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Axel Honneth
Niemals zuvor in den letzten einhundert Jahren war der Versuch einer
Vermittlung von Philosophie und Soziologie, von kritischer Theorie und
einzelwissenschaftlicher Forschung so schwierig wie heute. Innerhalb der
Sozialwissenschaften scheint sich gegenwärtig überall die Tendenz einer
Entnormativierung der gesellschaftstheoretischen Schlüsselbegriffe
durchzusetzen, so dass die beobachtbare Realität der Gesellschaft immer
mehr als ein Resultat von anonymen Steuerungsleistungen höherer Ordnung
betrachtet wird, für das die moralischen Erwartungen und Ansprüche der
Subjekte ohne größere Bedeutung scheinen1; und dort, wo dieser Tendenz
aus der Soziologie heraus einmal widerstanden wird, geschieht das nicht
selten unter Bezug auf der Philosophie entlehnte Moralprinzipien, die schon
aufgrund ihres rein konstruktiven, äußerlichen Charakters mit den realen
Entwicklungsprozessen der Gesellschaft viel zu wenig vermittelt sind. Den
Entnormativierungsprozessen innerhalb der Sozialwissenschaften entspricht
innerhalb der Philosophie eine ganz andere Tendenz, die freilich für das
Projekt einer normativ orientierten Gesellschaftstheorie nicht minder
verhängnisvoll ist: Nachdem hier bereits vor einem Vierteljahrhundert die
ganze Idee einer Geschichtsphilosophie mit guten Gründen zunächst einmal
demontiert worden war und damit die Hintergrundkonzeption der älteren
*
Diesem Beitrag liegt meine Antrittsvorlesung als Geschäftsführender Direktor am Institut für
Sozialforschung (2001) zugrunde.
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
kritischen Theorie gleichsam über Nacht ins Nichts versunken ist, machen
sich heute weltweit Ansätze eines Naturalismus breit, die Fragen nach
sozialer Verantwortung und individueller Freiheit überhaupt überflüssig zu
machen scheinen; selbst wenn diese naturalistischen Tendenzen noch
vollkommen uneinheitlich sind und in Gestalt der neueren Hirnforschung etwa
auch erkenntnisfördernde Ergebnisse mit sich bringen mögen, so gelangt
doch in deren Schatten ebenfalls die Soziobiologie wieder zu Ehren, die vor
zwanzig Jahren schon einmal totgesagt worden war. Kurz, so wie von Seiten
der Soziologie die Tendenzen einer Entnormativierung und einer empirischen
Großforschung dem Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie zu schaffen
machen, so von Seiten der Philosophie diejenigen naturalistischen
Tendenzen, in deren Perspektive sich in jeder sozialen Ordnung erneut die
Beharrungskraft biologisch angelegter Verhaltensschemata zeigt.
Angesichts dieser theoretischen Lage stellt die Absicht, in der Arbeit des
Instituts für Sozialforschung noch einmal an die interdisziplinäre
Vergangenheit der eigenen Tradition anzuknüpfen, eine kaum zu
bewältigende Herausforderung dar. Auch die jüngere Geschichte der
kritischen Theorie kann hier keine eindeutigen Orientierungsgesichtspunkte
liefern. Schon nach der Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil, so
glaube ich im Unterschied zu Alex Demirovic,2 war der interne
Zusammenhang zwischen Philosophie und empirischer Sozialforschung,
zwischen geschichtsphilosophischer Theorie der Gesellschaft und
einzelwissenschaftlicher Forschungsarbeit hier weitgehend zerrissen: Was in
1
Vgl. dazu: Axel Honneth, Verflüssigungen des Sozialen. Zur Gesellschaftstheorie von Luc Boltanski und
Laurent Thévenot, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 5 (2008), S. 84-103.
2
Vgl. Alex Demirovic, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur
Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 1999.
2
Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
Im Kern hängen diese Schwierigkeiten wohl alle mit einer Frage zusammen,
die in der Nachfolge der Kritischen Theorie am entschiedensten von Jürgen
Habermas aufgeworfen wurde, als er sich an den Entwurf seiner Theorie des
kommunikativen Handelns gemacht hat: Was sind die Handlungsformen, was
sind die lebensweltlichen Bezüge, so lautet hier ja das Kernproblem, die
insofern eine normative Basis der Gesellschaftskritik abgeben können, als sie
eine Form von sozialmoralischer Rationalität repräsentieren, die durch die
einseitige, instrumentelle Rationalisierung des Kapitalismus gefährdet oder
bedroht wird3. Ich gehe in meinen Überlegungen zur Zukunft des Instituts für
Sozialforschung davon aus, dass der Habermassche Vorschlag, eine solche
vortheoretische Instanz der Kritik in der moralischen Rationalität des
kommunikativen Handelns aufzusuchen, heute den avanciertesten Versuch
einer Reaktualisierung der Kritischen Theorie darstellt. Aber natürlich ist mir
auch klar, dass die Kluft zwischen einer normativ gespeisten
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
3
Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, v.a. Bd. 2, Kap. VII.
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
4
Vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M.
1988, v.a. Kap. 8. und 9.
5
Vgl. den von Alex Demirovic erstellten Überblick über die Entwicklung der Forschungsarbeiten des
Instituts von 1950 bis 1990: Institut für Sozialforschung (Hg.), Forschungsarbeiten 1959-1990, Frankfurt/M.
1990.
6
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, v.a. Kap. III. und IV.
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
Mit diesem Schritt in meiner Darstellung bin ich an den historischen Zeitpunkt
gelangt, an dem sich meine eigene Rolle von der des interessierten
Beobachters zu der eines Diskussionsteilnehmers im Institut gewandelt hat.
Es mag meiner disziplinären Verankerung in der Philosophie geschuldet sein,
dass ich mich zum Leidwesen mancher Mitarbeiter oder Mitarbeiterin
zunächst sehr stark auf die Thematisierung des normativen Defizits einer
kritischen Gesellschaftstheorie konzentriert habe; andererseits muss dies
auch als Ausdruck meiner festen Überzeugung verstanden werden, dass sich
keine Gesellschaftsanalyse heute mehr an das Geschäft einer Kritik sozialer
Entwicklungsprozesse machen kann, wenn sie sich nicht zuvor über ihre
normativen Grundlagen hinreichend und überzeugend Rechenschaft abgelegt
hat. Gerade aufgrund der starken Entnormativierungstendenzen, die sich
inzwischen nicht nur im Mainstream der Soziologie, sondern allenthalben
auch in Teilen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit breitmachen, scheint mir
eine öffentlich nachvollziehbare Rechtfertigung der Standards geboten, an
denen sich die eigene Forschungsarbeit in kritischer Absicht bemessen kann.
Allerdings ist in Bezug auf die Gesellschaftstheorie die Einführung normativer
Prämissen um Einiges komplizierter, als wenn wir es bloß mit dem Entwurf
einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit zu tun hätten; denn in unserem
Fall, so wussten schon Adorno und Horkheimer im Gefolge von Hegel,
müssen die normativen Leitprinzipien so gewählt sein, dass sie zugleich in
den gesellschaftstheoretischen Grundbegriffen Ausdruck finden können, mit
denen die Veränderungsprozesse in der Gesellschaft analysiert werden
sollen. Kurz, die Gesellschaftstheorie, mit der wir arbeiten, muss selbst schon
in dem Sinn normativ gehaltvoll sein, dass sie diejenigen Handlungsstrukturen
oder subjektiven Ansprüchlichkeiten mit in den Blick bringt, auf die sie sich als
rechtfertigbarem Standpunkt ihrer Kritik dann stützen kann. Die normative
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
Position, die ich zuvor unter Anspielung auf den Exklusionsbegriff erwähnt
habe, stellt sicherlich eine erste, gewichtige Annäherung an das damit
umrissene Erfordernis dar; aber ich habe nicht nur Zweifel, ob mit der dort
formulierten Idee einer vollwertigen Mitgliedschaft alle heute relevanten
Dimensionen sozialer Gefährdung und Missachtung ausreichend erfasst sind,
sondern vor allem auch, ob ein solcher normativer Ansatz hinreichend mit den
Schlüsselbegriffen einer empirisch ansetzenden Gesellschaftsanalyse
verschmolzen werden kann. In Alternative zu derartigen Vorstellungen habe
ich daher in den letzten Jahren, sicherlich noch ungenügend,
gesellschaftstheoretisch noch nicht differenziert genug, den Versuch der
Entwicklung eines Begriffs der sozialen Anerkennung unternommen, der den
genannten Anforderungen Genüge leisten soll7. Ich will hier nicht noch einmal
die Grundmotive dieses Ansatzes vorstellen, sondern nur die zwei
Eigenschaften hervorheben, die mir für die zukünftige Arbeit im Institut
besonders relevant erscheinen; dabei will ich aber sofort betonen, dass ich in
Sachen normativer Grundlegung keinen Monopolanspruch im Institut erheben
möchte, sondern alternative Vorstellungen für genauso geeignet halte,
solange sie nur der empirischen Forschung im Sinn der Gesellschaftskritik
zugute kommt.
Wie ansonsten wohl nur der Begriff des "Interesses", der daher stets mit
Recht eine große Rolle in der Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie
gespielt hat,8 besitzt auch der Begriff der "Anerkennung" von Hause aus eine
normativ-empirische Doppelnatur: Einerseits gehören Prozesse der
7
Vgl. v.a. Axel Honneth, Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser, in: Nancy
Fraser/ Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse,
Frankfurt/M. 2003, S. 129-224.
8
Wolfgang Detel, Grundkurs Philosophie, Bd. 5: Philosophie des Sozialen, Stuttgart 2007, S. 142 ff.
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
Es ist nun nach meinem Dafürhalten nicht mehr allzu schwer, den Ertrag einer
solchen differenzierten Anerkennungskonzeption für die Belange einer
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Vgl. Axel Honneth, Umverteilung als Anerkennung, a.a.O., S.163 ff.
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
Nicht leicht ist es nun, von diesen allgemeinen Überlegungen aus zum
Schluss einen Bogen zum Inhalt und Charakter der zukünftigen
Forschungsprojekte zu schlagen. Ich habe ja bislang nur etwas zu den
normativen Leitideen, aber noch nichts zu den empirischen
Untersuchungszielen des Instituts für Sozialforschung gesagt. Im Lichte der
zuvor umrissenen Hintergrundnormen betrachtet, stellt sich der gegenwärtige
Strukturwandel des liberalen Kapitalismus als ein höchst widersprüchlicher
Prozess dar: Auf der einen Seite haben wir es im Gefolge einer reflexiven
Modernisierung mit einer Vielzahl von unleugbaren Fortschritten in der
rechtlichen Gleichstellung, der Einbeziehung des Anderen, der kulturellen
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
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Pierre Bourdieu u.a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der
Gesellschaft, Konstanz 1997.
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
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Vgl. Martin Hartmann/Axel Honneth, Paradoxien des Kapitalismus, in: Berliner Debatte Initial, H. 1 (15/
2004), Berlin 2004, S.4-17.
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Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009
ausmachen; hier sollten wir Projekte ins Auge fassen, die zu untersuchen
versuchen, inwiefern das Leistungsprinzip gegenwärtig durch ein bloßes
Erfolgsprinzip ersetzt wird und ob das Prinzip sozialer Mitverantwortung heute
so weit ausgehöhlt und gleichsam individualisiert wird, dass es mehr und
mehr zu einer bedrohlichen Schuldzuweisung an den isoliert gedachten
Einzelnen kommt12.
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Vgl. zu den hier angesprochenen Themenfeldern: Axel Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit.
Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/M. 2002
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