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25 Gilles Deleuze und Felix Guattari Das Modell der Musik - Pierre Boulez war der erste, der

der Musik - Pierre Boulez war der erste, der ein En-
semble vo n einfachen Gegensätzen u nd ko mplexen D iffe renzen,
1440 - Das Glatte und das Gekerbte aber auch von nicht symmetrischen wechselseitigen Ko rrelatio nen
zwisch en dem glarten und dem gekerbten Raum en twickel t hat. Er
hat di ese Begri ffe und Wö rter im Bereich der Musik geschaffen ,
D er glatte Raum und de r gekerb te Raum - der Raum des No maden und er hat sie ge rade des hal b auf m ehreren Ebenen defi niert, um
und der Raum des Seßhaften - der Raum, in dem sich d ie Kriegs- zugleich die abstrakte U nte rscheidung und d ie ko nkreten Vermi-
maschine en twickelt, und der Raum, der vo m Staatsa pparat ge- schungen berücksichtigen zu kö nn en. Im Prin zip sagt Boulez, daß
schaffe n wird, sind gan z verschieden. M anchmal finden wir einen man in einem glatten Zeit-Raum besetzt, ohne zu zählen, während
ein fac hen Gegensatz zwischen den zwei Arten vo n Raum. Ma nch- man in einem gekerb te n Zeit-Raum zählt, um zu besetzen. E r
mal müssen wi r eine viel ko mplexere Di ffere nz fes tstellen, di e be- macht also di e Di ffe renz zwischen nichtmetrischen und metrischen
wirkt, daß d ie einander fo lgenden Terme der betrachteten Gegen- Mann igfalti gkeiten, zwischen gerichteten und dimensionale n Räu-
sätze nicht dechtngsgleich sind. U nd manchmal müssen wir uns men spürbar oder wah rn ehmbar. E r macht sie zu Kl ängen und zu
auch daran erin nern, daß die beiden Räume nur wege n ihrer wech- Musik. Und sein eigenes Werk besteht zweifellos aus diesen gesch af-
selseitigen Vermischung exi tieren: der glatte Raum wird un aufh ör- fe nen, aus di esen musikalisch wieder erschaffenen Beziehungen.2
lich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der ge- Auf einer zweite n Ebene ka nn man sagen, daß der Raum zwei Ar-
kerbte Raum wird ständi g umgekrempelt, in einen glatten Raum ten vo n Einschnitten bekommen kann : der ein e Schni tt wird durch
zurückve1wandelr. Im einen Fal l wird sogar die Wüste organisiert; einen Maßs tab bestimmt, der andere ist nicht festge legt und un re-
im anderen Fal l gewinn t und wäc h t d ie Wüste; un d das beides zu- gelmäß ig, er kann an beliebiger Stelle gemacht werden. Auf einer
gleich. Di e fa ktischen Ve rmischun ge n sind allerdin gs kein Hinder- noch anderen Ebene ka nn man sagen, daß die Frequenzen sich in
nis fü r di e rheo rerische, abstrakte Unterscheidung zwischen beiden Intervallen, zwischen den Einschni tten , ausbreite n oder sich stati-
Räumen. Deshal b ko mmunizieren beide nich t in der gleichen Wei- stisch ohne Einschni tt anordnen kö nn en : im ersten Fall bezeichnet
se mi te inande r: di e theo retische U nterscheidung besti mm t di e For- man den G rund fü r di e Anordnung von Ei nschnitten und Interval-
men dieser oder jener faktischen Vermischun g und di e Bedeutung len als ,modul o<, wo bei dieser G rund konstant und festgelegt (ge-
di eser Vermischun g (handelt es sich um einen glatten Raum, der rader eingekerbter Raum ) oder vari abel, regel mäß ig oder w1regel-
vereinnal1mt wi rd, der vo n einem geke rbten Raum umschlossen mäß ig sein kann (gekrümmte eingekerbte Räume, die auf ei nen
wird, oder um einen geke rbten Raum , der sich in einen glatte n Brennpunkt bezogen sind, wenn der modulo regelm äßig variabel ist,
Raum aufl öst, der einen glarten Raum entstehen läß t?). Es ergibt und die ni cht auf einen Brenn p un kt bezogen sind, wenn der modulo
sich also eine ganze Reihe von gleichzeitigen Fragen: die einfachen unregelm äß ig ist). Aber wenn es ke inen modulo gib t, geschieh t die
Gegensätze zwischen beide n Räu men; di e komp lexen U nte rschie- Anordnung der Frequ enzen ohne Einschni tt: sie geschieht >stati-
de; di e faktischen Verm ischunge n und di e Ü bergä nge vo m eine n stisch,, auf einem Teilrawn, der beliebig klein sei n kan n; sie hat al-
zum anderen; di e Gründ e fü r die Vermischungen, die kei neswegs lerdings zumindest zwe i Aspekte, je nach dem, ob die Anordn u ng
symmetrisch sind und bewirke n, daß man aufg rund von vö llig un-
terschi edlich en Bewegun ge n mal vom glatte n zum geke rb ten un d Buches - mit dem ,texti len, Paradigma das erste der verschiedenen vo n Deleuze
mal vom gekerbten zum glarten Raum übergeh t. Man m uß daher und Guarrari vo rgestell ten Modelle, in denen sie ße,,üge zwischen glarten und ge-
kerbten Räumen aufzeigen - gewebter Sro ff dienr hierbei als Beispiel für gekerb te,
eini ge Modelle betrachten, die so etwas wie variable Aspekte von
Filz als Beispiel für glatte Strukturen, das Parchwo rkmusrer der Quil ts wird als
zwei Räumen u nd ihre n Beziehun ge n si nd. [ ... ) 1 Übergang vom Gekerbten zum G latten verstanden.
1 [Anm . d. Hg.] Ausgelasse n ist - nach dem Einführungsa bschnitt zu di esem letzten 2 Pierre ßot1lez, Mi1sikdenken heute 1, Mainz: Scha m Söhne 1963 , . 72-83 . W ir fas-
der vierzehn in geologischen Schichten oder ,Platea us, angeo rdneten Ka pitel n des sen die Analyse vo n ß o t1lez im folgenden Absatz zusam men.

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gleichmäßig ist (nicht gerichteter glatter Raum) oder ob sie mehr die Anpassung des Innenraumes an den Außenrawn: das Zelt, der
oder weniger selten, mehr oder weniger dicht ist (gerichteter glatter Iglu, das Boot. Im Glatten wie im Eingekerbten gibt es Punkte des
Raum). Kann man sagen, daß es im glatten Raum ohne Einschnitt Stillstands und Bahnen; aber im glatten Raum reißt die Bahn den
und modulo kein Intervall gibt? Oder ist in ihm im Gegenteil alles Stillstand fort, hier umfaßt das Intervall noch alles, ist das Intervall
zum Intervall, zum Intermezzo geworden? Das Glatte ist ein No- ubscanz (daher die rhythmischen Werte). 4
mos, während das Eingekerbte, wie zum Beispiel die Oktave, immer lm glatten Raum ist die Linie also ein Vektor, eine Richtung und
einen Logos hat. Boulez interessiere sieb für die Kommunikation keine Dimension oder metrische Bestimmung. Er ist ein Rawn, der
von zwei Arten von Räumen, für ihre Wechsel und Überlagerun- durch örtlich begrenzte Operationen mit Richcungsändenmgen ge-
gen: so wie ein »glatter, stark gerichteter Raum die Neigung zeige, schaffen wird. Di ese Richtungsänderungen können von der Are der
auf einen gekerbten Raum hinauszulaufen «, so wie »ein gekerbter Wegscrecke abhängig sein, wie zum Beispiel bei den Archipel-No-
Raum, bei dem die scaci ci ehe Anordnung der benützten Höhen maden (der Fall eines ,gerichteten, glatten Raumes); aber sie können
faktisch gleichmäßig i t, die Tendenz hat, sich einem glatten Raum sich auch aus der Variabilität des Ziels oder des zu erreichenden
anzugleichen«,1 so wie die Oktave durch »Maßstäbe ohne Oktave« Punkte ergeben , wie zum Beispiel bei den Nomaden in der Wüste,
ersetzt werden kann , die sich nach einem Spiral-Prinzip wiederho- die sich auf eine örtlich begrenzte und vergängliche Vegetation zu-
len; so wie die »Textur« so angelegt werden kann, daß sie ihre festge- bewegen (der ,nicht gerichtete< glatte Raum). Aber ob gerichtet
legten und homogenen Werte verliere, um ein Gleiten in der Zeit oder nicht, und vor allem im zweiten Fall, der glatte Raum ist direk-
und Verschiebungen in den Intervallen zu unterstützen, also Trans- tional und nicht dimensional oder mecri eh . Der glatte Rawn wird
formationen der Tonkunst [sonart], die mit denen der Op-art vergli- viel mehr von Ereignissen oder haecceitates als von geformten oder
chen werden können. wal1rgenommenen Dingen besetzt. Er ist eher ein Affekt-Raum als
Um zu dem einfachen Gegensatz zurückzukehren, das Gekerbte ein Raum von Eigenschaften. Er ist eher eine haptische als eine opti-
ist das, wa da Festgelegte und Variable miteinander verflicht, was sche Wahrnehmung. Während im gekerbten Raum die Formen
unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen läßt w1d was eine Materie organisieren, verweisen im glatten Raum die Materia-
horiwntale Melodielinien und vertikale Harmonieebenen organi- lien auf Kräfte oder dienen ihnen als ymprome. Es ist eher ein in-
siere. Das Glacee ist kontinuierliche Variation, die kontinuierliche tensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und
Entwicklung der Form und die Verschmelzung von Harmonie und nicht der Maßeinheiten . Intensives spatium anstatt extensio. Organ-
Melodie zugunsten einer Freisetzung von im eigentlichen Sinne loser Körper statt Organi mus und Organisation. Die Wal1rneh-
rhythmischen Werten, die reine Linie einer Diagonale quer zur Ver- 1mmg bestehe hier eher aus Symptomen und Einschätzungen als aus
tikalen und Horiwntalen. Maßeinheiten und Besitztümern. Deshalb wird der glatte Raum
von Intensitäten , Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen
Das Modell des Meeres - Gewiß, sowohl im gekerbten wie im glatten und klanglichen Kräften und Qualitäten, wie in der ceppe, in der
Raum gibt es Punkte, Linien und Oberflächen (auch Volumen , aber Wüste oder im ewigen Eis .5 Das Krachen de Eises und der Gesang
diese Frage lassen wir für den Moment beiseite). Im gekerbten
Raum werden Linien oder Bal111en tendenziell Punkten untergeord- 4 Zu dieser Anpass ung des Innen an das Außen bei den Nomaden der W üste vgl.
net: man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist Ann ie M ilova nofT, •La scconde pcau du nomade«, in: No uvelles littemires 2646
(27. 7. 1978), S. 18. Und über die Btc,iehungcn des lglus zum Außen bei den o-
es umgekehrt: die Punkte sind der Bahn untergeordnet. Bereits bei
maden der Eiswüste, vgl. Edmund arpcnrer, Eskimo, Toronto: Universiry ofTo-
den Nomaden gab es den Vektor Kleidung-Zelt-Außenraum . Die
tonto Press 1964.
Unterordnung des Wohnraumes unter die Wegstrecke [parcours], Die beiden konvergierenden Beschreibungen des Eis- und des W üsten-Raumes
sind: E. Carpenter, Eskimo, und W. T hesiger, Di, Br11rmm der Wii.m, M ünchen:
J ßoulez, Musikdmken hmu, . 75. Piper 1959 {i n beiden Fällen gibt es kein besonderes Interesse für die Astronomie).

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des Sandes. Der eingekerbte Raum wird dagegen vom Himmel als der Archetypus aller glatten Räume gewesen wäre, sondern der erste
Maßstab und den sich daraus ergebenden , meßbaren visuellen Qua- dieser R.f ome, der eine Einkerbung erdulden mußte, die ihn in zu-
litäten überdeckt. nehmendem Maße unterwarf und ihn hier oder da, erst von der ei-
Hier stellt sich das ganz spezielle Problem des Meeres. Denn das nen und dann von der anderen eire mir Rastern überzog. Die Han-
Meer ist der glatte Rawn par excellence, und dennoch wird es am delsstädte haben an dieser Einkerbung Anteil gehabe und oft neue
ehesten mit den Anforderungen einer immer strengeren Einker- Erfindungen beigesteuert, aber nur Staaten konnten sie zu Ende
bung konfrontiert. In der Nähe des Landes stellt sich das Problem führen und sie auf die globale Ebene einer »Wissenschaftspolitik«
nicht. Die Einkerbung der Meere geschieht im Gegenteil bei der erheben. 8 Es hat sich immer mehr etwas Dimensionales herausgebil-
Navigation auf hoher See. Der maritime Raum wird ausgehend von det, das sich das Direktionale unterordnete oder es überlagerte.
zwei Errungenschaften, einer astronomischen und einer geographi- Eben dadurch i t das Meer, der Archetyp des glatten Raumes,
schen, eingekerbt: durch den Punkt der Position, den man durch auch zum Archetyp für alle Einkerbungen des glatten Raumes ge-
eine Reihe von Berechnungen auf der Grundlage einer genauen Be- worden: Einkerbung der Wüste, Einkerbung der Luft, Einkerbung
obachtung der Sterne und der onne bekommt; und durch die Kar- der Strarosphä.re (die es Virilio ermöglicht, von einer »vertikalen
te, die die Meridiane und Breitenkreise, sowie die Längen- und Brei- Küste« als Richtungsänderung zu sprechen) . Der glarte Raum ist
tengrade verbindet und so die bekannten oder unbekannten zuerst auf dem Meer ge1..ä.hmc worden, auf dem Meer hat man ein
Regionen rastere (wie das Periodensy tem von Mendelejew). Muß Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einker-
man, der portugiesischen These zufolge, von einem Wendepunkt bung gefunden, das überall zum Vorbild genommen werden konn-
um das Jahr 1440 ausgehen, der eine erste entscheidende Einker- te. Das widerspricht allerdings nicht der anderen Hypothese von
bung bedeutete und die großen Entdeckungen ermöglichte? Wir Virilio: am Ende seiner Einkerbung gibt das Meer eine Art von glat-
fo lgen lieber Pierre Chaunu, der von einem langen Zeitraum aus- tem Raum zurück, der zunächst von der jleet in beinf besetzt wird
geht, in dem das G larte und das Gekerbte auf dem Meer aufeinan- und dann von der ständigen Bewegung des strategischen Untersee-
derprallren und in dem die Einkerbung immer weiter voranschritt. 6 bootes, das über jede Rasterung hinausgeht und ein neues Noma-
Denn vor der recht späten Bestimmung der Längengrade hat es denrum erfindet, das im Dienste einer Kriegsmaschine steht, die
bereits eine empirische und komplexe nomadische Navigation gege- noch beunruhigender ist als die taaten, die sie an der Grenze ihrer
ben, die die Winde, die Geräusche, die Farben und Klänge des Mee- Einkerbungen neu erstehen lassen. Das Meer und dann die Luft
res miteinbezog; dann gab es eine direktionale, vor-astronomische und die Stratosphäre werden wieder zu glatten Räwnen, jetzt
und bereits astronomi ehe Navigation , die eine operative Geome- allerdings, in der verrücktesten Umkehrung, um das eingekerbte
trie benutzte, nur mit dem Breitengrad operierte, keine punktge- Land besser kontrollieren zu können. 10 Das Glatte verfügt immer
naue Standortbestimmung machen konnte, nur über Porrulane und
des. \I' Colloque international d'histoire maritime, Paris: S.E.V.P. E.N. 1966, S. 91-
nicht über richtige Karren verfügte, so daß keine »übertragbare
112 (vgl. die operati ve Geometrie des Polarsterns).
Verallgemeinerung« vorgenommen werden konnte; und dann die 8 Guy Beaujouan , »Science livresque er naurique au XV's iecle«, ebd. , S. 61-90.
Weiterentwicklungen dieser primitiven astronomischen Navigation 9 [Anm. d. Hg.] Di e fleet in being ist »die permanente Präsenz ein er unsiclubaren
unter den speziellen Bedingungen in den Breiten des Indischen Flotte auf dem Meer, die den Gegner egal wo und wann überraschen kann « und
Ozeans, dann die elliptischen Routen über den Atlantik (gerade die damit die Orrsgebundenheir des Landkriegs zugunsten einer Kriegskunst der
ständigen Bewegung überwindet. Paul Virilio, Geschwindigkeit zmd Politik, Ber-
und gekrümmte Räume) .7 Es sieht so aus, als ob da Meer nicht nur
lin: Merve 1980, S. 52.
6 Vgl. die Studie vo n Pierre C haunu, l 'expamion turopienne du XIII, au~ sieck, 10 Paul Virilio, l'insicuriti du te"itoirt, Paris: Stock 1975: darüber, wie das Meer mi r
Paris: PU F 1969, S. 288-305. der Jleet in bting einen glarten Raum zurückgibt, etc.; und darüber, wie sich ei n
7 iehc dazu vo r al lem Paul Adam, • aviga tio n pri mitive er navigatio n as rro no- vertikaler glatter Raum zur Luft- und Stratosphären-Beherrschung herauslöst
mique«, in: les aspects intemarionaux de la dico,werte odanique aux.XV et XVI' sie- (vor allem Kap. IV: »Le li tto ral vcrrical«).

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über ein Deterrirorialisierungsvermögen, da dem Gekerbten über- zu sein scheint, er ist nicht leicht auszumachen. Man kann sich
legen ist. Wenn man sich für neue Berufe und sogar für neue Klas- nicht damit bescheiden, den glatten Boden des Nomaden-Züchters
sen interessiere, warum soll man sich dann nicht über jene Militär- und den gekerbten Raum des seßhaften Landwirtes einfach gegenü-
techniker Gedanken machen, die Tag und Nacht Bildschirme berzustellen. Es ist offensichtlich, daß selbst der seßhafte Bauer vol-
überwachen, die über lange Zeiträume strategische U-Boote und len Anteil am Raum der Winde und der klanglichen und taktilen
acellicen bewohnen oder bewohnen werden , und darüber, was für Qualitäten hat. Wenn die Griechen vom offenen Raum des nomos
apokalyptische Augen und Ohren sie sich schaffen, die ein physi- sprachen, der nicht begrenzt ist, nicht aufgeteilt, prä-urbanes Land,
ches Phänomen , einen Heuschreckenschwarm und einen ,feindli- Berghang, Plateau, Steppe, dann stellten sie ihn nicht der Kultur
chen<Angriff, der von einem beliebigen Punkt kommt, kaum noch gegenüber, die im Gegenteil ein Teil davon sein kann, sondern der
unterscheiden können? All dies soll daran erinnern, daß das Glatte polis, dem Stadtstaat, der Stadt. Wenn Ibn Khaldun von der Badiya
selber von teuflischen Organisations-Kräften umrissen und besetzt spricht, vom Beduinencum, da11n wnfaßt dieses sowohl die Land-
werden kann. Und vor allem soll es, ohne jedes Werturteil, zeigen, wirte wie die nomadischen Züchter: er scellc es der Hadara gegen-
daß es zwei nicht symmetrische Bewegungen gibt, ei11e, die das über, das heiße dem ,Scädtercwn,. Die e Präzisierung ist sicher wich-
Glatte einkerbt, und eine andere, die ausgehend vom Eingekerbten tig; und dennoch ändert sie nicht viel. Denn seit den ältesten
wieder zum Glatten führe. (Und gibt e nicht sogar im Verhältnis Zeiten, eit dem Neolithikum und sogar seit dem Paläolithikum ,
zum glatten Raum einer weltweiten Organisation neue glatte oder hat die Stadt die Landwirtschaft erfanden: unter dem Einfluß der
durchlöcherte Räume, die hinter der Fassade im Entstehen sind? Stadt überlagern der Ackerbauer und sein gekerbter Raum den
Virilio verweist auf die ersten Anfange unterirdischer Wohnräume Landwirt im noch glatten Raum (herumziehender, halb-seßhafter
im »dicksten Gestein«, die eine ganz unterschiedli he Bedeutung oder bereits Landwirt). So kann man auf dieser Ebene den einfa-
haben können.) chen, zunächst verworfenen Gegensatz zwischen Ackerbauern und
Kehren wir zum einfachen Gegensatz zwischen dem Glarten und Nomaden, zwischen eingekerbtem Grund und glattem Boden wie-
dem Gekerbten zurück, denn wir sind noch nicht in der Lage, die derfinden, aber erst nachdem man den Umweg über die Stadt als
konkreten w1d dissymmerrischen Mischformen zu betrachten. Einkerbung kraft gemacht hat. Von da an ist es nicht nur das Meer,
Glattes und Gekerbte unterscheidet sich zuerst durch die umge- die Wü ce, die Steppe oder der Himmel, wo es um Glattes U11d Ge-
kehrte Beziehung von Punkt und Linie (die Linie zwischen zwei kerbtes gehe, sondern die Erde selber, je nachde.m, ob es eine Kultur
Punkten im Falle des Gekerbten, der Punkt zwischen zwei Linien im Nomos-Raum oder eine Agrikultur im Stade-Raum gibt. Und
beim Glarten) . Zum zweiten unterscheiden sie sich durch die Are mehr noch: Muß man dasselbe nicht auch von der cadc sagen? Im
der Linie (gerichtet-glatt, offene Intervalle; dimensional-gekerbt, Gegensatz zum Meer ist sie der eingekerbte Raum par excellence.
geschlossene Intervalle). Und schließlich gibt es einen dritten Un- Aber ebenso wie beim Meer ist es der glatte Raum, der sich grund-
terschied, der die Oberfläche oder den Raum betrifft. Im gekerbten sätzlich einkerben läßt, wobei die Stadt die Einkerbungskraft ist, die
Raum wird eine Oberfläche geschlossen, und entsprechend den überall, auf dem Boden und in den anderen Elementen, den glarten
Fe tgelegten Intervallen, nach den festgesetzten Einschnitten >teile Raum zurückgibt, wieder einführe - und zwar außerhalb ihrer
man sie wieder auf<; beim Glatten wird man in einem offenen Raum selbst, aber auch innerhalb. Es gehen also glarte Räume von der
,verceilc,, entsprechend den Frequenzen und der Länge der Weg- Stadt aus, die nicht mehr nur die Räume einer weltweiten Organisa-
trecken (logos und nomos). 11 Aber so einfach dieser Gegensatz auch tionstätigkeit sind , sondern die eines Gegenschlags, der das Glatte
und das Durchlöcherte kombiniere und sich gegen die tadt zu-
11 Emmanuel L1-roche, Histoir, de Ja racine »Nm1« en grec ,mcien, Paris: Klincksieck
1949, verweist auf den U111crschi cd zwischen Verteilung und Aufteilung, zwi- rückwendec: gewaltige bewegliche und vergängliche Elend viertel
schen den beiden entsprechenden Sprachgruppen, zwischen den beiden Asten von Nomaden und Höhlenbewohnern , Metall- und Stoffreste,
von Raum und ,,wischen dem Pol ,La nd, und dem Pol , tadt,. Patchwork, die nicht einmal mehr für die Einkerbungen des Geldes,

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der Arbeit oder des Wohnungsbaus interessant sind. Ein explosives sind Nomaden, weil sie sich nicht bewegen, weil sie nicht umher-
Elend, das die Stadt ausscheidet und das der mathematischen For- wandern, weil sie einen glatten Ra.um halten, den sie nicht verlassen
mel von Thom entspricht: »eine retroaktive G lättung«.12 Eine ge- wollen und den sie nur verlassen , um zu erobern und zu sterben.
ballte Kraft, das Potential für einen Gegen ch lag? Eine Reise an Ort und Stelle, das ist der Name aller Intensitäten,
Der einfache Gegensatz ,glatt-gekerbt<führt uns al o jedesmal zu selbst wenn sie sich auch in Extension entwickeln. Denken heiße
immer schwierigeren Komplikationen, Wechselfällen und Überla- reisen, und wir haben zuvor versucht, ein cheo-noologisches Modell
geru nge n zurück. Aber diese Komplikationen bestätigen zunächst für glarte und gekerbte Räume zu erstellen. Kurz gesagt, Reisen
gerade deswegen diese Unterscheidung, weil sie dissymmerrisd1e unterscheiden ich weder durch die objektive Qualität von Orten,
Bewegungen ins Spiel bringen. Einstwei len sollte man nur sagen , noch durch die meßbare Quantität der Bewegung, noch durch ir-
daß es zwei Arten von Reisen gibt, die sich durch die jeweilige Rolle gend etwas, das nut im Geiste stattfindet, sondern dutch die Art der
von Punkt, Linie und Raum unterscheiden. Eine Goethe-Reise und Verräumlichung, durch die Art im Raum zu sein, oder wie der
ei ne Kleist-Reise? Eine französische und eine englische (oder ameri- Raum zu sein. Im Glatten oder im Gekerbten reisen und ebenso
kanische) Reise? Ei ne Baum-Reise und eine Rhizom-Reise? 13 Aber denken ... Aber immer Übergänge vom einen zum anderen , Trans-
nichts paßt richtig zusammen, alles vermischt oder überschneidet formationen vom einen ins andere, Umkehrungen . . . In seinem
sich. Das liegt da.ran, daß die Unterschiede nicht objektiv sind: man Film Im Laufder Zeit läßt Wim Wenders die Wege von zwei Perso-
kann ei ngekerbt in Wüsten, Steppen oder Meeren wohnen; man nen sich kreuzen und überlagern, von denen die eiJ1e noch ein e kul-
kann sogar geglättet in Städten wohnen, ein Stadt-Nomade sein (so turelle, eri nnerungsschwangere ,Bildungs,-Reise a la Goethe mache,
ist zum Beispiel ein Spaziergang von Miller in Clichy oder in Brook- die von al len Seiten eingekerbt ist, während die andere bereits einen
lyn ein nomadisches Gehen im glatten Raum, es bewirkt, daß die glatten Raum erobert hat, der nur noch aus Experimenten und
Stadt ein Patchwork ausstößt, Geschwi ndigkeicsdifferenciale, Ver- Amnesie in der deutschen , Wüste<besteht. Aber seltsamerweise ist
zögerungen und Beschleunigungen, Umorientierungen, kontinu- es die erste Person, die sich den Raum öffnet und eine Art von retro-
ierliche Variationen . .. Die Beatniks haben Miller viel zu verdan- akciver Glättung bewerkstelligt, während sich an der zweiten wieder
ken, aber sie haben auch noch die Richtung gewechselt, sie haben die Einkerbungen einstellen und ihren Raum wieder verschließen.
den Raum außerhalb der Stade neu genurzr). Vor langer Zei t hat Im Glatten zu reisen ist ein regelrechtes Werden, und zwar ein
Fitzgerald gesagt: Es gehe nicht darum, in die Südsee aufaubrechen, schwieriges, ungewisses Werden. Es geht weder darum, zur prä-
das Reisen lege kein bestimmtes Ziel fest. Es gibt nicht nur seltsame astronomischen Navigation noch zu den frü heren Nomaden zu-
Reisen in der Stade, sondern auch Reisen an Ort und Stelle. Wir rückzukehren. Die Konfrontation von Glattem und Gekerbtem,
denken dabei nicht an die Drogensüchtigen, deren Erfahrung allzu die Übergänge, die Wechsel und die Überlagerungen finden heute
zweischneidig ist, sondern eher an echte Nomaden. Von diesen No- und in den unterschiedlichsten Richtungen statt. 15
maden kann man wie Toynbee sagen: sie bewegen sich nicht. 14 Sie
12 Dieser Ausdruck findet sich bei Rene T hom , der ihn im Z usammenhang mit ei-
ner kontinuierlichen Variation verwendet, bei der die Variable auf ihre Vo rder-
glieder reagiere: Mode/es mathematiques de la morphogenese, Paris: Union generale »Arresred ocieries«, d . h. de r Gesellschaften, die ihre Lebenswei e unter gefalu-
d'Micions 1974, S. 21 8 f. vollen, hoch spei.ialisierten Bedingungen bewahren ; spei.iell zu den No maden
13 [Anm . d. H g.] Verweis auf das Einleicungskapicel von Tausend Plateaus unter vgl. ebd. , S. 7-21.
dem Ticel »Rhiw m«, wo Deleuze und Guaccari hjerarchisch verzweigte Baum- 15 [Anm . d . H g. ] Weitere im Fortga ng des Kapitels untersuchte »Modelle« zur Be-
vo n mehrdimen ional vernetzten Rhizomscrukcuren uncecscheiden. schreibung glaccer Räume sind die mathematischen Riemann-Räume im Unter-
14 [Anm. d. H g.] Vgl. Arnold J. Toynbee, A Study of History, Bd. 3: The Growth of schied zum euklidischen Raum , die physikalische Th ermodynamik (in ih rem Z u-
Civilizatiom, O xford / Londo n: O xford Universicy Press/ Humphrey Milford 1939 sammenhang mic politischer M achtausübung) sowie sd1ließlich der »hap tische«
!1935], S. 3. Toynbee spricht hier allgemein vo n der lmmo bilicät der so genannten äs thetische Raum (im Unterschied zum »o ptischen«).

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Biobibliographische Angaben ~itere Texte zur Raumtheorie

G illes Deleuze Gilles Deleuze


* 18. 1. 1925 (Paris) - t 4. u. 1995 (Paris) 1977: Dialoge mit Claire Parnet, aus dem Französischen vo n Bernd Schwibs,
Frankfurt am Main: Suhrkan1p 1980 [Dialogues, Paris: Minuir].
Studium der Philosophie an der Sorbonne in Paris; 1948 Agregation, danach 1983: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 , aus dem Französischen von Ulrich C hris-
bis 1960 Philosophielehrer und Assistent an der Sorbonne; 1960-1964 For- tians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main : Suhrkamp 1997
scher am CNRS, danach bis 1969 Lehrbeauftragter in Lyon; 1968 Doktor- [Cintfma 1. L'image-mouvement, Paris: Minuit].
tirel mir seinen Arbeiten Differenz und Wiederholung sowie Spinoza und das 1985: Das Zeit-Bild. Kino 2, aus dem Französischen von Klaus Englert,
Problem des Ausdrucks, im selben Jahr Professur für Philosophie an der neu Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 [Cintfma 2 . L'image-temps, Paris:
gegründeten Universität von Vi ncennes; 1969 Logik des Sinns; 1972 Anti- Minuit].
Ödipus als erste der gemeinsamen Publikationen mit Felix G uattari ; in den
198oer-Jahren erscheinen u. a. Frrmcis Bacon. Logik der Sensation (1981), ein e Felix Guarrari
tudie mit dem Titel Fo11cai1lt (1986) und das Barock-Buch Die Falte (1988); 1989: Die drei Ökologien, aus dem Französisd1en von Alec A. Scherer,
Tod durch Fenstersturz. Wien: Passagen 1994 [Les trois t!cologies, Paris: Galilee].

Felix Guartari Gilles Deleuze/Felix G uatrari


• 30. 4. 1930 (Vill eneuve-les-Sablons) - t 29. 8. 1992 (La Borde) 1991 : Was ist Philosophie?, aus dem Französ ischen von Bernd Schwibs und
Joseph Vogl, Frankfurt am Main: uhrkamp 1996, Kap. 4, »Geophi-
Besucht in den 195oer-Jahren die Kurse von Jacques Lacan; arbeitet und losophie«, . 97-134 [Qu'est-ce que La philosophie?, Paris: Minuit, S. 82.-
forscht bis zu sein em Tod in der psychiatrischen Klinik in La Borde; Grü n- J08].
der und Mitglied verschiedener linker politischer Gruppen vom Trotzkis-
mus bis zur Umweltbewegung; 1965 G ründung des Centre d'Etudes, de Re-
cherches et de Formation lnstitutiormelles (CERFI), vo n dem Kritik an der Sekundärliteratur
Psychoanalyse und die Antipsychiatriebewegung ihren Ausgang nehmen ;
Beteiligung am Parise r Mai 1968, dabei Begegnung mit Gi lles Deleuze und Antonioli , Manola: Geophilosophie de Deleuze et Guattari, Paris: L:Har-
Begi nn einer über zwei Jahrzehnte andauernden Z usamme narbeit. mattan 2003.
Balke, Friedrich: Gilles Deleuze, Frankfurt am Main/New York: Campus
1998, vor allem Kap . 3.5, »G eophilosophie«, S. 90-92.
Boma, Mark/John Prorevi: Deleuze and Geophilosophy: A Guide and History,
Textnachweis
Edinburgh: Edinburgh University Press 2.004.
Buchanan, lan/Gregg Lambert (H g.): Deleuze and Space, Edinburgh: Edin-
»1440 - Das G latte und das Gekerbte«, in : G. D./F. G., Tausend Plateaus,
burgh University Press 2005.
Berlin: Merve 1992, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald
Günzel , Step ha n: Immanenz: Zum Philosophiebegrijf von Gilles Deleuze,
Voullie, S. 658-694, hier: S. 658 und 661-669 [»1440 - Le lisse et le stric«, in :
Essen: Die Blaue Eule 1998, vor all em »Die lmmanenzebene«, S. 89-
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