektheit, weil
sich der Beschwerende verwundbar macht, sodass ausdrückliche ›Beschwerdemittel‹
wie extreme Formulierungen, idiomatische Wendungen und negative Beobachtungen
nur in außergewöhnlichen Situationen ›an die Oberfläche kommen‹.«

19 Siehe George Akerlof, An Economic Theorist’s Book of Tales, Cambridge University


Press, New York 1984, S. 22.

20George Akerlof, »The Market for ›Lemons‹: Quality Uncertainty and the Market
Mechanism«, Quarterly Journal of Economics 84, Nr. 5, Dez. 1963, S. 941–973.

21 Judith Chevalier und Austan Goolsbee, »Measuring Prices and Price Competition
online: Amazon.com and BarnesandNoble.com«, Quantitative Market and Economics
1, 2003, S. 203–222. Während sich Amazon bei seinen Daten eher bedeckt hielt und
meine Interviewanfrage ablehnte, konnten die Autoren auf Basis von Differenzen bei
den Bewertungs- und Einstufungsdaten der Amazon- und Barnes-&-Noble-Websites
Daten erheben. »Die begrenzten Daten sind natürlich nicht das, was man sich für
einen idealen Test vorstellt, wie wir später sehen werden. Doch wir betrachten
dieselben Bücher, die Kundenbewertungen und einen Wert für den Marktanteil der
Bücher auf jeder Seite.«

22 Pádraig Cunningham et al., »Does TripAdvisor Make Hotels Better?«, Technical


Report UCD-CSI-2010-06, Dez. 2010.

23 Die Beschreibung des effizienten Marktes stammt aus Burton G. Malkiel, »The
Efficient Market Hypothesis and Its Critics«, CEPS Arbeitspapier 91, April 2003.

24 Suzanne Moore, »What Does the TripAdvisor Furore Teach Us About Critics?«,
Guardian, 12. Feb. 2012.

25 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, 2. Aufl., Deutsche Verlags-
Anstalt, Stuttgart 2007, S. 7.

26 Das Reichl-Zitat stammt aus Russ Parsons, »Ruth Reichl on Conde Nast, Gourmet
Live, and Online Reviews«, Los Angeles Times, 11. Feb. 2013.
http://articles.latimes.com/2013/feb/11/news/la-dd-ruth-reichl-conde-nast-gourmet-live-
online-reviews-20130211.

27 Siehe Balázs Kovács, Glenn R. Carroll und David W. Lehman, »Authenticity and
Consumer Value Ratings: Empirical Tests from the Restaurant Domain«, Organization
Science 25, Nr. 2, 2014, S. 458–478. Die Autoren erstellten eine Liste mit
Schlüsselwörtern, mit denen sie versuchten, die Wahrnehmung von »authentisch« auf
einer Skala von eins bis hundert zu quantifizieren: »authentisch« führte zu 95,
»Schwindel« ergab 4 und »ordentlich« lag, wie bei einem solchen Wort zu erwarten,
im mittleren Bereich bei 51.

28 Siehe Judith Donath, »Signals, Cues, and Meaning« (unveröffentlichter Aufsatz),


http://smg.media.mit.edu/papers/Donath/SignalsTruthDesign/SignalsCuesAndMeaning.pdf

29 Nachdem sie unsere Bewertungen nach verschiedenen Faktoren gefiltert haben,


darunter auch nach Betrugsverdachtsmerkmalen – wodurch offensichtlich auch viele
ehrliche, aber zu begeisterte Fünf-Sterne-Bewertungen unter den Tisch fallen.

30 Eine interessante Auseinandersetzung mit TripAdvisor und der Vorstellung von


Vertrauen und Autorität findet man bei Ingrid Jeacle und Chris Carter, »In TripAdvisor
We Trust: Rankings, Calculative Regimes, and Abstract Systems«, Accounting,
Organizations and Society 36, Nr. 4–5, 2011, S. 293–309.

31 Siehe John W. Byers, Michael Mitzenmacher und Georgios Zervas, »The Groupon
Effect on Yelp Ratings: A Root Cause Analysis«, Proceedings of the 13th ACM
Conference on Electronic Commerce, ACM, New York 2012, S. 248–265.

32 Paul Myerscough, »Short Cuts«, London Review of Books, 3. Jan. 2013.

33 Susan Seligson, »Yelp Reviews: Can You Trust Them?«, BU Today, 4. Nov. 2013.
34 Siehe »Finding Deceptive Opinion Spam by Any Stretch of the Imagination«,
Proceedings of the 49th Meeting of the Association for Computational Linguistics,
2011, S. 293–309.

35 Wie Matthew L. Newman und seine Kollegen schreiben: »Wenn Leute eine
Lügengeschichte konstruieren, ist es unserer Ansicht nach leichter, konkrete
Handlungen als wertende Beobachtungen aneinanderzureihen. Unveröffentlichte
Daten unserer Forschungsinstitute belegen eine negative Korrelation zwischen
kognitiver Komplexität und der Verwendung von Bewegungsverben wie gehen, laufen,
sich begeben. Wenn betrügerische Kommunikation also kognitiv weniger komplex ist,
müssten Lügner mehr Bewegungsverben und weniger exklusive Wörter verwenden.«
Siehe Newman et al., »Lying Words: Predicting Deception from Linguistic Styles«,
Personal and Social Psychology Bulletin 29, Nr. 5, Mai 2003, S. 665–675.

36 Myle Ott, Claire Cardie und Jeffrey T. Hancock, »Negative Deceptive Opinion
Spam«, Proceedings of the 2013 Conference of the North American Chapter of the
Association for Computational Linguistics: Human Language Technologies, Atlanta, 9.–
14. Juni 2013, S. 497–501.

37 Merkte allerdings meine Verwendung des relativ vagen Worts »Ort« an.

38 Siehe Jessica Love, »Good Customers, Bad Reviews«, KelloggInsight, 5. Aug.


2013, http://insight.kellogg.northwestern.edu/article/good_customers_bad_reviews/.

39 Siehe Christopher S. Leberknight, Soumay Sen und Mung Chiang, »On the
Volatility of Online Ratings: An Empirical Study«, 10th Workshop on E-business,
Shanghai 2011.

40 Byers, Mitzenmacher und Zervas, »Groupon Effect on Yelp Ratings«.

41 Siehe Georgios Zervas, Davide Proserpio und John Byers, »A First Look at Online
Reputation on Airbnb, Where Every Stay Is Above Average«, 28. Jan. 2015:
http://ssrn.com/abstract=2554500.

42 Siehe Judith A. Chevalier und Dina Mayzlin, »The Effect of Word of Mouth on
Online Book Sales«, NBER, Arbeitspapier 10148, National Bureau of Economic
Research, Cambridge, Mass., Dez. 2003.

43 Geoffrey Fowler, »On the Internet, Everyone’s a Critic but They’re Not Very
Critical«, Wall Street Journal, 5. Okt. 2009.

44 »Five Stars Dominate Ratings«, YouTube Blog, http://youtube-


global.blogspot.com/2009/09/five-stars-dominate-ratings.html.

45 Siehe Pei-yu Chen, Samita Dhanasobhon und Michael D. Smith, »All Reviews Are
Not Created Equal: The Disaggregate Impact of Reviews and Reviewers at
Amazon.com«, Mai 2008, http://papers.ssrn.com/sol3/paperS.cfm?
abstract_id=918083.

46 Ebd.

47 Computerwissenschaftler haben versucht, das sogenannte Standing-Ovation-


Problem zu modellieren. Ein Modell postuliert eine ziemlich einfache Formel: »Jeder
Zuhörer entscheidet sich nach einer einfachen Mehrheitsregel: Wenn die Mehrzahl
der Zuhörer, die er sieht, steht, steht er auf, sonst bleibt er sitzen.« Dennoch sind eine
Reihe von Variablen zu berücksichtigen: Besteht das Publikum überwiegend aus
Freunden? Wie viele Leute aus dem Publikum kann der Betreffende sehen? Stehen die
Zuhörer mit größerer zeitlicher Verzögerung auf? Standing ovations – und das
Buhkonzert als sein Gegenpart – sind massenhafte Geschmacksäußerungen in
Echtzeit, die aber offenbar durch Konformitätsaspekte und soziales Lernen
beeinflusst sind. Siehe John H. Miller und Scott E. Page, »The Standing Ovation
Problem«, Complexity 9, Nr. 5, Mai-Juni 2004, S. 8–16.

48 Sinan Aral, »The Problem with Online Ratings«, MIT Sloan Management Review,
19. Dez. 2013.

49 David Godes und José Silva, »Sequential and Temporal Dynamics of Online
Opinion«, Marketing Science 31, Nr. 3, 2012, S. 448–473.

50 Fang Wu und Bernardo Huberman, »Opinion Formation Under Costly


Expression«, ACM Transactions on Intelligent Systems and Technology 1, Nr. 1, Artikel
5, Okt. 2010, S. 1–13.

51 Siehe Nan Hu, Noi Sian Koh und Karempudi Srinivas Reddy, »Ratings Lead You to
the Product, Reviews Help You Clinch It? The Mediating Role of Online Review
Sentiments on Product Sales«, Decision Support Systems 57, 2014, S. 42–53. Wie die
Autoren schreiben, haben Bewertungen, die als sehr hilfreich beurteilt werden oder
einfach aktueller sind, »wesentlich größeren Einfluss auf die Verkäufe als im
Durchschnitt alle Bewertungen«. Allerdings strukturiert Amazon die
Benutzerschnittstelle so, dass diese beiden Variablen herausgestellt werden, was
teilweise oder sogar vollständig für den Effekt verantwortlich sein dürfte. Der Nutzer
kann beispielsweise nicht nach den »am wenigsten hilfreichen Bewertungen« suchen.

52 Die Autoren schreiben, dass man, selbst »wenn die Konsumenten den Bias
korrigieren würden, noch monotone ansteigende und absteigende Kurven erhalten
würde (weil die ersten Bewertungen noch immer unter dem Positivitätsbias litten),
aber es würde nie diesen Einbruch bei den Bewertungen geben, weil die Konsumenten
keinen Fehlkauf tätigen würden.« Information Systems Research 19, Nr. 4, 2008,
S. 456–474.

53 Siehe Ye Hu und Xinxin Li, »Context-Dependent Product Evaluations: An


Empirical Analysis of Internet Book Reviews«, Journal of Interactive Marketing 25,
2011, S. 123–133.

54 »Wenn die Qualität des Buchs gleich bleibt«, so die Forscher Ye Hu und Xinxin Li
in ihrer Amazon-Studie, »tendieren neue Bewertungen dazu, alten Bewertungen zu
widersprechen.« Das geschieht besonders bei den virtuellen Long-Tail-Produkten (hier
hat der Rezensent mehr Einfluss), wenn die vorherigen Rezensionen sich ähneln (der
stille Ozean muss Wellen schlagen), wenn die Zahl der vorherigen Rezensionen größer
ist (Man kann auf mehr Kontext reagieren) oder wenn Bewertungen vorherige
Bewertungen ausdrücklich erwähnen. Um zu belegen, dass es sich dabei nicht nur um
einen statistischen Effekt handelt, randomisierten Hu und Li die Bewertungen und
stellten fest, dass die negative Tendenz verschwand. »Es kommt auf die Reihenfolge
an, in der die Bewertungen geschrieben werden«, schlussfolgerten sie. Siehe Hu und
Li, »Context-Dependent Product Evaluations: An Empirical Analysis of Internet Book
Reviews«, Journal of Interactive Marketing 25, Nr. 3, 2010, S. 123–133.
55 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 105.

56 Balázs Kovács und Amanda J. Sharkey, »The Paradox of Publicity: How Awards
Can Negatively Affect the Evaluation of Quality«, Administrative Science Quarterly 59,
Nr. 1, 2014.

57
Das, so die Autoren, schließt aus, dass es sich lediglich um die Tendenz zur Mitte
handelt.

58 Das Zitat von Steve Albini stammt aus Neil McDonald, »Fire Fighting: Steve
Albini Interviewed«, The Quietus, 2. Sept. 2013.

59 Cristian Danescu-Niculescu-Mizil et al., »How Opinions Are Received by Online


Communities: A Case Study on Amazon.com Helpfulness Votes«, ACM: Proceedings of
the 18th International Conference on World Wide Web, 2009, S. 141–150.

60 Wie Shahana Sen und Dawn Lerman schreiben, ist »ein Verbraucher, der nach
einem Erfahrungsgut sucht, engagierter und kann negative Informationen besser
widerlegen als jemand, der nach einem Gebrauchsgegenstand sucht.« Sen und
Lerman, »Why Are You Telling Me This? An Examination into Negative Consumer
Reviews on the Web«, Journal of Interactive Marketing 21, Nr. 4, Herbst 2007.

61 Bayley, Taste, a.a.O., S. 5.

62 Sheenya Iyengar, The Art of Choosing, Twelve, New York 2010, S. 103.

63 Bourdieu schrieb: »Mehr noch als anderswo ist in Sachen des Geschmacks omnis
determinatio negatio; so ist wohl auch der Geschmack zunächst einmal Ekel,
Widerwille – Abscheu oder tiefes Widerstreben (›das ist zum Erbrechen‹) – gegenüber
dem anderen Geschmack, dem Geschmack der anderen.« Bourdieu, Die feinen
Unterschiede, a.a.O., S. 105.

64 Sen und Lerman schreiben: »Wenn Konsumenten sich negativ über


Gebrauchsgüter äußern«, glauben andere Konsumenten offenbar eher, »dass dies auf
tatsächlicher Erfahrung beruht.« Bei Erfahrungsgütern dagegen »denken die
Konsumenten eher, dass bei der Beurteilung Faktoren eine Rolle spielten, die mit der
Qualität nichts zu tun haben, und die Bewerter sich von inneren oder persönlichen
Gründen leiten ließen.« Warum diese Empfindungen weniger authentisch sein sollen,
wenn wir über ein Buch oder einen Staubsauger sprechen, ist eine interessante Frage,
aber offenbar vertrauen wir dem Geschmack anderer Leute nicht so, wie wir ihren
Erfahrungen mit anderen Produkten vertrauen. Sen and Lerman, »Why Are You Telling
Me This?«, a.a.O.

65 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 25.

66 Siehe Stephen Spiller und Helen Belogolova, »Discrepant Beliefs About Quality
and Taste«, 4. Feb. 2014, http://public–prod-
acquia.gsb.stanford.edu/sites/default/files/documents/mktg_03_14_Spiller.pdf.

67 Siehe Anidia Chakravarty, Yong Liu und Tribid Mazumdar, »The Differential
Effects of Online World-of-Mouth and Critics’ Reviews on Pre-release Movie
Evaluation«, Journal of Interactive Marketing 24, Nr. 3, 2010, S. 185–197. Wie die
Studie interessanterweise herausfand, ließen sich »häufige Kinogänger« stärker von
Filmrezensionen beeinflussen, während »seltene Kinogänger« stärker von
Mundpropaganda beeinflusst wurden.

68 Hannah Johnson, »One-Star Ratings for Book on Amazon Without Kindle


Version«, Wall Street Journal, 18. Jan. 2010. Als ich dieses Buch schrieb, gab es
interessanterweise eine Kindle-Version, und aus der signifikanten Zahl an Ein-Stern-
Bewertungen waren mehr politisch motivierte Proteste geworden.

3
Wie vorhersehbar ist unser Geschmack?

1 Devin Leonard, »What You Want: Flickr Creator Spins Addictive New Web
Service«, Wired, Aug. 2010.

2 Georg Simmel, »Philosophie der Mode«, in: ders., Philosophische Aufsätze,


Gesamtausgabe Bd. 10, Suhrkamp, Frankfurt 1995, zitiert nach:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/philosophie-der-mode-10/1.

3 Siehe Jennifer Tsien, The Bad Taste of Others, University of Pennsylvania Press,
Philadelphia 2012, S. 3. Laut Tsien diente Geschmack besonders in Frankreich als
staatsbildende Strategie: »Hinter den zahlreichen Aufrufen, jedes schlechte
Geschmacksbeispiel im Land auszurotten, steckt das Bemühen, Frankreich als neuen
Weltführer in Sachen Kultur zu etablieren. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten die
Kritiker des 18. Jahrhunderts nicht nur festlegen, was guter Geschmack ist, sondern
für sich auch die Autorität dazu beanspruchen.«

4 Wie der Soziologe Omar Lizardo bemerkt, »entwickelten die aufstrebende mobile
Kaufmannsschicht und die ehrgeizige Mittelschicht« während der
»Konsumentenrevolution« des 18. Jahrhunderts »einen scheinbar unstillbaren Hunger
nach Konsumgütern, was in der aufsteigenden Mittelschicht zur Ästhetisierung
vormals ›funktionaler‹ Objekte sowie zur langsamen Entwicklung einer Vorliebe für
innovative kulturelle Hervorbringungen und Objekte führte«. Siehe Lizardo, »The
Question of Culture Consumption and Stratification Revisited«, Sociologica 2, 2008,
S. 1– 31.

5 Siehe Charles Harvey, Jon Press und Mairi Maclean, »William Morris, Cultural
Leadership and the Dynamics of Taste«, Business History Review 85, Nr. 2, Sommer
2011.

6 Punch, 23. Dez. 1925, http://www.middlebrow-


network.com/DefiningtheMiddlebrow.aspx.

7 Siehe Keijo Rahkonen, »Bourdieu and Nietzsche: Taste as a Struggle«, in: Susen
und Turner, Legacy of Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 126.

8 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 25.

9 Der Autor Ben Lerner macht in seinem herausragenden Roman Leaving the
Atocha Station einen wunderbaren Witz daraus.

10 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 104.

11 Ebd., S. 26.

12 Liu analysierte in einem Aufsatz die Nutzerprofile von MySpace, wo subtile


»Geschmacksdarbietungen« à la Bourdieu gepostet wurden. Siehe Hugo Liu, »Social
Network Profiles as Taste Performances«, Journal of Computer-Mediated
Communication 13, 2008, S. 252–275. Matthew Ogle, ehemals Techniker bei Last.fm,
erzählte mir beiläufig: »Bei MySpace gibt man vor, trendy zu sein, aber bei Last.fm
wussten wir wirklich, was jemand hörte.« Interview vom 17. April 2014. Und dazu, wie
eine öffentliche »Geschmacksdarbietung« dazu beitragen kann, die persönlichen
Geschmacksvorlieben zu verändern, siehe Benjamin K. Johnson und Brandon Van Der
Heide, »Can Sharing Affect Liking? Online Taste Performances, Feedback, and
Subsequent Media Preferences«, Computers in Human Behavior 46, 2015, S. 181–190.

13 Siehe beispielsweise Peter Jackson, Food Words: Essays in Culinary Culture,


Bloomsbury, London 2013, S. 220.

14 Charlene Elliott weist auf zwei interessante Tendenzen in der zeitgenössischen


Kultur hin. »Die eine ist die Erhebung von Objekten in den ›Connoisseur‹-Status, für
die bislang keine Kennerschaft erforderlich war, und die zweite ist die
›Demokratisierung‹ von Objekten, die bislang eindeutig der Kennerschaft vorbehalten
waren.« Anders gesagt, auch wenn ein exklusiver Geschmack immer stärker Eingang
in den Alltagskonsum findet, werden einstige Alltagsaktivitäten andererseits zum
Gegenstand von exklusivem Geschmack. Siehe Elliott, »Considering the Connoisseur:
Probing the Language of Taste«, Canadian Review of American Studies 36, Nr. 2, 2006:
S. 229– 236.

15 Zu der Dynamik von Gegensignalen siehe den hervorragenden Aufsatz von Nick
Feltovich, Richmond Harbaugh und Ted To, »Too Cool for School? Signaling and
Countersignaling«, RAND Journal of Economics 33, Nr. 4, Winter 2002, S. 630–649.

16 Ein Versuch, der zumeist fehlschlägt, da »Humblebraggers«, wie eine Studie


zeigt, weniger beliebt sind als »Bragger«, also Angeber, die für ehrlicher gehalten
werden. Siehe Ovul Sezer, Francesca Gina und Michael I. Norton, »Humblebragging: A
Distinct – and Ineffective – Self- Presentation Strategy«, Harvard Business School,
Working paper, S. 15–80.

17 Das Beispiel stammt aus Harris Wittels, Humblebrag: The Art of False Modesty,
Grand Central, New York 2012.

18 Caroline McCarthy, »Hunch Homes In on Who You Are«, CNET, 29. März 2010.

19 Carl Wilson, Let’s Talk About Love, Bloomsbury, New York 2014, S. 78.

20 Problematisch bei all diesen Online-Daten ist, dass offenbar riesige, anonyme
Datenströme relativ einfach mit individuellen Verhaltensmustern verknüpft werden
können. Abgesehen von einer Sicherheitslücke ist dies auch ein Zeichen dafür, wie
vorhersehbar unser Verhalten ist. Siehe Joseph A. Calandrino et al., »›You Might Also
Like‹: Privacy Risks of Collaborative Filtering«, IEEE Symposium on Security and
Privacy 2011, 22.–25. Mai 2011, S. 231–246. Die Autoren berücksichtigten in ihrer
Analyse auch Hunch.com (neben anderen wie Last.fm und Amazon.com) und stellten
dabei fest, dass »unser Algorithmus, wenn man ihn hinsichtlich der Genauigkeit
optimierte, ein Drittel der geheim abgegebenen Antworten auf Hunch-Fragen
fehlerfrei erschließen konnte.« Die Interferenz erfolgte auf Grundlage von
»vorübergehenden Veränderungen bei den öffentlich zugänglichen Ergebnissen eines
Empfehlungssystems«. Und als Forscher in Großbritannien »relativ einfaches
menschliches Verhalten« analysierten, beispielsweise öffentlich zugängliche »Likes«
auf Facebook, konnten sie weit über Zufallstreffer hinaus vorhersagen, ob es sich um
Mann oder Frau, Homo oder Hetero und Christ oder Muslim handelte. Die Gründe für
manche der beobachteten Korrelationen waren, so räumten sie allerdings ein,
indirekter Natur: »Es gibt keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen
Spiralfritten und höherer Intelligenz.« Michal Kosinski, David Stillwell und Thore
Graepel, »Private Traits and Attributes Are Predictable from Digital Records of
Human Behavior«, PNAS 110, Nr. 15, 2013, S. 5802–5805.

21 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 41.

22 Siehe Peter J. Rentfrow und Samuel D. Gosling, »Message in a Ballad: The Role of
Preferences in Interpersonal Perception«, Psychological Science 17, Nr. 3, 2006,
S. 236–242.

23 Der Gedanke stammt von Richard R. Wilk, »A Critique of Desire: Distaste and
Dislike in Consumer Behavior«, http://www.indiana.edu/~wanthro/disgust.htm. Wilk
schreibt: »Die unterschiedlichen sozialen Signale, die durch Konsum und Nicht-
Konsum ausgesendet werden, können auch dazu beitragen, zu erklären, warum
Abneigungen in einer Massenkonsumgesellschaft für die Bildung expliziter Grenzen
zwischen einem Individuum und anderen und des Gefühls einer unverwechselbaren
Identität so entscheidend sind. Unsere Abneigungen und Aversionen kennen nur
unsere Freunde und Verwandten, während unsere Vorlieben in der unübersehbaren
Wahl von Kleidung, Auto, Möbeln und anderen Konsumgütern öffentlich zur Schau
gestellt werden. Die Vorlieben mögen daher oft konformistische, allgemeine Formen
annehmen, um Zugehörigkeit und Konsens zu signalisieren, aber die Abneigungen
dienen der sozialen Distinktion und formen eine unterscheidbare, persönliche innere
Identität.« In der Internetwelt erscheinen die Vorlieben als »Likes« auf Facebook, die
Abneigungen werden dagegen vielleicht über Snapchat versendet.

24 Roger Scruton, »Judging Architecture«, in: Design and Aesthetics: A Reader, Hrsg.
Mo Dodson und Jerry Palmer, Routledge, London 2003, S. 13.

25 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 111: »Tatsächlich bilden sich die
expliziten ästhetischen Entscheidungen nicht selten in Absetzung zu denjenigen sozial
nahestehender Gruppen heraus, zu denen die handgreiflichste und unmittelbarste
Konkurrenz besteht.«

26 Sigmund Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders., Studienausgabe Bd. 11,
Fischer, Frankfurt 1974, zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-unbehagen-
in-der-kultur-922/5.

27 Siehe Mike Savage und Modesto Gayo-Cal, »Against the Omnivore: Assemblages
of Contemporary Musical Taste in the United Kingdom«, CRESC, Working paper 72,
University of Manchester, Nov. 2009.

28 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 114.


29
Siehe Kevin Lewis, Marco Gonzalez und Jason Kaufman, »Social Selection and
Peer Influence in an Online Social Network«, PNAS 109, Nr. 1, 2012, S. 68–72. Die
Autoren schreiben: »Unsere Erkenntnisse legen nahe, dass Freunde nicht darum
tendenziell denselben Geschmack haben, weil sie sich gegenseitig beeinflussen,
sondern weil sie vor allem aufgrund dieser Ähnlichkeiten zu Freunden wurden.« Das
einzige Musikgenre, das sich unter Facebook-Freunden offenbar »verbreitete«, war
Klassik/Jazz. Weniger, so die Autoren, weil dieses so unglaublich ansteckend wirkte,
sondern eher weil es einen »einzigartigen Wert als kulturelles Status-Symbol« besaß.

30 Genauer gesagt in 250 Millisekunden. Siehe Robert O. Gjerdingen und David


Perrot, »Scanning the Dial: The Rapid Recognition of Music Genres«, Journal of New
Music Research 37, Nr. 2, 2008, S. 93–100.

31 Siehe das exzellente Buch von Simon Frith: Performing Rites: On the Value of
Popular Music, Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1996, insbesondere das
Kapitel »Genre Rules«.

32 Die Geschichte mit Lucinda Williams habe ich einem Interview entnommen, das
sie Madeleine Schwartz in The Believer gab, nachgedruckt in: Confidence, or the
Appearance of Confidence: The Best of »Believer« Music Interviews, Hrsg. Vendela
Vida und Ross Simonini, Believer Books, San Francisco 2014, S. 472.

33 Dass Carpenter sogar von Country-Sendern gespielt wurde, wirbelte die


Kategorien etwas durcheinander. Wie der Radioberater Sean Ross mir erklärte: »Sie
wurde zu Country-Sendern geschoben, weil es keinen Platz für weibliche Singer-
Songwriter gab. Wäre sie vier Jahre später gekommen, als Shawn Colvin und Sheryl
Crow ihre Hits landeten, wäre sie eine Popsängerin gewesen.«

34 Ihre politischen Neigungen wurden Facebook-»Likes« entnommen.

35 Das Zitat stammt aus dem hervorragenden Buch von Evan Eisenberg, The
Recording Angel: Music, Records and Culture from Aristotle to Zappa, Yale University
Press, New Haven, Conn., 2005, S. 45.

36Richard A. Peterson, »Problems in Comparative Research: The Example of


Omnivorousness«, Poetics 33, Nr. 5–6, 2000, S. 257–282.

37 Nitsuh Abebe, »The Palmer Problem«, Pitchfork.com, 25. März 2011.

38 Der Gedanke stammt von dem Soziologen Omar Lizardo. Seiner Ansicht nach
»manifestiert sich das Allesfressertum wohl am deutlichsten als horizontale
grenzziehende Ressource, die die kulturell Begünstigsten von anderen nahestehenden,
aber doch unterschiedenen Teilen ihrer Schicht abgrenzt«. Siehe Lizardo,
»Reconceptualizing and Theorizing ›Omnivorousness‹: Genetic and Relational
Mechanisms«, Sociological Theory 30, Nr. 4, 2012, S. 263–282.

39 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 298.

40 Der Soziologe Roger Kern stellt in einer Untersuchung von Kontaktanzeigen des
The New York Review of Books fest, dass dort die nach Bourdieu für die »symbolische
Ausgrenzung« so wichtigen Abneigungen fehlen. Möglicherweise, so schreibt er,
nehmen die Verfasser der Kontaktanzeigen an, dass sie als snobistisch, ablehnend
und/oder feindselig gelten, wenn sie bei ihrer Selbstbeschreibung dauernd auf
Negatives verweisen. Roger Kern, »Boundaries in Use: The Deployment of Personal
Resources by the Upper Middle Class«, Poetics 25, Nr. 2–3, 1997, S. 177–193.

41 John Seabrook schreibt über das Phänomen, das er »Nobrow« nennt: »In der
alten Welt mit oben und unten bekam man für konsistente kulturelle Präferenzen
Statuspunkte, aber in der ›Nobrow‹-Welt bekommt man Punkte, wenn man die
Kategorien durchbricht: Wenn man ein Snowboarder ist, der klassische Musik hört,
Cola trinkt und Quentin Tarantino verehrt, wenn man als Sprössling aus gutem Hause
Rap toll findet, wenn man als Fan von asiatischen Kampfsportfilmen Frusen Glädjè
besser findet als Häagen-Dazs oder als Fußballfan Fubu-Markenklamotten trägt und
die Oper liebt.« Aus »Nobrow Culture: Why It’s Become So Hard to Know What You
Like«, New Yorker, 20. Sept. 1999.

42 Noah Mark, »Birds of a Feather Sing Together«, Social Forces 77, Nr. 2, Dez.
1998, S. 453–485.

43 Siehe »The Death of the Long Tail«, Music Industry Blog, 4. März 2014,
http://musicindustryblog.wordpress.com/2014/03/04/the-death-of-the-long-tail/. Der
Autor des Berichts meint, die bloße Vielfältigkeit der digitalen Musik habe den »The-
winner-take-it-all-Effekt« noch verstärkt: »Die digitalen Musikdienste haben die
Konzentration auf Superstars verstärkt statt verringert. 75 Prozent der CD-Erlöse,
aber 79 Prozent der Abo-Erlöse entfallen auf die obersten ein Prozent der Interpreten.
Dieser eigentlich überraschende Trend wird durch zwei Faktoren verursacht: a) Bei
den digitalen Diensten gibt es, besonders bei Handys, weniger ›Front-End‹-
Sichtbarkeit und b) sind die Verbraucher durch eine ›Tyrannei der Wahl‹ überfordert:
Die überwältigenden Wahlmöglichkeiten behindern in Wahrheit Neuentdeckungen.«

44 Wie Douglas Holt bemerkt, ist dies vielleicht eine der weitverbreitetsten Formen
der sozialen Distinktion: »Das Bewusstsein eines schichtspezifischen Geschmacks in
Form von Vorlieben für oder Abneigungen gegen bestimmte kulturelle Objekte oder
Praktiken muss nicht unbedingt mit der Unterwürfigkeit der unteren Schichten oder
der Verachtung von Seiten der oberen Schichten einhergehen. Typischerweise
verhalten sich jene mit geringerem kulturellen Kapital gegenüber den Objekten und
Praktiken derer mit größerem kulturellen Kapital eher desinteressiert oder
ablehnend.« (Kursiv von mir.) Siehe Douglas Holt, »Distinction in America? Recovering
Bourdieu’s Theory of Taste from Its Critics«, Poetics 25, Nr. 2–3, 1997, S. 93–120.

45 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 723.

46 Kent Russell, »American Juggalo«, n+1, Nr. 12, Herbst 2011, S. 29–55.

47 Siehe Theodor Geiger, »A Radio Test of Musical Taste«, Public Opinion Quarterly
14, Nr. 3, Herbst 1950, S. 453–460.

48 Wie beeinflusst die Art der Musikpräsentation – in Form von Genres oder
anderem – unsere Gefühle dafür? Wie oft erzählen wir einem Soziologen, der mit einer
Umfrage kommt, nicht, was uns gefällt, sondern eher, was wir kennen? In seinem
Essay »The Philosopher and the Sociologist« wirft Jacques Rancière Bourdieu vor,
»den Test zum musikalischen Geschmack in einen Test über musikalische Kenntnisse
zu verwandeln.« Der Soziologe »beurteilt den Musikgeschmack, ohne dass die
Getesteten Musik zu hören bekommen«. Die Befragten würden erraten, worum es bei
der Befragung geht, und entsprechend antworten. Jacques Rancière, Der Philosoph
und seine Armen. Passagen, Wien 2010, S. 187.
49
Aus einem Experiment, das Paul Randolph Farnsworth in seinem Buch Musical
Taste, Stanford University Press, Stanford, Kalif. 1950, S. 64, beschreibt.

50 Siehe M. G. Rigg, »Favorable Versus Unfavorable Propaganda in the Enjoyment of


Music«, Journal of Experimental Psychology 38, Nr. 1, 1948, S. 78ff.

51 Paul Rozin, Linda Millman und Carol Nemeroff, »Operation of the Laws of
Sympathetic Magic in Disgust and Other Domains«, Journal of Personality and Social
Psychology 50, Nr. 4, 1986, S. 703–712.

52 In einer Meta-Analyse von Studien zur Darbietungshäufigkeit nennt Robert


Bornstein die »affektive Mere-Exposure-Beziehung robust und zuverlässig«. Robert
Bornstein, »Exposure and Affect: Overview and Meta-analysis of Research, 1968–
1987«, Psychological Bulletin 106, Nr. 2, 1989, S. 265–289.

53 Der Flüssigkeits-Effekt erfordert nicht unbedingt eine wiederholte Darbietung:


Beispielsweise hält der Mensch Aussagen scheinbar auch für zutreffender, wenn sie in
leicht lesbaren Farben präsentiert werden. Siehe Rolf Reber und Norbert Schwarz,
»Effects of Perceptual Fluency on Judgments of Truth«, Consciousness and Cognition
8, Nr. 3, 1999, S 338–342. Die Autoren schreiben: »Man könnte allerdings vermuten,
dass Teilnehmer schlecht sichtbare Aussagen als nicht zutreffend einordneten, weil
sie sie nicht lesen konnten.« Pilotversuche konnten diese Befürchtung jedoch
widerlegen.

54 Elizabeth Hellmuth Margulis, »One More Time«, Aeon Magazine, 7. März 2014,
https://aeon.co/essays/why-repetition-can-turn-almost-anything-into-music.

55 J. B. Halberstadt und G. Rhodes, »It’s Not Just Average Faces That Are Attractive:
Computer-Manipulated Averageness Makes Birds, Fish and Automobiles Attractive«,
Psychonomic Bulletin and Review 10, 2003, S. 149–156.

56 Siehe Piotr Winkielman et al., »Prototypes Are Attractive Because They Are Easy
on the Mind«, Psychological Science 17, Nr. 9, 2006, S. 799–806. In einer anderen
Studie untersuchten Winkielman und seine Kollegen einen offensichtlichen
Widerspruch: »Einerseits sollte man annehmen, dass künstlich montierte Reize
(Durchschnittsgesichter) leicht zu verarbeiten sind, weil sie eine gute
Zusammenfassung vorhergehender Erfahrungen bieten (z.B. als Prototyp einer
Kategorie), andererseits aber, dass sie schwer zu verarbeiten sind, weil sie bezüglich
der ursprünglichen Gesichter, aus denen sie zusammengesetzt sind, am
uneindeutigsten sind.« Die Autoren führen hierzu ein Beispiel mit Bildern
gemischtrassiger Gesichter an, die in manchen Studien als attraktiver beurteilt
wurden, während andere Studien einen gegenteiligen Effekt feststellten. Sie erklären
die Diskrepanz mit unterschiedlichen Kategorien, nach denen die Gesichter beurteilt
wurden. So würde das Gesicht eines chinesisch-amerikanischen Manns als weniger
attraktiv beurteilt als andere »chinesische« Gesichter, aber vielleicht attraktiver als
männliche Gesichter insgesamt. Sie schreiben: »Gemischtrassige Individuen werden
positiver beurteilt, wenn die Rasse weniger auffällig ist, ironischerweise könnte das
Bewusstsein für den ethnischen Hintergrund durch die dadurch verursachte
mangelnde Attraktivität die positiven Gefühle verringern.« Die Autoren betonen
zudem, dass auch »motivierende Faktoren«, etwa welche Einstellung jemand
gegenüber einer Rasse hegt, bei den Ergebnissen eine Rolle gespielt haben könnten.
Siehe Winkielman et al., »Easy on the Eyes, or Hard to Categorize: Classification
Difficulty Decreases the Appeal of Facial Blends«, Journal of Experimental Social
Psychology 50, Jan. 2014, S. 175–183.
57 Mario Pandelaere et al., »Madonna or Don McLean: The Effect of Order of
Exposure on Relative Liking«, Journal of Consumer Psychology 10, Nr. 4, 2010, S. 442–
451. Dass der erste Reiz die stärkste Wirkung entfaltet, wurde auf ähnliche Weise auch
in der Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren beobachtet, wo Probanden einem
Duft ausgesetzt wurden, der mit einem visuellen Gegenstand assoziiert wurde. Diese
Assoziation löste stärkere Hirnaktivitäten aus als die spätere Assoziation des Dufts
mit einem anderen Gegenstand. Wir erinnern uns an den ersten Geruch. Siehe
Andreas Keller, »Odor Memories: The First Sniff Counts«, Current Biology 19, Nr. 21,
2009, S. 988f.

58 Robert Zajonc, »Mere Exposure: A Gateway to the Subliminal«, Current Directions


in Psychological Science 10, Nr. 6, Dez. 2001, S. 224–228.

59 Die Acid-House-Geschichte habe ich dem interessanten Artikel von Tim Lawrence
»Acid – Can You Jack?« auf der Website DJHistory.com entnommen; und auch der
hervorragenden Geschichte der Popmusik von Bob Stanley, Yeah! Yeah! Yeah! The
Story of Pop Music from Bill Haley to Beyoncé, W. W. Norton, New York 2014, S. 466.

60 In einem Aufsatz heißt es: »Während der Mere-Exposure-Effekt zuverlässig dazu


führt, dass neue und neutral konnotierte Reize zunehmend besser gefallen, legt diese
Studie auch nahe, dass bei anfänglich negativen Einstellungen durch die wiederholte
Darbietung die affektiven negativen Gefühle noch verstärkt werden.« Siehe Richard J.
Crisp, Russell R. C. Hutter und Bryony Young, »When Mere Exposure Leads to Less
Liking«, British Journal of Psychology 100, 2009, S. 133–149.

61 Siehe beispielsweise Daniel Berlyne, »Novelty, Complexity and Hedonic Value«,


Perception and Psychophysics 8, 1970, S. 279–286.

62 Adrian North und David Hargreaves, The Social and Applied Psychology of Music,
Oxford University Press, New York 2008, S. 83.

63 Howard R. Moskowitz, »Engineering Out Food Boredom: A Product Development


Approach That Combines Home Use Tests and Time- Preference Analysis«, Food
Quality and Preference 11, Nr. 6, Nov. 2000, S. 445–456.

64 Aus einem Gespräch mit dem Autor, aber siehe auch Moskowitz, »Engineering
Out Food Boredom«.

65 In Blindversuchen bevorzugten viele Leute sehr oft Pepsi. Wenn Verbraucher beide
Getränke blind trinken und anschließend befragt werden, warum sie das eine lieber
trinken, greifen laut einer Studie viele auf bekannte Erklärungsversuche etwa für
Limonade zurück wie »süßer schmeckt besser«. Die Autoren schreiben: »Dass die
Teilnehmer ihre positiven Gründe für Pepsi leichter verbalisieren können als für Coca-
Cola, deutet darauf hin, dass die Geschmackseigenschaften von Pepsi eine
plausiblere Grundlage für die angenehme Erfahrung bieten.« Kurz gesagt, kann man
besser sagen, warum man Pepsi gut findet als Coca-Cola. Theoretisch könnte dieser
Umstand und nicht das Getränk selbst die Erklärung für unsere Vorliebe sein. Siehe
Ayumi Yamada et al., »The Effect of an Analytical Appreciation of Colas on Consumer
Beverage Choice«, Food Quality and Preference 34, Juni 2014, S. 1–4.

66 P. A. Bush und K. G. Pease, »Pop Records and Connotative Satiation: Test of


Jakobovits’ Theory«, Psychological Reports 23, 1968, S. 871–875. Der Begriff
»Übersättigung« wird in folgender Studie verwendet: Leon Jakobovits, »Studies of
Fads: I. The ›Hit Parade‹«, Psychological Reports 18, 1966, S. 443–450. Bush und Pease
bemerken dazu, dass das von Jakobovits beobachtete Verhalten komplizierter sein
könne als dargestellt und eventuell aus einem statistische Fehler resultiere. »Wir
geben zu bedenken, dass die Betrachtung von Veränderungen in den
Durchschnittswerten in der genannten Situation unrealistisch sein könnte. Um ein
zutreffendes Bild von der Wirkung der wiederholten Darbietung von Popsongs zu
erhalten, könnte es erforderlich sein, die Veränderungen in der Verteilung der Werte
und die Veränderungen der Werte von Individuen zu berücksichtigen.« Jakobovits
merkte seinerseits an, dass sich die durch eine übermäßige Darbietungshäufigkeit
verursachte Ablehnung im Laufe der Zeit eventuell korrigieren könne. »Es steht
demnach zu erwarten, dass ein sehr beliebter und häufig gespielter Song nach einiger
Zeit ›wiederauferstehen‹ kann und beim zweiten Mal populärer ist als ein Song, der
sich in seiner ersten Lebenszeit nicht so großer Beliebheit erfreute.« Hierfür gibt es
zahlreiche Beispiele, eins davon ist die Verwendung von Journeys »Don’t Stop
Believin’« unter anderem in The Sopranos, Glee on Tour und The X Factor, die zu einer
erneuten Popularität führte. In Großbritannien stand der Song 2010 in den Charts
weiter oben als bei seiner ursprünglichen Veröffentlichung 1981.

67 Michael Pollan, Das Omnivoren-Dilemma, Goldmann, München 2011, S. 14.

68 Die Kausalkette zwischen Geschmack, Vertrautheit und Präferenz kann verwickelt


sein. Wie ein Experiment zu Vertrautheit und Musikwahl zeigte: »Die Ergebnisse
bestätigen auch, dass der starke Zusammenhang zwischen Vertrautheit und Präferenz
nicht durch den Geschmack hervorgerufen wird. Die Vertrautheit bestimmt die Wahl
weit mehr als der Geschmack und hat zudem eine stärkere direkte Auswirkung auf die
Wahl als der Geschmack. In einigen Versuchen bot die Vertrautheit auch eine
aussagekräftigere Erklärung für die Wahl als der Geschmack.« Siehe Morgan K. Ward,
Joseph K. Goodman und Julie R. Irwin, »The Same Old Song: The Power of Familiarity
in Music Choice«, Marketing Letters 25, Mai 2013, S. 1–11.

69 Der Musikkritiker Alex Ross wundert sich, wieso das moderne Publikum sich der
zeitgenössischen klassischen Musik gegenüber so widerstrebend verhält, obwohl es
auf anderen Gebieten offen für Neuerungen ist, und verweist dabei auf die Folgen von
Darbietungshäufigkeit und Vertrautheit: »Die modernen Komponisten wurden zum
Opfer eines lange herrschenden allgemeinen Desinteresses, das eng mit der
abgöttischen Verehrung der Vergangenheit durch das klassische Musikpublikum
zusammenhängt. Selbst vor 1900 gingen die Leute mit der Erwartung ins Konzert, in
den lieblichen Klängen längst vergangener Tage zu schwelgen. (›Neue Werke haben in
Leipzig keinen Erfolg‹, schrieb ein Kritiker bei der Premiere von Brahms’ erstem
Klavierkonzert 1859.)« In der klassischen Musik gilt als gut, was vertraut ist – seit
mehreren hundert Jahren. Alex Ross, »Why Do We Hate Modern Classical Music?«,
Guardian, 28. Nov. 2010.

70 Haben vielleicht auch Holbrook und Schindler, wie Rancière Bourdieu vorwarf,
einen Musikerinnerungstest durchgeführt und die Leute eher danach befragt, was sie
kennen, und nicht nach dem, was sie lieben? Würden nicht auch ältere Personen bei
wiederholtem Hören »Sledgehammer« besser finden als »Smoke Rings«? Wie kann
jungen Leuten der Song der Mills Brothers besser gefallen, wenn sie ihn noch nie
gehört haben?

71 Siehe beispielsweise Karsten Steinhauer, Erin J. White und John E. Drury,


»Temporal Dynamics of Late Second Language Acquisition: Evidence from Event-
Related Brain Potentials«, Second Language Research 25, Nr. 1, 2009, S. 13–41. Siehe
auch Stefanie Nickels, Bertram Opitz und Karsten Steinhauer, »ERPs Show That
Classroom- Instructed Late Second Language Learners Rely on the Same Prosodic
Cues in Syntactic Parsing as Native Speakers«, Neuroscience Letters 557, Teil B,
17. Dez. 2013, S. 107–111.

72 Diesen Satz verdanke ich Brian Whitman von Echo Nest.

73Howard Schuman and Jacqueline Scott, »Generations and Collective Memories«,


American Sociological Review 54, Nr. 3, 1989, S. 359–81.

74 In dem Dokumentarfilm We Jam Econo hat Mike Watt von The Minutemen den
Gedanken eines generationenabhängigen Determinismus auf den Punkt gebracht:
»Man kann nichts dafür, wann man geboren wurde und was man gut findet. Manche
wurden vorher, manche nachher und manche genau dann geboren.« Es verstand sich
von selbst, dass »genau dann« den Zeitpunkt ihres musikalischen Erwachens meinte.

75 »Die Vorstellung, alle Musik sei gleich und gleichberechtigt, ist eine zutiefst
demokratische Vorstellung, ebenso wie der damit zusammenhängende Gedanke, das
Publikum und nicht ein Expertenrat könne am besten über die Musikqualität urteilen«,
schrieb Zapruder in seinem Blog. »Die Tatsache aber, dass manche Musik nicht nur
mehr Publikum anzieht, sondern auch mehr Leuten über längere Zeit etwas bedeutet,
zeigt, dass es schon in der Musik selbst eine fundamentale Ungleichheit gibt.« Play
Listen Repeat (Blog), Pandora, 25. Feb. 2009,
http://blog.pandora.com/uncategorized/imagine_that_yo/.
4
Woher wissen wir, was uns gefällt?

1 Pieter Brueghel d. Ä., Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, Gedicht von W. H.
Auden, Musée des Beaux Arts, übersetzt von Kurt Heinrich Hansen, zitiert aus: DIE
ZEIT, Archiv, Jahrgang 1952, Ausgabe 39. Einen beeindruckenden Essay über die
Ereignisse, die Auden zu seinem Kommentar bezüglich des Gemäldes aus dem
16. Jahrhundert inspirierten, findet man bei: Alexander Nemerov, »The Flight of Form:
Auden, Brueghel and the Turn to Abstraction in the 1940s«, Critical Inquiry 31, Nr. 4,
Sommer 2005, S. 780–810.

2 Siehe Andrew Parker, »Revealing Rembrandt«, Frontiers in Neuroscience, 21. April


2014, doi:1010.3389/fnins. 2014.00076.

3 Peter Schjeldahl, »The Trouble with Nauman«, in: Bruce Nauman, hrsg. v. Robert
C. Morgan, Johns Hopkins University Press, Baltimore 2002.

4 Immanuel Kant, Die Kritik der Urteilskraft, zitiert nach:


http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-urteilskraft-3507/11.

5 Clement Greenberg, »The State of Art Criticism«, in: Twentieth Century Theories
of Art, Hrsg. James Thompson, Carleton University Press, Ottawa 1990, S. 102.

6 Für eine gute Darstellung siehe Eric Anderson, Erika H. Siegel und Lisa Feldman
Barrett, »What You Feel Influences What You see: The Role of Affective Feelings in
Resolving Binocular Rivalry«, Journal of Experimental Social Psychology 47, Nr. 4,
2011, S. 856–860.

7 Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in
Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, Siedler, München 2012,
S. 331.

8 Nach Alan Musgrave, Common Sense, Science and Scepticism, Cambridge


University Press, Cambridge, U.K. 1993, S. 62.

9 Zajonc zeigte Probanden in einem Experiment eine Millisekunde lang »zufällige


Polygone« und fragte sie anschließend, wie sie ihnen gefallen und ob sie sie erkannt
haben. Die Leute mochten die Polygone lieber, die sie mehr als einmal sahen, obwohl
sie sich normalerweise nicht besser daran erinnern konnten, als wenn sie geraten
hätten, welche sie gesehen hatten. Siehe W. R. Kunst-Wilson und R. B. Zajonc,
»Affective Discrimination of Stimuli That Cannot Be Recognized«, Science 207,
Nr. 4430, 1980, S. 557–580.

10 Siehe Rémi Radel und Corentin Clément-Guillotin, »Evidence of Motivational


Influences in Early Visual Perception: Hunger Modulates Conscious Access«,
Psychological Science 23, Nr. 3, März 2013, S. 232ff.

11 Edwin Denby, Dance, Writings and Poetry, Yale University Press, New Haven, Conn.
1998, S. 259.

12 Der Satz stammt von William Hazlitt, »Picture-Galleries in England«, in: The
Collected Works of William Hazlitt, J. M. Dent, London 1903, S. 7.

13 Siehe Svetlana Alpers, »The Museum as a Way of Seeing«, in: Exhibiting Cultures,
Hrsg. Ivan Karp und Steven D. Lavine, Smithsonian Institution Press, Washington, D.C.
1991, S. 26.

14 Siehe beispielsweise Karen Archey, »Christopher Williams’ ›For Example: Dix-Huit


Leçons sur la Société Industrielle‹« (Revision 19), Art Agenda, 11. Dez. 2014,
http://www.art-agenda.com/reviews/christopher-william’s-“for-example-dix-huit-lecons-
sur-la-societe-industrielle-revision-19“.

15 John Dewey, Art as Experience, Perigee, New York 2005, S. 54. In deutscher
Übersetzung: Kunst als Erfahrung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1988.

16 Richard Wollheim, Painting as an Art, Princeton University Press, Princeton, N.J.


1987, S. 8.

17 Ladislav Kesner weist darauf hin, dass wir zwar empirisch belegen können, dass
Museumsbesucher »die ausgestellten Objekte nur flüchtig betrachten«, aber »nicht
wirklich definieren, von empirisch messen ganz zu schweigen, können, wie
befriedigend die Begegnung mit den Werken unter dem Gesichtspunkt der
Wahrnehmung ist«. Kesner, »The Role of Cognitive Competence in the Art Museum
Experience«, Museum Management and Curatorship 21, Nr. 1, 2006, S. 4–19.

18Edward S. Robinson, »The Behavior of the Museum Visitor«, Publications of the


American Association of Museums, 5, 1928.

19 Jeffrey K. Smith und Lisa F. Wolf, »Museum Visitor Preferences and Intentions in
Constructing Aesthetic Experience«, Poetics 24, Nr. 2–4, 1996, S. 222.

20 Philip Hensher, »We Know What We Like, and It’s Not Modern Art«, Daily Mail,
March 12, 2011, http://www.dailymail.co.uk/news/article-1365672/Modern-art-How-
gallery-visitors-viewed-work-Damien-Hirst-Tracy-Emin-5-seconds/html.

21 Benjamin Ives Gilman, »Museum Fatigue«, Scientific Monthly, Jan. 1916, S. 62–74.

22 Siehe Alessandro Bollo et al., »Analysis of Visitor Behavior Inside the Museum:
An Empirical Study«,
http://neumann.hec.ca/aimac2005/PDF_Text/BolloA_DalPozzoloL.pdf.

23 Der Satz stammt von Philip Fisher, via John Walsh, »Paintings, Tears, Lights, and
Seats«, Antioch Review 61, Nr. 4, Herbst 2003, S. 767–782.

24 Siehe James M. Bradburne, »Charm and Chairs: The Future of Museums«, Journal
of Museum Education 26, Nr. 3, Herbst 2001, S. 3–9.

25 Robinson, »The Behavior of the Museum Visitor«, a.a.O.

26 Der Museumsforscher Stephen Bitgood nimmt an, dass Besucher »ein gutes
Preis-Leistungs-Verhältnis anstreben und den größten Nutzen oder die größte
Zufriedenheit für ihre Investition an Zeit und Geld haben wollen«. Siehe Bitgood, »An
Analysis of Visitor Circulation: Movement Patterns and the General Value Principle«,
Curator 49, Nr. 4, 2006, S. 463–475; und Bitgood, »An Overview of the Attention-Value
Model«, in: Attention and Value: Keys to Understanding Museum Visitors, Left Coast
Press, Walnut Creek, Kalif. 2013.

27 Der Museumsforscher Beverly Serrell untersuchte verschiedene Museen, darunter


das American Museum of Natural History, und stellte fest, dass das Museum mit der
höchsten »Erfassungsrate« – Quadratmeter geteilt durch die im Museum zugebrachte
Zeit – ein kleines Museum in Alaska war. Ein Grund dafür war Selbstselektion: Wenn
die Leute den weiten Weg nach Homer, Alaska, auf sich nahmen, wollten sie die
Ausstellung auch wirklich sehen. Siehe Serrell, »Paying More Attention to Paying
Attention«, Informal Science, 15. März 2010, http://www.informalscience.org/news-
views/paying-more-attention-paying-attention.

28Siehe Martin Tröndle et al., »The Effects of Curatorial Arrangements«, Museum


Management and Curatorship 29, Nr. 2, 2014, S. 140–173.

29 Siehe Jeffrey Smith, The Museum Effect: How Museums, Libraries, and Cultural
Institutions Educate and Civilize Society, Rowman & Littlefield, Lanham, Md. 2014,
S. 34.

30 Siehe ebd., S. 22. Smith nennt das Verhalten »gemeinsam besuchen, alleine
betrachten«.

31 Siehe Martin Tröndle et al, »A Museum for the Twenty-First Century: The Influence
of ›Sociality‹ on Art Reception in Museum Space«, Museum Management and
Curatorship 27, Nr. 5, 2012, S. 461–486.

32 Siehe Jay Rounds, »Strategies for the Curiosity-Driven Museum Visitor«, Curator
47, Nr. 4, Okt. 2007, S. 404.

33 Siehe beispielsweise Paolo Viviani und Christelle Aymoz, »Colour, Form, and
Movement Are Not Perceived Simultaneously«, Vision Research 41, Nr. 22, Okt. 2001,
S. 2909–2918. Semir Zeki entwickelt den interessanten Gedanken, dass die
Vorrangigkeit der Farbe im visuellen Wahrnehmungsprozess unser ästhetisches Urteil
beeinflussen könnte: »Es ist eine plausible und interessante Annahme, dass
Kombinationen, die einer ursprünglichen, signifikanten Gestaltung entsprechen und
daher als ästhetisch angenehmer empfunden werden, schneller verarbeitet werden als
solche, die ästhetisch als weniger angenehm empfunden werden, weil sie weniger
einer signifikanten Gestaltung entsprechen.« Siehe Semir Zeki und Tomohiro Ishizu,
»The ›Visual Shock‹ of Francis Bacon: An Essay in Neuroesthetics«, Frontiers in
Human Neuroscience 7, Dez. 2013, S. 9.

34 Für eine interessante Beobachtung, wie die Figuren von Gemälden wie Vermeers
Mädchen »uns« anblicken, siehe Olivier Morin, »How Portraits Turned Their Eyes upon
Us: Visual Preferences and Demographic Change in Cultural Evolution«, Evolution in
Human Behavior 34, Nr. 3, 2013, S. 222–229. In manchen Kulturen, so Morin, ist der
direkte Blick unerwünscht, aber »in Kulturen, wo die Blickrichtung frei variieren kann,
sodass es Porträts mit direktem und abgewandtem Blick gibt, ist Letzterer
erfolgreicher und setzt sich mit der Zeit durch.«

35 Siehe Davide Massaro et al., »When Art Moves the Eyes: A Behavioral and Eye-
Tracking Study«, PLoS ONE 7, Nr. 5, 2012, S. 1–12. Auch einzelne Gesichter
betrachten wir mit einer interessanten Mischung aus Top-down und Bottom-up.
Betrachten wir berühmte Gesichter, schauen wir uns die Augen und andere obere für
die Identifikation normalerweise sehr wichtige Partien weniger an, weil wir die Person
vermutlich schon erkannt haben und unsere Hypothese nur noch bestätigen wollen.
Siehe Jason J. S. Barton et al., »Information Processing During Face Recognition: The
Effects of Familiarity, Inversion and Morphing on Scanning Fixations«, Perception 35,
Nr. 8, 2006, S. 1089–1105.

36 Siehe Paul Locher, »The Structural Framework of Pictorial Balance«, Perception


25, Nr. 12, 1996, S. 1419–1436.

37 Und das sei gut so. Er schreibt: »Anstatt den Blick anzuziehen, begnügt der
Rahmen sich damit, ihn zu sammeln und sogleich auf das Bild zu lenken.« Der
Rahmen ist weder Gemälde noch Wand, sondern eine hermetische Grenze zwischen
beiden. Er ist unsichtbar, es sei denn, er enthält kein Bild. Siehe José Ortega y Gasset,
»Meditation über den Rahmen«, in: ders., Über die Liebe, Meditationen, DVA,
Stuttgart 1957, S. 70 f.

38 Siehe u.a. C. F. Nodine, P. J. Locher und E. A. Krupinski, »The Role of Formal Art
Training on the Perception and Aesthetic Judgment of Art Compositions«, Leonardo
26, Nr. 3, 1993, S. 219–227.

39 H. J. Eysenck, »The Experimental Study of the ›Good Gestalt‹ – a New Approach«,


Psychological Review 49, Nr. 4, Juli 1942, S. 351. Ich danke Paul Locher für das Zitat.

40 Paul J. Locher, »The Aesthetic Experience with Visual Art ›at First Glance‹«, in:
Investigations into the Phenomenologie and the Ontology of the Work of Art: What are
Artworks an How Do We Experience Them?, Hrsg. Peer F. Bundgaard und Frederik
Stjernfelt, Springer, New York 2015.

41 Siehe Abigail Housen, »Eye of the Beholder: Research, Theory, and Practice«,
Paper für die Konferenz »Aesthetic and Art Education: A Transdisciplinary Approach«,
27.–29. Sept. 1999, Lissabon, Portugal.

42 Siehe »Aesthetic Development«, Visual Thinking Strategies,


http://www.vtshome.org/research/aesthetic-development.

43 Kenneth C. Lindsay und Bernard Huppe schreiben zum Beispiel: »Wir müssen uns
durch massenhafte Details kämpfen, um zum ikonographischen Zentrum
vorzudringen.« Lindsay und Huppe, »Meaning and Method in Brueghel’s Painting«,
Journal of Aesthetics and Art Criticism 14, Nr. 3, März 1956, S. 376–386.

44 Robert Zajonc, »Feeling and Thinking: Closing the Debate over the Independence
of Affect«, in: Feeling and Thinking: The Role of Affect in Social Cognition, Hrsg.
Joseph P. Forgas, Cambridge University Press, New York 2000.

45 Siehe Andrew P. Bayliss et al., »Affective Evaluations of Objects Are Influenced by


Observed Gaze Direction and Emotional Expression«, Cognition 104, Nr. 3, Sept.
2007, S. 644–653. Siehe als weitere Studie, die Gemälde als Target-Reiz verwendeten:
Clementine Bry et al., »Eye’m Lovin’ It! The Role of Gazing Awareness in Mimetic
Desires«, Journal of Experimental Social Psychology 47, Nr. 5, Sept. 2011, S. 987–993.

46 Siehe Carole Henry, »How Visitors Relate to Museum Experiences: An Analysis of


Positive and Negative Emotions«, Journal of Aesthetic Education 34, Nr. 2, Sommer
2000, S. 99–106. Sie berichtet in einer Studie über einen unangenehmen Zwischenfall
zwischen einem Besucher und einem Museumswärter: »Das Museumserlebnis des
Studenten war nun nicht mehr die Kunst, sondern der unangenehme Zwischenfall.«

47 Zajonc, »Feeling and Thinking«, a.a.O., S. 157.

48
Das Zitat stammt aus Thierry de Duve, Clement Greenberg, Between the Lines,
University of Chicago Press, Chicago 2010, S. 19.

49 Siehe George Plimpton, »The Art of the Matter«, New Yorker, 10. Juni 2012.

50 Wie ein Kurator einmal gegenüber dem Psychologieprofessor Mihaly


Csikszentmihalyi sagte: »Gemälde geben einem die Illusion, man könne sie in einer
Sekunde erfassen.« Oder noch weniger! Der scheinbar mühelose Akt der Betrachtung
– das Bild bietet sich uns offen dar und verrät uns nicht, was wir vielleicht übersehen
haben – sowie der sich schnell und instinktiv einstellende Effekt können dazu
beitragen, zu erklären, warum Museumsbesucher in Umfragen oft angeben, auf etwas
zu »warten«: auf das eine Bild, das sie umhaut, auf die Botschaft, die ihnen ein Bild
erzählt. Mihaly Csikszentmihalyi und Rick E. Robinson, The Art of Seeing: An
Interpretation of the Aesthetic Encounter, J. Paul Getty Museum and the Getty Center
for Education in the Arts, Malibu, Kalif. 1990, S. 147.

51 Kenneth Clark, Looking at Pictures, John Murray, London 1960, S. 16.

52 Siehe »Interpretation at the Minneapolis Institute of Arts: Policy and Practice«,


http://www.museum-ed.org/wp-content/uploads/2010/08/mia_interpretation_museum-
ed.pdf.

53 In der bekannten Studie des Psychologen Alfred Yarbus wurden Besucher mit
einem einfachen Eye-tracking-Gerät ausgestattet und gebeten, ein Bild zu betrachten:
Ilja Jefimowitch Repin, Unerwartete Heimkehr, zeigt die Heimkehr eines Soldaten aus
dem sibirischen Exil. Während der Betrachtung fragte man die Besucher, wie lange
der Soldat wohl weg gewesen sei oder wie die sozioökonomische Situation der Familie
wohl aussehe. Der Blickverlauf fiel je nach Fragestellung erheblich anders aus. Hier
drängt sich auch der Vergleich zu begleitenden Schildern auf, die die Aufmerksamkeit
der Besucher ebenso lenken dürften. Siehe Yarbus, Eye Movements and Vision, Plenum
Press, New York 1967. Eine gute Zusammenfassung von Yarbus’ Forschungsarbeit
findet man in: Sasha Archibald, »Ways of Seeing«, Cabinet, Nr. 30, Sommer 2008:
http://www.cabinetmagazine.org/issues/30/archibald.php.

54 Hensher, »We Know What We Like, and It’s Not Modern Art«, a.a.O.

55 Dieses Beispiel verdanke ich Pablo Tinios Paper »From Artistic Creation to
Aesthetic Reception: The Mirror Model of Art«, Psychology of Aesthetics, Creativity and
the Arts, 7, Nr. 3, 2013, S. 265–275.

56 Siehe David Brieber et al., »Art in Time and Space: Context Modulates the
Relation Between Art Experience and Viewing Time«, PloS ONE 9, Nr. 6, Juni 2014,
S. 1–8.

57 Siehe Mary Tompkins Lewis, »The Power, and Art, of Painting«, Wall Street Journal,
25. Sept. 2009.
58 Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, Oxford
University Press, Oxford 1988, S. 11.

59 Siehe Jeffrey K. Smith und Pablo P. L. Tinio, »Audibly Engaged: Talking the Walk«,
in: Digital Technologies and the Museum Experience: Handheld Guides and Other
Media, Hrsg. Loïc Tallon und Kevin Walker, AltaMira Press, New York 2008, S. 75.

60 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und


Religion, Vandenhoek, Göttingen, S. 22.

61 Alain de Botton, Art as Therapy, Phaidon Press, London 2013, S. 170.

62 Ayumi Yamada, »Appreciating Art Verbally: Verbalization Can Make a Work of Art
Be Both Undeservedly Loved and Unjustly Maligned«, Journal of Experimental Social
Psychology 45, Nr. 5, 2009, S. 1140–1143.

63 Laut der Kuratorin Ingrid Schaffner erzählen Wandtexte in modernen


Ausstellungen, »was kleine Museen ungern sagen wollen«, nämlich dass es »okay ist,
wenn man das nicht ansprechend findet, dafür ist es nicht gemacht«. Siehe Schaffner,
»Wall Labels«, in: What Makes a Great Exhibition?, Hrsg. Paula Marincola, Reaktion
Books, London 2007, S. 154–169.

64 Harlow Gale, »On the Psychology of Advertising«, Psychological Studies, Juli


1900, S. 39–69.

65 Art-Journal 11, 1872, S. 37.

66 New York Times, 12. Nov. 1871.

67Siehe Erika Michael, Hans Holbein the Younger: A Guide to Research, Routledge,
New York 2013, S. 327.

68 Die Ergebnisse seiner Studie nennt Fechner in dem Bericht über das auf der
Dresdener Holbein-Ausstellung ausgelegte Album, Breitkopf und Härtel, Leipzig 1872.
Danke an Sophie Duvernoy für die Hilfe bei der Übersetzung.

69 Gustav Theodor Fechner, Bericht über das auf der Dresden Holbein-Ausstellung
ausgelegte Album, Breitkopf und Härtel, Leipzig 1872, http://reader.digitale-
sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10997465_00005.html

70 Siehe beispielsweise Jay Hetrick, »Aisthesis in Radical Empiricism: Gustav


Fechner’s Psychophysics and Experimental Aesthetics«, Proceedings of the European
Society for Aesthetics 3, 2011, S. 139–153.

71 Gustav Theodor Fechner, Vorschule der Ästhetik, Cambridge University Press, New
York 2013, S. 243 f.

72 Spätere Studien bemängelten statistische Verzerrungen verschiedener Art. So


mag es eine schwache »bevölkerungsweite« Präferenz für ein bestimmtes Rechteck
geben, brach man dies aber auf den Einzelnen herunter, waren die Präferenzen stark
und sehr unterschiedlich. Siehe I. C. McManus, »Beauty Is Instinctive Feeling:
Experimenting on Aesthetics and Art«, in: The Aesthetic Mind: Philosophy and
Psychology, Hrsg. Elisabeth Schellekens und Peter Goldie, Oxford University Press,
Oxford 2011, S. 179. McManus schreibt: »Manchen Leuten gefallen Rechtecke, aber
Rechtecke nach dem Goldenen Schnitt spielen dabei keine Sonderrolle.«

73 Dieser Einwand stammt von Richard Padovan: »Die generelle Präferenz für
Formen, ob Quadrat oder halbes Quadrat, Quadrat oder dreiviertel Quadrat, könnte
ihre Ursache auch einfach darin haben, dass wir diesen Formen tagtäglich – beim
Kartenspiel, bei Fensterscheiben, Büchern und Gemälden – begegnen und sie uns
vertraut sind.« Siehe Padovan, Proportion: Science, Philosophy, Architecture, Taylor
and Francis, London 1999, S. 312.

74 Der Philosoph Rudolf Arnheim bemängelte beispielsweise, dass die Anhänger der
experimentellen Ästhetik nur von »Präferenz« sprächen und »damit alles
vernachlässigen, was den Kunstgenuss vom Genuss einer Eiscreme unterscheidet«.
Fechners Rechtecksstudien würden, auch wenn sie scheinbar gewisse Präferenzen
offenbarten, zeigen, was den Leuten gefiel, aber nicht warum. Die meisten Studien, so
Arnheim, »verraten uns reichlich wenig darüber, was die Leute sehen, wenn sie ein
ästhetisches Objekt betrachten, oder was sie damit meinen, dass ihnen etwas gefalle
oder nicht, oder warum ihnen das eine besser gefällt als das andere«. Siehe Arnheim,
»The Other Gustav Theodor Fechner«, in: New Essays on the Psychology of Art,
University of California Press, Berkeley 1986, S. 45. Selbst der Psychologe Daniel
Berlyne, der die experimentelle Ästhetik in den 1970er Jahren wieder aufgriff und zu
ihren bekanntesten Fürsprechern gehört, schrieb, dass »die experimentelle Ästhetik
zwar eine lange, aber keine hoch angesehene Geschichte« habe. Berlyne, Studies in
the New Experimental Aesthetics, Hemisphere Publishing, Washington, D.C. 1974, S. 5.

75 Hinsichtlich Fechner wurde eingewendet, dass die Neuroästhetik komplexe


Kunstwerke auf simple Messwerte wie »Schönheit« reduziere, deren Relevanz bei
zeitgenössischer Kunst fraglich sei. So zeigte eine interessante Studie unter
Museumsbesuchern, die mit einem Gerät zur Messung von galvanischer Hautreaktion,
Herzschlag und anderen physiologischen Kennzahlen ausgestattet wurden, dass ein
Werk wie die Campbell-Suppendosen von Andy Warhol starke physiologische
Reaktionen hervorrief, obwohl sein »ästhetischer Wert« als gering eingestuft wurde.
»Dies liegt vermutlich daran, dass das Werk berühmt ist und die Leute nun endlich vor
dem ›Original‹ standen.« Siehe Martin Tröndle und Wolfgang Tschacher, »The
Physiology of Phenomenology: The Effects of Artworks«, Empirical Studies of the Arts
30, Nr.11, 2012, S. 79–117. Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass die Erkenntnisse der
Neuroästhetik nicht neu seien. So schrieb beispielsweise der Kunstkritiker Blake: »Die
Erkenntnis, dass kinetische Kunst mit Bewegung zu tun hat und die Bewegungszellen
im visuellen Cortex anspricht oder dass die Fauves Farbkünstler waren und (raten Sie
mal) Kunst machten, die die Farbzellen besonders anspricht, sagt uns im Grunde
nichts Neues über diese Bewegungen.« Zitiert nach Arthur P. Shimamura und Stephen
E. Palmer, Hrsg., Aesthetic Science: Connecting Minds, Brains and Experience, Oxford
University Press, New York 2013, S. 145. Die Neuroästhetik, befürchteten andere,
»tötet unsere Seele«. Philip Ball, »Neuroaesthetics Is Killing Your Soul«, Nature,
22. März 2003.

76 Siehe George Walden, »Beware the Fausts of Neuroscience«, Standpoint, April


2012, http://www.standpointmag.co.uk/node/4367/full.

77 Zeki schreibt: »Wenn wir ein Mondrian-Gemälde betrachten, in dem Linien eine
besondere Rolle spielen …, werden in der Sehregion unseres Gehirn zahlreiche Zellen
aktiviert, die entsprechend lebhaft reagieren – sofern eine Linie mit einer bestimmten
Ausrichtung in dem Feld liegt, das die Zelle mit einer Präferenz für diese Ausrichtung
›sieht‹.« Siehe Semir Zeki, Inner Vision: An Exploration of Art and the Brain, Oxford
University Press, Oxford 1999, S. 114. Interessanterweise ist es dabei für die erzielte
Wirkung gleichgültig, wie man das Mondrian-Werk betrachtet. Laut einer Studie
bevorzugten die Probanden nicht die originale Ansicht von Mondrians Werk
Komposition, sondern eher drei andere Ausrichtungen – in anderen Studien gelang es
den Teilnehmern allerdings wesentlich besser, die originale Ausrichtung zu erraten.
Siehe George Mather, »Aesthetic Judgment of Orientation in Modern Art«, i-Perception
3, Nr. 1, 2012, S. 18–24. In einer weiteren Studie wurden den Probanden Mondrian-
Bilder mit schrägen statt mit den originalen horizontalen und vertikalen Linien
präsentiert – in rautenförmigen Rahmen, damit die Probanden durch die
Rahmenausrichtung nicht beeinflusst wurden. Hier wurden die Originalgemälde
bevorzugt – Allerdings könnte hier auch ein Bekanntheitseffekt eine Rolle spielen, weil
die Leute wissen, wie ein Mondrian aussehen muss. Siehe Richard Latto, »Do We Like
What We see?«, in: Multidisciplinary Approaches to Visual Representations and
Interpretations, Hrsg. Grant Malcolm, Elsevier, Amsterdam 2004, S. 343–356.

78 Siehe Zaira Cattaneo et al., »The World Can Look Better: Enhancing Beauty
Experience with Brain Stimulation«, Social Cognitive and Affective Neuroscience 9,
Nr. 11, 2014, S. 1713–1721. Ähnliche Effekte lassen sich interessanterweise auch für
Nahrungsmittel belegen. In einem Versuch konnte ein mit »Elektroden ausgestatteter
Löffel«, der auch Licht erzeugte, »die wahrgenommene Geschmacksintensität«
erhöhen. Siehe Aviva Rutkin, »Food Bland? Electric Spoon Zaps Taste into Every Bite«,
New Scientist, 31. Okt. 2014.

79 Siehe Joel S. Winston et al., »Brain Systems for Assessing Facial Attractiveness«,
Neuropsychologia 45, 2007, S. 195–206. Die Forscher stellen fest: »Offenbar verringert
sich die Aktivität in einigen mit dem Belohnungssystem zusammenhängenden
Bereichen, wenn man Gesichter auf ihre Attraktivität hin bewertet. Das könnte daran
liegen, dass der Belohnungswert – oder vielleicht der ästhetische Wert – eines
visuellen Reizes sinkt, wenn man diesen bewerten will. Um diese scheinbar
widersprüchliche Wirkung besser erklären zu können, sind zweifellos weitere
Verhaltens- und Neuroimaging-Studien nötig.«

80 Siehe Dahlia Zaidel, Neuropsychology of Art: Neurological, Cognitive and


Evolutionary Perspectives, Psychology Press, New York 2013, S. 167.

81 Siehe Zeki und Ishizu, »›Visual Shock‹ of Francis Bacon«, a.a.O.

82 Michael Peppiatt, Francis Bacon: Anatomie eines Rätsels, Dumont, Köln 2000,
S. 134.

83 Siehe beispielsweise H. A. Sackeim und R. C. Gur, »Lateral Asymmetry in Intensity


of Emotional Expression«, Neuropsychologia 16, 1978, S. 473–482.

84 Siehe I. C. McManus, »Turning the Left Cheek«, in: Consciousness Regained:


Chapters in the Development of Mind, Hrsg. Nicholas Humphrey, Oxford University
Press, Oxford 1983, S. 138–142. James Schirillo bezweifelt, dass diese Präferenz
angeboren ist: »In modernen Gesellschaften wird die rechte weibliche Gesichtshälfte
in der Regel von Männern und Frauen als attraktiver empfunden.« Im Zeitalter von
Rembrandt hätten die Leute vielleicht auch Porträts von rechts bevorzugt, haben sich
aber der sozialen Norm gebeugt. Die rechte Seite könne »Tapferkeit, Dominanz und
Status« ausdrücken, und das sei bei weiblichen Sujets als bedrohlich angesehen
worden. Siehe Schirillo, »Hemispheric Asymmetries and Gender Influence
Rembrandt’s Portrait Orientations«, Neuropsychologia 38, Nr. 12, Okt. 2000, S. 1593–
1606.

85 Zeki führt dies genauer aus in: »The Woodhull Lecture: Visual Art and the Visual
Brain«, Nachdruck in: Exploring the Universe: Essays on Science and Technology,
Hrsg. P. Day, Oxford University Press, London 1997, S. 37.

86 Siehe Richard P. Taylor et al., »Perceptual and Physiological Responses to Jackson


Pollock’s Fractals«, Frontiers in Human Neuroscience, Juni 22, 2011, S. 11. Es könnte
sein, so die Autoren, dass wir Pollocks fraktale »HD«-Arbeiten so ansprechend finden,
weil unsere Augen versuchen, vertrautere fraktale Formen zu entdecken oder eine Art
Puzzle zu lösen. Vielleicht beschäftigte sich Pollock so viel mit fraktalen Mustern, dass
er sich irgendwann komplexeren Formen zuwandte – ebenso wie wir, wenn wir uns
stärker mit Pollock beschäftigen.

87 Siehe Connon Diemand-Yauman, Daniel M. Oppenheimer und Erikka B. Vaughan,


»Fortune Favors the Bold (and the Italicized): Effects of Disfluency on Educational
Outcomes«, Cognition 118, Nr. 1, Jan. 2011, S. 111–115. Die Autoren schreiben:
»Geringe perzeptuelle Geläufigkeit kann auch darauf hindeuten, dass jemand das
Material nicht meistern konnte.« In der Kunst ist »Meisterschaft« vielleicht das, was
uns zu einem Werk zurückkehren lässt.

88 Siehe Hans Richter, Dada: Kunst und Antikunst, DuMont, Ostfildern 1993, S. 207.

89 Arthur Danto, The Abuse of Beauty, Open Court, New York 2003, S. 17.

90 Siehe Lea Höfel und Thomas Jacobsen, »Electrophysiological Indices of


Processing Aesthetics: Spontaneous or Intentional Processes?«, International Journal
of Psychophysiology 65, Nr. 1, Juli 2007, S. 20–31. Die Autoren schreiben: »Der frühe
frontozentrale ERP-Effekt, der die Bildung von Eindrücken bei Aufgaben zur
ästhetischen Bewertung nicht schöner Muster anzeigt, konnte in der vorliegenden
Studie nicht festgestellt werden. Er scheint daher die Absicht vorauszusetzen, einen
Reiz ästhetisch zu bewerten und ein ästhetisches Urteil zu fällen. Weder die
Betrachtung noch die Reflexion über die dargebotenen Reize evozierte eine ERP-
Signatur, die auf Prozesse zur Unterscheidung zwischen schönen und nicht schönen
Mustern hinweisen würde.« Das legt einen interessanten Gedanken nahe: dass wir
nicht »wissen«, wie wir etwas ästhetisch empfinden, so lange wir nicht aufgefordert
werden, darüber nachzudenken. Die Studie verwendete allerdings abstrakte Formen
und keine Kunstwerke. Wie Helmut Leder und Pablo Tinio schreiben: »Die Frage, ob
kortikale Strukturen auf dieselbe Weise auf Kunstwerke wie auf alltägliche Objekte
reagieren, bleibt ungelöst und noch zu erforschen.« Siehe Tinio und Leder, »The
Means to Art’s End: Styles, Creative Devices and the Challenge of Art«, in:
Neuroscience of Creativity, Hrsg. Oshin Vartanian, Adam S. Bristol und James C.
Kaufman, MIT Press, Cambridge, Mass, 2013, S. 273–298.

91 Siehe Annette Spohn, Andy Warhol – Leben, Werk, Wirkung, Suhrkamp, Frankfurt
a.M. 2008, S. 82.

92 Eine interessante Studie im Kunstmuseum St. Gallen machte sich eine


»standortspezifische« Erfindung – kleine, mit Marker auf den Museumswänden
aufgebrachte Kommentare des Künstlers Nedko Solakov – zunutze, um
herauszufinden, inwiefern Besucher Kunst als Kunst betrachten. Selbst nach mehreren
experimentellen Veränderungen der Ausstellung, um Kontext und Hintergrund besser
zu erläutern, betrachtete nur eine knappe Mehrheit das Werk als »Kunst«. Siehe
Martin Tröndle, Volker Kirchberg und Wolfgang Tschacher, »Is This Art? An
Experimental Study on Visitors’ Judgement of Contemporary Art«, Cultural Sociology,
7. April 2014, http://cus.sagepub.com/content/early/2014/04/
07/1749975513507243.abstract. Andererseits fand eine Neuroimaging-Studie heraus,
dass, bei Probanden, denen man bestimmte Bilder zeigte und sagte, es handle sich
um Werke aus bedeutenden Museen, andere Gehirnregionen aktiviert – und höhere
ästhetische Bewertungen abgegeben – wurden, als wenn man ihnen angeblich
computergenerierte Bilder zeigte. Siehe Ulrich Kirk et al., »Modulation of Aesthetic
Value by Semantic Context: An fMRI Study«, NeuroImage 44, 2009, S. 1125–1132.

93 Edward Vessel, Irving Biederman und Mark Cohen, »How Opiate Activity May
Determine Spontaneous Visual Selection«, Paper für das dritte Jahrestreffen der
Vision Sciences Society, Sarasota, Fla., 2003.

94 Natürlich können Leute in der verzwickten Kunstwelt durchaus ein Parkplatzbild


von Ed Ruscha einem Landschaftsgemälde vorziehen.

95 Siehe Hannah Brinkmann et al., »Abstract Art as a Universal Language?«,


Leonardo 47, Nr. 3, Juni 2014, S. 256f.

96 Wenn man Leuten in einer Studie abstrakte Kunstwerke zeigte, gefielen ihnen
Werke besser, wenn der Titel einen semantischen Bezug erlaubte – und schlechter,
wenn der Titel keinen Zusammenhang mit dem Bild zu haben schien. Siehe Benno
Belke et al., »Cognitive Fluency: High-Level Processing Dynamics in Art Appreciation«,
Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 4, Nr. 4, Nov. 2010, S. 214–222. Siehe
auch Helmut Leder et al., »Entitling Art: Influence of Title Information on
Understanding and Appreciation of Paintings«, Acta Psychologia 121, Nr. 2, 2006,
S. 176–198.

97 A. S. Cowen, M. M. Chun und B. A. Kuhl, »Neural Portraits of Perception:


Reconstructing Face Images from Evoked Brain Activity«, NeuroImage, 1. Juli 2014,
S. 12–22. Siehe auch Kerri Smith, »Brain Decoding: Reading Minds«, Nature, 23. Okt.
2013, und Larry Greenemeyer, »Decoding the Brain«, Scientific American, Nov./Dez.
2014.

98 John Dewey, Art as Experience, Perigee, New York 2005, S. 288. In deutscher
Übersetzung: Kunst als Erfahrung, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1988.

99 Siehe James E. Cutting, »Gustave Caillebotte, French Impressionism and Mere


Exposure«, Psychonomic Bulletin and Review 10, Nr. 2, 2003, S. 319–343.

100 Siehe ebd.

101 Ein Kunsthistoriker schrieb: »Es scheint fast, dass wir ein Jahrhundert warten
mussten, um die Rätsel der Alltagsbilder von Caillebotte richtig entschlüsseln zu
können.« Morton Shackleford, Gustave Caillebotte: The Painter’s Eye, University of
Chicago Press, Chicago 2015, S. 19.

102 Aaron Meskin et al., »Mere Exposure to Bad Art«, British Journal of Aesthetics 53,
Nr. 2, 2013, S. 139–164.

103 Siehe Robert McCrum, »The 100 Best Novels: An Introduction«, Guardian,
22. Sept. 2013, https://www.theguardian.com/books/2013/sep/22/100-best-novels-
robert-mccrum.
104 Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Carl Hanser Verlag,
Wien, München 1984, S. 240.

105 Alexis Boylan, Hrsg., Thomas Kinkade: The Artist in the Mall, Duke University
Press, Durham, N.C. 2011, S. 13.

106
Kinkade sagte einmal: »Ich male hell erleuchtete Fenster, weil hell erleuchtete
Fenster für mich trautes Heim bedeuten.« Und laut Kunderas Feststellung müssen
diese dann für Sie und den Rest der Welt ebenfalls trautes Heim bedeuten. Zitiert
nach Michael Clapper, »Thomas Kinkade’s Romantic Landscape«, American Art 20,
Nr. 2, Sommer 2006, S. 76–99.

107 Clark, Looking at Pictures, a.a.O., S. 15.

108 Eine herausragende Darstellung dieses Zeitalters bietet Jeremy Black, Culture in
Eighteenth-Century England: A Subject for Taste, Bloomsbury, London 2006.

109 So schreibt David Marshall: »Nachdem sich die Kriterien zur Beurteilung von
Kunst gewandelt hatten – von der Konformität zu den klassischen Regeln bis hin zur
Fähigkeit von Kunst, die subjektive Erfahrung von Lesern und Betrachtern zu formen
–, wurden an das Kunsterlebnis völlig neue Forderungen gestellt.« Siehe Marshall, The
Frame of Art: Fictions of Aesthetic Experience, 1750–1815, Johns Hopkins University
Press, Baltimore 2005, S. 6.

110 Eine Aussage, die nicht selten ist, in diesem Fall aber von George Dickie stammt.

111 Zeki etwa untersuchte auch mit Hilfe eines Experiments, ob Menschen bestimmte
mathematische Gleichungen schöner als andere finden. Aber wie sollte man jemanden
auftun, der noch nie eine mathematische Formel gesehen hatte? Siehe Semir Zeki et
al., »The Experience of Mathematical Beauty and Its Neural Correlates«, Frontiers in
Human Neuroscience, 13. Feb. 2014, S. 1–12,
http://journal.frontiersin.org/Journal/10.3389/fnhum.2014.00068/full. Zeki wies auf den
einen interessanten Punkt hin, falls Leute die Gleichungen nicht verstehen, sie aber
dennoch schöner als andere finden: »Das führt zu der grundlegenden Frage, ob
Schönheit selbst in einem so abstrakten Bereich wie der Mathematik einen Hinweis
darauf liefert, was in der Natur wahr ist: in unserer eigenen Natur und in der Welt, in
der der Mensch entstanden ist.« Man stellt sich beispielsweise ein Experiment vor, in
dem man Laien richtige und falsche mathematische Gleichungen vorlegt. Wenn sie
die richtigen Gleichungen als schöner einstufen, könnte es einen Zusammenhang
zwischen Schönheit und Wahrheit geben. Mathematiker, die wissen, ob eine Gleichung
richtig ist, können natürlich kein unvoreingenommenes ästhetisches Urteil fällen.

112 Siehe Denis Dutton, »The Experience of Art Is Paradise Regained: Kant on Free
and Dependent Beauty«, British Journal of Aesthetics 34, Nr. 3, 1994, S. 226–239.

113 Kant war der Ansicht, dass wir ein Bild mit einer vollkommen unbekannten
Sternansammlung im Weltraum frei von vorgefassten Meinungen und Bezugspunkten
betrachten und es schön finden könnten. In der Realität arbeiten Astronomen
allerdings mit »Falschfarbenbildern« und anderen Techniken, damit ihre Bilder dem
entsprechen, wie wir uns ein schönes Weltall vorstellen. Siehe Lisa K. Smith et al.,
»Aesthetics and Astronomy: Studying the Public’s Perception and Understanding of
Imagery from Space«, Science Communication 33, Nr. 2, Juni 2011, S. 201–238. Siehe
auch Anya Ventura, »Pretty Pictures: The Use of False Color in Images of Deep
Space«, in: Invisible Culture, Nr. 19, 29. Okt. 2013,
http://ivc.lib.rochester.edu/portfolio/pretty-pictures-the-use-of-false-color-in-images-of-
deep-space/. Der Autor schreibt: »Obwohl wir dem Publikum sagen, es handle sich bei
den Bildern um landschaftsfotografische Nachrichten von den Außengrenzen unserer
Welt, besitzen wir keinen Bezugspunkt, um die Echtheit dieser Topographien zu
beurteilen, keinen physikalischen Spiegel, der unser Verständnis erleichtern könnte.«

114 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., zitiert nach


http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-urteilskraft-3507/21.

115 Siehe Peter Jones, »Hume’s Aesthetics Reassessed«, Philosophical Quarterly 26,
Nr. 102, 1976, S. 56.

116 So war beispielsweise Humes »Urteilsvermögen hinsichtlich Dichtung und Drama


bemerkenswert schlecht«. Siehe Timothy M. Costelloe, »Hume’s Aesthetics: The
Literature and Directions for Research«, Hume Studies 30, Nr. 1, April 2004, S. 88.

117Siehe David Hume, »Of the Standard of Taste«, in: Selected Essays, Hrsg. Stephen
Copley und Andrew Edgar, Oxford University Press, Oxford 2008, S. 133.

118 So stellte eine Studie ziemlich verzweifelt fest: »Die Literatur zu Präferenzen in
der bildenden Kunst ist häufig von Widersprüchen und Verwirrung geprägt … Oft
widersprechen die Ergebnisse der einen Studie denen anderer, und bisher hat sich
noch keine gefragt, warum scheinbar zwei sehr ähnliche Kinder (Alter, Geschlecht,
sozioökonomischer Status) auf dasselbe Kunstwerk unterschiedlich reagieren.«
Pauline J. Ahmad, »Visual Art Preference Studies: A Review of Contradictions«, Visual
Arts Research 11, Nr. 2, Herbst 1985, S. 104.

119 Und in gewisser Hinsicht waren sie noch nicht getrennt: Hume leitete als Mitglied
einer Handelsgesellschaft eine Jury, die den besten »Diskurs über den Geschmack«
suchte und dabei nicht nur »die Schöne Literatur und die Wissenschaften«, sondern
ebenso »Porter« und »Strong Ale« berücksichtigte. Siehe Ernest Campbell Mossner,
The Life of David Hume, Oxford University Press, Oxford 2001, S. 283. Der
Wettbewerbsgewinner war Alexander Gerard mit seinem »Essay on Taste«.

120 Hume, »Of the Standard of Taste«, a.a.O., S. 144.

121 Wie der Philosoph Peter Kivy bemerkt hat, wurde die Frage, ob etwas gute Kunst
sei, nun durch die Frage ersetzt, ob jemand ein guter Kritiker sei. Aber wer sollte das
entscheiden? Woher sollte man wissen, ob man genügend eigene Urteilsfähigkeit
besaß, und wenn nicht, wie konnte man dann über die anderer urteilen? Siehe Kivy,
»Hume’s Standard of Taste: Breaking the Circle«, British Journal of Aesthetics 7, Nr. 1,
1967, S. 57–66. Dann gibt es noch das Problem der Metakognition. Wie George Dickie
schreibt: »Das Problem von Humes Theorie ist, dass jemand ohne feinen Geschmack
kaum wissen kann, ob jemand anderes guten Geschmack besitzt.« Siehe Dickie, The
Century of Taste, Oxford University Press, Oxford 1996, S. 134.

122 Siehe Michelle Mason, »Moral Prejudice and Aesthetic Deformity: Rereading
Hume’s ›Of the Standard of Taste‹«, Journal of Aesthetics and Art Criticism 59, Nr. 1,
Winter 2001, S. 60. Sie spricht ein größeres Problem an, das sie das »moralische
Vorurteilsdilemma« nennt. Wenn ein Kunstwerk, sagen wir etwa Nazikunst, gegen die
moralische Überzeugung des Kritikers verstößt, muss der Kritiker von seinen
moralischen Widerständen absehen, was Hume laut Mason »Pervertierung der
Gefühle« nannte. Wenn er nicht von seinen Widerständen absieht, läuft er Gefahr,
seine »Vorurteilsfreiheit« aufzugeben. Sie nimmt an, Hume hätte sich am Ende auf
der Seite der Moralisten wiedergefunden. Und was ist mit dem »feinen Geschmack«
der Kritiker – verfügt ihr sensorisches System über eine optimale Bandbreite? Die
sogenannten Superschmecker mit ihrem hochempfindlichen Geschmackssinn wären
ideale Kritiker, aber oft schmeckt ihnen nicht, was die meisten von uns gerne essen.
Sind sie darum nun gute oder schlechte Kritiker? Frances Raven hebt in einem
interessanten Aufsatz auf diesen Punkt ab: »Are Supertasters Good Candidates for
Being Humean Ideal Critics?«, Contemporary Aesthetics,
http://www.contempaesthetics.org/newvolume/pages/article.php?articleID=282. Etwas
provokanter fragt sich Jerrold Levinson, warum wir uns dem ästhetischen Urteil
idealer Kritiker überhaupt anschließen sollen: »Warum soll man sich dadurch
beeinflussen lassen, dass dieses und jenes von idealen Kritikern bevorzugt wird, wenn
es einem selber nicht zusagt?« Wenn, sagen wir, Thomas Kinkade den eigenen
ästhetischen Ansprüchen genügt, was geht es einen dann an, wenn Kritiker ihn nicht
gerade als großen Künstler bezeichnen? Natürlich könnte man sich nun mit den
großen Künstlern beschäftigen und dazulernen, seine Zeit für ernsthafte ästhetische
Studien aufwenden, um hoffentlich zu lernen, was idealen Kritikern gefällt. »Bestimmt
würde das dazu führen«, so Levinson, »dass man nun ästhetische Qualitäten erkennt
und von Werken berührt wird, gegenüber denen man bis dahin blind und
unempfindlich war.« Aber ist dies den ganzen Aufwand wert – die Zeit und Energie
und, nicht zu vergessen, die »früheren Freuden an dem, was man einst schätzte« –,
wenn man genauso gut auch bei dem bleiben kann, was man kennt und mag? Siehe
Jerrold Levinson, »Hume’s Standard of Taste: The Real Problem«, Journal of Aesthetics
and Art Criticism 60, Nr. 3, Sommer 2002, S. 227–237.

123 Aus Critical Review 3, 1757, S. 213, zitiert in: Kivy, »Hume’s Standard of Taste«,
a.a.O., S. 65.

124 James Shelley, »Hume’s Double Standard of Taste«, Journal of Aesthetics and Art
Criticism 52, Nr. 4, Herbst 1994, S. 437–445.

125 Siehe Boylan, Thomas Kinkade, a.a.O., S. 1.

126 Siehe beispielsweise »Maxfield Parrish: The Gertrude Vanderbilt Whitney Murals«,
http://www.tylermuseum.org/MaxfieldParrish.aspx.

127 Die Haltung der Kritik zu Maxfield Parrish entwickelt sich interessanterweise noch
immer weiter; siehe beispielsweise Edward J. Sozanski, »Taking Maxfield Parrish
Seriously«, Philly.com, 9. Juni 1999, http://articles.philly.com/1999-06-09
entertainment/254988431maxfield-parrish-fine-arts-currier-gallery.

128 Siehe Plimpton, »Art of the Matter«. Oder wie ein anderer Kurator am MOBA
sagte: »Wenn jemand äußert, ›Dreh dich um und guck dir das mal an‹«, weiß man
nicht, ob das Bild gut oder schlecht ist, die Leute wollen unabhängig davon ihren
Eindruck einfach mit anderen teilen.« Zitiert nach der MOBA-Videopräsentation unter
http://vimeo.com/11917386.

129 Semir Zeki und John Paul Romaya, »Neural Correlates of Hate«, PLoS ONE 3,
Nr. 10, Okt. 2008, S. 4.

130 Kendall Walton, »Categories of Art«, Philosophical Review 79, Nr. 3, 1970, S. 334–
367. Ich danke Jonathan Neufeld, der mir dieses Paper empfohlen hat.

131 Siehe Rachel Smallman und Neal J. Roese, »Preference Invites Categorization«,
Psychological Science 19, Nr. 12, 2008, S. 1228–1232.

132 Der sogenannte »Mere Categorization«-Effekt besagt, dass allein die Nennung
von Kategorien, »selbst wenn die Kategorien nichts über die Auswahloptionen
aussagen«, den Verbrauchern ein besseres Gefühl bezüglich der gewählten Option
gibt. C. Mogilner, T. Rudnick und S. S. Iyengar, »The Mere Categorization Effect: How
the Presence of Categories Increases Choosers’ Perceptions of Assortment Variety
and Outcome Satisfaction«, Journal of Consumer Research 35, Nr. 2, 2008, S. 202–215.

133 Eine Studie zu den Unterschieden zwischen den Präferenzen von Architekten und
Laien kommt zu dem Schluss: Wenn aus Endverbrauchern Fachleute werden,
berücksichtigen sie bei der Produktbewertung andere Eigenschaften. Dadurch ändern
sich ihre Präferenzen. So entdeckt ein Weinkenner Eigenschaften am Wein, die
Nichtkennern verborgen bleiben. Das Modell legt nahe, dass Laien ein simpleres
Entscheidungsmodell nutzen: etwa Satteldach ist gut, Flachdach aber nicht. Dass die
Nutzer die Umfrage zu ihren optischen Präferenzen in kurzer Zeit beantworteten,
könnte diese Hypothese stützen (kursiv von mir). Siehe William Fawcett, Ian Ellingham
und Stephen Platt, »Reconciling the Architectural Preferences of Architects and the
Public: The Ordered Preference Model«, Environment and Behavior 40, Nr. 5, 2008,
S. 599–618.

134 Siehe Rachel Smallman, Brittney Becker und Neal J. Roese, »Preferences for
Expressing Preferences: People Prefer Finer Evaluative Distinctions for Liked Than
Disliked Objects«, Journal of Experimental Social Psychology 52, Mai 2014, S. 25–31.

135 Aus dem exzellenten Aufsatz von Simon Frith »What Is Bad Music?«, in: Bad
Music: The Music We Love to Hate, Hrsg. Christopher Washburne und Maiken Derno,
Psychology Press, New York 2004, S. 17.

136 Die Freude am Schlechten widerspricht dieser Ansicht ebenso wie zahlreiche
klassische Theorien zur hedonistischen Beurteilung. Das klassische Modell der
Darbietungshäufigkeit bedeutet laut Kinkade-Studie, dass man Gutes mit steigender
Darbietungshäufigkeit besser und Schlechtes schlechter bewertet. Doch was passiert,
wenn man seine Tage im Museum of Bad Art zubringt, dessen Werke aufgrund ihrer
Mängel ausgewählt wurden? Gefällt einem ein Werk dann vor allem als etwas
Schlechtes? Oder ist einem – nach Hume – in der ersten Begeisterung ein Irrtum
unterlaufen und, was man für schlecht hielt, ist eigentlich gut oder, noch verwirrender,
nicht schlecht? Und wenn einem ein Werk, das man aufgrund seiner Mängel mag,
irgendwann weniger gefällt, heißt dies dann, dass man es nun, zumindest selber,
langsam gut findet?

137 Susan Sontag, »Anmerkungen zu Camp«, in: Kunst und Antikunst, Carl Hanser
Verlag, München/Wien 2003, 7. Aufl., S. 322.

138Siehe Erik Piepenburg, »Wild Rides to Inner Space«, New York Times, 28. Aug.
2014.

139 Natürlich können einem irgendwann Dinge gefallen, die man zunächst ironisch
abschätzig betrachtet hat. Das gilt beispielsweise für die sogenannten »Bronys«:
ältere männliche Fans der Zeichentrickserie »My Little Pony«. Wie ein Fan schrieb:
»Wir wollten uns einen Spaß daraus machen, aber dann hat uns die Serie einfach
gefesselt.« Siehe Una LaMärze, »Pony Up Haters: How 4chan Gave Birth to the
Haters«, Observer, 3. Aug. 2011, http://observer.com/2011/08/pony-up-haters-how-
4chan-gave-birth-to-the-bronies/.
140 Wie der Designkritiker Stephen Bayley schrieb: »Schlecht, so zeigt sich, kann
irgendwann besser als gut sein. Jedenfalls ist es immer besser als das schlechte Gute,
doch am besten und vor allem vergnüglichsten ist vielleicht das gute Schlechte.«
Stephen Bayley, »Books We Hate to Love«, Los Angeles Times, 3. März 2006.

141 Samuel Johnson, The Works of Samuel Johnson, Talboys und Wheeler; und W.
Pickering, London 1825, S. 50.

142 Ein früheres Beispiel, das Frauen betraf: Romane, die im 18. Jahrhundert vor
allem Frauen lasen, wurden damals ähnlich belächelt wie Reality-TV heute. Siehe Ana
Vogrincic, »The Novel-Reading Panic in 18th Century in England: An Outline of an
Early Moral Media Panic«, Medijska istraživanja 14, Nr. 2, 2008, S. 103–123.

143 Zitat aus »Guilty Pleasures: Nicholas McGegan’s Symphonic Sweet Tooth«, NPR,
16. März 2011,
http://www.npr.org/blogs/deceptivecadence/2011/03/14/134543756/guilty-pleasures-
nicholas -mcgegans-symphonic-sweet-tooth.

144HaeEun Chun, Vanessa M. Patrick und Deborah J. MacInnis, »Making Prudent vs.
Impulsive Choices: The Role of Anticipated Shame and Guilt on Consumer Self-
Control«, Advances in Consumer Research 34, Jan. 2007, S. 715–719.

145 Siehe Vanessa M. Patrick, HaeEun Helen Chun und Deborah MacInnis, »Affective
Forecasting and Self-Control: Why Anticipating Pride Wins over Anticipating Shame in
a Self-Regulation Context«, Journal of Consumer Psychology 19, Nr. 3, 2009, S. 537–
545.

146Samuel Johnson, The Works of Samuel Johnson, Hrsg. Samuel Johnson und Arthur
Murphy, H. C. Carey and I. Lea, London 1825, S. 310.

147 Für eine umfangreiche Betrachtung der Unterschiede zwischen Scham und
Schuld siehe Jeff Elison, »Shame and Guilt: A Hundred Years of Apples and Oranges«,
New Ideas in Psychology 23, Nr. 1, 2005, S. 5–32.

148 Ebd.

149Für eine gute Auseinandersetzung mit Schuldmechanismen siehe Roy F.


Baumeister, Arlene M. Stillwell und Todd F. Heatherton, »Guilt: An Interpersonal
Approach«, Psychological Bulletin 115, Nr. 2, 1994, S. 243–267.

150 Wie Charles Allan McCoy und Roscoe C. Scarborough in ihrer ausgezeichneten
Auseinandersetzung mit der »großen Schwäche« zeigen, müssen Leute, die voller
Schuldgefühle schlechte Fernsehsendungen sehen, die Sendung zugleich
»konsumieren« und »verurteilen«: »Sie können den normativen Widerspruch nicht
auflösen und leiden daran.« Um den Konflikt zu entschärfen, entschuldigen sie sich
dafür, dass »ihre Sehgewohnheiten ein wenig geistlos, aber letztendlich ein harmloser
Spaß sind, dem sie einfach nicht widerstehen können.« Siehe McCoy and
Scarborough, »Watching ›Bad‹ Television: Ironic Consumption, Camp and Guilty
Pleasures«, Poetics 47, Dez. 2014, http://dx.doi.org/10.1016/j.poetic.2014.10.003.

151 Das Konzept der süßen Sünde oder großen Schwäche wurde von manchem
kritisiert, und wenn Leute über ihre Cocktails als eine »süße Sünde« reden, kann ich
das nachempfinden. Doch in der Regel sind dies Argumente, die von »oben kommen«,
aus den Logenplätzen des kulturellen Kapitals, wo der Satz auch vor allem
Verwendung findet und am stärksten mit Bedeutung aufgeladen ist.

5
Warum (und wie) sich unser Geschmack verändert

1 Siehe Michael Seymour, Babylon: Legend, History and the Ancient City, I. B.
Tauris, New York 2014, S. 178.

2 Siehe John Ruskin, The Complete Works of John Ruskin, Reuwee, Wattley & Walsh,
Philadelphia 1891, S. 25–181.

3 Zitiert nach dem exzellenten Aufsatz von Sophie Gilmartin, »For Sale in London,
Paris and Babylon: Edwin Long’s The Babylonian Marriage Market«, 2008:
https://pure.rhul.ac.uk/portal/files/1853272/babylon.pdf.

4 Das Art Journal schrieb in seinem Nachruf auf Holloway: »Wer das Glück hatte,
Werke in die Versteigerung zu geben, die Holloway begeisterten, profitierte zweifellos
von Holloways gönnerhaftem Gebaren … und diejenigen, deren Werke er ersteigerte,
werden nun vermutlich den inflationären Preisen nachtrauern, die die eigenen Werke
einen Moment lang erzielen konnten.« Zitiert nach Geraldine Norman, »Victorian
Values, Modern Taste«, Independent, 14. Nov. 1993.

5 Siehe Shireen Huda, Pedigree und Panache, A History of the Art Auction in
Australia, ANU E Press, Canberra, 2008, S. 19.

6 Philip Hook, The Ultimate Trophy: How the Impressionist Painting Conquered the
World, Prestel, München 2012, S. 36.

7 Philip Hook, »The Lure of Impressionism for the Newly Rich«, Financial Times, 30.
Jan. 2009.

8 Hook, Ultimate Trophy, a.a.O., S. 53.

9 Ken Johnson bemerkte 2009 bei der Besprechung einer Ausstellung zur
viktorianischen Malerei, die auch den selten ausgeliehenen Heiratsmarkt in Babylon
zeigte: »Die Malerei des viktorianischen Zeitalters, die von späteren Kunstkritikern, ob
Roger Fry oder Clement Greenberg, verachtet und belächelt wurde, feiert mit der
Postmoderne ihre Wiederauferstehung. Ihre romanhaften Motive, der blühende
Symbolismus und die glatte, akademische Technik sprechen Kunstliebhaber an, die
die rein abstrakte Kunst und die irritierende Konzeptkunst der 1960er und 1970er
Jahre leid sind.« Siehe Johnson, »Social Commentary on Canvas: Dickensian Take on
the Real World«, New York Times, 18. Juni 2009.

10David Hume, »Of the Standard of Taste«, in: The Philosophical Works of David
Hume, Bd. 3, Little, Brown, New York 1854, S. 255.

11 Siehe George Loewenstein und Erik Angner: »Predicting and Indulging Changing
Preferences«, in: Time and Decision: Economic and Psychological Perspectives of
Intertemporal Choice, Hrsg. George Loewenstein, Daniel Read und Roy F. Baumeister,
Russell Sage Foundation, New York 2003, S. 372.

12 Rabatte werden auch darum oft nicht in Anspruch genommen, weil es für den
Verbraucher in der Regel schwierig ist, diese bei den Unternehmen einzufordern.
Siehe Katy McLaughlin, »Claiming That Holiday Rebate: Is It Really Worth the
Headache?«, Wall Street Journal, 3. Dez. 2002,
http://www.wsj.com/articles/SB1038857494436020153.

13 Manch einer hat aber natürlich auch Strategien entwickelt, um mit den
langlebigen Tattoos seinen Frieden zu schließen. Wie Eric Madfis und Tammi Arford
schreiben: »Manche tätowierten Personen merken, dass fast jedes Tattoo unendlich
viele Interpretationen und Fehlinterpretationen zulässt und jeder etwas anderes darin
sieht. Selbst diese Interpretationen, die mit jedem Tattoo einhergehen, unterliegen,
ebenso wie die Werte und Wünsche des einzelnen Tattoo-Trägers, dem Wandel der Zeit.
Folglich lösten einige dieses Problem, indem sie mehr Wert auf die Schönheit ihres
Tattoos legten als auf seine konkrete Symbolik und Tattoos eher als eine Erinnerung
an die eigene Vergangenheit und nicht als Zeichen einer stabilen Identität
betrachten.« Siehe Madfis und Arford, »The Dilemmas of Embodied Symbolic
Representation: Regret in Contemporary American Tattoo Narratives«, Social Science
Journal 50, Nr. 4, Dez. 2013, S. 547–556.

14 Siehe Jordi Quoidbach, Daniel T. Gilbert und Timothy Wilson, »The End of History
Illusion«, Science, 4. Jan. 2003, S. 96ff.

15 Oscar Wilde, »The Philosophy of Dress«, New-York Tribune , 19. April 1885, S. 9.
Ich danke der Website www.oscarwirican.com für die Nennung der Quelle. Auf Deutsch
kursiert das Zitat im Internet, beispielsweise unter
http://www.gutzitiert.de/zitat_autor_oscar_wilde_thema_mode_zitat_15337.html.

16 Zitiert nach Sara Ahmed, The Promise of Happiness, Duke University Press,
Durham, N.C, 2010, S. 79.

17 Zitiert nach Nathan Rosenberg, Exploring the Black Box: Technology, Economics
and History, Cambridge University Press, New York 1994, S. 57.

18 Chunka Mui, »Five Dangerous Lessons to Learn from Steve Jobs«, Forbes, 17. Okt.
2011, http://www.forbes.com/sites/chunkamui/2011/10/17/five-dangerous-lessons-to-
learn-from-steve-jobs/#19110a60da3c.

19 Mat Honan, »Remembering the Apple Newton’s Prophetic Failure and Lasting
Impact«, Wired, 5. Aug. 2013.

20 Raymond Loewy, Never Leave Well Enough Alone, Johns Hopkins University Press,
Baltimore 2002, S. 277.

21 Siehe Daniel C. Dennett, »Quining Qualia«, in: Consciousness in Contemporary


Science, Hrsg. A. J. Marcel und E. Bisiach, Oxford University Press, Oxford 1988,
Neuabdruck in: Mind and Cognition: A Reader, Hrsg. William G. Lycan, MIT Press,
Cambridge, Mass. 1990, S. 60.

22 Nehmen wir den archetypischen Fall von Nick Drake, dem englischen Folkmusiker,
der nach einer kurzen, genialen und völlig erfolglosen Karriere 1974 an einer
Überdosis starb – und später weit bekannter wurde. Man hat häufig vermutet, er wäre
seiner »Zeit voraus gewesen«. Aber sein Produzent und unerschütterlicher Verfechter
Joe Boyd meinte, Drakes Musik sei die Musik seiner Zeit gewesen. Sie sei damals
aufgenommen worden und weise Einflüsse aus dieser Zeit auf. Er hält etwas anders
für wahrscheinlich. »Der damalige Misserfolg ist Teil seines heutigen Erfolgs«, sagte
er. Mehr als musikalisch nicht in ihrer Zeit verankert, so Boyd, sei sie »kulturell nicht
verankert«. Sie tauchte nicht in den Soundtracks der unzähligen Babyboomer-Filme
auf, wurde nicht immer wieder von den Eltern der künftigen Fans gespielt und lief
nicht in den »klassischen« Radiosendern. »Sie ist offen dafür, von anderen Generation
und Leuten, die zufällig auf sie stoßen, interpretiert und vereinnahmt zu werden«,
sagte Boyd. »Sie sagte nicht, ich bin 60er-Jahre-Musik. Sie sagt nur: ›Ich bin Nick
Drake.‹« Sie war nicht neu, aber etwas Neues.

23 Siehe BabyNameWizard.com,
http://www.babynamewizard.com/archives/2011/6/the-antique-name-illusion-in-search-
of-the-next-ava-and-isabella.

24 Siehe Matt Tyrnauer, »Architecture in the Age of Gehry«, Vanity Fair, August 2010.

25 Wigley zitiert aus Joachim Bessing, »Mark Wigley«, 032c, Sommer 2007, S. 55.

26 Siehe Kimberly Devlin und Jack L. Nasar, »The Beauty and the Beast: Some
Preliminary Comparisons of ›High‹ Versus ›Popular‹ Residential Architecture and
Public Versus Architect Judgments of Same«, Journal of Environmental Psychology 9,
Nr. 4, Dez. 1989, S. 333–344.

27 Jonathan Glancey, »Sydney Opera House: ›An Architectural Marvel,‹« BBC.com,


11. Juli 2013, http://www.bbc.com/culture/story/20130711-design-classic-down-under.

28Siehe Jonathan Touboul, »The Hipster Effect: When Anticonformists All Look the
Same«, arXiv, 29. Okt. 2014.

29 Siehe Jeff Guo, »The Mathematician Who Proved Why Hipsters All Look Alike«,
Washington Post, 11. Nov. 2014.

30 Siehe Paul Smaldino und Joshua Epstein, »Social Conformity Despite Individual
Preferences for Distinctiveness«, Royal Society Open Science 2, 2015.
http://rsos.royalsocietypublishing.org/content/2/3/140437.

31 Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003,
S. 35. Elihu Katz vermutet, dass Tarde heute nicht wahrgenommen werde, weil das
Wort »Nachahmung« aus der Mode gekommen sei. »Es klingt zu mechanisch und
gedankenlos, dabei hatte Tarde eigentlich vielleicht ›Einfluss‹ – ein besseres Wort – im
Kopf.« Siehe Katz, »Rediscovering Gabriel Tarde«, Political Communication 23, Nr. 3,
2006, S. 263–270.

32 Siehe Joseph Henrich, »A Cultural Species: Why a Theory of Culture Is Required


to Build a Science of Human Behavior«,
http://www2.psych.ubc.ca/~henrich/Website/Papers/HenrichCultureFinal.pdf.

33 Peter J. Richerson und Robert Boyd, Not by Genes Alone: How Culture
Transformed Human Evolution, University of Chicago Press, Chicago 2004, S. 11.
34 Catherine Hobaiter und Richard W. Byrne, »Able-Bodied Wild Chimpanzees
Imitate a Motor Procedure Used by a Disabled Individual to Overcome Handicap«,
PLoS ONE 5, Nr. 8, Aug. 2010.

35 Siehe Edwin J. V. van Leeuwen, Katherine A. Cronin und Daniel B. M. Haun, »A


Group-Specific Arbitrary Tradition in Chimpanzees (Pan troglodytes)«, Animal
Cognition 17, Nr. 6, 2014, S. 1421–1425.

36 Victoria Horner und Andrew Whiten, »Causal Knowledge and Imitation/Emulation


Switching in Chimpanzees (Pan troglodytes) and Children (Homo sapiens)«, Animal
Cognition 8, Nr. 3, 2005, S. 164–181. Siehe auch Daniel Haun, Yvonne Rekers und
Michael Tomasello, »Children Conform to the Behavior of Peers; Other Great Apes
Stick with What They Know«, Psychological Science 25, Nr. 12, 2014, S. 2160–2167.

37 Simmel schrieb: »Daß die Mode so ein bloßes Erzeugnis sozialer Bedürfnisse ist,
wird vielleicht durch nichts stärker erwiesen als dadurch, daß in sachlicher,
ästhetischer oder sonstiger Zweckmäßigkeitsbeziehung unzählige Male nicht der
geringste Grund für ihre Gestaltungen auffindbar ist.« George Simmel, »Philosophie
der Mode«, in: ders., Philosophische Aufsätze, Gesamtausgabe, Bd. 10, Suhrkamp,
Frankfurt a.M. 1995, zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/philosophie-der-
mode-10/1.

38 Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2010,
S. 315.

39 Seltsamerweise gaben die Kinder an, sich nicht daran erinnern zu können,
welches Vorbild einen Zuschauer hatte und welches nicht. Es scheint, dass sie dies
unterbewusst wahrnahmen. Siehe Maciej Chudek et al., »Prestige-Biased Cultural
Learning: Bystander’s Differential Attention to Potential Models Influences Children’s
Learning«, Evolution and Human Behavior 33, Nr. 1, 2012, S. 46–56.

40 Siehe Joe Henrich und Robert Boyd, »The Evolution of Conformist Transmission
and the Emergence of Between-Group Differences«, Evolution and Human Behavior
19, Nr. 4, 1998, S. 215–241.

41 Das Zitat stammt aus dem exzellenten Artikel von Philip Ball, »The Strange
Inevitability of Evolution«, Nautilus, 8. Jan. 2015.

42 Der französische Ökonom des Fin-de-siècle, Gabriel Tarde, verglich als einer der
Ersten Innovation mit Evolution. Er beschrieb den Erfinder als einen »Verrückten, der
Schlafwandler anführt«. Das Zitat stammt aus: Faridah Djellal und Faïz Gallouj, »The
Laws of Imitation and Invention: Gabriel Tarde and the Evolutionary Economics of
Innovation«, März 2014: https://ideas.repec.org/p/hal/wpaper/halshs-00960607.html.

43 Siehe beispielsweise Michael Lynn und C. R. Snyder, »Uniqueness Seeking«, in:


Handbook of Positive Psychology, Hrsg. C. R. Snyder und Shane Lopez, Oxford
University Press, New York 2002, S. 395–410.

44 Ich danke Robert Sapolsky für dieses Beispiel.

45 Siehe Dan Ariely und Jonathan Levav, »Sequential Choice in Group Settings:
Taking the Road Less Traveled and Less Enjoyed«, Journal of Consumer Research 27,
Nr. 3, Dez. 2000, S. 279–290.

46 Matthew Hornsey und Jolanda Jetten, »The Individual Within the Group:
Balancing the Need to Belong with the Need to Be Different«, Personality and Social
Psychology Review 8, Nr. 3, Aug. 2004, S. 248–264.

47 Jolanda Jetten et al., »Rebels with a Cause: Group Identification as a Response to


Perceived Discrimination from the Mainstream«, Personality and Social Psychology
Bulletin 27, Nr. 9, 2001, S. 1204–1213.

48 Eine exzellente Analyse des Trends findet man in: Eugenia Williamson, »The
Revolution Will Probably Wear Mom Jeans«, Baffler, Nr. 27, 2015.

49 Elihu Katz schreibt: »Es gibt auch Trends und Moden ohne Etikett.« Ein Etikett
verleiht vagen Aktivitäten eine Form und trägt zu ihrer Stärkung bei. »Normalerweise
wird eine Mode durch ihr Etikett berühmt«, schreibt Katz, »und das nicht nur bei den
Konsumenten der Mode.« Rolf Myersohn und Elihu Katz, »Notes on a Natural History
of Fads«, American Journal of Sociology 62, Nr. 6, 1957, S. 594–601.

50 Siehe Richard Benson, »Normcore: How a Spoof Marketing Term Grew into a
Fashion Phenomenon«, Guardian, 17. Dez. 2014.

51 George Simmel, »Philosophie der Mode«, a.a.O., zitiert nach:


http://gutenberg.spiegel.de/buch/philosophie-der-mode-10/1.

52 Siehe Richard Wilk, »Loving People, Hating What They Eat: Marginal Foods and
Social Boundaries«, in: Reimagining Marginalized Foods: Global Processes, Local
Places, Hrsg. Elizabeth Finnis, University of Arizona Press, Tucson 2002, S. 17.

53 Darauf verweist Mullan in einem Gespräch über Geschmack in der BBC-Sendung


»In Our Time«.

54 Siehe Ernst H. Gombrich, Zur Kunst der Renaissance, Bd. 1, Norm und Form,
Klett-Cotta, Stuttgart 1985.

55 Zumindest eine Studie besagt, dass man einen unbeliebten Menschen nicht lieber
gewinnt, wenn man ihn nachahmt. Wenn man jemanden nachahmt, den man mag,
mag man ihn allerdings anschließend noch lieber. Siehe Mariëlle Stel et al.,
»Mimicking Disliked Others: Effects of A Priori Liking on the Mimicking-Liking Link«,
European Journal of Social Psychology 40, Nr. 5, 2010, S. 867–880.

56 Konzept und Begriff stammen von Gabriel Tarde, aber ich stieß in dem Paper
»Laws of Imitation and Invention« von Djellal und Gallouj darauf.

57 Diese Formulierung ergibt sich aus: Herbert Hamilton, »Dimensions of Self-


Designated Opinion Leadership and Their Correlates«, Public Opinion Quarterly 35,
Nr. 2, 1971, S. 266–274.

58 Eine kleine Auswahl: Ich bleib so Scheiße, wie ich bin; Alles Scheiße!?; Einen
Scheiß muss ich; siehe auch: Uwe Hinrichs, »Die deutsche Sprache wirft Ballast ab«,
Die Zeit, 7. April 2016.

59 Daniel Luzer, »How Lobster Got Fancy«, Pacific Standard, 7. Juni 2013.
60 Darauf weist Marjorie Perloff in einer guten Abhandlung über Geschmack hin, die
von Raymond Williams berühmtem Buch »Keywords« inspiriert ist. Siehe Perloff,
»Taste«, English Studies in Canada 3, Nr. 4, Dez. 2004, S. 50–55.

61 In einer berühmten Studie aus den 1970er Jahren zeigte der Psychologe Henri
Tajfel Schülern abstrakte, nicht näher bezeichnete Bilder »ausländischer Maler« und
fragte sie, wie sie ihnen gefielen. Anschließend wurden die Schüler in eine Klee- und
eine Kandinsky-Fangruppe eingeteilt. Aber natürlich hatte die Sache einen Haken. Die
Gruppe, der die Jungen zugeteilt wurden, hatte nichts mit ihren geäußerten Vorlieben
zu tun. Aber nun gehörten sie einer Klee- oder Kandinsky-Gruppe an und wurden
gebeten, bestimmte »Punkte« auf beide Gruppen zu verteilen – ein psychologisches
Standardverfahren –, wobei die eigene Gruppe davon profitieren oder ein gerechter
Ausgleich im Vordergrund stehen konnte. Was passierte? Die Klee-Mitglieder vergaben
durchgehend mehr Punkte an ihre eigene Gruppe, selbst dann, wenn ihre Gruppe
durch die Vergabe an die Kandinsky-Gruppe keinen Nachteil gehabt hätte. Tajfel
nannte dies das »Paradigma der minimalen Gruppe« und wollte damit zeigen, wie aus
einem fadenscheinigen Vorwand die Diskriminierung der »Außengruppe« und die
Bevorzugung der »eigenen Gruppe« erwachsen konnten. Denn was könnte
fadenscheiniger sein, so Tajfel, als erfundene Vorlieben für »Künstler, von denen die
Jungen noch nie etwas gehört hatten«. Siehe Tajfel et al., »Social Categorization and
Intergroup Behavior«, European Journal of Social Psychology 1, Nr. 2, 1971, S. 149–
178.

62 Der Soziologe Michael Macy und seine Kollegen schreiben: »Wenn man durch
den ›Echoraum‹ der Interaktion mit ähnlichen anderen gespiegelt wird, und sei es nur
minimal, können persönliche Neigungen als Koordinationsmechanismen dienen, um
in größeren Gruppen Netzwerk-Autokorrelationen in Gang zu setzen. Eine ähnliche
Koordinationsaufgabe kann auch einflussreichen Meinungsführern zukommen, wobei
ihr Einfluss allerdings geringer ist als der von Peers. Es braucht nur einen kleinen
›Schubser‹ von ›innen‹ oder ›oben‹, um in einer großen Bevölkerungsgruppe eine
selbstverstärkende Dynamik auszulösen, die tiefe kulturelle Gräben in die
demographische Landschaft reißen kann.« Siehe Daniel DellaPosta, Yongren Shi und
Michael Macy, »Why Do Liberals Drink Lattes?«, American Journal of Sociology 120,
Nr. 5, März 2015, S. 1473−1511.

63 Wie eine Forschungsgruppe schreibt: »Die Konformität hat die interessante


theoretische Eigenschaft, dass Verhaltensvariationen innerhalb einer
Bevölkerungsgruppe dadurch abnehmen und gleichzeitig potentielle
Variationsmöglichkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen zunehmen.« Siehe C. Efferson
et al., »Conformists and Mavericks: The Empirics of Frequency-Dependent Cultural
Transmission«, Evolution and Human Behavior 29, Nr. 1, 2008, S. 56–64.

64 Siehe Bruce E. Byers, Kara L. Belinsky und R. Alexander Bentley, »Independent


Cultural Evolution of Two Song Traditions in the Chestnut-Sided Warbler«, American
Naturalist 176, Nr. 4, Okt. 2010.

65 Wie R. F. Lachlan und Kollegen schreiben, ist anzunehmen, dass »jedes


Individuum kulturelle Merkmale zwar leicht unpräzise erlernt, aber nur die
akkumulierende Wirkung vieler solcher unpräziser Lernvorgänge eine
Merkmalsgeneration hervorbringt, die als abweichend vom Original empfunden wird«.
Lachlan et al., »The Evolution of Conformity-Enforcing Behaviour in Cultural
Communication Systems«, Animal Behavior 68, 2004, S. 561–570.
66
»Wenn etwas selten ist und nur zufällig nachgeahmt wird«, sagte mir Byers,
»verschwinden die seltenen Dinge mit hoher Wahrscheinlichkeit.« Das macht Sinn,
doch Byers betonte auch, dass wir die Zufälligkeit dabei nicht unterschätzen dürften:
»Wenn in einer Generation zufälligerweise nur acht statt zehn Vögel etwas nachahmen
und in der nächsten Generation aus reinem Zufall nur sechs, dann ist etwas plötzlich
selten und kann rein zufällig aussterben.«

67
Das ist natürlich noch nicht die ganze Story. Eine Studie zur Übernahme von
Twitter-Hashtags zeigte, dass ein Hashtag, der anfangs häufig retweetet wurde,
schließlich durch einen konkurrierenden Hashtag in den Schatten gestellt wurde, der
sich das starke »Antwortverhalten« auf Twitter zunutze machte und signalisierte, dass
sein Engagement tiefer ging und der erste schnell verbreitete Hashtag ein wenig zu
trendy war. Siehe Yu-Ru Lin et al., »Bigbirds Never Die: Understanding Social
Dynamics of Emergent Hashtags«, arXiv, 1301.7144v1, 28. März 2013. Auch bei
Vögeln gibt es außer der Darbietungshäufigkeit bestimmte Eigenschaften, die den
Erfolg beflügeln, etwa »längere Dauer, stärkere Amplitudenmodulation und eine
höhere mittlere Frequenz«. Siehe beispielsweise Myron Baker und David Gammon,
»Vocal Memes in Natural Populations of Chickadees: Why Do Some Memes Persist
and Others Go Extinct?«, Animal Behaviour 75, Nr. 1, 2008, S. 279–289.

68 Das Beispiel stammt aus dem faszinierenden Buch von Erez Aiden und Jean-
Baptiste Michel, Uncharted: Big Data as a Lens on Human Culture, Riverhead, New
York 2013, S. 36.

69 Und, so schreiben sie, dank einer bemerkenswerten protogermanischen


Erfindung von circa 500–250 v.Chr., dem Suffix »-ed«.

70 Eine interessante Argumentation bezüglich des »Zufalls« in der Popmusik findet


sich in: Charles Kronengold, »Accidents, Hooks, Theory«, Popular Music 24, Nr. 3,
2005, S. 381–397.

71 Eine interessante Übersicht über Goree Carter und die Aufnahme von »Rock
Awhile« – das der Rockmusikhistoriker Robert Palmer als den ersten Rock-and-Roll-
Song mit dem Schlüsselmerkmal verzerrte Gitarre bezeichnet und nicht »Rocket 88«
von Ike Turner – findet sich in: John Nova Lomax, »Roll Over, Ike Turner«, Texas
Monthly, Dez. 2014. Für eine gute zeitliche Einordnung von Songs mit verzerrter
Gitarre siehe Dave Hunter, »Who Called the Fuzz? Early Milestones in Distorted
Guitars«, aufgerufen über die Website des Gitarrenherstellers Gibson:
http://www2.gibson.com/News-Lifestyle/Features/en-us/who-called-the-fuzz-714.aspx.

72 Siehe Jann Wenner, »Pete Townshend Talks Mods, Recording and Smashing
Guitars«, Rolling Stone, 14. Sept. 1968.

73 Siehe Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993.

74 J. Stephen Lansing und Murray P. Cox, »The Domain of the Replicators«, Current
Anthropology 52, Nr. 1, Feb. 2011, S. 105–125.

75 Harold Herzog, R. Alexander Bentley und Matthew Hahn, »Random Drift and
Large Shifts in Popularity of Dog Breeds«, Proceedings of the Royal Society B:
Biological Sciences, 7. Aug. 2004, S. 353–356.

76 Siehe Stefano Ghirlanda et al., »Fashion vs. Function in Cultural Evolution: The
Case of Dog Breed Popularity«, PLoS ONE 8, Nr. 9, 2013, S. 1–6.

77 Harold Herzog, »Forty-Two Thousand and One Dalmatians: Fads, Social


Contagion and Dog Breed Popularity«, Society and Animals 14, Nr. 4, 2006, S. 383–
397.

78 Siehe Stefano Ghirlanda, Alberto Acerbi und Harold Herzog, »Dog Movie Stars
and Dog Breed Popularity: A Case Study in Media Influence on Choice«, PLoS ONE 9,
Nr. 9, 2014. Die Autoren schreiben: »Die vorliegenden Daten legen nahe, dass für
Hunde-Filme bevorzugt Rassen ausgewählt werden, deren Beliebtheit schon seit
einiger Zeit zugenommen hat.«

79 Siehe »Fads: The Poodle Dethroned«, Time, 23. Feb. 1962.

80 Darüber schrieb ich in: »When Good Waves Go Rogue«, Nautilus, 31. Juli 2014.
Wie bei den Modetrends gibt es auch bei den Monsterwellen bestimmte Orte, an
denen sich diese bevorzugt bilden. Dennoch lässt sich nicht vorhersagen, wann eine
Welle entstehen wird.

81 Siehe das bahnbrechende Werk von Stanley Lieberson, A Matter of Taste: How
Names, Fashions and Culture Change, Yale University Press, New Haven, Conn. 2000,
S. 25.

82 Jonah Berger et al., »From Karen to Katie: Using Baby Names to Understand
Cultural Evolution«, Psychological Science, Okt. 2012, S. 1067–1073.

83 Ebd.

84 Siehe Alan T. Sorenson, »Bestseller Lists and Product Variety«, Journal of


Industrial Economics 55, Nr. 4, Dez. 2007, S. 738.

85 Siehe Harvey Leibenstein, »Mitläufer-, Snob- und Veblen-Effekte in der Theorie


der Konsumentennachfrage«, in: Konsum und Nachfrage, Kiepenheuer & Witsch, Köln
1966, S. 231–255. Leibenstein nennt drei Phänomene einer »nicht additiven
Nachfrage«: Bei dem »Mitläufereffekt« steigt die Nachfrage für etwas, was andere
konsumieren, beim Snobeffekt sinkt die Nachfrage für etwas, was andere
konsumieren, und beim Veblen-Effekt, nach Thorstein Veblen, steigt die Nachfrage
nach etwas, weil es teurer ist.

86 Siehe Marianne Bertrand und Senhil Mullainathan, »Are Emily and Greg More
Employable Than Lakisha and Jamal? A Field Experiment on Labor Market
Discrimination«, NBER, Arbeitspapier 9873, Juli 2003. Die Forscher stellen fest, dass
Namen den sozialen Hintergrund und die Rassenzugehörigkeit widerspiegeln können:
»Afroamerikanische Kinder mit dem Namen Kenya oder Jamal werden mit sozial
wesentlich höher stehenden Müttern assoziiert als afroamerikanische Kinder, die
Latonya oder Leroy heißen.« Doch das schlage sich nicht in den Rückmeldungen auf
Bewerbungen nieder: »Insgesamt lässt sich aus diesem Versuch nicht ableiten, dass
der soziale Hintergrund das Ausmaß an Diskriminierung bestimmt.«

87 Siehe Petra Moser, »Taste-Based Discrimination: Empirical Evidence from a


Shock to Preferences During WWI«, Diskussionspapier 08-019, Stanford Institute for
Economic Policy Research 2009.
88
Das Beispiel stammt aus Lansing und Cox, »Domain of the Replicators«, a.a.O.

89 Siehe »A World of Hits«, Economist, 26. Nov. 2009. Das Magazin schreibt: »Eine
kürzliche Analyse des Magazins Billboard stellte für Amerika einen ähnlichen Trend
fest. Die Verkäufe insgesamt gingen zwar zurück, aber die Hits schlugen sich dabei
am besten. Alben auf den Plätzen 300 bis 400 mussten proportional die größten
Verluste einstecken.« Zur Assymetrie zwischen Top-Tracks und digital verfügbaren
Tracks schreibt Billboard: »In jeder beliebigen Woche entfallen ein Viertel aller
Verkäufe auf die 200 digitalen Top-Tracks. Dabei listet etwa das MP3-Angebot von
Amazon.com aktuell 9,99 Millionen Tracks auf. Die 200 Top-Tracks entsprechen also
nur 0,002% dessen, was ein großer Download-Anbieter bereithält.« Glenn Peoples,
»Tracking the Hits Along the Musical Long Tail«, Billboard, 11. Mai 2009.

90 Anita Elberse weist darauf hin, dass mit der Digitalisierung der Musik der Bereich
der C-Produkte größer und flacher geworden ist. »Obwohl Hits heute nicht mehr die
Umsätze erreichen wie vor der Raubkopierära, kann sich eine immer kleinere Gruppe
von Toptiteln ein immer größeres Stück vom Gesamtkuchen abschneiden.« Elberse,
»Should You Invest in the Long Tail?«, Harvard Business Review, Juli 2008.

91 William McPhee, Formal Theories of Mass Behavior, Free Press of Glencoe, New
York 1963, S. 136.

92 McPhees Theorie wurde durch die Studien der Marketingprofessorin Anita


Elberse gestützt, die das Verhalten auf Musik- und Filmportalen untersuchte: »Selbst
bei Verbrauchern, die regelmäßig die meisten Nischenprodukte kaufen, machen die
Hits den Löwenanteil ihrer Einkäufe aus.« Siehe Elberse, »A Taste for Obscurity: An
Individual-Level Examination of ›Long Tail‹ Consumption«, Harvard Business School,
Arbeitspapier 08-008, Aug. 2007. Für eine Analyse der Prinzipien bei
Endverbrauchermarken siehe auch Andrew Ehrenberg und Gerald Goodhardt,
»Double Jeopardy Revisited, Again«, Marketing Research, Frühjahr 2002, S. 40ff.
Andere Studien lassen vermuten, dass der digitale Konsum nicht durch Leute
beflügelt wird, die die Nische suchen, eher sei »jeder ein wenig exzentrisch« und
»entscheidet sich zumindest manchmal für Nischenprodukte«. So haben sich
beispielsweise 85 Prozent der Netflix-Nutzer schon einmal »in die C-Produkte
vorgewagt«. Siehe Sharad Goel et al., »Anatomy of the Long Tail: Ordinary People with
Extraordinary Tastes«, WSDM’10, 4.–6. Feb. 2010.

93 Watts und Salganik versuchten das Thema mit einer weiteren Studie zu
ergründen, indem sie die Reihenfolge der populärsten Songs veränderten. Unpopuläre
Songs wurden so kurzzeitig populärer. Die Forscher fragen sich, ob dies »zu einer
dauerhaften Popularität der Songs führen kann oder ob die beobachteten Effekte nur
vorübergehend sind«. Duncan Watts und Matthew Salganik, »Leading the Herd Astray:
An Experimental Study of Self-Fulfilling Prophecies in an Artificial Cultural Market«,
Social Psychology Quarterly 71, Dez. 2008, S. 338–355.

94 Siehe Matthew Salganik, Peter Sheridan Dodds und Duncan J. Watts,


»Experimental Study of Inequality and Unpredictability in an Artificial Cultural
Market«, Science, 10. Feb. 2006, S. 855.

95 Siehe »The Death of the Long Tail«,


https://musicindustryblog.wordpress.com/2014/03/04/the-death-of-the-long-tail/.

96 Als 1991 das SoundScan-»Point of Sale«-System eingeführt wurde, das eine


feinere, genauere Analyse der verkauften Platten erlaubte, stellte das Magazin
Billboard fest, dass 45 Alben, darunter viele von »aufstrebenden Interpreten«, »sofort
aus den Charts kippten«. Siehe Geoff Mayfield, »A Decade Ago, SoundScan Burst onto
the Scene«, Billboard, 2. Juni 2001.

97 Ortega y Gasset, Aufstand der Massen, a.a.O., S. 28 f.

98Die Schätzung stammt aus Eric D. Beinhocker, The Origin of Wealth: Evolution,
Complexity and the Radical Remaking of Economics, Harvard University Press,
Cambridge, Mass. 2006, S. 9.

99 So haben beispielsweise mehrere Studien eine Korrelation zwischen Facebook-


Nutzung und Selbstvertrauen festgestellt. »Wenn wir davon ausgehen, dass auf
Facebook stündlich zehn Millionen neue Fotos hochgeladen werden (Mayer-
Schönberger & Cukier, 2013), dann liefert Facebook Frauen ein Mittel, um sich häufig
mit anderen bezüglich ihres Aussehens zu vergleichen, und kann daher potenziell
dazu beitragen, dass sich junge Frauen um ihr Aussehen sorgen.« Siehe Jasmine
Fardouly et al., »Social Comparisons on Social Media: The Impact of Facebook on
Young Women’s Body Image Concerns and Mood«, Body Image 13, März 2015, S. 38–
45.

100 Carol Pogash, »During Bakery Break-In, Only Recipes Are Taken«, New York Times,
6. März 2015.

101 Der Historiker Irving Allen schreibt: »Die neue urbane Kultur umfasste auch eine
lexikalische Kultur. Diese Umgangssprache diente teils dazu, neue soziale Kategorien,
neue Formen sozialer Ungleichheit, neue Beziehungen, neue Technologien, neue
Lebensformen und andere Brüche mit der Tradition zum Ausdruck zu bringen.« Siehe
Allen, The City in Slang, Oxford University Press, New York 1995, S. 5.

102 Siehe beispielsweise Emile Alirol et al., »Urbanisation and Infectious Diseases in
a Globalised World«, Lancet: Infectious Diseases 11, Nr. 2, Feb. 2011, S. 131–141.

103 Leonard Bloomfield, Die Sprache, Edition Praesens, Wien 2001, digital verfügbar:
http://www.oapen.org/search?identifier=477714.

104 Siehe Bates L. Hoffer, »Language Borrowing and Language Diffusion: An


Overview«, Intercultural Communication Studies 11, Nr. 4, 2002. Siehe auch Ben Olah,
»English Loanwords in Japanese: Effects, Attitudes and Usage as a Means of
Improving Spoken English Ability«, http://www.u-
bunkyo.ac.jp/center/library/image/kyukiyo9_177-188.pdf.

105 Siehe beispielsweise Allison Stadd, »Guess What the World’s Most Active Twitter
City Is?«, Social Times (Blog), Adweek, 2. Jan. 2013,
http://www.adweek.com/socialtimes/most-active-twitter-city/475006.

106 Siehe R. Alexander Bentley und Matthew W. Hann, »Is There a ›Neutral Theory of
Anthropology‹?«, aus den Anmerkungen von Lansing und Cox, »Domain of the
Replicators«, a.a.O., S. 118.

107 Jan Lorenz et al., »How Social Influence Can Undermine the Wisdom of Crowd
Effect«, PNAS 108, Nr. 22, 2011. Die Autoren schreiben: »Vermutlich ist die
Herdenbildung bei den Meinungen und Einstellungen stärker, für die es keine klare
richtige Antwort gibt.« Das trifft auf neue Moden, neue Kunst und neue Songs
sicherlich zu. Wie Mark Buchanan schreibt, weist James Surowiecki in seinem
einflussreichen Werk, Die Weisheit der Vielen, darauf hin – was häufig übersehen wird
–, dass die Masse nur klug sein kann, wenn die Menschen unabhängig voneinander
urteilen. Nur aus »nicht verzerrten« Einschätzungen können im Mittel präzise
Einschätzungen entstehen.

108 Wenn wir die Billboard-Charts unter diesem Blickwinkel betrachten, kann man
sagen: Je mehr die Leute sehen, welche Songs andere mögen, je mehr sie dieselben
Songs hören, je seltener sie sich außerhalb dieses schmalen Bands und dieser Form
der »Vertrauensverzerrung« bewegen, desto mehr sind sie davon überzeugt, dass
diese Hits es wirklich wert sind, gehört zu werden.
6
Katzen, Schmutz und Bier

1 Peter Paul Moormann, »On the Psychology of Judging Cats«, Rolandus Union
International.

2 Filip Boen et al., »The Impact of Open Feedback on Conformity Among Judges in
Rope Skipping«, Psychology of Sport and Exercise 7, Nr. 6, Nov. 2006, S. 577–590.

3 Siehe Herbert Glejser und Bruno Heyndels, »Efficiency and Inefficiency in the
Ranking in Competitions: The Case of the Queen Elisabeth Music Contest«, Journal of
Cultural Economics 25, Nr. 2, Mai 2001, S. 109–129.

4 Siehe Vietta Wilson, »Objectivity and Effect of Order of Appearance in Judging of


Synchronized Swimming Meets«, Perceptual and Motor Skills 44, Nr. 1, Feb. 1977,
S. 295–298.

5 Wändi Bruine de Bruin, »Save the Last Dance for Me: Unwanted Serial Position
Effects in Jury Evaluations«, Acta Psychologica 8, Nr. 3, März 2005, S. 245–260.

6 Siehe S. R. Schmidt, »Distinctiveness and Memory: A Theoretical and Empirical


Review«, in: Learning and Memory: A Comprehensive Reference, Hrsg. John H. Byrne,
Academic Press, Oxford 2008, S. 125–144.

7 Siehe Amos Tversky, »Features of Similarity«, Psychological Review 84, Nr. 4, Juli
1977, S. 327–352. Siehe auch Susan Powell Mantel und Frank R. Kardes, »The Role of
Direction of Comparison, Attribute – Based Processing and Attitude – Based
Processing on Consumer Preference«, Journal of Consumer Research 25, März 1999,
S. 335–352.

8 Bruine de Bruin schreibt: »Die Jurymitglieder bemerken vermutlich, wenn der


erste Eiskunstläufer eine beeindruckende Pirouette dreht, der zweite einen tollen
Doppelaxel hinlegt und der dritte eine atemberaubende Choreographie tanzt.« Wenn
Eiskunstläufer 8 eine genauso gute Pirouette wie Eiskunstläufer 7 dreht, fällt der
phantastische Doppelaxel unverhältnismäßig auf, den nur Eiskunstläufer 8 vorführt.
Doch auch hier spielt das Gedächtnis eine Rolle: Wenn die Richter von dem
beeindruckt sind, was Eiskunstläufer 8 im Gegensatz zu Eiskunstläufer 7 schafft,
haben sie vielleicht schon vergessen, welche Leistung Nummer 7 im Gegensatz zu
Nummer 8 hingelegt hat. Siehe Bruine de Bruin, »Save the Last Dance for Me«, a.a.O.

9 Laurie Whitwell, »Smith Playing Russian Roulette as Gymnast Will Wait Until Last
Minute to Decide Which Routine to Perform on Pommelhorse«, Daily Mail, 3. Aug.
2012.

10 Siehe Hillary N. Morgan und Kurt W. Totthoff, »The Harder the Task, the Higher
the Score: Findings of a Difficulty Bias«, Economic Inquiry 52, Nr. 3, Juli 2014,
S. 1014–1026.

11 Lysann Damisch, Thomas Mussweiler and Henning Plessner, »Olympic Medals as


Fruits of Comparison? Assimilation and Contrast in Sequential Performance
Judgments«, Journal of Experimental Psychology: Applied 12, Nr. 3, 2006, S. 166–178.
12 Thomas Mussweiler, »Same or Different? How Similarity versus Dissimilarity
Focus Shapes Social Information Processing«, in: Jeffrey W. Sherman, Bertram
Gawronski und Yaacov Trope, Hrsg., Dual-Process Theories of the Social Mind, Guilford
Press, New York 2014, S. 328–339.

13 In einem weiteren Versuch baten Mussweiler und Damisch Probanden, auf


verschiedenen Bilderpaaren Unterschiede oder Ähnlichkeiten herauszufinden.
Anschließend zeigte man den Probanden zwei Videoclips mit Skisprüngen und bat sie,
die gesprungene Länge zu schätzen. Wer zuvor nach Ähnlichkeiten Ausschau gehalten
hatte, hielt die Länge der Skisprünge nun für ähnlicher als jene, die zuvor auf
Unterschiede geachtet hatten. Solche Ähnlichkeiten und Unterschiede können sehr
gering sein: Wenn man Leuten zuerst ein Bild mit einer unattraktiven »Ziel«-Person
zeigt, halten sie sich für attraktiver, als wenn man ihnen zuerst ein Foto einer
attraktiven Person zeigt. Wenn die Probanden jedoch erfahren, dass die attraktive
Zielperson am gleichen Tag wie sie Geburtstag hat, bewerten sie ihre eigene
Attraktivität wohlwollender. Es scheint, dass sie das gute Aussehen der Zielperson teils
»assimilieren«. Jonathan Brown et al., »When Gulliver Travels: Social Context,
Psychological Closeness and Self-Appraisals«, Journal of Personality and Social
Psychology 62, Nr. 5, 1992, S. 717–727.

14 Das führt zu dem interessanten Gedanken, dass ein Richter nicht einmal dieselbe
Nationalität wie ein Sportler haben muss, um unter einer »nationalen« Verzerrung zu
leiden.

15 Ravi Dhar und Kollegen schreiben: »Wahrscheinlich beurteilen Verbraucher


angesichts neuer Produkte, inwiefern diese den Produkten, die sie bereits besitzen,
ähneln oder nicht.« So werden Leute beispielsweise beurteilen, wie stark ein in ihrer
Nähe entstandener Neubau ihrem eigenen Haus ähnelt. Solche Ähnlichkeitsvergleiche
müssen nicht unbedingt ein Urteil enthalten oder darüber entscheiden, welches von
beiden einem lieber ist.«

16 Wie die Psychologen Drew Walker und Edward Vul schreiben, verzerrt die
Gruppensituation »die Wahrnehmung individueller Merkmale, weil diese unwillkürlich
als dem Gruppendurchschnitt ähnlich betrachtet werden«. Walker und Vul,
»Hierarchical Encoding Makes Individuals in a Group Seem More Attractive«,
Psychological Science 25, Nr. 1, Jan. 2014, S. 230–235.

17 R. Post et al., »The Frozen Face Effect: Why Static Photographs May Not Do You
Justice«, Frontiers in Psychology 3, 2012, doi:10.3389 /fpsyg.2012.19122.

18 Siehe Thomas Mussweiler, Katja Rüter und Kai Epstude, »The Man Who Wasn’t
There: Subliminal Social Comparison Standards Influence Self-Evaluation«, Journal of
Experimental Social Psychology 40, Nr. 5, 2004, S. 689–696. Ähnliche Ergebnisse
ergaben sich auch für andere Vergleiche wie Aggressivität: Probanden, die ein Foto
von Arnold Schwarzenegger sahen, schätzten sich als aggressiver ein als diejenigen,
die die deutsche Sängerin Nena zu sehen bekamen. Ravi Dhar, Stephen M. Nowlis und
Steven J. Sherman, »Comparison Effects on Preference Construction«, Journal of
Consumer Research 26, Nr. 3, Dez. 1999, S. 293–306.

19 Saurabh Bhargava und Ray Fisman, »Contrast Effects in Sequential Decisions:


Evidence from Speed Dating«, Columbia Business School, 2012. Die Autoren
schreiben interessanterweise, »während die Dating-Entscheidungen von Männern und
Frauen durch die Attraktivität der derzeitigen Zielperson bestimmt werden, lassen
sich nur Männer durch die Attraktivität der vorherigen Zielperson beeinflussen. Bei
Männern beträgt der kontrastierende Einfluss durch die Attraktivität der vorherigen
Zielperson 31 Prozent des Einflusses durch die Attraktivität der aktuellen Zielperson.«

20 David A. Houston, Steven J. Sherman und Sara M. Baker, »The Influence of Unique
Features and Direction of Comparison on Preferences«, Journal of Experimental Social
Psychology 25, Nr. 2, 1989, S. 121–141.

21 Siehe Tanuka Ghoshal et al., »Uncovering the Coexistence of Assimilation and


Contrast Effects in Hedonic Sequences«, Tepper School of Business, paper 1395,
2012: http://repository.cmu.edu/tepper/1395.

22 Eine weitere Auseinandersetzung mit dem »11th Person Game« von Chris Noessel
findet sich in Christopher Noessel, »Is Serial Presentation a Problem in the Circuit?«,
Sci-Fi Interfaces, Okt. 4, 2013, https://scifiinterfaces.wordpress.com/ 2013/10/04/is-
serial-presentation-a-problem-in-the-circuit/. Interessant sind Überlegungen, wie man
den Spielverlauf manipulieren könnte: Wenn man zunächst eine vermutlich als
unattraktiv wahrgenommene Person durch die Tür treten lässt, würde die
Entscheidung anschließend vermutlich schneller fallen. Weil man »das Schlimmste«
schon gesehen hat, würde man den Standard für das Beste wahrscheinlich
überdenken. Schickt man dagegen eine sehr attraktive Person als Erste durch die Tür,
könnte das die Entscheidung verzögern, weil die eigene Messlatte dadurch angehoben
wird, ganz zu schweigen davon, dass der Spieler nun pingeliger wird, weil er darauf
wartet, dass das durch die erste Person gesetzte Ideal erneut erreicht wird.

23 Siehe Amos Tversky, Preference, Belief and Similarity: Selected Writings, MIT
Press, Cambridge, Mass. 2004, S. 34.

24 Moormann, »On the Psychology of Judging Cats«, a.a.O.

25 Die Rasssestandards finden sich im Internet unter Cat Fancier’s Association,


http://www.cfainc.org/.

26 Beispielsweise schreibt die TICA (International Cat Association, eine der beiden
weltweit größten Zuchtvereine) über Don-Sphynx-Katzen: »Die Don-Sphynx-Katze ist
unverwechselbar. Die hochintelligente, schöne, liebenswerte Katze schaut einem
geradewegs in die Augen und scheinbar unmittelbar in die Seele.« Das ist vermutlich
noch der nüchternste Satz der Beschreibung. So wird die Katze auch als »förmlich
Außerirdische von einem fremden Stern« bezeichnet. Doch selbst der offizielle
Standard trägt dick auf: »Die Don-Sphinx-Katze ist eine bezaubernde, einzigartige,
weichherzige und gesellige Katze mittlerer Größe und mit einer weichen, haarlosen
faltigen Haut, die sich warm und samtig anfühlt.« Kann ein weiches Herz, frage ich
mich am Richtertisch sitzend, durch genetische Selektion gefördert werden?

27Siehe das wunderbare Buch von Sue Hubbell, Shrinking the Cat, Mariner Books,
New York 2002.

28 Wie Carlos A. Driscoll und seine Kollegen schreiben: »Anders als Hunde mit ihren
zahlreichen Größen, Formen und Charakteren, sind Hauskatzen relativ homogen und
unterscheiden sich höchstens in ihrem Fell.« Der Grund für die eher bescheidene
Vielfalt der Katzen liegt auf der Hand: »Hunde werden vom Menschen schon lange für
bestimmte Aufgaben wie Jagd oder Schafehüten gezüchtet, aber weil Katzen wenig
Neigung zeigen, irgendwelche Aufgaben für den Menschen zu übernehmen, fehlt bei
ihnen der selektive Druck durch Züchtungen.« Siehe Driscoll et al., »The Evolution of
House Cats«, Scientific American, Juni 2009.

29 Harrison William Weir, Our Cats and All About Them, Fancier’s Gazette Limited,
London 1892, S. 84, http://www.gutenberg.org/ebooks/35450.

30 Siehe Walker Van Riper, »Aesthetic Notions in Animal Breeding«, Quarterly Review
of Biology 7, Nr. 1, März 1932, S. 84–92.

31 »Hartnäckige Liebhaber finden vielleicht Interesse und Spaß daran, ungewohnte


Arten zu züchten«, schrieb Frances Simpson in The Book of the Cat. »So könnte man
durch eine sorgfältige, durchdachte Zucht mit der Zeit zweifellos eine Katze mit
Dalmatiner-ähnlichen schwarzen und weißen Punkten oder mit Zebrastreifen
erschaffen.« Die Liebhaber beschworen künstlerische Schönheitsprinzipien herauf,
gaben aber auch zu, dass sie für vierbeinige Modeerscheinungen manchmal anfällig
waren. »In England fliegt man heute auf ein sehr dunkles Grau«, schrieb Simpson,
»doch die Amerikaner bevorzugen hellere Grautöne.« Simpson, The Book of the Cat,
Cassell, New York 1903, S. 236. Manche sehen hier auch eine gewisse Willkürlichkeit
am Werk. So schrieb ein Autor über die damalige Hundeliebhaberei, er könne keine
Logik darin erkennen, »dass kleine Augen bei der einen Rasse, dem Toy Terrier, ein
Vorzug und bei der anderen, dem King Charles Spaniel, ein Fehler sein sollen«. The
Dog: Its Varieties and Management in Health and Disease, Frederick Warne, London
1873, S. 87.

32 Diese Verquickung erreichte ihren Höhepunkt in der Bewegung »Fitter Families«,


einer Eugenik-Kampagne, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Landwirtschaftsmessen
in den USA heimsuchte. Dabei wurden Menschen ähnlich wie Nutztiere begutachtet.
»Während die Nutztiergutachter Holsteiner-, Jersey- und White-Face-Kühe im
Nutztierpavillon bewerten, prüfen wir die Familien Jones, Smith und Johnson.«
Zwischen »Milchziegen« und »Haustieren« fanden sich massenhaft Familien, die auf
alles Mögliche geprüft wurden, ob auf geistige Beweglichkeit oder Zahngesundheit.
Siehe Laura L. Lovett, »Fitter Families for Future Firesides: Florence Sherbon and
Popular Eugenics«, Public Historian 29, Nr. 3, 2007, S. 69–85. Und als eine
interessante Fußnote der Geschichte sollte man erwähnen, dass ein Richter in der
Kommission zur »antropomorph-strukturellen Bewertung« niemand anderes war als
James Naismith, der Vater des Basketballs.

33 Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert fand sich eine Züchtergruppe nahe
Stuttgart zusammen, so der Historiker Aaron Skabelund. Ihr Ziel war es, den lokalen
Hirtenhund in den vielgerühmten »Deutschen Schäferhund« zu verwandeln, einen
»urtümlich deutschen Hund«, einen »kämpferischen stolzen Deutschen«, der
eindeutig deutsch und, die Zukunft warf ihre düsteren Schatten voraus, reinrassig war.
Siehe Skabelund, »Breeding Racism: The Imperial Battlefields of the ›German‹
Shepherd Dog«, Society and Animals 16, 2008, S. 354–371. Skabelund schreibt:
»Häufig erkennt man nicht oder vergisst, dass Tierrassen wie menschliche Rassen
zufällige, sich ständig wandelnde, kulturelle Kategorien sind, die mit Status, Klasse
und nationaler Identität ununterscheidbar verknüpft sind.«

34 So schreibt die Historikerin Harriet Ritvo über die viktorianische Hundemode und
die wachsende Londoner Hundebevölkerung: »Jeder andere Hund könnte den sozialen
Status seines Besitzers beschädigen.« Siehe Ritvo, »Pride and Pedigree: The Evolution
of the Victorian Dog Fancy«, Victorian Studies 28, Nr. 2, 1986, S. 227–253.

35 Die Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit kann mitunter ins philosophische
Dickicht führen. Das gilt etwa für die Frage, wie man ein kunstvolles Ideal für eine
neue Rasse kreiert. Woher weiß man, wie die perfekte Katze aussieht, wenn bisher
niemand eine solche Katze gesehen hat? Die erste Frage, die in diesem Fall
beantwortet werden müsse, so Vickie Fisher, Präsidentin von TICA, sei, wieso ist dies
eine Rasse? Fisher verweist auf die Munchkin-Katze, eine aus einer genetischen
Mutation hervorgegangene relativ neue Rasse, die von TICA nach einigen
Kontroversen in den 1990er Jahren eingeführt wurde. »Als die kurzbeinige Mutation
auftauchte«, so Fisher, »sahen wir darin irgendwann eine neue Rasse. Doch zuerst
dachten wir – und das tun wir auch heute noch oft –, ein neues Merkmal macht noch
keine neue Rasse.« Mit anderen Worten, die Munchkin-Leute machten einen
Riesenwirbel um die kurzen Beine.

36 New York Times, 21. Dez. 1906.

37 Louise Engberg, dänische Züchterin »klassischer Perserkatzen«, wie sie es nennt,


hat einen einfachen Test, um einstige Perserkatzen von heutigen zu unterscheiden.
Man nehme ein Stück Papier und halte es an den unteren Augenrand. »Man sollte die
Nasenbrücke dann nicht unter dem Augenrand sehen können«, sagte sie mir. »Bei den
meisten heutigen Katzen kann man das.«

38 Auch wenn die Cat Fanciers’ Association schreibt, dass die »heutige Perserkatze
das lebendige, verspielte und schnurrende Resultat einer mehr als 150-jährigen
liebevollen, klugen Zucht« ist, plagen die brachyzephalischen Katzen mit ihrer kurzer
Schnauze Gesundheitsprobleme. Laut Journal of Feline Medicine and Surgery reichen
diese von »stridulöser Atmung und obstruktivem Schlafapnoe-Syndrom« bis zu einem
Gehirn, das »in ein Schädelgehäuse falscher Größe gezwängt ist«. Siehe Richard
Malik, Andy Sparkes und Claire Bessant, »Brachycephalia – a Bastardisation of What
Makes Cats Special«, Journal of Feline Medicine and Surgery 11, Nr. 11, 2009, S. 889f.

39 Laut Journal of Feline Medicine and Surgery besitzen die Katzen der
Schönheitstheorie von Lorenz entsprechende kindähnliche Eigenschaften: »Ein
pausbäckiges Kindergesicht wird mit Reinheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und
Verletzlichkeit assoziiert. Das weckt unseren Beschützerinstinkt.« Siehe Claudia
Schlueter et al., »Brachycephalic Feline Noses: CT and Anatomic Study of the
Relationship Between Head Conformation and the Nasolacrimal Drainage System«,
Journal of Feline Medicine and Surgery 11, Nr. 11, 2009, S. 891–900.

40 Edmund Burke, Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer


Begriffe vom Erhabenen und Schönen, a.a.O., S. 168.

41 Siehe beispielsweise David M. Garner et al., »Cultural Expectations of Thinness in


Women«, Psychological Reports 47, Nr. 2, 1980, S. 483–491. Die Autoren beziehen sich
unter anderem auf den herausnehmbaren Mittelteil des Playboy und schreiben, dass
vor allem in den 1970er Jahren »beim Frauenideal ein Wechsel von einer fülligen,
rundlichen Figur zum eckigen, schlanken Look von heute stattfand«. Eine spätere
Studie kommt interessanterweise zu dem Ergebnis, dass »sich der Trend [den Garner
et al. beobachteten] zu zunehmend dünneren Playmates stabilisiert hat und sich nun
wieder umdrehen könnte«. Siehe Mia Foley Sypeck et al., »Cultural Representations of
Thinness in Women, Redux: Playboy Magazine’s Depiction of Beauty from 1979 to
1999«, Body Image 3, Nr. 3, Sept. 2006, S. 229–235.

42 Siehe James W. Tanaka und Marjorie Taylor, »Object Categories and Expertise: Is
the Basic Level in the Eye of the Beholder?«, Cognitive Psychology 23, Nr. 3, 1991,
S. 457–482.
43
Siehe L. A. Gills et al., »Sensory Profiles of Carrot (Daucus carota L.) Cultivars
Grown in Georgia«, HortScience 34, Nr. 2, 1999, S. 625–628.

44John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch I, Felix Meiner Verlag,
Hamburg 2006, S. 131f.

45 Herbert Stone et al., Hrsg., Sensory Evaluation Practices, Academic Press, New
York 2012, S. 202.

46 Siehe Steven J. Harper und Mina R. McDaniel, »Carbonated Water Lexicon:


Temperature and CO2 Level Influence on Descriptive Ratings«, Journal of Food Science
58, Nr. 4, 1993, S. 893–898.

47 Siehe Janine Beucler et al., »Development of a Sensory Lexicon for Almonds«,


http://www.almonds.com/sites/default/files/content/Sensory%20Lexicon.pdf.

48
John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Felix Meiner
Verlag, Hamburg 1988, S. 31.

49 Die Idee, einige Aromen allein vom Gas-Chromatographen erfinden zu lassen,


lässt an den Film Matrix denken, in dem die Figur Mouse sagt, die Maschinen wüssten
vermutlich nicht, wie Hühnchen schmecke, und darum schmecke Hühnchen eben wie
alles andere auch.

50 Das Beispiel stammt aus Harry T. Lawless und Hildegarde Heymann, Sensory
Evaluation of Food: Principles and Practices, Springer, New York 2010, S. 216.

51Siehe Herbert Stone und Joel Sidel, Sensory Evaluation Practices, Academic Press,
New York 2010, S. 210.

52 »Das ist keine gute Lösung«, schreibt Lawless, »um die Frage zu beantworten,
was man bei Unterscheidungstests mit den Präferenzen der richtig bzw. falsch
liegenden Tester machen soll.« Siehe Lawless und Heymann, Sensory Evaluation of
Food, a.a.O., 306.

53 F. J. Prial, »Wine Talk«, New York Times, 29. Mai 1985.

54 E. P. Köster, »Diversity in the Determinants of Food Choice: A Psychological


Perspective«, Food Quality and Preference 20, Nr. 2, 2009, S. 70–82.

55 Jean Anthelme Brillat-Savarin, The Physiology of Taste; or, Meditations on


Transcendental Gastronomy, Alfred A. Knopf, New York 2009, S. 55. Brillat-Savarin war
auch der Meinung, der Mensch besitze den am höchsten entwickelten
Geschmacksapparat, allerdings steht seine Argumentation auf tönernen Füßen: »Der
Mensch, der die Krone der Schöpfung ist und die Erde daher besiedelt und bevölkert
hat, muss notwendigerweise ein Organ besitzen, das ihm erlaubt, mit allem, was unter
seinen Untertanen schmackhaft ist, Fühlung aufzunehmen.«

56 Miguel de Cervantes, Don Quijote von der Mancha, in der Neuübersetzung von
Susanne Lange, Carl Hanser Verlag, München 2008, Bd. II, S. 116.

57 Siehe Harry T. Lawless, »Descriptive Analysis of Complex Odors: Reality, Model or


Illusion?«, Food Quality and Preference 10, Nr. 4–5, 1999, S. 325–332.
58 Siehe Sylvie Chollet, Dominique Valentin und Hervé Abdi, »Do Trained Assessors
Generalize Their Knowledge to New Stimuli?«, Food Quality and Preference 16, 2005,
S. 13–23. In der Studie wurden mehrere Geschmackstester in verschiedenen Biersorten
geschult, denen dann neue Aromen beigemischt wurden. Die Autoren schreiben: »Die
geschulten Tester verwendeten für die erlernten und nicht erlernten Biere keine
unterschiedlichen Begriffe. Sie neigten hingegen dazu, die erlernten Begriffe auf alle
Biere anzuwenden, obwohl diese zunächst nicht unbedingt passten. Dies lässt
vermuten, dass geschulte Tester zwar neue Biere zutreffend beschreiben, aber die
neuen Bieraromen nicht bestimmen können.«

59 Siehe Dominique Valentin et al., »Expertise and Memory for Beers and Beer
Olfactory Compounds«, Food Quality and Preference 18, Nr. 5, 2007, S. 776–785.

60 Siehe beispielsweise Yanfei Gong, K. Aners Ericsson und Jerad H. Moxley, »Recall
of Briefly Presented Chess Positions and Its Relation to Chess Skill«, PLoS ONE 10,
Nr. 3, 2015.

61 »Die Begutachtung von Weinen«, schließen die Autoren, »beruht scheinbar auf
der Wahrnehmungsfähigkeit, ähnelt aber eigentlich zahlreichen anderen
Erfahrungsbereichen, in denen das Wissen die Hauptrolle spielt.« A. L. Hughson und
R. A. Boakes, »The Knowing Nose: The Role of Knowledge in Wine Expertise«, Food
Quality and Preference 13, Nr. 7, 2002, S. 463–472.

62 Eine Auseinandersetzung mit der prototypischen Weinsprache der Experten


findet man in Frederic Brochet und Denis Dubourdieu, »Wine Descriptive Language
Supports Cognitive Specificity of Chemical Senses«, Brain and Language 77, Nr. 2,
2001, S. 187–196.

63Chollet, Valentin und Abdi, »Do Trained Assessors Generalize Their Knowledge to
New Stimuli?«, a.a.O.

64 Experten unterliegen, so wird vermutet, allgemein dem sogenannten


Einstellungseffekt: Wenn sie zu sehr auf ihre Erfahrung vertrauen, werden sie
gegenüber neuen Informationen oder anderen Lösungen blind. Eine gute Studie sowie
einen Versuch mit Schachspielern finden sich in Merim Bilalić, Peter McLeod und
Fernand Gobet, »Inflexibility of Experts—Reality or Myth? Quantifying the Einstellung
Effect in Chess Masters«, Cognitive Psychology 56, Nr. 2, März 2008, S. 73–102.

65 Rose M. Pangborn, Harold W. Berg und Brenda Hansen, »The Influence Color on
Discrimination of Sweetness Dry Table-Wine«, American Journal of Psychology 76,
Nr. 3, Sept. 1963, S. 492–495.

66 Siehe auch Wendy V. Parr, Geoffrey White und David Heatherbell, »The Nose
Knows: Influence of Colour on Perception of Wine Aroma«, Journal of Wine Research
14, Nr. 2–3, 2003, S. 79–101.

67Barry Smith, Questions of Taste: The Philosophy of Wine, Oxford University Press,
New York 2009, S. 67.

68 Der Weinkritiker Mike Steinberger schreibt: »Manche Leute können Wein besser
beurteilen als andere, doch nach meiner Erfahrung liegt dies eher an ihrem Gehirn
als an Nase oder Mund.« Steinberger, »Do You Want to Be a Supertaster?«, Slate, 22.
Juni 2007, Zugriff am 17. Dez. 2013,
http://www.slate.com/articles/life/drink/2007/06/do_you_want_to_be_a_supertaster.html.

69 Die Darstellung von Schafers Arbeit stammt aus Trevor Cox, Sonic Wonderland: A
Scientific Odyssey of Sound, Bodley Head, London 2014, Prolog.

70 Siehe David G. Wittels, »You’re Not as Smart as You Could Be«, Saturday Evening
Post, 17. April 1948.

71 K. Kjaerulff, »Comparing Affective and Cognitive Aspects of Sensory Tests – Are


Affective Tests More Sensitive?«, Masterarbeit, Royal Veterinary and Agricultural
University, Kopenhagen, Dänemark 2002. Zitiert in: Köster, »Psychology of Food
Choice«, a.a.O.

72 Auch bei einem weiteren faszinierenden Versuch waren dänische


Milchkonsumenten besser in der Lage, verschiedene Milchsorten
auseinanderzuhalten. Wenn sie zwischen ihrer eigenen »dänischen« Milch und einer
»ausländischen« Milch unterscheiden sollten, über die ihnen eine »verstörende,
falsche Geschichte« erzählt wurde, gelang ihnen dies besser, als wenn sie eher eine
sensorische Analyse der Milch abgeben sollten. Siehe Lise Wolf Frandsen et al.,
»Subtle Differences in Milk: Comparison of an Analytical and an Affective Test«, Food
Quality and Preference 14, Nr. 5–6, Juli–Sept. 2003, S. 515–526.

73 Joseph T. Plummer, »How Personality Makes a Difference«, Journal of Advertising


Research 40, Nr. 6, 2000, S. 79–84. Als Dr Pepper noch populärer wurde und an dritter
Stelle stand, sanken die Verkaufszahlen komischerweise. Plummer schreibt: »Wir
hatten uns unbemerkt von Dr Peppers größter Stärke entfernt: seiner einzigartigen
Markenidentität. Von dem also, was ihn für den Verbraucher von Coke, Pepsi oder
Fruchtrichtungen unterschied.«

74 Siehe Keller, »Odor Memories«, a.a.O., sowie Yaara Yeshurun et al., »The
Privileged Brain Representation of First Olfactory Associations«, Current Biology 19,
Nr. 21, 2009, S. 1869–1874.

75 Eine Auseinandersetzung damit findet sich in Vanessa Danthiir et al., »What the
Nose Knows: Olfaction and Cognitive Abilities«, Intelligence 29, Nr. 4, Juli–Aug. 2001,
S. 337–361.

76 Einige Wochen nach dem Geschmackstest führte ich meinen eigenen Blindtest
mit mehreren Getränken durch, die ich als ähnlich wie Dr Pepper empfand:
Dr. Brown’s Black Cherry und Moxie, das regionale Getränk aus New England, das
auch Calvin Coolidge schmeckte. Vielleicht hatte ich schlecht gewählt, aber mich
überraschte, wie schnell ich Dr Pepper rausschmeckte, jetzt auch mit Unterstützung
der Sprache, die ich bei dem Geschmackstest kennengelernt hatte. Dr. Brown’s Black
Cherry hat eine gewisse ähnliche Kirschnote, ist aber viel simpler, süßer, eine Art
Kirschsirup. Moxie ist ähnlich wie Dr Pepper eine komplexe Mischung verschiedener
Aromen, aber dennoch ganz anders, mit einem stärkeren Arzneimittelgeschmack, der
mich an eine (leicht verflachte) Cola erinnerte.

77 David Y. Choi und Martin H. Stack, »The All-American Beer: A Case of Inferior
Standard (Taste) Prevailing?«, Business Horizons 48, Nr. 1, 2005, S. 79–86.

78 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., zitiert nach:


http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-urteilskraft-3507/15
79 Ebd., zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-urteilskraft-3507/22.

80 Ebd., zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-urteilskraft-3507/15.

81 Ebd., zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-urteilskraft-3507/24.

82 Matt Lawrence, Philosophy on Tap: Pint-Sized Puzzles for the Pub Philosopher,
John Wiley & Sons, New York 2011, S. 45.

83 Christian Helmut Wenzel, An Introduction to Kant’s Aesthetics: Core Concepts and


Problems, John Wiley & Sons, New York 2008, S. 11.

84 Steve Annear, »Are Hipsters Driving Up the Cost of Pabst Blue Ribbon at Bars?«,
Boston Magazine, 13. Mai 2013, Zugriff 15. Jan. 2014,
http://www.bostonmagazine.com/news/blog/2013/05/23/pabst-blue-ribbon-price-
hipsters/.

85 Dennett, »Quining Qualia«, in: Lycan, Mind and Cognition, a.a.O., S. 390.

Schlussfolgerungen
Reine Geschmackssache

1 Robert Ashton, »›Nothing Good Ever Came from New Jersey‹: Expectations and
the Sensory Perception of Wines«, Journal of Wine Economics 9, Nr. 3, Dez. 2014,
S. 304–319.

2 Evgeny Yakovlev, »USSR Babies: Who Drinks Vodka in Russia«, Center for
Economic and Financial Research, Arbeitspapier w0198, Nov. 2012.

3
Siehe Winkielman et al., »Easy on the Eyes, or Hard to Categorize«, a.a.O.

4 Siehe Paul Rozin und Edward B. Royzman, »Negativity Bias, Negativity


Dominance, and Contagion«, Personality and Social Psychology Review 5, Nr. 4, 2001,
S. 296–320.
REGISTER

Abebe, Nitsuh
Abgrenzung
Abneigungen
Abwechslung
Adaptives Lernen
Affekte/affektive Reaktionen
Ähnlichkeit/-sverzerrung.
Aiden, Erez
Airbnb
Akerlof, George
Albini, Steve
Albright, Adam
Aldredge, Tess
Algorithmen
Allen, Fal
Allen, Irving
Allen, John S.
Allen, Woody
Allesfresser s. Omnivores
Almodóvar, Pedro
Amatriain, Xavier
Amazon
Amnesie
Amuse-Gueules
Anderson Valley Brewing
Anderson, Eric
Androsten
Angeborenheit (v. Vorlieben)
Antizipation
Appert, Nicolas
Apple
Aral, Sinan
Araújo, Ivan de
Arcade Fire
Architektur
Arctic Monkeys
Arford, Tammi
Ariely, Dan
Armstrong, Lance
Arnheim, Rudolf
Assimilation
Auden, W. H.
Authentizität
Azalea, Iggy

Babynamen s. Vornamen
Babys s. Säuglinge
Bach, Johann Sebastian
Bacon, Francis (Maler)
Bacon, Francis (Philosoph)
Banksy
Barnes & Noble
Barnes, Julian
Barrett, Lisa Feldman
Barrett, Syd
Bastianich, Joe u. Lidia
Batali, Mario
Baxandall, Michael
Bayley, Stephen
Beatles
Beauchamp, Gary
Becker, Gary
Bee Gees
Beethoven, Ludwig van
Belohnung
Bentley, R. Alexander
Berger, Jonah
Bergman, Ingmar
Berlyne, Daniel
Berridge, Kent
Berry, Chuck
Bewertungssysteme (auf Internetplattformen)
Bewertungsverzerrungen
Biederman, Irving
Bier/-wettbewerbe
Bieschke, Eric
Bildung
Bitgood, Stephen
Bittergeschmack/-stoffe
Bloomfield, Leonard
Bodenbeurteilung
Borges, Jorge Luis
Bornstein, Robert
Botton, Alain de
Bourdieu, Pierre
Boyd, Joe
Boyd, Robert
Boylan, Alex
Brahms, Johannes
Brezeln
Brillat-Savarin, Jean Anthelme
Brillo
Brin, Sergey
Brooklyn Brewery
Brueghel, Pieter d. Ä.
Bruine de Bruin, Wändy
Bryson, Bethany
Buchanan, Mark
Bücher
Budweiser
Burke, Edmund
Bush, P. A.
Byers, Bruce
Byrne, Richard

Caillebotte, Gustave
Calvino, Italo
Camp
Campbell-Suppendosen
Canon
Cardello, Armand
Carpenter, Mary Chapin
Carter, Goree
Cate, Ted Jr.
Cézanne, Paul
Charles, Ray
Cheerleader-Effekt
Cher
Chesterton, G. K.
Chimero, Frank
Choi, David
Chollet, Sylvie
Clark, Kenneth
Clinton, Bill
Clooney, George
Coca-Cola
Coen-Brüder
Cohen, Leonard
Coldplay
Colvin, Shawn
Congreve, William
Conrad, Tom
Constable, John
Cooke, Lucy
Coolidge, Calvin
Coors
Costello, Elvis
Cowen, Tyler
Crandall, Christian
Crow, Sheryl
Crystal Pepsi
Csikszentmihalyi, Mihaly
Cutting, James
Cyrus, Miley

Damisch, Lysann
Dannett, Daniel
Danto, Arthur
Darbietungshäufigkeit s. Mere-Exposure-Effekt
Darsch, Gerald
»Daumen hoch« s. Bewertungssysteme
Davies, Dave
Davis, Clara
Davis, William C.
de Vries, Hugo
Debussy, Claude
Default Mode Network (DMN)
Del Posto (Restaurant)
Delacroix, Eugène
Demenz
Denby, Edward
Desperation Squads
Desserts
Dewey, John
Dhar, Ravi
Diamond, Jared
Dickie, George
Digg
Distinktion
Dixon, Chris
Donath, Judith
Doppelbestrafung
Douglas, Mary
Dr Pepper
Drake, Nick
Drouais, Jean Germain
Duchamp, Marcel
Duncker, Karl
Dürer, Albrecht
Dutton, Denis

Eames, Ray
eBay
Ebergeruch
Echo Nest
Einmannpackung (EPa)
Eintönigkeit
Eiscreme/-Effekt
Eiseman, Leatrice
Eiskunstlauf
Ekel
Ekelund, Lena
Elberse, Anita
»Elfter sein«
ELIZA
Elliott, Charlene
Elster, Jon
Emin, Tracy
Empfehlungssysteme (auf Internetplattformen)
Engberg, Louise
Entscheidungen
Erfahrungsgüter
Erinnerung
Erwartung/-shaltung
Erwartungsdissonanz
Erworbener Geschmack
Essen, Geschmack/Vorlieben
Estrella, Miquel Àngel
Eugenik
Eurovision Song Contest
Evangelos, Kathy
»Every Noise at Once«
Eysenck, Hans

Facebook
Fake-Bewertungen
Farace, Nanca
Farben
Fechner, Gustav
FedEx
Feedback s. Bewertungssysteme
Fehr, Ernst
Fernquist, Fredrik
Festinger, Leon
Field Notes
Filme
Filmmusik
Firefly
Firmenich
Fisher, Vickie
Fisman, Ray
Flaubert, Gustave
Flickr
Floyd, Jamie
Forer-Effekt
Forgotify
Fotos
Fraktale Muster
Frank, Michael
Frasch, Ronald
Freud, Sigmund
Frith, Simon
Fritz, Claudia
Fruchtwasser
Frühstück
Fry, Roger
Fun (Band)
Furse, Charles Wellington

Gabriel, Peter
Gale, Harlow
Galton, Francis
García Márquez, Gabriel
Gaskell, Elizabeth
Gaye, Marvin
Gedächtnis s. Erinnerung
Gehirn
Gehry, Frank
Geigen
Geiger, Theodor
Geltungskonsum
Gemälde s. Kunst
Genetik s. Vererbbarkeit
Genres s. Musikgenres
Gerba, Charles
Geruch
Geschmacksdiagramme/-hierarchien/ -koordinaten/-profile/-raum
Geschmacksforschung
Geschmacksnormen
Geschmackssinn
Geschmackstester (professionelle)
Geschmackstests s. a. Messung (v. Geschmack)
Geschmackswandel
Gewöhnung/Gewohnheitseffekt
Gilbert, Daniel
Gillette, Marianne
Gilman, Charlotte Perkins
Glass, Philip
Godes, David
Goffman, Erving
Goldener Schnitt
Goldstone, Robert
Gombrich, Ernst H.
Gómez Uribe, Carlos
Goodreads
Google
Gore, Al
Goya, Francisco de
Great American Beer Festival (GABF)
Green Giant
Greenberg, Charles
Greenberg, Clement
Groupon
Gruppenidentität/-präferenz
Guerra, Juan Luis
Guggenheim Museum, Bilbao
Guinness
Gureckis, Todd
Gustofazial-Reaktion
Gutachter

H&M
Habitus
Haley, Bill
Hargreaves, Davie
Harmoniepräferenz
Harvey, James
Hate-watching
Heath, Chip
Hedonismus
Hedonistische Skala
Heineken
Hendrix, Jimi
Henrich, Joseph
Hensher, Philip
Herodot
Herzog, Harold
Hippel, William von
Hipster-Effekt
Hitchcock, Alfred
Hitler, Adolf
Hoff, Karla
Hogan, Steve
Holbein, Hans d. J.
Holbrook, Morris
Holloway, Thomas
Holt, Douglas
Homer
Homophilie, soziale
Hook, Philip
Horner, Victoria
Hornsey, Matthew
Horváth, Ödön von
Hotels
Houson, Abigail
HP
Hu, Ye
Hubbell, Sue
Huberman, Bernardo
Hudson, Kenneth
Hughes, Robert
Hume, David
Hunch
Hunde/-rassen/-zucht
Hunger
Hyde, Robert

Identität
Imagine Dragons
India Pale Ale (IPA)
Informationsasymmetrie
Insane Clown Posse
Instagram
Internet
iPhone
Iron Maiden
Ironie
iTunes
Iyengar, Sheena
Jakobovits, Leon
James, Henry
Jastrow, Joseph
Jefferson, Thomas
Jehan, Tristan
Jelly-Bean-Test
Jetten, Jolanda
Jobs, Steve
Johnson, Ken
Johnson, Samuel
Jordan, Michael
Journey

Kaffee
Kampfrichter s. Preisrichter
Kandel, Eric
Kandinsky, Wassily
Kant, Immanuel
Kaplan, Peter
Karl II., König
Kartoffelchips
Käse
Kategorien/-bildung
Katz, Elihu
Katzen/-ausstellungen/-besitzer/-rassen/ -zucht
Katzenfutter
Katzenvideos
Kaufreue
Kelloggs
Kern, Roger
Kesner, Ladislav
Ketchup
Kidman, Nicole
Kieran, Matthew
Kinder s.a. Säuglinge
King, Silvia
Kinkade, Thomas
Kinks
Kitsch
Kivy, Peter
Klassen/-zugehörigkeit
Klee, Paul
Knight, Robert
Knoblauch
Kognitive Dissonanz
Komplexität (v. Musik)
Konditionierung
Konformismus/Konformität
Konformistische Distinktion/Übertragung
Konsensus-Effekt, falscher
Konstruiertheit (v. Vorlieben)
Konsum/-güter
Kontextabhängigkeit (v. Vorlieben)
Kontrasteffekt
Kool-Aid
Kooning, Willem de
Koons, Jeff
Koren, Yehuda
Korsmeyer, Carolyn
Köster, E. P.
Kottke, Jason
Kovács, Balázs
Kraft (Fa.)
Kraus, Brad
Kundera, Milan
Kunst/-betrachtung/-geschmack
Kushner, Rachel

La Rana Dorana
Lachlan, R. F.
Lamere, Paul
Landers, Ann
Lang Lang
Laptops
Last.fm
Lawless, Harry
Lawrence, D. H.
Lawrence, Matt
Lawrence, Tim
Lebensmittel s. Essen
Leder, Helmut
Left Hand Brewing
Leibenstein, Harvey
Lerman, Dawn
Lernen, bayessches
Lernen, soziales
Lerner, Ben
Leskovec, Jure
Leutze, Emanuel
Levinson, Jerrold
Li, Xinxin
Lieberson, Stanley
Lieblingsessen s. Essen
Lieblingsfarben s. Farben
Lieblingsmusik s. Musik
Lieblingszahlen s. Zahlen
Lifetime Brands
»Like« s. Bewertungssysteme
Linden, Greg
Liu, Hugo
Livestrong-Armbänder
Lizardo, Omar
Locher, Paul
Locke, John
Loewenstein, George
Loewy, Raymond
Long, Edwin Longsden
Long-Tail-Produkte
Longrois, Félicité
Lorenz, Konrad
Luca, Michael
Lucas, George
Ludlum, Robert
Lyons, Leslie

Macy, Michael
Madfis, Eric
Madrigal, Alexis
Maes, Pattie
Mainstream
Maltodextrin
Mann, Aimee
Margulis, Elizabeth Hellmuth
Marks, Noah
Markteffizienzhypothese
Marshall, David
Mason, Michelle
Match.com
Matthews, Dave
Maxwell House
McAuley, Julian
McCarthy, Cormac
McCormick
McCoy, Charles Allan
McDonald, Glenn
McDonald’s
McGegan, Nicholas
McManus, I. C.
McPhee, William
Melchionne, Kevin
Mere-Exposure-Effekt (Darbietungshäufigkeit)
Messung (v. Geschmack) s.a. Geschmackstests
Metallica
Michel, Jean-Baptiste
Michelangelo
Milch/-produkte
Milgram, Stanley
Millais, John Everett
Mills Brothers
Mimik
Minnelli, Liza
Mirabile, Tom
Mode/Moden
Molanphy, Chris
Mondrian, Piet
Monet, Claude
Moore, Suzanne
Moormann, Peter
Morewedge, Carey
Morin, Olivier
Morris & Co.
Moskowitz, Howard
Mudambi, Susan
Mullan, John
Mundpropaganda, digitale/elektronische
Museen
Museum of Bad Art (MOBA)
Museumserschöpfung
Music Genome Project (Pandora)
Musik/-geschmack
Musikgenres
Mussweiler, Thomas
Myerscough, Paul
MySpace

Nachahmung
Nachfrage, nicht-additive/nicht-funktionale
Nahrungsmittel s. Essen
Naismith, James
Namen s. Vornamen
Napoleon Bonaparte
Natick (U.S. Army’s Soldier Systems Center)
Nauman, Bruce
Nena
Neophobie
Netflix
Neuroästhetik
NeuroFocus
Neutrale Theorie/neutrales Modell
New Order
Newman, Matthew L.
Ngram
Nielsen
Nietzsche, Friedrich
Nine Inch Nails
Ninkasi Brewing
Nobrow
Nochlin, Linda
Noessel, Chris
Normcore
North, Adrian
Norton, Michael
Novak, David
Nussbaum, Emily

O’Brien, Edward
Öffentlichkeitsparadoxon
Ogle, Matthew
OkCupid
Oliver, Garrett
Omnivores (Allesfresser)
Online-Bewertungen s. Bewertungssysteme
Opioide
Ortega y Gasset, José
Orwell, George
Osmond, Donny
Ovid

Pabst Blue Ribbon


Padovan, Richard
Palmer, Robert
Palmer, Stephen
Pandora
Pangborn, Rose Marie
Pantone
Parrish, Maxfield
Pascal, Blaise
Pavement
Payne, Alexander
Pease, K. G.
Pelchat, Marcia
Peppiatt, Michael
Pepsi-Cola
Perloff, Marjorie
Perzeptuelle Geläufigkeit
Peterson, Richard
Pfadabhängigkeit
Pharrell
Philip IV., König v. Spanien
Pink Floyd
Pixies
Playlists
Plummer, Joseph
Pohlmann, Andrew
Pollan, Michael
Pollock, Jackson
Poor, Morgan
Pop-Tarts
Popper, Karl
Positivitätsbias
Pradeep, A. K.
Prägung
Preisrichter
Prescott, John
Prestige-Bias
Primäreffekt
Pringles
Proclaimers
Projektionsbias
Psychophysik

Radiohead
Rancière, Jacques
Raphael
Ratchet-Effekt
RateBeer.com
Rauchen
Ravel, Maurice
Raven, Frances
Ray-Ban
Read, Daniel
Reagan, Ronald
Reed, Danielle
Regression zur Mitte
Reichl, Ruth
Rembrandt
Renoir, Auguste
Renshaw, Samuel
Repin, Ilja Jefimowitch
Restaurants
Retronasale Wahrnehmung s. Geruch
Reue
Review Sceptic
Rezenzeffekt
Richerson, Peter
Richter, Curt P.
Ridgway, Jason
Riedl, John
Ritvo, Harriet
Ritz-Cracker
Robinson, Edward S.
Rolling Stones
Romantics
Rose, John
Ross, Alex
Ross, Sean
Rossetti, Dante Gabriel
Rozin, Paul
Rubin, Nick
Ruscha, Ed
Rush
Ruskin, John
Russell, Kent

Sachverständige s. Gutachter
Sacks, Harvey
Saks
Salatschleudern
Salganik, Matthew
Salienz
Salz/Salziges
Sam Adams
Sand, George
Sandler, Adam
Sättigung/-sgefühl
Sauer/Saures
Säuglinge s. a. Kinder
Scarborough, Roscoe C.
Schafer, Murray
Schaffner, Ingrid
Scham
Schimpansen
Schindler, Robert
Schirillo, James
Schloss, Karen
Schnitzel-Tod
Schönberg, Arnold
Schönheit
Schuff, David
Schuld/-gefühle
Schumpeter, Joseph
Schwäche
Schwartz, Madeleine
Schwarzenegger
Schweine
Schwierigkeitsverzerrung
Scruton, Roger
Seabrook, John
Seinfeld, Jerry
Selbstaussagen
Selbstbetrug
Selbstdarstellung
Selektion/-sdruck
Selektionsbias
Sen, Shahana
Sensorische Reize
Serrell, Beverly
Seuss, Dr.
Shaftesbury, Lord
Shanteau, James
Shapin, Steven
Sharkey, Amanda
Sharot, Tali
Shelley, James
Sierra Nevada Pale Ale
Signale/Signaling
Silva, José
Simester, Duncan
Simkus, Albert
Simmel, Georg
Simonson, Itamar
Simpson, Frances
Sinnesspezifische Sättigung
Sisley, Alfred
Skabelund, Aaron
Small, Dana
Smith, Adam
Smith, Barry
Smith, Jeffrey
Smith, Louis
Snapchat
Solakov, Nedko
Sommeliers s.a. Wein
Sontag, Susan
Soundtracks s. Filmmusik
Speisekarten
Speiseplan-Optimierung
Spielberg, Steven
Spieltheorie
Spotify
Sprache
Stack, Martin
Stanley, Bob
Standards
Standing Ovations
Stanley, Bob
Steinberger, Mike
Steingarten, Jeffrey
Stendhal/-Syndrom
Sterne s. Bewertungssysteme
Stigler, George
Stiller, Ben
Stone, Matt
Strauss, Johann
Strauss, Stephen
Streaming
Suchgüter
Sünde, süße
Sündenbock-Geschmack
Superschmecker
Surowiecki, James
Survivor
Süße/Süßes s.a. Zucker
Swersey, Chris
Sydney, Opernhaus
Symmetrie
Synästhetiker
Szczesniak, Alina Surmacka

Tacitus
Taco Bell
Tajfel, Henri
Tanaka, James
Tarantino, Quentin
Tarde, Gabriel
Tattoos/-entfernung
Taylor, Marjorie
Taylor, Richard
Tee
Textur (v. Nahrungsmitteln)
Thirer, Irene
Tinio, Pablo
Tizian
Toilettenkabinen
Toilettenpapier
Tolstoi, Leo
Touboul, Jonathan
Townshend, Pete
Trapist Ale
TripAdvisor
Trivers, Robert
Tsien, Jennifer
Turnen
Turner, Ike
Turner, J. M. W.
Tuymans, Luc
Tversky, Amos
Twitter/-Prädiktor

Überanpassung
Übersättigung
Umami
Univores
Utzon, Jørn

Valenztheorie
Van Halen
Van Riper, Walker
Varietäten-Vergesslichkeit
Veblen, Thorstein
Velázquez, Diego
Velvet Underground
Verben, unregelmäßige
Verbraucherpanels
Vererbbarkeit (v. Geschmack/Vorlieben)
Vergleiche
Vermeer, Johannes
Vertrautheit
Vessel, Edward
Vickers, Zata
Victoria, Queen
Videoinstallationen
Vivaldi, Antonio
Vogelgesang
Vorfreude
Vorhersagbarkeit/-sehbarkeit (v. Geschmack/Vorlieben)
Vornamen
Vorurteile
Vul, Edward

Wahl, freie s. Entscheidungen


Wahrheitsbias
Walker, Drew
Walker, Rob
Walton, Kendall
Wansink, Brian
Wardle, Jane
Warhol, Andy
Watt, Mike
Watts, Duncan
Weber, Max
Wein/-sprache s.a. Sommeliers
Weir, Harrison William
Wenzel, Christian
Werbung
Westergren, Tim
Whedon, Joss
White Castle
White Stripes
Whiten, Andrew
Whitman, Brian
Wigley, Mark
Wilde, Oscar
Wilk, Richard
Williams, Lucinda
Williams, Raymond
Wilson, Carl
Wilson, Timothy
Winkielmann, Piotr
Witherly, Steven
Wittgenstein, Ludwig
Wodka
Wollheim, Richard
Wood, Ed
Woodstock
Woolf, Virginia
Wu, Fang
Wundt, Wilhelm

Yakovlev, Evgeny
Yarbus, Alfred
Yellin, Todd
Yelp
YouTube

Zahlen
Zaidel, Dahlia
Zajonc, Robert B.
Zapruder, Michael
Zeki, Semir
Zellner, Debra
Zervas, Georgios
Zucker s.a. Süße
Zufälligkeit (d. Geschmackswandels)/ zufällige Nachahmung
Zwangsentscheidungen
Über den Autor

Der Journalist TOM VANDERBILT schreibt unter anderem für das


New York Times Magazine, das Wall Street Journal, den Rolling
Stone und Popular Science über Wissenschaft, Design, Technologie
und Kultur. Sein letztes Buch Traffic war ein New York Times-
Bestseller und wurde in 18 Sprachen übersetzt.

Auf Twitter: @tomvanderbilt

www.tomvanderbilt.com

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