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Weitere Titel der Klinikleitfaden-Reihe*

Titel Auflage ET ISBN € (D) € (A) sFr

Klinikleitfaden-Reihe
Allgemeinmedizin  7. 2014 978-3-437-22446-1 74,99 77,10 101,–
Anästhesie  7. 2015 978-3-437-23892-5 44,99 46,30 61,–
Ärztlicher  3. 2009 978-3-437-22421-8 43,88 48,30 63,–
­Bereitschaftsdienst
Chirurgie  5. 2010 978-3-437-22452-2 46,68 51,40 67,–
Chirurgische Ambulanz  3. 2009 978-3-437-22941-1 43,88 50,40 66,–
Dermatologie  3. 2010 978-3-437-22301-3 56,03 61,70 81,–
Gynäkologie  8. 2013 978-3-437-22214-6 46,72 51,40 67,–
­Geburtshilfe
Innere Medizin 12. 2014 978-3-437-22295-5 37,81 48,40 63,–
Intensivmedizin  8. 2013 978-3-437-23762-1 42,05 46,30 61,–
Kardiologie  5. 2014 978-3-437-22282-5 37,81 48,40 63,–
Labordiagnostik  4. 2009 978-3-437-22232-0 48,99 50,40 66,–
Leitsymptome  1. 2009 978-3-437-24890-0 29,99 30,90 41,–
Differenzialdiagnosen
Med. Rehabilitation  1. 2011 978-3-437-22406-5 37,81 46,30 61,–
Nachtdienst  4. 2012 978-3-437-22271-9 39,99 41,20 54,–
Notarzt  7. 2014 978-3-437-22464-5 44,99 46,30 61,–
Orthopädie  7. 2013 978-3-437-22473-7 49,99 51,40 67,–
Unfallchirugie
Pädiatrie  9. 2014 978-3-437-22254-2 48,99 50,40 66,–
Palliative Care  4. 2010 978-3-437-23312-8 43,88 50,40 66,–
Psychiatrie  5. 2013 978-3-437-23147-6 42,99 44,20 58,–
­Psychotherapie
Schmerztherapie  1. 2005 978-3-437-23170-4 39,99 41,20 54,–
Sonographie Angiologie  1. 2014 978-3-437-24930-3 49,99 51,40 67,–
Sonographie  2. 2011 978-3-437-22403-4 37,34 41,10 54,–
Common Trunk
Sonographie  1. 2012 978-3-437-24920-4 37,34 41,10 54,–
Gastroenterologie
Urologie  3. 2003 978-3-437-22790-5 37,34  36,– 47,–

Facharzt-Reihe
Geburtsmedizin  2. 2012 978-3-437-23751-5 111,21 122,40 160,–
Gynäkologie  1. 2008 978-3-437-23915-1 69,99 72,– 94,–
Hämatologie ­Onkologie  3. 2015 978-3-437-21213-0 109,– 112,10 147,–
Nephrologie  1. 2008 978-3-437-23900-7 46,68 51,40 67,–
Orthopädie  1. 2011 978-3-437-23300-5 79,99 82,30 108,–
Unfallchirugie
*  Stand Januar 2015, Preisänderungen vorbehalten
Klinikleitfaden
Neurologie
Herausgeber: Prof. Dr. med. Jürgen Klingelhöfer, Chemnitz; Prof. Dr. med. Achim Berthele,
München

Weitere Autoren: Prof. Dr. med. Jörg Berrouschot, Altenburg; Prof. Dr. med. Christian
Bischoff, München; PD Dr. med. Thorleif Etgen, Traunstein; Dr. med. Olaf Gregor, Chemnitz;
Prof. Dr. med. Hajo Hamer, Erlangen; Prof. Dr. med. Peter Hau, Regensburg; Daniela Klaus,
Chemnitz; Dr. med. Wolfgang Köhler, Wermsdorf; Dr. med. Vesna Lezaic, Chemnitz; Dr. med.
Martina Näher-Noé, Paderborn; Susan Rege, Dresden; Prof. Dr. med. Dirk Sander, Tutzing;
Prof. Dr. med. Berthold Schalke, Regensburg; Sabine Scheidhauer, Chemnitz; Prof. Dr. med.
Matthias Spranger, Bremen; Prof. Dr. med. Till Sprenger, Basel; Prof. Dr. med. Alexander
Storch, Dresden; Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle, München

5. Auflage
Zuschriften an:
Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Hackerbrücke 6, 80335 München
E-Mail: medizin@elsevier.de

Wichtiger Hinweis für den Benutzer

Die Erkenntnisse in der Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Er-
fahrungen. Herausgeber und Autoren dieses Werks haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die
in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosie-
rung und unerwünschter Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet
den Nutzer dieses Werkes aber nicht von der Verpflichtung, anhand weiterer schriftlicher Informati-
onsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Werk abweichen
und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.
Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Ver-
lag keine Gewähr.
®
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sich um einen freien Warennamen handelt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra-
fie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten


5. Auflage 2015
© Elsevier GmbH, München
Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH.

15 16 17 18 19 5 4 3 2 1

Für Copyright in Bezug auf das verwendete Bildmaterial siehe Abbildungsnachweis

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und
strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatika-
lisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer
gemeint.

Begründer der Reihe: Dr. Arne Schäffler, Ulrich Renz


Planung und Lektorat: Inga Schickerling, Bettina Lunk, München
Redaktion: Susanne C. Bogner, Dachau
Herstellung: Sibylle Hartl, Valley; Johannes Kressirer, München
Satz: abavo GmbH, Buchloe/Deutschland; TnQ, Chennai/Indien
Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm
Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm
Titelfotografie: © Fotolia.com

ISBN Print 978-3-437-23143-8


ISBN e-Book 978-3-437-29599-7

Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de und www.elsevier.com.


Vorwort
In der 5. Auflage des Klinikleitfadens Neurologie setzen wir die in der Vorauflage
begonnene Ausrichtung des Buchs als Taschenbuch für Neurologie, das alle in der
Neurologie relevanten Krankheitsbilder mit Epidemiologie, Diagnostik, Differen-
zialdiagnose und differenzierter Therapie enthält, in konsequenter Weise fort.
Auf vielen Gebieten der Neurologie wurden seit der letzten Auflage neue Erkennt-
nisse gewonnen und zahlreiche Entwicklungen vorangebracht. Dem entspre-
chend haben wir sämtliche Beiträge gründlich überarbeitet. In allen Kapiteln wur-
den die aktuellen Leitlinien und die ICD-10-Klassifikation berücksichtigt.
Dieses Buch entspricht in Aufmachung und Inhalt nicht einem üblichen Lehr-
buch, in dem pathophysiologische Zusammenhänge detailliert behandelt werden.
Vielmehr ist es unverändert und in besonderer Weise unser Anliegen, den Cha-
rakter des Buchs „aus der Praxis für die Praxis“ beizubehalten und ein Maximum
an Informationen und praxisnahen Grundlagen in prägnanter und übersichtli-
cher Weise bereitzustellen.
Allen unseren Lesern, die uns mit ihren konstruktiven Anmerkungen und Vor-
schlägen unterstützt haben, diese Neuauflage zu verbessern und als Kitteltaschen-
buch im Praxisalltag noch nutzbarer zu gestalten, sei auf das Herzlichste gedankt.
Auch in Zukunft sind wir für jede Anregung dankbar.
Weiterhin gilt unser besonderer Dank allen Mitarbeitern des Verlags für die gute
Zusammenarbeit und die vielen kritischen Anregungen, die in unsere Arbeit ein-
geflossen sind; insbesondere danken wir Frau Inga Schickerling und Frau Susanne
C. Bogner für das Projektmanagement, die Redaktion und das Lektorat. Wir dan-
ken Frau Sylva Peters und Herrn Erik Lindner für ihre guten Organisations- und
Schreibtätigkeiten.
Die Autoren haben mit Freude das große Interesse zur Kenntnis genommen, das
dem Klinikleitfaden Neurologie entgegengebracht wird. Wir hoffen, auch mit der
5. Auflage allen im neurologischen Fachbereich tätigen Kolleginnen und Kollegen
für ihre Arbeit in Klinik und Praxis einen nützlichen Leitfaden zu geben, der sich
bei der täglichen Berufsausübung bewähren wird.

München, im Oktober 2014


Prof. Dr. med. Jürgen Klingelhöfer
Prof. Dr. med. Achim Berthele
Autorenverzeichnis
Herausgeber
Prof. Dr. med. Jürgen Klingelhöfer, Klinikum Chemnitz gGmbH, Klinik für Neurologie,
Dresdner Straße 178, 09131 Chemnitz, Deutschland
Prof. Dr. med. Achim Berthele, Technische Universität München, Klinikum rechts der
Isar, Neurologische Klinik und Poliklinik, Ismaninger Str. 22, 81675 München,
Deutschland
Weitere Autoren
Prof. Dr. med. Jörg Berrouschot, Klinikum Altenburger Land, Klinik für Neurologie,
Am Waldessaum 10, 04600 Altenburg, Deutschland
Prof. Dr. med. Christian Bischoff, Neurologische Gemeinschaftspraxis am Marienplatz,
Burgstr. 7, 80331 München, Deutschland
PD Dr. med. Thorleif Etgen, Neurologische Klinik, Kliniken Südostbayern – Klinikum
Traunstein, Cuno-Niggl-Str. 3, 83278 Traunstein, Deutschland
Dr. med. Olaf Gregor, Klinikum Chemnitz gGmbH, Klinik für Neurologie, Dresdner
Straße 178, 09131 Chemnitz, Deutschland
Prof. Dr. med. Hajo Hamer, MHBA, Leiter des Epilepsiezentrums, Oberarzt der Klinik
für Neurologie, Universitätsklinikum Erlangen, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen
Prof. Dr. med. Peter Hau, Leiter Wilhelm Sander-Therapieeinheit NeuroOnkologie,
Oberarzt, Klinik und Poliklinik für Neurologie am Bezirksklinikum, Universitäts-
str. 84, 93053 Regensburg, Deutschland
Daniela Klaus, Klinikum Chemnitz gGmbH, Klinik für Neurologie, Dresdner Straße 178,
09131 Chemnitz, Deutschland
Dr. med. Wolfgang Köhler, Fachkrankenhaus Hubertusburg, Klinik für Neurologie und
neurologische Intensivmedizin, 04779 Wermsdorf, Deutschland
Dr. med. univ. Vesna Lezaic, Klinikum Chemnitz gGmbH, Klinik für Neurologie, Dresd-
ner Straße 178, 09131 Chemnitz, Deutschland
Dr. med. Martina Näher-Noé, Westfälisches Zentrum für Psychiatrie und Psychothera-
pie, Agathastr. 1, 33098 Paderborn, Deutschland
Susan Rege, Nordstr. 30, 01099 Dresden, Deutschland
Prof. Dr. med. Dirk Sander, Chefarzt der Abteilung Neurologie, Benedictus Kranken-
haus Tutzing, Akademisches Lehrkrankenhaus der TU München, Bahnhofstr. 5,
82327 Tutzing, Deutschland
Prof. Dr. med. Berthold Schalke, stellv. Direktor der Neurologischen Klinik und Polikli-
nik der Universität Regensburg im BKR, Universitätsstr. 84, 93053 Regensburg,
Deutschland
Sabine Scheidhauer, Klinik für Neurologie, Klinikum Chemnitz, Dresdner Str. 178,
09131 Chemnitz, Deutschland
Prof. Dr. med. Matthias Spranger, Osterstr. 1a, 28199 Bremen, Deutschland
Prof. Dr. med. Till Sprenger, Neurologische Klinik und Poliklinik, Universitätsspital
­Basel, Petersgraben 4, 4031 Basel, Schweiz
Prof. Dr. med. Alexander Storch, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklini-
kum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Fetscherstr. 74,
01307 Dresden, Deutschland
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle, Leiter des Zentrums für interdisziplinäre
Schmerztherapie (ZIS) am Klinikum rechts der Isar, Oberarzt der Neurologischen Kli-
nik, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, Ismaninger Str. 22,
81675 München, Deutschland
  Autorenverzeichnis VII

Ausgeschiedene Autoren
Dr. med. Claas Lahmann, Technische Universität München, Klinikum rechts der
Isar, Neurologische Klinik und Poliklinik, Ismaninger Straße 22, 81675 München
Dr. med. Heike Mentrup, Parkstr. 4a, 85604 Zorneding
Dr. med. Susanne Roller, Palliativstation St. Johannes von Gott, Krankenhaus
Barmherzige Brüder, Romanstr. 93, 80639 München

Benutzerhinweise
Der Klinikleitfaden ist ein Kitteltaschenbuch. Das Motto lautet: kurz, präzise und
praxisnah. Medizinisches Wissen wird komprimiert dargestellt. Im Zentrum ste-
hen die Probleme des klinischen Alltags. Auf theoretische Grundlagen wie Patho-
physiologie oder allgemeine Pharmakologie wird daher weitgehend verzichtet.
Wie in einem medizinischen Lexikon werden gebräuchliche Abkürzungen ver-
wendet, die im Abkürzungsverzeichnis erklärt werden.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden viele Querverweise eingefügt. Sie
sind mit einem Pfeil ▶ gekennzeichnet.

Wichtige Zusatzinformationen sowie Tipps

Notfälle und Notfallmaßnahmen

Warnhinweise

Internetadressen: Alle Websites wurden vor Redaktionsschluss im August 2014


geprüft. Das Internet unterliegt einem stetigen Wandel – sollte eine Adresse nicht
mehr aktuell sein, empfiehlt sich der Versuch über eine übergeordnete Adresse
(Anhänge nach dem „/“ weglassen) oder eine Suchmaschine. Der Verlag über-
nimmt für Aktualität und Inhalt der angegebenen Websites keine Gewähr.
Die angegebenen Arbeitsanweisungen ersetzen weder Anleitung noch Supervisi-
on durch erfahrene Kollegen. Insbesondere sollten Arzneimitteldosierungen und
andere Therapierichtlinien überprüft werden – klinische Erfahrung kann durch
keine noch so sorgfältig verfasste Publikation ersetzt werden.
  Autorenverzeichnis VII

Ausgeschiedene Autoren
Dr. med. Claas Lahmann, Technische Universität München, Klinikum rechts der
Isar, Neurologische Klinik und Poliklinik, Ismaninger Straße 22, 81675 München
Dr. med. Heike Mentrup, Parkstr. 4a, 85604 Zorneding
Dr. med. Susanne Roller, Palliativstation St. Johannes von Gott, Krankenhaus
Barmherzige Brüder, Romanstr. 93, 80639 München

Benutzerhinweise
Der Klinikleitfaden ist ein Kitteltaschenbuch. Das Motto lautet: kurz, präzise und
praxisnah. Medizinisches Wissen wird komprimiert dargestellt. Im Zentrum ste-
hen die Probleme des klinischen Alltags. Auf theoretische Grundlagen wie Patho-
physiologie oder allgemeine Pharmakologie wird daher weitgehend verzichtet.
Wie in einem medizinischen Lexikon werden gebräuchliche Abkürzungen ver-
wendet, die im Abkürzungsverzeichnis erklärt werden.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden viele Querverweise eingefügt. Sie
sind mit einem Pfeil ▶ gekennzeichnet.

Wichtige Zusatzinformationen sowie Tipps

Notfälle und Notfallmaßnahmen

Warnhinweise

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mehr aktuell sein, empfiehlt sich der Versuch über eine übergeordnete Adresse
(Anhänge nach dem „/“ weglassen) oder eine Suchmaschine. Der Verlag über-
nimmt für Aktualität und Inhalt der angegebenen Websites keine Gewähr.
Die angegebenen Arbeitsanweisungen ersetzen weder Anleitung noch Supervisi-
on durch erfahrene Kollegen. Insbesondere sollten Arzneimitteldosierungen und
andere Therapierichtlinien überprüft werden – klinische Erfahrung kann durch
keine noch so sorgfältig verfasste Publikation ersetzt werden.
Abkürzungen
Symbole AMN Adrenomyeloneuropathie
® Amp. Ampulle
Handelsname ANA Antinukleare Antikörper
↔ normal, im Normalbereich Angio Angiografie, Angiogramm
↑ hoch, erhöht ant. anterior
↓ tief, erniedrigt AP Alkalische Phosphatase
→ vgl. mit, daraus folgt Appl. Applikation (Dosierung)
ø durchschnittlich, ARDS acute respiratory distress
­Durchmesser syndrome
γ-GT Gamma-Glutamyl-­ art. arteriell
Transferase ASL Antistreptolysin
µg Mikrogramm ASR Achillessehnenreflex
ASS Acetylsalicylsäure
A AT Ataxia teleangiectatica
A./Aa. Arteria/Arteriae AT III Antithrombin III
a. p. anterior-posterior Ätiol. Ätiologie
Abb. Abbildung aut. dom. autosomal dominant
ACA Arteria cerebri anterior aut. rez. autosomal rezessiv
ACALD Adulte zerebrale Adrenoleu- AV arteriovenöse(r)
kodystrophie AVK Arterielle Verschlusskrankheit
ACC Arteria carotis communis AVM arteriovenöse Malformation
ACE Arteria carotis externa AZ Allgemeinzustand
ACh Acetylcholin
AChR Acetylcholinrezeptor B
ACI Arteria carotis interna bakt. bakteriell
ACM Arteria cerebri media BB Blutbild
ACP Arteria cerebri posterior bds. beidseits, beidseitig
ACTH Adrenokortikotropes BE Broteinheit, Base Excess
Hormon bes. besonders, besondere(r)
ADEM akute disseminierte BGA Blutgasanalyse
Enzephalomyelitis Bili Bilirubin
ADR Adduktorenreflex BMI Body-Mass-Index
AEP Akustisch evozierte BSG Blutkörperchensenkungsge-
Potenziale schwindigkeit
AFP α-Fetoprotein Bsp. Beispiel
AICA Arteria cerebelli inferior BSR Bizepssehnenreflex
anterior BtMVV Betäubungsmittel-Verschrei-
AIDS Acquired Immunodeficiency bungsverordnung
Syndrome Btx Bungarotoxin-Bindungsstelle
AION Anteriore ischämische BWK Brustwirbelkörper
Optikusneuropathie BWS Brustwirbelsäule
AK Antikörper BZ Blutzucker
ALD Adrenoleukodystrophie bzw. beziehungsweise
allerg. allergisch
allg. allgemein C
ALS Amyotrophe Lateralsklerose
AMA Antimitochondriale C1–8 Zervikalsegmente 1–8
Antikörper Ca Karzinom
  Abkürzungen IX

Ca2+ Kalzium CTA CT-Angiografie


CAA zerebrale Amyloidangiopa- CTX Cerebrotendinosis
thie xanthomatosa
CACH Childhood ataxia with Cu2+ Kupfer
central nervous system CW continuous wave
hypomyelination CZP Clonazepam
CADASIL Zerebrale autosomal
dominant vererbte D
Arteriopathie mit
subkortikalen Infarkten und d Tag
Leukenzephalopathie D Deutschland
CAS Karotisangioplastie DD Differenzialdiagnose,
CBD kortikobasale Degeneration Differenzialdiagnostik
CBZ Carbamazepin d. F. der Fälle
CCNU Lomustin d. h. das heißt
CCT kraniales Computertomo- diabet. diabetisch/e/r/s
gramm Diab. mell. Diabetes mellitus
CLB Clobazam diagn. diagnostisch
COMT Catechol-O-Methyltransfe­ Diagn. Diagnostik
rase diast. diastolisch
CPP zerebraler Perfusionsdruck DIC disseminierte intravasale
(art. Mitteldruck – mittlerer Koagulopathie
ICP) Diff.-BB Differenzialblutbild
CT Computertomogramm, dig. digitorum
Computertomografie DLB Demenz mit Lewy-­
CHE Cholinesterase Körperchen
chir. chirurgisch/e/er/es DM Dermatomyositis
CHO Chinese hamster ovary Dos. Dosierung
Chol. Cholesterin dors. dorsalis
chrom. chromosomal Drg. Dragee(s)
chron. chronisch DRPLA Dentatorubropallidoluysian
CJK Creutzfeldt-Jakob-Krankheit atrophy
CK Kreatinkinase DSA digitale Subtraktionsangio-
Cl Chlorid grafie
CMRT Kraniales Magnetresonanz- DVA Developmental Venous
tomogramm Anomaly
CMV Zytomegalievirus DWI diffusion-weighted imaging
CO Kohlenmonoxid
CO2 Kohlendioxid E
CPAP continuous positive airway EBV Epstein-Barr-Virus
pressure ECD extrakranielle Dopplersono-
CPEO chronisch progrediente grafie
externe Ophthalmoplegie ED Einzeldosis/-dosen
CPT Carnitin-Palmitoyl-­ EDH epidurales Hämatom
Transferase EDMD Muskeldystrophie
CRP C-reaktives Protein Emery-Dreifuss
CRPS komplexes regionales EEG Elektroenzephalogramm
Schmerzsyndrom EET Enzymersatztherapie
CSWS cerebral salt waste syndrome, einschl. einschließlich
zerebrales Salzverlustsyn- EKG Elektrokardiogramm
drom E‘lyte Elektrolyte
X Abkürzungen  

EMG Elektromyogramm Gy Gray


entzündl. entzündlich
EOMG Early-onset myasthenia H
E’phorese Elektrophorese
EPMS extrapyramidale motorische h Stunde
Störungen HAART hochaktive antiretrovirale
Erkr. Erkrankung Therapie
Erw. Erwachsene(r) hall. hallucis
evtl. eventuell Hb Hämoglobin
ext. externa HF Herzfrequenz
Extr. Extremität(en) Hg Quecksilber
EZ Ernährungszustand HHV Humanes Herpesvirus
HIV Human Immunodeficiency
F Virus
HIVE HIV-assoziierte Enzephalo-
F Frauen pathie
FFP Fresh Frozen Plasma Hkt Hämatokrit
FLEP Frontal Lobe Epilepsy and HN Hirnnerv(en)
Parasomnia Scale HNO Hals-Nasen-Ohren
flex. flexor HSMN Hereditäre sensomotorische
FMD fibromuskuläre Dysplasie Neuropathie
FMS Fibromyalgiesyndrom HSV Herpes-simplex-Virus
FNV Finger-Nase-Versuch HSZT hämatopoetische Stammzell-
FS Funktionelle Systeme transplantation
FSHD Fazioskapulohumerale HVL Hypophysenvorderlappen
Muskeldystrophie HWK Halswirbelkörper
FSME Frühsommermeningoenze- HWS Halswirbelsäule
phalitis HWZ Halbwertszeit
FTD Frontotemporale Demenz
I
G
i. a. intraarteriell
GBP Gabapentin IBZM Iodobenzamid
GBS Guillain-Barré-Syndrom ICB intrazerebrale Blutung(en)
GCS Glasgow-Coma-Scale ICD-10 International Classification
GdB Grad der Behinderung of Diseases Version 10
gel. gelegentlich ICP intrakranieller Druck
ggf. gegebenenfalls ICSD International Classification
GGT Gamma-Glutamyl-­ of Sleep Disorders
Transferase i. d. R. in der Regel
GIT Gastrointestinaltrakt IE Internationale Einheit(en)
GLD Globoidzell-Leukodystrophie IgA, IgG,
GLOA ganglionäre lokale IgM Immunglobulin(e) A, G, M
Opioidanalgesie IKZ Inkubationszeit
GOT Glutamat-Oxalacetat-Trans­ i. L. im Liquor
aminase i. m. intramuscular
GPT Glutamat-Pyruvat-Transami- Ind. Indikation(en)
nase inf. inferior
GSD Glykogenspeicher­ INH Isoniazid
krankheit(en), glycogen inkl. inklusive
storage disease INO internukleäre
GvHR Graft-versus-host-Reaktion ­Ophthalmoplegie
  Abkürzungen XI

i. S. im Serum li links


insbes. insbesondere Lig Ligamentum
Insuff. Insuffizienz Lj/Ljz Lebensjahr/Lebensjahrzehnt
int. interna LK Lymphknoten
Intox. Intoxikation(en) LOMG Late-onset myasthenia
IPS Idiopathisches LP Lumbalpunktion
­Parkinson-Syndrom Lsg. Lösung(en)
IQ Intelligenzquotient LTG Lamotrigin
i. v. intravenös LWK Lendenwirbelkörper
IvIg intravenöse Immunglobuline LWS Lendenwirbelsäule

J M
J. Jahr(e) M Mann, Männer
M. Musculus, Morbus
K MAD Myoadenylat-Deaminase
MAP Muskelaktionspotenzial(e)
K+ Kalium max. maximal
KCl Kaliumchlorid MCTD mixed connective tissue
KG Körpergewicht, Kranken- disease
gymnastik MCV mittleres korpuskuläres
KHK Koronare Herzkrankheit Volumen
KHV Knie-Hacke-Versuch MdE Minderung der Erwerbsfä-
KI Kontraindikation higkeit
kindl. kindlich med. medialis
klin. klinisch MELAS Mitochondriale Enzephalo-
KM Kontrastmittel myopathie, Laktatazidose
KO Komplikation und schlaganfallähnliche
KOF Körperoberfläche Episoden
Komb. Kombination(en) MER Muskeleigenreflex(e)
Konz. Konzentration MERRF Myoklonusepilepsie mit
körperl. körperlich/e/er/es ragged red fibres
Kps. Kapsel/n metab. metabolisch
Krea Kreatinin mg Milligramm
KSS Kearns-Sayre-Syndrom Mg2+ Magnesium
KTS Karpaltunnelsyndrom MGUS monoklonale Gammopathie
unklarer Signifikanz
L MH maligne Hyperthermie
L1–5 Lumbalsegmente 1–5 MIBG Metaiodobenzylguanidin
lat. lateral Min. Minute
LBSL Leukenzephalopathy with mind. mindestens
brain stem and spinal cord ml Milliliter
involvement and elevated MLD Metachromatische
white matter lactate Leukodystrophie
LCC Leukenzephalopathie mit MMF Mycophenolat-Mofetil
Kalzifizierungen und Zysten MMN multifokale motorische
LDH Laktatdehydrogenase Neuropathie
Leuko/s Leukozyt/en MMST Mini-Mental-Status-Test
LGMD Gliedergürteldystrophie, MN Motoneuron
„limb-girdle muscular Mon. Monat(e)
dystrophy“ MRA MR-Angiografie
XII Abkürzungen  

MRSA methicillinresistenter NSE neuronenspezifische Enolase


Staphylococcus aureus NW Nebenwirkung(en)
MRT Magnetresonanztomografie
MRZ Masern-Röteln-Zoster O
ms Millisekunde(n)
MS Multiple Sklerose o. oder
MSA Multisystematrophie O2 Sauerstoff
MSA-P Parkinson-Syndrom bei OAK orale Antikoagulanzien
Multisystematrophie o. B. ohne pathologischen Befund
MSLT Multipler Schlaf-Latenz-Test, OCT optical coherence
Multiple Sleep Latency Test tomography
MSP Muskelsummenpotenzial OKB oligoklonale Banden
MTX Methotrexat ON Optikusneuritis
MuSK muskelspezifische Kinase OP/op. Operation(en)/operativ
OPMD okulopharyngeale
N Muskeldystrophie
OSAS obstruktives Schlafapnoe-
N. Nervus Syndrom
Na+ Natrium OXC Oxcarbazepin
NaCl Natriumchlorid, Kochsalz
NAP Nervenaustrittspunkte P
NARP Neuropathie, Ataxie und
Retinitis pigmentosa p. o. per os
NBIA neurodegeneration with Pat. Patient(en)
brain iron accumulation path. pathologisch
neg. negativ PAVK periphere arterielle
neurol. neurologisch/e/er/es Verschlusskrankheit
NF Neurofibromatose PBP progressive Bulbärparalyse
ng Nanogramm PCR Polymerase-Kettenreaktion
NH3 Ammoniak PEEP positive end-expiratory
NHL Non-Hodgkin-Lymphom(e) pressure
NIHSS National Institute of Health PET Positronenemissionstomo-
Stroke Scale grafie
NLG Nervenleitgeschwindigkeit PICA A. cerebelli posterior inferior
NM nekrotisierende Myopathie physiol. physiologisch
NMDA N-Methyl-D-Aspartat PION posteriore ischämische
NMDAR N-Methyl-D-Aspartat- Optikusneuropathie
Rezeptor(en) Pkt. Punkt(e)
NMO Neuromyelitis optica PM Polymyositis
NMOSD Neuromyelitis optica PML progressive multifokale
spectrum diseases Leukenzephalopathie
NNH Nasennebenhöhlen PMR Polymyalgia rheumatica
NNRTI nichtnukleosidale PNET primitiver neuroektoderma-
Reverse-Transkriptase- ler Tumor
Inhibitoren PNP Polyneuropathie
NOAK neue orale Antikoagulanzien PNS peripheres Nervensystem,
NPH Normaldruckhydrozephalus paraneoplastisches Syndrom
NS Nervensystem pos. positiv
NSAID nichtsteroidale Entzündungs- post. posterior
hemmer, non-steroidal postop. postoperativ
antiinflammatory drugs,
nichtsteroidale Antiphlogis­tika
  Abkürzungen XIII

PPSB Prothrombinkonzentrat SLE systemischer Lupus


präop. präoperativ erythematodes
prim. primär/e/er/es SMA spinale Muskelatrophie
PRIND prolongiertes reversibles SNAP sensibles Nervenaktions-
ischämisches neurologisches potenzial
Defizit SNRI Serotonin-Noradrenalin-
Progn. Prognose Wiederaufnahmehemmer
PROMM proximale myotone sog. sogenannte/r/s
Myopathie Sono Sonografie, Sonogramm
prox. proximal/e/er/es SOREM Sleep-Onset-REM
PSP progressive supranukleäre SPECT Single-Photon-Emissions-
Paralyse Computertomografie
PSR Patellarsehnenreflex SSEP somatosensibel evozierte
PTC Pseudotumor cerebri Potenziale
PTT Partielle Thromboplastinzeit SSNRI selektive Serotonin-Noradre-
nalin-Wiederaufnahmehem-
R mer
SSRI selektive Serotonin-Wieder-
R. Ramus aufnahmehemmer
re rechts SSW Schwangerschaftswoche(n)
rez. rezessiv Stör. Störung(en)
rezid. rezidivierend/e/er/es STP Stauungspapille
RF Raumforderung sup. superior/superius
RLS Restless-Legs-Syndrom Supp. Suppositorium
RM Rückenmark SVT Sinusvenenthrombose
Rö Röntgen SWK Spike-Wave-Komplex(e)
RPR Radiusperiostreflex Sy. Syndrom(e)
RR Blutdruck nach Riva-Rocci Sympt. Symptom(e), Symptomatik
Syn. Synonym
S syst. systolisch
s. c. subkutan
s. l. sublingual T
S1–5 Sakralsegmente 1–5 T3 Trijodthyronin
SAB Subarachnoidalblutung T4 Thyroxin
SAE subkortikale arteriosklero- Tbc Tuberkulose
tische Enzephalopathie Tbl. Tablette/n
SCA spinozerebelläre Ataxie TCA trizyklische Antidepressiva
SCLC kleinzelliges Bronchialkarzi- TCD transkranielle Doppler-
nom, small cell lung cancer Sonografie
SDH subdurales Hämatom TEA Thrombendarteriektomie
seitl. seitlich TENS transkutane elektrische
sek. sekundär/e/er/es Nervenstimulation
SEP somatosensibel evozierte tgl. täglich/e/er/es
Potenziale Th1–12 Thorakalsegmente 1–12
serolog. serologisch Ther. Therapie
SIADH Syndrom der inadäquaten therap. therapeutisch/e/er/es
ADH-Sekretion Thrombo(s) Thrombozyt(en)
sIBM sporadische Einschlusskör- TIA transitorische ischämische
perchenmyositis Attacke
SHT Schädel-Hirn-Trauma TMZ Temozolomid
XIV Abkürzungen  

TPMT Thiopurinmethyltransferase VOR vestibulookulärer Reflex


tox. toxisch VPA Valproinsäure
TPHA Treponema-pallidum- vs. versus
Hämagglutinationstest VWMD Leukencephalopathy with
Tr. Tropfen vanishing white matter
TSH Thyreoidea Stimulierendes VZV Varicella-Zoster-Virus
Hormon
TSR Trizepssehnenreflex W
typ. typisch
Wdh. Wiederholung
U Wo Woche(n)
WK Wirbelkörper
u. und WS Wirbelsäule
u. a. unter anderem WW Wechselwirkung
Unters. Untersuchung
X
V
X-chrom. X-chromosomal
V. Vena
v. a. vor allem Z
V. a. Verdacht auf
vask. vaskulär z. A. zum Ausschluss
VEGF Vascular Endothelial Growth z. B. zum Beispiel
Factor Z. n. Zustand nach
VEP visuell evozierte Potenziale ZNS Zentralnervensystem,
Vgl. Vergleich Zonisamid
VIM Nucleus ventralis ZSAS zentrales Schlafapnoe-­
intermedius Syndrom
Vit. Vitamin(e) ZVD Zentraler Venendruck
VK Vitalkapazität ZVK Zentraler Venenkatheter
VKA Vitamin-K-Antagonist(en)
  Abbildungsnachweis XV

Abbildungsnachweis
Der Verweis auf die jeweilige Abbildungsquelle befindet sich bei allen Abbildungen im
Werk am Ende des Legendentexts in eckigen Klammern. Alle nicht besonders
gekennzeichneten Grafiken und Abbildungen © Elsevier GmbH, München.
A300 Reihe Klinikleitfaden, Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, München
F636 DuBois G, DuBois EF. A formula to extimate the approximate surface area if
height and weight be known. Arch Intern Med 1916; 17: 863; Mosteller RD.
Simplified calculation of body surface area. N Engl J Med 1987; 317:
1098–99.
G203 Louis DN et al. WHO Classification of Tumours of the Central Nervous
System, 4th ed. IARC 2007. ISBN 9789283224303
L106 Henriette Rintelen, Velbert
L157 Susanne Adler, Lübeck
L190 Gerda Raichle, Ulm
M139 Prof. Dr. med. Jürgen Klingelhöfer, Chemnitz
M854 Dr. med. Martina Näher-Noé, Westfälisches Zentrum für Psychiatrie und
Psychotherapie, Agathastr. 1, 33098 Paderborn
M855 Dr. med. Wolfgang Köhler, Fachkrankenhaus Hubertusburg gGmbH,
04779 Wermsdorf
T682 Radiologische Gemeinschaftspraxis, Traunstein
T715 Prof. Dr. med. G. Schuirer, Zentrum für Neuroradiologie, Universitätsklini-
kum und Bezirksklinikum, Regensburg
T716 Klinikum rechts der Isar, Abteilung Neuroradiologie, Prof. Dr. med. Gräfin
von Einsiedel
T717 Klinikum rechts der Isar, Abteilung Neuroradiologie, Prof. Dr. med. Zimmer
1 Tipps für die Stationsarbeit
Jürgen Klingelhöfer und Daniela Klaus

1.1 Neurologische Anamnese und 1.2 Psychiatrische Untersu-


Untersuchung 2 chung 21
1.1.1 Anamnese 2 1.2.1 Psychiatrisches Untersuchungs­
1.1.2 Inspektion 3 gespräch 21
1.1.3 Untersuchung des Kopfs 3 1.2.2 Neuropsychologische und psy­
1.1.4 Untersuchung der chologische Testverfahren 24
­Hirnnerven 4 1.2.3 Der psychiatrische
1.1.5 Untersuchung der Reflexe 9 ­Notfallpatient 26
1.1.6 Untersuchung der 1.3 Rechtliche Aspekte der medizi-
­Muskulatur 13 nischen Behandlung 27
1.1.7 Untersuchung der 1.3.1 Die Geschäftsfähigkeit des
­Koordination 14 ­Patienten 27
1.1.8 Untersuchung der 1.3.2 Einwilligung 27
­Sensibilität 16 1.3.3 Aufklärungspflicht 29
1.1.9 Nervendehnungszeichen 18 1.3.4 Schweigepflicht 30
1.1.10 Primitivreflexe 19 1.3.5 Betreuung, Vorsorgevoll­
1.1.11 Neuropsychologische Unter­ macht 30
suchung 19 1.3.6 Unterbringung 31
1.1.12 Untersuchung vegetativer
Funktionen 21
2 1  Tipps für die Stationsarbeit  

1.1 Neurologische Anamnese und


1 Untersuchung
Suizidalität ▶ 3.16.11, Verwirrtheit ▶ 3.16.12, KM-Allergie ▶ 2.9.7.
Erster Eindruck bei Eintreten des Pat., zunächst einfache, orientierende Unters.
nach möglichst gleichbleibendem Schema; bei Auffälligkeiten symptomorientier-
te Zusatzunters; Beispiel:
• Hirnnerven (HN; ▶ 1.1.4): Stirnrunzeln, Augen zusammenkneifen, Wangen
aufblähen, Pfeifen (N. facialis); fingerperimetrische Gesichtsfeldprüfung, Fin-
gerfolgeversuch (Nn. oculomotorius, trochlearis, abducens), Pat. „Aahh“
­sagen lassen (Nn. glossopharyngeus, agus); Zunge herausstrecken (N. hypo-
glossus).
• Reflexe (▶ 1.1.5): Von kranial nach kaudal vorgehen: BSR, RPR, TSR, PSR,
ASR, Pyramidenbahnreflex (Babinski).
• Kraftprüfung (▶ 1.1.6): Orientierend prox. u. distalen Muskelgruppen im Sei-
tenvergleich.
• Koordination (▶ 1.1.7): Romberg-Stehversuch, Unterberger-Tretversuch,
Zeigeversuche (FNV, KHV).
• Sensibilität (▶ 1.1.8): Von kranial nach kaudal mit den Fingerspitzen den
Körper bestreichen, in etwa Dermatomen folgen, Seitenvergleich, Pallästhesie
mit Stimmgabel prüfen.
• Nervendehnungszeichen (▶ 1.1.9): Zeichen nach Lasègue, Brudzinski.

Auf geeignete Unters.-Bedingungen achten (ruhiger, warmer Raum, Be-


leuchtung). Immer den Pat. sich ausziehen lassen! Während des Gesprächs
auf Orientiertheit, Stimmungslage u. Merkfähigkeit (▶ 1.2.1) achten. Orien-
tierende psychiatrische u. internistische Unters. gehören dazu. Feststellen
path. Befunde, bei Unsicherheit ggf. Untersuchungsabschnitte wiederholen.

1.1.1 Anamnese

80 % aller neurol. Diagnosen werden bei der Anamnese gestellt. Am An-
fang steht die Anamnese aktueller Erkr. (ggf. Fremdanamnese).
• Art u. Schweregrad der Sympt.: Z. B. Welche Sympt.? Ausprägung? Beein-
trächtigung von Schlaf o. Arbeit? Prodromi (Aura?), Begleitsympt.?
• Lokalisation, Verteilungsmuster.
• Verlauf: Beginn perakut, akut, subakut o. schleichend. Auslöser?
• Eigenanamnese: Kinderkrankheiten, relevante Vorerkr.
• Familienanamnese: Erkrankte Blutsverwandte (v. a. degenerative Erkr.).
• Sozialanamnese: Beruf, familiäre Situation.
• Medikamente, Genussmittel: Antikoagulanzien, Schlafmittel, Antihyper-
tensiva, Insulin, „Pille“, Schmerz- o. Beruhigungsmittel, Nikotin, Alkohol.
• Allergie.
• Fremdanamnese: Immer bei Bewusstseinsstör. o. Anfallsleiden.
   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  3

• Bereits während der Anamnese auf Sprache (Dysarthrie, Wortfindungs-


stör., Paraphasien), Mehr- u. Minderbewegungen (Dystonien, Tics, Pare-
sen) u. Fehlhaltungen (WS, Kopfschiefhaltung) achten. 1
• Nach der Anamnese path. Befunde zu Sy. zusammenfassen, topische Zu-
ordnung u. Durchdenken von Verdachtsdiagnosen mit DD. Immer voll-
ständige Unters.!

1.1.2 Inspektion
• Mimik, Gestik.
• Fehlhaltungen: Kopfschiefhaltung (z. B. Tortikollis ▶ 15.4.1), begleitende Au-
genfehlstellungen; Schulterschiefstand, Scapula alata, Skoliose, zervikale u.
lumbale Steilstellung der WS (z. B. Schonhaltung bei Bandscheibenschaden
▶ 18.4, ▶ 18.7), Beckenschiefstand (mit Trendelenburg-Zeichen).
• Bewegungsauffälligkeiten: Dystonien (▶ 15.4), Tremor (▶ 15.1, ▶ 3.7), ande-
re unwillkürliche Bewegungen. Bei Unterbrechbarkeit durch Ablenkung V. a.
psychogene Urs.
• Gangprüfung (▶ 1.1.7): Normal-, Zehen-, Hacken-, Blind- u. Seiltänzergang,
einbeiniges Hüpfen. Paresen, Gleichgewichtsstör.; Schrittlänge, Flüssigkeit
der Bewegungen, Mitbewegung der Arme, Schwanken, Seitenabweichung.
Psychogenes Schwanken wird meist vom Pat. selbst aufgefangen.
• Haut: Z. B. Café-au-Lait-Flecke, Fibrome, Schweißneigung, trophische Stör.
• Muskeln: Atrophien, Tonus, Faszikulationen, Hartspann der lumbalen Rü-
ckenmuskulatur.

1.1.3 Untersuchung des Kopfs


• Kopfform u. -größe: Z. n. kindl. Hydrozephalus, Akromegalie, Dysmorphien.
• Traumafolgen: Z. B. Prellmarken, OP-Narben, knöcherne Impressionen, Li-
quorrhö.
• Einschränkung der aktiven u. passiven Beweglichkeit: Nackensteife (z. B.
Meningismus ▶  9.1.2), Rigor (▶ 3.6; z. B. Parkinson ▶ 15.2), Dystonie (z. B.
Tortikollis ▶ 15.4.1), Arthrose der HWS (z. B. Muskelverspannung), psycho-
gen (z. B. aktiver muskulärer Widerstand).
• Kalottenklopfschmerz: Lokal z. B. bei Knochenprozess, diffus z. B. bei Me-
ningitis.
• NNH-Klopfschmerz: Z. B. bei Sinusitis.
• Nervenaustrittspunkte von N. trigeminus u. Okzipitalnerven schmerzhaft
z. B. bei Meningitis (▶ 9.3.1) o. Sinusitis.
• Auskultation: Aa. carotides u. subclaviae.
4 1  Tipps für die Stationsarbeit  

1.1.4 Untersuchung der Hirnnerven


Zu den Funktionen der HN ▶ Abb. 1.1.
1
III, IV, VI II Sehen I Riechen
Augenbewegung
Pupillenmotorik

Sensibilität
des Gesichts
V1

N. oculo- N. olfac-
motorius torius
V2 N. trochlearis
N. abducens N. opticus
V3
Kaumuskeln
motorisch
VII
Mimik N. trigeminus I
sensibel
vordere 2/3
der Zunge, II
weicher Gaumen III
Ggl. submandibularis,
sublingualis, lacrimalis IV
N. facialis V
VI
VIII
Hören
Gleich- N. vestibulo- VII
gewicht cochlearis
VIII

IX IX
Schlucken N. glosso-
X XII
pharyngeus
XI
sensibel
hinteres 1/3
der Zunge,
N. vagus
Mittelohr, Pharynx

N. accessorius
N. hypoglossus

X
Parasympathikus XI Mm. sternocleido- XII Zungen-
Stimmritzenöffnung mastoideus, trapezius bewegung

Abb. 1.1  Funktion der Hirnnerven [L106]


   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  5

N. olfactorius (I)
• Mit aromatischen Geruchsstoffen (Kaffee, Zimt, Anis, Teer) seitengetrennt
bei geschlossenen Augen prüfen. 1
• Kontrolle mit Trigeminusreizstoffen (Ammoniak, Essig), die auch bei An­
osmie erkannt werden müssen; Ausschluss einer psychogenen Urs.

Normale Geschmackswahrnehmung schließt Anosmie aus!

N. opticus (II)
Visusprüfung: Augen getrennt prüfen. Orientierend vorlesen o. Finger zählen
lassen. Zur Refraktionsprüfung Visustafel in Leseabstand halten u. kleinste er-
kannte Zeile notieren.
Fingerperimetrische Gesichtsfeldprüfung: Pat. auf Bewegungen der seitl. gehal-
tenen Hände des Untersuchers reagieren lassen.
Schreiben lassen: Bei homonymen Gesichtsfeldausfällen wird nur eine Hälfte des
Blatts benutzt (Gesichtsfelddefekte ▶ 3.1.2).
Direkte Spiegelung des Augenhintergrunds:
• Normale Papille: Scharfe Begrenzung, rötlich-gelbe Farbe (vital).
• STP (▶ Abb. 1.2): Unscharf be-
grenzt, erhaben (Prominenz wird
ophthalmo­skopisch in Dioptrien
gemessen), später radiäre Blutun-
gen.
• Optikusatrophie: Temporales Ab-
blassen der Papille.
• Optikusneuritis: Normale Papille!
• Hypertensive o. diabet. Retinopa-
thie: Lumeneinengung der Netz- streifige Blutungen
hautgefäße, Hämorrhagie, diffuses
Netzhautödem. Abb. 1.2 Stauungspapille [M139]

Durch Weitstellen der Pupillen Maskierung einer Anisokorie möglich!

N. oculomotorius (III), N. trochlearis (IV), N. abducens (VI)


Anamnestisch Doppelbilder (Diplopie): Hinweis auf paralytischen Strabismus.
Lidspalten:
• Seitengleich.
• Enger bei Ptose.
• Weiter bei Fazialisparese.
• Auf Exophthalmus o. Enophthalmus achten.
Stellung der Bulbi:
• Konjugiert geradeaus.
• Blickparesen: Lähmung der Blickzielbewegung zu einer Seite.
• Strabismus paralyticus mit Angabe von Doppelbildern bei Augenmuskelläh-
mungen mit Auseinanderweichen der Doppelbilder bei Bewegung in Rich-
tung des paralytischen Muskels.
• Konvergenzparese bei Akkommodation.
• Motilitätsunters.: Pat. soll Finger des Untersuchers in horizontaler u. vertika-
ler Richtung folgen. Auf konjugierte Bewegung der Bulbi achten, nach Dop-
pelbildern fragen (Augenmuskellähmungen ▶ 3.1.3).
6 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Pupillen:
• Seitenunterschied?
1 • Lichtreaktion (auf Licht u. Konvergenz; Licht von der Seite an Pupille heran-
führen).
• Wechselbelichtungstest: Alternierende Belichtung beider Augen führt jedes-
mal zur Miosis.
• Afferente Pupillenstör. (z. B. Optikusatrophie): Erweiterung des belichteten
Auges, das zuvor durch die konsensuelle Lichtreaktion des anderen Auges
verengt war.
• Prüfung der Miosis bei Konvergenz (Schielen auf die Nasenspitze). Anisoko-
rie (▶ 3.1.4); Mydriasis, Miosis; Horner-Sy. (▶ 3.1.5). Entrundung DD: Au-
gen-OP (häufig), Glasauge, Trauma.
Nystagmus (▶ 3.1.7): Rhythmische, gerichtete Zuckungen der Augen, meist mit
schneller u. langsamer Komponente. Physiol. ist der rasch erschöpfliche Endstell-
Nystagmus.
• Registrierung: Auftreten beim Augenspiegeln? Bei Untersuchen der Augen-
motilität, d. h. unter Fixation? Unter Ausschalten der Fixation (mit Frenzel-
brille)? Ggf. Elektronystagmografie (▶ 2.7).
• Beurteilung: Spontan? Provozierbar durch Lagerung o. Blickrichtung? Rich-
tung (angegeben durch die schnelle Komponente), Dauer (erschöpflich – un-
erschöpflich), Ausgiebigkeit (feinschlägig – grob), Symmetrie (synchron –
dissoziiert).
• Provokation: Durch rasche passive Kopfbewegungen (z. B. Drehstuhl) o. ra-
sches Hinlegen u. Aufrichten (Lagerungsprüfung) sowie ggf. thermische Prü-
fung (Spülung der äußeren Gehörgänge bei um 30° rekliniertem Kopf erst
mit warmem, dann kaltem Wasser u. Auswertung mit Frenzelbrille o. Elek­
tronystagmografie).
• Unters. des physiol. optokinetischen Nystagmus (OKN): Drehtrommel
langsam vor Pat. drehen, Augen beobachten. Die Augen folgen langsam den
Objekten der Drehtrommel u. springen danach rasch zurück. Bei Läsion eines
Parietallappens ist der OKN ­vermindert o. ausgefallen, wenn die Drehtrom-
mel in diese Richtung ­gedreht wird. Nachweis des OKN schließt Blindheit
aus. DD: Psychogene Blindheit.

N. trigeminus (V)
Motorisch: Palpation der Mm. masseter u. temporalis bei festem Kieferschluss.
Bei einseitiger Parese des M. pterygoideus weicht Unterkiefer beim Öffnen des
Munds zur betroffenen Seite ab.

Masseterreflex
(MER). Mund leicht u. entspannt geöffnet. Der Schlag auf den dem Kinn auf-
liegenden eigenen Finger führt zum Kieferschluss (▶  Abb. 1.3). Wichtig zur
Diagn. hoher Halsmarkläsionen mit gesteigerten Extremitätenreflexen u.
normal bis schwachem Masseterreflex.

Sensibel: Bei peripheren Läsionen Sensibilitätsstör. entsprechend dem Ausbrei-


tungsgebiet der 3 Trigeminus-Hauptäste; bei zentralen Läsionen perioral zwie-
   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  7

belschalenförmig entsprechend der


zentralen Repräsentation im Nucleus
tractus spinalis V in der Medulla ob-
longata.
1
Nervenaustrittspunkte: Durch kräfti-
gen Fingerdruck auf Schmerzhaftigkeit
prüfen (▶ Abb. 1.4).
Kornealreflex: Mit ausgezogener Wat-
te von seitl. Rand der Kornea berühren
(▶  Abb. 1.5). Lidschluss bds. verglei-
chen u. nach Berührungsintensität fra-
gen. Reflektorischer Lidschluss fehlt
bei Fazialisparese.

Abb. 1.3 Prüfung des Masseterrefle­


xes [L106]

V1

Foramen
C2 supraorbitale

Foramen
infraorbitale
V2

V3 Foramen
C3 mentale

Abb. 1.4  Sensible Trigeminus-Versorgungsgebiete der Gesichtshaut u.


Trigeminus-Austrittspunkte [L106]

N. facialis (VII)
Watte
Keine Seitendifferenzen bei bds.
Fazialisparese!

Befunde bei Fazialisparese:


• Hyperakusis, Geschmacksstör.,
evtl. verminderte Speichel- u. Trä-
nensekretion.
• Glabellareflex (▶ 1.1.5) bei bds. Abb. 1.5  Prüfung des Kornealreflexes
[L106]
­Fazialisparese.
• Inspektion: Gesichtsasymmetrie,
Lidspalte unterschiedlich weit, Stirn-
o. Nasolabialfalten verstrichen.
8 1  Tipps für die Stationsarbeit  

• Mimik: Stirnrunzeln, Augen zusammenkneifen (Wimpern sind i. d. R. nicht


mehr sichtbar), Zähne zeigen, Pfeifen, mimische Minderbewegung u. Dysar­
1 thrie beim Sprechen (▶ Abb. 1.6). Wichtige DD: Hypomimie, z. B. bei M. Par-
kinson (▶ 15.2.3).
DD: Periphere u. zentrale Lähmung: Stirnast ist bei zentraler Lähmung nur mini-
mal betroffen (▶ 12.5.1).

Abb. 1.6  Stirnrunzeln u. Lidschluss bei peripherer Fazialisparese li [L106]

N. vestibulocochlearis (VIII)
Nystagmusprüfung (s. o.).
Gleichgewichtsprüfung: Stand- u. Gangversuche (▶ 1.1.7).
Orientierende Hörprüfung: Flüstern, Rascheln. Tinnitus?
• Weber-Versuch: Stimmgabel auf Scheitelmitte aufsetzen. Bei Mittelohrschä-
den hört Pat. den Ton im kranken, bei Innenohrschwerhörigkeit im gesun-
den Ohr lauter.
• Rinne-Versuch: Stimmgabel erst auf Mastoid setzen (Knochenleitung) u.
nach Verklingen des Tons vor das Ohr halten. Luftleitung sollte länger gehört
werden als Knochenleitung. Hört Pat. Ton wieder → Rinne pos.; hört Pat. kei-
nen Ton → Rinne neg. (bei Mittelohrschwerhörigkeit).

N. glossopharyngeus (IX), N. vagus (X)


• Gaumensegelparese: Pat. „Aah“ sagen lassen. Bei einseitiger Parese hebt sich
der weiche Gaumen nicht („Kulissenphänomen“), Uvula verzieht sich zur ge-
sunden Seite.
• N.-recurrens-Parese: Nasale o. kloßige Stimme, Heiserkeit.
• Doppelseitige Vaguslähmung: Schluckstör., Aphonie (Aspirationsgefahr!).
• Würgreflex: Bei Berührung der Rachenhinterwand mit Wattestäbchen;
evtl. einseitig abgeschwächt. Nicht zuverlässig, kann auch bei Gesunden
fehlen.
! Gleichzeitig auf Tonsillen (z. B. Rötung, Hypertrophie), Zahnstatus, Zungen-
belag, Foetor, Beweglichkeit des Kehlkopfs u. Struma achten.
   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  9

N. accessorius (XI)
• Schulterrelief: Asymmetrie durch
Atrophien (z. B. Scapula alata)? 1
• Kraftprüfung des M. sternocleido-
mastoideus (Kopfdrehung zur Ge-
genseite) u. M. trapezius (Schulter Zungen-
atrophie
hochziehen, Arme über Kopf zu-
sammenführen).
Abb. 1.7 Abweichen u. Atrophie der
N. hypoglossus (XII) Zunge bei Hypoglossusparese re [L106]
Bei Läsion weicht die Zunge beim Her-
ausstrecken zur kranken Seite ab →
z. B. einseitige Zungenatrophie, Faszi-
kulationen (▶ Abb. 1.7), Dysarthrie.

1.1.5 Untersuchung der Reflexe


Muskeleigenreflexe
Def.: Physiol., monosynaptisch. Führen zur Kontraktion eines Muskels
(▶ Abb. 1.8, ▶ Tab. 1.1).

monosynaptischer polysynaptischer
Eigenreflex Fremdreflex

Spinal-
ganglion
Interneuron

motorische
Vorderhorn-
zelle
Afferenz
Efferenz

Abb. 1.8  Schema des mono- u. polysynaptischen Reflexbogens [L106]

Durchführung: Pat. entspannt u. bequem lagern. Reflexhammer locker aus dem


Handgelenk gegen die Sehne o. den eigenen Finger auf der Sehne schwingen las-
sen. Bei nicht sicher auslösbaren Reflexen Muskelkontraktion palpieren; Bah-
nungsversuche:
• Armeigenreflexe: Kräftig die Zähne zusammenbeißen lassen.
• Beineigenrefelexe: Jendrassik-Handgriff, bei dem Pat. die Finger verhakt u.
kurz vor dem Hammerschlag kräftig zieht (▶ Abb. 1.11).
10 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Tab. 1.1  Physiologische Muskeleigenreflexe (▶ Abb. 1.9, ▶ Abb. 1.10,


▶ Abb. 1.11, ▶ Abb. 1.12)
1 MER Wurzel Vorgehen Reflexantwort Bemerkung

Bizepsseh­ C5/C6 Schlag gegen den auf Kontraktion


nenreflex der Bizepssehne M. biceps brachii
(BSR) ­liegenden Finger

Radiuspe­ C5/C6 Schlag gegen den auf Supination u.


riostreflex dem distalen Radius­ Beugung im El­
(RPR) ende liegenden Finger lenbogengelenk

Trizeps­ C7/C8 Schlag gegen distalen Kontraktion im


sehnenre­ Trizepssehne des ge­ M. triceps bra­
flex (TSR) beugten Arms chii
Trömner- C7/C8 Schlag der Finger des Beugung in den Ausdruck für ho­
Reflex Untersuchers von vo­ Fingerendgelen­ hes Reflexniveau,
lar gegen die gebeug­ ken, inkl. Dau­ nur Seitendiffe­
ten Fingerkuppen men renz ist path.
Knipsre­ C7/C8 Rasches Gleiten von
flex prox. nach distal über
den Nagel des leicht
gebeugten Mittelfin­
gers
Patellar­ L3/L4 Knie leicht anheben, Kontraktion Verbreiterung der
sehnenre­ auf Entspannung des M. quadriceps Reflexzone auf die
flex (PSR) M. quadriceps achten, Schienbeinkante
Schlag auf die Patel­ bei Pyramiden­
larsehne bahnschädigung.
Bei lebhaftem
Reflexniveau auch
prüfbar durch
Hammerschlag auf
den Finger des
­Untersuchers auf
dem Oberrand der
Patella

Addukto­ L2/L4 Schlag auf die distale Adduktion in Bei lebhaftem Re­
renreflex Adduktorensehne der Hüfte flexniveau o. Pyra­
midenbahnschädi­
gung Kontraktion
der Hüftaddukto­
ren der Gegenseite
Tibialis- L5 Schlag auf die Sehne Supination Nur bei hohem Re­
posterior- des M. tibialis post. u. Inversion des flexniveau auslös­
Reflex unterhalb des media­ Fußes bar
len Malleolus
Achilles­ S1/S2 Bei leicht gebeugten Plantarflexion Gleichzeitig auf
sehnenre­ Knien Fuß dorsalflek­ Kloni achten
flex (ASR) tieren, Schlag auf die
Achillessehne
Rossolimo- S1/S2 Schlag von plantar ge­ Plantarflexion Entspricht Tröm­
Reflex gen die Zehenballen der Zehen ner-Reflex an der
Hand
   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  11

Prüfung der BSR Prüfung der PSR


bei gleichzeitigem
Jendrassik-Handgriff
1

Abb. 1.9  Prüfung des BSR [106]

Trömner-Reflex

Abb. 1.11  Prüfung des PSR bei gleich­


zeitigem Jendrassik-Handgriff [L106]

Prüfung der ASR

Knipsreflex Abb. 1.12  Prüfung des ASR [L106]

Prüfung der ASR-Kloni

Abb. 1.10 Trömner- u. Knipsreflex


[L106]

Abb. 1.13 Prüfung des ASR-Klonus


[L106]
12 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Bewertung:
• Physiol.: Individuell verschieden starke Ausprägung.
1 • Path.: Seitenunterschiede; Unterschied zwischen: Arm- u. Beinreflexen, Ex­
tremitäten- u. Masseterreflex; Verbreiterung von Reflexzonen.

Klonus
Wiederholte, rasche Abfolge von MER, die sich selbst unterhalten. Ausdruck
einer gesteigerten Reflextätigkeit. Path. sind nur unerschöpfliche u. seitendif-
ferente erschöpfliche Kloni. Testung:
• Fußklonus: Fuß bei gebeugtem Knie ruckartig dorsalflektieren u. kräftig
gegenhalten: Rhythmische Plantarflexion im Wechsel mit Dorsalflexion
(▶ Abb. 1.13).
• Patellarklonus: Am liegenden Pat. Patella bei gestrecktem, entspannten
Bein ruckartig nach kaudal verschieben.

Funktionsstör. der Pyramidenbahn u. des kortikalen Neurons führen zur


Steigerung, Schäden peripherer Nerven u. der Nervenwurzel zu Abschwä-
chung o. Verlust der MER.

Maskierte Reflexsteigerung bei gleichzeitiger Polyneuropathie!

Fremdreflexe
Physiol., polysynaptisch (▶ Abb. 1.8). Sensible Reizung führt zur Kontraktion der dem
betreffenden Dermatom zugeordneten Muskeln (z. B. Kremasterreflex; ▶ Tab. 1.2).

Tab. 1.2  Physiologische Fremdreflexe


Fremdreflex Wurzel Vorgehen Reflexantwort Bemerkung

Bauchhaut­ Th6–Th12 Kräftiges Bestrei­ Kontraktion der Ausfall weist auf


reflex chen des Bauchs ipsilateralen Bauch­ Schädigung der
von lateral zur muskulatur mit Ver­ Pyramidenbahn;
Mittellinie in 3 ziehung der Bauch­ hilfreich bei Hö­
Etagen mit Holz­ decke zur bestriche­ henlokalisation
stäbchen nen Seite hin von RM-Läsionen

Kremaster­ L1/L2 Bestreichen der Kontraktion des Bei Angabe von


reflex Oberschenkelin­ M. cremaster u. perianalen
nenseite Hebung des gleich­ ­Sensibilitätsstör.
seitigen Hodens u. V. a. Kauda- o.
Konussy.

Analreflex S3–S5 Bestreichen der Kontraktion des Nur Seitendiffe­


Perianalregion Schließmuskels renz path.
am seitwärts lie­
genden Pat.

Glabella­ Schlag auf die Lidschluss. Bei Bei extrapyrami­


reflex Glabella mehrfachem dalen Erkr. typi­
Wiederholen oft scherweise nicht
erschöpfend habituierbar
   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  13

Pyramidenbahnzeichen und pathologische Mitbewegungen


• Enthemmungsreflexe bei geschädigter Pyramidenbahn (▶ Tab. 1.3, ▶ Tab. 1.4).
• Beim Erw. immer path.! 1
• Zeichen einer Schädigung des 1. motorischen Neurons u./o. der Pyramiden-
bahn.
• Immer mehrmals u. verschiedene Auslösemöglichkeiten prüfen.
Tab. 1.3  Pyramidenbahnzeichen (▶ Abb. 1.14)
Reflex Durchführung Reflexantwort

Babinski, Bestreichen der lateralen Plantarseite o. Tonische Dorsalflexion der


Chaddock Außenkante des Fußes von der Ferse im Großzehe bei gleichzeitiger
Bogen in Richtung Großzehe mit einem Plantarflexion u. Spreizung
spitzen Gegenstand der anderen Zehen (Fä­
cherphänomen). Beim Ge­
Oppenheim Kräftiges Bestreichen der Schienbeinvor­ sunden: Plantarflexion der
derkante Großzehe. Stumme Sohle
(keine Reflexantwort): Nur
Gordon Zusammenpressen der Wadenmuskulatur bei Seitendifferenz path.

Tab. 1.4  Pathologische Mitbewegungen


Name Durchführung Mitbewegung

Wartenberg Pat. u. Untersucher haken Finger Adduktion des Daumens. Inkons­


zusammen u. ziehen beide kräftig tantes Zeichen, kommt auch bei
Gesunden vor

Strümpell Liegender Pat. beugt Knie gegen Dorsalflexion der Großzehe


den Widerstand des Untersuchers

Orbicularis- Klopfen oberhalb des Mundwin­ Vorwölbung der Lippen (Läsion


oris-Reflex kels kortikopontiner Bahnen)

1.1.6 Untersuchung der
Bestreichen des
Muskulatur lateralen Fußrandes
von Ferse
zu medialer
Inspektion Zehenseite
• Abnorme Haltung o. Lage einer
Extremität: Z. B. „ausgeflossen“
wirkendes, außenrotiertes pareti-
sches Bein. tonische Dorsalflexion,
• Physiol. Mitbewegungen: Z. B. Abspreizung und
Plantarflexion
Schwingen der Arme beim Gehen. der Zehen II–V
• Vernachlässigung o. Minderbewe-
gung einer Extremität o. Körper-
hälfte.
• Hyperkinesen, Bewegungsunru-
he: Z. B. Tremor, Chorea, Atheto-
se, Ballismus, Tics. Rückzug des Beines
• Atrophien: Auf kleine Handmus-
keln, Daumen- u. Kleinfingerbal-
len achten. Abb. 1.14 Babinski-Zeichen [L106]
14 1  Tipps für die Stationsarbeit  

• Faszikulationen: Unregelmäßige Zuckungen wechselnder Muskelfasergrup-


pen, evtl. durch Hammerschlag auf den Muskelbauch provozierbar.
1 • Fibrillieren: Zuckungen von Einzelfasern; nur an der Zunge mit bloßem Au-
ge erkennbar.
• Myokymie: Muskelwogen; Kontraktionen wechselnder Muskelfasergruppen;
länger anhaltend als Faszikulationen.

Muskelfunktion
• Kraftpüfung: Gegen Schwerkraft u. Widerstand des Untersuchers; nur bei
freier Beweglichkeit der Gelenke (Kontrakturen) u. Schmerzfreiheit
(schmerzbedingte Minderinnervation) beurteilbar.
• Muskulärer Widerstand: Passives, unterschiedlich schnelles Durchbewegen
in verschiedenen Gelenken, Tonus, z. B. schlaff, hypoton, federnd (z. B. Klapp-
messerphänomen bei Spastik ▶ 3.6), wächsern (Rigor ▶ 3.6), Kontraktur.
• Feinmotorik: Imitation von Klavierspielen, Knöpfen lassen, rasches Pendeln
der Beine. Verlangsamung o. Ungeschicklichkeit weist auf leichte, oft zentrale
Lähmung hin. DD: M. Parkinson (▶ 15.2.3), Apraxie (▶ 3.14.2).

Paresen
Bei V. a. periphere Parese Funktionen aller Muskeln des betroffenen Nervs iso-
liert u. Bewegung (Beugung-Streckung, Abduktion-Adduktion, Supination-
Pronation) aller großen Gelenke (Schulter, Ellenbogen, Hand, Finger, Hüfte,
Knie, Fuß) prüfen. Ggf. funktionelle Untersuchungen (Kniebeugen, auf Stuhl
steigen, Einbeinhüpfen). Cave: Händigkeit beachten. Ein etwas schwächerer
re. Arm bei einem Rechtshänder bedeutet eine Parese.
Latente Parese:
• Armvorhalteversuch: Pat. steht mit 90° nach vorne gehaltenen Armen,
Handflächen nach oben, Augen geschlossen → Absinken eines Arms u.
Pronation bei Parese.
• Beinvorhalteversuch: Pat. liegt auf dem Rücken, Beine sind in Hüft- u. Knie-
gelenken rechtwinklig gebeugt → Absinktendenz, Schweregefühl bei Parese.
Psychogene Lähmung: Pat. bei der Unters. ablenken (z. B. gleichzeitig Rechen-
aufgabe), auf spontane Bewegungen achten. Verdacht bei:
• Pat. macht keinen Versuch einer Bewegung.
• Gleichzeitige Innervation von Agonist u. Antagonist o. anderen Muskel-
gruppen.
• Plötzliches Nachgeben bei der Prüfung.
• Artistische Bewegungen bei der Gangprüfung, um Parese zu demonstrieren.
• Auffallende Diskrepanz zwischen Ausmaß der angeblichen Lähmung u.
fehlender Atrophie bzw. erhaltenen MER.
! Häufig liegt einer psychogen anmutenden Lähmung eine leichtere organi-
sche Stör. zugrunde.

1.1.7 Untersuchung der Koordination


Zeigeversuche

Auf Zielsicherheit, Flüssigkeit der Bewegung, Intentionstremor u. Ataxie


achten!
   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  15

• Finger-Nase-Versuch: Im weiten Bogen erst mit offenen, dann mit geschlos-


senen Augen den Zeigefinger zur Nasenspitze führen.
• Finger-Folge-Versuch: In weitem Bogen beide Zeigefingerspitzen berühren 1
lassen. Pat. soll im Wechsel auf eigene Nasenspitze u. auf den Finger des Un-
tersuchers deuten. Position des Fingers rasch ändern.
• Knie-Hacken-Versuch: Ferse des einen Beins auf Patella des anderen aufset-
zen u. die Schienbeinkante herunterfahren lassen.
• Bárány-Zeige-Versuch: Pat. senkt mit offenen Augen den gestreckt gehobe-
nen Arm, bis der Zeigefinger auf Höhe des Untersuchers ist. Wdh. mit ge-
schlossenen Augen. Abweichen zur kranken Seite bei einseitigen vestibulären
u. zerebellären Läsionen.

Diadochokinese (rasche alternierende Bewegungen)


Schnell abwechselnd mit Handrücken u. Handflächen auf eine Unterlage klopfen
o. Hände schnell im Wechsel supinieren u. pronieren: Dys- o. Bradydiadochoki-
nese bei Kleinhirnläsionen, extrapyramidalen Stör., zentralen Paresen u. Stör. der
Tiefensensibilität.

Rebound-Phänomen
• Pat. drückt die nach vorn gestreckten Arme gegen den Widerstand des Un-
tersuchers nach oben.
• Bei plötzlichem Nachlassen des Gegendrucks schlagen bei Pat. mit Kleinhirn-
läsionen die Arme nach oben aus (path. rebound), der Gesunde federt durch
Innervation der Antagonisten schnell ab (rebound).
• Cave: Pat. kann dabei nach hinten kippen.
Romberg-Versuch
• Zur DD sensible u. zerebelläre Ataxie.
• Pat. steht mit geschlossenen Füßen zunächst mit offenen, dann mit geschlos-
senen Augen.
• Positiv bei unsicherem Stand nach Schließen der Augen → sensible Ataxie.
• Fallneigung zur Seite ohne Parese gibt Hinweis auf ipsilaterale Schädigung
des Gleichgewichtsorgans o. Kleinhirns (▶ 16.2).
• Bei unsystematischem Schwanken mit Rechenaufgabe ablenken.
Unterberger-Tretversuch
• Pat. mit geschlossenen Augen etwa 1 Min. auf der Stelle treten lassen.
• Bei einseitigen vestibulären o. zerebellären Stör. Drehung um die Körperach-
se zur kranken Seite (> 45°).
• 3× wiederholen.
Gangprüfung
• Normal-, Blind-, Seiltänzergang: Mind. 10 Schritte. Auf Flüssigkeit der Be-
wegung, Mitbewegung der Arme, Seitenabweichung, Schwanken, normale o.
breite Führung der Beine achten.
• Einbeinhüpfen: Sehr sensitive Methode zur Prüfung leichter Paresen o.
Koor­dinationsstör.
16 1  Tipps für die Stationsarbeit  

1.1.8 Untersuchung der Sensibilität

1 Anamnese
Missempfindungen:
• Parästhesien: Z. B. „Ameisenlaufen“, „Kribbeln“.
• Dysästhesie: Quälende Missempfindung.
• Hyperästhesie: Gesteigerte Empfindung von Berührungsreizen.
• Hyperpathie: Lang anhaltende, unangenehme Empfindung.
• Hypästhesie: Taubheitsgefühl („wie beim Zahnarzt“).
Schmerzen:
• Art, Dauer.
• Hypalgesie, Analgesie: Schmerzunempfindlichkeit.
• Hyperalgesie: Verstärkte Schmerzempfindung auf adäquate Reize.
• Allodynie: Schmerzempfindung auf inadäquate Reize.
• Auslösemechanismen: Z. B. Schmerzverstärkung durch Husten, Niesen o.
Pressen.

Untersuchung
Durchführung: Pat. soll Augen schließen u. sich auf die Fragestellungen konzen-
trieren (▶ Abb. 1.15, ▶ Abb. 1.16). Immer Seitenvergleich beachten. Grenzen u.
Niveau (bei Querschnitt) eines hypästhetischen Areals genau vermerken.

C4 C4 V1
C5 Th2
3 Th2 C2
4 3
5 4 C5
6 V2
5
7 6
8
9 7
Th1 10 8 V3
11 9
12 C3
10 C6
L1 11
L2 12
L1
L3
C6
C7
5
4 6 L2 C8 Dermatome
C8 C7
L4 S3

L3

S2

L4

L5

S1 L5

S1
S1

Abb. 1.15  Radikuläre sensible Innervation der Haut [L157]


   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  17

1 N. trigeminus
2 N. auricularis magnus
1
1 N. frontalis (V1)
2 N. occipitalis 2
3 N. transversus
colli 1
major 3 4 Nn. supraclavi-
3 N. occipitalis culares
minor 5 Rr. cutanei
4 N. auricularis 5 4 anteriores 2
magnus nn. intercostalium 1
5 Rr. dorsales 6 6 N. cutaneus brachii 3
nn. cervicalium lateralis superior 4
6 Nn. supra- (N. axillaris)
7
claviculares 7 N. cutaneus
7 N. cutaneus brachii 8 brachii medialis 5 6
lateralis superior 10 8 Rr. mammarii
(N. axillaris) laterales 7 9
11
8 Rr. dors. nn. spin. nn. intercostalium
cervic., thorac., lumb. 9 12 9 N. cutaneus brachii 8 10
9 Rr. cutanei laterales posterior (N. radialis)
nn. intercostalium 13 14 10 N. cutaneus
10 N. cutaneus antebrachii posterior 11 12
brachii posterior 18 11 N. cutaneus
11 N. cutaneus 19 antebrachii medialis
20 18
brachii medialis 15 12 N. cutaneus 20 17 14 13
12 N. cutaneus 16 antebrachii lateralis
antebrachii 21 21
19 16 15
posterior 13 R. superficialis
13 N. cutaneus n. radialis 23 22
22 17 14 R. palmaris n.
antebrachii
medialis 23 mediani
14 N. cutaneus 15 N. medianus
antebrachii 24 16 Nn. digitales palmares 24
lateralis comm. (N. ulnaris)
15 R. superficialis 17 R. palmaris n. ulnaris
n. radialis 18 N. iliohypogastricus
16 R. dorsalis n. ulnaris 25 (R. cut. lat.)
17 N. medianus 19 N. ilioinguinalis 25
18 N. iliohypogastricus 26 (Nn. scrotales anteriores) 26
(R. cut. lat.) 27 20 N. iliohypogastricus
19 Nn. clunium (R. cutaneus anterior)
superiores 21 N. genitofemoralis
20 Nn. clunium medii (R. femoralis)
21 Nn. clunium inferiores 22 N. cutaneus
22 N. cutaneus femoris lateralis 27
femoris lateralis 23 N. femoralis 30 28
29
23 N. cutaneus femoris (Rr. cutanei anteriores)
posterior 24 N. obturatorius (R. cut.)
24 N. obturatorius (R. cut.) 26 25 N. cutaneus surae lateralis 29
25 N. cutaneus surae lateralis 26 N. saphenus
26 N. suralis (n. tib.) 27 N. peronaeus superficialis
28
27 N. saphenus 29 28 N. suralis
28 N. plantaris lateralis (n. tib.) 29 N. peronaeus profundus
29 N. plantaris medialis (n. tib.) 30 N. tibialis (Rr. calcanei)

Abb. 1.16  Periphere sensible Innervation der Haut [L157]

• Berührung: Bei geschlossenen Augen mit Wattetupfer o. Fingerkuppe durch


Bestreichen prüfen.
• Schmerz: Mit abgebrochenen Holzstäbchen (keine Nadeln: Infektions- u.
Verletzungsgefahr!) Spitz-Stumpf-Diskrimination in unregelmäßiger Folge
prüfen.
• Temperatur (Thermhyp- o. -anästhesie): Mit zwei Reagenzgläsern (Eis bzw.
heißes Wasser) in unregelmäßiger Abfolge prüfen (v. a. wichtig bei Angabe
von Hypalgesie).
18 1  Tipps für die Stationsarbeit  

• Vibration (Pallhyp- o. -anästhesie): 128-Hz-Stimmgabel auf Knochenvor-


sprünge (z. B. Handgelenke, Patella, Malleolus medialis, Hallux) aufsetzen.
1 Messung in Achteln anhand der aufsteckbaren Skalen. Zur Unterscheidung
von Druck u. Vibration zwischendurch auch die nicht vibrierende Stimmga-
bel aufsetzen.
• Der isolierte Ausfall der Vibrationsempfindung ist immer path.!
• Bewegung: Zeigefinger o. große Zehe lateral anfassen, rasch u. definiert nach
oben bzw. unten bewegen. Richtung angeben lassen.
• Stereognosie: Erkennen von auf die Haut geschriebener Zahlen o. kleiner
aufgelegter Gegenstände (Münzen, Schlüssel). Gelingt dies nicht, liegt eine
Astereognosie vor.
• Zwei-Punkt-Diskrimination: Prüfen des räumlichen Auflösevermögens mit
Tastzirkel; in gemischter Reihenfolge ein o. zwei simultane Reize setzen. Bei
zentraler Sensibilitätsstör. Schwellenwerte ↑.
• Neglekt: Simultane Sensibilitätsprüfung beider Körperseiten. Bei leichter zen-
traler Stör. wird der Reiz auf der kranken Seite nicht wahrgenommen (Ex-
tinktionsphänomen), obwohl er bei getrennter Prüfung erkannt wird.
• Kraftempfindung: Pat. Gewichte im Seitenvergleich schätzen lassen.
Bewertung:
• Intakte Berührungsempfindung, fehlendes Schmerz- u. Temperaturempfin-
den → dissoziierte Sensibilitätsstör. (z. B. bei Syringomyelie ▶ 14.9, Tabes dor-
salis ▶ 9.3.7, Brown-Séquard-Sy. ▶ 14.1.1).
• Unempfindlichkeit für alle Qualitäten mit Grenzen, die sich keinem Derma-
tom o. Nervenversorgungsgebiet zuordnen lassen. Häufig exakte Begrenzung
in der Mittellinie, Analgesie selbst für stärkste Schmerzreize ohne gleichzeiti-
ge Stör. der Temperaturwahrnehmung, Angabe von schweren Sensibilitäts-
stör. ohne gleichzeitige sensible Ataxie o. Feinmotorikstör. → Hinweise auf
psychogene Sensibilitätsstör. Cave: Häufig organisches Grundproblem, das
psychogen ausgeweitet wird!

1.1.9 Nervendehnungszeichen
▶ Tab. 1.5.
Tab. 1.5  Nervendehnungszeichen (▶ Abb. 1.17)
Zeichen Durchführung Positiv bei

Lasègue Gestrecktes Bein passiv in Rückenlage anhe­ Wurzelreizung L4/L5 o.


ben: Lumbale Schmerzen mit Ausstrahlung Meningitis
in das angehobene Bein. Angabe des Beu­
gewinkels, bei dem Schmerzen auftreten

Umgekehrter In Bauchlage passiv im Kniegelenk beugen: Wurzelreizung L3/L4


Lasègue Pat. hebt Hüfte auf der betroffenen Seite an

Kernig In Rückenlage Hüfte u. Knie 90° beugen, Wurzelreizung L5/S1 o.


dann das Knie strecken: Lumbale Schmerzen meningeale Reizung

Brudzinski Passive Kopfbeugung nach vorn: Pat. zieht Meningeale Reizung,


Bein an Meningitis

Lhermitte Passive Kopfbeugung nach vorn: Kribbelnde Chron. Entz., raum­


Dysästhesien in Armen u. Rücken fordernde Prozesse
des Halsmarks, MS
   1.1  Neurologische Anamnese und Untersuchung  19

1.1.10 Primitivreflexe
Brudzinski-Zeichen
Definition 1
Syn.: Instinktbewegungen. Zeichen ei-
ner generalisierten, fortgeschrittenen
organischen Hirnschädigung (De-
menz ▶ 23.2, arteriosklerotische Enze-
phalopathie ▶ 7.4.2).

Greifreflex
Hakeln nach ruckartigem Bestreichen Kernig-Zeichen
der Handinnenflächen des Pat. mit
den eigenen Fingerspitzen.

Gegenhalten
Bei ruckartiger passiver Streckung des
gebeugten Arms: Pat. lässt sich aus
dem Liegen hochziehen.

Orales Greifen
• Mundöffnung, Saugen o. Hinwen-
dung bei perioraler Berührung
(Saugreflex). Lasègue-Zeichen
• Palmomentalreflex: Bei Bestrei-
chen des Daumenballens von prox.
nach distal mit einer Nadel Kon-
traktion des ipsilat. M. triangularis
(Kinnmuskulatur). Palmomental-
reflex schon frühzeitig bei atrophi- Abb. 1.17  Brudzinski-, Kernig- u.
schen Hirnprozessen nachweisbar Lasègue-Zeichen [L106]
(Alkoholenzephalopathie, M. Par-
kinson), Greif- u. Saugreflex nur
bei schwerer Hirnschädigung.

Pathologisches Lachen und Weinen


Enthemmungsphänomen angeborener Ausdrucksbewegungen. Nicht situations-
angepasst, spontan o. nach unspezifischen Stimuli, häufig auch abrupter Wechsel
zwischen Lachen u. Weinen; keine affektive Beteiligung des Pat. → bei Demenz u.
zentralen Bewegungsstör. (Pseudobulbärparalyse, Chorea, Athetose).

1.1.11 Neuropsychologische Untersuchung
▶ Tab. 1.6.
20 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Tab. 1.6  Psychopathologische Befunderhebung (▶ 1.2.1)


Untersuchte Untersuchung Befund
1 ­Bereiche

Orientierung Nach Namen, Datum, Ort, Um­ Falsche o. keine Angaben zu


ständen des Aufenthalts fragen Zeit, Ort, Situation, Person

Wahrnehmung Perimetrie, Explorationsdias, Le­ Zerebrale Sehstör. (z. B. Hemi­


sen, Farbtafeln, Objekt- u. Ge­ anopsie, Farb-, Objekt-, Gesich­
sichtererkennungstests teragnosie, visuelle Reiz­
erscheinungen u. Illusionen)

Räumliche Z. B. Linienhalbierung, Messung Visuell-räumliche, räumlich-


Leistungen der subjektiven Vertikalen, Zeich­ konstruktive Stör., Körpersche­
nen von (3D-)Objekten (Uhr mit mastör., topografische Orientie­
Uhrzeit, Haus), Benennen von rungsstör.
Gliedmaßen, räumliches Zurecht­
finden in örtlicher Umgebung

Neglekt (visuell, Beobachtung (Anstoßen, Überse­ Vernachlässigung einer Raum-


akustisch, so­ hen von Personen u. Gegenstän­ u. Körperhälfte
matosensorisch, den), Lesen, Ansprechen, Berüh­
multimodal) rung, Doppelsimultanstimulation

Aufmerksam­ Reizzuwendung in standardisier­ Gerichtete Aufmerksamkeit ↓,


keit ten Tests (▶ 1.2.2) (Ablenkbarkeit ↑), Verarbei­
tungsgeschwindigkeit ↓, Belast­
barkeit ↓

Gedächtnis Anamnese (Eigen- u. Fremdana­ • Amnesie anterograd: Ar­


mnese), Testaufgaben (▶ 1.2.2) beits-, Kurzzeit-, Langzeitge­
dächtnis ↓; prospektives Ge­
dächtnis ↓,
• Amnesie retrograd: Autobio­
grafisches u. semantisches
Altgedächtnis ↓

Planen u. Pro­ Testaufgaben, Tagesplanung Handlungsabläufe können


blemlösen nicht (richtig) beschrieben wer­
den, mangelnde Kontroll- u.
Umstellungsfähigkeit

Sprache Prüfung von Spontansprache, Broca-, Wernicke-, Global­


(▶ 3.14.1) Benennen, Lesen, Schreiben, aphasie, amnestische, transkorti­
Textverständnis (Aachener kale Aphasien; Sprachfluss ↓,
Aphasietest ▶ 1.2.2) -anstrengung ↑, Paraphasien (se­
mantisch = Wort-, phonematisch
= Lautverwechslung), Wortfin­
dung ↓, Sprachverständnisstör.

Rechnen Rechenaufgaben (Grundrechen­ Akalkulie


arten)

Praxie Imitation bedeutungsloser Ges­ Ideomotorische, ideatorische


(▶ 3.14.2) ten, Durchführen einfacher Apraxie (Einzelbewegungen
Handlungen (z. B. Papierlochen) können nicht mehr richtig
durchgeführt, bzw. nicht zu ei­
nem Bewegungsablauf zusam­
mengestellt werden)

Krankheitsein­ Anamnese Anosognosie: mangelnde o.


sicht fehlende Einsicht in krankheits­
bedingte Beeinträchtigungen
  1.2 Psychiatrische Untersuchung  21

1.1.12 Untersuchung vegetativer Funktionen


Stuhl- und Urinanamnese 1
Unwillkürlicher Abgang bei Krampfanfall (▶ 11.1), Retention bei spinalen Läsio-
nen (▶ 14), Inkontinenz bei MS (▶ 10.1).

Zeichen vegetativer Labilität


Schweißneigung (Delir ▶ 23.1, Hyperthyreose), Dermografismus.

Minor-Schweißversuch
Ind.: Lokalisationsdiagn. bei RM-Erkr. (Schädigung der zentralen Sympathikus-
leitung).

Ninhydrin-Test
Ind.:
• Schäden peripherer Nerven o. des zervikalen Grenzstrangs.
• DD Wurzel- u. Plexusschaden (Schweißsekretion bei Plexusschaden gestört,
bei Wurzelschaden o. spinaler Läsion nicht).
• Differenzierung zwischen prä- u. postganglionärem Horner-Sy. (▶ 3.1.5).
Durchführung: Zu untersuchende Körperregion (Hand, Fuß o. Stirn) auf
Schreibmaschinen- o. Löschpapier drücken, Umrisse einzeichnen. Papier mit 1 %
Ninhydrin in Azeton tränken u. trocknen lassen.
Bewertung: Violettverfärbung durch Reaktion von Aminosäuren des Schweißes
mit Ninhydrin. Bezirke ohne Schweißsekretion bleiben weiß.

Kardiale Diagnostik
Ind.: Synkopen-Abklärung (▶ 11.2.1), vegetative Mitbeteiligung bei PNP (▶ 19) o.
GBS (▶ 19.9.1).
Schellong-Test: RR- u. Pulsmessung im Liegen, dann Pat. rasch aufstehen lassen
u. erneut mehrmals RR u. Puls messen. Pos. (= path.) bei Abfall des syst. RR um
> 30 mmHg bzw. RRsyst. im Stehen auf < 80 mmHg.
EKG: Bestimmung der RR-Interpeak-Latenzen. Frequenzstarre bei tiefer Einat-
mung weist auf Schädigung des autonomen Reflexbogens (z. B. bei GBS, PNP)
hin.

1.2 Psychiatrische Untersuchung
Zur psychiatrischen Unters. gehören Anamnese, psychopath. Befund, körperl.
Unters., ggf. Laborunters. (z. B. Drogenscreening) u. psychologische Tests. Auf
Emotionen achten, die der Pat. entgegenbringt (Übertragung konflikthafter
Einstellungen) u. die er beim Untersucher hervorruft (Gegenübertragung).

1.2.1 Psychiatrisches Untersuchungsgespräch

Beginn von therap. Beziehung u. Behandlung, dient dem Aufbau eines Arbeits-
bündnisses zwischen Arzt u. Pat. Wichtig sind Zeit, Geduld u. eine ungestörte
Gesprächssituation.
22 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Gesprächsführung
Grundlagen
1 Uneingeschränkte, teilnahmsvolle Zuwendung des Untersuchers, keine Äuße-
rung von Kritik. Ggf. Hilfestellung durch offene Fragen, unterstützende Bemer-
kungen o. direktes Ansprechen von Gefühlen. Zunächst möglichst freie Ge-
sprächsführung, dann gezielte Exploration. Suggestivfragen sind überwiegend zu
vermeiden. Abschließend Vorschläge des Arztes zur Diagn. u. Ther.
Durchführung
Unstrukturiertes Interview:
• Pat. soll Thema selbst wählen u. frei über Beschwerden, Sorgen u. Ängste er-
zählen; überwiegende Frageform: Offene Fragen.
• Hinweise auf psychopath. Sympt.:
– Gestik, Mimik, Haltung, Gang bei Antriebs-, Affektstör. u. Sinnestäu-
schungen (z. B. Unruhe, Apathie, Grundstimmung, Reaktion auf Affekte).
– Sprache u. Gesprächsführung bei Affekt- u. Denkstör., z. B. Sprechge-
schwindigkeit, Logik, Zusammenhang, Inhalt des Gesagten (z. B. gestei-
gertes Selbstwertgefühl, wahnhafte Interpretationen), Ausdrucksweise.
– Lückenhafte Erzählungen, Konfabulationen u. Perseveration (Festhalten
an alten Begriffen/Themen, die nicht mehr in den Gesprächszusammen-
hang passen) bei Stör. der Gedächtnisfunktion.
Strukturiertes Interview:
• Untersucher bestimmt Gesprächsrichtung. Ind.: Hinweise auf psychopath.
Sympt. zur Eingrenzung der Sympt. u. Exploration der Sympt., fließender
Übergang in psychopath. Befunderhebung. Überwiegend gezielte offene u.
Alternativfragen, d. h. Pat. hat zwei Antwortmöglichkeiten.
• Vervollständigung der Anamnese:
– Aktuelle Erkr.: Beginn, Auslöser, Sympt., bisherige Ther., Motivation zur
Ther., Erwartungen an Ther.
– Vorerkr.: Körperl. u. psychisch, evtl. Ther., Medikamenteneinnahme (was
hat früher geholfen), Suizidversuche in der Vorgeschichte/Familie.
– Suchtanamnese: Nikotin, Alkohol, Drogen.
– Pat.-Biografie: Geburtsverlauf, frühkindl. Erkr., Beziehung zu Eltern u.
Geschwistern.
– Sexualität: Erste sexuelle Kontakte, Fantasien, Neigungen.
– Familie: Psychische u. körperl. Erkr. bei Verwandten 1. Grades.
– Sozialanamnese: Aktuelle Lebenssituation, Schule/Beruf, Ehe/Familie,
Kriminalität.
– Fremdanamnese: Angehörige, Freunde, Hausarzt (v. a. nach Suizidver-
such. Einwilligung des Pat. einholen).
– Konfliktklärung: Bei Hinweisen auf intrapsychische Konflikte o. äußere
Belastungssituationen auslösende Lebensumstände genauer beleuchten.
Verstärkende u. abschwächende Faktoren, Folgen für Pat., Einstellung des
Pat. zu Beschwerden.

Psychopathologische Befunderhebung (▶ Tab. 1.7)

Bei Bewusstseinsstör., mangelnder Fähigkeit (z. B. bei Aphasie) o. Bereit-


schaft des Pat. zum Gespräch, schriftliche Dokumentation des aktuellen Zu-
stands u. Fremdanamnese erheben!
  1.2 Psychiatrische Untersuchung  23

Tab. 1.7  Psychopathologische Befunde: Übersicht (▶ 1.1.10)


Störung Exploration und Hinweise Mögliche Befunde
1
Bewusstseinslage Reaktion des Pat. auf Ansprache, Bewusstseinsverminde­
(▶ 3.16.2) Aufforderungen u. Schmerzreize rung, -einengung, -ver­
schiebung

Orientierung (nicht Nach Namen, Datum, Ort fragen Fehlende o. falsche An­
o. falsch informiert, gaben zu Zeit, Ort, Per­
unscharf orientiert, son, Situation
verwirrt = desorien­
tiert)

Aufmerksamkeit u. Befolgt Pat. Anweisungen, ver­ Konzentrationsstör.,


Gedächtnis (▶ 3.16.3) steht er reale u. abstrakte Gedan­ Auffassungsstör., Stör.
verlangsamt, fehlend keninhalte? Nachsprechenlassen Kurz- u. Langzeitge­
von Zahlenreihen. Pat. soll sich dächtnis (Konfabulatio­
von Beginn bis Ende der Unters. 3 nen, antero- o. retrogra­
Worte merken. Nacherzählen von de Amnesie, Paramnesi­
Fabeln. Lückenhafte Erzählungen en ▶ 3.16.3)

Formales Denken Sprechgeschwindigkeit, Aus­ Gehemmt, verlangsamt,


(▶ 3.16.4; Tempo, In­ drucksweise, Sprache u. Ge­ umständlich, eingeengt,
halt u. Denkziel) sprächsführung, logische Zusam­ Perseveration, Ideen­
menhänge, Unterbrechungen des flucht, Vorbeireden, ge­
Gedankenablaufs sperrt, zerfahren o. in­
kohärent

Befürchtungen Muss der Pat. manche Dinge im­ Phobie (Agora-, Klaust­
(▶ 3.16.5), Zwang mer wieder tun bzw. Gedanken ro-, Akrophobie), Hypo­
(▶ 3.16.6) immer wieder denken, auch chondrie, Zwangsden­
wenn er weiß, dass das unsinnig ken (Zwangsideen, -vor­
ist? Hat er vor manchen Dingen stellungen, -gedanken,
bes. große Angst? Hat er Angst, -fragen, grübeln, -erin­
ernsthaft krank zu sein? nerungen, -befürchtun­
gen), Zwangshandlun­
gen (z. B. Zähl-, Wasch­
zwang)

Inhaltliches Denken Hat der Pat. den Eindruck, etwas Wahnstimmung, -wahr­
(▶ 3.16.4; Wahn, z. B. „unheimliches“ sei im Gange? nehmung, -einfall, syste­
Beziehungs-, Verfol­ Fühlt er sich durch Gesten u. An­ matisierter Wahn
gungs-, Eifersuchts-, deutungen anderer bes. ange­
Größen-, Verar­ sprochen? Stellt man ihn auf die
mungs- u. hypochon­ Probe? Will man ihm übel mit­
drischer Wahn) spielen? Fühlt er sich verfolgt?
Glaubt er, nicht da o. nicht leben­
dig zu sein? Hat er eine bes. Auf­
gabe, unerhörte Fähigkeiten?

Wahrnehmung u. Wendet sich der Pat. lauschend Halluzinationen (optisch,


Sinnestäuschungen ab o. macht abwehrende Hand­ akustisch, olfaktorisch),
(▶ 3.16.7) bewegungen? Illusionen

Ich-Erleben (▶ 3.16.8) Hat Pat. Veränderungen an sich Depersonalisation, Dere­


o. der Umgebung bemerkt o. ein alisation, Gedankenaus­
Entfremdungsgefühl? Glaubt er, breitung, -entzug, -ent­
sein Denken wird beeinflusst, ge­ eignung, -eingebung,
hören ihm seine Gedanken? Sind Fremdbeeinflussung,
die Ereignisse inszeniert o. von Transitivismus (Pat.
außen gemacht? schreibt seine Erlebnisse
anderen zu)
24 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Tab. 1.7  Psychopathologische Befunde: Übersicht (▶ 1.1.10) (Forts.)


Störung Exploration und Hinweise Mögliche Befunde
1
Stimmung, Affektivi­ Zukunftsvorstellungen, berufli­ Angst, depressive o. be­
tät, affektive Reso­ che u. private Pläne. Fühlt der drückte Stimmung, Ge­
nanz (▶ 3.16.9) Pat.? Kann er weinen? Wechselt fühl der Gefühllosigkeit,
die Stimmung rasch? Haben sich Affektarmut, Parathy­
die Interessen gewandelt o. sind mie, Misstrauen, Affekt­
sie verloren gegangen? labilität, -inkontinenz,
-starrheit, Ambivalenz,
Dysphorie, Euphorie

Antrieb (▶ 3.16.10) Fällt es dem Pat. schwer, alltägli­ Antriebsarmut, Hem­


che Dinge zu erledigen? Unter­ mung, Mutismus, Stupor,
nimmt er mehr als üblich? Ist er Antriebssteigerung, mo­
innerlich unruhig? torische Unruhe, Logor­
rhö, Ambitendenz, Ste­
reotypien, Automatismen

Suizidalität Immer Suizid ansprechen! Latent: Latent o. akut


(▶ 3.16.11) Bestehen passive Suizidgedanken
(Wollen Sie morgens nicht mehr
aufwachen?)? Akut: Bestehen
konkrete Suizidpläne, -vorberei­
tungen? Kreisen die Gedanken
um Selbstmord? Kann Pat. noch
an etwas anderes denken? Sind
Dritten gegenüber Andeutungen
gemacht worden?

Wahn
Bei V. a. Wahn behutsame Befunderhebung! Evtl. empfindet der Pat. den Un-
tersucher als Gegner! Steht er seinen eigenen Ideen sehr kritisch gegenüber,
kann ein offenes Gespräch unmöglich sein. Wahn wird meist nicht an der ob-
jektiven Unrichtigkeit der Behauptungen des Pat. erkannt, sondern an den mit
hohem Gewissheitsgrad vorgetragenen Begründungen.

1.2.2 Neuropsychologische und psychologische Testverfahren


▶ Tab. 1.8.
Nur bei anamnestischen Hinweisen auf eine bestimmte Stör. indiziert, kei-
nesfalls routinemäßig!

Tab. 1.8  Neuropsychologische und psychologische Testverfahren


Untersuchung Test Indikation

… der Auf- Zahlenverbin­ Messung der kognitiven Leitungs- u. Verarbei­


merksamkeit dungstest (ZVT) tungsgeschwindigkeit (z. B. nach Hirnschäden)

Aufmerksamkeits­ Prüfung von visueller Aufmerksamkeit u. Kon­


belastungstest zentrationsfähigkeit. Erfassung organisch be­
dingter Leistungseinbußen unabh. von Intelli­
genz u. Bildung
  1.2 Psychiatrische Untersuchung  25

Tab. 1.8  Neuropsychologische und psychologische Testverfahren (Forts.)


Untersuchung Test Indikation
1
… des Selektiver Quantifizierung der verbalen Lern- u. Ge­
Gedächt­nisses ­Reminding-Test dächtnisleistung. Diagnostik demenzieller Er­
kr. Überprüfung der Gedächtnisleistung nach
Hirnverletzungen

Wechsler Memory Prüfung kurzfristiger Behaltensleistungen


Scale (WMS)

… von Mini Mental State Erstdiagnose, Verlaufskontrolle unter Ther.


Demenz (MMS)

DemTect Erstdiagnose, Verlaufskontrolle unter Ther.

Global Deteriora­ Globale Einschätzung des Demenzschwere­


tion Scale (GDS) grads; Erstdiagn., Verlaufskontrolle unter Ther.

Activities of Daily Beurteilung der Unabhängigkeit im tgl. Leben


Living (ADL)

Syndrom-Kurz-Test Schweregrad- u. Verlaufsbeurteilung bei De­


(SKT) menz

… der Hamburger-Wechs­ Beurteilung des Arbeitsverhaltens u. Beobach­


Intelligenz ler-Intelligenztest- tung der Versuchsperson unter Stress, Unters.
Serie für Erw. der verbalen u. nonverbalen Intelligenz unter
(HAWIE) o. für Kin­ Zeitdruck
der (HAWIK)

Progressiver Matri­ Rückschlüsse auf logisch kombinatorisches


zentest von Raven Denken, Erfassen räumlicher Beziehungen,
Unterscheiden u. Vergleichen

… der Sprache Aachener Aphasie­ Unterscheidung hirngeschädigter Pat. in apha­


test sische u. nicht aphasische Pat., Differenzierung
verschiedener Aphasieformen

Störungsbezogene psychiatrische Untersuchungsverfahren


Strukturiertes klin. Interview für DSM-IV (SKID-I u. SKID-II) Achse I: Psychi-
sche Stör./Achse II: Persönlichkeitsstör.: Ind.: Schnelle u. valide Diagnosestel-
lung nach DSM-IV bei Pat. mit psychischen Erkr. auf Achse I (affektive Stör., psy-
chotische Stör., Stör. durch psychotrope Substanzen, Angststör., somatoforme
Stör., Essstör. u. Anpassungsstör.) u. Achse II (Persönlichkeitsstör.). ▶ Tab. 1.9.

Tab. 1.9  Störungsbezogene psychiatrische Untersuchungsverfahren


Untersuchung … Test Indikation

… affektiver Stör. Hamilton-Depressions- Verlaufs- u. Ther.-Kontrolle bei De­


Skala (HAMD) pression, Überschätzung depressiver
Sympt. durch neurol. Beschwerden

Hamilton-Anxiety-Scale Unterscheidung von Angstsympt. u.


(HAMA) neurol. Beschwerden

… bei Pos. u. neg. Syndrom­ Diagn. u. Einordnung schizophrener


Schizophrenie skala (PANSS) Sympt.
26 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Tab. 1.9  Störungsbezogene psychiatrische Untersuchungsverfahren (Forts.)


Untersuchung … Test Indikation
1
… der Minnesota Multiphasic Erfassen hervorstechender Persön­
Persönlichkeit Personality Inventory lichkeitseigenschaften, v. a. für Grup­
(MMPI) penuntersuchungen geeignet

Münchner Persönlich­ Einschätzung von Persönlichkeitsver­


keitstest (MPT) änderungen postmorbide

… von Münchner Alkoholis­ Erfassen eines chron. Alkoholabusus


Abhängig­keit mustest (MALT)

Trierer Alkoholismusin­ Erfassen u. Einschätzen des Schwere­


ventar (TAI) grads eines chron. Alkoholabusus

… dissoziativer Strukturiertes klin. In­ Diagnostik u. Schweregradeinschät­


Stör. terview für dissoziative zung dissoziativer Stör.
Stör. (SKID-D)

… von Essstör. Strukturiertes Inventar Erfassung u. Differenzierung von


für anorektische u. bu­ ­Essstör. u. der häufig auftretenden
limische Essstör. nach Komorbiditäten (Angst, Depression,
DSM-IV u. ICD-10 (SIAB) Alkohol- u. Drogenprobleme)

1.2.3 Der psychiatrische Notfallpatient


Bewusstseinsstör. ▶ 3.16.2, Suizidalität ▶ 3.16.11, akute psychotische Sympt., aku-
te Angst ▶ 3.16.5, Delir ▶ 23.1.

Ein sehr gefährlicher u. häufiger Fehler ist es, bei einer vermeintlich psychia-
trischen Notfallsituation eine ernste therapierbare somatische Erkr. zu über-
sehen (z. B. Aggressivität o. Verwirrtheit aufgrund z. B. Hypoglykämie, SDH;
Stupor bei Morphinintox.), deshalb bei körperl. Unters. bes. auf mögliche
somatische Urs. achten!

Vorgehen
• Orientierung über Bewusstsein, Vitalfunktionen.
• Bei bewusstseinsgestörten Pat. (▶ 3.16.2), bei Kontaktfähigkeit groben psy-
chopath. Befund erheben (▶ 1.2.1).
• Zu beachten:
– Ruhig bleiben, beim Pat. möglichst Vertrauen erwecken.
– Mit allen Beteiligten sprechen, Fremdanamnese trägt oft wesentlich zur
Diagn. bei o. ist sogar einzige Informationsquelle.
– Mit Pat. möglichst alleine reden. Cave: Nicht bei aggressiven Pat.
– Uneingeschränktes Akzeptieren u. ernst nehmen von Sorgen, Befürchtun-
gen, Wahnvorstellungen o. Fehlinterpretationen des Pat.

Psychiatrische Indikation zur notfallmäßigen stationären Einweisung


• Selbst- o. Fremdgefährdung.
• Desorientiertheit.
• Nicht zu dämpfende, panikartige Angst, Erregungszustand.
• Stupor.
• Bei Verweigerung des Pat. u. Erfüllung der entsprechenden Vorausset-
zungen Zwangsunterbringung (▶ 1.3.6).
   1.3  Rechtliche Aspekte der medizinischen Behandlung  27

1.3 Rechtliche Aspekte der medizinischen


Behandlung 1
1.3.1 Die Geschäftsfähigkeit des Patienten
Definition
Fähigkeit, selbstständig rechtlich wirksame Handlungen u. Geschäfte zu tätigen u.
bindende Erklärungen abzugeben. Sie ist Voraussetzung für den Abschluss eines
rechtlich bindenden Behandlungsvertrags zwischen Arzt u. Pat. Voraussetzung ist
die freie Willensbestimmung (Fähigkeit der freien Willensbildung u. -äußerung).

Bei Notfällen besteht in jedem Fall Behandlungspflicht.

Einteilung
• Unbeschränkt geschäftsfähig: Jeder Volljährige (in Deutschland ab 18 J.).
• Beschränkt geschäftsfähig: Kinder zwischen 7 u. 18 J. Eltern müssen zustim-
men. Zustimmung kann bei risikoarmen Behandlungen ohne stationären
Aufenthalt (z. B. Nähen einer Platzwunde) i. d. R. vorausgesetzt werden.
• Geschäftsunfähig sind Kinder < 7 J. u. Bewusstlose sowie:
– Pat. mit länger dauernder Stör. der Geistestätigkeit (ab mehreren Wo.),
die eine freie Willensbestimmung ausschließt (z. B. Korsakoff-Sy. nach
schwerem, chron. Alkoholmissbrauch). Bei kurzfristigen Stör. (z. B. Blut-
alkoholkonzentration ab ∼3 ‰, Drogen, hohes Fieber) bleibt der Pat. ge-
schäftsfähig. Nur die Willensäußerungen, die in diesem Zustand abgege-
ben werden, sind mit ihren rechtlichen Konsequenzen unwirksam.
– Pat., die generell nicht in der Lage sind, Entscheidungen von vernünftigen
Erwägungen abhängig zu machen; nicht bedingt durch reine Willens-
schwäche o. leichte Beeinflussbarkeit (§ 104 BGB).

Rechtliche Konsequenz fehlender Geschäftsfähigkeit


Die Willenserklärung (z. B. Einwilligung zu medizinischem Eingriff) des Pat. u.
damit der Behandlungsvertrag zwischen Arzt u. Pat. ist rechtlich unwirksam; nur
der gesetzliche Vertreter kann rechtlich wirksame Erklärungen abgeben.

Gesetzliche Vertreter bei fehlender oder beschränkter


Geschäftsfähigkeit
• Minderjährige: I. d. R. die Eltern gemeinsam. Ansonsten der Vormund des
Kindes.
• Erw. (§ 1 896 BGB): Betreuer (▶ 1.3.5) o. durch Vorsorgevollmacht bevoll-
mächtigte Person.

1.3.2 Einwilligung
Definition
Rechtsgrundlage für eine ärztliche Maßnahme. Jede Verletzung der physischen o.
psychischen Integrität des Pat. ist eine Körperverletzung, die straf- u. zivilrechtli-
che Folgen (z. B. Schmerzensgeldansprüche) haben kann.
28 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Auch bei Blutentnahmen, Injektionen o. Medikamentengabe muss der Pat.


einwilligen!
1
Bedeutung einer Einwilligung
• Einverständnis mit einer medizinischen Maßnahme (z. B. medikamentöser o.
op. Ther.).
• Zustimmung zur Gefahr u. Verzicht auf Schadenersatz im Fall einer Schädi-
gung, über deren Risiko aufgeklärt wurde; nicht bei Behandlungsfehlern.
• Ausschluss von Strafbarkeit für die Ther.-Maßnahmen (bzw. KO), in die der
Pat. eingewilligt hat (bzw. über die er aufgeklärt wurde). Pat. muss gegenüber
dem Arzt einwilligen, der den Eingriff vornimmt.

Voraussetzungen für die rechtliche Wirksamkeit einer Einwilligung


• Sie wurde nicht unter Täuschung, Drohung o. Zwang erteilt.
• Sie erfolgte in Kenntnis der Tragweite u. Folgen, d. h. nach entsprechender,
rechtzeitiger Aufklärung.
• Die ärztliche Maßnahme dient dem therap. Wohl des Pat. (Schutzmaßnah-
men sind zulässig, wenn der Pat. andere gefährdet).
• Zur Einwilligung berechtigte Personen: ▶ Tab. 1.10.
Tab. 1.10  Zur Einwilligung berechtigte Personen abhängig vom Alter des
­Patienten
Alter Psychische/physische Besonderheiten Zur Einwilligung berechtigte
Personen

< 7 J. Gesetzlicher Vertreter (Eltern,


Elternteil, Vormund). Bei kom­
plikationsträchtigen Eingrif­
fen beide Elternteile, ausge­
nommen ein Elternteil ist al­
lein personensorgeberechtigt

7–18 J. Eingriff ist aufschiebbar u. hat möglicher­ Gesetzlicher Vertreter (s. o.)


weise weitreichende Konsequenzen; Min­
derjähriger kann Bedeutung u. Tragweite
nicht erfassen, ist bewusstlos o. sonst nicht
in der Lage, seinen Willen zu äußern

Minderjähriger ist aufgrund seiner geisti­ Minderjähriger selbst; in Zwei­


gen u. sittlichen Reife in der Lage, die Be­ felsfällen u. bei aufschiebba­
deutung u. Tragweite des vorgesehenen ren Behandlungen immer vor­
Eingriffs zu erfassen (Beurteilung durch her Einverständnis der Eltern
den Arzt) einholen

> 18 J. Pat. ist in der Lage, Bedeutung u. Konse­ Pat. selbst


quenzen des Eingriffs zu erfassen

Pat. kann Bedeutung u. Konsequenzen Gerichtliche Entscheidung. Ini­


der ärztlichen Maßnahme nicht erfassen tial Behandlung im Rahmen
o. nicht nach dieser Einsicht handeln (gro­ des Handelns ohne Einwilli­
ßer Ermessensspielraum des Arztes): gung (s. o.), danach gerichtli­
• Aufschiebbarer Eingriff che Entscheidung
• Nicht aufschiebbarer Eingriff
   1.3  Rechtliche Aspekte der medizinischen Behandlung  29

Tab. 1.10  Zur Einwilligung berechtigte Personen abhängig vom Alter des
­Patienten (Forts.)
Alter Psychische/physische Besonderheiten Zur Einwilligung berechtigte 1
Personen

Pat. steht unter Betreuung für Aufgaben­ Betreuer/Bevollmächigter


bereich „ärztliche Maßnahmen“ o. Vorlie­
gen einer entsprechenden Vorsorgevoll­
macht

Pat. ist bewusstlos o. sonst nicht in der La­ Initial Behandlung im Rahmen
ge seinen Willen zu äußern des Handelns ohne Einwilli­
gung, danach Entscheidung
des Betreuers bzw. des Gerichts

Voraussetzungen für einen Eingriff ohne Einwilligung


Pat. kann o. darf nicht in den Eingriff einwilligen (Bewusstlosigkeit, Betreu-
ung).
• Der Eingriff ist nicht aufschiebbar (z. B. bei Lebensgefahr). Werden zu-
sätzliche, aufschiebbare Maßnahmen vorgenommen (z. B. elektive Ap-
pendektomie bei Übernähung eines rupturierten Magenulkus), ist der
gesamte Eingriff unzulässig u. somit strafbar.
• Nach ärztlicher Einschätzung würde der Pat. seine Einwilligung in den
Eingriff nach entsprechender Aufklärung erteilen.
Bei Minderjährigen gilt außerdem:
• Gefährden Eltern Leben o. Gesundheit eines Kindes durch die Ableh-
nung einer medizinisch notwendigen Behandlung (z. B. OP, Bluttransfu-
sion), kann die Entscheidung der Eltern durch eine vorläufige Anord-
nung des Vormundschaftsgerichts gemäß § 1.846 BGB (▶ 1.3.6, Unter-
bringung Minderjähriger) ersetzt werden.
• Dringend erforderliche lebensrettende Maßnahmen sind ohne Entschei-
dung des Vormundschaftgerichts zulässig.

1.3.3 Aufklärungspflicht

Die Aufklärung über alle relevanten Umstände der vorliegenden Erkr. u. ih-
rer Ther. (mit typ. Risiken) ist Grundvoraussetzung für die rechtliche Wirk-
samkeit der Einwilligung (▶ 1.3.2).

• Umfang: Abh. von Dringlichkeit u. Sachkundigkeit des Pat., seinem Bil-


dungsgrad u. bestehenden Wahlmöglichkeiten; immer Aufklärung über typ.
Risiken unabhängig von der KO-Rate.
• Bei geplanten Eingriffen mind. 2 d vorher. Cave: Keinesfalls nach Prämedika-
tion!
• Möglichst mehrfache Aufklärung (evtl. mit Angehörigen).
• Schriftliche Dokumentation des Aufklärungsgesprächs mit Unterschrift des
Pat. u. evtl. Zeugen (späteres Beweismittel!).
30 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Bes. sorgfältige Aufklärung bei neuen Behandlungsmethoden, zweifelhafter


OP-Ind., diagn. Eingriffen o. erhöhtem Misserfolgsrisiko.
1
1.3.4 Schweigepflicht

Der Arzt muss über alle Tatsachen schweigen, die er vom Pat. im Rahmen der
Arzt-Pat.-Beziehung erfährt. Verletzung: Geld- o. Freiheitsstrafe möglich.

Bruch der Schweigepflicht


• Im gerichtlichen Verfahren ist der Arzt nicht verpflichtet, über Lebenssach-
verhalte auszusagen, die ihm im Rahmen der Arzt-Pat.-Beziehung bekannt
geworden sind, wenn er nicht durch den Pat. von der Schweigepflicht ent-
bunden wurde.
• Im Zusammenhang mit gerichtlichen Gutachten.

1.3.5 Betreuung, Vorsorgevollmacht
Ein Betreuer ist ein von Amts wegen bestellter gesetzlicher Vertreter für Aufga-
ben, die der Betreute nicht selbst besorgen kann; Abstufungen sind möglich.

Voraussetzung
Pat. ist infolge einer Krankheit o. Behinderung nicht in der Lage, seine Angelegen-
heiten selbst zu besorgen. Umfasst psychische (konkretisiert durch fachpsychiat-
risches Gutachten, z. B. bei Schizophrenie) u. geistige Behinderung. Körperl. Be-
hinderung: Wenn ein Pat. trotz geistiger Wachheit kaum in der Lage ist, seinen
Willen zu äußern (z. B. bei Aphasie nach Schlaganfall).
Selbsthilfe o. Vorsorgemaßnahmen (z. B. Vorsorgevollmacht, Organisation einer
häuslichen Pflege) haben generell Vorrang vor Anordnung einer Betreuung.
Vorsorgevollmacht: Pat. kann im Voraus für den Fall, dass er selbst nicht mehr
dazu in der Lage ist, eine andere Person bevollmächtigen, für ihn alle o. genau
spezifizierte Aufgaben zu erledigen. Schriftliche Vollmacht, notarielle Beurkun-
dung nicht erforderlich. Für die Einwilligung in einen lebensbedrohlichen Eingriff
o. beim Risiko dauernder schwerer Schäden durch einen Eingriff muss der Aufga-
benbereich „ärztliche o. medizinische Maßnahmen“ genannt sein. Der Bevoll-
mächtigte ist an Bestimmungen einer ggf. vorliegenden Pat.-Verfügung gebunden.
Die Entscheidung über eine Unterbringung (▶ 1.3.6) bedarf auch bei Vorliegen
einer Vorsorgevollmacht vorheriger richterlicher Genehmigung.

Vorgehen bei Antrag auf Betreuung


• Schriftlicher Antrag durch Arzt o. Angehörige (Diagn., Begründung der Not-
wendigkeit) auf Betreuung nach § 1.896 BGB beim zuständigen Vormund-
schaftsgericht (Deutsche: Wohnort; Ausländer: Abh. vom Klinikstandort).
• Vormundschaftsgericht leitet Verfahren ein, hört Betroffenen (ggf. auch An-
gehörige) in möglichst vertrauter Umgebung an, lässt ein ärztliches Gutach-
ten (i. d. R. psychiatrisch) mit der Frage erstellen, welche Aufgaben der Pat.
nicht mehr selbstständig erledigen kann, entscheidet über Erfordernis einer
Betreuung u. die entsprechenden Aufgabenbereiche (z. B. Vermögenssorge,
Sorge für Gesundheit u. Zustimmung zu ärztlichen Maßnahmen).
   1.3  Rechtliche Aspekte der medizinischen Behandlung  31

• Besteht eine Betreuung für den Aufgabenbereich „Aufenthaltssorge“, kann


der Betreuer für den Betreuten eine Unterbringung (▶ 1.3.6) anregen.
1
1.3.6 Unterbringung
Definition
Zwangsweises Festhalten eines Pat. gegen seinen Willen in einem psychiatrischen
Krankenhaus o. an einem anderen geeigneten Ort nach öffentlichem, Zivil-, o.
Strafrecht. Letztes Mittel, wenn der Pat. sich nicht von der Notwendigkeit der
Aufnahme überzeugen lässt. Dauert an, bis Gefahr für Pat. o. Dritte beseitigt
wurde.

Die gerichtliche Entscheidung über Unterbringung des Pat. muss innerhalb


von längstens 24 h nach Einweisung vorliegen.

Öffentlich rechtliche Unterbringung


In jedem Bundesland landesrechtlich unterschiedlich geregelt. Schnellste Form
der Unterbringung.

Immer im akuten Notfall, v. a. nachts u. am Wochenende.

• Voraussetzungen:
– Pat. ist psychisch krank o. wegen Geistesschwäche o. Sucht psychisch ge-
stört u.
– Pat. stellt eine erhebliche Gefahr für sich selbst (Suizid- o. schwere Selbst-
verstümmelungsgefahr) o. für die Allgemeinheit dar.
• Vorgehen:
– Arzt o. andere Person benachrichtigt das Landratsamt (ist dieses nicht er-
reichbar die Polizei) formlos (telefonisch) u. beantragt die Unterbringung.
Sind die Voraussetzungen für die Unterbringung erfüllt, kann das Land-
ratsamt o. die Polizei die vorläufige Unterbringung eines Pat. nach
PsychKG (je nach Bundesland) in eine geschlossene Anstalt verfügen,
wenn eine einstweilige Anordnung durch das Vormundschaftsgericht
zeitlich nicht mehr rechtzeitig ergehen kann (z. B. nachts). In jedem Fall
beantragt das Landratsamt/die Polizei innerhalb von 24 h die Unterbrin-
gung nach PsychKG (je nach Bundesland) beim Vormundschaftsgericht.
– Der Arzt nimmt gegenüber dem Vormundschaftsgericht schriftlich Stel-
lung über die Voraussetzungen der Unterbringung.
– Ein Richter hört Pat. so rasch wie möglich an (Wochenende: Richterlicher
Notdienst) u. trifft eine einstweilige Entscheidung über die Unterbrin-
gung.
– Das Vormundschaftsgericht beantragt ein ärztliches Gutachten, führt eine
erneute Pat.-Anhörung durch u. holt die ihm erforderlich erscheinenden
Informationen ein. Auf dieser Grundlage trifft Vormundschaftsgericht die
endgültige Entscheidung über Unterbringung des Pat. Besteht für den Pat.
keine Gefahr mehr, wird die Unterbringung vom Vormundschaftsgericht
aufgehoben.
32 1  Tipps für die Stationsarbeit  

Bei der Einweisung durch die Polizei o. das Landratsamt u. bei der gerichtli-
chen Unterbringung hat das jeweilige psychiatrische Krankenhaus Aufnahme-
1 pflicht u., wenn ein solches nicht erreichbar ist, auch andere Krankenhäuser.

Zivilrechtliche Unterbringung
Vor allem zur medizinischen Behandlung.
• Voraussetzungen: Pat. mit psychischer Erkrankung bzw. geistiger o. seeli-
scher Behinderung bedarf der Unters. seines Gesundheitszustands, einer
Heilbehandlung o. eines ärztlichen Eingriffs, die jeweils die Unterbringung
erfordern, u. Pat. willigt wegen seiner psychischen Krankheit in die Unter-
bringung nicht freiwillig ein.
• Vorgehen: Antrag durch Arzt o. andere Person beim zuständigen Vormund-
schaftsgericht (in dessen Bezirk der Pat. seinen Wohnsitz hat bzw. das eine
bereits bestehende Vormundschaft o. Betreuung angeordnet hat) auf Unter-
bringung des Pat. In Eilfällen Antrag auf vorläufige Anordnung einer Unter-
bringung bei dem Gericht, in dessen Bezirk die Klinik liegt. 
Weiterer Verlauf ▶ Kap. 1.3.6, „Öffentlich rechtliche Unterbringung“.
Zivilrechtliche Unterbringung Minderjähriger
Zur Heilbehandlung: Auf Antrag der Eltern (des gesetzlichen Vertreters ▶ 1.3.2)
nach vorheriger Zustimmung des Familiengerichts gemäß § 1.631b BGB. Sind die
Eltern nicht erreichbar o. mit der Maßnahme nicht einverstanden, kann der Arzt
eine einstweilige Anordnung zur Unterbringung eines Minderjährigen nach
§  1 846 BGB beim zuständigen Gericht beantragen. Unterbringungsähnliche
Maßnahmen (z. B. Fixierung) sollten durch das Familiengericht genehmigt wer-
den.
Bei akuter Gefahr:
• Eltern/gesetzl. Vertreter können das Kind bei Suizidgefahr o. Gefahr von
Straftaten vorläufig ohne Einschaltung des Gerichts in eine geschlossene An-
stalt bringen. (Dieser Weg ist für die Eltern schneller als eine öffentlich recht-
liche Unterbringung.) Cave: Andere Personen müssen eine Unterbringung
nach öffentlichem Recht beantragen.
• Der Arzt muss das Gericht unverzüglich, d. h. bei nächtlicher Einlieferung am
nächsten Tag (Wochenende: Richterlicher Notdienst) benachrichtigen u. die
Unterbringung des Kindes nach § 1.631b BGB beantragen.
• Die Unterbringung ist bis zur Entscheidung des Vormundschaftgerichts auf-
rechtzuerhalten, es sei denn, es besteht aus medizinischer Sicht keine akute
Gefahr mehr für den Minderjährigen.
Zivilrechtliche Unterbringung eines unter Betreuung stehenden Erwachsenen
Auf Antrag des Betreuers/Bevollmächtigten; nur mit vorheriger Genehmigung
des Vormundschaftsgerichts nach § 1 906 BGB möglich. In folgenden Ausnahme-
fällen kann der Betreuer/Bevollmächtigte den Pat. selbst in eine geschlossene An-
stalt bringen:
• Bei akuter Selbstgefährdung aufgrund einer psychischen Krankheit o. geisti-
gen o. seelischen Behinderung (s. o.) o.:
• Ärztliche Behandlung des Betreuten ist unverzüglich erforderlich, ohne dass
er aufgrund seiner Krankheit o. geistigen o. seelischen Behinderung (s. o.) die
Notwendigkeit der Behandlung einsieht.
   1.3  Rechtliche Aspekte der medizinischen Behandlung  33

Entscheidung des zuständigen Gerichts über Unterbringung ist unverzüglich (bei


nächtlicher Einlieferung am nächsten Tag. Wochenende: Richterlicher Notdienst)
zu beantragen.
1
Ärztliche Maßnahmen gegen den Willen des Betreuten (bzw. Betreuers/Be-
vollmächtigten für den Bereich „ärztliche Maßnahmen“) sind rechtlich nur
zulässig, wenn sie dem Schutz von Leben u. Gesundheit des Betreuten die-
nen. Ansonsten muss das Vormundschaftsgericht über die ärztliche Maß-
nahme entscheiden.

Zivilrechtliche Unterbringung eines nicht betreuten Erwachsenen gemäß


§ 1 846 BGB

Kann nur durch das Vormundschaftsgericht angeordnet werden. Bei akuter


Selbst- o. Fremdgefährdung daher immer öffentlich rechtliche Unterbrin-
gung.

• Die Unterbringung muss so dringend sein, dass aus zeitlichen Gründen die
vorherige Bestellung eines Betreuers (Aufgabenbereiche: „Aufenthaltsbestim-
mung“, „ärztliche Maßnahmen“) für den Pat., der als gesetzlicher Vertreter
den Maßnahmen zustimmt, nicht möglich ist. Ist Dringlichkeit nicht gege-
ben, zuerst Antrag auf Einrichtung einer Betreuung (▶ 1.3.5).
• Wegen Dringlichkeit immer Antrag des Arztes auf einstweilige Anordnung
einer Unterbringung nach § 70h FGG, §§ 1 846, 1 908i BGB. Ist für den Arzt
absehbar, dass die Unterbringung länger (> 4–6 Wo.) dauern wird, sollte
gleichzeitig der Antrag auf Betreuung des Pat. gestellt werden (▶ 1.3.5).
Ggf. wird das Gericht auch von sich aus ein Verfahren zur Bestellung eines
Betreuers für den Pat. einleiten.

Strafrechtliche Unterbringung
• Im Vorfeld eines Strafverfahrens Antrag auf Unterbringung nach §§ 81, 126a
StPO durch den Staatsanwalt zur Erstellung eines medizinischen Gutachtens
o. zur einstweiligen Unterbringung, wenn dringende Gründe dafür sprechen,
dass der Beschuldigte eine Straftat im schuldunfähigen Zustand o. im Zu-
stand verminderter Schuldfähigkeit begangen hat.
• Nach Abschluss des Strafverfahrens im Rahmen des Strafvollzugs nach §§ 63,
64, 67a StGB, wenn im Strafurteil eine Unterbringung des Verurteilten ausge-
sprochen wurde. I. d. R. in geschlossener Abteilung eines psychiatrischen Lan­
deskrankenhauses.
2 Ärztliche Arbeitstechniken und
diagnostische Verfahren
Jürgen Klingelhöfer und Christian Bischoff

2.1 Liquoruntersuchungen 36 2.8 Doppler- bzw.


2.1.1 Liquorgewinnung 36 ­Duplex-Sonografie 68
2.1.2 Liquordiagnostik 38 2.8.1 Continuous-wave-Doppler-­
2.2 Elektroenzephalografie Sonografie (CW-Doppler) 69
(EEG) 45 2.8.2 Konventionelle und farbko-
2.2.1 Definition 45 dierte Duplex-Sonografie 71
2.2.2 Indikationen 45 2.8.3 Graduierung extrakranieller
2.2.3 Technik 45 Stenosen der A. carotis
2.2.4 Provokationsverfahren 47 ­interna 72
2.2.5 EEG-Auswertung 47 2.8.4 Transkranielle Doppler- und
2.3 Evozierte Potenziale 52 Duplex-Sonografie (TCD) 75
2.3.1 Definition 52 2.8.5 Untersuchung der
2.3.2 Visuell evozierte Potenziale ­Vasomotorenreserve 78
(VEP) 52 2.8.6 Emboliedetektion 78
2.3.3 Akustisch evozierte Potenziale 2.8.7 Nachweis paradoxer
(AEP) 54 ­Embolien 79
2.3.4 Motorisch evozierte Potenziale 2.9 Bildgebende Verfahren 79
(Magnetstimulation) 55 2.9.1 Röntgen-Nativ-Diagnostik 79
2.3.5 Somatosensibel evozierte 2.9.2 Computertomografie (CT) 82
­Potenziale (SSEP) 57 2.9.3 Magnetresonanztomografie
2.4 Elektroneurografie 59 (MRT) 86
2.4.1 Definition 59 2.9.4 Zerebrale Angiografie 89
2.4.2 Motorische und sensible 2.9.5 Myelografie 92
NLG 59 2.9.6 Emissionscomputertomo­
2.4.3 F-Welle 62 grafie 92
2.4.4 Repetitive 2.9.7 Kontrastmittel 93
­Nervenstimulation 63 2.10 Biopsien 94
2.4.5 Reflexuntersuchungen 63 2.10.1 Definition 94
2.5 Elektromyografie (EMG) 64 2.10.2 Nervenbiopsie 94
2.6 Sympathische Haut­ 2.10.3 Muskelbiopsie 94
antwort 67
2.7 Elektronystagmografie 67
36 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

2.1 Liquoruntersuchungen
2.1.1 Liquorgewinnung
Indikationen
Entzündl. Erkr. des ZNS, SAB, entzündl. Radikulopathie, Meningeosis carcino-
matosa et lymphomatosa.
2
Vorsicht bei Blutgerinnungsstör. u. Antikoagulanzienther. (Quick < 50 %,
PTT > 40 s, Thrombos < 30.000/μl), infektiösen Hauterkr. o. Abszessen im
Bereich der Punktionsstelle, erhöhtem Hirndruck (▶ 4.6). Bei klin. V. a. path.
Hirndruck reicht ein unauffälliger Papillenbefund nicht aus, um gefahrlos zu
punktieren; CT erforderlich.

Vorbereitung
• Pat. aufklären.
• In seltenen Fällen Prämedikation: Midazolam 2,5–5 mg i. v. (z. B. Dormi-
cum®), Atropin 0,5 mg i. v.
• Spiegelung des Augenhintergrunds zum Ausschluss einer STP als Hinweis
auf erhöhten Hirndruck.
• Bei klin. V. a. erhöhten Hirndruck (▶ 4.6) erst CCT.
• Venöse Blutentnahme zur Bestimmung von Gerinnungsparametern (cave: Ge-
rinnungsstör.!), gleichzeitig mind. 5 ml Serum für vergleichende Unters. Zur
Liquordiagn: BZ, Gesamtprotein, Albumin, Immunglobuline, Laktat (Glukose-
röhrchen!), evtl. Serologie zur späteren Interpretation der Liquorunters.
• 3 sterile Röhrchen mit Nr. 1, 2, 3 beschriften; bei V. a. Meningitis zusätzlich
Laktatröhrchen.

Durchführung
• Lagerung: Möglichst entspannte Rückenmuskulatur u. weitgehend ausgegli-
chene Lendenlordose. Daher im Liegen in Embryohaltung, Rücken an der
Bettkante; im Sitzen Kopfbeugung u. gekrümmte LWS. Ein Helfer sollte den
Pat. an den Schultern nach vorne halten.
• Haut 3× großflächig desinfizieren (strenge Asepsis). Ggf. Lokalanästhesie z. B.
mit Lidocain (z. B. Xylocain®).
• Punktion i. d. R. lumbal zwischen den Dornfortsätzen der LWK 4 u. 5 o. LWK
3 u. 4 (Verbindungslinie der Beckenkämme; ▶ Abb. 2.1, ▶ Abb. 2.2).
• Subokzipitalpunktion (Zisternalpunktion): Zwischen Hinterhauptsschuppe u.
zweitem Halswirbel. Bei entzündl. o. tumorösen Prozessen an der lumbalen
Punktionsstelle. Ggf. unter Bildwandlerkontrolle. Während der Punktion Ge-
sprächskontakt zum Pat. halten.
• Exakt in der Mittellinie mit leicht nach kranial geneigter Nadelspitze eingehen
(dünne, möglichst atraumatische Spinalnadel mit Mandrin). Nach Durchste-
chen des straffen Lig. interspinale u. Überwinden des etwas federnden Durawi-
derstands Mandrin zurückziehen, sodass der Liquor langsam abtropfen kann.
Tropft kein Liquor ab, Nadel mit Mandrin langsam weiter vorschieben.
– Liquordruckmessung mittels Steigrohr am liegenden Pat. (normal
6–18 cmH2O) bei Normaldruckhydrozephalus, Pseudotumor cerebri, SVT,
SAB.
  2.1 Liquoruntersuchungen  37

– Standardunters.: 3 Portionen Liquor zu je 2–4 ml in die 3 Röhrchen (Rei-


henfolge beachten) abtropfen lassen.
• Nadel herausziehen, Punktionsstelle komprimieren, steriles Pflaster.

L4 L5

Abb. 2.1  Orientierung am liegenden Pat. zur Liquorpunktion [L106]

Rückenmark

Ligamentum
supraspinale

Ligamentum L1
interspinale

Ligamentum L2
flavum

Epiduralraum
L3
Dura mater

L4
Subarach-
noidalraum
L5

S1
S2
S3
S4
S5

Abb. 2.2  Anatomische Strukturen bei der Lumbalpunktion [L157]


38 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Gibt der Pat. einen blitzartig ins Bein einschießenden Schmerz an, hat die
Nadel beim Vorschieben eine Nervenwurzel berührt. Zurückziehen der Na-
del. Nach Richtungskorrektur erneut vorschieben.

Nachbehandlung
4 h Bettruhe bei atraumatischer Nadel.
2
Komplikationen
• Abhängigkeit von Kanülenstärke: bei 20–22 G 20–30 % Nachbeschwerden,
bei atraumatischen Nadeln 2 %.
• Bei 20-G-Nadel: Kopfschmerzen (2–20 %), Schwindel (12 %), Übelkeit,
Brechreiz u. Erbrechen (19 %).
• Postpunktioneller Kopfschmerz: V. a. im Nacken, evtl. mit Erbrechen, Ver-
schlimmerung beim Aufrichten u. Stehen, Besserung im Liegen. Ther.: Pat.
liegen lassen, evtl. parenterale Flüssigkeitszufuhr (z. B. 2 × 500 ml NaCl 0,9 %).
• HN-Funktionsstör.: Selten. Hörminderung, N. abducens o. N. trigeminus be-
troffen.
• Lähmungserscheinungen: Selten bei intraspinalen Raumforderungen.
• Bakt. Meningitis: Sehr selten.
• Chron. SDH: Sehr selten bei wiederholten Lumbalpunktionen.

2.1.2 Liquordiagnostik
Verfahren
• Inspektion zur visuellen Beurteilung von Klarheit/Trübung, Farbe, Ge-
rinnselnachweis (bei sehr starker Proteinvermehrung o. Blutkontaminati-
on): Normal wasserklar, path. trüb, blutig, xanthochrom.
• Pandy-Test:
– 3–4 Tr. Liquor in 2 ml Pandy-Reagens (1 % Karbol-Lsg.).
– Ind.: Nachweis von denaturiertem Liquoreiweiß (starke Trübung).
• Bestimmung der Zellzahl: Unmittelbar nach LP, spätestens innerhalb von
60 Min. Leukozyten in der Fuchs-Rosenthal-Kammer mit einem Rauminhalt
von 3,2 μl zählen (daher früher Angabe in ⅓-Zellen); Erys dürfen nicht mitge-
zählt werden (▶ Tab. 2.1).
• Histologie: Zytologische Unters., Immunzytologie, Berliner-Blau-Färbung
(bei V. a. SAB), Bakteriennachweis (Gramfärbung, Bakterienkultur); bei ge-
ringer Zellzahl Anreicherung durch Vorzentrifugation (▶ Tab. 2.1).
• Weitere Bestimmungen:
– Glukose u. Laktat, Gesamteiweiß, Albumin u. IgG.
– Albuminquotient: AlbuminLiquor/AlbuminSerum × 1.000 zur Erfassung ei-
ner Schrankenstör. (leicht bei Werten > 8, mittelschwer bei Werten > 14,
schwer bei Werten > 20).
– IgG-Index: Erhöht bei intrathekaler IgG-Produktion. Genauere Beurtei-
lung der intrathekalen IgG-Synthese anhand des Reiber-Schemas (▶ Abb.
2.3): (IgGLiquor/IgGSerum)/(AlbuminLiquor/AlbuminSerum) < 0,7.
– Oligoklonale Banden mittels isoelektrischer Fokussierung (sensitive Me-
thode zum Nachweis einer intrathekalen IgG-Produktion). Ind.: V. a. ent-
zündl. ZNS-Erkr.
– IgA u. IgM zur Differenzierung entzündl. ZNS-Erkr.
  2.1 Liquoruntersuchungen  39

Tab. 2.1  Färbungen


Färbung nach May-Grünwald-Giemsa Gramfärbung

Bedeutung: Panoptische Standardfär- Bedeutung: Spezialfärbung zum Nachweis/


bung zur zytolog. Differenzierung der Differenzierung von Bakt. Gramneg. Bakt.
verschiedenen Liquorzellen wie sind rot, grampos. blau
­Lympho-, Mono-, Granulozyten

• Präparat 7 Min. in May-Grünwald- • Luftgetrocknetes Präparat (1 Tr. Liquor)


Lsg. (unverdünnt) eintauchen hitzefixieren (3× durch Flamme ziehen) 2
• Präparat waschen • 30–60 s in Kristallviolett-Lsg. eintauchen,
• 20–25 Min. in Giemsa-Lsg. eintau- danach mit Leitungswasser abspülen
chen • 30–60 s in Iod-Lsg. eintauchen, danach
• Präparat waschen u. trocknen mit Leitungswasser abspülen
• 30–60 s mit Alkohol entfärben, bis dieser
klar bleibt, danach mit Leitungswasser
abspülen
• 10–30 s in Karbofuchsin/Safranin eintau-
chen, mit dest. Wasser abspülen, Präpa-
rat trocknen lassen

100 x10 -3
QIgG
50
4 3

20 1 Normalbereich
2 Reine Schrankenstörung ohne
10 lokale lgG-Synthese
3 Schrankenfunktionsstörung mit
5 zusätzlicher lgG-Synthese im ZNS
2 4 Reine lgG-Synthese im ZNS ohne
5 Q Schrankenfunktionsstörung
2 1 Alb 5 In diesem Bereich finden sich aus
2 5 10 20 x10 -3 50 100 empirisch gesichertem Zusammen-
hang keine Werte, bzw. sind auf
Liquor/Serum-Quotientendiagramm Fehler bei der Blutentnahme oder
für lgG auf Analytikfehler zurückzuführen

Abb. 2.3  Reiber-Schema [L106]

In Speziallabors
Aktivierte B-Lymphozyten (in der Frühphase entzündl. ZNS-Erkr.), spezifi-
sche AK, β2-Mikroglobulin, Lysozym, NSE, Interferone, Kupfer, Coeruloplas-
min, Transferrin, ACE, Tumormarker, immunzytochem. Unters., Erreger­
diagn. inkl. Mikrobiologie, PCR (Nukleinsäurenachweis).
40 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Befunde
▶ Tab. 2.2.
Tab. 2.2  Beurteilung des lumbal entnommenen Liquors
Parameter Normalbefund Pathologischer Differenzialdiagno­
Befund sen

Farbe Wasserklar Sanguinolent, xan- SAB, Meningitis,


2 thochrom, trüb Enzephalitis,
Meningeose

Zellzahl < 5 Zellen/μl Pleozytose > 5 Zel-


len/μl

Differenzial­ ∼ ⅔ Lymphozyten, Verschiebung der Entzündl. Verände-


zellbild ∼ ⅓ Monozyten, ver- Zellverhältnisse, rungen, Meningeo-
einzelt ein Makro- transformierte se, Blutung
phage o. Granulozyt Lymphozyten, Plas-
mazellen, Granulo-
zyten, Erythro-, Si-
dero-, Makropha-
gen, Ependym- o.
Tumorzellen

Eiweiß Gesamtweiß 200– Gesamtprotein ↑, Entzündl. Reaktion,


400 (–530) mg/l, Al- autochthone Ak- metab. Stör.
bumin ≤ 340 mg/l, Produktion
IgG ≤ 40 mg/l, IgA
≤ 6 mg/l, IgM
≤ 1 mg/l

Glukose 45–75 mg/dl (2,5– Erhöhte o. vermin- Entzündl. Reaktion


4,2 mmol/l) bzw. derte Glukosekonz.
∼50 % des Serum-
werts

Laktat 10–20 mg/dl (1,2– Erhöht Tbc, bakt. Meningi-


2,1 mmol/l) tis

• Druck: Bei lumbaler Punktion 6–20 cmH2O (5–15 mmHg) im Liegen.


• Pleozytose: Entzündl. Erkr., Zellzahl leicht ↑ bei Tumoren, Traumen o. als
„Reizpleozytose“ (▶ Tab. 2.3).
– Reizpleozytose: Urs.: Artifiziell (bis etwa 2 Wo. nach vorangehender Li-
quorpunktion), nach Krampfanfall, bei Hirninfarkt, Blutung; geringe Zell-
zahl auch bei Varicella-Zoster-Ganglionitis, viralen Meningoenzephaliti-
den, mykotischer Meningitis.
– Signifikante Pleozytose: Zellzahl > 30/μl.
– < 500 Zellen/μl: Akute virale Meningitis, mykotische Meningitis, tuberku-
löse Meningitis, Neuroborreliose, Neurolus, Hirnabszess.
– > 500 Zellen/μl: Eitrige Meningitis.
  2.1 Liquoruntersuchungen  41

• Schrankenstör.: Albuminquotient ↑. Unspezifisch. Häufig bei Meningitiden,


GBS, Meningealkarzinose, diab. PNP, Hirntumor, -infarkt, Stoppliquor bei
spinalem Kompressionssy. (▶ Tab. 2.4).
• Intrathekale IgG-Synthese: IgG-Index (IgGLiquor/Serum)/(AlbuminLiquor/Serum):
≥ 0,7 (normal Quotient < 0,7). Bei entzündl. ZNS-Erkr., z. B. MS, Meningitis,
Enzephalitis, Neurolues, Neuroborreliose.
• Oligoklonale Banden:
– Pos. bei MS, Neuroborreliose, Meningitis, Enzephalitis (v. a. HIV-Infekti-
on, Herpes simplex), Neurolues, Polyradikulitis, Hirntumor. Empfind- 2
lichstes Kriterium einer autochthonen Immunreaktion im ZNS (bei ge-
sunden Probanden keine OKB im Liquor nachweisbar); nichtspezifisch
für MS o. andere entzündl. Erkr.
– Bestimmung nicht erforderlich, wenn IgG-Index < 0,40 u. IgG-Synthese-
rate = 0; IgG-Index > 0,80 u./o. IgG-Syntheserate > 10 %, da in diesen Fäl-
len das Fehlen o. der Nachweis der Banden keine zusätzliche Information
(intrathekale IgG-Synthese) liefert.
• Intrathekale IgA- u. IgM-Synthese:
– Reiber-Formel/-Diagramm dann normal: Wenn keine IgG-, IgM- o. IgA-
Synthese nachweisbar.
– Path. bei Syntheserate > 0 % im Rahmen einiger entzündl. ZNS-Erkr.
(▶ Tab. 2.5).
–  Reiber-Formel: Berechnung des Anteils intrathekal produzierter Immun-
globuline (IgG, IgM, IgA), bei Syntheserate > 10 % signifikante intratheka-
le Immunglobulin-Synthese
• AK-Index Liquor/Serum:
– Derzeit bestes serolog. Kriterium zum spezifischen Nachweis einer Infek-
tion des Nervensystems bei vermutetem Erreger.
– Berechnung: (IgG-AK-Titer Liquor/IgG-AK-Titer Serum)/
(IgG-Konzentration Liquor/Serum), analog auch für IgM.
– Grenzwert: Bei Ak-Bestimmungen im ELISA Werte > 2 meist path.

Falsch positive Befunde


Bei MS kann AK-Index für VZV, Masern, Röteln u. Mumps auch ohne Vor-
liegen einer akuten ZNS-Infektion durch diese Erreger (polyklonale Aktivie-
rung) erhöht sein.

• Liquor nach Blutungen:


– Bei Punktion blutigen Liquors im Rahmen der SAB-Abklärung u. bei V. a.
artifizielle Blutbeimengung unmittelbar danach ein Segment höher nach-
punktieren (nur sinnvoll, wenn im Sitzen punktiert wurde).
– Xanthochromie: 2 h nach Blutung.
– Nachweis von Hb im Liquor: Spektralfotometrische Messung des Li-
quorüberstands bei 415 nm. Normwerte für die Extinktion: < 0,025
normal, 0,025–0,05 bei Stichblutungen, 0,05–0,1 bei Sickerblutungen
(Oxy-Met-Hb), > 0,1 i. d. R. Hinweis auf subarachnoidale o. intrazere­
brale Blutung.
– Sensitivität bei SAB: In den ersten 2 Wo. 100 %, bis zu 3 Wo. 70 %, bis zu
4 Wo. 40 %.
42 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

– Ferritin: Ergänzender u. bes. sensitiver Parameter bei älteren o. kleineren


SAB. Normal < 10 ng/ml, bei artefizieller Blutbeimengung 10–15 ng/ml,
bei > 15 ng/ml Hinweis auf Blutung (Sensitivität 98 %, Spezifität 95 %);
Anstieg in den ersten 3 d nach SAB, persistiert über Wo. bis Mon.
– Differenzierung zwischen artifiziell traumatischer Blutung u. SAB: 3-Glä-
ser-Probe (Abnahme der Blutbeimengung im 3. Glas bei artifizieller Blut-
beimengung), Liquorüberstand nach Zentrifugation i. d. R. klar bei artifi-
zieller Blutbeimengung (aber auch bei ganz frischer SAB).
2 – Reizpleozytose: 2 h nach Blutung, initial lympho-granulo-monozytär,
nach 24 h Verschwinden der Granulozyten.
– Erythrophagen: 4–18 h bis ca. 1 Wo. nach Blutung.
– Siderophagen: 4 d bis 4 Wo. nach Blutung.
• Liquor bei degenerativen Erkr. (M. Alzheimer): Bestimmung von Tau-Pro-
tein u. β-Amyloidprotein Fragment β1–42 (Aβ42).
– Sensitivität 94 %, Spezifität bei Abgrenzung Alzheimer-Demenz gegen
nicht demente Kontrollpat. 89 %, gegen Lewy-Body-Demenz 67 %, gegen
vask. Demenz 48 %.
– Referenzwerte:
– Tau-Protein: Altersabhängig 21–50 J. < 300 ng/l, 51–70 J. < 450 ng/l,
71–93 J. < 500 ng/l.
–  β-Amyloid: Altersunabhängig > 500 ng/l.
• Liquorfistel: Nachweis von β-Trace-Protein (> 0,5 mg/l) im Nasensekret gilt
als Hinweis für eine Liquorfistel.

Tab. 2.3  Wichtige Liquorbefunde (nach Reiber)


Erkrankung Zellzahl/μl Aktivierte B- Quotient Al­ Lokale AK- Sonstige
Lymphozyten bumin × 103 Synthese

Eitrige > 300 + > 20 (Oligoklo- Bakterien,


Meningitis nale IgG, Neutro­
(▶ 9.3.1) IgA) phile ↑,
Glukose ↓,
Laktat ↑

Akute virale < 300 + < 20 Mononu­


Meningitis kleäres
(▶ 9.4.1) Zellbild

Mykotische < 300 Mononu­


Meningitis kleäres
(▶ 9.6) Zellbild,
Glukose ↓

Tuberkulöse < 300 + > 20 Kultur, Spe-


Meningitis zialfär-
(▶ 9.3.6) bung, Glu-
kose ↓, PCR

Tuberkulöse < 30 Oligoklo- Glukose ↓


Enzephalitis nale IgG,
(▶ 9.3.6) IgA

HSV-Enze- < 30 ∼ 20 (Oligoklo- Monozy-


phalitis nale IgG), ten, Makro-
(▶ 9.4.2) IgM phagen,
PCR
  2.1 Liquoruntersuchungen  43

Tab. 2.3  Wichtige Liquorbefunde (nach Reiber) (Forts.)


Erkrankung Zellzahl/μl Aktivierte B- Quotient Al­ Lokale AK- Sonstige
Lymphozyten bumin × 103 Synthese

VZ-Enze- < 300 (Oligoklo- PCR


phalitis nale IgG),
(▶ 9.4.5) IgM, spez.
AK

Masern-, < 300 (Oligoklo- 2


Mumps-Me- nale IgG,
ningoenze- IgA, IgM,
phalitis spez. AK)
(▶ 9.4.7)

FSME < 30 (Oligoklo-


(▶ 9.4.3) nale IgG,
IgM, spez.
AK)

Lyme-Borre- < 30 > 20 Oligoklo-


liose nale IgG,
(▶ 9.3.8) IgA, IgM!,
spez. AK

MS (▶ 10.1) < 30 + < 10 Oligoklo- Masern-,


nale IgG Röteln-,
VZV-AK,
Lympho-,
Monozyten

Chron. Me- < 30 + < 20 Oligoklo-


ningoenze- nale IgG
phalitis

Neurolues n, < 300 + Oligoklo- TPHA


(▶ 9.3.7) nale IgG,
spez. AK

SSPE n + Oligoklo- Masern-AK


(▶ 9.4.7) nale IgG,
spez. AK

HIV-Enze- Spez. AK RT-PCR,


phalitis ggf. Multi-
(▶ 9.4.8) plex-PCR

VZ-Polyradi- n, < 30 + Spez. AK


kulitis

Hirnabszess < 300 IgA Mononu­


(▶ 9.3.4) kleäre u.
neutrophile
Zellen

Parasitosen < 30 Eosinophile


des ZNS
(▶ 9.7)

GBS < 30 < 20, > 20 Bei para- u.


(▶ 19.9.1) postinfekti-
öser Form
Zellzahl/ml
< 300
44 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Tab. 2.3  Wichtige Liquorbefunde (nach Reiber) (Forts.)


Erkrankung Zellzahl/μl Aktivierte B- Quotient Lokale AK- Sonstige
Lymphozyten Albumin × Synthese
103

Diabet. PNP < 20


(▶ 19.5.1)

Alkoholi- < 10
2 sche PNP
(▶ 19.6.1)

ALS n < 10
(▶ 16.1.1)

Alzheimer- n < 10 Tau-Prote-


Krankheit in, A β42
(▶ 23.3)

Prim. Hirn- < 10–> 20 Tumor­


tumor zellen
(▶ 13.6)

Meningeosis < 30 > 20 Tumor­


(▶ 13.6.17) zellen

Leukose < 30 β2-


Mikroglo-
bulin

NHL IgM Tumor­


zellen

Angaben in Klammern beziehen sich auf einen späteren Zeitpunkt (Kontrollpunkti-


on), n = normal, VZ = Varicella Zoster

Tab. 2.4  Ursachen einer Schrankenstörung (mit o. ohne Pleozytose)


Ausprägung (QAlb × 10–3) Mögliche Ursachen

Leicht (< 10) MS, ALS, alkoholtox. PNP

Mittelgradig (10–20) Aseptische Meningoenzephalitiden, Hirninfarkt,


diab. Radikulo-PNP

Schwer (> 20) Polyradikulitis (GBS), Neuroborreliose, eitrige Me-


ningitis, tuberkulöse Meningitis, Herpesenzephalitis

Tab. 2.5  Ursachen einer intrathekalen Immunglobulin-Synthese


Erkrankung Ig-Klasse

IgG IgM IgA

MS ++ (+) (+)

Virale Meningoenzephalitis + + +

SSPE ++ - -

FSME (+) ++ (+)


  2.2 Elektroenzephalografie (EEG)  45

Tab. 2.5  Ursachen einer intrathekalen Immunglobulin-Synthese (Forts.)


Erkrankung Ig-Klasse

IgG IgM IgA

Neurolues ++ + +

Neuroborreliose (akut) + ++ (+)

Neuroborreliose (chron.) ++ (+) + 2


Neurotuberkulose (+) - ++

Hirnabszess (+) (+) +

Non-Hodgkin-Lymphom (+) + (+)

2.2 Elektroenzephalografie (EEG)
2.2.1 Definition
Registrierung bioelektrischer Potenzialschwankungen („elektrische Aktivität“)
des Gehirns von der Kopfhaut o. der Dura mithilfe von Oberflächen- o. implan-
tierten Elektroden (Aktivität tiefer Neuronenverbände).

2.2.2 Indikationen
• Epilepsiediagn. u. -verlaufskontrolle.
• Beurteilung u. Dokumentation der Gehirntätigkeit im Koma.
• Diffuse o. umschriebene (herdförmige) zerebrale Prozesse, z. B. bei Stoffwech-
selerkr., Entzündungen (Meningoenzephalitis, Abszess), Intox., SHT, Tumo-
ren, Zirkulationsstör.
• Diagn. des dissoziierten Hirntods (▶ 4.7).

2.2.3 Technik

Definitionen
• Zeitkonstante: Zeit, während der eine angelegte Spannung U auf den
Wert U/e (e = 2.718 …) sinkt; 1/e = ca. 37 %.
• Grenzfrequenz: Frequenz, bei der die Empfindlichkeit 70,7 % des Maxi-
malwerts beträgt (–3 db); Grenzfrequenz = 1/ (2 × π × Zeitkonstante).
• Übergangswiderstand: < 5 kOhm.
• Papiergeschwindigkeit bzw. Darstellung auf dem Bildschirm: 3 cm/s,
heute i. d. R. papierloses (digitales) EEG.

Elektroden: Festgelegte anatomische Punkte des Schädels werden durch gedachte


Linien verbunden u. in Abschnitte von 10 bzw. 20 % (10–20-System) der jeweili-
gen Länge eingeteilt. Bis zu 24 Oberflächenelektroden werden an den Schnitt-
punkten des entstehenden (reproduzierbaren!) Gitternetzes angelegt (▶ Abb. 2.4).
46 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Vertex
Fz Cz
A2 rechts
T4 C3 Pz
T6 F3
F8
P3
F4 C4 P4 Fp1
Nasion Fp2 O2 Inion
F7 O1
Fz Cz Pz
Nasion T3 T5
2 Fp1
F3 C3 P3
O1
prä-
F7 T5 aurikulärer A1
T3 Punkt Ohr Inion
A1 links
100%

Abb. 2.4  Elektrodenposition im 10–20-System [L106]

Ableitungen:
• Bipolar: Zwischen 2 benachbarten Elektroden.
– Vorteile: Rasches Auffinden von Herden durch Phasenumkehr, wenig
50-Hz-Artefakte.
– Nachteile: Amplitude nur beschränkt verwertbar, Kurvenform durch
Elektrodenabstand beeinflusst.
• Unipolar (Bezugsableitungen): Bezugselektrode meist Vertexelektrode.
– Vorteile: Amplitude verwertbar, Elektrodenabstände weniger kritisch.
– Nachteile: Keine ideale Referenzelektrode, mehr 50-Hz-Artefakte.
Sonderformen:
• Schlaf-EEG u. Polysomnografie: Simultane Ableitung von EEG, Muskelakti-
vität (EMG), Augenbewegung (EOG), Atmung u. ggf. anderen Parametern
während der Nacht (▶ Tab. 2.6). Ind.: Schlafepilepsie, Schlafstör.,
Schlafapnoe-Sy. (▶ 25.8.4), Narkolepsie (▶ 25.8.1).
• Langzeit-EEG: Kontinuierliche Aufzeichnung mit transportablem Rekorder
(analog Langzeit-EKG) o. simultan mit Videoaufzeichnung. Ind.: DD epilep-
tische o. psychogene Anfälle, seltene Anfälle, prächirurgische Epilepsiediagn.

Tab. 2.6  Übliche Einstellungen bei Polygrafie


Verstärkung (μV/cm) t (s) f hoch (Hz) f tief (Hz)

EEG 70 0,3 0,53 70

EOG 200 1,6 0,1 70

EMG 200 0,01 16 300

EKG 1.000 1,6 0,1 70

Atmung 1.000 1,6 0.1 70

t = Zeitkonstante, f hoch = Grenzfrequenz des Hochpassfilters, f tief = Grenzfre-


quenz des Tiefpassfilters
  2.2 Elektroenzephalografie (EEG)  47

2.2.4 Provokationsverfahren
Indikationen
Verdeutlichung von Anfallspotenzialen u./o. Herdbefunden.

Kontraindikationen
Deutlich sichtbare Zeichen erhöhter zerebraler Erregbarkeit im Ruhe-EEG (Ge-
fahr der Anfallsauslösung!).
2
Durchführung
• Hyperventilation (HV): für 3 Min., Registrierung der Post-HV-Phase für
2 Min., Abatmen von CO2 mit Alkalose u. Verminderung der Hirndurchblu-
tung (▶ Tab. 2.7).
• Fotostimulation: Zum Nachweis einer Fotosensibilität, z. B. bei prim. genera-
lisierten Epilepsien. Intermittierende Lichtreize unterschiedlicher Frequenz
(▶ Tab. 2.7).
• Schlafentzug (▶ Tab. 2.7).
• Seltener eingesetzt werden medikamentöse (z. B. Hypnotika, Sedativa, Beme-
grid) o. physikalische (Valsalva-, Bulbusdruckversuch) Provokationsverfah-
ren (▶ Tab. 2.7).

Tab. 2.7  Effizienz der verschiedenen Provokationsverfahren bei Epilepsien


Anfallstyp HV Fotostimu­ Schlafent­ Schlaf Unter Bemegrid
lation zug (Eukraton®)

BNS-Krämpfe (-) (-) (-) + (-)

Myoklonisch (+) (+) (+) + (-)


astatische
­Anfälle

Absencen ++ ++ ++ (+) +

Impulsiv-Petit- + + ++ (+) +
Mal

Komplex parti- (+) (+) (+) ++ +


elle Anfälle

Fokale Anfälle (+) (+) (+) + +

Grand Mal (GM)

Aufwach-GM ++ + ++ + +

Schlaf-GM (+) (+) (+) ++ +

Diffuser GM + + (+) + +

++ bes. effektiv, + ausreichend effektiv, (+) weniger effektiv, (-) nicht indiziert

2.2.5 EEG-Auswertung
Beschreibung der Grundtätigkeit
Vorherrschende Wellenformen, Regelmäßigkeit, Ausprägungsgrad (gut, mäßig,
gering), Amplituden (▶ Abb. 2.5):
48 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

• Alpha-Wellen: 8–12 Hz, Amplitude 20–100 μV.


• Beta-Wellen: 13–30 Hz, kleinere Amplitude als Alpha-Wellen.
• Theta-Wellen: 4–7 Hz.
• Delta-Wellen: 0,5–3 Hz.

Bezeich- Morpho- Bezeich- Morpho-


Definition Definition
nung logie nung logie
2 8
1 regelmäßige markante
steile Wellen
Alpha- Folge von 8 bis stumpfe steile
steile
Rhythmus 12 Wellen/Sek. Einzelwellen
Potenziale
scharfe und steile
9
2 regelmäßige Welle von 80–
Sharp wave
Beta- Folge von 13 250 ms Dauer,
scharfes
Rhythmus bis 30 Wellen/Sek. Anstieg meist
Potential
steiler Abfall
3 regelmäßige 10 scharfe und steile
Theta- Folge von 4 Spikes Welle unter
Rhythmus bis 7 Wellen/Sek. Spitze 80 ms Dauer

11
4 regelmäßige kompakte Serie
Polyspikes
Delta- Folge von 0,5 von Spikes
multiple
Rhythmen bis 3 Wellen/Sek.
Spitzen
12
unregelmäßige Spike/wave- Komplex aus
5
Folge poly- Komplex einem Spike und
Delta-
morpher 0,5 Spitze- einer langsamen
Aktivität
bis 3 Wellen/Sek. Welle- Welle
Komplex
6 13 Folge regel-
Sub- Welle von über rhythmische germäßiger Spike-
Delta- 1000 ms Dauer Spikes and wave-Komplexe
Welle waves ca. 3 Sek.
Folge von
in der Amplitude
Komplexen aus
regelmäßig
14 Sharp waves und
7 auf- und ab-
Sharp and langsamen Wellen
Spindel schwellende
Slow waves von 500 –1000 ms
10 bis 14
Dauer oft
Wellen/Sek.
rhythmisch
15 hohe steile
Triphasische Wellen mit
2s Wellen drei Phasen

Abb. 2.5  Wichtige Grafoelemente des EEG [L106]

Beschreibung abnormer EEG-Tätigkeiten


Verteilung (fokal, generalisiert), Häufigkeit (diskontinuierlich, kontinuierlich, in
Gruppen o. Serien), bes. Wellenfomen (spike-waves, triphasische Welle ▶  Abb.
2.5).

Normalbefund und Normvarianten


• Normalbefund: Beim wachen, entspannten Erw. mit geschlossenen Augen
regelmäßiger Alpha-Grundrhythmus mit max. Ausprägung okzipitoparietal
(▶ Tab. 2.8), der sich durch Augenöffnen (Berger-Effekt) o. durch geistige Tä-
  2.2 Elektroenzephalografie (EEG)  49

tigkeit blockieren lässt (Alpha-Blockade mit Übergang in unregelmäßige Be-


ta-Aktivität).
• Beta-EEG:
– Ausschließlich o. überwiegend Beta-Wellen > 13/s (meist 16–22/s); häufig
in Spindeln u. Gruppen auftretend.
– Amplitude 20–30 μV; überwiegend frontopräzentral; bei etwa 8 % der Be-
völkerung; Zunahme mit dem Alter, F > M (30. Lj. 12 %, 40.–50. Lj. 17 %,
60.–80. Lj. 20 %).
! Amplitude > 50 μV ohne Blockierung bei Augenschluss ist ein Hinweis 2
auf pharmakogene Urs. (Barbiturate, Tranquilizer).
• Flaches o. Niederspannungs-EEG: Hirnaktivität < 20 μV; fast keine Alpha-
Wellen außer (nichtobligat) nach Augenschluss für 2–3 s, im Tiefschlaf nor-
males EEG.
• Unregelmäßiges EEG: Frequenzschwanken des Grundrhythmus > 2–3/s u.
Amplitude; häufige Beta- (14–15/s) u. Theta-Wellen (5–7/s); bei etwa 15 %
der Bevölkerung; Übergänge zur leichten Allgemeinveränderung.

Tab. 2.8  Einteilung der Schlafstadien nach Rechtschaffen u. Kales


Schlafstadium EEG Augenbewe­ Tonische Aktivi­
gung im EOG tät im EMG

Wach (Augen zu) Rhythmische Alpha-Wellen Langsam u. Relativ hoch


(8–13 Hz) schnell

Stadium I (Ein- Niederamplitudig, gemischt- Langsam (slow Leicht abneh-


schlaf- u. frühes frequent mit vorherrschen- eye move- mend
Leichtschlafstadi- der Aktivität bei 2–7 Hz; ments, SEM)
um) Vertexwellen, flache Theta-
Wellen (5–7 Hz), paradoxe
Weckreaktion

Stadium II Niederamplitudig, gemischt- Zu Beginn SEM, Vermindert


(Leichtschlaf) frequent; größere Theta- sonst keine
Wellen, < 20 % Delta-Wel-
len (s. u.); K-Komplexe, Spin-
deln (14–15 Hz), Vertexwel-
len zu Beginn

Stadium III (Tief- Unregelmäßige, hohe Delta- Keine Auf niedrigem


schlaf, slow-wave Wellen (< 2 Hz) mit hoher Niveau
sleep, SWS) Amplitude (> 75 μV) mind.
20 %, max. 50 % der Epo-
che, alternierend mit Theta-
Wellen; K-Komplexe, Schlaf-
spindeln (11–13 Hz)

Stadium IV (Tief- Hohe Delta-Wellen wäh- Keine Auf niedrigem


schlaf, slow-wave rend mind. 50 % der Epo- Niveau
sleep, SWS) che, Schlafspindeln noch
möglich

REM Ähnlich Stadium I, jedoch Schnell (rapid Supprimiert


keine Vertexwellen. Kurze eye movement,
Phasen mit Alpha-Aktivität REM)

Movement-Time Bewegungen über mind. die


halbe Epoche, gestörtes EEG
u. EOG
50 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Pathologische Befunde
Allgemeinveränderungen
Diffuse, kontinuierliche Verlangsamung der Grundaktivität o. Dysrhythmie (aus
der Hintergrundaktivität hervortretende Gruppen von langsameren, mitunter hö-
her gespannten Wellen), Kurvenabflachung (▶ Tab. 2.9).

Tab. 2.9  Typologie der Allgemeinveränderungen


2 Typ EEG-Morphologie Klinische Korrelate

Leichte Allgemein­ Verlangsamte Alpha-Wel- Evtl. psychoorganisches


veränderung len 7–8/s u. eingestreute Sy.
Zwischenwellen

Mittelschwere Allgemein­ Zwischenwellen 4–7 s, Somnolenz


veränderung frontal u. temporal auch
niedrige Delta-Wellen

Schwere Allgemein­ Delta-Wellen, z. T. von Koma


veränderung schnellen Frequenzen
überlagert

EEG-Befunde bei metabolischen Störungen


Blutgase:
• O2-Sättigung: Bei < 40 % Grundrhythmus-Verlangsamung.
• Hyperkapnie: Grundrhythmus-Verlangsamung, Amplitudenzunahme.
Elektrolyte:
• Hypernatriämie, Hypo-/Hyperkaliämie: Wenig Einfluss.
• Hyponatriämie: Grundrhythmus-Verlangsamung, rhythmische Delta-Wel-
len.
• Hypokalzämie: Grundrhythmus-Verlangsamung, generalisierte epilepsietypi-
sche Potenziale.
Glukose:
• Hypoglykämie: BZ 50 mg/100 ml: Grundrhythmus-Verlangsamung auf 7–8/s,
BZ < 30 mg/100 ml: 2–3/s. Delta-Wellen; ferner bilateral synchrone Delta-
Wellen, epilepsietypische Potenziale u. Herdbefunde.
• Hyperglykämie: BZ 400–500 mg/100 ml: Paroxysmale Dysrhythmie u. steile
Abläufe, epilepsietypische Potenziale, Herdbefunde.
Ketoazidose: Unterdrückung epilepsietypischer Aktivität.
Leberinsuff.:
• Verlangsamung u. triphasische Delta-Wellen.
• Verlangsamung u. steile Theta-Ausbrüche.
Temperatur:
• Hyperthermie 39–42 °C: Grundrhythmus-Verlangsamung bis zum Delta-
Rhythmus, Amplitudenzunahme.
• Hypothermie: Amplitudenreduktion, Grundrhythmus-Verlangsamung.
Schilddrüse: Hypothyreose: Frühe Amplitudenabnahme (vor Grundaktivitäts-
verlangsamung).
Grundaktivitätsverlangsamung: Ferner bei:
• Addison-Krise.
• Akuter intermittierender Porphyrie.
• Wernicke-Enzephalopathie.
• Vit.-B12-Mangel.
  2.2 Elektroenzephalografie (EEG)  51

Herdbefunde
• Fokale langsame Wellen: Regional dominieren Theta- o. Delta-Wellen
(▶ Abb. 2.6).
• Fokale Abflachung: Amplituden des Alpha-Grundrhythmus ↓, evtl. in Ver-
bindung mit fokalen langsameren Wellen.
• Fokale Dysrhythmien.
• Alpha-Verminderung: Leichtestes Anzeichen einer lokalen Hirnschädigung
ist die reduzierte Ausprägung u. Amplitude des Alpha-Rhythmus.
• Alpha-Aktivierung: Sehr selten; Amplitude ↑, Verlangsamung u. fehlende 2
Blockierbarkeit des Alpha-Rhythmus, im Schlaf-EEG einseitige Verminde-
rung von Schlafspindeln.

C4 - Cz

I 50 µV
Cz - C3

O2 - A2

II 100 µV
O1 - A1

C4 - Cz
50 µV
III
Cz - C3

T4 - C4

IV C4 - Cz 70 µV

Cz - C3

1s

Abb. 2.6 Verschiedene Herdstör. im EEG: I: Theta-Herdstör. über C4, II: Delta-


Herdstör. über O1, III: Fokale Suppression über C3, IV: fokale spezifische Zeichen
der erhöhten zerebralen Erregbarkeit über Cz [L157]

Epilepsietypische Potenziale
• Iktale Veränderungen:
– Spikes: Spitze Potenziale < 80 ms.
– Sharp waves: Steile Wellen, 80–200 ms.
– Spike waves: Regelmäßige 3/s Spike waves bei Absencen (▶ 11.1.4).
– Polyspike-wave-Potenziale: Charakteristisch für Impulsiv-Petit-Mal
(▶ 11.1.3).
– Periodic lateralized epileptiform discharge (PLED): Periodische laterali-
sierte epileptische Entladung.
52 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

– Hypsarrhythmie: Unregelmäßige, hochgespannte u. langsame Wellen mit


wechselnder Lokalisation u. eingestreuten Spikes u./o. Sharp Waves; bei
BNS-Anfällen (▶ 11.1.3).
• Interiktale Veränderungen können bei seltenen epileptischen Anfällen (z. B.
bei symptomatischer Epilepsie) fehlen, während sie bei Pyknolepsie meist
vorliegen.
• Fokale Epilepsien:
– Iktal: Epilepsietypische Potenziale mit Amplituden- u./o. Frequenzdyna-
2 mik, mit o. ohne Ausbreitung.
– Interiktal: Fokale steile Wellen, rhythmische Zwischenwellen.
• Generalisierte Epilepsien: Bilaterale epilepsietypische Potenziale (z. B. 3/s
Spike-wave bei Absencenepilepsie des Kindesalters, Polyspike-wave bei Epi-
lepsien mit Myoklonien).
Spezifische Potenzialformen
• Triphasische Wellen: Bei metab. Entgleisungen (hepatisches Koma, Urämie).
• Periodische Komplexe: Creutzfeldt-Jakob-Erkr. (▶ 9.5.2), temporal: Herpes-
simplex-Enzephalitis (▶ 9.4.2); (Radermecker-Komplexe ▶ 9.4.7, ▶ 9.5.2).

EEG-Monitoring
• Diagn. neuronaler Schädigung/Erholung, wenn klin. Kriterien nicht anwend-
bar sind (EEG bei Koma).
• Erkennen nichtkonvulsiver Anfälle/Status.
• Erkennen epilepsietypischer Aktivität unter Relaxanzien/Sedativa.
• Erkennen epilepsietypischer Aktivität im Schlaf.
• Ausschluss epilepsietypischer Aktivität bei anfallsähnlichen motorischen Ent-
äußerungen (spinale Myoklonien u. a.).
• Hirntoddiagn. (▶ 4.7).

2.3  Evozierte Potenziale


2.3.1 Definition
Elektrische Antwortpotenziale (in den entsprechenden Reiz verarbeitenden Regi-
onen des Gehirns), die durch Reizung eines Sinnesorgans o. afferenter Nervenfa-
sern ausgelöst werden.
Ableitung mit Oberflächen- o. Nadelelektroden an der Schädelkalotte (mehrere
Messdurchgänge).
Die Potenziale haben mehrere Gipfel (Peaks), die nach Polarität (pos. = Auslen-
kung nach unten, neg. = Auslenkung nach oben) bezeichnet u. durchnummeriert
o. nach ihrer durchschnittlichen erwarteten Latenz (in ms) benannt werden.

2.3.2 Visuell evozierte Potenziale (VEP)


Indikationen
Bei allen Stör. der Sehbahn von der Retina bis zum prim. visuellen Kortex!
• Demyelinisierende Erkr.: Optikusneuritis, MS, Neurolues, AIDS.
• Hereditäre Erkr.: Aut. dom. Optikusatrophie, Leber-Optikusatrophie.
• Kompression o. Verletzung der vorderen Sehbahn: Tumoren im Bereich
der Orbita o. des Chiasmas, endokrine Orbitopathie, SHT, Optikustrauma.
  2.3 Evozierte Potenziale  53

• Stör. der zentralen Sehbahn: Vask. Prozesse, Tumoren, kortikale Blindheit.


• Tox. o. ischämische Schädigungen: Tabak-Alkohol- o. Myambutolamblyo-
pie, ischämische Optikusneuropathien (z. B. Arteriosklerose, Arteriitis crania-
lis, Kollagenosen), retinale Ischämien.
• Augenerkr.: Makulopathien, Uveitis, Papillenveränderungen (STP, Drusen-
papillen, Pseudopapillitis), Glaukom.

Technik
• Erregung der Sehrinde durch ein Schachbrettmuster, das in schnellem Wech- 2
sel eine Kontrastumkehr zeigt, o. durch eine intermittierende Flickerlichtrei-
zung.
• Reizung der Fotorezeptoren führt zu Antwortpotenzialen über dem visuellen
Kortex, die mit Elektroden nach Mittelung von 64–128 Durchgängen abgelei-
tet werden (▶ Abb. 2.7; Ableitung immer mit Ausgleich einer Sehstör.).

50 100 ms

1µV

+
Cz
Schachbrett-
Stimulus

P1
AV
AV=Averager
Cz=Bezugselektrode
Oz=Ableitelektrode
P1 =erste große pos. Welle

Oz

Abb. 2.7 Beispiel einer Ableitung visuell evozierter Potenziale u. Position der


Ableitelektrode [L106]

Normalbefunde
• Latenz u. Amplituden der VEP sind abhängig von Reizstärke u. Art des Sti-
mulus (z. B. Kontrastumkehr, Mustergröße o. Flickerlicht-Reizung).
• Latenzen der einzelnen pos. Potenzialspitzen betragen im Durchschnitt 40,
65, 100 u. 180 ms, die der neg. Peaks 50, 75 u. 140 ms.
• Klin. Verwendung findet v. a. die P100-Komponente (P2-Latenz).
Pathologische Befunde
▶ Tab. 2.10.
54 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Tab. 2.10  Wichtige VEP-Befunde


Erkrankung Latenz P100 Amplitude/Form

MS (▶ 10.1) akut Normal bis ↑ ↓↓ Verplumpung

Optikusneuritis im fortgeschrittenen Stadium ↑↑ ↓↓, Verplumpung

Leukodystrophie (▶ 24.3) ↑ ↓

2 Vask. u. tox. Optikusschäden Normal bis ↑ ↓↓

Vit.-B12-Mangel (▶ 19.5.3) ↑↑ Normal

Friedreich-Ataxie (▶ 16.2.3) Normal bis ↑ ↓↓

Spastische Spinalparalyse (▶ 16.1.2) Normal bis ↑ ↓

Neurale Muskelatrophie (▶ 19.10) Normal Normal bis ↓

Parkinson-Krankheit (▶ 15.2.3) ↑ Normal

Neurolues (▶ 9.3.7) Normal bis ↑ ↓↓

Raumfordernde Prozesse mit Druck auf Seh- ↑ ↓↓


nerv u. Chiasma

Psychogene Blindheit Normal Normal

STP geringgradig/höhergradig Normal↑ Normal/Normal

Papillitis, Uveitis Normal ↓↓

Glaukom Normal bis ↑ Normal

Retinale Erkr. Normal ↓↓

2.3.3 Akustisch evozierte Potenziale (AEP)


Ind.:
• Topografische Diagn. path. Prozesse im Bereich von Kochlea, N. acusticus,
kaudaler Medulla oblongata, Pons u. Mittelhirn, z. B. bei Kleinhirnbrücken-
winkel- u. Hirnstammtumoren, vask. Hirnstammprozessen, MS, Fehlbildun-
gen der hinteren Schädelgrube, spinozerebellären Degenerationen, Fried-
reich-Ataxie, Meningitiden o. SHT.
• Audiometrisches Hilfsmittel (v. a. bei Kindern): DD von Schallleitungs- u.
Schallempfindungsstör., objektive Hörschwellenbestimmung, Abgrenzung ei-
ner psychogenen Hörstör.
• Progn. im Koma.
• Intraoperatives Monitoring.
Technik:
• Klicklaute, Druck- o. Sogimpulse werden über Kopfhörer einseitig dargebo-
ten, das andere Ohr wird durch Rauschen vertäubt.
• Ableitung der Antwortpotenziale über dem Mastoid nach einer Mittelwertbil-
dung von 1.000–2.000 Reizen.
• Die AEP enthalten physiologischerweise 5–7 pos. Potenzialspitzen, die sich
den neuronalen Strukturen im Verlauf der Hörbahn zuordnen lassen. Beur-
teilungskriterien u. Normalbefund
  2.3 Evozierte Potenziale  55

Normalbefund: ▶ Tab. 2.11.

Tab. 2.11  Normalbefunde im AEP


Wellenbezeich­ Latenz Amplitude Topologie des Beurteilung
nung ­Generatororts

I 1–2 ms 270 nV Kochlea u. N. VIII Einzelne Kompo-


nenten bzgl. Form,
II 2–3 ms 190 nV Medulla oblonga-
ta
absoluter Latenz
sowie Latenzen
2
zwischen den ein-
III 3–4 ms 280 nV Untere Brücke zelnen Wellen im
IV 4–5 ms 340 nV Obere Brücke Seitenvergleich.
Verhältnis der Am-
V 5–6 ms 370 nV Mesenzephalon plituden zweier
Wellen (Amplitu-
VI 6–8 ms Dienzephalon denquotient Welle
V/I: Normal > 1)
VII 8–10 ms Hörstrahlung

Path. Befunde im AEP: Ausfall einzelner o. mehrerer Potenzialkomponenten, Defor-


mierungen, verlängerte Latenz, verringerte Amplituden u. Amplitudenquotienten:
• Innenohrerkr.: Verlust sämtlicher Potenzialkomponenten.
• Stör. im Verlauf des N. acusticus: Nur Welle I vorhanden.
• Akustikusneurinom: Entweder völliger Verlust aller Potenzialkomponenten
bis auf Welle I o. generelle Verzögerung der Wellen II–V.
• Hirnstammtumor: Je nach Lokalisation z. T. ausgestanzte Veränderungen
der Potenzialkomponenten II–V.
• Vask. Hirnstammläsion: Zeitliche Desynchronisation u. verlängerte Latenz
der Wellen II–V.
• MS: Je nach Lage der entzündl. Herde große Variabilität der Befunde mit ver-
längerter Latenz u. verminderten Amplituden.
• Meningitis: Bei Miterkr. des N. acusticus Stör. der Wellen II–V; Veränderun-
gen ab Welle V zeigen Beteiligung subkortikaler Areale an.

2.3.4 Motorisch evozierte Potenziale (Magnetstimulation)


Def.:
• Um einen elektrischen Leiter (Doppel-, Schmetterlings- o. kreisförmige Mag-
netspule) wird durch einen kurzzeitigen Stromfluss ein magnetisches Feld er-
zeugt, das seinerseits in elektrisch leitfähigen Geweben (wie Nerven) einen
Strom induziert.
• Ableitung des Muskelsummenpotenzials mit Oberflächenelektroden.
Ind.:
• Leitungsverzögerungen der Pyramidenbahn: MS, andere zentral demyelini-
sierende Prozesse, zervikale Myelopathie, intraspinale Raumforderungen.
• Affektion des 1. MN bei ALS (hohe Reizschwelle, niedrige Amplitude).
• Wurzelkompressionssy.
• Plexusläsionen, andere prox. Läsionen peripherer Nerven.
• V. a. psychogene Lähmung.
KI:
• Herzschrittmacher, Metallteile in der Nähe des Untersuchungsorts, Koch-
leaimplantate.
56 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

• Manifestes Anfallsleiden.
• Instabile Fraktur.
• Schwangerschaft bei lumbaler Wurzelstimulation.
Technik:
• Ableitung: Von fast allen Muskeln (einschließlich mimischer Muskulatur u.
Zunge) möglich.
• Stimulation:
– Transkraniell: Reizung des Motorkortex.
2 – Paravertebral: Reizung der Nervenwurzel bei ihrem Durchtritt durch das
Foramen intervertebrale.
– Plexus: Reizung der Plexusfasern über Erb-Punkt bzw. den Mm. glutei.
• Leitungszeit:
– Peripher motorisch (PML) nach Wurzelstimulation (▶ Tab. 2.12).
– Zentral motorisch (ZML): Differenz der Leitungszeit nach transkranieller
u. paravertebraler Stimulation o. mithilfe der F-Wellen-Unters. (▶ 2.4.3)
nach der Formel:
ZML = transkranielle Leitungszeit – [(F-Wellen-Leitungszeit zwischen
Reiz u. M-Antwort + distal motorische Latenzzeit/2) – 1 ms]
(▶ Tab. 2.12).

Tab. 2.12  Obere Normgrenze für mit der Magnetstimulation ausgelöste Mus­
kelantworten
Muskel M. biceps M. extensor M. interos­ M. vas­ M. tibialis M. exten­
brachii carpi radia­ seus dorsa­ tus medi­ anterior sor digito­
lis lis manus alis rum bre­
vis

GL (ms) 13,71,5 18,21,6 25,21,6 27,12,4 37,42,1 48,83,0


R/L-D.

PML (ms) 9,11,6 11,51,3 18,41,4 16,02,2 20,52,0 29,32,6


R/L-D.

ZML (ms) 7,11,6 8,61,5 9,31,6 18,12,4 20,92,2 23,22,9


R/L-D.

Kortikale Reizung mit der 1,3- bis 1,5-fachen Intensität der Reizschwelle in Muskel-
ruhe, Ableitung unter leichter tonischer Anspannung des Muskels. Obere Norm-
grenze der Latenzen = Mittelwert + 2,5 Standardabweichungen. R/L-D: Rechts-links-
Differenz. GL: Gesamtlatenz nach transkranieller Reizung

Vorteile: Weniger schmerzhaft als Elektrostimulation, hohe Eindringtiefe (Ner-


venwurzel, Motokortex, prox. HN am Austritt aus dem Hirnstamm).
Nachteile:
• Geringe Fokalität der Reizung.
• Keine selektive Erregung.
• Bei peripherer Stimulation mitunter keine u. bei paravertebraler Stimulation
nur selten max. Muskelsummenpotenziale, sodass keine Beurteilung der axo-
nalen Komponente bzw. eines Leitungsblocks möglich ist.
• Hohe Artefaktrate bei der peripheren Stimulation durch lokale Muskelkon-
traktionen.
  2.3 Evozierte Potenziale  57

2.3.5 Somatosensibel evozierte Potenziale (SSEP)


Ind.:
• Diagn. und Lokalisation von Erkr. der somatosensiblen Leitungsbahnen von
PNS, RM u. sensiblem Kortex.
• Höhenlokalisation von Läsionen durch Komb. verschiedener Ableitorte
(fraktionierte SSEP): Bei RM-Prozessen (z. B. spinale Raumforderungen, zer-
vikale Myelopathie, Querschnittssy., Wurzelausrisse) u. höher gelegenen
Schädigungen in Hirnstamm, Thalamus u. kaudaler Postzentralregion. 2
• Objektivierung von Sensibilitätsstör. bei V. a. psychogene Genese.
• Nachweis einer Hinterstrangschädigung des RM bei MS, Vit.-B12-Mangel (fu-
nikuläre Myelose), Tabes dorsalis, Friedreich-Ataxie, zervikale Myelopathie.
• Lokalisation peripherer Nervenverletzungen (Plexus, Hinterhorn, Nerven-
wurzel).
• Radikulopathien.
• Intensivmedizin: Hilfsmittel bei der Progn. schwerer Hirnschädigungen
(▶ Tab. 2.13).
• Intraop. Monitoring (z. B. Skoliose-OP).
Tab. 2.13  SSEP bei schweren zerebralen ischämischen Hirnschädigungen
Verlaufsbeobachtung des SSEP-Befunds, Prognose
bei Stimulation N. medianus

Vollständiger bilateraler Verlust (P15 + Sehr ungünstig, i. d. R. Exitus


N20) des Skalp-SSEP

Hochgradige Deformierung der SSEP Ungünstig, bei Überleben schwerer


(nur P15 erhältlich) bzw. unilateraler ­Defekt wahrscheinlich
Verlust

SSEP bilateral erhalten mit leichter De- Quoad vitam günstig; restitutio ad
formierung einzelner Potenzialkompo- ­integrum zweifelhaft
nenten bzw. Verlängerung der zentralen
Leitungszeit (N13–N20)

Unauffällige SSEP Insgesamt günstig; Restitutio ad


i­ntegrum zu erwarten

Technik:
• Reiz: Elektrische Reizung gemischter peripherer Nervenstämme (z. B. N. me-
dianus, N. tibialis).
• Ableitorte: Auf der Schädelkalotte (kortikale SSEP) über dem kontralateralen
sensiblen Kortex (Postzentralregion) o. über RM (spinale SSEP).

Wichtige Ableitpunkte
• N. medianus: Erb-Punkt, zervikal (HWK 7 u. HWK 2), kortikal (post-
zentral).
• N. tibialis: Lumbosakral (LWK 5), lumbal (LWK 1), zervikal (HWK 1),
kortikal (postzentral).

Beurteilungskriterien u. Normalbefunde:
• Kriterien: Latenz einzelner Wellen u. zwischen Potenzialkomponenten an
verschiedenen Ableitorten, Amplituden absolut u. im Seitenvergleich, Form
u. Fehlen von Potenzialanteilen.
58 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

• N. medianus: (▶ Abb. 2.8a). Triphasisches Potenzial am Erb-Punkt nach 9,3–


11 ms, bei der zervikalen Ableitung neg. Peak nach 12,5–14,5 ms (N13a u.
N13b), kortikal neg. Potenzial nach 18–20,5 ms (N20).
• N. tibialis: (▶ Abb. 2.8b). Im Bereich der Cauda equina nach 17,2–19,6 ms
neg. Welle (N18), lumbosakral nach 20–23,3 ms (N22), zervikal nach 32,2–
35,6 ms (N30), in kortikaler Ableitung deutlich pos. Peak nach 37–40,8 ms
(P40). Amplitudenquotienten N22/N18 bei 1,1–6,6; P40/N22 bei 0,85–27,3.
2
C3´ Reizantworten
und Ableitepunkte
C2

C7

20 N 20
Somato-
C3´
sensibler
Komplex
ERB

13b N 13b
C2 Nucleus
cuneatus

13a
N 13a
C7
Halsmark

8-10
P8 - N 10
ERB
N. medianus Armplexus
a

Cz´ Reizantworten und Ableitepunkte


C2
N 20
Somato-
Cz´ sensibler
40 Komplex
L1
L5
30 N 30
C2 Nucleus
gracilis

22
N 22
L1 Lumbosakral-
mark
18
L5 N 18
Cauda equina
N. tibialis
b

Abb. 2.8 Ableitung somatosensibel evozierter Potenziale des N. medianus (a)


bzw. N. tibialis (b) [L106]
  2.4 Elektroneurografie  59

Path. Befunde:

Latenz ↑, Amplitude ↓, Verlust u. Deformierung von Potenzialanteilen sowie


Veränderungen der Amplitudenquotienten.

• Demyelinisierende Prozesse: Latenz ↑, im Extremfall Ausfall des entspre-


chenden Potenzials, normalerweise Amplitude nur gering ↓.
• Axonale Prozesse: Amplituden ↓ u. weitgehend unveränderte Latenz. 2
• Armplexusläsionen: Amplitudenquotient Erb/N13a-Potenzial ↓, Latenz ↑.
• Wurzelkompression: Latenz absolut ↑ o. path. Seitendifferenzen.
• Spinale Raumforderung: Oberhalb der Raumforderung Latenz ↑ u. Ampli-
tuden ↓.
• Hinterstrangschädigungen: Latenz ↑ nach Medianus- u. Tibialisstimulation,
spinale Leitungszeit ↑, Amplituden ↓.
• Zervikale Myelopathie: Latenz ↑ u. Deformierungen zervikaler Potenzial-
komponenten, in den kortikalen Ableitungen Latenz gering ↑.
• Thalamusläsionen: Deformierungen bis hin zum Ausfall kortikaler
Potenzial­komponenten bei unauffälligen zervikalen Ableitungen.
• MS: Sehr variable Befunde. Typ. ist eine vermehrte Latenz der zervikalen u.
kortikalen Potenziale z. T. mit Potenzialdeformierung, path. Seitendifferen-
zen; spinale bzw. zentrale Leitungszeiten ↑.
• Chorea Huntington: Amplituden ↓.
• Großhirnprozesse: Einseitiger Ausfall o. Latenz ↑, Amplituden einzelner
Komponenten des kortikalen Primärkomplexes ↓.
• Epilepsie: Überhöhte kortikale Reizantworten z. B. bei Myoklonusepilepsie
(▶ 11.1.4) „giant potenzial“ (Riesenpotenzial).

2.4 Elektroneurografie
2.4.1 Definition
Ableitung u. Analyse elektrisch ausgelöster Potenziale peripherer Nerven u. Mus-
keln i. d. R. mit Oberflächenelektroden. Dient der Bestimmung motorischer u.
sensibler NLG. MSP = Muskelsummenpotenzial, SNAP = sensibles Nerven­
aktionspotenzial.

2.4.2 Motorische und sensible NLG


Indikationen
• Lokalisationsdiagn. u. Verlaufsunters. peripherer Nervenläsionen.
• Nachweis eines Leitungsblocks.
• Differenzierung von PNP:
– Prim. demyelinisierende PNP: NLG deutlich ↓ bei meist normalen Amp-
lituden.
– Prim. axonale PNP: Amplituden ↓ bei meist normaler NLG.
• Differenzierung prox. Nervenläsionen:
– Radikuläre Sy.: Motorische NLG allenfalls gering ↓, Amplitude des MSP
↓. Normale sensible NLG, da die afferenten Fasern präganglionär unter-
brochen sind.
60 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

– Plexusläsionen: Sensible NLG ↓ u. Amplitude des SNAP ↓, im schwers-


ten Falle Verlust des SNAP.

Technik
• Motorische NLG: Reizung eines Nervs an mind. 2 Punkten mit supramaxi-
malen elektrischen Impulsen, sodass alle Axone simultan erregt werden u. da-
durch ein MSP von max. Amplitude ausgelöst wird (▶ Abb. 2.9).
• Sensible NLG:
2 – Orthodrom: Nach Reizung der Haut z. B. am Zeh o. Finger mit Ringelek­
troden wird das SNAP mit Oberflächen- o. selten mit Nadelelektroden
vom Nervenstamm abgeleitet.
– Antidrom: Bestimmung entgegen der physiol. Reizleitungsrichtung mit
Stimulation des Nervenstamms prox. u. Ableitung des SNAP mit Oberflä-
chenelektroden distal über dem Nerv o. aus dem sensiblen Versorgungs-
gebiet des Nervs.

S2 10 mV

d t

10 mV
S1

DML
Ableitung

Abb. 2.9  Prinzip der Ableitung der Nervenleitgeschwindigkeit (Beispiel der mo-
torischen NLG); NLG = d/t, S1/S2 = Reizorte [L106]

Beurteilungskriterien
• Motorische NLG:
– Distal motorische Latenzzeit (DML, terminale Überleitungszeit): Zeit zwi-
schen distalem Reiz u. Beginn der Muskelantwort (M-Antwort).
– Amplitude u. Konfiguration des MSP.
– Motorische NLG nach der Formel: NLG (m/s) = Distanz zwischen dista-
lem u. prox. Reizort (mm)/Differenz der Latenz zwischen der distalen u.
prox. Stimulation (ms).
– Verhältnis der Amplituden des Muskelsummenpotenzials (MSP) nach
distaler u. prox. Stimulation.
  2.4 Elektroneurografie  61

• Sensible NLG: NLG (m/s) = Distanz zwischen Reiz- u. Ableitelektrode (mm)/


Latenzzeit (ms). Amplitude des SNAP. Cave: Mit zunehmender Distanz zwi-
schen Reiz u. Ableitort nimmt die Amplitude des SNAP physiol. ab.

Normalbefunde
▶ Abb. 2.10, ▶ Tab. 2.14.
80 m/s 80 m/s

70 N. ulnaris, ML 70
2
distal des Sulcus N. medianus, SL
60 ulnaris - Hand- 60 Zeigefinger-
gelenk Handgelenk
50 50

40 40

30 30
Jahre Jahre
20 20
20 30 40 50 60 70 20 30 40 50 60 70

80 m/s 80
m/s
70 70
N. ulnaris, ML
60 proximal des 60
sulcusnervi ulnaris
50 - distal des sulcus 50 N. tibialis, ML
nervi ulnaris Fossa poplitea-
40 40
Malleolus internus
30 30
Jahre Jahre
20 20
20 30 40 50 60 70 20 30 40 50 60 70

80 80
m/s m/s
70 70
60 60
N. ulnaris, SL N. peroneus, ML
50 Kleinfinger- 50 Capitulum
Handgelenk fibulae-
40 40 Fußgelenk
30 30
Jahre Jahre
20 20
20 30 40 50 60 70 20 30 40 50 60 70

80 m/s 80
m/s
70 70

60 N. medianus, ML 60 N. suralis, SL
Ellenbeuge- Fußrücken-
50 Handgelenk 50
Malleolus lateralis
40 40
30 30
Jahre Jahre
20 20
20 30 40 50 60 70 20 30 40 50 60 70 80

Abb. 2.10 Referenzwerte der wichtigsten Nerven (ML = motorische NLG, SL =


sensible NLG) [L106]
62 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Tab. 2.14  Obere Grenzwerte der distal motorischen Latenzzeiten (DML) in


Klammern der Distanz zwischen Stimulations- u. Ableiteort
Nerv Ableitstrecke DML

N. medianus Handgelenk – Thenar (7 cm) 4,2 ms

N. ulnaris Handgelenk – Hypothenar (7 cm) 3,8 ms

N. radialis Oberarm – Handextensoren (10 cm) 3,9 ms


2
N. peroneus Unterschenkel – Fußrücken (7 cm) 5,6 ms

N. tibialis Malleolus internus – medialer Fußrand (10 cm) 6,0 ms

Pathologische Befunde

Zur genauen Eingrenzung umschriebener Nervenläsionen ist ein „inching“


möglich. Dabei wird der Nerv im Abstand von jeweils 1 cm erregt. An der
geschädigten Stelle deutlicher Latenz- o. Amplitudensprung (bei Karpaltun-
nelsy., N.-ulnaris-Kompression am Ellenbogen).

• Umschriebene Verlangsamung der NLG: Bei Nervenkompressionssy.


• Generalisierte Verlangsamung der NLG: Bei diffusen Schädigungen des PNS
(z. B. demyelinisierende PNP) NLG < 30 m/s an den Beinen, 38 m/s an den
Armen. Bei angeborenen PNP meist einheitliche Verlangsamung der NLG,
bei erworbenen demyelinisierenden PNP unterschiedliches Nervenbefalls-
muster.
• Leitungsblock (Neurapraxie): Amplitude o. Fläche der M-Antwort bei prox.
Stimulation < 50 % der Antwort bei distaler Stimulation. Ätiol.: Demyelinisie-
rende Schädigung ohne axonale Degeneration bei lokalen Nervendruckschä-
digungen o. entzündl. Prozessen (akute Druckschädigung, GBS, chron.-ent-
zündl. Polyradikulitis). Ein multifokaler Leitungsblock ist Zeichen einer aku-
ten o. chron.-entzündl. Neuropathie.
• Generalisierte Amplitudenabnahme des MSP: Bei axonalen Läsionen, dabei
häufig auch dick myelinisierte Fasern betroffen → NLG gering ↓.

2.4.3 F-Welle
Def.: Spätantwort der motorischen Neurografie. Bei distaler elektrischer Stimula-
tion wird der nach prox. geleitetet Impulus im Alpha-MN gespiegelt.
Kennzeichen: Amplitude 1–5 % der M-Antwort, variable Konfiguration u. Latenz
(▶ Tab. 2.15). Beurteilt werden die kürzeste F-Wellen-Latenz bei 10–20 Stimuli u.
die Häufigkeit des Auftretens (Persistenz).
Ind.: Unters. der prox. Abschnitte des peripheren Nervs (z. B. Plexusläsionen) u.
v. a. generalisierter Veränderungen (PNP).
  2.4 Elektroneurografie  63

Tab. 2.15  Normwerte der F-Welle (Latenz [ms] der F-Welle [Mittelwert ±
Standardabweichung])
Körpergrö­ M. soleus M. extensor M. flexor hal­ M. abductor M. abduc­
ße (cm) digitorum lucis brevis pollicis brevis* tor digiti
brevis minimi*

147–160 29,4 ± 2,3 46,2 ± 3,2 47,2 ± 3,6

163–175 32,6 ± 2,1 49,3 ± 3,8 50,6 ± 3,7


2
178–193 52,8 ± 4,2 55,4 ± 4,2

Vom Hand- 26,6 ± 2,2 27,0 ± 2,0


gelenk

Vom Ellen- 22,4 ± 1,6 23,0 ± 1,6


bogen

* Max. Seitendifferenz der Latenz jeweils 2 ms. Werte nach Stöhr M, Bluthardt M.
Atlas der klinischen Elektromyografie und Neurografie. Stuttgart, Kohlhammer
1983

2.4.4 Repetitive Nervenstimulation
Def.: Wiederholte supramaximale elektrische Nervenstimulation mit Aufzeich-
nung der M-Antworten zur Beurteilung der Endplattenfunktion (neuromuskulä-
re Transmission).
Ind.: Myasthenia gravis (optimale Stimulationsfrequenz 2–5  Hz), Lambert-
Eaton-Sy.
Technik: Ableitung des MSP mit Oberflächenelektroden i. d. R. von prox. Mus-
keln (Mm. deltoideus, trapezius, nasalis o. orbicularis oculi). Supramaximale elek-
trische Stimulation des Nervs mit 10 Stimuli u. einer Frequenz von 3 Hz.
Befunde:
• Myasthenia gravis: Bei einer 3-Hz-Stimulation Amplitudenabnahme des 2.–
5. MSP um mehr als 8 % im Vergleich zum Ausgangswert.
• Präsynaptische Transmissionsstör. (Lambert-Eaton-Sy.): Ebenfalls Ampli-
tudendekrement bei 3-Hz-Stimulation; abnorm niedrige Ausgangsamplitude
(meist < 2 mV). Zunahme der Amplitude des MSP nach tonischer Muskelak-
tivierung für 10 s um > 100 %.

2.4.5 Reflexuntersuchungen
Blinkreflex (Orbicularis-oculi-Reflex)
Def.: Ableitung des MSP des M. orbicularis oculi nach elektrischer Stimulation im
Bereich des N. supraorbitalis.
Ind.: Trigeminusaffektion, Hirnstammprozess.
Technik: Einseitige Stimulation des R.  supraorbitalis n.  trigemini u. simultane
Ableitung der motorischen Antworten vom M.  orbicularis oculi bds. mittels
Oberflächenelektroden.
Befunde: 2 Antwortkomplexe. Unilaterale R1-Komponente auf der Seite des Rei-
zes u. bilaterale R2-Antwort, die mit einem Augenschluss verbunden ist. Konfigu-
ration, Amplitude u. Latenz im Seitenvergleich (▶ Tab. 2.16).
64 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Tab. 2.16  Normwerte (ms) des Blinkreflexes (Mittelwert ± Standardabwei­


chung)
Blinkreflex Latenz [ms] Obere Norm­ Seitendifferenz Obere Norm­
grenze [ms] der Latenz [ms] grenze [ms]

R1 11,4 ± 0,9 13,3 (14) 0,3 ± 0,6 1,5

R2 ipsilateral 31,6 ± 3,2 38,1 (40) 0,3 ± 1,9 4,3 (5)


2 R2 kontralat. 32,4 ± 3,0 38,5 (40) 0,5 ± 2,1 5,0

Werte nach Stöhr, M., Bluthardt, M.: Atlas der klinischen Elektromyografie und
Neurografie, Kohlhammer, Stuttgart 1983

Path. Befunde:
• Periphere Fazialisparese (▶ 12.5.1): Ausfall o. Amplitudenreduktion aller
Komponenten ipsilateral zur Schädigung.
• Läsionen des 1. Trigeminusasts (▶ 5.2.1): Ausfall o. Verzögerung bzw. Ampli-
tudenreduktion der Antworten bei Stimulation des affizierten Trigeminus­
asts.
• Medulläre u. pontine Läsionen (z. B. MS, Ischämie, Tumor): Unterschiedliche
Veränderungen der R1- u. R2-Komponenten ipsi- u. kontralateral.

2.5  Elektromyografie (EMG)


Def.: Die Nadelelektromyografie wird zur Differenzierung neurogener u. myoge-
ner Prozesse sowie deren Lokalisation u. Dynamik durchgeführt. MAP = Mus-
kelaktionspotenzial.
Ind. u. KI:
• Ind.: Traumatische Nervenläsionen (▶ 17), Nervenwurzelläsion (▶ 18), Diffe-
renzierung von PNP (▶ 19), Myopathien (▶ 20), Myositiden (▶ 20.7), myoto-
ne Stör. (▶ 20.5), Vorderhornerkr. (SMA ▶ 16.1.3, ALS ▶ 16.1.1).
• Rel. KI: Blutgerinnungsstör., Behandlung mit Antikoagulanzien.
Technik:
• Hautdesinfektion, Einstich einer dünnen (0,3–0,6 mm), konzentrischen Na-
delelektrode in den entspannten Muskel.
• Beurteilung der elektrischen Einstichaktivität (fehlt bei Kompartmentsy.
▶ 17.1.1).
• Beurteilung der Aktivität in Muskelruhe (Spontanaktivität).
• Aufforderung, den Muskel gering zu innervieren (Beurteilung des MAP).
• Am Ende ggf. max. willkürliche Muskelkontraktion (Interferenzmusteranalyse).
Beurteilungskriterien:
• Keine Aktivität bei völliger Entspannung des Muskels.
• Path. Spontanaktivität: Bei neurogenen u. myopathischen Prozessen in Mus-
kelruhe:
– Fibrillationspotenziale u. pos. scharfe Wellen: Streng rhythmische Entla-
dung bi- bzw. triphasischer Potenziale von kurzer Dauer.
– Faszikulationen: Irreguläre unwillkürliche Entladung einer motorischen
Einheit mit wechselnder Konfiguration.
– Komplex repetitive Entladungen: Repetitive Entladung einer motorischen
Einheit mit gleichbleibender Frequenz (5–100 Hz) u. Amplitude, Beginn
bei Nadelverschiebung, abruptes Ende.
  2.5 Elektromyografie (EMG)  65

– Myotone Salven: Bei allen Formen einer Myotonie, repetitive Entladung


einer Muskelfaser mit ab- o. anschwellender Frequenz u. Amplitude bei
Nadeleinstich, Bewegung o. willkürlicher Muskelkontraktion.
• Beurteilung der MAP: Bei geringer Innervation des Muskels hinsichtlich
Dauer, Amplitude, Konfiguration u. Zahl der Phasen (Zahl der Durchgänge
durch die Nulllinie plus 1).
• Quantitative Elektromyografie: Registrierung u. Auswertung von mind. 20
motorischen Einheiten, die an mind. 3 verschiedenen Einstichstellen regist-
riert werden. 2
• Interferenzbild: Elektrische Aktivierung des Muskels (mehrere motorische
Einheiten an der Nadelspitze) während max. Innervation:
– Gesunde: Komplettes Interferenzbild ohne Darstellung der Grundlinie.
– Path. Prozesse: Lichtung bis zum Einzelentladungsmuster.
– Periphere neurogene Prozesse: Hohe Entladungsfrequenz einzelner moto-
rischer Einheiten mit ggf. erhöhter Maximalamplitude.
– Myopathien: Bereits bei geringer Kraftentfaltung frühzeitige Rekrutierung
vieler Einheiten mit niedriger Amplitude.
Path. Befunde (▶ Tab. 2.17):
• Neurogene Stör.:
– Häufig typ. Trias aus path. Spontanaktivität in Form von Fibrillationen u.
pos. scharfen Wellen, verbreiterten, polyphasischen u. hochamplitudigen
MAP (▶ Abb. 2.11). Lichtung des Interferenzbilds.
– Bei komplett denervierten Muskeln massive path. Spontanaktivität u. Ver-
lust der Willkürpotenziale.
• Myopathien:
– Bei akuten myositischen Prozessen lebhafte path. Spontanaktivität.
– Bei den meisten Myopathien kommen neben normalen auch verkürzte
MAP (< 5 ms) mit niedriger Amplitude (< 150 μV) vor (▶ Abb. 2.11).
– Interferenzmuster: Frühzeitig dichte Rekrutierung bei deutlicher Ampli-
tudenminderung.
• Myotone Stör.: Bei allen myotonen Stör. typ. „sturzkampfbomberartiges“
Geräusch bei Nadelverschiebung u. bei Willkürinnervation.

Tab. 2.17  Pathologische EMG-Befunde


Diagnose Spontan­ MAP-Aussehen Variation Interferenzbild
aktivität eines MAP

Subakute inkom- Keine Normal Keine Gelichtet; Ent-


plette neurogene ladungsfre-
Läsion (< 10 d) quenz > 20 Hz

Subakute komplette + bis +++ Keine MAP Keine Keine Entla-


Denervation (> 10 d) dung

Subakute inkom- ++ bis +++ Polyphasisch, Möglich Gelichtet


plette neurogene verlängert
Läsion (> 10 d)

Frühe Reinnervation Keine bis ++ Kurz, polypha- Vorhanden Gelichtet


sisch, klein

Chron. neurogene Keine o. + Verlängert, Keine Gelichtet


Läsion hochamplitudig
66 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Tab. 2.17  Pathologische EMG-Befunde (Forts.)


Diagnose Spontan­ MAP-Aussehen Variation Interferenzbild
aktivität eines MAP

Akute Myositis ++ bis +++ Kurz, polypha- Möglich Evtl. gelichtet,


sisch schnelle Rekru-
tierung

Chron. Myopathie Keine o. + Polyphasisch, Keine Gelichtet


2 kurz u. lang

Myasthenie Keine Normal Vorhanden Dicht

Normalbefund

Myopathie

Neuropathie

Abb. 2.11  EMG: MAP aus dem M. tibialis anterior (Normalbefund, Myopathie u.
Neuropathie) [L106]
  2.7 Elektronystagmografie  67

2.6 Sympathische Hautantwort
Def.: Verfahren zur Erfassung vegetativer sudomotorischer Funktionsstör.
Ind.: PNP mit Affektion vegetativer Fasern (bes. Diab. mell.), traumatische Ner-
venläsion mit Unterbrechung der vegetativen Fasern, Systemerkr. mit Beteiligung
autonomer Fasern.
Technik: Messung der Potenzialdifferenz (Handinnenfläche–Handrücken bzw.
Fußsohle–Fußrücken) mit Oberflächenelektroden vor u. nach einem physiol. Reiz
(tiefes Einatmen), einer Schreckreaktion (lautes, unerwartetes Geräusch) o. einem 2
elektrischen Schmerzreiz.
Befunde:
• Änderung des Oberflächenpotenzials an der Hand etwa 1,5 s nach dem Reiz.
Nach wiederholtem Reiz kann es zu einer Habituation (Abnahme der Ampli-
tude o. vorübergehend fehlende Auslösbarkeit) kommen.
• Path. ist ein Fehlen der Antwort.

2.7 Elektronystagmografie
Def.: Augenbewegungen verursachen messbare Potenzialänderungen im umge-
benden Gewebe (Elektrookulogramm), da sich die Kornea gegenüber der Retina
elektropos. verhält. Dadurch qualitative u. quantitative Analyse spontaner u. pro-
vozierter Nystagmusformen (▶ 3.1.7).
Ind. u. KI:
• Ind.:
– Periphere u. zentral-vestibuläre Stör. (▶ 3.3): Registrierung physiol. Nys-
tagmusformen, optokinetische u. kalorische Prüfung im Seitenvergleich.
– Differenzierung von Hirnstamm-, Kleinhirn- u. Großhirnprozessen.
Spontannystagmus, andere path. Nystagmusformen (▶ 3.1.7).
– Bestimmung der Geschwindigkeit rascher Augenbewegungen (Sakkaden).
• KI: Bei Pat. mit Trommelfell-OP bzw. -defekten keine kalorische Labyrinth-
prüfung mit Wasser. Cave: Bei entzündl. Veränderungen ist die kalorische
Prüfung sehr schmerzhaft.
Technik:
• Binokuläre Ableitung der Potenzialänderungen mit Oberflächenelektroden
am äußeren Augenwinkel zur Erfassung vertikaler Nystagmusformen.
• Ableitung über Ober- u. Unterlid zur Erfassung vertikaler Nystagmusformen
u. Differenzierung von Lidartefakten.
• Innerhalb eines Blickwinkels von 30° sind Bulbusbewegungen bis auf 1–2° ge-
nau quantitativ bestimmbar.
Normalbefunde:
• Rucknystagmus: Regelmäßige langsame u. entgegengerichtete reflektorische
schnelle Augenbewegungen nach kalorischem, rotatorischem o. optokineti-
schem Reiz (▶ 3.1.7).
• Erschöpflicher Endstellungsnystagmus bei extremen Augenbewegungen.
68 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

2.8 Doppler- bzw. Duplex-Sonografie


Def.: Die Ultraschallunters. der Strömungsverhältnisse in Gefäßen basiert auf
dem Doppler-Effekt, der eine Frequenzverschiebung von z. B. Schall- o. Lichtwel-
len bei einer relativen Bewegung zwischen Sender u. Empfänger beschreibt.
Physikalische Grundlagen:
• Ultraschall mit einer Frequenz von 210 MHz macht unter Benutzung des
Doppler-Effekts den Blutfluss hörbar u. stellt Gewebe u. Gefäße im Ultra-
2 schallbild dar. Die Umrechung des Doppler-Frequenz-Shifts (kHz) in eine
Strömungsgeschwindigkeit (cm/s) darf prinzipiell nur bei eingestellter Win-
kelkorrektur (nur möglich mit der Duplex-Sono) erfolgen.
• Bei Stenosen sind die am besten reproduzierbaren Ergebnisse bei Bestim-
mung des jeweils höchstmöglichen max. Doppler-Frequenz-Shifts (nicht der
Strömungsgeschwindigkeit) zu errreichen. Der Ultraschall wird durch einen
piezoelektrischen Ultraschall-Transducer erzeugt, der elektrische Energie in
Ultraschall konvertiert u. umgekehrt.

Ultraschallverfahren
Doppler-Verfahren: Höhe der Frequenzverschiebung des empfangenen gegen-
über dem ausgesandten Ultraschall durch den Doppler-Effekt (Doppler-Fre-
quenz) ist proportional zur Blutströmungsgeschwindigkeit, zur Sendefrequenz u.
zum Winkel zwischen Schallstrahl u. Blutströmungsrichtung (cos α).
• Signalverarbeitung: Spektrumanalyse in Fast-Fourier-Transformation. Dabei
werden komplexe Doppler-Signale in kurze Zeitabschnitte zerlegt u. in ein
Spektrum mit Dichteverteilung transformiert, meist in Form eines Frequenz-
zeitspektrums.
• Anwendungen der unterschiedlichen Schallsonden:
– 8 MHz CW: Doppler-Sono der periorbitalen Arterien u. Venen.
– 4 MHz CW, PW: Doppler-Sono der hirnversorgenden Halsarterien.
– 2 MHz PW: Intrakranielle Doppler-Sono u. Doppler-Sono des Aortenbo-
gens von supraklavikulär.
Pulsecho-Verfahren (B-Bild):
• Gepulstes Echo-Verfahren = brightness-mode durch Helligkeitsmodulation
eines Bildpunkts entsprechend der Signalintensität u. Empfängerfunktion;
Abtastung (scanning) durch parallele Abtastung (linear array) o. zeitversetzte
Aussendung (phased array).
• Anwendungen der unterschiedlichen Schallsonden:
– B-Bild 5–10 MHz: Supraaortale Arterien.
– B-Bild 2–2,5 MHz: Intrakranielle Unters.
– Kombination: Duplex-Sono meist mit PW-Doppler-Sono, z. B. 5–10 MHz
B-Mode u. 5 MHz PW-Doppler o. 2 MHz B-Bild u. 2 MHz PW-Doppler.
Farbkodierte Duplex-Sono: Syn. Echtzeit-farbkodierte Doppler-Angio, color-
flow-imaging. Darstellung der mittleren Doppler-Frequenz im gesamten Unter-
suchungsbereich; nach Farbkodierung stellt sich das durchströmte Lumen dar.
Power-Duplex-Sono: Echtzeit-Darstellung der maximalen Doppler-Power unab-
hängig von Flussgeschwindigkeit u. -richtung → höhere Flusssensitivität bei Ver-
zicht auf Information bzgl. Flussgeschwindigkeit u. -richtung, z. B. zur Darstel-
lung von Pseudookklusionen.
   2.8  Doppler- bzw. Duplex-Sonografie  69

2.8.1 Continuous-wave-Doppler-Sonografie (CW-Doppler)
Def.: Beschallung der extrakraniellen Gefäße (ACC, ACE, ACI, A. supratrochlea-
ris, A. subclavia, A. vertebralis) mit 4- u. 8-MHz-Sonden, die kontinuierlich (con-
tinuous wave) Ultraschallwellen aussenden u. die von den Blutkörperchen reflek-
tierten Schallwellen empfangen. Ggf. zusätzlich Spektralanalyse (FFT) des Fre-
quenzspektrums (▶ Abb. 2.12).
Untersuchungstechnik:
2
Die Unters. erfolgt grundsätzlich im Seitenvergleich. Wichtig ist die Diffe-
renzierung zwischen ACI u. ACE.

Abb. 2.12  Doppler-Sono der extrakraniellen A. carotis (Normalbefunde) [L106]


70 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

• A. supratrochlearis: Aufsetzen der 8-MHz-Sonde am medialen Augenwinkel.


• A. carotis:
– ACC: Möglichst weit prox. mit steil nach kranial gerichtetem 4-MHz-
Schallkopf aufsuchen u. kontinuierliches Verschieben der Sonde nach dis-
tal bis zur Bifurkation.
– ACI: Darstellung bis unterhalb der Mandibula, Abgang dorsal des Exter-
na-Abgangs nahezu in 90 % d. F., davon in etwa 20 % dorsomedialer Ab-
gang.
2 – ACE: Meist ventral u. in etwa 20 % d. F. ventrolateral der ACI, zuverlässige
Erkennung durch „Rückschlageffekt“ bei oszillierender Kompression der
A. temporalis superficialis.
– Unterschiedliche Pulsatilität von ACI u. ACE: Verlässlich nur bei nicht
stenosiertem Gefäß.
• A. vertebralis: Darstellung des Abgangs von der A. subclavia mit nach medial
u. kaudal gerichteter u. etwa 2 QF oberhalb der Klavikula positionierter Son-
de. Hinter dem Mastoid Ableitung des Strömungssignals der Atlasschlinge
der A. vertebralis.
Ind. u. Beurteilung der extrakraniellen Doppler-Sono (ECD; ▶ Tab. 2.18):
• Path. Strömungsrichtungen in A. supratrochlearis, A. vertebralis.
• Stenosen o. Verschlüsse der direkt beschallbaren hirnversorgenden Gefäße:
Im Stenosebereich Strömungsbeschleunigung, dahinter poststenotische Tur-
bulenzen. Erfasst werden Stenosen ab 40–60 % (hämodynamisch relevant).
• Hochgradige Strömungshindernisse im nicht zugänglichen (intrakraniellen)
Abschnitt der ACI: Charakteristische Veränderung der Strömungsprofile in
der prox. Karotisstrombahn (peripherer Strömungswiderstand ↑↑).
• Prox. Verschluss der ACI: Kein Internasignal u. Verminderung der diast.
Strömungsgeschwindigkeit der ACC im Vergleich zur Gegenseite. Darüber
hinaus meistens Strömungsumkehr in der A. supratrochlearis.
• Dissoziierter Hirntod (▶ 4.7): Feststellung des zerebralen Kreislaufstillstands.
Subclavian-steal-Effekt (▶ 7.2.9)
Bei einer Stenose der A. subclavia vor Abgang der A. vertebralis Veränderun-
gen der Durchströmung der ipsilateralen A. vertebralis.
• Grad I: Syst. Entschleunigung.
• Grad II: Pendelströmung.
• Grad III: Vollständige Strömungsumkehr der A. vertebralis.
   2.8  Doppler- bzw. Duplex-Sonografie  71

Tab. 2.18  Indikationen der ECD


++ Fokale neurol. Symptomatik (TIA, „minor stroke“)

++ Akuter Schlaganfall

++ Unilaterale Sehstör. (z. B. Amaurosis fugax)

++ Supraaortisches Strömungsgeräusch

+ RR-Differenz von ≥ 20 mmHg an den Armen 2


+ PAVK u./o. multiple vask. Risikofaktoren vor größerer OP

2.8.2 Konventionelle und farbkodierte Duplex-Sonografie


Gerätetechnik (▶ Abb. 2.13):
• Konventionelles Gerät:
– Schnittbild-(B-Bild-) u. Dopp-
ler-Sono, dadurch simultane
Darstellung hämodynamischer
(Strömungsgeschwindigkeit) u.
morphologischer (Gefäßwand) ACC
Parameter u. Möglichkeit der
winkelkorrigierten Strömungs-
geschwindigkeitsmessung.
– Im Vergleich zum CW-Doppler
zuverlässigere Untersuchungs-
ergebnisse, v. a. bei Lagevarian-
ten, Gefäßanomalien (z. B.
Schlingen- u. Knickbildungen) Abb. 2.13  Duplex-Sono der Karotisbi-
u. Gefäßstenosen. furkation: Teilungsstelle der ACC in
• Farbkodierte Duplex-Sono die ACI u. ACE [M139]
(▶ Abb. 2.14):
– B-Bild u. überlagerte zweidimen-
sionale farbkodierte Darstellung
der Strömung in Echtzeit.
– Zusätzliche Vorteile bei anato-
misch varianten Gefäßverläu-
fen, kleinem Gefäßkaliber, der
Abgrenzung von Lumen u. Ge-
fäßwand v. a. bei irregulär kon-
figurierten Stenosen, Plaques
niedriger Echodichte u.
schlechten Beschallungsbedin-
gungen sowie bei der Differen-
zierung filiformer Stenosen u. Abb. 2.14  Farbduplex-Sono einer ACI-
Verschlüsse. Stenose [M139]
– Möglichkeit der transkraniellen
Anwendung mittels 2-MHz-
Sektorschallkopf.
72 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Untersuchungstechnik:
• In 3 longitudinalen Schnittebenen (frontal, lat., dorsal) u. in der transversalen
Ebene, bei der die Abbildungsebene um 90° zur Gefäßachse gedreht ist.
• Parameter zur morphologischen Beschreibung von Stenosen:
– Oberfläche der Stenose: Gut/mäßig/schlecht abgrenzbar – nicht sichtbar;
regelmäßige – gering/massiv unregelmäßige Kontur; durchgehend – ge-
ring/massiv unterbrochen.
– Binnenechos der Stenose: Echoreich – echoarm – nicht sichtbar; homogen
2 – inhomogen; feines – grobes Echomuster.
– Besonderheiten: Schallschatten, Nischenbildung (Länge × Tiefe in mm).
Ind. u. Beurteilung der extrakraniellen Duplex-Sono:
• Abklärung unklarer dopplersonografischer Befunde u. therap. Konsequenzen
bei Karotisstenosen u. -verschlüssen (Ausdehnung arteriosklerotischer Ver-
änderungen, Plaquemorphologie u. sonstige Wandveränderungen).
• Darstellung von arteriosklerotischen Wandveränderungen u. Stenosen mit
weniger als 50 % lokaler Lumenreduktion.
• Beurteilung der Plaquemorphologie nach Länge u. Dicke sowie Längspulsati-
onen (erhöhtes Rupturrisiko), Oberfläche, Binnenechogenität, Schallschatten.
– Bei einer stenosierenden echoarmen Plaque mit heterogenem Binnenecho
erhöhtes Schlaganfallrisiko.
– Eine komplett echoarme Plaque ist ohne prognostischen Wert.
• Beurteilung der Intima-Media-Dicke der ACC: Risiko vask. Ereignisse ab ei-
ner Dicke von 0,8 mm erhöht, pro 0,1 mm Zunahme der Dicke ca. 10 % Risi-
kozunahme.
• Diagn. extrakranieller Vaskulitiden: Echoarm bis moderat echogen, konzen­
trisch u. langstreckig bei Vaskulitiden. Diffuse Verbreiterung des Grenzzo-
nenreflexes (Intima-Media-Dicke) > 1 mm.
• Ursachenabklärung bei TIA, „minor stroke“ u. vertebrobasilärer Insuff. (Dif-
ferenzierung zwischen Hypoplasie, Verschluss, Knickschleifenbildung, Steno-
se einer A. vertebralis), Abklärung pulsierender Halstumoren.
• Nachweis von Dissektionen (echoarm u. exzentrisch bei Dissekaten; Sensitivität
u. Spezifität für extrakranielle Karotisdissektion ca. 95 %; für A. vertebralis ge-
ringere Aussagekraft; intrakranielle Dissekate können nur als Stenose erfasst
werden), arteriosklerotischen Plaques als Emboliequelle, Ausschluss arterioskle-
rotischer Plaques vor Karotiskompression, Kontrolle nach gefäßchir. Eingriffen.

2.8.3 Graduierung extrakranieller Stenosen der A. carotis


interna
• Die Graduierung extrakranieller Stenosen der ACI ist von großer klin. Bedeu-
tung. Der Stenosegrad ist das wichtigste Kriterium für die Entscheidung über
eine invasive (Thrombendarteriektomie o. Dilatation u. Stent) o. nichtinvasi-
ve konservative Behandlung der extrakraniellen Stenose.
• Bei asymptomatischen Stenosen ist die rasche Zunahme des Stenosegrads we-
sentlicher Indikator für ein erhöhtes Schlaganfallrisiko.
NASCET versus ECST:
• In Deutschland u. Europa erfolgte bisher die Stenosegrad-Def. nach den Kri-
terien des „European Carotid Surgery Trial“ (ECST), in Nordamerika nach
den Kriterien des „North American Symptomatic Carotid Endarterectomy
Trial“ (NASCET).
   2.8  Doppler- bzw. Duplex-Sonografie  73

• Nach ECST wird der Stenosegrad in Relation zum ursprünglichen Lumen,


nach NASCET in Relation zum distalen Lumen der ACI bestimmt (▶ Abb.
2.15, ▶ Tab. 2.19). Inzwischen hat sich die NASCET-Graduierung internatio-
nal u. auch in D weitgehend durchgesetzt.
• Aus Tabelle 2.19 geht hervor, dass dieselbe Stenose nach NASCET mit 50 % u.
nach ECST mit 70 % graduiert wird. Von daher ist es unerlässlich, in den Be-
fundmitteilungen die den Graduierungen zugrunde liegenden unterschiedli-
chen Def. (ECST o. NASCET) zu nennen.
Umrechnung von ECST auf NASCET u. vice versa: 2

Tab. 2.19  Graduierung der gleichen Stenose nach NASCET u. nach ECST
NASCET-Definition ECST-Definition

30 % 50–60 %

50 % 70 %

60 % 75 %

70 % 80 %

80 % 90 %

• Die Umrechnung von ECST auf


NASCET erfolgt mit der Formel:
B
NASCET % = (ECST ‐ 40) % /0,6

Oder umgekehrt von NASCET auf


­ECST mit der Formel:
ECST % = 40 + 0,6 × NASCET %
A
Graduierung einer Karotisstenose
mittels eines multiparametrischen C
Ansatzes:
• Die Ultraschallkriterien zur Gradu-
ierung von Karotisstenosen erlauben
bei kombinierter Anwendung
(▶ Tab. 2.20) eine zuverlässige Ste-
nosegraduierung. Damit ist es mög-
lich, hochgradige Stenosen in
10-Prozent-Schritten zu beschreiben.
• Es gelingt, die Progredienz einer
Stenose schrittweise mit zuneh-
Abb. 2.15 Verschiedene Definitionen
mender hämodynamischer Beein- (NASCET versus ECST) zur Graduierung
trächtigung zu erfassen. von Karotisstenosen. Der lokale Steno-
• Die rasche Zunahme des Stenose- segrad (A) bezieht sich nach ECST auf
grads ist ein wichtiges prognosti- das ursprüngliche Lumen (C), nach
sches Kriterium. NASCET auf das distale Lumen (B).
ECST: A vs C; NASCET: A vs B [M139]
74 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Tab. 2.20  Stenosegraduierung der ACI mithilfe eines multiparametrischen


Ansatzes. Graduierung der Stenose nach NASCET in 10-Prozent-Schritten. Kri­
terien Nr. 1–5: Hauptkriterien; Kriterien Nr. 6–10: Zusatzkriterien
Krit. Graduierung der ACI-Stenose nach NASCET
Nr.
10– 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % Ver-
40 % schluss

2 1 B-Bild +++ + + + + + +++

2 Farbdoppler- + + + ++ +++ +++ Keine


Bild: Lokale Strö-
Strömungsbe- mung
schleunigung
(Aliasing)

3 Syst. Spitzen-
geschwindig-
keit (PSV) im
Stenosemaxi-
mum (cm/s):

PSV Durch- ≤ 160 210 240 330 370 Variabel Neg.


schnittswert
(cm/s)

PSV Unterer 100 125 150 230 280


Grenzbereich
(cm/s)

4 Poststeno­ > 50 > 50 > 50 ≥ 50 < 50 < 30 Neg.


tische PSV Normal Normal Normal Nor- Redu- Stark re-
(cm/s) mal ziert duziert

5 Kollateralen Neg. Neg. Neg. (+) ++ +++ +++

6 Diast. Strö- Neg. Neg. Neg. + ++ +++ +++


mungsver-
langsamung
prästenotisch
in der ACC

7 Poststenoti- Neg. + + ++ +++ Variabel Neg.


sche Strö-
mungsturbu-
lenzen

8 Enddiast. < 100 < 100 <100 > > 100 Variabel Neg.
Strömungsge- 100
schwindigkeit
im Stenose-
maximum
(cm/s)

9 Konfetti- Neg. Neg. (+) ++ ++ Variabel Neg.


Zeichen

10 Stenoseindex <2 ≥2 ≥2 >4 >4 Variabel Neg.


ACI/ACC

(+) kann vorhanden sein + vorhanden ++ ausgeprägt vorhanden +++ sehr ausge-
prägt vorhanden
   2.8  Doppler- bzw. Duplex-Sonografie  75

2.8.4 Transkranielle Doppler- und Duplex-Sonografie (TCD)


Def.: Nichtinvasive Darstellung der Perfusionsverhältnisse intrakranieller Gefäß-
abschnitte (▶ Abb. 2.16).

2
b d
a c

f
e
g

a= ACI, b= A. cerebri anterior ,


c= b+d, d= A. cerebri media,
e+f= A. cerebri posterior,
g= A. basilaris

Abb. 2.16  TCD-Ableitung der Hirnbasisarterien (Normalbefunde) [L106]

Gerätetechnik:
• Spezielle Sonde mit akustischer Linse zur Fokussierung des Ultraschalls. Rela-
tiv niedrige Sendefrequenz (meist um 2 MHz) u. hohe Sendeleistung.
• Einsatz eines „gepulsten“ Dopplers mit selektiver Beschallung bestimmter
Tiefenbereiche zur Gefäßdifferenzierung sowie Spektrumanalyse zur Abgren-
76 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

zung schwacher Doppler-Signalanteile. Darstellung komplexer Strömungs-


muster u. winkelkorrigierte Messung von Strömungsgeschwindigkeiten mit-
tels TCD.
• Bei schlechten Beschallungsbedingungen ggf. Echo-KM.
Untersuchungstechnik: Zuordnung des Doppler-Signals zu einem bestimmten
Gefäßabschnitt anhand Sondenposition, Tiefe u. Richtung des Ultraschallstrahls,
Strömungsrichtung u. Frequenzspektrum.
• Durch physiol. Dünnstellen („Knochenfenster“) der Temporalschuppe, Schä-
2 delöffnungen u. das Foramen occipitale magnum können die Segmente des
Karotissyphons, die Abschnitte des Circulus arteriosus Willisii, die ACM ein-
schließlich ihrer Trifurkation u. die intrakraniellen Abschnitte der A. verte­
bralis sowie die A. basilaris beschallt werden.
• Durch submandibuläre Beschallung kann vom Kieferwinkel ausgehend der
noch extradurale, aber bereits in der Schädelbasis verlaufende Abschnitt der
ACI erfasst werden.
• Wesentliche Parameter zur Beurteilung: Mittlere Strömungsgeschwindigkeit
(in cm/s) u. Pulsatilität (Verhältnis von syst. zu enddiast. Geschwindigkeit).
Besonderheiten der transkraniellen farbkodierten Duplex-Sono (2–2,5 MHz):
Basale Hirnarterien werden im anatomischen Bezug zur Schädelbasis u. dem Mes­
enzephalon eindeutig differenziert (▶  Tab.  2.21). Beschallungsfenster wie TCD,
häufigere Durchschallungsprobleme. Genauere topische Zuordnung verbessert
Aussagekraft, kleineres Messvolumen verbessert Spezifität u. verschlechtert Sensi-
tivität.

Tab. 2.21  Differenzierung der Hirnbasisarterien bei transtemporaler bzw.


transnuchaler Beschallung
Gefäß Tiefe (mm) Strömungsrichtung Mittlere Strömungsge­
schwindigkeit (cm/s)

A. cerebri media 35–55 Zur Sonde hin 60 ± 12

A. cerebri anterior 70–80 Von der Sonde weg 50 ± 12

A. cerebri posterior 65–75 Meist zur Sonde hin 40 ± 11

A. basilaris > 90 Von der Sonde weg 40 ± 10

Bei winkelkorrigierter Strömungsgeschwindigkeitsmessung (s. o.) ergeben sich je


nach Gefäß meist um 10–30 % höhere Geschwindigkeitswerte.

KM-gestützte transkranielle farbkodierte Duplex-Sono (2–2,5 MHz): I. v. Ver-


abreichung von lungengängigen Ultraschall-KM (Polysaccharide, stabilisieren
kleine Luftbläschen <  8 μm; SonoVue®, Levovist®) → Verbesserung des Signal-
Rausch-Abstands. Nachweis von > 50-prozentigen Stenosen der basalen Hirnar-
terien mit > 95-prozentiger Sensitivität.
Ind. u. Beurteilung der transkraniellen Doppler- u. Duplex-Sono:
• Stenosen u. Verschlüsse intrakranieller Hirnarterien (verringerte Maximalfre-
quenzen u. Pulsatilität der ipsilateralen ACM, ▶ Tab. 2.22).
• Feststellung intrakranieller Stenosen mit einer Sensitivität/Spezifität > 90 %
möglich; die TCD erlaubt eine genauerer räumliche Zuordnung von Stenosen
(z. B. distale ACI versus Mediahauptstamm versus Mediahauptast).
• Darstellung der intrakraniellen Kollateralversorgung (z. B. Cross-flow über
den R. communicans ant. o. Füllung des ipsilateralen Siphons über
   2.8  Doppler- bzw. Duplex-Sonografie  77

A. communicans post.) bei extrakraniellen Stenosen o. Verschlüssen der


ACI.
• Unters. der zerebralen „Vasomotorenreserve“ (Diamox®-CO2-Test) bei extra-
kraniellen Stenosen der ACI.
• Nachweis persistierender zerebraler Embolisation durch Detektion von
„HITS“ (high-intensity transient signals) bei der Ursachenklärung (rezid.)
TIA u. Schlaganfälle.
• Nachweis eines kardialen Re-li-Shunts (z. B. offenes Foramen ovale) als mög-
liche Urs. paradoxer Embolien in Verbindung mit tiefer Beinvenenthrombose 2
durch i. v.-Gabe nicht lungengängiger KM (z. B. Echovist®) mit/ohne Valsal-
va-Manöver.
• Intraop. Monitoring während Karotis- o. Herz-OP zur Beurteilung von Ver-
änderungen der zerebralen Hämodynamik u. zum Nachweis von Emboli.
• Nichtinvasive Verlaufskontrolle u. Diagn. des Vasospasmus nach SAB.
• Erhöhter ICP: Verlaufskontrollen, z. B. Beurteilung der medikamentösen
Ther. o. Beatmungsparameter.

Tab. 2.22  Transkranielle Doppler- u. Duplex-Sonografie bei intrakraniellen


Verschlüssen
Verschlüsse Extrakraniell TCD Transkranielle
Farbduplex-Sono

A. cerebri M1-Verschluss: End- Verschluss Media- Fehlende Farb-


media diast. Strömungsge- Hauptstamm: Fehlende darstellung der
schwindigkeit vermin- Darstellbarkeit des ACM bei eindeu-
dert bei erhöhter Pul- ACM-Doppler-Fre- tiger Darstellbar-
satilität in der ipsila- quenzspektrums, weiter keit der anderen
teralen ACI. Distalere periphere Verschlüsse intrakraniellen
Verschlüsse: Häufig oft ohne Einfluss auf Gefäße
noch unauffällige ACM-Signal; erhöhte
Strömungssignale Strömungsgeschwindig-
keiten anderer intrakra-
nieller Gefäße (z. B. ACA
u. P2-Segment als lepto-
meningeale Kollatera-
len bei M1-Verschluss)

Distale A. ca­ Enddiast. Strömungs- Kollateralversorgung


rotis interna geschwindigkeit ver- über A. communicans
mindert bei erhöhter ant. (cross-over flow)
Pulsatilität u./o. über A. communi-
cans post.

A. vertebralis Distaler AV-Verschluss Strömungsgeschwindig-


führt zu erhöhter Pul- keit der kontralateralen
satilität im Bereich AV meist kompensato-
V1–3 risch erhöht

A. basilaris Prox. AB-Verschluss Versorgung ACP über


führt zu erhöhter Pul- ACI u. A. communicans
satilität im Bereich post., deshalb retrogra-
V1–3 bds. des P1-Segment

ACM: A. cerebri media, ACA: A. cerebri anterior, ACI: A. carotis interna, ACP: A. ce-
rebri posterior, AV: A. vertebralis, AB: A. basilaris
78 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

• Hirntoddiagn.: Nachweis des irreversiblen zerebralen Kreislaufstillstands.


• Erkennen der zuführenden Gefäße bei Angiomen u. Diagnose von Karotis-
Sinus-cavernosus-Fisteln.
• Migräneanfälle: Beurteilung hämodynamischer Veränderungen (z. B. Strö-
mungsbeschleunigung infolge Vasokonstriktion).
• Beurteilung funktioneller Aspekte der Hämodynamik (z. B. bei gezielter kor-
tikaler Stimulation durch sprachliche, räumliche o. visuelle Aufgaben).
• Pulsatilität (Verhältnis von syst. zu endidast. Geschwindigkeit) ist vermindert
2 nach hochgradigen Stenosen o. z. B. bei AV-Fistel im weiteren Gefäßverlauf.
• Pulsatilität ist erhöht (infolge erniedrigter enddiast. Strömungsgeschwindig-
keit) vor hochgradigen Stenosen aufgrund eines erhöhten „nachgeschalteten“
peripheren Strömungswiderstands.

2.8.5 Untersuchung der Vasomotorenreserve


Grundprinzip: Anstieg von pCO2 → Vasodilatation, daher Korrelation von pCO2
u. Strömungsgeschwindigkeit der ACM, pCO2-Antwortkurve linear zwischen 30
u. 60 mmHg, Anstiegssteilheit von 2–4 % pro mmHg pCO2.
Methodik: Hyperkapnie durch CO2-Rückatmung o. Einatmung einer 5–7-pro-
zentigen CO2-Gasmischung, Alternativmethode: Karboanhydratasehemmer i. v.
(Diamox®). Hypokapnie durch Hyperventilation Messung der endtidalen pCO2
in Ausatemluft.
Beurteilung der Vasomotorenreserve (VMR):
• Normal: VMR 5 ± 1,5 %/mmHg CO2.
• Eingeschränkt: VMR < 2 %/mmHg CO2.
• Deutlich eingeschränkt: VMR < 1,5 %/mmHg CO2.
• Erschöpft: VMR < 1,0 %/mmHg CO2.
Aussage: Befunde entsprechen der Kollateralkapazität des Circulus arteriosus
Willisii. Aufgehobene CO2-Reaktivität ist ein unabhängiger Prädiktor für zerebra-
le Ischämien bei Pat. mit asymptomatischer hochgradiger ACI-Stenose o. -Ver-
schluss.

2.8.6 Emboliedetektion
Grundprinzip: Im Blut fließende kleine solide Teilchen o. Gasbläschen (Embolie
bzw. Ultraschall-KM) reflektieren deutlich mehr Ultraschallenergie als Erythrozyten,
sodass ein hyperintenses Signal von 525 dB entsteht, das mittels TCD ableitbar ist.
Methodik: Detektion von spontanen Emboliesignalen mit bilateraler transtempo-
raler Ableitung (ACM u./o. ACP) über mind. 30 Min.
Beurteilung: Anzahl der Emboliesignale pro Gefäß, normal 0/h, gering path. 1–2/
h, deutlich path. ≥ 3/h.
Aussage:
• Über die topische Verteilung kann eine arterioarterielle (nur ein Gefäß mit
Embolien) o. eine kardiale Emboliequelle (bilaterale Embolien vorderes u.
hinteres Stromgebiet) nachgewiesen werden.
• Zusammenhang zwischen Zahl der Embolien u. Risiko für zerebrale Ischämien.
• Pat. mit asymptomatischer ACI-Stenose: Auftreten von Mikroemboliesigna-
len = signifikanter Prädiktor für zerebrale Ischämien.
  2.9 Bildgebende Verfahren  79

2.8.7 Nachweis paradoxer Embolien


Grundprinzip: Übertritt von KM auf Vorhofebene bei offenem Foramen ovale o.
Vorhofseptumdefekt führt zu zahlreichen hyperintensen Signalen in der ACM.
Methodik: Injektion von nicht lungengängigem Ultraschall-KM (10 ml) in die V. cu-
bitalis; Detektion von Emboliesignalen transtemporal, am besten in liegender Position.
Beurteilung:
• Latenz u. Anzahl der Emboliesignale pro Gefäß (semiquantitativ).
• Normal: Einzelne Signale nach > 12 s (über Lunge). 2
• Re-li-Shunt auf Herzebene: Clusterartige Emboliesignale nach < 8 s, bei ventil­
offenem F. ovale nur bei Valsalva-Manöver (Wdh., falls zuerst ohne Signale).
Aussage: Differenzierung spontaner u. induzierter Shunts, wobei mit großer Si-
cherheit (besser als transthorakale Echokardiografie) Re-li-Shunts auf Herzebene
bzw. in Herznähe erkannt werden; unter guten Untersuchungsbedingungen sen-
sitiver als TEE.

2.9 Bildgebende Verfahren
2.9.1 Röntgen-Nativ-Diagnostik
Die konventionelle Rö-Nativ-Diagn. liefert nur indirekte Hinweise auf path. Ver-
änderungen an Gehirn u. RM.

Schädel
Ind.:
• Frakturen (wenn CCT geplant, kann u. U. auf Nativ-Rö verzichtet werden).
• Plasmozytom („Schrotschuss-Schädel“).
• Osteomyelitis: Initial fleckige Destruktionen mit Sequestern, später Randskle-
rosen u. Verkleinerung der zerstörten Bezirke.
• Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs (▶ Tab. 2.23).
Technik: Übersichtsaufnahme grundsätzlich in 2  Ebenen (p.  a. u. seitl.;
▶ Abb. 2.18).
Tab. 2.23  Messlinien zur Beurteilung des kraniozervikalen Übergangs
(▶ Abb. 2.17)
Messlinie Verbindung zwischen Normalbefund

Chamberlain- Hartem Gaumen (dorsaler Rand) u. Linie 1 ± 3,6 mm oberhalb


Linie Foramen magnum (dorsaler Rand) von Atlas u. Dens axis

Digastrische Beiden Incisurae mastoideae Linie oberhalb des Dens axis


Linie

Bimastoidlinie Beiden Spitzen der Processus masto- Linie ∼7 mm unterhalb der
idei Spitze des Dens axis, kreuzt
das Atlantookzipitalgelenk

McRae-Linie Vorderem u. hinterem Rand des Oberhalb der Spitze des


Foramen occipitale magnum Dens axis

McGregor-­ Oberem Hinterrand des harten Gau- Densspitze überragt Linie


Linie mens u. unterstem Punkt der Okzipi- um max. 5 mm
talschuppe
80
Gebräuchlichste Messmethoden am kraniozervikalen Übergang

Biventerlinie Chamberlain-Linie***
McRae-Linie**

Bimastoid- Basiswinkel McGregor-


2 linie ****
(120-145°)
Linie*

Dens Atlas
Die Gelenkwinkel der * Dens max. 5 mm oberhalb
Atlantookzipital- und ** Dens überragt Linie nicht
der Atlantoaxialgelenke *** Dens 1 ± 3,6 mm unterhalb
berühren sich im Idealfall **** bei Dascher-Impression erhöht
etwa in Densmitte.

Abb. 2.17  Messlinien zur Beurteilung des kraniozervikalen Übergangs im Rö-Bild


[L106]

1 Sella turcica
24 2 Dorsum sellae
12 3 Tuberculum sellae
4 Clivus
5 Sutura squamosa
6 Squama occipitalis
23 7 Protuberantia occipitalis int.
8 Protuberantia occipitalis ext.
18 25 18 9 Sutura lamboidea
27 10 Os parietale
27
11 Os frontale
26 12 Sutura coronalis
16
13 Sulcus a. menigea media
28 14 Os nasale
17 17 15 Siebbein
16 Keilbeinhöhle (Sinus sphenoidalis)
17 Oberkieferhöhle (Sinus maxillaris)
18 Sinus frontalis
19 Processus coronoidius
20 Caput mandibulae
21 Spina nasalis anterior
22 Dens axis
23 Sutura lambdoidea
24 Sutura sagittalis
10 25 Stirnhöhlenseptum
11 26 Knöchernes Nasenseptum
27 Orbita
28 Arcus zygomaticus
12 13
9
14 13 5
15 3 1 2 7
7 16 4 19
21 17 20 8
6
19 22

Abb. 2.18  Rö-Nativ-Aufnahmen des Schädels [M139]


  2.9 Bildgebende Verfahren  81

Wirbelsäule
Ind.: Nur noch in Ausnahmefällen:
• Knöcherne Anomalien
• Frakturen, Verschmälerung der Zwischenwirbelräume, Spondylolysen, Spon-
dylolisthesen.
• Hinweise auf degenerative, entzündl. o. dysraphische Veränderungen.
• Tumoren u. Metastasen.
Technik:
• Unters. immer in 2 Ebenen. 2
• Bei Unters. der HWS zusätzlich Schrägaufnahmen zur Beurteilung der Fora-
mina intervertebralia, der Bogenwurzeln u. der Wirbelgelenke.
• Aufnahmen durch geöffneten Mund zur Beurteilung des Dens axis.
• Ante- u. Retroflexionsaufnahmen zur Unters. der Beweglichkeit der verschie-
denen WS-Abschnitte (Wirbelgleiten).
Beurteilung von WS-Röntgenaufnahmen:
• Stellung u. Haltung: Segmentale Fehlstellungen, z. B. Steilstellung, dorsales
Klaffen des Diskusraums, abnorme Stellung mehrerer Wirbel oberhalb eines
gelockerten Segments, Skoliose.
• Lage der Wirbel zueinander: Z. B. Wirbelverschiebungen, Drehgleiten, inter-
segmentale Dystopie.
• Rö-Morphologie: Form der Intervertebrallöcher, Spinalkanal, Wirbel (Nor-
mal- bzw. Fehlform: Harmonisch, z. B. Hoch-, Flach-, Keil-, Teil-, Schmetter-
lings-, Fisch-, Kasten-, Block-, Tonnenwirbel, o. dysharmonisch, z. B. Erosi-
on, Defekt, Einbruch, Abbruch, Auftreibung) u. Wirbelstruktur (z. B. Ver-
dichtung, erhöhte Transparenz).
• Umgebungsveränderungen: Z. B. Raumforderungen, Einblutungen.
Konventionelle Röntgen-Diagnostik (▶ Abb. 2.19)

Proc. articularis sup.

Proc. mamillaris

Querfortsatz

Proc. articularis inf.

Incisura vertebralis inferior

Wirbelkörper

Abb. 2.19  Schema der Rö-Nativaufnahme eines Wirbelkörpers in 2 Ebenen [L106]

Ind.:
• Knochenarrosion, -destruktion, -neubildung durch Tumoren (z. B. Nebenei-
nander von osteolytischen u. osteoplastischen Metastasen bei Mamma-Ca),
entzündl. Prozesse, Stoffwechselerkr., Fehlbildungen.
82 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

• WS-Verletzungen:
– Nachweis von Wirbelfrakturen u. Dislokationen, i. d. R. ergänzende Ab-
klärung durch CT.
– Funktionsaufnahmen in Inklination u. Reklination zum Nachweis einer
Instabilität (cave: Nur unter strengster Überwachung).
– OP-Planung u. -Dokumentation, z. B. Ausschluss Segmentierungsstör. bei
lumbalen Bandscheiben-OP.
2
2.9.2  Computertomografie (CT)
Definition
• Schichtbildverfahren, das auf der Messung von Röntgenstrahlen-Absorpti-
onswerten von Gewebestrukturen mithilfe hochempfindlicher Detektoren be-
ruht. Die von einer rotierenden Röntgenröhre emittierte Strahlung durch-
dringt das Untersuchungsobjekt in unterschiedlichen Projektionen u. wird
von Detektoren erfasst.
• Die Grauwerte der resultierenden Schnittbilder repräsentieren die Absorpti-
on der Röntgenstrahlung in den einzelnen Bildpunkten.
• Durch Variation der Lage u. Weite des Grauwertfensters können verschiede-
ne Gewebe auch retrospektiv optimiert dargestellt werden (z. B. Weichteil-
fenster, Knochenfenster).
• Quantitative Dichtemessungen erlauben Gewebscharakterisierung.
• Maß der Dichte sind die Houndsfield-Einheiten (HE; ▶ Tab. 2.24). Die Hirn-
u. RM-Substanz erscheinen grau, Liquor schwarz (= hypodens) u. Knochen
weiß (= hyperdens) im Vergleich zur normalen Hirndichte.

Tab. 2.24  Houndsfield-Einheiten


Gewebe Einheiten (HE)

Fett –120 bis –80

Wasser 0

Liquor 10

Hirngewebe 30–40

Blut (flüssig) 40–50

Blut (geronnen) 50–100

Knochen, Kalk > 500

Vorteile
• Hohe Sensitivität für akute Blutungen, path. Veränderungen der Knochen,
Verkalkungen, Luft.
• Polytraumatisierte u. Intensivpat. sind gut zu überwachen (im Gegensatz zu
MRT).
• Breite Verfügbarkeit, relativ kostengünstig.
Nachteile
• Strahlenbelastung.
• Begrenzter Weichteilkontrast.
  2.9 Bildgebende Verfahren  83

• Aufhärtungsartefakte (durch Änderung des Röntgenstrahlenspektrums beim


Durchdringen dichter Gewebe, z. B. nahe der Schädelbasis).
• RM nicht beurteilbar.
Spezielle CT-Techniken
Spiral-CT:
• Kontinuierliche Datenakquisition, während das Untersuchungsobjekt gleich-
mäßig durch die Untersuchungseinheit bewegt wird.
• Sek. Berechnung von Schnittbildern aus dem Volumendatensatz. 2
• Qualität der Aufnahmen wird u. a. durch den sog. „pitch“, d. h. das Verhältnis
von Schichtkollimation zu Tischvorschub bestimmt.
Mehrschicht-CT: Mehrere nebeneinander angeordnete Detektorenringe erlau-
ben simultane Erfassung multipler Schichten; dadurch erheblich reduzierte Un-
tersuchungszeiten → Darstellung großer Volumina mit geringen Bewegungsarte-
fakten.
Angio-CT:
• Kontinuierliche Datenakquisition während der Passage eines i. v. applizierten
KM-Bolus durch das Untersuchungsvolumen → kontrastreiche Darstellung
der Gefäße in Schnittbildern.
• Sek. Berechnung von 3-dimensionalen Rekonstruktionen.
• Nachweisgrenze für Aneurysmen ca. 2 mm.
Perfusions-CT: Sequenzielle Akquisitionen einer o. mehrerer Schichten während
der Passage eines i. v. applizierten KM-Bolus → Berechnung verschiedener Perfu-
sionsparameter wie Time-to-Peak (TTP), mittleres zerebrales Blutvolumen
(CBV), zerebraler Blutfluss (CBF); grauwert- o. farbkodierte Darstellung in Para-
meterkarten.

Kraniale Computertomografie (CCT)


Normalbefund ▶ Abb. 2.20.
Ind.:
• DD u. Lokalisation des Schlaganfalls: Minderperfusion mit hypodensem Are-
al nach etwa 24 h, Frühzeichen (verstrichene Sulci; Verlust der Basalganglien-
abgrenzbarkeit schon nach 2–4 h), hyperdense Media, intrakranielle Blutung
ist prim. hyperdens.
• Hirntumoren: Nachweis in über 95 % ab einer Tumorgröße von 1–2 cm.
• Hirnödem: Verstrichene Rindenfurchenzeichnung, eingeengtes Ventrikelsys-
tem, Verlegung der basalen Zisternen.
• Gefäßmalformationen: V. a. Angiome, Aneurysmen auch bei KM-Gabe oft
nicht sichtbar.
• Atrophische Prozesse: Volumenminderung der Hirnrinde, Erweiterung der
Sulci u. des Ventrikelsystems.
• Hydrozephalus.
• Entzündl. Prozesse: Abszesse, Enzephalitiden, MS, Parasitosen; bei dissemi-
nierten Veränderungen geringere Sensitivität als das MRT, jedoch bessere
Darstellung von Verkalkungen.
• SHT: EDH u. SDH, intrazerebrale Hämatome mit u. ohne Hirnödem, Frak-
turnachweis.
• Epilepsien: Suche nach fokalen o. disseminierten hirnorganischen Verände-
rungen.
• Neuroophthalmologische Fragestellungen: Evtl. zusätzliche koronare Schicht­
ebenen.
84 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

9
2
1
8

7
5

10

1 Kleinhirn-Hemisphäre 3 Parietallappen 6 Corpus pineale 9 Felsenbein


2 Frontallappen 4 Corpus callosum 7 Vorderhorn 10 Okzipital-
5 Nucleus caudatum 8 Falx cerebri lappen

Abb. 2.20  Kraniale Computertomografie (Normalbefund) [M139]


  2.9 Bildgebende Verfahren  85

Technik:
• Standard: Transversale Aufnahmen mit einer Schichtdicke von 8 mm parallel
zur Orbito-Meatal-Linie. Unterschiedliche Fenster zur Weichteil- u. Kno-
chendarstellung.
• 4 mm Schichtdicke: Bei Prozessen der hinteren u. mittleren Schädelgrube, bei
Pat. mit psychomotorischen Anfällen sowie bei Kleinkindern.
• KM-CT: Z. B. Gefäßveränderungen, Tumoren. KM-Anreicherung (Enhance-
ment) bei Stör. der Blut-Hirn-Schranke.
Befunde: 2
• KM-Verhalten häufiger Läsionen:
– Enhancement: Frischer Infarkt (meist 1 Wo. bis 2 Mon. nach dem Infarkt­
ereignis); Tumoren, insbes. Metastasen, Gliome, Meningeome, Lympho-
me; Entzündungsherde (MS); Granulome; Angiome, Aneurysmen.
– Kein Enhancement: Alter Hirninfarkt; alte Blutung; Astrozytom; Behçet-
Krankheit, Traumafolge.
– Ring-Enhancement: Gliom; Hirnabszess; subakutes intrakranielles Häma-
tom; Parasitose.
• Ischämischer Infarkt:
– Akute Phase (1. Wo.): Absorptionswerte im infarzierten Gebiet vom 1. d
an meist isodens, dann bis Ende der 1. Wo. leicht hypodens (10–30 HE).
Bei großen Infarkten oft raumfordernde Wirkung!
– Subakute Phase (2.–5. Wo.): Absorptionswerte vermindern sich (0–
20 HE) u. die Raumforderung bildet sich zurück; z. T. in der 2.–3. Wo.
nach dem Ereignis nicht hypo-, sondern isodenser Bereich („Fogging-ef-
fect“) , Darstellung nur mit KM.
– Alter Infarkt: Hypodens.
• Verkalkungen:
– Nativ-CCT: Hyperdense Darstellung, nehmen kein KM auf (▶ Tab. 2.25).
– Physiol.: Plexus chorioideus, Dura, Pinealisdrüse.
– Path.: Intraventrikulär (Plexuspapillom, AV-Fehlbildungen), intrazerebral
(Oligodendrogliome, Pinealome, Ependymome, AV-Fehlbildungen, alte
Blutungen), extrazerebral (Meningeome, Epidermoide, Aneurysmen, Kra-
niopharyngeome), kongenitale Toxoplasmose, tuberöse Hirnsklerose,
Zystizerkose.

Tab. 2.25  DD verschiedener Läsionen anhand ihrer Dichte


Hyperdens (hohe Hypodens (geringe Dichte = Isodens (gleiche Dichte
­Dichte = hell) dunkel) wie Hirngewebe)

Frische Blutung Infarkte (ab 1–2 d), chron. Infarkte: 2.–4. Wo. („fog-


(< 3 Wo.), Verkalkun- SDH, alte Blutung ging“), Plexuspapillom
gen, Knochen, (> 3 Wo.),Kraniopharyngeom,
Meningeome, Zysten, Hypophysenadenom,
Medullo­blastome, Astrozytom, Metastasen, En-
Oligodendrogliome zephalitis (bei Herpes simplex
ab 4. d, v. a. temporal), Abs-
zess, Fett, Luft, Traumafol-
gen, Demyelinisierungsherde
(z. B. MS)
86 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Spinale Computertomografie
• Def.: Die Darstellung path. Knochenveränderungen ist die Domäne des CT!
Im Gegensatz zum MRT aber nur indirekte Hinweise auf eine RM-Läsion.
• Ind.: Bandscheibenvorfall (Impression des RM, fehlende Abgrenzbarkeit der
Nervenwurzeln im Recessus lateralis), Trauma, enger Spinalkanal, zervikale
Myelopathie, Tumoren (Meningeome, Neurinome, Gliome, Schwannome),
Metastasen u. Fehlbildungen, Abszesse.
• Technik: Zur Höhenlokalisation ist eine exakte klin.-neurol. Diagn. notwen-
2 dig, da max. 4 Höhen untersucht werden sollten (Strahlenbelastung!). Im un-
teren HWS-Abschnitt häufig Artefakte.

2.9.3 Magnetresonanztomografie (MRT)
Definition
Bildgebendes Verfahren mit guter Abgrenzung physiol. Strukturen u. path. Ver-
änderungen von Gehirn u. RM ohne Strahlenbelastung.
Die MRT ist die Domäne der Diagn. prim. u. sek. intraspinaler Raumforderungen.
Normalbefund ▶ Abb. 2.21.

Abb. 2.21  MRT-Normalbefund; axiale Schnittebene auf supraventrikulärer Höhe.


Symmetrische Hirnhälften, Liquorräume normal, normaler Kontrast zwischen
Marklager u. Hirnrinde. T1-TSE (li): Marklager signalintensiver als Hirnrinde. T2-
TSE (re): Marklager signalärmer als Hirnrinde. Die disseminierten signaldifferen-
ten Punkte im bds. hochfrontalen u. hochparietalen Marklager sind nichtpatho-
logisch. Es handelt sich um perivask. Liquorräume Robin Virchow [M139]

Prinzip
• Die Atomkerne einiger Elemente (abhängig von Massen- u. Ordnungszahl)
besitzen ein Drehmoment, den sog. Kernspin. Als bewegte elektrische Ladun-
gen richten sie sich in einem starken äußeren Magnetfeld aus.
• Die Spins rotieren mit einer charakteristischen Frequenz (sog. Larmor-Fre-
quenz), die proportional zur Stärke des äußeren Magnetfelds ist.
• Bei Einstrahlung von hochfrequenten elektromagnetischen Wellen (Radio-
wellen) der Larmor-Frequenz besteht Resonanz, die Atomkerne werden in ei-
nen energiereicheren Zustand überführt. Während der Rückkehr in ihren
Ausgangszustand (= Relaxation) strahlen sie wiederum hochfrequente elek­
tromagnetische Wellen ab, aus denen Schnittbilder berechnet werden.
• Der Bildkontrast wird einerseits durch Gewebeeigenschaften, andererseits
durch Untersuchungsparameter bestimmt.
  2.9 Bildgebende Verfahren  87

• Da biologische Gewebe zum größten Teil aus Wasser bestehen, Wasserstoff
also das mit Abstand häufigste Element im menschlichen Körper ist, erfolgt
die medizinische MRT-Bildgebung nahezu ausschließlich über die Darstel-
lung von Protonen.

Vorteile
• Hoher Weichteilkontrast, multiplanare Darstellungsmöglichkeiten, fehlende
Strahlenbelastung.
• Kontrastdiskriminierung u. Sensitivität sind dem CCT überlegen, bessere Er- 2
kennung disseminierter Prozesse (▶ Tab. 2.26).
• Bes. Vorteile aufgrund der Darstellung in unterschiedlichen Ebenen.
Tab. 2.26  Unterschiede zwischen MRT u. CT
MRT CT

Weichteil-Hirngewebe-Differenzierung Gut Schlechter

Knochendarstellung Schlecht Besser

Gefäßdarstellung Besser ohne KM Besser mit KM

Nachteile
Kompakter Knochen wird unzureichend dargestellt;

Indikationen
• Tumoren u. Fehlbildungen von Gehirn u. RM (bei hoher Sensitivität).
• Kontusionen, SDH u. EDH.
• Disseminierte entzündl. Prozesse (MS, Borreliose).
• Leukoenzephalopathien, Systemdegenerationen.
• Fokussuche bei epileptischen Prozessen.
• Früher Nachweis von enzephalitischen Prozessen (bei der Herpes-simplex-
Enzephalitis sind erste Veränderungen nach etwa 12 h, im CCT erst nach 4 d
nachweisbar).
• Diffusionsgewichtete Sequenzen zum Frühnachweis einer Ischämie.
• Eisensequenz zum Nachweis stattgehabter Blutungen.
Kontraindikationen
Magnetische metallische Fremdkörper, v. a. Herzschrittmacher, Innenohr-Hör-
prothesen; Klaustrophobie.

Untersuchungssequenzen
• T1-Gewichtung: Gute anatomische Abbildung, hohe Sensitivität für Blut in
bestimmten Abbaustadien, Fett; nach KM-Gabe hohe Sensitivität für path.
Prozesse mit gestörter Blut-Hirn-Schranke; proteinarme Flüssigkeiten (z. B.
Liquor) i. d. R. signalarm.
• T2-Gewichtung: Hohe Sensitivität für path. Prozesse, geringe Spezifität; pro-
teinarme Flüssigkeiten (z. B. Liquor) i. d. R. signalreich.
• FLAIR (Fluid attenuated Inversion Recovery): Kontrast ähnlich wie T2-Ge-
wichtung, Signal von Flüssigkeiten wird jedoch unterdrückt.
• T2*-gewichtete Gradientenecho-Sequenzen: Hohe Sensitivität für Stör. des
Magnetfelds, z. B. durch Blutabbauprodukte.
88 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

Untersuchungstechnik
• Schichtaufnahmen in transversaler,
koronarer u. sagittaler Ebene.
• „Paramagnetisches KM“ (Gadolini-
um DPTA) zeigt analog zum CT
Stör. der Blut-Hirn-Schranke durch
eine Gadolinium-Anreicherung
(Enhancement) im T1-gewichteten
2 Bild (z. B. bei frischen MS-Herden).

Befunde
• Die meisten path. Veränderungen
weisen eine T2-Relaxationsverlän-
gerung auf u. können im T2-be-
tonten Bild bes. gut erkannt wer-
den (▶ Abb. 2.22).
• T1-Wichtungen zum Nachweis Abb. 2.22 MRT – axiale Schnittebene,
von Liquorzirkulationsstör., Kon- T2-TSE: Randständig irregulär KM-auf-
tusionsherden u. frischen Blutun- nehmende Raumforderung mit teils so-
liden, teils zystoid zentral nekrotischen
gen, zerebralen u. spinalen Fehlbil-
dungen (▶ Tab. 2.27).
Arealen frontal li mit Mittellinienüber-
schreitung u. ausgeprägtem fingerför-
• T2-Wichtungen zum Nachweis migem Marklagerödem, e ­inem hoch-
von Infarkten, Entzündungsherden gradigen Gliom entsprechend [M139]
(einschließlich MS) u. Tumoren
(▶ Tab. 2.27).

Tab. 2.27  Intensität verschiedener Strukturen im MRT


Struktur T1-Bild T2-Bild Struktur T1-Bild T2-Bild

Liquor ↓ (dunkel) ↑ (hell) Frische Ischämie = ↑

Schädelkalotte ↓ ↓ Ältere Ischämie ↓ ↑

Kopfhaut ↑ = Akute Blutung = ↓

Luft ↓ ↓ Subakute/chron. ↑ ↑
(schwarz) (schwarz) Blutung

Fettgewebe ↑ ↑ Demyelinisierung ↓ ↑

Ödem ↓ ↑ Eisenablagerungen = ↓

Maligner Tumor ↓ ↑ Zyste, Hygrom ↓ ↑

Meningeom = =

Alle Angaben bezogen auf die Dichte des Hirngewebes.

Weitere MR-Techniken
• Fettsuppression: Bei T1- o. T2-Gewichtung möglich; z. B. zur Darstellung
KM-anreichernder Läsionen der Schädelbasis.
• Diffusionsgewichtung:
– Der Effekt zweier nacheinander applizierter entgegengesetzter Magnet-
feldgradienten hebt sich bei stationären Spins auf, bei bewegten nicht; da-
durch Signalanhebung bei eingeschränkter Diffusion.
  2.9 Bildgebende Verfahren  89

– Anwendung v. a. zur Frühdiagn. von Infarkten; Diffusionsstör. (= Sig-


nalanhebung) auch bei Entzündungen, zellreichen Tumoren, Epidermo­
iden/Cholesteatomen.
– Quantifizierung der Diffusion durch Berechnung von ADC-(apparent dif-
fusion coefficient-)Werten.
• Perfusions-MRT:
– Ähnlich wie bei der Perfusions-CT werden die Signaländerungen in seriel-
len MR-Akquisitionen einer o. mehrerer Schichten während der Passage ei-
nes i. v. applizierten KM-Bolus erfasst; Berechnung von Parameterkarten. 2
– Anwendung insbes. bei der Schlaganfalldiagn.
• Funktionelle MRT:
– Neuronale Aktivität ruft lokale metab. u. vask. Veränderungen hervor
(neurovask. Koppelung); physiol. Überkompensation des vermehrten O2-
Bedarfs → Verminderung von Desoxy- gegenüber Oxy-Hb → Signalan-
stieg in suszeptibilitätsempfindlichen MR-Sequenzen (BOLD[blood-oxy-
gen-level dependent]-Kontrast).
– Anwendung z. B. im Rahmen der präop. Lokalisation funktioneller Areale.
• Diffusion Tensor Imaging (DTI):
– Appl. mehrerer Diffusionsgradienten in verschiedenen Raumrichtungen
→ Darstellung der Vorzugsrichtung der Diffusion in den einzelnen Bild-
punkten = Hinweise auf den Faserverlauf.
– Anwendung bei der Ermittlung von Faserverbindungen zwischen ver-
schiedenen Hirnarealen (sog. „fiber tracking“).
• MR-Spektroskopie:
– „Chemische Verschiebung“ – die Resonanzfrequenzen von Protonen un-
terscheiden sich in Abhängigkeit von ihrer molekularen Umgebung.
– Anwendung beim nichtinvasiven Nachweis bestimmter Metaboliten, z. B.
Cholin, N-Acetylaspartat, Kreatin, Laktat.
– Charakteristische Spektroskopiebefunde bei einigen Stoffwechselerkr.

2.9.4 Zerebrale Angiografie
Def.: Röntgenologische Darstellung extra- u. intrakranieller Hirngefäße nach in­
travasaler KM-Appl.
Ind.: Aneurysmen, Gefäßmalformationen, stenosierende Gefäßprozesse, SVT,
Vaskulitis, Tumor (Tumorgefäße, Verlagerung normaler Gefäße).
KI:
• Gerinnungsstör. (Quick < 50 %), Niereninsuff. (Krea > 4,1 mg/dl).
• Hyperthyreose: Bei dringlicher Ind. u. latenter bzw. manifester Hyperthyreose
Hemmung der Iodaufnahme in die Schilddrüse durch Natriumperchlorat
(z. B. Irenat®) möglich, 1 h vor Unters. sowie an den ersten 3 Folgetagen je
60 Tr.; bei manifester Hyperthyreose evtl. zusätzlich 10 mg Carbimazol 1 h vor
u. für 3 d nach Unters.
• KM-Allergie: Prämedikation u. Angio unter Anästhesiebereitschaft, wenn un-
bedingt erforderlich (▶ 2.9.7).
Technik: KM-Appl. i. d. R. mithilfe der transfemoralen Kathetertechnik. Beurtei-
lung der art., kapillären u. venösen Phase.
• Digitale Subtraktionsangio (DSA): Knöcherne Nativaufnahmen vor KM-
Gabe. Die Aufnahme wird vom später angefertigten Angiogramm „subtra-
hiert“, sodass gleichbleibende Strukturen (z. B. Knochen) sich auslöschen.
90 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

– Vorteile: Einsparung von KM u. fehlende Knochenüberlagerung.


– Sonderform: Venöse DSA mit i. v. KM-Appl. über eine Armvene, dadurch
geringere KO-Rate (keine art. Punktion!) bei schlechterer Gefäßdarstellung.
• Karotisangio (▶ Abb. 2.23): Gefäßdarstellung in den über dem Tentorium
cerebelli liegenden Hirnanteilen. Darstellung der ACI, ihrer großen Äste
ACA u. ACM sowie deren Aufzweigungen. In 10–15 % geht auch die ACP
aus der ACI ab.
• Vertebralisangio (▶ Abb. 2.24): Darstellung der beiden Aa. vertebrales, der
2 3 Zerebellararterien-Paare, der unpaaren A. basilaris u. ihrer Endaufzweigun-

2
3

1 A. carotis int. 3 A. cerebri ant. 5 A. ophthalmica


2 A. cerebri media 4 A. pericallosa

Abb. 2.23 Karotisangiografie (Normalbefund) [M139]


  2.9 Bildgebende Verfahren  91

2
5

2 3
4

3
2
4
1

1 A. vertebralis 3 A. cerebelli sup. 5 A. cerebri post.


2 A. basilaris 4 A. cerebelli inf. ant.

Abb. 2.24 Vertebralisangiografie (Normalbefund) [M139]

gen, der beiden Aa. posteriores; v. a. von Gefäßen der hinteren Schädelgrube,
zum kleineren Teil aber auch des Mittelhirns u. des basalen Okzipitallappens.

MR-Angiografie
Def.: Nichtinvasive Darstellung des Blutflusses in einem Gefäß mithilfe der MRT-
Technik mittels flusssensitiver Messsequenzen (▶ Abb. 2.25). Neue MRA-Techni-
ken erlauben eine Zeitauflösung von mehreren Bildern pro Sekunde. Im Gegensatz
92 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

zur konventionellen zerebralen Angio


KM nicht grundsätzlich erforderlich.
Unterschiedliche Verfahren:
• „Time of Flight“: Weitgehend un-
abhängig von der Flussgeschwin-
digkeit, jedoch abhängig von der
Gefäßgeometrie.
• Phasenkontrast-Angio: Weitge-
2 hend unabhängig von Gefäßgeo-
metrie, jedoch abhängig von der
Flussgeschwindigkeit.
• KM-Angio: Besserer Kontrast, kür- Abb. 2.25 MRA: Normalbefund eines
zere Akquisitionszeit. Circulus Willisii [M139]
Ind.: V. a. Angiome, AV-Fehlbildun-
gen, Gefäßverschlüsse, Thrombosen, Dissektionen.
Nachteile:
• Das Gefäßlumen selbst wird nicht dargestellt, nur der Blutfluss im Gefäß.
• Kleinere Gefäße können nicht dargestellt werden (z. B. pontine Äste).
• Die exakte Lokalisation u. die Morphologie eines Aneurysmas mit seinen Bezie-
hungen zu nachbarschaftlichen Strukturen sind nicht ausreichend gut beurteilbar.

2.9.5 Myelografie
Def.: Injektion eines wasserlöslichen, jodhaltigen, nichtionischen KM in den spina-
len Subarachnoidalraum. Verfolgung der KM-Verteilung unter Durchleuchtung
sowie Dokumentation der intraspinalen Verhältnisse durch Rö-Aufnahmen. Heute
nur noch selten indiziert, i. d. R. in Kombination mit der Post-Myelo-CT-Unters.

Myelo-CT
Spinales CT nach einer Myelografie zur gezielten Darstellung path. Prozesse, da
aufgrund der unterschiedlichen Dichte Myelon, Duralsack, Nervenwurzeln, ossä-
re u. paravertebrale Strukturen besser abgegrenzt werden können.

2.9.6 Emissionscomputertomografie
Definition
Weiterentwicklung der Isotopenverfahren mit computerisierter Auswertung zur
Darstellung lokaler u. globaler hämodynamischer u. metab. Prozesse.

Single-Photonen-Emissions-CT (SPECT)
Verfahren: 99mTc-markiertes Hexamethylpropylenaminoxim (99mTc-HMPAO)
zur Messung der regionalen Hirndurchblutung.
• 201Thallium- u. 99mTc-MIBI (Methoxyisobutylisonitril): Aufnahme in maligne
Tumorzellen u. Abschätzung des Malignitätsgrads.
• 123Iod-Benzamid (IBZM): Unters. der freien postsynaptischen Dopamin-
2-Rezeptoren, die bei Parkinson-Krankheit im Gegensatz zur Multisystem­
atrophie u. progressiven supranukleären Lähmung (PSP, Steele-Richardson-
Olszewski-Sy.) nicht signifikant vermindert sind.
• 123Iod-Iomazenil: Darstellung der Benzodiazepinrezeptoren.
  2.9 Bildgebende Verfahren  93

• 123Iod-FP-CIT (Ioflupane, Datscan): Darstellung des präsynaptischen Dop­


amin-Reuptakes zur Differenzierung zwischen essenziellem Tremor (reu-
ptake normal), Parkinson-Krankheit u. Multisystematrophien (reuptake ↓).

Positronen-Emissions-CT (PET)
Ind.:
• Ein Großteil der PET-Unters. betrifft den Glukosestoffwechsel mit 18F-Fluor-
deoxyglukose (FDG).
• Basalganglienerkr.: Frühe DD der Parkinson-Krankheit durch 18F-Fluoro­ 2
dopa, frühe Diagnose einer Multisystemdegeneration o. einer Chorea Hun-
tington (FDG u. Dopaminrezeptorliganden).
• Demenzielle Sy.: Sensitiver Nachweis eines geminderten Glukoseverbrauchs
betroffener Hirnregionen durch FDG.
• Präop. Epilepsiediagn.: Lokalisation des Fokus bei Temporallappenepilepsien.
• Neuroonkologie: Beurteilung der biolog. Aggressivität von Hirntumoren (Kor-
relation zwischen Ausmaß der FDG-Aufnahme u. Aggressivität), Erkennen ei-
ner malignen Entdifferenzierung eines Gliomrezidivs (FDG), postop. Nachweis
von Tumorresten bei malignen Gliomen u. Differenzierung zwischen Strahlen-
nekrose u. Tumorrezidiv (FDG-markierte Aminosäuren), zuverlässige Abgren-
zung von Toxoplasmose u. Lymphomen bei Immundefizienz (FDG).

2.9.7 Kontrastmittel
Röntgenkontrastmittel
Prinzip: Rö-KM absorbieren Röntgenstrahlung.
Substanzen: Abkömmlinge von trijodierter Benzoesäure; für neuroradiologische
Unters. (CT, Myelografie, Angio) nahezu ausschließlich Verwendung nichtioni-
scher nephrotroper KM (Ausscheidung zu 85 % renal, Plasma-HWZ bei intakter
Nierenfunktion ca. 1–3 h), partiell plazentagängig (0,5 % in der Muttermilch).
NW: 75 % der NW in ersten 5  Min.; keine klassische anaphylaktische, sondern
anaphylaktoide Reaktion, da fast nie AK gegen KM nachzuweisen; erhöhtes Risi-
ko u. a. bei früheren KM-NW, Asthma, KHK, Allergien, Niereninsuff., Diab. mell.
• Inzidenz:
– Leicht (Hitzegefühl, Übelkeit, Erbrechen, Urtikaria): 1 : 30–1 : 600.
– Mittelschwer (Schüttelfrost, RR-Abfall, Tachykardie, schwere Urtikaria,
starkes Erbrechen): 1 : 1.700–1 : 10.000.
– Schwer/lebensbedrohlich (Behandlung auf Intensivstation): 1 : 168.000–
1 : 2.000.000.
• Prophylaxe:
– Bei manifester KM-Unverträglichkeit: Falls KM-Unters. unvermeidlich,
Vorbehandlung mit Glukokortikoiden (z. B. 250 mg Methylprednisolon
i. v. am Morgen des Untersuchungstags), H1- u. H2-Antagonisten
(Clemastin 0,1 mg/kg KG, Cimetidin 5 mg/kg KG 30 Min. vor KM-Gabe),
ggf. anästhesiologische Überwachung.
– Bei Risikofaktoren für KM-Nephropathie (s. o.) u. Serumkrea > 1,2 mg/dl:
Absetzen von Diuretika, ACE-Hemmern; parenteral Flüssigkeit; Acetylcy-
stein 600 mg 2× tgl. p. o. am Tag vor der Unters. u. am Untersuchungstag;
ggf. Rücksprache mit Nephrologen.
– Schilddrüse: Hyperthyreose kann Wo. bis Mon. nach KM-Gabe auftreten,
z. B. bei autonomen Adenomen; 15 % der behandlungsbedürftigen Hyperthy-
94 2  Ärztliche Arbeitstechniken und diagnostische Verfahren  

reosen sind KM-induziert. Cave: Struma, geplante Radiojodther., geplanter


Schilddrüsenfunktionstest.Prophylaxe: Vor KM Natriumperchlorat (Irenat®)
1 Tr./kg KG, danach für 4 Wo. 3× 20 Tr./d + Thiamazol (Favistan®) 5 mg/d.

MR-Kontrastmittel
Prinzip: Paramagnetische Substanzen (Chelatkomplexe seltener Erden, z. B. Ga-
dolinium) → Verkürzung der Relaxation → Signalanstieg in T1-gewichteten Se-
quenzen.
2 Ausscheidung: Vorwiegend renal; MR-KM sind plazentagängig u. können in die
Muttermilch übertreten.
Unverträglichkeitsreaktionen: Wie bei Röntgen-KM möglich, jedoch seltener;
keine Beeinflussung der Schilddrüsenfunktion.

2.10 Biopsien
2.10.1 Definition
Gewebeentnahme zur licht-, elektronenmikroskopischen, (enzym-)histochemi-
schen sowie immunologischen Unters.

2.10.2 Nervenbiopsie
Ind.: Selten; DD der PNP, v. a. zum Nachweis einer vask. Genese, z. B. bei Immun-
vaskulitiden wie Panarteriitis nodosa, rheumatoide Arthritis, SLE, Riesenzellarte-
riitis, Thrombangitis obliterans, Wegener-Granulomatose, Churg-Strauss-Sy.,
Sjögren-Sy. o. einer Amyloidose.
Technik:
• Exzision eines mind. 3 cm langen Nervenabschnitts in Lokalanästhesie, meist
aus dem rein sensiblen N. suralis unmittelbar oberhalb des Malleolus lateralis.
• Vor Entnahme Fixation des Nervenabschnitts in situ z. B. an einem Holzstäb-
chen, damit das Biopsat nicht durch den Zug längs orientierter elastischer Fa-
sern schrumpft.
• Nach Entnahme vorsichtige Dehnung um 2–4 mm. Anschließend Fixierung
in 3,9-prozentiger Glutaraldehyd-Lsg.
• Plastik- u. Paraffineinbettung des Präparats zur licht-, phasenkontrast- o.
elektronenmikroskopischen Unters.

2.10.3 Muskelbiopsie
Def.: Vorzugsweise mittelgradig befallener Muskel. Bei hochgradig paretischen o.
atrophischen Muskeln histologisch oft nur Fett u. Bindegewebe nachweisbar, bei
leicht betroffenen Muskeln nur uncharakteristische Befunde.
Ind.:
• Myopathien (disseminierte Degeneration einzelner Muskelfasern) auch zur
enzymhistochemischen Klassifikation.
• Myositis (entzündl. zelluläre Infiltrate).
• Selten zur DD myopathisches – neurogenes Sy. (feldförmig gruppierte Mus-
kelfaseratrophie).
• V. a. Panarteriitis nodosa, V. a. Stoffwechselerkr. (Glykogenspeicherkrankhei-
ten ▶ 20.3.2), V. a. ALS (▶ 16.1.1, nur bei unklaren Fällen!).
3 Neurologische Leitsymptome
Jürgen Klingelhöfer, Susan Rege und Martina Näher-Noé

3.1 Augensymptome 97 3.11 Sensibilitätsstörungen 125


3.1.1 Leitsymptome 97 3.11.1 Reizsymptome 125
3.1.2 Visusverlust und 3.11.2 Ausfallsymptome 126
Gesichtsfelddefekte 97 3.12 Harnblasenstörungen 127
3.1.3 Störungen der 3.13 Schweißsekretions­
Augenmotorik 99 störungen 130
3.1.4 Störungen der 3.14 Neuropsychologische
Pupillomotorik 103 Symptome 131
3.1.5 Horner-Syndrom 105 3.14.1 Aphasien 131
3.1.6 Ptosis 105 3.14.2 Apraxien, weitere neuro­
3.1.7 Nystagmus 107 psychologische Symp­
3.1.8 Stauungspapille 110 tome 132
3.2 Dysarthrie 111 3.15 Amnesie 133
3.3 Schwindel 111 3.15.1 Definition 133
3.3.1 Definition 111 3.15.2 Ätiologie 133
3.3.2 Einteilung 111 3.15.3 Transiente globale Amnesie
3.3.3 Diagnostik 112 (TGA, amnestische
3.3.4 Physiologischer Episode) 134
Reizschwindel 113 3.16 Psychopathologische
3.3.5 Peripher-vestibulärer Symptome 135
Schwindel 113 3.16.1 Praktisches Vorgehen 135
3.3.6 Zentral-vestibulärer 3.16.2 Bewusstseins- und
Schwindel 116 Orientierungsstörung 137
3.3.7 Nichtvestibulärer 3.16.3 Aufmerksamkeits- und
Schwindel 116 Gedächtnisstörungen 138
3.4 Tinnitus 117 3.16.4 Denkstörungen 138
3.5 Muskelschwäche 118 3.16.5 Angst 141
3.6 Spastik und Rigor 120 3.16.6 Zwang 141
3.7 Tremor 121 3.16.7 Sinnestäuschungen 142
3.8 Myoklonus 122 3.16.8 Ich-Störungen 143
3.9 Zerebelläre 3.16.9 Störungen der
Funktionsstörungen 123 Affektivität 143
3.10 Gangstörungen 124 3.16.10 Antriebs- und psychomotori-
sche Störungen 145
3.16.11 Andere Symptome und 3.17.3 Diagnostik bei
Störungen 146 Vergiftungen 154
3.16.12 Verwirrtheit 146 3.17.4 Vergiftungen in der Not­
3.17 Vergiftungen 151 aufnahme 155
3.17.1 Häufigkeit und 3.17.5 Giftelimination 156
Ursachen 151 3.17.6 Therapie ausgewählter
3.17.2 Leitsymptome und ihre Vergiftungen 158
Differenzialdiagnosen 151
  3.1 Augensymptome  97

Kopfschmerz ▶ 5, Meningismus ▶ 9.1.2, Andere Schmerzsy. ▶ 6.

3.1 Augensymptome
3.1.1 Leitsymptome
▶ Tab. 3.1.
Tab. 3.1  Primäres Vorgehen bei Augensymptomen
Patienten­ Fragen nach Hinweis auf Untersuchung
angaben

Sehstör.,
„Schleier-
• Lokalisation: Ein- oder beidsei- Gesichtsfeld- Gesichtsfeld, 3
tig, Verschwinden der Sympt. bei defekt, Visus- Visus, Spiegelung
sehen“ Abdecken eines Auges verlust des Augenhinter-
• Verlauf: Akut, langsam progre- (▶ 3.1.2) grunds
dient, remittierend/rezidivierend
• Indirekte Hinweise: Anstoßen an
Türrahmen, Anrempeln
• Begleitsympt.: Augenschmerzen,
endokrine Ausfälle (Potenz,
Amenorrhö, Bartwuchs ↓)

Doppelbil- • Wie lange, wann max., beim Augenmus- Okulomotorik,


der Blick in welche Richtung kellähmung Abweichen der
• Horizontal oder diagonal versetzt (▶ 3.1.3) Bulbi von ihrer
• Begleitsympt.: z. B. Hängen des Parallelstellung
Augenlids, Lichtempfindlichkeit
• Begleiterkr.: Schlaganfall, MS,
Epilepsie, Diab. mell.

Lichtemp- Seit wann, gleichzeitig Doppelbil- Pupillomoto- Pupillenweite, di-


findlichkeit der rikstör. rekte u. konsen-
(▶ 3.1.4) suelle Lichtreakti-
on

Tränense- Seit wann Fazialisparese N. VII; Schirmer-


kretions- (▶ 12.5.1) Test
stör.

3.1.2 Visusverlust und Gesichtsfelddefekte


Differenzialdiagnosen des Visusverlusts
• Plötzlicher einseitiger Visusverlust:
– Vask. Urs., z. B. arteriosklerotisch; oft passager als Amaurosis fugax
(Thromboembolie A. ophthalmica), embolisch bei Arteriitis cranialis.
– Retrobulbärneuritis (▶ 10.1.2).
– Stauungspapille u. Pseudotumor cerebri (▶ 26.3): Transiente Verdunk-
lung (für Sekunden) möglich.
– Glaukomanfall, Zentralarterienverschluss, Zentralvenenthrombose.
– Trauma.
• Plötzlicher bds. Visusverlust: Sehrindenläsion, z. B. bei Basilarisinsuff., Basi-
larismigräne, bds. Retinaischämie (selten), nach Trauma.
• Langsam progredienter Verlust:
98 3  Neurologische Leitsymptome  

– Okulär: Z. B. Makuladegeneration.


– Metabolisch: Z. B. Diab. mell.
– Vit.-B12-Mangel.
– Tox.: Z. B. Methylalkohol.
– Degenerative Erkr.: Z. B. Leukodystrophie.
– Hereditäre Optikusatrophie.
– Kompression des N. opticus durch Tumoren, frontobasales Meningeom.
– Chron. Hirndruck.

Differenzialdiagnose von Gesichtsfelddefekten


Zur Sehbahn ▶ Abb. 3.1, zur DD von Gesichtsfeldausfällen ▶ Tab. 3.2.

3 Störungen vor dem Chiasma


→ monokulärer Gesichtsfeldausfall

Störung im Chiasma
Oculus dexter

Oculus sinister ➊
➌➋ ➍

Chiasma ➎

Tr. opticus

Corpus geniculatum
laterale

Ncl. praetectalis ➐

Radiatio optica

➎ ➑



Sehrinde

➑ Störungen hinter dem Chiasma


→ hononymer Gesichtsfeldausfall

Abb. 3.1 Sehbahn mit Läsionsorten u. Reflexbogen für den Lichtreflex [L106]


  3.1 Augensymptome  99

Tab. 3.2  DD der Gesichtsfeldausfälle


Läsionsort Erkrankung

N. opticus MS (Retrobulbärneuritis, ▶ 10.1.2), Gliom des N. opticus, Tbc,


Sarkoidose, ischämische Neuropathie, Orbitopathie, Kompressi-
on durch Orbitatumoren

Chiasma opticum Hypophysentumor (▶ 13.6.16), Meningeom (▶ 13.6.12), Kranio-


pharyngeom (▶ 13.6.14), Aneurysma (▶ 8.3.4); infektiös: Tbc, Sar-
koidose

Tractus opticus Tumoren (▶ 13.6), Ischämie (kleine Läsion verursacht großen Ge-
sichtsfelddefekt)

Sehstrahlung Ischämie: ACM-Verschluss (▶ 7.2), Blutung (▶ 8), Tumoren (▶ 13),


Abszess (▶ 9.3.4)
komplett
3
Sehstrahlung Embolien, Blutung
­inkomplett

Sehrinde Okzipi- • Ischämie: ACP-Verschluss (▶ 7.2)


tallappen • Bilateraler ischämischer Infarkt: Kortikale Blindheit; bei bilate-
ralem Infarkt im Versorgungsgebiet der ACP Erhalt eines Röh-
rensehens möglich, da ggf. Okzipitalpol bds. durch ACM mit-
versorgt wird

Differenzialdiagnosen der Sehstörung


• Migräne (▶ 5.1.4) → Flimmerskotome.
• Psychogen → Pupillenreaktion u. Fundus normal, optokinetischer Nystagmus
normal (Drehtrommel), sichere Gangproben, VEP normal.
• Stör. der Augenmotorik (▶ 3.1.3).
• Dekompensierter latenter Strabismus: Immer abklären (Augenarzt).

3.1.3 Störungen der Augenmotorik


Augenmuskellähmungen
Def.: Läsion peripherer Augenmuskelnerven, zentraler Kerngebiete oder einzel-
ner Muskeln (▶ Tab. 3.3, ▶ Tab. 3.4).

• Bei jungen Pat. immer an MS denken, stets Myasthenia gravis ausschlie-


ßen.
• Befall einzelner Muskeln unabhängig von der Innervation bei okulärer
Myositis, Orbitatumor, endokriner Orbitopathie, mitochondrialen Erkr.
(Kearns-Sayre-Sy. ▶ 20.4.3, ▶ 24.4.1).
100 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.3  Lähmung der Augenmuskeln (▶ Abb. 3.2)


Nervenläsion Augenmuskeln Klinik Maximale Doppel­
bilder

N. oculomotorius

Peripher, äuße- M. levator palpe­ Ophthalmoplegia exter- Diagonal beim


re N.-III-Läh- brae, M. rectus sup., na: Ptosis, evtl. Ausfall Blick nach oben
mung M. rectus med., einzelner Muskeln; bei ­innen
M. rectus inf., Ausfall aller Muskeln
M. obliquus inf. Blick nach unten außen

Autonome M. ciliaris, Ophthalmoplegia inter- Keine Doppelbil-


Fasern, innere M. sphincter pupil- na: Mydriasis, Akkom- der
N.-III-Lähmung lae modationsstarre, licht-
3 starre Pupillen

Komplett, inne- Kombinierte Sympt. Diagonal beim


re u. äußere Blick nach oben
N.-III.-Lähmung ­innen

Kerngebiet Wie komplette Fakultativ zusätzlich


(zentral) N.-III-Parese, aber Trochlearis- u. Fazialis-
meist nicht voll parese, Nystagmus, He-
ausgeprägt miparese, Ataxie, Sensi-
bilitätsstör.

N. abducens

Peripher M. rectus lateralis Ausgleichskopfdrehung Horizontal beim


zur kranken Seite Blick zur pareti-
schen Seite

Kerngebiet M. rectus lateralis Meist gleichzeitig ipsila-


(zentral) terale periphere Fazia-
lisparese

N. trochlearis

Komplett M. obliquus sup. Ausgleichskopfdrehung Diagonal beim


zur gesunden Seite, tritt Blick nach unten
selten isoliert auf innen, bei Nei-
gung des Kopfs
zur kranken Seite
Abweichung des
betroffenen Auges
nach innen oben
(Bielschowsky-
Phänomen)

Tab. 3.4  Ursachen von Augenmuskellähmungen


N. oculomotorius N. trochlearis N. abducens Kombinierte
Parese

Gemeinsame Diab. mell., MS (▶ 10.1), Hirnstammischämie, -blutung, -tumoren,


Urs. Trauma mit Hirnkontusion, Wernicke-Korsakow-Sy. (▶ 24.8.1), Myas-
thenia gravis (▶ 21.1), Muskeldystrophie (▶ 20.2.5), Myositis (▶ 20.7),
Hyperthyreose, okuläre Raumforderung, Tbc, Sarkoidose
  3.1 Augensymptome  101

Tab. 3.4  Ursachen von Augenmuskellähmungen (Forts.)


N. oculomotorius N. trochlearis N. abducens Kombinierte
Parese

Häufigste Diab. mell., An- Trauma (v. a. Vask. Genese, Fissura-orbita-


Urs. eurysma, v. a. der SHT), Tumoren Tumoren, ent- lis-sup.-Sy.,
A. communicans der hinteren zündl. Erkr. Sinus-caverno-
post., SAB Schädelgrube, (Osteitis nach sus-Sy., Tolosa-
(▶ 8.3), Hirndruck kongenital Otitis), subkli- Hunt-Sy.
(Herniation), noidales ACI- (▶ 5.2.4,
Trauma, vask. Aneurysma, ▶ 12.3.1), GBS
Hirndruck, (▶ 19.9.1),
Diab. mell. Miller-Fisher-
Sy. (▶ 19.9.2)

Weitere Urs. Basale Meningi-


tis (▶ 9.3.3), Ge-
Mastoiditis Basale Menin-
gitis, Basilaris­
Syringobulbie
(▶ 14.9)
3
fäßfehlbildun- aneurysma
gen (▶ 7.6), Tu- (▶ 8.3.4), SAB,
moren, ophthal- Miller-Fisher-
moplegische Sy., kongenital
Migräne

Okulomotoriusparese Trochlearisparese Abduzensparese


Blick nach vorn Blick nach vorn
Blick nach vorn

Blick nach vorn Blick nach links


Blick nach links

Blick nach rechts


Blick nach links
Blick nach rechts

Blick nach oben


Blick nach rechts

Blick nach unten

Blick nach oben

Ptosis

Bulbusstand
Blick nach unten nach außen,
unten.
Mydriasis
Bulbusstand
nach außen,
oben.
Mydriasis

Abb. 3.2 Okulomotorius-, Trochlearis- u. Abduzensparese, jeweils rechtsseitig


[L106]
102 3  Neurologische Leitsymptome  

Störungen der Blickmotorik und Augenfehlstellungen


Def.: Die Augen können nicht konjugiert, d. h. gleichsinnig in eine Richtung be-
wegt werden (▶ Tab. 3.5).

Tab. 3.5  Klinik u. DD bei Stör. der Blickmotorik (▶ Abb. 3.3, ▶ Abb. 3.4)
Typ Klinik Ursachen

Horizontale Blick- Blickparese nach kontralat., Kopf- Kortikale Läsion (große


parese1, „déviati- wendung zur Seite der Läsion, Pat. Blutung oder Ischämie),
on conjuguée“ „schaut den Herd an“ Läsion des präzentralen
Blickzentrums

Blickparese nach ipsilat., Kopfwen- Fokaler Krampfanfall oder


dung zur Gegenseite, Pat. „schaut Schädigung der Brücke
3 vom Herd weg“

• Grobschlägiger Nystagmus
(▶ 3.1.7) in die paretische Rich-
tung
• Halbseitenlähmung
Internukleäre • Ipsilat. Adduktionsschwäche Läsion des hinteren Längs-
Ophthalmoplegie • Dissoziierter monokulärer Nys- bündels (MFL), z. B. bei MS
(INO) tagmus des abduzierenden Au- (▶ 10.1), Basilarisinsuffizi-
ges enz, Wernicke-Enzephalo-
• Konvergenz erhalten pathie (▶ 24.8.1)
• Häufig auch doppelseitig
Vertikale Blick­ • Unfähigkeit der Blickwendung Tumoren,
parese2 nach oben u./o. unten Mittelhirnischämie/-blu-
• Konvergenzparese tung oder Herdenzephali-
• Wird vom Pat. oft nicht bemerkt, tis, Steele-Richardson-Sy.
da keine Diplopie (▶ 15.2.7), MSA;
• Bei Kopfneigung nach vorn bzw. bei geriatrischen Pat.
hinten u. fixieren (relative) Bul- Blickparesen nach oben
busbewegung nach oben bzw. auch ohne Krankheitswert
unten (Puppenkopfphänomen)

Augenfehlstellung mit topografischer Bedeutung

Skew Deviation • Supranukleäre vertikale Diver- Läsion pontomedullärer


genzstellung der Bulbi Hirnstamm ipsilat., ponto-
• Variabel in Abhängigkeit von der mesenzephaler Hirnstamm
Blickrichtung u. rostrales Mittelhirn kon-
• Oft andere Stör. der Okulomoto- tralat., z. B. entzündl., Tu-
rik mor, tox. metabolisch,
vask.

Ocular Tilt • Vertikale Bulbusdivergenz = Otolithen, Läsion im ipsi-


Reaction Skew Deviation lat. Vestibulariskern, kont-
• Bulbusverrollung ralat. pontomesenzepha-
• Seitliche Kopfneigung zum tief len Hirnstamm oder para-
stehenden Auge, z. T. auch Kör- medianen rostralen Mit-
perneigung telhirn, z. B. vask.,
• Auslenkung der visuellen Verti- entzündl., Tumor
kalen
1
 Eineinhalb-Sy.: INO (Adduktionsdefizit ipsiläsional) u. horizontale Blickparese zur
Seite der Läsion.
2
 Parinaud-Sy.: Vertikale Blickparese nach oben mit Konvergenzschwäche, träge re-
agierenden Pupillen u. manchmal retraktorischem Nystagmus.
  3.1 Augensymptome  103

Blick nach vorn


linke
rechte Blickzentren
Blickzentren
Läsion des
pontinen
Blickzentrums Blick nach links

Brücke

Blick nach rechts

Déviation conjuguée
subkortikale
3
nach links Konvergenzreaktion
Läsion

Abb. 3.3  Horizontale Blickparese nach


re [L106]
Adduktionsschwäche
Nystagmus
des kontralateralen
abduzierenden Auges

Abb. 3.4 Internukleäre Ophthalmo-


plegie li [L106]

3.1.4 Störungen der Pupillomotorik

Ein-, später beidseitig weite u. lichtstarre Pupillen sind das sicherste Zeichen
für eine obere Hirnstammeinklemmung. Die Seite der weiten Pupille stimmt
nicht sicher mit der Lokalisation der Raumforderung überein.

Einseitige Störung, Anisokorie


Klinik: Eine Pupille ist weiter als die andere. Wichtig ist die Entscheidung, welche
Pupille path. verändert ist (zu eng oder zu weit). Leitsympt. einer efferenten Pupil-
lenstör.
Diagn.: Unters. der Pupillen (▶ 1.1.4, ▶ Abb. 3.1).

Eine Anisokorie kann auch eine angeborene Normvariante sein. Cave: Glas-
auge!

DD:
• Horner-Sy. (▶ 3.1.5): Häufigste Urs. für Miosis, Ptosis.
• Ophthalmoplegia interna, Okulomotoriusparese (▶ 3.1.3).
• Intrakranielle Raumforderung (Tumor ▶ 13, Blutung ▶ 8, Abszess ▶ 9.3.4):
Häufigste Urs. für Mydriasis, fokal neurol. Zeichen (zusätzlich Paresen,
Aphasie), Hirndruckzeichen (▶ 4.6).
• Migräne (▶ 5.1.4): Mydriasis, Kopfschmerzen, Flimmerskotom.
• Medikamentös: Mydriatika, Atropin, auch Kosmetika oder atropinhaltige
Pflanzen.
104 3  Neurologische Leitsymptome  

• Glaukomanfall: Mydriasis.
• Iritis, Iridozyklitis: Miosis, konjunktivale Injektion.
• Enzephalitis (▶ 9.3.1): Mydriasis, Bewusstseinsstör., Fieber.
• Adie-Sy.: Pupillotonie (sehr träge auf Licht reagierende Pupille), häufig asso-
ziierte Areflexie.

Beidseitige Störung
Ätiol.:
• Miosis: Medikamentös (Parasympathomimetika, z. B. Eserin, Pilocarpin-Au-
gentropfen), Intox. mit Organophosphaten, Opiaten; bei bewusstseinsgestör-
tem Pat. dienzephale oder pontine Läsion.
• Mydriasis:
– Okulomotorius-Läsion bds.
3 – Pupillotonie bds., Adie-Pupille.
– Pharmakologisch durch lokal verabreichte Sympathomimetika/Parasym-
patholytika.
– Migräne.
– Zerebraler Krampfanfall (▶ 11.1).
– Botulismus (▶ 21.3).
– Komatöser Pat.: ICP-Steigerung, Zeichen der Einklemmung (▶ 4.6.1),
Mittelhirnläsion.
– Intox.: Z. B. durch Methylalkohol, Pilze, Atropin, Scopolamin, Kokain,
Amphetamine, trizyklische Antidepressiva, Zyankali (▶ 3.17).
– Myasthene Krise.
– Glaukom mit Erblindung, Folge einer Iritis.

Pupillenstarre
Zu Klinik, Urs. u. Diagn. ▶ Tab. 3.6.

Tab. 3.6  Klinik u. DD der Pupillenstarre (P.)


Typ Direkte Konsensuelle Konver­ Ursache und Diagnostik
Lichtre­ Lichtreaktion genzreak­
aktion tion

Reflektori- Fehlt Fehlt Erhalten Pathognomonisch für Lues →


sche P.1 Tabes dorsalis (▶ 9.3.7), zusätzlich
Muskelhypotonie, sensible Ata-
xie, Doppelbilder u. Nystagmus

Absolute P.2 Fehlt Fehlt Fehlt Ein-/beidseitige Schädigung des


N. oculomotorius durch Druck,
Alkoholismus, Drogenmissbrauch
(Transaminasen, Urinanalyse),
Z. n. SHT (▶ 22.1, Anamnese, CT),
Lues (Serologie) u. Botulismus
(Heiserkeit, Doppelbilder)

Amauroti- Fehlt Erhalten Erhalten Bei einseitiger Erblindung durch


sche P. z. B. Herpes zoster ophthalmicus,
Glaukom oder Netzhauterkr.
1
 Robertson-Pupillen: Meist bds., reflektorische Pupillenstarre u. miotische, entrun-
dete Pupillen.
2
 Adie-Sy.: Bds. deutlich verzögerte Pupillenreaktion, gute Konvergenz.
  3.1 Augensymptome  105

3.1.5 Horner-Syndrom
Ätiologie
Schädigung der Sympathikusbahn zum Auge.

Klinik
• Miosis: Parese des M. dilatator pupillae.
• Ptosis: Parese des M. tarsalis sup.
• Enophthalmus: Durch verengte Lidspalte vorgetäuscht.
• Evtl. ipsilat. Schweißsekretionsstör., v. a. des Gesichts.
Diagnostik
• Anamnese: Atembeschwerden, Thoraxschmerzen, Hals-OP, Lungenerkr., Ka-
rotispunktion, Trauma mit HWS-Distorsion, Heiserkeit. 3
• Unters.: Palpation des Halses (LK, Struma, Raumforderung).
• Apparative Diagn.: Rö-Thorax, ECD, CT, MRT.
Differenzialdiagnosen
• Zentrale Läsion: Z. B. Ischämie, Blutung oder Raumforderung in Hypothala-
mus, Mittelhirn, Formatio reticularis, Medulla oblongata. Zur Differenzie-
rung ▶ Tab. 3.7.
• Periphere Läsion: Von prä- oder postganglionären Fasern entlang der ACI,
z. B. durch:
– Halsprozess: Z. B. Karotisdissektion (▶ 7.3.1), Karotispunktion, LK-Meta-
stasen, Struma.
– Zervikalen spinalen Prozess: Z. B. Tumor, Ischämie, Blutung auf Höhe
C8–Th2; zusätzlich Querschnittssymptomatik (▶ 14.1.1).
– Lungenprozess: Z. B. Pancoast-Tumor, Mediastinaltumor; zusätzlich Dys-
pnoe, Thoraxschmerzen.

Tab. 3.7  Differenzierung des Horner-Sy. durch Augentropfen


Substanz Periphere Läsion Zentrale Läsion

Kokain (2 %) – Mydriasis (nach 30 Min.)

Adrenalin (0,1 %) Mydriasis (nach 30 Min.) –

3.1.6 Ptosis
Zu Urs. u. DD ▶ Tab. 3.8.

Pseudoptosis
• Def.: Verstrichene Deckfalte, Oberlid hängt > 2 mm über den oberen Limbus
(meist bei älteren Pat.).
• Ätiol.:
– Aponeurotische/senile Ptosis (Defekt/Desinsertion der Aponeurose des
M. levator palpebrae)
– Oberlidtumoren, -ödem
– Volumenverlust der Orbita (z. B. Enukleation, Mikrophthalmus, Z. n.
Blow-out-Fraktur) → Lidretraktion, Retraktionssy.
– Funktionell → Innervation des M. orbicularis oculi beachten, sichere
Aktivierung?
106 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.8  Mögliche Ursachen u. DD


Verdachtsdiagnose Typische Befunde

Kongenitale Ptosis Lebenslang bestehend, uni- oder bilateral → Anamnese!


Kongenitale Myasthenia gravis ausschließen (▶ 21.1)

Horner-Sy. ▶ 3.1.5; keine isolierte Ptosis; kongenital ggf. mit radi-


kulären Ausfällen i. S. einer geburtstraumatischen unte-
ren Plexusparese; mit radikulären Ausfällen bei Wur-
zelläsion C8–Th2. Bei Pancoast-Tumor; intermittierend
z. B. bei Cluster-Kopfschmerz.

Okulomotoriusparese Kaudale Mittelhirnläsion durch Ischämie, Blutung, Trau-


(▶ 3.1.3), Läsionen im ma, Enzephalitis, Tumor, Aneurysma, Wernicke-Enze-
Kerngebiet des N. III (= phalopathie → MRT, (CCT); Diab. mell.
3 nukleär, z. B. Moebius-Sy.)

Okuläre Myasthenia ▶ 21.1.2; fluktuierende Sympt.


gravis

Okulopharyngeale Mus- Im Erw.-Alter langsam progrediente, bilaterale Ptosis,


keldystrophie (▶ 20, ▶ 2.6) (oft nur leichte) Dysphagie; z. T. Augenmuskelparesen.
Keine Beteiligung der Extremitätenmuskulatur → Ana­
mnese! Muskelbiopsie

Kearns-Sayre-Sy. ▶ 20.4.3, ▶ 24.4.1


Myotone Dystrophie ▶ 20.5.2
(Curschmann-Steinert)

Lambert-Eaton-Sy. Ptosis u. Augenmuskelparesen nur in etwa 50 % d. F.


(▶ 13.7, ▶ 21.2)

Botulismus ▶ 21.3
Kongenitales Fibrosesy. Bilateral mit Augenmuskelparesen (meist Heberschwä-
(supranukleäre Fehlbil- che) u. Kopfheberschwäche → Anamnese, Klinik!
dung?)

Denervierung M. tarsalis Geringe unilaterale Ptosis; passagere Besserung auf Ga-


superior (= inkomplettes be von Phenylephrin-10 %-Augentropfen
Horner-Sy. ▶ 3.1.5)

Kontralateraler, kortika- Klinik (fokal neurol. Sympt.) → MRT (CCT)


ler Prozess (z. B. Ischämie,
Angiom)

Marcus-Gunn-Sy. (ange- Ptosis mit Hebung des Lids bei Mundöffnung bzw. Ver-
borene Innervationsano- schiebung des Unterkiefers zur Gegenseite → Klinik!
malie)

Raumforderung in der Klinik, MRT


Orbita (z. B. Tumoren,
Meningoenzephalozele)
  3.1 Augensymptome  107

3.1.7 Nystagmus
Klinik
• Def.: Unwillkürliche rhythmische Augenbewegung mit langsamer Blickfolge-
u. rascher Einstellbewegung. Benennung der Nystagmusrichtung nach der
schnellen Komponente. Physiol. Nystagmus dient dazu, das Bild auf der
Netzhaut für eine Wahrnehmung ausreichend konstant zu halten. Physiol.
(optokinetischer Nystagmus, kalorischer Nystagmus, Endstellnystagmus) u.
path. Nystagmusformen (supranukleäre Augenbewegungsstör. durch Stör. im
Hirnstamm, Kleinhirn, vestibulären System oder okuläre Stör., die Fixation
verhindern).
• Formen: Einteilung nach Zeitpunkt des Auftretens (angeboren/erworben),
Schlagform (Ruck-, Pendelnystagmus, undulierender Nystagmus), Schlag-
richtung (horizontal, vertikal, Upbeat, Downbeat, rotatorische Komponen- 3
te), Betreffen eines oder beider Augen, dissoziiert, gleiche/gegensätzliche
Schlagrichtung beider Augen (konjugiert, diskonjugiert), Auslösbarkeit
(spontan, in Ruhe, nur bei Blickrichtungsänderung, kalorische Provokation,
Lage-/Lagerungsprovokation), Lokalisation der Stör. (zentral im Hirn-
stamm, Kleinhirn oder peripher im N. vestibulocochlearis oder Vestibular-
organ), Urs.
• Begleitsympt.: Hörstör., Gangunsicherheit, Ataxie, Diplopie, Schwindel, HN-
Stör., Meningismus.

Bei seitendifferentem u. unerschöpflichem Nystagmus immer nach einer


Urs. suchen. Subtiler Hinweis auf eine Stör. der Blickfolgebewegung sind
sichtbare Blicksakkaden oder eine fehlende Suppression des vestibulookulä-
ren Reflexes.

Diagnostik und Differenzialdiagnosen


▶ 1.1.4.
• Anamnese (kongenital oder neu aufgetreten?), klin. Unters. u. Beschrei-
bung.
• Frenzel-Brille: Ausschaltung der Fixation verdeutlicht Nystagmus.
• Lage- u. Lagerungsmanöver (unter Frenzel-Brille).
• Elektronystagmografie: Form u. Frequenz des Nystagmus.
• Thermische Vestibularisprüfung bei V. a. periphere Stör.
• Halmagyi-Test (Kopfimpulstest): Prüfung der peripher vestibulären Funktion
durch Testung des vestibulookulären Reflexes durch rasche Kopfdrehung bei
Fixation eines stationären Punkts.
• Prüfung des optokinetischen Nystagmus mit Streifentrommel: Auslösbarkeit?
Schlagrichtung? Umkehrung?
• Audiogramm: Hörstör.? AEP.
• MRT (zentrale Genese?), ggf. Angiografie.
DD ▶ Tab. 3.9.
108 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.9  DD des Nystagmus


Typ Nystagmus Ursachen Zusätzliche
Hinweise/Sy.

Optokineti- Langsame Folge- Physiol. Abschwächung oder


scher Nystag- bewegung u. ra- Fehlen ist path.;
mus sche Neueinstel- Hinweis auf kontra-
lung lat. okzipitale Groß-
hirnläsionen

Endstell­ In Extremstellung Physiol. Unerschöpflicher


nystagmus der Bulbi (> 40° oder seitendifferen-
Seitwärtsblick), er- ter N. ist path.
schöpflich

3 Kongenitaler
Nystagmus
Richtungswech-
selnd, pendelnd,
Unterschiedliche Erb-
gänge, keine Läsion
Verschiedene Erb-
gänge, oft mit Albi-
durch Fixation nachweisbar nismus, Strabismus,
verstärkt Amblyopie kombi-
niert, meist keine
Oszillopsien

Muskelpareti- In Funktionsrich- HN-Ausfall Lähmungsschielen,


scher Nystag- tung des pareti- Doppelbilder
mus schen Augenmus-
kels

Horizontaler, In Extremstellung Medikamente, z. B. Andere Kleinhirn-


unerschöpfli- der Bulbi, aber durch Phenytoin sympt., z. B. Ataxie
cher Endstell- unerschöpflich
nystagmus

Blickrichtungs- Meist langsam, Zentrale Urs., z. B. MS Oft mit rotatori-


nystagmus grobschlägig, evtl. (▶ 10.1), Hirnstamm- scher Komponente
(BRN) seitenwechselnd, oder Kleinhirnläsionen, u. zentralen Begleit-
verstärkt bei Blick Wernicke-Enzephalopa- sympt. (HN-Ausfälle,
zur erkrankten thie (▶ 24.8.1), Medika- Ataxie, Paresen)
Seite, unerschöpf- menten-NW (Sedativa,
lich Antikonvulsiva), bei ho-
rizontalem einseitigen
BRN auch periphere Lä-
sion möglich (Residuum
nach abgelaufener
Neuronitis vestibularis
▶ 3.3.5)
Spontan­ Position: Blick ge- Peripher-vestibulär Kontralateral zur
nystagmus radeaus, horizon- (Labyrinth, N. VIII) Läsion, richtungsbe-
tal-rotierend stimmt, Hemmung
durch Fixation,
path. Halmagyi-Test
ipsilateral, beglei-
tend Schwindel,
Übelkeit, Erbrechen

Zentral (Pons, Zerebel- Plus zentrale Okulo-


lum) motorikstör., kann
rein horizontal sein,
Schwindel kann feh-
len
  3.1 Augensymptome  109

Tab. 3.9  DD des Nystagmus (Forts.)


Typ Nystagmus Ursachen Zusätzliche
Hinweise/Sy.

Downbeat- Nach unten, Ver- Flocculus, Ätiol. in 40 % Ataxie, Fallneigung


Nystagmus stärkung durch unbekannt (nach hinten), Dys-
Ab-/Seitblick u. arthrie
durch Fixation

Upbeat- Nach oben, Zu- Pontomedullär/ponto- Ataxie, Dysarthrie


Nystagmus nahme im Auf- mesenzephal
blick u. durch Fi-
xation

See-saw- Vertikales Pendeln Zwischenhirnläsionen,


Nystagmus mit rotatorischer
Komponente
z. B. durch Ischämie
oder Blutung
3
Retraktori- Rhythmische Re- Parinaud-Sy. (▶ 3.1.3, Vertikale Blickpare-
scher Nystag- traktion der Bulbi ▶ Tab. 3.5) se nach oben
mus

Konvergenz- Konvergenz- u. Bilaterale dorsale Mit- Oft in Komb. mit


Retraktions- Retraktionsnys- telhirnläsion, z. B. durch vertikaler Blickpare-
Nystagmus tagmus gleichzei- Tumor, vask., MS, Trau- se, Pupillenstör. u.
tig oder nachein- ma Lidretraktion; Skew
ander auftretend Deviation, Ocular
Tilt Reaction, Kon-
vergenzspasmus.
Bds. Mydriasis mit
guter Akkommoda-
tionsreaktion (bes-
ser als Lichtreaktion)

Fixations-Pen- Durch Fixation Hirnstamm- u. Klein- Oszillopsien, oft mit


del-Nystagmus nicht unterdrück- hirnläsionen, z. B. bei Rumpfataxie, Kopf-
barer kleinampli- MS, Ischämie, Kearns- haltetremor, selte-
tudiger Pendel- Sayre-Sy. ner mit INO, Skew
nystagmus Deviation, okulärem
Myoklonus

Periodisch al- Richtungswech- Läsion im Bereich des Oft sakkadierte


ternierender selnder horizonta- Vestibulozerebellums Blickfolgebewe-
Nystagmus ler Spontan- u. Fi- oder der Vestibularis- gung, Oszillopsien
xationsnystagmus kerne pontomedullär
(alle 90–120 s)

Dissoziierter Schlägt beim Blick Funktionsstör. Fascicu- Internukleäre Oph-


Nystagmus zur Seite jeweils lus longitudinalis med. thalmoplegie
auf dem abduzier- (MLF) im Mittelhirn,
ten Auge stärker z. B. bei MS, lakunärem
Mittelhirninfarkt, Intox.

Zentraler La- In einer bestimm- Zerebellär, z. B. zere- Reproduzierbar, un-


genystagmus ten Lage (Seiten-, belläre Degeneration, erschöpflich, ohne
Kopfhängelage), MS, vertebrobasiläre Latenz auftretend.
variable Schlag- Ischämie, Tumoren hin- Typischerweise Dis-
richtung (zum un- tere Schädelgrube, Ano- krepanz zwischen
ten oder oben lie- malie des kraniozervika- Stärke des Nystag-
genden Ohr, verti- len Übergangs mus u. nur gerin-
kal) gem Schwindel
110 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.9  DD des Nystagmus (Forts.)


Typ Nystagmus Ursachen Zusätzliche
Hinweise/Sy.

Lagerungs­ Vertikal/torsionell Post./horizontaler Bei abrupten Kopf-


nystagmus: bei Kopflagerun- Bogengang bewegungen, star-
Benigner par­ gen in der Ebene ker Schwindel, er-
oxysmaler des post. oder ant. schöpflich, keine
Lagerungs- Bogengangs, hori- neurol. Begleit­
schwindel zontal bei Kopfla- sympt.
(▶ 3.3.5) gerungen in der
Ebene des hori-
zontalen Bogen-
gangs,
Latenz von meh-
3 reren Sekunden,
erschöpflich
(< 60 s)

Opsoklonus Wechselnd rasche, Kleinhirn-/Hirnstammlä- Ansprechen auf


repetitive Augen- sionen, im Kindesalter Kortikoide
bewegungen in bei Neuroblastom
alle Richtungen
(v. a. horizontale
Sakkaden)

Ocular Rasche Blickbewe- Ponsläsionen Meist mit Ausfall al-


Bobbing gung nach unten ler horizontalen
mit langsamer Blickbewegungen
Rückstellbewe-
gung

3.1.8 Stauungspapille
Klinik und Diagnostik
Klinik: Zu Beginn meist keine Sehstör., manchmal amblyopische Attacken. Bei
chron. STP Visusstörungen. Meist bds. Zudem Hirndruckzeichen (▶ 4.6.1), Me-
ningismus, evtl. Ataxie oder endokrinologische Ausfälle. Abgrenzung gegen Pa-
pillitis oft schwierig.
Diagn.: Funduskopie (Vorwölbung der Papille u. der daraus hervorgehenden Ge-
fäße in den Augeninnenraum, häufig mit streifigen Blutungen. Angabe in Diop­
trien, die beim indirekten Augenspiegeln zum Scharfstellen des Papillenrandes
benötigt werden), CCT/MRT, LP.

Bei rasch zunehmender intrakranieller Raumforderung kann eine STP feh-


len.

Differenzialdiagnosen
• Intrakranielle Raumforderung: Z. B. Hirntumor, Blutung, ischämischer In-
farkt, Aneurysma, Meningitis, Enzephalitis, Hydrozephalus, Sinus-/Hirnve­
nenthrombose.
• Pseudotumor cerebri (▶ 26.3).
• Schwangerschaft, Eklampsie, hypertensive Enzephalopathie, Herzinsuff., Leuk­
ämie.
  3.3 Schwindel  111

• Lokale raumfordernde Orbitaprozesse mit Abflussbehinderung: Z. B. Venen-


thrombose oder Orbitatumoren.

3.2 Dysarthrie
• Def.: Angeborene oder erworbene Sprechstör. mit Stör. in der Steuerung u.
Ausführung von Sprechbewegungen (▶ Tab. 3.10).

Tab. 3.10  Formen der Dysarthrie


Typ Klinik Ätiologie

Bulbär Näselnd, verwaschen, tonlos. Zungen­ MS (▶ 10.1), Hirnstamm­


atrophie mit Faszikulationen, Gau-
mensegelparese evtl. mit Schluck-
tumor, spinale Muskelatro-
phie (▶ 16.1.3), ALS
3
stör., andere HN-Lähmungen (▶ 16.1.1), Myasthenie
(▶ 22.1)

Pseudobulbär Kloßig. Hemiparese, Hemihypästhe- Ischämie (▶ 7), Blutung


sie, Hemianopsie (▶ 8), Raumforderung
(▶ 4.3.1)

Zerebellär Kloßig, explosiv, laut bei Kleinhirn- MS (▶ 10.1), Kleinhirn­


wurmstör. (mit Gang- u. Standataxie) ischämie (▶ 7.2.8), -blutung
oder monoton, abgehackt, skandie- (▶ 8.1), -tumoren, -degene-
rend, jede Silbe einzeln betonend bei rationen (▶ 16.2), Alkohol
Kleinhirnhemisphärenläsion (mit Zei- u. Medikamente
geataxie u. Intentionstremor)

Extrapyramidal Hypokinetisch-leise (Mikrophonie), Parkinson-Sy. (▶ 15.2.3),


monotone Intonation, verwaschen, Chorea (▶ 15.3), Dystonien
nuschelnd, hyperkinetisch-explosiv (▶ 15.4), M. Wilson (▶ 15.5)

• DD:
– Broca-Aphasie (▶ 3.14.1): Sprachstör. mit vermehrter Sprachanstrengung
u. verminderter Sprachproduktion, Paraphasien.
– Bukkofaziale Apraxie (▶ 3.14.2): Fehlerhafte Mund- u. Zungenbewegun-
gen (Suchbewegungen), evtl. in Verbindung mit gleichzeitigen Kau- u.
Schluckstör.
– Stottern.
– Psychogene Stimmstör.: Aphone Stimme/Sprache bei phonischem Husten.

3.3 Schwindel
3.3.1 Definition
Scheinbewegungen, die durch gegensätzliche Informationen der Sinnesorgane
entstehen.

3.3.2 Einteilung
• Drehschwindel (▶ Tab. 3.11): Gerichtet, „wie Karussell fahren“ → z. B.
M. Menière (▶ 3.3.5).
112 3  Neurologische Leitsymptome  

• Schwankschwindel (▶ Tab. 3.11): Ungerichtet, „wie auf einem Schiff“ → z. B.


bilaterale Vestibulopathie.
• Benommenheitsschwindel: Z. B. Medikamentenintox. oder phobischer
Schwankschwindel.

Tab. 3.11  Zusammenstellung der Schwindelarten


Schwindelart Begleitsymptome Lokalisation/Ursache

Drehschwindel Übelkeit, Erbrechen Vestibulär

Schwankgefühl in Ruhe Abstützen, Festhalten DB-Stör.?

Schwanken der Umge- Verschwommensehen, Oszillopsie bei Nystagmus


bung ­Bewusstseinsstör. (▶ 3.1.7), okulär, zere-
3 bellär

Unsicherheit bei Bewe- Danebengreifen Zerebellär


gung

Unsicherheit beim Gehen Breitbeinig, Gangataxie Zerebellär? PNP? Spinale


Ataxie? EPMS?

3.3.3 Diagnostik
Anamnese:
• Schwindelform (s. o.).
• Häufigkeit: Dauer- oder Attackenschwindel? Bei Schwindelattacken minimale
u. max. Dauer?
• Auslösbarkeit/Verstärkung des Schwindels: Z. B. durch Husten/Niesen (Peri-
lymphfistel), Gehen im Dunkeln (z. B. bilaterale Vestibulopathie).
• Begleitsympt.: Z. B. Übelkeit, Erbrechen, Doppelbilder, Hörstör., Nystagmus,
Ataxie, Fieber, HN-Stör., Bewusstseinsstör.
• Medikamente: Z. B. Carbamazepin, Phenytoin, Antihypertensiva, Antiar-
rhythmika.
• Begleiterkr.: Z. B. Herzinsuff., Herzrhythmusstör., Hypo-/Hypertonie, Infek-
te, Augenerkr.
Klin. Unters.:
• Vestibuläres System: Nystagmusprüfung (immer mit Frenzel-Brille), peri-
pherer vs. zentraler Nystagmus, Kopfimpulstest (VOR), Lage-/Lagerungs-
manöver.
• Sensorische Systeme.
• Okulomotorik: Inspektion, Augenstellung (latentes oder manifestes Schielen,
Skew Deviation, Ocular Tilt Reaction?), Motilität, langsame Blickfolge, Blick-
haltefunktion, Sakkaden, Messung der subjektiven visuellen Vertikalen
(SVV).
• Stand- u. Haltungsregulation.
HNO-Konsil: Vestibularis- u. Hörprüfung.
Weitere Unters.:
• Bei weiteren neurol. Befunden: CCT, MRT (bei V. a. zentrale Urs.), Doppler-/
Duplex-Sono, evtl. AEP, EEG, ENG.
• Evtl. internistische Abklärung: z. B. EKG, Langzeit-EKG, Schellong-Test.
  3.3 Schwindel  113

3.3.4 Physiologischer Reizschwindel
Bewegungsschwindel
• Klinik: Benommenheit, Müdigkeit, periodisches Gähnen, Blässe, leichter
Schwindel, körperl. Unbehagen, vermehrter Speichelfluss, Übelkeit, Erbre-
chen u. Apathie, z. B. bei Autofahrten oder Seereisen. Spontane Remission in-
nerhalb von Stunden nach Wegfall des auslösenden Reizes.
• Ther.:
– Physikalisch: Vestibularistraining durch intermittierende Reizexposition
u. aktive Kopfbewegungen.
– Akut Kopffixierung, Hinlegen (im Schiff u. Auto), wenn möglich visuelle
Kontrolle der Fahrzeugbewegung.
– Medikamentös: Scopolamin 0,5 mg als transdermales therap. System (TTS)
4–6 h vor Fahrtbeginn, alternativ Dimenhydrinat 100 mg einmalig p. o. 3
Höhenschwindel
• Klinik: Visuell ausgelöste Stand- u. Bewegungsunsicherheit mit Angst u. ve-
getativen Begleitsympt. (Entfernungsschwindel).
• 
DD: Akrophobie (konditionierte phobische Reaktion mit Dissoziation von
subjektiver u. objektiver Fallgefahr).
• Ther.: Verhaltenstherap. Prophylaxe durch Festhalten, optische Fixierung na-
he gelegener stationärer Dinge.

3.3.5 Peripher-vestibulärer Schwindel
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
• Def.: Häufigstes Schwindelsy. Typ. Alterserkr. mit Maximum im 6.–7. Ljz.
Als ursächlich wird eine Kanalolithiasis angenommen, v. a. des post., seltener
des horizontalen Bogengangs. Typ. Auslöser: Hinlegen, Aufrichten oder Um-
drehen im Bett, Bücken, Kopfreklination.
• Klinik: Durch Kopflagerungswechsel gegenüber der Schwerkraft ausgelöste
kurze (< 1 Min.), z. T. heftige Drehschwindelattacken. Auftreten mit einigen
Sekunden Latenz nach auslösendem Lagerungsmanöver. Begleitend Übelkeit,
Erbrechen, Oszillopsien. Keine Hörstör. oder zentrale Stör. Nystagmus torsi-
onell/vertikal zum unten liegenden (betroffenen) Ohr für 15–60 s mit einem
crescendo-decrescendoartigen
Charakter beim pBPPV. Beim Auf- Kopfdrehung nach
richten häufig schwächerer Nystag- links um 45°
mus in Gegenrichtung.
• Ther.: Lagerungstraining nach
Brandt (▶ Abb. 3.5) mehrmals tgl.
bis zur Beschwerdefreiheit. Typ.
Fehler beim physikalischen Befrei-
ungsmanöver: Kopfhaltung, Pause
in der Mitte, zu kurze Pause in Sei-
tenlage, Geschwindigkeit. Be-
schwerdefreiheit nach 2–3 Wo. Re-
zidive möglich. Bei (seltener)
Ther.-Resistenz selektive Neurek- Abb. 3.5 Lagerungstraining nach
tomie. Brandt [L106]
114 3  Neurologische Leitsymptome  

Neuronitis vestibularis
• Def.: Akuter einseitiger Vestibularisausfall; Erkr.-Gipfel um 50. Lj. Wahr-
scheinlich viral oder parainfektiös.
• Klinik:
– Akut oder subakut einsetzender über Tage bis wenige Wo. anhaltender
heftiger Dauerdrehschwindel mit schwerem Krankheitsgefühl, Gang- u.
Standunsicherheit, Fallneigung zur betroffenen Seite, Übelkeit, Erbrechen.
– Horizontal-rotierender Spontannystagmus (kontraversiv), der durch visuel-
le Fixation unterdrückt werden kann, mit Scheinbewegungen der Umwelt.
– Keine Hörstör.!
– Einseitige peripher-vestibuläre Funktionsstör. (path. Kopfimpulstest, ka-
lorische Prüfung).
– Spontanbesserung durch zentrale Kompensation nach 2–3 Wo.
3 – Beschwerdefreiheit i. d. R. nach 4–5 Wo.
• Ther.:
– Symptomatisch: Antivertiginosa, nur innerhalb der ersten Tage u. nur bei
schwerer Übelkeit u. Brechreiz (anderweitig Verzögerung der zentralen
Kompensation des peripheren Vestibularisausfalls).
– Kausal: Kurz dauernde Glukokortikoidther.: Methylprednisolon (z. B.
Urbason®) initial 100 mg/d p. o., Dosis jeden 4. d um 20 mg reduzieren.
– Verbesserung der zentralen vestibulären Kompensation des peripheren
Defizits durch Physiother. (Gleichgewichts- u. Standregulationsübungen,
Übungen zur Blickstabilisation während Kopf-Körper-Bewegungen mit
zunehmendem Schwierigkeitsgrad im Liegen, Sitzen, Stehen u. Gehen).

Menière-Krankheit
• Def.: Endolymphatischer Labyrinthhydrops mit periodischen Rupturen.
Erkr.-Gipfel 30.–50. Lj.
• Klinik:
– Akut auftretende vestibuläre u./o. kochleäre Sympt. mit attackenförmi-
gem Verlauf mit einer Dauer von 20 Min. oder länger.
– Drehschwindel, horizontaler rotierender Nystagmus (in der Reizphase zur
betroffenen, in der Ausfallphase zur gesunden Seite), gerichtete Fallnei-
gung, vegetative Sympt. (Blässe, Schweißneigung, Nausea, Erbrechen).
– Tinnitus oder Ohrdruck im betroffenen Ohr, Hörminderung (Tieftonver-
lust).
– Häufig vor Beginn der Drehschwindelattacken schon fluktuierende Hör­
stör. u. zeitweise Tinnitus, rein vestibuläre Attacken dagegen sehr selten.
• KO: Im Verlauf oft bilaterale Erkr., vestibuläre Drop Attacks (Tumarkin-Sy.,
Otolithenkrisen).
• Diagn.: ENG, AEP, Hörtests (Fowler-Test – pos. Rekruitment), ggf. MRT.
• Ther.:
–  Medikamentöse Ther.:
– In der Attacke ggf. Antivertiginosa, z. B. Dimenhydrinat 100 mg als
Suppositorien oder Infusion (1–3 × 100 mg/d), in schweren Fällen
Benzodiazepine.
– Prophylaktisch Betahistindihydrochlorid 3 × 2 Tbl. à 24 mg/d p. o.
über mind. 6–12 Mon. Ist der Pat. 6 Mon. attackenfrei, langsame Re-
duktion der Tagesdosis möglich. NW: Sedierung, Mundtrockenheit,
GIT-Stör. KI: Absolut: Phäochromozytom. Relativ: Magenulzera,
Bronchialasthma.
  3.3 Schwindel  115

Chir. Ther.: Bei medikamentöser Ther.-Resistenz u. dauernden Beschwer-


– 
den transtympanale Instillation von Gentamicin (Voraussetzung: Identifi-
zierung des betroffenen Ohrs), in mehrwöchigen Abständen.

Andere peripher-vestibuläre Schwindelformen


• Akute Labyrinthläsion:
– Dauerdrehschwindel bei akuter Labyrinthitis.
– Begleitlabyrinthitis bei Otitis media, Zoster oticus (Ramsey-Hunt-Sy.: Ini-
tial brennender Schmerz, Effloreszenzen, Hörminderung, Fazialisparese),
Lues, Borreliose, Tbc.
– Als NW einer Antibiose (z. B. Aminoglykoside, Zytostatika), traumatisch,
iatrogen, vask., tox.
• Perilymphfistel:
– Urs.: Traumatisch (z. B. Baro-, Schädel-Hirn-Trauma), entzündl., postop., 3
Tumor.
– Klinik: rezid. Dreh- (Bogengangtyp) oder Schwankschwindelattacken
(Otolithentyp) mit Oszillopsien, Gleichgewichts- u. Hörstör. Zunahme
der Sympt. durch Druckänderungen (Pressen, Husten).
– Diagn.: Provokationstests durch Druckänderung, hochauflösende CT mit
Darstellung der Felsenbeine, Tympanotomie.
– Ther.: Bettruhe, milde Sedierung, Laxanzien, körperl. Schonung. Bleibt
Spontanheilung aus, OP.
• Akustikusneurinom: ▶ 13.6.11.
• Vestibularis-Paroxysmie:
– Rezid., Sekunden dauernde Drehschwindelattacken.
– Auslösung oder Intensitätsänderung durch bestimmte Kopfpositionen.
– Progressiver einseitiger VIII-Funktionsverlust (Hörminderung, Tinni-
tus während Attacke), messbare Defizite (AEP, ENG, Kalorik, Hör-
test).
– MRT: Art. Gefäßschlinge nahe N.-VIII-Austrittsstelle am Hirnstamm.
– Ther.: Carbamazepin (200–600 mg/d) oder Oxcarbazepin (300–900 mg/d);
neurovask. Dekompression als Ultima Ratio.
• Bilaterale Vestibulopathie:
– Urs.: Idiopathisch (> 50 %), ototox. Substanzen, spinozerebelläre De-
generation, MSA, Meningitis oder Labyrinthitis, Tumoren, Vit.-B12-
oder -B6-Mangel, HSMN, Autoimmunerkr. (z. B. Cogan-Sy. v. a. junge
F, Komb. aus interstitieller Keratitis, audiologischen u. vestibulären
Sympt.).
– Klinik: Schwankschwindel (bewegungsabhängig), Oszillopsien (40 % der
Pat.), im Dunkeln u. auf unebenem Untergrund zunehmende Gangunsi-
cherheit, im Liegen u. Stehen beschwerdefrei, Stör. des Raum- u. Naviga-
tionsgedächtnisses.
– Diagn.: durch VOR (Kopfdrehtest u. kalorische Prüfung).
– Ther.: Prophylaktisch Einmalgabe ototox. Antibiotika mit Kontrolle des
Spitzen- u. Talspiegels, keine Komb. ototox. Substanzen (z. B. Schleifen­
diuretika); Physiother.; Kortikosteroide (z. B. Prednisolon 80 mg/d, in ab-
steigender Dos. über ca. 3–4 Wo.), beim Cogan-Sy. hoch dosierte Stero-
idther., evtl. Azathioprin oder Cyclophosphamid.
116 3  Neurologische Leitsymptome  

3.3.6 Zentral-vestibulärer Schwindel
Zentraler Lagerungsschwindel
• Nystagmus ist nicht paroxysmal u. wenig erschöpflich, meist auch andere
Stör. der Blickfolge (Sakkadenstör.).
• Urs.: Tumor, Blutung, Ischämie oder Entzündung im Bereich der Vestibula-
riskerne oder des Kleinhirnwurms.
• Hirnstamm betroffen: Dauerdrehschwindel.
Vertebrobasiläre Insuffizienz
• Durch ungenügende Blutversorgung der Vestibulariskerne bei Stenosen der
Aa. vertebrales oder A. basilaris.
• Klinik: Attackendrehschwindel, Ataxie, stets mit HN-Ausfällen oder Sympt.
3 der langen Bahnen.

MS
Schwankschwindelattacken, bis 100×/d, paroxysmale Dysarthrie u. Ataxie.

Basilarismigräne
• Rezid. Schwindelepisodenn mit okzipitalen Kopfschmerzen, Sehstör., Übel-
keit, Foto- u. Phonophobie, Ataxie u. evtl. HN-Ausfällen, z. T. ausschließlich
Schwindel. Im freien Intervall zentrale Okulomotorikstör. (sakkadierte Blick-
folge, Nystagmus) bei > 60 %.
• Meist pos. Familienanamnese.
• DD: M. Menière, TIA, Vestibularis-Paroxysmie, episodische Ataxie Typ 2.
• Ther.: Ggf. Migräneprophylaxe (▶ 5.1.4) mit Metoprolol retard 100 mg/d p. o.
oder alternativ Topiramat 50–150 mg/d p. o.

Vestibuläre Epilepsie
• Attackendrehschwindel, sekunden- bis minutenlang, Übelkeit, kein Erbre-
chen, dystone Bewegungen, Bewusstseinsstör., häufig akustische Sensationen.
• Bei Läsion im Temporallappen evtl. als Aura vor psychomotorischem Anfall.
Downbeat-Nystagmusschwindel
• Häufigster erworbener Fixationsnystagmus (▶ 3.1.7), begleitend Oszillopsien
u. Ataxie mit Fallneigung nach hinten. Meist persistierendes Downbeat-Nys-
tagmus-Sy.
• Ätiol.: Idiopathisch, zerebelläre Degeneration, vask. Läsionen, bei Arnold-
Chiari-Fehlbildung, Intox. (z. B. Antiepileptika), MS, Tumoren, Entzündung
im Bereich des Hirnstamms.
• Ther.: Gleichgewichtstraining; symptomatisch mit dem Kaliumkanalblocker
4-Aminopyridin (3 × 5 mg/d p. o.). Cave: QT-Zeit-Verlängerung!

3.3.7 Nichtvestibulärer Schwindel
Phobischer Schwankschwindel
• Def.: Dritthäufigste Schwindelform (etwa 12 %).
• Klinik:
– Attackenartiger, oft situativ (leere Räume, große Plätze, Kaufhäuser) aus-
gelöster Schwindel, subjektive Gang- u. Standunsicherheit.
  3.4 Tinnitus  117

– Begleitend evtl. Vernichtungsangst (oft erst auf explizite Nachfrage), deut-


licher Leidensdruck.
– Erstmanifestation häufig bei bes. Belastung u. nach stattgehabter vestibu-
lärer Stör.
– Rasche Konditionierung u. Generalisierung.
– Vermeidungsstrategien.
– Besserung oft durch Alkoholzufuhr oder bei sportlicher Betätigung.
– Auftreten meist im Tagesverlauf, morgens beschwerdefrei.
• Ther.: Psychoedukation, verhaltenstherap. Desensibilisierung (wiederholte
Exposition). Neurol. Unters. zur psychischen Entlastung. Evtl. SSRI.

Psychogener Schwindel
Häufig bei Depression (bes. im Alter), dissoziativer Stör. (hysterischer Neurose),
schizophrener Psychose. 3
Pharmaka-NW
Z. B. nach Antikonvulsiva, Tranquilizern, Hypnotika, Antiemetika, Antidepressi-
va, Anticholinergika, Dopaminagonisten, Muskelrelaxanzien, Aminoglykosiden
u. Antituberkulotika (irreversible Ototoxizität), Antihypertensiva (speziell Beta-
blocker u. Vasodilatatoren).

3.4  Tinnitus
Definition
Verschiedene Formen von Ohrgeräuschen (Klicks, Rauschen, Pfeifen), manchmal
pulssynchron; rezid., konstant oder anfallsweise.

Klinik und Differenzialdiagnosen


Objektivierbarer Tinnitus:
• AVM, Karotisdissektion/-stenose, Aneurysma, Glomustumor.
• Kontiuierliches Rauschen: Vergrößerter Bulbus venae jugularis, verschwindet
bei Druck auf die distale V. jugularis.
• Blasendes Geräusch: Abnorm weite Tuba auditiva, z. B. nach erheblichem Ge-
wichtsverlust.
• Serie scharfer Klicks: Tetanische Kontraktionen des weichen Gaumens.
Subjektiver Tinnitus:
• Mit Drehschwindel u. Hörstör. → M. Menière (▶ 3.3.5).
• Mit Hörstör.: Otosklerose, akuter Hörsturz, akutes SHT, Lärmtrauma, bei
Akustikusneurinom (▶ 13.6.11), durch ototoxische Medikamente (z. B. Ami-
noglykoside, Cisplatin), Schwermetalle.
• Ohne Hörstör.: Meist ätiologisch unklar (vermutet werden ephaptische Erre-
gungen in Analogie zur Trigeminusneuralgie oder zentrale Verstärkung einer
prim. peripheren Läsion), gelegentlich medikamentös (Chinidin, Salizylate,
Indometacin, Carbamazepin, Propranolol, L-Dopa, Aminophyllin, Koffein,
Tetracyclin, Salbutamol).

Therapie
• Behandlung der Grunderkr.
• Absetzen auslösender Medikamente.
• Aufklärung, Beratung, psychologische Begleitung.
118 3  Neurologische Leitsymptome  

• „Masking“: Überdecken des Tinnitus durch andere Geräuschquelle.


• Keine gesicherte medikamentöse Ther.
• Ggf. medikamentöser Ther.-Versuch mit:
– Tocainide 3 × 400 mg/d p. o. bis zu 3 × 600 mg/d
– Benzodiazepine: Oxazepam 30 mg/d p. o. oder Clonazepam 3 × 0,5 mg/d p. o.

3.5 Muskelschwäche
Definition
• Zentrale Lähmung: Läsion des ersten (kortikalen) MN u. seines Axons in
Capsula int. u. Pyramidenbahn.
• Periphere Lähmung: Läsion des zweiten (α-)MN im Hirnstamm u. RM mit
3 seinem Axon (HN III–XII oder peripherer Nerv), motorischer Endplatte oder
Muskel.

Anamnese
• Dynamik: Akut (z. B. Trauma, Ischämie, Blutung) oder chron. (z. B. Tumor,
PNP).
• Verlauf: Progredient (z. B. Tumoren, PNP, hereditäre Muskelerkr.), stationär
(z. B. Trauma, Z. n. perinatalem Hirnschaden) oder fluktuierend (z. B. MS,
Myasthenia gravis).
• Ausmaß: Systemisch (z. B. PNP, Myopathien, ALS) oder fokal (z. B. Ischämie,
Blutung, Tumor).
• Begleitsympt.: Schmerz (z. B. SAB, Bandscheibenvorfall), Wesensänderung (z. B.
Hirntumoren), Frakturen (z. B. Trauma), Sensibilitätsstör., zerebelläre oder neu-
ropsychologische Sympt. (z. B. MS, Ischämie, Blutung oder Tumoren), Krampf-
anfälle (z. B. Tumoren, Gefäßfehlbildung, Sinus-/Hirnvenenthrombose).
• Risikofaktoren: Hereditär oder vask. (z. B. Nikotin, Alkohol, Hypertonie,
Diab. mell., Hypercholesterinämie) oder Schwermetallexposition.

Klinik
Zu den Sympt. bei zentraler bzw. peripherer Lähmung ▶ Tab. 3.12.

Tab. 3.12  Klinische Differenzierung zwischen zentraler u. peripherer Läh­


mung
Zentral Peripher

Lähmung Bei Läsion oberhalb der Pyrami- Lähmung einzelner Muskeln


denbahnkreuzung kontralat., un- oder Muskelgruppen, die
terhalb davon ipsilat., betroffen von einem Nerv oder Seg-
sind Gelenkfunktionen, nicht ein- ment versorgt werden
zelne Muskeln

Muskeltonus ↑, Spastik (▶ 3.6), v. a. in Beinstre- Vermindert, schlaffe Läh-


ckern u. Armbeugern, initial aber mung
oft schlaff

Faszikulationen, Keine Bei gleichzeitiger Lähmung


sicht- u. fühlbar beweisend für Läsion des
2. Neurons oder seines
Axons

MER Gesteigert mit Kloni Vermindert oder erloschen


  3.5 Muskelschwäche  119

Tab. 3.12  Klinische Differenzierung zwischen zentraler u. peripherer Läh­


mung (Forts.)
Zentral Peripher

Babinski-Zeichen Pos. Neg.

Muskelatrophie Zunächst keine, später wenig In- Ausgeprägt, 80 % Muskel-


aktivitätsatrophie schwund in 4 Mon.

Begleitsympt. Aphasie (▶ 3.14.1), Apraxie Schmerzen, trophische Stör.


(▶ 3.14.2), Hemianopsie

Diagnostik
• Zentrale Parese: Kraniales oder spinales CT oder MRT, CT- oder MR-Angio
oder kraniale DSA, Myelografie, LP bei V. a. MS (▶ 10.1) oder andere ent- 3
zündliche ZNS-Erkr.
• Periphere Parese: Immer EMG u. NLG, ggf. spinales CT, Myelografie, MRT
bei Plexus- oder Wurzelläsionen, LP bei V. a. GBS (▶ 19.9.1) u. MN-Erkr.,
Tensilon-Test bei V. a. Myasthenia gravis (▶ 21.1), Nerven- u. Muskelbiopsie
bei unklarer PNP (▶ 19).

Differenzialdiagnosen
Neurol. DD: ▶ Tab. 3.13.

Tab. 3.13  Lokalisatorische DD der zentralen u. der peripheren Lähmung


Symptome Lokalisation der Läsion Differenzialdiagnosen

Lokalisatorische DD der zentralen Lähmung

Spastische Hemiparese, Kontralat. kortikal, bein- Ischämie (▶ 7), Blutung


meist mit Sensibilitätsstör. betont (ACA) oder bra- (▶ 8), Tumor (▶ 13), Trau-
chiofazialbetont (ACM) ma (▶ 22.1), MS (▶ 10.1),
Abszess (▶ 9.3.4)
Mit Aphasie Meist linkshirnig

Rein motorisch Capsula interna

Spastische Hemiparese mit Kontralat. im Hirnstamm Ischämie, Blutung, MS, Tu-


Augenmotilitätsstör., Nys- mor
tagmus, Ataxie u. HN-Aus-
fällen

Tetraparese mit Vigilanz- u. Hirnstamm Ischämie (z. B. Basilaris-


Pupillenstör. thrombose, ▶ 7.2.7), Blu-
tung

Paraparese mit Blasenstör., Sulcus interhemisphaeri- Meningeom, bds. SDH


aber ohne sensibles Niveau cus mit Druck auf media-
oder spinale Automatismen le Kante des Kortex bds.
(Mantelkantensy.)

Querschnittsy. ohne HN- Hals- oder Brustmark Trauma, Ischämie, MS,


Ausfälle oder Vigilanzstör., Bandscheibenvorfall
spinale Automatismen, Bla- (▶ 18), Blutung, Tumor,
sen-/Mastdarmstör. zervikale Myelopathie
(▶ 18.4)
120 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.13  Lokalisatorische DD der zentralen u. der peripheren Lähmung (Forts.)


Symptome Lokalisation der Läsion Differenzialdiagnosen

Lokalisatorische DD der peripheren Lähmung

Rein motorische Lähmung Alpha-MN im RM Spinale Muskelatrophie


ohne segmentale Grenzen (▶ 16.1.3), ALS (▶ 16.1.1)

Sensibel u. motorisch mit Wurzel Bandscheibenvorfall (▶ 14)


segmentalem Ausfall

Sensibel u. motorisch ent- Plexus Trauma, Tumor


sprechend dem Verteilungs-
gebiet der Faszikel,
Schweißsekretion intakt
3 Sensibel u. motorisch, ent- Peripherer Nerv Raumforderung, Trauma,
sprechend dem Versor- PNP (▶ 19), Mononeuritis
gungsgebiet eines Nervs, multiplex (▶ 19.2)
Schweißsekretionsstör.

Ermüdbarkeit mehrerer Motorische Endplatte Myasthenia gravis (▶ 21.1),


Muskeln, oft nur der Lambert-Eaton-Sy. (▶ 21.2)
Augenmuskeln

Mehrere Muskeln betrof- Muskel Myopathien (▶ 20), Myosi-


fen, Progredienz, Heredität, tis (▶ 20.7)
evtl. Entzündungszeichen

Nichtneurol. DD:
• Psychogen: Häufigste Manifestation einer dissoziativen Stör. (hysterischen
Neurose) in der Neurologie!
– Unauffälliger Reflexstatus, keine Atrophien, Lähmungsmuster häufig neurol.
nicht erklärbar, unbeabsichtigte Bewegung der betroffenen Muskelgruppen
im Alltag, Anspannung antagonistischer Muskelgruppen bei der Unters.
– Häufig andere psychopath. Auffälligkeiten, am Beginn der Sympt. belas-
tendes Ereignis oder Konflikt.
• Endokrine Stör., z. B. Hyper- oder Hypothyreose.
• E'lytstör., z. B. Hyper- oder Hypokaliämie.

3.6 Spastik und Rigor


Ätiologie
• Spastik: Läsion des 1. motorischen Neurons zunächst mit schlaffer Lähmung,
Spastik erst nach 3–4 Wo.
– Gehirn: Z. B. ischämischer Insult, Blutung, infantile Zerebralparese, MS.
– RM: Trauma, vask., zervikale Myelopathie.
– MN-Erkr.: Z. B. ALS (▶ 16.1.1), spastische Spinalparalyse (▶ 16.1.2).
• Rigor: Erkr. des extrapyramidalen Systems (Basalganglien), v. a. M. Parkin-
son, Neuroleptika-NW.

Klinik und Diagnostik


Zur klin. Unterscheidung zwischen Spastik u. Rigor ▶ Tab. 3.14.
  3.7 Tremor  121

Tab. 3.14  Klinische Unterscheidung zwischen Spastik u. Rigor


Spastik Rigor

Muskeltonus In Ruhe normal, beim ruckar- In Ruhe ↑, gleichmäßige Tonuser-


tigen passiven Durchbewe- höhung bei passiver Bewegung
gen einschießend, Klappmes- (wie Bleirohr), wächserne Bewe-
serphänomen (plötzlicher gung, bei ruckartigen Bewegun-
Tonusverlust) gen z. T. Zahnradphänomen

Verteilung der Flexoren der Arme, Extenso- Flexoren stärker als Extensoren an
Tonussteigerung ren der Beine allen Extremitäten

Unwillkürliche Evtl. spinale Automatismen Vorhanden, z. B. Chorea, Ballis-


Bewegungen mus, Dystonie, Tremor


MER Normal
3
Babinski-Zeichen Pos. Neg.

Lähmung Vorhanden Nicht vorhanden

3.7 Tremor
▶ 15.1.
Kriterien zur Beschreibung eines Tremors
• Frequenz: Niedrig- (2–4 Hz), mittel- (4–7 Hz), hochfrequent (> 7 Hz).
• Tremorarten:
– Ruhetremor,
– Aktionstremor: Haltetremor, kinetischer Tremor (einfach bei unge-
richteten Bewegungen u. Intentionstremor bei zielgerichteten Bewe-
gungen), isometrischer Tremor.
• Bewegungsamplitude: Grob- o. feinschlägig.
• Lokalisation.

Klinik und Diagnostik


• Anamnese (insbes. Medikamente), Fremd-(Familien)anamnese (Erblichkeit).
• Neurol. Status.
• Neurophysiologie: Polygrafisches EMG, Mehrkanal-EEG, MEP, Long-loop-
Reflex.
• Bildgebung: MRT (CCT), SPECT.
• Labor: Endokrinologische (TSH, T3, T4) u./o. immunologische Unters., Cu im
24-h-Urin, Coeruloplasmin, evtl. LP.
• Klin. Test bei Ruhetremor: Pat. sitzt, Arme liegen auf Unterlage auf. Evtl. ko-
gnitive Aufgabe zur Provokation einer Tremorverstärkung.
• Klin. Test bei Aktionstremor: Einwärtsdrehung der Arme (Haltetremor), un-
gerichtete Beugung u. Streckung (Bewegungstremor), Finger-Nase-, Finger-
Finger- o. Knie-Hacken-Versuch.

Klinische Tremorsyndrome
• Physiol. Tremor (▶ 15.1.2).
• Medikamentöser o. toxininduzierter Tremor.
122 3  Neurologische Leitsymptome  

• Essenzieller Tremor (▶ 15.1.3).


• Tremor beim Parkinson-Sy. (▶ 15.1.5).
• Prim. orthostatischer Tremor (▶ 15.1.3).
• Aufgaben- u. positionsspezifischer Tremor (▶ 15.1.3).
• Dystoner Tremor (▶ 15.1.4).
• Zerebellärer Tremor (▶ 15.1.6)
• Holmes-Tremor (rubraler Tremor; ▶ 15.1.7).
• Gaumensegeltremor.
• Tremor bei peripherer Neuropathie (▶ 15.1, ▶ 8).
• Psychogener Tremor (▶ 15.1.9).

3.8 Myoklonus
3
▶ 15.6.
Definition
Kurze, unwillkürliche u. plötzlich auftretende Muskelkontraktionen (<  200 ms).
Pos. Myoklonus mit Bewegungseffekt o. neg. Myoklonus mit Inhibition tonischer
Muskelaktivität (Asterixis).

Kriterien zur Beschreibung eines Myoklonus


• Lokalisation: (Multi)fokal, segmental, generalisiert.
• Zeitliche Abfolge: (Ar)rhythmisch, oszillierend.
• Auftreten u. Dauer: Spontan, aktionsinduziert, auf äußere Reize (z. B. visuell,
akustisch); vereinzelt – kontinuierlich, anfallsartig; lokal, sich ausbreitend.
• Myoklonus-Arten:
– Kortikaler M.: Aktivität von Neuronen im motorischen Kortex.
– Retikulärer M.: „Generator“ im Bereich der Formatio reticularis.
– Spinaler M.: Bewegungsinitiierung auf spinaler Ebene.
• Phänomenologisch: Physiol., essenziell, epileptisch, symptomatisch (v. a.
posthypoxisch, toxisch-metabolisch, u. a.).
• EMG-Muster: Antagonistenverhalten, Ruheaktivität, Entladungsdauer.

Diagnostik und klinische Tests


• Anamnese (inkl. Medikamente), Fremd-(Familien)anamnese, Neurostatus.
• Polygrafisches EMG, EEG-EMG-Simultanableitung, Medianus-SEP (Riesen-
potenziale?).
• Kraniale u. spinale MRT (Nachweis symptomatischer Urs.).
• Labor inkl. BB, CRP, BSG, E'lyte, Leber- u. Nierenwerte, Ammoniak, CK, Cu,
Coeruloplasmin, Laktat, ANA, ANCA, Anti-Gliadin, Anti-Hu, -Ro, -Ri, Vi-
russerologie (HIV, HSV, CMV), lysosomale Enzyme.
• Liquorstatus, evtl. Protein 14-3-3, NSE bei V. a. CJK.
Charakteristische Myoklonus-Syndrome
• Physiol. Myoklonus: Angst-/Schreck-, Einschlaf-/Aufwach-Myoklonie.
• Essenzieller Myoklonus (▶ 15.6.5).
• Epilepsieassoziierter Myoklonus (▶ 11.1).
• Posthypoxischer Myoklonus: Lance-Adams-Sy. (▶ 15.6.6).
• Andere symptomatische Myoklonus-Sy.: ▶ 15.6.7.
  3.9 Zerebelläre Funktionsstörungen  123

• Startle-Erkr. (▶ 15.3.4).
• Psychogener Myoklonus: Z. B. bei dissoziativen Stör., klin. vom organischen
Myoklonus häufig nicht abgrenzbar (→ EMG, EEG-EMG-Simultanableitung).

Therapie
▶ 15.6.4.

3.9 Zerebelläre Funktionsstörungen
Definition
Stör. der Bewegungskoordination durch Läsion des Kleinhirns bzw. der afferenten
u. efferenten Bahnen.
3
Ätiologie
• Intox., z. B. Alkohol, Phenytoin, Carbamazepin.
• Degenerative Erkr. (▶ 16), z. B. Friedreich-Ataxie.
• Atrophie, z. B. chron. Alkoholabusus, paraneoplastisch.
• Umschriebene Läsionen: Tumor (▶ 13), Blutung (▶ 8), Abszess (▶ 9.3.4),
Ischämie (▶ 7), MS (▶ 10.1).

Klinik
Leitsympt. Ataxie:
• Extremitätenataxie: Dysmetrische, meist hypermetrische Zielbewegungen
(Finger-Nase-, Knie-Hacken-Versuch ▶ 1.1.7) → Schädigung der Kleinhirn-
hemisphären.
• Stand- u. Gangataxie: Breitbasiger Gang mit Abweichung u. Fallneigung zur
betroffenen Seite; Seiltänzergang u. Romberg-Ausgangsstellung sind nicht
möglich → Schädigung der Kleinhirnhemisphären.
•  Rumpfataxie: Fallneigung zur betroffenen Seite, sodass kein gerades Sitzen
möglich ist → Schädigung des Kleinhirnwurms.
• DD: Spinale („sensible“) Ataxie (▶ Tab. 3.15):
– Stör. des Vibrations- u. Lageempfindens (Tiefensensibilität), funikuläre
Myelose (▶ 19.5.3).
– Entzündl., z. B. Tabes dorsalis.
Weitere Kleinhirnsympt.:
• Dysdiadochokinese (▶ 1.1.7).
• Dysarthrie.
• Muskelhypotonie mit abgeschwächten MER.
• Dys- o. Hypermetrie.
• Intentionstremor.
• Fehlendes Rebound-Phänomen (▶ 1.1.7).
Tab. 3.15  Differenzierung zerebelläre u. spinale Ataxie
Zerebellär Spinal

Visuelle Kontrolle Unverändert Verbessert

Romberg-Versuch Neg. Positiv

Begleitsympt. Gerichtete Fallnei- Hypästhesie, Pallhypästhesie, MER ↓


gung, Makrografie
124 3  Neurologische Leitsymptome  

Charcot-Trias bei MS (bei 15 % d. F.)


• Intentionstremor (▶ 3.7, ▶ 15.1).
• Nystagmus (▶ 3.1.7), in geringerer Ausprägung sakkadische Blickfolgebe-
wegungen.
• Skandierendes Sprechen: Abgehackter Sprachfluss mit deutlicher Beto-
nung jeder einzelnen Silbe.

3.10 Gangstörungen
Zu Klinik u. Ätiol. ▶ Tab. 3.16.

3 Tab. 3.16  Klinik u. Ätiologie der Gangstörungen


Typ Klinik Ätiologie

Zerebellär ataktisch Breitbasiger Gang mit unregel- MS (▶ 10.1); Tumor, Blu-


mäßiger Schrittfolge u. Schwan- tung u. Ischämie des Klein-
ken zur erkrankten Seite, Stand­ hirns; tox.; Kleinhirndege-
unsicherheit, Romberg-Versuch neration (▶ 16.2); para-
neg. (▶ 1.1.7) neoplastisch (▶ 13.7)

Sensibel ataktisch Abrupte Schritte unterschiedli- PNP (▶ 19), MS (▶ 10.1),


cher Länge, Beine werden unter- Vit.-B12-Mangel (▶ 19.5.3),
schiedlich hoch angehoben, oft Tabes dorsalis (▶ 9.3.7),
mit hörbarem Auftritt, Romberg- Friedreich-Ataxie
Versuch pos. (▶ 16.2.3), spinale Tumo-
ren (▶ 14.5) mit Hin-
terstrangsympt. (▶ 14.3)

Hemispastischer Bein ist steif, Fuß supiniert, lat. Intrakranielle Ischämie


Wernicke-Mann- Fußrand schleift auf dem Boden. (▶ 7) u. Blutung (▶ 8), MS
Gang Spielbein wird außen um das (▶ 10.1), Hirntumor
Standbein geschwungen (Zir- (▶ 13.6), spinale Raumfor-
kumduktion). Arm ist gebeugt, derung (▶ 14.5)
schwingt nicht mit. Evtl. bilate-
ral, bei spastischer Paraparese

Gebundener Gang Beine sind steif, leicht in den Parkinson-Sy. (▶ 15.2), Al-
Knien gebeugt, die Schritte kurz ter, Medikamente (Neuro-
u. schlurfend. Oberkörper vorn- leptika)
übergebeugt. Arme leicht ge-
beugt, schwingen nicht mit

Steppergang Gleichmäßige Schrittlänge mit Einseitig bei Läsion des


hängender Fußspitze. Knie wer- N. peroneus (▶ 17.1.8) u.
den stark angehoben, damit Poliomyelitis (▶ 14.4.3),
Fußspitze nicht schleift. Hörba- bds. bei Charcot-Marie-
res Auftreten Tooth-Sy. (▶ 19.10), spina-
ler Muskelatrophie
(▶ 16.1.3) o. -dystrophie
(▶ 20.2)

Watschelgang Zum Standbein geneigter Ober- Wurzelläsion L5, Muskel-


(Trendelenburg) körper, Absinken der Hüfte zum dystrophie (▶ 20.2), Kugel-
Spielbein durch mangelnde Fi- berg-Welander-Krankheit
xierung (Schwäche der Mm. (▶ 16.1.3), Hüftdysplasie
glutei med.). Verstärkt beim
Treppensteigen u. Aufstehen
  3.11 Sensibilitätsstörungen  125

Tab. 3.16  Klinik u. Ätiologie der Gangstörungen (Forts.)


Typ Klinik Ätiologie

Torkeln Unregelmäßige Schritte, Stürze Alkohol- o. Sedativaintox.


werden durch Ausgleichsmanö-
ver verhindert

Gangstör. bei NPH Breitbasiger, langsamer, klein- Hydrozephalus (▶ 26.2)


schrittiger, schlurfender, am Bo-
den klebender Gang. Steife Kör-
perhaltung, Körperdrehung en
bloc. Kein Rigor, Tremor o. Ataxie

Frontale Gangstör. Breitbasiger, langsamer, klein- Bilaterale frontale Infarkte


schrittiger, zögernder, schlurfen- (▶ 7), Alzheimer-Krankheit
der, am Boden klebender Gang. (▶ 23.3) 3
Gebeugte Körperhaltung. Initial
Verbesserung durch Hilfe, später
zunehmende Schrittverkürzung
bis zur Gangunfähigkeit

Dystoner Gang Langsamer, unsicherer Gang; Chorea Huntington u. an-


überlagerte choreoathetotische/ dere Choreaformen
dystone Bewegungen (Plantar-, (▶ 15.3), Dystonien
Dorsalflexion, Inversion, Drehun- (▶ 15.4), M. Wilson (▶ 15.5)
gen von Becken u. Rumpf)

Psychogene Häufig werden o. g. Bewegungs- Dissoziative Störung, hist-


Gangstör. stör. imitiert. Das Bein wird nach- rionische Persönlichkeit
geschleift o. nach vorn gescho-
ben. Gang wie auf Stelzen. Häu-
fig gute Beweglichkeit im Bett

3.11 Sensibilitätsstörungen
3.11.1 Reizsymptome
• Parästhesie: Brennen, Kribbeln, „Ameisenlaufen“, pelziges Gefühl, Wärme-
u. Kältemissempfindung. Radikuläre o. nervale Ausbreitung, bei längerem
Bestehen auch atypische Ausdehnung (z. B. Schulterschmerz bei Karpaltun-
nelsy.) → meist keine Durchblutungsstör., sondern neurogen bedingt: Nerv-
o. Wurzelirritationen (▶ 18), PNP (▶ 19), funikuläre Myelose (▶ 19.5.3), sen-
sibler Jackson-Anfall (▶ 11.1.5).
• Hoffmann-Tinel-Zeichen: Beklopfen der Nervenläsion führt zu elektrisieren-
den Missempfindungen im Versorgungsgebiet des geschädigten Nervs (z. B.
Karpaltunnelsy. ▶ 17.1.6).
• Neuralgie: Wellenförmiger, attackenweiser, „heller“, reißender/ziehender
Schmerz. Provokation durch Dehnung o. Druck von Nerv o. Wurzel (z. B.
Husten, Niesen o. Pressen bei Wurzelkompression ▶ 18) → z. B. Trigeminus-
neuralgie (▶ 5.2.1).
• Hyperpathie: Unangenehmer, oft brennender Schmerz bei leichten Berüh-
rungen. Einsetzen des Schmerzes mit Latenz, Ausbreitung auf benachbarte
Hautareale. Oft kombiniert mit Hypästhesie → partielle Nerven- (▶ 17.1),
ischämische Hinterstrang- (▶ 14.3) o. Thalamusläsionen.
126 3  Neurologische Leitsymptome  

• Kausalgie: Dumpfer, brennender, schlecht abgrenzbarer, bei Berührung ver-


stärkter, heftiger Schmerz. Trophische Veränderungen. Häufig betroffen: Nn.
medianus u. tibialis wegen des hohen Anteils vegetativer Fasern → partielle
Nervenläsionen (▶ 17.1).
• Stumpfschmerz: Sympt. wie bei Kausalgie, oft kombiniert mit Hyperpathie.
Ätiol.: Narbenneurom durch Fehlaussprossung regenerierender Nervenfasern
(▶ 6.4.3).
• Phantomschmerz: Hartnäckige, quälende Schmerzen durch Übererregbar-
keit der kortikalen Repräsentation des amputierten Glieds (▶ 6.4.3).

3.11.2 Ausfallsymptome
Def.: Verminderung o. Auslöschung von Berührungs-, Temperatur- o. Schmerz-
3 empfindung, Tasterkennen u. Tiefensensibilität, Vibrationsempfinden sowie La-
ge- u. Bewegungsempfinden (Gelenkstellung u. -bewegung. ▶ Tab. 3.17).

Tab. 3.17  Läsionslokalisation bei sensiblen Ausfallsymptomen


Läsionsort Klinik Ätiologie

Peripherer Hypästhetisches Areal ist wegen Überlappung Trauma (▶ 22), Kom-


Nerv der Schmerzfasern größer als hypalgisches u. pression (▶ 17), Kom-
gibt Versorgungsgebiet exakter an. MER u. partmentsy. (▶ 17.1.1)
Muskeltonus ↓, Schweißsekretionsstör. Reiz-
sympt., motorische Ausfälle, trophische Stör.,
begrenzt auf das Versorgungsgebiet

Hinter- Segmentale Hypästhesie o. -algesie (Dermato- Bandscheibenvorfall


wurzel me ▶ 1.1). Erhöhung des spinalen Drucks (Hus- (▶ 18), Neurinom
ten, Niesen, Pressen) führt zu Reizsympt. (▶ 14.5), degenerative
(Schmerzen, Hyperpathie). Bei isolierter Wurzel- Knochenveränderun-
schädigung fällt wegen Überlappung mit Nach- gen
barsegmenten nie das komplette Segment aus

Hinter- Reizdiskrimination, Tasterkennen u. Vibrati- A.-spinalis-post.-Sy.


stränge onsempfindung beeinträchtigt, häufig Par- o. (▶ 14.3.1), Tabes dor-
Hypästhesien. Sensible Ataxie. Romberg-Ver- salis (▶ 9.3.7), funiku-
such pos. läre Myelose
(▶ 19.5.3)

Tractus Kontralateral dissoziierte Sensibilitätsstör.: ver- Brown-Séquard-Sy.


spinotha- minderte Empfindlichkeit für Temperatur u. (▶ 14.1.1), A.-spinalis-
lamicus Schmerz bei erhaltener Berührungsempfind- ant.-Sy. (▶ 14.3.1)
lichkeit

Hirn- Ataxie o. Lähmung, meist in Komb. mit HN-Aus- Blutung (▶ 8), Isch­
stamm fällen. Häufig gekreuzte Sy. (▶ 7.2.7, ▶ Tab. 7.6). ämie (▶ 7), Tumor
Sensibilitätsstör. perioral u. an den Händen (▶ 13.6), Basilaris-
thrombose (▶ 7.2.7)

Thalamus Kontralateral sind alle Sensibilitätsqualitäten be- Ischämie, Blutung,


troffen; zusätzlich Hyperpathie, Choreoathetose, Tumor
Ataxie, evtl. Hemianopsie, Thalamusschmerz.
„Thalamushand“: Finger in Grundgelenken ge-
beugt, in Interphalangealgelenken überstreckt

Kortex Hemihypästhesie, Feinmotorikstör., Dysdiado- Ischämie, Blutung,


chokinese. Diskrimination, Tasterkennen, ein- Tumor
fache Berührungsempfindlichkeit oft intakt.
Keine Schmerzen
  3.12 Harnblasenstörungen  127

DD: Psychogen: Dissoziative Sinnes-, Sensibilitäts- o. Empfindungsstör. Häufig


Verteilung neurol.-anatomisch unwahrscheinlich, nicht den Dermatomen ent-
sprechend, oft alle sensiblen Qualitäten betroffen, jedoch bei der eingehenden Un-
ters. dann z. B. Reaktion auf Berührung während der Temperaturprüfung, im All-
tag adäquates Betasten eines Gegenstands. Meist weitere psychopath. Auffälligkei-
ten, belastendes Ereignis o. Konflikt am Beginn der Symptomatik.

3.12 Harnblasenstörungen
Definition
Für eine intakte Blasenfunktion ist das Zusammenspiel parasympathischer (Ent-
leerungsphase), sympathischer (Speicherphase), motorischer u. sensibler Innerva-
tion erforderlich (▶ Abb. 3.6). 3
Im spinalen Schock (▶  14.1.1) erst Detrusor-Areflexie mit Überlaufblase.
Später o. bei inkompletter Läsion Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie mit
Drang- o. Reflexinkontinenz (▶ Tab. 3.18).

Tab. 3.18  Merkmale von Harnblasenstörungen


Detrusorhyperre­ Detrusor-Sphink­ Detrusorhyporefle­
flexie ter-Dyssynergie xie

Synonym Kortikal enthemm- Spinale Reflexblase „Autonome“ Blase


te Blase

Läsionsort Suprapontin RM, suprasakral Cauda equina o.


periphere Nerven

Blasentonus Normal Spastisch Schlaff

Inkontinenz Dranginkontinenz Dranginkontinenz Überlaufinkonti-


nenz

Harndrang Imperativ Keiner Keiner

Restharn Keiner Mäßig Viel

Begleitsympt. Nykturie, Pollaki­s­ Oft unterbrochener Schwacher Harn-


urie Harnstrahl, Start- strahl, rezid. Harn-
schwierigkeiten, wegsinfekte, evtl.
Pollakisurie, rezid. Reithosenanästhe-
Harnwegsinfekte, sie, schlaffe Pare-
spastische Parapa- sen
rese

Urs. Frontaler Tumor, Querschnittsläh- Sakrales Trauma,


z. B. Falxmeninge- mung, Tumor, vask. Bandscheibenvor-
om, zentrale dege- o. zervikale Myelo- fall, Tumor, Spina
nerative Erkr. (Par- pathie, MS, MSA, bifida, PNP, GBS,
kinson-Sy.), NPH, konnatal postop. (v. a. nach
MS, Demenz, zere- Rektumresektion,
brovask. Erkr. Hysterektomie),
­Erkr. des kleinen
Beckens
128 3  Neurologische Leitsymptome  

Gyrus frontalis superior

pontines Miktionszentrum

3 afferent
efferent
L1 Sympathikus
Para-
Grenzstrang
sympathikus
somatische
Th 12
Innervation

L1

S3

L2
S4

Nn. splanchnici Ggl. hypogastricum N. pudendus


lumbales inferius

Plexus vesicalis
M. detrusor
vesicae

M. sphincter
internus
M. sphincter
externus

Abb. 3.6  Innervation der Blase [L106]

Diagnostik
• Anamnese:
– Frequenz der Blasenentleerung, Größe der Harnportion, unwillkürlicher
Harnabgang, Urge-Symptomatik.
– Gehfähigkeit, Desorientiertheit (findet Pat. – rechtzeitig – die Toilette?).
– Sexualfunktion (Erektion, Ejakulation?).
– Darmfunktion (Obstipation, Diarrhö, Kontinenz?).
– Medikamentenanamnese.
  3.12 Harnblasenstörungen  129

• Körperl. Unters.:
– Rektal-digitale Unters.
– Sensibilitäts- (insbes. Reithosengebiet, äußeres Genitale sowie perianal),
Pareseprüfung.
– Prüfung des Kremaster- (L1/L2), Gluteal- u. Analreflexes (S3–S5).
– Urologische, ggf. gynäkologische Unters.
• Labor: Urin (Urostix, Harnsediment, Urinkultur), Nierenretentionsparame-
ter.
• Apparative Unters.:
– Restharnbestimmung (sonografisch o. durch Einmalkatheterismus).
– Harnstrahlmessung (Uroflow) u. Blasendruckmessung (Urodynamik).
– Urethrozystoskopie.
– Rö u. Sono von Niere u. ableitenden Harnwegen.
– Elektrophysiologische Zusatzdiagn.: EMG (▶ 2.5) aus dem M. sphincter 3
ani externus, Bulbus-cavernosus-Reflex (S2–S5), Hinweis auf suprasakrale
Stör. durch tibialis- u. pudendusevozierte Potenziale.

Differenzialdiagnosen
• Stressinkontinenz: Unwillkürlicher Urinabgang bei Erhöhung des intraabdo-
minellen Drucks, z. B. nach Entbindungen, bei Zystozele o. Descensus uteri.
Ther.: α-Sympathomimetika zur Unterstützung des M. sphincter int. (z. B.
Imipramin).
• Nykturie → Herzinsuffizienz.
• Inkontinenz → Prostatahypertrophie, Zystitis, Blasentumoren, Blasensteine.
Therapie
Detrusorhyperreflexie:
• Blasentraining.
• Medikamentös: Anticholinergika über 4–6 Wo., z. B.
– Oxybutynin, 10–15 mg/d p. o.,
– Trospiumchlorid 3 × 15 mg/d p. o.,
– begleitend regelmäßige Restharnkontrolle.
• Versagen konservativer Maßnahmen: Ggf. Botulinumtoxin-Injektion in den
Detrusor, chron. Stimulation der Sakralwurzel S3, Harnblasenaugmentation
mit Dünndarm.
Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie:
• Sauberer Einmalkatheterismus.
• Medikamentös: Anticholinergika (s. o.), evtl. Antispastika, z. B. Baclofen 3 ×
5–25 mg/d p. o.
• Ggf. invasive Maßnahmen: Botulinumtoxin-Injektionen, sakrale Vorderwur-
zelstimulation (SARS), Sphinkterotomie, Blasenaugmentation, Ileumkonduit-
Anlage.
Detrusorhyporeflexie:
• Suprapubische Dauerableitung.
• Medikamentös: Cholinergikum (z. B. Bethanechol bis 4 × 25–50 mg/d p. o.) u.
Alphablocker (Öffnung des Blasenhalses), z. B. Doxazosin bis 1 × 2–8 mg/d
p. o., Alfuzosin 3 × 2,5 mg/d p. o.
• Ggf. invasive Verfahren: chron. Stimulation der Sakralwurzel S3.
• Selbstkatheterisierung.
130 3  Neurologische Leitsymptome  

3.13 Schweißsekretionsstörungen
Definition
Stör. der Sudomotorik (ICD-10: G90.8) in der Area hypothalamica post., sympa-
thische Efferenzen zu ekkrinen Schweißdrüsen mit ACh als Hauptüberträgerstoff.

Ätiologie
• Hypo-/Anhidrosis:
– Generalisiert: Intox. (z. B. Botulismus), MSA u. isolierte autonome Insuff.,
M. Parkinson, medikamentös (z. B. Anticholinergika).
– Lokalisiert: PNP (v. a. diabetogen), Grenzstrangläsionen (oberer Quad-
rant: Horner-Sy. ▶ 3.1.5; untere Quadranten: z. B. Syringomyelie, retrope-
ritoneale Raumforderung), Rückenmarks-/Hirnstammläsion.
3 • Prim. Hyperhidrosis: Genese unklar, familiär gehäuft; günstige Prognose,
zumeist Rückbildung > 50. Lj.; v. a. fazial, axillär, palmar, plantar.
• Sek. Hyperhidrosis: U. a. bei Infektionen, Neoplasien, endokrinologischen
Erkr. wie Hypoglykämie, Hyperthyreose, Phäochromozytom (meist generali-
siert), medikamentös/toxisch.

Diagnostik
• Thermoregulationstest: Sudomotorische Aktivierung der Temperaturregula-
tion im ZNS durch Erhöhung der Kerntemperatur mit Lindenblütentee u.
1.000 mg ASS; alternativ Wärmekammer, Erfassung der Schweißantwort
(Umschlagen der Farbe durch Auftragen von Alazarin-Natriumsulfat).
• Sympathischer Hautreflex (mSSR = magnetic evoked sympathetic skin res-
ponse): Unters. der durch Schweißsekretion hervorgerufenen Spannungsän-
derung („galvanischer Hautreflex“); Reizung anhand von Magnetstimulation.
• Quantitativer Sudomotor-Axon-Reflex-Test (QSART):
– Mengenmäßige Unters. der Funktion peripherer, postganglionärer, cho-
linerger Sudomotoren.
– Anbringung einer Stimulationskammer (luftdicht abgeschlossen) auf die
betreffende Körperregion: Stimulation mit einem Cholinergikum (z. B.
ACh-Iontophorese) führt zur Aktivierung benachbarter Schweißdrüsen
(Axonreflex).
• Ninhydrin-Test.
Therapie
• Möglichst kausale Behandlung.
• Antihidrotika basierend auf Aluminiumverbindungen (→ mechanische Blo-
ckade der Sekretion).
• Systemisch evtl. Bornaprin 2–3 mg/d (Nutzung der anticholinergen Wir-
kung), bei lokalisierter Hyperhidrosis ggf. Botulinumtoxin-Injektion.
  3.14 Neuropsychologische Symptome  131

3.14 Neuropsychologische Symptome
3.14.1 Aphasien
Definition
Zentrale Sprachstör. nach abgeschlossener Sprachentwicklung (▶ Tab. 3.19).

Tab. 3.19  Aphasische Syndrome (Unters. ▶ 1.2.2)


Syndrome Spontan­ Nach­ Wort­ Benen­ Lesen Schrei­ Lokalisation
(A. = Apha­ sprache spre­ ver­ nung ben der Läsion
sie) chen ständnis

Broca-A. Nicht
flüssig,
– + +/– – – Gyrus fron-
talis inferior
3
phone- u. frontales
matische Marklager,
Parapha- Insel
sien,
Agram-
matismus

Wernicke-A. Flüssig, – – – – – Gyrus tem-


phone- poralis
matische superior u.
u. seman- angrenzen-
tische Pa- der Parietal-
raphasi- lappen
en, Neo-
logismen,
Para-
gramma-
tismus

Leitungs-A. Flüssig, – ++ +/– + +/– Gyrus supra-


Parapha- marginalis
sien o. prim.
Hörkortex
u. Insel

Globale A. Nicht – – – – – Komb. der


flüssig, drei vorge-
Automa- nannten
tismen,
Stereoty-
pien

Transkorti- Nicht ++ ++ +/– + – Neben


kale motori- flüssig Broca-Areal
sche A.

Transkorti- Flüssig, ++ – – – – Parieto-


kale sensori- Echolalie temporale
sche A. Verbindun-
gen

Transkorti- Nicht + – – – – Komb. der


kale ge- flüssig beiden
mischte A. oben ge-
nannten
132 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.19  Aphasische Syndrome (Unters. ▶ 1.2.2) (Forts.)


Syndrome Spontan­ Nach­ Wort­ Benen­ Lesen Schrei­ Lokalisation
(A. = Apha­ sprache spre­ ver­ nung ben der Läsion
sie) chen ständnis

Amnestische Flüssig, + + – +/– +/– Hinterer


A. Wortfin- Temporal-,
dungs- unterer Pa-
stör. rietallappen

Ätiologie
Schädigung der Sprachregion, z. B. bei Schlaganfall (▶  7), Hirntumor (▶  13.6),
SHT (▶ 8), Hirnatrophie (▶ 16), Enzephalopathie (▶ 24).
3
Differenzialdiagnose
• Dysarthrie (▶ 3.2).
– Zentrale (kortikale) o. periphere (bulbäre) Lähmung der Sprechmus-
kulatur. Sprachverständnis, Grammatik, Schreiben u. Lesen sind nor-
mal.
– Zerebelläre Dysarthrie: Skandierendes Sprechen (▶ 3.2).
– Dysarthrie bei dystonen u. choreatischen Stör. sowie Parkinson-Sy.
• Stimmtremor: Isoliert u./o. bei essenziellem Tremor.
• Stottern: Entwicklungsstottern beginnend 3.–6. Lj, genetische Disposition,
gehäuft nach frühkindl. Hirnschädigungen; selten nach SHT, bei Parkinson-
Sy, bei seelischen Stör.

3.14.2 Apraxien, weitere neuropsychologische Symptome


• Apraxie: Zentrale Stör. in der Auswahl u. folgerichtigen Organisation von
Bewegungselementen o. von Einzelbewegungen zu Handlungsabfolgen bei
erhaltener Kraft u. Koordination (▶ Tab. 3.20). Läsionsort: Verbindungen
zum motorischen Assoziationskortex, li Temporoparietalregion.
• Alexie: Lesen ist nicht, Buchstabieren u. Schreiben sind möglich. Leitungs-
unterbrechung der visuellen Assoziationskortex beider Hirnhälften, Läsion
im Bereich der Einmündung der Kommissurenfasern in den li Okzipital-
kortex.
• Leitungsstör.: Pat. können Handstellung des Untersuchers nicht imitieren.
Unterbrechung der Verbindung zwischen dem Assoziationskortex beider
Hirnhälften.
• Akalkulie: Rechenstör. bei linksparietaler Läsion.
• Neglekt: Nichtbeachtung der li, erkrankten Körperhälfte, manchmal auch der
li Raumhälfte; i. d. R. nach rechtsparietaler Läsion.
• Anosognosie: Nichtwahrnehmung o. Bagatellisierung eines neurol. Ausfalls;
nach rechtsparietaler Läsion.
• Visuokonstruktive Stör.: Stör. visueller Raumwahrnehmung u. visueller
Raumoperationen. Bei Demenzen u. rechtshämisphärischen Läsionen.
  3.15 Amnesie  133

Tab. 3.20  Apraxien


Form Definition Untersuchung Läsion

Ideomo- Zerfall der Hand- Ausdrucksbewegungen, z. B. Win- Sprachdomi-


torisch lungsgestalt trotz in- ken. Gebrauch vorgestellter Ob- nante Hemi-
takten Handlungs- jekte, z. B. aus einem Glas trinken, sphäre
entwurfs. Fragmen- Kamm benutzen. Imitation be-
tarische Handlungs- deutungsloser Bewegungen, z. B.
abläufe mit Handrücken auf die Stirn legen.
Auslassen einzelner Befolgen komplexer Bewegungs-
Anteile o. vorzeiti- abläufe, z. B. mit dem Zeigefinger
gem Abbruch auf re Ohrläppchen zeigen

Ideato- Unfähigkeit, logi- Z. B. Flasche aufschrauben, Glas Temporoparie-


risch sche Handlungsab- einschenken, Trinken tal, sprachdo-
läufe korrekt durch- minante Hemi- 3
zuführen sphäre

Bukko­ Gesichtsapraxie. Stör. der Koordination des Schluck- u. Sprechakts (bei


fazial 80 % der Aphasien)

3.15 Amnesie
3.15.1 Definition
Stör. von Gedächtnis- u. Lernleistungen.

3.15.2 Ätiologie
Bilaterale Läsion von limbischem System, Thalamus, Corpora mamillaria, dienze-
phalem System o. deren Verbindungen, z. B. akut bei Hirninfarkten im Versor-
gungsgebiet der ACP, der polaren Thalamusarterien u. prox. ACA (▶ 7), posttrau-
matisch, Aneurysmablutung im Bereich der A. communicans ant. (▶ 8.2.4); sub-
akut u. meist persistierend bei Wernicke-Korsakow-Sy. (▶  24.8.1), Enzephalitis
(▶ 9.3.1); langsam progredient bei Demenzen (▶ 23.2).
• Kurzzeitgedächtnisstör.: Stör. der Merkfähigkeit. Gestört sind Alltagsaufgaben
wie Kopfrechnen, da hier das Kurzzeitgedächtnis als Arbeitsgedächtnis fungiert.
• Langzeitgedächtnisstör. betreffen die Fähigkeit, Informationen aus dem ge-
speicherten Schatz der Erinnerungen abzurufen. Unterteilung in Stör. des
Frisch- u. des Altgedächtnisses.
– Episodisches Gedächtnis: Erinnerungen an Situationen, Szenen aus der
Lebensgeschichte mit autobiografischem Bezug u. emotionalem Gehalt.
– Semantisches Gedächtnis: Wissensschatz einer Person (wie im Lexikon).
– Perzeptuelles Gedächtnis: Erkennen von vertrauten Gegenständen u. Ob-
jekten.
– Prozedurales Gedächtnis: Automatisierte Fertigkeiten, die unbewusst ab-
laufen, aber bei nicht dementen Menschen jederzeit durch bewusstes Ein-
greifen modifiziert werden können.
134 3  Neurologische Leitsymptome  

• Retrograde/anterograde Amnesie: Gedächtnisstör. in Abhängigkeit vom Zeit-


punkt des Eintritts des schädigenden Ereignisses.
– Retrograde Amnesie: Informationen, die im Zeitraum vor Eintritt der zur
Amnesie führenden Läsion gespeichert wurden, können nicht erinnert
werden.
– Anterograde Amnesie: Stör. des Neugedächtnisses nach Eintritt der Läsi-
on. Bei Läsion dienzephaler o. limbischer Strukturen, insbes. bei bilatera-
ler Schädigung.

3.15.3  Transiente globale Amnesie (TGA, amnestische


Episode)
3 Epidemiologie
Inzidenz 5–10/100.000 Einwohner jährlich, 75 % der Attacken im 50.–70. Lj., bis
zu 18 % der Betroffenen erleiden mehr als eine TGA.

Ätiologie
• Unbekannt. Vermutlich passagere Funktionsstör. des mediobasalen Tempo-
rallappens unter Einschluss beider Hippocampi.
• Keine Assoziation mit vask. Erkr.
• Möglicher Zusammenhang zwischen TGA u. Migräne, da „Spreading De-
pression“ gemeinsames pathophysiol. Korrelat.
• Häufig Auftreten nach valsalvaähnlichen Atemmustern mit erhöhtem in-
trathorakalem Druck, dadurch möglicherweise reduzierter venöser Rück-
strom zum Herzen u. intrakranielle venöse Hypertonie.
• Assoziation mit einer konsekutiven passageren venösen Ischämie gedächtnis-
relevanter Areale.
• Gelegentlich vorausgehendes emotional belastendes Erlebnis.
Klinik
• Akut einsetzende Neugedächtnisstör., i. d. R. voll ausgeprägte anterograde
Amnesie u. weniger ausgeprägte retrograde Amnesie, dadurch keine Speiche-
rung neuer Gedächtnisinhalte möglich.
• Desorientiertheit zu Zeit u. Situation bei erhaltener Orientierung zur Person.
• Pat. sind wach, kontaktfähig, ratlos, beunruhigt, stellen wiederholt Fragen
nach der Zeit, situativen Umständen, sind nicht in der Lage, die Gedächtnis-
stör. wahrzunehmen.
• Abklingen: TGA innerhalb von 1–24 h (Mittel 6–8 h), mnestische Lücke
(mehrere Stunden), retrograde Amnesie (0,5–8 h).

Diagnostik
• Klin. Diagnose: Bei Erfüllung der Diagnosekriterien (▶ Tab. 3.21) keine wei-
tere Diagn. erforderlich.
• Bei unvollständiger Erfüllung der Diagnosekriterien kraniales MRT (bester
Zeitpunkt 24–72 h nach der TGA, MR-tomografisch Nachweis von punktuel-
len DWI/T2-Läsionen im lat. Hippocampus), bei KI CCT, ggf. neurovask. Sono.
• Unauffälliges EEG o. nur unspezifisch verändert (gelegentlich Theta- u. Del-
tawellen in den temporalen Ableitungen).
• Neuropsychol. Testbatterien: Signifikante Einschränkungen des nonverbalen
Langzeitgedächtnisses noch Tage nach Ereignis.
  3.16 Psychopathologische Symptome  135

• DD:
– Amnestische epileptische Attacken: Dauer < 1 h, > 2 Attacken/6 Mon., ty-
pischerweise nach dem Erwachen aus dem Schlaf auftretend. In der Ana-
mnese Hinweise für klassische komplex partielle Anfälle.
– Commotio cerebri: Trauma, Prellmarken, vorausgehende Bewusstlosigkeit.
– Amnesie nach zerebraler Angio v. a. im Vertebralisstromgebiet: Versor-
gung der hinteren Abschnitte des Hippocampus aus der ACP.
– Intox.: Anamnese, Somnolenz, β-EEG, toxikologisches Screening.
– Initialstadium einer Herpesenzephalitis: Fieber, subakutes Einsetzen, be-
gleitende Sprachstör., weitere fokal neurol. Auffälligkeiten.
– Blutung/Ischämie im Bereich von Hippocampus u. Thalamus: Somnolenz,
weitere kognitive u. fokal-neurol. Defizite.
– Psychogene Gedächtnisstör.: Jüngere Personen bei emotionalem Trauma,
meist nur retrograde Amnesie. 3
Tab. 3.21  Diagnosekriterien der transienten globalen Amnesie (amnestischen
Episode). Caplan (1985), Hodges und Warlow (1990a), Leitlinien der Deut­
schen Ges. für Neurologie 2012
• Akut beginnende u. ausgeprägte Neugedächtnisstör.
• Dauer mind. 1 h
• Innerhalb von 24 h Rückbildung der wesentlichen klin. Symptomatik (Ausnahme:
Einschränkungen des nonverbalen Langzeitgedächtnisses in der Testdiagn.)
• Keine fokal-neurol. Sympt.
• Keine sonstigen kognitiven Defizite
• Keine Bewusstseinsstör.
• Keine Desorientierung zur Person
• Kein vorangehendes Trauma o. Epilepsie
Klinische Symptome, die gegen eine transiente globale Amnesie sprechen:

• Somnolenz
• Starke Kopfschmerzen
• Erbrechen
• Verwirrtheit
• Inkomplette Rückbildung nach mehr als 24 h

Therapie und Prognose


• Ambulant: Wenn klin. Diagnose sicher u. Pat. unter Aufsicht einer Bezugs-
person bleibt.
• Stationär: Bei differenzialdiagn. Unklarheit u. unsicherer Abgrenzung gegen-
über transienter epileptischer Amnesie stationäre Überwachung für mind.
24 h. Rezidive in 18 %.

3.16 
Psychopathologische Symptome
3.16.1 Praktisches Vorgehen
In enger Anlehnung an: AMDP-System, aktuell 8. Auflage, 2007.
Zur psychiatrischen Diagnosefindung ▶ Tab. 3.22.
136 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.22  Psychiatrische Diagnosefindung


1. Schritt Psychiatrisches Interview, Fremdanamnese

2. Schritt Beobachtung u. Dokumentation des psychopathol. Befunds (z. B. nach


AMDP)

3. Schritt Zusammenfassung des klin. Befunds in eine Sy.- o. Querschnittsdiagnose

4. Schritt Unter Mitberücksichtigung somatischer u. apparativer Befunde sowie des


zeitlichen Verlaufs Diagnosestellung u. Klassifikation nach ICD-10/DSM-5

Klinisches Beispiel
Psychiatrisches Interview: 76-jährige Pat. stellt sich ambulant wegen eines de-
pressiven Verstimmungszustands mit wiederkehrenden Angstzuständen vor. Die
3 Angehörigen berichten von zunehmenden Gedächtnisstör. u. Schwierigkeiten bei
Planung u. Organisation von Haushaltstätigkeiten seit mind. 6 Mon.
Psychopathol. Befund:
• Bewusstseinsklare, zu Person u. Situation voll, örtlich u. zeitlich unscharf ori-
entierte Pat.
• Auffassung, Konz. u. Merkfähigkeit leichtgradig gemindert.
• Formales Denken leichtgradig verlangsamt u. umständlich sowie durch Grü-
beln gekennzeichnet.
• Keine inhaltlichen Denkstör., Sinnestäuschungen o. Zwänge.
• Affektiv erscheint die Pat. leichtgradig bedrückt, ängstlich u. ratlos. Sie be-
klagt Insuffizienzgefühle.
• Keine wesentliche Antriebsstör., keine zirkadianen Besonderheiten.
• Beginnender sozialer Rückzug wird berichtet, kein Anhalt für Suizidalität.
Querschnittsdiagn.:
• Depressiv ängstliches Sy., V. a. kognitive Beeinträchtigung.
• Psychologische Leistungsdiagn. u. neuropsychologische Unters.: Leichte ko­
gnitive Stör. insbes. in den Bereichen Merkfähigkeit, Sprachproduktion u. vi-
suokonstruktive Leistungen, z. B. MMST 23/30.
• Somatischer Befund u. Labordiagn.: Kein Hinweis auf internistisches Krank-
heitsbild.
• Neuroradiologische Diagn.: im kranialen MRT temporo-parietale Atrophie.
Diagn.:
• Depressiv ängstliches Sy. im Rahmen einer beginnenden demenziellen Erkr.,
am ehesten i. S. einer Alzheimer-Krankheit (ICD-10 F 00.1, F06.3).
• Alternativ: Anpassungsstör. mit Angst u. depressiver Reaktion gemischt bei
beginnender demenzieller Erkr., am ehesten i. S. einer Alzheimer-Krankheit
(ICD-10 F 001, F 43.22).
  3.16 Psychopathologische Symptome  137

3.16.2 Bewusstseins- und Orientierungsstörung

Bewusstseinsstör. machen eine eingehende organische Abklärung dringend


notwendig. Abgesehen von der Bewusstseinsverschiebung sind funktionelle
psychische Stör. nicht mit Veränderungen des Bewusstseins verbunden. Aus-
schluss: Intox., neurol./internistisches Krankheitsbild.

Hauptmerkmale
• Bewusstsein: In Psychologie, Medizin u. Philosophie unterschiedlich verstan-
den u. schwer zu definieren, am ehesten zu umschreiben mit der subjektiven
Qualität unserer psychischen Vorgänge. Das Wissen darüber, dass es das
Subjekt ist, welches die Inhalte erlebt.
• Orientierung: Wissen eines Menschen über Zeit, Ort, Situation u. Person. 3
Quantitative Bewusstseinsstörung
• Benommenheit: Dösige Schläfrigkeit, bei der der Betroffene immer wieder
auf das Gespräch zentriert werden kann.
• 
Somnolenz: Schläfrigkeit, durch äußere Reize wiederholt für kurze Zeit zu
durchbrechen.
• Sopor: Nur starke Reize lösen Reaktion aus, z. B. Schmerzreize.
• Koma: Betroffener auch durch stärkste Reize nicht erweckbar, Augen sind
geschlossen.

Qualitative Bewusstseinsstörung
Bewusstseinseintrübung: Qualitative Beeinträchtigung der Bewusstseinsklarheit.
Pat. kann verschiedene Aspekte der eigenen Person nicht mehr sinnvoll miteinan-
der verbinden, entsprechend sind Handeln u. Mitteilung gestört. Vorkommen:
Z. B. Delir o. frisch operierte Pat., oft verbunden mit Personenverkennungen, Un-
ruhe, Ablenkbarkeit, Nesteln, Stör. der Auffassung.
Bewusstseinseinengung: Das Bewusstsein des Betroffenen erscheint wie ein eng-
winkliger u. wenig beweglicher Lichtkegel auf einige wenige Bereiche zentriert.
Vorkommen: Z. B. bei abnormen Erlebnisreaktionen, nach Autounfällen, Däm-
merzustand bei Epilepsien.
Bewusstseinsverschiebung: Subjektiver Eindruck, die Außenwelt intensiver
wahrzunehmen, einen erweiterten Erfahrungshorizont zu haben. Vorkommen:
Im Drogenrausch, nach Hypnose, bei schizophrenen o. manischen Sy.

Hauptmerkmale der Orientierungsstörung


• Zeitliche Orientierung: Datum (Tag, Monat, Jahr), Wochentag u./o. Jahreszeit.
• Örtliche Orientierung: Gegenwärtiger Aufenthaltsort.
• Situative Orientierung: Bedeutungs- u. Sinnzusammenhang der gegenwärti-
gen Situation.
• Zur eigenen Person: Wissen um den eigenen vollständigen Namen, die aktu-
elle persönliche o. lebensgeschichtliche Situation.
138 3  Neurologische Leitsymptome  

3.16.3 Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen


Hauptmerkmale
Auffassung:
• Fähigkeit, Wahrnehmungen in ihrer Bedeutung zu begreifen u. sinnvoll mit-
einander zu verbinden.
• Orientierende Prüfung: Erklärung von Sprichworten o. Nacherzählen einer
Fabel; alternativ Unterschiedserklärungen, z. B. Treppe – Leiter, See – Fluss.
Konzentration:
• Fähigkeit, die Aufmerksamkeit ausdauernd zu fokussieren.
• Orientierende Prüfung: Einfache Rechnungen o. Rückwärtsbuchstabieren (z. B.
Serial 7: 100–7, 93–7, 86–7 etc., Rückwärtsbuchstabieren von RADIO).
Merkfähigkeit:
3 • Fähigkeit, Eindrücke über 10 Min. zu behalten.
• Orientierende Prüfung: Nennen von drei Begriffen, z. B. Zahl 34, Stadt Oslo
u. Gegenstand Aschenbecher. Aufforderung an den Pat., die Begriffe einmal
nachzusprechen u. sich einzuprägen. Erneutes Abfragen nach 10 Min.
Gedächtnis:
• Fähigkeit, Eindrücke länger als 10 Min. zu speichern u. Erlerntes aus dem Ge-
dächtnis abzurufen.
• Prüfung durch Erfragen wichtiger u./o. alltäglicher Lebensereignisse, z. B.
Heirat, Abendessen des Vortags. Abfragen der unter Merkfähigkeit geprüften
Begriffe nach mehr als 10 Min.

Spezielle Symptome
Konfabulation: Stör. der Merkfähigkeit mit erheblichen Gedächtnislücken, die
mit spontan produzierten, immer wieder neuen Inhalten gefüllt werden, die der
Betroffene für Erinnerungen hält. Orientierende Prüfung: Bei Verdacht mehrma-
liges Abfragen eines Ereignisses. Vorkommen z. B. bei jeder mnestischen Stör.,
v. a. bei Korsakow-Sy.
Paramnesien: Vermeintliches Wiedererkennen (déjà-vu) o. Fremdheit (jamais-vu).
Ekmnesie: Stör. des Zeiterlebens, Vergangenheit wird als Gegenwart erlebt. Vor-
kommen: Bei organisch bedingten psychischen Stör.
Hypermnesie: Steigerung der Erinnerungsfähigkeit. Z.B. bei Fieber, drogenindu-
ziert, psychischen Ausnahmezuständen.

3.16.4 Denkstörungen
Formale Denkstörungen
Def.: Gestört ist der Gedankenablauf, im Sinne von Denkgeschwindigkeit, Kohä-
renz u. Zielgerichtetheit der Gedankengänge.
Klinik:
! Auffälligkeiten können auch die Sprache betreffen, mit grammatikalischen
Fehlern bis hin zum Sprachzerfall bei schizophrenen Pat. (Schizophasie).
• Denkhemmung: Pat. erlebt sein Denken als blockiert, gebremst. Bes. häufig
im Rahmen depressiver Stör.
  3.16 Psychopathologische Symptome  139

• Verlangsamung: Das Denken erscheint dem Untersucher schleppend. Im


Extremfall ist ein Gespräch wegen übermäßig langer Pausen kaum möglich.
• Umständlich: Wesentliches kann nicht vom Unwesentlichen unterschieden
werden, zwischen den einzelnen Aussagen besteht jedoch ein inhaltlicher Zu-
sammenhang.
• Eingeengt: Verhaftetsein an bestimmten Inhalten, wenigen Themen, Fixie-
rung auf wenige Zielvorstellungen.
• Perseveration: Wiederholung gleicher Denkinhalte, Haftenbleiben an Worten
o. Angaben, die vorher gebraucht wurden, nun aber nicht mehr sinnvoll sind.
• Grübeln: Dauerndes Beschäftigtsein mit bestimmten, meist neg. Gedanken,
oft die aktuelle Lebenssituation betreffend.
• Gedankendrängen: Pat. ist subjektiv dem Druck vieler Gedanken ausgelie-
fert. Bes. häufig im Rahmen maniformer Stör.
• Ideenflucht: Vermehrung von Einfällen, die nicht bis zu Ende geführt wer- 3
den. Das Ziel des ursprünglichen Gedankengangs geht zwischenzeitlich
durch neue Assoziationen verloren o. wechselt ständig. Bes. häufig im Rah-
men maniformer Stör.
• Vorbeireden: Obwohl eine Frage richtig verstanden wurde, wird eine inhalt-
lich unpassende Antwort gegeben. Bes. häufig im Rahmen schizophrener Er-
kr. In der Beurteilung ist der Aspekt der richtig verstandenen Fragen essenzi-
ell, daher explizit nachfragen!
• Gedankenabreißen, -sperrung: Plötzlicher Abbruch eines sonst flüssigen Ge-
dankenablaufs o. des Sprechens ohne erkennbaren Grund. Bes. häufig im
Rahmen schizophrener Erkr. Cave: Absence, Bewusstseinsstör. (▶ 3.16.2).
• Inkohärenz, Zerfahrenheit: Denken u. Sprechen des Pat. verlieren für den
Untersucher den verständlichen Zusammenhang. Im Extremfall produziert
der Pat. einzelne, scheinbar zufällig durcheinander gewürfelte Gedanken-
bruchstücke. Subjektiv kann ein zerfahrener Gedankengang dem Betroffenen
noch sinnvoll erscheinen, z. B. wenn dieser von anderen psychopath. Sympt.,
etwa Halluzinationen o. Ich-Stör., beeinflusst wird. Überwiegend bei orga-
nisch bedingten psychischen Stör. o. schizophrenen Psychosen.
• Neologismen: Wortneubildungen, die der sprachlichen Konvention nicht
entsprechen u. oft nicht unmittelbar verständlich sind. Bes. häufig im Rah-
men schizophrener Erkr.

Inhaltliche Denkstörungen
Überwertige Ideen
Aus gefühlsmäßig stark besetzten Erlebniskomplexen hervorgehende Ideen, die
das gesamte Denken in unsachlicher/einseitiger Weise beherrschen. Überwertige
Ideen werden meist verbissen u. hartnäckig vertreten, Nachteile u. Anfeindungen
werden billigend in Kauf genommen. Vorkommen: In allen Lebensbereichen,
v. a. aber in Weltanschauung, Politik, Wissenschaft. Insgesamt steht dies dem ge-
sunden Erleben nahe, Übergänge z. B. von der querulatorischen Fehlhaltung zum
Querulantenwahn sind möglich.
140 3  Neurologische Leitsymptome  

Wahn

• Wahn als Sympt. ist Hinweis auf eine schwere psychische Stör.
• Vorkommen: Bei organisch bedingten psychischen Stör., Abhängig-
keitserkr., affektiven u. schizophrenen Psychosen.

Entwicklung, Ausprägung u. affektive Beteiligung:


• Wahnidee: Objektiv falsche Beurteilung der Realität, an der mit unerschüt-
terlicher Gewissheit festgehalten wird. Widersprüche zu eigenen früheren Er-
fahrungen bzw. dem Erleben, Wissen u. Glauben der gesunden Mitmenschen
werden vom Betroffenen nicht mehr berücksichtigt.
3 • Wahnstimmung: Gefühl des Unheimlichen, Bedeutungsvollen, Veränderten;
der Eindruck des Pat. „etwas sei im Gange“. Überwiegend ängstlich besetzt,
gelegentlich euphorisch zuversichtlich. Ausgangssituation bei der Entstehung
von Wahnideen.
• Wahneinfall: Übergang der unspezifischen u. vieldeutigen Wahnstimmung
zur wahnhaften Überzeugung („jetzt weiß ich, was hier los ist …“).
• Wahnwahrnehmung: Richtige Sinneswahrnehmungen werden in den Wahn
einbezogen u. erhalten eine abnorme Bedeutung. Meist auf die eigene Person
bezogen.
• Wahndynamik: Bezeichnet den Grad der affektiven Beteiligung, mit der ein
Mensch an seiner Wahnerkr. beteiligt ist.

Eine hohe Wahndynamik ist ein unspezifischer Hinweis auf eine Selbst-
o. Fremdgefährdung des Pat. u. macht eine Behandlung dringlich!

• Systematisierter Wahn: Ausgestaltung einzelner Wahnideen durch logische o.


paralogische Verknüpfungen zu einem zusammenhängenden Wahngebäude.
• Erklärungswahn: Wahn, mit dem ein Pat. seine Halluzinationen erklärt.
Häufige Wahnthemen:
• Beziehungswahn: Menschen u. Dinge in der Umwelt werden als auf die eige-
ne Person bezogen erlebt. In TV, Radio o. Zeitung seien Dingen speziell sei-
netwegen veröffentlicht worden, ein Blick, ein Lachen beziehe sich zweifellos
auf den Pat.
• Bedeutungswahn: Einem zufälligen Erlebnis wird eine bes. Bedeutung beige-
messen.
• Beeinträchtigungs-/Verfolgungswahn: Der Betroffene erlebt sich als Ziel
von Beeinträchtigung o. Verfolgung.
– Beeinträchtigungswahn: Typischerweise erlebt der Betroffene seine Um-
welt als beleidigend, herabsetzend, es werde ihm/ihr Schaden zufügt.
– Verfolgungswahn: Menschen in der Umgebung des Betroffenen seien sei-
ne Verfolger, deren Drahtzieher o. Hintermänner, er/sie werde gefilmt,
abgehört, mit technischen Apparaten überwacht.
• Eifersuchtswahn: Wahnhafte Überzeugung, vom Partner betrogen o. hinter-
gangen zu werden. M 2–3 × häufiger als F. Klinik: Groteske Anschuldigungen
bzgl. der Treue des Partners werden ausgesprochen. Die begleitenden Aggres-
sionen richten sich dabei gegen den Partner, nicht gegen den/die vermeintli-
chen Nebenbuhler.
  3.16 Psychopathologische Symptome  141

• Schuldwahn: Pat. ist überzeugt, gegen Gott, die Gebote o. gegen Gesetze ver-
stoßen zu haben.
• Nihilistischer Wahn: Der Pat. glaubt, er lebe nicht mehr wirklich, nur zum
Schein. Er leugnet die eigene Existenz, z. T. auch die der Angehörigen.
• Verarmungswahn: Der Betroffene wähnt seine finanzielle bzw. materielle Le-
bensgrundlage als bedroht o. verloren gegangen.
• Hypochondrischer Wahn: Die eigene Gesundheit wird als bedroht o. verlo-
ren erlebt.
• Größenwahn: Wahnhafte Selbstüberschätzung bis hin zur Identifizierung mit
berühmten Persönlichkeiten der Gegenwart o. Vergangenheit. Inhalte kön-
nen im Bereich des Möglichen bleiben, gehen aber oft darüber hinaus. The-
men: Ungeheure Machtfülle, unermesslicher Reichtum, Befähigung zur revo-
lutionären Weltverbesserung, Pat. hält sich für einen Erlöser, Retter, Gott,
dies wird mit Eingebungen u. Weisungen überirdischer Mächte begründet. 3
3.16.5  Angst
• Angst: Unbestimmtes, ungerichtetes Gefühl des Unwohlseins, erhöhter allg.
Anspannung, verbunden mit vegetativen Veränderungen (Schwitzen, Puls-,
RR-Erhöhung). Teils körperl. für den Betroffenen lokalisierbar (im Bauch, als
Enge am Hals, etc.). Vorkommen: Im Rahmen einer Angsterkr. meist als Pa-
nik o. generalisierte Angst o. unspezifisch bei nahezu jeder psychischen Stör.;
bei Gesunden in Form von Furcht.
• Furcht: Gerichtete ängstliche Anspannung, etwa ein bestimmtes Ereignis/Si-
tuation betreffend.
• Misstrauen: Ängstlich unsicheres Beziehen von Wahrnehmungen auf die ei-
gene Person.
• Hypochondrische Gedanken: Sachlich nicht begründbare, beharrliche Sor-
gen um die eigene Gesundheit.
• Phobien: Gerichtete Angst vor Situationen o. Objekten mit der Entwicklung
von Vermeidungsverhalten.

3.16.6 Zwang
Vorkommen: Als Zwangserkr. o. als Begleitsympt. im Rahmen anderer psychi-
scher Stör. (z. B. organisch bedingte, depressive o. schizophrene Erkr.).
• Zwangsideen: Aufdrängen von nicht unterdrückbaren Denkinhalten, die
vom Pat. selbst als sinnlos o. in ihrer Penetranz als quälend erlebt werden.
• Zwangsimpulse: Gegen inneren Widerstand bestehende, sich aufdrängende
Impulse, bestimmte Handlungen durchzuführen.
• Zwangshandlungen: Handlungen, die aufgrund von Zwangsimpulsen o. -ge-
danken immer wieder durchgeführt werden müssen u. vom Betroffenen als
unsinnig empfunden werden (z. B. Wasch-, Kontrollzwang), bei Unterlassung
kommt es jedoch zu Angst u. Anspannung.
142 3  Neurologische Leitsymptome  

3.16.7 Sinnestäuschungen
Illusionen
Sinneswahrnehmungen werden verkannt; meist unter emotionaler Anspannung
falsch gedeutet. Beispiel: Ein Kind hält im Halbdunkel des Kellers einen Besen für
eine Hexe; Muster einer Tapete wird für Fratzen gehalten. Vorkommen: Unspezi-
fisch, auch bei psychisch gesunden Menschen.

Halluzinationen
In jeder Sinnesmodalität möglich: Akustische, optische, Geruchs-/Geschmacks-
halluzinationen, Körperhalluzinationen (taktile Halluzinationen, Stör. des Leib-
empfindens).
Vorkommen: Bei organisch bedingten Stör. (z. B. Intox., Entzugsdelir, Demen-
3 zen), affektiven Stör. (selten) u. schizophrenen Erkr. (bes. häufig).
Formen:
• Akustische Halluzinationen:
–  Stimmenhören (Phoneme): Dabei lassen sich kommentierende Stimmen
(begleiten das Tun u. Handeln des Pat.) von imperativen Stimmen ab-
grenzen (geben dem Kranken Handlungsanweisungen). Manchen Pat.
sind die Stimmen bekannt. Dialogisierende Stimmen unterhalten sich
über den Pat., meist mit unangenehmen herabwürdigenden Inhalten, sel-
ten verheißungsvoll. Manche Pat. geben an, lediglich einzelne Wörter zu
hören, andere ein mehr o. minder unverständliches Volksgemurmel.
–  Akoasmen: Andere akustische Halluzinationen, z. B. Knacken, Pfeifen,
Schritte, Musik.
• Optische Halluzinationen: Wahrnehmen von Lichtblitzen, Mustern, Gegen-
ständen, Personen, ganzen Szenen.
• Geruchs- u. Geschmackshalluzinationen: Überwiegend unangenehme
­Geruchs- o. Geschmackswahrnehmung, dabei häufig Vergiftungsängste.
• Körperhalluzinationen:
–  Taktile Halluzinationen: Meist Wahrnehmung berührt, angefasst zu wer-
den; aber auch tastende Wahrnehmung nicht vorhandener Dinge (z. B.
kleiner Kristalle zwischen den Fingern).
– Stör. des Leibempfindens (Coenästhesie): Qualitativ abnorme, neu-,
fremdartige sowie meist unangenehme Leibsensation. Typ. ist ein Gefühl,
als würden sich die Organe verändern, bewegen, bestrahlt werden, bren-
nen, Gegenstände würden daran ziehen. Beispiele: „Elektrischer Strom
fließt durch meinen Bauch, das Herz u. der Darm ziehen sich zusammen,
mein Gehirn schwappt im Kopf hin u. her.“
• Pseudohalluzinationen: Der Betroffene ist sich der „Nicht-Realität“ der
Wahrnehmung bewusst.
  3.16 Psychopathologische Symptome  143

3.16.8 Ich-Störungen
Definition
• Gestört ist das Gefühl
– der Gewissheit der eigenen Person,
– des Einheitserlebens im Augenblick,
– der Identität im Zeitverlauf,
– der Ich-Umweltgrenze,
– der Ich-Haftigkeit des eigenen Fühlens, Denkens, der eigenen Erleb-
nisse.
• Zudem werden hier Stör. des Erlebens anderer u. der Umwelt im Bezug zur
eigenen Person zusammengefasst.

Vorkommen 3
• Überwiegend bei schizophrenen u. schizoaffektiven Erkr. sowie organisch be-
dingten psychischen Stör. (Erstrangsympt. der Schizophrenie nach Kurt
Schneider).
• Derealisation u. Depersonalisation können jedoch auch im Rahmen bes. Be-
lastungen bei psychisch Gesunden o. unspezifisch bei nahezu jeder psychi-
schen Stör. vorkommen.

Formen
• Derealisation: Personen u. Gegenstände der Umgebung erscheinen unwirk-
lich, fremd o. räumlich verändert; von dem Gefühl, „das Essen schmecke
plötzlich so fade“, bis zu dem Eindruck, „die Menschen seien aus einem
künstlichen Stoff, wie Marionetten, ohne wirkliches Leben.“
• Depersonalisation: Stör. des Einheitserlebens der Person im Augenblick, der
Identität in der Zeit des Lebenslaufs. Der Betroffene fühlt sich selbst fremd,
unwirklich, verändert. („Ich fühle mich so leer, kalt, wie tot.“ „Ich frage mich,
bin ich selbst der, der das erlebt o. ist es ein anderer?“).
• Gedankenausbreitung: Der Betroffene hat den Eindruck, seine Gedanken
sind anderen ohne sein Wollen/Zutun zugänglich, andere wissen, was er
denkt.
• Gedankenentzug: Der Betroffene erlebt seine Gedanken als weggenommen o.
„abgezogen“.
• Gedankeneingebung: Gedanken u. Vorstellungen werden als fremd, von au-
ßen gemacht, gesteuert, eingegeben empfunden.
• Andere Fremdbeeinflussungserlebnisse: Fühlen, Streben u. Wollen werden als
von außen gemacht erlebt.

3.16.9 Störungen der Affektivität


Vorkommen
• Unspezifisch, bei psychisch Gesunden u. im Rahmen aller psychischen Stör.
• Dabei sind einzelne Ausprägungen durchaus unterschiedlich verteilt:
– Affektlabilität, -inkontinenz, v. a. bei organisch bedingten psychischen
Stör.
– Gefühl der Gefühllosigkeit u. Stör. der Vitalgefühle bei depressiven
Krankheitsbildern.
144 3  Neurologische Leitsymptome  

– Dysphorie, Euphorie u. Reizbarkeit häufig bei maniformen Krankheitsbil-


dern.
– Ambivalenz, Parathymie u. Affektstarre bei schizophrenen Erkr.

Formen
• Affektlabilität: Schneller Stimmungswechsel nach einer Anregung von außen.
• Affektinkontinenz: Unfähigkeit Affekte zurückzuhalten, schneller Wechsel
bei kleinsten Anlässen, z. T. Steigerung der Intensität der gezeigten Gefühle.

Affektlabilität u. insbes. Affektinkontinenz lassen an eine organisch bedingte


psychische Stör. denken u. machen eine sorgfältige organische Abklärung
notwendig.
3 • Ratlosigkeit: Affektausdruck, der eine kognitive Stör. begleitet: Ein Pat. wirkt
stimmungsmäßig wie jemand, der sich nicht mehr zurechtfindet. Er versteht
nicht, was um ihn geschieht, erscheint hilflos, verwundert.
• Gefühl der Gefühllosigkeit: Reduktion o. Verlust affektiven Erlebens; der Be-
troffene gibt an, sich weder freuen noch trauern zu können, er empfindet eine
oft quälende emotionale Leere. Charakteristische Stör. des Affekts bei einer
schweren Depression/Melancholie.
• Stör. der Vitalgefühle: Verlust des Erlebens eigener Kraft, Lebendigkeit, kör-
perl. u. seelischer Frische. Klagen wie „alles fällt mir so schwer, alles drückt
mich nieder“ sind typisch.
• Deprimiert, hoffnungslos, ängstlich: Jede für sich, oft aber auch in Komb.
auftretende Befindlichkeiten. Manchmal von den Pat. als quälende Gestimmt-
heit beklagt, z. T. aber auch aus Mimik u. Verhalten erschließbar.
• Klagsam, jammerig: Gemeint sind Pat., die ihre Beschwerden vielfach verbal
u./o. averbal zum Ausdruck bringen u. dadurch überwiegend ablehnende Re-
aktionen anderer erleben.
• Innerlich unruhig: Zustand der Getriebenheit, Pat. fühlen sich aufgewühlt,
innerlich gehetzt. Vorkommen sowohl bei depressiver als auch bei gehobener
affektiver Stimmung.
• Dysphorie: Missmutige Grundstimmung; übellaunig, mürrisch, ärgerlich.
• Reizbarkeit: Unterschwellige o. offene Aggressivität.
• Euphorie: Übersteigertes Wohlbefinden, Zuversicht, gehobenes Vitalgefühl.
• Insuffizienz-, Schuld-, Verarmungsgefühle: Übermäßige o. ungerechtfertig-
te Sorgen wegen vermeintlicher Minderung der eigenen Leistungsfähigkeit,
geringfügiger neg. bewerteter Handlungen o. Gedanken, möglicher Verluste
finanzieller Mittel. Häufig bei Depression. Übergang in entsprechende Wahn-
inhalte möglich, sind jedoch davon abzugrenzen (es fehlt noch die durch die
Realität o. Gegenargumente unkorrigierbare Gewissheit des Wahns).
• Gesteigertes Selbstwertgefühl: Gesteigertes Leistungs-, Begabungsgefühl,
Gefühl des bes. eigenen Werts. Vorkommen bei submanischen u. manischen
Zustandsbildern, Drogen- o. Alkoholrausch.
• Ambivalenz: Gleichzeitiges. Vorhandensein gegensätzlicher Gefühle, Intenti-
onen, Wünsche. Meist werden solche Zustände als quälend erlebt.
  3.16 Psychopathologische Symptome  145

• Parathymie: Gefühlsausdruck u. berichteter Erlebnisinhalt stimmen nicht


überein, z. B. Pat berichtet unbeteiligt o. lachend über bedrohliche, ängstigen-
de Wahnvorstellungen.
! Ein „Verlegenheitslächeln“ ist hier nicht gemeint.
• Affektstarre: Verminderung der affektiven Ausdrucksfähigkeit, damit ist je-
doch kein Rückschluss auf tatsächlichen inneren affektiven Erlebnisse des Be-
troffenen zu machen.

3.16.10 Antriebs- und psychomotorische Störungen


Vorkommen
• Unspezifisch, bei psychisch Gesunden u. im Rahmen aller psychischen Stör.
• Antriebsarmut u. -hemmung bes. häufig im Rahmen eines depressiven Sy. o. 3
organisch bedingter psychischer Stör.
• Antriebssteigerung u. Unruhe häufig bei maniformen Erkr.
• Manierismen oft im Rahmen schizophrener Erkr.; Stupor, Negativismus u.
Befehlsautomatismus im Rahmen einer katatonen schizophrenen Stör.; Stu-
por gel. bei schweren depressiven Erkr.

Formen
• Antriebsarmut: Mangel an Initiative, Energie, Anteilnahme.
• Antriebshemmung: Zustand, bei dem der Betroffene selbst seine Energie als
gebremst o. blockiert erlebt.
• Antriebssteigerung: Erhöhtes Maß an Vitalität, Energie, Schwung, Taten-
drang.
• Motorische Unruhe: Gesteigerte ungerichtete Aktivität; Das Spektrum geht
von „nervösem“ Händereiben über Nestelbewegungen bis zum Umherlaufen;
Steigerung bis zu schweren Erregungszuständen möglich.
• Parakinese: Qualitativ abnorme, meist komplexe Bewegungen, die häufig
Gestik, Mimik, aber auch die Sprache betreffen. Vorkommen z. B. bei Tic-
Stör. o. katatonen Schizophrenien.
• Manieriert/bizarr: Alltägliche Handlungen, die dem Beobachter eigentüm-
lich verändert, verschnörkelt erscheinen.
• Theatralisch: Übertrieben wirkende Handlungen, die in ihrer Ausführung ei-
nen selbstdarstellerischen Charakter beinhalten.
• Mutismus: Wortkarg bis Verstummtsein. Spricht ein Betroffener nur noch
mit ausgewählten Personen, bezeichnet man dies als elektiven Mutismus.
• Logorrhö: Verstärkter Redefluss.
• Stupor: Schwere Antriebshemmung, bis hin zur völligen Regungslosigkeit.
Vorkommen: Katatone Schizophrenien u. schwere depressive Erkr. Bei kata-
tonen Stör. verbunden mit einem Verharren in bizarren u. unbequemen Kör-
perhaltungen, teils von außen demonstrierbar, im Sinne einer wächsernen
Biegsamkeit (Flexibilitas cerea).
• Negativismus: Ausgeführt wird stets das Gegenteil des Verlangten. Charakte-
ristische psychopath. Auffälligkeit bei katatonen Sy.
• Befehlsautomatismus: Scheinbar willenlose Umsetzung von außen gegebe-
ner Anweisungen. Cave: Charakteristische psychopath. Auffälligkeit bei kata-
tonen Sy.
146 3  Neurologische Leitsymptome  

3.16.11 Andere Symptome und Störungen


• Schlafstör. u. zirkadiane Besonderheiten (▶ 25).
–  Einschlafstör.: Dauer bis zum Einschlafen > 30 Min.
–  Durchschlafstör.: Mehrmaliges Aufwachen in der Nacht, das vom Betrof-
fenen als beeinträchtigend wahrgenommen wird.
–  Früherwachen: Vorverlegung des Aufwachzeitpunkts > 1 h, Unmöglich-
keit, wieder einzuschlafen.
–  Zirkadiane Besonderheiten: Schwankungen der Befindlichkeit u. psycho-
path. Sympt. während der 24-h-Periode eines Tags. Typ. z. B. Morgentief
kombiniert mit Früherwachen bei schwerer Depression.
• Soziale Kontakte:
– Stör. in der Begegnung u. dem Austausch mit anderen Menschen, im Sin-
ne eines Rückzugs/einer Isolierung o. auch einer sozialen Umtriebigkeit
3 mit Missachtung üblicher Verhaltensregeln.
– Hinweis auf Chronifizierung einer schizophrenen Psychose, Exazerbation
einer Depression o. Schizophrenie, Beginn einer Demenz.

Das Vorhandensein u. die Qualität sozialer Kontakte sind wesentliche Fakto-


ren bei der Prognose einer psychischen Stör.!

• Suizidalität: Suizidgedanken, -handlungen, Einteilung in verschiedene


Schweregrade.
–  Latent: Passive Todeswünsche, keine konkreten Suizidpläne.
–  Manifest: Abgrenzbare Suizidpläne, die vom Betroffenen jedoch nicht un-
mittelbar umgesetzt werden. Erste Vorbereitungen zum Suizid, auch Pat.
unmittelbar nach parasuizidaler Handlung/Suizidversuch ohne sofortige
erneute Handlungsabsicht.
–  Akut: Suizidplan u. Handlungsabsicht, unmittelbar bevorstehender Sui-
zidversuch, Z. n. Suizidversuch mit erneuter Handlungsabsicht.
–  Extrem: Betroffener ist vollständig eingeengt auf Suizidgedanken bzw.
-handlung u. lässt sich nur durch körperl. Einschreiten seiner Umgebung
von einem Suizidversuch abhalten.
• Selbstbeschädigung: Selbstverletzungen ohne Suizidabsicht. Am häufigsten
finden sich das Zufügen von Brand- o. Schnittverletzungen, Schlagen des
Kopfs gegen die Wand, Verschlucken spitzer Gegenstände. Vorkommen:
Bes. häufig im Rahmen der emotional instabilen Persönlichkeit vom Border-
line-Typ. Auch bei organisch bedingten psychischen Stör. u. im Rahmen geis-
tiger Behinderung.

3.16.12 Verwirrtheit
Definition

Unscharf definierter Begriff der klassischen Nervenheilkunde.

Beschreibung eines Zustands der Unverständlichkeit u. Zusammenhanglosigkeit


der Handlungen u. sprachlichen Äußerungen. Vorkommen: Bei verschiedenen
psychiatrischen, jedoch insbes. bei neurol. sowie internistischen Erkr., die zu einer
Funktionsstör. des gesamten Gehirns o. zumindest der Großhirnrinde führen.
  3.16 Psychopathologische Symptome  147

Da viele der Urs. für Verwirrtheit sehr gut therapierbar sind, kommt der
­raschen differenzialdiagn. Einordnung große Bedeutung zu.

Klinik
• Psychopath. Sy. mit Stör. der Orientierung u. des formalen Denkens sowie in-
adäquatem Verhalten.
• Häufig auch Stör. von Aufmerksamkeit u. mnestischen Funktionen (insbes.
Merkfähigkeitsstör.).
• Evtl. Bewusstseinsstör. wie Bewusstseinseinengung, -verschiebung o. -trü-
bung bis hin zur Somnolenz.
• Stör. von Wahrnehmung u. Reizverarbeitung (Halluzinationen, Konfabulation).
• Stör. von Antrieb (z. B. Unruhe) u. Affektivität (z. B. Angst, Affektlabilität).
3
Diagnostik
• Möglichst genaue Anamnese (i. d. R. Fremdanamnese):
– Chron., subakuter o. akuter Beginn, fluktuierender Verlauf?
– Medikamente (Dosisveränderungen in der letzten Zeit?).
– Alkohol, Drogen?
– Psychiatrische, neurol. u. internistische Vorerkr.?
– Postop. Beginn?
– Sturzanamnese, Kopfschmerzen, Fieber?
• Exakter psychopath. Befund, eingehende neurol. u. internistische Unters.
• Labor: BB (Leukozytose, Linksverschiebung?), CRP, Krea, Harnstoff, E'lyte,
Schilddrüsenwerte, BZ, Alkohol- u. Medikamentenspiegel, Vit. B1.
• Urinstatus, Urinanalyse auf Medikamente, Drogen.
• Apparativ: EEG, CCT, LP.
Differenzialdiagnostische Besonderheiten
Zu den häufigsten DD ▶ Tab. 3.23, zu differenzialdiagn. Hinweisen ▶ Tab. 3.24.

Tab. 3.23  Häufige DD der Verwirrtheit im Vergleich


Delir (▶ 23.1) Demenz Schizophrene Enzephalitis
(▶ 23.2) Psychosen (▶ 9.3.1)

Beginn Akut Chron. Akut Subakut

Bewusstsein Eingeschränkt Normal Normal Gestört

Halluzinatio- Bevorzugt vi- Selten Akustisch Selten


nen suell

Psychomotorik Wechselnd ge- Gesteigert o. Wechselnd Reduziert


steigert o. re- reduziert
duziert

Sprache Inkohärent, Wortfindungs- Normal bis Aphasie


wechselnd stör., Perseve- Schizophasie
ration

Besonderhei- Koordinations- Veränderun- Paranoide, Neurol. Herd-


ten stör., Haltetre- gen der Per- katatone o. zeichen, Anfäl-
mor, Asterixis, sönlichkeit hebephrene le, Fieber
vegetative Sympt.
Sympt.
148 3  Neurologische Leitsymptome  

Tab. 3.24  Differenzialdiagnostische Hinweise bei Verwirrtheitszuständen


Häufige Ursachen von Verwirrtheit

Beginn, Verlauf

Chron. Demenz (▶ 23.2), Hirntumoren (▶ 13), Metastasen


(▶ 13), chron. SDH (▶ 22.2.3)

Subakut Enzephalitis (▶ 9.3.1), Delir (▶ 23.1) Schizophrenie,


Hirntumoren, vereinzelt beim EDH u. SDH („freies
Intervall“)

Akut Delir, Schizophrenie, Hirninfarkt/Blutung (▶ 7/▶ 8)


Intox. (▶ 3.17), SHT (▶ 22)

Vorerkrankungen
3
Psychia- Demenz Delir, Hyponatriämie, Sturz/Blutung/chron. SDH
trisch
Schizophrenie Akute psychotische Episode, anticholinerges Delir,
malignes neuroleptisches Sy. (▶ 4.9.5)

Drogenabhängig- Drogendelir, Halluzinose, Meningoenzephalitis,


keit HIV-Enzephalitis o. -Enzephalopathie (▶ 9.4.8)

Alkoholabhängig- Alkoholintox., Wernicke-Enzephalopathie, Korsa-


keit kow-Sy. (▶ 24.8.1), Entzugsdelir, Halluzinose, Hypo-
glykämie, Sturz/Blutung, hepatische Enzephalopa-
thie (▶ 24.6.1)

Dissoziative Stör. Dissoziative Verwirrtheit o. Amnesie

Neurol. Zerebrovask. Erkr. Hirninfarkt/-blutung

Infekt, Meningitis Enzephalitis

M. Parkinson Delir, DLB (▶ 15.2.6, ▶ 23.4)

Kopfschmerzen Raumforderung (▶ 4.3.2), Blutung

Epilepsie ▶ 11, postiktualer Verwirrtheitszustand, Petit-Mal-


Status, Status komplex-partieller Anfälle

Inter- Diab. mell. Hypo-, Hyperglykämie, Sturz/Blutung


nistisch
Lebererkr. Hepatische Enzephalopathie

Nierenerkr. Urämische Enzephalopathie (▶ 24.6.2), Dialyse-Des­


equilibrium-Sy. (▶ 24.6.2)

Schilddrüsenerkr. Hyper- o. hypothyreotische Enzephalopathie


(▶ 24.6.3)

Porphyrie Enzephalopathie

HIV Enzephalitis, Enzephalopathie

Postop. Risikopat. Postop. Durchgangssy.

(unerkannte) Alko- Alkoholentzugsdelir


holabhängigkeit

Unbekannte Vorme- Medikamentenentzugsdelir


dikation
  3.16 Psychopathologische Symptome  149

Tab. 3.24  Differenzialdiagnostische Hinweise bei Verwirrtheitszuständen (Forts)


Häufige Ursachen von Verwirrtheit

Vorerkrankungen

Vask. Risikofaktoren Hirninfarkt

Multimorbidität, Delir
zahlreiche Medika-
mente, Demenz

Stoffwechselerkr. Entgleisung, z. B. Hypoglykämie

Alter

Jung Drogen- o. Alkoholintox., Alkoholentzug, Enzepha-


litis, Epilepsie, SHT 3
Alt Delir bei systemischem Infekt, Exsikkose o. pharma-
kogen, Demenz, Hirninfarkt, metabolische Enzepha-
lopathie, Sturz/Blutung/SDH

• Demenz (▶ 23.2): Stör. von Kurz- u. Langzeitgedächtnis, Merkfähigkeit


(▶ 3.16.3). Zunehmende Orientierungsstör. (▶ 3.16.2); (zunächst Zeitraster,
Raumorientierung in fremder Umgebung). Verminderung von Urteilsfähig-
keit, Denkvermögen, Ideenfluss. Stör. der kognitiven Exekutivfunktionen
(Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge, Abstrahieren). Früh
räumlich-konstruktive Stör., später Schwierigkeiten bei einfachen Routi-
neaufgaben. Neuropsychologische Stör. (Aphasie ▶ 3.14.1, Apraxie ▶ 3.14.2,
Agnosie). Stör. von Antrieb (▶ 3.16.10) u. Affekt (▶ 3.16.9). Gelegentlich pha-
senweise depressive, paranoide o. halluzinatorische Symptomatik. Typ.:
Chron. schleichend-progredienter Verlauf, langsam über Mon. u. J. zuneh-
mende Symptomatik. Keine Bewusstseinsstör.
– Beim NPH zusätzlich frontale Gangstör. (kleinschrittig, breitbasig, schlur-
fend) u. Harninkontinenz.
– Bei DLB (▶ 15.2.6, ▶ 23.4) zusätzlich doparesponsive Parkinson-Sympto-
matik, Fluktuationen der kognitiven Leistungsfähigkeit u. ausgeprägte op-
tische Halluzinationen.
– Bei der frontotemporalen Demenz (▶ 23.5, M. Pick) früh Stör. von Affekt,
Antrieb u. Sozialverhalten.
• Delir (▶ 23.1):
– Stör. von Bewusstsein u. Aufmerksamkeit, Orientierung, Gedächtnisleis-
tungen, Urteilsfähigkeit u. Denkvermögen, Wahrnehmung (z. B. optische
Halluzinationen). Unruhe, Schlafstör., Gereiztheit, Typ.: Relativ plötzli-
cher Beginn innerhalb von Stunden bis Tagen, fluktuierender Verlauf, ve-
getative Begleitsympt.

Gleichzeitiges Vorliegen von Demenz u. Delir häufig, da Demenzpat, prädis-


poniert sind, Delir zu entwickeln (häufige Auslöser: Exsikkose, anticholiner-
ge Medikamente, Infekt). Jede akute Verschlechterung einer demenziellen
Symptomatik muss auf das Vorliegen eines Delirs abgeklärt werden.
150 3  Neurologische Leitsymptome  

• Wernicke-Enzephalopathie (▶ 24.8.1):
– Stör. von Bewusstsein u. Aufmerksamkeit; Desorientiertheit, Halluzinati-
onen, Gedächtnisstör., Apathie.
– Typ.: Zerebelläre Ataxie, Augenmuskelparesen, Nystagmus u. andere Au-
gensympt., gelegentlich vegetative u. kardiovask. Stör.
• Korsakow-Sy., organische amnestische Stör.:
– Stör. des Erwerbs neuer Gedächtnisinhalte mit Stör. von Merkfähigkeit,
Kurz- u. (weniger ausgeprägt) Langzeitgedächtnis, Konfabulation u. Des-
orientiertheit bei ansonsten gut erhaltenen kognitiven Funktionen. Keine
Bewusstseinstrübung.
– Auftreten nach Delir, Wernicke-Enzephalopathie, Trauma, Enzephalitis.
• Enzephalopathien (▶ 24):
– Müdigkeit, Verlangsamung, Apathie o. psychomotorische Unruhe. Konz.-
3 u. Orientierungsstör.
– Myoklonien, zerebrale Krampfanfälle u. andere neurol. Sympt.: Bei he-
patischer Enzephalopathie Asterixis, orale Automatismen, motorische
Reiz- u. Ausfallerscheinungen, Sympt. der Leberzirrhose. Bei urämi-
scher Enzephalopathie MER ↑. Bei Hyponatriämie (Sy. der inadäquaten
ADH-Sekretion nach SHT, Meningitis, SAB, GBS, Tumoren u. als Medi-
kamenten-NW z. B. bei Antidepressiva) zerebrale Krampfanfälle, Myo-
klonien.
• Enzephalitis (▶ 9):
– Prodromalstadium mit Fieber, Kopfschmerz, Entzündungszeichen.
– Bei Übergreifen der Entzündung auf das Gehirn Vigilanz-, Orientierungs-
u. Bewusstseinsstör., Apathie o. Unruhe, affektive Verflachung.
– Begleitend fokal-neurol. Sympt., zerebrale Krampfanfälle.
– Herpes-simplex-Enzephalitis (▶ 9.4.2): Schläfenlappensymptomatik mit
­Geruchs- u. Geschmackssensationen, Wernicke Aphasie, amnestischen Stör.
• Schizophrene Psychosen:
– Akute psychotische Episode mit sprunghaftem bis inkohärent-zerfahre-
nem Denken, ggf. Neologismen. Ich-Stör. wie Gedankenentzug o. -einge-
bung. Stör. von Affekt u. Antrieb häufig mit erregter Unruhe u. Gespannt-
heit.
– Je nach Unterform paranoide u. halluzinatorische Symptomatik o. katato-
ne Sympt. wie Erregung o. Stupor, Stereotypien o. Katalepsie, bei der per-
niziösen Katatonie mit hochgradiger Erregung o. Stupor, Fieber, Kreis-
laufstör., Exsikkose.

Bei Befundverschlechterung bei Schizophrenie unter Neuroleptika an anti-


cholinerges Delir (Zunahme der Unruhe u. Schlafstör., zunehmende Desori-
entiertheit u. Bewusstseinsstör.) o. malignes neuroleptisches Sy. (Stupor,
Bewusstseinsstör. bis zum Koma, Rigor, Akinese, Dyskinesien, Fieber, Ta-
chykardie, vegetative Sympt., CK ↑, Leukos ↑, metabolische Azidose,
Myoglobinämie/-urie) denken.
  3.17 Vergiftungen  151

• Weitere DD der Verwirrtheit:


Suchterkr. Alkohol/Drogen/Medikamente: Wernicke- u. Korsakow-Sy.,
– 
Intox., Entzugsdelir, Halluzinose, Hypoglykämie, Sturz/SHT, hepatische
Enzephalopathie, HIV-Enzephalopathie, Enzephalitis.
Epilepsie (▶ 11): Postiktualer Verwirrtheitszustand, Petit-Mal-Status, Sta-
– 
tus komplex-partieller Anfälle.
Zerebrovask. Erkr. (▶ 7): Bei Hirninfarkt/Blutung akuter Beginn, fokal-
– 
neurol. Symptomatik, bei Blutungen Kopfschmerzen, vegetative Sympto-
matik. Cave: Globale Aphasie: Sprachproduktion ↓, kein Befolgen von
Aufforderungen.
SHT (▶ 22): Commotio, Contusio cerebri, EDH, SDH. Cave: Beim chron.
– 
SDH häufig Trauma nicht erinnerlich, langsam zunehmende Bewusst-
seins-, Konz.- u. Orientierungsstör., mnestische Stör., formale Denkstör.,
Antriebsminderung, zunehmende Kopfschmerzen, Schwindel, Halbsei- 3
tensymptomatik u./o. zerebrale Krampfanfälle, STP.
Hirntumoren, Metastasen, raumfordernde Erkr.: Chron. bis subakut zu-
– 
nehmende Kopfschmerzen, fokal-neurol. Sympt., Hirndruckzeichen,
Konz.-Stör., Verlangsamung, Apathie, mnestische Stör., Orientierungs-
störungen.
Transiente globale Amnesie (▶ 3.15.3).
– 
Plötzlicher bds. Visusverlust (▶ 3.1.2): Ischämisch bei Basilarisinsuff.,
– 
traumatisch, bds. Retinaischämie.

3.17 Vergiftungen
3.17.1 Häufigkeit und Ursachen
• Insgesamt in D etwa 200.000 Vergiftungen/J.
• Intox. häufigste Urs. des nichttraumatischen Komas.
• Typ.: Suizidversuch, versehentliche Einnahme (v. a. durch Kinder), Kontakt
im häuslichen Bereich (z. B. Hobbybastler, Gärtner), seltener am Arbeitsplatz.
• Häufigste Urs. (80 %) Drogen u. Medikamente, v. a. Benzodiazepine, Barbitu-
rate, Antidepressiva, Antiepileptika, Analgetika, Digitalispräparate, L-Dopa,
Betablocker, seltener Pflanzenschutzmittel u. Haushaltsgifte, Reizgase u. Au-
toabgase (CO) sowie gewerblich-chemische Substanzen (Benzole, Farbver-
dünner).
• Häufigster Giftaufnahmemodus ist peroral (80 %), seltener inhalativ (15 %) o.
perkutan (5 %).

Iatrogene Intox. durch aufeinanderfolgende Gabe von Beruhigungsmitteln


durch Haus-, Notarzt u. Klinikpersonal.

3.17.2 Leitsymptome und ihre Differenzialdiagnosen


• Wegen der Vielzahl tox. Sustanzen sind differenzialdiagn. nur komplexe
Symptomkonstellationen hilfreich.
• Neben neurol.-psychiatrischen Sympt. differenzialdiagn. wichtig: Wirkung
auf GIT, Lunge, Herz-Kreislauf-System (▶ Tab. 3.25).
152 3  Neurologische Leitsymptome  
3
Tab. 3.25  Ausgewählte Vergiftungssymptome
Gruppe Symptom

Org. Lösungsmittel

Diphenhydramin

Benzodiazepine
Alkylphosphate

Antidepressiva
Phenylzyklidin
Halluzinogene

Amphetamin

Neuroleptika
Paracetamol
Theophyllin
Quecksilber

Barbiturate
Botulismus

Methanol

Salizylate
Strychnin

β-Blocker
Aromate

Thallium

Clonidin

Digitalis
Opioide
Atropin

Ethanol
Nikotin

Kokain
Zyanid

Benzin
Arsen

COx
Blei

CO
NS Psychomotori- x x x (x) (x) x x x x x x x x x (x) (x) x (x) (x) (x) (x) x x (x) (x)
sche E
­ rregung

Epileptische x (x) (x) x (x) x x x x x x x x x x x x x x x (x) (x) x (x) (x)


Anfälle

Hyperreflexie (x) x x (x) x x x (x) (x) (x) (x) (x) x x (x)

Hypo-/Areflexie (x) (x) x x (x) x x (x) (x) x x

Bewusstseins­ (x) x (x) (x) (x) (x) x x x x x (x) x x x (x) x x (x) (x) (x) (x) x x (x) x x
trübung

Koma (x) (x) (x) (x) (x) (x) x x x x (x) x x x (x) x x (x) (x) (x) x x (x) x x

Atemlähmung x x x x x x x x x x x x (x) x x (x) (x) (x) x x (x) x x

Hypothermie (x) x x x x x (x) x

Hyperthermie x x x x x x x x x x

Muskelschwäche x x x x x x (x) x

PNP (x) x x x x x x x x (x) x x (x)

GIT Übelkeit, x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x (x) x


Erbrechen

Durchfall x x x x x x x x (x)

Speichelfluss (x) (x) x x x (x)



Tab. 3.25  Ausgewählte Vergiftungssymptome (Forts.)
Gruppe Symptom

Org. Lösungsmittel

Diphenhydramin

Benzodiazepine
Alkylphosphate

Antidepressiva
Phenylzyklidin
Halluzinogene

Amphetamin

Neuroleptika
Paracetamol
Theophyllin
Quecksilber

Barbiturate
Botulismus

Methanol

Salizylate
Strychnin

β-Blocker
Aromate

Thallium

Clonidin

Digitalis
Opioide
Atropin

Ethanol
Nikotin

Kokain
Zyanid

Benzin
Arsen

COx
Blei

CO
GIT Mundtrockenheit x x x x x x x (x) x

Abdominal­ x x x x x x x x x
schmerz

Ikterus (x) x x x

Lunge Bronchokonst- x x (x)


riktion

Lungenödem x (x) x x x

Dyspnoe x x x (x) x x (x) x x x (x)

Herz Hypotonie (x) (x) (x) x x x x x x x x (x) x (x)

Hypertonie x x (x) x (x) x x x x x (x)

Bradykardie (x) (x) x x x x x (x) x x x (x) x

Tachykardie x x (x) (x) x x x x x x x x x x (x) x x x x x x x

 3.17 Vergiftungen  153
VES x x (x) (x) x x x x x

AV-Block x (x) (x) x x x x (x) x

Augen Miosis x (x) x x x x

Mydriasis x x x x x x (x) x x x x x x x x (x)

Sehstör. (x) x (x) x x x (x) x x x x x

x = typ. Sympt. (x) = gelegentliches Sympt.

3
154 3  Neurologische Leitsymptome  

• Auf Foetor ex ore u. Hautläsionen (Einstichstellen, Blasenbildung bei Hypno-


tikaintox., Verätzungen bei Säuren u. Laugen) achten.
Neurol. u. psychiatrische Leitsympt.:
• Psychopath. Sympt.:
– Psychomotorische Erregung, paranoide Gedanken u./o. Größenideen so-
wie Halluzinationen: Z. B. Amphetamine, Anticholinergika, Cannabis,
Kokain, Digitalis, Ethanol, LSD, organische Lösemittel.
– Anticholinerges Sy. (▶ 4.9.6): Z. B. Anticholinergika, trizyklische Antide-
pressiva, Neuroleptika.
• Epileptische Anfälle: Häufig auf dem Höhepunkt der Intox. (z. B. trizyklische
Antidepressiva, Neuroleptika, Diphenhydramin), aber auch bei Abfall der
Wirkspiegel (z. B. „Entzugskrampfanfälle“ bei Ethanol).
• Stör. der Extrapyramidal- u. Pyramidalmotorik. Dabei Hyper- vs. Hyporefle-
3 xie hilfreich.
• Bewusstseinstrübung (▶ 3.16.2, 4): Schläfrigkeit ohne plausible Erklärung,
unvollständige Orientierung o. eingeschränkte Aufmerksamkeit (nur für eini-
ge Sekunden) auf die Außenwelt.
• Koma (▶ 4).
• Hyperthermie: Differenzialdiagn. abgrenzbar von Hypothermie (z. B. Barbi-
turate), gelegentlich jedoch auch je nach Intox.-Stadium Hyper- o. Hypother-
mie möglich (z. B. trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika).
– Zentral bedingt → z. B. trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika.
– Erhöhter Metabolismus → z. B. Salizylate.
– Muskuläre Hyperaktivität → z. B. Amphetamine, LSD.
• Muskelschwäche in Relation zum Intox.-Grad bes. ausgeprägt bei Substanzen
mit Muskel relaxierender Wirkung, Stör. der neuromuskulären Übertragung
(z. B. Benzodiazepine, Botulinumtoxin).
• PNP (▶ 19).
DD:
• Koma anderer Urs.: Z. B. Meningoenzephalitis (▶ 9.4), Hirnmassenblutung
(▶ 8), Hypoglykämie.
• Mischintox.
• SHT (▶ 22).
• Schizophrene Psychosen.

3.17.3 Diagnostik bei Vergiftungen

Jede plötzlich eingetretene Gesundheits- u./o. Bewusstseinsstör. muss auch


an eine Intox. denken lassen! Klassische Vergiftungssituationen sind das un-
klare Koma o. die unspezifische chron. Befindlichkeitsstör.

• Eigen-/Fremdanamnese, Inspektion der häuslichen Umgebung (Tbl., Medi-


kamentenverpackungen, Speisereste, Erbrochenes). Proben asservieren!
• Fremdanamnese: „5 W“: Was, Wie, Wieviel, Wann, Warum? Psychiatrische
Vorerkr. (hohes Risiko suizidaler Handlungen u. akzidenteller Intox. bei schi-
zophrenen u. affektiven Psychosen, Suchterkr.)? Cave: In etwa 50 % werden
aus Unwissenheit falsche Angaben über Medikamente o. Umstände gemacht.
• Betrachten der Kleidung: Verschmutzungen, Ätzflecken, Verklebungen mit
der Haut.
  3.17 Vergiftungen  155

• Körperl. Unters.: Ausschluss von Trauma (▶ 22), Fieber, Meningismus, foka-


len neurol. Defiziten.
• Labor: BB, BZ, Na+, K+, Krea, Quick, PTT, BGA, Leberwerte, Ammoniak,
Laktat, CHE, Kortisol.
• Toxikologie: Proben von Mageninhalt, Blut, Urin, Stuhl u. Inhalt von Gläsern
u. Flaschen für toxikologischen Nachweis asservieren. Schnelltests (z. B. Test-
streifen für häufige Drogen o. Benzodiazepine im Urin) vor standardisierten
(semi-)quantitativen Verfahren (z. B. EMIT für Medikamente o. Drogen im
Urin) u. spezialisierter quantitativer u. hochempfindlicher Analytik (z. B.
Gaschromatografie u. Massenspektrometrie für Medikamente).
• Apparative Diagn.: Rö-Thorax, ggf. Abdomenübersicht (sichtbare Tabletten-
konglomerate?), CCT, Oberbauch-Sono, Herzecho, EEG.
• Einschätzen der Komatiefe (Glasgow Coma Scale, ▶ 27.1.2).
• Intensivmonitoring: Bewusstseinsgrad, Pupillenreaktion, Temperatur, Blut- 3
gase, Labor, EKG, Urinausscheidung, ggf. Magensonde, ZVK.

3.17.4 Vergiftungen in der Notaufnahme


• Sicherung der Vitalfunktionen entsprechend ABCD-Regel (▶ 4.1).
• Intensivmonitoring: Bewusstseinsgrad, Pupillenreaktion, Temperatur, Blut-
gase, Labor, EKG, Urinausscheidung, ggf. Magensonde, ZVK.
• Diagn. einschließlich Labordiagn. (▶ Tab. 3.26), Toxikologie, apparative Diagn.
• Kontaktaufnahme zu einem Giftinformationszentrum!
• Meist symptomorientierte Behandlung.
• Selten spezifische Ther. mit absorptionsmindernden Maßnahmen (▶ 3.17.5),
evtl. auch Antidot.

Tab. 3.26  Laborwertveränderungen u. mögliche Ätiologie


Wert Ätiologie

BZ ↑ Aceton, Acetylen, Eisen, Koffein, LSD, Theophyllin

BZ ↓ Alkohol, orale Antidiabetika, Betabocker, Insulin, Salizylate

K ↑
+
α-Adrenergika, Betablocker, Digitalis, Fluorid, Lithium

K+ ↓ Adrenalin, Barium, β-Adrenergika, Koffein, Theophyllin

Metabolische Azidose Acetylene, Alkohole, β-Adrenergika, Colchicin, Formalde-


(Kussmaul-Atmung) hyd, INH, Koffein, CO, Salizylate, Theophyllin, Zyanide

Unspezifische chronische Befindlichkeitsstörungen


Diagn.:
• Anamnese: Stets Arbeitsplatz, Essgewohnheiten u. Hobbys erfragen.
• Denke an eine Intox. bei PNP, akuter Polyneuritis, Myelopathie, Mononeuro-
pathie, Myopathie, Tremor, ständigen Kopfschmerzen, chron. Hautreizungen
o. Reizungen der Schleimhäute u. Augen, Parästhesien, Verfärbungen an
Zahnrändern, perioral u. an Fingernägeln, ständiger Müdigkeit, Einschrän-
kungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit (Enzephalopathie), Schlafstör.,
Haarausfall.
• Sicherung der Diagnose durch toxikologische Analyse.
156 3  Neurologische Leitsymptome  

Rote Liste und Giftnotrufzentralen


Rote Liste: Aktuelle Informationen zu NW, WW, Intoxikationssympt., Ther.
von Intox., Herstellerangaben, Verzeichnis der Telefonnummern von Infor-
mationszentren für Intox., toxikologischen Laborzentren u. mobilen Gegen-
giftdepots.
Giftnotrufzentralen: 9 offizielle Giftinformationszentren (GIZ) der deutschen
Bundesländer mit 24-h-Informationsdienst (Giftnotrufe) für Ärzte und Laien
über Telefon o. Internet:
Berlin: Giftnotruf der Charité Tel. +49-30-19 24 0 o. www.giftnotruf.charite.de.
Bonn: Notruf Tel. +49-228-19 24 0 o. www.gizbonn.de.
Erfurt: Giftinformationszentrum GGIZ Tel. +49-361-73 07 30 o. www.ggiz-
erfurt.de.
Freiburg: Vergiftungs-Informations-Zentrale VIZ Tel. +49-761-19 24 0 o.
3 www.giftberatung.de.
Göttingen: Giftinformationszentrum-Nord GIZ-Nord Bürgertel. +49-551-
19 24 0, Fachpersonal Tel. +49-551-38 31 80 o. www.giz-nord.de.
Homburg: Giftberatung Tel. +49-6841-19 24 0 o. www.uniklinikum-
saarland.de/giftzentrale.
Mainz: Giftinformationszentrum Tel. +49-6131-19 24 0/+49-6131-23 24 66 o.
www.giftinfo.uni-mainz.de.
München: Giftnotruf Klinikum rechts der Isar Tel. +49-89-19 24 0 o.
www.toxinfo.med.tum.de/inhalt/giftnotrufmuenchen.
Nürnberg: Giftinformationszentrale Tel. +49-911-39 8–2 45 1
Wien: Vergiftungsinformationszentrale Tel. +43-1-40 6–43 43 o.
www.giftinfo.org.
Zürich: Schweizerisches Toxikologisches Informationszentrum STIZ Tel.
+ 41 44 251 51 51(Notrufnummer für die Schweiz: 145) o. www.toxi.ch.

3.17.5 Giftelimination
Durchführung nur bei eindeutiger Ind. unter Berücksichtigung der KI. Absorpti-
onsverminderung durch Magenspülung o. provoziertes Erbrechen nur bei stren-
ger Ind.-Stellung. Risikoärmer ist meist frühe einmalige Aktivkohlegabe bei ent-
sprechender Ind.

Primäre Giftelimination
Def.: Entfernung tox. Substanzen vor der Resorption.
Vorgehen:
• Intensive Überwachung der Vitalfunktionen.
• Verringerung der Resorption: Z. B. Aktivkohlegabe, induziertes Erbrechen,
frühe Magenspülung, Darmspülung, Laxanzien, Dekontamination der Kör-
peroberfläche.
• Beschleunigung der Elimination: Tox. Substanzen mit langer HWZ, z. B. for-
cierte Diurese, Urinalkalisierung (bei Salizylatintox.), Hämodialyse/-perfusi-
on, Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs.
Gabe von Aktivkohle:
• Ind.: Einmalige, frühe (innerhalb 60 Min.) Gabe zur Adsorption fett- u. was-
serlöslicher Gifte (z. B. Alkaloide, Vit.-K-Antagonisten).
• KI: Säuren-/Laugeningestion, organische Lösungsmittel (z. B. Petroleum),
Tenside, nicht gesicherte Atemwege.
  3.17 Vergiftungen  157

• Durchführung: Dosis 0,5–1 g/kg KG Aktivkohle (ausreichende Dos. entschei-


dend, bes. bei Medikamenten mit retardierender Galenik!), Aufschlämmung
der Kohle in Wasser, Gabe per os o. Magensonde; Cave: Aspirationsgefahr.
• Zusätzliche Gabe eines Laxans wie Natriumsulftat (Glaubersalz), um der ob-
stipierenden Wirkung der Kohle entgegenzuwirken, wird nicht mehr generell
empfohlen, sondern nur noch in Einzelfällen bei Erw.
Induziertes Erbrechen:
• Ind.: Keine Routinemaßnahme, nur selten indiziert, nur bei oraler Ingestion
einer hochwahrscheinlich tox. Giftdosis innerhalb von 60 Min. bei bewusst-
seinsklaren Pat.
• KI: Schläfrige o. bewusstlose Pat., Z. n. epileptischem Anfall, Intox. mit
Schaumbildnern, Säuren, Laugen, organischen Lösungsmitteln, Petroleum.
Geplante Gabe von Aktivkohle o. Antidot.
• Durchführung: 3
– Auslösung durch die Gabe von Ipecacuanha-Sirup (Latenz bis zum Wirk-
eintritt 20–30 Min.).
– Keine Auslösung durch Kochsalz o. Apomorphin wegen schwerwiegender
NW.
Magenspülung:
• Ind.: Lediglich bei lebensbedrohlicher Intox. innerhalb von 60 Min. nach In-
gestion; tox. Substanzen ohne Bindung an Aktivkohle; nicht bei Kindern.
• Relativ geringe Wirksamkeit vs. schweren KO (z. B. Aspirationspneumonie,
Perforation).
• KI: V. a. Magen- o. Ösophagusperforation, manifeste Herz- o. Ateminsuff.,
bei fehlenden Schutzreflexen (nur nach Intubation!), Intox. mit Säuren, Lau-
gen, Benzol u. Petroleum.
Induzierte Diarrhö: Gabe von Laxanzien (z. B. Natriumsulfat, Sorbitol) wird
nicht mehr empfohlen, außer Komb. von Aktivkohlegabe mit einmaliger Gabe
von Natriumsulfat in seltenen Einzelfällen bei Erw.
Anterograde Darmspülung:
• Ind.: Selten, nur bei Arzneimitteln mit verzögerter Wirkstofffreisetzung u.
fehlenden anderen Ther.-Optionen, ggf. in Komb. mit Akivkohlegabe.
• KI: Obstruktion o. Perforation des Darms, Ileus, Kreislaufinstabilität u. bei
fehlenden Schutzreflexen (nur nach Intubation).
Weitere Maßnahmen ▶ Tab. 3.27.

Tab. 3.27  Weitere Möglichkeiten der primären Elimination


Art der Intoxikation Elimination

Kutan Abwaschen mit Seife u. viel fließendem Wasser

Rektal Hohe Einläufe (tgl. mit Sorbit-Lsg. 40 %) u. forcierte Darment-


leerung (s. o.)

Subkutan o. intra- Abbinden prox. der Biss- o. Injektionsstelle, Umspritzen dieser


muskulär Stelle mit Adrenalin (0,5 mg in 20 ml NaCl 0,9 %), Antidotga-
be, Kühlung, Ruhigstellung

Inhalation Entfernung aus der Vergiftungszone. Hyperventilation beim


wachen Pat. durch Zugabe von CO2 über Atemmaske, beim
intubierten Pat. durch PEEP-Beatmung
158 3  Neurologische Leitsymptome  

Sekundäre Giftelimination
Sek. Elimination umfasst alle Maßnahmen der Entfernung bereits resorbierter
Gifte.

Ind.: Eingenommene Dosis ist potenziell letal (s. o.), Gefahr irreversibler


Schäden, tiefes Koma.

Repetitive Kohlegabe:
• Ind.: Lebensbedrohliche Vergiftungen mit Carbamazepin, Theophyllin, Dap-
son, Phenobarbital, Chinin.
• KI: Nicht intubierte Patienten, wenn Schutzreflexe der Atemwege beeinträch-
tigt sind, nicht intakter o. stark funktionsgestörter Magen-Darm-Trakt.
Forcierte Diurese:
3 • Ind.: Nierengängige Gifte (Barbiturate, ASS, Lithium) sowie bei Hämolyse u.
Rhabdomyolyse (▶ 4.13, ▶ 20.9.2).
• KI: Schocksymptomatik, Nieren-, Herzinsuff., Hirnödem.
Hämodialyse:
• Ind.: Tox. wasserlösliche Substanz mit geringer Plasmaproteinbindung;
schwere Intox. mit kurzkettigen Alkoholen (z. B. Ethylenglykol, Methanol),
Barbituraten, Amphetaminen, Lithium, Metformin, Salizylaten, Valproat,
Carbamazepin, Phenytoin.
• KI: Hämorrhagische Diathese, hypovolämischer Schock.
Hämoperfusion:
• Schwere NW, aber effektiver als Hämodialyse, weil auch lipophile Substanzen
erfasst werden.
• Ind.: Nur bei schwersten Intox., die mit anderen Verfahren nicht ausreichend
therapierbar sind.
• KI: Hämorrhagische Diathese und Thrombozytopenie.
Plasmapherese: Bei Giften mit hoher Plasmaeiweißbindung, z. B. Barbituraten,
Digitoxin, Salizylaten, Diazepam, Phenprocoumon, Phenylbutazon.
Austauschtransfusion: Bei Vergiftung mit Blutgiften, z. B. CHE-Hemmern und
Stoffen mit hoher Plasmaeiweißbindung.
Antidota: Hinsichtlich der Wirksamkeit ideale Ther. von Vergiftungen, jedoch
wegen NW genaue Kenntnis der Intox. und jeweils Nutzen-Risiko-Abwägung.
Gut verträglich: Acetylcystein (bei Paracetamol-Vergiftung), Dimeticon (bei Ten-
siden), Fomepizol (Hemmung der Alkoholdehydrogenase bei Methanol-, Glykol-
vergiftung).
Umfassende Antidotliste unter www.giz-nord.de.
Prästationär nur selten indiziert. „Bremer Liste“ enthält Antidota für den Ret-
tungsdienst: Atropin (bei Organophosphatintox.), 4-DMAP (bei Zyanidintox.),
Naloxon (bei Opioidintox.), Toluidinblau (Vergiftung mit Methämoglobinbild-
nern).

3.17.6  Therapie ausgewählter Vergiftungen


▶ Tab. 3.28.

Tab. 3.28  Therapiemaßnahmen bei Intoxikationen
Substanz Vitalfunkti­ Speziel­ Gefährliche Erbre­ Magen­ Kohle Ab­ Spezielle Maßnahmen Antidot (A)/Me­ Bemerkungen
onen le Blut­ Dosis chen in­ spülung führ­ dikamente (M)
entnah­ duzieren mit­
me tel

Ethanol Ggf. sichern Ethanol- > 300 g + + Hypothermieschutz, ggf. M: Haloperidol


spiegel, letal Glukoseinfusion, Hämo- A: Naloxon
BZ, dialyse bei schwerer
BGA, Atem- u. Kreislaufde-
E'lyte pression

Alkylphos- Sichern, da- CHE, Ab 5 mg/kg +, sofort Schon + + Evtl. Dekontamination M: Atropin Unbedingt
phate bei Selbst- BGA KG letal nach bei Ver- der Haut, Cave: Selbst- (prim.), Substitu- überwachen, da
(z. B. E605) schutz Einnah- dacht, schutz; Hämoperfusion tion von ChE verzögerte Gift-
beachten, me > 30 l indiziert A: Obidoxim wirkung mög-
evtl. Intu- lich!
bation u.
Beatmung
mit PEEP,
100 % O2

Antidepres- Ggf. sichern Plasma- Variabel Meist Mög- + + Bei schweren Vergiftun- A: Evtl. Coles- Magen-Darm-
siva spiegel nicht lichst gen perorale Darmspü- tyramin Atonie
möglich frühzei- lung, ggf. Hämoperfusi- M: Evtl. Natrium-
tig bei on hydrogencarbo-

 3.17 Vergiftungen  159
tox. Do- nat
sen

Barbiturate Sichern, Plasma- Variabel Meist + + + Forcierte Diurese bei A: Evtl. Coles- Pat. kann
frühzeitig spiegel nicht lang wirksamen Barbitu- tyramin fälschlich für tot
Intubation möglich raten, Hämoperfusion M: Evtl. Natrium- gehalten wer-
bei Plasmaspiegel hydrogencarbo- den, Magen-
> 50 mg/l! nat Darm-Atonie!

3
160 3  Neurologische Leitsymptome  
3
Tab. 3.28  Therapiemaßnahmen bei Intoxikationen (Forts.)
Substanz Vitalfunkti­ Speziel­ Gefährliche Erbre­ Magen­ Kohle Ab­ Spezielle Maßnahmen Antidot (A)/Me­ Bemerkungen
onen le Blut­ Dosis chen in­ spülung führ­ dikamente (M)
entnah­ duzieren mit­
me tel

Benzo­ Sichern, Variabel + +, unbe- + + Hypothermieschutz, evtl. A: Flumazenil Häufig Misch­


diazepine ggf. Intuba- dingt Plasmapherese (Cave: kurze intox.
tion bei > to- HWZ von 1 h, bei
xischen Benzodiazepi-
Dosen nen mit längerer
Wirkdauer Re-
bound!)

Botulismus Sichern, + Im Frühstadium A: Antitoxin so


ggf. Intuba- früh wie möglich
tion

Digitalis Serum- +, groß- + + Ggf. Herzdruckmassage, A: Digitalis-AK


spiegel zügige Schrittmacher M: Colestyramin
(wieder- Ind.
holt),
E'lyte

Diphen­ CK 25 ; mg/kg + + + + Forcierte Diurese bei A: Physostigmin Rhabdomyolyse


hydramin KG sind le- drohender Rhabdomyo- möglich
tal lyse

Lithium Sichern Li-Se- Ausgleich des Wasser- u. KO noch nach


rum- E'lytverlusts, Hämodialy- 2 Wo. möglich
spiegel, se bei Spiegel
E'lyte > 3.000 μmol/l, ggf. for-
cierte Diurese

Tab. 3.28  Therapiemaßnahmen bei Intoxikationen (Forts.)
Substanz Vitalfunkti­ Speziel­ Gefährliche Erbre­ Magen­ Kohle Ab­ Spezielle Maßnahmen Antidot (A)/Me­ Bemerkungen
onen le Blut­ Dosis chen in­ spülung führ­ dikamente (M)
entnah­ duzieren mit­
me tel

Methanol Ggf. sichern Metha- > 5 ml + Sofort + Hämodialyse (Elimina­ M: Ethanol Mind. 4 d über-
nolspie- nach tion von Methanol u. A: 4-Methylpyra- wachen
gel Einnah- Ameisensäure, Korrektur zol (Fomepizol)
me der Azidose)

Neurolep­ Ggf. Variabel + Mög- + + Hämoperfusion A: Biperiden bei Magen-Darm-


tika Plasma- lichst extrapyramida- Atonie
spiegel frühzei- len Sympt., Gabe
tig bei von Physostig-
potenzi- min bei anticho-
ell leta- linergem Sy.
ler Dosis heutzutage kon-
traindiziert

Opioide Sichern Morphin + Bei oraler Einnahme (sehr selten) A: Naloxon


> 100 mg Cave: kurze HWZ
i. v. letal,
Heroin
> 60 mg i. v.
letal

 3.17 Vergiftungen  161
Organische Ggf. Intu- Paraffin
Lösungs- bation vor Ma-
mittel genspü-
lung

3
162 3  Neurologische Leitsymptome  
3
Tab. 3.28  Therapiemaßnahmen bei Intoxikationen (Forts.)
Substanz Vitalfunkti­ Speziel­ Gefährliche Erbre­ Magen­ Kohle Ab­ Spezielle Maßnahmen Antidot (A)/Me­ Bemerkungen
onen le Blut­ Dosis chen in­ spülung führ­ dikamente (M)
entnah­ duzieren mit­
me tel

Paracet­ Paracet­ > 150 mg/kg + + + + Evtl. forcierte Diurese A: Acetylcystein


amol amol- KG, 6–8 g/d (optimal 12–24 h
Serum- nach Ingestion)
Konz.

Petroleum KI (+)

Reizgase Sichern, Ggf. Sedierung M: Glukokortiko- Überwachen bis


großzügige ide zum Abklingen
Ind. zur der Sympt., pro-
Intubation grediente Sym-
ptomatik mög-
lich

Salizylate Sichern Plasma- > 100 mg/kg Voll-E'lyt-Lsg., E'lyt-Aus- M: Evtl. Natrium- Tbl. können
spiegel KG gleich, evtl. Hämodialy- hydrogencarbo- Konglomerate
(wieder- se, bei Retardpräparaten nat bilden
holt) perorale Darmspülung

Säuren, KI Unter KI Mehrere Liter Wasser M: Prednisolon Perforations­


Laugen gastro­ trinken lassen ab 3. d gefahr
skopi-
scher
Kontrol-
le

Tab. 3.28  Therapiemaßnahmen bei Intoxikationen (Forts.)
Substanz Vitalfunkti­ Speziel­ Gefährliche Erbre­ Magen­ Kohle Ab­ Spezielle Maßnahmen Antidot (A)/Me­ Bemerkungen
onen le Blut­ Dosis chen in­ spülung führ­ dikamente (M)
entnah­ duzieren mit­
me tel

Schaum- Meist stabil, Geringe KI Nach A: Dimeticon


bildner auf Aspira- Mengen Dimeti-
tionsgefahr wegen As- congabe
achten piration

Zyanide, Sichern, Zyanid- Zyanidspie- + Mit + + Evtl. Dekontamination A: 4-DMAP, Nat- Kein Antidot
Blausäure Selbst- u. Thio- gel > 1 mg/ Kalium- der Haut, Cave: Selbst- riumthiosulfat bei Mischintox.
schutz be- cyanat- ml, Thio­ perman- schutz, Hämodialyse
achten spiegel cyanat ganat
> 60 mg/ml

 3.17 Vergiftungen  163
3
4 Notfälle und Intensivtherapie
Jürgen Klingelhöfer, Dirk Sander, Martina Näher-Noé und Jörg
Berrouschot

4.1 Atem- und Kreislaufstill- 4.6.3 Diagnostik 192


stand 167 4.6.4 Therapie 193
4.2 Akute Bewusstseinsstörungen 4.7 Dissoziierter Hirntod 195
und Bewusstlosigkeit 169 4.7.1 Definition des Hirntods 195
4.2.1 Untersuchung bewusstseinsge­ 4.7.2 Klinische Voraussetzungen
störter Patienten 169 für die Hirntod­
4.2.2 Diagnostik 174 feststellung 196
4.2.3 Notfalltherapie 174 4.7.3 Klinische Kriterien 196
4.3 Bewusstseinsstörungen 175 4.7.4 Nachweis der
4.3.1 Einteilung 175 Irreversibilität 196
4.3.2 Differenzialdiagnosen 175 4.7.5 Apnoe-Test 197
4.3.3 Folgezustände 179 4.7.6 Apparative
4.3.4 Psychiatrische Differenzial­ Zusatzuntersuchungen 197
diagnose des Komas 181 4.7.7 Todeszeitpunkt und
4.4 Analgosedierung und Dokumentation 198
­Katecholamintherapie 182 4.8 Akute Lähmung 199
4.4.1 Grundlagen der 4.8.1  Akutes Guillain-
­Analgosedierung 182 Barré-Syndrom 199
4.4.2 Substanzen/Substanz­ 4.8.2 Akute myasthene und
kombinationen der cholinerge Krise 199
­Analgosedierung 183 4.8.3 Dyskaliämische ­Lähmung 200
4.4.3 Katecholamintherapie 185 4.9 Akute Muskeltonus­
4.5 Beatmung 186 steigerung 200
4.5.1 Intermittierende 4.9.1 Akinetische Krise
­Maskenbeatmung 186 (Parkinson-Krise) 200
4.5.2 Invasive maschinelle 4.9.2 Akute Dyskinesie  200
­Beatmung 186 4.9.3 Tetaniesyndrom  201
4.5.3 Weaning (Entwöhnung 4.9.4 Tetanus  202
vom Respirator) 4.9.5 Malignes Neuroleptika-­
und Extubation 188 Syndrom 203
4.6 Hirndruck 189 4.9.6 Zentrales anticholinerges
4.6.1 Klinik 189 ­Syndrom 203
4.6.2 Ätiologie 191 4.9.7 Maligne Hyperthermie 204
4.9.8 SIADH (Syndrom der 4.11 Zentrales Fieber 206
­inadäquaten ADH-­ 4.12 Septische
Freisetzung) 204 ­Enzephalopathie 206
4.9.9 CSWS (cerebral salt waste 4.13 Rhabdomyolyse 207
­syndrome, zerebrales 4.14 Critical-illness-­
­Salzverlustsyndrom) 205 Polyneuropathie (CIP) 207
4.10 Zentraler Diabetes 4.15 Critical-illness-Myopathie
­insipidus 205 (CIM) 209
   4.1  Atem- und Kreislaufstillstand  167

SHT ▶  22.1, akuter Querschnitt ▶  14.1.1, Ventrikelshunt ▶  28.4.2, KM-Allergie


▶ 2.9.7, subdurales Empyem ▶ 9.3.4, Wernicke-Enzephalopathie ▶ 24.8.1.

4.1 Atem- und Kreislaufstillstand


Klinik
• Pulslosigkeit (A. carotis, A. femoralis).
• Bewusstlosigkeit.
• Atemstillstand, Schnappatmung.
• Weite, lichtstarre Pupillen (nach 30–90 s).
• Grauzyanotische Hautfarbe (unsicheres Zeichen).
• Gestaute Halsvenen, Atemnot, arrhythmischer Puls u. verlangsamte Nagel-
bettfüllung sprechen für einen kardiogenen Schock.

Reanimation nach der ABCD-Regel


(A)temwege frei machen
Fremdkörper aus Mund-Rachen-Bereich entfernen, Kopf überstrecken, Unterkie-
fer nach vorn u. oben ziehen (= Esmarch-Handgriff, ▶ Abb. 4.1). 4

Abb. 4.1  Esmarch-Handgriff u. Maskenbeatmung [L106]

(B)eatmung
• O2: 6–8 l/Min. über eine Nasensonde.
• Verfahren: Ggf. Mund-zu-Mund-, Mund-zu-Nase- o. Maskenbeatmung
(Ambu-Beutel, ▶ Abb. 4.1) mit 100 % O2. Beatmungserfolg kontrollieren
(Atembewegung, Rückgang der Zyanose, symmetrisches Atemgeräusch).
• Intubation: Großzügige Ind. bei komatösen Pat., um zusätzliche hypoxische
Schädigung des Gehirns zu vermeiden.
• Kontrollierte Beatmung:
– Bei path. Atemform o. Ruhedyspnoe, Hypoxämie (pO2 < 80 mmHg), aku-
ter Hyperkapnie (pCO2 > 45 mmHg), einer Vitalkapazität < 1,0 l o. Be-
wusstlosigkeit mit Schluckstör. ohne Schutzreflexe.
–  Ziel: pO2 = 100 mmHg u. pCO2 = 35–40 mmHg.
168 4  Notfälle und Intensivtherapie  

(C)irculation
Immer erst mit Herzdruckmassage (Frequenz mind. 100/Min.) beginnen.
Extrathorakale Herzdruckmassage (▶ Abb. 4.2):
• Lagerung: Flache Lagerung auf harter Unterlage.
• Druckpunkt: Mitte Brust des Pat., Kompressionstiefe 4–5 cm, Massagefre-
quenz 100/Min.
• Beginn mit 30 Thoraxkompressionen, dann 2 × Beatmung (500–600 ml in
1 s), dann 30 Thoraxkompressionen usw.
• Adrenalin 1 mg i. v. alle 3–5 Min. (bei Asystolie o. pulsloser elektrischer Akti-
vität) sobald i. v.-Zugang vorhanden, endobronchial: 3 mg Adrenalin.
• Palpation der A. femoralis o. A. carotis unsicher!

Ballen der Hand auf Ballen der anderen


die Mitte des Brustkorbes Hand darauf, Finger verschränken

nur der Handballen


berührt das Sternum
Arme
gestreckt

Abb. 4.2  Herzdruckmassage [L106]

(D)rugs
• Adrenalin (z. B. Suprarenin®):
– Bei allen Formen des Herz-Kreislauf-Stillstands sinnvoll, bei Asystolie u.
pulsloser elektrischer Aktivität sofort, bei Kammerflimmern u. pulsloser
ventrikulärer Tachykardie nach der 2. erfolglosen Defibrillation begin-
nend.
–  Dos.: 1 mg (1 mg mit 9 ml NaCl 0,9 % verdünnen) fraktioniert i. v. o. über
Endotrachealtubus (3-fache Dosis) alle 3–5 Min.
   4.2  Akute Bewusstseinsstörungen und Bewusstlosigkeit  169

– Nicht intrakardial injizieren, nicht zusammen mit Bikarbonat über einen


Zugang.
• Atropin: Bei Bradykardie o. AV-Block III° Atropin 0,5–1 mg i. v., bei Asysto-
lie u. pulsloser elektrischer Aktivität bis zu 3 mg i. v.
• Volumenausgleich: Initial Beine hoch lagern. Nach Ausschluss eines kardio-
genen Schocks großzügig kristalloide (bevorzugt NaCl 0,9 %) u. kolloidale
(bevorzugt Humanalbumin 5 %) Lsg. i. v. im Verhältnis 2 : 1.
• Natriumbikarbonat 8,4 %:
– Bei Reanimation > 20 Min.
– Keine initiale Pufferung, Korrektur nach BGA erwägen:
Bedarf an NaHCO3 – in mmol = neg. BE × 0,3 × kg KG × 2. Wenn keine
BGA verfügbar, frühestens nach 10 Min. 0,5 mmol/kg KG über 10 Min.

Stufenschema bei Kammerflimmern oder pulsloser ventrikulärer Tachykardie


• Vor Defibrillation immer CPR über 2 Min. (5 Zyklen 30 : 2).
• Einmalige Defibrillation (biphasische Defibrillatoren: 120–360 J, mono-
phasische Defibrillatoren 360 J).
• Dann erneut CPR über 2 Min. (unabhängig von Defibrillationserfolg).
• Analyse des EKG, ggf. erneute Defibrillation u. CPR. 4
• Adrenalin 1 mg i. v. nach zweimaliger erfolgloser Defibrillation alle
3–5 Min.
• Amiodaron 300 mg bei Persistieren von Kammerflimmern o. pulsloser
Tachykardie nach drei erfolglosen Defibrillationsversuchen. Eine weite-
re Dosis von 150 mg kann bei wiederauftretendem o. schockrefraktärem
Kammerflimmern gegeben werden. Danach ist eine Infusion von
900 mg über 24 h indiziert.
• Hämodynamische Instabilität ist nach Reanimation üblich, mittleren
art. Druck auf normalem Niveau halten.
• Bewusstlose Erw. mit spontaner Zirkulation nach Kreislaufstillstand für
12–24 h auf 32–34 °C kühlen, keine Wiedererwärmung von Pat. > 33 °C.
• Defibrillation hat hohen Stellenwert in der Reanimation bei Erw., wird
inzwischen als Basismaßnahme („D“) angesehen. Zunehmende Verfüg-
barkeit von AED-Geräten (automatischer externer Defibrillator) in öf-
fentlichen Gebäuden: Programmierung erlaubt Anwendung auch durch
Laien.

4.2 Akute Bewusstseinsstörungen und


Bewusstlosigkeit
4.2.1 Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten

Sicherung der Vitalfunktionen: ABCD-Regel, Reanimation (▶ 4.1), Pat. ­initial


nicht unbeaufsichtigt lassen.
Wegen der fehlenden Kooperation des Pat. eingeschränkte neurol. Notfallunter-
suchung. Ziel: Vor evtl. notwendiger Sedierung u. Relaxierung (außer unter Re-
animationsbedingungen) „klin. Arbeitsdiagnose“ stellen.
170 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Anamnese und klinische Untersuchung


Bei Bewusstseinsgestörten oft nur Fremdanamnese möglich:
• Prodromi, akuter o. schleichender Beginn (akuter Beginn am ehesten bei
vask. Genese, z. B. Schlaganfall).
• Vorerkr. (Diab. mell., SHT, zerebrales Anfallsleiden) o. neurol. Vorbehand-
lung (Liquordrainagesystem bei Bewusstseinseintrübung → V. a. Hirndruck
bei Shuntdysfunktion).
• Medikamente, Drogen, Alkohol, soziale Situation (evtl. Intox., Entzugser-
scheinungen).
• Psychische Auffälligkeiten (evtl. Intox.; Suizidalität; katatoner, depressiver o.
dissoziativer Stupor).
Weitere wichtige anamnestische Anhaltspunkte:
• Zeitprofil der Sympt.:
– Zuerst Bewusstseinsstör. o. motorische Stör., danach Stör. von Atmung u.
Zirkulation → V. a. prim. zerebrale Urs.
– Zuerst kardiopulmonales Problem, danach Bewusstseinstör. durch sek.
O2-Mangel → V. a. extrazerebrale Urs.
• Internistische Erkr. o. Behandlung.
4 • Plötzliche Halbseitenlähmung bei Behandlung mit oralen Antikoagulanzien
→ V. a. Hirnblutung.
• Plötzliche Halbseitenlähmung bei Gefäß-Risikofaktoren bzw. -Vorerkr. u.
Herzerkr. mit Embolieneigung → Hirninfarkt.
• Bekannter Diab. mell., Insulinspritzen, Prodromi des Coma diabeticum (Po-
lyurie, Polydipsie, Adynamie) → V. a. Hypo-/Hyperglykämie.
• Bewusstlosigkeit nach prim. kardiopulmonalen Ereignissen → V. a. globale ze-
rebrale Hypoxie.
• Elektrolyt- bzw. Stoffwechsel-Vorerkr. (Hypothyreose, Leberzirrhose, Nieren-
insuffizienz, Addison-Krise) → V. a. Enzephalopathie bei Dekompensation.
• Bekanntes Tumorleiden → V. a. Hirnmetastasen o. Meningeosis neoplastica,
bei Knochenmetastasen → V. a. hyperkalzämische Enzephalopathie.

Die Notfalluntersuchung soll eine der folgenden Syndromdiagnosen erlau-


ben:
Nichttraumatische Bewusstseinsstör./Koma.
• Ohne neurol. Herdsympt. (meist bei Intox. o. metab. Stör.).
• Mit neurol. Herdsympt. (multifokal o. halbseitig; evtl. gekreuzt), meist
bei ZNS-Ischämien/-Blutungen.
• Mit Meningismus (meist bei Meningoenzephalitis o. SAB).
Äußere Zeichen:
• Blutiger Speichel, Zungenbiss, Urin- o. Stuhlabgang (→ V. a. Krampfanfall).
• Opisthotonus (→ V. a. Meningoenzephalitis, Tetanus, Psychogenität).
• Minderbewegung einer Halbseite (→ V. a. zerebrale Läsion).
• Herpetiforme Bläschen im Ohr (→ V. a. Varicella-Zoster-Infektion).
• Kopfverletzungen (→ V. a. traumatische Hirnläsion).
• Venöse Einstichstellen (→ V. a. Drogenabusus).
   4.2  Akute Bewusstseinsstörungen und Bewusstlosigkeit  171

Bei suggestiven äußeren Zeichen o. Sympt. an andere Urs. denken, z. B.:


• Kopfverletzung nicht als Urs. zerebraler Stör., sondern deren Folge (z. B.
Sturz mit Kopfplatzwunde nach Hirninfarkt).
• Ein Krampfanfall bei einem Epileptiker kann ausnahmsweise auch ein-
mal eine „neue“ Urs. haben.

Internistische Kernfunktionen
Atmung u. Kreislauf:
• Hypoventilation (neurol. Urs.): Hirnstammschädigung; ausgedehnte kortika-
le Schädigung; Stör. der Atemmechanik bei Myasthenie, GBS, fortgeschritte-
ner degenerativer Muskel- u. Motoneuronerkr. (z. B. Muskeldystrophie, ALS),
Intox. (z. B. Psychopharmaka, Antikonvulsiva).
• Hyperventilation (neurol. Urs.): „Maschinenatmung“ durch direkte Stimula-
tion des Atemzentrums bei indirekter (Hirndruck) u. direkter Mittelhirn-
schädigung o. Liquor-Azidose (z. B. Meningitis); Hyperventilationstetanie bei
psychogener Stör.
• Stör. des Atemmusters:
– Cheyne-Stokes-Atmung (periodisch ab- u. zunehmende Atemtiefe). Neu- 4
rol. Urs.: Große Hemisphärenläsion, bilaterale Großhirnläsion, Zwischen-
u. Mittelhirnläsion, Hirndrucksteigerung, Morphin, CO-Vergiftung, In-
tox. anderer Urs., z. B. metab. Stör.
– Biot-Atmung (ataktische Atmung; völlig unregelmäßiges Atemzugvolu-
men u. Atemfrequenz), z. B. bei Hirnstammläsionen.
– Kußmaul-Atmung (großes, tiefes Atemzugvolumen) bei metab. Azidose
z. B. durch ketoazidotisches o. urämisches Koma.
RR:
• Niedriger RR: Halbseitensymptomatik als Zeichen einer nicht ausreichenden
lokalen zerebraler Perfusion (z. B. bei hämodynamisch relevanter Karotisste-
nose) o. Verwirrtheit/hirnorganisches Psychosy. als Folge unzureichender
globaler zerebraler Perfusion.

Hypertonus bei Bewusstseinsgestörten kann Folge eines erhöhten Hirn-


drucks sein (= Cushing-Reflex: systemischer Hypertonus zur Sicherung des
zerebralen Perfusionsdrucks bei Hirndruck). Daher keine abrupten RR-Sen-
kungen bei „zerebralen Notfällen“ ohne bekannte Urs.

Puls u. EKG: Hinweise auf kardiale Genese zerebraler Sympt., z. B. Bewusstseins-
verlust durch kardiale Synkope, Schlaganfall durch kardiale Embolie.

Neurologische Kernfunktionen
Bewusstseinslage:
• Überprüfung durch Glasgow Coma Scale (▶ 27.1.2, ▶ Tab. 27.2).

• Beeinträchtigung der Reaktionen auf verbale Aufforderungen bei Pat.


mit Wernicke- o. globaler Aphasie kann Bewusstseinsstör. vortäuschen.
• Abgrenzung folgender komaähnlicher Zustände: Apallisches Sy.,
Locked-in-Sy., akinetischer Mutismus, psychogenes Koma, depressiver
Stupor, Katatonie.
172 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Hirnstammreflexe: Bei Ausfall tiefes Komastadium bzw. direkte o. indirekte Hirn-


stammschädigung:
• Kornealreflexe: Beidseitiger Ausfall spricht für Hirnstammschädigung, ein-
seitige Abschwächung kann Seite einer Hemisymptomatik anzeigen.
• Pupillen-Lichtreaktion: Pupillengröße, Symmetrie, Reaktion.
• Pupillenstör. bei metab. u. pharmakologischen Einflüssen:
– Weit, starr: Anoxie, Anticholinergika (Atropin, trizyklische Antidepressi-
va).
– Mittelweit, starr: Gluthetimid-Intox.
– Weit, reagibel: Sympathomimetika, Entzugssy. (Alkohol, Opiate).
– Eng: Opiat-Intox. (Lichtreaktion erhalten), Barbiturate, Chloraldurat,
metab. Enzephalopathien, CHE-Hemmer (z. B. Insektizide).
– Eng, deutliche Lichtreaktion: Hepatisches Koma, urämisches Koma, ande-
re metab. Urs.
• Okulozephaler Reflex:
– Passive Kopfbewegung horizontal u. vertikal führt zu gegenläufigen kon-
jugierten Bulbusbewegungen.
– Wird vom wachen Pat. unterdrückt („negativ“).
– Bei Sopor „positiv“.
4 – In tieferen Komastadien wieder Ausfall („neg.“) als Ausdruck einer Mit-
telhirn- u. Hirnstammläsion.
• Ziliospinaler Reflex: Ipsilaterale Erweiterung der Pupillen bei kräftigem
Kneifen des oberen Trapeziusrands (Supraklavikulargrube); pos. bei intakter
sympathischer Efferenz.
• Vestibulookulärer Reflex (VOR): Reaktion auf kalorische Reizung, bei kal-
tem Wasser:
– Nystagmus zur Gegenseite bei wachen Pat.
– Nur tonisch konjugierte Deviation zum gereizten Ohr durch Ausfall der
schnellen Komponente des Nystagmus bei komatösen Pat.
– Diskonjugierte Reaktion mit lediglich Abduktion des Auges auf der ge-
reizten Seiten bei zusätzlicher Läsion des Fasciculus longitudinalis media-
lis.
– Kompletter Ausfall der kalorischen Erregbarkeit bei Läsion der paramedi-
anen pontinen Formatio reticularis PPRF (DD pharmakolog. Einflüsse).
• Würgreflex: (Afferenz N. IX, Efferenz N. X): Spatel an Rachenhinterwand
löst reflektorisches Würgen u. Anhebung des Gaumensegels aus.
– Ausfall im Koma: Hirnstammschädigung (Medulla oblongata).
– Ausfall auch bei peripherer HN-Läsion (z. B. GBS).

Cave: Bei Ausfall besteht Aspirationsgefahr!

• Hustenreflex: Endotrachealer Absaugkatheter führt zu Hustenreflex. Ausfall


bei Schädigung der Medulla oblongata (Bulbärhirnsy.).

• Ausfall der Hirnstammreflexe bedeutet Wegfall der Schutzreflexe, daher


Intubationsbereitschaft u. intensive Überwachung!
• Bei Bewusstlosen mit Hirndruck kann die Auslösung des Würgreflexes
zu massivem Erbrechen mit Aspirationsgefahr führen! Intubationsbe-
reitschaft!
   4.2  Akute Bewusstseinsstörungen und Bewusstlosigkeit  173

• Spontane Augenstellung u. -bewegungen:


– Divergente Bulbi: < 15° Achsendivergenz ursachenunabhängig im Koma
durch reduzierten Muskeltonus möglich. Bei ausgeprägter Divergenz im
Koma meistens Schädigung der HN-Bahnen o. -Kerne im Hirnstamm,
sonst evtl. auch der Augenmuskeln o. der peripheren Augenmuskelner-
ven.
– Skew Deviation: Vertikale Divergenz der Bulbi (stehen in unterschiedli-
cher Höhe) bei Hirnstammläsion.
– Spontanes Hin- u. Herpendeln der Bulbi: „Schwimmende Bulbi“ unspezi-
fisch bei oberflächlichen Komastadien.
– Konjugierte Blickwendung nach einer Seite: Zeigt zerebrales Geschehen
an. Blick zum Herd der Großhirnläsionen. Blick weg vom Herd der Rei-
zung im Großhirn (z. B. epileptisch) o. Läsion im Hirnstamm.
– Spontane Vertikalbewegungen: Z. B. Ocular Bobbing = schnelle konju-
gierte Abwärtsdeviation mit langsamer Rückdrift: Läsion im Bereich Mit-
telhirn/Brücke.
– Nystagmus: Meist Blickrichtungsnystagmus (in Richtung des Blicks schla-
gend): Zentral-vestibuläre Läsion, z. B. Hirnstammischämie o. -blutung.
Tonus u. Motorik: Beurteilung von Spontan- u. reizinduzierter Motorik: Kneifen 4
in Gesicht, Klavikulabereich, Oberarm, Oberschenkel u. die dadurch hervorgeru-
fene Motorik beachten.
• Hinweise auf Hemiparese:
– Halbseitig verminderte Spontanbewegung u. verminderte Schmerzab-
wehr.
– Schlaffes Herabfallen einer vom Untersucher hochgehaltenen Extremität.
– Halbseitig hängender Mundwinkel u. vermindertes Grimassieren.
– Blasende Atmung aus paretischem Mundwinkel.
– Halbseitig abgeschwächter Kornealreflex.
• Hinweise auf ausgedehnte direkte o. indirekte Hirnstammschädigung: Reiz­
induzierter Streck- o. Beugetonus bzw. entsprechende Automatismen.
Reflexe u. Pyramidenbahnzeichen: Beurteilung des allg. Reflexniveaus (gestei-
gert, abgeschwächt, nicht auslösbar), Seitendifferenz u. Pyramidenbahnzeichen
(pos. Babinski-Reflex als einzig sicheres u. bewusstseinsunabhängiges Zeichen ei-
ner Pyramidenbahnschädigung).
Sensibilität, Koordination u. Sprache: Indirekte Hinweise auf Hypästhesie/Hyp-
algesie durch verminderte motorische Reaktionen (nicht gelähmter Extremitäten)
auf sensible Stimuli im entsprechenden Areal.

Meningismus kann im Koma bei Patienten mit Meningoenzephalitis oder


Subarachnoidalblutung fehlen (= „falsch negativ“)!
Typ. Sympt.-Konstellationen:
• Fieber, Infektion/Entzündung, subakuter Verlauf mit Kopfschmerz, Si-
nusitis, Otitis, Z. n. SHT mit Rhino-/Otoliquorrhö, Tbc-Anamnese, En-
dokarditis, Immunsuppression, HIV-Infektion o. -Risikogruppe → V. a.
Meningoenzephalitis.
• Plötzlicher Kopfschmerz u. evtl. zusätzliche neurol. Sympt., Auftreten
nach plötzlicher Anstrengung (Defäkation, Koitus) → V. a. SAB.
• Suizidalität: Suiziddrohung o. -anamnese, psychiatrische Erkr., sedie-
rende Medikamente → V. a. Intox.
174 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Psychomotorische Unruhe bei Bewusstseinsgetrübten durch Harnverhalt →


bei voller Blase transurethrale Katheterisierung.

4.2.2 Diagnostik
Akutdiagn.:
• Labor: Initial BB, BZ, Krea, GOT/GPT, CK, E'lyte, Blutgruppe, Kreuzprobe,
Quick, PTT, Thrombos, ggf. Blutgase u. pH.
• Intox.-Verdacht: Asservieren von Blut (EDTA, Serum), Magensaft, Urin.
Weiterführende Diagn.:
• Labor.
• CCT (evtl. mit CT-Angio). Z. B. Ischämie, Blutung, Hirnödem, Mittellinien-
verlagerung, Hydrozephalus, Fraktur.
• Evtl. zusätzliche Bildgebung:
– MRT (evtl. mit Angio-Sequenzen, DWI): Z. B. bei Hirnstammsy., V. a. Si-
nus-/Hirnvenenthrombose.
– Angio: Z. B. bei V. a. Sinus-/Hirnvenenthrombose, Dissektion, geplanter
4 lokaler intraart. Thrombolyse.
• Liquorpunktion: Z. B. Entzündung, Blutung. Ggf. Laktatspiegel im Liquor u.
NSE i. S. (Schweregrad u. Progn. des Komas).
• EEG: Grad der Allgemeinveränderung, Herdbefund, Anfallsäquivalente.
• ECD u. TCD: Z. B. Dissektion, Basilaristhrombose.
• Ggf. Angio: Aneurysmanachweis, V. a. Basilaristhrombose.
Bei erhöhtem Hirndruck besteht Einklemmungsgefahr, daher vor LP CCT!

4.2.3 Notfalltherapie
Grundprinzipien: Initial möglichst kurz wirksame u./o. antagonisierbare Sedati-
va u. Relaxanzien verwenden (Beurteilung Neurostatus!), z. B.:
• Sedierung: Midazolam (z. B. Dormicum®), Etomidat (z. B. Hypnomidate®),
Methohexital (z. B. Brevimytal®).
• Relaxierung: Suxamethoniumchlorid (z. B. Lysthenon®), Vecuroniumbromid
(z. B. Norcuron®), Atracurium (z. B. Tracrium®), Cis-Atracurium (z. B.
Nimbex®).
• Unklares Koma:
– Glukose 20–50 g i. v. u./o.
– Thiamin 100 mg i. v. (z. B. Benerva®) langsam unter RR- u. Pulskontrolle
(Wernicke-Enzephalopathie ▶ 24.8.1). NW: Anaphylaktische Reaktion!
• Status epilepticus (▶ 11.1.7).
• Vital bedrohliche Hirndruckentwicklung: Bolusinjektion von 100 ml Mannit
20 % i. v. (z. B. Osmofundin®; ▶ 4.6.4).
  4.3 Bewusstseinsstörungen  175

4.3 Bewusstseinsstörungen
4.3.1 Einteilung
▶ 3.16.2.
• Benommenheit: Wach, verlangsamte Reaktionen.
• Somnolenz: Schläfrig, leicht erweckbar, verzögerte Reaktion auf verbale,
prompte u. gezielte Reaktion auf Schmerzreize.
• Sopor: Erschwert erweckbar, deutlich verzögerte o. fehlende Reaktion auf
verbale Reize; verzögerte, noch gerichtete Abwehr von Schmerzreizen.
• Koma: Pat. nicht erweckbar, Augen bleiben geschlossen.
Beurteilung der Bewusstseinsstör. anhand der Glasgow Coma Scale (▶ Tab. 27.2)
o. Koma-Gradeinteilung (▶ Tab. 27.3).

Schmerzreaktion der Extremitäten fehlt bei Plegie o. Anästhesie. Pupillomotorik


ist gestört bei lokaler Läsion des N. oculomotorius o. N. opticus. Cave: Glasauge!

4.3.2 Differenzialdiagnosen 4
Differenzialdiagnosen anhand typischer Konstellationen
Postparoxysmal (▶ 11.1):
• Zungenbiss, Einnässen, tiefe forcierte Atmung, motorische Unruhe, sich
rückbildende Paresen o. auch fortbestehende fokal-motorische Anfälle.
• Diagn.: EEG.
Ischämie:
• Basilaristhrombose (z. B. Hirnstammreflexe, HN-Ausfälle, Tetraparese), gro-
ßer kortikaler Infarkt (z. B. Hemiparese, Spastik, Pyramidenbahnzeichen,
Blickwendung).
• Diagn.: Doppler-Sono, CCT/MRT, Angio.
Raumforderung mit Einklemmung:
• Supratentoriell mit Hemiparese u./o. Aphasie. Langsamer Beginn mit asym-
metrischen HN-Ausfällen (Fazialis-, Augenmuskelparese) in kraniokaudaler
Ausbreitung. Infratentoriell mit akutem Beginn (Nystagmus, Fazialis- u. Au-
genmuskelparesen), Strecksynergismen u. frühen Kreislaufregulationsstör.
• Diagn.: CCT, MRT.
Zerebrale Hypoxie:
• Nach Herzstillstand o. Schock akuter Beginn mit symmetrischen schlaffen
Lähmungen u. kranio-kaudaler Verschlechterung, Cheyne-Stokes- o. Kuß-
maul-Atmung.
• Diagn.: Anamnese (z. B. Rhythmusstör.), RR, Auskultation (z. B. Herzge-
räusch); BGA, CK, Troponin u. LDH i. S., EKG (z. B. Infarktzeichen), CCT
(z. B. Aufhebung der Mark-Rinden-Grenze).
Posttraumatisch o. Blutung:
• SHT (▶ 22.1), auch selten Eintrübung durch intrazerebrale Blutung (▶ 8),
SAB (▶ 8.3), EDH (▶ 22.2.1) o. SDH (▶ 22.2.2).
• Diagn.: Rö-Schädel, CCT.
Intox. (▶ 3.17):
• Miosis bei Morphin-Intox., Alkoholfoetor, Medikamentenverpackungen, In-
jektionsspuren, Anhalt für Suizidversuch.
• Diagn.: Analyse von Magensaft, Blut u. Urin.
176 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Metab.:
• Diab. mell., Leberversagen, Urämie, Addison-Krankheit: Beginn mit Ver-
wirrtheit u. Apathie, langsame Komaentwicklung, keine HN-Ausfälle. Reizer-
scheinungen wie Krampfanfälle, Asterixis, Myoklonien, Flapping tremor.
• Diagn.: Z. B. kaltschweißig, Foetor, Ikterus, Caput medusae. BZ, Krea, E'lyte,
Ammoniak, Leberenzyme.
Enzephalitis:
• Vorher Kopfschmerzen, Fieber, delirantes Sy., Anfälle.
• Diagn.: LP (sofortige Zellzahlbestimmung: Pleozytose), EEG, MRT.
Psychogen: Augenlider flattern oder werden zugekniffen (Bell-Phänomen bei
passivem Augenöffnen), okulozephaler Reflex unterdrückt, keine path. Reflexe,
kein Ausfall von Hirnstammreflexen.

Differenzialdiagnosen anhand der Klinik (▶ Tab. 4.1)


Tab. 4.1  Differenzialdiagnosen anhand der Klinik
Befund Mögliche Ursachen

Haut
4 Zyanose, Exsikkose, Schwitzen Hypoglykämie, Hyperthyreose

Heiße trockene Haut Thyreotoxisches Koma

Ikterus u. andere Leberhaut­ Coma hepaticum


zeichen

Schmutzig braune Haut Coma uraemicum

Gesichtsrötung Hypertonie, Coma diabeticum, Sepsis

Blässe Schock, Hypoglykämie

Petechien Meningitis (▶ 9.3.1), Sepsis

Osler Splits Bakt. Endokarditis

Blasenbildung Barbiturate (▶ 3.17.6)

Drucknekrosen Intox. (▶ 3.17)

Temperatur

Hypothermie Alkohol-, Barbituratintox., Hypothyreose

Hyperthermie Hitzschlag, cholinerges Sy., malignes neuroleptisches


Sy. (▶ 4.9.5), maligne Hyperthermie (▶ 4.9.7), Thyreo­
toxikose, Meningitis (▶ 9.3.1, ▶ 9.4.1), Sepsis, Herpes-
simplex-Enzephalitis (▶ 9.4.2), Delir (▶ 23.1)

Foetor

Geruch nach Alkohol Alkoholvergiftung (▶ 3.17.6)

Azeton/Obst Coma diabeticum

Leberartig Coma hepaticum

Harn Coma uraemicum

Aromatisch Intox. mit Drogen, zyklischen Kohlenwasserstoffen


(▶ 3.17)

Knoblauch Intox. mit Alkylphosphaten (▶ 3.17)


  4.3 Bewusstseinsstörungen  177

Tab. 4.1  Differenzialdiagnosen anhand der Klinik (Forts.)


Befund Mögliche Ursachen

Atmung

Hypoventilation Verlegung der Atemwege, Myxödem, zentral dämp­


fende Substanzen

Hyperventilation Mittelhirnläsion, Thyreotoxikose

Kußmaul-Atmung Bei metab. Azidose z. B. durch ketoazidotisches o. ur­


(groß, tief) ämisches Koma

Cheyne-Stokes Atmung (pe­ Z. B. bei Hirndrucksteigerung, Morphin-., CO-Vergif­


riodisch ab- u. zunehmende tung (▶ 3.17)
Atemtiefe)

Augen

Miosis Sympatholytika, Parasympathomimetika, Morphine,


Ponsblutung

Mydriasis Parasympatholytika, Alkohol, Kokain, Einklemmung


4
Anisokorie mit eingeschränk­ Raumforderung wie Hirnblutung (▶ 8), Hirntumor
ter/fehlender Lichtreaktion (▶ 13.6), ischämischer Insult (▶ 7.2)

Anisokorie mit normaler Intox. (▶ 3.17)


Pupillomotorik

Motorik

Hemiparese unter Einschluss Hirninfarkt (▶ 7.2), -kontusion (▶ 22.1.9), -blutung


des Gesichts (▶ 8), -tumor (▶ 13.6); Abszess (▶ 9.3.4); SDH o. EDH
(▶ 22.2.2, 22.2.1)

Rigor Akinetische Krise (▶ 4.9.1)

Stereotype Wälzbewegun­ Subkortikale Läsion


gen

Hyperkinesen Metab. o. tox. Hirnschädigung

Muskelfaszikulieren Alkylphosphatintox. (▶ 3.17)

Tonuserschlaffung Barbiturate, Tranquilizer, pontines/bulbäres Sy.

Weitere

Hirnstammbeteiligung Basilaristhrombose, Trauma, intraparenchymale


Blutung; Wernicke-Enzephalopathie (▶ 24.8.1);
­Tumoren; zentrale pontine Myelinolyse (▶ 24.8.1)

Multiple fokale Sympt. Multiple Infarkte; Enzephalitis; traumatischer o.


­ ypoxischer Hirnschaden; SVT
h

Meningismus Meningitis (▶ 9.3.1, ▶ 9.4.1); Enzephalitis (▶ 9.3.1);


SAB (▶ 8.3); Meningeosis carcinomatosa (▶ 13.6.17),
HWS-Trauma (▶ 22.4.5), Tetanus (▶ 4.9.4)

Fehlende Schmerzreaktion, Bulbusfehlstellungen, Zungenbiss o. Einnässen schlie-


ßen ein psychogenes Koma nicht aus.
178 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Differenzialdiagnosen anhand des Alters


Alte Menschen: Exsikkose, Hypoglykämie, hyperosmolares Koma, chron. SDH
(▶ 22.2.3), Intox. (z. B. durch Schlafmittel).
Jugendliche:
• Intox. (▶ 3.17): Medikamente, Alkohol, suizidal, Drogen (Cannabis, Opiate,
Kokain).
• Postiktaler Dämmerzustand.
• Diabetisches ketoazidotisches Koma.
• Bakt. Meningitis (▶ 9.3.1).
• Hitzschlag.
• SAB (▶ 8.3).
Differenzialdiagnosen anhand der zeitlichen Entwicklung des Komas
Schlagartig:
• Hirnblutung (hypertensive Massenblutung, intrazerebrale Hämatome, SAB).
• Zerebrale Ischämie durch art. (Basilaristhrombose, Luftembolie, embolischer
Hirninfarkt, ▶ 7) u. venöse Durchblutungsstör. (Hirnvenen-, Sinusvenen-
thrombose, venöse Infarkte).
4 • Epileptische Anfälle (Grand Mal ▶ 11.1.4, Temporallappenanfälle ▶ 11.1.4).
• Kreislaufstör. (RR-Abfall, Herzrhythmusstör., Karotissinussy., Lungenembolie).
• Hypoglykämie.
• Intox. (▶ 3.17).
Subakut innerhalb von Stunden:
• Vask.: EDH (▶ 22.2.1), hypertensive Enzephalopathie, Kontusion (▶ 22.1.9),
Hirninfarkt (▶ 7.2), Hydrocephalus occlusivus.
• Viral bzw. bakt.: Meningitis (▶ 9.3.1, ▶ 9.4.1), Herpes-simplex-Enzephalitis
(▶ 9.4.2), Sepsis.
• Metab. bzw. endokrin: Hyperosmolares o. ketoazidotisches Koma, Alkohol-
entzugsdelir, endokrines Koma.
• Tox.: Zentrale pontine Myelinolyse (▶ 24.8.1), Sedativa, CO, Drogen, Hypno-
tika (▶ 3.17).
Protrahiert innerhalb von Tagen:
• Vask.: Progredienter Hirninsult, SDH, intrazerebrale Blutung (▶ 8), raumfor-
dernd (Ödeme).
• Viral bzw. bakt.: Enzephalitis, bakt. Meningitis (▶ 9.3.1).
• Metab. bzw. endokrin: Metab. Koma, endokrines Koma, E'lytstör., Entzugs-
delir, Hyperglykämie, Hypothyreose, Hypopituitarismus.
• Kreislaufbedingt: Blutverluste, Anämie, Hypoventilation.
• Toxisch: Wernicke-Enzephalopathie, zentrale pontine Myelinolyse (▶ 24.8.1),
Sedativa, CO, Schwermetalle, Neuroleptika, Thymoleptika, Hypnotika.
• Psychiatrisch: Katatonie.
Differenzialdiagnosen anhand der Grund- und Begleiterkrankungen
Alkoholiker:
• Alkoholintox. (▶ 3.17.6). Methanol.
• Chron. SDH (▶ 22.2.3), SHT (▶ 22.1).
• Unterkühlung.
• Postiktaler Dämmerzustand.
• Alkoholische Ketoazidose, Hypoglykämie, hepatisches Koma, Hyponatriämie.
• Eitrige (▶ 9.3.1) o. tuberkulöse Meningitis (▶ 9.3.6).
• Akute Wernicke-Enzephalopathie (▶ 24.8.1).
• Delir (▶ 23.1).
  4.3 Bewusstseinsstörungen  179

Diabetiker:
• Hypoglykämie, hyperosmolares Koma, ketoazidotisches Koma.
• Sepsis, eitrige Meningitis (▶ 9.3.1).
Schwangerschaft: EPH-Gestose, postiktaler Dämmerzustand, Puerperalsepsis,
Fruchtwasserembolie.
Postop.: Narkoseüberhang, Hypothermie, Hyponatriämie, Hypoxie, dekompen-
sierte NNR-Insuff., intrakranielle Blutung (▶ 8), Aspiration, Luftembolie.
Malignom o. Immunsuppression:
• Ciclosporinenzephalopathie, Methotrexat- (▶ 24.8.2) o. Strahlenenzephalopa-
thie (▶ 13.4.4).
• Hydrozephalus.
• Hyperkalzämie (▶ 24.7.2), Hyponatriämie (▶ 24.7.1), iatrogene NNR-Insuff.
• Meningealkarzinomatose (▶ 13.6.17).
• Meningitis (Pilze ▶ 9.6, Tbc ▶ 9.3.6), Enzephalitis (Zytomegalie ▶ 9.4.5).
• Progressive multifokale Leukenzephalopathie (▶ 9.4.6).
Psychiatrische Vorerkr.: Hysterisches Koma, depressiver Stupor, Katatonie.

4.3.3 Folgezustände
4
Apallisches Syndrom (ICD-10 S06.7)
Def.: Syn.: Coma vigile; „persistent vegetative state“. Zustand der Wachheit mit
Fehlen jeglicher kognitiver Funktion, jeder zielgerichteten Handlung u. verbalen
Äußerung. Hirnstammfunktionen weitgehend intakt. Ätiol.: Isolierte Schädigung
des zerebralen Kortex durch Hypoxie (z. B. Atemstillstand, Beinahe-Ertrinken,
Aspiration), ischämischer Hirnschaden (z. B. Herz-Kreislauf-Stillstand), SHT, sel-
tener Enzephalitiden, tox. bzw. metab. Enzephalopathien.
Pathophysiologie: Subakuter o. chron. Ausfall der Funktionen des zerebralen
Kortex u. erhaltenes Aktivierungssystem der Formatio reticularis führen zu einer
Dissoziation von Bewusstsein u. Wachheit. Prognostische Faktoren für die Ent-
wicklung eines apallischen Sy. ▶ Tab. 4.2.

Tab. 4.2  Prognostische Faktoren für die Entwicklung eines apallischen Syn-
droms
< 12 Stunden 1 Tag 3 Tage

• Neg. VOR (▶ Tab. 4.6) • Keine konjugierten Keine motorische Antwort


• Fehlende Pupillenreakti­ spontanen Augenbewe­ außer Beugesynergismen
on auf Licht gungen
• Glukose > 300 mg/dl • Fehlen von spontanen
Bulbusbewegungen

Klinik:
• Augen geöffnet, „schwimmende Bewegungen“, optokinetischer Nystagmus
nicht auslösbar, Blick starr ins Leere gerichtet.
• Fehlen kognitiver, kortikaler Funktionen (Aufforderungen werden nicht be-
folgt, keine emotionale Beteiligung).
• Intermittierende, spontane u. sehr langsame Bewegungen der Extremitäten.
• Häufig erhöhter Muskeltonus.
• Auftreten oraler Automatismen (Saugen, Lecken der Lippen, Schmatzen),
Schnauz- u. Greifreflex auslösbar.
• Vegetative Stör.: Hyperthermie, Tachykardie, Hypersalivation.
• Harn- u. Stuhlinkontinenz.
180 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Diagn.:
• Klin. DD ▶ Tab. 4.3.
• EEG: Häufig schwere Allgemeinveränderung, aufgehobener Schlaf-Wach-
Rhythmus, gelegentlich auch Alpha-Grundaktivität o. nur leichte Allgemein-
veränderung.
• CMRT: Läsionsausmaß, insbes. Hirnstamm, ggf. fMRT zur Abgrenzung eines
„minimally consicious state“.

Tab. 4.3  Differenzialdiagnose der Bewusstseinsstörungen


Ätiologie Besondere Merk- Augenlider, Kognitive Läsion
male Vigilanz Leistung

Apalli- Hypoxie, Kein optokineti­ Augen ge­ Erloschen, Deafferen­


sches Sy. globale scher Nystagmus, öffnet, kein Fixie­ zierung
­Ischämie, Primitivreflexe Schlaf- ren
Hypoglyk­ (Schnauz-, Saug-, Wach-Pha­
ämie, Enze­ Greifreflexe), sen
phalitis, Kauen, Schmat­
Einklem­ zen
mung
4 Locked- Basilaris­ Strecksynergis­ Augen Voll erhal­ Deafferen­
in-Sy. thrombose, men, vertikale meist ge­ ten, aber zierung
Hirnstamm­ Augenbewegun­ schlossen, schwer er­
kontusion, gen möglich, Pat. aber kennbar
Ponsblu­ Spontanatmung wach
tung erhalten

Akineti- Hydroze­ Keine Spontanbe­ Augen ge­ Einge­ Fraglich


scher phalus, bila­ wegung, keine öffnet, schränkt, fehlende
Mutis- teraler An­ Abwehr auf Schlaf- aber vor­ frontale
mus teriorin­ Schmerzreize Wach-Pha­ handen, Aktivie­
farkt, fron­ sen schwer rung
tale prüfbar
Hirnblu­
tung

Prolon- Thalamusin­ Kurze Augen In Wach­ Temporäre


gierte farkt, hypo­ ­Erweckbarkeit, ­geschlossen, phasen er­ Blockie­
Hyper- thalamische Gähnen, Strecken, Schlaf (er­ halten rung reti­
somnie Blutung normale Schlafpo­ weckbar) kulärer
sition Afferenzen

Typ. ist das Fehlen einer EEG-Veränderung (z. B. Alpha-Blockade) nach


akustischen, visuellen o. Schmerzreizen.

Ther.:
• Ther. der Grunderkr.
• Frühzeitig Gespräch mit Angehörigen u. Klärung der Weiterbehandlung.
• Verlegung in Spezialklinik zur Langzeitbetreuung.
Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Bundesverband für Schädel-Hirn-Verletzte, Pat. im Wachkoma, apallisches
Durchgangssyndrom und ihre Angehörigen, Bayreuther Straße 33, 92224
­Amberg, Tel.: 09621/64800.
  4.3 Bewusstseinsstörungen  181

Progn.:
• In etwa 20 % Defektheilung. Restitutio ad integrum auch in der Frühphase
äußerst fraglich.
• Bei Dauer > 3 Mon. erlangen ∼10 % das Bewusstsein wieder, sind jedoch voll-
ständig auf Fremdhilfe angewiesen.
• Letalität innerhalb des 1. J. 60 %.
Locked-in-Syndrom
Pathophysiologie:
• Ausfall kortikobulbärer u. kortikospinaler Bahnen, Ausfall von Teilen der
pontinen Formatio reticularis u. der HN-Kerne durch bilaterale Schädigung
des ventralen Teils der Brücke.
• Lähmung der Extremitäten, der motorischen HN.
• Erhalt von vertikalen Augenbewegungen, Lidschlag u. Atemfunktion.
! Durch Aussparung des dorsalen Anteils der Brücke bei intaktem Mittelhirn
sind Bewusstsein u. Wachheit voll erhalten.
Ätiol.: Ischämie durch Thrombose der A.  basilaris, pontine Blutung (selten bei
Miller-Fisher-Sy. ▶ 19.9.2), Hirnstammenzephalitis, Tumor, pontine Myelino-
lyse.
Klin. Bild:
4
• Tetraplegie mit Parese der kaudalen HN; Ausfall aller motorischen HN-
Funktionen (mit Ausnahme der vertikalen Augenbewegungen u. Lidbewe-
gungen) u. aller Hirnstammreflexe.
• Unfähigkeit, zu schlucken o. zu sprechen.
• Wachheit u. Bewusstsein erhalten.
! Kommunikation ausschließlich über vertikale Augenbewegungen u. Lid-
schlag.
• Erhaltene Sensibilität (auch für Schmerz).
• Atmung häufig eingeschränkt, aber nicht aufgehoben.
Akinetischer Mutismus
Def.: Keine Spontanmotorik o. verbalen Äußerungen, aber Wachheit bei intakter
Pyramidenbahn.
Ätiol.: Ausgedehnte Demyelinisierung (subakut sklerosierende Panenzephalitis),
CO-Vergiftung (▶ 3.17), Hydrocephalus occlusivus.

4.3.4 Psychiatrische Differenzialdiagnose des Komas


Psychogenes Koma
Klinik:
• Keine Reaktion auf stärkste Schmerzreize (unterdrückt).
• Dazu diskrepant: Hirnstammreflexe o. B., Spontanatmung gut, aktives Zu-
kneifen der Augenlider bei Öffnungsversuch, prompte Lidschlussverstärkung
bei leichter Berührung der Wimpern, über Gesicht losgelassener Arm wird
evtl. zum Schutz abgebogen o. verharrt.
Urs.: Psychische Erkr. (dissoziative Stör., katatone Schizophrenie, depressiver
Stupor), Konfliktreaktion („Totstellen“).
Therap. Konsequenz:
• Vermeiden invasiver Ther.
• Depressiver Stupor u. Katatonie: Lorazepam (z. B. Tavor®).
182 4  Notfälle und Intensivtherapie  

4.4 Analgosedierung und
Katecholamintherapie
4.4.1 Grundlagen der Analgosedierung
Ziel:
• Angst- u. Schmerzfreiheit.
• Vermeidung von Stressreaktionen u. erhöhtem Sympathikotonus.
• Tolerieren der maschinellen Beatmung.
Prinzip:
• Immer Komb. aus Analgetikum, Sedativum u. ggf. supportiver Medikation.
• Individuelle Anpassung an Bedürfnisse des einzelnen Pat. Kriterien zur
­Medikamentenauswahl u. Dos.: Grunderkr., aktueller somatischer Zustand
des Pat., psychische Situation des Pat., Schmerzintensität, Medikamentenin-
teraktionen, bestehende Organinsuff., geplante Dauer u. individuelles Ziel der
Analgosedierung.
Beurteilung der Tiefe der Analgosedierung: Z. B. anhand Ramsay-Score (▶ Tab.
4 4.4).

Tab. 4.4  Ramsay-Score


Score Sedierungstiefe

1 Ängstlich, unruhig, agitiert Wach

2 Kooperativ, orientiert, ruhig Wach

3 Reagiert nur auf Kommandos Wach

4 Prompte Reaktion auf taktile o. laute akustische Reize Schlafend

5 Träge Reaktion auf taktile o. laute akustische Reize Schlafend

6 Keine Reaktion Schlafend

Allg. Richtlinien zur Dosierung:

Kein fixes Schema! Das Verhältnis von Analgesie- u. Sedierungsbedarf kann


sich im Verlauf ebenso ändern wie der Gesamtbedarf; deshalb immer flexibel
dem Bedarf anpassen: So viel wie nötig, so wenig wie möglich!

• Antagonisierbare Substanzen o. Substanzen mit kurzer HWZ sind in der


Neurologie wegen der notwendigen Beurteilung der Bewusstseinslage vorteil-
haft.
• Bolusgabe zwar möglich; zugunsten einer adäquaten Dosisapplikation konti-
nuierliche i. v.-Gabe (Perfusor) aber vorziehen.
Probleme u. KO:
• Eingeschränkte klin.-neurol. Beurteilbarkeit.
• Medikamenteninteraktionen.
• Kumulation u. verzögertes Erwachen.
• Toleranzentwicklung u. Gewöhnung.
• Entzugserscheinungen nach Absetzen o. Dosisreduktion.
   4.4  Analgosedierung und Katecholamintherapie  183

4.4.2 Substanzen/Substanzkombinationen der
Analgosedierung
Benzodiazepine
• Verstärkung der GABA-Wirkung.
• Wirkungen: Sedierung, Anxiolyse, antikonvulsiv, Amnesie.
• Probleme: „Ceiling-Effekt“ (Sedierungsgrad kann nicht unbegrenzt durch
Dosisererhöhung gesteigert werden).
• Bevorzugtes Präparat: Midazolam (z. B. Dormicum® 5 mg/1 ml, 15 mg/3 ml)
ist bes. geeignet aufgrund seiner kurzen HWZ u. Wasserlöslichkeit.
– Vorteil: Antagonisierbar mit Flumazenil (Anexate®) (cave: Provokation
von Entzugserscheinungen, Krampfanfällen, ICP-Anstiegen).
– Dos.: Zur Narkoseeinleitung 0,1–0,2 mg/kg KG i. v.; zur Sedierung als
Dauerinfusion 0,05–0,2 mg/kg KG/h i. v.

Neuroleptika
• Hemmung dopaminerger Übertragung im ZNS.
• Eingesetzt werden Butyrophenone (Haldol, Droperidol) u. Phenothiazine.
• Wirkung: Dämpfung der emotionalen Erregbarkeit, Antriebsminderung bei 4
erhaltener Kooperation; RR-Abfall durch kurzfristige Blockade der Alpha-
Rezeptoren.
! Bei Intensivpat. ist die ausgeprägte antiemetische Wirkung vorteilhaft u.
die durch Sympathikolyse entstehende Darmmotilitätssteigerung.
• Ind./Einsatz: Entzugsprobleme von Alkohol (Delir) o. auch von Sedativa.
• Bei evtl. extrapyramidalen NW Biperiden (Akineton®) i. v.
• Dos. von Droperidol (z. B. Dehydrobenzperidol): ED 2,5–10 mg i. v.; Dauer-
infusion 2,5–15 mg/h i. v.
• Mögliche Verstärkung eines unerkannten zentralen anticholinergen Sy.
Barbiturate
• Verstärkung der GABA-Wirkung.
• Häufigste Wirkstoffe: Methohexital (z. B. Brevimytal®), Thiopental (z. B. Tra-
panal®).
• Wirkung: Allg. Suppression der ZNS-Aktivität; antikonvulsiv (bei der Be-
handlung des Status epilepticus), hirndrucksenkend u. hirnprotektiv. Kein
Ceiling-Effekt.
• Nachteile: RR-Abfall, Reflextachykardie, geringe therap. Breite.
• KI: Akute Intox., akute intermittierende Porphyrie, Schock, Hypovolämie,
schwere Leberfunktionsstör., dekompensierte Herzinsuff., Mitralklappenste-
nose, Asthma bronchiale, Low-cardiac-Output-Sy.
• Dos. von Thiopental: ED 3–7 mg/kg KG i. v.; Dauerinfusion 3–5 mg/kg KG/h
i. v. (bei Status epilepticus ▶ 11.1.7).

Clonidin (α-Rezeptoragonist)
Z. B. Catapresan® 0,15 mg/Amp.
• Wirkung: Zentrale α2-Rezeptorenstimulation mit sedierenden, antinozizepti-
ven u. vegetativ dämpfenden Eigenschaften.
• Ind.: Häufigster Einsatz zur Minderung der vegetativen Sympt. beim Alko-
hol-, Opiatentzug sowie in der Weaningphase nach Langzeitsedierung (Hy-
pertonie, Tachykardie, Schwitzen, Hyperthermie, Tremor, psychomotorische
Unruhe).
184 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• Dos.: Initialbolus von 0,15 mg (= 1 Amp. in 10 ml NaCl 0,9 %) bis 0,6 mg über
15 Min. i. v.; Dauerinfusion 40–180 μg/h i. v. Dosistitration (evtl. höher dosie-
ren).

Bradykardie; wegen Gefahr der Rebound-Hypertonie Ther. mit Clonidin


über einige Tage ausschleichend beenden.

Propofol
Z. B. Disoprivan® 1 % 200 mg/20 ml, 500 mg/50 ml.
• Modifikation des GABA-Rezeptors.
• Wirkung: Ultrakurz wirksames barbituratfreies Hypnotikum, gut steuerbar,
kann bis zum „Burst Suppression“ dosiert werden. Trotz neuroexzitatorischer
Phänomene (Opisthotonus, Muskelrigidität, Myoklonien) u. der beschriebenen
NW „epileptiforme Krämpfe“ zunehmend erfolgreicher Einsatz der antikonvul-
siven Wirkung in der Ther. des Status epilepticus. Kurze HWZ (nach ED Wir-
kungseintritt nach 30–45 s, Wirkdauer ca. 5 Min.), damit kaum Kumulierung.
• Keine Bronchokonstriktion.
4 • Zur Langzeitsedierung bis max. 7 d zugelassen.
• Dos.:
– Narkoseeinleitung: 2–4 mg/kg KG i. v.
– Infusion zur Aufrechterhaltung der Narkose 0,1–0,2 mg/kg KG/Min. (6–
12 mg/kg KG/h).
– Bei Status epilepticus bis 10 mg/kg KG/h i. v.

Bei SHT-Pat. wurde bei Dosen > 5 mg/kg KG/h ein gehäuftes Auftreten eines
letalen Propofol-Infusions-Sy. (metab. Azidose, Rhabdomyolyse, Herzversa-
gen, Arrhythmien) beschrieben.

Etomidat
Z. B. Hypnomidate® 10 ml = 20 mg/Amp.
• Modifikation des GABA-Rezeptors. Allg. Suppression der ZNS-Aktivität.
• Wirkung: Barbituratfreies ultrakurz wirksames Hypnotikum ohne analgeti-
sche Komponente; nur wenige Min. Wirkdauer.
• Zur Kurznarkose (z. B. Intubation, Pat. „atmet weiter“) geeignet; zur Lang-
zeitsedierung wegen Nebennierenrindensuppression nicht anzuraten.
• Dos. zur Narkoseeinleitung: 0,2–0,4 mg/kg KG i. v.
Ketamin
Z. B. Ketanest® 50 mg/5 ml, 200 mg/20 ml, 100 mg/2 ml, 500 mg/10 ml.
• NMDA-Antagonist.
• Wirkung: In niedriger Dos. analgetisch; in höheren Dosen hypnotisch. sym-
pathikomimetisch dissoziative Anästhesie (erloschenes Bewusstsein, meist
kaum verminderte Spontanatmung, weitgehend erhaltener Schluckreflex).
Häufig Albträume, von daher Komb. mit Benzodiazepin o. Propofol. Einsatz
v. a. bei Bronchospastik o. hämodynamischen Problemen.
• Dos.:
– Analgesie: 0,2–0,5 mg/kg KG i. v.
– Narkoseeinleitung: 1–2 mg/kg KG i. v.
– Langzeitsedierung: 0,7–1,5 mg/kg KG/h in Komb. mit Benzodiazepinen.
   4.4  Analgosedierung und Katecholamintherapie  185

Opioide
▶ 6.1.5, ▶ 6.1.9, ▶ 6.1.10.
• Spezifische Wirkung an zerebralen u. spinalen Opioidrezeptoren.
• Wirkung: Hauptanteil der analgetischen Intensivther. durch Morphinderiva-
te (Fentanyl, Alfentanyl, Sufentanil, Remifentanil).
• NW: Atemdepression, Übelkeit, Erbrechen, Miosis, Bronchospasmus, vago-
mimetische Wirkung (RR-Abfall, Bradykardie).
• Dos. (z. B. Fentanyl): Narkoseeinleitung 2–10 μg/kg KG i. v.; Dauerinfusion
zur Analogsedierung 0,1–0,4 mg/h i. v.

Nichtopioidanalgetika
▶ 6.1.1, ▶® 6.1.2, ▶ 6.1.3, ▶ 6.1.4. Z. B. Metamizol (z. B. Novalgin®), Diclofenac (z. B.
Voltaren ), ASS.

Häufigste Kombinationen der Analgosedierung


• Opioid + Benzodiazepin, z. B. Fentanyl + Midazolam.
• Opioid + Barbiturat, z. B. Fentanyl + Thiopental (z. B. Hirndruck, Status epi-
lepticus).
• Opioid + Propofol, z. B. bei Status epilepticus (kurze Wirkdauer u. gute Steu- 4
erbarkeit).
• Benzodiazepin + Ketamin, z. B. wegen sympathikomimetischer Wirkung bei
hämodynamischen Problemen günstig; gilt bei Hirndruck als nicht geeignet.

4.4.3 Katecholamintherapie
Wirkungsmechanismus
Dosis-, d. h. konzentrationsabhängige Wirkung auf verschiedene Rezeptortypen.

Indikationen
Reanimation u. Aufrechterhalten einer suffizienten Herz-Kreislauf-Funktion (v. a.
zur Stabilisierung eines ausreichenden art. Mitteldrucks).

Katecholamine

Katecholamine nur in Komb. mit adäquatem Volumenersatz geben.

Adrenalin: Z. B. Suprarenin® 1 mg/1 ml-Amp., 25 mg/25 ml-Flasche.


• Wirkung: Stimuliert alle sympathischen Rezeptoren. Bei hoher Dos. über-
wiegt Alpha-Stimulation; Anhebung von RRsyst u. RRdiast; pos. ino-, chrono-,
bathmo-, dromotrop. Hirndurchblutung u. zerebraler O2-Verbrauch werden
ohne Änderung des zerebralen Gefäßwiderstands bei kontinuierlicher Gabe
dosisabhängig vermehrt.
• Pharmakokinetik: HWZ 3–10 Min., Wirkdauer 3–5 Min., Verteilungsvolu-
men 0,3 l/kg KG.
• Ind.: Medikament der 1. Wahl bei allen Reanimationssituationen, anaphylak-
tischer Schock, atropinrefraktäre, hämodynamisch wirksame Bradykardien.
• Dos.: 1 mg i. v. alle 3–5 Min. Bei Wirkungslosigkeit auch Dosiseskalation bis
0,1 mg/kg KG. Intratracheale Appl. möglich: 2–3-fache i. v.-Dosis (mit 10 ml
NaCl 0,9 % verdünnen).
186 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• NW: Tachykardie, Herzrhythmusstör., Koronarischämie, Kammerflimmern,


Lungenödem, K+ ↓, BZ ↑, metab. Azidose, Krampfanfall, Oligo-/Anurie, Te-
mor.
Noradrenalin: Z. B. Arterenol® 1 mg/1 ml, 25 mg/25 ml.
• Wirkung: Sympathomimetikum mit Wirkung auf β1- u. α-Rezeptoren.
• Pharmakokinetik: HWZ 1–3 Min., Wirkdauer 1–2 Min., Verteilungsvolu-
men 0,3 l/kg KG.
• Ind.: Wichtiges Mittel zur RR-Steigerung, oft in Komb. mit Dobutamin, sep-
tischer u. anaphylaktischer Schock.
• Dos.:
– Bolusgabe: Initial ⅓ Amp. = 0,3 mg i. v. (in 10 ml NaCl 0,9 % verdünnen).
– Perfusor: 5 Amp. + 45 ml NaCl 0,9 %; 1 ml = 0,1 mg. Dosis: 0,05–0,4 mg/kg
KG/Min. = 3–12(50) ml/h.
• NW: Herzrhythmusstör., RR-Anstieg mit Reflexbradykardie, BZ ↑, Übelkeit,
Erbrechen, Hypersalivation, Harnverhalt.
• Weitere eingesetzte Substanzen: Dopamin, Dobutamin.

4 4.5 Beatmung
Die beste Atmung ist die Spontanatmung; deshalb immer prüfen, ob Beat-
mung vermeidbar.

4.5.1 Intermittierende Maskenbeatmung
Ziel:
• Zunächst möglich bei passageren respiratorischen Problemen o. Unsicherheit
über das weitere Beatmungsregime (z. B. bei Pat. mit neuromuskulären Erkr.).
• Im Bereich der Heimbeatmung wurden Konzepte für eine intermittierende
Beatmung (ebenfalls maschinell) durch Masken entwickelt.
• Vorteil: Geringe Invasivität.
• Nachteile: Kooperation des Pat. u. aufwendige psychische Betreuung notwen-
dig.
Ind.:
• Überbrückung bei schwieriger o. unmöglicher Intubation.
• Maskennarkose im Rahmen kurz dauernder Eingriffe.
• Neuromuskuläre Erkr. (z. B. Myasthenia gravis).
• Pat. nach Langzeitbeatmung (Ermöglichung der Extubation).

4.5.2 Invasive maschinelle Beatmung


Ziel:
• Sicherstellung u. Optimierung der pulmonalen Ventilation.
• Aufrechterhaltung des pulmonalen Gasaustausches.
• Sicherung der Atemwege bei Aspirationsgefahr (z. B. Schluckstör.).
• Minimierung möglicher Schäden durch die Beatmung.
• Frühstmögliche Entwöhnung.
Ind.:
• Respiratorische Insuff.
• Ausgeprägte Dyspnoe.
  4.5 Beatmung  187

• Diskoordination der Atembewegungen mit abdominalen Einziehungen wäh-


rend der Inspiration.
• Abfall der Atemfrequenz nach initialer Tachypnoe.
• Zunehmende Zyanose als Zeichen der Hypoxämie.
• Dysphagie mit Aspirationsgefahr.
• Wegfall der Schutzreflexe mit Aspirationsgefahr.
Kriterien zur Beatmung:
• Keine pulmonalen Vorerkr.:
– Atemfrequenz > 35/Min. bzw. < 7/Min., pO2 < 70 mmHg unter O2-Zufuhr
(ca. 6 l/Min.).
– pCO2 > 55–60 mmHg (▶ Tab. 4.5).
– Vitalkapazität (v. a. bei neuromuskulären Erkr. wesentlicher Parameter)
< 1.000 ml bzw. drastischer Abfall.
– Zeichen der Erschöpfung.
• Bei adaptierten chron. pulmonal o. neuromuskulär erkrankten Pat. Entschei-
dung nach individuellen klin. Kriterien:
– Medikamentös erschöpfend behandelte Dyspnoe.
– Drohende Erschöpfung der Atemarbeit.
– Kardiale u. hämodynamische KO der Dyspnoe (RR-Abfall, Tachykardie,
Herzrhythmusstör.).
4
– Stör. des Atemantriebs bei zunehmender O2-Insufflation.

Zurückhaltende Ind. bei infausten o. terminalen Krankheitsbildern.

Tab. 4.5  Parameter zur Beatmungsindikation


Parameter Normalwerte Beatmungsindikation

Atemfrequenz (/Min.) 12–20 > 35 bzw. < 7

Vitalkapazität (ml/kg KG) 65–75 < 10

Oxygenierung paO2 (mmHg) 70–100 (21 % O2) < 70 (O2-Gabe)

Kohlendioxid paCO2 (mmHg) 35–55 > 60 (Ausnahme chron.


adaptiert)

Beatmungsformen
Kontrollierte Beatmung: Maschinelle Beatmung ohne wesentliche Einflussmög-
lichkeiten des Pat.
• IPPV: Intermittent positive pressure ventilation.
• CPPV: Continuous positive pressure ventilation (IPPV + PEEP).
• PEEP: Positive endexpiratory pressure.
Assistierte Beatmung:
• ASB: Assisted spontaneous breathing.
• (S)IMV: Synchronized intermittent mandatory ventilation.
• CPAP: PEEP unter Spontanatmung.
• BIPAP: Biphasic positive airway pressure.
Grundeinstellung einer kontrollierten (IPPV-)Beatmung:
• AZV (Atemzugvolumen): 8–10 ml/kg KG (z. B. 700 ml bei 70 kg), niedriger
bei Sepsis u. ARDS; bei ARDS 6–8 ml/kg KG.
188 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• AMV (Atemminutenvolumen): 100–120 ml/kg KG/Min. (bei 60 kg 6,0–7,2 l/


Min.)
• Frequenz: 8–12/Min. (bei schlechter Compliance Frequenz eher höher, z. B.
12–15/Min., um Spitzendruck niedrig zu halten).
• PEEP: 5–15 cmH2O (immer zum Offenhalten der Alveolen).
• I/E-Verhältnis (Inspiration/Exspiration): 1 : 2.
• Inspiratorische O2-Konz. (FiO2; so niedrig wie möglich, so viel wie nötig):
0,3–1,0 je nach BGA.
• PIP (peak inspiratory pressure) 15–25 cmH2O.
Tracheotomie
• Ind.: Notwendigkeit einer länger dauernden Beatmung o. mittelfristig weiter
bestehende Aspirationsgefahr (Zeitgrenze 1–2 Wo., da zunehmende Gefahr
durch Langzeitintubation eine Tracheomalazie zu verursachen; gilt auch bei
Niederdruck-Cuffs).
• Methode: Konventionelle o. perkutane Punktionstracheotomie.
Relaxierung
4 • Notwendigkeit abhängig von Analgosedierung u. Beatmungssituation.
• Bei ausreichender Analgosedierung i. d. R. nicht notwendig.
• Ind. bei bes. Beatmungssituationen (z. B. nicht beherrschbarem „Gegenat-
men“, problematischer Oxygenierung), bei Tetanus, zur Bronchoskopie not-
wendig.
• Wahl des Relaxans in Abhängigkeit von der gewünschten HWZ (lang, z. B.
Pancuronium; kurz/mittellang, z. B. Atracurium) u. dem NW-Profil.

4.5.3 Weaning (Entwöhnung vom Respirator) und Extubation


Weaning
Def.:
• Schrittweise Reduktion der Invasivität der Beatmung mit dem Ziel der Spon-
tanatmung.
• Reduktion der FiO2, Normalisierung des Atem-Zeit-Verhältnisses, Reduktion
des PEEP-Niveaus in kleinen Schritten, Reduktion der inspiratorischen Un-
terstützung bei augmentierenden Beatmungsverfahren.
• Neben „schrittweisem“ Weaning auch als Wechsel zwischen kontrollierter
Beatmung u. Spontanatmung, v. a. bei neuromuskulären Erkr.
Voraussetzungen:
• Hämodynamische Stabilität.
• Infekte sind effektiv zu behandeln.
• Pat. fieberfrei; keine Blutung.
• Keine weiteren geplanten Eingriffe.
• Suffizienter Atemapparat.
• Ausgeglichener Säure-Basen-Haushalt.
• Ausreichende Spontanatmung mit den Kriterien:
– Atemfrequenz < 30/Min. (Extubation < 25/Min.).
– pO2 > 60 mmHg bei FiO2 ≤ 0,4, pCO2 < 38 mmHg.
– PEEP < 12 cmH2O (Extubation ≤ 5 cmH2O).
– AMV < 18 l/Min. (Extubation < 10 l/Min.).
  4.6 Hirndruck  189

Extubation
Voraussetzungen: Bereitschaft zur Reintubation.
Vorgehen:
• Bei traumatischer Intubation o. vorangegangener Langzeitbeatmung evtl. 50–
100 mg Prednisolon i. v. ca. 30 Min. vor Extubation.
• Absaugen durch den Tubus.
• Tubusfixierung lösen, entblocken u. rasch herausziehen.
• Oberkörper 45° hochlagern. Ständige Überwachung u. Pulsoxymetrie.
KO:
• Entzugserscheinungen einer Analgosedierung (psychomotorische Unruhe,
Agitiertheit, vegetative Sympt. mit Schwitzen, Tachykardie, Tachypnoe).
Ther.: Niedrig dosierte Gabe von Propofol, Clonidin, evtl. Neuroleptika (z. B.
DHBP).
• Inspiratorischer Stridor durch subglottische Schwellung. Behandlungsver-
such z. B. mit lokaler Appl. bzw. Inhalation von sog. Hutzli-Lsg. (5 mg
α-Chymotrase + 1 mg Fortecortin + 0,5 mg Suprarenin 1/1.000 + evtl. 5 mg
Refobacin mit NaCl 0,9 % auf 10 ml).

4.6 Hirndruck 4

4.6.1 Klinik
Akute intrakranielle Drucksteigerung (ICD-10 G93.5)

Phasen der akuten intrakraniellen Drucksteigerung


• Phase 1: Initial Kopfschmerzen, Übelkeit, Nüchternerbrechen, Nacken-
steife, psychische Veränderungen wie Verwirrtheit, Desorientiertheit,
Verlangsamung. DD: Delir (▶ 23.1), demenzielles Sy. (▶ 23.2), Somno-
lenz.
• Phase 2: Zunehmende Bewusstseinsstör. (Sopor), Massen- u. Wälzbewe-
gungen, ungerichtete Schmerzabwehr, Bulbusdivergenz o. „schwimmende
Bulbi“, Hirnstammreflexe erhalten, Stör. der Atmung (z. B. Hyperventila-
tion, Tachypnoe) möglich.
• Phase 3: Koma, ein- o. beidseitige path. motorische Muster (Beuge- o.
Strecksynergismen), Pupillenstör. (Anisokorie, Abschwächung der Licht-
reaktion ein- o. beidseitig), andere Hirnstammreflexe teilweise gestört,
path. Atmung (Cheyne-Stokes, Tachypnoe).
• Phase 4: Koma, keine o. Reste path. motorischer Reaktionen o. Spontan-
bewegungen, bds. weite, lichtstarre Pupillen, zunehmendes Erlöschen aller
anderen Hirnstammreflexe, schwere Atemstör. (Maschinenatmung,
Schnappatmung bis Atemstillstand).

Einklemmung (Herniation)
Entspricht Phase 3 u. 4 u. geht mit charakteristischem Hirnstammsy. einher.
Transtentorielle Herniation: Diffuse supratentorielle Volumenzunahme, z. B.
durch ein Hirnödem mit „Einklemmung“ mediobasaler Anteile des Temporallap-
pens in den Tentoriumschlitz („obere Einklemmung“; ▶ Abb. 4.3). Initial dienze-
phales Sy.:
190 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• Verhaltensänderung u. Vigilanzminderung: Konzentrationsschwäche, Orien-


tierungslosigkeit, Eintrübung.
• Horner-Sy.: Ptosis, Miosis, Enophthalmus, ein- o. doppelseitig.
• Langsame Augenbewegungen, evtl. Cheyne-Stokes-Atmung, enthemmter
okulozephaler Reflex (▶ Tab. 4.6), spontane Massen- u. Wälzbewegungen, ge-
zielte Abwehr von Schmerzreizen.
• Bei umschriebenen supratentoriellen Prozessen (z. B. EDH) zunächst ipsilate-
rale Sympt.:
– Okulomotorische Sympt.: Initial Reizmiosis, dann einseitige Mydriasis
(wichtiges Frühsympt.!) mit erloschener Lichtreaktion (innere Okulomo-
toriuslähmung), später auch komplette Okulomotoriusparese (Bulbusab-
weichung nach außen unten, Ptose, max. weite, lichtstarre Pupille).
– Ipsilaterale Hemiparese durch Druck auf kontralateralen Pedunculus ce-
rebri (hier verläuft die noch ungekreuzte Pyramidenbahn der Gegenseite!)
durch das Tentorium cerebelli, später auch bilaterale Parese.

Ventrikel- obere Einklemmung untere Einklemmung


verlagerung im Tentoriumschlitz im Foramen
occipitale magnum

Abb. 4.3  Untere u. obere Einklemmung [L106]

Tab. 4.6  Hirnstammsyndrome bei transtentorieller Herniation


Spätes dienze- Mesenzepha- Pontines Sy. Bulbäres Sy.
phales Sy. les Sy.

Atemmuster Cheyne-Stokes Maschinenat­ Regelmäßig o. Ataktisch,


mung o. ataktisch Cluster,
Cheyne-Stokes Schnapp­
atmung o.
Apnoe

Antwort auf Keine o. Beu­ Streckung der Fehlt, Tonus Fehlt, Tonus
Schmerzreize gung der Arme Arme u. Beine schlaff schlaff
im Gesicht u. Streckung
der Beine

Babinski- Positiv Positiv Positiv Fehlt


Zeichen
  4.6 Hirndruck  191

Tab. 4.6  Hirnstammsyndrome bei transtentorieller Herniation (Forts.)


Spätes dienze- Mesenzepha- Pontines Sy. Bulbäres Sy.
phales Sy. les Sy.

Pupillenweite Eng, isokor Mittelweit, Mittelweit, Weit, entrun­


­anisokor, evtl. ­anisokor, evtl. det
entrundet entrundet

Lichtreflex Prompt, gering Fehlt o. träge Fehlt Fehlt

Kornealreflex Erhalten Erhalten Erschöpflich o. Fehlt


(▶ Kap. 1.1.4) fehlt

Okulozephaler Puppenkopf­ Dyskonjugiert Fehlt Fehlt


Reflex1 phänomen

VOR2 Tonisch, konju­ Tonisch, konju­ Fehlt Fehlt


giert giert o.
­tonisch, dys­
konjugiert

Hustenreflex Auslösbar Auslösbar Auslösbar Schwach bis


fehlend
4
Vegetative – Hyperthermie, Hyperthermie, Hypothermie,
Sympt. Tachykardie, Tachykardie Hypotonie,
Hypertonie Rhythmus­
stör.
1
 Okulozephaler Reflex („Puppenkopfphänomen“): Bei passiver Kopfdrehung
Bewegung der Augen in entgegengesetzte Richtung.
2
 VOR: Tonische, konjugierte Blickwendung zur Seite des kalt gespülten (30 °C)
Ohrs.

Herniationen in der hinteren Schädelgrube:


• Seltener, bei Raumforderungen in der hinteren Schädelgrube.
• Herniation von Anteilen des Kleinhirns in den Tentoriumschlitz von unten.
• Herniation der Kleinhirntonsillen in das Foramen occipitale magnum (Hypo-
tonie, unregelmäßige Atmung).

Chronische intrakranielle Drucksteigerung


• Diffuse Kopfschmerzen: Verstärkt bei Husten u. Pressen, oft bei Lagewechsel,
z. B. Bücken o. Aufrichten, am Morgen ausgeprägter.
• Nausea u. Erbrechen: Nüchtern, im Schwall.
• Psychische Veränderungen: Zunehmende Antriebsminderung, Konzentra-
tions- u. Orientierungsstör., Gähnen.
• Singultus.
• Augensympt.: Doppelbilder durch Läsion des N. abducens, Visus ↓, STP, falls
nicht schon vorher eine Optikusatrophie bestand.
• Fokale Zeichen, z. B. motorische u. sensible fokale Anfälle, Hemiparese, sup-
ra- u. infraorbitale Trigeminusaustrittspunkte druckschmerzhaft.

4.6.2 Ätiologie
• Vasogenes Hirnödem: Stör. der Blut-Hirn-Schranke, z. B. durch Tumor, Me-
tastasen, Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess, hypertensive Krise, Trauma.
192 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• Zytotoxisches Hirnödem: Prim. Zellschädigung mit sek. (nach 3–4 d) Stör.


der Blut-Hirn-Schranke, z. B. bei ischämischem Hirninfarkt; Hypoxie (z. B.
Reanimation, subakute Enzephalitis, SHT), Hyperkapnie, Urämie, selten
durch Medikamente (z. B. Ovulationshemmer o. Tetrazykline) bzw. tox. Sub-
stanzen (z. B. Insektizide).
• Venöse Abflussbehinderung: SVT (▶ 7.8).
• Hydrozephalus (▶ 26).
• Intrakranielle Raumforderung: Blutung, Tumor, Metastase, Abszess (bei Po-
lyradikulitis u. Neurinomen Eiweiß i. L. ↑).
• Pseudotumor cerebri („benign intracranial hypertension“): Häufig junge, adi-
pöse F mit Kopfschmerzen, STP u. Doppelbildern (▶ 26.3).

4.6.3 Diagnostik
Sofortmaßnahmen, Anamnese u. klin. Befund (▶ 4.1).
Klin. Unters.:
• Neurol.: Bewusstseinslage, Pupillen, Augenstellung, Hemisympt., Hirn-
stammsy.
4 • Augenhintergrund spiegeln: STP erst nach Tagen; bei akuter Drucksteigerung
ohne Aussage.
CCT u. MRT:
• Sedierung:
– Falls erforderlich, kurz wirksame Medikamente, z. B. Midazolam 2,5–
10 mg i. v. (z. B. Dormicum®).
– Falls Narkose erforderlich, Analgosedierung, z. B. Fentanyl 0,05–0,1 mg
i. v. (z. B. Fentanyl®), dann z. B. Etomidat 0,15–0,3 mg/kg KG i. v. (z. B.
Hypnomidate®) zur Einleitung, Nachinjektion von Etomidat bis max.
80 mg i. v. Ggf. Komb. mit Muskelrelaxanzien, z. B. Vecuronium 0,08–
0,1 mg/kg KG i. v. (z. B. Norcuron®). KI: Myasthenia gravis, Adipositas
per magna, Leberversagen.
• Kriterien für erhöhten Hirndruck: Mittellinienverlagerung, kortikale Sul-
kuszeichnung ↓, Verengung der Seitenventrikel (ein- o. beidseitig), Nachweis
eines Hydrocephalus internus, Verlagerung des Hirnstamms nach kaudal bei
sagittaler Darstellung im MRT, verstrichene basale Zisternen. Cave: Bei feh-
lender Abgrenzbarkeit von Cisterna ambiens u. Cisterna laminae quadrige-
minae in 80 % apallisches Sy. o. Tod.

Liquorpunktion nie bei V. a. akute Hirndrucksteigerung (klin. Zeichen


▶ 4.6.1) wegen Einklemmungsgefahr, Atemstillstand!
Liquorpunktion nie bei V. a. akute Hirndrucksteigerung (klin. Zeichen ▶  4.6.1)
wegen Einklemmungsgefahr, Atemstillstand!
Hirndruckmessung: Bei GCS < 8 (▶ 27.1.2), Auftreten klin. Sympt. der Phase 2
(▶ 4.6.1), raumfordernden Veränderungen im CCT/MRT o. V. a. chron. o. inter-
mittierend erhöhten Hirndruck.
• Intrakranielle Druckmesser:
–  Ventrikulär: Einlegen einer Ventrikeldrainage in den Seitenventrikel.
Vorteil: Ablassen von Liquor möglich. Nachteil: Invasiver Eingriff, erhöh-
tes Infektionsrisiko.
–  Parenchymatös: Invasiver, höhere Genauigkeit. Cave: Intrazerebale Blu-
tung.
  4.6 Hirndruck  193

Direkt epidural: Über Bohrlochtrepanation implantiert (obsolet; oft keine


– 
validen Messwerte).
Lumbal: Nur bei freier Liquorzirkulation, Vorteile: Ohne OP. Nachteile:
– 
Erhöhtes Infektionsrisiko. Cave: Iatrogene Einklemmung.

4.6.4 Therapie
Ther. in Abhängigkeit vom Hirndruck ▶ Tab. 4.7.

Tab. 4.7  Vorgehen in Abhängigkeit vom Hirndruck


ICP/CPP (mmHg) Bezeichnung Prozedere

< 15 Normal

15–20 Kritischer Bereich Immer konservative Ther. u. Kon­


trolle

20–30/60–70 Path. Versuch der Drucksenkung


(▶ 4.6.4), bei Misserfolg der
konservativen Ther. (Hirndruck
weiter > 20 mmHg) OP 4
30–40/50–60 Hochgradig path.

40–50/40–50 Lebensbedrohlich Möglichst sofort OP wegen


­Gefahr der weiteren Progredienz

> 50/< 40 Letal, wenn länger als


­15–30 Min.

Nichtmedikamentöse Therapie
Lagerung: Kopf- u. Oberkörperhochlagerung um 15–30° bei instabilen Kreislauf-
verhältnissen o. CPP < 70 mmHg, Flachlagerung wegen Gefahr der Verschlechte-
rung der zerebralen Perfusion bei (orthostatischem) RR-Abfall.

Kein Lagern o. Absaugen, das nicht unbedingt notwendig ist (Hirndruck ↑).
Kein seitliches Abknicken des Kopfs wegen möglicher Kompression einer
Jugularvene (akuter Hirndruckanstieg!).

Basisther.:
• Ausreichende pulmonale Ventilation (pO2 > 90 mmHg, ggf. frühzeitige Intu-
bation), Flüssigkeits- u. E'lytbilanzierung (Hypo- o. Hypernatriämie fördern
Hirnödem).
• Art. Mitteldruck zwischen 80 u. 110 mmHg, jedoch mind. 50 mmHg, besser
70 mmHg über mittlerem Hirndruck.
• Fiebersenkende Maßnahmen, z. B. Paracetamol 500–1.000 mg p. o. o. rektal
(z. B. ben-u-ron®) zur Vermeidung eines gesteigerten zerebralen Stoffwechsels.
Moderate kontrollierte Hyperventilation:
• Ind.: SHT, Hirntumor, Enzephalitis.
• Vorgehen: Intubation, pCO2 auf 30–35 mmHg senken, Atemfrequenz etwa
20/Min., niedriges AZV. Hyperventilation nur kurzfristig durchführen, z. B.
bei akuter neurol. Befundverschlechterung. Längere Hyperventilation z. B.
nach SHT nur bei unzureichender Senkung des ICP durch Analgosedierung,
Liquordrainage u. Osmother.
194 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• Hyperventilation nicht abrupt beenden, Gefahr der reaktiven Hirn-


drucksteigerung.
• Bei ischämischem Insult u. Hypoxie evtl. Drosselung der Hirndurchblu-
tung.
• Eine prophylaktische Hyperventilation ist kontraindiziert.
Milde Hypothermie: Temperatursenkung auf 33–34 °C durch physikalische u./o.
medikamentöse Maßnahmen. Pos. Effekte bei SHT u. malignem Mediainfarkt
nachgewiesen.

Medikamentöse Therapie

Keine Inhalationsnarkotika, da Hirndrucksteigerung!

Adäquate Analgosedierung:
• Analgesie:
– Paracetamol: Bei leichten Schmerzen max. 3 × 500–1.000 mg/d p. o. (z. B.
4 Perfalgan®, ben-u-ron®).
– Pethidin: Bei stärkeren Schmerzen 25–100 mg langsam über 1–2 Min. i. v.
(z. B. Dolantin®), alle 3–4 h wiederholbar, max. Tagesdosis 500 mg. KI:
Überempfindlichkeit, akute hepatische Porphyrie, MAO-Hemmer. NW:
Übelkeit, Erbrechen, Albträume, Halluzinationen, selten epileptische Anfälle.
• Langzeitsedierung/-analgesie bei intubierten Patienten: (▶ 4.4.2). Initial
Midazolam 0,1–0,2 mg/kg KG in 10–20 Min. i. v. (z. B. Dormicum®), Erhal-
tungsdosis 0,1–0,3 mg/kg KG/h je nach Sedierungstiefe (NW: Atemdepressi-
on, pCO2-Anstieg) u. Fentanyl initial 0,05–0,1 mg i. v., dann je nach Schmerz­
intensität (NW: Übelkeit, Erbrechen, Atemdepression, Bradykardie, Bron-
chospasmus).
Osmother.: Bei zytotoxischem Hirnödem.
• Mannit: 4–6 × 125 ml/d über 10 Min. i. v. (z. B. Mannitol® 20 %) für max. 3 d,
ggf. mit Furosemid (z. B. Lasix®) kombinieren.
–  Cave: Rebound-Effekt.
– KI: Niereninsuff.
• Glyzerin: 0,5–1 g/kg KG p. o. 1 : 1 mit Zitronensaft u. H2O (z. B. Glyzerol®
85 %) o. 500–1.000 ml/d i. v. über mind. 3–4 h (z. B. Glycerosteril® 10 %).
– NW: Hohe Volumenbelastung, Herzinsuff. mit Lungenödem, BZ-Anstieg,
Hämolyse.
– KI: Darmatonie.
• Sorbit: Als Kurzinfusion 6–(max.)12 × 0,5–0,75 g/kg KG/d i. v. (Sorbitol® 40 %).
– NW: BZ-Anstieg.
– KI: Fruktoseintoleranz.
– Überwachung: Serumosmolalität (320–340 mosmol/l), Flüssigkeitsbilanz
(ausgeglichen, nicht neg.!), ZVD, BB, E'lyte, Krea.
Glukokortikoide: Dexamethason:
• Bei vasogenem Hirnödem (keine Wirkung bei ischämischem Insult): Initial
z. B. 40 mg i. v. dann 3–4 × 4–8 mg/d i. v. (z. B. Fortecortin®) unter Magen-
schutz z. B. mit Famotidin 40 mg/d p. o. (z. B. Pepdul®).
• Höhere Initialdosis bei SHT (Glukokortikoide umstritten!), z. B. Dexametha-
son 100–200 mg/d i. v. über 3 d unter Magenschutz, über wenige Tage abstei-
gend (z. B. 48 mg – 24 mg – 12 mg – 0).
  4.7 Dissoziierter Hirntod  195

Tris-Puffer (THAM-Köhler 3M®):


• Ind.: Nur bei (posttraumatischer) therapieresistenter Hirndruckerhöhung.
Wirksam über zerebrale Vasokonstriktion.
• Dos.: Testdosis von 1 mval/kg KG in 100 ml Glukose 5 % über 20 Min. i. v.;
wenn Hirndrucksenkung > 10–15 mmHg, weitere Infusion mit 3 mval/
kg KG/24 h.
• Überwachung: Stündlich BGA → BE < +6; pH < 7,55.
• NW: Atemdepression (deshalb kontrollierte Beatmung), Nephro-, Hepatoto-
xizität.
Hypnotika:
• Ind.: Bei Hirndruck konstant > 25 mmHg, Ther.-Resistenz.
• KI: Nicht intubierte Pat.
• Dos.: Thiopental 200–1.000 mg i. v. (z. B. Trapanal®) als Testdosis zur Beurtei-
lung des hirndrucksenkenden Effekts (> 5 mmHg) über 30 Min. Nur wenn
Anstieg des CPP erreicht wird, 0,5–2 g i. v. über 10–15 Min. über getrennten
Zugang. Bei erneutem Hirndruckanstieg kontinuierlich 3–5 mg/kg KG/h.
Dos. nach Blutspiegel u. Hirndruck senkendem Effekt.
• Ziel: Komatiefe entsprechend EEG mit Burst-Suppression-Muster (▶ 2.2).
• NW: Atemdepression, prolongierte Hypotonie, neg. inotrope Wirkung, er- 4
höhte Infektionsneigung, v. a. pulmonal.

Operative Therapie
• Ventrikeldrainage bei Hydrocephalus occlusivus.
• Volumenreduktion bei SDH/EDH, raumfordernder intrazerebraler Blutung.
• Trepanation (mind. Ø 14 cm) u. Duraplastik bei raumforderdem Mediain-
farkt (Alter < 60 J.), im Einzelfall nach Versagen der konservativen Ther. bei
Enzephalitis, SHT, SVT.
• Trepanation u. Kleinhirnresektion bei raumfordernden Infarkten o. Blutun-
gen der hinteren Schädelgrube (gute Prognose!).

4.7 Dissoziierter Hirntod
4.7.1 Definition des Hirntods
• Klin.: „Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des
Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz-
und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten. Mit dem Hirntod ist natur-
wissenschaftlich – medizinisch der Tod des Menschen festgestellt“ (Wissenschaftlicher
Beirat der Bundesärztekammer, 1998).
• Pathophysiologisch: ICP-Steigerung über den zerebralen Perfusionsdruck
hinaus mit dadurch bedingtem Stillstand der Hirnzirkulation u. seinen funk-
tionellen Folgen.
• Morphologisch: Ischämischer Totalinfarkt des Gehirns mit postmortal ge-
genüber anderen Organen desto weiter fortgeschrittener Autolyse, je länger
der Kreislauf im übrigen Körper über den Hirntod hinaus erhalten war.
• Die Diagnose des Hirntods stützt sich auf die von der Bundesärztekammer
festgelegten Richtlinien zur Feststellung des Hirntods. Sind die Vorausset-
zungen zur Hirntodbestimmung erfüllt, müssen der Hirnfunktionsverlust
klin. nachgewiesen sein u. eine Irreversibilität dieses Zustands vorliegen.
196 4  Notfälle und Intensivtherapie  

4.7.2 Klinische Voraussetzungen für die Hirntodfeststellung


1. Nachweis einer akuten schweren prim. o. sek. Hirnschädigung.
–  Prim.: Z. B. nach SHT, intrazerebraler o. subarachnoidaler Blutung, aus-
gedehntem Hirninfarkt, Hirntumor, akutem Verschlusshydrozephalus,
Enzephalitis. Bei einer prim. Hirnschädigung ist zwischen einer supra- o.
infratentoriellen Läsion zu differenzieren.
–  Sek. = andere körperl. Schädigung: Z. B. Sek. = indirekte Hirnschädi-
gung, meist metab. als Folge einer schweren hypoxisch-ischämischen
Hirnschädigung durch Kreislaufstillstand, infolge eines Herzinfarkts, kar-
diogenen Schocks etc.
2. Funktionsstör., die einen „Hirntod“ vortäuschen können, müssen ausge-
schlossen werden:
– Intox.
– Sedierung.
– Neuromuskuläre Blockade.
– Schwere Stör. des E'lyt- u. Säuren-Basen-Haushalts.
– Prim. Hypothermie (Körperkerntemperatur < 32 °C).
– Koma bei endokrinen, metab. o. entzündl. Erkr.
4 – Kreislaufversagen (syst. RR ≤ 80 mmHg).
– GBS.
3. Bewusstlosigkeit.
4. Fehlen der Hirnstammreflexe.
5. Ausfall der Spontanatmung.

4.7.3 Klinische Kriterien
• Koma: Keinerlei Lautäußerung, keine spontanen mimischen Äußerungen,
kein Grimassieren, keine Abwehrbewegung auf Schmerzreize. Kein Augen-
öffnen auf Schmerzreize.
• Pupillenreaktion: Mittelweite (4 mm) bis max. weite (9 mm) Pupillen ohne
jegliche direkte o. indirekte Pupillenreaktion auf starken Lichteinfall.
• Okulozephalreflex: Dreht der Untersucher den Kopf aus der Mittelposition
um 90° zur Seite, lassen sich keine Gegenbewegungen der Bulbi nachweisen.
• VOR: Die Spülung des äußeren Gehörgangs mit 50 ml Eiswasser führt zu kei-
ner langsamen, tonischen, ipsiversiven Bulbusbewegung.
• Kornealreflex: Bei Berührung der Kornea fehlt das reflektorische Blinzeln.
• Rachen- u. Trachealreflex: Eine Würgereaktion lässt sich bei Berührung der
Rachenhinterwand mit einem Zungenspatel nicht auslösen. Bei endotrachea-
lem Absaugen wird kein Hustenreflex ausgelöst.

4.7.4 Nachweis der Irreversibilität


Der Irreversibilitätsnachweis des Hirnfunktionsverlusts ist durch eine Wiederho-
lung der klin. Unters. nach den unten angegebenen Fristen der Beobachtungszeit
zu erbringen. In der Zwischenzeit dürfen sich keine Hinweise auf eine noch intak-
te Hirnfunktion ergeben.

Fristen der Beobachtungszeit


• Erw. (und Kinder ab dem 3. Lj):
– 12 h nach prim. Hirnschädigung, z. B. Blutung, SHT, Hirninfarkt.
– 72 h nach sek. Hirnschädigung (Hypoxie, Intox. etc.); Verkürzung bei
pos. apparativen Zusatzunters.
  4.7 Dissoziierter Hirntod  197

• Kinder (< 3 J.):
– Immer mind. 24 h.
– Nach sek. Hirnschädigung immer 72 h.
• Kleinkinder (bis vollendetes 2. Lj): Immer 24 h u. obligate EEG-Verlaufs-
kontrolle 24 h nach dem ersten Null-Linien-EEG.
• Früh- u. Neugeborene (bis 4. Lebenswo.) u. Säuglinge (bis vollendetes
1. Lj): Immer 72 h u. obligate EEG-Verlaufskontrolle 72 h nach dem ersten
Null-Linien-EEG.

Anforderungen an den Untersucher


Zwei approbierte Ärzte mit mehrjähriger Erfahrung in der Intensivther. von Pat.
mit schweren Hirnschädigungen. Unabhängige Untersuchung. Im Falle einer Or-
gantransplantation dürfen sie nicht an der Entnahme u. der Übertragung von Or-
ganen des Verstorbenen beteiligt sein. Untersuchungsergebnisse (inkl. zugrunde
liegender Befunde) u. Zeitpunkt ihrer Feststellung müssen dokumentiert u. am
Ende von beiden unterschrieben werden.

4.7.5 Apnoe-Test
4
Sollte durchgeführt werden, wenn alle anderen klin. Untersuchungsergebnisse für
die Diagnose des Hirntods sprechen. Die Körperkerntemperatur muss mind.
36,5 °C u. der syst. RR muss mind. 90 mmHg betragen.
Durchführung:
• Hypoxämie muss vermieden werden!
• Präoxygenierung mit 100 % O2 für 10–30 Min.; anzustreben ist ein pO2
> 200 mmHg.
• Hypoventilation (25 % des Ausgangsvolumens) mit reinem O2 bis pCO2
= 45–50 mmHg.
• Diskonnektion von der Beatmungsmaschine u. Insufflation von 6–8 l 100 %
O2/Min. durch den Tubus.
• Dokumentation durch serielle BGA, pCO2-Anstieg während der Diskonnek-
tionsperiode auf mind. 60 mmHg.
Ein paCO2 von 60 mmHg u. fehlende spontane Atembewegungen unterstützen
die Diagnose des Hirntods.

4.7.6 Apparative Zusatzuntersuchungen
• Der Irreversibilitätsnachweis des Hirnfunktionsverlusts ist neben einer weite-
ren klin. Unters. nach den definierten Fristen der Beobachtungszeit auch
durch ergänzende apparative Zusatzunters. möglich.
• Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer akzeptiert folgende
Zusatzunters. (Durchführung einer Zusatzunters. ausreichend):
– EEG.
– Multimodal evozierte Potenziale (EVP).
– Doppler-Sono.
– Zerebrale Perfusionsszintigrafie.
! Unabdingbar für die Diagnose „Hirntod“ sind eindeutige Befunde.
EEG: Befund: 30 Min. Null-Linien-EEG.
Frühe akustisch evozierte Potenziale (FAEP): Folgende FAEP-Muster sind mit
der Irreversibilität des Hirnfunktionsverlusts vereinbar:
• Progredienter, konsekutiver Verlust der Wellen mit schließlich bilateralem
Ausfall aller Komponenten.
198 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• Progredienter, konsekutiver Ausfall der Wellen mit Erhaltenbleiben der Wel-


len I o. I u. II ein- u. beidseitig.
• Isoliertes Erhaltensein der Wellen I o. I u. II.
Somatosensorisch evozierte Potenziale (SEP) des N. medianus: Befund: Poten-
zial N13 u. kortikaler Primärkomplex fehlen.
Unters. der zerebralen Perfusion:
• Mittels der Doppler-Sono lässt sich mit einem art. Mitteldruck > 80 mmHg bei
Erw. bzw. > 60 mmHg bei Kindern der zerebrale Kreislaufstillstand nachweisen.
• Die dopplersonografischen Befunde an den extra- u. intrakraniellen Hirnarte-
rien sind so typ., dass sie einen zerebralen Kreislaufzustand beweisen können:
Charakteristisch ist eine oszillierende Strömung mit diast. Rückflussphase in
ACI u. A. vertebralis. (▶ Abb. 4.4).

a b c

+ + +
4 0 0 0
v - - -

d e f

+ + +
0 0 0
- - -
1s
t

Abb. 4.4 a–f Dopplersonografische Befunde der hirnversorgenden Arterien bei


einer Verminderung des zerebralen Blutflusses mit zunehmenden Hirndruck (ICP).
Vertikale Achse: Strömungsgeschwindigkeit v (Balken – 1 kHz); horizontale Ach­
se: Zeit (Balken – 1 s).
a: Normales Strömungsprofil; b: Reduktion der diast. Strömungsgeschwindigkeit
als Hinweis auf erhöhten ICP (Widerstandsprofil); c: Enddiast. Nullfluss bei ortho­
grader syst. Strömung (syst. Spitzen); d: Orthograde syst. Strömung, retrograde
Strömung während der Diastole (oszillierende Strömung); e: Scharfe kleine Spit­
zen zu Beginn der Systole, keine Strömung während des restlichen Herzzyklus
(syst. Spikes); f: Kein Signal mehr ableitbar [L157].

4.7.7 Todeszeitpunkt und Dokumentation


• Der Hirntod ist nach aktueller Rechtsauffassung dem Individualtod gleichzu-
setzen.
• Der Todeszeitpunkt entspricht daher der Uhrzeit, zu der Diagnosestellung u.
Dokumentation des Hirntods abgeschlossen sind.
• Pflichtbestandteile des Dokumentationsformulars:
– Grundkrankheit bzw. Bedingungen, die zum Hirntod geführt haben,
  4.8 Akute Lähmung  199

– alle klin. u. apparativen Untersuchungsbefunde sowie alle Umstände, die


auf deren Ausprägung Einfluss genommen haben,
– Datum u. Uhrzeit,
– Name aller untersuchenden Ärzte.
• Auch im Krankenblatt muss die Hirntoddiagn. dokumentiert u. archiviert
werden. Der indirekte Nachweis des Hirntods durch äußere sichere Todeszei-
chen muss ebenfalls von zwei Ärzten bestätigt werden.

4.8 Akute Lähmung
4.8.1 Akutes Guillain-Barré-Syndrom
ICD-10 G61.0.
Klinik: ▶ 19.9.1. Initial häufig grippaler Infekt, dann Schmerzen u. Parästhesien
der unteren Extremitäten, von kaudal nach kranial aufsteigende symmetrische
Paresen (MER ↓), Beteiligung von Rumpf- u. Atemmuskulatur (in 25 % d. F.), HN
u. vegetativem NS. Gefährdung durch vegetative kardiale Mitbeteiligung mit Fre-
quenzstarre, Tachykardie, Bradyarrhythmie, RR-Regulationsstör. bis zum Herz-
stillstand.
4
Diagn.:
• Liquor: Zytoalbuminäre Dissoziation (nach 1 Wo.), d. h. normale Zellzahl,
aber hochgradige Eiweißerhöhung.
• Neurografie: NLG ↓↓ (< 70 %) u./o. der Amplituden (< 80 %), Verzögerung
der F-Wellen, jeweils initial in bis zu 15 % d. F. normal.
Ther. ▶ 19.9.1:
• Intensivmedizinische Überwachung, Intubation u. Beatmung,
• 7S-Immunglobuline o. Plasmapherese,
• passagerer Herzschrittmacher.

4.8.2 Akute myasthene und cholinerge Krise


Myasthenia gravis (▶ 21.1).
Klinik:
• Gemeinsame Sympt.: Muskuläre Sympt.: Schwäche, Atemstör., Schluck-,
Kau-, Sprechstör., Schwitzen, Unruhe.
• Myasthene Krise: Weite Pupillen, Blässe, Tachykardie, Hypotonie, Hypore-
flexie.
• Cholinerge Krise: Enge Pupillen, Augentränen, gerötete Haut, Verschlei-
mung, Durchfall, Bradykardie, Speichelfluss, Bauchkrämpfe, Erbrechen, zere-
brale Sympt. (Kopfschmerzen, Unruhe, Angst, Benommenheit, Verwirrtheit,
Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle).
Diagn.:
• Anamnese: Myasthenie, symptomverstärkende Medikamente (▶ 21.1.3,
▶ Tab. 21.1), Infektion, Impfung.
• Tensilon®-Test: 10 mg = 1 ml Edrophoniumchlorid (Tensilon®). Zunächst
0,2 mg i. v. in 15 s; treten keine NW (Speichelfluss, Bronchialkonstriktion,
Bradykardie) auf, den Rest spritzen; schlagartige Besserung für 10–15 Min.
Antidot: 0,5–1 mg Atropin i. v. (bereithalten!).
Ther. der myasthenen (▶ 21.1.16) u. cholinergen Krise (▶ 21.1.7)
200 4  Notfälle und Intensivtherapie  

4.8.3 Dyskaliämische Lähmung
▶ 20.6.4.

4.9 Akute Muskeltonussteigerung
4.9.1 Akinetische Krise (Parkinson-Krise)
ICD-10 G20.
Ätiol.: Häufig Folge einer Unterbrechung o. Wirkungsabschwächung der Medi-
kation, z. B. durch akute zusätzliche Erkr., Infektionen, Diarrhö, OP.
Klinik:
• Pat. liegen unbeweglich u. steif im Bett, weitgehend unfähig zur Kontaktauf-
nahme.
• Fehlende Nahrungs- u. Flüssigkeitsaufnahme, Exsikkose.
• Anstieg der Körpertemperatur auf bis zu 40 °C, vitale Gefährdung durch As-
pirationspneumonie, Thrombose o. Embolie; Dekubitus mit sek. Infektion.
Ther.:
4 • Intensivüberwachung: Bilanzierte Flüssigkeits- u. E'lytsubstitution, Magensonde.
• L-Dopa: Kapselinhalt mit Flüssigkeit verabreichen o. 125 mg in 225 ml Gluko-
se 5 % lösen u. über 30–120 Min. infundieren (z. B. Madopar®).
• Amantadinsulfat 1–6 × 0,2 g/d i. v. (z. B. PK Merz®), Infusionsgeschwindigkeit
500 ml in 3 h. KI: Niereninsuff.
• Fiebersenkende Maßnahmen: Physikalisch (z. B. Wadenwickel) u. medika-
mentös, z. B. Paracetamol max. 3 × 1 g/d p. o. (z. B. ben-u-ron®).
• Lisurid 0,3–1,2 mg/12 h in 500 ml Ringer-Lsg. (z. B. Dopergin®). NW: Übel-
keit mit Erbrechen, daher zusätzlich Domperidon hoch dosiert 3–4 × 30 mg/d
p. o. (z. B. Motilium®).
• Apomorphin: Bei KI gegen Volumenbelastung, ggf. mehrmals/d 1–10 mg s. c.
(z. B. Apomorphin Woelm®). NW: RR ↓, Bradykardie, Übelkeit mit Erbre-
chen, daher zusätzlich Domperidon (z. B. Motilium®). Subkutane Apomor-
phinpumpe 4(–10) mg/h.

4.9.2 Akute Dyskinesie
ICD-10 G24.0.
Ätiol.: Häufigste Urs.: Frühreaktion auf Neuroleptika (zu Ther.-Beginn nach Do-
sissteigerung), ebenfalls bei Depotpräparaten (z. B. Imap®) u. Antiemetika, z. B.
Metoclopramid (z. B. Paspertin®) sowie Sedativa.
Klinik: Dyskinesen bzw. Krämpfe v. a. von Augenlidern, Zunge, Schlund, z. T.
tortikollisartig.
Diagn.: Anamnese wegweisend (!), im Zweifel schlagartige Besserung nach Bipe-
riden.
Ther.: Biperiden 2,5–5 mg langsam i. v. (z. B. Akineton®). Meist schlagartige Bes-
serung, ggf. Wdh. nach 30 Min., bei Wirksamkeit für etwa 48 h p. o. KI: Engwin-
kelglaukom, Prostatahypertrophie. Bei KI gegen Biperiden Clonazepam 0,5–1 mg
i. v. (z. B. Rivotril®) o. Diazepam 5–10 mg i. v. (z. B. Valium®).
  4.9 Akute Muskeltonussteigerung  201

4.9.3 Tetaniesyndrom
ICD-10 R29.0.
Ätiol., Epidemiologie:
E'lyt-Entgleisung (K+, HPO42- o. HCO3- ↑; Ca2+, Mg2+, o. H+ ↓) z.B. durch:
• Hyperventilation (respiratorische Alkalose → ionisiertes Ca ↓) = häufigste
Form.
• Hypoparathyreoidismus als KO einer Strumektomie.
• Vit.-D-Mangel.
• Schwere Infektionen; Pankreatitis.
• Hyperemesis, Schwangerschaft, Stillzeit.
• Intox. (z. B. CO ▶ 3.17).
Klinik:
• Prodromi: Parästhesien (meist perioral), Atembeklemmung, Gliederschmer-
zen, pelziges Gefühl der Haut.
• Im Anfall: Angst, Spasmen der Arm- u. Beinmuskulatur („Karpopedalspas-
men“, von distal nach prox.), Pfötchenstellung der Hände, Spitzfußstellung,
„Fischmaulstellung“ des Munds, Kopfschmerzen, thorakale Schmerzen, Be-
nommenheit, Schwindel, Sehstör., kurze Bewusstseinsstör.
• Selten: Angina pectoris (wichtigste DD!), Laryngospasmus, viszerale Tetanie. 4
Eine lebensbedrohliche Ausbreitung der Muskeltonuserhöhung nach prox. auf
den gesamten Körper einschließlich Bronchus- u. Larynxmuskulatur ist möglich.

Diagn.:

Bei Hyperventilationstetanie ist nur die freie Kalziumkonz. verändert (wird


nur von wenigen Laboratorien bestimmt).

• Trousseau-Test (Provokation bei latenter Tetanie): Pfötchenstellung der


Hand nach 1 Min. Hyperventilation u. anschließendem Aufpumpen der RR-
Manschette am Oberarm auf art. Mitteldruck für 3 Min.
• Chvostek-Zeichen: Muskelzucken nach Beklopfen des N. facialis.
• Labor: Serum-E'lyte (Normo- o. Hypokalzämie), Mg2+, HPO42-, Amylase, Ge-
samteiweiß, Parathormon, BGA (pCO2 ↓). Freies Ca2+ zur weiteren Abklä-
rung (Hyperparathyreoidismus, akute Pankreatitis, hypomagnesiämische Te-
tanie) u. Ausscheidung von cAMP im Urin nach Parathormongabe.
• EKG: QT-Veränderungen.
Ther.:
• Normokalzämische Tetanie (Hyperventilationstetanie):
– Rückatmung der Ausatemluft über Plastikbeutel o. vorgehaltene, gewölbte
Hand; Beruhigung des Pat., Aufklärung über Harmlosigkeit der Erkr.
– Diazepam, falls Rückatmung nicht ausreichend (in Ausnahmefällen), z. B.
2–5 mg langsam i. v. (z. B. Valium®), kein Ca2+ (psychische Fixierung!).
• Hypokalzämische Krise:
– Ca2+-Glukonat 10 % 20–40 ml über 10–15 Min. i. v. Cave: Nicht bei digita-
lisierten Pat.! Bei Persistenz weitere langsame Infusion von Ca2+-Glukonat
10 % (z. B. in Glukose 5 %), bis Trousseau-Test neg. ist.
– Klärung der Urs: Bei Vit.-D-Mangel Gabe von 2.000–3.000 IE/d p. o. für
6–12 Wo. unter regelmäßiger Kontrolle des Kalziumspiegels.
• Hypomagnesiämische Tetanie: 5–10 ml 10-prozentige Mg2+-Lsg. langsam
i. v. (z. B. Magnorbin® 10 %). Langfristig 300–600 mg/d p. o.
202 4  Notfälle und Intensivtherapie  

4.9.4 Tetanus
ICD-10 A35.
Def.: Infektionserkr. durch Clostridium tetani, Auskeimung der Sporen in Wun-
den unter anaeroben Bedingungen, Bildung des Toxins Tetanospasmin, retrogra-
der Transport ins RM, irreversible Blockade der Freisetzung inhibierender Neu-
rotransmitter im motorischen u. autonomen System.
Ätiol.:
• Verletzungen u. Kontamination mit Erde, Staub o. Gartenprodukten bei (Ba-
gatell-)Verletzungen; Verbrennungen, Bisse.
• Inkubationszeit wenige Stunden bis 30 d (je kürzer, desto schwerer der
Krankheitsverlauf).
Klinik:
• Initial Kopf- u. Kieferschmerzen, motorische Unruhe, Tachykardie, Schweiß-
neigung, Schluckstör., Erbrechen, HN-Lähmung.
• Charakteristisch: Nackensteifigkeit, Trismus („Kiefersperre“, häufigstes
Sympt.!), Opisthotonus, Risus sardonicus.
• Innerhalb weniger Tage bei erhaltenem Bewusstsein meist Generalisation der
Muskelspasmen, die durch jegliche Innervation u. äußere Reize ausgelöst werden.
4 • Gefahr der Atemlähmung, hohe Letalität.
Diagn.:

Daran denken, extrem selten!

• Anamnese: V. a. Verletzungen, Impfstatus.


• Reflexe: Ausfall des inhibitorischen Kieferöffnungsreflexes des M. masseter,
Enthemmung des Orbicularis-oculi-Reflexes.
DD:
• Initialstadium der akuten Meningitis (▶ 9.3.1), bei Tetanus unauffälliger Li-
quorbefund!
• Strychnin- o. E605-Intox. (▶ 3.17): Miosis!
• Pharmakogene Hyperkinesen: Besserung durch Biperiden (z. B. Akineton®).
• Fokale Frühdyskinesie (lokaler Pseudotetanus): Besserung durch Biperiden
(z. B. Akineton®).
Ther.:
• Intensivbetreuung: Überwachung vitaler Funktionen in einem abgedunkelten
u. möglichst ruhigen Zimmer, evtl. Beatmung.
• Wundexzision u. Drainage nach lokaler Infiltration der Wunde mit Antitoxin.
• Toxinneutralisation: Möglichst frühzeitig Tetagam® i. m., initial 5.000–
10.000 IE (20–40 ml), an den folgenden Tagen je 3.000 IE. Wirksamkeit in-
trathekaler Appl. noch nicht erwiesen.
• Antibiose: Penicillin G 1 Mio. IE i. v. alle 6 h, alternativ Doxycyclin
2 × 100 mg p. o. (z. B. Vibramycin®) o. i. v. (z. B. Vibravenös®) über 10 d.
• Spasmolyse u. Sedation: Z. B. Chlorpromazin 200–300 mg/d p. o. (z. B. Ato-
sil®) ohne Gefahr der Atemdepression. Alternativ o. zusätzlich Benzodiazepi-
ne, z. B. Diazepam, ED von 5–10 mg p. o. (z. B. Valium®). Bei Ther.-Resistenz
Baclofen (Lioresal®) intrathekal. Bei Beatmungspflichtigkeit nicht depolari-
sierende Relaxanzien, z. B. Pancuronium initial 2–6 mg i. v., Nachinjektionen
von 0,5–1,5 mg u. maschinelle Beatmung.
• Flüssigkeits- u. E'lyt-Substitution in ausreichender Menge.
  4.9 Akute Muskeltonussteigerung  203

• Pneumonie- u. Aspirationsprophylaxe: Häufige Bronchialtoilette, bei Atem-


insuff. frühzeitig Intubation u. Beatmung, sorgfältige Lagerung, Sondenkost
o. Umstellung auf parenterale Ernährung.
• Dekubitusprophylaxe.
Progn.: Letalität 40–60 %, Rückbildung der Paresen nur unvollständig. Nach jah-
relangem Verlauf selten erneute Verschlechterung durch progrediente Muskel-
atrophie.
Prophylaxe: Impfung: Aktive Immunisierung mit Tetanus-Toxoid (z. B. Tetanol®
o. Komb.-Impfstoffe), 3-malige Grundimmunisierung u. Auffrischung alle 10 J.

4.9.5 Malignes Neuroleptika-Syndrom
ICD-10 Y49.
Def.: KO einer neuroleptischen Behandlung v. a. mit ausgeprägten Dopamin-D2-
Antagonisten, z. B. Benperidol (Gliaminon®), Haloperidol (z. B. Haldol®) bei
< 1 ‰ der Pat.
Klinik: Rigor (und weitere extrapyramidale Stör. wie Akinese, Dys- o. Hyperkine-
sien), Stupor (bis zum Koma), Fieber > 40 °C, vegetative Stör. (labiler RR, Tachy-
kardie, Tachy-/Dyspnoe). 4
Diagn.: CK meist ↑, häufig E'lytentgleisung, Leukozytose, metab. Azidose, Myo-
globinämie, -urie. Sympt. steht in engem zeitlichem Zusammenhang zur Neuro-
leptikagabe.
DD:
• Akute febrile Katatonie bei schizophrenen Pat.: Fast identische Sympt., psy-
chiatrisches Konsil, da bzgl. der Neuroleptika gegensätzliches Vorgehen; im
Zweifelsfall Gabe von Lorazepam (Tavor®).
• Akinetische Krise (▶ 4.9.1), maligne Hyperthermie (▶ 4.9.7).
• Enzephalitis (▶ 9.3.1).
Ther.:
• Absetzen aller Neuroleptika, Intensivüberwachung.
• Symptomatische Ther.: Kühlung, Rehydrierung, Ausgleich des Säure-Basen-
Haushalts, Stabilisierung des kardiovask. Systems.
• Dantrolen (z. B. Dantamacrin®) nur als Behandlungsversuch! 50 mg p. o. bis
max. 7,5 mg/kg KG tgl. o. initial 2,5 mg/kg KG i. v. über 15 Min., Erhaltungs-
dosis 7,5 mg/kg KG tgl. i. v., max. Dosis 10 mg/kg KG tgl. Cave: Gewebeschä-
digend, daher streng i. v.

4.9.6 Zentrales anticholinerges Syndrom


ICD-10 F05.
Def.: Zentrale u. periphere Sympt. der Intox. bzw. Überdosierung durch anticho-
linerg wirksame Substanzen.
Ätiol.: Atropin, Antihistaminika (z. B. Promethazin), Neuroleptika (meist trizyk-
lische Verbindungen wie Clozapin), anticholinerg wirkende Parkinsonmedika-
mente (z. B. Biperiden, Trihexyphenidyl), tri- u. tetrazyklische Antidepressiva,
(z. B. Saroten, Doxepin), Spasmolytika (z. B. Butylscopolamin). Bes. häufig bei
Komb. mehrerer anticholinerg wirksamer Pharmaka, bei älteren hirnorganisch
vorerkrankten Pat. (v. a. bei Demenz) o. zusätzlicher Exsikkose.
Klinik:
• Zentral: Delirantes Sy. mit Minderung der Aufmerksamkeit bis zur Bewusst-
seinsstör., Halluzinationen, psychomotorische Stör., Schlafstör., Hyperkine-
sen, Tremor, Myoklonien, Tachypnoe.
204 4  Notfälle und Intensivtherapie  

• Peripher: Tachykardie, Hyperthermie, Obstipation, trockene gerötete Haut,


verminderte Speichel-/Schweißsekretion, Harnretention, Mydriasis, Akkom-
modationsstör.
KO: Herzrhythmusstör., Krampfanfälle.
Diagn. (Ausschlussdiagn.): Anamnese (Medikamentenanamnese, Komb. mehre-
rer anticholinerg wirksamer Medikamente beachten), Klinik (s. o.), Labor, EKG,
CCT, Liquorunters., EEG.
DD: Intox. mit anderen Stoffen, Entzugssympt., andere Medikamentenunverträg-
lichkeiten, akute schizophrene Psychose, metab. Stör.
Ther.:
• Anticholinerg wirkende Medikamente absetzen; EKG-Monitoring, Flüssig-
keits-/E'lytsubstitution, Bilanzierung, Ernährung, evtl. Benzodiazepine bei
psychomotorischer Unruhe.
• Physostigmin: Anticholium® 2 mg/Amp.
Wenn unwirksam, kein zentrales anticholinerges Sy.

– Ind.: Schwere Sympt. (z. B. Koma, Delir, Halluzinationen, Krampfanfälle).


4 – KI: Asthma bronchiale, COPD, KHK, pAVK, Überleitungsstör. im EKG,
Bradykardie, mechanische Obstruktion im GIT, entzündl. Darmerkr.,
Schwangerschaft.
– Dos.: Testdosis 0,5 mg i. v., bei fehlender cholinergen NW 1–2 mg über
10 Min. i. v. Bei fehlender Wirkung erneuter Versuch nach etwa 15 Min.
Bei Erfolg Fortführung mit 2 mg/h i. v. Max. Tagesdosis 12 mg.
Prognose: Bei rechtzeitiger Behandlung gut.

4.9.7 Maligne Hyperthermie
ICD-10 T88.3.
Klinik: Initial meist Tachykardie u. Tonuserhöhung der Skelettmuskulatur, dann
dramatischer Anstieg der Körpertemperatur (bis 45  °C), zunehmende Herz-
Kreislauf-Stör., Rigor, E'lyt-Entgleisung, Gefahr eines Hirnödems, Nierenversa-
gen (▶ 20.9.3).
Ther.: ▶ 20.9.3.

4.9.8 SIADH (Syndrom der inadäquaten ADH-Freisetzung)


Def.: Syn.: Schwartz-Bartter-Sy.. Iso- o. hypervolämische Hyponatriämie
(<  134 mmol/l) durch erhöhtes Plasma-ADH o. erhöhte renale Sensitivität auf
ADH mit der Folge erhöhter Wasserretention. Besteht eine Dehydratation, liegt
ein „zerebrales Salzverlustsy.“ vor (▶ 4.9.9).
Ätiol.: Paraneoplastisch (v. a. kleinzelliges Bronchial-Ca, Pankreas-Ca, Lympho-
me), ZNS-Erkr. (SAB, Enzephalitis, Trauma, Hirntrauma, Hirntumor, GBS), sel-
ten pulmonale Urs, Hypothyreose, Medikamente (z. B. Phenothiazine, Carbama-
zepin, Oxcarbazepin, Morphin, Barbiturate, Antidepressiva).
Klinik:
• Bei plötzlicher Entwicklung u. ausgeprägter Hyponatriämie < 120 mmol/l
Übelkeit, Inappetenz, Erbrechen, Kopfschmerz, Muskelkrämpfe, Apathie,
Somnolenz, Koma.
• Bei langsamer Entwicklung u. Hyponatriämie zwischen 120–130 mmol/l evtl.
nur wenig Beschwerden.
   4.10  Zentraler Diabetes insipidus  205

Diagn.:
• Hyponatriämie < 134 mmol/l.
• Urinosmolalität > Serumosmolalität (Serumosmolalität meist
< 260 mosmol/l, Urinosmolalität > 300 mosmol/l).
• Urin-Na+ ↑ (Na+-Ausscheidung > 25 mmol/l bei normaler Zufuhr).
• Plasma-ADH meist normal bis erhöht.
• Abgrenzung vom CSWS (s. u.): Im Gegensatz zum CSWS verminderte Urin-
menge, pos. Flüssigkeitsbilanz.
Ther.:

• Zufuhr von iso- o. hypertonen NaCl-Lsg. problematisch. Zugeführtes


Na+ wird sofort wieder ausgeschieden. Daher grundsätzlich (wenn mög-
lich unter Intensivbedingungen) Flüssigkeitsrestriktion auf
­500–1.000  ml/d.
• Bei SAB u. erhöhtem ICP sind unter Flüssigkeitsrestriktion zerebrale
­Ischämien zu befürchten. Daher milde Flüssigkeitsrestriktion auf etwa
1,5 l/d in Komb. mit NaCl-Substitution u. Diuretikagabe (z. B. NaCl
10 % 1 ml/h i. v. + Furosemid 4 × 20 mg/d i. v.). Cave: Bei zu schneller 4
Na+-Korrektur (> 10 mmol/d) Gefahr von Myelinolysen.

Nicht eindeutig belegt sind Empfehlungen von Demeclocyclin 300–1.200 mg/d


p. o. (Ledermycin®) u. Lithium 300 mg/d (Plasmaspiegel 0,3–0,6 mmol/l). Für
Phenytoin liegen widersprüchliche Daten vor.

4.9.9 CSWS (cerebral salt waste syndrome, zerebrales


Salzverlustsyndrom)
Def.: Renaler Salzverlust (Na+-Ausscheidung >  50 mmol/l) bei intrakranieller
Erkr., der zu Hyponatriämie (<  134  mmol/l) u. Verminderung des EZV
(Volumenmangel) führt.
Ätiol.: Ungeklärt; am häufigsten bei SAB; SHT, Hirntumoren, Meningeosis
neoplastica.
Klinik: Prinzipiell wie bei SIADH (▶  4.9.8). Wegen der begleitenden Hirnerkr.
meistens als „Labordiagnose“ auffällig.
Diagn.: Im Gegensatz zur SIADH vermindertes EZV u. Polyurie.
Ther.: Bei Hyponatriämie u. Dehydratation: Volumen- u. Natriumsubstitution,
Fludrocortison 0,05–0,1 mg/d p. o. (Astonin H®), evtl. zusätzlich hypertone NaCl-
Lsg. (z. B. NaCl 10 %).

4.10 Zentraler Diabetes insipidus


Ätiol.: Schädigungen des Hypothalamus bei SHT, SAB, Tumoren, Menigitis, gra-
nulomatöser Entzündung bei M. Boeck, nach neurochir. Eingriffen (v. a. Hypo-
physen-OP).
Pathophysiologie:
• Zentraler Diabetes insipidus: Verminderte ADH-Sekretion → renaler Was-
serverlust, Hypernatriämie, Exsikkose.
• Renaler Diabetes insipidus: Fehlendes Ansprechen der Nieren auf ADH.
206 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Klinik: Polyurie (Ausscheidung 200–500 ml/h), Fähigkeit zur Konzentration des


Urins reduziert, Reduktion der Urinproduktion bei verminderter Flüssigkeitszu-
fuhr ebenfalls gestört.
Zusatzdiagn.:
• Spezifisches Gewicht des Urins < 1.002 g/l.
• Serum-Na+ u. -Osmolarität (normal: 285–295 mosmol/l) ↑.
• Urin-Na+ < 10 mval/l, Urin-Osmolarität sehr niedrig.
DD: Osmotische Diurese z. B. bei Diab. mell. (hohe Urinosmolarität), polyuri-
sches Nierenversagen.
Ther.: Vasopressin (Pitressin®) in Einzelgaben zu 0,5 ml s. c. o. i. m. o. Desmopres-
sin (Minirin®) 2–8 μg/d s. c. (1 ml = 4 μg) o. als Nasenspray 10–40 μg/d (1 Stoß =
10 μg).

4.11  Zentrales Fieber


Ätiol.: Läsionen von Hypothalamus, Mittelhirn, Hirnstamm.
Klinik: Hohes Fieber, erhöhter RR (DD Sepsis: RR-Abfall!); eher selten sind Ta-
chykardie, Schüttelfrost bei Temperaturanstieg, Schwitzen bei Temperaturabfall.
4 Ther.:
• Physikalisch: Abdecken mit feuchten Tüchern, Ventilation, Kühlung der In-
fusionslösungen.
• Medikamentös:
– Stufenweise Paracetamol → Metamizol (Novalgin®) 1–5 g/d → Chlorprom­
azin (Megaphen®) 50–400 mg/d.
– Ultima Ratio: „Lytischer Cocktail“ mit Metamizol (Novalgin®) 500 mg
(= 1 Amp.), Promethazin (Atosil®) 25 mg (= 1 Amp.) u. Pethidin (Dolan-
tin®) je nach Alter 25–100 mg (1 Amp. = 50 mg) in 100 ml NaCl-Lsg. über
3–4 h.

Insbes. bei älteren Pat. kritischer RR-Abfall u. länger anhaltende Vigilanz-


stör. möglich.

4.12  Septische Enzephalopathie


Def.: Zerebrale Funktionsstör. im Rahmen einer Sepsis (ACCP/SCCM) o. beim
Sy. der systemischen Entzündungsreaktion (SIRS), die durch keine andere Urs.
erklärbar sind.
Häufigkeit: Auftreten bei ca. 70 % der Pat. mit Sepsis!
Wird bei intensivmedizinisch behandelten Pat. häufig unterschätzt o. entgeht der
klin. Beurteilung, da durch analgosedierende Maßnahmen überdeckt.
Klinik: Quantitative u. qualitative Bewusstseinsstör., evtl. zusätzliche Myokloni-
en, epileptische Anfälle, Tremor, Rigor.
Diagn.:
• Liquor: Ausschluss einer erregerbedingten Meningoenzephalitis.
• CCT, MRT:
– Bei klin. Hinweisen auf eine fokale Sympt.
– Bei septischer Enzephalopathie im CCT meist Normalbefund (MRT hat
eine höhere Sensitivität).
  4.14 Critical-illness-Polyneuropathie (CIP)  207

• EEG: Unspezifische Frequenzverlangsamungen i. S. der Allgemeinverände-


rung.
DD: Hypoxische, hepatische, metab., renale u. medikamenteninduzierte Enze-
phalopathie.
Ther.: Keine spezifische Ther.
Progn.: Erhöhte Mortalität u. verlängerte Beatmungsdauer.

4.13 Rhabdomyolyse
▶ 20.9.2.
Def.: Akute Schädigung des Skelettmuskels mit Nekrose von Muskelgewebe u.
Freisetzung von Myoglobin, CK, K+, PO43–, Harnsäure, Kreatin u. Aminosäuren.
Klinik: Akute generalisierte Muskelschwäche, Muskelschmerzen, -schwellungen
(→ u. U. Kompartmentsy.). Die kranialen u. pharyngealen Muskeln sind selten
einbezogen. Auch blande Verlaufsformen möglich. Bei ausgeprägter Rhabdomyo-
lyse Braunfärbung des Urins durch Myoglobin.
KO: Hyperkaliämie → kardiale Rhythmusstör.; Myoglobinfreisetzung → Tubulus-
nekrose → Nierenversagen; DIC.
Diagn.: ▶ 20.9.2. Labor: 4
• CK-Erhöhung auf > 10.000 U/l.
• Myoglobin i. U. (wird nur bei ca. 50 % erhöht gefunden, da Ausscheidung nur
für wenige Stunden), Screening mit Teststreifen (Test reagiert außer bei Myo-
globin im Urin auch bei freiem Hb u. Hb in Erys; daher nur verwertbar in
Abwesenheit einer Hämaturie); Bestimmung zur Diagnosestellung nicht er-
forderlich.
• E'lyte: K+, PO43–, Ca2+.
Ther.: ▶ 20.9.2.
• Intensivpflege.
• Ausgleich der E'lyt-Stör.: Hyperkaliämie, Hypokalzämie, Azidose.
• Steigerung der Diurese: Rehydrierung, Furosemid (Lasix®) o. Mannitol, Alka-
lisierung des Urins mit Bikarbonat u./o. Acetazolamid (Ziel: Urin-pH 7–8).
• Hämodialyse bei Bedarf.

4.14  Critical-illness-Polyneuropathie (CIP)


Def.: Armbetonte, periphere Neuropathien bei Pat. mit längerer Koma- u. Intuba-
tionsdauer während der intensivmedizinischen Behandlung.
Nach der Extubation schwerwiegende sensomotorische Stör. erkennbar.
Pathologie:
• Fleckförmige Markscheidenuntergänge.
• Eiweißreiche Exsudate um stark erweiterte Blutgefäße (Stör. der Blut-Nerven-
Schranke).
• Perivask. Lymphozyteninfiltrate.
• Mit Abbaustoffen beladene Makrophagen.
• Axonale Degeneration motorischer o. auch sensibler Nerven.
Prädisponierende Faktoren:
• Sepsis.
• Multiorganversagen.
• Lang andauernde Beatmung.
208 4  Notfälle und Intensivtherapie  

Klinik:
• Schlaffe Paresen der Extremitäten, Muskelatrophie, teigige Muskelkonsistenz
o. abgeschwächte Muskeleigenreflexe.
• Klin. u. elektrophysiologische Zeichen einer Schädigung sensibler Nerven.
• Distal betonte Degeneration der motorischen u./o. sensiblen Axone.
• Gestörte vask. Autoregulation, erhöhte mikrovask. Permeabilität, Ödem des
Endoneuriums u. Kapillarverschlüsse.
Diagn.:
• Elektroneuro- u. -myografie:
– Normale o. grenzwertige NLG u. normale distale Latenzen.
– Verbreiterte u. amplitudengeminderte Summenaktionspotenziale.
– Path. Spontanaktivität.
• Liquor: Allenfalls leichte Proteinerhöhung, sonst keine Normabweichungen.
DD:
• Polyradikulitis (GBS).
• Akute intermittierende Porphyrie.
• Metastatische Mikroabsedierung.
• Vorderhornbefall bei Enzephalitis.
4 • Spinovask. Erkr.
• Tox. Medikamenteneffekt.
• Paraneoplastische Neuropathie.
• Rheumatoide Arthritis/Amyloidneuropathie.
• Churg-Strauss-Sy.
KO: Entwöhnungsprobleme vom Respirator; CIP kann die Entwicklung von
Pneumonien als auch die von Venenthrombosen u. Lungenembolien begünstigen.
Ther.:
• Keine spezifische Ther. bekannt.
! Wichtig: Rasche Überwindung o. Abwendung von Sepsis u. Multiorganversa-
gen.
• Krankengymnastische Behandlungen, Vermeidung von Lagerschäden.
Klin. Verlauf:
• Monophasischer Verlauf.
• Relativ häufig, unterschiedliche Ausprägung u. Sympt. – sensibel, motorisch
o. sensomotorisch.
• Nach Überwindung des intensivbehandlungsbedürftigen Grundleidens oft re-
lativ schnelle Rückbildung.
• Denervationszeichen oft noch 5 J. nach längerer Intensivbehandlung
feststellbar.
  4.15 Critical-illness-Myopathie (CIM)  209

4.15  Critical-illness-Myopathie (CIM)


Myopathieformen:

Critical-illness-Neuropathie kann mit myopathischen Manifestationen kom-


biniert sein. Elektrophysiologische u. insbes. bioptische Unters. erbrachten
deutliche Variationen im Schädigungsprofil.

• CIM im engeren Sinn.


• Thick-Filament-Myopathie.
• Nekrotisierende Myopathie.
Histopath. Merkmale: Abnorme Variation der Muskelfasergröße. Einzelfaseratro-
phie. Einzelfasernekrosen. Fettige Degeneration der Muskelfasern. Fibrose der
Muskelfasern. Mittelständige Zellkerne. Angulierte Fasern. „Rimmed vacuoles“.
Klinik:

Typ. Merkmal der CIM ist die Muskelschwäche.

Prädisponierend sind: 4
• Längerer Intensivaufenthalt.
• Anwendung von Kortikosteroiden in höherer Dos.
• Gabe nicht depolarisierender Myorelaxanzien (Pancuronium, Vecuronium).
• Gabe von Aminoglykosiden.
• Länger bestehende Azidose.
• Z. n. Lungen- o. Lebertransplantationen.
Diagn.:
• Muskelbiopsie:
– Atrophie der Typ-2-Fasern mit basophilem Zytoplasma in HE-Färbung.
– Reduzierte Myosin-ATP-Färbung v. a. im Zentrum der Muskelfasern.
– Muskelzellnekrosen (selten hochgradig).
– Elektronenmikroskopie: Weitverbreiteter Verlust der Filamente, oft selek-
tiv nur Myosin (Aktin erhalten).
• Labor: CK-, Myoglobinwerte im Blut nur bei nekrotisierender Form erhöht.
• EMG: Kleine Potenziale der motorischen Einheiten, Interferenzmuster nor-
mal.
• Elektroneurografie: NLG normal, SNAP normal (letzteres nur wenn keine
CIP mit Beteiligung der sensiblen Nerven vorliegt).
Ther.: Keine spezielle Ther. der myopathischen Sy. unter intensivmedizinischer
Behandlung bekannt.
Prophylaktische Maßnahmen:
• Keine Langzeitanwendung von Muskelrelaxanzien, weil der denervierte Mus-
kel erhöht vulnerabel ist u. zur Myopathie neigt.
• Kortikosteroide nur streng indiziert verabreichen.
• Schonende Entwöhnung vom Respirator, möglichst nach individuell festge-
legtem Schema.
• Krankengymnastische Behandlung (z. B. WOB) vom 1. d an.
• Vermeidung von Lagerungsschäden.
• Vermeidung von Sepsis, Organversagen u. Malnutrition.
5 Kopf- und Gesichtsschmerz
Till Sprenger, Thomas R. Tölle und Achim Berthele

5.1 Kopfschmerz 212 5.1.9 Weitere idiopathische


5.1.1 Systematik 212 ­Kopfschmerzsyndrome 225
5.1.2 Differenzialdiagnosen und 5.2 Gesichtsschmerz 226
Anamnese 212 5.2.1 Trigeminusneuralgie  226
5.1.3 Warnsymptome (Red 5.2.2 Glossopharyngeus­
Flags) 212 neuralgie  228
5.1.4 Migräne 216 5.2.3 Sonstige Neuralgien 229
5.1.5 Kopfschmerz vom Span­ 5.2.4 Tolosa-Hunt-Syndrom 229
nungstyp  221 5.2.5 Anhaltender idiopathischer
5.1.6 Zervikogener Kopf­ Gesichtsschmerz 230
schmerz  222 5.2.6 Myoarthropathie/kranioman­
5.1.7 Trigeminoautonome dibuläre Dysfunktion
­Kopfschmerzen 222 (CMD/TMD) 230
5.1.8 Kopfschmerz bei Medi­
kamentenübergebrauch 225
212 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

5.1 Kopfschmerz
5.1.1 Systematik
Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (IHS) unterteilt Kopfschmerzen in 2
große Hauptgruppen: Prim., idiopathische Kopfschmerzen u. sek., symptomati-
sche Kopfschmerzen. Klassifikation online unter: http://www.ihs-klassifikation.de.
• Prim. Kopfschmerzen:
– Häufig: Kopfschmerz vom Spannungstyp u. Migräne.
– Selten: Cluster-Kopfschmerz (▶ 5.1.7) u. andere trigeminoautonome
Kopfschmerzerkr. (▶ 5.1.7).
– Grundlage der prim. Kopfschmerzen ist eine phänomenologische (opera-
tionale) Kategorisierung.
• Sek. Kopfschmerzen: Ätiologische Klassifikation (z. B. Kopfschmerz bei Ka-
rotisdissektion). Bei einigen wenigen Kopfschmerzarten ist eine genetische
Klassifikation möglich (familiäre hemiplegische Migräne).

5.1.2 Differenzialdiagnosen und Anamnese


Zur differenziellen Einordnung muss geklärt werden:
• Qualität: Pulsierend, drückend, stechend, spitz, dumpf; neu, geändert, nie ge-
kannt.
• Intensität: Am besten mittels Analogskala (0 = kein Schmerz bis 10 =
5 schwerster vorstellbarer Schmerz). Arbeiten o. Schlafen möglich?
• Lokalisation: Holozephal, halbseitig, fokal.
• Beginn u. Verlauf: Plötzlich o. schleichend.
• Dauer u. Häufigkeit.
• Begleitsympt.: Z. B. Erbrechen o. andere autonome Zeichen, Licht- o. Lärm-
scheu, Fieber.
• Auslöser: Stress, körperl. Belastung, spezifische Tätigkeiten/Situationen.
• Vorerkr., Traumata.
• Medikamentenanamnese.

5.1.3 Warnsymptome (Red Flags)


Von einem symptomatischen Kopfschmerz (▶ Tab. 5.1) muss bis zum Beweis des
Gegenteils ausgegangen werden bei:
• Apoplektiform auftretende Vernichtungskopfschmerzen.
• Kopfschmerzen einer bislang nicht bekannten Intensität.
• Änderung vorbekannter Kopfschmerzen.
• Meningismus, Allgemeinsympt. (Fieber).
• Herdneurol. Ausfälle, STP.
• Epileptische Anfälle.
• Neuropsychologische Auffälligkeiten (z. B. Vigilanzstör.).
• Ungewöhnliches Manifestationsalter.
• Ther.-Resistenz.
Bei diesen „Red Flags“ Abklärung mit weiterführenden (apparativen) Methoden
notwendig.
  5.1 Kopfschmerz  213

Bei akutem stärkstem Kopfschmerz immer CT o. MRT. Wenn o. B., LP (zum


Ausschluss von SAB o. entzündl. Genese).

Tab. 5.1  Symptomatische Kopfschmerzen


Diagnose Beginn und Dauer, Charakter und Begleitsym­ Diagnostik
Besonderheiten Lokalisation ptome

Anfallsartiger Kopfschmerz

Hypertensive Oft nach physi­ Charakteristi­ Schwindel, RR-Messung,


Krise schem o. psychi­ scher heftiger Übelkeit, Er­ internistische
schem Stress diffuser Kopf­ brechen, Seh­ u. neurol.
schmerz stör., Verwirrt­ Unters.
heit, Nasen­
bluten, evtl.
Angina-pecto­
ris-Anfall

Glaukomanfall Vor allem im Alter Stirnkopf­ Z. T. Erbre­ Intraokuläre


von > 40 J. schmerz, ein­ chen u. kon­ Druckerhö­
seitig junktivale In­ hung
jektion, Pupil­
le mydriatisch
u. lichtstarr

„Headache Transiente Defizite Migränifor­ Liquorpleozy­ LP, MRT,


and Neurolo­ (v. a. Hemihypäs­ mer Kopf­ tose (> 15/μl), ­Erregerdiagn. 5
gical Deficits thesie/-parese, schmerz Schranken­ (Ausschluss­
with Lympho­ Dysphasie) beglei­ stör. diagnose!)
cytic pleocyto­ tet/gefolgt von
sis “ (HaNDL) Kopfschmerzen

Schlagartig auftretender Kopfschmerz

SAB (▶ 8.3) Plötzlich (explosi­ Stärkster Übelkeit, Er­ LP nach CCT/


onsartig) Kopfschmerz brechen, Me­ MRT, Angio,
(Vernich­ ningismus, Doppler
tungskopf­ HN-Ausfälle (Vasospas­
schmerz) o. andere mus)
Herdsympt.;
Bewusstseins­
trübung

Reversibles ze­ Rezidivierend Vernichtungs­ (Transiente) CCT/MRT, An­


rebrales Vaso­ explosionsartig kopfschmerz fokal-neurol. gio: multiple
konstriktions­ meist mit kür­ Defizite, epi­ Gefäßein­
sy. (RCVS) zerer Dauer leptische An­ schnürungen,
als bei SAB, fälle SAB/ICB/In­
gefolgt von farkt möglich
persistieren­
dem dumpf-
drückendem
Kopfschmerz

Intrazerebrale Evtl. Tage bis Wo. Meist halbsei­ Übelkeit, Er­ CCT/MRT,
Blutung (▶ 8) prodromaler mor­ tig brechen, Be­ ggf. Angio
gendlicher Kopf­ wusstseins­
schmerz stör., epilepti­
sche Anfälle,
Herdsympt.
214 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

Tab. 5.1  Symptomatische Kopfschmerzen (Forts.)


Diagnose Beginn und Dauer, Charakter und Begleitsym­ Diagnostik
Besonderheiten Lokalisation ptome

Schlagartig auftretender Kopfschmerz

Zerebrale Isch­ Plötzlich einset­ Uncharakte­ Herdsympt. MRT/CCT


ämie (▶ 7) zend; v. a. bei Isch­ ristisch der Ischämie
ämien im hinteren
Stromgebiet

Subakuter Kopfschmerz

Meningitis, Meist über Tage Diffus Meningismus, CCT/MRT, Li­


Enzephalitis zunehmend Fieber, Licht­ quor, EEG
(▶ 9.3.1) scheu, Erbre­
chen, evtl.
Herdsympt.,
Bewusstseins­
stör.

SVT (▶ 7.8) Meist über Tage Diffus Übelkeit, Er­ CCT/MRT mit
zunehmend brechen, evtl. KM, venöse
Fieber, Me­ MR-Angio,
ningismus, EEG, Liquor,
Herdsympt. Gerinnung
(auch bilate­ mit ATIII,
ral), epilepti­ Protein C u. S,
sche Anfälle, APC-Ratio,
5 Bewusstseins­ Antiphospho­
stör. lipid-AK

Karotis-/Verte­ Meist Trauma in Ziehende Horner-Sy. CCT/MRT,


bralisdissekti­ der Anamnese Hals-/Nacken- bei Karotis­ CTA/MRA,
on (▶ 7.3.1, o. Hinterkopf­ dissektion; Doppler/
▶ 7.3.2) schmerzen Sympt. einer Duplex
evtl. zerebra­
len Ischämie

Liquorunter­ Unterschiedliche Orthostati­ HN-Stör. MRT/CCT,


druck-Sy. Dauer/fluktuie­ scher Kopf­ möglich (v. a. ggf. MR- o.
(▶ 26.4) rend. schmerz N. abducens) CT-Myelogra­
Symptomatisch fie bei spon­
nach LP (mit La­ tanem Li­
tenz von bis zu quorunter­
48 h) o. spontan druck-Sy. zur
Suche nach
Leck

Posttraumati­ Bis zu Wo. anhal­ Zusätzlich Na­ Häufig Rö, CCT/MRT,


scher Kopf­ tend, selten chron. cken- u./o. Schwindel u. Doppler/
schmerz Nach HWS-Distorsi­ Schulter-Arm- Konzentrati­ Duplex
on o. SHT Schmerzen onsstör.

Arteriitis tem­ Dauerschmerz Temporal be­ A. temporalis BSG/CRP-, Du­


poralis/crania­ über Wo., meist tont, dumpf. geschwollen plex/Biopsie
lis (▶ 7.5.2) > 50. Lj Schmerzen u. druckemp­ der A. tempo­
beim Kauen findlich; Seh­ ralis
(„Claudicatio stör.
masticatoria“)
  5.1 Kopfschmerz  215

Tab. 5.1  Symptomatische Kopfschmerzen (Forts.)


Diagnose Beginn und Dauer, Charakter und Begleitsym­ Diagnostik
Besonderheiten Lokalisation ptome

Subakuter Kopfschmerz

Herpes zoster Kann der Bläschen­ Dermatomal; Ggf. trigemi­ Hautbefund


(▶ 9.4.4) bildung vorausge­ heftiger bren­ noautonome (kann erst Ta­
hen nender Dau­ Sympt. (falls ge nach
erschmerz V1 betroffen) Schmerz be­
ginnen)

Sinusitis Abhängig von der Häufig frontal Nervenaus­ Rö-NNH, CT-


Kopflage (häufig trittspunkte NNH o. Sono
verstärkt beim druck­ (Spiegelbil­
Vornüberbeugen) schmerzhaft dung)

Otitis media Druckschmerzhaf­ Hörminde­ HNO-ärztliche


ter Tragus rung, Fieber Unters.

Para-/postin­ Tage andauernd. Diffus Kein Menin­ Fokussuche


fektiös Infekt in Ana­ gismus, keine
mnese fokalen Aus­
fälle

Chron. Kopfschmerz

Intrakranielle Dauerkopfschmerz Meist diffus, Evtl. Hirn­ CCT/MRT mit


Raumforde­ dumpf, drü­ druckzeichen KM, EEG, Li­
rung (▶ 13) ckend, lage­ (▶ 4.7), fokale quor 5
abhängig, sel­ neurol. Aus­
ten lokalisiert fälle

Pseudotumor Dauerkopf­ Diffus STP, Optiko­ Liquordruck­


cerebri/idiopa­ schmerz; häufig pathie, messung,
thische intra­ junge adipöse F Abduzens­ MRT
kranielle parese(n)
Hypertension
(▶ 26.3)

Art. Hyperto­ Stunden bis Tage Diffus Hypertonus, (Langzeit-)


nie andauernd, Maxi­ intermittie­ RR-Messung
mum morgens rend neurol.
Ausfälle

Refraktions­ Belastungsabhän­ Verschwom­ Ophthalmo­


anomalie, gig mensehen, logische
Strabismus Doppelbilder Diagn.

Depression Bei Belastungs- u. Diffus Stör. von Ap­


Konfliktsituatio­ petit u. Schlaf
nen

Posttraumati­ Variabel, häufig HWS-Trauma


scher Kopf­ migräniform o. SHT in der
schmerz Anamnese
216 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

5.1.4 Migräne
ICD-10 G43.

Epidemiologie
• Prävalenz F 12–14 %, M 6–8 %, Kinder 3–5 %.
• Familiäre Belastung in > 60 %.
• Erkr.-Beginn 10.–40. Lj.
• Höchste Inzidenz von Migräneattacken im 35.–45. Lj.
Einteilung
• Migräne ohne Aura (ICD-10 G43.0): 80–90 %.Einseitig, pulsierend, mittlere
bis starke Intensität, Verstärkung bei körperl. Routinetätigkeiten u. ein Be-
gleitsympt. (Erbrechen u./o. Übelkeit, Foto- u. Phonophobie).
• Migräne mit Aura (ICD-10 G43.1): 10–20 %.
– Aurasympt. mit Dauer < 60 Min. gehen dem Kopfschmerz voraus (freies
Intervall ≤ 1 h), können aber zu Beginn der Kopfschmerzen noch vorhan-
den sein.
! Beim gleichen Pat. können Migränepisoden sowohl mit als auch ohne Au-
ra auftreten.
• Aura ohne Kopfschmerz: Isolierte Auren = typ. Aura ohne Kopfschmerzen
bei bekannter Migräne mit Aura.
• Chron. Migräne: Episodische Migräne in der Anamnese, in mind. den letzten
3 Mon. Kopfschmerzen an ≥ 15 d/Mon., davon jeweils ≥ 8 d Migräne.
5 • Seltene Sonderformen:
–  Migräne mit Hirnstamm-Aura (Migräne vom Basilaristyp): mind.
2 Hirnstammsympt. begleitet/gefolgt von Kopfschmerzen.
–  Retinale Migräne: Wie Migräne ohne Aura, zusätzlich Visusverlust eines
Auges; reversibel nach < 1 h.
–  Familiäre hemiplegische Migräne (FHM): wie Migräne mit Aura, zusätz-
lich begleitende Hemiparese für Stunden bis Tage. Aut. dom. Vererbung
(mehr als 3 Gene als ursächlich identifiziert, in 50 % d. F. ist der
CACNA1A-Genlokus [FHM1] betroffen).
–  „Ophthalmoplegische Migräne“: Keine Migräne, sondern schmerzhafte
Neuropathie v. a. des N. oculomotorius (▶ 12.3.1).
–  Vestibuläre Migräne: Schwindelattacken von 5 Min. bis 72 h Dauer;
mind. 50 % der Attacken begleitet von Sympt. einer Migräne.

Migräne mit Hirnstamm-Aura: Bis zum Beweis des Gegenteils muss von ei-
nem sek. Kopfschmerz ausgegangen werden (z. B. Hirnstammischämie). Zü-
gige differenzialdiagnostische Abklärung!

Auslöser
• Stress, Wetterwechsel, Alkohol, Nahrungsmittel (Rotwein, Käse, Schokolade),
Änderung des Schlafrhythmus, Hormone (Pille, Menstruation).
• Menstruelle Migräne: regelmäßiges Auftreten um den Zeitpunkt der Menst-
ruation.

Klinik
• Häufig einseitiger Attackenkopfschmerz von 4–72 h Dauer (▶ Abb. 5.1).
  5.1 Kopfschmerz  217

• Prodromalsympt.: Depressive Verstimmung, erhöhte Irritabilität, Hyperakti-


vität, ständiges Gähnen.
• Aura: Passagere fokal-neurol. Ausfälle wie Flimmerskotom, Lichtblitze, For-
tifikationen (gezackte Lichtkonturen), homonymer Gesichtsfeldausfall, ein-
seitige Sensibilitätsstör., einseitige Paresen, Sprachstör.
• Seitenwechsel o. bds. Lokalisation möglich.
• Schmerzqualität: Pulsierend, bohrend, pochend, bei manchen Pat. drückend.
• Schmerzintensität: Mittel bis schwer. Oft weitere Zunahme bei körperl. Akti-
vität. Beeinträchtigt Aktivitäten des tgl. Lebens.
• Begleitsympt.: Appetitlosigkeit, Übelkeit u. Erbrechen, Foto-, Phonophobie,
Schwindel, Benommenheit. Teilweise Geruchsüberempfindlichkeit, Kälte- o.
Hitzegefühl, Oligurie u. Diarrhö während u. Polyurie nach einer Attacke.

Komplikationen
• Status migraenosus: Andauern
der Beschwerden trotz Behandlung
> 72 h (kontinuierlich o. mit be-
schwerdefreien Intervallen < 4 h).
• Migränöser Infarkt: Sehr selten.
Risikofaktoren: Migräne mit Aura,
F < 45 J., orale Kontrazeption, Ni-
kotinabusus. Vor allem hinteres
Stromgebiet.

Diagnostik 5
Kranielle Bildgebung u. ggf. weitere
Zusatzdiagn. erforderlich bei:
• Erstmanifestation > 50 J.
• Atypischem Beginn der Attacke
(z. B. DD: SAB), atypischen Sympt.
(z. B. Fieber, Meningismus, epilep-
tischer Anfall), atypischer Dauer
der (Begleit-)Sympt. Migräne
• Wesentlicher Änderung der
­Sympt. bei bekannter Migräne. Abb. 5.1 Schmerzlokalisation bei Mi­
gräne [L106]
Differenzialdiagnosen
Prim. trigeminoautonome Kopfschmerzen (▶ 5.1.7), Spannungskopfschmerz, sym­
ptomatischer Kopfschmerz bei zerebrovask. o. entzündl. Erkr., Raumforderungen.

DD v. a. bei Migräne mit Aura u. Sonderformen der Migräne abklären.

Therapie
Attackenkupierung: Verhaltensmaßnahmen, die subjektiv Erleichterung brin-
gen, z. B. Dunkelheit, Ruhe, Eisbeutel; Auslösefaktoren vermeiden (z. B. bestimm-
te Nahrungsmittel).
Antiemetika: Verbessern GIT-Begleitsympt. u. Resorption der Analgetika, zu-
sätzlich geringe analgetische Wirkung.
NW: EPS (v. a. bei Metoclopramid).
KI: Bekannte Hyperkinesien, Epilepsie.
218 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

• Metoclopramid: 10–20 mg p. o./rektal o. 10 mg i. v., oder


• Domperidon: 10–20 mg p. o. als Suspension o. Tbl.
Analgetika:
• Bei leicht- bis mittelgradigen Kopfschmerzen:
– ASS 1.000 mg p. o. als Brause- o. Kautbl. oder
– Ibuprofen-Lysinat 400 mg p. o. o. Ibuprofen 400–600 mg p. o./rektal oder
– Diclofenac-Kalium 50–100 mg p. o. oder
– Naproxen 500–1.000 mg rektal.
• Paracetamol (1.000 mg p. o./rektal) u. Metamizol (1.000 mg p. o.) sind Mittel
2. Wahl.
! Paracetamol ist Mittel 1. Wahl in Schwangerschaft/Stillzeit.

• Komb.-Präparate sind gut wirksam, werden jedoch wegen der höheren


Gefahr, einen Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch zu entwi-
ckeln, nicht empfohlen.
• Opioide möglichst vermeiden.
• Triptane (5HT-1D-/1B-Agonisten):
– Bei schweren Kopfschmerzattacken mit regelmäßiger Arbeitsunfähigkeit/
Wirkungslosigkeit der NSAR. Wirken auch gegen Begleitsympt. der Mig-
räneattacke.
– Wirken nicht gegen Aurasympt. u. nicht in der Auraphase. Wiederauftre-
5 ten der Kopfschmerzen innerhalb von 24 h nach initial gutem Behand-
lungserfolg möglich (Wiederkehrkopfschmerz/Recurrence).
– NW: Druck-, Wärme-/Kälte- u. Schweregefühl, v. a. thorakal, passagere
Benommenheit, Parästhesien, Lokalreaktion bei Injektion, Atemnot, Hy-
potonie, Brady- o. Tachykardie.
– KI: Hypertonie, KHK o. Herzinfarkt, PAVK, Raynaud-Sy., Schwanger-
schaft/Stillzeit, Anwendung von Ergotaminen o. SSRI. Anwendungsbe-
schränkung bei Alter < 18 J. o. > 65 J., Migräne vom Basilaristyp o. famili-
äre hemiplegische Migräne. Bei Jugendlichen von 12–17 J. u. Verschrei-
bung durch Spezialisten Sumatriptan nasal 10 mg möglich.

• Triptane an ≤ 10 d/Mon. anwenden (Gefahr eines Kopfschmerzes bei


Medikamentenübergebrauch). Cave: Selbstmedikation!
• Triptane nicht während einer Aura anwenden (Risiko einer Ischämie
durch vasokonstriktive Wirkung).
• Bei Recurrence Wdh. der Triptan-Gabe nicht vor 2 h.
– Sumatriptan (z. B. Imigran®): P. o. (50[–100] mg, max. 300 mg in 24 h),
s. c. (6 mg, max. 12 mg in 24 h), nasal ([10–]20 mg, max. 40 mg in 24 h) o.
rektal (25 mg, max. 50 mg in 24 h). Bei Übelkeit o. Erbrechen s. c. 1. Wahl.
– Almotriptan (z. B. Almogran®): P. o. (12,5 mg, max. 25 mg in 24 h). Weni-
ger NW als Sumatriptan bei ähnlicher Wirksamkeit. Auch rezeptfrei er-
hältlich.
– Eletriptan (z. B. Relpax®): P. o. (40[–80] mg, bei eingeschränkter Nieren-
funktion 20 mg; max. 80 mg [40 mg] in 24 h). 80 mg Eletriptan ist gegen-
über Sumatriptan (oral) wirksamer; niedrige Recurrencerate.
  5.1 Kopfschmerz  219

– Frovatriptan (z. B. Allegro®): P. o. (2,5 mg, max. 5 mg in 24 h). Weniger wirk-
sam als Sumatriptan. Bei langen Migräneattacken/häufiger Recurrence.
– Naratriptan (z. B. Naramig®): P. o. (2,5 mg, max. 5 mg in 24 h), bei Recur-
rence erneute Einnahme nicht vor 4 h. Weniger NW u. geringere Recur-
rencerate, langsamere u. geringere Wirkung als Sumatriptan. Auch re-
zeptfrei erhältlich.
– Rizatriptan (z. B. Maxalt®): P. o. (Tbl./Schmelztbl., 10 mg, max. 20 mg in
24 h; bei Propranolol o. eingeschränkter Nieren- o. Leberfunktion 5 mg,
max. 10 mg in 24 h). Etwas besser wirksam als Sumatriptan.
– Zolmitriptan (z. B. AscoTop®): P. o. (Tbl./Schmelztbl.), nasal, ([2,5–]5 mg,
max. 10 mg in 24 h). NW u. Wirksamkeit wie Sumatriptan.
• Ergotamine: Ergotamintartrat 2 mg p. o. Nur bei bereits darauf eingestellten
Pat. (wenn gut wirksam).
–  Cave: < 10 × im Mon. anwenden, max. 6 mg/Wo.
–  NW: Übelkeit, Erbrechen, Muskelkrämpfe, Ergotismus (Koronarspasmen,
Claudicatio intermittens, PNP, Darmnekrosen); ergotamininduzierter
Dauerkopfschmerz.
–  KI: KHK, PAVK, Hypertonie, Kinder, Schwangerschaft/Stillzeit, Anwen-
dung von Triptanen.

Keine Komb. von Triptanen u. Ergotaminen innerhalb von 24 h.

Notfallbehandlung der schweren Migräneattacke


• ASS 1.000 mg i. v. als Kurzinfusion. Cave: Nur nach Ausschluss einer in- 5
trazerebralen Blutung! Oder:
• Sumatriptan 6 mg s. c., ggf. Wdh. (frühestens nach 2 h), max. Dosis
12 mg/24 h.
Status migraenosus (Attacke > 72 h)
Zusätzlich einmalig Glukokortikoide (z. B. Prednison 50–100 mg p. o. o.
Dexamethason 10 mg i. v.) u. ggf. Benzodiazepine zur Sedierung.

Prophylaxe
Ind. für Langzeitprophylaxe:
• ≥ 3 Attacken/Mon. in den letzten 3 Mon.
• Regelmäßig Attacken > 72 h.
• Unwirksamkeit/Unverträglichkeit der Medikamente zur Attackenkupierung.
• Regelmäßig Arbeitsunfähigkeit durch Attacke.
• Wiederholt Aura mit fokal neurol. Ausfällen über Stunden.
• Ausdrücklicher Patientenwunsch.

• Kopfschmerztagebuch führen (z. B. Kieler Kopfschmerzkalender)!


• Pat. über realistische Behandlungsziele aufklären: 50 % Reduktion der
Attackenhäufigkeit, evtl. auch Besserung der Attackenschwere.
• Effekt der Prophylaxe erst nach 4–6 Wo. beurteilbar.
• Dauer der Prophylaxe 6–12 Mon. Bei Beendigung Medikamente lang-
sam ausschleichen.
220 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

• Ausdauersportarten, Stressbewältigung, Entspannungstechniken (v. a.


progressive Muskelrelaxation nach Jacobson) als Begleitther.

Medikamente der 1. Wahl:


• Metoprolol: Selektiver β1-Adrenorezeptorblocker. 50–200 mg/d, möglichst in
retardierter Form, oder
• Propranolol: Nichtselektiver β-Adrenorezeptorblocker. 40–240 mg/d, mög-
lichst in retardierter Form. Beginn mit 50 mg/d (Metoprolol) bzw. 40 mg/d
(Propranolol), wöchentlich um 50 mg/d bzw. 40 mg/d steigern.
– NW (u. a.): Müdigkeit, Hypotonie, Schlafstör.
– KI: AV-Block, Sinusknotensy., Herzinsuff., Bradykardie, Asthma bron­chiale.
• Flunarizin: Kalziumantagonist. 5 mg/d (F) bzw. 10 mg/d zur Nacht. 1. Wahl
bei Hypotonie.
– NW (u. a.): Müdigkeit, Appetitsteigerung.
– KI: Parkinson-Sy., Depression, Schwangerschaft/Stillzeit.
• Topiramat: 25–100 mg/d in 2 ED. Beginn mit 1 × 25 mg/d, alle 7–14 d Dosis-
erhöhung um 25 mg/d. Wahrscheinlich auch bei chron. Migräne wirksam.
NW u. KI ▶ 11.
• Valproat: Beginn mit 500 mg/d, Zieldosis 500–1.500 mg/d retard in 2 ED. NW
u. KI ▶ 11.

5 • In Deutschland zur Migräneprophylaxe zugelassen: Metoprolol, Propra-


nolol u., wenn Betablocker nicht wirksam o. kontraindiziert, Topiramat
u. Flunarizin.
• Bei Unwirksamkeit kann Valproat (cave: Nur bestimmte Hersteller) zu
Lasten der GKV verordnet werden (zugelassener Off-label-Use nach
Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie).

Medikamente der 2. Wahl:


• Amitriptylin (50–150 mg/d): Wirksamkeit wahrscheinlich mit Topiramat ver-
gleichbar. V.a. bei Komb.-Kopfschmerz o. gleichzeitiger Depression zu emp-
fehlen.
• Timolol, Bisoprolol: Wahrscheinlich wirksam.
• Venlafaxin (75–150 mg/d): Möglicherweise wirksam.
• Gabapentin (1.200–2.400 mg/d): Wahrscheinlich wenig wirksam.
• Lamotrigin: Zur Reduktion der Attackenfrequenz unwirksam; verringert aber
wahrscheinlich die Häufigkeit von Auren.
• Botulinumtoxin: Bei episodischer Migräne nicht wirksam. Bei chron. Migrä-
ne ist Botulinumtoxin A (BOTOX®) zur Anwendung durch in der Behand-
lung von chron. Migräne erfahrenen Neurologen eingeschränkt zugelassen.
Kurzzeitprophylaxe bei menstrueller Migräne: Naproxen 2 × 500 mg/d, alterna-
tiv Frovatriptan 2,5 mg 1–2×/d, 2 d vor Beginn bis zum Ende der Regelblutung,
max. über 7 d. Wechsel o. Absetzen des Ovulationshemmers erwägen (rein gesta-
genhaltige Präparate günstiger).

Interventionelle Verfahren: Der Verschluss eines koexistenten PFO ist bei


der Migräne mit Aura nicht wirksam. Zur Durchtrennung perikranieller
Muskeln gibt es keine zuverlässige wissenschaftliche Evidenz.
  5.1 Kopfschmerz  221

5.1.5 Kopfschmerz vom Spannungstyp


ICD-10 G44.2.

Epidemiologie
Prävalenz: Episodischer Spannungskopfschmerz 20–30 %, chron. Spannungs-
kopfschmerz 2–3 %. F etwas häufiger als M; Beginn v. a. im 2. Ljz.

Klinik
Episodischer, überwiegend bilateraler Kopfschmerz von 30  Min. bis zu Tagen
Dauer (▶  Abb.  5.2). Episodischer Spannungskopfschmerz an <  180 d/J., chron.
Spannungskopfschmerz an > 180 d/J.
• Schmerzqualität: Dumpf drü-
ckend, ziehend, Schraubstock- u.
Schweregefühl. Muskelverspan-
nungen häufig.
• Schmerzintensität: Leicht bis mit-
tel.
• Beeinträchtigt Aktivitäten des tgl.
Lebens nicht, keine Zunahme bei
körperl. Aktivität o. durch be-
stimmte Kopf- o. Körperhaltun-
gen.
• Keine Übelkeit.
• Keine begleitenden fokal neurol. 5
Defizite, keine Aura.

Diagnostik
Kranielle Bildgebung bei Erstmanifes-
Kopfschmerz
tation sinnvoll, bei zusätzlichen Hin- vom Spannungstyp
weisen auf sek. (symptomatisches)
Kopfschmerzleiden notwendig.
Abb. 5.2  Schmerzlokalisation bei
Spannungskopfschmerz [L106]
Therapie
Stress vermindern, Entspannungsübungen, autogenes Training, Ausdauersport.
Episodischer Kopfschmerz vom Spannungstyp: Bei nicht erträglichen Schmerzen:
• Paracetamol 500–1.000 mg p. o. o. rektal oder
• ASS 500–1.000 mg p. o. oder
• andere NSAR (z. B. Ibuprofen).
• Auch topisch appliziertes Pfefferminzöl kann wirksam sein (v. a. für Kinder
geeignet)!

• Keine Dauereinnahme (Kopfschmerz bei Medikamentenüberge-


brauch!), max. 7–10 ×/Mon.
• Keine Tranquilizer o. Opioide (Suchtpotenzial!).
Chron. Kopfschmerz vom Spannungstyp:
! Analgetikarestriktion.
• Medikamentöse Prophylaxe bei Spannungskopfschmerzen ≥ 15 d/Mon. über
mind. 3 Mon bzw. wenn Lebensqualität eingeschränkt:
222 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

• Amitriptylin 50–100 mg/d p. o., möglichst retardiert, o. Amitriptylinoxid 30–


90 mg/d. Beginn mit 10 mg am Abend, wöchentlich um 10–25 mg/d steigern.
Wirkung üblicherweise nach einigen Wochen. Behandlung über mind. 6
Mon. in wirksamer Dosis, danach ggf. Ausschleichversuch.
• Alternative Substanzen: Mirtazapin 15–30 mg abends, Venlafaxin, Doxepin,
Imipramin, Clomipramin.
• SSRI wahrscheinlich unwirksam.

5.1.6 Zervikogener Kopfschmerz
ICD-10 M54.2.

Klinik
• Kopfschmerz auf dem Boden einer HWS-/zervikal-spinalen Pathologie.
• Seitenkonstanter Kopfschmerz mit Ausstrahlung in Dermatom C2 von okzi-
pital nach frontal, teilweise auch in Schulter u. Arm (▶ Abb. 5.3).
• Schmerzqualität: Dumpf bohrend o. stechend, fluktuierender Dauerschmerz
mit u. ohne zusätzliche Attacken, auch episodenhafter Schmerz möglich.
• Zunahme bei Kopfbewegungen, Husten, Niesen, Pressen.
• Eingeschränkte HWS-Beweglichkeit; Druckschmerz in der oberen Nackenre-
gion.

Diagnostik
5 • HWS-MRT zum Ausschluss sympto-
matischer Urs.
• Vorübergehend Schmerzfreiheit bzw.
Besserung > 90 % nach diagn. Blocka-
de (mit Lokalanästhetikum) der be-
troffenen zervikalen Wurzel (Cave: In-
vasives Verfahren).

Differenzialdiagnosen
Migräne (▶ 5.1.4), Spannungskopfschmerz
(▶  5.1.5), Okzipitalisneuralgie (▶  5.2.3),
Hemicrania continua o. chron. paroxys-
male Hemikranie (▶ 5.1.7).

Therapie zervikogener
• In Abhängigkeit von zugrunde liegen- Kopfschmerz
der Pathologie möglichst kausal.
• Physikalische u. Manualther., TENS. Abb. 5.3 Schmerzlokalisation bei zer­
• Vorübergehend NSAR. vikogenem Kopfschmerz [L106]
• Ggf. Behandlungsversuch mit Amitri-
ptylin.
• Ggf. Behandlungsversuch mit Indometacin zum Ausschluss der DD He-
micrania continua/chron. paroxysmale Hemikranie.
• Nerven-/Wurzelblockaden sind keine Dauerther.!

5.1.7 Trigeminoautonome Kopfschmerzen
Syn.: Trigeminoautonome Zephalgien (TAC).
  5.1 Kopfschmerz  223

Definition
Starke periorbitale Kopfschmerzen mit begleitenden ipsilateralen autonomen
Sympt. (Lakrimation, Rhinorrhö, Ptosis, Miosis etc.).

Cluster-Kopfschmerz (ICD-10 G44.0)


Epidemiologie: Prävalenz < 1 %, M : F = 5 : 1. Erkr.-Beginn zwischen 20. u. 40. Lj.
Klinik: Streng einseitige periorbitale episodische Schmerzattacken (Frequenz
0,5–8/24 h; ▶ Abb. 5.4) von 15–180 Min. Dauer mit fester tageszeitlicher (am häu-
figsten 1:00–3:00 Uhr nachts) u. häufig auch jahreszeitlicher Bindung (meist
2–12 Wo.; ▶ Tab. 5.2).
• Schmerzqualität: Brennend, boh-
rend.
• Schmerzintensität: Meist unerträg-
lich („suicide-headache“).
• Ipsilaterale vegetative Begleit­
sympt.: Tränenfluss, konjunktivale
Injektion, nasale Kongestion, Rhi-
norrhö, Schwitzen u. Rötung von
Stirn u. Wange, Miosis o. Ptosis u.
periorbitales Ödem.
• Bewegungsunruhe (Pat. laufen
umher, schlagen Kopf gegen
Wand, wippen rhythmisch im
Stuhl etc.).
• Auslösende Faktoren: Alkohol, 5
Histamin, Glyzeroltrinitrat sowie
Aufenthalt in großer Höhe. Cluster-
• Sonderform: Chron. Cluster-Kopf- Kopfschmerz
schmerz bei fehlender Remission
von mind. 1 Mon.
Abb. 5.4  Schmerzlokalisation bei Clus­
Diagn.: Bei Erstmanifestation o. fokal- ter-Kopfschmerz [L106]
neurol. Defiziten ist CMRT.
DD: Glaukomanfall, Sinusitis, Pathologien im Sinus cavernosus, Arteriitis tempo-
ralis/cranialis.
Ther.: Attackenkupierung:
• 7–12 l O2/Min. über Gesichtsmaske über 15 Min. im Sitzen.
• Sumatriptan 6 mg s. c. o. 20 mg nasal o. Zolmitriptan 5–10 mg nasal.
• Lidocain-Nasenspray.
Prophylaxe: Bei episodischem Cluster-Kopfschmerz zur Überbrückung der Clus-
ter-Periode sinnvoll. Ausschleichen der Ther. nach Beendigung der Cluster-Perio-
de o. nach > 14 d Beschwerdefreiheit. Verapamil u./o. Lithium werden auch als
Basisther. des chron. Cluster-Kopfschmerzes eingesetzt.
• 1. Wahl: Verapamil. Unter EKG-Kontrolle mit 3 × 80 mg/d beginnen (1. d 0–0–
80 mg, 2./3. d 80–0–80 mg, 4. d 80–80–80 mg), danach wöchentlich um 80 mg/d
bis max. 480 mg/d steigern. Nach etwa 1 Wo. wirksam. NW: Flush, Schwindel,
RR-Abfall, Bradykardie. KI: Herzinsuff., AV-Block, Sinusknotensy., Bradykardie.
! Verapamil (cave: nur bestimmte Hersteller) kann zu Lasten der GKV verordnet
werden (zugelassener Off-label-Use nach Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie).
• 2. Wahl: Lithiumcarbonat. Beginn mit 400 mg/d. Aufdosierung nach Li-Spie-
gel (Ziel: 0,6–0,8 mmol/l). NW: Tremor, Senkung der Krampfschwelle, Stru-
224 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

ma, Polydipsie. Cave: WW mit Diuretika beachten! Krea(-Clearance), Natri-


umspiegel u. Schilddrüsenwerte kontrollieren. 
! Zur Prophylaxe des Cluster-Kopfschmerzes zugelassen.
• Topiramat: 100–200 mg/d. 2. Wahl, Off-label.
Übergangsther.: Soll vorübergehende Beschwerdebesserung bis zum Wirkungs-
eintritt der Prophylaxe gewährleisten:
• Glukokortikoide: Prednisolon 100 mg/d p. o. für 3 d, danach Dosisreduktion
um 10 mg/d alle 4 d. Schwellendosis: 10–20 mg/d.
• Occipitalis-major-Blockaden: Z. B. Infiltration (ipsilateral zum Kopfschmerz)
von 0,5 ml Xylocain 2 %, evtl. zusätzlich Kortikoid. evtl. Wdh. nach einigen d/
Wo. möglich.
• Ergotamintartrat: Als Kurzzeitprophylaxe (max. 4 Wo.) o. bis zum Wirkungs-
eintritt der o. g. Prophylaktika (2 × 2 mg/d p. o. o. rektal) o. bei einzelner tgl.
Attacke zur festen Stunde (2 mg rektal 2 h vorher). NW u. KI ▶ 5.1.4.
• Lang wirksame Triptane, z. B. Frovatriptan 2,5 mg zur Nacht.
Operatives Vorgehen: Nur in absoluten Ausnahmefällen bei therapierefraktärem
chron. Cluster-Kopfschmerz erwägen (z. B. Occipitalis-major-Nervenstimulation,
hypothalamische Tiefenhirnstimulation).

Paroxysmale Hemikranie (ICD-10 G44.03)


Episodisch (EPH) o. chron. (CPH) streng einseitige, seitenkonstante, starke
Schmerzattacken periorbital, fronto-temporal mit vegetativen Begleitsympt. wie
beim Cluster-Kopfschmerz.
• Attacken häufiger (5–15×/24 h) u. kürzer (2–30 Min.) als bei Cluster-Kopf-
5 schmerz (▶ Tab. 5.2).
• Überwiegend F.
• Diagnostisch wegweisend: Ansprechen auf Indometacin 25–250 mg/d (ver-
teilt auf 3 Tagesdosen; immer unter Magenschutz!).

SUNCT/SUNA
Häufige (3–200×/24 h) kurze (5–240 s) Attacken mit schwerstem streng unilatera-
lem periorbitalem/temporalem Schmerz und
• Ipsilateraler konjunktivaler Injektion u. Lakrimation: SUNCT („Short-lasting
unilateral neuralgiform headache with conjunctival injection and tearing“;
▶ Tab. 5.2).
• Nasaler Kongestion/Rhinorrhö: SUNA („Short-lasting unilateral neuralgi-
form headache with cranial autonomic symptoms“).
Prophylaxeversuch mit Lamotrigin (100–200 mg/d), evtl. Carbamazepin/Oxcar-
bazepin, Gabapentin, Topiramat.

Tab. 5.2  Charakteristika der trigeminoautonomen Kopfschmerzerkrankungen


im Vergleich zur Trigeminusneuralgie
Cluster-­ Paroxysmale SUNCT/ Trigeminus­
Kopfschmerz Hemikranie SUNA neuralgie

Attackendauer 15–180 Min. 2–30 Min. 5–240 s Sekunden bis max.


2 Min.

Attackenfrequenz 0,5–8/24 h 5–15/24 h 3–200/24 h sehr häufig

Lokalisation (Peri-)orbital, frontal, temporal N. V 2/3/1

Begleitsympt. Vegetative Begleitsympt. Z. T. Tic douloureux


  5.1 Kopfschmerz  225

Hemicrania continua
Tgl., seitenkonstanter, mäßig starker Halbseitenkopfschmerz mit attackenförmi-
gem Auftreten von periorbitalen schweren Schmerzen mit vegetativer Begleitsym-
ptomatik.
Ther.: Indometacin 25–250 mg/d.

5.1.8 Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch


ICD-10 G44.4.

Definition
• Medikamentenübergebrauch bei 5–8 % der Kopfschmerzpat.; F : M = 5 : 1.
• Induktion u. Aufrechterhaltung eines Kopfschmerzes durch häufige o. tgl.
Einnahme von Schmerzmitteln. Kopfschmerzprophylaxe bei Übergebrauch
weniger wirksam.
• Bes. hohes Risiko bei Mischpräparaten, Ergotpräparaten, Triptanen.
Klinik
Sehr variabel.

Diagnostik
Abklärung möglicher (organischer) Spätfolgen des Übergebrauchs (Ulzera, Ergo-
tismus, Nierenschäden).

Therapie 5
• Aufklärung über Zusammenhang zwischen Medikamenteneinnahme u.
Kopfschmerzen sowie über mögliche organische Spätfolgen.
• Motivation des Pat. zur Reduktion bzw. zum Entzug ist entscheidend.
• Ambulanter Entzug bei kurzer Einnahme von Nichtopioidanalgetika, Analge-
tika-Komb.-Präparaten, Ergotaminen o. Triptanen möglich, sofern keine Bar-
biturate o. Tranquilizer als Komedikation eingenommen wurden u. hohe
Motivation des Pat. bei guter sozialer Einbindung besteht.
• Prophylaxe der zugrunde liegenden prim. Kopfschmerzerkr.
• Bei bereits zuvor erfolgtem frustranem Entzug bzw. affektiver Komorbidität,
Einnahme psychotroper Substanzen bzw. Koanalgetika eher stationäres Vor­
gehen.

5.1.9 Weitere idiopathische Kopfschmerzsyndrome


Prim. (benigner) Hustenkopfschmerz:
• Durch Husten ausgelöster akuter bilateraler, okzipitaler Kopfschmerz für Se-
kunden bis Min.
• Diagn.: CMRT zum Ausschluss einer Raumforderung in der hinteren Schä-
delgrube erforderlich.
• Ther.: Indometacin.
Prim. Kopfschmerz bei körperl. Anstrengung:
• Provoziert durch körperl. Anstrengung bilateraler, pulsierender Kopf-
schmerz. Dauer 5 Min. bis 48 h.
• Diagn.: Bei Erstmanifestation zerebrale Bildgebung zur Ausschlussdiagnostik
(SAB!).
• Ther.: Indometacin scheint in der Mehrzahl d.F wirksam.
226 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

Prim. Kopfschmerz bei sexueller Aktivität:


• Dumpfer o. pulsierender bilateraler, häufig okzipitaler Kopfschmerz bei u.
nach Geschlechtsverkehr, meist schlagartige Intensivierung während des Or-
gasmus. Dauer Min. bis Tage, gehäuft bei Pat. mit bekannter Migräne.
• Diagn.: Bei Erstmanifestation zerebrale Bildgebung zur Ausschlussdiagn. not-
wendig; bei akutem Beginn mit massiven Schmerzen immer Ausschluss einer
SAB erforderlich.
Prim. stechender Kopfschmerz:
• „Jabs and Jolts“: Stiche im Bereich V1, Dauer über wenige Sekunden, unregelmä-
ßige Frequenz bis zu mehrmals tgl., keine organische Erkr. der betreffenden Struk­
turen bzw. des HN, evtl. Seitenwechsel, keine begleitenden/autonomen Sympt.
! Hohe Komorbidität mit Migräne u. Cluster-Kopfschmerz.
• Ther.: Versuch mit Indometacin.
Prim. schlafgebundener Kopfschmerz (Hypnic Headache):
• Dumpfe Kopfschmerzen, die die Pat. aus dem Schlaf erwecken, leichte bis
mittlere Intensität, Zusammenhang mit REM-Schlaf. Pat. > 50 Lj, mind.
15 ×/Mon., meist bilateral, hält mind. 15 Min. nach dem Aufwachen an.
• Nicht mehr als eines der Begleitsympt. Übelkeit (rel. häufig), Foto-, Phono-
phobie. DD: TAC
• Ther.: Lithium; Indometacin o. Koffein vor dem Einschlafen.
Prim. Donnerschlagkopfschmerz: Ausschlussdiagnose (DD SAB, RCVS o. sons-
tiger symptomatischer Kopfschmerz).
Neu aufgetretener täglicher Kopfschmerz:
• Tgl., bilateraler drückender Kopfschmerz leichter bis mäßiger Intensität mit
5 klarem Beginn u. ohne Remission > 3 Mon.; nach Ausschluss einer sympto-
matischen Genese.
• Ther. schwierig. Bei migräneartigen Schmerzen Versuch mit Valproat, bei
spannungskopfschmerzartigen Schmerzen Versuch mit Amitriptylin.

5.2 Gesichtsschmerz
5.2.1 Trigeminusneuralgie
ICD-10 G50.0. Lokalisation und DD ▶ Abb. 5.5.
Epidemiologie
Prävalenz 40/100.000, F : M = 3 : 2; Erkr.-Alter 40.–60. Lj.

Klinik
In Attacken auftretender, einseitiger Gesichtsschmerz.
Unterscheidung in symptomatische u. klassische (früher: idiopathische) Trigemi-
nusneuralgien (TN). Bei klassischer TN meist Gefäß-Nerven-Kontakte als Urs.
nachweisbar.
Klassische, rein paroxysmale TN:
• Attackenhäufigkeit bis 200×/d, Dauer der Attacken Sekunden bis max.
2 Min., dazwischen schmerzfreie Intervalle.
• Schmerzcharakter u. -intensität: Blitzartig einschießende elektrisierende,
stärkste Schmerzen infraorbital (V2) > perioral (V3) >> periorbital (V1).
• Typ. auslösbar durch mechanische Reize (Kauen, Sprechen, Mimik, Berüh-
rung).
• Keine persistierenden neurol. Ausfälle.
  5.2 Gesichtsschmerz  227

• Typ., jedoch nicht obligat, sind ticartige Zuckungen der mimischen Muskula-
tur während der Attacken (Tic douloureux).
• Überwiegend chron., Spontanremissionen jedoch möglich.
Klassische TN mit begleitendem persistierendem Gesichtsschmerz:
• Zusätzlich zu paroxysmalen Schmerzen mittelstarker (brennender) Dauer-
schmerz im gleichen Areal.
• Schlechteres Ansprechen auf medikamentöse Ther.
• Kann sich aus einer rein paroxysmalen TN entwickeln o. auf eine symptoma-
tische TN hinweisen.
• Trigeminusneuropathie:
– Brennender Dauerschmerz mit persistierendem sensiblem Defizit.
– Häufig symptomatisch.

postzosterische anhaltender ophthalmologische


Neuralgie idiopathischer Ursachen
Gesichtsschmerz (diffus) (z.B. Glaukom)

Sinusitis trigemino-autonome
Kopfschmerzen

Trigeminus-
Myoarthropathie/
kraniomandibuläre
5
Neuralgie Dysfunktion

Zahnschmerzen Tolosa-Hunt-Syndrom

Abb. 5.5  Lokalisation u. DD der Gesichtsschmerzen [L106]

Differenzialdiagnosen
• Glaukom, Sinusitis, kraniomandibuläre Dysfunktion.
• Trigeminoautonome Kopfschmerzen (▶ 5.1.7).
• Glossopharyngeusneuralgie (▶ 5.2.2).
• Urs. symptomatische Trigeminusneuralgie/-neuropathie: ▶ 12.4.
Medikamentöse Therapie
1. Wahl:
• Carbamazepin: 600–1.200 mg/d, max. 1.600 mg/d. Kann zu Beginn auch als
Suspension gegeben werden (Vorteil: Schnelle Anflutung), danach Umstel-
lung auf retardierte Gelenik.
• Oxcarbazepin: Vorteil: Raschere Resorption. Nachteil: Häufiger symptomati-
sche Hyponatriämien als bei Carbamazepin. Äquivalenzdosis: Carbamazepin
× 1,5. Offlabel!
2. Wahl:
• Gabapentin: 1.200–3.600 mg/d. Bei leichteren Beschwerden o. Unverträglich-
keit von Carbamazepin als Monother. o. als Add-on nach Ausdosierung von
Carbamazin.
228 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

• Phenytoin: Phenytoin ist Mittel der 1. Wahl, wenn medikamentöse Behand-


lung p. o. zunächst nicht möglich ist: Schnellaufsättigung mit 250 mg i. v.
(max. 25 mg/Min.), danach 3 × 1 mg/kg KG tgl. i. v. o. p. o.
• Pregabalin, Lamotrigin, Valproat, Topiramat: Wahrscheinlich wirksam.
Reduktionsversuch bei Erstmanifestation nach 6–8 Wo. o. bei 3–6 Mon. Be-
schwerdefreiheit gerechtfertigt.

Invasive Therapie
Ind.: Ther.-resistente TN. Auswahl des Verfahrens unter Berücksichtigung der
Komorbidität/des Eingriffsrisikos.
• Mikrovask. Dekompression nach Janetta:
– Beseitigung des Gefäß-Nerven-Kontakts (meist A. cerebelli superior)
durch Einlage eines Schwämmchens zwischen Arterie u. Nerv.
– Unmittelbar schmerzfrei ca. 80 %, 2 % Rezidivrate/J., Letalität < 1 %.
– KO: Irreversibler Hörverlust (2–5 %), passagere HN-Läsionen.
• Perkutane Thermokoagulation des Ganglion Gasseri:
– Unter LA; kann wiederholt durchgeführt werden. Zugang durch Foramen
ovale.
– Unmittelbar schmerzfrei ca. 95 %, Rezidivrate 40 % nach 5 J.
– NW: > 50 % Hypästhesie trigeminal.
– KO: Schädigung des motorischen N. V, Keratitis neuroparalytica. Anaes­
thesia dolorosa in 1 %.
5 • Strahlenther.:
– Radiochir. Ther. d. N. trigeminus in der Hirnstammeintrittszone mittels
Gamma-/Cyber-Knife o. Linearbeschleuniger. Kann wiederholt werden.
– Unmittelbar schmerzfrei ca. 65 %, Wirkung oft erst nach Tagen bis Mon.
– NW: 7–50 % Hypästhesie trigeminal.
– Bislang wenig Langzeitergebnisse vorliegend.
• Methoden der 2. Wahl:
– Perkutane Ballonkompression des Ganglion Gasseri: 2. Wahl wegen KO-
Rate (intraoperative RR-Veränderungen).
– Perkutane retroganglionäre Glyzerolinstillation: 2. Wahl wegen höherer
Rate an Rezidiven u. NW (Dysästhesien).

5.2.2 Glossopharyngeusneuralgie
ICD-10 G52.1.

Epidemiologie
Sehr selten. Verhältnis Trigeminusneuralgie zu Glossopharyngeusneuralgie 75 : 1.
F : M = 1 : 1; Alter bei Ersterkr.: meist 50.–60. Lj.

Klinik
• Blitzartige Schmerzattacken in Schlund u. Rachen mit Ausstrahlung in das
gleichseitige Ohr, triggerbar durch Berührung, Schlucken, Husten, Kauen,
Sprechen.
• Sekunden bis Min. anhaltend.
• Spontanremissionen u. Wiederauftreten häufig.
• Schmerzbesserung durch Lokalanästhetikum (z. B. Xylocain®-Pumpspray).
  5.2 Gesichtsschmerz  229

• Varianten: Otalgische/tympanische Variante mit Schmerzen im Bereich des


Ohrs; kardiovask./vagale Variante (sehr selten) mit Bradykardie, RR-Abfall u.
Synkopen.

Differenzialdiagnosen
• Symptomatisch bei Tumoren der hinteren Schädelgrube u. des Mund-Ra-
chen-Bereichs.
• V. a. symptomatische Genese bei Alter < 40 J., bds. Symptomatik, zusätzli-
chen neurol. Defiziten.

Therapie
Orientiert sich an der Ther. der Trigeminusneuralgie.

5.2.3 Sonstige Neuralgien
N.-intermedius-Neuralgie
Neuralgie des Ganglion geniculi (N. VII). Klinik: Schmerz in der Tiefe des Ohrs,
bis in Mastoid/Gaumen/Nacken/Nase ausstrahlend; durch Berührung der hinte-
ren Wand des äußeren Gehörgangs triggerbar. Häufig assoziiert mit Herpes-zos-
ter-Infektionen. Ther.: Carbamazepin.

Okzipitalisneuralgie
Klinik: Schmerzen im Versorgungsbereich des N. occipitalis major (aus C2; Schä-
digung meist in der Passage durch die Trapeziussehne), N. occipitalis minor (aus 5
Plexus cervicalis) o. N. occipitalis tertius (aus C3), Sekunden bis Min., selten Stun-
den anhaltend. Trigger: Berührung, Kämmen. Im Intervall dumpfe Schmerzen,
Hypästhesie im Versorgungsareal u. Druckdolenz des Nervs möglich. Symptoma-
tische Formen: Anomalie des kraniozervikalen Übergangs, atlanto-axiale Arthro-
se/Arthritis, (nach) HWS-Verletzung, frühe Neuroborreliose. Ther.: Carbamaze-
pin, Nervenblockaden, Neurolyse.

5.2.4 Tolosa-Hunt-Syndrom
Definition
Lymphozytär-granulomatöse Entzündung im Bereich des Sinus cavernosus u. der
Fissura orbitalis sup. Andere Urs. sind jedoch häufig. ▶ Abb. 5.5.

Klinik
Heftige einseitige periorbitale bohrende Schmerzen; innerhalb der ersten 2 Wo.
gefolgt von HN-Paresen (Nn.  III, IV u. VI, gelegentlich Pupillomotorik, selten
auch Nn. V1, N. II, N. VII u. VIII). Klingt häufig spontan nach 6–8 Wo. ab, Rezi-
dive möglich.

Diagnostik
CMRT (KM-Aufnahme) u. LP, v. a. auch zum Ausschluss symptomatischer Urs.

Differenzialdiagnosen
„Ophthalmoplegische Migräne“ (▶ 12.3.1), Sinus-cavernosus-Thrombose/-Fistel,
ACI-Aneurysma, sonstige (entzündl.) Raumforderungen (z. B. Meningeom, Me-
tastasen, Pilze), basale Meningitis, Lymphom/Pseudotumor orbitae (▶ 12.3.1).
230 5  Kopf- und Gesichtsschmerz  

Therapie
Prednison/Prednisolon: 1 mg/kg KG/d p. o. über 14 d, anschließend langsame Do-
sisreduktion.
• Unter Steroid klingen Schmerzen typischerweise innerhalb von 72 h ab, die
Paresen in d bis Wo.
• Bei fehlendem Ansprechen o. Rezidiv Überprüfen der Diagnose.
• Bei Rezidiv erneut Steroid; ggf. zusätzlich Azathioprin o. Methotrexat.

5.2.5 Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz


ICD-10 G50.1.
Früher: Atypischer Gesichtsschmerz.

Epidemiologie
In 90 % F betroffen; Erkr.-Alter: 30.–60. Lj.

Klinik
• Einseitiger, die meiste Zeit des Tages vorhandener, drückend bohrender mit-
telstarker, schlecht lokalisierbarer Schmerz, der sich nicht an Grenzen der
Versorgungsgebiete der HN hält u. nicht sicher triggerbar ist.
• Qualität: Quälend, zermalmend, wühlend. Beginn meist im Bereich der Naso-
labialfalte o. des Kinns, häufige Ausbreitung; bis zu ⅓ auch bds.
• Kein sensibles Defizit, subjektiv häufig Dysästhesien, Schwellungs- u. Über-
wärmungsgefühl.
5
Diagnostik
Zur Ausschlussdiagn. einmalig zahn- (Zahnschmerzen, kraniomandibuläre Dys-
funktion), HNO- (Sinusitis) u. augenärztliche Unters. (Glaukom).

Therapie
• Pat. vor unnötigen Interventionen (z. B. Zahnextraktionen) bewahren.
• Nichtmedikamentöse Ther. hat hohen Stellenwert (z. B. TENS, Verhal-
tensther., Hypnose).
• Medikamentöse Dauerther.:
– 1. Wahl: Amitriptylin. Aufdosieren bis 75 mg/d p. o. Bei mangelndem An-
sprechen ggf. Komb. mit Gabapentin o. Pregabalin.
– Andere Antiepileptika sind 2. Wahl.
• Vorstellung beim spezialisierten Schmerztherapeuten.

5.2.6 Myoarthropathie/kraniomandibuläre Dysfunktion
(CMD/TMD)
Klinik
• Mit Kiefergelenkbewegungen verbundener Schmerz. Typ.: Geräusche bei
Kieferbewegungen u. z. B. nächtliches Zähneknirschen (Bruxismus) o. Druck-
empfindlichkeit des Kiefergelenks. Kieferöffnung kann eingeschränkt sein.
• Psychosoziale Belastungsfaktoren häufig.
  5.2 Gesichtsschmerz  231

Ätiologie
• Unterteilung in prim. dento-okklusale, prim. myogene, prim. arthrogene For-
men u. somatoforme Schmerzbilder.
• Prim. dento-okklusale u. prim. myogene Formen am häufigsten.
Differenzialdiagnosen
• Trigeminusneuralgie/-neuropathie, anhaltender idiopathischer Gesichts-
schmerz u. Kopfschmerzen vom Spannungstyp, Migräne.
• Symptomatische Urs., z. B. Tumoren der Kieferregion.
Therapie
• Vorstellung im zahnärztlichen Fachgebiet zur spezifischen (Ausschluss-)
Diagn.
• Aufklärung über das Krankheitsbild.
• Aufbissschienen.
• Physikalische Ther.
• Medikamentöse Ther. (NSAR, trizyklische Antidepressiva, evtl. Botulinum-
toxin).
• Entspannungsverfahren/Verhaltensther.
• Selten chir. Ther. bei spezifischen Arthropathien.

5
6 Schmerz
Achim Berthele und Thomas R. Tölle

6.1 Analgetika 234 6.3 Tumorschmerz 244


6.1.1 Übersicht nichtopioiderger 6.3.1 WHO-Stufenschema 244
­Analgetika 234 6.3.2 Durchbruchschmerzen 245
6.1.2 Antipyretisch wirkende 6.4 Neuropathischer
­Analgetika 234 Schmerz 245
6.1.3 Nichtsteroidale A ­ ntiphlogistika 6.4.1 Charakteristika und Behand-
(NSAID) 236 lungsstrategien 245
6.1.4 Flupirtin 237 6.4.2 Komplexes regionales
6.1.5 Übersicht Opioide 238 Schmerzsyndrom (CRPS)  247
6.1.6 Tramadol 239 6.4.3 Phantomschmerz 249
6.1.7 Tilidin mit Naloxon 239 6.4.4 Zentrale Schmerz­
6.1.8 Tapentadol 240 syndrome 250
6.1.9 Stark wirksame Opioide für 6.4.5 Herpes zoster und post­
die Kurzzeitbehandlung 240 zosterische Neuralgie 251
6.1.10 Stark wirksame Opioide für 6.4.6 Schmerzen bei
die Langzeitbehandlung 241 ­Polyneuropathie 252
6.2 Koanalgetika 243 6.4.7 Fibromyalgiesyndrom
6.2.1 Antidepressiva 243 (FMS)  254
6.2.2 Antikonvulsiva 243 6.4.8 Myofasziales ­
Schmerzsyndrom (MSS)  255
234 6 Schmerz 

6.1 Analgetika
6.1.1 Übersicht nichtopioiderger Analgetika
Zur Wirkung nichtopioiderger Analgetika ▶ Tab. 6.1.

Tab. 6.1  Wirkungsprofile nichtopioiderger Analgetika


Substanz Analgetisch Antiphlogistisch Antipyretisch Spasmolytisch

Paracetamol ++/+++ (i. v.) – ++ –

Metamizol +++ – +++ +++

ASS ++ ++ ++ –

Ibuprofen +++ ++ + – (aber relaxierende


Wirkung am Uterus)

Diclofenac +++ +++ + –

+++ sehr stark wirksam, ++ stark wirksam, + wirksam, – nicht wirksam

6.1.2 Antipyretisch wirkende Analgetika


Nichtsaure Antipyretika
Paracetamol
Ind.: Leichte bis mäßig starke Schmerzen u./o. Fieber.
• Bevorzugtes, gut verträgliches Analgetikum, da nicht ulzerogen. Mittel der
Wahl bei gleichzeitiger Antikoagulanzienther., bei Salizylatüberempfindlich-
keit sowie bei Kindern.
6 • Bei strenger Ind.-Stellung Einsatz auch während Schwangerschaft u. Stillzeit
möglich.

Verschreibung
Paracetamol ist apotheken-, überwiegend aber nicht rezeptpflichtig. Eine
Verschreibung u. Kostenerstattung ist möglich, wenn es als Komedikation zu
Opioiden bei schweren/schwersten Schmerzzuständen angewendet wird.

KI: Nieren- u. Leberschäden, hereditärer Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-


mangel (Gefahr der hämolytischen Anämie).
NW/WW:
• Überempfindlichkeitsreaktion (Urtikaria, Bronchospasmen, BB-Stör.).
• Nieren- u. Leberschäden bei Überdosierung u. chron. Einnahme. Induktion
von Leberenzymen (z. B. durch Alkoholabusus, Antiepileptika u. a.) steigert
die Hepatotoxizität von Paracetamol.
Dos.:
• Enteral: Tbl., Brausetabl., Granulat, Saft o. Supp.; 1–3 × 0,5–1 g/d; max. 4 g/d.
• I. v.: 1 g als Kurzinfusion, max. 4 × tgl.; i. v. vergleichbar stark analgetisch wie
Metamizol i. v. o. NSAID oral.
  6.1 Analgetika  235

Paracetamol-Intoxikation
Nach Einnahme von > 8–10 g (Plasmaspiegel > 200 mg/ml nach 4 h) droht
mit einer Latenz von bis zu 2 d Leberversagen.
• Klinik: Übelkeit, Erbrechen, Abdominalschmerz.
• Ther.: Acetylcystein i. v., Intensivther.
Metamizol
Ind.: Aufgrund seltener, aber gravierender NW strenge Ind.-Stellung:
• Koliken v. a. der ableitenden Gallen- u. Harnwege.
• Tumorschmerzen.
• Akute starke Schmerzen nach Verletzungen o. OP.
• Hohes Fieber, das auf andere Maßnahmen nicht anspricht.
KI:
• Pyrazolunverträglichkeit, Granulozytopenie, Glukose-6-Phosphat-Dehydro-
genasemangel, Porphyrien.
• Parenterale Gabe nicht bei Hypotension (< 100 mmHg syst.) o. instabiler
Kreislaufsituation.
! Gravidität: Strenge Ind.-Stellung, nicht im 1. u. 3. Trimenon (Stör. der Häma-
topoese, vorzeitiger Verschluss des Ductus Botalli, Wehenhemmung).
NW: Überempfindlichkeitsreaktionen:
• Agranulozytose (zunehmendes Risiko bei wiederholter Anwendung, Letalität
25 %).
• Hautreaktionen bis zum Lyell-Sy.
• Schock, Bronchospasmus.
• Kreislauf: Hypotension (vermeidbar durch Gabe als langsame Kurzinfusion).
Dos.:
• Enteral (Tbl., Brausetabl., Tr. o. Supp.) o. i. v. (als langsame Kurzinfusion).
Erw. 1–2 × 0,5–1 g/d.; max. 6 g/d.
• Cave: Regelmäßig BB, Leberwerte u. Nierenfunktion kontrollieren. 6
Metamizol-Intoxikation
• Klinik: Bewusstseinstrübung, epileptische Anfälle, Rotfärbung des
Harns, Kreislaufkollaps, Atemlähmung.
• Ther.: Antikonvulsive Ther. mit Diazepam, Intensivther. mit Giftentfer-
nung.

Saure Antipyretika
Acetylsalicylsäure (ASS)
Ind.: Leichte bis mittelgradige Schmerzen (z. B. Kopfschmerzen, Schmerzen des
Bewegungsapparats).
• Wegen antiphlogistischer Wirkung bei entzündl. Schmerzurs. zu bevorzugen.
• Entzündungen, Fieber, Erkältungskrankheiten.
ASS ist apotheken-, aber nicht rezeptpflichtig. Verschreibung u. Kostener-
stattung sind nur möglich, wenn es als Komedikation zu Opioiden bei schwe-
ren/schwersten Schmerzzuständen angewendet wird (o. in der Sekundärpro-
phylaxe des Schlaganfalls/Herzinfarkts).
236 6 Schmerz 

KI:
• Blutungsneigung u. Antikoagulation, GIT-Beschwerden u. -Ulzera, Sali-
zylatunverträglichkeit (asthmoide o. kutane Reaktionen), Asthma, Nierenin-
suff., Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel.
• Wegen Gefahr des Reye-Sy. (Leberversagen mit Hirnödem) bei Kindern u.
Jugendlichen vermeiden.
! Gravidität: Strenge Ind.-Stellung, KI im 3. Trimenon.
NW:
• Überempfindlichkeitsreaktionen (Bronchospasmen; kutane Reaktionen, z. B.
Ekzeme).
• GIT-Stör. (okkulte Magenblutungen).
WW:
• Antikoagulanzien u. Valproat (Blutungsgefahr ↑).
• Barbiturate (Blutspiegel ↑).
• Glukokortikoide (GIT-Ulzera).
• Methotrexat (Toxizität ↑).
• Sulfonylharnstoffe (Gefahr der Hypoglykämie).
• Spironolacton u. Furosemid (verminderte Wirkung).
• NSAID (gegenseitige Verstärkung unerwünschter Wirkungen).
Dos.: Enteral: Tbl., Brausetbl. 1 × 0,5–3 × 1 g/d, max. 3 g/d.

6.1.3 Nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID)


Ibuprofen
Ind.: Leichte bis mittelgradige Schmerzen.
• Wegen antiphlogistischer Wirkung auch bei entzündl. Schmerzurs.
• Fieber bei Erkältungskrankheiten, Entzündungen.
• Rheumatische Erkr., akuter Gichtanfall.
KI:
6 • Hämorrhagien, GIT-Ulzera, Ibuprofenüberempfindlichkeit, Porphyrie. SLE,
Mischkollagenosen (Gefahr der aseptischen Meningitis).
• Kinder < 6 J.
! Gravidität: Strenge Ind.-Stellung, KI im 3. Trimenon.
NW/WW:
• ZNS: Kopfschmerz, Schwindel, Schlaflosigkeit.
• GIT: Magenschmerzen, okkulte Blutungen, Ulzera, Übelkeit.
• Überempfindlichkeitsreaktionen: Exanthem, Pruritus, asthmoide Reaktion.
• Kreislauf: Hypotension, periphere Ödeme, Nierenfunktionsstör.
• Phenytoin- u. Digoxin: Blutspiegel ↑.
• Diuretika u. Antihypertonika: Wirkung ↓.
• Blutspiegel von Ibuprofen durch Lithium, kaliumsparende Diuretika ↑.
Dos.: Enteral: Tbl. (auch retardiert), Brausetbl., Saft, Supp. 2–3 × 200–400 mg/d
p. o., max. ED 800 mg, max. 2.400 mg/d.
Diclofenac
Ind.:
• Schmerzhafte Schwellungen u. Entzündungen, bei Tumorschmerzen in
Komb. mit Opioid (WHO Stufe 2 u. 3).
• Rheumatische Erkr., Arthrosen, akuter Gichtanfall.
  6.1 Analgetika  237

Kontraindikation
Wegen erhöhtem Risiko thrombembolischer Ereignisse sehr eingeschränkte
Ind.

KI:
• Herzinsuff./KHK, PAVK, zerebrovask. Erkr.
• Strenge Ind.-Stellung bei bestehenden kardiovask. Risikofaktoren (Hyperto-
nie, Rauchen, etc.)
• Stör. der Blutbildung, GIT-Ulzera, Diclofenacunverträglichkeit, Porphyrie.
• Kinder < 6 J.
!  Gravidität: Strenge Ind.-Stellung, KI im 3. Trimenon.
NW/WW:
• ZNS: Kopfschmerz, Schwindel, Schlaflosigkeit.
• GIT: Okkulte Blutungen, Ulzera, Übelkeit.
• Überempfindlichkeitsreaktionen: Exanthem, Pruritus, asthmoide Reaktion.
• Kreislauf: Hypotonie (RR-Abfall bis zum Schock), periphere Ödeme, Nieren-
funktionsstör.
• Lithium, Phenytoin, Digoxin, Methotrexat: Blutspiegel ↑.
• Verminderte Wirkung von Diuretika; in Komb. mit kaliumsparenden Diure-
tika erhöhtes Risiko für Hyperkaliämie.
• Verminderte Blutspiegel von Diclofenac durch ASS, Phenobarbital.
Dos.: Enteral: Tbl., Retardtbl., Supp.; 1–2 × 50–75 mg/d, max. 150 mg/d oder i. m.
1 × 75 mg/d (auf max. 150 mg/d durch enterale Gabe ergänzen).

6.1.4 Flupirtin
Analgetikum mit muskelrelaxierender Wirkung. Selektiver neuronaler Kaliumka-
nalöffner (SNEPCO), dadurch indirekte Blockade des NMDA-Rezeptors.
Ind.: Kurzfristige Appl. (max. 2 Wo.!) bei Schmerzen des Bewegungsapparats 6
(v. a. bei Muskelhartspann), Kopf-, Zahnschmerzen, Dysmenorrhö, postop.
KI:
• Hepatopathien, v. a. hepatische Enzephalopathie, Alkoholmissbrauch. Myas-
thenia gravis.
• Kinder < 6 J.
!  Gravidität: Strenge Ind.-Stellung, KI in der Stillzeit wegen Übertritt in die
Muttermilch.
NW/WW:
• ZNS: Sedierung, Müdigkeit (Reaktionsvermögen!), Schwindel, erniedrigte ze-
rebrale Krampfschwelle bei Kindern.
• GIT: Magenbeschwerden, Übelkeit.
• Überempfindlichkeitsreaktionen: Exanthem, Pruritus.
• Verstärkte Wirkung von Alkohol, Sedativa, Muskelrelaxanzien.
• Erhöhte Transaminasen v. a. in Komb. mit Paracetamol.
• Falsch pos. Nachweis von Bili u. Urobilinogen in Harnteststreifen, Grünfär-
bung des Urins bei höherer Dos.
Dos.: Enteral (Kps., Retardtbl., Supp.) 3–4 × 1 Kps./Supp. tgl. o. 1 × 1 Retardtbl.,
max. 3  ×  2  Kps. o. 6  ×  1 Supp. tgl.; Dosisanpassung bei Niereninsuff.; i. m.
1 Amp./100 mg als Einmalgabe. Kontrolle der Leberwerte unter Ther.!
238 6 Schmerz 

6.1.5 Übersicht Opioide
Def.u. Einteilung: Opioide wirken auf die zentrale Schmerzverarbeitung u. unter-
scheiden sich in ihrer intrinsischen Aktivität an spezifischen Rezeptoren.
• Reine Agonisten: Codein, Tilidin, Morphin, Fentanyl, Oxycodon, Hydromor-
phon, Methadon, Pethidin, Piritramid.
• Partieller Agonist mit hoher Rezeptoraffinität: Buprenorphin.
• Reine Agonisten mit zusätzlicher Wirkung auf andere Transmitter: Tramadol
(serotonerg/noradrenerg), Tapentadol (noradrenerg).
• Reiner Antagonist: Naloxon.
Chron. Opioidgabe kann zur Toleranzentwicklung führen, anschließender
Entzug zu einem Abstinenzsy. mit Unruhe, Anspannung u. vegetativen
Sympt. Während kontinuierliche Opioidmedikation mit konstanten Blut-
spiegeln selten eine iatrogene Abhängigkeit bewirkt, fördert unregelmäßige
Opioidgabe mit intermittierenden Entzugsphasen (Drogenhunger bei abfal-
lendem Blutspiegel) den Missbrauch.

Ind.: Starke u. stärkste Schmerzen, Tumor- u. postop. Schmerzen. Durch Komb.


mit nichtopioidergen Analgetika u. Koanalgetika lässt sich eine Reduktion der
notwendigen Dosis erreichen.
KI:
• Kinder < 1 J.
• Opioidabhängigkeit.
• Chron. Ateminsuff. (Emphysem, Ventilationsstör., Cor pulmonale).
• Hypothyreose (Verstärkung der zentralen Hemmung).
• Hypovolämie (Gefahr des Kreislaufkollaps).
• Erhöhter Hirndruck, Epilepsie.
• Akutes Abdomen, entzündl. u. obstruktive Darmerkr. (Divertikulitis, Kolitis).
6 NW/WW:
• Toleranz: Bei kontinuierlicher Gabe nachlassende Wirkung, Gewöhnung.
• Psyche: Sedierung, verminderte Reaktionsfähigkeit, dysphorische Reaktionen;
Abhängigkeitsbildung; nur bei Abhängigen Euphorie.
• ZNS: Schwindel, Kopfschmerzen, Senkung der Krampfschwelle.
• Muskel: Muskelrigidität.
• Vegetative Funktionen: Atemdepression, Übelkeit/Erbrechen, Harnretention
durch Miktionsstör., Miosis, Mundtrockenheit, Hypotension (reduzierter Ge-
fäßtonus).
• GIT: Tonuserhöhung der Ring- u. Sphinktermuskulatur, dadurch verminder-
te Peristaltik, Magenentleerung (bis 12 h; cave: OP-Fähigkeit), spastische Ob-
stipation, Drucksteigerung in Gallen- u. Pankreasgängen, Tonussteigerung
des Sphincter Oddi (cave: Gallengangskoliken, Sekretstau im Pankreas).
• Haut: Jucken, Exanthem.
• Verstärkte zentral dämpfende Wirkung von Alkohol, Barbituraten, Neuro-
leptika, trizyklischen Antidepressiva.

Opioid-Intoxikation
• Klinik: Bewusstseinstrübung, Miosis, Erbrechen, Harnverhalt, Atemde-
pression, Hypotonie, Bradykardie, Hyperthermie. Mitunter (v. a. Kin-
der) epileptische Anfälle.
  6.1 Analgetika  239

• Ther.: Intensivther.; Wachhalten; wenn möglich Antagonisierung (cave:


HWZ der Antagonisten oft kürzer als Wirkung des überdosierten Opio-
ids, Gefahr des „Rebounds“).

Äquivalenzdosen: ▶ Tab. 6.2.

Tab. 6.2  Äquivalenzdosierung verschiedener Opioide


Medika- Äquivalenzdosen
ment

Tramadol 50 mg 100 mg 200 mg ∼300 mg ∼400 mg

Tilidin - 50 mg 100 mg 200 mg 300 mg 400 mg 600 mg

Tapentadol - - 100 mg 100 mg 200 mg 200 mg 300 mg

Morphin - 20 mg 40 mg 60 mg 80 mg 120 mg 180 mg


p. o.

Oxycodon - 10 mg ∼20 mg ∼30 mg ∼40 mg ∼60 mg ∼90 mg

Hydromor- - - 8 mg 8–12 mg 12 mg 16 mg 24 mg


phon

Fentanyl - 12,5 μg/h - 25 μg/h 25 + 50 g/h 75 μg/h


transdermal 12,5 μg/h

Buprenor- - - - - 35 μg/h 52,5 μg/h 70 μg/h


phin trans-
dermal

Buprenor- 5 μg/h 10 μg/h 20 μg/h 20 + 2× - -


phin trans- 10 μg/h 20 μg/h
dermal
(Norspan®) 6
Cave: Kann nur als Anhaltspunkt dienen! Individuelle Dosisfindung ist notwendig.

6.1.6 Tramadol
Ind.: Mäßig starke bis starke Schmerzen.
Appl.: P. o.: Tbl., retardierte Tbl., Tr.; rektal; i. v./i. m./s. c.
Dos.: Beginn mit 50–100 mg (20–40 Tr.) als Einmaldosis, rasche Umstellung auf
retardiertes Präparat (2 × tgl. Gabe), Aufdosierung bis max. 400 mg/d.
NW: Atemdepression gering ausgeprägt; ausgeprägte Übelkeit, RR-Abfall u. asth-
moide Reaktion (durch Histaminausschüttung) häufig.

6.1.7 Tilidin mit Naloxon

Feste Komb. aus Tilidin u. Naloxon im Verhältnis 100 : 8. Tilidin/Naloxon


Tr. unterliegen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV),
Tilidin/Naloxon retardierte Tbl. nicht!
240 6 Schmerz 

Ind.: Starke bis sehr starke Schmerzen.


Appl.: Retardierte Tbl. o. Tr.
Dos.: Beginn mit 50 mg Tilidin (ED), retardiertes Präparat (2 × tgl. Gabe) bevor-
zugen, Aufdosierung bis max. 600 mg/d.
NW: Obstipation (gering); Übelkeit/Erbrechen seltener als bei Tramadol.

6.1.8 Tapentadol

Unterliegt der BtMVV!

Ind.: Starke bis sehr starke Schmerzen


Appl.: Tbl., retardierte Tbl. o. Lsg.
Dos.: Beginn mit 50 mg (ED); retardiertes Präparat: 2 × tgl. Gabe. Aufdosierung
alle 3–5 d um 50–100 mg/d bis max. 500 mg/d.
NW: Obstipation, Übelkeit/Erbrechen. ZNS: Tremor/Muskelzuckungen.

6.1.9 Stark wirksame Opioide für die Kurzzeitbehandlung

Einsatz v. a. in der postop. Schmerzbehandlung.


Unterliegen der BtMVV!

Pethidin
Reiner μ-Agonist, analgetisch weniger wirksam als Morphin (0,1–0,2 ×). Einsetz-
bar bei Kolikschmerz.
KI: Epilepsie, Niereninsuff.
Appl.: Enteral als Tr. o. Supp.; i. m./s. c./i. v.; p. o. Wirkungseintritt nach etwa
6 15  Min., Wirkdauer 1–2  h. Cave: Nicht mit natriumbikarbonathaltigen Injekti-
onslsg. mischen.
Dos.: ED von 25–100 mg p. o., i. m., s. c. u. i. v. (langsam injizieren 0,5–2 ml in 1–2
Min.); Supp. 100 mg. Max. 500 mg/d.
NW/WW:
• Erhöhung der Krampfneigung, orthostatischer Kollaps.
• Nur geringe Tonussteigerung der glatten Muskulatur.
• Bei wiederholter Gabe Akkumulation des prokonvulsiven Metaboliten Nor-
pethidin.
• Komb. mit MAO-Hemmern erhöht das Risiko der Atemdepression u. fördert
die Krampfneigung.

Buprenorphin
Partieller μ-Agonist, analgetisch deutlich wirksamer als Morphin (≈ 50 ×). Wegen
längerer Wirkdauer auch bei Tumorschmerz anwendbar.
Appl.: Enteral als Sublingualtbl.; i. m./i. v. Wirkungseintritt nach 30  Min. (i. v.
nach Min.), Wirkdauer 6–8 h.
Dos.: ED von 0,2–0,4 mg (1–2 Sublingualtbl. o. 1 Amp., i. v. langsam injizieren);
Wdh. nach 6–8 h.
NW/WW:
• Abhängigkeitspotenzial angeblich geringer als bei Morphin. Sedierung u.
Schwindel stärker ausgeprägt. Orthostase, Schwitzen.
  6.1 Analgetika  241

• Keine Dosisanpassung bei Niereninsuff. notwendig.


• Keine Sphinkterspasmen, weniger Obstipation.
• Wirkung von MAO-Hemmern verstärkt.
Antagonisierung
Naloxon weitgehend unwirksam (wegen zu starker Affinität des Buprenor­-
phins).

6.1.10 Stark wirksame Opioide für die Langzeitbehandlung

Richtlinien der WHO zum Einsatz von Analgetika


• „By the mouth“: Wenn möglich, immer orale Einnahme.
• „By the clock“: Nach festem Ther.-Schema.
• „By the ladder“: Gemäß der WHO-Stufenther.
• „For the individual“: Individuelle Auswahl der Substanzen u. Titration.

Morphin
Mittel 1. Wahl in der Langzeitbehandlung.
Appl.: Enteral (Tbl., Brausetbl., Tr., Supp., Pellets); i. v., i. m., s. c. Retardierte Prä-
parate für die Langzeitther. bevorzugen! Wirkdauer unretardiert 4–6 h, retardiert
12(–24) h.
Dos.: Nach Titration. Bei Morphin-naivem Pat. Beginn mit 10 mg nicht retardier-
tem Morphin p. o. alle 4 h bzw. 30 mg retardiertem Morphin alle 8–12 h. Dosisan-
passung bei Niereninsuff.
NW: Anhaltende Sedierung, Miktionsstör., Bronchospasmus, Pruritus. Bei Ther.-
Beginn häufig Erbrechen.
6
Oxycodon
Reiner μ-Agonist, analgetisch etwas wirksamer als Morphin (1,5 ×).
Appl.: P. o. unretardiert o. retardiert o. i. v./s. c. Auch in Komb. mit Naloxon er-
hältlich (soll Obstipation verhindern; Targin®). In der Langzeitther. retardierte
orale Appl. bevorzugen!
Dos.: Nach Titration. Bei naivem Pat. Beginn mit 2 × 10 mg retardiertem Oxycodon.
NW: Weniger GIT-NW u. geringere Kumulation bei Niereninsuff. als bei Morphin.

Hydromorphon
Reiner μ-Agonist, analgetisch wirksamer als Morphin (5–7,5 ×).
Appl.: P. o. unretardiert u. retardiert in 1 (Jurnista®) o. 2 Tagesdosen (z. B. Palla-
don® retard) o. i. v./s. c. In der Langzeitther. retardierte orale Appl. bevorzugen!
Dos.: Nach Titration. Bei naivem Pat. Beginn mit 2 × 4 mg (Hydromorphon re-
tard) o. 1 × 8 mg (Jurnista®).
NW: Weniger Sedierung, GIT-NW als Morphin. Meist keine Dosisanpassung bei
Niereninsuff. notwendig.

Transdermale Applikationssysteme
Kontinuierliche Freisetzung des Wirkstoffs u. Resorption durch die Haut.
Ind.: Tumorschmerz o. chron. Schmerzen mit stabil hohem u. absehbar lang an-
haltendem Schmerzniveau. Ind. bei nichtmalignen Grunderkr. sehr streng stellen!
242 6 Schmerz 

• Fentanyl (≈ 100 × potenter als Morphin): 12/25/50/75/100 μg/h; nach 3 d


wechseln. Dosisanpassung bei Niereninsuff. notwendig.
• Buprenorphin (≈ 50 × potenter als Morphin): 35/52,5/70 μg/h, nach 3 bzw.
4 d wechseln; oder 5/10/20 μg/h (Norspan®), nach 7 d wechseln. Keine Dosis­
anpassung bei Niereninsuff. notwendig.
Matrixpflaster gelten (im Gegensatz zu Membranpflastern) als teilbar; dies ist je-
doch ein Off-label-Use!

Adjuvanzien
Bei Übelkeit:
• In leichten Fällen Domperidon (max. 3 × 10 mg/d. Cave: Kardiale NW! Gabe
auf 1 Wo beschränken), alternativ Dimenhydrinat (1–4 × 50–100 mg) o. Hal-
operidol in niedriger Dosierung (3 × 0,3–0,5 mg [3–5 Tr.]).
• In schweren Fällen 5HT3-Antagonisten, Promethazin (1–2 × 25 mg), Steroide
o. Scopolamin.
Bei Obstipation: In leichten Fällen osmotisch wirksame Substanzen wie Ma­
crogol o. Lactulose-Sirup In schwereren Fällen irritative Substanzen, z. B. Bisaco-
dyl p. o., o. rektale Laxanzien wie Mikroklysmen o. Glyzerin Supp.

Bei jeder Opioid-Ther. muss frühzeitig eine (prophylaktische) Ther. gegen


Obstipation erfolgen!

Verschreibung
Laxanzien sind als adjuvante Medikation bei Opioidther. erstattungsfähig.
Diese spezielle Ind. muss aber auf dem Rezept vermerkt werden!

Fahrtauglichkeit unter Opioid-Therapie


6 • Aufklärung über Wirkungen u. NW sowie verkehrsrelevante Beeinträchti-
gungen (Dokumentation!).
• Fahrzeugführung untersagt:
– In der Einstellungsphase.
– Bei Dosiskorrekturen.
– Bei Opioidwechsel.
– Bei schlechtem AZ.
• Fahrzeugführung möglich bei stabilem Ther.-Verlauf.
! Hinweis auf die Pflicht zur kritischen Selbstprüfung, ggf. Leistungsüberprü-
fung.

Langzeittherapie mit Opioiden bei nichtmalignem Schmerz

Bei der Langzeitther. nichtmaligner Schmerzen mit Opioiden muss die Ind.
sehr streng gestellt werden.

• Voraussetzungen:
– Kausale Ther. nicht möglich/erfolglos.
– Ther. mit Nichtopioidanalgetika o. Koanalgetika erfolglos/zu risikoreich.
– Somatoforme Schmerzstör., Persönlichkeitsstör., gestörtes soziales Um-
feld ausgeschlossen; Drogen-/Alkoholabusus ausgeschlossen.
– Behandlung in einer ärztlichen Hand.
  6.2 Koanalgetika  243

– Vorstellung in der interdisziplinären Schmerzkonferenz.


– Erneutes Überdenken der Ind. bei Nichtansprechen auf niedrige Anfangs-
dosierung.
• Abbruchkriterien:
– Keine Schmerzreduktion.
– Unkontrollierte Dosissteigerung, Einnahmeunregelmäßigkeiten.
– Einnahme nicht verordneter Medikamente.
– Aktivitätsverminderung.
– Arztwechsel.

6.2 Koanalgetika
6.2.1 Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva (TCA) u. Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehem-
mer (SNRI) sind gegen chron. Schmerzen wirksam; SSRI wirken nicht analgetisch!

Amitriptylin
TCA; zugelassen für die Behandlung chron. Schmerzen.
KI: AV-Block, Engwinkelglaukom, Komb. mit MAO-Hemmern.
Dos.: Ziel 75 mg retard/d, max. 150 mg/d. Unter EKG-Kontrolle Beginn mit 10 mg
zur Nacht; Steigerung auf 25 mg nach 3 d, um 25 mg alle 3–4 d steigern. Einmalga-
be zur Nacht.
NW: Anticholinerg: Tachykardie, Verlängerung der PQ-Zeit, Mundtrockenheit,
Mydriasis, Miktionsstör., Obstipation. Müdigkeit, Gewichtszunahme.
Auch andere TCA sind in der Ther. chron. Schmerzen wirksam!

Duloxetin
SNRI, zugelassen bei diabet. PNP (Ariclaim®). 6
KI: Komb. mit MAO-Hemmern, schwere Niereninsuff.
Dos.: 60–120 mg/d; Beginn mit 30 o. 60 mg. Morgendliche Einmalgabe (bei NW
Müdigkeit alternativ am Abend). Wirklatenz bis zu 2 Mon. EKG-Kontrollen!
NW: Übelkeit/Erbrechen, Müdigkeit/Schlaflosigkeit, Schwindel, Mundtrocken-
heit, Obstipation, Gewichtsab-/-zunahme.

Venlafaxin
SNRI. Cave!: Bei neuropathischen Schmerzen nicht zugelassener off-label use
(nach Anlage VI der Arzneimittelrichtlinie).
KI: Komb. mit MAO-Hemmern, schwere Leber- o. Niereninsuff.
Dos.: 150–225 mg/d retard. Beginn mit 37,5 mg; Steigerung alle 2–3 d um 37,5 mg.
Morgendliche Einmalgabe.
NW: Schwindel, Unruhe, Übelkeit/Erbrechen, Gewichtsab-/-zunahme.

6.2.2 Antikonvulsiva
Pregabalin
Kalziumkanalmodulierendes Antikonvulsivum; zugelassen für zentrale u. peri-
phere neuropathische Schmerzen.
Dos.: 75–300 mg/d, max. 600 mg/d; Tbl. o. Lsg. Beginn mit 75 mg am Abend, Stei-
gerung alle 3 d um 75 mg; bevorzugt in 2 Tagesdosen. Bei alten Pat./NW Beginn
244 6 Schmerz 

mit 25 mg u. langsamere Dosissteigerung. Reduzierte Dosis bei Niereninsuff.!


EKG-Kontrollen!
NW: Benommenheit, Schwindel, Kopfschmerzen, Appetitsteigerung, Ödeme, Ataxie.

Gabapentin
Kalziumkanalmodulierendes Antikonvulsivum; zugelassen für periphere neuro-
pathische Schmerzsy.
Dos.: 900–1.800 mg/d, max. 3.600 mg/d. Beginn mit 300 mg, Steigerung um
300 mg tgl., zunächst bis 900 mg/d. Danach weitere Aufdosierung nach Wirkung
alle 2–3 d um 300 mg.
! Reduzierte Dosis bei Niereninsuff.!
• Umstellung von Gabapentin auf Pregabalin: Gabapentin innerhalb 1 Wo.
ausschleichen, gleichzeitig Pregabalin beginnen.
NW: Müdigkeit/Benommenheit, Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen, Gewichts-
zunahme, Ataxie.

Carbamazepin und Oxcarbazepin


Natriumkanalblockierende Antikonvulsiva. Carbamazepin für Trigeminus-/
Glossopharyngeus-Neuralgie u. diabet. PNP zugelassen.
Carbamazepin:
• KI: Bekannte Knochenmarkschädigung, AV-Block, Porphyrie.
• Dos.: 600–1.200 mg/d bzw. nach Arzneimittelspiegel o. Verträglichkeit. Initial
Gabe als Suspension, wenn schneller Wirkungseintritt erwünscht, ansonsten
retardierte Galenik bevorzugen. Beginn mit 100–200 mg zur Nacht; Steige-
rung um 100–200 mg alle 2–3 d. 2 Tagesdosen.
• NW: Allerg. Hautreaktionen, Müdigkeit, E'lyt-Stör., Leberwert- u. BB-Verän-
derungen, Enzyminduktion.
Oxcarbazepin:
• Dos.: Äquivalenzdosis Carbamazepin × 1,5.
6 • NW: Häufiger symptomatische Hyponatriämien als bei Carbamazepin, an-
sonsten besser verträglich.

Lamotrigin
Natrium-/Kalziumkanalblockierendes Antikonvulsivum. Bei zentralem Schmerz
nach Schlaganfall zugelassener off-label use nach Anlage VI der Arzneimittel-
richtlinie.
Dos.: 100–200 mg/d, max. 400 mg/d. Beginn mit 25 mg am Abend; Steigerung alle
2 Wo. um 25 mg. 1–2 Tagesdosen.
NW: Exantheme in den ersten Behandlungswochen (daher langsam aufdosieren),
Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstör., Reizbarkeit.

6.3 Tumorschmerz
6.3.1 WHO-Stufenschema
Die Behandlung des Tumorschmerzes erfolgt nach dem WHO-Stufenschema.

Analgetisches Stufenschema der WHO


• Analgetikather. der Schmerzintensität anpassen u. ggf. durch Koanalgeti-
ka (Antidepressiva u. Antikonvulsiva, ▶ 6.2) u. Adjuvanzien ergänzen.
  6.4 Neuropathischer Schmerz  245

• Opioide wegen entzündl. Umgebungsreaktion bei Tumoren (z. B. Kno-


chenmetastasen) mit antiphlogistischen Analgetika kombinieren.
• Bei unzureichendem Ther.-Erfolg zur nächsten Ther.-Stufe übergehen,
damit Pat. möglichst lange schmerzfrei leben können.
• Festes Einnahmeschema für die Basisther.; retardierte Galenik u. enterale
Appl.!

1. Stufe: Leichter bis mäßiger Schmerz – nichtopioiderge Analgetika


• Antipyretische Analgetika: Paracetamol, Metamizol.
• NSAID.
2. Stufe: Mittelgradiger Schmerz – schwache Opioide
• Tramadol oder Tilidin mit Naloxon oder Dhydrocodein.
• Freie Komb. Analgetikum der Stufe 1 mit Opioid der Stufe 2.
3. Stufe: Starker u. stärkster Schmerz – starke Opioide
• Tapentadol oder Morphin oder Oxycodon oder Hydromorphon oder Bu-
prenorphin oder transdermales Opioid.
• Zusätzlich Analgetikum der Stufe 1.
Bei Bedarf kann eine direkte Umstellung von Stufe 1 auf Stufe 3 erfolgen.
1.–3. Stufe: Adjuvanzien:
• Bei Schmerzen durch Ödem, Kompression o. Entzündung: Neben antiphlo-
gistischen Analgetika ggf. Steroide.
• Bei Schmerzen durch Knochenmetastasen: Bisphosphonate, ggf. nuklearme-
dizinische Verfahren.
• Antiemetika u. Prophylaxe/Behandlung von Obstipation.

6.3.2 Durchbruchschmerzen
Schnell anflutende nichtretardierte starke Opioide zusätzlich zur Basismedikation
mit retardierten starken Opioiden. Dosis-Richtwert: 1⁄10 der Tagesdosis an retardier- 6
ten Opioiden (muss jedoch individuell titriert werden). Hohes Abhängigkeitsrisiko!
• Morphinsulfat: Tbl., Trinklsg., Brausetbl., s. c./i. v.
• Fentanyl: Lutschtbl., Bukkaltbl, Sublingualtbl., Nasenspray.
• Oxycodon: Schmelztbl., s. c./i. v.
• Hydromorphon: s. c./i. v.
• Buprenorphin: Sublingualtbl.

6.4 Neuropathischer Schmerz
6.4.1 Charakteristika und Behandlungsstrategien
Definition
Schmerz, der auf eine Läsion o. Dysfunktion des ZNS o. PNS zurückzuführen ist.

Klinik
• Charakteristisch: Brennende Spontanschmerzen, einschießende Schmerzatta-
cken u. evozierte Schmerzen (Allodynie [normalerweise nichtschmerzhafter
Reiz, z. B. Berührung, wird als schmerzhaft empfunden] o. Hyperalgesie) in
unterschiedlichen Komb.
246 6 Schmerz 

• Außerdem häufig unangenehme Par- u. Dysästhesien, die mit o. g. Schmerzen


zu den pos. sensorischen Phänomenen zählen.
• Abhängig vom geschädigten System zusätzlich nichtschmerzhafte neg. senso-
rische Phänomene wie Hypästhesie, Hypalgesie, Thermhypästhesie, Pallhyp­
ästhesie.
• Prinzipiell können pos. u. neg. sensorische Phänomene bei allen neuropathi-
schen Schmerzsy. auftreten. Bestimmte Symptomkonstellationen sind jedoch
für einzelne Erkr. charakteristisch.
• Sonderform „mixed pain“: Nebeneinander von nozizeptiven u. neuropathi-
schen Schmerzkomponenten, z. B. bei Rückenschmerz, Tumorschmerz.

Diagnostik
Neben der spezifischen (Schmerz-)Anamnese, körperl. u. neurol. Unters. je nach
Krankheitsbild sinnvoll:
• Bildgebung (zum Nachweis einer Schädigung des Nervensystems, z. B. CMRT
bei V. a. zentrales Schmerzsy.).
• Labor/Serologie (z. B. bei PNP).
• Elektrophysiol. Unters. (evozierte Potenziale, Neurografie, EMG).
• Zum Nachweis einer Schädigung zentraler o. peripherer afferenter Systeme
setzt sich zunehmend die quantitativ-sensorische Testung (QST) durch.
• Ggf. Hautbiopsie (insbes. bei V. a. Small-fiber-Neuropathie).
Therapie
Die Ther. neuropathischer Schmerzen erfordert eine enge Zusammenarbeit der
beteiligten Disziplinen. Die frühzeitige Vorstellung in einer Schmerzambulanz ist
daher häufig sinnvoll.

Therapeutische Säulen
• Ther. der zugrunde liegenden Urs. – sofern möglich.
6 • Medikamentöse u. nichtmedikamentöse Schmerzther.
• Schmerzbewältigung durch psychologische Ther.-Verfahren.
Medikamentöse Therapie
Pharmakologische Basisther.: Antidepressiva (TCA, SNRI), Antikonvulsiva,
Opioide, topisch angewendete Pharmaka (Capsaicin, Lidocain).
• Das wirksamste Medikament muss individuell gefunden u. titriert werden
(Beurteilung nicht vor 2–4 Wo. Ther.-Dauer).
• Häufig ist eine Komb. dieser Medikamentengruppen sinnvoll/notwendig.
Klassische Analgetika u. NSAID sind in der Behandlung chron. neuropathi-
scher Schmerzen meist nicht sinnvoll. Komb.-Präparate (z. B. mit Koffein)
sind nicht indiziert.

Topische Medikamente:
Capsaicin-Salbe: 0,025–0,1-prozentige Salbenzubereitung, 4 × tgl. aufzutragen.
• NW: In den ersten Behandlungstagen Hautbrennen; allerg. Hautreaktionen.
! Cave: Mit Einmalhandschuhen auftragen, nicht im Gesicht/in der Nähe von
Schleimhäuten.
Capsaicin-Pflaster: 8 % in 14  ×  20 cm Pflaster; kann zugeschnitten werden
(Qutenza®). Max. 4 Pflaster; Wdh. der Behandlung frühestens nach 90 d.
  6.4 Neuropathischer Schmerz  247

• Durchführung: Vorbehandlung des schmerzhaften Hautareals mit topischem


Anästhetikum, zusätzlich Analgetikum p. o. (z. B. 50 mg Tramadol), Aufbrin-
gen des Pflasters unter bes. Schutzmaßnahmen (spezielle Handschuhe,
Schutzbrille) durch speziell geschultes Personal.
• Nicht anzuwenden im Gesicht, am Kopf o. auf verletzter Haut.
• Zugelassen bei peripheren neuropathischen Schmerzen, außer bei Diab. mell.
Lidocain-Patch: 5 % (700 mg) in 10  ×  14 cm Patch; kann zugeschnitten werden
(Versatis®). 1  × tgl. bis zu 3 Patches auftragen, nach spätestens 12  h entfernen,
danach 12 h Pause.
• Zugelassen bei postzosterischer Neuralgie.
Nichtmedikamentöse Therapie
TENS: Transkutane elektrische Nervenstimulation. Durch elektrische Reize (Aβ-
Fasern) vermittelte segmentale Modulation nozizeptiver Neurone. Mechanismus
u. Wirksamkeit umstritten.
Invasive Ther.-Verfahren:
• Nervenblockaden: Blockade peripherer Nerven, des Plexus o. Sympthatikus-
blockaden zu diagn. o. therap. Zwecken (z. B. bei „sympathisch unterhalte-
nem Schmerz“ bei CRPS o. traumatischen Nervenläsionen).
• GLOA (ganglionäre lokale Opioidanalgesie): Lokale Injektion von Opioiden
(Buprenorphin) an Ganglien des sympathischen NS (v. a. Ganglion cervicale
sup./cervicale medius/stellatum). Gleiche Injektionstechnik wie bei ganglionä-
rer Sympathikusblockade mit Lokalanästhetika, jedoch risiko- u. NW-ärmer.
• SCS („spinal cord stimulation“), MCS („motor cortex stimulation“), intrathe-
kale Medikamentenpumpen: Stellenwert umstritten.

6.4.2 Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)


ICD-10 M89.0.
Inadäquate Reaktion auf schmerzhafte o. Bagatelltraumen (z. B. Frakturen, OP,
Gelenksdistorsionen, aber auch nach Blutabnahme), selten spontan. M > F. Mani-
6
festationsgipfel um das 50. Lj; obere Extremität : untere Extremität = 2 : 1.

Formen des komplexen regionalen Schmerzsyndroms


• CRPS Typ I (alte Bezeichnungen: Sympathische Reflexdystrophie, Su-
deck-Sy.): Ohne nachweisbare Nervenverletzung.
• CRPS Typ II (alte Bezeichnung: Kausalgie): Nachweisbare Nervenverlet-
zung obligat.

Klinik
• Frühsympt.: Spontanschmerzen, generalisierte Schwellung, Hauttemperatur-
unterschiede unmittelbar o. Tage bis Wo. nach initialem Trauma.
• Vollbild: Symptomtrias aus sensorischen, autonom/vask. u. motorischen
Sympt.
• Charakteristische Folgen: Knochen- u. Weichteilveränderungen wie Kontrak-
turen o. periartikuläre Osteoporose.
Symptomkategorien:
• Sensorisch:
– Tiefsitzende starke bis unerträgliche, brennend-bohrende Spontan-
schmerzen u. evozierte Schmerzen (v. a. mechanische Allodynie, thermi-
248 6 Schmerz 

sche Hyperalgesie u. tief-somatische Allodynie) im Bereich der betroffe-


nen Extremität, distal bis akral betont o. generalisiert.
– Diffuse Hypästhesie u. Hypalgesie bei CRPS Typ I möglich. Bei CRPS
Typ II zusätzlich Defizit im Versorgungsbereich des verletzten Nervs.
– Orthostase-Phänomen: I. d. R. Schmerzlinderung bei Hochlagern der be-
troffenen Extremität.
• Autonomes NS: Vasodilation o. -konstriktion, Hauttemperaturdifferenz im
Seitenvergleich, veränderte Hautfarbe.
• Ödeme, Schweißsekretion: Schwellung, Hyper-/Hypohidrosis.
• Motorisch u. trophisch:
– Nicht schmerz- o. schwellungsbedingte Paresen, Koordinationsstör., fein-
schlägiger Tremor, Dystonie (selten).
– Verändertes Nagel- o. Haarwachstum, Hautatrophie, Gelenkkontraktu-
ren, Weichteilveränderungen.

Bei ≥ 1 Sympt. (= subjektive Beschreibung) aus ≥ 3 Kategorien u. ≥ 1 Zeichen


(= objektiver Befund) aus ≥ 2 Kategorien lässt sich die klin. Diagnose eines
CRPS mit einer Sensitivität von 85 % u. einer Spezifität von 60 % stellen.

Diagnostik
• Typ. Anamnese u. klin. Befund: Lokalisation, Sympt., zeitlicher Ablauf.
• Messung der Hauttemperatur: „Primär warm“ o. „primär kalt“ (schlechtere
Progn.).
• Ggf. 3-Phasen-Skelettszinti: Periartikuläre Tracer-Anreicherung in der Spät-
aufnahme.
• Ggf. Nativ-Rö mit Gegenseite zum Vergleich: Bei fortgeschrittener Erkr. dif-
fuse, fleckige, distale Entkalkungen.

6 Therapie
Immer Komb.-Ther. (Physio-/Ergother., medikamentös; frühe Psychother.).
Physio- u. Ergother.:
• Bei Ruheschmerz: Vorübergehende Immobilisation, Lymphdrainage, Kühlung.
• Sobald bei erträglichem Schmerz möglich: Mobilisationsbehandlung.
• Ergother. mit sensibler Stimulation u. Übung schmerzfreier Bewegungen.
Physiother. mit verhaltenstherap. Elementen: Spiegelther., „Motor Learning“,
„Graded Exposure“.
Medikamentöse Ther.:
• Analgetika: NSAID, Metamizol u. Opioide v. a. bei leichten Fällen in der
Frühphase wirksam.
• Antidepressiva: (z. B. Amitriptylin). Antikonvulsiva: Carbamazepin o. Gaba-
pentin v. a. bei neuralgiformen Schmerzen (z. B. bei CRPS Typ II).
• Bei entzündl. Komponenten (z. B. Ödem):
– Bisphosphonate (z. B. Alendronsäure 40 mg/d über 8 Wo.) oder
– Glukokortikoide: Prednisolon 100 mg/d, über 2,5 Wo. ausschleichen.
Interventionelle Verfahren: In spezialisierten Zentren:
• Sympathikusblockade zum Nachweis/Ausschluss sympathisch unterhaltener
Schmerzen.
• Ketamin: Als Dauerinfusionen über 4 d o. in Serie.
• SCS: Option bei therapierefraktären Pat.
• Baclofen intrathekal: Option bei therapierefraktärer Dystonie.
  6.4 Neuropathischer Schmerz  249

Psychotherap. Verfahren: Schmerzbewältigung, Entspannungsverfahren, Ver-


haltensther.

Prognose
Sehr selten Spontanremissionen. Progn. hängt von einer frühzeitigen Schmerz- u.
Physiother. ab.

6.4.3 Phantomschmerz
Definition
Stumpfschmerzen, Phantomsensationen u. -schmerzen (ICD-10 G54.6) werden
unter dem Begriff Postamputationssy. zusammengefasst.

Stumpfschmerz
Bei bis zu 60 % aller amputierten Pat.
Klinik: Gut lokalisierbare Schmerzen im Bereich des Stumpfs; belastungsabhän-
gig o. Dauerschmerz. Schmerzintensität mittel bis stark.
Ther.:
• Akuter Stumpfschmerz: Kausale Ther. durch Stumpfkorrektur, Prothesenkor-
rektur, Antibiotika. NSAID, z. B. Ibuprofen 1–2 × 800 mg/d.
• Chron. Stumpfschmerz: Wie Phantomschmerz.
Prophylaxe: Sorgfältige OP-Technik, gute Weichteildeckung des Stumpfs, sorg-
fältige Einbettung der Nervenenden.

Phantomschmerz
Def.: Schmerzen, die in einem amputierten Körperteil empfunden werden. 60–
70 % der Pat. mit Extremitätenamputationen entwickeln Phantomschmerzen. Bei
5–10 % der Pat. ist wegen der Schmerzstärke eine Ther. erforderlich.
Klinik:
• Meist Tage bis Wo. nach Amputation, selten auch nach J. 6
• Oft sehr starke brennende, kribbelnde, stechende, krampfartige o. einschie-
ßende Schmerzen (kein typ. Charakter) im Bereich des Amputats (des Phan-
toms).
• Schmerzen treten häufiger in Attacken als dauerhaft auf, meist in distalen
Anteilen der amputierten Extremität (Hand, Fuß).
• Häufig werden (schmerzhafte) Bewegungen des Phantoms empfunden.
• Triggerung der Phantomschmerzen im Bereich des Stumpfs möglich.
Vom Phantomschmerz abzugrenzen sind Phantomsensationen: Nicht-
schmerzhafte Empfindungen in der amputierten Extremität (z. B. normales
Extremitätengefühl, Kribbeln, Druck). „Telescoping“: Distaler Teil des Phan-
toms nähert sich dem Stumpf langsam an. „Fading“: Verblassende Phantom-
empfindung.

Ther.:
• Chron. Phantomschmerz:
– Carbamazepin: Bei einschießenden Schmerzen 800–1.200 mg/d.
– Gabapentin 1200–1.800  mg/d oder Pregabalin 150–600 mg/d.
– Lidocain: Bei tastbarem Neurom 2–3 × lokale Infiltration, bei pos. Effekt
Kryoanalgesie, ggf. wiederholen.
250 6 Schmerz 

– TCA: Bei brennenden Dauerschmerzen z. B. Amitriptylin 75 mg/d.


– Interventionell: Bei Versagen der pharmakologischen Ther. diagn. Sympa-
thikusblockade; bei pos. Effekt in Serie bzw. GLOA. Weitere invasive
Ther.-Verfahren nur in spezialisierten Zentren.
• Adjuvant: TENS, Hypnose.
• Prophylaxe: Amputation unter Regionalanästhesie; postop. kontinuierliche
Leitungsanästhesie. NMDA-Antagonisten periop. möglicherweise wirksam.
• Progn.: Nur bei 10–20 % der Pat. Spontanremission innerhalb von 1 J., bei
40 % Zunahme der Beschwerden im Verlauf. Bei frühem Beginn 80–90 %
Ther.-Erfolg.

6.4.4 Zentrale Schmerzsyndrome
Schmerzen als Folge einer Schädigung des ZNS (v. a. zerebrovask. Ereignisse, aber
auch MS, traumatische Hirnverletzungen, raumfordernde Prozesse, Erkr. des RM).

Klinik
• Schmerzqualität: Keine typ. Qualität; häufig Brennschmerzen. Ebenfalls häu-
fig: Allodynie, Hyperalgesie, Dysästhesie. Schmerzintensität: Von leicht bis
sehr stark.
• Schmerzbeginn häufig unmittelbar nach zentraler Läsion, manchmal aber
auch erst nach J. Bei RM-Prozessen oft erstes Sympt.
• Überwiegend Dauerschmerz mit zusätzlichen Attacken.
• Lokalisation folgt nicht dem Versorgungsgebiet peripherer Nerven o. Ner-
venwurzeln, aber häufig der zentralen Somatotopie.
• Thalamusschmerz: Am häufigsten bei posterolateralen Thalamusläsionen;
brennender Halbseitenschmerz o. Schmerzen im oberen/unteren Körperqua-
dranten (kontralateral zur Thalamusläsion); seltener nur im Bereich der (dis-
talen) Extremität; mit Dysästhesie u. einschießenden Schmerzattacken.
6 • Schmerzen bei Läsionen des Hirnstamms: Gekreuzte Schmerzsymptomatik
mit Schmerzen u. Hypästhesie im Gesicht ipsilateral, Analgesie u. Therman-
ästhesie der kontralateralen Körperseite.
• RM-Sy.: Gürtelförmige schmerzhafte Dysästhesien in Höhe der Läsion mit An-/
Hypästhesie unterhalb der Läsion (Anaesthesia dolorosa); bei inkomplettem
Querschnitt zusätzliche Schmerzen durch spastische Muskeltonuserhöhung.

Diagnostik
Nachweis der zugrunde liegenden ZNS-Erkr. in CT o. MRT.

Therapie
• Antidepressiva: Bei Dauerschmerzen Amitriptylin 75–100 mg retard tgl.
1. Wahl.
• Gabapentin 1.200–3.600 mg/d oder Pregabalin 150–600 mg/d: V. a. bei RM-
Läsionen gut wirksam.
• Lamotrigin: 100–200 mg/d (zugelassener off-label use nach Anlage VI der
Arzneimittelrichtlinie).
• Carbamazepin: V. a. bei einschießenden Schmerzen 800–1.200 mg/d retard.
• SCS, MCS: Stellenwert umstritten.
Prognose
Innerhalb der Gruppe der neuropathischen Schmerzen therap. am schlechtesten
zu beeinflussen.
  6.4 Neuropathischer Schmerz  251

6.4.5 Herpes zoster und postzosterische Neuralgie


Akuter Herpes zoster (ICD-10 B02)
Endogene Reinfektion durch das in den Spinalganglien o. Ganglien der sensiblen
HN persistierende VZV. Lebenszeitrisiko 30 %. Erhöhtes Risiko im Alter u. bei
Immunsuppression.
Klinik:
• Prodromal häufig Zeichen einer uncharakteristischen Allgemeininfektion
(Fieber, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit).
• Häufig noch vor Auftreten der Effloreszenzen heftiger, brennender Dauer-
schmerz im befallenen Dermatom. Selten: Herpes zoster ohne Effloreszenzen
= Herpes sine herpete/eruptione.
• Typ. bläschenförmiges Exanthem auf erythematösem Grund im Versor-
gungsgebiet eines Spinal- o. Hirnnervs. Häufigste Lokalisation: Thorakale
Dermatome, N. trigeminus. Dauer 1–2 Wo.
• Einschießende, stechende Schmerzen; zusätzlich Dys-, Hypästhesie, Hyperal-
gesie, Berührungsallodynie u. autonome Stör. im befallenen Dermatom.
KO: Keratokonjunktivitis bei Zoster ophthalmicus; periphere Fazialisparese bei
Zoster oticus (Ramsay-Hunt Sy.); Zosterenzephalitis/-meningitis bei immunsup-
primierten Pat.; postzosterische Neuralgie.
Diagn.: Klin. Diagnose. VZV-PCR aus Bläschenflüssigkeit, ggf. VZV-Serologie.
MRT (Radikulitis, Enzephalitis/Meningitis) nicht spezifisch.

Bei jungen Pat. Immunkompentenz überprüfen; ggf. Tumorsuche.

Ther.:
• Ziele: Verhinderung der Virusausbreitung, Schmerzbekämpfung, Prophylaxe
der postzosterischen Neuralgie.
• Immer topische Dermatologika (Puder, antiseptische Trockenpinselung). 6
Virustatische Ther.:
• Aciclovir (800 mg alle 4 h p. o. über 7–10 d) oder Valaciclovir (3 × 1.000 mg/d
p. o. über 7 d) oder Famciclovir (3 × 500 mg/d p. o. über 7 d) oder Brivudin
(1 × 125 mg/d p. o. über 7 d). KI: Brivudin: Pat. mit Chemother. (5-FU u. De-
rivate).
• Bei schwerem Verlauf/starken Schmerzen o. immungeschwächten Pat. immer
parenterale Gabe von Aciclovir (3 × 5–10 mg/kg KG/d i. v. über 7–10 d).

Aciclovir, Valaciclovir, Famciclovir: Angepasste Dosis bei Niereninsuff. not-


wendig!

Analgetische Ther.:
• Leichte Schmerzen: NSAID (z. B. Paracetamol o. ASS).
• Starke Schmerzen:
– Retardierte schwach potente Opioide wie Tramadol o. Tilidin.
– Wenn nicht ausreichend: Hoch potente retardierte Opioide.
• Brennende Dauerschmerzen u. Dysästhesien: Amitriptylin bis 75 mg/d p. o. o.
Gabapentin 1.200–1.800 mg/d o. Pregabalin 150–600 mg/d.
• Einschießende Schmerzen: Carbamazepin 600–1.200 mg/d.
• Bei schwerem Verlauf systemische Glukokortikoide zur Entzündungshem-
mung u. Analgesie: Prednisolon 1 mg/kg KG/d p. o. in absteigender Dos.
252 6 Schmerz 

• Adjuvant: Lokale Ther. mit Kühlung, Lidocain-Gel.


• Interventionell: Ggf. GLOA/Sympathikusblockaden.
Hochrisikopat. Amitriptylin verordnen: Senkt nachgewiesenermaßen das
Risiko, eine postzosterische Neuralgie zu entwickeln.

Postzosterische Neuralgie (PZN, PHN; ICD-10 B02.2 G53.0*)


Persistierende Schmerzen nach durchgemachter akuter Herpes-zoster-Erkr.
Klinik:
• Brennender, bohrender Dauerschmerz im betroffenen Areal, zusätzlich ein-
schießende stechende Schmerzen (seltener als bei akutem Herpes zoster), Be-
rührungsallodynie. Schmerzen stark bis unerträglich.
• Subakute Zoster-Neuralgie: 1–3 Mon. nach Beginn der Effloreszenzen.
• Postzosterische Neuralgie: > 3 Mon. nach Beginn der Effloreszenzen.
Risikofaktoren:
• Mit zunehmendem Lebensalter häufiger: ≥ 60 J. 40–50 %; F > M.
• Je schwerer die prim. Zostererkr., desto häufiger.
• Höchstes Risiko: Pat. > 50 J., Schmerzen bereits in der Prodromalphase,
> 50 Effloreszenzen, kranialer o. sakraler Befall.
Diagn.: Anamnese u. zeitlicher Verlauf, Hautveränderungen im Bereich des (ab-
geheilten) Herpes zoster.
Ther.:
Amitriptylin: Ther. 1. Wahl, z. B. 75–150 mg/d p. o. Wirkt gegen alle 3 Schmerz-
komponenten der PZN. Alternativ:
• Pregabalin (150–600 mg/d) o. Gabapentin (1.200–1.800 mg/d); ggf. auch in
Komb. mit Opioiden.
• NSAID: Bei leichten Schmerzen.
• Opioide: Bei starken Schmerzen. Retardierte schwach potente Opioide o.
6 hoch potente retardierte Opioide.
• Carbamazepin: Bei einschießenden Schmerzen 600–1.200 mg/d.
• Adjuvant: Capsaicin-Salbe o. hoch dosiertes Capsaicin-Pflaster (Qutenza®)
(cave: Nicht im Gesicht anwenden). Lidocain-Patch (Versatis®). NMDA-Ant­
agonisten (z. B. Amantadin p. o.), TENS, Akupunktur, Schmerzbewältigungs-
training.
Progn.: Der Behandlungserfolg hängt vom Behandlungsbeginn ab. Bei Verläufen
> 1 J. ist meist nur eine Schmerzreduktion zu erzielen.
Prophylaxe: Impfung mit spezieller VZV-Vakzine nach dem 60. Lj reduziert Inzi-
denz des akuten Herpes zoster um 50 % u. die Inzidenz der PZN um 60 %.

6.4.6 Schmerzen bei Polyneuropathie


Schmerzen sind ein häufiges Sympt. bei PNP (▶ 19) u. stehen oft ganz im Vorder-
grund der klin. Beschwerden.

Ursache
Schmerzhafte PNP sind am häufigsten bei Diab. mell. u. chron. Alkoholabusus.
Auch bei HIV-assoziierter PNP, GBS, PNP bei Kollagenosen/Vaskulitis, tox. u.
hereditären PNP treten Schmerzen auf.
  6.4 Neuropathischer Schmerz  253

Diab. mell.: Risiko, eine PNP zu entwickeln, wird durch strenge BZ-Einstel-
lung deutlich reduziert (Ziel: HbA1c < 7 %).

Klinik
• Meist brennend bohrende Dauerschmerzen mit überwiegend symmetrischem
Verteilungsmuster u. distaler Betonung, (seltener) einschießende Schmerzen.
Zusätzlich evozierte Schmerzen (Hyperalgesie, Allodynie).
• Überwiegend perakuter Beginn, häufig mit intermittierenden Kribbelparäs-
thesien.
• Negativsympt.: Minderung o. Verlust sensibler Qualitäten, z. B. Hypästhesie,
Thermhypästhesie, Pallhypästhesie.
• Schmerzintensität: Leicht bis schwer.
• Sonderformen: Schmerzhafte Mononeuritis (multiplex); gehäuftes Auftreten
von Nervenkompressionssy. bei PNP.

Diagnostik
• Anamnese, Verteilungsmuster der Schmerzen u. senso(moto)rischer Defizite.
• Ätiologische Abklärung: Labor- u. Elektrodiagn. Zum Nachweis einer Small-
Fiber-Komponente QST u./o. Hautbiopsie (Speziallabor).

Therapie
• Soweit möglich, Ther. der Ursache.
• Bei schmerzhafter Mononeuropathia multiplex entzündl. Genese (z. B. Vas-
kulitis): Ther.-Versuch mit Prednisolon 1 mg/kg KG p. o. in ausschleichender
Dos. Suralisbiopsie zur Diagnosesicherung notwendig.
• Dysästhesien bei Chemother. mit Platin-Präparaten: Magnesium o. Kalzium
(cave: Kann Wirksamkeit der Chemother. reduzieren). Die akute Hyperalge-
sie nach Gabe von Oxaliplatin lässt sich gut mit Carbamazepin o. Gabapentin
verhindern. 6
Symptomatische Schmerzther.: Zum Einsatz (auch in Komb.) kommen:
• Antidepressiva:
– Gute Wirksamkeit gegen spontane Dauerschmerzen.
– 1. Wahl: TCA, v. a. Amitriptylin (bis 75 mg/d) oder
– SNRI: Duloxetin (30–60 [max. 120] mg/d; Ariclaim® bei diabet. PNP).
– 2. Wahl: Venlafaxin (75–225 mg/d).
• Antikonvulsiva:
– 1. Wahl: Pregabalin (150–600 mg/d) oder Gabapentin (1.200–1.800 mg/d).
Gabapentin bei HIV-assoz. PNP Mittel 1. Wahl, da es nicht mit antiretro-
viraler Ther. interagiert.
– Carbamazepin (600–800 mg/d) v. a. bei einschießenden Schmerzen.
– 2. Wahl: Lamotrigin (100–200 mg/d). Bei diabet. PNP schlecht, bei HIV-
assoziierter PNP mäßig gut wirksam.
• Opioide: V. a. schwach potente (Tramadol o. Tilidin).
• Topisch: Capsaicin-Salbe, hoch dosiertes Capsaicin-Pflaster (Qutenza®.
Cave: Bei diabet. PNP nicht zugelassen), Lidocain-Patch (Versatis®).
• Adjuvant: TENS, physikalische Ther., psychotherap. Verfahren.
Wirksamkeit von α-Liponsäure (i. v. o. oral) gegen Schmerzen bei diabet.
PNP umstritten.
254 6 Schmerz 

6.4.7 Fibromyalgiesyndrom (FMS)
ICD-10 M79.70.
Prävalenz 5–13 % in Industrienationen, F : M = 2 : 1.
Urs.: Ungeklärt.
• An organischen Urs. werden u. a. genet. Prädisposition, Veränderungen in
der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, immunologische Me-
chanismen, Veränderungen in der zentralen Schmerzverarbeitung, aber auch
myogene Urs. diskutiert.
• An psychischen Urs. werden Somatisierungsstör., psychosozialer Stress, be-
lastende Lebensereignisse o. auch affektive Stör. diskutiert.
• Biopsychosoziales Modell: Interaktion zwischen physikalischen, organischen
u. psychosozialen Stressoren.
Klinik:
• Chron. (> 3 Mon.) Schmerzen in mehreren Körperregionen: „Chronic wide­
spread pain“ (CWP).
• Zusätzlich Druckschmerzempfindlichkeit, (Morgen-)Steifigkeit, Schwellungs-
gefühl.
• Multiple vegetative funktionelle Stör.: Schlafstör., Müdigkeit/Erschöpfbarkeit,
GIT-Beschwerden (Globusgefühl, Reizmagen/-darm).
• Psychische Komorbiditäten: Ängstlichkeit, Depressivität.
• Häufig assoziiert: Kopf- u. Gesichtsschmerzen, Reizblase, Unterbauch-
schmerzen, Atembeschwerden, Tinnitus, Lärmempfindlichkeit, Frieren/
Schwitzen, Kältegefühl der Extremitäten.
Diagn.: Diagnosestellung nach klin. Bild (s. o.) o. ACR-Kriterien:

Diagnostische Kriterien des American College of Rheumatology (ACR)


• Ausgebreitet persistierende Schmerzen („widespread pain“), d. h. Schmer-
zen der ganzen re. u./o. li. bzw. oberen u./o. unteren Körperhälfte unter
6 Einschluss der WS.
• Druckschmerz an mind. 11 von 18 definierten „tender points“ (Muskel-
sehnenansätze).
• Mind. 3-monatige Dauer der Beschwerden.
• Zusätzlich funktionelle Organbeschwerden ohne objektives Korrelat.
Lokalisation der „tender points“ (jeweils re u. li; ▶ Abb. 6.1): Ansätze der sub-
okziptalen Muskulatur, Querfortsätze HWK 5–7, oberer Rand des M. trapezi-
us, Ansatz M. supraspinatus, Knochen-Knorpel-Grenze 2. Rippe, Epicondylus
radialis, oberer äußerer glutealer Quadrant, Trochanter major, Kniegelenk
medial.

Labor: Z. A. sek. FMS Bestimmung von BB, BSG/CRP, RF, ANA (Polymyalgia
rheumatica, andere rheumatologische Erkr.), CK (Myositis/Myopathien), Ca2+
(Hyperkalzämie), TSH (Hypothyreose).
DD:
• Myofasziales Schmerzsy. (▶ 6.4.8).
• Sek. FMS bei rheumatischen, entzündl. (PMR, rheumatoide Arthritis, Sarko­
idose, Colitis ulcerosa), infektiösen (Borreliose) o. endokrinen Erkr. (Hypo-
thyreose).
• Sek. FMS bei Muskelerkr.: Myositis, metab. o. endokrine Myopathien, medi-
kamentös-tox. Myopathien (Statine, D-Penicillamin).
• Neben der Ther. der Grunderkr. gelten für sek. FMS dieselben Ther.-Empfeh-
lungen wie für das prim. FMS.
  6.4 Neuropathischer Schmerz  255

okzipitaler
Muskelansatz

Querfortsätze HWK 5‒7

Knorpel-Knochengrenze
der 2. Rippe

Mitte des oberen Randes


des M. trapezius

Ursprung des
M. supraspinatus
am medialen Skapularand

Trochanter major

Epicondylus rad./lat.

oberer äußerer Quadrant


der Glutealmuskulatur

Fettkörper
am medialen
Kniegelenkspalt

Abb. 6.1  Tender points [L106]

Ther.:
• Basisther.: 6
– Pat.-Aufklärung/-Schulung.
– Verhaltensther.
– Aerobes Ausdauertraining.
– Ther. körperl./psychischer Komorbiditäten.
– Medikamentös: 1. Wahl Amitriptylin (25–50 mg/d). Pregabalin
(450 mg/d): Wirksam auf Schmerz, Schlafstör., Morgensteifigkeit. Einfa-
che Analgetika u. NSAID: Nicht wirksam.
• Bei ungenügender Besserung: Multimodale Schmerzther. in spezifischen
Behandlungsprogrammen.

6.4.8 Myofasziales Schmerzsyndrom (MSS)


ICD-10 M79.19.
Sehr häufige Urs. von muskuloskelettalen Schmerzen, F > M, chron. v.a. im 4.u.
5. Ljz. Wahrscheinliche Urs.: Durch muskuläre Über- o. Fehlbelastung anhaltende
lokale Kontraktion von Sarkomeren, die sich durch lokalen Energiemangel selbst
erhält.
Klinik: Nicht gelenkbezogener, lokaler o. regionaler Muskelschmerz, mit:
• Triggerpunkten („trigger points“): Tastbare schmerzhafte Punkte in der Mus-
kulatur, an denen sich ein lokaler o. fortgeleiteter Schmerz auslösen lässt.
256 6 Schmerz 

• „Taut bands“: Straffe/verdickte Muskelbündel, in denen die Triggerpunkte


lokalisiert sind.
• „Referred pain“: Neben lokalen Schmerzen treten individuell stereotype regi-
onal ausstrahlende o. in anderen Körperarealen lokalisierte Schmerzen auf.
• „Twitch response“: Mitunter kommt es bei Manipulationen eines Trigger-
punkts zu kurzen Kontraktionen der taut bands.
Ther.:
• Manuelle Ther. zur Lösung der „taut bands“. Körperl. Aktivität zur Prophylaxe.
• TENS.
• Trockene Nadelung, Triggerpunkt-Injektionen (NaCl, Lidocain; bei chron.
Fällen ggf. Botulinumtoxin).
• Einfache Analgetika/NSAID: Bei akuten Schmerzen wirksam. Ggf. Methocar-
bamol (3 × 1.500 mg/d) als adjuvante muskelrelaxierende Ther. Im chron.
Stadium ggf. TCA o. SSNRI.

6
7 Ischämische ZNS-Erkrankungen
Jürgen Klingelhöfer

7.1 Management des Schlag­ 7.4.2 Zerebrale Mikroangiopathie


anfallpatienten 258 durch Arteriolosklerose 298
7.1.1 Definition 258 7.4.3 Zerebrale Amyloidangiopathie
7.1.2 Leitsymptome u. (CAA) 299
Akutmanagement 258 7.4.4 CADASIL 299
7.1.3 Differenzialdiagnosen 260 7.5 Zerebrale Vaskulitiden 301
7.1.4 Vorgehen nach der 7.5.1 Zerebrale Vaskulitis –
Akutversorgung 261 Übersicht 301
7.2 Zerebrale Ischämie 263 7.5.2 Arteriitis temporalis 304
7.2.1 Epidemiologie 263 7.5.3 Polymyalgia rheumatica
7.2.2 Risikofaktoren 264 (PMR) 307
7.2.3 Primärprävention ischämischer 7.6 Gefäßmalformationen 308
Hirnerkrankungen 264 7.6.1 Definition 308
7.2.4 Einteilung ischämischer Hirn­ 7.6.2 Arteriovenöses Angiom  308
erkrankungen 266 7.6.3 Kavernom (kavernöses
7.2.5 Ätiologie ischämischer Hirn­ Hämangiom)  310
erkrankungen 268 7.6.4 Kapilläres Angiom (kapilläre
7.2.6 Symptomatologie des supra­ Teleangiektasie) 310
tentoriellen Hirninfarkts 269 7.6.5 Venöses Angiom (Develop­
7.2.7 Symptomatologie des Hirn­ mental Venous Anomaly,
stamminfarkts 270 DVA) 310
7.2.8 Symptomatologie des Klein­ 7.6.6 Durale arteriovenöse
hirninfarkts 277 Malformation (Durafistel,
7.2.9 Subclavian-steal-Effekt AV-Fistel, Karotis-Sinus-
(-Syndrom) 278 cavernosus-Fistel) 311
7.2.10 Diagnostik beim ischämischen 7.7 Gerinnungsstörungen 311
Infarkt 280 7.7.1 Definition 311
7.2.11 Akuttherapie des ischämischen 7.7.2 Protein-C-/-S-/
Hirninfarkts 283 Antithrombin-III-Mangel 312
7.2.12 Sekundärprophylaxe 288 7.7.3 Faktor-V-Mutation 312
7.3 Makroangiopathien 294 7.7.4 Hyperhomocysteinämie 312
7.3.1 Karotisdissektion 294 7.8 Sinusvenenthrombose
7.3.2 Vertebralisdissektion 296 (SVT) 313
7.3.3 Fibromuskuläre Dysplasie 7.8.1 Blande Sinusvenen­
(FMD) 296 thrombose  313
7.3.4 Moya-Moya-Erkrankung 297 7.8.2 Septische Sinusvenen­
7.4 Mikroangiopathien 297 thrombose 315
7.4.1 Definition 297
258 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

7.1 Management des Schlaganfallpatienten


7.1.1 Definition
„Schlaganfall“ ist der Überbegriff für alle zerebrovask. Erkr. mit akut auftretenden
neurol. Defiziten.

7.1.2 Leitsymptome u. Akutmanagement

Jedes akute neurol. Defizit ist verdächtig auf einen Schlaganfall. Die Sympt.
ist nicht abhängig von der Urs., sondern vom Ort der Läsion. Der Schlagan-
fall ist als medizinischer Notfall anzusehen. Schlaganfallpat. sollten während
der Akutphase in Schlaganfallstationen (Stroke Units) behandelt werden.

Leitsymptome
• Halbseitensympt.: Spastische Hemiparese mit MER ↑ u. Babinski-Zeichen.
• Cave: Initial kann die Parese schlaff sein mit abgeschwächten o. seitenglei-
chen Reflexen. Hemihypästhesie.
• Zerebelläre Sympt.: Ataxie, Schwindel, Nystagmus, Gangunsicherheit, Erbrechen,
Nackenschmerzen (Letztere als Zeichen einer beginnenden Einklemmung).
• Hirnstammsympt.: Dysarthrie, Schluckstör., Stör. der Blickmotorik, HN-Ausfälle.
• Sympt. der langen Bahnen: Sensomotorische Hemi-, Para- o. Tetraparese.
• Augensympt. (▶ 3.1): Hemianopsie, Blickparesen, Stör. der Pupillomotorik.
• Rasch einsetzende Bewusstseinsstör.
• Neuropsychologische Defizite: Aphasie, Apraxie, Agnosie, Alexie.
Die Behandlung entgleister physiol. Parameter ist die Basis der Schlaganfall-
therapie
Akutmanagement:
• Neurol. Status u. vitale Funktionen regelmäßig überwachen, v. a. bei
­vigilanzgestörten Pat. Kontrolle der Atmung, Pulsoxymetrie, BGA.
• Intubation, Magensonde, ZVK u. Blasenkatheter.
7 • Verlegung auf Intensivstation bei pCO2 > 60 mmHg, drohender Ein-
klemmung, hochgradiger Bewusstseinsstör., erheblichen Schluckstör.,
Verlust der Schutzreflexe.
• Venöser Zugang: Hypovolämie, E'lyte u. BZ ausgleichen (z. B. mit
Ringer®-Lsg., Sterofundin, KCl, Altinsulin).
• RR-Kontrolle:
– Keine generelle RR-Senkung bei Ischämie (▶ 7.2.11), hypertone Wer-
te bilden sich meist innerhalb von 12 h zurück.
– Syst. RR 180–220 mmHg u./o. diast. RR 105–120 mmHg: keine Ther.
– Syst. RR ≥ 220 mmHg u./o. diast. RR 120–140 mg bei wiederholter
Messung: Urapidil 10–50 mg i. v., anschließend 4–8 mg/h i. v. (bei
Pat. mit instabilem RR können alternierend Urapidil u. Arterenol
verwendet werden); Captopril 6,25–12,5 mg p. o./i. m.; Clonidin
0,15–0,3 mg i. v./s. c.; Dihydralazin 5 mg i. v. plus Metoprolol 10 mg.
– Diast. RR ≥ 140 mmHg: Nitroglycerin 5 mg i. v., gefolgt von 1–4 mg/h
i. v., Natriumnitroprussid 1–2 mg.
   7.1  Management des Schlaganfallpatienten  259

• Iatrogene zu starke RR-Senkung < 140 mmHg kann bei langjährigen


Hypertonikern mit hochgradigen Stenosen zu hämodynamischen
­Infarkten führen.
• Erhöhter Hirndruck: 30°-Oberkörperhochlagerung, Osmother. (▶ 4.6).
Diagn. CCT u. Klinik. Verlegung auf Intensivstation.

Anamnese
• Dauer u. Verlauf der Sympt.: Akut fluktuierend o. chron. rezid.
• Begleitsympt.: Kopfschmerzen, Bewusstseinsstör.
• Risikofaktoren: Alter, art. Hypertonie, kardiale Erkr. (KHK, Arrhythmien,
Z. n. Myokardinfarkt), Diab. mell., Polyzythämie, Nikotinabusus, Ovulations-
hemmer, pos. Familienanamnese.
• Medikamente: Antihypertonika, Antiarrhythmika, Antidiabetika, Antikoagu-
lanzien, Thrombozytenaggregationshemmer.
• Begleiterkr.: Malignom (Primärtumor, Entwicklung der klin. Sympt. über
­Tage bis Wo.), Infektion (Fieber, Leukozytose), Diab. mell.

Gezielt nach früher abgelaufenen fokalen zerebralen Ischämien, v. a. Amau-


rosis-fugax-Attacken (vorübergehender retinaler Visusverlust, monokuläres
Schleier- o. Nebelsehen) fragen.

Diagnostik
• Labor: Hb, Hkt, Leukos, BSG, E'lyte, Retentionswerte, Gerinnung, BZ.
• Klin. Lokalisationsdiagn.:
– Bei großem kortikalem Infarkt: Blick- u. Kopfwendung zum Herd.
– Stammganglien: Kontralat. Hemiparese o. Hemiplegie mit Reflexsteige-
rung u. Babinski-Zeichen. Initial kann die Parese schlaff sein mit abge-
schwächten o. seitengleichen Reflexen. Bauchhautreflexe auf kontralat.
Seite meist abgeschwächt. Hemihypästhesie, Aphasie, Hemianopsie.
– Frontallappen: Kontralat. beinbetonte Hemiparese, Anfälle.
– Parietallappen: Kontralat. sensomotorische, armbetonte Hemiparese,
­Hemianopsie, bei Betroffensein der dominanten Hirnhälfte Aphasie, Ale-
xie, Apraxie, bei Betroffensein der nicht dominanten Hirnhälfte Anosog- 7
nosie u. Neglect.
– Temporallappen: Homonyme Hemianopsie, Aphasie, Hemiparese.
– Okzipitallappen: Homonyme Hemianopsie.
– Thalamus: Sensible Herdsympt., Hemiparese bei Mitbeteiligung der
Capsula int., vertikale Blickparese, Horner-Sy.
– Kleinhirn: Ataxie, Schwindel, Nystagmus, Gangunsicherheit, Erbrechen,
Nackenschmerzen (Letztere als Zeichen der beginnenden Einklem-
mung). Bei zunehmender Raumforderung Hirnstammsympt., Bewusst-
seinstrübung bis zum Koma → Einklemmung (▶ 4.6.1) o. Hydrocephalus
occlusivus.
– Hirnstamm, Brücke: Stör. der Pupillo- u. Okulomotorik, Blicklähmung,
Schluckstör., Hemi- o. Tetraparese o. -plegie, HN-Ausfälle, Schwindel,
Blickparesen, rascher Bewusstseinsverlust bis zum Koma, zentrale Atem-
stör., „Locked-in-Sy.“ (▶ 4.3.3).
260 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Die klin. Unterscheidung zwischen ischämischen Infarkt u. Blutung ist nicht


möglich, daher unverzüglich CCT! Größeneinschätzung durch Frühzeichen
(innerhalb von 2 h sichtbar).

• Apparative Diagn.:
– CCT: Zuverlässige Differenzierung zwischen ischämischen u. hämorrha-
gischen Schlaganfällen. Infarkte im Hirnstamm sind wegen Artefakten
schlecht beurteilbar. Raumforderung (▶ 4.3.2), Liquoraufstau. Mit KM bei
V. a. Tumor o. Abszess.
– Perfusions-CT: Sequenzielle Akquisition von CT-Schichten während der
Passage eines i. v. applizierten KM-Bolus; Berechnung von Parameterkar-
ten wie bei Perfusions-MRT.
– CTA bei Ischämie; gibt Informationen über die großen extra- u. intrakra-
niellen Arterien u. venösen Blutleiter.
– MRT
– Diffusionsbildgebung (DWI) ist sensitivstes Verfahren zum frühzeitigen
Ischämienachweis (bereits 30 Min. nach Ischämiebeginn).
– Blutungsausschluss sicher mit FLAIR u. GRE (T2*-Wichtung).
– Perfusionsbildgebung durch sequenzielle Akquisition von MR-tomografi-
schen Aufnahmen während der Passage eines i. v. applizierten KM-Bolus;
erlaubt Berechnung verschiedener Perfusionsparameter.
– Mismatch-Konzept bedeutet: Gewebe mit normaler Diffusion, aber ver-
minderter Perfusion (Penumbra) soll durch rekanalisierende Maßnahmen
noch zu retten sein.
– EKG: Absolute Arrhythmie mit Vorhofflimmern o. frischer Herzinfarkt
(Emboliequelle).
– Doppler-Sono: Stenosen der extra- o. intrakraniellen Gefäße bei ischämi-
schen Infarkten.
– Art. selektive DSA: Bei V. a. Basilaristhrombose, SAB o. SVT.
– LP: Bei V. a. SAB bei unauffälligem CT, V. a. Meningitis.
• Rehabilitationsspezifische Diagn.:
– Elementare Untersuchungsmethoden: NIH Stroke Scale bzw. bei Aufnah-
me u. Entlassung frei formulierter klin. Untersuchungsbefund (motori-
scher Anteil).
7 – Funktionelle Messmethoden: Rivermead Motor Assessment; 14-tägig.
– Kompetenz bei Alltagsaktivitäten: Barthel-Index; wöchentlich.

7.1.3 Differenzialdiagnosen
Zur Ätiol. u. zu den DD des Schlaganfalls ▶ Tab. 7.1.

Tab. 7.1  Ätiologie u. DD des Schlaganfalls


Differenzialdiagnosen Charakteristische Merkmale Weiterführende Diagnostik

Zerebrale Ischämie Halbseitensympt., Blick-, CCT, MRT, Doppler-Sono


(85 % d. F., ▶ 7.2) Kopfwendung, Bewusstseins­
stör., selten Anfälle

Intrazerebrale Blu­ Bewusstseinsstör., evtl. Kopf­ CCT, bei atypischer Lokali­


tung (▶ 8) schmerzen sation: DSA, MRT
   7.1  Management des Schlaganfallpatienten  261

Tab. 7.1  Ätiologie u. DD des Schlaganfalls (Forts.)


Differenzialdiagnosen Charakteristische Merkmale Weiterführende Diagnostik

SAB (▶ 8.3) Akuter, heftigster Kopf­ CCT, LP bei klin. Verdacht


schmerz, Meningismus, Be­ u. neg. CCT, art. DSA
wusstseinstrübung, Übelkeit

SVT (▶ 7.8) Anfälle, STP, Kopfschmerz, CCT mit KM, CT-Angio,


fluktuierender Verlauf, bilate­ MRT, MR-Angio, DSA
rale Ausfälle

Hirntumor, Hirnmeta­ Progredienter Verlauf, bei Ein­ CCT mit KM, MRT, EEG,
stase (▶ 13) blutung aber akutes Defizit Primärtumorsuche

Hirnabszess (▶ 9.3.4) Fieber, Meningismus CCT mit KM, LP, EEG, BB, BSG

Enzephalitis (▶ 9.3.1) Fieber, Anfälle, Wesensände­ EEG, CCT mit KM, LP


rung

Hypoglykämie Kaltschweißigkeit, Unruhe, BZ, Besserung nach


Halbseitensympt. möglich Glukosezufuhr

Chron. SDH (▶ 22.2.3) Anamnestisch Trauma, schlei­ CCT mit KM


chende Persönlichkeitsverän­
derungen, Hemiparese

Postparoxysmale Läh­ Anfallsanamnese, initialer Be­ EEG


mung, fokaler wusstseinsverlust, Hemiparese
Krampfanfall (▶ 11)

Otogener Schwindel Keine fokal neurol. Ausfälle HNO-Konsil


(▶ 3.3.5)

Fokaler Krampfanfall Passagere sensible o. motori­ Herdbefund im EEG


(▶ 11.5) sche fokale Ausfälle (Todd-Pa­
rese, Jackson-Anfall)

Migräne mit Aura Fokal neurol. Ausfälle, ge­ Anamnese


(▶ 5.1.4) folgt von meist einseitigen
Kopfschmerzen

Synkope (▶ 11.2.1) Kurzzeitiger Bewusstseinsver­ Schellong-Test, EKG


lust, Hypertonie, Bradykardie

Psychogen Verhaltensauffälligkeiten, in Anamnese, Befund


7
sich inkonsistenter Befund

7.1.4 Vorgehen nach der Akutversorgung


Weiterführende Therapie
• Vitalfunktionen überwachen.
• Normalisierung von Wasser- u. E'lythaushalt: Bilanzieren! Cave: Bei Na+
< 110 mmol/l langsame Normalisierung über Tage wegen Gefahr der ponti-
nen Myelinolyse (▶ 24.8.1).
• BZ-Einstellung: BZ 160–200 mg/dl → Altinsulin s. c. 2–4 IE; BZ > 200 mg/dl →
4–6 IE Altinsulin s. c.; BZ > 250 mg/dl → 6–8 IE; BZ > 300 mg/dl → 8–12 IE.
Hyperglykämie verschlechtert Prognose. Cave: Entgleisungen einer vorbeste-
henden diab. Stoffwechsellage.
• Fiebersenkung < 37,5 °C: Physikalisch, Antipyretika, Antibiose.
262 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• Ulkusprophylaxe: Bei intensivpflichtigen Pat. z. B. Pirenzepin 2 × 50 mg/d


p. o. (z. B. Gastrozepin®) o. Ranitidin 300 mg/d abends p. o. (z. B. Zantic®).
• Digitalisierung nur bei Tachyarrhythmie mit Vorhofflimmern u. klin. mani-
fester Herzinsuff. (mit Dyspnoe, Lungen- o. Knöchelödem).
• Antiepileptika: Nach Krampfanfall Diphenylhydantoin (z. B. Phenhydan®)
Schnellaufsättigung mit 750 mg Infusionskonzentrat über 4–6 h i. v., danach
250–500 mg tägl. p. o. o. i. v.
• RR-Kontrolle: Akutbehandlung (▶ 7.1.2). RR-Spitzen vermeiden; kontrollier-
te Einstellung, z. B. mit ACE-Hemmern.
• Dekubitusprophylaxe: Lagerung, physikalische Anwendungen.
• Pneumonieprophylaxe: KG, Atemtraining, Mobilisierung.
• Stuhlregulation: Laktulose 310 g/d p. o. (z. B. Bifiteral®).
• Kontraktur-, Spastikprophylaxe: Frühzeitige Reflexhemmung u. Bahnung
physiol. Reflexe, z. B. nach Vojta o. Bobath.
• Bettruhe bei Blutung.
Rehabilitation im Krankenhaus
• Frühzeitige Ther. ist entscheidend für den Endzustand.
• Venöse Zugänge auf die gesunde Seite (Behinderung der Übungsbehand-
lung).
• Reizsetzung der betroffenen Seite bei Hemiparese/-anopsie/-hypästhesie: An-
sprache, Nachtschrank, Telefon, Fernseher etc. auf paretische Seite verlagern.
• Mobilisierung:
– Alle mobilisierende Maßnahmen unter RR- u. Pulskontrolle.
– Auf aktive Mithilfe des Pat. beim Lagewechsel u. Betten achten.
– Gleichgewichtstraining, Gangschule, Feinmotorikübungen (z. B. Steck-
spiele).
• Logopädische Ther. bei Aphasien u. Sprechapraxien, fazialer Lähmung: Pat.
u. Besucher zum Reden, Lesen, Vorlesen animieren.
• Neuropsychologisches Hirnleistungstraining (Psychologe, Logopäde).
• Schreibhilfen (Computer) bei tracheotomierten Pat., ggf. Hilfsmittelversor-
gung.

Motorische Rehabilitation
7 • Traditionelle physiotherap. Techniken: Methode nach Bobath u. Voitja, pro-
priozeptive neuromuskuläre Fazilitierung; physiol. Bewegungen, Vermeidung
path. Bewegungsmuster; Fazilitationstechniken; grobe Flexor- u. Extensorsy-
nergien vor funktionellen Bewegungen.
• Moderne Erkenntnisse (Berücksichtigung der Plastizität des Gehirns): Inno-
vative Behandlungstechniken, aktives, repetitives u. aufgabenorientiertes Be-
wegungstraining, hohe Trainingsintensität haben erheblich bessere methodi-
sche Qualität.
• Anwendung nach persönlicher Überzeugung des Therapeuten.
Spezielle rehabilitative Methoden:
• Rehabilitation der oberen Extremität:
– Forcierter Gebrauch: Einsatz der paretischen Extremität wird durch Im-
mobilisierung des gesunden Arms erzwungen, „Wiedererlernen“ der Be-
nutzung des betroffenen Körperteils; Verbesserung auch noch 2 J. nach
Trainingsbeginn möglich.
– Repetitive Wdh. isolierter Bewegungen: Signifikante Verbesserungen von
Parametern der Arm-/Handfunktion u. funktionellen Skalen.
  7.2 Zerebrale Ischämie  263

– EMG-getriggerte elektrische Stimulationen: Willkürlich erzeugte Mus-


kelaktivierungen durch elektrische Stimulation, Auswirkungen auf funkti-
onelle Skalen u. Alltagserleben. Cave: Effektivität des Verfahrens bislang
nicht ausreichend belegt.
– Armfähigkeitstraining: Geeignet für Pat. mit leicht- bis mittelgradigen
Armparesen; Funktionsverbesserung auch noch 1 J. nach Trainingsbe-
ginn.
• Rehabilitation der unteren Extremität:
– Wiederholendes Gehtraining, weniger Sitz- u. Standübungen.
– Laufbandther.: Ermöglicht gurtgesichertes Üben auch nicht gehfähiger
Pat., partielle Körpergewichtsentlastung, Training der Ganggeschwindig-
keit u. Ausdauer bei Gehfähigkeit.
– Stöcke, Orthesen: Frühzeitiger Einsatz von Hilfsmitteln sinnvoll, Steige-
rung der Gangsicherheit.
– Funktionelle Elektrostimulation der Nn. peroneus o. tibialis: Korrektur
des Spitzfußes.
Rehabilitationsformen:
• Stationär: Bei notwendiger medizinischer Überwachung, schwerer Einschrän-
kung der Selbsthilfefähigkeit.
• Teilstationär: Pat. mit leichterer Einschränkung der Selbsthilfefähigkeit. Bei
mittelschwerer Einschränkung nur, wenn pflegerische Betreuung zu Hause
möglich u. Transportfähigkeit; Entfernung nicht > 45 Min.
• Geriatrie: Ältere Pat. (Alter > 70 J.), Verlust an Selbsthilfefähigkeit durch Ko-
morbidität, bei demenziellen Sy.
• Rein ambulante Ther.: Behandlung bei monofunktionellen Stör. ohne Beein-
trächtigung der Selbsthilfefähigkeit.

Prognose
• Lediglich 5 % der hemiparetischen Pat. können ihre Arme u. Beine wieder
uneingeschränkt einsetzen.
• Etwa 75 % der hemiparetischen Pat. werden wieder gehfähig, 25 % bleiben
auf den Rollstuhl angewiesen o. sind bettlägerig.
• Größtmögliche Rückbildung in den ersten 12 Wo.; Rückbildungszeit
mehrere Mon. bei mittelschweren/schweren Hemiparesen, in Einzelfällen
auch Jahre. 7
• Günstige Faktoren: Kleine, lakunäre Infarkte; rein motorische Ausfälle
(„pure motor hemiparesis“), intakte Propriozeption, gute kognitive Funk-
tion.
• Ungünstige Faktoren: Tiefensensibilitätsstör., Aphasien, Neglect.

7.2 Zerebrale Ischämie
7.2.1 Epidemiologie
• Inzidenz flüchtiger Durchblutungsstör. in D ca. 50/100.000 Einwohner/J.; In-
zidenz Hirninfarkte in D 140–200/100.000 Einwohner/J.
• 25–30 % der Pat. versterben innerhalb eines Jahres.
• Inzidenz nimmt mit Lebensalter zu; ca. 50 % der betroffenen Pat. > 70 J.
• Dritthäufigste Todesurs. mit 65.133 Todesfällen in D.
264 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• Schlaganfall häufigste Urs. dauerhafter Behinderung. M : F = 4 : 3.


• Prävalenz zerebrovask. Krankheiten wird auf 700–800/100.000 Einwohner
geschätzt.

7.2.2 Risikofaktoren
Arteriosklerotische Risikofaktoren:
• Alter, genetische Disposition (M > F), Ethnie
• Hypertonie
• Rauchen
• Hyperlipidämien, Diab. mell., Hyperhomocysteinämie
• Bewegeungsmangel
Kardiale Risikofaktoren:
• Vorhofflimmern, Vorhofmyxom, Vorhofseptumaneurysma
• KHK
• Herzklappenfehler
• Mitralklappenprolaps
• Dilatative Kardiomyopathien
• Vorhofseptumdefekt, persistierendes Foramen ovale
Sonstige Risikofaktoren:
• Thrombophilie, Gerinnungsstör., Gerinnungsstör. mit Hyperkoagulabilität,
Thrombozytenfunktionsstör.
• Art. Hypertonie (ab 140/90 mmHg, Verdopplung des Risikos mit jedem
­Anstieg um 20/10 mmHg)
• Erniedrigtes HDL-Chol.
• Hkt-Erhöhung
• Hyperurikämie
• Erhöhtes Serumfibrinogen
• Kontrazeptiva mit hohem Östrogenanteil u. postmenopausale Hormonersatzther.
• Migräne
• Erhöhter Alkoholkonsum > 60 g/d, Kokain-/Heroinkonsum

7.2.3 Primärprävention ischämischer Hirnerkrankungen


7 • Allg. Maßnahmen: Gesunder Lebensstil mit mind. 30 Min. Sport 3×/Wo.,
obst- u. gemüsereicher Kost. Gewichtsreduktion bei Adipositas, Nikotinka-
renz u. Vermeidung übermäßigen Alkoholgenusses. Vermeidung der Komb.
von Kontrazeptiva mit Nikotin. Mögliche kardiovask. Risikofaktoren wie RR,
BZ, Fettstoffwechselstör., KHK, Herzinsuff. regelmäßig kontrollieren u. bei
path. Befund behandeln.
• Art. Hypertonie: RR-Senkung mind. < 140/90 mmHg, anzustreben
< 120/80 mmHg, wobei der antihypertensiven Behandlung mit ACE-Hem-
mern o. Sartanen bes. Bedeutung zukommt.
• Diab. mell.: Strenge BZ-Einstellung mit Diät, regelmäßiger Bewegung, Anti-
diabetika u. bei Bedarf mit Insulin.
• Fettstoffwechselstör.: Konsequente Senkung einer Hypercholesterinämie mit
Statinen (z. B. Pravastatin, Atorvastatin, Simvastatin). Pat. mit KHK o. Z. n.
Herzinfarkt o. mit mehreren kardiovask. Risikofaktoren (hohes Risiko) sind
bereits bei einem LDL-Chol. > 100 mg/d mit einem Statin zu behandeln. Pat.
ohne KHK u. höchstens einem vask. Risikofaktor (geringeres Risiko) sind bei
einem LDL-Chol. > 190 mg/d mit einem Statin zu therapieren; Pat. mit einem
  7.2 Zerebrale Ischämie  265

mittleren Risiko sollten bei einem LDL-Chol. > 160 mg/d ein Statin erhalten.
Statine können möglicherweise aufgrund ihrer pleiotropen Effekte unabhän-
gig vom Ausgangswert das Risiko eines Hirninfarkts senken.
• Vorhofflimmern (VHF): Prävalenz: 15 % aller Schlaganfallpatienten u. 2–8 %
der Patienten mit TIA;
– „Lone atrial fibrillation“: VHF ohne strukturelle Herzerkr. u. ohne Risiko-
faktoren, Alter < 60 J., hoher genetischer Faktor.
– Akutes VHF:
– Paroxysmales (intermittierendes) VHF: Spontane Terminierung < 7 d
(meist < 48 h).
– Persistierendes VHF: Nicht selbstterminierend.
– Permanentes VHF: Nicht terminierbar.
• Risikostratifizierung nach Vorliegen von sonstigen Risikofaktoren mithilfe
des CHA2DS2VASc-Score (▶ Tab. 7.2, ▶ Tab. 7.3). Dient zur Bestimmung
des Schlaganfallrisikos; erlaubt Abgrenzung von Hochrisiko- u. echten Nied-
rigrisiko-Patienten.

Tab. 7.2  Berechnung des CHA2DS2VASc-Score


Risikofaktor Punkte

Herzinsuffizienz („Congestive heart failure“) 1

Hypertonie (auch behandelt) 1

Alter ≥ 75 J. 2

Diabetes mellitus 1

Schlaganfall/TIA/sonstige Embolie in der Anamnese 2

Vask. Erkr. (pAVK, Myokardinfarkt, Aortenplaques) 1

Alter 65–74 J. 1

Weibliches Geschlecht 1

Tab. 7.3  Bewertung des CHA2DS2VASc-Score


Score Punkte Schlaganfallrisiko (% pro Jahr) ohne
Antikoagulation
Primär-/Sekundärprophy­
laxe 7
0 0 ASS 100 mg/d

1 1,3 Orale Antikoagulation o.


ASS (F < 65 J. nur ASS)

2 2,2 Orale Antikoagulation

3 3,2

4 4,0

5 6,7

6 9,8

7 9,6

8 6,7

9 15,2
266 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• Thrombozytenfunktionshemmer: ASS in der Primärprävention bei M nicht


wirksam. Bei F mit vask. Risikofaktoren im Alter > 45 J. werden durch ASS
zerebrale Ischämien, nicht aber Myokardereignisse verhindert. Risikoredukti-
on gering; Nutzen u. Risiko sorgfältig gegeneinander abwägen.
• Hochgradige Abgangsstenose der ACI: OP einer asymptomatischen Karo­
tisstenose mit Stenosegrad > 60 % (NASCET) reduziert signifikant das Isch­
ämierisiko. Dies gilt aber nur, wenn die kombinierte Mortalität u. Morbidität
des Eingriffs innerhalb von 30 d < 3 % liegen. Lebenserwartung sollte > 5 J.
sein; M profitieren von OP mehr als F.

7.2.4 Einteilung ischämischer Hirnerkrankungen


Einteilung nach Zeitdauer u. Entwicklung der klinischen Symptome

Obwohl die Sympt. nur flüchtig u. vollständig reversibel sind, kann dennoch
ein ischämischer Gewebsuntergang im Sinne eines Hirninfarkts bestehen.
Deshalb gilt die klassische Differenzierung zwischen TIA u. vollendeten isch-
ämischen Schlaganfällen als überholt. Die Eingruppierung nach der Dauer
der Sympt. wird zunehmend durch die ätiologische, pathophysiologische
Einteilung ersetzt.

TIA u. PRIND (klassische, frühere Differenzierung; ICD-10 G45.0,1,9):


• TIA (transitorische ischämische Attacke): Sympt. bilden sich innerhalb von
24 h vollständig zurück.
• PRIND (prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit): Dau-
er > 24 h (keine komplette Rückbildung ≤ 24 h). Ischämischer Schlaganfall:
kleine Infarkte („minor stroke“: häufig mit kompletter Rückbildung inner-
halb von 72 h) wurden früher als PRIND bezeichnet;
• Major Stroke: Infarkte mit bleibendem relevantem Defizit (Verlust der
Selbstständigkeit).
• Progressive Stroke: Kontinuierliche o. stotternd progrediente Verschlechte-
rung der durch eine zerebrale Ischämie bedingten neurol. Defizite; Auftreten
meist in den ersten 24(–48) h.
7
40 % der Pat. mit TIA erleiden in den folgenden 5 J. einen kompletten Schlag-
anfall. Daher sind auch bei abgeklungener Sympt. eine umfassende Diagn.
notwendig u. eine gezielte Sekundärprophylaxe von wesentlicher Bedeutung.

Einteilung nach Infarktmuster in bildgebenden Verfahren


• Lakunärer Infarkt
• Territorialinfarkt
• Grenzzoneninfarkt
Einteilung nach Pathogenese
• Arterioarterieller o. kardialembolischer Infarkt, z. B. bei Makroangiopathie o.
Herzerkr. (typischerweise Territorialinfarkt, ▶ Abb. 7.1, ▶ Tab. 7.4).
• Mikroangiopathischer Infarkt, z. B. bei arteriosklerotischen Gefäßverände-
rungen o. Vaskulitiden kleiner Gefäße (typischerweise lakunärer Infarkt).
  7.2 Zerebrale Ischämie  267

• Hämodynamischer Infarkt, z. B. bei hochgradigen prox. Gefäßstenosen o.


nach globaler Zirkulationsstör. (typischerweise Grenzzoneninfarkt; ▶ Abb.
7.1).

a b c 1 4
1
3

2 1 2 1 2 5

Abb. 7.1  Schematische Darstellung unterschiedlicher Infarkttypen im CT/MRT. a,


b 1 u. 2 Territorialinfarkte:
a) 1: Große Territorialinfarkte der vorderen u. hinteren Mediaastgruppe bzw.
von Mediahauptästen (embolische Infarkte durch arterioarterielle o. kardiale
Embolien). 2: Kompletter Mediainfarkt bei Mediahauptstammverschluss
b) 1: Großer Posteriorinfarkt (kardioembolisch o. arterioarteriell embolisch).
2: Kleiner territorialer Posteriorinfarkt (häufig kardioembolisch)
c) 1 u. 2: Territorialinfarkte: 1: Großer subkortikaler Infarkt im Versorgungsge­
biet der Aa. lenticulostriatae (häufig: Mediahauptstammverschluss u. gute lepto­
meningeale Anastomosen). 2: Kleiner kortikaler Infarkt durch Mediaastver­
schluss. 3–5 Hämodynamisch bedingte Infarkte: 3: Streng subkortikaler Infarkt in
der Grenzzone zwischen oberflächlichen u. tiefen Mediaästen. 4: Streng subkor­
tikaler Infarkt im Endstromgebiet. 5: Kortikal/subkortikaler Infarkt in der Grenz­
zone Media-/Posteriorstromgebiet [L157]

Tab. 7.4  Pathogenetische Einteilung zerebraler Ischämien (▶ Abb. 7.2)


Makroangiopathie (70 %) Mikroangiopathie
(30 %)

Territorialinfarkt Hämodynamischer Lakunärer Infarkt


Infarkt
7
Bildgebung Kortikaler u. sub­ Grenzzoneninfarkt Multiple, kleine
kortikaler Infarkt zwischen zwei Ver­ (< 1,5 cm) subkortikale
durch Verschluss sorgungsgebieten Läsionen.
pialer bzw. Hirn­ o. Endstrominfarkt: Diffuse periventrikuläre
basisarterien Subkortikales o. pe­ Hypodensität, multiple
riventrikuläres lakunäre Infarkte in
Marklager Stammganglien u.
Marklager

Pathogenese Embolischer o. lo­ Hämodynamisch Vorwiegend Mikroan­


kal atherothrombo­ wirksame Stenose o. giopathie bei Arterio­
tischer o. lokal Verschluss von ACI sklerose u. Lipohyalinose
thrombotischer o. ACC mit Abfall der tiefen perforieren­
Verschluss des des Perfusions­ den Arterien der Hirnba­
Hauptstamms o. drucks (Infarkt im sisarterien meist bei
von Ästen der Bereich der „letzten langjähriger art. Hyper­
ACM, ACA o. ACP Wiese“) tonie
268 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Das Infarktmuster kann Hinweise auf die Pathogenese geben u. damit Rück-
schlüsse für eine gezielte Ther. erlauben. Die Einteilung nach der Zeitdauer
der Sympt. lässt solche Rückschlüsse nicht zu.

7.2.5 Ätiologie ischämischer Hirnerkrankungen


• Arterioarterielle Embolien: Bei arteriosklerotischer Obstruktion der Halsar-
terien, Dissektion von Halsarterien, intrakranieller Makroangiopathie; bei
Emboliequellen im Aortenbogen. Verursachen etwa 50 % aller ischämischen
Hirninfarkte. Es handelt sich um ältere, bereits organisierte Thromben, die
häufig aus den extrakraniellen, gehirnversorgenden, arteriosklerotischen Ge-
fäßen stammen. Diese Thromben sind relativ stabil u. führen zum Verschluss
eher prox. Gefäßabschnitte mit der Folge z. T. großer Territorialinfarkte
(▶ Abb. 7.2).

„Hyperdenses
Mediazeichen”
= thrombosierte
A. cerebri media
Keilförmige Hypo-
densität mit leich-
ter Raumforderung
Verschmälerung
der ipsilateralen
basalen Zysterne
(Raumforderung)

Dichteminderung
im subkortikalen
Marklager

Periventrikuläre
Dichteminderung
7
Multiple
lakunäre Infarkte

Generalisierte
Volumen-
C minderung
mit erweiterten
Sulci

Abb. 7.2 Unterschiedliche Infarktmuster im CCT. Li oben: Territorialinfarkt im


Mediastromgebiet rechts. Li unten: Mikroangiopathie mit multiplen lakunären
Infarkten der Stammganglien u. des Thalamus. Re oben: Hämodynamischer In­
farkt im Grenzgebiet ACA–ACM. Re unten: Mikroangiopathie i. S. einer Binswan­
ger-Krankheit [M139]
  7.2 Zerebrale Ischämie  269

• Kardiale Embolien: Verursachen etwa 25 % aller ischämischen Hirninfarkte.


Es handelt sich um frische, sehr fragile Gerinnsel mit Neigung zur Fragmen-
tierung. Diese verschließen typischerweise kortikale u. subkortikale Äste. Fol-
ge sind multiple subkortikale Infarkte, die häufig sek. hämorrhagisch sind.
• Mikroangiopathie: Small vessel disease (zerebrale Mikroangiopathie) im Sin-
ne einer Lipohyalinose der tiefen perforierenden Arterien der Hirnbasisarte-
rien u. der Arteriolen; verursacht etwa 20 % der zerebralen Ischämien
(▶ Abb. 7.2).
• Weniger häufig: Hämodynamisch relevante ACI-Stenosen o. ACI-Verschlüs-
se (3–5 %), Dissektion der ACI, ACC-Stenosen o. sonstige Urs., seltener der
Vertebralarterien. Folge sind als sog. hämodynamisch verursachte Infarkte
die Grenzzoneninfarkte.
• Seltene Urs.: Entzündl., z. B. Vaskulitis; hämatologisch, z. B. Polyglobulie; Ge-
fäßspasmen, z. B. bei SAB (▶ 8.3); CADASIL (▶ 7.4.4, ▶ 24.3.7); Moya-Moya-
Sy. (▶ 7.3.4); M. Fabry (▶ 19.10.8, ▶ 24.3.5).

7.2.6 Symptomatologie des supratentoriellen Hirninfarkts


Klin. Bild abhängig vom betroffenen Gefäßstromgebiet (▶  Abb.  7.3); vorderes
Stromgebiet: 85 % aller Infarkte (▶ Tab. 7.5).

Tab. 7.5  Symptome des vorderen Stromgebiets


ACM u. ACI, 70 % ACP, 10 % (ICD-10 G46.2) ACA, 5 % (ICD-
(ICD-10 G46.0) 10 G46.1)

Kontralate­ Brachiofazial betont, Komplett unter Einschluss Kontralateral,


rale Hemi­ sensomotorisch des Gesichts beim Weber- beinbetont
parese Sy. (s. u.)

Reflexe MER ↑

Sehstör. Homonyme Hemian­ Homonyme Hemianopsie


opsie; Kopf- u. Blick­ zur Gegenseite, bei bds. Lä­
wendung zum Herd sion kortikale Blindheit, ge­
u. Bewusstseinsver­ legentlich optische Halluzi­
lust weisen auf nationen; ipsilat. Okulomo­
Raumforderung hin toriusparese, auch als We­
ber-Sy.; Parinaud-Sy.
7
(▶ 3.1.3, ▶ Tab. 3.5)

Sprache Broca- o. Wernicke-


Aphasie
270 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Tab. 7.5  Symptome des vorderen Stromgebiets (Forts.)


ACM u. ACI, 70 % ACP, 10 % (ICD-10 G46.2) ACA, 5 % (ICD-
(ICD-10 G46.0) 10 G46.1)

Sonstiges Infarkt in dominanter Thalamische Stör. (Stör. der Frontalhirnsy.


Hemisphäre: Apraxie, Tiefensensibilität, schmerz­ mit Verlangsa­
Agrafie, Alexie, Akal­ hafte Hyperpathie, chorea­ mung u. Primi­
kulie tische Bewegungsunruhe, tivreflexen
Infarkt in nicht domi­ Intentionstremor „Thala­ (▶ 1.1.11) Bei
nanter Hemisphäre: mushand“: Beugung in bds. Infarkt An­
Raumorientierungs­ Grund-, Überstreckung in triebsstör. bis
stör.; Anosognosie; Interphalangealgelenken) zum akineti­
Neglect für linke schen Mutismus
Raumhälfte (▶ 4.3.3)

ACI = A. carotis interna, ACM = A. cerebri media, ACA = A. cerebri anterior, ACP =
A. cerebri posterior

7.2.7 Symptomatologie des Hirnstamminfarkts


Hinterer Hirnkreislauf
15 % aller Infarkte.
Klin. Bild:
• Abhängig vom betroffenen Gefäßareal (▶ Abb. 7.4, ▶ Abb. 7.5); richtet sich
nach topografischen Aspekten, die sich größtenteils an Hirnstammregionen
u. ihren Leitsympt. orientieren.
• Die klin. Symptomatologie von Hirnstamminfarkten weist durch die spezielle
Anatomie einige Besonderheiten auf.
– Aus den beiden Vertebralarterien entspringt die A. cerebelli post. inf.
(PICA), bevor die Vertebralarterien sich in Höhe der Medulla oblongata
zur A. basilaris vereinigen.
– Aus der A. basilaris entspringen neben kleinen Seitenästen zunächst die
A. cerebelli inf. ant. u. im weiteren Verlauf die A. cerebelli sup.; die
A. ­basilaris zweigt sich in die Aa. cerebri posteriores auf.
Typ. Sympt., die auf eine Ischämie im Hirnstammbereich hinweisen:
7 • Schwindel
• Nystagmus
• Doppelbilder
• Gekreuzte Sympt.
• Ataxie
• Pupillenstör.
• Schluckstör.
• Ausgeprägte Dysarthie
  7.2 Zerebrale Ischämie  271

Lateralansicht Rumpf Arme Frontalabschnitt

Zentralregion
Gesicht

Lippen
Mund

Broca-
Areal
Basalganglien
A. cerebri media Wernicke-Areal
Aa. centrales
a A. cerebri media

A. pericallosa Zentralregion

A. cerebri anterior

Chiasma opticum

Unterfläche Medianansicht
des Gehirns

A. basilaris

A. cerebri
posterior

c A. cerebri posterior

Abb. 7.3  a) Versorgungsgebiet der ACM in Lateralansicht u. Frontalschnitt.


b) Versorgungsgebiet der ACA von median. c) Versorgungsgebiet der ACP von
median u. als Ansicht der Gehirnunterfläche [L106]
272 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

A. communicans
posterior
A. cerebri
posterior
A. cerebelli
superior
A. basilaris

A. cerebelli
anterior inferior

A. vertebralis

A. spinalis anterior
A. cerebelli
posterior inferior

Abb. 7.4  Anatomie des hinteren Kreislaufs [L106]

Mittelhirnsyndrome
Def.: Infarkte im Bereich des Mittelhirns; Urs. (zu je etwa 25 %):
• Stenose o. Verschluss im Bereich der A. basilaris
• Kardiale Emboliequellen
• Erkr. (meist arteriosklerotische Veränderungen) der penetrierenden Äste
(small vessel disease)
Mögliche, bei Auftreten wegweisende Sympt.:
• Ipsilaterale N.-III-Parese, evtl. Blickparese (vertikal o. horizontal) nach ipsilateral
• Kontralaterale Hemiataxie
• Trochlearisparese
7 • Horner-Sy.
Mögliche zusätzliche Sy.:
• Kontralaterale Hemiparese
• Kontralaterale Hemihypästhesie
• Sehr selten: Kontralateraler Tremor (Holmes/Ruber-Tremor) u. Rigor
Ponssyndrome
Def.: Infarkte im Bereich der Pons (▶ Abb. 7.6): Urs.:
• Erkr. der Äste der A. basilaris (branch disease)
• Erkr. der penetrierenden Äste (small vessel disease)
• Stenosen im Bereich der A. basilaris o. Embolien
  7.2 Zerebrale Ischämie  273

Mesencephalon
Rr. circumferentes
longi (= A. cerebelli
superior, A. cerebri
posterior)

Rr. interpedunculares,
A. chorioidea posterior

Pons
Rr. circumferentes
longi

Rr. circumferentes
breves, Rr. para-
medianae (aus der
A. basilaris)

Medulla oblongata
A. cerebelli inferior
posterior

A. spinalis anterior,
Aa. paramedianae
(aus den Aa. verte-
brales)

lateraler Sektor medianer Sektor

Abb. 7.5  Gefäßterritorien innerhalb des Hirnstamms (Mesenzephalon, Pons, Me­


dulla oblongata) mit Berücksichtigung der lat. u. medianen Sektoren, denen auf
jeder Ebene lat. u. mediane Gefäßsy. zuzuordnen sind [L157]

Mögliche, bei Auftreten wegweisende


Sympt.:
• Blickparese nach ipsilateral
• HN-Ausfälle N. V, VI, VII, VIII
• Fazialisspasmus 7
• Kontralaterale Hemiataxie
• Horizontale Blickparese nach ipsi-
lateral
Mögliche zusätzlich Sympt.:
• Kontralaterale Hemiparese
• Kontralaterale (ggf. dissoziierte)
Hemihypästhesie
• Dysarthrie
• Nystagmus
Medulla-oblongata-Syndrome
Def.: Infarkte im Bereich der Medulla
Abb. 7.6 MRT – sagittale Schnittebe­
oblongata: Urs.: ne, T2-TSE. Alter Infarkt in den post.
• Verschluss der A. vertebralis (75 % Abschnitten des Pons. Der Infarkt ist
thrombotisch, 25 % embolisch). scharf begrenzt u. größtenteils liquor­
isointens [M139]
274 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• Dissektion im Bereich der A. vertebralis. Hier in 20 % d. F. der Abgang der
PICA mitbetroffen (PICA-Infarkt: Wallenberg-Sy.).
• Selten Medulla-oblongata-Infarkte aufgrund von Small-Vessel Disease.
Mögliche, bei Auftreten wegweisende Sympt.:
• Ipsilaterales Horner-Sy.
• HN-Ausfälle N. V, VII, IX, X, XI, XII
• Ipsilaterale Hemiataxie
• Kontralaterale dissoziierte Sensibilitätsstör.
Mögliche zusätzliche Sympt.:
• Kontralaterale Hemiparese
• Kontralaterale Hemihypästhesie
• Schwindel
• Dysarthie
• Nystagmus
• Übelkeit
Bei multiplen u./o. bilateralen Hirnstammsy. mit/ohne Kleinhirn- u./o. Pos-
teriorinfarkten immer klin. Verdacht auf ein Basilarissy.

Wichtige Hirnstammsyndrome
Bes. Symptomkonstellationen sind mit Eigennamen belegt (▶  Tab.  7.6). Deren
Kenntnisse erleichtert eine topologische Zuordnung, ist aber i. d. R. in der klin.
Routine nicht relevant.
• Wallenberg-Sy. (dorsolaterales Medulla-oblongata-Sy.):
– Urs.: Verschluss der PICA o. der distalen A. vertebralis durch Makroan-
giopathie o. kardiale Embolie.
– Klinik: Ipsilat.: Horner-Sy., Gaumensegel-, Pharynx- u. Stimmbandparese,
Trigeminusausfall, Hemiataxie, Fallneigung (Nucleus vestibularis inf.).
– Kontralat.: Dissoziierte Sensibilitätsstör.
– Allg. Sympt.: Schwindel, Erbrechen, Singultus, Kopfschmerzen.
–  Cave: Fortschreiten zur Basilaristhrombose möglich.
– Prognose: 0–2 % Mortalität in 30 d.
• Millard-Gubler-Sy. (Sy. der kaudalen Brückenhaube): Ipsilat. Parese N. VII
u. kontralat. Hemiparese mit dissoziierter Hemihypästhesie, zusätzlich ipsilat.
7 Parese N. VI.
• Nothnagel-Sy. (Vierhügel-Sy.): Ipsilat. Parese des N. III u. kontralat. He-
miataxie.
• Weber-Sy. (Sy. des Mittelhirnfußes): Ipsilat. Parese des N. III u. kontralat.
Hemiparese.

Tab. 7.6  Gekreuzte Hirnstammsyndrome (ICD-10 G46.3)


Name Symptome Lokalisation

Ipsilateral Kontralateral

Weber HN III Hemiparese Mittelhirn

Wallenberg HN V, IX, X, Hor­ Dissoziierte Emp­ Dorsolaterale


ner-Sy., Hemiataxie findungsstör. ­Medulla oblongata

Millard-Gubler HN VII Hemiparese Brücke


  7.2 Zerebrale Ischämie  275

Basilaristhrombose (ICD-10 G46.3)


Def.:
• Ausgedehnter, i. d. R. bilateraler Hirnstamminfarkt (▶ Abb. 7.7). Urs.: Akuter
kardioembolischer Verschluss der A. basilaris o. Verschluss infolge lokaler
Thrombose bei arteriosklerotischen Wandveränderungen.
• Beginn mit Hirnstammsympt. (Augenmuskelparesen, Anisokorie, Hypoglos-
susparese) u. Hemi-/Tetraparese, rasche Progredienz zur Bewusstseinsstör.
(in 50 % schon initial). Keine Aphasie.

7
Abb. 7.7  Basilaristhrombose. Li oben (vor Lyse): Art. DSA. KM-Serie über li A. ver­
tebralis. Verschluss der A. basilaris im mittleren Drittel. Die re A. vertebralis füllt
sich retrograd. Re oben (nach Lyse): Z. n. Rekanalisation mit guter Darstellbarkeit
der A. basilaris u. der Aa. posteriores. Injektion über li A. vertebralis. Unten: T2-
gewichtetes MRT nach Rekanalisation mit multiplen Infarkten: Pons, Zerebellum,
li Posterior-Stromgebiet [M139]

Die Schwere der neurol. Ausfälle u. die hohe Letalität dieses dramatischen
Krankheitsbilds bedingen die notwendige Behandlung auf einer Intensivsta-
tion.

Ätiol.:
• Anatomische Besonderheit der A. basilaris: Gefäß mit 2 Zuflüssen u. 2
Hauptabflüssen, die häufig ein- o. beidseitig über die A. communicans post.
auch von der A. carotis versorgt werden.
276 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• Bei prox. Obstruktion geringer Druckgradient mit sek. geringen Scherkräften,


sodass sich ein Gerinnungsthrombus bilden kann, der einem raschen Umbau
durch Autolyse u. Rethrombose unterliegt.
• Dieser lokale Thrombus führt abhängig von partieller Autolyse u. Rethrom-
bose zu fluktuierender Sympt.
Allg. Klinik:
• Abhängig von der Größe des ischämischen Hirnstammareals.
• V. a. während der ersten 48 h fluktuierender Verlauf; auch „stotternde“ Sym-
ptomentwicklung möglich („progressiv stroke“): Zeichen eines zunächst um-
schriebenen Hirnstamminfarkts u. sek. Progredienz.
• I. d. R. sind jedoch bei einem Basilarisverschluss große Anteile akut geschä-
digt. Klassische Sympt.:
– Akute Bewusstseinseintrübung mit Schluckstör.
– Tetraparese/-plegie
– Bilaterale Pyramidenbahnzeichen
– HN-(insbes. Pupillenfunktions-)Stör.
• Weitere Sympt.:
– Kopfschmerzen
– Schwindel
– Verwirrtheit o. Vigilanzstör.
– Einseitige Parästhesien
– Augenbewegungsstör. (internukleäre Ophthalmoplegie, Blickparesen,
Ocular Bobbing, Ptose, Nystagmus)
– Gaumensegeltremor
• Prodromi o. mögliche isolierte Sympt. (selten):
– Schwindel
– Nystagmus
– Doppelbilder
– Schluckstör. o. ausgeprägte Dysarthrie. ⅔ der Pat. weisen diese Prodromi
schon 1–4 Wo. vorher auf
Progn.: Ohne Lyse bzw. bei fehlender Rekanalisation durch Lyse Mortalität von
70–90 % (▶ Abb. 7.7).

Basilarisspitzen-(Top-of-the-basilar-)Syndrom
7 Grundlagen: Variable Gefäßsituation im Bereich der Basilarisspitze: A. basilaris
teilt sich in die Aa. cerebri posteriores, daneben entspringen Arterien zum Thala-
mus u. Mesenzephalon sowie die A. cerebelli sup.
Urs.: Embolische Genese (kardiale > prox. vertebrobasiläre Emboliequelle) häufi-
ger als die im Rahmen einer lokalen Makroangiopathie.
Klin. Bild: Bei akuten Gefäßverschlüssen im Bereich des Basilariskopfs v. a. vom
betroffenen Gefäßareal abhängig. Häufig Komb. aus Mittelhirn-, bilateralen Tha-
lamus- u. Posteriorterritorialinfarkten, überwiegend ohne Paresen.
• Mittelhirninfarkt:
– Vertikale Blickparese (nach oben, unten o. kombiniert)
– Uni- o. bilaterale Okulomotoriusparese
– Pupillen- o./u. Konvergenzstör.
• Bilateraler Thalamusinfarkt:
– Akut einsetzende Bewusstseinsstör. mit Somnolenz, Sopor o. Koma ohne
EEG-Veränderungen
– Ggf. auch symptomatische Psychose mit Agitiertheit u. Verwirrtheit
  7.2 Zerebrale Ischämie  277

• Posteriorinfarkt:
– Homonyme Hemianopsie zur Gegenseite
– Bei bilateralem Infarkt kortikale Blindheit, evtl. mit Anosognosie (Anton-
Sy.) u. visuellen Halluzinationen.

7.2.8 Symptomatologie des Kleinhirninfarkts


2–15 % aller Hirninfarkte.

Verteilung auf die Gefäßterritorien


Ca. 50 % A.-cerebelli-sup.-(SCA-)Infarkte, 40 % PICA-, < 10 % A.-cerebelli-inf.-
ant.-(AICA-)Infarkte; ca. 20 % multiterritoriale Beteiligung, oft im Rahmen einer
Basilaristhrombose mit ausgeprägten Hirnstamminfarkten.

Pathophysiologie
Meist territoriale Ischämien; Grenzzoneninfarkte kortikal nicht selten, mikroan-
giopathische Infarkte bei fehlenden perforierenden Gefäßen praktisch nicht vor-
kommend.

Ätiologie
Prox. embolisch (ca. 40–50 %), arterioarteriell (ca. 30–40 %), lokal atherothrom-
botisch (ca. 6 %), Dissekate (ca. 7 %).

Klinik
Kleinhirnsympt. manifestiert sich ipsilateral. Hauptsympt:
• Schwindel.
• Nystagmus.
• Erbrechen.
• Ataxie: Je nach betroffener Region Rumpf- (Archizerebellum), Stand- u.
Gang- o. Extremitätenataxie (Kleinhirnhemisphären).
• Kopfschmerzen (PICA).
• Horner-Sy. (AICA, PICA).
A.-cerebelli-superior-(SCA-)Syndrom
Versorgungsgebiet: Dorsolaterales Mittelhirn, Oberwurm, apikale u. lat. Teile 7
der Kleinhirnhemisphären, oberer Kleinhirnstiel.
Klinik: Bei ca. ⅔ der Pat. kombiniert mit anderen Infarkten, v. a. im Bereich der
distalen A. basilaris.
• Komplettes SCA-Versorgungsgebiet isoliert (selten):
– Ipsilateral: Hemiataxie, zerebellärer o. Intentionstremor, nur hier Horner-Sy.
– Kontralateral: Dissoziierte Sensibilitätsstör.
• Zerebelläres Versorgungsgebiet (meist nur partieller SCA-Infarkt):
– Ipsilaterale Hemiataxie.
– Dysarthrie, Rumpf-/Gangataxie.
– Schwindel.
– Übelkeit.
– Nystagmus.
– Kopfschmerzen.
278 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

A.-cerebelli-inferior anterior-(AICA-)Syndrom
Versorgungsgebiet: Rostrale Medulla, Basis der Brücke, rostrales Zerebellum
­(Flocculus, vordere Anteile der Kleinhirnhemisphären).
Klinik:
• Gesamtes Versorgungsgebiet (große Mehrzahl d. F.): Tinnitus, Schwindel,
Dysarthrie, Erbrechen.
• Ipsilateral: Horner-Sy., HN-Ausfälle V, VII u. VIII, Hemiataxie.
• Kontralateral: Dissoziierte Sensibilitätsstör.
• Fakultativ horizontale Blickparese nach ipsilat. (Flocculus), Dysphagie, ipsi-
lat. Hemiparese.
• Unterschied zum Wallenberg-Sy.: Fazialisaffektion, Taubheit, Tinnitus, mul-
timodale Trigeminusbeteiligung.

A.-cerebelli-inferior-posterior-(PICA-)Syndrom
Versorgungsgebiet: Dorsolat. Medulla oblongata, Unterwurm, basale Anteile der
Kleinhirnhemisphären.
Klinik: Im Vergleich zu SCA- u. AICA-Sy. nur selten Basilarisbeteiligung.
• Bei Beteiligung der dorsolat. Medulla oblongata (ca. 25 %): Wallenberg-Sy.,
meist in Komb. mit medialem PICA-Infarkt.
• Bei isolierter Kleinhirnbeteiligung (75 %): Gesamtes Kleinhirn-Versorgungs-
gebiet (ca. 10 %): Nystagmus (meist horizontal, zur Läsionsseite > bilateral
> zur Gegenseite, in 15 % vertikal), Schwindel, (Vermis/Vestibulozerebellum),
Stand-/Gangataxie (ipsilat. Lateropulsion), Kopfschmerzen.
• Bei isolierter Beteiligung des medialen PICA-Gebiets (ca. 60 %): Vor allem
Nystagmus u. Schwindel.
• Bei isolierter Beteiligung des lateralen PICA-Gebiets (ca. 30 %): Vor allem
Schwindel u. ipsilat. Dysmetrie.
KO: Vorwiegend in den ersten 8 h–5 d bei 5–30 % aller Kleinhirninfarkte raum-
forderndes Hirnödem mit Hirnstammkompression. Letalität ohne spezifische Be-
handlung etwa 80 %. Ischämisches Hirnödem kann innerhalb von 1–2 h eintreten,
führt infolge des festen Kompartiments unter dem Tentorium cerebelli rasch zu
lebensbedrohlichem Liquoraufstau u. Hirnstammkompression.

Jeder größere Kleinhirninfarkt (> ⅓ der Kleinhirnhemisphäre) ist ein neurol.


7 Notfall u. muss in den ersten Tagen (Tag 1–3, je nach Dynamik bis zu Tag 7)
intensivmedizinisch überwacht werden.

7.2.9 Subclavian-steal-Effekt(-Syndrom)
Def.: Stenose/Verschluss der li A. subclavia o. des re Truncus brachiocephalicus
jeweils prox. des Abgangs der A. vertebralis. In Abhängigkeit von der Schwere
dieses prox. obstruktiven Subclavia- bzw. Truncus-brachiocephalicus-Prozesses
ebenfalls in ipsilat. A.  vertebralis unterschiedlich stark ausgeprägte path. Strö-
mungsverhältnisse (Subclavian-steal-Effekt; ▶ Abb. 7.8).
  7.2 Zerebrale Ischämie  279

Steal-Effekt 0°

Steal-Effekt 1°

Steal-Effekt 2°
0

Steal-Effekt 3°
0

Abb. 7.8  Schematische Darstellung der Strompulskurven der zur Subklaviaobst­


ruktion ipsilat. A. vertebralis bei den Subclavian-steal-Effekten 0.–3. Grades unter
Ruhebedingungen (li), während Kompression einer auf suprasystolische RR-Wer­
7
te aufgeblasenen RR-Oberarmmanschette (Balken über den Dopplerableitun­
gen) u. Dekompression (Pfeil) des kollateral versorgten Oberarms. o = orthogra­
de, hirnwärts gerichtete Durchströmung; r = retrograde, armwärts gerichtete
Durchströmung [L157]

Klinik:
• Bei mittelgradiger Subklavia-Stenose an der Grenze zur hämodynamischen
Relevanz: In ipsilat. A. vertebralis syst. Entschleunigung als Zeichen eines ge-
ringgradigen Steal-Effekts.
• Bei einem Subklavia-Verschluss Strömungsumkehr in der ipsilat. A. vertebra-
lis als Zeichen eines kompletten Steal-Effekts.
• Während zusätzlicher Muskelarbeit im betroffenen Arm kann es auf dem Bo-
den einer Minderperfusion der A. basilaris zu Hirnstammsympt. (Subclavian-
steal-Sy.) kommen.
280 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Diagn.:
• Doppler-Sono (▶ 2.8).
• Provokationstests: Z. B. Nach-Unten-Ziehen der Schulter o. Adson-Manöver
(Kopfneigung nach hinten, Rotation zur Seite der Stenose u. tiefe Inspirati-
on). Dadurch „hämodynamische Zunahme“ der Stenose durch Verkleine-
rung der Skalenuslücke.

7.2.10 Diagnostik beim ischämischen Infarkt


Folgende Unters. sollten unmittelbar erfolgen:
• Basis-Laborunters.:
– BZ
– E'lyte
– Nierenwerte
– BB
– Blutgerinnung
– Ggf. Lipide
• EKG
• Pulsoxymetrie
• Zerebrale Bildgebung
CCT: Wichtigste apparative Unters.; ermöglicht sichere Abgrenzung zwischen
hämorrhagischen u. ischämischen Schlaganfällen:
• Frühzeichen: Mangelhafte Abgrenzbarkeit der Stammganglien u. der Rinden-
Mark-Grenze, verstrichene Hirnfurchen als Zeichen der Schwellung nach
3–4 h.
• Nach 6–12 h Dichteminderung (Hypodensität), später deutliche Demarkie-
rung.
• Nach 2–3 Wo. isodens („Fogging“-Phase), aber mit Schrankenstör. (Nach-
weis des Infarktareals mit KM).
• Nach 3 Mon. liquordichter Defekt.
MRT: Sensitivere Methode zur Erfassung frischer ischämischer Hirnparenchym-
läsionen (▶ Abb. 7.9). Verwendung von diffusions- u. perfusionsgewichteten Se-
quenzen. Von bes. Bedeutung bei Ischämien der hinteren Schädelgrube.
Bei ausgewählten Patienten können bereits in der Akutphase weitere Unters. not-
wendig sein (▶ Tab. 7.7):
7 • Vask. Bildgebung (Ultraschall, CTA, MRA)
• Weiterführende Laborunters.
• Rö Thorax
• LP (bei Verdacht auf SAB u. neg. Bildgebung)
• EEG (bei für epileptischen Anfälle suspektem klin. Bild)
  7.2 Zerebrale Ischämie  281

Abb. 7.9  Li oben: MRT – axiale Schnittebene, T1-TSE. Li unten: MRT – koronare
Schnittebene, FLAIR. Re unten: MRT – koronare Schnittebene, T1-TSE nach Gado­
linium i. v. 4 Wo. alter Verschluss der ACI re, im nativen T1-gewichteten Bild (li
oben) kenntlich an einem fehlenden flow-void des Gefäßes. Relativ kleines In­
farktareal: In FLAIR-Wichtung typ. kortikale, girlandenförmige Signalanhebung
der Basis des re Parietallappens mit Übergriff auf die Insula, nach Gadolinium
stellt sich zeitgerechte Schrankenstör dar
Re oben: MRT – axiale Schnittebene, T2-TSE. Alter Teilinfarkt des Mediastrangge­
biets. Schrumpfende Tendenz, mit Kortexvolumenminderung, Marklagergliose
u. Ausziehung des li Temporalhorns [M139]
282 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Tab. 7.7  Diagnostisches Vorgehen in Abhängigkeit von der vermuteten Patho­


genese
Pathogenese Diagnostik

Arterio­ Arteriosklerotischer Prozess, meist Karo­ 24-h-RR-Kontrolle, Doppler-


arterielle tisgabel u. Anfangsteil ACI Sono mit Duplex u. Bestim­
Embolien mung der Intima-Media-Dicke

Kardiale Herzrhythmusstör., v. a. absolute Ar­ EKG, Langzeit-EKG; Rö-Tho­


Embolien rhythmie mit Vorhofflimmern u. vergrö­ rax; TCD mit KM, transthora­
ßertem li Vorhof, Klappenfehler mit Ve­ kale u. transösophageale
getationen, Mitralklappenprolaps, Z. n. Echokardiografie, BSG, Blut­
Herzinfarkt, Endokarditis, künstliche kultur, ASL-Titer, zusätzlich
Herzklappen, Kardiomyopathie, offenes Protein C u. S, APC-Ratio,
Foramen ovale, iatrogen bei Angio. Bei Phospholipid-, Cardiolipin-
embolischem Infarktmuster im CCT, un­ AK
auffälliger Doppler-Sono u. einer
Herzerkr. ist auch ohne Nachweis von
kardialen Thromben eine kardiale Em­
boliequelle anzunehmen

Gefäßste­ Meist (60 %) Karotisgabel u. Anfangsteil Doppler-Sono mit Duplex,


nosen ACI, ACM, A. vertebralis. Hämodyna­ evtl. DSA bei TEA-Ind. u. V. a.
misch wirksam bei Verengung von Dissektion. Bei operablen
> 60 % des Gefäßlumens: Grenzzonen- Stenosen evtl. selektive DSA,
o. Endstrominfarkt. Symptomatisch oft MR- o. CT-Angio
erst bei Senkung des Perfusionsdrucks
(z. B. Blutverlust, akute Herzinsuff., De­
hydratation, Anämie [Hb < 11 g/dl], aber
auch nachts u. nach Mahlzeiten durch
RR-Abnahme)

Zerebrale Hyalinisierung kleiner Gefäße mit diffu­ Hypertonieabklärung, Fun­


Mikroan­ ser Demyelinisierung u. multiplen laku­ duskopie, Nierenwerte, EKG,
giopathie nären Infarkten Rö-Thorax, Oberbauch-Sono

Dissektion Meist ACI o. A. vertebralis. Häufig junge Farbduplex (Stenose); Hals-
Pat. durch Sport- o. Verkehrsunfälle, MRT bei v. a. Karotisdissektion
auch atraumatische Entstehung. Konge­ (intramurales Hämatom). Evtl.
nitale fibromuskuläre Dysplasie: Steno­ DSA zum Nachweis der Dis­
sen mit arterioarteriellen Embolien sektion u. Pseudoaneurysmen
7 Entzündl. Panarteriitis nodosa, SLE, M. Wegener, BSG, CRP, Rheumafaktor,
Gefäßver­ Takayasu-Sy., Arteriitis temporalis, ANCA, ANA, AMA, Anti-
änderun­ Moya-Moya-Krankheit, Lues cerebro­ DNA-AK u. Protein-
gen spinalis (▶ 9.3.7) E'phorese. Biopsie der
A. temporalis, DSA: Gefäßab­
brüche, TPHA-Test, LP. Cave:
Bei lokaler Beschränkung auf
Gehirngefäße systemische
Entzündungsparameter nor­
mal u. Diagn. nur durch Hirn­
biopsie möglich (häufig un­
spezifische Befunde, daher
nur bei hochgradigem Ver­
dacht u. therap. Relevanz)

Hämato­ Koagulationsstör, Leukämien, Hypervis­ Quick, PTT, Diff.-BB, Hkt,


logische kositätssy. (Polyzythämie, Sichelzellan­ AT III, Protein-E'phorese,
Erkr. ämie), Hypergammaglobulinämie, AT-III- Protein C u. S, Antiphospho­
Mangel lipid-AK, Anti-Cardiolipin-
AK, APC-Ratio
  7.2 Zerebrale Ischämie  283

7.2.11 Akuttherapie des ischämischen Hirninfarkts


Basistherapie
Der neurol. Status ist regelmäßig zu kontrollieren, die Vitalfunktionen kontinu-
ierlich zu monitoren.

Behandlung allgemeinmedizinischer Parameter


• Respiratorische Funktion u. Atemwegshygiene (Oxygenierung); bei Gefahr
von Aspirationspneumonie frühe endotracheale Intubation.
• Kardiale Behandlung: Optimierung der kardialen Auswurfleistung; zentraler
Venendruck bei 8–10 cmH2O; bei Herzrhythmusstör. in Zusammenarbeit
mit Kardiologen früh Normorhythmie anstreben.
• Körpertemperatur: Initial stündlich, im weiteren klin. Verlauf alle 6 h messen;
ungünstige Auswirkungen bei Körpertemperatur > 37,5 °C. Behandlung mit
physikalischen Maßnahmen: leichtere Decke o. Abdecken, evtl. Wadenwi-
ckel, z. B. Paracetamol. Infektsuche u. -behandlung, Ind. zur Antibiose früh
stellen.
• Kein Einsatz von Nifedipin, Nimodipin; keine Maßnahmen, die zu einem
dramatischen RR-Abfall führen.
• Vermeidung bzw. Behandlung einer art. Hypotonie (Gabe von Flüssigkeit
u./o. Katecholaminen außer Dopamin).
• Kontrolle des Elektrolytstatus ggf. Ausgleich.
Glukosestoffwechsel
Pragmatisches Vorgehen bei Hyperglykämie
• Altinsulin-Perfusor: 50 IE Altinsulin/50 ml NaCl 0,9 % (1 IE Altinsulin/
ml). Anwendung, wenn mehr als 6 Bolusgaben/d notwendig; dann Perfu-
sor mit 2–4 IE/h = 2–4 ml/h, Dosiskorrektur anhand 1–2-stdl. BZ-Kont-
rollen, Perfusorstopp bei Serumglukose von 100 mg%.
• Altinsulinschema für s. c.-Gabe nach 1- bis 2-stdl. BZ-Kontrollen: BZ
> 300 mg%: 8–12 IE Altinsulin s. c., BZ > 250 mg%: 6–8 IE Altinsulin s. c.,
BZ > 200 mg%: 4–6 IE Altinsulin s. c., BZ > 150 mg%: Kontrolle, 2–4 IE
Altinsulin s. c.
Pragmatisches Vorgehen bei Hypoglykämie
• Bei wachen Pat. 2 Stück Traubenzucker, dann 2 Scheiben Brot (2 BE). 7
• Bei Bewusstseinsminderung, Koma o. Schluckstör.: 20 ml Glukose 20 %
i. v., dann Infusion von Glukose 10 % u. engmaschige BZ-Kontrolle.
• Elektrolytstatus 1×/d kontrollieren u. ausgleichen; i. v. Zugang zur regel-
mäßigen Kontrolle u. ggf. Ausgleich.

Blutdruckeinstellung
Ind.: In den ersten 24 h keine generelle RR-Senkung, hypertone Werte bilden sich
meist innerhalb 12 h zurück. Der Ziel-RR bei Pat. mit Hypertonie vor dem Ereig-
nis ist 180/100 mmHg, bei anderen Pat. 160–180/90–100 mmHg. Ausnahmen:
• Konstanter syst. Druck > 220 mmHg u./o. diast. Wert > 120–140 mmHg:
Langsam um max. 20 % senken.
• Vor u. während Thrombolyse sollten die Werte ≤ 185/110 mmHg betragen.
• Einblutungen in das Infarktgebiet.
• Hypertensive Enzephalopathie.
284 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• KHK u. Angina pectoris.


• Hochgradige Herzinsuff., Aortenaneurysma.
Durchführung:
• Urapidil (Ebrantil®) initial 15–25 mg langsam i. v. unter RR-Kontrolle. Wenn
keine ausreichende Wirkung nach 10 Min. nochmals 25 mg, evtl. anschlie-
ßend als Infusion mit 4–8 mg/h.
• Alternative: Clonidin (Catapresan®) 0,15 mg i. v. o. s. c., bei Bedarf nach
30 Min. 0,15–0,3 mg i. v. o. Perfusor 9 μg/ml, 1–5 ml/h.
• Bei hämodynamischen Infarkten u. Hypotonie: Anhebung des RR mit Plas-
maexpandern unter ZVD-Kontrolle. Ggf. auch Katecholamine auf Intensiv-
station.

Thromboseprophylaxe
Aktive Bewegungsübungen der nichtparetischen Seite unter Einbeziehung der pa-
retischen Seite (Erlernen von Stützfunktionen), Thrombosestrümpfe, frühzeitige
Mobilisierung.
Low-dose-Heparinisierung:
• Ind.: Immobilisation, auch bei hämorrhagisch transformierten Infarkten.
• Durchführung: Unfraktioniertes Heparin 3 × 5.000 E o. 2 × 7.500 IE tgl. s. c.
(z. B. Liquemin®) o. niedermolekulares Heparin, z. B. Nadroparin-Kalzium
0,3 ml/d s. c. (Fraxiparin®).

Vorbeugung u. Behandlung von Komplikationen


• Aspirationspneumonie:
– Bewusstseinsstör., fehlende Schutzreflexe u. Schluckstör. als Urs.
– Rasche u. gezielte antibiotische Ther. notwendig. Versorgung über Nasen-
sonde.
• Harnwegsinfekte:
– Induziert durch die Verwendung von Transurethralkathetern.
– Suprapubischen Katheter anlegen, Urin ansäuern.
• Lungenembolien u. tiefe Beinvenenthrombosen: Risikominimierung durch
frühe Mobilisierung sowie s. c. Heparinbehandlung. Cave: Gefahr intrakrani-
eller Blutungen; tgl. Inspektion der unteren Extremitäten, Kompressions-
strümpfe.
7 • Dekubitalgeschwüre: Ggf. luft- o. flüssigkeitsgefüllte Matratzensysteme.
• Krampfanfälle: Lorazepam 1–2 mg i. v. (z. B. Tavor®), Clonazepam 2 mg i. v.
(z. B. Rivotril®) o. Diazepam 10–20 mg rektal (z. B. Diazepam Desitin®), ge-
folgt von Valproinsäure i. v. o. Phenytoin i. v.

Frühe Rehabilitationsbehandlung
Am Tag nach Aufnahme beginnen: KG, Logopädie inkl. Schluckdiagn. (Endosko-
pie des Schluckakts) u. Ergother.
• KG: Atemgymnastik, Pneumonieprophylaxe, Transfer Sitzbalance → Transfer
→ Stehen → Gehen üben; im Alltag bes. wichtige Bewegungsabläufe zuerst
üben; Anleitung zu Selbstübungen; Prophylaxe von Kontrakturen u. Fehlstel-
lungen.
• Logopädie: In der Akutphase Ther. von Schluckstör. vorrangig, Ther. von
Dysarthrie u. Aphasie.
• Ergother.: Bereits in der Frühphase Üben alltäglicher Verrichtungen; Ge-
brauch persönlicher Hilfsmittel trainieren; Notwendigkeit neuer Hilfsmittel
feststellen u. deren Einsatz in die Wege leiten.
  7.2 Zerebrale Ischämie  285

Vasodilatatoren (Kalziumantagonisten, Nitroprussidnatrium, Hydralazin)


wegen der Gefahr einer ICP-Erhöhung kontraindiziert!

Rekanalisierende Therapie: Thrombolyse


Die i. v. Behandlung mit rt-PA (recombinant tissue plasminogen activator) wird
innerhalb eines 4,5-h-Fensters nach Ausschluss einer Hirnblutung mittels Bildge-
bung an in dieser Ther. erfahrenen Zentren empfohlen.
Systemische Thrombolyse mit rtPA:
• Einschlusskriterien für systemische Thrombolyse:
– Diagnose ischämischer Schlaganfall mit signifikanten neurol. Sympt. (un-
tere Grenze NIH-Stroke-Score ca. ≥ 4 Punkte).
– Alter > 18 J., obere Altersgrenze existiert nicht. Im Einzelfall insbes. bei
Pat. > 80 J. sollte das biologische Alter zur Entscheidungsfindung heran-
gezogen werden.
– Ther.-Beginn innerhalb 4,5 h nach Symptombeginn.
– Intrakranielle Blutung durch Bildgebung muss ausgeschlossen sein.
• Nutzen/Risiko kann gemindert sein bei:
– Vorliegen von Herzinsuff., Herzinfarkt, Angina pectoris, Vorhofflimmern,
– Diabetes mit hohen Glukosewerten,
– hohem Alter.
• Ausschlusskriterien für systemische Thrombolyse:
– Geringes neurol. Defizit (NIHSS < 4) o. rapide Besserung
– Schwere Sympt. (NIHSS > 25) o. ausgedehnte Infarktfrühzeichen
– Ischämischer Insult in den letzten 3 Mon.
– Sympt., die eine SAB nahe legen, auch bei neg. CCT
– Heparingabe in den vergangenen 48 h u. PTT im oberen Grenzbereich
– Blutglukose < 50 o. > 400 mg/dl
– Antikoagulation
– Thrombozyten < 100.000/μl
– Neoplasma, Leberversagen, Leberzirrhose, Ösophagusvarizen, akute Pan-
kreatitis
– Z. n. Herzmassage, Entbindung, Punktion eines nicht komprimierbaren
Gefäßes in letzten 10 d
– Nicht kontrollierbare Hypertonie > 185/110 mmHg 7
– Blutung, gastrointestinale Ulzera, schwere OP, Trauma in den letzten
3 Mon.
– Endokarditis, Perikarditis, schwere Hepatitis, septische Embolie
– Krampfanfall zu Beginn des Schlaganfalls
• Durchführung: 0,9 mg/kg KG, Maximum 90 mg, 10 % der Gesamtdosis als
Bolus, die restlichen 90 % im Anschluss als Infusion über 60 Min.
Lokale intraarterielle Lyse:
• Technisches Vorgehen: nach diagn. Angiografie Platzierung eines großlumi-
gen Katheters in der A. vertebralis bzw. A. carotis, koaxial Sondierung des
verschlossenen Gefäßes, lokale Appl. des Fibrinolytikums in u. prox. des
Thrombus, max. Dosis entsprechend i. v.-Appl. (rtPA 0,9 mg/kg KG; Uroki-
nase max. 1.000.000 IE)
• Einschlusskriterien für intraart. Lyse (nach Proact II):
– Alter 18–85 J., klin. ACM-Ischämie
– NIHSS 2–30 o. Aphasie o. Hemianopsie
286 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

– Angiografisch Verschluss von M1 o. M2 der ACM


– Zeitfenster bei Behandlungsbeginn ≤ 6 h
• Ausschlusskriterien für intraart. Lyse (nach Proact II):
– Schlaganfall in den letzten 6 Wo.
– INR > 1,7, PTT > × 1,5 verlängert, Thrombozyten < 100.000/μl
– Hypodensität im CCT > ⅓ des Mediaterritoriums (ECASS-II-Kriterien)
– Plus Ausschlusskriterien der systemischen Thrombolyse
• Akute Basilarisverschlüsse sollten in darauf spezialisierten Zentren mit intra-
arterieller Appl. von Urokinase, rt-PA o. mechanischer Rekanalisation behan-
delt werden.
• Steht kein Neuroradiologe zur Verfügung, kann der Versuch einer systemi-
schen Basilarislyse auch jenseits des 3-h-Zeitfensters erfolgen.
• Die Ind.-Stellung zur interventionellen Basilarislyse ist weiter gefasst u. häufig
die Ultima Ratio bei ansonsten infauster Prognose. Bei fluktuierendem Be-
ginn kann das Zeitfenster bis zu 12 h betragen.

Bei Basilaristhrombose
Lokale intraarterielle Thrombolyse über angiografischen Katheter z. B. max.
1,5 Mio. IE Urokinase über 90 Min. unter halbstündlicher angiografischer
Kontrolle, Beendigung der Lyse, sobald Rekanalisation erreicht ist.

„Vollheparinisierung“
PTT-wirksame Heparinther. (Erhöhung auf das 1,5–2-Fache des Ausgangswerts).
Die PTT-wirksame Vollheparinisierung wurde früher häufig bei Pat. mit kardialer
Emboliequelle, v. a. absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern, angewandt. Mögli-
che pos. Effekte können aber z. B. durch eine erhöhte Rate an hämorrhagischen
KO ausgeglichen werden. Die Antikoagulation mit Heparin in der Frühphase des
ischämischen Insults wurde in mehreren klin. Studien überprüft. In keiner Studie
konnte ein pos. Unterschied etwa im Vergleich zu ASS belegt werden. Selbst bei
Pat. mit Vorhofflimmern ist der Nutzen einer PTT-wirksamen Vollheparinisie-
rung in der Akutphase eines Insults nicht erwiesen.
Mögliche Ind. für eine PTT-wirksame Heparingabe:
• Progressive Stroke
• Hochrisikopat. mit intrakardialen u. intraluminalen Thromben
7 • Basilaristhrombose
• Dissektionen der hirnversorgenden Arterien
• Koagulopathien (AT-III-, Protein-C-, -S-Mangel, u. a.)
• Hirnvenenthrombose, SVT
KI:
• Biologisches Lebensalter deutlich > 80 J.
• Intrazerebrale Blutung, ausgedehnte mikroangiopathische Marklagerverän-
derungen in der Bildgebung, hämorrhagische Diathese.
• Schlecht einstellbare, therapieresistente Hypertonie (> 185/110 mmHg).
• Floride Endokarditis.
• Z.n. o. V. a. heparininduzierte Thrombozytopenie Typ II.
• Magen-, Darmulzera, Nieren-, Harnleitersteine.
• Große, ausgedehnte Infarkte, insbes. im Versorgungsgebiet der ACM.
Durchführung:
• Intravenös: Unfraktioniertes Heparin initial 5.000 IE als Bolus (z. B. Lique-
min®) gefolgt von Dauerinfusion (15–20 IE/kg KG/h). Laborkontrolle von
  7.2 Zerebrale Ischämie  287

PTT u. Thrombinzeit nach 4–6 h zur Dosisanpassung mit dem Ziel der
2–2,5-fachen Erhöhung der initialen PTT, danach Kontrolle 1–2× tgl. Gestei-
gerter Heparinbedarf bei Langzeitgabe.
• Subkutan:
– Unfraktioniertes Heparin 2 × (12.500–)17.500 IE/d (z. B. Liquemin®) mit
Dosisanpassung entsprechend der PTT (Laborkontrolle nach 6 h) o. mit
niedermolekularem Heparin, z. B. Nadroparin-Kalzium (z. B. Fraxipa-
rin®), 2×/d (alle 12 h) s. c. mit Dosisanpassung entsprechend dem KG des
Pat.
– Nach 7–14 d überlappender Übergang zu oraler Antikoagulation (Kuma-
rine, wie Phenprocoumon). Ind. ▶ 7.2.12.

Spezielle Therapie bei großen raumfordernden Infarkten – maligner


Mediainfarkt und ausgedehnte zerebelläre Infarkte

Ausgedehnte, raumfordernde Mediainfarkte v. a. bei jüngeren Pat. (weniger


Reserveräume infolge geringer Hirnatrophie) mit Mediahauptstammver-
schluss o. distalem Verschluss der ACI, bei dem es infolge des zunehmenden
Hirnödems zur Mittelhirneinklemmung kommt, stellen eine akut lebensbe-
drohliche, mit konservativen Maßnahmen nicht zu beherrschende Notfallsi-
tuation dar.

• Maximum des zytotoxischen Infarktödems meist in den ersten 2–5 d.


• Operative Dekompression evidentes Ther.-Konzept; Letalität ohne Dekom-
pression ca. 80 %.

Die Dekompressionsbehandlung ist nicht nur eine lebensverlängernde Maß-


nahme, sondern kann den Überlebenden trotz residualer neurol. Sympt. oft
ein weitgehend unabhängiges Leben ermöglichen.

• Dekompression frühzeitig durchführen (< 48 h, besser < 24 h nach Symptom-


beginn).
• Subokzipitale Dekompression u. externe Ventrikeldrainage werden bei raum-
fordernden zerebellären Infarkten mit drohender Hirnstammkompression 7
empfohlen.
Ind.-Stellung zur dekompressiven Hemikraniektomie:
• Klin. Zeichen des Hirndrucks bestehend o. zu erwarten.
• In der Bildgebung Hinweise für Entwicklung eines großen, evtl. malignen
Mediainfarkts.
• Alter ≤ 60 J.
• Gerinnungsstatus normal.
• Keine Erkr., die die Lebenserwartung wesentlich einschränken.
• Ind. frühzeitig stellen, bevor Hirnstammkompressionszeichen auftreten.
• Bei Infarzierung der dominanten Seite u. ausgeprägter Aphasie bes. ethische
Abwägung erforderlich.

Frühe Sekundärprophylaxe
• ASS (100 mg/d) wird in der Frühphase nach zerebraler Ischämie empfohlen.
• Andere Thrombozytenaggregationshemmer sollten nicht generell zur frühen
Sekundärprophylaxe eingesetzt werden.
288 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

7.2.12 Sekundärprophylaxe
Die Art der Sekundärprophylaxe ist i. S. einer Risikostratifizierung abhängig von
der Infarkturs. (▶ Abb. 7.10).

Kardiale Embolien
25%

Plaqueruptur Hämodynamisch
1–2% Orale 2–3%
Antikoagulation

TFH TEA

Sekundärprävention
Risikostratifizierung

TFH Antihypertensiva

Arterio-arterielle Embolien Lakunäre Infarkte


50–60% 20%

Abb. 7.10  Art der Sekundärprophylaxe ist i. S. einer Risikostratifizierung von der
Infarktursache abhängig [L157]

Behandlung der Risikofaktoren


• Die konsequente Behandlung einer art. Hypotonie u. eines Diab. mell. redu-
ziert das Schlaganfallrisiko.
• Bei Pat. mit fokaler zerebraler Ischämie u. KHK sollten unabhängig vom Aus-
gangswert des LDL-Chol. Statine (z. B. Simvastatin, Pravastin o. Atorvastatin)
eingesetzt werden. Zielwerte für LDL-Chol.: Zwischen 70 u. 100 mg/dl.
• Bei Pat. mit zerebraler Ischämie ohne KHK mit LDL-Chol.-Werten zwischen
100 u. 190 mg/dl sind 80 mg Atorvastatin/d zur Reduktion eines Rezidivs u.
der kardiovask. Morbidität wirksam. Wahrscheinlich ist aber die Senkung des
7 LDL-Chol. wichtiger als der Einsatz eines bestimmten Statins. Darüber hin-
aus kommen den sog. pleiotropen Effekten der Statine (z. B. antiinflammato-
risch, plaquesstabilisierend [protektive Effekte auf Endothelien], vasodilato-
risch u. blutdrucksenkend) eine bes. Bedeutung zu. Es wird deshalb empfoh-
len, den LDL-Chol.-Wert mit einem Statin auf < 100 mg/dl zu senken. Der
Nutzen dieser Behandlung ist am deutlichsten, wenn eine Reduktion des
Ausgangs-LDL-Chol.-Werts von ≥ 50 % erreicht wird.
• Die Behandlung einer Hyperhomocysteinämie mit Vit. B6, B12, Folsäure u. ei-
ner Hormonsubstitution nach der Menopause ist in der Sekundärprävention
nicht wirksam.

Thrombozytenfunktionshemmung
Ind.:
• Arterioarterielle Embolien, Small-Vessel Disease.
• Es stehen drei verschiedene Thrombozytenfunktionshemmer mit unter-
schiedlichen Wirkprinzipien zur Verfügung.
  7.2 Zerebrale Ischämie  289

Acetylsalicylsäure (ASS):
• Prinzip: Hemmt die Zyklooxygenase (COX) u. dadurch die Bildung von
Thromboxan (TXA2) aus Arachidonsäure (AA).
• Wirkung: Mäßige, aber signifikante Reduktion von zerebralen Ischämien,
Myokardinfarkten, vask. Tod.
• Ind.: Standardther. bei Berücksichtigung der Kosten-Nutzen-Relation!
• Dos.: 1 × 100 mg/d (z. B. ASS protect®).
• NW: Schwere NW, z. B. GIT-Blutungen, treten dosisabhängig auf. ASS
> 150 mg: Erhöhtes Risiko von Blutungs-KO.
Clopidogrel:
• Prinzip: Blockade der ADP-abhängigen Aktivierung des Glykoproteinrezep-
tors IIb/IIIa; dadurch Verhinderung der Fibrinogenbrückenbildung. Hem-
mung der ADP-induzierten Freisetzung aggregationsfördernder Substanzen
(ADP, Kalzium, Serotonin, Fibrinogen, Thrombospondin).
• Wirkung: Signifikante Überlegenheit gegenüber ASS in der Reduktion von
zerebralen Ischämien, Myokardinfarkten, vask. Tod.
• Dos.: 1 × 75 mg/d (z. B. Plavix®).
Dipyridamol:
• Prinzip: Hemmt die Phosphodiesterasen der Plättchen, die das zyklische
Guanosinmonophosphat (cGMP) u. das zyklische Adenosinmonophosphat
(cAMP) abbauen → Erhöhung des intrazellulären cAMP.
• Wirkung: Signifikant höhere Wirksamkeit gegenüber einer ASS-Monother.
in der Reduktion von zerebralen Ischämien.
• Dos.: Komb. von ASS 2 × 25 mg u. Dipyridamol retard 2 × 200 mg/d (Aggrenox®).
Wahl des Thrombozytenfunktionshemmers (THF)
Sinnvoll erscheint die Risikostratifizierung für Reereignis u. Wirksamkeit bei der
Wahl, welcher der Thrombozytenfunktionshemmer zur Sekundärprävention im
Einzelfall einzusetzen ist (▶  Tab.  7.8). Der direkte Vergleich Clopidogrel vs.
Aggrenox® (PROFESS-Studie) erbrachte, dass die Komb. von retardiertem Dipyr­
amidol u. ASS in der Sekundärprävention genauso wirksam ist wie eine Mono-
ther. mit Clopidogel.

Tab. 7.8  Risikostratifizierung: Wahl des TFH durch Orientierung am Rezidiv­


risiko
7
Risikofaktoren Punkte

Alter < 65 J. 0

65–75 J. 1

> 75 J. 2

Art. Hypertonie 1

Diab. mell. 1

Myokardinfarkt 1

Andere kardiovask. Ereignisse (außer Myokardinfarkt u. Vorhofflimmern) 1

pAVK 1

Raucher 1

Zusätzliche TIA o. Infarkt zum qualifizierenden Ereignis 1


290 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Tab. 7.8  Risikostratifizierung: Wahl des TFH durch Orientierung am Rezidiv­


risiko (Forts.)
Risiko-Score Jährliches
Rezidiv­
risiko

0 Punkte 1 %

1 Punkt 2 %

2 Punkte 3 %

3 Punkte 5 %

4 Punkte 6 %

5 Punkte 7 %

6 Punkte 10 %

Ab 7 Punkte > 10 %

Anhand der Risikostratifizierung ergibt sich folgende Empfehlung für Pat. mit ze-
rebraler Ischämie ohne kardiale Emboliequelle o. nachgewiesener hochgradiger
Stenose im Bereich der hirnversorgenden Arterien:
• Bei Pat. mit geringem Rezidivrisiko (< 4 %/J.) ASS 100 mg.
• Bei Pat. mit hohem Rezidivrisiko (> 4 %/J.) Clopidogrel 1 × 75 mg/d o. 2×/d
die fixe Komb. aus 25 mg ASS plus 200 mg retardiertem Dipyridamol
(Aggrenox®).
• Bei Pat. mit hohem Rezidivrisiko (> 4 %/J.) u. zusätzlicher pAVK Clopidogrel
75 mg.
• Bei Pat. mit KI gegen o. Unverträglichkeit von ASS Clopidogrel 75 mg.
• Kommt es unter ASS zu einem erneuten ischämischen Ereignis, sollten Pa-
thophysiologie u. Rezidivrisiko erneut evaluiert werden. Ergibt sich eine kar-
diale Emboliequelle, erfolgt eine orale Antikoagulation. Wenn sich das Rezi-
divrisiko erhöht hat, erfolgt eine Umstellung auf Clopidogrel o. auf ASS in
Komb. mit retardiertem Dipyridamol.
7 • Pat. mit einer akuten fokalen zerebralen Ischämie u. gleichzeitigem akutem Ko-
ronarsy. sollten mit der Komb. von 75 mg Clopidogrel u. 100 mg ASS über einen
Zeitraum von 3 Mon. behandelt werden, danach Monother. mit Clopidogrel.

Orale Antikoagulation mit Kumarinderivaten


• Vit.-K-Antagonisten (VKA):
– Wirkmechanismus: Hemmung der Synthese der Faktoren II, VII u. X so-
wie von Protein C u. S.
– Substanzen: Phenprocoumon (Marcumar®, Falithrom® Tbl. 3 mg), HWZ
150 h. Warfarin (Coumadin®, Tbl. 5 mg), HWZ 35–45 h.
• Dos. nach Ziel-INR:
– Kardiale Emboliequellen mit höherem Risiko (Ziel-INR 2,5–3,5): Mecha-
nischer Herzklappenersatz, Mitralstenose mit Vorhofflimmern, akuter
Vorderwandinfarkt.
  7.2 Zerebrale Ischämie  291

– Kardiale Emboliequellen mit mittlerem o. geringem Risiko (Ziel-INR


2–3): Vorhofflimmern ohne weitere kardiovask. Erkr., Herzwandaneurys-
men, chron. Phase nach Myokardinfarkt, dilatative Kardiomyopathie, of-
fenes Foramen ovale mit Vorhofseptumaneurysma, Mitralklappenprolaps,
Mitralringverkalkung. Bei Pat. mit biologischer Klappe wird eine tempo-
räre Antikoagulation für 3 Mon. empfohlen.
– Dissektionen: Ziel-INR 2–3. Antikoagulation für ca. 6 Mon.
– Koagulopathien/Thrombophiliefaktoren (homozygote Faktor-V-Leiden-
Mutation, Protein-C, -S- o. Antithrombinmangel): Ziel-INR 2–3.
– Bei Patienten > 75 J. bzw. mit höherem Blutungsrisiko Einstellung auf
INR 2,0–2,5 sinnvoll.
• Durchführung: Beginn nach TIA sofort, bei kleinem Infarkt nach 5 d, mittel-
großer Infarkt nach ca. 10–14 d, großer Infarkt (≥ 50 % Mediastromgebiet)
nach 3 Wo.
KI: Hämorrhagische Diathese, intrazerebrale Blutung, ausgedehnte Leukenze-
phalopathie, therapieresistente Hypertonie (> 160/105 mmHg), ausgedehnter In-
farkt in der Akutphase, floride Endokarditis, schwere diabet. Retinopathie, kaver-
nöse Lungen-Tbc, Schwangerschaft, GIT-Ulzera, Sturzgefahr, Krampfanfälle,
mangelhafte Compliance.
• Blutungsrisiko bei VKA:
– Bei INR < 3: intrazerebrale Blutungen 0,2 %/J. (ca. doppelt so häufig wie
bei ASS); größere extrazerebrale Blutungen: Risiko tendenziell (ca. 30 %),
aber nichtsignifikant erhöht gegenüber ASS 325 mg; kleinere extrazerebra-
le Blutungen (Haut, Muskel, Zahnfleisch, stillbares Nasenbluten) ca. 1,5-
mal häufiger als unter ASS.
– Bei INR > 3: intrazerebrale Blutungen 0,4 %/J., größere extrazerebrale Blu-
tungen 1,2 %/J. vs. 0,7 %/J. in der Placebogruppe; kleinere extrazerebrale
Blutungen 8 %/J. vs. 4 %/J. in der Placebogruppe; kumulativ 20 % Blutun-
gen in den ersten 5 J.
– Abschätzung des Blutungsrisikos bei Vorhofflimmern mit dem
HAS-BLED-Score (▶ Tab. 7.9): berücksichtigt nicht das Vorliegen einer
zerebralen Mikroangiopathie; ist für die neuen oralen Antikoagulanzien
nicht validiert.

Tab. 7.9  HAS-BLED-Score


7
Risikofaktor Punkte

Hypertonie (syst. RR >160 mmHg) 1

Abnormale Nieren- o./u. Leberfunktion 1 o. 2

Schlaganfall in der Vorgeschichte 1

Blutung in der Vorgeschichte o. Prädisposition (Thrombopenie etc.) 1

Labiler INR (< 60 % im Zielbereich) 1

Erhöhtes Alter 1

Drogen o./u. Alkohol 1 o. 2

Bewertung: Werte von ≥ 3: hohes Risiko für schwere Blutungsereignisse (3 Punkte:
3,7 %/J., 4 Punkte: 8,7 %/J.)
292 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Orale Antikoagulation mit den „neuen oralen Antikoagulanzien“


Differenzialind. bei Vorhofflimmern:
• Neue Antikoagulanzien sind den VKA im Mittel überlegen bzgl. Blutungsrisi-
ko (v. a. ICB-Risiko), weniger bis nicht bzgl. Reduktion embolischer Ereignis-
se. Nachteil derzeit: Fehlende Routineoption zur Gerinnungsdiagn., teils feh-
lende Antagonisierbarkeit (Dabigatran) u. somit erschwerte Ther. bei Blutun-
gen o. Lyseind. bei zerebraler Ischämie.
• Keine Notwendigkeit einer regelmäßigen Gerinnungskontrolle; keine allg.
anerkannten Routinetests.
• Klin. Aussagekraft der Gerinnungstests nicht gut validiert; Nierenwerte sollten
mind. 1×/J., bei Krea-Clearance < 50 ml/Min. 2–3×/J. bestimmt werden.
Mögliche Ind. zur Einstellung auf neue Antikoagulanzien:
• Stark schwankende INR-Werte mit Zielbereich < 60 % der Werte (mit o. ohne
ischämisches Ereignis).
• Annahme eines erhöhten zerebralen Blutungsrisikos unter Antikoagulation
(relevante Mikroangiopathie, mehrere Mikroblutungen, Zustand nach ICB
unter VKA).
Päparate:
• Dabigatran (Pradaxa®):
– Oraler Thrombininhibitor (univalente kompetitive direkte Inhibition von
freiem u. thrombusgebundenem Thrombin).
– HWZ 13 h, bei reduzierter Krea-Clearance länger, Elimination 80 % renal.
– Zulassung für Vorhofflimmern zur Primärprophylaxe (CHADS-Score ≥ 1
o. sonstige Risikofaktoren) u. Sekundärprophylaxe nach TIA/Stroke.
– Standarddosierung: 2×150 mg/d p. o., max. Wirkung nach 2 h. Reduzierte
Dos.: 2×110 mg/d p. o. bei Alter ≥ 80 J., Komedikation mit Verapamil
(evtl. auch Amiodaron), Alter 75–80 J. mit geringem thromboemboli-
schen Risiko u. hohem Blutungsrisiko, Gastritis, Ösophagitis, gastroöso-
phagealer Reflux, Krea-Clearance 30–50 ml/Min., allg. als hoch eingestuf-
tes Blutungsrisiko (→ HAS-BLED-Score), geringes Körpergewicht.
• Rivaroxaban (Xarelto®):
– Oraler Faktor-Xa-Inhibitor („Xaban“);
– HWZ 5–13 h je nach Lebensalter, nur geringer Einfluss von Körperge-
wicht auf Plasmakonzentration, Elimination 67 % renal.
– Zulassung für Vorhofflimmern in Primärprophylaxe (CHADS-Score ≥ 1
7 o. sonstige Risikofaktoren) u. Sekundärprophylaxe.
– Standarddosierung: 1×20 mg/d p. o., max. Wirkung nach 2–4 h. Reduzier-
te Dos.: 1×15 mg/d p. o. bei Krea-Clearance 30–49 ml/Min.; bei 15–29 ml/
Min. erhöhte Spiegel, vorsichtige, aber noch mögliche Anwendung.
• Apixaban (Eliquis®):
– Oraler Faktor-Xa-Inhibitor („Xaban“);
– HWZ 12 h, Elimination hepatisch (ca. 25 %) u. renal (ca. 25 %), Ausschei-
dung unverändert über Stuhl ca. 50 %.
– Zulassung für Vorhofflimmern in Primärprophylaxe (CHADS-Score ≥ 1
o. sonstige Risikofaktoren) u. Sekundärprophylaxe.
– Standarddosierung: 2×5 mg/d p. o., max. Wirkung nach 3–4 h. Reduzierte
Dos.: 2×2,5 mg/d wenn ≥ 2 der folgenden 3 Faktoren erfüllt sind: Alter
≥ 80 J., KG ≤ 60 kg, Serum-Krea ≥ 1,5 mg/dl.
Mögliche Differenzialind. zwischen den neuen Antikoagulanzien:
• Hohes Embolierisiko: Kein eindeutiger Vorteil für eine Substanz.
• Hohes Blutungsrisiko: Eher Dabigatran 2×110 mg o. Apixaban.
  7.2 Zerebrale Ischämie  293

• KHK: Eher Rivaroxaban o. Apixaban.


• Grenzwertige Nierenfunktion (GFR um 30–40 ml/Min.): Eher Rivaroxaban o.
Apixaban in reduzierter Dosis.
• Grenzwertige Leberfunktion: Eher Dabigatran o. Apixaban.
Thrombendarteriektomie (TEA)
Ind.: Hochgradige symptomatische Karotisstenosen; Diagnosesicherung durch
Farbduplex-Sono, MR- o. CT-Angio ausreichend. DSA i. d. R. nicht erforderlich:
Mögliche Ind.: Tiefe ulzerative Plaques der ACI, die als Emboliequellen fungieren
können (sog. „giftige Stenosen“). Diagnosesicherung durch Farbduplex-Sono u.
Emboliedetektion.

Hochgradige Stenosen extrakranieller Arterien


• Nutzen der OP nimmt mit dem Stenosegrad zwischen 70 u. 95 % zu. Nutzen
der OP ist geringer zwischen 50 u. 70 % Stenosegrad u. bei subtotalen, über
99-prozentigen Stenosen, bei F u. wenn OP jenseits der 12. Wo. nach dem ze-
rebralen Ereignis durchgeführt wird.
• Zeitraum zwischen Ereignis u. OP sollte mit Thrombozytenfunktionshem-
mern überbrückt werden. ASS soll vor, während u. nach OP weitergegeben,
Clopidogrel spätestens 5 d vor OP durch ASS ersetzt werden.
• Karotisangioplastie (CAS) mit Stenting ist noch kein Routineverfahren. Ein
Stenting kommt in Betracht bei Pat. mit Rezidivstenosen nach TEA, hochgra-
digen Stenosen nach Strahlenther. o. hoch sitzenden u. einer chir. Interventi-
on schwer zugänglichen Stenosen. Isolierte Angioplastie ohne Stenting sollte
angesichts der hohen Reststenoserate nicht mehr durchgeführt werden.
• Vor, während u. nach Stenting Prophylaxe mit Clopidogrel (75 mg) plus ASS
(100 mg) für 1–3 Mon. Anschließend Monother. mit Clopidogrel.

Symptomatische intrakranielle Stenosen


• Bei Pat. mit hochgradigen intrakraniellen Stenosen o. Verschlüssen ist eine
orale Antikoagulation nicht wirksamer als die Gabe eines Thrombozyten-
funktionshemmers, führt aber zu vermehrten Blutungs-KO. Deshalb wird die
Sekundärprävention mit Thrombozytenfunktionshemmern empfohlen.
• 
Bei Rezidivereignissen unter hoch dosierter medikamentöser Ther. kann die
Implantation eines (vorzugsweise beschichteten) Stents erwogen werden. An- 7
schließend erfolgt die Gabe von 75 mg Clopidogrel u. 100 mg ASS über einen
Zeitraum von 1–3 Mon. Anschließend Monother. mit Clopidogrel.

Offenes Foramen ovale (PFO)


• Bei Pat. mit alleinigem PFO, gleich welcher Größe, u. erstem zerebralen isch-
ämischen Ereignis erfolgt eine Prophylaxe mit ASS 100 mg/d.
• Kommt es zu einem Rezidiv unter ASS o. besteht ein PFO mit Vorhofseptu-
maneurysma, wird eine orale Antikoagulation mit einer INR von 2,0–3,0 für
mind. 2 J. emfohlen.
• Kommt es zu einem weiteren ischämischen Ereignis o. bestehen KI für eine
orale Antikoagulation, ist ein interventioneller PFO-Verschluss (Schirmver-
schluss) zu erwägen.
294 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Obsolete Therapieverfahren
• Extra-intrakranieller Bypass außer in seltenen Spezialind., wie bds. Karotis-
verschluss mit insuffizienter Kollateralisierung o. bei Moya-Moya-Sy.
• Karotischirurgie o. Stent bei unter 50-prozentigen Stenosen.

7.3 Makroangiopathien
7.3.1 Karotisdissektion
Def., Epidemiologie: Dissektionen sind die zweithäufigste Urs. für Schlaganfälle
bei jüngeren Pat.; sie finden sich am häufigsten zwischen dem 40. u. 50. Lj. Häufig-
keit 2,6–2,9/100.000/J. Zu ¾ ist die A. carotis, zu ¼ die A. vertebralis betroffen.
Manipulationen an der HWS o. Traumen können ursächlich sein, aber am häu-
figsten treten Dissektionen spontan ohne erkennbaren Grund auf. Veranlagung
ist wahrscheinlich. Bekannt ist diese beim Ehlers-Danlos-Sy., aber auch bei ande-
ren erblichen Bindegewebsschwächen.
Urs.: In ⅔ d. F. ist Dissektion spontan:
• Kollagenvernetzungsstör. elektronenmikroskopisch im Hautbiopsat bei 55 %
der Pat. nachgewiesen.
• Fibromuskuläre Dysplasie bei bis zu 15 % der Pat.
• Vorbestehende klassische Bindegewebserkr. wie Marfan-, Ehlers-Danlos-Sy.
Vorangehende Infektionen bei spontanen Dissektionen signifikant gehäuft,
evtl. als Trigger einer transienten Gefäßwandschwäche.
• Multiple Dissekate häufiger bei fibromuskulärer Dysplasie u. Marfan-Sy.
• Durch Mini-Traumata kann es zu dissezierendem Wandhämatom mit u. oh-
ne Lumeneinengung kommen. Bei Verdacht spezifische Frage an Pat. nach
kleineren Traumen (Auffahrunfall, Sportunfälle, Besuch beim Chiroprakti-
ker).
Pathologie:
• Intimaläsion mit Lefze o. Dissekti- A. carotis
externa
A. carotis
interna
onsmembran.
• Dissezierendes Wandhämatom mit
o. ohne Lumeneinengung Hämatom
(▶ Abb. 7.11).
7 • Dissezierendes Aneurysma (Pseu-
in der
Gefäßwand
doaneurysma): Ausbildung bei
spontanen Dissektionen in ca. 20 %,
bei traumatischen Dissektionen in
ca. 60 % d. F.
Bulbus
Lokalisation:
• Meist distale ACI in Höhe HWK 2,
oft langstreckig. Dissekate der prox.
ACI sind meist lokal traumatisch.
• Bilaterale Dissekate bei spontaner
Dissektion in 14 % d. F., wobei Ver- A. carotis
tebralisdissektionen deutlich häufi- communis
ger bilateral auftreten (22 % vs. 4 %).
Bei traumatischer Dissektion sind Abb. 7.11 Schematische Darstellung
bilaterale Dissekate häufiger. einer Karotisdissektion [L157]
  7.3 Makroangiopathien  295

Klinik:
• Kopfschmerz häufigstes Sympt.:
– Meist unilateral u. bei Karotisdissektion periorbital, frontal o. frontotem-
poral, häufig submandibulär beginnend, lokalisiert.
– Schmerz wird üblicherweise als moderat bis schwer beschrieben.
– Meist dumpf-drückender, manchmal bohrender Charakter.
• Wegweisend kann auskultatorisch ein Geräusch über den Karotiden sein.
• Horner-Sy., kaudale HN-Ausfälle (Collet-Sicard-Sy.).
• Pulsatiler Tinnitus, retinale/zerebrale Ischämien.
• Selten ist eine SAB bei Ruptur intraduraler dissezierender Aneurysmen.
Zusatzdiagn.:
• Sono: Direkter Nachweis extrakranieller Wandhämatome (▶ Abb. 7.12) so-
wie extra- u. intrakranieller Stenosen (> 50 %). Im weiteren Verlauf Kontrolle
alle 6 Mon. bis Normalisierung des Gefäßlumens.
• MRT/MRA:
– Nachweis der Dissekatmembran; nach 2–3 d.
– Wandhämatom hyperintens in T1- u. T2-gewichteten, fettsupprimierten
Aufnahmen (Met-Hb-Bildung).
• Intraarterielle Angio: Bei nicht diagn. MRT, dissezierenden Aneurysmen.
• Nierenarterien-Duplex-Sono: Ausschluss einer Nierenarterienstenose auf-
grund einer fibromuskulären Dysplasie.
• Hautbiopsie: Bei spontaner Dissektion zur Detektion von Kollagenvernet-
zungsstör.
Ther. in Akutphase:
• Bei akuter Ischämie im Lysefenster:
Lyse (i. v. o. i. a.) ist bei einer extra-
duralen Dissektion ohne erhöhtes
Risiko möglich.
• Bei < 70-prozentiger Stenose:
Thrombozytenfunktionshemmer
(ASS 100 mg), bei erneuter Klinik o.
Mikroemboliesignalen im Doppler
Eskalation auf Antikoagulation.
• Bei ≥ 70-prozentiger (hochgradi-
ger) Stenose, meist bei Pat. mit ze-
rebraler Ischämie: Vollheparinisie- 7
rung (2,0-fache Ausgangs-PTT) in
der Akutphase (bei großen Infark-
ten Thrombozytenfunktionshem- Abb. 7.12 Dissektion der ACC re mit
typ. Sandwich-Lumen in der Duplex-
mer). Sono [M139]
• Cave: Bei Heparinisierung mit
2,5-facher vs. 2,0-facher Ausgangs-
PTT mögliches Wachstum des intramuralen Hämatoms mit konsekutivem
Gefäßverschluss.
• Bei Nachweis intraduraler Ausdehnung der Karotisdissektion Vollheparini-
sierung zurückhaltend in Einzelfallentscheidung (allenfalls 1,5–2-fache Aus-
gangs-PTT), bei fehlendem intrakraniellem intraduralem fusiformem Aneu-
rysma scheint eine Antikoagulation aber sicher möglich.
296 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Ther. in Subakutphase:
• Noch keine Rekanalisation (persistierende hochgradige Stenose o. Verschluss
durch das Dissekat): Antikoagulation (INR 2–3) meist für 3–6 Mon. bzw. bis
zur Rekanalisation auf zumindest mittelgradige Stenose, danach ASS
• Bei persistierender hochgradiger Stenose o. Verschluss mit poststenotisch
deutlich reduziertem Fluss: Antikoagulation für 12 Mon., dann ASS dauer-
haft.
• Prozedere nach Rekanalisation (bei spontaner u. traumatischer Dissektion):
– Insult im Rahmen der Dissektion → dauerhaft ASS unabhängig von Resti-
tution.
– Kein Insult im Rahmen der Dissektion → Restitutio ad integrum nach
6 Mon. → keine weitere Ther.
– Kein Insult im Rahmen der Dissektion → persistierende Gefäßläsion nach
6 Mon. → weiter ASS bis Mon. 12.
– Erhöhtes Rezidivrisiko: FMD, familiäre Dissekate o. bekannte Bindegewe-
beerkr. → ASS 100 mg/d dauerhaft.
Progn.:
• Rezidivrisiko im 1. Mon. 2 %, danach ca. 1 %/J., höher bei jüngeren Pat. u. bei
Pat. mit pos. Familienanamnese; nur sehr selten erneute Dissektion desselben
Gefäßes aufgrund von Vernarbungsvorgängen.
• Bei Verschlüssen kommt es bei 85 % der Pat. innerhalb von 3 Mon. zur Reka-
nalisation.
• Nach 6 Mon. nur noch geringe Wahrscheinlichkeit einer Wiedereröffnung.

7.3.2 Vertebralisdissektion
Lokalisation:
• Übergänge von fixiertem zu unfixiertem Gefäßverlauf.
• Vor Eintritt in das Foramen transversarium HWK 6 (HWK 5); in Höhe der
Atlasschlinge nach Austritt aus dem Foramen transversarium; in Höhe des
Duradurchtritts; 10 % der Vertebralisdissekate setzen sich nach intradural
fort.
Klin. Bild:
• Kopfschmerz meist okzipital o. parietookzipital beginnend, kann gesamte
Kopfhälfte umfassen u. in ipsilateralen Arm ausstrahlen.
7 • Fokal neurol. Sympt. in Form von Hirnstammsympt.: Schwindel, Dysarthrie,
Doppelbilder, später Bewusstseinsstör. o. Halbseitensympt.
• Sympt.: Häufig Wallenberg-Sy. (▶ 7.2.7).
• Wurzelläsionen (C4), C5, C6, (C7), evtl. rein motorisch.
• SAB bei Ruptur eines intraduralen dissezierenden Aneurysmas (sehr selten).
Zusatzdiagn. u. Ther.: (▶ 7.3.1).

7.3.3 Fibromuskuläre Dysplasie (FMD)


Def.:
• Nichtentzündl. Proliferation von Bindegewebe u. glatter Muskulatur in der
Wand von Arterien.
• Häufig betroffen: A. renalis (70 %) u. ACI (25 %).
Assoziierte Erkr.: Hypertonie (50 %), vorwiegend intrakranielle Aneurysmen (ca.
10 %), Migräne.
  7.4 Mikroangiopathien  297

Lokalisation im Bereich der hirnversorgenden Arterien: Karotiden distal der


Bifurkation u. distale A. vertebralis mit Maximum häufig in Höhe HWK 1/2, sel-
ten basale Hirnarterien.
Klinik: Kopfschmerzen, Migräne (⅓), zerebrale Ischämien (50 %), Hörverlust o.
-minderung (10–20 %), Horner-Sy. (10–20 %).
Diagn.: Ultraschalldiagn., MRT mit MR-Angio, selektive Angio.
Ther.:
• Akut (▶ 7.3.1).
• Chron.: Thrombozytenfunktionshemmer.
• Eine spezifische Ther. gibt es nicht.

7.3.4 Moya-Moya-Erkrankung
Def.:
• Aus ungeklärten Gründen entsteht ein bilateraler intrakranieller Verschluss-
prozess im Bereich der distalen ACI ohne bekannte zugrunde liegende Ätiol.
• Bei einseitigem Verschluss spricht man von einer „wahrscheinlichen“ Moya-
Moya-Erkr.
• Der Name „Moya-Moya“ (japanisch für „Rauchwolke“) gründet sich auf die
als Folge der ACI-Verschlüsse auftretenden multiplen kleinkalibrigen Kolla-
teralnetze an der Schädelbasis.
• Mögliche Urs.: Bislang noch nicht bekannte entzündl. Angiopathie.
Pathologie:
• Makroangiopathie meist der distalen ACI bds. mit progredienter Stenosie-
rung.
• Sek. Ausbildung von ausgedehnten kleinkalibrigen Kollateralnetzen v. a. im
Bereich der Hirnbasis; es werden v. a. Stammganglienarterien kollateralisiert.
• Histologisch Intimaverdickung, normale Adventitia, Media u. Lamina elasti-
ca interna. Keine entzündl. Zeichen.
• Zusatzdiagn.: Doppler-/Duplex-Sono, MRT, MR-Angio, intraarterielle An-
gio, Bestimmung der zerebrovask.
Reservekapazität, Labor.
Ther.:
• Thrombozytenfunktionshemmer;
bei oraler Antikoagulation erhöhtes
Risiko für zerebrale Parenchym- u. 7
Subarachnoidalblutungen.
• Bei rascher Progredienz o. rezid.
Ischämien u. ungenügender Perfu-
sionsreserve kann die Versorgung
mit extra-/intrakraniellem Bypass 2 1
erwogen werden.
Abb. 7.13 Schematische Darstellung
7.4 Mikroangiopathien mikroangiopathisch bedingter Infark­
te im CT/MRT: 1 multiple lakunäre len­
tikulostriäre Infarkte, 2 subkortikale
7.4.1 Definition arteriosklerotische Enzephalopathie
(SAE) mit Maximum in der Grenzzone
Typ. sind häufige, kleinere Schlaganfälle zwischen tiefen u. oberflächlichen Me­
(▶ Abb. 7.13). Rein motorische Ausfälle diaästen u. diffuser Dichteminderung
(ICD-10 G46.5) bei Läsion in Capsula periventrikulär; 1 + 2 typisch für das
Vollbild des M. Binswanger [L157]
298 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

int. o. Hirnstamm; rein sensible Ausfälle (ICD-10 G46.6) bei Läsion in Thalamus
o. Hirnstamm.

7.4.2 Zerebrale Mikroangiopathie durch Arteriolosklerose


ICD-10 I67.3.
Syn.: Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, Morbus Binswanger,
Multiinfarktdemenz.
Def.: Durch Arteriolosklerose hervorgerufene Enzephalopathie. Hypertensive u.
konstitutionelle Verursachung; 90 % aller Mikoangiopathien. Erstbeschreibung
durch den deutschen Nervenarzt Otto Ludwig Binswanger (1852–1929) in Jena.
Disponierende Faktoren:
• Art. Hypertonie (ca. 90 %).
• Konstitutioneller Faktor; keine Geschlechtsdisposition, Untergruppe familiä-
rer Fälle ohne Hypertonie.
• Beginn ab Präsenium, aber auch im mittleren Alter, wenn z. B. maligne Hy-
pertonie > 1 Jahrzehnt besteht.
• Korrelation mit hypertensiver extrakranieller Makroangiopathie; Maximalva-
riante mit Lakunen entspricht M. Binswanger
• Mäßige Korrelation mit obstruierender Arteriosklerose der Halsarterien; re-
gelmäßig werden aber Elongation u. Dilatation extra- u. intrakranieller Arte-
rien gesehen.
Ätiol.:
• Vorwiegend Arteriolosklerose der langen Marklagerarterien → Blut-Hirn-
Schrankenstör. V. a. bei hypertensiver Entgleisung → Ödem → perivask. De-
myelinisierung.
• Maximum der Schädigung im Grenzzonenbereich der tiefen u. oberflächli-
chen perforierenden Gefäße spricht für hämodynamische Komponente, z. B.
durch Hypoperfusion bei nächtlicher Hypotonie.
Klinik:
• Subkortikale Demenz: Erschöpfbarkeit, Verlangsamung, Aufmerksamkeits-
stör., Antriebsminderung bis Apathie.
• Neurol. u. vegetative Sympt.: Apraktische Gangstör., Harninkontinenz, TIA,
fokale Defizite, unsystematischer Schwindel, Benommenheitsgefühl, teils
Krampfanfälle.
7 • Affektive Labilität: Teils Reizbarkeit u./o. Depression.
Zusatzdiagn. – CT/MRT: Lakunäre Infarkte, diffuse Dichteänderung des Markla-
gers, fleckige bis diffuse, ventrikelnah betonte Hypo- bzw. Hyperintensitäten
(MRT), häufig auch im Grenzonenberich der tiefen u. oberflächlichen perforie-
renden Arterien.
Ther.:
• Risikofaktoren: Strikte RR-Einstellung max. 140/90 mmHg: ACE-Hemmer u.
Thiaziddiuretikum hemmen Progredienz der Marklagerläsionen u. halbieren
ICB-Risiko. Ggf. Diab.-Einstellung; prophylaktische Wirkung; kann damit
auch Progredienz beeinflussen.
• Nootropika/ACh-Hemmer: Off-label-Anwendung; mögliche Gaben von z. B.
Nimodipin (Nimotop®), Nicergolin, Memantin, Galantamin bei gemischter
vask. u. degenerativer Demenz.
• Thrombozytenfunktionshemmer.
  7.4 Mikroangiopathien  299

7.4.3 Zerebrale Amyloidangiopathie (CAA)


Syn. Kongophile Angiopathie.
Def.:
• Sowohl isoliert als häufigste Urs. einer zerebralen Marklagerblutung im Alter
als auch als neuropath. Charakteristikum der Alzheimer-Demenz.
• Urs.: Aβ lagert sich in unlöslicher, fibrillärer Form im Zusammenspiel mit
weiteren Faktoren in den Wänden kortikaler u. leptomeningealer Arteriolen
ab. Diese Ablagerungen führen zu einer fibrinoiden Nekrose der Gefäßwand
mit konsekutiver Ausbildung von Mikroaneurysmen, sodass es zur Ruptur u.
Blutung aus diesen Gefäßen kommen kann.
• Häufigste Urs. von Lobärhämatomen bei älteren Pat.: Inzidenz < 75. Lj 2 %;
> 85. Lj 12 %.
• 30 % der Pat. entwickeln Demenz.
• Zahlreiche unterschiedliche familiäre u. sporadische Formen mit verschiede-
nen Gendefekten.
Pathologie: Amyloidablagerungen v. a. in leptomeningealen Gefäßen u. perforie-
renden Arteriolen. Verdrängung der glatten Muskulatur, Zerstörung der Elastica
int. u. ext., transmurale u. perivask. Infiltrate, Pseudoaneurysmen.
Pathophysiologie: Lumeneinengung führt zur Hypoperfusion mit konsekutiver
Leukenzephalopathie. Die Wandnekrosen bzw. Aneurysmenbildung führen zu
Blutungen.
Klinik: Rezid., meist lakunäre Ischämien bzw. Blutungen v. a. in subkortikaler
weißer Substanz; gelegentlich rasch progrediente Demenz.
Diagn. Kriterien:
• Mögliche CAA: Singuläre Blutung.
• Wahrscheinliche CAA: Multiple lobäre kortiko-subkortikale Blutungen; Alter
> 55 J., keine andere Blutungsurs.
• Gesicherte CAA: Autopsie.
Zusatzdiagn.: CT, MRT.
Ther.: Keine kausale Ther. bekannt. Blutungsrisiko wird durch antihypertensive
Ther. um > 50 % gesenkt.

7.4.4 CADASIL
„Zerebrale autosomal dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten u. 7
Leukenzephalopathie“.
Def.:
• Geschätzte Prävalenz der Genträger 1 : 160.000.
• Im mittleren Erw.-Alter einsetzende zerebrale Durchblutungsstör. u. Ent-
wicklung einer subkortikalen Demenz mit spastischer Tetraparese u. Pseudo-
bulbärparalyse.
• Daneben gehäuft migräneartige Kopfschmerzen u. psychiatrische Stör.
! Wann immer einzelne o. mehrere dieser Erscheinungen in Komb. mit einer
Leukenzephalopathie auftreten, sollte an diese DD gedacht werden.
Genetik: Aut. dom. vererbt (Chromosom 19p13).
Pathologie: Generalisierte nicht arteriosklerotische u. nicht kongophile Angiopa-
thie mit Schwerpunkt in den langen penetrierenden Markarterien; granuläre De-
generation der Media.
Diagn. Kriterien:
• Wahrscheinlich:
– Alter bei Beginn < 50 J.
300 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

– Mind. 2 der folgenden Sympt.: Schlaganfälle mit permanenten Defiziten,


Migräne, schwere affektive Stör., subkortikale Demenz.
– Keine anderen ursächlichen vask. Risikofaktoren.
– Pos. Familienanamnese.
– Passender MRT-Befund.
• Sicher: Mutationsnachweis u./o. pos. Hautbiopsie.
Klinik:
• Beginn häufig in der 3. Lebensdekade mit Migräne mit u. ohne Aura.
• Leitsympt.: Im mittleren Lebensalter einsetzende, wiederholte zerebrale Isch-
ämien in Form von TIA u./o. Hirninfarkten.
• Neben kognitiven Defiziten Gang-, Blasenentleerungs-, psychiatrische Stör.
(depressive Zustandsbilder, Anpassungsstör.), epileptische Anfälle.
• Im Alter > 60 J. Einmündung in Pseudobulbärparalyse u. spastische Tetrapa-
rese (▶ Tab. 7.10).
• Bei den meisten Pat. entwickelt sich im Verlauf eine subkortikale Demenz.
Tab. 7.10  Stadieneinteilung des klinischen Verlaufs nach Verin
Stadium Alter Klinik

I 20–40 J. Häufige migräneartige Episoden u. subkortikale Läsionen


im MRT

II 40–60 J. Häufig insultartige Episoden, bipolare o. monopolare psy­


chiatrische Auffälligkeiten, konfluierende Marklagerläsio­
nen u. Basalganglienläsionen im MRT

III 60–80 J. Subkortikale Demenz, Pseudobulbärparalyse, diffuse


Leuk­enzephalopathie, Basalganglien-Läsionen

Diagn.:
• MRT: Diffuse, z. T. konfluierende Marklagerhyperintensitäten in T2-gewich-
teten Bildern, Leukenzephalopathie u. umschriebene subkortikale Infarkte
mit Schwerpunkt frontotemporal.
• Hautbiopsie: Hohe Spezifität.
• Genetische Diagn.: Punktmutationen im Notch3-Gen.
Ther.:
7 • Eine kausale Ther. ist nicht bekannt. Bei vask. Ereignissen Behandlungsver-
such mit Thrombozytenfunktionshemmern u. Ther. sonstiger – so weit vor-
handen – vask. Risikofaktoren.
• Migräneprophylaxe mit Betablockern.
Verlauf: Durchschnittliche Lebenserwartung M 65 J., F 71 J.
  7.5 Zerebrale Vaskulitiden  301

7.5 Zerebrale Vaskulitiden
7.5.1 Zerebrale Vaskulitis – Übersicht
Ätiol.: Zerebrale Vaskulitiden können als Autoimmunerkr. isoliert im ZNS o. im
Rahmen systemischer Autoimmunerkr. auftreten (▶  Tab. 7.11). Auch die nicht
autoimmun bedingten Urs. zerebraler Vaskulitiden sind vielfältig (▶ Tab. 7.12).
Zunehmend wichtig werden tox. Vaskulitiden – v. a. mit Drogen assoziierte. In-
fektiöse Vaskulitiden sind seltener.

Tab. 7.11  Nosologie der Autoimmunvaskulitiden u. Kollagenosen mit ZNS-


Beteiligung
Erkrankung Klinik Spezielle Diagnostik

Primäre Vaskulitiden

Isolierte Angii­ Chron. Kopfschmerzen, fokale • DSA: „Abbrüche“ der kleinen


tis des ZNS Sympt. (Hemiparesen, Aphasi­ Gefäße
(ICD-10 M31.8) en); multiple Infarkte über Wo. • MRT: Path.
bis Jahre mit Spontanremissio­ • Endgültige Diagnose nur durch
nen. Hirnorganisches Psychosy. Hirn- o. Meningealbiopsie
Entwicklung einer Enzephalo­ • Systemische Laborparameter
pathie mit Demenz; seltenes meist normal
Krankheitsbild

Arteriitis tem­ Druckdolente, verhärtete u. • Labor: Erhöhung von Fibrino­


poralis (Rie­ überwärmte A. temporalis. gen, Haptoglobulin u. Komple­
senzellarterii­ Kopfschmerzen, ischämische mentfaktoren
tis, Horton- Ophthalmopathie mit Erblin­ • Biopsie der A. temporalis: Rie­
Sy.), > 60. Lj dung, rasche Ermüdbarkeit der senzellen
(ICD-10 M31.6) Kaumuskulatur, subfebrile
Temperaturen, ischämische
Hirninfarkte

Panarteriitis Renale Hypertonie, Angina • Labor: Leukozytose, Eosinophi­


nodosa, M > > pectoris, Bauch-, Muskel-, Ho­ lie, Thrombozytose
F (ICD-10 denschmerzen, Multiplex-PNP, • DSA: Stenosen, Verschlüsse u.
M30.0) Hirninfarkte Aneurysmen kleiner u. mittle­
rer Gefäße; keine Granulome
• Muskelbiopsie: Vaskulitis 7
Wegener-Gra­ Pneumonie, Hämoptoe, Sinusi­ • Labor: Leukozytose, Anämie,
nulomatose tis maxillaris, seröse Otitis, Nie­ Krea u. Harnstoff ↑, antizyto­
(ICD-10 M31.3) renbeteiligung, basale Menin­ plasmatische AK, Mikrohämat­
gitis, HN-Ausfälle, selten Hirn­ urie, orale Ulzera, ANCA-pos.
infarkte, PNP Small-Vessel-Vaskulitiden mit
Granulomen
• Rö-Thorax: Infiltrate
• Biopsie aus Lunge, Niere o.
NNH

Allerg. Angiitis Trias aus Asthma, Fieber u. Eosinophilie, IgE ↑, Leukozytose,


(Churg-Strauss; Ano­rexie; zerebrale Granula­ ANCA-pos. Small-Vessel-Vaskulitis
ICD-10 I67.7) matose; PNP mit Granulomen

Takayasu-Arte­ Nachtschweiß, Fieber, Arthral­ Doppler, DSA: Stenose o. Ver­


riitis, < 40 J. gie, Hypertonus, Synkopen, ze­ schlüsse der großen Arterien des
(ICD-10 M31.4) rebrale Infarkte, Pulslosigkeit Aortenbogens; keine Granulome
der Arme, F > M
302 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Tab. 7.11  Nosologie der Autoimmunvaskulitiden u. Kollagenosen mit ZNS-


Beteiligung (Forts.)
Erkrankung Klinik Spezielle Diagnostik

Primäre Vaskulitiden

Vogt-Koyana­ Uveitis, Enzephalitis dissemina­ • Augen-Konsil


gi-Harada-Sy. ta • MRT: Demyelinisierungen
(ICD-10 I67.7)

Systemische Gefäßerkrankungen

SLE, F > > M ZNS-Beteiligung in 60 % mit • Labor: Panzytopenie, AK: ANA,


(ICD-10 I68.2) multiplen Infarkten, Krampfan­ Anti-dsDNS, Proteinurie, Ery­
fällen o. organischer Psychose; throzyturie
Arthropathie, Anorexie, Haut­ • Hautkonsil
manifestation (Schmetterlings­
erythem), Nephritis; PNP

Erregerbe­ Multiple Infarkte bei Tbc • LP: Pleozytose, Serologie, Erre­


dingte Vaskuli­ (▶ 9.3.6), Syphilis (▶ 9.3.7), gernachweis
tis (ICD-10 bakt. Meningitis (▶ 9.3.1), • Labor: Serologie, Erregernach­
I68.1) meist Meningo- o. Pneumokok­ weis
ken, septischer Endokarditis, • Echokardiografie
Borrelien (Lyme), Virusenze­
phalitiden (▶ 9.4), auch HIV

Drogenarterii­ Multiple Infarkte bei Ergot­ DSA: „Abbrüche“ der kleinen


tis (ICD-10 amin, Amphetamin, Chlorprom­ ­Gefäße
I67.7) azin, Heroin, Barbituraten

Behçet-Krank­ Rezid. Schleimhautulzeratio­ Labor: Leukozytose


heit (ICD-10 nen oral, genital, vaginal; Iritis,
M35.2) Uveitis, Optikusneuritis, Arthri­
tis; Mikroinfarkte, SVT, hirnor­
ganisches Psychosy., Epilepsie

Sjögren-Sy. Keratokonjunktivitis, Xerosto­ AK gegen Speicheldrüsen u.


(ICD-10– mie, Arthritis, aseptische Me­ Schilddrüsenantigene
M35.0) ningitis, Myelopathie, Hirnin­
farkte, hirnorganisches Psycho­
sy., Epilepsie, PNP
7
Tab. 7.12  Ätiologie zerebraler Vaskulitiden
Vaskulitis Ursachen

Erregerassoziierte • Viren: VZV, andere Herpesviridae, HBV, HCV, HIV


(Auswahl) • Bakterien: Treponema pallidum, Borrelien, Pneumo­
kokken, Mycobacterium tuberculosis
• Pilze: Aspergillus
• Alle Formen septischer Erkr.
Toxische • Kokain; Ecstasy u. a. Designerdrogen
• Medikamente (Hydralazin, Phenytoin, Thyreostatika,
Thiazide, Penicillin, Sulfonamide, Morphin)

Paraneoplastische
(vermutlich autoimmune
Pathogenese)
  7.5 Zerebrale Vaskulitiden  303

Pathophysiologie:
• Typ. Infiltration von Gefäßwänden mit weißen Blutkörperchen – überwie-
gend mononukleären Zellen. Architektur der Gefäßwand wird wesentlich ge-
schädigt bis hin zur Ausbildung von Nekrosen; dadurch gesteigerte Permea-
bilität der Gefäße u. auch der Blut-Hirn-Schranke.
• Bei einigen Vaskulitiden Granulombildung.
• Durch entzündl. Prozesse in der Gefäßwand Aktivierung des Gerinnungssys-
tems, Thromben entstehen.
• Durch tox. Entzündungsmediatoren u. direkte zelluläre Zytotoxizität resul-
tiert Schädigung von Axonen, Neuronen, Oligodendrozyten u. Myelin.
Klinik:
• Akuität der Erkr.:
– Akut: Kopfschmerzen, Bewusstseinsstör., neurol. Herdsymtome (häufig
multifokal), epileptische Anfälle.
– Subakut/chron.: Diffuse neuropsychiatrische Sy. (Enzephalopathie), Kopf-
schmerzen, keine apoplektiformen Episoden, epileptische Anfälle.
• Größe der betroffenen Gefäße:
– Groß: Neurol. Herdsympt. (apoplektiform o. subakut, häufig multifokal).
– Mittelgroß/klein: Diffuse neuropsychiatrische Sy. (subakut o. chron.).
Diagn.:
• Labor:
– Basislabor-Zeichen der systemischen Entzündung: CRP, BSG, Diff.-BB
(Anämie, Thrombozytose o. Thrombozytopenie).
– Immunologisches Labor: ANA, SS-A, SS-B u. Subgruppen, c- u. p-ANCA,
Antiphospholipid-AK, Kryoglobuline, zirkulierende Immunkomplexe,
Komplementfaktoren (C3, C3d, C4, CH50), Rheumafaktoren, Serumpro-
tein- u. Immunelektrophorese, Immunglobuline quantitativ, ACE i. S.,
sIL-2-Rezeptor (Sarkoidose).
– Infektionssuche: Serologie für Borrelien, Lues, HBV, HCV, HIV.
– Blutkulturen zum Ausschluss eines bakt. Infekts/Endokarditis bei Status
febrilis.
– Zeichen der viszeralen Beteiligung: Nierenwerte u. Urinstatus mit Frage
nach renaler Beteiligung, CK, Transaminasen.
– Liquordiagn.: Unspezifisch, häufig Schrankenstör., Pleozytose; wichtig
zum Ausschluss sek.-infektiöser Vaskulitiden (z. B. HSV, VZV).
– Elektrophysiologie: EEG u. ENG/EMG bei klin. V. a. Beteiligung des PNS. 7
– Neurovask. Ultraschalldiagn.: Stenosen der extra- u. intrakraniellen Gefä-
ße; bei klin. V. a. Takayasu-Vaskulitis o. Arteriitis cranialis auch Duplex-
Sono der Temporalarterien.
– Neuroradiologische Diagn.: MRT u. MRA, multiple kleinere Infarkte in
mehreren Stromgebieten, oft mit Blutungen.
– Rö-Thorax, ggf. CT-Thorax: Interstitielle Pneumopathie, Infiltrate, Pleu-
raergüsse.
– Kardiologische Diagn.: EKG (Rhythmus-, Repolarisationsstör.), ggf. trans­
ösophageales Echokardiogramm (Vegetationen?).
– Ganzkörper-FDG-PET: Systemischer Tumor/Entzündung.
• Erweiterte Diagn.: Angio, Biopsie.
Ther.:
• Ther.-Beginn möglichst früh, aber Blindther. vermeiden. Zu Beginn wird his-
topath. Ausschluss anderer infektiöser Erkr. gefordert; in praxi zeitnahe
Durchführung der Biopsie.
304 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• Progrediente Klinik, keine andere Urs. bei wiederholter Diagn.: Beginn


Prednisolon-Stoßther. (250–500 mg/d i. v. über 5 d) o. Start mit Prednisolon
1–2 mg/d; Biopsie vor stärkerer immunsuppressiver Ther./Langzeitther. obli-
gat.
• Progrediente Klinik u. pos. Biopsie: Komb. Prednisolon (1 mg/kg KG oral,
in schweren Fällen Beginn mit je 1.000 mg i. v. über 3 d) u. Cyclophospha-
mid-Pulsther. (pCYC, 750–1.000 mg/m2 KO), in schweren Fällen erste
2–3 Gaben im 1–2-Wo.-Intervall unter Kontrolle des Diff.-BB, dann in mo-
natlichen Abständen; die Steroide können nach ca. 6 Wo. langsam reduziert
werden; Dauer der pCYC-Ther. für 3–6 Mon., dann Erhaltungsther. für wei-
tere ca. 12 Mon. (Substanzen: Azathioprin o. Methotrexat, alternativ Myco-
phenolat-Mofetil o. Ciclosporin A).

7.5.2 Arteriitis temporalis
Syn.: M. Horton, Arteriitis cranialis, Riesenzellarteriitis.
Def.:
• Systemische Vaskulitis, befällt v. a. bei älteren Menschen meist die Aa. tempo-
rales.
• Unbehandelt Erblindungsrisiko von 20 %.
• Bei entsprechender Diagn. u. raschen Ther.-Beginn mit Kortison meist gutar-
tiger, wenn auch langwieriger Verlauf.
Epidemiologie: Jährliche Inzidenz 3 : 100.000, bei über 70-Jährigen 45 : 100.000;
fast ausschließlich nach dem 50. Lj. F : M = 3 : 1. Durchschnittliches Alter etwa
70 J. Bei 50 % der Pat. befällt die Erkr. 3 d nach Beginn das Auge.
Pathologie:
• T-Zell-abhängige Autoimmunerkr. mit genetischer Prädisposition.
• Infekte können Krankheitsausbruch triggern, insbes. Viren (z. B. HBV) u.
Borrelien.
• Meist bds. granulomatöse Vaskulitis, vorwiegend die großen u. mittelgroßen
Arterien des Kopfs befallend.
• Bes. häufig ist A. temporalis betroffen, bei 30 % die A. ophthalmica, bei 10–
15 % Aortenbogen u. dessen große Äste.
• Intrakranielle Gefäße, Herzkranzgefäße u. andere Organe selten befallen.
7 • Beziehung zur Polymyalgia rheumatica.
• Durch Entzündung Minderdurchblutung der von der betroffenen Arterie
versorgten Gebiete.
• Ist A. centralis retinae betroffen, führt dies innerhalb 1 h zu irreversiblen
Schäden an der Netzhaut.
Klinik:
• Allgemeinsympt.: Beginn meist schleichend mit Abgeschlagenheit, Muskel-
schmerzen, Fieber, Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, Depression.
• Kopfschmerzen: Ca. 70 %.
– Meist erstes Sympt.
– Neu auftretend, bohrend u. stechend, starke Intensität, eher unilateral,
Verstärkung bei Husten, Kopfbewegung, Kauen, meist frontotemporal,
auch okzpital (A.-occipitalis-Befall).
– Zunahme nachts.
• Augenbeteiligung: 15–50 %.
– Visusverlust durch anteriore ischämische Neuropathie des N. opticus
bzw. Zentralarterienverschluss.
  7.5 Zerebrale Vaskulitiden  305

– Augenbewegungsschmerz, Doppelbilder (Befall der Augenmuskulatur),


Ptosis, selten zentrale Visusstör. durch Ischämie der Sehrinde.
• Claudicatio masticatoria: 30 %; pathognomonisches Zeichen, Mangeldurch-
blutung der Kaumuskulatur.
• PNS (14 %): Mononeuritis multiplex (< 10 %), selten andere Neuropathien.
• Zerebrale Ischämien: < 2 %.
– Häufiger im Posteriorstromgebiet.
– Hirnstammsympt. bei vertebrobasilärem Befall (< 2 %), seltener ischämi-
sche u. neuropsychiatrische Sympt. bei Befall intrazerebraler Gefäße
(< 1 %).
• Sympt. durch Befall von Aortenbogen u. Aortenbogenäste:
– RR-Seitendifferenz, abgeschwächte Pulse, Claudicatio der Arme.
– Thorakale Aortitis (3 %, erhöhte Inzidenz von Aortenaneurysmen/-dis-
sektionen u. Ruptur).
– Selten Befall der Iliakalgefäße mit Claudicatio der Beine.
– Seltene Organmanifestation: Haut, Niere, Lunge, Herz (Befall von Koro-
nararterien).
Diagn.:
• Verdickte Temporalarterien, druckdolent, Knötchen, geschlängelt. Sensitivs-
tes Zeichen: Fehlende o. seitendifferente Pulsation.
• Empfindlichkeit der Kopfhaut mit lokaler Hautrötung/Zyanose.
Diagnostische ACR-Kriterien
Das American College of Rheumatology (ACR) hat folgende Kriterien erarbei-
tet: Alter > 50 J., neuartige o. neu auftretende Kopfschmerzen, abnorme Tem-
poralarterien (Druckdolenz, abgeschwächte Pulsation), BSG > 50 mm in der
ersten Stunde, histologische Veränderungen bei Biopsie der Temporalarterie.

• Labor:
– Entzündungsmarker: BSG meist höher als bei anderen Vaskulitiden, oft
80–100 mm/h, in bis zu 5 % (initial) normal trotz aktiver Entzündung,
CRP-Anstieg (> 90 %), Anstieg anderer akuter Phasenproteine.
– Antiphospholipid-AK in bis zu 30–50 % erhöht; keine Korrelation mit
ischämischen Sympt., Titerhöhe jedoch spezifisch assoziiert mit Wieder-
aufflackern der Entzündungsaktivität. 7
– Leberwerte: Erhöhung der AP in 20–70 %
– Thrombozytose (> 400.000/μl) bei 50 % → erhöhtes Risiko retinal-ischämi-
scher KO im Verlauf.
– Faktor VIII u. IL-6 ↑.
– Verlaufsparameter: CRP, Serum-Amyloid-A, CRP, IL-6.
• Farbduplex der Temporalarterien: Wandverdickung (echoarmer „Halo“,
Spezifität 80–100 %), Stenosen/Verschlüsse, verminderte Wandpulsation.
• Hochauflösendes MRT mit Gadolinium: Darstellung der Wandentzündung
mit gleich hoher Sensitivät u. Spezifität wie Ultraschall; Steroid-Vorbehand-
lung idealerweise < 2 d; auch zur Darstellung der Large-Vessel-Beteiligung
geeignet.
• Biopsie der Temporalarterien:
– Zur Diagnosesicherung obligat, wenn nicht durch typ. Klinik u. Bildge-
bung Diagnose gestellt werden kann.
306 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

! Neg. Befund schließt Erkr. nicht sicher aus, da auch nur einzelne Segmen-
te der Gefäße befallen sein können. Bei neg. Befund Biopsie der Gegensei-
te.
– Mind. 2 cm langes Segment, da segmentaler Befall.
– Histologisch Panarteriitis mit granulomatöser Entzündung der Tunica
media, in der Tunica adventitia Nachweis von Riesenzellen.

Cave: Vor Biopsie dopplersonografisch Ausschluss eines retrograden Flusses


der gleichseitigen A. ophthalmica, da dann die A. temporalis ein hirnversor-
gendes Gefäß sein kann.

• Angio: Z. B. bei V. a. auf Aortenbogensy. o. Befall der Koronararterien (multi-
ple stenotische Segmente).
Ther.:

Arteriitis cranialis ist ein Notfall. Bereits bei begründetem Verdacht auf die
Erkr. sind systemisch hoch dosiert Glukokortikoide indiziert.

• Steroide (Prednison bzw. Prednisolon) sind Mittel der Wahl; Initialdosis je


nach Klinik:
– Kein Organbefall (Auge): 1 mg/kg KG/d; Ther.-Dauer siehe Dosis im Ver-
lauf.
– Einseitige Erblindung (frisch): 200–500 mg/d; 3–5 d.
– Einseitige Erblindung (älter): 100–200 mg/d; 3–5 d.
– Drohende Erblindung (Cotton-Wool-Flecken, Amaurosis-fugax-Atta-
cken) 200–1.000 mg/d; 3–5 d.
– Dosis im klin. Verlauf: Nach hoher Dosis (siehe oben) Reduktion auf
1 mg/kg KG/d, anschließend weitere Reduktion (initial 10-mg-Schritte/
Wo.) bis auf 30 mg frühestens nach 4 Wo., danach um 2,5 mg wöchentlich
reduzieren, ab 15 mg um 1 mg tgl. alle 4 Wo. reduzieren bis zum Ende (im
Schnitt Behandlungsdauer ca. 70–80 Wo.; Steuerung nach Klinik u. CRP
bzw. BSG).
– Bei Rezidiv Erhöhung auf letzte wirksame Dosis plus 10 mg Prednison/
7 Prednisolon, danach Dosisreduktion mit 2-facher Geschwindigkeit im
Vergleich zum Standardschema bis Relaps-Dosis, danach mit alter Ge-
schwindigkeit weiter.
– Magenschutz obligat.
– Osteoporoseprophylaxe (Kalzium 1.000 mg/d/Vit. D 500–1.000 IE/d, bei
Hochrisikopat. zusätzlich Biphosphonate).
• Zusätzlich ASS 100 mg/d: Hinweise auf Minderung retinal- u. zerebral-isch­
ämischer Ereignisse, im Akutstadium empfohlen, v. a. bei Risikopat. (Throm-
bozytose, entzündl. Befall größerer hirnversorgender Gefäße).
Prognose:
• Meist gutes Ansprechen auf Kortisonther., dann komplette Remission in ei-
nem Zeitraum von 1,5–3 J.
• Auch bei adäquater Ther. Gefahr bleibender Erblindung auf dem betroffenen
Auge.
• Selten Rezidive, auch chron. Verläufe bis zu 14 J. sind möglich.
  7.5 Zerebrale Vaskulitiden  307

7.5.3 Polymyalgia rheumatica (PMR)


ICD-10 M35.3: Polymyalgia rheumatica; M31.5: Riesenzellarteriitis bei Polymyal-
gia rheumatica
Def.: Gehört zur Gruppe der Vaskulitiden u. geht mit akuten Schmerzen der
Schulter- u. Beckengürtelmuskulatur einher.
Epidemiologie: Typ. Erkr. des älteren Menschen, meist bei über 60-Jährigen, F
etwas häufiger betroffen. Etwa Hälfte d. F. ist mit der Arteriitis temporalis verge-
sellschaftet.
Urs.:
• Urs. unbekannt, wahrscheinlich Autoimmunerkr.
• Entzündung läuft bei der Polymyalgie als Riesenzellarteriitis im Aortenbogen
bzw. in den prox. Extremitätenarterien (körperstammnahe Abschnitte der
Arm- u. Beinarterien) ab.
Diagn.: Wegweisend: Biopsie der A. temporalis mit Nachweis einer Riesenzellar-
teriitis. Normalbefund schließt eine Polymyalgia rheumatica jedoch nicht aus.

Diagnosekriterien
4 von 7 Kriterien müssen erfüllt sein:
• Bds. Schulterschmerzen u./o. -steifigkeit (alternativ Schmerzen im Be-
reich: Nacken, Oberarme, Gesäß, Oberschenkel).
• Akuter Erkr.-Beginn (innerhalb von 2 Wo.).
• Alter > 65 J.
• Initiale BSG von > 40 mm/1 h.
• Morgendliche Steifigkeit > 1 h.
• Depression u./o. Gewichtsverlust.
• Bds. Oberarmdruckschmerz.
Entscheidendes diagn. Zeichen: Schlagartiges Verschwinden der Beschwerden
nach höherer Kortison-Dosis.

Ther.:
• Glukokortikoide:
– Dos.: 100  mg/d.
– Wenn kein gleichzeitiger Befall der A. temporalis, geringere Initialdosen
(30 mg/d) möglich.
– Dosisverringerung nur bei Beschwerdefreiheit.
7
– Zur Verhinderung von Rezidiven Erhaltungsther. über die Dauer von
mind. 1 J. nötig.
– Um Kortison zu sparen, zusätzlich langwirksame antirheumatische Ther.
(z. B. mit Chloroquin o. Methotrexat).
! Ther. mind. 1 J. konsequent durchführen.
– Osteoporoseprophylaxe tgl. 4 × 250 mg Kalzium u. 1.000 E Vit. D3.
Prognose: Meist gutes Ansprechen auf Steroide, i. d. R. komplette Remission
nach ca. 3 J.; unter adäquater Kortikosteroid-Ther. nur selten Rezidive o. chron.
Verläufe.
308 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

7.6 Gefäßmalformationen
7.6.1 Definition
Am häufigsten sind arteriovenöse Angiome (bis zu 60 % aller Gefäßfehlbildun-
gen), Kavernome (bis zu 15 %), alle anderen Gefäßmalformationen des Gehirns
sind wesentlich seltener.

7.6.2 Arteriovenöses Angiom
ICD-10 Q28.3.
Syn.: AV-Angiom, AV-Malformation, AVM.
Def.:
• Angeborenes Konvolut kleiner Gefäße (< 1 cm Durchmesser bis zur Größe ei-
nes Hirnlappens), die von einer o. mehreren art. „Feeders“ gespeist werden u.
über AV-Kurzschlüsse in große Venen drainieren.
• Meist zentroparietal im Mediastromgebiet lokalisiert.
• 3-mal seltener als Aneurysmen, Prävalenz 18/100.000. M > F.
• Insgesamt ursächlich für 4 % aller intrakraniellen Blutungen (bei Alter < 40 J.:
33 %!), Mehrzahl asymptomatisch (nur 12 % autoptisch gefundener AVM wa-
ren symptomatisch).
• Blutungsrisiko 2–4 %/J. Verdopplung nach erster Blutung.
• Assoziierte Erkr.: Aneurysmen in ca. 10 %. Intranidale u. flussbezogene Aneu-
rysmen sind mit einem höheren Blutungsrisiko korreliert; sie können sich
nach Ausschaltung der AVM zurückbilden.
• Lokalisation möglicher Blutungen: Parenchym ⅔, subarachnoidal < ⅓, ventri-
kulär < 10 % mit einem Blutungsrisiko von 2–4 %/J.
Klinik:
• Pat. i. d. R. jünger als bei hypertensiven Massenblutungen.
• Erhöhtes Blutungsrisiko nach stattgehabter Blutung zwischen 6 u. 33 % im
1. J., 11 % in den folgenden J.
• Mortalität nach Blutung 13–30 %, kein Unterschied zwischen erster u. Rezi-
divblutung.
• Risikofaktoren für Blutung: Alter (max. 3. Dekade), Schwangerschaft (2. Tri-
7 menon: Risiko vervierfacht), männliches Geschlecht; Drainage über tiefe Ve-
nen, hoher Druck in angiomversorgenden Gefäßen, venöse Abflussbehinde-
rung.
• Fokale o. generalisierte Anfälle in frühem Erw.-Alter (in 25–40 % Erstsympt.).
• Rezid. fokale Ausfälle durch „Steal-Effekt“, gelegentlich mit ischämischem In-
farkt (10 % Erstsympt.).
• Migräneähnliche Kopfschmerzen (in 15 % Erstsympt.), bei Komb. mit
Krampfanfällen immer an AVM denken!
• Langsam progrediente fokale Ausfälle (Hemiparese, Hemianopsie, Aphasie)
durch Größenzunahme (15 % Erstsympt.).
• Gelegentlich Linksherzinsuff. durch großes Shuntvolumen (Zunahme des
Anteils der Hirndurchblutung am Herzminutenvolumen bis auf 60–70 %).
• Selten pulssynchrones Gefäßgeräusch über temporaler o. parietaler Hirnregi-
on auszukultieren.
• Mögliche Ischämien durch intrazerebralen Steal-Effekt.
Diagn.: CCT/MRT (▶ Abb. 7.14), TCD, EEG, DSA (▶ Abb. 7.15).
  7.6 Gefäßmalformationen  309

Abb. 7.15 Arteriovenöses Angiom in


der DSA [M139]

Venenkonvolut

Abb. 7.14  MRT einer AV-Malformation


[M139]

In der Frühphase nach ICB können kleine AVM durch die Blutung maskiert
werden; daher bei neg. Primärunters. Kontrolle von MRT u. ggf. Angio nach
Blutungsresorption (je nach Blutungsgröße nach 6 bis > 12 Wo.).

Ther.:
Ind./Behandlungsziele:
• Inzidentelle asymptomatische AVM (ohne vorausgegangene Blutung): Nut-
zen einer Ther. nicht belegt.
• Symptomatische AVM (d. h. nach stattgehabter Blutung):
– Prim. Behandlungsziel: Vollständige Ausschaltung der AVM. Große
AVM: U. U. partielle Embolisation, um diese somit operabel zu machen
bzw. Embolisation blutungsträchtiger Malformationsanteile, v. a. eines
7
distalen Aneurysmas eines Angiom-Feeders.
– Sek. Behandlungsziel: Ther. von hämodynamisch bedingten neurol. Defi-
ziten u. Anfällen.
Ther.-Verfahren:
• OP (AVM < 30 mm): Mikrochir. Eradikation führt zu kompletter Ausschal-
tung in 98–100 %. Bei großen AVM ist OP nicht primäres Verfahren.
• Embolisation: Prä- o. präradiochirurgisch. Kurativ anzustreben bei kleiner
monopedikulär versorgter AVM, palliativ bei nichtoperablen nichtkurativ
embolisierbaren AVM.
• Stereotaktische Einzeitbestrahlung (Radiochirurgie): Nur Angiome bis 30 mm
Durchmesser (10 ml Nidusvolumen), wenn nichtoperabel u. nichtkurativ em-
bolisierbar.
• Keine invasive Ther.: Große Stammganglien- u. Hirnstamm-AVM, wenn die-
se auch für eine Bestrahlung ungeeignet sind, große AVM der Hemisphären
u. des Kleinhirns ohne zusätzliche Risikofaktoren o. KO.
310 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Progn.: Abhängig von Größe der AVM u. Ausmaß einer Blutung. Insgesamt we-
sentlich besser als bei Aneurysma. Mortalität 13–30 % nach Blutung.

7.6.3 Kavernom (kavernöses Hämangiom)


ICD-10 D18.0.
Def.:
• Konvolut ektatischer Venen ohne AV-Shunt
• Meist Zufallsbefund
• Prävalenz 0,5–1 %
• Blutungsrisiko 2–5 %/J.
Klinik:
• Fokale o. sek. generalisierte Anfälle.
• Fokal neurol. Ausfälle durch Raumforderungen, abhängig von der Lokalisati-
on (z. B. Hemiparese, Aphasie, HN-Ausfälle).
• Kleine Blutungen, die aber rezidivieren können. Klinik abhängig von der Lo-
kalisation u. oft diskrepant zur Größe der Blutung.
• Gelegentlich assoziiert mit Hämangiomen in anderen Organen (Niere, Haut,
Leber).
Diagn.: CCT/MRT, Sono.
Ther.:
• Meist keine kausale Ther. erforderlich.
• Nach Blutung operative Entfernung des Kavernoms, wenn lokalisatorisch
möglich.

7.6.4 Kapilläres Angiom (kapilläre Teleangiektasie)


Def.: Meist asymptomatische Mikroangiome, typischerweise Zufallsbefunde bei
Autopsien: mitunter Quelle von Marklagerblutungen. Meist in Pons lokalisiert.
Diagnose: MRT: In kontrastverstärkten T1-Sequenzen strich- o. punktförmige
KM-Anreicherung ohne raumfordernden Effekt.

7.6.5 Venöses Angiom (Developmental Venous Anomaly,


DVA)
7
Def.:
• Embryologische Variante der venösen Drainage; etwa 60 % aller zerebralen
vask. Malformationen. Oft inzidentell entdeckt, nur selten symptomatisch.
• Typ. Erscheinungsbild: Dilatierte, medusenhauptartig angeordnete venöse
Marklagergefäße, die in eine größere Sammelvene drainieren: Abfluss über
das oberflächliche o. tiefe Venensystem.
Pathologie: Venöse Angiome finden sich typischerweise im frontoparietalen
Marklager, Kleinhirn u. Hirnstamm.
Klinik:
• Ein isoliertes venöses Angiom führt i. d. R. zu wesentlichen Sympt.: Kopf-
schmerzen (4 %), epileptische Anfälle (5 %), fokale Ausfälle (8 %); ⅔ sind je-
doch asymptomatisch.
• Klin. Sympt. finden sich häufiger bei Blutungen; wobei dann zumeist gleich-
zeitiger Nachweis von Kavernomen.
Diagn.: MRT: T1: KM-Nachweis einer Sammelvene mit besenreiserartigen Zu-
flüssen („Caput medusae“) ohne Umgebungsreaktion.
  7.7 Gerinnungsstörungen  311

Ther.: OP nur indiziert bei Blutungen, dabei Schonung der drainierenden Vene,
um Stauungsblutungen zu vermeiden.

7.6.6 Durale arteriovenöse Malformation (Durafistel, AV-


Fistel, Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel)
Ätiol.: Häufig (Bagatell-)Trauma (evtl. vor Jahren), kongenital o. arteriosklero-
tisch. Karotis-Sinus-cavernosus-Fisteln auch iatrogen nach Katheterisierung der
A. carotis u. nach Aneurysmaruptur. Durafisteln nach Rekanalisation von SVT.
Pathophysiologie: Vergrößerung von physiol. vorhandenen Mikrofisteln durch
erhöhten art. o. venösen Druck.
Blutungsrisiko: In Abhängigkeit der Klassifikation der AVM. Bes. hohes Blu-
tungsrisiko (65 %) bei direkter kortikaler venöser Drainage mit venöser Ektasie.
Klinik:
• Kopfschmerzen u. pulssynchrone, pulsierende Ohrgeräusche.
• Bei großen Fisteln sek. venöse Stauungsblutungen o. Ischämien mit fokal-
neurol. Ausfällen.
• Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel (ICD-10 I77.0): Doppelbilder durch Augen-
muskellähmungen; pulsierender Exophthalmus mit Chemosis u. venöser
Stauung der Konjunktiven, STP, retinalen Einblutungen, Sehverlust u. Strö-
mungsgeräuschen über den Bulbi (können manchmal durch Kompression
der ipsilateralen ACC unterdrückt werden).
• Durafistel (ICD-10 Q28.2): Atypische Blutung; Blutungsriskio 1–2 %/J.
Diagn.: CCT, MRT, Ultraschall, art. DSA.
Ther.: Ind.:
• Drainage in kortikale Venen
• Starker Leidensdruck
• Große Shuntvolumen (A. occipitalis > 150 % der Gegenseite)
• Progredienz
• KO
Endovask. Ther.: Transvenöser Zugang; Verschluss der fisteltragenden Sinusab-
schnitte mit Coils, gecoverten Stents u. Flüssigembolisation. Falls kein ausrei-
chender Ther.-Erfolg, Embolisation der art. Zuflüsse. Reembolisationen häufig
notwendig.
Offene OP (Ligatur): Bei fehlendem Erfolg der endovask. Ther. (höheres Risiko 7
als endovask. Ther.); nicht bei Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel indiziert.
Ind. für kombinierte Behandlung (Ligatur plus endovask.): Bei okzipitalen u.
tentoriellen duralen AVM, da erfolgreicher als jede Einzelther.

7.7 Gerinnungsstörungen
7.7.1 Definition
• Gerinnungsstör. können wichtige Risikofaktoren für zerebrale Ischämien
darstellen, wobei i. d. R. mehrere Kofaktoren bestehen. Bes. Risikogruppe: Pat.
mit art. u. venösen Thrombosen in eigener o. Familienanamnese: hier aus-
führliche Gerinnungsdiagn. notwendig.
• Für Mutationen des Faktors II u. V ist eine Assoziation mit venösen Throm-
bosen wie SVT eindeutig nachgewiesen.
312 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

Embolien
Eine Faktor-V-Mutation kann in Komb. mit einem offenen Foramen ovale zu ei-
nem wesentlichen Risikofaktor für eine ovale, paradoxe Hirnembolie werden.

7.7.2 Protein-C-/-S-/Antithrombin-III-Mangel
Def.:
• Aktiviertes Protein C hemmt die Faktoren Va u. VIIIa u. stimuliert die Fibri-
nolyse.
• Protein S ist ein Kofaktor von Protein C, beide Proteine sind Vit.-K-abhängig.
• AT III inaktiviert freies Thrombin; Verstärkung der Wirkung um das
2.000–3.000-Fache durch Heparin.
• Bei einem Mangel von Protein C/S nimmt die Konzentration der Faktoren
Va u. VIIIa zu; Konsequenz: Fibrinolytische Aktivität.
• AT-III-Mangel führt zur Zunahme des freien Thrombins u. in geringem Aus-
maß des freien Faktors Xa; Konsequenz: Venöse Thrombosen bei ca. 60–70 %
dieser Pat. während ihres Lebens.

7.7.3 Faktor-V-Mutation
Faktor-V-Mutation Leiden G1691A = APC-Resistenz:
• Prävalenz bei ca. 5 % der Normalpopulation.
• Häufigste Thromboseneigung in Europa u. Nordamerika.
• Punktmutation betrifft den Austausch eines Eiweißes im Gerinnungsfaktor V.
Aktiviertes Protein C (APC) spaltet mit Protein S die Faktoren Va u. VIIIa.
Als Folge dieser Genmutation (in 90–95 % Punktmutation 1691GA) kann der
prokoagulatorische Faktor V in seiner aktivierten Form nicht mehr durch ak-
tiviertes Protein C gespalten u. inaktiviert werden. Daraus ergibt sich eine er-
höhte Gerinnungsfähigkeit des Bluts. So führt die verzögerte Inaktivierung
der Faktoren V u. VIII zu einer gesteigerten Thrombinbildung.
Klin. Relevanz:
• Heterozygote Merkmalsträger weisen ein ca. 5–10-fach erhöhtes Thrombose-
risiko auf, homozygote Merkmalsträger ein 80–100-faches Risiko.
• Thrombosewahrscheinlichkeit steigt mit weiteren Risiken zusätzlich an: Bei F
7 mit Mutation u. Einnahme oraler Kontrazeptiva ist die Inzidenz der Throm-
boseentstehung (28,5/10.000 Lj) gegenüber F ohne Mutation u. ohne Kontra-
zeptiva (0,8/10.000 Lj) deutlich erhöht.
Diagnose:
• APC-Ratio: Quotient der aktivierten PTT mit/ohne Zusatz von APC; normal
> 2, Heterozygote 1,3–2, Homozygote < 1,3.
• Beachte: Erworbene APC-Resistenz bei akuter Thrombose, Infektion, Ovula-
tionshemmer, Gravidität, Heparin, Marcumar.
• Mutationsnachweis mit PCR ist prim. anzustreben, da die APC-Ratio erst
2–3 Mon. nach der akuten Thrombose valide ist.

7.7.4 Hyperhomocysteinämie
Hyperhomocysteinämie ist das Resultat eines gestörten intrazellulären Methio-
ninstoffwechsels, dem ein Enzym- u./o. Vit.-Mangel zugrunde liegt. Aus epide-
miologischen Studien ist bekannt, dass Hyperhomocysteinämie einen Risikofak-
tor für KHK, Schlaganfall, pAVK u. venöse Thrombosen darstellt.
  7.8 Sinusvenenthrombose (SVT)  313

Urs.:
• Erbliche Stör. im Homocysteinstoffwechsel. Heterozygote Defekte bei Spie-
geln > 30 μmol/l, bei Homozygotie Blutspiegel oft > 100 μmol/l (Homozystin-
urie), mit sehr stark erhöhtem venösen Thromboserisiko.
• Erworbene Urs. durch Mangelversorgung mit Vit. B6/12 u. Folsäure o. durch
medikamentöse Interaktionen:
– Folsäuremangel: Methotrexat, Antikonvulsiva, Trimethoprim.
– Vit.-B6-Mangel: Theophyllin.
– Vit.-B12-Mangel: Absorption durch Metformin (Protonenpumpenhemmer).
Diagnose: Bei Homocysteinspiegel > 12 μmol/l.
Ther./Prophylaxe:
• Komb. aus Vit. B6, B12 u. Folsäure kann das Plaquevolumen in der A. carotis
auch bei Spiegeln < 14 μmol/l reduzieren.
• Aktuelle Studien zeigen, dass die Ther. mit Vit. B6, B12 u. Folsäure zwar den
Homocysteinspiegel senkt, aber keine damit verbundene Reduktion weiterer
zerebro- o. kardiovask. Ereignisse innerhalb von 2–3 J.

7.8 Sinusvenenthrombose (SVT)
7.8.1 Blande Sinusvenenthrombose
ICD-10 I67.6.
Risikofaktoren:
• Schwangerschaft, Ovulationshemmer, Wochenbett, OP
• Exsikkose o. Kachexie bei Infektionskrankheiten u. Tumoren
• Thrombophilie
• Tumoren
• Kollagenosen
• SHT
• Polyglobulie
• Nephrotisches Sy.
• Obere Einflussstauung des Herzens
• Ther. mit rekombinantem Erythropoetin
Klinik:
• Meist allmählicher Beginn mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, oft als 7
Migräne verkannt.
• Häufig fokale o. generalisierte Anfälle als Einweisungsgrund.
• Später fluktuierende, oft bilat. Herdsympt.: Hemiparese, Abduzensparese.
STP in 25 %.
• Psychische Verlangsamung o. Agitiertheit, Verwirrtheit u. Vigilanzstör.
Diagn.:
• Labor:
– D-Dimere: Werte > 500 μg/l: Bei auf SVT verdächtigen Kopfschmerzen,
wenn Beginn nicht länger als 14 d zurückliegt, Sensitivität 97 %, Spezifität
91 %. Werte < 500 μg/l schließen eine SVT aber v. a. bei isolierten Kopf-
schmerzen u. längerer Symptomdauer nicht aus, jedoch auch in aktuellen
Studien kein Pat. mit vollauf normalen D-Dimeren (< 200 μg/l).
– BB, Leukozytose, BSG ↑, Gerinnungsanalyse einschließlich AT III, Prote-
in C u. S, APC-Resistenz, Antiphospholipid-AK, Krea, Harnstoff.
• MRT: In Komb. mit MR-Venografie Standard zur nichtinvasiven Diagnose­
sicherung.
314 7  Ischämische ZNS-Erkrankungen  

• MR-Venografie (MRV): KM-gestützte MRV: Höchste Sensitivität für akute/


subakute SVT, T2*-Wichtung für Brückenvenenthrombosen.
• CT/CT-Venografie: Nachweis von Stauungsödem u. Blutungen. „cord sign“ =
thrombosierte kortikale Vene im Nativbild. „empty triangle“ = Aussparung
im Sinus im Kontrastmittel-CT (▶ Abb. 7.16).
• Angiografie (DSA): nur noch in Ausnahmefällen erforderlich bei dringen-
dem Verdacht auf isolierte Brückenvenenthrombose.
– direkte Zeichen: fehlende Darstellung eines Sinus o. einer Vene.
– indirekte Zeichen: verzögerter venöser Abfluss, venöse Kollateralen.
• EEG: Allgemeinveränderung, evtl. Herdzeichen.
• LP: Nur bei V. a. septische SVT: Pleozytose, Eiweißvermehrung, bei Einblu-
tungen xanthochrom. Immer mikrobiologische Unters. veranlassen.
• Suche nach Risikofaktoren:
– HNO-Konsil bei V. a. septische SVT.
– Tumorsuche (gynäkologisches u. urologisches Konsil, Oberbauchsono,
Hämoccult®, Tumormarker).
– Gerinnungsanalyse (Protein C u. S, APC-Resistenz).

Hypodense
venöse Stauung

Hyperdense,
thrombosierte
Brückenvene

Atypische Blutung
„Empty triangle”
nach KM-Gabe

Abb. 7.16  Sinusvenenthrombose im CCT [M139]

7 Ther.:
• Intensivther.: ZVK, Blasenkatheter, Bilanzierung u. Rehydrierung, Ulkuspro-
phylaxe (▶ 7.1.4).
• Vollheparinisierung: (▶ 7.2.11). Auch bei intraparenchymalen Blutungen,
verhindert das Fortschreiten der Thrombose. Fortführung bis zum Abklingen
o. bis zur Stabilisierung der neurol. Ausfälle. Evtl. AT-III-Mangel ausgleichen.
Anschließend Kumarine p. o. für 8–12 Mon. (▶ 7.2.12).
• Experimentell: Lokale Mikrokatheter-Lyse mit rtPA o. mechanisch. Vertret-
bar als Ultima Ratio bei progredienter Verschlechterung unter Heparin. Ho-
hes Blutungsrisiko.
• Hirndruckther.: (▶ 4.6.4). Osmother. ist kontraindiziert!
• Antikonvulsiva:
– Symptomatisch u. passager, z. B. mit Levetiracetam; Valproinsäure- o.
Phenytoin-Schnellaufsättigung, später Umstellung auf orale Medikation.
– Keine Dauerprophylaxe notwendig, da nur sehr selten eine Residualepi-
lepsie auftritt.
– Kontrazeptiva absetzen!
  7.8 Sinusvenenthrombose (SVT)  315

7.8.2 Septische Sinusvenenthrombose
Ätiol.: Folge fortgeleiteter Entzündungen der NNH, des Mittelohrs o. von Nasen-
furunkeln (bes. bei Diabetikern).
Klinik: Fieber, lokale Rötung u. Schwellung der Kopfhaut über dem betroffenen
Sinus, Chemosis u. Exophthalmus, multiple HN-Ausfälle.
Diagn.: Wie bei blander SVT (▶ 7.8.1), im BB Leukozytose, Linksverschiebung,
BSG ↑. Blutkultur, Serologie, HNO-ärztliches Konsil mit Rö der NNH, auf Mas-
toiditis o. Sinusitis achten!
Ther.:
• Schnellstmögliche operative Herdsanierung mit bakteriologischer Unters.
• Danach Breitbandantibiose, z. B. mit Cefotaxim 3 × 2 g/d i. v. (z. B. Claforan®)
kombiniert mit Staphylokokkenpenicillin, z. B. Dicloxacillin 4 × 2 g/d i. v.
(Dichlor-Stapenor®), ggf. Umstellung nach Antibiogramm.

7
8 Intrakranielle Blutungen
Jürgen Klingelhöfer und Vesna Lezaic

8.1 Spontane supratentorielle 8.3.2 Epidemiologie und


­intrazerebrale Blutung ­Ätiologie 324
(ICB) 318 8.3.3 Warnzeichen 324
8.1.1 Ätiologie und 8.3.4 Intrakranielle
­Pathophysiologie 318 ­Aneurysmen 324
8.1.2 Epidemiologie 318 8.3.5 Begünstigende Faktoren
8.1.3 Ursachen nach für SAB 326
­Pathogenese 319 8.3.6 Schweregrad der SAB 326
8.1.4 Auslösende Faktoren 319 8.3.7 Diagnostik 326
8.1.5 Frühe Blutungsprogression 8.3.8 Komplikationen 329
(Blutungswachstum) 319 8.3.9 Spezifische Therapie der
8.1.6 Klinik 319 ­aneurysmatischen SAB 331
8.1.7 Diagnostik 320 8.3.10 Methoden zum
8.1.8 Komplikationen 320 ­Aneurysmaverschluss 331
8.1.9 Therapie 320 8.3.11 Wahl des methodischen
8.1.10 Prognose 322 ­Vorgehens: Clipping versus
8.1.11 Prophylaxe von Coiling 332
­Rezidivblutungen 323 8.3.12 Begleitende Therapie
8.2 Spontane infratentorielle der SAB 332
­Blutung (Kleinhirn-, 8.3.13 Prognose 334
­Hirnstammblutung) 323 8.3.14 SAB ohne
8.3 Subarachnoidalblutung ­Aneurysmanachweis 334
(SAB) 323 8.4 Venöse Blutungen 335
8.3.1 Definition 323
318 8  Intrakranielle Blutungen  

SDH ▶ 22.2.2, ▶ 22.2.3, EDH ▶ 22.2.1, intrazerebrale Hämatome ▶ 22.2.4, intra-


kranielle Blutungen bei SHT ▶ 22.1, Gefäßmalformationen ▶ 7.6.

8.1 Spontane supratentorielle intrazerebrale


Blutung (ICB)
8.1.1 Ätiologie und Pathophysiologie
Zur Ätiol. u. Lokalisation in Abhängigkeit vom Pat.-Alter ▶ Tab. 8.1.

Tab. 8.1  Häufigste Ätiologie u. Blutungslokalisationen nach Alter (▶ Abb. 8.1)


Alter Häufigste Ursache Häufigste Lokalisation

< 40 J. AVM (29–57 %) Stammganglien

40–70 J. Hypertonie (> 70 %) Thalamus, Stammganglien,


Marklager u. Pons (= „loco
typico“), Kleinhirn

> 70 J. Zerebrale Amyloidangiopathie (bei 30 % Subkortikales Marklager


der Pat. > 70 J., 40 % der Pat. > 80 J.) (Lobärhämatome)

Periventrikuläre Dichte-
minderung als Zeichen
eines bestehenden
arteriellen Hypertonus
Verschmälerter Seiten-
ventrikel durch Raum-
forderung
Blutung

Ausgestrichene Sulci
durch Raumforderung

Perifokale Dichtemin-
derung (Ödem)

Abb. 8.1 Stammganglienblutung (li); atypisch gelegene Metastasenblutung (re)


8 [M139]

8.1.2 Epidemiologie
Inzidenz: 11–23/100.000 Einwohner/J., M : F = 3 : 2.
   8.1  Spontane supratentorielle intrazerebrale Blutung (ICB)  319

8.1.3  Ursachen nach Pathogenese


Rhenixblutung
• Hypertensive Mikroangiopathie
• Zerebrale Amyloidangiopathie
• Zerebrale AV-Malformationen
• Kavernome
• Durafisteln
• Aneurysmen
• Tumoren
• Zerebrale Makroangiopathie
• Zerebrale Endometriose
Diapedeseblutung
• Ischämie
• Gerinnungsstörungen
• Sinus-/zerebrale Venenthrombose
Sonstige Risikofaktoren
Rauchen, erhöhter Alkoholkonsum, Diabetes, erhöhte Triglyzeride, BMI, psychi-
atrische Vorerkr. Serum-Chol. < 160 mg/dl, Drogenabusus, Eklampsie, post. re-
versible Enzephalopathie.

8.1.4 Auslösende Faktoren
Gehäuft physische u. psychische Akutsituationen, die zu RR-Steigerung führen
können, z. B. Anheben schwerer Gegenstände, Erdarbeiten, Schneeschaufeln,
­Koitus, Insektenstiche etc.

8.1.5 Frühe Blutungsprogression (Blutungswachstum)


Blutungswachstum innerhalb der ersten 6 h in ca. 30 %; Risikofaktoren erhöhter
RR u. Gerinnungsstör.; wichtiger Angriffspunkt einer frühen hämostatischen u.
blutdrucksenkenden Ther.

Multiple ICB finden sich v. a. bei Amyloidangiopathie, SVT, Gerinnungsstör.


u. Vaskulitis.

8.1.6 Klinik 8
Klinische Leitsymptome
Plötzliche Kopfschmerzen, apoplektiform auftretende fokal-neurol. Ausfälle mit
früher Verschlechterung des NIHSS, Bewusstseinsstör. bei akuter Hirndruck­
sympt., epileptische Anfälle.
Progredienz der Sympt. in den ersten Stunden entsprechend der Hämatomaus-
weitung; Verschlechterung nach den ersten 24  h i. d. R. auf progredientes
Hirnödem zurückzuführen.
320 8  Intrakranielle Blutungen  

Epileptische Anfälle initial bei 50 % der Pat. mit lobären Blutungen; häufig
vegetative Stör. wie EKG-Veränderungen u. Herz-Kreislauf-Stör.

8.1.7 Diagnostik
Unabdingbar notwendig
• Anamnese/Fremdanamnese
• Allg. körperl. u. internistische Unters.
• Neurol. Status
• CCT zur Lokalisierung u. Abschätzung der Blutungsgröße
– 3 cm Durchmesser = 20 ml
– 4,5 cm Durchmesser = 50 ml
• MRT (mit T2*-Wichtung, zum Nachweis von Gefäßfehlbildungen, Tumoren,
Mikroblutungen sowie Abschätzung des Blutungsalters)
• Basislabor (BB, Nieren- u. Leberwerte, Gerinnung)
• EKG, Rö-Thorax, internistische Unters.
Im Einzelfall erforderlich
• MR- (MRA) o. CT-Angiografie (CTA).
• Intraarterielle Angiografie bei V. a. High-Low-AVM, Durafisteln, rupturiertes
Mediaaneurysma.
• Sonografie: transkranielle Parenchymsono der Blutung.
• Gerinnungsstatus:
Basisprogramm: Quick, PTT, Thrombozytenzahl, -funktion,
erweitertes Programm bei klin.-anamnestischen Verdacht: Faktor I, VII, VIII,
IX, XIII, Von-Willebrand-Faktor.
• Drogenscreening.
• Vaskulitisdiagn.

8.1.8 Komplikationen
• Erbrechen: Gefahr der Aspiration.
• Zunahme des perifokalen Ödems: Hirndruckbehandlung.
• Nachblutung/frühe Progression: in bis zu 40 %.
• ICP ↑ mit Stör. der Liquorzirkulation: meist Verschlusshydrozephalus, auch
Hydrocephalus aresorptivus. Anlage einer externen Ventrikeldrainage. Lum-
baldrainage nur bei kommunizierendem Hydrozephalus.

8 8.1.9 Therapie
Erstmaßnahmen
• Sicherung der Vitalfunktionen (Intubation bei Bewusstseinsstör. o. Ausfall
der Schutzreflexe).
• Venöser Zugang.
• O2-Gabe über Maske o. Sonde.
• Monitoring mit EKG, Pulsoxymetrie u. RR-Messung.
Blutdruckkontrolle
• Ziel: Vermeidung der frühen ICB-Progression.
   8.1  Spontane supratentorielle intrazerebrale Blutung (ICB)  321

• Interventionsschwellen:
– Bekannter Hypertonus o. Endorganschäden (LV-Hypertrophie): Senkung
ab > 180/105 mmHg auf < 170/100 mmHg.
– Keine vorbestehende Hypertonie: RR-Senkung ab > 160/95 mmHg auf
Ziel < 150/90 mmHg.
• Medikamente:
– I. v.: Urapidil; Clonidin.
– Falls Pat. agitiert, RR-Senkung auch durch leichte Sedierung.
–  Cave: keine ausgeprägte RR-Senkung > 20 % in der Frühphase; zerebraler
Perfusionsdruck sollte > 60 mmHg sein.

Anfallsprophylaxe
▶ 11.1.5.
Analgesie
▶ 6.1.
Low-Dose-Heparinisierung
Ab dem Tag nach der Blutung möglich.

Im Einzelfall Imitation eines Myokardinfarkts mit ST-Hebung, CK- u. Tro-


ponin-Anstieg!

Sicherung der Oxygenierung bei soporösen/komatösen Patienten


• Aufrechterhaltung einer adäquaten Ventilation u. Oxygenierung, Schutz der
Atemwege.
• Frühzeitige Intubation u. künstliche Beatmung bei
– PaCO2 > 60 mmHg,
– sich abzeichnender Ateminsuff.,
– Aspirationsgefahr, z. B. bei zunehmender Bewusstseinsstör.

ICP-Monitoring
• Indiziert bei zunehmender Bewusstseinsstör (GCS < 9), Massenverlagerung
im CT, Ventrikeltamponade u. konsekutiven Liquorabflussstör.
• Therap. Ziele: ICP < 20 mmHg u. CCP ≥ 70 mmHg, ICP-Senkung (▶ 4.6).
Ausgeprägte Ventrikelblutung
Durch Ventrikeleinbruch der Blutung (40–50 % der ICB, v. a. bei Stammganglien-
blutungen).
Ther.: 8
• Externe Ventrikeldrainage.
• intraventrikuläre Lyse (GdE IIb): Instillation von rtPA, z. B. 1 mg alle 8 h über
48–60 h o. Urokinase (z. B. 5.000 IE alle 6 h über 48–60 h) in den Ventrikel-
katheter. Beginn frühestens 12 h nach Ereignis u. 6 h nach EDV-Anlage.

Blutungen unter Antikoagulanzienbehandlung


• Blutung unter Marcumar®: Gabe von Prothrombin-Komplex-Konzentrat
(PPSB, langsam i. v.), zusätzlich immer Vit. K i. v.
• Wiederbeginn der Antikoagulation: Abwägung von Ischämierisiko (z. B.
CHA2DS2Vasc-Score bei Vorhofflimmern) versus Rezidivblutungsrisiko. Wie-
322 8  Intrakranielle Blutungen  

derbeginn i. d. R. nur bei hohem Ischämierisiko u. eher niedrigem Rezidivblu-


tungsrisiko, d. h. i. d. R. nur bei Pat. mit Stammganglienblutung sinnvoll. Be-
ginn nach 10–14 d unter strikter INR- u. RR-Überwachung, ansonsten ASS.

Chirurgische Therapie supratentorieller Blutungen


• Nutzen unsicher für die Mehrzahl der Pat.
• Ind. zur Kraniotomie u. Blutungsevakuation:
– Aneurysmaruptur mit Marklagerblutung. Zeitgleich Versorgung des
­Aneurysmas.
– Angiomblutung (AVM; GdE IIb): bei Verschlechterung der Bewusstseins-
lage u. Hämatomdurchmesser > 3 cm.
– Prim. komatöse Pat. u. jüngeres Alter (z. B. < 65 J.).
– Keine Ind. bei kleiner Blutung ohne relevante Raumforderung, Stamm-
ganglienblutungen.
• Minimalinvasive Entlastung (Bohrloch-Blutungsdrainage u. Blutungsevakua-
tion):
Ind.: Progrediente Vigilanzminderung u. Raumforderung.
• Zeitpunkt der Entlastung: am ehesten beim Übergang Somnolenz → Sopor;
pos. Trend bei früher OP (Durchschnitt 8 h).

8.1.10 Prognose
• Nach Klinik:
– GCS < 5 → Letalität 50 %.
– GCS < 8 mit Thalamusblutung, blutausgefülltem III. u. IV. Ventrikel →
Letalität 70 %.
• Nach Größe: 50 ml (entsprechend 4,5 cm Durchmesser) → Letalität 50 %.
• Nach Größe u. GCS (▶ Tab. 8.2):
– GCS ≤ 8 u. Blutung ≥ 60 ml → 30-Tage-Letalität 91 %.
– GCS ≥ 9 u. Blutung ≤ 30 ml → 30-Tage-Letalität 19 %.
• Nach Lokalisation: Stammganglien → Letalität 20 %, lobär → Letalität 8 %.
• Nach Ventrikeleinbruch: Keiner/gering → Letalität 13 %, Ventrikeltamponade
→ 53 %.
• Rezidivblutungen: 4–5 %/J., abhängig von Ätiol. auch höher; hohe Letalitätsrate.

Tab. 8.2  Abschätzung der 30-Tage-Mortalität: ICB-Score nach Hemphill


Parameter Punkte

GCS 3–4 2
8 5–12 1

> 12 0

ICB-Volumen > 30 ml 1

Ventrikeleinbruch 1

Infratentorielle ICB 1

Erkr.-Alter > 80 J. 1

Mortalität: 0 % bei 0 Punkten, 13 % bei 1 Punkt, 26 % bei 2 Punkten, 72 % bei
3 Punkten, 97 % bei 4 Punkten, 100 % bei 5–6 Punkten
  8.3 Subarachnoidalblutung (SAB)  323

8.1.11 Prophylaxe von Rezidivblutungen


Antihypertensive Behandlung, Nikotinabstinenz, allenfalls geringer Alkoholkon-
sum, Gewichtsreduktion, Diabeteseinstellung.

8.2 Spontane infratentorielle Blutung


(Kleinhirn-, Hirnstammblutung)
• Ätiol.: am häufigsten Hypertonie; bei jüngeren Pat. AV-Malformation,
­Kavernom; Gerinnungsstör.; selten Kleinhirnblutung durch Aneurysmen.
• Hauptauswirkung der großen Kleinhirnblutung: Raumforderung mit Hirn-
stammkompression u. Liquoraufstau.
Klin. Bild (in Stadien):
• 1: Wach, zerebelläre Sympt.
• 2: Fluktuierende Bewusstseinslage, bilaterale Hirnstammausfälle, bilaterale
Pyramidenbahnzeichen, Pupillenstör.
• 3: Komatös, Strecksynergismen.
Ther.:
• Kleinhirnblutungen (10–15 % aller ICB): Entscheidung über operatives Vor-
gehen anhand von Stadium u. Blutungsgröße:
– Stadium 1 u. Blutungsgröße bis 20 ml (Durchmesser 3 cm): konservativ.
– Stadium 2 o. Blutungsgröße > 20 ml: rechtzeitige Entlastungs-OP.
– Stadium 3: Entlastungsversuch bei Komadauer < 1 h.
• Mittelhirn-/Ponsblutungen (< 5 % aller ICB): konservatives Management wie
bei supratentorieller ICB, externe Liquordrainage bei Einbruch in den
IV. Ventrikel u. Liquoraufstau mit Vigilanzminderung.
Progn. bei:
• Kleinhirnblutung ▶ Tab. 8.3.
• Hirnstammblutung: gutes Outcome nur bei unilateraler Blutung u. wachem
Zustand bei Aufnahme.

Tab. 8.3  Prognose anhand der Blutungsgröße


Blutungsgröße Letalität

> 60 ml 75 %

30–60 ml 57 %

< 20 ml gering

8
8.3 Subarachnoidalblutung (SAB)
8.3.1 Definition
Akute Einblutung in den Subarachniodalraum. Plötzlich einsetzende Kopf-
schmerzen hoher Intensität mit o. ohne Bewusstseinsstör. sind immer suspekt auf
eine SAB.
324 8  Intrakranielle Blutungen  

8.3.2 Epidemiologie und Ätiologie


• Inzidenz 6–12/100.000 pro Jahr.
• Ca. 5 % aller Schlaganfälle.
• In ca. 85 % liegt der SAB eine Ruptur eines Aneurysmas an einer basalen
Hirnarterie zugrunde.
• Andere Urs.: Rhexisblutungen intrakranieller Arterien (vornehmlich Verte­
bralisstromgebiet), mykotische Aneurysmen, AVM (5 %), SHT, Vaskulitis,
SVT, Gerinnungsstör.
• In 10–15 % d. F. wird die Blutungsquelle nicht aufgedeckt.

8.3.3 Warnzeichen
Bei 25–50 % der Pat. Tage bis Wo. vor der eigentlichen Ruptur ein Ereignis mit
plötzlichen Kopfschmerzen u. geringer Nackensteifheit. Diese Warnblutungen
sind durch ein kleines Aneurysmaleck („minor leak“, „warning leak“) bedingt.

CCT erbringt nur bei 45 % dieser Pat. Auffälligkeiten, deshalb im Verdachts-
fall Liquorunters.; gezielte Suche nach xanthochromer Färbung, Sideropha-
gen u./o. Ferritinerhöhung.

8.3.4 Intrakranielle Aneurysmen
Prävalenz unrupturierter Aneurysmen:
• Unselektiert:
– Autopsiebefunde 4,3  %.
– Angiobefunde 4–6  %.
– Erw. ohne sonstige Risikofaktoren 3,2 %.
• Erhöhtes Risiko bei Pat. mit polyzystischer Nierenerkr. (relatives Risiko 6,9)
o. Arteriosklerose.
• In Familien mit aneurysmatischen SAB bei ≥ 2 Familienmitgliedern: 10–20 %
Aneurysmaträger.
• Neuentwicklung von Aneurysmen jährlich bei ca. 2 % der Pat. mit vorangegan-
gener Aneurysmaruptur; Jahresblutungsrisiko in dieser Gruppe ca. 0,5 %/J.
Pathophysiologie: Kongenitale Wandschwäche (Texturstör. der Muscularis?) →
basale, sackförmige Aneurysmen; postnatale Degeneration der Lamina elastica
interna (arteriosklerotisch, entzündl., embolisch, z. B. bakt. Embolien bei Endo-
karditis in die Vasa vasorum, traumatisch) → vorwiegend fusiforme Aneurysmen.
Assoziierte Erkr.: Zystennieren, Neurofibromatose Typ  I, fibromuskuläre Dys-
8 plasie, Marfan-Sy., Ehlers-Danlos-Sy. Typ IV.
Aneurysmalokalisation (▶  Abb.  8.2): R. communicans ant. (36 %), ACI (33 %),
ACM (13 %), ACA (10 %), A. basilaris (4 %), A. vertebralis (1–3 %). Multiple An-
eurysmen bei > 20 % der Pat. mit SAB.
Blutungsrisiko unrupturierter Aneurysmen:
• Unselektiert: 1,9 %/J.
• Abhängig von vorangehender Blutung: Pat., die noch nie eine Aneurysma-
ruptur hatten < 0,05 %/J.; Pat. mit vorangehender Aneurysmaruptur 0,5 %/J.
• Abhängig von der Aneurysmagröße:
– Im vorderen Stromgebiet bei Pat. ohne vorausgegangene SAB kumulati-
ves 5-J.-Rupturrisiko bei Aneurysmagröße < 7 mm: 0 %; 7–12 mm: 2,6 %;
13–24 mm: 14,5 %; ≥ 25 mm: 40 %.
  8.3 Subarachnoidalblutung (SAB)  325

40–45%

15–20% 15–20%

15–20%

3–5%

1–2%

Abb. 8.2  Häufigkeit der Lokalisation zerebraler Aneurysmen [L157]

– Im hinteren Stromgebiet (ca. 5-fach höhere Rate): entsprechend 2,5 %,


14,5 %, 18,4 %, 50 %. Sonderfall ACI-Aneurysma im kavernösen
­Abschnitt: < 13 mm: 0 %, 13–24 mm: 3 %, ≥ 25 mm: 6,4 %.
Klin. Folgen von Aneurysmen:
• SAB.
• Seltenere Blutungstypen: Intraparenchymatös (z. B. nach oben orientierte
Mediaaneurysmen), intraventrikulär, subdural.
• Raumforderungszeichen: HN-Ausfälle (v. a. N. opticus u. Augenmuskelner-
ven), epileptische Anfälle durch Druck auf frontobasalen o. temporalen Kor-
tex, Trigeminusneuralgie, hypothalamische Stör.
• Ischämische Sympt.: Durch Spontanthrombose mit gleichzeitigem Verschluss
des tragenden Gefäßes o. von perforierenden Gefäßen bzw. durch Aus-
schwemmung intraaneurysmaler Thromben.
Primärprophylaxe unrupturierter intrakranieller Aneurysmen:
• Entscheidungen prinzipiell individuell nach interdisziplinärer Diskussion u.
Shared-Consent mit dem Pat. unter Abwägung des Blutungsrisikos des Aneu-
rysmas, des Behandlungsrisikos versus Alter u. Komorbidität.
• Nicht rupturierte Aneurysmen der vorderen Zirkulation (ohne A.-communi- 8
cans-post.-Abgang):
– < 7 mm ohne stattgehabte SAB aus einem anderen Aneurysma: keine ge-
nerelle Behandlungsempfehlung für Ther.; immer Empfehlung RR zu sen-
ken, Rauchstopp, keinen erhöhten Alkoholkonsum. Nichtinvasive Ver-
laufskontrolle (MRA) von Aneurysmagröße u. Konfiguration in zunächst
jährlichen, dann längeren Abständen. Für Behandlung sprechen eher: Al-
ter < 50 J., Größe nahe 7 mm, angiografische Risikofaktoren (gelappte
Kontur, Tochtersack, Größenprogredienz), familiäre Aneurysmaerkr., po-
lyzystische Nierenerkr.
– ≥ 7 mm: Behandlung unter Berücksichtigung von Größe, Alter, neurol. u.
Allgemeinzustand sowie den Risiken der Ther.-Verfahren.
326 8  Intrakranielle Blutungen  

• Nicht rupturierte Aneurysmen der hinteren Zirkulation (einschließlich der


A. communicans post.) u. asymptomatische intrakranielle Aneurysmen (nach
stattgehabter SAB aus einem anderen, bereits versorgten Aneurysma): Be-
handlung i. d. R. empfohlen unter Abwägung von Größe, Lage, Behandelbar-
keit u. AZ des Pat.
• Kleine asymptomatische intrakavernöse Karotis-Aneurysmen: keine Behandlung.

8.3.5 Begünstigende Faktoren für SAB


Aneurysmen sind wahrscheinlich kongenital u. nehmen im frühen Erw.-Alter
aufgrund hämodynamischer Faktoren an Größe zu. Risikofaktoren: art. Hyperto-
nie, Rauchen, Hypercholesterinämie, Drogen, möglicherweise Kontrazeptiva, pos.
Familienanamnese bei 5–20 % der SAB-Pat.

8.3.6 Schweregrad der SAB


Zur Einteilung des Schweregrads werden die Skala nach Hunt u. Hess u. die Ein-
teilung nach der World Federation of Neurological Surgeons (WFNS) verwendet
(▶ Tab. 8.4).

Tab. 8.4  Schweregrad bei SAB entsprechend der Skala nach Hunt u. Hess u.
der Klassifikation der World Federation of Neurological Surgeons
Skala nach Hunt und Hess WFNS-Skala

Grad Kriterien Grad GCS Motorische ­Defizite

1 Asymptomatisch o. leichte I 15 Nein


Kopfschmerzen, leichter
Meningismus

2 Mäßige bis starke Kopf- II 13–14 Nein


schmerzen, Meningismus,
keine Herdneurologie, au-
ßer HN-Stör.

3 Somnolenz u./o. Verwirrt- III 13–14 Ja


heit u./o. leichte Herdneu-
rologie, mäßige Hemipa-
rese, vegetative Stör.

4 Sopor, mäßige bis schwere IV 7–12 Ja/nicht prüfbar


Hemiparese, vegetative
Stör.
8 5 Tiefes Koma, intrakraniel- V 3–6 Ja/nicht prüfbar
le Herniationszeichen, Ein-
klemmungszeichen

8.3.7 Diagnostik
CT (▶ Tab. 8.5)
• Blut in basalen Zisternen, Fissura Sylvii, über der Konvexität o. im Interhemi-
sphärenspalt, präpontin u. interpedunkulär (▶ Abb. 8.3);
– ICB möglich (v. a. Mediaaneurysmen, Kontakt der Blutung zur Mediatri-
furkation suchen); teils auch mit Einbruch ins Ventrikelsystem.
  8.3 Subarachnoidalblutung (SAB)  327

– Selten zusätzliche subdurale Blutung.


• Evtl. beginnender Aufstau der Ventrikel.
• Evtl. Hirnödem o. Infarkte.
• Sensitivität bzgl. SAB am 1. d ca. 90–95 %, nach 3 d 80 %, nach 1 Wo. 50 %.
• Darstellung des Aneurysmas im Nativ-CT in 5 %, in der kontrastverstärkten
CT-Angiografie werden Aneurysmen > 4 mm sicher erkannt.

Intraparenchy-
males Blut mit
perifokalem
Ödem

Subarachnoidales
Blut

Abb. 8.3  Subarachnoidalblutung [M139]

Tab. 8.5  Graduierung der Blutmenge im CT mittels der modifizierten Fisher-


Skala; Abschätzung des Risikos von Vasospasmen
Grad CT-Befund Risiko für symptomati-
sche Vasospasmen

1 Minimale o. diffuse SAB ohne Ventrikeleinbruch 24 %

2 Wie 1, aber mit Ventrikeleinbruch 33 %

3 Zisternale Tamponade (> 1 mm Dicke des Blutsig- 33 %


nals), lokalisiert o. diffus, kein Ventrikeleinbruch

4 Wie 3, aber mit Ventrikeleinbruch 40 %

MRT
• Bei akuter SAB: MRT mit Standardsequenzen dem CT eindeutig unterlegen.
• Bei subakuter SAB (einige Tage zurückliegend) ist MRT bildgebende Metho-
de der Wahl (FLAIR-Sequenz).
• Bei Suche nach ältereren SAB: T2*-Sequenzen mit Hämosiderin-Nachweis 8
bei > 70 % auch nach > 3 Mon.
• Art. MR-Angio: Sensitivität ähnlich wie CT-Angio. Aneurysmen > 4 mm
werden sicher erkannt.

Liquorpunktion
• Ind.: bei fehlendem o. nicht eindeutigem Blutnachweis u. klin. Verdacht
­(cave: artifizielle Blutbeimengung).
• Wasserklarer Liquor schließt SAB innerhalb der letzten 2 Wo. weitgehend
aus.
328 8  Intrakranielle Blutungen  

• Xanthochromer Liquor nach 4–12 h spricht für eine Blutung (zuvor Erythro-
zyten nicht lytisch).
• Liquor xanthochrom: frühestens ab > 4 h, deutliche Ausprägung ab > 6–8 h.
• Nachweis von Erythrophagen: frühestens nach > 4 h.
• Nachweis von Siderophagen: > 4 d, können bis zu 6 Mon. nachweisbar blei-
ben.

Transkranielle Doppler-Sonografie
• Nach frühestens 3 d Nachweis von Vasospasmen der intrakraniellen Gefäße.
Nachweis u. Behandlung eines Aneurysmas unmittelbar, max. innerhalb von
24 h nach SAB (hohes Rezidivblutungsrisiko)!

CT-Angio (CTA)
Sensitivität 96–98 % (≤ 3 mm: 61 %): Eine qualitativ hochwertige CTA ist i. d. R.
ausreichend zur prim. Diagn. nach SAB.

MR-Angio (MRA)
Sensitivität 94 % (≤ 3 mm: 38 %).

Transkranielle Duplex-Sonografie
Sensitivität ca. 80 % bei Aneurysmen > 5 mm im vorderen Stromgebiet.

Selektive i. a. Angiografie der hirnversorgenden Arterien (DSA-


Technik)
• Empfindlichste Methode, Goldstandard.
• Zeitpunkt: möglichst früh, spätestens innerhalb der ersten 72 h.
• Darstellung aller Gefäße wegen der Möglichkeit multipler Aneurysmen (15–
20 %; ▶ Abb. 8.4).
• Kontroll-Angio bei inkompletter Darstellung der Hirngefäße in der Erst-An-
gio frühestmöglich (sofern keine Vasospasmen vorliegen).

8
  8.3 Subarachnoidalblutung (SAB)  329

Abb. 8.4  Multiple Aneurysmen. Pat. mit insgesamt fünf Aneurysmen: Drei Aneu-
rysmen ACM li, ein Aneurysma ACM re, ein Aneurysma im Bereich des Karotissi-
phons re. Li oben: Injektion ACI re. Re oben: Injektion ACI li. Li unten: Z. n. Coiling
des M1-Aneurysmas li. Re unten: Die beiden kleineren distaleren linken Media-
Aneurysmen (Darstellung in anderer Projektion) wurden zu einen späteren Zeit-
punkt versorgt [M139]

8.3.8 Komplikationen
Rezidivblutung:
• Erfolgt aus einem noch nicht ausgeschalteten Aneurysma (Letalität 50–70 %).
• Nachblutungsrisiko mit 5 % innerhalb der ersten 24 h am höchsten; danach
1,5 %/d in den ersten 2 Wo. u. 50 % in den ersten 6 Mon. Danach 3 %/J. bei
ungeclippten Aneurysmen, 5 %/J. bei inkomplett geclippten Aneurysmen.
• Rezidivblutung kann durch eine möglichst frühzeitige Ausschaltung des An-
eurysmas wirksam verhindert werden. Unrupturierte Aneurysmen haben ein
Blutungsrisiko von 1 %/J.
Hydrozephalus (▶ 26): 8
• Früh-Hydrozephalus: einige Stunden bis Tage, durch Okklusion o. Abfluss-
behinderung.
• Spät-Hydrozephalus: durch Liquorresorptions-/-zirkulationsstör.
• Verschluss des Aquädukts, der Foramina Magendii u. Luschkae o. Verkle-
bung der Pacchioni-Granulationen.
• Ein Hydrocephalus entwickelt sich bei 10 % der Pat. nach SAB, bevorzugt bei
intraventrikulären Blutungen u. Ausguss der Cisternaambiens.
• Diagnose mit CCT o. MRT.
330 8  Intrakranielle Blutungen  

• Bei wachen Pat. sprechen psychomotor. Verlangsamung, kognitive Stör., Zu-


nahme der Kopfschmerzen u. später auch Eintrübung für die Entwicklung ei-
nes Hydrozephalus.
• Bei komatösen Pat. regelmäßige CCT-Kontrollen!
• Ther.:
– Okklusionshydrozephalus: Ventrikeldrainage.
– Hydrocephalus malresorptivus: Lumbaldrainage o. Ventrikeldrainage.
Vasospasmus:
• Inzidenz: bei 10–70 % der aneurysmatischen SAB Maximum nach 8–11 d,
Dauer meist 21–28 d, z. T. bis 40 d, klassische Vasospasmen ab 3. d nach SAB
durch Engstellung basaler Hirnarterien.
• Unbehandelt führt er bei ca. 25 % der SAB-Pat. zu ausgedehnten zerebralen
Ischämien o. Tod.
• Disponierende Faktoren: Menge des Bluts im initialen CT ist bester Prädiktor:
– Hunt u. Hess Grad III–V: > 50 %.
– Hyponatriämie u. Hypovolämie, Leukozytose > 15.000/μl.
– Ther. mit Antihypertensiva u. Antifibrinolytika.
• Klin. Bild: Verzögert auftretende neurol. Defizite (delayed ischemic neurolo-
gical deficits, DIND) mit Bewusstseinstrübung, fokalen Ausfällen, Agitiert-
heit, subfebrile Temperaturen; Maximum 2.–3. Wo.
• Zusatzdiagn.:
– Transkranielle Doppler-Sono (▶ Abb. 8.5): meist angewandte Methode.
– Bewertung:
– Alter ≥ 55 J., subkritische Vasospasmen ≥ 80 cm/s (≥ 2 kHz), kritische
Vasospasmen ≥ 120 cm/s (≥ 3 kHz)
– Alter < 55 J., subkritische Vasospasmen ≥ 120 cm/s (≥ 2 kHz), kriti-
sche Vasospasmen ≥ 160 cm/s (≥ 4 kHz)
• Da der Vasospasmus das OP-Risiko erhöht, operative Clippung o. endovas-
kuläre Ther. (coiling) innerhalb der ersten 3 d anstreben. Cave: Vasospastisch
bedingte Hirninfarkte!

350

300 50
DEPIH

250
280
CURSOR
200
224
MEAN
150 150
17
S/D
100 100 50
8
DEPIH

50 50
102
EME CURSOR
0 TC2 0 60
MEAN

-50 24
S/D

-100
Tag 10 Tag 25
EME
TC2

Abb. 8.5  TCD-Ableitung der ACM re 10 d (li) u. 25 d (re) nach akuter SAB. Ausge-
prägter Vasospasmus in den ersten 14 d nach SAB (li). Die mittlere Strömungsge-
schwindigkeit ist mit 224 cm/s ca. 4-mal so hoch wie im Normalzustand mit 60 cm/s
nach 25 d (re) [L157]
  8.3 Subarachnoidalblutung (SAB)  331

Hyponatriämie: Bei ca. 25 % der SAB-Pat. zumeist als Folge der inadäquaten
ADH-Sekretion o. eines zerebralen Salzverlustsy. (▶ 4.9.9).
Epileptische Anfälle: Unmittelbar nach der Blutung selten, im weiteren Verlauf
bei bis zu 30 % der Pat. beobachtet.
Kardiale KO:
• Häufig EKG-Veränderungen u. kardiale Arrhythmien.
• Typ. kann ein Myokardinfarkt mit ST-Hebung o. ST-Senkung u. Troponin-
anstieg imitiert werden.

Ein neurogenes Lungenödem u. ventrikuläre Arrhythmien können lebensbe-


drohliche Ausmaße annehmen.

8.3.9 Spezifische Therapie der aneurysmatischen SAB

Ziel der spezifischen Ther. ist die frühzeitige Aneurysma-Ausschaltung zur


Vermeidung von Rezidivblutung u. Ermöglichung der hämodynamischen
Ther. bei Vasospasmen

Zeitpunkt der spezifischen Ther.:


• WFNS-Grad I–III bei fehlenden Vasospasmen: so früh wie möglich (< 24 h).
• WFNS-Grad IV–V bei fehlenden Vasospasmen: ebenfalls frühe Intervention
möglich. Falls initiale Bewusstseinsminderung auf blutungsbedingter transi-
enter Hirndrucksteigerung o. akutem Hydrozephalus beruht, spricht dies
eher für Coiling.
• Bei nachweisbaren frühen Vasospasmen: Intervention riskanter (Manipulati-
on → Verstärkung der Vasospasmen → Infarkte), daher Risikoabwägung im
Einzelfall.
• WFNS-Grad IV–V mit persistierender Bewusstseinsminderung, Hirnödem:
Spätintervention nach dem 10.–12. d nach Rückgang der Vasospasmen.

8.3.10 Methoden zum Aneurysmaverschluss


• Endovaskuläre Ther. mit Coiling:
– Geeignete Aneurysmen: vorderes/hinteres Stromgebiet, definierter Aneu-
rysmahals, keine Gefäßabgänge aus dem Aneurysmasack.
– KO: Perforation, Thrombembolie, Dissektion; therapiebedingte Morbidi-
tät 3,7 % u. Mortalität 1,5 % bei rupturierten Aneurysmen; bei inzidentel-
len Aneurysmen Morbidität 2,6 %, Mortalität 1,3 %.
– Erfolgsrate: adäquater Aneurysmaverschluss in 91,2 %, sek. Clipping not- 8
wendig bei ca. 6 %.
• OP (Aneurysma-Clipping) war lange Zeit Methode der ersten Wahl.
– Geeignete Aneurysmen: prinzipiell alle operativ zugängliche Aneurysmen.
Unzugänglich sind v. a. para-/infraklinoidale Aneurysmen der ACI. Bei
Aneurysmen des hinteren Kreislaufs meist erschwerter Zugang bzw. er-
höhtes OP-Risiko.
– Erfolgsrate: totaler Verschluss in ca. 85–90 %, ca. 10 % inkomplett.
– KO-Rate periprozedural: prognoserelevante OP-technisch bedingte KO in
ca. 10 %; KO-Rate höher bei großen u. schlecht zugänglichen Aneurys-
men.
332 8  Intrakranielle Blutungen  

8.3.11 Wahl des methodischen Vorgehens: Clipping versus


Coiling
• Grundlegender Wandel nach Vorliegen der Ergebnisse der randomisierten
Vergleichsstudie (ISAT) zwischen Clipping u. Coiling (2.143 Pat. mit aneu-
rysmatischer SAB, Aneurysmen fast ausschließlich im vorderen Kreislauf u.
< 11 mm, überwiegend WFNS I u. II).
• Praktisches Vorgehen:
– Coiling versus Clipping: Prim. Coiling, falls beide Verfahren hinsichtlich
Behandlungsmöglichkeiten u. -risiken interdisziplinär durch endovasku-
lär u. mikrochir. erfahrene Therapeuten geprüft wurden u. die Anatomie
eine erfolgreiche endovaskuläre Ther. wahrscheinlich macht. Grundsätz-
lich sollte bei einem interventionellen Eingriff im Fall von nicht be-
herrschbaren KO auch ein neurochir. Eingriff schnell durchgeführt wer-
den können.
– Nach Lokalisationen:
– Aneurysma des ant. Kreislaufs: Eher Coiling.
– Aneurysma des post. Kreislaufs: Eher Coiling.
– Aneurysma der Mediabifurkation: Clipping gleichwertig.
• Verschluss des aneurysmatragenden Gefäßes bei nicht gefäßerhaltend opera-
blen bzw. endovaskulär verschließbaren Aneurysmen (i. d. R. endovaskulär
mit Coils u./o. Ballons).
• Medikamentöse Nachbehandlung:
– Bei breitbasigen Aneurysmen nach Coiling ASS für 6 Wo. empfohlen.
– Bei stentgestütztem Coiling ASS u. Clopidogrel für 6 Wo., sofern Aneu-
rysma adäquat ausgeschaltet. Danach ASS für 3–6 Mon.
– Nach Clipping keine Nachbehandlung.

8.3.12 Begleitende Therapie der SAB


Allg. Maßnahmen

• Sofortige (liegende) Krankenhauseinweisung in eine Einrichtung mit


neurochir. Versorgung ist obligat.
• Absolute Bettruhe!
• Ggf. präoperative Betreuung nur unter Überwachungsbedingungen
(Intensivstation o. Stroke Unit).
• Pressen beim Stuhlgang ist durch milde Laxanzien, Husten ggf. durch
Antitussiva (Codein), Erbrechen durch Antiemetika zu verhindern.
8
Beatmung u. Langzeitsedierung (▶ 4.1, ▶ 4.5): Bei Pat. mit höheren Hunt-und-
Hess-Graden o. mit erheblichen KO (schwerer Vasospasmus, Hirnödem, neuro-
genes Lungenödem).
Ausgleich von Wasser- u. E'lytdefiziten: Hypovolämie u. Hyponatriämie sollen
wegen des damit verbundenen Vasospasmusrisikos vermieden bzw. korrigiert
werden:
• Weitestgehend Verzicht auf Diuretika.
• Einfuhr von mind. 3 l/d.
• Pos. Flüssigkeitsbilanz von 750 ml/d.
  8.3 Subarachnoidalblutung (SAB)  333

Bei Hyponatriämie NaCl-Substitution aufgrund der Gefahr einer pontinen


Myelinolyse (▶ 24.8.1) nicht schneller als 0,7 mmol/l/h bzw. 12 mmol/l/24 h.

Thromboseprophylaxe:
• Kompressionsstrümpfe.
• Subkutane Low-dose-Heparinisierung.
RR-Regulation:
! Bei SAB-Pat. von ganz wesentlicher Bedeutung!
• RR-Einstellung mind. auf prämorbide Werte, MAD > 70 mmHg bzw. zere­
braler Perfusionsdruck > 60 mmHg, höchstens 160 mmHg syst.; z. B. mit
Urapidil (Ebrantil®) 12,5 mg langsam i. v. (cave: RR-Abfall bei Vasospasmen).
• Bei RR-Abfall Volumengabe (500–1.000 ml/d).
Analgesie:
• Paracetamol (500–1.000 mg rektal o. i. v.).
• Metamizol (mehrmals tgl. 500 mg p. o., 0,5–1 g rektal o. 0,1–0,5 g i. v.).
• Gering sedierende Opioide (z. B. Tramadol 100 mg 2–4 ×/d in der Infusi-
onslsg. o. Piritramid 3–15 mg s. c. o. i. v.).

Thrombozytenaggregationshemmende Analgetika (z. B. ASS) vor Aneurys-


maausschaltung absolut kontraindiziert.

Behandlung des Vasospasmus:


• Vermeidung einer Hypovolämie (Flüssigkeitsbilanz, isotone Flüssigkeiten,
RR-Monitoring, ggf. ZVD-Messung) u. Hypotension (MAD-Ziel
> 75 mmHg).
• Nimodipin:
– Dos.: Oral 60 mg alle 4 h für 21 d → Risikoreduktion verzögerter ischämi-
scher Defizite u. „schlechtes Outcome“ von ca. 30 %. Falls oral nicht mög-
lich, evtl. vorsichtige i. v. Gabe (ZVK) unter RR-Kontrolle. Perfusion mit
initial 1 mg/h, bei ausreichendem RR (≥ 190/110 mmHg) Erhöhung auf
2 mg/h.
– Überwachung: initial engmaschige RR-Kontrolle; bei deutlichem RR-Ab-
fall (> 20 mmHg) unter Nimodipin-Ther. Dosisreduktion o. Absetzen u.
Volumenzufuhr.
– KI: ausgeprägtes Hirnödem, Hirndruck, schwere Leberschäden.
• Statine (z. B. Pravastatin 40 mg/d) reduzieren das Risiko für verzögerte isch­
ämische Defizite (DIND) u. Mortalität um jeweils ca. 60 %.
• Bei kritischen Vasospasmen u. progredienter Klinik (DIND): Hämodyna-
misch-augmentierende Ther. (Triple-H-Ther., Hypertonie, Hypervolämie,
Hämodilution). Dauer für 2–3 d bzw. solange klin. Verschlechterung bei RR-
8
Reduktion auftritt.
– Durchführung unter Intensivbedingungen (Monitoring, ZVD):
– Hypertonie: Dobutamin, ggf. Arterenol; Zielwert: syst. RR 150–
200 mmHg, MAD > 90 mmHg.
– Hypervolämie u. Hämodilution: Isotone Flüssigkeitszufuhr u. kollo­
idale Lsg. (z. B. Hydroxyethylstärke 6 % 1.000 ml/d); Zielwerte: Hkt
30–35 %, ZVD 6–10 mmHg.
– Risiken: Lungenödem, kardiale Dekompensation, hämorrhagische Trans-
formation bestehender Infarkte, Zunahme des Hirnödems.
334 8  Intrakranielle Blutungen  

– KI: Nicht ausgeschaltetes Aneurysma, Hirnödem, demarkierte Infarkte,


Lungenödem, ARDS, Niereninsuff.
• Frühe Lumbaldrainage im Einzelfall erwägen, führt über bessere Liquorzirku-
lation zur erhöhten Blutclearance u. kann so wahrscheinlich die Inzidenz von
Vasospasmen verhindern.

8.3.13 Prognose
• Akute Letalität (vor Erreichen des Krankenhauses geschätzt 15–20 %), erste
Blutung insgesamt 35 %, jede Nachblutung 50 %.
• Letalität steigt von 7 % bei Hunt-und-Hess-Grad 1–2 auf 39 % Grad 3 u. 79 %
Grad 4.
• Schlechtere Progn. bei viel zisternalem u. ventrikulärem Blut u./o. mit Aneu-
rysmen im Vertebrobasilargebiet.
• Insgesamt hohe Letalität innerhalb des 1. Mon. mit über 40 %; 15–20 % der
Pat. versterben bereits vor Erreichen des Krankenhauses.
• Progn. abhängig von:
– Bewusstseinslage bei Erreichen der Klinik: Letalität 13 % bei wachen, 28 %
bei somnolenten, 44 % bei soporösen u. 72 % bei komatösen Pat.
– Alter bei Erkr.: < 40 J.: Letalität 17 %, < 60 J.: 27 %, > 60 J.: 50 %.
– Hunt-und-Hess-Grad: < 2: Letalität 7 %, 3: Letalität 39 %, 4: Letalität 79 %.
– Aneurysmagröße: < 12 mm: Letalität 25 %, < 24 mm 29 %, > 24 mm 41 %.
• Bleibende neurol. Residualsymptomatik bei ca. ⅓ der Überlebenden; persis-
tierende neuropsychologische Defizite vorzugsweise bei Aneurysmen der li
ACM, reichlichem intraventrikulärem Blut u. Hydrozephalus.
• Die Letalität bei Rezidivblutung beträgt 50–70 %.

8.3.14 SAB ohne Aneurysmanachweis


Definition
4-Gefäßangio ohne Aneurysmanachweis.

Ätiologie
Meist venöse Blutung, thrombosiertes Aneurysma, AVM, Durafistel, SVT, spinale
vask. Malformation (spinale Angio), Tumor, Dissektion intraduraler Gefäße, my-
kotische Aneurysmen.

Lokalisation
Perimesenzephal (ca. 66 %, v. a. präpontin, interpedunkulär) u. nicht perimesen-
8 zephal.

Komplikationen
Hydrozephalus (20 %), seltener Vasospasmus.

Diagnose
• Perimesenzephale SAB: DSA empfohlen. Wenn technisch einwandfrei u. oh-
ne Nachweis der Blutungsquelle, keine Kontroll-DSA im Verlauf erforderlich.
• Nicht perimesenzephale SAB: Bei initial unauffälliger DSA. Verlaufskontrolle
in den ersten 6 Wo. empfohlen (sek. Aneurysmanachweis in ca. 15 %).
  8.4 Venöse Blutungen  335

• Bei deutlicher infratentorieller Blutungsbetonung zunächst MR-Angio zervi-


kal u. thorakal.

Therapie
• Perimesenzephale SAB: Rasche Mobilisation, Ind. für externe Ventrikeldrai-
nage.
• Nicht perimesenzephale SAB: meist durch thrombosiertes Aneurysma, Re-
ruptur in 2 %, daher frühzeitig Kontroll-DSA (möglichst < 14 d), sek. Aneu-
rysmanachweis in 15 %.

8.4 Venöse Blutungen
Urs. einer venösen Blutung in das Hirnparenchym ist praktisch immer ein behin-
derter venöser Abfluss. Dies trifft sowohl für Sinus- u. Hirnvenenthrombosen als
auch für die Stauungsblutungen im oberen Hirnstamm infolge transtentorieller
Herniation zu.
Blutung aufgrund Sinus- u. Hirnvenenthrombose (▶ 7.8):
• Bihemisphärielle Hämorrhagien.
• Einseitige Blutungen in einer Hemisphäre, Dienzephalon o. Kleinhirn.
• Subarachnoidales Blut.
• Sinus sagittalis sup.
• Am häufigsten Parenchymblutungen.
Blutung aufgrund transtentorieller Herniation (▶ 4.6.1): Venöse Blutungen im
oberen Hirnstamm, Folge einer ICP-bedingten Herniation des Hirnstamms. Blu-
tet in zentrale Strukturen von Pons u. Mittelhirn.

8
9 Infektionskrankheiten des
Nervensystems
Martina Näher-Noé und Jürgen Klingelhöfer

9.1 Leitsymptome 338 9.4 Virale Erkrankungen 363


9.1.1 Kopfschmerz bei ZNS-­ 9.4.1 Akute virale Entzündung ohne
Infektion 338 Erregernachweis 363
9.1.2 Meningismus, meningeales 9.4.2 Herpes-simplex-­
Reizsyndrom 338 Enzephalitis 365
9.1.3 Fieber 338 9.4.3 Frühsommer-Meningoenze-
9.1.4 Übelkeit, Erbrechen 338 phalitis (FSME) 367
9.1.5 Fokal neurologische 9.4.4 Varicella-Zoster-Infektion 368
­Symptome 338 9.4.5 Zytomegalievirus-
9.1.6 Bewusstseinsstörungen, infektion  369
­organische psychische 9.4.6 Progressive multifokale Leuk­
­Störungen 339 enzephalopathie (PML) 369
9.2 Diagnostische Methoden 339 9.4.7 Chronische
9.2.1 Bildgebende Diagnostik 339 ­Panenzephalitis  370
9.2.2 Liquordiagnostik 339 9.4.8 HIV-Infektion 370
9.2.3 Elektroenzephalografie 9.5 Prionkrankheiten 379
(EEG) 341 9.5.1 Definition 379
9.3 Bakterielle Erkrankun- 9.5.2 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
gen 341 (CJK) 379
9.3.1 Eitrige Meningitis und Enze- 9.5.3 Familiäre spongiforme
phalitis 341 ­Enzephalopathien 381
9.3.2 Herdenzephalitis 347 9.6 Pilzerkrankungen des
9.3.3 Hypophysitis 347 ZNS 382
9.3.4 Abszess und Empyem 347 9.7 Parasitosen 383
9.3.5 Spondylodiszitis 350 9.7.1 Toxoplasmose 383
9.3.6 Neurotuberkulose 351 9.7.2 Malaria 384
9.3.7 Neurolues ­(Neurosyphilis) 353 9.7.3 Babesiose  385
9.3.8 Neuroborreliose 357 9.7.4 Amöbiasis 385
9.3.9 Seltene bakterielle 9.7.5 Wurmerkrankungen  385
­Erkrankungen 361
338 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

9.1 Leitsymptome
9.1.1 Kopfschmerz bei ZNS-Infektion
▶ 5.1.
• Subakut bis akut. Außerordentlich intensiv →, bakt. Meningitis/Enzephalitis,
mäßig stark bis stark → virale u. tuberkulöse Meningitis. Häufig Rücken- u.
Nackenschmerzen (▶ 5.1.3).
• Chron. bis subakut, meist diffus, seltener lokalisiert. Dauerkopfschmerz →
Abszess.
• Chron., langsam zunehmend, meist diffus, gelegentlich lokalisiert → Zyste.

9.1.2 Meningismus, meningeales Reizsyndrom


▶ 5.1.3.
• Schmerzhafte Nackensteifigkeit bei passiver Kopfbeugung nach vorne.
• Brudzinski-Zeichen: Reflektorische Beugung der Knie bei passiver Kopfbeu-
gung.
• Kernig-Zeichen: Bei gebeugtem Hüftgelenk ist Streckung der Knie deutlich
schmerzhaft.
• Lasègue-Zeichen: Bei gestrecktem Knie ist passives Beugen im Hüftgelenk
deutlich schmerzhaft.
• Opisthotonus: Spontane Haltung mit Reklination des Kopfs, Überstreckung
des Rumpfs u. angezogenen Beinen zur Entlastung der Meningen.
• Vorgewölbte Fontanelle: Bei Kindern vor Fontanellenschluss elastische Vor-
wölbung tastbar.
• DD: SAB (▶ 8.3), Bandscheibenvorfall (▶ 18.4, ▶ 18.5), M. Bechterew, grippa-
ler Infekt, Parkinson-Sy., katatone Psychose, meningeales Reizsy. nach LP.

Zeichen einer meningealen Reizung bei Kindern, alten Menschen, HIV-In-


fektion, zu Beginn der Erkr. u. bei chron. Meningoenzephalitis häufig nicht
nachweisbar!

9.1.3 Fieber
• Hohes Fieber (um 40 °C): Bakt. Meningitis, Enzephalitis, schwere Verläufe ei-
ner viralen Enzephalitis, z. B. durch Herpes simplex (kann bei Säuglingen, al-
ten Pat. o. Immundefekt fehlen).
• Leichtes Fieber: Virale Meningitis, Enzephalitis.

9.1.4 Übelkeit, Erbrechen
• Warnsympt. eines ICP-Anstiegs (▶ 4.6), z. B. bei Abszess.
• Stark ausgeprägt → bakt. Meningitis, Enzephalitis.
9 • Leichter ausgeprägt → virale Meningitis, Enzephalitis.

9.1.5 Fokal neurologische Symptome


• Zerebrale Sympt. wie HN-Ausfälle, Sensibilitätsstör., Paresen, extrapyrami-
dal-motorische Stör., Ataxie, Hirnstammsympt., fokale epileptische Anfälle →
  9.2 Diagnostische Methoden  339

intrakranieller Abszess, Enzephalitis, selten bei schwer verlaufender Meningi-


tis.
• Querschnittssy. (▶ 14.1.1) o. Brown-Séquard-Sy. (▶ 14.1.1) → Myelitis, intra-
spinaler Abszess.
• Mono- o. polyradikuläre Sympt. → Radikulitis, intraspinaler Abszess.

9.1.6 Bewusstseinsstörungen, organische psychische


Störungen
▶ 4.2.
Bewusstseinsstör. sind Warnsymp. für das Übergreifen der Entzündung auf
das Gehirn o. einen ICP-Anstieg mit Gefahr der Einklemmung.

Auf Vorgeschichte u. ätiologisch hilfreiche Begleitsympt. achten: Hautaus-


schlag, Halsschmerzen, Diarrhö, Otitis, Sinusitis, Auslandsaufenthalt.

9.2 Diagnostische Methoden
9.2.1 Bildgebende Diagnostik

Vor LP (▶ 2.1.1) bildgebende Diagn. zum Ausschluss eines erhöhten Hirndrucks.


Beste Information liefert meist das MRT. CCT, falls MRT nicht rasch verfügbar.

Kraniale Computertomografie (CCT) ▶ 2.9.2:


CCT-Zisternografie: Bei V. a. Liquorfistel nach SHT. Die CCT-Zisternografie ist
der Liquorszintigrafie hinsichtlich der Darstellung des Lecks überlegen.
MRT (▶ 2.9.3): In der Sensitivität meist dem CCT überlegen (außer bei Verkal-
kungen, Blutungen).
Auswahl des Verfahrens:
• T1-Aufnahme: Nachweis narbiger o. zystischer Strukturen.
• T2-Aufnahme: Stör. der Blut-Hirn-Schranke, Ödembildung.
• MRT mit KM (Gadolinium): Nachweis einer meningealen Beteiligung, Dar-
stellung aktiver parenchymatöser Herde.
Andere bildgebende Methoden:
• Bei Abszess, Pilzerkr., Parasitosen: Rö Schädel/WS (Knochendestruktion, os-
teomyelitische Herde), Rö-Thorax (Lungenherde), Szintigrafie (erhöhte Spei-
cherung), Myelografie (KM-Aussparung, -stopp).
• Zur Abklärung prädisponierender Erkr.: Rö-Schädel (Frakturen, Otitis media,
Mastoiditis), Rö-NNH (Sinusitis), Rö-Thorax (Pneumonie, Bronchiektasen, Tbc).

9
9.2.2 Liquordiagnostik

Bei Hinweis auf Hirndruck LP im Liegen mit Druckmesssung u. zusätzlich


hirndrucksenkende Maßnahmen (▶ 4.6.4).
340 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Indikationen
Wichtige, oft entscheidende diagn. Methode bei allen entzündl. ZNS-Erkr.

Durchführung
Immer Liquor u. Blut (Serumröhrchen) untersuchen lassen, da Glukose, Albu-
min, Immunglobuline u. spezifische AK vergleichend im Liquor u. Serum be-
stimmt werden.
Durchführung, makroskopische Beurteilung, KI u. KO ▶ 2.1.

Ist Liquordiagn. für Erregernachweis u. Ther.-Regime unentbehrlich, bei KI


Nutzen u. Risiko der LP gegeneinander abwägen.

Bewertung
Leukozytenzahlerhöhung (Pleozytose): Früheste Veränderung des Liquorbe-
funds bei entzündl. Erkr. u. erster Parameter, der sich nach Ther. bessert.
• Typ. Zellbild bei bakt. u. viralen Erkr. ▶ Tab. 9.1.
• Immer Liquorpräparat (z. B. May-Grünwald-/Giemsa-Färbung zur Routine-
diagn.; Gramfärbung zur bakt. Diagn., Tuschefärbung bei V. a. Mykosen).
• Mikrobiologische Liquorunters. mit liquorzytologischen Methoden, wie bakt.
Spezialfärbungen, Liquorkultur u. ggf. Antibiogramm.
• DD: MS (▶ 10.1).
• Leicht erhöhte Zellzahl i. S. einer „Reizpleozytose“ bei nichtentzündl. Erkr.
wie Hirninfarkten, Traumen o. bis zu 2 Wo. nach vorausgegangener LP, rein
monozytär bei perforierendem Bandscheibenprolaps.

Tab. 9.1  Normalwerte u. typische Veränderungen bei verschiedenen Formen


der Meningitis
Zellzahl Zellbild Glukose Laktat Eiweiß

Normalwer- < 4/mm3 70 % Lympho- > 50 % < 2,1 mmol/l < 450 mg/l
te zyten, 30 % des Se-
Monozyten rumwerts

Bakt.-eitrige 300–10.000/ Granulozytär Evtl. ↓ ↑ ↑↑


Meningitis mm3

Tuberkulöse 20–600/mm3 Lymphozytär ↓ ↑↑ ↑↑


Meningitis

Borrelien- 5–300/mm3 Lymphozytär Normal Normal Häufig ↑


Meningitis

Virale Me- 5–1.500/mm3 Lymphozytär Meist Meist nor- Meist wenig ↑


ningitis normal mal

Eiweißerhöhung: Bestimmung von Gesamteiweiß im Liquor u. des Quotienten


der Albuminkonz. in Liquor u. Serum (= Schrankenstör.).
9 Intrathekale Synthese von Immunglobulinen (IgG, IgA, IgM):
• Bei allen entzündl. ZNS-Erkr. möglich.
• Nachweisbar einige Tage bis Wo. nach Beginn der Erkr.
• Muster von IgG, IgA u. IgM hilfreich zur DD der verschiedenen entzündl.
Erkr.: Bei akuten, erregerbedingten Entzündungen häufig mehrere Klassen
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  341

der Immunglobuline, bei chron. entzündl. Erkr. wie MS nur IgG, bei tuberku-
löser Meningitis IgA.
• DD: MS (▶ 10.1).
Oligoklonale Banden: Sensitiver Nachweis von IgG-Subfraktionen im Liquor.
Wird einige Tage bis Wo. nach Beginn der Erkr. pos., bleibt häufig über Jahre
nachweisbar.
DD: MS (▶ 10.1).
Erregerspezifische AK: Nachweis von AK gegen Bakterien, Viren o. Parasiten,
wenn bereits Verdachtsdiagnose besteht i. S. u. Liquor mithilfe immunologischer
Methoden. Cave: Berechnung des spezifischen Liquor-/Serum-Index (AI) zum
Nachweis einer zentralen Beteiligung (▶ 2.1.2).
PCR: Zur Erregertypisierung (z. B. Borreliose, Tbc). Cave: Sensitivität/Spezifität!

Zellzahl u. Proteine im Liquor können bei Enzephalitis bei Erstentnahme


normal sein. Kontrollen erforderlich. Bis zu 2 Wo. nach vorhergehender LP
Reizpleozytose von bis zu 40 Zellen/mm3 möglich.

Kontrollpunktion
Zeitfenster für Zweit- o. Kontrollpunktion:
• Eitrige Meningitis u. Enzephalitis: 1. o. 2. d.
• Virale Meningitis u. Enzephalitis: 3.–5. d.
• Herpes-Enzephalitis: 5.–7. d.
• Tuberkulöse Meningitis: 2.–3. Wo.
! Je nach Krankheitsverlauf u. Ansprechen auf Ther. ggf. weitere Punktionen.

Andere Laborparameter: BSG, BB, CRP, Immun-E'phorese (Nachweis von


Entzündungszeichen im Blut), Blutkulturen (mehrmals, insbes. bei Fieberan-
stieg abnehmen), ggf. mikrobiologische Unters. aus anderen Materialien (Spu-
tum, Bronchialsekret, Eiter, Punktat usw.), Antibiogramm.

9.2.3 Elektroenzephalografie (EEG)
• Meningitis u. Enzephalitis: Herdbefunde? Zeichen einer Anfallsbereitschaft?
• Chron. Panenzephalitis: Zeichen erhöhter zerebraler Erregbarkeit, mit Myo-
klonien einhergehende paroxysmale periodische Delta-Wellen o. triphasische
Wellen.
• Metastatische Herdenzephalitis: Mittelgradige bis schwere Allgemeinverän-
derung u. Herdbefund(e).
• Abszess: Herdbefund.

9.3 Bakterielle Erkrankungen
9.3.1 Eitrige Meningitis und Enzephalitis 9
ICD-10: G00 bakt. Meningitis andernorts nicht klassifiziert, G01 Meningitis bei
andernorts klassifizierten bakt. Erkr.; Erreger kann zusätzlich verschlüsselt wer-
den.
342 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Def.:
• Meningitis: Entzündung der weichen Hirn- u. RM-Häute evtl. mit Funkti-
onsstör. der spinalen Nervenwurzeln u. HN.
• Enzephalitis: Entzündung des Hirnparenchyms, isoliert, mit Meningitis o.
generalisierter Infektionskrankheit möglich.
Ätiol.: Begünstigung durch Immunschwäche, Tourismus in Endemiegebiete.
• Hämatogen: Vom Nasen-Rachen-Raum (z. B. Otitis media, Sinusitis, Masto­
iditis, Zahnwurzelinfektion), Hautfurunkel, Pneumonie, Endokarditis.
• Per continuitatem: Entzündungsherde im Kopfbereich (z. B. Hautfurunkel).
• Direkt: Offenes SHT, Punktionen, Pumpenimplantate, Liquorfistel, Shunt,
neurochir. OP.
Klinik:
• Innerhalb von Stunden schweres Krankheitsbild: Intensive Kopfschmerzen,
Rückenschmerzen, Meningismus (▶ 9.1.2), hohes Fieber, Übelkeit, Erbre-
chen, Lichtscheu, Geräuschempfindlichkeit, Konjunktivitis; ggf. zerebrale
Herdsympt., Bewusstseinsstör.
• Bei schwerem Verlauf HN-Ausfälle (∼10 %), Sensibilitätsstör., Paresen, vegeta-
tive Regulationsstör. wie RR- u. Pulsveränderungen. Evtl. hämorrhagisches Ex-
anthem (bei Meningokokkenmeningitis, Waterhouse-Friderichsen-Sy. 5–10 %).
Bleibende Hörstör. bei 10–15 %, bei Pneumokokkenmeningitis bis 30 %.
• Bei Übergang in Meningoenzephalitis o. bei Begleitvaskulitis Bewusstseinsstör.,
hirnorganisches Durchgangssy., fokale o. generalisierte epileptische Anfälle.

Bei Kindern u. alten Menschen können Meningismus u. Fieber fehlen. Bei


Kleinkindern auf gespannte Fontanelle u. Trinkschwierigkeiten, bei Älteren
auf motorische Unruhe achten.

KO:
• Hirnödem, Hydrozephalus (▶ 26), Hirnabszess (▶ 9.3.4), subdurales Empyem
(▶ 9.3.4), sterile subdurale Effusion, zerebrale Vaskulitis (▶ 7.5), septische
SVT (▶ 7.8), symptomatische epileptische Anfälle (▶ 11.1), phlegmonöse Ent-
zündung des Gehirns.
• Extrakraniell: Septischer Schock, Verbrauchskoagulopathie, ARDS, Water-
house-Friderichsen-Sy., Pneumonie.
Diagn.:

Sofort nach LP u. Blutkultur Beginn der i. v. Antibiotikather.

• Notfall-CCT: Initial nativ u. mit KM, Knochenfenster (bei unkomplizierter


Meningitis unauffälliger Befund).
• Liquor (▶ 2.1.2): Evtl. erhöhter Liquordruck u. gelblich-trübe Verfärbung,
ausgeprägte Pleozytose mit 300–10.000/mm3 überwiegend segmentkernigen
Granulozyten (in den ersten Stunden bis 2 d nach Symptombeginn auch lym-
phogranulozytär), Eiweiß ↑, Schrankenstör., Glukose ↓, Laktat ↑ (DD bakt.,
9 virale Genese). Serolog. mikrobiologische Unters. mit Nachweis erregerspezi-
fischer AK, Gramfärbung, Antigennachweis, Kultur u. Antibiogramm.
• Andere Laborunters.: BB (starke Leukozytose mit Linksverschiebung), BSG,
CRP, Procalcitonin i. S. (↑, Abgrenzung zur viralen Meningoenzephalitis),
Blutkulturen (mehrmals, insbes. bei Fieberanstieg abnehmen).
• Kontroll-CCT, MRT: Bei KO (MRT empfindlicher als CCT, ▶ 9.2.1).
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  343

• Fokussuche: Rö Schädel mit NNH (z. B. unerkannte Frakturen, Sinusitis,


Mastoiditis, Otitis media), Rö-Thorax (Pneumonieausschluss), EKG, Herz­
echo (Endokarditis), Abdomen-Sono/CT.
• EEG: Herdbefund, Allgemeinveränderung, Zeichen erhöhter zerebraler Er-
regbarkeit.
• Transkranielle Doppler-Sono: Vaskulitis?
Auch apurulente Meningitiden mit niedrigen Zellzahlen (< 300) bei schwe-
ren, meist durch Pneumo- u. Meningokokken verursachten Erkr. mit Zu-
sammenbruch des Abwehrsystems (z. B. bei Immunsuppression, Alkohol­
abusus) möglich. Meist dichter Bakterienrasen im Liquor.

DD: Bakt. o. virale Genese (Liquor!). Andere Infektionskrankheiten. Meningiti-


sche Reizung, z. B. bei Sonnenstich (Anamnese), Urämie, Leberkoma, SAB, Me-
ningeosis carcinomatosa, nach intrathekaler Medikamentenappl. o. KM. Rezid.
benigne Meningitis Mollaret, seltene aseptische Meningitis z. B. nach NSAID (z. B.
Ibuprofen).
Ther.:
• Akutther. u. Antibiose in Abhängigkeit von vermutetem Erreger, Alter, prä-
disponierenden Faktoren u. Begleitumständen (nosokomial erworben? ▶ Tab.
9.2). Später ggf. Umstellung nach Antibiogramm.

Tab. 9.2  Antibiotikatherapie bei eitriger Meningitis u. Enzephalitis in Abhän-


gigkeit von Alter, Erreger u. prädisponierenden Faktoren
Alter Erreger Antibiotikum, tgl. Dosis i. v.1

1 Mon. Meningokokken Penicillin G 6 × 0,04 Mega/kg KG (z. B. Penicillin


–6 J. Grünenthal®), alternativ Cefotaxim 4 × 25 mg/
kg KG (z. B. Claforan®) o. Ceftriaxon 1 × 80 mg/
kg KG (z. B. Rocephin®)

Haemophilus influen- Cefotaxim 4 × 25 mg/kg KG (z. B. Claforan®) o. Cef-


zae triaxon 1 × 80 mg/kg KG (z. B. Rocephin®), alterna-
tiv Ampicillin 6 × 60 mg/kg KG (z. B. Binotal®)

Unbekannt Cefotaxim 4 × 25 mg/kg KG (z. B. Claforan®)

Unbekannt + Vorerkr. Cefotaxim 4 × 25 mg/kg KG (z. B. Claforan®) u.


(Abwehrschwäche, Fosfomycin 3 × 75 mg/kg KG (z. B. Fosfocin®)
­Immunsuppression)

Unbekannt + trauma- Cefotaxim 4 × 15–25 mg/kg KG (z. B. Claforan®) u.


tische o. nosokomiale Fosfomycin 3 × 75 mg/kg KG (z. B. Fosfocin®) u. Gen-
Meningitis tamicin 3 × 1,5 mg/kg KG (z. B. Refobacin®). Intraven-
trikulär2: Gentamicin 1 × 1–2 mg/d (z. B. Refobacin®)

6–12 J. Meningokokken Siehe 1 Mon. – 6 J.

Pneumokokken Penicillin G 6 × 0,04 Mega/kg KG (z. B. Penicillin


Grünenthal®) alternativ Cefotaxim 4 × 25 mg/
kg KG (z. B. Claforan®) o. Ceftriaxon 1 × 80 mg/
9
kg KG (z. B. Rocephin®)

Pneumokokken, Ceftriaxon 1 × 80 mg/kg KG (z. B. Rocephin®) u.


penicillinresistent Vancomycin 4 × 10 mg/kg KG (Vancomycin®) u.
Rifampicin 1 × 10 mg/kg KG (Rifa®)
344 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Tab. 9.2  Antibiotikatherapie bei eitriger Meningitis u. Enzephalitis in Abhän-


gigkeit von Alter, Erreger u. prädisponierenden Faktoren (Forts.)
Alter Erreger Antibiotikum, tgl. Dosis i. v.1

Unbekannt Cefotaxim 4 × 25 mg/kg KG (z. B. Claforan®)

Unbekannt + Vorerkr. Siehe 1 Mon.–6 J.


(Abwehrschwäche,
Immunsuppression)

Unbekannt + trauma- Siehe 1 Mon.–6 J.


tische o. nosokomiale
Meningitis

> 12 J. Meningokokken Penicillin G 6 × 5 Mega (z. B. Penicillin Grün-


enthal®) alternativ Cefotaxim 3 × 2 g (z. B.
Claforan®) o. Ceftriaxon 1 × 2 g (z. B. Rocephin®)

Pneumokokken Penicillin G 6 × 5 Mega (z. B. Penicillin Grün-


enthal®) alternativ Cefotaxim 3 × 2 g (z. B.
Claforan®) o. Ceftriaxon 1 × 2 g (z. B. Rocephin®)

Pneumokokken, peni- Ceftriaxon 1 × 2 g (z. B. Rocephin®) u. Vancomycin


cillinresistent 4 × 10 mg/kg KG (Vancomycin®) u. Rifampicin
1 × 600 mg (z. B. Rifa®)

Staphylokokken Cefotaxim 3 × 2 g (z. B. Claforan®) u. Rifampicin


1 × 600 mg (z. B. Rifa®)

Staphylokokken, Vancomycin 2 × 1 g (Vancomycin®) u. Rifampicin


methicillinresistent 1 × 600 mg (Rifa®)
(MRSA)

Listerien Ampicillin 4 × 2 g (z. B. Binotal®) u. Gentamicin


3 × 1,5 mg/kg KG (z. B. Refobacin®) o. Trimetho­
prim 3 × 160 mg + Sulfamethoxazol 3 × 800 mg
(z. B. Eusaprim®)

Unbekannt + keine Cefotaxim 3 × 2 g (z. B. Claforan®) o. Ceftriaxon


Prädisposition o. Vor- 1 × 2 g (z. B. Rocephin®)
erkr.

Unbekannt + Vorerkr. Cefotaxim (o. Ceftriaxon) 3 × 2 g (z. B. Claforan®)


(konsumierende Erkr., u. Fosfomycin 3 × 5 g (z. B. Fosfocin®) u. Ampicillin
Alkohol, Abwehr- 4 × 2 g (z. B. Binotal®)
schwäche, Immunsup-
pression, septische
hirnferne Vorerkr.)

> 12 J. Unbekannt + nosoko- Cefotaxim (o. Ceftriaxon) 3 × 2 g (z. B. Claforan®)


miale Meningitis u. Fosfomycin 3 × 5 g (z. B. Fosfocin®) u. Gentami-
cin 3 × 100 mg (z. B. Refobacin®). Intraventrikulär2:
Gentamicin 5–10 mg tgl. (z. B. Refobacin®)
1
 Bei uneingeschränkter Nierenfunktion
2
 Nur bei klin. schweren Fällen mit Koma o. Nachweis einer Ventrikulitis u. fehlen-
9 der Besserung unter i. v. Antibiotikather.

• Beginn der Antibiose sofort nach Abnahme der Blutkulturen u. LP (bei V. a.
Hirndruck u. Verzögerung der LP durch Notwendigkeit eines Schädel-CTs
vor der LP).
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  345

• Isolation u. hygienische Vorsichtsmaßnahmen analog zur Hepatitis-B-Pro-


phylaxe.
• Ther.-Dauer: Abhängig vom Ansprechen auf das Antibiotikum über 14 d o.
bis 7 d nach Fieberfreiheit, bei kompliziertem Verlauf, gramneg. Enterobakte-
rien o. Listerien über mind. 21 d.
• Glukokortikoide: Überwiegen pos. Effekte bei bestätigtem Hirndruck
(▶ 4.6.4), meningitisassoziierter Arteriitis, Haemophilus-influenzae-Meningi-
tis im Kindesalter (0,15 mg Dexamethason/kg KG/d über 4 d), Pneumokok-
kenmeningitis.

Empfehlung der DGN


(Ggf. aktualisierte Empfehlungen unter www.dgn.org einsehen).
• Dexamethason (z. B. Fortecortin®) bei Erw. 10 mg i. v. unmittelbar vor der
ersten Gabe des Antibiotikums, dann 10 mg Dexamethason i. v. alle 6 h
für 4 d. Bei Kindern 0,15 mg Dexamethason/kg KG/d über 4 d.
• Magenschutz (▶ 10.1.6) u. Thromboseprophylaxe (▶ 13.4.2).
• Keine Glukokortikoide bei Meningitis als Folge einer bakt. Endokarditis
u. bei Neugeborenen.
• Cave: Senkung der Liquorgängigkeit von Vancomycin durch Glukokorti-
koide.

Liquorfiltration: Nur in hoffnungslosen o. foudroyanten Fällen (Entfernung von


Erregern, Zellen u. Zytokinen).

Meldepflicht bei direktem Nachweis von Meningokokken aus Liquor, Blut,


hämorrhagischen Hautinfiltraten o. anderen normalerweise sterilen Substra-
ten nicht namentlich. Namentliche Meldung bei Krankheitsverdacht, Erkr. o.
Tod an Meningokokkenmeningitis o. -sepsis.

Progn.:
• Abhängig von Lebensalter, Begleiterkr. (Endokarditis, Pneumonie, Immun-
defekt, AIDS, neurochir. OP), Beginn der antibiotischen Ther. u. Erreger.
• Letalität bei Pneumokokken u. Listerien 20–30 %, Haemophilus ≈10 %, Me-
ningokokken ≈10 %, gramneg. Erreger 15 %, Neugeborenenmeningitis ≈50 %.
• Residuen: Epileptische Anfälle ≈30 %, sonstige neurol. Residuen ≈20 % (Läh-
mungen, HN-Läsionen, Ataxie, Hydrozephalus, organische psychische u. ko-
gnitive Stör.).
Chemoprophylaxe:
• Ind.: Meningokokkenmeningitis u. Meningitis mit Haemophilus influenzae
Typ B zur Eliminierung der Erreger aus dem Nasen-Rachen-Raum bei engen
Kontaktpersonen (Mitglieder desselben Haushalts, mehr als 4 h Kontakt tgl.
in der Wo. vor Krankheitsbeginn, Kontakt mit Sekreten des Respirations-
trakts) u. bei Pat. vor Krankenhausentlassung nach Abschluss der Meningi-
tisther.
• Durchführung: 9
– Meningokokken: Rifampicin Erw. 600 mg/d p. o. alle 12 h, Kinder < 12 J.
10 mg/kg KG/d über 2 d (z. B. Rifa®). Alternativ Ciprofloxacin o. Ceftri­
axon.
– Haemophilus influenzae Typ B: Rifampicin Erw.: 600 mg/d p. o. über 4 d.
Kinder 10 mg/kg KG/d p. o. über 4 d (z. B. Rifa®).
346 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Impfung:
• Haemophilus influenzae Typ B: Impfung für Säuglinge von STIKO empfoh-
len.
• Pneumokokken: Impfempfehlung für Risikogruppen sowie für alle Säuglinge.
• Meningokokken Serogruppe C: Impfempfehlung für Risikopersonen sowie
für Kleinkinder bis zum vollendeten 2. Lj. Allerdings noch kein Impfstoff für
die häufiger auftretenden, aber weniger dramatisch verlaufenden Meningiti-
den mit Serogruppe B.

Besonderheiten
Pneumokokkenmeningitis (ICD-10 G00.1):
• Ätiol.: Per continuitatem, traumatisch (z. B. Trauma, Sinusitis, Otitis media,
Liquorfistel) o. metastatisch (z. B. bei Lobärpneumonie, Otitis media, Sinusi-
tis, Mastoiditis).
• Klinik: Akuter Beginn mit hohem Fieber, gelegentlich foudroyante apurulen-
te bakt. Meningitis bei Erschöpfung der leukozytären Abwehrfunktion
(bouillonähnlicher Liquor, nur geringe Pleozytose, Bakterienrasen) mit hoher
Letalität u. hoher Rate an bleibenden Defekten.
• Diagn.:
– Zwingend Antibiogramm mit Resistenzbestimmung.
– V. a. Liquorfistel bei Austreten wässriger, liquorähnlicher Flüssigkeit aus
der Nase: Unters. der Flüssigkeit auf Glukose z. B. mit Glukose-Stix o. si-
cherer: Unters. auf β-Trace-Protein durch isoelektrische Fokussierung im
Liquorlabor. Rö-Thorax bei V. a. Lobärpneumonie.
• Ther.: Antibiose ▶ Tab. 9.2.
Meningokokkenmeningitis (ICD-10 G01, A39.0):
• Ätiol.: Tröpfcheninfektion, häufig hämatogen.
• Diagn.: Bei früher Liquorunters. nur geringe Pleozytose; wenige Stunden spä-
ter eitriger Liquor mit ausgeprägter Pleozytose.
• Ther.: Antibiose (▶ Tab. 9.2). Chemoprophylaxe mit Rifampicin (Dos. s. o.).
Waterhouse-Friderichsen-Syndrom
Meningokokkensepsis, Verbrauchskoagulopathie (DIC), hämorrhagisches
Exanthem, Purpura, Gewebsnekrosen, Nebennierenblutungen. Ther.: Bis
40 Mega/d Penicillin G, Cefotaxim alle 8 h 2 g i. v. (z. B. Claforan®).

Listerienmeningitis (ICD-10 G01, A32.1):


• Ätiol. u. Klinik:
– Enterale Infektion durch kontaminierte Rohmilchprodukte, Gemüse o.
rohes Fleisch, selten konjunktivale Infektion.
– Prädisposition: Abwehrgeschwächte ältere Menschen, Neugeborene (in­
trauterine Infektion), Immunsuppression, HIV.
– Zunächst grippeähnliche Sympt., häufig Erbrechen u. Diarrhö, bei Ab-
wehrschwäche Sepsis u. Organbefall, eitrige Meningitis, Meningoenze-
phalitis o. Enzephalitis.
9 – Transplazentare Übertragung bei Infektion während der Schwangerschaft,
Tot- o. Frühgeburt bei Amnionitis, Neugeborenensepsis o. -meningoen-
zephalitis.
• Diagn.: Erregernachweis im Blut, Liquor.
• Ther.: Antibiose (▶ Tab. 9.2) über mind. 3 Wo.
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  347

9.3.2 Herdenzephalitis
ICD-10 G05.
Ätiol.: Absiedlung von Erregern im ZNS bei Sepsis (metastatische Herdenzepha-
litis) o. multiple zerebrale Embolien durch septische Partikel bei bakt. Endokardi-
tis (embolische Herdenzephalitis).
Klinik:
• Sy. ähnlich einem o. mehreren ischämischen Infarkten (▶ 7.2) mit zerebralen
Herdsympt.
• Zusätzlich häufig meningitische Sympt.
• Zunehmende psychopath. Veränderungen, Bewusstseinsstör.
KO: Metastatisch eitrige Meningitis, mykotische Aneurysmen mit SAB (▶ 8.3) o.
intrazerebraler Blutung (▶ 8), Hirnabszess (▶ 9.3.4).

Bickerstaff-Enzephalitis
Hirnstammenzephalitis unklarer Ätiol. mit fortschreitenden Paresen der mo-
torischen HN. Rückbildung über Wo., selten über Mon.

Diagn.:
• Labor: Leukozytose mit Linksverschiebung, BSG ↑, Liquor (▶ 2.1.2), Blutkul-
turen.
• CCT.
• Emboliequelle suchen: EKG, Herzecho, Oberbauchsono (Milzvergrößerung).
DD: Intrakranieller Abszess, MS, Hirninfarkte, Miller-Fisher-Sy., Toxoplasmose,
bei psychopath. Sympt. akute affektive o. schizophrene Stör.
Ther.: Antibiotikather. wie bei Meningitis (▶ Tab. 9.2, ▶ 9.3.1), bei unbekanntem
Erreger u. bei Endocarditis lenta Komb.-Ther., z. B. Penicillin G o. Cefotaxim (z. B.
Claforan®) u. Gentamicin (z. B. Refobacin®).
Progn.: Abhängig vom Beginn der Ther. Insgesamt schlecht mit > 50 % Letalität
sowie neurol. Residuen.

9.3.3 Hypophysitis
ICD-10 G04.8
Def.: Aseptische lymphozytäre o. granulomatöse Entzündung der Hypophyse.
Urs. unklar.
Klinik: Kopfschmerzen, ggf. basale Meningitis, Sehstör., Hypophyseninsuff., evtl.
Psychosy.
Diagn.: Im MRT KM-aufnehmende hypophysäre RF, evtl. basale Meningitis. Li-
quor, Kortisol basal, ACTH im Serum.
Ther.: Ggf. Glukokortikoide substituieren. Operative Hypophysektomie.

9.3.4 Abszess und Empyem


ICD-10 G06.0 intrakranieller Abszess; ICD-10 G06.1 intraspinaler Abszess; ICD-
10 G06.2 extra- u. subduraler Abszess. 9
Ätiologie
• Prim. Infektion (ca. 15 %): Offenes SHT, neurochir. OP, hämatogen-metasta-
tische Absiedelung.
348 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

• Hämatogen-metastatische Ausbreitung (ca. 25 %): Bronchiektasen, Lungen-


abszess, pulmonale AVM, kongenitale Herzfehler, Endokarditis, dentaler
­ iterherd, Osteomyelitis, Divertikulitis, eitrige Hautinfektionen.
E
• Fortgeleitete Infektion (ca. 50 %): Otitis media, Mastoiditis, Sinusitis, kranio-
faziale Osteomyelitis o. dentaler Eiterherd, Gingivitis, Tonsillitis, Gesichtsfu-
runkel, Hordeolum, bakt. Meningitis (▶ 9.3.1).
• Häufig Streptokokken, Staphylokokken, anaerobe Bakterien, gramneg. En-
terobakterien, seltener Pneumokokken. Seltene Erreger: Listerien, Nokardien,
Aktinomyzeten bei zellulärem Immundefekt (HIV, Immunsuppression).
Häufig Mischinfektionen.
• In ca. 10 % kein Fokus nachweisbar.
Hirnabszess, epiduraler Abszess, epidurales Empyem
ICD-10 G06.0, G06.
• Lokalisation: Überwiegend im Großhirn, seltener im Kleinhirn, ganz selten
im Hirnstamm.
• Klinik:
– Kopfschmerz, subfebrile Temperaturen o. Fieber, evtl. Bewusstseinstrü-
bung o. andere Hirndruckzeichen (▶ 4.6.1).
– Abhängig von der Lokalisation zerebrale Herdsympt.
• Diagn.:
–  Labor: BSG, BB, CRP, Blutkulturen (Erregernachweis nur in ca. 10 %
pos.), ggf. Erregernachweis aus aspiriertem o. operativ gewonnenem Abs-
zessmaterial. CCT: Ringförmige KM-Aufnahme im Abszessbereich, evtl.
mit Spiegelbildung.
–  MRT: Im Frühstadium empfindlicher als CCT, zunächst lokales Ödem im
T2-Bild.
–  Fokussuche: Rö Schädel nativ, CT Schädelbasis u. NNH: Otitis media,
Mastoiditis, Sinusitis, Osteomyelitis. Rö Thorax: Bronchiektasen, Lungen-
abszess. Oberbauch-Sono: Abszess in Leber, Milz, Nieren, Psoas. EKG,
Herzecho: Endokarditis.
• DD: Andere intrakranielle Raumforderungen (Tumoren, Zysten).
• Ther.:
–  Operativ: Abszessentfernung inkl. Kapsel o. Aspiration o. Saugdrainage
(geringere Traumatisierung u. Letalität).
–  Antibiose: Anbehandeln mit Medikamenten, die in die Abszesshöhle pe-
netrieren, wie Cephalosporine der 3. Generation (z. B. Cefotaxim) + Flu-
cloxacillin (gegen Staphylokokken) + Metronidazol (gegen anaerobe Bak-
terien). Wenn keine postop. o. posttraumatische Genese, Penicillin + Met-
ronidazol. Bei nosokomialen Infektionen zusätzlich Gyrasehemmer (z. B.
Ciprofloxacin) o. Aminoglykosid (z. B. Tobramycin) gegen Pseudomonas
o. Serratien, bei V. a. MRSA Vancomycin (statt Flucloxacillin). Dos.
▶ Tab. 9.3. Ggf. Umstellen nach Antibiogramm, immer wegen der Häu-
figkeit von Mischinfektionen breites Erregerspektrum abdecken.
– Bei gesicherter begleitender SVT i. v. Heparinisierung (▶ 7.2.11).
9 – Sanierung der prim. Infektionsquelle.
– Falls notwendig Hirndruckther. (▶ 4.6.4).
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  349

Tab. 9.3  Antibiotikadosierung bei Hirnabszess


Antibiotikum Dosierung Erw. Dosierung Kinder

Penicillin G (z. B. Penicillin G 6 × 5 Mega/d i. v. 6 × 0,05 Mega/kg KG/d i. v.


Hoechst®)

Flucloxacillin (z. B. Staphylex®) 6 × (1,5–)2 g/d i. v. 6 × 15 mg/kg KG/d i. v.


®
Fosfomycin (z. B. Fosfocin ) 3 × 5 g/d i. v. 3 × 100 mg/kg KG/d i. v.

Metronidazol (z. B. Clont®) 15 mg/kg KG i. v. 15 mg/kg KG i. v. über 1 h,


über 1 h, dann dann 4 × 7,5 mg/kg KG/d i. v.
4 × 7,5 mg/kg KG/d
i. v.

Cefotaxim (z. B. Claforan®) 3 × 2 g/d i. v. 4 × 50 mg/kg KG/d i. v.

Ceftriaxon (z. B. Rocephin®) 1(–2) × 2 g/d i. v. 1 × 100 mg/kg KG/d i. v.


®
Ciprofloxacin (z. B. Ciprobay ) 2 × 400(750) mg/d 2 × 1.015 mg/kg KG/d i. v.
i. v. (max. 1.500 mg/d)

Tobramycin (z. B. Gernebcin®) 1 × (160–)320 mg/d 3 × 2(–2,5) mg/kg KG/d i. v.


i. v.

Vancomycin (z. B. Vancomycin- 4 × 500 (1.000) mg/d 4 × 10 mg/kg KG/d i. v.


Lederle®) i. v.

Subdurales Empyem
ICD-10 G06.2.

Das akute subdurale Empyem ist ein neurochir. Notfall.

• Klinik: Meist foudroyanter Verlauf mit Kopfschmerzen, Fieber, neurol.


Herdsympt., epileptischen Anfällen u. rasch zunehmender Bewusstseinsstör.
• KO: Durchbruch in den Subarachnoidalraum, Meningitis, Hirnabszess, SVT.
• Diagn.: Schnelle Durchführung der Diagn. mit CCT.
• Ther.:
– Operativ: Unverzügliche Trepanation mit Eröffnen der Dura, Entleeren
des Empyems, Drainage, Spülung mit Bacitracin (z. B. Nebacetin®) u.
Neomycin (z. B. Neomycin®).
– Antibiotisch: Zusätzlich parenteral wie beim Hirnabszess.
– Sanierung der prim. Infektionsquelle.

Abszess des Spinalkanals


ICD-10 G06.1.
• Def.: Epi- o. subdural bzw. selten auch intramedullär gelegener Abszess.
• Klinik:
– Rückenschmerzen, inkomplette (o. komplette) Querschnittssympt.
o. radikuläre Schmerzen, Sensibilitätsstör. o. Paresen.
– Gel. Zeichen einer allg. Infektion mit (sub-)febrilen Temperaturen.
9

Neurochir. Notfall, da Querschnittssympt. nur bei Entlastung innerhalb von


24–48 h reversibel!
350 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

• Diagn.:
– Labor: BSG (↑), BB (Leukozytose).
– MRT, Rö-WS, Skelettszintigrafie.
– Intraop. Gewinnung eines Präparats für Mikrobiologie, Kultur, Antibio-
gramm.
• DD:
–  Myelitis: Entzündung des RM, evtl. begleitet von einer spinalen Meningi-
tis o. Entzündung der Nervenwurzeln. Isolierter Befall der weißen o. grau-
en Substanz (z. B. Polio) o. kombinierter Befall beider Systeme. Klinik: In-
komplettes o. komplettes Querschnittssy. (▶ 14.1.1) o. Brown-Séquard-Sy.
(▶ 14.1.1).
–  Radikulitis: Entzündung der Nervenwurzel. Klinik: Mono- o. polyradiku-
läre Schmerzen, Sensibilitätsstör., Paresen. Meist nur geringe meningiti-
sche Sympt.
– Läsionen peripherer Nerven (Bandscheibenprotrusion).
• Ther.:
– Operativ: Laminektomie, Ausräumung des eitrigen Prozesses.
– Antibiotisch: Bei unbekanntem Erreger mit Fosfomycin u. Cefotaxim,
sonst nach Antibiogramm (Dos. ▶ Tab. 9.2 bei Hirnabszess).
– Antiödematöse Ther. mit Dexamethason (▶ 4.6.4) nur unter antibioti-
scher Abdeckung u. Magenschutz.

9.3.5 Spondylodiszitis
ICD-10 M46.3, bei Erregernachweis zusätzliche Verschlüsselung des Erregers,
meist B95-B97, z. B. B95.6 ist Staph. aureus.
Def.: Hämatogene o. postop. Entzündung im Bandscheibenbereich mit knöcher-
ner Reaktion.
Ätiol.: 80 % grampos. Keime. Bei Immunsuppression gehäuft gramneg. Erreger.
Selten Tbc (70 % im Bereich LWS, oft Abszedierung).
Klinik: Chron., uncharakteristische, bewegungsabhängige WS-Schmerzen, Stau-
chungs-, Klopfschmerz. Z. T. subfebrile Temperaturen. Bei Abszedierung Quer-
schnitt- o. Kaudasymptomatik möglich (▶ 14.1.1, ▶ 18.8).
Diagn.: BSG, BB, Blutkultur, MRT-WS, Rö WS, CT-gesteuerte Biopsie.
DD: Degenerative WS-Erkr., Metastasen.
Ther.:
• Konservativ:
– Bei unkomplizierter Spondylodiszitis.
– Ruhigstellung im Gipsbett für 8–12 Wo. bis BSG normal.
– Anschließend BSG alle 4–8 Wo. für 6 Mon. kontrollieren.
• Antibiose: Bei Keimnachweis gezielt, sonst Breitbandspektrum-Cephalospo-
rin für 4–8 Wo. i. v., danach oral.
• Operativ:
– Bei Abszedierung sofort.
– Sonst bei neurol. Ausfällen, Zunahme der Schmerzen unter konservativer
9 Ther.
– Bei Ther.-Resistenz nach 8–12 Wo. konservativer Ther.
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  351

9.3.6 Neurotuberkulose
ICD-10 G01, A17.0 tuberkulöse Meningitis, ICD-10 G05.0, A17.8 tuberkulöse En-
zephalitis, Myelitis u. Enzephalomyelitis, ICD-10 A17.1 meningeales Tuberku-
lom, A17.8 Tuberkulom von Gehirn o. RM.
Ätiol.:
• Hämatogene Streuung einer Miliar- o. Organ-Tbc im Sekundärstadium der
Tbc o. Spätgeneralisation alter reaktivierter Herde (v. a. bei älteren Pat.).
• Prädisponierende Faktoren bei ≈50 % der Pat.: Alkoholismus, Leberzirrhose,
Malignome, enger Kontakt mit Tbc-Kranken, schlechte soziale Lebensum-
stände, Diab. mell., HIV-Infektion, lang dauernde immunsuppressive Ther.
• Epidemiologie: In D in den letzten Jahren eher wieder leichte Abnahme der
Inzidenz bei gleichzeitigem Anstieg multiresistenter u. gegen ein Erstrangme-
dikament resistenter Erreger. Über 40 % der Erkrankten im Ausland (bes.
Nachfolgestaaten der UdSSR, Türkei) geboren.
Klinik:
• Prodromalstadium mit Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme u. Nachtschweiß,
nach 1–3 Wo. meningitisches o. meningoenzephalitisches Stadium: Menin-
gismus, Kopfschmerzen, intermittierende Verwirrtheit u. Antriebsstör. bis
zum akinetischen Mutismus, manchmal auch Halluzinationen, Bewusstseins-
stör. Papillenödem (durch arachnitische Verklebungen in der Chiasmage-
gend), HN-Paresen (v. a. VI u. III, seltener IV, VII u. II), epileptische Anfälle.
Seltener Hemiparese.
• Typischerweise lymphozytäre o. gemischtzellige Meningitis mit starker Ei-
weißerhöhung (Meningitis tuberculosa) im Bereich der basalen Zisternen mit
HN-Defiziten. Seltener Beteiligung spinaler Meningen mit Einzelherden (z. B.
mit Querschnittssy.), zerebrale Tuberkulome, Liquorabflussstör. (Hydroce-
phalus internus), ischämische Infarkte durch Begleitvaskulitis (am häufigsten
im Bereich der ACI, prox. Aa. cerebri media u. ant. sowie A. basilaris),
SIADH.

Schweregradeinteilung der Tbc-Meningitis


I Wach, voll orientiert u. ohne objektive neurologische Sympt.
II Verwirrtheit o. andere neurol. Sympt. (HN-Ausfälle, Hemiparese).
III Koma o. Stupor, ausgeprägte neurol. Sympt.

Bei Hirnstamm- o. HN-Beteiligung Atemstör. möglich, deshalb Intensiv­


überwachung!

Diagn.:
• Liquor (▶ 9.2.2, ▶ 2.1):
! Immer vor Beginn der Antibiose. Cave: Bei erhöhtem Hirndruck!
– Aussehen: Klar, häufig Spinngewebsgerinnsel, wenn Liquor stehen bleibt, 9
bedingt durch stark erhöhte Eiweißwerte (Hinweis auf schwere Schran-
kenstör.).
– Befund: Lymphozytäre Pleozytose (gelegentlich initial o. nach Ther.-Be-
ginn auch granulozytäre Pleozytose möglich!), Glukose ↓, Laktat ↑, Ei-
weiß ↑↑. Autochthone IgA-Synthese!
352 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

– Mikrobiologisch-serolog. Unters.: Direkter Erregernachweis im Liquor


(umgehend mikroskopisch im Liquorpräparat, Ziehl-Neelsen-Färbung o.
nach 4–8 Wo. im Meerschweinchentierversuch o. in der Liquorkultur).
PCR innerhalb von 48–72 h verfügbar (cave: Sensitivität, Spezifität).
• Labor: HIV-Test: Tuberkulöse Meningitis als opportunistische Infektion bei
AIDS (▶ 9.4.8).
• Apparative Diagn.:
– CCT o. MRT (▶ 9.2.1): Bei basaler Meningitis (MRT empfindlicher) evtl.
basale Arachnoiditis, Hydrozephalus (▶ 26); bei Tuberkulomen (CCT
empfindlicher) evtl. verkalkende Rundherde mit zentraler Nekrose, isch­
ämischer Infarkt bei Begleitvaskulitis.
– EEG: Anfallsbereitschaft?
– Transkranielle Doppler-Sono: Vaskulitis?
• Nachweis anderer Manifestationen: Anamnese, Rö Thorax, bakteriologische
Unters. von Sputum, Magennüchternsaft u. Urin.

Meldepflicht nicht namentlich für direkten Keimnachweis, Ergebnis der Re-


sistenzbestimmung, Nachweis säurefester Stäbchen im Sputum.

DD: Septische Herdenzephalitis (▶  9.3.2), Enzephalitiden durch andere Erreger


wie Listerien (▶ 9.3.1), Kryptokokkose (▶ 9.6), Neurolues (▶ 9.3.7), HIV (▶ 9.4.8),
Neuroborreliose (▶ 9.3.8), Hirninfarkte (▶ 7), Neoplasien u. Meningeosis carcino-
matosa (▶ 13.6), Sarkoidose.
Ther.: Beginn schon bei klin. Verdacht (nach Asservation des Liquors für Diagn.),
auch ohne Erregernachweis! Ther. ggf. nach Resistogramm modifizieren. Aktuelle
Empfehlungen Robert-Koch-Institut www.rki.de.
• Tuberkulostatika (▶ Tab. 9.4):
– Isoniazid (INH), Rifampicin, Ethambutol u. Pyrazinamid (▶ Tab. 9.5).
– Mittel der 1. Wahl mit guter Liquorgängigkeit. Initial Dreifachkombinati-
on, bei V. a. resistente Stämme Vierfachther., Resistenztestung.
• Streptomycin: Bei bes. schweren Sympt. zusätzlich zu Viererkombination
(nur im akuten meningitischen Stadium ausreichende Liquorgängigkeit) o.,
wenn INH, Rifampicin u. Pyrazinamid wegen Hepatotoxizität abgesetzt wer-
den müssen, Gabe in Komb. mit Ethambutol.
• Glukokortikoide: Bei neurol. Herdsympt. wie Hemiparese, schwerer Be-
wusstseinsstör., Hirnödem, spinalem Block. Prednison Erw. 60 mg/d p. o.;
Kinder 1–3 mg/kg KG/d p. o. über 4–6 Wo. (z. B. Decortin®).

Tab. 9.4  Substanzauswahl bei Tuberkulose


Indikation Medikamente

Initialphase über 3 Mon. (6–8 Wo. als Isoniazid + Rifampicin + Pyrazinamid


Kurzinfusion, dann oral) (oder Ethambutol)

Stabilisierung über 6–18 Mon. (oral) Isoniazid + Rifampizin


9 Bei Resorptionsstör. parenterale Ther. Isoniazid + Ethambutol + Streptomycin

Bei Resistenz Mittel der 2. Wahl Protionamid p. o. oder Streptomycin i. v.
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  353

Tab. 9.5  Dosierung der Tuberkulostatika


Substanz Dosis NW Kontrolluntersu-
(Bsp.) chungen, Beson-
Erw. Kinder derheiten

Isoniazid 1 × 10 mg/kg 1 × 15 mg/kg Hepatotoxizität, BB, Transaminasen.


(Isozid®) KG/d p. o. (max. KG/d p. o. Optikusneuropa- PNP-Prophylaxe mit
600 mg) (max. thie, PNP, epilep- Pyridoxin (z. B.
500 mg) tische Anfälle, Benadon®),
psychotische 100 mg/d p. o., in
Sympt., allergi- 8 % Primärresis-
sche Reaktionen, tenz.
Anämie Cave: Verstärkt
Phenytoinwirkung,
erhöht Carbamaze-
pinspiegel

Rifampi- 1 × 10 mg/kg 1 × 15 mg/kg Hepatotoxizität, BB, Diff.-BB, Trans­


cin (Rifa®) KG/d p. o. (max. KG/d p. o. allergische Reak- aminasen (Leberto-
600 mg) (max. tionen, Eosino- xizität).
500 mg) philie, Hämolyse, Cave: Vermindert
Thrombozytope- Wirkung von Ku-
nie, Leukopenie marinen u. oralen
Kontrazeptiva

Pyrazin­ 1 × 35 mg/kg 1 × 35 mg/kg Hepatotoxizität, BB, Diff.-BB, Trans­


amid KG/d p. o. (max. KG/d p. o. Hyperurikämie, aminasen, Harnsäu-
(Pyrafat®) 2.500 mg) (max. Stör. der re
1.500 mg) Hämato­poese

Ethambu- 1 × 20 mg/kg 1 × 20 mg/kg Hyperurikämie, Harnsäure, monat-


tol (My- KG/d p. o. (max. KG/d p. o. Retrobulbärneu- lich augenärztliche
ambutol®) 2.500 mg) (max. ritis Unters. (N. opticus)
2.500 mg)

Strepto- 1 × 0,75 g/d i. m. 1 × 30 mg/kg Schädigung E'lyte, Krea, Harn-


mycin Bei i. v. KG/d i. m. N. vestibulococh- stoff, monatlich
(Strepto- Appl. 2 g/d in (max. 1 g) learis, Nephroto- HNO-ärztliche
mycin- der 1. Wo., 1 g/d xizität, allergi- Unters. mit Audio-
Heyl®) in der 2.–4. Wo. sche Reaktionen gramm

Verlauf: Ohne adäquate Ther. protrahiert über Wo. bis Mon. mit geringen fokal
neurol. Defiziten, aber organischem Psychosy. (Durchgangssy.), gelegentlich fou-
droyant mit Tod durch Hirndruck innerhalb weniger Tage.

9.3.7 Neurolues (Neurosyphilis)
ICD-10 G01, A52.1 Meningitis bei Neurosyphilis, ICD-10 G05.0, A52.1 Enzepha-
litis, Meningitis u. Enzephalomyelitis bei Syphilis.

Definition
Venerische Infektion mit Treponema pallidum. Inkubationszeit 2–3 Wo. Rück-
gang der Syphilisneuinfektionen bis 1995, seither Anstieg, seit 2004 Stabilisierung 9
außer bei Fällen mit gleichzeitiger HIV-Infektion.

Die neurol. Sympt. der Neurolues ist so vielfältig, dass sie fast immer zur DD
gehört!
354 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Klinik
Neurol. Sympt. (Neurolues) durch meningovask. u. parenchymatöse Schäden im
Sekundär-, Tertiär- u. Spätstadium der Erkr.

Nur 5–10 % der Erkrankten entwickeln im natürlichen Verlauf eine Neuro-


syphilis im Tertiär- o. Spätstadium, bei zusätzlicher HIV-Infektion jedoch
häufiger.

Primärstadium (Lues I; ICD-10 A51): Bis zu 2 Wo.: Ulzerierende, erbsengroße


Papel am Infektionsort u. Schwellung der zugehörigen LK.
Sekundärstadium (Lues II; ICD-10 A51): Bis zu 3 Mon.: Generalisierte LK-
Schwellung, makulo-papulo-pustulöses Exanthem, Condylomata lata, Schleim-
hauterosionen.
• Akute Meningitis, Meningoenzephalitis (ICD-10 A51.4, G01) in 2 %: HN-
Ausfälle (bes. II, III, VI, VIII), zentrale Paresen, epileptische Anfälle, Bewusst-
seinsstör. Progn.: Ohne Ther. letaler Verlauf möglich, mit Ther. gut.
• Asymptomatische Neurolues: Lues liquorpositiva, pos. Liquorserologie ohne
Klinik. Progn.: Ohne Ther. Lues III nach vielen J. möglich.
Tertiärstadium (Lues III): Nach mehr als 2 J.: Meningovask. Veränderungen mit
Gummata, kardiovask. Sympt., Endarteriitis, Aortitis, Gefäßdissektion.
• Chron. luetische Meningitis (ICD-10 A52.1, G01): Vorwiegend basal lokali-
siert mit HN-Ausfällen (bes. II, VIII, bilateraler Hörverlust), Chiasmasympt.
(bitemporale Hemianopsie), Pupillenstör. (z. B. Argyll-Robertson-Pupille
▶ 3.1.4), epileptischen Anfällen, Hirndruckzeichen (▶ 4.6.1), psychischen
Veränderungen.
• Zerebrale Arteriitis (▶ 7.5; ICD-10 A52.0, I68.1): Sympt. eines ischämischen
Insults (▶ 7.2) bei 10 %. Progn.: Ohne Ther. wechselnde, chron. progrediente
Ausfälle über J., mit Ther. Rückbildung auch schwerer neurol. Sympt. mög-
lich.
• Spinale Meningitis, Myelitis u. Radikulitis (ICD-10 A52.1): Radikuläre
Schmerzen, Querschnittssympt. (▶ 14.1.1). Selten Muskelatrophien (luetische
Myatrophien, ICD-10 A52.7).
• Luetische Spinalparalyse (ICD-10 A52.1): Sympt. wie bei Myelitis, aber lang-
samere Entstehung, häufiger Blasenstör.
• Zerebrale Gummata (ICD-10 A52.3): Abhängig von Größe u. Lokalisation
Sympt. einer Raumforderung, fokale neurol. Defizite u. epileptische
­Anfälle.
• Optikusatrophie.
Spätstadium (Lues IV): Nach 5–20 J. parenchymatöse Veränderungen.
• Progressive Paralyse (ICD-10 A52.1): Bei 5 %, bevorzugt M, chron. fronto-
temporal betonte Hirnatrophie.
–  Klinik: Progrediente Demenz, dysarthrische Sprache mit „Silbenstol-
pern“, Bewegungsunruhe des Gesichts mit „mimischem Beben“, Reflex-
steigerung mit Pyramidenbahnzeichen (▶ 1.1.5), zentrale Paresen, epilep-
tische Anfälle, Pupillenstör. (reflektorische Pupillenstarre Argyll-Robert-
9 son ▶ 3.1.4), psychische Veränderungen (Affekt- u. Antriebsstör., Stör.
des Kritikvermögens bis zu Größenwahn).
–  Progn.: Ohne Ther. i.d.R. letaler Verlauf innerhalb von 2–3 J.
• Tabes dorsalis (ICD-10 A 52.1): Bei 3 %, Entmarkungsprozess an den Hinter-
wurzeln, Hintersträngen u. Spinalganglien. Klinik: Anfallsartige, „lanzinie-
rende“ Schmerzen, Sensibilitätsstör. (Vibration u. Lagesinn), Ataxie, Ausfall
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  355

der MER, Pupillenstör. (entrundet, Anisokorie, reflektorische Pupillenstarre


Argyll-Robertson ▶ 3.1.4), Optikusatrophie, Blasenstör., Impotenz, schmerz-
hafte tabische Krisen (z. B. im Epigastrium).
• Taboparalyse: Mischsympt. von Tabes dorsalis u. progressiver Paralyse.
Diagnostik
• Serolog. Unters. im Serum u. Liquor (▶ Tab. 9.6), Serokonversion durch-
schnittlich 14–21 d nach Erregerkontakt, teils auch später, zunächst IgM,
dann IgG-AK.
• Liquor:
– Lymphozytäre Pleozytose (100–300 Zellen/mm3).
– Eiweiß ↑ (Schrankenstör.). Glukose normal.
– Intrathekale IgM- u. IgG-Synthese, pos. oligoklonale Banden.
– Serolog. Bestimmung (▶ Tab. 9.6) in Liquor u. Serum mit Berechnung des
spezifischen Liquor-/Serum-Index.
– Evtl. bereits im Primärstadium Liquorveränderungen (Lues latens liquor-
positiva).
• Bildgebende Diagn.: MRT: Ischämieareale, Hydrozephalus, Gummata,
Ausschluss anderer ZNS-Erkr.; bei entsprechender Symptomatik spinales
MRT.
• EEG: Evtl. Zeichen erhöhter zerebraler Erregbarkeit o. Allgemeinverände-
rung.
• EP: Bei entsprechender Symptomatik.
– VEP (Optikusneuritis, -atrophie).
– AEP (Stör. VIII. HN).
– SSEP (Tabes dorsalis).
• Angio, MR-Angio: Arteriitis mit Kalibersprüngen u. Gefäßwandunregelmä-
ßigkeiten.

Nicht namentliche Meldepflicht bei akuter Infektion, bisher nicht bekannter


Infektion in einem späteren Stadium, Zusatzbogen mit Angaben zu demo-
grafischen Daten, klin. Sympt., wahrscheinlichem Übertragungsweg

Tab. 9.6  Serologische Untersuchungen in Serum u. Liquor (▶ Tab. 9.7)


Test Bedeutung

TPHA-Test Suchreaktion

FTA-ABS-Test Bestätigungsreaktion

IgM-AK-Nachweis (z. B. IgM-FTA- Zeichen der Aktivität u. Behandlungsbedürftig-


ABS, Treponema-pallidum-IgM keit
ELISA, IgM-Western Blot)

Spezifischer Liquor-/Serum-Index Zeichen einer Neurolues


der verschiedenen Tests (z. B.
ITpA o. TPHA-ASI)
9
356 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Tab. 9.7  Diagnosekriterien für das Vorliegen einer Neurosyphilis


Wahrscheinliche Neurosyphilis Sichere Neurosyphilis

Pos. TPHA-Test u. pos. Bestätigungstest Nachweis einer treponemenspezifi-


(FTA-ABS) i. S. und Vorliegen von 2 der fol- schen AK-Reaktion im Liquor durch
genden 3 Punkte: • ITpA (Index intrathekal produzierter
• Chron.-progredienter u. phasenhafter Treponema-pallidum-AK nach
Verlauf einer neurol.-psychiatrischen ­Prange et al.) o.
Symptomatik • TPHA-ASI (modifizierter ITpA-Index
• Path. Liquorbefunde: gemischtzellige o. nach Reiber)
mononukleäre Pleozytose (> 4/μl),
Schrankenstör. (Albuminquotient > 7,8)
u./o. IgG-dominante Immunreaktion
• Günstige Beeinflussung von Krankheits-
verlauf u./o. Liquorbefunden (v. a. Pleo-
zytose, Schrankenstör.) durch Antibiose

Differenzialdiagnosen
Hirninfarkte (▶  7.2), Neoplasien (▶  13.6), Demenz anderer Urs. (▶  23.2), PNP
(▶ 19), funikuläre Myelose (▶ 19.5.3), andere entzündl. ZNS-Erkr., v. a. tuberkulö-
se Meningitis (▶ 9.3.6), HIV (▶ 9.4.8), Neuroborreliose (▶ 9.3.8).

Therapie
Bei Nachweis treponemenspezifischer IgM-AK i. S., pos. Lues-Serologie u. Li-
quorpleozytose, Anstieg der IgM-AK im Liquor, Anstieg des intrathekal produ-
zierten IgG im Verlauf, bei neg. IgM-AK im Tertiärstadium auch bei klin. Progre-
dienz u. Vorliegen einer Liquorpleozytose.
Vorgehen:
• Bisher noch sehr selten antibiotikaresistente o. penicillaseproduzierende Tre-
ponema-pallidum-Stämme.
! Erreichen wirksamer Antibiotikakonz. im Liquor problematisch, daher Anti-
biose immer stationär u. i. v. Dos. beachten.
• Als Ther. 1. Wahl Penicillin G, bei Penicillinallergie entweder Desensibilisie-
rung nach dermatologischer Maßgabe o. alternativ Ther. mit Ceftriaxon.
Ther. 3. Wahl Doxycyclin.
• Dos.:
– Penicillin G in kristalloider Lsg. 3–4 Mio IE alle 4 h. i. v. über mind. 14 d.
– Penicillin G 3 × 10 o. 5 × 5 Mio IE/d i. v.
– Ceftriaxon initial 4 g i. v., dann 2 g/d i. v. über 10–14 d.
– Doxycyclin 4 × 100 mg/d i. v. über 30 d (z. B. Vibravenös®).

(Jarisch-)Herxheimer-Reaktion
Fieber, Myalgien, Kopfschmerzen, zunächst RR ↑, dann RR ↓, Verschlech-
terung der klin. Sympt. Ausgelöst durch therapiebedingten Erregerzerfall;
wenige Stunden bis 3 d nach Ther.-Beginn möglich. Daher in den ersten Ta-
gen Antibiose unter stationärer Behandlung!
9
Vorgehen bei KO:
• Tabische Schmerzen, Krise: Carbamazepin initial 2 × 100 mg/d p. o. (z. B.
Tegretal®), in Abhängigkeit von der Wirkung langsame Steigerung, z. B. alle
4 d 200 mg mehr bis zu 3 × 400 mg/d p. o. Alternativ Lamotrigin, Gabapentin,
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  357

Pregabalin, Amitriptylin, Duloxetin o. Flupirtin. Transkutane Elektrostimula-


tion (TENS), Lidocain 100 mg i. v. in 100 ml NaCl 0,9 % über 1 h.
• Akuter Hörverlust: Penicillin wie oben, evtl. Prednisolon 60 mg/d p. o. (z. B.
Decortin®H).
• Epileptische Anfälle (▶ 9.1.5).
Verlaufskontrolle:
• Liquorkontrollen 1 u. 3 Mon. (Normalisierung der Zellzahl) sowie 1 u. 5 J.
(Normalisierung des Gesamteiweißes sowie der IgM-AK) nach Ther.-Beginn.
• Erneute Antibiotikather. indiziert, falls Pleozytose länger als 6 Mon. o. IgM-
AK länger als 3 J. nachweisbar.
• Liquor-/Serum-AK-Indizes normalisieren sich erst Jahre nach erfolgreicher
Ther., deshalb nicht als Aktivitätsmarker geeignet.

9.3.8 Neuroborreliose
ICD-10 A69.2, bei Meningitis G 01, A 69.2.
Syn.: Lyme-Borreliose, Bannwarth-Sy., Garin-Bujadoux-Bannwarth-Sy.

Definition, Ätiologie, Epidemiologie


• Durch Insekten-, v. a. Zeckenstich (Ixodes ricinus), übertragene Infektion mit
der Spirochäte Borrelia burgdorferi.
• In Nordamerika ausschließlich Borrelia (B.) burgdorferi sensu stricto, in Eu-
ropa zusätzlich B. afzelii, B. garinii u. B. bavariensis. Daher unterschiedliche
Häufigkeit der Verlaufsformen:
– In Nordamerika häufiger isolierte Meningitis, chron. Enzephalitis, isolier-
te PNP.
– In Europa häufiger Meningoradikuloneuritis (Garin-Bujadoux-Bann-
warth-Sy.), isolierte Meningitis überwiegend bei Kindern.
– In Mitteleuropa, Skandinavien u. Nordamerika zunehmende Durchseu-
chung der Zeckenpopulation mit Anstieg der Infektionsinzidenz von Bor-
reliose u. Neuroborreliose.

Klinik

Neurol. Beteiligung (Neuroborreliose) bei Lyme-Borreliose Stadium II u. III


möglich. Neurol. Sympt. der Neuroborreliose sehr vielfältig, sodass sie im-
mer zur DD gehört.

Stadium I (bis 30 d):


• Erythema chronicum migrans: Meist schwach ausgeprägte Hautrötung in der
Region des Zeckenstichs, die sich ausbreitet.
• LK-Schwellung, grippeähnliche Allgemeinsympt. mit Erschöpfbarkeit, Fieber,
wandernden Arthralgien, Kopfschmerzen, Myalgien, Nackenschmerzen.
Stadium II (nach 30 d bis 6 Mon.):
• Lymphozytom (Lymphadenitis cutis benigna), Erytheme, Myo- u. Perikardi-
tis (AV-Überleitungsstör.), Konjunktivitis, Iritis, Arthralgien, Myalgien. 9
• Lymphozytäre Meningomyelopolyradikulitis mit heftigen radikulären
Schmerzen (v. a. nachts), peripheren Paresen, HN-Paresen (v. a. VII), Kopf-
schmerzen, selten Plexusneuritis, Mononeuritis multiplex, Querschnittsmye-
litis, zerebrale Ischämie (Vaskulitis) o. Durchgangssy. mit Vigilanzstör.; Neu-
ropathie meist axonal.
358 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Stadium III (nach > 1 J.):


• Akrodermatitis chronica atrophicans (ACA), Arthritis, meist axonale PNP/
Polyneuritis (▶ 19).
• Chron. progrediente Enzephalomyelitis (DD: MS) mit spastischen Paresen,
Ataxie, Blasenstör., fokalen Krampfanfällen, HN-Ausfällen, Aphasie, evtl.
Chorea, Vorderhorn-Sy., Querschnittsmyelitiden.
• Enzephalopathie mit kognitiv-mnestischen Defiziten u. psychoorganischen
Veränderungen.
Einteilung in akute u. chron. Neuroborelliose:
• Akute Neuroborreliose (< 6 Mon. Symptomdauer, 95 % d. f.): Lymphozytäre
Meningomyelopolyradikulitis mit heftigen radikulären Schmerzen (v. a.
nachts), peripheren Paresen, Fazialisparese o. anderen HN-Paresen (Bann-
warth-Sy.).
• Chron. Neuroborreliose (> 60 Mon. Symptomdauer, 5 % d. F.): Schleichend
beginnende Enzephalomyelitis mit Spastik, Ataxie, Blasenstör., selten
Schmerzen.
„Post-Lyme-Disease-Sy.“:
• Chron. unspezifische Beschwerden wie Müdigkeit, Konz.-Stör., Schmerzen,
fibromyalgieartige Beschwerden bei Vorliegen einer pos. Borrelienserologie
jedoch ohne andere Sympt. einer chron. Borreliose. Krankheitsbild umstrit-
ten: V. a. in Endemiegebieten hohe Seroprävalenz, prädiktiver Wert der Bor-
relienserologie daher gering.
• Unspez. Beschwerden nach bereits ausreichend behandelter akuter Lyme-
Borreliose sprechen nicht auf erneute Antibiotikather. an.
– DD: Rheumatische Erkr./Autoimmunerkr., depressive Stör., somatoforme
Stör., Suchterkr., andere chron. Infektion ausschließen.
– Überprüfung der Spezifität der pos. Borrelien-Serologie in einem Refe-
renzlabor.
– Bei eindeutigem Befund nach entsprechender Aufklärung des Pat. ggf.
einmaliger Ther.-Versuch mit Antibiotika (▶ Tab. 9.7).

Diagnostik
• Liquor: Lymphozytäre Pleozytose, Eiweiß ↑ (Schrankenstör.), intrathekale
Immunglobulinsynthese (akute Neuroborreliose: IgM > IgG > IgA; chron.
Neuroborreliose IgG u. IgA > IgM), oligoklonale Banden. Erregernachweis
mittels PCR (schneller) o. Kultur aus dem Liquor auch bei akuter Neurobor-
reliose nur in 10–30 % möglich.
• Serolog. Bestimmungen: Zweistufiges Vorgehen mit Enzymimmuntest als
Suchtest u. Immunoblot als Bestätigungstest in Liquor u. Serum mit Berech-
nung des spezifischen Liquor/Serum-Index zum Nachweis der intrathekalen
Borrelien-AK-Synthese:
– Verbesserte Sensitivität u. Spezifität durch Entwicklung immundominan-
ter rekombinanter Antigene. Line-Immunoblot-Technik sensitiver als
konventioneller Immunoblot.
– Borrelien-AK-Nachweis erst ab der 2. Krankheitswo. (nach 3 Wo. bei
9 75 %, nach 8 Wo. bei 99 % der Pat.), gelegentlich AK-Titer im Liquor frü-
her als im Serum pos.
– Pos. Borrelia-burgdorferi-spezifische intrathekale AK-Produktion kann
über Jahre persistieren, spricht ohne Liquorpleozytose o. Schrankenstör.
für eine früher durchgemachte Neuroborreliose.
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  359

! 
Cave: Zu Beginn der Sympt. in Stadium II sind ≤ 50 % der Pat. seropos.
(Pleozytose, Titerverlauf, ggf. Ther. auf Verdacht). Isoliertes Auftreten ei-
ner AK-Synthese im Liquor bei neg. Serumbefund möglich. Andererseits
viele symptomfreie seropos. Personen in Endemiegebieten.
• PCR: In Blut, Liquor o. aus einer Hautbiopsie des Erythems bei unbehandel-
ten Pat. in Frühphase bei klin. Verdacht, aber neg. Serologie sinnvoll.
• MRT: Bei chron.-progredienter Enzephalomyelitis im Stadium III gelegent-
lich periventrikuläre, in T2-Wichtung hyperintense Herde.

Differenzialdiagnosen
Neurolues (▶  9.3.7), Neurotuberkulose (▶  9.3.6), MS (▶  10.1), FSME (▶  9.4.3),
Ehrlichiose (▶  9.3.9), andere bakt. u. virale Meningitiden, PNP anderer Urs.
(▶ 19), Sarkoidose, Hirninfarkte (▶ 7.2), (postvakzinale) Leukenzephalitis, funi-
kuläre Myelose (▶ 19.5.3).

Therapie

Zeckenentfernung
• Möglichst rasch Entfernung der Zecke, ohne diese zu quetschen, da Über-
tragungswahrscheinlichkeit der Borrelien mit Dauer des Saugakts zu-
nimmt (Übertragung oft erst nach 16–24 h Blutsaugen).
• Geeignet sind Zeckenzange, Zeckenkarte, Pinzette o. Skalpell (ungeeignet
Abtöten der Zecke mit Klebstoff, Nagellack, Öl).
• Desinfektion der Stichstelle u. Aufklärung über mögliche Sympt. einer
Borrelieninfektion.
• Routinemäßige Antibiotikather. nach Zeckenstich beim asymptomati-
schen Pat. in Europa nicht empfohlen.
• Bei multiplen Zeckenstichen, Hochendemiegebiet o. sehr ängstlichen Pat.
kann Antibiotikaprophylaxe mit Doxycyclin (z. B. 1 × 200 mg Vibramy-
cin® p. o. innerhalb von 72 h nach Zeckenstich) erwogen werden.

Antibiotikather.: Auswahl des Antibiotikums u. Ther.-Dauer in Abhängigkeit


vom Stadium der Erkr. u. von der Manifestation ▶ Tab. 9.8.

Tab. 9.8  Therapie der Borreliose in verschiedenen klinischen Stadien


Stadium Manifesta- Antibiotikum Dosierung Therapiedauer
tion (Tage)

I Dermatolo- Doxycyclin 2–3 × 100 mg/d p. o. 14–21


gisch (z. B. Vibramycin®) Kinder < 9 J. 4 mg/kg
KG/d p. o.

II Neurolo- Ceftriaxon 1 × 2 g/d i. v. 14–21


gisch (z. B. Rocephin®)

Cefotaxim
(z. B. Claforan®)
3 × 2 g/d i. v. 14–21 9

Andere Doxycyclin 2–3 × 100 mg/d p. o. 14–30


(z. B. Vibramycin®) Kinder < 9 J. 4 mg/kg
KG/d p. o.
360 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Tab. 9.8  Therapie der Borreliose in verschiedenen klinischen Stadien (Forts.)


Stadium Manifesta- Antibiotikum Dosierung Therapiedauer
tion (Tage)

III Neurolo- Cefotaxim 3 × 2 g/d i. v. 21–28


gisch (z. B. Claforan®)

Ceftriaxon 1 × 2 g/d i. v. 21–28


(z. B. Rocephin®) Kinder < 12 J.
1 × 75 mg/kg KG/d
i. v. (max. 1 × 2 g)

Dermatolo- Doxycyclin 2–3 × 100 mg/d p. o. 14–28


gisch (z. B. Vibramycin®) Kinder < 9 J. 4 mg/kg
KG/d p. o.

• Ther.-Erfolg wird anhand der klin. Besserung u. ggf. durch Normalisierung


der Liquorpleozytose belegt.
• Bei Persistieren/Wiederauftreten der Sympt. nach 6 Mon. Liquorkontrolle.
Bei Pleozytose erneute Antibiotikather.
• Borrelien-Serumtiter, intrathekale borrelienspezifische AK-Produktion o. oli-
goklonale Banden belegen keine persistierende therapiebedürftige Infektion.
• Keine langfristigen o. wiederholten Antibiotikagaben ohne entsprechende
Ind.

(Jarisch-)Herxheimer-Reaktion möglich, daher in den ersten Tagen stationä-


re Behandlung.

Bei persistierenden Schmerzen:


• Prednisolon: 60 mg/d p. o. in absteigender Dosis (z. B. Decortin® H) u.
• Carbamazepin: 200–1.200 mg/d p. o. (z. B. Timonil®), einschleichend gemäß
Wirkung, NW u. Blutspiegel o.
• Gabapentin (Neurontin®): Einschleichend nach Wirkung, NW u. Blutspie-
gel. Meist in 7–9 d Aufdosierung bis Erhaltungsdosis von 900 mg/d, auch hö-
here Dos. bis 2.400 mg/d möglich.

Prophylaxe
Bisher keine Impfung. Prävention nur durch Schutz vor Zeckenstichen durch
Kleidung, frühzeitige u. sachgerechte Entfernung von Zecken mit anschließender
Beobachtung der Stichregion.

Wichtig ist die frühzeitige u. ausreichende Antibiotikather. im Stadium I u.


II, um den Übergang in spätere Krankheitsstadien zu vermeiden.

Prognose
• Im Stadium I u. II ohne Antibiotikather. langsame (Tage bis Mon. dauernde)
9 Rückbildung. Auftreten des nächsten Stadiums möglich. Stadium III ist unbe-
handelt chron. progredient.
• Unter Antibiotikather. rasche Rückbildung der akuten Sympt., i. d. R. Aushei-
lung. Im Stadium III unter Ther. meist Ausheilung, gelegentlich neurol. Rest-
sympt.
  9.3 Bakterielle Erkrankungen  361

9.3.9 Seltene bakterielle Erkrankungen


▶ Tab. 9.9.
Tab. 9.9  Seltene bakterielle Erkrankungen des Nervensystems
Erkrankung Klinik Diagnostik Therapie2
­(Erreger)

Whipple-Krank- Steatorrhö, chron. Diar- Gewebebiopsie Z. B. Penicillin G


heit (Trophery- rhö, Bauchschmerzen, (Erregernachweis 6 × 5 Mega/d i. v.
ma whippeli) Fieber, Arthralgien, LK- in Duodenum, Ge- (z. B. Penicillin
ICD-10 G05.0; Schwellung, Nacht- hirn), pos. PCR. Grünenthal®) über
A04.8 schweiß. MRT: T2-Signalhy- 4 Wo., danach Co-
Demenz, supranukleäre perintensitäten, trimoxazol
Blickparese, Ataxie, evtl. Hydrozepha- 360 mg/d p. o. o.
Myoklonien, Krampfan- lus Doxycyclin
fälle, okulomastikatori- Labor: Liquor oft 100 mg/d p. o.
sche Myorhythmie, hy- unauffällig, ggf. über 1–3 J.
pothalamische Stör. PCR pos.

Leptospirose1, Übertragung durch Urin Liquor: Zunächst Z. B. Doxycyclin


am häufigsten von Haus-/Wildtieren. granulozytäre, 2 × 100 mg/d i. v.
Weil-Krankheit Inkubationszeit (IKZ) später lymphozy- (z. B. Vibravenös®)
(Spirochätenin- 2–26 d. täre Pleozytose, Ei- über 7–10 d.
fektion mit Bakteriämische Phase weißerhöhung. Cave (Jarisch-)
Leptospirosis (4–7 d) mit grippalen Erregernachweis in Herxheimer-Reak-
icterohaemor- Sympt., dann afebriles Serum, Liquor u. tion.
rhagica) Intervall (1–3 d). Urin (schwierig,
ICD-10 G01; A27 Hepatitis, Nephritis, wenig sensitiv),
Myokarditis, Iridozykli- AK-Nachweis.
tis. Lymphozytäre Me-
ningitis, selten Enzepha-
lomyelitis, isolierte HN-
Ausfälle (Optikusbefall),
Polyneuritis.

Q-Fieber1; Co- Übertragung durch Rin- Pos. KBR, BSG ↑↑, Z. B. Doxycyclin
xiellose (Coxiel- der, Schafe, Ziegen, meist keine Leuko- 2 × 100 mg/d i. v.
la burneti) Rohmilch. zytose. (z. B. Vibravenös®),
ICD-10 G01; A78 Hohes Fieber, Endokar- nach Stabilisie-
ditis, Pneumonie, Kera- rung p. o. über
tokonjunktivitis, Derma- 1–2 J. Bei Endo-
titis. karditis, zerebro-
Meningitis. vask. Ischämie
Komb. mit Hydro-
xy-Chloroquin.

Rückfallfieber Übertragung durch Läu- Liquor (lymphozy- Z. B. Doxycyclin


(Spirochätenin- se, Zecken (Afrika, Süd- täre Pleozytose, Ei- 2 × 100 mg/d p. o.
fektion mit Bor- amerika). IKZ 7 d. weißerhöhung), für 10 d (z. B.
relia recurrentis Hohes Fieber (rezid. Epi- Erregernachweis Vibramycin®).
o. duttoni) soden von 3–6 d, fieber- aus Blut u. Liquor Cave (Jarisch-)
ICD-10 G01; A68 freie Intervalle von (im Fieberschub). Herxheimer-Reak-
7–10 d), Arthralgien, tion.
Hepatosplenomegalie, 9
Ikterus, Lymphadenopa-
thie, Iridozyklitis, Exan-
them.
Meningitis.
362 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Tab. 9.9  Seltene bakterielle Erkrankungen des Nervensystems (Forts.)


Erkrankung Klinik Diagnostik Therapie2
­(Erreger)

Rickettsiose1, Übertragung durch Klei- Serologie: Weil-Fe- Z. B. Tetracyclin


Fleckfieber-En- derläuse. IKZ 10–14 d. lix-Reaktion (z. B. Tetracyclin
zephalitis (Ri- Prodromalstadium Liquor: Klar, Druck Wolff®)
ckettsia prowa- (Kopfschmerzen, Schlaf- ↑, lymphozytäre 2–4 × 500 mg/d
zecki) losigkeit), kleinfleckiges Pleozytose 30– p. o.
ICD-10 A75, bei Exanthem an Rumpf u. 70 Zellen/μl.
Enzephalitis zu- Extremitäten, Myokardi-
sätzlich ICD-10 tis, Pneumonie, Throm-
G05 bophlebitiden.
Enzephalitis, Polyneuri-
tis.

Ehrlichiose (Ehr- Übertragung durch Ze- Intrazytoplasmati- Z. B. Doxycyclin


lichia phagocy- cken. IKZ 7–14 d. sche Anhäufungen (z. B. Vibramycin®)
tophilia) Meist milder grippeähn- von Ehrlichien 2 × 100 mg/d p. o.
licher Krankheitsverlauf, (Morula) im Blut- für 10–14 d.
makulopapulöses Exan- o. Knochenmarks-
them, bei Immundefizi- ausstrich bei Giem-
enz akutes Fieber, Leu- sa- o. indirekter
kopenie, Thrombozyto- Immunfluores-
penie, Niereninsuffizi- zenzfärbung.
enz. PCR.
Lymphozytäre Meningi- AK-Nachweis
tis o. Enzephalitis, Enze-
phalopathie, periphere
Neuropathie.

Neurobrucello- Übertragung durch Liquor (mäßige Dreifachkomb.


se1, M. Bang, Milchvieh, Milchproduk- lymphomonozytä- z. B. Doxycyclin
Maltafieber te. IKZ einige Wo. re Pleozytose, Ei- 2 × 100 mg/d i. v.
ICD-10 A23, bei Fieberphasen mit Hepa- weiß ↑), serolog. (z. B. Vibravenös®),
Meningitis G01, tosplenomegalie, Ar­ AK-Nachweis. Rifampicin
bei Enzephalitis thralgien, Lymphadeno- 600 mg/d initial
G05 pathie, afebrile Interval- i. v., (z. B. Rifa®) u.
le. In 90 % subklin. Ver- Streptomycin
lauf. 1 × 1 g/d i. m. für
Subakute bis chron. Me- 2 Wo., danach
ningitis, Enzephalitis, orale Zweifach-
Radikuloneuritis u./o. komb. mit Doxycy-
Myelitis. Sehr selten em- clin + Rifampicin
bolische Herdenzephali- für 1–6 Mon.
tis bei Endokarditis. Cave (Jarisch-)
Herxheimer-Reak-
tion.

Legionellose1 Infektion über Klimaan- Rö Thorax, Liquor Z. B. Erythromycin


(schwer an- lagen, Schwimmbäder, (nur bei 25 % mä- 2–4 × 250–
züchtbare Heißwasserbereiter. ßige Pleozytose, 1.000 mg/d i. v. für
gramneg. Stäb- Häufig endemisch. Eiweißerhöhung). 10–14 d (z. B.
chenbakterien) Schwere atypische Serol. AK-Nach- Erythrocin)
9 ICD-10 G05, Pneumonie. Nierenbe- weis.
A48. teiligung, Anämie.
Enzephalopathie, zere-
belläre Sympt., Myelo-
pathie, PNP, ggf. bereits
vor der Pneumonie.
  9.4 Virale Erkrankungen  363

Tab. 9.9  Seltene bakterielle Erkrankungen des Nervensystems (Forts.)


Erkrankung Klinik Diagnostik Therapie2
­(Erreger)

Aktinomykose Chron. Entzündung mit Mikroskopischer u. Aktinomyzeten:


u. Nokardiose Abszedierung, Granu- kultureller Nach- Z. B. Penicillin G
(mycelbildende lom- u. Fistelbildung weis der Erreger in 4–6 × 5 Mega/d
grampos. Bak- v. a. zervikofazial u. pul- Liquor u. Eiter. i. v. für 4–6 Wo.
terien) monal. CCT/MRT (Abszes- (z. B. Penicillin G
ICD-10 G06, A42 Bei Immundefizienz se). Hoechst®), an-
Aktinomykose, neurol. Manifestation schließend orale
A43 Nokardiose durch hämatogene Aus- Rezidivprophylaxe
saat o. per continuita- über 6–12 Mon.
tem. Nokardien: Co-
Intrazerebrale, epidura- trimoxazol =
le o. intramedulläre Ab- Trimethoprim
szesse; seltener subdu- 2 × 240 mg u. Sul-
rales Empyem o. Menin- famethoxazol
gitis. 2 × 1.200 mg/d i. v.
für 6–8 Wo. (z. B.
Eusaprim®). An-
schließend orale
Rezidivprophylaxe
über 6–12 Mon.
Solitäre Abszesse
von Aktinomyze-
ten o. Nokardien:
Evtl. OP.
1
 Nicht namentliche Meldepflicht bei direktem o. indirektem Erregernachweis.
2
 Akutelle Ther.-Empfehlungen unter www.dgn.org/leitlinien.

9.4 Virale Erkrankungen
9.4.1 Akute virale Entzündung ohne Erregernachweis
Ätiologie
• KO einer generalisierten Virusinfektion o. Exazerbation einer latenten Virus-
persistenz (Herpes simplex, Varicella Zoster).
• Häufige Erreger bei Meningitis: Coxsackie-, Echo-, Mumpsviren, bei Menin-
goenzephalitis HSV Typ 1, Arboviren, bei Myelitis Coxsackie A, B, Poliomye-
litis-, Echoviren, HSV u. bei Ganglionitis VZV.

Klinik
Meist akute o. chron. lymphozytäre Meningitis.
• Meningitis (ICD-10 G020): Akutes Fieber, Kopfschmerzen, Meningismus,
Erbrechen, Müdigkeit, gelegentlich radikuläre Reizsympt. o. HN-Ausfälle.
• Meningoenzephalitis, Enzephalitis (ICD-10 G05. 1): Zusätzlich psychoorga-
nische Veränderungen, Bewusstseinsstör., neurol. Herdsympt., Myoklonien, 9
epileptische Anfälle o. Hirndruckzeichen.
• Myelitis (▶ 14.4.2; ICD-10 G 05.1):
– RM-Entzündung, evtl. (spinale) Meningitis o. Radikulitis (mono- o. poly-
radikuläre Schmerzen, Sensibilitätsstör. o. Paresen).
364 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

– Entweder weiße u. graue Substanz kombiniert (z. B. inkomplettes o. kom-


plettes Querschnitt- o. Brown-Séquard-Sy. ▶ 14.1.1) o. beide jeweils iso-
liert betroffen (z. B. Poliomyelitis mit Befall der Vorderhornzellen
▶ 14.4.3: Schlaffe Paresen).
• Ganglionitis (ICD-Verschlüsselung nach betroffener Lokalisation o. Erreger):
Fieber, Müdigkeit, Myalgien, dermatomartig lokalisierte, bläschenförmige
Hauteruptionen mit scharfem radikulärem Schmerz, gelegentlich radikuläre
Paresen o. Fazialisparese.

Diagnostik
• Liquor (▶ 2.1.2): Lymphozytäre Pleozytose (im Frühstadium auch Vorherr-
schen von Granulozyten möglich), Mischbild aus Schrankenstör. u. intrathe-
kaler IgG-Synthese.
• Mikrobiologisch-serolog. Unters.: Serolog. Diagn. von Serum u. Liquor. Ti-
teranstieg 2–4 Wo. nach Beginn der Erkr., daher teilweise erst retrospektiv
spezifische Diagnose möglich. Virusspezifischen Liquor-/Serum-AK-Quoti-
ent zum Nachweis einer intrathekalen Infektion.
• Kultureller Virusnachweis: Versuch der Anzüchtung aus Blut, Liquor, Ra-
chenspülwasser, Urin o. Stuhl.
• PCR: Nachweis geringer Mengen von Virus-DNA o. -RNA bei HSV, VZV,
CMV, EBV, HIV, Röteln, Masern, JCV, Parvovirus, Enterovirus sowie HHV-
6 u. HHV-7. Hohe Sensitivität u. Spezifität bei HSV u. Enterovirus-Infektio-
nen.
• Sonstiges Labor: BSG, BB, AK-Nachweis. Procalcitonin i. S. (bei viraler Enze-
phalitis Normalwert, nur bei bakt. Genese ↑), HIV-Test (opportunistische
Infektion bei AIDS ▶ 9.4.8).
• EEG: Anfallsbereitschaft? Bei Herpes-Enzephalitis (▶ 9.4.2) in der Temporal-
region auftretender δ-Herdbefund u./o. periodische Komplexe aus steilen u.
langsamen Wellen in Abständen von wenigen Sekunden.
• MRT (wenn nicht verfügbar CCT): Bei Herpes-Enzephalitis unscharfe hypo-
(CCT) o. hyperintense (MRT in T2-Wichtung) Veränderungen im Tempo-
rallappen. Bei FSME asymmetrischer Stammganglienbefall.

Differenzialdiagnose der lymphozytären Meningitis


Virale Infektion, Infektion mit Mycobacterium tuberculosis, Treponema palli-
dum, Leptospiren, Borrelien, Toxoplasmen, Zystizerken, Pilzen, Boeck-Krankheit
(Sarkoidose), Meningeosis neoplastica.

Therapie
Postexpositionell: Impfung u. Immunglobulin gegen Tollwut bei Kontakt mit
Speichel o. Blut von vermutlich infizierten Tieren (z. B. Biss- o. Schürfwunden).
Virustatika:
• Bereits bei V. a. Herpesenzephalitis sowie bei Varicella-Zoster-Enzephalitis u.
-Myelitis Ther. mit Aciclovir 3 × 200–500 mg/d i. v. (z. B. Zovirax®) als Kurz-
infusion für 10–14 d (▶ Tab. 9.10).
9 • Bei CMV Ganciclovir, initial in Komb. mit Foscarnet.
  9.4 Virale Erkrankungen  365

Tab. 9.10  Antivirale Medikamente bei neurol. Erkrankungen (außer HIV)


Wirk- Empfindliche Handels- Wichtigste NW Tagesdosis
stoff Erreger name

Aciclovir HSV, VZV Z. B. Zovi- Anämie, Thrombopenie, Leu- 3 × 10 mg/kg


rax® kopenie, Leberwerte ↑, Nie- KG/d i. v.
reninsuff., reversible neurol./
psychopath. Sympt.

Cido­ CMV (v. a. Vistide® Neutropenie, Alopezie, Nie- 1 × 5 mg/kg


fovir ­Retinitis, Med. renfunktionsstör., Hautaus- KG/Wo. i. v.
der 2. Wahl), schlag, Fieber, Uveitis, ernied- (für 2 Wo.,
Ther.-Versuch rigter Augeninnendruck, Dys- dann einmal
bei JC-Virus pnoe alle 2 Wo.)

Foscar- CMV, HSV Foscavir ® Nierenfunktionsstör., Verän- 90 mg/kg KG


net derungen von BB, Leberwer- alle 12 h i. v.
ten u. E'lyten, Parästhesien,
Tremor, Ataxie, psychopath.
Sympt. Herzrhythmusstör.,
zerebrale Krampfanfälle,
­Geschwüre im Genitalbereich

Ganci­ CMV Cymeven® Neutropenie, Thrombopenie, 5 mg/kg KG


clovir Anämie, Dyspnoe, Fieber, alle 12 h i. v.
Sepsis, Azidose, PNP, Schwin-
del, Bewusstseinsstör., zere­
brale Krampfanfälle, allergi-
sche Reaktionen

Valgan- CMV Valcyte® Neutropenie, Anämie, Throm- 2 × 900 mg/d


ciclovir bopenie, Dyspnoe, psycho- p. o.
path. Sympt.

Allgemeinmaßnahmen:
• Ggf. Intensivüberwachung, Beatmung, Anfallsprophylaxe, Bettruhe, evtl. An-
algetika, Thromboseprophylaxe, KG.
• Bei Hinweis auf Hirndruck (▶ 4.6.1) Messung u. Überwachung der ICP-Er-
höhung, Hirndruckther. (▶ 4.6.4).

Prophylaxe
• Aktive Immunisierung gegen FSME (▶ 9.4.3) bei beruflicher o. privater Ze-
ckenexposition in Endemiegebieten.
• Prophylaxe mit Hyperimmunglobulin (passive Immunisierung) gegen Zyto-
megalievirus u. VZV bei Immundefekt.

Prognose
Meist günstig. Hohe Letalität nur bei Sonderformen (siehe unten).

9.4.2 Herpes-simplex-Enzephalitis
ICD-10 G02.0, B00.3 Meningitis, G05.1, B00.4 Enzephalitis.
9
Def.:
• Akute, schwere, hämorrhagisch nekrotisierende Enzephalitis.
• Bei Erw. u. älteren Kindern fast immer durch HSV Typ 1.
366 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

• Bei Neugeborenen auch durch HSV Typ 2 schwere diffuse hämorrhagisch ne-
krotisierende Enzephalitis, bei Erw. gutartige rezid. Meningitis (Mollaret-Me-
ningitis).
Klinik:
• Prodromalstadium: Meningitisch-grippale Sympt. (Kopfschmerz, Fieber, Er-
brechen).
• Nach wenigen Tagen Schläfenlappensympt. (Geruchs- u. Geschmackssensati-
onen, Wernicke-Aphasie, psychomotorische Anfälle, andere fokale Anfälle
mit Generalisation, delirantes Sy., amnestische Stör.).
• Nach weiteren 1–2 d rasch zunehmendes Hirnödem (zunehmende Bewusst-
seinstrübung, evtl. STP).
Diagn.:
• Labor: BSG, BB, AK-Nachweis. HIV-Test (opportunistische Infektion bei
AIDS ▶ 9.4.8).
• EEG: Ab 2. (bis ca. 15.) Krankheitstag Allgemeinveränderung, δ-Herdbefund
in der Temporalregion u./o. periodische Komplexe aus steilen u. langsamen
Wellen in Abständen von einigen Sekunden.
• MRT, CCT:
– Zunächst normal, frühestens nach ≈2 d (MRT) bis 4 d (CCT) temporale
u. evtl. auch frontale Läsionen, evtl. mit Einblutung.
– Früheste Zeichen sind in diffusionsgewichteten Aufnahmen nach 24 h ei-
ne Diffusionsstör. frontotemporal, in der FLAIR-Wichtung u. im T2-ge-
wichteten Bild nach 24 h hyperintense Läsionen frontotemporal.
• Liquor:
– Frühestens nach 1–2 d zunehmende Pleozytose (bis ≈ 500 Zellen/mm3,
Übergang von granulozytärem zu lymphozytärem Bild), evtl. Erythrozy-
ten o. Siderophagen, Eiweißerhöhung/Schrankenstör.
– Nach einigen Tagen intrathekale Synthese von Immunglobulinen (IgG,
IgM u. IgA), oligoklonale Banden.
• Spezifische Liquordiagn.:
– Spezifischer Liquor-/Serum-AK-Index für HSV, frühestens nach ≈2 d pos.
PCR wichtig zur Verifizierung der Diagnose mit einer Spezifität von 73–
100 % u. Sensitivität von 95–97 % (Virusnachweis mittels PCR kann im
weiteren Krankheitsverlauf wieder neg. werden).
– In-situ-Hybridisierung von Liquorzellen.
Ther.:

Ther.-Erfolg nur bei frühem Beginn der Behandlung!


Diagn. bis zu 2 d nach Beginn der Sympt. unauffällig, daher unverzüglicher
Ther.-Beginn bereits bei klin. Verdacht!

• Aciclovir (▶ Tab. 9.10) für mind. 14 d. Bei Niereninsuff. Verlängerung der


Dosierungsintervalle, auf ausreichende Hydrierung achten. Bei Aciclovir-Re-
sistenz ggf. Foscarnet (Foscavir® 90 mg/kg KG alle 12 h i. v. über 14–21 d).
9 • Antibiotika: Bis zur Diagnosesicherung zusätzlich, z. B. Mezlocillin 3 × 5 g/d
i. v. als Kurzinfusion (z. B. Baypen®).
• Beta-Interferon: Ggf. bei extrem raschem Verlauf 0,3–0,4 Mio. IE/kg KG/d
i. v. als Dauerinfusion für 3–5 d (z. B. Fiblaferon®). Bei rascher Verschlechte-
rung auch intrathekale Anwendung beschrieben, hierfür aber noch nicht offi-
ziell zugelassen.
  9.4 Virale Erkrankungen  367

• Antikonvulsiva: Z. B. Phenytoin 2 × 250 mg/d langsam i. v. (z. B. Phenhydan®).


• Ggf. Intensivther., Überwachung ICP-Erhöhung. Evtl Hirnödemther.
(▶ 4.6.4).
Progn.: Ohne frühzeitige Ther. schlecht (Letalität ≈70 %, Residuen ≈20 %). Mit
Ther. Letalität 15–20 %.

9.4.3 Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)
ICD-10 A84.1.
Def.: Durch Zecken übertragene Meningoenzephalitis, endemisch in bestimmten
Regionen von Süd-, Mitteldeutschland u. Österreich, sonst selten.
Klinik: Grippales Vorstadium von einigen Tagen, dann häufig nach vorüberge-
hender Besserung meningitische (50 %), meningoenzephalitische (40 %) u./o.
mye­litische (10 %), vereinzelt poliomyelitische o. radikulitische Sympt. mit gleich-
zeitiger starker Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens u. Fieber.
Diagn.:
• Anamnese (obligat Aufenthalt in Risikogebiet, fakultativ Zeckenstich).
• Liquor (Pleozytose, zunächst polymorphkernig, dann lymphozytär; leichte
Eiweißerhöhung; intrathekale Synthese von Immunglobulinen).
• AK in Liquor u. Serum.
• MRT: In Abgrenzung zur HSV-Enzephalitis Normalbefund o. Signalverände-
rungen bes. im Thalamus u. Corpus callosum.
DD: Neuroborreliose (▶ 9.3.8), Poliomyelitis (▶ 14.4.3), ADEM (▶ 10.2.1).

Meldepflicht nicht namentlich bei direktem o. indirektem Keimnachweis bei


akuter Infektion.

Ther.: Verhalten nach Zeckenstich in Endemiegebiet:


• Möglichst rasch Entfernung der Zecke, ohne diese zu quetschen.
• Geeignet sind Zeckenzange, Zeckenkarte, Pinzette o. Skalpell (ungeeignet Ab-
töten der Zecke mit Öl, Klebstoff o. Nagellack).
• Desinfektion der Stichstelle u. Aufklärung über mögliche wichtige Sympt. ei-
ner FSME (o. Borrelieninfektion).
• Noch keine Studien zu Vor-/Nachteilen einer postexpositionellen aktiven Im-
munisierung.
• Keine spezifische antivirale Ther. bei FSME verfügbar, bei foudroyantem Ver-
lauf einer Meningoenzephalitis Ther. wie bei Herpes-Enzephalitis (▶ 9.4.2),
ansonsten Allgemeinmaßnahmen (▶ 9.4.1).
Prophylaxe:
• Aktive Immunisierung vor einer möglichen Exposition in Endemiegebie-
ten (aktuelle Informationen zu Endemiegebieten durch das Robert Koch-
Institut unter www.rki.de). Risiko von Impf-KO gegenüber der Infektions-
gefahr abzuwägen, neuere Impfstoffe besser verträglich: Encepur® Erw. (ab
vollendetem 12. Lj), Encepur® Kinder (vollendetes 1.–12. Lj), FSME-Im-
mun® Erw. (ab vollendetem 16. Lj), FSME-Immun® Junior (vollendetes 1.–
16. Lj).
9
• Prävention durch Schutz vor Zeckenstichen durch Kleidung (lange Ärmel u.
Hosen, Sonnenhut).
Progn.: Letalität 1 %, neurol. Residuen bes. bei Meningoenzephalomyelitis.
368 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

9.4.4 Varicella-Zoster-Infektion
ICD-10 G02.0, B01.0 Meningitis bei Varizellen; G02.0, B02.1, Meningitis bei Her-
pes zoster; G05.1, B01.1 Enzephalitis bei Varizellen; G 05.1, B 02.0 Enzephalitis bei
Herpes zoster; G53.0, B02.2 Ganglionitis geniculi u. Trigeminusneuralgie; G63.0,
B02.2 Polyneuropathie, B02.3 Zoster ophthalmicus.

Ätiologie
Tröpfchen- o. Kontaktinfektion mit VZV, bei Erstinfektion im Kindesalter Wind-
pocken, Persistenz in Nervenganglien u. später Rezidiv (seltener Reinfekt) mit
neurol. Symptomatik.

Klinik
• Windpocken: Bei Kindern meist benigner Verlauf, bei Erw. in bis zu 20 %
Varizellenpneumonie, sehr selten Zostermeningoenzephalitis. Bei Immunde-
fekt u. U. tödlich.
• Gürtelrose (Herpes zoster):
– Ganglionitis bei Virusreaktivierung bes. bei Immunschwäche, Kachexie,
anderen Infektionen.
– Im Dermatom eines sensiblen Nervs bläschenförmige Hauteruptionen
(cave: Bläschen bis zur Eintrocknung infektiös), zunehmende scharfe
Schmerzen, Sensibilitätsstör.
– Selten motorische Ausfälle.
• Zoster ophthalmicus:
– Zoster-Effloreszenzen im Bereich des 1. Trigeminusastes.
– KO: Konjunktivitis, Keratitis, Iritis (cave: Sekundärglaukom), Skleritis,
Chorioiditis, Neuritis nervi optici, Augenmuskelparesen (III, VI). Sehr
selten kontralat. Hemiparese nach Stunden bis zu 6 Mon. durch granulo-
matöse Angiitis, in 25 % mit letalem Ausgang.
• Zoster oticus:
– Bläschen am äußeren Ohr o. im Gehörgang, manchmal auch fehlend.
– Oft mit ipsilateraler peripherer Fazialisparese, in 50–60 % Restlähmung.
– Bei Beteiligung des N. vestibulocochlearis Tinnitus, Schwindel, Hörverlust.
• Postzosterische Neuralgie: Spätfolge der Ganglionitis mit Persistenz der
Schmerzen, scharfen Schmerzattacken u. bohrendem Dauerschmerz.
• Zostermyelitis: Selten im Stadium der Gürtelrose. Querschnittssymptomatik
(▶ 14.1.1).
• Zostermeningoenzephalitis:
– Bei Windpocken u. bei Gürtelrose möglich.
– Gehäuft bei Immundefekt (z. B. bei AIDS ▶ 9.4.8).
– Selten Zosterenzephalitis mit Zerebellitis o. Symptomatik wie bei Herpes-
simplex-Enzephalitis.

Diagnostik
Liquor, AK-Bestimmung in Liquor u. Serum, ggf. HIV-Test. Tumorsuche (Im-
mundefekt/Kachexie).
9
Therapie
Zostermyelitis u. -enzephalitis:
• Aciclovir 3 × 200–500 mg/d i. v. o. 3 × 10 mg/kg KG/d i. v. als Kurzinfusion
für 10–14 d (z. B. Zovirax®).
  9.4 Virale Erkrankungen  369

• Bei Niereninsuff. Verlängerung der Dosierungsintervalle.


• Bei Aciclovir-Resistenz ggf. Foscarnet.
Zosterganglionitis (Gürtelrose):
• Zur schnelleren Rückbildung u. evtl. vorbeugend gegen postzosterische Neur-
algie Glukokortikoide (meist in Komb. mit Aciclovir wegen des geringen Ri-
sikos einer Generalisierung der Zosterinfektion), z. B. Prednisolon 40 mg/d
p. o. über 2–4 Wo. (z. B. Decortin® H), dann ausschleichen. Cave: Keine Glu-
kokortikoide bei Immunschwäche wegen Gefahr eines Zoster generalisatus.
• Alternativ zur Prophylaxe der Neuralgie Antidepressiva wie Amitriptylin 25–
75 mg/d p. o. (z. B. Saroten®).
Postzosterische Neuralgie:
• Amitriptylin (z. B. Saroten®), einschleichend dosieren beginnend mit 10 mg/d
p. o., alle 4 d um 10–25 mg erhöhen, wirksame Dos. meist 50–100 mg.
• Carbamazepin zunächst 2 × 100 mg/d p. o. (z. B. Tegretal®), dann in Abhän-
gigkeit von Wirkung u. NW langsam steigern bis 3 × 400 mg/d p. o. o.
• Gabapentin zunächst 3 × 100 mg/d p. o. (z. B. Neurontin®), in Abhängigkeit
von Wirkung u. NW langsam steigern bis auf 1.500–2.400 mg/d p. o.
• Topische Behandlung:
– Capsaicin 0,075 %-Creme 3–4× tgl.
– Alternativ Lidocain-Creme unter Okklusivverband.

Prophylaxe
Seit 2004 generelle Impfempfehlung der STIKO für alle Kleinkinder u. Nachhol­
impfung für seroneg. ältere Kinder u. Jugendliche (9–17 J.).

9.4.5 Zytomegalievirusinfektion
ICD-10 B25.8.
Def.:
• Opportunistische Infektion durch Zytomegalievirus (CMV).
• Schwere prä- o. perinatale Enzephalitiden mit Defektsy.
• Akute o. chron. Infektionen des Nervensystems nur bei Immundefizienz, ins-
bes. als opportunistische Infektion bei AIDS (▶ 9.4.8).
Klinik: Meningitis, Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis. Bei AIDS
häufig auch Zytomegalieretinitis.
Diagn.: Liquor (▶  2.1.2), v. a. Liquor-PCR. Nachweis des CMV-Antigens in Li-
quorzellen. HIV-Test, MRT.
Ther.:
• Ganciclovir 2 × 5 mg/kg KG/d i. v. (z. B. Cymeven®), Infusionszeit mind. 1 h
über 6–9 Wo., unter BB-Kontrollen. Bei CMV-Enzephalitis zusätzlich Foscar-
net 2 × 90 mg/kg KG/d i. v. über 3 Wo.
• Alternativ v. a. bei CMV-Retinitis Valganciclovir. Mittel 2. Wahl wegen höhe-
rer Toxizität sind Foscarnet u. Cidofovir.
• Bei AIDS im Anschluss an die Akutbehandlung Erhaltungsther. mit Ganci­
clovir (5 mg/kg KG i. v. an 5–7 d/Wo.).
9
9.4.6 Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)
Def. u. Ätiol.:
• Erreger: JC-Virus (hüllenloses ubiquitäres Polyomavirus).
• Multiple Läsionen in der weißen Substanz → neurol. Herdsympt.
370 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

• Auftreten ausschließlich bei Immundefekt, v. a. AIDS (▶ 9.4.8).


Klinik: Zu Beginn Kopfschmerzen, Gesichtsfelddefekte, kognitive Stör. Im Ver-
lauf Paresen, Visusstör., Aphasie, epileptische Anfälle, Ataxie, Dysarthrie. Schließ-
lich Demenz, Ataxie, Tetraparesen, korikale Blindheit. Präfinal Dezerebration.
Diagn.: MRT, Liquor (▶  2.1.2), insbes. Liquor-PCR. Falls PCR-Nachweis nicht
gelingt, ggf. Hirnbiopsie. HIV-Test.
Ther.:
• Keine zuverlässig wirksame Ther. bekannt. Ther.-Versuche mit Cidofovir,
Camptothecin u. Interferon.
• Verlangsamung des Krankheitsverlaufs durch Steigerung der Immunkompe-
tenz durch HAART bei AIDS.
Progn.: Tod meist innerhalb von Wo. bis Mon.

9.4.7 Chronische Panenzephalitis
ICD-10 A81.1.
Ätiol.: Slow-Virus-Pathogenese. Auftreten Jahre nach Virusinfektionen, z. B. sub-
akut sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) bei Masern, progressive Rötelnpanen-
zephalitis (PRP) bei Röteln.
Epidemiologie:
• Altersgipfel um das 10. Lj, M > F.
• Rapide Abnahme der Inzidenz seit Einführung der Masernschutzimpfung.
• Höheres Risiko bei Maserninfektion im 1. Lj.
Klinik:
• Zunächst psychische u. neuropsychologische Stör.
• Neurol. Herdsympt., Myoklonien, Ataxie, Visusstör., epileptische Anfälle.
• Schließlich Bewusstseinsstör., Koma.
Diagn.:
• Liquorunters. (evtl. Pleozytose, Eiweiß ↑, IgG ↑, oligoklonale Banden) mit
AK-Bestimmung (meist extrem hohe Titer, AI>>1,5).
• EEG (Zeichen erhöhter zerebraler Erregbarkeit, mit Myoklonien einherge-
hende periodische paroxysmale δ-Wellen, Radermecker-Komplexe).
Ther.: Bisher keine effektive Ther., widersprüchliche Studien zu Verzögerung des
Verlaufs mit Interferon-Alpha. Psychosoziale Unterstützung (der Familie). Pro-
phylaxe der SSPE durch Masernimpfung.
Progn.: Progredienter Verlauf über Mon. bis J., der Endzustand entspricht einer
Dezerebration.

9.4.8 HIV-Infektion
ICD-10 B22.0 Enzephalopathie bei HIV-Krankheit; B20 infektiöse u. parasitäre
Erkr. infolge HIV; B21 bösartige Neubildungen infolge HIV; B23.8 sonstige
Krankheitszustände infolge HIV.

Ätiologie
9 • Retrovirus HIV1 o. HIV2
• HIV lympho- u. neurotrop, befallen zunächst T-Helfer-Lymphozyten, führen
zu zellulärem Immundefekt mit Anfälligkeit für opportunistische Infektionen
u. Immunregulationsstör.
• Übertragung durch Sexualkontakt, Blutübertragung bei Transfusionen
o. Benutzung kontaminierter Kanülen bei Drogenabhängigen, intrauterin.
  9.4 Virale Erkrankungen  371

Allgemeine Klinik
CDC-Klassifikation der HIV-Infektion:
• Kategorie A: Akute (prim.) HIV-Infektion, Lymphadenopathiesy. (LAS) u.
asymptomatische HIV-Infektion.
• Kategorie B: Infektionen mit opportunistischen Erregern, keine AIDS defi-
nierenden Krankheiten o. direkt HIV-assoziierte KO.
• Kategorie C: Acquired immunodeficiency syndrome (AIDS), AIDS definie-
rende Erkr.

AIDS-definierende Krankheiten
Opportunistische Infektionen:
• Bakt.: Tbc, atypische Mykobakteriosen, rezid. bakt. Pneumonien, rezid.
Salmonella-Bakteriämien.
• Viral: CMV, ulzerierende HSV-Infektionen (> 1 Mon.), PML.
• Protozoal: Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie, Toxoplasma-Enzephalitis,
chron. (> 3 Mon.) GI-Kryptosporidiose, Strongyloidiasis, Isosporidiose.
• Mykotisch: Candidiasis (ösophageal, tracheobronchial), Kryptokokkose,
Histoplasmose, Kokzidioidomykose.
Opportunistische Tumoren:
• Kaposi-Sarkom.
• Lymphome, NHL (hochmaligne, B-Zell-Typ, EBV-assoziiert, prim. zerebral).
• Anal-, Zervixkarzinom.

Neurologische Erkrankungen

Grundsätzlich gibt es kaum eine neurol. Symptomatik, die bei AIDS nicht
auftreten kann!

Akute Meningoenzephalitis: Selten, früh nach der Infektion, spontane Besserung


in wenigen Wo., Übergang in chron. HIV-Meningitis möglich.
HIV-assoziierte Enzephalopathie (HIVE, AIDS-Demenz-Komplex, HIV-assozi-
ierte Demenz HAD, subakute HIV-Enzephalitis o. HIV-Enzephalopathie, HIV-
assoziierter kognitiv-motorischer Komplex):
• Häufigste neurol. Symptomatik, seit Einführung der HAART rückläufig.
• Überwiegend im fortgeschrittenen Stadium der HIV-Infektion auftretende
subakute bis chron. Enzephalopathie mit dem klin. Bild einer subkortikalen
Demenz, in den letzten Jahren häufiger mildere, mehr kortikale Sy.
• Kriterien (nach American Academy of Neurology AAN):
– Erworbenes kognitives Defizit in mind. 2 standardisierten Tests.
– Dauer mind. 2 Mon.
– Keine anderen Gründe für kognitives Defizit.
– Stadieneinteilung nach dem Ausmaß der Beeinträchtigung des Alltagslebens.
• Klinik: Psychopath. Stör, Stör. der Feinmotorik, Ataxie, Stör. der Okulomot-
rik, zentrale Paresen, schließlich zunehmende Demenz, Blasenstör. u. Mutis-
mus. 9
• Diagn.:
– Neurol. Status, psychopath. Befund, Feinmotoriktestung, neuropsycholo-
gische Unters.
– Eine erhöhte HI-Viruslast im Liquor erhöht die Wahrscheinlichkeit der
HIVE, ggf. Resistenzbestimmung.
372 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

– MRT (inkl. FLAIR, T1-Wichtung mit Kontrast) u. Liquordiagn. (inkl.


JC-Virus- u. CMV-PCR) z. A. anderer (opportunistischer) Erkr.
• Ther.:
– Verzögerung/Besserung der Sympt. unter effektiver HAART unter Ein-
schluss liquorgängiger Substanzen (Azidothymidin, Abacavir, Stavudin).
– Bei Versagen der HAART ggf. Breitbandvirostatikum wie Foscarnet o. Si-
dofovir.
– Je nach psychopath. Bef. antidepressive Medikation, HAART-adaptiert.
– Bisher keine eindeutigen Ther.-Erfolge mit Memantine o. Nimodipin.
Geringfügige motorische Defizite bei HIV (minor motor deficits, MMD): Vor-
läufersy. der HIVE.
• Klinik: Minimale motorische Defizite zunächst in spezifischen Feinmotorik-
tests, dann mit beginnenden kognitiven Einbußen als kognitv-motorischer
Komplex o. minor cognitive motor disorder Übergang in HIVE.
• Diagn.: Neurol. Status, regelmäßige Feinmotorikanalysen, psychopath. u.
neuropsychologische Unters. MRT, Liquor (Bestimmung der HI-Viruslast).
• Ther.: Bei 3 path. Feinmotorikanalysen innerhalb von 9–12 Mon. Einleitung
der HAART o. Umsetzung einer bereits bestehenden HAART auf Substanzen
mit hoher Liquorgängigkeit (Azidothymidin, Stavudin).
HIV-Myelopathie (HIVM): Langsam progrediente spinale Sympt. (v. a. Thora-
kalmark).
• Überwiegend im HIV-Spätstadium.
• Unabhängig vom Vorliegen einer HIV-Enzephalopathie, aber bei ca. 60 % der
Pat. gleichzeitig mit dieser. Morphologisch meist vakuoläre Myelopathie.
• Klinik: Para- o. beinbetonte Tetraparese, spastisch-ataktisches Gangbild, Hy-
perreflexie, pos. Pyramidenbahnzeichen, Sphinkterfunktionsstör., hand-
schuh- u. sockenförmige sensible Stör. ohne Nachweis eines abgrenzbaren
sensiblen Niveaus.
• Diagn.:
– SSEP, MEP, ENG: Ausschluss einer zusätzlichen PNP.
– Spinales MRT: Signalanhebung in der T2-Wichtung, RM-Atrophie meist
thorakal u./o. zervikal, Ausschluss einer mechanischen Myelonkompression.
– Serolog. Unters. u./o. PCR im Liquor: Ausschluss CMV, HTLV-1, HSV,
VZV.
– Vit.-B12-Bestimmung (Ausschluss funikuläre Myelose).
• Ther.: Antiretrovirale Ther. einleiten o. intensivieren.
HIV-assoziierte Neuropathien: Verschiedene systemische periphere Nervenaf-
fektionen, z. T. in Abhängigkeit vom Krankheitsstadium:
• Klinik:
– HIV-1-assoziiertes GBS (akute inflammatorische demyelinisierende Poly-
radikuloneuritis, ▶ 19.9.1) im Stadium der Primärinfektion mit Serokon-
version.
– Chron. inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie im
Stadium des beginnenden Immundefekts (selten).
– HIV-1-assoziierte symmetrische distal betonte sensible o. sensomotori-
9 sche PNP (▶ 19.8), bei beginnendem Immundefekt, häufiger im AIDS-
Stadium (häufigste HIV-assoziierte Neuropathie, 35–88 % der HIV-Pat.).
– HIV-1-assoziierte vaskulitische PNP, selten, gelegentlich schon als Erst-
manifestation.
– Medikamentös-tox. PNP, z. B. durch antiretrovirale Medikamente (DDI,
DDC, D4T), Tuberkulostatika.
  9.4 Virale Erkrankungen  373

– PNP bei diffus infiltrativem Lymphozytosesy., in frühen Stadien, selten.


– Mononeuropathie (z. B. Fazialisparese) o. Mononeuritis multiplex
(▶ 19.2), selten, im Früh- o. AIDS-Stadium.
– Polyradikuloneuritis durch opportunistische Erreger (z. B. CMV), selten,
im AIDS-Stadium.
– Autonome Neuropathie.
• Diagn.:
– PNP-Risikofaktoren u. Medikamentenanamnese.
– Labordiagn. einschl. HbA1c, Vit. B12, Folsäure, Vaskulitisparameter, Sero-
logie (CMV, VZV, EBV, HSV).
– Elektroneurografie, EMG.
– Bei entsprechendem Verdacht: Liquor (opportunistische Erreger), SSEP
(Ausschluss Myelopathie), Funktionstests des autonomen NS (autonome
PNP), Nervenbiopsie.
• Ther.: Kausale Ther. je nach klin. Verlaufsform u. Ätiol.:
– HAART.
– Immunglobuline o. alternativ Plasmapherese (GBS).
– Kortikosteroide o. Immunglobuline (chron.-inflammatorische demyelini-
sierende Polyradikuloneuropathie).
– Kortikosteroide (Vaskulitis).
– Erregerspezifische Ther. (opportunistische Infektion).
– Absetzen/Umsetzen tox. Medikamente.
–  Symptomatisch: Bei schmerzhaften Dysästhesien Gabapentin (Neuron-
tin®), 900–2.400 mg/d, Carbamazepin (z. B. Tegretal®), 600–2.400 mg/d,
Lamotrigin (Lamictal®), 100–200 mg/d, Amitriptylin (Saroten®), 75–
300 mg o. Buprenorphin (Temgesic®), 0,2–0,4 mg/d einschleichend aufdo-
sieren. Alternativ Capsaicin-Pflaster 8 % (Qutenza®).
HIV-1-assoziierte Myopathien: Chron., häufig rasch progrediente Myopathie,
kann in jedem Stadium der HIV-Erkr. auftreten (Inzidenz ca. 1 %), sowohl prim.
HIV-Myopathien als auch sek. Myopathien (opportunistische Infektion, Lym-
phom, arzneimittelinduziert, AZT).
• Klinik: Meist prox. betonte Myopathie mit initial belastungsabhängigen My-
algien, subakuten bis chron. progredienten prox. betonten Muskelatrophien
u. Paresen (▶ 20.4).
• Diagn.: EMG (myopathische Veränderungen), Labor (Serum-CK), genaue
Medikamentenanamnese, Muskelbiopsie (Histologie).
• Ther.:
– Bei Myalgien nichtsteroidale Antiphlogistika.
– Bei ausgeprägter Symptomatik, Polymyositis, ggf. auch bei Nemaline- o.
AZT-Myopathie: Prednison (100 mg/d für 3–4 Wo., dann langsam aus-
schleichen).
– Bei medikamenteninduzierter Myopathie – soweit möglich – Absetzen/
Umsetzen des auslösenden Medikaments.
Epileptische Anfälle: Hinweis auf Raumforderungen im ZNS (z. B. Toxoplasmo-
se, Lymphome) o. Narben nach abgeheilter Toxoplasmose (MRT u. Liquor).
Opportunistische Infektionen: ZNS-Toxoplasmose (▶ 9.7.1), Kryptokokkenme- 9
ningitis (▶ 9.6), Herpes-simplex-Enzephalitis (▶ 9.4.2), Candidainfektion (▶ 9.6),
tuberkulöse Meningitis (▶ 9.3.6), Varicella-Zoster-Meningitis (▶ 9.4.4), Neurolu-
es (▶  9.3.7), Aspergillose (▶  9.6), Listerienmeningitis (▶  9.3.1), CMV-Infektion
(▶ 9.4.▶ 5), virale Meningitis o. Meningoenzephalitis (▶ 9.4.1), Retinitis.
Progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML): ▶ 9.4.6.
374 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

ZNS-Malignome: Prim. ZNS-Lymphom (▶ 13.6.13), systemisches Lymphom mit


ZNS-Beteiligung, Kaposi-Sarkom mit ZNS-Beteiligung.
Zerebrovask. KO: Multifokale kleine Infarkte o. auch große Territorialinfarkte
durch Vaskulitis (▶ 7.5), intrazerebrale Blutungen (▶ 8).
Immunrekonstitutionssy. (IRIS): Paradoxe klin. Verschlechterung nach (insbes.
spätem) Beginn einer antiretroviralen Ther. mit raschem Absinken der Plasmavi-
ruslast, Veränderung des Zytokinmusters u. Anstieg der CD4+-Zellen. Lokale o.
systemische Entzündungsreaktionen, Vaskulitis, Optikusneuritis, Verschlechte-
rung präexistenter Autoimmunreaktionen, Demaskierung vorbestehender Infek-
tionen o. Tumore. Ther.: Fortführung der HAART, Behandlung etwaiger oppor-
tunistischer Infektionen, Kortisonther. nach Einzelfallenscheidung (Besserung o.
Verschlechterung durch erneute Schwächung des Immunsystems beschrieben).

Diagnostik
Serologie:
• Suchtest: Polyvalenter ELISA: Nachweis spezifischer AK gegen HIV-1, HIV-2
u. HIV-1-p24-Antigen-Nachweis, bereits 3–6 Wo. nach der Infektion nach-
weisbar, verschwindet 4 Wo. später bei Serokonversion wieder (2. diagn. Lü-
cke). Hohe Sensitivität, falsch pos. Ergebnisse vereinzelt z. B. bei Autoim-
munkrankheiten o. Parasitosen
• Bestätigungstest: HIV-1- u. HIV-2-Immunoblot. Hohe Spezifität.
• PCR-Nachweis von Virusgenom: Frühe Diagnosestellung nach 15 d. Infektio-
sitätsnachweis. Ausschluss falsch pos. Befunde. Ther.-Kontrolle.
• Nachweis begleitender u. opportunistischer Infektionen: Hepatitis, Syphilis,
CMV, EBV, HSV, CMV-Antigen, VZV, Toxoplasma-IgG/-IgM.
Lymphozytensubpopulationen:
• Verlaufsparameter zur Quantifizierung der Immundefizienz.
• Unters. der Lymphozytensubpopulationen T-Helfer-/Suppressorzellen (= T4/
T8-Ratio o. OKT4/OKT8-Quotient: 1,2–3,0 = normal, 0,5–1,2 = mäßiger Im-
mundefekt, < 0,5 = schwerer Immundefekt) u. der absoluten T-Helfer-Zell-
zahlen.
Quantitative Bestimmung der HIV-RNA:
• Verlaufsparameter zur Einschätzung der Virusreplikationsrate.
• Beurteilung des Ansprechens auf eine antiretrovirale Ther. u. Aufdecken von
Resistenzentwicklungen.
• Bestimmung bei Diagnosestellung, anschließend in vierteljährlichen Abstän-
den, bei antiretroviraler Ther. vor Ther.-Beginn, nach 1 Mon. u. dann alle
2 Mon. Ziel einer antiretroviralen Ther. ist ein Abfall der HIV-RNA unter
Nachweisgrenze (derzeit ≈20 Genomkopien/ml).
Resistenztestung:
• Vor Ther.-Wechsel aufgrund von Unwirksamkeit des bisherigen Medikamen-
tenregimes.
• Vor Ther.-Beginn bei V. a. prim. resistentes Virus (z. B. bei antiretroviral vor-
behandeltem Pat. als Infektionsquelle).
• Verschiedene geno- u. phänotypische Testverfahren (erfahrenes Zentrum
9 kontaktieren).
• HLA B57
Liquor (▶ 2.1.2):
• Bei neurol. Sympt. mäßige lymphozytäre Pleozytose, milde Schrankenstör.,
meist auch oligoklonale Banden u. Nachweis einer intrathekalen Synthese
spezifischer HIV-AK, Liquorviruslast.
  9.4 Virale Erkrankungen  375

• Liquorveränderungen bereits bei etwa der Hälfte der klin. asymptomatischen


seropos. Pat., gelegentlich Mon. vor der HIV-Enzephalopathie.
• Bei Pat. mit opportunistischen Infektionen zusätzlich Auftreten der dort be-
schriebenen Liquorveränderungen.
CCT, MRT: Zur Abklärung behandelbarer neurol. Begleiterkr.
PET: Präfrontale Minderaktivierung.
EMG, NLG: Abklärung der neuromuskulären KO.
EEG: Anfallsbereitschaft abklären.

Meldepflicht nicht namentlich bei direktem o. indirektem Keimnachweis.

Antiretrovirale Therapie
Kausale Ther. o. Impfung noch nicht verfügbar, daher bes. Bedeutung von Prä-
vention, Infektionsprophylaxe, sexualhygienischer u. sozialer Beratung.

Sehr rasche Entwicklung neuer Medikamente (aktuelle Informationen u. a.


über das Internet z. B. unter www.kompetenznetz-hiv.de, www.rki.de, www.
daignet.de).

• Seit Einführung der HAART 1996 Rückgang aller opportunistischen Infektio-


nen außerhalb des ZNS sowie Rückgang der prim. ZNS-Lymphome.
• Dagegen Zunahme von HIV-PNP u. -Enzephalopathie durch längeres Überle-
ben.
• Ind.: Bei symptomatischen Pat. Bei asymptomatischen Pat. empfohlen bei
CD4+-Zellen < 350–500/μl o. HIV-RNA > 10.000–20.000 Genomkopien/ml.
Nach Ther.-Beginn bessere Progn. bei kontinuierlicher Ther. als bei Ther.-
Unterbrechung nach Erholung der CD4+-Zellen > 350/μl.
Vorgehen:
• Bereits initial immer Komb.-Ther., d. h. Dreifachkomb. (Vierfachkomb. bei
hohem Risiko für virologisches Versagen, C2; Dos. ▶ Tab. 9.11):
– 1–2 Nukleosidanaloga plus 1–2 Proteaseinhibitoren o.
– 1 Nukleosidanalogon plus 2 nichtnukleosidale Reverse-Transkriptase-In-
hibitoren (NNRTI) o.
– Komb. von 3 NNRTI.
• Liquorgängigkeit: Bewertung der Liquorgängigkeit mit dem CPE-Schema
(CPE = central nervous system penetration efficacy), dem sog. Letendre-Index,
wobei ein höherer Wert eine höhere Liquorgängigkeit anzeigt. ZNS ist Virus-
reservoir. HIV-Ther. muss mind. eine sicher liquorgängige Substanz (z. B. Zi-
dovudin, Nevirapin) einschließen. Medikamentenkombinationen mit höheren
CPE-Scores haben pos. Effekt bei HIV-assoziierten Enzephalopathien.

• Monother. ist unzulässig.


• Komb. AZT/d4T, ddC/ddI, ddC/d4T, ddC/3TC vermeiden. 9
• Die bei den meisten Proteaseinhibitoren ungünstige Pharmakokinetik wird
durch Hemmung des Cytochrom p450 CYP3A4 verbessert (i. d. R. durch niedrig
dosierte Gabe von Ritonavir, sog. Boosterung). Dadurch auch massive Anhe-
bung der Wirkspiegel anderer, über dieses System metabolisierter Medikamente.
376 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

• NNRTI u. Tenofovir: Lange HWZ (Berücksichtigung bei Ab-/Umsetzen, um


Resistenzentwicklung zu vermeiden).
• Neuere Substanzen: Etravirin noch gegen die meisten NNRTI-resistenten
HIV-Stämme gut wirksam. CCR5-, Integrase-Inhibitoren sind Reservemedi-
kamente zur Komb.-Ther. mit anderen antiretroviralen Medikamenten bei
bisher erfolglos vorbehandelten Pat. (CCR5-Inhibitoren nur bei CCR5-tropen
HIV Typ 1 wirksam).
• Aufgrund der vielfältigen NW u. neuen Ther.-Empfehlungen Anbindung an
erfahrenen Kollegen.
• Kontrolle des Ther.-Erfolgs durch Bestimmung der HIV-RNA; bei prim. o.
sek. Ther.-Versagen an Resistenzentwicklung, mangelnde Compliance, man-
gelnde Bioverfügbarkeit denken u. in der antiretroviralen Ther. erfahrenes
Zentrum kontaktieren (Resistenztestungen).
• Dort bei Resistenzentwicklung Versuch, durch wechselnde Komb.-Schemata
sensible Lücken zu erkennen, o. als letzte Option Komb. aus 6 u. mehr Medi-
kamenten (Mega-HAART).
• Senkung der Transmissionsrate bei beruflicher Exposition (Stichverletzun-
gen) durch antiretrovirale Dreifachkomb. über 4 Wo. von ca. 0,3 % auf ca.
0,05–0,1 %.
• Senkung des Risikos der Mutter-Kind-Übertragung durch antiretrovirale
Behandlung der Mutter sowie postpartal zeitlich begrenzt des Kinds, elek-
tive Sectio vor Wehenbeginn u. Verzicht auf Stillen von ca. 30 % auf
­0,5–1  %.
• Aktuelle Empfehlungen im Internet (z. B. www.kompetenznetz-hiv.de,
Deutsch-Österreichische Empfehlungen zur HIV-Ther. in der Schwanger-
schaft u. bei HIV-exponierten Neugeborenen, Deutsch-Österreichische Emp-
fehlungen zur postexpositionellen Prophylaxe der HIV-Infektion).

Tab. 9.11  Antiretrovirale Medikamente


Substanz- Substanz Handels- Wichtigste NW Tagesdosis
gruppe name

Nukleosid­ Abacavir Ziagen® Hypersensitivitätssy., 2 × 300 mg p. o.


analoga (ABC) allergische Reaktio-
(Reverse- nen
Transkripta-
se-Inhibito- Didanosin Videx® Pankreatitis, Neuro- 2 × 200 mg p. o.
ren) (ddI) pathie

Emtricitabin Emtriva® Kopfschmerz, Anämie 1 × 200 mg p. o.

Lamivudin Epivir® Kopfschmerzen 2 × 150 mg p. o.


(3TC)

Stavudin Zerit® Neuropathie, 2 × 40 mg p. o.


(d4T) Pankrea­titis

Zalcitabin Hivid® Neuropathie, orale 3 × 0,75 mg p. o.


9 (ddC) Ulzera

Zidovudin Retrovir® Neutropenie, Anämie, 2 × 250 mg p. o.


(AZT) Myopathie
  9.4 Virale Erkrankungen  377

Tab. 9.11  Antiretrovirale Medikamente (Forts.)


Substanz- Substanz Handels- Wichtigste NW Tagesdosis
gruppe name

Komb.-Prä- Lamivudin Com- Kopfschmerz, Neutro- 2 × (150 mg +


parate + Zidovudin bivir® penie, Anämie 300 mg) p. o.

Lamivudin Trizivir® Kopfschmerz, Neutro- 2 × (150 mg + 300 mg


+ Zidovudin penie, Anämie, Myo- + 300 mg) p. o.
+ Abacavir pathie, Hypersensitivi-
tätssy.

Lamivudin Kivexa® Kopfschmerz, Hyper- 1 × (300 mg +


+ Abacavir sensitivitätssy. 600 mg) p. o.

Tenofovir + Truva- Diarrhö, Übelkeit, Nie- 1 × (300 mg +


Emtricitabin da® renfunktionsstör., 200 mg) p. o.
Kopfschmerz, Anämie

Nukleotid­ Tenofovir Viread® Diarrhö, Übelkeit, 1 × 245 mg p. o.


analoga Nierenfunktionsstör.

Proteasein- Amprenavir Age- Diarrhö, Übelkeit, 2 × 1.200 mg p. o.


hibitoren (APV) nerase® Kopfschmerz, Arznei-
mittelexanthem

Atazanavir Reyataz® Hyperbilirubinämie, 1 × 400 mg p. o. (ge-


Diarrhö, Kopfschmer- boostert: 1 × 300 mg
zen Atazanavir + 1 ×
100 mg Ritonavir in
Komb. p. o.)

Fasamp- Telzir® Diarrhö 2 × 1.400 mg p. o.


renavir (geboostert: 1 ×
1.400 mg Fosamp-
renavir + 1 × 200 mg
Ritonavir in Komb.
p. o.)

Indinavir Crixivan® Nephrolithiasis, Hy- 3 × 800 mg p. o. (ge-


(IDV) perbilirubinämie boostert: 2 × 400 mg
Indinavir + 2 ×
100 mg Ritonavir in
Komb. p. o.)

Lopinavir Kaletra® Enzephalopathie 2 × 400 mg p. o. (ge-


(ABT) boostert: 2 × 400 mg
Lopinavir + 2 ×
100 mg Ritonavir in
Komb. p. o.)

Nelfinavir Vira- Diarrhö, Übelkeit 3 × 750 mg o. 2 ×


(NFV) cept® 1.250 mg p. o.

Ritonavir Norvir® Diarrhö, Übelkeit, Hy- 2 × 600 mg p. o., ggf.


(RTV) pertriglyzeridämie einschleichen, fast
nur noch zur Booste- 9
rung eingesetzt, da-
bei niedriger dosiert
je nach Begleitsub­
stanz: 1 × 100 mg, 2 ×
100 mg o. 1 × 200 mg
378 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Tab. 9.11  Antiretrovirale Medikamente (Forts.)


Substanz- Substanz Handels- Wichtigste NW Tagesdosis
gruppe name

Saquinavir Fortova- Diarrhö, Übelkeit 3 × 600–1.200 mg


(SQV) se®, Invi- p. o. (wirksamer ge-
rase® boostert: 2 ×
1.000 mg Saquinavir
+ 2 × 100 mg Ritona-
vir in Komb. p. o.)

Kombinati- Lopinavir + Kaletra® Gastrointestinale 2 × 400 mg Lopinavir


onspräpara- Ritonavir Stör., Hyperglykämie, + 2 × 100 mg
te Fettstoffwechselstör. Ritonavir/d

Nichtnukleo­ Delaviridin Rescrip- Arzneimittelexan- 3 × 400 mg p. o.


sidale Rever- (DLV) tor® them
se-Transkrip-
tase-Inhibi- Efavirenz Sustiva® Arzneimittelexan- 1 × 600 mg p. o.
toren (EFV) them, psychische NW,
(­NNRTI) Allergie, Enzephalo-
pathie

Etravirin Inte- Schwindel, Arzneimit- 2 × 200 mg p. o.


(ETR) lence® telexanthem, selten
Lyell-Sy.

Nevirapin Viramu- Arzneimittelexan- 2 × 200 mg p. o.


(NVP) ne® them

Fusionsinhi- Enfuvirtid Fuzeon® Lokale Induration 2 × 90 mg s. c.


bitoren (ENF)

Integrase- Raltegravir Isen- Diarrhö, Übelkeit, 2 × 400 mg p. o.


Inhibitoren (RAL) stress® Kopfschmerzen, Fieber

CCR5-Inhibi- Maraviroc Celsent- Übelkeit, Leberfunkti- 2 × 150–600 mg p. o.


toren (MCV) ri® onsstör., Schwindel,
Arzneimittelexan-
them, Parästhesien,
Stör. des Geschmack-
sinns

ZNS-Lymphom
Fortführung der HAART, deutliche Verlängerung der mittleren Überlebens-
zeit bei Immunrekonstitution. Ggf. Radiatio u. Dexamethason o. Chemother.
mit Methotrexat o. bei gutem AZ Polychemother.

Sekundärprophylaxe

Bisherige Empfehlung einer lebenslangen Sekundärprophylaxe bei HIV-Infek-


9 tion mit Toxoplasmose, Kryptokokkenmeningitis o. Pneumocystis-jiroveci-
Pneumonie wird durch die Einführung der HAART etwas gelockert. Nach
Empfehlung des RKI Absetzen der Sekundärprophylaxe bei Immunrekonsti-
tution unter HAART möglich, wenn die CD4-Zellen über mind. 3 Mon. deut-
lich über 200/μl ansteigen (Pneumocystis jiroveci) o. über mind. 6 Mon. > 100–
200/μl ansteigen (Toxoplasmose, Kryptokokkose).
  9.5 Prionkrankheiten  379

Toxoplasmose (▶ 9.7.1):
• Pyrimethamin 25 mg/d p. o. (Daraprim®) + Sulfadiazin 1 g/d p. o. (Sulfadiazin
Heyl®) + Folinsäure (z. B. Leucovorin®) 10–30 mg/d p. o. o.
• Pyrimethamin 25 mg p. o. (z. B. Daraprim®) + Clindamycin 4 × 150–450 mg/d
p. o. (max. 1.800 mg/d, z. B. Sobelin®) + Folinsäure 1–3 × 10 mg/d p. o. (z. B.
Leucovorin®).
Kryptokokkenmeningitis (▶ 9.6): Fluconazol 200 mg/d p. o. (z. B. Diflucan®, max.
400 mg/d).

Zur Sekundärprophylaxe anderer opportunischer Infektionen (z. B. Mycobac-


terium avium, Aspergillose, Tbc, Histoplasmose, Kokzidioidomykose, HSV,
VZV, Pneumocystis jiroveci) aktuelle Informationen vom Robert Koch-Insti-
tut (www.rki.de).

9.5 Prionkrankheiten
9.5.1 Definition
• Auslöser: Prionen (proteinaceous infectious agents). Anlagerung des Prion-
proteins an sein natürlich vorkommendes Pendant im Gehirn führt zur Kon-
formationsänderung, Denaturierung u. Aggregation.
• Charakteristisch für Prionen ist außergewöhnliche Resistenz gegenüber allen
Maßnahmen zur Inaktivierung von Nukleinsäuren u. Empfindlichkeit gegen
Verfahren, die Proteine zerstören.

Meldepflicht namentlich für Krankheitsverdacht, Erkr. u. Tod außer für die


familiär hereditären Formen.

Aktuelle Informationen u. Unterstützung bei der Diagnostik durch:


Nationales Referenzzentrum für die Surveillance Transmissibler Spongiformer
Enzephalopathien, Prionforschungsgruppe an der Neurologischen Klinik des
Universitätsklinikums Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen,
http://www.cjd-goettingen.de.

9.5.2 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK)
ICD-10 A81.0.

Klinik
Subakute präsenile spongiöse Enzephalomyelopathie: Initial uncharakteristische
psychische (z. B. paranoid-halluzinatorische) Sympt., später rasch progrediente
Demenz, Myoklonien, visuelle (Visusverlust, Stör. der Okulomotorik), zerebelläre
(Ataxie), pyramidale u./o. extrapyramidale Stör., akinetischer Mutismus.
9
Diagnostik
• EEG: Bei etwa 80 % der Pat. bilateral synchrone periodische Aktivität aus 3-
bis 4-phasigen Wellen (Radermecker-Komplexe/PSWC = periodic sharp
wave complex).
380 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

• MRT: Bei etwa 85 % der Pat. uni- o. bilaterale Signalanhebung im Bereich der
Stammganglien (Diffusionswichtung, FLAIR, T2- u. Protonenwichtung).
• Liquor: Übertritt von Hirnproteinen in den Liquorraum, Nachweis in spezia-
lisierten Labors (z. B. Prionforschungsgruppe Klinik u. Poliklinik für Neuro-
logie der Universität Göttingen, Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen):
14-3-3-Protein (Sensitivität 94 %, Spezifität in der engen DD der CJK 93 %).
Tau-Protein im Liquor ≥ 1.300 pg/ml (Sensitivität 93 %, Spezifität 91 %). S-
100-Protein im Liquor ≥ 8 ng/ml (Sensitivität 84 %, Spezifität 91 %). NSE
> 35 ng/ml (Sensitivität 81 %, Spezifität 92 %).
• Diagnosesicherung:
– Biopsie, um Hygienemaßnahmen zur Sicherung der Umgebung vorneh-
men zu können.
– Histologie: Status spongiosus in Rinde, Stammganglien u. Vorderhorn des
Rückenmarks.

Differenzialdiagnosen
• Alzheimer-Krankheit (▶ 23.3): Weniger rasch progredient → EEG: Verlangsa-
mung des Grundrhythmus.
• Vask. Demenz (▶ 23.6): Schubweiser, fluktuierender Verlauf, Gefäßrisikofak-
toren → CCT/MRT: Multiple Infarkte, Demyelinisierung im Marklager.
• Pick-Krankheit (▶ 23.5): Früh Versagen bei Routineleistungen → CCT/MRT:
Frontal betonte Atrophie.
• Lewy-Body-Demenz (▶ 23.4): Weniger rasch progredient, doparesponsive
Parkinson-Sympt., Fluktuationen.
• Progressive Paralyse (▶ 9.3.7): Lues-Serologie.
• AIDS-Demenz-Komplex (▶ 9.4.8): Immunschwäche, HIV-Test.
Therapie
Nicht bekannt. Psychosoziale Unterstützung der Erkrankten u. der Familie.

Wegen Gefahr der Übertragung möglichst Verwendung von Einmalmaterial,


Schutzkleidung bei Eingriffen, spezielle Desinfektion der bei dem Pat. ver-
wendeten Geräte; Vernichten von Gegenständen, die mit Gehirngewebe o.
Liquor in Berührung gekommen sind (Informationen Robert Koch-Institut
[www.rki.de], Referenzzentrum für spongiforme Enzephalopathie, Institut
für Neuropathologie der Universität Göttingen).

Prognose
Nach 6 Mon. bis 2 J. Tod im Koma mit Dezerebration.

Unterformen der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit


Sporadische CJK:
• Häufigste weltweit auftretende Form der CJK. Inzidenz weltweit ähnlich mit
ca. 1/1 Mio. Einw.
9 • Erkr.-Gipfel 60.–75. Lj.
• Mediane Überlebenszeit 6 Mon.
• Übertragungsweg unklar, auslösende Faktoren nicht bekannt.
Genetische CJK:
• Häufigkeit ca. 10–15 % aller CJK-Fälle.
• Aut. dom. Vererbung, nahezu 100 % Penetranz.
  9.5 Prionkrankheiten  381

• Erkr.-Gipfel um das 50. Lj.


• Krankheitsdauer länger als bei der sporadischen CJK.
Übertragbare Form: Iatrogene CJK: Übertragung von Mensch zu Mensch auf
iatrogenem Weg über direkten Kontakt mit infektiösem Gewebe:
• Überimpfung von humanem Hirngewebe durch Wachstumshormonpräpara-
te aus menschlichen Hypophysen (weltweit ca. 132 Fälle).
• Übertragung von Dura mater o. Kornea. Tiefenelektroden. Infektion in der
Neurochirurgie.
Übertragbare Form: Neue Variante der CJK (nvCJD):
• Ätiopathogenetischer Zusammenhang mit boviner spongiformer Enzephalo-
pathie (BSE). Im Gegensatz zu anderen Prionstämmen Infektion aller bisher
untersuchten Spezies u. über Blut, Erregernachweis im peripheren lymphati-
schen Gewebe.
• Erkr.-Gipfel 28–30 J., längerer Krankheitsverlauf (> 2 J.) als bei sporadischer CJK.
• Inzidenz geringer als sporadische CJK: In Großbritannien nach der BSE-
Welle zeitliche Häufung mit etwas über 150 Fällen insgesamt, in Frank-
reich, Irland, Italien, Kanada u. USA Einzelfälle, in D bisher kein gesicher-
ter Fall.
• In Klinik u. Diagn. von den drei Formen der herkömmlichen CJK abgrenzbar:
• Klinik: Psychopath. Sympt. (Depression, Verhaltensauffälligkeiten, seltener
Halluzinationen) zunächst ganz im Vordergrund, sensible Stör., Ataxie. Zei-
chen der Demenz später, Myoklonien seltener.
• Diagn.:
– EEG: Keine typ. Veränderungen.
– MRT: Bei etwa 75 % der Pat. bilaterale Signalanhebung im post. Thalamus.
– Liquor: 14-3-3-Protein nur unregelmäßig u. spät pos.
– Tonsillenbiopsat: Häufig abnormes Prionprotein nachweisbar.
– Neuropathologie: Im Gehirngewebe zahlreiche, von Vakuolen umgebene
Amyloidplaques vom Kuru-Typ, abnormes Prionprotein.

9.5.3 Familiäre spongiforme Enzephalopathien


Def.: Fatale familiäre Insomnie (▶ 25.7), familiäre progressive subkortikale Gliose,
Gerstmann-Sträussler-Scheincker-Sy., etwa 100 betroffene Familien bekannt. IKZ
unbekannt.
Klinik: Fortschreitendes demenzielles Sy. (max. 2 J.), zerebelläre u. visuelle
Stör., pyramidale u. extrapyramidale Sympt., akinetischer Mutismus. Im
Endstadium Koma u. rascher Tod. Krankheitsdauer bei 90 % der Pat. < 1 J., 5 %
< 2 J.
• Gerstmann-Sträussler-Scheincker-Sy.: Zunächst langsam progrediente Gang­
ataxie.
• Letale familiäre Insomnie: Zunächst Schlafstör. u. autonome Dysregulation.
Diagn.: Typ. EEG-Veränderungen (periodic sharp wave complexes), definitiver
Nachweis nur durch Hirnbiopsie o. postmortal (charakteristische spongiforme
Veränderungen), im Liquor Nachweis des 14-3-3-Proteins (sehr sensitiv, wenig
spezifisch) o. ggf. des Prionproteins. 9
Ther.: Keine Behandlung bekannt.
382 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

9.6 Pilzerkrankungen des ZNS


Definition/Auftreten
In Industrieländern bei resistenzgeschwächten o. immunsupprimierten Pat., z. B.
bei AIDS (▶ 9.4.8), Alkoholabusus, neurochir. Pat., Immunsuppression.

Klinik und Diagnostik


▶ Tab. 9.12.
• Liquor: Mäßige lymphozytäre o. gemischtzellige Pleozytose häufig mit Eosi-
nophilen, Eiweiß ↑, Zucker leicht ↓, häufig autochthone IgG-Synthese u. oli-
goklonale Banden, einschließlich Tuschepräparat aus frischem Liquor, PAS-
Färbung des Sediments, Pilzkultur, Antigennachweis, ggf. Resistenztestung.
Bei Kryptokokkenmeningitis häufig erhöhter Liquordruck.
• Erregernachweis: Nachweis von Antigenen o. kultureller Nachweis der Erre-
ger in anderen Körperflüssigkeiten wie Blut, Sputum o. Urin, ggf. auch in Ab-
szessinhalten o. Punktaten, da Erregernachweis im Liquor häufig nicht ge-
lingt. Cave: Serolog. Methoden mit AK-Nachweis wenig aussagekräftig.
• HIV-Test: Pilzerkr. als opportunistische Infektion gehäuft bei AIDS (▶ 9.4.8)
• Fokussuche: Rö Thorax (häufig Primärinfektion der Lunge), Rö Schädel/WS
(osteomyelitische Herde), CCT, MRT (mykotische Granulome, Abszesse).

Tab. 9.12  Pilzerkrankungen des Nervensystems


Erreger ICD-10-Ziffer Klinische ZNS-Manifestation

Candida albicans (Candi- B37, B37.5 (G02.1 Subkortikale Mikroabszesse,


dose) Candidameningitis) größere Abszesse, Granulome,
Meningitis

Cryptococcus neoformans B45.1 Meningoenzephalitis mit Mikro-


(Kryptokokkose) granulomen, selten raumfor-
dernde Granulome

Aspergillus fumigatus B44 Raumfordernde Abszesse,


(Aspergillose) thrombotische Gefäßverschlüsse
mit hämorrhagischen Infarkten,
Meningoenzephalitis

Therapie
• Komb. von Amphotericin B u./o. Flucytosin möglichst nach Anzüchten der
Erreger u. Resistenztestung. Dauer 3–6 Wo.
• Regelmäßige Liquorkontrollen mit Pilzkultur 1× wöchentlich.
• Bei AIDS u. Kryptokokkenmeniningitis Triplether. mit Amphotericin B, Flu-
cytosin u. Fluconazol, gefolgt von einer Sekundärprophylaxe mit Fluconazol
(▶ 9.4.8).
Amphotericin B (z. B. Amphotericin B®): Strenge Dosisfindung wegen NW: Zu-
nächst Testdosis 1 mg i. v. als Infusion, bei Verträglichkeit als Initialdosis 0,1 mg/
9 kg KG i. v. als Infusion, dann jeden Tag 5 mg mehr bis zum Erreichen der ange-
strebten Dosis von 0,4(–1) mg/kg KG i. v., dann als Infusion jeden 2. d.
• Monother. 6–8 Wo. bzw. bis zu 4 Wo. nach letzter pos. Kultur.
• Intraventrikuläre Gabe über implantiertes Reservoir: 0,025 mg initial; jeden
2. d um 0,025 mg erhöhen bis 0,5 mg. Dann 0,5 mg 2×/Wo.
  9.7 Parasitosen  383

• Bei ausgeprägten NW Umstellung auf liposomales Amphotericin B (AmBiso-


me®).
• Monitoring: Wegen zahlreicher NW (Fieber, Nephrotoxizität, Hypokaliämie,
Knochenmarksdepression) u. der Gefahr allergischer Reaktionen 2×/Wo. BB,
Retikulozyten, E'lyte, Nieren- u. Leberwerte, Urinstatus, 1×/Wo. Liquor,
Krea-Clearance.
Flucytosin (z. B. Ancotil Roche®): 3 × 50 mg/kg KG/d oral o. i. v.
• NW: Übelkeit, Erbrechen, Enterokolitis, Leuko-, Thrombopenie, Hepatotoxi-
zität.
• Kontrolle BB, Leber-, Nierenwerte, Krea-Clearance.
• Dosisreduktion bei eingeschränkter Nierenfunktion.
Fluconazol (z. B. Diflucan®): Am 1. d 400 mg i. v., dann über 6–8 Wo. 200 mg/d.
Bei AIDS lebenslang Sekundärprophylaxe (▶ 9.4.8).

9.7 Parasitosen
9.7.1 Toxoplasmose
ICD-10 B58; B58.2, G05.2 Toxoplasmen-Meningoenzephalitis.
Ätiol.: Erreger: Toxoplasma gondii.
Klinik:
• Bei gesunden Erw. meist blander Verlauf; bei Abwehrschwäche (z. B. AIDS
▶ 9.4.8) schwerer Verlauf (reaktiviert o. selten neu erworben).
• Akut: Hohes Fieber, Exanthem, Pneumonie, Myokarditis, nekrotisierende
Meningoenzephalitis.
• Subakut: LK-Schwellung, Meningoenzephalitis.
• Chron.-rezid.: Schubförmige Meningoenzephalitis o. Enzephalomyelitis mit
psychischen Veränderungen, epileptischen Anfällen, neurol. Herdsympt.
• Prim. chron.: Blande Verlaufsform mit leichtem Fieber, Kopfschmerzen, My-
algien.
• Konnatal: Mikrozephalie, Hydrozephalus, epileptische Anfälle, intrazerebrale
Verkalkungen, Chorioretinitis.
Diagn.:
• MRT, CCT: Multiple hyperdense Läsionen mit zentraler Nekrose, ringförmi-
ger KM-Aufnahme, perifokalem Ödem.
• HIV-Test.
• Liquor: Zellzahl normal o. Pleozytose bis etwa 100/mm3, Schrankenstör., IgG
↑, IgM ↑, gel. Toxoplasmennachweis durch Giemsa-Färbung des zentrifu-
gierten Liquors, PCR.
• Serologie: AK-Nachweis in Serum u. Liquor, Toxoplasma-IgG u. -IgM. Cave:
Kann bei Immundefizienz falsch neg. ausfallen, dann direkter Erregernach-
weis.
• Direkter Erregernachweis: Erregeranzucht durch Inokulation mit Material
vom Infektionsherd in Gewebekultur o. Tierversuch (Mäuseinokulation) be-
weist aktive Infektion. PCR zeigt Infektion an, jedoch nicht Aktivität der In- 9
fektion, häufig falsch neg.
• Evtl. Hirnbiopsie (Histologie, Peroxidase-Antiperoxidase-Methode).
Ther.:
• Pyrimethamin initial 150 mg p. o., dann 50 mg/d p. o. (z. B. Daraprim®) u.
Clindamycin 4 × 500 mg/d s. c. (z. B. Sobelin®) o.
384 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

• Sulfadiazin 2 × 50 mg/kg KG/d p. o. (z. B. Sulfadiazin-Heyl®) u. Folinsäure


10 mg/d p. o. (z. B. Leucovorin®).
• Ther.-Dauer: 4–6 Wo. über die Rückbildung der Sympt. hinaus, bei AIDS Se-
kundärprophylaxe (▶ 9.4.8). Cave: Zidovudin absetzen (Interferenz mit Pyri-
methamin).

9.7.2 Malaria
ICD-10 B50 bei Plasmodium falciparum, B50.0 mit zerebralen KO, B51.0 bei Plas-
modium virax, B52 bei Plasmodium malariae.
Klinik:
• Meist bei Malaria tropica (Plasmodium falciparum) 1–2 Wo. nach klin. Erst-
manifestation (paroxysmal hohes Fieber, Schüttelfrost) neurol. Sympt. durch
vask. Enzephalopathie: Bewusstseinsstör., Bewegungsstör., neurol. Herd­
sympt., epileptische Anfälle, psychotische Sympt.
• Typ. Beginn mit starken Kopfschmerzen.
• Gelegentlich infektallergische Folgeerkr., z. B. GBS (▶ 19.9.1, ▶ 4.8.1).
Diagn.:
• Parasitennachweis im Blutausstrich („dicker Tropfen“, während der Ther. tgl.
Kontrolle), Serologie u. Erregertypisierung nur in spezialisierten Labors.
• CCT, MRT: Disseminierte Infarkte, Blutungen, häufig jedoch unauffällig.
• Liquor: Meist wenig ergiebig, gelegentlich leichte Pleozytose, Eiweiß mäßig
↑, Glukose ↓, Laktat ↑.

Nicht namentliche Meldepflicht bei direktem o. indirektem Keimnachweis.

Ther.:
• Chinin: 3 × 10 mg/kg KG (entspricht 25 mg/kg KG Chininbase) als Infusion
tgl. nach Plasmaspiegel. Mittel 1. Wahl bei schwerer Malaria. Alternativ Chlo-
roquin, Pyrimethamin-Sulfadoxin, Mefloquin, Halofantrin.

Immer abhängig vom Erreger (Resistenzen!). Aktuelle Therapieempfehlun-


gen: Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale Gesund-
heit (www.dtg.org) oder Leitlinien Diagnostik und Therapie der Malaria der
AWMF (www.awmf.org/leitlinien).

• Intensivpflege! 50 % der Todesfälle durch zerebrale Beteiligung.


• Tgl. Blutausstrichkontrollen, bei Persistenz der Parasitämie Umsetzen
der Ther.
• In schwersten Fällen Blutaustauschtransfusion erwägen sowie Dexa­
methason zur Verminderung begleitender Immunphänomene.

9 Prophylaxe:
• Konsequente Maßnahmen zur Vermeidung von Insektenstichen in Endemie-
gebieten (Moskitonetze, Repellents, etc.).
• Chemoprophylaxe in Abhängigkeit von Reiseziel u. Resistenzsituation (Bera-
tung durch Tropeninstitute auch telefonisch u. im Internet).
  9.7 Parasitosen  385

9.7.3  Babesiose
ICD-10 B 60.0.
Epidemiologie: Babesia microti u. v. a. in Europa Babesia divergens sind Protozo-
en, die durch Zeckenstich o. Bluttransfusion übertragen werden. Seroprävalenz in
D etwa 2 %, nach Zeckenstich etwa 12 %.
Klinik:
• Symptomatik malariaähnlich: Grippeartige Sympt. für 1–2 Wo. mit Fieber,
Kältegefühl, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Bewusstseinsstör., An­
ämie, DIC, Atem-, Niereninsuff.
• Verlauf meist leicht, selten lebensbedrohlich.
! Gefährdet sind splenektomierte u. immungeschwächte Pat.
Diagn.: Piroplasmanachweis in Erythrozyten im Blutausstrich. Serolog. AK-
Nachweis sowie PCR.
Ther.: Komb. aus Clindamycin u. Chinin o. Azithromycin u. Atovaquon. Ggf.
Blutaustauschtransfusion.

9.7.4 Amöbiasis
ICD-10 B60, G05.2, B60.2 bei prim. Amöben-Meningoenzephalitis.
Ätiol.: Erreger: Entamoeba histolytica.
Klinik:
• Amöbenruhr bes. in warmen Ländern endemisch.
• Extraintestinale Manifestationen (eher selten, auch nach längerer Zeit):
– Abszesse in Leber (90 %), Lunge (10–20 %), Gehirn (5–10 %).
– Meningitis, neurol. Herdsympt., Hirndruck!
Diagn.:
• CCT, MRT: Abszesse, bei Meningitis gelegentlich hämorrhagische Läsionen.
• Mikrobiologie, Serologie: Erregernachweis in Stuhl, Punktat von Leber- u.
Lungenabszessen, AK-Nachweis, mikroskopischer u. kultureller Nachweis
von Amöben.
• Liquor: Eitrig mit ausgeprägter granulozytärer Pleozytose, Erythrozyten, star-
ker Eiweißerhöhung.
• Rö Thorax; Sono, CT Abdomen (Leberabszesse).
Ther.: Hirndruckther. (▶ 4.6.4).
• Zerebrale Amöbiasis:
– Metronidazol 3 × 750 mg/d i. v. (z. B. Clont®).
– Alternativ Tinidazol 3 × 800 mg/d i. v. (z. B. Fasigyn®, über Internationale
Apotheke) o. Dehydroemetin (über Internationale Apotheke) 1–1,5 mg/kg
KG/d i. m. + Chloroquin 2 × 300 mg Base tgl. i. m. für 2 d (z. B. Reso-
chin®), dann 300 mg Base tgl. i. m., rasch Übergang auf orale Gabe, Dauer
2–4 Wo.
• Prim. Meningoenzephalitis: Amphotericin B 1–1,5 mg/kg KG/d i. v. u. 1 mg
intrathekal, lumbal o. intraventrikulär jeden 2. d u. Miconazol 350 mg/m2
KOF/d i. v. (z. B. Daktar®) u. 10 mg jeden 2. d intrathekal und Rifampicin
10 mg/kg KG/d p. o. über 9 d (z. B. Rifa®).
9
9.7.5 Wurmerkrankungen
▶ Tab. 9.13.
386 9  Infektionskrankheiten des Nervensystems  

Tab. 9.13  Wurmerkrankungen des Nervensystems


Erkrankung Klinik Diagnostik Therapie
(Erreger)

Zystizerkose Kopfschmer- Stuhlunters. (Para- Nutzen der Antihelmin-


(Taenia solium = zen, epilepti- siteneier) Serolo- thika in Studien nicht ein-
Schweineband- sche Anfälle, gie, CCT, MRT deutig, individualisierte
wurm) Hirndruck, (Zysten, Granulo- Ther. in Abhängigkeit
ICD-10 B69.0 neurol. Herd- me, Verkalkun- vom Krankheitsbild: Bei
Aktiv: Meningitis, sympt., psy- gen), Liquor (lym- aktiver Neurozystizerkose
Enzephalitis, Zysten chotische phozytäre Pleozy- Praziquantel o. Albenda-
intrazerebral, intra- Sympt. tose mit Eosino- zol (cave: Hirnödem
ventrikulär o. philie, Eiweiß ↑, ▶ 4.6, daher Komb. mit
spinal Glukose ↓), Rö Dexamethason u. ggf.
Inaktiv: Parenchy- (Skelettmuskelver- Antikonvulsiva), antipara-
matöse Verkalkun- kalkungen bes. im sitäre Ther. bei inaktiven
gen o. Granulome Oberschenkel), Prozessen wirkungslos,
evtl. subkutane evtl. OP bei solitären Zys-
Zysten ten, bei Verschlusshydro-
zephalus. Nutzen der Er-
regerther nicht gesichert

Zystische Echino- Hirndruckzei- Anamnese (Tier- OP der Zyste(n), keine


kokkose1 (Echino- chen. Bei Zys- kontakt), BB (Eosi- Zystenpunktion wegen
coccus granulosus = tenruptur nophilie), IgE ↑, Gefahr der Disseminati-
Hundebandwurm) Anaphylaxie Serologie, CCT, on! Mebendazol 50 mg/
ICD-10 B67.3 u. Zystendisse- MRT, Myelografie kg KG/d p. o. über J. (z. B.
Meist einzelne, mination, bei Vermox®) Albendazol
langsam raumfor- Zysten in WS: 2 × 400 mg/d über 28 d
dernd wachsende RM-Kompres- (Eskazole®). Nach 140 d
intrazerebrale sion erneuter Zyklus über 28
­Zyste. d. Mind. 2, max. 3 Zyklen

Alveoläre Echino- Herdsympt.; BB (Eosinophilie), Ther. wie bei der zysti-


kokkose (Echino- bei Zystenrup- IgE ↑, Serologie, schen Echinokokkose
coccus multilocula- tur Anaphyla- Liquor (lymphozy-
ris = Fuchsband- xie u. Zysten- täre Pleozytose,
wurm) dissemination evtl. mit Eosinophi-
ICD-10 B67.6 lie, oft unergiebig),
Zahlreiche infiltrie- Rö Schädel, Rö WS
rend wachsende (Knochendestrukti-
Zysten (intrazere­ on), CCT, MRT (Zys-
bral, in Schädelkno- ten), Myelografie
chen o. WS) (KM-Aussparung,
-stopp bei intraspi-
nalen Zysten)

Bilharziose (Schisto- Epileptische Parasiteneiernach- Praziquantel (z. B. Cesol®),


soma) Anfälle, orga- weis im Stuhl, bei S. japonicum
ICD-10 B65, weitere nisch beding- Urin, Rektum- o. 3 × 20 mg/kg KG/d p. o.
Klassifikation nach te psychische Harnblasenbiop- für 1 d, bei S. mansoni u.
Erreger: B65.0 S. Stör., neurol. sie, Serologie, Li- haematobium einmalig
haematobium; Herdsympt.; quor (Pleozytose, 40 mg/kg KG p. o. u. Dexa-
B65.1 S. mansoni; akut (migrato- evtl. mit Eosino- methason (z. B. Forte-
9 B65.2 S. japonicum rische Phase): philie), CCT (raum- cortin®) 3–4 × 4 mg/d p. o.,
Intrazerebrale gra- Meningitis, fordernde Granu- solange Ödem/Raumfor-
nulomatöse Ent- Enzephalitis, lome), Myelogra- derung nachweisbar o.
zündung u. Mikro- Myelitis, bei fie (KM-Ausspa- bei allergischer Reaktion.
abszesse RM-Beteili- rung, -stopp durch Bei Resistenz Praziquantel
gung, RM-Sy. Granulome) ggf. Oxamviquin
1
 Nichtnamentliche Meldepflicht bei direktem o. indirektem Erregernachweis.
10 Multiple Sklerose und andere
demyelinisierende ZNS-
Erkrankungen
Achim Berthele

10.1 Multiple Sklerose (MS) 388 10.2 Andere demyelinisierende


10.1.1 Epidemiologie und ­Erkrankungen 404
­Ätiologie 388 10.2.1 Akute disseminierte Enzepha-
10.1.2 Leitsymptome 388 lomyelitis (ADEM) 404
10.1.3 Diagnostik 390 10.2.2 Neuromyelitis optica (NMO,
10.1.4 Verlauf, Diagnose und Devic-Syndrom) 405
­Prognose 391
10.1.5 Differenzialdiagnosen der
MS 393
10.1.6 Therapie 393
388 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

10.1 Multiple Sklerose (MS)


10
10.1.1 Epidemiologie und Ätiologie
ICD-10 G35.
Epidemiologie:
• Weltweit etwa 2,5 Mio. Erkrankte, v. a. in den gemäßigten Breiten der Nord-
u. Südhalbkugel. Kaukasier sehr viel häufiger als andere ethnische Gruppen
betroffen. Höchste Prävalenz in Europa u. den USA; Nord-Süd-Gefälle. Prä-
valenz in D 50–120/100.000.
• F : M = 2–3 : 1 (bei schubförmiger Verlaufsform). Erkr.-Beginn meist zwi-
schen 20. u. 40. Lj (Erkr.-Gipfel ≈30 Lj), selten vor der Pubertät o. nach dem
60. Lj.
Ätiol.:
• Wahrscheinlich heterogene Erkr. mit multilokulären (= disseminierten) ent-
zündl. u. degenerativen, überwiegend demyelinisierenden Veränderungen in
Gehirn u. RM mit chron. Verlauf.
• Zentraler Pathomechanismus: In frühen Krankheitsstadien entzündl. Au-
toimmunreaktion gegen das Myelinprotein der Oligodendrozyten, begleitet
u. gefolgt von axonalen Schäden. Im Verlauf treten wahrscheinlich nichtent-
zündl. neurodegenerative Prozesse hinzu.
• Auslöser sind multifaktoriell: Genetische Disposition (v. a. HLA-System u.
Zytokine), Exposition gegenüber einem bisher unbekannten Agens, zusätzli-
che/andere Umweltfaktoren.

10.1.2 Leitsymptome
▶ Tab. 10.1.
Tab. 10.1  Häufigkeit der Leitsymptome (nach Poser)
Leitsymptom Initial Im Verlauf

Sehstör. ≈ 50 % Fast 100 %

Paresen ≈ 45 % ≈ 90 %

Sensibilitätsstör. ≈ 40 % ≈ 85 %

Zerebelläre Sympt. ≈ 20 % ≈ 80 %

Blasen-/Mastdarmstör. ≈ 10 % ≈ 65 %

Neuropsychologische Defizite ≈ 5 % ≈ 40 %

Optikusneuritis (ON)
Syn.: Neuritis nervi optici (NNO), Retrobulbärneuritis (RBN).
• Meist einseitige, innerhalb von Tagen auftretende(r) Visusminderung o. -ver-
lust mit Farbentsättigung, häufig begleitet von Bulbusbewegungsschmerzen.
• Zunächst unauffälliger Fundus („Pat. sieht nichts, Arzt sieht nichts“), nach
Wo. temporale Papillenabblassung.
• Kann weiteren Schüben einer MS um J. vorausgehen.
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  389

Zentrale Paresen
• Spastische Paresen mit gesteigerten MER u. Pyramidenbahnzeichen, unter-
schiedlich ausgeprägte, meist asymmetrische Para- o. Tetraspastik. 10
• Typischerweise Fehlen o. rasche Erschöpfbarkeit der Bauchhautreflexe.
Sensibilitätsstörungen
• Transitorisch o. anhaltend, ohne Bezug zu Dermatomen, z. T. distal betont,
meist asymmetrisch, v. a. Kribbelparästhesien o. Dysästhesien sowie Beein-
trächtigung des Lage- u. Vibrationsempfindens, auch sensible Ataxie.
• MS-typ. (nicht pathognomonisch): Lhermitte-Zeichen (Nackenbeugezeichen).
Zerebelläre Symptome
• Ataktisches Gangbild, Dysmetrie, Dysdiadochokinese, Intentionstremor.
• In späterem Stadium Charcot-Trias (Nystagmus, Intentionstremor u. skan-
dierende Sprache).
• Paroxysmale Sympt. selten, aber typ. (z. B. paroxysmale Dysarthrie).
Hirnstammsymptome
• Augenmotilitätsstör.:
– V. a. Abduzens-, seltener Trochlearis- o. inkomplette Okulomotoriuspare-
se. Internukleäre Ophthalmoplegie: Meist einseitig, gel. bds. bei Demyeli-
nisierungsherd im Fasciculus longitudinalis medialis. Sonderform: Ein-
einhalb-Sy.
– Stör. der langsamen o. schnellen Blickfolgebewegungen, dissoziierter Nys-
tagmus, Blickrichtungsnystagmus, hypo-/hypermetrische Sakkaden.
• Trigeminusneuralgie: Inzidenz gegenüber Normalbevölkerung ↑, häufiger
auch bilaterales Auftreten.
• Stör. kaudaler HN: Schluckstör., Dysarthrie, Dysphonie; Husten- u. Würg­
reflex abgeschwächt o. ausgefallen.
• Andere: Singultus, Schwindel, Tinnitus, Atemstör. (selten).
Autonome Störungen
• Initial häufig imperativer Harndrang u. Blasenentzündung bei unerkannter
Restharnbildung, später Inkontinenz u. Retention.
• Seltener Mastdarmstör.
• Erektionsschwäche.
Psychische Störungen
• Häufig affektive Labilität (7,5-fach erhöhtes Suizidrisiko); bei Pat. mit leichten
u. mittelschweren Sympt. u. im akuten Schub oft als reaktiv-depressives Sy.
• In späteren Stadien organische psychische Stör. mit zunehmender psychomo-
torischer Verlangsamung, affektiven Stör., Zwangslachen o. -weinen.
• Kognitive Stör. (verminderte Aufmerksamkeitsleistung, Ermüdbarkeit, Stör.
der visuell-räumlichen Gedächtnisleistung) zunächst nur mit neuropsycholo-
gischer Diagn. nachweisbar.

Besondere Symptome und Zeichen


• Lhermitte-Zeichen: Nackenbeugezeichen. Bei kräftigem Beugen des Na-
ckens auftretende elektrisierende Missempfindungen entlang der WS u. in
den Extremitäten durch Demyelinisierungsherd(e) im Spinalmark.
390 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

• Uhthoff-Phänomen: Symptomverstärkung bei Anstieg der Körpertempe-


ratur, z. B. heißes Bad, körperl. Anstrengung.
10 • Charcot-Trias: Intentionstremor, Nystagmus, skandierende Sprache, v. a.
in späteren Krankheitsstadien.

10.1.3 Diagnostik
Klinische Untersuchung
Klin. werden die aus der MS resultierenden Sympt. standardisiert nach den funk-
tionellen Systemen der Kurtzke-Skala (Expanded Disability Status Scale; ▶ 27.3)
untersucht u. quantifiziert. Als Maß der Behinderung resultiert daraus ein (nicht-
linearer) EDSS-Wert zwischen 0 u. 10.

Bildgebende Verfahren
MRT:
• Nachweis von frischen u. alten MS-Herden mit großer Sensitivität.
• Häufig klin. stumme Herde nachweisbar.

• Herde in der MRT sind kein Beweis für eine MS!


• Bei prim. chron. progredienter MS häufig nur wenige Herde trotz er-
heblicher Behinderung.

• MRT-Morphologie:
– T2/FLAIR o. Protonendichte hyperintens: Alte u. neue Läsionen.
– T1 hyperintens nach KM: Aktive Läsionen.
– T1 isointens ohne KM-Aufnahme: Alte Läsionen.
– T1 hypointens ohne KM-Aufnahme: „Black holes“ (axonaler Schaden).
– Typ. Lokalisationen: Supratentoriell: periventrikulär oder im Balken
(„Dawson's fingers“) oder juxtakortikal (U-Fasern betroffen); seltener kor-
tikal. Infratentoriell: Im Marklager o. Myelon.
– KM-Aufnahme: Homogen o. ringförmig.
– Empfohlene Sequenzen: Zerebral axial T2/Protonendichte, FLAIR, T1 vor
u. nach KM; sagittal FLAIR; optional koronare Sequenzen (z. B. Darstel-
lung der vorderen Sehbahn bei ON). Spinal sagittal T2, T1 vor u. nach
KM.

Die MRT ist zum Nachweis MS-typ. Läsionen sehr sensitiv, jedoch nicht spe-
zifisch. Sie eignet sich gut zur topischen Diagn., korreliert jedoch schlecht mit
dem klin. Bild u. hat wenig prädiktiven Wert. Eine gewisse Korrelation mit
dem Krankheitsprozess (Behinderung) besteht dagegen im Verlauf (kumula-
tives Volumen der Läsionen [Läsionslast, „lesion load“], globale Atrophie u.
„black holes“).

Liquoruntersuchung
MS-Pat. ohne Liquorveränderungen sind sehr selten (<  5 
%). Typ. sind
(▶ Tab. 10.2):
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  391

Lymphozytäre Pleozytose: Bes. zu Beginn der Erkr. u. im Schub. Pleozytose


> 50 Zellen/μl ist ungewöhnlich für MS (DD: Spezifisch entzündl. Genese, andere
Autoimmunerkr.).
Intrathekale (autochthone) Ig-Synthese u. oligoklonale Banden (OKB):
10
• Typ., aber nicht spezifisch für MS.
• Zu Beginn der MS bei ≈ 70 % der Pat. Nachweis von OKB im Liquor, im wei-
teren Verlauf bis zu 95 %. Bei MS sind OKB persistierend.
• In 20–50 % findet sich eine autochthone IgM-Synthese („2-Klassen-Reakti-
on“). MRZ-Reaktion: Intrathekale Bildung spezifischer AK gegen Masern-,
Röteln- u. Zoster-Virus (in absteigender Häufigkeit).
• Sensitivität: MRZ-Reaktion > OKB > autochthone IgG-Synthese
Schrankenstör.: Die Schrankenparameter sind außer bei schweren akuten Schü-
ben meist normal.

Tab. 10.2  Liquorbefunde bei MS


Parameter Häufigkeit

Leukozytenzahlerhöhung (lymphozytäre Pleozy- 30–60 %


tose) im Schub

Normales Eiweiß, normaler Albuminquotient 70–90 %

Oligoklonale Banden pos. 80–95 %

Intrathekale (autochthone) IgG-Synthese im Rei- 70–85 %


ber-Schema

Evozierte Potenziale
Eignen sich auch zum Nachweis path. Befunde in Systemen, die klin. nicht o.
nicht mehr betroffen sind (multifokale Affektionen). Anhaltend normale EP-Be-
funde im Verlauf der Erkr. sind ungewöhnlich für MS.

10.1.4 Verlauf, Diagnose und Prognose


Verlaufsformen
• Klin. isoliertes Sy. (KIS, CIS): Syn.: „Clinically isolated syndrome“ (CIS).
Erste neurol. Symptomatik, die auf einen demyelinisierenden Prozess im ZNS
hindeutet.
• Schubförmig remittierende MS: Syn.: „Relapsing-remitting MS“ (RRMS).
≈ 85 %. Vollständige Rückbildung der Schubsympt.; Pausen zwischen den
Schüben von wenigen Wo. bis mehreren J.
• Sek. progrediente MS: Syn.: „Secondary-progressive MS“ (SPMS). ≈ 50 % al-
ler RRMS-Pat. im unbehandelten Verlauf. Nach initial schubförmig remittie-
rendem Verlauf (z. B. für einige J.) Übergang in nichtschubförmig zunehmen-
de Behinderung. Überlagernd weitere Schübe möglich.
• Prim. chron. progrediente MS: Syn.: „Primary-progressive MS“ (PPMS).
≈ 10 %. Von Krankheitsbeginn an ohne Schübe/Remissionen zunehmende
Behinderung.
• Progredient schubförmige MS: Syn.: „progressive-relapsing MS“ (PRMS)
≈ 5 %. Von Krankheitsbeginn an zunehmende Behinderung mit aufgesetzten
Schüben.
392 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

Diagnose
Die Diagnose der MS erfolgt nach operationalisierten Kriterien. Die früher gülti-
10 gen Kriterien nach Poser wurden von den McDonald-Kriterien abgelöst, die die
Diagnose der MS schon nach dem ersten klin. Schub erlauben (▶ Tab. 10.3).

Tab. 10.3  Diagnose der MS nach den revidierten McDonald-Kriterien (Polman


et al. 2010)
Zahl der Schübe Objektive Weitere erforderliche Kriterien
Läsionen

≥ 2 ≥ 2 Keine (wenn aber MRT o. Liquor nicht MS-typ.


verändert sind: Sorgfältige DD)

≥ 2 1 Räumliche Dissemination in der MRT oder


1 weiterer Schub in einem anderen ZNS-Bereich

1 ≥ 2 Zeitliche Dissemination in der MRT oder


ein 2. klin. Schub

1 (monosymptoma- 1 Räumliche Dissemination:


tisch) = KIS/CIS • In der MRT oder
• ein 2. Schub in einem anderen ZNS-Bereich
und
Zeitliche Dissemination:
• In der MRT oder
• ein 2. klin. Schub
0 (schleichende ≥1 Kontinuierliche Progression über 1 J. u. 2 der 3
Progression von folgenden Kriterien:
Beginn) = PPMS • CMRT: ≥ 1 T2 Läsion in ≥ 1 MS-typ. Lokalisation
(periventrikulär, juxtakortical, infratentoriell)
• Spinale MRT: ≥ 2 T2-Läsionen
• Path. Liquor (OKB o. autochthone IgG-Produk-
tion bzw. erhöhter IgG-Index)

• Räumliche Dissemination in der MRT: Nach den sog. Swanton-Kriterien gegeben,


wenn ≥ 1 T2 Läsion in ≥ 2 der 4 folgenden Regionen:
– Periventrikulär
– Juxtakortikal
– Infratentoriell
– Spinal*
• Zeitliche Dissemination in der MRT: Gegeben, wenn eines der folgenden Kriterien
erfüllt:
– ≥ 1 neue T2- o. KM-aufnehmende Läsion in einem zu beliebigem Zeitpunkt
durchgeführten Follow-up MRT oder
– gleichzeitiger Nachweis von asymptomatischen KM-aufnehmenden und nichtauf-
nehmenden Läsionen (zu jedem beliebigen Zeitpunkt)

* Bei spinalen o. Hirnstammsy. wird die symptomatische Läsion nicht berücksichtigt.

Prognose
• Bei ≈ 10 % der Pat. auch ohne weitere Ther. gutartiger Verlauf ohne wesentli-
che Verschlechterung über 20 J. („benigne MS“); bei 5 % maligner Verlauf
mit rasch eintretender Invalidität.
• „Typ.“ Verlauf der RRMS: 50 % der Pat. brauchen im Verlauf von 15 J. Hilfe
beim Gehen.
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  393

• Nach Eintritt in den chron. progredienten Verlauf Progn. schlechter. Über-


gang von schubförmig remittierendem in sek. chron. progredienten Verlauf
zu jeder Zeit möglich. 10
• Progn. günstig: Weibl. Geschlecht, schubförmiger Verlauf, Schübe mit voll-
ständiger Rückbildung, lange beschwerdefreie Intervalle/niedrige Schubfre-
quenz, EDSS 3 wird spät erreicht.
• Progn. ungünstig: Männl. Geschlecht, polysymptomatische Schübe o. motori-
sche Sympt., Schübe mit inkompletter Rückbildung, kurze beschwerdefreie
Intervalle/hohe Schubfrequenz, EDSS 3 wird früh erreicht.
• Unterschiedliche Besserungstendenzen verschiedener Sympt., am besten für
ON u. Parästhesien, mittelmäßig für Paresen u. Blasenstör., schlechter für ze-
rebelläre Sympt. u. psychische Stör.

• Bei der Aufklärung über Häufigkeit benigner Verläufe informieren, da


­Diagnose vom Pat. oft mit rasch eintretender Invalidität gleichgesetzt wird.
• Bei Erstmanifestation der MS gibt es keine Prädiktoren für den klin.
Verlauf u. den späteren Behinderungsgrad.

10.1.5 Differenzialdiagnosen der MS
Erkr. mit multilokulärem ZNS-Befall:
• Vaskulitiden, v. a. SLE, Sjögren-Sy.
– M. Behçet: Aphthen, Uveitis, Arthritis, Meningoenzephalitis, SVT.
– Vogt-Koyanagi-Harada-Sy.: Vitiligo, Alopezie, Uveitis, Meningoenzepha-
litis.
– Susac-Sy.: Entzündung peripherer retinaler Gefäße, Tinnitus/Tiefton-
schwerhörigkeit, Balkenläsionen, migränöser Kopfschmerz.
• Sarkoidose, Neuroborreliose, Neurolues, HIV/AIDS.
Erkr. mit chron. progredientem Verlauf: Heredoataxien, Leukenzephalopathien,
Kompressionsmyelopathie, progressives spastisches Sy. (z. B. spastische Spinalpa-
ralyse, prim. Lateralsklerose), vask. Myelopathie (z. B. spinale AVM), spinale
Arachnopathie, Tumoren/Metastasen, funikuläre Myelose, sonstige Myelitis (z. B.
Lues, Tbc, HTLV).

10.1.6 Therapie
Keine kausale Ther. bekannt. Die gegenwärtigen Ther.-Formen versuchen, die
Entzündungsreaktion zu beeinflussen u. die fehlgesteuerte Immunreaktion zu
modulieren.
Aktuelle Infos u. Empfehlungen: www.kompetenznetz-multiplesklerose.de.

Schubtherapie
Unter einem Schub ist eine neue o. sich erneut verschlechternde neurol. Sympto-
matik zu verstehen, die mind. 24 h anhält u. unabhängig von Fieber (> 37,5 °C) o.
Infekten ist.
Kortikosteroide
Im akuten Schub Mittel 1. Wahl; sie führen zu einer schnelleren Rückbildung der
Sympt.
394 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

Ind.: Akuter Schub mit > 24 h Dauer, < 4 Wo. zurückliegend, o. erneute relevante
Verschlechterung einer Schubsymptomatik.
KI:
10 • Relative KI: Diab. mell., schwere Osteoporose, florides GIT-Ulkus, Psychose,
aktiver Infekt, Herzrhythmusstör.
• Schwangerschaft: Rate von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten im 1. Trimenon
erhöht (strenge Ind.-Stellung).
Dos.:
• Leichtes, aber objektivierbares Defizit: 3 d 1.000 mg/d Methylprednisolon i. v.
Fakultativ, v. a. bei schlechter Rückbildung, gefolgt von oralem Ausschleich-
schema (100 mg/d Methylprednisolon o. Prednisolon p. o., jeden 2. d um
20 mg reduzieren).
• Schweres (EDSS-relevantes) Defizit: 5 d 1.000 mg/d Methylprednisolon i. v. Bei
rascher Besserung ggf. auf 3 d reduzieren. Orales Ausschleichschema (s. o.).
• Option bei persistierendem schwerem Defizit: Nach erster i. v. Kortikostero-
id-Ther. Eskalation mit 5 d 2.000 mg/d Methylprednisolon i. v.
• Option bei KI gegen i. v. Gabe: 5 d 1.000 mg/d Methylprednisolon p. o., ge-
folgt von oralem Ausschleichschema (s. o.).
NW:
• Diabetogene Wirkung, Magenbeschwerden, Ulcus ventriculi/duodeni, Was-
serretention, Hypertonie, Hypokaliämie, BB-Veränderungen (Neutrophile ↑,
Thrombos ↑, Erys ↑, Eosinophile ↓, Basophile ↓, Lymphos ↓), psychische
Veränderungen.
• Vor allem bei/nach Langzeitther.: Gewichtszunahme, Stammfettsucht/Voll-
mondgesicht, Osteoporose, Infektneigung, katabole Wirkung/Myopathie,
Kortisonentzugssy.
KO: Ulcus ventriculi/duodeni, Steroid-Diab., Thrombosen, Knochennekrosen,
Psychosen.

Kortikosteroide: Anwendung und Monitoring


• Vorzugsweise am Morgen geben; i. v. als Kurzinfusion. Erstgabe mög-
lichst unter (kurz-)stationären Bedingungen.
• Magenschutz (Protonenpumpenhemmer), Thromboseprophylaxe.
­ rinstatus, ggf. prophylaktische Mitbehandlung von Infekten. Kontrolle
U
BB, BZ, RR u. K+, ggf. Behandlung. Ggf. kurzwirksames Benzodiazepin
bei Schlafstör.

Plasmapherese
Bei schweren Schüben, die nicht auf Kortikosteroid-Pulsther. ansprechen.
• Beginn möglichst innerhalb von 6 Wo. nach Schubbeginn. Die besten Daten
liegen für die ON vor.
• Meist werden ≈ 5 Plasmapheresen (in 2-täglichem Abstand) durchgeführt.
Verlaufsmodifizierende Therapie
Ind.: Nachdem die entzündl. Komponente zu Beginn der MS am stärksten ausge-
prägt ist, wird eine möglichst frühe Einleitung einer verlaufsmodifizierenden
Ther. empfohlen.
Dauer: Ther. möglichst solange fortgeführen, wie ein Ther.-Effekt als gegeben an-
gesehen werden kann u. keine relevanten NW o. Einschränkungen der Lebens-
qualität eintreten. Cave: Rebound-Schübe nach abruptem Absetzen.
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  395

Therapieempfehlungen (nach DGN/KKNMS)


Medikamente in alphabetischer Reihenfolge. Ob eine einzelne Substanz einer
anderen überlegen ist, ist unklar. 10
KIS/CIS
Glatirameracetat (20 mg tgl.) oder Interferon-β  1a i. m. oder Interferon-β  1a
(Rebit®) s. c. oder Interferon-β 1b s. c.
RRMS
• Milde/moderate Verlaufsformen: Dimethylfumarat oder Glatirameracetat
oder Interferon-β 1a i. m. oder Interferon-β 1a s. c. oder Interferon-β 1b
s. c. oder Teriflunomid.
• Bei Versagen o. (hoch-)aktiven Verlaufsformen:
– 1. Wahl: Alemtuzumab oder Fingolimod oder Natalizumab.
– 2. Wahl: Mitoxantron.
SPMS
• Mit aufgesetzten Schüben: Interferon-β 1a s. c. (Rebit®) oder Interferon-β
1b s. c. oder Mitoxantron.
• Ohne aufgesetzte Schübe: Mitoxantron.
Varia:
• Azathioprin bei RRMS: Wenn andere Substanzen kontraindiziert o. Pat.
bereits stabil darauf eingestellt ist.
• IvIg bei RRMS: Nur postpartal im Einzelfall.
• Cyclophosphamid bei RRMS/SPMS: Bei fulminanten Verläufen u. Versa-
gen der übrigen medikamentösen Optionen.
• PPMS: Bisher keine wirksame verlaufsmodifizierende Ther.

Verlaufsmodifizierende Therapie bei milden/moderaten


Verlaufsformen
Dimethylfumarat (DMF)
Fumarsäure ist Bestandteil verschiedener biochemischer Stoffwechselwege u. hat
immunmodulatorische u. mutmaßlich neuroprotektive Eigenschaften. Seit 2014
zugelassen (Tecfidera®).
Dos.: 240 mg p. o. 2×/d. Eindosierung: 1. Wo 120 mg p. o. 2×/d, danach volle Dosis
(bei schlechter Verträglichkeit ggf. auch langsamer). Vorübergehende Dosisre-
duktion (< 1 Mon.) bei GIT-NW möglich. Einnahme mit einer Mahlzeit empfoh-
len.
Zugelassene Ind.: Pat. ≥ 18 J. mit RRMS.
KI: Schwangerschaft, Stillzeit, gebärfähige F ohne zuverlässige Verhütung. Schwe-
re GIT-, Leber- o. Nierenerkr.
NW:
• Sehr häufig (20–30 %, v. a. im 1. Mon. der Ther.): Hitzegefühl („Flush“), Übel-
keit, Diarrhö, Bauchschmerzen. Flush: Besserung durch 325 mg ASS 30 Min.
vor Einnahme von DMF. GIT-NW: Symptomatische Ther.
• Sehr häufig (≥ 1/10): Ketonkörper im Urin.
• Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10): Proteinurie, Albuminurie, Leberwerterhöhungen,
Leukopenie, Lymphopenie, Pruritus/Ausschlag.
Monitoring: Diff-BB, Leber-, Nierenwerte u. Urinanalyse vor Behandlungsbeginn
u. nach 3 u. 6 Mon., danach alle 6 Mon. o. wenn klin. indiziert. Engmaschigere
Kontrollen von Diff.-BB u. Leberwerten sind jedoch zu empfehlen (z. B. alle 4 Wo.
in den ersten 6 Mon., alle 6–8 Wo. in Mon. 7–12, alle 3 Mon. ab Mon. 13).
396 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

Glatirameracetat
Mischung synthetischer Polypeptide aus Glutamat, Alanin, Tyrosin u. Lysin. Seit
2001 zugelassen (Copaxone®).
10 Dos.: Erw. 20 mg tgl. s. c., Keine Eindosierung. Fertigspritze. Lagerung: Bei 2–8 °C;
einmalige Aufbewahrung bei Raumtemperatur bis zu 1 Mon. Nicht einfrieren.
Zugelassene Ind.: RRMS (gehfähig, ≥ 2 Schübe in den letzten 2 J.) oder KIS/CIS
bei hohem Risiko, eine klin. gesicherte MS zu entwickeln (MRT: ≥ 2 T2-Läsionen
einem Durchmesser > 6 mm). Bei Pat. zwischen 12. u. 18. Lj ist das Sicherheitspro-
fil wahrscheinlich mit dem Erw. vergleichbar.
! Zulassung für 40 mg s.c. alle 2 d 3×/Wo. bei REMS.
KI: Schwangerschaft. Stillzeit: strenge Nutzenabwägung.
NW:
• Sehr häufig (≥ 1/10): Hautreaktionen an Injektionsstelle, systemische Postin-
jektionsreaktion (SPIR: Flush, Brustschmerz, Dyspnoe, Herzklopfen o. Ta-
chykardie), Übelkeit, Angst.
• Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10): Lipodystrophie an Injektionsstelle, Lymphadeno-
pathie, Schüttelfrost, (Gesichts-)Ödem, Gewichtszunahme, Tremor, Leber-
wertveränderungen.
• Gelegentlich (≥ 1/1.000 bis < 1/100): Hautnekrosen, -knötchen, Veränderun-
gen der Leukozytenzahl, Thrombozytopenie, Erhöhung der Leberenzyme,
grippeähnliche NW.
Monitoring: (Diff.-)BB u. Leberwerte 1×/3 Mon.
Interferon-β (IFNβ)
Immunmodulatorisch wirksames Zytokin.
KI:
• Beginn der Behandlung während der Schwangerschaft. Ob eine Pat., die unter
IFNβ schwanger wird, dieses ab- o. fortsetzen soll, liegt im klin. Ermessen;
möglich erhöhtes Abortrisiko. Während des Stillens sind IFNβ kontraindiziert.
• Akute schwere Depression u./o. Suizidgedanken.
• IFNβ 1b: Dekompensierte Leberinsuff.
NW:
• Kopfschmerzen u. grippeähnliche Sympt. (Unwohlsein, Schwitzen, Fieber/
Schüttelfrost, Myalgien) treten regelhaft (> 40 %) auf, v. a. bei Beginn der
Ther. NSAID können Sympt. deutlich mildern u. sollten zu Beginn prophy-
laktisch gegeben werden (z. B. 500–1.000 mg Paracetamol o. 400 mg Ibu-
profen [retard] zur Injektion u. 3–4 h danach; bei direkt nach der Injektion
einsetzenden NW 3–4 h vorher).
• Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10) bis sehr häufig (≥ 1/10) lokale Reizungen an der
Injektionsstelle, v. a. bei s. c.-App.; können durch lokales Kühlen, aseptische
Technik, regelhaften Wechsel der Injektionsstellen u. Verwendung von Auto-
injektoren vermindert werden. Symptomatisch kann eine lokale Ther. mit
Glukokortikoiden helfen.
• Leberwertveränderungen (sehr häufig bis gelegentlich [≥ 1/1.000 bis
< 1/100]), Hautnekrosen (häufig bis gelegentlich), Leuko-/Lympho-/Neutro-/
Thrombopenie, Anämie (sehr häufig bis gelegentlich), Haarausfall (gelegent-
lich), Schilddrüsenfunktionsstör. (selten [≥ 1/10.000 bis < 1/1.000] bis gele-
gentlich).
! Auch wenn die NW der IFNβ-Ther. ein Klasseneffekt sind, unterscheidet sich
die individuelle Ausprägung, sodass mitunter ein Präparatewechsel sinnvoll
sein kann.
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  397

KO:
• Selten: Thrombotische Mikroangiopathie (TMA), meist als thrombotisch-
thrombozytopenische Purpura (TTP) oder hämolytisch-urämisches Syndrom
(HUS)
10
• Selten bis gelegentlich: Nephrotisches Syndrom
Monitoring: Kontrolle von (Diff.-)BB u. Leberwerten in den ersten 3 Mon. 1×/
Mon., danach 1×/3 Mon. Regelmäßige Kontrollen der Nierenfunktion. Bei Vor­
erkr. an der Schilddrüse sind auch regelmäßige Schilddrüsenkontrollen zu emp-
fehlen.
Bildung neutralisierender AK: Insbes. in den ersten 2 J. der IFNβ-Ther. kann es
zur Bildung neutralisierender AK (NAB) kommen. Die Häufigkeit unterscheidet
sich zwischen den Präparaten (Betaferon®/Extavia® > Rebif® > Avonex®).
• Die Bestimmung von NAB ist bei (V. a.) sek. Ther.-Versagen sinnvoll.
• Bei V. a. auf Ther.-Versagen u. erneutem Nachweis von NAB nach 3 Mon.
Ther.-Konzept wechseln.
Interferon-β 1a i. m.: Avonex®
Rekombinant hergestellt in CHO-Zellen, mit humanem IFNβ identisch. Seit 1997
zugelassen.
Dos.: Pat. ≥ 16 J.: 30 μg i. m. 1×/Wo. Lyophilisat zur Herstellung einer Injekti-
onslsg. ­(BIO-SET) oder Fertigspritze oder Pen. Eindosierung: Mit BIO-SET/Fer-
tigspritze Beginn mit ¼ Dosis, wöchentlich um ¼ erhöhen (bei schlechter Ver-
träglichkeit ggf. auch langsamer). Lagerung: Lyophilisat bei Raumtemperatur,
Fertigspritze/Pen bei 2–8 °C. Nicht einfrieren.
Zugelassene Ind.: RRMS (gehfähig, mit ≥ 2 Schüben in den letzten 3 J.) oder KIS/
CIS, wenn dieses schwer genug ist, eine i. v. Kortikosteroid-Ther. zu rechtfertigen,
mögliche DD ausgeschlossen sind u. ein hohes Risiko für das Auftreten einer klin.
gesicherten MS besteht (MRT: ≥ 9 T2- u. ≥ 1 T2- o. KM-aufnehmende Läsionen
in einer Folgeunters. > 3 Mon.). Bei Pat. zwischen 12. u. 16. J. ist das Sicherheits-
profil wahrscheinlich mit dem Erw. vergleichbar.
Interferon-β 1b: Betaferon®/Extavia®
Rekombinant hergestellt in E. coli; nicht glykosyliert, mit humanem IFNβ hoch
homolog. Seit 1995 (Betaferon®) bzw. 2008 (Extavia®) zugelassen.
Dos.: 250 μg s. c. alle 2 d ab 16. Lj (Betaferon®) bzw. 12. Lj (Extavia®). Eindosie-
rung: die ersten 3 Gaben mit ¼-Dosis, die folgenden 3  Gaben mit ½-Dosis, die
folgenden 3  Gaben ¾-Dosis, danach volle Dosis (bei schlechter Verträglichkeit
ggf. auch langsamer). Lyophilisat zur Herstellung einer Injektionslsg. Lagerung:
Bei Raumtemperatur. Nicht einfrieren.
Zugelassene Ind.: RRMS (mit ≥ 2 Schüben in den letzten 2 J.) oder KIS/CIS, wenn
dieses schwer genug ist, eine i. v. Kortikosteroid-Ther. zu rechtfertigen, mögliche
DD ausgeschlossen sind u. ein hohes Risiko für das Auftreten einer klin. gesicher-
ten MS besteht (monofokales KIS mit ≥ 9 T2- o. ≥ 1 KM-aufnehmende Läsion[en]
o. multifokales KIS) oder Pat. mit SPMS, die weiter Schübe erleiden. Bei Pat. ab
12. Lj ist das Sicherheitsprofil wahrscheinlich mit dem Erw. vergleichbar.
Interferon-β 1a s. c.: Plegridy®
Pegyliertes Interferon-β 1a. Seit 2014 zugelassen.
Dos.: Erw. 125 μg s.c. alle 2 Wo.. Eindosierung: 1. Dosis 63 μg, 2. Dosis 94 μg, da-
nach volle Dosis. Fertigspritze, Pen. Lagerung: Bei 2–8 °C; einmalige Aufbewah-
rung bei Raumtemperatur bis zu 30 d. Nicht einfrieren.
Zugelassene Ind.: RRMS
398 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

Interferon-β 1a s. c: Rebif®


Rekombinant hergestellt in CHO-Zellen, mit humanem IFNβ identisch. Seit 1998
zugelassen.
10 Dos.: Erw.: 44 μg s. c. alle 2 d 3 ×/Wo. bei schubförmiger MS u. KIS; 22 μg s. c. 3 ×/
Wo. bei schubförmiger MS, wenn höhere Dosis nicht vertragen wird. Eindosie-
rung: Wo. 1–2 8 μg, Wo. 3–4 22 μg, danach volle Dosis (bei schlechter Verträglich-
keit ggf. auch langsamer). Fertigspritze, Patrone, Pen. Lagerung: Bei 2–8 °C, ein-
malige Aufbewahrung bei Raumtemperatur bis zu 14 d. Nicht einfrieren.
Zugelassene Ind.: Schubförmige MS (≥ 2 Schübe in den letzten 2 J.) oder KIS/CIS,
wenn mögliche DD ausgeschlossen sind u. ein hohes Risiko für das Auftreten ei-
ner klin. gesicherten MS besteht (MRT: ≥ 2 klin. stumme T2-Läsionen mit Durch-
messer > 3 mm, davon ≥ 1 ovoid/periventrikulär/infratentoriell). Keine Wirksam-
keit bei SPMS ohne Schübe. Bei Pat. zwischen 2. u. 17. Lj ist das Sicherheitsprofil
wahrscheinlich mit dem Erw. vergleichbar.
Teriflunomid
Immunsuppressivum; hemmt Dihyroorotat-Dehydrogenase → Pyrimidin-Syn-
these ↓. Seit 2013 zugelassen (Aubagio®).
Dos.: 1 × 14 mg/d p. o. Keine Eindosierung.
Zugelassene Ind.: Pat. ≥ 18 J. mit RRMS.
KI: Schwangere, Stillzeit; F im gebärfähigen Alter, die keine zuverlässige Verhü-
tung anwenden. Signifikante Anämie/Leuko-/Neutropenie, Thrombopenie,
schwere Leberfunktionsstör. (Child-Pugh C), dialysepflichtige Niereninsuff.,
schwere Hypoproteinämie.
NW:
• Sehr häufig (ca. 15 %): Haarverdünnung (üblicherweise passager), Leberwert-
veränderungen (V. a. GPT).
• Sehr häufig (≥ 1/10): Diarrhö, Übelkeit, Kopfschmerzen, Parästhesien.
• Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10): art. Hypertonie, Leuko-/Neutropenie, periphere
Neuropathie.
• Gel. (≥ 1/1.000 bis < 1/100): Anämie, Thrombopenie.
Monitoring: Diff.-BB u. Leberwerte vor Behandlungsbeginn, Leberwerte alle
2 Wo. in den ersten 6 Mon., danach alle 8 Wo., Diff.-BB alle 8 Wo. in den ersten
6 Mon., danach alle 3 Mon.

• F im gebärfähigen Alter müssen solange sicher verhüten, wie der Plas-


maspiegel von Teriflunomid > 0,02 mg/l ist.
• Beschleunigte Elimination (z. B. vor geplanter Schwangerschaft o. bei
Wechsel auf andere verlaufsmodifizierende Ther.): Cholestyramin o.
­Aktivkohle.

Verlaufsmodifizierende Therapie bei (hoch-)aktiven Verlaufsformen


Alemtuzumab
Humanisierter Anti-CD52-AK; zerstört reife zirkulierende Lymphozyten. Seit
2013 zugelassen (Lemtrada®).
Dos.: 12 mg i. v.; 1. Behandlungszyklus: 5 tgl. Infusionen (60 mg Gesamtdosis),
2. Behandlungszyklus nach 1. J.: 3 Infusionen (36 mg Gesamtdosis). Ggf. 3. u. wei-
tere Zyklen nach jeweils 1 J.
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  399

• Komedikation: 1.000 mg Methylprednisolon i. v. an Tag 1–3, Antihistaminika


(z. B. Desloratadin) u. Antipyretika vor Alemtuzumab-Infusion.
• Herpes-Prophylaxe: Ab 1. Behandlungstag bis 1 Mon., danach (z. B. Aciclovir 10
2 × 200 mg/d p. o.).
Zugelassene Ind.: Pat. ≥ 18 J. mit RRMS u. aktiver Erkr. (klin. Befund o. MRT).
KI: Schwangerschaft/Stillzeit, schwere aktive Infekte/Immundefizienz, Blutgerin-
nungsstör., Thrombozytopenie, vorbestehende andere Autoimmunerkr., Maligno-
me. Relative KI: Vorbestehende Schilddrüsenerkr., schwere Leber-/Niereninsuff.
NW:
• Akut: Infusionsassoziierte Reaktionen (IAR; sehr häufig): Kopfschmerz, Fie-
ber/Schüttelfrost, Tachykardie, Pruritus/Urtikaria; mitunter schwer (kreislauf-
relevant), mitunter schwer von anaphylaktischer Reaktion zu unterscheiden.
• Langfristig:
– Autoimmune Schilddrüsenerkr. (> 30 %).
– Idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP; 2 %).
– Nephropathien (einschl. Goodpasture-Sy.; < 1 %).
! Auftreten dieser NW bis zu 4 Jahren nach letzter Infusion
Vorunters./spez. Maßnahmen:
• Diff.-BB, Krea, Urinanalyse (mit Mikroskopie), Leberwerte, Schilddrüsenwerte.
• Überprüfung u. ggf. Ergänzung des Impfstatus, v. a. VZV.
• Aufklärung/Schulung zur Erkennung einer ITP.
• F: Während der Behandlung u. mind. 4 Mo. nach letzter Infusion zuverlässige
Verhütung.

Monitoring Alemtuzumab
Monatlich Diff.-BB, Krea u. Urinanalyse (einschl. Mikroskopie), alle 3 Mon.
TSH obligat bis einschl. 48 Mon. nach letzter Infusion!

Fingolimod
Sphingosin-1-Phosphat-(S1P-)Rezeptoragonist; hält (autoreaktive) Lymphozyten
in den LK zurück. Seit 2011 zugelassen (Gilenya®).
Dos.: 1 × 0,5 mg/d p. o.; keine Eindosierung. Erstgabe nur unter EKG-Monitoring.
Bei Unterbrechung der Medikation ≥ 1 d in Behandlungswo. 1–2 bzw. > 1 Wo. in
Behandlungswo. 3–4 bzw. > 2 Wo. danach erneute Erstgabe unter EKG-Monito-
ring notwendig.
Zugelassene Ind.: Pat. ≥ 18 J. mit RRMS u. hoher Krankheitsaktivität:
• Trotz Behandlung mit einem verlaufsmodifizierenden Medikament im vor-
angegangenen J. ≥ 1 Schub u. ≥ 9 T2-hyperintense Läsionen in der CMRT o.
≥ 1 KM-aufnehmende Läsion oder mit einer im Vgl. zum Vorjahr unverän-
derten o. zunehmenden Schubfrequenz o. anhaltend schweren Schüben
(„Non-Responder“) oder:
• Mit rasch fortschreitender RRMS, definiert als ≥ 2 Schübe mit Behinderungs-
progression in 1 J. u. ≥ 1 KM-aufnehmenden Läsion in der CMRT o. mit ei-
ner signifikanten Zunahme der T2-Läsionen im Vergleich zu einer kürzlichen
Vorunters.
KI: Schwangerschaft/Stillzeit, kardiale Vorerkr., insbes. AV- o. sinuatriale Blo-
ckierungen, QT-Zeit-Verlängerung, symptomatische Bradykardie, Behandlung
mit Antiarrhythmika der Klasse Ia u. III (z. B. Amiodaron, Sotalol), schwere/akti-
ve Infektionen, Makulaödem (Vorsicht bei Diabetikern), schwere Leberfunkti-
onsstör. (Child-Pugh C). Relative KI: Behandlung mit Betablockern, Kalziumant-
agonisten o. anderen bradykardisierenden Substanzen.
400 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

NW: Typ. sind Bradyarrhythmie (passager, daher EKG-Monitoring bei Erstgabe


obligat), leichter RR-Anstieg, Lymphopenie. Risiko für Makulaödem u. schwere
Herpes-Infektionen ↑, möglicherweise vermehrt Hauttumoren. Sonstige NW:
10 • Sehr häufig (≥ 1/10): Erhöhte Leberwerte, Kopfschmerzen, Husten, Diarrhö.
• Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10): Ekzem/Pruritus, Haarausfall.
KO: Hämophagozytisches Sy. (sehr selten, lebensbedrohlich): Fieber, Hepatome-
galie, Lymphadenopathie, ZNS-Beteiligung. Anämie, Thrombopenie, Leberwerte
⇈, Ferritin ⇈, Gerinnung ↓.
Vorunters.:
• VZV-Serologie, ggf. impfen.
• Ggf. kardiologische/augenärztliche/dermatologische/pulmonologische Unbe-
denklichkeit klären.
Monitoring: Diff-BB (bei Lymphozyten < 200/μl absetzen), Leberwerte Wo. 2, 4,
Mon. 3 u. danach alle 3 Mon. Augenärztl. Unters. nach 3–4 Mon. Ggf. jährliche
dermatologische Kontrollen.
Natalizumab
Humanisierter monoklonaler AK gegen α4-Integrin (VLA-4) auf Immunzellen;
verhindert die Einwanderung von Immunzellen ins ZNS. Seit 2006 zugelassen
(Tysabri®).
Dos.: 300 mg i. v. alle 4 Wo.; als Kurzinfusion über 1 h, danach 1 h Nachbeobach-
tung. Keine Eindosierung. Lagerung: Bei 2–8 °C. Nicht einfrieren.
Zugelassene Ind.: Pat. ≥ 18 J. mit RRMS u. hoher Krankheitsaktivität:
• Trotz Behandlung mit Interferon-β o. Glatirameracetat im vorangegangenen
Jahr ≥ 1 Schub u. ≥ 9 T2-hyperintense Läsionen in der CMRT o. ≥ 1 KM-aufneh-
mende Läsion oder mit einer im Vgl. zum Vorjahr unveränderten o. zunehmen-
den Schubfrequenz o. anhaltend schweren Schüben („Non-Responder“) oder:
• Mit rasch fortschreitender RRMS, definiert als ≥ 2 Schübe mit Behinderungs-
progression in 1 J. u. mit ≥ 1 KM-aufnehmenden Läsion in der CMRT o. mit
einer signifikanten Zunahme der T2-Läsionen im Vgl. zu einer kürzlichen
Vorunters.
KI: PML, (erhöhtes Risiko für) opportunistische Infektionen, Komb. mit IFNβ o.
Glatirameracetat, kürzliche o. aktive Herpes-Infektionen, Stillzeit. Sehr strenge
Ind. in der Schwangerschaft.
NW: Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10): Überempfindlichkeitsreaktionen in 4 %, anaphylak-
tische Reaktionen (1 % der Pat.), meist während der Infusion o. der Nachbeobach-
tungszeit; am häufigsten bei der 2. u. 3. Infusion. Harnwegsinfektionen, Nasopharyn-
gitis, Kopfschmerzen, Übelkeit/Erbrechen, Arthralgie, Fieber, Abgeschlagenheit.
KO: Bei langfristiger Behandlung (> 2 J.) steigt das Risiko, eine PML zu entwi-
ckeln (bis zu ≈ 1 % mit hoher Mortalität); weitere Risikofaktoren sind der Nach-
weis von JCV-AK im Blut u. eine immunsuppressive Vorbehandlung. → Strenge
Ind.-Stellung u. explizite Aufklärung über dieses Risiko!
Vorunters.: Immunstatus. JCV-Serologie (wenn neg., unter Ther. regelmäßig
wiederholen).
Monitoring: 1. u. 2. J. jährliche MRT-Kontrollen, danach alle 6 Mon.; Leberwert-
kontrollen alle 3 Mon. Ab dem 2. J. engmaschige klin. Kontrollen hinsichtlich PML.
Bildung neutralisierender AK: Insbes. in den ersten 6 Mon. (≈ 10 %). Sollte sich
ein pos. Befund in einer erneuten Bestimmung nach 6  Wo. bestätigen, Natali-
zumab absetzen (erhöhtes Risiko für Unverträglichkeitsreaktionen, unzureichen-
de Wirksamkeit).
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  401

Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) unter Natalizumab


• Risikofaktoren: Ther.-Dauer, JCV-AK-Status, immunsuppressive Vor-
behandlung. 10
• Risikostratifizierung/Inzidenzen: siehe www.tysabri.de.
• „Red flags“ für PML: Subakute kognitive Stör./Wesensveränderungen,
Hemiparese, epileptische Anfälle, homonyme Gesichtsfelddefekte.
• Bei V. a. PML: Natalizumab sofort absetzen, umgehende MRT u. ggf. Li-
quorunters. (mit JCV-PCR), ggf. auch wiederholt.

Ther. der PML: Umgehend in erfahrenes Zentrum überweisen! 1. Wahl: Plasma-


pheresen zur Entfernung des Medikaments. Behandlung IRIS („immune reconsti-
tution inflammatory syndrome“) mit Steroiden. Ggf. Mirtazapin, Mefloquin.
Mitoxantron
Anthrachinon-Derivat. Zytostatikum, das durch Interkalation antiproliferativ u.
immunsuppressiv wirkt. Seit 2002 zugelassen (Ralenova®).
Dos.: Monother. mit 12 mg/m2 KOF i. v. alle 3 Mon. bis zu einer kumulativen Ge-
samtdosis von 100 mg/m2 KOF (in Einzelfällen u. bei sehr strenger Ind.-Stellung
bis 140 mg/m2). Dosisanpassung bei Myelosuppression (s. u.).
Bei Stabilisierung der Erkr. unter der Ther. ist eine Reduzierung der Einzeldosis (z. B.
nach 1 J. Reduktion auf 5 mg/m2 KOF) u./o. Verlängerung des Intervalls möglich.
Zugelassene Ind.: Nicht rollstuhlpflichtige Pat. mit SPMS o. PRMS mit EDSS zwi-
schen ≥ 3 u. ≤ 6 mit u. ohne überlagernde Schübe bei Versagen/Unverträglichkeit
einer immunmodulierenden Vorther. u. aktivem Krankheitsstadium (2 Schübe o.
eine EDSS-Verschlechterung um ≥ 1 Punkt in 18 Mon.).
KI: Schwangerschaft/Stillzeit, Herzinsuff. mit LVEF < 50 %, schwere aktive Infek-
te. Neutropenie < 1.500/μl. Relative KI: Schwere Leber- o. Niereninsuff.
NW: Sehr häufig (≥  1/10): Myelosuppression, Thrombo-, Leukopenie, Alopezie,
Übelkeit, Durchfall, Harnwegsinfekte, Infekte der oberen Atemwege, Stomatitis,
abdominale Schmerzen, Menstruationsstör., Arrhythmien/abnormes EKG, Harn-
stoffanstieg.
Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10): Granulozytopenie, Anämie, Kopfschmerzen, Anstieg
von Leberenzymen, Bili u. Krea. Vorübergehende bläuliche Verfärbung von Skle-
ren u. Urin.
KO:
• Schwere Infekte; symptomatische Kardiomyopathie (0,2 %); akute myeloische
Leukämie.
! Explizite Aufklärung über diese Risiken.
Spez. Maßnahmen: Herzecho (TTE) mit Bestimmung der LVEF vor jeder weite-
ren Infusion. Bei Abfall um >  10 % gegenüber Vorunters. o. >  50 % gegenüber
Ausgangswert Abbruch der Behandlung!
• Auf suffiziente Kontrazeption achten (F u. M bis 6 Mon. nach Ther.-Ende)!
• M über Möglichkeit einer Samenspende aufklären!
Monitoring: BB, Leberenzyme, Krea vor jeder Infusion. BB wöchentlich in den
ersten 3 Wo. nach jeder Infusion. In Abhängigkeit davon (Nadir Leukos/Throm-
bos) ggf. Dosisanpassung notwendig (s. Fachinfo).

Symptomatische Therapie
Blasenstör:
• Blasentraining/Biofeedback, Prophylaxe von Harnwegsinfekten.
402 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

• Medikamentös: Tolterodin, Oxybutynin, Trospiumchlorid, Solifenacin, Dari-


fenacin, Fesoterodin, Propiverin.
10 • Bei rezid. Harnwegsinfekten Ansäuerung des Harns mit Methionin o. Cran-
berry-Präparaten.
Fatigue: Ausschluss anderer Urs. einer vorschnellen Ermüdbarkeit (z. B. Depres-
sion, Schilddrüsenfunktionstör., Schlafstör.).
• Leichtes körperl. Training/Tageseinteilung/„Energietagebuch“. Ggf. Küh-
lung/Kühlweste.
• Medikamentös (Off-label use): Amantadin (nach Anlage VI der Arzneimittel-
richtlinie; nicht zu Lasten der GKV verordnungsfähig), Modafinil.
Gehfähigkeit:
• Kaliumkanalblocker 4-Aminopyridin (Fampyra®)
– Dos.: 2 × 10 mg/d p. o. Behandlung zunächst für 2 Wo.; Fortsetzung, wenn
Verbesserung im „Timed 25 Foot Walk“ (T25FW; Teil des MSFC) objek-
tivierbar.
– Zugelassene Ind.: Verbesserung der Gehfähigkeit bei erwachsenen MS-
Pat. mit Gehbehinderung (EDSS 4–7).
– KI: Epilepsie, Niereninsuff., Komedikation mit OCT2-Inhibitoren (z. B.
Cimetidin).
– NW: Epileptische Anfälle, Schlaflosigkeit, Angst, Gleichgewichtsstör./
Schwindel, Parästhesien, Tremor.
Kognitive Stör.:
• Neuropsychologische Ther.
• Medikamentöse Ther.: Antidementiva (z. B. Donepezil) ohne gesicherte Wir-
kung.
• Falls noch nicht geschehen, Einleitung einer Basisther.
Paroxysmale Sympt.: Z. B. paroxysmale Dysarthrie o. Ataxie, Dyskinesien, Myo-
klonien: Carbamazepin (300–1.200 mg/d), Gabapentin/Pregabalin, Lamotrigin.
Schmerzen: Behandlung wie bei neuropathischen Schmerzen (▶  6.4); Trigemi-
nusneuralgie (▶ 5.2.1).
Sexuelle Funktionsstör.: Sildafenil, Tadalafil, Vardenafil bei erektiler Dysfunkti-
on; Tibolon 2,5 mg bei Dyspareunie. Cave: Kosten werden von der Krankenkasse
nicht übernommen.
Spastik:
• Physio-/Ergother.
• Medikamentös (▶ 14.2.2). MS-spezifisch:
• Cannabis-Extrakt (Nabiximols): Sativex® Spray
– Dos.: 2× tgl. Sprühstöße in die Mundhöhle, Eindosierung bis max.
12 Sprühstöße/d.
– Zugelassene Ind.: Erwachsene MS-Pat. mit mittelschwerer bis schwerer
Spastik, die nicht angemessen auf eine andere medikamentöäse Spas-
tikther. ansprechen.
– KI: Psychische Vorerkr. (auch in der Familie); Stillzeit.
– NW: Schwindel, Müdigkeit, eingeschränkte Fahrtauglichkeit.
• Gabapentin: V. a. bei schmerzhafter Spastik (bis zu 1.200–2.700 mg/d); zuge-
lassener Off-label use nach Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie.
• Botulinumtoxin: Option bei ausgeprägter fokaler Spastik.
Tremor:
• Physio-/Ergother.
   10.1  Multiple Sklerose (MS)  403

• Medikamentös: Topiramat, Propranolol, Primidon, Carbamazepin (meist je-


doch wenig effektiv).
• Ultima Ratio: Thalamische Tiefenhirnstimulation. 10
Krankheitsmanagement
Allg. Verhaltensmaßregeln:
• Physio- u. Ergother. so früh wie möglich, rechtzeitige Beschaffung von Hilfs-
mitteln (z. B. Gehhilfen, behindertengerechte Wohnungseinrichtung).
• Regelmäßige Lebensführung, genügend Schlaf, individuell ausreichende Ru-
hepausen.
• Konsequente Behandlung von Infekten.
• Meiden von Symptomverschlechterung durch Hitze (keine langen Sonnenbä-
der, Saunabesuche, keine heißen Wannenbäder).
• Ausgeglichene Ernährung (insbes. bei Medikamenteneinnahme).
• Vermitteln von Informationen über Krankheit u. Lebenshilfen.
Schwangerschaft:
• Kein Einfluss auf den Langzeitverlauf der MS. Meist geringere Schubfrequenz
während der Schwangerschaft, v. a. im 3. Trimenon, aber gehäufte Schübe
postpartal. Fehlbildungshäufigkeit durch MS selbst nicht erhöht.
• Bei Planung einer Schwangerschaft körperl. u. psychische Leistungsfähigkeit,
Erkr.-Verlauf u. Frage einer Hilfe bei der späteren Betreuung des Kinds be-
rücksichtigen.
Impfungen:
• Unbedenklich: Impfungen mit Totimpfstoffen o. Toxoiden, z. B. Influenza,
Tetanus, Polio (inaktives Polio-Virus [IPV] nach Salk), Diphtherie, Typhus
(parenteraler Impfstoff), Hepatitis A u. B, Tollwut, Haemophilus influenzae,
Pneumokokken, Meningokokken u. FSME.
• Problematisch: Impfungen mit attenuierten Lebendvakzinen, z. B. Polio (ora-
les Polio-Virus [OPV] nach Sabin), Masern, Mumps, Röteln, Typhus (oral),
Cholera (oral), Gelbfieber, Tbc (BCG).
• Die Impfind. (Standardimpfungen o. Impfungen bei Risikogruppen) orientie-
ren sich an den Empfehlungen der STIKO. MS-Pat. sind nicht als spezielle
Risikogruppe definiert.
• Eine Grippe-Schutzimpfung kann v. a. vor Einleitung einer immunsuppressi-
ven Ther. o. bei infektassoziierten Schüben befürwortet werden.
• Bei Impfungen unter immunmodulatorischer/-suppressiver Ther. ist, wenn
möglich, eine Kontrolle des Impferfolgs (Titer) zu empfehlen.
Krankheitsbewältigung u. soziale Aspekte:
• Umfangreiche Unterstützung in der Krankheitsbewältigung durch ärztliche
Gesprächsangebote, ggf. auch supportive Psychother. u. Hinweis auf Selbst-
hilfegruppen: Auskunft bei Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG)
Bundesverband e. V., Hannover, www.dmsg.de.
• Arbeits- u. Leistungsfähigkeit: Je nach Krankheitsverlauf Vollzeit-, Teilzeittä-
tigkeit u./o. Umschulung möglich. Ziel ist, die Arbeitsfähigkeit möglichst lan-
ge zu gewährleisten.
• Bei Partnerkonflikt: Ausführliche Ehe- u. Familienberatung.
• Schaffung adäquater Wohnverhältnisse, ggf. Pflegeeinrichtungen.
404 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

10.2 Andere demyelinisierende Erkrankungen


Seltene Erkr. mit der MS ähnlichen Sympt., häufig jedoch schwerer. Die DD zur
10 MS ist häufig nur im zeitlichen Verlauf möglich.

10.2.1 Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)


ICD-10 G36.8; nach Impfung G04.0, postinfektiös G04.8.

Definition
• Meist monophasische, akut demyelinisierende Enzephalomyelitis; zu > 70 % Auf-
treten nach Infekten (überwiegend viral; u. a. Masern, Röteln, Mumps, Herpes-
Gruppe) o. Impfung (u. a. Masern, Mumps, Pertussis, Rabies, Tetanus, Hepatitis).
• Maximalvariante: Akute hämorrhagische Leukenzephalitis (AHLE).
• Immunpathogenetisch werden Mechanismen einer „molekularen Mimikry“, ei-
ner direkten Neurotoxizität u. einer parainfektiösen Autoimmunität diskutiert.
• Kinder > Erw.; F : M = 1 : 1.
Klinik
• Perakuter Beginn häufig mit Bewusstseinstrübung, Kopfschmerz u. Fieber
(v. a. bei kindl. ADEM).
• Keine pathognomonischen Sympt., häufig jedoch multifokal: Enzephalopa-
thie, Ataxie, motorische Sympt. (Hemiparese o. -plegie), Hirnstammsympt.,
Myoklonien, Choreoathetose, Blasen- u. Mastdarmstör. Sensible Defizite v. a.
bei der ADEM des Erw.-Alters.
• Rezidiv bei bis zu ⅓ der Pat. (multiphasischer Verlauf).
! Abzugrenzen von einem Wiederaufflammen der Erkr. (innerhalb von
3 Mon.) nach Reduktion der antiinflammatorischen Ther.

Diagnostik
Liquor: Schrankenstör. u. lymphomonozytäre Pleozytose (> 50/μl); OKB in bis zu
60 % im Liquor pos. (v. a. bei ADEM des Erwachsenen), häufig jedoch nur transient!
MRT:
• Zu Beginn der Erkr. kann das MRT unauffällig sein!
• Typ.: Große, konfluierende o. multifokale, schlecht abgegrenzte T2-Läsionen,
v. a. auch in Thalamus u. Basalganglien. (Uniforme) KM-Aufnahme möglich.
• In der Verlaufs-MRT (frühestens nach 6 Mon.) Läsionen rückläufig o. unver-
ändert; neue Läsionen sprechen für MS.

Therapie und Prognose


• Hoch dosiert Glukokortikoide: I. v. (Methylprednisolon 1.000 mg über 3–5 d),
gefolgt von oralem Ausschleichschema (ggf. verlängert über 3–6 Wo.).
• Bei Ther.-Versagen: Eskalation wie bei MS. Mortalität der postinfektiösen
ADEM: 5 %. Prognostisch ungünstig: Schwere (Hirnstamm-)Sympt. u.
schwere Bewussstseinsstör. zu Beginn.
• Langzeitprogn. ansonsten gut: 50–75 % der Pat. erholen sich innerhalb von
6 Mon.
   10.2  Andere demyelinisierende Erkrankungen  405

10.2.2 Neuromyelitis optica (NMO, Devic-Syndrom)


ICD-10 G36.0.
10
Definition
AK-getriebene vaskulozentrische Entzündung der Astrozyten mit Komplement-
Aktivierung u. Nekrose mit überwiegend multiphasischem Verlauf. Pathognomo-
nischer AK richtet sich gegen Aquaporin-4 (AQP4).
• Prädilektion: N. optikus, Myelitis.
• Auch zerebrale Manifestationen möglich, zudem häufig koinzidente Kollage-
nosen u. weitere Autoimmunerkr., sodass zunehmend der Begriff „Neuromy-
elitis optica spectrum diseases“ (NMOSD) bevorzugt wird.
Epidemiologie: 1–4/100.000 (unsichere Datenlage). Klassische NMO in Deutsch-
land: F : M = 9 : 1; Erkr.-Alter: 4. Lebensdekade, Alterspanne jedoch groß (< 5 bis
> 80 Lj).
Weitere Infos zu Diagn. u. Ther.: www.nemos-net.de

Klinik
• Klassische NMO: Komb. aus Optikusneuritis (ON) u. akuter Querschnitts-
myelitis. ON u. Myelitis können gleichzeitig o. nacheinander (auch mit einem
Intervall von Jahren) auftreten.
– ON: Häufig schwer (bis zur Erblindung), häufig bilateral.
– Myelitis: Graue u. weiße Substanz betroffen, häufig thorakal; meist lang-
streckig (≥ 3 WK-Segmente; Syn. „longitudinally extensive transverse
mye­litis“ [LETM]). Sympt.: (Hochgradiges) motorisches Defizit, sensibler
Querschnitt, Blasen- u. Mastdarmstör. Dysästhesien, pseudoradikuläre
Schmerzen u. schmerzhafte tonische Spasmen sind häufig.
• Abortive/inkomplette Formen mit Nachweis von AQP4-AK (NMOSD): Re-
kurrierende isolierte ON („RION“), LETM.
• Seltenere Manifestationen mit Nachweis von AQP4-AK (NMOSD): Hirn-
stammläsionen (mit Schluckauf, Übelkeit), dienzephale Läsionen (mit Narko-
lepsie/Bewusstseinsstör.), raumfordernde („tumefaktive“) zerebrale Läsionen.
• Weitere Assoziationen:
– Klin.: Post. reversibles Leukenzephalopathie-Sy. (PRES).
– Serolog./klin.: Sjögren-Sy., SLE, Schilddrüsenerkr., ACh-R-AK pos. Myas-
thenia gravis.

Diagnostik
Liquor: Lymphomonozytäre Pleozytose (häufig > 50 Zellen/μl, häufig mit Nach-
weis von Plasmazellen, Neutro-, Eosinophilen) mit Schrankenstör. Typischerwei-
se keine o. nur passagere autochthone IgG-Synthese/OKB im Liquor (Nachweis
jedoch kein Ausschlusskriterium).
MRT: Nachweis der Myelitis (u./o. ON). Supraspinale Herde sind selten, können
jedoch vorkommen (s. o.).
Nachweis von Auto-AK: AQP4-Ak (IgG) in 60–90 % (je nach Sensitivität des As-
says; AQP4-spezifische zellbasierte Assays sind 1. Wahl).
406 10  Multiple Sklerose und andere demyelinisierende ZNS-Erkrankungen  

Kriterien für die Diagnose einer NMO (nach Wingerchuk 2006)


• Optikusneuritis u. Myelitis
10 • 2 der 3 folgenden Nebenkriterien:
– Spinales MRT mit langstreckiger Läsion (≥ 3 Segmente).
– Kraniales MRT nicht typ. für eine MS.
– Nachweis von AQP4-AK.
Diagn. Kriterien für NMOSD sind in Vorbereitung.

Therapie
Schubther.:
• Im akuten Schub hoch dosiert Glukokortikoide: Methylprednisolon 1.000 mg
i. v. über (3–)5 d, anschließend (ggf. prolongiertes) Ausschleichschema p. o.
Bei Ther.-Versagen: 2. Zyklus i. v. Glukokortikoide in Höchstdosis (2.000 mg
i. v. über 5 d) oder frühzeitig Plasmapherese/Immunadsorption.
Verlaufsmodifizierende Ther.:
Hohes Rezidivrisiko, daher bereits bei ersten NMO(SD)-Schub verlaufsmodifizie-
rende Ther. indiziert. Cave: Off-label use!
• 1. Wahl Azathioprin (2,5–3 mg/kg KG, v. a. bei leichteren Schüben) oder Ritu-
ximab (1.000 mg i. v. 2 × im Abstand von 14 d o. 4 × 375 mg/m2 KOF jeweils
wöchentlich als Induktionsther., gefolgt von erneuten Gaben alle 6–9 Mon.).
Alternativ: Mycophenolat-Mofetil, MTX, Mitoxantron, IvIg bei Kindern.
• Bei unzureichendem Ansprechen: Komb.-Ther. (z. B. MTX u. Rituximab; re-
gelmäßige Plasmapheresen/Immunadsorption u. Immunsuppression) o. ex-
perimentelle Medikation (Tozilizumab, Eculizumab).
• Cave: Interferon-β u. Natalizumab führen zu einer Verschlechterung der
NMO(SD). Glatirameracetat kann gegeben werden (z. B. bei DD optikospina-
le MS).
Progn.: Derzeit deutlich schlechter als bei MS; bleibende Defizite mit deutlicher
Behinderung sind häufig.
11 Anfälle
Hajo Hamer und Jürgen Klingelhöfer

11.1 Epileptische Anfälle 408 11.1.8 Psychische Veränderungen


11.1.1 Definition 408 bei Anfallspatienten 442
11.1.2 Allgemeines 408 11.1.9 Epilepsie in Alltag und
11.1.3 Diagnostik 409 ­Medizin 443
11.1.4 Klassifikation 411 11.2 Abgrenzung zu nicht­
11.1.5 Therapie 421 epileptischen Anfällen 444
11.1.6 Beratung – Lebensfüh- 11.2.1 Neurogene Synkope 444
rung 438 11.2.2 Dissoziative/psychogene
11.1.7 Status epilepticus und ­Anfälle 445
­Anfallsserie 438
408 11 Anfälle 

Narkolepsie ▶ 25.8.1.

11.1 Epileptische Anfälle
11.1.1 Definition
Epileptische Anfälle sind vorübergehende, plötzliche Dysfunktionen des ZNS, de-
11 ren Phänomenologie auf abnormen neuronalen Entladungen der Hirnrinde ba-
siert. Es kommt zu hochsynchronen u. hochfrequenten path., zeitlich begrenzten
Entladungsfolgen topologisch variabler u. unterschiedlich großer Gruppen von
Nervenzellen. Die Phänomenologie reicht von nur wenige Sekunden dauernden
Absencen über Zuckungen einer Extremität bis hin zu komplexeren Bewegungs-
u. Bewusstseinsphänomenen u. zu tonisch-klonischen Anfällen.

11.1.2 Allgemeines
Epidemiologie:
• P  rävalenz: Gelegenheitsanfälle bei 5 %, Epilepsie bei 0,5–0,9 % der Bevölke-
rung. Neuerkrankungsrate: 45/100.000 Menschen/J.; ⅓ der Epilepsien tritt
erstmals jenseits des 60. Lj auf (mit zunehmendem Lebensalter steigend). ⅓
beginnt im Kindesalter mit absteigender Wahrscheinlichkeit bis zum 18. Lj.
• L  ebenszeitrisiko an Epilepsie zu erkranken > 3 %, Mortalität um das 2–3-Fa-
che erhöht.
Pathophysiologie: Erhöhte Neigung zu exzessive Spontanentladungen u. a. durch
Stör. der Ionenkonzentrationen, der spezifischen Zellmembranfunktionen, Un-
gleichgewichte exzitatorisch u. inhibitorisch wirkender Aminosäuren o. Trans-
mittersubstanzen. Ausbreitung der path. Entladungen aufgrund mangelnder inhi-
bitorischer Nervenzellfunktionen. Die normalerweise asynchron arbeitenden
Neurone entladen synchronisiert.
Ätiol.:
• E  pilepsien haben eine Vielzahl von Urs., von genetischen Dispositionen (z. B.
Ionenkanal- o. Transmitterrezeptormutation) über verschiedene Stoffwech-
seldefekte, angeborene u. perinatal erworbene Hirnfehlbildungen/-schäden,
über Entzündungs- u. Traumafolgen bis hin zu Hirntumoren, vask. Läsionen,
tuberöser Sklerose etc.
• I  diopathisch (bisherige Klassifikation) – genetisch (neue Klassifikation):
≈40 %, z. B. Absence-Epilepsie, juvenile myoklonische Epilepsie, Aufwach-
Grand-Mal, Rolando-Epilepsie, Landau-Kleffner-Sy.
• S  ymptomatisch (bisherige Klassifikation) – strukturell/metab. (neue Klas-
sifikation): z. B.:
– Perinatale Schäden (West-Sy.).
– SHT (▶ 22.1).
– Hirntumoren (inkl. Fehlbildungstumore ▶ 13.6).
– Vask. Urs.
– Enzephalitiden (z. B. Rasmussen-Enzephalitis).
– Kortikale Entwicklungsstör. (Dysplasie).
• K  ryptogen (bisherige Klassifikation) – unbekannte Urs. (neue
K
­ lassifikation).
  11.1 Epileptische Anfälle  409

Gelegenheitsanfälle
Anfälle, die ausschließlich auf einen Auslöser zu beziehen sind, sodass bereits
die Vermeidung des Triggers Anfallsfreiheit garantiert. Trigger: Schlafentzug,
Flickerlichtstimulation (z. B. Durchfahren einer Baumreihe bei tief stehender
Sonne), Medikamenten-NW, Alkoholexzess o. -entzug, Drogen, Fieberkrämpfe
etc.

11
11.1.3 Diagnostik
Akutmaßnahmen: Klin.-neurol. Unters., Labor: s. u.; CCT zum Ausschluss akuter
Pathologika, spätestens im Verlauf MRT
Klin.-neurol. u. psychiatrische Unters. (▶ 1.1, ▶ 1.2): Auslöser, Anfallssemiologie
(inkl. Aura), Zungenbiss? Einnässen? Stuhlabgang? Forellenphänomen (petechia-
le Blutungen periokulär)? Auslösefaktoren? Reorientierungsphase? Fieber? Bei
Schwangerschaft: Eklampsie, Körperasymmetrie (frühkindl. Hirnschaden)? Ptose
(mitochondriale Erkr.)? Veränderungen des Augenhintergrunds (Stoffwechsel­
erkr.)? Neurokutane Veränderungen?
Labor:
• Immer BZ (noch im RTW), BB, Entzündungswerte, CK, Transaminasen,
Krea, E'lyte, evtl. Prolaktin.
• Ggf. Drogen- u. Medikamentenscreening bzw. Asservierung von Blut u. Urin.
• Bei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen CK ↑, ggf. Prolaktin ↑
(≈80 % > 700–1.000 μU/ml, Maximalwert nach 20–30 Min.).
• Bei V. a. Enzephalitis: LP (möglichst nach Bildgebung zum Ausschluss ICP-
Erhöhung).
EEG (▶ 2.2):
• Mit Provokation durch Hyperventilation, ggf. Flackerlicht, Schlafentzug.
• Im anfallsfreien Intervall oft unauffällig.
• Nach 1. Anfall erstes EEG in der Mehrheit ohne epilepsietypische Potenziale
(▶ Tab. 11.1).

Tab. 11.1  EEG bei Epilepsie (Auswahl; ▶ Abb. 11.1, ▶ Abb. 11.2)
Typ Iktales EEG Interiktales EEG

Generalisierte Epilepsie

Epilepsie mit • Oft vor dem Anfall generalisier- • Generalisierte SWK


generalisierten te Spike-Wave-Komplexe (SWK)
tonisch-kloni- gefolgt von generalisierter
schen Anfällen schneller rhythmischer Aktivität
• Während der tonischen Phase
Muskelartefakte, die EEG-Aus-
wertung erschweren, in der klo-
nischen Phase rhythmische Poly-
spike-Wave-Komplexe
• Nach dem Anfall häufig „postik-
tale generalisierte EEG-Suppres-
sion (PGES)“ danach generali-
sierte Verlangsamungen

Absencen Reguläre bilateral synchrone gene- Reguläre bilateral synchrone


ralisierte SWK um 3/s generalisierte SWK um 3/s
410 11 Anfälle 

Tab. 11.1  EEG bei Epilepsie (Auswahl; ▶ Abb. 11.1, ▶ Abb. 11.2) (Forts.)
Typ Iktales EEG Interiktales EEG

Generalisierte Epilepsie

Juvenile myo- Generalisierter myoklonischer An- Generalisierte Polyspike-


klonische fall: generalisierte Polyspike-Kom- Wave-Komplexe; generali-
­Epilepsie plexe o. Polyspike-Wave-Komplexe sierte 4–6-Hz-SWK;
Generalisierter tonisch-klonischer In ca. 30 %: Fotosensibilität
11 Anfall: s. o.

West-Sy. BNS-Anfälle: Hochamplitudige In 60–70 % Hypsarrhythmie


Slow Waves, Sharp Waves, Spike (Mischung aus Spitzen-,
Slow Waves gefolgt von generali- ­Theta- u. Delta-Wellen) mit
sierter Abflachung raschem Wechsel von hoch-
amplitudigen (> 200 μV) u.
langsamen Wellen (1–7/s),
Einlagerung von Sharp
Waves, Spikes

Lennox- Iktale Veränderungen variieren je Verlangsamungen (generali-


Gastaut-Sy. nach Anfallsform; z. B. bei toni- siert u./o. fokal), im Wachzu-
schen Anfällen: Entweder genera- stand 2–2,5/s. Slow-Spike-
lisierte Abflachung u./o. niedrig Wave-Komplexe, generali-
gespannte schnelle Aktivität siert. Unter Umständen gene-
ralisierte Polyspikes

Fokale Epilepsie
Epilepsie mit In Mehrheit d. F. kein Anfallsmus-
einfach fokalen ter im Kopfhaut-EEG ableitbar
Anfällen
Epilepsie mit • Rhythmisches Muster mit Evolu-
komplex foka- tion in Frequenz, Amplitude u.
len Anfällen Ausbreitung
• Häufig abrupter Beginn u. Ende
• Selten: rhythmische Spikes o.
Sharp Waves
• Ableitung mit zusätzlichen tem-
poralen Elektroden (FT9/FT10,
F11/12) erhöht Sensitivität v. a.
bei Temporallappenepilepsie
Benigne Partial­ Wie bei „fokaler Epilepsie“ Uni- o. bilaterale zentrotem-
epilepsie porale, bes. bei Kleinkindern
auch okzipitale träge Sharp
Waves mit kleiner Slow
Wave; zentrotemporale Ver-
langsamung; starke Zunahme
Sharp Waves im Schlaf
  11.1 Epileptische Anfälle  411

Kanal 1 Fp2 A2

2 Fp1 A1
C4 A2
Fp1 Fp2 3
4 C3 A1
F7 F3 Fz F4 F8
5 P4 A2
T3 C3 Cz C4 T4 P3 A1
A1 A2 6
T5 P3 Pz P4 T6 7 O2 A2

O1 O2
8 O1 A1 11
9 Fp2 T4

10 T4 O2

11 Fp1 T3

12 T3 O1

Abb. 11.1  EEG während eines Grand-Mal-Anfalls [L106]

Fp2 A2
Kanal 1 Fp1
2 F4 A2

3 C4 A2

4 P4 A2

5 O2 A2

6 Fp1 A1

7 F3 A1

8 C3 A1

9 P3 A1

10 O1 A1

11 F8 A2

12 F7 A1

Abb. 11.2  EEG während einer Absence mit 3/s-Spike-Wave-Komplexen [L106]

• Langzeit-EEG: Höhere Wahrscheinlichkeit der Anfallsdokumentation, besse-


re Erfassung nächtlicher Ereignisse.
Bildgebung: MRT:
! Jeder Anfallspat. mind. einmal.
• Möglichst 3 Tesla-MRT.
• Bei Erstanfall ggf. CCT, um Akutpathologika schnell auszuschließen.
• Bessere Darstellung der Temporallappenregion mittels Kippung der korona-
ren Schichten senkrecht auf Hippokampus.
• Dünne Schichtdicke.
DD:
Zu den wichtigsten DD zu einem epileptischen Ereignis ▶ Tab. 11.2.

11.1.4 Klassifikation
Trotz verschiedener neuer Ansätze zur Klassifikation von Anfällen u. Epilepsien
hat sich aus therapiepragmatischen Gründen die Klassifikation der Internatio-
nalen Liga gegen Epilepsie von 1981 u. 1989 bewährt. Hierbei wird prinzipiell
zwischen lokalisationsbezogenen u. generalisierten Epilepsien u. Sy. unterschie-
den.
412 11 Anfälle 

Tab. 11.2  Wichtige iktuale Phänomene zur DD anfallsartiger Störungen


Störung Charakteristika

Epileptischer Anfall • Augen offen, starr, leer o. verdreht


• Dauer < 2 Min.
• Höchst unterschiedliche Anfallsphänomene (oft konstant
von Anfall zu Anfall)
• Reorientierung postiktual variabel – oft verlangsamt
11 • Bei tonisch-klonischen Anfällen Muskelkater am Folgetag
Psychogener nicht­ • Augen oft geschlossen („wie schlafend“, u. U. zugekniffen)
epileptischer Anfall • Dauer oft > 2 Min.
• Variable Anfallsphänomene von Anfall zu Anfall
• Häufig atonisch
• Variable Gedächtnislücke für das Ereignis
(Konvulsive) • Augen oft offen, nach oben verdreht
­Synkope • Asynchrone Myoklonien u. variable Abläufe
• Oft: Armbeugung, Beinstreckung, rasche Reorientierung
(< 1 Min.)

REM-Schlaf-Verhal- • Augen geschlossen


tensstör. • In der zweiten Nachthälfte
• Oft jede Nacht
• Unruhe, periodisch, mit komplexen Handlungen u. Bewe-
gungen, oft wiederholt („an- u. abschwellende“ Phänome-
nologie)
• Nach dem Wecken (unmittelbar) Traumerinnerung mit
­aggressiven Inhalten

Eine Kommission der Internationen Liga gegen Epilepsie hat einen überarbei-
teten Vorschlag zur Terminologie von Anfällen u. Epilepsien erarbeitet
(▶ Tab. 11.3): Bei dieser überarbeiteten Klassifikation wird eine Einteilung auf
der Ebene der Urs. in genetisch/strukturell/metab. u. unbekannt vorgenom-
men.

Klassifikation von epileptischen Anfällen (▶ Tab. 11.3, ▶ Abb. 11.3)


• Lokalisationsbezogene (fokale, partielle) Anfälle entstehen in definierten
Regionen des Gehirns. Gehen sie mit Bewusstseinsstör. einher, werden sie als
komplex-fokale, komplex-partielle, dialeptische o. dyskognitive Anfälle be-
zeichnet.
• Sek. generalisierte (fokal eingeleitete) Anfälle entstehen durch die Ausbrei-
tung fokal eingeleiteter Anfälle.
• Prim. generalisierte Anfälle erfassen von Anfang an die Hirnrinde beider
Großhirnhemisphären. Typ. Absencen sind wie viele myoklonische o.
­tonisch-klonische Anfälle prim. generalisiert.
  11.1 Epileptische Anfälle  413

Tab. 11.3  Klassifikation von epileptischen Anfällen


Bisherige Klassifikation Neue Klassifikation

Generalisierte Anfälle Generalisierte Anfälle

Tonisch-klonisch (Grand Mal) Tonisch-klonisch

Absencen Absencen
• Typisch
• Atypisch 11
• Abscencen mit Lidmyoklonien
• Myoklonische Absence
Myoklonisch Myoklonisch
• Myoklonisch-atonisch
• Myoklonisch-tonisch
Tonisch Tonisch

Klonisch Klonisch

Atonisch (astatisch) Atonisch

Lokalisationsbezogene (foka- Fokale Anfälle


le, partielle) Anfälle

Beschreibungsmerkmale fokaler Anfälle in Abhän-


gigkeit von der Symptomatologie:

Einfach-fokal (einfach-parti- Ohne Einschränkung des Bewusstseins o. der Auf-


ell) merksamkeit

• Fokal-motorisch • Mit beobachtbaren motorischen o. autonomen


Komponenten

• Aura • Mit nur subjektiven sensiblen/sensorischen o. psy-


chischen Phänomenen

• Automatismen
Komplex-fokal (komplex-par- Mit Einschränkung des Bewusstseins o. der Auf-
tiell), psychomotorisch merksamkeit: dyskognitiv/dialeptisch

• Sek.-generalisiert Mit Entwicklung zu einem generalisierten konvulsi-


ven Anfall (mit tonischen, klonischen o. tonisch-klo-
nischen Elementen)

Nicht klassifizierbar Unbekannt

Epileptische Spasmen
414 11 Anfälle 

Absence Myoklonien klonisch tonisch tonisch-klonisch atonisch

generalisiert

11 nicht klassifizierbar epileptische Anfälle Status epilepticus

fokal

einfach komplex sekundär generalisiert


tonisch-klonisch

moto- senso- auto- psy- einfach Bewusst- einfach komplex


rische rische nome chische fokaler seins- fokal in fokal in
Symp- oder Symp- Symp- Beginn, störung tonisch- tonisch-
tome sensible tome tome dann zu klonisch klonisch
Symp- Bewusst- Beginn über- über-
tome seins- gehend gehend
störung

Abb. 11.3  Internationale Klassifikation epileptischer Anfälle [L106]

Akute symptomatische Anfälle


Akute symptomatische Anfälle sind Anfälle, die auf eine akute Urs. im ZNS zu-
rückzuführen sind. Die Urs. sind vielfältig wie Entzündungen, SHT, Schlaganfälle,
metab. Entgleisungen, postop. Zustände etc.
Generalisierter tonisch-klonischer Anfall (ICD-10 G40.3)
Syn.: Grand-Mal-Anfall (entweder sek. o. prim. generalisiert). Bis zu 33 % aller
Anfälle.
Klinik:
• Tonische Phase:
– Variable Ausprägung.
– Dauer 10–30  s.
– Tonischer Schrei („Initialschrei“), Hinstürzen, Verkrampfung der Ge-
sichtsmuskulatur (z. T. geöffnete Augen u. Mund, Bulbusdeviation),
Rumpf- u. Nackenbeugung.
– Elevation, Adduktion u. Beugung der Arme u. Beine, schließlich Senkung
der Arme, Streckung der Arme u. Beine, ruckartiges Schließen des Munds
(Zungenbiss!).
– Bewusstseinsverlust.
– Vegetative Sympt. während der tonischen Phase: RR-Anstieg, Tachykar-
die, Mydriasis, fehlende Lichtreaktionen der Pupillen, Apnoe, Zyanose,
vermehrtes Schwitzen, Bronchialsekretion.
– Evtl. pos. Babinski-Zeichen.
• Klonische Phase:
– Dauer 30–50  s.
– Rhythmische Zuckungen des ganzen Körpers (periodischer Tonusverlust
mit intermittierenden tonischen Beugekontraktionen).
  11.1 Epileptische Anfälle  415

– Während klonischer Zuckungen forcierte Ausatmung mit Austritt von


schaumigem (bei Zungenbiss auch blutigem) Speichel, in Minderheit Ein-
nässen.
• Postiktale Phase:
– Schnelle Atmung.
– Langsame Abnahme der vegetativen Sympt., allmähliches Erwachen aus
der Bewusstlosigkeit, u. U. mit Muskelkater, Kopfschmerzen. Ggf. Desori-
entierung o. fester Schlaf bis zu mehreren Stunden („Terminalschlaf“).
– Typischerweise Amnesie für Dauer des Krampfanfalls. 11
– Selten persistieren postiktal neurol. Ausfallerscheinungen; sie können
Hinweis auf Ursprungsort des Anfalls geben (z. B. Todd-Parese).
KO:
• Verletzungen durch Sturz (SHT).
• Wirbelfrakturen v. a. im thorakolumbalen Übergang bei älteren Pat. (Osteo-
porose!) durch Muskelverkrampfung in der tonischen Phase.
• Pneumonie durch Aspiration von Speichel o. Erbrochenem während des An-
falls.
• Serie von generalisierten tonisch-klonischen Anfällen u. Status epilepticus
(▶ 11.1.7).
• SUDEP.
Einfach fokale Anfälle (d. h. mit erhaltenem Bewusstsein)
• Einfach motorische Anfälle:
– Lokal umschriebene motorische Entäußerungen einer Extremität o. des
Rumpfs (tonisch o. klonisch) ohne Bewusstseinsverlust.
– Häufig Beginn in einer Muskelgruppe mit Ausbreitung auf andere Kör-
perregionen („march of convulsion“) entsprechend der Repräsentation im
motorischen Kortex der kontralateralen Hemisphäre (Jackson-Anfälle).
• Auren (subjektive Sympt., die nicht von außen objektiviert werden kön-
nen):
– Sensible Aura: fokale Dys-, Parästhesien (March ebenfalls möglich).
– Epigastrische Aura: Aufsteigendes Unwohlsein/Übelkeit.
– Psychische Aura.: Déja-vu-, Jamais-vu-Erlebnisse, Angst, etc.
– Vertiginöse Aura: Dreh- o. Schwankschwindel (selten).
– Visuelle Aura: Häufig wandernde/sich ausbreitende bunte Sensationen.
– Akustische Aura: Brummen, Klingeln, Pfeifen.
– Olfaktorische o. gustatorische Aura: I. d. R. unangenehmer Geruch/Ge-
schmack.
– U. v. m.
• Einfach fokaler Status epilepticus: Aneinanderreihung einfacher fokaler An-
fälle ohne Bewusstseinstrübung, z. B. als:
– Jackson-Status: Kurz aufeinander folgende Jackson-Anfälle mit unvoll-
ständiger Erholung interiktal.
– Epilepsia partialis continua Kozevnikov: Manifestation bei Kindern u.
Erw.
Ätiol.: Läsion in Rolandi-Region, Klinik: Tage bis Mon. anhaltende, fokal
motorische Anfälle, z. T. mit Jackson-March.
– Aurenstatus.
DD:
• Migräneattacken (▶ 5.1.4): An Aura über mehrere Min. anschließender Kopf-
schmerz, Familienanamnese, im EEG u. U. fokale Verlangsamung o. Dys-
rhythmie.
416 11 Anfälle 

• TIA (▶ 7.2.4): Gefäßrisikofaktoren, schlaffe Lähmung, im EEG oft fokale Ver-


langsamung o. Dysrhythmie.
• Spasmus hemifacialis: Keine EEG-Veränderungen. EMG: Synchrone Entla-
dungen, peripher-neurogene Schädigung des N. facialis.
• Tinnitus (▶ 3.4): Kein EEG-Korrelat.
• Meniére-Krankheit: Längerer Schwindel; HNO-Konsil.
• Paroxysmale Choreoathetose (paroxysmale kinesiogene Dyskinesie, paroxys-
nichtkinesiogene Dyskinesie, ▶ 15.3.4): u. U. pos. Familienanamnese.
11 • male
Benigne Einschlafmyoklonien, Dys- u. Parasomnien (▶ 25).
• Synkopen (▶ 11.2.1).
• Dissoziative Anfälle (▶ 11.2.2).
Komplex fokale, dialeptische, dyskognitive Anfälle (d. h. mit gestörtem
Bewusstsein)
Bewusstseinsstörung mit o. ohne oromandibuläre o. manuelle Automatismen (re-
petitives Schmatzen/Schlucken, Nesteln; häufig bei Temporallappenepilepsien) o.
auch bilateral asymmetrisch tonische Anfälle mit Bewusstseinsverlust (häufig bei
Frontallappenepilepsie).
DD:
• Absence (▶ 11.1.4): Im EEG typisches 3/s-Spike-Wave-Muster, Anfallsdauer
kürzer mit 5–15 s.
• Transiente globale Amnesie (▶ 3.15.3): danach repetitives Fragen; Aus-
schlussdiagnose.
• Dissoziative Anfälle (▶ 11.2.2): Langzeit-EEG u. simultane Videoaufzeich-
nung zur Abklärung.
KO: Nonkonvulsiver Status epilepticus mit kontinuierlicher Bewusstseinsverän-
derung.
Progn.: Abhängig von Ätiol., schlecht z. B. bei Dysplasie o. Hippokampussklerose.
Falls refraktär (Versagen von 2 Antikonvulsiva) Operabilität klären.

Klassifikation von Epilepsien und Epilepsiesyndromen


• Generalisierte Epilepsien o. Epilepsiesy. finden sich als symptomatische o.
kryptogene Formen des West- und des Lennox-Gastaut-Sy. Bei den idiopa-
thischen generalisierten Epilepsien finden sich u. a. die Absence-, die juvenile
myoklonische sowie die Aufwach-Grand-Mal-Epilepsie.
• Idiopathische fokale Epilepsien o. Epilepsiesy.: Hier sind die idiopathischen
Formen streng altersgebunden u. gehören überwiegend in den Bereich der
benignen Partialepilepsien (z. B. Rolando-Epilepsie).
• Symptomatische o. kryptogene fokale Epilepsien können im Temporal-,
Frontal-, Parietal- o. Okzipitallappen entstehen.
Idiopathische generalisierte Epilepsie (ICD-10 G40.3)
Altersabhängige Manifestation der verschiedenen Sy.
Kindliche Absencen-Epilepsie (ICD-10 G40.3)
• Manifestation i. d. R. 6.–10. Lj.
• Genetischer Hintergrund.
• Bis zu 100 Absencen tgl., Dauer 5–15 s; starrer, abwesender Blick, Bewusst-
seinsstör., Lidmyoklonien möglich, kein Sturz, Amnesie.
• Generalisierte tonisch-klonische Anfälle möglich.
• Interiktal unauffällig.
  11.1 Epileptische Anfälle  417

KO: Absencestatus als prolongierte Absence o. Aufeinanderfolgen mehrerer Ab-


sencen mit psychomotorischer Verlangsamung, evtl. auch Dämmerzustand.
Progn.: in großer Mehrheit Anfallsfreiheit unter Ther.; 70–80 % Ausheilen.
Juvenile myoklonische Epilepsie (ICD-10 G40.3)
• Manifestationsalter i. d. R. 12–14 J.
• Myklonische Anfälle v. a. nach dem Aufwachen; einzeln o. kurze Serie von
unrhythmischen kurzen Kontraktionen verschiedener Muskelgruppen, die zu
(z. T. heftigen) abrupten Bewegungen v. a. der Schultern u. Arme (Beugung) 11
o. seltener der Beine (Streckung) führen.
• Bewusstsein im Anfall meist erhalten, nur bei lang andauernden Myoklonien
erscheinen die Pat. in ihrem Bewusstsein eingeengt.
• Generalisierte tonisch-klonische Anfälle häufig.
• In ca. 30 % fotosensibel.
• Provokationsfaktoren: Schlafentzug, Alkohol.
Progn.: In großer Mehrheit Anfallsfreiheit unter Ther.; Ausheilen nicht zu erwar-
ten, daher langjährige Ther., bei Mehrheit Rezidive unter Absetzen.

Hinter einer morgendliche „Nervosität“ Jugendlicher mit Umstoßen von


Kaffee kann sich eine juvenile myoklonische Epilepsie verbergen!

Aufwach-Grand-Mal-Epilepsie (ICD-10 G40.3)


• Manifestationsalter i. d. R. 10.–20. Lj.
• Genetischer Hintergrund.
• Typischerweise Anfall in den ersten 2 h nach dem Aufwachen, im Verlauf
auch zeitlich ungebunden.
Progn.:
• 80 % Anfallsfreiheit unter medikamentöser Ther.
• In 90 % Anfallsrezidive bei Absetzen o. Non-Compliance, daher Dauerther.
zu empfehlen.
Altersgebundene epileptische Syndrome und epileptische Enzephalopathien
West-Syndrom (ICD-10 G40.4)
• Manifestationsgipfel um den 3.–8. Mon.
• ⅔ symptomatisch häufig nach prä-, peri- u. postnatalen Schäden, zerebralen
Fehlbildungen (neurokutane Sy.), metab. Stör. (z. B. nicht behandelte Phenyl-
ketonurie), Infektionen, ⅓ ohne fassbare Urs., 10 % idiopathisch.
Klinik:
• Meist in Serien auftretende, generalisierte Myoklonie (Blitzkrämpfe) gefolgt
von langsamer tonischer Komponente im Sinne von Salaam-Spasmen (Kopf-
u. Oberkörperbeugung, Arme werden vor die Brust genommen).
• Zusätzlich oft geistige Retardierung (> 90 % der betroffenen Kinder).
• Oft bereits in der Neugeborenenperiode zusätzliche andere generalisierte mo-
torische Anfälle.
• Im EEG Hypsarrhythmie (s. o.).
Progn.:
• Auch bei frühzeitiger Behandlung ungünstig.
• Nur in 25 % Anfallsreduktion bzw. -freiheit unter Ther.
• 20–30 % der Kinder sterben vor dem 3. Lj.
418 11 Anfälle 

• Bei Ther.-Resistenz mit zunehmendem Lebensalter Abnahme der BNS-Anfäl-


le u. Auftreten anderer Anfallsarten, z. B. generalisierte tonisch-klonische An-
fälle, Übergang in Lennox-Gastaut-Sy.
• Unbehandelt u. bei Ther.-Resistenz häufig schwere körperl. u. geistige Ent-
wicklungshemmung; später auch Demenz.
• Günstig: Idiopathisches BNS-Sy., Dauer der Epilepsie < 10 Mon., Fehlen an-
derer Anfälle.
• Ungünstig: Beginn der Epilepsie vor dem 3. Lebensmon., schwere initiale
11 geistige Retardierung, Komb. mit anderen Anfällen u. zusätzlichen zerebralen
Schädigungen.
Epilepsie mit myoklonisch astatischen Anfällen (ICD-10 G40.4)
Manifestationsgipfel 1.–5. Lj, M > F, in 60 % mit febrilen o. afebrilen generalisier-
ten Anfällen.
Klinik: Blitzartiges Hinstürzen, bei abortiven Anfällen Kopfnicken o. kurzzeitiges
Einknicken in Knien. Überwiegend mit myoklonischen Anfällen kombiniert.
Progn.: Günstig bei Beginn > 18. Lebensmon. u. normaler Entwicklung, normaler
EEG-Grundaktivität, ungünstig bei früherem Erkr.-Beginn, prim. Retardierung,
Komb. mit generalisierten Anfällen.
Lennox-Gastaut-Syndrom (ICD-10 G40.4)
Manifestationsgipfel 2.–8. Lj; in 20 % einem BNS-Sy. nachfolgend. Meist sympto-
matisch (60 % diffuse o. multifokale Hirnschäden).
Klinik:
• Meist mehrere Anfallsformen mit (v. a. nachts auftretenden) generalisierten
tonischen Anfällen, astatischen Anfällen, atypischen Absencen u. generali-
sierten tonisch-klonischen Anfällen.
• Häufig bereits prämorbide psychomotorische Retardierung u. zerebrale Vor-
schädigung.
Progn.:
• Ungünstig.
• Nur in ∼50 % medikamentöse Anfallsreduktion, übrige Fälle therapieresis-
tent.
• Ultima Ratio: Kallosotomie.
• Insgesamt bei 80 % Chronifizierung.
• Status epilepticus häufig.
• Später oft zusätzlich fokale Anfälle.
• In 80 % kognitive Stör.
• Prognostisch ungünstig: Frühe Manifestation, hohe Anfallsfrequenz u. zere­
brale Vorschädigung.
Progressive Myoklonusepilepsie (PME; ICD-10 G40.4)
Def.: Erstmanifestation meist 6.–20. Lj. Heterogene Gruppe von Erkr., z. T. gene-
tische Defekte bekannt. Dazu gehören Unverricht-Lundborg Erkr.; Myoklonuse-
pilepsie mit „ragged red fibres“ (MERRF syndrome; ▶ 20.4.5); Lafora-Erkr.; neu-
ronale Ceroid-Lipofuszinose (▶ 15.2.9).
Klinik:
! Charakteristisch ist die Entwicklung einer progressiven myoklonischen Epi-
lepsie u. Demenz.
• Häufig vergesellschaftet mit generalisierten tonisch-klonischen Anfällen.
• Myoklonien als Erstsympt. o. im Verlauf der Erkr.
  11.1 Epileptische Anfälle  419

• Teilweise zusätzlich zerebelläre, extrapyramidale u. pyramidale Zeichen, pa-


ranoide u. depressive Sympt.
Ther.: Versuch mit VPA, Clobazam, LTG, Levetiracetam o. Zonisamid.
Fokale Epilepsie (ICD-10 G40.0, G40.1, G40.2)
Klassifikation nach Lage der epileptogenen Läsion u. Ätiol., z. B. Frontallappen­
epilepsie re aufgrund von Kavernom o. mesiale Temporallappenepilepsie li auf-
grund von einer Hippokampussklerose.
• Manifestationsalter unterschiedlich. 11
• I. d. R. symptomatisch.
• Vielgestaltige Anfallssemiologie, die dem gerade involvierten Kortexareal ent-
spricht. Propagation u. Ausbreitung möglich bis hin zum (sek.) generalisier-
ten tonisch-klonischen Anfall. Daher kann ein Anfall aus einer Abfolge von
verschiedenen Sympt. bestehen, z. B. epigastrische Aura → komplex-fokaler
Anfall mit Automatismen → versiver Anfall → generalisierter tonisch-kloni-
scher Anfall (▶ 11.1.4, Generalisierter tonisch-klonischer Anfall [ICD-10
G40.3]).
Mesiale Temporallappenepilepsie
• Häufig Hippokampussklerose, Enzephalitis.
• Klin. Bild:
– In früher Kindheit häufig Fieberkrämpfe, Latenzphase bis zum Auftreten
spontaner Anfälle.
– Häufig Entwicklung von Stör. des deklarativen Gedächtnisses u. Entwick-
lung einer Pharmakoresistenz.
• Anfallssemiologie:
– Aura (> 80 %): Epigastrisch, zephal, psychisch, gustatorisch, olfaktorisch.
– Verharren, starrer Blick, frühe orale Automatismen (Kauen, Schlucken,
Schmatzen), ipsilaterale manuelle Automatismen (Nesteln), kontralaterale
Tonisierung/Dystonie, vegetative Sympt., Bewusstseinsstör. (v. a. bei Be-
teiligung der sprachdominanten Hemisphäre), retrograde partielle o.
komplette Amnesie.
– Postiktal lange Reorientierungsphase, kognitive Beeinträchtigungen,
Aphasie bei Einbeziehung der sprachdominanten Hemisphäre.
– Dauer: 1–3 Min. Frequenz oft wöchentlich bis monatlich, keine zirkadiane
Bindung.
Neokortikale Temporallappenepilepsie
• Beginn in Abhängigkeit von der Ätiol. (früh bei Anlagestör. der Hirnrinde,
spät bei vask. o. tumoröser Urs., neurodegenerativen Erkr.).
• Anfallssemiologie:
– Aura: Auditorische Halluzinationen (Geräusche, Stimmen) o. Illusionen (Än-
derung von Lautstärke o. Entfernung), komplexe visuelle Auren (Mikropsie/
Makropsie, Metamorphopsie, szenische Halluzinationen), vertiginöse Auren.
– Spracharrest (dominante Hemisphäre), frühe kontralat. Tonisierung/Klo-
ni, meist Propagation nach mesiotemporal (s. o.).
Frontallappenepilepsie
• Anfallssemiologie:
– Häufig keine Aura, prädominante motorische Phänomene (Vokalisation,
Tonisierungen, Kloni, hyperkinetische, prox. betonte Bewegungen [hy-
permotorischer Anfall] u. motorische Automatismen bei oft erhaltenem
420 11 Anfälle 

Bewusstsein), Dauer kurz (< 1 Min.), oft zirkadiane Bindung an den


Schlaf, unmittelbare postiktale Reaktivität.
– Anfälle der prim. motorischen Rinde: Kontralaterale Kloni, postiktale
Todd-Parese.
– Dorsolaterale Anfälle: Tonische Blickwendung, Version des Blicks/Kopfs/
Körpers, kontralat. Tonisierung, Spracharrest.
– Supplementär motorische Anfälle: Asymmetrische bilaterale tonische Hal-
tungsschablone, Vokalisation bei erhaltener Wahrnehmung der Außenwelt.
11 – Zinguläre Anfälle: Komplexe, hypermotorische Automatismen, starrer
Blick, orale Automatismen, Vokalisationen, vegetative Sympt. (Mydriasis,
Tachykardie).
– Frontopolare Anfälle: Verharren, Stör. von Reaktivität u. Aufmerksamkeit
(„Pseudo-Absence“), Wendebewegungen des Kopfs u. der Augen, oft sek.
Generalisierung.
– Frontoorbitale Anfälle: Olfaktorische Halluzinationen/Illusionen, kom-
plexe motorische u. gestische Automatismen, vegetative Sympt. (Enure-
sis).
– Operkuläre Anfälle: Epigastrische o. affektive Aura, orale Automatismen,
laryngeale Sympt., Spracharrest, vegetative Sympt. (z. B. Speichelfluss).
• Cave: Verwechselungsgefahr mit psychogenen Anfällen.
Parietallappenepilepsie
Anfallssemiologie:
• Somatosensible Aura (Parästhesien – z. T. mit Jackson-March, Schmerzen der
kontralat. Extremitäten), Alien-Limb-Gefühl, visuelle Aura (komplexe Hallu-
zinationen, Metamorphopsien), vertiginöse Aura (inferiorer Parietallappen).
• Perzeptive Sprachstör., Dyslexie (bei Einbeziehung der sprachdominanten
Hemisphäre).
• Entsprechend der Ausbreitung nach frontal Übergang in kontralat. motori-
sche Phänomene etc., nach temporal Übergang in einen komplex-fokalen
Anfall mit Bewusstseinsstör. u. weiteren typ. Sympt. (s. o.).
Okzipitallappenepilepsie
Anfallssemiologie:
• Visuelle Aura:
– Elementar visuell: Farbige, sich bewegende Phosphene, Skotome/Amaurose.
– Komplex-visuell: Makropsie, Mikropsie, Metamorphopsie, Palinopsie.
• Ipsilaterale Lidkloni, tonische Blickversion/Nystagmus (nach kontralat.).
• In Abhängigkeit von der Propagation Übergang in Semiologien temporaler o.
frontaler Anfälle.
• Postiktal häufig ipsilaterale Kopfschmerzen, Übelkeit.
Benigne Partialepilepsie des Kindesalters mit zentrotemporalen Sharp Waves
(Rolandi-Epilepsie; ICD-10 G40.0)
Epidemiologie u. Ätiol.:
• Manifestationsalter 3.–12. Lj; 10–25 % aller Epilepsien des Kleinkind- u.
Schulalters, M > F!
• Idiopathisch, starke familiäre Disposition (30–40 %).
Klinik:
• Führende Sympt. sind v. a. aus dem Schlaf auftretende klonische Anfälle von
Gesicht u. Arm, Übergang in generalisierte tonisch-klonische Anfälle mög-
lich.
  11.1 Epileptische Anfälle  421

• Keine neurol. Defizite, geistige Entwicklung i. d. R. normal, z. T. Teilleistungs-


stör.
Ther.: Gute Wirksamkeit von Sultiam; Alternative Carbamazepin (CBZ).
Progn.: Sehr gut. Spontanes Sistieren bis zur Pubertät.
Benigne Epilepsie des Kindesalters mit okzipitalen Sharp Waves
(Panayiotopoulos-Syndrom; ICD-10 G40.0)
Epidemiologie: Manifestationsalter 3–8. Lj, ca. 10–25 % aller Epilepsien des
Kleinkind- u. Schulalters. 11
Klinik:
• Führend sind autonome (Erbrechen, Schwitzen) u. motorische Sympt. im
Anfall, z. T. als komplexe Anfälle mit Bewusstseinsstör. u. postiktal Kopf-
schmerzen.
• EEG: Okzipital paroxysmal auftretende Spike Waves, blockierbar durch Au-
genöffnen.
Ther.: Gute Wirksamkeit von Sultiam; Alternative Oxcarbazepin.
Progn.: Sehr gut. Häufig spontanes Sistieren.

11.1.5 Therapie
Allgemeinmaßnahmen

Keinen Zungenkeil einführen, da Zungenbiss i. d. R. zu Beginn des Anfalls


erfolgt u. durch die tonische Verkrampfung der Kiefermuskulatur die ge-
waltsame Öffnung des Munds zur Verletzung von Zähnen u. Gaumen führen
kann.

Beim einzelnen Anfall Allgemeinmaßnahmen ausreichend, bei einer Anfallsserie


o. Status zusätzliche medikamentöse Ther. erforderlich.

Sinnlos bzw. obsolet bei unkomplizierten Grand Mal sind Bisskeile, Intuba-
tion, Relaxation, Beatmung o. Festhalten des Pat. sowie medikamentöse Be-
handlung zur Unterbrechung des Anfalls.

Vorgehen:
• Pat. vor Selbstgefährdung schützen (z. B. weiche Kopfunterlage, gefährliche
Gegenstände entfernen).
• Kravatten u. enge Kragen, die die Atmung behindern, entfernen bzw. öffnen.
• Stabile Seitenlage, falls möglich, spätestens nach Abklingen der motorischen
Entäußerungen.
• Ggf. intravenösen Zugang legen.
• Atemwege frei halten, bis Pat. in Ruhe das Bewusstsein vollständig wiederer-
langt hat.
• Fremdanamnese: Epilepsie, Trauma, Fieber, Alkohol, Medikamente, Drogen.
• Ind. zur stationären Einweisung (Rettungswagen anfordern):
– Über Pat. ist nichts bekannt.
– Erstmaliger Anfall.
422 11 Anfälle 

– Pat. als Anfallspat. bekannt, jetzt Änderung des Anfallstyps bzw. erstmali-
ger Anfall nach längerem anfallsfreien Intervall.
– Atemstör., die den Anfall überdauern. Abklärung u. Überwachung auf
­einer Wachstation (z. B. Intox., metab. Erkr.). Atmungs-, RR-Kontrolle,
evtl. O2-Sättigung, bei Bedarf O2.

Wird man als Notarzt zu einem Anfallspat. gerufen, gilt: Ist der Anfall des
Pat. beim Eintreffen noch nicht abgeklungen, ist von einem prolongierten
11 Anfall o. einem Status epilepticus auszugehen. Vorgehen s. u.

Medikamentöse Therapie
Ind.:
• Nach 1. Anfall mit erhöhtem Rezidivrisiko (> 50 %), z. B.
– 1. Anfall Monate nach SHT o.
– nach 1. Anfall mit epilepsietypischen Potenzialen im EEG.
• ≥ 2 epileptische Anfälle.
• Ther.-Empfehlung auch abhängig vom Wunsch des Pat. z. B. Erhalt/Wieder-
erreichen der Fahrtauglichkeit, psychosoziale Exponiertheit, ggf. bei höherem
Lebensalter (Verletzungsrisiko ↑), soziale Ind.

Keine Ther.-Ind.:
• Gelegenheitsanfälle mit eindeutiger Auslösesituation (▶ 11.1.4): Meiden
bekannter Auslöser, Regelung der Lebensführung, Berücksichtigung der
gesamten sozialen Situation, in Absprache mit dem Pat. abwarten.
• Einmaliger Spontananfall ohne Urs. u. mehrfaches Ruhe-EEG ohne epi-
lepsietypischen Potenziale.
• Nicht absolut zwingend in Absprache mit Pat.: Oligoepilepsie, d. h.
­weniger als 1 Anfall/J. mit geringer Beeinträchtigung (nur nachts, ein-
fach-fokale Anfälle).

Therapieziel
• Anfallsfreiheit (ca. 60–70 %).
• Falls Anfallsfreiheit nicht erreichbar → niedrige Anfallsfrequenz.
• Vermeidung von beeinträchtigenden NW (kognitive Beeinträchtigungen,
Gewichtszunahme, etc.).

Therapieende
Frühestens 2- bis 5-jährige Anfallsfreiheit, günstig bei: keine anfallstypischen
Potenziale im EEG, normaler neurol. Status, Anfallsfreiheit bei Erstther., Erkr.
in Jugend, 1 Anfallstyp, keine fortbestehende ZNS-Erkr., keine sek. generali-
sierten Grand-Mal-Anfälle. Cave: Je höher das Rezidivrisiko, desto zurückhal-
tender! Stufenweise Reduktion der Antiepileptika, Absetzversuch über 6–12
Mon.
Wenn die epileptogene Läsion noch vorhanden, kein Absetzen.

Vorbereitung:
• Voraussetzung: Gesicherte Diagnose.
  11.1 Epileptische Anfälle  423

• Laborkontrolle vor Behandlungsbeginn, da in Abhängigkeit vom Medikament


verschiedene NW auftreten: BB, BZ, E'lyte, Transaminasen, AP, Krea, Gerin-
nung, Amylase, Lipase, Bili, Gesamteiweiß, Triglyzeride, Chol., Urinanalyse.
Prozedere:
! Bevor ein Medikament durch ein anderes ausgetauscht wird, muss sicher
sein, dass das erste Medikament ausreichend hoch u. ausreichend lange, d. h.
bis zum Erreichen des Fließgleichgewichts, dosiert wurde.
• Monother.: Initial mit Medikament der 1. Wahl (▶ Tab. 11.4). Langsame Do-
sissteigerung bis zur Anfallsfreiheit o. nicht tolerablen NW. Wirkbeginn 11
schon bei niedriger Dosis möglich. Bei unzureichender Wirkung höhere Dos.
ggf. bis zur Nebenwirkungsgrenze.

Tab. 11.4  Wahl der Antiepileptika in Bezug auf den Anfallstyp


1. Wahl 2. Wahl 3. Wahl

Idiopathische generalisierte Anfälle

Aufwach-Grand- Lamotrigin, Phenobarbital, Brom


Mal-Epilepsie ­Valproinsäure, ­Primidon,
Levetir­acetam1 ­Topiramat

Juvenile myokloni- Levetiracetam, Lamotrigin, Zonis­


sche Epilepsie ­Valproinsäure amid1, Clobazam,
Topiramat

Absencen-Epilepsie Ethosuximid (bei Levetiracetam Topiramat, Clo-


ausschließlichen Phenobarbital, bazam
Absencen), ­Lamotrigin
­Valproinsäure

Fokale oder altersgebundene Epilepsien

Fokale Epilepsie Lamotrigin, Leve­ Topiramat, Zonis­ Eslicarbazepin,


tiracetam amid Lacosamid1, Perampanel, Clo-
Carbamazepin, Ox- bazam, Phenobar-
carbazepin, Gaba- bital, Phenytoin,
pentin, Pregabalin1 Valproinsäure

BNS-Sy. ACTH, Kortikoide, Valproinsäure, Levetiracetam,


Vigabatrin2 ­Topiramat, ­Lamotrigin, Clo-
­Clobazam bazam

Lennox-Gastaut-Sy. Valproinsäure, Levetiracetam, Phenobarbital,


Lamotrigin, Clobazam Brom, Zonisamid1,
Topiramat, Stiripentol1,
Rufinamid2 Felbamat2

Benigne fokale Sultiam Levetiracetam,


­Epilepsie des Kin- ­Carbamazepin,
desalters (Rolando- ­Oxcarbazepin
Epilepsie)

Nicht klassifizierba- Lamotrigin Valproinsäure Clobazam,


re Epilepsie Levetiracetam Topiramat ­Phenobarbital
1
 Zurzeit nur in Komb. mit anderen Antiepileptika bei fokaler Epilepsie zugelassen
2
 Zurzeit nur in Komb. mit anderen Antiepileptika zugelassen u. nur bei strenger
Ind.-Stellung.
424 11 Anfälle 

Ther.-Empfehlungen
• Initiale Dosis niedrig wählen, auch niedrige Dosen wirken häufig.
• Bei Persistenz der Anfälle schrittweise Dosissteigerung nach Wirkung u. NW,
nicht nach Serumspiegel.
• Bei erfolgloser Monother. i. d. R. sequenzielle Monother. mit 2. Medikament.
• Bei Versagen von 2 Monother. Komb.-Ther. aus 2 Medikamenten (präferen-
ziell mit unterschiedlichen Wirkmechanismen) u. Überprüfung der OP-Ind.,
wenn (V. a.) fokale Epilepsie.
11
• Keine regelmäßige Kontrolle der Medikamentenspiegel, nur bei Neuein-
stellung, wenn Anfallsfreiheit erreicht worden ist o. bei V. a. Intox., An-
fall unter Ther., Schwangerschaft, neu aufgetretenen Begleiterkr. (Leber-
u. Nierenerkr., GIT-Beschwerden mit V. a. Malabsorption). Gleichzeitig
neurol. Unters. des Pat., EEG-Kontrolle. Regelmäßige Laborkontrollen
(BB, E'lyte, Krea, Transaminasen, AP).
• Anfallspat. haben oft niedrige Compliance. Nicht einstellbare Epilepsien
können auf unzureichende Medikamenteneinnahme zurückzuführen
sein → Spiegelkontrolle! O. auch auf falsche Diagnose (DD: konvulsive
Synkope, dissoziative Anfälle; ggf. „home video“ von Angehörigen an-
fertigen lassen).
• Gabe von Generika von Anfang an möglich. Die Umstellung eines Prä-
parats auf ein anderes mit gleichem Wirkstoff kann mit Spiegelschwa-
nungen (±20–25 %) verbunden sein (höheres Anfallsrisiko in der Um-
stellungsphase!); deshalb möglichst Beibehalten eines Präparats (bei Re-
zept „aut idem“ durch auskreuzen ausschließen).

Antiepileptika

Tonische Anfälle können selten durch Benzodiazepine aktiviert werden.

Carbamazepin (CBZ; Tegretal®, Timonil®, Generika):


• KI: Asiatische Abstammung, bekannte Überempfindlichkeit, AV-Block,
­ yasthenie, Glaukom, schwere Leberfunktionsstör., hepatische Porphyrie,
M
Schwangerschaft (Verdopplung des Fehlbildungsrisikos).
• Dos.: Initial 100–200 mg, alle 3–5 d um 100–200 mg erhöhen; mittlere Dosis
400–800 mg/d; Verteilung 2× tgl. retardiert. Cave: Nicht abrupt absetzen.
• Pharmakokinetik: Blutspiegel therap. 4–12 μg/ml; tox., Zeit bis zum Fließ-
gleichgewicht 4–7 d. HWZ etwa 20 h.
• Monitoring: E'lyte, Transaminasen, BB.
• NW:
– Enzyminduktion: Interaktionen mit anderen Med. (z. B. orale Kontrazep-
tiva)!
– Müdigkeit, kognitive Beeinträchtigung (↑ im Alter), allerg. Reaktionen,
Exantheme, Hyponatriämie, Diarrhö, Übelkeit, Schwindel, Tremor, Ata-
xie, Nystagmus, Doppelbilder, Verschwommensehen, Kopfschmerz, AV-
Überleitungszeit ↑, Leukopenie, aplastische Anämie, Agranulozytose, He-
patopathie, Akne, Lymphadenopathie, Immunglobulinmangel, Lupus ery-
thematodes, PNP, Lyell-Sy., Stevens-Johnson-Sy., Osteopenie/Osteoporo-
se, Hyper- u. Dyskinesien.
  11.1 Epileptische Anfälle  425

• Intox. ▶ 3.17.
• Teratogenität (fetale Neuralrohrdefekte v. a. 1. Trimenon); insgesamt aber
eher niedrige Teratogenität in niedriger Dos.
Clobazam (CLB; Frisium®):
• KI: Bekannte Benzodiazepinabhängigkeit, andere Suchterkr., Engwinkelglau-
kom, Myasthenie, hepatische Porphyrie.
• Dos.: Initial 10 mg, alle 4 d 10 mg mehr; mittlere Dosis 10–40 mg/d (0,2–
0,5 mg/kg KG); Verteilung auf 1–2× tgl. Blutspiegelkontrollen nicht notwen-
dig, Zeit bis zum Fließgleichgewicht 3–6 d. Nicht abrupt absetzen 11
• Monitoring: Transaminasen.
• NW: Müdigkeit, Hypersalivation, Atemdepression, Exazerbation tonischer
Anfälle, Toleranz, Entzugssympt., Abhängigkeit, Muskelhypotonie, Ataxie,
Dysphorie, kognitive Beeinträchtigung.
Clonazepam (CZP; Rivotril®):
• NW und KI wie Clobazam.
• Ind.: Wird vornehmlich zur Statusther. eingesetzt (▶ 11.1.7).
• Dos.: Statusther. ▶ 11.1.7. In peroraler Langzeitther. 0,5–2 mg/d verteilt auf
3× tgl. Blutspiegelkontrolle nicht notwendig. Langsam ausschleichen.
Eslicarbazepin-Acetat (ESL; Zebinix®):
• Ind.: Add-on-Ther. partieller u. sek. generalisierter tonisch-klonischer Anfälle
bei Erw.
• Dos.: Eindosierung: Bei Erw. Erhöhung um 400 mg/Wo. bis zur individuell
max. verträglichen u. wirksamen Dosis. Üblicher Dosisbereich: 800–
1.200 mg/d.
• NW: Schwindel, Übelkeit/Erbrechen, Verschwommensehen/Doppelbilder,
Koordinationsstör., Erschöpfung, Kopfschmerz. In höherer Dos. Hyponatri­
ämie.
Ethosuximid (ESM; Petnidan®, Suxilep®):
• KI: Psychotische Erkr. in Anamnese, aplastische Anämie.
• Dos.: Initial 250 mg, alle 1–2 Wo. 250 mg mehr; mittlere Dosis 1.000–
1.200 mg (20 mg/kg KG)/d; Verteilung auf 1–3× tgl. Cave: Nicht abrupt abset-
zen.
• Pharmakokinetik: Zeit bis zum Fließgleichgewicht 4–10 d; HWZ 48–60 h.
• Monitoring: BB, Transaminasen.
• NW: Übelkeit, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, allerg. Exantheme, Kopfschmerz,
Singultus, Schlafstör., Leukopenie, selten aplastische Anämie, psychotische
Episoden.
Felbamat (FBM; Taloxa®):
• KI: Bluterkrankheit, allerg. Reaktionen, Leber- u. Nierenfunktionsstör.,
< 4. Lj.
• Monitoring: Beachte die Packungsbeilage!
• NW: Allerg. Reaktionen, Thrombo-, Leuko-, Panzytopenie, aplastische An­
ämie (1:4.000! In 30 % letal), Übelkeit, Anorexie, Schwindel, Erbrechen, Dop-
pelbilder, Kopfschmerzen, Gewicht ↓, Somnolenz, Depression, Sprechstör.,
Inkontinenz, Ataxie, Gangstör., Reaktionsvermögen ↓, selten akutes Leber-
versagen (in 30 % letal).
Gabapentin (GBP; Neurontin®, Generika):
• Ind.: In Komb. mit anderen Antiepileptika o. als Monother. bei fokalen Epi-
lepsien.
• KI: Pankreatitis.
• Dos.: 1. d 300 mg, 2. d 600 mg, ab 3. d 900–1.200 mg/d. Appl. in 3 ED.
426 11 Anfälle 

• Pharmakokinetik: Zeit bis zum Fließgleichgewicht 1–2 d. HWZ 5–7 h. Cave:


Bei gleichzeitiger Einnahme Mg- o. Al-haltiger Antazida sinkt die Bioverfüg-
barkeit. Bei eingeschränkter Nierenfunktion Dosisanpassung. Vorteil: Keine
Interaktionen mit anderen Antiepileptika.
• Monitoring: BZ bei Diab. mell., Leberenzyme.
• NW:
– Müdigkeit, Schwindel, Ataxie, Tremor, Nystagmus, Kopfschmerzen, Am-
blyopie, Diplopie, Dysarthrie, Denkstör., Amnesie, Koordinationsstör.,
11 Krampfanfälle, Mundtrockenheit, Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Ap-
petit ↑ o. ↓, Gewicht ↑, Rhinitis, Pharyngitis, Husten, Myalgie, Ödeme,
Impotenz, Zahnanomalien, Leukopenie, Pruritus, Pankreatitis, Vasodila-
tation, Hypertension.
– Herabsetzung des Reaktionsvermögens!
Lacosamid (LCM; Vimpat®):
• Kl: Bekannter AV-Block 2. o. 3. Grades, Überempfindlichkeit gegen den
Wirkstoff, Erdnüsse o. Soja.
• Dos.: 1. Wo. 1–2 × 50 mg/d, Steigerung um 50–100 mg/Wo. bis max.
400 mg/d (in klin. Studien auch bis 600 mg/d untersucht).
• Pharmakokinetik: Orale Bioverfügbarkeit fast 100 %, äquivalente i. v. Gabe
mögl. Plasmaproteinbindung < 15 %, 95 % Ausscheidung über die Niere,
nachrangig Metabolisierung über CYP2C19 (kein relevanter Unterschied
zwischen „extensive“ u. „poor metabolizers“). Bei schweren Nierenfunkti-
onsstör. Dosisanpassung. Zu Pat. mit schwerer Leberfunktionsstör. keine
Daten.
• Monitoring: EKG, v. a. bei Komb. mit anderen. PR-beeinflussenden Substan-
zen, z. B. CBZ.
• NW: Schwindel, Kopfschmerz, Übelkeit, Doppeltsehen, Verschwommense-
hen, Gleichgewichts- u. Koordinationsstör., kognitive Stör./Verwirrtheit, Ge-
dächtnisstör., Somnolenz, Tremor, Nystagmus, Erbrechen, Obstipation, Geh-
stör., Stürze. Dosisabhängig Verlängerung des PR-/PQ-Intervalls im EKG.
Lamotrigin (LTG; Lamictal®, Generika):
• KI: Stör. der Leber- u. Nierenfunktion; Überempfindlichkeit gegen LTG;
• Dos.:
– Monother. Erste 2 Wo. 1 × 12,5–25 mg/d p. o., weitere 1–2 Wo. 1 × 25–
50 mg/d, allmähliches Aufdosieren bis 100–200 mg/d; Verteilung auf 1–2×/d.
– Komb. mit Valproinsäure ggf. noch langsamger Aufdosieren.
• WW: HWZ-Halbierung bei Komb. mit Carbamazepin o. Phenytoin; HWZ-
Verdoppelung bei Komb. mit Valproinsäure.

Hormonelle Kontrazeptiva senken LTG-Spiegel, ggf. erhöhtes Rezidivrisiko


möglich.

• Pharmakokinetik: Zeit bis zum Fließgleichgewicht bei Monother. 5–6 d, bei


Komb. mit Carbamazepin o. Phenytoin 2–3 d, bei Komb. mit Valproinsäure
9–11 d, HWZ ≈30 h.
• Monitoring: Transaminasen, Krea, E'lyte, BB.
• NW: Exantheme (v. a. bei Komb. mit Valproinsäure), allerg. Reaktionen
(Quincke-Ödem, Stevens-Johnson-, Lyell-Sy.), Doppelbilder (v. a. bei Komb.
mit Carbamazepin), Ataxie, Nystagmus, Schwindel, Schläfrigkeit o. Schlaflo-
  11.1 Epileptische Anfälle  427

sigkeit, Kopfschmerz, Müdigkeit, GIT-Beschwerden, Reizbarkeit, Tremor


(v. a. in Verbindung mit VPA).
Levetiracetam (LEV; Keppra®, Generika):
• KI: Bekannte Überempfindlichkeit. Cave: Bei eingeschränkter Nierenfunktion.
• Dos.: Initial 500 mg/d, Steigerung alle 7 d um 500 mg/d bis max.
2 × 1.500 mg/d. Halbierung der Erhaltungsdosis bei Pat. mit eingeschränkter
Nierenfunktion (Krea-Clearance < 70 ml/Min.); i. v. Gabe möglich.
• NW: Reaktionsvermögen ↓, Asthenie, Somnolenz, Benommenheit, Kopf-
schmerz, Anorexie, Diarrhö, Dyspepsie, Nausea, Amnesie, Ataxie, Konvulsi- 11
on, Depression, emotionale Labilität, gesteigerte Aggressivität, Insomnie,
Nervosität, Tremor, Schwindel, Exantheme, Diplopie. Psychische NW bei
Pat. mit psychiatrischen Erkr.
Oxcarbazepin (OXC; Timox®, Trileptal®, Apydan extent®, Generika):
• Retardformulierung erhältlich.
• KI: Bekannte Allergie gegen Oxcarbazepin, Carbamazepin u. trizyklische An-
tidepressiva, AV-Block, KM-Depression, Leber- u. Niereninsuff., keine aussa-
gekräftigen Erfahrungen in Schwangerschaft u. Stillzeit.
• Dos.:
– Initial 150–300 mg/d, Steigerung um 300 mg alle 1–5 d. Verteilung auf 2×
tgl. bis 900–1.200 mg/d.
– Umstellung von CBZ auf OXC im Verhältnis 1 : 1 (bzw. 1,2–1,5) inner-
halb von 24 h, dann langsam OXC-Aufdosierung (Äquivalenzdosis ca.
1 : 1,2–1,5). Cave: Nicht abrupt absetzten, langsam ausschleichen.
• Pharmakokinetik: HWZ 8–20 h; kein Abbau zum Epoxid; routinemäßig kei-
ne Blutspiegelkontrollen erforderlich.
• Monitoring: BB, E'lyte, Transaminasen, AP. Evtl. Bestimmung des Metaboli-
ten Monohydroxycarbazepin (MHD).
• NW:
– Dosisabhängige Enzyminduktion.
– Hyponatriämie, insbes. bei Älteren.
– Müdigkeit, Schwindel, Benommenheit, Reaktionsvermögen ↓, mildere
kognitive Beeinträchtigung (im Alter ↑), Ataxie, Konzentrations- u.
­Gedächtnisstör., Kopfschmerz, Tremor, Schlafstör., Depression, Angst,
Sehstör., Tinnitus, Parästhesie, GIT-Beschwerden, Exanthem, Transami-
nasen ↑, AP ↑, Leukopenie, Ödeme, orthostatische Hypotension, Ge-
wicht ↑ o. ↓, Menstruationsstör., Allergie (seltener als bei CBZ, jedoch in
25 % Kreuzallergie mit CBZ).
Perampanel (PER; Fycompa®)
• Ind.: Add-on-Ther. fokaler u. sek. generalisierter tonisch-klonischer Anfälle
bei Pat. ≥ 12 J.
• Dos.: Eindosierung: 1–2-wöchentliche Steigerung um 2 mg, übliche Dosis:
4–12 mg/d, Einmalgabe zur Nacht wegen Schwindel in den Stunden nach
Medikamenteneinnahme.
• NW.: Schwindel, Müdigkeit, Gangstör., Erschöpfung.
Phenobarbital (PB; Luminal®):
• KI: Hepatische Porphyrie, Überempfindlichkeit.
• Dos.: Initial 50 mg zur Nacht; ambulant alle 14 d 50 mg mehr; stationär alle
3 d 25–50 mg mehr; mittlere Dosis 150–200 mg/d (2–3 mg/kg KG); Verteilung
auf 1–2× tgl. Cave: Nicht abrupt absetzen, sehr langsam reduzieren.
• Pharmakokinetik: Zeit bis zum Fließgleichgewicht 14–28 d, HWZ 3–5 d.
• Monitoring: Transaminasen, BB.
428 11 Anfälle 

• NW:
– Allerg. Exantheme, Sedierung, kognitive Beeinträchtigung, Schwindel,
Nystagmus, Ataxie, Dupuytren-Kontraktur, Müdigkeit, Potenzstör., me-
galoblastische Anämie, Leukopenie, schmerzhafte Schultersteife, Osteopo-
rose, Atemdepression, Depression, Wesensänderung, Fibromatose, bes.
bei Kinder: Hyperaktivität, Aggressivität (im Sinne einer paradoxen Reak-
tion).
– Enzyminduktion, dadurch verminderte Wirksamkeit oraler Kontrazepti-
11 va, beschleunigter Abbau von Phenprocoumon, Digitoxin.
• Intox. ▶ 3.17.
Phenytoin (PHT; Phenhydan®):
• KI: Bekannte Überempfindlichkeit, hepatische Porphyrie, myoklonische An-
fälle, hochgradiger AV-Block, sinuatrialer Block;
• Dos.: Initial 100 mg abends p. o., alle 3 d 50–100 mg mehr, ab 300 mg bzw.
­einem Serumspiegel > 15 μg/ml nur noch um 25 mg erhöhen (nichtlineare
Pharmakokinetik); mittlere Dosis 300 mg/d (5 mg/kg KG); Verteilung auf 2×
tgl. Cave: Nicht abrupt absetzen.
• Pharmakokinetik: Zeit bis zum Fließgleichgewicht 5–14 d, HWZ 20–40 h.
• Monitoring: Transaminasen, BB,
• NW: Allerg. Reaktionen, Tremor, Nystagmus, Ataxie, Dysarthrie, Schwindel,
Doppelbilder, Appetitmangel, Nausea, Erbrechen, Apathie, delirante Sympt.,
megaloblastische Anämie, Agranulozytose, Leukopenie, Hepatopathie, Gingi-
vahyperplasie, Hirsutismus, polyzystische Ovarien, Kleinhirnatrophie, Osteo-
porose; extrapyramidale Hyper- o. Dyskinesien, PNP, Stevens-Johnson-Sy.,
Lyell-Sy., Reizleitungs- u. Erregungsrückbildungsstör.
• Intox. ▶ 3.17.
• Enzyminduktion, dadurch verminderte Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva.
Pregabalin (PGB; Lyrica®):
• Ind.: Add-on bei fokalen Epilepsien mit epileptischen Anfällen mit u. ohne
sek. Generalisierung.
• KI: Allergie.
• Dos.: 75 mg/Wo steigern bis 300–600 mg, Verteilung auf 2× tgl.
• Pharmakokinetik: HWZ 6,3 h, Zeit bis zum Fließgleichgewicht 1–2 d. Renale
Ausscheidung. Dosisreduktion bei Niereninsuff.
• NW: Gewicht ↑, Benommenheit, Müdigkeit, periphere Ödeme, Schwindel,
Ataxie, Doppelbilder, Kopfschmerz, Tremor, Verschwommensehen, Myoklo-
nien, Euphorie, Verwirrtheit, kognitive Beeinträchtigung, Dysarthrie, Mund-
trockenheit, GI-Stör., erektile Dysfunktion.
Primidon (PRM; Liskantin®, Myelepsinum®, Resimatil®, Generikum):
• NW, KI: Wie Phenobarbital.
•  Dos.: Initial 62,5 mg abends, jede Wo. 62,5–250 mg mehr; mittlere Dosis
750 mg (10–15 mg/kg KG); Verteilung auf 2× tgl.; wird im Körper bis zu 70 %
zu Phenobarbital verstoffwechselt. Cave: Nicht abrupt absetzen, sehr langsam
reduzieren.
• NW: Siehe Phenobarbital.
• Pharmakokinetik: Zeit bis zum Fließgleichgewicht 1–2 d (Primidon), 14–21 d
(Phenobarbital).
Rufinamid (RUF; Inovelon®):
• KI: Überempfindlichkeit gegen Triazolderiate.
• Dos.: In Komb. mit anderen Antiepileptika, Verteilung auf 2× tgl.
  11.1 Epileptische Anfälle  429

– Ab 4. Lj < 30 kg: Ohne VPA 200 mg/d, abhängig von Klinik u. Verträglich-
keit alle 2 d um 200 mg steigern bis max. 1.000 mg/d. In Komb. mit VPA:
200 mg/d, abhängig von Klinik u. Verträglichkeit nach frühestens 2 d um
200 mg steigern. Maximaldosis 600 mg.
– Ew. u. Kinder > 30 kg: Beginn 400 mg/d, Steigerung um 400 mg alle 2 d bis
Maximaldosis 1.800 mg (30–50 kg), 2.400 mg (50,1–70 kg), 3.200 mg (> 70 kg).
• NW: Schwindel, Müdigkeit, Kopfschmerz, Übelkeit, Erbrechen, Nasopharyn-
gitis, Sinusitis, Rhinitis, Ohrinfekte, Anorexie, Essstör., Appetit ↓, KG ↓,
Angst, Schlaflosigkeit, Anfall, Status epilepticus, Koordinationsstör., Nystag- 11
mus, psychomotorische Hyperaktivität, Tremor, Diplopie, Diarrhö, Aus-
schlag, Akne, Rückenschmerz, Oligomenorrhö, Gangstör., allerg. Reaktionen,
Leberenzyme ↑.
Stiripentol (STP; Diacomit®):
• Ind.: Add-on-Ther. bei Dravet-Sy.
• Dos. übliche Dosis: Kinder 50 mg/kg KG/d.
• NW.: Müdigkeit, Verlangsamung, Ataxie, Doppelbilder, Erregbarkeit, Appe-
titmangel, Bauchschmerz, Leberhypertrophie, Neutropenie.
Tiagabin (TGB; Gabitril®)
• Ind.: Add-on-Ther. von partiellen Anfällen mit o. ohne Generalisierung.
• Dos.: Eindosierung: Bei Erw. initial 2×5 mg, wöchentlich um 5 mg erhöhen,
bis zur individuell max. verträglichen u. wirksamen Dosis. Üblicher Dosisbe-
reich: 30–60 mg/d, Verteilung auf 3× tgl.
• NW: Kognitive Beeinträchtigung, nonkonvulsiver Status epilepticus, Schwin-
del, Diarrhö, Müdigkeit, Tremor, emotionale Labilität, Asthenie, Depression,
psychotische Episoden.
Topiramat (TPM; Topamax®, Generika):
• Kinder < 2 J. Relative KI: Nierensteine, Nieren-, Leberfunktionsstör.
• Dos.: Mono- u. Komb.-Ther.; initial 25–50 mg/d, alle 2 Wo. um 25–50 mg/d
steigern bis Erhaltungsdosis 75–400 mg/d jeweils 2 ED/d.
• Pharmakokinetik: HWZ 21 h. Zeit bis zum Fließgleichgewicht 4 d, bei Nie-
renfunktionsstör. (Krea-Clearance < 60 ml/Min.) bis zu 15 d!
• NW: Gewicht ↓, Nierensteine, Müdigkeit, Depression, Schwindel, psycho-
motorische Verlangsamung, Benommenheit, Ataxie, Nervosität,
­Parästhesien, Gedächtnis- u. Konzentrationsstör. (abhängig von Geschwin-
digkeit der Dosiserhöhung u. Gesamtdosis), Sprechstör., Psychosen, akute
Myopie mit Engwinkelglaukom.
Valproinsäure (VPA; Convulex®, Ergenyl®, Orfiril®, Convulsofin®, Leptilan®,
Generika):
• KI: Lebererkr., hepatische Porphyrie, hämorrhagische Diathese, Pankreas­
erkr., familiäre Belastung mit Lebererkr., bekannte Überempfindlichkeit.
• Dos.: Initial 150–300 mg abends, 300 mg alle 2–5 d steigern; mittlere Dosis
900–1.200 mg (15–20 mg/kg KG)/d; Verteilung auf 1–2/d (bei Retardther.).
• Pharmakokinetik: Zeit bis zum Fließgleichgewicht 2–4 d.
• Monitoring: Insbes. Transaminasen, Amylase, Gerinnungsparameter, BB,
E'lyte, AP.
• NW:
– Enzyminhibition.
– Übelkeit, Müdigkeit, allerg. Reaktion, Reye-Sy. (Lebernekrose), Tremor,
Gerinnungsstör., Thrombozytopenie, Haarausfall, polyzystische Ovarien,
Ödeme, Appetit ↑, Gewicht ↑, Leukopenie, akute Valproatenzephalopa-
430 11 Anfälle 

thie (Bewusstseinstrübung, im EEG diffuse Verlangsamung mit epilepsie-


typischen Potenzialen), Ataxie, Rigor.
• Teratogenität, inbes. fetale Neuralrohrdefekte (1. Trimenon).
• Intox. ▶ 3.17.
Valproathepatopathie
V. a. in den ersten 6 Mon. unter Ther. mit Valproinsäure kommt es selten zu
einer schweren Hepatitis mit möglichem Übergang in tödlich verlaufendes
11 Leberversagen.
Prophylaxe:
• Engmaschige Überwachung aller Pat.
• Initial Wiedervorstellung 14-tägig, bei allg. Schwäche, Appetitlosigkeit/
Erbrechen, Apathie sollten die Pat. sofort einen Arzt aufsuchen.
• Geringgradige Erhöhung der Transaminasen bis zum doppelten Aus-
gangswert bei klin. Wohlbefinden erfordert engmaschige Kontrollen.
• Absetzen der Valproinsäure bei klin. Zeichen einer Leber- o. Pankreas-
affektion o. einer Blutungsneigung, höherem Anstieg der Transamina-
sen u. symptomatische Behandlung einer Hepatitis bzw. eines Leberko-
mas. Ggf. Ther. mit Carnithin.

Vigabatrin (VGB; Sabril®):


• Ind.: West-Sy.
• Dos.: Initial 500 mg, alle 3 d 500 mg mehr; mittlere Dosis 2.000–3.000 mg;
Verteilung auf 1–2× tgl. Dosisanpassung bei eingeschränkter Nierenfunktion.
• Pharmakokinetik: HWZ 5–8 h.
• Monitoring: Transaminasen, BB. Bei Endokrinopathie Hormonkontrollen.
Regelmäßige augenärztliche Unters. mit Gesichtsfeldkontrolle (initial, nach
6–8 Wo, dann alle 3–6 Mon.). Gesichtsfeldausfall korreliert mit Gesamtdosis
u. Behandlungsdauer.
• NW: Paranoid halluzinatorisches Sy., Schwindel, Kopfschmerzen, Diplopie,
Ataxie, Nystagmus, Müdigkeit, Erregung (Kinder), Gewichtszunahme, Depres-
sion, akute Enzephalopathie (ähnlich wie bei Valproinsäure), Anämie,
Toleranz­entwicklung, in bis zu 40 % bilaterale, z. T. asymmetrische Gesichts-
feldausfälle (unbemerkt vom Pat.). Anfallssteigerung bei generalisierten Anfäl-
len.
Zonisamid (ZNS; Zonegran®):
• Ind.: Mono- u. Add-on-Ther. bei fokalen Epilepsien.
• KI: Allergie gegen Sulfonamide.
• Dos.: Initial 1–2 × 25 mg/d, Erhöhung auf 50–100 mg nach 1 Wo., dann um
50–100 mg alle 1–2 Wo. Zieldosis 300–600 mg/d. 1–2 Gaben/d.
• Pharmakokinetik: HWZ 60 h. Bioverfügbarkeit 100 %; 30 % renale Ausschei-
dung, Dosisreduktion bei Niereninsuff. Steady-State nach ca. 2 Wo.
• WW: Vorsicht bei Komb. mit Carboanhydrasehemmern, z. B. Topiramat.
• NW: Sedierung bis Somnolenz, Schwindel, Ataxie, Gewichtsabnahme, Exan-
them, allerg. Reaktion, Agranulozytose, Thrombozytopenie, Leukopenie,
aplastische Anämie, Agitiertheit, Verwirrtheitszustand, Depression, psychoti-
sche Stör., Aufmerksamkeitsstör., Sprachstör., Diplopie, Diarrhö, Übelkeit,
Cholezystitis, Muskelschmerzen, Rhabdomyolyse, Nephrolithiasis, Hypo­
hidrose, Fotosensibilität.
  11.1 Epileptische Anfälle  431

Wechselwirkungen/Arzneimittelinteraktionen
• Enzymbeinflussung:
– Enzyminduktoren: PB, PRM, PHT, CBZ, RUF, weniger TPM, OXC, ZNS,
dadurch beschleunigter Abbau von Ovulationshemmern, Glukokortiko­
iden, Vit. D, Vit. B6 u. Folsäure, Marcumar®, Digoxin. Frakturrisiko ↑,
Schilddrüsenhormone u. andere Antikonvulsiva wie LTG, VPA ↓.
– Metab. Inhibitor: VPA (CYP 2C9, Glucuronyltransferase).
– Enzymneutral: GBP, Levitiracetam, PGB, LTG, LTM.
• Mögliche Anfallsaktivierung: Durch Einnahme von Alkohol, Antibiotika, 11
Anticholinergika, Antidepressiva, Antihistaminika, Chloramphenicol, Chlo-
roquin, Desmopressin, Drogen, Dopaminantagonisten, Gadolinium, Gluko-
kortikoiden, Indometacin, Interferonen, Isoniazid, Lokalanästhetika, Meflo-
quin, Neuroleptika, Östrogenen, Prostaglandinen, Protirelin, Retinoiden, sti-
mulierenden Sympathomimetika (Fenetyllin, Methylphenidat), Theophyllin,
Vasopressin, Virustatika (Aciclovir), Zytostatika (Chlorambucil).
• Antibiotika:
– Makrolidantibiotika erhöhen Carbamazepin-Spiegel.
– Chloramphenicol u. Sulfonamide erhöhen Phenytoin-Spiegel.
– Isoniazid erhöht Phenytoin-, Primidon- u. Carbamazepin-Spiegel.
– Phenytoin, Primidon, Phenobarbital u. Carbamazepin senken Doxycy­
clin-Spiegel.
– Phenobarbital senkt Chloramphenicol-Spiegel.
– Phenobarbital u. Phenytoin senken Rifampicin-Spiegel.
– Rifampicin senkt den PHB- u. CBZ-Spiegel.
• Antimykotika: Fluconazol erhöht Phenytoin-Spiegel.
• Lithium-NW: Durch Phenytoin u. Carbamazepin verstärkt.
• Chemother.: Zytostatika ↓ in Komb. mit Enzyminduktoren (CBZ, PHB,
PRM, PHT). Überlebenszeit bei antiepileptischer Ther. u. Glioblastom bei
Einsatz von VPA > CBZ.
• Orale Antikoagulanzien: Kumarinwirkung durch Valproinsäure verstärkt,
durch Carbamazepin, Phenytoin, Oxcarbazepin, Phenobarbital u. Primidon
u. a. vermindert.
• Körpergewicht:
– Zunahme bei Medikation mit VPA, GBP, PGB, CBZ, TGB, VGB.
– Abnahme: FBM, TPM, Zonisamid.
– Gewichtsneutral: LTG, Levetiracetam.
• Antiepileptika untereinander ▶ Tab. 11.5.
Niereninsuffizienz
Dosisanpassung anhand Fachinfo insbes. von Levitiracetam, Lacosamid, GBP,
Pregabalin u. Zonisamid.
Pharmakoresistente Epilepsien
Def.: Bei 30 % der Epilepsien keine Anfallsfreiheit trotz ausreichend dosierter me-
dikamentöser Ther. mit zumindest 2 geeigneten Antiepileptika entweder in Mo-
no- o. in Komb.-Ther.
Vorgehen:
• Diagn. (nochmals genaue Abklärung der Epilepsie u. DD, ggf. mit Video-
EEG) bzw. Ther. (mangelnde Compliance inkl. Blutspiegelkontrolle, richtige
Medikation u. Dos.).
• Überprüfung der bisherigen Ther. Ist bei Versagen eines ausdosierten Medi-
kaments der 1. Wahl Übergang auf Monother. mit einem anderen Medika-
11
Tab. 11.5  Interaktion der Antiepileptika
Effekt auf

Zugabe von CBZ ESM FBM GBP LCM LTG LEV OXC PB PHT PGB PRM TGB TPM VPA VGB Zonis­amid
432 11 Anfälle 

CBZ x ↓ ⇊ = ⇊ = ↓ ↓/= ↓= = ↓ (PHB ⇊ ⇊ ↓ =/(↓) ↓


↑)

ESM =/↓ x = = = =/↑ =/↑ = (PHB = = ↓


↑)

FBM ↓ (E ↑) x =/↑ = ⇈ PHB ↑ ⇈ =/↑

GBP

LTG = = = x = = = = = = = = =

LEV = = = x = = = = = =

OXC =/(↓) = ⇊ = x =/↑ = =/↓ (PHB ↓ =/↓


↑)

PB ⇊ (E ↑) ↓ =/↓ =/↓ ↓ ⇊ = ⇊ x ↓/↑ = ↓ (PB ↑) ⇊ ⇊/↓ ⇊ = ⇊

PHT ⇊ ↓ ⇊ =/↓ ↓ ⇊ = =/↓ x = ↓ (PB ↑) ⇊ ⇊ ⇊ = ⇊

PGB = = = = = = = x = = =

PRM ⇊ ↓ ↓ =/↓ ⇊ = = ↓ ↓ x ⇊ ⇊/↓ ⇊ = ⇊

TGB = = = = = = x =/↓ =

TPM = = = = = = = = x =/↓

Tab. 11.5  Interaktion der Antiepileptika (Forts.)
Effekt auf

Zugabe von CBZ ESM FBM GBP LCM LTG LEV OXC PB PHT PGB PRM TGB TPM VPA VGB Zonisamid

VPA ↓ (E ↑) = (↑↓) =/↑ =/↓ = ⇈ = = ⇈ ↓ = PB ↑ = =/↓ x = ↓


(freie
Ant.
↑)

VGB =/↑ = = = =/⇊ ⇊/↓ =/↓ = x

Zonisamid =/↑ (E ↑) = = = = x

↓: Abfall der Serumkonzentration, ↑: Anstieg der Serumkonzentration, ⇈: deutliche Steigerung der Serumkonzentration, ⇊: deutliche Senkung der
­Serumkonzentration, =: keine Interaktion, x: entfällt, (↑), (↓): schwache Interaktion, leere Felder: nicht untersucht
 11.1 Epileptische Anfälle  433

11
434 11 Anfälle 

ment o. Beginn einer Komb.-Ther. mit 2 Medikamenten (synergistische Wir-


kung nachgesagt von VPA u. LTG) möglich?
• Prächir. Diagn. bei (V. a.) fokale Epilepsie.
Therapie bei älteren Patienten
Besonderheiten:
• Häufig fokale symptomatische Epilepsien.
• Hohe Komorbidität, Komedikation!
11 • Hohe NW-Empfindlichkeit.
• Veränderte Pharmakodynamik u. -kinetik (Nierenfunktion? Leberfunktion?
Serumalbumin ↓. Veränderte Verteilungskompartimente).
• Oft schwierige DD: Blande Symptomatik, postikale Phase vs. vask. Ereignis/
nonkonvulsiver Status, da Dauer postikale Phase ↑.

Intoxikationsrisiko ↑.

Prinzipien:
• Großzügig nach dem 1. Anfall behandeln, „start slow and go low“, d. h. lang-
same Aufdosierung, Zieldosis niedrig.
• Aufklärung.
• Engmaschige Überwachung.
• Sturzgefahr bei Intox.
• Jahrelang behandeln.
• „Neue“ Antiepileptika (LTG, Levetiracetam, LCM, Zonisamid): Vorteile:
Gute Wirksamkeit, z. T. keine Enzyminduktion, wenig/keine Interaktionen.
Frauen mit Epilepsie
Kontrazeption
• Stark verminderter Schutz durch orale Kontrazeptiva bei Einnahme von CBZ,
FBM, PHT, Phenobarbital u. PRM. Mäßige Beeinflussung durch OXC u.
TPM ab 200 mg.
• Keine Interaktion mit oralen Kontrazeptiva zeigen Benzodiazepine, GBP,
LEV, LCS, PGB, TGB, TPM (niedrige Dosis), VGB, VPA, Zonisamid.
• Alternative: Spirale (inkl. „Hormonspirale“).
Schwangerschaft

Ca. 30 % der Pat. mit Epilepsie (insbes. Temporallappenepilepsie) haben en-
dokrine reproduktive Stör., v. a. polyzystische Ovarien.
Mehr als 90 % der Kinder antikonvulsiv behandelter Pat. sind bei Geburt kör-
perl. u. geistig unauffällig.

Einfluss der Schwangerschaft auf die Epilepsie:


• Während der Schwangerschaft in 70 % unveränderte Anfallsfrequenz. In ca.
5 % Anfallsreduktion.
• Oft reduzieren Pat. aus Sorge vor kindl. Schäden Medikamente o. setzen sie
eigenmächtig ab; dann Zunahme der Anfallsfrequenz (in etwa 10–20 %, auch
bei Schwangerschaftserbrechen, durch veränderte Eiweißbindung).
• Insbes. bei LTG u. OXC Spiegelabfall im Verlauf der Schwangerschaft, daher
Spiegelkontrollen u. ggf. Dosisanpassung!
  11.1 Epileptische Anfälle  435

Einfluss der Epilepsie auf die Schwangerschaft:


• Keine gehäuften Schwangerschafts- u. Geburts-KO, aber 1,2–2 × höhere peri-
natale Mortalität der Kinder.
• Mehrere generalisierte tonisch-klonische Anfälle der Mutter: Kognitive Ein-
bußen beim Kind, Verletzungen durch Stürze.
• Status epilepticus vermeiden, selten Totgeburt.
Vorgehen bei geplanter Schwangerschaft:
• Prüfen, ob vor der Schwangerschaft Antiepileptika abgesetzt werden können.
Ist Absetzen nicht möglich, möglichst niedrig dosierte Monother. anstreben. 11
• F im gebärfähigen Alter durchgehend Folsäuresubstitution (2,5–5 mg/d).
• An EURAP-Schwangerschaftsregister melden (www.eurap.de).
Einfluss der Antiepileptika auf die Schwangerschaft (▶ Tab. 11.6):
• Niedrige Teratogenität bei LTG u. CBZ, höhere (inkl. kogitive Teratogenität)
bei VPA.
• Teratogenität ist bei allen Antiepileptika dosisabhängig u. steigt stark an in
Komb.-Ther.
• CBZ, PB, Primidon u. v. a. VPA können bei Dauermedikation zu Neuralrohr-
defekten, Lippen-Gaumen-Spalten, Herzfehlern o. Extremitätenfehlbildungen
führen.
• Bei Phenytoin-Medikation kann es zum Hydantoinsy. (geistige u. körperl. Re-
tardierung, Hypertelorismus, Skelettdefekte, Herzfehler, faziale Dysmorphie,
Hypoplasie der Nägel u. Fingerendphalangen, Spaltbildungen) kommen.

Tab. 11.6  Antiepileptika in Schwangerschaft u. Stillzeit


Medikament Schwangerschaft Stillzeit

Carbamazepin Vergleichsweise niedrige Teratogenität Bei allen Subs-


tanzen kein Still-
Lamotrigin Vergleichsweise niedrige Teratogenität verbot. Müdig-
keit u. Trink-
Clonazepam Strenge Ind.-Stellung schwäche beim
Ethosuximid Strenge Ind.-Stellung Säugling mög-
lich. Ggf. Serum-
Phenytoin Strenge Ind.-stellung kontrolle bei
Mutter u. Kind.
Phenobarbital, Strenge Ind.-Stellung, möglichst vor Schwan- Kinder in der
Primidon, Val- gerschaft, umsetzen auf weniger teratogene Stillphase gut
proinsäure Substanz beobachten

Management während Schwangerschaft:


• I. d. R. kein Präparatewechsel in der Schwangerschaft.
• Antiepileptika auf 3 ED verteilt, Retard-Präparate bevorzugen, evtl. bereits
vor geplanter Schwangerschaft umsetzen.
• Monatlich klin. neurol. Unters.
• Monatliche Serumspiegelkontrolle insbes. bei LTG, OXC (metab. bedingt
z. T. ↓↓ in der Schwangerschaft); Dosiserhöhung bei Spiegelabfall insbes. bei
Anfallsrezidiven, evtl. auch bei deutlicher Zunahme der anfallstypischen Zei-
chen im EEG.
• Ausreichende Substitution mit Folsäure 1 × 5 mg/d p. o.
• Ultraschallunters. u. ggf. Amniozentese, wenn Konsequenz vorher klar.
Geburt:
• Nur in ca. 3 % Anfälle unter Geburt, bei Serie Gabe von Benzodiazepinen.
! Keine Reduktion der Medikamente perinatal!
• Anstreben einer Klinikentbindung, aber i.d. R. vaginale Geburt.
436 11 Anfälle 

• Während Geburt Antiepileptika weiter einnehmen.


• Vit.-K-Prophylaxe des Neugeborenen postpartal.
Stillzeit:
! 
Kein generelles Stillverbot bei Einnahme von Antiepileptika!
! 
Verhaltensmaßregeln: Auf ausreichende Nachtruhe achten. Verletzungen des
Kindes durch mütterlichen Anfall vermeiden (Wickeln auf dem Boden, nicht
alleine Baden, Stillen im Liegen, ggf. Füttern im Sitzen).
• Medikamente:
11 ! Kontraindiziert: Brom.
– Phenytoin u. VPA gehen wenig in die Muttermilch über.
– Abstillen erwägen bei Trinkschwäche, Sedierung o. verlangsamter Ent-
wicklung des Säuglings.

Im Wochenbett rasche u. kontinuierliche Reduktion der während der


Schwangerschaft in erhöhter Dosis eingenommenen Medikamente auf vor
der Schwangerschaft übliche Dosen, um Intox. zu vermeiden. Häufige Spie-
gelkontrollen.

Nichtmedikamentöse Therapie
Chirurgische Therapie
Ind.: (V. a.) fokale Epilepsie; Ther.-Resistenz, d. h. keine Anfallsfreiheit unter aus-
reichend hoch dosierter u. langer Ther. mit mind. 2 Antikonvulsiva. Signifikante
Beeinträchtigung des Pat. durch die Anfälle, für die OP ausreichende psychische
Stabilität u. Compliance. Ca. 10 % der Pat. mit Epilepsie erfüllen die Ind.
Progn.: Mehrheit der epilepsiechirurgisch behandelten Pat. werden anfallsfrei.
Prächirurgische Diagn.:
• Nichtinvasiv: Video-EEG-Monitoring (iktale, interiktale Aufzeichnung), neu-
rol. u. neuropsychologische Unters. (Nachweis lokalisatorisch bedeutsamer
Defizite, hemisphärische Sprachdominanz), ggf. psychiatrische Unters., MRT
(3T, spezielle Sequenzen, z. B. MPAGE, T2-Wichtung, inversion recovery,
FLAIR, blutsensitive Sequenzen, hippokampale Kippung), ggf. SPECT (iktal
u. interiktal, Differenzbilder), ggf. PET (interiktal u. iktal).
• Invasive Ableitung: Falls nichtinvasiv gute Hypothese für mögliche Operabilität,
aber Resektionsgrenzen nicht exakt festzulegen, Implantation intrakranieller
EEG-Elektroden (subdurale u./o. Tiefenelektroden): Video-EEG-­Monitoring.
• Postop.: Fortführung der antiepileptischen Medikation für Jahre.
Resektionen
• Bei eindeutigem Fokusnachweis, technisch Resektion möglich ohne Verursa-
chung neuer Defizite.
• Pos. prädiktive Faktoren:
– Temporale Resektion.
– Läsionsnachweis im MRT.
– Kurze Krankheitsdauer.
– Ätiol. (Tumor – DNET/Gangliogliom, Hippokampussklerose).
– Konkordanz präop. Befunde (EEG – Läsion im MRT).
Anteriore Temporallappenresektion:
• Ind.: Refraktäre Temporallappenepilepsie (häufig aufgrund von Hippokam-
pussklerose).
  11.1 Epileptische Anfälle  437

• KO: OP-Letalität (< 0,5 %), Hemiparesen, Blutungen u. Infektionen (1–3 %),


dysphasische Stör. (< 5 %), amnestische Sy. (5–10 %; insbes. bei linksseitiger
Resektion); Quadrantenanopsie.
• Progn.: Anfallsfreiheit in ca. 60 % über nächste 10 J., bei 60–90 % signifikante
Verbesserung der Anfallskontrolle.
Selektive Amygdala-Hippokampektomie: Unter Aussparung des lat. Temporal-
bereichs.
• Ind.: Anfälle mit Fokusnachweis im mediobasalen Temporallappen
(Amygdala, Hippokampus, Gyrus parahippocampalis). 11
• KO: Wie ant. Temporallappenresektion (aber keine Sprachstör.).
• Progn.: Anfallsfreiheit nur wenig unter der der ant. Temporallappenresektion
bei richtig ausgewählten Pat.
Extratemporale Resektionen (Läsionektomie, Lobektomie):
• Ind.: Extratemporale Läsion (z. B. frontal, zentroparietal o. okzipital).
• KO: Abhängig von Lokalisation.
• Progn.: Insgesamt schlechtere Ergebnisse als bei Temporallappenresektionen,
Anfallsfreiheit in ≈40 % (bei Tumoren höher).
Hemisphärotomie: Deafferenzierung einer Hemisphäre ohne deren Resektion.
• Ind.: In seltenen Fällen (v. a. bei Kindern mit Hemiparese u. unkontrollierba-
rer Epilepsie), z. B. bei Rasmussen-Enzephalitis., Sturge-Weber-Sy., Hemime-
galenzephalie (▶ 16.3.4).
• Voraussetzung: Bereits bestehende Hemiplegie o. häufige invalidisierende
Anfälle.
• Progn.: Anfallsfreiheit in 80 %, Anfallsminderung in 15 %.
Balkendurchtrennung (Kallosotomie): Heute meist nur Durchtrennung der vor-
deren N-O unter Schonung der Kommissuren u. des Spleniums.
• Ind.: Multifokale Epilepsien mit Sturzanfällen zur Verhinderung von Stürzen
im Anfall.
• KO: Transientes „Dyskonnektionssy.“ (Mutismus, Hypokinese, linksseitige
Apraxie), neuropsychologische Stör. möglich.
• Progn.: Anfallsfreiheit nicht zu erwarten, ggf. keine „Sturzanfälle“ mehr,
­Anfallsreduktion in 70 %.
Stimulationsverfahren
Nervus-vagus-Stimulation:
• Ind.: Bei therapierefraktären Epilepsien, bei denen eine Resektion nicht mög-
lich ist, als Zusatzther. zu Antiepileptika. Günstige Wirkung auf Stimmung,
keine Sedierung.
• Durchführung:
– Stimulator wird linksseitig infraklavikulär implantiert, Anschluss bipola-
rer Elektroden an li N. vagus distal des Abgangs des N. laryngeus recur-
rens.
– Stimulationsparameter: Stromstärke 0,25–2,0 mA, Impulsdauer 250–
500 μs, Frequenz 20–30 Hz; Stimulation alle 5 Min. für 30 s.
– Pat. können zusätzlich bei Bedarf (z. B. zur unmittelbaren Unterdrückung
o. Unterbrechung eines Anfalls) mit einem Magneten extra stimulieren.
• NW: Unter Stimulation: Husten, Kloßgefühl, Dyspnoe, Heiserkeit, Schmer-
zen am Hals. Infektion an Implantationsstelle.
• Progn.: Effekt steigt mit der Zeit, nach 18 Mon. bei etwa ⅓ der Pat. > 50 %
Anfallsreduktion, Anfallsfreiheit selten.
438 11 Anfälle 

Tiefe Hirnstimulation:
• Anteriorer Thalamus (noch wenig Erfahrung).
• Responsive Hirnstimulation, d. h. nur bei epileptischen Entladungen (experi­
mentell).

11.1.6 Beratung – Lebensführung
• Reduktion des Alkoholkonsums, möglichst Abstinenz, wenn Alkohol ein
11 Trigger; bei vielen Pat. Alkoholgenuss in Maßen möglich.
• Selbst beobachtete anfallsauslösende Situationen meiden u. mit dem Arzt be-
sprechen, z. B. Flickerlicht in Diskothek o. bei Befahren einer Allee.
• Bei nichtneurol. Komorbidität einen Arzt zu Rate ziehen. Dieser muss über
die Einnahme des Antiepileptikums informiert werden, da dies evtl. seine
Ther. beeinflusst (Vermeidung anfallsauslösender Medikamente, z. B. Theo-
phyllin).
• Sorgfältige Selbstkontrolle der vollständigen Einnahme der verordneten Dosis
der Antiepileptika.
• Pat. sollte einen Anfallskalender führen.
• Vermeidung potenziell gefährdender Situationen (Schwimmen/Vollbad, Ar-
beiten auf Leitern o. Gerüsten o. an Maschinen mit rotierenden Teilen), ggf.,
Thermostat in Dusche bei Anfällen mit Automatismen.
• Beachtung der Begutachtungsleitlinien für Kraftfahrereignung.
• Berufliche Eignung nach BGI 585; ggf. frühzeitig Kontakt zur nächstgelege-
nen Epilepsieberatungsstelle.
• Nicht über Gebühr einschränken! In der Regel normales Leben bis auf oben
genannte Einschränkungen möglich! Dazu ermutigen.

11.1.7 Status epilepticus und Anfallsserie


Einteilung
• Konvulsiver Status epilepticus: Grand-Mal-Status (ICD-10 G41.0).
• Nonkonvulsiver Status epilepticus: Absence-Status (ICD-10 G41.1), komplex
fokaler Status (ICD-10 G41.2), einfach fokaler Status.

Epidemiologie
• Inzidenz ca. 20/100 000/J., M > F, v. a. > 60 J.
• Gesamtmortalität ca. 11–30 %, > 60 J. 40 %.
– Pos. Prognosefaktoren: < 65 J.; < 24 h; frühe Intervention. Ätiol.: Non-
Compliance bei bekannter Epilepsie, Trauma.
– Neg. Prognosefaktor: Hypoxie, unklare Urs., akut symptomatisch.

Definition
Zur zeitlichen Entwicklung ▶ Tab. 11.7.
  11.1 Epileptische Anfälle  439

Tab. 11.7  Zeitliche Entwicklung des Status epilepticus (SE)


Initialphase eines • Jeder generalisierte konvulsive Anfall > 5 Min. Dauer oder
Status epilepticus • kontinuierliche Anfallsaktivität im EEG bei bewusstseinsge-
(die ersten 10 Min.) trübtem Pat. oder
• 2 Grand-Mal-Anfälle, zwischen denen Pat. das Bewusstsein
nicht wiedererlangt

Etablierter Status • SE von mehr als 10 Min., meist bis 30, max. 60 Min. Dauer,
epilepticus der nicht auf die Initialther. mit Benzodiazepinen ange-
sprochen hat
11
• Generalisierter Anfall > 20 Min. oder
• kontinuierliche Anfallsaktivität im EEG > 10 Min. bei
­bewusstseinsgetrübtem Pat. oder
• 2 Anfälle, zwischen denen Pat. das Bewusstsein > 10 Min.
nicht wiedererlangt

Fortgeschrittener = • SE der nicht auf adäquat dosierte Initial- u. Sekundärther.


refraktärer Status mit einer zweiten Substanz (s. u.) angesprochen hat u. beim
epilepticus (= oft konvulsvien Status i. d. R. eine Dauer > 30–60 Min. aufweist
nonkonvulsiv)

• Nach dem Schlaganfall häufigster neurol. Notfall.


• Als generalisierter konvulsiver Status epilepticus die schwerste Ausprä-
gung eines epileptischen Anfalls, der mit einer signifikanten Morbidität
u. einer ca. > 20-prozentigen Letalität verbunden ist.

• Nur bei der Hälfte der Pat. mit Status epilepticus besteht zuvor eine Epilepsie.
• Die meisten Fälle sind symptomatisch; Haupturs. sind
– SHT,
– zerebrovask. Erkr.,
– ZNS-Infektionen,
– metab. Urs.
• Bei Pat. mit vorbestehender Epilepsie lässt sich eine frühe Phase des konvulsi-
ven Status epilepticus erkennen, in der die Anfälle crescendoartig zunehmen,
bis sie in kontinuierliche Anfallsaktivität münden (etablierte Phase).

Das Management eines konvulsiven Status epilepticus verlangt rasches u.


aggressives Vorgehen. Neben der sofort einzuleitenden Ther. müssen gleich-
zeitig die artdiagnostische Zuordnung des Status epilepticus erfolgen u. die
Urs. muss erkannt u. behandelt werden.

Statustherapie – Allgemeinmaßnahmen

„Time is brain“, d. h. zügiges u. aggressives Vorgehen. Cave: „Too low – too
slow“.

• Lagerung: (Schutz vor Selbst- u. Fremdgefährdung, Polstern; baldmöglichst


stabile Seitenlagerung).
! Nicht festhalten!
• Freihalten der Atemwege u. Entfernen von Zahnersatz.
440 11 Anfälle 

• Überwachung: Puls, RR, EKG, Atmung u. O2-Sättigung. Pupillenreaktion?


• Venöser Zugang: Infusion (z. B. isoton. NaCl, Ringer-Lsg.).
• O2-Gabe
• Akutdiagn.: Klin. Unters., Paresen, HN-Ausfälle, Meningismus, Temperatur.
• Fremdanamnese: Epilepsie, Trauma, Fieber, Infekt, Alkohol, Medikamente,
Drogen, Diab. mell., Kopfschmerz.
• Labor: BZ, BB, E'lyte, CRP, Leber- u. Nierenwerte, CK, Lipase, Amylase,
11 • ­ANeurol.
lkoholspiegel, Drogenscreening.
Urs.-Suche: Z.B Meningitis, Enzephalitis, Tumor, Hypoglykämie.
Bildgebung, zumindest CT durchführen.
• EEG-Monitoring auf Intensivstation, wenn möglich, zumindest häufige
EEG-Kontrollen (inkl. EKG-Registrierung).

Statustherapie – Akutmaßnahmen
• Die symptomatische Ther. eines konvulsiven Status epilepticus soll jegliche
Anfallsaktivität klin. u. im EEG rasch durchbrechen.
• Bei Hinweisen auf ethanolassoziierten Status: Thiamin 100 mg i. v.
• Der generalisierte konvulsive Status kann hypoglykämisch bedingt sein, des-
halb Glukose 40 %; möglichst prox. Zufuhr, initial 60 ml i. v. nach Thiamin-
Gabe (s. o.).
• Ggf. Volumengabe/Katecholamine.
• Symptomatische Temperatursenkung.
• Aufnahme auf neurol. Intensivstation (insbes. bei generalisiertem, konvulsi-
vem Status epilepticus).
Schema der Therapie des generalisierten, konvulsiven Status epilepticus
(▶ Tab. 11.8)
Therapiemaßnahmen fokaler Status
Status einfacher fokaler Anfälle ohne Bewusstseinsstör., Epilepsia partialis conti-
nua u. beim Status komplexer fokaler Anfälle mit Bewusstseinsstör. (psychomoto-
rischer Status):
Prinzipiell Stufenschema wie bei generalisiertem, konvulsivem Status: Zunächst
Gabe von Benzodiazepin wie Lorazepam, gefolgt von Phenytoin, VPA, Phenobar-
bital o. Levetiracetam. Es besteht nicht der gleiche hohe zeitliche Druck wie beim
generalisierten konvulsiven Status, Stufe 3 der Statusther. zu initiieren; daher An-

Tab. 11.8  Zusammenfassung des Stufenschemas (Stufe 1 ▶ Tab. 11.9, Stufe 2


u. 3 ▶ Tab. 11.10)
Stufe Medikamente

1 Benzodiazepine: Lorazepam o. alternativ Clonazepam, Diazepam o.


­Midazolam

2 Phenytoin o. alternativ Valproinsäure, Levetiracetam (Phenobarbital)

3 Narkose mit Midazolam o. Propofol o. alternativ Thiopental


  11.1 Epileptische Anfälle  441

Tab. 11.9  Stufenschema: Stufe 1 bei frühem bzw. drohendem Status epilepti­
cus
Medikament Zu erwarten­ Besonderheiten
der Wirkein­
tritt

Mittel der 1. Wahl: Loraze­ 5–10 Min. • Bis zur Verwendung gekühlt aufbe-
pam i. v. 0,05 mg/kg KG; wahren u. zur Injektion verdünnen!
fraktioniert bis max. 0,1 mg/
kg KG
• Trotz kürzerer HWZ längere ZNS-
Wirkdauer als Diazepam o. Clona-
11
zepam; Sedation u. Beeinträchti-
gung der Bewusstseinslage über
Stunden

Oder Clonazepam i. v. 5–10 Min.


1–2 mg/kg KG; max. 0,5 mg/
Min.; max. 6–12 mg/d

Oder Diazepam i. v. 5–10 Min.


0,15 mg/kg KG; max. 5 mg/
Min.; max. 40 mg/d

Oder wenn i. v. Zugang 5–10 Min. Cave: Atemdepression bei allen Ben-
nicht verfügbar ist: zodiazepinen
Midazolam 5–10 mg intra-
nasal o. bukkal (ggf. wie-
derholen, max. 20 mg)
Oder Diazepam 10–20 mg
rektal (ggf. wiederholen,
max. ca. 30 mg)

Tab. 11.10  Stufenschema: Stufe 2 und 3


Medikament Dosierung Besonderheiten

Stufe 2 (Minute 10–30)

Phenytoin Nach initialer Gabe von Benzodiazepinen Cave: Hypotonie;


(▶ Tab. 11.9) über separaten 2. i. v. Zugang mit kardiale Arrhythmie
Phenytoin-Aufdosierung beginnen mittels Infu- möglich, daher In-
somat (getrennt von anderen Substanzen in- fusion unter Moni-
fundieren; möglichst ZVK). toring
Ladungsdosis: Phenytoin 20 mg/kg i. v. max.
50 mg/Min., Ziel-Serumspiegel 20–25 mg/l; da-
nach Erhaltungsdosis (je nach Spiegel): Beginn
mit 400 mg/d i. v.Bestimmung der Phenytoin-
Serumkonzentration

Oder alter- Initial 20–30 mg/kg KG i. v., max. 10 mg/kg/Min., Cave: Mitochond-


nativ Val- danach Dauerinfusion ca. 1–2 mg/kg KG/h. Ziel- riopathie
proat spiegel: 100–120 mg/l

Oder Levetir­ Initial 30–60 mg/kg i. v., max. 500 mg/Min., Cave: Off-label,


acetam dann weiter mit ca. 3.000 mg/d Niereninsuff.

Oder Babi- Phenobarbital 20 mg/kg i. v. (max. 100 mg/ Cave: Atemdepres-


turat Min.), danach Erhaltungsdosis sion, Hypotonie,
kardiale Arrhythmi-
en

Keine Statusunterbrechung: → Stufe 3


442 11 Anfälle 

Tab. 11.10  Stufenschema: Stufe 2 und 3 (Forts.)


Medikament Dosierung Besonderheiten

Stufe 3 (> 60 Min.)

Midazolam Initialdosis (Bolus) 0,2 mg/kg KG i. v., danach ca.


0,1–0,5 mg/kg KG/h, EEG gesteuert (Ziel: An-
fallskontrolle, Burst-Suppression)

11 Alternativ Initialdosis (Bolus): 2 mg/kg KG i. v., danach ca. Cave: Propofolinfu-


Profofol 4–10 mg/kg KG/d, EEG-gesteuert (Ziel: Anfalls- sionssy. bei > 5 mg/
kontrolle, Burst-Suppression) kg/h für > 48 h. Do-
sisreduktion durch
Komb. mit Midazo-
lam möglich

Alternativ Initialdosis (Bolus) 5 mg/KG i. v. danach ca. Cave: Hypotonie,


Thiopental 3–7 mg/kg KG/h, EEG-gesteuert (Ziel: Anfalls- Pankreatitis u. Le-
kontrolle, Burst-Suppression) berfunktionsstör.
möglich, immun-
suppressiv

ästhetika nur zurückhaltend einsetzen, eher die Möglichkeiten nichtsedierender


i. v. verfügbarer Antikonvulsiva ausreizen.
Therapiemaßnahmen beim Absence-Status

Bei De-novo-Absence-Status in höherem Lebensalter immer an möglichen


Benzodiazepinentzug denken!

• EEG notwendig vor Akutbehandlung.


• Initial Benzodiazepine (wie Grand-Mal-Status).
• Ggf. Valproat-Schnellauffsättigung s. o.

11.1.8 Psychische Veränderungen bei Anfallspatienten

• Es gibt keine typ. epileptische Wesensänderung. Etwa 50 % der Epilep-
siekranken unterscheiden sich psychisch nicht von der Durchschnitts-
bevölkerung.
• Der IQ von Epilepsiepat. entspricht in der Mehrheit dem der Durch-
schnittsbevölkerung.
• Das Suizidrisiko ist bei Epilepsiepat. 3–5-fach erhöht, insbes. bei Pat.
mit Temporallappenepilepsie.

Ursachen
• Ätiologisch: Der Epilepsie zugrunde liegende Hirnschädigung mit Sympt. in
Abhängigkeit von Lokalisation u. Ausdehnung auch im anfallsfreien Zustand
(interiktal).
• Iktal: Elektrische Entladungen einschließlich der postiktalen Beeinträchti-
gungen (Verstimmung, Dämmerzustand, Psychose, Delir).
  11.1 Epileptische Anfälle  443

• Antiepileptika: Verlangsamung, Depression, Psychose, gesteigerte Aggressi-


vität, Verwirrtheit, Müdigkeit, Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen,
v. a. durch Phenytoin, Phenobarbital, Topiramat, Ethosuximid, Vigabatrin u.
Benzodiazepine.
• Soziale Faktoren: Stigmatisierung durch die Gesellschaft, Einschränkung in
der Lebensführung.

Psychische und neuropsychologische Störungen bei


Temporallappenepilepsie
11
• Läsionen der (li) dominanten Seite können v. a. zu sprachlichen u. sprachab-
hängigen Gedächtnisstör. bzw. paranoiden Denkstör. führen. Pat. sind ver-
mehrt introvertiert, kontemplativ u. werten sich selbst ab.
• Rechtsseitige Läsionen können v. a. zu Defiziten bei Wahrnehmung, Verar-
beitung u. Erinnern nonverbaler Information führen.
• Kognitive Beeinträchtigungen steigen mit Dauer der Erkr.

11.1.9 Epilepsie in Alltag und Medizin


Operationen

• Epilepsie ist keine absolute KI für eine Lokal- o. Allgemeinnarkose.


• Durch präop. Stresssituation erhöhte Anfallsgefahr.
• OP möglichst mittags, sodass Medikamenteneinnahme morgens u.
abends gesichert.
• In den Tagen postop. können Medikamentenspiegel absinken, daher
ggf. Spiegelkontrollen.
• Valproat kann den Gerinnungsstatus beeinflussen, deshalb ggf. Umset-
zen prüfen.
• Größere OP: Parenterale Antiepileptika wie Levetiracetam, Lacosamid,
Phenytoin, Benzodiazepin erwägen (▶ 11.1.5).

Schutzimpfungen
• I. d. R. unbedenklich: Hepatitis B, Typhus (oral!), Tetanus, Polio, Masern,
Röteln, Mumps, FSME u. Tollwut.
• Diphtherie: Gel. überschießende Reaktionen bei bekannter Medikamentenal-
lergie. Impfung dann mit reduzierter Antigenkomponente.

KI: Parenterale Typhus-, Pertussis-(Ganzkeimvakzine).

Malariaprophylaxe
• Prinzipiell schwierig, da unter allen Medikamenten zur Malariaprophylaxe
im Einzelfall Anfälle beobachtet wurden.
• Mögliche Summation tox. Effekte bei Einnahme von Antiepileptika u. Sulfon-
amiden bzw. Pyrimethamin.
• KI für Mefloquin.
• Chloroquin erhöht das Anfallsrisiko nur gering.
• Beim Einsatz neuer Malariamittel (Proguanil, Halofantrin) sind bislang keine
absoluten KI für Epilepsiepat. bekannt.
444 11 Anfälle 

Sport
• Prinzipiell ist Sport, auch Leistungs- u. Wettkampfsport möglich: Anfallsfre-
quenz nicht ↑, auch stellt der wiederholte Körper- o. Kopfkontakt mit Bällen
(z. B. beim Fußball) keinen nennenswerten Risikofaktor dar.
• Abzuraten ist von Sportarten, bei denen durch die Epilepsie eine erhöhte Ei-
gen- o. Fremdgefährdung besteht.
• Schwimmen nur unter 1:1-Betreuung.
11
11.2 Abgrenzung zu nichtepileptischen
Anfällen
11.2.1 Neurogene Synkope
ICD-10 R55.
Definition Synkope
• Spontan reversibler, kurzzeitiger Bewusstseinsverlust durch globale Hirnper-
fusionsminderung o. Dysregulation im Bereich des peripheren u./o. zentralen
autonomen NS.
• Präsynkope: Prodromalstadium mit Benommenheitsgefühl, Schwitzen, Seh-
stör., Übelkeit, Leisehören.
• DD ▶ 11.1.3, ▶ Tab. 11.2. DD Synkope – epileptischer Anfall ▶ Tab. 11.11.
Reflexsynkope
• Neurokardiogene Synkope/orthostatische Hypotonie: (Prä-)Synkope mit
RR ↓, Bradykardie nach längerem Stehen. Ther.: Stehtraining in sicherer Um-
gebung, moderates Sportprogramm, physikal. Ther. (Kompressionsstrümpfe,
Flüssigkeitszufuhr), evtl. anticholinerg wirksame Medikamente.

Tab. 11.11  Differenzialdiagnose Synkope versus epileptischer Anfall


Synkope Epileptischer Anfall

Begünstigend Häufig getriggert, z. B. Lage- I. d. R. nicht getriggert, u. U.


wechsel, langes Stehen, Antihy- Schlafmangel, Alkohol, Flicker-
pertensiva licht

Auslösend Angst, Schreck, Schmerz, Miktion Unvermittelt

Prodromi Übelkeit, Schwitzen, „Schwarz- Aura (z. B. epigastrisch, Angst)


Sehen“, „Weit-entfernt-Hören“

Augen I. d. R. offen Offen

Sturz I. d. R., Verletzung möglich, mit Sturz möglich, Verletzung häu-


kurzem Bewusstseinsverlust fig, mit Bewusstseinsverlust

Automatismen I. d. R. keine Häufig insbes. bei Temporal-


lappenepilepsie

Zungenbiss Selten Gel., wenn dann eher seitlich

Urinabgang Gel. Gel.

Atmung/Haut Flach/blass Zyanose o. gerötet

Dauer < 30 s < 3 Min.


   11.2  Abgrenzung zu nichtepileptischen Anfällen  445

Tab. 11.11  Differenzialdiagnose Synkope versus epileptischer Anfall (Forts.)


Synkope Epileptischer Anfall

Postiktal Rasch reorientiert, Übelkeit, Langsame Reorientierung, gel.


Brechreiz, Schwäche, Schweißig- Agitation, Somnolenz, Muskel-
keit kater

Labor Gel.: CK ↑ CK ↑, Prolaktin ↑

11
• Vasovagale Synkope: (Prä-)Synkope mit RR ↓, u. ggf. Bradykardie durch spe-
zielle emotionale Reize (akuter Schmerz, Konfrontation mit Blut/Verletzung).
Ther.: Reizvermeidung.
• Hypersensitiver Karotissinus: Bei Karotisdruck Asystolie ≥ 3 s, syst. RR ↓,
≥ 50 mmHg, Bradykardie.
Diagn.:
• Anamnese: Möglichst zusätzlich Fremdanamnese (Gesichtsblässe, Schweißig-
keit).
• Cave: Rhythmogene/kardiale Synkope: Synkope unter Anstrengung, Brust-
schmerzen, Arrhythmien vor Synkope → rasche Vorstellung bei Kardiologen.
• Körperl. Unters.: Z. B. Arrhythmie, Herzgeräusch, Karotisstenose, Verletzun-
gen, RR.
• Schellong-Test: Bei V. a. orthostatische Dysregulation. Pat. liegt 10 Min.,
Messung von RR u. Puls. Nach Aufstehen Messung von RR u. Puls sofort,
nach 2, 4, 6, 8 u. 10 Min. im Stehen.
• EKG: Z. B. AV-Block, Arrhythmie, Extrasystolen, Ischämie- o. Infarktzeichen,
Langzeit-EKG, Karotissinus-Druckversuch.
• Herz-Echo, Rö Thorax.
• Doppler-Sono zum Nachweis von Stenosen der Halsgefäße u. der A. basilaris.
• EEG: Bei kardialen Synkopen allenfalls diffuse Verlangsamung, ggf. EEG- u.
EKG-Ableitung simultan.
• CMRT.

11.2.2 Dissoziative/psychogene Anfälle
ICD-10 G40.8.
Syn.: Funktionelle, dissoziative Anfälle.
Def.: Dissoziative Anfälle kommen bei ca. 10 % der Pat. mit Epilepsie parallel vor.
Klinik:
• Vielgestaltig, Abgrenzung von epileptischen Anfällen kann schwer sein. Aber
keine klassischen epileptischen Sympt. o. Sympt.-Abfolgen, wie z. B. tonisch-
klonisch o. Aura, gefolgt von Automatismen.
• Häufig in Gegenwart anderer.
• Oft unkoordinierte, theatralische Bewegungen, Fuchteln, Strampeln, Opist-
hotonus, gel. Aufbäumen des Körpers nach hinten zur Brücke („arc de cerc-
le“), Zuckungen o. Zittern der Glieder, abrupte Kopfdrehungen, keine Vigi-
lanzminderung. Fluktuierende Symptomatik. Augen i. d. R. geschlossen.
• Selten Einnässen, Zungenbiss o. Verletzungen durch Sturz, Pat. „sinken“
meist zu Boden.
• Dauer: Sekunden bis Stunden.
446 11 Anfälle 

Diagn.:
• Klin.: ggf. „Handy-Video“ von Angehörigen o. stationäres Video-EEG-Moni-
toring.
• Labor: CK-Anstieg möglich.
• EEG: Finden sich im Intervall-EEG epileptische Potenziale, kann dies ein
Hinweis auf zusätzliche epileptische Anfälle sein.
DD: Epileptische Anfälle (▶ 11.1.3, ▶ Tab. 11.2), Synkopen (▶ 11.2.1), Dämmerzu­
stände.
11
12 Erkrankungen der Hirnnerven
Achim Berthele

12.1 N. olfactorius (N. I) 448 12.5.3 Möbius-Syndrom 458


12.2 N. opticus (N. II) 449 12.5.4 Frey-Syndrom 458
12.2.1 Erkrankungen von Uvea und 12.5.5 Geschmacksstörungen 458
Retina 449 12.6 N. vestibulocochlearis
12.2.2 Erkrankungen des (N. VIII) 459
N. ­opticus 450 12.7 Neurovaskuläre Kompressi-
12.3 N. oculomotorius (N. III), onssyndrome 459
N. trochlearis ­(N. IV), 12.8 N. glossopharyngeus
N. abducens (N. VI) 453 (N. IX) 460
12.3.1 Orbitopathien 453 12.9 Multiple Hirnnervenläsio-
12.3.2 Duane-Syndrom 454 nen 460
12.4 N. trigeminus (N. V) 454
12.5 N. facialis (N. VII) 454
12.5.1 Periphere Fazialisparese 454
12.5.2 Melkersson-Rosenthal-­
Syndrom 458
448 12  Erkrankungen der Hirnnerven  

12.1 N. olfactorius (N. I)


Geruchsstörungen
Respiratorische/konduktive Stör. (Transport der Geruchsstoffe), epithelial-senso-
rische Stör. (Riechepithel) u. nervale/zentrale Stör. (Informationsleitung u. -ver-
arbeitung) können zu Geruchsstör. führen.
Klinik:
• Stör. bzw. Verlust der Fähigkeit, Geruchsstoffe wahrzunehmen. Wird subjek-
tiv häufiger jedoch als Stör. der Geschmackswahrnehmung empfunden. Eine
Verschlechterung der Geruchswahrnehmung im Alter ist normal.
• Hyperosmie: Verstärkte Geruchswahrnehmung. Hyposmie: Verminderte
Geruchswahrnehmung. Anosmie: Fehlende Geruchswahrnehmung.
• Dysosmie: Qualitativ veränderte Geruchswahrnehmung.
12 – Parosmie: Veränderte Geruchswahrnehmung oder Verkennen von Gerü-
chen.
– Kakosmie: Wahrnehmung unangenehmer o. stinkender Gerüche, häufig
anfallsartig.
– Phantosmie: Wahrnehmung nicht vorhandener Gerüche.
Urs.:
• Rhinitis, Sinusitis: Am häufigsten!
• Postviral nach Infekten der oberen Atemwege: Häufig bleibende Defizite o.
Erholung über Jahre.
• Traumatisch: SHT mit Abscheren der Filae olfactoriae o. Kontusion des Bul-
bus olfactorius o. frontobasale/temporale Hirnkontusion o. Mittelgesichts-
frakturen. Meist nur geringe Erholungstendenz.
• Neurodegenerative Erkr.: M. Parkinson, M. Alzheimer.
• (Z. n.) Basale Meningitis; Meningoenzephalitis (z. B. HSV).
• Tumoren: Frontobasales Meningeom/Olfaktorius-Meningeom, Tumoren im
Nasopharynx.
• Geruchshalluzinationen („Unzinatus-Anfälle“) als Aura bei Temporallappen­
epilepsien: meist Dysosmien.
• Diab. mell. o. andere endokrine Stör., HIV-Infektion; Bestrahlung.
• Medikamentös-tox.: U. a. Kokain, Aminoglykoside, Tetrazykline, Opiate,
Rauchen, Zytostatika.
• Psychogen/psychiatrisch (olfaktorische Halluzinationen: Phantosmien).
• Aplasie des Bulbus olfactorius bei Kallmann-Sy. (olfaktogenitales Sy.): Dysra-
phische Stör. mit Hypogonadismus, Epilepsie u. kognitiver Retardierung.
Diagn.:
• Unters. mit Riechproben o. -karten.
• Anamnese: Trauma, Medikamente, Rhinorrhö, anfallsweise o. chron. Begleit-
sympt. (z. B. Anfallsäquivalente).
• HNO-Konsil, Bildgebung (cMRT); ggf. EEG, Liquorunters.
Ther.: Ther. der Grunderkr./Vermeiden des Auslösers.
   12.2  N. opticus (N. II)  449

12.2 N. opticus (N. II)


12.2.1 Erkrankungen von Uvea und Retina
Uveitis
Def.: Entzündung der Uvea (mittlere Aderhaut, bestehend aus Choroidea, Corpus
ciliare u. Iris) u. des Glaskörpers. Man unterscheidet:
• Uveitis ant.: Entzündung des vorderen Teils der Uvea (Iris, Ziliarapparat).
– Iritis: Entzündl. Infiltrat in der Augenvorderkammer.
– Iridozyklitis: Zusätzlich im vorderen Glaskörper. Makula- o. Papillen-
ödem können vorkommen.
• Uveitis intermedia: Entzündung des Glaskörpers (Vitritis). Pars planitis: Son-
derform mit Infiltraten im Übergang zwischen Retina u. Ziliarkörper, häufig 12
mit Makula- u. Papillenödem.
• Uveitis post.: Entzündung im Bereich der Retina u. Choroidea (Retinitis,
Chorioiditis, Chorioretinitis).
• Panuveitis: Entzündung aller drei Abschnitte.
Urs.:
• Spezifische Erreger: Viren (v. a. VZV, CMV, LCMV), Parasiten (Toxoplas-
men, Toxocarien), Pilze (Histoplasma, Candida, Kryptokokken); selten Bak-
terien.
• Autoimmun: U. a. bei Spondylarthropathien, entzündl. Darmerkr., Sarkoido-
se, M. Behcet, Vogt-Koyanagi-Harada-Sy. (aseptische Meningitiden, Iridozy-
klitis, Vitiligo, Verlust von Wimpern) o. als umschriebene Uveitis (z. B. juve-
nile chron. Iridozyklitis).
Klinik:
• Visusminderung v. a. bei post. Uveitis.
• Rotes Auge, Schmerzen, Lichtempfindlichkeit bei ant. Uveitis. Meist bds.
Auftreten.

Amaurosis fugax
Urs.: Vorübergehende Durchblutungsstör. (A. ophthalmica) der Retina (retinale
TIA); meist bei Stenose der ipsilateralen ACI o. ACC (arterioart. embolisch, selte-
ner durch Minderperfusion) o. kardial-embolisch.

Eine Amaurosis fugax ist ein Risikofaktor für eine manifeste zerebrale Isch­
ämie!

Klinik:
• Erkr. des höheren Lebensalters mit akutem schmerzlosem monokulärem
­Visusverlust.
• Dauer meist einige Minuten.
• Meist gesamtes Gesichtsfeld betroffen.
• Bei embolischer Genese auch (wandernde) schwarze Schatten im Gesichts-
feld, bei Minderperfusion auch pos. visuelle Phänomene möglich.
Ther.: Ther. der zugrunde liegenden Gefäß- o. kardialen Erkr. (▶ 7).

Zentralarterienverschluss
Urs.: Verschluss der A. centralis retinae, meist embolisch, seltener entzündl. (v. a.
Riesenzellarteriitis [▶ 7.5.2], Churg-Strauss-Sy.).
450 12  Erkrankungen der Hirnnerven  

Klinik:
• Erkr.-Alter meist 5. u. 6. Dekade.
• Akute schmerzlose monokuläre hochgradige Visusminderung; im Gegensatz
zur Amaurosis fugax persistierend.
• Bei Zentralarterienverschluss gesamtes Gesichtsfeld betroffen. Fingerzählen
meist noch möglich (im Gegensatz zum Verschluss der A. ophthalmica mit
kompletter Amaurose).
• Fundoskopisch weiße Netzhaut mit „kirschrotem Fleck“ der Makula (Folge
der intakten Blutversorgung über ziliare Äste).
• Bei Astverschluss sektorielle Defizite.
Ther.:
• Ther. der zugrunde liegenden Gefäß- o. kardialen bzw. entzündl. Erkr.
• Bulbusmassage, Azetazolamid, Hämodilution, Lysebehandlung: Wirksamkeit
12 nicht gesichert.
Progn.: Visusdefizit meist persistierend.

Zentralvenenthrombose
Urs.: Thrombose der V. centralis retinae, meist lokal durch Kompression arterio-
sklerotisch veränderter benachbarter art. Gefäße ausgelöst, häufig jedoch unklar.
Weiterer Risikofaktor: Erhöhter Augeninnendruck.
Klinik:
• (Per)akute Visusminderung, häufig zunächst mit Schleiersehen.
• Fundoskopisch radiäre Blutungen um die Papille, erweiterte Venen, Makula-
ödem.
Ther.:
• Ther. der Grunderkr. (Arteriosklerose, Hypertonie, Glaukom).
• Hämodilution o. lokale Ther. (rtPA, VEGF-Hemmer, Steroide): Wirksamkeit
nicht gesichert.
Progn.: Bei hochgradiger Visusminderung schlecht, ansonsten variabel.

12.2.2 Erkrankungen des N. opticus


Optikusneuritis (ON; ICD-10 H46)
Syn.: Neuritis nervi optici (NNO). Meist als Retrobulbärneuritis (RBN); Sonder-
form: Papillitis (Entzündung des vordersten Anteils des N. opticus).
Urs.:
• Bei demyelinisierenden ZNS-Erkr.: Retrobulbärneuritis als (Erst-)Sympt.
­einer MS (▶ 10.1.2), Neuromyelitis optica (▶ 10.2.2), idiopathische Optikus-
neuritis (▶ Tab. 12.1).
• Bei anderen Autoimmunerkr.: Sarkoidose, Kollagenosen (v. a. SLE, Sjögren-
Sy.), Vaskulitiden (v. a. Riesenzellarteriitis, Polyarteriitis nodosa, Wegener-
Granulomatose [Granulomatose mit Polyangiitis]), entzündl. Darmerkr.
• Infektiös: Bakt. (v. a. Borreliose, Syphilis, Meningokokken, Mykoplasmen),
viral (Herpesviren, HIV, Coxsackie-Virus, Adeno-Viren, Masern, Mumps,
Röteln), parasitär (Toxoplasmen, Zystizerken, Toxokarien, Nematoden), Pil-
ze (Krytokokken, Aspergillen, Candida, Histoplasma, Mukormykosen).
• Postvakzinal.
   12.2  N. opticus (N. II)  451

Tab. 12.1  Differenzialdiagnose der Optikopathien


Optikus- AION Kompression/ Toxisch Heredi- STP
neuritis Infiltration tär

Erkr.-Alter Jünger Älter 30–40 Lj: Me- Jedes Jünger Jedes


(> 50 Lj) ningeom. ­Alter ­Alter
Kindheit:
­Gliom

Lokalisation Meist Einseitig Einseitig Bds. Bds. Bds.


einseitig

Visusverlust Rasch Akuter Langsam pro- Langsam Subakut Visus u.


progre- Beginn gredient progre- o. lang- Pupillen-
dient dient sam funktion
progre-
dient
lange un-
gestört
12
Schmerz Retro- Selten Nein Nein Nein Kopf-
bulbärer (außer schmer-
Bewe- bei Rie- zen bei
gungs- senzellar- Hirndruck
schmerz teriitis)
häufig

Farbsehen Meist ge- Meist Gestört Früh ge- Gestört Lange


stört normal stört ungestört

Gesichts- Zentral Quadran- Variabel Zentral Zentral Peripher


feldausfälle ten

Papille: Normal Ödem Variabel Hyper­ Variabel Ödem


• Früh o. Ödem ämisch

• Spät Tempo- Segmen- Abblassung Abblas- Abblas- Abblas-


rale Ab­ tale Ab­ sung sung sung
blassung blassung

Prognose Gut Variabel Variabel Besse- Schlecht Gut bei


rung rechtzei-
möglich tiger Be-
handlung

Papillitis: Im Gegensatz zur Retrobulbärneuritis parazentrale, sektorale o. peri-


phere Gesichtsfelddefekte. Abgrenzung zur STP: Akuter Beginn, bulbärer
Schmerz, Stör. der Pupillomotorik (Afferenzstör.), z. T. Glaskörperinfiltrat.

Anteriore ischämische Optikusneuropathie (AION)


Def.: Neuropathie im Bereich der Papille durch Verschluss der ziliaren Gefäße
aus der A. ophthalmica (▶ Tab. 12.1).
Nichtvaskulitische AION: > 90 % der AION.
• Hauptrisikofaktoren: Mikroangiopathie, Diab. mell., Hypertonus.
• Ther.: Behandlung der Risikofaktoren, ansonsten keine spezifische Ther.
• Progn.: Visusdefizit meist persistierend.
Vaskulitische AION: < 10 % der AION. Überwiegend im Rahmen einer Riesen-
zellarteriitis (▶ 7.5.2).
452 12  Erkrankungen der Hirnnerven  

Posteriore ischämische Optikusneuropathie (PION)


Def.: Neuropathie im retrobulbären Bereich des Sehnervs; seltener als AION.
Klinik: Akuter schmerzloser Visusverlust, im Gegensatz zur AION jedoch eher
zentrale Gesichtsfelddefekte.
Urs.: Nichtvaskulitisch, vaskulitisch (Ätiol. wie bei AION); als KO großer chir.
Eingriffe (wahrscheinlich systemisch hämodynamisch).

Toxische Schädigungen
• Toxine: U. a. Äthanol, Äthylenglykol, Arsen, Blei, Methanol, organische Lö-
sungsmittel, Organophosphate, Tabak, Thallium.
• Medikamente: Amiodaron, Barbiturate, Chinin, Chloramphenicol, Chloro-
quin, Digitalis (führt zu gelb-grünem Farbeindruck), Disulfiram, Ethambutol,
Isoniazid, Linezolid, Phosphodiesterase-Hemmer zur Ther. der erektilen Dys-
12 funktion, Streptomycin, Tetrazykline; Vit.-A-Überdosierung.

Zu zerebralen Stör. des Visus führen Ciclosporin, Tacrolimus, Quecksilber.

• Diätetisch: Cobalamin-(Vit.-B12-), Thiamin-(Vit.-B1-), Niacin- o. Folsäure-


mangel.
• Tabak-Alkohol-Amblyopie: Bilaterale schmerzlose, langsam progrediente
Visusminderung mit zentralem Skotom u. Farbsehstör. (Rot-grün-Sehen ver-
mindert).
– Im Zusammenhang mit Alkohol- u. Nikotinmissbrauch, wobei deren pa-
thogenetische Rolle umstritten ist; Folge einer Mangelernährung (Vit.-B-
Mangel) wahrscheinlicher.
– Unter Alkohol-/Tabak-Karenz u. Vit.-Substitution häufig Besserung.

Hereditäre Störungen
Rot-grün-Sehschwäche (ICD-10 H53.5: Farbsinnstör.): Häufigste Form der Farb-
fehlsichtigkeit (Dyschromatopsie), meist zurückzuführen auf eine X-chrom. rez.
vererbte Stör. im Opsin der Grün-Rezeptoren, aus der eine Schwäche der Grün-
Wahrnehmung resultiert (Deuteranomalie). M zu 9 %, F zu < 1 % betroffen.
• Im Alltag keine wesentliche Behinderung; Tauglichkeit für bestimmte Berufe
jedoch eingeschränkt (Kraftfahrer, Lokomotivführer, Pilot, Polizist).
• Screening-Test: Ishihara-Tafeln.
Leber-Optikusneuropathie: Syn. Leber-Optikusatrophie (LHON [Leber's heredi-
tary optic neuropathy]): Mitochondriopathie mit unvollständige Penetranz, M
häufiger betroffen (M:F = 3:1).
• Klinik: Erkr.-Beginn in der 2. u. 3. Lebensdekade mit schmerzloser akuter bis
subakuter bilat. höchstgradiger Visusminderung u. Optikusatrophie.
• Ther.: Idebenon (Coenzym-Q10-Analogon) bei einigen Pat. wirksam, aber
nicht zugelassen.
Aut. dom. Optikusatrophie (adOA):
• Syn.: Kjer-Sy. Häufigste Form der erblichen Optikusatrophie (Prävalenz
2–8:100.000); in 30–50 % Mutationen im OPA1-Gen (Chromosom 3q28–29),
weitere Loci sind bekannt.
• Klinik: Beginn im Kindesalter; schleichend progrediente, z. T. schubförmige,
schmerzlose Visusminderung mit Skotomen, Farbsehstör. (beginnt häufig
mit Blau-gelb-Schwäche) bds.; Blindheit tritt nur z. T. ein. Intra- u. interfami-
liär sehr unterschiedlicher Verlauf.
   12.3  N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis (­ N. IV), N. abducens (N. VI)  453

12.3 N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis


­(N. IV), N. abducens (N. VI)
12.3.1 Orbitopathien
Endokrine Orbitopathie
Syn.: Endokrine Ophthalmopathie. Bei 25–50 % der Pat. mit Autoimmunthyreo-
pathie (v. a. M. Basedow, selten auch bei Hashimoto-Thyreoiditis). Bei M.  Base-
dow durch TSH-Rezeptor-Auto-AK ausgelöste kreuzreaktive Entzündung des
­retrobulbären Gewebes (v. a. Augenmuskeln) ursächlich.
• Klinik: In ⅔ d. F. Beginn mit o. nach (Mon. bis Jahre) Beginn der Schilddrü-
senerkr., in ⅓ vor Beginn der Schilddrüsenerkr.
– Sympt.: Fremdkörpergefühl, jedoch keine Schmerzen; Lidödeme, Exoph-
12
thalmus (mit Gefahr der ulzerösen Keratitis); Augenmuskelstör. (v. a. der
Heber); Optikopathie. Pupillomotorik ungestört.
– Klin. Zeichen: Dalrymple-Zeichen (sichtbarer Sklerastreifen oberhalb der
Iris bei Geradeausblick), Von-Graefe-Zeichen (Zurückbleiben des Ober-
lids bei Blicksenkung), Stellwag-Zeichen (verminderter Lidschlag), Möbi-
us-Zeichen (Konvergenzschwäche).
• Diagn.: Bestimmung der Schilddrüsenhormone u. -Auto-AK; Bildgebung
(MRT, CT, Sono): Verdickung der Augenmuskeln.
• Ther.:
– Herstellen/Halten einer euthyreoten Stoffwechsellage; Raucherentwöh-
nung.
– Bei aktiver Erkr. Steroide, ggf. Strahlenther. (v. a. bei Augenmotilitätsstör.).
– Bei Optikusneuropathie: ggf. chir. Orbitadekompression.

Pseudotumor orbitae
Unspezifischer lokal entzündl. Prozess ohne Hinweis auf Systemerkr. Wichtigste
DD: NHL der Orbita, v. a. bei schmerzlosem Auftreten.
Klinik:
• (Per)akut auftretender schmerzhafter Exophthalmus mit Schwellung u.
­Augenbewegungsstör., z. T. mit Optikusläsion (wenn raumfordernde Entzün-
dung auch die Orbitaspitze betrifft).
• Pupillomotorik meist ungestört.
• Klin. häufig nicht vom Tolosa-Hunt Sy. zu unterscheiden. Weitere DD: Sar-
koidose, Wegener-Granulomatose, Sinus-cavernosus-Fistel, spezifische Erre-
ger (z. B. Pilze).
Diagn.:
• MRT: KM-Aufnahme im retrobulbären Gewebe.
• Prim. Biopsie bei schmerzlosem Auftreten, sek. Biopsie bei Rezidiv o. Persis-
tenz unter Ther.
Ther.:
• Prednison/Prednisolon 1 mg/kg KG/d p. o. über 14 d, anschließend sehr lang-
same Dosisreduktion.
• Bei steroidrefraktären Fällen: Bestrahlung.
Schmerzhafte ophthalmoplegische Neuropathie
Früher: „Ophthalmoplegische Migräne“.
454 12  Erkrankungen der Hirnnerven  

• Klinik: Wiederholte Attacken mit halbseitigem Kopfschmerz u. Augenmuskel-


paresen (v. a. N. III), die bis zu 2 Wo. nach Beginn der Kopfschmerzen einsetzen.
• Urs.: Neuritis (mitunter in der KM-verstärkten MRT der Orbita sichtbar).
• Ther.: Steroide p. o. z. T. wirksam.
Okuläre/orbitale Myositis
▶ 20.7.5.
12.3.2 Duane-Syndrom
Syn.: Stilling-Türk-Duane-Sy. Angeborene Kernaplasie o. -hypoplasie des N. ab-
ducens.
Klinik: M. rectus lat. wird vom N. oculomotorius versorgt; dies führt bei (ver-
12 suchten) Adduktionsbewegungen des Auges zu einer Bulbusretraktion u. Lidspal-
tenverengung.
• Typ I: Zusätzlich Abduktionslähmung.
• Typ II: Zusätzlich Adduktionslähmung bei normaler Abduktion.
• Typ III: Kombinierte Ab- u. Adduktionslähmung.

12.4 N. trigeminus (N. V)


Symptomatische Trigeminusneuropathien
• Intrakranielle Läsionen
– MS (▶ 10.1).
– Ipsilaterale Kleinhirnbrückenwinkeltumoren, kontralaterale Tumoren der
hinteren Schädelgrube, Tumoren der Schädelbasis, Hirnstamm-/Ponsgli-
ome, Metastasen.
– Kompression durch intrakranielle Gefäße o. knöchern (basiläre Impressi-
on ▶ 14.8.1), Deformation der Schädelbasis (z. B. bei M. Paget), Exostosen.
– Hydrozephalus, Meningiosis neoplastica.
– Wallenberg-Sy. o. andere Hirnstammischämien.
– Syringobulbie (▶ 14.9).
• Extrakranielle Läsionen:
– Traumata von Gesichtsschädel/Schädelbasis (v. a. Felsenbeinlängsfrakturen).
– Erkr. von Nebenhöhlen, Zahn- u. Kieferapparat.
• Als Sympt. systemischer Erkr.:
– GBS/Polyradiculitis cranialis.
– Entzündl.: Herpes zoster, Syphilis, frühe Neuroborreliose, Lepra.
– Tox.: Z. B. Äthylenglykol, Heroin, Thallium.
– Kollagenosen u. Vaskulitiden: Z. B. Sarkoidose, SLE, Mischkollagenosen,
Polyarteriitis nodosa.

12.5 N. facialis (N. VII)


12.5.1 Periphere Fazialisparese
Ursachen
• Epidemiologie: Inzidenz 20–30/100.000. Erkr.-Gipfel zwischen 10. u. 40. Lj, F
= M. Risikofaktoren: Schwangerschaft, Diab. mell., Bluthochdruck.
   12.5  N. facialis (N. VII)  455

• „Idiopathische“ periphere Fazialisparese (ICD-10 G51.0): Syn.: „Bell's Pal-


sy“.
– Etwa 80 % aller einseitigen peripheren Fazialisparesen.
– Bei ca. 60 % der Pat. vorausgegangener unspezifischer Virusinfekt beob-
achtbar.
– Urs.: Schwellung im Canalis facialis, deren Ätiol. unklar ist.
– HSV Typ 1 wird als Erreger diskutiert (Reaktivierung einer latenten In-
fektion im Ganglion geniculi); dies konnte jedoch bisher nicht gesichert
werden.
• Symptomatische periphere Fazialisparese:
– Entzündung: Mastoiditis (Fieber, Druckschmerz), Otitis (Fieber, Schmer-
zen, Hörminderung), Parotitis (Schwellung, keine Geschmacksstör.), ba-
sale Meningitis.
– Mit spezifischem Erreger: Ramsay-Hunt-Sy. (Herpes zoster oticus mit Fa- 12
zialisparese), frühe disseminierte Neuroborreliose, HSV, HIV, EBV,
CMV; selten: Syphilis, Polio, Diphtherie, Lepra.
– Systemisch: MS (▶ 10.1), GBS (▶ 19.9.1)/Miller-Fisher-Sy. (▶ 19.9.2)/Po-
lyradiculitis cranialis, Heerfordt-Sy. (Uveitis, Parotisschwellung u. Fazia-
lisparese als akute Manifestation einer Sarkoidose), M. Wegener.
– Traumatisch o. iatrogen: Felsenbeinfrakturen, Zangengeburt, lokales Hä-
matom, OP, Ciclosporin A, Thalidomid-Embryopathie.
– Tumoren: Kleinhirnbrückenwinkel-Tumor (Nn. trigeminus, vestibulo-
cochlearis beteiligt), Meningeom, Cholesteatom, Glomus-jugulare-Tu-
mor, Parotistumoren; Meningiosis carcinomatosa.
– Syndromal: Melkersson-Rosenthal-Sy. (▶ 12.5.2), Möbius-Sy. (▶ 12.5.3).
• Bds. periphere Lähmung: Fast immer symptomatisch!
Klinik
Lähmung der Gesichtsmuskulatur (▶ Abb. 12.1A) mit:
• Verstrichenen Stirnfalten; Stirnrunzeln nicht möglich.
• Vergrößerter Lidspalte mit inkomplettem Schluss (= Lagophthalmus).
• Bell-Phänomen: Pupille verschwindet sichtbar nach oben beim Versuch, die
Augen zu schließen.
• „Signe de cils“ (Wimpern beim Zusammenkneifen der Augen noch sichtbar).
• Hängendem Mundwinkel, verstrichener Nasolabialfalte; Mund kann nicht
gespitzt o. breit gezogen werden.
• Schmerzen: Wenig Schmerzen bei idiopathischer Fazialisparese (v. a. im Be-
reich des Mastoids). Bei im Vordergrund stehenden Schmerzen an sympto-
matische Urs. denken (z. B. Neuroborreliose).
• Häufig leichte Hypästhesie im Gesicht (als Zeichen einer trigeminalen Mitbe-
teiligung; selbst bei idiopathischer Genese).
Mögliche Begleitsympt. (abhängig vom Ort der Schädigung):
• Mastoidaler Abschnitt des Canalis facialis: Geschmacksstör. in den vorderen
⅔ der Zunge (Chorda tympani aus dem N. intermedius; ▶ Abb. 12.1B).
• Tympanaler Abschnitt des Canalis facialis: Hyperakusis (N. stapedius; ▶ Abb.
12.1C).
• Prox. Abschnitt des Canalis facialis: Tränensekretionsstör. (N. petrosus major
aus dem N. intermedius; ▶ Abb. 12.1D).
• Schädigung im Kleinhirnbrückenwinkel: Schwerhörigkeit/vestibuläre Stör.
(N. facialis, intermedius, vestibulocochlearis).
456 12  Erkrankungen der Hirnnerven  

Motorische Fasern Porus acusticus internus


Sensible Fasern N. cochlearis
Sekretorische Fasern N. vestibularis
N. intermedius
Geschmacksfasern
N. facialis
Tränen- und Nasen-
drüsensekretion
Speicheldrüsen-
sekretion D
Ganglion geniculi

N. petrosus major C

D Pars temporofacialis
12 C N. stapedius
B
Chorda tympani
B
A Foramen
stylomastoideum
N. auricularis post.
R. stylohyoideus
Pars cervicofacialis A
N. auricularis
posterior

Abb. 12.1  Läsionen im Verlauf des N. facialis [L190]

Diagnostik
• Liquorpunktion: Ausschluss/Nachweis einer spezifisch entzündl. Genese
(v. a. Neuroborreliose). Indiziert v. a. bei begleitenden weiteren neurol. Defizi-
ten, ausgeprägten Schmerzen, ausgeprägtem sensiblem Defizit trigeminal.
• CMRT: In erster Linie zur Ausschlussdiagn. (z. B. Prozess im Kleinhirnbrü-
ckenwinkel). Bei idiopathischer Fazialisparese häufig Gd-Aufnahme des
N. facialis (Ganglion geniculi u. intrakanalikulärer Abschnitt) ohne DD-Wert.
• DD zentrale vs. periphere Fazialisparese
–  Kanalikuläre Magnetstimulation: Stimulationspunkt ist der Canalis faci-
alis, daher Ausfall der motorischen Antwort nur bei peripherer Fazialispa-
rese. Cave: Bei Radikulitis (z. B. bei Borreliose) kann die motorische Ant-
wort erhalten bleiben!
–  Blickreflex: Bei peripherer Parese Ausfall der ipsilat. R1- u. R2-Antworten
sowie der R2' bei kontralat. Stimulation. Cave: Differenziert nicht zwi-
schen peripherer u. nukleärer Läsion!

Therapie
Glukokortikoide:

Beginn möglichst rasch, spätestens nach 3  d, danach ist die Steroidther.


wahrscheinlich ineffektiv.
   12.5  N. facialis (N. VII)  457

• Prednisolon 2 × 25 mg/d p. o. über 10 d oder


• Prednisolon 1 × 60 mg/d p. o. über 5 d, danach tgl. um 10 mg reduzieren u.
absetzen.
Virustatika: Eine generelle Empfehlung zur zusätzlichen Gabe von Virostatika
besteht nicht. Bei nachweisbarem Zoster oticus dagegen zusätzliche Gabe von:
• Aciclovir: 800 mg alle 4 h p. o. über 7–10 d oder
• Valaciclovir: 1.000 mg alle 8 h p. o. über 7 d.
Begleitther.:
• Bei inkomplettem Lidschluss künstliche Tränen am Tag u. Uhrglasverband
plus Augensalbe zur Nacht, um Kornea vor dem Austrocknen zu bewahren.
• Mimische Bewegungsübungen mehrmals tgl. vor dem Spiegel.
Folgether.:
!  Nicht zu empfehlen: Reizstrombehandlung (unwirksam, sogar mehr Synki-
nesien möglich) o. operative Dekompression des Canalis facialis. 12
• Bei Defektheilung (frühestens nach 1 J.) mit deutlichem Defizit des Lid-
schlusses „Lidloading“ (Bleigewichte). Bei schweren Defiziten ggf. Nervenre-
konstruktionsverfahren (Anastomose mit N. facialis der Gegenseite o. N. hy-
poglossus) o. freier Muskeltransfer.

Prognose
• Bei inkompletter Parese in 85 % vollständige Rückbildung.
• Bei kompletter Parese am Ende der 1. Wo. in 50 %, am Ende der 2. Wo. in
0–5 % vollständige Rückbildung.
• Beginn der Rückbildung meist innerhalb der ersten 3 Wo.; bei späterem Be-
ginn meist nur inkomplette Rückbildung. Nach 1 J. meist keine weitere Bes-
serung mehr zu erwarten.
• Schlechtere Progn. in höherem Lebensalter, bei Diab. mell., art. Hypertonus
o. Tränensekretionsstör.; Rezidivrate: < 10 %.
• Zur Abschätzung der Progn. eignet sich auch die Elektroneurografie (▶ Tab.
12.2).

Tab. 12.2  Elektroneurografie zur Prognoseabschätzung bei Fazialisparese


Amplitudenabnahme Prognose Zeit bis zu Erholung
(nach 10–12 d)

< 50 % Gut < 50 d

50–90 % Gut 50–160 d

90–98 % Mäßig 160–300 d

> 98 % Schlecht > 300 d

Sympt. einer fehlerhaften Reinnervation:


• Synkinesien: Fehlerhafte Mitbewegungen von Muskelgruppen (z. B. Anheben
des Mundwinkels bei Augenschluss). Behandlung mit Botulinumtoxin mög-
lich.
• „Krokodilstränen“: Unwillkürliche Tränensekretion bei Innervation der
­Gesichtsmuskulatur o. Geschmacksreizen.
458 12  Erkrankungen der Hirnnerven  

12.5.2 Melkersson-Rosenthal-Syndrom
ICD-10 G 51.2.
Granulomatöse Entzündung im Lippenbereich. Familiäre Häufung beschrieben;
Assoziation mit M. Crohn.
Klinik:

Trias
• Schwellung der Ober- u. Unterlippe, z. T. auch der angrenzenden Wan-
genpartien (Cheilitis granulomatosa, orofaziale Granulomatose). Häufig
spontane Rückbildung über Wo.; hohe Rezidivneigung.
• Fazialisparese. Kann der Cheilitis vorausgehen. Hohe Rezidivneigung.
• Faltenzunge (Lingua plicata) mit eingeschränkter Motilität, z. T.
12 ­Geschmacksstör.

Nicht alle Sympt. müssen gegeben sein; Häufigkeit: Cheilitis granulomatosa 75 %,
Fazialisparese 30 %, Lingua plicata 20–40 % (cave: Lingua plicata findet sich auch
in 5 % der gesunden Bevölkerung).
Diagn.: 2 der 3 Majorsympt. (klassische Trias) o. 1 Majorsympt. u. typ. histologi-
sche Veränderungen (nicht verkäsende Epitheloidzellgranulome) der Lippe o.
anderer Gesichtsregionen.
Ther.:
• Fazialisparese: Häufig schlecht steroidresponsibel.
• Cheilitis:
– Steroide lokal (Triamcinolon-Injektion in die Schwellung) o. systemisch.
– Alternativ Clofazimin (Lepra-Medikament), Minocyclin, Thalidomid.
– Ggf. chir. Ther. bei häufigen Rezidiven (Lippenreduktionsplastik).

12.5.3 Möbius-Syndrom
Angeborene, nicht progrediente Stör.
Klinik: Komb. aus meist bds. kompletter Fazialisparese u. Abduzensparese; auch
andere Augenmuskeln, Kaumuskulatur o. Zunge können betroffen sein. Zusätz-
lich weitere Dysplasiezeichen (z. B. Klumpfuß, Syndaktylie).

12.5.4 Frey-Syndrom
Neuralgie des N. auriculotemporalis.
Klinik: Meist schmerzlose Hyperhidrose o. Geschmacksschwitzen (Trigger: Kau-
en u. Geschmacksreize) im Bereich der Schläfe, präaurikulär o. oberhalb des Ohrs;
lokale Hautrötung, Parästhesien.
Urs.: Meist symptomatisch, z. B. bei Z. n. OP im Halsbereich, Parotis-Prozessen.
Ther.: Bei Schmerzen Carbamazepin o. andere Antikonvulsiva meist wenig wirk-
sam. Hyperhidrose: Botulinumtoxin.

12.5.5 Geschmacksstörungen
Klinik:
• Hypergeusie: Verstärkte Geschmackswahrnehmung; Hypogeusie: Vermin-
derte Geschmackswahrnehmung.
• Ageusie: Fehlende Geschmackswahrnehmung.
  12.7 Neurovaskuläre Kompressionssyndrome  459

• Dysgeusie: Qualitativ veränderte Geschmackswahrnehmung o. Verkennen


von Geschmäckern. Häufigste Geschmacksstör.
– Parageusie: Veränderte Geschmackswahrnehmung.
– Phantogeusie: Wahrnehmung nicht vorhandener Geschmäcker.
Urs.: Einer subjektiv empfundenen Geschmacksstör. liegt am häufigsten eine Ge-
ruchsstör. (▶ 12.1) zugrunde! Weitere Urs.:
• Lokale Infektionen, Fazialisparese, zahnärztliche Eingriffe.
• Medikamente: U. a. Antibiotika, ACE-Hemmer, Nifedipin, L-Dopa, Antikon-
vulsiva, Opiate, NSAID, Zytostatika, Thyreostatika.
• Tonsillektomie, Intubation: Druckläsion N. glossopharyngeus.
• „Burning Mouth Syndrome“: Intraorale, die meiste Zeit des Tages anhaltende
brennende Schmerzen, (subjektive) Mundtrockenheit. Bei F vor/im Klimak-
terium > M. Symptomatisch z. B. bei Vit.-B12-Mangel, Diab. mell., Hormon-
mangel. 12
• Selten: Traumatisch, (frontale) Hirnläsionen, Epilepsie, Bestrahlung.
Diagn.:
• Unters. mit Geschmacksproben.
• HNO-/zahnärztliches Konsil; ggf. Bildgebung (CMRT), EEG, Liquorunters.
Ther.:
• Ther. der Grunderkr., wenn möglich, o. Vermeiden des Auslösers (z. B. Medi-
kamente).
• Bei Dysgeusie Ther. mit Lokalanästhetika z. T. kurzfristig wirksam.

12.6 N. vestibulocochlearis (N. VIII)


Hörstörungen
Zu unterscheiden sind Schallleitungsstör. (Mittelohr) von Schallempfindungsstör.
(Innenohr). Urs. für Innenohrschädigungen sind:
• (Para-)Infektiös: Viral (VZV, CMV, Masern, Mumps), bakt. (Otitis media,
frühe Neuroborreliose), bakt. Menigitis (v. a. auch als Spätfolge).
• Innenohrfehlbildungen: Syndromal, Rötelnembryopathie, Thalidomid.
• Medikamentös bedingte Innenohrschäden: U. a. Aminoglykoside, Chinin,
Furosemid, Streptomycin, Zytostatika.
• Andere tox. Innenohrschäden: U. a. Arsen, Benzol, CO, organische Lösungs-
mittel, Quecksilber.
• Traumatische Innenohrschäden: Felsenbeinquerfraktur, Contusio labyrinthi,
akustisches o. Barotrauma.
• Sensorineurale Hörstör., insbes. auch bei Systemerkr.: Meningiosis neoplasti-
ca, Vaskulitiden, SUSAC-Sy., Mitochondriopathien (MELAS, MERRF, CPEO
plus), Enzephalopathien bei Stoffwechselstör., Neurofibromatose Typ 2,
Heredoataxien.

12.7 Neurovaskuläre Kompressionssyndrome
Spasmus hemimasticatorius (N. V)
Urs.: Wahrscheinlich fokale Demyelinisierung motorischer Trigeminusfasern,
z. B. durch benachbarte Gefäße, aber auch durch lokale Bindegewebserkr.
Klinik: Unwillkürliche Spasmen des M. masseter u./o. M. temporalis. Häufig asso-
ziiert mit Hemiatrophia faciei (Parry-Romberg-Sy.).
460 12  Erkrankungen der Hirnnerven  

Ther.: Carbamazepin, Botulinumtoxin.

Spasmus hemifacialis (N. VII; ICD-10 G51.3)


Urs.: Kompression des N. facialis durch PICA o. AICA o. Venen, seltener durch
Aneurysmen o. Tumor. Kann auch bei MS (Demyelinisierung im Hirnstamm)
auftreten.
Klinik: Unwillkürliche Verkrampfungen der mimischen Muskulatur; zu Beginn
häufig nur M. orbicularis oculi betroffen, später Platysma immer mitbetroffen.
Gehäuft bei F.
Ther.:
• 1 Wahl: Botulinumtoxin.
• 2. Wahl: Carbamazepin u. Gabapentin (meist jedoch rascher Wirkungsver-
lust).
12 • Bei nachgewiesenem Gefäß-Nerven-Kontakt ist bei therapierefraktären Fällen
auch eine vask. Dekompression durch Janetta-OP möglich.

Vestibularis-Paroxysmie (N. VIII)


Urs.: Kompression des N. vestibularis, meist durch AICA.
Klinik: Attackenartiger Drehschwindel, für Sekunden bis Min. anhaltend, z. T.
durch bestimmte Kopfpositionen auslösbar o. beeinflussbar.
Ther.: Carbamazepin.

12.8 N. glossopharyngeus (N. IX)


Symptomatische Glossopharyngeusneuropathien
• Hirnstammprozesse: Wallenberg-Sy. u. andere Hirnstamm-/Pons-Infarkte,
Ponstumoren, MS, Motorneuronerkr. (Bulbärparalyse), Syringobulbie
(▶ 14.9).
• Intrakranielle Läsionen: Schädelbasisfraktur, Tumoren der hinteren Schä-
delgrube u. Schädelbasis, Schwannom des N. glossopharyngeus, Vertebralis-
o. Basilarisaneurysma, basale Meningitis, (para-)infektiöse Neuritis, GBS/Po-
lyradiculitis cranialis, Meningiosis neoplastica.
• Extrakranielle Läsionen: Processus-styloideus-Sy. (Eagle-Sy.) mit Kompres-
sion des Nervs durch zu langen Processus styloideus. Klin. Schluckbeschwer-
den u. dumpfer Dauerschmerz im Pharynx, z. T. durch Kauen/Herausstre-
cken der Zunge akzentuiert.
• Iatrogene Läsionen: Neck Dissection, Karotis-TEA, Tonsillektomie.

12.9 Multiple Hirnnervenläsionen
▶ Tab. 12.3.
Tab. 12.3  Multiple Hirnnervenläsionen
Syndrom Ipsilaterale Ausfälle Häufige Ursachen

Foster-Kennedy- N. II, STP (kontralat.); häufig Tumoren der vorderen Schä-


Sy. auch N. I. delgrube

Keilbeinflügel-Sy. Medial: N. I, Exophthalmus, Tumoren im Bereich des Keil-


Gesichtsfelddefekte. Lateral: beinflügels
Nn. II, III, IV, V1, VI
  12.9 Multiple Hirnnervenläsionen  461

Tab. 12.3  Multiple Hirnnervenläsionen (Forts.)


Syndrom Ipsilaterale Ausfälle Häufige Ursachen

Fissura-orbitalis- Nn. III, IV, V1, VI (Para-)selläre Tumoren, intra-


sup.-Sy. kavernöses Karotisaneurysma

Orbitaspitzen-Sy. Nn. II, III, IV, V1, VI Tumoren der mittleren Schä-


delgrube

Sinus-cavernosus- Nn. III, IV, V1, z. T. auch VI; Tumoren (sellär/parasellär,


Sy. Exophthalmus, Schmerzen ­Nasopharynx), Karotisaneurys-
men, Karotis-Sinus-cavernosus-
Fistel, (sept.) Thrombose

Felsenbeinspit- Nn. VI, V1; z. T. auch Nn. III, IV, Klassisch: Bei Otitis (Schmer-
zen-Sy.
­(Gradenigo-Sy.)
V2/3 u. VII zen!). Häufiger: Tumoren der
Felsenbeinspitze (z. B. Choles­ 12
teatome)

Kleinhirnbrücken- Nn. VII, VIII; z. T. auch N. V1/2 Akustikusschwannom


winkel-Sy.

Foramen-jugula- Nn. IX, X, XI Traumatisch: Schädelbasisfrak-


re-Sy. (Vernet-Sy.) tur (Siebenmann-Sy.), Throm-
bose der V. jugularis, Tumoren

Jackson-Sy. Nn. IX, X, XII Läsionen im Bereich des F.


­jugulare

Collet-Sicard-Sy. Nn. IX, X, XI, XII, Schmerzen Destruktion des Condylus


­occipitalis

Villaret-Sy. Nn. IX, X, XI, XII, Horner-Sy. Retromandibuläre Raumforde-


rung

Hemibasis-Sy. Klassisch: Alle HN betroffen; in- Infiltrierende Tumoren der


(Garcin-Sy.) komplette Ausbildung häufig Schädelbasis
13 Neuroonkologie
Peter Hau

13.1 Epidemiologie und 13.6.3 Oligodendrogliome/


Einteilung 464 Mischgliome
13.1.1 Einteilung nach ICD-10 464 (WHO-Grad II) 479
13.1.2 WHO-Klassifikation 464 13.6.4 Anaplastische
13.2 Leitsymptome und Differen­ Oligodendrogliome/
zialdiagnosen 465 Mischgliome
13.2.1 Leitsymptome 465 (WHO-Grad III) 479
13.2.2 Differenzialdiagnosen 466 13.6.5 Glioblastom
13.3 Diagnostik 467 (WHO-Grad IV) 480
13.3.1 Anamnese und Untersu- 13.6.6 Gliomatosis cerebri 481
chung 468 13.6.7 Ependymom 481
13.3.2 Bildgebende Diagnostik 469 13.6.8 Neuronale und gemischte
13.3.3 Labor, Liquor und EEG 470 neurogliale Tumoren 483
13.3.4 Biopsie 470 13.6.9 Medulloblastom/PNET 484
13.4 Allgemeine Therapie 472 13.6.10 Pinealistumoren 484
13.4.1 Patientenaufklärung 472 13.6.11 Schwannome 485
13.4.2 Symptomatische 13.6.12 Meningeom 485
­Therapie 472 13.6.13 Primäres ZNS-Lymphom 486
13.4.3 Operation 473 13.6.14 Kraniopharyngeom 487
13.4.4 Strahlentherapie 474 13.6.15 Fehlbildungen (Dermoide,
13.4.5 Chemotherapie 476 Epidermoide, Kolloidzysten,
13.5 Nachsorge und Hamartome) 488
Rehabilitation 477 13.6.16 Hypophysentumoren 488
13.6 Neuroonkologische Erkran­ 13.6.17 Hirnmetastasen und Menin-
kungen 478 geosis 490
13.6.1 Niedrig maligne Astrozytome 13.7 Paraneoplastische Syndrome
(WHO-Grad I und II) 478 (PNS) 493
13.6.2 Anaplastische Astrozytome
(WHO-Grad III) 478
464 13 Neuroonkologie 

13.1 Epidemiologie und Einteilung


Unterteilung in prim. (v. a. neuroepitheliale u. meningeale Tumoren) u. sek. Hirn-
tumoren (Metastasen, Meningeosis).
• Prim. Hirntumoren repräsentieren etwa 10 % aller malignen Tumoren; jährli-
che Inzidenz etwa 15/100.000 Einwohner, damit etwa 3,5 % aller Tumorneu-
erkrankungen. Einteilung der prim. Hirntumoren nach WHO-Klassifikation
(zuletzt revidiert 2007). Größte Gruppe: Gliome mit einem Anteil von etwa
25 % aller hirneigenen Tumoren.
• Sek. Hirntumoren stammen mit unterschiedlichen Metastasierungsmustern
von verschiedenen systemischen Tumoren ab.

13.1.1 Einteilung nach ICD-10


Die ICD-10 unterscheidet Tumoren des NS in gutartige (D32/33, D36), bösartige
(C47, C70–72) u. solche unsicheren u. unbekannten Verhaltens (D42/43, D48);
die Subklassifikation erfolgt weiter nach Lokalisation, nicht jedoch nach Histolo-
gie. Metastasen werden als sek. bösartige Neubildungen (C79.3/4), Lymphome des
ZNS unter den bösartigen Neubildungen des lymphatischen Gewebes klassifiziert.
13
13.1.2 WHO-Klassifikation
In der 2007 veröffentlichten 4. Auflage der WHO-Klassifikation der Tumoren des
NS finden sich einige neue, durchwegs seltene Entitäten. Für die klin. Praxis erge-
ben sich jedoch wenig Neuerungen.

WHO-Einteilung der Tumoren des Nervensystems


• Neuroepitheliale Tumoren: Gliome (astrozytär, oligodendroglial, Misch-
gliome [oligoastrozytär]), ependymale Tumoren, Plexus-choroideus-Tu-
moren, neuronale u. gemischte neurogliale Tumoren, Pinealistumoren,
embryonale Tumoren.
• Tumoren der HN u. peripheren Nerven: U. a. Schwannome, Neurofibrome.
• Meningeale Tumoren: Tumoren der Meningothelzellen (Meningeome),
mesenchymale Tumoren, andere.
• Lymphome u. hämatopoetische Neubildungen.
• Keimzelltumoren.
• Tumoren der Sellaregion.
• Metastasen.
Hinsichtlich der Häufigkeit u. Altersverteilung ▶ Tab. 13.1.

Tab. 13.1  Häufigkeit u. Altersgipfel primärer Hirntumoren


Tumorart Relative Häufigkeit bei Erw. Altersgipfel bei Erw.

Gliome (Grad I-IV) 23,9 % Alle Altersstufen

• Astrozytome 6,3 % 20–40 J.

• Oligodendrogliome 1,8 % 30–50 J.

• Glioblastome 15,8 % 50–70 J.


   13.2  Leitsymptome und Differenzialdiagnosen  465

Tab. 13.1  Häufigkeit u. Altersgipfel primärer Hirntumoren (Forts.)


Tumorart Relative Häufigkeit bei Erw. Altersgipfel bei Erw.

Ependymome 2,0 % 30–40 J.

Medulloblastome/PNET 1,2 % 20–40 J.

Meningeome 35,5 % Kontinuierlich mit Lebens-


alter ansteigend

Hypophysentumoren 14,1 % Junge Erw. (F wegen


­Prolaktinom jünger)

Neurinome 8,3 % 30–60 J.

Prim. ZNS-Lymphome 2,2 % 50–70 J.

Kraniopharyngeome 0,9 % Kinder u. junge Erw.

Embryonale Tumoren 1,2 % Kinder u. junge Erw.

Keimzelltumoren 0,5 % Junge Erw.

Andere 10,4 % 13

13.2 Leitsymptome und Differenzialdiagnosen


Häufigste Sympt. zum Zeitpunkt der Diagnosestellung: (morgendlich beton-
te) Kopfschmerzen (v. a. hoch maligne Gliome, Metastasen), fokal-neurol.
Ausfälle, Wesensänderungen, epileptische Anfälle (v. a. niedrig maligne Gli-
ome, Metastasen). Je nach Dynamik des Tumorwachstums langsam progre-
dient o. akut auftretend.

13.2.1 Leitsymptome
Epileptische Anfälle
Unterschiedliche Inzidenz als Initialsympt. je nach Entität, bei Diagnosestellung
in 20–40 % vorhanden, im Verlauf bei bis zu 50 %. Bei oligodendroglialen Tumo-
ren häufiger. Fast immer fokal eingeleitet, evtl. sek. generalisiert.

Ein epileptischer Anfall im Erw.-Alter muss immer zum Ausschluss einer


symptomatischen Urs. veranlassen.

Kopfschmerzen und Hirndruckzeichen


• Kopfschmerzen (Häufigkeit je nach Entität u. Stadium, terminal bei der
Mehrzahl der Pat.) mit Verschlechterung im Liegen.
• Weitere Hirndruckzeichen: Übelkeit, morgendliches Erbrechen (im Schwall),
Schwindel, Müdigkeit, Bewusstseinstrübung, psychische Veränderung, Ein-
klemmung.
466 13 Neuroonkologie 

Fokal-neurologische Ausfälle
Abhängig von der Lokalisation des Tumors. Neurol. Ausfälle je nach Eloquenz
des betroffenen Areals. Dynamik der Symptomentwicklung (bei hoch malignen
Gliomen über Wochen bis wenige Monate) als Kriterien der Einordnung.

Verlauf der Symptomatik


▶ Tab. 13.2.
Tab. 13.2  Dynamik des Auftretens von raumforderungsbedingten Symptomen
Klinik Dauer der Symptomatik Ursache

Hirndruckzeichen Tage bis Wo. Tumor, Ödem

Hirndruckzeichen Akut, anfangs teilweise Liquorzirkulationsstör.


intermittierend

Epileptische Anfälle Akut, rezidivierend Tumor, Ödem, Narbe

Fokal-neurol. Sympt. Akut, persistierend o. re- Tumor, Ödem, Tumoreinblutung,


zidivierend sek. Ischämie, Operationsfolge
13 Wesensänderung Wo. Tumor, Ödem

Prognosekriterien
• Bei allen Entitäten gehen Lebensalter, Funktionsstatus bei Diagnose (Kar-
nofsky-Index, ▶ 27.1.4) u. Vorerkr. in die Progn. ein.
• Hoch maligne Gliome: Histologie, molekulare Marker (s. u.), Alter u. Funkti-
onsstatus bei Diagnose sind durch Metaanalysen gesichert.
• ZNS-Lymphom: Zusätzlich Ansprechen auf die ersten beiden Chemother.-
Zyklen als prognostisches Kriterium.
• Bei Metastasen spielt die extrazerebrale Tumorkontrolle eine wichtige Rolle.
• Bei manchen niedrig malignen Tumoren (z. B. Meningeom) ist der Ansatz bei
kompletter Resektion kurativ.

13.2.2 Differenzialdiagnosen
Entzündlich bedingte Raumforderung
Abszess:
• Klinik: Fieber, BSG ↑, Leukozytose (nicht alle obligat!).
• Diagn.: Granulozytäre Pleozytose im Liquor (nicht bei liquorferner Lage!);
ringförmige KM-Anreicherung in CT/MRT, Biopsie.
Enzephalitis:
• Klinik: Bewusstseinstrübung, organisch bedingte psychische Stör., fokale,
sek. generalisierte Anfälle, Herdsympt.
• Diagn.:
– MRT: Je nach Urs. teilweise unauffällig, bei HSV-Enzephalitis bereits zu
Beginn der klin. Symptomatik typ. Signalanhebungen im Temporallappen
(in T2-Wichtung).
– Liquor: Je nach Urs.
Sarkoidose:
• Klinik: HN-Paresen, PNP, Mononeuritis multiplex.
• Diagn.: Labor, Liquor, Rö Thorax, Biopsie.
  13.3 Diagnostik  467

Tuberkulom:
• Klinik: Meningitis, Enzephalitis, Vaskulitis, fokal-neurol. Zeichen.
• Diagn.:
– Labor, Erregernachweis, CT Thorax.
– CCT/CMRT: Z. T. multipel, gel. an Schädelbasis gelegene Ringstrukturen.
– Liquor: Bei reinem Tuberkulom oft normal, sonst typ.: Pleozytose, massi-
ve Eiweißerhöhung, Glukose < 50 % des Serumwerts, PCR.
Parasiten (Echinokokken, Zystizerken):
• Klinik: Herdsympt.; anamnestisch Auslandsaufenthalt.
• Diagn.:
– CT/MRT: Oft multiple, teils zystische, teils verkalkte Raumforderungen,
z. T. ringförmige KM-Anreicherung.
– Liquor normal o. Pleozytose mit Eosinophilen.
– Serologie i.  S./Liquor.

Vaskulär bedingte Raumforderung


Hirninfarkt: Diagn.: In CT/MRT gel. Zeichen bereits vorbestehender Läsionen,
KM-Anreicherung erst 2.–4.Wo. nach Auftreten des Infarkts, Infarktdemarkie-
rung auf ein Gefäßterritorium beschränkt.
Intrazerebrale Blutung:
13
• Parenchymblutung: Anamnestisch plötzliches Auftreten, Gefäßrisikofakto-
ren. CT/MRT: Blutung hyperdens bzw. -intens.
• SDH, Gefäßmalformation, Aneurysma: Progrediente fokal-neurol. Ausfälle u.
Wesensänderungen, Krampfanfälle.
• Epiduralblutung: Blutungsquelle meist Ast der A. meningea media, meist
temporale Lokalisation mit Halbseitensymptomatik.

Knochen- und Weichteiltumoren


Osteom, Osteochondrom, Fibrom, Epidermoid, Lipom, Angiom, Metastasen.
• Klinik: Lokale Schmerzen. Palpation (Konsistenz u. Verschieblichkeit beur-
teilen), Pulsation, Strömungsgeräusch (Angiom).
• Diagn.: CT, evtl. Knochenszinti, Angio bei V. a. Gefäßfehlbildungen, Biopsie.
Meningeome können zu Auftreibung u. Zerstörung des Schädelknochens
führen u. als Knochentumor imponieren.

13.3 Diagnostik
Zum diagn. u. therap. Vorgehen bei V. a. Hirntumor ▶ Abb. 13.1.
468 13 Neuroonkologie 

V.a. hirneigenen Tumor

DD: Metastase, PCNSL, Entzündung, Abszess, andere

Bildgebung
MRT, bei Verdacht auf Verkalkung CT,
evtl. PET (Aminosäure-PET zur DD; Glukose-PET zur Tumorsuche),
evtl. spinale Bildgebung (MRT)

Diagnosesicherung
evtl. Zytologie, Durchflusszytometrie,
Klonalitätsanalyse (Liquor; VOR Operation),
Biopsie/erweiterte Biopsie ODER/UND (sequentiell)
13 Teilresektion/makroskopisch komplette Resektion

Histologie
evtl. Referenz-Histologie

evtl. weiteres Staging

spezielle Therapie symptomatische


je nach Entität Therapie

Nachsorge, Rehabilitation und supportive Maßnahmen (Sozialdienst,


Psychoonkologie, Palliativmedizin)

Abb. 13.1  Diagn. u. therap. Vorgehen bei Hirntumoren [L157]

13.3.1 Anamnese und Untersuchung


• Anamnestische Hinweise (Fremd- u. Eigenanamnese!) auf typ. Frühsympt.:
Kopfschmerzen, morgendliches Erbrechen, epileptische Anfälle, Wesensän-
derungen.
• Dauer der Symptomatik, Dynamik der Progredienz.
• B-Symptomatik u. Sympt. von Malignomen erfragen, die zu Metastasierung,
Meningeosis o. zu paraneoplastischen Sy. führen können. Prim. Hirntumoren
machen kaum B-Symptomatik!
  13.3 Diagnostik  469

13.3.2 Bildgebende Diagnostik
Ind.:
• MRT mit KM: Immer bei klin. V. a. Hirntumor. Mindestanforderungen: T1
ohne u. mit KM (mit KM in mind. 2 Ebenen), T2* o. besser FLAIR. Schicht-
dicke höchstens 6 mm. Cave: Bei Verlaufskontrolle auf gleiche Sequenzen,
Kippung u. Schichtdicke achten.
• CT: Bei akutem Ereignis oft rascher verfügbar (z. B. Ausschluss Blutung), zu-
dem besser geeignet bei Darstellung von Verkalkungen bzw. der Beziehung
zu den knöchernen Strukturen.
• Angio/DSA: Indiziert bei V. a. Meningeom präop. (auch vor offener o. ste-
reotaktischer Biopsie) zur Darstellung chir. relevanter Tumorvaskularisie-
rung u. bei V. a. Gefäßfehlbildung.

Meningeome werden überwiegend über die A. carotis externa (ACE)


u. A. meningea media versorgt: Selektives ACE-Angiogramm wichtig.

• Nuklearmedizin:
– Klärung der Kostenübernahme durch Krankenkasse vor Durchführung. 13
– In ausgewählten Fällen zur OP-Planung, Strahlenther.-Planung, Graduie-
rung von Tumoren u. Ther.-Verlaufskontrolle (Aminosäuren-PET) sinn-
voll. FDG-PET zur systemischen Tumorsuche.
Befunde:
• Hypo- u./o. hyperdense (MRT: -intense) Areale (▶ Tab. 13.3, ▶ Tab. 13.4):
Z. T. unscharf begrenzt u. irregulär konfiguriert, keinem Gefäßversorgungs-
gebiet entsprechend. Multiple Läsionen sind oft Metastasen.
• Indirekte Raumforderungszeichen: Verstreichen der Hirnfurchen, Kom-
pression des Ventrikelsystems, Verschiebung der Mittellinie.
• Liquorpassage: Verlegung o. (häufig asymmetrische) Einengung der basalen
Zisternen bei Liquoraufstau, Ventrikelerweiterung („ballonierte“ Ventrikel),
bes. bei Tumoren von Hirnstamm, Kleinhirn o. 3. Ventrikel.
• Verkalkung: Partiell, z. T. schollig bei Oligodendrogliom, Meningeom, Kra-
niopharyngeom, Ependymom (nur in der CT sichtbar).
• Räumliche Beziehung: Meningeome immer in Duranähe; z. B. von Falx,
Tentorium, Tuberculum sellae, Schädelbasis ausgehend.

Tab. 13.3  Darstellung von Tumorgewebe im Nativ-MRT (Wichtung)


Hyperintense Läsionen Hypointense Läsionen Isointense Läsionen

T1: Blut, Fett T1: Tumor, Ödem T1: Tumor


T2: Tumor, Ödem T2: Kalk, altes Blut T2: Meningeom

Tab. 13.4  Bedeutung der KM-Anreicherung im MRT


Anreicherung Keine Anreicherung Ringförmige Anreicherung

Gliome Grad III u. IV, manch- Gliome Grad II, manch- Glioblastome, ggf. Metasta-
mal Grad II, Lymphome, Me- mal Grad III, sehr sel- sen
tastasen, Medulloblastome ten Grad IV

DD: Entzündungen, Granulo- DD: Infarkt, alte Blu- DD: Strahlennekrose, Hirn-
me, Strahlennekrose tung abszess (geschlossener Ring)
470 13 Neuroonkologie 

Bei Metastasen häufig großes perifokales Ödem bei relativ kleinem Tumor.

13.3.3 Labor, Liquor und EEG


Labor:
• Staging-Routinelabor: Großes BB, Gerinnung, BSG, Leber-, Nierenwerte,
E'lyte.
• Bei V. a. Hypophysentumor: Hypophysenhormone i. S. Bei V. a. (seltenen!)
Keimzelltumor ggf. Hormone u. Tumormarker (AFP, β-HCG) in Liquor u.
Serum.
• Für die meisten hirneigenen Tumoren existieren keine verlässlichen Tumor-
marker. Für sek. Hirntumoren je nach Entität.
Liquor:
• Ind.:
– Ausschluss entzündl. Urs.
– Versuch der ätiologischen Tumor- o. Meningeosiseinordnung durch Zy-
tologie (bei neg. Ergebnis 3 × punktieren).
13 – Zytospin-Präparat für Immunhistochemie u. (bei V. a. PCNSL, Leukämie)
Durchflusszytometrie u. Klonalitätsanalyse (PCR).
• KI:
– Ausgeprägter Hirndruck wegen Gefahr der Einklemmung (bei quantitati-
ver Bewusstseinsstör. o. fokal-neurol. Sympt. vorher CT o. MRT!)
– Gerinnungsstör. (Quick, PTT, Thrombos).

Bei Leukämien Gerinnungsstör. durch Thrombozytopenie. Thrombozyten


vor LP auf > 40.000/μl anheben.

• Bewertung:
– Eiweiß ↑, lymphozytäre Pleozytose, Tumorzellen → am ehesten Meninge-
osis. Immunhistochemische Differenzierung, Durchflusszytometrie, Klo-
nalitätsanalyse anstreben.
– Pleozytose, Eiweiß ↑ o. unauffälliger Befund → solide, hirneigene Tumo-
ren (Tumorzellen nur bei ventrikelnahen Tumoren gelegentlich nach-
weisbar).
EEG: Nur bei anamnestischen Hinweisen auf epileptischen Anfall. Ind. für Anti­
epileptika wird klin. gestellt.

13.3.4 Biopsie

Ohne histologische Einordnung Strahlen- u. Chemother. nicht durchführen.


Es gibt wenige begründete Ausnahmen (z. B. Ponsgliom bei Kindern).

Ind.: Sicherung von Histologie u. Malignitätsgrad zur differenziellen Ther.-Ent-


scheidung; Ausschluss von DD.
• Stereotaktische Biopsie (mit Stereotaxierahmen o. rahmenlos): diagn., be-
vorzugt bei ungünstig lokalisierten Tumoren (Thalamus, eloquenter Kortex),
V. a. PCNSL, älteren o. schwer kranken Pat. mit erhöhtem OP-Risiko (da nur
Lokalanästhesie erforderlich). Vorteil: Hohe Zielpräzision.
  13.3 Diagnostik  471

• Offene Biopsie: Alternative zur stereotaktischen Biopsie bei ätiologisch un-


klarer Raumforderung mit Möglichkeit zur Entfernung solitärer Metastasen
o. strahlenresistenter Primärtumoren. Voraussetzung: Allg. OP-Fähigkeit,
operable Tumorlokalisation.
Einschränkungen: Untersuchtes Gewebe (z. B. Biopsiematerial) evtl. nicht reprä-
sentativ für Gesamttumor u. nicht ausreichend für immunhistochemische Subdif-
ferenzierung.
KO: Einblutung (∼5 %), Zunahme des Hirnödems (10 %), Infektion (1–2 %),
Thrombose.
Tumor-Grading: ▶ Tab. 13.5.

Tab. 13.5  WHO-Graduierung der Gliome


WHO Bezeichnung WHO-Grad Histopathologie

Pilozytisches Astro- I Gutartig, geringe Progressionstendenz, oft ku-


zytom rativ behandelbar. Bei Erw. als Optikusgliom,
in anderer Lokalisation nur bei Kindern

Niedrig malignes II Fibrilläre, protoplasmatische o. gemistozytische


Astrozytom Subtypen.
Bedingt gutartig, manchmal kurativ behandel-
13
bar. Gemistozytischer Subtyp vermutlich mit
schlechterer Progn.

Niedrig malignes II Bedingt gutartig, mäßige Progressionstendenz.


Oligodendrogliom Bessere Progn. als rein astrozytäre WHO-Grad-
u. Oligoastrozytom II-Tumoren, manchmal kurativ behandelbar

Anaplastisches III Bösartig, hohe Progressionstendenz. Nicht ku-


­Astrozytom rativ behandelbar, Überlebenszeit wenige Jah-
re. Bei IDH1-Mutation o. Methylierung des
MGMT-Promoters bessere Progn. u. besseres
Ansprechen auf Strahlen- o. Chemother.

Anaplastisches Oli- III Bösartig, hohe Progressionstendenz. Nicht ku-


godendrogliom u. rativ behandelbar, Überlebenszeiten einige
Oligoastrozytom Jahre. Bei 1p/19q-Kodeletion Progn. u. Anspre-
chen auf Strahlen- plus Chemother. deutlich
besser

Glioblastom IV Sehr bösartig, sehr hohe Progressionstendenz.


Nicht kurativ behandelbar, Überlebenszeit 12–
16 Mon. Bei IDH1-Mutation (sek. Glioblastome)
o. Methylierung des MGMT-Promoters bessere
Progn. u. besseres Ansprechen auf Strahlen-/
Chemother.

• Falsche (eher zu niedrig gradige) diagn. Einschätzung in 30 %. Glioblas-


tome werden aber praktisch nie falsch beurteilt.
• Im Zweifelsfall Referenzhistologie (deutsche Referenzzentren für Hirn-
tumoren: Neuropathologie Uni Düsseldorf, www.uniklinik-duesseldorf.
de/neuropathologie; Neuropathologie Uni Bonn, www.med.uni-bonn.
de/neuropath).
472 13 Neuroonkologie 

Sollten beim individuellen Pat. unterschiedliche Histologien vorliegen, ist die


höchste Graduierung entscheidend: Es gibt keine gemischten Tumoren, z. B.
Grad III–IV; es handelt sich in diesem Fall um einen Grad-IV-Tumor.

13.4 Allgemeine Therapie
Hirntumorpat. sollten – wenn irgend möglich – in klin. Studien behandelt
werden. Informationen zu Studien in den bekannten neuroonkologischen
Zentren, über die NeuroOnkologische Arbeitsgemeinschaft (www.neuroon-
kologie.de) o. bei der deutschen Hirntumorhilfe (www.hirntumorhilfe.de).

13.4.1 Patientenaufklärung
• Stufenweise Aufklärung.
• Erstgespräch ist oft entscheidend für das Vertrauen des Pat. u. seine Compli-
13 ance; möglichst im Beisein Angehöriger o. einer Vertrauensperson durchfüh-
ren.
• Oft werden Informationen unvollständig erfasst, deshalb schriftlich mitgeben.
• Diagnose, ihre Bedeutung, Ther.-Möglichkeiten u. NW sowie die grundsätzli-
che Progn. in für den Pat. verständlichen Worten mitteilen.
• Progn. ist immer individuell, deshalb nie Zahlen angeben.
• Die Suizidhäufigkeit wird als niedrig eingeschätzt.
Prozedere nach Histologiegewinnung in Absprache mit Neurochirurgen,
Strahlentherapeuten, Neurologen, je nach Zentrum evtl. internistischen
­Onkologen vor Pat.-Gespräch in einem Stufenplan festlegen u. bei Rezidiven
erneut diskutieren. Am besten interdisziplinäre Fallkonferenz.

13.4.2 Symptomatische Therapie
Spezifische Behandlung (Anfälle, Hirndruck, Schmerzen, Depression, Wesensver-
änderungen) grundsätzlich als Begleitther. auch jeder neurochir. u. Strahlenther.
Hirndruckther.:
• Glukokortikoide:
– Nur bei klin. Hirndruckzeichen (Hirnödemther.).
– Dexamethason o. Methylprednisolon in dosisäquivalenter Dos.; Beginn
bei akutem Hirndruck z. B. mit 2 × 500 mg/d Methylprednisolon i. v., ab
Tag 4 oralisieren.
– Je nach bildgebendem Befund 40 g Methylprednisolon p. o. morgens aus-
schleichend bis zum evtl. erneuten Auftreten von Hirndruckzeichen, dann
letzte Dosiserniedrigung zurücknehmen.
– Methylprednisolon verursacht wahrscheinlich seltener Kortikoid-Myopa-
thien als Dexamethason.
– Bei Langzeitther. u. Risikofaktoren Osteoporoseprophylaxe.
• Alternativen zu Glukokortikoiden:
– Mannitol 20 % (z. B. 6 × 125 ml/d i. v.) ist wirksam. Cave: Nur für 5–7 d
wirksam, dann Rebound-Effekt.
  13.4 Allgemeine Therapie  473

– Boswellia serrata (hoch dosiert, 4 × 400 mg/d) u. COX-2-Hemmer können


im Einzelfall (Einsparung von Glukokortikoiden) eingesetzt werden.

Bei V. a. ZNS-Lymphom keine Kortikosteroide! Verschleierung der Diagno-


se. Im Zweifelsfall Mannitol.

Symptomatische Epilepsie:
• Keine prophylaktische Behandlung; Ther. erst nach Auftreten eines sympto-
matischen Krampfanfalls.
• Wert der periop. antiepileptischen Abdeckung umstritten.
• Bei Auftreten symptomatischer Anfälle, Anfallsserie u. Status Ther. nach übli-
chen Richtlinien.
• Wenn möglich, Antiepileptika ohne enzyminduzierende Wirkung; sonst
möglicherweise Interaktionen mit Zytostatika. Unter den nicht enzymindu-
zierenden Antiepileptika ist Levetiracetam in der Primärther. der symptoma-
tischen Epilepsie zugelassen.
Depression u. Wesensveränderungen:
• Je nach Antrieb antriebssteigernde (z. B. SSRI) o. sedierende (z. B. Mirtaza-
pin) Antidepressiva. 13
• Behandlung von Angst, Psychose, Wesensänderung nach üblichen Richtlinien.
• Bei massiver Antriebsstör. ohne ausgeprägte affektive o. psychotische Kom-
ponente Ther.-Versuch mit Modafinil; hierzu pos. US-amerikanische Studie.
Psychoonkologie: Mit bis zu 38 % im Vergleich zu anderen onkologischen Erkr.
höhere Depressionsraten.
Thromboseprophylaxe:
• Bisher einzige prospektive Studie wurde abgebrochen, bis zum Abbruch
Trend zur Wirksamkeit. Deshalb Thromboseprophylaxe nach allg. gültigen
Kriterien, z. B. bei Bettlägrigkeit, Steroiden, Thromboseanamnese, weiteren
thrombogenen Faktoren.
• Je nach Anamnese primärprophylaktisch z. B. 2.500 IE/d niedermolekulares
Heparin s. c. o. in gewichtsadaptierter Dosis.
! Wegen schlechter Steuerbarkeit bei makroskopisch vorhandenem Tumor
möglichst kein Phenprocoumon, Warfarin o. ASS. Daten zu neuen Antiko-
agulanzien liegen nicht vor.

13.4.3 Operation

Bei V. a. ZNS-Lymphom nur bioptische Sicherung, OP ohne Wertigkeit.

Indikationen
Je nach Entität. Prognostische Wertigkeit einer möglichst vollständigen Resektion
bei hoch malignen Gliomen liegt nach neuen Studienergebnissen nahe, analog bei
anderen Tumoren.
• Wichtigste Entscheidungskriterien (neben allg. OP-Fähigkeit des Pat.):
– Größe u. Lokalisation des Tumors.
– V. a. bei Rezidiv-OP sinnvolle Anschlussther.
• An größeren Zentren je nach Verfügbarkeit:
– Funktionelle MRT zur lokalisatorischen Zuordnung eloquenter Areale
zum Tumor.
474 13 Neuroonkologie 

– Transkranielle Magnetstimulation zur OP-Planung.


– Intraop. elektrophysiologisches Monitoring.
– Intraop. Bildgebung (MRT; Ultraschall); fluoreszierende Farbstoffe (5-ALA).
– Wach-OP in ausgewählten Fällen.

Vorgehen
• Bei V. a. Gliom, Medulloblastom, PNET o. max. 3 Metastasen möglichst voll-
ständige Tumorentfernung unter Schonung eloquenter Areale o. Reduktion
der Tumormasse (Ziel: Aussagesichere Histologie, Verbesserung der Voraus-
setzung für weitere Ther., Druckentlastung).
• Bei V. a. niedrig gradiges Gliom keine klaren Daten zur Wertigkeit einer so-
fortigen histologischen Sicherung. Evtl. MRT-Kontrolle nach 2 Mon. u. dann
4-monatlich ohne Ther.
– Bei MRT-bildgebendem Progress, klin. Verschlechterung, schwer behan-
delbaren Anfällen o. Alter > 40 J. in jedem Fall sofort bioptische Sicherung.
– Falls komplette Resektion unter Schonung eloquenter Areale möglich, so-
fortige Resektion.
• Bei V. a. ZNS-Lymphom nur Biopsie. Wenn Verdachtsdiagnose falsch, später
Nachresektion.
13
Komplikationen
OP-bedingte Mortalität, Wundinfektionen, Blutung je etwa 5 %.

Palliativoperationen
• Liquorableitung bei Verschlusshydrozephalus u. ansonsten eher günstiger Progn.
durch ventrikulo-atrialen o. ventrikulo-peritonealen Shunt o. Ventrikulostomie.
• Liquorableitung bei Tumorzyste über Rickham-/Ommaya-Reservoir (Shunt
verstopft wegen hohem Eiweißgehalt der Zystenflüssigkeit).
• Rezidiv-OP: Nach sorgfältiger Abwägung von Nutzen (Druckreduktion, evtl.
erneute histologische Sicherung bei V. a. Höhergraduierung) gegenüber NW
(Verschlimmerung bereits bestehender Sympt.) bei allen Tumoren.
! 
Möglichkeiten für Anschlussther. (Pat. geeignet u. vorhandene Ther.-Mög-
lichkeiten).

Lebensbedrohliche Einklemmung bei ungesicherter Histologie o. günstiger


Progn. (z. B. Medulloblastom-Verdacht bei Kindern): Notfallmäßige äußere
Liquor­ableitung durch Bohrloch (in ein geschlossenes System = Außenablei-
tung).

13.4.4 Strahlentherapie

In jedem Fall möglichst vollständige OP o. zumindest histologische Siche-


rung vor Beginn der Strahlenther. außer in begründeten Ausnahmen.

Konventionelle Strahlentherapie
• Photonen-Strahlenther. mit Linearbeschleuniger verbessert die Progn. bei al-
len Gliomen, Medulloblastomen/PNET, ZNS-Lymphomen u. Metastasen je
nach Entität unterschiedlich.
  13.4 Allgemeine Therapie  475

• Außer in wenigen Ausnahmen (Lage in der Nähe sensibler Strukturen, Chor-


dome, Kraniopharyngeome) keine Ind. für Protonenbestrahlung, Schwerio-
nenbestrahlung o. andere experimentelle Verfahren.

Prognostisch mitentscheidend ist zumindest bei hoch malignen Gliomen die


Zeit von der OP bis Beginn der Strahlenther., im Idealfall < 3 Wo.! Erfordert
optimale interdisziplinäre Koordination!

Ind.:
• Anaplastische Gliome u. Glioblastome: Konventionelle Fraktionierung auf
i. d. R. 54/56–60 Gy; bei älteren Pat. sind niedriger dosierte u. damit kürzere
Schemata wahrscheinlich gleich wirksam.
• Niedrig gradige Gliome: I. d. R. 45–54 Gy; Überlebenszeiten vergleichbar. In
einigen Zentren interstitielle Radiother.
• Metastasen: Ind. abhängig von Strahlensensitivität des Primärtumors. Neuer-
dings oft fokale Bestrahlung, je nach Zentrum u. Entität auch Ganzhirnbe-
strahlung mit lokaler Aufsättigung; bei kleinzelligem Bronchial-Ca (SCLC)
prophylaktische Hirnbestrahlung.
• Medulloblastome: Bestrahlung der gesamten Neuroachse mit 35,2 Gy mit lo- 13
kaler Aufsättigung auf 55 Gy.
• Lymphome: Prim. Strahlenther. wird zunehmend verlassen, da nicht kurativ.
Meist bei unvollständigem Ansprechen nach Chemother. o. im Progress nach
hoch dosierter Chemother. Falls indiziert, Bestrahlung des Gehirns mit loka-
ler Aufsättigung.
NW:
• Gehirn:
– Frühsympt. bereits während der Strahlenther. möglich: Verlangsamung,
Apathie, Übelkeit, Erbrechen (reversible Enzephalopathie) in 20–30 %.
Ther.: Glukokortikoide.
– Spätsympt.: Nach wenigen Mon. bis mehreren Jahren Strahlennekrose;
klin. wie Tumor mit progredienter fokaler Symptomatik, neuroradiolo-
gisch z. T. nicht von Tumorrezidiv zu unterscheiden. Zur DD Strahlenne­
krose vs. Tumorrezidiv: Aminosäure-PET mit FET (Fluorethyl-Tyrosin,
relativ spezifisch für Tumor).
– Irreversible, meist progrediente Leukenzephalopathie mit Demenz ½ bis
mehrere Jahre nach Radiotherapie. Ther.: Keine gesichert.
• Haut: Erythem, Hautatrophie, Hyperpigmentierung, Haarausfall.
• RM: Strahlenmyelopathie nach Bestrahlung des RM.
Interstitielle Radiotherapie
Durchführung:
• Stereotaktische Implantation nuklidhaltiger Partikel (125Jod-Seeds).
• Bei niedrig gradigen Gliomen an ausgewählten Zentren (Vorteil: Mehrfach
durchführbar, weniger NW, spätere konventionelle Strahlenther. möglich).
Erfolg: Soweit aus vorliegenden Daten ableitbar, ähnlich wie bei konventionellem
Vorgehen mit OP u. anschließender externer Bestrahlung; keine großen prospek-
tiven o. randomisierten Studien verfügbar.
NW: Sehr häufig (bis 40 %) lokale Strahlennekrosen.
476 13 Neuroonkologie 

13.4.5 Chemotherapie
In speziellen neuroonkologisch (neurol., strahlentherap. o. neurochir.) geführten
Zentren o. in Zusammenarbeit mit internistischen Onkologen.

Es handelt sich um Spezialwissen, wichtige Richtlinien können hier nur kur-


sorisch erläutert werden.

Indikationen
• Bei hoch malignen Gliomen palliativer Ansatz: Abwägung von Wirkung u.
NW. Kriterien: Selbstversorgender u. voll aufklärungsfähiger Patient (Kar-
nofsky-Index ≥ 70; Ausnahme bei fokaler Läsion, die für einen Index < 70 al-
lein verantwortlich ist bei ansonsten guten Voraussetzungen).
• MGMT-Methylierungsstatus prädiktiv für Ther.-Ansprechen. Bestimmung
mangels Ther.-Alternativen momentan trotzdem noch nicht obligat.
• Bei Medulloblastomen/PNET u. ZNS-Lymphomen kurativer Ansatz: Ind.
deutlich großzügiger mit wenn nötig voller Supportivther. Hier ist die erwar-
tete funktionelle Verbesserung entscheidend.
13
Auswahl des Verfahrens
Grundprinzipien
• Gliome: Temozolomid; im Rezidiv Procarbacin, CCNU, Vincristin (PCV).
Vincristin wahrscheinlich verzichtbar u. hohes Neuropathierisiko. Weitere
Substanzen nicht zugelassen. Bevacizumab wird zunehmend häufig eingesetzt.
• Metastasen: Je nach Primarius u. Vorther. Hier sind molekulare Substanzen
in klin. Studien o. zugelassen (z. B. Vemurafenib beim BRAFV600E-mutier-
ten malignen Melanom; EGFR-Inhibitoren beim NSCLC).
• Medulloblastom/PNET: Bisher keine prospektiven Daten zur Chemother.
von Erw. Aktuelle Studie der NeuroOnkologischen Arbeitsgemeinschaft zur
Erstther. mit Cisplatin, CCNU, Vincristin (NOA-07 Studie).
• ZNS-Lymphome: Schemata basieren auf Hochdosis-MTX plus weitere Che-
motherapeutika plus/minus i. th. Chemother.; Strahlenther. nur noch zur
Konsolidierung bei nicht vollständigem Ansprechen; außerhalb von Studien
Verzicht auf Strahlenther.!

Durchführung

Aufklärung des Pat. in Anwesenheit von Angehörigen


Chemother. kann bei Gliomen u. Metastasen (außer Keimzelltumoren) keine
Heilung erzielen, aber das Auftreten eines Rezidivs verzögern. Bei Medullo-
blastomen/PNET u. ZNS-Lymphom kurativer Ansatz. Das Gespräch wird
schriftlich dokumentiert.

Vorbereitung:
• Diff.-BB, CRP, weiteres Labor in Abhängigkeit von vorgesehener Substanz.
• Beginn des Zyklus bei Leukos > 3.000/μl, Thrombos > 100.000/μl u. fehlenden
Entzündungsparametern. Falls Werte nicht erreicht werden, engmaschigere
BB-Kontrollen u. Verschiebung z. B. um je 1 Wo.
• Zurückhaltender Einsatz von Wachstumsfaktoren (G-CSF, GM-CSF) wegen
Proliferationsförderung.
   13.5  Nachsorge und Rehabilitation  477

Dos.: Errechnet sich aus Gewicht u. Größe des Pat. Reduktion bei Knochenmark-
depression, je nach Substanz bei Leber- u./o. Niereninsuff., daher engmaschige
Laborkontrollen.
Wichtige Ther.-Regime:
• Temozolomid bei hoch malignen Gliomen: Als Monother. (WHO-Grad III)
150–200 mg/m2 p. o. Tag 1–5 in 28 d (entspricht 1 Zyklus) o. begleitend zur
Strahlenther. (Glioblastom) 75 mg/m2 tgl. vom ersten bis letzten Tag der Be-
strahlung (auch am Wochenende! Pneumocystis-jirovecii-Prophylaxe!); adju-
vant 150–200 mg/m2. Keine kumulative Knochenmarktoxizität. 6 (Grad IV)
bzw. 8 (Grad III) Zyklen sind Standard. Alternative Schemata (Dosisintensi-
vierung) werden im Einzelfall eingesetzt, erhöhte Wirksamkeit nach neuesten
Daten eher unwahrscheinlich.
• Temozolomid bei niedrig malignen Gliomen: Adjuvant 75–100 mg/m2 p. o.
Tag 1–21 in 28 d (entspricht einem Zyklus); 12 Zyklen.
• PCV: CCNU 110 mg/m2 p. o. Tag 1, Procarbazin 60 mg/m2 p. o. Tag 8–21,
Vincristin 1,4 mg/m2 KO i. v. Tag 8 + 29 von 42 d. Wegen Knochenmarktoxi-
zität meist 6 Zyklen o. weniger möglich.
Zytostatikaapplikation:
13
Zubereitung nur durch Apotheke o. anderes geschultes Personal. Vor Verab-
reichung Gegenkontrolle (richtiges Medikament u. Dosis) durch behandeln-
den Arzt. Durchgängigkeit u. intravasale Lage des Venenkatheters prüfen.
Paravasat-Set auf Station mit schriftlich formuliertem Standard zum Vorge-
hen ist obligat.

Bei Progression Ther.-Wechsel nach Abklingen der NW der vorherigen


Zyklen.

13.5 Nachsorge und Rehabilitation


Ther.-Monitoring:
• Regelmäßige klin. u. MRT-bildgebende Nachkontrollen.
• Beurteilung nach RANO-Kriterien: Schließen multilokuläre Tumoren u. T2/
FLAIR ein. Im Überblick: Complete response (CR): kein Tumor; partial res-
ponse (PR): Tumorrückgang mind. 50 %; stable disease (SD): 49 % Rückgang
bis 24 % Vergrößerung; progressive disease (PD): ab 25 % Vergrößerung. Bei
Progression i. d. R. Ther.-Wechsel.
• Frequenz des MRT je nach Entität (s. u.).
• Dignitätswandel (z. B. niedrig gradiges zu höher gradigem Gliom) kann mit
MRT o. PET nahegelegt werden (relativ niedrige Sensitivität, ersetzt nicht
bioptische Sicherung).

Bei Gliomen darf die Kontrollfrequenz nicht unter die genannten Werte ge-
senkt werden; sie sind (außer WHO-Grad  I u. in seltenen Fällen Grad  II)
nicht kurativ behandelbar u. die Rezidivinzidenz steigt im Verlauf der Nach-
beobachtung.
478 13 Neuroonkologie 

Rehabilitation:
• Einleitung unter Berücksichtigung von Krankheitsprogn. u. Ther.-Ablauf ein-
passen.
• Ziel: Funktionelle Verbesserungen mit mehr Selbstständigkeit. Bisher wenige
Studien; vorhandene Daten zeigen ähnliche Wirksamkeit wie bei anderen
neurol. Erkr.
! Wichtig: Familie o. nahe stehende Personen einbeziehen; immer Psychoon-
kologie u. Sozialarbeit (Berentung, ambulante Krankenpflege, Pflegeheim)
einbeziehen.
• Je nach Schädigung Hirnleistungstraining, Logopädie, Physiother., Ergother.
(u. a. Förderung der Selbstversorgung), orthopädische Hilfen (Rollstuhl).

Einleitung unter Berücksichtigung der Krankheitsprognose. Reha-Behandlung


möglichst früh im Therapieablauf. Spezifische Ther. ist vorrangig.

13.6 Neuroonkologische Erkrankungen
13
13.6.1 Niedrig maligne Astrozytome (WHO-Grad I und II)
Epidemiologie: 6 % der Hirntumoren; Lokalisation im gesamten Gehirn.
Histologie: Pilozytisch (WHO-Grad I; bei Erw. als Optikusgliom; in anderer Lo-
kalisation nur bei Kindern); diffus (WHO-Grad II), langsam wachsend, lokal infil-
trierend; gemistozytärer Subtyp mit schlechterer Progn.
Diagn.:
• In der MRT oft hypo- bis isointens (T1); meist fehlende KM-Anreicherung.
Kein sicheres Ausschlusskriterium für Grad III!
• Zeitpunkt der histologische Sicherung je nach Ther.-Ind.; bei guten prognos-
tischen Kriterien (s. u.) prim. Abwarten gerechtfertigt.
Ther.:
• WHO-Grad I: Möglichst makroskopisch komplette Resektion, erst im Rezi-
div Strahlenther., palliativ Chemother.
• WHO-Grad II: Möglichst makroskopisch komplette Resektion, sonst Biop-
sie. Ther. bei Diagnosestellung, falls > 40 J. o. unbehandelbare symptomati-
sche Epilepsie o. progressive klin. Symptomatik o. Progression im MRT. Au-
ßerhalb klin. Studien prim. adjuvante Strahlenther.
Ther.-Monitoring:
• Unter Ther. MRT alle 4 Mon., außer wenn durch Studienprotokoll anders
vorgegeben.
• Nach Ther.-Abschluss in den ersten 5 J. alle 4, dann alle 6 Mon.
Progn.: Außer bei Grad I u. manchen Grad II immer Rezidive. Mediane Überle-
benszeit bei Grad II 5–8 J., abhängig vom Zeitpunkt der Progression zu höherer
Graduierung.

13.6.2 Anaplastische Astrozytome (WHO-Grad III)


Epidemiologie: Etwa 5 % der Hirntumoren; Lokalisation im gesamten Gehirn.
Histologie: Anaplastisch (WHO-Grad III), fokal z. T. nicht vom Glioblastom zu
unterscheiden, Progn. jedoch besser.
  13.6 Neuroonkologische Erkrankungen  479

Diagn.: In der MRT oft hypo- bis isointens (T1); in den meisten Fällen KM-An-
reicherung. Immer histologische Sicherung.
Ther.:
• Möglichst radikale Resektion.
• Anschließend Strahlenther. o. Chemother. mit Temozolomid o. PCV im
Standardschema (alle gleichwertig).
• Im Rezidiv Ther.-Wechsel.
• Kombinierte Strahlen-Chemother. verbessert evtl. Zeit bis zur Progression,
aber nicht Gesamtüberleben (nicht in Studien belegt).
Ther.-Monitoring: Unter Ther. u. nach Ther.-Abschluss lebenslang alle 3 Mon.
Progn.: Mediane Überlebenszeit 3–5 J.

13.6.3 Oligodendrogliome/Mischgliome (WHO-Grad II)


Epidemiologie: Etwa 2 % der prim. Hirntumoren; im gesamten Gehirn, temporal
betont. Bei Vorliegen von LOH 1p/19q deutlich besser behandelbar als alle ande-
ren Grad-II-, -III- o. -IV-Gliome.
Histologie: „Honigwaben“-Muster der oligodendroglialen Komponente; Verkal-
kungen.
Klinik: Initial oft epileptische Anfälle (70–80 %).
13
Diagn.:
• In der MRT gemischt hyper-/hypointens (T1), oft verkalkt. Meist keine KM-
Aufnahme.
• Hier ist wegen der besseren Darstellbarkeit von Verkalkungen eine CT zu-
sätzlich zur MRT gerechtfertigt.
• Immer histologische Sicherung.
Ther.:
• Möglichst makroskopisch komplette Resektion, sonst Biopsie, dann Beobach-
tung.
• Ther. bei Diagnosestellung, falls > 40 J. o. unbehandelbare symptomatische
Epilepsie o. progressive klin. Symptomatik o. Progression im MRT.
• Ther.-Beginn mit Strahlenther. o. Chemother. mit Temozolomid o. PCV.
Aufgrund der Langzeitprogn. spricht einiges für die prim. Chemother. mit
Temozolomid o. PCV, v. a. bei li temporaler Lage des Tumors (Strahlenther.-
Spätfolgen bei 10–20 % der Pat.).
• Im Rezidiv Ther.-Wechsel.
Progn.: Häufig Rezidive wegen infiltrierenden Wachstums, Überlebenszeit nicht
gut gesichert, aber vermutlich um 15 J.

13.6.4 Anaplastische Oligodendrogliome/Mischgliome
(WHO-Grad III)
Epidemiologie:
• Etwa 5 % der prim. Hirntumoren; im gesamten Gehirn, oft temporal.
• Bei Vorliegen von LOH 1p/19q deutlich besser behandelbar als andere mali­
gne Gliome.
Klinik: Initial oft epileptische Anfälle.
Diagn.:
• In der MRT gemischt hyper-/hypointens (T1), oft verkalkt. Meist KM-Aufnahme.
• Evtl. CT zusätzlich zur MRT wegen Verkalkungen.
• Immer histologische Sicherung.
480 13 Neuroonkologie 

Ther.:
• Möglichst radikale Resektion, anschließend:
– Bei LOH 1p19q: Strahlenther. plus Chemother. mit PCV im Standardschema.
– Ohne LOH 1p19q: Strahlenther. o. Chemother. mit Temozolomid o. PCV.
Aufgrund der Langzeitprogn. spricht einiges für die prim. Chemother.
mit Temozolomid o. PCV, v. a. bei li temporaler Lage des Tumors
(Strahlenther.-Spätfolgen bei 10–20 % der Pat.).
• Im Rezidiv alternative Chemother.
Ther.-Monitoring: Unter Ther. u. nach Ther.-Abschluss lebenslang alle 3 Mon.
Progn.: Häufig Rezidive wegen infiltrierendem Wachstum, Überlebenszeiten bes-
ser als bei anaplastischen Astrozytomen, abhängig von LOH 1p/19q.

Bei Vorliegen einer 1p/19q-Kodeletion verbessert Komb.-Ther. aus Strahlen-


ther. u. PCV-Chemother. in der Primärbehandlung sowohl die Zeit bis zur
Progression als auch das Gesamtüberleben signifikant von ca. 7 auf etwa 14 J.

13.6.5 Glioblastom (WHO-Grad IV)


13 Epidemiologie: Etwa 15 % der prim. Hirntumoren; Prädilektion Marklager des
Großhirns; häufigstes malignes Gliom des Erw.; bessere Progn. bei IDH1-Mutati-
on (sek. Glioblastome) u. Methylierung des MGMT-Promoters.
Histologie:
• Zellatypien, Nekrosen, Hämorrhagien.
• Bei Befall des Balkens „Schmetterlingsgliom“ mit bds. Wachstum
(▶ Abb. 13.2).
• Die Bestimmung von MGMT-Methylierungsstatus (Resistenzenzym gegen
Alkylanzien) hat therapieprädiktiven u. prognostischen Wert (in ausgewähl-
ten Neuropathologien möglich), ist aber wegen fehlender Alternativen noch
nicht obligat außer bei Pat. > 70 J.

Abb. 13.2  Glioblastom („Schmetterlingsgliom“) im hinteren Balken nach Strah-


len-Chemother.: T1 (li), T1 mit KM (Mitte), FLAIR (re) [T715]

Klinik: Oft rasch progredienter Verlauf mit Hirndruckzeichen, fokal-neurol. Aus-


fällen, Wesensveränderung, symptomatischen Anfällen.
Diagn.:
• In der MRT oft gemischt hyper-/hypointens (T1); häufig zentrale Nekrose u.
ringförmige KM-Anreicherung.
• Immer histologische Sicherung.
  13.6 Neuroonkologische Erkrankungen  481

Ther.:
• Möglichst radikale Resektion, anschließend:
– < 70 Lj: Bestrahlung des erweiterten Tumorbetts u. Temozolomid 75 mg/
m2 KOF/d vom ersten bis letzten Tag der Strahlenther., dann 4 Wo. Pau-
se, dann adjuvante Chemother. (MRT vor Beginn, Temozolomid im Stan-
dardschema über 2 Zyklen, MRT-Kontrolle ab hier alle 2 Zyklen, Temo-
zolomid weiter bis Progression o. mind. 6 Zyklen [„EORTC-Schema“, seit
2005 Standard zumindest bei Pat. bis 70 J. u. Karnofsky-Index > 60]). Ver-
längerte Ther., z. B. bis 12 Zyklen, ist evtl. wirksamer. Dosisintensivierung
ist nicht wirksamer (RTOG-0525 Studie).
– Pat. > 70 J. (biologisches Alter!) Monother. je nach MGMT-Status (dosis-
reduzierte Strahlenther. o. Temozolomid).
• Im Rezidiv Klärung Re-OP, Re-Bestrahlung nur mit begleitender Chemo-
ther., Wechsel der Chemother.

Methylierungsstatus bei älteren Pat. wichtig für Ther.-Entscheidung


(­NORDIC trial, NOA-08): Bei Methylierung des MGMT-Promoters
­Temozolomid, alle anderen dosisreduzierte Strahlenther.
13
Progn.: Mediane Überlebenszeit 14 Mon. Bei methyliertem MGMT deutlich besser.

13.6.6 Gliomatosis cerebri
Epidemiologie: Diffuse Infiltration von mehr als 2 Gehirnlappen.
Histologie: Neuroepithelialer Tumor unklaren Ursprungs, seit WHO-Klassifika-
tion 2007 immer Grad III.
Klinik: Oft kognitive Sympt., Persönlichkeitsveränderungen, symptomatische
Epilepsie, Kopfschmerzen.
Ther.: Nur wenige Daten aus Fallserien o. kleinen Studien. PCV (NOA-06 Studie)
o. Strahlenther. sind bedingt wirksam.
Ther.-Monitoring: MRT lebenslang alle 3 Mon.
Progn.: Schlechter als bei anderen Grad-III-Gliomen.

13.6.7 Ependymom
Epidemiologie: Etwa 2 % der prim. Hirntumoren. Von Ependymzellen des III.,
IV. o. der Seitenventrikel ausgehend o. spinal vom Zentralkanal, meist Kindes- u.
Jugendalter.
Histologie: Langsames Wachstum (WHO-Grad  II), seltener anaplastische For-
men (WHO-Grad III), gel. Metastasierung über Liquorweg. Bei älteren Erw. auch
Subependymom (WHO-Grad I).
Klinik: Oft Hydrocephalus occlusivus (lageabhängig).
Diagn.: In der MRT hypo- bis hyperintens (T1), z. T. KM-Anreicherung. Häufig
Verkalkungen, Zysten. Immer histologische Sicherung.
Ther.:
• Möglichst radikale OP (oft wegen Lage nicht möglich), bei Hydrozephalus
Shunt (▶ Abb. 13.3).
• Keine prospektiven Studiendaten (insbes. auch zur Chemother.) bei Erw.
• Richtlinien: Bestrahlung bei Resttumor bei allen Graduierungen, bei Grad III
auch nach makroskopisch kompletter Resektion. Chemother.-Versuch bei
482 13 Neuroonkologie 

Rezidiv orientiert an der Behandlung anderer Gliome gleicher Graduierung


o. Orientierung an pädiatrischen Ther.-Studien.
Ther.-Monitoring: Orientiert an Gliomen mit gleicher Graduierung.
Progn.: Sehr häufig Rezidive; Progn. abhängig von Lage u. Resektionsausmaß.

WHO Grad II

Astrozytom Oligodendrogliom/
Oligoastrozytom

Resektion (makroskopisch komplett), FALLS NICHT MÖGLICH:


Teilresektion/Biopsie ODER MRT-Kontrolle (alle 6 Monate)

> 40 Lj ODER < 40 Lj UND keine > 40 Lj ODER


Progression (MRT Progression Progression (MRT
13 oder Klinik) ODER (MRT und Klinik) oder Klinik) ODER
medikamentös nicht UND keine medikamentös nicht
behandelbare medikamentös behandelbare Epilepsie:
Epilepsie: nicht behandelbare Strahlentherapie
Strahlentherapie Epilepsie: (45–54 Gy) ODER
(45–54 Gy) Zuwarten Chemotherapie (TMZ
75–100 mg/m2 T1–21/28,
12 Zyklen)

WHO Grad III

Anaplastisches
Anaplastisches
Oligodendrogliom/
Astrozytom
Oligoastrozytom

Resektion Resektion
(makroskopisch (makroskopisch
komplett) komplett)

LOH1p19q kein LOH1p19q

Strahlentherapie Strahlentherapie Strahlentherapie


(56–60 Gy) ODER (54–60 Gy) UND (54–60 Gy) ODER
Chemotherapie Chemotherapie Chemotherapie
(TMZ 150–200 mg/m2 (CCNU 110 mg/m2 (TMZ 150–200 mg/m2
T1–5/28, 8 Zyklen) T1, PCB 60 mg/m2 T1–5/28, 8 Zyklen)
T8–21/42, 6 Zyklen)

Abb. 13.3a  Primärtherapie der Gliome WHO Grad II und III [L157/G203]
  13.6 Neuroonkologische Erkrankungen  483

WHO Grad IV

Glioblastom

Resektion (makroskopisch komplett)

< 70. Lj > 70. Lj

Strahlentherapie MGMT Promotor MGMT Promotor


(54–60 Gy) UND methyliert nicht methyliert
begleitende oder nicht bekannt
Chemotherapie
(75 mg/m2 tgl.
zur Strahlentherapie) Chemotherapie Strahlentherapie
13
UND (TMZ 100 mg/m2 (45 Gy hypofraktioniert
adjuvante T1–7 und ODER 54–60 Gy)
Chemotherapie 15–21/28, 12 Zyklen)
(TMZ 150–200 mg/m2
T1–5/28, 6 Zyklen)

Abb. 13.3b  Primärtherapie der Gliome WHO Grad IV [L157/G203]

13.6.8 Neuronale und gemischte neurogliale Tumoren


Selten; unterschiedliche Prädilektionsstellen ja nach Subtyp.

Gangliogliom
• Kinder u. junge Erw.
• Mischtumor aus Ganglien- u. Gliazellen.
• Im gesamten Gehirn, überwiegend temporal (WHO-Grad I o. III).
• Entdifferenzierung zum Glioblastom möglich.
• Manifestation oft durch pharmakoresistente Epilepsien.
• Progn. je nach Graduierung.
• OP oft kurativ, Strahlenther. nur bei WHO-Grad III.
• Wert der Chemother. unklar.
Gangliozytom
• Ähnlich Gangliogliom, aber rein aus Ganglienzellen, WHO-Grad I.
• Bes. im Kleinhirn (Lhermitte-Duclos-Sy.).
• Teils perisellär mit Hypophysenadenom u. endokrinen Stör. assoziiert. Ther.
wie Gangliogliom.
• Andere Subtypen sehr selten.
484 13 Neuroonkologie 

13.6.9 Medulloblastom/PNET
Epidemiologie:
• Embryonaler Tumor, WHO-Grad IV.
• Bei Erw. etwa 1 % aller prim. Hirntumoren; bei Kindern wesentlich häufiger.
• Medulloblastom geht von der Mittellinie des Kleinhirns im Dach des IV. Ven­
trikels aus. PNET (primitiver neuroektodermaler Tumor): Biologisch ähnli-
cher, aber supratentorieller Tumor.
• Differenzierung in Subtypen (desmoplastisch, großzellig, andere) mit unter-
schiedlicher Progn. u. unterschiedlicher Abhängigkeit von molekularen Si­
gnalwegen. Metastasierung innerhalb des Liquorraums („Abtropfmetasta-
sen“), gel. Knochenmetastasen.
Klinik:
• Wegen Verlegung der Liquorpassage oft rasch progredienter Hirndruck, Ata-
xie.
• Bei PNET fokale Sympt. je nach Lokalisation.
• Metastasierung u. Liquoraussaat möglich, dann oft sakral.
Diagn.: Staging mit MRT ± KM der gesamten Neuroachse u. Liquorpunktion mit
Zytologie u. Klonalitätsanalyse (3× wiederholen), Einteilung nach Chang.
13 Ther.:
• Falls notwendig, Liquordrainage.
• Möglichst präop. Staging mit LP u. MRT der Neuroaxis.
• Möglichst radikale OP, postop. MRT, bei resektablem Resttumor Nachresektion.
• Unabhängig vom Metastasierungsgrad Bestrahlung der Neuroachse mit loka-
ler Aufsättigung o. Komb. aus Bestrahlung u. Chemother. z. B. mit Cisplatin,
CCNU, Vincristin.
• Ab M3 nach Chang (makroskopische Metastasen im o. außerhalb des ZNS)
erweiterte Ther. (in jedem Fall Chemother., evtl. intensivierte Chemother. im
Rahmen klin. Studien; Wertigkeit unklar).
• Verträglichkeit u. Prognoseverbesserung bei Erw. wird aktuell prospektiv
evaluiert (NOA-07 Studie).
Ther.-Monitoring: Unter Ther. MRT alle 3  Mon., nach Ther.-Abschluss in den
ersten 5 J. alle 4 Mon., dann jährlich.
Progn.: Bei einem Teil der Pat. kurativer Ther.-Ansatz. Überlebenszeiten u. Rezi-
divrate bei Erw. bisher nicht prospektiv erfasst.

13.6.10 Pinealistumoren
Epidemiologie: Etwa 1 % der prim. Hirntumoren. Von der Glandula pinealis aus-
gehend („Pinealom“), häufig im Jugendalter u. bei jungen Erw. Aussaat über die
Liquorwege häufig.
Histologie: Pinealisparenchymtumoren: Pineozytom, Pineoblastom (maligne).
DD: Keimzelltumoren (auch andere Lokalisationen in der Mittellinie; Grad I–IV).
Klinik: Vertikale Blickparese, Konvergenzlähmung, Hörstör., Ataxie, Müdigkeit,
Hydrocephalus occlusivus, endokrine Stör.
Diagn.: Liquor zur Abklärung einer Aussaat.
Ther.:
• OP nur bei umschriebener Lokalisation, dann je nach Graduierung kurativ o.
adjuvant (Tumorverkleinerung) sinnvoll.
• Bestrahlung bei Pineoblastom, Neuroaxis bei Liquoraussaat.
• Postop. Staging u. erweiterte Ther. in den Händen erfahrener Neuroonkologen.
  13.6 Neuroonkologische Erkrankungen  485

! 
Postop. Staging u. Chemother. in den Händen erfahrener Neuroonkologen.
Progn.: Heilung bei niedrig gradigen Tumoren möglich, höher gradige histologie-
abhängig schlecht.

13.6.11 Schwannome
Epidemiologie: Selten. Von Schwannzellen ausgehend. Wächst langsam, aus-
schließlich verdrängend (WHO-Grad I). Lokalisation häufig am N. VIII („Akusti-
kusneurinom“), selten an Nn. V, IX, X, XII. Bds. Akustikusneurinome bei Neuro-
fibromatose Typ 2.

Akustikusneurinom („Kleinhirnbrückenwinkeltumor“)
Klinik:
• Tinnitus, oft unbemerkt Hörverlust (etwa 30 % bei Diagnosestellung taub).
• Schwindel, Hypästhesie der Tragusinnenseite.
• Kopfschmerzen, zerebelläre Sympt. (Nystagmus, Ataxie, Schwindel mit Fall-
neigung zur Herdseite), HN-Ausfälle (periphere Fazialisparese, N. trigeminus
mit Sensibilitätsstör. u. abgeschwächtem Kornealreflex, N. abducens).
Diagn.: 13
• MRT: Raumfordernde, KM aufnehmende Struktur im Kleinhirnbrückenwin-
kel (▶ Abb. 13.4).

Abb. 13.4  Kleinhirnbrückenwinkeltumor: T1 (li), T1 mit KM (re) [T715]

• CT: Erweiterung des Porus acusticus internus, evtl. Destruktion der Felsen-
beinspitze.
• HNO-Konsil (Audiometrie), Vestibularisprüfung.
Ther.: Vollständige chir. Entfernung (je früher, desto eher N.-cochlearis- u. N.-
facialis-erhaltend); alternativ fokussierte Strahlenther. bei kleinen Tumoren u. äl-
teren eingeschränkt operablen Pat.; evtl. Monitoring ohne Ther. (kleine asympto-
matische Tumoren).
Progn.: Häufig Heilung.

13.6.12 Meningeom
Epidemiologie: Ca. 35 % der intrakraniellen Tumore. Häufige Lokalisationen:
Falx, Tentorium, Keilbeinflügel.
486 13 Neuroonkologie 

Klinik:
• Im Bereich der Sella Affektion des N. II o. des Chiasmas.
• Umwachsen der ACI möglich (dann i. d. R. inoperabel).
• Bei Tentorium-Meningeom Hirnstamm- u. Kleinhirnsympt.
Histologie: Langsam u. verdrängend wachsend je nach Graduierung (Grad II: Er-
höhte Zellularität. Grad III: Anaplasie). Häufig Hyperostose des benachbarten
Schädelknochens. Gel. sarkomatöse Entartung.
Diagn.:
• In der MRT oft gemischt hypo- bis hyperintens (T1), z. T. verkalkt, häufig ho-
mogene KM-Anreicherung (▶ Abb. 13.5). Räumliche Beziehung zu Menin-
gen, z. T. „dura tail“.
• Falls V. a. hohe Vaskularisierung Angiografie präop.

13

Abb. 13.5  Meningeom bei Diagnosestellung: T1 (li), T1 mit KM (re) [T715]

Ther.:
• Möglichst vollständige Entfernung, vorher gelegentlich Embolisation versor-
gender Gefäße (auch bei inoperablem Tumor).
• Bestrahlung nur ab Grad II, bei Resttumor o. im Rezidiv.
• Wertigkeit medikamentöser Ther. nicht belegt.
Progn.: Abhängig von Lokalisation. Aggressivität nimmt mit dem Alter ab! Jahr-
zehntelange Überlebenszeit o. Heilung möglich.

13.6.13 Primäres ZNS-Lymphom
Epidemiologie:
• Etwa 2,5 % aller prim. Hirntumoren. Inzidenzgipfel in der 6./7. Dekade.
• Oft Metastasierung innerhalb des Liquorraums, in das Auge u. gelegentlich
(etwa 5 %) systemisch.
  13.6 Neuroonkologische Erkrankungen  487

• Rezidive können rein okulär auftreten.


• Erhöhtes Erkr.-Risiko bei Immunsuppression.
Histologie: Meist hoch maligne extranodale B-Zell-NHL. Nur bei Immunsup-
pression (z. B. HIV, ▶ 9.4.8) Assoziation zu EBV-Infektionen.
Klinik:
• Oft multifokale Manifestation, zerebral o. spinal; Auge. Sympt. der Infiltra­
tion hinterer Augenabschnitte.
• Leptomeningeale Tumoraussaat häufig.
• Kognitive Stör., fokal-neurol. Defizite, Hirndruck, HN-Stör.
• Seltener SIADH.
!  Oft dramatische Rückbildung unter Glukokortikoiden, aber nie Heilung. Ste-
roide deshalb, wenn irgend möglich, erst nach Diagnosesicherung. Alternativ
zur Hirndrucksenkung: Mannitol.
Diagn.: Staging:
• Staging mit MRT +/– KM der gesamten Neuroachse (nur initial, später ge-
nügt Schädel, außer falls prim. spinaler Befund auffällig).
• LP mit Zytologie (3×), Durchflusszytometrie u. Klonalitätsanalyse.
• Augenkonsil, CT Thorax u. Abdomen, Hoden-Ultraschall, Knochenmark-
punktion.
• Biopsie, außer Diagnose ist bereits zytologisch im Liquor o. bioptisch im
13
Glaskörper gesichert.
Ther.:
• Keine radikale OP!
• Rascher Ther.-Beginn entscheidet mit über Progn.
• Im Gegensatz zu Gliomen wegen des kurativen Ther.-Ansatzes u. der Mög-
lichkeit kompletter Symptomrückbildungen auch schwer betroffene Pat. be-
handeln, sofern keine anderen Faktoren entgegenstehen.
• Strahlenther. allein ist nicht kurativ.
• Methotrexat(MTX)-basierte hoch dosierte Chemother. in Komb. mit anderen
Zytostatika u. evtl. konsolidierender Strahlenther. ist in einem Teil (altersab-
hängig bei jüngeren deutlich günstiger, etwa 40 %) der Pat. kurativ. Cave: Nur
in erfahrenen Zentren! Nierenfunktion entscheidend! Hohe Neurotoxizität
der Komb. MTX plus Strahlenther., bes. bei älteren Pat.
• Rezidivther. schlecht prospektiv evaluiert: Strahlenther., hoch dosierte
stammzellgestützte Chemother., PCV o. Temozolomid gerechtfertigt.
• Bei okulärem Befall am ehesten zusätzlich okuläre Bestrahlung o. intravitreale
Chemother.
Ther.-Monitoring: Unter Ther. alle 3 Mon., nach Ther-Abschluss in den ersten
5 J. alle 4 Mon., dann jährlich.
Progn.: Unbehandelt mediane Überlebenszeit von 2–3  Mon. Bei Behandlung
deutlich besser; kurativer Ther.-Ansatz. Medianes Überleben 50 Mon., aber ab-
hängig vom Lebensalter (> 60 Lj nur 34 Mon.).

13.6.14 Kraniopharyngeom
Epidemiologie: Meist Kindes- u. Jugendalter, aber auch junge Erw.; vorwiegend
in der Sellaregion, Ausbreitung im III. Ventrikel um Hypothalamus.
Klinik: Sympt. von Hypophyse, Hypothalamus, Hirnstamm, HN. Oft Hypophy-
seninsuff., bitemporale Hemianopsie durch Kompression des Chiasma opticum,
Diabetes insipidus durch Hypothalamusbeteiligung, im Verlauf Hydrocephalus
occlusivus.
488 13 Neuroonkologie 

Diagn.:
• CT (Verkalkungen)/MRT (gekammerte Zysten, Verkalkung, evtl. Ventri-
kelaufstau).
• Perimetrie (Gesichtsfeldausfälle).
• Hypophysenfunktionstest (LH, FSH, ACTH, ADH).
Ther.: Vollständige Entfernung ist oft kurativ, bei Hydrozephalus Shuntanlage,
bei Rezidiven Bestrahlung. Evtl. lebenslange Hormonsubstitution.
Progn.: Überleben über Jahrzehnte, Heilung möglich.

13.6.15 Fehlbildungen (Dermoide, Epidermoide,


Kolloidzysten, Hamartome)
Epidemiologie: Insgesamt unter 1 % aller intrakraniellen Raumforderungen. Epi-
dermoide wachsen häufig an der Schädelbasis, Kolloidzysten häufig im III. Ven­
trikel. Bei Dermoiden u. Epidermoiden aseptische Meningitis nach Austritt von
Zysteninhalt.
Histologie: Hamartome bestehen aus Clustern reifer Neurone u. glialer Stroma;
Dermoide u. Epidermoide sind zystische Malformationen aus versprengten
13 Keimzellen.
Diagn.: MRT, bei Dermoid/Epidermoid mit Diffusionswichtung (in T1 u. T2 oft
isointens).
Ther.: Bei Symptomatik möglichst vollständige Resektion.

13.6.16 Hypophysentumoren
Epidemiologie: 15 % der prim. Hirntumoren. Makro- o. Mikroadenome. Hor-
monaktive Tumoren sind meist Mikroadenome. Hormonell aktiv o. inaktiv o.
Hypophyseninsuff. (▶ Tab. 13.6).

Tab. 13.6  DD hormonaktiver u. hormoninaktiver Hypophysentumoren


Hormon­ Kardinalsymptome Therapie Anmerkungen
produktion

Hormonaktive Tumoren

Prolaktin Galaktorrhö, Ame- Dauerther. mit Dop­


(„Prolakti- norrhö, anovulatori- aminagonisten, meist
nom“) sche Zyklen, Libido- Bromocriptin (z. B.
u. Potenzverlust Pravidel®) 1,25 mg,
Steigerung um
1,25 mg alle 4 Wo.
bis 5–30 mg/d. (PRL-
Ziel < 20 ng/ml), OP

STH („eosi- Akromegalie: OP, Strahlenther.; bei Vor OP internistische


nophiles ­Vergrößerung der mangelhaftem An- Einstellung von BZ, Hy-
Adenom“) Akren, Hyperhydro- sprechen Bromocrip­ pertonie, Kardiomega-
se, Hypertrichose, tin einschleichend lie. Bromocriptin wirkt
Menses­anomalien, (s. o.) bis 40–100 mg/d wahrscheinlich auch an-
Potenzstör., path. tiproliferativ
Glukosetoleranz, Hy-
pertonie, Kardiome-
galie
  13.6 Neuroonkologische Erkrankungen  489

Tab. 13.6  DD hormonaktiver u. hormoninaktiver Hypophysentumoren (Forts.)


Hormon­ Kardinalsymptome Therapie Anmerkungen
produktion

Hormonaktive Tumoren

ACTH („ba- Cushing-Sy.: Rotes, OP, Strahlenther., Mit Funktionstests kann


sophiles rundes Gesicht („Ple- evtl. bds. Adrenalek- zentrales Cushing-Sy.
Adenom“) thora“), stammbe- tomie; Vorereitung von NNR-Tumor o. ekto-
tonte Fettsucht, dia- zur OP durch Sen- per ACTH-Produktion
betische Stoffwech- kung Cortisolspiegel/ unterschieden werden!
sellage, Hypertonie, ACTH-Werte Vor OP internistische
Hypogonadismus, Einstellung von BZ, Hy-
Osteoporose, Striae pertonie, E'lyten!
rubrae

Hormoninaktive Tumoren

Keine Partielle HVL-Insuff., OP, Strahlenther. Zeitliche Reihenfolge


(„chromo- Gesichtsfeldausfälle, Hormonsubstitution der Hormonausfälle: Go-
phobe evtl. Doppelbilder mit Hydrokortison, nado-, thyreo-, adreno-
Adeno- Thyroxin, Wachs- kortikotrope Hormone
me“) tumshormon, Östro- 13
genen u. Gestage-
nen, Testosteron,
Desmopressin nach
Ausfallmuster

Klinik: Hormonell bedingte Sympt., ophthalmologische Ausfälle (bitemporale


Hemianopsie, Doppelbilder) im weiteren Verlauf. Unterteilung in laktotrop (Pro-
laktinom, 55 %), somatotrop (Akromegalie, 10 %), kortikotrop (M. Cushing, 5 %),
thyreotrop (Hyperthyreose, 1 %), gondotrop (Amenorrhö, 1 %), hormoninaktiv
(30 %).
Diagn.:
• Funktionsdiagn.: Basale Spiegel von Prolaktin, TSH, fT3, fT4, FSH, LH; bei
klin. Verdacht Screening auf HVL-Insuff.: Na+ (↓), Hb (↓); HVL-Hypersekre-
tion: K+ (↓), ACTH-Stimulationstest; Cushing: 24-h-Sammelurin mit Korti-
sol, fehlende Suppression von Kortisol durch Dexamethason; Wachstumshor-
monübersekretion: IGF-1 (↑), GH (nicht durch Glukose supprimierbar); Dia-
betes insipidus: Durstversuch o. endokrinologisches Konsil mit Stimulations-
u. Suppressionstests.
• Perimetrie: Gesichtsfeldausfälle, Augenhintergrund, Blickmotorik.
• MRT: Radiologisch nachweisbare Sellaveränderungen ab Tumorgröße
> 5 mm.
DD: Andere Tumoren der Sellaregion: Liquorzysten, Metastasen, Chondrome,
Chordome, Meningeome, pilozytische Astrozytome des N. II („Optikusgliom“),
Tumoren des III. Ventrikels. Bei diesen Tumoren sind endokrine Stör. viel selte-
ner u. meist nicht Primärsympt.
Ther.:
• Chir. transsphenoidal o. transfrontal bei progredientem Gesichtsfeldausfall,
Raumforderung mit Ausfall von Hormonachsen o. Hypersekretion (Ausnah-
me Prolaktinom: Immer medikamentös).
• Strahlenther. nur bei nicht vollständiger OP, invasivem Tumor, anderweitig
nicht kontrollierbaren hormonaktiven Tumor.
490 13 Neuroonkologie 

• Medikamentös (Dopaminagonisten bei Prolaktinom, Somatostatinanaloga u.


GH-Antagonisten bei GH-produzierenden nicht vollständig resezierten Tu-
moren); abhängig von HVL-Insuff. Hormonsubstitution mit Hydrokortison,
Thyroxin, Wachstumshormon, Östrogenen u. Gestagenen, Testosteron, Des-
mopressin (nach Funktionsdiagn.).
Ther.-Monitoring: Je nach Subtyp endokrinologisch o. per MRT.
Progn.: Behandeltes Prolaktinom bei Mikroadenom sehr gut; sonst je nach Größe
u. Hormonstatus. Unbehandelt zerebro- u. kardiovask. KO (Akromegalie), Kata-
bolie, Hypertonie, Diab. mell., Cushing-Sy., Überlebensprogn. sehr unterschied-
lich. Nach OP u. Strahlenther. Heilung, jedoch auch Rezidive (progrediente endo-
krinologische Stör., Chiasmasy., Umwachsen der ACI) möglich.

13.6.17 Hirnmetastasen und Meningeosis


Bei Parenchymmetastasen fast ausschließlich hämatogene Absiedlungen extra-
neuraler Tumoren; bei Meningeosis Absiedlung über Liquor, knotig o. flächig,
teils adhärent ohne nachweisbare Tumorzellen im Liquor. Manchmal Erstmani-
festation der Primärerkr.
13
Solide Metastasen
Primärtumor: ▶ Tab. 13.7.

Tab. 13.7  ZNS-Metastasierung solider systemischer Tumoren (▶ Abb. 13.6)


Primarius Häufigkeit solider Häufigkeit Metastasierungsmuster
ZNS-Metastasen ­Meningeosis

Bronchial-Ca SCLC 40 %, NSCLC 5–15 % Gesamtes Hirnparenchym


30 %

Mamma-Ca 20 % 5–15 % Gesamtes Hirnparenchym,


Spätstadium

Malignes Mela- 40 % 5–10 % Gesamtes Hirnparenchym,


nom Einblutungen

Urogenitales Ca 20 % Ca. 5 % Gesamtes Hirnparenchym

Gastrointestinales 5 % Ca. 5 % Überproportional infra-


Ca tentoriell

Leukämien Sehr selten Je nach Subtyp Leptomeningeal


5–80 %

Lymphome Ca. 5 % 15–30 % Parenchym u. leptomenin-


geal

Unbekannter 10–20 % Selten Je nach Entität


­Primarius
  13.6 Neuroonkologische Erkrankungen  491

Abb. 13.6  Mamma-Ca mit flächiger Meningeosis (keine parenchymatösen Meta-


stasen): T1 (li), T1 mit KM (re) [T715] 13
Klinik: Singulär (einzige Metastase im ZNS, aber weitere Metastasen systemisch),
solitär (nur eine Metastase im ZNS) o. multipel, bevorzugt im Großhirn, hohe
Nekroseneigung, im Allgemeinen großes perifokales Ödem.
Ther.:
• OP bei singulärer Metastase o. multiplen Metastasen (bis zu 3 bei guter Zu-
gänglichkeit), wenn Primärtumor u. weitere systemische Metastasen unter
guter Kontrolle sind.
• Radiochir. bei Metastasen < 3 cm, v. a. wenn operativ schlecht zugänglich.
• Wert einer zusätzlichen Ganzhirnbestrahlung bzgl. Überlebenszeit nicht er-
wiesen, wird in klin. Studien untersucht.
• Bei multiplen Metastasen Herd- u. ggf. Ganzhirnbestrahlung (wird zuneh-
mend zurückhaltend eingesetzt).
• Chemother. entsprechend Primärtumor wirksam. Molekulare Substanzen zu-
nehmend in klin. Studien o. zugelassen (z. B. Vemurafenib beim BRAF-
V600E-mutierten malignen Melanom; EGFR-Inhibitoren beim NSCLC).
Progn.: Abhängig von Anzahl der Metastasen u. Progredienz des Primärtumors
wenige Monate (auch bei prim. Ansprechen). 5-J.-Überleben selten (Seminom,
differenziertes Schilddrüsen-Ca).

Meningeosis
Epidemiologie: Leptomeningealer, metastatischer Tumorzellbefall durch solide
Tumoren, Leukämien o. Lymphome; meist multifokale Ausbreitung im Sub-
arachnoidalraum mit Befall von Nervenwurzeln, Cauda equina, HN. Später Über-
greifen auf Parenchym.
Klinik:
• Rücken-, Kopf-, radikuläre Schmerzen.
• Fokale Befunde in Abhängigkeit von lokalem Befall, z. B. HN- o. radikuläre
Ausfälle.
KO: Durch hohes Liquoreiweiß basale Verklebungen, Stör. der Liquorzirkulation
mit Hirndruck u. Hydrocephalus aresorptivus.
492 13 Neuroonkologie 

Diagn.:

Mind. 3× punktieren (außer Diagnose steht vorher), initial etwa 50 % aller
Punktionen ohne Tumorzellnachweis! Tumorzellen sind sehr empfindlich
(Autolyse): Liquor schnell aufarbeiten! Bei dringendem klin. u./o. radiologi-
schem Verdacht Ther. auch bei fehlendem Tumorzellnachweis im Liquor
beginnen.

• Liquor-Basisdiagn.: Eiweiß: Liquoreiweiß ↑↑, Schrankenstör. (Albumin­


Quotient ↑). Pleozytose bis mehrere 100 Zellen/μl. Lymphozyten, lymphozy-
täre Reizformen, z. T. Plasmazellen.
• Liquor-Zytologie: Tumorzellen größer als Lymphozyten, z. T. mehrkernig,
bizarr geformt, Zell- u. Zellkernpolymorphie, z. T. Mitosen, unruhiges Karyo-
plasma, basophiles Zytoplasma. Solide Tumoren: Keine Differenzierungsmög-
lichkeit durch Lichtmikroskopie zwischen verschiedenen Primärtumoren:
Immunzytochemie (in spezialisierten Neuropathologien breites Programm
verfügbar, zunehmend auch genomische Unters.). Meningeosis leucaemica/
lymphomatosa: Bei akuten Leukämien (meist ALL, aber auch AML)/Lympho-
13 men oft homogenes Zellbild. Hier zusätzlich Durchflusszytometrie (Oberflä-
chenmarker) u. Klonalitätsanalyse (PCR auf Leichtkettenmerkmale).
• MRT: KM-Anreicherung von Meningen, Hirnwindungen, Tentorium. Ein-
engung basaler Zisternen, Hydrozephalus. Solitäre leptomeningeale Metasta-
sen möglich (kann mit Meningeom verwechselt werden!). Spinal diffuse Ver-
dickungen der Nervenwurzeln u. Meningen.

Im MRT nur adhärente Meningeosis nachweisbar. Im Liquor nur nichtadhä-


rente Meningeosis nachweisbar. Oft liegen Mischformen vor.

Intrathekale Ther.:

• Zytostase, wenn irgend möglich, über ventrikuläres Reservoir; darüber


prognostisch relevante bessere Verteilung im Liquorraum.
• Labor vor Appl. zur Sicherheit der Punktion (Gerinnung, Thrombos),
nicht wegen (kaum vorhandener) systemischer NW.
• Keine Komb.-Ther. intrathekal.
Chemother.: Ind.: Nicht adhärente Meningeosis.
• MTX:
– Mittel 1. Wahl.
– 15 mg i. th. (LP) o. 12 mg intraventrikulär (Ommaya- o. Rickham-Reser-
voir), beginnend 2×/Wo. bis zur Sanierung des Liquors, dann Erhaltungs-
ther. z. B. alle 2 Wo.
– Leucovorin®-Rescue mit 15 mg ab Stunde 6 nach Appl. alle 6 h für 48 h.
• Ara-C:
– Bei fehlendem Ansprechen auf MTX: 40 mg (Primärtumor Leukämie,
Lymphom).
– Bei Leukämie, Lymphom auch liposomal verkapseltes Ara-C (Depo-­
Cyte®, 50 mg) zugelassen.
   13.7  Paraneoplastische Syndrome (PNS)  493

– Vorteil: Deutlich seltenere Appl. (alle 2 Wo.), bessere Liquorverteilung;


deshalb ohne Reservoir genauso wirksam.
– Nachteil: Hohe Kosten.
Bestrahlung: Ind.: Adhärente Meningeosis.
• Beginn nach 4–6 Zytostatikainstillationen als fokale u./o. Bestrahlung der ge-
samten Neuroaxis.
• Falls Komb.-Ther., Beginn nach 4–6 i. th. Zytostatikagaben als fokale u./o. als
Bestrahlung der gesamten Neuroaxis.
• Wenn möglich, keine tagesgleiche Strahlen- u. i. th. Zytostatika-Ther., v. a.
nicht mit MTX (Neurotoxizität!).

Komplikationen der intrathekalen Behandlung


Transiente aseptische Meningitis (12 d), subakute Enzephalomyelitis (Hemipa-
resen, Paraplegie, abhängig von Dosis), Meningitis bei unsauberem Arbeiten.

Progn.: Meningeosisrezidive werden oft innerhalb weniger Mon. von systemi-


schen Rezidiven gefolgt (v. a. Meningeosis leucaemica). Überleben meist von sys-
temischem Befall bzw. Primärtumor abhängig (bei Lymphomen nach Auftreten
von Rezidiven im Mittel 6 Mon.). 13

13.7 Paraneoplastische Syndrome (PNS)


Def.: Erkr. von ZNS u. PNS, neuromuskulärer Synapse u. Muskulatur durch Tu-
moren außerhalb des NS über AK-Kreuzreaktivität (nicht durch Metastasierung
o. direkte Tumorwirkung).
Epidemiologie: Weniger als 1 % der onkologischen Pat.; in > 50 % ist es bis zu Jahre
vor Manifestation der zugrunde liegenden Tumorerkr. symptomatisch. Am häufigsten
bei SCLC u. gynäkologischen Tumoren; trotzdem nur bei 1–3 % aller Pat. mit SCLC.
Nomenklatur: Zwei unterschiedliche Nomenklaturen (nach Namen der Indexpa-
tienten; nach Antigen). Synonyme für häufige AK sind: Anti-Hu (ANNA-1), An-
ti-Yo (PCA-1/APCA-1), Anti-Tr (PCA-2/APCA-2), Anti-Ma/Ta (Ma2), Anti-Ri
(ANNA-2); je nach Bezeichnung auch unterschiedliche Nachweissysteme (mit
evtl. differierenden Ergebnissen).

Kriterien eines definitiven paraneoplastischen Syndroms


• DD ausgeschlossen.
• Sympt. typ. für klassisches (= häufiges) PNS.
• Nachweis eines gut charakterisierten paraneoplastischen AK u. eines typ.
Tumors.
• Tumordiagnose innerhalb von 5 J.
• Sympt. bessern sich unter Tumorther.

Einige der paraneoplastischen Sy. können auch eine nicht paraneoplastische


Genese haben:
• Limbische Enzephalitis: Idiopathische Formen mit Anti-VGKC-AK sind
beschrieben.
• Myasthenia gravis: In nur ≈15 % Nachweis einer paraneoplastischen
­ enese (Thymom). Paraneoplastische Myasthenien sind immer Anti-
G
AchR-AK-pos. u. Anti-MUSK-AK-neg.
494 13 Neuroonkologie 

• Lambert-Eaton-Sy.: In 50 % paraneoplastisch, bei allen Formen Nach-


weis von Anti-VGCC-AK möglich.
• Neuromyotonie: Bei idiopathischen Formen Nachweis von Anti-­
VGKC-AK möglich.
• Stiff-Person-Sy.: Bei idiopathischen Formen Nachweis von Anti-GAD-
AK möglich; diese können aber auch bei paraneoplastischen Formen
vorkommen.

Diagn.:
• Neurol. Diagn.:
– Neuroradiologie (MRT der Neuroachse).
– Liquor (entzündl. Veränderungen bei PNS häufig!).
– Elektrophysiologie (repetitive Reizung bei V. a. neuromuskuläre Übertra-
gungsstör., EMG bei Muskelbeteiligung).
• Paraneoplastische AK aus Serum u. ggf. Liquor (je nach Sympt., ▶ Tab. 13.8,
am besten in Speziallabor); können als Verlaufsparameter dienen. In ca. 90 %
AK im Serum nachweisbar.
13 • Bei noch nicht bekanntem Tumor u. nachgewiesenem AK je nach Verdacht ge-
zielte Diagn.: körperl. Unters. (LK?), gynäkologische/urologische Unters., Tho-
rax-CT, Abdomen-Sono, Mammografie, evtl. gezielte Ausweitung mit Pan-Endo-
skopie, Bronchoskopie, KM-Punktion, Labor (z. B. Tumormarker, ▶ Tab. 13.9).
• Bei dabei unauffälligen Befunden gilt FDG-PET-CT als sensitivste Methode
zur Tumorsuche.
• Bei bis dato unzureichender Datenlage bei jedem Nachweis von Auto-AK oh-
ne Tumornachweis klin. u. diagn. Verlaufsunters. alle 6–12 Mon.
• Bei neuer B-Symptomatik o. anderen klin. möglichen tumorassoziierten
­Beschwerden zeitnahes Follow-up mit apparativer Diagn.

Tab. 13.8  Paraneoplastische Syndrome (PNS).


Syndrom und Kardinalsymptome und AK und assoziierter Tumor
Wahrscheinlichkeit ­Befunde

Zentrales Nervensystem

Retinopathie: 5 % „Cancer-associated Retinopa- CAR: Anti-Recoverin (Lunge),


thy “ (CAR): Lichtempfindlich- Anti-Hu (SCLC, Prostata, Neu-
keit, Farbseh- u. Visusstör. roblastom)
„Melanoma-associated Retino-
pathy“ (MAR): Visusstör.

Limbische Enze- Stör. des Kurzzeitgedächtnisses, Anti-Hu (SCLC, andere), Anti-


phalitis/Enzephalo- Anfälle, akute Verwirrtheit, Ma (verschiedene), Anti-Ta
pathie: 20 % psychiatrische Veränderungen. (Hoden), Amphiphysin (SCLC)
Path. Veränderungen in cMRT, Anti-VGKC-Komplex (LGI1,
LP, EEG. CASPR-2, Kv1 u. Contactin-2;
Hyponatriämie bei Anti-VGKC- NSCLC, Thymus, Ovar, Niere,
Komplex-assoziierten Erkr., psy- Schilddrüse), Anti-GAD, Anti-
chiatrische Sympt. u. Epilepsie NMDA-Rezeptor (Ovar), Anti-
bei gelegentlich unauffälligem AMPA-Rezeptor (NSCLC,
MRT bei Anti-NMDA-assoziier- Mamma, Thymus), Anti-­
ten Erkr. GABAB Rezeptor (SCLC).
   13.7  Paraneoplastische Syndrome (PNS)  495

Tab. 13.8  Paraneoplastische Syndrome (PNS). (Forts.)


Syndrom und Kardinalsymptome und AK und assoziierter Tumor
Wahrscheinlichkeit ­Befunde

Zentrales Nervensystem

Fokale Epilepsie Häufig nonkonvulsiver Status; Anti-Hu (SCLC, Prostata, Neu-


cMRT-Veränderungen im limbi- roblastom), Anti-Ta (Hoden),
schen System o. kortikal Anti-Ma (verschiedene), Anti-
CV2/CRMP5 (SCLC, Thymom),
ANNA-3 (SCLC).

Opsoklonus-Myo- Blitzartige arrhythmische Au- Anti-Hu (SCLC, Prostata-Ca,


klonus-Sy.: 50 % gen- u. Muskelbewegungen Neuroblastom), Anti-Yo
(Kind), 20 % (Erw.) (Mamma, Ovar), Anti-Ta (Ho-
den), Anti-Ma (verschiedene),
Anti-Ri (Mamma, Ovar), Anti-
CV2/CRMP5 (SCLC, Thymom),
ANNA-3 (SCLC).
Kinder: v. a. Neuroblastom.
Erw.: V. a. SCLC, Mamma

Rhombenzephali- Blickparesen/Doppelbilder, Anti-Hu (SCLC, Prostata, Neu- 13


tis/Hirnstammen- Stör. der Atmung roblastom), Anti-Ta (Hoden),
zephalitis/bulbäre Anti-Ma (verschiedene), Anti-
Enzephalitis Ri (Mamma, Ovar), Anti-CV2/
CRMP5 (SCLC, Thymom),
­ANNA-3 (SCLC)

Extrapyramidal- Choreatische o. dystone Sympt. Meist neg.; Anti-Hu (SCLC,


motorische Sy. Prostata, Neuroblastom), An-
ti-Ta (Hoden), Anti-Ma (ver-
schiedene), Anti-CV2/CRMP5
(SCLC, Thymom), ANNA-3
(SCLC) sind beschrieben

Paraneoplastische Subakut Ataxie, Dysarthrie, Anti-Hu (SCLC, Prostata, Neu-


Kleinhirndegene- Nystagmus. roblastom), Anti-Yo (Mam-
ration (PKD)/Zere- F > 50 J. häufiger betroffen. ma, Ovar), Anti-Ta (Hoden),
bellitis: 50 % CMRT u. Liquor in frühen Stadi- Anti-Ma (verschiedene), Anti-
en meist normal. Tr (M. Hodgkin), Anti-CV2/
Bei SCLC Überlappungssy. mit CRMP5 (SCLC, Thymom),
LEMS typ. ­ANNA-3 (SCLC)

(Enzephalo-)Myeli- Meist graue Substanz (ein- Anti-Hu (SCLC, Prostata, Neu-


tis: 10 % schließlich MN) betroffen. roblastom)
Liquor kann entzündl. verän-
dert sein

Peripheres Nervensystem

PNP (sensibel, au- Je nach Subtyp, oft gemischt Anti-Hu (SCLC, Prostata, Neu-
tonom, sensomo- axonal/demyelinisierend. roblastom), Anti-CV2/CRMP5
torisch): 10–20 % Klassisch: Subakute sensorische (SCLC, Thymom), ANNA-3
Neuro(no)pathie (SSN) bzw. (SCLC), Anti-Amphiphysin
Ganglionitis „Denny-Brown“ (SCLC)
mit Schmerzen.
Charakteristisch: Autonome
PNP mit Hypotonie, Subileus/
Diarrhö, Stör. der Pupillomoto-
rik
496 13 Neuroonkologie 

Tab. 13.8  Paraneoplastische Syndrome (PNS). (Forts.)


Syndrom und Kardinalsymptome und Befun­ AK und assoziierter Tumor
Wahrscheinlichkeit de

Peripheres Nervensystem

Mononeuropathie Z. B. Affektion des N. VIII Anti-Hu (SCLC, Prostata,


o. N. ulnaris ­Neuroblastom)

MN-Sy. Sehr selten Paresen, Atrophien Anti-Hu (SCLC, Prostata,


bei Anti-Hu. ­Neuroblastom)
In Einzelfällen vorwiegende
Schädigung des 1. MN bei
Mamma-Ca.
Ansonsten typ. ALS o. ALS-ähn-
liche Erkr. allenfalls mit zufälli-
ger Assoziation

Neuromuskuläre Übertragung

Lambert-Eaton-Sy. Belastungsabhängige prox. Anti-VGCC (spezifisch für


(LEMS; ▶ 21.2): ­Paresen, Mundtrockenheit. LEMS), AGNA/SOX1 (spezi-
13 60 % Dekrement/Inkrement in der
Serienstimulation (EMG)
fisch SCLC); Anti-Hu (SCLC,
Prostata, Neuroblastom), An-
ti-Amphiphysin (SCLC). LEMS
bei SCLC geht mit einer bes-
seren Tumorprogn. einher!

Myasthenia gravis Belastungsabhängige Paresen, Anti-AChR (spezifisch für My-


(▶ 21.1): 15 % Extremitäten- o. bulbär betont. asthenie), Anti-Titin (spezi-
Dekrement in der Serienstimu- fisch für Thymom bei Patien-
lation (EMG) ten < 60. Lj)

Muskel

Dermatomyositis Prox. Paresen, druckempfindli- Nicht bekannt (Ovar, Lunge,


(DM; ▶ 20.7.2): che Muskulatur, Hautverände- Pankreas, Magen, Kolon,
30 % rungen bei DM. NHL, Mamma)
CRP u. CK ↑; typ. Veränderun-
Polymyositis (PM; gen in der Muskelbiopsie Nicht bekannt (NHL, Lunge,
▶ 20.7.3): 15 % Blase)

Neuromyotonie Muskelsteife, zunächst distal, Anti-Hu (SCLC), VGKC-Kom-


(NM, Isaac's Syn- Faszikulationen. Im EMG Dau- plex AK (LGI1, CASPR-2)
drom) eraktivität mot. Einheiten (­Thymom, M. Hodgkin)

Stiff-Person-Sy.: Schmerzhafte einschießende Anti-Amphiphysin (SCLC,


5 % Steifigkeit v. a. am Rumpf, Mamma), Anti-GAD
durch Außenreize provozierbar.
Im EMG Daueraktivität motori-
scher Einheiten

Das FDG-PET-CT ist sensitivste Methode zur Tumorsuche. Bei unauffälli-


gem Befund u. hochgradigem V. a. PNS o. Nachweis paraneoplastischer AK
engmaschige Nachunters. alle 6 Mon.
   13.7  Paraneoplastische Syndrome (PNS)  497

Tab. 13.9  Zuordnung von Tumormarkern u. Autoantikörpern zur Entität bei


paraneoplastischen Enzephalitiden
Neoplasie Tumormarker Assoziierte Autoantikörper

SCLC NSE, CYFRA 21–1 GABABR, AMPAR, Anti-Hu

NSCLC CEA, SCC, CYFRA 21–1 AMPAR, LGI1 (selten)

Mamma-Ca CEA, CA 15–3 AMPAR

Thymom, Thymus-Ca – AMPAR, LGI1, CASPR2, AChR

Ovar-Ca CEA, CA 125, CA 72–4 NMDAR, LGI1

Ovarielles Teratom β-HCG u. AFP NMDAR, LGI1

Hoden-Ca (nicht Seminom) AFP + HCG + LDH Anti-Ma2

Hoden-Ca (Seminom) HCG + LDH Anti-Ma2

Schilddrüsen-Ca Kalzitonin, Thyreoglo- LGI1


bulin, CEA

Ther.:
13

Bei okkultem Primarius Abwägung der Immunsuppression zur Behandlung


des PNS mit der Gefahr eines Aufflammens der Tumorerkr.

• Grunderkr. therapieren. Progn. abhängig von Primärtumor u. Behandlung


desselben.
• B-Zell-Pathologie: Versuch einer immunmodulatorischen Ther. mit Methyl-
prednisolon 500 mg/d i. v. über 5 d; bei Besserung Wdh. alle 6–8 Wo. Falls
nach 1–2 Wo. keine Besserung, IvIg (0,4 mg/kg KG/d i. v. über 5 d) o. Plasma-
pherese.
• T-Zell-Pathologie: Cyclophosphamid. Effekt bei paraneoplastischer PNP u.
limbischer Enzephalitis meist besser als z. B. bei der paraneoplastischen
Kleinhirndegeneration.
• Bei Stiff-Person-Sy. sind IvIg gut wirksam.
Symptomatische Ther.-Optionen:
• Limbische Enzephalitis: Antikonvulsiva, Antidepressiva.
• Opsoklonus: Clonazepam (einschleichend bis 6 mg/d p. o.), Propranolol (ein-
schleichend 3 × 40–80 mg/d p. o.).
• Myoklonus: Trihexyphenidyl (einschleichend 3 × 1–5 mg/d p. o.), Valproat.
• Lambert-Eaton Sy. (▶ 21.2): 3,4-Diaminopyridin (einschleichend bis 60 mg/d
p. o.), Pyridostigmin.
• Myasthenia gravis (▶ 21.1): Pyridostigmin.
• Stiff-Person-Sy.: Diazepam (einschleichend 20–100 mg/d p. o.), Clonazepam
(einschleichend bis 6 mg/d p. o.), Baclofen, Tizanidin, Botulinumtoxin.
• Neuromyotonie: Carbamazepin, Phenytoin.
14 Pathologie des Rückenmarks
Thorleif Etgen

14.1 Leitsymptome und Differen­ 14.4.3 Poliomyelitis anterior


zialdiagnose 500 ­acuta 510
14.1.1 Leitsymptome 500 14.4.4 Arachnopathie,
14.1.2 Höhenlokalisation 502 ­Arachnoiditis 511
14.1.3 Differenzialdiagnosen 503 14.5 Intraspinale Tumoren 512
14.2 Diagnostik und Therapie 504 14.6 Metabolische
14.2.1 Vorgehen bei Verdacht auf ­Myelopathien 513
Rückenmarkläsion 504 14.6.1 Vitamin-B12-/Cobalaminman-
14.2.2 Therapie 504 gel 513
14.3 Vaskuläre Rückenmarkläsio­ 14.6.2 Kupfermangel-Myelopa-
nen 507 thie 513
14.3.1 Arteria-spinalis-anterior-­ 14.7 Strahlenmyelopathie 513
Syndrom 507 14.8 Fehlbildungen der
14.3.2 Spinale Gefäßmalformatio- ­Wirbelsäule 514
nen 507 14.8.1 Fehlbildungen im kraniozervi-
14.3.3 Spinale Blutungen 508 kalen Übergang 514
14.4 Entzündliche Erkrankungen 14.8.2 Spinale Dysraphien 515
des Rückenmarks 508 14.9 Syringomyelie und Syringo­
14.4.1 Epi- und subduraler bulbie 516
­Abszess 508
14.4.2 Myelitis 510
500 14  Pathologie des Rückenmarks  

Blasenstör. ▶ 3.12, spinales Trauma ▶ 22.4.4, Bandscheibenvorfälle ▶ 18, zervikale


Myelopathie ▶ 18.5, neurogene Claudicatio intermittens spinalis ▶ 18.9.

14.1 Leitsymptome und Differenzialdiagnose


14.1.1 Leitsymptome
Allgemein
• Schmerz: Lokaler/radikulärer Schmerz, Klopfschmerz, Hyper-, Hyp-, Analge-
sie.
• Reflexdifferenzen/-ausfälle, path. Reflexe (Babinski, ▶ 1.1.5), Kloni.
• Sensibilitätsstör.: An-, Hyp-, Dys-, Parästhesien, sensibles Niveau, radikuläre
sensible Defizite, dissoziierte, perianale o. Reithosen-Sensibilitätsstör.
• Parese: Kennmuskeln, Para-, Tetra-, Hemiparese, radikuläre Defizite.
• Blasen-/Mastdarmstör.: Einnässen, Überlaufblase, Harn- u. Stuhlinkontinenz.
Querschnittslähmung
Ätiol.: Meist Trauma (▶ 22.4.4), seltener akute Ischämie, z. B. A.-spinalis-ant.-Sy.
(▶ 14.3.1), akute Kompression, z. B. durch Blutung (▶ 14.3.3), Abszess (▶ 14.4.1).
Klinik:
• Akut (spinaler Schock):
– Schlaffe Parese, erloschene MER unterhalb der Läsion nach Min. bis weni-
14 gen Stunden,
– Sensibilitätsstör. für alle Qualitäten u. vegetative Stör. (thermoregulatori-
sche Anhidrose),
– oberhalb der Läsion häufig hyperalgische Zone als Reizsympt.,
– atone Überlaufblase u. Mastdarmlähmung.
• Nach Tagen bis Wo.: Postprimärphase = chron. Querschnittssy. (z. B.
­Tumor, chron. Myelopathie):
– Spastische Parese,
– MER ↑, pos. Pyramidenbahnzeichen (▶ 1.1.5),
– Sensibilitätsstör. für alle Qualitäten,
– hypertone Reflexblase bei Schädigung oberhalb von u. autonome (hypoto-
ner) Blase bei Läsion kaudal von Th12.
• Nach mehreren Wo.: Schmerzhafte, unwillkürliche Streck- u. Beugesynergis-
men der Extremitäten (spinale Automatismen).

Auf Höhe der Läsion auch im chron. Zustand oft schlaffe, atrophische Parese
mit abgeschwächten MER (Kennmuskeln für Läsionshöhe; ▶ Tab. 14.1).

Tab. 14.1  Höhenlokalisation spinaler Läsionen (▶ Abb. 14.1)


Läsion Lähmungen Kennreflex1

C1–C4 Spastische Tetraparese, Zwerchfelllähmung mit


Hochstand, Kopfheben möglich

C5 Spastische Tetraparese, Schulterhochstand BSR

C6 Spastische Paraparese + Armbeugung + C7–C8 RPR


   14.1  Leitsymptome und Differenzialdiagnose  501

Tab. 14.1  Höhenlokalisation spinaler Läsionen (▶ Abb. 14.1) (Forts.)


Läsion Lähmungen Kennreflex1

C7 Spastische Paraparese + Armstreckung + C8 TSR

C8 Spastische Paraparese + Hand- u. Unterarmmuskeln Trömner-Reflex

Th1 Spastische Paraparese (+ Handmuskeln)

Th2–Th12 Spastische Paraparese + Bauchmuskellähmung Bauchdecken- u.


Bauchhautreflexe

L2 Schlaffe Paraparese

L3 Schlaffe Paraparese bis auf Hüftbeugung ADR, PSR

L4 Parese Unterschenkel- u. Fußmuskeln PSR

L5 Parese Fuß-/Großzehenhebung + Hüftabduktion Tibialis-post.-­


Reflex

S1 Parese Fußstreckung + Hüftstreckung ASR


1
 Meist abgeschwächt; Reflexe kaudal davon sind gesteigert

Brown-Séquard-Syndrom
Def.: Halbseitige RM-Schädigung. In reiner Form selten!
Ätiol.: Intramedulläre Tumoren, spinale Ischämie, Trauma (Schuss-/Stichverlet-
zung), EDH o. Abszess, Myelitis, Strahlenmyelopathie. 14
Klinik:
• Ipsilat. auf Läsionshöhe schlaffe, atrophische Parese mit Analgesie u. Anäs-
thesie (wichtig zur Höhenlokalisation ▶ 14.1.2). Unterhalb der Läsion spasti-
sche Parese mit MER ↑, Ausfall von Tiefensensibilität u. Vibration. Gel. feh-
lende Schweißsekretion mit Überwärmung u. Rötung der Haut.
• Kontralat. dissoziierte Sensibilitätsstör. mit Hypalgesie u. Thermhypästhesie
bei erhaltener Berührungsempfindlichkeit.
• Keine Blasen- u. Mastdarmlähmung.
• Bei Läsionen in Höhe C7/Th1 ipsilaterales Horner-Sy. (▶ 3.1.5).
Zentrale Rückenmarkläsion
Ätiol.: Syringomyelie o. -bulbie (▶  14.9), intramedulläre Tumoren (▶  14.5),
s­ pinale Ischämie, Myelitis, Trauma.
Klinik:
• Auf Läsionshöhe bilaterale, segmentale, schlaffe, atrophische Parese mit
MER ↓ u. bds. dissoziierter Sensibilitätsstör. (Läsion der in der Commissura
ant. kreuzenden Bahnen).
• Unterhalb spastische Parese mit MER ↑ u. Miktionsstör. bei intakter Berüh-
rungsempfindlichkeit u. Tiefensensibilität (keine Beteiligung der Hinter-
stränge).
• Bei zervikaler Schädigung gel. spastische Parese der Arme ohne Lähmung der
Beine.

Konussyndrom
Def.: Conus-medullaris-Schädigung in Höhe LWK1.
Ätiol.: Tumoren (▶ 14.5), vask., traumatisch.
502 14  Pathologie des Rückenmarks  

Klinik:
• Schmerzen, Parästhesien u. Sensibilitätsstör. in Dermatomen S3–S5 (= Ano-
Genitalbereich, „Reithosenanästhesie“) mit fehlendem Analreflex.
• Überlaufblase, Mastdarminkontinenz, Impotentia coeundi.
• Schlaffe Paraparese/-plegie nur beim Epikonussy. (L4–S2).
Kaudasyndrom
▶ 18.8.
Def.: Kompression der Cauda equina.
Ätiol.: Medialer Massenprolaps (▶  18.8), intraspinale Tumoren u. Metastasen
(▶ 14.5), Meningeosis carcinomatosa (▶ 13.6.17).
Klinik:
• Initial bds. radikuläre Schmerzen: Lumboischialgien.
• Später schlaffe, meist symmetrische Paraparese/-plegie, MER ↓, bei tiefem
Kaudasy. nur ASR ↓.
• Stör. aller sensiblen Qualitäten in Dermatomen kaudal von L4; bei tiefem Sy.
nur perianale Dermatome S3–S5 betroffen. Klaffender Sphincter ani, fehlender
Analreflex.
• Stuhl- u. Urininkontinenz, Impotentia coeundi.
Isolierte Läsionen einzelner spinaler Systeme
Erkr. einzelner vertikaler Bahnen. Degeneration, metab. Erkr. o. bei inkompletten
fokalen Läsionen.
Spastische Parese:
14 • Def.: Pyramidenbahnläsion (Tractus corticospinalis).
• Klinik: MER ↑, Reflexkloni, verbreiterte Reflexzonen (Ausnahme: Spinaler
Schock ▶ 22.4.4), path. Reflexe (Babinski, Gordon) u. Abschwächung der
Bauchhautreflexe. Feinmotorik stärker beeinträchtigt als grobe Kraft.
• DD: Extra-/intramedulläre Tumoren (▶ 13, 14.5), zervikale Myelopathie
(▶ 18.5), spastische Spinalparalyse (▶ 16.1.2).
Schlaffe Parese:
• Def.: Vorderhornläsion.
• Klinik: Atrophische schlaffe Parese u. MER ↓.
• DD: Traumatisch (▶ 22.4), vask. (▶ 14.3.3), intramedulläre RF (▶ 14.5), spi-
nale Muskelatrophie (▶ 16.1.3), ALS (▶ 16.1.1), spinaler Schock (▶ 22.4.4).
Sensibilitätsstör.:
• Def.: Hinterstrangläsion (Funiculus post., Tractus spinobulbaris).
• Klinik:
– Beeinträchtigt v. a. Vibration u. Lagesinn ↓, ggf. auch Berührungsempfind-
lichkeit, Zwei-Punkt-Diskrimination → sensible Stand-/Gangataxie (▶ 1.1.7).
– Reizsympt. (Parästhesien, Schmerzen).
• DD: Funikuläre Myelose (zusätzlich Pyramidenbahnzeichen ▶ 14.6.1), Lues
(▶ 9.3.7), Tabes dorsalis (zusätzlich Pupillenstör.), Friedreich-Ataxie
(▶ 16.2.3), spinozerebelläre Ataxien (▶ 16.2).

14.1.2 Höhenlokalisation
Klin. Höhenlokalisation entscheidend für weitere Diagn.:
• Lokaler vertebraler Klopfschmerz.
• Sensibles Niveau: Algesie u. Ästhesie, hyperalgische Zone auf Läsionsniveau.
• Paresen u. MER ▶ Abb. 14.1.
   14.1  Leitsymptome und Differenzialdiagnose  503

14.1.3 Differenzialdiagnosen
• RF (Bandscheibenvorfall, Blutung,
Tumor). Rückenmark-Segmente
• Degenerative WS-Erkr. mit Mye- C3
1
2
C1
lonkompression durch Spinalka- C4 3
C1–C8
naleinengung: Zervikale Myelopa- 4
C1–C8
thie (▶ 18.5).
C6 5
6
C7

• Spinale MS (▶ 10.1): Initial nur C8


7 C8
1
2 1
Querschnittssy., nur durch Verlauf Th1 2 2
3 Th1–Th12

Spinale Wurzelsegmente
3 4
von einer Myelitis unterscheidbar. Th2
Th3 4
4
Okkulte zerebrale Herde? Th4 5
6

• Akute Polyneuritis, GBS (▶ 19.9.1): Th5


6 8
5

Tetraparese, Reflexverlust, Liquor­ Th1–Th12 7 6

eiweiß ↑. 8 10
7

• ALS (▶ 16.1.1), spastische Spinalpa- Th9 9 8

ralyse (▶ 16.1.2): Keine Sensibili-


12
L1 9
Th10 10

tätsstör., EMG/MEP. Th11 11


10

• Spinale Blutung, Ischämie: Akuter L5 11

Wirbel
12 S1

Beginn (▶ 14.3.3).
Th12
12

• Para-/infektiöse Querschnittsmyeli-
L1
L1 5
L1
tis (▶ 14.4.2): Beteiligung der Hin-
1
L2
L2 L2
terstränge, entzündl. Liquor, Sero- L1–L5 L3 L1–L5
L3
logie. L3

• Neuroborreliose (▶ 9.3.8). L4 L4
14
• Tox. Myelopathie z. B. bei Heroin- L4
L5L
L5

abhängigen: Urin/Blut zum Dro- L5


S1
gennachweis. 2

• Neuro-Behçet: Iritis, ulzeröse Haut- S1–S5


3
4
S1–S5

veränderungen am Genitale, Aph- 5

then der Mundschleimhaut, neurol. Nn. coccygei et


Sympt. wie bei MS. Filum terminale

• A.-spinalis-post.-Sy.: Ischämische
RM-Schädigung mit Querschnitts- Abb. 14.1  Längsschnitt durch das RM
lähmung (▶ 14.1.3) u. ausgeprägter [L106]
Tiefensensibilitätsstör.
• Myasthenia gravis (▶ 21.1): Vorzeitige Ermüdbarkeit, Tensilon®-Test, Dekre-
ment im EMG (▶ 2.5).
• Funikuläre Myelose: Vit.-B12- u. Folsäurespiegel.
• Leriche-Sy.: Akuter Verschluss der lumbalen spinalen Segmentarterien (Para-
parese, Impotenz, Beine pulslos, meist M > 60. Lj).
• Paraneoplastische Myelopathie z. B. bei Bronchial-Ca.
• Zerebrale Prozesse (Mantelkantensy., Basilaristhrombose): cMRT.
• Dissoziativ: Psychosoziale Belastung.
504 14  Pathologie des Rückenmarks  

14.2 Diagnostik und Therapie


14.2.1 Vorgehen bei Verdacht auf Rückenmarkläsion

Schnelle Diagn. innerhalb von max. 24 h, sonst evtl. OP ohne Erfolg.

Anamnese:
• Vorerkr.: Z. B. Trauma, Gerinnungsstör. (Medikamente), Malignom, Immun-
suppression, Radiatio, Infektion, Alkoholabusus, chron. Lumbago, Tauchun-
fall.
• Zeitlicher Verlauf/Beginn: Akut o. schleichend.
• Angabe von Schmerzen, Schmerzqualität.
Neurol. Unters.:
• Internistisch-traumatologisch:
– Rückeninspektion (Prellungen, Hautverletzungen, paravertebraler Druck-
o. Klopfschmerz).
– Extremitätendurchblutung.
• Charakterisierung des Querschnittssy.: Motorische (z. B. spastische Parapa-
rese), sensible (z. B. dissoziierte Stör.) o. vegetative Stör. (z. B. Blase, Darm,
HF, RR) mit Höhenlokalisation.
Labor:
• Blut: Diff.-BB (z. B. Leukozytose); CRP/BSG (↑ bei Abszess), Gerinnung (bei
14 V. a. Blutung, OAK); evt.
• Liquor: Bei V. a. Myelitis, Abszess (Reizpleozytose, Eiweiß ↑, anfangs kann
Liquor normal sein), Tumorzellen (Meningeosis carcinomatosa o. leucaemi-
ca, spinaler Tumor), GBS (zytoalbuminäre Dissoziation).
MRT: Ind.: Immer bei klin. gesichertem Querschnittssy. auf Höhe der Läsion
(und mind. 2–3 Etagen darüber). Vorteil gegenüber CT: Mehr Segmente in ver-
schiedenen Ebenen mit erheblich besserer Auflösung insbes. des Myelons. Immer
nativ u. mit KM (sofern möglich).
CT: Ind.: V. a. knöcherne Läsionen, MRT nicht möglich.
Fakultative Diagn.:
• Angio: Bei V. a. AVM selektive KM-Darstellung jeder Segmentarterie.
• Myelografie:
– Wenn Nativ-CT u. MRT nicht aussagekräftig (z. B. bei Wurzelausriss o.
Myelonkompression) o. nicht verfügbar.
– Möglichst mit postmyelografischem CT in Knochen- u. Weichteilfenster-
Projektion.

14.2.2 Therapie
Transport

Jede WS-Verletzung zunächst als instabil behandeln u. ggf. intensivmedizi-


nisch überwachen. Umlagerung unter ständigem Längszug (mehrere Helfer!),
stabile Lagerung (Schutz von HWS durch Schanz-Krawatte, von BWS/LWS
durch Vakuummatratze). Ggf. mit Hubschrauber in Querschnittszentrum.
   14.2  Diagnostik und Therapie  505

Spezifische Akuttherapie

Myelonkompression: Sofortige operative Dekompression.

• Bakt. (▶ 9.3): Initial kalkulierte antibiotische Ther. (Ceftriaxon 2 × 2 g, Ampi-


cillin, Erythromycin 2 g/d i. v.), später nach Antibiogramm.
• Virale Myelitis: Aciclovir (10 mg/kg KG alle 8 h i. v.) bis zur weiteren Diagn.
(PCR).
• Demyelinisierende Myelitis (z. B. MS, ADEM, Neuromyelitis optica, ▶ 10):
Methylprednisolon 1 g i. v., ggf. zusätzliche Immunther.
• Spinaler Tumor mit Ödem: Dexamethason (Initialbolus 40 mg i. v., dann
3 × 8 mg/d oral).
• Isolierte traumatische Querschnittslähmung: Innerhalb von 8 h Beginn mit
Methylprednisolon nach Bracken-Schema: 30 mg/kg i. v. über 15 Min., dann
0,9-prozentige NaCl-Lsg. über 45 Min., dann Methylprednisolon-Erhaltungs-
dosis 5,4 mg/kg KG/h über 23 h.
• Tauchunfall (Caisson-Krankheit): Hyperbare Dekompression.
Allgemeine Akuttherapie
• Aufrechterhaltung von art. Mitteldruck > 80 mmHg.
• Ausreichende Oxygenierung, ggf. Intubation.
• Kardiovask. Monitoring (Sympathikusinsuff. bei BWS-Läsion): Ggf. Atropin
0,25–0,5 mg s. c. alle 8 h.
• Korrekte Lagerung (En-bloc-Drehung alle 2–3 h), Physio-/Ergother., ggf. 14
Spezialbett.
• Blasenentleerung: Intermittierendes Katheterisieren spätestens nach 24 h;
­suprapubischer Katheter bei atonischer Blasenlähmung. Frühzeitiges Blasen-
training. Urologisches Konsil.
• Stimulation der Darmfunktion: Klysma/Einläufe bei atonischer Darmläh-
mung. Falls kein Erfolg Distigminbromid 0,5 mg i. m. o. Neostigmin 0,5 mg
i. v. o. Ceruletid 2 ng/kg KG/Min. über 4 h i. v.
• Analgesie: Nicht opiathaltige Analgetika, z. B. Paracetamol bis 3 × 1.000 mg/d
p. o. o. Metamizol 1–2,5 g i. v. in 250 ml NaCl 0,9 %.
• Antispastika s. u.
• Prophylaxe von Thrombose/Embolie: Niedermolekulare Heparine, gezielte
KG, Antithrombosestrümpfe.
• Stressulkusprophylaxe (Protonenpumpenhemmer).
• Pneumonieprophylaxe: Atemgymnastik.
Komplikationen und Spätfolgen
• Druckschäden der Haut, Dekubitalulzera, evtl. Osteomyelitis: Nekroseabtra-
gung. Ggf. plastische OP.
• Gelenkfehlstellungen, Kontrakturen: Intensive KG, ggf. OP.
• Paraossäre Verkalkung, neurogene Weichteilverknöcherung.
• Harnwegsinfekte, daher regelmäßig Urinkontrollen.
• Schwere Kypho-/Skoliosen möglich im Wachstumsalter.
• Chron. Schmerzen: Ther. ▶ 6.
• Path. Fraktur bei Osteoporose.
• Posttraumatische zystische Myelopathie: Zusätzliche Lähmung oberhalb der
Läsionshöhe Mon. bis J. vorwiegend nach traumatischer Querschnittsläh-
mung durch Syrinxbildung möglich.
506 14  Pathologie des Rückenmarks  

Antispastische Therapie
Ind.: Neurogene Muskelspasmen, Muskelhypertonus u. Spastizität der Skelett-
muskulatur bei Schädigung des 1. motorischen Neurons, z. B. bei MS, Schlaganfall
o. spinalem Querschnitt.

Spastischer Extremitätentonus ermöglicht den Erhalt eines Rests an motori-


schen Funktionen. Ther.-Ziel: Verhinderung schmerzhafter Muskelspas-
men; Normalisierung des Muskeltonus, sodass keine funktionsbehindernde
Parese in den Vordergrund der Symptomatik tritt.

Baclofen (perorale Appl.):


• Präparate: Z. B. Lioresal®, Baclofen ratiopharm®, Tbl. à 5 mg/10 mg/25 mg.
• Dos.:
– Initial 3 × 5 mg/d p. o., einschleichend in Abständen von 3 d um 5 mg/ED
aufdosieren bis zu einer ther. Dosis von 30–75 mg/d.
– Ther. am klin. Bild orientieren (cave: Muskelschwäche, Sedation).
Baclofen (intrathekale Appl.):
• Präparat: Lioresal® intrathekal; Testampulle 0,05 mg/ml, Infusionslsg.: Amp.
à 10 mg/20 ml o. 10 mg/5 ml.
• Dos.: Testdosis: 0,025–0,05 mg als Bolus mittels Lumbalpunktion o. über Ka-
theter. Cave: Anschließend über 4–8 h Atmung, RR, Puls kontrollieren! Bei
ausbleibender klin. Wirkung Bolus mit 0,05–0,1 mg am Folgetag wiederholen.
• Ind.: Resistenz gegenüber Standardther. (mind. ein Antispastikum oral auf-
14 dosiert bis zum Auftreten ausgeprägter NW). Anlage einer Dauerinfusion in-
trathekal über Katheter u. s. c. implantierte Pumpe durch spezialisierte Zen­
tren, Bereitschaft zur Intensivther. Engmaschige Nachsorge erforderlich.
Benzodiazepine:
• Diazepam: 3 × 10 mg/d p. o.
• Clonazepam: Langsamer Dosisaufbau bis 6 mg/d p. o., max. 12 mg/d unter Kon-
trolle des Blutspiegels. Ausschleichend absetzen (Entzugssympt.).
Tizanidin:
• Präparat: Sirdalud®, Tbl. à 2 mg/4 mg/6 mg.
• Dos.: Initial 3 × 2 mg/d p. o., in ½- bis 1-wöchigen Abständen um 2–4 mg bis
12–24 mg/d erhöhen (max. 36 mg/d, bei längerer Anwendung max. 12 mg/d).
Ther. orientiert sich am klin. Bild (Muskelschwäche, Sedation, Nieren- u. Le-
berfunktion).
Tolperison: Nur noch bei Spastik nach Schlaganfall zugelassen.
• Präparate: Myodocalm®, Tbl. à 50 mg; Viveo®, Tbl. à 150 mg.
• Dos.: 1–3 × 50–150 mg p. o.
Dantrolen: Bei allen Formen der Spastik wirksam; spezielle Ind. ist die i. v. Be-
handlung der malignen Hyperthermie.
• Präparate: Dantamacrin®, Kps. à 25 mg/50 mg, Injektionslsg. à 20 mg/60 ml.
• Dos.:
–  P. o.: Initial 2 × 25 mg/d, anschließend Dosis stufenweise auf 4 × 50 mg/d
steigern.
 ! Max. Tagesdosis (400 mg) nicht länger als 2 Mon. geben!
Botulinumtoxin:
• Führt zu einer 8–12 Wo. anhaltenden neuromuskulären Entkopplung mit
klin. feststellbarer Muskelschwäche.
• Dos.: Injektion je nach Muskel, ggf. Aufteilung der Dosis (max. 400 MU).
  14.3 Vaskuläre Rückenmarkläsionen  507

14.3 Vaskuläre Rückenmarkläsionen
14.3.1 Arteria-spinalis-anterior-Syndrom
Def.: Ischämische RM-Schädigung im Versorgungsgebiet der A. spinalis ant.
Ätiol.: Arteriosklerose, Thrombosen, Embolien, extramedulläre RF (Tumoren,
Bandscheibenvorfälle, knöcherne Einengung, Blutung, Abszess), WS-Trauma,
Bauchaortenaneurysma-OP mit Abklemmen der Aorta.
Klinik:
• Prodromi: Ein- o. doppelseitige radikuläre Parästhesien u. lanzinierende
(stichartige) Schmerzen (Stunden bis Tage vorher) auf Höhe der Ischämie,
die mit Ausbildung des motorischen Defizits wieder verschwinden.
• Entwicklung einer akuten Querschnittslähmung innerhalb von Stunden.
• Prädilektionsorte:
– Th3–Th8, da diese Segmente nur von radikulärer Arterie versorgt werden.
– A. radicularis magna (Adamkiewicz): Versorgung des Lumbalmarks.
• Segmentale atrophische Paresen auf Läsionshöhe.
• Schmerz- u. Temperaturempfindung in Läsionshöhe gestört, epikritische
Sensibilität intakt. Kaudal der Läsion häufig dissoziierte Sensibilitätsstör.
• Blasenatonie mit Urinretention, schlaffer Sphincter ani mit Stuhlinkontinenz.
Diagn.:
• MRT: Ischämienachweis (Signalanhebung im T2-Bild, später Signalminde-
rung im T1-Bild; cave: MRT häufig normal, ggf. DWI-Läsion), Ausschluss
­einer RF.
• LP: Ausschluss einer entzündl. o. parainfektiösen Genese. Liquor normal, sel- 14
ten leicht erhöhte Zellzahl u. Eiweiß, dann sehr schwierige DD gegen Myelitis.
• Spinale Angio: Selten Nachweis eines Gefäßabbruchs, meist nicht indiziert.
• Oberbauchsono/Thorax- u. Abdomen-CT: Aortendissektion.
DD: ▶ 14.1.3.
Ther.:
• Allg. Querschnittsther. (▶ 14.2.2).
• Bei V. a. embolischen Verschluss der A. spinalis ant. PTT-wirksame Vollhe-
parinisierung (▶ 7.2.11), später OAK (▶ 7.2.12).
• Bei Nachweis einer RF ggf. operative Dekompression.
Progn.: Anfängliche radikuläre Schmerzen klingen rasch ab. Zeigt sich nach
2–3 Wo. keine Rückbildung, verbleibt meist ein Restdefizit (spastische Paraparese
o. Sensibilitätsstör.). Bleibt die Lähmung schlaff, ist die Progn. schlecht.
Bei traumatischen RM-Ischämien kann sich über Mon. u. J. eine Syringomyelie
(▶ 14.9) ausbilden, wahrscheinlich indirekt durch Zirkulationsstör. im Zentralkanal.

14.3.2 Spinale Gefäßmalformationen
Epidemiologie: Inzidenz 1/100.000, M : F = 5 : 1, Lokalisation meist intradural
über mehrere Segmente am thorakolumbalen Übergang (Th8/L3). Erstmanifestati-
on 20.–30. Lj. Auslöser oft Trauma, körperl. Belastung, Menses.
Formen: Spinale AVM, Kavernome, durale AV-Fisteln.
Klinik:
• Unspezifische Prodromi: Rückenschmerzen, radikuläre Sympt. wie Par-,
­Hypästhesien, auch dissoziiert, gel. Paresen der Beine.
• Akuter (Blutung, Ischämie) o. langsam progedienter (Kompression) Beginn.
508 14  Pathologie des Rückenmarks  

• Meist inkomplettes Querschnittssy., meist schlaffe Paresen u. sensibles Quer-


schnittsniveau thorakolumbal, Blasenstör.
• Wellen- o. schubförmiger Verlauf.
Diagn.:
• MRT: Z. B. gestaute Venenkonvolute, Myelonödem, Verkalkungen/Hämosi-
derin (Kavernome).
• LP: Erhöhtes Gesamteiweiß ohne intrathekale IgG-Produktion. Nach Angi-
omruptur auch Blutnachweis mit Xanthochromie.
• Myelografie mit Myelo-CT: Nur bei KI für MRT: Z. B. wurmförmige KM-
Aussparungen.
• Supraselektive Angiografie aller Segmentarterien: Darstellung des AV-
Shunts.
DD: ▶ 14.1.3.
Ther.: Ziel ist Stillstand des progredienten Verlaufs. Besserung der motorischen u.
sensiblen Ausfälle möglich, bereits vorhandene Sphinkterprobleme bleiben beste-
hen.
• Spinale AVM: Embolisation/Coiling über supraselektive Katheterisierung bis
an den Nidus. Gelingt Embolisation nicht o. nur teilweise, operative Exstirpa-
tion der AVM.
• Kavernom: OP.
• Durale AV-Fistel: OP o. Embolisation der Fistel.
Progn.: Abhängig von Größe u. Lokalisation bzw. Zeitpunkt der Diagnose:
Schlechtere Progn. bei später Behandlung bzw. erheblichen präop. Ausfällen.
14
14.3.3 Spinale Blutungen
Def.: Epidural, subdural, subarachnoidal u. intramedullär.
Ätiol.: In ≈90 % d. F. traumatisch, v. a. bei gleichzeitiger hämorrhagischer ­Diathese
(z. B. Antikoagulanzien). Selten hypertonische o. aneurysmatische Blutungen
bzw. bei Gefäßfehlbildungen.
• Diagn.: ▶ 14.2.1.
• DD: ▶ 14.1.3; zusätzlich dissezierendes Aortenaneurysma, Psoashämatom.
• Ther.:
– Bei intraspinalen u. subarachnoidalen Blutungen meist konservativ
(▶ 14.2.2).
– Bei SDH o. EDH operative Dekompression durch Laminektomie inner-
halb von 24 h nach Auftreten von Lähmungserscheinungen. Vorher
­Gerinnungsstör. beseitigen.

14.4 Entzündliche Erkrankungen des


Rückenmarks
14.4.1 Epi- und subduraler Abszess
Ätiol.:
• Meist per continuitatem (benachbarte entzündl. Prozesse, z. B. Spondylodiszi-
tis, WK-Osteomyelitis).
• Seltener hämatogene Aussaat (Pneumonie, Osteomyelitis, Phlegmone, etc.) o.
penetrierende Verletzungen (OP, LP, paravertebrale o. peridurale Injektion).
   14.4  Entzündliche Erkrankungen des Rückenmarks  509

Klinik:
• Fieber, schwere Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens.
• Heftigste Rückenschmerzen.
• Innerhalb von wenigen Tagen Entwicklung eines Querschnittssy. (▶ 14.1.1).
• Diagn.:
–  Labor: BB (Leukozytose, Linksverschiebung), CRP u. BSG ↑, Blutkultu-
ren.
–  LP: Pleozytose mit Eiweißvermehrung, anfangs ist der Liquor evtl. nor-
mal.
–  MRT: Signalanhebung im Epi- o. Subduralraum in T2-gewichteten Auf-
nahmen mit KM-Anreicherung (▶ Abb. 14.2).

Rückenmark

Spondylodiszitis

Epiduralabszess 14

Bandscheibe

Wirbelkörper

Abb. 14.2 Spondylodiszitis mit epiduralem Abszess ohne (li) u. mit (re) KM [T682]

DD: ▶ 14.1.3.
Ther.:
• Konservativ:
– Sofern keine Paresen vorhanden sind.
– Nach Asservierung von Blutkulturen u. Liquor, Abstrichen aus möglichen
Primärinfektionen (auch Sputum: Tbc) antibiotische Ther. zunächst mit
Mezlocillin 3 × 5 g/d i. v., Fosfomycin 3 × 5 g/d i. v. u. Gentamicin
3 × 80 mg/d i. v. für mind. 14 d.
– Nach Antibiogramm Umstellung auf wirksame Einzelpräparate.
• OP: Sofort (Laminektomie) bei beginnender Querschnittssymptomatik.
Progn.: Abhängig von rechtzeitiger Diagnosestellung u. Ther.-Beginn.
510 14  Pathologie des Rückenmarks  

14.4.2 Myelitis
Epidemiologie: Erkr.-Gipfel 10.–20. Lj u. > 40. Lj.
Ätiol.:
• Infektiös: Enteroviren, Herpes (HSV1, HSV2, HHV6, VZV, CMV, EBV),
HIV, HTLV, Borrelien, Treponema pallidum, Pilze, Toxoplasmose.
• Nichtinfektiös: Postinfektiös, MS, postvakzinal, SLE, Sarkoidose, paraneo-
plastisch.
Klinik:
• Prodromi: Fieber, Muskelschmerzen, gürtelförmige, dumpfe Rückenschmer-
zen, Taubheitsgefühle der Akren, gel. Infekt in Vorgeschichte.
• Innerhalb weniger Tage Entwicklung einer meist thorakalen (≈60 %) Quer-
schnittslähmung (▶ 14.1.1), mit spastischer Paraparese, Blasen-Mastdarm- u.
trophischen Stör.
• Selten Schmerzen, Parästhesien in den betroffenen Dermatomen (= Radiku-
lomyelitis).
Diagn.:
• Labor: Serologie (einschließlich HIV), BSG, CRP, Diff.-BB.
• LP: Mäßige lymphozytäre Pleozytose (< 170 Zellen/μl), Gesamteiweiß u. lo-
kale IgG-Produktion meist deutlich erhöht. Häufig pos. oligoklonale Banden.
AK-Titer im Liquor ↑. Normalbefund schließt Myelitis aber nicht aus!
• MRT: Demyelinisierungsherde (bis zu 50 % perakut unauffällig!), KM-Auf-
nahme, Myelonschwellung (T1-Wichtung).
DD: ▶ 14.1.3.
14 • Demyelinisierende Myelitis: Beginn mit sich ausbreitenden Sensibilitätsstör.
mit Niveau, keine Schmerzen, später spastische Paresen mit Babinski.
• Neuromyelitis optica (Devic-Sy.; ▶ 10.2.2): Komb. von Optikusneuritis mit
langstreckiger (> 3 Segmente) Myelitis, oft Aquaporin-4-(NMO-)AK pos., in-
itiales Schädel-MRT untypisch für MS.
• Akute nekrotisierende Myelitis: Pannekrose von weißer u. grauer Substanz:
Persistierende schlaffe Para- o. Tetraparese, Areflexie, Blasenatonie.
• Paraneoplastische Myelitis: Subakuter, schmerzloser Querschnitt bei Bron-
chial-Ca, Ovarial-Ca, M. Hodgkin. Spinales MRT u. LP meist normal.
• Neuro-Behçet: Iritis, ulzeröse Hautveränderungen am Genitale, Aphthen der
Mundschleimhaut, neurol. Sympt. wie bei MS.

DD gegen vask. Schädigung oft erst durch die schnellere Rückbildung u.


­Ansprechen auf Kortison bei Myelitis möglich.

Ther. (▶ 14.2.2): Nach Ausschluss einer bakt. Urs. Immunsuppression mit Gluko-
kortikoiden.
Progn.: Besserung in wenigen Wo. Restsympt. nach 3 Mon. bleibt meist bestehen.

14.4.3 Poliomyelitis anterior acuta


Ätiol.: Durch Polioviren verursachte meldepflichtige Schmier-/Schmutzinfekti-
on.
Klinik:
• 95 % klin. inapparent, in 1–2 % nach Virämie ZNS-Beteiligung.
• Läsionsschwerpunkte: Vorderhörner, motorische HN-Kerne u. Großhirn-
rinde.
   14.4  Entzündliche Erkrankungen des Rückenmarks  511

• Unspezifisches febriles Vorstadium.


• Febrile Hauptphase mit allg. Krankheitsgefühl, Kopfschmerzen u. Meningis-
mus. 1–4 d später progrediente schlaffe Lähmungen der Extremitätenmusku-
latur, selten bulbär u. pontin versorgter Muskeln mit Fazialislähmung,
Schluckparesen o. Augenmotilitätsstör.
! Keine Sensibilitätsstör.
Diagn.:
• Labor: Virustiter von Polio-, Echo-, Coxsackie- u. Arboviren (FSME).
• LP: Mäßige Pleozytose, meist lymphozytäres Zellbild.
• Impfstatus.
DD:
• Neuralgische Schulteramyotrophie (▶ 17.2.3): Vorher heftige Schmerzen.
• Meningitis mit Myelitis u. Enzephalitis bei Mumps-, Herpes-zoster-Virus o.
EBV bei Pleozytose im Liquor, Serologie.
Ther.:
• Isolierung über 6 Wo.
• Bettruhe, bei Beteiligung der Atemmuskulatur Intubation u. maschinelle Be-
atmung.
• Thromboseprophylaxe, KG, Massage.
• Behandlungsversuch mit Immunglobulinen: Z. B. 30 g i. v. für 5 d.
Schutzimpfung s. c. mit Totimpfstoff, Wdh. alle 10 J. Impf-KO (Enzephalo-
myelitis, schlaffe Paresen) sind selten.
14
Progn.:
• In Fällen mit Atemlähmung, bulbären Sympt. u. komplettem Funktionsaus-
fall Letalität bis 50 %.
• Sonst Rückbildung, oft mit Restsymptomatik über Wo. u. Mon.
• Selten Jahrzehnte später Zunahme der Paresen (Untergang der vorgeschädig-
ten Vorderhornganglienzellen o. sek. Begleitmyopathie der partiell denervier-
ten Muskeln: „Post-Polio-Sy.“).

14.4.4 Arachnopathie, Arachnoiditis
Ätiol.: Spinale OP (Bandscheiben-OP), Traumen, Meningitis, ölige Myelografie-
KM; Borreliose.
Klinik:
• Arachnopathie: Über J. progrediente o. remittierende therapieresistente
Schmerzen u. Radikulopathien.
• Arachnoiditis: Akute Radikulopathie mit in die Beine ausstrahlenden
Schmerzen, radikulären Sensibilitätsstör., Sphinkterstör. u. gel. Paresen mit
abgeschwächten MER.
Diagn.:
• LP: Pleozytose, Eiweißerhöhung.
• MRT, Myelografie: Verdickte, verklebte Kaudafasern, KM-Anreicherung.
Ther.:
• Glukokortikoide: Bei entzündl. verändertem Liquor, z. B. Methylprednisolon
500 mg i. v. für 5 d.
• Symptomatisch: Versuch mit Carbamazepin 600–1.000 mg/d p. o. o. Imipra-
min bzw. Amitriptylin. Analgetika (▶ 6.1).
512 14  Pathologie des Rückenmarks  

• OP: Nur bei nachgewiesenen RM-Einschnürungen o. Zystenbildung. Hohe


Rezidivrate.

14.5 Intraspinale Tumoren
Def.: Beschwerden u. neurol. Ausfälle treten langsam progredient über Wo. u.
Mon. auf. Inzidenz 3–10/100.000, überwiegend gutartig. Tumorlokalisation in
50 % thorakal. Häufigste Tumorarten: Neurinome, Neurofibrome, Meningeome
u. Gliome.
Einteilung:
• Extramedullär, intradural (≈50 %):
– Meningeom: Alter 40–60 J. Gutartig mit guter Progn., ⅓ aller intraspina-
len RF.
– Neurinom: Gutartig. Alter 20–40 J. Wachstum durch Foramen interverte-
brale (Sanduhrgeschwulst). Ggf. Neurofibromatose von Recklinghausen
(▶ 16.3.1).
• Extramedullär, extradural (≈30 %):
– Metastasen (▶ Abb. 14.3): Alter > 50 J. (Bronchial-, Prostata-, Mamma-,
Schilddrüsen-, Nieren-Ca), Sarkom, Lipom u. osteogener Tumor.
– Hämatologische Erkr.: Leukämie, Lymphome, Plasmozytom.
– Fehlbildungen: Kindesalter. Epidermoid, Dermoid, Teratom (sakrokokzy-
gealer Bereich), Dermoidzyste.
• Intramedullär (≈10 %):
14 – Ependymom (50–60 %); langsamer Verlauf. Alter ≈30 J.
– Astrozytom (20 %), Glioblastom (7 %), Oligodendrogliom (4 %), selten
Angioblastome o. intramedulläre Metastasen.
Klinik: ▶ 14.1.1.
Diagn.: ▶  14.2.1. Zusätzlich Primärtu-
morsuche: Rektale Unters., Haemoc-
cult, Rö Thorax, Oberbauchsono,
Schilddrüsenszinti., gynäkologisches u.
urologisches Konsil.
Ther.: Bei residualer Querschnittsläh-
mung (▶ 14.2.2), Spasmolyse.
• Glukokortikoide: Dexamethason
4 × 4 mg/d i. v. mit Magenschutz
z. B. Ranitidin 300 mg/d p. o. zur
Nacht.
• OP:
– Gutartige RF: Möglichst voll-
ständig entfernen, bei Instabili-
tät der WS zusätzlicher stabili-
sierender Eingriff.
– Maligne Prozesse: Möglichst
weit gehende operative Entfer-
nung in Komb. mit palliativer Abb. 14.3  Ausgedehnte ossäre Metas-
Chemother. u. Bestrahlung (ca- tase in Höhe BWK 2–6 mit Myelon-
ve: Strahlenmyelopathie ▶ 14.7). kompression [T682]
Progn.: Abhängig von der Malignität.
Kaudale Tumoren haben eine bessere
  14.7 Strahlenmyelopathie  513

Progn. als zervikale. OP-Mortalität bei Tumoren der Medulla oblongata o. des
Zervikalmarks am höchsten. Symptomrückbildung bei rechtzeitiger OP: Schmer-
zen → Lähmung → Sensibilitätsausfall.

14.6 Metabolische Myelopathien
14.6.1 Vitamin-B12-/Cobalaminmangel
Ätiol.: Atrophische Gastritis, Magenresektion (Intrinsic factor ↓), Schwanger-
schaft, Darmparasiten, Ileumresektion.
Klinik:
• Funikuläre Myelose (▶ 19.5.3): Pallhypästhesie, Dysästhesien, ataktische Pa-
raparese, abgeschwächte MER; später auch zentrale Paresen mit gesteigerten
MER, Babinski, Kontrakturen.
• Enzephalopathie mit Apathie o. psychomotorischer Unruhe, Desorientiert-
heit, emotionaler Labilität, organische Psychose, Zentralskotom.
• Sensomotorische PNP (▶ 19).
• Perniziöse Anämie.
Diagn.: BB: MCV ↑, Vit.-B12-Spiegel (unspezifisch), Transcobalamin, Methylma-
lonylsäure (spezifisch, teurer), Gastroskopie, Myelon-MRT z. T. mit T2-Hyperin-
tensität der Hinterstränge.
Ther.: Akut 1 mg/d i. m. für 1–2  Wo., nach Spiegelausgleich meist hoch dosiert
oral 1 mg/d. Immer mit Folsäure zusammen substituieren.
14
14.6.2 Kupfermangel-Myelopathie
Ätiol.: Gastrektomie, Malabsorption, Einnahme von Zinkpräparaten, oft unklar.
Klinik: Ähnlich wie bei Vit.-B12-Mangel mit funikulärer Myelose (▶  14.6.1,
▶ 19.5.3) u. sensomotorischer PNP (▶ 19).
Diagn.: Kupfer u. Ceruloplasmin ↓, SSEP, Myelon-MRT gel. mit T2-Hyperinten-
sität der Hinterstränge.
Ther.: Kupfersubstitution (oral o. ggf. parenteral).

14.7 Strahlenmyelopathie
Ätiol.: Individuell verschiedene Strahlenempfindlichkeit, bei Bestrahlung in klei-
nen ED (z. B. 1,5 Gy) beim Erw. meist bis 40 Gy tolerabel. Kindl. RM ist empfind-
licher.
Klinik:
• Latenz zwischen Bestrahlung u. Auftreten klin. Sympt. 2 Mon. bis 5 J., meist
12–16 Mon.
• Initial Parästhesien, brennende Schmerzen der Beine.
• Progredientes Querschnittssy. (▶ 14.1.1), häufig mit dissoziierter Sensibili-
tätsstör.
• Stillstand vor Ausbildung eines kompletten Querschnittssy. möglich, aber
keine Rückbildung.
Diagn.: ▶ 14.1.3 (auch DD). Ausschluss anderer, therapierbarer Urs.
Ther.: Symptomatisch. Spasmolytika, Analgetika (▶ 6.1), KG.
514 14  Pathologie des Rückenmarks  

14.8 Fehlbildungen der Wirbelsäule


14.8.1 Fehlbildungen im kraniozervikalen Übergang
Klinik: Variabel, teils kurzer Hals mit eingeschränkter Kopfbeweglichkeit, rezid.
Kopfschmerzen (Hirndruckanstieg), zerebelläre Sympt.
Verlauf: Meist langsam progredient.
Diagn.: CT/MRT.
Ther.: Meist operativ (Resektion o. Liquorshuntanlage).

Basiläre Impression
Def.: Trichterförmige Einengung des Foramen magnum durch Einstülpung der
Hinterhauptbeinkondylen in die hintere Schädelgrube u. den zu hoch stehenden
Dens axis. Oft zusätzlich Absenkung der hinteren Schädelgrube.

Klippel-Feil-Syndrom
Def.: Verschmelzung mehrerer HWK/Dornfortsätze zu einem Blockwirbel, häu-
fig kombiniert mit Spina bifida cervicalis.

Dandy-Walker-Syndrom
Def.: Dysrhaphische Fehlbildung mit Aplasie des Kleinhirnunterwurms u. Verle-
gung der Foramina Luschkae u. Magendi mit konsekutivem Hydrocephalus oc-
clusivus. Meist sporadisch.
14
Arnold-Chiari-Fehlbildung
Einteilung:
• Typ I: Kaudalverlagerung von Medulla oblongata u. hypoplastischer Klein-
hirntonsillen durch Foramen magnum (▶ Abb. 14.4).
• Typ II: Zusätzliche Kaudalverlagerung von Teilen des häufig fehlgebildeten
Kleinhirns kombiniert mit Spina bifida cervicalis.
• Typ III: Zerviko-okzipitale Zele mit Prolaps von Kleinhirn u. Medulla oblongata
u. Hirnstammfehlbildungen. Nur selten mit dem Leben vereinbar (▶ Abb. 14.4).

Brücke

Kleinhirntonsille
Medulla

HWK 2

Zele mit Kleinhirn

Abb. 14.4  Arnold-Chiari-Fehlbildung Typ I (li) u. Typ III (re) [L106]


   14.8  Fehlbildungen der Wirbelsäule  515

14.8.2 Spinale Dysraphien
Def.:
• Hemmungsfehlbildung der Wirbelbögen (▶ Tab. 14.2), meist lumbosakral
(80 %).
• Wiederholungsrisiko 3–6 %.
• Häufige Assoziation mit einem Hydrocephalus internus.
Tab. 14.2  Spinale Dysraphien (▶ Abb. 14.5)
Spina bifida Spina bifida aperta Diastemato­ Konusfixation
occulta myelie („Tethered
Cord“)

Def. Nur Bogen- Vorfall der Meningen (Inkomplette) Adhäsion von


schluss der ­(Meningozele) o. des RM Teilung des Myelon/Ner-
WK fehlt (Myelomeningozele) durch Myelons venwurzeln am
fehlenden Bogenschluss, durch knorpe- Spinalkanal
ggf. fehlen Meningen auch liges/knöcher-
ganz (Myelozele) nes Septum

Klinik Lokale Haut- (In)komplette Quer- Z. T. symptom- Progrediente


veränderun- schnittslähmung los, sonst pro- Traktionsisch­
gen grediente ämie des Konus
­Myelopathie mit Gangstör.
u. Inkontinenz

Ther. Abwarten, Operativer Verschluss in- Ggf. Septum- Frühzeitige OP


bei Hydroze- nerhalb von 6–8 h nach
phalus Shunt- Geburt
resektion 14
anlage

Myelon

Spina bifida Meningozele Myelozele Meningomyelozele


occulta

Abb. 14.5  Spinale Dysraphien


Spina bifida occulta: Mit Haut bedeckter Wirbelspalt ohne Hervortreten von RM
o. Meningen. Meningozele: Wirbelbogen u. Dura gespalten, keine Ausstülpung
des Myelons o. kaudaler Nervenwurzeln. Myelozele: Spaltung von Haut, Wirbel-
bogen, Dura, plattenförmige Vorwölbung des Myelons o. der kaudalen Nerven-
wurzeln. Meningomyelozele: Haut, Wirbelbogen u. Dura gespalten, Nervenwur-
zeln o. Myelon in die Zele hernienartig vorgewölbt. RM immer verändert [L106]
516 14  Pathologie des Rückenmarks  

Folsäuregabe während einer Schwangerschaft betroffener Mütter zur Minde-


rung des Wiederholungsrisikos.

Progn.: Abhängig von Ausprägung u. Läsionshöhe:


• Rollstuhlpflichtig bei Läsion L3 o. höher.
• Gehfähig mit Hilfsmitteln zwischen L4 u. S2.
• Bei tiefer sitzender Spina bifida keine motorischen Ausfälle.

14.9 Syringomyelie und Syringobulbie


Epidemiologie:
• Kongenital (50–80 %): Fehlerhafter Schluss des Neuralrohrs mit zentraler
Höhlenbildung, Gliawucherung u. regressiven Gewebsveränderungen in RM
(Syringomyelie) o. Medulla (Syringobulbie). 50 % assoziiert mit Fehlbildun-
gen der hinteren Schädelgrube/des kraniozervikalen Übergangs. Syringomye-
lie meist zervikothorakal. M > F.
• Symptomatisch: Neoplastisch, posttraumatisch, postentzündlich.
Klinik:
• Syringomyelie:
– Erstsympt. bei kongenitaler Syrinx zwischen 20. u. 40. Lj: Bohrende, zie-
hende u. brennende Dauerschmerzen in Armen, Schultern u. am Thorax.
– Dissoziierte Sensibilitätsstör. Häufig Verbrennungen an den Händen u.
14 schlecht heilende, verstümmelnde Verletzungen der Finger.
– Horner-Sy. (▶ 3.1.5): Miosis, Ptosis, Enophthalmus.
– Trophische Stör. mit Schwellung der Hände, livider, teigig schilfriger
Haut, glanzlosen, brüchigen Nägeln u. segmentaler Stör. der Schweißse-
kretion.
– Entkalkungen der Knochen mit oft schmerzlosen Arthropathien u. Spon­
tanfrakturen.
– Atrophische symmetrische Paresen, MER der Arme ↓, gel. zentrale Para-
parese der Beine durch Druck auf die Pyramidenbahn.
• Syringobulbie:
– Horizontaler Nystagmus ohne Schwindel.
– Zwiebelschalenförmig angeordnete, dissoziierte Empfindungsstör. im
­Gesicht mit Abschwächung des Kornealreflexes.
– Kau- u. Schluckstör. u. Dysarthrophonie.
Diagn.:
• MRT: Liquorisointense, intramedullär gelegene Höhlenbildung.
• Myelografie: Alternativ. Auftreibung des RM mit Einengung des Subarach-
noidalraums, evtl. Füllung der Syrinx mit KM.

Bei Syringomyelie u. Syringobulbie immer nach Tumoren des kraniozervika-


len Übergangs suchen!

DD:
• Intramedulläre Tumoren, v. a. Gliome: Rascherer Verlauf.
• HSMN (▶ 19.10): Vorübergehende dissoziierte Empfindungsstör.; Beginn
­jedoch an den Beinen, schlaffe Lähmung.
   14.9  Syringomyelie und Syringobulbie  517

• Diplomyelie: Angeborene thorakale RM-Verdopplung, meist asymptoma-


tisch.
Ther.:
• OP: Subokzipitale Dekompression.
• Bei Hydrocephalus internus Anlage eines Shunts, bei Querschnittslähmung
▶ 14.2.2.
• Syringostomie: Bei progredienter Symptomatik mit Myelonschädigung Eröff-
nung der Syrinx, Einbringen eines Katheters zwischen Syrinx u. Subarachno­
idalraum.
Progn.: Langsam über J. fortschreitend ohne Remissionen. Im Endstadium
­inkomplette Querschnittslähmung.

14
15 Extrapyramidale
Bewegungsstörungen (EPMS)
Alexander Storch und Olaf Gregor

15.1 Tremor 521 15.3 Hyperkinetische Bewegungs-


15.1.1 Definition 521 störungen 555
15.1.2 Physiologischer Tremor 521 15.3.1 Symptome 555
15.1.3 Essenzieller Tremor 522 15.3.2 Huntington-Erkrankung 556
15.1.4 Dystoner Tremor 523 15.3.3 Tardive Dyskinesie (Spätdyski-
15.1.5 Tremor bei Parkinson-Syndro- nesie) 559
men 523 15.3.4 Seltene hyperkinetische Bewe-
15.1.6 Zerebellärer Tremor 523 gungsstörungen 560
15.1.7 Holmes-Tremor 523 15.4 Dystonien 563
15.1.8 Tremor bei peripherer Neuro- 15.4.1 Fokale und segmentale
pathie 523 ­Dystonien 565
15.1.9 Psychogener Tremor 524 15.4.2 Generalisierte Dystonien 567
15.2 Akinetisch-rigide Bewegungs- 15.4.3 Sekundäre (symptomatische)
störungen (Parkinson-Syndro- Dystonien 569
me) 524 15.5 Morbus Wilson 570
15.2.1 Definitionen 524 15.6 Myoklonus 572
15.2.2 Klassifikation (nach Ätiologie 15.6.1 Definition 572
bzw. Pathologie) 524 15.6.2 Ätiologie 572
15.2.3 Idiopathisches Parkinson-­ 15.6.3 Diagnostik 572
Syndrom (IPS) 525 15.6.4 Therapie 572
15.2.4 Familiäre Parkinson-­ 15.6.5 Essenzieller Myoklonus 573
Syndrome 541 15.6.6 Posthypoxischer Myoklonus
15.2.5 Multisystematrophie (Lance-Adams-Syndrom) 573
(MSA) 542 15.6.7 Andere symptomatische Myo-
15.2.6 Demenz mit Lewy-Körperchen klonien 573
(DLB) 546 15.7 Tics und Gilles-de-la-Tourette-
15.2.7 Progressive supranukleäre Syndrom 574
­Paralyse (PSP) 548 15.7.1 Tics 574
15.2.8 Kortikobasale Degeneration 15.7.2 Gilles-de-la-Tourette-­
(CBD) 551 Syndrom 575
15.2.9 Andere Erkrankungen mit Par-
kinson-Syndrom 553
15.8 Restless-Legs-Syndrom und 15.8.1 Restless-Legs-Syndrom
periodische Beinbewegungen (RLS) 576
im Schlaf 576 15.8.2 Periodische Beinbewegungen
im Schlaf 578
  15.1 Tremor  521

15.1 Tremor
15.1.1 Definition
▶ 3.7. Von lat.: Zittern. Unwillkürliche rhythmische oszillierende Bewegung eines
o. mehrerer Körperabschnitte als Folge einer alternierenden o. synchronen Kon-
traktion reziprok innervierter Muskeln.

Klassifikation nach
• Aktivierungsbedingungen: Ruhe, Aktion, Halten, ungerichtete Bewe-
gung, Zielbewegungen.
• Frequenz: Nieder- (2–4 Hz), mittel- (4–7 Hz), hochfrequent (> 7 Hz).
• Amplitude: Grob- bzw. feinschlägig.
• Verteilung: Z. B. Kopf-, Hand-, Stimmtremor usw.
• Sonstige Sympt.: Extrapyramidale Sympt. wie Rigor o. Akinese o. PNP etc.

15.1.2 Physiologischer Tremor
Definition
Bei jedem Gesunden u. in jedem frei oszillierenden Gelenk nachweisbar.
• Niedrige Amplitude (normaler Fingertremor ist gerade sichtbar).
• Frequenz distal (Hände, Finger) hoch (6–20 Hz), prox. niedrig (< 6 Hz).
• Kein Krankheitssympt.
• In der polygrafischen Tremoranalyse keine EMG-Synchronisation, Frequenz-
abnahme in der Akzelerometrie durch Gewichtsbelastung.

Verstärkter physiologischer Tremor


Haltetremor, mit bloßem Auge sichtbar, distal betont, hohe Frequenz (> 6 Hz), 15
keine neurol. Grunderkr., Urs. meist reversibel.
Ätiol.:
• Medikamente (Auswahl): Neuroleptika, Reserpin, Tetrabenazin, Metoclopra-
mid, Antidepressiva (v. a. trizyklische), Lithium, Sympathikomimetika, Bron-
chodilatatoren, Theophyllin, Steroide, Progesteron, Antiöstrogene (Tamoxi-
fen), Adrenokortikosteroide, Valproat, Antiarrhythmika (Amiodaron, Mexi-
letin, Procainamid), Kalzitonin, Schilddrüsenhormone, Zytostatika, Immun-
suppressiva (Ciclosporin A).
• Endogene Intox. (hormonelle o. metab. Erkr.): Hyperthyreose, Hyperpara-
thyreoidismus, Hypokalzämie, Hyponatriämie, Hypoglykämie, chron. hepa-
tozerebrale Degeneration, hepatische Enzephalopathie, Niereninsuff.
• Exogene Intox. (Auswahl): Alkohol, Koffein, Nikotin, Quecksilber, Blei.
• Andere: Z. B. Angst, emotionale Anspannung, Kälte, Alkohol-, Drogenentzug.
Urs. muss geklärt werden, ggf. mit erheblichem Aufwand!

Diagn.:
• Anamnese, neurol. Status u. internistische Unters.: Insbes. Familien- u.
­Medikamentenanamnese.
• Labor: Leber-, Nieren-, Schilddrüsenwerte, E'lyte, ggf. Cu2+-Stoffwechsel
(▶ 15.5), Hormone (entsprechend klin. Verdacht). Ggf. LP.
522 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Elektrophysiologie: Tremoranalyse (Synchronisation im EMG, Frequenzen


zwischen 7 u. 12 Hz, Frequenzabnahme in der Akzelerometrie durch Ge-
wichtsbelastung von 500–1.000 g, EMG-Frequenz bleibt konstant), polygrafi-
sches EMG (Ausschluss Asterixis).
Ther.: Sofern Urs. bekannt, kausal; symptomatische Ther. oft nicht erforderlich,
evtl. Betablocker (Propranolol 30–320 mg/d), insbes. bei Hyperthyreose.

15.1.3 Essenzieller Tremor
Klassischer essenzieller Tremor
ICD-10 G25.0.
Def.:
• Bilateraler, meist symmetrischer Halte- u. Aktionstremor.
• Selten Ruhetremor, mittel- bis hochfrequent, bei 20 % Intentionstremor.
• Selten leichte Gangstör.
• Tremorverminderung unter Alkohol.
Epidemiologie:
• Mittleres Erkr.-Alter 40 J. (Jugend bis Senium), langsam progredienter Ver-
lauf, erhebliche soziale Beeinträchtigung.
• Prävalenz 0,4–5,6 % der über 40-Jährigen, 60 % aut. dom. Vererbung mit
niedriger Penetranz, einige Loci bekannt, derzeit noch keine Mutationen in
spezifischen Genen bekannt.
Diagn.:
• Neurol. Anamnese u. neurol. Status: Insbes. Medikamentenanamnese.
• Labor: Leber-, Nierenwerte, TSH, T3, T4, E'lyte.
• Weitere Unters.: In Einzelfällen:
– Quantitative polygrafische Tremoranalyse (EMG-Synchronisation, keine
Änderung der Akzelerometriefrequenzen durch Gewichtsbelastung) zur
Abgrenzung zum physiol. Tremor (▶ 15.1.2).
15 – Bildgebung (MRI) bei starker Asymmetrie o. DD-Problemen.
– Erweiterte Laborunters. (nach klin. Verdacht).
Ther.:
• 1. Wahl: Propranolol 30–320 mg/d; Primidon 62,5–500 mg/d; Komb. beider
Präparate.
• Bei Kopf- o. Stimmtremor: Botulinumtoxin.
• 2. Wahl: Gabapentin 1.200–2.400 mg/d, Topiramat 200–400 mg/d, Clonaze-
pam 0,75–6 mg/d (bes. bei Intentionstremor).
• Bei schwerer Behinderung u. Ther.-Resistenz: Tiefenhirnstimulation (Thala-
mus, VIM).

Orthostatischer Tremor
Def.: Subjektive Standunsicherheit mit Sturzneigung, Besserung bei Festhalten,
Anlehnen; selten auch Gangunsicherheit, keine Sympt. im Sitzen u. Liegen. Klin.
Status sonst unauffällig.

Keine Klagen über Zittern, allenfalls Unruhegefühl im Stehen.

Diagn.: EMG bzw. polygrafische Tremoranalyse mit Nachweis eines typ.


13–18-Hz-Tremors der Kniestrecker im Stehen.
  15.1 Tremor  523

Ther.: Oft frustran; Gabapentin 1.200–2.400 mg/d, Levodopa 200–750 mg/d, Pri-


midon 62,5–500 mg/d, Clonazepam 1–6 mg/d.

Aufgaben- und positionsspezifischer Tremor


Def.: Auftreten nur beim Schreiben o. bei spezialisierten, übertrainierten Tätig-
keiten, z. B. bei Musikern o. Sportlern, nicht bei anderen motorischen Aufgaben
(z. B. prim. Schreibtremor, isolierter Stimmtremor).
Ther. Propranolol, Botulinumtoxin, Immobilisation mit anschließendem Training.

15.1.4 Dystoner Tremor
ICD-10 G25.2.
Def.: Halte- u. Aktionstremor einer Extremität o. eines Körperteils, das auch Zei-
chen einer Dystonie aufweist (▶ 15.4); fokal beginnend, mit irregulärer Amplitude
u. Frequenz < 7 Hz. Häufig dystoner Kopftremor.
Ther.: Botulinumtoxin, Trihexyphenidyl 3–15 mg/d, Propranolol, Clonazepam.

15.1.5 Tremor bei Parkinson-Syndromen


ICD-10 G20.X. Details ▶ 15.2.

15.1.6 Zerebellärer Tremor
ICD-10 G25.2.
Def.:
• Uni- o. bilateraler Intentionstremor, Frequenz < 5 Hz, posturaler Tremor
möglich, niederfrequenter Wackeltremor von Kopf u. Rumpf (Titubation),
kein Ruhetremor.
• Symptomatisch nach Kleinhirnschädigung. Häufigste Urs.: MS (▶ 10.1).
Ther.: Keine etablierte Pharmakother. 15
• Versuche mit Clonazepam, Carbamazepin, Topiramat (▶ 15.1.3).
• In Einzelfällen Tiefenhirnstimulation (Thalamus).
Verwechslung des Tremors mit Ataxie möglich!

15.1.7 Holmes-Tremor
Syn.: Ruber-Tremor.
Def.:
• Relativ unrhythmischer Ruhe- u. Intentionstremor.
• U. U. posturaler Tremor, Frequenz > 4,5 Hz.
• Immer symptomatisch: Hirnstammläsion, Latenz 4 Wo. bis 2 J.
Ther.: Selten erfolgreich, Versuch: Levodopa, Trihexyphenidyl, Clozapin.

15.1.8 Tremor bei peripherer Neuropathie


Def.:
• Selten.
• Kinetischer u. posturaler Tremor.
524 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Bei demyelinisierenden Neuropathien z. B. chron. inflammatorische demyeli-


nisierende Neuropathie, Gammopathien.
Ther.: Grundkrankheit behandeln; evtl. Propranolol.

15.1.9 Psychogener Tremor
ICD-10 F44.4.
• Keine Ausschlussdiagnose, sondern pos. neurol. Diagnose.
• Plötzlicher Beginn o. plötzliche Remission, unübliche Komb. von Tremorfor-
men, Sistieren bei Ablenkung, Frequenzänderung bei repetitiver Bewegung
der kontralateralen Hand, Koaktivierungszeichen bei Tonusprüfung.
• Anamnestische Hinweise auf Somatisierung.
Ther.: Psychother.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen www.tremor.org.

15.2 Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen
(Parkinson-Syndrome)
15.2.1 Definitionen
• Rigor: Von lateinisch Starrheit. Gleichmäßige Muskeltonuserhöhung bei pas-
siver Bewegung in Ruhe. Wächserne Bewegung („wie Bleirohr“). Flexoren
stärker als Extensoren betroffen. Zahnradphänomen (fakultativ).
• Akinese: Von griech. Kinesis: Bewegung. Überbegriff von Bewegungsverar-
mung (Akinese), Bewegungsverlangsamung (Bradykinese) u. Verminderung
15 der Bewegungsamplitude (Hypokinese), z. B. des Mitschwingens der Arme
beim Gehen. Schrittverkürzung, Monotonie der Stimme (Palilalie), Mikro-
grafie. Hypomimie: Lebloser Gesichtsausdruck ohne Zeichen affektiver Re-
gungen. Erschwerung der intendierten Bewegungen.
• Parkinson-Sy.: Komb. aus Akinese (Brady-/Hypokinese) u. mind. einem der
folgenden Sympt.: Rigor, Ruhetremor (Frequenz: 4–6 Hz), Stör. der Stellrefle-
xe (die nicht durch eine Stör. des visuellen, vestibulären, zerebellären o. pro­
priozeptiven Systems erklärt werden kann).

15.2.2 Klassifikation (nach Ätiologie bzw. Pathologie)


Sehr heterogen:
• Degenerative Synukleinopathien:
– Idiopathisches Parkinson-Sy. (IPS; M. Parkinson; ▶ 15.2.3).
– Hereditäre (familiäre) Parkinson-Sy. (▶ 15.2.4).
– Multisystematrophie (MSA; ▶ 15.2.5).
– Demenz mit Lewy-Körperchen (DLB; ▶ 15.2.6).
• Degenerative Tauopathien:
– Progressive supranukleäre Paralyse (PSP; ▶ 15.2.7, ▶ 23.4).
– Kortikobasale Degeneration (CBD; ▶ 15.2.8).
• Andere Erkr. mit Parkinson:
– M. Wilson (▶ 15.5).
– Huntington-Erkr. (▶ 15.3.2).
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  525

– Spinozerebelläre Ataxien (SCA).


– Dopa-responsive Dystonie/Parkinsonismus (▶ 15.4.2).
– Frontotemporale Demenzen.
– Neuroakanthozytose-Sy. (▶ 15.3.4).
• Sek. Parkinson-Sy.:
– Infektiöse u. parainfektiöse Parkinson-Sy.
– Medikamenteninduzierte Parkinson-Sy. (▶ 15.2.9).
– Tox. Parkinson-Sy.
– Metab. Parkinson-Sy.

15.2.3 Idiopathisches Parkinson-Syndrom (IPS)


ICD-10 G20.X. Syn.: M. Parkinson, Parkinson-Erkr.

Definition
Sporadische neurodegenerative Erkr. (Synukleinopathie) mit präferenzieller De-
generation der melaninhaltigen (pigmentierten) dopaminergen Neuronen der
Substantia nigra pars compacta mit konsekutivem Dopaminmangel im Striatum.

Ätiologie und Pathophysiologie


Weitgehend unklar, Interaktion zwischen genetischer Prädisposition u. Umwelt-
faktoren wird diskutiert, selten (ca. 5 %) monogenetisch (aut. dom. o. aut. rez.)
vererbt (▶ 15.2.4).

Epidemiologie
• Weitaus häufigste neurodegenerative Bewegungsstör. mit Parkinson-Sy.
• Mittlere Prävalenz 0,1–0,3 % ohne wesentliche Unterschiede zwischen ethni-
schen Gruppen.
• Schwache Geschlechterpräferenz (M : F = 1,5 : 1).
• Deutliche Zunahme der Prävalenz mit dem Alter mit 1,3–1,5 % der > 60-Jäh- 15
rigen u. 3 % der > 70-Jährigen.
• Inzidenz 11–19/100.000 Einwohner u. J.; deutliche Zunahme mit dem Alter
mit ca. 200–350/100.000 Einwohner u. J. bei > 65-Jährigen.

Klinik
Allg.:
• Nahezu immer einseitiger Beginn u. persistierende Asymmetrie.
• Zu Beginn häufig unspezifische Beschwerden (z. B. Obstipation, Schriftbild-
veränderung, Stör. des Farbkontrastsehens, Riechstör., Depression, Stör. der
Feinmotorik, Spannungskopfschmerz, Schulter-Arm-Schmerzen, Lumbago).
• Neurol. zu Beginn meist isoliertes Parkinson-Sy. (▶ 15.2.1), Parkinson-Sy. mit
gutem Ansprechen auf dopaminerge Medikation.
• Im Verlauf neuropsychiatrische, autonome u. andere nichtmotorische Sympt.
sehr häufig.
Typ. Bild/Leitsympt.:
• Rigor (▶ 15.2.1): Subjektives Steifigkeitsgefühl, häufig mit Muskelschmerz,
objektive wächserne Tonuserhöhung der Muskulatur, durch Bahnung (Will-
kürbewegung der kontralateralen Extremität) aktivierbar.
• Akinese (▶ 15.2.1): Hypomimie, Hypophonie, Festination des Sprechens,
Dysphagie, verminderte Mitbewegungen, reduzierte (verlangsamte) Finger-
feinmotorik, Stör. (Verlangsamung) alternierender Bewegungen (Brady[dys]
526 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

diadochokinese), kleinschrittiger Gang, Starthemmung, Erhöhung der Wen-


deschrittzahl, Freezing, Verlangsamung (Schwierigkeiten) beim Aufstehen u.
Umdrehen im Bett.
• Tremor (▶ 15.1): Meist Ruhetremor mit 4–6 Hz, häufig auch kombinierter
Haltetretmor, Aktionstremor selten.
• Haltungsinstabilität: Retro- u. Propulsionstendenz (Retropulsionstest: Zug
an den Schultern nach hinten, bis Pat. Ausfallschritt ausführt, Testung der Sta-
bilität), im Verlauf mit Stürzen. Andere Urs. durch Stör. des visuellen, vestibu-
lären, zerebellären o. propriozeptiven Systems müssen ausgeschlossen sein.
Weitere fakultative motorische Sympt./Stör.:
• Therapeutische Spät-KO: Im Verlauf der dopaminergen Ther. (insbes. Levo-
dopa) motorische Phänomene (Ther.-Optionen).
• Haltungsstör./Gangbild:
– Starthemmung, vornübergebeugter Oberkörper, fehlendes Mitschwingen
der Arme beim Gehen, kleinschrittiger, schlurfender Gang, viele kleine
Wendeschritte bei Drehung um die Körperachse.
– Stürze.
– Selten Kamptokormia (unwillkürliche Beugung des Rumpfs nach vorn im
Sitzen u. Stehen, passiv u. im Liegen ausgleichbar).
Nichtmotorische Sympt./Stör.:
• Psychiatrische Stör.:
– Depression (40–60 %), häufig schon zu Beginn der motorischen Stör.
– Apathie, Angst, Aufmerksamkeitsstör.
– Demenzielles Sy. mit Stör. von Gedächtnis u. exekutiven Funktionen
­(20–40  %).
– Zwangsstör. (häufig medikamenteninduziert), repetitives Verhalten
(„punding“, meist medikamenteninduziert).
– Konfusion/Delir (meist medikamenteninduziert).
– Suchtverhalten (Spielsucht etc.; meist medikamenteninduziert).
15 – Psychotische Sympt. (meist medikamenteninduziert) bei bis zu 6 % ohne
demenzielles Sy. u. bis zu 30 % Pat. mit demenziellem Sy.
• Schlafstör.:
– RLS u. periodic limb-movements in sleep (PLMS) häufig (▶ 15.8).
– REM-Schlaf-Verhaltensstör. häufig (oft schon Jahre vor motorischer
Stör.), Non-REM-Schlaf-Verhaltensstör.
– Tagesmüdigkeit (häufig medikamenteninduziert).
– Albträume, Insomnie.
• Autonome Stör.:
– Sehr häufig Obstipation, orthostatische Hypotension, Blasenstör., Hyper-
hidrosis, erektile Dysfunktion, Xerostomie, seborrhoische Dermatitis
(„Salbengesicht“), Sialorrhö durch vermindertes Schlucken (keine Hyper-
salivation), Dysphagie.
– Sehr selten Stuhlinkontinenz.
• Sensorische Sympt.:
– Olfaktorische Dysfunktion (bei nahezu allen Pat., meist schon Jahre vor
motorischer Stör.), kann diagnostisch genutzt werden (Diagn.).
– Schmerz, Parästhesien.
• Andere Sympt.: Fatigue, Diplopie, Gewichstverlust/-zunahme.
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  527

Klassifikation/Subtypisierung
Nach Symptomatik
Gelegentlich Wechsel der vorherrschenden Sympt., deshalb ist für weitere
Progn. die im Vordergrund stehende Symptomatik 5 J. nach Beginn von ent-
scheidender Bedeutung.
• Akinetisch-rigider Typ: Überwiegend akinetisch-rigides Sy., Tremor
­minimal ausgeprägt.
• Tremordominanz-Typ: Überwiegend Tremor, Akinese u. Rigor minimal
ausgeprägt, langsamerer Krankheitsverlauf im Vergleich zu den anderen
Typen.
• Äquivalenztyp: Akinese, Rigor u. Tremor annährend gleich ausgeprägt.
Nach Erkrankungsalter
• Juveniles IPS: Erkr.-Alter ≤ 20. Lj. Insgesamt selten, häufig familiär
(▶ 15.2.4).
• Früher Beginn („Young-Onset“-IPS): Erkr.-Alter 21.–50. Lj. I. d. R. lang-
samerer Verlauf, weniger Stürze, besser erhaltene Kognition, mehr medi-
kamentenassoziierte Stör. als beim älteren IPS.
• „Normaler“ o. später Beginn („Late-Onset“-IPS): Mit Abstand häufigs-
ter Subtyp, IPS ist i. d. R. Alterserkr.

Skalen u. Scores zur Schweregradbeurteilung:


• Modifizierte Stadien nach Hoehn u. Yahr (▶ Tab. 15.1):
• Unified Parkinson's Disease Rating Scale (UPDRS): (▶ 27.4.2). Am weites-
ten verbreitete Skala mit guter Reliabilität u. Validität, misst psychiatrische
Stör. (Part I), Alltagskompetenz (Part II), motorische Funktionen (Part III),
Ther.-KO (Part IV).
• Webster-Skala: Weitverbreitete, gut validierte Skala, misst im Wesentlichen
motorische Funktionen u. Alltagskompetenz.
• Schwab & England Activities of Daily Living: (▶ 1.2.2). Weitverbreitete, gut 15
validierte Skala, misst Alltagskompetenz.
• Parkinson's Disease Questionnaire (PDQ-39): Weitverbreitete, gut validier-
te Skala, misst gesundheitsabhängige Lebensqualität.
• Montreal Cognitive Assessment (MOCA-Skala): Weitverbreitete, gut vali-
dierte, einfache Skala, misst Schweregrad der Demenz.

Tab. 15.1  Modifizierte Stadien nach Hoehn u. Yahr


Stadium Charakteristika

0 Kein Hinweis auf Parkinson-Sy.

I Einseitiger Befall

I, 5 Einseitiger u. axialer Befall

II Bds. Befall ohne Stör. der Stellreflexe

II, 5 Bds. Befall mit leichter Stör. der Stellreflexe bei Retropulsion

III Bds. Befall u. posturale Instabilität

IV' Pat. benötigt Hilfe bei Verrichtungen des tgl. Lebens

V' Pflegebedürftig, häufig rollstuhlpflichtig


528 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Beck-Depressions-Inventar (BDI): Weitverbreitet, gut validiert, Patienten-


fragebogen, misst Schweregrad der Depression, zur Ther.-Kontrolle geeignet.
• NMSQuest u. NMSSkala: Verbreitete, gut validierte Patientenfragebögen zur
Erfassung der nichtmotorischen Sympt. (NMSSkala zusätzlich Schweregrad­
erfassung).

Differenzialdiagnosen
• Bei tremordominantem Parkinson-Sy.: Essenzieller Tremor (▶ 15.1.3, ▶ Tab.
15.2), viel seltener Holmes-Tremor (▶ 15.1.7) u. andere Tremorformen.
• Bei akinetisch-rigidem Typ:
– Multisystematrophie (MSA-P; häufig schwierig u. erst im Verlauf be-
grenzbar, dort frühe autonome Dysfunktion, keine o. im Verlauf deutlich
abnehmende Levodopa-Responsivität, meist symmetrisches Parkinson-
Sy., keine Demenz, zerebelläre Stör.; ▶ 15.2.5).
– Demenz mit Lewy-Körperchen (DLB, dort frühe Demenz [im 1. J.], Neu-
roleptikasensitivität, fluktuierende Vigilanz, ▶ 15.2.6).
– PSP (▶ 15.2.7), insbes. PSP-Parkinsontyp (PSP-P) häufig schwierig (dort
meist schlechtere Levodopa-Responsivität), supranukleäre Paralyse (Oku-
lomotorikstör.), symmetrisches axiales Parkinson-Sy. (frühe Stürze, ra-
scher Verlauf, Demenz).
– CBD (dort deutliche Asymmetrie, kortikale Sympt., Alien-Limb-Sy.,
Apraxie, ▶ 15.2.8).
– Einige Typen der spinozerebellären Ataxien (▶ 16.2).
– Normaldruckhydrozephalus (▶ 26.2).
– Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (▶ 7.4.2).
– Frontotemporale Demenzen (dort typ. Verhaltensauffälligkeiten; ▶ 23.5).
– Andere seltene Urs. (▶ 15.2.9).
• Bei juvenilen Pat.:
– Familiäres Parkinson-Sy. (▶ 15.2.4).
15 – M. Wilson (▶ 15.5).
– Huntington-Erkr. (▶ 15.3.2).
– Segawa-Sy. (▶ 15.4.2).
– Andere seltene Urs. (▶ 15.2.9).
– Depressive Stör.

Tab. 15.2  DD essenzieller u. Parkinson-Tremor


Kriterium Essenzieller Tremor Parkinson-Tremor

Pos. Familienanamnese +++ -

Spezifische Alkoholsensitivität ++ -

Kopfbeteiligung +++ +

Stimmbeteiligung +++ +

Beinbeteiligung + +++

Ruhetremor + +++

Unilateralität + +++

Rigor (+) +++


   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  529

Diagnostik
• Anamnese: Symptombeginn, Verlauf, psychische o. kognitive Veränderun-
gen, Harninkontinenz, Schlafstör., Medikamenteneinnahme, Familienanam-
nese, Drogenabusus, Berufsexposition, vorausgegangene Infektion, Traumata.
Familienananmese.
• Klin. Unters. (einschließlich Schellong-Test) u. Verlaufsbeobachtung:
Entscheidend. Klin. Diagnosekriterien ▶ Tab. 15.4.

• Pharmakologische Testung (auf dopaminerge Responsivität): Apomor-


phin- o. Levodopa-Test
– Unters. auf Responsivität des Parkinson-Sy. auf dopaminerge Stimulation.
– Beide Tests mit vergleichbarer Aussagekraft: Pos. prädiktiver Wert von 95 %
(98 %) u. neg. prädiktiver Wert von 70 % (30 %) zur Vorhersage der Diagno-
se eines IPS bei Parkinson-Pat. (De-novo-Parkinson-Pat.), d. h. bei neg. Test
kann kurzzeitiger Ther.-Versuch (4–8 Wo.) zur Testung sinnvoll sein.
– Auch zur Verlaufsbeurteilung der Responsivität geeignet.
– Vor Tiefenhirnstimulation u. funktioneller Bildgebung obligat.
– Durchführung ▶ Tab. 15.3.
• Labor:
– Keine spezifischen Parameter.
– Ausschluss Wilson-Erkr. (▶ 15.5) bei allen jüngeren Pat.
– Weitergehende Laborunters. entsprechend Verdacht (bei akuter Exazer-
bation/Psychose/Delir Ausschluss Entzündung, Schilddrüsenüberfunkti-
on u. Exsikkose).
• Genetik selten bei jüngeren Pat. (▶ 15.2.4).
Tab. 15.3  Durchführung des Apomorphin-/Levodopa-Tests
Schritt Aktivität 15
1. Schritt: Vorbehandlung mit Domperidon (z. B. Motolilium®) 3 × 20 mg/d für 72 h
u. 20 mg Domperidon 30 Min. vor Appl. von Apomorphin/Levodopa

2. Schritt: Keine Antiparkinson-Medikation für mind. 4–6 h (besser 12 h). Mobilität


beachten (bei ambulanten Pat.)

3. Schritt: Beurteilung des Pat. anhand UPDRS Part III (Motor-Score; ▶ 27.4.2) vor
1. Appl. („Baseline Score“) u. 15–30 Min. nach repetitiven Apomorphin-
Injektionen (45–60 Min. nach Levodopa)

4. Schritt: Injektion von 23 mg Apomorphin s. c.; 10–15 Min. später sollten erste
Wirkungen des Apomorphins nachweisbar sein (Gähnen, Müdigkeit,
Übelkeit). Treten diese Sympt. nicht auf, kann der Apomorphin-Test
nicht beurteilt werden. Alternativ 200 mg Levodopa p. o.

5. Schritt: Bei fehlendem Effekt u. Verträglichkeit den Test alle 30 Min. mit anstei-
genden Dos. (1 mg, 3 mg, 5 mg, 7 mg) bis zur pos. Antwort wiederholen:
7 mg ohne klin. Wirkung → Nonresponder. 7 mg mit mildem Effekt → bei
Verträglichkeit bis 10 mg

6. Schritt: Test ist pos. bei Verbesserung des UPDRS Part III von > 18 % vom
„­Baseline Score“
530 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Morphologische Bildgebung:
– CCT selten indiziert!
– CMRT ohne spezifische Veränderungen, z. A. struktureller Läsionen.
– CMRT zur DD zu MSA-P (▶ 15.2.5), PSP (▶ 15.2.7), CBD (▶ 15.2.8).
– CMRT zum Ausschluss/DD vask. Läsionen (▶ 7.4.2), M. Wilson (▶ 15.5),
Normaldruckhydrozephalus (▶ 26.2) u. anderen seltenen Urs. (▶ 15.2.9).
– CMRT mind. einmalig im Krankheitsverlauf dringend empfohlen.
• Hirnparenchym-Sono: Transkranielle Parenchym-Sono durch temporales
Knochenfenster (B-Modus, Schnittbildsono), Substantia nigra wird innerhalb
des schmetterlingsförmigen Mittelhirns identifiziert.
– Beim IPS Hyperechogenität der Substantia nigra, meist kontralateral be-
tont. Wahrscheinlich Risikofaktor, damit prämotorisch nachweisbar (zur
Frühdiagnose), keine Korrelation mit Krankheitsstadium.
– Differenzialdiagnostische Wertigkeit noch unklar.
• Olfaktorische Testung: Am günstigsten mit Standardtest (z. B. Sniffin'
Sticks®) zur Messung der Riechschwelle, Geruchsdiskrimination u. -identifi-
kation.
– Bei IPS nahezu immer Hyposmie o. funktionelle Anosmie, geht motori-
schen Sympt. um Jahre voraus, damit zur Frühdiagnose geeignet.
– Zur DD nur eingeschränkt einsetzbar: Hyposmie bei Alzheimer-Erkr.
(▶ 23.3), MSA (▶ 15.2.5), DLB (▶ 15.2.6, ▶ 23.4), Huntington-Erkr.
(▶ 15.3.2), MN-Erkr. Keine Hyposmie bei PSP (▶ 15.2.7), CBD (▶ 15.2.8),
essenziellem Tremor (▶ 15.1.3).

Sinunasale Hyposmie beachten.

• Funktionelle Bildgebung des Gehirns: Darstellung der dopaminergen Neu-


ronen (präsynaptische Endigungen im Striatum) mittels Dopamintranspor-
ter-Bildgebung (z. B. DATScan®-SPECT) o. 18F-Dopa-PET o. der postsynapti-
15 schen striatalen Neuronen mittels Dopamin-D2-Rezeptor-Bildgebung (z. B.
IBZM-SPECT).
– Beim IPS asymmetrisch, kontralateral zur klin. stärker betroffenen Seite
Reduktion der präsynaptischen Bindungsstellen (mit typ. Betonung der
putaminalen Bindung), normale Darstellung der postsynaptischen Bildge-
bung.
– Frühdiagnose (sogar prämotorische Diagnose) u. DD zum (essenziellen)
Tremor (dort Normalbefund; ▶ 15.1.3) mit präsynaptischer Bildgebung
möglich.
– DD zu anderen Parkinson-Syndr. mittels postsynaptischer Bildgebung am
günstigsten (▶ Tab. 15.4).
– Darstellung des zerebralen Glukosemetabolismus mittels FDG-PET mit
zusätzlicher Darstellung des Kortex (▶ Tab. 15.4).
• Darstellung der autonomen kardialen Innervation ([123I]-MIBG-SPECT):
– Bei IPS reduzierte MIBG-Aufnahme ins Epikard als Ausdruck der peri-
pheren autonomen Stör.
– Zur DD zur MSA-P geeignet (dort mit Normalbefund; ▶ 15.2.3), nur bei
Vorliegen autonomer Stör. valide.
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  531

Tab. 15.4  Funktionelle Bildgebung (SPECT/PET) bei Bewegungsstörungen


Glukosestoffwech- Präsynaptisch (Dop­ Postsynaptisch
sel (18FDG-PET) amintransporter (Dopamin-D2-­
[DATScan-SPECT]/ Rezeptorbindung
Dopamin-SW [IBZM-SPECT])
­[18F-DOPA-PET])

Idiopathisches Normal Putamen > Cauda- Normal (in Früh-


­Parkinson-Sy. (IPS) tum ↓ (asymmet- phase ↑)
risch)

Multisystematro- Striatal ↓ (symmet- Putamen = Cauda- Striatal ↓ (symmet-


phie (MSA-P) risch) tum ↓ (symmet- risch)
risch)

Demenz mit Lewy- Parieto-temporaler Putamen > Cauda- Normal (↑, ↓)


Körperchen (DLB) Kortex, im Verlauf tum ↓ (symmet-
global ↓ risch)

Progressive supra- Frontaler Kortex ↓, Putamen = Cauda- Striatal ↓


nukleäre Paralyse striatal ↓, global ↓ tum ↓
(PSP)

Kortikobasale Parietaler Kortex ↓, Striatal ↓ (stark Striatal ↓ (stark


­Degeneration striatal ↓ (stark asymmetrisch) asymmetrisch)
(CBD) asymmetrisch)

Essenzieller Tremor Normal Normal Normal

• Autonome Funktionsdiagn.:
– Keine Bedeutung in Diagn. des IPS, jedoch für Diagnose autonomer Zu-
satzsympt. wichtig (▶ 15.2.3).
– Sympathische Hautantwort normal.
– Gelegentlich zur DD zur MSA-P (▶ 15.2.3).
• Polysomnografie: Nur bei persistierenden Schlafstör. unklarer Urs. o. V. a. 15
REM-Schlaf-Verhaltensstör. mit Selbst- o. Fremdgefährdung notwendig.
• Elektrophysiologie: Tremoranalyse meist wenig hilfreich, da keine Unter-
scheidung zum essenziellen Tremor (▶ 15.1.3) möglich.
Klin. Diagnosekriterien: ▶ Tab. 15.5.

Therapieoptionen
Allgemeine Maßnahmen
• Aufklärung über Chronizität u. Fehlen einer kurativen Ther.; soziales Umfeld
aufklären, ggf. Anbindung an Selbsthilfegruppe (s. Kapitelende). Cave: Pat.
evtl. depressiv verstimmt.
• Normalgewicht anstreben, ausreichende Flüssigkeitszufuhr (2–3 l/d), Be-
handlung von Begleiterkr. (insbes. Infektionen) optimieren.
• Physiother.: Keine ausreichende Datenlage. KG passiv u. vorsichtig dosiert
aktiv, immer symptomorientiert, meist durchgehend sinnvoll. Vorbeugung
von Gelenkkontrakturen u. Erhalt der Selbstständigkeit, regelmäßige leichte
körperl. Betätigung; Atemübungen. Gangtraining u. Sturzprophylaxe.
• Logopädie: Lee-Silverman-Voice-Methode (LSVT) am besten etabliert, meist
in Blöcken sinnvoll bei Dysarthrophonie. Ther. von Schluckstör.
• Ergother.: Keine ausreichende Datenlage. Meist in Blöcken sinnvoll.
532 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Tab. 15.5  Klinische Diagnosekriterien des IPS (nach Hughes 1992)


Schritt Aktivität

1. Diagnose ei- Bradykinese u. mind. eines der folgenden Sympt.:


nes Parkinson- • Rigor
Sy. • 4–6-Hz-Ruhetremor
• Verminderung der Stellreflexe, die nicht durch eine Stör. des vi-
suellen, vestibulären, zerebellären o. propriozeptiven Systems er-
klärt werden kann

2. Ausschluss- • Rezid. zerebrale Ischämien, schubförmige Verschlechterung des


kriterien Parkinson-Sy.
• Anamnese rezid. SHT
• Anamnese einer definitiven Enzephalitis
• Okulogyre Krisen
• Andauernde Remission
• Frühe schwere Demenz mit Stör. von Gedächtnis, Sprache u. Praxie
• Diagnose eines zerebralen Tumors o. eines kommunizierenden
Hy­drozephalus
• Behandlung mit Neuroleptika bei Beginn der Sympt.
• Pyramidenbahnzeichen
• Streng einseitige Sympt. 3 J. nach Erkr.-Beginn
• Supranukleäre Blickparese
• Zerebelläre Sympt.
• Frühe schwere autonome Dysfunktion
• Mehr als ein betroffener Verwandter
• Exposition zu MPTP
3. Unterstüt- • Einseitiger Beginn
zende pro­ • Ruhetremor vorhanden
spektive Krite- • Progrediente Erkr.
rien (drei o. • Persistierende Asymmetrie, bei der die initial betroffene Körper-
mehr Sympt. hälfte stärker betroffen bleibt
sind für die • Exzellentes Ansprechen auch Levodopa (70–100 %)
• Schwere levodopainduzierte Chorea
15 definitive Dia-
gnose eines • Pos. Ansprechen auf Levodopa für mehr als 5 J.
M. Parkinson • Dauer der Erkr. > 10 J.
erforderlich)

Medikamente zur Therapie der motorischen Symptome


Levodopa:
• Wirkprinzip: Vorläufer des Dopamins; zur Vermeidung der Decarboxylie-
rung zu Dopamin vor Passage der Blut-Hirn-Schranke in Komb. mit peripher
wirkenden, nicht liquorgängigen Decarboxylasehemmern (Benserazid o. Car-
bidopa; zentral wirksame Dosis ↑ bzw. Gesamtdosis u. damit periphere NW
↓). HWZ 1–3 h.
• Ind.: Basismedikament, alle Stadien u. Sympt. des IPS.
• NW: Agitiertheit, Unruhe, Delir, Schwindel, choreatiforme Dyskinesien, RR-
Schwankung, orthostatische Hypotonie, tachykarde Arrhythmie, Nausea, Er-
brechen, Obstipation, Diarrhö, Hyperhidrose, Inkontinenz, Psychosen, Ver-
wirrtheit, Halluzinationen.
• Cave: Bei abruptem Absetzen Gefahr des malignen Dopa-Entzugssy. mit Hy-
perthermie, Rigor, Akinese u. Bewusstseinsstör. bis zum Koma. CK ↑, GOT
↑, GPT ↑, Leukozytose (→ akinetische Krise ▶ 4.9.1).
• KI: Leber- u. Niereninsuff., Engwinkelglaukom, Ulcus duodeni.
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  533

• Dos.: Initial 3 × 50 mg, langsame Steigerung um 50 mg alle 3–7 d bis 400 mg.
– Individuelle Verteilung der ED in Abhängigkeit vom Akinese-Hyperkine-
se-Tagesprofil.
– Bei fehlender Besserung nach 3 Mon. dringende Überprüfung der Dia­
gnose.
– Auch als intraduodenale Infusion für Ther. der Spätphase verfügbar.
• Langzeit-KO (Levodopa-Spätsy.: Abhängig vom Erkr.-Alter, je jünger desto
früher u. schwerere KO):
– End-of-Dose-Akinese („Wearing-off“), Off-Phasen-Dystonie: Nachlassen
der Levodopa-Wirkung durch Absinken des Plasmaspiegels, v. a. nachts,
später auch tagsüber, teilweise mit schmerzhaften dystonen Krämpfen in
Phasen reduzierter Beweglichkeit.
– On-off-Phänomene u. paroxysmales On-Off: Wirkungsverlust/-eintritt
innerhalb von s bis Min., auch rascher Wechsel von A- u. Hyperkinese,
z. T. unabhängig von Medikamenteneinnahme.
– Start- u. Wendeschwierigkeiten („Start-Hesitation“, „Freezing“): Pat. ge-
lingt es nicht, über eine Türschwelle zu gehen, bleiben mitten auf der Stra-
ße stehen.
– Peak-Dose-Dyskinesien: Choreatische Hyperkinesen durch passager hohe
Levodopa-Konz. (meist erst nach langer, hoch dosierter Levodopa-Ther.).
– Off-Dose-Dyskinesien: Hyperkinesen während Off-Phasen (selten hyper-
kinetische [choreatische] Stör., meist schmerzhafte Dystonie).
– Biphasische Dyskinesien: Choreatische, häufig jedoch bizarre, repetitive
Hyperkinesen während des An- o. Abflutens der Levodopa-Medikation.
Monoaminoxidase-B(MAO-B)-Hemmer:
• Wirkprinzip: Hemmung des Dopamin-Abbaus, leichte symptomatische Wir-
kung, vermindert Wirkungsschwankungen. Präparate: Selegilin, Rasagilin.
Rasagilin mit möglicher krankheitsmodifizierender Wirkung.
• Ind.: Im Frühstadium als symptomatische Monother. (mäßige Wirkung auf
alle Sympt.), auch, um den Gebrauch von Levodopa hinauszuzögern, im fort- 15
geschrittenen Stadium als Zusatzther. in Komb. mit Levodopa (bes. bei Mo-
torfluktuationen [z. B. End-of-Dose-Fluktuationen, On-off-Symptomatik]).
• NW: Verstärkung der Levodopa-NW (s. o.), Dyskinesien, Halluzinationen,
Psychose, Depression, Nausea, Erbrechen, Schwitzen, Anorexie, Arrhythmi-
en, Schlafstör., Unruhe.
• KI/WW: Dyskinesien, Demenz, Thyreotoxikose, Tachykardie, Herz- u. Le-
bererkr., Hypertonie, Engwinkelglaukom, Prostataadenom.
! Vorsicht bei Komb. mit Antidepressiva!
–  Cave: Komb. mit COMT-Inhibitoren, Triptanen u. bestimmten Opiaten.
• Dos.:
– Selegilin: 5 mg p. o. morgens (bei 10 mg antidepressiver Effekt möglich),
Schmelztablette: 1 Tbl. (1,25 mg) 5 Min. vor Frühstück auf Zunge zerge-
hen lassen.
– Rasagilin: 1 mg p. o. morgens.
Catechol-O-Methyltransferase-(COMT-)Hemmer:
• Wirkprinzip: Hemmung des peripheren Levodopa-Abbaus (Entacapon, Tol-
capon) u. des zentralen Levodopa- u. Dopamin-Abbaus (nur Tolcapon). Prä-
parate: Entacapon (nur peripher), Tolcapon (peripher u. zentral).
• Ind.: Levodopa-Spätsy.; Tolcapon wegen möglicher Lebertox. COMT-Hem-
mer 2. Wahl (regelmäßige Leberwertkontrollen vorgeschrieben!).
534 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• NW:
– Verstärkung der Levodopa-NW (s. o.), Dyskinesien, Diarrhö, orangefar-
bener Urin (Entacapon).
– Bei Tolcapon Transaminasen ↑ (bei GPT u./o. GOT oberhalb des Nor-
malwerts sofort absetzen).
– Sehr selten malignes neuroleptisches Sy. (▶ 4.9.5).
• KI/WW: Einnahme nichtselektiver MAO-Hemmer. Cave: Komb. mit selekti-
ven MAO-B-Hemmern (Dosisanpassung), malignes neuroleptisches Sy., Le-
vodopa-Entzugssy., Rhabdomyolyse, Schwangerschaft, Stillzeit.
• Dos.:
– Entacapon 200 mg zu jeder Levodopa-Dosis (feste Komb. verfügbar) bis
max. 2.000 mg/d.
– Tolcapon 3 × 100 mg/d (in Ausnahmen bis max. 3 × 200 mg) p. o., initial
engmaschige Überwachung (Leberwerte) entsprechend Fachinformation.
– Bei dopaminergen NW Levodopa-Dosis ↓ (ca. 20–30 %) o. Einnahmeab-
stände ↑.
– Bei Absetzen Levodopa erhöhen!
Dopaminagonisten:
• Wirkprinzip: Stimulierung zentraler u. peripherer Dopaminrezeptoren in dif-
ferenzieller Weise u. unterschiedlicher Stärke (▶ Tab. 15.6).
• Derzeit 10 Präparate zugelassen: ▶ Tab. 15.6 als Auswahl.
• Ind.: Nach Levodopa wichtigste Substanzgruppe.
• Mittel 1. Wahl bei Pat. < 65 J. als Monother., Komb. mit Levodopa, MAO-B-
u. COMT-Hemmern, Amantadin. Dosiseinsparung von Levodopa bei
Komb.-Ther. Deutlich weniger Langzeit-KO als Levodopa.
• Ergot-Derivate wegen Induktion kardialer Fibrosen nur Mittel 2. Wahl, je-
doch stärker wirksam.
• Rotigotin nur als Pflaster, Apomorphin nur für s. c. Appl. verfügbar.
• NW: Meist stärker als bei Levodopa. Übelkeit, orthostatische Dysregulation,
15 Beinödeme können limitierend sein. Pschiatrisch häufig Psychose, Impuls-
kontrollstör., dopaminerge Dysregulationssy., Punding. Weniger motorische
Spät-KO als bei Levodopa. Sicherheitsrelevante Aspekte:
– Raynaud-Phänomen, Pleuraergüsse, Muskelschmerzen, viszerale u. kardi-
ale Fibrose bei Ergot-Derivaten (▶ Tab. 15.6).
– Vermehrte Tagesmüdigkeit u. plötzliches Einschlafen bei allen Dopamin-
agonisten (Aufklärung!).
• KI: Schwangerschaft, bekannte Überempfindlichkeit gegenüber Mutterkorn­
alkaloid-Derivaten.
• WW: Mit Reserpin, Neuroleptika, Opioiden (verminderte Wirkung der Ago-
nisten), Antihypertensiva (RR-Senkung verstärkt).
• Dos.: Einschleichen (▶ Tab. 15.6), regelmäßige Gabe, i. d. R. als retardierte
Formulierung o. Pflaster, Apomorphin siehe interventionelle Ther.-Verfah-
ren.
– Beurteilung der Wirkung häufig erst nach 2–3 Mon. möglich (max. Wir-
kung 3–6 Wo. nach letzter Dosissteigerung).
– Bei Erbrechen/Übelkeit bei Aufdosierung evtl. Komb. mit peripheren
Dop­aminantagonisten (Domperidon, 3 × 10–20 mg/d p. o.).
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  535

Tab. 15.6  Dosierungsrichtlinien für orale/transdermale Therapie mit Dopamin­


agonisten (Auswahl)
Substanz HWZ (h) Dopamin- Startdosis Wöchentliche Erhal- Tages-
Rezeptor- (mg/d) Steigerung tungsdo- dosis
bindung (mg/d) sis (mg/d) (mg/d)

Ergot-Derivate

Cabergo- 65 D2 >> D1 0,5–1 1 1 × 3–6 3–(max.


lin morgens 6)

Non-Ergot-Derivate

Pirebidil 12 D2 50 alle 2 Wo. um 3 × 50 150–250


50 mg/d

Pramipe- 8–12 D3 > D2 > 3 × 0,088 2. Wo.: 3 × 0,35– 1,05–3,3


xol (Stan- D4 3 × 0,18; 0,7
dard) 3. Wo.:
3 × 0,35; wei-
ter wöchentl.
um 3 × 0,18

Pramipe- Einmalga- D3 > D2 > 0,26 mg 2. Wo.: 1 × 1,05– 1,05–


xol (re- be am D4 morgens 1 × 0,52; 2,1 3,15
tard) Tag mög- 3. Wo.:
lich 3 × 1,05; wei-
ter wöchentl.
um 1,05

Ropinirol 6 D3 > D2 > 3 × 0,25 2. Wo.: 3 × 3–8 24


(Stan- D4 3 × 0,5:
dard) 3. Wo.: 3 × 1;
weiter
wöchentl.
um 3 × 1 15
Ropinirol Einmalga- D3 > D2 > 2 mg 2 mg 6–24 24
(retard) be am Tag D4 ­morgens
möglich

Rotigotin 5–7 (als D3 > D2 > 2 mg 2 mg/24 h 6–16 mg/ 8–16


(Pflaster) Pflaster D4 24 h
kontinu-
ierlich)

Glutamatantagonisten:
• Wirkprinzip: Blockade von Glutamat-(NMDA-)Rezeptoren; Budipin zusätz-
lich anticholinerge u. leichte dopaminerge/noradrenerge Effekte.
• Präparate (Auswahl): Amantadin-Salze (Amantadin-HCl, -Sulfat, auch als In-
fusion), Budipin.
• Ind.:
– Amantadin-Salze: Bei leichter Symptomatik o. in Komb. mit Levodopa/
Dopaminagonisten. Einziges bewiesen wirksames Präparat gegen Dyski-
nesien. Parenteral 1. Wahl bei akinetischer Krise u. malignem neurolepti-
schen Sy. (▶ 4.9.1, ▶ 4.9.5, ▶ 15.2.9).
– Budipin bei jüngeren tremordominanten Pat., wegen Herzrhythmusstör.
u. anticholinergen Effekten streng indizieren.
536 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• NW:
– Amantadine: Verwirrtheit, Delir, Schlafstör., periphere Ödeme, RR-Ab-
fall, Übelkeit, Leukopenie, Livido reticulata.
– Budipin: Anticholinerge NW (siehe dort), zusätzlich QTc-Zeit ↑, Kam-
mertachykardie (Torsade de pointes, Abgabe nur auf Rezept von Ärzten
mit Verpflichtungserklärung zur Durchführung der notwendigen Kont-
rollunters. [EKG]), Schwindel, Müdigkeit, Sinnestäuschungen, Albträu-
me, Kopfschmerz, Appetit ↓, Akathisie.
• KI/WW:
– Amantadine: Glaukom, Niereninsuff., vorbestehende psychische Verän-
derungen.
– Budipin: Myasthenia gravis, nicht kompensierte Herzinsuff., Verwirrtheit,
Halluzinationen, < 18 J., QTc-Zeit ↑. Cave: WW mit allen Präparaten mit
QTc-Zeit ↑. Fachinformation beachten!
• Dos.:
– Amantadin-Salze: Rasche Aufdosierung meist möglich, Dos. von 200–
400 mg/d p. o. (HCl) bzw. 300–600 mg/d p. o. (Sulfat), alle Dos. vor
16:00 Uhr. I. v. 200–600 mg/d (500–1.500 ml/d). Cave: Langsam infun-
dieren.
– Budipin: Beginn mit 10 mg/d, wöchentliche Steigerung um 10 mg bis
max. 3 × 20 mg/d p. o., Gabe mind. 6 Wo. vor Entscheidung der Wirk-
samkeit.

Bei Budipin hohes Risiko der QTc-Zeit ↑ mit Kammertachykardie (Torsade


de pointes) u. Delir, deswegen strenge Ind.-Stellung u. regelmäßige EKG-
Kontrollen entsprechend Fachinformation.

Anticholinergika:
15 •• Wirkprinzip: Blockade cholinerger Rezeptoren.
Präparate (Auswahl): Z. B. Biperiden, Bornaprin, Metixen, Trihexyphenidyl.
• Ind.: Strenge Ind.-Stellung (v. a. beim älteren Pat.), heute nur noch Spezial­
ind., v. a. junge Pat. mit therapieresistentem behinderndem Tremor, selten
autonome Stör.
• NW: Delir, Verwirrtheit, Halluzinationen, kognitive Stör., Nausea, Erbre-
chen, Obstipation, Akkommodationsstör., Mydriasis, Mundtrockenheit,
­Mi­ktionsstör., Tachykardie.
• KI/WW: Engwinkelglaukom, Prostatahypertrophie, Tachykardie, Megakolon,
Demenz, Blasenentleerungsstör.

Hohes Psychoserisiko (Delir), hohe Zahl Nonresponder (40–60 %). Cave:


Ältere Pat. Strenge Ind.-Stellung.

Interventionelle Therapieverfahren
Apomorphin s. c. (intermittierende u. kontinuierliche Appl.):
• Wirkprinzip: Stimuliert periphere u. zentrale Dopaminrezeptoren, bei hohem
First-Pass-Effekt s. c.-Gabe erforderlich, durch Pumpenappl. gleichmäßige
Wirkspiegel.
• Präparate (Auswahl): Apomorphin als Einmalpen, für kontinuierliche Pum-
penther. in Ampullen/Fertigkartuschen für Pumpe.
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  537

• Ind.: Fortgeschrittenes IPS mit schweren Motorfluktuationen (bei Pen insbes.


Off-Phasen), die nicht oral beherrschbar sind.
• NW: Wie Dopaminagonisten, insbes. erhöhte Libido, Konfusion, Agitation,
Euphorie, Illusionen, Albträume, emotionale Labilität, subkutane Noduli, or-
thostatische Hypotension, Eosinophilie, Übelkeit, hämolytische Anämie (ca.
3 %), Rhinorrhö.
• KI: Eingeschränkte Leber- u. Nierenfunktion, Herz-Kreislauf-Erkr., Pat. mit
Neigung zu Übelkeit u. Erbrechen, orthostatische Hypotonie, neuropsychiat-
rische Stör., Schwangerschaft, Stillzeit.
• Dos.: Individuell in Abhängigkeit vom Akinese-Hyperkinese-Tagesprofil.
– Bei intermittierender Injektion 2–6 mg pro Injektion mit bis zu 10
Injektionen/d.
– Bei kontinuierlicher Pumpenther.: Monother. meist 100–300 mg/d, in
Komb. mit Levodopa 80–150 mg/d.
Intraduodenale Levodopa-Appl.:
• Wirkprinzip: Wie Levodopa (s. dort), lediglich gleichmäßigere u. magenun-
abhängige Wirkspiegel durch intraduodenale/intrajejunale Appl. (über PEG).
• Präparate (Auswahl): Gelkartuschen mit Levodopa + Carbidopa einschließ-
lich Pumpe.
• Ind.: Fortgeschrittenes IPS mit schweren Motorfluktuationen, nicht oral be-
herrschbar. Bei gutem NW-Spektrum auch bei Pat. in höherem Alter, mit ko-
gnitiven Stör. u./o. anderen Komorbiditäten möglich.
• NW: Wie Levodopa, zusätzlich KO durch PEG-Anlage, Katheterfehllage.
• KI: Wie Levodopa, zusätzlich individuell bei gastrointestinalen Erkr.
• Dos.: Individuell in Abhängigkeit vom Akinese-Hyperkinese-Tagesprofil.
Operative Therapieverfahren
Tiefenhirnstimulation (THS) im Nucleus subthalamicus (STN):
• Wirkprinzip: Hochfrequenzstimulation über programmierbaren Impulsgeber
u. implantierten Elektroden im STN zur Hemmung der STN-Neuronen u. 15
Normalisierung der Aktivitäten der Basalganglienkerne.
• Präparate (Auswahl): Komplettes Stimulationssystem aus Elektroden u. Im-
pulsgeber.
• Ind.: Fortgeschrittenes IPS mit schweren Motorfluktuationen, die nicht oral
beherrschbar sind.
• NW:
– NW der Stimulation: Dysarthrie, Dyskinesien, Pyramidenbahnreizung,
kognitive Veränderungen, hirnorganisches Pschosy., Erhöhung der Sui-
zidrate, Verhaltensauffälligkeiten, Augenöffnunsapraxie, kontralaterale
Blickdeviation, Gewichtszunahme. Parästhesien, Ataxie/Dysmetrie.
– KO der OP (ca. 1,5 % insgesamt): Extrazerebrale Hämatome, mentale
Konfusion, epileptische Anfälle, Konfusion o. Bradyphrenie, intrazerebra-
le Blutung, intrakranielle extrazerebrale Blutung, transienter Hydrozepha-
lus, Infektion, Kabelbrüche, Stimulator-Dislokation.
• KI: Demenz (MMS > 24 Punkte), schwere frontale exekutive Dysfunktion,
paranoide o. halluzinatorische Psychose, fehlende Kooperationsfähigkeit bei
Persönlichkeitsstör., Alter > 75 J. (biologisches Äquivalenzalter beachten),
schwere Hirnatrophie, multiple gliotische Läsionen im Marklager, schwere
zerebrale Mikroangiopathie, schwere internistische o. allg. Begleiterkr., Ther.
mit Antikoagulanzien, Immunsuppression, Pseudobulbärparalyse.
538 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Dos.: Frequenz 100–185 Hz, Amplitude u. Impulsdauer individuell in Abhän-


gigkeit von Symptomreduktion u. NW. Zusätzlich meist medikamentöse
Ther. notwendig (Dos. im Durchschnitt 40–60 % der präop. Dos.).
Tiefenhirnstimulation im Thalamus (VIM) o. Globus pallidus internatus
(GPI): Wirkprinzip u. Ind./KI Stimulation im STN.
• VIM-Stimulation bei isoliertem Tremor (z. B. essenzieller Tremor; ▶ 15.1.3),
heute nicht mehr beim IPS eingesetzt.
• GPI-Stimulation bei dyskinetischem Sy. u. Dystonien (▶ 15.4.2), heute beim
IPS wegen NW (z. B. Freezing) nicht mehr so häufig einsetzt. Vorteil:
weniger psychiatrische KO.

Therapieleitlinien

Medikamentöse Einstellung i. d. R. sofort nach Diagnosestellung initiieren.


Ther. ist rein symptomatisch u. hat das Ziel, die Behinderung zu minimieren,
die Alltagskompentenz u. Lebensqualität zu verbessern. Ther. richtet sich
nach Alter, Komorbiditäten u. Begleitmedikamenten.

Initialtherapie
Juveniles u. Early-Onset-IPS, keine wesentlichen Komorbiditäten:
• Möglichst lange ohne Levodopa.
• Empfehlenswert:
– Lang wirksame Non-Ergot-Dopaminagonisten (Pramipexol [retard], Ro-
pinirol [retard], Perebidil [nur retardiert verfügbar] o. als Pflaster Rotigo-
tin [▶ Tab. 15.6]).
– Ergot-Dopaminagonisten (Cabergoline) sind Mittel 2. Wahl.
– Dos. ▶ Tab. 15.6. Aufdosierung entsprechend Verträglichkeit u. Wirksamkeit.
– Gel. kann zur Vermeidung bzw. Verzögerung einer Levodopa-Ther. eine
Dosiserhöhung auch oberhalb des zugelassenen Bereichs sinnvoll sein
15 (cave: Individueller Heilversuch).
– Zusätzlich ist vor der Addition von Levodopa die Gabe von Amantadin-
Salzen u./o. eines MAO-B-Inhibitors (MAO-B-Hemmer) sinnvoll. Budi-
pin selten einsetzbar.
Pat. < 70 J. („biologisches Alter“) ohne wesentliche Komorbiditäten:
• 1. Wahl ist Monother. mit Non-Ergot-Dopaminagonisten. Auswahl des Ago-
nisten u. Dos. (▶ Tab. 15.6) entsprechend Verträglichkeit u. Lebensumständen.
• Ergot-Derivate sind Dopaminagonisten 2. Wahl.
• Langsame Eindosierung u. ggf. Addition Domperidon (3 × 10–20 mg/d) zur
Reduktion von NW.
• Zur schnellen Sympt.-Reduktion Beginn mit Amantadin-Salzen o. MAO-B-
Hemmern möglich. Addition eines Dopaminagonisten meist bereits nach
kurzer Behandlungsdauer erforderlich.
• In Einzelfällen Ther. mit Levodopa, dann aber überlappend Dopaminagonis-
ten eindosieren (Aufklärung über Langzeit-NW!).
Pat. >  70  J. o. Pat. mit schwerwiegenden Begleiterkr. (multimorbide) jeden
A
­ lters:
• Levodopa-Monother. als Standard. 600 mg/d i. d. R. nicht überschreiten.
• Bei milder Symptomatik kann Ther. mit Amantadin-Salzen erwogen werden
(Glutamatantagonisten).
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  539

Weiterführende Therapie in der Frühphase


Pat. < 70 J. („biologisches Alter“) ohne wesentliche Komorbiditäten:
• Zunächst Alternativen zu Levodopa wählen, Ausdosierung des Dopaminago-
nisten entsprechend Verträglichkeit.
• Wenn Levodopa nötig, Dos. so niedrig wie möglich, Komb. mit Dopamin­
agonisten (bei initialer Levodopa-Ther.), Amantadin-Salzen u./o. MAO-B-
Hemmer.
• COMT-Hemmer nicht zugelassen bei Pat. ohne Fluktuationen, gelegentlich
kann Addition zur Verbesserung der Verträglichkeit führen (Cave: Off-label-
Behandlung), damit jedoch kein zentraler Einspareffekt von Levodopa.
Pat. > 70 J. o. Pat. mit schwerwiegenden Begleiterkr. (multimorbide) jeden Al-
ters: Meist Monother. mit Levodopa sinnvoll, bei Auftreten der ersten Fluktuatio-
nen ggf. Addition von COMT-Hemmern.
Therapie des fortgeschrittenen IPS
Allg.:

Gute Kommunikation zwischen Pat. u. Therapeut u. das Führen eines Pati-


ententagebuchs zur Darstellung des Bezugs von Off-/On-Phasen u. Dyskine-
sien zu Medikamenteneinnahme u. Mahlzeiten wichtig.

• Falls befriedigende Behandlung der Motorik ohne Dyskinesien nicht möglich,


meist Einstellung guter Beweglichkeit mit Dyskinesien sinnvoll.
• Kontinuierliche dopaminerge Stimulation ist für medikamentöse Ther.
Grundprinzip.
• Verbesserung der Levodopa-Resorption durch proteinarme Nahrung u. häu-
fige kleine Mahlzeiten. Zusätzlich ggf. Gabe schnell löslicher Mittel, ggf. in
Komb. mit Prokinetikum wie Domperidon.
Motorfluktuationen/End-of-Dose-Akinese („Wearing-off“):
• Fraktionierung der Levodopa-Medikation bei Reduktion der ED, ggf. häufi- 15
ges Trinken einer Levodopa-Lsg.
• Bei nächtlichen Off-Phasen Zugabe von retardierten Levodopa-Präparaten
zur Nacht.
• Komb. von Retard- u. Standardpräparaten von Levodopa während des Tages.
• Dopaminagonisten einsetzen/steigern u. Reduktion von Levodopa.
• Zugabe eines MAO-B-Hemmers u./o. eines COMT-Hemmers.
• Intermittierende Gabe von Apomorphin s. c.
• Bei medikamentöser Ther.-Resistenz u. schwerer Behinderung tiefe Hirnsti-
mulation im STN.
Motorfluktuationen/Paroxysmales On-off u. Freezing:
• Maßnahmen wie End-of-Dose-Akinese.
• Apomorphin s. c., intermittierend o. kontinuierlich.
• Intraduodenale Levodopa-Infusion.
• Physikalische Ther.: Gangschulung, externer Stimulus (Brille, Gehstock, akus-
tische Zeichen).
• Tiefe Hirnstimulation im STN gut wirksam, bei Freezing muss Levodopa-Re-
sponsivität gegeben sein.
„Peak-Dose“-Dyskinesien:
• Maßnahmen wie End-of-Dose-Akinese.
• Zusätzlich Gabe von Amantadin-Salzen als Antidyskinetikum.
540 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

„Off-Dose“-Dystonie:
• Möglichst kontinuierliche dopaminerge Ther. bewährt: Lang wirksame orale
Dopaminagonisten, kontinuierliche s. c. Apomorphin-Injektion, retardiertes
Levodopa (zur Nacht), Zugabe eines COMT-Hemmers.
• Akut ist Gabe von löslichem Levodopa o. Apomorphin s. c. möglich.
• Bei fokalen Dystonien ist Botulinumtoxin-Behandlung (▶ 15.4.1) möglich.
• Bei medikamentöser Ther.-Resistenz u. schwerer Behinderung tiefe Hirnsti-
mulation im STN.
Biphasische Dyskinesien:
• Akut ist Gabe von löslichem Levodopa o. Apomorphin s. c. zur Verkürzung
der dyskinetischen Phase möglich.
• Kontinuierliche s. c. Infusion von Apomorphin o. intraduodenale Levodopa-
Infusion.
• Meist tiefe Hirnstimulation im STN notwendig.
Therapie nichtmotorischer Symptome
Allg.:

Fluktuationen der nichtmotorischen Sympt. (affektive Fluktuationen,


­Fatigue, etc.) werden behandelt wie Motorfluktuationen.

Vegetative Sympt.:
• Wie bei MSA (▶ 15.2.5).
• Sialorrhö: Scopolamin-Pflaster, niedrig dosiert Amitriptylin bis 4 × 10 mg/d
p. o., Botulinumtoxin intraglandulär.
Depression:
• Zunächst Optimierung der dopaminergen Medikation, falls möglich Additi-
on eines Non-Ergot-Dopaminagonisten.
• Bei mittleren bis schweren depressiven Stör. Versuche mit Antidepressiva
15 sinnvoll, ungenügende Datenlage, i. d. R.:
– SSRI (z. B. Citalopram 20–40 mg/d p. o.; Sertralin 50–100 mg/d p. o.).
– SNRI (z. B. Reboxetin 2 × 4 mg/d, max. 12 mg/d p. o., begrenzte Zulas-
sung!).
– Mirtazapin 15–30(–45) mg/d p. o. abends
– Bei fehlender Wirksamkeit duale Hemmstoffe (SSNRI), z. B. Venlafaxin
(retard) 75–15 mg/d p. o., Duloxetin 30–60(–90) mg/d p. o. (Cave: Nicht
mit MAO-B-Hemmern kombinieren).
• Kontrolle der depressiven u. motorischen Sympt. nach 2–6 Wo. z. B. mit BDI!
Demenzielles Sy.: CHE-Inhibitoren heute Mittel 1. Wahl: Rivastigmin zugelassen
bis 2 × 6 mg/d p. o. o. als transdermales System (4,6–9,5 mg/24 h) mit kontrollier-
ten Daten, Donepezil bis 10 mg/d p. o.
• CHE-Inhibitoren verbessern auch psychiatrische Sympt.
• NW: Meist gastrointestinale Sympt., scheinen unter transdermaler Appl.
günstiger.
Psychotische Sympt.:
• Zunächst Behandlung von Begleiterkr. (akute Infektion, Exsikkose).
• Optimierung der dopaminergen Ther. (stufenweise Reduktion von MAO-B-
Hemmern, Amantadin-Salzen, Dopaminagonisten, dann von Levodopa) ent-
sprechend Motorik.
• Dann nur atypische Neuroleptika.
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  541

– Clozapin zugelassen, bis 75 (max. 100) mg/d p. o. (mit Schwerpunkt auf
Abenddosis). Cave: Agranulozytose (1–2 %)! Wöchentliche BB-Kontrol-
len obligat! In höheren Dos. anticholinerge NW (delirante Sympt.) beach-
ten.
– Quetiapin ohne Zulassung, für Halluzinose bis 200 mg/d p. o., sonst 400–
600 mg/d p. o. notwendig.
– Akut Melperon (25–150 mg/d) mit Schwerpunkt auf Nachtdosis möglich,
wegen Sedierung rasch ausschleichen.
– Andere Atypika nichtindiziert.
Schlafstör.:
• Aufgrund Akinese: Levodopa-Dosis vor dem Schlafengehen u. evtl. in der
Nacht, Retardpräparate.
• Aufgrund Depression: Sedierende Antidepressiva.
• Durch psychotische Sympt.: Clozapin 25–50 mg p. o. zur Nacht (Details siehe
psychotische Sympt.).
• REM-Schlafverhaltensstör.: Clonazepam 0,5–2 mg p. o. zur Nacht.
Prognose
• Insgesamt langsam progredient, in ersten 5 Krankheitsjahren i. d. R. mildes
Krankheitsstadium.
• Behinderung häufig durch therapierefraktäre Sympt. wie Gangstör., Hal-
tungsinstabilität.
• Tremordominanz-Typ hat bessere Progn. als akinetisch rigider Typ.
• Im späteren Verlauf Schweregrad u. Lebensqualität wesentlich von Ther.-KO
(Psychose, Motor-KO) u. nichtmotorischen Sympt. abhängig.
• Todesurs. häufiger Pneumonien u. Kachexie, seltener kardiovask. Ereignisse.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Deutsche Parkinsonvereinigung (dPV), Moselstraße 31, 41464 Neuss, Tel.:
02131/41016/17, www.parkinson-vereinigung.de. 15

15.2.4 Familiäre Parkinson-Syndrome
Def.: Dem IPS klin. u. neuropath. ähnliche, aber familiär (monogenetisch) auf-
tretende Parkinson-Sy. Meist deutlich früher auftretend, aut. dom. o. aut. rez.,
etwa 5 % der IPS. Häufig zusätzliche neurol. Sympt. wie Demenz o. Dystonie
(▶ Tab. 15.7).

Tab. 15.7  Monogenetisch vererbte (familiäre) Parkinson-Syndrome (Auswahl)


Locusname Genlokus Gen, Protein Verer- Mittleres Besonderheiten
bungsmo- Erkr.-Al-
dus ter

PARK1 4q21–23 SNCA, Aut. dom. 46–60 J. Lewy-Körperchen


α-Synuklein (diffuse Verteilung),
schnelle Progression,
posturaler Tremor,
späte Demenz
542 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Tab. 15.7  Monogenetisch vererbte (familiäre) Parkinson-Syndrome


(Auswahl) (Forts.)
Locusname Genlokus Gen, Verer- Mittleres Besonderheiten
­Protein bungsmo- Erkr.-
dus Alter

PARK2 6q25–27 Parkin, Par- Aut. rez. < 25 J. Unspezifische nigra-


kin le Degeneration, sel-
ten Lewy-Körper-
chen, langsame Pro-
gression, fokale Dys-
tonie

PARK3 2p13 - Aut. dom. > 60 J. Lewy-Körperchen


(typ. Hirnstammver-
teilung), Demenz

PARK4 4q21–23 SNCA, Aut. dom. 46–60 J. Multiplikation des


α-Synuklein SNCA-Gens (PARK1),
Sympt. ähnlich
PARK1

PARK5 4p14 UCH-L1, 46–60 J. Keine neuropath.


UCH-L1 Daten, nur 1 Familie
beschrieben

PARK6 1p35–p36 PINK1, Aut. rez. 25–45 J. Keine neuropath.


PINK1 Daten, langsame
Progression, Tremor,
keine Dystonie

PARK7 1p36 DJ-1, DJ-1 Aut. rez. 25–45 J. Heterozygote Fälle


zeigen Lewy-Körper-
chen, langsame Pro-
gression, fokale Dys-
15 tonie

PARK8 12p11– LRRK2, Aut. dom., 46–60 J. Partiell Lewy-Kör-


q13 Dardara sporadisch perchen, levodopa-
(LRRK2) responsiv, häufig
unter bei sporadi-
schem IPS

LRRK2, Leucine-rich repeat kinase 2; NF-M, Neurofilament medium, Nurr1, Nuclear


receptor-related 1, UCH-L1, Ubiquitin C-terminale Hydrolase L1

Beim juvenilen Parkinson-Sy. immer an familiäre Parkinson-Sy. u.


M. Wilson denken (▶ 15.5).

Diagn. u. Ther.:
• Prinzipien: Wie beim IPS (▶ 15.2.3).
• Genetische Diagn.: Selten sinnvoll, ggf. für Familienberatung.

15.2.5 Multisystematrophie (MSA)
ICD-10 G90.3; MSA vom Parkinson-Typ ICD-10 G23.2.
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  543

Definition
Früher als striato-nigrale Degeneration (SND), olivo-ponto-zerebelläre Atrophie
(OPCA), Shy-Drager-Sy. (SDS) u. idiopathische orthostatische Hypotension be-
zeichnet, heute auf der Basis klin. u. neuropath. Gemeinsamkeiten als MSA zu-
sammengefasst.

Klassifikation
• MSA-P (striato-nigraler Typ): Ca. 80 % aller MSA-Fälle. Überwiegend
akinetisch-rigides, meist symmetrisches Parkinson-Sy., meist nicht levo-
doparesponsiv, selten Ruhetremor (25 % d. F.), im Verlauf Hinzutreten
der anderen typ. Sympt. der autonomen Dysfunktion, zerebellären Stör. u.
Pyramidenbahnzeichen.
• MSA-C (olivo-ponto-zerebellärer Typ – OPCA): Ca. 20 % aller MSA-
Fälle. Überwiegen der zerebellären Ataxie, kombiniert mit akinetisch-­
rigidem Parkinson-Sy. Im Verlauf Hinzutreten der anderen Stör.
• Shy-Drager-Sy.: Prim. orthostatische Hypotonie (< 1 % der MSA). Be-
drohliche Hypotonie bereits beim Aufrichten, autonome Sympt. im Vor-
dergrund.

Epidemiologie
• Sporadische neurodegenerative Erkr. (Synukleinopathie) mit bes. u. variabler
Beteiligung des extrapyramidalen Systems, des Kleinhirns, des RM u. des au-
tonomen NS.
• Prävalenz 2–5/100.000 Einwohner, Inzidenz ca. 0,6/100.000 Einwohner.
• Ca. 8 % der Parkinson-Sy., ca. 30 % der spät beginnenden zerebellären
Ataxien.
• Nahezu alle Pat. erkranken nach dem 50. Lj (35–70 Lj).
Klinik 15
• Gelegentlich prämorbide REM-Schlaf-Verhaltensstör. bei MSA-P.
• Variable Komb. aus akinetisch-rigidem Parkinson-Sy., Pyramidenbahnzei-
chen, zerebellärem Sy. u. autonomer Dysfunktion (Vorherrschen des Parkin-
son-Sy.: MSA-P; Vorherrschen des zerebellären Sy.: MSA-C).
• Im Verlauf Entwicklung aller wesentlichen Kardinalsympt. (nach 5 Krank-
heitsjahren nahezu alle Pat. mit Vollbild der MSA).
• Autonome Dysfunktion ist als Begleitsymptomatik einer im Vordergrund
stehenden Bewegungsstör. anzusehen (prim. autonomes Versagen ist extrem
selten eine MSA!).
• Kognitive Stör. selten!
Parkinson-Sy.:
• Zu Beginn ca. 50 %, im Verlauf 90 % aller Pat.
• Meist symmetrisches akinetisch-rigides Sy., selten asymmetrisch.
• Ca. 30 % zeigen im Verlauf einen Ruhetremor.
• Ca. 30 % mit zufriedenstellender Besserung der Parkinson-Sympt. durch Le-
vodopa zu Beginn, 90 % aller MSA-P-Pat. zeigen im Langzeitverlauf keine Re-
sponsivität auf Levodopa.
• Zusätzlich häufig orofaziale u./o. kraniozervikale Dystonie mit Dysarthrie,
posturaler Instabilität; Stürze zu Beginn eher selten.
Zerebelläres Sy.: Zu Beginn ca. 5 %, im Verlauf 50 % Stand- u. Gangataxie, Stör.
der Okulomotorik u. Dysarthrie in verschiedenen Komb.
544 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Autonome Dysfunktion:
• Zu Beginn ca. 5 %, im Verlauf > 50 % aller Pat. präganglionäre u. zentrale
Stör. mit erektiler Dysfunktion, Urininkontinenz.
• Obstipation häufig, Stuhlinkontinenz sehr selten.
• Orthostatische Hypotension sehr häufig (ca. 70 %), orthostatische Synkopen
selten (15 %).
Pyramidenbahnzeichen: Pos. Babinski-Zeichen o. gesteigerte MER bei 60 %.
Psychiatrische Stör.: Mittlere bis schwere depressive Sy. bei ca. 50 %, REM-
Schlaf-Verhaltensstör. kommt gehäuft vor.

Differenzialdiagnosen
DD der MSA-P: IPS (▶  15.2.3) u. andere atypische Parkinson-Sy. (▶  15.2.6,
▶ 15.2.7, ▶ 15.2.8).
DD der MSA-C:
• Andere degenerative Ataxien (▶ 16.2), insbes. idiopathische zerebelläre Ataxi-
en u. aut. dom. spinozerebelläre Ataxien (▶ 16.2.5).
• Selten Fragiles-X-Tremor-Ataxie-Sy. (ca. 4 % der sporadischen spät manifes-
tierenden Ataxie).
• Ohne eine über das zerebelläre Sy. hinausgehende Symptomatik ist Abgren-
zung der MSA-C zu späten idiopathischen zerebellären u. spinozerebellären
Ataxien klin. nicht möglich!

Bei isolierter autonomer Dysfunktion zu Beginn der Erkr. an „pure autono-


mic failure“ denken!

Diagnostik
• Klin. Unters. u. Verlaufsbeobachtungen: Entscheidend (▶ Tab. 15.8).
• Pharmakologische Testung (auf dopaminerge Responsivität): Apomor-
15 phin- o. Levodopa-Test neg. (▶ 15.2.3, ▶ Tab. 15.3).
• Autonome Funktionsdiagn.: Schellong-Test, Herzfrequenz-Variabilität mit
Hinweisen auf zentrale autonome Funktionsstör. Sympathische Hautantwort
häufig nicht ableitbar o. deutlich latenzverzögert.
• CMRT: In T2-Wichtung in ≈80 % Putamen hypointens, evtl. mit hyperinten-
sem Randsaum bei MSA-P; zerebelläre Atrophie, kreuzförmige Hyperintensi-
tät im Pons („Hot Cross Bun Sign“) bei MSA-C.
• Funktionelle Bildgebung: Dopamintransporter-Bildgebung (z. B. DATScan-
SPECT) mit symmetrischer reduzierter Bindung (▶ 15.2.3, ▶ Tab. 15.4),
­Dopamin-D2-Rezeptor-Bildgebung (z. B. IBZM-SPECT) mit symmetrischer
reduzierter Bindung (▶ 15.2.3, ▶ Tab. 15.4), Darstellung der autonomen kar-
dialen Innervation (z. B. MIBG-SPECT) mit Normalbefund (▶ 15.2.3).

Tab. 15.8  Diagnostische Kriterien der MSA (mod. nach Gilman et al. 1999)
Autonomes Sy.: Orthostatische Hypotension (RR-Abfall ≥ 30 mmHg syst. o.
≥ 15 mmHg diast.) o. Harninkontinenz mit erektiler Dysfunktion bei M o. beide Sym-
ptomkomplexe. Parkinson-Sy. ▶ 15.2.3. Zerebelläres-Sy.: Gangataxie plus: Zerebellä-
re Dysarthrie o. Extremitätenataxie o. konstanter Blickrichtungsnystagmus.

Mögliche MSA-P Kriterium für Parkinson-Sy. plus 2 Sympt. aus anderen


­ omänen. Bei schlechtem Ansprechen auf Levodopa ist
D
nur noch ein weiteres Sympt. aus einer anderen Domäne
­erforderlich
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  545

Tab. 15.8  Diagnostische Kriterien der MSA (mod. nach Gilman et al. 1999) (Forts.)
Mögliche MSA-C Kriterium für zerebelläres Sy. plus 2 Sympt. aus anderen
Domänen

Wahrscheinliche MSA-P Kriterium für autonomes Sy. plus Parkinson-Sy. mit


schlechtem Ansprechen auf Levodopa

Wahrscheinliche MSA-C Kriterium für autonomes Sy. plus zerebelläres Sy.

Gesicherte MSA Path. Nachweis einer hohen Dichte an α-Synuklein-pos.


glialen zytoplasmatischen Einschlüssen plus degenerative
Veränderungen im nigrostriatalen u. olivo-ponto-zere-
bellären System

Ausschlusskriterien
Erkr.-Beginn < 30. Lj, pos. Familienanamnese, sek. (metab.) Urs., spontane
Halluzinationen, Demenz, vertikale Blickparese o. Verlangsamung der verti-
kalen Sakkaden, fokale kortikale Sympt., Alien-Limb-Phänomen.

Therapie
Allg.:
• Keine protektive (kausale) Ther. verfügbar. Wenige kontrollierte Daten.
• Nichtmedikamentöse Ther. u. Hilfsmittel beachten: Physiother. dauerhaft,
Logopädie (Sprech-, Stimm- u./o. Schlucktraining) u. Ergother. meist block-
weise anbieten.
• Weiterhin Bewegungsgeräte zum eigenständigen leichten Training, Gangstör.
u. Fallneigung können durch spezielle Trainingsprogramme gebessert wer-
den.
• Schluckstör. führen im Verlauf der Erkr. zur Kachexie → frühzeitig PEG.
Parkinson-Sy.:
• Levodopa plus DDC-I bis zu 1.000 mg/d p. o. Mittel 1. Wahl (Ther.-Kontrolle 15
nach 4–6 Wo.).
– Bei Wirksamkeit regelmäßige Reduktionsversuche (ca. alle 9–12 Mon.),
da Wirkverlust im Krankheitsverlauf.
– Eindosierung unter Domperidon 3 × 10–20 mg/d zur Vermeidung von
NW (Übelkeit, Verschlechterung einer orthostatischen Hypotension).
• Amantadin-Salze bis zu 400 mg (HCl) bzw. 600 mg/d (Sulfat) p. o.
Zerebelläres Sy. (Ataxie): Keine gesicherte Pharmakother. bekannt, Physiother.
mit Gangtraining.
Autonome Stör.:
• Bei symptomatischer orthostatischer Hypotension:
– Zunächst nichtmedikamentös mit Stützstrümpfen, Oberkörperhochlage-
rung.
– Gesteigerte Salz- u. Flüssigkeitszufuhr, kleine Mahlzeiten.
– Pharmakotherapeutisch Fludrocortison 1–3 × 0,1 mg/d p. o. (Cave: Regel-
mäßige E'lyt-Kontrollen!) o. selektiver α1-adrenerger Agonist Midodrin
(15–30 mg/d p. o.).
• Bei Dranginkontinenz Anticholinergika (z. B. Oxybutinin 2–3 × 2,5–5 mg/d
p. o.).
• Bei nächtlicher Polyurie Desmopressin (als Spray 10–40 μg/Nacht).
546 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Bei unvollständiger Blasenentleerung (Restharn > 100 ml) Einmalkatheteri-


sierung (3–4/d), im Verlauf häufig Anlage eines transkutanen, suprapubi-
schen Katheters notwendig. Dann auch Ansäuerung des Urins mit Methionin
3 × 1 (–2) Tbl. mit 500 mg/d überlegen.
• Bei erektiler Dysfunktion selektive Phosphodiesterase-Inhibitoren (Typ 5;
z. B. Sildenafil 25–50 [bis max. 100] mg etwa 1 h vor Geschlechtsverkehr), Ta-
dalafil 10 (bis max. 20) mg mind. 30 Min. vor Geschlechtsverkehr (Wirkung
bis 36 h) o. Vardenafil 10 (max. 20) mg 25–60 Min. vor Geschlechtsverkehr.
Cave: Art. Hypotonie (Schellong-Test). KI: Ischämische Herzerkr., Behand-
lung mit Nitraten o. duodenale Ulzera.
Psychiatrische Stör.: Datenlage ungenügend, bei mittleren bis schweren depressi-
ven Stör. Ther. wie bei IPS (▶ 15.2.3).

Prognose
Rasch progredienter Verlauf, innerhalb von 5 J. schwere Behinderung/Rollstuhl-
pflicht bei 50 % der Pat. Mittlere Lebenserwartung nach Diagnosestellung zwi-
schen 6 u. 9 (selten 15) J. (MSA-C mit wahrscheinlich langsamerem Verlauf als
MSA-P).

15.2.6 Demenz mit Lewy-Körperchen (DLB)


▶  23.4. ICD-10 G23.8. Syn.: Diffuse Lewy-Körperchen-Erkr., M. Alzheimer mit
Parkinson-Veränderungen, Lewy-Körperchen-Variante des M. Alzheimer, senile
Demenz vom Lewy-Körperchen-Typ.

Epidemiologie
• Sporadische neurodegenerative Erkr. (Synukleinopathie) mit demenziellem
Sy. u. Parkinson-Sy.
• Häufiges demenzielles Sy.: Prävalenz bei über 65-Jährigen 0,7 %, ca. 10–15 %
15 aller Fälle mit demenziellem Sy.
• Erkr.-Alter: 50. bis 83. Lj.

Die Fluktuationen der kognitiven Funktionen u. die Neuroleptikasensitivität


scheinen die konsistentesten Sympt. der DLB zu sein u. ihr Vorhandensein
sollte an die DLB denken lassen.

Klinik
Charakteristisch ist progrediente Demenz, initial jedoch isoliertes Parkinson-Sy.,
psychiatrische Stör. ohne Demenz, orthostatische Hypotension, Stürze o. transi-
ente Bewusstseinsstör. möglich.
Psychiatrische Stör.:
• Meist Komb. kortikaler u. subkortikaler neuropsychologischer Defizite mit
substanziellen Stör. von Aufmerksamkeit u. räumlicher Wahrnehmung.
• Demenzielles Sy. muss innerhalb des 1. Erkankungsjahres auftreten.
• Sehr häufig weitere psychiatrische Sympt., v. a. visuelle Halluzinationen,
Angst, Apathie u. delirante Sympt. Visuelle Halluzinationen korrelieren mit
kortikalem cholinergen Defizit.
• Zu Beginn der Erkr. ist die Fluktuation der kognitiven Leistungsfähigkeit u.
der Bewusstseinsstör. charakteristisch.
• Depressives Sy. häufig (bis 40 %).
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  547

Parkinson-Sy.:
• 50–70 % mit meist symmetrischem Parkinson-Sy. Praktisch kein Tremor.
• Ausgeprägte Sensitivität gegenüber Neuroleptika u. Entwicklung ausgepräg-
ter NW schon bei niedrigen Dos. klassischer Neuroleptika (bei ca. 50 %) mit
2–3-facher Erhöhung der Mortalität.
Andere Stör.: Zusätzlich häufige Stürze, Synkopen u. fluktuierende Bewusstseins-
stör.

Differenzialdiagnosen
Alzheimer-Erkr. (▶ 23.3) u. IPS mit Demenz (▶ 15.2.3).
• Abrufen von Gedächtnisinhalten bei DLB später, Abnahme der räumlich-vi-
suellen Fähigkeiten früher u. schneller als bei Alzheimer-Erkr.
• Aufmerksamkeitsstör. u. Fluktuationen der kognitiven Funktionen stärker
bei DLB, Halluzinationen, illusionäre Verkennungen u. Parkinson-Sy. sind
im frühen Krankheitsverlauf bei DLB häufiger.
• Abgrenzung zum IPS mit Demenz häufig nur mit 1-J.-Regel möglich.

1-Jahres-Regel
Demenz muss innerhalb des 1. Erkr.-Jahres auftreten, um DLB zu diagnosti-
zieren, sonst ist von einer Demenz beim IPS auszugehen.

Diagnostik

Klin. Diagnosekriterien beachten (▶ Tab. 15.9).

Tab. 15.9  Klinische Kriterien der DLB (nach McKeith et al. 1996)
Einschlusskriterien Unterstützende
Symptome
Symptome, die
­gegen die Diagnose
15
sprechen

Progredientes demenzielles Sy. (ausge- Wiederholte Stürze Ischämische Infarkte


prägte Gedächtnisstör. müssen im Synkopen (klin. o. Bildgebung)
Frühstadium nicht vorhanden sein, tre- Transiente Bewusst- Hinweise für eine
ten aber im weiteren Verlauf üblicher- seinsstör. andere Erkr., die die
weise hinzu. Konzentrationsstör., Stör. Erhöhte Sensitivität Sympt. erklären
frontaler Funktionen u. visuell-räumli- gegenüber Neuro- könnte (cave:
cher Fähigkeiten können klin. Bild do- leptika ­Komorbidität)
minieren) Systematisierter
Eines (mögliche Diagnose) o. zwei Wahn
(wahrscheinliche Diagnose) der folgen- Halluzinationen an-
den Sympt.: derer Sinnesmoda-
• Fluktuierende demenzielle Sympto- litäten
matik mit ausgeprägten Schwankun-
gen der Wachheit u. Aufmerksam-
keit
• Wiederholte visuelle Halluzinationen
(typ. gut ausgeformt u. detailliert)
Parkinson-Sy. (nicht medikamentenin-
duziert, kann identisch sein wie beim
IPS, jedoch häufig milder u. symmetri-
scher)
548 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Labor: Blut- u. Liquorunters. zum Ausschluss systemischer o. pharmakologi-


scher Urs. eines Delirs (entsprechend klin. Verdacht).
• CMRT: Ausschluss anderer Urs., keine spezifischen Veränderungen bei DLB.
• Funktionelle Bildgebung: Dopamintransporter-Bildgebung mit FP-CIT-
SPECT (z. B. DATScan®) mit path. Minderanreichungen in den Basalganglien
zur Abgrenzung von Alzheimer-Erkr. zugelassen (path. Darstellung hat Sen-
sitivität von 83 % u. Spezifität von 100 %).
• Klin. Diagnosekriterien der DLB zeigen hohe Sensitivität u. Spezifität (Vor-
liegen von 3 Einschlusskriterien: Sensitivität/Spezifität 83–100 %; Vorliegen
von 2 Einschlusskriterien: Sensitivität 22–83 %, Spezifität 79–95 %).

Therapie
Allg.: Kaum kontrollierte Studien, keine kausale o. protektive Ther. bekannt.
• Zielsympt.: Parkinson-Sympt., Demenz, andere neuropsychiatr. Stör. (Depres-
sion, Halluzinationen, Schlaf-, Verhaltensstör.) o. autonome Dysfunktion.
• Nichtmedikamentöse Ther. berücksichtigen (Physiother., Ergother., stabiles
soziales Umfeld).
Parkinson-Sympt.:
• Levodopa (plus DDC-I) in so geringen Dosen wie möglich (▶ 15.2.3); wahr-
scheinlich geringere Wirkung als beim IPS.
• Andere Antiparkinson-Medikamente (Dopaminagonisten, Amantadin-Salze)
kaum indiziert, da erhebliche psychiatrischen NW.
Demenzielles Sy.:
• CHE-Inhibitoren heute Mittel 1. Wahl (aber nicht zugelassen!), evtl. besser
wirksam als bei Alzheimer-Erkr. (▶ 23.3):
– Rivastigmin bis 2 × 6 mg/d p. o. o. als transdermales System (4,6–
9,5 mg/24 h).
– Donepezil bis 10 mg/d p. o.
• CHE-Inhibitoren verbessern auch psychiatrische Sympt.
15 • NW: Meist GIT-Sympt., scheinen unter transdermaler Appl. günstiger.
Andere psychiatrische Stör.:
• Bei Halluzinationen u. psychotischen Sympt. zunächst Reduktion von Levo-
dopa, dann nur atypische Neuroleptika.
! Keine klassischen Neuroleptika!
• Am günstigsten Clozapin bis 75 (max. 100) mg/d p. o. (mit Schwerpunkt auf
der Abenddosis).
• Cave: In höheren Dos. von Clozapin anticholinerge NW (delirante Sympt.)
beachten (▶ 15.2.3).

Prognose
Wenige Verlaufsunters., kognitive Defizite mit ähnlichem Verlauf wie bei Alzhei-
mer-Erkr. (▶  23.3), Parkinson-Sy. mit vergleichbarer Progression wie beim IPS
(▶ 15.2.3). Mittlere Lebenserwartung wohl geringer als beim IPS, aber vergleich-
bar mit Alzheimer-Demenz. Alter bei Tod zwischen 68 u. 92 J.

15.2.7 Progressive supranukleäre Paralyse (PSP)


ICD-10 G23.1. Syn.: Steele-Richardson-Olszewski-Sy.
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  549

Epidemiologie
Sporadische neurodegenerative Erkr. (Tauopathie) mit symmetrischem axialem
Parkinson-Sy., supranukleärer Blickparese, Stürzen u. demenziellem Sy.; 2 Sub-
typen.
Prävalenz ca. 5–7/100.000, Inzidenz ca. 1/100.000 Einwohner pro Jahr, ca. 8 % der
Parkinson-Sy., Erkr.-Alter > 50. Lj (60.–65. Lj).

Subtyp des PSP-Parkinsonismus leicht mit IPS (▶ 15.2.3) zu verwechseln,


ist wahrscheinlich nur im Verlauf davon abzugrenzen. Bedeutung der ap-
parativen Diagn. (funktionellen Bildgebung) für diese Abgrenzung unbe-
kannt.

Klinik
Subtypen/Verlaufsformen:
• PSP-Richardson-Sy. (klassischer/charakteristischer Subtyp):
– Häufigster Subtyp, ca. 50–60 % aller Fälle.
– Bewegungsstör.: Symmetrisches, deutlich axial betontes hypokinetisch-ri-
gides Sy., Retrokollis, wenig bis keine Levodopa-Responsivität. Früh be-
ginnende ausgeprägte Haltungsinstabilität (posturale Instabilität) mit
Stürzen (meist schon im 1. Krankheitsjahr). Kein Tremor.
– Okulomotorik: Verlangsamung der Sakkaden, supranukleäre vertikale
Blickparese vorwiegend nach unten. Endzustand mit fehlender willkürli-
cher Augenbewegung.
– Kognitive Stör.: Oft Frontalhirnsy. mit Verlangsamung von Denkprozes-
sen (z. B. verminderte Wortflüssigkeit), Perseverationsneigung o. zuneh-
menden Interesseverlust (Apathie). Blasenstör. bei frontaler Dysfunktion.
Zusätzlich häufig Pseudobulbärparalyse mit Dysarthrie u. Dysphagie.
• PSP-Parkinsonismus (PSP-P):
– Zweithäufigster Subtyp, ca. 30 % aller Fälle. 15
– Asymmetrischer Beginn, Tremor u. moderate transiente Wirkung von
­Levodopa.
– Leicht mit IPS (▶ 15.2.3) zu verwechseln, Verlauf deutlich schneller.
• PSP-pure akinesia with gait freezing (PSP-PAGF): Progrediente Gangstör.
mit Startschwierigkeiten u. Freezing des Gangs, Sprechens u. Schreibens. Tre-
mor, Rigor, Demenz o. Augenbewegunsstör. fehlen in den ersten Jahren.
Klassische PSP-Symptomatik erst spät im Verlauf. Selten.
• PSP-progressive non-fluent aphasia (PSP-PNFA):
– Progrediente nichtflüssige („non-fluent“) Spontansprache, Agrammatis-
mus, phonematische Fehler. Assoziierte Defizite im episodischen Ge-
dächtnis, Dyspraxien. Selten.
– Leicht mit anderen PNFAs zu verwechseln.
• PSP-cerebellar:
– Zerebelläre Ataxie, häufig isoliert über Jahre. Selten.
– Leicht mit anderen zerebellären Ataxien (▶ 16.2) zu verwechseln.
• PSP-corticobasal syndrome (PSP-CBS):
– CBD (▶ 15.2.8) mit progrdienter asymmetrischer Dyspraxie, kortikale
Sensibilitätsstör. einschließlich Alien-Limb-Phänomen, Dystonie, Brady-
kinesie (ohne Levodopa-Responsivität). Selten.
– Leicht mit CBD (▶ 15.2.8) zu verwechseln.
550 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Differenzialdiagnosen
• IPS (dort gute Levodopa-Responsivität, keine ausgeprägte supranukleäre
­Paralyse, keine frühen Stürze, langsamerer Verlauf; ▶ 15.2.3).
• Frontotemporale Demenzen (dort typ. Verhaltensauffälligkeiten, z. T. sehr
ähnlich, ▶ 23.5).
• CBD (dort deutliche Asymmetrie, kortikale Sympt, Alien-Limb-Sy., Apraxie;
▶ 15.2.8) u. MSA-P (dort keine vertikalen Blickparesen, keine Demenz, auto-
nome u. zerebelläre Stör.; ▶ 15.2.5).
• Normaldruckhydrozephalus (▶ 26.2), zentraler M. Whipple (▶ 9.3.9), SCAs,
insbes. SCA 3 u. 17 (▶ 16.2.5).

Diagnostik

Klin. Diagnosekriterien beachten (▶ Tab. 15.10). Kriterien im Wesentlichen


auf PSP-Richardson-Sy. ausgerichtet, bei anderen Subtypen deswegen häufig
erst im späteren Verlauf pos.

Tab. 15.10  Diagnostische Kriterien der PSP-Richardson-Sy. (modifiziert nach


Litvan 2006)
Diagnose Obligate Einschlusskriterien

Klin. wahrscheinliche Langsam progrediente Erkr.


PSP Erkr.-Beginn nach dem 40. Lj
Ausschluss anderer Erkr. mit PSP-ähnlichem Verlauf
­(Ausschlusskriterien)
Vertikale supranukleäre Blickparese (nach oben o. unten) o.
verlangsamte vertikale Sakkaden plus ausgeprägte Gangun-
sicherheit mit Stürzen im 1. Erkr.-Jahr

15 Klin. gesicherte PSP Langsam progrediente Erkr.


Erkr.-Beginn nach 40. Lj
Ausschluss anderer Erkr. mit PSP-ähnlichem Verlauf (Aus-
schlusskriterien)
Vertikale supranukleäre Blickparese (nach oben o. unten)
Ausgeprägte Gangunsicherheit mit Stürzen im 1. Erkr.-Jahr

Path. gesicherte PSP Klin. wahrscheinliche o. gesicherte PSP mit typ. neuropath.
Veränderungen in der Post-mortem-Analyse

• Labor: Blut- u. Liquorunters. zum Ausschluss anderer Erkr., z. B. zentraler


M. Whipple (▶ 9.3.9) entsprechend klin. Verdacht.
• Elektrookulogramm: Stör. der vertikalen Augenbewegung, Verlangsamung
der Sakkaden.
• CMRT: Mittelhirnatrophie (Atrophie der Hirnschenkel) mit Erweiterung des
3. Ventrikels, der Cisternae interpeduncularis et magna („Mickey-Mouse-
Zeichen“ in der transversalen Schichtung bzw. „Kolibri“-Zeichen in der sagit-
talen Schichtung).
• Funktionelle Bildgebung: Dopamintransporter-Bildgebung (z. B.
DATScan®-SPECT) mit symmetrischer reduzierter Bindung (▶ 15.2.3, ▶ Tab.
15.4), Dopamin-D2-Rezeptor-Bildgebung (z. B. IBZM-SPECT) mit symmet-
rischer reduzierter Bindung (▶ 15.2.3, ▶ Tab. 15.4), FDG-PET mit striataler u.
fronto-temporaler kortikaler Minderbelegung (▶ 15.2.3, ▶ Tab. 15.4).
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  551

Ausschlusskriterien
Z. n. Enzephalitis, Alien-Limb-Phänomen, kortikale Sensibilitätsstör., fron-
tale o. temporoparietale Atrophie, spontane Halluzinationen o. Wahn, korti-
kale Demenz, Alzheimer-Krankheit, Ataxie, initial ausgeprägte vegetative
Sympt., ausgeprägte asymmetrische Parkinson-Sympt., Strukturanomalien
im kranialen MRT (Infarkte etc.), Whipple-Krankheit.

Therapie
Allg.: Keine kausale o. protektive Ther. bekannt. Keine kontrollierten Daten, sym-
ptomatische Ther. meist frustran. Nichtmedikamentöse Ther. (Physiother., Ergo-
ther., stabiles soziales Umfeld) u. Hilfsmittelversorgung berücksichtigen.
Parkinson-Sy.: ▶ 15.2.3.
Andere Sympt.: Demenzielles Sy. (▶  15.2.3), andere psychiatrische Sympt.
(▶ 15.2.3), Blepharospasmus mit Botulinumtoxin (▶ 15.4.1), Sialorrhö (▶ 15.2.3),
Myoklonien (▶ 15.6.4; meist mit Clonazepam).

Prognose
Wenig Daten, mittlere Zeit bis Immobilität ca. 5 J., mediane Überlebenszeit ca. 6 J.

15.2.8 Kortikobasale Degeneration (CBD)


ICD-10 G23.8.
Syn.: Kortiko-dentato-rubrale, kortiko-basal-ganglionäre Degeneration.

Epidemiologie
• Sporadische neurodegenerative Erkr. (Tauopathie) mit kombiniertem Auftre-
ten von Basalgangliendysfunktion (Parkinson-Sy.) u. kortikalen Sympt. (kor-
tikale Sensibilitätsstör., Apraxien, Alien-Limb-Sy. etc.), meist stark asymmet-
risch (kortikobasales Sy.). 15
• Sehr selten, Prävalenz bei ca. 1–2/100.000 Einwohner (nur Daten aus Japan
verfügbar). Mittleres Erkr.-Alter ca. 60–65 J.
• Cave: Kortikobasales Sy. zeigt nur in 50 % d. F. die Pathologie der CBD, kommt
auch vor bei PSP (▶ 15.2.7), Alzheimer-Demenz, frontotemporaler Demenz.

Klinik
• Typ.: Komb. aus Stör. der Funktionen von Basalganglien u. Kortex. I. d. ,R.
einseitiger Beginn u. persistierende Asymmetrie.
• Bewegungsstör. mit hypokinetisch-rigidem Parkinson-Sy., deutlicher Stör.
der Stellreflexe, Halte- u. Aktionstremor, (fokale) Dystonie im Bereich einer
Extremität.
• Kortikale Sympt. beinhalten Stör. der epikritischen Sensibilität, (idiatorische
u. ideomotorische) Apraxie, Alien-Limb-Sy., Demenz u. Dysphasie, fokaler
(Reflex-)Myoklonus, selten Spiegelbewegungen.
• Zusätzlich Stör. der Okulomotorik (supranukleäre Blickparese), der Pyrami-
denbahn u. bulbäre Sympt.

Alien-Limb-Syndrom
Gefühl der Fremdheit u. unwillkürliche explorative/manipulative Bewegun-
gen einer Extremität, meist eines Arms.
552 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Differenzialdiagnosen
• IPS (dort gute Levodopa-Responsivität, keine Apraxie, kein Alien-Limb-Sy.,
keine Myoklonien; ▶ 15.2.3).
• Frontotemporale Demenzen (dort typ. Verhaltensauffälligkeiten, z. T. sehr
ähnlich, ▶ 23.5).
• PSP (dort symmetrischer axialer Rigor, keine kortikalen Sympt.), häufig klin.
Überlappung mit PSP (▶ 15.2.7).
• MSA-P (dort keine kortikalen Zeichen, keine Demenz; ▶ 15.2.5).
Diagnostik

Klin. Diagnosekriterien beachten (▶ Tab. 15.11).

Tab. 15.11  Diagnosekriterien der CBD (nach Lang 1994)


I. Chron. progressiver Krankheitsverlauf

II. Asymmetrie der Sympt. bei Erkr.-Beginn

III. Vorhandensein von Dysfunktion höherer 1. Dysfunktion höherer kortikaler


kortikaler Funktionen und Bewegungsstör. Funktionen:
Apraxie oder
kortikale Sensibilitätsstör. oder
Alien-Limb-Phänomen
2. Bewegungsstör.:
Akinetisch-rigides Sy. ohne Levodopa-
Responsivität und
dystone Extremitätenhaltung oder
spontaner o. stimulussensitiver fokaler
Myoklonus

15 Spezifizierung der klin. Sympt.:


• Rigidität: Muss einfach u. ohne Bahnung detektierbar sein.
• Apraxie: Muss mehr beinhalten als die reine Benutzung der Extremität als Objekt;
kognitive Stör. o. Bewegungsstör., die die Sympt. erklären können, müssen aus-
geschlossen sein.
• Kortikale Sensibilitätsstör.: Muss bei erhaltener Berührungsempfindung demonst-
riert werden u. asymmetrisch sein, damit das Verständnis des Pat. für den Test auf
der Gegenseite demonstriert werden kann.
• Alien-Limb-Phänomen: Muss mehr beinhalten als nur Levitation.
• Dystonie: Muss eine Extremität betreffen u. in Ruhe vorhanden sein.
• Myoklonus: Muss sich über die Finger hinaus ausbreiten, wenn mittels externer
Stimuli provoziert wird.

• Labor: Blut- u. Liquorunters. zum Ausschluss anderer Erkr., z. B. zentraler


M. Whipple (▶ 9.3.9) entsprechend klin. Verdacht.
• CMRT: Meist nur Ausschluss anderer Urs., im Verlauf asymmetrische parie-
tal betone Atrophie.
• Elektrophysiologie: Gelegentlich Riesenpotenziale bei stimulussensitivem
Myoklonus.
• Funktionelle Bildgebung: FDG-PET (▶ 15.2.3, ▶ Tab. 15.4) mit Minderbele-
gung in kontralateralen Basalganglien (Striatum) u. kontralateralen parietalen
Kortex (wahrscheinlich sensitivstes Diagnostikum).
   15.2  Akinetisch-rigide Bewegungsstörungen (Parkinson-Syndrome)  553

Ausschlusskriterien
Kognitive Stör., außer Apraxien/Aphasien, moderate bis schwere Demenz o.
supranukleäre Blickparese nach unten (inkl. Verlust der schnellen Kompo-
nente des optokinetischen Nystagmus) während Pat. in ambulanter Behand-
lung, Levodopa-Responsivität, Parkinson-Ruhetremor, schwere autonome
Dysfunktion, die Symptomatik erklärende Läsionen in CMRT.

Therapie
Allg.: Keine kausale o. protektive Ther. bekannt. Keine kontrollierten Daten, sym-
ptomatische Ther. meist frustran.
Parkinson-Sy.: ▶ 15.2.3.
Andere Sympt.:
• Myoklonien (▶ 15.6): Meist mit Clonazepam.
• Tremor (▶ 15.1): Meist mit Betablockern.
• Ausgeprägte Dystonie mit Botulinumtoxin (▶ 15.4.1).
Prognose
Nahezu keine Daten, rasch progredient, Progn. meist deutlich ungünstiger als
beim allen anderen Parkinson-Sy. Mittlere Zeit bis zur Immobilität 5–7 J., mittlere
Überlebenszeit ca. 8 J.

15.2.9 Andere Erkrankungen mit Parkinson-Syndrom


Unterteilung in neurol. Erkr. mit Parkinson-Sy. u. sek. Parkinson-Sy. artifiziell u.
häufig überlappend, aber strukturell hilfreich.

Seltene neurologische Erkrankungen mit Parkinson-Syndrom


ICD-10 G22*.
Def.: 15
• Insgesamt selten, Parkinson-Sy. kommt nicht regelhaft vor, steht häufig nicht
im Vordergrund.
• Meist Funktionsstör. u./o. Degeneration im Striatum, deswegen Levodopa u.
andere Dopaminergika i. d. R. nicht wirksam.
• M. Wilson (▶ 15.5), Alzheimer-Erkr. (▶ 23.3), Huntington-Erkr. (▶ 15.3.2),
Neuroakanthozytose-Sy. (▶ 15.3.4), pantothenatkinaseassoziierte Neurodege-
neration (▶ 15.4.2).
• Sehr selten: Zerebrotendinöse Xanthomatose. Juvenile neuronale Ceroid-Li-
pofuszinose (aut. rez.). „Gait-Ignition-Failure“-Sy. GM1-Gangliosidose Typ
II u. III, GM2-Gangliosidose. M. Gaucher Typ II u. III. Hämochromatose.
M. Niemann-Pick Typ C. Prämutations-Träger des Fragilen-X-Sy. (Fragile-
X-assoziiertes Tremor-Ataxie-Sy. [FXTAS]). Huntingtonähnliche Chorea
(HDL) 1 u. 2. Mitochondriopathien, v. a. mitochondriale DNA-Polymerase-
Gamma-A(PolgA)-Mutationen.

Sekundäre Parkinson-Syndrome
ICD-10 G22* Sek. (symptomatische) Parkinson-Sy. ohne prim. zugrunde liegende
neurol. Stör.
554 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Def. u. Ätiol.:
• Kriterien des Parkinson-Sy. (▶ 15.2.1) nicht immer vollständig erfüllt.
• Z. T. sehr häufig, insbes. medikamenteninduzierte Parkinson-Sy., exakte Ana-
mneseerhebung daher sehr wichtig!
• Medikamentös (ICD-10 G21.1, 22*):
– Sehr häufig, bis zu 10 % aller Parkinson-Sy.
– Meist Dopaminrezeptor-Blocker: Klassische u. atypische Neuroleptika,
Reserpin, Metoclopramid, Methyldopa, Tiaprid.
– Sonst: Antihistaminika, Kalziumantagonisten vom Flunarizin-Cinnarizin-
Typ, Antidepressiva, manche Antibiotika, Lithium, Valproat.
• Malignes neuroleptisches Sy. (ICD-10 G21.0; ▶ 4.9.5):
– Sonderform des medikamenteninduzierten Parkinson-Sy. durch Neuro-
leptika (alle Neuroleptika sind möglich!). Sehr selten.
– Klinik: Hohes Fieber, Tachykardie, Inkontinenz, massiver Rigor, Bewusst-
seinstrübung bis Koma, Anstieg von CK u. LDH. Unbehandelt beträgt die
Letalität > 60 %.
– Ther.: Amantadin-Salze (meist i. v. bis 200 mg/d) u./o. Dantrolene (4–
10 mg/kg KG/d), allg. intensivmedizinische Maßnahmen (z. B. Beatmung,
physikalische Fiebersenkung).
• Infektiös (ICD-10 G21.3, G22*):
– Insgesamt selten.
– Zwischen akutem (infektiösem) u. chron. (postinfektiösem) Parkinson-Sy.
unterscheiden.
– Postenzephalitisch (in den 1920er-Jahren Epidemie der Encephalitis le-
thargica von Economo), Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD, ▶ 9.5.2), Lues
(▶ 9.3.7), AIDS (▶ 9.4.8), progressive multifokale Leukenzephalopathie
(JC-Virus; ▶ 9.4.6), verschiedene Pilze, Toxoplasmose, verschiedene Viren
(z. B. EBV), Prionen-Erkr., M. Whipple.
• Tox. (ICD-10 G21.2, G22*):
15 – Bei uns selten.
– Mangan, Zyanid, Methanol, 1-Methyl-4-Phenyl-1,2,3,6-Tetrahydropyri-
din (MPTP, Verunreinigung synthetischer Heroine).
– Genaue Berufsanamnese, Umweltanalyse o. Drogenanamnese!
• Metab. (ICD-10 G21.8, G22*):
– Wilson-Erkr. (▶ 15.5), Fahr-Sy. (Verkalkungen der Basalganglien).
– Sehr selten: Zerebrotendinöse Xanthomatose, juvenile neuronale Ceroid-
Lipofuszinose, levodopasensitive Dystonien (▶ 15.4.2), Folatmangel,
GM1-Gangliosidose Typ II u. III, GM2-Gangliosidose, M. Gaucher Typ II
u. III, Hämochromatose, Hypothyreose (selten), M. Niemann-Pick Typ C,
posthypoxisches Parkinsonoid (vask. Sy., kein eigentliches Parkinson-Sy.),
Mitochondriopathien (Komplex-III-Defizienz; CPEO), Hypoparathyreo­
idismus.
• Andere Urs.: Posttraumatisch, auch sog. Verhämmerungs-Parkinsonismus
bei Boxern.
  15.3 Hyperkinetische Bewegungsstörungen  555

15.3 Hyperkinetische Bewegungsstörungen
15.3.1 Symptome
Akathisie
• Von griech.: Kathizein: Sitzen.
• Läsionsort: Nucleus caudatus.
• Gefühle, „nicht sitzen zu können“, verbunden mit Unruhe u. Bewegungs-
drang sowie mit multiformen repetitiven Bewegungen der Extremitäten (z. B.
Überkreuzen der Beine, Nesteln, Hin- u. Herbewegen des Körpers).

Athetose
• Von griech.: Athetos: Ungeeignet.
• Läsionsorte: Nucleus caudatus, Putamen, Pallidum.
• Unwillkürliche, langsame, wurmförmige, unregelmäßige, distal betonte, oft
stereotyp ablaufende Bewegung der Extremitäten, die oft in extremen Gelenk-
stellungen endet; ein- o. beidseitig.
• Häufig durch Willkürmotorik verstärkt.
• Nicht klar von Chorea abgegrenzt.
Ballismus
• Von griech.: Ballein: Werfen, schleudern.
• Läsionsorte: Meist Nucleus subthalamicus, Nucleus caudatus, Putamen.
• Unwillkürliche, weit ausfahrende (großamplitudige), schleudernde Bewegun-
gen der prox. Extremitätenmuskulatur.
• Meist als Hemiballismus.
Chorea
• Von griech.: Choreia: Tanz. 15
• Läsionsort: Nucleus caudatus, Putamen.
• Unwillkürliche, arrhythmische, nichtrepetitive, schnelle, distale o. distal be-
tonte Bewegung einzelner Muskeln o. Muskelgruppen; v. a. an Fingern u. Ex­
tremitäten, Gesichtsmuskulatur (Grimassieren).
• Verstärkung bei intendierter Bewegung u. Aufregung („choreatischer Bewe-
gungssturm“), sistieren in Schlaf u. Narkose.
• Muskeltonus ↓.
Dyskinesie
• Von griech.: Dyskinesis: Bewegungsstör.
• Medikamenteninduzierte unwillkürliche Bewegungsstör. im engeren Sinn.

Hyperkinesie
• Von griech.: Hyperkinesis: Übermäßige Bewegung.
• Läsionsort: Vielfältig (kortikal, subkortikal).
• Überbegriff für alle unwillkürlichen, überschießenden (übermäßigen) Bewe-
gungen.

Myoklonus
▶ 15.6.
• 
Von griech.: Klonos: Heftige Bewegung.
556 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Unwillkürliche, plötzliche, kurze, teils repetitive Kontraktionen einzelner


Muskeln o. Muskelgruppen.
• Als Aktionsmyklonus bei Willkürbewegungen.
Startle
• Von engl.: Zusammenschrecken.
• Übermäßige, motorische Schreckreaktion, die durch unerwartete Reize aus-
gelöst wird (▶ 15.3.4).

Tic
▶ 15.7.
Bei diesen Sympt. stets an die Möglichkeit einer NW von Neuroleptika o.
Metoclopramid denken. Akutbehandlung mit Biperiden 5 mg i. v. (Details
▶ 15.3.3).

15.3.2 Huntington-Erkrankung
ICD-10 G10. Syn.: Chorea Huntington.

Epidemiologie
• Aut. dom. vererbte Erkr. mit psychisch-kognitiven Veränderungen u. (meist
hyperkinetischer) Bewegungsstör.
• Genort auf Chromosom 4p16.3: Expansion von CAG-„triplet repeats“ im
Huntington-Gen (je länger CAG-Expansion, desto früher der Krankheitsbe-
ginn). Vollständige Penetranz. Zunehmend früherer Krankheitsbeginn in
nachfolgenden Generationen (Antizipation), v. a. bei Vererbung durch Vater.
• Prävalenz 4–8/100.000 Einwohner, M = F. Erkr.-Alter meist 30.–50. Lj mit
15 großer Streubreite.
• Path. charakteristisch ist Degeneration GABAerger u. cholinerger Neurone
im Neostriatum mit Übergewicht von Dopamin.

Klinik
Adulte Form
Organische Wesensänderung:
• Meist Erstsympt.: Z. B. umtriebig, Konzentrationsstör., affektlabil.
• Häufige Folgen: Arbeitsplatzverlust, sozialer Abstieg, Ehekrisen.
• Fortgeschrittene Stadien: Verwahrlosung, Impulskontrollstör., seltener affek-
tive Enthemmung mit Gewaltdelikten. Ausbildung manisch depressiver o.
schizophreniformer Psychosen.
• Neuropsychologische Stör. mit frühzeitiger Beeinträchtigung des Arbeitsge-
dächtnisses u. sek. Planungsstör.
• Im Endstadium Demenz.
Hyperkinetische Bewegungsstör. (Chorea): Dauernde, schnelle „grobe“ Kon-
traktionen in wechselnden Muskelgruppen mit wechselnd herabgesetztem Mus-
keltonus (Poikilotonus), dystoner Komponente u. initial distaler Betonung.
• U. U. nur diskrete Ausprägung („Verlegenheitsbewegungen“) o. grob ausfah-
rende Bewegungen.
  15.3 Hyperkinetische Bewegungsstörungen  557

• Unruhe beim Sitzen, zunehmende manuelle Ungeschicklichkeit, orofaziale


Hyperkinesien (Grimassieren, Chamäleonzunge), Dysarthrie, Dysphagie bei
Appetitsteigerung.
• Charakteristisch: Zunahme der Extremitätenhyperkinesen beim Gehen.
• Im Verlauf zunehmende Hypo- u. Bradykinese, Dysarthrie, Dystonie.
Allg.: Gewichtsverlust. Sakkadenverlangsamung, -initiierungsstör.
Juvenile Form (Westphal-Variante)
• 1–10 %. Progressives akinetisch-rigides Sy., oft mit ausgeprägter Dystonie oh-
ne choreatische Hyperkinesien. Sakkadenverlangsamung u./o. -initierungs-
stör., progredienter kognitiver Abbau bis Demenz.
• Häufig epileptische Anfälle u. Myoklonus.
• Oft bei Kindern o. als Spätsy.

Insbes. bei pos. Familienanamnese erhöhte Suizidalität zu Beginn der Erkr. o.


bei Eröffnung der Diagnose.

Differenzialdiagnosen
Chorea mit Beginn im Erw.-Alter:
• Mit pos. Familienanamnese: Neuroakanthozytose-Sy. (▶ 15.3.4), Dentato-
rubro-pallido-lysiale Atrophie (DRPLA: ▶ 15.3.4), spinozerebelläre Ataxien
(SCA) 3 u. 17 (▶ 16.2.5).
• Ohne Familienanamnese: Tardive Dyskinesie (▶ 15.3.3), SLE u. Antiphos-
pholipid-Sy., metab. Stör. (z. B. Hyperkalzämie, Hyperthyreose, rezid. Hypo-
glykämien).
Chorea mit Beginn im Jugendalter:
• Mit pos. Familienanamnese: Benigne hereditäre Chorea (▶ 15.3.4), M. Wil-
son (▶ 15.5), doparesponsive Dystonie (▶ 15.4.2), pantothenatkinaseassozi-
ierte Neurodegeneration (PKAN; ▶ 15.4.2). 15
• Ohne Familienanamnese: Chorea minor (Sydenham; ▶ 15.3.4), tardive Dys-
kinesie (▶ 15.3.3), metab. u. immunologische Erkr. (s. o.).

Diagnostik
• Anamnese:
– Berufliche Schwierigkeiten, Interessen u. Aktivitäten ↓, Vernachlässigung
des Haushalts.
– Vergesslichkeit ↑.
– Veränderungen im sozialen Verhalten (reizbar, haltlos, bes. in sexueller
Hinsicht).
– Frühere Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen.
– Familienanamnese (verstorbene Familienangehörige mit „komischen“ Be-
wegungen u. geistigem Abbau; intrafamiliäre Variationen in Ausprägung
u. Verlauf).
• Klin.-neurol. Unters.
• Testpsychologie: Z. B. Konzentrations- u. Gedächtnisstör., Beeinträchtigung
der visuell-motorischen Koordination, Planungsstör.
• Molekulargenetik: Kontakt mit Humangenetik aufnehmen, 50 % der Kinder
können betroffen sein; Nachweis der CAG-Expansion im Huntington-Gen
(> 38 repeats) in EDTA-Blut.
558 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

– Pränatale Diagn. durch Chorionzottenbiopsie u. Präimplantatiosdiagn.


möglich.
– Gendiagn. sollte von humangenetischer Beratung begleitet werden, bei
prädiktivem Test gesunder Personen mit Risiko humangenetische Bera-
tung u. ggf. psychologische Betreuung unerlässlich. Beachte Gendiagnos-
tikgesetz!
• CMRT: Atrophie des Striatum mit plumper Erweiterung von Seiten- u.
3. Ventrikel. Bicaudatum-Index: Max. Abstand der Vorderhörner im Sei-
tenventrikel geteilt durch den Abstand beider Caudatumtaillen (path.
< 1,8). Später generelle Hirnatrophie. Meist z. A. umschriebener u. diffuser
Läsionen.
• Labor: Entsprechend Verdacht (s. o.), meist erst bei neg. Gentest zur Aus-
schluss- bzw. Differenzialdiagn. (s. o.; ▶ 15.3.4) BSG, CRP, ASL-Titer, TPHA-
Test, Kupferstoffwechsel, T3, T4 u. TSH, ANA, Liquordiagn. (oligoklonale
Banden pos., IgG im Liquor).

Diagnosestellung i. d. R. durch klin. Bild, pos. Familienanamnese u. Gen­


diagn. (cave: Spontanmutationen kommen vor). Weitergehende Diagn.
meist nur bei neg. Gentest notwendig!

Therapie

Keine kurative Ther. möglich. Demenz, Apraxie u. Progredienz der Erkr.


sind medikamentös nicht zu beeinflussen.

Adjuvante Maßnahmen:
• Betreuung der Angehörigen. Genetische Beratung: Familienplanung, prädik-
15 • tive Diagn.
Physiother. auf neurophysiologischer Basis. Ergother.: Möglichst langes Ver-
bleiben in gewohnter Arbeitsumgebung, dann evtl. beschützende Werkstät-
ten. Logopädie.
• Ausreichende Kalorienzufuhr (Energieverbrauch ↑↑, Schluckstör.!): Mög-
lichst 6–8 kalorienreiche Mahlzeiten (3.000–4.000 kcal) tgl. als Brei, evtl. per-
kutane endoskopische Gastrostomie (PEG).
• Alkoholkarenz.
Medikamentöse Ther.:
• Hyperkinesien:
– Grundsätzlich zurückhaltend behandeln, nur bei funktioneller Behinde-
rung, im Verlauf meist Rückbildung.
– Individuell sehr unterschiedliches Ansprechen auf Ther. erfordert häufi-
gen Substanzwechsel.
! Vor Wechsel immer bis zur Maximaldosis o. bis zum Auftreten nicht tole-
rabler NW dosieren.
– Tiaprid bis max. 3 × 400 mg/d p. o.
– Tetrabenazin 3 × 25–75 mg/d p. o. (häufige NW: Depression).
– Neuroleptika: Z. B. Olanzapin bis 30 mg/d. Sulpirid bis 3 × 400 mg/d p. o.
u. Haloperidol bis 3 × 3 mg/d p. o.
• Akinetisch-rigide Bewegungsstör.: Meist nicht gut behandelbar, vorsichtig
dosierte Antiparkinsonmittel, z. B. Levodopa o. selten Dopaminagonisten
(▶ 15.2.3).
  15.3 Hyperkinetische Bewegungsstörungen  559

• Depression:
– I. d. R. SSRI, z. B. Sertralin bis 100 mg/d p. o. o. Escitalopram bis 20 mg/d
p. o.
– Sulpirid 400–600 mg/d p. o. (auch gegen Hyperkinesien wirksam).
! Vorsicht mit Trizyklika (anticholinerge Wirkung kann Hyperkinesien
verstärken).
• Schizophrene Psychose u. Aggression:
– Haloperidol 5–20 mg/d p. o.
– Clozapin 25–200 mg/d p. o.
– Olanzapin bis 30 mg/d p. o.
– Amisulprid 100–200 mg/d p. o.
– Risperidon 2–6 mg/d p. o.
• Schlafstör. u. Unruhe:
– Sedierende Neuroleptika, z. B. Melperon 25–150 mg/d p. o.
– Benzodiazepine o. Benzodiazepin-Analoga: Zopiclon o. Zolpidem.
– Bei Angst u. Depression auch Mirtazapin bis 45 mg/d p. o.

Prognose
• Bei früher Manifestation chron.-progredient o. schubweise ohne Remissio-
nen.
• Bei später Manifestation milder u. protrahierter.
• Zunehmend athetoide u. apraktische Bewegungsstör.
• Im Endstadium treten Rigor u. Akinese mit Gelenkversteifung in den Vor-
dergrund, außerdem Kachexie, Dysphagie u. Pseudobulbärparalyse, interkur-
rente Infekte.
• Durchschnittliche Krankheitsdauer nach Auftreten der Erstsympt. 15–20 J.
• Die meisten Pat. erreichen das 60. Lj nicht.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen:
• Deutsche Huntington-Hilfe e. V., Börsenstraße 10, 47051 Duisburg, Tel.: 15
0203/229–15, www.dhh-ev.de.
• Europäisches Huntington-Netzwerk, www.euro-hd.net.

15.3.3 Tardive Dyskinesie (Spätdyskinesie)


ICD-10 G25.8, G24.0.
Def.:
• Häufigste Urs. choreatiformer Bewegungsstör. im Alter.
• Persistierende o. vorübergehende Dyskinesien während o. nach längerer Be-
handlung mit Neuroleptika (Dopaminantagonisten).
• Pathophysiologie ungeklärt, wahrscheinlich Hypersensitivität von Dopamin-
rezeptoren. Prädisponierende Faktoren: Alter, Geschlecht (F > M) u. Diagno-
se (affektive > schizophrene Psychosen).
• Als akute NW von Dopaminantagonisten meist als tardive Dystonie
(▶ 15.4.3).
Ätiol.: Einnahme von Neuroleptika o. anderen Dopaminantagonisten (z. B. Meto­
clopramid, Flunarizin) über mehrere Mon. (auch schon länger zurückliegend).
Klinik:
• Choreatiforme Bewegungen v. a. von Zunge, Lippen u. Wangen (= orofaziale
Dyskinesien), seltener Extremitäten, dann eher distal betont.
560 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Daneben auch andere medikamenteninduzierte Dyskinesien (Akathisie, Tics,


Parkinsonismus, Dystonien, ▶ 15.4.3).
• Sympt. oft erst Mon. nach Absetzen der auslösenden Medikation.
DD:
• Senile Chorea, idiopathische oro-fazio-bukkale Hyperkinesien.
• Andere Urs. von Hyperkinesien (▶ 15.3.2, ▶ 15.3.4).
Ther.:
! Strenge Ind.-Stellung für Neuroleptika!
• Ausschleichen der Dopaminantagonisten.
• Falls notwendig, Umstellung auf atypische Neuroleptika (z. B. Clozapin).
• Andere Ther. meist mit eingeschränkter Wirkung: Diazepam 5–20 mg/d p. o.,
Propranolol 80–240 mg/d p. o., Carbamazepin 400–1.200 mg/d p. o. o. Biperi-
den 4–16 mg/d p. o.
• Tiefenhirnstimulation im Globus pallidum internus bei starker Behinderung
möglich.

Individuell verschiedenes Ansprechen: Mehrere Substanzen ausprobieren,


vor einem Wechsel immer ausdosieren.

Progn.: Sympt. können über J. o. für immer anhalten.

15.3.4 Seltene hyperkinetische Bewegungsstörungen


Neuroakanthozytose-Syndrome
Klin. u. ätiologisch heterogene Gruppe von Erkr., die durch die Komb. von neuro-
psychiatrischer Symptomatik (insbes. hyperkinetische Bewegungsstör.) u. einer
Akanthozytose im peripheren Blut gekennzeichnet sind. Insgesamt selten.
• Chorea-Akanthozytose (ChAc):
15 – Aut. rez., Mutationen im VPS13A-Gen (Locus 9q21).
– Manifestation in 2.–4. Lebensdekade, meist mit orofazialen Hyperkine­
sien.
– Im Verlauf Tics, Chorea, Dysarthrie, orale Selbstverletzungen, Verhaltens­
auffälligkeiten, später Gliedmaßenbeteiligung mit Dystonie, axonale PNP
(Areflexie, Muskelatrophie, Hohlfuß), evtl. epileptische Anfälle.
– Akanthozytose, CK ↑.
– Ther.: Symptomatisch (▶ 15.3.2).
• McLeod-Sy.:
– X-chrom. rez., Mutationen im XK-Gen (Locus Xp21).
– Manifestation meist 2. Dekade mit Chorea, oft unter orofazialer Beteili-
gung, neuropsychologische Defizite, leichte Myopathie, dilatative Kardio-
myopathie möglich!
– Kell-Blutgruppenantigene schwach exprimiert, Akanthozytose (> 6 %),
CK ↑.
– Ther.: Symptomatisch (▶ 15.3.2).
• Dyslipoproteinämien, selten:
– Sowohl aut. rez. (A-Betalipoproteinämie, Bassen-Kornzweig-Sy.; Mutatio-
nen im MTP-Gen, Locus 4q22–24) als auch aut. dom. Erkr. (z. B. Mutatio-
nen im APOB-Gen, Locus 2p22–23).
– Neurol. Stör. werden auf sek. Vit.-E-(Tocopherol-)Mangel zurückgeführt.
  15.3 Hyperkinetische Bewegungsstörungen  561

– Manifestation meist schon im Kindesalter mit Gedeihstör., PNP, spinoze-


rebelläre Ataxie, selten Chorea.
– Ther.: Hohe Dosen Vit. E (100 mg/kg KG/d).
Diagn.:
• BB: Akanthozytose (> 4 %), Sensitivität des trockenen Blutausstrichs (häma-
tologischer Standard) eingeschränkt, hohe Sensitivität im 1:1 mit 0,9 % NaCl
verdünntem Blut u. feuchtem Ausstrich (> 6–7 %), aber auch pos. Befund bei
PKAN (▶ 15.4.2), mitochondrialer Enzephalopathie, schweren Nieren- o.
­Lebererkr.
• Labor: Häufig CK-Erhöhung im Serum bei ChAc, Reduktion/Fehlen von
Chorein im Western-Blot der Erythrozytenmembran beweist ChAc, Fehlen
des XK-Proteins (Kell-Blutgruppenantigene schwach exprimiert) beweist Mc-
Leod-Sy., Veränderungen in Lipidelektrophorese bei Dyslipoproteinämien.
• Elektrophysiologie: Axonale PNP, gelegentlich Myopathie.
• Bildgebung: CMRT zeigt Atrophie von Nucleus caudatus u. Putamen.
• Genetik: Gendiagn. möglich, beachte Gendiagnostikgesetz (Diagnose häufig
jedoch über Laborveränderungen).

Chorea minor (Sydenham; ICD-10 G25.5)


Epidemiologie: Durch konsequente Behandlung akuter Streptokokkeninfektio-
nen sehr selten. Inzidenz 6/10.000 (heute niedriger). Manifestationsalter Kindheit,
meist präpubertär, F : M > 2 : 1.
Ätiol.: Spät-KO nach Streptokokkeninfektion als autoimmunologische Kreuzre-
aktion zwischen Streptokokkenantigenen u. neuronalen Zellen, keine direkte Ent-
zündung des Gehirns.
Klinik:
• Blitzartige, schleudernde choreatische Bewegungsstör. mit ausgeprägter Mus-
kelhypotonie. Zunahme bei seelischer Erregung (choreatischer Bewegungs-
sturm), z. T. einseitig (20 %).
• Oft langsame Entwicklung der Hyperkinesien; initial als Verlegenheitsbewe- 15
gungen in Gestik integriert. Später u. U. Verkennung der Hyperkinesien als
Nervosität, Zungenunruhe.
• Häufig Stör. der konjugierten Augenbewegungen. Sprachstör., evtl. Enzepha-
lopathie, Muskelschwäche, Kopfschmerz, epileptische Anfälle.
• Reizbarkeit, Zwangsstör.
• KO: Endokarditis, Myokarditis, Embolie, Vitium, Rezidive, psychogene Fixie-
rung.
Diagn.:
• Labor: BSG ↑, Leukos ↑, ASL-Titer ↑, CRP ↑, evtl. Antiphospholipid-AK ↑.
• Kardiologie: EKG, Echokardiografie zum Ausschluss eines rheumatischen
Vitiums u. Endokarditis.
• EEG: Unspezifische Veränderungen in 30 %.
• EMG: Abrupte hyperkinetische Aktivität in bei Betrachtung entspannt wir-
kenden Muskeln.
Ther.:
• Allg.: Bettruhe. Bei Hyperkinesien ▶ 15.3.3. Zusätzlich Versuch mit Neuro-
leptika u. Antiepileptika (Valproinsäure, Clonazepam).
• Medikamentös:
– Penicillin 2 × 400.000 IE i. m. o. 3 × 1 Mio. IE/d p. o. über 10 d, dann Peni-
cillinprophylaxe über mind. 5 J. mit 1,2 Mega IE/Mon. p. o.
– Glukokortikoide: Prednison o. Prednisolon 5–30 mg/d p. o. für 4–6 Wo.
bei begleitender Endokarditis.
562 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

– Sedativa: Ggf. z. B. Diazepam 3 × 2–5 mg/d.


Progn.: Insgesamt günstig. Dauer 6 Wo. bis 6 Mon., dann langsames Abklingen.
Gefahr der psychischen Fixierung. In ca. 30 % Rezidive. Prädisposition zur Schwan­
gerschaftschorea.

Paroxysmale Dyskinesien
Attackenweise auftretende Hyperkinesien (Chorea, Athetose, Dystonie) unter-
schiedlicher Ätiol.; kein morphologisches Korrelat detektierbar.
Paroxysmale kinesiogene Dyskinesie (PKD):
• Meist aut. dom. vererbt, M : F = 4 : 1.
• Symptomatische Formen bei MS, SHT, Hirninfarkt, Hypoxie etc.
• Manifestation i. d. R. in der 2. Dekade.
• Anfallsartig auftretend, Sekunden bis Min. andauernd.
• Komb. aus Chorea, Athetose u. Ballismus ohne Bewusstseinsstör.
• Auslösung durch plötzliche Bewegung, Hyperventilation.
• Hohe Anfallsfrequenz (bis zu 100/d).
• Im Verlauf (ab dem 35. Lj) Abnahme der Attackenfrequenz möglich.
• Ther.: Antikonvulsiva, Kalziumantagonisten.
Paroxysmale nichtkinesiogene Dyskinesie (PNKD):
• Aut. dom. o. sporadisch.
• Symptomatisch bei z. B. MS, perinataler Enzephalopathie, Enzephalitis.
• Anfallsartig auftretende, Min. bis h dauernde Komb. aus Chorea, Athetose,
Ballismus.
• Viele Auslöser (Tee, Kaffee, Alkohol, Stress, Aufregung, Müdigkeit).
• Geringere Anfallsfrequenz (1/J. bis 4/d).
• Ther.: Keine medikamentöse Ther. bekannt.
Paroxysmale belastungsabhängige Dyskinesie (PED):
• Aut. dom. o. sporadisch, Mutationen im Glukosetransporter-Typ-1-(GluT1-)
Gen.
15 • Dyskinesien (Chorea, Dystonie) nach körperl. Anstrengung ohne Prodromi,
häufig nur in belasteter Körperregion.
• Attackendauer von Sekunden bis Stunden, Frequenz abhängig von körperl.
Belastung (1/Wo. bis 100/d).
• Ther.: Antikonvulsiva, Levodopa, ketogene Diät (in schweren Fällen mit
GluT1-Mutationen).
Paroxysmale hypnogene Dyskinesie: Meist aut. dom., choreoathetotische Dyski-
nesien im Schlaf, Dauer im Minutenbereich. Ther. nicht notwendig.

Startle-Syndrome
Def.: Sy. mit gesteigerter Schreckreaktion auf taktile o. akustische Reize. Insge-
samt selten.
Ätiol./Klinik:
• Prim. Startle-Sy. (Hyperekplexie):
– Aut. dom. (Mutationen im GLRA1-Gen [Glyzinrezeptor-Untereinheit]
auf Chromosom 5q).
– Perinatal erhöhter Muskeltonus, im Verlauf weitgehende Normalisierung.
– Ausgeprägte Schreckreaktionen mit Versteifungen u. Stürzen auf nieder-
schwellige Reize, bilaterale Myoklonien der Beine, gelegentlich mit Spastik.
• Startle-Sy. bei Epilepsien: ▶ 11.
• Sek. (symptomatische) Formen: Bei Tourette-Sy. (▶ 15.7.2), Stiff-Person-Sy.
(▶ 13.7), Creutzfeld-Jakob-Erkr. (▶ 9.5.2), selten bei verschiedenen metab. u.
Speichererkr.
  15.4 Dystonien  563

Diagn.: Bei Hyperekplexie Gendiagn. auf Mutationen im GLRA1-Gen, weiterge-


hende bildgebende u. laborchemische Diagn. entsprechend Verdacht.
Ther.: Hyperekplexie u. sek. Formen: Versuch mit Clonazepam in geringer Dos.
o. Valproat.

Andere seltene hyperkinetische Störungen


Benigne familiäre Chorea: Aut. dom. vererbt (Mutationen im TITF1-Gen bei
einigen Familien), keine demenzielle Entwicklung, Manifestation im Kindesal-
ter, langsame Progredienz, oft Nachlassen der Bewegungsstör. im Krankheits-
verlauf.
Dentato-rubro-pallido-lysiale Atrophie (DRPLA): Aut. dom. vererbt mit CAG-
Repeat-Expansion im ATN1-Gen (Atrophin1; Chromosom 12p13.31), in kauka-
sichen Populationen selten, häufig in Asien. Manifestationsalter 15–40 J. Sympt.
u. Verlauf insgesamt ähnlich wie Huntington-Erkr. (▶ 15.3.2).
Schwangerschaftschorea: Manifestation meist im 3.–5. Schwangerschaftsmon.,
aber auch unter Ovulationshemmern auftretend. Häufig Chorea Sydenham in
Anamnese. ASL-Titer ↑. Ther.: Ruhe, evtl. leichte Sedierung, Abklingen der Cho-
rea nach Entbindung o. Absetzen der Ovulationshemmer.
Stoffwechselstör.: Wilson-Erkr. (▶ 15.5), Hyperthyreose (T3, T4, TSH), Hypo-
natriämie, Hypoparathyreoidismus (Ca2+ i. S. ↓), Hypoglykämie, Urämie,
­Lebererkr.
Funktionelle Bewegungsstör.: Abgrenzung zur Chorea Sydenham (▶  15.3.4,
„Chorea minor [Sydenham; ICD-10 G25.5]“), häufige psychogene Bewegungs-
stör.
Senile Chorea: Ätiol. unklar, wahrscheinlich vielfältig. Häufig mit Hemiballismus
(prox. betonte grobe, schleudernde, unwillkürliche Bewegungen, Infarkt im Nu­
cleus subthalamicus).
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (▶ 9.5.2): EEG, CMRT, Liquorunters.
Choreatiforme Bewegungsstör.: Bei frühkindl. Hirnschaden, Enzephalitis, Hyp­
oxie, bei Leukodystrophien, SLE, Antiphospholipidantikörpersy. (Antiphospholi- 15
pid-AK ↑), Neoplasien, Hirninfarkt.
Medikamenteninduziert (wenn durch Neuroleptika induziert als tardive Dyskinesie
bezeichnet, ▶ 15.3.3): Nach Überdosierung o. Intox. mit Levodopa u. Dopaminago-
nisten, Amphetaminen, trizyklische Antidepressiva, Isoniazid, Chloroquin, ­Lithium,
Antihistaminen, Methylphenidat, Quecksilber, Methadon, Phenytoin, Ethosuximid,
Carbamazepin, Metoclopramid, Vincristin. Häufig als Dystonie (▶  15.4.3).
Ther.: Biperiden 4–16 mg/d p. o., Absetzen der auslösenden Medikamente.

15.4 Dystonien
ICD-10 G24.
Def.: Von griech. Dystonos: Missspannung. Sy. unwillkürlicher länger anhalten-
der Muskelkontraktionen, die zu verzerrenden u. repetitiven Bewegungen o. ab-
normen Haltungen von Körperteilen führen. Charakteristisch ist die Besserung
durch sensorische Geste („geste antagoniste“).

Klassifikation nach
Manifestationsalter:
• Früh (bis 20. Lj): Oft progredient.
• Spät (nach 20. Lj): Meist lokalisiert.
564 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Verteilung:
• Fokal: 1 Körperregion.
• Segmental: 2 benachbarte Regionen.
• Multifokal: Mehrere nicht benachbarte Regionen.
• Hemidystonie:1 Körperhälfte.
• Generalisiert: Mehrere nicht benachbarte Regionen u. Rumpf betroffen.
Bewegungsart:
• Phasisch.
• Tonisch.
• Myoklonisch.
Ätiol.:
• Prim. Dystonie (idiopathisch, hereditär): Dystonie fast immer einziges
Zeichen (außer Tremor), derzeit 15 verschiedene genetische Dystoniefor-
men beschrieben.
• Sek. Dystonie (symptomatisch): Strukturelle Läsionen, Medikamente,
Stoffwechselstör., Drogen.
• Dystonie bei neurodegenerativen Erkr.
Ätiol.:
• Idiopathisch (häufig genetisch; ▶ 15.4.1, 15.4.2).
• Sek. (symptomatische) Dystonien bei anderen neurol. Erkr., Stoffwechseler-
kr., tox. Urs. (▶ 15.4.3).
• Medikamenteninduzierte (tardive) Dystonie (▶ 15.4.3).
• Selten psychogene Dystonien.

Bei akuten dystonen Sympt. (insbes. orofazial, Zungen- u. Schlundkrämpfen)


stets an die Möglichkeit einer NW von Neuroleptika o. Metoclopramid den-
ken.
15
Diagn.:
• Anamnese: Insbes. Familien- u. Medikamentenanamnese.
• Neurol. Status: Genaue Erfassung der dystonen Bewegungen u. ggf. des Tre-
mors.
• Labor: Leber-, Nieren-, Schilddrüsenwerte, E'lyte, Cu2+-Stoffwechsel zum
Ausschluss M. Wilson (▶ 15.5) u. entsprechend klin. Verdacht.
• Genetische Diagn.: Insbes. bei generalisierter Dystonie (▶ 15.4.2).
• Bildgebung: CMRT zum Ausschluss struktureller Läsionen.
Ther.:
• Selten kausal entsprechend Ätiol. (z. B. M. Wilson, ▶ 15.5).
• Meist symptomatisch-pharmakologisch – deshalb klare diagnostische Zuord-
nung erforderlich (einzelne Dystonie-Subtypen).
• Bei medikamenteninduzierter Dystonie: Medikament absetzen, Biperiden
5 mg langsam i. v., anschließend für 2 d 3 × 4 mg/d p. o. zur Prophylaxe (da
kurze HWZ).
• Bei fokalen u. segmentalen Dystonien (▶ 15.4.1) ist Botulinumtoxin Mittel
der Wahl.
• Bei therapieresistenten, behindernden generalisierten (▶ 15.4.2) u. zervikalen
Dystonien (▶ 15.4.1) Tiefenhirnstimulation (im Globus pallidus internus)
möglich.
  15.4 Dystonien  565

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Deutsche Dystonie Gesellschaft e. V. Theodorstr. 41P, 22761 Hamburg, Tel.
040/875602, www.dystonie.de.

15.4.1 Fokale und segmentale Dystonien


Def.: Meist auf Kopf, Hals o. Extremitäten beschränkt. 80 % der Dystonien des
Erw.-Alters.
Ther. der fokalen Dystonien:
• Lokale Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin A o. B:
– Wirkprinzip: Reversible Blockierung der neuromuskulären Übertragung.
– Ind.: Zervikale Dystonie, Blepharospasmus, Schreibkrampf, oromandibu-
lärer Dystonie, spasmodische Dysphonie, Beschäftigungsdystonien.

Nur von Geübten in spezialisierten Zentren durchzuführen.

– Durchführung: Klin. Unters. zur Identifizierung der vorwiegend betroffe-


nen Muskeln, Unterstützung durch EMG u. Bildgebung bei tieferen Mus-
keln sinnvoll. Dann direkte i. m. Appl. Individuelle Dos.; Wirkbeginn
nach 3–7 d, Wirkdauer 2–6 Mon. Wdh.-Behandlungen notwendig.
– Prim. Resistenzen < 1 %, sek. Resistenzen (AK-Bildung) um 1 %.
– NW: Durch übermäßige Schwäche der injizierten Muskulatur Ptosis u.
Lidschlussschwäche bei Blepharospasmus, Schluckstör., Heiserkeit, Kopf-
halteschwäche bei zervikaler Dystonie, allg. Krankheitsgefühl, aber keine
generalisierte Muskelschwäche.
• Invasive Ther.: Bei Pharmakoresistenz.
– Tiefe Hirnstimulation im Globus pallidus internus (bes. zervikale Dysto-
nie). 15
– Selten selektive dorsale Rhizotomie.
• Unterstützende Verfahren:
– Biofeedback: Kaum andauernde Erfolge.
– Psychother.: Verhaltens-, Gesprächsther. o. Psychoanalyse in Einzelfällen,
z. B. bei reaktiver neurotischer Entwicklung.
– Ergother. bei Beschäftigungsdystonien.
– Pharmakother.: Generell geringe Erfolgsrate. Daher verschiedene Medika-
mente ausprobieren. Einschleichend behandeln, dann aber ausdosieren.
Trihexyphenidyl Lisurid, Tiaprid, Sulpirid.

Zervikale Dystonie
ICD-10 G24.3.
Def.: Dystonie der Halsmuskulatur, die zu unwillkürlichen, abnormen Kopfbewe-
gungen o./u. -stellungen führt. Prävalenz 9/100.000, Manifestationsalter 30.–
50.  Lj. Beginn meist schleichend, z. T. akut nach seelischer Belastung, häufig in
Entscheidungssituationen.
Ätiol.:
• Idiopathisch (häufig): Keine psychiatrische Urs.; psychische Auslöser o.
Überlagerungen bei länger bestehender Erkr. häufig.
• Leichte frühkindl. Hirnschädigung o. Enzephalitis.
566 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Medikamentös: Neuroleptika (tardive Dyskinesien [▶ 15.3.3]), Kalziumant­


agonisten.
• Metab., neurodegenerativ: Wilson-Erkr. (▶ 15.5).
Klinik:
• Langsame, unwillkürliche Drehung des Kopfs zur Seite (rotatorischer Torti-
kollis, -caput), oft mit Neigung zur kontralateralen Seite (Laterokollis, -ca-
put), nach hinten o. vorn (Retro-, Anterokollis, -caput), oft Komb., häufig
dystoner Tremor capitis.
• Kopf- u. Nackenschmerzen.
• Charakteristisch sind vom Pat. gefundene Hilfsgriffe zur Unterdrückung der
dystonen Bewegung: („geste antagoniste“).
• Verstärkung bei Aufregung, Besserung bei Anlehnung des Kopfs an Stuhlleh-
ne o. Wand. Im Schlaf keine Sympt.
• Ohne Ther. Hypertrophie der dystonen Muskeln u. Fixierung der Schiefhaltung.
Diagn.:
• Labor: Kupferstoffwechsel, Entzündungsparameter, Liquor zum Ausschluss
eines M. Wilson (▶ 15.5) u. entzündl. Urs.
• EMG (▶ 2.5): Dystone Aktivität in den beteiligten Nacken- u. Halsmuskeln,
Kokontraktion von Agonisten u. Antagonisten.
• CMRT: Ausschluss von Herdbefunden im Stammganglienbereich u. der hin-
teren Schädelgrube. MRT der HWS u. Halsmuskulatur: Identifizierung dysto-
ner Muskeln (rund, hypertroph).

Blepharospasmus
ICD-10 G24.5.
Def.: Unwillkürliche Kontraktion der Mm. orbicularis oculi u. teilweise anderer
periorbitater Muskeln ohne Übergreifen auf andere Gesichtsmuskulatur. Ätiol. u.
Pathogenese unklar, Erkr.-Gipfel 35.–65. Lj. Prävalenz 2–3/100.000.
Klinik:
15 • Anfangs häufige Lidschläge u. Fremdkörpergefühl, später unregelmäßiges,
unwillkürliches Zukneifen meist beider Augen durch Kontraktion der Mm.
orbicularis oculi, z. T. bis zur funktionellen Blindheit.
• Trigger: Lichtreize, Lesen, Gehen; Zunahme bei Stress.
• Häufig in Komb. mit anderen dystonen Bewegungsstör. (zervikale, oroman-
dibuläre Dyskinesie).
DD: Okuläre Form der Myasthenie, Sicca-Sy., Hemispasmus facialis.
Progn.: Selten spontanes Sistieren.

Oromandibuläre Dyskinesien
ICD-10 G24.4.
Def.: F > M, unwillkürliches, krampfhaftes Öffnen u. Schließen von Mund u. Kiefer.
Klinik: Lippen, Zunge, Kau- u. Schluckmuskulatur in ständiger Bewegung, Sprache u.
Nahrungsaufnahme erschwert bzw. unmöglich. Kieferöffnungs- u. Kieferschlusstyp.
Diagn.: Ausschluss medikamentöser Urs. (Neuroleptika, Diphenylhydantoin, Le-
vodopa).

Meige-Syndrom
ICD-10 G24.8.
Def.: Syn: Brueghel's Sy. Komb. aus Blepharospasmus u. Dystonie der Gesichts-
muskulatur o. oromandibulärer Dystonie. Prävalenz 6–7/100.000.
Progn.: Wechselnder Verlauf, selten auch spontane Besserung.
  15.4 Dystonien  567

Schreibkrampf und Beschäftigungsdystonien


ICD-10 G24.8.
Z. B. Musikerdystonie.
Klinik: Meist einseitig bei feinmotorischen Handarbeiten, z. B. auch Klavierspie-
len, (Maschine) schreiben, tonisches, gel. schmerzhaftes Verkrampfen der Finger,
auch mit Ausbreitung auf den Unterarm, die sofort nach Beendigung der Tätig-
keit verschwinden.
! Keine anderen neurol. Auffälligkeiten.
Progn.: Meist langsam progredient.

Spasmodische Dysphonie
ICD-10 G24.8.
Klinik:
• Adduktortyp (90 %): Gepresste, heisere, angestrengte Sprache bis Sprechverlust.
• Abduktortyp (10 %): Leise, tonlose Flüstersprache.
• Häufig bei bes. Beanspruchung der Stimme (Lehrer, Schauspieler, Sänger).

15.4.2 Generalisierte Dystonien
ICD-10 G24. Mehrere nicht benachbarte Körperregionen u./o. Rumpf betroffen.

Idiopathische Torsionsdystonie
Syn.: Dystonia musculorum deformans Oppenheim.
Ätiol.: Aut. dom. (DYT1) o. aut. rez. (DYT2) vererbt. X-chrom. Dystonie-Parkin-
son-Sy. (Syn.: Lubag-Sy.; DYT3).
Klinik:
• Dystone Bewegungsstör. meist zunächst im Fuß (Pes equinovarus), später
Ausbreitung über Bein u. Rumpf. Langsame, kraftvolle u. überwiegend dre-
hende Bewegungen von Kopf u. Rumpf unter Einbeziehung der Extremitäten.
• Beginn abhängig von Ätiol.: 15
– DYT1 meist in der Kindheit um das 10. Lj (mit weiter Spanne bis 40. Lj).
– DYT2 meist im jungen Adoleszentenalter (15. Lj).
– DYT3 mit späterem Beginn (um 35. Lj).
Diagn.:
• Labor: Zum Ausschluss M. Wilson (▶ 15.5).
• CMRT: Zum Ausschluss struktureller Läsionen.
• Genetik: Zum Nachweis des DYT-1-Gendefekts auf Chromosom 9.
Ther.:
• Pharmakother.:
– Levodopa + Dopadecarboxylaseinhibitor, Ther.-Versuch in Monother. bis
1.000 mg/d p. o. (langsam eindosieren), gute Wirkung i. d. R. nur bei levodo-
pasensitiver Dystonie (▶ 15.4.2, „Levadopasensitive Dystonie [ICD-10 G24]“).
– Trihexyphenidyl 10–120 mg/d p. o. (mittlere Tagesdosis 40 mg), langsam
eindosieren (1–2 mg/Wo. steigern).
– Baclofen 30–75(–180) mg/d p. o. (mittlere Tagesdosis 60 mg) langsam ein-
dosieren, auch als intrathekale Pumpenther. möglich.
– Tetrabenazin 75–150(–300) mg/d p. o.
– Pimozid 2–16 mg/d p. o.
– Clonazepam 1, 5–7 mg/d p. o.
– Tiaprid 300–1.200 mg/d p. o.
– Komb.-Ther. möglich (am günstigsten aus Trihexyphenidyl, Tetrabena-
zin, Pimozid).
568 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Operative Ther.: Tiefe Hirnstimulation im Globus pallidum internus bds.


Progn.: Meist langsame o. intermittierende Progredienz, je früher die Erkr. be-
ginnt, desto schlechter die Progn., häufig Gangstör. bis zur Gangunfähigkeit.

Levodopasensitive Dystonie
ICD-10 G24.
Syn.: Segawa-Sy., DYT-5.
Def.: Prim. Dystonie, typ. ist belastungs- bzw. tageszeitliche Schwankung der
Symptomatik, meist beginnend mit Dystonie der Füße/Beine, sehr gute Besserung
durch Levodopa, im Verlauf gelegentlich Parkinson-Sy.
Epidemiologie: Selten, nahezu immer aut. dom. mit Mutationen im GTP-Cyclo-
hydrolase-1-Gen (Locus 14q22.1–2), bei ca. 50 % d. F. nachweisbar. Selten aut. rez.
(Mutation im Tyrosinhydroxylase-Gen). Mittleres Erkr.-Alter 1–16 J. (im Mittel
6 J.), meist langsam progredienter Verlauf mit Gangstör.
Klinik:
• Allmählich progrediente Gangstör. durch Beindystonie, abnorme Fußhal-
tung, Steppergang, Stürze.
• Dystonie mit deutlicher Tagesschwankung (am Abend stärker), in Ruhe geringer.
• Im Verlauf Ausdehnung auf andere Körperpartien (axiale Dystonie > Bein
> Arm), i. d. R. keine schwere generalisierte Dystonie, Parkinson-Sy. (▶ 15.2),
selten Tremor o. okulogyre Krisen.
• Gutes Ansprechen auf Levodopa ohne Spät-KO (▶ 15.2.3).
DD: Idiopathische Torsionsdystonie (s. o.), juveniles Parkinson-Sy. (▶  15.2.3),
M. Wilson (▶ 15.5), hereditäre spinale Ataxien, spastische Paraplegie. Wird häufig
als psychogene Stör. fehlgedeutet.
Diagn.:
• Labor: Ausschluss M. Wilson (▶ 15.5).
• CMRT: Ausschluss anderer Urs.
• F-Dopa-PET o. FP-CIT (DATScan®)-SPECT: Ausschluss juveniles Parkin-
15 son-Sy. (▶ 15.2.3, ▶ Tab. 15.4).
• Liquor: Verminderung der Tetrahydrobiopterin-, Dopamin- u. Serotonin-
Metaboliten (da Genetik oft neg., Liquorunters. sensitiver!).
• Nachweis der verminderten Enzymaktivität (Z. B. in Hautfibroblasten) o.
Mutationsnachweis beweisend.
Ther.: Levodopa + Dopadecarboxylaseinhibitor 100–300 mg/d p. o. oft ausrei-
chend (ggf. über mehrere Wo. bis auf 600 mg/d steigern). Voller Effekt oft erst
nach Tagen, langsame Aufdosierung!
Progn.: Häufig nicht diagnostiziert, langsame Progredienz, unter Levodopa i. d. R.
vollständige Reversibilität, normale Lebenserwartung.

Neurodegenerative Erkrankungen mit Eisenablagerungen im Gehirn


Klin. und ätiologisch heterogene Gruppe von hereditären Erkr., die durch eine
Eisenüberladung des Gehirns gekennzeichnet sind („Neurodegeneration with
Brain Iron Accumulation [NBIA] diseases“). Derzeit Mutationen in 9 Genen be-
kannt, Eisenablagerungen meist im Globus pallidum bes. ausgeprägt. Klin. meist
Dystonie u. Gangstör. im Vordergrund. Insgesamt selten.
Pantothenatkinaseassoziierte Neurodegeneration (PKAN; NBIA1, früher: Hal-
lervorden-Spatz-Erkr., infantile neuroaxonale Dystrophie):
• Aut. rez., Mutationen im Pantothenat-Kinase-Gen (PANK2), Locus 20p13–p12.3.
• HARP-Sy. (Hypopräbetalipoproteinämie, Akanthozytose, Retinitis pigmen-
tosa u. pallidale Degeneration) ist allelische Erkr. (Punktmutation R371X).
  15.4 Dystonien  569

• Manifestation meist im 5.–20. Lj, Tod meist vor 30. Lj.


• Weites Spektrum neuropsychiatrischer Stör., meist Gangstör. mit Hyperkine-
sien (Dystonie, Choreoathetose, Tremor), häufig Parkinson-Sy., progredien-
tes demenzielles Sy. bis 80 %, Spastik, Retinitis pigmentosa, Akanthozytose
möglich. Im Erw.-Alter Parkinson-Sy. plus Demenz, Hyperreflexie, Dystonie.
• CMRT mit zentraler Hyperintensität u. umgebender Hypointensität im Glo-
bus pallidus in der T2-Wichtung („Tigeraugen-Zeichen“).
• Labor zum Ausschluss M. Wilson (▶ 15.5), fakultativ: Akanthozytose.
• Genetik mit Mutation im PANK2-Gen bestätigt Diagnose.
• Ther.: Keine kausale Ther. bekannt, symptomatisch (Levodopa bei Parkin-
son-Sy. [▶ 15.2.3], Ther. des Tremors ▶ 15.1.3) Hyperkinesien (▶ 15.3), Dys-
tonie (▶ 15.▶ 4).
Andere seltene neurodegenerative Erkr. mit Eisenablagerungen im Gehirn
(NBIAs):
PLA2G6 associated neurodegeneration (PLAN), Gen PLA2G6; Mitochondrial
membrane-associated neurodegeneration (MPAN), Gen C19orf12; Fatty acid hy-
droxylase-associated neurodegeneration (FAHN), Gen FA2H; Neuroferritinopa-
thy, Gen FTL; Aceruloplasminaemia, Gen CP; Kufor-Rakeb disease, Gen
­ATP13A2 (auch bekannt als PARK9), Dystonie u. Parkinson-Sy.; Woodhouse-Sa-
kati syndrome, Gen C2orf37 (auch DCAF17), Dystonie u. Taubheit; β-propeller
protein-associated neurodegeneration, Gen WDR45.

15.4.3 Sekundäre (symptomatische) Dystonien


• Ca. 20 % aller Dystonien.
• Dystonien mit Beginn im Kindesalter zu ca. 30 % symptomatisch.
• Generalisierte Dystonien zu ca. 50 % symptomatisch.
• Medikamenteninduzierte Dystonie häufigste dystone Bewegungsstör. im Alter.
Ätiol.:
• Medikamenteninduzierte Dystonie: 15
– Tardive Dyskinesie als Langzeit-NW von Neuroleptika ▶ 15.3.3.
– Häufigste Urs. dystoner Bewegungsstör.!
– Zusätzlich Zungen- u. Schlundkrämpfe durch extrapyramidal angreifende
Psychopharmaka, z. B. Neuroleptika, trizyklische Antidepressiva, Antikonvul-
siva, Kalziumantagonisten, Levodopa u. Dopaminagonisten, Metoclopramid.
! Genaue Medikamentenanamnese (Depotpräparate bei Neuroleptika!).
• Neurodegenerative Erkr.: Chorea Huntington (▶ 15.3.2) u. Sydenham
(▶ 15.3.4), MSA (▶ 15.2.5), Neuroakanthozytose-Sy. (▶ 15.3.4), NBIA (▶ 15.4.2).
• Stoffwechselerkr.: M. Wilson (▶ 15.5). GM1-/GM2-Gangliosidosen, MLD,
Leigh-Sy., Niemann-Pick-Sy., Homocysteinurie.
• Tox.: Mangan, CO (eigentlich hypoxisch!).
• Psychogene Hyperkinesien: Selten als Dystonie.
• Weitere Urs.: Zerebrale Hypoxie (z. B. nach kardiopulmonaler Reanimation),
perinataler Hirnschaden, SHT, MS (▶ 10.1), zerebrale Tumoren.
Diagn.:
• Meist neben dystoner Symptomatik klin. u. apparative Hinweise auf sympto-
matische Urs.
• Hemidystonie, Beinbeteiligung u. rasche Progredienz beim Erw. sind Hinwei-
se auf symptomatische Urs. der Dystonie.
• Weitergehende Diagn. in Abhängigkeit vom Verdacht.
• CMRT i. d. R. notwendig.
570 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Ther.:
• Immer zunächst Grunderkr. therapieren o. auslösendes Medikament abset-
zen. Weitere Ther.-Prinzipien wie bei generalisierten Dystonien (▶ 15.4.2).
• Medikamenteninduzierte Dystonie: Medikament absetzen. Biperiden 5 mg lang-
sam i. v., anschließend für 2 d 3 × 4 mg/d p. o. zur Prophylaxe (da kurze HWZ).
Progn.: Abhängig von Grunderkr., medikamenteninduzierte Dystonie mit meist
vollständiger Regredienz nach Absetzen.

15.5 Morbus Wilson
ICD-10 G25.8, E83.0.
Epidemiologie u. Ätiol.:
• Hepatolentikuläre Degeneration.
• Aut. rez. (Chromosom 13q14.3; Mutation des Gens der Kupfer transportie-
renden ATPase 7B) vererbte generalisierte Kupferstoffwechselstör.
• Gestörter Cu2+-Transport von Leber zur Galle, dadurch abnorme Speicherung von
Cu2+ in Leber, später in Gehirn, Kornea u. anderen parenchymatösen Organen.
• Prävalenz 1–3/100.000.
Klinik:
• Zwei Verlaufsformen abhängig vom Manifestationsalter:
– < 20. Lj (Typ Wilson): Hauptsächlich Ikterus u. Verhaltensstör.
– 20.–40. Lj (Typ Westphal-Strümpell): Chron. Verlauf über 10–40 J., häu-
fig mit Tremor u. Dysarthrie.
• Neurol.: Halte- u. Intentions-, seltener Ruhetremor, Asterixis (flapping tre-
mor), Rigor, dystone o. choreatiforme Hyperkinesien, Dysarthrie, -phonie,
-phagie, Schreibstör., Ataxie, Nystagmus, skandierende Sprache. Selten cho-
reatiforme Bewegungsstör., epileptische Anfälle.
• Psychiatrisch (10–20 %): Euphorie, Unruhe, später Dysphorie, path. Weinen
u. Lachen, organische Psychose, Aufmerksamkeits- u. Gedächtnisstör.,
15 Angststör., Zwangsphänomene.
• Abdominal: Hepatosplenomegalie, Hepatitis, Leberzirrhose, Bauchschmer-
zen, Ikterus, Aszites, Gynäkomastie.
• Hämatologisch: Thrombozytopenie, Hämolyse, Anämie, Leukopenie.
• Andere: Kayser-Fleischer-Kornealring (> 90 %), Arthralgien, Osteoporose, re-
nale Dysfunktion, Hyperpigmentation.

Komb. aus hepatischen u. neuropsychiatrischen Sympt. weist auf M. Wilson


hin! Keine sensiblen Sympt.!

DD: Alle Pat. < 50 J. mit unklarer Bewegungs- u. Leberfunktionsstör., insbes. bei
Tremor, Dysarthrie, Parkinson-Sy., Depression.
Diagn.:
• Anamnese: Insbes. Familen- u. Medikamentenanamnese: Valproinsäurein-
duzierte Formen.
• Labor:
– Urin: Cu2+-Ausscheidung ↑ (> 100 μg im 24-h-Urin), evtl. Ca2+ ↑, Phos-
phat ↑. Protein ↑ bei nephrotischem Sy.
– Serum: Cu2+ ↓ (< 70 μg/100 ml) u. Coeruloplasminspiegel ↓ (< 0,2 g/l in
95 %). Ther.-Kontrolle: Cu2+-Ausscheidung im Urin, freies Cu2+.
  15.5 Morbus Wilson  571

– Weitere Laborunters.: BB, Gerinnung, Leberwerte (z. B. Leberfunktions-


stör. mit sek. Kupferstoffwechselstör., Cholestase).
– Path. Radio-Kupfertest: Ausscheidung im Urin ↑ durch reduzierten Ein-
bau in Coeruloplasmin.
• Leberbiopsie: Cu2+-Gehalt ↑ (> 250 μg/g Trockengewicht beweisend).
• CMRT: Atrophie von Putamen u. Nucleus caudatus, symmetrische bilaterale
Hyperintensitäten (T2-Wichtung), Hypointensitäten im Globus pallidum,
Nucleus ruber, Substantia nigra.
• Transkranielle Sono: Hyperechogenität im Linsenkern.
• Ophthalmologie: Kayser-Fleischer-Kornealring (auch bei anderen Lebererkr.).
• OBS: Hepatosplenomegalie, Leberparenchymveränderung.
• Genanalyse: Mutationsnachweis im ATPase7-Gen, Familienscreening.
Ther.:
• Allg.: Frühzeitiger Beginn: Ziel ist neg. Kupferbilanz! Reduktion der Kupfer-
belastung: Lebenslang Ther.-Kontrolle durch Bestimmung der Cu2+-Aus-
scheidung im Urin (35-fache Erhöhung), u. des freien Cu2+ i. S. (< 15 μg/dl).
• Kupferarme Diät: Verzicht auf Schokolade, Kakao, Leber, Pilze.
• Förderung der Cu2+-Ausscheidung: Chelatbildner (auf 2 mg/d initial, lang-
fristig > 500 μg/d): D-Penicillamin (DPA) 750–1.600 mg/d p. o., einschlei-
chend dosieren! Zusätzlich Pyridoxin 2 × 120 mg/Wo. zur Prophylaxe des
Vit.-B6-Mangels u. 20 mg Prednisolon für 2 Wo. (wegen allerg. NW). Bei Un-
verträglichkeit o. als prim. Substanz: Trientene 300–2.400 mg/d p. o.
• Reduktion der Cu2+-Aufnahme: Zinksulfat100–600 mg/d p. o. (1 h vor den
Mahlzeiten).
• Ther.-Kontrolle: Kupferausscheidung im 24-h-Urin auf < 125 μg, Zinkplas-
maspiegel 1.500–3.000 μg/l.

Bei Ther.-Beginn z. T. Symptomverschlechterung (in 50 % mit irreversibler Ver-


schlechterung); daher äußerst vorsichtiges Einschleichen! Alternative: Trientene.
15
Orthotope Lebertransplantation: Heilt den M. Wilson, meist nur bei prim. hepa-
tischer Verlaufsform indiziert.
Symptomatische Ther.:
• Tremor: Propranolol 120–240 mg/d (Ther.-Strategien ähnlich wie klassischer
essenzieller Tremor [▶ 15.1.3]).
• Hyperkinesien: Tiaprid 3 × 100–400 mg/d p. o., Tetrabenazin 3 × 2.575 mg/d p. o.
• Dyskinesien: Trihexyphenidyl 10–40 mg/d p. o.
Progn.: Bei Erkr.-Beginn < 20. Lj unbehandelt letaler Verlauf innerhalb von 5–7 J.
Bei frühzeitiger Ther. vor Organmanifestation keine eingeschränkte Lebenserwar-
tung. Lebertransplantation bei akutem Leberversagen, selten aus neurol. Ind.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen:
Morbus Wilson e. V., Leiblstr. 2, 83024 Rosenheim, Tel. 08031/249230, www.
morbus-wilson.de.
572 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

15.6 Myoklonus
15.6.1 Definition
Griech.: Klonos: Heftige Bewegung. Unwillkürliche, plötzliche, kurze, teils repeti-
tive Kontraktionen von einzelnen Muskeln o. Muskelgruppen. Als Aktionsmyklo-
nus bei Willkürbewegungen.

Klassifikation
• Kortikale Myoklonien: Dauer der EMG-Aktivität 10–50 ms, Verteilung
meist fokal, distal betont o. multifokal, häufig reiz- o. bewegungsgetrig-
gert, in der Elektrophysiologie kortikale Riesenpotenziale in den SEP u.
korrelierendes EEG gelegentlich ableitbar.
• Subkortikale Myoklonien: Dauer der EMG-Aktivität > 100 ms, Verteilung
meist generalisiert, unabhängig von Reizen o. Bewegungen (spontan).
• Spinale Myoklonien: Dauer der EMG-Aktivität > 100 ms, Verteilung
meist fokal o. segmental, unabhängig von Reizen o. Bewegungen (spon-
tan), häufig synchron.

15.6.2 Ätiologie
• Physiol. Myoklonien: Einschlaf-, Aufwach- u. Schreckmyoklonien.
• Essenzielle (prim.) Myoklonien: Meist aut. dom., selten sporadisch.
• Epilepsien mit Myoklonien (▶ 11.1).
• Sek. Myoklonien: Posthypoxischer Myoklonus (Lance-Adams-Sy. ▶ 15.6.6),
sonstige symptomatische Myoklonien (▶ 15.6.7).
• Psychogene Myoklonien.
15
15.6.3 Diagnostik

Genaue Medikamentenanamnese, da viele Substanzen Myoklonien induzie-


ren (▶ 15.6.7).

Elektrophysiologie: EMG (mit Oberflächenelektroden) zur Messung der Dauer


der Muskelaktivität u. Verteilung, Medianus-SEP mit Nachweis von Riesenpoten-
zialen (> 12 μV) bei kortikalen Myoklonien.
Kraniale u. spinale MRT: Nachweis von Läsionen bei symptomatischen Myoklonien.

15.6.4 Therapie
Allg.: Komb. von Substanzen möglich, essenzieller Myoklonus (▶ 15.6.5).
Präparate:
• Valproat bis 4.000 mg/d.
• Piracetam bis 12 (24) g/d.
• Levetiracetam bis 4.000 mg/d, Clonazepam.
• Primidon.
  15.6 Myoklonus  573

15.6.5 Essenzieller Myoklonus
Def.:
• Insgesamt selten, dann meist aut. dom. vererbt.
• Ätiol. weitgehend unbekannt, Beginn in der Kindheit.
• Meist segmentale Myoklonien, Alkohol supprimiert, gelegentlich zerebelläre
Ataxie.
Ther.: Anticholinergika, z. B. Trihexiphenidyl 40–60 mg/d p. o. o. Tetrabenazin,
Benzodiazepine.

15.6.6 Posthypoxischer Myoklonus (Lance-Adams-Syndrom)


Def.: Hypoxische Hirnschädigung, häufig nach kardiopulmonaler Reanimation.
Klinik:
• Myoklonien meist generalisiert, in den beteiligten Muskelgruppen synchron.
• Provokation durch sensorische o. somatosensible Reize möglich, zusätzlich
willkürliche o. unwillkürliche Bewegungen bzw. Bewegungsmuster.
• Zusätzlich Asterixis, Stürze, zerebelläre Ataxie, weitere Sympt. des hypoxi-
schen Hirnschadens in allen Schweregraden möglich (bis zum Coma vigile).
Diagn.:
• Anamnese bzw. Fremdanamnese: Meist kardiopulmonale Reanimation.
• Labor: NSE, S100 als Marker für Neuronenschädigung ↑. Prognostische Be-
deutung (▶ 24.10).
• CCT/CMRT: Abgrenzung der Mark-Rinden-Grenze bei hypoxischen Hirn-
schaden aufgehoben.
• Evozierte Potenziale: Hinweise für zentrale Leitzeitenverzögerung o. -blocka-
de bei hypoxischen Hirnschaden (▶ 24.10).
Ther.: ▶ 15.6.4.

15.6.7 Andere symptomatische Myoklonien 15


Ätiol.:
• Medikamenteninduzierter Myoklonus: Viele verschiede Medikamente. Li-
thium, MAO-B-Hemmer, trizyklische Antidepressiva, Mirtazapin, Opiate,
Levodopa, verschiedene Antibiotika (Penicilline, Cephalosporine, Gyrase-
hemmer).
• Neurodegen. Erkr.: Huntington-Erkr. (▶ 15.3.2), MSA (▶ 15.2.5), PSP
(▶ 15.2.7), CBD (▶ 15.2.8), Alzheimer-Erkr. (▶ 23.3).
• Entzündl. ZNS-Erkr.: MS (▶ 10.1), Herpes-Enzephalopathie u. andere virale
Meningoenzephalitiden (▶ 9.4.1, ▶ 9.4.2), Hashimoto-Enzephalopathie,
Creutzfeldt-Jakob-Erkr. (▶ 9.5.2).
• Paraneoplastische Erkr.:
– Opsoklonus-Myoklonus-Sy. (▶ 13.7).
– Metab. u. tox. Erkr.
– M. Wilson (▶ 15.5), hepatische u. renale Enzephalopathien, tox. Enzepha-
lopathien (z. B. Schwermetalle, Wismut, Kokain, LSD, Cannabis).
Diagn. u. Ther.: ▶ 15.6.3, ▶ 15.6.4.
574 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

15.7 Tics und Gilles-de-la-Tourette-Syndrom


ICD-10 F95.

15.7.1 Tics
Von franz.: Zucken.
• Abrupt einsetzende, nichtrhythmische, wiederkehrend auftretende, unwill-
kürliche, kurzzeitig unterdrückbare Bewegungen (motorische Tics), die nicht
zweckgebunden sind u. auch im Schlaf vorkommen können.
• Im Gegensatz zu anderen hyperkinetischen Bewegungsstör. geht Tics typi-
scherweise ein Anspannungsgefühl voraus u. die Pat. sind meist in der Lage,
die unwillkürlichen Bewegungen für eine gewisse Zeit zu unterdrücken.
Klin. Charakteristika (▶ Tab. 15.12):
• Einfache Tics: Tics einzelner Muskelgruppen: Nase rümpfen, Blinzeln, Schul-
terzucken etc.
• Komplexe Tics: Beteiligung mehrerer Muskelgruppen u. Auftreten koordi-
nierter Bewegungsabläufe (z. B. Rumpfbeugen, Fingergesten).
• Vokale Tics: Tics pharyngealer, laryngealer o. oraler Muskelabschnitte mit
Lautäußerungen.

Tab. 15.12  Klinik von Tics u. Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (▶ 15.7.2)


Tics Gilles-de-la-Tourette-Syndrom

Unwillkürliche, stereotyp-repetitive, Initial häufig Blinzel-Tic, dann Ausbreitung


oft komplexe Bewegungen, die nor- auf Gesicht, Hals, Rumpf u. Extremitäten.
male Bewegungen unterbrechen Multiple motorische u. vokale Tics, die an
(motorische Tics). Meist Augen mit ­einem Tag mehrfach auftreten.
Blinzel-Tic, Gesicht mit Stirnrunzeln, Häufig kombiniert mit Aufmerksamkeitsstör.,
15 generalisiertem Grimassieren, Hals,
seltener Extremitäten u. Rumpf, oft
Hyperaktivität, Lern- u. Schlafstör., selbstver-
letzendem Verhalten Zwangsphänomenen.
mit Lautgebung (vokale Tics). Charakteristisch, aber nicht obligat ist das
Die Manifestation ist klonisch o. dys- Ausstoßen oft obszöner Worte (Koprolalie)
ton, kontinuierlich o. repetitiv. o. Gesten (Kopropraxie).

Zeitweilig unterdrückbar, Zunahme Willkürliche, vorübergehende Unterdrü-


bei Stress, Abnahme bei Ablenkung ckung u. schwankende Ausprägung möglich.
o. Konzentration, tritt auch wäh- Verstärkung durch Stress
rend des Schlafs auf

Dauer variabel, Remission für Mon. Beginn vor dem 21. Lj


möglich.

Ätiol.:
• Prim.: Idiopathisch.
• Sek.: Nach Enzephalitis, SHT, CO-Intox., medikamenteninduziert (Neuro-
leptika, Antikonvulsiva, Dopaminagonisten, Stimulanzien), bei Chorea Hun-
tington. Bei Kindern z. T. nach Infektionen mit β-hämolysierenden Strepto-
kokken.
• Psychogen: Sehr selten.
DD: Myoklonus, choreatische Bewegungsstör., Blepharospasmus, Hemispasmus
facialis, Stereotypien, Akathisie, Restless-Legs-Sy.
   15.7  Tics und Gilles-de-la-Tourette-Syndrom  575

Diagn.:
• Anamnese: Insbes. Medikamentenanamnese.
• Neurol. Status: Genaue Inspektion von Art, Häufigkeit, Intensität u. Vertei-
lung der unwillkürlichen Bewegungen sowie funktioneller Zusammenhänge
(z. B. Stress).
• Elektrophysiologie: EEG.
• Labor: BB, Entzündungsparameter, CK, Antistreptolysin-Titer, Anti-Phos-
pholipid-AK.
• CMRT: Im Falle differenzialdiagnostischer Zweifel.
• Weitere Unters.: Videodokumentation, LP, Orbicularis-oculi-Reflex, PET,
psychiatrische Unters., v. a. hinsichtlich Zwangssympt. u. ADHS, testpsycho-
logische Unters., Suche nach antineuronalen AK im Serum.
Ther.:

Aufklärung (ggf. auch der Eltern), Einleitung einer Verhaltensther., medika-


mentöse Ther. i. d. R. nur bei chron. Tics (Dauer > 1 J.) erforderlich.
Kausale Ther. der Grunderkr. bei sek. Tics.

Pharmakother.: Nur bei subjektiver Beeinträchtigung, oft ist Komb.-Ther. erfolg-


reich, alles Off-label.
• Tiaprid 3 × 100 mg/d p. o.
• Neuroleptika:
– Sulpirid 3 × 200  mg/d.
– Risperidon 1–3  mg/d.
– Pimozid 0,5–1 mg inital, über mehrere Wo. bis max. 3 × 10 mg/d p. o. stei-
gerbar.
– Olanzapin 10  mg/d.
– Haloperidol 0,25–10 mg/d p. o., langsam aufdosieren.
– NW: Tardive Dyskinesien, Depression, Akathisie, Gewicht ↑, Parkinso-
nismus.
15
• Clonidin 0,05–0,2 mg/d p. o. Effekt erst nach 2–3 Mon. NW: RR initial ↓ Re-
bound-Hochdruck nach Absetzen.
• Kalziumantagonisten: Flunarizin, Nifedipin.
• Clonazepam 0,25–4,5 mg/d p. o.
• Trizyklische Antidepressiva bei Zwangsphänomenen.
• Tiefe Hirnstimulation (Globus pallidus internatus o. Thalamus) bei Ther.-Re-
sistenz u. großem Leidensdruck in erfahrenen Zentren.
Progn.: Etwa 30–40 % Spontanremission bei Erreichen des Erw.-Alters, in weite-
ren 30 % deutliche Besserung. Unter Medikation Besserung in ⅔.

15.7.2 Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
ICD-10 F95.2.
Def.:
• Multiple motorische u. vokale Tics.
• Beginn bereits in Kindheit o. jungem Erw.-Alter (immer vor dem 21. Lj), Per-
sistenz über längere Zeit (> 1 J.).
• Häufig Zwangssympt. u. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstör.
(ADHS).
• Häufig genetisch bedingt (aut. dom. mit unvollständiger Penetranz), Mutati-
onen im SLITRK1-Gen beschrieben.
576 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

• Selten als sek. Tic-Erkr.


Diagnosekriterien: ▶ Tab. 15.12.
• Beginn vor dem 21. Lj.
• Auftreten multipler motorischer/vokaler Tics im Verlauf.
• Häufige Tics für mind. 1 J.
• Prim. Tics.
Diagn. u. Ther.: ▶ 15.7.1.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Tourette Gesellschaft Deutschland (TGD e. V.), www.tourette.de.

15.8 Restless-Legs-Syndrom und periodische


Beinbewegungen im Schlaf
15.8.1 Restless-Legs-Syndrom (RLS)
ICD-10 G25.8.
Def.: Sy. der unruhigen Beine.
• Bewegungsdrang der Beine (selten der Arme) mit sensiblen Stör. (Par- u.
Dysästhesien, Schmerzen).
• Auftreten o. Zunahme bei Ruhe o. Inaktivität, Bewegung (Gehen) führt zu
Besserung.
• Zirkadiane Rhythmik mit Auftreten/Verschlechterung abends/nachts.
• Häufig Ein- u./o. Durchschlafstör., periodische Beinbewegungen im Schlaf.
• Ansprechen auf dopaminerge Ther.
Epidemiologie:
15 • Aktuelle genetische Studien weisen Assoziationen zu verschiedenen Genen
auf (BTBD9, MEIS1, MAP2K5 u. LBXCOR1).
• Mittleres Erkr.-Alter 25–30 J. (Jugend bis Senium), meist langsam progre-
dienter Verlauf.
• Sehr häufig: Prävalenz 5–10 % der Allgemeinbevölkerung.
Ätiol.:
• Idiopathisches RLS:
– Häufig pos. Familienanamnese (30 % aut. dom., 30–50 % sporadisch).
– 50–70 % familiär (aut. dom.) mit Beginn vor dem 30. Lj.
– Angenommen wird Stör. im Dopaminstoffwechsel; Fehlfunktion von
Nervenzellen im Hirnstamm u. Thalamus o. von spinalen Mustergenera-
toren möglich.
• Symptomatisches RLS:
– Niereninsuff., 20–40 % der Dialysepat.
– Eisenmangelanämie, auch niedrige Ferritin-Werte (< 45 ng/ml) ohne
­Eisenmangelanämie.
– Schwangerschaft (10–30 %), oft reversibel.
– Rheumatoide Arthritis.
– Neurodegenerative Erkr. (M. Parkinson ▶ 15.2.3), MSA (▶ 15.2.5), spino-
zerebelläre Ataxien (SCA).
– Medikamentös: Neuroleptika, Antidepressiva, Kalziumantagonisten u. a.
   15.7  Tics und Gilles-de-la-Tourette-Syndrom  577

Zirkadianer Bewegungsdrang u. Missempfindungen an den Beinen mit


Schwerpunkt am Abend/nachts mit Responsivität auf Dopaminergika wei-
sen auf RLS hin!

DD:
• Akathisie.
• PNP mit „Burning Feet“, Painful-Legs-and-moving-Toes-Sy.
• Krampi.
• Sy. mit Myalgie.
• Vask. Stör.: Venöse Insuff., Erythromelalgie, art. Verschlusskrankheit.
• Obstruktives Schlafapnoe-Sy. (OSAS).
Diagn.:
• Neurol. Anamnese u. Status: Insbes. Schlaf- u. Medikamentenanamnese.
• Labor: BB, Eisen, Ferritin, Transferrin, Harnstoff, Krea, E'lyte, evtl. Folsäure,
Vit.-B12-Stoffwechsel, Parathormon, TSH, T3, T4.
• PNP-Diagn.: NLG, EMG, ggf. SEP.
• Ther.-Versuch mit Dopaminergika: (S. u.).
• Weitere Unters.: In Einzelfällen Polysomnografie (v. a. bei Ther.-Resistenz u.
DD zu anderen Schlafstör.).
Ther. – allg.: Kausale Ther. (beim sek. RLS):
• Eisensubstitution bis Ferritin > 50 ng/ml (unabhängig vom unteren Normal-
wert des Labors!).
• In der Schwangerschaft Folsäure + Eisensubstitution.
Ther. – symptomatisch:
• Ind. bei Leidensdruck, Schlafstör. u./o. Tagesmüdigkeit.
Dopaminergika:
• Mittel 1. Wahl (Dopaminagonisten beim mittelschweren bis schwerem RLS),
Komb. wenig untersucht, Komb. von Dopaminergika u. Opiaten häufig gut
wirksam. 15
• Levodopa: L-Dopa + Dopadecarboxylasehemmer in Standardform 100/25–
200/50 mg 1 h vor dem Schlafengehen, bei Durchschlafstör. (evtl. zusätzlich)
in Retardform, 1–2 Kps. p. o. am Abend.
• Cave: Augmentation (s. u.), möglichst 400 mg/d nicht überschreiten, scheint
bei Eisenmangel verstärkt aufzutreten.
• Dopaminagonisten (mit weniger Augmentation):
– Pramipexol 0,088–0,54 mg/d, Ropinirol 0,25–4 mg/d, jeweils 1–3 h vor
dem Schlafengehen (bei Sympt. am Tag Dos. über den Tag verteilen mit
Schwerpunkt am Abend).
– Rotigotin-Pflaster: 0,5–4 mg/24 h.

Komplikation der dopaminergen Therapie, besonders unter Levodopa


­(Augmentation)
• Zeitliche Vorverlagerung der RLS-Beschwerden in den Tag hinein.
• Zunahme der Intensität.
• Schnelleres Einsetzen der Sympt.
• Ausdehnung über die Beine hinaus.
! Vorgehen: Eisensubstitution, Absetzen von Levodopa, Versuch mit
­Dopaminagonisten u./o. Opiaten.
578 15  Extrapyramidale Bewegungsstörungen (EPMS)  

Opiate: (derzeit Off-Label).


! Nur bei akuten Exazerbationen (o. Ther.-Resistenz auf Dopaminergika bei
mittelschwerer bis schwerer Symptomatik, möglichst nicht als Dauermedika-
tion).
• Tilidin 50–100 mg zur Nacht, Tilidin/Naloxon, Tramadol, Oxycodon/Nalo-
xon in Komb. (bis zu 40 mg/20 mg), bei therapieresistetem RLS mit hohem
Leidensdruck Fentanyl-Pflaster in niedrigen Dos. (12 μg/h) möglich.
• L-Polamidon® 5 mg im „Notfall“.
Benzodiazepine: (Off-Label).
! Nur bei akuten Exazerbationen (keine Dauermedikation!)
• Z. B. Clonazepam bis 2 mg abends
Alternative Behandlungen, ohne Zulassung
• Carbamazepin z. B. 100–300 mg abends.
• Clonidin bis 4 × 0,075 mg/d.
• Gabapentin, Pregabalin.
• Valproat.
Progn.:
• Sek. RLS: Bei Niereninsuff. u. Dialyse Besserung nach Nierentransplantation,
bei Schwangerschaft reversibel nach Entbindung, bei Eisenmangel häufig
deutliche Besserung durch Eisensubstitution, bei reversiblen Urs. meist keine
symptomatische Ther. erforderlich.
• Idiopathisches RLS: Meist langsam progredient, Remissionen u. stationäre
Verläufe möglich. Meist gut therapierbar (> 85 % Ansprechen auf 1. Ther.-
Versuch mit Levodopa), ca. 10 % mit therapeutischen Problemen (cave: Dia­
gnose überdenken).

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Deutsche RLS-Vereinigung e.  V., Schillerstr. 3a, 80336 München, Tel.
089/55028880, www.restless-legs.org.
15
15.8.2 Periodische Beinbewegungen im Schlaf
Def.:
• Repetitive Beinbewegungen (Dorsalflexion von Fuß u./o. Großzehe, zusätz-
lich Beugung im Knie-/Hüftgelenk möglich, meist bds., symmetrisch o. alter-
nierend) die von kurzzeitigen EEG-Veränderungen i. S. von kurzen Aufwach-
reaktionen (Arousals) begleitet sein können.
• Polysomnografische Kriterien (Ableitung der Muskelaktivität über dem M. ti-
bialis anterior mit Oberflächenelektroden): Muskelaktivität von 0,5–5 s Dau-
er, mind. 4 Bewegungen im Abstand von 5–90 s, meist mit einem Index von
> 5 Episoden/h Schlafzeit als path. eingeordnet. Wahrscheinlich kein eigen-
ständiges Krankheitsbild, Vorkommen bei Vielzahl von Erkr.
• Krankheitswert unklar.
• Assoziation mit schlafassoziierten Erkr. (RLS, [obstruktives] Schlafapnoe-
Sy.).
• Assoziation mit schlafunabhängigen Erkr. (Internistisch: Niereninsuff., art.
Hypertonie, Atemwegserkr., Einnahme von Kalziumantagonisten; neurol.:
IPS [▶ 15.2.3]; MSA [▶ 15.2.5]; psychisch: Depressives Sy., Einahme von An-
tidepressiva, Alkoholabhängigkeit).
Ther.: Meist nicht notwendig, Ind. bei Schlafstör. u. Tagesmüdigkeit (▶ 15.8.1).
16 Degenerative Erkrankungen und
Entwicklungsstörungen
Matthias Spranger und Achim Berthele

16.1 Degenerative Erkrankungen 16.2.5 Autosomal dominant vererbte


des motorischen Systems 580 Ataxien 590
16.1.1 Amyotrophe Lateralsklerose 16.2.6 Sporadische degenerative
(ALS) 580 ­Ataxien 591
16.1.2 Spastische Spinalparalyse 16.3 Phakomatosen 592
(SSP) 582 16.3.1 Neurofibromatose
16.1.3 Spinale Muskelatrophie (NF) 592
(SMA) 584 16.3.2 Tuberöse Hirnsklerose
16.2 Ataxien 586 (TS) 593
16.2.1 Klinik, diagnostisches Vorge- 16.3.3 Von-Hippel-Lindau-Syndrom
hen und Therapie 586 (VHL) 595
16.2.2 Erworbene Kleinhirnatro- 16.3.4 Sturge-Weber-Syndrom
phie 587 (SWS) 596
16.2.3 Autosomal rezessiv vererbte 16.3.5 Weitere Phakomatosen 596
Ataxien 588 16.4 Infantile Zerebralparese
16.2.4 Ataxien im Rahmen von (ICP, CP) 597
­maternal vererbten Systemer-
krankungen 590
580 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

16.1 Degenerative Erkrankungen des


motorischen Systems
16.1.1 Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
ICD-10 G12.2. Syn.: Myatrophe Lateralsklerose, Lou Gehrig Disease.

Definition
Degeneration des 1. u. 2. Motoneurons (MN). Inzidenz 1,5/100.000, Prävalenz
6–8/100.000, Lebenszeitrisiko ≈  1 ‰. Klassische Form mit Beginn 40.–70. Lj,
M : F = 1,5–2 : 1.

Ursache
Meist sporadisch, in 5–10 % familiäre Häufung mit aut. rez. o. aut. dom. Erbgang
(z. B. Mutation des Superoxid-Dismutase-[SOD-]Gens auf Chromosom 21).

Klinik
• Atrophische, meist distale symmetrische Paresen mit Faszikulationen, meist
zuerst der kleinen Hand- u. Unterarmmuskeln.
• Gut auslösbare o. gesteigerte Reflexe, evtl. mit Pyramidenbahnzeichen u. er-
höhtem Muskeltonus, jedoch meist erhaltene Bauchhautreflexe.
• Keine Stör. der Sensibilität; allenfalls Angabe von Parästhesien.
• Fakultativ mimische Enthemmungsphänomene: Path. Weinen u. Lachen
(▶ 1.1.11).
• Kachexie häufig.
• In Spätstadien respiratorische Insuff.
• Okulomotorik u. Sphinkter nur in Spätstadien betroffen.
Varianten:
• Prim. Lateralsklerose (PLS): Betrifft nur 1. MN; meist beinbetont.
• Progressive Muskelatrophie (PMA):
– Betrifft nur 2. MN.
– DD: Von der SMA Typ IV (▶ 16.1.3) durch raschere Progression zu un-
terscheiden.
16 • Flail-Arm-Sy.:
– Symmetrische prox. Atrophie des Schultergürtels („flail“ = Dreschflegel);
volle Kraft an den unteren Extremitäten.
– M > > F.
– DD: Prox. spinale Muskelatrophie (▶ 16.1.3), zervikale Myelopathie
(▶ 18.5), MMN (▶ 19.9.4).
• Progressive Bulbärparalyse (PBP):
– 25 % aller ALS-Fälle.
– F > M.
– Prim. bulbäre Sympt. mit Dysphagie, Dysarthrie, Dysphonie, Zungenatro-
phie mit Fibrillationen u. Faszikulationen (in 20 % auch als Erstsympt.),
Hypomimie.
• Hemiplegische Mills-Variante: Initiale Sympt. auf eine Körperseite be-
schränkt bzw. einseitig betont.
   16.1  Degenerative Erkrankungen des motorischen Systems  581

Varianten gehen häufig im Verlauf in eine klassische ALS über.

• ALS-Plus-Sy.: Klassische Sympt. der ALS plus weitere Sympt.:


– Parkinsonoid.
– Zerebelläre Zeichen.
– Frontotemporale Demenz.
– Autonome Zeichen.
– Objektivierbare sensorische Defizite.
– Stör. der Okulomotorik.

In den ersten 1–2 J. kann die (häufigere) ALS wie eine spinale Muskelatro-
phie o. eine spastische Spinalparalyse verlaufen.

Diagnostik
Die Diagnose einer ALS erfolgt anhand der revidierten El-Escorial-Kriterien.
• EMG (▶ 2.5): Generalisierte neurogene Veränderungen, auch in klin. nicht
betroffenen Muskelgruppen.
• NLG: Im Verlauf niedrige motorische Amplituden bei normaler NLG; sen-
sible Neurografie unauffällig.
• Evozierte Potenziale: MEP mit hohen Reizschwellen/niedrigen Potenzialen,
SSEP normal.
• Labor: Leichte CK-Erhöhung möglich. Liquor: Nur zum Ausschluss DD
sinnvoll.
• MRT: Degeneration der Pyramidenbahn kann in T2-gewichteten Sequenzen
nachweisbar sein.
• Lungenfunktion: Vitalkapazität ↓.
• Sono: Nachweis von Faszikulationen (v. a. geeignet für Unters. der Zunge).
• Muskelbiopsie: Nur wenn Klinik nicht eindeutig, zum Ausschluss der DD.

Revidierte El-Escorial-Kriterien
Klin. o. elektrophysiologische o. neuropath. Zeichen der Degeneration des
2. MN und klin. Zeichen der Degeneration des 1. MN und sich ausbreitender
Prozess und Ausschluss von DD. Je nach Ausprägung lassen sich unterscheiden: 16
• Definitive ALS: 1. u. 2. MN in 3 Regionen betroffen
(HN/zervikales/thorakales/lumbosakrales RM).
• Wahrscheinliche ALS: 1. u. 2. MN in 2 Regionen betroffen.
• Wahrscheinliche „laborgestützte“ ALS: 1. u. 2. MN in 1 Region o. 1. MN
in ≥ 1 Region betroffen; zusätzlich floride Denervierungszeichen im
EMG in ≥ 2 Extremitäten.
• Mögliche ALS: 1. u. 2. MN in 1 Region betroffen.
• Definitive „laborgestützte“ familiäre ALS: 1. u. 2. MN in 1 Region be-
troffen und Nachweis eines Gendefekts.
• Vermutete ALS: Ausschließlich 1. o. 2. MN in ≥ 1 Region betroffen.

Differenzialdiagnosen
• Benigne Faszikulationen: Keine Sympt. des 1. MN, keine sonstigen ALS-typ.
Befunde im EMG.
582 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

• Endokrinologisch, z. B. Hyperthyreose mit Muskelzuckungen, -schwäche;


Hyperinsulinismus mit Hypoglykämie; Hyperparathyreoidismus.
• Paraneoplastisch (▶ 13.7): Bronchial-, Prostata- o. Mamma-Ca: Paraneoplas-
tische AK (v. a. Anti-Hu-AK).
Mit Überwiegen von Muskelatrophie o. -schwäche:
• Myasthenia gravis (▶ 21.1), Lambert-Eaton Sy. (▶ 21.2).
• Entzündl. Erkr.: Neurosyphilis (▶ 9.3.7); Poliomyelitis/Post-Polio-Sy.
(▶ 14.4.3).
• Muskelerkr., z. B. Einschlusskörperchen-Myositis (▶ 20.7.1, ▶ 20.7.4); Poly-
myositis (▶ 20.7.1, ▶ 20.7.3).
• Multifokale motorische Neuropathie (MMN): Leitungsblöcke, Anti-GM1-AK
im Serum.
• CIDP: Sensibilitätsstör., NLG, Liquor.
• Funikuläre Myelose (▶ 19.5.3): Sensibilitätsstör., Labor, MRT.
• Intox. (▶ 3.17): Blei, Quecksilber, Aluminium.
Mit Überwiegen von Pyramidenbahnzeichen:
• Spastische Spinalparalyse (▶ 16.1.2).
• Spinale o. medulläre Raumforderung (Tumor, Bandscheibenprolaps), zervi-
kale Myelopathie.
• Syringomyelie (▶ 14.9).
• Vask. Myelopathie.
• Entzündl. Erkr.: HIV (▶ 9.4.8); HTLV-I-assoziierte Myelitis.
• Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (▶ 9.5.2)
DD der prim. bulbären Verlaufsform:
• Vask. Pseudobulbärparalyse: MRT.
• Bulbäre Form der Myasthenia gravis (▶ 21.1), Lambert-Eaton Sy. (▶ 21.2).
• Miller-Fisher-Sy. (▶ 19.9.2): GQ1b-AK.
• Okulopharyngeale Muskeldystrophie: Augenbeteiligung.
• Basiläre Impression (▶ 14.8.1).
Therapie
Medikamentöse Ther.: Glutamatantagonist Riluzol (Rilutek®; 2 × 50 mg/d p. o.):
Verlängert Überleben um ≈3 Mon.
NW: Übelkeit, Erbrechen, Schwäche, Leberschäden, selten Neutropenie (monatli-
16 che Kontrolle der Leberenzyme in den ersten 3 Mon., danach 3-monatlich im 1. J.;
Kontrolle der Leukos bei Fieber).
Symptomatische Ther.: Spastik (▶ 14.2.2); andere Sympt.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) e. V., www.dgm.org.

Prognose
Mittlere Überlebenszeit 3–5 J., aber variabel. Schlechtere Progn. bei Bulbärparalyse.

16.1.2 Spastische Spinalparalyse (SSP)


ICD-10 G11.4. Syn.: Hereditäre spastische Spinalparalyse (HSP), Strümpell-Lor-
rain-Sy. Genetische Klassifikation: SPG („spastic paraplegia gene“).
   16.1  Degenerative Erkrankungen des motorischen Systems  583

Definition
Betroffen ist in der reinen Form nur das 1.  MN, chron. progredienter Verlauf
­ohne Remissionen. M : F = 2 : 1.
Beginn im 2.–4. Ljz.

Ätiologie
Hereditäre Erkr. mit hoher intrafamiliärer Variabilität.
Aut. dom. (am häufigsten SPG4), aut. rez., X-chomosomaler Erbgang o. spora-
disch.

Klinik
Reine Formen: Überwiegend aut. dom.
• Zuerst spastisches Gangbild mit gesteigerten MER/Kloni u. Pyramidenbahn-
zeichen; bilateraler Adduktorenspasmus typ.
• Später spastische Paresen, Spastik stets ausgeprägter als Paresen.
• Armbeteiligung selten u. erst nach vielen Jahren.
• Pallhypästhesie u. leichte Blasenstör. möglich.
Komplexe Formen: Systemerkr. mit zusätzlichen zerebellären o. visuellen Sympt.,
kognitiven Defiziten, Ataxie/Neuropathie. Überwiegend aut. rez. o. X-chrom.

Diagnostik
• Anamnese: Familien- u. Geburtsanamnese (DD infantile Zerebralparese).
• MRT: Kranial (z. A. vask. o. entzündl. Veränderungen) u. zervikal (z. A.
Raumforderung mit Myelonkompression).
• Elektrophysiologie: Evozierte Potenziale, NLG/EMG.
• Molekulargenetische Diagn.:
– Zur Diagnosesicherung, insbes. bei pos. Familienanamnese. Nicht für alle
Loci routinemäßig angeboten.
– Übersicht über durchführende Labors: www.hgqn.org.
! Voraussetzung: Humangenetische Beratung des Pat.!
Differenzialdiagnosen
• ALS u. DD der ALS mit Betonung des 1. MN (▶ 16.1.1).
• Infantile Zerebralparese (▶ 16.4): Früher Beginn, keine Progredienz.
• Mantelkanten-Sy., z. B. durch parasagittales Meningeom (CCT, MRT). 16
• Konusfixation („Tethered-Cord-Sy.“; ▶ 14.8.2).
• Erworbene o. angeborene metab. Erkr.: Funikuläre Myelose; Lipidspeicher­
erkr. (z. B. Adrenoleukodystrophie/-myeloneuropathie; MLD; GLD [M.
Krabbe]) o. Mitochondriopathien.

Therapie
Keine kausale Ther. bekannt. Symptomatisch antispastische Ther. (▶  14.2.2) u.
frühzeitig Physiother.

Prognose
Abhängig von Form u. individueller Ausprägung sowohl Rollstuhlpflichtigkeit als
auch erhaltene Gehfähigkeit > 30 J. nach Erkr.-Beginn möglich.
584 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

16.1.3 Spinale Muskelatrophie (SMA)


ICD-10 G12.0: Typ Werdnig-Hoffmann; G12.1: übrige.

Definition
Erkr. des 2. MN, bei manchen Formen auch der motorischen HN-Kerne.

Klinik
Schlaffe, symmetrische, atrophische Lähmung mit abgeschwächten MER, Faszi-
kulationen u. Fibrillationen ohne Sensibilitätsstör. Klin. Unterscheidung in prox.
u. distale Formen.
Proximale spinale Muskelatrophie
• CK: Normal bis mäßig ↑.
• Typ I – infantile Form (Werdnig-Hoffmann):
– Erkr.-Beginn: Geburt bis < ½ J.
– „Floppy infant“: Trinkschwäche, prox. beinbetonte Schwäche, bulbäre u.
Atemmuskulatur früh betroffen.
– Tod meist vor 3. Lj wegen Ateminsuff., Sitzen wird nicht erlernt.
• Typ II – intermediäre Form:
– Erkr.-Beginn 1.(–3.) Lj.
– Sitzen wird erlernt, nicht jedoch Stehen u. Gehen.
– Prox. beinbetonte Schwäche, später auch Stamm- u. Gesichtsmuskulatur;
atrophiebedingte Gelenkfehlstellungen, Kyphoskoliose.
– Tod durch Lähmung der Atemmuskulatur meist vor 20. Lj.
• Typ III – juvenile Form (Kugelberg-Welander):
– Erkr.-Beginn 1.–18. Lj.
– Paresen von Beckengürtelmuskulatur, Oberschenkel, später Schultergürtel
u. Arme.
– Gower-Zeichen pos., Trendelenburg-Gang.
– Geringe Progredienz mit Stillstand, ⅔ der Pat. werden rollstuhlpflichtig.
– Meist normale Lebenserwartung.
– Progn. mit frühem Erkr.-Beginn schlechter.

Die SMA Typ I–III sind aut. rez. Erkr. mit Deletionen im Bereich des SMN1-
16 Gens („survival motor neuron gene“) auf Chromosom 5. Klin. u. genetisch
überlappen alle Typen stark.

• Typ IV – adulte Form:


– Genetisch heterogen.
– Krankheitsbeginn > 18.–30. Lj.
– Normale Kraft in der Kindheit.
– Prox. beinbetonte Schwäche, Pseudohypertrophie der Waden. Hyperlor-
dose, Skoliose.
– Zungenfaszikulationen möglich, sonstige bulbäre Sympt. sehr selten.
– Atemmuskulatur betroffen.
– Sehr langsam progredient, normale Lebenserwartung.
• Spinobulbäre Muskelatrophie Kennedy:
– Häufigste spinale Muskelatrophie im Erw.-Alter (Inzidenz 2/100.000); X-
chrom. vererbt durch Trinukleotid-Expansion im Androgenrezeptor.
– Klin. nur M betroffen; subklinische Defizite auch bei F.
   16.1  Degenerative Erkrankungen des motorischen Systems  585

– Beginn: 20.–60. Lj mit Schwäche der Gesichtsmuskulatur, häufig mit Fas-


zikulationen („Chivering Chin“).
– Später Dysarthrie, Dysphagie, Zungenatrophie u. Schwäche/Atrophie der
Schultergürtelmuskulatur, Tremor.
– Langsame Progredienz, normale Lebenserwartung.
– Sensibilität erhalten, sensible Neurografie kann jedoch auffällig sein.
– CK häufig ↑ (< 5 × obere Norm).
– Bei 50 % der Betroffenen Androgenresistenz: Hodenatrophie/Oligosper-
mie, Gynäkomastie, Glukoseintoleranz.
• Möglicherweise hereditäre prox. SMA:
–  Fazio-Londe-Sy.:
– Infantile progressive Bulbärparalyse, sehr selten. Degeneration der MN
der basalen HN u. des zervikalen RM; möglicherweise aut. rez. vererbt.
– Krankheitsbeginn: 1.–12. Lj.
– Tod durch respiratorische Insuff. innerhalb 2 J.
–  Vulpian-Bernhardt-Variante:
– Krankheitsbeginn 20.–30. Lj.
– Schlaffe Lähmungen skapulo-humeral, zunächst einseitig. CK meist
normal.
– Langsam progredient. Abgrenzung von „Flail-Arm“-Variante der ALS
schwierig.
Distale spinale Muskelatrophie
Deutlich seltener als prox. SMA, Krankheitsentitäten z. T. umstritten. Beginn im
Jugend- bis Erw.-Alter, familiäre Formen sind beschrieben.
• Typ Aran-Duchenne:
– Asymmetrische atrophische Paresen zunächst der kleinen Handmuskeln,
deutliche Thenaratrophie (Affen- o. Krallenhand), später Unterarm- u. Schul-
tergürtel-, zuletzt Unter- u. Oberschenkelmuskulatur. HN erst spät betroffen.
– Faszikulationen.
– MER ↓.
– Langsame Progredienz; bei raschem Fortschreiten ist eine ALS wahr-
scheinlicher.
• Segmentale SMA/monomelische Muskelatrophie:
– M > F, vorwiegend Asiaten.
– Distale, meist einseitige Atrophie der oberen (Hirayama-Erkr.; häufigste 16
DD: Flexionsmyelopathie) o. unteren Extremität (peronealer Typ) mit
langsamer Progredienz.

Diagnostik
• Elektrophysiologie:
– Neurografisch erniedrigte motorische Potenziale bei normaler NLG; sen-
sibel Normalbefund.
– EMG: Neurogene Veränderungen.
– Bei infantilen Formen häufig noch kein Nachweis chron. neurogener Ver-
änderungen.
• Muskelbiopsie: Nicht zielführend. Typ. Bild der neurogenen Atrophie einer
motorischen Einheit.
• Molekulargenetische Diagn.: SMN1-Gen auf Chromosom 5 bei SMA I–
III(IV) o. CAG-Expansion (> 40) im Androgenrezeptor-Gen bei Kennedy-Sy.
– Übersicht über durchführende Labors: www.hgqn.org.
! Voraussetzung ist eine humangenetische Beratung des Pat.!
586 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

Therapie
• Physiother., orthopädische Behandlung von Kontrakturen u. Skoliose.
• Versorgung mit Orthesen u. Hilfsmitteln.
• Nichtinvasive Heimbeatmung bei Sympt. einer nächtlichen Hypopnoe wie
Schlafstör., morgendlichem Kopfschmerz, Appetit-, Konzentrationsstör.

16.2 Ataxien
16.2.1 Klinik, diagnostisches Vorgehen und Therapie
Klinik
Zum Leitsympt. zerebelläre Ataxie kommen je nach Krankheitsbild fakultative
Sympt. hinzu:
• Hinterstrangsympt.: Par- u. Hypästhesien von Füßen u. Unterschenkeln mit
sensibler Ataxie.
• Beteiligung der Pyramidenbahn: Spastik, Hyperreflexie, Pyramidenbahnzeichen.
• Extrapyramidale Sympt.: Rigor, Hypomimie, Tremor.
• Orthostatische Dysregulation.
• Mentale Retardierung.
• Augensympt.: Katarakt, Retinitis pigmentosa, Strabismus, Nystagmus, Blick-
paresen.

Diagnostisches Vorgehen

• Erkr.-Beginn nach dem 40. Lj u. neg. Familienanamnese: Zunächst Aus-


schluss der Urs. für eine erworbene Kleinhirnatrophie (▶ 16.2.2), danach
V. a. sporadische degenerative Ataxie (▶ 16.2.6), selten SCA (v. a. SCA 6)
o. Friedreich-Ataxie.
• Erkr.-Beginn vor dem 25. Lj mit sporadischem Auftreten o. betroffenen
Geschwistern: V. a. aut. rez. vererbte Ataxie (▶ 16.2.3).
• Bei ebenfalls betroffenem Elternteil u. variablem Krankheitsbeginn:
V. a. aut. dom. vererbte Ataxie (▶ 16.2.4).
16
Diagn. Verfahren:
• MRT.
• Elektrophysiologie: EMG/NLG, SSEP, MEP.
• Labor, Liquor u. Fachkonsile: Je nach spezifischer Verdachtsdiagnose.
• Molekulargenetik bei hereditären Ataxien:
– Übersicht über durchführende Labors: www.hgqn.org.
! Voraussetzung: Humangenetische Beratung des Pat.!

Allgemeine Therapie zerebellärer Erkrankungen

• Beseitigung der Urs. bei erworbenen Formen.


• Bei hereditären u. idiopathischen Formen keine kausale Ther. möglich.
Medikamentöse Ther.: Bei Bedarf internistische Behandlung von Begleiterkr.
  16.2 Ataxien  587

Allg. Maßnahmen:
• Physiother.: Mobilität erhalten, Fehlbelastungen verhindern, Verspannungen
lockern.
• Übergewicht vermeiden; spezielle Diäten bei metab. Ataxien.
• Hilfsmittel: Orthopädische Schuhe, Gehhilfen, Stützkorsett, später Rollstuhl.
• Soziale Integration im Berufsleben so lange wie möglich.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Deutsche Heredo-Ataxie-Gesellschaft (DHAG) e. V., www.ataxie.de.

16.2.2 Erworbene Kleinhirnatrophie
Alkoholische Kleinhirndegeneration (AKD/ACD)
ICD-10 G31.2.
Def.:
• Vorwiegend bei M im mittleren Lebensalter.
• Betrifft zerebellären Kortex mit Betonung des Oberwurms; auch generalisier-
te Hirnatrophie.
Urs.: Tox. Wirkung des Äthanols kombiniert mit Vit.-B1-Mangel.
Klinik:
• Gang- u. Standataxie; andere Kleinhirnzeichen eher milde.
• Verlauf variabel: Subakut (im Rahmen einer Wernicke-Enzephalopathie,
▶ 24.8.1) bis langsam progredient.
Diagn.: CMRT, Vit. B1, Leberenzyme, CDT („carbohydrate-deficient transferrin“).
Ther.: Alkoholkarenz, Vit.-B1-Substitution. Darunter Stabilisierung, z. T. auch
Besserung möglich.

Andere Ursachen
• Paraneoplastische Kleinhirndegeneration (PKD/PCD): Vor allem bei klein-
zelligem Bronchial-Ca, Mamma-Ca, Ovarial-Ca, Lymphomen (▶ 13.7).
• Medikamentös-toxisch:
– Antiepileptika (Phenytoin, Carbamazepin), Benzodiazepine (Nitraze-
pam), Lithium.
– Zytostatika (v. a. 5-FU, Cytosin-Arabinosid). 16
– Schwermetalle (Blei, Thallium, Quecksilber, Lithium); Chemikalien (Löse-
mittel).
• Metab.:
– Vit.-E-, Vit.-B1-, Vit.-B12-Mangel (▶ 14.6.1, ▶ 19.5.3).
– Hypothyreose (▶ 24.6.3).
– Wilson-Krankheit (▶ 15.5): Westphal-Variante mit Dysarthrie u. Intenti-
onstremor.
• Nutritiv: Bei glutensensitiver Enteropathie (Zöliakie/Sprue, mit Nachweis
von Gliadin-AK). Glutenfreie Diät kann helfen.
• Infektiös:
– Viral: VZV >> EBV, Röteln, Mumps, FSME, Influenza, Parainfluenza,
­Polio, HSV, CMV, Echo-, Coxsackie-, JC-Viren, HIV.
– Bakt.: Mykoplasma, Hämophilus, Legionellen, syphilitische Tabes,
­Abzesse.
– Pilze u. Parasiten: bei Immunsuppression: Cryptococcus, Aspergillus,
Candida; Toxoplasmose.
588 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

– Prionen: Creutzfeldt-Jakob-Erkr. (▶ 9.5.2), Gerstmann-Sträussler-Sy.


• Autoimmun:
– MS (▶ 10.1); GAD-AK-assoziierte Ataxie (häufig im Rahmen eines poly­
glandulären Autoimmunsy., z. B. mit Diab. mell.).

16.2.3 Autosomal rezessiv vererbte Ataxien


Definition
Erkr.-Beginn meist vor dem 25. Lj. Gruppe von Krankheiten, die unter dem Be-
griff EOCA („Early-onset cerebellar ataxia“) zusammengefasst werden.

Friedreich-Ataxie (FRDA)
ICD-10 G11.1.
Epidemiologie: Häufigste aut. rez. Ataxie, Prävalenz 3/100.000. Zu 80 % Beginn
bis zum 20. Lj.
Ätiol.: Zu >  95 % intronische Trinukleotid-Expansion auf Chromosom 9q
­(FRDA1/Frataxin). Zweiter Lokus: FRDA2 auf Chromosom 9p.
Klinik:
• Betrifft Hinterstränge, spinozerebelläre Bahnen, z. T. auch Pyramidenbahn u.
sensible periphere Nerven.
• Meist Areflexie der unteren Extr., Stör. der Tiefensensibilität, zerebelläre Ataxie.
• Klin. zunächst Gang- u. Standataxie; Rollstuhlpflichtigkeit besteht nach ≈10 J.
Dysarthrie bildet sich innerhalb von 5 J. nach Krankheitsbeginn aus.
• Kardiomyopathie (60 % der Pat.), Diab. mell. (20 % der Pat.).
• Zusätzliche Sympt.: Distale atrophische Paresen, Pyramidenbahnzeichen,
Hohlfußbildung, Nystagmus, Seh- u. Hörstör., Dysphagie, Skoliose.
Diagn.:
• MRT: Zervikale Myelonatrophie, keine Kleinhirnatrophie.
• SSEP, MEP, Nystagmografie: Pathologisch
• NLG: Sensible Amplituden ↓.
• Molekulargenetische Diagn.: Bestimmung der GAA-triplet-repeat-Zahl; bei
FRDA > 120, typ. 800–1.000.
Ther.: Idebenon (Coenzym-Q10-Abkömmling; Off-Label-Use) reduziert die
Myokardhypertrophie; kein Einfluss auf neurol. Sympt.
16
Ataxie mit okulärer Apraxie (AOA)
ICD-10 G11.3.
Ätiol.: Selten; Mutationen im Aprataxin- (AOA1) o. Senataxin-Gen (AOA2).
Klinik: Beginn vor dem 20. Lj.
• AOA1: Ataxie, okulomotorische Apraxie (horizontal ruckartige Kopfbewe-
gungen statt Augenzielbewegungen), Chorea, axonale PNP, mentale Retar-
dierung.
• AOA2: Ataxie, PNP; okulomotorische Apraxie eher selten.
Diagn.:
• AOA1: Im Serum Chol. ↑, Albumin ↓. Molekulargenetik.
• AOA2: im Serum AFP ↑, IgG ↑, CK ↑. Molekulargenetik, wenn AFP ↑.
  16.2 Ataxien  589

Ataxia teleangiectatica (AT)


ICD-10 G11.3.
Syn.: Ataxie-Telangiektasie, Louis-Bar-Sy. Wird auch zu den Phakomatosen ge-
zählt.
Ätiol.: Punktmutationen im ATM-Gen auf Chromosom 11q.
Klinik:
• Progrediente Ataxie/Choreoathetose, okulomotorische Apraxie, okulokutane
Teleangiektasien, Infektneigung, erhöhte Strahlensensitivität, vermehrt Mali-
gnome (v. a. hämatologisch).
• Krankheitsbeginn 1.–4. Lj; im Verlauf schwere Behinderung, verkürzte Le-
benserwartung.
Diagn.:
• Im Serum IgG/A/E ↓, IgM ↑, AFP ↑, Lymphozyten-Radiosensitivitätsassay.
• MRT (CT/Rö wegen Strahlensensitivität kontraindiziert): Kleinhirnatrophie.
• Molekulargenetik: Nicht routinemäßig verfügbar.
Ther.: Symptomatische Behandlung der Infekte; Chemother. bei Malignomen.

A-Betalipoproteinämie
ICD-10 E78.6.
Syn.: Bassen-Kornzweig-Sy.
Ätiol.: Mutationen im mikrosomalen Triglyzerid-Transfer-Protein-Gen (MTP)
auf Chromosom 4q.
Klinik: Gestörte Fettresorption mit Mangel an Vit. A, D, E, K. Steatorrhö. Ataxie,
Beteiligung von Hintersträngen u. Pyramidenbahn wie bei Friedreich-Ataxie. Re-
tinitis pigmentosa, kardiale Begleiterkr.
Diagn.:
• Lipidstatus (β-Lipoprotein fehlt, VLDL ↓, LDL ↓, Vit. E ↓, Chol. 20–­
50 mg/dl).
• Akanthozytose im BB.
• Molekulargenetik.
Ther.: Fettarme Diät, Substitution von Vit. A, K u. E.

Ataxie mit isoliertem Vitamin-E-Defizit (AVED)


Ätiol.: Meist Mutationen im α-Tocopherol-Transferprotein-Gen (TTPA) auf
Chromosom 8q.
Klinik: Beginn in der Pubertät. Sympt. wie Friedreich-Ataxie (jedoch seltener
16
Hohlfuß, Paresen; Retinitis pigmentosa kann dagegen vorkommen).
Diagn.:
• Vit. E ↓↓ bei normalem Fettstoffwechsel.
• Keine standardisierte molekulargenetische Diagn.
Ther.: Vit. E 800–2.000 mg/d p. o.

Ataxien im Rahmen von aut. rez. vererbten Systemerkrankungen


• Ataxie bei Mutationen der Polymerase γ (POLG): Ataxie und Neuropathie (ähn-
lich M. Friedreich), zusätzlich Epilepsie (häufig) > Ophthalmoplegie > Myokloni-
en. Beginn auch nach dem 25. Lj. KI für Valproat u. Propofol (Leberversagen).
• Ahornsirupkrankheit (MSUD; ICD-10 E71.0): Mentale Retardierung, rezid.
ketoazidotisches Koma, epileptische Anfälle, Halluzinationen, Pankreatitis,
Erbrechen. Diagn.: Verzweigtkettige Aminosäuren in Blut u. Urin ↑.
• Cockayne-Sy. (ICD-10 Q87.1): Minderwuchs, Mikrozephalie, mentale Retar-
dierung, Retinitis pigmentosa, Katarakt, Innenohrschwerhörigkeit, Fotosensi-
tivität.
590 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

• Coenzym-Q10-Mangel: Spektrum mit Enzephalopathie, Ataxie, Myopathie.


• GLD (M. Krabbe; ICD-10 E75. 2): ▶ 24.3.5.
• GM2-Gangliosidose (Tay-Sachs-Sy.; ICD-10 E75.0): ▶ 24.3.5.
• MLD (ICD-10 E75.2): ▶ 24.3.5.
• Refsum-Sy. (ICD-10 G60.1): ▶ 19.10.5, ▶ 24.3.6.
• Zerebrotendinöse Xanthomatose (CTX; ICD-10 E75.5): Syn. Cerebrotendi-
nosis xanthomatosa; ▶ 24.3.7.

16.2.4 Ataxien im Rahmen von maternal vererbten


Systemerkrankungen
X-chromosomal
• ALD (ICD-10 E71.3): ▶ 24.3.6.
• Fragiles X-Tremor-Ataxie Sy. (FXTAS): Bei Prämutation des FMR1-Gens
(Lokus des fagilen X-Syndroms [FXS]).
• Pelizaeus-Merzbacher Erkr. (ICD-10 E75.2): ▶ 24.3.7. Wird auch zu den
spastischen Spinalparalysen gezählt (SPG2).

Mitochondrial
• MELAS: ▶ 20.4.4. Selten ataktische Sympt.
• MERRF: ▶ 20.4.5.
• Neuropathie, Ataxie u. Retinitis pigmentosa (NARP): ▶ 24.4.1.

16.2.5 Autosomal dominant vererbte Ataxien


Autosomal dominante zerebelläre Ataxie (SCA)
ICD-10 G11.2.
Syn.: ADCA.
Epidemiologie: Häufigkeit 3/100.000. Erkr.-Beginn meist 30.–40. Lj, jedoch auch
intrafamiliär sehr variabel.
Ätiol.: > 30 Typen mit unterschiedlichen Mutationen, meist Trinukleotid-Expan-
sion, seltener Punktmutationen.
Einteilung: Nach genetischen Kriterien (SCA) u. nach zusätzlichen Sympt.:
16 • ADCA Typ I: Spinozerebelläre Ataxie; zusätzlich (variabel) Ophthalmople-
gie, Optikusatrophie, pyramidale u. extrapyramidale Sympt., Neuropathie,
Demenz: SCA 1–4, 8, 12, 13, 17 u. DRPLA (dentatorubropallidolysianische
Atrophie).
• ADCA Typ II: Spinozerebelläre Ataxie mit pigmentärer Retinadegeneration:
SCA 7.
• ADCA Typ III: Reine spinozerebelläre Ataxie: SCA 5, 6, 10, 11, 14, 15.
Klinik:
Leitsympt.: Progrediente Gang- u. Standataxie; selten (SCA 3 u. 6) Doppelbilder
vor Beginn der Ataxie.
• Rollstuhlpflichtig nach ≈15 J., bei rein zerebellären SCA nach ≈25 J.
• Lebenserwartung nach Diagnose ≈20–25 J., bei rein zerebellären SCA normal.
• Häufigste SCA in Deutschland: SCA 3 (früher: Machado-Joseph-Krankheit
[MJD]), gefolgt von SCA 6 > SCA 1 > SCA 2.
Molekulargenetische Diagn.:
– Übersicht über durchführende Labors: www.hgqn.org.
! Voraussetzung: Humangenetische Beratung des Pat.!
  16.2 Ataxien  591

Die genetische Diagn. kann sich neben der Krankheitshäufigkeit (s. o.) auch an
den (zusätzlichen) Sympt. orientieren: Reine zerebelläre Ataxie (SCA 6); Oph-
thalmoplegie (SCA 1, 3); Parkinsonoid/PNP/Spastik/Dystonie (SCA 3); Sakka-
denverlangsamung (SCA  2); Retinadegeneration (SCA  7); Demenz/Psycho-
sen/Chorea (SCA 17).

Ther.: Keine spezifische Ther. bekannt. Ther. des Restlegs-Legs-Sy. bei SCA 3.

Episodische Ataxien
ICD-10 G11.8.
Episodische Ataxie Typ 1 (EA-1):
• Ätiol.: Aut. dom. vererbte Mutationen eines Kaliumkanal-Gens (KCNA1 auf
Chromosom 12p).
• Klinik: Beginn im Jugendalter. Kurze (Sekunden bis Min.) Episoden einer
Ataxie; durch Schreck, Aufregung, Stress o. körperl. Belastung auslösbar. Im
Intervall fakultativ Myokymien (Gesicht, Hände).
• Diagn.: Typ. Anamnese. Keine routinemäßige molekulargenetische Diagn.
verfügbar.
• Ther.: Reduktion der Auslöser. Acetazolamid mitunter wirksam; alternativ
Carbamazepin o. Phenytoin.
Episodische Ataxie Typ 2 (EA-2):
• Ätiol.: Aut. dom. vererbte Mutationen eines Kalziumkanal-Gens (CACNA1A
auf Chromosom 19p o. CACNB4 auf Chromosom 2q).
• Klinik:
– Erkr.-Beginn bis in höheres Lebensalter (bis 50. Lj).
– Längere (15 Min. bis zu Tagen) Episoden einer Ataxie nach Stress u. kör-
perl. Belastung; häufig mit Nystagmus, Schwindel, Übelkeit/Erbrechen
(DD Vestibulopathien!).
– Passagere Lähmungen möglich.
– Häufig mit Migräne vergesellschaftet.
– Im Intervall Blickrichtungsnystagmus, mitunter langsam progredientes
zerebelläres Sy.
• Diagn.: Typ. Anamnese. Keine routinemäßige molekulargenetische Diagn.
verfügbar.
• Ther.: Reduktion der Auslöser. Acetazolamid (62,5–700 mg/d p. o.) wirksam 16
(besser als bei EA-1). Auch 4-Aminopyridin (3 × 5 mg/d) in Einzelfällen
wirk­sam.

16.2.6 Sporadische degenerative Ataxien


Multisystematrophie (MSA)
ICD-10 G23.8.
Def.: Parkinson-Sy. mit schlechtem Ansprechen auf L-Dopa, zerebellärer Ataxie
u. autonomen Stör. (schwere orthostatische Hypotonie, Blasenstör.) in wechseln-
der Ausprägung.
• Steht die Ataxie im Vordergrund → MSA-C (zerebellärer Typ der MSA).
• Etwa ⅓ der sporadischen degenerativen Ataxien.
Klinik: Beginn: 50.–60. Lj. Verlauf: Rollstuhlpflichtigkeit nach ≈5 J., Tod nach ≈10 J.
Diagn.: MRT: Atrophie von Kleinhirn, Hirnstamm, T2-Hyperintensitität im Pons
u. den Kleinhirnstielen („Hot Cross Bun Sign“/„Semmelzeichen“).
592 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

Weitere Diagn. u. Ther.: ▶ 15.2.5.

Sporadische im Erwachsenenalter beginnende Ataxie (SAOA)


Syn. „Sporadic Adult Onset Ataxia“, SAOA. Alte Bezeichnung: Idiopathische ze-
rebelläre Ataxie (IDCA).
Epidemiologie: Häufigste Form der sporadischen degenerativen Ataxien. Aller-
dings: Ausschlussdiagnose.
Klinik:
• Reine Ataxie ohne Parkinson-Sy. o. autonome Stör.; PNP o. Babinski-Zeichen
möglich.
• Erkr.-Beginn: ≈50. Lj, langsamer progredient als MSA-C.
Diagn.: MRT: Kleinhirnatrophie.
Ther.: Keine spezifische.

16.3 Phakomatosen
Def.: Gruppe von Erkr., die Gewebedysplasien u. Tumoren an Haut, Augen u.
Gehirn gemeinsam haben.

16.3.1 Neurofibromatose (NF)
ICD-10 Q85.0.
Definition
• Mutationen im Neurofibromin-Gen auf Chromosom 17q (NF-1) bzw. Mer-
lin-/Schwannomin-Gen auf Chromosom 22q (NF-2). Expression der Sympt.
individuell variabel.
• Aut. dom. vererbt, aber bis zu 50 % Spontanmutationen.
• Prävalenz 20–30/100.000 (NF-1, 90 % aller Neurofibromatosen) bzw.
2–3/100.000 (NF-2).

Klinik
Neurofibromatose Typ 1 (NF-1, M. von Recklinghausen): Vor allem Hautsympt.
meist bereits bei Geburt vorhanden, spätestens bis zum ≈15. Lj.
16 • Diagnosekriterien: Pat. mit mind. 2 der folgenden Sympt.:
– > 5 Café-au-Lait-Flecke mit einem Durchmesser von > 0,5 cm (präpuber-
täre Pat.) bzw. > 1,5 cm (postpubertäre Pat.).
– > 1 Neurofibrom jeglichen Typs o. mind. 1 plexiformes Neurofibrom.
– „Freckling“ (sommersprossenartige Hyperpigmentierungen v. a. subaxil-
lär, inguinal, submammär).
– Optikusgliom.
– > 1 Lisch-Knötchen (gelbbraune Irishamartome).
– Knochenveränderungen: Verkrümmungen der langen Röhrenknochen
(v. a. Tibia), Pseudoarthrosen, Knochenzysten, (kurzbogige) Skoliose,
Wirbelkörperdysplasie, Defekte des Schädelknochens, Osteoporose.
– 1 Verwandter 1. Grads mit NF-1.
• Weitere typ. Sympt.:
– ZNS: Lernbehinderung, Hydrozephalus, zerebrale Marklagerveränderun-
gen/Hamartome; selten Dysraphien: Meningozele, Arachnoidalzyste, Sy-
rinx, Aquäduktstenose mit Hydrocephalus occlusus, durale Ektasien.
– Kardiovask.: Prim. u. sek. Hypertonie, Vaskulopathien (Stenosen, Aneu-
rysmen; auch intrakraniell mit Moya-Moya-ähnlichem Bild).
  16.3 Phakomatosen  593

– Maligne Tumoren: Maligne Entartung der Neurofibrome (Fibrosarkom;


in 5 %), hirneigene Tumoren, hämatologische Neoplasien, GIT-Tumoren,
Phäochromozytom.
Neurofibromatose Typ 2 (NF-2, „zentrale“ Neurofibromatose): Erkr.-Beginn
später als NF-1, meist ab Pubertät, spätestens bis zum 30. Lj.
• Haut: Café-au-Lait-Flecken u. Neurofibrome, weniger als bei NF-1.
• Diagnosekriterien: Pat. mit mind. 1 der folgenden Symptomenkomplexe:
– Nachweis von bilateralen Tumoren des N. VIII.
– 1 Verwandter 1. Grads mit NF-2 u. 2 der Folgenden: Neurofibrom, Me-
ningeom, Gliom, Schwannom, juvenile post. subkapsuläre Linsentrübung.
– Unilateraler Tumor des N. VIII u. 2 der Folgenden: Neurofibrom, Menin-
geom, Gliom, Schwannom, juvenile post. subkapsuläre Linsentrübung.
– Multiple Meningeome u. 2 der Folgenden: Unilateraler Tumor des N.
VIII, Neurofibrom, Gliom, Schwannom, Katarakt.
Schwannomatose:
• Sehr seltene Form der Neurofibromatose mit multiplen Schwannomen: HN
(jedoch nicht am N. VIII), Spinalnerven, periphere Nerven.
• Erkr. beginnt später als die NF-1/2; wird meist durch Schmerzen manifest.
Diagnostik
• MRT: Intrakranielle Tumoren, jährliche Kontrolle.
• Elektrophysiologie: EEG (Herdbefund, epileptische Aktivität), VEP, AEP,
SSEP, ggf. MEP, EMG bei radikulären Sympt.
• Konsile:
– HNO (Hörstör., jährliche Kontrolle).
– Haut (Café-au-Lait-Flecken, Freckling).
– Augen (Visus, Lisch-Knötchen, Linsentrübungen).
• Molekulargenetische Diagn.:
– Übersicht über durchführende Labors: www.hgqn.org.
! Voraussetzung ist eine humangenetische Beratung des Pat.!

Therapie
• Entfernung symptomatischer Neurofibrome.
• OP intrazerebraler Tumoren.
• Bei Akustikusschwannomen mitunter hörerhaltende Resektion möglich; bei 16
fortgeschrittenen Tumoren auch „auditory brainstem implant“ möglich.
• Skoliose: Typ. kurzbogig, daher RM-Dehnung mit Gefahr der Querschnitt-
entwicklung. Frühzeitige OP, da durch Physiother. kaum zu beeinflussen.

Prognose
Abhängig von Menge, Art u. Lokalisation der Tumore (bei NF-1 u. Schwannoma-
tose besser als bei NF-2).

Informationen für Patienten/Selbsthilfegruppen


Von Recklinghausen Gesellschaft e. V., www.von-recklinghausen.org.

16.3.2 Tuberöse Hirnsklerose (TS)


ICD-10 Q85.1. Syn.: Bourneville-Pringle-Krankheit.
594 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

Definition
• Pathoanatomisch multiple Hamartome (gutartige Gewebsproliferationen mit
unvollständiger Differenzierung) in Gehirn, Retina, Haut, Herz, Lunge u. Nieren.
• Aut. dom. vererbt; zu ≈50 % Mutationen im TS-Komplex: TSC1-Gen (Ha-
martin) auf Chromosom 9q u. TSC2-Gen (Tuberin) auf Chromosom 16p. Zu
≈50 % Neumutationen.
• Prävalenz 0,2/100.000.
Klinik
Erkr.-Beginn vor dem 10. Lj. Typ. Trias aus Minderbegabung, Epilepsie u. Adeno-
ma sebaceum; Ausprägung sehr variabel. Diagnose wird klin. gestellt.
Diagnosekriterien: Gesicherte TS: 2 Hauptkriterien o. 1 Haupt- u. 2 Nebenkrite-
rien; Wahrscheinliche TS: 1 Haupt- u. 1 Nebenkriterium; mögliche TS: 1 Haupt-
o. 1 Nebenkriterium.
• Hauptkriterien: Schmetterlingsförmiges Adenoma sebaceum (Angiofibrom)
im Gesicht (Entwicklung vor 10. Lj)., Koenen-Tumoren (Fibrome der Nagel-
falze), blattförmige hypomelanotische Flecken (> 3, Entwicklung bis zum
6. Lebensmon.), multiple retinale Hamartome, kortikale Tubera (noduläre
Hamartome), subependymale Gliaknötchen mit Verkalkungen o. subependy-
male Astrozytome, kardiale Rhabdomyome, Lymphangiomyomatose, Angio-
myolipome der Niere.
• Nebenkriterien: Dentale Einschlüsse („enamel pits“), rektale Polypen,
Knochenzysten, Gingivafibrome, kortikale Dysplasien, multiple Nierenzys-
ten.
Weitere ZNS-Sympt.:
• Mikro-/Makrogyrie o. kortikale Dysplasie/Heterotopien, retinale Phakome
(knotige Gliawucherungen), Hamartome am Sehnerv.
• Fokale u. generalisierte epileptische Anfälle bei ≈80 % der Pat. (meist Erst-
sympt.); mentale Retardierung.
• Spastische Lähmungen.
• Hydrozephalus.
! Periphere Nerven u. Skelettmuskulatur sind nie betroffen.

Diagnostik
16 •• CCT, CMRT: Tubera, intrakranielle Hamartome u. Astrozytome.
EEG: Herdbefund.
• Echokardiografie: Multiple Rhabdomyome (60 % der betroffenen Kinder).
• CT u. Sono: Angiolipome in parenchymatösen Organen (Niere o. selten
­Lunge).
• Augenkonsil: Retinale Phakome u. Hamartome.
Therapie
• Antikonvulsiva.
• Operative Entfernung symptomatischer zerebraler Tumoren.
• Shuntimplantation bei Verschlusshydrozephalus.
Prognose
Bei klin. Vollbild hohe Letalität vor dem 20. Lj. Oligosymptomatische Pat. sind
langsam progredient u. können normale Lebenserwartung haben. Ausmaß der
Demenz abhängig von der Effektivität der antikonvulsiven Ther.
  16.3 Phakomatosen  595

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Tuberöse Sklerose Deutschland e. 
V., Südring 20, 63500 Seligenstadt,
06182/12 44.

16.3.3 Von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL)
ICD-10 Q85.8.
Definition
• Mesenchymale Dysplasie mit Hämangioblastomen retinal, Hirn/RM u. visze-
ralen Organen. Im ZNS: 80 % Gehirn (überwiegend zerebellär), 20 % spinal
(intradural, meist zervikal).
• Aut. dom. Mutationen im VHL-Gen auf Chromosom 3p.
• Prävalenz: 2/100.000.
Klinik
Erstmanifestation 18.–50. Lj.
• Zerebelläre Sympt.
• Später Hirndrucksympt., bei tiefem Sitz der Tumoren progrediente Quer-
schnittssympt. durch Spinalkompression. Blutungsgefahr!
• Hämangioblastome der Retina (bereits bei Kindern nachweisbar): Ablatio,
Glaukom.
• Lindau-Zysten (Hämangioblastome) in Niere, Nebenhoden, Pankreas, Leber
u. Lunge.
• Häufige Assoziation mit Phäochromozytom, Nierenzell-Ca u. Zystenbildun-
gen in Knochen, Pankreas, Leber, Milz, Niere, Lunge u. inneren Genitalien.
• Diagn. Kriterien: Die Diagnose ist sicher bei einer der 3 folgenden Konstella-
tionen:
– Mind. je 1 Hämangioblastom in Retina u. Gehirn.
– 1 Hämangioblastom in Retina o. Gehirn u. Lindau-Zysten in Niere/Pan­
kreas/Leber/Nebenhoden o. Phäochromozytom o. Nieren-Ca.
– Pos. Familienanamnese u. Hämangioblastom in Retina o. Gehirn o.
Lindau-Zysten in Niere/Pankreas/Leber/Nebenhoden o. Phäochromozy-
tom o. Nieren-Ca. 16
Diagnostik
• MRT: Oft multiple Hämangioblastome: Zystisch mit randständigem Knöt-
chen, das kräftig KM aufnimmt.
• DSA: Darstellung der Hämangioblastome.
• Augenkonsil: Hämangioblastome, Augeninnendruckmessung.
• Sono u. CT: Nierenveränderung, Zysten.
• Labor: Ausschluss Phäochromzytom (24-h-Urin).
• Molekulargenetische Diagn.
– Übersicht über durchführende Labors: www.hgqn.org.
! Voraussetzung ist eine humangenetische Beratung des Pat.!

Jährliche Screening-Unters. (Bildgebung u. Augenkonsil) bei Genträgern o.


nach Erstmanifestation.
596 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

Therapie
• Operative Entfernung o. Bestrahlung von Kleinhirn- u. anderen Tumoren;
Shunt-OP bei Verschlusshydrozephalus. Bei symptomfreien Pat. abwartende
Haltung.
• Experimentell: Antiangiogenese mit VEGF-Inhibitoren.
• Laserfixierung der Retina bei Ablatio.
Prognose
Sehr langsam progredient, Rezidivhäufigkeit operierter Kleinhirntumoren ≈20 %.
Lebenserwartung ≈50 J. (wegen Begleittumoren).

16.3.4 Sturge-Weber-Syndrom (SWS)
ICD-10 Q85.8. Syn. Sturge-Weber-Krabbe-Sy., enzephalotrigeminale Angiomatose.

Epidemiologie
Nicht monogen erblich, aber familiäre Häufung. Prävalenz: 0,5/100.000.

Klinik
• Meist einseitiger Naevus flammeus (meist 1. Trigeminusast), ipsilaterales ka-
pillär venöses Hämangiom der Meningen, ipsilaterale Angiomatose der Cho-
roidea.
• Kapillär-venöses Hämangiom der Meningen: Stauungsbedingte ischämisch-
hypoxische Hirnläsionen mit konsekutiver (Hemi-)Hirnatrophie u. pialen
Verkalkungen. Blutungen sind selten.
• Fokale epileptische Anfälle (> 90 %), beginnend in der Kindheit.
• Fokal-neurol. Ausfälle: Homonyme Hemianopsie, Hemiparese.
• Wesensänderung, mentale Retardierung (60 %).
• Angiomatose der Choroidea: Konsekutives Glaukom.
Diagnostik
• Bildgebung: Hämangiom der Meningen, lokale Hirnatrophie.
– CCT: Verkalkungen.
– MRA: „Pial Blush“.
16 – DSA: Gestörte venöse Drainage.
• Funduskopie: Angiomatose.
• EEG: Herdbefund, epileptische Aktivität.
Therapie
• Symptomatische antikonvulsive Behandlung.
• Bei Pharmakoresistenz möglichst früh Epilepsie-Chirurgie.
• Glaukomprävention.
Prognose
Lebenserwartung ≈50 J., abhängig vom Ausmaß der zerebralen Läsionen. Ausmaß
der kognitiven Defizite abhängig von der Effektivität der antikonvulsiven Ther.

16.3.5 Weitere Phakomatosen
Klippel-Trenaunay-Sy. (ICD-10 Q85.8):
   16.4  Infantile Zerebralparese (ICP, CP)  597

• Sporadisches Auftreten, sehr selten. M > F.


• Hämagiomatöse Fehlbildungen mit Naevus flammeus, Knochen- u. Weich-
teilhypertrophie, Riesenwuchs einzelner Extremitäten (Makromelie).
• Neurol. Defizite v. a. durch AV-Fehlbildungen.
Neurokutane Melanose (ICD-10 Q85.8):
• Sporadisches Auftreten.
• Nävuszellnävi, Hypertrichose.
• Neurol.: Melanose der Leptomeningen mit Hydrozephalus, Syringomyelie,
Myelomeningozele, Dandy-Walker Sy. als mögliche Folgen.
Ataxia teleangiectatica (AT): ▶ 16.2.3.

16.4 Infantile Zerebralparese (ICP, CP)


ICD-10 G80.

Definition
• Folge einer prä- o. perinatalen Hypoxie o. (Stammganglien-)Blutung.
• Häufigkeit: 1/1.000 Geburten, höheres Risiko bei Frühgeburten.
Klinik
• Sympt. treten konnatal auf, werden aber bei geringer Ausprägung häufig erst
später diagnostiziert.
• Besserung bis zum Abschluss der motorischen Entwicklung möglich.
• Sympt. immer abhängig vom Ort der max. Gewebeschädigung; spastische
Sympt. am häufigsten.
– Spastische Parese (Läsion der Pyramidenbahn): Beinbetonte Diplegie (Pa-
raparese) mit Scherengang, Spitzfuß u. meist normaler geistiger Entwick-
lung. Seltener auch Hemiparese/-plegie.
– Choreoathetose, Dystonie u. Stör. der Feinmotorik (Läsion der Stamm-
ganglien), kombiniert mit spastischer Parese.
– Ataxie, Tremor, Hypotonie u. Nystagmus (Läsion des Kleinhirns).
– Wachstumsverzögerungen der betroffenen Extremitäten.
– Sehstör. (Schielen) u. Hör-/Sprachstör.
– Epilepsie u. Intelligenzminderung (Ausprägung korreliert mit motori-
scher Behinderung). 16

Schweregrad der ICP nach WHO


• Grad I: Kaum funktionelle Beeinträchtigung.
• Grad II: Freies Gehen möglich.
• Grad III: Kein freies Gehen bis zum 5. Lj.
• Grad IV: Keine selbstständige Fortbewegung, schwere Beeinträchtigung
der Handfunktion.

Diagnostik
• Anamnese: Geburtsanamnese inkl. Risikofaktoren, z. B. Frühgeburt, Be-
ckenendlage, Geburtsstillstand, APGAR-Index vermindert; Sitzen, Laufen,
Sprechen verspätet; Progredienz, Besserung o. Stillstand der Symptomatik.
• EEG: Herdbefund, epileptische Aktivität.
• CMRT, CCT: Hemiatrophie, auch des knöchernen Schädels.
• Genetische Beratung: Ausschluss behandelbarer o. hereditärer Erkr.
598 16  Degenerative Erkrankungen und Entwicklungsstörungen  

Differenzialdiagnosen
• Intrakranielle Raumforderungen.
• Zerebrovask. Erkr., AVM.
• Fehlbildungen (▶ 14.8): Arnold-Chiari-Sy., Dandy-Walker-Sy., Syringomye-
lie.
• Generalisierte Dystonien (▶ 15.4): Segawa-Sy. (aut. dom. L-Dopa-sensitive
Dystonie), benigne familiäre Chorea.
• Hereditäre Ataxien (▶ 16.2), spastische Spinalparalyse (▶ 16.1.2).
Therapie
• Physiother.; logopädische Behandlung.
• Symptomatische antikonvulsive u. antispastische Behandlung.
• Versorgung mit Hörgeräten u. orthopädischen Hilfsmitteln, evtl. operativ-
orthopädische Behandlung.

16
17 Nerven- und Plexusläsionen
Christian Bischoff und Jürgen Klingelhöfer

17.1 Nervenläsionen 600 17.1.8 Nervenschäden der unteren


17.1.1 Ätiologie und Einteilung 600 Extremität 621
17.1.2 Leitsymptome 601 17.1.9 Läsionen der Rumpf­
17.1.3 Diagnostik 602 nerven 626
17.1.4 Therapie 602 17.2 Plexusläsionen 628
17.1.5 Nervenschäden im Schulter­ 17.2.1 Leitsymptome 628
bereich 604 17.2.2 Differenzialdiagnosen 630
17.1.6 Nervenschäden der oberen 17.2.3 Läsionen des Plexus cervico­
Extremität 607 brachialis 631
17.1.7 Nervenschäden in Becken und 17.2.4 Läsionen des Plexus
Leiste 618 lumbosacralis 636
600 17  Nerven- und Plexusläsionen  

17.1 Nervenläsionen
Läsion der HN ▶ 12.

17.1.1 Ätiologie und Einteilung


Ursachen von Nervenschäden
• Scharfe Gewalteinwirkung: Schnitt-, Stich-, Schussverletzungen führen im-
mer zu einer Kontinuitätsunterbrechung der Nerven (Neurotmesis, s. u.), evtl.
in Komb. mit Druck- u. Traktionsschädigung.
• Kurzzeitige akute Druckeinwirkung: Z. B. Fußheberschwäche bei Kompres-
sion des N. peroneus bei übereinander geschlagenen Beinen, Folge ist ein
umschriebener, meist gut reversibler Leitungsblock, der sich innerhalb von
Min. bis Wo. komplett erholt.
• Länger dauernde Druckeinwirkung: Z. B. Lagerungsschäden in Narkose o.
Schlafdrucklähmungen des N. radialis unter Alkoholeinfluss; Neurapraxie u.
axonale Schädigung (Axonotmesis, s. u.), Dauer Wo. bis Mon., Grad der Er-
holung nicht vorhersagbar.
• Chron. Nervenkompression: Z. B. endogenes Engpasssy., Nerventumoren,
metastatische Infiltrationen (Hodgkin-Lymphom, lymphatische Leukämie,
Myelom), Bandscheibenprolaps o. Strahlenfibrose. Anfänglich Leitungsblock,
nachfolgend De- u. Remyelinisierungsprozesse, gleichzeitig De- u. Regenera-
tionsprozesse bei axonaler Schädigung.
• Traktionsschaden: Meist traumatische Zerrungs- u. Dehnungsschädigung
mit Veränderung über eine längere Strecke, u. U. auch entfernt vom Ort der
Gewalteinwirkung. Meist Komb. aus Neurapraxie, Axonotmesis u. Neuro­
tmesis (s. u.). Gleichzeitig können weitere Schädigungen an anderen Orten
auftreten. Bei Motorradunfällen mitunter neben einer Armplexuszerrung zu-
sätzlich Wurzelausrisse u. Schädigungen peripherer Nerven.
• Ischämische Schädigung: Durch Verletzung o. Thrombose der Vasa nervo-
rum. Kompartmentsy.:
–  Def.: Druckanstieg in einem Faszienraum der Extremitäten (meist Tibia-
lis-ant.-Loge, Unterarmbeugerloge) mit Kompression von Kapillaren u.
Venen. Minderdurchblutung u. hypoxisches Ödem führen zu Muskelne­
krose, sek. bindegewebigem Umbau, Kontrakturentwicklung u. kombi-
nierter ischämischer u. druckbedingter Nervenläsion.
–  Ätiol.: Schwellung durch Überbelastung, Hämatom, Weichteiltrauma,
Arterienverschluss, Thrombose, Fraktur, OP-Folge.
–  Klinik: Schmerz, Schwellung u. livide Verfärbung der Haut, druck-
schmerzhafte Muskulatur, Sensibilitätsminderung, Paresen der betroffe-
17 nen Muskeln, später Kontrakturen. Fehlende Pulse nicht unbedingt not-
wendig.
–  Diagn.: Klinisch! Im EMG keine Einstich- u. Willküraktivität. Druckmes-
sung.
–  Ther.: Notfallmäßig großzügige Faszienspaltung!
–  Progn.: Bei Faszienspaltung innerhalb von 12 h günstig, sonst irreversible
Schäden.
  17.1 Nervenläsionen  601

Einteilung

Klassifikation nach Seddon


Neurapraxie: Vorübergehende Blockade der Nervenleitung ohne morpholo-
gisch fassbare Schädigung des Axons, fokale (segmentale) Demyelinisierung.
• Ätiol.: Meist Drucklähmungen (z. B. N. radialis im Schlaf o. N. peroneus
bei Übereinanderschlagen der Beine).
• Diagn.: Neurografisch auch 6 d nach der Läsion normale elektrische Er-
regbarkeit des Nervenabschnitts distal des Schädigungsorts, Amplituden-
reduktion o. Ausfall der motorischen Antwort nach Stimulation prox. des
Läsionsorts als Zeichen eines kompletten bzw. inkompletten Leitungs-
blocks (auch nach 14 d keine path. Spontanaktivität im EMG der pareti-
schen Muskulatur).
• Progn.: Günstig. Komplette Rückbildung innerhalb von h bis Mon. je
nach Dauer u. Schwere der Druckeinwirkung.
Axonotmesis: Kontinuitätsunterbrechung des Axons bei erhaltenen Hüllstruk-
turen mit nachfolgender Waller-Degeneration des Nervenabschnitts distal der
Schädigungsstelle (Untergang der Axone u. Auflösung der Markscheide).
• Ätiol.: Lang anhaltender Druck, Traktionsschaden.
• Diagn.: Erlöschen der elektrischen Erregbarkeit des Nervs distal der Schä-
digungsstelle 4–6 d nach der Läsion. Im EMG nach 12–14 d path. Spon-
tanaktivität (▶ 2.5). Nach Wiederaussprossung des Nervs elektromyogra-
fisch nachweisbare Reinnervationspotenziale. Der Zeitpunkt der Reinner-
vation hängt von der Distanz zwischen Läsionsstelle u. betroffenem Mus-
kel ab.
• Progn.: Günstig bei distalen Läsionen, schlechter bei oberer Plexusläsion.
Entlang der erhaltenen Hüllstrukturen kann der Nerv mit 1 mm/d aus-
sprossen. Durch Fehlaussprossungen bei Reinnervation evtl. funktionelles
Defizit.
Neurotmesis: Komplette Durchtrennung der Nervenfaser einschließlich der
Hüllstrukturen, Dehiszenz der Nervenenden u. Waller-Degeneration.
• Ätiol.: Schnitt- u. Schussverletzungen.
• Diagn.: Aufgrund des Verletzungsmechanismus. Im EMG nicht von einer
Axonotmesis zu unterscheiden, auch nach Mon. keine Reinnervation.
• Ther.: Frühe Sekundärnaht.
• Progn.: Ungünstig. keine spontane Restitution möglich, häufig Neurom­
entwicklung.
Komb.-Typ: Häufigste Form, meist verschiedene Schweregrade o. Teilstör.
nebeneinander. Unterschiedlich schnelle u. vollständige Regeneration. Un-
günstig sind prox. gelegene Läsionen wegen der langen Regenerationsstrecke, 17
nach mehr als 18 Mon. Innervationsunterbrechung meist irreversible Struk-
turveränderungen des Muskels.

17.1.2 Leitsymptome
• Parese (▶ 1.5, ▶ 3.5): Akute schlaffe Paresen sprechen für eine vollständige
traumatische Nervenläsion, isolierte Ausfälle der MER möglich, Atrophien
beginnen nach etwa 2–3 Wo.
• Sensibilitätsausfall (▶ 3.11): Meist gut abgegrenzt, auf Versorgungsgebiet des
jeweiligen Nervs, der Wurzel bzw. des Plexusabschnitts zu beziehen.
602 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• Sensible Reizerscheinung (▶ 3.11.1): Parästhesien sprechen für ein Kompres-


sionssy.
• Schweißsekretionsstör. im Versorgungsgebiet des verletzten Nervs.

17.1.3 Diagnostik

Bei allen Verletzungen mit V. a. peripher neurogene Schädigungen unbe-


dingt vor OP o. Reposition eingehende neurol. Unters. mit Befunddokumen-
tation!

• Anamnese: Hergang des Traumas, vorausgegangene Frakturen (Radialis-


Spätlähmungen), Alkohol- u. Drogenanamnese (bei Schlafdrucklähmung),
berufliche Belastung mit wiederkehrenden Bewegungen, Familienanamnese.
• Unters.:
– Inspektion: Z. B. Atrophie, Wundinspektion, trophische Stör. (Nagel-
wachstum).
– Klin. Unters. (▶ 1.1): Aktive u. passive Beweglichkeit, Kraft, Berührungs-
u. Schmerzsensibilität, MER, periphere Pulse.
– Neurografie: Abnahme des MSAP bei distaler Stimulation bei axonalen
Läsionen, erhaltene distale Erregbarkeit beim Leitungsblock.
– EMG: Path. Spontanaktivität frühestens 12–14 d nach der Verletzung.
Unterscheidung inkomplette o. komplette Läsion aber sofort möglich, bei
inkompletten Läsionen DD periphere (erhöhte Entladungsrate > 20 Hz)
u. zentrale Lähmungen (< 20 Hz).
– Nervensono: Nachweis der Kontinuitätsdurchtrennung.

17.1.4 Therapie
Konservative Therapie
Vermeidung von Sekundärschäden, Anregung der Regeneration, Erlernen von
Ersatzbewegungen.
Ind.:
• Prim. inkomplette motorische u. sensible Ausfälle.
• Klin. komplett imponierende Schädigungen, wenn im EMG keine Potenziale
motorischer Einheiten (PME) erhältlich sind.
• Neurapraxien, wenn die elektrische Erregbarkeit der motorischen Antwort-
potenziale distal der Verletzung > 6 d nach der Schädigung noch erhalten ist.
• Axonotmesis, wenn im EMG Reinnervationspotenziale zu einem Zeitpunkt
17 zu registrieren sind, an dem der Nerv bei 1 mm Aussprossung tgl. den Ziel-
muskel wieder erreicht haben muss.
• Postop. Nachbehandlung.
• Prox. gelegene Stör. mit weiter Regenerationsstrecke, z. B. obere Armplexusläsi-
onen o. Läsionen des Peroneusanteils des N. ischiadicus, sowie zeitlicher Ab-
stand zur Nervenläsion < 1,5 J., da danach strukturelle Umbauvorgänge der
Muskulatur keine erfolgversprechende Reinnervation mehr erwarten lassen.
Prinzip:
• Lagerung: Gelenke in Mittelstellung zur Kontrakturprophylaxe. Ruhigstellung
der Extremität mit Schiene, z. B. Abduktionsschiene bei Armplexusläsion.
  17.1 Nervenläsionen  603

• Prophylaxe von Sekundärschäden, z. B. Peroneusschiene zur Spitzfußprophy-


laxe, Polsterung von sensibel u. trophisch gestörten Hautbezirken zur Ulkus-
prophylaxe.
• Druckentlastung des Nervs, z. B. volare Unterarmhandschiene bei Karpaltun-
nelsy. (▶ 17.1.6). Abpolsterung des Ellenbogens bei Ulnarisrinnensy.
(▶ 17.1.6), Prophylaxe von Kontrakturen: Passives Durchbewegen bei plegi-
schen u. hochgradig paretischen Muskeln mehrmals tgl. (durch Physiothera-
peuten u. Pat.).

Auf Thrombosen achten!

Physiother.: Auch bei geringgradigen Paresen, um falsche Bewegungsmuster zu


vermeiden.
• Aktive Übungsbehandlung zur Regenerationsförderung u. Kräftigung der
Muskulatur.
• Bei irreversiblen Läsionen Erlernen von Ersatzbewegungen evtl. in Komb. mit
Hilfsmitteln.
• Reizstrombehandlung: Nutzen umstritten; nur bei vollständig denervierten
Muskeln zur Prophylaxe der Atrophie. Beim Auftreten klin. o. elektromyo-
grafischer Reinnervationszeichen Behandlung unverzüglich beenden.
• Kryother.: Eisauflage für 15–20 Min. auf schmerzhafte Gelenke zur Vorberei-
tung der krankengymnastischen Übungsbehandlung.
Hilfsmittel:
• Funktionsverbesserung: Bei irreversiblen Ausfällen, z. B. Greifapparate, spezi-
elles Besteck.
• Unterstützung der Behandlung: Bei reversiblen Ausfällen, z. B. Peroneus-
schiene zur Gangverbesserung, evtl. in Komb. mit Ersatz-OP.
Medikamentöse symptomatische Ther.: Chron. Schmerzzustände (▶ 6).

Förderung der Regeneration medikamentös nicht möglich. Vit.  B nur bei


nutritiv bedingten Nervenläsionen.

Parästhesien:
• Carbamazepin 2 × 300–600 mg ret. tgl. p. o. NW (▶ 11.1.5).
• Amitriptylin 50–75 mg/d Dosis langsam steigern.
Diabet. PNP:
• Gabapentin bis 3 × 800 mg/d p. o.
• Pregabalin 2 × 75 bis 2 × 300 mg/d.
Muskelkrämpfe: 17
• Magnesium 300 mg/d p. o.
• Chinin 200 mg/d p. o.
Schmerzhafte Muskelverspannungen:
• Muskelrelaxierende Ther., z. B. mit Flupiritin 3 × 100 mg/d p. o. (z. B. Tranco-
pal Dolo®) o. Diazepam 3–4 × 5–10 mg/d p. o. (z. B. Valium®).
• Bei entzündl. bedingten Veränderungen NSAR, z. B. Diclofenac 3 × 50 mg als
magensaftresistente Tbl. o. Supp. (z. B. Voltaren®). Ibuprofen 3 × 600 mg.
• Daneben sind Antidepressiva wie Amitriptylin 25–75 mg retard p. o. zur
Nacht (z. B. Saroten®) o. Clomipramin 100–150 mg/d p. o. (z. B. Anafranil®),
Dosis langsam steigern, hilfreich.
604 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Nervenschmerzen:
• Peripher wirkende Analgetika nach Zeitplan z. B. Paracetamol 1.000 mg alle
6–8 h p. o. (z. B. ben-u-ron®) o. ASS 500–1.000 mg alle 6–8 h (z. B. Aspirin®).
• Wenn nicht ausreichend, Komb. von Paracetamol mit Kodein sinnvoll.
• Bei Ther.-Resistenz zentral wirkende Analgetika wie Tramadol 50–100 mg alle
4–6 h p. o. (z. B. Tramal®), auch retardiert, o. Buprenorphin Sublingual-Tbl.
alle 6–8 h (Temgesic®). Cave: Wegen Gewöhnung nur kurzfristig anwenden.
• Wirksam sind auch die antiepileptischen Substanzen Gabapentin u. Prega­
balin (s. o.).
Nervenblockaden: Bei endogenen Kompressionssy. 6–10-malige Lokalanästhetika-
Infiltration am Schmerzpunkt mit Carbosthesin 0,5 % zur Diagnosesicherung u. Ther.

Operative Therapie
Ind.:
• Alle Nervendurchtrennungen.
• Knöcherne o. Weichteilbegleitverletzungen in Nervennähe, die eine Kontinu-
itätsunterbrechung wahrscheinlich machen.
• Ausbleiben klin. o. elektromyografischer Reinnervationszeichen nach klin.
kompletter Nervenverletzung.
• Sek. Verschlechterung: Entwicklung einer Nervenläsion nach OP (Nerven-
verletzung) o. Progredienz der Läsion nach einem längeren Zeitraum (binde-
gewebige Umbauung).
• Zunehmende sensomotorische Ausfälle bei akuten (z. B. Cauda-equina-Sy.) o.
chron. Nervendruckschädigungen (z. B. Karpaltunnelsy.).
• Akute Nervenkompressionen mit rasch progredienten Paresen, z. B. durch
Hämatome o. Weichteilschwellungen.
Durchführung:
• OP-Vorbereitung: Befunddokumentation, neurophysiologische Diagn.
• Verfahren:
– Mikroskopische Nervennaht: Primärnaht bei unkomplizierten Verletzun-
gen u. aseptischen Wundverhältnissen, sonst Sekundärnaht nach 3–6 Wo.
Spannungsfreie Adaptation einzelner Nervenfaszikel, evtl. autologe Ner-
veninterponate (Spendernerv: N. suralis, R. superficialis n. radialis).
– Neurolyse: Entfernung des fibrotischen Gewebes, wenn der Nerv bei er-
haltener Kontinuität durch epineurales Narbengewebe o. von Hämato-
men komprimiert wird.
– Ersatz-OP: Sehnentranspositionen, Muskelverlagerungen, Muskelfixie-
rung.
• Nachbehandlung: KG, klin. u. elektromyografische Kontrollen, um Reinner-
vation zu erfassen.
17
17.1.5 Nervenschäden im Schulterbereich

Viele Nervenschädigungen im Schulterbereich sind kombinierte Läsionen


des Plexus brachialis (▶ 17.2.3).

Läsion des N. accessorius (XI. Hirnnerv)


ICD-10 G52.8.
Versorgungsgebiet: Rein motorischer Nerv, versorgt den M. trapezius u. Teile
des M. sternocleidomastoideus.
  17.1 Nervenläsionen  605

Ätiol.:
• OP im seitlichen Halsdreieck (häufigste Urs.), z. B. LK-Biopsie, Neck dissec-
tion, Halsfistel-OP, Punktion der V. jugularis.
• Tumoren im Bereich der hinteren Schädelgrube u. der Schädelbasis.
• Fraktur der Schädelbasis durch das Foramen jugulare.
• Neuralgische Myatrophie (▶ 17.2.3).
• Stumpfe Gewalteinwirkungen im seitlichen Halsdreieck.
• Radiogene Spätlähmungen nach Bestrahlung von Halstumoren.
Klinik:
• Atrophie der oberen Anteile des M. trapezius mit Schultertiefstand u. Scapula
alata: Verlagerung des Angulus lateralis nach lat. u. kaudal, der mediale
Schulterblattrand steht von der Mittellinie ab.
• Durch die Schulterfehlstellung kann der Arm nicht mehr komplett eleviert u.
abduziert werden, dadurch Behinderung von Überkopfarbeiten, nach länge-
rer Zeit Schulterschmerz u. Schweregefühl des Arms.
• Nur geringe Beeinträchtigung der Kopfdrehung zur Gegenseite bei Ausfall u.
Atrophie des M. sternocleidomastoideus, da diese Funktion von den tiefen
Halsmuskeln aufrechterhalten wird.
• Kein sensibles Defizit.
Diagn.: CCT der hinteren Schädelgrube bei Fraktur- o. Tumorverdacht, Hals-
MRT bei Tumorverdacht u. unauffälligem CCT.
DD: Asymmetrisch beginnende Muskelatrophie im Schultergürtelbereich, andere
Formen einer Scapula alata (▶ Tab. 17.1).

Tab. 17.1  Formen der Scapula alata


Ursache Stellung in Ruhe Zunahme bei Zunahme bei
Armabduktion Armelevation

Serratusparese Medialstellung der Skapula, Gering Deutlich


(N. thoracicus lon­ Angulus inf. mittelliniennah
gus)

Trapeziusparese Lateralstellung der Skapula, Deutlich Fehlt


(N. accessorius) abstehender medialer Skapu­
larand

Rhomboideusparese Lateralstellung der Skapula, Fehlt Fehlt


(N. dorsalis scapulae) Angulus inf. lateralverlagert,
schlechte Schulterblattfixie­
rung

Ther.: Nervennaht evtl. mit autologer Nerventransplantation bei iatrogener Ner-


vendurchtrennung. Je früher die OP durchgeführt wird, desto besser ist die Progn. 17
Bei Versagen der Nervennaht evtl. Ersatz-OP mit Lateralverlagerung des
M. rhomboideus unter den Ansatz des M. infraspinatus.

Läsion des N. suprascapularis


ICD-10 G56.8.
Versorgungsgebiet: Rein motorischer Nerv, versorgt Mm. infra- u. supraspinatus.
Ätiol.:
• Häufig bei oberer Armplexusläsion (▶ 17.2.3), neuralgischer Myatrophie
(▶ 17.2.3). Incisura-scapulae-Sy.: Chron. Kompressionssy. (Engpass-Sy.) des
Nervs in der Incisura scapulae bei wiederholtem Zug des Arms nach vorne
(Volleyballspieler, Ganglien).
606 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• Frakturen des Collum scapulae.


• Stumpfe Traumen im Schulterbereich.
• Stich- o. Schussverletzung.
Klinik u. Diagn.:
• Sek. Schmerzen im Schultergelenk durch veränderte Biomechanik, Atrophie
der Mm. supra- u. infraspinatus., u. U. isolierter Ausfall des M. infraspinatus.
• Schwäche der ersten 15° der Armabduktion u. Außenrotation des Arms in
der Schulter. Unters. bei adduziertem Unterarm u. Beugung im Ellenbogen-
gelenk um 90°.
DD: Sehnenrupturen der Rotatorenmanschette mit Spontanschmerz, Schmerz
bei Armabduktion, unauffälligem EMG, dennoch evtl. Inaktivitätsatrophie.
Ther.:
• Nervennaht u. -transplantation (▶ 17.1.4) bei Durchtrennung.
• Vermeiden der auslösenden Situation u. ggf. operative Revision mit Spaltung des
Lig. transversum scapulae sup. u. Neurolyse (▶ 17.1.4) bei Incisura-scapulae-Sy.
• KG bei neuralgischer Myatrophie.
Läsion des N. thoracicus longus
ICD-10 G56.8.
Versorgungsgebiet: Versorgt motorisch den M. serratus ant. Aufgrund des lan-
gen Verlaufs zählen isolierte Ausfälle zu den häufigsten Nervenläsionen im Schul-
terbereich.
Ätiol.:
• Lokale Druckeinwirkung durch Tragen von Lasten (Rucksacklähmung), Tho-
raxverbände, Abduktionsschienen, Sturz auf die Schulter.
• Zerrungsschädigung bei heftigen, ausholenden Schulterbewegungen (z. B.
Axtschläge).
• Iatrogen bei axillärer LK-Entfernung, transaxillärer Resektion der ersten Rip-
pe u. Thorakotomie; durch ungepolsterte Schulterstützen bei OP, z. B. in
Trendelenburg-Position.
• Neuralgische Myatrophie (▶ 17.2.3).
Klinik u. Diagn.:
• Scapula alata mit Abstehen des medialen Rands der Skapula vom Thorax in
Ruhestellung.
• Wegen der Fehlhaltung sek. Schmerzen u. Belastungsinstabilität im Schulter-
gelenk.
• Annäherung des Angulus inferior an die Mittellinie u. Drehung des Akromi-
ons nach kaudal-lat. bei Armelevation; Zunahme der Schaukelstellung bei
Elevation des Arms nach vorn u. bei Stemmen der Arme gegen eine Wand.
DD: Andere Formen der Scapula alata (▶ Tab. 17.1), fazioskapulohumerale Mus-
17 keldystrophie (FSHM), Serratussehnen-Ruptur bei rheumatoider Arthritis.
Ther.: Bei anhaltender Beeinträchtigung durch Schulterblattinstabilität selten dy-
namische Korrektur mit Muskelfixation (Mm. pectoralis o. latissimus dorsi).
Progn.: Günstig; bei nichttraumatischen Formen Rückbildung innerhalb von 2 J.

Läsion des N. axillaris


ICD-10 G56.8.
Versorgungsgebiet: Motorisch Mm. deltoideus u. teres minor, sensibel Außenflä-
che der Schulterwölbung.
Ätiol.:
• Trauma: Vordere untere Schultergelenkluxation, Fraktur des Collum chirur-
gicum humeri, stumpfes Schultertrauma.
  17.1 Nervenläsionen  607

• Iatrogen: Repositionsversuch nach Schultergelenkluxation, Lagerungsdruck-


schädigung in Narkose bei mangelhafter Abpolsterung des Arms.
• Drucklähmungen bei Schlaf in Bauchlage mit elevierten u. über dem Kopf ge-
beugten Armen (meist unter Alkohol- o. Medikamenteneinfluss).
• Neuralgische Myatrophie (▶ 17.2.3).
Klinik u. Diagn.:
• Parese der Elevation, Abduktion u. Zirkumduktion des Arms nach hinten.
Die ersten 15–30° der Abduktion erfolgen durch den M. supraspinatus u.
sind somit möglich.
• Sofern die übrigen Schultergürtelmuskeln intakt sind, können die Paresen
weitgehend ausgeglichen werden (auf Kompensationsbewegungen achten!).
• Atrophie des M. deltoideus mit hervorstehendem Akromion u. Humeruskopf.
• Sensibilitätsstör. im Versorgungsgebiet des N. cutaneus brachii lateralis sup.
über der lat. Schulterwölbung bei prox. Läsion des N. axillaris.
DD:
• Ruptur der Rotatorenmanschette: Spontanschmerz. Keine path. Spontanakti-
vität im EMG, Diskrepanz zwischen normalem Rekrutierungsverhalten der
Willkürpotenziale im EMG (▶ 2.5) u. fehlender Kraftentfaltung bzw. fehlen-
dem Bewegungseffekt.
• Frozen-Shoulder-Sy. bzw. arthrogene Inaktivitätsatrophie: Schmerzhafte Bewe-
gungseinschränkung der Schulter als „Painful Arc“ bei Abduktion von 60–120°,
keine Sensibilitätsstör. Im EMG keine path. Spontanaktivität u. normale PME.
• Progressive Muskeldystrophie (▶ 20.2): Keine Sensibilitätsstör. Progredienter
Prozess. Myopathisches Muster im EMG.
• ALS: Prox. beginnende Form (▶ 16.1.1).
Ther.:
• Entlastung des Arms in einer Schlinge, sonst Gefahr einer Gelenküberdehnung.
• Frühzeitige aktive u. passive KG zur Vermeidung von Kontrakturen.
• Neurolyse o. Nervennaht mit Nerventransplantation bei traumatischer Läsi-
on u. Ausbleiben einer Reinnervation binnen 6–8 Wo.
• Schulterarthrodese bei irreversiblen Schädigungen u. erfolgloser Nervennaht.
Ersatz-OP nicht erfolgreich.

17.1.6 Nervenschäden der oberen Extremität


Läsion des N. musculocutaneus
ICD-10 G56.8.
Versorgungsgebiet: Mm. coracobrachialis, biceps brachii u. brachialis, sensibel
N. cutaneus antebrachii lateralis (radiale Unterarmbeugeseite).
Ätiol.: 17
• Armplexusschädigungen (▶ 17.2.3).
• Neuralgische Myatrophie (▶ 17.2.3).
• Iatrogen während OP (ventraler Zugang zum Schultergelenk bei OP einer ha-
bituellen Schulterluxation u. beim Zugang zum Humerus) o. durch fehlerhaf-
te Lagerung (Abduktions- u. Außenrotationsstellung des Arms) in Narkose.
• Selten isoliert bei Schnitt- o. Stichverletzungen, sehr selten bei stumpfem
Schultertrauma, Schulterluxation u. Humerusfraktur.
Klinik u. Diagn.:
• Supinationsschwäche bei gebeugtem Unterarm. Inkomplette Parese der Un-
terarmbeugung. Prüfung bei supiniertem Unterarm, da Unterarmbeugung in
halb pronierter Stellung durch M. brachioradialis erfolgt.
608 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• Schwäche der Armelevation bei Schädigung vor Abgang des Asts zum M. co-
racobrachialis. Umschriebenes Sensibilitätsdefizit an der Radialseite des prox.
Unterarms.
Ther.:
• Prim. o. sek. Nervennaht bei Schnittverletzung.
• Ersatz-OP mit Transposition des M. latissimus dorsi o. des M. pectoralis bei
irreversibler Schädigung.
Progn.: Gute Regenerationstendenz.

Läsion des N. radialis


ICD-10 G56.3.

Radialisschädigungen sind bei


Revisions-OP u. Metallentfer-
nungen nach Humerusfraktur
häufiger als beim Ersteingriff. Bei
sensiblen Läsionen folgt häufig
ein chron. Schmerzsy. o. eine zum M. triceps brachii
sympathische Reflexdystrophie.

zum M. extensor
Klinik: Leitsympt.: Fallhand u. Fallfinger carpi radialis
im Grundgelenk (▶ Abb. 17.1; ▶ Tab. 17.2). zu Mm. brachioradialis et
brachialis
Diagn.: zum M. supinator
• Klin. Unters.: Prüfung von Kraft u. zu Mm. extensor digitorum
Sensibilität, TSR, RPR. Druck- et carpi ulnaris
sensibles Versorgungs-
schmerz unterhalb des Epicondylus gebiet
radialis humeri als Hinweis auf ein Ramus superficialis
Supinatorlogensy. zum M. extensor indicis

• Bildgebung: zum M. abductor


pollicis longus
– Rö: Zum Nachweis einer Frak- zu Mm. extensor pollicis
longus et brevis
tur, Dislokation o. Luxation, bei autonomes Gebiet des
länger zurückliegenden Verlet- Ramus profundus
zungen zum Ausschluss einer
Kallusbildung.
– CT/MRT: Bei V. a. Neurom, Fi­
brom, intramuskuläres Hämatom.
– Neurosonologie. Fallhand bei
• Neurophysiologie: Bestimmung Radialisparese
des Schädigungsorts mit fraktio-
17 nierter motorischer Neurografie Abb. 17.1  N. radialis: Verlauf, Innerva­
(▶ 2.4). EMG. Sensible Neurografie tionsgebiet u. Fallhand bei Parese
des R. superficialis n. radialis. [L106]

Tab. 17.2  Lokalisation, Ursachen u. Klinik einer Radialisparese


Schädi- Ursachen Sensible Motorische Ausfälle Reflexe u. a.
gungsort Ausfälle Befunde

Axilla Krückenläh­ R. cutaneus Fallhand, Armstreckerpa­ TSR u. RPR


mung, Gipsver­ antebrachii rese, Unterarmbeugerpa­ ↓
band, Verletzun­ post. rese in Mittelstellung zwi­
gen schen Pro- u. Supination
  17.1 Nervenläsionen  609

Tab. 17.2  Lokalisation, Ursachen u. Klinik einer Radialisparese (Forts.)


Schädi- Ursachen Sensible Motorische Ausfälle Reflexe u. a.
gungsort Ausfälle Befunde

Oberarm Humerusschaft­ Spatium in­ Fallhand, Parese der Un­ Gubler-


frakturen, Me­ terosseum I terarmbeugung in hal­ Schwellung
tallentfernun­ des Hand­ ber Pronationsstellung am Handrü­
gen, Druckläsio­ rückens cken, RPR ↓
nen (Lagerung (R. superfi­
in Narkose, cialis n. ra­
Parkbankläh­ dialis)
mung), Tourni­
quetlähmung,
Gipsverbände

Prox. Un­ Radiusköpfchen­ Keine Partielle Fallhand mit


terarm luxation, Kallus­ Fallfinger u. Abduktions­
bildung (Spätlä­ schwäche des Daumens
sionen), Schnitt- in der Handebene, Radi­
u. Stichverlet­ alabweichung der Hand
zungen,
Muskelüberbe­
anspruchung,
Weichteil­
schwellung bei
rheumatoider
Arthritis, Lipom,
Fibrom, Neu­
rom, (Re-)Osteo­
synthese am Ra­
dius, Metallent­
fernung, Supi­
natorlogensy.1
(selten)

Distaler Spickung von Keine Teilläsionen der Finger­


Unterarm Radiusfrakturen strecker

Dorsale u. Schnittverlet­ Spatium in­ Keine


radiale zung, Shunt-OP, terosseum I
Kante des Spickung von des Hand­
distalen Radiusfrakturen, rückens
Unterarms Injektion, Punk­
tion

Radiale Chron. Druck­ Hypästhe­ Keine


Daumen­ schädigung sie u. Dys­
seite (Chei­ durch Arbeitsin­ ästhesie
ralgia pa­ strumente der dorsa­ 17
raestheti­ (Schere, Klem­ len Dau­
ca) me) menseite
(Versor­
gungsge­
biet des N.
digitalis
dors.)
1
 Supinatorlogensy.: Läsion des R. profundus n. radialis, der die Finger- u. Handstre­
cker versorgt, außer den M. extensor carpi radialis; keine Sensibilitätsstör.
610 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• Eine Schwäche der Streckung im Mittel- u. Endgelenk der Finger wird


nicht durch eine Radialisparese, sondern durch eine Schwäche der vom
N. ulnaris versorgten Mm. interossei u. lumbricales hervorgerufen!
• Die Fingergrundgelenke können bei Radialisparese nicht mehr fixiert
werden. Daher Fingerspreizung (Ulnarisfunktion) nur nach passiver
Streckung der Fingergrundgelenke untersuchen, sonst ist die Finger-
spreizung scheinbar abgeschwächt.

DD:
• Zentrale Prädilektionsparese: Im Gegensatz zur peripheren Parese ist eine
Dorsalextension der Hand bei Faustschluss o. Umklammerung von Gegen-
ständen möglich; MER ↑, Muskeltonus ↑, im EMG keine hochfrequent ent-
ladenden PME, CCT u. MRT.
• Wurzelkompressionssy. C7: Vertebralsy., Parese des M. pectoralis, radikulärer
Sensibilitätsausfall D2, D3 (nicht am Daumen).
• Strecksehnenabriss: Bes. häufig des M. extensor pollicis longus (normales
EMG bei fehlendem Bewegungseffekt).
• Kompartmentsy. der Loge der tiefen Vorderarmstrecker (▶ 17.1.1).
• Spinale Muskelatrophie (▶ 16.1.3): Keine Sensibilitätsstör.
• Polyarthritis: Durch Abgleiten der Sehnen der langen Fingerstrecker wird ein
Streckdefizit vorgetäuscht, das durch passives Halten der Sehne auf der Kup-
pe des Grundgelenks behoben werden kann.
• Epicondylitis humeri radialis: Keine motorischen Ausfälle.
Ther.:
• Konservativ: KG, Unterarmschiene mit Aufhängung der Finger im Grundge-
lenk zur Verbesserung der Greiffunktion u. Kontrakturprophylaxe.
• Operativ:
–  Sofortige Revision: Inspektion des Nervenverlaufs. Bei operativer Frak-
turversorgung ggf. prim. Nervennaht. Bei Auftreten o. Progredienz nach
einer Fraktur o. OP (bindegewebige Ummauerung des Nervs)!
–  Sek. Revision: Nach Ausbleiben von klin. (Hoffmann-Tinel-Zeichen,
▶ 3.11.1; Rückgang der Parese) u. elektromyografischen Regenerationszei-
chen 3–5 Mon. nach der Schädigung, z. B. im M. brachioradialis nach
Druckläsion am Oberarm.
– Neurolyse: Bei Supinatorlogensy., wenn eine motorische Läsion nachge-
wiesen ist.
– Ersatz-OP: Nach erfolgloser Nervennaht zur Korrektur der Fallhand. Ver-
lagerung der Mm. flexor carpi ulnaris, pronator teres u. des oberflächli-
17 chen Mittelfingerbeugers auf die Streckseite.

Läsionen des N. ulnaris


ICD-10 G56.2.
Versorgungsgebiet: Kleine Handmuskulatur bis auf Mm. abductor pollicis bre-
vis, opponens pollicis u. lumbricales I, II, am Unterarm M. flexor carpi ulnaris,
ulnarer Anteil des M.  flexor digitorum profundus. Sensibles Versorgungsgebiet
▶ Abb. 17.2.
  17.1 Nervenläsionen  611

Krallenhand bei Ulnarisparese

Froment-Zeichen bei Ulnarisparese links

Papier

sensibles Versorgungsgebiet
Endäste zur kleinen
Handmuskulatur

Abb. 17.2  N. ulnaris: Verlauf, Innervationsgebiet, Krallenhand, Froment-Zeichen


[L106]

Innervationsanomalien
Aufgrund der variablen Innervation der Handbinnenmuskulatur ist die klin. u.
elektrophysiol. Diagn. mitunter erschwert:
• All-Ulnar-Hand: Selten, alle kleinen Handmuskeln werden vom N. ulna-
ris versorgt.
• Martin-Gruber-Anastomose (10–30 % der Bevölkerung): Unterarmanas-
tomose mit Faserabgabe des N. medianus an den N. ulnaris in unter-
schiedlichem Ausmaß.
• Riche-Cannieu-Anastomose: Doppelversorgung der Thenarmuskeln
über einen Anastomosebogen zwischen N. ulnaris u. N. medianus in der
Hohlhand.

Leitsympt.:
• Krallenhand (▶ Abb. 17.2):
– Hyperextension der Finger im Grundgelenk u. leichte Flexion in den In-
terphalangealgelenken mit Betonung an den Fingern IV–V. Adduktions-
schwäche des Kleinfingers. Abduktionsstellung der Finger IV–V, Daumen 17
im Grundgelenk hyperextendiert.
– Muskelatrophien der Spatia interossea u. des Hypothenars.
– DD: C8-Sy. (▶ 18.2) ohne Hyperextension der Finger IV–V.
• Froment-Zeichen (▶ Abb. 17.2): Kräftiges Festhalten eines Gegenstands (z. B.
Papier) zwischen gestrecktem Daumen u. Zeigefinger nicht möglich, Kom-
pensation durch Flexion des Daumenendglieds (N. medianus).
Loge-de-Guyon-Sy.:
• Ätiol.: Kompression des N. ulnaris unter dem Lig. carpi palmare z. B. durch
chron. Druckschädigung, entzündl. Weichteilprozesse, knöcherne o. musku-
läre Anomalien, direktes Trauma.
612 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• Klinik (▶ Tab. 17.3): Wechselnde Befunde; Sensibilität meist intakt (außer bei
Typ 1, hohe Läsion).
• Diagn.:
– Klinik.
– Verlangsamung der distal motor. Latenz zum M. interosseus dorsalis ma-
nus I bei normaler Leitungszeit zum M. abductor digiti minimi (Typ 3).
Cave: Beim akuten Leitungsblock Abnahme der Amplitude des MSAP,
EMG.
– Rö-Handgelenk in 2 Ebenen (ossäre Deformität). CT bei V. a. Neurom o.
Weichteiltumor.
• Ther.: Konservativ, KG. OP bei Raumbeschränkung.
Tab. 17.3  Lokalisation, Ursachen u. Klinik einer Ulnarisparese
Schädigungsort Ursache Befund

Hohlhand Loge-de-Guyon-Sy. Typ 3: Rein motorische Schädigung mit


Druckläsionen, Fahrradgriff, variabler Ab- u. Adduktionsparese
Instrumente, Krücken, Ver­ der Finger II–IV, Adduktion des
letzungen, Schnitt, Stich Daumens, Beugung der Grundpha­
langen IV–V, Streckung im Mittel-
u. Endgelenk Finger IV–V, Thenar-
u. Interosseusatrophie, Aussparung
der Hypothenarmuskeln

Handgelenk Loge-de-Guyon-Sy. Typ 1, 2: Schädigung in der Hohlhand. Zu­


Trauma (Schnitt, Stich, sätzlich Hypothenaratrophie, Pare­
Handgelenkfraktur), arthro­ se der Kleinfingerabduktion, Kral­
gene Veränderungen, Gang­ lenhand, evtl. Sensibilitätsstör. Fin­
lion, Lipom, Druckschädi­ ger IV–V (Typ 1)
gungen

Unterarm Kubitaltunnelsy., Frakturen, Schädigung am Handgelenk. Zu­


chron. Druckschäden, z. B. sätzlich immer sensible Ausfälle
durch Gehstützen der Finger IV–V u. des R. dorsalis n.
ulnaris, Parese der Endgelenkbeu­
gung Finger IV–V

Ellenbogen Druckläsionen, Ellenbogen­ Krallenhand, zusätzlich Parese der


fraktur, suprakondyläre Hu­ Beugung im Kleinfingerendgelenk
merusfraktur, Z. n. OP u. der ulnaren Handbeuger, sonst
wie bei Schädigung am Unterarm

Oberarm Trauma (Stich, Schnitt), Wie am Ellenbogen


Druckläsion durch Gipsver­
bände, Gehstützen, Proces­
17 sus supracondylaris, A.-bra­
chialis-Aneurysma, Z. n. OP

Kompression des N. ulnaris am Ellenbogen (früher: Ulnarisrinnen-Sy., Sulcus-


ulnaris-Sy., Kubitaltunnel-Sy.):
• Ätiol.: Taumatisierung des N. ulnaris um den Ellenbogen z. B. durch:
– Aufstützen der Arme (habituell, Arbeitsvorgänge, längere Bettlägerigkeit,
Kachexie).
– Lagerungsfehler bei Narkosen.
– Jahre zurückliegende Ellenbogenfrakturen o. -luxationen (Spätparesen).
– Arthrotische Veränderungen.
– Direktes Trauma.
  17.1 Nervenläsionen  613

– Begünstigt durch anlagebedingte Luxation des N. ulnaris aus dem Sulcus


ulnaris bei Ellenbogenbeugung in Richtung Epicondylus medialis, Kom-
pression des Nervs im Kubitaltunnel.
• Klinik: (▶ Tab. 17.3).
– Evtl. Hoffmann-Tinel-Zeichen (▶ 3.11.1) über dem Sulcus n. ulnaris.
– Palpation des Nervs im Sulcus während Beugung (Luxation, Auftreibung).
– Trophische Stör. u. Schweißsekretionsstör. im hypästhetischen Areal.
• Diagn.:
– Klinik.
– Fraktionierte Neurografie prox. u. distal des Sulcus zum Nachweis eines
Amplitudensprungs u./o. einer Verlangsamung der motorischen o. sen-
siblen NLG um mehr als 16 m/s. EMG (▶ 2.5).
– Rö-Ellenbogen in 2 Ebenen u. Tangentialaufnahme des Sulcus, MRT.
• DD:
– Wurzelkompressionssy. C8 (▶ 18.2): Sensibles Defizit auch an der Unter-
arminnenseite. Paresen u. path. EMG der vom N. medianus versorgten
Fingerbeuger (M. flexor pollicis longus) u. Handmuskeln. Trömner-Reflex
↓. Diagn.: EMG der Paravertebralmuskulatur, HWS-CT/MRT, normales
sensibles Potenzial bei NLG.
– Untere Plexusläsion (▶ 17.2.1): Atrophien, Paresen u. path. EMG-Befun-
de der vom N. medianus versorgten Hand- u. Unterarmmuskeln. Tröm-
ner-Reflex u. RPR ↓. Sensibilitätsstör. auch am Unterarm u. der radialen
Handkante. Diagn.: Path. SNAP des N. cutaneus antebrachii medialis.
Path. SSEP des N. ulnaris. Schweißsekretionsstör. der ganzen Hand.
– ALS (▶ 16.1.1): Keine Sensibilitätsstör.! Beteiligung der vom N. medianus
versorgten Muskeln, generalisierte Faszikulationen, Zeichen des 1. MN.
– SMA (▶ 16.1.3): Meist bilaterale Atrophien u. Paresen, die über eine Ulna-
risstör. hinausgehen; keine Sensibilitätsstör. Faszikulationen.
– Kompartmentsy. (▶ 17.1.1): Schwellung, livide Verfärbung der Haut,
Schmerz. Diagn.: Elektrische Ruhe bei Nadeleinstich im EMG.
– Syringomyelie (▶ 14.9): Starke Schmerzen, dissoziierte Sensibilitätsstör.,
zusätzlich Pyramidenbahnzeichen an den unteren Extremitäten
• Ther.:
– Konservativ bei fehlenden knöchernen Veränderungen u. geringgradigen
Paresen. Ellenbogen nicht aufstützen o. übermäßig beugen. Nächtliche
Abpolsterung, Physiother.
– Neurolyse des Nervs nur bei fortschreitenden Paresen unter konservativer
Ther., anschließend KG.
– Verlagerungs-OP nur bei knöchernen Fehlstellung.

Läsion des N. medianus 17


ICD-10 G56.1
Leitsympt.: ▶ Tab. 17.4.
• Schwurhand (▶ Abb. 17.3): Fehlende Beugung der Finger I–III im Endge-
lenk, weniger auch im Mittelgelenk (3 > 2) bei Faustschluss, Oppositions-
schwäche des Daumens, lat. Thenaratrophie.
• Flaschenzeichen (▶ Abb. 17.3): Umgreifen eines runden Gegenstands zwi-
schen Daumen u. Zeigefinger nicht möglich.
614 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Tab. 17.4  Lokalisation, Ursachen u. Klinik einer Medianusläsion (▶ Abb. 17.4)


Schädi- Ursache Klinik
gungsort

Hohlhand Chron. Druckläsion (Fahrradgriff, Rein motorische Stör. mit Parese


Werkzeuge), Trauma (Stich, der M. abductor pollicis brevis u.
Schnitt), Hohlhandphlegmone manchmal M. opponens pollicis,
Daumenballenatrophie

Handgelenk Karpaltunnelsy., Tendovaginitis, Schädigung in der Hohlhand. Zu­


Diab. mell., Schwangerschaft, sätzlich Sensibilitätsstör. der Fin­
Ganglion, Hämatom, ossäre Ver­ ger I–IV, Brachialgia paraesthetica
änderungen, rheumatoide Arth­ nocturna, mitunter Hoffmann-Ti­
ritis, Hypothyreose, persistieren­ nel-Zeichen, Parästhesien bei Dor­
de A. mediana, AV-Fistel, Amylo­ salflexion der Hand
idose, Akromegalie, Neurom, Pa­
raproteinämie, Trauma, Stich,
Schnitt, distale Radiusfraktur,
Handwurzelknochenluxation

Unterarm Pronator-teres-Sy., Lacertus- Schädigung am Handgelenk. Zu­


fibrosus-Sy. sätzlich Parese der langen Finger­
beuger, Druckdolenz am M. pro­
nator teres, Schmerz u. Parästhe­
sie radialer Unterarm

N.-interosseus-ant.-Sy. Rein motorische Stör. mit Parese


der Mm. flexor pollicis longus, fle­
xor digitorum profundus, prona­
tor quadratus

Ellenbogen Trauma, Schnitt, Stich, Humerus­ Schwurhand bei Faustschluss, Pro­


fraktur, Punktionsfolge nationsschwäche des Unterarms,
Handbeugerschwäche mit Ulnar­
abweichung, Sensibilitätsstör. der
Finger I–IV

Oberarm Trauma, Schlafdrucklähmung, Wie Ellenbogen


Anlageanomalien (Struther's Li­
gament, Processus supracon­
dylaris), Krückenlähmung

Axilla Art. Punktion, Trauma Wie Ellenbogen

Schwurhand Flaschenzeichen
17
positiv negativ positiv negativ

Abb. 17.3 Schwurhand u. Flaschenzeichen bei Medianusparese [L106]


  17.1 Nervenläsionen  615

motorischer Ast zum


M. abductor pollicis brevis

M. opponens pollicis

sensibles Versorgungsgebiet

Äste zu den
Mm. lumbricales I et II

zum M. flexor carpi radialis

zum M. pronator teres,


M. palmaris longus
zum M. flexor digitorum
superficialis

N. interosseus anterior zum


M. flexor pollicis longus,
M. pronator quadratus
M. flexor digitorum profundus
(radialer Teil)
zum M. flexor pollicis longus

Ast zur Hand

Abb. 17.4  N. medianus: Verlauf u. Innervationsgebiet [L106]

Traumatische Läsionen des N. medianus gehen oft mit kausalgiformen


Schmerzen u. trophischen Stör. einher, sympathische Reflexdystrophie.

Karpaltunnelsyndrom (KTS)
ICD-10 G56.0.
Def.: Chron., selten akute Kompression des Nervs unter dem Retinaculum flexo-
rum. Häufigstes Nervenkompressionssy.; F > M, Inzidenz steigt mit zunehmen-
dem Alter.
Ätiol.: Prädisponierend ist die konstitutionelle Enge des Karpalkanals. Der Druck
nimmt bei Hyperflexion o. -extension zu. Manifestationsfördernde Faktoren:
• Endokrine Veränderungen: Diab. mell., Hypothyreose, prim. Amyloidose,
Gichttophi, Akromegalie, Schwangerschaft.
• Handgelenkveränderungen: Z. n. Fraktur der Handwurzelknochen, degene- 17
rative knöcherne Veränderungen, rheumatoide Arthritis, knöcherne Anoma-
lien.
• Akute Schwellungszustände: Tendovaginitis, Hämatom, Insektenstich,
• Raumforderungen im Karpalkanal: Lipom, Neurom, abnorme Muskel- u.
Sehnenverläufe, persistierende A. mediana, arteriovenöse Shunts u. Fisteln
bei Hämodialyse, Ganglien.
• Paraproteinämie, Lupus erythematodes.
616 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Klinik:
• Stadium 1 (Frühstadium):
– Brachialgia paraesthetica nocturna = nächtliches Erwachen mit Kribbel-
parästhesien u. Schwellungsgefühl in den Fingern I–IV, gel. Ausstrahlung
in Oberarm u. Schulter, Besserung durch Händeschütteln.
– Morgendliches Steifegefühl der Hände. Keine objektivierbaren Ausfälle.
• Stadium 2:
– Zunahme der Beschwerden auch am Tag, v. a. bei lang anhaltender Flexi-
on o. Extension der Hand (Zeitunglesen, Autofahren, Telefonieren).
– Pos. Hoffmann-Tinel-Zeichen über dem Karpaltunnel (unzuverlässig, da
falsch pos. u. neg.).
– Pos. Phalen-Zeichen (Parästhesien in den Fingern I–IV bei forcierter
Plantarflexion der Hand für 30–40 s), ebenfalls unsicheres Zeichen.
– Persistierende Gefühlsstör. der Finger I–IV mit wechselndem Ausprä-
gungsmaximum. Cave: Mitunter nur motorischer R. thenaris betroffen.
Atrophie des lat. Thenars mit Parese der Daumenabduktion senkrecht zur
Handebene u. der Daumenopposition.
– Gegenstände fallen aus der Hand o. können nicht ertastet werden.
• Stadium 3 (Endstadium):
– Dauerschmerz u. hochgradige lat. Thenaratrophie.
– Verlust der Schutzsensibilität mit Verletzungen u. trophischen Stör.
Diagn.:
• Sensible Neurografie:
– Verlangsamung der ortho- o. antidromen sensiblen NLG des N. medianus
über dem Handgelenk (< 42 m/s) bei Ableitung von den Fingern I–IV,
immer Vergleich mit den Werten des ipislateralen N. ulnaris (Differenz
> 8 m/s).
– Bei rein motorischen Stör. des R. thenaris (selten!) Diskrepanz zwischen
path. distal motorischer Latenz u. normaler sensibler NLG.
• Motorische Neurografie:
– Verlängerung der distal motorischen Latenz zum M. abductor pollicis bre-
vis (> 4,2 ms bei 7 cm Distanz zwischen Stimulations- u. Ableitort), allenfalls
geringe Verlangsamung der motorischen NLG im Unterarmabschnitt.
– Unters. immer im Seitenvergleich (häufig bilaterales KTS).
– Vergleich mit der distal motorischen Latenz u. NLG des N. ulnaris.
– Bei Ableitung aus dem 2. Lumbrikalraum Latenzdifferenz ≥ 0,5 ms path.
Cave: Bei Innervationsanomalie kann trotz sensibler Stör. u. typ. Brachial-
gia paraesthetica nocturna die motorische Neurografie unauffällig sein.
Cave: Bei niedrigen Temperaturen oft falsch path. Befunde.
• EMG: Meist entbehrlich, bei axonaler Schädigung path. Befund im M. abduc-
17 tor pollicis brevis.
• Bildgebung: Sono, ggf. MRT z. A. einer Anomalie.
• Labor: Schilddrüsenparameter, Glukose, Harnsäure. Bei Verdacht Rheumase-
rologie, STH o. E'phorese.
Ther. u. Progn.:
• Stadium 1:
– Nächtliche Ruhigstellung des Handgelenks mit volarer Unterarmhand-
schiene.
– Schonung am Tag.
– Antiphlogistische Begleitmedikation, z. B. Diclofenac 3 × 25–50 mg/d für
3 Wo., Kortikosteroide 20 mg/d für 2 Wo.
  17.1 Nervenläsionen  617

• Stadium 2:
– Konservativ wie Stadium 1 bei behandelbaren Grunderkr. (z. B. Hypothy-
reose) o. vorübergehenden Veränderungen (Tendovaginitis, Schwanger-
schaft).
– Operative Spaltung des Retinaculum flexorum bei Zunahme der subjekti-
ven Beschwerden u. motorischen Ausfälle, evtl. in endoskopischer Tech-
nik, postop. Rückgang der Schmerzen u. Parästhesien. Sensible Defizite
bilden sich innerhalb von Wo. u. Mon. zurück, motorische Ausfälle nur
teilweise.
• Stadium 3
– Operative Spaltung des Lig. nur zur Schmerzther.
– Motorische u. sensible Ausfälle erholen sich meist nicht.
Pronator-teres-Syndrom (ICD-10 G56.2)
Def.: Chron. Nervenkompressionssy. an der Durchtrittsstelle des N.  medianus
unter dem M. pronator teres.
Ätiol.: Repetitive Drehbewegungen des Arms.
Klinik: Ruhe- u. Druckschmerz an der Beugeseite des Unterarms, Schmerzen u.
Parästhesien der radialen Finger.
Diagn.:
• Path. EMG-Befund auch im M. flexor pollicis longus o. M. digitorum profun-
dus.
• Auch klin. Beugeschwäche von Daumen u. Zeigefinger (DD: Epikondylitis,
Tendomyopathie).
Ther.: Ruhigstellung meist ausreichend; selten OP mit Neurolyse erforderlich.
Nervus-interosseus-anterior-Syndrom (Kiloh-Nevin-Syndrom; ICD-10 G56.1)
Def.: Isolierte Schädigung des motorischen Endasts.
Ätiol.: Selten durch fibröse Bänder o. abnorme Muskelverläufe, Unterarmfraktur,
häufiger autoimmunologisch-entzündl. (neuralgische Myatrophie ▶ 17.2.3), exo-
gene Druckläsion, z. B. durch eng anliegenden Gipsverband.
Klinik:
• Rein motorisch. Parese der Beugemuskeln des Daumens u. Zeigefingerend-
glieds unter Aussparung der kleinen Handmuskeln.
• Unfähigkeit, mit den Endgliedern von Zeigefinger u. Daumen ein O zu bil-
den.
Diagn.:
• Neurografie unauffällig bei Ableitung von der kleinen Handmuskulatur.
• Im EMG path. Spontanaktivität nur in den betroffenen Muskeln (M. flexor
pollicis longus).
DD: Sehnenruptur. 17
Ther.: Entlastung u. Physiother.
Differenzialdiagnosen
• Wurzelkompression C7 (▶ 18.2):
– Sensibles Defizit an der Dorsalseite der Finger (II), III, IV u. des Unter-
arms.
– RPR u. TSR ↓.
– Elektromyografisch u. klin. Beteiligung nicht medianusversorgter Mus-
keln (Mm. triceps brachii, brachioradialis, pectoralis).
– HWS-CT, HWS-MRT, paravertebrales EMG.
• ALS (▶ 16.1.1):
618 17  Nerven- und Plexusläsionen  

– Keine Sensibilitätsstör.!
– Veränderung in nicht vom N. medianus versorgten Muskeln, generalisier-
te Faszikulationen.
– Muskeltonus ↑, MER ↑ u. Zeichen des 1. MN.
• Läsion des Plexus brachialis ▶ 17.2.3.

17.1.7 Nervenschäden in Becken und Leiste


Läsion des N. iliohypogastricus
ICD-10 G57.8.
Ätiol.:
• Iatrogen nach Nephrektomie u.
Spongiosaentnahme am Becken-
kamm.
• Chron. Druckschädigung am N. ilio-
hypogastricus
Darmbeinkamm durch eng anlie-
gende Gürtel, Kleidungsstücke o. N. ilioinguinalis
wiederholten Druck durch Werk-
N. genitofemoralis
zeuge.
• Selten durch retroperitoneale
Raumforderung u. paranephriti-
N. femoralis
sche Prozesse.
Klinik:
• Sensibilitätsstör. (▶ Abb. 17.5),
neuralgiformer Leistenschmerz. N. obturatorius
• Nur bei gleichzeitiger Läsion des N. cutaneus
N. ilioinguinalis Bauchwandparese femoris lateralis
mit Vorwölbung der unteren
Bauchwandanteile im Stehen u. bei
intraabdominaler Druckerhöhung. Abb. 17.5  Sensible Versorgungsgebie­
Ther.: Lokalanästhetikainfiltration am te der Nerven in der Leiste u. an der
Schmerzpunkt, Neurolyse nur selten Oberschenkelvorderseite [L106]
erforderlich.

Läsion des N. ilioinguinalis


ICD-10 G57.8.
Ätiol.: Kompression an der Durchtrittsstelle durch die Mm. transversus abdomi-
nis u. obliquus internus abdominis.
Iatrogen bei Herniotomie, Pfannenstielschnitt, Nephrektomie, Appendektomie.
17 Klinik:
• Brennender neuralgiformer Schmerz in Leiste, medialem Oberschenkel u.
Genitalbereich mit Zunahme bei Hüftstreckung.
• Sensibilitätsdefizit (▶ Abb. 17.5), selten partieller Ausfall der Bauchwandmusku-
latur, pos. Hoffmann-Tinel-Zeichen (▶ 3.11.1) medial der Spina iliaca ant. sup.
Ther.: Lokalanästhetikainfiltration am Schmerzpunkt. Neurolyse nur bei Ther.-
Resistenz.

Läsion des N. genitofemoralis


ICD-10 G57.8.
Ätiol.: Meist als Folge einer Herniotomie, Varikozelen-OP o. eines Psoasabszesses
(insgesamt selten).
  17.1 Nervenläsionen  619

Klinik:
• Spermatikusneuralgie, neuralgiformer Schmerz in der Leiste bis in das Geni-
tale ausstrahlend, der u. U. erst Jahre nach der OP auftreten kann.
• Sensibilitätsstör. (▶ Abb. 17.5), Ausfall o. Abschwächung des Kremasterrefle-
xes (▶ 1.1.5).
Ther.: Wie oben, bei Ther.-Resistenz Nervenresektion.

Läsion des N. cutaneus femoris lateralis


ICD-10 G57.1.
Syn.: Meralgia paraesthetica.
Def.: Endogenes Kompressionssy. durch mechanische Irritation des Nervs bei
Durchtritt durch den M. obliquus abdominis.
Ätiol.:
• Enge Kleidungsstücke („Jeans-Krankheit“), Gürtel.
• Druck durch Werkzeuge.
• Gewichtszunahme, Schwangerschaft.
• Retrozökale Appendizitis.
• Lymphome.
• Knochenspanentnahme.
• Hüft-OP.
Klinik:
• Rezid., lageabhängiger Brennschmerz, Hyperpathie u. Parästhesien an der
Oberschenkelvorder- u. -außenseite, Zunahme bei gestrecktem Hüftgelenk.
• Umgekehrtes Lasègue-Zeichen!
• Anfänglich Besserung bei Beugung des Beins. Später Sensibilitätsstör. u. Dys-
ästhesie o. Hyperpathie an der Vorder-Außenseite des Oberschenkels (▶ Abb.
17.5).
• Druckschmerz medial der Spina iliaca ant. sup.
• Cave: Keine Paresen o. Reflexveränderungen.
Diagn.: Klin.! Besserung durch diagn. Nervenblockade am Druckpunkt. sensible
NLG schwierig; SSEP.
DD:
• Wurzelreizsy. L3 o. L4: Vertebralsy., ADR o. PSR ↓, Parese der Kniegelenk-
streckung, path. EMG.
• Koxarthrose: Rotationsschmerz der Hüfte, kein sensibles Defizit, Rö Hüfte.
• Prox. diabet. Neuropathie: Quadrizepsparese, PSR-Abschwächung.
Ther.:
• Häufig Spontanremission.
• Beseitigung exogener Faktoren.
• Bei Ther.-Resistenz wiederholte lokale Nervenblockade mit Procain (z. B. No-
vocain®) am Durchtrittspunkt unter dem Leistenband. 17
• Neurolyse als Ultima Ratio.
Läsion des N. obturatorius
ICD-10 G57.8.
Syn.: Obturatoriusneuralgie (Howship-Romberg-Phänomen).
Def. u. Ätiol.:
• Beckenfraktur, Hernia obturatoria, Schwangerschaft, Geburtstrauma, Raum-
forderung im kleinen Becken (Tumor, Metastase, Retroperitonealhämatom).
• Iatrogen nach urologischen, orthopädischen (Endoprothesen) u. gynäkologi-
schen Eingriffen (bei Hysterektomie mitunter bds. Läsion).
620 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Klinik:
• Schmerz in der Hüfte u. an der Oberschenkelinnenseite bis zum Knie, Zunah-
me bei Belastung des Beins.
• Parese der Oberschenkeladduktion, immer inkomplett, da Adduktorengrup-
pe durch Nn. femoralis u. ischiadicus mitversorgt wird.
• Unters. der Oberschenkeladduktion bei gebeugter Hüfte.
• ADR ↓.
• Variables Sensibilitätsdefizit an Oberschenkelinnenseite (▶ Abb. 17.5).
• Zirkumduktion des betroffenen Beins beim Gehen.
Diagn.:
• Klinik.
• EMG der Adduktoren.
• Bei V. a. Prozess im Becken CT o. MRT.
DD:
• Ansatztendinose im Beckenbereich (Diagn.: ASR erhalten, kein sensibles o.
motorisches Defizit, umschriebener Druckpunkt an der Symphyse).
• Aseptische Hüftkopfnekrose (Rö).
• Wurzelkompressionssy. L3 o. L4 (▶ 18.2).
Läsion der Nn. glutei
ICD-10 G57.8.
Ätiol.: Fehlerhafte intragluteale Injektion; seltener Schussverletzung, Tumor, Hä-
matom im Gesäßbereich, Beckenfraktur.
Klinik: Pos. Trendelenburg-Zeichen: Abkippen des Beckens zur gesunden Seite
bei Stand auf der paretischen Seite. Abduktionsschwäche der Hüfte, Parese der
Hüftstreckung, Schwierigkeiten beim Treppensteigen.
DD:
• Prox. Myopathie (▶ 20.5.2).
• Piriformissy.: Intensiver lokaler Schmerz in der Glutealregion mit Ausstrah-
lung zum Kreuzbein, der beim Heben zunimmt; meist nach Trauma der Ge-
säßgegend. Druckschmerz am Foramen ischiadicum majus, selten Gluteal-
atrophie.
• Nicolau-Sy.: Nekrose der Glutealmuskulatur nach versehentlicher i. a. Injek-
tion.

Bei fehlerhafter i. m. Injektion mit Schädigung peripherer Nerven kommt es


nicht immer zum Sofortschmerz, ein freies Intervall von einigen Tagen ist
möglich.

17 Läsion des N. pudendus


ICD-10 G57.8.
Ätiol.:
• Tumor o. OP im Becken.
• Trauma.
• Lang anhaltender Druck auf hintere Dammregion in Narkose o. unter Dro-
geneinfluss, bei Radfahrern.
Klinik: Blasenentleerungs- (Retention), Analsphinkter- u./o. Potenzstör. bei bds.
Läsion immer, bei einseitiger Läsion in variablem Umfang. Perianale Sensibilitäts-
stör. mit Ausfall o. Abschwächung des Analreflexes.
  17.1 Nervenläsionen  621

17.1.8 Nervenschäden der unteren Extremität


Läsion des N. femoralis
ICD-10 G57.2.
Intrapelvine Schädigung
Ätiol.:
• Retroperitoneales Hämatom bei Hämophilie, Antikoagulanzienther., Aneu-
rysmaruptur, Trauma, Überstreckung des Hüftgelenks o. Beckenfraktur.
• Aneurysma (vera sive falsa) der A. iliaca, Aorta abdominalis.
• Retroperitonealer Tumor o. Lymphom, retroperitonealer Abszess (Psoas).
• Iatrogen nach Hysterektomie, Appendektomie, retroperitonealer Tumor-OP,
Hüftgelenkersatz.
• Z. n. Radiatio, Retroperitonealfibrose, neuralgische Myatrophie (selten).
• Mononeuropathie (Lyme, Diabetes).
Klinik:
• Parese der Hüftbeuger, Kniestrecker, Außenrotatoren.
• Einknicken bei Bergabgehen, Behinderung beim Treppensteigen.
• PSR ↓.
• Sensibles Defizit (▶ Abb. 17.6) an Unterschenkelinnenseite, medialem Fuß-
rand, Oberschenkelvorderseite.
• Leistenschmerz bes. bei Hämatom.

dorsal ventral medial lateral


N. cuta-
N. cut. N. femoralis neus
fem. post fem. lat.
N. cut.
surae N. cut.
lat. N. obtura- fem. post N. femo-
N. sa- torius ralis
phenus
N. pero-
N. saphenus neus
comm.
N. peroneus N. pero-
N. suralis N. peroneus superfic. neus
superfic. superfic.
N. suralis
N. peroneus
N. plantaris med. N. peroneus profundus N. plantaris med. N. suralis profundus

Abb. 17.6  Sensible Versorgung des Beins [L106]

Schädigung in der Leiste 17


Ätiol.:
• Beckenfraktur.
• Druckschädigung.
• Iatrogen nach Herniotomie, Appendektomie, Totalendoprothese, Hämatom
bei Arterienpunktion, OP-Lagerung in Steinschnittlage, Z. n. Radiatio,
Schnittverletzung, Kompression (z. B. durch Bruchband).
Klinik: S. o., keine Parese der Hüftbeuger.
622 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Retroperitoneales Hämatom
Klinik:
• Akuter Schmerz in Leiste, Unterbauch u. Oberschenkel.
• Charakteristische Entlastungsstellung des Beins in Flexion, Abduktion u.
­Außenrotation.
• Bei Streckung im Hüftgelenk Schmerzzunahme.
• Sensible u. motorische Ausfälle.
• Häufig ist auch der N. obturatorius (▶ 17.1.7) mitbetroffen.
Diagn.: Daran denken. Becken-CT.
Ther.:
• Normalisierung der Blutgerinnung.
• Frühzeitige operative Dekompression, da Schädigung bei lang anhaltendem
Druck irreversibel ist.
Saphenusneuropathie
Ätiol.:
• Kompression des rein sensiblen N. saphenus im Hunter-Kanal bei Phlebitis
der V. saphena, Varizenexhairese.
• Druckschädigung durch intraop. Lagerung, unsachgemäße Unterschenkel-
schienen o. Gipsverbände, Arthroskopie, Meniskektomie, direktes Knietrauma.
Klinik:
• Schmerz an distalem Oberschenkel u. Unterschenkelinnenseite, bei Belastung
zunehmend.
• Sensibilitätsdefizit.
• Druckschmerz im distalen Oberschenkeldrittel.
• Pos. umgekehrtes Lasègue-Zeichen (▶ 1.1.9).
Ther.:
• Lokalanästhetika-Injektion am Triggerpunkt.
• Bei Erfolglosigkeit Spaltung des Hunter-Kanals u. Neurolyse.
Neuropathia patellae (Gonalgia paraesthetica)
Ätiol.: Läsion bzw. Irritation des sensiblen R. infrapatellaris mit u. ohne Trauma
an der Medialseite des Knies, selten nach Meniskektomie.
Klinik: Schmerzen, Parästhesien u. Sensibilitätsdefizit unterhalb des Knies mit
Zunahme bei Belastung.
Diagn.:
• Neurophysiologie: Bei der Neurografie Verlängerung der distal motorischen
Latenz zum M. rectus femoris bzw. M. vastus medialis. EMG.
• Bildgebung: V. a. Fraktur o. Senkungsabszess (Psoasrandverschattung). retro-
peritoneale Raumforderung.
• Labor: Glukose o. oraler Glukosetoleranztest z. A. einer diabet. Neuropathie,
17 Blutgerinnung, Lyme-Serologie u. Liquor.
DD:
• Wurzelkompression L3 (▶ 18.2): Vertebralsy., Parese der Hüftadduktoren,
ADR ↓. Path. Spontanaktivität im EMG der Paravertebralmuskulatur. In
Zweifelsfällen LWS-CT, MRT.
• Wurzelkompression L4 (▶ 18.2): Vertebralsy., Schwäche der Fußhebung.
Path. Spontanaktivität im EMG der Paravertebralmuskulatur. In Zweifelsfäl-
len LWS-CT, MRT.
• Affektion des Plexus lumbalis (▶ 17.2.1, ▶ 17.2.4): Schwäche der Oberschen-
keladduktion, ADR ↓, Sensibilitätsdefizit auch im Versorgungsgebiet der
N. cutaneus femoris lateralis.
  17.1 Nervenläsionen  623

• Orthopädische Affektion: Ruptur des Lig. patellae, arthrogene Inaktivitäts­


atrophie z. B. bei Arthritis o. Koxarthrose.
Ther.:
• Lokalanästhetika-Injektion am Triggerpunkt.
• OP bei Nachweis eines Neuroms.
Läsion des N. peroneus (fibularis)
ICD-10 G57.3.
Ätiol.:
• Exogene Druckschädigung am Fibulaköpfchen: Druck des Knies gegen harte
Unterlage, gewohnheitsmäßiges Übereinanderschlagen der Beine, Lagerungs-
schaden bei Bewusstlosen (Koma, Narkose, Alkohol- o. Drogeneinfluss),
mangelhaft gepolsterte Gipsverbände o. Schienen, schnelle Gewichtsabnah-
me, langes Arbeiten im Knien o. in der Hocke. Bei gleichzeitigem Karpaltun-
nel- o. Ulnarisrinnensy. an hereditäre Neigung zu Druckschäden denken!
• Trauma: Knieanpralltrauma mit Hämatom u. Weichteilschwellung, Fibula-
köpfchen-, Tibiakopf-, suprakondyläre Femurfraktur, posttraumatische Kal-
lusbildung, Kniegelenkluxation, Adduktionsverletzung des Kniegelenks mit
Bandzerreißung, selten intraneurales Hämatom.
• Iatrogen: Direkte Verletzung o. Zerrung bei Meniskektomie, Kniegelenkarth-
rodese, Knie-Totalendoprothese, Tibiaosteotomie o. Reposition kniegelenk-
naher Frakturen.
• Endogene Kompression: Selten durch Ganglien des Tibiofibulargelenks, Ba-
ker-Zyste, Aneurysma in der Kniekehle o. Neurom.
Klinik:
• Leitsympt.: Steppergang mit Fallfuß: Übermäßiges Anheben des Beins beim
Gehen wegen Schwäche der Fußhebung mit Aufschlagen des Fußes auf die
Unterlage beim Abrollen.
• Pes equinovarus: Parese der Dorsalextension des Fußes u. der Zehen sowie der
Pronation des Fußes, Fehlstellung durch Überwiegen der Fuß- u. Zehenbeuger.
• Sensibilitätsstör. im Spatium interosseum I (N. peroneus profundus) sowie an
Fußrücken u. Lateralseite des Unterschenkels. Parästhesien, nur selten
Schmerz (bei Ganglien u. anderen endogenen Kompressionssy.).
• Hoffmann-Tinel-Zeichen (▶ 3.11.1) über Fibulakopf o. Nervenverlauf, unzu-
verlässig.
Vorderes Tarsaltunnelsyndrom
Ätiol.: Kompressionssy. des N.  peroneus profundus am Fußrücken unter dem
Lig. retinaculum extensorum.
Klinik: Schmerzen über dem Fußrücken u. Sensibilitätsstör. im Spatium interos-
seum dorsale pedis I. Parese des M. extensor digitorum brevis wird meist nicht 17
bemerkt.
Exogene Kompression von Hautästen
Ätiol.: Durch Schuhwerk (Berg- u. Skistiefel, enge Schnürung, hohe Absätze) aus-
gelöstes Kompressionssy. der sensiblen Endäste des N. peroneus profundus.
Klinik: Dysästhesie, Schmerz u. Hypästhesie am Fußrücken u. im Spatium interos-
seum dorsale pedis I, pos. Hoffmann-Tinel-Zeichen am Druckpunkt. Keine Parese.
Diagn.:
• Neurografie: Bei lokalem Druck am Fibulaköpfchen NLG ↓ (um > 10 m/s) u./o.
Amplitudenabnahme des MSP (Leitungsblock) im Seitenvergleich über dem
Fibulaköpfchen bei Stimulation des N. peroneus prox. des Fibulaköpfchens.
624 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• EMG: Path. Befund in den Mm. tibialis ant., extensor hallucis longus u. pero-
neus longus et brevis. Cave: Immer Unters. des M. biceps femoris z. A. einer
hohen N.-peroneus-Läsion.
• Sono: Kniekehle bei V. a. Zyste o. andere Raumforderung.
DD:
• Ischiadikusläsion (s. u.): Betonung des peronealen Anteils.
• Wurzelkompressionssy. L5 (▶ 18.2): Schmerz, Vertebralsy., Fußeversion we-
niger betroffen. TPR ↓ (nur verwertbar, wenn auf der Gegenseite auslösbar).
Diagn.: Path. EMG der Paravertebralmuskulatur. In Zweifelsfällen CT der
LWS o. MRT.
• PNP (▶ 19): Strumpfförmige, meist symmetrische Sensibilitätsstör., ASR ↓,
Pallhypästhesie.
• ALS (▶ 16.1.1): Keine Sensibilitätsstör.! Distal symmetrische Paresen u. Mus-
kelatrophien. Generalisierte Faszikulationen. Muskeltonus ↑, MER ↑ u. pos.
Babinski-Zeichen als Hinweis auf eine Läsion des 1. MN.
• Zentrale Prädilektionsparese: MER ↑, Muskeltonus ↑, path. Reflexe, Zirkum-
duktion des Beins beim Gehen.
• Tibialis-anterior-Sy. (Kompartmentsy.): Schmerz! Trophische Stör.
(▶ 17.1.1).
Ther.: Entlastung.
Therapie
• Vermeidung der schädigenden Noxe, z. B. Übereinanderschlagen der Beine
bei Druckschäden.
• Physiother.
• Peroneusschiene zur Spitzfußprophylaxe.
• OP bei Nervendurchtrennung o. ausbleibender Reinnervation 4–6 Mon. nach
Trauma.
• Ersatz-OP o. Sprunggelenkarthrodese bei irreversibler Schädigung u. erfolg-
loser Nerven-OP.

Läsion des N. tibialis


ICD-10 G57.4.
Hinteres Tarsaltunnelsyndrom
ICD-10 G57.5.
Def.: Chron. Kompression des N. tibialis unter dem Retinaculum mm. flexorum
am Malleolus medialis.
Ätiol.: Prim. ohne erkennbare Urs. selten; sek. durch Trauma in der Knöchelge-
gend (Fraktur, Distorsion), Weichteilschwellung bei rheumatischen Prozessen,
17 abnorme Gefäße, Zysten.
Klinik:
• Schmerzen u. Parästhesien der Fußsohle, beim Gehen u. nachts zunehmend
(▶ Tab. 17.5).
• Hoffmann-Tinel-Zeichen: Elektrisierendes Gefühl bei Beklopfen des Nervs
hinter dem Malleolus medialis mit Ausstrahlung in die Fußsohle.
• Sensibilitätsstör. im Versorgungsgebiet des N. plantaris med. u./o. lateralis
(▶ Abb. 17.6).
• Trophische Stör.: Hypohidrosis, Hautveränderungen.
• Parese u. Atrophie der Fußsohlenmuskulatur, Krallenstellung der Zehen u.
Senkung des Fußgewölbes.
  17.1 Nervenläsionen  625

Tab. 17.5  Lokalisation, Ursachen u. Klinik einer Tibialisläsion


Schädigungsort Ursache Befund

Fußsohle Nervenkompression, Morton- Neuralgiformer Schmerz der Fuß­


Neuralgie, enges Schuhwerk sohle, Hypästhesie zweier gegen­
überliegender Zehen

Sprunggelenk Hinteres Tarsaltunnelsy., Mal­ Hypästhesie der Fußsohle, Hypo-


leolusfraktur, Talus-Luxations­ o. Anhidrose, Schmerzen in der
fraktur, Druckschädigung Fußsohle, Krallenstellung der Ze­
durch Gipsverband hen

Unterschenkel Offene Verletzung, Tibiafrak­ Läsion am Sprunggelenk, zusätz­


tur lich Parese aller Zehenbeuger

Kniekehle Schnitt-, Stichverletzung, sup­ Läsion am Unterschenkel u. Pare­


rakondyläre Femurfraktur, se der Zehenbeuger, Parese der
Kniegelenkluxation, Z. n. Fußinversion, Parese der Plantar­
Kniegelenk-OP, Baker-Zyste, flexion des Fußes (Zehenspitzen­
selten lagerungsbedingte stand unmöglich), Wadenatro­
Druckschädigung, Ganglion, phie, Hyp- o. Anästhesie der Un­
Nerventumor terschenkelrückseite, ASR, TSR-
Verlust

Diagn.:
• Neurografie: Bei Stimulation des N. tibialis am Innenknöchel Verlängerung
der distal motorischen Latenz zum M. abductor digiti minimi u./o. zum
M. abductor hallucis (selten), mitunuter Leitungsblock. path. N.-plantaris-
med.-Potenziale.
• EMG: Path. Spontanaktivität der Fußbinnenmuskulatur.
• Nach diagn. Leitungsblockade (z. B. mit Carbostesin) vorübergehende
Schmerzfreiheit.
DD: Morton-Neuralgie, orthopädisch bedingte Fußschmerzen (statischer Fuß-
schmerz).
Ther.:
• Versuch mit 6–10-maliger Leitungsblockade.
• Neurolyse bei Erfolglosigkeit.

• Bei Sensibilitätsstör. an der Ferse muss die Schädigung prox. des Tarsal-
tunnels liegen.
• Ein neurophysiologischer Normalbefund schließt ein Tarsaltunnelsy.
nicht aus!
17
Morton-Neuralgie
ICD-10 G57.6.
Ätiol.: Chron. Mikrotraumatisierung eines N.  digitalis plantaris communis vor
seiner Aufzweigung; meist im 3. o. 4. Metatarsalraum.
Klinik: Neuralgiforme Schmerzen am Köpfchen der Ossa metatarsalia 3 o. 4, Zunah-
me beim Gehen. Schmerzauslösung durch Verschieben der Metatarsalköpfchen.
DD:
• Wurzelkompressionssy. S1 (▶ 18.2): Radikulärer Schmerz, Vertebralsy., pos.
Lasègue-Zeichen. Beteiligung des M. gluteus maximus. Path. EMG der Para-
vertebralmuskulatur. Bildgebung.
626 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• Ischiadikusläsion (s. u.).
• PNP (▶ 19): Strumpfförmige, meist symmetrische Sensibilitätsstör., bilateral
ASR ↓, Pallhypästhesie.
• Tiefes hinteres Kompartmentsy. (▶ 17.1.1).
Ther.:
• Orthopädische Einlagen, wiederholte Lokalanästhetika-Injektionen in das
Spatium interosseum.
• Neuromexzision bei fortbestehenden Missempfindungen.
Läsion des N. ischiadicus
ICD-10 G57.0.
Def.: Mitunter Sympt. einer isolierten Läsion des N. peroneus, seltener des N. ti-
bialis wegen weit prox. Aufteilung des N. ischiadicus in diese beiden Äste.
Ätiol.:
• Trauma: Stich-, Weichteilverletzung mit Hämatombildung, Hüftgelenkluxati-
on, Becken-, Femurfraktur, Aneurysma nach Beckenfraktur.
• Iatrogen: Umstellungsosteotomie, Femurmarknagelung, Spritzenlähmung.
• Druckschädigungen: Z. B. bei mageren Personen durch Sitzen auf harter Un-
terlage, im Koma (Drogenabusus, Narkose in Steinschnittlage), durch Häma-
tome bei Blutgerinnungsstör. u. Entbindungen.
• Seltene Urs.: Nerventumor, Lipom in Nervennähe, Endometriose innerhalb
der Nervenscheide, sakrale Meningozele.
Klinik: Zusätzlich zu allen Schädigungen der Nn. peroneus u. tibialis Ausfall der
ischiokruralen Muskeln mit Schwäche der Kniegelenkbeugung u. geringer Parese
der Hüftgelenkstreckung.
Diagn.: EMG der Muskulatur der Oberschenkelrückseite. Fraktionierte SSEP
(▶ 2.3.5) mit Ableitung über Kniekehle, Gesäß, LWS u. kortikal.
DD:
• Piriformissy.: Schmerz im Gesäß mit Ausstrahlung in Oberschenkelrückseite.
• Läsion des Plexus lumbosacralis (▶ 17.2.4): Paresen auch der Mm. glutei me-
dius u. maximus, Sensibilitätsstör. an Oberschenkelrückseite u. Gesäß.
• Wurzelkompressionssy. L5 u. S1 (▶ 18.2): Schmerzhaftes Vertebralsy., radiku-
läre Sensibilitätsstör., keine Schweißsekretionsstör. an den Füßen. Path. EMG
der Paravertebralmuskulatur.
• Vaskulitische Mononeuropathie bei Kollagenosen (▶ 19.9.5).
Läsion des N. suralis
ICD-10 G57.8.
Def.: Rein sensibler Nerv aus Anteilen der Nn. tibialis u. peroneus. Außer bei Ver-
letzungen an der Außenseite des Unterschenkels selten isoliert geschädigt. Häufig
17 Spendernerv für Nerventransplantationen o. -biopsie.
Klinik:
• Sensibilitätsausfall an der Außenseite des Unterschenkels.
• Suralisneuralgie (Kamerad-Schnürschuh-Sy.): Nach chron. Druckschädigung
des N. suralis mit neuralgiformem Schmerz seitlich am Unterschenkel.

17.1.9 Läsionen der Rumpfnerven


Def.: Der Begriff der Interkostalneuralgie ist nur eine Symptombeschreibung u. erfor-
dert eine intensive Urs.-Suche. Im Gegensatz zu den Extremitätennerven streng meta-
mere Gliederung der Rumpfnerven mit Versorgung eines ringförmigen Hautareals.
  17.1 Nervenläsionen  627

Ätiol.:
• Diabet. Neuropathie.
• OP-Folge nach thoraxchirur. Eingriffen, selten Bandscheibenvorfälle (▶ 18.6).
• Trauma: Stichverletzungen, Rippenfrakturen, Querfortsatzfrakturen der Wir-
bel.
• Tumor: Infiltration durch kleinzelliges Bronchial-Ca, Mamma-Ca, Pleuraen-
dotheliom, Rippentumor, Metastase o. Druckläsion durch Lymphom, Neuri-
nom, Meningeosis carcinomatosa.
• Druckläsion: Überschießende Kallusbildung nach Frakturen, in Fehlstellung
verheilte Rippenfrakturen, mechanische Kompression der thorakalen Rr. dor-
sales bei Durchtritt durch den M. multifidus bzw. der Rr. cutanei mediales
durch die Faszie des M. rectus abdominis (M.-rectus-abdominis-Sy.).
• Entzündliche Prozesse: Pleuritis parietalis, Lyme-Borreliose, Zoster.
Klinik:
• Hemithorakale bzw. hemiabdominelle Schmerzen, Parästhesien.
• Sensibilitätsstör. u. Paresen meist erst bei Befall mehrerer Nerven o. Nerven-
wurzeln.
• Ventrale u. dorsale radikuläre Sensibilitätsstör. Cave: Skapuläre Elevation der
Dermatome: Der latero-dorsale Abschnitt des Dermatoms ist um eine Der-
matombreite nach kranial verschoben, sodass in der Skapulalinie ein Sprung
der Sensibilitätsstör. auftritt.
• Paradoxe Beweglichkeit der Bauchwandmuskulatur u. Ausfall der Bauchhaut-
reflexe in einer Etage bei abdominalen Läsionen.
• Musculus-rectus-abdominis-Sy.: Kompression eines N. cutaneus medialis bei
Durchtritt durch die Faszie des M. rectus abdominis. Scharfer, brennender
Schmerz entlang des M. rectus abdominis, bes. bei Bewegung u. abdominaler
Druckerhöhung. Bei F häufig nach der Entbindung (spontane Rückbildung
innerhalb von Mon.).
Diagn.

Intensive Urs.-Suche. Solange keine Urs. gefunden wurde, muss ein Tumor
angenommen werden!

• Inspektion:
– Zoster-Effloreszenzen, paradoxe Bauchwandbewegung.
– Orientierungspunkte für die thorako-abdominale Dermatomgliederung:
Mamille Th4, unterer Rippenbogen Th8, Bauchnabel Th10.
• Bildgebung:
– Rö-Thorax, Rippen (Fraktur, Kallusbildung, Arrosion).
– CT o. MRT der BWS: Tumorsuche in Höhe des geschädigten Dermatoms.
• EMG: Nachweis path. Spontanaktivität in der Paravertebralmuskulatur. Bei 17
abdominaler diabet. PNP bilaterale Spontanaktivität.
• Labor: BSG, Diff.-BB., Lyme-Titer in Serum u. Liquor; bei V. a. Diab. mell.
Glukose u. oraler Glukosetoleranztest, Liquor.
DD:
• Schmerz in den Head-Zonen bei Erkr. innerer Organe.
• Pseudoradikuläre lokale muskuläre Verspannung mit reflektorischem Hart-
spann.
• Tietze-Sy.: Schmerzhaftes Sternokostalgelenk.
Ther.: Behandlung der Grunderkr. Diagn. u. therap. Nervenblockade mit Carbo­
stesin® 0,5 % an der Schmerzstelle.
628 17  Nerven- und Plexusläsionen  

17.2 Plexusläsionen
ICD-10 G54.

17.2.1 Leitsymptome
Armplexusläsion
▶ Tab. 17.6. Häufig inkomplett. Bei traumatischen Läsionen kann das klin. Bild
durch zusätzliche Läsion einzelner peripherer Nerven o. durch einen Wurzelaus-
riss von den beschriebenen Formen abweichen.

Tab. 17.6  Leitsymptome der Armplexusläsion


Globale Arm- Obere Arm- Mittlere Untere Arm-
plexusparese plexusparese Armple- plexusparese
(C4–Th1) (Duchenne- xuspare- (Klumpke-De-
Erb; C4–C6) se (C7) jerine; C8–Th1)

Paresen

Alle Arm- u. Handmus­ X


keln sowie bei suprakla­
vikulärem Sitz der Schä­
digung auch Schulter­
gürtelmuskulatur mit
Scapula alata u. Rotati­
onsschwäche des Arms

Oberarmabduktion, -au­ X
ßenrotation, Unterarm­
beugung u. -supination,
schlaff herabhängender,
nach innen rotierter Arm

Armstreckung sowie par­ X


tiell Hand- u. Fingerstre­
ckung

Kleine Handmuskulatur, X
Finger- u. geringer auch
Handbeugung, Krallen­
stellung aller Finger mit
Hyperextension in den
Grundgelenken u. Fle­
xion in den Interphalan­
gealgelenken
17 Reflexe

BSR u. RPR ↓ X X

TSR ↓ X X

Trömner ↓ X X

An-, Hypästhesie

Gesamter Arm mit Aus­ X


nahme der Oberarm­
innenseite (Th2)
  17.2 Plexusläsionen  629

Tab. 17.6  Leitsymptome der Armplexusläsion (Forts.)


Globale Arm- Obere Arm- Mittlere Untere Arm-
plexusparese plexusparese Armple- plexusparese
(C4–Th1) (Duchenne- xuspare- (Klumpke-De-
Erb; C4–C6) se (C7) jerine; C8–Th1)

An-, Hypästhesie

Über M. deltoideus, der X


Außenseite des Ober­
arms u. dem radialen Un­
terarm bis zum Daumen

Über der Dorsalseite des X


Unterarms, dem Handrü­
cken u. den Fingern II u.
III

Ulnare Unterarm- u. X
Handkante inkl. der Fin­
ger IV u. V

An-, Hypohidrose

Anhidrose, Durchblu­ X
tungsstör. u. trophische
Stör.

Horner-Sy. (▶ 3.1.5). Tro­ X


phische Stör. der Hand
mit Hypo- o. Anhidrose

Beinplexusläsion
Häufig Schmerzsy. mit Ausstrahlung in die Leiste u. das Bein (▶  Tab.  17.7).
Schwere der Ausfälle variabel. Häufig überwiegt eine Läsion des peronealen
­Anteils des N. ischiadicus.

Tab. 17.7  Leitsymptome der Beinplexusläsion


Globale Beinple- Läsion Plexus Läsion Plexus sac-
xusparese lumbalis ralis

Paresen

Gesamtes Bein inkl. Hüft- X


u. Gesäßmuskulatur

Hüftbeugung, Kniegelenk­
streckung u. -adduktion
X 17
Gesäßmuskeln (pos. Tren­ X
delenburg-Zeichen), Knie­
beuger u. gesamte Unter­
schenkel- u. Fußmuskula­
tur

Reflexe

PSR u. ADR ↓ X X

TPR, ASR ↓ X X
630 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Tab. 17.7  Leitsymptome der Beinplexusläsion (Forts.)


Globale Beinple- Läsion Plexus Läsion Plexus sac-
xusparese lumbalis ralis

An-, Hypästhesie

Gesamtes Bein X

Vorder-, Außen- u. Innen­ X


seite des Oberschenkels u.
medialer Unterschenkel

Oberschenkelrückseite, am X
Unterschenkel bis auf den
medialen Rand, am Fuß so­
wie anogenital

An-, Hypohidrose

Gesamtes Bein X

Am Fuß mit Temperaturer­ X


höhung bei Grenzstrang­
beteiligung

17.2.2 Differenzialdiagnosen
▶ Tab. 17.8.
Tab. 17.8  Differenzialdiagnose der Plexusläsionen
Armplexus Beinplexus

Radikulopa- Radikuläre Verteilung der motorischen u. sensiblen Stör., kein


thien Schweißsekretionsdefizit, keine trophische Stör. in Arealen mit Sen­
sibilitätsstör. Bei Wurzelausriss blutiger Liquor, leere Wurzeltasche
im MRT (Myelografie)

Pseudoradi- • Überlastungsreaktionen der Schulter: Arthrogene Verände­


kuläre Be- Schmerzbedingte Bewegungseinschrän­ rungen der Hüfte
schwerden kung ohne sensomotorische Defizite,
normale neurophysiol. Befunde.
• Entzündl. Knochenprozesse: BSG ↑, Leu­
kozytose, Rö.
• Aseptische Knochennekrose: Keine neu­
rol. Ausfälle, Rö, Szinti.
• Frozen-Shoulder-Sy.: Nach Ruhigstellung
17 des Schultergelenks infolge eines Trau­
mas, Kontrakturen u. ausgeprägte Inakti­
vitätsatrophien der prox. Armmuskula­
tur, keine sensiblen Defizite, normaler
EMG-Befund.

Verletzungen • Sehnenruptur: Spontan o. traumatisch, • N.-ischiadicus-­


meist an Sehnen der Rotatorenmanschet­ Läsion (▶ 17.1.8)
te, akuter Schmerz u. Parese eines Mus­ • Kaudaläsion
kels, keine Sensibilitätsstör., normales (▶ 14.1.1, ▶ 18.8)
EMG des Muskels bei Innervation ohne • Tibialis-anterior-Sy.,
Bewegungseffekt. Kompartmentsy.
• Kompartmentsy. (▶ 17.1.1) am Unterarm (▶ 17.1.1)
  17.2 Plexusläsionen  631

Tab. 17.8  Differenzialdiagnose der Plexusläsionen (Forts.)


Armplexus Beinplexus

Engpasssy. Karpaltunnelsy. (▶ 17.1.6), Ulnaris-Kom­


pressions-Sy. (▶ 17.1.6)

Gefäße Thrombose der V. axillaris (Paget-Schroet­ Becken-/Beinarterien­


ter-Sy.): Schmerzen, Schwäche u. livide verschluss: Pulsdefizit,
Schwellung des Arms nach Trauma o. Über­ belastungsabhängige
lastung der Schulter Schmerzen, Cauda-
equina-Läsion

Sonstige • Syringomyelie (▶ 14.9): Dissoziierte Empfindungsstör., medulläre


Höhle im MRT.
• Sympathische Reflexdystrophie: Brennender Schmerz über das
Versorgungsgebiet des geschädigten Nervs hinaus, auslösbar
durch Berührung (Kausalgie). Atrophische, glatte, glänzende,
­zyanotische, kalte Haut u. Knochenatrophie (Sudeck-Sy.), nur
­geringe Paresen, meist Folge partieller Nervenläsion.
• Funktionelle (psychogene) Lähmungen: Atrophie durch Inaktivi­
tät möglich, aber selten ausgeprägt, atypische Sensibilitätsstör.,
MER auslösbar, normale Erregbarkeit der Muskeln, unauffälliges
EMG.
• Intraspinale Raumforderungen (▶ 14.5).

17.2.3 Läsionen des Plexus cervicobrachialis


ICD-10 G54.0.
Exogene Armplexusläsionen
Ätiol.:
• Zerrung: Häufigste Läsion, oft durch Motorradunfall mit Abscherung des
Arms, stumpfes Schultertrauma, Schulterluxation u. dislozierte Klavikula­
fraktur. Schweregrad abhängig von Stärke u. Zugrichtung der einwirkenden
Gewalt. Bes. häufig obere u. mittlere Plexusläsionen, häufig kombiniert mit
Wurzelausriss.
• Traumatisch: Stich- u. Schnittverletzungen.
• Druckschädigung: Tragen schwerer Lasten (Rucksacklähmung), oft obere
Plexusparese, o. durch ungünstige Lage im Koma mit direktem Druck auf
den Plexus in der kostoklavikulären Enge (s. u.). Gute Progn.
• Iatrogen:
– Direkte Schädigung bei Osteosynthese einer Klavikulafraktur, Axillarevi-
sion, Schulter-OP, Punktion der Vv. axillaris, jugularis interna u. subcla-
via, Stellatumblockade, Leitungsanästhesie.
– Traktionsschädigung bei medianer Sternotomie, z. B. bei Herz-OP (DD:
17
Isolierte Läsion des N. intercostobrachialis), bei Reposition von Schulter-
gelenkluxationen, Lagerungsschaden (z. B. bei OP in Trendelenburg-­
Lagerung).
Diagn.:

Cave: Exakte Dokumentation der motorischen u. sensiblen Ausfälle vor OP


o. Repositionsmanövern!
632 17  Nerven- und Plexusläsionen  

• Bildgebung: MRT (direkte Plexusdarstellung), ggf. Sono.


• Neurophysiologie: Bei klin. kompletten Paresen wiederholt in der 1. Wo.,
Abnahme der Amplitude des Muskelsummenpotenzials bei axonaler Schädi-
gung binnen 6 d.
– EMG: Frühestens 14 d nach dem Trauma path. Spontanaktivität (Vertei-
lungsmuster zur Zuordnung).
– Sensible Neurografie im Gegensatz zur Nervenwurzelschädigung path.,
Amplitudenabnahme o. -verlust, bei unteren Plexusläsionen wichtigstes
differenzialdiagn. Verfahren (Unters. des N. cutaneus antebrachii med.).
– Fraktionierte SSEP zur Lokalisation (▶ 2.3.5).
DD:
• Rotatorenmanschettenabriss: Keine Sensibilitätsstör., unauffälliges EMG.
• Wurzelausriss: Erhaltenes sensibles Nervenaktionspotenzial bei sensibler
Neurografie trotz klin. Sensibilitätsstör., path. Spontanaktivität im EMG der
Paravertebralmuskulatur.
Ther.:
• Operative Ther.:
– Primär-OP bei Schnittverletzung: Nervennaht mit u. ohne Transplantati-
on nur bei Läsionen des oberen u. mittleren Plexus. OP bei Durchtren-
nung der unteren Plexusanteile meist erfolglos (wegen langer Regenerati-
onsstrecke bis zur Unterarm- u. Handmuskulatur).
– OP möglichst innerhalb der ersten 3 Mon. bei stumpfen Verletzungen mit
kompletten Ausfällen u. ausbleibender Reinnervation im EMG. Je nach
Befund Neurolyse, Nervennaht mit/ohne Nerventransplantation o. Anas-
tomose.
– Ersatz-OP bei ausbleibender Regeneration nach Nerven-OP, Wurzelaus-
riss, kompletter unterer Plexusparese.
• Konservative Ther.:
– Ruhigstellung des Arms auf einer Abduktionsschiene mit tgl. Durchbewe-
gen der Gelenke.
– In den ersten Wo. nur mäßige Mobilisation, um weitere Plexuszerrung zu
vermeiden.
– Nach 6 Wo. Fortsetzung der KG unter Einschluss des Schultergelenks, bis
zur Erholung der motorischen Funktionen (bis zu 2 J.).

Geburtstraumatische Armplexusläsion
ICD-10 G54.0.
Def.:
• Häufigste Nervenläsion im Kindesalter.
• Bei Spontangeburt durch Missverhältnis zwischen Beckengröße u. Schulter-
17 breite des Kindes.
• Zusätzlich begünstigender Faktor: Direkter Druck auf den Plexus bei Zangen-
entbindung o. durch den Geburtshelfer bei Entwicklung aus Lageanomalie.
• Meist einseitig.
• In 80 % obere, in je 10 % untere bzw. kombinierte Plexusschädigung.
Klinik (▶ 17.2.1): Verminderte Mitbewegung des Arms bei Spontanbewegungen
u. bei Prüfung der Reflexe, z. B. bei Moro-Reaktion mit Ausbreitung u. anschlie-
ßender Adduktion der Arme.
KO:
• Zwerchfellparese bei Beteiligung der Wurzel C4.
• Wachstumsstör. der paretischen Extremität. Synkinesien.
  17.2 Plexusläsionen  633

Ther.:
• Zunächst immer konservativ.
• Mikroneurochir. OP u. Ersatz-OP erst später.
Progn.: Besserungen bis zum Ende des 2. Lj möglich. Spontanremission bei obe-
rer Plexusparese bis zu 80 %; untere Plexusparese prognostisch ungünstiger.

Engpasssyndrome (Thoracic-Outlet-Sy., endogene Kompressionen)


ICD-10 G54.9.
Def.:
• Mechanische Schädigung des Armplexus u. der ihn begleitenden art. u. venö-
sen Gefäße in anatomisch vorgegebenen Engpässen.
• Begünstigend:
– Halsrippe o. fibröses Band anstelle einer Halsrippe.
– Verlängerter Querfortsatz des HWK 7.
– Verdickter M. scalenus o. abnormer Ansatz u. Verlauf des Muskels.
• Skalenussy.: Durchtritt der A. subclavia u. des Plexus durch die hintere Ska-
lenuslücke (▶ Abb. 17.7) zwischen Mm. scalenus ant. et med.
• Kostoklavikuläres Sy.: Kompression zwischen I. Rippe u. Klavikula.
• Hyperabduktionssy. nach Wright: Kompression zwischen dem Ansatz des
M. pectoralis minor u. dem Processus coracoideus.

M. scalenus
medius
C5
M. scalenus
posterior C6
C7
Truncus
sup. C8

T1 Th1
Truncus
inf.
M. scalenus
anterior

Truncus
medius

A. subclavia

Abb. 17.7  Anatomisches Schema der Skalenuslücke [L106]


17
Klinik:
! Ein Thoracic-Outlet-Sy. mit objektivierbaren neurol. Ausfällen ist selten!
• Brachialgien: Dumpf, lage- u. belastungsabhängig, Zunahme beim Tragen
schwerer Lasten bei Skalenus- u. kostoklavikulärem Sy.
• Parästhesien: Bes. an der ulnaren Handkante, später sensible Ausfälle im
Schmerzgebiet möglich.
• Paresen u. Atrophien der kleinen Handmuskeln mit Stör. der Fingerfeinmo-
torik.
• Blasse Verfärbung der Hand infolge der Ischämie durch gleichzeitige Einen-
gung der A. subclavia u. Reizerscheinung der efferenten vegetativen Bahnen.
KO: Art. Embolien (selten).
634 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Diagn.:

Pos. Provokationstests geben nur einen Hinweis auf ein mögliches Thoracic-
Outlet-Sy., sind aber nicht beweisend, da sie auch ohne Vorliegen von Ano-
malien pos. ausfallen können. Für die Diagnosestellung müssen neurol.
­Defizite nachweisbar sein.

• Klin. Unters.: Nachweis klin. Ausfälle, Stenosegeräusch über Supraklaviku-


largrube.
• Bildgebung:
– Doppler-Sono der A. subclavia zum Stenosenachweis (▶ 2.8).
– Rö HWS (verlängerter Querfortsatz), obere Thoraxapertur (Halsrippe.
Cave: Nicht jede Halsrippe verursacht ein Kompressionssy.), Klavikula
(Kallusbildung, Fraktur).
– MRT der oberen Thoraxapertur bei V. a. Nerventumor im Plexusbereich.
– Angio des Aortenbogens nur in Ausnahmefällen.
• Elektrophysiologie:
– Neurografie: Verlängerte F-Wellen-Latenz u. amplitudenreduziertes
­Potenzial des N. ulnaris (▶ 2.4), nur in fortgeschrittenen Fällen path.
– SSEP des N. ulnaris: Umschriebene Leitungsverzögerung (▶ 2.3.5) zwi-
schen Erb-Punkt u. den zervikalen Ableitpunkten, empfindlichstes Ver-
fahren.
– EMG: Path. Spontanaktivität in der kleinen Handmuskulatur.
Ther.:
• Konservative Ther.: Zuerst vorübergehende Ruhigstellung u. Vermeiden der
auslösenden Bewegungen, dann KG zur Stärkung der Schulterhebermuskula-
tur. Cave: Volumenzunahme der für die Kompression verantwortlichen Mus-
keln.
• Operative Ther.: Nur bei progredienten sensomotorischen Ausfällen o. nach-
gewiesener Zirkulationsstör., z. B. Halsrippenresektion, Skalenotomie, Durch-
trennung eines fibrösen Bands o. Kallusentfernung.

Der alleinige Nachweis einer Halsrippe ohne neurol. Ausfälle o. zirkulatori-


sche Stör. ist keine OP-Ind.

Tumorbedingte Armplexusläsion
ICD-10 G54.0.
Ätiol.: Infiltratives Wachstum bei Pancoast-Tumor (Lungenspitzen-Ca), regiona-
ler Metastasierung (z. B. Mamma-Ca), Lymphom, benignem Nerventumor (Neu-
17 rinom, Schwannom, Neurofibrom).
Klinik (▶ 17.2.1):
• Intensive Schmerzen mit Ausstrahlung in den Arm (DD: Radiogene Spät-
schädigung s. u.).
• Progrediente Paresen u. Sensibilitätsstör., i. d. R. anfangs der unteren Plexus-
anteile.
• Sicht- u. tastbare Veränderungen in der Supraklavikulargrube.
• Horner-Sy. (▶ 3.1.5, Frühzeichen bei Pancoast-Tumor. Cave: Horner-Sy.
kann auch bei Schädigungen der Wurzel C8 u. Th1 auftreten).
• Anhidrose der Hand.
  17.2 Plexusläsionen  635

Diagn.:
• Bildgebung:
– Thorax-CT.
– MRT der Plexusregion.
• Neurophysiologie (▶ 2.5): EMG zur Bestimmung der Ausdehnung, sensible
Neurografie.
• Biopsie: Ggf. zur Abgrenzung einer radiogenen Spätschädigung.
Ther.: Schmerzbekämpfung (▶ 6.3), OP u. Bestrahlung wenn möglich, ggf. Che-
mother.

Radiogene Armplexusläsion (Strahlenspätschädigungen)


ICD-10 G54.0.
Ätiol.: Mechanische Irritation des Plexus durch Indurationsvorgänge des die Ner-
ven umgebenden Bindegewebes u. evtl. zusätzliche ischämische Schädigung nach
kurativer Axillabestrahlung bei Mamma-Ca o. Lymphom.
Klinik:
• Mon. bis Jahrzehnte nach der Bestrahlung langsam progrediente (geringe)
Schmerzen u. Parästhesien. Radiogene Hautveränderungen (Indurationen,
Teleangiektasien, Pigmentstör.).
• Progrediente sensible u. motorische Ausfälle, motorische Reizerscheinungen
(Faszikulationen, Myokymien) bes. der unteren Plexusanteile.
Diagn.:
• Wie bei tumorbedingter Armplexusläsion.
• Typ.: Hoch- o. niederfrequente komplex repetitive Entladungen im EMG
(nicht pathognomonisch).
DD: ▶ Tab. 17.9.

Tab. 17.9  Differenzialdiagnosen der radiogenen Armplexusläsion


Tumorrezidiv, Metastase Radiogene Spätschädigung

Dosis < 60 Gy > 60 Gy

Freies Intervall < 6 Mon. 6 Mon.–5 J.

Progredienz Schnell Langsam

Schmerz Immer heftig Meist geringer

Horner-Sy. Vorhanden Selten

EMG (komplex repe- Selten Häufig


titive Entladungen)

Cave: Alle Kriterien sind letztlich nicht beweisend. Zur Diagnosesicherung sind bild­ 17
gebende Verfahren u. evtl. eine Biopsie erforderlich.

Ther.: Symptomatisch.
• Schonung des Arms.
• Keine Injektionen in den Arm.
• Lymphdrainage.
• Schmerzther. (▶ 6.3).
• Neurolyse u./o. Omentum-majus-Transplantat nicht erfolgversprechend!
636 17  Nerven- und Plexusläsionen  

Neuralgische Myatrophie
Syn.: Schultermyatrophie, Parsonage-Turner-Sy., Plexusneuritis, kryptogeneti-
sche Armplexusneuropathie.
Def. u. Ätiol.: Autoimmunologisch entzündlich. Neben spontanem Auftreten
auch hereditäre, aut. dom. Form, dann meist rezidivierende Ausfälle.
Auslösefaktoren:
• OP, v. a. Abdominaleingriffe, Trauma (DD zum Lagerungsschaden: Intervall
zur OP 24–72 h).
• Entzündl. Erkr. des GIT o. der oberen Atemwege (bes. bei Mononukleose,
Toxoplasmose, Influenza-, Zytomegalievirus).
• Autoimmunerkr. (z. B. Lupus erythematodes).
• Heroinabusus.
• Heute selten als Folge von Serumgaben u. Impfungen (z. B. nach Tetanusto-
xoidgabe).
Klinik:
• Heftigste, reißende, von Bewegung unabhängige Schmerzen, Beginn
24 h–2 Wo. nach o. g. Auslösefaktor. Meist Schulter-Oberarm-Bereich, selten
an den Beinen (< 10 %).
• Häufig re, selten li o. bilateral, schlechtes Ansprechen auf Analgetika.
• Nach einigen Tagen, selten Wo. fast vollständige Rückbildung o. Übergang in
dumpfen Dauerschmerz. Dann schlaffe Parese einzelner Muskeln meist ohne
typ. Verteilungsmuster. Häufig betroffen: Mm. serratus ant., deltoideus, flexor
pollicis longus, flexor digitorum profundus II u. die Handextensoren. Selten
ausgeprägte Sensibilitätsstör.
Diagn.:
• Klinik: Typ. zeitliche Abfolge von Schmerzen u. Paresen.
• EMG: Path. Spontanaktivität in betroffenen u. klin. nicht betroffenen Mus-
keln. Meist normaler Befund der paravertebralen Muskulatur.
• Labor: BSG, CRP, E'phorese normal. Ausschluss einer Lyme-Borreliose o.
­Diab. mell.
• Liquor: Zellzahl normal, keine Schrankenstör.
DD: Mononeuritis (z. B. Diab. mell., Panarteriitis nodosa), Lyme-Borreliose,
Wurzelkompressionssy. (▶ 18), Polymyalgia rheumatica (i. d. R. bilateral).
Ther.:
• Im akuten Stadium Ruhigstellung des Arms, da Analgetika u. Antiphlogistika
meist nicht wirksam. Glukokortikoide 100 mg/d.
• Nach 2–3 Wo. KG mit steigender Belastung.
Progn.:
• Rückbildung des Schmerzes innerhalb weniger Tage, der Paresen innerhalb
von 1–2 J. Bleibende Defizite möglich.
17 • Rezidive ipsi-, kontralat. o. im Bereich des Plexus lumbosacralis in etwa 10 %
möglich.
• Rezidive gehäuft bei hereditärer Form u. Heroinabusus.

17.2.4 Läsionen des Plexus lumbosacralis


ICD-10 G54.1.
Ätiol.:
• Beckentumoren: Häufigste Urs., infolge Tumorinfiltration o. Druckschädi-
gung.
  17.2 Plexusläsionen  637

• Retroperitoneale Hämatome: Blutgerinnungsstör., Behandlung mit Antiko-


agulanzien. Flanken- o. Hyperextensionstrauma.
• Trauma: Beckenring-, Hüftgelenkfraktur, Beckenkompressionsfraktur, meist
Ausfälle des Plexus sacralis.
• Schwangerschaft: Missverhältnis zwischen kindl. Kopf u. Beckenausgang,
meist gegen Ende der Schwangerschaft o. während der Entbindung.
• Diab. mell.: Z. B. als prädisponierender Faktor für eine Plexusneuritis.
• Aneurysma der Aorta abdominalis o. der A. iliaca externa.
• Iatrogen: Direkte Schädigung o. Zerrung bei Eingriffen am Hüftgelenk
(Total­endoprothese, Reposition einer Luxation) o. am Schenkelhals (Fraktur-
versorgung, Umstellungsosteotomie), mitunter verzögert auftretendes periop.
Hämatom.
• Seltene Urs.: Tuberkulöser Senkungsabszess, Vaskulitis bei Kollagenose, neu-
ralgische Myatrophie (▶ 17.2.3), Retroperitonealfibrose, Strahlenspätschaden
(s. o.).
Diagn.:
• Klin. Unters.: Je nach vermuteter Urs. Sono (bei V. a. Hämatom), Rö (z. B.
Beckenübersichtsaufnahme), Becken-CT o. MRT (bei V. a. Tumor, Einblu-
tung).
• Elektrophysiologie:
– Neurografie: Zur Sicherung des Verteilungsmusters 14 d nach Auftreten
der Läsion (KI: Gerinnungsstör.). F-Wellen-Unters. der Nn. peronei u.
­tibiales im Seitenvergleich: Verlängerung der minimalen F-Wellen-Latenz
o. Ausfall bei normaler peripherer NLG als Hinweis auf eine prox. Schädi-
gung.
– Fraktionierte SSEP beider Nerven (▶ 2.3.5).
– EMG auch der prox. Anteile des N. peroneus (Caput breve m. bicipitis fe-
moris), des N. tibialis (M. gastrocnemius), des N. ischiadicus (ischiokru-
rale Muskeln), der Nn. glutei (Trendelenburg-Zeichen, Mm. glutei medius
et maximus), des N. femoralis (PSR, Sensibilitätsstör., M. vastus med.) u.
des N. obturatorius (ADR, Adduktorengruppe, Sensibilitätsstör.).
• Ninhydrin-Test: Zum Nachweis einer Schweißsekretionsstör. (▶ 1.1.12).
• Bildgebung: Becken-Sono u. -CT: Ausschluss eines retroperitonealen Häma-
toms bei akut aufgetretenen Plexusläsionen.
• Labor: BSG, Diff.-BB (entzündl. Prozess), Blutgerinnung. Z. A. Diab. mell.:
Glukose u. oraler Glukosetoleranztest, Borrelienserologie.
Ther.:
• Operative Ther.:
– Sofort, ggf. mit Nervennaht u. Transplantation bei traumatischen Plexus-
zerreißungen (Knochenfragment) o. Entlastung bei großem Hämatom.
– Revisions-OP, wenn 4 Mon. nach der Läsion keine Regeneration feststell- 17
bar.
• Konservative Ther.: Bei Traktionsschäden, Druckläsionen (außer bei großem
retroperitonealem Hämatom); neuralgischer u. diabet. Myatrophie (gute
Rückbildungstendenz). Lagerung der paretischen Extremität zur Vermeidung
von Kontrakturen u. Druckulzera, KG, Hilfsmitteleinsatz (Peroneusfeder,
Gehstütze). Behandlung der Primärerkr.
18 Spinale
Wurzelkompressionssyndrome
Christian Bischoff und Jürgen Klingelhöfer

18.1 Definition und Ätiologie 640 18.6 Thorakale Bandscheibenvor­


18.2 Leitsymptome 640 fälle 645
18.2.1 Vertebralsyndrom 640 18.7 Lumbale Wurzelkompressions­
18.2.2 Reizerscheinungen 640 syndrome 646
18.2.3 Sensibilitätsstörung 641 18.8 Cauda-equina-Syndrom 648
18.2.4 Paresen 641 18.9 Neurogene Claudicatio inter­
18.2.5 Weitere Symptome 642 mittens 649
18.3 Diagnostik und Differenzial­ 18.10 „Postdiskektomie-
diagnosen 642 Syndrom“ 650
18.3.1 Diagnostik 642 18.11 Spondylodiszitis 650
18.3.2 Differenzialdiagnosen 643 18.12 Chronischer, unspezifischer
18.4 Zervikale Wurzelkompressi­ Rückenschmerz (Lumbal­
onssyndrome 643 gie) 651
18.5 Zervikale Myelopathie 644
640 18  Spinale Wurzelkompressionssyndrome  

18.1 Definition und Ätiologie


ICD-10 G54.2–3/M50, 51.
• Meist degenerative Knochenveränderungen wie Osteochondrose, Spondylar-
throse u. Unkovertebralgelenkarthrose mit Einengung des Foramen interver-
tebrale.
• Seltener Nerven- u. Knochentumoren, Meningeome, Metastasen, Hämatome
u. Abszesse.
• Bandscheibenprotrusionen u. -vorfälle.
• Begünstigend: Enger Spinalkanal u. Traumen.

18.2 Leitsymptome
18.2.1 Vertebralsyndrom
• Steil gestellte u. klopfschmerzhafte WS mit Bewegungseinschränkung bei Fle-
xion, Rotation u. Neigung (DD bei der HWS: Meningismus).
• Drehung des Kopfs zur Gegenseite führt zu radikulärem (segmentalem)
Schmerz.
• Druckschmerzhafte, verspannte Paravertebralmuskulatur mit Myogelosen.
• Mitunter fixierte Fehlstellung (LWS: Skoliose).

18.2.2 Reizerscheinungen
• Parästhesien u./o. Schmerzen mit Ausstrahlung in ein Dermatom
(▶ Abb. 18.1).

C4
L3
C5 C5
S3
L2
Th2
L3
S2
L4-S1

C6 Th1 C6

C8 L4
C7
L5

18 S1 S1 L4
L5

Abb. 18.1  Radikuläre segmentale Versorgung der Arme u. Beine [L106]


  18.2 Leitsymptome  641

• Schmerz meist ausstrahlend von der WS, mitunter aber auch nur distal. Zunah-
me bei Kopfdrehung u. intraspinaler Druckerhöhung (Husten, Pressen, Niesen).
• LWS: Lasègue-Zeichen (Dehnungsschmerz des N. ischiadicus bei Beinstre-
ckung) u. Braguard-Handgriff (Ischiadicusdehnungszeichen durch zusätzli-
che Dorsalflexion des Fußes). Umgekehrtes Lasègue-Zeichen bei Kompressi-
on der Wurzel L3 o. L4 (Femoralis-Dehnungsschmerz bei Dorsalstreckung des
Beins in Bauchlage). Druckschmerz am Valleix-Punkt.

18.2.3 Sensibilitätsstörung
• V. a. Hypalgesie.
• Bei monoradikulären Prozessen ist das hypalgetische Areal stets kleiner als
die Schmerzzone, eine Hypästhesie kann fehlen.
• LWS: Auf Reithosen-Sensibilitätsstör. achten (▶ 3.12, ▶ 14.1.1)!

18.2.4 Paresen
Bei monoradikulären Kompressionen fast immer inkomplette Paresen der Kenn-
muskeln (▶  Tab. 18.1, ▶  Tab.  18.2; Kennmuskeln von mehreren Wurzeln ver-
sorgt). Muskelatrophien nach 1–2 Wo. LWS: Prüfung des monopedalen Zehen-
spitzenstands, des Hackengangs, des Aufrichtens aus der Hocke auf einem Bein.
Trendelenburg-Zeichen (▶ 17.1.7).

Tab. 18.1  Kennzeichen u. DD zervikaler Wurzelkompressionssyndrome


Wurzel MER ↓ Kennmuskeln Sensibles Defizit DD

C5 BSR M. deltoideus, M. biceps bra- Außenseite Ober- N.-axillaris-


chii, M. infraspinatus arm Läsion

C6 BSR, RPR M. biceps brachii, M. brachio­ Radialer Ober- u. N.-musculo-


radialis, (M. deltoideus) Unterarm bis zum cutaneus-
Daumen Läsion, KTS

C7 TSR, RPR M. triceps brachii, M. prona- Unterarmstreck-


tor teres, M. pectoralis ma- seite, Handrücken
jor, M. extensor carpi radialis bis II.–IV. Finger

C8 Trömner M. interosseus dors., Ulnarer Ober- u. N.-ulnaris-


M. abductor digiti quinti, Unterarm, Hand- o. untere
M. abductor pollicis brevis, kante bis Finger V Plexusläsion
M. flexor pollicis longus,
M. flexor carpi ulnaris

Tab. 18.2  Kennzeichen u. Differenzialdiagnosen lumbaler Wurzelkompressi­


onssyndrome
Wurzel MER ↓ Kennmuskeln Sensibles Defizit DD

L3 ADR Adduktorengruppe, Schräg über den Ober- N.-femoralis-Läsi-


M. quadriceps schenkel zum Knie on; N.-obturatori- 18
­femoris, M. iliopsoas us-Läsion

L4 PSR M. quadriceps Oberschenkelaußen- N.-femoralis-Läsi-


­femoris, M. tibialis seite, medialer Unter- on; diabet.
ant. schenkel bis Fußrand Myatrophie
642 18  Spinale Wurzelkompressionssyndrome  

Tab. 18.2  Kennzeichen u. Differenzialdiagnosen lumbaler Wurzelkompressi­


onssyndrome (Forts.)
Wurzel MER ↓ Kennmuskeln Sensibles Defizit DD

L5 TPR M. extensor hallucis Unterschenkelaußen- N.-peroneus-­


longus, M. tibialis seite, Fußrücken bis Läsion
ant., M. tibialis post., Großzehe
M. gluteus medius

S1 ASR M. triceps surae, Unterschenkelrücksei- N.-tibialis-,


M. gluteus maximus, te, Fußaußenrand ­N.-ischiadicus-,
M. biceps femoris Plexusläsion

18.2.5 Weitere Symptome
MER der Kennmuskeln ↓, Blasenentleerungsstör. bei medialen Bandscheibenvor-
fällen im LWS-Bereich.

Vegetative Ausfälle, v. a. Schweißsekretionsstör., fehlen im Gegensatz zur


Plexusläsion o. PNP.

18.3 Diagnostik und Differenzialdiagnosen


18.3.1 Diagnostik

Nur morphologische Veränderungen, die mit dem klin. Befund übereinstim-


men, dürfen als Urs. der Stör. angesehen werden, da radiologisch auch aus-
geprägte degenerative Veränderungen nicht mit klin. Ausfällen einhergehen
müssen.

Anamnese
Vorausgegangene Schmerzereignisse, abrupte Bewegung, Verhebetrauma, Tumorana-
mnese, Husten-, Press-, Niesschmerz, Miktionsstör., Osteoporose, Entzündungen.

Diagnostik
Bildgebung:
• MRT: Beziehung des Bandscheibenprolapses zu den Nervenwurzeln (zur OP-
Vorbereitung), Beurteilung der Nervenwurzelabgänge u. der Myelonkom-
pression.
• CT: Mitunter hilfreich bei lateralem Bandscheibenvorfall, knöcherne Verän-
derung.
• Rö WS: Nur noch in Ausnahmefällen.
18
Indikation zur Bildgebung
Sofort bei Red-Flag-Sympt. (zunehmende Paresen, Blasenstör., Pyramiden-
bahnzeichen, Tumoranamnese), sonst bei therapieresistenten Beschwerden
nach 10–12 Wo.
  18.4 Zervikale Wurzelkompressionssyndrome  643

• Myelografie mit Post-Myelo-CT: Sehr selten v. a. bei funktioneller Spinalka-


nalstenose.
Elektrophysiologie: EMG zur Unterscheidung einer Parese von einer schmerzbe-
dingten Minderinnervation, Nachweis klin. nicht erkennbarer Muskelbeteiligun-
gen. Zur Abgrenzung von Plexusläsionen Unters. der Paravertebralmuskulatur
sowie sensible Neurografie. Path. Spontanaktivität frühestens 14 d nach Schädi-
gungsbeginn.
Liquor: Z. A. entzündl. Prozesse (Lyme-Borreliose, GBS) o. einer Meningeosis
carcinomatosa.
Labor: BSG, CRP (Diszitis), Diff.-BB, Lyme-Serologie.

18.3.2 Differenzialdiagnosen
Tumor (▶ 14.5), Meningeosis carcinomatosa o. lymphomatosa (▶ 13.6.17): Mali­
gne Zellen im Liquor, Eiweiß ↑. Cave: Stoppliquor. Neuritiden (Lyme-Borreliose,
GBS, Zoster, Herpes simplex). Andere periphere Nervenläsionen, Arachnopathie
(▶ 14.4.4), Neuropathien bei Diab. mell. (▶ 19.5.1), Kollagenosen (▶ 19.9.5), neu-
ralgische Myatrophie (▶ 17.2.3).

18.4 Zervikale Wurzelkompressionssyndrome
ICD-10 G54.2/M50.1.

Ätiologie
Meist degenerative Knochenveränderungen, v. a. der unteren HWS (HWK 5/6 u.
HWK 6/7 mehr als HWK 7/BWK 1). Bandscheibenprotrusionen u. -vorfälle sind
an der HWS 100-mal seltener als an der LWS, häufig nach Bagatelltraumen o.
spontan ruckartigen Bewegungen. Im Unterschied zur LWS überwiegen monora-
dikuläre Schädigungen.

Klinik
▶ 18.2. Medulläre Sympt. (Pyramidenbahnzeichen, Blasenstör., MER ↑ der Beine)
können sowohl durch einen medialen Massenvorfall als auch durch zusätzliche
ischämische Schädigungen hervorgerufen werden.

Diagnostik
▶ 18.3.1.
• Anamnese: Vorausgegangene Zervikobrachialgien.
• Lhermitte-Zeichen: Elektrisierendes Gefühl entlang der WS bei Druckerhö-
hung im Spinalkanal.

Differenzialdiagnosen
▶ 18.3.2. Andere periphere Nervenläsionen, z. B. KTS (▶ 17.1.6), Thoracic-Outlet-
Sy. (▶  17.2.3), orthopädische Erkr. wie Arthropathia humeroscapularis, lokales
Muskeltrauma, chron. Überlastungssy., Neuropathie (z. B. bei Diab. mell. o. Kol- 18
lagenosen), neuralgische Myatrophie (▶ 17.2.3).
644 18  Spinale Wurzelkompressionssyndrome  

Konservative Therapie
Immer zunächst, außer bei Massenvorfällen mit medullären Sympt.
• Kälte- o. Wärmeanwendungen, z. B. Fangopackungen.
• Analgetika: Z. B. Paracetamol 3–4 × 500–1.000 mg/d p. o. (z. B. ben-u-ron®);
ggf. stärkere Analgetika (▶ 6).
• Antiphlogistika: Z. B. Diclofenac 3 × 25 mg/d p. o. (z. B. Voltaren®) o. Indo-
metacin 3 × 25–50 mg/d p. o. (z. B. Amuno®), NW u. KI beachten.
• Muskelrelaxanzien: Bei paravertebralem Hartspann z. B. Diazepam
3–4 × 5 mg/d p. o. (z. B. Valium®), Tizanidin 6–12 mg.
• Entspannende KG u. Haltungskorrektur nach Abklingen der Schmerzphase
über das Ende der Symptomatik hinaus. Keine Ruhigstellung.

Chiropraktische Manöver können zu einer Befundverschlechterung führen.


Gefahr der Vertebralisdissektion.

Operative Therapie
• Ind.: Progrediente motorische Ausfälle, medulläre Sympt., Blasenstör., thera-
pieresistente (> 12 Wo. intensive stationäre konservative Ther., eindeutiges
morphologisches Korrelat) u. schwere radikuläre Schmerzsy. mit degenerati-
ven Veränderungen.
• Durchführung:
–  Foraminotomie: Aufweitung des Foramen intervertebrale durch Entfer-
nen von Knochenappositionen.
–  Ventrale Diskektomie: Ventraler Zugang zur HWS mit Ausräumung des
Bandscheibenraums u. anschließender Verblockung der WK. Vorteil:
Kurze Immobilisationsphase.

18.5 Zervikale Myelopathie
ICD-10 M50.0.

Definition
Myelonkompression durch bindegewe-
bige o. meist knöcherne, degenerative
Veränderungen. M >> F.

Ätiologie
• Diskogen: Medialer zervikaler
Bandscheibenprolaps (▶ Abb. 18.2),
gel. auch knöcherne Protrusion,
meist bei anlagebedingtem engem medio- me- late-
lateral dial ral
Spinalkanal.
• Spondylogen: Altersbedingte Dege- Spinalganglion
neration der WK mit Spondylolyse
18 u. Osteophytenbildung. Einengung Abb. 18.2 Bandscheibenvorfälle (zer-
des zervikalen Spinalkanals (normal vikal) [L106]
20 mm in Höhe HWK 1, 17 mm in
Höhe HWK 4 u. 15 mm in Höhe HWK 7). Prädilektion HWK 5/6. Bei gleich-
zeitiger kongenitaler Enge des Spinalkanals (< 13 mm) frühere Manifestation.
  18.6 Thorakale Bandscheibenvorfälle  645

Komplikationen
Vask. Kompression.

Klinik
• Langsam progrediente spastische Gangstör. mit Para- o. Tetraspastik (je nach
Höhe der Läsion) u. atrophischen Paresen der Handmuskulatur, Blasenstör.
• MER ↓ in Läsionshöhe u. ↑ kaudal davon.
• Beinbetonte, dissoziierte Sensibilitätsstör., häufig aber nur unspezifische o.
gar keine sensiblen Ausfälle.
• Diffuse Nacken- u. Schulterschmerzen, Lhermitte-Zeichen (▶ 18.4).
• Radikuläre Ausfälle bes. C6 u. C7 (seltener als bei diskogener Myelopathie).
• Provokation von Sympt. bei Retroflexion des Kopfs.
Diagnostik
Bildgebung:
• MRT: Darstellung der Enge u. von Myelonveränderungen (T2: Veränderun-
gen in 2 Ebenen sagittal u. koronar). Die Enge des Spinalkanals wird häufig
überschätzt.
• CT: Nur bei knöchernen Veränderungen dem MRT überlegen.
Elektrophysiologie:
• Evozierte Potenziale: SSEP u. transkortikale Magnetstimulation: Latenzver-
längerungen.
• EMG: Arm- u. Handmuskeln zur Höhenlokalisation, paravertebrales EMG.
Differenzialdiagnosen
• ALS (▶ 16.1.1): Veränderungen des 2. MN auch in anderen Regionen.
• WS-Affektionen: Halsmarktumoren, entzündl. o. maligne Wirbelprozesse,
Angiom des Halsmarks, epiduraler Abszess (MRT, akuter Beginn; ▶ 14.4.1),
intraspinales Hämatom (▶ 14.3.3), Wirbeldeformität (Kyphoskoliose), Spon-
dylolyse, Spondylolisthesis.
• Friedreich-Ataxie (▶ 16.2.3): Ataxie (Alter!).
• Densinstabilität bei Polyarthritis: Spastische Tetraparese, häufig auch passa-
ger in der Vorgeschichte, auch Ausfall kaudaler HN, okzipitale Kopfschmer-
zen durch Wurzelläsion C2/C3, kardiorespiratorische Stör.
• MS: KM-Aufnahme der intramedullären Veränderungen.
Therapie
• Konservativ: Bei langsamer Progredienz KG.
• Chir.: Ventrale Fusion mit Stabiliserung, postop. KG.
Prognose
Verlauf variabel. Bei länger bestehenden Ausfällen ist trotz OP keine komplette
Restitution zu erwarten. Das Fortschreiten der Behinderung kann jedoch häufig
aufgehalten werden.

18
18.6 Thorakale Bandscheibenvorfälle
ICD-10 M51.1/G54.3.
Klinik: Sehr selten. Gürtelförmige thorakale Schmerzen u. Sensibilitätsstör. in ei-
nem Dermatom. Der dorsale Dermatomstreifen ist um eine Dermatombreite
646 18  Spinale Wurzelkompressionssyndrome  

­ eiter kaudal als der lateroventrale Abschnitt. Bei medialen Vorfällen zusätzlich
w
medulläre Schädigungszeichen wie Paraspastik, Blasenentleerungsstör., lat. Band-
scheibenvorfälle an der BWS sind eine Rarität.
Diagn.: BWS, CT, MRT, EMG der thorakalen Paravertebralmuskulatur. Aus-
schluss einer andersartigen Läsion eines Brustnervs (▶ 17.1.9).

18.7 Lumbale Wurzelkompressionssyndrome
ICD-10 M51.1/G54.4.

Epidemiologie
Lumbale Bandscheibenvorfälle etwa 100  × häufiger als zervikale. Inzidenz etwa
150/100.000, mit zunehmendem Alter steigend. Altersgipfel 4.–5. Dekade. M > F.

Protrusion: Anulus fibrosus bleibt intakt.


Prolaps: Gallertkern tritt aus; gestielt (mit Verbindung zum Gallertkern) o.
sequestriert (freies Bandscheibenmaterial im Spinalkanal).

Ätiologie
• Meist Bandscheibenvorfälle, degenerative knöcherne Veränderungen, anlage-
bedingte Anomalien.
• Seltener: Neurinom, Neurofibrom, Meningeom, Ependymom der Cauda
equina, Abtropfmetastase bei Glioblastom, Knochentumor, ossäre Metastase,
Fehlbildungstumor.
• Degenerative Veränderungen können radiologisch bei fast allen älteren Men-
schen nachgewiesen werden, sodass sie nur bei Übereinstimmung mit dem
klin. Bild als pathogenetische Faktoren gewertet werden können. > 90 % aller
Fälle LWK 4/5 u. LWK 5/SWK 1.
• Disponierend sind Übergewicht, vorausgegangene Schwangerschaften.
• Der Einfluss von Traumen (z. B. Verhebetrauma) ist umstritten, da auch
Spontanbewegungen zu einem Bandscheibenvorfall führen können.

Durch den Parallelverlauf der Nervenwurzeln im Spinalkanal kommt es häu-


figer als im zervikalen Abschnitt zu polyradikulären Schädigungen.

Klinik
▶ 18.2.
• Ein Babinski-Zeichen kann bei einer lumbalen Radikulopathie nicht auftre-
ten, sondern weist auf eine Schädigung des RM (d. h. oberhalb LWK 1) hin.
• Wegen des langstreckigen intraspinalen Nervenwurzelverlaufs kann ein Wur-
zelkompressionssy. L5 durch einen mediolateralen Bandscheibenprolaps zwi-
schen LWK 4 u. 5 o. durch einen lat. Bandscheibenprolaps in der nächst tiefe-
ren Etage zwischen LWK 5 u. Os sacrum ausgelöst sein. Deshalb immer auch
18 radiologische Darstellung der benachbarten Segmente.

Diagnostik
• Anamnese: Vorausgegangene Lumboischialgien, abrupte Bewegung, Tumor­
anamnese.
  18.7 Lumbale Wurzelkompressionssyndrome  647

• Bildgebung:
– MRT, ggf. CT bei unauffälligem MRT, Neurophysiologie, LP (▶ 18.3.1).
– Myelografie u. Post-Myelo-CT in unklaren Fällen.
• Labor: ▶ 18.3.1.
Ist bei der radiologischen Diagn. in der betroffenen Etage kein path. Prozess
nachweisbar, muss der gesamte lumbale Spinalkanal bis zum Conus medul-
laris (etwa in Höhe LWK 1) dargestellt werden, da die lumbalen Nervenwur-
zeln an jeder Stelle vom Austritt aus dem RM bis zum Austritt aus dem Fora-
men intervertebrale geschädigt werden können.

Differenzialdiagnosen
▶ 18.3.2.
• Tumor: Neurinom, Metastase (bei M > 60 J. v. a. Prostata-Ca; immer rektal-
digitale Unters.).
• Periphere Nervenläsionen: Bes. Peroneusparese u. Ischiadikusläsionen
(▶ 17.1.8).
• Orthopädische Erkr. (pseudoradikuläre Sy.): Z. B. Spondylolisthese, Koxitis,
Koxarthrose, Wirbelgelenkarthrose, tendomyotisches Sy., lokales Muskeltrau-
ma, chron. Überlastungssy., Bursitis, Piriformissy.

Konservative Therapie
Immer außer bei Massenvorfällen.
• Keine längere Ruhigstellung, mäßige Belastung u. wechselnde Positionen,
Wärmeanwendung.
• Analgetika:
– Z. B. Paracetamol 4 × 1 g/d p. o. (z. B. ben-u-ron®).
– Bei Bedarf kurzfristig auch Tramadol 4–6 × 50 mg/d p. o. (z. B. Tramal®).
– Retardierte Analgetika (Tramal ret. 100–400 mg/d), für 1–2 Wo.
– Diclofenac 3 × 25–50 mg/d p. o. (z. B. Voltaren®) o. Ibuprofen 3 × 400–
800 mg/d p. o.
– Ggf. kurzzeitige Opiate bei stärksten, therapieresistenten Schmerzen in
der Akutphase.
• Muskelrelaxanzien: Z. B. Diazepam 4 × 5 mg/d p. o. (z. B. Valium®), Tizanidin
6–12 mg/d.
• KG: In der Akutphase nur Entspannungsübungen, dann Übungsprogramm
zur Stabilisierung der LWS, Kräftigung der Rücken- u. Bauchmuskulatur.
Selbstständige Weiterführung durch den Pat., Training des optimalen Ge-
hens, Sitzens, Hebens u. Tragens als Sekundärprophylaxe.
• Lumbale Wurzelinfiltration: 5 ml Carbosthesin 0,5 % in die Nähe der betroffe-
nen Nervenwurzel; umstritten.

Operative Therapie
Ind.:
• Absolut: 18
– Progrediente neurol. Ausfälle, v. a. bei Entwicklung von Blasen- u. Mast-
darmstör. (Cauda-equina-Sy., ▶ 18.8).
– Akute erhebliche motorische Defizite (weniger als Kraftgrad 3/5) bei
nachgewiesenem Bandscheibenvorfall.
648 18  Spinale Wurzelkompressionssyndrome  

• Relativ:
– Trotz intensiver stationärer konservativer Ther. (> 6–8 Wo.) anhaltende
Schmerzen u. Nachweis eines umschriebenen Prozesses.
– Chron. rezid. Wurzelirritationen mit geringen neurol. Defiziten, aber ra-
diologisch nachweisbaren Wurzelaffektionen, schlechte Progn.
KI: Nicht segmentale Schmerzzustände.
Offene Nukleotomie: Mit mikrochirurgischer Technik.
• Ind./Technik:
– Lumbale o. sequestrierte Bandscheibenvorfälle. Über einen möglichst klei-
nen Zugang Entfernung des Bandscheibengewebes. Exakte Darstellung
von Dura (Verletzungsgefahr!) u. Nervenwurzel.
– Minimalinvasiv bei Facettgelenksy. (nach pos. diagn. Facettgelenkblocka-
de): Perkutane, CT-gestützte Kryother. o. Thermoläsion.
– Stabilisierungs-OP, ggf. mit Dekompression: WK-Destruktion, Spondylo-
listhesis.
• KO:
– Instabilität.
– Nachblutungen mit EDH.
– Duraverletzungen.
– Rezidive.
– Spondylodiszitis (postop. Schmerz, Fieber, BSG ↑).
– Verletzung der Nervenwurzel u. ventral liegender Organe (V. cava, Aorta
abdominalis).
Postop. Nachbehandlung:
– Tgl. Kontrolle des neurol. Befunds in den ersten 4 d.
– Mobilisation nach dem 2. d.
– Körperl. Schonung für 6 Mon.
– Kein tiefes Sitzen u. Tragen schwerer Lasten in den ersten 3 Mon.
– Heben schwerer Lasten für 6–12 Mon. vermeiden.
– Frühzeitiger Beginn der KG mit stufenweiser Steigerung.
– Schulung des Aufstehens aus dem Liegen, Heben, Tragen u. Gangschu-
lung zur Rezidivprophylaxe.

Prognose
• Spontanremission auch bei nachgewiesenen Bandscheibenvorfällen u. senso-
motorischen neurol. Defiziten möglich. Rückbildung der Ausfälle abhängig
von Dauer der präop. Sympt. (evtl. Mon.).
• OP-Ergebnis abhängig von exakter Diagnosestellung. Prognostisch günstig:
Jüngere Pat., monoradikulärer Prozess, kurze Anamnese, eindeutiger Prolaps.
• WS-Instabilitäten, bes. nach (Hemi-)Laminektomie mit später auftretenden
degenerativen Veränderungen.
• Chron. Schmerzsy. sowohl nach konservativer als auch nach operativer Ther.
• Re-OP in 6–10 %. Prognostisch ungünstiger als Erst-OP.

18 18.8 Cauda-equina-Syndrom
ICD-10 G54.9.
Def.: Schädigung der innerhalb des lumbosakralen Spinalkanals verlaufenden
Nervenwurzeln.
   18.9  Neurogene Claudicatio intermittens  649

Ätiol.: Akut: Bandscheibenmassenprolaps, seltener Tumor, Hämatom. Schlei-


chend progredient: Tumoren, Abtropfmetastasen, selten entzündl. Prozesse.
Klinik: Ausfälle der sakralen Nervenwurzeln:
• Sensibilitätsstör. der sakralen Dermatome in der Analgegend (Reithosenhyp-
o. -anästhesie), der anschließenden Oberschenkelinnenseite sowie Rückseite
des Ober- u. Unterschenkels bis zum äußeren Fußrand.
• Analsphinktertonus ↓, erloschener Analreflex.
• Blasen-Mastdarm-Lähmung mit Harn- u. Stuhlinkontinenz (Überlaufblase).
• Potenzstör., v. a. bei chron. progredienten Verläufen.
• Bilaterale Parese des M. triceps surae, der kleinen Fußmuskeln u. meist auch
der Gesäßmuskulatur.
• ASR ↓.

Obere Begrenzung in Abhängigkeit von der Schädigungshöhe


• L2/L3: Hüftbeuger u. Adduktorenparese, ADR ↓.
• L4: Quadrizepsparese u. PSR ↓.
• L5: Bilaterale Parese der Fuß- u. Zehenheber, TPR ↓.
Diagn.: Sofort MRT. Unters. immer bis in Höhe des Conus medullaris (LWK 1).
DD: Conus-medullaris-Schädigung (▶ 14.1.1).
Ther.: Immer OP, offene Dekompression der Kaudafasern, evtl. in Komb. mit Sta-
bilisierung.

Ein Cauda-equina-Sy. ist ein neurol. neurochir. Notfall u. erfordert eine so-
fortige OP innerhalb weniger h, da die Schädigungen sonst irreversibel sind.

18.9 Neurogene Claudicatio intermittens


ICD-10 M51.1.
Syn.: Claudicatio intermittens der Cauda equina.
Def. u. Ätiol.: Mechanische Kompression der Cauda equina o. einzelner Nerven-
wurzeln bei prim. engem Spinalkanal (<  22 mm) u. zusätzlichen degenerativen
Veränderungen (knöchern, Bandscheibenprolaps, verdickte Ligamente).
Klinik: Belastungs- u. gehstreckenabhängige Schmerzen tief lumbal o. radikulär
ausstrahlend, meist einseitig, subakute bis chron. Entwicklung von uni- o. bilate-
ralen, mono- o. polyradikulären sensomotorischen Defiziten am Bein, Paresen
erst spät im Verlauf o. bei zusätzlichen Bandscheibenvorfällen.
Diagn.:
• Auftreten bzw. Zunahme von Schmerzen, Parästhesien u. ggf. motorischen
Ausfällen beim Gehen (Bergabgehen).
• Rückbildung erst nach Entlastung der Nervenwurzeln durch Hinsetzen, Hin-
legen o. Vorbeugen des Rumpfs.
• Im Gegensatz zur vask. Claudicatio intermittens sistieren die Beschwerden
nicht, wenn der Pat. stehen bleibt. 18
Ther.: Abhängig von der Symptomatik (erhebliche Verkürzung der Gehstrecke)
erweiterte Fensterung mit Dekompression der Gegenseite („undercutting“) mit u.
ohne Stabilisierung.
650 18  Spinale Wurzelkompressionssyndrome  

18.10 „Postdiskektomie-Syndrom“
ICD-10 G54.9.
Def.: Nach einer Bandscheiben-OP auftretende o. anhaltende Schmerzen u. sen-
somotorische Ausfälle.
Ätiol.:
• Akutes Auftreten o. postop. Persistenz: Epidurale Blutung, unvollständige
Ausräumung des Bandscheibenraums, OP in falscher Höhe, übersehene knö-
cherne Enge, falsche OP-Ind. wie pseudoradikuläres Sy.
• Verzögertes Auftreten: Rezidiv-Bandscheibenvorfall, lokale Narbenbildung,
Spondylodiszitis (BSG!), Arachnopathie, Segmentinstabilität.
• Psychosomatisch.
Diagn.:
• Anamnese u. neurol. Unters.: (▶ 1.1). Hinweise für psychische Auffälligkei-
ten. Weitergehende Diagn. je nach Klinik.
• Bildgebung: MRT mit KM: Zur DD Narbengewebe (Enhancement) o. Rezi-
divprolaps (kein Enhancement), Spinalkanalstenose, nur bei unklaren Befun-
den, Narbengewebe, Tumor.
• Labor: BSG, Diff.-BB: Ausschluss Spondylodiszitis.
Ther.:
• Konservativ:
– Zunächst immer außer bei ausgedehnten Raumforderungen.
– Aufklärung des Pat. zur Verbesserung der Compliance. Hinweis, dass
durch weitere OP die Symptomatik auch verschlechtert werden kann (bes.
bei Arachnopathien).
– Physiother.
– Medikamentös (▶ 6), TENS, psychosomatische Ther.
• Operativ:
– Bei eindeutigem Nachweis einer Nervenwurzelkompression, Korrelation
mit der Klinik.
– Bei Rezidivprolaps, unvollständig ausgeräumtem Bandscheibenraum,
Narbengewebe, engem Spinalkanal, Hämatomen.
– Verfahren (▶ 18.7).
– Bei Segmentinstabilität dorsale o. ventrale Spondylodese, evtl. Fixateur in-
terne.
Progn.: Abhängig von der Urs. u. der Primärpersönlichkeit.

18.11 Spondylodiszitis
Def.: Infektion des Bandscheibenfachs u. der angrenzenden WK.
Ätiol.:
• Infektion nach lokaler OP o. bei Injektionen in WS-Nähe (z. B. periradikuläre
Injektionen).
• Hämatogene Streuung, Herd oft nicht identifizierbar.
• Streuung bei anderen bakt. Infektionen.
18 • Staphylokokken (60 %), Enterobakterien.
Diagn.: Dauerschmerz, lokaler Klopf- u. Druckschmerz, radikuläre Reizsy.
• Bildgebung:
– MRT mit KM.
– Szinti.
• Labor: BSG, CRP, Diff.-BB. Blukultur zum Erregernachweis.
   18.12  Chronischer, unspezifischer Rückenschmerz (Lumbalgie)  651

Ther.:
• Konservativ: Zunächst immer Bettruhe, Breitbandantibiose o. besser nach
Keimtestung für 6–12 Wo.
• Operativ: Bei Abszedierung o. großflächiger Osteodestruktion.

18.12 Chronischer, unspezifischer
Rückenschmerz (Lumbalgie)
Def.: Rückenschmerz ggf. mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung ohne
morphologisches Korrelat, oft in Folge einer akuten Symptomatik über Mon. u.
Jahre persistierend.
Ätiol.:
• Orthopädische Urs.
• Überbewertung radiologischer Befunde.
• Iatrogene Fixierung (Verunsicherung des Pat., multiple sog. minimalinvasive
Eingriffe), prolongierte Krankschreibung, unkritisch langer Einsatz von An-
algetika o. lokalen Infiltrationen.
• Lang anhaltende Schonhaltung (Bettruhe).
• Psychosoziale Faktoren: Psychische Disposition, Rentenbegehren, soziale Be-
gleitumstände.
• Auch iatrogene Faktoren: Mangelnde Information über die Gutartigkeit der
Stör. sowie Nichtbeachtung psychiatrischer Komorbidität wie Depression,
Angsterkr. o. Persönlichkeitsstör.
Diagn.: Voraussetzung ist eine Diagn. nach den o. g. Kriterien, bei Schmerzdauer
> 12 Wo. auch einmalige Schnittbildgebung. Psychiatrische Exploration.
Ther.:
!  Immer multimodaler Ther.-Ansatz.
• Im Vordergrund:
– Aufklärung über den Mechanismus der Erkr.
– Verhaltensther. zur Schmerzbewältigung u. zum Umgang mit den
Schmerzen.
– Entspannungstechniken.
• Aktivierende Physiother. u. Vermeidung körperl. Schonung (Muskelaufbau-
training).
• Sparsamer Einsatz von Analgetika, unterstützend Gabe von trizyklischen
­Antidepressiva (z. B. Amitriptylin retardiert 25–75 mg zur Nacht).

18
19 Polyneuropathien (PNP)
Christian Bischoff und Jürgen Klingelhöfer

19.1 Definition 655 19.8.3 Lepra 669


19.2 Leitsymptome und Differen­ 19.8.4 Sarkoidose (M. Boeck) 669
zialdiagnosen 655 19.8.5 Postdiphtherische PNP 669
19.2.1 Subjektive Leitsymptome 19.8.6 Hepatitis-C-assoziierte
(Plussymptome) 655 PNP 670
19.2.2 Objektive Leitsymptome 19.9 Entzündliche und immun­
(Minussymptome) 656 vermittelte Polyneuro­
19.2.3 Differenzialtypologie 656 pathien 670
19.3 Diagnostik 657 19.9.1 Guillain-Barré-Syndrom
19.4 Allgemeine Behandlungs­ (GBS) 670
maßnahmen 659 19.9.2 Miller-Fisher-Syndrom 674
19.5 PNP bei Stoffwechselerkran­ 19.9.3 Chronische inflammatorische
kungen 659 demyelinisierende Polyneuro-
19.5.1 Diabetische PNP 659 pathie (CIDP) 674
19.5.2 Andere endokrine und meta- 19.9.4 Multifokale motorische Neu-
bolische Stoffwechselstörun- ropathie (MMN) 676
gen mit PNP 662 19.9.5 Vaskulitische Polyneuropathie
19.5.3 Nutritiv-toxische Polyneuro- (und Kollagenosen) 678
pathie 663 19.9.6 Paraproteinämische Polyneu-
19.6 Exotoxische Polyneuropa­ ropathie 680
thie 664 19.10 Hereditäre Polyneuropathie
19.6.1 Alkoholtoxische Polyneuropa- (CMT) 682
thie 664 19.10.1 Allgemeines 682
19.6.2 Medikamentös-toxische Poly­ 19.10.2 Hereditäre Neuropathie Typ 1
neuropathie 664 nach Dyck (demyelinisierende
19.6.3 Polyneuropathie durch Form, CMT1) 682
­gewerbliche und Umwelt­ 19.10.3 Hereditäre Neuropathie Typ 2
gifte 666 nach Dyck (axonale Form der
19.7 Polyneuropathie bei neoplas­ HSMN, CMT2) 683
tischen Prozessen 668 19.10.4 Hereditäre motorische und
19.8 Polyneuropathie bei sensible Neuropathie Typ 3
­Infektionen 668 nach Dyck (Déjerine-Sottas-
19.8.1 Allgemeines und HIV 668 Syndrom [DSS], kongenitale
19.8.2 Borrelien 669 Hypomyelinisation) 684
19.10.5 Morbus Refsum 684 19.10.7 Hereditäre Neuropathie mit
19.10.6 Hereditäre motorische und Neigung zu Druckläsionen
sensible Neuropathie, weitere (HNPP) 685
Formen nach Dyck 685 19.10.8 Morbus Fabry 685
   19.2  Leitsymptome und Differenzialdiagnosen  655

19.1 Definition
ICD-10 G60–63.
PNP sind Stör. peripherer Nerven, die sich nicht auf einen Nerv, eine Nervenwur-
19
zel o. Plexusabschnitte beziehen lassen.
Einteilung nach verschiedenen Kriterien möglich:
• Art der Schädigung: Axonal, demyelinisierend, gemischt, autonom.
• Topische Verteilung: Distal symmetrisch, Mononeuropathie (Ausfälle im Ver-
sorgungsgebiet eines Nervs), Mononeuropathia multiplex (Ausfälle im Versor-
gungsgebiet verschiedener Einzelnerven), Schwerpunktneuropathie (Mono­
neuropathia multiplex mit zusätzlicher distal symmetrischer Neuropathie).
• Klin. vorherrschende Stör.: Sensibel, motorisch, sensomotorisch mit u. ohne
autonome Stör.
• Verlauf: Akut, chron. progredient.
• Zugrunde liegende Urs. (▶ Tab. 19.1).
Tab. 19.1  Ätiologie der Polyneuropathie in Europa
Erkrankung Häufigkeit

Diab. mell. 30 %

Alkoholtox. 25 %

Lyme-Borreliose 5 %

Hereditäre Formen 5 %

Paraneoplastische/paraproteinämische PNP 3 %

Andere tox., metab. u. entzündl. Formen < 3 %

Nicht klassifizierbar 25 %

19.2 Leitsymptome und Differenzialdiagnosen


19.2.1 Subjektive Leitsymptome (Plussymptome)

Parästhesien weisen auf eine Schädigung des PNS hin u. sind nicht Zeichen
einer Durchblutungsstör.

• Parästhesien: Kribbeln, Prickeln, Ameisenlaufen, Pelzigkeit, Schwellungsge-


fühl, Wärme- o. Kältemissempfindungen; DD bei fokalen Nervenschädigun-
gen, Schädigungen der aufsteigenden Bahnen im RM bei MS (▶ 10.1) o. here-
dodegenerativen Erkr.
• Spontanschmerz: Meist distal symmetrisch; DD bei Radikulopathie, zentra-
lem Schmerz, z. B. bei Thalamussy. o. MS.
• Burning-Feet-Sy.:
– Quälende Brennschmerzen an den Füßen, mitunter auch den Händen, in
Ruhe u. in der Nacht zunehmend.
– DD: Restless-Legs-Sy. (▶ 15.8.1) mit schwer beschreibbaren Missempfin-
dungen an Unter- u. Oberschenkel, Akathisie bei Neuroleptikather.
656 19  Polyneuropathien (PNP) 

• K
 rampi: Muskelkrämpfe, bes. der Wadenmuskeln; DD bei Varikosis,
E'lytstör., Myopathien, „Muskelkater“.
19
19.2.2 Objektive Leitsymptome (Minussymptome)

Viele PNP fangen mit einer Stör. des Vibrationsempfindens an.

• S  ensible Ausfallsympt.:
– Können einzelne Qualitäten der Tiefensensibilität mit Lagewahrnehmung
u. Vibrationssinn (ataktische PNP bes. bei Alkoholmissbrauch, Diab.
mell.) u. der Oberflächenempfindung (Schmerz u. Berührung) sein.
– Beginn distal symmetrisch an den unteren Extremitäten. Strumpf- o.
­sockenförmig, selten an den oberen Extremitäten handschuhförmig.
– Distal meist ausgeprägter als prox.
– Später Ausdehung nach prox.
•  aresen:
P
– Lähmungen u. Muskelatrophien, bes. peroneale u. kleine Fußmuskulatur,
i. d. R. viel später als sensible Stör.
– Keine Beschränkung auf das Versorgungsgebiet eines Nervs o. einer Ner-
venwurzel.
– Meist chron. progrediente Entwicklung über Mon. u. J., vom Pat. anfäng-
lich nicht bemerkt.
– Bes. bei diabet. Myatrophie, Porphyrie, CMT, paraneoplastischer u. tox.
PNP (Blei, Gold, Amiodaron), multifokaler Motoneuropathie, akuter u.
chron. demyelinisierender PNP (GBS, CIDP).
– Verteilungsmuster s.  u.
•  egetative u. trophische Stör.:
V
– Hyper- (Alkohol, INH) o. Hypohidrose (Diab. mell.), Vasodilatation mit
Überwärmung, Zyanose, Akrozyanose, Hyperkeratose; vasomotorisch
neurotrophische Stör. mit Ulzerationen u. Mutilationen.
– Bes. bei Diab. mell. Untergang der Schmerzfasern mit schmerzloser Affek-
tion innerer Organe (schmerzloser Herzinfarkt, Peritonitis, Gastroparese,
Diarrhö).
– Impotenz, Blasen- u. Mastdarmlähmungen bei 10 % der entzündl. PNP,
bei Diab. mell., bei anderen Formen selten.

Bei Polyradikulitiden sind die Folgen vegetativer Entgleisungen (Brady­


arrhythmie, hypertone Entgleisung) die häufigste Todesurs.

19.2.3 Differenzialtypologie

Ein u. dieselbe Urs. kann zu unterschiedlichen Ausfallsmustern führen.

Distal symmetrischer Typ:


• S  ensibler Typ:
– Ausfall des ASR.
– Socken-, strumpf- u./o. handschuhförmige Sensibilitätsstör.
  19.3 Diagnostik  657

– Frühzeitige Abschwächung des Vibrationsempfindens.


– Bes. bei metab., tox. (Diab. mell., Alkohol, Urämie) u. paraneoplastischer
PNP.
• Sensomotorischer Typ: 19
– Distal betonte Paresen meist bei entzündl. Verlaufsform (GBS ▶ 19.9.1).
– Bei metab. o. tox. PNP im weiteren Verlauf.
– Bei einigen Toxinen (Chloroquin, Gold, Blei).
– Bei den hereditären Neuropathien (CMT).
– Bei Porphyrie u. vaskulitischer PNP von Anfang an.
• Mononeuritis multiplex:
– Asymmetrische Ausfälle, die später in einen symmetrischen Verlaufstyp
einmünden können.
– Ätiol.: Kollagenosen, v. a. Panarteriitis nodosa, Blei, Zoster, Lyme-Borreli-
ose.
• Spezielle Verlaufsformen:
– Prox. Myatrophie: Prox. Schmerzen, Paresen u. Atrophien ohne sensible
Defizite.
– Schwerpunkt-PNP: Zusätzlich zu umschriebenen Ausfällen bestehen z. T.
nur geringe distal symmetrische Ausfälle.

19.3 Diagnostik
Klin. Unters.:
• Inspektion: Beurteilung des Muskelreliefs (Verteilung der Atrophien), tro-
phische Stör. (Ulzera, trockene o. feuchte Füße, Nagelveränderungen, Akro-
zyanose).
• Kraftprüfung: Einzelmuskelprüfung zur Feststellung umschriebener o. gene-
ralisierter Schwächen, prox. o. distale Betonung.
• Reflexe: MER fast immer ↓, v. a. distal.
• Sensibilität: Schmerz, Temperatur u. Berührung im Vergleich distal u. proxi-
mal. Häufig betroffen: Vibrationssinn (Unters. mit graduierter Stimmgabel).
Lagesinnprüfung an Zehen- u. Fingergelenken.
• Romberg-Versuch: Bei fortgeschrittener sensibler Stör. vermehrtes Sehnen-
spiel der Fuß- u. Unterschenkelmuskeln u. gel. ungerichtetes Schwanken mit
Zunahme bei Augenschluss, ataktisches Gangbild bei geschlossenen Augen,
Seiltänzergang erschwert o. nicht möglich.
• HN-Unters.: (▶ 1.1.4). Mehr o. weniger deutliche Ausfälle möglich, bes. be-
troffen sind die Nn. facialis, trigeminus, oculomotorius (Diab. mell.).
• Internistische Unters.: Nachweis anderer Sympt. als Hinweis auf die Urs. der
PNP.
• Schellong-Test: ▶ 1.1.12.
Neurophysiologie: Zur Klassifikation der PNP (demyelinisierender versus axona-
ler Typ).
• NLG (▶ 2.4.2):
– Veränderungen ▶ Tab. 19.2.
– Mind. je eine motorische u. sensible NLG an den oberen u. unteren Extre-
mitäten untersuchen.
– Unterscheidung: Hereditäre Prozesse: Generalisierte, gleichförmige Ver-
änderungen. Erworbene PNP: Fleckförmige Veränderungen.
658 19  Polyneuropathien (PNP)  

• F-Wellen-Latenz (▶ 2.4.3):
– Minimale F-Wellen-Latenz durch längere Leitungsstrecke bei generali-
19 sierten PNP bereits im Frühstadium verlängert, auch wenn NLG der peri-
pheren Leitungsstrecke noch normal ist.
– Prox. betonte Prozesse (GBS, diabet. Myatrophie): Verlängerte F-Wellen-
Latenz manchmal der einzige path. Befund, häufig werden A-Wellen ge-
funden.
• EMG (▶ 2.5):
– Neurogen veränderte MAP u. Nachweis path. Spontanaktivität bei axona-
len Prozessen.
– Unters. immer auch distaler Muskeln.
• Sympathische Hautantwort (▶ 2.6): Ausfall als Zeichen einer Schädigung
auch der autonomen Fasern bei Pat. mit Diab. mell. o. einer HSMN.
• Herzfrequenzvariationsanalyse: Reduzierte respiratorische Arrhythmie.
Tab. 19.2  Polyneuropathie – Schädigungstypen
Schädigung Charakteristika

Demyelini- • NLG ↓↓, häufig aufgesplitterte Antwortpotenziale (bei erworbe-


sierend nen Formen).
• Die Amplituden der Muskelsummenpotenziale u. der sensiblen
Nervenaktionspotenziale sind nur gering verkleinert.
• Bei prox. betonten Verlaufsformen u. beim GBS kann die distal ge-
messene NLG normal, die minimale F-Wellen-Latenz hingegen ver-
zögert sein, EMG normal.
• Bes. bei GBS, CIDP, HSMN Typ 1, 3, Blei-PNP, Leukodystrophien
Axonal • Amplitude des Muskelsummenpotenzials u. sensiblen Nervenakti-
onspotenzials ↓ bei normaler o. nur gering verlangsamter NLG.
• Im EMG path. Spontanaktivität u. neurogen veränderte MAP.
• Mehrzahl der PNP, z. B. Diab. mell., tox. PNP (inkl. Alkohol), para-
neoplastische PNP, Porphyrie, Kollagenosen u. vaskulärer PNP.

Laborunters. bei PNP unklarer Genese:


• Obligat: BSG, BB, E'phorese, Nüchternglukose u. oraler Glukosetoleranztest,
GOT, GPT, γ-GT, E'lyte, Harnstoff, Krea, TSH, ANA, CRP, Vit.-B12- u. Fol-
säure-Spiegel, Borrelien-AK, TPHA-Test.
• Fakultativ:
– Bei beruflicher Exposition o. anamnestischen Hinweisen auf tox. PNP ge-
zielter Toxinnachweis notwendig. Kein generelles Screening auf Schwer-
metalle.
– Je nach Klinik kann ein erweitertes Unters.-Programm notwendig sein:
HIV-Test, quantitative Immunglobuline, Eiweiß im Urin (Bence-Jones-
Protein, α1-Mikroglobulin), Porphobilinogen u. δ-Aminolävulinsäure
(Porphyrie), Lipoproteine (A-Betalipoproteinämie, An-Alphalipoprotein-
ämie), Phythansäure (Refsum-Sy.), langkettige Fettsäuren (Adrenomyelo-
neuropathie), ACE.
– AK-Suche bei klin. Hinweisen auf eine Kollagenose (ENA, HBsAg, AK
gegen Doppelstrang-DNS, Immunkomplexe).
– Xylose-Belastungstest bei V. a. Malabsorptionssy.
– V. a. entzündl. PNP: AK-Suche nach behandelbaren Erregern (Mykoplas-
men, Rickettsien, Leptospiren).
   19.5  PNP bei Stoffwechselerkrankungen  659

Liquorunters.: Selten indiziert; Dissociation cytoalbuminique bei GBS (Eiweiß ↑


bei normaler Zellzahl), Zellzahl ↑ bei entzündl. Prozessen, atypische Zellen bei
Meningeosis carcinomatosa, AK-Nachweis bei Lyme-Borreliose, Eiweiß ↑ bei
CMT3 (▶ 19.10.4).
19

Eine Eiweißerhöhung im Liquor findet sich als unspezifischer Befund bei


einer Vielzahl von PNP (z. B. auch bei Diab. mell. u. Alkoholkrankheit).

Weitere Unters.:
! Augenhintergrundveränderungen bei Diab. mell. u. Retinitis pigmentosa bei
Refsum-Sy.
• Sono: Abdomen: Tumorsuche im Rahmen eines paraneoplastischen Sy.
• Biopsien:
– Rektumschleimhaut: Amyloidose.
– Nervenbiopsie (▶ 2.10.2): Sehr selten hilfreich; Differenzierung immun-
vaskulitischer Prozesse u. bei Amyloidose!
– Muskelbiopsie: (▶ 2.10.3). Selten bei V. a. vaskulitischen Prozess o. bei mi-
tochondrialen Erkr. mit Beteiligung des peripheren Nervs.

19.4 Allgemeine Behandlungsmaßnahmen
Soweit möglich ursächliche Ther.

Physiother.: Bei motorischer Schwäche mit Kontraktur- u. Verletzungsprophyla-


xe. Bei fortgeschrittenen Prozessen Hilfsmittelverordnung (z. B. Peroneusschiene,
Rollator, spezielles Schuhwerk, Fußpflege).
Schmerz- u. Parästhesiebehandlung:
• Carbamazepin (z. B. Timonil®): Dos.: Zunächst 1 × 200 mg ret. tgl. p. o., dann
wöchentlich um 200 mg steigern bis 2 × 400–600 mg/d. Cave: Müdigkeit,
Schwindel, Doppelbilder, Übelkeit bei schneller Steigerung (Laborkontrollen:
BB, Leberwerte).
• Gabapentin: 3 × 300–900 mg/d, langsam steigern. Cave: Müdigkeit, Dosisan-
passung bei Niereninsuff. erforderlich.
• Pregabalin (Lyrica®): Dos.: 2 × 75–300 mg/d.
• Amitriptylin (z. B. Saroten®): Dos.: 25–75 mg ret. tgl. p. o. zur Nacht.

19.5 PNP bei Stoffwechselerkrankungen


19.5.1 Diabetische PNP
ICD-10 G63.2/A36.8.
Definition
Häufigste PNP. Mehr als ⅔ aller Diabetiker entwickeln im Laufe der Erkr. eine
PNP, bei ungefähr 30 % führt die PNP zur Entdeckung der endokrinen Stör.

Da typ. Sympt. u. ein einheitlicher Verteilungstyp fehlen, handelt es sich bei


der diabet. PNP um eine Ausschlussdiagnose.
660 19  Polyneuropathien (PNP)  

Klassifikation
• Symmetrische PNP:
19 – Sensible o. sensomotorische symmetrische distale PNP.
– Autonome Neuropathie.
– Symmetrische prox. Neuropathie der unteren Extremitäten.
• Fokale u. multifokale Neuropathien:
– Kraniale Neuropathie.
– Mononeuropathie von Stamm u. Extremitäten.
– Asymmetrische prox. Neuropathie der unteren Extremitäten.
• Mischformen.
Klinik
Distal symmetrischer sensibler Typ:
• Häufigste Form (50–70 % der Pat.).
• Strumpfförmige Sensibilitätsstör., an den Beinen betonte, schleichende Ent-
wicklung.
• ASR frühzeitig ↓, Verlust des Vibrationsempfindens (Pseudotabes diabetica).
• Schmerzen u. Parästhesien, nächtlich betonte Brennmissempfindungen (Bur-
ning-Feet-Sy.) u. Wadenkrämpfe, mitunter auch vor sensiblen Ausfällen.
• Sonderform small-fiber neuropathy: Brennende Missempfindungen, mit her-
kömmlichen neurophysiologischen Verfahren keine Veränderungen nach-
weisbar.

Aufgrund des Verlusts der Schmerzwahrnehmung Gefahr von Verletzungen


(diabetischer Fuß, Gangrän).

Asymmetrischer Typ:
• 20–25 % der Pat.; häufiger bei Pat. > 50 J.
• Ausfälle halten sich meist an das Versorgungsgebiet einzelner peripherer
Nerven (Mononeuropathia multiplex).
• Bei diabet. Myatrophie v. a. N. femoralis betroffen.
• Akute Symptomatik mit nächtlich betonten Schmerzen, hochgradiger Parese
u. sich schnell entwickelnder Atrophie des M. quadriceps. DD: Radikulopa-
thie L3/L4 u. Plexusläsionen.
• Bei thorakaler Neuropathie ähneln die segmentalen Schmerzen viszeralen
Schmerzen; mitunter paradoxe Bauchwandparese.
• Im paravertrebralen EMG path. Spontanaktivität.
• Bei guter Diabeteseinstellung günstige Progn. mit Rückbildung innerhalb ei-
niger Mon.
• Ätiologisch möglicherweise entzündl. Prozess.
Symmetrisch paretischer Manifestationstyp:
• 5–15 % der Pat.
• Meist vorhandene Sensibilitätsstör., beinbetonte Paresen u. Atrophien.
• Peroneal versorgte Muskulatur bevorzugt befallen.
HN-Stör.:
• Isoliert o. bei generalisierter PNP.
• Häufigste Manifestationsform: Akut schmerzhafte, seltener schmerzlose Oku-
lomotorius-, Abduzensparese.
• Selten: Fazialisparesen u. sensible Ausfälle des N. trigeminus als diabet. Mo-
noneuropathie.
   19.5  PNP bei Stoffwechselerkrankungen  661

Affektion des vegetativen NS: Häufig.


• Hypohidrosis der Füße.
• Vasoregulationsstör. mit livider Verfärbung. 19
• Ödeme.
• Schmerzlose Ulzerationen.
• Gastroparese.
• Osteoarthropathie.
• Diabet. Diarrhö.
• Ruhetachykardie mit fehlender Frequenzvariation.
• Blasenstör. (meist atone Überlaufblase).
• Erektile Dysfunktion, Impotenz.
Auch bei bekanntem Diabetes muss bei einer Okulomotoriusparese ein An-
eurysma ausgeschlossen werden! Wegen der Affektion der sympathischen u.
der Schmerzfasern besteht die Gefahr eines schmerzlosen Herzinfarkts.

Therapie
• Sorgfältige Einstellung des Diab. mell. Bei schweren Ausfällen Umstellung auf
Insulin empfehlenswert.
• Schmerz- u. Reizzustände wie oben angegeben behandeln (▶ 19.4).
• Vermeidung anderer neurotox. Substanzen (Alkohol).
Multifokale Neuropathie als bes. Manifestation der diabet. PNP
Diabet. Ophthalmoplegie
• Ausfälle des III., IV. u. VI. HN.
• Beginn i. d. R. mit heftigen orbitalen o. periorbitalen Schmerzen u. Dop-
pelbildern; N. VI bes. häufig betroffen.
• N.-III.-Parese: Z. T. Ptosis, Pupillenreaktion meist erhalten.
• Progn.: I. d. R. günstig mit Zurückbildung der Symptomatik innerhalb von
4–6 Wo. Pathogenetisch wird eine ischämische Nervenschädigung durch
Verschluss der Vasa nervorum angenommen.
Diabet. Radikulopathie
• V. a. im höheren Lebensalter, sowohl bei Typ-1- wie bei Typ-2-Diabetikern.
• Symptomatik setzt meist plötzlich ein:
– Schmerzen mit gürtelförmiger Ausbreitung um Brust o. Bauch; meist
einseitig.
– Sensibilitätsstör. u. z. T. Ausfall der Schweißsekretion in den betroffe-
nen Segmenten.
– Bei Beteiligung motorischer Nervenfasern segmentale Bauchwand-
muskellähmungen, die als Muskelwulst imponieren.
• Wochenlang starke Schmerzen möglich.
Diabet. Amyotrophie
• Syn.: Diabet. Myelopathie, diabet. prox. Neuropathie, Femoralisneuropa-
thie o. diabet. Lumbosakral-Plexopathie.
• Vorwiegend Typ-2-Diabetiker; M > F.
• Beginn meist akut bis subakut mit unilateralen Schmerzen, vom Rücken
über die Hüfte zur Vorderseite des Oberschenkels ausstrahlend.
• Rasch Parese u. Atrophie v. a. Hüftbeuger u. Kniestrecker.
662 19  Polyneuropathien (PNP)  

• PSR erloschen; keine o. nur gering ausgeprägte Sensibilitätsstör. an Ober-


schenkelvorderseite.
19 • DD zum L4-Wurzelsy. Schmerzen bei diabet. Amyotrophie typischerweise
in Ruhe, beim L4-Sy. bei Belastung.
Progn.: Gemischt; Rückbildung der Sympt. im Mittel nach 3 Mon.

19.5.2 Andere endokrine und metabolische


Stoffwechselstörungen mit PNP
ICD-10 G63.3.
Hypothyreose: PNP bei etwa 25 % der Pat. mit Hypothyreose. Distal symmetri-
scher Verteilungstyp, überwiegend axonale Form.
Akromegalie: Häufig lokale Nervenkompressionssy.: Karpaltunnelsy. (▶ 17.1.6),
Tarsaltunnelsy. (▶ 17.1.8).
Hypoparathyreoidismus.
Amyloidose:
• Unterscheidung zwischen prim., aut. dom. vererbter u. sek. Amyloidose; letz-
tere selten mit PNP.
• Prim. Amyloidosen oft mit Organmanifestationen (Niere, Herz, GIT); ge-
häuft bei Paraproteinämie (▶ 19.9.6).
• Distal symmetrische PNP vom axonalen Typ: Brennende Schmerzen, Ab-
schwächung des Vibrationsempfindens u. autonome Stör. (Impotenz, ortho-
statische Dysregulation, Schweißsekretionsstör.).
• Wegen Amyloidablagerung im Karpalkanal oft anfangs KTS.
• Diagn.: NLG, EMG, Paraproteine, Biopsie (Rektum, Lippe, Nerv).
A-Betalipoproteinämie (M. Bassen-Kornzweig):
• Aut. rez. demyelinisierende PNP plus Spastik u. Ataxie.
• Diagn.: Betalipoprotein.
An-Alphalipoproteinämie (M. Tangier): Aut. rez. axonal symmetrisch u. Mono-
neuropathia multiplex.
Urämische PNP (ICD-10 357.4):
• 60 % der Pat. mit chron. Niereninsuff.; M > F.
• Symmetrisch distale, zunächst sensible, später auch motorische PNP vom
axonalen Typ; erhebliche Missempfindungen, Wadenkrämpfe, Restless-Legs-
u. Burning-Feet-Sy.
• Unter Hämodialyse u. nach Nierentransplantation i. d. R. Besserung.
Hypophosphatämie (ICD-10 357.8):
• Langzeitige parenterale Ernährung mit hohem Kohlenhydratanteil.
• Akut aszendierende sensomotorische PNP mit HN-Beteiligung u. Lähmung
der Atemmuskulatur (GBS-ähnlicher Verlauf).
Akute intermittierende Porphyrie (ICD-10 357.4):
• Epidemiologie: Aut. dom. Vererbung; F > M.
• Klinik:
– Attackenweise Abdominalkoliken, Tachykardien, Pollakisurie u. psychoti-
sche Sympt.
– Sensible Reizsy. u. überwiegend motorische Ausfälle mit distaler Beto-
nung an den Armen (Streckerparese der Hände) u. prox. Betonung an den
Beinen (Watschelgang).
– Im Gegensatz zu den meisten anderen PNP bleibt der ASR erhalten!
   19.5  PNP bei Stoffwechselerkrankungen  663

– Miktionsstör.
– Rasche Progredienz (GBS-ähnlich, Todesfälle nicht selten).
• Diagn.: 19
– Porphyrine im Urin ↑ (δ-Aminolävulinsäure, Uro- u. Koproporphyrino-
gene).
– EMG: Axonale Schädigungszeichen.
• DD: Panarteriitis nodosa, Blei-PNP, hepatische PNP, M. Wilson (▶ 15.5).

19.5.3 Nutritiv-toxische Polyneuropathie
• Mangelernährung als Urs. von Hypovitaminosen in Mitteleuropa selten.
• Häufiger Folge von Diäten o. extrem vegetarischer Kost (z. B. Veganer); in
höherem Alter auch gestörte enterale Resorption.
• Chron. Alkoholabusus.
• NW bestimmter Medikamente.
• PNP entstehen am häufigsten bei Mangel an Vit. des B-Komplexes.
Vitamin-B12-Mangel (funikuläre Myelose; ICD-10 357.4)
Epidemiologie: Wahrscheinlich häufigste Hypovitaminose.
Urs.:
• Unzureichende Zufuhr.
• Mangel an „Intrinsic-Faktor“: Klassische perniziöse Anämie durch Atrophie
der Parietalzellen, Magen-Ca, Magenresektion.
• AK-Bildung.
• Gestörte Resorption infolge Erkr. des Ileums.
Klinik:
• Peripher- u. zentralnervöse Sympt.
• Zunächst meist distal symmetrische Parästhesien, progrediente Ataxie u. Stör.
der Tiefensensibilität.
• Danach Paresen u. Pyramidenbahnzeichen.
Typ. ist die Komb. aus zentralen u. peripheren Paresen. Deshalb kann die
PNP-Symptomatik durch gleichzeitige Beteiligung der Hinterstränge nicht
immer sicher abgrenzbar sein (Diskrepanz: Aufgehobenes Vibrationsemp-
finden, normale sensible NLG an den Beinen u. path. N.-tibialis-SSEP).

Reflexe können lebhaft sein.

Diagn.: Nachweis der erniedrigten Cobalaminkonzentration im Serum. Methyl-


malonsäure.
Ther.: Substitution von Cobalamin.
Andere Vitaminmangelzustände
Vit.-B1-(Thiamin-)Mangel (Beriberi):
• Def.: In entwickelten Ländern durch mangelhafte intestinale Resorption von
Thiamin (z. B. chron. Darmerkr., Leberparenchymstör.) verursacht.
• PNP-Typ: Langsam progrediente, distal symmetrische sensomotorische PNP
meist vom axonalen Typ.
• Diagn.: Quantitative Bestimmung des Thiaminspiegels im Serum.
664 19  Polyneuropathien (PNP)  

• Ther. der Wahl ist adäquate Substitution von Thiamin, die bei Malabsorption
parenteral erfolgen muss (Betabion®). Zur oralen Gabe liegt ein fettlösliches,
19 damit besser resorbierbares Derivat vor (Benfotiamin®, Milgamma® mono).
Vit.-B6-Mangel:
• Def. u. Ätiol.:
– Selten; bei chron. Alkoholabusus zusammen mit einem Mangel anderer
Vit. des B-Komplexes.
– Eine Reihe von Medikamenten wirken als B6-(Pyridoxin-)Antagonisten
(z. B. Isoniazid, Hydralazin) o. beeinflussen den Pyridoxinspiegel (z. B.
­Penicillamin).
• PNP-Typ: Progrediente, distal symmetrische sensomotor. Neuropathie vom
axonalen Typ.
• Diagn.: Pyridoxinspiegel im Serum.
• Ther.: Unter adäquater Substitution bildet sich PNP langsam, jedoch nicht
immer vollständig zurück. Substitution oral o. parenteral (Benadon®).

19.6 Exotoxische Polyneuropathie
ICD-10 G62.
Eine Vielzahl tox. Substanzen kann zu PNP führen. In den meisten Fällen: Phar-
maka-NW, Exposition gegenüber Schwermetallen u. anderen industriellen Che-
mikalien sowie chron. Alkoholmissbrauch.

19.6.1 Alkoholtoxische Polyneuropathie
ICD-10 G62.1.
Epidemiologie u. Ätiol.:
• Pathogenese nicht sicher geklärt; wahrscheinlich direkte neurotox. Wirkung;
ernährungsbedingter Vit.-B1-Mangel.
• Dosisabhängig bei bis zu 30 % der Pat. mit Alkoholabusus.
• Zweithäufigste PNP in Mitteleuropa nach der diabetischen.
Klinik:
• Überwiegend distal, symmetrische Verteilung mit sensiblen (schmerzhaften)
Reizerscheinungen, die denen der diabet. PNP ähnlich sind.
• Frühzeitiger ASR-Verlust u. Abschwächung des Vibrationsempfindens (Pseu-
dotabes alcoholica).
• Im Gegensatz zur diabet. PNP oft Hyperhidrose der Füße, Wadenkrämpfe,
asymmetrische u. prox. Verlaufsformen kommen nicht vor.
• Keine HN-Beteiligung.
Diagn.: Axonale PNP, niedrige Amplituden des N.-suralis-Potenzials.
Ther.:
• Bei Alkoholkarenz mitunter teilweise Rückbildung der Sympt.
• Vit.-Substitution (Thiamin) v. a. bei Fehl- o. Mangelernährung.
Verlauf: Bei fortgesetztem Alkoholkonsum im weiteren Verlauf meist distal sym-
metrische atrophe Paresen sowie Ödeme u. trophische Stör.

19.6.2 Medikamentös-toxische Polyneuropathie
ICD-10 G62.0.
Def.: Viele Medikamente können zu PNP führen (▶ Tab. 19.3, ▶ Tab. 19.4).
  19.6 Exotoxische Polyneuropathie  665

Tab. 19.3  Medikamente, die zu tox. PNP führen können; Beschreibung von
PNP-Typ u. Pathologie
Medika­ Dosisab­ PNP-Typ Patho­ Reversibel Bemerkungen 19
ment hängig logie

Amiodaron Nein Symmetrisch; Demye- Ja Plus Optikusneu-


(Cordarex®) sensomotorisch linisie- ropathie (selten)
rend

Chloroquin Nein Symmetrisch; Demye- Ja Plus Myopathie


(Resochin®) sensomotorisch linisie-
rend

Vinca-Alka- Ja Symmetrisch; Axonal Ja


loide sensomotorisch
u. autonom

Cisplatin Ja Symmetrisch; Axonal, Ja (unvoll-


vorwiegend Spinal- ständig)
sensibel gangli-
en

Paclitoxel Ja Symmetrisch; Axonal Ja (unvoll- Beginn akut


(Taxol®) vorwiegend ständig)
sensibel

Isoniazid Ja Symmetrisch; Axonal Ja Bedingt durch


(Tebesi- sensomotorisch sek. Pyridoxinde-
um®) fizienz (Substitu-
tion erforderlich)

Ethambutol Ja Symmetrisch; Axonal Ja PNP (selten), plus


(Myambu- vorwiegend Optikusneuropa-
tol®) sensibel thie (häufig)

Nitrofuran- Ja Symmetrisch; Axonal Ja (unvoll- Selten


toin (Fu- sensomotorisch ständig)
radantin®)

Metronid­ Ja Symmetrisch; Axonal Ja


azol vorwiegend
(Clont®) sensibel

Phenytoin Ja Symmetrisch; Axonal Ja Sehr mild, selten


(Phenhy- vorwiegend auch motorisch
dan®) sensibel

Tab. 19.4  Weitere Medikamente mit PNP als möglicher Nebenwirkung


Antibiotika u. Chemotherapeutika Sulfonamide

Aminoglykoside

Amphotericin B

Chloramphenicol

Psychopharmaka Amitriptylin

Lithium

Antikonvulsiva Carbamazepin
666 19  Polyneuropathien (PNP)  

Tab. 19.4  Weitere Medikamente mit PNP als möglicher Nebenwirkung (Forts.)
Herz-Kreislauf-Mittel Ergotaminderivate
19
Antirheumatika Indometacin

Gold

Bei Auftreten einer PNP Absetzen des Medikaments nach individueller in-
terdisziplinärer Risiko-Nutzen-Abwägung.

Bei medikamentös ausgelösten PNP sollten sich die Sympt. nach Absetzen
wenigstens teilweise zurückbilden, aber nicht mehr zunehmen.

19.6.3 Polyneuropathie durch gewerbliche und Umweltgifte


ICD-10 G62.8.
Def.: Überwiegend axonale PNP, i. d. R. mit zentralnervösen Erscheinungen (En-
zephalopathie mit Schwindel, Kopfschmerz, Konzentrations- u. Merkfähigkeits-
stör.) o. anderen neurol. u. internistischen Sympt. (▶ Tab. 19.5). Berufs- o. Expo-
sitionsanamnese.

Tab. 19.5  Zusammenstellung häufiger tox. Substanzen mit korrelierenden


klin. Befunden
Substanz ZNS Paresen Sensible Sensible Autono­ Neurophy­
Ausfälle Reizsym­ me Stör. siologie
ptome

Industriegifte

Acrylamid Ataxie DS Vibration - Hyperhid- AX


rose

Ethylen- Möglich DS Ja - - Dem


oxid

Kohlen- Immer, DS Ja - - Dem


stoffdisul- diffus
fid

n-Hexan - DS Ja - - Dem

Organo- Pyrami- DS Gering Krampi, - AX


phosphate denbahn Brennen

Toxische Substanzen

Arsen Psychose DS Ja Schmerzen - AX

Blei Bei Kin- DS, N. Gering - - AX


dern radialis

Thallium Angst DS Gering Schmerzen Anhidrose AX

Amiodaron - DS Ja Brennen - AX, Dem


  19.6 Exotoxische Polyneuropathie  667

Tab. 19.5  Zusammenstellung häufiger tox. Substanzen mit korrelierenden


klin. Befunden (Forts.)
Substanz ZNS Paresen Sensible Sensible Autono­ Neurophy­ 19
Ausfälle Reizsymp­ me Stör. siologie
tome

Toxische Substanzen

Chloroquin - DS Ja - - Dem

Colchicin - DS Vibration - - AX

Ethambu- N. II DS Vibration - - SAX


tol

Isoniazid - DS Ja Schmerzen - AX

Lithium - DS Ja - - AX

Metronid­ - DS Ja Hyperalge- - AX
azol sie

Nitrofuran - DS Ja Gering - AX

Phenytoin - DS Ja - - sAX

Platin Lhermit- DS Vibration - - SAX


te-Zei-
chen

Vincristin - DS + N. Gering Parästhe- (+) AX


radialis sie

Thalidomid DS Ja Schmerz Ja AX

DS = distal symmetrisch, AX = axonal, SAX = sensibel axonal, DEM = demyelinisie-


rend

Ätiol.:
• Arsen:
– Ähnlich Thalliumintox.
– Hyperpathien, Arsenmelanose u. Hyperkeratose.
• Blei: Schwerpunkt-PNP mit charakteristischer Parese der Hand- u. Finger-
strecker (Fallhand; DD: Radialisparese) ohne wesentliche sensible Defizite.
• Thallium:
– Charakteristische Hyperpathie der Fußsohle u. distal betonte Schmerzen.
– Mees-Bänder (weiße Querstreifen an den Fingernägeln) erst nach
3–4 Wo.
– Zusätzlich Myoklonien, zerebrale Anfälle, Tachykardien, Psychosen,
Haarausfall.
• Andere Gewerbegifte: Quecksilber, CO, Schwefelkohlenstoff, aliphatische
Kohlenwasserstoffe, Lösemittel (Hexacarbone), Benzol, DDT, Alkylphosphat,
Triarylphosphate.
Ther.: Beendigung der Exposition.
• Arsen: Dimercaprol 2–5 mg i. m. für 2 d alle 4 h, dann 2 × tgl. (z. B. Sulfactin®
Homburg).
• Blei: Na2Cl-EDTA (Chelatbildner) 50–75 mg/kg KG für 5 d i. v.
• Thallium: Berliner Blau 500 mg alle 3 h (z. B. Antidotum Thallii Heyl®).
668 19  Polyneuropathien (PNP)  

19.7 Polyneuropathie bei neoplastischen


19 Prozessen
ICD-10 G63.1.
Def.:
• Bei etwa 10 % der Tumorpat. PNP ohne direkten Nachweis einer Tumorinfil-
tration o. relevante Medikamentenanamnese. I. d. R. paraneoplastische Erkr.;
kann der Entdeckung des zugrunde liegenden Tumorleidens vorausgehen.
• Am häufigsten bei kleinzelligem Bronchial-Ca, weiter bei Mamma-, Ovarial-
Ca, Lymphomen.
Ätiol.:
• Sensible PNP:
– V. a. bei kleinzelligem Bronchial-Ca, seltener bei Ösophagus-, Mamma- u.
Ovarial-Ca.
– Sensible Reizerscheinungen u. Ausfälle, vegetative Sympt.
– PNP durchschnittlich 6–12 Mon. vor der Organmanifestation.
• Sensomotorische PNP:
– 4× häufiger als sensible Form.
– Häufigste Urs.: Bronchial-Ca, aber auch bei den meisten anderen Tumo-
ren inkl. malignen Lymphomen.
– Prim. axonale Degeneration.
– PNP geht häufig der Entdeckung des Ca voraus.
Klinik:
• Initial Dys-, Hypästhesien u. Schmerzen; meist distal symmetrisch beginnend
u. dann über Tage bis Wo. nach prox. fortschreitend. Sensible Ataxie, MER
i. d. R. erloschen.
• Seltener vorwiegend autonome PNP als paraneoplastische Erkr. Führende
Sympt.: Orthostatische Hypotension, Urinretention, Obstipation sowie post-
ganglionäre Pupillenstör.
Diagn.:
• Path. Veränderungen hauptsächlich an Spinalganglienneuronen (Neuronopathie).
• Im Verlauf auch Spinalwurzeln u. periphere Nerven betroffen.
• Bei > 90 % der Pat. Nachweis von Anti-Hu-AK im Serum, seltener Amphi­
physin-AK.
Ther.:
• Spezifische onkologische Ther.
• Zusätzliche Immunmodulation: Kortikosteroide, hoch dosierte Immunglobu-
line, Plasmapheresen, in Einzelfällen Cyclophosphamid.

19.8 Polyneuropathie bei Infektionen


19.8.1  Allgemeines und HIV
ICD-10 G63.0.

Einige antiviral wirksame Substanzen sind neurotox. u. können ihrerseits


eine PNP auslösen.
   19.8  Polyneuropathie bei Infektionen  669

HIV
Distal sensomotorisch o. Schwerpunkt-PNP bei AIDS (▶ 9.4.8), selten isoliert.
Seltene Erreger: 19
• Typhus, Brucellen, Rickettsien, Leptospiren, Spirochäten, Toxoplasmen.
• Klinik: GBS (▶ 19.9.1).
• Diagn.: AK-Test.

19.8.2 Borrelien
▶ 9.3.8.
Epidemiologie: Übertragung durch Zeckenstiche.
Klinik:
• Schmerzen.
• PNP vom Multiplextyp.
• Häufig (bilaterale) Fazialisparese u. Meningoradikulitis.
Ther.: Ceftriaxon 1  ×  2 g/d i. v. (z. B. Rocephin®) als Kurzinfusion für 3  Wo. o.
Doxycyclin 200 mg oral für 2–3 Wo.

19.8.3 Lepra
Def.:
• Weltweit häufigste PNP-Urs.
• Ausbreitung des Mycobacterium leprae innerhalb der Schwann-Zellen sen-
sibler Fasern von prox. nach distal.
Klinik: Asymmetrische Verteilung mit fleckförmiger dissoziierter Empfindungs-
stör.
Ther.: Diaminodiphenylsulfon bis 100 mg/d p. o. (z. B. Dapson®).

19.8.4 Sarkoidose (M. Boeck)


Def.: Generalisierte granulomatöse Erkr., meist mit Beteiligung anderer Organe,
bes. Lunge. Selten auch Befall im Spinalkanal (extra- u. intramedullär).
Klinik:
• HN-Ausfälle, bes. des N. facialis, mitunter auch bds.
• Selten Mononeuritis multiplex o. subakut-chron. symmetrische sensomotori-
sche Verlaufsform.
• Selten Erstmanifestation der Erkr.
Diagn.:
• ACE ↑ (nicht spezifisch), Rö-Thorax, Nervenbiopsie mit granulomatösen
­Infiltraten.
• Liquor: Eiweiß ↑, Lysozym ↑, β2-Mikroglobulin ↑.
Ther.: Glukokortikoide.

19.8.5 Postdiphtherische PNP
Def.: Nervenschädigung durch das Exotoxin.
Klinik: HN-Ausfälle, später auch symmetrische motorische u. sensible Ausfälle.
Cave: Atemlähmung.
Diagn.: Erregernachweis.
Ther.: Frühzeitige Antibiose u. Antitoxin.
670 19  Polyneuropathien (PNP)  

19.8.6 Hepatitis-C-assoziierte PNP

19 Bes. bei gleichzeitigem Vorliegen einer Kryoglobulinämie.

Klinik: Sensomotorische PNP.


Diagn.: Hepatitisserologie, Kryoglobulin-Nachweis.
Ther.: Alpha-Interferon.

19.9 Entzündliche und immunvermittelte


Polyneuropathien
19.9.1 Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
ICD-10 G61.0.
Syn.: Landry-Guillain-Barré-Strohl-Sy., akute idiopathische Polyradikuloneuritis,
Polyneuritis, acute inflammatory demyelinating polyradiculoneuropathy (AIDP).

Tab. 19.6  Klin. u. elektrophysiologische Charakteristika der GBS-Varianten


AIDP1 AMAN2 AMSAN3 Miller-Fisher

Motorische Defizite Vorherr- Vorherr- Schwerwie- Selten


schend schend gend

Sensible Sympt. u. Defizite Häufig Selten/feh- Schwerwie- Mäßig aus-


lend gend geprägt

Muskeleigenreflex Fehlend Fehlend Fehlend Fehlend

Zusätzliche Charakteristika Ophthalmo-


plegie,
­Ataxie

Neuro­ Distale Latenz Verlängert Normal Normal Normal


grafie (falls auslös-
bar)

F-Wellen-Latenz Verlängert Normal Normal Normal


(falls auslös-
bar)

Motorische NLG Verlang- Max. 10 % Normal Normal


samt im Vergleich (falls mess-
zum Nor- bar)
malwert
verzögert

Amplitude des Vermin- Vermindert Rasch u. er- Normal


Muskelsummen­ dert heblich ver-
aktionspotenzials mindert
   19.9  Entzündliche und immunvermittelte Polyneuropathien  671

Tab. 19.6  Klin. u. elektrophysiologische Charakteristika der GBS-Varianten


(Forts.)
AIDP1 AMAN2 AMSAN3 Miller-Fisher 19
Neuro­ Sensible NLG Häufig Normal Normal Normal
grafie verlang- (falls mess-
samt bar)

Amplitude des Häufig Normal Vermindert/ Normal o.


sensiblen Nerven­ verlang- nicht auslös- vermindert
aktionspotenzials samt bar
1
 Akute inflammatorische demyelinisierende PNP
2
 Akute motorische axonale Neuropathie
3
 Akute motorische, sensible axonale Neuropathie

Definition
• Häufigkeit: 1,2–1,7/100.000, zwei Erkr.-Gipfel um 25. u. 60. Lj, M > F. Inzi-
denzrate nimmt mit steigendem Alter zu.
• Verschiedene Varianten des akuten GBS (▶ Tab. 19.6).
Ätiologie
Autoimmunreaktion vom zellvermittelten Typ mit humoralen Veränderungen.

Neben der Atemlähmung sind Pat. mit einem GBS am häufigsten durch die
kardialen (autonome) Stör. gefährdet. Plötzlicher Tod durch Herzrhythmus-
stör. ohne Auslöser o. bei Manipulationen (Lagerung o. Absaugen).

Klinik
• Häufig 2–4 Wo. nach einem Infekt der oberen Luftwege, seltener des GIT
(Campylobacter jejuni).
• Zunächst uncharakteristische Kreuzschmerzen u. distale Parästhesien, dann
aszendierende Lähmungen in 50 % d. F. von den Beinen ausgehend, prox. >
distal. In 33 % an den oberen Extremitäten beginnend.
• In < 5 % stehen HN-Ausfälle am Anfang (Polyradiculitis cranialis).
• Höhepunkt der Erkr. innerhalb von 3–4 Wo. (bei 90 % der Pat.).
Vollbild:
• Symmetrische prox., seltener distal betonte o. generalisierte Paresen u. Atro-
phien der unteren u. in wechselndem Ausmaß der oberen Extremitäten.
• Ausfälle der MER.
• Atemlähmung in etwa 20 % d. F.
• HN-Ausfälle mit Diplegia facialis u. Schluckstör.
• Im Extremfall Locked-in-Sy. (▶ 4.3.3).
• Trotz anfänglicher Parästhesien sensible Ausfälle nur gering ausgeprägt.
• Schmerzen mitunter sehr stark.
Vegetative Sympt.: Stör. von Schweißsekretion, Herzfrequenz (Sinusbrady- o.
-tachykardie in bis zu 50 % der Pat.), RR (Hypo- o. Hypertonus), Blase (15 %).
Stör. der Temperatur o. der Pupillomotorik fast immer vorhanden.

Diagnostik
Zusammenfassung der diagn. Kriterien des GBS (▶ Tab. 19.7).
672 19  Polyneuropathien (PNP)  

Tab. 19.7  Diagnostische Kriterien für das typische GBS nach Asbury u. Corn­
blath
19 Schritt Kriterien

I. Notwendige Kriterien:
• Progrediente Muskelschwäche mehr als einer Extremität: von minima-
ler Parese mit mäßiggrader Ataxie bzw. ohne Ataxie bis hin zur Tetra-
plegie
• Schluck- u. Gesichtslähmung
• Externe Ophthalmoplegie
II. Folgende Befunde stützen die Diagnose

Klin. Befunde • Akut beginnende Paresen erreichen ihr Maximum


innerhalb von 4 Wo. (etwa 50 % erreicht das
­Maximum innerhalb 2 Wo., 80 % innerhalb 3 Wo.,
> 90 % innerhalb 4 Wo.)
• Paresen relativ symmetrisch verteilt (distal o.
prox.)
• Sensible Sympt. o. Defizite nur gering ausgeprägt
• HN-Beteiligung: Fazialparese bds. bei 50 %
• Beginn der Remission nach etwa 2- bis 4-wöchi-
gem Plateau
• Autonome Funktionsstör. (Tachykardie, Arrhyth-
mien, posturale Hypotension, art. Hypertension,
vasomotorische Dysregulation)
• Fehlen von Fieber zu Beginn
Liquor Liquorprotein ↑ (bei 50 % der Pat. erst nach 1 Wo.),
Zellzahl i. d. R. < 10/mm3 (selten 10–50/mm3)

Elektrophysiologie NLG-Verlangsamung

• Typ. klin. Befund (▶ Tab. 19.7).


• Liquor:
– Zellzahl normal o. leicht ↑ (bis 50 Zellen) bei hohem Gesamteiweiß (bis
2 g/l) mit Zeichen einer Schrankenstör.
– Typ. dissociation cytoalbuminique erst nach 2–4 Wo.
– Bei unauffälliger Erst-LP Kontrolle nach 2–3 Wo. Cave: Bei früherer Wie-
derholungs-LP erhöhte Zellzahl durch Reizpleozytose.
• Neurophysiologie:
– Hinweise für (prox.) demyelinisierende Stör.: Verlängerung der minima-
len F-Wellen-Latenzen o. Fehlen der F-Welle. Multiple A-Wellen. Lei-
tungsblöcke bei mehr als einem Nerv.
– Im Verlauf auch path. Spontanaktivität im EMG v. a. der distalen Muskeln
(prognostisch ungünstiges Zeichen).
– Bei AMAN frühzeitig Nachweis von path. Spontanaktivität im EMG.
– Niedrige Potenzialamplituden bei der Neurografie auch bei distalen Lei-
tungsblöcken.

Vitalkapazität
Mind. 3× tgl. messen, um eine Dekompensation mit Beatmungspflicht nicht
zu übersehen (VK normal bei M: 25 ml × Körpergröße in cm, bei F: 20 ml ×
Körpergröße in cm).
   19.9  Entzündliche und immunvermittelte Polyneuropathien  673

• EKG-Monitoring u. engmaschige RR-Überwachung, Herzfrequenzvaribili-


täts-Test.
• Erregernachweis i. S.: Gelingt in einigen Fällen: Leptospiren, Rickettsien, My- 19
koplasmen, Zytomegalie, Zoster u. Mononukleose, Campylobacter jejuni.
• Miller-Fisher-Sy.: Anti-GQ1b-AK.
Differenzialdiagnosen
• Poliomyelitis acuta (▶ 14.4.3): Asymmetrischer Befall, nie Sensibilitätsstör.,
Umgebungsinfektionen.
• Panarteriitis nodosa: Abdominalsympt.
• Sarkoidose: Zellzahlerhöhung im Liquor, typ. Veränderungen im Rö-Thorax,
ACE ↑.
• Tox. PNP-Formen (▶ 19.6), Critical-illness-Polyneuropathy (▶ 4.14; nach
Sepsis), Polyradikulitis bei AIDS o. Lyme-Borreliose (Serologie).
• Querschnittsmyelitis.
Therapie
• Überwachung: Engmaschige, intensivmedizinische Überwachung mit EKG,
RR u. VK-Monitoring.
• Beatmung: Bei Abnahme der VK < 25 % des Normalwerts o. schnell aszendie-
renden Formen.
• Passagerer Herzschrittmacher: Frühzeitig, absolut indiziert bei path. Sinusbra-
dykardie, Bradyarrhythmia absoluta, AV-Block II° u. III°, bifaszikulärem Block.
• Prophylaxe von Dekubitus, Kontrakturen, Pneumonie u. Thrombose. Bei
­ etraparese Gefahr einer Myositis ossificans, daher schonende KG u. Lage-
T
rung. Ödemprophylaxe durch intermittierendes Hochlagern der Extremitäten.
Immunmodulatorische Ther. (▶  Tab.  19.9): Grundsätzlich 2 Formen der
­immunmodulierenden Ther.

Immunglobulingabe u. Plasmapherese sind statistisch gleich wirksam bzgl.


der Verkürzung der Erholungszeit.

• 7S-Immunglobuline: Hoch dosiert 0,4–0,5 g/kg KG/d i. v. für 5 aufeinander-


folgende Tage.
• Plasmapherese: In 2-tägigen Abständen 4–6 Behandlungen mit Austausch von
40–50 ml/kg Plasma gegen Humanalbumin o. „Fresh Frozen Plasma“ (FFP).
• Nach Plasmapherese schnellere Rückbildung der Sympt. u. kürzere Beat-
mungszeiten.
! 
Wegen der schonenderen Appl. u. geringeren KO-Rate bes. bei älteren Pat.
prim. Immunglobuline zu empfehlen. Supportive Behandlungsmaßnahmen
wie Thromboseprophylaxe u. Sondenernährung bei Schlucklähmung.

Glukokortikoide können nicht empfohlen werden, da darunter Verschlech-


terungen beobachtet wurden.

Prognose
• Günstige Verläufe überwiegen.
• Restitutio ad integrum bis zu 70 %; Mortalität 3–5 %; schwere Residualsympt.
in 15 %.
674 19  Polyneuropathien (PNP)  

• Bei 4 % Rezidiv nach Mon.


• Für einen ungünstigen Verlauf sprechen: Rasche Progredienz, höheres Le-
19 bensalter, deutliche Amplitudenminderung des M. abductor policis brevis bei
Reizung des N. medianus, axonale Stör., Ateminsuff. u. Beatmungspflichtig-
keit.

19.9.2 Miller-Fisher-Syndrom
Def.: Variante des GBS mit Ophthalmoplegie, Areflexie u. zerebellärer Ataxie.
Atemlähmung u. Beteiligung der Extremitätenmuskulatur selten.
Klinik:
• Vorangehender febriler Infekt, Ophthalmoplegie evtl. mit Pupillenbeteili-
gung, schwere sensible Ataxie, Areflexie.
• Übergang zum GBS möglich vice versa.
• Verlust der MER, Pallhypästhesie/-anästhesie, fixierte Bulbi, evtl. fehlende
Lichtreaktion.
Zusatzdiagn.:
• Liquor: Im Verlauf Eiweiße ↑.
• Serum: Nachweis von Anti-GQ1b-AK.
• EMG/NLG: Zeichen einer vorwiegend axonalen Neuropathie vorwiegend
sensibler Nerven.
• Polyneuritis cranialis: Multiple HN-Ausfälle (DD Borreliose).
Progn.: Meist günstiger als beim typ. GBS. Rückbildung auch ohne Ther. i. d. R.
innerhalb von 4–6 Wo.

19.9.3 Chronische inflammatorische demyelinisierende


Polyneuropathie (CIDP)
ICD-10 G61.9.
Syn.: Chron. entzündl. PNP, chronic inflammatory demyelinating polyneuropa-
thy (CIDP), chron. idiopathische Polyneuritis.

Definition
• Immunvermittelte, demyelinisierende Neuropathie.
• Prävalenz: 35/100.000.
• Chron. progredienter o. chron. rezid. Verlauf.
• Charakteristische Merkmale:
Diagnostische Kriterien der CIPD
• Periphere sensomotorische Defizite an mehr als einer Extremität.
• Schwache o. fehlende MER.
• Verlauf chron.-progredient (> 2 Mon.) o. schubförmig (mind. 2 Schübe).
• Elektrophysiologische Kriterien einer diffusen Demyelinisierung (deutlich
verlangsamte NLG; verlängerte distal-motorische Latenzen, disperse auf-
gesplitterte Potenziale).
• Multifokale Leitungsblockierung motorischer Nerven.
• Liquorzellzahl ≤ 10 Zellen/mm3.
• Nervenbiopsie (fakultativ): Zeichen der De- u. Remyelinisierung.
• Ausschluss anderer (z. B. hereditärer) PNP.
   19.9  Entzündliche und immunvermittelte Polyneuropathien  675

• In jüngeren Jahren Beginn häufig subakut, Ausfälle oftmals rein motorisch,
Verlauf häufig intermittierend.
• Pat. > 65 J. i. d. R. mit chron. progredientem Verlauf u. gemischten sensomo- 19
torischen Ausfällen. Rückbildung der Sympt. weniger wahrscheinlich.

Ätiologie
• Humoral autoimmunologischer Prozess.
• Assoziation zu monoklonaler Gammopathie (Anti-MAG-AK).
Klinik
• Symmetrische Polyneuroradikulopathie mit sensiblen u. motorischen Ausfällen.
• Im Gegensatz zum akuten GBS Sensibilitätsstör. ausgeprägter, HN-Stör. sel-
tener.
• Symptomatik entwickelt sich meist langsamer (> 4 Wo.) als beim GBS (pro-
gredient o. relapsing remitting).
• Befall distaler u. prox. Muskeln vorwiegend symmetrisch.
• Meist Areflexie.
• Parästhesien u. andere Sensibilitätsstör. (gelegentlich deutlich armbetont).
• Abschwächung des Vibrationsempfindens.
• Selten rein sensible o. rein motorische Sympt.
• Autonome Stör. im Gegensatz zum GBS sehr selten.
Diagnostik
• Liquor: Protein auf 1,5- bis 4-Faches des Normalwerts ↑, Zellen gering ver-
mehrt; Pleozytose 10 %.
• EMG/NLG (▶ 2.4, ▶ 2.5): Motorische u. sensible NLG ↓, prox. > distal, seg-
mentale Entmarkung peripherer Nerven, Leitungsblöcke, verlängerte distale
Latenzen, F-Wellen verzögert o. fehlend. Oft „sural sparing“ (SNAP des
N. medianus path., des N. suralis normal).
• Labor: Immunelektrophorese zum Nachweis einer monoklonalen Gammopa-
thie, Anti-MAG-AK, Anti-GM1-AK.
• Biopsie: Nervenbiospie i. d. R. nicht erforderlich; gel. zur Abgrenzung gegen
eine Vaskulitis des PNS.

Differenzialdiagnosen
• Akutes GBS (Höhepunkt meist binnen 4 Wo.).
• Paraneoplastische PNP.
• PNP bei HIV.
• Multifokale motorische Neuropathie mit Leitungsblock (multiple Leitungs-
blöcke, rein motorisch).
• Vaskulitiden.
Therapie
Akutther. (▶ Tab. 19.9):

• Glukokortikoide u. Immunglobuline gleichermaßen wirksam u. Mittel


1. Wahl; Ansprechrate 70–80 %.
• Initiale Ther.-Form wird individuell entschieden, z. B. prim. Immunglo-
buline bei begleitendem Diabetes, Thromboseneigung o. Osteoporose.
676 19  Polyneuropathien (PNP)  

• Ansonsten auch unter ökonomischen u. praktischen Aspekten Ther.-


Beginn mit Steroiden.
19
• Prednisolon hoch dosiert 1 × 80–100 mg/d (z. B. Decortin®: Beginn mit 1 mg/
kg KG für ca. 4 Wo.) bis zur klin. Besserung, dann langsame Reduktion (max.
5 mg/Wo.) i. d. R. 5 mg alle 2 Wo. über Wo. u. Mon. bis unter die Cushing-
Schwelle; in schweren Fällen Ther.-Einleitung mit 500 mg Prednison i. v. für
5 d, dann orale Weiterbehandlung.
! Erhaltungsdosis möglichst unter der Cushing-Schwelle.
• Alternative: Von Anfang an intermittierende i. v. Immunglobulin-Behand-
lung (Beginn einer 5-Tages-Serie mit 0,4–2,0 g/kg KG/d, anschließend Wdh.
in 4- bis 6-wöchigen Abständen je nach klin. Befund).
• In Ausnahmefällen bei bes. raschen Verläufen evtl. Plasmapherese: 4–6 Be-
handlungen in 2-tägigen Abständen mit 40–50 mg/kg KG.
Langzeitther.:
• Komb.-Ther. von Glukokortikoiden u. Azathioprin (100–150 mg/d, z. B. Imu-
rek®) unter sukzessiver Steroidreduktion.
• Bei Ther.-Resistenz Besserung unter Cyclophosphamid o. Ciclosporin A be-
schrieben. Cyclophosphamid 2–3 mg/kg KG p. o. als Dauerther. o. 3–5 mg/
kg KG als 10-tägige i. v. Ther.
• Bei dauerhaftem Steroidbedarf immer Osteoporoseprophylaxe mit Vit. D u.
Kalzium; bei Risikogruppen zusätzlich Bisphosphonate.

Verlauf
• Chron. progredient (66 %), schubweise o. chron. intermittierende Verlaufs-
form (33 %).
• Schleichender Beginn mit Progredienz über 6–12 Mon. bis zum Höhepunkt,
keine vollständige Rückbildung der Symptomatik in 34 % d. F.
• Selten letale Verläufe.

19.9.4  Multifokale motorische Neuropathie (MMN)


ICD-10 G61.9.
Def.:
• Seltene Erkr. der motorischen Nerven mit langsam progredienten Atrophien
u. Paresen.
• Überwiegend motorische, immunvermittelte demyelinisierende Neuropathie
mit umschriebenen Leitungsblöcken.
• Wird mitunter als asymmetrische Variante der CIDP mit ausschließlichem
Befall motorischer Fasern angesehen.
Ätiol.: Autoimmunologisch; AK-Bildung gegen die Myelinscheide, Anti-GM1-
AK bei einem Teil der Pat.
Klinik:
• Über J. motorische Ausfälle an unterschiedlichen Nerven.
• Muskelatrophien meist nur gering ausgeprägt, oft in Verbindung mit Faszi-
kulationen u. Muskelkrämpfen.
• Jeweils einem Nerv zuzuordnen.
• Asymmetrisches Muster, meist an den Armen > Beinen; ggf. Ausfall der
MER.
   19.9  Entzündliche und immunvermittelte Polyneuropathien  677

• Sensible Ausfälle selten u. nur gering ausgeprägt (Lewis-Summner-Sy.,


­MADSAM [multifocal acquired demyelinating sensory and motor neuropathy]).
• Keine Affektion des 1. MN! 19
Diagn. (▶ Tab. 19.8):
• Beweisend ist der elektrophysiologische Nachweis von Leitungsblöcken im
Verlauf klin. betroffener, aber auch unauffälliger Nerven.
• Leitungsblöcke häufig prox. (prox. Stimulation; F-Wellen-Unters., ▶ 2.4), im-
mer außerhalb typ. Engpassstellen.
• Bei > 30 % Nachweis von GM1-IgM-AK, jedoch unspezifisch (auch bei ande-
ren motoneuronalen Prozessen inkl. PNP u. selten bei ALS pos. < 1 %).
• Liquor meist normal o. leichte Eiweißerhöhung.
Tab. 19.8  Klin. u. elektrophysiologische Diagnosekriterien der MMN
Definitive MMN Wahrscheinliche MMN

1. Schwäche ohne objektive Sensibilitätsstör. im Versorgungsgebiet von mind.


zwei Nerven; keine symmetrische, diffuse Schwäche in frühen Stadien

2. Sicherer Leitungsblock außerhalb 2. Wahrscheinlicher Leitungsblock außer-


physiol. Engstellung an mind. 2 Ner- halb physiol. Engstellen an mind. 2 Nerven
ven o. ein sicherer u. ein wahrscheinlicher Lei-
tungsblock an unterschiedlichen Nerven

3. Normale sensible Neurografie im Abschnitt des motorischen Leitungsblocks

4. Normale sensible Neurografie in mind. 3 Nerven

5. Keine Pyramidenbahnzeichen (Spastik, Klonus, Babinski-Zeichen, Pseudobulbär-


paralyse)

DD:
• ALS (▶ 16.1.1): V. a. wenn überwiegend das 2. MN betroffen ist. Bei MMN
nie Zeichen einer Affektion des 1. MN, i. d. R. keine HN-Beteiligung, langsa-
merer Verlauf, Atrophien meist peripheren Nerven zuordenbar.
• Spinale Muskelatrophie (▶ 16.1.3): Kein Leitungsblock; paravertebrale Verän-
derungen.
Ther. (▶ Tab. 19.9): Hoch dosierte Immunglobuline (tgl. mind. 20–30 g über 5 d);
Wdh. nach 1–3 Mon. bei unzureichender Wirkung Cyclophosphamid i. v.
Verlauf:
• Langsam (über viele J.) progredient.
• Vereinzelt gute Rückbildung nach Immunglobulingabe, mitunter nur für
kurze Zeit.

Tab. 19.9  Gegenüberstellung der Wirksamkeit verschiedener Therapieverfah­


ren bei immunvermittelten demyelinisierenden Neuropathien
Therapieverfahren GBS CIDP MMN

Kortikosteroide ↓ (i. v./p. o.) ⇈ (p. o.) ↓ (i. v./p. o.)

Immunglobulin i. v. ⇈ ⇈ ⇈

Plasmapherese ⇈ ⇈ ↓

Immunadsorption ↑ ↔ Keine Daten


678 19  Polyneuropathien (PNP)  

Tab. 19.9  Gegenüberstellung der Wirksamkeit verschiedener Therapieverfah­


ren bei immunvermittelten demyelinisierenden Neuropathien (Forts.)
19 Therapieverfahren GBS CIDP MMN

Cyclophosphamid Keine Daten ↑ ↑


i. v. (p. o.)

Interferon-β 1a s. c. ↓ ↔ ↔

Weitere Optionen Liquorpherese ↑ Liquorpherese ↔


Azathioprin ↔
Rituximab ↔
Mycophenolat ↔
Cyclosporin A ↔

⇈ Wirksamkeit erwiesen, große Studienzahl, ↑ Wirksamkeit erwiesen, kleine Studi-


enzahl, ↔ möglicherweise wirksam, unterschiedliche Studienergebnisse, ↓ nicht
wirksam

19.9.5 Vaskulitische Polyneuropathie (und Kollagenosen)


ICD-10 G63.5.
Definition
Vaskulitiden stellen eine klin. heterogene Krankheitsgruppe dar; bei ihnen kommt
es entweder direkt o. indirekt zur Entzündung u. strukturellen Schädigung der
Gefäßwand. PNP treten häufig auf; Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter sig-
nifikant.
• Bei allen immunvaskulitischen Prozessen möglich.
• Schädigung der Nerven durch Entzündung der Blutgefäße.
• Meist disseminierte PNP vom Multiplextyp.
Ätiologie
Direkte, erregerbedingte Vaskulitiden sind selten, in der Mehrzahl d. F. handelt es
sich um sek., immunologisch vermittelte Formen.
• Panarteriitis nodosa (bei 50 %):
– Motorische Ausfälle häufig, schmerzhaft.
– Diagn.: HbSAg, Organmanifestation.
– Ther.: Kortikosteroide 100 mg/d, ggf. Azathioprin.
• Allerg. Granulomatose Churg-Strauss (bei 80 %):
– Asymmetrisch, sensomotorisch.
– Diagn.: Eosinophile, IgE ↑.
• Wegener-Granulomatose (bei 15 %): Sensomotorisch, Multiplextyp.
• SLE (bei 10 %):
– Häufig distal symmetrische Form.
– Diagnose: ANA, AK gegen Doppelstrang-DNS, ENA.
• Rheumatoide Arthritis (bei 1–10 %): Multiple Manifestationsformen (Mono-
neuritis multiplex, rein sensible PNP, sensomotorische PNP) u. häufig zusätz-
lich umschriebene Nervenkompressionssy. (▶ 17).
• Sjögren-Sy. (bei 10 %):
– Rein sensible Ganglionitis mit Ataxie.
– Diagnose: Anti-SSA-, Anti-SSB-AK, Xerostomie.
   19.9  Entzündliche und immunvermittelte Polyneuropathien  679

• Isolierte Vaskulitis des PNS:


– Asymmetrische o. symmetrische PNP.
– Laborbefunde i. d. R. unauffällig. 19
– Nur durch Nervenbiopsie nachweisbar. Cave: Biopsie vor Kortikostero-
idther., sonst Aussage eingeschränkt.
Vaskulitische PNP treten am häufigsten in der Folge einer Polyarteriitis nodosa
auf, danach folgen die isoliert am PNS vorkommenden Typen (▶ Tab. 19.10).

Tab. 19.10  Ursachen vaskulitischer PNP (Reihenfolge nach Häufigkeit)


Vaskulitistyp Häufigkeit

Polyarteriitis nodosa o. mikroskopische Polyangiitis häufig

Nichtsystemische Vaskulitis (isoliert)

Rheumatische Vaskulitis

Nichtklassifizierte Kollagenose

Churg-Strauss-Sy.

Lupus-Vaskulitis

Sjögren-Sy.

HIV-Infektion

Gemischte Kryoglobulinämie

Wegener-Granulomatose

Gemischt sehr selten

Klinik
• Schmerzen, Sensibilitätsstör. u. Schwäche im Versorgungsgebiet unterschied-
licher peripherer Nerven. Diese Mononeuritis multiplex entwickelt sich
schrittweise, teils überlappend u. unterschiedliche Nerven betreffend weiter
fort.
• Am häufigsten betroffen: N. peroneus, N. tibialis, N. ulnaris.
• Ca. 30 % distal symmetrische PNP, Beginn überwiegend asymmetrisch.
• Selten finden sich rein motorische o. rein sensible Formen.
Diagnostik
• Differenzierte laborchemische Analysen unerlässlich (▶ Tab. 19.11).
• Elektrophysiologische Unters.
• Daneben periphere Nervenbiopsie (meist N. suralis) essenziell für die Dia­
gnose.
• Muskelbiopsie hilfreich:
– Aktives Stadium: Inflammatorische Zellen in der Wand kleiner bis kleins-
ter Gefäße sowie eine lokalisierte Nekrose.
– Chron. Stadium: Proliferation u. Hyperplasie der Intima mit umschriebe-
nen Gefäßverschlüssen.
680 19  Polyneuropathien (PNP)  

Tab. 19.11  Laborchemische Untersuchungen bei vermuteter vaskulitischer


PNP
19 Immer indiziert Selektive Untersuchungen

Komplettes BB ANCA (c-ANCA u. p-ANCA)


BSG Kryoglobuline
Leber- u. Nierenfunktionsparameter Anti-dsDNA
Urinanalyse Anti-SSA (Ro) u. Anti-SSB (La)
Rö-Thorax Anti-Sm
Antinukleäre AK (ANA) Anti-Scl70
Rheumafaktoren
Komplement (C3, C4)
Immunfixation im Serum
Immunglobuline im Serum

Diagnosekriterien der vaskulitischen Neuropathie


1. Typ. klin. Erscheinungsbild mit asymmetrischer o. multifokaler, schmerz-
hafter, sensomotorischer Neuropathie akuter/subakuter o. chron. Verlauf
mit schubförmigen Verschlechterungen, keine Spontanremission
2. Beschleunigte BSG o. andere Zeichen einer systemischen Entzündung
(ohne andere Erklärung)
3. Neurophysiologischer Nachweis einer aktiven, asymmetrischen, axonalen,
sensomotorischen Neuropathie
4. V. a. Vaskulitis in der Nerven- u./o. Muskelbiopsie
5. Besserung durch immunsuppressive Ther.
→ Wahrscheinliche Vaskulitis des PNS: 3 von 5 Kriterien erfüllt
→ Sichere Vaskulitis des PNS: Pos. morphologischer Befund

Therapie
• Immunsuppression ist Ther. der Wahl: Z. B. Prednison initial 80–100 mg/d
p. o. (z. B. Decortin®), nach 2 Wo. Dosisreduktion um 5 mg/Wo., bis die
­Sympt. noch unterdrückt sind.
! Ziel: Dosisreduktion unter die Cushingschwelle (7,5 mg/d).
• Ggf. auch Dauerther. mit Azathioprin 1 × 100–150 mg/d p. o. (z. B. Imurek®).
• I. d. R. Komb. von Induktions- u. Dauerther. mit Kortikosteroiden u.
Pulsther. mit Cyclophosphamid (Endoxan®).
• Plasmapheresen sowie intravenöse Immunglobuline können im Einzelfall
ebenfalls wirksam sein.

Verlauf
Meist akut oder subakut, selten langsam chron. progredient.

19.9.6 Paraproteinämische Polyneuropathie
Def.:
• Neuropathie mit Nachweis von Paraproteinen ohne erkennbare Urs. (mono-
klonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz, CIDP-MGUS) oder Neu-
ropathie mit Nachweis von Paraproteinen im Rahmen internistischer
Grunderkr.
• Monoklonale Gammopathien (Paraproteinämien) bei etwa 10 % der Pat. mit
PNP. Nur bei etwa ⅓ der Gammopathien hämatologische Grunderkr. (multi-
   19.9  Entzündliche und immunvermittelte Polyneuropathien  681

ples Myelom, Plasmozytom u. osteosklerotisches Myelom, Amyloidose, Ma­


kroglobulinämie Waldenström, Lymphome u. CLL).
• Rest: Sog. monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS). 19
• In der Hauptsache monoklonale Immunglobuline vom IgG-Typ gefolgt vom
IgM-Typ.
Pathogenese: Kreuzreaktion von monoklonalen Immunglobulinen mit Glyko-
proteinen u. Glykolipiden der peripheren Nerven.
Klinik:
• PNP bei Plasmozytom i. d. R. axonal, distal symmetrisch gemischt oder vor-
wiegend sensibel oder motorisch (▶ Tab. 19.12).
• Seltener Mononeuritis multiplex.
• Initial Schmerzen u. autonome Sympt. im Vordergrund, später treten distal
symmetrische motorische Ausfälle hinzu.

Tab. 19.12  PNP bei Paraproteinämien


Plasmozytom (multi­ M. Waldenström MGUS
ples Myelom)

Häufigkeit bei 10–20 % 10 % 30 %


Grunderkr.

Klin. Typ Sensomotorisch, distal- Mononeuritis Sensomotorisch,


symmetrisch multiplex ­distal-symmetrisch

Histologischer Axonal Gemischt axonal- Demyelinisierend


Typ demyelinisierend oder axonal

Ther. Prednison 1 mg/kg In schweren Fäl- Prednison 1 mg/kg


KG/d p. o. für 4 Wo. len Plasmaphere- KG/d p. o. für 2–4
(z. B. Decortin®), Re- se u. Immunsup- Wo. (z. B. Decortin®),
duktion um 5–10 mg/ pression mit Aza- Reduktion um
Wo. bis zur Erhaltungs- thioprin 5–10 mg/Wo. bis zur
dosis. Immunsuppressi- Erhaltungsdosis, Cy­
on mit Azathioprin clophosphamid, i. v.
100–150 mg/d p. o. für Immunglobulin
2–3 J. (z. B. Imurek®)

Diagn.:
• Detektion des monoklonalen Immunglobulins mittels Serumelektrophorese.
• Suche nach Bence-Jones-Proteinen im 24-h-Sammelurin.
• Hämatologische Differenzierung zwischen MGUS u. anderen Formen immer
indiziert.
Ther.:
• Paraproteinämische PNP bei Plasmozytom: Behandlung der Grundkrankheit.
• MGUS-PNP, die vergleichbar einer CIDP verlaufen, wie diese behandeln.
• PNP mit monoklonalen IgM-AK sprechen i. d. R. nicht auf Kortikosteroide
an. Hier Plasmapheresen evtl. in Komb. mit Immunsuppressiva oder Zytosta-
tika erwägen.
Verlauf:
• PNP infolge MGUS verlaufen langsam progredient distal symmetrisch u. sen-
somotorisch, wobei initial sensible Sympt. vorherrschen; bei der Hälfte aller
Pat. Verlauf relativ benigne.
• Bei Gammopathie unklarer Signifikanz Übergang in maligne Form möglich,
deshalb regelmäßige Kontrollen.
682 19  Polyneuropathien (PNP)  

19.10 Hereditäre Polyneuropathie (CMT)


19 19.10.1 Allgemeines
ICD-10 G60. Syn.: Hereditäre sensomotorische Neuropathie, neurale Muskelatro-
phie, erbliche PNP, Charcot-Marie-Tooth-Erkr. (CMT).
Epidemiologie: Inzidenz 20–40/100.000.
Einteilung:
• Einteilung aufgrund genetischer Befunde (CMT-Klassifikation).
• Zahl der bekannten Mutationen, die zu klin. identischen Befunden führt,
nimmt zu. Genetische Klassifikation bisher ohne therap. Bedeutung.

19.10.2 Hereditäre Neuropathie Typ 1 nach Dyck


(demyelinisierende Form, CMT1)
Langsam progrediente, meist aut. dom. vererbte, hypertrophe, demyelinisierende
Form der HSMN, häufigste hereditäre Neuropathie. Übergangsformen zwischen
demyelinisierendem u. axonalem Typ möglich.
Genetik: Vor allem dominant vererbte (CMT1); seltener X-chrom. (CMTX).
Mutation: Meist Duplikation eines Genabschnitts auf Chromosom  17, der das
Gen des Peripheren-Myelin-Protein (PMP) 22 enthält. Viele ursächliche Mutatio-
nen bekannt.
Path. Befund der peripheren Nerven: Zwiebelschalenformationen, De- u. Re­
myelinisierung, Hypertrophie des Perineuriums, sek. axonale Degeneration.
Klinik (▶ Tab. 19.13):
• Erkr.-Beginn: 5.–20. Lj. Je früher der Beginn, desto langsamer die NLG.
• Areflexie: Charakteristisch tastbare Verdickung peripherer Nerven (N. ulna-
ris im Sulcus, N. suralis zwischen lat. u. medialem M. gastrocnemius, N. pero-
neus am Fibulaköpfchen) infolge Nervenhypertrophie.
• Motorische Ausfälle: Distal betonte Atrophien u. später Paresen, peroneal
betont; Storchenbeine; Steppergang.
• Sensible Ausfälle: Immer vorhanden, jedoch vom Pat. kaum wahrgenommen
oder wenig ausgeprägt.
• Autonome Stör.:
– Kühle Unterschenkel u. Füße.
– Livedo reticularis.
– Trophische Stör. (Haarausfall, Verhornungsstör., Arthropathie, selten
Frakturen, selten Ulzerationen).
– Pupillenstör.
– Verminderte spontane Variabilität der Herzfrequenz.
• Deformitäten: Fußdeformitäten (Hohlfuß, gelegentlich Spreizfuß).
Diagn.:
• NLG: Deutliche NLG-Verlangsamung (meist < 20 m/s; diagn. relevante NLG-
Verlangsamung des N. medianus < 38 m/s), gleichmäßige Verzögerung über
allen Nervenabschnitten, normale Potenzialkonfiguration, keine Leistungs-
blöcke.
• EMG: im Velauf chron.-neurogene Potenziale, wenig Spontanaktivität.
• Evozierte Potenziale: AEP: Evtl. verlängerte Interpeak-Latenz I–II.
• Labor: CK, Liquoreiweiß selten ↑.
   19.10  Hereditäre Polyneuropathie (CMT)  683

Tab. 19.13  Zusammenfassung der Befunde zu den 3 wichtigsten HSMN-For­


men
HSMN 1 HSMN 2 HSMN 3 19
Erbgang V. a. aut. dom. oder X- V. a. aut. dom. oder V. a. aut. rez.
chrom. rez.

Erkr.-Alter 5–15(–30) J. 25–40 J. ≤ 10. Lj

Verlauf Chron. progredient Langsam progredient Rasch progredient

Nervenhy­ Charakteristisch Nicht vorhanden Vorhanden,


pertrophie schmerzlos

Liquoreiweiß Selten ↑ Normal ↑↑

NLG ↓↓ (meist < 30 m/s) Normal bis ↓ ↓↓ (< 10 m/s)

EMG Neurogenes Muster, Neurogenes Muster Geringe neurogene


gering ausgeprägt Veränderungen

Histologie Demyelinisierung, Axonale Degenerati- Demyelinisierung


Zwiebelschalenbildung on

Cave: Innerhalb einer Familie können unterschiedliche Zusatzbefunde vorliegen wie


Skelettdeformitäten, Pyramidenbahnzeichen, spastische Tonuserhöhung (HSMN 5),
Optikusveränderungen u. andere okuläre Sympt.

• Molekulargenetik: Bei klin. V. a. HSMN 1 ist Genetik in ca. 80 % d. F. pos.:
70 % CMT 1A mit Mutation im PMP22-Gen (Duplikation), 10 % CMT X mit
Punktmutation im GJB1/Cx32-Gen.
Ther.: Keine spezifische Ther.; Hilfsmittelversorgung, Physiother.

19.10.3 Hereditäre Neuropathie Typ 2 nach Dyck (axonale


Form der HSMN, CMT2)
Def.: Neuronale Form der HSMN, axonaler Typ der Charcot-Marie-Tooth-Erkr.
Mehrheitlich aut. dom. vererbt, seltener auch rez.
Klinik (▶ Tab. 19.13):
• Erkr.-Beginn 20.–40. Lj.
• Keine verdickten (hypertrophen) Nerven tastbar.
Diagn.:
• Neurografie: Nur geringe NLG-Verlangsamung (35–40 m/s an den Beinen,
NLG > 40 m/s an den Armen); Amplituden erniedrigt.
• EMG: Path. Spontanaktivität u. chron. neurogen veränderte Potenziale.
• Molekulargenetik: 20 % mit Punktmutation im MFN2-Gen, 10 % mit Punkt-
mutation im GJB1/Cx32-Gen, 5 % mit Punktmutation im MPZ-Gen.
• Biopsie (selten indiziert): Distal betonte axonale Degeneration mit geringgra-
diger (sek.) segmentaler Demyelinisierung u. entsprechend sehr vereinzelten
Zwiebelschalenformationen.
Verlauf: Langsam progredient.
684 19  Polyneuropathien (PNP)  

19.10.4 Hereditäre motorische und sensible Neuropathie


Typ 3 nach Dyck (Déjerine-Sottas-Syndrom [DSS],
19 kongenitale Hypomyelinisation)
Def.: Entspricht der von Déjerine u. Sotta beschriebenen „hypertrophischen Neu-
ritis“; meist aut. dom.
• Hypertrophische Neuropathie, unter genetischem Aspekt als schwerste Ver-
laufsform der HSMN 1 zu klassifizieren.
• Klin. abgrenzbar durch frühen Erkr.-Beginn in der Kindheit u. Schweregrad
der Behinderung.
• Dominante Formen mit verschiedenen Mutationen (PMP22, MPZ, EGR2)
sind bekannt; extrem seltene rezessive Form wurde beschrieben (CMT 4F).
Klinik (▶ Tab. 19.13):
• Erkr.-Beginn: 1.–10. Lj.
• Verzögerte motorische Entwicklung.
• Motorische Ausfälle, distal betont, mit Ausbildung von Krallenfüßen u. -hän-
den.
• Sensibilitätsstör.: Frühzeitig Parästhesien u. sensible Defizite mit ausgeprägter
Gangstör. infolge der Afferenzstör.
• Fakultativ Kyphoskoliose, areaktive Pupillen u. Nystagmus, Oligophrenie.
• Verdickung der peripheren Nerven, autonome Stör.
Diagn.:
• NLG: Hochgradige NLG-Verlangsamung, (immer < 10 m/s).
• EMG: Geringe neurogene Veränderung.
• Liquor: Evtl. Eiweißvermehrung bis 2.000 mg/l.
• Biopsie: De-, Re- u. Hypomyelinisierung, Zwiebelschalenbildung, u. U. nur
kleinkalibrige Fasern (< 4 μm) erhalten.
Verlauf: Rasche Progression, frühzeitig Gangunfähigkeit, häufig bereits roll-
stuhlabhängig in 2.–3. Lebensdekade.

19.10.5 Morbus Refsum
ICD-10 G60.1.
Def.: Aut. rez. vererbt; genetisch heterogen, 45 % mit Mutationsnachweis auf
Chromosom 10p13 (PAHX-Gen); metab. Erkr. mit Phythansäurespeicherung.
Klinik:
• Beginn in der Kindheit bis 20. Lj.
• Nachtblindheit mit Retinitis pigmentosa, zerebellärer Ataxie, Anosmie, In-
nenohrschwerhörigkeit, Ichthyosis, Diab. mell., Kardiomyopathie, Skelettver-
änderungen.
• PNP meist erst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium.
Diagn.: Phytansäure i. S. ↑↑ (> 0,3 mg/100 ml). EKG, ophthalmologische Diagn.,
NLG ↓ (teils < 10 m/s), im Liquor deutliche Eiweißerhöhung.
Ther.: Phytansäurearme Diät (keine Milchprodukte u. grünen Früchte).
Progn.: Unbehandelt schlecht, durch Diät Besserung möglich.
   19.10  Hereditäre Polyneuropathie (CMT)  685

19.10.6 Hereditäre motorische und sensible Neuropathie,


weitere Formen nach Dyck
• HSMN 5: Aut. dom., Beginn ca. 20. Lj, langsam progrediente Paraspastik, ge- 19
ringe NLG-Verlangsamung, DD spastische Spinalparalyse.
• HSMN 6: Neuropathie mit Optikusatrophie.
• HSMN 7: Neuropathie mit Retinitis pigmentosa.

19.10.7 Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu


Druckläsionen (HNPP)
Def.: Hereditary neuropathy with liability to pressure palsy. Erbliche Myelinisie-
rungsstör. (tomakulöse Neuropathie) mit Deletion auf Chromosom 17.
Klinik:
• Erstmanifestation meist 2.–3. Lebensdekade.
• Rezid. Nervenkompressionssy. an typ. Engpassstellen (KTS, Kompression des
N. ulnaris am Ellbogen, N.-peroneus-Kompression u. a.) bei minimalen Trau-
men oder Druck.
• Pos. Familienanamnese. Meist gut reversibel.
Diagn.: Fokale Demyelinisierungen an Engstellen.
Ther.: Vermeidung von lokalen Druckschädigungen.

19.10.8 Morbus Fabry
Def.:
• Seltene (Prävalenz in Deutschland 1/60.000), X-chrom. rez. vererbte Lipid-
speichererkr.
• Fehlen der Iysosomalen α-Galaktosidase → Akkumulation von Glykosphingo-
lipiden (v. a. Ceramidtrihexosid) in Niere, Myokard, Neuronen, Kornea u.
Gefäßwänden.
Klinik:
• Neurol.:
– Schmerzhafte (Small-fiber-)PNP mit Parästhesien u. teils brennenden,
teils einschießenden Schmerzen in Händen u. Füßen, provoziert durch
Temperaturänderungen, Fieber, Stress, körperl. Anstrengungen, begin-
nend im Schulalter, Hypo- oder Anhidrose.
– Zerebrovask. Ereignisse (Ischämien, Blutungen), ca. 1–2 % der juvenilen
Insulte sind durch M. Fabry verursacht.
– Unspezifische Sympt.: Kopfschmerzen, Schwindel, hirnorganisches Psy-
chosy.
• Nicht neurol.: Angiokeratome der Haut, Hornhauttrübungen, Niereninsuff.,
renaler Hypertonus, Herzrhythmusstör., Klappenvitien, linksventrikuläre
Hypertrophie, Übelkeit/Erbrechen, Diarrhö.
Diagn.: Nachweis des α-Galaktosidase-Mangels, Mutationsanalyse.
Ther.: Enzymsubstitution mit α-Galaktosidase A = Agalsidas C (Replagal®, Fabra-
zyme®) 0,2 mg/kg KG i. v. alle 14 d.
20 Muskelerkrankungen
Matthias Spranger und Achim Berthele

20.1 Diagnostik 689 20.4.4 MELAS-Syndrom 706


20.1.1 Anamnese 689 20.4.5 MERRF-Syndrom 707
20.1.2 Klinische Untersuchung 690 20.5 Multisystemische myotone
20.1.3 Labor- und apparative Myopathien 707
­Diagnostik 691 20.5.1 Myotone Dystrophie Typ
20.2 Progressive Curschmann-Steinert
­Muskeldystrophien 692 (MD1) 707
20.2.1 Definition 692 20.5.2 Proximale myotone Muskel-
20.2.2 Muskeldystrophien Duchenne dystrophie (PROMM,
(DMD) und Becker (BMD) 693 MD2) 710
20.2.3 Gliedergürteldystrophien 20.6 Nichtdystrophische
(LGMD) 695 Myotonien und periodische
20.2.4 Fazioskapulohumerale Muskel- Lähmungen 711
dystrophie (FSHD) 696 20.6.1 Definition 711
20.2.5 Muskeldystrophie Emery-­ 20.6.2 Myotonia congenita
Dreifuss (EDMD) 697 Becker 712
20.2.6 Okulopharyngeale Muskeldys- 20.6.3 Myotonia congenita
trophie (OPMD) 698 Thomsen 712
20.3 Metabolische 20.6.4 Periodische Paralysen 713
­Myopathien 698 20.6.5 Neuromyotonie (ICD-10
20.3.1 Definition 698 G71.1) 713
20.3.2 Glykogenosen  698 20.7 Entzündliche Muskelerkran­
20.3.3 Lipidspeicher­ kungen 714
myopathien  700 20.7.1 Nichterregerbedingte
20.3.4 Myoadenylat-Deaminase- ­Myositiden 714
Mangel (MAD-Mangel, MADA- 20.7.2 Dermatomyositis (DM) 715
Mangel) 702 20.7.3 Polymyositis (PM) und nekroti-
20.4 Mitochondriale sierende Myopathie
­Myopathien 703 (NM) 717
20.4.1 Definition und Übersicht 703 20.7.4 Sporadische Einschlusskörper-
20.4.2 Diagnostik und Therapie 704 chenmyositis (sIBM) 717
20.4.3 Chronisch progrediente exter- 20.7.5 Myositisassoziierte
ne Ophthalmoplegie (CPEO, ­Erkrankungen und
PEO) und Kearns-Sayre-Syn- ­Overlap-Syndrome 718
drom (KSS) 705 20.7.6 Erregerbedingte Myositi-
den  719
20.8 Andere erworbene Muskeler­ 20.9 Spezielle Probleme 722
krankungen 720 20.9.1 Unklare CK-Erhöhung 722
20.8.1 Endokrine Myopathien 720 20.9.2 Rhabdomyolyse 723
20.8.2 Medikamentös/toxisch indu- 20.9.3 Maligne Hyperthermie
zierte Myopathien 721 (MH) 724
  20.1 Diagnostik  689

20.1 Diagnostik
20.1.1 Anamnese
Anamnese u. klin. Unters.:
• Familienanamnese? Vererbungsmodus?
• „Negativ“- u. „Positiv“-Sympt. einer Muskelerkr.?
– Negativ-Sympt.: Muskelschwäche, Muskelatrophie, Belastungsintoleranz. 20
– Positiv-Sympt.: Myalgien, Krampi, Kontrakturen, Muskelsteifigkeit, myo-
tone Sympt., CKämie/Myoglobinurie.
• Welche Muskeln (Muskelgruppen) sind betroffen?
• Seit wann bestehen die Beschwerden? Wie haben sie sich entwickelt?
• Systemische Sympt. einer Muskelerkr. (z. B. Herz, ZNS/PNS, Leber)?
Erbmodus (▶ Tab. 20.1)

Tab. 20.1  Vererbungsmodus von Muskelkrankheiten


Vererbungsmodus Muskelkrankheit

Aut. dom. Gliedergürteldystrophien (Typ LGMD1)


Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie (FSHD)
Muskeldystrophie Emery (Typ EDMD2)
Okulopharyngeale Muskeldystrophie
Myotone Dystrophien
Myotonia congenita Thomsen
Periodische Paralysen
Central-Core-Myopathie

Aut. rez. Gliedergürteldystrophien (LGMD2)


Glykogenosen (überwiegend)
Lipidspeichermyopathien
Myotonia congenita Becker

Maternale Trans­ Mitochondriale Myopathien


mission

X-chrom. Muskeldystrophie Duchenne/Becker


Muskeldystrophie Emery-Dreyfuss (Typ EDMD1)

Begleitsymptome
Muskuläre Begleitsymptome
Myalgie: Muskeldystrophie Becker; Gliedergürteldystrophien; Glykogenosen:
Typ II (M. Pompe), Typ V (M. McArdle), Typ VII; Carnitin-Palmitoyl-Transfera-
se-Mangel; Myoadenylat-Deaminase-(MAD-)Mangel; myotone Dystrophie
DM2; Dermatomyositis; Polymyositis; infektiöse Myositiden; medikamentös/tox.
Myopathien; Myopathie bei Hyper-/Hypothyreose.
Kontrakturen: Muskeldystrophie Duchenne/Becker; Gliedergürteldystrophien;
Muskeldystrophie Emery-Dreyfuss; Glykogenose Typ II (M. Pompe); kongenitale
Muskeldystrophien; Dermatomyositis.
Muskelsteifigkeit: Myotone Dystrophien; Myotonia congenita; Glykogenosen:
Typ V (M. McArdle), Typ VII; Carnitin-Palmitoyl-Transferase-Mangel; Myopa-
thie bei Hypothyreose.
(Pseudo-)Hypertrophien: Myotonien; Muskeldystrophie Duchenne/Becker.
690 20 Muskelerkrankungen 

Myoglobinurie: Metab. Myopathien; Myositis.


Verstärkung der Symptomatik bei Kälte: Myotonien.
Systemische Begleitsymptome
Respiratorische Insuff.: Muskeldystrophie Duchenne/Becker; Gliedergürteldys-
trophien; Muskeldystrophie Emery-Dreyfuss; metab. Myopathien; mitochondri­
ale Myopathien; kongenitale Myopathien mit Strukturbesonderheiten; kongenita-
le Muskeldystrophien; Dermatomyositis; Rhabdomyolyse.
20 Kardiomyopathie/Reizleitungsstör.: Muskeldystrophie Duchenne/Becker; Glie-
dergürteldystrophien; Muskeldystrophie Emery-Dreyfuss; metab. Myopathien;
mitochondriale Myopathien; myotone Dystrophien; kongenitale Myopathien mit
Strukturbesonderheiten; kongenitale Muskeldystrophien; Dermato-/Polymyositis.
Fieber/Entzündungszeichen: Entzündl. Muskelerkr.
ZNS-Beteiligung: Kognitive Defizite, Epilepsie, rezid. zerebrale Ischämien,
­CMRT-Auffälligkeiten: metab., mitochondriale u. kongenitale Myopathien; myo-
tone Dystrophie DM1.

20.1.2 Klinische Untersuchung

Immer Ganzkörperstatus erheben u. auf nichtneurol. Sympt. achten (z. B.


Hautverfärbung, Skelettdeformierung).

Inspektion:
• Facies myopathica (▶ Tab. 20.2); Körperproportionen/Dymorphiezeichen (v. a.
Gesichtsschädel); Skelettdeformierung (v. a. Skoliose); Hautveränderungen.
• Kontrakturen; Muskelatrophien, -hypertrophien.
Muskelstatus:
• Muskelkraft: Nach MRC-Skala graduieren.
• Muskeltonus:
– Hypoton/schlaff (z. B. „floppy infant“).
– Muskelsteifigkeit (z. B. bei myotonen Dystrophien).
• Reflexe: Üblicherweise, zumindest im Verlauf der Erkrankung, abgeschwächt
o. fehlend.

Tab. 20.2  Spezielle Untersuchung einzelner Muskelgruppen


Fazial Facies myopathica: „Signe de cils“ (Wimpern bleiben bei max. Au-
genschluss sichtbar); „horizontales Lächeln“; wenig Mienenspiel,
Unfähigkeit, zu pfeifen

Okulär Doppelbilder, Ptose, diskonjugierte Augenbewegungen

Bulbär Nasale Sprache; nasale Regurgitation von Flüssigkeiten; schwache


Stimme (bzw. Schrei); Schwäche beim Saugen/Kauen/Schlucken;
häufiges Verschlucken/Husten beim Essen; Aspirationspneumonien

Nacken Schwäche beim Halten des Kopfs

Körperstamm Skoliose; lumbale Hyperlordose; Vorwölbung des Bauchs; Schwie-


rigkeiten beim Aufstehen/Aufsitzen

Schultergürtel Schwierigkeiten, Gegenstände über den Kopf zu heben; Scapula


alata
  20.1 Diagnostik  691

Tab. 20.2  Spezielle Untersuchung einzelner Muskelgruppen (Forts.)


Unterarm/Hand Schwäche beim Faustschluss; Fallhand/-finger

Beckengürtel Schwäche beim Treppensteigen; Watschelgang; Gower-Zeichen

Gangbild Trendelenburg-Gang, Watschelgang, Steppergang

Bein/Fuß Fallfuß; Schwäche beim Zehen-/Fersengang, Stolpern über die ei-


genen Füße

Atmung Nutzung der Atemhilfsmuskulatur


20

20.1.3 Labor- und apparative Diagnostik


Obligate Untersuchungen
Labor: CK (▶ Tab. 20.3), γ-GT, GOT, GPT u. LDH. Laktat (↑ bei metab. Myopa-
thien), K+ (episodische Lähmungen), BSG/CRP (↑ bei entzündl. Muskelerkr.),
Schilddrüsenwerte, ANA/ENA, ANCA, Rheumafaktor.

CK-Bestimmung immer vor EMG durchführen, da Erhöhung schon durch


geringes Muskeltrauma möglich.

Tab. 20.3  Größenordnung der CK-Veränderungen bei verschiedenen Muskel­


erkrankungen (N normal)
Erkrankung CK-Veränderung

Muskeldystrophie Duchenne ↑↑↑

Muskeldystrophie Becker ⇈–↑↑↑

Gliedergürteldystrophien N–⇈

Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie N–↑

Okulopharyngeale Muskeldystrophie N–↑

Glykogenosen ↑–⇈

Lipidspeichermyopathien N–⇈

Mitochondriale Myopathien N–↑

Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert N–↑

Prox. myotone Myopathie (PROMM, MD2) N–⇈

Nichtdystrophe Myotonien u. periodische Lähmungen N–↑

Dermatomyositis/Polymyositis N–↑↑↑

Einschlusskörperchen-Myositis N–↑

Erregerbedingte Myositiden ⇈–↑↑↑

Endokrine Myopathien/Myopathie bei Hypothyreose N–↑/⇈

N: Normal; ↑: > 200 U/l; ⇈: > 500 U/l; ↑↑↑: > 1.000 U/l


692 20 Muskelerkrankungen 

EMG: Bei unklaren Lähmungen, Unterscheidung von neurogenen u. myopathi-


schen Mustern, Nachweis myotoner Reaktionen.
Konsile:
• Kardiologische Diagn. (EKG, Langzeit-EKG, Echo): Kardiomyopathie, -me-
galie, Reizleitungsstör.
• Ggf. internistische (endokrinologisch, pneumologisch, rheumatologisch),
ophthalmologische, HNO-Konsile.

20 Fakultative Untersuchungen
Belastungstests: Laktat-Ischämie-Test o. Fahrradbelastungstest.

Durchführung des Laktat-Ischämie-Tests


1. RR-Manschette anlegen, nicht stauen.
2. Venösen Zugang legen, Ausgangswert Laktat u. Ammoniak abnehmen.
3. Manschette auf 2× syst. Wert aufpumpen.
4. Rhythmischer Faustschluss (1 Hz) mit max. Kraft für 1 Min.
5. Manschette lösen, ab diesem Zeitpunkt nach 1, 5, 10, 15 u. 20 Min. Pro-
ben für Laktat u. Ammoniak abnehmen.
Auswertung: Normal nach 1–5  Min. Anstieg von Laktat (5–25-fach) u.
­Ammoniak, der sich nach 20–30 Min. normalisiert. Fehlender Laktatanstieg
bei Glykogenosen, fehlender Ammoniakanstieg bei MAD-Mangel.

Der Ischämie-Test kann bei Glykogenosen eine Rhabdomyolyse auslösen.


Eine gleichwertige Alternative ist die aerobe Durchführung des Tests (keine
Stauung, Fausschlussfrequenz höher [2 Hz], ansonsten identische Durchfüh-
rung u. Auswertung).

Bildgebende Verfahren:
• Sono o. MRT des Muskels, auch zur Auswahl eines Muskels für die Muskel­
biopsie.
• Rö u. CT zum Nachweis von Zysten o. Verkalkungen.
Muskelbiopsie:
• Aus klin. mittelgradig betroffenen u. nicht zuvor im EMG untersuchten Mus-
keln offen biopsieren.
! Vor Biopsie unbedingt Kontakt mit untersuchendem Labor aufnehmen.
• KO: Wundheilungsstör., Infektionen, bei Suralisbiopsie Sensibilitätsstör.
Molekulargenetik: Humangenetisches Institut (diagn. Möglichkeiten des Labors,
Art der Materialröhrchen u. Verschickung vorher abklären).
Übersicht über durchführende Labors: www.hgqn.org. Voraussetzung ist eine hu-
mangenetische Beratung des Pat. (bzw. der Eltern)!

20.2 Progressive Muskeldystrophien
ICD-10 G71.0.

20.2.1 Definition
Genetisch bedingte Muskelerkr. mit progredienter, atrophischer Muskelschwäche
ohne Sensibilitätsstör. u. unterschiedlichem Verlauf.
  20.2 Progressive Muskeldystrophien  693

Narkosen: Erhöhtes Risiko für maligne Hyperthermie (▶ 20.9.3).

20.2.2 Muskeldystrophien Duchenne (DMD) und Becker


(BMD)
Syn.: Dystrophinopathien; DMD (Duchenne muscular dystrophy), BMD (Becker
muscular dystrophy). 20
Epidemiologie
Inzidenz 1 : 3.300–1 : 4.500 (Duchenne) bzw. 1 : ≈20.000 (Becker) der männlichen
Neugeborenen.

Ursache
• X-chrom. rez. vererbte Erkr. mit progredienter Degeneration der Skelettmus-
kulatur durch fehlende (Typ Duchenne) o. mangelhafte (Typ Becker) Expres-
sion von Dystrophin.
• Genetischer Defekt auf Chromosom Xp21:
– Typ Duchenne zu ≈95 % Mutationen (zu 60 % Deletionen) mit Änderung
des Leserasters (Abbruch der Transkription).
– Typ Becker zu 70 % Punktmutationen mit erhaltenem Leseraster.
• Neumutationen beim Typ Duchenne zu 30 %, beim Typ Becker selten.
Klinik
Typ Duchenne:
• Erkr.-Beginn kongenital bis zum Kleinkindesalter (< 4 Lj); „floppy infant“,
Trinkschwäche, Gedeihstör.; motorische Meilensteine verspätet.
• Im Verlauf zunächst Schwäche des Beckengürtels bei erhaltenen MER, später
des Schultergürtels u. des Rumpfs (mit Watschelgang, mühsames Treppen-
steigen), schließlich auch distale Paresen (mit MER Verlust). Kontrakturen.
Gesicht u. Hände lange ohne Defizite.
• Charakteristisch: Pseudohypertrophien (Lipomatose) der Waden („Gnomen-
waden“); „Gower-Zeichen“ (Pat. benutzt eigene Oberschenkel als Stütze, um
sich aufzurichten), Hyperlordose durch Schwäche der Bauchwandmuskulatur.
• Dilatative Kardiomyopathie: Herzinsuff. bei ≈40 % der Betroffenen im 18. Lj;
EKG u. Herzecho bei nahezu allen Pat. mit path. Veränderungen.
• Respiratorische Einschränkungen (durch Skoliose u. Schwäche der Atem-
muskulatur).
• Mitunter leichte Intelligenzminderung.
Typ Becker:
• Erkr.-Beginn zwischen 6. u. 19. Lj mit hoher Variabilität.
• Befallene Muskelgruppen u. Sympt. identisch mit Typ Duchenne; Ausprä-
gung insgesamt deutlich milder, aber sehr variabel (von asymptomatischen
CKämien mit Myalgien/Krampi über isolierte Kardiomyopathien o. Myopa-
thien des Quadriceps bis Duchenne-ähnlich).

Konduktorinnen
• Klin. meist unauffällig; (leichte) Muskelschwäche, Kardiomyopathie,
gel. Pseudohypertrophie.
• In 70 % CKämie.
694 20 Muskelerkrankungen 

Spezifische Diagnostik
• Labor: CK zu Beginn 100–300-fach (Typ Duchenne) bzw. 25–200-fach (Typ
Becker; nach dem 20. Lj auch nur 2–60-fach) ↑, im Verlauf mit abnehmender
Muskelmasse Abfall der CK.
• Molekulargenetische Diagn.: Bei klin. V. a. Dystrophinopathie diagn. Me-
thode 1. Wahl.
• Muskelbiopsie:
– Fehlendes (Duchenne, < 5 % angefärbte Fasern) o. vermindertes Dystro-
20 phin (Becker).
– Vorteil: Beurteilung der verbliebenen Restexpression des Dystrophins er-
laubt prognostische Aussage; bei unauffälliger Anfärbung des Dystrophins
weitere immunhistochemische DD umgehend möglich.

Bei Dystrophinopathien unbedingt genetische Beratung. Schwestern des Pat.


tragen mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit das erkrankte Gen u. können
es an ihre Söhne weitergeben. Pränatale Diagn. ab 10. SSW möglich.

Therapie
Symptomatische Ther.:

Selbstständigkeit erhalten: Übergewicht vermeiden, Rollstuhl wegen rascher


Ausbildung von Immobilisationsparesen so spät wie möglich.

• Kontrakturen vermeiden: Verkürzte Muskulatur dehnen, aktive Geh- u. Steh-


übungen, Schwimmen, vorbeugendes Haltungstraining, passives Durchbewegen,
Stehbrett o. Aufrichtrollstuhl bei Stehunfähigkeit, Lagerung mit Nachtschienen.
• Bei Kontrakturen evtl. op. Umstellung, Skoliose-OP o. orthopädische Hilfs-
mittel (Korsett, Rollstuhl, Badehilfen).
• Nichtinvasive Heimbeatmung bei Sympt. nächtlicher Hyperkapnie: Schlaf-
stör., morgendlicher Kopfschmerz, Tagesmüdigkeit, Konzentrationsstör.
• Ggf. PEG bei Schluckstör.
• Kardiologische Kontrollen: Beim Typ Duchenne alle 2 J., ab 10. Lj jährlich;
beim Typ Becker alle 5 J.
Medikamentöse Ther.:
• Glukokortikoide: Prednison 0,75 mg/kg KG o. Deflazacort 0,9 mg/kg KG tgl.
– Beim Typ Duchenne: Signifikante Verbesserung der Muskelkraft; verzö-
gert Gehunfähigkeit um J., verbessert die kardiorespiratorische Funktion.
– NW: Gewichtszunahme (bei Deflazacort geringer als bei Prednison),
­Cushing-Sy., Wachstumsverzögerung, Katarakt, Osteoporose.
– Beim Typ Becker sind Steroide wahrscheinlich ebenfalls wirksam.
• Kreatin-Monohydrat: 5 g/d (Kinder) bzw. 10 g/d (Erw.) p. o. Leichte Verbes-
serung der Muskelkraft. Nachteil: Hohe Kosten.

Verlauf und Prognose


• Langsam progredienter Verlauf mit Gehunfähigkeit im 8.–15. Lj (Typ
­Duchenne) bzw. 30.–40. Lj (Typ Becker, sehr variabel).
• Im Endstadium schwere Behinderung durch Skoliose mit restriktiver Ventila-
tionsstör. u. Kontrakturen bes. der Beine.
• Lebenserwartung 20–30 J. (Typ Duchenne) bzw. 20 J. bis normal (Typ
­Becker). Tod durch respiratorische Insuff., Pneumonie o. Herzinsuff.
  20.2 Progressive Muskeldystrophien  695

20.2.3 Gliedergürteldystrophien (LGMD)
Abk.: LGMD („limb-girdle muscular dystrophy“).

Definition
• Prävalenz: 8–11 : 100.000.
• Vielzahl von Erkr. mit aut. rez. (90 %; LGMD2, bisher 17 Typen), seltener aut.
dom. (10 %; LGMD1, bisher 8 Typen) Erbgang.
20
Klinik
• Erkr.-Beginn 1.–4. Ljz; die aut. dom. LGMD1 beginnen i. d. R. später als die
aut. rez. LGMD2; interindividuell u. intrafamiliär sehr unterschiedliche Sym-
ptomausprägung.
• Progrediente atrophische Paresen des Beckengürtels u. (weniger o. später) des
Schultergürtels. Auch distale Paresen möglich. Fortschreiten der Paresen häu-
fig nicht kontinuierlich. Progn. variabel.
• Muskelhypertrophien (meist Waden; selten auch z. B. Zunge), Kontrakturen
(nicht neonatal), Skoliose sind häufig. Facies myopathica selten.
• Kardiale Beteiligung, Stör. der Atemmuskulatur möglich.
• Wichtigste DD: Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie u. die Dystrophino-
pathien.

Autosomal dominante Gliedergürteldystrophien (LGMD1)


• LGMD1A: Selten. Distale Paresen möglich; mitunter Dysarthrie u./o. Beteili-
gung der Gesichtsmuskulatur.
• LGMD1B: Relativ häufig. Beginn im frühen Kindesalter möglich; führt als
einzige LGMD zur neonatalen Muskelhypotonie. Distale Paresen möglich.
Allelisch mit Emery-Dreyfuss-Muskeldystrophie Typ 2.
• LGMD1C: Selten. Beginn im frühen Kindesalter möglich, jedoch sehr varia-
bel (in Ausnahmen bis in hohem Alter). Symptomausprägung ebenfalls varia-
bel (z. T. CKämie als einziges Sympt.). Distale Paresen möglich. Krampi sind
häufig. Allelisch mit „rippling muscle disease“: Wellenförmiges „Kräuseln“
der Muskulatur (im EMG dabei elektrische Stille), durch Dehnung o. Druck
ausgelöst; zusätzlich beinbetonte Muskelsteife, Myalgien/Krampi. Beginn
meist in der 1. o. 2. Lebensdekade.
Zusatzsympt.: ▶ Tab. 20.4.

Tab. 20.4  Zusatzsymptome der LGMD1A–C


Typ Beginn CK Pseudohy­ Kontrak­ Atemstör. Kardiale Be­
pertrophie turen teiligung

LGMD1A 20. – Normal Nein Möglich Nein Ja


> 40. Lj bis < 5×

LGMD1B < 20. Lj Normal Nein Ja Ja Ja (Arrhyth-


bis < 5× mie, Myopa-
thie)

LGMD1C < 40. Lj > 5× Manchmal Nein Nein Selten


696 20 Muskelerkrankungen 

Autosomal rezessive Gliedergürteldystrophien (LGMD2)


• LGMD2A: Calpainopathie; häufig. Beginn meist im frühen Teenageralter.
M. quadriceps u. Hüftabduktoren häufig ausgespart, Hüftstrecker u. Kniebeu-
ger (dorsaler Oberschenkel, Wade) häufig bes. stark betroffen. Formen mit
isolierter CKämie möglich. Myalgien sind häufig.
• LGMD2B: Dysferlinopathie; häufig. Körperl. Leistungsfähigkeit häufig lange
erhalten, Beschwerdebeginn meist um das 20. Lj, häufig abrupt u. häufig nach
transienter Schwellung der Wade mit Schmerzen. Distale Atrophien möglich.
20 • LGMD2C–F: Sarkoglykanopathien; relativ häufig. Beginn im frühen Kindes-
alter möglich, jedoch sehr variabel. Ausprägung ebenfalls sehr variabel (am
leichtesten bei 2D mit Betonung des M. gluteus; bei 2E u. 2F Duchenne-ähn-
liche Verläufe möglich). Skoliose sehr häufig. Hörminderung bei 2C.
• LGMD2I: Häufig. Selten Beginn im frühen Kindesalter. Phänotypisch große
Ähnlichkeit mit Becker-Muskeldystrophie (häufige Fehldiagnose). Krampi
sind häufig.
Zusatzsymptome: ▶ Tab. 20.5.

Tab. 20.5  Zusatzsymptome der häufigen LGMD2


Typ Beginn CK Pseudohy­ Kontrak­ Scapu­ Atem­ Kardiale Be­
pertrophie turen la alata stör. teiligung

LGMD2A < 30. Lj > 5 × Manchmal Ja Häufig Nein Selten

LGMD2B 10.– > 10 × Nein Nein Nein Selten


40. Lj

LGMD2C-F < 20. Lj > 5 × Ja Sek. Mög- Ja Ja (Myopa-


lich thie)

LGMD2I < 30. Lj > 5 × Ja Möglich Ja Ja (Myopa-


thie)

Spezifische Diagnostik
Muskelbiopsie: Methode 1.  Wahl. Durch immunhistochemische Unters. diffe-
renzielle Einordnung (erfahrenes myologisches Labor erforderlich! Vorherige
Anfrage u. Absprache sinnvoll).
Molekulargenetische Diagn.: Nur in Ausnahmefällen als Primärdiagn. sinnvoll.

Spezifische Therapie
• Physiother.
• Kardiologisches Monitoring: Medikamentöse Ther., Schrittmacher, ggf. Herz-
transplantation.
• Pneumonologisches Monitoring: Ggf. nichtinvasive Heimbeatmung.

20.2.4 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie (FSHD)


Alter Begriff: Muskeldystrophie Typ Landouzy-Déjerine.

Definition
• Prävalenz: 2 : 100.000.
• Aut. dom. Typ FSHD A (90 %): Deletion von D4Z4 repeats auf Chromosom
4q35; zu 10–30 % Neumutationen.
• Typ FSHD B (10 %): Genort unbekannt.
  20.2 Progressive Muskeldystrophien  697

Klinik
• Beginn im 10.–30. Lj, kindl. Beginn möglich; M häufiger/früher betroffen als
F.
• Erstmanifestation in der Gesichtsmuskulatur (Augen, Mund); häufig unbe-
merkt. Sog. Tapir-Mund typisch. Danach Schwäche des Schultergürtels (Mm.
trapezius, latissimus dorsi, rhomboideus, serratus ant., pectoralis) mit bds.
Scapula alata, Achsel-Brust-Falten, Hängeschultern. Humerale Schwäche:
M. bizeps. Oft asymmetrisch.
• Mm. deltoideus, temporalis, masseter u. pharyngeale Muskulatur ausgespart. 20
• Später Schwäche der distalen Extremitätenmuskulatur (v. a. M. tibialis ant.).
• Hörminderung/-verlust (> 60 %) u. Veränderungen an den retinalen Gefäßen
(> 50 %) häufig; keine kardiale Beteiligung.
• CK: Normal (25 %) bis 5 × ↑.
• Langsame Progredienz über Jahrzehnte mit Stillstand. Normale Lebenserwar-
tung. Bei unvollständiger Penetranz große intra- u. interfamiliäre Variabilität,
Minimalvarianten ohne subjektiven Krankheitswert möglich, daher immer
Verwandte mituntersuchen. 20 % Rollstuhlpflichtigkeit.

Spezifische Diagnostik
• Molekulargenetische Diagn. (D4Z4 repeats).
• Muskelbiopsie bei neg. Befund o. zur Differenzialdiagn. (häufigste DD: Glie-
dergürteldystrophien, ▶ 20.2.3).
• Medikamentöser Behandlungsversuch mit Kreatin-Monohydrat (▶ 20.2.2).

20.2.5 Muskeldystrophie Emery-Dreifuss (EDMD)


Syn.: Kernhüllenmyopathie/nukleäre Envelopathie.

Definition
Verschiedene Typen (EDMD1–4) mit unterschiedlichem Erbgang.
• EDMD1: Häufigste Form. X-chrom. rez., Punktmutationen/Deletionen im
Emerin-Gen (Xq28).
• EDMD2: Seltener. Aut. dom Mutation im Lamin-A/C-Gen (1q21.2).
Klinik
Typ. für alle Muskeldystrophien Emery-Dreyfuss ist die Trias aus Kontrakturen,
Muskeldystrophie u. Kardiomyopathie.
EDMD1:
• Beginn kongenital bis 30. Lj, meist 1. Lebensdekade. (Fast) nur Jungen/M be-
troffen, sehr selten F (als Konduktorinnen mit kardialen Sympt. o. bei Inakti-
vierung eines X-Chromosoms).
• Humeroperoneale Paresen mit frühzeitigen Beugekontrakturen (auch schon
vor Paresen); Beteiligung von Gesicht u. Scapula alata möglich, M. deltoideus
meist ausgespart.
• Kontrakturen: Achillessehne, Ellenbogen, Sprunggelenke, „rigid spine“.
• Kardiale Mitbeteiligung (v. a. Rhythmusstör. bis zu AV-Block Grad III, daher
frühzeitig [meist ∼30 Lj] Schrittmacherimplantation).
• CK: Normal bis 10 × ↑; im Verlauf rückläufig.
• Langsam progredient über Jahrzehnte, Lebenserwartung wegen kardialer Be-
teiligung verkürzt (plötzlicher Herztod).
698 20 Muskelerkrankungen 

EDMD2 (Muskeldystrophie Hauptmann-Thannhäuser):


• Erkr.-Beginn wie EDMD1, aber noch variabler; beide Geschlechter betroffen.
• Klin. Sympt. wie EDMD1, mitunter milder.
• Kardiale Beteiligung häufiger als bei EDMD1 einziges Sympt.; Kammerflim-
mern u. Kardiomyopathie häufiger als bei EDMD1.
• CK: Normal bis 10 × ↑.
Spezifische Diagnostik und Therapie
20 • Bei EDMD1 Muskelbiopsie mit Emerin-Färbung, alternativ molekulargeneti-
sche Diagn.
• Engmaschiges kardiales Monitoring, frühzeitige Ind. zur Schrittmacherimplan­
tation.

20.2.6 Okulopharyngeale Muskeldystrophie (OPMD)


Definition
• Prävalenz: 0,5 : 100.000.
• Trinukleotid-Expansion (GCG) im PABP2-Gen (Polyadenylat-bindendes
Protein) auf Chromosom 14q11–13.

Klinik
• Erkr. mit gutartigem/langsamen Verlauf u. meist normaler Lebenserwartung.
• Beginn meist in der 4.–6. Dekade (Heterozygote mit 8–13 repeats). Früherer
Erkr.-Beginn (2.–4. Dekade) bei Homozygoten.
• Häufigste u. erste Sympt.: Ptose (häufig asymmetrisch) u. Schluckstör.
• Paresen der Augenmuskeln.
• Prox. u. (spät) distale Extremitätenmuskulatur betroffen.
• CK: Normal bis leicht ↑ (3 ×).
• DD: Myasthenie, Polymositis, Mitochondriopathien, Bulbärparalyse.
Spezifische Diagnostik
Muskelbiopsie mit Nachweis von rimmed vacuoles, zusätzlich tubuläre Filamente
in der Elektronenmikroskopie.

20.3 Metabolische Myopathien
20.3.1 Definition
ICD-10 G73.6*.
• Insgesamt seltene Stör. des Kohlenhydrat- u. Lipidstoffwechsels. Zusätzlich
gehört in diese Gruppe der MAD-Mangel.
• Bei unklaren Myopathien sind die genannten Erkr. differenzialdiagn. zu be-
rücksichtigen, bes. wenn auch andere Organsysteme betroffen sind u. syste-
mische metab. Veränderungen vorliegen.

20.3.2 Glykogenosen
ICD-10 E74.0+ G73.6*. Syn.: Glykogenspeicherkrankheiten, Abk.: GSD (glycogen
storage disease).
  20.3 Metabolische Myopathien  699

Epidemiologie/Pathophysiologie
• Inzidenz 4–5 : 100.000.
• Enzymdefekte in den Synthese-, Abbau- (Glykogenolyse u. Glykolyse) o. Trans-
portwegen: Stör. der Bildung von Glykogen o. Ablagerungen von intaktem o. in-
komplett verstoffwechseltem Glykogen in Leber, Muskel, (Skelett u. Herz) ZNS.

Übersicht
• Belastungsintoleranz: Bei Glykogenose Typ V (M. McArdle), Typ VII (M.
­ arui) u. Defekten der Phosphorylase-b-Kinase, Phosphoglycerat-Mutase,
T 20
Phosphoglyzerat-Kinase, LDH u. β-Enolase („dynamische Glykogenosen“).
• „Second-wind“-Phänomen (Besserung der Kraft nach kurzer Ruhe durch
Umschaltung auf β-Oxidation zur Energiegewinnung), v. a. bei Typ V u. VII.
• Atrophische Paresen v. a. bei Glykogenosen Typ II (M. Pompe), III u. IV u.
bei Defekten der Aldolase A („statische Glykogenosen“).

Glykogenose Typ II: Saure-Maltase-Mangel (M. Pompe)


Def.: Relativ häufige aut.-rez. vererbte Glykogenose (Prävalenz ≈1 : 100.000).
Urs.:
• Defekt der sauren Maltase (α-1,4–1,6-Glukosidase) in den Lysosomen. Glu-
kose kann nicht mehr aus Maltose o. komplexeren Oligosacchariden freige-
setzt werden; Glykogen reichert sich im Muskel an.
• Beim klassischen (infantilen) M. Pompe ist keine Restaktivität des Enzyms
vorhanden, bei den juvenilen o. adulten Formen nur 10 bzw. 20–30 %.
Klinik:
• Infantile Form (klassischer M. Pompe):
– Beginn in den ersten Lebensmon. mit Trinkschwäche, Muskelhypotonie
(„floppy infant“), verzögerter motorischer Entwicklung, Makroglossie.
– Früh Zwerchfellparese mit Atemstör., Kardiomyopathie, Hepatomegalie.
– Führt meist zum Tod bis zum 2. Lj.
• Kindl./juvenile Form:
– Beginn bis zum 15 Lj mit prox. Paresen, Wadenhypertrophie, Kontraktu-
ren. Zwerchfellparese im Verlauf.
– Kardiomyopathie bei Beginn nach dem 2. Lj selten.
– Motorische Meilensteine werden verzögert erreicht.
– Deutlich bessere Progn. als infantile Form, aber Tod vor dem 20. Lj.
– Klin. Bild z. T. ähnlich LGMD.
• Adulte Form:
– Prox. beinbetonte Paresen (v. a. Adduktorengruppe), aber auch paraspina-
le Muskulatur, M. pectoralis u. Scapula alata.
– In 5–30 % respiratorische Insuff.
– Lebenserwartung kann normal sein. Kardiomyopathie u. Hepatomegalie
selten.
– Myalgien u. Krampi können vorkommen.
Spezifische Diagn. u. Ther.:
• EMG: Neben myopathischen Veränderungen auch (pseudo-)myotone Entla-
dungen u. path. Spontanaktivität möglich. Laktat-Ischämie-Test i. d. R. normal.
• Muskelbiopsie: PAS-pos. vakuoläre Myopathie; auch im Blutausstrich PAS-
pos. Vakuolen in Lymphozyten.
• Diagn. Goldstandard: Biochemische Unters. an Muskelgewebe o. Fibroblasten.
• Pränatale Diagn. (Chorionzottenbiopsie/Amniozyten) möglich.
• Frühzeitig kardiologische/pneumonologische Diagn. u. Monitoring einleiten!
700 20 Muskelerkrankungen 

• Proteinreiche u. kohlenhydratarme Kost, leichtes Ausdauertraining.


Enzymersatztherapie
Rekombinante α-1-Glukosidase (Alglucosidase alfa) 20 mg/kg KG i. v. alle 14 d
als lebenslange Ther.; zugelassen für Pat. mit gesichertem M. Pompe.

Glykogenose Typ V: Myophosphorylase-Mangel (M. McArdle)


20 Def.: Relativ häufige Glykogenose (Prävalenz ≈1 : 100.000).
Urs.:
• Aufgabe der Myophosphorylase ist die Bereitstellung von Glukose durch Ab-
spaltung aus Glykogenseitenketten. Bei Defekten (bei Erkrankten Restaktivi-
tät des Enzyms 0–30 %): Glykogenansammlung im Muskel.
• Aut. rez. Erbgang, selten aut. dom. Fälle.
Klinik:
• Beginn im Kindes- o. Erw.-Alter.
• Belastungsabhängige Muskelschmerzen, Krampi/Muskelverhärtungen u.
-schwellungen, nicht selten mit Myoglobinurie bis zur Rhabdomyolyse.
• Belastungsabhängige Muskelschwäche (kann nach auslösendem Ereignis über
Tage persistieren) mit „second wind“. Selten permanente Muskelschwäche u.
-atrophie.
• Sympt. nehmen bis zum Erw.-Alter zu.
• CK in Ruhe normal bis leicht ↑; starker Anstieg nach Anstrengung.
Spezifische Diagn. u. Ther.:
• Goldstandard: Histochemischer Nachweis des Enzymmangels an Muskelge-
webe.
• EMG: Bei 50 % der Pat. myopathische Veränderungen, mitunter aber auch
pseudomyotone Entladungen u. path. Spontanaktivität.
• Laktat-Ischämie-Test: Fehlender Laktatanstieg u. Auftreten von Muskelstei-
figkeit (dabei im EMG kein Aktionspotenziale!). Cave: Kann Rhabdomyoly-
sen auslösen, daher unter aeroben Bedingungen durchführen.
• Orale Glukosezufuhr nicht wirksam; Saccharose (Kristallzucker) scheint da-
gegen die Belastungstoleranz zu erhöhen.
• Proteinreiche Kost.
Glykogenose Typ VII: Phosphofruktokinase-Mangel (M. Tarui)
Urs.: Defekt in der Umwandlung von Fruktose-6-Phosphat zu Fruktose-1,6-Di-
phosphat; führt zu einer gestörten Glykolyse. M > F. Aut.-rez. vererbt.
Klinik:
• Belastungsabhängige Muskelschwäche mit Schmerzen.
• Klin. Bild ähnlich GSD V, Sympt. sind jedoch schon im Kindesalter ausge-
prägt; Rhabdomyolyse seltener.
• Kompensierte hämolytische Anämie (Retikulozyten ↑, Bili ↑, Harnsäure ↑).
• Verschlechterung der Beschwerden durch kohlenhydratreiche Kost.

20.3.3 Lipidspeichermyopathien
ICD-10 E71.3+ G73.6*.
Definition
Stör. des Fettstoffwechsels betreffen das Carnitin, Transporter-Enzyme u. Enzyme
der β-Oxidation.
  20.3 Metabolische Myopathien  701

Klinik
• Sympt. altersabhängig:
– Erkr.-Beginn im Kindesalter: Multisystemisch (Leber, Herz, Nieren, ZNS,
PNS); muskuläre Sympt. eher nachrangig.
– Erkr.-Beginn im Jugend- bis Erw.-Alter: Muskuläre Sympt. im Vorder-
grund.
• Die Sympt. sind belastungsabhängig/episodisch (z. B. CPT-Mangel) o. persis-
tierend-progredient (z. B. Carnitinmangel).
20
Carnitinmangel
Urs.: Carnitin ist das Carriermolekül für den Transport von Fettsäuren in die Mi-
tochondrien. Ein isolierter muskulärer Mangel ist vom systemischen u. sek. Car-
nitinmangel zu unterscheiden.
Klinik:
• Muskulärer Carnitinmangel:
– Wahrscheinlich aut. rez. vererbt.
– Beginn zwischen dem 2. u. 50. Lj (meist im Schulalter).
– Langsam progrediente, prox. betonte, atrophische Muskelschwäche.
Schmerzlos; Belastungsintoleranz u. Myoglobinurie/Rhabdomyolyse sel-
ten.
– Kardiomyopathie (Herzinsuff. u./o. Rhythmusstör.) mitunter schwer.
• Systemischer Carnitinmangel:
– Aut. rez. vererbt (Chromosom 5q31; natriumabhängiger Carnitin-Trans-
porter [OCTN2]).
– Früher Beginn.
– Schwere Leberfunktionsstör., Myopathie/Kardiomyopathie.
– Metab. Krisen mit Hypoglykämie, Erbrechen u. rasch progredienter hepa-
tischer Enzephalopathie (Verwirrtheit, epileptische Anfälle, schließlich
Koma) häufig u. häufig mit letalem Ausgang.
• Sek. Carnitinmangel bei:
– Endokrinen Erkr. (Diab. mell., Schilddrüsenerkr.).
– Mitochondrialen Erkr.
– Defekten der Fettsäuren-β-Oxidation.
– Medikamentös-tox. (Valproinsäure, Zidovudin, Steroide, Äthanol, Chlo-
roquin).
– Sepsis o. (Multi-)Organversagen.
– Parenteraler Langzeiternährung o. Hämodialyse.
Spezifische Diagn. u. Ther.:
• Labor: Serum-CK meist ↑.
• Muskelbiopsie: Histologisch vakuoläre Myopathie (intrazelluläre Speicherung
von Lipiden).
• Carnitin: ↓ in Serum u. Muskel o. umschrieben im Muskel.
• Häufige kleine kohlenhydratreiche Mahlzeiten; Fasten vermeiden.
• Glukose-Infusionen bei akuten Episoden des systemischen Carnitinmangels.
• Substitution von L-Carnitin (Levocarnitin):
– Prim. Carnitinmangel: 2–4 g/d Carnitin p. o. (bzw. 100 mg/kg KG/d bei
Kindern). Darunter normale Lebenserwartung möglich.
– Sek. Mangel bei chron. Dialyse: 1–2 g nach jeder Dialyse p. o. o. i. v.
702 20 Muskelerkrankungen 

Carnitin-Palmitoyl-Transferase-Mangel (CPT-Mangel)
Urs.:
• CPT ist zentrales Enzym bei der (Ent-)Koppelung von Fettsäuren an Carni-
tin.
• CPT fördert den Fettsäurentransport durch die Mitochondrienmembran, da-
her Energiemangel bei vermehrter Beanspruchung.
• CPT-II-Mangel: Meist aut. rez. vererbt (verschiedene Mutationen im CPT-II-
Gen auf Chromosom 1p32).
20 Klinik:
– Erkr.-Beginn in Adoleszenz o. frühem Erw.-Alter; M > F.
– Episodische Myalgien, Muskelschwäche u. -steifigkeit nach längerer kör-
perl. Belastung (über h), häufig gefolgt von Myoglobinurie u. Rhabdomyo­
lyse (häufig mit mehrstündiger Latenz nach Belastung). Andere Auslöser:
Fasten, Kälte, Infekte. Zwischen den Episoden beschwerdefrei. Andere
Organe nicht betroffen.
– CK im Intervall normal bis leicht ↑, nach Belastung ↑↑.
Spezifische Diagn. u. Ther.:
• Muskelbiopsie: Biochemischer Nachweis des Enzymmangels durch bioche-
mische Analyse im Muskel; Serum-Carnitin normal.
• Molekulargenetische Unters. auf die häufigste Mutation im CPT-II-Gen möglich.
• Kohlenhydratreiche Mahlzeiten; Fasten vermeiden.

20.3.4 Myoadenylat-Deaminase-Mangel (MAD-Mangel,
MADA-Mangel)
ICD-10 E79.9+ G73.6*.
Epidemiologie/Urs.:
• Häufigste metab. Myopathie. Prävalenz 2 %; 8 % bei Pat. mit Myalgien.
• Die Adenylat-Kinase trägt durch die Umwandlung von Adenosindiphosphat
(ADP) in Adenosintriphosphat (ATP) zum Energiehaushalt des Muskels (ge-
ring) bei.
• Aut. rez. vererbte Mutationen im MAD-Gen (Chromosom 1p21), aber auch
sek. Stör. des Enzyms (bei Gicht, Diab. mell., Kollagenosen).
Klinik:

Die meisten Merkmalsträger sind asymptomatisch.

• Bei klin. Betroffenen kommt es zu belastungsabhängigen Myalgien u. Krampi;


Myoglobinurie sehr selten.
• CK: Bei 50 % der Betroffenen leicht ↑.
Spezifische Diagn.:
• Laktat-Ischämie-Test: Normaler Anstieg des Laktats bei fehlendem Anstieg
des Ammoniaks.
• Muskelbiopsie: Morphologisch unauffällig; histo- u. biochemischer Nachweis
des MAD-Mangels (< 10 % Enzymaktivität).
  20.4 Mitochondriale Myopathien  703

20.4 Mitochondriale Myopathien
20.4.1 Definition und Übersicht
ICD-10 G71.3.
• Stör. der Atmungskette u. der mitochondrialen DNA- u. Protein-Prozessierung.
– Genetisch heterogen.
– Geschätzte Prävalenz 20 : 100.000. 20
• Multisystemerkr.: ZNS u. PNS, Sinnesorgane (v. a. Augen u. Ohren), Herz- u.
Skelettmuskulatur, Nieren, Haut, GIT u. endokrines System betroffen.
• Sympt. sehr variabel: Identische genetische Defekte können zu unterschiedli-
chen Erkr. o. Ausprägungen innerhalb betroffener Familien führen; umge-
kehrt können unterschiedliche genetische Defekte das identische Krankheits-
bild hervorrufen.

Tab. 20.6  Übersicht mitochondriale Erkrankungen


Mitochondriale DNA

Maternal vererbte Rearrangements (mR) Sporadische Rearrangements (sR) o.


o. Punktmutationen (mP) Punktmutationen (sP)

• CPEO: mR, mP (tRNA) • Kearns-Sayre-Sy. (KSS): sR


• MELAS: mP (tRNA) • CPEO: sR, sP
• MERRF: mP (tRNA) • MELAS: sR, sP
• Leber-Optikusneuropathie (LHON): mP • Pearson Sy.: sR
(Strukturprotein) • Diabetes u. Taubheit; mitochondriale
• Neuropathie, Ataxie u. Retinitis pig- Belastungsintoleranz; isolierte Myo-
mentosa (NARP): mP (Strukturprotein) pathie: sR
• Leigh-Sy.: mP (Strukturprotein)
• Kardiomyopathie u. Myopathie
(MIMyCa); isolierte Myopathie; Diabetes
u. Taubheit; sensorineurale Taubheit;
Tubulopathie: mP (tRNA)
• Hypertrophe Kardiomyopathie: mP
(tRNA, rRNA)
• Aminoglykosid-induzierte nichtsyndro-
male Taubheit: mP (rRNA)

Nukleäre DNA

Mutationen in Genen der Atmungskette Defekte in der intergenomischen Kom­


(At) o. Assemblierungsproteinen (As) munikation (Stabilität u. Integrität der
mtDNA)

• Leigh-Sy.: At, As • Autosomale CPEO: Aut. rez. u. -dom.


• Kardiomyopathie: At • Mitochondriale neurogastrointesti-
• Hereditäre Paragangliome: At nale Enzephalomyopathie (MNGIE)
• Parkinsonismus mit frühem Beginn
• mtDNA-Depletionssy. (Alpers-Sy.; He-
pato-zerebrales Sy.; Enzephalomyo-
pathie u. Anämie; spinozerebelläre
Ataxie mit infantilem Beginn [IOSCA])
704 20 Muskelerkrankungen 

Tab. 20.6  Übersicht mitochondriale Erkrankungen (Forts.)


Nukleäre DNA

Coenzym-Q10-Defizienz Defekte im Lipid-Milieu

Enzephalomyopathie; Enzephalomyopa- Barth-Sy.


thie mit renaler Dysfunktion; ataktische
Form

20 Defekte der RNA-Modifizierung Defekte der Mitochondrienteilung o.


-fusion

Myopathie u. sideroblastäre Anämie Aut. dom. Optikusatrophie (ad OA)


(MLASA)

Defekte der mitochondrialen Translation

MRPS16-Mutationssy.

Mitochondriale Erkr. (▶ Tab. 20.6) können sich in jedem Lebensalter mani-


festieren. Am häufigsten beginnen sie in den ersten beiden Lebensdekaden;
die Diagnosestellung erfolgt häufig jedoch erst in höherem Lebensalter.

20.4.2 Diagnostik und Therapie


Diagnostik

Aufgrund der Heterogenität der mitochondrialen Erkr. gibt es keine erschöp-


fende einzelne Unters.-Methode. Diagn. Vorgehen stützt sich daher auf be-
stimmte Verdachtsmomente aus der Anamnese („red flags“) u. die basale La-
bordiagn. – gefolgt von spezifischer Zusatzdiagn.

Basisdiagn.:
• Anamnese u. neurol. Unters.: Hinweise auf Multisystemerkr.? Familienanam-
nese, v. a. maternale Vererbung?
• CK: Normal o. mäßig ↑ (bei mtDNA-Depletionssy. ↑↑).
• Ruhe-Laktat i. S. ↑; Laktat/Pyruvat-Ratio (Norm ≈10; > 25 typ. für Defekte in
der Atmungskette).
Zusatzdiagn.:
• EMG/NLG: EMG normal o. myopathisch, (pseudo-)myotone Entladungen
können vorkommen. Hinweise auf PNP?
• Liquor: Schrankenstör.? Laktat?
• CCT/CMRT: Basalganglienverkalkung? Stroke-like lesions? Marklager? Hirn­
atrophie?
• Fahrradergometertest: Path. Laktatanstieg?
• MR-Spektroskopie zur Bestimmung von Laktat u. Phosphaten.
• Augenkonsil: Retina? Optikusatrophie?
• Kardiologische Diagn.: Kardiomyopathie? Reizleitungsstör.?
• HNO-Konsil: Schwerhörigkeit?
• Internistisches Konsil: Diab. mell.? Andere endokrinologische Veränderungen?
  20.4 Mitochondriale Myopathien  705

Definitive Diagnose:
• Muskelbiopsie: Zur histologischen, histo- u. biochemischen Diagnosestel-
lung.
– Histologischer Nachweis von „ragged red fibers“.
– Histochemische Unters. auf Defekte der Komplexe der Atmungskette:
Succinatdehydrogenase-, Cytochrom-C-Oxidase-Färbung.
– Biochemische Analyse der Atmungskette.
• Molekulargenetische Diagn.: Je nach Erkr. auch als prim. Diagn. sinnvoll.
20
Therapie
Allg. Maßnahmen u. Empfehlungen:
• Leichtes aerobes Ausdauertraining.
• Vermeiden/frühzeitige Behandlung von fieberhaften Infekten.
• Behandlung der kardialen (konservativ medikamentöse Ther., Herzschrittma-
cher), ophthalmologischen (z. B. Ptose-Chirurgie), ohrenärztlichen (Hörgerä-
te, ggf. Cochlea-Implantat) u. endokrinologischen KO.
Medikamentöse Ther.:
• Coenzym Q10: Bewiesen wirksam bei prim. Coenzym-Q10-Mangel. Bei ande-
ren Mitochondriopathien sind Verbesserungen beschrieben.
• Idebenon, Vit. E, Folsäure, Thiamin (Vit. B1), Riboflavin (Vit. B2), Nico-
tinamid (Vit. B3), Kreatin-Monohydrat, L-Carnitin: Bei manchen Mitochon-
driopathien sind Verbesserungen beschrieben.

Medikamente, die gemieden werden sollten:


Valproinsäure, Triptane, Barbiturate, Aminoglykosidantibiotika, Chlor­
amphenicol, Tetrazykline, Ringer-Laktat-Infusionen.

20.4.3 Chronisch progrediente externe Ophthalmoplegie


(CPEO, PEO) und Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)
Ursache
• Meistens eine große Deletion der mtDNA, seltener Duplikationen der
­mtDNA, mit überwiegend sporadischem Auftreten.
• KSS fast ausschließlich sporadisch.
• CPEO: Zusätzlich Punktmutationen in der tRNA mit maternalem Erbgang o.
multiple mtDNA-Deletionen bei nukleären Mutationen im ANT1- o. Twink-
le-Gen (aut. dom.) bzw. Mutationen in den Polymerase-γ-Genen (POLG1:
aut. dom. o. rez.; POLG2: aut. dom.).

Klinik

Klin. Kontinuum (CPEO – CPEO plus – KSS) mit zunehmender Schwere der
Sympt. Die CPEO beginnt im Erw.-Alter, das KSS vor dem 20. Lj.

CPEO: Chronisch progrediente externe Ophthalmoplegie (in alle Richtungen),


beginnend mit einseitiger o. bilateraler Ptose, i. d. R. keine Doppelbilder.
CPEO plus: Zusätzlich eines o. mehrere der folgenden Sympt., ohne jedoch die Kri-
terien eines KSS zu erfüllen: Belastungsintoleranz/prox. Myopathie mit Beteiligung
der Gesichts- u. Pharynxmuskulatur (Dysphagie); kardiale Reizleitungsstör.; Diab.
706 20 Muskelerkrankungen 

mell.; Kleinwuchs; Schwerhörigkeit; axonale PNP (sensomotorisch); kognitive Stör.;


pigmentäre Retinadegeneration („Salt-and-Pepper-Retina“); zerebelläre Ataxie.
KSS: CPEO u. pigmentäre Retinadegeneration u. Beginn vor dem 20. Lj u. mind.
eines der drei folgenden Sympt.:
• Ataxie.
• Kardiale Reizleitungsstör.
• Liquoreiweiß > 1 g/l.
! Fakultativ weitere der o. g. CPEO-plus-Sympt.
20
Spezielle Diagnostik und Therapie
• CK u. Laktat: Nur bei 50 % der Betroffenen ↑.
• CCT/CMRT: Atrophie, Marklagerläsionen, Signalanhebungen (mitunter
Verkalkungen) in Basalganglien.
• Muskelbiopsie: „Ragged red fibers“; fehlende Cytochrom-C-Oxidase-Anfärbung.
• Molekulargenetische Unters. (aus Muskelgewebe, nicht aus Blut): Zunächst
auf die häufige große mtDNA-Deletion, dann erweitertes Screening auf die
selteneren Urs.
• Kardiologische Diagn., ggf. frühzeitige Schrittmacherimplantation.

20.4.4 MELAS-Syndrom
Definition und Ursache
Akronym: Mitochondriale Enzephalomyopathie mit Laktatazidose u. „stroke-like
episodes“.
• Meist maternal vererbt.
• In > 80 % Punktmutation (A zu G) an Position 3243 der mtDNA (im Gen der
tRNA für Leucin).

Klinik
Kinder: Zunächst normale Entwicklung, im Verlauf episodisches Erbrechen u.
Bewusstseinsstör., Migräne, generalisierte epileptische Anfälle, Kleinwuchs, fakul-
tativ Innenohrschwerhörigkeit, kognitive Defizite, Diab. mell.
Erw.-Alter: Typ. Trias aus:
• Prox. Myopathie (ohne Ophthalmoparese); zusätzlich polyneuropath. Sympt.
möglich (axonal, sensibel).
• Laktatazidose mit episodischem Erbrechen.
• Schlaganfallähnlichen Episoden vor dem 40. Lj:
– V. a. temporal u. parietookzipital mit Kopfschmerzen, Hemiparese, Hemi-
anopsie, Sprachstör.
– Häufig mit letalem Ausgang.
– Halten sich nicht an Gefäßterritorien u. können sich langsam ausbreiten.
– Wahrscheinlich metab. u. nicht vask. bedingt; im diffusionsgewichteten
MRT ADC erhöht.
• Untypische Sympt.: Ophthalmoplegie, retinale Veränderungen, Kardiomyo-
pathie.

Spezifische Diagnostik und Therapie


• CK kann erhöht sein.
• Ruhe-Laktat (Serum u. Liquor) häufig, aber nicht immer ↑.
• CMRT: s. o., zusätzlich Hirnatrophie möglich.
   20.5  Multisystemische myotone Myopathien  707

• Muskelbiopsie: „Ragged red fibers“; Cytochrom-C-Oxidase-Färbung oft er-


halten; starke Succinatdehydrogenase-Färbung an Gefäßen.
• Molekulargenetische Unters. (aus Muskelgewebe o. Blut): Bei typ. Befunden
als Primärdiagn. (vor Muskelbiopsie) sinnvoll (zunächst Unters. der häufigen
Punktmutationen).
• Endokrinologisches (Diab. mell.) u. HNO-ärztliches (Schwerhörigkeit) Kon-
sil u. ggf. Ther.
• Epilepsie: Valproat vermeiden (o. L-Carnitin substituieren). Alternativ: Car­
bamazepin, Lamotrigin, Levetiracetam. 20

20.4.5 MERRF-Syndrom
Definition und Ursache
Akronym für Myoklonusepilepsie mit „ragged red fibers“.
• Meist maternal vererbt.
• In > 80 % Punktmutation (A zu G) an Position 8344 der mtDNA (im Gen der
tRNA für Lysin).

Klinik
• Beginn in der Jugend bis meist vor dem 30. Lj mit:
– Myoklonusepilepsie (stimulussensitive Myoklonien, fokale u. generalisier-
te Anfälle)
– „Ragged red fibers“ in der Muskelbiopsie.
• Zusätzlich prox. Myopathie, zerebelläre Ataxie, Demenz.
• Weitere fakultative Sympt.: Schwerhörigkeit, PNP (sensibel), Optikusatro-
phie, Kleinwuchs, kutane Lipome.
• Keine retinalen Veränderungen.
DD: Andere Formen einer progressiven Myoklonusepilepsie (▶ 11.1.4).

Spezifische Diagnostik und Therapie


• CK meist normal. Ruhe-Laktat kann erhöht sein.
• Muskelbiopsie: „Ragged red fibers“; fehlende Cytochrom-C-Oxidase-Anfär-
bung; Succinatdehydrogenase-Färbung erhalten.
• Molekulargenetische Unters. (aus Muskelgewebe): Unters. der häufigen
Punktmutationen.
• EEG, SSEP (Riesenpotenziale), NLG; opthalmologisches u. HNO-ärztliches
Konsil.
• Myoklonus: Clonazepam, Levetiracetam.
• Epilepsie: Valproat vermeiden (o. L-Carnitin substituieren). Alternativ: Car­
bamazepin, Lamotrigin, Levetiracetam.

20.5 Multisystemische myotone Myopathien


20.5.1 Myotone Dystrophie Typ Curschmann-Steinert (MD1)
ICD-10 G71.1.
Definition und Ursache
• Häufigste dystrophe Myopathie. Prävalenz: 5–10 : 100.000. M : F = 1 : 1.
• Aut. dom. Erbgang mit hoher Penetranz
708 20 Muskelerkrankungen 

• Trinukleotid-Expansion (CTG) im nichttranslatierten Bereich des DMPK


(Myotonin-Protein-Kinase)-Gens auf Chromosom 19q13.
• Normal sind 3–37 Repeats; ab 50 sicher path. (bis zu 4.000).
• Bei Vollbild der Erkr. meist > 200 Repeats; kongenitale Formen meist
> 2.000 Repeats.
• Große intrafamiliäre Variabilität. Erkr. wird im Verlauf der Generationen
immer schwerer/tritt immer frühzeitiger auf (Antizipation); Erkr.-Schwere
korreliert mit der Zahl der Repeats.
20
Klinik
Erwachsenenform
• Beginn zwischen 15 u. 30. Lj, selten nach dem 40. Lj.
• Myotonie, v. a. der kleinen Handmuskeln, fest geschlossene Faust kann nicht
rasch geöffnet werden (Faustschlussmyotonie). Nachhinken des Lids bei ra-
schem Blick nach unten („lid lag“, „Pseudo-Graefe-Phänomen“).
– Perkussionsmyotonie (andauernde Dellenbildung beim Schlag mit dem
Perkussionshammer auf den Thenar) u. Verschlechterung bei Kälte.
Warm-up-Phänomen (myotone Reaktion nimmt mit zunehmender Wdh.
der Bewegung ab).
– Pat. klagen mitunter über Steifigkeit der Muskeln, im Vordergrund der
Beschwerden steht jedoch die Muskelschwäche.
• Atrophische Paresen:
– Gesichtsmuskulatur (Facies myopathica mit Ptose bds. u. offen stehendem
Mund) u. pharyngeale Muskulatur. Typ.: M.-temporalis-Atrophie. Hoher
Gaumen. Kopfbeuger.
– Distale Extremitätenmuskeln (Hände u. Füße), im Verlauf auch prox.
Muskulatur betroffen.
– Myalgien selten.
–  Cave: Auch Atemmuskulatur kann betroffen sein.
• Verlauf u. Progn.: Variable Progredienz aller Sympt., schon früh einge-
schränkte Arbeitsfähigkeit, aber meist lang erhaltene Gehfähigkeit. Lebenser-
wartung leicht verkürzt.
• Systemische Beteiligungen (charakteristisch):
– 75 % der Pat.: Meist bds. Katarakt mit typ. Einschlüssen in der hinteren
Linsenkapsel („Christbaumschmuckkatarakt“) vor dem 60. Lj. Auch als
isoliertes Sympt. bei minimaler Muskelbeteiligung möglich. Selten retinale
Degeneration u. Hornhautläsionen.
– Kardiale Stör.: Reizleitungsstör., AV-Block, Vorhofflattern (Schrittma-
cherind. prüfen).
– Endokrine Stör.: Hodenatrophie u. Potenzminderung, ovarielle Dysfunk-
tion mit erhöhter Abortrate u. Menstruationsstör., Stirnglatze (M >> F);
subklinischer/manifester Diab. mell.; Hypothyreose.
– Innenohrschwerhörigkeit (gering bis mittelgradig).
– Evtl. Beteiligung der glatten Muskulatur: Ösophagus- u. Darmmotilitäts-
stör. mit Schluckstör., Aspiration u. Obstipation, erhöhte Gallensteininzi-
denz.
– Neuropsychiatrische Sympt.: Apathie, kognitive Defizite (im Sinne einer
FTD), Verhaltensstör., Dissimulation der Beschwerden, Depression.
– Verstärkte Tagesmüdigkeit/Hypersomnie.
   20.5  Multisystemische myotone Myopathien  709

Kongenitale Form
• Echte kongenitale Formen meist durch betroffene Mütter übertragen.
• Generalisierte Muskelhypotonie („floppy infant“), respiratorische Insuff. bei
Zwerchfellbeteiligung. Saug- u. Trinkschwäche im Säuglingsalter, Facies
myopathica, verzögerte geistige u. motorische Entwicklung. Initial keine
Myotonie!
• Hohe Letalität; bei Überleben der kritischen Neonatalperiode weiterer Ver-
lauf u. Klinik wie bei Erw.-Form, meist deutliche kognitive Defizite.
20
Diagnostik
• Labor:
– CK leicht bis mäßig ↑ (1,5–10 ×).
– GOT, GPT u. γ-GT häufig ↑.
– FSH, LH, Östrogene, Gestagene u. Testosteron im Serum ↓, Insulin ↑.
• EMG:
– In betroffenen Muskeln reichlich myotone Serienentladungen (hochfre-
quente Entladungsserien monomorpher Potenziale mit abnehmender
Frequenz u. Amplitude), meist bereits spontan, ansonsten durch Willkür-
innervation o. Beklopfen auslösbar.
– Myopathisches Bild motorischer Einheiten, aber auch path. Spontanakti-
vität.
• Molekulargenetische Diagn.: Zur Diagnosesicherung Methode 1. Wahl.
• Muskelbiopsie: Bei neg. Molekulargenetik: Keine spezifischen Veränderun-
gen, aber zur DD (okulopharyngeale Muskeldystrophie, distale Myopathien).
• CMRT: Periventrikuläre u. subkortikale Signalanhebungen, Atrophie.
• Weitere Diagn.:
– Kardiologische Diagn.: Blockbilder, Sinusbradykardie, Vorhofflimmern
im EKG.
– Ophthalmologische Diagn.: Spaltlampenuntersuchung.
– Rö-Breischluck: Verminderte Ösophagusmotilität bei Angabe von
Schluckstör.
– Pneumonologische Diagn.

Therapie
Myotone Sympt.:
• Hypothyreote Stoffwechsellage vermeiden (verstärkt Myotonie u. Muskel-
schwäche).
• Myotonie ist medikamentös schwer zu beeinflussen. 1. Wahl: Propafenon o.
Flecainid (unter kardiologischer Kontrolle), 2. Wahl: Carbamazepin o. Phe-
nytoin.
Muskelschwäche: Physiother. wie bei progressiven Muskeldystrophien.
Hypersomnie:
• Modafinil 200–400 mg/d.
• Ggf. nichtinvasive Heimbeatmung bei nachgewiesener Hypoventilation.
Katarakt: Jährliches augenärztliches Monitoring; ggf. OP.
Kardiale Sympt.: Halbjährliches Monitoring (Langzeit-EKG), frühzeitige/groß-
zügige Schrittmacherind.; Lungenfunktion regelmäßig kontrollieren!

Schwangerschaften
• Bei nicht bekannter Diagnose erhöhte Rate von Fehl-/Totgeburten.
710 20 Muskelerkrankungen 

• Pränatale Diagn. (Chorionzottenbiopsie/Amniozyten) möglich. Klin. Zeichen


für eine Erkr. des Fetus: Polyhydramnion, verminderte Kindsbewegungen.
• Grundsätzlich – auch aus Sicht der Mutter – als Risikoschwangerschaft zu be-
handeln (Entbindung in einem Zentrum mit Anschluss an Neugeborenen-In-
tensivstation).
– Verzögerter Geburtsablauf (Beteiligung der glatten Muskulatur).
– Tokolytika (Fenoterol) können schwere myotone Reaktionen auslösen;
Oxytocin ist unbedenklich.
20 – PDA ist der Vollnarkose vorzuziehen.

Operationen/Narkosen
• Insgesamt erhöhtes KO-Risiko (kardial, pulmonal).
• Als Narkosemittel ist Propofol zu bevorzugen.
• Depolarisierende Muskelrelaxanzien verschlechtern die Myotonie bis hin
zum „Myotoniesturm“ (Intubationsschwierigkeiten!).
• Nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien sind verlängert/verstärkt wirksam.

20.5.2 Proximale myotone Muskeldystrophie (PROMM, MD2)


ICD-10 G71.1.
Definition und Ursache
• Aut. dom. Erbgang mit variabler Penetranz u. geringer Antizipation.
• Intronische Tetranukleotid-Expansion (CCTG) im ZNF9(Zinkfinger Protein
9)-Gen auf Chromosom 3q21.
• Normal sind 11–26 Repeats; bei Erkrankten finden sich 75 bis mehrere Tau-
send Repeats.
• Repeat-Länge korreliert nicht mit Schwere der Sympt.
Klinik
• Beginn 40.–60. Lj (deutlich später als DM1); Pat. bleiben häufig lange oligo-
symptomatisch. Keine kongenitalen Formen.
• Myotone Sympt., Muskelschwäche u. systemische Manifestationen ähnlich
der DM1, insgesamt jedoch milder (▶ Tab. 20.7).
• Myalgien: In 40–50 % der Pat., häufig im Vordergrund der Beschwerden. V. a.
in Ruhe, an den unteren Extremitäten auftretend, stechender Charakter, star-
ke Druckempfindlichkeit.
• Prox. Muskelschwäche: Beinbetont (v. a. Hüftbeuger) mit Schwierigkeiten
beim Aufstehen aus dem Sitzen o. beim Treppensteigen, z. T. Wadenhyper-
trophie (nicht bei DM1). Kopfbeuger u. distale Muskulatur i. d. R. spät betrof-
fen, nur selten Hände früh betroffen.
• Katarakt: Häufig nur unspezifische Linsentrübungen.
• Stirnglatze: Viel seltener als bei DM1.
• Kardial: Neben Reizleitungsstör. auch Kardiomyopathie.
Diagnostik und Therapie
• Labor:
– CK normal bis deutlich ↑ (bis 25 ×); γGT-Erhöhung häufig.
– Sonstige Laborveränderungen wie bei DM1.
• EMG: Myotone Serienentladungen seltener u. kürzer als bei DM1, müssen z. T.
in den betroffenen Muskeln „gesucht“ werden (M. iliopsoas mituntersuchen!),
   20.6  Nichtdystrophische Myotonien und periodische Lähmungen  711

Tab. 20.7  Symptome der MD1 u. MD2


Symptom/Befund MD1 MD2

Muskelschwäche Gesicht +++ ++

Ptose ++ +

M. temporalis +++ +

Kopfbeuger +++ ++ 20
Prox. Beine Spät +++

Distal +++ (Hände, Füße) Spät

Myotonie ++ (distal) + (prox.)

Myalgie +/− +++

Wadenhypertrophie − +

EMG Myotonie +++ + bis ++

Katarakt +++ ++

Hypogonadismus ++ +

Diab. mell./Hypo- + +
thyreose

Kardiomyopathie + ++

Hyperhidrose − +

CMRT-Veränderun- ++ +
gen

Kognitive Defizite ++ +

können selten auch fehlen. Ansonsten wie bei DM1 myopathisch(/-neurogene)


Veränderungen.
• Molekulargenetische Diagn.: Zur Diagnosesicherung Methode 1. Wahl.
• Ther.:
– Wie DM1. Myalgien: NSAR, Gabapentin/Pregabalin (häufig therapieresis-
tent).
– Kardiale Sympt.: Halbjährliches Monitoring (Langzeit-EKG u. Herzecho).

20.6 Nichtdystrophische Myotonien und


periodische Lähmungen
20.6.1 Definition
ICD-10 71.1 oder G72.3.
• Kanalkrankheiten („Channelopathies“) mit fluktuierendem o. episodischem
Auftreten von myotonen Sympt. o. Muskelschwäche bei strukturell meist un-
auffälligem Muskelgewebe.
712 20 Muskelerkrankungen 

• Je nach betroffenem Kanal lassen sich die nichtdystrophischen Myotonien u.


periodischen Lähmungen unterteilen in:
– Chloridkanalerkr.: Myotonia congenita Typ Thomsen, Myotonia congeni-
ta Typ Becker.
– Kalziumkanalerkr.: Hypokaliämische periodische Paralyse Typ 1.
– Natriumkanalerkr.: Paramyotonia congenita, hyperkaliämische periodi-
sche Paralyse, kaliumsensitive Myotonien, hypokaliämische periodische
Paralyse Typ 2.
20 – Kaliumkanalerkr.: Neuromyotonie, hypokaliämische periodische Paralyse
Typ 3, Andersen-Sy.

Schwangerschaft: Tokolytika (Fenoterol) können schwere myotone Reaktio-


nen auslösen; Oxytocin ist unbedenklich. Narkosen: Erhöhtes Risiko für ma-
ligne Hyperthermie.

20.6.2 Myotonia congenita Becker


ICD-10 G71.1.
Epidemiologie und Ursache
• Aut. rez.; Prävalenz: 4 : 100.000, M : F = 1 : 1.
• Verschiedene Missense- u. Nonsense-Mutationen im ClCN1-Gen auf Chro-
mosom 7q35.

Klinik
• Beginn im 10.–15. Lj, selten auch später.
• Mäßige bis schwere Myotonie, nach den ersten 3 Muskelkontraktionen am
stärksten, danach Besserung („Warm-up-Phänomen“). Stärker ausgeprägt als
bei Typ Thomsen.
• Arme stärker betroffen als Beine; während der Myotonie begleitende Muskel-
schwäche.
• Keine wesentliche Progredienz der Myotonie, im Verlauf jedoch langsam zu-
nehmende geringe persistierende Muskelschwäche mit resultierender Behin-
derung. Normale Lebenserwartung.
• Muskelhypertrophie gluteal u. an den Beinen; Schultergürtel schmächtig.
Kontrakturen; Hyperlordose der WS.
• Keine Katarakt, kardiale o. endokrine Sympt.
• Kälte u. Kalium beeinflussen Sympt. nicht.
Diagnostik
• CK leicht ↑, im EMG myotone Entladungsserien nach dem Nadeleinstich,
keine myopathischen Zeichen.
• Molekulargenetische Diagn.; Muskelbiopsie nicht weiterführend.

20.6.3 Myotonia congenita Thomsen


ICD-10 G71.1.
Epidemiologie und Ursache
• Aut. dom.; Prävalenz 1 : 400.000, M : F = 1 : 1, F meist leichter betroffen.
• Verschiedene Missense-Mutationen im ClCN1-Gen auf Chromosom 7q35.
   20.6  Nichtdystrophische Myotonien und periodische Lähmungen  713

Klinik
• Beginn im Säuglings-/Kleinkindalter, verzögerte motorische Entwicklung.
• Myotonie schwächer ausgeprägt als beim Typ Becker, zusätzlich schmerzhaf-
te Muskelsteife. Typ. „Warm-up“-Phänomen.
• Akute Verstärkung der Myotonie bei Erschrecken o. plötzlichen Bewegungen
bis hin zum Sturz.
• Athletischer Körperbau.
• Verstärkung der Myotonie durch Hypothyreose, in der Schwangerschaft. Käl-
te u. Kalium beeinflussen Sympt. nicht. 20
• Diagn.: Wie bei Myotonia congenita Becker.

20.6.4 Periodische Paralysen
▶ Tab. 20.8.
Tab. 20.8  DD der periodischen Paralysen
Paramyotonia con­ Hypokaliämische peri­ Hyperkaliämische pe­
genita Eulenburg odische Paralyse riodische Paralyse
(­HypoPP) (HyperPP)

Beginn Kindesalter 10.–20. Lj Kindesalter

Myotonie Immer Keine Wechselnd

„Warm-up“ Paradox (Ver- – Ja (Besserung)


schlechterung)

Dauer u. Häu- < 24 h; häufig Stunden bis Tage; sel- Min. bis Stunden;
figkeit der ten häufig bis zu mehr-
Attacken mals tgl.

Kalium Normal; kein Ef- Im Anfall < 3 mval/l; Im Anfall 5–7 mval/l;


fekt durch K+-Sub- Besserung durch K+- Verschlechterung
stitution Substitution durch K+-Substitution

Provokation Anstrengung, Käl- Anstrengung, kohlen- Anstrengung, Hun-


te hydrat- o. salzreiche ger, K+-Zufuhr, Kälte,
Mahlzeiten Alkohol

Diagn. EMG: Myotone Ent- EMG: Während der EMG: Während der
ladungen, v. a. nach Lähmung keine o. Lähmung Potenzial-
Kühlung. Bei fort- kaum Aktionspotenzi- verkürzung u. Ampli-
gesetzter Kühlung ale. Muskel elektrisch tudenverminderung,
sistieren die myoto- nicht reizbar, im Inter- im Intervall normal
nen Entladungen vall normal

Anfallsprovokation mit Anfallsprovokation


Glukose 2 g/kg p. o. mit mit Kalium 40 mmol
Insulin 12–16 IE s. c. un- unter EKG-Monito-
ter EKG-Monitoring ring

20.6.5 Neuromyotonie (ICD-10 G71.1)


ICD-10 G71.1. Syn.: Isaacs-Mertens-Sy.
714 20 Muskelerkrankungen 

Definition
Selten, Beginn jederzeit möglich, aut. dom. o. erworben:
• Hereditär: Mutationen im KCNQ2-Gen (Kaliumkanal)
• Erworben: U. a. als paraneoplastisches Sy. (AK gegen VGKC bei Lungentumoren
[SCLC], Thymomen u. M. Hodgkin). Assoziiert mit SLE u. Paraproteinämien.

Klinik
• Muskelsteife zunächst der Hände, später aller Extremitäten u. der Gesichts-,
20 Atem- u. Zungenmuskulatur mit mimischer Starre, Atemlähmung u.
Schluckstör. Faszikulationen, Myokymien, später Kontrakturen. MER abge-
schwächt o. fehlend.
• Hyperhidrose u. erhöhter Grundumsatz.
• Anhaltende Muskelaktivität im Schlaf, unter Narkose o. peripherer Nerven-
blockade.
• Schubweiser Verlauf, Spontanremission möglich (bei erworbenen Formen).
Diagnostik und Therapie
• Im EMG Daueraktivität bei normalen Aktionspotenzialen, Multiplets, Faszi-
kulationen, hohe Entladungsfrequenz (bis 180 Hz). NLG leicht verlangsamt.
Muskelbiopsie normal.
• Carbamazepin 3 × 200 mg/d p. o. o. Phenytoin 3 × 100 mg/d p. o.
• Bei erworbenen Formen: Behandlungsversuch mit IvIg o. Plasmapherese.

20.7 Entzündliche Muskelerkrankungen
20.7.1 Nichterregerbedingte Myositiden
Definition und Übersicht
Auto- o. dysimmune erworbene Erkr. mit entzündl. Veränderungen der Musku-
latur, häufig als Systemerkr.; Inzidenz 1 : 100.000.

Tab. 20.9  Klinische Charakteristika der nichterregerbedingten Myositiden


DM PM NM sIBM

Beginn Akut Subakut Subakut Chron.

Erkr.-Alter Jedes (gehäuft Erw. Erw. Erw., v. a. ältere


zw. 5.–15. u. (> 50. Lj)
45.–65. Lj)

Geschlecht F : M = 2 : 1 F : M = 2 : 1 F : M = 1 : 1 F : M = 1 : 3

Paresen Prox. betont, Prox. betont, Prox. betont, Prox./distal,


symmetrisch symmetrisch symmetrisch asymmetrisch

Atrophien (+) + + +++, asymmet-


risch

Myalgien +++ (+) (+) Selten

CK Normal bis 50 × Bis 50 × Bis 50 × Normal bis 10 ×
  20.7 Entzündliche Muskelerkrankungen  715

Tab. 20.9  Klinische Charakteristika der nichterregerbedingten Myositiden


(Forts.)
DM PM NM sIBM

Hauterschei­ + Nein Nein Nein


nungen

Paraneo­ ++ (bei > 40. Lj) + + Nein


plasie
20
Ausprägung: +++ stark; ++ mittel; + wenig, (+) kaum

• Zu den nichterregerbedingten Myositiden werden die Dermatomyositis


(DM), die Polymyositis (PM), die sporadische Einschlusskörperchenmyositis
(sIBM) u. die nekrotisierende Myopathie (NM) gezählt (▶ Tab. 20.9).
• Die DM ist die häufigste, die PM die seltenste Myositis; die IBM die häufigste
Myositis des höheren Lebensalters. Im Kindesalter ist die DM am häufigsten,
die PM eine Seltenheit. Die NM ist klin. nicht von der PM zu unterscheiden;
bioptisch jedoch kein entzündl. Infiltrat bei ausgeprägten Nekrosen.

20.7.2 Dermatomyositis (DM)
Ursache
• Vaskulitis kleiner Muskel- u. Hautgefäße, T(CD4+)- u. B-Zell-(AK-)vermittelt.
• Genetische Prädisposition (u. a. Assoziation mit HLA-DRB1 u. -DQA1-Isoty-
pen).
• Assoziation mit Malignomen (≈4-fach erhöhtes Risiko; v. a. Ovarial-, Lun-
gen-, GIT-Tumoren u. NHL).
! 
DM kann der Diagnose des Tumors um J. vorausgehen.

Klinik
• Subakut über Wo. sich ausbildende prox. betonte symmetrische Muskel-
schwäche im Schulter-/Beckenbereich, Kopfheber deutlich betroffen; mitun-
ter erhaltene MER. Im Verlauf auch pharyngeale Muskulatur betroffen. Mus-
kelkaterartige Myalgien u. Arthralgien (bei 50 % der Pat.).
• Hautveränderungen:
– Zentrofasziales heliotropes Erythem: Lilafarbenes Erythem der Augenli-
der, Wangen, des vorderen Halsdreiecks, über den Streckseiten von Fin-
gern, Ellenbogen u. Knien, meist vor Auftreten von Paresen.
– Gottron-Papeln an den kleinen Fingergelenken dorsal: Selten, aber patho-
gnomonisch.
– Nagelfalzhyperkeratosen u. Keining-Zeichen: Erweiterte Kapillaren am
Nagelfalz, schmerzhaft bei Manipulation.
– Hornhautveränderungen („Mechanikerhände“).
– Kutane u. intestinale Ulzera, insbes. bei kindl. DM.
– Subkutane Kalzifizierungen, insbes. bei kindl. DM.
• „Anti-Synthethase-Sy.“: Myositis-Synovitis-Alveolitis. Overlap-Sy. mit Nach-
weis von Anti-Synthetase-AK. Neben der Myositis zusätzliche Sympt. wie Al-
veolitis (interstitielle Lungenerkr.), „Mechaniker-Hände“, Raynaud-Sy., Poly-
arthritis. Prognostisch ungünstig.
716 20 Muskelerkrankungen 

• Beteiligung innerer Organe: Ösophagus: Schluckstör. Herz: interstitielle Myo-


karditis, Perikarditis, dilatative Kardiomyopathie.

Diagnostik
• Labor:
– CK ↑ (bis zu 50 ×), LDH u. Aldolase ↑. Ausmaß der Erhöhung korreliert
mit entzündl. Aktivität; Myoglobin im Urin kündigt oft Verschlechterung
an. CK als Verlaufsparameter am besten geeignet (geht klin. Besserung
20 voraus).
– CRP/BSG u. Leukos als unspezifische Entzündungsparameter oft ↑, kön-
nen aber auch normal sein.
– Myositisassoziierte AK in 15–50 %: Anti-Synthetase-AK (v. a. Anti-Jo1),
ANA/ENA (U1-snRNP, Mi2, SRP, Pm-Scl, Ku). Weitere Auto-AK bei as-
soziierten Kollagenosen/Vaskulitiden bzw. Overlap-Sy.
• EMG: Myopathische Veränderungen mit path. Spontanaktivität (Fibrillatio-
nen u. pos. scharfe Wellen; Ausmaß korreliert mit Krankheitsaktivität).
• MRT: STIR-Sequenzen.
• Muskelbiopsie: Zur Diagnosesicherung: Perivask. perifaszikuläre Infiltrate
(­B-Zellen, Makrophagen, CD4+-T-Zellen) mit Fasernekrosen.
• Tumorsuche: Rö-Thorax, Oberbauchsono, urologisches u. gynäkologisches
Konsil, Labor (z. B. Tumormarker), ggf. Ganzkörper-CT o. PET-CT. Bei initi-
al unauffälligen Befunden in den ersten 3–5 J. jährlich erneute Suche nach
Tumoren u. Zeichen assoziierter Autoimmunerkr.
• Kardiale Diagn.: Bei V. a. Kardiomyopathie, auch im weiteren Verlauf alle
6–12 Mon.

Therapie
Allg. Ther.:
• Ther. des Tumorleidens verbessert die DM. Umgekehrt sollte bei Ther.-Ver-
sagen erneut nach einem möglichen Tumorleiden gesucht werden.
• In akuten Phasen körperl. Schonung, ggf. Bettruhe.
• Physiother.: Zur Prophylaxe von Kontrakturen, Dekubiti u. Thrombosen bei
schweren Lähmungen u. Stärkung der noch erhaltenen Muskelfunktion.
• Atemgymnastik zur Prophylaxe von pulmonalen Infekten.
Medikamentöse Ther.:
• Basisther.:
– 1. Wahl Prednison oder Prednisolon: 1,5–2 mg/kg KG/d als Einzelgabe
p. o. morgens; nach Ansprechen (6–12 Wo.) langsame Reduktion über
3 Mon. unter klin. u. CK-Kontrolle. Erhaltungsdosis 5–10 mg/d o. 10–
20 mg jeden 2. d.
– Methylprednisolon i. v. 500 mg/d über 3 d als Einleitung der Steroid-Ther.
möglicherweise wirksamer.
– Dexamethason ist nicht überlegen.
! Add-on-Ther.: Bei schweren Verläufen/unzureichender Wirkung:
– IvIg: 0,4 g/kg KG/d über 5 d, Wdh. alle 4–8 Wo. (zugelassener Off-label
use nach Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie).
– Azathioprin 2–3 mg/kg KG/d p. o. Wirkungseintritt frühestens nach
3 Mon.! Kontrolle der Leuko-Zahl (Ziel > 3.000/μl u. < 3.500/μl). Alterna-
tiv Methotrexat p. o. oder Ciclosporin A in spezialisierten Zentren. Me-
thotrexat u. Ciclosporin sind bei Kindern Azathioprin vorzuziehen!
• Bei Ther.-Versagen: Cyclophosphamid o. Rituximab in spezialisierten Zentren.
  20.7 Entzündliche Muskelerkrankungen  717

• Mycophenolat-Mofetil gilt als Reservemittel für Azathioprin mit besse-


rer Verträglichkeit.
• Wirksamkeit von Infliximab/Etanercept (TNF-α-Blockade), Tacrolimus
o. Alemtuzumab ist noch nicht ausreichend belegt.

• Ther.-Dauer: Nach 1–3 J. der Erhaltungsther. Absetzversuch der Immunsup-


pressiva unter klin. Kontrolle. 20
20.7.3 Polymyositis (PM) und nekrotisierende Myopathie
(NM)
Ursache
• PM: Direkte Attacke von T-Lymphos (CD8+) gegen Muskelfasern.
• PM: Wahrscheinlich genetische Prädisposition (u. a. Assoziation mit HLA-
DRB1, -DQA1, -B8, -DR3-Isotypen).
• Assoziation mit Malignomen seltener als bei DM (≈2 × erhöhtes Risiko; v. a.
NHL, Lungen- u. Blasen-Tumoren).

Klinik
Hinsichtlich der Paresen ähnliches Bild wie DM, aber:
• Langsamerer Verlauf als bei DM.
• Myalgien/Arthralgien seltener als bei DM.
• Keine Hautbeteiligung.
Diagnostik und Therapie
• Labor: CK (bis zu 50 ×), LDH u. Aldolase ↑. NM: Anti-SRP-AK häufig!
• EMG: Myopathische Veränderungen mit path. Spontanaktivität (Ausmaß
korreliert mit Krankheitsaktivität).
• Muskelbiopsie zur Diagnosesicherung:
– PM: Endomysiale Infiltrate (CD8+-T-Lymphos), die nichtnekrotische
Muskelfasern infiltrieren.
– NM: Keine entzündl. Infiltrate; Nekrosen mit Abräumreaktion.
Ther.: Wie bei DM.

20.7.4 Sporadische Einschlusskörperchenmyositis (sIBM)


Ursache
Entzündl. Infiltrate; möglicherweise aber prim. degenerativer Prozess. Genetische
Prädisposition wahrscheinlich (u. a. Assoziation mit bestimmten HLA-B8-, -DR3-,
-DR52-Isotypen).

Klinik
• Beginn i. d. R. nach dem 50. Lj, M > F!
• Schleichender Verlauf über J., meist schmerzlos.
• Prädilektion: Lange Finger- u. Handgelenksbeuger u. M. quadriceps, oft
asymmetrisch.
• Im Verlauf Dysphagie häufig.
718 20 Muskelerkrankungen 

Diagnostik
• Labor: CK normal bis zu 10× ↑.
• EMG: Myopathische Veränderungen mit path. Spontanaktivität (weniger
deutlich als bei DM/PM). Zusätzlich chron. neurogene Veränderungen. Mit-
unter sensible Neuropathie.
• Muskelbiopsie: Zur Diagnosesicherung. Histologisches Bild zunächst häufig
wie bei PM, zusätzlich aber basophil umrandete Vakuolen („rimmed vacuo-
les“). Spezifisch ist der Nachweis von intranukleären/zytoplasmatischen eosi-
20 nophilen Einschlusskörperchen.

Therapie
• Steroide u. Immunsuppressiva: Wahrscheinlich unwirksam.
• IvIg: 0,4 g/kg KG/d über 5 d, Wdh. alle 4–8 Wo. Können bei manchen Pat.
Krankheitsverlauf stabilisieren. Ther.-Versuch über 6 Mon. sinnvoll, danach
Reevaluation.

Hereditäre Einschlusskörperchenmyopathie (hIBM)


• Wahrscheinlich nicht seltene erbliche Formen der IBM; aut. dom. (hIBM 1,
am häufigsten), aut. rez. (hIBM 2).
• In der Muskelbiopsie kein entzündl. Infiltrat, aber Einschlusskörperchen.

20.7.5 Myositisassoziierte Erkrankungen und Overlap-


Syndrome
Myositische Begleitsymptome bei Kollagenosen und Vaskulitiden
ICD-10 M63*.
• SLE (bis zu 40 %), systemische Sklerose/CREST-Sy., rheumatoide Arthritis,
Sjögren Sy., Polyarteriitis nodosa, Wegener-Granulomatose/Granulomatose
mit Polyangiitis, Sarkoidose (granulomatöse Myositis), M. Behçet.
• Schmerzen stehen im Vordergrund, im EMG herdförmige path. Veränderun-
gen neben normalen Potenzialen.

Mischkollagenose
ICD-10 M35.1.
Syn.: „mixed connective tissue disease“ (MCTD), Sharp-Sy. bzw. Overlap-Sy.:
• Overlap-Syn. aus SLE, systemischer Sklerose, rheumatoider Arthritis u. Poly-
myositis.
• Häufigstes Sympt.: Raynaud-Symptomatik, gefolgt von sklerodermietypi-
schen Hautveränderungen, sonstigen Sympt. eines SLE (Herz u. Niere aller-
dings selten betroffen), DM/PM u. Arthritis.
• ANA pos., in der Differenzierung Nachweis von AK gegen (u. a.) U1-snRNP,
ds-DNA, Sm, SS-A/-B, RPP.

Eosinophile Fasziitis (Shulman-Syndrom)


ICD-10 M35.4.
• Meist zwischen 20. u. 60. Lj.
• Beginn mit Fieber, Muskel- u. Gelenkschmerzen, Leistungsknick, passagerer
Bluteosinophilie, im Verlauf sklerodermiform indurierte Haut u. Gelenkkon-
trakturen.
• Diagnose durch „En-bloc“-Biopsie (Kutis, Subkutis, Faszie u. Bindegewebe).
• DD: Hypereosinophiles Sy.
  20.7 Entzündliche Muskelerkrankungen  719

Okuläre/orbitale Myositis
Als Entität einer fokalen Myositis umstrittenes Krankheitsbild; es scheint sich
eher um eine nichterregerbedingte Entzündung der (gesamten) Orbita zu handeln
(DD Tolosa-Hunt Sy. o. Pseudotumor orbitae).
Klinik:
• Periorbitale bewegungsabhängige Schmerzen, Doppelbilder, progrediente
Prorusio bulbi. Bildgebend Verdickung von (einzelnen) Augenmuskeln.
• CK-Erhöhung untypisch.
• Steroide sind wirksam. 20
• Assoziationen dieses Sy. mit SLE, rheumatoider Arthritis, Sarkoidose, Wege-
ner-Granulomatose/Granulomatose mit Polyangiitis, entzündl. Darmerkr.,
M. Whipple sind beschrieben.

20.7.6 Erregerbedingte Myositiden
ICD-10 M60*, G73.4* oder M63*.
Virale Myositiden
Def.: Myalgien sind ein häufiges harmloses Begleitsympt. von Virusinfektionen.
Darüber hinaus können Viren spezifische Myositiden auslösen, die auch mit
myositistypischen EMG-Veränderungen einhergehen.
Erreger/Klinik
• Akute Myositis: Influenza A/B (v. a. bei Kindern), Parainfluenza, Adenovirus 2.
• Akute Rhabdomyolyse:
– Influenza A/B, Coxsackie B5, Echovirus 9, Adenovirus 21, HSV.
– Klin. (vorausgegangener) Virusinfekt, schmerzhafte Muskelschwellungen,
(starker) CK-Anstieg, ggf. Myoglobinurie.
• Bornholm-Erkr. (epidemische Pleurodynie):
– Coxsackie B5 (B1, B3, B4).
– Klin. intensive atemabhängige Schmerzen, spontane Rückbildung inner-
halb von Tagen.
• Subakute/chron. Myositis:
– HIV, HTLV1, EBV, Echo (bei Agammaglobulinämie).
!  HIV-assoziierte Myositiden sind sehr häufig, allerdings schwer von einer tox.
Myopathie durch antivirale Medikamente zu unterscheiden.
Diagn.: Virusnachweis o. K-Titer. Muskelbiopsie allenfalls zur DD indiziert.
Ther.: Meist symptomatisch (Schmerzen, Nierenfunktion bei Rhabdomylose),
spezifisch antiviral bei HIV o. HSV.

Parasitäre Myositiden
• Selten, häufig auch asymptomatisch. Häufigste Erreger: Protozoen (Toxoplas-
mose), Zestoden (Zystizerkose), Nematoden (Echinokokkose, Trichinose,
Toxokariose).
• Diagn.:
– Bluteosinophilie, Weichteil-Rö (verkalkte Zystizerken) o. MRT (Nachweis
von Granulomen).
– Serolog. Nachweis o. direkter Erregernachweis aus anderen Geweben/
Unters.-Materialien.
– Muskelbiopsie, falls andere Unters. unergiebig.
720 20 Muskelerkrankungen 

Bakterielle Myositiden
• Sehr selten; am häufigsten Pyomyositis bei immunkompromittierten Pat.
(v. a. HIV) durch Staphylokokken, seltener Streptokokken, Pneumokokken,
E. coli; Muskelabzesse bei bakt. Sepsis.
• Weitere Erreger seltener bakt. Myositiden: Mykobakterien (Tbc, Lepra), Spi-
rochäten (Treponema pallidum, Borrelien, Leptospiren [M. Weil]), Aktino-
myzeten, Clostridien, Samonellen, Rickettsien (Coxiellen), Legionellen.

20 Myositiden durch Pilze


Sehr selten; meist bei immunkompromittierten Pat. (v. a. HIV): Histoplasma, Mu-
kormykosen, Candida, Sporothrix, Kryptokokken.

20.8 Andere erworbene Muskelerkrankungen


20.8.1 Endokrine Myopathien
ICD-10 G73.5*.
Hyperthyreose (ICD-10 E05+):
• Bei 60–80 % hyperthyreoter Pat.: Prox. Paresen, Atrophien (gering), Myalgi-
en; bulbäre u. Atemmuskeln können betroffen sein; Reflexe normal o. gestei-
gert.
• CK meist normal.
• EMG: Normal o. myopathisch.
• Sonderform: Thyreotoxische periodische Paralyse mit Hyokaliämie.
Hypothyreose (ICD-10 E03+):
• Bei bis zu 40 %; hypothyreoter Pat. (F > M): prox. Paresen mit Muskelhyper-
trophie, rasche Ermüdbarkeit, Myalgien/Muskelsteifigkeit/Krampi; Herz u.
Atemmuskeln können betroffen sein.
• CK meist mäßig bis deutlich ↑.
• EMG: Myopathische u. neurogene Veränderungen.
Nebenniereninsuff. (ICD-10 E27+):
• Weniger Schwäche als allg. Müdigkeit.
• CK normal.
• In der Addison-Krise deutliche Muskelschwäche.
Hyperparathyreoidismus (ICD-10 E21+):
• Prox. atrophische Myopathie mit Muskelsteifigkeit u. gesteigerten Reflexen.
• Sowohl bei prim. (Serum-Ca2+ ↑, Phosphat ↓) als auch bei sek. (Serum-Ca2+
normal o. ↓, Phosphat ↑) Hyperparathyreoidismus bei Niereninsuff.
• Schwäche korreliert nicht mit Ca2+-Spiegel.
• CK normal.
• Ther.: Behandlung des Adenoms (prim. Form) bzw. Behandlung der Nieren-
insuff. u. Vit.-D-Substitution.
Hypoparathyreoidismus (ICD-10 E20+):
• Selten; meist wird Hypoparathyreoidismus durch Tetanie symptomatisch.
• Nach Krämpfen CK-Erhöhung.
• Ther.: Substitution von Ca2+, Mg2+ u. Vit. D.
Akromegalie (ICD-10 E22.0+): Bei 30–50 % der Pat. schmerzhafte prox. Muskel-
schwäche mit rascher Ermüdbarkeit ohne Atrophien.
   20.8  Andere erworbene Muskelerkrankungen  721

20.8.2 Medikamentös/toxisch induzierte Myopathien


ICD-10 G72.0: Arzneimittelinduzierte Myopathie; G72.1: Alkoholmyopathie;
G72.2: Myopathie durch sonstige tox. Agenzien.
Steroidmyopathie:
• Nach länger anhaltender Steroid-Ther. (> 4 Wo.), F > M.
• Risiko erhöht bei Dos. über der Cushing-Schwelle u. bei fluorierten Steroiden
(z. B. Dexamethason).
• Paresen des Beckengürtels mit rascher Ermüdbarkeit, mitunter Myalgien. 20
• CK bleibt normal.
• Überwiegend Typ-II-Faserverlust, kaum myopathische Veränderungen im
EMG.
Statine:
• Atorvastatin, Fluvastatin, Lovastatin, Pravastatin, Simvastatin führen v. a. in
Komb. mit Fibraten zu Myalgien, Muskelkrämpfen, myotonen Sympt. (sel-
ten) u. einer manifesten Myopathie mit CK-Erhöhung (häufig) bis hin zur
Rhabdomyolyse.
• Urs. unbekannt.

• Statine sind bei Pat. mit Myopathien o. unklaren CKämien (vor Behand-
lungsbeginn > 5 ×) kontraindiziert.
• Beim Auftreten von CK-Werten > 5 × unter Ther. Statin absetzen.
Alkoholmyopathie:
• Akute Form mit einer sich über Stunden entwickelnden schmerzhaften prox.
Schwäche mit Muskelschwellung, CK-Erhöhung, Myoglobinurie/Rhabdomyo­
lyse.
• Chron. Form (häufig) mit prox. Atrophie, schmerzloser Schwäche, begleiten-
der PNP.
„Critical-illness-Myopathie“ (CIM):
– Schlaffe generalisierte Paresen nach Langzeitbeatmung o. Sepsis.
– Medikamente wie Steroide u. Muskelrelaxanzien sind Risikofaktoren ge-
nauso wie entzündl. Mediatoren der Sepsis.
– Differenzierung von „Critical illness polyneuropathy“ (CIP) schwierig
(sowohl klin. als auch pathophysiol.).

Weitere medikamentös/tox. induzierte Myopathien:


• Lokale Muskelschädigung: (z. B. durch Spritzen): Bupivacain, Chloram-
phenicol, Diazepam, Digoxin, Heroin, Insulin, Lidocain, Penicillin,
­Pentazocin, Pethidin, Steroide, Streptomycin, Tetracycline.
• Manifeste Paresen: Albuterol, Alkohol, Aluminium, Amiodaron, Benzo-
diazepine, Bezafibrat, Chinin, Chloroquin, Cimetidin, CO, Clofibrat,
­Colchicin, Ciclosporin A, D-Penicillamin, Diazoxid, Dihydroergotamin,
Dipyridamol, Ergotamin, Fenofibrat, Guanethidin, Heroin, Hydroxychlo-
roquin, Imipramin, IFN-α, L-Tryptophan, Labetolol, Lakritz, Lithium,
Metformin, Metoprolol, Omeprazol, Oxprenolol, Pentazocin, Phenytoin,
Pindolol, Pizotifen, Prazosin, Procainamid, Propofol, Propanolol,
­Stero­ide, Tacrolimus, Thyroxin, Timolol, Vincristin, Zidovudin.
•  Strukturelle Myopathie: ACTH, Adriamycin, Alkohol, Aluminium, Amio­
daron, Amphotericin B, Azathioprin, Barbiturate, Bezafibrat, Chloroquin,
722 20 Muskelerkrankungen 

Clofibrat, CO, Codein, Colchicin, Ciclosporin A, D-Penicillamin, Diureti-


ka, Fenofibrat, Heroin, Hydroxychloroquin, IFN-α, Isotretinoin, L-Tryp-
tophan, Labetolol, Lakritz, Laxanzien, Omeprazol, Organophosphate,
Pentazocin, Phenytoin, Procainamid, Propofol, Salbutamol, Steroide,
­Tacrolimus, Toluol, Vincristin, Vit. E, Zidovudin.
• Myositis: Carbimazol, Cimetidin, D-Penicillamin, IFNα, L-Tryptophan,
Levodopa, Penicillamin, Phenytoin, Procainamid.
20 • Myotonie: Clofibrat, Colchicin, Diuretika, Fenoterol, Kalium, Neostig-
min, Physiostigmin, Pindolol, Propranolol, Succinylcholin.
• Myalgie: Albuterol, Alkohol, Allopurinol, Amphetamine, Aprotinin,
­Captopril, Cimetidin, Clofibrat, Clonidin, Ciclosporin A, D-Penicillamin,
Dihydroergotamin, Eisen, Ergotamin, Guanethidin, Heroin, IFN-α,
IFN-β, Kalzium, Ketoconazol, L-Tryptophan, Labetolol, Methysergid,
Omeprazol, Penicillamin, Phenytoin, Pizotifen, Praziquantel, Procain­
amid, Salbutamol, Streptokinase, Succinylcholin, Suxamethonium,
­Tacrolimus, Urokinase, Vincristin, Zidovudin.
• Schmerzhafte Muskelkrämpfe: ACTH, Albuterol, Alkohol, Amphoteri-
cin B, Barbiturate, Benzodiazepine, Carbimazol, Chinidin, Chlorprom­
azin, Cimetidin, Clofibrat, Diazoxid, Dimenhydrinat, Eisen, Etacrynsäure,
Fettemulsionen i. v., Furosemid, Isoniazid, Labetolol, Levodopa, Lidocain,
Mannitol, Metamizol, Methylphenidat, Methysergid, Metoprolol, Metro-
nidazol, Mexiletin, Miconazol, Nifedipin, Oxprenolol, Pentazocin, Pindo-
lol, Piperazin, Procainamid, Propranolol, Salbutamol, Suxamethonium,
Tamoxifen, Timolol, Triamteren.

20.9 Spezielle Probleme
20.9.1 Unklare CK-Erhöhung
Diagnostisches Vorgehen bei klinisch asymptomatischen Patienten
mit CK-Erhöhung
1. Ausschluss eines falsch pos. Befunds:
• Rasse u. Geschlecht: Oberer Normalwert bei M etwas höher als bei F; bei far-
bigen M oberer Normalwert doppelt so hoch wie bei kaukasischen M.
• Kürzliches Trauma, Fieber/Schüttelfrost, epileptischer Anfall, (schwere) kör-
perl. Betätigung, i. m. Injektion o. EMG-Unters.?
• Medikamentenanamnese: Z. B. Statine? → Bestimmung ggf. nach Absetzen
wiederholen.
2. Ausschluss von (Ko-)Erkr.:
• Kardiologische Erkr., Virusinfekte?
• Endokrinologische Stör. (v. a. Hypothyreose)?
• Familienanmnese für neuromuskuläre Erkr.?
3. Erweiterte Diagn.:
• EMG: Ausschluss neurogener Erkr. (ALS, SMA, Kennedy-Erkr., Post-Polio-
Sy., motorische Neuropathien [selten]) o. myotoner/myopathischer Muster.
• Muskelbiopsie: Ausschluss einer strukturellen o. metab. Muskelerkr. (z. B.
Myoadenylat-Deaminase-Mangel).
  20.9 Spezielle Probleme  723

Muskelbiopsie als Ultima Ratio. Empfohlen nur bei anhaltender CK-Erhö-


hung über den 2-fachen oberen Grenzwert; ansonsten Diagnose einer
„­idiopathischen CKämie“ u. klin. Beobachtung.

20.9.2 Rhabdomyolyse
ICD-10 M62.89 (idiopathisch) o. T79.6 (traumatisch).
Def.: 20
• Zelluntergang (Nekrose) der quergestreiften Muskulatur mit Freisetzung von
Myoglobin, Muskelenzymen u. E'lyten (v. a. K+) zunächst in das Blut.
• Klin. Bild fließend (von asymptomatisch bis zum akuten Nierenversagen).
Urs.:
• Nach akutem Muskeluntergang CK-Anstieg nach 12 h, Maximim nach 1–3 d.
Myoglobin wird in der Leber zu Bili abgebaut; ab einer Plasma-Konz.
> 15 mg/l wird es jedoch zusätzlich von der Niere ausgeschieden (Myoglobin-
urie). Bei Myoglobinurie > 1 g/l färbt sich Urin dunkel. Bei massivem Muskel-
zerfall droht Nierenversagen durch Verstopfung der Tubuli.
• Ab einer CK von 5.000 U/l Gefahr eines Nierenversagens (Inzidenz bei
­Rhabdomyolyse: 10–50 %; Mortalität: ≈20 %).
Auslöser:
• Hereditäre Muskelerkr., v. a. Glykogenosen (GSD V [McArdle], VII) u. Lipid-
speichermyopathien (v. a. CPT-Mangel).
• DM/PM.
• Maligne Hyperthermie.
• Malignes neuroleptisches Sy., serotonerges Sy., Hitzschlag.
• Status epilepticus, (Alkoholentzugs-)Delir.
• Trauma (z. B. Polytrauma, „Crush-Sy.“), Kompartment-Sy., Verbrennung,
Schock.
• E'lyt- u. endokrine Stör. (Hyper-/Hyponatriämie, Hypokalzämie, -kaliämie,
-phosphatämie; hyperosmolare Stör./Ketoazidose, Hypothyreose, Hyperaldo-
steronismus).
• Tox.: Alkohol, Kokain, Heroin, Amphetamine. Schlangen-/Insektengifte. CO.
Organophosphate. Schwermetalle.
• Medikamente: Barbiturate u. Sedativa. Fibrate, Statine. Opiate. Neuroleptika,
Sedativa. Antihistaminika.
• Infektiös:
– Viral: Coxsackie, Influenza, HIV, HSV.
– Bakt./parasitär: Staphylo-, Streptokokken, Legionellen, Salmonellen,
­Leptospiren, Plasmodium falciparum (Muskelischämie).
Klinik: Generalisierte Muskelschwäche mit Myalgien, Schwellungen, Rigidität,
Rot- bis Braunfärbung des Urins (Myoglobinurie), häufig oligurischem Nieren-
versagen, kardialen Arrhythmien (Hyperkaliämie).
Diagn.:
• Labor: CK, K+ (↑), Ca2+ (↓), Krea/BUN u. GFR; ggf. Myoglobin (Serum u.
Urin).
• Ätiologische Abklärung: Bei massivem Trauma o. prolongiertem, generali-
siertem epileptischem Anfall nicht notwendig; sonst Serologie, Toxikologie-
Labor, Familienanamnese.
• EMG/Muskelbiopsie nur selten sinnvoll.
724 20 Muskelerkrankungen 

Ther.:
• Intensivmedizinische Überwachung, stündliche Flüssigkeitsbilanzierung,
ZVD-Kontrolle.
• Kreislaufstabilisierung durch Volumenzufuhr (z. B. Ringer-Lsg.).
• Forcierte Diurese mit Furosemid nach ZVD u. Ausscheidung z. B. 40 mg
langsam i. v., bei ausgeprägter Niereninsuff. 500 mg mit 50–100 mg/h, max.
Tagesdosis 2.000 mg u. 4–6 l Volumen (z. B. Ringer-Lsg.).
• Alkalisierung des Urins mit Natriumbikarbonat bis Urin pH > 8 (z. B. 500 ml
20 Glukose 5 % + 45 mmol NaHCO3), dabei ständige pH-, E'lyt- u. Krea-Kontrolle.

20.9.3 Maligne Hyperthermie (MH)


ICD-10 T88.3.
Definition
Seltene schwere Narkose-KO. Inzidenz 1 : 100.000 Narkosen (Erw.) bzw. 1 : 20.000
Narkosen (Kinder).

Ursache
• Pharmakogenetisch bedingter path. Anstieg der Ca2+-Konz. in Muskelzellen.
• Bei > 50 % der Pat. genetisch bedingt. Am häufigsten verschiedene Mutatio-
nen im Gen des Ryanodin-Rezeptors (Chromosom 19q13).
• Muskelerkr. gelten grundsätzlich als Risikofaktor für die Entwicklung einer
MH. Am häufigsten tritt die MH auf bei:
– Central-core-Myopathie u. anderen kongenitalen Myopathien mit Struk-
turbesonderheiten.
– Dystropher Myopathien.
– Myotoner Myopathien.
Triggersubstanzen der MH:
• Depolarisierende Muskelrelaxanzen: Succinylcholin (kaum noch verwendet).
• Inhalationsnarkotika: Halothan, Enfluran (beide werden nicht mehr verwen-
det), Isofluran, Desfluran, Sevofluran.
Sicher (und bei V. a. auf MH-Anlage zu verwenden):
• Muskelrelaxanzien: Pancuronium, Artracurium, Vecuronium, Alcuronium.
• Narkotika/Sedativa/Analgetika: Lachgas, Propofol, Etomidate, Ketamin, Bar-
biturate, Opiate, Benzodiazepine.
• Lokalanästhetika: Vom Ester- o. Amidtyp.
Klinik

Eine MH kann, muss aber nicht bei MH-Merkmalsträgern auftreten. Eine


vormals komplikationslose Narkose ist daher kein Ausschlusskriterium.

Beginn bei Narkoseeinleitung (seltener während o. danach) mit:


• Masseterspasmus.
• Anstieg des endexspiratorischen CO2-Drucks u. metab. Azidose.
Gefolgt von:
• Generalisierter Muskeltonuserhöhung (trotz Relaxierung).
• Tachykardien/Tachyarrhythmien.
• E'lytstör., Rhabdomyolyse/Myoglobinurie.
• Exzessivem Anstieg der Körpertemperatur (Spätstadium).
  20.9 Spezielle Probleme  725

Diagnostik

MH-Merkmalsträger haben häufig eine CKämie!

• Molekulargenetische Diagn. (Ryanodin-Rezeptor): Methode 1. Wahl


• In-vitro-Kontraktur-Test: Bei MH-Merkmalsträgern abnorme Muskelkon-
traktion auf Halothan u. Koffein; muss an frisch entnommenem Muskelgewe-
be durchgeführt werden. 20
Therapie
• Unterbrechung/Umstellung der Narkose.
• Umgehende Gabe von Dantrolen: Bolus (2,5 mg/kg KG) gefolgt von Erhal-
tungsther. (7,5–10 mg/kg KG/24 h) für mind. 1 d. Zu empfehlende Gesamt-
dauer der Dantrolen-Ther. umstritten.
• Senkung der Körpertemperatur, Behandlung der Azidose (100 % O2, Bikarbo-
nat).

Während der Behandlung der MH kontraindiziert:


Digitalis, Sympathomimetika/Parasympatholytika, kalziumhaltige Medika­
mente.
21 Neuromuskuläre
Überleitungsstörungen
Berthold Schalke

21.1 Myasthenia gravis 728 21.1.8 Management bei Schwanger­


21.1.1 Definition 728 schaft 736
21.1.2 Einteilung 728 21.1.9 Management bei Operatio­
21.1.3 Klinik 729 nen 736
21.1.4 Diagnostik 731 21.2 Lambert-Eaton-myasthenes
21.1.5 Therapie 732 Syndrom (LEMS) 737
21.1.6 Myasthene Krise 735 21.3 Botulismus 738
21.1.7 Cholinerge Krise 735
728 21  Neuromuskuläre Überleitungsstörungen  

21.1 Myasthenia gravis

21.1.1 Definition
ICD-10: G70.
Erworbene Autoimmunerkr. mit messbaren AK gegen
• die Bungarotoxin-Bindungsstelle (Btx) des Acetylcholin-Rezeptors (AChR) o.
• die muskelspezifische Kinase (MuSK) der postsynaptischen Endplatte o.
• mit bisher in Routineverfahren nicht messbaren AK (z. B. gegen LRP4 u.
­Agrin).
Inzidenz 3–4/Mio., Prävalenz ca. 60–150/Mio.
Sehr selten: Kongenitale Formen (ohne AK)
21
21.1.2 Einteilung

Die Einteilung der Myasthenia gravis (MG) erfolgt nach Pathogenese u. Lo-
kalisation.

Okuläre Myasthenie:
• Auf Dauer auf die Augenmuskulatur beschränkte Symptomatik, meist AChR-
AK neg. Rolle des Thymus in der Krankheitsentstehung nicht gesichert. Ind.
zur Thymektomie fraglich.
!  Problem: Abgrenzung gegenüber beginnender generalisierter MG.
Generalisierte Myasthenie/Early-onset myasthenia (EOMG):
• Mit Thymushyperplasie/Thymitis:
– Btx-AChR-AK immer pos.
– Ca. 75 % der kaukasischen MG-Pat. sind HLA-A1-, -B8-, -DR3-pos.
(Norm: < 20 %).
– Erkr.-Alter < 40 J.
– Thymektomie indiziert.
• Altersmyasthenie/Late onset myasthenia (LOMG):
– Generalisierte Myasthenie mit Thymusatrophie.
– Btx-AChR-AK immer pos., Titin-AK meist pos. (nicht prädiktiv für Thy-
mom).
– Erkr.-Alter > 40 J.
– Keine gesicherte Ind. zur Thymektomie.
Generalisierte Myasthenie mit AK gegen muskelspezifische Kinase (MuSK):
• Thymusatrophie.
• I. d. R. Btx-AChR-AK neg.
• Thymektomie nicht wirksam.
Generalisierte Myasthenie mit AK gegen andere postsynaptische Rezeptor-
strukturen, z. B. LRP4 o. Agrin (klin. noch nicht exakt definiert):
• Thymushistologie: Noch nicht untersucht.
• Rolle der Thymektomie unklar.
• Btx-AChR- u. MuSK-AK meist neg.
Seronegative Myasthenie (SNMG):
• Thymushistologie unauffällig.
• Btx-AChR-, MuSK-, LRP4-, Agrin-AK neg.
  21.1 Myasthenia gravis  729

• Therap. eher schwierig, aber pos. Reaktion auf Immunsuppression, Plasma-


austausch u. IvIg.
Generalisierte paraneoplastische Myasthenie bei epithelialem Thymustumor
(Thymom WHO A bis B3):
• Btx-AChR-AK immer pos.
• Titin-AK meist pos., neg. Wert schließt Thymom nicht aus.
• Erkr.-Gipfel um das 60. Lj.
• Thymomektomie in der Ther. der Myasthenie eher unwirksam, aber zur Be-
handlung des Tumors immer erforderlich.
• Myasthenie kann auch noch > 10 J. nach Thymomektomie auftreten (Post-
thymomektomie-Myasthenie).
! Alle Thymompat. vor der OP neurol. u. serolog. auf MG untersuchen.
Medikamentös induzierte Myasthenie:
• Z. B. durch D-Penicillamin, Chloroquin. 21
• Btx-AChR-AK pos.
• Ther.: Medikament absetzen. Symptomatische Behandlung. Spontanremissi-
on abwarten.
Myasthenie als Graft-versus-Host-Reaktion (GvHR) nach allogener Knochen-
marktransplantation:
• Meist bei Reduktion der Immunsuppression.
• Btx-AChR-AK pos.
• Ther.: Symptomatisch u. wie bei anderen GvHR.
Neonatale Myasthenie:
• Bei ca. 10 % der Neugeborenen myasthener Mütter: Durch passive Übertra-
gung der AK diaplazentar o. mit dem Kolostrum (nur in den ersten Tagen).
• Ther.: Symptomatisch u. Spontanheilung.
Kongenitale myasthene Sy.: Gruppe sehr seltener, genetisch bedingter Stör. der
prä- u. postsynaptischen Strukturen, meist rezessiv vererbt o. Neumutationen.
Meist spät diagnostiziert bzw. häufig Fehldiagnosen.

Kongenitale Myasthenie: Frühzeitige Diagnose wichtig, sonst hohes Risiko


für tödlichen Krankheitsausgang, z. B. im Rahmen von Infekten (sudden in-
fant death).

• Keine Thymusveränderungen, deshalb keine Ind. zur Thymektomie.


• Btx-AChR-, MuSK-, LRP4- u. Agrin-AK immer neg.
• Plasmapherese u. Immunsuppression nicht wirksam.
• Ther.: Rein symptomatisch mit CHE-Hemmern.
! Gerade im Kleinkindesalter nächtliche Monitorüberwachung zur Vermei-
dung eines plötzlichen Kindestods.
• Progn.: Wird mit zunehmendem Alter eher günstiger, da i. d. R. Krankheits­
stabilisierung.

21.1.3 Klinik

Belastungsabhängige, im Tagesverlauf zunehmende Schwäche der querge-


streiften Muskulatur. Bevorzugter Befall der prox. Muskelgruppen, inkl. Au-
gen-, Gesichts- u. pharyngeale Muskelgruppen.
730 21  Neuromuskuläre Überleitungsstörungen  

• Initial meist bds. Ptose mit Doppelbildern unter Aussparung der inneren Au-
genmuskeln, Schwäche der fazialen Muskulatur.
• Am gefährlichsten ist die Beteiligung der Kau-, Schluck-, Atem- u. Atemhilfs-
muskulatur.
• MuSK-AK-pos. Myasthenie: Okulopharyngeal betont und Schwäche der Na-
ckenstrecker („dropped head“) oder wie AChR-AK-pos. Myasthenie; z. T.
umschriebene Muskelatrophien.
• Beeinflussung der Symptomatik durch Infekte, Stress, hormonelle Einflüsse,
z. B. Pubertät, Menopause, Menstruation, Schwangerschaft, E'lytstör. (z. B.
Hypokaliämie), Temperaturerhöhungen, Medikamente (▶ Tab. 21.1).
• Klin. Einteilung der Myasthenie unabhängig von ihrer Pathogenese: Osser-
man-Klassifikation o. MGFA-Klassifikation (Myasthenia gravis Foundation
of America).
21
Tab. 21.1  Medikamente, die eine Myasthenie auslösen/verschlechtern
­können (Auswahl)
Gruppe Wirkstoffe

Analgetika Flupirtin, Metamizol, Morphin

Antiarrhythmika Ajmalin, Chinidin, Mexiletin, Procainamid, Verapamil

Antibiotika Aminoglykoside (z. B. Streptomycin, Neomycin, Tobramycin),


Carbapeneme (z. B. Imipenem), Gyrasehemmer (z. B. Ciproflox­
acin, Ofloxacin), Lincosamide, Makrolide (z. B. Erythromycin,
Clarithromycin, Roxithromycin), Metronidazol, Penicilline in
hoher Dos., Polypeptid-Antibiotika (z. B. Polymyxin), Sulfon­
amide (fraglich), Telithromycin (Ketek®), Tetrazykline

Antihypertonika Betablocker: Atenolol, Bisoprolol, Metoprolol, Oxprenolol,


Pindolol, Propranolol, Sotalol, Timolol (auch Augentropfen).
Kalziumantagonisten: Amlodipin, Diltiazem, Nifedipin, Ni­
modipin, Nitrendipin, Verapamil

Antikonvulsiva Benzodiazepine, Ethosuximid, Gabapentin, Phenytoin

Antirheumatika D-Penicillamin, Chloroquin

Diuretika Azetazolamid, Benzothiadiazine, Schleifendiuretika

Glukokortikoide Verschlechterung bei Behandlungsbeginn mit hohen Dosen

Lokalanästhetika Vom Ester-Typ (z. B. Procain)

Medikamente gegen Amantadin, Trihexyphenidyl


extrapyramidale
Stör.

Muskelrelaxanzien Curare-Derivate: Wegen erhöhter Empfindlichkeit initial


10–50 % der normalen Dosierung. Succhinylcholin (depolari­
sierendes Muskelrelaxans) kontraindiziert.
Dantrolen

Psychopharmaka Benzodiazepine, Buspiron, Chlorpromazin, Haloperidol,


­Lithium, TCA, Zolpidem, Zopiclon

Sonstige Botulinumtoxin, Butylscopolamin, Chinin, Colchicin, Ipratro­


piumchlorid, Interferone, Magnesium, Oxybutynin,
­Tolterodin
  21.1 Myasthenia gravis  731

21.1.4 Diagnostik
Belastungstests:
• Simpson-Test: Ptose bei Blick nach oben u. Angabe von Doppelbildern in-
nerhalb 1 Min.; Cogan-Zeichen (Lidzuckungszeichen) = tonische Aufwärts-
bewegung des Oberlids beim Simpson-Test.
• Ice-on-Eyes-Test bei bestehender Ptose: Eisbeutel für 2 Min. auflegen; Besse-
rung der Ptose um ≥ 2 mm spricht für Myasthenie.
• Ermüdung in den Vorhalteversuchen: Besinger-Score.
Pharmakologische Testung:
• 60 mg Pyridostigminbromid p. o.: Besserung der Symptomatik bei Myasthe-
nie innerhalb von 30–90 Min.
• Edrophoniumchlorid-Test (Tensilon®-Test):
– Nur im Zweifelsfall durch einen mit dieser Unters. Erfahrenen bei neg.
Elektrophysiologie, neg. Btx-AChR-/MuSK-AK-Test u. neg. Pyridostig-
21
min-Test u. bei zu erwartender therap. Relevanz.
! Nicht geeignet, um zwischen Über- u. Unterdosierung von CHE-Hem-
mern zu unterscheiden.
Elektrophysiologie: 3-Hz-Serienstimulation an einem, idealerweise, betroffenen
Nerv-/Muskelpaar, Ableitung vor u. nach Arbeitsbelastung. Dekrement > 10 %
path.

Ein path. Dekrement bei der repetitiven Reizung ist nicht spezifisch für die
Myasthenie. Path. Befunde finden sich auch bei anderen neuromuskulären
Erkr., z. B. ALS o. Lambert-Eaton-myasthenes Sy.

Bildgebung:
• Thorax-CT: Goldstandard. Guter Gewebskontrast u. hohe Auflösung. I. d. R.
keine prim. KM-Gabe erforderlich.
• MRT: Ind. bei Kindern u. Schwangeren.
• Octreotid-Scan: Bei Thymomverdacht.

Eindeutige Befunde sind nur ausgedehnte Thymustumoren. Sonst Differen-


zierung zwischen Thymom, Thymusatrophie, Thymushyperplasie/Thymitis
o. Thymolipom nur eingeschränkt möglich.

Labor:
• Bei jedem Verdacht zur Diagnosesicherung: Bestimmung von Btx-AChR-,
MuSK-und Titin-AK.
– EOMG-Pat. pos. für Btx-AChR- und Titin-AK hochgradig verdächtig auf
ein Thymom.
– LOMG-Pat. überwiegend für beide AK pos., daher nicht wegweisend für
Thymom.
• Verlaufsunters.: Wenn möglich vorherige Serumprobe im gleichen Assay
mit untersuchen, da sehr unterschiedliche biologische Aktivität im Btx-
AChR-Assay. Aussagekräftig ist die relative Veränderung gegenüber dem
Vorwert. Keine Korrelation zwischen absoluter Titerhöhe u. Schwere der
Erkr.
• Für den MuSK-AK-Assay liegen keine Studien über den Titerverlauf vor.
732 21  Neuromuskuläre Überleitungsstörungen  

21.1.5 Therapie
Symptomatische Therapie
Cholinesterasehemmer (CHE-Inhibitoren)
Ind.:
• Pyridostigminbromid (unretardiert/retardiert: Mestinon®, Kalymin®): Erste
therap. Maßnahme
• Bei Bromidallergie (sehr selten): Ambenoniumchlorid (Mytelase®) als Aus-
weichpräparat.
! Pyridostigminbromid i. v.: Äquivalenzdosen beachten (▶ Tab. 21.2).

Tab. 21.2  CHE-Inhibitoren1


21 Substanz Äquivalenzdosierung Einzeldosis Wirkungszeitraum

P. o. I. v. I. m. Beginn Maximum

Pyridostigminbro-
mid

• Unretardiert 60–90 mg 2–3 mg 2 mg 15–45 Min. 3–5 h

• Retardiert 90–180 mg – – 60 Min. 6–10 h

Neostigmin – 0,5 mg 1 mg 10–30 Min. 2–3 h

Ambenoniumchlo- 7,5–10 mg – – 60 Min. 6–8 h


rid (Mytelase®)

Edrophoniumchlo- – – 10 mg 30 s 1–2 Min.


rid
1
 Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; 5. überarb. Aufl. 2012,
Georg Thieme Verlag Stuttgart.

Wirkprinzip: Hemmung der CHE am synaptischen Spalt, dadurch Erhöhung der


lokalen ACh-Konz. an der motorischen Endplatte.
Dos.:
• Dos. richtet sich nach dem klin. Effekt.
• Initialher.: 3–4 × 60 mg/d Pyridostigmin p. o.
• Falls morgens o. nachts myasthene Probleme, evtl. zusätzlich ½–1 Tbl. Pyri-
dostigmin ret. abends.
• Tagesdosis von 600 mg Pyridostigmin i. d. R. nicht überschreiten.
• MuSK-AK pos. Myasthenie: Pyridostigmin sehr niedrig (ein-)dosieren (z. B.
3 × 10 mg/d p. o.)

Pyridostigmin-„Hypersensitivität“ bei MuSK-AK-pos. Myasthenie: Cho-


linerge NW bereits bei niedrigen Dosen!

NW:
• Vermehrtes Schwitzen, vermehrte Speichelproduktion, gesteigerte Darmmo-
tilität, Muskelzuckungen u. Krämpfe, allg. Muskelschwäche.
• Erstmaßnahme: Reduktion der Pyridostigmin-Dosis, d. h. keine Einnahme
bis zur Besserung der Symptomatik. Keinesfalls Tensilon®-Test!
  21.1 Myasthenia gravis  733

Pat. über typ. Sympt. einer Überdosierung informieren, damit er diese recht-
zeitig erkennen u. nach Absprache bei klin. Besserung die Dosis reduzieren
kann.

Immunsuppression
Kortikosteroide
Ind.: Nicht ausreichendes Ansprechen auf die rein symptomatische Behandlung
mit Pyridostigminbromid.

Kortikosteroide können über direkte Beeinflussung der neuromuskulären


Überleitung initial zu einer Verschlechterung der Myasthenie führen, des-
halb einschleichend u. unter strenger klin. Kontrolle dosieren. 21
Dos.:
• Einschleichen: Z. B. Methylprednisolon/Prednisolon: Steigerung alle 2 d um
4–5 mg bis auf 60–80 mg/d.
! Magenschutz.
• Dosis bis zum eindeutigen Wirkungseintritt beibehalten.
• Anschließend Reduktion um 4–5 mg Tagesdosis im wöchentlichen Abstand
bis auf 0. Bei Verschlechterung Rückgang auf die vorherige Dosis bis zur Sta-
bilisierung.
• Myasthenierezidiv beim Ausschleichen o. initial schwere Verläufe: In jedem
Fall Komb.-Ther. mit einem anderen Immunsuppressivum. Mittel 1. Wahl:
Azathioprin.
Azathioprin (AZA)
Ind.: Generalisierte Myasthenie o. Myasthenie, die mit rein symptomatischer
Ther. nicht stabilisiert werden kann; bei rein okulärer Myasthenie optional. Imu-
rek® ist zur Behandlung der Myasthenie zugelassen.
KI: Allopurinol-Ther., Lebererkr., Stör. der Blutbildung.
Schwangerschaft: AZA darf bei entsprechender Ind. verordnet werden.
Dos.:
• Zieldosis: 2–3 mg/kg KG/d in 2–3 Tagesdosen. Zielparameter: Leukos 3.000–
4.000/μl, Lymphozyten absolut < 1.000/μl, MCV-Anstieg > 5 fl innerhalb von
3 Mon.
• Beginn mit 1 × 50 mg/d für einige Tage unter Leberwertkontrolle oder vorhe-
rige Unters. der Thiopurinmethyltransferase (TPMT; Schlüsselenzym des Ab-
baus): bei niedriger Aktivität Zieldosis reduzieren.
• Einnahme zum Essen.
• Voller Wirkungseintritt nicht vor 8–12 Wo.
Häufigste NW:
• Leberwerte ↑; Leukopenie, selten auch andere Zellreihen; GIT-Stör.
• Sehr selten Idiosynkrasie, d. h., Pat. verträgt Medikament von Anfang an
nicht: Heftige Durchfälle u. Erbrechen. Absolute KI gegen die weitere Ein-
nahme.
• Möglicher fototox. Effekt: Stärkere Sonnen- o. UV-Einstrahlung meiden!
Cave: Basaliome!
734 21  Neuromuskuläre Überleitungsstörungen  

Ausweichpräparate
Mycophenolat-Mofetil (MMF):
• Bei Versagen o. schweren NW von Azathioprin zugelassener Off-label use
(nach Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie).
• Z. T. bessere Verträglichkeit (v. a. hinsichtlich BB-Veränderungen); bessere/
schnellere Wirksamkeit nicht bewiesen.
• Dos.: 2 × 750–1.000 mg/d unter Leberwert- u. BB-Kontrollen (Lymphopenien
häufig).
Ciclosporin A, Tacrolimus, Methotrexat, Cyclophosphamid, Rituximab:
• Ausweichpräparate bei ungenügender Wirksamkeit von Azathioprin. Off-la-
bel use; sollte in spezialisierten Zentren erfolgen!
• MuSK-AK-pos. Myasthenie: Rituximab häufig sehr effektiv!
I. v.-Immunglobuline (IvIG):
21 • Ind.: Manifeste myasthene Krise; Vermeidung einer myasthenen Krise (zuge-
lassener Off-label use nach Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie); schwere
chron., anders nicht behandelbare Myasthenie (Off-label use).
• KI: Hereditärer IgA-Mangel (Gefahr allerg. Reaktionen auf in IvIg in geringer
Menge enthaltenem IgA) → einmalige Serum-IgA-Bestimmung vor erster
IvIg-Gabe.
• Dos.: 3–5 d jeweils 0,4 g/kg KG/d, langsam i. v.
Prognose und Dauer
• Unter immunsuppressiver Komb.-Ther. sind ca. 90 % der Pat. vonseiten der
Myasthenie symptomarm o. -frei.
• Nach 2- bis 3-jährigem stabilem Verlauf (trotz Reduktion/Absetzen des CHE-
Hemmers) kann bei jüngeren Pat. Reduktion/Ausschleichen der Immunsup-
pression versucht werden.
! Nicht in kritischen Lebenssituationen wie z. B. neue Arbeitsstelle, Prüfungen
etc.
• Bei Kinderwunsch/Schwangerschaft: ▶ 21.1.8.
Thymektomie

Die Thymektomie bei Thymitis ist bei der Myasthenie nicht evidenzbasiert!

Ind.:
• Absolut: Bei Thymustumor/Thymom; bei mediastinaler Raumforderung un-
klarer Dignität.
• Optional: Bei Pat. mit Btx-AChR-AK-pos. Myasthenie im Alter zwischen 15
u. 50 J. u. kurzer Krankheitsdauer (< 2 J.).
• Keine gesicherte Ind.: Pat. < 15 u. > 50 J. ohne Thymomnachweis, MuSK-AK-
pos. Pat. u. seroneg. Pat. ohne mediastinale Raumforderung.
Durchführung:
• Rolle der minimalinvasiven OP-Technik nicht endgültig geklärt. Ektopes
Thymusgewebe kann bei minimalinvasivem Vorgehen leicht übersehen wer-
den. Minimalinvasive Technik kontraindiziert bei Thymustumoren.
• Thymektomie/Thymomektomie nur in ausgewiesenen thoraxchir. Zentren
mit Erfahrung in der postop. Nachbehandlung von Myastheniepat., d. h. in
enger Zusammenarbeit mit einem in der Myastheniether. erfahrenen Neuro-
logen.
  21.1 Myasthenia gravis  735

Progn.:
• Thymektomie führt bei Pat. mit pos. AChR-AK u. lymphofollikulärer Hyper-
plasie/Thymitis in 40–60 % zur deutlichen Besserung.
• Thymomektomie hat i. d. R. keinen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der
Myasthenie.

21.1.6 Myasthene Krise
Def.: Akut o. subakut auftretende massive Verschlechterung der myasthenen
Symptomatik, insbes. von Atmung u. pharyngealen Funktionen.
• Gefahr: Aspiration, Hypoventilation.
• Klin. wichtiges Zeichen: Schnelle Ermüdbarkeit der Nackenmuskulatur (die
ansonsten lange von der Schwäche ausgespart ist).
Häufige Urs.: 21
• Abruptes Absetzen der Immunsuppression.
• Schwere infektiöse KO.
• Unkritische Gabe von Myasthenie-verschlechternden Medikamenten (▶ Tab.
21.1).
• Hypokaliämie.

• Pat. mit einer sich entwickelnden Nackenmuskelschwäche u. begleiten-


den Atem- o. Kau-/Schluckbeschwerden immer auf die Intensivstation
mit Intubations- u. Beatmungsbereitschaft!
• Eine myasthene Krise ist ein lebensbedrohlicher Zustand. Die Ther. soll-
te möglichst in mit der Behandlung vertrauten Zentren erfolgen.

Ther.:
• Sicherung der freien Atemwege! Im Zweifel wird ein Pat. mit einer sich ent-
wickelnden myasthenen Krise frühzeitig intubiert u. beatmet.
• Beseitigung der Urs. für die Verschlechterung (Ausgleich der Hypokaliämie,
Umsetzen auf myasthenieverträgliche Medikamente, Behandlung der Infekti-
on).
• Pyridostigmin, ggf. i. v. (▶ Tab. 21.2).
• Steroide. Bei bereits intubiertem Pat. Hochdosisther. i. v. (z. B. 500 mg/d Me-
thylprednisolon i. v. über 3–5 d) gefolgt von Prednisolon p. o. sinnvoll.
• IvIG: 0,4 g/kg KG/d über 5 d, oder
• Plasmapherese/Immunadsorption 4–5 × (tgl, o. alle 2 d).

21.1.7 Cholinerge Krise
Urs.: Mit längerer Dauer der Immunsuppression u. Besserung der MG steigt die
Empfindlichkeit gegenüber CHE-Hemmern.
Klinik: Meist unter i. v. Gabe; Bronchospasmus, massive Verschleimung verbun-
den mit:
• Massiver Muskelschwäche.
• Harndrang, abdominalen Krämpfen.
• Massivem Schwitzen u. Vermehrung des Speichelflusses.
• AV-Block u. Miosis.
736 21  Neuromuskuläre Überleitungsstörungen  

Ther.:
• Unter Überwachung alle CHE-Hemmer absetzen, Besserung o. Verschlechte-
rung der Muskelschwäche bzw. Besserung der NW abwarten.
• Atropin (0,25–0,5 mg) kann versucht werden.
• Tensilon®-Test zur Differenzierung Über- vs. Unterdosierung ist kontraindi-
ziert u. ein Kunstfehler!

21.1.8 Management bei Schwangerschaft


• Teratogene Wirkung von AZA nicht nachgewiesen, es darf bei entsprechen-
der Ind. verordnet werden. Eine stabil auf AZA eingestellte Pat. sollte nicht
umgestellt werden.
• Andere Immunsuppressiva: Idealerweise 6 Mon. vor geplanter Konzeption
21 absetzen. Bei ungewollt eingetretener Schwangerschaft humangenetische Be-
ratung u. Rücksprache mit www.embryotox.de.
• Während der Schwangerschaft ist die Myasthenie meistens stabil.
• Symptomatische Behandlung mit CHE-Hemmern ist unproblematisch.
• Bei Verschlechterung evtl. IvIG-Begleitther.
• Gelegentlich leichte Verschlechterung vor dem Geburtstermin. Der Geburts-
verlauf ist durch die Myasthenie nicht beeinträchtigt, da AChR des Uterus
nicht betroffen.
! Myasthenie ist weder Indikation, noch Kontraindikation für die Sectio.

• Entbindungen von Myastheniepat. stets als sog. Problemschwanger-


schaften in einem geburtshilflichen Zentrum mit entsprechender peri-
natologischer Betreuung; Risiko der neonatalen Myasthenie (s. o.).
• Überwachung des Kinds mind. für 5 d post partum, da die neonatale
Myasthenie sich erst im Laufe der ersten Tage entwickeln kann (immer
spontane Ausheilung).

21.1.9 Management bei Operationen

Eine Myasthenie ist weder ein Grund für noch gegen die Durchführung einer
medizinischen Maßnahme. Dass bestimmte OP nicht durchgeführt werden
können, ist falsch.

• Aber: Elektive OP nur durchführen, wenn Myasthenie stabil eingestellt ist.


• Keinesfalls z. B. bei zahnmedizinischen Eingriffen auf eine ansonsten ge-
wünschte Lokalanästhesie verzichten (= Stress → Verstärkung der Myasthe-
nie). Ggf. verlängerte Überwachung.
• Vor OP Azathioprin für einige Tage absetzen, da Interaktion mit manchen
Narkotika möglich.

Perioperatives Management
• Bei der Anästhesie ist Erfahrung im Umgang mit Myastheniepat. nötig, des-
halb an erfahrene größere Zentren überweisen.
• Aufklärung über evtl. Notwendigkeit einer temporären postop. Nachbeat-
mung/Überwachung.
   21.2  Lambert-Eaton-myasthenes Syndrom (LEMS)  737

• Normale Prämedikation, aber Medikamente mit möglichst geringer atemde-


pressorischer Wirkung verwenden.
• Wahl des Narkoseverfahrens prim. nach chir. Ind.
• Möglichst keine lang wirkenden Muskelrelaxanzien u. Medikamente, die
prim. die Myasthenie verschlechtern können (▶ Tab. 21.1), aber:
• Im Zweifel das optimal wirksame Antibiotikum unter Inkaufnahme einer vo-
rübergehenden Verschlechterung u. evtl. Beatmung, da suboptimal behandel-
te Infekte zu einer langfristig relevanteren Verschlechterung der Myasthenie
führen können.
• Bei längerer OP/Beatmung Umstellung der CHE-Hemmer auf i. v. Ther.
(▶ Tab. 21.2).
• Postop. Extubation erst dann, wenn Pat. sicher wach, Atemfunktion voll wie-
derhergestellt u. Hustenstoß kräftig. Im Zweifel prim. verlängerte Nachbeat-
mung. 21
• Gute postop. Analgesie, da Schmerz = Stress → Verstärkung der Myasthenie.

21.2 Lambert-Eaton-myasthenes Syndrom
(LEMS)
Definition
• Stör. der präsynaptischen ACh-Ausschüttung durch AK-vermittelte Blockade
spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle (P/Q-Typ/VGCC); paraneoplastisch o.
autoimmun. M > F. VGCC-AK pos. in ≈ 90 % d. F.
• In ≈ 60 %, v. a. in höherem Lebensalter, paraneoplastisch; ganz überwiegend
SCLC (▶ 13.7). Tumornachweis häufig erst später möglich. Seltenere andere
Tumorentitäten: NSCLC, Thymom, Lymphome.
• Risikofaktoren für paraneoplastische Genese: Alter > 50 J., Rauchen, Ge-
wichtsverlust, früh bulbäre Sympt., Ataxie.

Klinik
• (Zu Beginn) prox. betonte Paresen der Extremitäten, Beine >> Arme.
• Bulbäre/okuläre Sympt. seltener als bei Myasthenie u. erst im Verlauf.
• Selten: Zerebelläre Ataxie.
• Typ.: Autonome Stör. (z. B. Mundtrockenheit). Mögl. klin. Zeichen: Kraft-
inkrement (z. B. beim Handgeben o. im Manometertest), Reflexinkrement.

Diagnostik
• Elektrophysiologie: Kimura-Test: Supramaximale Reizung des N. ulnaris
prox. des Handgelenks, Ableitung vom Hypothenar. Erneute einmalige Rei-
zung direkt nach max. Abduktion des Dig. V für 30 s. Typ. Befund: Inkre-
ment der Amplitude > 100 %. Dieser Test erspart dem Pat. die sehr schmerz-
hafte 20–30-Hz-Serienreizung.

Bei der 3-Hz-Serienreizung kann es zu einem path. Dekrement kommen wie


bei der Myasthenie, auffällig ist dabei jedoch die niedrige Initialamplitude.

• Labor: VGCC-AK. Ggf. AGNA/SOX-1-AK als Marker für SCLC-LEMS.


• Tumorsuche: FDG-PET/CT: Bei initial neg. Befund auch wiederholt im Ver-
lauf (abhängig von Wahrscheinlichkeit für paraneoplastische Genese).
738 21  Neuromuskuläre Überleitungsstörungen  

Therapie
Symptomatisch:
• 3,4-Diaminopyridin/Amifampridin (reversibler K+-Kanal-Blocker): Beginn
mit 15 mg/d, Steigerung um 5 mg alle 4–5 d, max. 60(–100) mg/d in 3–4(–5)
Einzeldosen. KI: Epilepsie. Vorsicht bei Nieren-/Leberinsuff.
• Pyridostigmin: Nur in Einzelfällen in niedriger Dos. wirksam.
• Bei ausgeprägter Klinik: IvIg oder Plasmapherese.
Ursächlich:
• Bei paraneoplastischem LEMS: Primär Ther. des Tumors.
• Bei autoimmunem LEMS u. nach Primärther. des Tumor: Steroide u. Aza­
thioprin wie bei Myasthenie.

21 21.3 Botulismus
Definition
Botulinumtoxin hemmt die Ausschüttung von ACh. Botulismus ist Folge von
• Überdosierung von therap. Botulinumtoxin (insbes. bei Kindern tödliche
Ausgänge beschrieben).
• Verzehr von durch Botulinumtoxin-produzierenden Clostridien verdorbenen
Lebensmitteln.
• Darmfehlbesiedlung bei Säuglingen, anaerobe Infektionen bei Drogenabhän-
gigen.

Klinik
• Initial abdominale Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Obstipation/Diarrhö.
Danach paralytisches Stadium: HN (Ptose, Doppelbilder, Dysphagie), dann
absteigende schlaffe Lähmung der Extremitätenmuskulatur.
• Klin. immer mit schweren autonomen Sympt. verbunden; Anhidrose, externe
u. interne Ophthalmoplegie u. Pupillenstarre typ.

Diagnostik
• Nachweis über den sog. Mäusetest: Serum wird intraperitoneal gespritzt, wo-
bei ein Teil der Tiere durch die gleichzeitige Appl. von Antiserum geschützt
ist. Innerhalb von 24 h kommt es bei den ungeschützten Tieren zum Botulis-
mus (Wespentaillen-Atmung, Kopfheberschwäche, allg. Muskelschwäche).
• Elektrophysiologie wie bei LEMS: Inkrement im Kimura-Test oder der
20–30-Hz-Serienstimulation. 3-Hz-Serienstimulation: Dekrement möglich.

Therapie
• Bei schweren Intox. immer Langzeitbeatmung erforderlich.
• Antiserum nur dann sinnvoll, wenn noch keine stärkere klin. Symptomatik
manifest ist.

Bereits der Verdacht auf Botulismus ist meldepflichtig!


22 Traumatische Schäden des ZNS
Dirk Sander

22.1 Schädel- und Hirnverletzun- 22.3 Folgen von Schädel-Hirn-Ver-


gen 740 letzungen 756
22.1.1 Epidemiologie und Ätiolo- 22.3.1 Posttraumatische epileptische
gie 740 Anfälle 756
22.1.2 Leitsymptome 740 22.4 Wirbelsäulen- und Rücken-
22.1.3 Einteilung 740 marksverletzungen 757
22.1.4 Diagnostik 741 22.4.1 Diagnostik 757
22.1.5 Therapie 744 22.4.2 Knöcherne Verletzungen 757
22.1.6 Schädelprellung 746 22.4.3 Commotio spinalis 759
22.1.7 Schädelfraktur 746 22.4.4 Contusio spinalis 759
22.1.8 SHT I° 749 22.4.5 HWS-Distorsion  761
22.1.9 SHT II° und III° 749 22.5 Elektrotrauma und Strahlen-
22.1.10 Offene Schädel-Hirn-Verlet- schäden des Nervensys-
zung 750 tems 763
22.2 Traumatische Blutungen 751 22.5.1 Elektrotrauma 763
22.2.1 Epidurales Hämatom 22.5.2 Strahlenschäden  765
(EDH) 751
22.2.2 Akutes und subakutes subdu-
rales Hämatom (SDH) 753
22.2.3 Chronisches subdurales Häma-
tom (SDH) 754
22.2.4 Intrazerebrales Häma-
tom 755
740 22  Traumatische Schäden des ZNS 

Hirndruckther. ▶ 4.6.4, traumatische Schäden des NS ▶ 14, Plexusläsionen ▶ 17,


Bandscheibenvorfälle ▶ 18, Cauda-equina-Sy. ▶ 14.1.1, ▶ 18.8, Konussy. ▶ 14.1.1,
spinale Blutung ▶ 14.3.3.

22.1 Schädel- und Hirnverletzungen


22.1.1 Epidemiologie und Ätiologie
• I  nzidenz in Deutschland ≈400/100.000, 91 % leicht, 4 % mittel, 5 % schwer,
durchschnittliche Letalität 10–20/100.000.
• D
 as SHT gehört zu den häufigsten Todesurs. bei Pat. < 40 J.
• Ä
 tiol.: Verkehrsunfälle (50 %), Stürze, Schläge, Arbeits- u. Sportunfälle.

22.1.2 Leitsymptome
Ansprechbarkeit u. Bewusstseinsaufklarung zwischen initialem Ereignis u. erneu-
ter Verschlechterung der Symptomatik (mit zunehmendem einseitigem Kopf-
schmerz, Bewusstseinstrübung; in etwa 20 % d. F.): EDH (▶ 22.2.1).
22 • U  nspezifische. Sympt.: Kopfschmerz, Übelkeit, Erbrechen, Hörstör., Schwin-
del, evtl. Amnesie.
• V  erletzungszeichen:
– Wunden, Hämatome (z. B. galeal, subgaleal).
– Brillen-, Monokel- o. retroaurikuläres Hämatom bei Schädelbasisfraktur,
– Hämatotympanon u. einseitige Schwerhörigkeit bei Schädelbasisfraktur.
– HN-Läsionen in Abhängigkeit von Lokalisation u. Schwere der Fraktur.
– Fokale neurol. Sympt. ▶ 3, Pupillenweite, -reaktion, -motorik ▶ 3.1.4,
Hirndruckzeichen ▶  4.6.1, Krampfanfälle ▶ 11.1.
• B  ewusstseinsstör.:
– Einstufung nach GCS (▶ 27.1.2).
– Amnesie für Augenblick des Traumas (kongrad), gewisse Zeit danach
(anterograd) u. häufig für die Zeit unmittelbar vor Trauma (retrograd).
• L  iquorrhö: Bei offenem SHT durch Schädelfraktur lageabhängig aus Nase o.
Ohr (Liquorfistel).

Schwindel, Nystagmus, Übelkeit, Erbrechen sowie Hörstör. können auf


gleichzeitiger Schädigung des Innenohrs beruhen („Commotio labyrinthi“).

22.1.3 Einteilung
▶ Tab. 22.1.
Tab. 22.1  Klinische Gradeinteilung des Schädel-Hirn-Traumas
Leicht (Grad I) Mittelschwer Schwer (Grad III)
(Grad II)

Bewusstlosigkeit ≤ 15 Min. ≤ 24 h > 24 h o. < 24 h u.


Hirnstammdysfunk-
tion

Anterograde Amnesie ≤ 24 h ≤ 48 h > 1 Wo.


   22.1  Schädel- und Hirnverletzungen  741

Tab. 22.1  Klinische Gradeinteilung des Schädel-Hirn-Traumas (Forts.)


Leicht (Grad I) Mittelschwer Schwer (Grad III)
(Grad II)

Neurol. Ausfälle Fehlen Selten, oft rever- Häufig, meist nur


sibel z. T. reversibel

Vegetative Stör. Selten Oft Immer

Hirnödem – Gelegentlich Meist

Subjektive Beschwer- Rückbildung in- Oft Rückbildung, Meist Dauerbe-


den nerhalb von 3–4 d Dauerbeschwer- schwerden
den möglich

Glasgow Coma Scale 15–13 (meist 15) 12–9 8–3


(GCS)

Schwere eines SHT durch anfänglich geringe Symptomatik nicht unterschät-


zen. Daher regelmäßiger neurol. Status (initial alle 4 h)!
22
22.1.4 Diagnostik

Zur späteren (versicherungsrechtlichen) Beurteilung der Unfallfolgen sorg-


fältige Anamnese u. initiale neurol. Unters. durch den erstbehandelnden
Arzt!

Anamnese
Koagulopathien, Alkoholabusus, Antikoagulanzien (z. B. Marcumar®).
Klinische Untersuchung
Inspektion des Kopfs: Z. B. Prellungen, Hautverletzungen, Brillen- o. Monokel-
hämatom, subgaleatisches o. subperiostales Hämatom, retroaurikuläres Häma-
tom, Stufenbildung an der Kalotte, Impression, Liquoraustritt aus Nase o. Ohr,
Austritt von Hirngewebe, Schussverletzungen (Schmauchrand, Pulversaum,
Prellring bei Nahschuss, Ein- u. Ausschussöffnung).

Auf HWS-Begleitverletzungen achten!

Neurol. Unters.: z. B. Anosmie, Pupillenreaktion, Pupillenweite, Augenmuskel-


paresen, Gesichtsfeld, Visus, Fazialisfunktion, andere HN-Ausfälle, einseitiger
Hörverlust (C5-Senke), Hämatotympanon, Motorik, motorische Antwort auf
(Schmerz-)Reize, Hirnstammbeteiligung (▶ 4.2.1), fokale o. generalisierte epilep-
tische Anfälle (▶ 11.1), Meningismus.

Warnzeichen, erfordern erneute Untersuchung u. Überwachung


• Zunehmende Bewusstseinstrübung nach zwischenzeitlicher Besserung
→ EDH.
• Dauerhaftes o. wiederholtes Erbrechen → Hirndruck.
742 22  Traumatische Schäden des ZNS  

• Veränderungen von Pupillenreaktion bzw. Anisokorie → Hämatom,


Hirndruck.
• Gangstör., Sprachstör., zunehmender Kopfschmerz → Hirndruck.
• Anfälle.
Bildgebung
In der Regel CT!
CT: CCT mit „Knochenfenster“, ggf. „Trauma-Spirale“ bei V. a. weitere Verlet-
zungen. Zeitpunkt u. Dringlichkeit ▶ Tab. 22.2.

Tab. 22.2  Zeitpunkt u. Dringlichkeit der CCT-Diagnostik nach SHT


Zeitpunkt Indikation, Dringlichkeit Fragestellung

Initial, d. h. direkt SHT mit nicht sicher beurteilbarer Be- EDH, akutes SDH,
nach Sicherung wusstseinslage (auch bei fehlenden neu- Kontusionsblutun-
der Vitalfunktio- rol. Ausfällen) u. bei SHT mit nativ-rönt- gen
nen genologischem Schädelfrakturnachweis.
Bei intubierten, beatmeten, sedierten
22 Pat., deren Bewusstseinslage nicht sicher
beurteilbar ist. Ausnahme: Wenn Vital-
funktionen nicht stabilisierbar (z. B. Milz-
ruptur, Aortenbogenabriss), zuerst chir.
Intervention, dann CCT-Diagn. u. ggf.
neurochir. Intervention

Frühzeitig, d. h. Sek. Verschlechterung von Bewusstseins- Sek. extra- o.


nach Erstversor- lage u./o. Klinik. Geplante länger dauern- ­intrazerebrales
gung, die über die de Narkose. Vor Anlage einer Crutchfield- ­Hämatom
Sicherung der Vi- Extension bei zusätzlicher HWS-Verlet-
talfunktionen hin- zung: CT später wegen Metallartefakten
ausgeht schlecht beurteilbar

Kontroll-CT erfor- Initiales CT path. ohne unmittelbare OP- Vergrößerungsten-


derlich Ind., z. B. schmales extrazerebrales Häma- denz
tom („Pancake-Hämatom“)

Hypodense Marklagerläsion Einblutung

Intrakranieller Lufteinschluss Abszess

V. a. Hirnödem Einklemmungszei-


chen

Initiales CT o. B., jedoch mittelschweres o. Sek. Blutung,


schweres Hirntrauma ohne klin. Besse- Hirnödem u./o.
rung ­Einklemmung

Postop. Kontrolle nach Ausräumung eines Nachblutung


traumatischen Hämatoms

Im Verlauf Verzögert auftretende Trauma-KO Z. B. chron. SDH

• Ind.:
– SHT Grad I: CCT bei GCS < 15, Alter > 65 J., Risikogruppe (Kalotten-
u./o. Basisfraktur im Nativ-Rö., Antikoagulation, Gerinnungsstör.).
– SHT Grad II u. III: Ganzkörper-CT („Trauma-Spirale“) obligat.
   22.1  Schädel- und Hirnverletzungen  743

• Befunde:
– Luft im frontalen Subarachnoidalraum, blutiges Sekret in Siebbeinzellen
→ frontobasale Fraktur.
– Luft in mittlerer u. hinterer Schädelgrube → Felsenbeinfraktur.
– Ventrikelweitenzunahme, Dysfunktion des Ventils → ventilversorgter Hy-
drozephalus.

Bei jeder nicht eindeutig erklärbaren Befundverschlechterung EEG- u. CCT-


Kontrolle!

EEG
• Ind.: V. a. mittelschweres u. schweres SHT, psychomotorische Verlangsa-
mung, Befundverschlechterung; bei leichtem SHT möglichst initial u. ggf. vor
Entlassung; nicht als Notfalldiagn.
• Befunde: Im akuten Stadium Verlangsamung, häufig Herdbefunde.
Monitoring
• ICP (▶ 4.6): Immer bei schwerem SHT u. auffälligem CCT. Bei schwerem
SHT u. unauffälligem CCT indiziert bei mind. 2 der folgenden Kriterien: 22
– Uni- o. bilaterale Beuge- u. o. Strecksynergismen am Unfallort.
– Art. Hypotension (syst. RR < 90 mmHg).
– Alter > 40 J. (vergleichbares Risiko für ICP-Anstieg wie bei initial path. CCT).
• Vitalfunktionen, Pupillenreaktion: Engmaschig kontrollieren, insbes. im
Hinblick auf EDH. Cave: Venöses EDH (Frakturhämatom mit Blutung aus
der Diploe), das sich u. U. der initialen CCT-Diagn. entzieht.
Lumbalpunktion
Ausschluss nichttraumatischer DD wie entzündl. Veränderungen (Zellen, Eiweiß,
Albumin, IgG), Sperrliquor, Blut (z. B. spinale SAB, Angiomblutung).

Keine (notfallmäßige) Lumbalpunktion vor CCT-Diagn.

Diagnostik bei V. a. Liquorrhö


• Seite des Austritts in 95 % auch Seite der Perforation!
• Wasserklare Flüssigkeit aus einem Nasenloch o. Ohr mit Nachweis von Glu-
kose (> 30 mg %) z. B. durch Glukostix®. Cave: Blut verfälscht das Ergebnis,
da Zuckergehalt im Blut doppelt so hoch!
• Nachweis von Beta-Trace-Protein (Lipokalin: Prostaglandin-D-Synthase) o.
Beta-2-Transferrin in Nasen- o. Ohrsekret.
• Bei verschwollener Nase Unters. der Rachenhinterwand erforderlich (HNO-
Konsil!).
• Evtl. CT-Zisternografie zum exakten Nachweis des Austrittsorts.
Weitere Untersuchungen
Im Einzelfall erforderlich:
• MRT: I. d. R. kein Einsatz in der Notfalldiagn.
– Bei Hirnstammläsionen u. zur Myelondarstellung (Kontusionsherde mit
erhöhter Signalintensität) CT überlegen.
– Nachweis diffuser axonaler Verletzungen bei schwerem SHT (im CCT
nicht sichtbar).
744 22  Traumatische Schäden des ZNS  

– MRT bei SHT Grad I: CCT neg., EEG pos. o. Fokalneurologie o. Interme-
diär-Anfälle.
• MR-Angio: Dissektion? Vasospasmus?
• Ultraschall-Duplexsono: Dissektion? Vasospasmus? Extrakranielle Gefäßver-
letzung?
• Neuropsychologische Testung.
• Evozierte Potenziale: Traumatische Mitbeteiligung des Myelons? Prognoseab-
schätzung in der Initialphase (Medianus-SEP)?

22.1.5 Therapie
Äußere Versorgung
• Wundversorgung: Reinigung, gründliche Rasur der behaarten Kopfhaut,
Wundrandexzision, zweischichtige Naht von Galea u. Haut (bei Kopfschwar-
tenverletzungen innerhalb von 6 h), ggf. Tetanusprophylaxe.
• Hämatomentlastung: Punktion größerer subgalealer Hämatome mit anschlie-
ßendem Kompressionsverband.
• Lokale Kühlung.
22
Erstversorgung bei Schädel-Hirn-Trauma
Hirndruck-Prophylaxe (▶ 4.6.4).
Atemwege freihalten, Atmung sicherstellen:
• O2: Bei leichter Bewusstseinstrübung mit gezielten Abwehrbewegungen u.
ungestörter Atmung 4–6 l/Min. über Nasensonde, dabei stabile Seitenlage.
• Intubation:
– Bei anhaltender Bewusstlosigkeit o. GCS < 8; pO2 < 65 mmHg, pCO2
> 55 mmHg, Tachypnoe > 35/Min., Vitalkapazität < 15 ml/kg KG. Kopfre-
klination nur, wenn eine begleitende HWS-Verletzung ausgeschlossen ist
(▶ 14.2.1).
– Bei längerer Beatmung Tracheotomie.
Kreislaufstabilisierung (Vermeiden von RRsyst. < 90 mmHg):
• Volumensubstitution:
– Rasche Korrektur eines RR-Abfalls zur Verbesserung der Hirndurchblu-
tung (Autoregulation meist gestört!) z. B. durch schnelle Infusion isotoner
NaCl- o. Ringer-Lsg., bis 2.000 ml; bei großen Volumina isotone NaCl-
Lsg. u. 5 % Albumin im Verhältnis 3–4 : 1.
– Kombinierte Kristalloid-Kolloidallsg. (z. B. Hyperhaes®).
– Bei fortbestehender Hypotonie: Vasopressoren z. B. Noradrenalin (Arte-
ronol®; 0,05–0,3 μg/kg KG/Min.) o. Inotopika (z. B. Dobutamin 2–10 μg/
kg KG/Min.).
• Volumenersatz: Je nach Blutverlust mit Ery-Konzentraten o. Plasma.
Management bei Polytrauma

Schwere neurotraumatologische Verletzungen erfordern enge Kooperation


von Notarzt, Unfallchirurg, Anästhesist, Neurologe u. Neurochirurg, um sek.
Hirnschäden zu vermeiden.

• Interdisziplinäre simultane Notfalldiagn. u. -ther., bei Hirndruck- o. Hirn-


stamm-Sympt. aufschiebbare OP (z. B. Extremitätenfrakturen) vermeiden.
   22.1  Schädel- und Hirnverletzungen  745

• Aufnahme auf Intensivstation, Notfall-Labor (Hb, Hkt, Gerinnung, E'lyte,


BZ, Blutgruppe u. Kreuzprobe), art. Zugang zur blutigen RR-Messung, Kreis-
laufstabilisierung, Hirndruckmessung (▶ 4.6.3) u. -senkung (▶ 4.6.4).
• Ausgleich von Gerinnungsstör.:
– Gezielte Substitution bei bekanntem Faktorenmangel, wenn nicht verfüg-
bar „Fresh Frozen Plasma“ (FFP).
– Bei Einnahme von neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) entsprechend
aktueller Empfehlungen.
– PPSB bei marcumarisierten Pat., Faktor-VIII- o. -IX-Mangel o. Leberin-
suff. Substitutionseinheiten = % gewünschter Anstieg des Quickwerts ×
kg.
– Protaminchlorid (z. B. Protamin Roche®) 1.000 IE i. v. antagonisieren
1.000 IE Heparin i. v.; bei s. c. Gabe Protamin in IE i. v. entsprechend 50 %
der letzten s. c. Heparingabe in IE.
• Körpertemperatur auf 35,5–36,5 °C einstellen. fiebersenkende Maßnahmen,
z. B. Paracetamol max. 3 × 1.000 mg/d p. o. (z. B. ben-u-ron®) o. i. v. (z. B. Per-
falgan®).
• Wasser u. E'lytersatz, bilanzierte parenterale Ernährung.
– Kontrolle von ZVD, Urinausscheidung (Blasenkatheter), Serumosmolari-
tät, spezifisches Gewicht im Urin.
22
– Berechnung des Kalorienbedarfs: Ruhestoffwechsel RS (normal 100 %) ab-
hängig von Bewusstseinslage (GCS), Herzfrequenz (HF) u. der Anzahl der
Tage nach dem Trauma (TnT).
– Bei komatösen Pat.: % RS = 152–14 (GCS) + 0,4 (HF) + 7 (TnT).
– Bei nichtkomatösen Pat. (GCS > 8): % RS = 90–3 (GCS) + 0,9 (HF).
• Ulkusprophylaxe z. B. mit Omeprazol 40 mg/d i. v. (z. B. Antra®).

• Frühzeitig Rehabilitationsmaßnahmen.
• Frühzeitig Kontakt mit Angehörigen o. Sozialstation (Klärung der wei-
teren Versorgung) v. a. bei Gefahr schwerer o. langwieriger Folgen.

Medikamentöse Therapie

Sedierende Medikamente wegen Verschleierung der Bewusstseinslage ver-


meiden! Nie Mydriatikum geben (Beurteilung von Lichtreaktion o. einer evtl.
Anisokorie nicht möglich)!

• Analgesie: Peripher wirksame, nicht opioidhaltige Analgetika wie Paracet­


amol 3 × 500 mg/d p. o. (z. B. ben-u-ron®).
• Antibiotika: Bei V. a. offenes SHT (z. B. intrakranielles Luftbläschen im CCT,
Liquorrhö) z. B. Amoxicillin + Clavulansäure 3 × 1,2 g/d i. v. (Augmentan®) o.
Cefotaxim 3 × 2 g/d i. v. (z. B. Claforan®) zur Vermeidung von Hirnphlegmo-
ne (Frühstadium) o. Hirnabszess (Spätstadium).
• Anfallsprophylaxe: Nicht indiziert. Allenfalls für Phenytoin in der ersten
posttraumatischen Wo. gewisse Wirksamkeit nachgewiesen. Sonst generell
Antikonvulsiva nach Klinik (▶ 11.1. ▶ 5).
746 22  Traumatische Schäden des ZNS  

Stationäre Beobachtung
Schädelprellung u. SHT I°: Kurzfristige stationäre Überwachung < 24 h mit Pu-
pillen- u. Bewusstseinsmonitoring (alle 4–6  h) nur bei Risikopat.: Alter >  65  J.,
V. a. Schädelfraktur, Antikoagulanzien o. andere Gerinnungsstör., Thrombozyto-
penie, schwerwiegender o. unaufgeklärter Unfallhergang.
SHT II° u. III°: Initial 4-stdl. Bewusstsein, Pupillenreaktionen u. HN-Funktionen
überprüfen, v. a. bei temporoparietalen, okzipitalen u. Impressionsfrakturen
(EDH ▶ 22.2.1), außerdem:
• Beatmung mit Anpassung an aktuelle Erfordernisse (Hyperventilation, Lang-
zeitbeatmung, assistierte Beatmung).
• Zentralvenöse parenterale Ernährung u. baldmögliche Umstellung auf ente-
rale Ernährung über Magensonde.
• Engmaschige Laborkontrolle.
• Kontinuierliche ICP-Kontrolle über epi-, subdurale o. intraventrikuläre (bevor-
zugt) Druckaufnehmer (nicht obligat). Ziel: CPP > 50 mmHg, aber < 70 mmHg.
• Intermittierende o. kontinuierliche EEG-Diagn. (nicht obligat).
• Nachbehandlung: Bei Säuglingen u. Kleinkindern mit Frakturnachweis nach
2–3 Mon. Rö-Kontrolle zum Ausschluss einer wachsenden Fraktur (ggf. OP
mit Verschluss der Durazerreißung).
22
22.1.6 Schädelprellung
ICD-10 S00.0.
Ätiol.: Fast immer nach Sturz, Schlag o. Stoß.
Klinik: Leichteste Form des Kopftraumas ohne Bewusstseinsstör.
Ther.: Ggf. Analgetika, Schonung für 1–2 d, ggf. kurzfristige stationäre Überwa-
chung für 24 h (z. B. wenn Pat. allein lebt, Wohnung weiter entfernt), engmaschi-
ge Beobachtung bei Risikopat.
Progn.: Gut. Abklingen der Sympt. innerhalb weniger Tage. V. a. bei Alkoholi-
kern nach 2 Wo.–6 Mon. gelegentlich Entwicklung eines chron. SDH (▶ 22.2.3).

22.1.7 Schädelfraktur
ICD-10 S02.0.
Definition
Fraktur von Kalotte, Schädelbasis o. Gesichtsschädel bei stärkerer Gewalteinwir-
kung, auch ohne SHT (▶ 22.1.8).

Einteilung
Kalottenfrakturen: Einfache (lineare) Fraktur.

Fraktur der Hinterhauptsschuppe oft Hinweis auf stärkere Gewalteinwir-


kung im Bereich der hinteren Schädelgrube (Kleinhirn-, Hirnstammkontusi-
on)!

• Impressionsfraktur, Biegungs- u. Berstungsbruch:


– Neurol. Ausfälle in 12 %, abhängig vom Sitz der Fraktur, v. a. bei temporo-
parietaler Fraktur z. B. Hemiparese, HN-Ausfälle, fokale Anfälle.
– Verletzung eines venösen Sinus in 12 %, intrakranielles Hämatom in
5–7 %. Häufig Verletzungen von Haut u. Galea.
   22.1  Schädel- und Hirnverletzungen  747

– Lokale Substanzschädigung o. Irritation der Hirnrinde bei offener Impres-


sionsfraktur o. durch eingedrückte Knochenfragmente (traumatische
Frühanfälle mit erhöhtem Risiko einer Spätepilepsie möglich, Neurochir-
urgie hinzuziehen).
• Fortsetzung der Frakturlinie in Schädelbasis o. Schädelbasisbruch.
Gesichtsschädelfrakturen:
• Einteilung:
–  Le Fort I: Fraktur unterhalb des Proc. zygomaticus.
–  Le Fort II: Fraktur durch Nasenbein u. beide Orbitabögen.
–  Le Fort III: Abtrennung des Gesichtsschädels vom Hirnschädel.
• Klinik:
– Brillen- o. Monokelhämatom, retroaurikuläres Hämatom, lageabhängige
Liquorrhö aus Nase o. Ohr (Liquorfistel), Hämatotympanon, einseitige
Schwerhörigkeit, HN-Läsionen (▶ 3, ▶ 12).
–  Offene Hirnverletzung: In 10 % (▶ 22.1.10), v. a. bei Fraktur von Sieb-
beinplatte, Stirnhöhlenhinterwand, Felsenbeinquer- („pseudonasale Li-
quorfistel“) u. -längsfraktur (Trommelfellruptur u. Liquorrhö aus dem
Ohr).
–  Liquorfistel: 2–3 % nach SHT, 5–11 % nach Schädelbasisfraktur. Meist im
Bereich des Siebbeins, seltener Stirnhöhle, Felsenbeinpyramide, Mastoid- 22
zellen u. Keilbeinhöhle.

Keine Korrelation zwischen Schwere des Traumas u. Auftreten einer Fistel;


in 50 % jedoch kurzzeitige Bewusstlosigkeit! Liquorrhö meist innerhalb von
48 h (55 %), in 95 % innerhalb der ersten 3 Mon.

Therapie
Ind. für operative Ther.:
• Unmittelbar offene Verletzung.
• Gedeckte Impressionsfraktur > Kalottenbreite o. begleitende neurol. Ausfälle.
• Progredienter, raumfordernder Pneumenzephalus.
• Trümmerbrüche von Stirnhöhlenhinterwand, Orbitadach u. Siebbein; Felsen-
beinquerfraktur.
• Liquorrhö > 4 d anhaltend o. spät nach dem Trauma auftretend; nasale Li-
quorfistel. Frontobasale Deckung nicht notfallmäßig indiziert; bei OP-Ind.
hängt der OP-Zeitpunkt von anderen Faktoren (z. B. Schwellungszustand des
Hirns) ab.
• Felsenbeinfrakturen mit persistierender Otoliquorrhö (selten).
Konservative Ther.:
• Impressionsfraktur:
– Immer offenes SHT annehmen (oft Verletzung der Dura mater).
– Umgehende Antibiose z. B. mit Amoxicillin + Clavulansäure z. B.
3 × 1,2 g/d i. v. (Augmentan®) o. Cefotaxim 3 × 2 g/d i. v. (z. B. Claforan®)
bis zur OP.
• Schädelbasisfraktur:
– Freihalten der Atemwege (Aspirationsgefahr bei Liquorrhö!).
– Abwarten bei Sistieren der Liquorrhö (< 4 d) u. fehlendem größerem
Knochendefekt, Felsenbeinlängsfraktur mit otogener Fistel (häufig Spon-
tanverschluss).
– Aufklärung über das Risiko einer Spätmeningitis (5 %).
748 22  Traumatische Schäden des ZNS  

Initial keine Magensonde o. Intubation durch die Nase (Sonde gleitet frak-
turbedingt u. U. ohne Widerstand nach intrakraniell).

Verletzung der HN: ▶ Tab. 22.3.

Tab. 22.3  Therapie bei Verletzungen der HN


Ätiologie Therapie Prognose

Fila olfactoria Rhinobasisfraktur, Keine Spontanremission


(5 %) stumpfes SHT, Kontusi- bis Ende 1. J., da-
onen nach ungünstig

N. opticus Orbitafraktur, mittlere Operative Dekom- Abhängig von


Schädelbasisfraktur pression OP, variabel

N. oculomotorius Orbita-, Gesichtsschä- Glukokortikoide Gut


delfraktur, schweres
SHT

N. trochlearis Orbitafraktur Glukokortikoide Ungünstig


22
N. trigeminus Gesichtsschädel-, Orbi- OP bei Läsion des Variabel
ta-, Felsenbeinfraktur N. mandibularis,
sonst Glukokorti-
koide

N. abducens Orbitafraktur, schweres Glukokortikoide Variabel


SHT

N. facialis (2–3 %) Laterobasale Frakturen; Bei Sofortlähmung Abhängig von


Querfraktur: 50 %, OP, bei Spätläh- OP, variabel
meist Sofortlähmung, mung Glukokorti-
Längsfraktur: 20–25 %, koide; Beobach-
meist Spätlähmung tung

N. vestibulococh- Laterobasale Frakturen, Bei Mittelohr- Bei Mittelohr-


learis Hirnkontusionen schwerhörigkeit schwerhörigkeit
OP, bei Innenohr- günstig, bei In-
taubheit keine OP nenohrschwerhö-
rigkeit irreversi-
bel

Nn. glossopha- Frakturen der hinteren Keine Variabel


ryngeus u. vagus Schädelgrube

N. accessorius Halsverletzungen End-zu-End-Naht Ungünstig


o. autologes N.-­
suralis-Interponat

N. hypoglossus Fraktur des Canalis Op. Dekompressi- Ungünstig


­hypoglossus on

Komplikationen
Frühmeningitis:
• Innerhalb der 1. Wo. infolge nicht rechtzeitig o. unzureichend antibiotisch
abgedecktem SHT.
• Spätmeningitis (auch nach J. noch rezid.; v. a. Pneumokokken), Meningoen-
zephalitis u. seltener Hirnabszess.
   22.1  Schädel- und Hirnverletzungen  749

Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel (▶ 7.6.7):
• Stirnkopfschmerzen, Doppelbilder, Visusminderung, pulssynchrones Ohrge-
räusch, pulsierender Exophthalmus.
• Diagn.: Angio.
• Ther.: Embolisation.
Pneumatozele:
• Sehr selten.
• Eindringen von Luft in Intraduralraum (Kopfschmerzen, Hirndrucksympt.).

22.1.8 SHT I°
ICD-10 S06.0.
Def.: Reversible kolloidchemische Veränderung des Hirnparenchyms.
Klinik: Kurzfristige Bewusstseinsstör. (<  15  Min.) möglich, vegetative Begleit­
sympt. flüchtig (3–4 d), keine Restbeschwerden.
Ther.: Ggf. kurzzeitige stationäre Beobachtung (bei Risikopat. s. o.) u. Bettruhe für
max. 2–3  d, bei starker Übelkeit ggf. Metoclopramid (z. B. Paspertin®) bis
3 × 20 mg/d p. o.
Progn.: Gut, meist keine dauerhaften neurol. Ausfälle; gelegentlich länger anhal-
tende Kopfschmerzen o. verminderte Belastbarkeit („postkommotionelles Sy.“,
22
▶ 22.1.9).
22.1.9 SHT II° und III°
ICD-10 S06.2.
Definition
Hirnsubstanzschädigung durch gedeckte o. offene Hirnverletzungen, Beschleuni-
gungs- u./o. Verzögerungstraumen, Coup-Contre-Coup-Verletzungen, ober-
flächliche Rindenprellungen, Marklager- u. Stammganglienblutungen (▶ 22.1.1).

Klinik
Bewusstseinsstör., zerebrale Herdsympt. (Parese, epileptischer Anfall), trauma-
tisch bedingte psychische Stör. (Delir, Psychose). Verlauf häufig in 3 Stadien:
Koma (▶ 4.3).
Delir (▶ 3.16.12, ▶ 23.1):
• Fluktuierende Bewusstseinslage, Desorientiertheit, psychomotorische Unru-
he, ängstliche Erregung, Amnesie, Konfabulationen, Halluzinationen u. illusio­
näre Verkennung.
• Selten Übergang in traumatisches Korsakow-Sy.
• Ther.: Haloperidol 5–10 mg p. o., i. m. o. i. v. (z. B. Haldol®).
Korsakow-Sy. (▶ 24.8.1):
• Pat. bewusstseinsklar, wechselnd desorientiert, ausgeprägte Merkfähigkeits-
stör.
• Ther.: Zügige Mobilisierung, ggf. niedrigpotente Neuroleptika, z. B. Pipampe-
ron 3 × 40 mg/d p. o. (z. B. Dipiperon®).

Warnsymptome im Verlauf eines SHT (akute Gefährdung!)


• Weite lichtstarre Pupillen o. einseitig weite, reaktionslose Pupille → Zu-
nehmende Raumforderung (z. B. Blutung, Ödem).
• RR-Abfall, Volumenmangel, Schock → Blutung, Hämolyse.
750 22  Traumatische Schäden des ZNS  

• Zunehmend erschwerte Atmung o. insuffiziente Beatmung → Neuroge-


nes Lungenödem, Tubusverlegung.
• Zerebraler Anfall → Gestörte Hirnperfusion.
• Bradykardie → Zunehmender Hirndruck.

Komplikationen
Posttraumatisches Sy. (evtl. über Wo. bis Mon., chron. > 3–6 Mon. anhaltend):
• Klinik:
– Konzentrationsstör., Schwindel, Kopfschmerzen, Reizbarkeit u. Unge-
duld, emotionale Labilität, Angst, frühzeitige Erschöpfbarkeit, Schlafstör.,
evtl. depressive Verstimmung.
– Chron. posttraumatisches Sy: Persistierende zervikozephale Schmerzen
mit fakultativem vegetativem u./o. „neurasthenisch“-depressivem Sy.
• Diagn.: Psychometrische Testverfahren u. ausführliche psychiatrische Un-
ters., EEG (z. B. Herdsympt., Allgemeinveränderung).
• Prognostisch ungünstig:
– Ernsthafte zusätzliche unfallbedingte Verletzung.
22 – SHT in Vorgeschichte.
– Kopfschmerzanamnese.
– Neigung zu depressiver Verstimmung.
– Erhöhtes Stressniveau zum Unfallzeitpunkt.
– Geringer sozioökonomischer Status, soz. Probleme, anhängige Rechts-
streitigkeiten.
Traumatischer Spätabszess: Nach gedeckter Hirnverletzung (Schädelbasisbruch).
Dissektion der ACI o. A. vertebralis: Nach Halstraumen mit Dorsalflexion des
Kopfs. Diagn.: (Farb-)Duplexsono, Hals-MRT.
Anfallsleiden (▶ 11.1).
Posttraumatischer Hydrozephalus (▶ 26).

Spätfolgen traumatischer Substanzschäden des Gehirns sind fast immer im


CCT o. MRT nachweisbar als lokalisierte, nicht gefäßabhängige Defekte in
der Substanz der Hirnrinde.

Diagnostik
Kontusionsnachweis im CCT o. MRT.

Prognose
Bei komatös eingelieferten Pat. mit schwerem SHT Letalität bei 32 %, apallisches
Sy. (▶ 4.3.3) o. hochgradige Invalidität bei 11 % u. Restitutio ad integrum o. mä-
ßiggradige Invalidität bei 57 %. Schlecht bei alten Pat., vorbestehenden Hirnerkr.,
initialen Zeichen einer Hirnstammschädigung o. vegetativen Stör.

22.1.10 Offene Schädel-Hirn-Verletzung
ICD-10 S06.21.
Def.: Immer Verletzung der Dura mater.
Ätiol.:
• Scharfe Gegenstände (z. B. Metallteile, Holzspitzen, Schusswaffenprojektile).
  22.2 Traumatische Blutungen  751

• Stumpfe Verletzungen (z. B. Werkzeuge, Balken, Steinschlag, Hufschlag).


• Pfählungsverletzungen mit äußerlich sichtbar bleibenden Gegenstand am
häufigsten über Orbita o. Nasenhöhle.
• Schädelbasisfrakturen (▶ 22.1.7).
Klinik:
• Rhino- o. Otoliquorrhö als sicheres Zeichen.
• Keine zwingende Bewusstlosigkeit trotz eröffnetem Schädel u. ausgedehnter
Substanzschäden!

Bei Pfählungsverletzungen Gefahr der Blutung durch verletztes, zuvor kom-


primiertes Gefäß.

Diagn.:
• Inspektion (▶ 22.1.4).
• CCT: Meist intrakranielle Luft. Außerdem z. B. Ventrikelblutung, Hirn-
stammbeteiligung, Kontusionsherde, intrazerebrale Hämatome, Ausmaß u.
Lage von Knochensplittern, Schusskanal.
Ther.:
• Initiale Antibiose schon bei V. a. offenes SHT (▶ 22.1.5). 22
• Grundlegende Behandlung entsprechend Schwere der Hirnverletzung
(▶ 22.1.5).
• Chir. Vorgehen immer erforderlich. Bei Polytrauma mit nicht lebensgefährli-
chen Hirnverletzungen Duraverschluss nach Stabilisierung der Vitalfunktio-
nen.
Progn.: Letalität 30–97 %. Häufig posttraumatische Epilepsie (40–60 %).

22.2 Traumatische Blutungen
22.2.1 Epidurales Hämatom (EDH)
ICD-10 S06.4.
Def.:
• Extradurale Blutung durch Zerreißung der A. meningea media o. ihrer Äste.
73 % temporal, seltener frontal (11 %) o. okzipital.
• Vorwiegend M zwischen 20 u. 30 J.
• Inzidenz ≈1 % der SHT.
Ätiol.: Meist Querfrakturen der Temporalschuppe. Seltener Vv. meningeae, Sinus
betroffen.
Klinik:
• Prim. Bewusstseinsstör. mit sek. Verschlechterung bei schwerem Hirnödem
mit progredienten neurol. Herdzeichen, v. a. Mydriasis, Hemiparese, Deviati-
on conjuguée.
• Bei 15–20 % der Pat. „freies Intervall“ (Min. bis 12 h) mit Ansprechbarkeit u.
Bewusstseinsaufklarung zwischen initialem Ereignis u. erneuter Verschlech-
terung.
• Hemiparese in 10 % homolateral zur Blutung durch Kompression des gegen-
seitigen Hirnstamms.
• Pupillenerweiterung ipsilateral (Einklemmung! Meist hohe lokalisatorische
Bedeutung). Cave: Keine STP wegen der akuten Hirndrucksteigerung.
752 22  Traumatische Schäden des ZNS  

• Später Einklemmung des Hirnstamms mit Versagen der medullären Kreis-


lauf- u. Atemregulation.
• Bei Säuglingen u. Kleinkindern häufig initial Sympt. des Kreislaufschocks
(Blässe, Tachykardie, Hb-Abfall) noch ohne neurol. Herdsympt.

Ein sich langsam entwickelndes Hämatom aus Diploevenen wird oft überse-
hen u. zu spät therapiert.

Diagn.:

Lebensgefahr durch rasch ansteigenden Hirndruck, daher bei jedem SHT mit
progredienter Klinik (Anisokorie, Halbseitensymptomatik, Hirnstamm-
kompression) EDH ausschließen!

• CCT:
– Hyperdense Raumforderung
unter der Schädelkalotte mit
22 scharfer Abgrenzung gegen das
Hirngewebe (▶ Abb. 22.1).
– Schichtung bis hoch parietal.
– Häufig Schädelfraktur (90 %,
bei Kindern jedoch nur zu 60–
75 %; ▶ 22.1.7).
• EEG: Amplitudenminderung
(„Abflachung“) über betroffener
Hemisphäre.
DD:
• Kontusionsblutung: Oft ohne
Schädelfraktur, meist frontotem-
poral.
• Akutes SDH (▶ 22.2.2): Meist pro-
trahierte, tiefere Bewusstlosigkeit,
Abb. 22.1 Epidurales Hämatom (CCT)
seltener freies Intervall. [T716]
• Tumorblutung (▶ 13.3): Z. B.
­„apoplektisches Gliom“, anamnestisch Kopfschmerz, psychomotorische Ver-
langsamung, Wesensänderung.
Ther.:

Faustregel: Die Zeit bis zur Hämatomentleerung muss kürzer sein als die Zeit
zwischen Unfall u. Auftreten der ersten relevanten Sympt.

• Intensivther., immer möglichst unverzügliche OP (Schädeltrepanation u. Ab-


lassen des Hämatoms).
• Intraop. immer Inspektion des Subduralraums durch Duraschlitzung (cave:
Akutes SDH).
• Osmother. bei beginnender Einklemmungssymptomatik auf dem Weg zur
OP mit 20-prozentiger Mannit-Lsg. 100–150 ml in 10–15 Min. i. v.
• Ggf. Nottrepanation mit erweitertem Bohrloch (▶ 4.6.4).
• Anfallsprophylaxe (▶ 11.1).
  22.2 Traumatische Blutungen  753

Progn.:
• Bei rechtzeitiger Diagn. u. Ther. gut; 70–90 % arbeitsfähig, in 5 % Entwicklung
einer symptomatischen Epilepsie.
• Letalität zwischen 0 % (OP > 12 h nach Trauma erforderlich) u. 35 % (OP 6 h
nach Trauma erforderlich).
• Einseitige Mydriasis u. Hemiparese ohne prognostische Wertigkeit.
• Bds. weite, lichtstarre Pupillen bedeuten infauste Progn.

22.2.2 Akutes und subakutes subdurales Hämatom (SDH)


ICD-10 S06.5.
Def.: Akute (<  72  h, meist aber innerhalb der ersten 8  h) o. subakute (bis zum
14. d) Blutansammlung zwischen Dura u. Arachnoidea.
Ätiol.:
• Häufig eingerissene Brückenvenen (10 % aller SHT).
• Nach schwerem SHT mit begleitender Parenchymverletzung meist fronto-
temporal u. parietal.
• In 30–50 % zusätzliche Schädel-
fraktur.
Klinik:
22
• Wie bei EDH, jedoch meist protra-
hierter.
• Raumfordernde Wirkung nicht nur
durch Hämatom, sondern auch
durch regionale Hirnschwellung.
• Meist tiefere Bewusstlosigkeit, bei
akutem SDH seltener freies Inter-
vall, häufig Herdsympt., z. B. He-
miparese, Blickdeviation.
Diagn.:
• CCT:
– Schmale Blutablagerungen zwi-
schen Gehirn u. Schädelkalotte,
oft weniger glatt begrenzt als
EDH (▶ Abb. 22.2).
– Grenze zwischen subduraler Abb. 22.2  Akutes subdurales
Blutung u. benachbarten Rin- Hämatom im CCT [T716]
denkontusionsherden nur
schwer zu erkennen.
– Bei bds. Hämatom im isodensen Stadium keine Mittellinienverlagerung.
• MRT: Bes. geeignet zum Nachweis chron. SDH.
DD: ▶ 22.2.1.

• Bei Coup-Contre-Coup-Verletzungen EDH auf der einen u. SDH auf


der anderen Seite möglich.
• Blutmenge im CCT oft unterschätzt. Bei deutlich sichtbarem Hämatom-
rand ist das Hämatom mind. 1 cm dick! Bis 7. d hyperdens, 7.–21. d iso-
dens (!), nach dem 21. d hypodens.
• Isodense u. hypodense subdurale Flüssigkeitsansammlungen sind meist
keine akuten, sondern chron. SDH (subdurale Hygrome).
754 22  Traumatische Schäden des ZNS  

Ther.:

Beobachtung engmaschig, stündlich, wenn hyperdense Zone im CCT < 10 mm


ohne Mittellinienverlagerung. Bei Verschlechterung der Bewusstseinslage OP.

• Kraniotomie:
– Ausräumung des Hämatoms u. Blutstillung, wenn hyperdense Zone im
CCT > 10 mm u. Mittellinienverlagerung.
– Osteoplastische Kraniotomie bei frontotemporalem u. parietalem Sitz.
– Osteoklastische Kraniotomie nur bei Zugängen zur hinteren Schädelgrube.
• Antiödematöse Ther.: Bei Hinweis auf erhöhten Hirndruck ab Phase 2
(▶ 4.6.1): 15-prozentige Mannit-Lsg. 100–150 ml in 10–20 Min. i. v. (z. B. Os-
mofundin®).
• Anfallsprophylaxe: ▶ 11.1.
Progn.:
• Akutes SDH: Letalität 70 %, schwere Beeinträchtigung 10 %, weitgehende Er-
holung 20 %, abhängig von Zeitspanne zwischen Unfall u. Auftreten der
­Sympt., Grad der zerebralen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der OP u. Al-
22 ter.
• Subakutes SDH: Letalität 16–25 %.

22.2.3 Chronisches subdurales Hämatom (SDH)


ICD-10 I62.0.
Def. u. Ätiol.:
• Blutung (meist aus Brückenvenen) zwischen Dura u. Arachnoidea, klin. ma-
nifest > 20 d nach Trauma.
• 90 % parietal, doppelseitig in 9–16 %!
• Inzidenz etwa 10 % aller SHT.
• Risikofaktoren: Vorwiegend M zwischen 45 u. 60 J., Alkoholabusus, Epilep-
sie, Koagulopathien, Dialyse, Liquorshunt.
Klinik:
• Langsam zunehmende Bewusstseins- u. Antriebsstör. (Apathie, Konzentrati-
onsschwäche, Verwirrtheit: 30 %).
• Selten Koma (4 %).
• Motorische Halbseitensymptomatik (50 %).
• STP (25 %).
• Fokale, seltener generalisierte Anfälle (7 %).
• Zunehmende Kopfschmerzen, Schwindel.
Diagn.:
• Anamnese: Häufig leer (40 %) o. Bagatelltrauma vor Wo.
• CCT:
– Breitflächige, häufig sichelförmige extrazerebrale Raumforderung.
– Abhängig vom Alter des Hämatoms hypo-, iso- u. hyperdense Anteile.
– In 20 % bilaterale Hämatome; neuroradiologische Zeichen der Hirnmas-
senverlagerung fehlen, bei isodensem Hämatom nur indirekte Hinweise,
z. B. altersunübliche Ventrikelengstellung.
– Bei diagn. Unsicherheit (isodense Phase!) MRT.
• EEG: Amplitudenverminderung („Abflachung“) über Hämatom.
• Labor: Ausschluss einer Koagulopathie: Antikoagulanzien, Quick, PTT, ggf.
Gerinnungsfaktoren.
  22.2 Traumatische Blutungen  755

DD:
• Demenz (▶ 23.2): Längere Anamnese, meist keine fokal neurol. Symptomatik.
• TIA (▶ 7.2.4): Anamnese, Aphasie, Dauer der Ausfälle.
• Endogene Psychose: Vorgeschichte, meist keine neurol. Ausfälle.
• NPH (▶ 26.2): Blasenstör., kleinschrittiger Gang.
Ther.:
• Keine bei fehlender raumfordernder Wirkung („Pancake-Hämatom“, häufig
Zufallsbefund).
• Operative Hämatomentleerung mit externer Drainage über Bohrloch-Trepa-
nation (in 80–90 % möglich), anschließend Flachlagerung zur Vermeidung
eines intrakraniellen Unterdrucks (Hygrom!)
• Bei Erfolglosigkeit o. KO Kraniotomie u. offene Hämatomausräumung.
Progn.: Gut, Letalität 5 %, in 90 % trotz oft hohen Alters der Pat. vollständige Er­
holung.

22.2.4 Intrazerebrales Hämatom
ICD-10 I61.9.
Epidemiologie: Inzidenz etwa 10 % nach SHT. Überwiegend frontotemporal
(80 % orbitale Stirnhirnfläche!), nach SHT in 20 % multilokulär!
22
Ätiol.: Gedeckte Hirntraumen u. Gewalteinwirkung mit hoher kinetischer Ener-
gie u. geeigneter Beschleunigungsrichtung. Nichttraumatisches intrazerebrales
Hämatom (▶ 8).
Klinik:
• Gel. kurzes freies Intervall.
• Allgemeinsympt.: Kopfschmerzen, Erbrechen, RR-Anstieg, Atemstör., Be-
wusstseinstrübung bis zum Koma.
• Herdsympt.: Überwiegend Hemiparese mit lokalisatorischer Bedeutung.
Diagn.:
• CCT: Kontusionsblutungen demarkieren sich häufig erst ca. 6 h nach Trauma.
• CMRT: T2-gewichtete Sequenz sensitiver zum Blutungsnachweis als CT
(▶ Abb. 22.3).

Abb. 22.3  Diffuse axonale Läsion (DAI) mit Mikroblutung im CMRT [T716]
Li: Mittsagittales T1-gewichtetes MRT mit Nachweis von hyperintensen Läsionen
im Bereich Corpus callosum u. Kleinhirn als Hinweis auf das Vorliegen einer sub-
akuten Blutung (hämorrhagischer Typ der DAI).
Re: T2-gewichtetes axiales MRT des gleichen Pat. mit fokalen hypointensen Läsi-
onen im Bereich des Corpus callosum.
756 22  Traumatische Schäden des ZNS  

• Hirndruckmessung bei Hirndrucksympt. der Phase 2 (▶ 4.6.1).


• Ausschluss einer Koagulopathie: Antikoagulanzien, Quick, PTT, ggf. Gerin-
nungsfaktoren.
DD: ▶ 22.2.1.
Ther.:
• Korrektur von Gerinnungsstör., bei Bewusstseinsstör. bzw. Hirndrucksteige-
rung (▶ 4.6.4).
• Neurol. Überwachung: Sorgfältig u. engmaschig (initial 2-stündlich), Kont-
rolle ICP (▶ 4.6.4).
• Operative Hämatomentleerung: Abhängig von Klinik, Hirndruck u. CCT-Be-
fund (große, unilokuläre, gut abgegrenzte Hämatome, Mittellinienverlagerung
> 15 mm). Eher keine OP bei Beteiligung der Stammganglien, v. a. linksseitig.
• Stereotaktische Punktion: Bei tief liegenden Hämatomen > 2 cm Durchmesser
(Neurochirurgie). Die wiederholte Instillation von insgesamt 5.000 IE Uro­
kinase zur Beschleunigung von Lyse u. Resorption der Hämatome ist keine
Standardther.
Progn.:
• Letalität bei OP-bedürftigen Hämatomen 50–58 %.
22 • Ungünstig: Große Zeitspannen zwischen Unfall u. Auftreten der Sympt., star-
ke zerebrale Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der OP, hohes Alter.

22.3 Folgen von Schädel-Hirn-Verletzungen


22.3.1 Posttraumatische epileptische Anfälle
ICD-10 G40.8.
Epidemiologie: Inzidenz etwa 10 % aller mittelschweren u. schweren SHT
(▶ Tab. 22.4).

Tab. 22.4  Risikofaktoren für die Entwicklung einer posttraumatischen Epilep-


sie
Ursache Risiko Ursache Risiko

Schussverletzungen 40–60 % Schädelbasisfrakturen mit lan- 20–40 %


ger Bewusstlosigkeit

Offenes SHT 30–60 % Frühanfälle innerhalb der ers- 30 %


ten Wo.

Impressionsfraktur 30–50 % Entwicklung eines epileptoge- 30 %


nen Fokus im EEG

Intrakranielle Hämato- 20–40 % Familiäre Epilepsiebelastung 10–20 %


me

Frühestanfälle:
• Sekunden bis wenige Min. nach dem Unfall.
• Klinik: Meist Muskelstarre mit anschließenden symmetrischen Kloni. Cave:
Kein erhöhtes Risiko einer posttraumatischen Spätepilepsie.
• Ther.: Nicht erforderlich.
Frühanfälle:
• In der 1. Wo. nach dem Unfall.
   22.4  Wirbelsäulen- und Rückenmarksverletzungen  757

• Ätiol.: Kontusionsherde, intrakranielle Hämatome, E'lytstör., Zirkulations-


stör. u. entzündl. KO.
• Klinik: Fokale Anfälle (am häufigsten Jackson-Anfälle) mit sek. Generalisie-
rung (▶ 11.1.4); Status epilepticus in 5–10 %.
• Diagn.: CCT o. MRT z. A. einer anderen Epilepsieurs.
• Ther.: Nach dem ersten Anfall, sonst Gefahr der chron. Epilepsie.
Spätepilepsie:
• Nach 2.–4. Wo. u. meist innerhalb der ersten 6 Mon., bis Ende des 1. J. in
50 %, bis Ende des 2. J. in 94 %. Jährliches Risiko bis Ende des 10. J. etwa 1 %,
dann < 0,3 %. Häufigkeit 5–10 %, Risiko umso größer, je schwerer das SHT.
• Klinik: Meist einfach u. komplex fokale Anfälle, generalisierte Anfälle häufig
im weiteren Verlauf.
• Diagn.: Nach erstem Anfall CCT o. MRT zum Ausschluss einer anderen Epi-
lepsieurs. (z. B. Tumor, AVM).
• Ther.: Nach dem ersten Anfall beginnen, da sonst Gefahr der chron.
Epilepsie.

22.4 Wirbelsäulen- und 22
Rückenmarksverletzungen
Leitsympt. u. -syndrome ▶ 14.1.1, Ther. ▶ 14.2.2.

22.4.1 Diagnostik
Körperl. Unters.: Inspektion des Rückens (z. B. Prellungen, Hämatome, Hautverlet-
zungen), Druck- o. Klopfschmerz paravertebral, Haltungsinsuff. des Kopfs, tastbare
Lücken zwischen Dornfortsätzen, Zwangs- u. Fehlstellungen, Begleitverletzungen.
Neurol. Unters.: Bestimmung des letzten motorisch, sensibel u. vegetativ intakten
Segments, Wurzelaffektion, Verlaufskontrollen (gute Dokumentation; 6-stdl. in
den ersten 48 h, dann tgl.).
Laborunters.: Unter Berücksichtigung von Alter, Begleiterkr. u. -verletzungen.
! Kreuzblut für Blutgruppe u. Blutkonserven.
Apparative Diagn.:
! Bei SHT mit Bewusstlosigkeit Darstellung der gesamten HWS.
• Spinales Spiral-CT einschl. 3-D-Rekonstruktion: Kontrast-CT nur in Aus-
nahmefällen (Wurzelausriss, unklare Kompression von Duralsack o. Myelon).
• Spinales MRT:
– Z. B. Kontusionsherde mit erhöhter Signalintensität o. Weichteilschäden
bei klin. unklarem Schädigungsniveau.
– Bei neurol. Ausfällen ohne nachweisbare knöcherne o. diskoligamentäre
Verletzungen.
• Funktionstests: EMG (radikuläre Schäden, ▶ 2.5), SEP (auch fraktioniert zur
Höhenlokalisation u. im Verlauf, ▶ 2.3.5), F-Welle (▶ 2.4.3), H-Reflex.

22.4.2 Knöcherne Verletzungen
Ätiologie
Indirekte Krafteinwirkung, am häufigsten übermäßige axiale Kompressions- so-
wie Flexionskräfte. Außerdem übermäßige Überstreckungs- u. Rotationsbean-
758 22  Traumatische Schäden des ZNS  

spruchungen. 25 % der relevanten WS-Verletzungen betreffen die HWS, aller-


dings finden sich HWS-Verletzungen bei 40 % der Querschnittslähmungen.

Kriterien relevanter Verletzungen


Bildgebend darstellbare Läsion anatomischer Strukturen u./o. Nachweis einer
Instabilität u./o. dem entsprechendem WS-Abschnitt zuzuordnende neurol.
Symptomatik.

Einteilung
Generell nach AO-Klassifikation, ab C2–3 anwendbar. An oberer HWS Klassifika-
tion jedes einzelnen Bewegungssegments:
• C0-Fraktur der Okzipitalkondylen (3 Typen nach Anderson u. Montesano).
• C0/C1: Atlanto-okzipitale Dislokation: Quasi Ablösung des Schädelskeletts
von der WS, Pat. erreichen nur selten lebend die Klinik.
• C1-Fraktur des Atlas: In > 50 % mit anderen HWS-Läsionen kombiniert, vor-
derer u. hinterer Bogenanteil können isoliert betroffen sein. Komb. mit meh-
reren Fragmenten: Jefferson-Fraktur.
! Instabile Fraktur ist durch eine Ruptur des Lig. transversum charakterisiert.
22 • C1/C2: Atlanto-axiale Dislokation: Intaktheit des Lig. transversum für Beur-
teilung der Stabilität.
• C2-Fraktur von Korpus u. Dens axis: Einteilung in 3 Typen nach Anderson u.
D'Alonso.
• C2/C3: Traumatische Spondylodese des Axis: Instabilität mit begleitender Bo-
genfraktur des C2 („Hangman's Fracture“) u. Beteiligung der Bandscheibe C2/
C3 mit Einteilung in 3 Typen nach Effendi.
Einteilung der übrigen WS-Abschnitte nach AO-Schema in Typ A (Kompres-
sion), Typ B (Distraktion) u. Typ C (Rotation) jeweils mit Unterklassifikatio-
nen.

Diagnostik
▶ 22.4.1.
Therapie
Notfall- u. Erstversorgung:
• Präklinisch u. beim Bewusstlosen mit V. a. HWS-Verletzung:
– Rettung u. Lagerung unter axialem Längszug.
– Anlage einer Zervikalorthese (z. B. Stifneck).
– Transport mit Vakuummatraze unter zusätzlicher Fixierung des Kopfs.
• In der Klinik:
– Frühzeitige Reposition.
– Bei isolierter traumatischer RM-Schädigung ggf. Methylprednisolon-
Hochdosisther. nach NASCIS-Schema (▶ 14.2.2).
– Notfallmäßiger geschlossener Repositionsversuch u. Retention durch Ex-
tensionsbehandlung o. Anlage eines Halo-Fixateurs bei Fehlstellungen
u./o. knöcherner Einengung des Spinalkanals.

Bei ausreichender äußerer Ruhigstellung u. fehlender Neurologie Verlegung


in Schwerpunktkrankenhaus!
   22.4  Wirbelsäulen- und Rückenmarksverletzungen  759

Definitive Ther.:
• Nichtoperativ:
– Bei allg. o. lokalen KI gegen eine OP.
– Verletzungen, bei denen keine Verschiebung o. Fehlstellung droht.
– Stabile Verletzungen.
– Verletzungen mit neurol. Defizit, keine nachweisbaren knöchernen o. dis-
koligamentären Verletzungen u. ohne Myelonkompression („Spinal cord
injuries without radiographic abnormalities, SCIWORA-Sy.“).
• Operativ:
– Heute operative Behandlung vieler (HWS-)Verletzungen wegen frühzeiti-
ger Mobilisierbarkeit u. sichererer Ausheilung.
– Instabile Verletzungen.
– Alle Verletzungen mit Einengung des Spinalkanals u. neurol. Defizit.
– Frakturen mit Zerreißung des dorsalen Bandkomplexes (Typ B u. C,
„Tear-drop-Fraktur“).
– Gelenkfortsatzfrakturen mit Nervenwurzelkompression.
– Hyperextensionsverletzungen.

Komplikationen und Prognose


• Neurol. Verschlechterung (sofort Ausschluss von RM-Kompression durch 22
zunehmende Dislokation o. übersehene Verletzung).
! Postop. neurol. Verschlechterung bei 3 %.
• Progn. im Verlauf abhängig von Ausmaß u. Dauer der Schädigung.

22.4.3 Commotio spinalis
ICD-10 S14/24.0.
Def.: Höchstens 48 h anhaltende neurol. Reiz- o. Ausfallserscheinungen.
Klinik: Gefühlsstör. in Extr., Reflexdifferenzen ohne Lähmungen, gel. Blasenstör.
Diagn.: Klin. Verlauf nach Ausschluss einer Contusio spinalis (▶ 22.4.4.).
Ther.: Bettruhe für wenige Tage; spezielle Ther. in Abhängigkeit von der Klinik;
bei neurol. Ausfallssymptomatik immer Ödemprophylaxe.

22.4.4 Contusio spinalis
ICD-10 T09.3.
Definition
Traumatische Funktionsstör. des RM mit unmittelbarem Auftreten spinaler neu-
rol. Sympt. u. verzögerter (> 48 h), häufig unvollständiger Rückbildung. Verhält-
nis Para- zu Tetraplegie etwa 6 : 4.

Ätiologie
Kontusion, Kompression (Knochenfragmente, Diskusgewebe, epidurale Blu-
tung), Hämatomyelie, akutes Halsmarksy. (z. B. durch Flexions-Deflexions-Trau-
men, Stauchungsverletzungen, Rotationstraumen, Sturz aus großer Höhe, Sprung
in flaches Wasser).

Klinik
1. Phase: Spinaler Schock mit Erlöschen aller RM-Funktionen:
• Komplette, schlaffe Parese, Verlust der MER.
760 22  Traumatische Schäden des ZNS  

• Keine Pyramidenbahnzeichen.
• Blasenatonie („Schockblase“: Atone Überlaufblase, große Harnretention).
• Darmentleerungsstör.
• Querschnittsförmiger Ausfall aller sensiblen Qualitäten mit hyperalgischer
radikulärer Zone oberhalb (meist 1 Dermatom).
• Vasomotorenkollaps (Ausfall der Gefäß- u. Wärmeregulation).
2. Phase: Erholung der spinalen Automatismen: Nach Tagen bis etwa 8  Wo.;
Querschnittssy. (▶ 14.1.1).
• Spastische Para-/Tetraplegie mit Hyperreflexie u. Pyramidenbahnzeichen un-
terhalb der segmentalen Läsion.
• Ggf. schlaffe Paresen durch Schädigung der Vorderhornzellen (2. MN) mit
Atrophien auf betroffener Segmentebene.
• Spastische Reflexblase bei Läsionen oberhalb Th12 o. schlaffe Überlaufblase
bei Läsionen in Höhe des Blasenzentrums o. tiefer.
• Kompletter Ausfall der sensiblen Qualitäten.
Weiterer Verlauf:
• Ausfälle vom Typ der zentralen RM-Schädigung (▶ 14.1.1).
• RR-Regulationsstör. (orthostatische Hypotonie, paroxysmale RR-Krisen),
22 Atemstör. (Reduktion der VK bei plegischer Interkostalmuskulatur).
• Konus- u. Kaudasy. (▶ 14.1.1).
• Wenige Wo. nach vollständiger Querschnittsläsion Eigentätigkeit des RM
(Enthemmung spinaler Automatismen unterhalb der Läsion) mit Beuge- o.
Streckspastik der Extr. (Gefahr der Kontraktur) mit spontanen, unwillkürli-
chen Bewegungen u. automatischer Blasenentleerung.

Operationsindikationen
• Dringend bei Lähmung nach freiem Intervall, Übergang einer prim. inkom-
pletten in eine komplette Paraplegie, Fremdkörper im Spinalkanal, offene
RM-Verletzung.
• Allmähliche Verschlechterung bei zunächst stationärem inkomplettem Quer-
schnittssy.
• Instabile Frakturen auch ohne neurol. Sympt.
• HWS-Frakturen mit inkomplettem Querschnitt u. fortdauernder Kompressi-
on des RM trotz adäquater Traktion.
• Abgerutschte WS-Fragmente o. Fremdkörper im Spinalkanal nach kombi-
nierten Verletzungen.
• Traumatischer Bandscheibenprolaps.
Komplikationen, Folgezustände
• Sympathikoparalyse bei zervikalem o. thorakalem Querschnitt evtl. mit Ge-
fahr der Vasoparalyse, Hypotension, Bradykardie. Ther.: Langsames Aufrich-
ten, Aufsetzen.
• Druckulzera der Haut, Dekubitalulzera. Ther.: Nekrosenabtragung. Ggf. plas-
tische OP (Vollhaut- o. Muskel-Haut-Verschiebelappen).
• Gelenkfehlstellungen, Kontrakturen: intensive KG, ggf. OP.
• Paraossäre Verkalkungen, neurogene Weichteilverknöcherungen bei etwa
15 % der Querschnittsgelähmten.
– Diagn.: AP ↑, Knochenszinti.
– Ther.: Bewegungsverbessernde OP bei Ankylosierung nach Beruhigung
des Ossifikationsprozesses. Cave: Hohe Rezidivrate.
   22.4  Wirbelsäulen- und Rückenmarksverletzungen  761

• Harnwegsinfekte, Neigung zu Nieren- u. Blasensteinen. Regelmäßige Urin-


kontrollen.
– Prophylaxe: Trinken von 2–2,5 l Flüssigkeit. Ansäuerung des Harns, z. B.
mit Methionin 3–4 × 500–1.000 mg/d p. o. (z. B. Acimethin®).
– Bei manifesten Infekten gezielte Antibiose nach Antibiogramm.
• Schwere Skoliosen u. Kyphoskoliosen bei Para- o. Tetraplegie im Wachstums­
alter.
• Chron. Schmerzen, Osteoporose (path. Fraktur!), Spastik (▶ 14.2.2).
• Posttraumatische Myelopathie: Zusätzliche Lähmungen oberhalb der Läsi-
onshöhe nach Mon. bis J.
• Unvollständige Blasenentleerung: Blasentraining, ggf. Lernen des intermittie-
renden Selbstkatheterisierens. Angestrebte Restharnmenge < 100 ml.

Prognose
• Restitutio ad integrum umso wahrscheinlicher, je geringer der Befund in der
bildgebenden Diagn.
• Häufig unvollständige Restitution:
– Spastische o. schlaffe Paresen.
– Gefühlsstör. 22
– Blasen- u. Mastdarmstör., bei M Potenzstör.
• Bessere Rückbildung bei:
– Sensiblen Stör.
– Sympt. der langen Bahnen.
– Schäden von Nervenwurzeln.
• Schlechtere Rückbildung bei:
– Motorischen Stör.
– Nukleären Lähmungen.
– Schäden des RM-Graus.
• Bei Para- u. Tetraplegie Einschränkung der Lebenserwartung um etwa 5 J.

22.4.5 HWS-Distorsion
ICD-10 S13.6.
Definition
Scherverletzung der mittleren HWS (meist HWK 3/4 o. HWK 4/5) durch plötzli-
che Beschleunigung des unfixierten Kopfs gegen fixierten Rumpf zunächst nach
hinten u. anschließend nach vorn.

Klinik
• Nackenschmerzen (91 %), Nackensteife (89 %), Kopfschmerzen (68 %), Schul-
ter- u. Armschmerzen (35–46 %), Schwindel (30–50 %).
• Progrediente reflektorische Kopfzwangshaltung u. Hartspann der Nacken-
muskulatur. Schwerste Form: Zerreißung einer Bandscheibe (stärkste Na-
ckenschmerzen, Kopf kann nicht frei gehalten werden).
• Brennende Schmerzen v. a. an der Ulnarseite von Armen u. Händen, häufig
auch Hyperpathie bei Quetschung der Vorder- u. Hinterwurzeln sowie Hinter-
hornverletzungen; bei handschuhförmiger Verteilung V. a. Hinterhornläsion.
• Gefahr eines akuten Halsmarksy. bzw. Exazerbation einer vorbestehenden
zervikalen Myelopathie (▶ 18.5) bei degenerativen HWS-Veränderungen.
762 22  Traumatische Schäden des ZNS  

Diagnostik

Fixierung der HWS bis zur radiologischen Diagn. (wegen möglicher Fraktur).

Anamnese: Möglichst exakt, Fremdanamnese, möglichst am Verletzungstag.


Neurol. Unters.: Wiederholt; mit Beachtung von Wurzel- o. RM-Sympt.
(▶ 22.4.1); initialer Befund wichtig für spätere Begutachtung, daher möglichst ge-
naue Dokumentation! Einstufung ▶ Tab. 22.5.

Tab. 22.5  Einteilung der HWS-Distorsion nach Schweregraden (Quebec Task


Force, nach Spitzer 1995)
Schwere- 0 (kein I (leicht) II (mittel) III (schwer) IV (tödlich)
grad Trauma)

Klinik Keine Be- Nur HWS-Be- Wie I u. Wie II u. neu- Wie III u.
schwerden schwerden muskuloske- rol. Befunde HWS-Frak-
objekti- (Schmerzen, lettale Be- (Reflexe ver- tur o. Dis-
vierbar Steifigkeit, funde (Be- mindert, Bra- lokation
Überempfind- wegungs- chialgien, Pa- mit hoher
22 lichkeit), keine einschrän- resen, Sensi- Quer-
Ausfälle ob- kung, DS) bilitätsstör.) schnittslä-
jektivierbar sion

Freies Entfällt Häufig, meist Selten, Fehlt meist Nicht vor-


Intervall > 1 h, max. meist < 1 h, handen
48 h, typ. 12– bis 8 h mög-
16 h lich

Beschwer- Entfällt Meist Tage bis Wo. bis Oft Mon., sel- Meist Tod
dauer Wo., < 1 Mon. Mon. ten > 1 J. am Unfall-
ort

Bettlägrig- Entfällt Meist nicht Häufig Sehr häufig Dauerhaft


keit möglich

Neurosta- Normal Keine Ausfäl- Keine Aus- Sensible u./o. Tetrasym-


tus bzw. un- le, evtl. Bewe- fälle, motorische ptomatik,
verändert gungsein- schmerzhaf- Ausfälle Schädi-
schränkung te Bewe- gung vita-
der HWS gungsein- ler Zentren
schränkung möglich
der HWS

Rö Unverän- Unverändert, Evtl. Steil- Fraktur, Fehl- Frakturen


dert evtl. neue stellung, ky- stellung, Auf- mit Dislo-
Steilstellung photischer klappbarkeit kation
Knick, leich- bei Funkti-
te Instabili- onsaufneh-
tät men

Kollisions- 0–8 km/h 8–30 km/h 30–80 km/h > 50, > 80 km/h


geschwin- < 100 km/h
digkeit

Bildgebung:
• Rö: HWS in 2 Ebenen, Dens-Ziel-, Schräg- u. ggf. Funktionsaufnahmen.
• CT: Zur Beurteilung knöcherner Verletzungen (z. B. Gelenk- u./o. Bogenfrak-
turen mit „Knochenfenstern“) u. Rekonstruktionsaufnahmen sinnvoll.
   22.5  Elektrotrauma und Strahlenschäden des Nervensystems  763

• Spinales CT o. MRT bei Wurzelreizsy. mit sensiblen Stör. u./o. Paresen (z. B.
Bandscheibenverletzungen).
– Bei Hyperextensions- u. Flexionstraumen auch Darstellung des zerviko-
thorakalen Übergangs (axiale Wirbeldarstellung).
– Keine Notfalldiagn.
– Zervikale Bandscheibenvorfälle u. Myelonkompressionen lassen sich im
MRT am besten beurteilen.
• Duplexsono: Dissektion, „Thoracic-outlet“-Sy.
• Ggf. Hals-MRT.
EMG: Einschließlich F-Welle, fraktionierte SEP, MEP bei radikulärer Symptoma-
tik.

Konservative Therapie

Frühzeitige aktivierende konservative Ther., da langfristige Immobilisation


prognostisch ungünstig! Rechtsstreitigkeiten sollten so früh wie möglich bei-
gelegt u. eine schnellst mögliche Rückkehr in den Beruf angestrebt werden.

• Medikamentös: Ausreichende aber befristete (nicht länger als 4 Wo.) Analge- 22


sie. z. B. Diclofenac 3 × 50–100 mg/d p. o. (z. B. Voltaren®), unter Magen-
schutz, Paracetamol bis 3 × 1.000 mg/d p. o. (z. B. ben-u-ron®). Ggf. zusätzlich
befristet (max. 2 Wo.) Muskelrelaxanzien.
• Physiother. (Wärmeeinwirkung, Fango).
• Frühzeitige Mobilisierung.
• Physikalische Maßnahmen: Physiother., ggf. Wärme, Massagen, Elektrother.
• Bei schwerwiegenden Verletzungen: Neurochir. Konsil.
Operative Therapie
Ind.: Schwere radikuläre Symptomatik u. Bandscheibenprotrusion, notfallmäßig
bei akuter, auch inkompletter Querschnittssymptomatik, zervikaler Myelopathie
o. akuten radikulären motorischen Defiziten im Zusammenhang mit korrelieren-
den CT/Rö-Befunden.

22.5 Elektrotrauma und Strahlenschäden des


Nervensystems
22.5.1 Elektrotrauma
ICD-10 T75.4.
Definition
Durch Stromeinwirkung verursachte Verletzungen.

Ätiologie
• Hochspannung (> 1.000 V) überwiegend Verbrennungen, bei der häufigeren
Niederspannung (< 1.000 V) überwiegt die Reizwirkung z. B. an Herz, Nerven.
• Häufig Auftreten von Strommarken (umschriebene Verbrennung an Ein- u.
Austrittsstelle des Stroms).
764 22  Traumatische Schäden des ZNS  

Klinik
Niedrigspannungsschaden:
• Parästhesien, Kontraktion der Handmuskulatur. Verkrampfung von Brust-,
Bauch- u. Atemmuskulatur (Hypertonus, Atemstör., Atemstillstand), Reizbil-
dungs- u. Reizleitungsstör. (Vorhofflattern, -flimmern), Herz- u. Kreislauf-
versagen.
• Bei Gleichstromschaden Schwäche, gel. Bewusstlosigkeit, Verbrennungen,
Rhythmusstör., aber nur selten Kammerflimmern.
Hochspannungsschaden:
• Stromüberschlag (Lichtbogen) mit hohen Temperaturen (20.000 °C) auch
ohne Berührung. Faustregel: Sicherheitsabstand von 1 cm/1.000 V.
• Leichtere Schädigung: Kopfschmerzen, Tinnitus, Hörverlust, Gleichgewichts-
stör. Bei Intimaschädigung mit art. Thrombose Gefahr des Hirninfarkts.
• Bewusstseinstrübung o. Bewusstlosigkeit, evtl. Anfälle durch Hirnödem
(▶ 4.6): Initial häufig, vorübergehende vorwiegend sensible Querschnittssym-
ptomatik (▶ 14.1.1).
• Schwere Verbrennungen meist äußerlich u. innerlich (Muskulatur) möglich.
• Bräunlich bis schwarze Verfärbung des Urins nach Muskelzerfall u.
­Hämolyse.
22 • Atemstillstand, Herzrhythmusstör., seltener Kammerflimmern.
Blitzschlag:
• Bewusstlosigkeit u. Amnesie meist für nur wenige Min.
• Häufig Lähmungen der HN, Parästhesien, Sensibilitätsstör., Reizleitungs- u.
Reizbildungsstör.
• Verbrennungen I°–III°, Versengung der Haare, Katarakt, Hörstör. (Mittel-
ohrschädigung mit Trommelfellruptur, Innenohrläsion).
• Blitzfiguren (typ.): Oberflächliche, astartig verzweigte, teils rot-braun gefärbte
Hautzeichnungen (Vasoparalyse).

Bei großflächiger Berührung, festem Kontakt u. geringem Übergangswider-


stand keine Strommarken nachweisbar! (35 % der tödlichen Niedrigstrom­
unfälle).

Diagnostik

Der Tod darf nur anhand sicherer Todeszeichen (Totenflecke, Leichenstarre)


diagnostiziert werden!

• Strommarken häufig an Ein- u. Austrittsstellen, z. T. Metallabsprengungen.


• EKG: Z. B. Rhythmusstör., Überleitungsstör.
• CCT: Z. B. Hirnödem.
• Urin: Muskelzerfall u. intravasale Hämolyse führen für 1–5 d zu einer bräun-
lich bis schwarzen Verfärbung des Urins.
! 
Cave: Aufhellung innerhalb von 1–2 h u. vermehrte Urinmenge Hinweis auf
Crush-Sy.
• Labor: Harnstoff, Krea, BGA, K+. Starker Anstieg der Serum-CK (Zerfall von
Muskelgewebe).
   22.5  Elektrotrauma und Strahlenschäden des Nervensystems  765

Therapie
• Befreiung von den Strom führenden Teilen (an eigene Sicherheit denken!
Z. B. Isolation mit nicht leitendem Material, Stromzufuhr abschalten).
• Bettruhe u. Beobachtung bei Benommenheit, Schwäche u. Schmerzen in der
Herzgegend (wiederholt EKG-Kontrollen!).
• Reanimation (▶ 4.1) bei Atem- u. Kreislaufstillstand.
Brandwunden:
• Schutz vor Verschmutzung, bei Schmerzen z. B. Pethidin 25–100 mg langsam
i. v. (Dolantin®), max. 500 mg/d; bei Unruhe z. B. Morphium 2,5–5 mg i. v.,
max. 100 mg/d.
• Mehrere großvolumige Zugänge, Flüssigkeitssubstitution (E'lyte, Plasmaex-
pander).
• Rascher Transport in spezialisiertes Zentrum (Hubschrauber!).
• Frühzeitig Antibiotika u. Tetanusprophylaxe.
Prognose
Irreversible Vorderhornnekrosen (Stromfluss von einer Hand zur anderen) mit
nach wochenlanger Latenz einsetzenden Muskelatrophien. Letalität bei Blitz-
schlag 30 %.
22
22.5.2 Strahlenschäden
ICD-10 T66.
Definition
• Entmarkungen mit Kolliquationsnekrosen u. Zystenbildung, größeren Öde-
men, Hämorrhagien sowie ischämischen Nekrosen.
• Lokalisation: Markscheiden, Oligodendrogliazellen u. Gefäßsystem der Groß-
hirnhemisphären, Hirnstamm, RM u. periphere Nerven (Cauda equina u.
HN).
• Latenz zerebraler Spätschäden Wo. bis J., Hirnstammschäden treten meist
früher auf, RM-Schäden durchschnittlich 6–16 Mon. nach Bestrahlung.

Kritische Strahlenmenge abhängig von Zeit-Dosis-Relation der Bestrahlung


(Gesamtdosis, Gesamtbestrahlungszeitraum, Anzahl der Fraktionen, Einzel-
dosis). Anhaltswerte: Hemisphären 40–60 Gy; Hirnstamm: 35–45 Gy; RM:
30–40 Gy Gesamtdosis, max. 2 Gy Einzeldosis, bei Kindern geringere Tole-
ranzwerte (15–20 % weniger).

Therapie
Operativ: Entfernung von raumfordernden Strahlennekrosen im Bereich der
Großhirnhemisphären.
Medikamentös:
• Prednison initial 100 mg/d p. o. für 3 d (z. B. Decortin®), dann langsames
Ausschleichen mit meist nur vorübergehender Besserung bei Strahlenmyelo-
pathie.
• Symptomatische Ther., z. B. Carbamazepin, Amitriptylin bei Plexus- u. peri-
pherer Nervenaffektion mit neuralgiformer Symptomatik (▶ 17).
• Behandlung bzw. Prophylaxe von zerebralen Anfällen (▶ 11.1.5). Behandlung
der Querschnittssymptomatik (▶ 14.2.2).
766 22  Traumatische Schäden des ZNS  

Frühreaktionen
• Initial Zunahme des Hirnödems (▶ 4.6), z. B. bei Tumorbestrahlung mit Ver-
schlechterung der bereits vorbestehenden Symptomatik.
• Vermehrte Müdigkeit, Schläfrigkeit, Verlangsamung durch Leukoenzephalo-
pathie; insbes. bei Kindern!

Spätschäden Großhirnhemisphäre
• Klinik: Fokale Anfälle, Hemisymptomatik, progrediente Hirndrucksympt.
durch raumfordernde Strahlennekrose.
• Diagn.: CCT, MRT ggf. PET, Angio (Fehlen path. Vaskularisation).
• DD: Tumorrezidiv.
• Progn.: Nach OP meist gut, mittlere Latenzzeit 3 J.
Spätschäden Mittellinie (Chiasma opticum, Hypothalamus)
• Klinik: Bitemporale Hemianopsie, Erblindung, endokrine E'lyt- u. Stoffwech-
selentgleisungen, Korsakow- u. andere Psychosy.
• Progn.: Schlecht, mittlere Latenzzeit 10–12 Mon.
22 Spätschäden Hirnstamm
• Klinik: HN-Paresen, gekreuzte Hemisymptomatik, kardiovask. u. respiratori-
sche Krisen, Ataxie, Dysarthrie.
• Diagn.: MRT.
• Progn.: Schlechter als bei supratentorieller Strahlennekrose, mittlere Latenz-
zeit 12 Mon., meist nur kurze Überlebenszeit bei progredienter Nekrose (Wo.
bis Mon.).

Spätschäden Rückenmark
• Klinik: Partielles zervikales o. thorakales Querschnittssy. (▶ 14.1.1), auch
vom Typ Brown-Séquard (▶ 14.1.1). Sympt. können sich schubförmig entwi-
ckeln, bleiben aber immer auf eine Region des RM beschränkt.
• Diagn.: Liquor (Eiweißerhöhung, Stoppliquor), MRT, Myelografie.
• DD: Extra- u. intramedulläre Metastasen, Rezidive, selten nekrotisierende pa-
raneoplastische Myelopathie.

Konus-Kauda-Sympt. (▶ 14.1.1) nach Bestrahlung paraaortaler LK, seltener


Plexusläsionen o. Schäden peripherer Nerven (▶ 17).
23 Delir und Demenz
Sabine Scheidhauer und Jürgen Klingelhöfer

23.1 Delir 768 23.5 Frontotemporale Demenz


23.2 Demenz 772 (FTD) 780
23.3 Alzheimer-Demenz (AD) 777 23.6 Vaskuläre Demenz 782
23.4 Lewy-Körperchen-Demenz 23.7 Andere häufige Ursachen
(Dementia with Lewy bodies, ­einer Demenz 785
DLB) 779
768 23  Delir und Demenz  

23.1 Delir
Definition
• Akut o. subakut auftretende psychische Stör. auf dem Boden einer organi-
schen Urs. einhergehend mit qualitativen o. quantitativen Bewusstseinsstör.,
kognitiven Beeinträchtigungen, psychomotorischen Stör., vegetativen Sympt.
u. einem gestörten Schlaf-wach-Rhythmus.
• Prädisponierend sind höheres Alter (> 60 J.), vorbestehende strukturelle
ZNS-Schädigung o. chron. Erkr., Alkohol-, Medikamenten- o. Drogenabusus,
kombinierte Einnahme verschiedener Medikamente, Schlafmangel, soziale
Isolation u. ungewohnte Umgebung.

Ätiologie
Durch Alkohol u. psychotrope Substanzen bedingtes Delir (ICD-10 F1x.4):
• Durch verminderte Alkoholzufuhr bei Alkoholabhängigkeit im Rahmen fie-
berhafter Infekte, Dehydratation, postop., Hypoglykämie, Pankreatitis, Leber-
funktionsstör., GIT-Blutungen, nach Trauma sowie v. a. bei Mangelernäh-
rung, z. B. Thiaminmangel; auch nach Alkoholexzessen.
• Entzug psychotroper Substanzen (ICD-10 F10.4–F19.4 in Abhängigkeit von
der Substanz): Barbiturate, Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika. Bei Benzodiaze-
pinabusus mit längerer HWZ Manifestation des Delirs bis zu 2 Wo. nach Ab-
setzen möglich, deshalb langsame Reduktion anstreben.
• Intox. (▶ 3.17) mit Amphetaminen, Kokain, Halluzinogenen, Inhalanzien
(Kodierung: ICD-10 F11–19 je nach Substanz).
23 • Medikamente:
– Anticholinergika.
– Antihistaminika (v. a. bei Überdosierung, bei älteren Pat. auch normale
Dosis).
– Trizyklische Antidepressiva v. a. bei organischen Vorschäden, älteren Pat.
u. Kindern auch in Normaldosis.
– L-Dopa u. Dopaminagonisten (▶ 15.2.3).
– Neuroleptika.
– Diuretika u. Laxanzien (durch Exsikkose, E'lyt-Entgleisung).
– Digitalis (bei Überdosierung); Cimetidin (bei älteren u. schwerkranken
Pat. auch in Normaldosis).
– Glukokortikoide (bei dauerhaft hoher, systemischer Anwendung).
– Antiepileptika (▶ 11.1.5).
Nicht durch Alkohol o. andere psychotrope Substanzen bedingtes Delir (ICD-
10 F05.0–05.9):
• Metab. Stör.: Hyper-/Hypoglykämie, Urämie, hepatische Enzephalopathie,
E'lyt-Stör.
• Stör. des Endokriniums, Hypovitaminosen (Vit. B12, Thiamin, Folsäure), Por-
phyrie, Stör. im Säure-Basen-Haushalt.
• Hochfieberhafte Infekte.
• Kardiovask. Erkr., z. B. Herzinsuff.
• Andere: Schockzustände. SHT. Nach OP („Durchgangssy.“). Postiktal. Exsik-
kose. Mangelernährung. Hirntumor. Intrakranielle Blutung, Hirninfarkt.
Schwermetallintox. (▶ 3.17). Hypertensive Enzephalopathie. Hypoxisch (An-
ämie, CO-Vergiftung). Malignes neuroleptisches Sy. (▶ 4.9.5), maligne Hy-
perthermie (▶ 4.9.7, ▶ 20.9.3).
  23.1 Delir  769

Klinik
• Akuter Beginn, fluktuierender Verlauf mit nächtlicher Akzentuierung der
Sympt.
• Frühsympt.: Ängstlichkeit, psychomotorische Unruhe, erhöhte Reizbarkeit.
• Psychopath. Sympt.: Bewusstseinsstör. (leichte Bewusstseinsminderung bis
zum Koma). Orientierungsstör., Aufmerksamkeits- u. Gedächtnisstör., Ab-
lenkbarkeit. Suggestibilität ↑, Wahnideen, optische u. taktile Halluzinationen;
illusionäre Verkennung, depressive Stimmung, Angst, Reizbarkeit, psycho-
motorische Unruhe, Apathie, Stör. Schlaf-wach-Rhythmus.
• Vegetative Stör.: Tachykardie, Schwitzen, Fieber, Hypertonie, Erbrechen, Di-
arrhö, grobschlägiger Tremor (6–8/s).

Alkoholentzugsdelir
Vegetative Begleitsympt. oft im Vordergrund. 8–12 h nach Absetzen des Al-
kohols Prädelir, Abklingen innerhalb von 5–7 d o. Übergang in Delir. Dauer
unbehandelt 4–10 d. Cave: In bis zu 40 % d. F. Grand-Mal-Anfall als Initial-
symptom. Herzversagen ist die häufigste Todesurs.

Schweregrade:
• Prädelir: Flüchtige Halluzinationen o. leichte vegetative Sympt. (Schreckhaf-
tigkeit, Schlafstör., Tremor), evtl. Grand-Mal-Anfall.
• Delir: Volle Ausprägung mit Bewusstseinsstör., affektiven u. Orientierungs-
stör., Übererregbarkeit, halluzinatorische Psychose, vegetativer Entgleisung.
• Lebensbedrohliches Delir: 7 %, Bewusstseinsstör. u. kardiopulmonale KO. 23
Komplikationen
Grand-Mal-Anfall, Hypoglykämie, E'lyt-, RR-Entgleisung, Korsakow-Sy.

Diagnostik
• Anamnese: Fremdanamnese, Anfälle, Medikamente, Suchtanamnese.
• Körperl. Unters.: Internistisch, neurol. (Zungenbiss, Einnässen, Tremor, Hy-
perreflexie?).
• Labor: Krea, E'lyte, BZ, BB (Leukozytose), Hb, Leberenzyme (γ-GT ↑ bei Al-
koholfettleber; GOT ↑↑, GPT ↑ bei Fettleberhepatitis), Gerinnung (Quick ↓
bei Leberschäden), CK, Amylase, Lipase, NH3, Alkohol-/Medikamentenspie-
gel, Drogenscreening i. S. u. i. U.
• EKG: Tachy- o. bradykarde Rhythmusstör., Blockbilder.
• Rö-Thorax: Pneumonie, Rippenserienfraktur (durch Sturz), Pneumothorax
(Hypoxie).
• CCT: ICB, Hirnödem, Hirntumor, Ischämie?
• Lumbalpunktion bei V. a. Meningitis.
• EEG: Nach Anfall: Nonkonvulsiver Status, diffuse Verlangsamung, Grund-
rhythmus.

Beim Alkoholentzugsdelir regelmäßige Kontrollen der CK zur frühzeitigen


Diagnose einer prognostisch ungünstigen Rhabdomyolyse.
770 23  Delir und Demenz  

Differenzialdiagnose
Demenz (▶ 23.2), postiktaler Dämmerzustand, nonkonvulsiver Status epilepticus
(▶ 11.1.7), septische Enzephalopathie (▶ 24.9.1, ▶ 4.12), dissoziative Zustände.

Allgemeine Therapie
• Stationäre Aufnahme, Monitoring, ggf. Wach- o. Intensivstation u. Fünf-
Punkt-Fixierung mit Sitzwache.
• Absetzen von Delir auslösenden Medikamenten.
• Sicherung Vitalfunktionen: Ausreichende Kalorienzufuhr, Flüssigkeits- u.
E'lyt-Substitution 2.500–4.500 ml/d. Oft Hypokaliämie, Einstellung auf K+
> 4,5 mmol/l. Langsame Korrektur einer Hyponatriämie (sonst Gefahr ponti-
ne Myelinolyse).
• Grunderkr. behandeln.
Medikamentöse Therapie

Prinzip: Pharmaka nach Sympt. dosieren; motorische Unruhe sollte unter-


drückt, Pat. aber erweckbar sein.

Neuroleptika: Hochpotent, z. B. Haloperidol (z. B. Haldol®).


• Wirkprinzip: Antipsychotisch, leicht sedierend, d. h. v. a. bei Wahn, Halluzi-
nationen, psychomotorischen Erregungszuständen.
• Nachteil: Krampfschwelle ↓.
23 • Dos.: Im Akutfall 2,5–10 mg ggf. als Kurzinfusion o. i. v.; falls notwendig
3–4 × 0,5–1 mg/d p. o. Oft in Komb. mit kurz wirksamen Benzodiazepinen
(nicht bei Alkoholintox.): Diazepam: 5–10 mg p. o. (bis 20–40 mg/d), bei
Krampfanfall 10 mg p. o. o. i. v. (z. B. Valium®), alternativ Lorazepam 1 mg
p. o. o. i. v. (Tavor®).
Therapie bei Delir durch Alkoholentzug, Drogen, Hypnotika
ICD-10 F10.4–F19.4 in Abhängigkeit von der Substanz.
▶ Tab. 23.1.
Tab. 23.1  Therapiemaßnahmen in Abhängigkeit vom Schweregrad des Delirs
Prädelir/Entzugssyndrom Delir Lebensbedrohliches Delir

Klin. Überwachung Monitoring/Intensivstation

Clomethiazol alle 2 h Clomethiazol alle 2 h 2 Kps. Diazepam 120–240 mg/d


2 Kps. oder oder i. v. plus Haloperidol
3–6 × 5 mg/d i. v. oder

Diazepam 4–6 × 10 mg/d Clomethiazol (s. o.) plus Diazepam 120–240 mg/d


oder Haloperidol i. v. plus Droperidol
3–6 × 5–10 mg/d p. o. oder 200 mg/d i. v. oder
i. v. oder

Carbamazepin Diazepam 4–6 × 10 g/d plus Midazolam bis 20 mg/h


4 × 200 mg/d Haloperidol plus Droperidol 200 mg/d
3–6 × 5–10 mg/d p. o. oder i. v.
i. v.

Reduktion je nach Klinik

Immer: Substitution mit Vit. B1


  23.1 Delir  771

Clomethiazol (Distraneurin®):
• KI: Pneumonie, obstruktive Lungenerkr., Thoraxverletzung, respiratorische
Insuff., kardiopulmonale Vorerkr.
• Wirkprinzip: Sedierung, vegetativ stabilisierend, anxiolytisch, hypnotisch, an-
tikonvulsiv.
• Dos.: Initial 2–4 Kps. à 192 mg p. o. Wenn nach 30–60 Min. keine Symptom-
freiheit, bis zu 6 weitere Kps. in ersten 2 h möglich. Erhaltungsdosis 2 Kps. al-
le 1–2 h, max. 24 Kps. in 24 h. Ab 2. d Dosisreduktion.
• NW: Atemdepression, RR ↓, bronchiale Hypersekretion (ggf. Komb. mit At-
ropinsulfat 3 × 0,5 mg/d s. c.), Hypersalivation, Erbrechen, Hyperhidrosis.
• Nicht länger als 8–14 d geben, da hohes Suchtpotenzial!
Benzodiazepine:
• KI: Alkoholintox.
• Wirkprinzip: Sedierend, vegetativ stabilisierend, hypnotisch, anxiolytisch, an-
tikovulsiv.
• Dos.: Diazepam (z. B. Valium®) 5–10 mg mehrmals tgl. p. o. o. i. v. bis Sym­
ptomfreiheit. Alternativ Chlordiazepoxid (z. B. Librium®) 25 mg mehrmals
tgl. p. o. bis Symptomfreiheit, dann 50 mg alle 6 h, ab 2. d Dosisreduktion. Ca-
ve: Intensive Überwachung! Ausschleichen über 5–7 d, Suchtpotenzial.
• NW: Atemdepression (bes. ältere Pat.). Cave: Paradoxe Wirkung möglich.
• Nachteil: Unwirksam bei gleichzeitigem Benzodiazepinabusus.
Haloperidol: Bei starker psychotischer Sympt. evtl. zusätzlich, bei schweren Fäl-
len bis 10–15 mg/d i. v. (z. B. Haldol®). EKG-Monitoring bei i. v.-Gabe; i. m.-Gabe
bevorzugen. Keine Monother.
Clonidin: 23
• Bei schwerem Delir mit Hypertonie.
• Oral o. über Perfusor; initial 0,15 mg am liegenden Pat., max. 1,2 mg/d i. v.
(Catapresan®). Cave: Ausschleichen (Rebound-Phänomen).
• KI: Bradykardie, AV-Block, Sick-Sinus-Sy.
Carbamazepin (▶ 11.1.5): Als Anfallsprophylaxe 300–600 mg/d p. o. im Prädelir,
z. B. 4 × 200 mg/d, alle 2 d um 200 mg reduzieren.

Bei Intoxikation mit Anticholinergika


Physostigmin (z. B. Anticholium®):
• Dos.: Physostigmin 2 mg i. m. o. langsam i. v., evtl. nach 20 Min. erneut
1–4 mg. Cave: Appl. nur unter Monitoring!
• NW: Cholinerge Krise mit Bradykardie, Speichelfluss, Erbrechen,
Durchfall, selten Krampfanfällen, Pankreatitis. Antagonisierung durch
Atropin in halber Dos. des Physostigmins (1 mg Atropin für 2 mg Phy-
sostigmin).
• KI: Asthma bronchiale, Diab. mell., KHK, mechanischer Harnverhalt,
Ileus, Hypotonie, Bradykardie, SHT, Hyperkapnie.

Prognose
Dauer unbehandelt etwa 4–10 d, unbehandelt Letalität 15–30 %, behandelt 1–5 %.
Tod meist durch Herzversagen.
772 23  Delir und Demenz  

23.2 Demenz
ICD-10 F00–F03.

Definition
• Organisch bedingte, meist progrediente, nichtreversible Minderung der frü-
her erworbenen intellektuellen Fähigkeiten bestehend über 6 Mon. ohne Be-
wusstseinsminderung.
• Zunahme sozialmedizinischer Bedeutung aufgrund kontinuierlich steigender
Anzahl älterer Menschen.
• Häufigkeit: > 3 % der > 65-Jährigen, > 4 % der > 70-Jährigen, > 20 % der
> 80-Jährigen, > 30 % der > 90-Jährigen.
• Ca. 1 Mio. Demenzkranke in D.
Ätiologie
Bis 60 % Alzheimer-Krankheit (▶ 23.3, ICD-10 F00.0–9), bis 15 % vask. Demenz
(▶ 23.6, ICD-10 F01.0–9), bis 10 % gemischte Demenz, 5–10 % DLB, bis zu 5 %
frontotemporale Demenz, andere Urs. bis zu 5 % (ICD-10 F02).

Leitsymptome
• Erworbene Stör. von Gedächtnisleistung u. intellektuellen Möglichkeiten mit
Beeinträchtigung von Funktionsfähigkeit im tgl. Leben, Denkvermögen u.
Urteilsfähigkeit.
• Affektkontrolle u. Antrieb vermindert, Vergröberung des Sozialverhaltens.
23 • Sympt. > 6 Mon.
Klinik
Uncharakteristische Anfangssymptome
• Konzentrationsschwäche, Vergesslichkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Inter-
essenverlust, Vernachlässigung von Routinetätigkeiten.
• Frühstadium mit leichter kognitiver Beeinträchtigung (mild cognitive impair-
ment): Gestörte Merkfähigkeit über das altersentsprechende Maß hinaus oh-
ne Alltagsbeeinträchtigung, ca. 10-fach erhöhtes Risiko einer manifesten Alz-
heimer-Krankheit im Verlauf (ca. 10–15 %/J.).
Kognitive Beeinträchtigungen
• Stör. des Kurz-, später auch des Langzeitgedächtnisses (mit biografischen Daten).
• Desorientiertheit zu Ort u. Zeit, später zu Person u. Situation.
• Denkstör. mit Verlangsamung, Umständlichkeit, zähflüssigem Gedanken­
ablauf, inhaltlicher Einengung, Beeinträchtigung Urteils- u. Abstraktionsfä-
higkeit, Konzentrationsstör.
• Agnosie, Apraxie, Aphasie, Agrafie, Alexie.
Nichtkognitive Symptome
Zuspitzung charakterlicher Eigentümlichkeiten, Antriebslosigkeit (>  80 %), Unruhe
(> 50 %), Depressivität (40 %), Wahn (30 %), Halluzinationen (15 %), Aggressivität.
Schweregrade
• Leicht: Trotz Beeinträchtigung von Arbeit u. sozialer Aktivitäten unabhängi-
ges Leben möglich.
• Mittelschwer: Selbstständiges Leben nur mit Schwierigkeiten möglich, Beauf-
sichtigung des Pat. nötig (MMST 10–24 Pkt.).
  23.2 Demenz  773

• Schwer: Kontinuierliche Hilfestellung nötig: Schwerstpflegebedürftigkeit, Im-


mobilität (MMST 3–14 Pkt.).
Klinische Subtypen
Kortikale Demenz: Hirnrindenläsion, Klinisch „Werkzeugstör.“, z. B. Stör. von
Sprache, räumlichem Denken, Praxie, z. B. Alzheimer-Krankheit.
Frontale Demenz: Läsionen des präfrontalen Kortex u./o. des Marklagers. Klin.
Stör. exekutiver Leistungen, Wesensänderung, Antriebsstör., Sprachverarmung/­
-enthemmung, Affektstör.
Subkortikale Demenz: Läsionen des Marklagers u./o. tiefer gelegener Kerngebie-
te. Klin. Verlangsamung, Aufmerksamkeitsstör., Antrieb ↓, z. B. bei MS, SAE,
PSP. DD: Delir (▶ 23.1).

Diagnostik
Eigen-, Fremd-, Sozialanamnese: Alltagsbewältigung, Progression, Krankheits-
bewusstsein, Medikamente.
Klin. Unters.: Erfassung sek. Demenzurs. u. nichtkognitiver Sympt.; klin. Merk-
male allein unzureichend für Zuordnung.
Neuropsychologische Unters. mittels standardisierter Testverfahren:
• „Demenz-Screening“: Mini-Mental-Status-Test (MMST ▶ Tab. 23.2; ▶ 1.2.2),
5–10 Min., Fragen zur Beurteilung von Orientierung, Aufmerksamkeit, Kurz-
zeitgedächtnis, visuokonstruktiven Fähigkeiten. Path. ≤ 26 von 30 Punkten.
• Uhren-Test (modifiziert nach Shulman 1993): Einzeichnen der Ziffern einer
Uhr in vorgegebenem Kreis u. Einstellen bestimmter Uhrzeiten. Beurteilung
anhand eines Scores zur Erfassung visuell-räumlicher Desorganisation (1 = 23
keine Fehler, 6 = Uhr nicht erkennbar, path. ≥ 3 Pkt.).
• DemTect (▶ Tab. 23.2; ▶ 1.2.2): Pat. ≥ 40 J. 5 Untertests: Verbales Gedächtnis
(Wortlisten wiederholen), kognitive Flexibilität (Zahlen umwandeln), Wort-
flüssigkeit (Aufzählen möglichst vieler Waren in 1 Min.), Arbeitsgedächtnis
(Zahlenfolge rückwärts wiederholen), mittelfristiges Behalten (erneute Abfra-
ge Wortliste). Transformation der einzelnen Testergebnisse unter Berück-
sichtigung des Alters in Punkte (gesondert für Pat. > 60 J.); max. 18 Punkte,
9–12 Punkte = leichte kognitive Beeinträchtigung, ≤ 8 Punkte = Demenzver-
dacht. Dauer 8–10 Min.
• Ausführliche kognitive Testung: CERAD-Batterie (Consortium to Establish a
Registry for Alzheimer's Disease) mit MMST, Boston Naming Test u. Einzel-
tests zur Erfassung von Gedächtnis u. verbalen Fähigkeiten. Dauer 45 Min.
• Neuropsychologische Tests für spezifische Fragestellungen.
Tab. 23.2  Standardisierte Testverfahren
MMST DemTect PANDA (Parkinson Neu-
ropsychiatric Dementia
Assessment)

Items Orientierung, Gedächtnis, Listenlernen, Ar- Lernen, visuell-räumli-


Sprache, Praxie, Rechnen, beitsgedächtnis, che Funktionen, Ar-
konstruktives Zeichnen Wortflüssigkeit beitsged., Stimmung

Vorteile Gut v. a. bei kortikaler Ideal bei subkorti- Gezielt für Demenz bei
Demenz kaler Demenz M. Parkinson entwickelt

Nachteile Niedrige Korrelation zwischen den Verfahren, keine diff.-diagn. Aussa-


gekraft
774 23  Delir und Demenz  

Labor zur Erfassung organischer Urs. (▶ 23.7):


• Diff-BB, BSG, BZ, HBA1c, CRP, Leberwerte, Gesamtprotein, Krea, Harnstoff,
E'lyte, Ca2+, Phosphat, Chol., Triglyzeride, T3, T4, TSH, Transaminasen,
Vit. B12, Folsäure.
• Ammoniak, ANA, Kupfer-Clearance, Vit. B1 u. B6, Niacin, Kortisol, Parat­
hormon, Selen, Wismut.
• Medikamentenspiegel. Schwermetallscreening. Schilddrüsen-AK.
• Borrelien-Serologie, evtl. HIV- u. TPHA-Test.
MRT/CCT: Z. B Atrophie, vask. bedingte Veränderungen, Raumforderung, Hin-
weise auf Hypoxie, NPH, SDH.
Vask. Risikofaktoren: (▶ 23.6, ▶ 7).
• RR: Regelmäßige RR-Kontrollen, 24-h-RR-Messung.
• Doppler-Sono: Stenosen, Plaques?
• EKG, Langzeit-EKG: Rhythmusstör., Infarktzeichen?
• Herzecho: Emboliequellen, Klappenfehler?
Liquorpunktion:
• Bei V. a. entzündl. Genese (▶ 9) Eiweiß ↑ (Schrankenstör., v. a. bei Pat.
< 60 J.) u. Zellzahl ↑, AK-Nachweis, OKB.
• Gesamt-Tau-Protein, phosphoryliertes Tau-Protein u. β-Amyloid-
Veränderungen bei Alzheimer-Krankheit.
• Protein 14-3-3, Tau-Protein, S100 u. NSE bei CJK.
• Verbesserung Sympt. nach Entlastungspunktion bei NPH (▶ 26.2).
Weitere Unters.:
• EEG: Herdbefunde, Allgemeinveränderungen, anfallstypische Potenziale.
23 • Rö-Thorax in 2 Ebenen: Tumor, Metastasen?
• Ggf. SPECT, PET: Beurteilung Durchblutung, Stoffwechsel.
• Genetische Diagn.
• Elektrophysiologische Unters. (bei motorischen Sympt.).
Therapie
• Allgemeinmedizinische Basisther.
• Vask. Demenz: Behandlung Risikofaktoren (▶ 23.6, ▶ 7.2), bes. RR-Optimie-
rung. ASS 100 mg/d p. o.
Nichtmedikamentöse Ther.:
• Ziel: Erhaltung u. Förderung kognitiver Funktionen, Selbstwertgefühl, emo­
tionales Wohlbefinden, Selbstständigkeit.
• Supportive Maßnahmen: Strukturierung des Tagesablaufs, Realitätsorientie-
rungstraining, Milieuther., Validation, Selbsterhaltungsther., kognitive Akti-
vierung.

Beratung
Deutsche Alzheimer-Gesellschaft e.  V., Kantstr. 152, 10623 Berlin,
Tel.:  030/31505733, auch bei Sozialdiensten von Wohlfahrtsverbänden u. in
Krankenhäusern.

Medikamentöse Ther. nichtkognitiver Stör.: Möglichst NW-arme Präparate!


Keine TCA (anticholinerg). Gute Auswahl der Neuroleptika (wenig anticholiner-
ge NW, geringe Verzögerung der kardialen Überleitung).
• Schlafstör.:
– Pat. tagsüber wach halten (Beschäftigungsther., Gymnastik, häufige An-
sprache).
  23.2 Demenz  775

– Zur Nacht: Zolpidem 10 mg p. o. (z. B. Stilnox®) o. Zopiclon 7,5 mg (z. B.
Ximovan®).
– Alternativ Promethazin 25 mg p. o. (z. B. Atosil®), Trazodon 25–75 mg
p. o. (Thombran®) o. Pipamperon 20–80 mg zur Nacht p. o. (Dipiperon®)
o. Melperon 25–100 mg/d p. o. (z. B. Eunerpan®).
– RR-Messung am Abend, da oft RR-Abfall Urs. für Ein-/Durchschlafstör.
• Paranoid halluzinatorische Sy. u. Erregtheit: Pipamperon 3 × 40–80 mg/d
p. o. (Dipiperon®), Risperidon 1–2 mg/d p. o. (z. B. Risperdal®). Quetiapin 25–
800 mg/d p. o. (z. B. Seroquel®, cave: off label). Möglichst niedrige Dos., regel-
mäßige Wirksamkeitskontrolle, rasches Absetzen bei Sympt.-Besserung.

Möglichst keine Benzodiazepine wegen starker Sedierung, paradoxer Reakti-


on, verlängerter HWZ, Abhängigkeit, Zunahme kognitiver Stör., vorzeitigem
Auftreten von Inkontinenz u. Stürzen.

• Unruhe:
– Carbamazepin 100–800 mg/d p. o. nach Serumspiegel (z. B. Tegretal®,
­cave: Hyponatriämie).
– Valproat 250–500 mg/d p. o. nach Serumspiegel (z. B. Ergenyl®) o. Melpe-
ron 10–100 mg/d p. o. (z. B. Eunerpan®) o. Pipamperon 3 × 40 mg/d p. o.
(z. B. Dipiperon®).
• Depressive Verstimmung:
– Beginnende Demenzen: Psychother. Interventionen.
– Medikamentös: Serotonin-Wiederaufnahmehemmer: Citalopram 20–
40 mg/d p. o. (z. B. Cipramil®). Sertralin 50 mg/d p. o. (z. B. Zoloft®). Paro-
23
xetin 20–40 mg/d p. o. (z. B. Seroxat®).
– Alternativ Moclobemid initial 150–600 mg/d p. o., später bis 1.200 mg/d
(Aurorix®), bei starker Unruhe Trazodon initial 50 mg, später 100–200 mg
p. o. (z. B. Thombran®).
• Inkontinenz: Initial Blasentraining, medikamentös kaum beeinflussbar, re-
gelmäßige Urinkontrolle auf Harnwegsinfekte.
Ther. mit Antidementiva:

Cholinerge Hypothese
Alzheimer-Demenz → Degeneration cholinerger Neuronen → cholinerges
­Defizit → CHE-Inhibitoren. Durch CHE-Hemmer kein sicheres Aufhalten der
Progression!

• CHE-Inhibitoren Medikamente 1. Wahl bei leicht- u. mittelgradiger Alzhei-


mer-Krankheit (▶ Tab. 23.3). NW ▶ Tab. 23.4.
• Glutamatantagonisten (Memantine) 1. Wahl bei mittelschwerer bis schwerer
Demenz (▶ Tab. 23.5).
• Versuch mit Nootropika (▶ Tab. 23.6) u. Behandlung der psychischen Sympt.
(▶ Tab. 23.7).
• Ziel:
– Kognitive u. Alltagsfähigkeiten möglichst lange erhalten.
– Pos. Beeinflussung nichtkognitiver Sympt. Bei fehlender Wirksamkeit
Präparatewechsel!
– Ggf. Komb. CHE-Hemmer mit Memantine.
– Regelmäßige neuropsychologische Tests zur Wirkungskontrolle.
776 23  Delir und Demenz  

Tab. 23.3  CHE-Hemmer


Substanz Dosierungs- Ind. KI Elimina- Elimi- Abbau
schema tions- nation über Cyt
HWZ P450

Donepezil 1. Mon.: Leicht- u. Wirkstoff- 70–80 h Leber CYP2D6,


(Aricept®) 5 mg abends mittelgra- überemp- CYP3A4
2. Mon.: dige findlichkeit,
10 mg (schwere2) kardiale
abends Alzhei- Erregungs-
mer- überlei-
Rivastig- Langsam Krankheit, tungsstör., 1–2 h Niere Nein
min2 aufdosieren DLB1; Sick-Sinus-
­(Exelon®) von Parkinson- Sy., COPD,
2 × 1,5 mg Demenz1,2; GIT-Ulkus,
auf max. Alzhei- schwere
2 × 6 mg mer-vask. Leberinsuff.,
Mischfor- zerebrale
Galant­ 1. Mon.: men1 4–6 h Leber/ CYP2D6,
Krampfan-
amin2 2 × 4 mg Niere CYP3A4
fälle. Vor OP
­(Reminyl®) 2. Mon.:
Absetzen
2 × 8 mg
(WW mit
(ggf. bis
Anästhetika)
2 × 12 mg)
1
 Ther.-Empfehlung basierend auf kleineren Studien, noch keine offizielle Zulas-
sung
2
 Zulassung besteht nur bei gekennzeichneten Medikamenten
23
Tab. 23.4  Wichtige NW der CHE-Hemmer
Präparate NW (oft nur vorübergehend bei Eindosierung)

Donepezil (Aricept®) Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, leichte CK-Er-


höhung, Übelkeit, Diarrhö, Erbrechen, Anorexie, Muskel-
krämpfe Selten: Bradykardie, kardiale Blockbildung

Rivastigmin (Exelon®) Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Agi-


tiertheit, Kopfschmerzen, Depression, Hyperhidrose.
­Selten: Angina pectoris, GIT-Blutungen, Synkopen

Galantamin (Reminyl®) Übelkeit, Diarrhö, vask. Risiken

Tab. 23.5  Glutamatantagonisten


Substanz Dosierungs- Ind. KI Wichtige uner-
schema wünschte Wir-
kungen

Memantin Langsam von Mittelschwere Niereninsuff., Unruhe,


(Ebixa®, 1 × 5 mg auf bis schwere Epilepsie Schwindel,
Axura®) max. 2 × 10 mg Demenz, Off- Übelkeit, Hal-
aufdosieren; label Komb. Cave: Nie luzinationen
Steigerung um mit CHE-Hem- abends wegen
1 × 5 mg/Wo. mern v. a. bei Schlafstör.
jüngeren Pat.
  23.3 Alzheimer-Demenz (AD)  777

Tab. 23.6  Nootropika


Substanz Dosierungs- Ind. KI Wichtige uner-
schema wünschte Wir-
kungen

Ginkgo biloba (Tebonin®) 240 mg/d Demenz, Keine, aber Kopfschmerzen,


bei Un- cave: Bei OP Hautreaktionen,
verträg- Blutungsri- Blutungsneigung
lichkeit siko ↑ ↑ in Komb. mit
o. KI für (Gerin- blutgerinnungs-
CHE- nungsana- hemmenden Mit-
Hemmer mnese!) teln

Piracetam (z. B. Normo- Für die Behandlung chron. hirnorganisch bedingter Leis-
brain®), Nimodipin (z. B. tungsstör. in D zugelassen, aber bisher keine ausreichen-
Nimotop®), Dihydroergo- de Evidenz. Keine Behandlungsempfehlung.
®
toxin (z. B. Hydergin ),
Nicergolin (Sermion®), Py-
ritinol (z. B. Encephabol®)

Tab. 23.7  Psychopharmaka


Substanzen Dosierung

Agitiertheit, psychotische Symptome, Aggressivität

Atypische Neuroleptika

• Quetiapin (Seroquel®) 50–450 mg 23


®
• Risperdon (Risperdal ) 0,5–1 mg

Bei atypischen Neuroleptika: Vermehrt zerebrovask. Ereignisse u. Todesfälle


(bes. bei hohem Alter, fortgeschrittener Demenz, kardiozerebrovask. Risi-
ken, anderen somatischen Erkr.). Vermeidung Antipsychotika mit anticho-
linerger NW.

23.3 Alzheimer-Demenz (AD)
ICD-10 F00.0–00.9. Syn.: M. Alzheimer.

Definition
Degenerative Demenz (60 % der Demenzen). Bei 3 % d. F. genetischer Einfluss
(Mutation des Amyloid-Präkursor-Proteins, des Präsenilin-Gens 1 u. des Präseni-
lin-Gens 2). Prävalenz mit steigendem Alter zunehmend. Beginn vor (präsenil) o.
nach (senil) dem 65. Lj.

Pathophysiologie
Intrazerebrale Bildung seniler Plaques (extrazellulär, Eiweißmolekül aus 40–42 Amino-
säuren = Amyloid-β-Peptid; Aβ variiert in Länge: Haupttyp Aβ-40 [40 AS]; kleiner An-
teil Aβ-42; Längere Aβ-42 höhere Tendenz zur Aggregation) u. fibrillärer Ablagerungen
(intrazellulär; Tau-Protein, durch Hyperphosphorylierung Aggregation zu Fibrillen).
Im Krankheitsverlauf Absterben von Neuronen u. verminderte Bildung ACh.
778 23  Delir und Demenz  

Pathologie
Kortikale neuronale u. axonale Degeneration bes. Temporal- u. Parietalregion,
Gliose.

Risikofaktoren
Höheres Alter, geringe Schulbildung, pos. Familienanamnese, Allelkonfiguration
APO-ε4 auf Chromosom 19, Alter der Mutter bei Geburt > 32 J., SHT, Mutatio-
nen (s. o.).

Protektive Faktoren
Apolipoprotein-E-2-Genotyp, NSAR, Bildung, Rauchen. Postmenopausale Öst-
rogensubstitution.

Klinik
Langsamer Beginn, schleichender Verlauf. Mild cognitive impairment als Vorläu-
fer möglich.
Früh: Gedächtnisschwäche, räumliche Orientierungsstör., Hyposmie, Depression.
Demenz vom kortikalen Typ:
• Mind. eines der folgenden Sympt.: Aphasie, Apraxie, Agnosie, visuell-räumli-
che Stör, Stör. der Exekutiv- o. der Alltagsfunktionen.
• Persönlichkeitsmerkmale u. soziale Fähigkeiten relativ lange erhalten.
• Oft früh Depression, später Wahn, Angst, psychomotorische Unruhe, Schlafstör.
• Spät: Gangstör., Rigor, Pyramidenbahnzeichen, epileptische Anfälle, Myoklo-
nien, Miktionsstör., Mutismus.
23
Diagnostik
• Ausschluss anderer organischer Urs. mit Zusatzunters., aber Diagnosesiche-
rung nur neuropath.
• Klinik: Typ. neuropsychologischer Befund mit Neugedächtnisstör.
• EEG: Verlangsamter Grundrhythmus (4–8/s) mit eingelagerten langsamen Wellen.
• Liquor: Eiweißerhöhung, gesamtes u. phosphoryliertes Tau-Protein ↑,
β-Amyloidprotein Fragment β1–42 ↓, β-Amyloidprotein Fragment β1–40 ↑,
Quotient aus Aβ1–42 × 10/Aβ1–40.
• CCT: In frühen Stadien z. T. hippokampale u. temporoparietale Atrophie,
später erweiterte innere u. äußere Liquorräume.
• MRT: Gesamthirnvolumen ↓, Gesamtliquorraum ↑, Volumen Hippokampus ↓.
• MR-Spektroskopie: Myoinositol temporoparietal ↑.
• Perfusions-SPECT: Parietotemporale Hypoperfusion.
• FDG-PET: Glukose-SW ↓ parietotemporal, präfrontal u. im post. Gyrus cinguli.
• DNA-Analyse: Genmutationsnachweis.
Differenzialdiagnosen
• Vask. Demenz (▶ 23.6): Meist neurol. Sympt.; Fluktuationen; subkortikale
Demenz mit Antriebsmangel, Verlangsamung, Erschöpfbarkeit, diffuser Min-
derung intellektueller Fähigkeiten, Affektlabilität, Reizbarkeit.
• Tumor (▶ 13.6): Fokalneurol. Sympt.
• Normaldruckhydrozephalus (▶ 26.2): Demenz, Gang- u. Blasenstör.
• „Pseudodemenz“ bei Depression (▶ Tab. 23.8).
• Leichte kognitive Beeinträchtigung (mild cognitive impairment ▶ 23.2).
• Zerebrale Vaskulitis (▶ 7.5.1).
• Hormon-, Vit.- u. E'lyt-Stör.
   23.4  Lewy-Körperchen-Demenz (Dementia with Lewy bodies, DLB)  779

• Seltene infektiöse Urs., z. B. Lues, AIDS, PML, M. Whipple.


• Seltene nichtinfektiöse Urs.: Limbische Enzephalitis, mitochondriale Enze-
phalopathie, erbliche SW-Veränderungen.
• Defektzustand nach Hypoxie, Meningitis, Enzephalitis, Trauma, Hirnödem.
Radiatio, Wernicke-Enzephalopahie, MS, Alkoholabusus.
• Demenz bei SAE.
Tab. 23.8  DD von Pseudodemenz u. Demenz
Pseudodemenz Demenz

Rascher Beginn Schleichender Beginn

Episodischer Verlauf Chron. Verlauf

Bewusste Wahrnehmung kognitiver Defizite Keine bewusste Wahrnehmung,


Überspielen der Defizite

Keine nächtliche Verschlechterung Nächtliche Verschlechterung

Allg. Gedächtnisbeeinträchtigung V. a. Kurzzeitgedächtnisbeein-


flussung

Mitarbeit in Tests eher schlecht Gute Mitarbeit

Im Tagesablauf schwankendes kognitives Defizit Konstant kognitives Defizit

Therapie 23
Acetylholinesterasehemmer, ggf. in Komb. mit Memantine (▶  23.2). Adjuvant
Vit. E 2.000 I. E.

Verlauf
Progredient, letal.

Prognose
Mittlere Lebenserwartung nach Auftreten erster Sympt. 8 J. (3–26 J.). Tod meist
durch Infekte.

23.4 Lewy-Körperchen-Demenz (Dementia with


Lewy bodies, DLB)
Definition
Degenerative Demenz mit Nachweis von „Lewy-Körperchen“ (runde eosinophile
Einschlüsse im Zytoplasma von Neuronen; kortikal, im limbischen System, Hirn-
stamm u. Nucleus basalis Meynert; anomale Aggregate, vermindern Dopamin-
Bildung). 15–20 % aller Demenzen; „Reine“ eigenständige Demenz mit Lewy-Kör-
perchen (DLB) seltener; häufig Mischbilder mit Alzheimer-Demenz u. M. Parkin-
son; bei Alzheimer-Demenz u. M. Parkinson z. T. Lewy-Körperchen nachweisbar.

Klinik
Demenz mit kortikal-subkortikalem Mischbild mit Verlangsamung, Konzentra-
tions- u. Aufmerksamkeitsstör., Stör. der visuell-räumlichen Leistung sowie mind.
2 der folgenden 3 Kernmerkmale:
780 23  Delir und Demenz  

1. Fluktuation kognitiver Leistungen (v. a. Aufmerksamkeit, Wachheit).


2. Visuelle Halluzinationen.
3. Gering doparesponsive Parkinson-Sympt. (hypokinetisch-rigide) ≤ 1 J. vor o.
nach Auftreten der Demenz.
Weitere Sympt.: Unerklärliche Stürze, Synkopen, Tagesmüdigkeit, abnorme Neu-
roleptikasensitivität, Dopa-Überempfindlichkeit, systematisierter Wahn, allg.
Halluzinationen, Schlafstör., Depression, imperativer Harndrang, Inkontinenz,
orthostatische Dysregulation.

Parkinson-Sy. u. Demenz: Demenz mind. 1 J. nach EPMS! DLB: Demenz u.


EPMS binnen 1 J.

Diagnostik
▶ 15.2.6.
• Neurol. Unters.
• Gutes Ansprechen auf CHE-Hemmer.
• SPECT/PET (▶ Tab. 23.9): Kortikaler Hypometabolismus, v. a. parietookzipital.
• MRT (▶ Tab. 23.9): Keine Hippokampusatrophie.
Tab. 23.9  Vergleich von Alzheimer- u. Lewy-Body-Demenz in der Bildgebung
Bildgebung Alzheimer-Demenz Lewy-Body-Demenz

CCT/MRT Generalisierte Atrophie mit früh- Medialer Temporallappen u. Hip-


23 zeitiger Betonung medialer Tem- pokampus oft lange ausgespart
porallappen u. Hippokampus

SPECT/PET Verminderte Aktivität temporal Verminderter Dopamin-Transpor-


ter-Uptake in Basalganglien, ver-
minderte Aktivität okzipital

Therapie
• ACh-Esterasehemmer (cave: Verschlechterung EPMS).
• Atypische Neuroleptika bei psychotischen Sympt. (z. B. Quetiapin [Seroquel®]).
• L-Dopa bei EPMS (cave: Halluzinationen).
• Bei Restless-Legs-Sy. Clonazepam. Bei ausgeprägter autonomer Dysfunktion
Stützstrümpfe, Midodrin, Tolterodin, Trospiumchlorid.

Memantine absetzen (halluzinogen).

23.5 Frontotemporale Demenz (FTD)


ICD-10 F02.0.

Definition
Degenerative Demenz. Prävalenz: 1 % aller Demenzen, ca. 30–50 % der präsenilen
Demenzen. 20–50 % aut. dom. Erbgang (Mutation Tau-Gen bei familiärer FTD
mit Parkinson-Sy.). Beginn 50.–60. Lj. Mittlere Dauer 8 J. (3–15 J.).
   23.5  Frontotemporale Demenz (FTD)  781

Pathologie
• Wechselnd ausgeprägte, oft asymmetrische Rindenatrophie mit frontaler
u./o. temporaler Betonung.
• Histologisch Nervenzellverluste u. Gliose der U-Fasern, fakultativ zytoplas-
matische Einschlusskörper („Pick-Körperchen“) u. ballonierte chromatolyti-
sche Neuronen („Pick-Zellen“). Erst bei Nachweis dieser histologischen Be-
sonderheiten in Autopsie „Pick-Krankheit“ im eigentlichen Sinne.
• Sonderform: Isolierte o. unilaterale temporale Atrophie, langsamerer Verlauf.
Klinik
Frontale/frontotemporale Verlaufsform: Schleichender Beginn, progredienter
Verlauf. Früh verändertes interpersonales Sozialverhalten u. Beeinträchtigung der
persönlichen Führung, Stör. der Krankheitseinsicht. Stützende Sympt.:
• Verhaltensauffälligkeiten; Vernachlässigung der Körperpflege, mentale Rigidi-
tät, Inflexibilität, Ablenkbarkeit, verminderte Aufmerksamkeit, Hyperoralität,
perseveratives/stereotypes Verhalten, zwanghafte Manipulationen von Objek-
ten, Sprachreduktion, stereotype Sprache, Echolalie, Perseveration, Mutismus.
• Körperl. Sympt.: Primitivreflexe, Inkontinenz, Akinese, Rigor, Tremor, RR-
Veränderungen.
• „Konvexitätstyp“: Antriebsverarmung im Vordergrund, Sprachverarmung,
z. T. Perseveration, Echolalie.
• „Basaltyp“: Enthemmung, psychomotorische Unruhe, emotionale Labilität.
• In 40 % pos. Familienanamnese.
Sonderformen:
• Prim. progressive (nicht flüssige) Aphasie: 23
– Schleichender Beginn, allmählich progredient.
– Nichtflüssige Aphasie mit Agrammatismus, phonematische Paraphasien,
Benennstör.
– Unterstützend: Stottern, Sprechapraxie, Stör. des Nachsprechens, Alexie,
Agrafie, später Mutismus. Verlauf ähnlich der frontalen Form.
• Semantische Demenz:
– Schleichender Beginn, langsam progredient.
– Sprachstör. mit inhaltsarmer flüssiger Spontansprache, Verlust des Wis-
sens über Wortbedeutung, semantische Paraphasie, visuelle Agnosie.

Diagnostik
• CCT, MRT: Frontotemporale Atrophie, Ventrikelerweiterung.
• PET, SPECT: Frontotemporaler Hypometabolismus bzw. Hypoperfusion.
• EEG: Lange unverändert.
• Neuropsychologische Unters.:
– Stör. von Wortflüssigkeit, Tempo, Interferenzunterdrückung, freiem Ge-
dächtnisabruf, planendem analytischem zielgerichtetem Denken, Antrieb,
Sprechantrieb.
– Emotionale Indifferenz, inadäquater Affekt, Perseveration, Regelbrüche,
utilisation behaviour, Konkretismus, Echolalie, Hyperoralität.

Therapie
Symptomatisch, gut strukturierte Umgebung. ACh-Esterasehemmer nicht wirk-
sam. Bei Apathie SSRI, bei bizarren Verhaltensweisen u. Stereotypien atypische
Neuroleptika, bei Enthemmung/Aggressivität Mirtazapin, atypische Neurolepti-
ka, Carbamazepin o. Valproinsäure. Bei Inkontinenz Duloxetin.
782 23  Delir und Demenz  

23.6 Vaskuläre Demenz
ICD-10 F01.0–01.9.

Definition
• 10 % aller Demenzen. Beginn 55–60 Lj.
• Mischformen von Alzheimer-Krankheit u. vask. Demenz 10 %, bei Vorliegen
vask. Veränderungen auch von Alzheimer-Veränderungen ausgehen!

Pathogenese

Untergruppen nach Loeb u. Meyer (1996)


• Multiinfarktdemenz: Makroangiopathisch, mehrere territoriale Infarkte.
Sympt. abhängig von Lokalisation.
• Strategische Infarkte: Makroangiopathisch, typ. zerebale Schaltstellen
• Status lacunaris: Mikroangiopathisch, oft mit Apathie, Denkstör.
• Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (M. Binswanger):
­Mikroangiopathisch, oft Inkontinenz, Rigor.
• Mischformen aus Multiinfarktdemenz, strategischen Infarkten u. SAE.
• CADASIL: Genetisch bedingt, meist pos. Migräneanamnese.
• Hämatome: Durch hämorrhagische Diathese, RR ↑, AVM, Amyloidan-
giopathie.
• Gemischte Demenz: Vask. Demenz in Komb. mit Alzheimer-Krankheit.
23
Klinik
• Abhängig von zugrunde liegender Pathologie, meist subkortikale Demenz
mit Stör. Affekt, Antrieb, Konzentration, Auffassung.
• Komb. mit fokaler Hirnläsion (z. B. Hemiparese, Aphasie).
• Oft fluktuierender Verlauf mit schubweise Verschlechterung. Ausnahme:
M. Binswanger meist chron. progredient.
• Diagnosekriterien ▶ Tab. 23.10.
Tab. 23.10  ADDTC-Kriterien (The State of California Alzheimer's Disease Dia-
gnostic and Treatment Centers)
Mögliche vask. Klin. diagnostiziertes demenzielles Sy. (quantifizierbar, reprodu-
Demenz zierbar durch neuropsychologische Tests), u. mind. eines der fol-
genden Kriterien:
1. Anamnestische Hinweise auf einzelnen ischämischen Insult ohne
eindeutige zeitliche Beziehung zum Beginn des demenziellen Sy. o.:
2. M. Binswanger, für den alle der folgenden Punkte erfüllt sein
müssen:
• Früh einsetzende Harninkontinenz ohne urologische Erkr. o.
Gangstör. ohne periphere Erkr.
• Vask. Risikofaktoren
• Ausgedehnte Veränderungen der weißen Substanz in Bildgebung
  23.6 Vaskuläre Demenz  783

Tab. 23.10  ADDTC-Kriterien (The State of California Alzheimer‘s Disease Dia-


gnostic and Treatment Centers) (Forts.)
Wahrscheinliche A Kriterien, die erfüllt sein müssen:
vask. Demenz • Klin. diagnostiziertes demenzielles Syn. o. Auftreten eines ein-
zelnen Infarkts mit einer eindeutigen zeitlichen Beziehung
zum Auftreten des demenziellen Sy.
• Hinweis auf mind. einen Infarkt außerhalb des Kleinhirns auf-
grund von CT o. T1-gewichtetem MRT

B Unterstützung einer wahrscheinlichen vask. Demenz:


• Hinweise für multiple Infarkte in für das Gedächtnis verant-
wortlichen Hirnregionen
• Anamnese für TIA u. vask. Risikofaktoren
• Erhöhte Hachinski-Ischämieskala
C Klin. Hinweise, die mit einer vask. Demenz assoziiert sein könn-
ten, aber nicht gesichert sind:
• Frühes Auftreten von Gangstör. u. Harninkontinenz
• Veränderungen periventrikulär u. im Marklager in T2-gewich-
teten MRT, die über die Altersnorm hinausgehen
• Fokale Veränderungen in der Elektrophysiologie o. den funkti-
onellen Bildgebungen

D Andere klin. Zeichen, die weder gegen noch für die Diagnose
einer wahrscheinlichen vask. Demenz sprechen
0. Langsam progrediente Sympt.
1. Psychosen, Halluzinationen, Wahnvorstellungen
2. Epileptische Anfälle

E Klin. Zeichen, die an der Diagnose einer wahrscheinlichen vask.


23
Demenz zweifeln lassen:
0. Transkortikale sensorische Aphasie ohne bildmorphologisches
Substrat
1. Fehlen von weiteren zentralneurol. Sympt. als kognitive Beein-
trächtigung

Sichere vask. Histopath. Unters. des Gehirns nötig. Erfüllung folgender Kriteri-
Demenz en:
• Klin. demenzielles Sy.
• Histopath. Nachweis multipler Infarkte auch außerhalb des
Kleinhirns
• Anzweifeln der Diagnose, falls histopath. Hinweise für Alzhei-
mer- o. andere Erkr., die für das demenzielle Sy. verantwort-
lich sein kann

Gemischte De- Vorliegen einer o. mehrerer systemischer o. neurol. Erkr., die ver-
menz (mixed mutlich der Demenz zugrunde liegen
dementia)

Diagnostik
• Körperl. Unters.:
– Risikofaktoren für Gefäßerkr./Arteriosklerose.
– Fokal neurol. Ausfälle.
– Kognitive Stör.
– Doppler- u. Duplexsono: Plaques, Stenosen, Gefäßverschluss.
– Herzecho (Emboliequellen, Klappenfehler).
784 23  Delir und Demenz  

– (CCT) MRT: Hypodense Infarktbereiche, bei M. Binswanger lakunäre In-


farkte u. ausgedehnte Demyelinisierung im frontalen u. parietalen
Marklager. Keine Hippocampus-Atrophie.
– MR-Angio, konventionelle Angio: Stenose, Verschluss. DD: Vaskulitis.
– PET: In strittigen Fällen zur DD vask. Demenz – Alzheimer-Krankheit.
• EEG: In 60 % normal, sonst v. a. Herdbefunde.
• Liquor: Bei SAE u. konfluierenden Marklagerveränderungen in der Bildge-
bung z. A. entzündl. Erkr., Zellzahl ↑ bei Vaskulitis.
• Labor: Plasmaviskosität, Antiphospholipid-AK, ANA, AMA, Protein C, Pro-
tein S, Antithrombin, Lues-Serologie, Vit. B12, Folsäure, Schilddrüsenwerte.

Differenzialdiagnose
Depression nach vask. Läsion.

Therapie
• Einstellung vask. Risikofaktoren (RR, Nikotinentwöhnung, Diabeteseinstel-
lung, Sport, Gewichtsreduktion, Statine), Ther. der Grundkrankheit.
• Sekundärprophylaxe (▶ 7.2.12).

Tab. 23.11  Vergleich der vask. Demenz mit den degenerativen Demenzen
Vask. Demenz Alzheimer-De- Lewy-Body- FTD
menz Demenz

Leitsympt. Apathie, Er- Frühzeitig evtl. Konzentra- Verhaltensauf-


23 schöpfbarkeit, Hyposmie, tions- u. Auf- fälligkeiten,
diffuse Minde- Stör. Neuge- merksamkeits- Persönlich-
rung intellek- dächtnis, kog- stör., Fluktuati- keitsänderung,
tueller Leistun- nitive Werk- on der Wach- z. T. Sprachstör.
gen zeugstör. heit, visuelle
Halluzinatio-
nen, extrapyra-
midal-motori-
sches Sy.

Begleitsympt. RR ↑, Schwin- Internistisch/ Stürze/Synko- Oft Inkonti-


del, Gangstör., neurol. i. d. R. pen, nicht visu- nenz, extrapy-
TIA, Blasenstör. unauffällig elle Halluzina- ramidal-moto-
tionen, Über- risches Sy.
reaktion auf
Neuroleptika

Verlauf Fluktuierend Kontinuierli- Progredient, Progredient


ches Voran- stark fluktuie-
schreiten rende Sympt.

Prognose Selten schwere Immer schwere Ungünstig Ungünstig


Demenz Demenz, leta-
ler Verlauf

• Orale Antikoagulation nur bei complianten Angehörigen, guter RR-Einstel-


lung u. regelmäßige Laborkontrollen, evtl. niedrig dosiert mit INR ca. 2.
• Memantine u. ACh-Esterasehemmer wirksam, aber off-label.
• Bei Mischdemenz Behandlung mit ACh-Esterasehemmern möglich.
   23.7  Andere häufige Ursachen einer Demenz  785

Prognose
Schubförmig progredienter o. fluktuierender Verlauf abhängig von der zerebro-
vask. Grunderkr. (▶ Tab. 23.11).

23.7 Andere häufige Ursachen einer Demenz


Normaldruckhydrozephalus (NPH)
▶ 26.2.
Ätiol.: Prim. (ab 6. Dekade), sek. (symptomatisch) z. B. nach Meningitis o. SAB.
Klinik: Oft schon in beginnenden Stadien zusätzlich zur Demenz Inkontinenz
(40–90 %) u. Gangstör. (≤ 92 %).
Diagn.:
• CCT/MRT: Erweiterung des gesamten Ventrikelsystems, sagittale Ausdün-
nung Corpus callosum.
• Entlastungs-LP (30–50 ml), Dauerableitung für mehrere Tage.
• Intraventrikuläre Liquordruckmessung.
Ther.:
• Konservativ: Intermittierend therap. Punktion z. B. bei multimorbiden Pat.,
wenn Pat. lange genug von LP profitiert.
• Operativ: Shuntanlage (ca. 50–60 % der Pat. profitieren, in 30 % dauerhafter
Erfolg). KO-Rate 38 %, in 33 % Re-OP.

Subdurales Hämatom
▶ 22.2.3. 23
• Auch nach Bagatelltrauma! Hirndruckzeichen, fokal neurol. Sympt.
• CCT, MRT: Sichelförmige Ausbreitung der Blutung.
Frontobasale Hirntumoren
▶ 13.6.
• Frontalhirnsy., Hemiparese.
• Liquor: Eiweiß ↑. EEG: Herdbefunde. CCT, MRT: Raumforderung.
Kognitive Störungen durch Medikamente
Codein. Lidocain. Digoxin. Gyrasehemmer, Cephalosporine. Tri- u. tetrazykli-
sche Antidepressiva mit anticholinergem NW-Profil (z. B. Amitriptylin, Clomi-
pramin, Imipramin, Maprotilin, Opipramol, Trimipramin). Anticholinerg wirk-
same Antihistaminika (Chlorphenazin, Dexchlorpheniramin, Hydroxyzin).
Ipratropium. Theophyllin. Furosemid. Colchicin. Anticholinerg wirksame Neuro-
leptika (z. B. Phenothiazin, Levomepromazin, Promethazin). Anticholinerg wirk-
same Parkinson-Medikamente. Benzodiazepine. Atropin. Oxybutynin.

Hypothyreose
T3, T4, TSH.

Demenz mit kortikalen agyrophilen Körperchen (argyrophilic grain


disease)
Pathologie: Ablagerung Tau-Protein in limbischem Kortex, Amygdala, Hypotha-
lamus, Hippocampus.
Klinik: Progrediente kognitive Defizite mit Gedächtnis- u. Affektstör, Wesensän-
derung.
24 Enzephalopathien und
leukodystrophische Erkrankungen
Martina Näher-Noé und Wolfgang Köhler

24.1 Definition 788 24.7 Enzephalopathie bei Elektro­


24.2 Leitsymptome und lytstörungen 809
­Diagnostik 788 24.7.1 Enzephalopathie bei Hypona­
24.3 Leukodystrophien im Erwach­ triämie 809
senenalter 789 24.7.2 Hyperkalzämische Enzephalo-
24.3.1 Definition 789 pathie 810
24.3.2 Leitsymptome 789 24.7.3 Hypophosphatämie-Enzepha-
24.3.3 Differenzialdiagnosen 789 lopathie 811
24.3.4 Therapie 789 24.8 Toxische Enzephalopathien
24.3.5 Leukodystrophien mit und Alkoholfolgeerkrankun­
­lysosomalen gen 811
­Speicherkrankheiten 790 24.8.1 Alkoholtoxische Enzephalopa-
24.3.6 Leukodystrophien mit thien als Alkoholfolgeerkran-
­peroxisomalen kungen 811
­Speicherkrankheiten 793 24.8.2 Medikamentös induzierte
24.3.7 Leukodystrophien mit ande- ­Enzephalopathien 814
rem oder unbekanntem meta- 24.8.3 Enzephalopathien durch
bolischem Defekt 794 Schwermetalle 815
24.4 Angeborene 24.9 Enzephalopathie bei entzünd­
­Enzephalomyopathien 798 lichen und immunologischen
24.4.1 Mitochondriopathien  798 Erkrankungen 816
24.4.2 Myotonien mit enzephalopa- 24.9.1 Septische Enzephalopa-
thischer Begleitsymptoma- thie 816
tik 801 24.9.2 Enzephalopathien bei Infekti-
24.5 Enzephalopathie bei anderen onskrankheiten des Nervensys-
angeborenen Stoffwechselstö­ tems 817
rungen 801 24.9.3 Enzephalopathien bei immu-
24.5.1 Porphyrie 801 nologischen Erkrankun-
24.5.2 Hartnup-Krankheit 802 gen 817
24.5.3 Wilson-Krankheit 802 24.10 Enzephalopathie durch
24.6 Enzephalopathien bei Organ­ ­An­oxie  818
versagen 803 24.11 Posteriore reversible Leuken­
24.6.1 Hepatische Enzephalo­ zephalopathie (PRL) 819
pathie 803 24.12 Vitaminstoffwechselstörun­
24.6.2 Enzephalopathie bei gen 820
­Nierenerkrankungen 806
24.6.3 Endokrine
­Enzephalopathien 808
788 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

24.1 Definition
• Gruppe ätiologisch heterogener Krankheitsbilder, die zu einer diffusen Hirn-
funktionsstör. mit psychopath., vegetativen sowie neurol. Sympt. führen.
• Bei Leukenzephalopathien u. Leukodystrophien prim. weiße Substanz, Funk-
tion des Myelins (Dys-, Hypo-, Demyelinisierung) betroffen.
• Urs.: Organdysfunktionen (v. a. von Leber oder Niere), hormonell-endokri-
ne Stör., Substratmangel (z. B. Thiaminmangel), gestörte Substratzufuhr
(Hypoxie, Hypoglykämie), Entzündungen oder immunologische Mechanis-
men oder die Einwirkung exogener Toxine (Alkohol, Medikamente,
Schwermetalle).
• Angeborene Enzephalopathien durch genetisch determinierte Stör. des Li-
pid-, Aminosäure- oder Kohlenhydratstoffwechsels oder der mitochondrialen
Funktion.

24.2 Leitsymptome und Diagnostik


Klinik
• Bewusstseinsstör.: Somnolenz, Koma (DD: Komaurs. ▶ 4.3).
• Psychopath. Sympt. (▶ 3.16): Desorientiertheit, mnestische Stör., psychomo-
torische Stör. (Antriebssteigerung/-minderung), affektive Auffälligkeiten
(Ängstlichkeit, Gereiztheit, depressive o. gehobene Stimmung), paranoid-hal-
luzinatorische Sympt. o. Denkstör. (Ideenflucht, Perseveration, Inkohärenz).
• Vegetative Sympt.: Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Atemstör. (Cheyne-
Stokes-Atmung, Hyperventilation), Tachykardie.
• Zerebrale Krampfanfälle (▶ 11): Fokal, generalisiert.
• Zerebrale Herdsympt.: HN-Stör. (Augenmuskel- o. Fazialislähmung, Visus-
stör.), Nystagmus, Blickparesen, Aphasie, Apraxie, Dysarthrie, Spastik, Ata-
24 xie, Hemiparesen, Sensibilitätsstör.

Diagnostik
• Anamnese: Bekannte Nieren- o. Lebererkr., Medikamente (Sedativa, Analge-
tika), art. Hypertonie, Alkohol, Schwermetallexposition?
• Labor: Leberwerte, Krea, Harnstoff, E'lyte (ggf. einschließlich Ca2+, Phos-
phat), BB, BZ, Schilddrüsenwerte, ggf. Parathormon, Albumin, Alkoholspie-
gel, bei V. a. Intox. Blut u. Urin, evtl. Mageninhalt asservieren, Drogenscree-
ning, NH3 bei V. a. Lebererkr., Thiamin bei V. a. chron. Vit.-B1-Mangel.
• MRT: Insbes. bei V. a. Leukenzephalopathie.
• EEG: DD prim. zerebrale Krampfanfälle o. Enzephalitis.
• CCT: Ausschluss Blutung, Ischämie, Tumoren o. Abszess.
• LP: Ausschluss Meningoenzephalitis.
Diagnostisches Vorgehen
• Ist es eine Enzephalopathie?
• Ist nur das Gehirn betroffen o. auch Muskel u./o. PNS?
• Ist die Enzephalopathie angeboren o. erworben (Fremdanamnese)?
– Wenn angeboren → erster weiterer diagn. Schritt: MRT.
– Wenn erworben → Begleiterkr.? Medikamente? Alkohol?
– Je nach anamnestischem Verdacht ausführliche Labordiagn.
   24.3  Leukodystrophien im Erwachsenenalter  789

24.3 Leukodystrophien im Erwachsenenalter
24.3.1 Definition
• Genetisch determinierte, sehr heterogene Gruppe von Erkr. mit variablem
pathogenetischem Hintergrund, klin. Verlauf u. paraklinischem Befund-­
muster.
• Prim. progrediente Erkr. des Myelins des ZNS i. S. von Myelinisierungsstör.
(Dys-/Hypomyelinisierung) o. vorzeitiger Myelindegeneration (Demyelini-
sierung).
• Assoziationen zu astrozytären u. neuronalen Erkr. möglich.
• Häufig Komb. mit PNP o. Mitbeteiligung innerer Organe.
• Meist gleichzeitig diagn. nutzbare, häufig auch molekulargenetisch definierte
metab. Stör.

24.3.2 Leitsymptome
• Häufig: Chron. progrediente spas-
tische Paraparese, Ataxie, hirnor-
ganische Psychosy. u. Psychosen,
Mitbeteiligung des PNS u./o. ande-
rer Organsysteme, Stoffwechselde-
fekte. Selten: Extrapyramidalmoto-
rische Stör., Epilepsie.
• Weitere (nicht obligate) Hinweise:
Pos. Familienanamnese, Signalver-
änderungen im zerebralen MRT
(▶ Abb. 24.1).
24
24.3.3 Differenzialdiagnosen
• Leukenzephalopathien anderer Ge-
nese (▶ 24.3.6). Abb. 24.1 DD path. MRT-Muster bei
• Nicht genetisch bedingte, erworbe- Myelinerkrankungen:
ne Erkr. der weißen Substanz, z. B. A: Frontale MLD mit konfluierender
vask., entzündl. (▶ 24.9), tumorö- T2-Signalanhebung; B: Parieto-okzipi-
ser (▶ 13) o. tox. Genese (▶ 24.8). tale ALD mit konfluierender T2-Flair-
• Andere genetisch bedingte Erkr. Signalanhebung; C: Diffuse GLD mit
mit Beteiligung der weißen Subs- Marklagerläsionen in T2-Flair; D: Dif-
fuse, zystische VWMD-Degeneration
tanz, z. B. mitochondriale Erkr.
mit ausgedehnter T2-Flair-Signalanhe-
(MERRF, MELAS, Kearns-Sayre- bung [M855/M854]
Sy., Leigh-Sy.), erbliche Stoffwech-
selerkr. (Aminoazidopathien, Or-
ganoazidurien), Stör. im Cobalamin-Stoffwechsel (▶ 14.6.1) o. Muskelerkr.
mit sek. Beteiligung des Myelins (kongenitale Muskeldystrophie).
• Altersbedingte Veränderungen der weißen Substanz.

24.3.4 Therapie
• Symptomatische Ther.: KG, Logopädie, Antispastika, Psychopharmaka,
­Antiepileptika.
790 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

• Nachbehandlung bei allen Leukodystrophien wichtig: Regelmäßige psychoso-


ziale Betreuung notwendig. Genetische Familienberatung.
• Spezifische Ther.: Enzymersatzther. (EET), Substitutions-, Substratrestrik-
tions-, Enzyminhibitionsther.
• Hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSZT).

24.3.5 Leukodystrophien mit lysosomalen


Speicherkrankheiten
Metachromatische Leukodystrophie (MLD)
ICD-10 E75.2.
Ätiol.: Path. Sulfatidspeicherung in ZNS u. PNS bei genetischem Enzymdefekt
(Arylsulfatase A). Aut. rez.; Prävalenz 1 : 100.000 (20 % adulte Formen).
Klinik: Beginn bis zum 60. Lj. Initial Verhaltensauffälligkeiten, psychotische Stör.,
Epilepsie. Später progrediente Paraspastik, Ataxie, Inkontinenz, Visusminderung,
häufig PNP.
DD: M. Krabbe, X-chrom. ALD, Pelizaeus-Merzbacher Erkr., M.  Alexander,
GM2-Gangliosidose.
Diagn.:
• Labor:
– Arylsulfatase-A-Aktivität in Leukos < 10 % der Norm (Cave: Häufig pseu-
dodefiziente Enzymaktivität).
– Sulfitausscheidung im 24-h-Urin ↑. Nachweis von metachromatischem
Speichermaterial (Sulfatide) in der Nervenbiopsie.
• Gendiagn.: ARSA-Gen (Chromosom 22q13.3), Differenzierung von Pseudo-
defizienzen (Polymorphismen im ARSA-Gen).
• MRT: Symmetrische, periventrikuläre, frontal betonte Signalanhebung
(T2W), Corpus callosum mitbetroffen, radiäre Streifung. U-Fasern anfangs
24 ausgespart, Basalganglien häufig signalgemindert. Kein KM-Enhancement.
Später sek. Atrophie.
Ther.:
• Symptomatische Ther.
• HSZT: Nicht kurativ, beste Ergebnisse bei präsymptomatischen Pat., im Erw.-
Alter nur in Ausnahmefällen.
• Experimentell: EET, aktuell Phase-III-Studien bei kindl. MLD.
Progn.: Langsam progrediente neurol. u. psychopath. Defizite. Verläufe bis 20 J.

Globoidzell-Leukodystrophie (GLD, Morbus Krabbe)


ICD-10 E75.2.
Ätiol.: Path. Galaktozerebrosid- u. β-Galaktosylsphingosin-Speicherung im ZNS
u. PNS bei genetischem Enzymdefekt (β-Galaktozerebrosidase). Aut. rez.;
1 : 100.000 (10 % adulte Formen).
Klinik:
• Beginn bis zum 60. Lj.
• Langsam progrediente spastische Paraparese; motorisch betonte, demyelini-
sierende, distal-symmetrische PNP.
• Pseudobulbärsympt.
• Später: Demenzielles Sy.
DD: ALS, X-chrom. ALD, Pelizaeus-Merzbacher-Erkr., M.  Alexander, GM2-
Gangliosidose.
   24.3  Leukodystrophien im Erwachsenenalter  791

Diagn.:
• Labor: β-Galaktozerebrosidase-Aktivität in Leukos o. Fibroblasten < 5 % der
Norm. Liquoreiweiß ↑.
• Gendiagn.: GALC-Gen (Chromosom 14q31).
• MRT: Anfangs Signalanhebung (T2W) in Stammganglien, Capsula interna,
­Corona radiata, Corpus callosum, später symmetrischer Befall (parieto-okzipital,
Pyramidenbahnen, Zerebellum, Nucleus dentatus), U-Fasern kaum ausgespart.
Ther.: Symptomatisch. HSZT: Einzelfälle im Erw.-Alter.
Progn.: Chron. Progredienz.

Morbus Fabry
ICD-10 E75.2.
▶ 19.10.7.
Ätiol.: Lysosomale Speicherkrankheit mit Akkumulation von Glykosphingolipi-
den in multiplen Geweben, Niere, Myokard, Neuronen, Kornea, Gefäßwänden
(Endothelzellen) bei genetischem Enzymdefekt (α-Galaktosidase). Diffuse (Mi­
kro-)Vaskulopathie. X-chrom.; Prävalenz: 1 : 50.000 (M).
Klinik: Hirninfarkte, Schmerzen (Akroparästhesien), Hypohidrose, Angiokerato-
me, Proteinurie (später: Niereninsuff.), Kardiomyopathie (li-ventrikuläre u. sep-
tale Hypertrophie), Cornea verticillata.
Diagn.:
• Labor: α-Galaktosidase A in Serum/Lymphozyten (M).
• Gendiagn.: GLA-Gen (Chromosom Xq22).
• MRT: Multiple lakunäre u. territoriale Ischämien, später periventrikulär kon-
fluierend. Pulvinar im T1-Signal angehoben.
Ther.:
• Symptomatische Ther.
• EET: Gentechnologisch hergestellte α-Galaktosidase A alle 2 Wo. i.v. (Agalsidase
alfa [Replegal®] 0,2 mg/kg KG o. Agalsidase beta [Fabrazyme®] 1,0 mg/kg KG).
Nachbehandlung: Interdisziplinäre Betreuung (Neurologe, Kardiologe, Nephro- 24
loge, Ophthalmologe) in Zentren ratsam.
Progn.: Verbesserung kardiologischer u. nephrologischer Parameter unter EET in
kontrollierten Studien nachgewiesen.

Morbus Niemann-Pick, Typ C


ICD-10 E75.2.
Ätiol.: Stör. im Cholesterolstoffwechsel. Aut. rez. vererbt; Prävalenz: 1 : 150.000
(alle Formen).
Klinik:
• Progressive Demenz, Psychose, vertikale Blickparese, Ataxie.
• Später: Dysarthrie, Dysphagie, Dystonie, Epilepsie, Stürze.
• Hepatosplenomegalie.
DD: Andere Demenzen, Steele-Richardson-Olzewski-Sy., Syphilis, HIV, andere
organische Psychosen.
Diagn.:
• Labor: Cholesterolspeicherung in Fibroblasten (Filipin-Färbung).
• Gendiagn.: NPC1 (Chromosom 18q11-q12), NPC2 (Chromosom 14q24.3,
selten).
• MRT: Atrophie, v. a. zerebellär u. Corpus callosum, konfluierende T2-Sig-
nalanhebung.
Ther.: Symptomatisch. Experimentell: Miglustat.
Progn.: Chron. Progredienz.
792 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

GM1-Gangliosidose
ICD-10 E75.1.
Ätiol.: Path. Gangliosid-GM1-Anreicherung bevorzugt im Nervensystem bei aut.
rez. Enzymdefekt (β-Galaktosidase).
Klinik: Gangataxie, Dysarthrie, Dystonie, Choreoathetose, Parkinson-Sy., leichte
Demenz, selten: Epilepsie.
Diagn.:
• β-Galaktosidase i. S. u. Leukos. Gendiagn.: GLB1-Gen (Chromosom 3p21.33).
• Rektumbiopsie: Neuronale Lipidose.
• MRT: T2W-Signalanhebung im Nucleus caudatus u. Putamen, T2W-Signalab-
senkung im Globus pallidus bds. Diffuse Marklagerläsionen u. Atrophie bds.
Ther.: Symptomatisch. HSZT in Einzelfällen.
Progn.: Chron. Progredienz.

GM2-Gangliosidose (Morbus Tay-Sachs)


ICD-10 E75.0
Ätiol.: Path. Gangliosid-GM2-Anreicherung im ZNS bei aut. rez. Enzymdefekt
(β-Hexosaminidase A). Prävalenz: 1 : 300.000 (1 : 3.600 bei Ashkenazi-Juden).
Klinik: Progrediente spinozerebelläre Ataxie, Dystonie, ALS-ähnliche Sympt. mit
generalisierter Muskelschwäche u. Faszikulationen, (bipolare) Psychose.
DD: Spinozerebelläre Ataxie, spinale Muskelatrophie, Friedreich-Ataxie, ALS,
Demenzen, organische Psychosen.
Diagn.:
• Labor: β-Hexosaminidase A in Serum u. Leukos. Gendiagn.: HEXA-Gen
(Chromosom 15q23-q24).
• MRT: Schwache u. diffuse T2W-Signalanhebung im Marklager bds. u. den
Basalganglien. Generalisierte Hirnatrophie.
• CCT: Hyperdense Thalami.
Ther.: Symptomatisch. Experimentell: Substratinhibition mit Miglustat (Phase III
24 bei infantilen Formen, Phase II bei juvenilen Formen); Verbesserung der Enzym-
funktion mit Pyrimethamin (pharmakologisches Chaperone, Phase I bei adulten
Formen).
Progn.: Chron. Progredienz.

Weitere seltene lysosomale Erkrankungen des Erwachsenenalters


mit Leukodystrophie
▶ Tab. 24.1.
Tab. 24.1  Symptome u. Diagnostik seltener lysosomaler Leukodystrophien im
Erwachsenenalter
Erkrankung Leitsymptom Diagnostik

Mukopolysaccharido- Leichte kognitive Einschränkun- α-L-Iduronidase (Leu),


se, Typ I S (Scheie) gen, selten: Psychose, Gelenk- Dermatan-Sulfat (U)
steifigkeit, Hirsutismus, Seh-/ GD: IDUA, 4p16.3
Hörstör.

Fucosidose, Typ II Mentale Retardierung, Dysmor- α-L-Fucosidase (Leu, F)


phien, Angiokeratome GD: FUCA1, 1p34

Ceroid-Lipofuszinose, Demenz, Myoklonusepilepsie, Hautbiopsie (Lipofuszin)


adulte Form (M. Kufs) Ataxie, Dysarthrie, Hyperkinesen Palmitoylprotein Thioes-
terase 1 (Leu, F)
   24.3  Leukodystrophien im Erwachsenenalter  793

Tab. 24.1  Symptome u. Diagnostik seltener lysosomaler Leukodystrophien im


Erwachsenenalter (Forts.)
Erkrankung Leitsymptom Diagnostik

M. Salla Spastik, Ataxie; Dysmorphie, Sialsäure (U, L)


mentale Retardierung, Epilepsie,
Neuropathie

S: Serum, Leu: Leukozyten, F: Fibroblasten, U: Urin, L: Liquor cerebrospinalis; GD:


Gendiagnostik

24.3.6 Leukodystrophien mit peroxisomalen


Speicherkrankheiten
X-chromosomale Adrenoleukodystrophie (ALD)
ICD-10 E71.3
Ätiol.: Anreicherung überlangkettiger, gesättigter Fettsäuren (very long chain fat-
ty acids, VLCFA), bevorzugt in Nervensystem, Nebennieren u. Hoden. X-chrom.
Gendefekt.
Klinik:
• Adrenomyeloneuropathie (AMN): Langsam progrediente spastische Parapare-
se, distal symmetrische sensible Stör. (häufig querschnittsartig mit thorakalem
Niveau), Blasenstör. Übergang in zerebrale Verlaufsform möglich (bis 20 %
d. F.).
• Adulte zerebrale ALD (ACALD): Prim. Verhaltensauffälligkeiten, Psychose,
später Demenz, spastisch-ataktische Sy. Rasch progredienter Verlauf, uner-
warteter Stillstand (arrestierte Form) möglich (< 5 %).
• Olivo-ponto-zerebelläre Form: Selten, prim. Ataxie, Dysarthrie, Tetraspastik.
DD: MS, hereditäre spatische Paraparesen, spinozerebelläre Ataxie, Friedreich-
Ataxie, Demenzen, organische Psychosen. 24
Diagn.:
• Labor: VLCFA in Serum o. Fibroblasten.
• Gendiagn.: ABCD-Gen (Chromosom Xq 28).
• MRT:
– AMN: Meist normales zerebrale MRT, spinale Atrophie, evtl. bilaterale
T2W-Signalanhebung in Projektion auf die Pyramidenbahnen in Hirn-
stamm u. Capsula interna.
– ACALD: Flächige T2W-Signalanhebung im Corpus callosum u. parie-
tookzipitalen (85 %) o. frontalen (15 %) Marklager bds. mit randständiger
KM-Anreicherung.
Ther.:
• Symptomatisch. Senkung der VLCFA durch Glyceroltrioleat/Glyceroltrieru-
cat („Lorenzo's Öl“) in Komb. mit einer C26:0-fettsäurearmen Diät.
• HSZT bei frühen zerebralen Verlaufsformen.
• Experimentell: Genther.
Nachbehandlung: Vorstellung in Leukodystrophie-Zentren.
Progn.: Bei AMN chron. Progredienz, unbehandelt 20 % Risiko für zerebral-ent-
zündliche Konversion mit rapider Prognoseverschlechterung. Lebenserwartung
bei ACALD u. zerebralen AMN-Formen 2–10 J.
794 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Weitere seltene peroxisomale Erkrankungen des Erwachsenenalters


mit Leukodystrophie
▶ Tab. 24.2.
Tab. 24.2  Symptome u. Diagnostik seltener peroxisomaler Leukodystrophien
im Erwachsenenalter
Erkrankung Leitsymptom Diagnostik

Verschiedene Stör. Mentale Retardierung, Spastik, VLCFA, Phytansäure,


der Peroxisomenbio- PNP, Hörminderung ­Pristansäure ↑ (S, F),
genese ­Plasmalogen ↓ (S)
GD: PEX1,2,5,6,10,12,26

Adulter M. Refsum Ataxie, PNP, Hörstör., Retinitis Phytansäure (S, F)


pigmentosa, Ichthyose, konzen- GD: PEX7, 6q22-q24
trische Gesichtsfeldeinengung

S: Serum, F: Fibroblasten, GD: Gendiagnostik

24.3.7 Leukodystrophien mit anderem oder unbekanntem


metabolischem Defekt
Cerebrotendinosis xanthomatosa (CTX)
ICD-10 E75.5
Ätiol.: Anreicherung von Cholestanol in Körpergeweben bei genetischem
­Enzymdefekt (27-Hydroxylase). Aut. rez.
Klinik:
• Früh: Durchfälle, Ikterus, Katarakt, Xanthelasmen.
• Später: Spastik, Ataxie, PNP, Dystonie, Epilepsie, Parkinson-Sy., progrediente
Demenz u. Psychosen.
24 Diagn.:
• Labor: Cholestanol i. S. u. i. L.; erniedrigte 27-Hydrolase in Fibroblasten.
• Gendiagn.: CYP27A1-Gen (Chromosom 2q33-qter).
• MRT: Signalabsenkung in T2*-Sequenzen im Nucleus dentatus u. zerebellär,
Atrophie. Bilaterale T2W-Signalanhebung im Bereich der langen Bahnen im
Hirnstamm, spinal sowie später in beiden Marklagern.
Ther.:
• Symptomatisch.
• Senkung von Cholestanol mit Chenodesoxycholsäure, ggf. in Komb. mit
­Statinen.
• Experimentell: LDL-Apherese.
• Ther.-Monitoring anhand der Cholestanol-Werte.
• Ophthalmologische u. kardiologische Kontrollen.
Progn.: Verlauf variiert erheblich (relativ frühe mentale Retardierung, Auftreten
in der Adoleszenz o. später mit zunehmender Demenz im 4.–6. Ljz), unbehandelt
chron.-progrediente Verschlechterung von Spastik, Ataxie u. Demenz sowie der
Sehnenxanthome u. des Katarakts; erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkr.

Polyglukosankörperchen-Erkrankung
Ätiol.: Anreicherung von Glykogenkörperchen in Körpergeweben bei geneti-
schem Enzymdefekt (glycogen branching enzyme). Aut. rez.
   24.3  Leukodystrophien im Erwachsenenalter  795

Klinik: Paraspastik, periphere Neuropathie, Blasenstör., später: zerebelläre Ata-


xie, Dystonie, Muskelatrophie u. Demenz.
Diagn.:
• Labor: Glykogen branching enzyme ↓ (Leukos).
• Biopsie: Polyglukosankörperchen (Nervenbiopsie, axilläre Hautbiopsie).
• Gendiagn.: GBE-Gen (Chromosom 4p14).
• MRT: Ausgedehnte, bilateral fleckförmig-konfluierende T2W-Signalanhe-
bung periventrikulär in beiden Marklagern u. zerebellär. U-Fasern u. Corpus
callosum anfangs ausgespart. Hirnstammbetonte Atrophie.
Ther.: Symptomatisch
Progn.: Variabler Verlauf (3–30 J.) mit chron. Progredienz.

Leukencephalopathy with vanishing white matter (VWMD)/Childhood


ataxia with central nervous system hypomyelination (CACH)
Ätiol.: Genetischer Defekt in der Proteinbiosynthese. Aut. rez. Vererbung.
Klinik:
• Schädeltraumen o. OP mit Anästhesie oft krankheitsauslösend.
• Kindl., juvenile u. adulte Formen.
• Im Erw.-Alter initial Verhaltensauffälligkeiten, transiente Sehstör. o. Hemipa-
resen. Amenorrhö bei F, später zunehmende kognitive Defizite, Epilepsie,
­Paraspastik, Ataxie.
Diagn.:
• Gendiagn.: EIF2B-1–5-Gene (Chromosomen 12, 14q24, 1p34.1, 2p23.3,
3q27).
• MRT: Ausgedehnte T2W-Signalanhebung der Marklager, später zystische
Degeneration (T2-Flair-Signalminderung), U-Fasern nicht betroffen, Atro-
phie (mäßig, zerebelläre Betonung), Hirnstamm- u. spinale Läsionen (können
auch wieder verschwinden), selten zerebelläre o. Stammganglienläsionen.
Ther.: Symptomatisch.
Progn.: Hohe Variabilität des klin. Verlaufs. Sehr milde Verlaufsformen bis zum 24
Erw.-Alter möglich.

Megalencephalic leukoencephalopathy with subcortical cysts (MLC)


Ätiol.: Genetischer Defekt in der Proteinbiosynthese. Aut. rez. Vererbung.
Klinik:
• Beginn meist im Kindesalter, langsame Progression bis zum Erw.-Alter mög-
lich.
• Makrozephalie.
• Stresssituationen u. leichte Kopftraumata häufig auslösend.
• Motorische Entwicklungsverzögerung, Spastik, Dysarthrie, Ataxie, selten ex­
trapyramidalmotorische Sympt., häufig Epilepsie.
• Späte u. leichte kognitive Defizite.
Diagn.:
• Gendiagn.: MLC1-Gen (Chromosom 22q13.3), pos. bei 70 %.
• MRT: Ausgedehnte T2W-Signalanhebung der Marklager (Schwellung), sub-
kortikale Zysten bes. frontotemporal u. -parietal. Zentrale weiße Substanz
(Corpus callosum, Capsula interna, Hirnstamm) u. Kleinhirn anfangs weni-
ger betroffen, sek. Atrophie.
Ther.: Symptomatisch.
796 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Nachbehandlung:
• Vermeidung extremer körperl. u. seelischer Stresssituationen, keine Risiko-
sportarten.
• Frühzeitige Behandlung von Fieber u. Infektionen; Impfungen.
Progn.: Hohe Variabilität des klin. Verlaufs. Sehr milde Verlaufsformen bis zum
Erw.-Alter möglich.

Leukencephalopathy with brain stem and spinal cord involvement


and elevated white matter lactate (LBSL)
Ätiol.: Genetischer Defekt in der mitochondrialen Aspartyl-tRNA-Synthetase.
Aut. rez. Vererbung.
Klinik: Langsam progrediente, beinbetonte Tetraspastik, Hinterstrangataxie, sel-
ten Epilepsie, leichte kognitive Stör.
Diagn.:
• Gendiagn.: DARS2-Gen (Chromosom 1q25.1).
• LP: Laktat ↑ (bei ansonsten normaler Mitochondrienfunktion).
• MRT: Ausgedehnte, inhomogen fleckförmige, teils konfluierende T2W-Sig-
nalanhebung von Marklager, Corpus callosum, Kleinhirn sowie selektiv ent-
lang der langen Bahnen (Pyramidenbahnen, Hinterstränge) im Hirnstamm u.
spinal. U-Fasern nicht betroffen. Laktatnachweis in der MR-Spektroskopie.
Ther.: Symptomatisch.
Progn.: Hohe Variabilität des klin. Verlaufs. Sehr milde Verlaufsformen bis zum
Erw.-Alter möglich.

Zerebrale Amyloidangiopathie
Ätiol.: Amyloidablagerungen in kleinen Hirngefäßen, Mikrothrombosen, Blu-
tungen. Aut. dom. Vererbung, sporadische Formen.
Klinik: Akute Schlaganfallsympt. bei Hirnblutungen. Rasch progredientes de-
menzielles Sy., fokale neurol. Defizite.
24 Diagn.:
• Leptomeningeale Biopsie: Hyalines, eosinophiles Material in Gefäßwänden
(kongophile Angiopathie).
• MRT: Multilokuläre Mikro- u. Makroblutungen (T2*-Sequenzen!). Ausge-
dehnte, inhomogen fleckförmige, teils konfluierende T2W-Signalanhebung
der Marklager bds. u. Basalganglien. Sek., intern betonte Hirnatrophie.
Ther.:
• Antihypertensive Ther., keine Antikoagulation, keine Thrombozytenaggrega-
tionshemmer.
• Symptomatische Ther.
Progn.: Hohe Variabilität des klin. Verlaufs. Sehr milde Verlaufsformen möglich.

Zerebrale autosomal dominante Arteriopathie mit subkortikalen


Infarkten und Leukenzephalopathie (CADASIL)
Ätiol.: Amyloidablagerungen in kleinen Hirngefäßen, Mikrothrombosen, Blu-
tungen. Aut. dom. Vererbung, sporadische Formen.
Klinik:
• Migräneanamnese, selten auch psychiatrische Anamnese.
• 40.–60. Lj: Rezidivierende, vorwiegend lakunäre Hirninfarkte o. transitorisch
ischämische Attacken, keine „typ.“ vask. Risikofaktoren.
• Um das 60. Lj: Rasch progredientes demenzielles Sy., Pseudobulbärparalyse,
spastische Tetraparese.
   24.3  Leukodystrophien im Erwachsenenalter  797

Diagn.:
• Muskel- u. Hautbiopsie: Generalisierte, nicht kongophile Angiopathie mit
granulärer Degeneration der Media. Elektronenmikroskopisch Nachweis von
osmiophilem Material (Komponenten des Notch-3-Proteins).
• Gendiagn.: Punktmutationen im Notch3-Gen.
• MRT: Umschriebene subkortikale Ischämien v. a. frontotemporal, diffuse o.
multilokuläre, teils konfluierende T2W-Signalanhebung der Marklager bds.
u. Basalganglien. Sek., intern betonte Hirnatrophie.

Keine konventionelle zerebrale Angio wegen erhöhter Rate von KM-­


Zwischenfällen bei CADASIL.

Ther.:
• Ther. sonstiger vask. Risikofaktoren, ggf. ASS.
• Symptomatische Ther.: Psychopharmaka, KG, Antispastika, Antiepileptika.
Bei Migräne kein Sumatriptan, Prophylaxe, falls notwendig, mit Betablo-
ckern.
Progn.: Langjähriger Verlauf mit wiederholten Hirninfarkten u. zunehmender
subkortikaler Demenz. Tod um das 60. Lj.

Seltene Leukenzephalopathien
▶ Tab. 24.3.
Tab. 24.3  Symptome u. Diagnostik seltener Leukenzephalopathien im
­Erwa­chsenenalter
Erkrankung Leitsymptom Diagnostik

Glutarazidurie Im Erw.-Alter: Progressive En- Glutarsäure, Carnitin (U, L), Glu-


zephalopathie. Intermittie- taryl-CoA-Dehydrogenase (Leu, F)
rend metab. Krisen mit metab. GD: GCDH, 19p13.2 24
Azidose, Hyperammonämie,
Leberfunktionsstör., Fieber,
akute Bewegungsstör.

Sjögren-Lars- Beginn im Kindesalter mit FALDH (fatty aldehyde dehydro-


sen-Sy. beinbetonter spastischer Tet- genase; Leu, F)
raparese. Ichthyose. GD: ALDH3A2, 17p11.2

Fragiles-X-Sy. Mentale Retardierung, zere- CGG Repeats im FMR1-Gen


belläre Ataxie, Tremor

M. Alexander Episodische Formen (MS-ähn- GD: GFAP-Gen, 17q21


lich) mit variabler Symptoma-
tik. Chron. progrediente For-
men mit pseudobulbärer
­Sympt., Ataxie, Spastik,
­Nystagmus u. Demenz

Leukenzephalo- Zerebrale Krampfanfälle, CCT: Verkalkungen. MRT: Leuko-


pathie mit Kal- Spastik, Ataxie, fokale Defizite dystrophie, Verkalkungen, Zysten
zifizierungen u. (raumfordernde Zysten)
Zysten (LCC)
798 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Tab. 24.3  Symptome u. Diagnostik seltener Leukenzephalopathien im


­Erwa­chsenenalter (Forts.)
Erkrankung Leitsymptom Diagnostik

Hereditary dif- Progredientes demenzielles Hirnbiopsie: Kombinierte Myeli-


fuse leukence- Sy., Frontalhirn-Sy., psychoti- no- u. Axonopathie, neuroaxona-
phalopathy sche Stör., zerebrale Krampf- le Spheroide.
with neuroaxo- anfälle, später Gangataxie, MRT: Ausgedehnte, inhomogen
nal spheroids Spastik, Harninkontinenz fleckförmige T2W-Signalanhe-
(HDLS) bung der frontalen Marklager,
z. T. auch im prä- u. postzentra-
len Gyrus, Corpus callosum, ent-
lang der Pyramidenbahnen. Zere-
belläre Atrophie

Pelizaeus-Merz- Im Kindesalter: Nystagmus,  D: PLP-Gen Xq21.33-Xq22


G
bacher-Erkr. Kopftremor, geistige Entwick- MRT: Flaue T2W-Signalanhebung
lungsverzögerung, Epilepsie. u. T1W-Signalabsenkung der ge-
Später: Tetraspastik, zerebellä- samten weißen Substanz bis auf
re Ataxie, EPMS, Visusstör., Teile der zerebellären weißen
leichte kognitive Defizite Substanz

Dentatorubro- Ataxie, Athetose, leichte De- CAG Repeats im DRPLA-Gen,


pallidoluysian menz (DD Chorea Huntington) 12p13.31
atrophy (­DRPLA)

Leu: Leukozyten, F: Fibroblasten, U: Urin, L: Liquor cerebrospinalis; GD: Gendiagn.

24.4 Angeborene Enzephalomyopathien
24.4.1 Mitochondriopathien
24
▶ 20.4., ICD-10 G71.3.
Ätiologie
Genetische Defekte in der mitochondrialen DNA führen zu einer Stör. der mito-
chondrialen Energiegewinnung. Klin. Sympt. betrifft v. a. Organe mit hohem
Energieumsatz wie Skelettmuskel, Myokard, ZNS u. Leber.

Klinik
• Prox. betonte belastungsabhängige Muskelschwäche, externe Ophthalmople-
gie.
• Kardiale Sympt.: Reizleitungsstör., Kardiomyopathie.
• ZNS: Mentale Retardierung o. demenzielle Entwicklung, psychopath. Sympt.,
Ataxie, Dystonie, zerebrale Krampfanfälle, fokal neurol. Sympt.

Diagnostik
Bei V. a. mitochondriale Erkr.:
• Familienanamnese.
• Labor (im Serum Laktat ↑, Pyruvat ↑, CK, CK-MB).
• Fahrradbelastungstest (path. Laktatanstieg).
• EMG.
• EEG (mit Fotostimulation).
  24.4 Angeborene Enzephalomyopathien  799

• Muskelbiopsie (histologische u. enzymhistochemische Analytik: ragged red fi-


bers, elektronenmikroskopisch Mitochondrienveränderungen, biochemische
Analytik: Bestimmung isolierter Enzymaktivitäten, evtl. Coenzym-Q10-Konz.).
• Molekulargenetische Unters.
• MRT (Basalganglienverkalkung, fokale Substanzdefekte, Ischämiezeichen,
white matter lesions, globale Hirnatrophie).
• LP (Gesamteiweiß ↑, Laktat ↑).
Nach Diagnosestellung einer mitochondrialen Erkr.:
• 24-h-EKG.
• Herzultraschall (Kardiomyopathie? Reizleitungsstör.?).
• Ophthalmologischer Status mit Fundoskopie (Pigmentdegeneration der Reti-
na? Optikusatrophie?).
• HNO-ärztliche Unters. (sensorineurale Schwerhörigkeit?) mit Videofluoros-
kopie u. Ösophagomanometrie bei Dysphagie (krikopharyngeale Achalasie?
Motilitätsstör.?).
• Endokrinologische Unters. (Diab. mell.?).
Therapie
Bisher keine kurative Behandlung. Experimenteller Einsatz antioxidativer Sub­
stanzen, Vit. u. Kofaktoren der Atmungskette:
• Coenzym Q10 (Ubiquinon): 50–300 mg/d p. o., bei Coenzym-Q-10-Defizienz
500–1.000 mg/d p. o. aufgeteilt auf mehrere ED. Mobiler Elektronencarrier
mit antioxidativen Eigenschaften, Ind.: Coenzym-Q-Defizienz, alle mitochon-
drialen Erkr.
• Idebenon: 90–270 mg/d p. o., in Studien bis zu 900 mg/d (LHON) u.
2.250 mg/d (Friedreich-Ataxie). Wirkmechanismus analog zu Coenzym Q10,
Quinonderivat. Ind.: Verschiedene mitochondriale Erkr. v.a. Leber hereditäre
Optikusneuropathie LHON, Kardiomyopathie.
• Riboflavin (Vit. B2): 10–100 mg/d p. o. Vorläufer von Flavinmononukleotid
u. Flavinadenindinukleotid, den Kofaktoren von Komplex I/II, Ind.: Kom- 24
plex-I-(u. -II-)Defizienz.
• Kreatin-Monohydrat: 80–150 mg/kg KG/d p. o. Energiepufferung, Stimulati-
on der OXPHOS, muskuläre Proteinsynthesesteigerung, Ind.: Skelettmuskel-
beteiligung, kein Effekt bei CPEO, NW: Leichte Gewichtszunahme, leichte
GIT-Beschwerden, KI: Nierenerkr.
• L-Carnitin: 3 × 1 g/d p. o. o. 24 g/d i. v. Wirkmechanismus: Transport lang-
kettiger Fettsäuren durch die innere mitochondriale Membran, Regulation
der intrazellulären Acyl-CoA-Homöostase, Stabilisation der mitochondrialen
Membran, Ind.: Prim. u. sek. Carnitinmangel; Kardiomyopathie, NW: Übel-
keit, Diarrhö.
Symptomatische Ther.:
• Epileptische Anfälle: Kein Valproat, besser Carbamazepin, Lamotrigin, Levir­
acetam, Gabapentin (▶ 11.1.5).
• Generell Vermeiden von Medikamenten, die die Atmungskette beeinträchti-
gen o. Laktazidose verstärken (Barbiturate, Ringer-Laktat, Biguanide, Valpro-
at, Statine, Linezolid, Aminoglykoside, Chloramphenicol, Tetrazykline). Vor-
sicht bei Anästhetika, bes. Überwachung bei Narkose.
• Moderates aerobes körperl. Ausdauertraining, Vermeiden großer Höhe, Käl-
te, Hitze. Fieber rasch mit Ibuprofen senken.
• Behandlung kardialer, gastroenterologischer, endokrinologischer, ophthal-
mologischer Begleitsy.
800 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Prognose
Hohe Variabilität des klin. Verlaufs, abhängig vom Anteil mutierter mDNA. Pro-
gredient, mildere Verlaufsformen möglich, aber auch Tod durch Kardiomyopa-
thie, Ateminsuff., sek. respiratorische Infekte.

Chronisch-progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO)


ICD-10 H49.4.
▶ 20.4.3.
Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)
ICD-10 H49.8.
▶ 20.4.3.
Mitochondriale Enzephalomyopathie, Laktatazidose und
schlaganfallähnliche Episoden (MELAS)
ICD-10 G31.81.
▶ 20.4.4.
Myoklonusepilepsie mit ragged red fibres (MERRF)
ICD-10 G31.81.
▶ 20.4.5.
Neuropathie, Ataxie und Retinitis pigmentosa (NARP)
Klinik:
• Axonale Neuropathie, Ataxie u. Pigmentretinopathie.
• Begleitsympt.:
– Entwicklungsverzögerung.
– Epileptische Anfälle.
– Kognitive Einbußen bis zur Demenz.
24 – Prox. Muskelschwäche.
Diagn.:
• MRT Schädel (Kleinhirnatrophie).
• Elektroneurografie, EEG, 24-h-EEG (epilepsietypische Potenziale?).
• Neuropsychologische Testung.
• Molekulargenetik prim. aus Leuko-DNA.
Ther.: Bei neuropath. Schmerzen/epileptischen Anfällen: Gabapentin/
Carbamazepin.

Mitochondriale neurogastrointestinale Enzephalomyopathie (MNGIE)


Klinik:
• Viszerale Neuropathie, GIT-Motilitätsstör., wechselnde Phasen mit Diar-
rhöen, Obstipation, intestinaler Pseudoobstruktion u. Gastroparese, Malnut-
rition, Kachexie.
• Externe Ophthalmoplegie mit Ptosis.
• Leukenzephalopathie.
• Sensomotorische PNP u. Myopathie.
• Manifestation meist in der 1. u. 2. Lebensdekade.
Diagn.:
• MRT Schädel (Signalanhebungen des Marklagers in T2-Sequenzen).
• Gastroenterologischer Status mit Gastro-, Duodeno- u. Koloskopie.
• Elektroneurografie.
   24.5  Enzephalopathie bei anderen angeborenen Stoffwechselstörungen  801

• Bestimmung der Tymidinphosphorylase-Aktivität in Leukos; Thymidin-Spie-


gel i. S. (↑ um Größenfaktor 20).
• Molekulargenetik aus Skelettmuskel-DNA.
Ther.: Ausreichende Flüssigkeits- u. Kalorienzufuhr sichern, medikamentöse In-
tervention bei schweren Diarrhöen o. ausgeprägter Obstipation.

24.4.2 Myotonien mit enzephalopathischer


Begleitsymptomatik
ICD-10 G71.1.
Def.: Genetisch bedingte progressive, degenerative Myopathien mit Beteiligung
anderer Organsysteme.
Klinik:
• Myotonie u. Muskelschwäche.
• Cataracta myotonica.
• Herzrhythmusstör.
• Leukenzephalopathie mit psychopath. Sympt. bis hin zur demenziellen Ent-
wicklung.
• Vegetative Sympt.
• Beteiligung weiterer Organsysteme, z. B. endokrine Stör.
Diagn.:
• Labor (CK, endokrinologische Parameter).
• EMG.
• EKG.
• Molekulargenetische Unters.
• CMRT.
Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert
ICD-10 G71.1.
▶ 20.5.1. 24
Proximale myotone Myopathie (PROMM)
ICD-10 G71.1.
▶ 20.5.2.

24.5 Enzephalopathie bei anderen


angeborenen Stoffwechselstörungen
24.5.1 Porphyrie
ICD-10 E80.
Def.: Eher seltene Enzephalopathie bei akuter intermittierender Porphyrie.
Ätiol.:
• Meist erbliche (selten erworbene) Stör. des Porphyrinstoffwechsels bei Häm-
Synthese der Leber.
• Ausgelöst durch Medikamente (Barbiturate, Benzodiazepine, Clonidin, Dic­lo­
fenac, Halothan, orale Kontrazeptiva, Sulfonamide, Theophyllin), Infektionen,
Gravidität, Menstruation, Fasten, Hypoglykämie o. Alkohol path. Erhöhung
von Porphyrinstoffwechselprodukten, die akute klin. Sympt. verursachen.
802 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Klinik:
• Intermittierend Rotfärbung des Urins, abdominale Krisen (Bauchschmerzen,
Erbrechen, Fieber, Leukozytose), kardiovask. Sympt. (Tachykardie, Hyperto-
nie).
• Gedächtnis- u. Konzentrationsstör., Schläfrigkeit, Verwirrtheitszustände, psy-
chotische Episoden. Bulbärhirnsympt., Schluckstör., Dyspnoe. Andere neu-
rol. Herdsympt. wie Hemiparese, Aphasie, extrapyramidale Symptome (Ri-
gor, Tremor).
Diagn.: Porphyrin i. S. ↑, Porphobilinogen u. δ-Aminolävulinsäure i. U. normal
o. ↑.
DD: Endogene Psychosen, sek. Porphyrien (tox. durch Blei o. Hexchlorbenzol).
Ther.:

Absetzen auslösender Medikamente. Kontaktaufnahme mit einem Porphy-


riezentrum.

• Hemmung der Häm-Biosynthese: Glukose 4–6 g/kg KG/d u. Pyridoxinhyd-


rochlorid (z. B. B6-Vicotrat®) 200–300 mg/d p. o. Hämarginat (z. B. Normo-
sang®) 3 mg/kg KG/d langsam i. v.
• Symptomatisch:
– Schmerzen: Analgetika z. B. Paracetamol 500–1.000 mg p. o., evtl. Pethi-
din.
! Kein Diclofenac, Phenylbutazon, Ergotamin, Pentazosin.
– Bauchkoliken: Spasmolytika vom Atropintyp.
– Tachykardie, Hypertonie: Betablocker z. B. Metoprolol 50–100 mg/d p. o.
(z. B. Beloc®).
! Kein Clonidin, Hydralazin, Methyldopa.
– Unruhe: Promethazin 3 × 25 mg/d p. o. (z. B. Atosil®).
! Keine Benzodiazepine.
24 – Übelkeit: Ondansetron (z. B. Zofran®) 4–8 mg p. o. u. i. v. möglich.
– Zerebrale Krampfanfälle: Mg2+-Spiegel von 2,5–2,75 mmol/l anstreben,
Gabapentin (z. B. Neurontin®) 3 × 200–600 mg/d p. o.
! Kein Ethosuximid, Mesuximid, Phenytoin, Primidon, Valproinat,
Benzodiazepine.

24.5.2 Hartnup-Krankheit
ICD-10 E72.0.
Def./Ätiol.: Prim. Enzephalopathie bei Aminosäurestoffwechselstör. (endogener
Niacinmangel durch aut. rez. vererbte renale u. intestinale Transportstör. für
Tryptophan).
Klinik: Intermittierend auftretende Fotodermatosen, zerebelläre Ataxie, PNP,
psychopath. Sympt.
Ther.: Parenterale Niacinsubstitution mit 200 mg/d (z. B. Nicobion®).

24.5.3 Wilson-Krankheit
ICD-10 E83.0, G25.8.
Def./Ätiol.: Enzephalopathie durch path. Kupferspeicherung im Gehirn u. Leber-
zirrhose bei aut. rez. vererbter Kupferstoffwechselstör.
Klinik, Diagn., Ther. u. Progn. ▶ 15.5.
   24.6  Enzephalopathien bei Organversagen  803

24.6 Enzephalopathien bei Organversagen


24.6.1 Hepatische Enzephalopathie
ICD-10 K72.9.
Definition
Funktionsstör. des Gehirns bei Leberstoffwechselstör.
Mangelnde Entgiftung neurotox. Stoffe durch die Leber, NH3-Spiegel  ↑, Akku-
mulation hemmender Neurotransmitter im ZNS.

Ätiologie
• Akutes Leberversagen bei Virusinfektionen o. durch Hepatotoxine (Knollen-
blätterpilzvergiftung).
• Chron. Lebererkr. wie chron. aggressive Hepatitis, postnekrotische o. alko-
holtox. Leberzirrhose mit portaler Hypertonie u. portokavalen Shunts, opera-
tiv angelegte portokavale Anastomosen. Hier Exazerbation der latenten Enze-
phalopathie häufig durch Medikamente (z. B. Sedativa, Analgetika, Diureti-
ka), Alkohol, GIT-Blutungen, übermäßige Proteinzufuhr, Obstipation, Infek-
tionen, Hypovolämie, Stör. des E'lyt- o. Säure-Basen-Haushalts.

Klinik und Verlauf


• Vigilanz- u. Bewusstseinsstör.
• Psychopath. Sympt. wie Konzentrations-, Orientierungs- u. Gedächtnisstör.,
Unruhe, Denkstör., seltener Halluzinationen.
• Asterixis, motorische Reiz- u. Ausfallerscheinungen wie orale Automatismen,
motorische Enthemmungsphänomene wie Schnauz-, Palmomental- u.
Greifreflex.
• Hirnstammreflexe u. Pupillenreaktion erhalten (meist bis in die Endstadien).
Chron. hepatische Enzephalopathie: 24
• Meist bei Leberzirrhosen, v. a. im Stadium Child B o. C (▶ Tab. 24.6).
• Chron. progressiv über Tage bis Wo. o. je nach Auslöser intermittierend auf-
tretend u. fluktuierend. Bewusstseinsstör. mit Somnolenz, über Tage bis Wo.
Progression bis zum Koma.
• Vielfältige, meist fluktuierende psychopath. Sympt. wie Aufmerksamkeits-,
Orientierungs-, Konzentrations- u. Gedächtnisstör., psychomotorische Unru-
he bis zu Erregungszuständen u. Halluzinosen.
• Asterixis, motorische Reiz- u. Ausfallerscheinungen wie orale Automatismen,
motorische Enthemmungsphänomene (Schnauz-, Palmomental-, Greifreflex).
• Daneben Sympt. der Leberzirrhose wie derbe Konsistenz der Leber, Spider
naevi, Palmarerythem, glatte rote Zunge, Mundwinkelrhagaden, Gynäkomas-
tie, Bauchglatze, Ikterus, Foetor hepaticus, Petechien bei hämorrhagischer
Diathese.
Akute hepatische Enzephalopathie:
• Bei Leberzerfall- o. -ausfallkoma (z. B. akut nekrotisierende Virushepatitis) o.
als akute Exazerbation einer chron. hepatischen Enzephalopathie.
• Relativ rasch innerhalb von Stunden bis Tagen zunehmende Bewusstseins-
stör. mit Übergang der Somnolenz in Stupor u. schließlich Koma.
• Weniger differenzierte psychopath. Befunde, meist zunächst Unruhe. Aste-
rixis, orale u. faziale Automatismen, motorische Enthemmungsphänomene,
häufig zerebrale Krampfanfälle.
804 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Diagnostik
Anamnese: Fremd-, Berufs-, Familienanamnese (Stoffwechselstör.), Alkohol,
­Medikamente, GIT-Blutungen, opulente Mahlzeiten (Proteinzufuhr), Infektionen.
Labor:
• Syntheseleistung: Albumin, Quick, CHE, Bili.
• Zelluntergang: Transaminasen ↑.
• NH3-Spiegel (▶ Tab. 24.4): In Blut u. Liquor, Normalwerte i. S.: M 15–
55 μmol/l, F 11–48 μmol/l; EDTA-Blut innerhalb von 10 Min. verarbeiten o.
max. 1 h bei 4 °C (Eiswasser).
EEG: Generalisierte hochamplitudige Delta-Aktivität im späteren Stadium. Im
frühen Stadium paroxysmal, manchmal auch vor den ersten klin. Sympt.
(▶ Tab. 24.4). Verlaufskontrolle.

Tab. 24.4  Enzephalopathie-Index, modifiziert nach Conn u. Lieberthal (1978)


Symptom Gewich­ Grad 0 Grad 1 Grad 2 Grad 3 Grad 4
tungsfak­
tor

Psychi- 3 Normal Stör. von Lethargie, Somnolenz, Koma


scher Be- Aufmerk- Desorien- Stupor, völ-
fund samkeit u. tiertheit, lige Desori-
Konzent- inadäqua- entiertheit
ration, tes Verhal-
Euphorie, ten, Persön-
Angst lichkeitsver-
änderung

Zahlen- 1 < 30 s 31–50 s 51–80 s 81–120 s > 120 s


verbin-
dungstest

Asterixis 1 Keine Selten Selten irre- Häufig Ständig


24 gulär

EEG 1 Normal 7–8/s 5–7/s 3–5/s < 3/s


(Grund-
rhythmus)

Art. NH3- 1 < 150 μg 151– 201–250 μg 251–300 μg > 300 μg


Spiegel 200 μg
(nüchtern)

Sono: Lebergröße, -oberfläche, -binnenstruktur, Aszites, Splenomegalie, LK, Zei-


chen eines Umgehungskreislaufs, evtl. Punktion.

Differenzialdiagnosen
• SAE (▶ 7.4.2): Zerebrale Herdsympt., psychopath. Auffälligkeiten, Demenz,
vask. Risikofaktoren.
• Hirnblutung (▶ 8), -ischämie (▶ 7): Akutes neurol. Defizit, evtl. Hemiparese,
Aphasie, Neglekt, Gesichtsfeldausfälle, Augenmotilitäts-, Pupillenstör.
• Psychomotorische Anfälle (▶ 3.16.10): Dauer 2–5 Min., attackenweise auftre-
tend, evtl. mit Aura, Automatismen (Schmatzen, Lecken, Nesteln, Grimassie-
ren), allmähliche Reorientierung, epilepsietypische Potenziale im EEG.
• Intox. (▶ 3.17): Vorangehendes Exzitationsstadium, dann Pupillenstör. (Mio-
sis, Mydriasis), zerebrale Anfälle, extrapyramidale Sympt., Hirndruckzeichen,
   24.6  Enzephalopathien bei Organversagen  805

Veränderungen des Muskeltonus (Hyper-, Hypotonie), (Fremd-)Anamnese,


Hinweise auf Injektionen (Ellenbeugen), Medikamente.
• Enzephalitis (▶ 9.3.1): Neurol. Herdsympt., zerebrale Krampfanfälle, Fieber,
Leukozytose, Liquorpleozytose.
• Wernicke-Enzephalopathie (▶ 24.8.1): Augenmotilitätsstör., mnestische Stör.,
Ataxie.
• Andere Enzephalopathien: Z. B. urämisch (▶ 24.6.2), endokrin (▶ 24.6.3), bei
Pankreatitis (▶ 24.6.3).
• Reye-Sy. (ICD-10 G93.7): Bei Kindern u. Jugendlichen nach ASS o. viralen
Infekten, Fieber, Erbrechen, Tachypnoe, Tachykardie, zerebrale Krampfanfäl-
le, später Koma mit Streckkrämpfen, Verlust von Hirnstammreflexen.

Therapie
• Grunderkr. behandeln, z. B. Hepatitis (▶ Tab. 24.5) o. Intox.
• Auslösende Urs. beseitigen, z. B. Alkohol, Medikamente o. GIT-Blutung.
• Hypovolämie, Hypokaliämie, Hyponatriämie o. Alkalose behandeln.
• Lebertox. Medikamente vermeiden.
• Bei chron. Enzephalopathie Reduktion der Eiweißaufnahme aus dem Darm
durch verminderte Proteinzufuhr bei ausreichender Kalorienzufuhr, Laktulo-
se, Antibiotika, Einläufe.
• Hohe Einläufe mit Magnesiumsulfat bei akut exazerbierter Enzephalopathie.
• Notfall-Lebertransplantation bei akuter hepatischer Enzephalopathie.
• Evtl. Ausgleich der Aminosäuren-Imbalance u. der Neurotransmitterstör.
durch Zufuhr verzweigtkettiger Aminosäuren, dopaminerger Substanzen u.
Benzodiazepinantagonisten (Wirksamkeit noch nicht gesichert).

Tab. 24.5  Therapie der chron. hepatischen Enzephalopathie


Grad der En­ Maßnahmen
zephalopathie

Basismaßnah- Intensivüberwachung. Proteinkarenz: Max. 20–30 g/d für max.


24
men 2–3 d, dann 10 g/d mehr bis 1 g/kg KG/d Kalorienzufuhr: Hochpro-
zentige Glukose-Lsg. (mind. 1.600 kcal), Laktulose (z. B. Bifiteral®):
30–50 ml p. o. alle 2 h o. als Einlauf

Grad I Stressulkusprophylaxe (▶ 7.1.4). Bei Gerinnungsstör. Vit. K 10 mg/d


(Konakion®)

Grad II Zusätzlich Laktulose 250 ml + 750 ml Wasser über Magensonde

Grad III Zusätzlich: Neomycin 6–8 g/d (z. B. Bykomycin®) über Magensonde


für 5–6 d, dann Erhaltungsdosis 2 g/d bis zur Normalisierung des
Rest-N. Bei anhaltenden Gerinnungsstör. 4–8 FFP/d nach Quick

Grad IV Zusätzlich verzweigtkettige Aminosäuren 500–1.000 ml/d i. v.


(­Comafusin® Hepar), nach Besserung Umsetzen auf orale Ther.,
z. B. Falkamin® 0,3 g/kg KG

Prognose
Umso schlechter, je höher Child-Pugh-Score (▶ Tab. 24.6).
806 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Tab. 24.6  Child-Pugh-Score zur Prognoseabschätzung der Leberzirrhose


1 Punkt 2 Punkte 3 Punkte

Albumin > 35 g/l 28–35 g/l < 28 g/l

Aszites Fehlend Gering Ausgeprägt

Bilirubin ≤ 2 mg/dl 2–3 mg/dl (34– ≥ 3 mg/dl


(≤ 34 μmol/l) 51 μmol/l) (≥ 51 μmol/l)

Quick > 70 40–70 < 40

Enzephalopathie Keine Leicht Präkoma, Koma

Child A: 5–6 Punkte, Child B: 7–9 Punkte, Child C: 10–15 Punkte

24.6.2 Enzephalopathie bei Nierenerkrankungen


Urämische Enzephalopathie
ICD-10 G93.4.
Ätiol.: Bei dekompensierter Niereninsuff. u. akutem Nierenversagen führen An-
reicherung harnpflichtiger Substanzen i. S. u. E'lytverschiebungen zur Stör. der
Blut-Hirn-Schranke mit Hirnödem.
Klinik:
• Beginn mit Müdigkeit, Verlangsamung, Apathie, Konzentrations- u. Orien-
tierungsstör., psychomotorische Unruhe, Affektlabilität.
• Später Halluzinationen, katatone Sympt. u. Koma, Hirnstammsympt. wie
Myoklonien, Asterixis, Nystagmus, Strecksynergismen, MER ↑.
• Häufig auch Ataxie, Dysarthrie, Intentionstremor.
• Meningismus, Hirndrucksteigerung mit Kopfschmerzen, STP, Erbrechen,
Singultus u. sek. Eintrübung.
24 • Zerebrale Krampfanfälle (meist bei akutem Nierenversagen).
Diagn.:
• Labor: K+ ↑, Phosphat ↑, Albumin ↓, Ca2+ ↓, Krea ↑, Harnstoff ↑, Anämie,
Liquorpleozytose bis 100/mm3 Zellen.
• EEG: Leicht- bis mittelgradige Allgemeinveränderung (▶ 2.2.5).
DD:
• Intrakranielle Blutungen (▶ 8) o. Ischämien (▶ 7), bes. des hinteren Kreislaufs
mit akuter Bewusstseinstrübung, Hemi- o. Tetraparese, HN-Stör.
• Meningitis, Meningoenzephalitis (▶ 9): Kopfschmerzen, Fieber, Meningis-
mus, Krampfanfälle, zerebrale Herdsympt. (Hemiparese, Hemianopsie) u.
Bewusstseinsstör. (Somnolenz, Koma).
• Zerebrale Krampfanfälle anderer Urs. (▶ 11.1).
• Andere Enzephalopathien: Z. B. hepatische Enzephalopathie (▶ 24.6.1), zent-
rale pontine Myelinolyse (▶ 24.8.1).
• Andere bei Dialysepat. gehäuft auftretende Erkr. mit neurol. o. psychopath.
Sympt.: Dialyse-Dysequilibrium-Sy. (s. u.), E'lyt-Stör. (▶ 24.7), Vit.-Mangelsy.
(▶ 24.12), SDH (▶ 22.2.2, ▶ 22.2.3), hypertensive Enzephalopathie, Medika-
menten-NW, Intox. mit Spurenelementen.
Ther.:
• Ther. der Grunderkr., Intensivstation, Flüssigkeitsbilanzierung.
• Steigerung der Diurese: Furosemid bis 1.500 mg/d (z. B. Lasix®), Dopamin in
„Nierendosis“ (250 mg/50 ml, 3 ml/h), Etacrynsäure bis zu 100 mg i. v. einma-
lig (z. B. Hydromedin®).
   24.6  Enzephalopathien bei Organversagen  807

• E'lyt-Ausgleich:
– Hyperkaliämie: 8 IE Altinsulin/h in 500 ml 5-prozentiger Glukose-Lsg. u./o.
Ionenaustauscher, z. B. Resonium® A 3–4 × 15 mg/d p. o., 1–2 × 30 g/d rektal.
– Hyperphosphatämie: Aluminiumhydroxid 3–4 × 600–1.800 mg/d p. o.
(z. B. Anti-Phosphat®) vor den Mahlzeiten (nach Phosphatspiegel).
• Parenterale Ernährung: Über ZVK mit möglichst hochkonzentrierten Lsg. u.
damit geringer Flüssigkeitszufuhr.
• Peritoneal- o. Hämodialyse: Intermittierende o. kontinuierliche arteriovenöse
Hämofiltration.
• Ggf. antikonvulsive Ther. (▶ 11.1.5). Dabei Veränderungen der Pharmakoki-
netik durch Nierenversagen u. ggf. Dialyse beachten.
• Ggf. Hirnödemther. (▶ 4.6.4).
Verlauf u. Progn.:
• Entwicklung der Sympt. innerhalb von Tagen bis wenigen Wo., abhängig von
der Akuität der Niereninsuff.
• Typischerweise fluktuierender Verlauf, Beginn mit Müdigkeit, später Halluzi-
nationen, katatone Sympt. u. schließlich Koma.
• Rasche Besserung der neurol. Sympt. durch Dialyse, nach rechtzeitiger Nie-
rentransplantation häufig Restitutio ad integrum.
• Unter chron. Hämodialyse abhängig von der Harnstoffkonzentration, rezid. en-
zephalopathische Sympt. möglich, jedoch milder als bei der Erstmanifestation.

Dialyse-Dysequilibrium-Syndrom
ICD-10 G93.4.
Ätiol.:
• Aufgrund zu rasch durchgeführter Dialyse führen E'lyt-Verschiebungen,
Liquor­azidose u. verzögerte Harnstoffelimination aus dem ZNS zum Hirnödem.
• Auftreten gegen Ende bis 1 d nach Dialyse.
Klinik: Pochende, bilaterale Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Muskelkrämp-
fe, psychomotorische Unruhe, Bewusstseinsstör., selten tonisch-klonische Anfälle. 24
Diagn.:
• Labor: E'lyte, Krea, Harnstoff (meist normal, DD zur urämischen Enzephalo-
pathie), BB, Hb (evtl. Anämie).
• EEG: Leichte Allgemeinveränderung.
• CT: O. B., aber wichtig zur DD (z. B. Tumor, Ischämie).
Ther.:
• Schnelle Rückbildungstendenz, daher meist keine Ther. notwendig.
• Bei fehlender spontaner Besserung innerhalb von Stunden Gabe osmotisch
aktiver Lsg., z. B. 50 ml 20-prozentige Glukose-Lsg. i. v.
• Bei tonisch-klonischen Anfällen Akutther. mit Clonazepam 0,5–1 mg i. v.
­(Rivotril®) zur Anfallsunterbrechung, keine Dauerprophylaxe.
• Änderung des Dialyseprotokolls.
Dialyseenzephalopathie
Def.: Aluminiumintox. durch zu hohen Aluminiumgehalt der Dialyseflüssigkeit.
Kommt heute kaum noch vor.
Klinik: Nach chron. Dialyse subakut auftretende psychopath. u. neuropsychologi-
sche Sympt. (Dyspraxie, Aphasie, Desorientiertheit, Verwirrtheit, Gedächtnis-
stör., Delir, Wahn, Halluzinationen), zerebrale Anfälle, Myoklonien. Unbehan-
delt chron. progredient mit zunehmender Demenz u. Tod innerhalb eines Jahres.
Diagn.: Aluminiumspiegel i. S. >  200 mg/l; im EEG bilaterale langsame Wellen,
generalisierte epileptische Aktivität.
808 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Ther.: Verwendung aluminiumfreier Dialysatflüssigkeiten. Desferoxamin (z. B.


Desferal®).

24.6.3 Endokrine Enzephalopathien
Thyreotoxische Enzephalopathie
ICD-10 E05.9.
Ätiol.: Hyperthyreose meist durch Autoimmunerkr. o. funktionelle Autonomie
der Schilddrüse. Akute lebensbedrohliche Dekompensation als thyreotoxische
Krise bei Hyperthyreose z. B. unter Jodexposition (Rö-KM!), inadäquater Ther.,
OP, Trauma, Infekten.
Klinik:
• Intermittierende Verwirrtheitszustände, von psychomotorischer Unruhe bis
zu ausgeprägten wahnhaften Zustandsbildern, emotionaler Labilität, Angst o.
Depressivität.
• Neuromuskuläre Sympt. (Myopathie, PNP, Hyperreflexie).
• Zerebrale Krampfanfälle u. Herdsympt. wie Tremor u. Choreoathetose.
Diagn.:
• Labor, internistische Diagn.
• EEG: Allgemeinveränderung.
• EMG, NLG (▶ 2.4, ▶ 2.5): Neurogen o. myopathisch verändert.
DD: Hashimoto-Enzephalopathie, Enzephalitis, Ischämie, Blutung, Tumor, ande-
re endokrine Enzephalopathien.

Therapie der thyreotoxischen Krise


• Intensivüberwachung, Kühlung.
• Thyreostatika: Thiamazol 4 × 40 mg i. v. (z. B. Favistan®).
• Prednisolon 100–200 mg/d i. v. (z. B. Decortin® H) mit Magenschutz
(▶ 10.1.6).
24 • Betablocker: Bei Tachykardie, Hypertonie u. Tremor, z. B. Propranolol initial
1–10 mg i. v. unter Monitorkontrolle, danach 4 × 1 mg/d p. o. (z. B. Dociton®).

Enzephalopathie bei Hypothyreose


ICD-10 E03.9.
Ätiol.: Meist bei lange unbehandelter Hypothyreose, Auslösung durch Infekte,
Kälte, sedierende Medikamente, Narkose, Trauma.
Klinik:
• Internistische u. typ. psychopath. Sympt. der Hypothyreose wie Apathie, Mü-
digkeit, affektive Labilität, Verlangsamung kognitiver Funktionen, Vergess-
lichkeit, vermehrtes Kälteempfinden.
• Schwere psychopath. Sy. wie Depression, manisch-depressive Zustandsbilder,
paranoides u./o. halluzinatorisches Sy., kognitive Stör. bis hin zur Demenz.
• Neuromuskuläre Symptome (PNP, Engpasssy., Myopathie, Sensibilitätsstör.,
Hyporeflexie, Paresen). Zerebrale Krampfanfälle, v. a. bei postop. Myxödem,
Herdsympt. mit Ataxie, Nystagmus, Hörstör.
Diagn.:
• Labor, internistische Diagn.
• EEG: Allgemeinveränderung.
• EMG, NLG (▶ 2.4, ▶ 2.5): Neurogen o. myopathisch verändert.
• CCT: Bei Hypothyreose Verkalkung der Stammganglien möglich.
   24.7  Enzephalopathie bei Elektrolytstörungen  809

DD: Hashimoto-Enzephalopathie, Enzephalitis, Ischämie, Blutung, Tumor, ande-


re endokrine Enzephalopathien.

Therapie des Myxödemkomas


• Intensivüberwachung, Intubation bei pCO2 > 50 mmHg.
• L-Thyroxin initial 500 mg, danach 100–200 mg/d i. v. (z. B. Euthyrox®).
• Hydrocortison 200 mg/d i. v.
• Erwärmung langsam um ≈1 °C/h bis Normaltemperatur.
• Digitalisierung: Bei Myokardinsuff. u. Herzrhythmusstör., evtl. passa-
gerer Herzschrittmacher.
• Antikonvulsive Ther. (▶ 11.1.5).

Nach Ausgleich der Hormonstör. meist rasche Rückbildung der neurol.


Sympt.

Andere endokrine Enzephalopathien


• Hyperparathyreoidismus: Ausmaß der zerebralen Sympt. (enzephalopathi-
sches Allgemeinsy., Herdsympt., zerebrale Anfälle) korreliert mit Ca2+ i. S.,
zusätzlich häufig Myopathien u. PNP.
• Hypoparathyreoidismus: Stammganglienverkalkungen (Fahr-Krankheit),
neuromuskuläre Übererregbarkeit.
• NNR-Überfunktion: Hypertensive Enzephalopathie, Myopathie.
• NNR-Unterfunktion: Pseudobulbärparalyse, spastische Tetraparese, kortika-
le Blindheit, zunehmende Demenz, Myopathie.
• Pankreatitis: Akute Verwirrtheitszustände bis zum Delir, Halluzinationen,
zerebrale Krampfanfälle, MER ↑, pos. Babinskizeichen. Im weiteren Verlauf
neurol. Herdsympt. wie Hemiparese, Aphasie u. fokale Krampfanfälle.
24
24.7 Enzephalopathie bei Elektrolytstörungen
24.7.1 Enzephalopathie bei Hyponatriämie
ICD-10 G93.4.
Ätiol.: Hyponatriämie durch:
• Renalen Salzverlust.
• Iatrogen durch zu hohe Flüssigkeitszufuhr u. Gabe von Diuretika.
• Bei vermehrter ADH-Produktion Sy. der inadäquaten ADH-Sekretion
­(SIADH o. Schwartz-Bartter-Sy.) mit Oligurie u. hypervolämischer Hypona­
triämie z. B. nach SHT, Meningitis, SAB, GBS, Hirntumoren o. medikamen-
teninduziert (z. B. unter Carbamazepin, Antidepressiva o. Antiphlogistika).
Klinik: Verlangsamung, Konzentrations- u. Gedächtnisstör., Müdigkeit bis zu Be-
wusstseinsstör. u. Koma, zerebrale Krampfanfälle u. Myoklonien, schlaffe Tetraparese.
Diagn.: E'lyte i. S. (Na+ i. S. < 120 mmol/l).
DD: ▶ 4.9.8.
Ther.:

Hyponatriämie nicht zu schnell ausgleichen! Zentrale pontine Myelinolyse


(▶ 24.8.1).
810 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

• Normovolämische Hyponatriämie: Langsamer Ausgleich der Na+-Konz.


(max. um 0,6 mmol/l/h) bis auf grenzwertig hyponatriämische Werte (Ab-
schätzung des Na+-Bedarfs s. u.), 5 Amp. NaCl 20 % in Perfusor (1 g NaCl =
17,1 mmol NaCl = 5 ml NaCl 20 %).
• Hypovolämische Hyponatriämie: Volumensubstitution mit isotonischen
Lsg. (z. B. Ringer) meist ausreichend. Bei Na+ < 120 mmol/l u. neurol. Sympt.
Zusatz von 20 ml NaCl 20 % in 500 ml Ringer-Lsg.
• Hypervolämische Hyponatriämie: Flüssigkeitsrestriktion u. Bilanzierung,
niedrig dosierte Schleifendiuretika, z. B. Furosemid 5 mg (z. B. Lasix®). Cave:
Keine hyperosmolaren Lsg., da Gesamt-Na+-Gehalt des Körpers erhöht.

Na+-Bedarf (in mmol) = 135 – Na+ (mmol/l) × 0,3 × kg.

24.7.2 Hyperkalzämische Enzephalopathie
ICD-10 E83.5.
Ätiol.: ▶ Tab. 24.7.

Tab. 24.7  Störungen des Kalziumstoffwechsels


Hypokalzämie Hyperkalzämie

Ätiol. Nebenschilddrüseninsuff., Vit.-D- Hyperparathyreoidismus, maligne Tu-


Mangel moren (V. a. ossäre Metastasen), Plas-
mozytom, Vit.-D-Intox., Sarkoidose

Klinik Neuromuskuläre Erregbarkeit ↑, Neuromuskuläre Erregbarkeit ↓, mus-


Krämpfe, Pfötchenstellung, peri­ kuläre Hypotonie, Bewusstseinstrü-
orale Parästhesien, Angst, psycho- bung, Halluzinationen, Desorientiert-
tisches Sy., kardiovask. Sympt.: Hy- heit, Übelkeit, Erbrechen, Dehydrata-
potonie, Rhythmusstör., EKG-Ver- tion, Nierenversagen
24 änderungen

Labor Ca2+-Spiegel i. S., Parathormon, Tumormarker

Ther. Ther. der Grunderkr., Kalziumglu- Ther. der Grunderkr., Ther. der hy-
konat 10 % 10–20 ml/d perkalzämischen Enzephalopathie s.
Text

Klinik: ▶ Tab. 24.7.

Bis Ca2+ = 3 mmol/l häufig asymptomatisch bei chron. Entwicklung. Für hy-
perkalzämische Krise nicht nur Absolutwert, sondern auch Anstieg von Be-
deutung.

Diagn.:
• Labor: Serum-Ca2+, ionisiertes Ca2+, Phosphat, Krea., AP, BGA, Vit. D, Par­at­
hormon, Mg2+.
• EKG.
Wenn Ca2+ > 3,5 mmol/l sofortige u. aggressive Ther. indiziert.
   24.8  Toxische Enzephalopathien und Alkoholfolgeerkrankungen  811

Ther.:
• Ca2+ > 3 mmol/l: Ther. der Grunderkr., kalziumarme Diät, Rehydrierung
3–5 l Flüssigkeit/d p. o. o. 0,9 % NaCl i. v. (Cave: Herzinsuff.), Bilanzierung,
E'lyt-Kontrolle, ggf. ZVD, ggf. zusätzlich Furosemid (z. B. Lasix®
20–60 mg/d). Keine Thiazide (Ca2+-Rückresorption), kalziumarme Diät.
• Ca2+ > 3,5/< 4,0 mmol/l: Zusätzlich Bisphosphonate: Z. B. Pamidronsäure
(Aredia®) 90 mg i. v. über 24 h für 1 d o. 15–45 mg i. v. über 4 h für 6 d.Ther.
mit Bisphosphonaten beenden, wenn Ca2+ hochnormal.
• Ca2+ > 4 mmol/l: Zusätzlich Kalzitonin (z. B. Karil®) 2–4 IE/kg KG s. c. o. i. m.
alle 8 h.
• Ca2+ > 4,5 mmol/l: Erhöhung der Kalzitonindosis auf bis zu 400 IE i. v. alle
6–8 h. Ggf. Hämodialyse mit kalziumarmem Dialysat.

24.7.3 Hypophosphatämie-Enzephalopathie
ICD-10 E83.5.
Ätiol.: Respiratorische Alkalose (Sepsis, Alkoholentzug), Tumor, renal-tubuläre
Dysfunktion, Ketoazidose, verminderte Zufuhr, Malabsorption (bei Vit.-D-Man-
gel), Dialyse, Hyperparathyreoidismus.
Klinik:
• Verwirrtheit, Delir, Bewusstseinsstör.
• Rhabdomyolyse.
• Prox. betonte schlaffe Parese aller Muskeln inkl. Gesichts-, Atem- u. Herz-
muskel.
• Verminderte Sensibilität. Gefühlsstör. für alle Qualitäten.
Diagn.: Labor: Serum-PO43- (Normalbereich: 0,9–1,5 mmol/l).
DD: GBS (▶ 19.9.1), Wernicke-Enzephalopathie (▶ 24.8.1).
Ther.: Sympt. häufig schon ab PO43- < 0,9 mmol/l. Substitution mit 2–3 g/d.

24
24.8 Toxische Enzephalopathien und
Alkoholfolgeerkrankungen
24.8.1 Alkoholtoxische Enzephalopathien als
Alkoholfolgeerkrankungen
Alkoholenzephalopathie
Ätiol.: Insbes. bei älteren Alkoholikern Enzephalopathie durch tox. Wirkung des
Alkohols u. des Metaboliten Acetaldehyd auf Neurone u. Markscheiden sowie
durch Veränderungen der neuronalen Signalübertragung.

Bei Alkoholabhängigkeit auch an andere das ZNS schädigende Einflussfakto-


ren wie Hypoglykämie, Hypovitaminosen (z. B. Thiaminmangel), Malnutri-
tion, Leberzirrhose, SHT nach Sturz o. zerebralen Krampfanfällen denken!

Klinik:
• Kognitive Stör. (v. a. Urteils- u. Abstraktionsvermögen, Flexibilität, Altge-
dächtnis).
812 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

• Weitere psychopath. Sympt.: Stör. von Affekt, Antrieb u. Verhalten bis hin
zur chron. Wahnentwicklung, paranoiden u. halluzinatorischen Sy.
Diagn.:
• CCT/MRT: Frontal betonte Hirnatrophie, die Rinde u. Marklager betrifft,
­Erweiterung der inneren u. äußeren Liquorräume. Ausschluss SHT, ICB.
• Labor: E'lyte i. S., BSG, BB, Leberwerte, Thiaminspiegel, Quick (Ausschluss
anderer Alkoholfolgekrankheiten).
DD:
• Andere Alkoholfolgekrankheiten, v. a. Wernicke-Korsakow-Sy., zentrale pon-
tine Myelinolyse, Delir, hepatische Enzephalopathie, Mischintox., SHT,
­Hypoglykämie, zerebrale Krampfanfälle.
• Demenz, vask. Enzephalopathie, Meningoenzephalitis, M. Wilson, andere
Enzephalopathien.
Ther.: Alkoholentgiftung u. -entwöhnung, kalorien- u. eiweißreiche Ernährung,
prophylaktisch zusätzliche Thiamingabe u. Substitution aller B-Vit.
Progn.: Bei Alkoholabstinenz teilweise bis weitgehende Rückbildung der Sympt.,
teilweise Rückbildung der neuroradiologischen Veränderungen.

Wernicke-Korsakow-Enzephalopathie
ICD-10 G31.2, E51.2.
Syn.: Polioencephalopathia haemorrhagica superior.
Ätiol.: Thiamin-(Vit.-B1-)Mangel am häufigsten als Folge der Mangelernährung
bei chron. Alkoholismus; Fehlernährung anderer Urs. wie exzessives Fasten, inad-
äquate parenterale Ernährung mit zu hoher Kohlenhydratzufuhr, Hyperemesis
gravidarum; Urämie u. Hämodialyse, Tbc, Ca des oberen GIT, Tumoren des lym-
phatisch-hämatopoetischen Systems.
Klinik:
• Wernicke-Enzephalopathie:
– Zerebelläre Ataxie (meist Gang- u. Standataxie), Bewusstseinsstör. u. Des-
24 orientiertheit mit Halluzinationen, Desinteresse, Konzentrations- u. Auf-
merksamkeitsstör., verminderter Spontansprache, Apathie. Daneben häu-
fig Alkoholentzugssympt. mit vegetativen Zeichen eines Delirs (▶ 23.1).
Zerebrale Krampfanfälle.
– Augensympt.: Nystagmus, Augenmuskelparesen (meist N. abducens),
­horizontale Blickparesen, internukleäre Ophthalmoplegie (▶ 3.1.3, ▶ Abb.
3.4), Pupillenstör. (Miosis, Mydriasis).
– Kardiovask. Stör.: Tachykardie, Dyspnoe, orthostatische Dysregulation,
art. Hypotension.
– Vegetative Dysregulation: Hypothermie, Orthostase, Schock.
– Bei Alkoholismus chron. Gastroduodenitis, chron. rez. Pankreatitis, Alko-
holhepatitis, Fettleber, Leberzirrhose, erhöhtes Infektionsrisiko, Neigung
zu Hypoglykämie.
• Korsakow-Sy. (amnestisches Sy.; ▶ 3.16.12): Stör. des Erwerbs neuer Ge-
dächtnisinhalte mit Stör. des Kurzzeit-(u. Langzeit-)Gedächtnisses, gut erhal-
tene übrige kognitive Funktionen. Konfabulation (meist zu Beginn der Erkr.
o. in Rückbildungsphase), Desorientiertheit. Cave: Keine Bewusstseinsstör.

Isoliertes Korsakow-Syndrom
Bei Thiaminmangel (Alkoholismus, Mangelernährung) o. Schädigung des
Dienzephalons u. des Temporallappens anderer Genese (Tumoren des
   24.8  Toxische Enzephalopathien und Alkoholfolgeerkrankungen  813

III.  Ventrikels, Infarkt des Temporallappens, HSV-Enzephalitis, SHT, anoxi-


scher Enzephalopathie, Alzheimer-Krankheit).

Diagn.:
• Labor: Thiaminspiegel i. S. ↓, Erythrozytentransketolase auf 30–50 % ↓, Py-
ruvat u. Laktat i. S. ↑, γ-GT ↑, Transaminasen, Bilirubin i. S. ↑, Quick ↓.
• EEG: Mittelgradige Allgemeinveränderung in 50 % d. F.
• Evozierte Hirnstammpotenziale (AEP, SEP): Latenz verzögert.
• MRT: Selten Nachweis degenerativer Veränderungen mit perivask. Blutun-
gen im Mesenzephalon (Hypothalamus, Corpora mamillaria, Thalamus, peri-
aquäduktales Gewebe).
• Oberbauchsono: Z. B. Leberzirrhose, Splenomegalie.
Notfalltherapie
Thiamin: Initial 100 mg i. v. schon bei V. a. Wernicke-Enzephalophathie, dann
50 mg/d i. v. bis zur klin. Stabilisierung des Pat. Bei weiter bestehendem Thia-
minmangel Thiamin 5 mg/d p. o. (z. B. Betabion®) als Dauerprophylaxe. NW:
In seltenen Fällen anaphylaktische Reaktionen bei parenteraler Anwendung.
Ausgeglichene Diät u. Substitution aller B-Vitamine.

Verlauf u. Progn.:
• Beginn akut o. subakut, selten chron., meist in Komb. mit zerebellärer Ataxie.
Alle Kardinalsympt. können (selten) isoliert o. in Komb. mit Ataxie auftreten.
Entwicklung mnestischer Defizite innerhalb von Tagen bis Wo.
• Besserung der Augensympt. u. Bewusstseinsstör. nach hoch dosierter paren-
teraler Thiaminther. innerhalb eines Tages. Besserung der Ataxie nach
1–3 Wo., mit 40 % Residuen.
• Letalität in der akuten Phase aufgrund der vegetativen Dysregulation > 10 %,
auch bei frühzeitiger Ther. Unbehandelt Progression bis zum Koma u. Tod 24
innerhalb von 1–2 Wo.
• Korsakow-Sy. (isoliert u. im Anschluss an Wernicke-Enzephalopathie) ver-
läuft meist chron. progredient, Rückbildung in 80 % nur inkomplett inner-
halb von Mon.

Zentrale pontine Myelinolyse


ICD-10 G37.2.
Ätiol.:
• Symmetrische, nichtentzündliche Demyelinisierung der zentralen Brücke
durch zu raschen Ausgleich einer Hyponatriämie.
• Häufig im Alkoholentzugsdelir o. in Zusammenhang mit anderen schweren
Erkr. (Nieren- o. Leberversagen).
• In etwa 10 % begleitende Demyelinisierungsherde in Stammganglien, Thala-
mus u. RM.
Klinik:
• Variabel: Milde pontine Funktionsstör. bis „Locked-in-Sy.“ (▶ 4.3.3).
• Okulomotorik: Miosis, Doppelbilder, Nystagmus, horizontale Blickparese.
• Zentrale Tetraparese: Hyperreflexie, pos. Babinski-Zeichen.
• Pseudobulbärparalyse: Dysarthrie, Dysphagie.
• Bewusstseinsstör. bis zum Koma.
814 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Diagn.:
• Labor: E'lyte i. S. (Na+ < 120 mmol/l).
• MRT: Pontine Demyelinisierungen in T2-gewichteten Bildern.
DD:
• Vertebrobasiläre Zirkulationsstör.: Hemi- o. Tetraparese, Okulomotorikstör.,
faziale Parese mit Dysarthrie u. Schwindel (▶ 3.3.6).
• Akute demyelinisierende Enzephalitis, MS (▶ 10.1).
• PML (▶ 9.4.6) z. B. bei HIV-Infektion.
Ther.: Intensivüberwachung. Vorsichtiger Ausgleich der E'lytstör.: Anstieg des
Serum-Na+ nicht schneller als 0,5 mmol/l/h. Anstreben einer milden Hyponatriä-
mie von ≈130 mmol/l. Intubation bei Ateminsuff. (z. B. Aspirationspneumonie bei
Dysphagie, BGA: pCO2 > 50 mmHg, pO2 < 70 mmHg).

Nach Auftreten von Demyelinisierungsherden keine kausale Ther. möglich.

Progn.: Abhängig von Dauer u. Schwere der Sympt.; hohe Letalität innerhalb ei-
nes Mon.

24.8.2 Medikamentös induzierte Enzephalopathien


Valproatassoziierte Enzephalopathie
ICD-10 G93.4.
Epidemiologie: Selten, in Deutschland ca. 2 Fälle/J. veröffentlicht.
Risikofaktoren: Junge Pat. (Kinder), zerebrale o. hepatische Vorschäden, gleich-
zeitig Phenobarbital-, Phenytoin-, Carbamazepin-Medikation.
Klinik: Bewusstseinstrübung bis Koma. Desorientiertheit. Übelkeit, Erbrechen.
Zunahme der epileptischen Anfälle. Akute (zu Beginn, ggf. schon nach loading
dose o. nach Dosiserhöhung) u. chron. Verlaufsform: Keine eindeutige Korrelati-
24 on der Sympt. mit Valproatspiegel (sogar im therap. Bereich möglich).
Diagn.:
• Labor: Valproatspiegel (therap. Bereich 50–125 μg/ml). BB (Leukopenie),
γGT, GOT, GPT, Bili, NH3 ↑ (nicht immer mit erhöhten Leberwerten assozi-
iert), BGA (metab. Azidose), E'lyte (Hypernatriämie, -kalzämie), Lipase,
Amylase (assoziiert mit akuter Pankreatitis), Krea (Niereninsuff.).
• EKG: Blockbildung möglich.
• CT/MRT: Gel. Hirnödem (12 h bis 4 d nach akuter Intox., Hinweis auf ab-
normen Valproatmetabolismus), DD der Bewusstseinsstör. wie ICB.
Ther:

Symptomatische Ther.

• Naloxon (0,8–2 mg) kann bei schweren Bewusstseinsstör. versucht werden.


• Benzodiazepine, falls epileptische Anfälle auftreten.
• Bei NH3-Anstieg → L-Carnitin (z. B. Biocarn®) 2–3 g/d in 2–3 Einzeldosen.
• Bei akuter Überdosierung → Aktivkohle (▶ 3.17.5).
! Magenspülung nicht empfohlen.
• Hämodialyse o. Hämoperfusion möglich, aber nur in seltenen, sonst nicht be-
herrschbaren Fällen nötig.
   24.8  Toxische Enzephalopathien und Alkoholfolgeerkrankungen  815

Tab. 24.8  Neurologische Nebenwirkungen ausgewählter internistischer Medi


kamente
NW Medikament

Vollbild einer Enzephalo- Chlorambucil, Cisplatin, Methotrexat, Procarbazin


pathie (▶ 24.2)

ZNS-Demyelinisierung BCNU, Carmustin, CCNU, Lomustin, Nimustin

Halluzinationen, Ver- Betablocker, Diuretika, Gyrasehemmer, Herzglykoside,


wirrtheit, Agitiertheit Makrolide, NSAID, Vinblastin

Depression Betablocker, Bleomycin, Herzglykoside, Sulfonamide

Zerebrale Krampfanfälle Antihistaminika, Chlorambucil, Ciclosporin A, Cisplatin,


(▶ 11.1) 5-Fluorouracil, Gyrasehemmer, Makrolide, Methotrexat,
Penicilline, Sulfonamide, Theophyllin, Vindesin

Kopfschmerzen, Schwin- Betablocker, Chlorambucil, Cyclophosphamid, Diuretika,


del Domperidon, Gyrasehemmer, Herzglykoside, Kalziumant­
agonisten, Makrolide, Metoclopramid, Nitrate, NSAID,
Polypeptidantibiotika, Sulfonamide, Theophyllin

Müdigkeit Betablocker, Domperidon, Herzglykoside, Kalziumant­


agonisten, Metoclopramid

Zerebelläre Symptomatik 5-Fluorouracil


(▶ 3.9)

Extrapyramidalmotori- Antihistaminika, Ciclosporin A, Domperidon, Flunarizin,


sche Sympt. 5-Fluorouracil, Metoclopramid, Sulfonamide

PNP (▶ 19) Bleomycin, Cisplatin, Cytarabin, Procarbazin, Vinblastin,


Vindesin

Wadenkrämpfe, Paresen Diuretika

Parästhesien Aminoglykoside, Ciclosporin A


24
Hörstör. Aminoglykoside, Cisplatin, Diuretika, NSAID, Polypep-
tidantibiotika

Sehstör. Cytarabin, 5-Fluorouracil, Herzglykoside, Polypeptidanti-


biotika

Sonstige Medikamente
Zu NW verschiedener Medikamente ▶ Tab. 24.8.

24.8.3 Enzephalopathien durch Schwermetalle


▶ 3.17.
Ätiol.: Intox. durch Schwermetalle, v. a. Blei, Thallium, Mangan u. Quecksilber,
am ehesten bei gewerblicher Exposition chron. o. akut.
Klinik (▶ Tab. 24.9): Neben Enzephalopathie meist weitere neurol. o. internisti-
sche Sympt. der Intox.
Diagn.: ▶ Tab. 24.9.
Ther.: Vermeidung weiterer Exposition, Hemmung der gastrointestinalen
­Absorption u. Reabsorption, Komplexbildung durch Chelatbildner u. spezifische
Elimination (▶ 3.17).
816 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Tab. 24.9  Übersicht der häufigsten Enzephalopathien durch Schwermetalle


Metall Blei Thallium Mangan Quecksilber (Hg)

Vorkommen Chron. Vergif- Akute Intox. Gewerbliche Metallisches Hg:


tung bei ge- mit Mäuse- Intox., Gruben- technische
werblicher Ex- u. Rattengift arbeiter ­Geräte
position Organisches Hg:
Saatgutbeize,
Anreicherung in
Fischen
(­Minamata
disease)

Klinik  Lethargie, Som- Unruhe, Des- Psychopath. Sy. Psychopath. Sy.


Enzephalopa­ nolenz, psycho- orientiert- (Konzentra- (Reizbarkeit, an-
thie path. Sy., Ata- heit, Ataxie tions- u. Orien- dere affektive
xie, zerebrale tierungsstör., Sy., Konzentra-
Krampfanfälle Halluzinatio- tions- u. Orien-
nen), extrapy- tierungsstör.),
ramidale Sy. Tremor, Ataxie,
(Parkinson-Sy., Dysarthrie
Stammrigidität,
Dystonie)

Klinik  Chron. motori- Schmerzhaf- Parästhesien,


Andere Or­ sche Neuropa- te sensible Stomatitis, Gin-
gansysteme thie, Optikusa- Neuropa- givitis, gastroin-
trophie, Bleiko- thie, akute testinale u. rena-
liken, Anämie, Polyradiku- le Sy.
Bleisaum lopathie,
Haarausfall

Diagn. Bleikonz. in Blut Thallium- Mangannach- Quecksilbernach-


u. Urin, δ-ALA nachweis in weis im Urin weis in Blut,
im Urin, baso- Urin o. Haa- (evtl. nach Mo- Urin, Haaren
24 phile Tüpfelung ren bilisierung)
der Erys, freies
Erythrozyten-
protoporphyrin

24.9 Enzephalopathie bei entzündlichen und


immunologischen Erkrankungen
24.9.1 Septische Enzephalopathie
ICD-10 G93.4.
Def.: Potenziell reversible Dysfunktion des ZNS bei Pat. mit septischer Erkr.
Epidemiologie: Je nach Def. 8–70 % aller septischen Pat.
Pathophysiologie: Genauer Mechanismus ungeklärt. Multifaktoriell:
• Inflammatorische Mediatoren.
• Hypotonie.
• Mikrozirkulationsstör.
• Gestörte Blut-Hirn-Schranke.
• Reduktion von Monoamino-Neurotransmittern; „falsche Neurotransmitter“
(Octopamin).
  24.9  Enzephalopathie bei entzündlichen und immunologischen Erkrankungen  817

Klinik:
• Irritabilität, Desorientierung, Bewusstseinstrübung bis Koma, selten fokale
neurol. Defizite.
• U. U. Erstsympt. einer Sepsis.
! Vermutlich unterdiagnostiziert bei beatmeten Pat.
Diagn.:
• Die Diagnostik besteht v. a. im Ausschluss der DD:
– Liquor: Ausschluss Meningitis, Enzephalitis.
– Labor: Ausschluss metab. Enzephalopathie (Krea, Harnstoff, γGT, GOT,
GPT, Bili, NH3).
– MRT: Ausschluss SVT.
– EEG: Verlangsamung → triphasische Wellen → Burst-Suppression-Muster.
• Die Diagnose wird anhand der Anamnese (Sepsis) u. der Ausschlussdiagn.
gestellt.
Ther.: Keine spezifische. Ther. der Grunderkr.
Progn.: Potenziell reversibel. Erhöht die Mortalitätsrate bei Auftreten auf 50–80 %.

24.9.2 Enzephalopathien bei Infektionskrankheiten des


Nervensystems
▶ 9.
Ätiol.: Enzephalopathische Sympt. durch:
• Entzündung des Hirnparenchyms o. ICP-Anstieg bei akuter erregerbedingter
(Meningo-)Enzephalitis (z. B. Herpes-simplex-Enzephalitis).
• Entzündung des Hirnparenchyms u./o. immunologische Prozesse bei chron. er-
regerbedingter (Meningo-)Enzephalitis (z. B. im Stadium III der Neuroborrelio-
se), bei HIV-1-Infektion, bei Slow-Virus- (z. B. SSPE bei Masern) u. Prionerkr.
• Begleitvaskulitis.
Klinik:
• Enzephalopathische Sympt. 24
• Akut o. anamnestisch Kopfschmerz.
• Meningismus.
• Übelkeit, Erbrechen.
• Fieber.
• Fokal neurol. Sy.
• Andere erregerbedingte Organmanifestationen (Hautausschlag, Otitis, Sinu-
sitis).
Diagn. u. Ther.: ▶ 9.
HIV-1-assoziierte Enzephalopathie: ▶ 9.4.8.

24.9.3 Enzephalopathien bei immunologischen Erkrankungen


Ätiol.:
• Im Verlauf von Immunvaskulitiden, in fortgeschrittenen Stadien der MS
(▶ 10.1).
• Diffuse zerebrale Funktionsstör. durch multiple zerebrale Läsionen o. durch
systemische Organmanifestationen mit Auswirkungen auf den Hirnstoff-
wechsel (z. B. Niereninsuff.).
Klinik: Neben Sympt. der Enzephalopathie weitere fokale o. multifokale neurol.
Defizite u. ggf. Sympt. der systemischen Organmanifestationen.
Diagn. u. Ther.: Immunvaskulitiden (▶ 7.5.1), MS (▶ 10.1).
818 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

Hashimoto-Enzephalopathie
Syn.: Steroidresponsive Enzephalopathie mit Autoimmunthyreoiditis (SREAT)
Ätiol./Vorkommen:
• Bei Autoimmunthyreoiditis Hashimoto selten auftretende Enzephalopathie.
• Gefordert wird Vorhandensein von TPO-AK u. allenfalls Thyeoglobulin-AK
u./o. TSH-Rezeptor-AK. Stoffwechellage euthyreot o. milde bis mäßige Hy-
pothyreose mit entsprechenden TSH-Werten.
• Pathogenetisch werden neben autoantikörpervermittelter Genese auch Vas-
kulitis der zerebralen Arteriolen u. TRH-induzierte Genese diskutiert.
Klinik:
• Kognitive Stör. (Gedächtnis- u. Konzentrationsstör., Auffassungsstör. kogni-
tive Verlangsamung), Verwirrtheitszustände mit Orientierungsstör., transien-
te Somnolenz bis zum Koma.
• Andere psychopath. Sy. wie depressive Verstimmung o. Reizbarkeit, Unruhe
o. verminderter Antrieb, Schlaflosigkeit, paranoide o. halluzinatorische Sy.
• Tremor, Myoklonien, Ataxie, Gleichgewichts- u. Koordinationsstör., zerebra-
le Krampfanfälle.
• Fokal neurol. Defizite, teilweise apoplektiform beginnend, z. B. Hemiparese,
Pyramidenbahnzeichen, aphasische Stör.
• Verlauf schubförmig remittierend o. chron. progredient, teilweise apoplekti-
forme Episoden (vaskulitische Genese?), Enzephalopathie insgesamt unab-
hängig von der aktuellen Schilddrüsenfunktion.
Diagn.:
• Schilddrüsendiagnostik inkl. TPO-AK, Thyeoglobulin-AK, TSH-Rezeptor-
AK, Schilddrüsensono u. -szinti.
• LP: Schrankenstör., häufig pos. oligoklonale Banden, teilweise mononukleäre
Pleozytose.
• CMRT: Meist bilaterale, multifokale subkortikale T2-hyperintense Läsionen,
vereinzelt Hinweis auf Ischämie, dann Angio.
24 • EEG: Fokale o. generalisierte Verlangsamung, epilepsietypische Potenziale?
Ther.:
• Hoch dosierte Kortisonther.: Bei schwerer Enzephalopathie, epileptischen
Anfällen o. schlaganfallähnlicher Sympt. zunächst 500 mg (–1.000 mg) Pred-
nisolon (z. B. Solu-Decortin® H) tgl. i.v. (o. p. o.) über 5 (3–7) d, dann 1–2 mg/
kg KG über 2 Wo., dann ausschleichen. Bei leichter Enzephalopathie Beginn
mit 1–2 mg/kg KG für 2 Wo. Bei Rezidiven dieselbe Ther., nach dem 2. Schub
ggf. Erhaltungsther. mit (20–)50(–150) mg/d p. o. über bis zu 2 J.
• Alternativ bei fortbestehender Sympt. o. gehäuften Schüben immunsuppres-
sive Ther. mit Azathioprin, Ciclosporin A o. Methotrexat.
• Bei hypothreoter Stoffwechsellage zusätzlich Substitution mit Schilddrüsenhormen.
Progn.: Unter Kortisonther. sehr gute Besserung meist innerhalb von Tagen, ver-
einzelt erst nach bis zu 6 Wo., allerdings bei ca. ⅔ der Pat. Rezidive.

24.10 Enzephalopathie durch Anoxie


ICD-10 G93.4.
Epidemiologie: Bei Herz-Kreislauf-Stillstand außerhalb eines Krankenhauses:
44 % aller Pat. wurden erfolgreich reanimiert, 30 % lebten noch nach 24 h, 13 %
nach 1 Mon. u. 6 % nach 6 Mon. Ca. 40 % der überlebenden Pat. → persistierender
vegetativer Status.
   24.11  Posteriore reversible Leukenzephalopathie (PRL)  819

Ätiol.: Herz-Kreislauf-Stillstand, SHT, Intox.


Klinik:
• Koma, auf Schmerzreize Dekortikations- bzw. Dezerebrationshaltung, Myo-
klonien.
• Fehlende Kontaktfähigkeit trotz geöffneter Augen (vegetativer Status).
• Lance-Adams-Sy. (Schädigung Nucleus subthalamicus, mediale Raphekerne,
Thalamus).
Diagn.: Dient v. a. der Prognoseabschätzung.
• Neurol. Status: Hirnstammreflexe, bes. Pupillenreaktion; motorischer Status
inkl. path. Reaktionen u. Muster, Myoklonien, zerebrale Krampfanfälle, vege-
tative Zeichen.
• CT/MRT: Wenig hilfreich für die Prognoseeinschätzung. Von Bedeutung für
Ausschluss alternativer Diagnosen (Tumor, Blutung).
• Labor: NSE am 3. d > 65 ng/ml → 17-fach erhöhtes Risiko für schlechtes Out-
come. Protein-S100 am 3. d > 1,5 μg/l → 13-fach erhöhtes Risiko für schlech-
tes Outcome.
• SSEP: Beiderseitiger Ausfall der kortikalen Reizantworten → schlechtes Out-
come (Spezifität 100 %, Sensitivität 28–73 %).
• EEG: α-Koma, Burst-Suppression-Muster u. Grundrhythmus-Suppression →
schlechtes Outcome. Bei 10–20 % jedoch Erholung möglich (Nachteil: Ein-
fluss von Analgosedierung). Ausschluss Status epilepticus.
Ther.:
• Vor allem Prävention u. symptomatische Ther.
• Hypothermie 32–34 °C für 24 h, wenn Kollaps beobachtet wurde, Beginn der
Reanimation < 15 Min., Wiederherstellung des Kreislaufs < 60 Min., syst. RR
> 60 mmHg, GCS < 10.
• Analgosedierung mit kurz wirksamen Substanzen (Propofol, Alfentanil), um
neurol. Unters. zu ermöglichen/erleichtern.
• Thrombose-, Stressulkusprophylaxe.
24
Angehörige engmaschig über Zustand u. Entwicklung informieren.

Progn.: Mehrfacher u. detaillierter neurol. Befund zur Prognoseabschätzung in-


nerhalb der ersten 72 h nötig. Komb. von Verlust der kortikalen Reizantworten
bds., prolongiertes Koma (> 48 h) u. erhöhte Serum-NSE → nahezu 100 % infauste
Progn. → palliative Ther. unbedingt erwägen u. entsprechende ausführliche Be-
fundbesprechung mit den Angehörigen. Störeinflüsse durch Medikamente u.
­Hypothermie berücksichtigen.

24.11 Posteriore reversible
Leukenzephalopathie (PRL)
ICD-10 G93.4.
Def.: Enzephalopathie mit typ. klin. u. radiologischen Sympt. durch meist reversi-
bles, überwiegend subkortikales Hirnödem, meist das post. Stromgebiet betref-
fend, jedoch nicht immer darauf begrenzt.
Ätiol.: Mit einer heterogenen Gruppe von Erkr. assoziiert: Hypertensive Krise,
akute u. chron. Nierenerkr., thrombotisch thrombozytopenische Purpura,
820 24  Enzephalopathien und leukodystrophische Erkrankungen  

­klampsie, Vaskulitis, immunsuppressive bzw. immunmodulatorische Ther.,


E
Ca2+ ↑, Mg2+ ↓, KM-Gaben, Bluttransfusion.
Pathophysiologie: Trotz verschiedener Ätiol. zwei pathogenetische Hauptmecha-
nismen: Funktionsstör. der zerebralen Autoregulation bei Überschreiten der
Obergrenze der Autoregulation u. endotheliale Dysfunktion z. B. durch zytotoxi-
sche Medikamente führen zu vasogenem Ödem.

Kortex durch höhere Zelldichte weniger anfällig für hydrostatisches Ödem


als weiße Substanz. Hinteres Stromgebiet hat durch geringere sympathische
Innervation eine „schlechtere“ Autoregulation als vorderes Stromgebiet.

Klinik: Plötzlicher Beginn. Kopfschmerzen, Bewusstseinsstör., Erbrechen, Ver-


wirrtheit, Krampfanfälle, Sehstör. bis zur kortikalen Blindheit.
Diagn.:

Bildgebung essenziell zur Diagnosefindung (idealerweise MRT mit DWI u.


ADC).

• Typ. symmetrisches Ödem der weißen Substanz im hinteren Stromgebiet,


häufig Zerebellum u. Hirnstamm betroffen, seltener Lobus frontalis (eher
schwere Fälle, dann meist ebenfalls Ödem im hinteren Stromgebiet).
• Paramediane u. kalkarine Strukturen des Lobus occipitalis häufig nicht be-
troffen (DD PCA-Infarkt). Häufig nicht nur ein Stromgebiet beteiligt.
• Vor allem subkortikale weiße Substanz betroffen, Ödem des Kortex u. der
Stammganglien möglich.
• FLAIR erhöht die Sensitivität. KM-Enhancement häufig. Petechiale u. größe-
re Blutungen ebenfalls möglich. Verlaufsunters. zeigen vollständige o. weitge-
hende Rückbildung (spricht gegen Infarkt).
24 • Hypo- o. isointens in DWI u. hyperintens in ADC → vasogenes Ödem vs.
deutlich hyperintens in der DWI u. hypointens in der ADC → Infarkt.
DD: Ischämischer Schlaganfall (wichtig, da hier mäßig erhöhter RR nicht gesenkt
wird), bei bds. PCA-Infarkten an Basilariskopfthrombose denken, Sinusvenen-
thrombose, toxisch-metab. Enzephalopathie, demyelinisierende Erkr., Vaskulitis,
Enzephalitis.
Ther.:
• Bei hypertensivem RR führt RR-Senkung häufig schnell zur Besserung. Sen-
kung des diast. Werts auf 100–105 mmHg sollte in 2–6 h erreicht sein. Z.B.
Urapidil o. Nitroprussid günstig.
• Absetzen auslösender Medikamente (Immunsuppressiva/-modulatoren),
Korrektur evtl. vorhandener E'lytstör., ggf. antikonvulsive Ther.

24.12 Vitaminstoffwechselstörungen
Def./Ätiol.: Enzephalopathie u./o. andere Stör. des NS durch zu geringe o. zu ho-
he Verfügbarkeit von bestimmten Vitaminen. Hypovitaminosen bei Unter- o.
Fehlernährung (z. B. Alkoholiker, Demenzkranke, bei Anorexie), erhöhtem Be-
darf (z. B. Schwangerschaft, Dialyse), Interaktionen bei medikamentöser Ther.
(Zytostatika, Antikonvulsiva, Glukokortikoide) o. Stör. der Resorption o. Verwer-
tung (Malaborption bei Zöliakie, Sprue, M. Crohn, Pankreasinsuff., Abetalipopro-
  24.12 Vitaminstoffwechselstörungen  821

teinämie), Vit.-D-Mangel bei zu geringer Sonnenlichtexposition. Hypervitamino-


se durch Akkumulation bei fettlöslichen Vit. (A, D, E, K) bei zu hoher Dos. von
Vit.-Präparaten o. Nahrungszusätzen.
Klinik, Diagn. u. Ther.: Fettlösliche Vitamine, v. a. A, D u. E (▶ Tab. 24.10).

Tab. 24.10  Hypo- u. Hypervitaminosen bei fettlöslichen Vitaminen


Retinol (Vit. A) Calciferol (Vit. D) α-Tocopherol (Vit. E)

Klinik

Hypovitaminose: Nachtblind- Hypovitaminose: Ra- Hypovitaminose: Spinoze-


heit, Hornhautveränderungen, chitische Myopathie, rebelläre Degeneration
Xerophthalmie, Optikusatro- Tetanie. mit zerebellärer Ataxie,
phie, follikuläre Hyperkerato- Hypervitaminose: prox. betonte Paresen,
se. Liquorresorptionsstör. mit Kopfschmerz, Übel- Areflexie der unteren Ex­
Hirndruckzeichen, Kinder in- keit, Muskelschwäche, tremitäten, Pallhypästhe-
fektanfällig Verwirrtheit, MER ↓, sie, Intentions- u. Kopftre-
Hypervitaminose: Akut: Kopf- Polyurie, Polydipsie mor, Retinitis pigmentosa.
schmerzen, Sehstör., Ataxie mit (▶ 24.7.2) Hypervitaminose: Hem-
Bauchschmerzen, PNP. mung der Thrombozyten-
Chron.: Gedeihstör., vermehrt funktion, Blutungen,
Frakturen, kraniofaziale Ano- Schwächen, Verschwom-
malie beim Fetus, Leberschädi- mensehen
gung, Pseudotumor cerebri, te-
ratogen

Retinol i. S.: Norm. 20–60 μg/dl 25-Hydroxycholecalci- Tocopherol i. S.: Norm.


Hypovitaminose: < 20 μg/dl ferol i. S.: Norm. 13– 618 mg/l, aber stark vom
Hypervitaminose: > 300– 43 nmol/l, PO43−, Ca2+, Lipidspiegel abhängig, da-
2.000 μg/dl bei Hypervitaminose her besser: Effektives Se-
evtl. radiologische rum-Vit. E = α-Tocopherol/
Knochendichtemes- (Cholesterol + Triglyzeri-
sung de). Normal > 0,8 mg
α-Tocopherol/Gesamtlipide
MRT: Flächige, diffuse 24
Marklagerhyperintensitä-
ten in T2

Therapie

Prophylaxe: 0,8–1,0 mg Retinol- Hypovitaminose: Cho- Tocopherol (z. B. Eusovit®)


Äquivalente/d lecalciferol 5–10 mg/d 1–2 g/d p. o. für 14 d, dann
Hypovitaminose: Retinol p. o. oder 15 mg/d i. m. 800 mg/d p. o., nach 1 J.
100 mg/d p. o. für Mon. (z. B. (z. B. Vigorsan®). 100 mg/d p. o.
Vitamin-A-saar®). Hypervitaminose: Ab- Bei A-Betalipoproteinämie
Hypervitaminose: Sofort abset- setzen, NaCl 0,9 % 100 mg/kg KG/d p. o.
zen i. v., Prednisolon Keine gesicherte Wirkung
0,5 mg/kg KG tägl. in der Prävention von: Ma-
p.o. für 2–3 Mon. lignomen, kardio- oder ze-
(z. B. Decortin® H) rebrovask. Erkr., Demenz
oder Retinopahtie

• B-Vit.: Enzephalopathie v. a. bei Mangel von Vit. B1 (Wernicke-Korsakow-


Enzephalopathie ▶ 24.8.1), seltener auch bei Mangel von Vit. B12 neben den
peripher-neurol. Sympt. (▶ 19.5.3).
25 Schlaf
Jürgen Klingelhöfer und Martina Näher-Noé

25.1 Physiologie des Schlafs 824 25.8.3 Rezidivierende Hypersomnie


25.2 Diagnostik 825 (Kleine-Levin-Syndrom) 843
25.2.1 Schlaf-EEG 825 25.8.4 Schlafapnoe-Syndrom  843
25.2.2 Polysomnografie 828 25.8.5 Alveoläre Hypoventilation
25.2.3 Multipler Schlaf-Latenz-Test (einschl. Pickwick-­
(Multiple Sleep Latency Test, Syndrom) 846
MSLT) 828 25.9 Störungen der zirkadianen
25.2.4 Aktigrafie (Aktimetrie) 829 Schlaf-wach-Rhythmik 847
25.3 Epidemiologie und Klassifika- 25.9.1 Zeitzonenwechsel
tion der Schlafstörun- (­Jetlag) 847
gen 829 25.9.2 Zirkadiane Rhythmusstö-
25.4 Insomnien 831 rung 847
25.5 Nichtorganische Insomnie 25.10 Parasomnien 848
(psychophysiologische 25.10.1 Definition 848
­Insomnie) 835 25.10.2 Aufwachstörungen (Arousal-
25.6 Restless-Legs-Syndrom 838 störungen) 848
25.7 Letale familiäre Insomnie 838 25.10.3 REM-Schlaf-assoziierte Para-
25.8 Hypersomnien 839 somnien, Verhaltensstörung
25.8.1 Narkolepsie 839 im REM-Schlaf 850
25.8.2 Idiopathische 25.10.4 Andere Parasomnien 852
­Hypersomnie 842
824 25 Schlaf 

25.1 Physiologie des Schlafs


Definition
Periodisch auftretende physiol. Veränderung des Bewusstseins mit Erlöschen ziel-
gerichteter Motorik u. Herabsetzung vegetativer Funktionen. I. d. R. Augen ge-
schlossen u. Empfänglichkeit für äußere Reize vermindert, jedoch Wahrneh-
mungsbereitschaft für Weckreize. Schlaf folgt einer zirkadianen Rhythmik, dient
der Erholung des Organismus.

Differenzialdiagnosen
Bewusstseinstrübung, Koma (reduzierte/fehlende Weckbarkeit, ▶  3.16.2, ▶  4.3),
Narkose (reduzierte/fehlende Weckbarkeit), Hypnose, dissoziative Stör.

Normaler Schlafablauf
Schlafstadien: Verschiedene Schlafstadien (▶ Abb. 25.1; ▶ 25.2.1). Tiefschlafpha-
sen nehmen im Laufe der Nacht ab, REM-Stadien u. leichte Schlafphasen werden
länger.
• Non-REM-Schlaf:
– Einschlafstadium (Stadium 1), mitteltiefer Schlaf (Stadium 2), Tiefschlaf
(Stadium 3 u. 4).
– Dauer: Jeweils 70–80 Min.
– Anteil: 75  %.
• REM-Schlaf:
– Rapid Eye Movements = schnelle Augenbewegungen unter geschlossenen
Lidern.
– Dauer: Jeweils 20 Min.
– Anteil: 25  %.

2. REM-Stadium: 4. REM-Stadium:
20 Min. 40 Min.
1. REM-Stadium: 3. REM-Stadium: 5. REM-Stadium:
10 Min. 30 Min. 10-50 Min.

25 Wachstadium

REM-Stadium

Stadium I

Stadium II

Stadium III

Stadium IV

0 1 2 3 4 5 6 7 8
Dauer des Schlafs in Stunden

Abb. 25.1  Ablauf u. Dauer der Schlafstadien [L106]


  25.2 Diagnostik  825

Bedeutung des Schlafs


„Der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehen für die Uhr.“ (Schopenhauer)
• Erholung des Organismus, lebensnotwendig.
• Tiefschlafphasen: Körperl. Regeneration, wichtige Stoffwechselvorgänge wie
Ausschüttung von Wachstumshormon bei Kindern, Stabilisierung deklarati-
ver Gedächtnisinhalte, psychische Funktionen.
• REM-Schlaf-Phasen: Haupttraumphasen, Anpassungsfunktionen des Ge-
hirns, Überführung von Gedächtnisinhalten ins Langzeitgedächtnis, Konsoli-
dierung nichtdeklarativer Gedächtnisinhalte wie motorischer u. sensorischer
Assoziationen, Entwicklung neuronaler Netzwerke.
• Totaler Schlafentzug führt zu Müdigkeit, Konzentrationsunfähigkeit, Halluzi-
nationen.
• Gesamtschlafdauer nimmt mit zunehmendem Alter kontinuierlich ab. Ab-
nahme REM-Schlaf von ca. 8 h bei Neugeborenen auf 1,5 h bei Erw., im Al-
ter weitgehend unverändert; Zunahme Non-REM-Schlaf vom ersten deutli-
chen Auftreten gegen Ende der Schwangerschaft im Verlauf des 1. Lj parallel
zur kortikalen Differenzierung, im Alter Abnahme der Non-REM-Stadien
III u. IV.
• Der erwachsene Mensch „verschläft“ etwa ⅓ seines Lebens.

25.2 Diagnostik
25.2.1 Schlaf-EEG
Spezifische Form des EEGs, physiologischerweise typ. Ablauf mit den verschiede-
nen Schlafphasen. Schlaf-EEG-Diagn. umfasst neben der üblichen EEG-Ableitung
(▶ 2.2) die Messung der Augenbewegungen (EOG = Elektrookulogramm) u. des
Muskeltonus (EMG = Elektromyogramm) des M. submentalis. Zur Beurteilung
Unterteilung des EEGs in einzelne Epochen von 20 bzw. 30 s.
Schlafstadien: Einteilung der Schlafstadien nach Rechtschaffen u. Kales (1968;
▶ Tab. 25.1, ▶ Abb. 25.2, ▶ Abb. 25.3).
Stadium Non-REM III u. IV werden auch als „slow wave sleep“ (SWS) be- 25
zeichnet.

Schlafprofil: Pro Nacht werden 4–6 Schlafzyklen (= Non-REM-Phase mit nach-


folgender REM-Phase) durchlaufen. Der Anteil der SWS-Phasen pro Zyklus
nimmt mit zunehmender Schlafdauer ab, dafür längere REM-Phasen gegen Mor-
gen.
826 25 Schlaf 

Wachzustand Stadium I

Hirnaktivität (EEG)

Augenbewegungen (EOG)

Muskelspannung (EMG)

Stadium II Stadium III

Hirnaktivität (EEG)

Augenbewegungen (EOG)

Muskelspannung (EMG)

Stadium IV REM-Schlaf

Hirnaktivität (EEG)

Augenbewegungen (EOG)

Muskelspannung (EMG)

Abb. 25.2  Abbildung der verschiedenen Schlafstadien mithilfe EEG, EOG u. EMG.
Quelle: P. Hannemann, Schlafapnoe-Syndrom und Schnarchen © 2002 Jopp/
Oesch Verlag Zürich [A300]

Tab. 25.1  Merkmale der 6 Schlafstadien im Schlaf-EEG


EEG EOG EMG

Wachstadium > 50 % α-Aktivität, Zei- Langsame hori- Muskeltonus hoch,


chen der Vigilanzminde- zontale Augen- z. T. Bewegungsarte-
25 rung möglich
(α-Reduktion u. Amplitu-
bewegungen =
Slow Eye Move-
fakte

denminderung, hypna- ments (SEM)


goge frontale Theta-­
Serien)

Non-REM- Zerfall des Zunahme der Tonische Muskelakti-


Stadium I α-Grundrhythmus mit SEM vität hoch
mind. 50 % meist flacher,
unregelmäßiger Theta-
u. Delta-Aktivität, Ver-
tex-Wellen

Non-REM- Auftreten von Schlaf- Keine Augenbe- Tonische Muskelakti-


Stadium II spindeln u. K-Komple- wegungen vität
xen. Zusätzlich höher ge-
spannte Delta-Aktivität
< 20 % möglich, im frü-
hen Stadium II auch noch
Vertex-Wellen
  25.2 Diagnostik  827

Tab. 25.1  Merkmale der 6 Schlafstadien im Schlaf-EEG (Forts.)


EEG EOG EMG

Non-REM- 20–50 % Delta-Wellen Keine Augenbe- Abnahme der toni-


Stadium III < 3 Hz, Amplitude mind. wegungen schen Muskelaktivität
75 μV

Non-REM- Mehr als 50 % Delta-Wel- Keine Augenbe- Abnahme der toni-
Stadium IV len < 3 Hz, Amplitude wegungen schen Muskelaktivität
mind. 75 μV

REM-Schlaf Ähnlich Schlafstadium Typ., sakkadenar- Stark verminderter


Non-REM I mit flacher tige, in Clustern bis aufgehobener
unregelmäßiger Alpha- auftretende Muskeltonus
Theta-Aktivität. Auftre- schnelle Augen-
ten von Sägezahnwellen bewegungen =
möglich Rapid Eye Move-
ments (REM)

• Vertex-Wellen: Mono- o. biphasische, oberflächenneg. Wellen mit Amplitude bis


200 μV, Dauer 170–250 ms, umschriebenes Ausprägungsmaximum zentral
• Schlafspindeln: Kurze Wellenfolgen mit relativ stabiler Frequenz u. an- u. abstei-
gender Amplitude, Frequenz 12–14/s, Amplitude > 50 μV, von frontal bis okzipital
ausgeprägt
• K-Komplexe: 1. Komponente neg. Spitze. 2. Komponente prim. neg., dann pos.
langsame Welle, Amplitude mind. 75 μV, Dauer mind. 500 ms, frontozentrales
Maximum

Wachstadium

Stadium I REM-Stadium

Stadium II
25

Stadium III

Stadium IV

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120

Licht aus Min. nach dem Zubettgehen

Abb. 25.3 Schlafmuster: Verlauf des 1. Schlafzyklus vom Einschlafen bis zur 1.


REM-Phase mit den dazugehörigen EEG-Kurven [A300]
828 25 Schlaf 

25.2.2 Polysomnografie
Ziel:
• Klassifikation der Schlafstadien, Evaluation der Schlafeffizienz (Gesamtschlaf-
zeit/im Bett verbrachte Zeit).
• Referenzmethode zur Diagn. schlafbezogener Atemstör., Bewegungsstör., Pa-
rasomnien, nächtlicher Schlafunterbrechungen (▶ Abb. 25.4).
Methodik: Messung neurophysiologischer u. kardiorespirativer Parameter (EEG,
EOG, EMG, EKG, Atemexkursionen, Atemfluss, O2-Sättigung, Beinbewegungen)
u. Aufzeichnung des Verhaltens durch Infrarotkamera.
Standardprogramm:
• EEG (meist nur Registrierung von 2–4 Kanälen [C3/C4] aufgrund begrenzter
Kanalanzahl).
• EOG der horizontalen Augenbewegungen bds.
• EMG des M. mentalis.
• EKG.
• Thorakale u. abdominale Atembewegungen, Atmungsflow, O2-Sättigung.
• Schnarchgeräusche.
• EMG des M. tibialis anterior bds.
• Videometrie.
Optional:
• Ösophagusmanometrie.
• Körperlage.
• Körperkerntemperatur.
• Kapnografie.
• Beatmungsdruck.
• Ösophageale pH-Metrie.
• Art. RR.
Arousal Movement-Arousal

EEGC4

EOG re.

25 EOG li.

EMG Mundboden

EKG

Abb. 25.4  Polysomnografische Aufzeichnung eines Arousals u. eines „movement


arousals“. Quelle: G. Hajak, E. Rüther, Insomnie – Schlaflosigkeit © Springer-Ver-
lag Berlin Heidelberg 1995 [A300]

25.2.3 Multipler Schlaf-Latenz-Test (Multiple Sleep Latency


Test, MSLT)
Ziel:
• Einschätzung der Tagesschläfrigkeit (Schlaflatenz < 10 Min.).
• Nachweis von Perioden von Sleep-Onset-REM (SOREM).
Methodik: 4 o. 5 Schlafversuche (je 20 Min. Dauer) am Tag im Abstand von 2 h
werden polygrafisch (EEG, EOG, EMG u. EKG) aufgezeichnet.
   25.3  Epidemiologie und Klassifikation der Schlafstörungen  829

25.2.4 Aktigrafie (Aktimetrie)
Ziel: Objektivierung eines individuellen Schlaftagebuchs. Erfassung einer Abwei-
chung der Schlafphase vom 24-h-Tagesrhythmus, z. B. bei Blinden.
Methodik: Ambulante Registrierung der Bewegungsaktivität zur Bestimmung der
Hauptaktivitäts- u. Hauptruhephasen über mehrere Wochen.

25.3 Epidemiologie und Klassifikation der


Schlafstörungen
Epidemiologie
• Gelegentliche Schlafstör. bei ca. 20–30 % der Bevölkerung in Industrielän-
dern, behandlungsbedürftige Schlafstör. bei ca. 10 %.
• Schlafstör. dritthäufigster Grund für eine hausärztliche Konsultation in D.
• Im Allgemeinkrankenhaus Schlafstör. bei > 50 % der Pat.
• Mehr als 80 Krankheiten als Schlafstör. o. als mit dem Schlaf assoziierte Stör.
klassifiziert.

Klassifikation (▶ Tab. 25.2)

Tab. 25.2  Einteilung der Schlafstörungen


Klassifikation Krankheitsbilder

Dyssomnien Insomnien Chron. psychophysiologische


(Stör. des Schlafs) • Einschlafstör. I­nsomnie, RLS, fatale familiäre
• Durchschlafstör. Insomnie

Hypersomnien (Stör. mit aus- Schlafapnoe, Narkolepsie,


geprägter Tagesmüdigkeit) ­Kleine-Levin-Sy., idiopathische
Hypersomnie

Stör. des Schlaf-wach-Rhyth- Jetlag, zirkadiane Rhythmus-


mus stör., frei laufender Schlaf-wach-
Rhythmus

Parasomnien REM-Schlaf-assoziierte Para- Albträume, Verhaltensstör. im


(Stör. mit auto- somnien REM-Schlaf, Schlaflähmung 25
nomen o. moto-
rischen Phäno- Arousalstör. (aus dem Non- Somnambulismus, Pavor noc-
menen im Schlaf) REM-Schlaf) turnus

Stör. des Schlaf-wach-Über- Hypnagoge, Halluzinationen


gangs

Andere Parasomnien Bruxismus, Enuresis nocturna

• Unter Dyssomnien werden zusammengefasst:


– Insomnien: Ein- u. Durchschlafstör.
– Hypersomnien: Stör. mit ausgeprägter Tagesmüdigkeit.
– Stör. des Schlaf-wach-Rhythmus.
• Parasomnien (Stör. mit autonomen o. motorischen Phänomenen im Schlaf).
ICD-10 (▶ Tab. 25.3):
• Nichtorganische Schlafstör. bei Kapitel V (Psychische Stör.), organische
Schlafstör. bei Kapitel VI (Krankheiten des Nervensystems) verschlüsseln.
830 25 Schlaf 

• Insomnie als häufiges Sympt. anderer psychischer Stör. nicht als nichtorgani-
sche Insomnie verschlüsseln, sondern die zugrunde liegende psychische Stör.,
es sei denn, Insomnie ist Hauptsympt. o. eigenständiges Zustandsbild.
• Bei Schlafstör. bei körperl. Erkr. (z. B. aufgrund von Schmerzen) die zugrunde
liegende körperl. Krankheit verschlüsseln.

Klassifikation der Schlafstör. in der ICD-10 etwas unübersichtlich in der


Handhabung, ICD-10 im Klinikalltag jedoch Standardklassifikation.

Tab. 25.3  Klassifikation der Insomnien nach ICD-10


Code Störung

Kapitel V Psychische Störungen

F 51 Nichtorganische Schlafstörungen (Dyssomnien u. Parasomnien)

F 51.0 Nichtorganische Insomnie

F 51.1 Nichtorganische Hypersomnie

F 51.2 Nichtorganische Störung des Schlaf-wach-Rhythmus

F 51.3 Somnambulismus

F 51.4 Pavor nocturnus

F 51.5 Albträume

F 51.8 Sonstige nichtorganische Schlafstörungen

F 98.0 Enuresis einschl. Enuresis nocturna mit Beginn im Kindes- o. Jugend-


alter

Kapitel VI Krankheiten des Nervensystems

G 47 Organische Schlafstörungen

G 47.0 Organische Insomnie

G 47.1 Krankhaft gesteigertes Schlafbedürfnis

25 G 47.2 (Nicht psychogene) Störung des Schlaf-wach-Rhythmus

G 47.3 Schlafapnoe

G 47.4 Narkolepsie u. Kataplexie

G 47.8 Kleine-Levin-Sy.

G 47.9 Andere organische Schlafstörungen

G 25.8 Episodische Bewegungsstörungen u. nächtliche Myoklonien (RLS)

ICSD (International Classification of Sleep Disorders): Neueste Version


ICSD-2, stärkere Anpassung an das gängige ICD-System. Unterteilung in 6
Hauptkategorien:
• Insomnien.
• Schlafbezogene Atemstör.
• Hypersomnien zentralnervösen Ursprungs.
• Zirkadiane Schlaf-wach-Rhythmusstör.
  25.4 Insomnien  831

• Parasomnien.
• Schlafbezogene Bewegungsstör.
Detaillierte Beschreibung der Schlafstör., die „Bibel“ für den Schlafspezialisten.

25.4 Insomnien
ICD-10: F51.0 nichtorganische Insomnie; G47.0 organische Insomnie.

Definition
Mangel an Schlafqualität u./o. -quantität. Ein- u. Durchschlafstör.

Epidemiologie
Häufigste Schlafstör., bei etwa 10 % der Bevölkerung behandlungsbedürftige Aus-
prägung mit verminderter Leistungsfähigkeit in Beruf u. Alltag.

Ätiologie
Lebensführung:
• Ungünstiger Schlafrhythmus (z. B. Schichtarbeit, Zeitzonenwechsel, überlan-
ge Schlafzeiten bei alten Menschen, Nickerchen am frühen Abend).
• Störende äußere Einflüsse (z. B. Lärm, Licht).
• Genussmittel (koffeinhaltige Getränke, Alkohol).
Psychosoziale Belastungsfaktoren:
• Neg. Emotionen o. Stress (beruflicher Stress, Prüfungen, Paarkonflikt, bei
Kindern Trennungs- o. Schulangst).
• Freudige Ereignisse.
Psychiatrische Erkr.:
• Depression, Manie, schizophrene Psychosen.
• Missbrauch u. Abhängigkeit von Alkohol, anderen psychotropen Substanzen.
• Demenz (▶ 23.2).
• Delir (▶ 23.1).
• Angststör.
• Posttraumatische Belastungsstör.
Allg. Erkr.:
• Schmerzen (▶ 6, → ausreichende Analgesie).
• Ateminsuff. (z. B. Asthma, chron. Bronchitiden). 25
• Herzinsuff.
• Verdauungs-, Miktionsstör. (z. B. Pollakisurie infolge Prostatahypertrophie).
• Hyperthyreose.
Arzneimittel-NW:
• Koffein (Antitussivum, Appetitzügler), Theophyllin, Ephedrin (Asthma- u.
Grippemittel, Antitussiva).
• Antidepressiva v. a. der Desipramingruppe (noradrenerge Wirkung → psy-
chomotorische Aktivierung), SSRI, SNRI (Antriebssteigerung, RLS) u. MAO-
Hemmer (Antriebssteigerung).
• Antiepileptika (z. B. Ethosuximid).
• Parkinsonmittel wie Amantadin, Biperiden, Bromocriptin, Levodopa.
• Hormone (Thyroxin, Glukokortikoide → morgendliche Gabe).
• Chinolone (Gyrasehemmer).
• Zytostatika.
• Antidementiva (CHE-Hemmer, Memantin, Piracetam).
832 25 Schlaf 

Schlafstör. nach Abusus von Tagessedativa: Entzugsinsomnie bei fallendem


­Sedativaspiegel.

Klinik
• Schlafbeschwerden: Nicht einschlafen können, häufiges Kurzerwachen, lan-
ges Wachliegen; Schlaf unruhig, flach u. nicht erholsam, gesteigerte kognitive
Aktivität.
• Einschlafstör.: Verzögertes Einschlafen um mind. 30 Min. Häufig bei akuten
Insomnien, „Abschaltstör.“ bei psychosozialen Belastungssituationen.
• Durchschlafstör.: Häufiges Aufwachen nach dem ersten Einschlafen, ober-
flächlicher, wenig erholsamer Schlaf. Häufiger bei chron. Insomnien.
• Früherwachen: Vorzeitiges Aufwachen von mind. 1 h. Häufiger bei organi-
schen u. insbes. psychiatrischen Erkr. (z. B. Depression).
• Komb. der verschiedenen Insomnieformen.
• Beschwerden in Bezug auf Tagesbefindlichkeit: Physisch (z. B. Müdigkeit,
Muskelschmerzen, Unwohlsein) u. psychisch (z. B. Konzentrations- u. Leis-
tungsschwäche, Grübeln über Schlafschwierigkeit, Depressivität).
• Häufig Diskrepanz zwischen subjektiven Beschwerden u. objektiven Daten
(z. B. Polysomnografie).

Diagnostik
• Exploration: Beschwerden erfragen; Einbeziehung des Bettpartners. Anamne-
se bzgl. körperl. u. psychiatrischer Erkr., Medikamente (auch Appetitzügler),
Drogen, Alkohol, Nikotin, Koffein.
• Psychiatrische u. körperl. Unters. u. Diagn. (z. B. EKG, Schilddrüse).
• Schlaftagebuch über 2 Wo., Schlafhygieneprotokoll.
• Polysomnografie:
– Vorteil: Sicheres Erkennen organischer Stör. wie Schlafapnoen (schlafge-
bundene Atemstillstände) o. periodischer Beinbewegungen (RLS).
– Nachteil: Hohe Kosten, Anpassungsprobleme der Pat. an die Laborsitua-
tion.
– Alternative: Ambulante Messsysteme mit Aufzeichnung des Ruheaktivi-
tätsprofils durch Handgelenkaktograf.
• Schlafprofil (nach Rechtschaffen u. Kales, ▶ Tab. 2.8):
– Standardauswertung.
25 – Beschreibt Art u. Schwere der Stör., erleichtert Ther.-Planung.
• Schlaf-EEG (▶ 25.2.1):
– Frequenzbeschleunigungen des EEG (Mikroarousals) ermöglichen Ab-
grenzung von normalem u. gestörtem Schlaf.
– Je höher die Zahl der Arousals, desto mehr ist die Nachtruhe fragmentiert.
– Anhäufungen von Mikroarousals bei Schlafgestörten häufiger als bei
Schlafgesunden.

Nichtmedikamentöse Therapie

Nichtmedikamentöse Ther. ist i. d. R. Ther. 1. Wahl.

• Aufklärung des Pat. über Schlaf, Schlafstör. u. aufrechterhaltende Faktoren.


• Empfehlungen zur Schlafhygiene, d. h. Veränderung von Verhaltensweisen,
die den Schlaf neg. beeinflussen (▶ Tab. 25.4).
  25.4 Insomnien  833

• Entspannungsverfahren: Z. B. progressive Muskelrelaxation, autogenes Trai-


ning, Ruhebilder, Fantasiereisen, Biofeedback.
• Spezifisch schlafbezogene verhaltenstherapeutische Interventionen, z. B. Sti-
muluskontrolle, Schlafrestriktion, Gedankenstopp, „Gedankenstuhl“, kogniti-
ves Umstrukturieren in Bezug auf neg. schlafbezogene Gedanken. Ggf. ver-
haltenstherapeutisches Ther.-Programm zur störungsspezifischen Kurzzeit-
ther. der Insomnie.
• Spezifische Psychother.: Z. B. Verhaltensther., interpersonelle Psychother.
Tab. 25.4  Empfehlungen zur Schlafhygiene
Einhalten der individuell notwendigen Schlafmenge

Regelmäßige Schlafzeiten

Verzicht auf Tagesnickerchen (bes. am frühen Abend)

Angenehme Schlafbedingungen, Schlafzimmer möglichst nur zum Schlafen nutzen,


keine unerledigten Arbeiten im Schlafzimmer aufbewahren, angenehme Raumtem-
peratur

Einschlafritual

Ausgewogene Ernährung, abends keine schweren Mahlzeiten

Alkohol- u. Koffeinkarenz möglichst schon ab mittags

Verzicht auf Appetitzügler

Vermehrte körperl. Aktivität am Tag

Allmähliche Verringerung geistiger u. körperl. Anstrengung vor dem Zubettgehen

Nachts nicht auf die Uhr sehen

Hypnotikatherapie
• Medikation nur nach differenzialdiagn. Abklärung, Aufklärung u. Schlafhygi-
eneberatung, nichtpharmakologischen Ther.-Verfahren u. psychother. o. psy-
chosomatischen Ther.-Formen.
• Pharmakother. orientiert sich an der Symptomkonstellation, organischen
u./o. psychiatrischen Begleiterkr., der Persönlichkeit u. der Medikamenten- 25
vorgeschichte des Pat. Ziele optimaler Substanzauswahl: Subjektiv u. objektiv
gebesserter Schlaf, Erhalt des natürlichen Schlafmusters, rasche Wirksamkeit,
kein Überhang mit Tagesmüdigkeit, kein Abhängigkeitspotenzial, keine Tole-
ranzentwicklung, große therap. Breite, keine Gefahr der Atemlähmung bei
Überdosierung.
• Nicht alle Ziele mit einem Hypnotikum erreichbar (z. B. Benzodiazepine mit
großer therap. Breite, jedoch Veränderungen des natürlichen Schlafmusters
u. [auch „Low-Dose“-]Abhängigkeitsrisiko mit Entzugsrisiko).

Länger dauernder o. regelmäßiger Hypnotikagebrauch fördert die Ausbil-


dung von Gewöhnung u. Abhängigkeit.

Grundsätze:
• Pat. bereits bei erstmaliger Verordnung über Risiko der Hypnotikaabhängig-
keit u. Rebound-Schlafstör. nach dem Absetzen aufklären.
834 25 Schlaf 

• Dauergebrauch durch zeitlich begrenzte Verordnung ausschließen, kleine


Einzeldosen u. Packungsgrößen (N1) verordnen, Dosis möglichst schon in
der 1. Wo. reduzieren o. Dos.-Intervall vergrößern (ggf. bedarfsregulierte In-
tervallther. mit Einnahme nur an wenigen „wichtigen“ Tagen in der Woche).
• Hypnotika beeinträchtigen Fahrtüchtigkeit auch über den Nachtschlaf hinaus
(Hang-over). Die zentral dämpfende Alkoholwirkung wird verstärkt.

• Komb.-Präparate, Barbiturate, Methaqualon u. Bromcarbamide sind als


Hypnotika obsolet.
• Clomethiazol außer bei Alkoholentgiftung nur noch bei schwersten, an-
ders nicht behandelbaren Schlafstör. unter sorgfältiger Nutzen-Risiko-
Abwägung einsetzen.

Einschlafstör.:
• Benzodiazepinrezeptoragonisten der Non-Benzodiazepin-Gruppe (Z-Sub-
stanzen): Zolpidem 10 mg (z. B. Stilnox®), Zopiclon 7,5 mg (Ximovan®)
u. Zaleplon 10 mg (Sonata®).
– Strukturchemisch von Benzodiazepinen verschieden, aber ähnlicher Wir-
kungsmechanismus.
– Seltener Abhängigkeitsentwicklung, Reboundinsomnie nach Absetzen so-
wie Hang-over.
• Benzodiazepine:
– Mit mittellanger Wirkdauer: Lormetazepam (z. B. Noctamid®), Oxazepam
(z. B. Adumbran®), Flunitrazepam (z. B. Rohypnol 1®); Dos. wie bei
Durchschlafstör.
– Mit kurzer Wirkdauer Brotizolam 0,125–0,25 mg (Lendormin®), Triazo-
lam 0,125–0,25 mg (Halcion®).
– Vorteil: Große therap. Breite.
– Nachteile: Hang-over, Abhängigkeit, Entzugssymt. bis zum Entzugsdelir,
Muskelhypotonie (Sturzrisiko), gel. paradoxe Wirkung (bes. Ältere).
Durchschlafstör.: (Sedation am Folgetag tolerabel o. gewünscht).
• Benzodiazepinrezeptoragonisten der „Non-Benzodiazepin-Gruppe“:
­Zopiclon 7,5 mg (Ximovan®) aufgrund der etwas längeren Wirkdauer, die üb-
25 rigen Z-Substanzen haben Plasma-HWZ < 3 h.
• Benzodiazepine:
– Mit mittellanger Wirkdauer: Lormetazepam 0,5–2 mg p. o. (z. B. Noct-
amid®), Oxazepam 30 mg p. o. (z. B. Adumbran®), Flunitrazepam
­0,5–1 mg p. o. (z. B. Rohypnol 1®).
– Mit langer Wirkdauer: Nitrazepam 2,5–5 mg p. o. (z. B. Eatan N®), Flurazepam
30 mg p. o. (z. B. Dalmadorm®). Cave: Sturzgefahr, Hang-over am Folgetag!
Hypnotika mit geringer therap. Breite:
• Antihistaminika: Doxylamin 25–50 mg p. o. (z. B. Mereprine®), Diphenhy­
dramin 50 mg p. o. (z. B. Sediat®).
– Schwächer als Benzodiazepine, keine Abhängigkeit.
! Geringe therap. Breite, anticholinerge NW.
• Chloralhydrat: 250–1.000 mg (max. 2.000 mg) p. o. (z. B. Chloraldurat rot®
bei Einschlafstör. o. Chloraldurat blau® bei Durchschlafstör.).
– Abhängigkeit selten, wenig Veränderung des natürlichen Schlafmusters.
– Geringe therap. Breite, rascher Wirkungsverlust.
   25.5  Nichtorganische Insomnie (psychophysiologische Insomnie)  835

Neuere Substanzen:
• Melatonin: In den USA für zirkadiane Schlaf-wach-Rhythmusstör. zugelas-
sen. In Europa ein Melatonin mit verzögerter Freisetzung (Circadin®) zur Be-
handlung prim. Insomie im Alter > 55 J zugelassen.
Sonderfälle:
• Depression u. Schmerzen mit entsprechender Ind.: Psychomotorisch dämp-
fendes Antidepressivum z. B. Trimipramin (z. B. Stangyl®), Amitriptylin (z. B.
Saroten®), Doxepin (z. B. Aponal®), Mirtazapin (z. B. Remergil®).
– Vorteil: Kein Abhängigkeitspotenzial.
– Nachteil: Gefahr anticholinerger NW (Delir, Harnverhalt) u. von Herz-
rhythmusstör. Bzgl. des NW-Profils günstiger (praktisch keine anticho-
linerge Wirkung u. keine Herzrhythmusstör.): Mirtazapin (Remergil®).
– Bei Depression mit ausgeprägten Schlafstör. sowie Antriebsstör. Tagsüber:
Alleinige o. zusätzliche Medikation mit Agomelatin (Valdoxan®), einem
Melatoninanalogon mit antidepressiver Wirkung u. pos. Effekt auf Schlaf-
latenz u. -qualität.
• Manische u. schizophrene Psychose: Niedrig potentes Neuroleptikum mit
sedierender Wirkung, ggf. in Komb. mit hoch potentem Neuroleptikum.
• Nächtliche Unruhezustände im Alter: Niedrig potentes Neuroleptikum mit
sedierender Wirkung, z. B. Pipamperon 20–80 mg p. o. (Dipiperon®) o. Mel-
peron 25–100 mg p. o. (Eunerpan®).

• Benzodiazepine wegen Gefahr der paradoxen Reaktion vermeiden; kei-


ne Sedierung tagsüber.
• Cave bei Komb./höherer Dos. anticholinerg wirksamer Substanzen we-
gen Gefahr des anticholinergen Delirs.

• Schlafstör. bei Myasthenia gravis: (▶ 21.1). Psychomotorisch dämpfendes


Antidepressivum wie Amitriptylin 25–75 mg p. o. (z. B. Saroten®) o. niedrig
potentes Neuroleptikum mit sedierender Wirkung, keine Benzodiazepine!

• Keine Hypnotika bei Schlafapnoe-Sy.


• Schlafmittel sind lediglich Hilfsmittel, keine ursächliche Ther.! Bevor 25
Hypnotika verordnet werden, Schlafstör. aufgrund von exogenen Urs. u.
Allgemeinerkr. ausschließen.

25.5 Nichtorganische Insomnie
(psychophysiologische Insomnie)
Definition
• Beschwerde über Ein- o. Durchschlafstör., Früherwachen o. Schlaf von nicht
erholsamer Qualität.
• Auftreten trotz adäquater Möglichkeit, ausreichend zu schlafen.
• Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit o. -leistungsfähigkeit.
• Stör. kann nicht durch eine andere Schlafstör., neurol., psychiatrische o.
­internistische Erkr., Medikamenten- o. Substanzmissbrauch erklärt werden.
836 25 Schlaf 

Nach dem zeitlichen Zusammenhang mit einer belastenden Lebenssituation wer-


den unterschieden:
• Akute anpassungsbedingte Insomnie: Zeitliche Assoziation mit einem aku-
ten Stressor, Abklingen nach Ende der o. Anpassung an die belastende Situa-
tion, Dauer < 3 Mon.
• Chron. psychophysiologische Insomnie: Dauer mind. 1 Mon.; Anzeichen ei-
nes konditionierten Schlafproblems o. erhöhten Arousals im Bett wie körperl.
Anspannung mit gelernten schlafverhindernden kognitiven Assoziationen o.
Verhaltensmustern. Beginn der Schlafstör. häufig mit belastendem Lebens-
ereignis, nach fortgesetzten Traumatisierungen, Verlusten o. Erkr., jedoch
Persistenz nach Wegfall des Auslösers.

Klinisches Bild
• Ein- u. Durchschlafstör., frühes Erwachen, nicht erholsamer Schlaf, gemin-
dertes Wohlbefinden tagsüber.
• Bei chron. psychophysiologischer Insomnie: Schlafverhindernde Assoziatio-
nen u. Verhaltensmuster, exzessives Fokussieren auf u. erhöhte Angst um den
Schlaf, körperl. Anspannung. Häufig besserer Schlaf in fremder Umgebung.
Beginn der Beschwerden in der 3.–4. Lebensdekade, jedoch häufig schon seit
der Jugend leicht störbarer Schlaf. Ohne Behandlung Anhalten der Stör. über
J. bzw. Dekaden.

Zusatzdiagnostik
• Ausschluss internistischer u. psychiatrischer Erkr.
• Schlaftagebuch; Schlafhygieneprotokoll.
• Polysomnografie: Verlängerte Schlaflatenz u. erhöhter Wachzeitanteil, redu-
zierter Schlafeffizienz-Index.

Therapie
Nichtpharmakologische Ther.:

Ther. 1. Wahl!

• Aufklärung des Pat. über Schlaf, Schlafstör. u. aufrechterhaltende Faktoren.


25 • Regeln zur Schlafhygiene (▶ Tab. 25.4).
• Entspannungsverfahren (▶ 25.4).
• Spezifisch schlafbezogene verhaltenstherap. Interventionen, z. B. Stimulus-
kontrolle, Schlafrestriktion, Gedankenstopp, „Gedankenstuhl“, kognitives
Umstrukturieren in Bezug auf neg. schlafbezogene Gedanken. Ggf. verhal-
tenstherap. Ther.-Programm zur störungsspezifischen Kurzzeitther. der In-
somnie.
• Bei Vorliegen zusätzlicher krankheitswertiger psychischer Stör. entsprechen-
de Psychother.
Pharmakologische Ther.:
• Kurze Anwendung (ca. 4 Wo.) von Benzodiazepinen o. Benzodiazepinrezeptor-
Agonisten mit kurzer o. ultrakurzer HWZ (cave: Höheres Abhängigkeitsrisiko):
Zopiclon (Ximovan® 3,75–7 mg/Nacht) Zolpidem (Stilnox® 5–10 mg/Nacht).
• Sedierende Antidepressiva wie Mirtazapin (Remergil® 15 mg zur Nacht, bei
höheren Dos. keine stärkere schlafanstoßende Wirkung), Trimipramin (Stan-
gyl® 25–50 mg zur Nacht), Doxepin (Aponal® 25–50 mg zur Nacht).
• Neuroleptika, z. B. Melperon u. Dipiperon.
   25.5  Nichtorganische Insomnie (psychophysiologische Insomnie)  837

Differenzialdiagnosen
Schlafwahrnehmungsstörung
Subjektive Klagen über schlechten Schlaf (Fehleinschätzung der Zeiten im Schlaf,
v. a. in den Stadien 1 u. 2) u. erhöhte Tagesschläfrigkeit bei normaler Polysomno-
grafie (Einschlaflatenz < 15–20 Min.; Schlafzeit > 6,5 h; normale Schlafstruktur) u.
fehlenden prim. psychiatrischen Auffälligkeiten. Ther.: Verhaltensorientierte psy-
chotherap. Verfahren.
Insomnie bei psychiatrischen Erkrankungen
Depression:
• Ein- u. Durchschlafstör., Erschöpfbarkeit u. Insuff.-Gefühle.
• Typ. u. differenzialdiagn. wegweisend: Früherwachen mit Morgentief.
• Ther.:
– Berücksichtigung der Schlafstör. bei antidepressiver Einstellung u. Vertei-
lung der Dos. über den Tag.
– Besserung des Schlafs eher unter psychomotorisch dämpfenden trizykli-
schen Antidepressiva wie Trimipramin (z. B. Stangyl®), Amitriptylin (z. B.
Saroten®) o. Doxepin (Aponal®), dem kardial NW-ärmeren Mirtazapin
(Remergil®) o. Agomelatin (Valdoxan®).
– SSRI u. SNRI wirken zunächst eher aktivierend u. schlafhemmend u. erst
durch die Besserung der Depression später günstig auf die Schlafstör., zu-
sätzlich gelegentlich RLS unter SSRI u. SNRI.
Manie u. bipolare Stör.:
• In der Manie Hyperarousal, vermindertes Schlafbedürfnis.
• Da Schlafentzug zur Antriebssteigerung führt u. die weitere Entwicklung der
Manie begünstigt, möglichst rasch medikamentöse Ther. der Schlafstör.
durch sedierende Neuroleptika u./o. Benzodiazepine.
Schizophrenie:

Häufig schon Auftreten von Schlafstör. in der Prodromalphase, daher als


Frühwarnzeichen einer schizophrenen Episode ernst nehmen.

• Berücksichtigung der Schlafstör. bei der neuroleptischen Einstellung, ggf. zu-


sätzliche Gabe psychomotorisch dämpfender Neuroleptika zur Nacht.
• Nach neueren Studien pos. Einfluss atypischer Neuroleptika auf den Schlaf- 25
wach-Rhythmus.
• Vereinzelt Auftreten von RLS auch unter Neuroleptika.
Angststör.: Schlafstör. bei etwa 40 % der Angstpat. Unter Ther. der Angststör. mit
SSRI Schlafstör. wegen aktivierender u. schlafhemmender Wirkung o. durch RLS.
Sonderfall schlafgebundene Panikattacken:
• Panikattacken im Schlaf beim Übergang vom Non-REM-Stadium 1 nach 3.
• Pat nach dem Erwachen sofort voll orientiert, immer Erinnerung an das
angstvolle Erwachen.
• DD: Pavor nocturnus (Auftreten aus dem Tiefschlaf, Amnesie für die Angst,
anamnestisch meist Schlafwandeln).
• Ther.: Psychother. der Angststör., sedierende Antidepressiva o. Komb. von
­Citalopram (Cipramil®) u. Mirtazapin (Remergil®) o. Trimipramin (Stangyl®).
Posttraumatische Belastungsstör.: Verschiedenste Formen der Schlafstör. u.
Stör. der Schlafarchitektur beschrieben, insbes. prozentuale Zunahme des REM-
Schlafs mit emotional belastenden Träumen.
838 25 Schlaf 

Ther.:
• Psychother. der posttraumatischen Belastungsstör., zur Verbesserung des
Schlafs auch Hypnose, verhaltenstherap. Techniken wie Schlafrestriktion,
Aufschreiben des Albtraums.
• Medikation mit Antidepressiva: SSRI (führen zur Reduktion des REM-
Schlafs) o. Mirtazapin (Remergil®) o. Komb.
• Benzodiazepine eher kontraindiziert: Kein pos. Effekt auf Schlafstör., Begüns-
tigung einer Chronifizierung.
Delir:
• Delir mit Unruhe, Schlafstör., Orientierungsstör. u. ggf. (optischen) Halluzi-
nationen bes. häufig bei älteren Menschen, Demenz o. Parkinson-Erkr. durch
anticholinerg wirksame Medikamente, Benzodiazepin(entzug), Flüssigkeits-
mangel, etc.
• Ther.: Ausreichende Flüssigkeitssubstitution, Urs. ermitteln, beseitigen.
Insomnie bei Demenz: ▶ 23.2.
Insomnie durch Alkohol, Drogen o. Medikamente: Immer ausführliche Alko-
hol-, Drogen- u. Medikamentenanamnese erheben.
Insomnie bei Schmerzen, internistischen u. anderen neurol. Erkr.: Z. B. PNP,
M. Parkinson: Entsprechende Anamnese, körperl. u. neurol. Unters.

25.6 Restless-Legs-Syndrom
▶ 15.8.1.

25.7 Letale familiäre Insomnie


Def.: Familiäre Prion-Erkr. mit progressiver spongiformer Enzephalopathie.
Genetik: Mutation im Codon 178 des Prion-Protein(PrP-)-Gen (PRNP) mit ver-
änderter Expression des D178N-Proteins.
Pathologie: Schwerer bilateraler Neuronenverlust mit reaktiver Gliose in den vor-
deren u. dorsomedialen Thalamuskernen.
Klin. Bild: Progressive Insomnie mit initialer Einschlafstör. u. komplettem
Schlafverlust in wenigen Mon.; Auftreten von spontanen Übergängen aus der
25 Wachheit zu einem Schlafzustand mit ausagierten Träumen (Status dissocia-
tus). Autonome Dysregulation, endokrinologische u. motorische Auffälligkei-
ten.
Zusatzdiagn.:
• Polysomnografie: Fehlen von Tiefschlaf, dissoziierter REM-Schlaf, Myoklo-
nus u. erhöhte Muskelaktivität.
• Liquorlabor: Bestimmung von Protein 14-3-3 im Liquor (unspezifisch).
• EEG: Periodische Sharp-wave-Komplexe.
DD: Demenz, M. Creutzfeldt-Jakob, Schizophrenie u. Verhaltensstör. im REM-
Schlaf.
Ther.: Symptomatisch.
Verlauf: Beginn in der 5. o. 6. Dekade, progressiver Verlauf, Überlebenszeit
7–13 Mon.
  25.8 Hypersomnien  839

25.8 Hypersomnien
25.8.1 Narkolepsie
ICD-10 G47.4.
Ätiologie
• Fehlfunktion der Schlaf-wach-Regulation im Hirnstamm/Hypothalamus ver-
mutet: Dissoziierter/partieller REM-Schlaf, Sleep-Onset-REM-Schlaf, „Intru-
sion“ von REM-Schlaf-typ. Phänomenen in den Wachzustand.
• Häufig erniedrigter Hypocretin-Liquorspiegel (hypocretinerge Neurone ha-
ben Verbindungen zum aufsteigenden aktivierenden retikulären System
[ARAS]).
• Symptomatisch nach SHT, Enzephalitis, endokrinen Erkr., Myopathien, MS.
Epidemiologie
• Relativ selten: Prävalenz etwa 1:50.000 Einwohner.
• Erkr.-Alter: Von der Kindheit bis ins hohe Alter (3.–72. Lj), jedoch Erkr.-
Gipfel um das 20. Lj.
• Beginn der idiopathischen Narkolepsie selten nach dem 40. Lj.
• Symptomatische Narkolepsie nach SHT, Enzephalitis, endokrinen Erkr.,
Myopathien, MS.

Genetik
• Klare genetische Komponente: Bei 90 % der Pat. Assoziation mit HLA DR2/
DQ1w (DQB1*0602 u. DQA1*0102).
• Typisierung von geringer Aussagekraft, da 12–33 % der Bevölkerung HLA-
DQA1'0102/DQB1*0602-pos.

Pathophysiologie
Selektive Degeneration der Neuropeptid Hypocretin (Hcrt) synthetisierenden
Zellen im Hypothalamus mit der Folge dissozierter Schlaf-wach-Phänomene.

Klinik/Leitsymptome
Monosymptomatisch mit Schlafanfällen am Tag o. polysymptomatisch mit meh-
reren Sympt. parallel.
25
Klassische Tetrade:
• Hypersomnie (obligat):
– Übermäßige Tagesschläfrigkeit mit wiederholt auftretendem imperativem
Schlafdrang (Schlafattacken), nahtlosem Übergang in Tagesschlafepiso-
den.
– Dauer von Min. bis 2 h, danach Pat. wieder für 2–3 h subjektiv erholt.
– Auftreten nahezu tgl. über mind. 3 Mon.
• Kataplexie (affektiver Tonusverlust):
– 70–90 % der Pat. (pathognomonisch!), jedoch häufig erst 3–4 J. nach Auf-
treten der Hypersomnie beginnend, vereinzelt davor:
– Plötzlicher Verlust des Muskeltonus mit Bewegungsunfähigkeit.
– Bei kompletten Kataplexien alle Muskeln bis auf die Atmung u. Augen-
muskulatur betreffend.
– Bei partiellen Kataplexien, z. B. nur Unterkiefer, Beine o. die Körperhal-
tung stabilisierende Muskulatur.
840 25 Schlaf 

– Auslöser: Am häufigsten Lachen, Überraschung u. Hören o. Erzählen ei-


nes Witzes.
– Keine Einschränkung des Bewusstseins o. der Vitalfunktionen.
– Dauer Sekunden bis Min. mit schlagartiger Erholung.
• Schlaflähmung („Wachanfall“):
– 25 % der Narkolepsiepat.
– Minutenlange Bewegungs- u. Sprechunfähigkeit beim Schlaf-wach-Über-
gang durch SOREM (REM-Phasen 10–15 Min. nach dem Einschlafen)
mit starker motorischer Hemmung.
– Oft mit hypnagogen Halluzinationen.
– Erhaltenes Bewusstsein.
• Hypnagoge Halluzinationen:
– 25 % der Narkolepsiepat.
– Häufig mit Schlaflähmung assoziiert.
– Als quälend o. bedrohlich erlebte visuelle, taktile, kinetische o. akustische
Halluzinationen beim Einschlafen/Erwachen.
Weitere Sympt.:
• Automatisches Handeln: Automatisches Weiterführen monotoner Tätigkei-
ten im Halbschlaf (Non-REM-assoziiert).
• Fragmentierter Nachtschlaf: 40–50 % der Pat.
• Schlafrhythmusstör.: Verfrühtes Einschlafen, verfrühte erste REM-Phasen,
häufiges Erwachen, vermehrter Stadienwechsel u. Körperbewegungen, Wach-
liegephasen ↑.

Diagnostik
Anamnese; ggf. Nachweis des HLA-DR2-Antigens u. des Hypocretin-Liquorspie-
gels.
• EEG: Polysomnografische Ableitungen:
– Einschlaflatenz < 5 Min.
– SOREM (< 20 Min. nach dem Einschlafen auftretende REM-Phasen).
– Abnormes nächtliches Schlafprofil mit fraktionierten u. dissoziierten
Schlafstadien, weniger Tiefschlafphasen, Erwachen in zweistündigen Ab-
ständen.
• Polysomnografie:
– Reduzierte Schlaflatenz (< 10 Min.).
25 – SOREM.
– Erhöhter Anteil an Schlafstadium 1.
– Fragmentierter Schlaf mit vermehrten Arousals.
• MSLT: 5 × Ableitung einer Polysomnografie tagsüber in ruhiger Umgebung
(Pat. soll versuchen, einzuschlafen). Schlafdefizit u. Einnahme REM-suppres-
siver Medikamente ausschließen.
– Schlaflatenz < 5 Min. = path.
– Schlaflatenz 5–10 Min. = grenzwertig.
– Schlaflatenz > 10 Min. = normal.
– Testende 15 Min. nach Einschlafen o. nach 20-minütigem Wachen.
– Bei etwa 80 % der Narkoleptiker Nachweis von SOREM.

Differenzialdiagnosen
Intrakranielle Raumforderungen: III.  Ventrikel, Hypothalamus, Hypophyse,
Hirnstamm (▶ 13.6).
  25.8 Hypersomnien  841

Hypersomnie:
• Idiopathische Hypersomnie (▶ 25.8.2): Dauerschläfrigkeit bei ungestörtem
Nachtschlaf.
• Schlafmangelsy., Schichtarbeiter.
• Rezid. Hypersomnie, Kleine-Levin-Sy. (▶ 25.8.3): Periodische Hyperphagie,
Hypersomnie, Hypersexualität, überwiegend in der Adoleszenz auftretend.
• Periodische Beinbewegungen im Schlaf (PLMS), RLS (▶ 15.8.1).
• Schlafbezogene Atmungsstör., Schlafapnoe-Sy. (▶ 25.8.4, ▶ 25.8.5).
• Endokrine Erkr. (Hypothyreose, Addison-Krankheit).
• Seltener: Myotone Dystrophie, Prader-Willi-Sy., psychiatrische Stör.
Kataplexie:
• Epileptische Anfälle (bes. psychomotorische Anfälle; ▶ 11.1).
• Nichtepileptische anfallsartige Phänomene: Synkope, TIA, „drop attacks“,
vestibuläre Stör.
• Psychiatrische Stör.: Dissoziative Stör. (psychogene Anfälle).
• Paroxysmale hypo-/hyperkaliämische Lähmungen.
• Muskuläre Erkr.
• Schlaflähmung (familiäre Schlaflähmung ohne weitere Sympt.).
Hypnagoge Halluzinationen:
• Schizophrene u. andere Psychosen.
• Delir.
• Halluzinogene Drogen.
• Epileptische Auren.
Therapie
Allg. Ther.:
• Ausreichender, regelmäßiger Nachtschlaf, zusätzlich Mittagsschlaf, jedoch
Vermeiden zu häufiger Nickerchen, um keine weitere Fragmentierung des
Nachschlafs zu provozieren.
• Ausgewogene Ernährung; stimulierende Getränke.
• Alkohol u. Nikotin meiden.
• Regelmäßig Sport.
• Einüben individueller unterstützender Maßnahmen (um z. B. monotone Tä-
tigkeiten aufzulockern).
• Beratung über sinnvolle lebenspraktische Maßnahmen (Verzicht auf Schicht-
u. Nachtarbeit sowie Arbeit an gefährlichen Maschinen u. Teilnahme am 25
Straßenverkehr), Organisation von Arbeitsabläufen.
Medikamentöse Ther.:
• Modafinil: Wirkt bei 92 % der Pat. v. a. gegen Tagesschläfrigkeit, hemmt wohl
GABA-Freisetzung.
–  Präparat: Vigil®, BTM-pflichtig.
–  Ind.: Mittel 1. Wahl bei Narkolepsie mit u. ohne Kataplexie.
–  Dos.: 2–4 × 100 mg/d p. o., bei schwerer Nieren-/Leberinsuff. halbe Dosis.
–  NW: Insgesamt gering. Vereinzelt Kopfschmerz, Unruhe, Appetit ↓, Hautre-
aktionen, Tremor, bukkofaziale Dyskinesien, Hyperkinesien, zerebrale
Krampfbereitschaft ↑, Angst, Depression, Euphorie, Übelkeit, Erbrechen, Di-
arrhö, AP ↑, Herzklopfen, RR ↑, selten Verwirrtheit, Tinnitus, Extrasystolen.
–  KI: Bekannte Suchterkr., schwere Angstzustände, schwere Leber- u. Nie-
renerkr., RR ↑, Herzkreislauferkr.
–  WW: Keine parallele Ther. mit Prazosin; induziert über Cytochrom-P450
Abbau anderer Pharmaka u. Kontrazeptiva.
842 25 Schlaf 

• Gammahydroxybutyrat (GHB, Natriumoxybat): Abnahme der Kataplexien


um bis zu 90 %, Abnahme hypnagoger Halluzinationen u. Schlaflähmungen,
Rückgang der Tagesschläfrigkeit, Besserung des Nachschlafs mit Rückgang
der Fragmentierung u. Zunahme des Tiefschlafs.
–  Präparat: Xyrem®, BTM-pflichtig.
–  Ind.: Mittel 1. Wahl bei ausgeprägte Kataplexien, 2. Wahl bei Tagesschläf-
rigkeit.
–  Dos.: 2,25–4,5 g/d p. o. 2 × nachts, Dosisreduktion bei Leberfunktionsstör.
–  NW: Schlafstör., Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen.
• Methylphenidat:
–  Präparat: Z. B. Ritalin®, BTM-pflichtig.
–  Ind.: Tagesschläfrigkeit, Mittel 3. Wahl wegen kardiovask. NW.
–  Dos.: 2–6 × 10 mg/d p. o.
–  NW: Appetit ↓, Schwitzen, Dyskinesie, Akkommodationsstör., Hyper- o.
Hypotonie, Angina pectoris, Arthralgie, Fieber, Leuko-, Thrombopenie,
Anämie, Kopfschmerz, Schwindel, Übelkeit, Tremor, Mundtrockenheit,
Erregung, Suchtgefahr.
–  KI: Hyperthyreose, Phäochromozytom, Engwinkelglaukom, Blasenentlee-
rungsstör., Arrhythmie, Tachykardie, Angina pectoris, Psychosen.
• L-Dopa (▶ 15.2.3): Bei seltenen narkoleptischen Attacken bis zu 6 × 125 mg/d
p. o., alternativ bei narkoleptischen u. kataplektischen Anfällen Selegilin
(▶ 15.2.3).
• Serotonin-Wiederaufnahmehemmer u. Clomipramin:
–  Ind.: Behandlung der kataplektischen Attacken u. der Schlaflähmung.
–  Präparate u. Dos.: Clomipramin initial 25 mg/d morgens, Zieldosis
75 mg/d in 1–2 ED (Anafranil®); Fluoxetin 20 mg/d (Fluctin®).

Narkolepsie u. Führerschein
Die Fahrtauglichkeit bei Narkolepsie muss individuell nach den vorherr-
schenden Sympt. beurteilt werden, bei persistierenden Sympt. ist von Fahr-
untauglichkeit auszugehen.

Prognose
Erhöhte Tagesschläfrigkeit mit Einschlaftendenzen wird wie andere Hypersomni-
25 en mit einer signifikant erhöhten Morbidität u. Mortalität assoziiert.

Kontakt zu Selbsthilfegruppen
Deutsche Narkolepsie Gesellschaft (e. V.), Internet: www.dng-ev.org.

25.8.2 Idiopathische Hypersomnie
Def.: Exzessive Tagesschläfrigkeit mit Non-REM-Schlafepisoden bei verlänger-
tem o. normalem Nachtschlaf. Abwesenheit von schlafbezogenen Atmungsstör.,
Narkolepsie, Schlafmangelsy. o. anderen Schlafstör.
Ätiol.: Unklar; familiäre Häufung, jedoch ohne HLA-Assoziation.
Klinik: Periodische exzessive Tagesschläfrigkeit, manchmal mit Schlafattacken
wie bei Narkolepsie; häufig Kopfschmerzen, Synkopen u. Raynaud-Phänomen.
  25.8 Hypersomnien  843

Diagn.:
• Polysomnografie: Normale Schlafarchitektur u. Dauer.
• MSLT: Verkürzte Schlaflatenz (< 10 Min.), ohne SOREM.
Ther.: Schlafhygiene u. Anwendung von Stimulanzien mit variablem Ansprechen.

25.8.3 Rezidivierende Hypersomnie (Kleine-Levin-Syndrom)


Def.: Rezid. Episoden von Hypersomnie (die Tage bis Wo. andauern) mit wo-
chen- bis monatelangen Remissionen. Selten monosymptomatisch, als Kleine-
Levin-Sy. definiert als typ. Trias mit zusätzlichen Sympt. der Polyphagie u. Hyper-
sexualität/Aggressivität in der Episode.
Ätiol.: Unbekannt, möglicherweise hypothalamische Dysfunktion.
Epidemiologie: Beginn in der Adoleszenz, häufiger bei M, insgesamt sehr selten.
Klinik:
• Hypersomnie: Schlafdauer 18–20 h/d, Erwachen nur zum Essen u. Toiletten-
gang.
• Polyphagie: Gewichtzunahme (2–5 kg).
• Hypersexualität: Vorübergehende Verhaltensstör. mit Enthemmung o. Ag-
gressivität.
Diagn.:
• Polysomnografie: Erhöhte Schlafeffizienz mit verminderten Schlafstadien 3 u. 4.
• MSLT: Verkürzte Schlaflatenz ggf. mit SOREM.
Ther.: Lithium als Prophylaxe gegen die Episoden, Stimulanzien für die symtoma-
tische Periode werden kontrovers diskutiert.
Progn.: Günstig (Spontanremission mit zunehmendem Alter, meist innerhalb
von 4 J.).

25.8.4 Schlafapnoe-Syndrom
ICD-10 G47.3.
Def.: Schlafapnoe-Sy. (SAS) = Schlafgebundene Atmungsstör. mit Hypo- o.
Apnoephasen (> 10 s häufiger als 10/h). Absinken des O2-Gehalts führt zu ständig
wiederkehrenden kurzen Aufwachvorgängen, die Erreichen des Tiefschlafs ver-
hindern können u. zu Sympathikusaktivierung führen. Nach der Pathophysiolo-
gie werden obstruktive (OSAS) u. zentrale Schlafapnoesy. (ZSAS) unterschieden.
Epidemiologie:
25
• Häufigste Urs. von erhöhter Tagesschläfrigkeit überhaupt.
• Ca. 1–5 % der Bevölkerung in den westlichen Ländern.
• Prävalenz mit zunehmendem Alter u. Übergewicht steigend, M > F.
• Risikofaktor für Unfälle durch Tagesschläfrigkeit, für art. Hypertonie, kardio-
vask. Erkr. u. Schlaganfall (▶ 7).
Ätiol. u. Pathophysiologie:
• OSAS: Mechanische Veränderungen der oberen Atemwege durch Tonusver-
lust der Pharynxmuskulatur, Fettinfiltration o. anatomische Behinderung →
obstruktive Apnoe → O2-Sättigungsabfall → verstärkter Atemantrieb u. Arou-
sal (Weckreaktion).
• ZSAS: Idiopathisch, sek. bei zerebrovask. o. kardialen Erkr. o. symptomatisch
(z. B. Hirnstammprozesses). Minderung des zentralen Atemantriebs mit
Atemstillstand im Schlaf ohne nachweisbare thorakale o. diaphragmale
Atembewegungen u. ohne Obstruktion der oberen Luftwege.
844 25 Schlaf 

Urs. u. assoziierte Erkr.:


• Adipositas.
• Intranasale Stenosen, Veränderungen im Bereich von Rachen, Kehlkopf.
• Deformitäten der Kiefer.
• Herzinsuff.
• Enzephalitis (▶ 9).
• Hirnstammtumoren (▶ 13.6).
• Bilaterale Läsionen von Medulla oblongata, oberem Halsmark.
• MSA, Parkinson-Sy., Shy-Drager-Sy. (▶ 15.2.5).
• Poliomyelitis u. Post-Polio-Sy. (▶ 14.4.3).
• Myasthenia gravis (▶ 21.1).
• Fibromyalgie.
• ALS.
• Autonome Neuropathien.
• Charcot-Marie-Tooth-Erkr.
• RLS.
• Narkolepsie.
• Verschlechterung durch Alkohol, Benzodiazepine, Muskelrelaxanzien.
Höhere Prävalenz bei psychiatrischen Pat. unter Antidepressiva-/Neurolep-
tika-/Phasenprophylaktika- u./o. Benzodiazepin-Komb., die zu starker
­Gewichtszunahme plus Sedierung führen.

Klinik:
• Motorische Unruhe während der Nacht.
• Vermehrte Tagesmüdigkeit, in der Folge Stimmungsschwankungen mit ver-
mehrter Reizbarkeit o. Depressivität, Veränderung der Persönlichkeit, Kon-
zentrations- u. Gedächtnisstör., morgendliche Kopfschmerzen, Stör. der Se-
xualfunktion, vereinzelt hypnagoge Halluzinationen u. Enuresis nocturna.
• ZSAS: Durchschlafstör. mit o. ohne Tagesschläfrigkeit; Atemstillstand im
Schlaf ohne nachweisbare thorakale o. diaphragmale Atembewegungen u. oh-
ne Obstruktion der oberen Luftwege. Erwachen mit Erstickungsgefühl, Hy-
perventilation. Merkfähigkeitsstör., Kopfschmerzen, seltener Tagesschläfrig-
keit. Hypertonie, Cor pulmonale.
25 • OSAS: Obstruktion der oberen Atemwege, oft Kollabieren des Pharynx, kein
Luftstrom an Mund u. Nase bei thorakalen u. diaphragmalen Atembewegun-
gen, lautes Schnarchen. Während der Apnoe Bradykardie, danach Tachykar-
die, Schlaffragmentierung u. -defizit, Tagesschläfrigkeit. Hypertonie, Rechts-
herzbelastung bis Cor pulmonale. Morgendliche Kopfschmerzen u. kognitive
Leistungsminderung (Vergesslichkeit, Konzentrationsstör. u. a.). Komorbidi-
tät mit kardio- u. zerebrovask. Erkr.: Art. Hypertonie, KHK, Schlaganfälle,
pulmonale Hypertonie; relevant erhöhtes kardiovask. Mortalitätsrisiko bei
schweren OSAS; Prävalenz in der Akutphase des Schlaganfalls 45–70 %.
Diagn.: Allg. klin. u. HNO-ärztliche Unters.
• Polygrafie: Atmungsaufzeichnung an mind. 2 Kanälen (Mund/Nase, Thorax/
Abdomen); zur Erstdiagn. u. zur regelmäßigen Kontrolle unter Ther. v. a.
auch bei ZSAS. Zwei Methoden:
– Polygrafische Ganznachtableitung mit differenzierter Atmungsregistrie-
rung (4 Kanäle) u. Messung der O2-Sättigung des Hb. EEG-Assistenz not-
wendig.
  25.8 Hypersomnien  845

– Screeningmethode mit 1-Kanal-Registrierung der O2-Sättigung des Hb


(Oxymeter Fa. Schubart, Wiesbaden) o. des partiellen O2-Drucks im Ge-
webe (Oxycapnomonitor Fa. Hellige, Freiburg). EEG-Assistenz nicht not-
wendig.
• Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI): Summe der Apnoen u. Hypopnoen pro
Stunde. Klassifikation:
– Leichtes Apnoe-Sy.: AHI < 15 (< 15 Apnoe/Hypopnoe-Phasen/h).
– Mittelgradiges Apnoe-Sy.: AHI 15–30.
– Schweres Apnoe-Sy.: AHI > 30.
• MSLT: Einschätzung der Tagesschläfrigkeit (Schlaflatenz < 10 Min.), Nach-
weis von SOREM (▶ 25.2.3).
• Unters. der Vigilanz: Vigilanztest nach Quatember u. Maly (Wiener-Test-
System); keine sicheren Unterschiede zwischen Narkolepsien u. SAS nach-
weisbar.
• Bei ZSAS: Polysomnografie: Überwiegen zentraler Apnoe-Phasen; reduzierte
Schlafeffizienz; erhöhter Arousal-Index. Zusatzdiagn.: Neurol. Diagn., Bildge-
bung (Ausschluss Hirnstammprozess), Langzeit-EKG, kardiale u. respiratori-
sche Funktion.
• Bei OSAS: Polysomnografie: erhöhter AHI, erhöhter Arousal-Index u. ver-
minderte Schlafeffizienz, Herzrhythmusstör. MSLT: Erhöhte Tagesschläfrig-
keit, Schlaflatenz < 10 Min., eingehende HNO-ärztliche, kieferchir. u. -ortho-
pädische Diagn., Abklärung möglicher kardiovask. Begleiterkr.
Ther.:
• Allg. Maßnahmen:
– Gewichtsregulierung.
– Regelmäßiger u. ausreichender Nachtschlaf.
– Alkohol- u. Nikotinverzicht.
– Schlaf- u. Beruhigungsmittelkarenz.
– Vermeidung der Rückenlage im Schlaf; Schlaf in halb sitzender Position.
– Kein Schlaf in Höhen > 1.000 m ü. M.
– Ggf. Training der Muskulatur der oberen Luftwege (Blasinstrument spie-
len).
• Mechanische Maßnahmen:
– CPAP = continuous positive airway pressure: Kontinuierliche Luftdruck-
erhöhung in den oberen Atemwegen auf 5–15 cm H2O durch Nasenmaske
mit Behebung des neg. Inspirationsdrucks. Bei unregelmäßiger Compli- 25
ance NW erfragen: Allergien gegen das Material, Druckstellen.
– Bi-PAP-Behandlung = bi-level positive airway pressure: Behandlung un-
ter polysomnografischer Kontrolle.
– Zungenvakuumprotraktor; Problem: Wundreiben der Zunge nach 3–4 h.
– Unterkieferprotrusionsschiene (Esmarch-Prothese): Vorschieben des Un-
terkiefers u. Fixierung in Aufbissstellung, dadurch Offenhalten der oberen
Atemwege.
• Operative Methoden:
– Beseitigung von Stenosen im Nasen-Rachen-Raum reduziert lediglich die
Apnoeanfallszahl, falls SAS erst einmal entwickelt.
! Vorsicht bei Tonsillektomien an adipösen Pat.!
– Uvulopalatopharyngoplastik: Entfernung von Fett- u. Bindegewebe im
Bereich des Oropharynx, Durchschneiden u. Teilen der Uvula; ebenfalls
Verminderung der Apnoezahl, kein vollständiges Verschwinden des SAS.
– Chir. Ventralverlagerung der Mandibula bei Pat. mit Mikro- u. Retrogenie.
846 25 Schlaf 

– Tracheotomie: Radikalste Methode, nur bei schwerster Tagesschläfrigkeit,


schweren Herzrhythmusstör. u. > 60 Apnoephasen/h (Kriterien: Brady-
kardie < 40/Min., während Apnoe Asystolie, ventrikuläre Tachykardie,
O2-Sättigung < 50 %, Cor pulmonale).
• Medikamentöse Behandlung:
–  Keine eindeutig in Studien nachgewiesene Effektivität: Acetazolamid
(z. B. Diamox®) führt zur metab. Azidose u. erhöht damit Atemantrieb,
wird bei ZSAS eingesetzt. Trizyklische Antidepressiva unterdrücken den
REM-Schlaf, z. B. Protryptilin, Clomipramin (Anafranil®).
–  Bei ZSAS: Behandlung der Grunderkr., wenn möglich. Bei Herzinsuff.:
O2-Ther., CPAP o. IPPV (intermittent positive pressure ventilation).
–  Bei OSAS: Standardther. CPAP, bei Versagen Bi-PAP, bei leichtem OSAS
Ther.-Versuch mit Unterkieferprotrusionsschiene, bei Adipositas Ge-
wichtsreduktion. Bei Versagen der konservativen Ther. ggf. operative
­Methoden.

25.8.5 Alveoläre Hypoventilation (einschl. Pickwick-Syndrom)


Def.:
• Ventilationsstör. mit resultierender verminderter art. O2-Sättigung im Schlaf
bei Pat. ohne Lungenparenchymerkr.; prim. o. sek. Atemzentrum spricht ver-
mindert auf pCO2 an, wodurch zentraler Atemantrieb erst bei erhöhten CO2-
Werten einsetzt.
• In der Folge Polyzythämie, Cor pulmonale möglich.
Ätiol.:
• Neurol. Erkr.: Autonome Dysfunktion (Shy-Drager-Sy., Diab. mell.), Läsion
im Bereich des Atmungskontrollsystems (Schlaganfälle, Poliomyelitis, Tumo-
re, Enzephalitis, posttraumatisch), neuromuskuläre Erkr.
• Pulmonale Erkr.
• Kardiale Erkr.
• Medikamentös: Benzodiazepine, Barbiturate, Alkohol.
• Idiopathisch.
Klin. Bild: Tagesschläfrigkeit, morgendlicher Kopfschmerz, Gedächtnis- u. Kon-
zentrationsstör.
Formen:
25 • Prim. alveoläre Hypoventilation (Undines Fluch): Angeborene Stör. des me-
dullären zentralen CO2-Reglers.
• Sek. alveoläre Hypoventilation: Neurol., pneumologische o. kardiologische
Erkr., die die Ventilation beeinträchtigen.
• Pickwick-Sy.: Sonderform eines alveolären Hypoventilationssy., das mit ei-
nem OSAS bei massiv adipösen Pat. kombiniert mit einer Stör. der zentralen
Atemregulation einhergeht. Sek. Polyzythämie, Cor pulmonale, respiratori-
sche Insuff.
Diagn.:
• Polysomnografie: Typ. Atemmuster mit reduzierter Atemanstrengung; asso-
ziierte Hypoxämie u. Hyperkapnie.
• MSLT: Erhöhte Tagesschläfrigkeit; Schlaflatenz < 10 Min.
• Lungenfunktionsdiagn.
DD: Schlafapnoe-Sy., Lungenparenchymerkr.
   25.9  Störungen der zirkadianen Schlaf-wach-Rhythmik  847

Ther.:
• Behandlung der Grunderkr.
• Gewichtsreduktion bei Adipositas.
• Nächtliche O2-Ther., CPAP o. IPPV.

25.9 Störungen der zirkadianen Schlaf-wach-


Rhythmik
25.9.1 Zeitzonenwechsel (Jetlag)
Def.: Stör. in Form von Insomnie, Tagesschläfrigkeit o. psychischer Auffälligkeit
aufgrund von schnellem Zeitzonenwechsel.
Pathophysiologie: Zeitliche Diskrepanz zwischen Ortszeit u. biologischer Rhyth-
mik des Organismus (für mehrere Tage nach dem Flug).
Ther.:
• Möglichst lange Lichtexposition am Zielort → schnellere Synchronisation.
• Sofortiges Anpassen an die neue Umgebung, ggf. schon vor dem Abflug mit
einer stufenweisen Annäherung der Schlaf- u. Essenszeiten an die Rhythmik
des Ziellandes.
• Vermeidung längerer Schlafzeiten am Tag unmittelbar nach Ankunft im neu-
en Land.
• Bei Geschäftsreisen Berücksichtigung des Jetlag bei der Terminplanung: Nach
Reisen nach Westen (Europa–USA) abends Konzentrationsminderung, nach
Reisen nach Osten (Europa–Asien) morgens.
• Medikamentöse Ther. wenig effektiv: Hinweise für gewisse Effizienz von
­Melatonin in wissenschaftlichen Studien nicht eindeutig nachgewiesen.

25.9.2 Zirkadiane Rhythmusstörung
Pathophysiologie: Stör. in der Synchronisierung des Schlaf-wach-Rhythmus mit
inneren u. äußeren Zeitgebern o. Stör. des zentralen Schrittmachers (Nucleus
­suprachiasmaticus im basalen Hypothalamus).
Formen:
• Sy. der verzögerten Schlafphase: Verlagerung der Schlafphase in die Mor- 25
genstunden mit Schwierigkeiten bei der Anpassung an die täglichen Aktivitä-
ten, spätes Einschlafen u. Aufwachen.
• Sy. der vorverlagerten Schlafphase: Frühes Einschlafen u. Aufwachen; Unfä-
higkeit, abends wach zu bleiben.
• Sy. des frei laufenden Rhythmus: Zirkadianer Rhythmus von mehr als 24 h;
Auftreten z. B. bei Blinden. Phasenweise Merkfähigkeitsstör., Insomnien o.
Tagesmüdigkeit, wenn die Schlafphasen nicht dem sozialen Rhythmus ent-
sprechen.
KO: Anpassungsschwierigkeiten an normale Schul-, Studien- o. Arbeitszeit.
Zusatzdiagn.:
• Aktigrafie: Aufzeichnung von konstanten Abweichungen der Schlafphase
vom normalen 24-h-Tagesrhythmus.
• Polysomnografie: Normale Schlafarchitektur, verlängerte bzw. verkürzte Ein-
schlaflatenz.
DD: Affektive Stör. (Depression bzw. bipolare Stör.).
848 25 Schlaf 

Ther.:
• Chronother.: Verhaltensorientierte Maßnahmen zur Veränderung u. Stabili-
sierung der Schlafphasen (z. B. progressive Vor- u. Nachverlagerung der Ein-
schlafzeit).
• Lichtther.: Lichtexposition > 2.500 Lux am frühen Morgen o. späten Abend
zur Veränderung u. Stabilisierung der Schlafphasen.

25.10 Parasomnien
25.10.1 Definition
Schlafbezogene Stör. mit nächtlichen motorischen u./o. affektiven Phänomenen.
Unterscheidung Arousalstör. aus dem Non-REM-Schlaf u. REM-Schlaf-assoziier-
te Parasomnien. DD zu Epilepsien, bes. des Kindes- u. Jugendalters. Parasomnien
erfordern nicht immer spezifische medikamentöse Behandlung.

25.10.2 Aufwachstörungen (Arousalstörungen)
Aus dem Non-REM-Schlaf: Schlafwandeln (Somnambulismus, ICD-10 F51.3),
Pavor nocturnus (ICD-10 F51.4).
Ätiol.: Genetische (familiäre Häufung), entwicklungsbedingte (altersgebundenes
Auftreten!) u. psychologische Faktoren.
Epidemiologie:
• Schlafwandeln:
– Höchste Inzidenz zwischen 4 u. 8 J.
– Prävalenz etwa 20 % der 4- bis 6-Jährigen, meist spontane Remission bis
zur Adoleszenz, Prävalenz im Erw.-Alter etwa 1–2 %.
– Familiär gehäuftes Auftreten: Wenn beide Eltern betroffen sind, Erkr.-Ri-
siko der Nachkommen 60 %.
– Auslösung durch Trigger wie Fieber, Schlafmangel, volle Blase, Geräu-
sche, Alkohol u. Medikamente (u. a. Chlorpromazin, Thioridazin, Per-
phenazin, Desipramin, Amitriptylin, Lithium, Chloralhydrat, Betablo-
cker).
25 • Pavor nocturnus:
– Überwiegend Kinder bis 12. Lj (Prävalenz etwa 10 %), meist Spontanre-
mission in Pubertät. Persistenz bei < 1 % der Erw.
– Trigger: Emotionaler Stress, Fieber, Schlafmangel.
Klinik:
• Schlafwandeln:
– Auftreten v. a. im 1. Drittel der Nacht.
– Aus dem Tiefschlaf (Stadium 3 u. 4) heraus Aufsetzen im Bett u. Durch-
führen von sinnlosen Bewegungen o. komplexen Verhaltensmustern, u. a.
mit ziellosem Umherwandern, Umhertragen von Dingen bis zum Verlas-
sen des Hauses.
– Augen dabei weit geöffnet, gläserner Blick, kaum Kommunikation mög-
lich, ggf. Lautäußerungen, unverständliches Sprechen.
– Amnesie für Ereignis.
– Sehr variable Dauer einer Episode: 1 Min. bis deutlich > 5 Min.
  25.10 Parasomnien  849

• Pavor nocturnus:
– I. d. R. im 1. Drittel der Nacht u. aus dem Non-REM-Schlaf.
– Plötzliches Erwachen aus dem Tiefschlaf heraus, initial meist lauter Schrei
als Ausdruck massiver Angst u. Panik, Aufrichten im Bett.
– Zeichen autonomer Aktivierung wie Tachykardie, Tachypnoe, Hautrö-
tung u. Mydriasis.

Typ. ist eine oft sehr lebhafte motorische Aktivität wie z. B. Umherwälzen im
Bett, gegen die Wand schlagen, Umherrennen, Verlassen des Hauses – Ver-
letzungsgefahr!

– Amnesie für Ereignis. Fehlende Traumerinnerung.


– Mehrere nächtliche Episoden von Schlafwandeln u./o. Pavor nocturnus
möglich.
Diagn.:
• Fremd-, Familienanamnese
• Videometrie: Komplexe motorische Phänomene erkennbar, jedoch ohne
streng stereotype repetitive Haltungs- u. Bewegungselemente (DD epilepti-
sche Anfälle).
• Polysomnografie: Mit zusätzlichen EEG-Elektroden (nach 10–20-System) u.
Videoüberwachung z. A. einer Epilepsie:
– Oft hypersynchrone Delta-Aktivität zu Beginn der Episoden, aus Tief-
schlaf (Non-REM-Schlaf) heraus, meist 1. Drittel der Nacht.
– Während der Episode niedrigamplitudig gemischtes Frequenzbild mit ge-
legentlichen Vertex-Wellen u. Alpha-Einstreuungen wie in Schlafstadium
Non-REM I.
– Neben den Arousals auch häufige Mikroarousals u. Schlafstadienwechsel.
– Skala zur Abgrenzung epileptischer Anfälle: Frontal Lobe Epilepsy and
Parasomnia Scale (FLEP).
DD: ▶ Tab. 25.3.
Ther.:
• Bei Kindern meist keine medikamentöse Ther. erforderlich, Aufklärung der
Eltern, Schlafhygiene, Schutz vor Verletzungen (Verschließen von Fenstern u.
Türen, Entfernung gefährlicher Gegenstände), Trigger vermeiden, Entspan-
nungstechniken. 25
• Benzodiazepine mit kurzer HWZ zur Nacht (Verminderung des Tiefschlafs,
Suppression von Arousals), z. B. Clonazepam 0,5–2 mg (z. B. Rivotril®), Dia-
zepam 5–10 mg (z. B. Valium®), evtl. trizyklische Antidepressiva (Suppression
von Aousals), z. B. Imipramin.
• Ggf. Psychother. (bes. im Erw.-Alter).
Zolpidem (z. B. Stilnox®) ist kontraindiziert, da es das Auftreten von Schlaf-
wandeln begünstigt (im Gegensatz zu Benzodiazepinen Hemmung der korti-
kalen Aktivität ohne Hemmung des limbischen u. des motorischen ­Systems).
850 25 Schlaf 

25.10.3 REM-Schlaf-assoziierte Parasomnien,
Verhaltensstörung im REM-Schlaf
Aufhebung der Muskelatonie im REM-Schlaf, dadurch komplexe motorische
Ausgestaltung von Trauminhalten (meist bedrohlichen Charakters) möglich:
Heftige Bewegungen, Umsichschlagen, Sprechen u. Schreien, Aufstehen.
Ätiol. u. Epidemiologie: Idiopathisch (≈60 %). Symptomatisch bei neurol. Erkr. wie
Parkinson-Sy., zerebrovask. Erkr., posttraumatisch, neoplastisch, entzündl., medi-
kamentös getriggert, bes. Antidepressiva (SSRI, TCA, MAO-Hemmer), Entzugssy.
Akute Form: Vorübergend; durch Alkohol- o. Benzodiazepinentzug, kann auch
durch Medikamente induziert werden (v. a. Antidepressiva).
Chron. Form: Prädominanz bei M (80–90 %) im höheren Lebensalter; ca. 50 %
d. F. idiopathisch, ggf. erste Manifestation eines Parkinson-Sy. Bei ca. 40 % der
Pat. nach 4 J. Parkinson-Sy.
Pathophysiologie: Stör. der aktiven Hemmung spinaler α-MN im REM-Schlaf mit der
Folge einer fehlenden Muskelatonie; der supraspinale Mechanismus verantwortlich für
die REM-Schlaf-Muskelatonie entsteht im Perilocus coeruleus gelegenen Alpha-Kern.
Klinik:
• Meist in der 2. Nachthälfte wiederholte Aufhebung der Muskelatonie im
REM-Schlaf. Heftige Bewegungen, Umsichschlagen, Sprechen u. Schreien,
Aufstehen, Eigen- u. Fremdverletzung (bes. Bettnachbar), Sachbeschädigung.
• Sofortige Reorientierung nach dem Erwachen, Traumerinnerung (häufig be-
drohliche Inhalte, Angriffe).
Diagn.:
• Fremdanamnese.
• Polysomnografie mit simultaner Videometrie: Episoden aus REM-Schlaf
(d. h. frühestens 90 Min. nach Einschlafen), dabei bzw. wiederholt in REM-
Phasen abnorm hoher Muskeltonus im EMG, erhöhter submentaler EMG-
Tonus u./o. exzessiver phasischer EMG-Tonus an Kinn o. Beinen, Aufzeich-
nung heftiger motorischer Bewegungen; Wdh. während einer Nacht möglich,
Fehlen iktaler epileptischer Aktivität im REM-Schlaf.
DD: ▶ Tab. 25.5.

Tab. 25.5  Differenzialdiagnosen komplexer nächtlicher motorischer Phäno-


25 mene
Diagnose Charakteristika

Somnambulismus/ Bevorzugt Kindesalter. 1. Nachtdrittel aus Non-REM 3–4,


Pavor nocturnus ­ olymorphe motorische Muster sehr variabler Dauer (meist
p
> 5 Min.), 1–4 Attacken/Mon., keine Cluster, Amnesie für das
Ereignis, fehlende Traumerinnerung

REM-Schlaf-Para- Bevorzugt Erw., ältere M. Häufig 2. Nachthälfte, aus REM-


somnie Schlaf. Leitsympt. Aufhebung der Muskelatonie, z. T. bedroh-
liche Trauminhalte erinnerlich

Albträume Auftreten aus dem REM-Schlaf, Traum wird erinnert, voll-


ständige Orientierung

Nächtliche Unruhe- • Verwirrtheit mit Stör. der Orientierung u. der mnestischen


zustände bei De- Funktionen, ausgeprägte Unruhe, Pat. ggf. ängstlich, auf-
menz geregt o. aggressiv, vereinzelt Halluzinationen o. Wahn
• Demenzanamnese, Medikamentenanamnese. DD: Entwick-
lung eines Delirs zusätzlich zur Demenz
  25.10 Parasomnien  851

Tab. 25.5  Differenzialdiagnosen komplexer nächtlicher motorischer Phäno-


mene (Forts.)
Diagnose Charakteristika

Delir • Akut o. subakut aufgetretene Stör. von Aufmerksamkeit,


Orientierung, Immediat- u. Kurzzeitgedächtnis, Unruhe,
ggf. Nesteln, Pat. ängstlich, reizbar o. ratlos, häufig Wahr-
nehmungsstör., Illusionen o. (meist optische) Halluzinatio-
nen
• Anamese (Alkohol, Medikamente, Drogen, Flüssigkeits-
mangel, internistische, psychiatrische u. neurol. Erkr.)

Dissoziative Stör. Psychiatrische Anamnese, psychopath. Befund, ggf. zur Aus-


schlussdiagn. Polysomnografie mit zusätzlichen EEG-Elektro-
den (nach 10–20-System) u. Videoüberwachung

Epileptische Anfallsformen mit nächtlichem Auftreten (▶ 11)

Nächtliche Frontal- Hohe Anfallsfrequenz pro Nacht u. Mon., Auftreten in Clus-


lappenanfälle tern, Anfälle von kurzer Dauer (10–30 s), repetitive, stereoty-
(▶ 11.1.4) pe Muster (z. B. tonische Haltungsschablonen, hypermotori-
sche Anfälle). Am häufigsten aus Non-REM 2. Cave: EEG kann
hier auch iktal ohne sichere epilepsietypische Aktivität sein!

Grand-Mal-Anfälle Meist in Einschlafphase o. 1–2 h vor Erwachen, evtl. Zungen-


(Schlaf-Grand-Mal): biss o. Einnässen

Temporallappenan- Nachts möglich, jedoch seltener, geringe Anfallsfrequenz,


fälle keine Cluster, typ. Semiologie mit oralen Automatismen u.
Nestelbewegungen

Tonische Anfälle Z. B. bei Lennox-Gastaut-Sy.

Epilepsieformen des Kindesalters mit häufigen epileptischen Anfällen im Schlaf. Im


Schlaf-EEG deutliche Provokation epilepsietypischer Aktivität!

Lennox-Gastaut-Sy. Bes. tonische Anfälle

Rolando-Epilepsie Bes. einfach fokale motorische o. sensorische Anfälle, verein-


zelt Grand Mal

ESES-Sy. Anhaltende Spike-wave-Entladungen während des Schlafs,


manifeste Anfälle können fehlen
25
Landau-Kleffner-Sy. Erworbene Aphasie u. fokale/generalisierte Anfälle

Ther.:
• Clonazepam 0,5–2 mg zur Nacht (z. B. Rivotril®).
• Alternativ Carbamazepin zur Nacht, evtl. Melatonin.
• Bei idiopathischer REM-Schlaf-Verhaltensstör. evtl. Pramipexol 0,5–1 mg
(Sifrol®).

Albträume (dream anxiety attacks)


Def.: Plötzliches Erwachen aus angsterfülltem Traum im REM-Schlaf, vollständi-
ge Traumerinnerung.
Ätiol.:
• Bei vereinzeltem Auftreten normale Reaktion auf psychosozialen Stress.
• Häufigeres Auftreten v. a. von wiederkehrenden Albträumen bei psychiatri-
schen Stör., v. a. posttraumatische Belastungsstör. u. Depression.
852 25 Schlaf 

• Medikamentenassoziiert bei L-Dopa, Betablockern, Trizyklika, Serotoninwie-


deraufnahmehemmern. Auch nach Absetzen von Medikamenten, die REM-
Schlaf hemmen, durch REM-Rebound (erhöhter Anteil von REM-Schlafpha-
sen nach Absetzen von trizyklischen Antidepressiva o. Benzodiazepinen).
• Drogeninduziert bei Kokain, Amphetaminen, Marihuana, Alkohol (durch
dopaminerge Übererregung o. REM-Rebound).
Zusatzdiagn.:
• Polysomnografie zum Nachweis der Bindung an den REM-Schlaf.
• Ausschluss von internistischen, psychiatrischen o. medikamententox. Stör.
Ther.: Psychother.

25.10.4 Andere Parasomnien
Def.: Meist harmlose Phänomene ohne Notwendigkeit einer Behandlung: Stör.
des Schlaf-wach-Übergangs wie Schlafstör. durch rhythmische Bewegungen (z. B.
Jactatio capitis nocturna), Einschlafzuckungen, nächtliche Wadenkrämpfe, Spre-
chen im Schlaf, Bruxismus (evtl. Anpassung einer Bissschiene).

25
26 Liquorzirkulationsstörungen
Achim Berthele

26.1 Liquor- und Ventrikel­ 26.4 Liquorunterdruck­


system 854 syndrome 858
26.2 Normaldruckhydrozephalus 26.4.1 Allgemeines 858
(NPH) 854 26.4.2 Postpunktionelles
26.3 Pseudotumor cerebri ­Syndrom 858
(PTC) 856 26.4.3 Idiopathisches Liquorunter-
drucksyndrom 859
854 26 Liquorzirkulationsstörungen 

26.1 Liquor- und Ventrikelsystem


• Liquor cerebrospinalis: Wasserklare Flüssigkeit. Lumbal entnommener Li-
quor enthält ≈ 500 mg/l Eiweiß, überwiegend Albumin, das ausschließlich in
der Leber gebildet wird u. sich daher zur Beurteilung der Blut-Liquor-Schran-
ken-Funktion eignet. Normaler Liquordruck: 70–120 mmH2O (im Liegen).
• Liquorbildung: In den Plexus choroidei der 4 Ventrikel. Mittleres Gesamtvo-
lumen des Liquors bzw. Liquorraums des Erw.: 140 ml. Die tägliche Liquor-
produktion beträgt ≈ 500 ml. Liquorproduktion nimmt bis zum 4. Lebens-
mon. zu u. danach wieder ab (Albuminquotient verhält sich gegenläufig).
• Liquorfluss (▶ Abb. 26.1):
– Von den 2 Seitenventrikeln (Vorderhorn, Cella media, Hinter-, Unter-
horn) über die Foramina interventricularia (Monroi) in den III. Ventrikel;
über den Aquädukt in den IV. Ventrikel; über die Aperturae laterales (Fo-
ramina Luschkae) u. die Apertura mediana (Foramen Magendii) in die
basalen Zisternen.
– In den basalen Zisternen Aufteilung des Liquorflusses in den kortikalen u.
den spinalen Subarachnoidalraum.
– Resorption des Liquors durch die Arachnoidalzotten in den Pacchioni-
Granulationen der kranialen venösen Sinus u. im Bereich der spinalen
­Nervenwurzeln.

Arachnoidalzotten (Pacchioni-Granulationen)

Seiten- Subarachnoidalraum
ventrikel
Dritter
Ventrikel

Foramen Monroi

Vierter Ventrikel

Foramen Magendii

26
Abb. 26.1  Anatomie des Liquorflusses [L106]

26.2 Normaldruckhydrozephalus (NPH)
Urs.:
• Chron. verzögerte Liquorresorption (Hydrocephalus malresorptivus), idiopa-
thisch (iNPH; ICD-10 G91.20) o. sek./symptomatisch (sNPH, ICD-10
G91.21; durch Arachnopathie der basalen Zisternen, der Pacchioni-Granula-
  26.2 Normaldruckhydrozephalus (NPH)  855

tionen u./o. der Nervenwurzeltaschen z. B. durch Meningitis, SAB, Meninge-


osis carcinomatosa/lymphomatosa). 10 % d. F. nach schwerem SHT.
• Bei iNPH: M >> F, Erkr.-Gipfel im 7. Ljz; bei sNPH Geschlechter u. Erkr.-Al-
ter gleich verteilt.
• Die chron. Druckerhöhung hat in erster Linie eine Schädigung der Markla-
gerfasern zur Folge.
Klinik: Charakteristische Trias aus Gangstör., Demenz u. Blasenstör. (in abneh-
mender Häufigkeit):
• Frontale Gangstör. (> 85 %): Kleinschrittig, breitbasig, schlurfend, am Boden
klebend; auch als „Lower-Body“-Parkinson bezeichnet. Im Liegen häufig un-
auffällige Beweglichkeit.
• Demenz (60–80 %): Orientierungsstör., psychomotorische Verlangsamung,
affektive Nivellierung, selten auch psychiatrische Sympt.
• Blasenstör. (30–60 %): Erst Urge-Sympt., später Inkontinenz. Darmentlee-
rung sehr selten betroffen.
• Im Spätstadium Entwicklung von akinetischen Sympt. (Hypomimie, Hypo-
o. Bradykinese), Torsionsstarre mit Unfähigkeit der Rumpfdrehung im Lie-
gen bis hin zum akinetischen Mutismus, Pyramidenbahnzeichen, Primitiv-
reflexe.
Diagn.:
• CMRT: Weite innere Liquorräume (v. a. Hinterhörner der Seitenventrikel;
IV. Ventrikel relativ wenig betroffen) u. z. T. erweiterte Sylvische Fissuren bei
ansonsten engen äußeren Liquorräumen (apexnah „verlötet“), T2-hyperin-
tensen „Kappen“ der Seitenventikel (durch transependymale Liquordiape-
dese); Abfluss über Aquädukt frei („Flow-void“-Zeichen).
• Nichtinvasive Liquorflussmessungen (MRT): Geeignet z. A. einer Abflussstör.
• Liquorpunktion: Normaler Liquoröffnungsdruck u. normaler zellulärer u.
Proteinbefund. Umgehende (< 24 h) Besserung der Sympt. nach Ablassen
von mind. 30–50 ml. Standardisierte Gang- u. Demenzprüfung vor u. nach
der Punktion zur Quantifizierung des Effekts (z. B. motorische Skala des
­UPDRS, MMST). Auftreten eines postpunktionellen Sy. spricht gegen die
­Diagnose.
DD:
• Hydrocephalus occlusivus, z. B. bei Aquäduktstenose.
• Gangstör.: M. Parkinson o. sonstiges Parkinson-Sy., frontale Mikroangiopa-
thie, „senile Gangstör.“.
• Kognitive Defizite: Mikroangiopathie, SAE, andere organische Demenzen,
Pseudodemenz bei affektiven Stör., zerebrale Raumforderungen.
• Blasenstör.: Urologische/gynäkologische Urs.
Ther.:
• Diagn. Punktion ist gleichzeitig therapeutisch. Bei pos. Effekt zunächst Ab- 26
warten des Spontanverlaufs (Effekt hält mitunter Wo. bis wenige Mon. an),
bei Wiederauftreten der Beschwerden erneute Liquorpunktion mit Ablassen
von 40–50 ml Liquor. Bei reproduzierbarer Besserung, die aber nur kurz an-
hält, ist die Shunt-Behandlung indiziert.
• Shunt: An vielen Zentren zunächst lumbaler Katheter in geschlossenes Sys-
tem für 2–3 d, bei erneuter Besserung der Sympt. Anlage eines dauerhaften
Shunts.
• Bei ausbleibendem Effekt der ersten Liquorpunktion Re-Punktion nach
2–4 d. Bei erneut ausbleibendem Effekt muss die Diagnose in Frage gestellt
werden.
856 26 Liquorzirkulationsstörungen 

Progn.:
• Spontanverlauf langsam progredient.
• Nach intermittierendem Liquorablass o. Shuntimplantation:
– Rückbildung der Gangstör. am besten (in > 70 %).
– Rückbildung der Demenz u. Blasenstör. dauert länger, bei lange bestehen-
der Sympt. auch ausbleibend (in 30–50 %).
• Keine Besserung bei gleichzeitiger schwerer zerebraler Mikroangiopathie.
• Ther.-Effekt günstiger bei kurzer Krankheitsdauer u. Überwiegen der
Gangstör.
• Shunt-KO in 20–40 %.
Beim NPH korreliert der MRT-Befund schlecht mit dem klin. Beschwerde-
bild u. eignet sich nicht zur Abschätzung der therap. Beeinflussbarkeit!

26.3 Pseudotumor cerebri (PTC)


ICD-10 G93.2.
Inzidenz 0,5–1/100.000.
Def.: Gesteigerter Liquordruck ohne Nachweis einer Liquorabflussstör. o. eines
Hydrozephalus; idiopathische Form (Syn.: Idiopathische intrakranielle Hyperten-
sion) u. sek. Formen.
Idiopathische Form:
• Ätiol. unklar. Risikofaktoren: Geschlecht (F:M = 8–19:1), Übergewicht, Ferti-
lität.
• Benigner Verlauf, Rezidive jedoch häufig.
Sek. Form:
• Ätiologisch Stör. des venösen Abflusses als wesentlicher Mechanismus.
• Vor allem bei o. nach SVT.
• Kann auch durch bestimmte Medikamente ausgelöst werden:
– Häufig: Minocyclin, Tetracyclin, Vit. A/Retinoide.
– Selten o. fraglich: Amiodaron, Amphotericin B, Budesonid, Cimetidin,
Ciclosporin, Cytarabin, Danazol, HAART, Indometacin, α-Interferon,
Kortikosteroide (bei raschem Absetzen), Lithium, Nitrofurantoin, Oflox­
acin, orale Kontrazeptiva, Phenytoin, Sertralin, Sulfamethoxazol, Sorbitol,
Tamoxifen.
• Weitere Grundkrankheiten als Auslöser eines sek. PTC:
– Kraniozervikale Übergangsstör., durale Fisteln.
– Endokrine Stör. (u. a. [Neben-]Schilddrüse, polyzystische Ovarien).
– Venöse Druckerhöhung bei Rechtsherzversagen, Nierenfunktionsstör.
26 – GBS.
Klinik:
• Bifrontaler o. holozephaler konstanter (nicht pulsierender) Kopfschmerz,
z. T. mit Übelkeit/Erbrechen, retroorbitaler Schmerz.
• STP (meist bds.).
• Sehstör.: Beginnend mit Unschärfe, z. T. episodischem Verschwommensehen
o. Photopsien, gefolgt von konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkungen
(„Tunnelblick“, beginnt meist mit nasal-inf. Einschränkungen) bis hin zu
höchstgradigen Visusminderungen/Erblindung.
• Abduzensparese (uni- o. bilateral; v. a. bei Kindern).
• Keine Bewusstseinsstör.
   26.3  Pseudotumor cerebri (PTC)  857

Diagn.:
• Anamnese: V. a. Medikamentenanamnese, Gewichtsentwicklung (z. B. rasche
Gewichtszunahme).
• CMRT:
– Z. A. einer zerebralen Raumforderung.
– Zum Nachweis/Ausschluss einer SVT.
– Typ. für PTC: Enges Ventrikelsystem; Schwellung/T2-Hyperintensität des
N. opticus, „Optikusscheidenhydrops“; Empty Sella; prominente Cava
Meckeli; Stenosen der Sinus transversus (unklar, ob Folge o. Urs. des
PTC; ▶ Abb. 26.2).
• Augenärztliches Konsil: STP, Perimetrie. OCT: Verdickung der peripapillä-
ren Nervenfaserschicht.
• Wichtigstes diagn. Kriterium: Liquordruck im Liegen (mit Bezug auf das Fora-
men Monroi) > 25 cmH2O (Graubereich: 20–25 cmH2O, bei Normalgewichti-
gen kann > 20 cmH2O bereits path. sein). Der übrige Liquorbefund ist normal.

Abb. 26.2  Typische Zeichen eines PTC im MRT. Li: Prominente Optikusscheiden
(T2-Wichtung). Mitte: Empty Sella (T2-Wichtung). Re: Stenosen der Sinus trans-
versus (TOF) [T717]

Ther.: Bei sek. Formen zunächst Absetzen der auslösenden Medikamente bzw.
Ther. der Grundkrankheit; bei persistierenden Beschwerden Stufenther. wie bei
idiopathischer Form.
Stufenther. der idiopathischen Form:
• Bei leichten Beschwerden (Kopfschmerzen, geringe/keine STP ohne Gesichts-
feldeinschränkung): Gewichtsabnahme auf normalen BMI anstreben.
– Zusätzlich medikamentöse Ther. mit Acetazolamid 2 × 500 mg/d p. o. (zu-
nächst 2 × 250 mg, nach Verträglichkeit steigern u. auf Retardpräparat um-
stellen, max. 2.000 mg/d). Zur Mindestdauer der medikamentösen Ther. ist
wenig bekannt; wegen NW von Acetazolamid (Leistungsabfall, Ge-
schmacks- u. Sensibilitätsstör., Nierenkalzinose) jedoch keine Dauerther.
– Mögliche Alternative zu Acetazolamid: Topiramat (25–100 mg/d); Vorteil:
Führt zu Gewichtsreduktion. Ggf. zusätzlich Furosemid (20–40 mg/d).
26
– Symptomatisch kann gegen den Kopfschmerz vorübergehend auch Para-
cetamol versucht werden.
• Bei mittelgradig ausgeprägter STP/Visusminderung: Zusätzlich wiederholte
Liquorpunktion (ca. 2×/Wo.) bis Druck < 20 cmH2O. Weiteres Monitoring
(u. ggf. Re-Punktion) über Visus/Gesichtsfeld.
• Bei schwerer/progredienter Visusminderung:
– Zusätzlich PTA o. Stent bei Stenosen der venösen Sinus.
– Shuntanlage: Lumboperitoneal (mit Schwerkraftventil) o. ventrikuloperitoneal.
– Dekompression des N. opticus (Optikusscheidenfensterung).
– Ggf. Adipositas-Chirurgie.
858 26 Liquorzirkulationsstörungen 

26.4 Liquorunterdrucksyndrome
26.4.1 Allgemeines
Def.: Mit Liquorunterdruck assoziierte Kopfschmerzen, die auf Liquorverlust
(nicht verminderter Bildung o. verstärkter Resorption) zurückzuführen sind. Der
Kopfschmerz entsteht durch Irritation der Meningen.
Urs.: Häufigste Urs. ist die diagn. Liquorpunktion (postpunktionelles Sy.; ICD-10
G97.0). Ein Liquorunterdrucksy. kann jedoch auch spontan durch kleine Duraeinrisse
(meist thorakal u. im Bereich der Wurzeltaschen) „idiopathisch“ entstehen (ICD-10
96.0; mitunter nach [Mikro-]Traumen o. z. B. gehäuft bei Marfan-Sy.).

26.4.2 Postpunktionelles Syndrom
Klinik:
• Beginn innerhalb von 3–5 d nach Liquorpunktion.
• Okzipitaler, frontaler o. holozephaler, meist pochender Kopfschmerz mit Zu-
nahme im Sitzen/Stehen u. Abnahme im Liegen (orthostatischer Kopf-
schmerz).
• Mögliche Begleitsympt.: Übelkeit/Erbrechen, Schwindel, Doppelbilder (N.-
VI-Parese), Seh- u./o. Hörstör., Tinnitus.
• Spontanremissionsrate hoch: 80 % nach 4–7 d.
• Bei persistierenden Beschwerden Übergang in dumpf-drückenden Dauer-
kopfschmerz ohne Lageabhängigkeit möglich.
Risikofaktoren: Durchmesser u. Typ der Punktionsnadel, Alter (höchste Inzidenz
30–50 Lj), Geschlecht (F:M = 2:1), niedriger BMI, vorbestehende Kopfschmerzana-
mnese, vorausgegangenes postpunktionelles Sy. Die Entstehung eines postpunk­
tionellen Sy. ist unabhängig von der entnommenen Liquormenge (bis zu 25 ml).
Prävention:
• Verwenden einer atraumatischen Sprotte-Nadel (22–24 G).
• Wiedereinführen des Mandrins vor Ziehen der Punktionsnadel.
• Bei traumatischer Nadel Schliff parallel zu den Durafasern ausrichten.
• Unwirksam: Flüssigkeitszufuhr, Liegen nach der Punktion.
Diagn.:
• CMRT: In erster Linie zur Ausschlussdiagn. o. zum Nachweis von KO des
Liquorunterdrucksy. (SDH, Hygrome). 
Typ., aber nicht notwendige bildgebende Zeichen eines postpunktionellen
Sy.: KM-Aufnahme der Meningen, Tiefstand der Kleinhirntonsillen, „große“
Hypophyse, dilatierte epidurale Venenplexus zervikal.
26 • Erneute Liquorpunktion: Nur bei V. a. (iatrogene) Entzündung. Cave: Eine
leichte Pleozytose u. leichte Schrankenstör. können auch beim unkomplizier-
ten postpunktionellen Sy. vorkommen. 
Liquordruck meist erniedrigt (nicht selten „Punctio sicca“), eine erneute
Liquorpunktion zur Druckmessung ist zur Diagnose jedoch nicht notwendig.
Ther.: In den meisten Fällen bilden sich die Beschwerden spontan o. auf eine
effektive Behandlung hin zurück.
Bei leichten o. erst kurz andauernden Beschwerden:
• Liegen (jedoch keine strenge Bettruhe). Infusionen meist ohne Effekt.
• Medikamentös: Koffein 3–4 × 200–300 mg/d p. o. oder Theophyllin
3 × 350 mg/d p. o. Wirksamkeit dieser Substanzen lässt allerdings schnell
  26.4 Liquorunterdrucksyndrome  859

nach. Möglicherweise wirksam: Gabapentin (bis zu 3 × 400 mg/d) o. Prega­


balin (150 mg/d).
! Steroide meist wirkungslos.
Bei persistierenden Beschwerden (o. nach Koffein-Gesamtdosis > 1 g): Epidura-
ler Blutpatch („Bloodpatch“; Erfolgsrate: 85 % nach einer Behandlung, 98 % nach
2 Behandlungen).
• Durchführung: 20–30 ml Eigenblut im Bereich der vormaligen Einstichstelle
epidural injizieren. Danach 12 h Bauchlage, die zu einer Verteilung des Bluts
über mehrere Segmente führt.
• Angenommener Wirkmechanismus: Kompression/Verklebung des Liquor-
lecks.
! Ein prophylaktischer Bloodpatch unmittelbar nach Punktion kann nicht
empfohlen werden.
• Bei KI o. Ablehnung von Eigenblut können alternativ 0,9 % NaCl- o. Dex-
tran-Lsg. versucht werden; pos. Erfahrungen liegen auch für Fibrinkleber vor.

26.4.3 Idiopathisches Liquorunterdrucksyndrom
Klinik:
• Meistens orthostatischer Kopfschmerz, manchmal auch Dauerkopfschmerz
mit Zunahme bei Belastung o. am Abend, selten paradoxer orthostatischer
Kopfschmerz mit Schmerzen nur im Liegen.
• Mögliche Begleitsympt.: Übelkeit/Erbrechen, Schwindel, Doppelbilder
­(N.-VI-Parese), Seh- u./o. Hörstör., Tinnitus.
• Vor Beginn der Kopfschmerzen z. T. Schmerzen zwischen den Schulterblät-
tern; nicht selten Episode mit starkem Husten o. Erbrechen in der Anamnese.
Diagn.:
• CMRT: Diffuse KM-Aufnahme der Meningen nahezu beweisend.
• MR-Myelografie: Nichtinvasiv, aber Darstellung des Lecks gelingt nur selten.
• Konventionelle Myelografie mit Myelo-CT: Goldstandard zum Nachweis des
Lecks.
Ther.:
• Konservative Ther. wie bei postpunktionellem Sy.
• Blutpatch: Erfolgsrate geringer als beim postpunktionellen Sy., häufig Wdh.
notwendig. Gelang der Nachweis des Liquorlecks nicht, werden die Patches
„blind“ gesetzt (bevorzugt thorakal).
• Bei Versagen der Patches u. fortgesetzten Beschwerden ist die offene chir.
Versorgung des nachgewiesenen Lecks Ultima Ratio. Bei ventral gelegenen
Lecks ist die chir. Versorgung erste Wahl.
• Bei Verschluss des Lecks nach bereits länger bestehendem Unterdruck kann
vorübergehend eine Pseudotumor-cerebri-Sympt. auftreten. 26
27 Skalen und Scores
Achim Berthele

27.1 Allgemeine Skalen und 27.3 Multiple Sklerose 871


Scores 862 27.3.1 Kurtzke-Skala (Expanded Disa-
27.1.1 MRC-Kraftgrade 862 bility Status Scale, EDSS) 871
27.1.2 Glasgow Coma Scale 27.3.2 Funktionelle Systeme (FS) 873
(GCS) 862 27.4 Bewegungsstörungen 876
27.1.3 Glasgow Outcome Scale 27.4.1 Modifizierter Ashworth-Score
(GOS) 863 (MAS) 876
27.1.4 Karnofsky-Index (Karnofsky 27.4.2 Unified Parkinson Disease
performance status, KPS) 863 ­Rating Scale (UPDRS) 876
27.1.5 Body-Mass-Index (BMI) 864 27.5 Myasthenie 884
27.1.6 Körperoberfläche (KOF) 866 27.5.1 MGFA-Klassifikation 884
27.2 Zerebrovaskuläre Erkrankun- 27.5.2 Besinger-Score 885
gen 867
27.2.1 Barthel-Index 867
27.2.2 Modified Rankin-Scale
(mRS) 868
27.2.3 NIH Stroke Scale (NIHSS) 868
862 27  Skalen und Scores  

27.1 Allgemeine Skalen und Scores


27.1.1 MRC-Kraftgrade
Einteilung der groben Kraft (▶ Tab. 27.1).

Tab. 27.1  MRC-Kraftgrade


Kraftgrad Klinisches Korrelat

5 Normale Kraft

4 Aktive Bewegung gegen Widerstand

3 Aktives Anheben des Gliedmaßenabschnitts gegen die Schwerkraft

2 Aktive Bewegung nur unter Aufhebung der Schwerkraft

1 Muskelkontraktionen sichtbar/tastbar, jedoch keine Bewegung

0 Keine Muskelaktivität

Quelle: Medical Research Council aids to the examination of the peripheral nervous
system. Her Mayesty's Stationary Office, London 1976.

27.1.2 Glasgow Coma Scale (GCS)


Beurteilung der Bewusstseinslage (▶ Tab. 27.2).

Tab. 27.2  Glasgow Coma Scale (GCS)


Neurologische Funktion Bewertung

Augen öffnen Spontan öffnen 4

Öffnen auf Ansprechen 3

Öffnen auf Schmerzreiz 2

Keine Reaktion 1

Verbale Reaktion Orientiert 5

Verwirrt, desorientiert 4

Unzusammenhängende Worte 3

Unverständliche Laute 2

Keine verbale Reaktion 1

Motorische Reaktion auf Befolgt Aufforderung 6


Schmerzreize
Gezielte Schmerzabwehr 5

27 Ungezielte Schmerzabwehr 4

Auf Schmerzreiz Beugesynergien 3

Auf Schmerzreiz Strecksynergien 2

Auf Schmerzreiz keine Reaktion 1


   27.1  Allgemeine Skalen und Scores  863

Tab. 27.2  Glasgow Coma Scale (GCS) (Forts.)


Die Summe ergibt den Coma-Score, der eine standardisierte Einschätzung des
Schweregrads ermöglicht: Score > 7: Leichtes Koma. Score 6–7: Mittelschweres
­Koma. Score < 6: Tiefes Koma (Angabe aller 3 Einzelwerte ist allerdings sinnvoll)

Quelle: Teasdale G, Jennett B. Assessment of coma and impaired conciousness. A


practical scale. Lancet 1974; 304: 81–84.

27.1.3 Glasgow Outcome Scale (GOS)


Outcome nach schweren Hirnschädigungen (unabhängig von der Genese;
▶ Tab. 27.3).
Tab. 27.3  Glasgow Outcome Scale (GOS)
Grad Klinisches Outcome

1 Tod infolge der Hirnschädigung

2 Apallisches Sy.

3 Schwere Behinderung: Bei Bewusstsein, aber deutlich behindert. Pat. ist auf
tägliche Hilfe Dritter angewiesen

4 Mäßige Behinderung: Behindert, aber unabhängig. Pat. kann öffentliche


Verkehrsmittel benutzen u. in gewohnter Umgebung arbeiten

5 Keine/minimale Behinderung: Rückkehr ins normale Leben

Quelle: Jennett B, Bond M. Assessment of outcome after severe brain damage. Lan-
cet 1975; 305: 480–484.

27.1.4 Karnofsky-Index (Karnofsky performance status, KPS)


Einschätzung der Behinderung bei (onkologischen) Pat. (▶ Tab. 27.4)

Tab. 27.4  Karnofsky-Index


Symptom/Funktionsbeschreibung Wert

Normal/keine Beschwerden/kein Hinweis auf Erkr. 100

Normale Aktivität/diskrete Krankheitssympt. 90

Normale Aktivität mit Anstrengung/Krankheitssympt. 80

Selbst versorgend/keine normale Aktivität/nicht arbeitsfähig 70

Weitgehend selbst versorgend mit gelegentlicher Unterstützung 60

Unterstützung im Alltag/häufige medizinische Intervention 50

Behindert/benötigt spezielle Pflege u. Unterstützung 40 27


Schwer behindert/Ind. zur Hospitalisation, aber nicht präfinal 30

Schwerst behindert/Ind. zur Hospitalisation/überlebt nur mit supportiver 20


Ther.
864 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.4  Karnofsky-Index (Forts.)


Symptom/Funktionsbeschreibung Wert

Präfinal 10

Tod 0

Quelle: Karnofsky DA, Abelmann WH, Craver LF, Burchenal JM. The use of nitrogen
mustards in the palliative treatment of carcinoma: with particular reference to
bronchogenic carcinoma. Cancer 1948; 1: 634–656.

27.1.5 Body-Mass-Index (BMI)
Bestimmung der Adipositas (▶ Tab. 27.5, ▶ Abb. 27.1).

Tab. 27.5  Body-Mass-Index (BMI)


BMI (kg/m2) Klassifikation

< 18,5 Untergewicht

18,5–24,9 Normalgewicht

≥ 25 Übergewicht

25–29,9 Prä-Adipositas

30–34,9 Adipositas Grad I

35–39,9 Adipositas Grad II

≥ 40 Adipositas Grad III

Quelle: Keys A, Fidanza F, Karvonen MJ, Kimura N, Taylor HL. Indices of relative
weight and obesity. J Chronic Dis 1972; 25: 329–343.

27
   27.1  Allgemeine Skalen und Scores  865

Größe BMI Gewicht


cm kg
150
125
140

130
130
70
120
135 60 110

140 50 100
95
90
145
40 85
80
150
75
30 70
155
65
160
60
165 20 55

170 50

175 15
45

180
40
185
10
190 35

195
30
200

205
25
210

Abb. 27.1 Nomogramm nach der Quetelet-Formel: BMI = Gewicht [kg]/Größe


[m]2 [L157]

27
866 27  Skalen und Scores  

27.1.6 Körperoberfläche (KOF)
Bestimmung der KOF anhand von Körpergröße u. Gewicht (▶ Abb. 27.2).

Größe in cm Körperoberfläche in m2 Gewicht in kg

200
190
180
170
160
150
3,00
220 2,90 140
2,80 130
210 2,70
2,60 120
200 2,50
195 2,40 110
190 2,30
185 2,20 100
180 95
175 2,10
170 2,00 90
165 1,90
160 80
1,80
155 75
1,70
150
70
145 1,60
1,55 65
140 1,50
1,45
135 1,40 60
130 1,35
55
1,30
125 1,25
120 50
1,20
115 1,15
45
1,10
110 1,05
1,00 40

35

30

Abb. 27.2 Nomogramm zur Bestimmung der KOF von Erwachsenen nach der
27 DuBois-Formel: KOF = Gewicht [kg]0,425 × Größe [cm]0,725 × 0,007184
Für Kinder wird häufig die Mosteller-Formel verwendet: KOF = (Größe [cm] ×
Gewicht [kg]/3.600)0,5
Quelle: DuBois D, DuBois EF. A formula to estimate the approximate surface area
if height and weight be known. Arch Intern Med 1916; 17: 863; Mosteller RD.
Simplified calculation of body-surface area. N Engl J Med 1987; 317: 1 098–1 099
[F636]
  27.2 Zerebrovaskuläre Erkrankungen  867

27.2 Zerebrovaskuläre Erkrankungen
27.2.1 Barthel-Index
Graduierung der Selbstständigkeit nach Schlaganfall (▶ Tab. 27.6).

Tab. 27.6  Barthel-Index


Leistung Ohne Hilfe Pkt. Mit Hilfe Pkt.

Essen/Trinken Komplett selbstständig 10 Selbstständig bei mund- 5


gerechter Vorbereitung

Erfüllt „5“ nicht 0

Baden Selbstständig inkl. Ein-/ 5 0


Aussteigen

Körperpflege Vor Ort selbstständig inkl. 5 0


Zähneputzen, Rasieren,
Kämmen

An-/Auszie- Selbstständig bei Tages- 10 Oberkörper selbststän- 5


hen kleidung u. Schuhen dig

Erfüllt „5“ nicht 0

Stuhlkontrolle Komplett selbstständig 10 ≤ 1 ×/Wo. inkontinent 5


oder Hilfe bei Abführ-
maßnahmen

> 1 ×/Wo. inkontinent 0

Harnkontrolle Komplett selbstständig 10 ≤ 1 ×/d inkontinent 5

> 1 ×/d inkontinent 0

Benutzung Vor Ort komplett selbst- 10 Benötigt vor Ort Hilfe 5


der Toilette ständig
Weder Toilette noch 0
Toilettenstuhl möglich

Bett-/Stuhl- Komplett selbstständig 15 Mit Laienhilfe 10


transfer
Mit geschulter Hilfe 5

Kein Transfer 0

Mobilität Selbstständig aufstehen, 15 Selbstständig aufste- 10


Gehstrecke ohne Gehwa- hen, Gehstrecke mit
gen mind. 50 m Gehwagen mind. 50 m

Mit Hilfe aufstehen, im 5


Wohnbereich mobil

Erfüllt „5“ nicht 0

Treppenstei- Ohne Hilfe ein Stockwerk 10 Mit Laienhilfe ein 5 27


gen auf u. ab Stockwerk auf u. ab

Erfüllt „5“ nicht 0


868 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.6  Barthel-Index (Forts.)


Summe = 100: Selbstständig

Summe 60–95: Selbstständig mit minimaler Hilfe

Summe < 60: Abhängig

Quelle: Mahoney FI, Barthel DW. Functional Evaluation: the Barthel Index. Md State
Med J 1965; 14: 61–65. Deutsche Version modifiziert nach „Hamburger Manual“
(www.dimdi.de)

27.2.2 Modified Rankin-Scale (mRS)


Skalierung des Outcomes nach Schlaganfällen (▶ Tab. 27.7).

Tab. 27.7  Modified Rankin-Scale


Pkt. Outcome

0 Keine Sympt.

1 Trotz Sympt. keine signifikante Behinderung; kann alle Pflichten u. Aktivitä-


ten ausführen

2 Leichte Behinderung; kann nicht mehr alle früheren Aktivitäten ausführen,


ist aber in der Lage, die eigenen Angelegenheiten zu erledigen

3 Mäßige Behinderung; braucht etwas Hilfe, kann aber ohne Hilfe gehen

4 Mäßig schwere Behinderung; kann nicht ohne Hilfe gehen, braucht Hilfe bei
den täglichen Verrichtungen

5 Schwere Behinderung; bettlägerig, inkontinent, braucht ständige Hilfe u.


Überwachung

6 Tod

Quelle: Rankin J. Cerebral vascular accidents in patients over the age of 60. Progno-
sis. Scottish Med J 1957; 2: 200–215; Bonita R, Beaglehole R. Modification of the
Rankin scale: Recovery of motor function after stroke. Stroke 1988; 19: 1 497–1 500

27.2.3 NIH Stroke Scale (NIHSS)


Graduierung des Defizits bei Schlaganfall (▶ Tab. 27.8).

Tab. 27.8  NIH Stroke Scale


Skala/Item Abstufungen/Punktewert

1a Bewusst- (0) Wach, unmittelbar antwortend


seinslage
(Vigilanz) (1) Benommen, aber durch geringe Stimulation zum Befolgen
von Aufforderungen, Antworten o. Reaktionen zu bewegen
27 (2) Stuporös, bedarf wiederholter Stimulation, um aufmerksam
zu sein, o. ist somnolent u. bedarf starker o. schmerzhafter Sti-
mulation zum Erzielen von Bewegungen (keine Stereotypien)

(3) Koma, antwortet nur mit motorischen o. vegetativen Refle-


xen o. reagiert gar nicht, ist schlaff u. ohne Reflexe
  27.2 Zerebrovaskuläre Erkrankungen  869

Tab. 27.8  NIH Stroke Scale (Forts.)


Skala/Item Abstufungen/Punktewert

1b Orientie- Frage nach Mon. u. Alter (Anmerkung: Auch eindeutige nonver-


rung bale Antworten werden gewertet/Pat. darf schreiben):

(0) Beantwortet beide Fragen richtig

(1) Beantwortet eine Frage richtig

(2) Beantwortet keine Frage richtig

1c Befolgung Aufforderung, die Augen u. die nicht paretische Hand zu öffnen


von Auffor- u. zu schließen:
derungen
(0) Führt beide Aufgaben richtig aus

(1) Führt eine Aufgabe richtig aus

(2) Führt keine Aufgabe richtig aus

2 Blickbewe- Aufforderung, dem Finger des Untersuchers zu folgen:


gungen
(Okulomo- (0) Normal
torik)
(1) „Partielle Blickparese“. Dieser Punktwert wird vergeben, wenn
die Blickrichtung von einem o. beiden Augen abnormal ist, jedoch
keine forcierte Blickdeviation o. komplette Blickparese besteht

(2) Forcierte Blickdeviation o. komplette Blickparese, die durch


Ausführen des okulozephalen Reflexes nicht überwunden wer-
den kann

3 Gesichtsfeld Visuelle Gesten o. Finger zählen:

(0) Keine Einschränkung

(1) Partielle Hemianopsie (z. B. Quadrantenanopsie)

(2) Komplette Hemianopsie

(3) Bilaterale Hemianopsie (Blindheit o. kortikaler Blindheit)

4 Fazialispa­ (0) Normale symmetrische Bewegungen


rese
(1) Geringe Parese (abgeflachte Nasolabialfalte, Asymmetrie
beim Lächeln)

(2) Partielle Parese (vollständige o. fast vollständige Parese des


unteren Gesichts)

(3) Vollständige Parese einer o. zwei Seiten (fehlende Bewegun-


gen oberer u. unterer Teil des Gesichts)

5 Motorik (0) Kein Absinken (Extremität wird über 10 s in der Re Arm
­Arme 90°-[o. 45°-]Position gehalten)

(1) Absinken (Extremität wird zunächst bei 90° [o. 45°]


gehalten, sinkt aber vor Ablauf von 10 s ab; das Bett
[o. eine andere Unterlage] wird nicht berührt)
27
(2) Anheben gegen Schwerkraft möglich (Extremität Li Arm
kann die 90°-[o. 45°-]Position nicht erreichen o. hal-
ten, sinkt auf das Bett ab, kann gegen Schwerkraft
angehoben werden)
870 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.8  NIH Stroke Scale (Forts.)


Skala/Item Abstufungen/Punktewert

(3) Kein (aktives) Anheben gegen die Schwerkraft


(Extremität fällt)

(4) Keine Bewegung

Anmerkung: Amputation o. Gelenkversteifung ange-


ben! Zählt 0 Punkte!

6 Motorik (0) Kein Absinken (Bein bleibt über 5 s in der 30°-Posi- Re Bein
­Beine tion)

(1) Absinken (Bein sinkt am Ende der 5-s-Periode, be-


rührt das Bett jedoch nicht)

(2) Aktive Bewegung gegen die Schwerkraft (das


Bein sinkt innerhalb von 5 s auf das Bett ab, kann aber
gegen die Schwerkraft gehoben werden)

(3) Kein Anheben gegen die Schwerkraft (Bein fällt Li Bein


sofort auf das Bett)

(4) Keine Bewegung

Anmerkung: Amputation o. Gelenkversteifung ange-


ben! Zählt null Punkte!

7 Extremitä- Finger-Nase-Versuch bzw. Knie-Hacke-Versuch:


tenataxie
(0) Fehlend

(1) In einer Extremität vorhanden

(2) In zwei Extremitäten vorhanden

Anmerkung: Wird bei Verständnisschwierigkeiten o. Plegie als


fehlend gewertet!

Welche Extremität? Re Arm ☐ Li Arm ☐ Re Bein ☐ Li Bein ☐

8 Sensibilität (0) Normal; kein Sensibilitätsverlust

(1) Leichter bis mittelschwerer Sensibilitätsverlust; Pat. empfin-


det Nadelstiche auf der betroffenen Seite als wenig scharf o.
stumpf o. es besteht ein Verlust des Oberflächenschmerzes für
Nadelstiche, doch nimmt Pat. die Berührung wahr

(2) Schwerer bis vollständiger Sensibilitätsverlust; Pat. nimmt die


Berührung von Gesicht, Arm u. Bein nicht wahr

9 Sprache (0) Keine Aphasie; normal

(1) Leichte bis mittelschwere Aphasie; deutliche Einschränkung


der Wortflüssigkeit o. des Sprachverständnisses, keine relevante
Einschränkung von Umfang o. Art des Ausdrucks.
27 (2) Schwere Aphasie, die gesamte Kommunikation findet über
fragmentierte Ausdrucksformen statt: Der Zuhörer muss das Ge-
sagte in großem Umfang interpretieren, nachfragen o. erraten.
Der Umfang an Informationen, der ausgetauscht werden kann,
ist begrenzt; der Zuhörer trägt im Wesentlichen die Kommuni-
kation
  27.3 Multiple Sklerose  871

Tab. 27.8  NIH Stroke Scale (Forts.)


Skala/Item Abstufungen/Punktewert

(3) Stumm, globale Aphasie; keine verwertbare Sprachprodukti-


on o. kein Sprachverständnis (auch bei Koma)

10 Dysarthrie (0) Normal

(1) Leicht bis mittelschwer; Pat. spricht zumindest einige Wörter


verwaschen u. kann, schlimmstenfalls, nur mit Schwierigkeiten
verstanden werden

(2) Schwer, die verwaschene Sprache des Pat. ist unverständlich


u. beruht nicht auf einer Aphasie o. übersteigt das auf eine
Aphasie zurückzuführende Maß o. Pat. ist stumm/anarthrisch

Anmerkung: Intubation o. andere mechanische Behinderungen


angeben! Sie werden mit 0 Punkten bewertet!

11 Auslöschung (0) Keine Abnormalität


u. Nichtbe-
achtung (1) Visuelle, taktile, auditive o. personenbezogene Unaufmerk-
(Neglekt) samkeit o. Auslöschung bei der Überprüfung von gleichzeitiger
bilateraler Stimulation in einer der sensiblen Qualitäten

(2) Schwere halbseitige Unaufmerksamkeit o. halbseitige Un-


aufmerksamkeit in mehr als einer Qualität. Kein Erkennen der
eigenen Hand o. Orientierung nur zu einer Seite des Raums

Anmerkung: Bei fehlender Beurteilbarkeit 0 Punkte.

Quelle: Brott T, Adams HP Jr, Olinger CP et al. Measurements of acute cerebral in-
farction: a clinical examination scale. Stroke 1989; 20: 864–870.

27.3 Multiple Sklerose
27.3.1 Kurtzke-Skala (Expanded Disability Status Scale, EDSS)
Beurteilung der Behinderung bei MS (▶ Tab. 27.9).
• EDSS < 4: Unbeschränkte Gehfähigkeit; EDSS-Score abhängig von FS-Scores.
• EDSS 4,0–5,0: EDSS-Score abhängig von Gehstrecke u. FS-Scores.
• EDSS 5,5–8,0: EDSS-Score abhängig von Hilfsmittelgebrauch.
Tab. 27.9  Kurtzke-Skala
Grad Behinderung

0 Normale neurol. Unters.:


Grad 0 bei allen FS

1,0 Keine Behinderung, minimale Sympt.:


Grad 1 in einem FS
27
1,5 Keine Behinderung, minimale Sympt.:
Grad 1 in mehr als einem FS

2,0 Minimale Behinderung in einem FS:


Grad 2 in einem FS, andere Grad 0 o. 1
872 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.9  Kurtzke-Skala (Forts.)


Grad Behinderung

2,5 Minimale Behinderung in zwei FS:


Grad 2 in zwei FS, andere Grad 0 o. 1

3,0 Unbeschränkt gehfähig; mäßige Behinderung:


• Grad 3 in einem FS, andere Grad 0 o. 1
• Oder Grad 2 in drei o. vier FS, andere Grad 0 o. 1
3,5 Unbeschränkt gehfähig; mäßige Behinderung:
• Grad 3 in einem FS u. Grad 2 in einem o. zwei FS; andere Grad 0 o. 1
• Oder Grad 3 in zwei FS, andere Grad 0 o. 1
• Oder Grad 2 in 5 FS, andere Grad 0 o. 1
4,0 Ohne Hilfe o. Pause für mind. 500 m gehfähig. Ist ca. 12 h am Tag auf, trotz
relativ schwerer Behinderung:
• Grad 4 in einem FS, übrige Grad 0 o. 1
• Oder Komb. geringerer Grade, die die Grenzen der vorhergehenden Stu-
fen überschreiten

4,5 Kann mind. 300 m ohne Hilfe o. Pause gehen. Ist die meiste Zeit des Tages
auf; kann einen vollen Tag arbeiten. Gewisse Einschränkung der Aktivität,
benötigt minimale Hilfe; relativ schwere Behinderung. FS-Äquivalente wie
bei EDSS 4,0

5,0 Kann mind. 200 m ohne Hilfe o. Pause gehen. Behinderung stark genug,
um nicht mehr den ganzen Tag aktiv sein zu können, einschließlich ganztä-
gige Arbeitsfähigkeit.
• Entspricht Grad 5 in einem FS
• Oder Komb. geringerer Grade, die die Grenzen der Stufe 4,0 überschrei-
ten

5,5 Kann mind. 100 m ohne Hilfe o. Pause gehen; Behinderung stark genug,
um nicht mehr den ganzen Tag aktiv sein zu können; FS-Äquivalente wie
bei EDSS 5,0

6,0 Vorübergehende o. ständige einseitige Hilfe erforderlich, um etwa 100 m


mit o. ohne Pause zu gehen. Übliche Äquivalente sind Grad 3+ in mehr als
zwei FS

6,5 Ständige beiderseitige Hilfe erforderlich, um mind. 20 m ohne Pause zu ge-
hen; FS-Äquivalente wie bei EDSS 6,0

7,0 Unfähig, 5 m trotz Hilfe zu gehen; im Wesentlichen auf Rollstuhl angewie-
sen; kann sich im Standardrollstuhl allein fortbewegen u. selbstständig
transferieren; ist ca. 12 h am Tag auf u. im Rollstuhl. Übliche FS-Äquivalen-
te sind Grad 4+ in mehr als einem FS; sehr selten Grad 5 allein in der Pyra-
midenbahnfunktion

7,5 Unfähig, mehr als ein paar Schritte trotz Hilfe zu gehen; auf Rollstuhl an-
gewiesen; benötigt möglicherweise Hilfe beim Ein- u. Aussteigen; kann sich
im Standardrollstuhl allein fortbewegen, aber nicht einen vollen Tag darin
verbringen; benötigt möglicherweise Elektrorollstuhl. FS-Äquivalente wie
bei EDSS 7,0.
27 8,0 Im Wesentlichen auf Bett o. Stuhl beschränkt, ist aber große Teile des Tags
aus dem Bett; kann viele Verrichtungen selbstständig ausführen u. die Ar-
me effektiv einsetzen. Übliche FS-Äquivalente sind Grad 4+ in mehreren FS

8,5 Im Wesentlichen für den Großteil des Tags auf das Bett beschränkt; kann
einige Verrichtungen noch selbstständig ausführen u. die Arme teilweise
effektiv einsetzen. FS-Äquivalente wie bei EDSS 8,0
  27.3 Multiple Sklerose  873

Tab. 27.9  Kurtzke-Skala (Forts.)


Grad Behinderung

9,0 Hilflos u. bettlägerig; kann sich mitteilen u. essen; FS-Äquivalente wie bei
EDSS 8,0

9,5 Völlig hilflos u. bettlägerig; kann sich nicht effektiv mitteilen o. essen/
schlucken; FS-Äquivalente wie bei EDSS 8,0

10,0 Tod an MS

Quelle: Kurtzke JF. Rating neurologic impairment in multiple sclerosis: an expanded


disability status scale (EDSS). Neurology 1983; 33: 1 444–1 452

27.3.2 Funktionelle Systeme (FS)


Zu den FS Sehvermögen ▶ Tab. 27.10, Hirnstamm ▶ Tab. 27.11, Pyramidenbahn
▶ Tab. 27.12, Kleinhirn ▶ Tab. 27.13, Sensorium ▶ Tab. 27.14, Blasen- u. Mast-
darmfunktion ▶ Tab. 27.15, zerebrale Funktion ▶ Tab. 27.16.

Tab. 27.10  FS Sehvermögen (Visus korrigiert)


Pkt. Sehvermögen

0 Normal

1 Mildes Skotom u./o. Visus des schwächeren Auges besser als 0,7 (20/30)

2 Schwächeres Auge mit ausgedehntem Skotom u./o. max. Visus von 0,7–0,3
(20/30–20/59)

3 Schwächeres Auge mit ausgedehntem Skotom o. mäßige Gesichtsfeldein-


schränkung u./o. max. Visus von 0,3–0,2 (20/60–20/99)

4 Schwächeres Auge mit erheblichen Gesichtsfeldeinschränkungen u./o. max.


Visus von 0,2–0,1 (20/100–10/200) oder Grad 3 u. max. Visus des stärkeren Au-
ges von höchstens 0,3 (20/60)

5 Schwächeres Auge mit max. Visus von weniger als 0,1 (20/200) oder Grad 4 u.
max. Visus des stärkeren Auges von höchstens 0,3 (20/60)

6 Schwächeres Auge mit max. Visus von weniger als 0,1 (20/200) u. max. Visus
des stärkeren Auges von höchstens 0,3 (20/60)

9 Unbekannt

Bei Bestimmung des EDSS-Scores erfolgt folgende Korrektur:

FS Sehvermögen: 6 5 4 3 2 1

Korrigiert: 4 3 3 2 2 1

Tab. 27.11  FS Hirnstamm


27
Pkt. Befund

0 Normal

1 Abnorme Befunde ohne Behinderung


874 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.11  FS Hirnstamm (Forts.)


Pkt. Befund

2 Mittelschwerer Nystagmus (ab 30° Blickwendung) oder anderweitige leichte


Beeinträchtigung anderer HN

3 Schwerer Nystagmus (spontan) oder ausgeprägte Augenmotilitätsstör. (z. B.


komplette INO) o. mittelschwere Funktionsstör. anderer HN

4 Ausgeprägte Dysarthrie oder schwere Funktionsstör. anderer HN

5 Unfähigkeit, zu schlucken oder zu sprechen

9 Unbekannt

Tab. 27.12  FS Pyramidenbahn (Kraft nach MRC-Skala)


Pkt. Befund

0 Normal

1 Abnorme Befunde ohne Behinderung (z. B. Babinski-Zeichen)

2 Minimale Behinderung (MRC 4 in 1–2 Muskelgruppen)

3 Leichte bis mittelschwere Para- o. Hemiparese (MRC 4–3) oder schwere


Monoparese (MRC 2 o. weniger)

4 Ausgeprägte Para- o. Hemiparese (MRC 2) oder mittelschwere Tetraparese


(MRC 3) oder Monoplegie

5 Para-, Hemiplegie o. ausgeprägte Tetraparese (MRC 2–1)

6 Tetraplegie

9 Unbekannt

Tab. 27.13  FS Kleinhirn


Pkt. Befund

0 Normal

1 Abnorme Befunde ohne Behinderung

2 Leichte Ataxie (benötigt keine Hilfe), erkennbarer Tremor

3 Mittelschwere Rumpf- o. Extremitätenataxie (benötigt Stock, Abstützen an


Wänden, etc.), Funktion zeitweise erschwert

4 Schwere generalisierte Ataxie (3–4 Extremitäten; benötigt Stützen o. Hilfs-


person), Funktion konstant erschwert.

5 Durch Ataxie bedingte Unfähigkeit, koordinierte Bewegungen auszuführen

27 9 Unbekannt oder Grad 3 o. mehr im FS Pyramidenbahn


  27.3 Multiple Sklerose  875

Tab. 27.14  FS Sensorium


Pkt. Befund

0 Normal

1 Abschwächung des Vibrationsempfindens (5–7/8) o. der epikritischen Diskrimi-


nation (Zahlen- o. Figurenerkennen bei Zeichnen auf die Haut) o. des Tempe-
raturempfindens an 1 o. 2 Extremitäten

2 Geringe Abschwächung des Berührungs-, Schmerz- o. Lageempfindens u./o.


mäßige Abschwächung des Vibrationsempfindens (1–4/8) an 1 o. 2 Extremitä-
ten oder Abschwächung des Vibrationsempfindens o. der epikritischen Diskri-
mination o. des Temperaturempfindens an 3 o. 4 Extremitäten allein

3 Mäßige Abschwächung des Berührungs-, Schmerz- o. Lageempfindens u./o. na-


hezu vollständiger Verlust des Vibrationsempfindens an 1 o. 2 Extremitäten
oder geringe Abschwächung des Berührungs- o. Schmerzempfindens u./o. mä-
ßige Verminderung in allen propriozeptiven Tests an 3 o. 4 Extremitäten

4 Ausgeprägte Abschwächung des Berührungs- o. Schmerzempfindens u./o. der


Propriozeption in 1 o. 2 Extremitäten oder mäßige Abschwächung des Berüh-
rungs- o. Schmerzempfindens u./o. schwere Beeinträchtigung der Propriozep-
tion an > 2 Extremitäten

5 Nahezu vollständiger Sensibilitätsverlust in 1 o. 2 Extremitäten oder mäßige


Abschwächung des Berührungs- o. Schmerzempfindens u./o. Verlust der Pro­
priozeption am größten Teil des Körpers unterhalb des Kopfs

6 Nahezu vollständiger Sensibilitätsverlust unterhalb des Kopfs

9 Unbekannt

Tab. 27.15  FS Blasen- u. Mastdarmfunktion (jeweils schlechtere Funktion


wird bewertet)
Pkt. Befund

0 Normal

1 Leichte Miktionsverzögerung, leichter imperativer Harndrang o. leichte Harn-


verhaltung

2 Mäßige Entleerungsverzögerung, mäßiger imperativer Harn- o. Stuhldrang,


mäßige Harn- o. Stuhlverhaltung o. seltene Harninkontinenz

3 Häufige Harninkontinenz (≥ 1/d), intermittierend Selbstkatheterisierung,


Bauchkompression zur Blasenentleerung o. Verwendung von Hilfsmitteln zur
Stuhlentleerung

4 Nahezu konstante Verwendung eines Blasenkatheters zur Miktion bzw. von


Hilfsmitteln zur Stuhlentleerung

5 Verlust der Blasenfunktion, Dauerkatheter erforderlich

6 Verlust der Blasen- u. Darmfunktion

9 Unbekannt 27
Bei Bestimmung des EDSS-Scores erfolgt folgende Korrektur:

FS Blasen/Mastdarm- 6 5 4 3 2 1
funktion:

Korrigiert 5 4 3 3 2 1
876 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.16  FS Zerebrale Funktion


Pkt. Befund

0 Normal

1 Ausschließlich Stimmungsschwankungen oder leichte Fatigue

2 Leichte kognitiv-mnestische Beeinträchtigung, mäßige/schwere Fatigue

3 Mittelschwere kognitiv-mnestische Beeinträchtigung: Auffälligkeiten im


MMST

4 Ausgeprägte kognitiv-mnestische Beeinträchtigung; zu ein o. zwei Qualitä-


ten (Person, Ort, Zeit) nicht orientiert

5 Dement, desorientiert

9 Unbekannt

27.4 Bewegungsstörungen
27.4.1  Modifizierter Ashworth-Score (MAS)
▶ Tab. 27.17.
Tab. 27.17  Modifizierter Ashworth-Score (MAS)
Pkt. Befund

0 Normaler Muskeltonus

1 Leichte Tonuserhöhung, die an einem „catch and release“ (Muskelanspan-


nung u. -entspannung) erkennbar wird o. an einem minimalen Widerstand
am Ende des Bewegungsumfangs bei Beugung o. Streckung

1+ Leichte Tonuserhöhung, die an einem „catch“ (Muskelanspannung) erkenn-


bar wird, gefolgt von einem minimalen Widerstand während des restlichen
(weniger als die Hälfte) Bewegungsumfangs

2 Ausgeprägtere Tonuserhöhung über den größten Teil des Bewegungsum-


fangs; betroffene Körperteile lassen sich aber leicht bewegen

3 Deutliche Tonuserhöhung; passive Bewegung ist schwierig

4 Der betroffene Körperteil ist starr gebeugt o. gestreckt

Quelle: Bohannon RW, Smith MB. Interrater reliability of a modified Ashworth scale
of muscle spasticity. Physical Therapy 1987; 67: 206–207.

27.4.2 Unified Parkinson Disease Rating Scale (UPDRS)


27 Beurteilungsskala für M. Parkinson (▶ Tab. 27.18); Teil III (motorische Unters.).
Teil I, II (Erfahrungen des täglichen Lebens), Teil IV (Motorische Komplikatio-
nen) und detaillierte Instruktionen zur Durchführung unter www.movementdis-
orders.org/MDS/Education/Rating-Scales/Rating-Scales-By-Disorder.htm.
  27.4 Bewegungsstörungen  877

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
­3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt.
Pkt. Befund Wert

3.1 Sprache

Beurteilung der spontanen Sprachproduktion des Pat. u., falls nötig, Beginn eines
Gesprächs, z. B. über Hobbys, Sport etc. Beurteilung von Umfang, Modulation u.
Deutlichkeit, einschl. undeutlicher Artikulation, Palilalie u. Tachyphemie

0 Keine Sprachprobleme ☐
1 Verlust von Modulation, Diktion o. Lautstärke, alle Wörter sind
aber noch leicht zu verstehen

2 Verlust von Modulation, Diktion o. Lautstärke mit einigen unkla-


ren Wörtern, aber insgesamt leicht verständlichen Sätzen

3 Sprache schwer zu verstehen, da einige, jedoch nicht die meisten


Sätze schwer zu verstehen sind

4 Der Großteil des Gesprochenen ist schwer zu verstehen o. unver-


ständlich

3.2 Gesichtsausdruck

Beobachtung des sitzenden Pat. für 10 s. Frequenz des Augenblinzelns, Gesichtsaus-
druck (maskenhaft), Verlust der mimischen Expression, spontanes Lächeln, offen
stehender Mund?

0 Normaler Gesichtsausdruck ☐
1 Minimaler maskenhafter Gesichtsausdruck, manifestiert sich nur
durch die ­reduzierte Frequenz des Augenblinzelns

2 Zusätzlich zeigt sich ein maskenhafter Gesichtsausdruck auch im unte-


ren Teil des Gesichts mit spärlichen Bewegungen im Mundbereich wie
etwa weniger spontanes Lächeln. Der Mund steht jedoch nicht offen

3 Maskenhafter Gesichtsausdruck mit zeitweise geöffneten Mund,


wenn nicht gesprochen wird

4 Maskenhafter Gesichtsausdruck mit überwiegend geöffneten


Mund, wenn nicht gesprochen wird

3.3 Rigor

Prüfung des Rigors bei langsamer passiver Bewegung der großen Gelenke am ent-
spannten Pat. Zu Beginn Prüfung ohne Bahnungsmanöver. Prüfung der Extremitä-
ten u. Nacken (jeweils gesonderte Bewertung). Falls kein Rigor vorhanden, Prüfung
mit Bahnungsmanöver

0 Kein Rigor ☐ Nacken


1 Rigor lässt sich durch ein Bahnungsmanöver feststellen ☐ ROE1
☐ LOE
2 Rigor ist ohne Bahnungsmanöver feststellbar, der volle Bewe- ☐ RUE 27
gungsumfang ist jedoch erhalten
☐ LUE
3 Rigor ist ohne Bahnungsmanöver feststellbar, voller Bewegungs-
umfang wird nur durch Anstrengung erreicht

4 Rigor ist ohne Bahnungsmanöver feststellbar, ein voller Bewe-


gungsumfang wird nicht erreicht
878 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt. (Forts.)
Pkt. Befund Wert

3.4 Fingertippen

Pat. soll Zeigefinger schnellstmöglich und mit der größten Amplitude 10 × gegen
den Daumen führen (Aufgabe vorführen). Bewertung von Geschwindigkeit, Ampli-
tude, Verzögerungen, Unterbrechungen, Amplitudendekrement (jede Seite geson-
dert)

0 Keine Probleme ☐ re


1 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) Regulärer Rhythmus ☐ li
ist gestört durch eine o. zwei Unterbrechungen o. Verzögerungen
während des Fingertippens; b) angedeutete Verlangsamung; c)
Amplitudendekrement kurz vor dem 10. Tippen

2 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) 3–5 Unterbrechun-


gen beim Fingertippen; b) leichte Verlangsamung; c) Amplituden-
dekrement mitten in der Tippsequenz

3 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) > 5 Unterbrechun-


gen beim Fingertippen o. mind. eine längere Pause („Einfrieren“)
in der Ausführung; b) mäßige Verlangsamung; c) Amplitudende-
krement bereits nach dem 1. Tippen

4 Pat. kann Aufgabe nicht o. nur schwerlich durchführen aufgrund


von Verlangsamung, Unterbrechungen o. Dekrement

3.5 Handbewegungen

Pat. soll bei gebeugtem Arm Faust fest schließen, Hand dann 10 × mit größtmögli-
cher Amplitude und schnellstmöglich öffnen (Aufgabe vorführen). Bewertung von
Geschwindigkeit, Amplitude, Verzögerungen, Unterbrechungen, Amplitudendekre-
ment (jede Seite gesondert)

0 Keine Probleme ☐ re


1 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) Regulärer Rhythmus ☐ li
ist gestört durch eine o. zwei Unterbrechungen o. Bewegungsver-
zögerungen; b) angedeutete Verlangsamung; c) Amplitudendekre-
ment zum Ende der Aufgabe

2 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) 3–5 Bewegungsun-


terbrechungen; b) leichte Verlangsamung; c) Amplitudendekre-
ment mitten in der Durchführung

3 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) > 5 Bewegungsun-


terbrechungen o. mind. eine längere Pause („Einfrieren“) in der
fortlaufenden Bewegung; b) mäßige Verlangsamung; c) Amplitu-
dendekrement nach der 1. „Öffnen-und-Schließen“-Frequenz

4 Pat. kann Aufgabe nicht o. nur schwerlich durchführen aufgrund


von Verlangsamung, Unterbrechungen o. Dekrement
27
  27.4 Bewegungsstörungen  879

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt. (Forts.)
Pkt. Befund Wert

3.6 Pronations-, Supinationsbewegungen der Hände

Pat. soll mit vor seinem Körper ausgestreckten Arm die Handfläche schnellstmöglich
u. mit größtmöglicher Amplitude alternierend 10 × nach oben u. unten wenden
(Aufgabe vorführen). Bewertung von Geschwindigkeit, Amplitude, Verzögerungen,
Unterbrechungen, Amplitudendekrement (jede Seite gesondert)

0 Keine Probleme ☐ re


☐ li
1 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) Regulärer Rhythmus
gestört durch eine o. zwei Unterbrechungen o. Bewegungsverzö-
gerungen; b) angedeutete Verlangsamung; c) Amplitudendekre-
ment zum Ende der Aufgabe

2 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) 3–5 Bewegungsun-


terbrechungen; b) leichte Verlangsamung; c) Amplitudendekre-
ment mitten in der Übung

3 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) > 5 Bewegungsun-


terbrechungen o. mind. eine längere Pause („Einfrieren“) in der
fortlaufenden Bewegung; b) mäßige Verlangsamung; c) Ampli-
tudendekrement nach der 1. „Supinations-Pronations-Sequenz“

4 Pat. kann Aufgabe nicht o. nur schwerlich durchführen aufgrund


von Verlangsamung, Unterbrechungen o. Dekrement

3.7 Vorfußtippen

Pat. soll – auf einem Stuhl mit gerader Rückenlehne sitzend – die Ferse bequem auf
den Boden stellen u. dann mit den Zehen 10 × mit größtmöglicher Amplitude u.
schnellstmöglich auf den Boden tippen (Aufgabe vorführen). Bewertung von Ge-
schwindigkeit, Amplitude, Verzögerungen, Unterbrechungen, Amplitudendekre-
ment (jede Seite gesondert)

0 Keine Probleme ☐ re


☐ li
1 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) Regulärer Rhythmus
ist gestört durch eine o. zwei Unterbrechungen o. Verzögerungen
der Tippbewegungen; b) angedeutete Verlangsamung; c) Amplitu-
dendekrement kurz vor dem 10. Tippen

2 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) 3–5 Bewegungsun-


terbrechungen; b) leichte Verlangsamung; c) Amplitudendekre-
ment mitten in der Übung

3 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) > 5 Bewegungsun-


terbrechungen o. mind. eine längere Pause („Einfrieren“) in der
fortlaufenden Bewegung; b) mäßige Verlangsamung; c) Amplitu-
dendekrement nach dem 1. Tippen

4 Pat. kann Aufgabe nicht o. nur schwerlich durchführen aufgrund


von Verlangsamung, Unterbrechungen o. Dekrement 27
880 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt. (Forts.)
Pkt. Befund Wert

3.8 Beweglichkeit der Beine

Pat soll – auf Stuhl mit gerader Rückenlehne u. Armlehnen sitzend – Fuß in beque-
mer Position auf den Boden stellen u. ihn dann 10 × mit größtmöglicher Amplitude
u. schnellstmöglich heben u. auf den Boden stampfen (Aufgabe vorführen). Bewer-
tung von Geschwindigkeit, Amplitude, Verzögerungen, Unterbrechungen, Amplitu-
dendekrement (jede Seite gesondert)

0 Keine Probleme ☐ re


☐ li
1 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) Regulärer Rhythmus
ist gestört durch eine o. zwei Unterbrechungen o. Bewegungsver-
zögerungen; b) angedeutete Verlangsamung; c) Amplitudendekre-
ment zum Ende der Aufgabe

2 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) 3–5 Bewegungsun-


terbrechungen; b) leichte Verlangsamung; c) Amplitudendekre-
ment mitten in der Übung

3 Mind. eine der folgenden Schwierigkeiten: a) > 5 Bewegungsun-


terbrechungen o. mind. eine längere Pause („Einfrieren“) in der
fortlaufenden Bewegung; b) mäßige Verlangsamung; c) Amplitu-
dendekrement nach dem 1. Aufstampfen

4 Pat. kann Aufgabe nicht o. nur schwerlich durchführen aufgrund


von Verlangsamung, Unterbrechungen o. Dekrement

3.9 Aufstehen vom Stuhl

Pat. soll versuchen, aus einem Stuhl mit gerader Rückenlehne u. Armlehnen mit vor
der Brust verschränkten Armen aufzustehen, zunächst aus Grundhaltung (Rücken
an Rückenlehne), dann von der Stuhlkante aus. Gelingt beides nicht, mit Aufstüt-
zen, zuletzt mit Hilfe. Nachdem Pat. aufgestanden ist. Bewertung der Körperhal-
tung nach Item 3.13.

0 Keine Schwierigkeiten. Pat. kann schnell u. ohne Verzögerung auf- ☐


stehen

1 Das Aufstehen erfolgt langsamer als normal o. es wird mehr als


1 Versuch dazu benötigt; o. eine Bewegung zum Stuhlrand ist er-
forderlich, um aufstehen zu können. Benutzung der Armlehnen ist
jedoch nicht nötig

2 Pat. drückt sich mithilfe der Armlehnen ohne Schwierigkeiten hoch

3 Pat. drückt sich hoch, aber neigt zum Zurückfallen; o. er muss es


mehrmals unter Benutzung der Armlehnen versuchen; Aufstehen
ist jedoch ohne fremde Hilfe möglich

4 Pat. kann nicht ohne Hilfe aufstehen

27
  27.4 Bewegungsstörungen  881

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt. (Forts.)
Pkt. Befund Wert

3.10 Gehen/Gangbild

Pat. soll mind. 10 m vom Untersucher weggehen, sich dann umdrehen u. wieder auf
den Untersucher zugehen. Beurteilung verschiedener Gangeigenschaften, z. B.
Schrittamplitude, -geschwindigkeit, Mitschwingen der Arme

0 Keine Probleme ☐

1 Pat. geht ohne Hilfe mit leichter Gangstör.

2 Pat. geht ohne Hilfe, jedoch mit erheblicher Gangstör.

3 Pat. benötigt eine Gehhilfe für sicheres Gehen (Gehstock, Gehwa-


gen), ist aber in der Lage, ohne fremde Hilfe zu gehen

4 Pat. kann gar nicht gehen o. nur mit fremder Hilfe

3.11 Blockaden beim Gehen („Freezing“)

Während der Untersuchung zu Item 3.10 Beurteilung von „Blockaden-beim-


Gehen“-Episoden, z. B. Starthemmung, Trippelschritte, insbes. beim Umdrehen u.
am Ende der Prüfung

0 Keine Blockaden beim Gehen ☐

1 Eine Blockade beim Gehen tritt entweder beim Starten, Umdrehen


o. Gehen durch den Türeingang auf u. zeigt sich als nur eine Be-
wegungsunterbrechung bei einer dieser Bewegungsabläufe; da-
nach werden fortlaufende fließende Bewegungen ohne Blockade
beim Geradeausgehen ausgeführt

2 Eine Blockade beim Gehen tritt beim Starten, Umdrehen o. Gehen


durch den Türeingang auf, hierbei kommt es zu mehr als einer Be-
wegungsunterbrechung bei diesen Bewegungsabläufen, danach
werden fortlaufende fließende Bewegungen ohne Blockaden
beim Geradeausgehen ausgeführt

3 Eine Blockade tritt einmal beim Geradeausgehen auf

4 Eine Blockade tritt mehrfach beim Geradeausgehen auf

3.12 Posturale Stabilität

Überprüfung der Reaktion auf ein plötzliches Verlagern des Körpers durch schnelles
kräftiges Ziehen an den Schultern des Pat. nach hinten

0 Keine Probleme: Pat. fängt sich nach 1 o. 2 Schritten ☐

1 3–5 Schritte, Pat. fängt sich jedoch ohne Hilfe auf

2 > 5 Schritte, Pat. fängt sich jedoch ohne Hilfe auf

3 Sicherer Stand, posturale Antwort ist jedoch nicht vorhanden; Pat.


fällt, wenn er nicht vom Untersucher aufgefangen wird
27
4 Sehr instabil; Pat. neigt dazu, das Gleichgewicht spontan bzw. auf
ein leichtes Ziehen an den Schultern zu verlieren
882 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt. (Forts.)
Pkt. Befund Wert

3.13 Körperhaltung

Beobachtung am aufrecht stehenden Pat., beim Gehen u. während der Untersu-


chung zu Item 3.12. Bewertung der schlechtesten Körperhaltung. Beobachtung von
Flexion u. Seitneigung

0 Keine Probleme ☐

1 Nicht ganz aufrechte Haltung; Körperhaltung könnte jedoch für


eine ältere Person normal sein

2 Eindeutige Flexion, Skoliose o. Seitneigung, aber Pat. kann die


Haltung auf Aufforderung korrigieren

3 Gebückte Haltung, Skoliose o. Seitneigung, die vom Pat. willent-


lich zu einer aufrechten Haltung nicht korrigiert werden kann

4 Flexion, Skoliose o. Seitneigung mit ausgeprägter Haltungsstör.

3.14 Globale Spontanität der Bewegung (Bradykinesie des Körpers)

Komb. aller Beobachtungen von Langsamkeit, geringer Amplitude, allg. Bewe-


gungsarmut, einschl. Reduktion von Körpergestik u. Überkreuzen der Beine. Beur-
teilung aufgrund des Gesamteindrucks

0 Keine Probleme ☐

1 Angedeutete globale Verlangsamung u. Verarmung von Spontan-


bewegungen

2 Leichte globale Verlangsamung u. Verarmung von Spontanbewe-


gungen

3 Mäßige globale Verlangsamung u. Verarmung von Spontanbewe-


gungen

4 Schwere globale Verlangsamung u. Verarmung von Spontanbewe-


gungen

3.15 Haltetremor der Hände

Pat. soll Arme vor dem Körper ausstrecken. Beobachtung dieser Haltung für 10 s

0 Kein Tremor ☐ re


☐ li
1 Tremor ist vorhanden, Amplitude ist jedoch < 1 cm

2 Tremor mit einer Amplitude > 1 cm, aber < 3 cm

3 Tremor mit einer Amplitude von mind. 3 cm, jedoch < 10 cm

4 Tremor mit einer Amplitude von mind. 10 cm


27
  27.4 Bewegungsstörungen  883

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt. (Forts.)
Pkt. Befund Wert

3.16 Bewegungstremor der Hände

Beurteilung des Tremors beim Finger-Nase-Versuch. Bewertung der größten Tremor­


amplitude

0 Kein Tremor ☐ re


☐ li
1 Tremor ist vorhanden, Amplitude jedoch < 1 cm

2 Tremor mit einer Amplitude > 1 cm, aber < 3 cm

3 Tremor mit einer Amplitude von mind. 3 cm, jedoch < 10 cm

4 Tremor mit einer Amplitude von mind. 10 cm

3.17 Amplitude des Ruhetremors

Bewertung der max. Tremoramplitude während der gesamten Unters., außerdem


Pat. 10 s ohne weitere Anweisungen ruhig auf einem Stuhl sitzen lassen, Hände
auf den Armlehnen, Füße bequem am Boden stehend. Bewertung als Endwert:
Max. Amplitude, die gesehen wurde (gesondert für alle 4 Extremitäten, Lippen/
Kiefer)

Bewertung der Extremitäten ☐ ROE1


☐ LOE
0 Kein Tremor ☐ RUE
☐ LUE
1 Max. Amplitude < 1 cm ☐ Lippen/
2 Max. Amplitude > 1 cm, aber < 3 cm Kiefer

3 Max. Amplitude 3–10 cm

4 Max. Amplitude < 10 cm

Bewertung der Lippen/des Kiefers

0 Kein Tremor

1 Max. Amplitude < 1 cm

2 Max. Amplitude > 1 cm, aber < 2 cm

3 Max. Amplitude > 2 cm, aber < 3 cm

4 Max. Amplitude > 3 cm

3.18 Konstanz der Ruhetremors

Bewertung der Konstanz des Ruhetremors während der Unters.

0 Kein Tremor ☐

1 Ruhetremor ist bei < 25 % der gesamten Unters.-Zeit vorhanden 27


2 Ruhetremor ist bei 26–50 % der gesamten Unters.-Zeit vorhanden

3 Ruhetremor ist bei 51–75 % der gesamten Unters.-Zeit vorhanden

4 Ruhetremor ist bei > 75 % der gesamten Unters.-Zeit vorhanden


884 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.18  UPDRS Teil III: Motorische Untersuchung


Punktevergabe: 0: Normal. 1: Angedeutet vorhanden. 2: Leicht ausgeprägt.
3: Mäßig ausgeprägt. 4: Schwer ausgeprägt. (Forts.)
Pkt. Befund Wert

Einfluss der Dyskinesien

A. Traten Dyskinesien (Chorea o. Dystonie) während der Untersu- ☐ Nein


chung auf? ☐ Ja

B. Falls ja, hatten diese Bewegungen Einfluss auf die Bewertung ☐ Nein
☐ Ja

Stadien nach Hoehn u. Yahr

0 Asymptomatisch ☐

1 Nur einseitige Beteiligung

2 Bds. Beteiligung ohne Gleichgewichtsstör.

3 Leichte bis mäßig ausgeprägte bds. Beteiligung: Gewisse Haltungs-


instabilität, jedoch körperl. unabhängig; braucht Unterstützung
zum Ausgleich beim Zugtest

4 Starke Behinderung; kann aber noch ohne Hilfe gehen o. stehen

5 Ohne fremde Hilfe auf Rollstuhl angewiesen o. bettlägerig


1
 LOE: Linke obere Extremität. LUE: Linke untere Extremität. ROE: Rechte obere Ex­
tremität. RUE: Rechte untere Extremität
Quelle: International Parkinson and Movement Disorder Society

27.5 Myasthenie
27.5.1 MGFA-Klassifikation
Schweregrad der Myasthenie (▶ Tab. 27.19).

Tab. 27.19  MGFA-Klassifikation


Klasse Befund

I Okuläre Myasthenie, beschränkt auf äußere Augenmuskeln u. ggf. den


Lidschluss

II Leicht- bis mäßiggradige generalisierte Myasthenie mit Einbeziehung


anderer Muskelgruppen, ggf. einschließlich der Augenmuskeln

IIa Betonung der Extremitäten u./o. Gliedergürtel, geringe Beteiligung oro-


pharyngealer Muskelgruppen
27 IIb Bes. Beteiligung oropharyngealer u./o. der Atemmuskulatur, geringe o.
gleichartige Beteiligung der Extremitäten o. rumpfnahen Muskelgruppen

III Mäßiggradige generalisierte Myasthenie

IIIa Betonung der Extremitäten u./o. Gliedergürtel, geringe Beteiligung oro-


pharyngealer Muskelgruppen
  27.5 Myasthenie  885

Tab. 27.19  MGFA-Klassifikation (Forts.)


Klasse Befund

IIIb Bes. Beteiligung oropharyngealer u./o. der Atemmuskulatur; geringe o.


gleichartige Beteiligung der Extremitäten o. rumpfnahen Muskelgruppen

IV Schwere generalisierte Myasthenie

IVa Betonung der Extremitäten u./o. Gliedergürtel, geringe Beteiligung oro-


pharyngealer Muskelgruppen

IVb Bes. Beteiligung oropharyngealer u./o. der Atemmuskulatur, geringe o.


gleichartige Beteiligung der Extremitäten o. rumpfnahen Muskelgruppen

V Intubationsbedürftigkeit mit u. ohne Beatmung, abgesehen von einer


postop. Nachbehandlung; Notwendigkeit einer Nasensonde ohne Intu-
bationsbedürftigkeit entspricht der Klasse IVb

Quelle: Jaretzki A, Barohn RJ, Ernstoff RM, et al. Myasthenia gravis: recommenda-
tions for clinical research standards. Task force of the medical scientific advisory
board of the Myasthenia Gravis Foundation of America. Neurology 2000; 55: 16–23

27.5.2 Besinger-Score
Beurteilung myasthener Sympt. (▶ Tab. 27.20).

Tab. 27.20  Besinger-Score


0 Pkt. (ohne 1 Pkt. (geringe 2 Pkt. (mäßige 3 Pkt. (star-
Sympt.) Sympt.) Sympt.) ke Sympt.)

Extremitäten- u. Rumpfmuskulatur

Armvorhalten > 240 s (alter- 91–240 s (alter- 10–90 s (alter- < 10 s


(90° stehend) nativ: > 180 s) nativ: 61–180 s) nativ: 10–60 s)

Beinvorhalten > 120 s (alter- 31–120 s (alter- 0–30 s (alterna- Nicht mög-


(45° Rückenlage) nativ: > 100 s o. nativ: 31–100 s tiv: 6–30 s) lich (alter-
> 45 s) o. 31–45 s) nativ: < 6 s)

Kopfheben > 120 s (alter- 31–120 s (alter- 0–30 s (alterna- Nicht mög-


(45° Rückenlage) nativ: > 90 s) nativ: 31–90 s) tiv: 6–30 s) lich (alter-
nativ: < 6 s)

Vitalkapazität
(max. Exspiration
nach max. Inspira-
tion)

• Männlich > 4 l 2,5–4 l 1,5–2,5 l < 1,5 l

• Weiblich > 3 l 2–3 l 1,2–2 l < 1,2 l

Treppensteigen: Bis 6 s 7–10 s 11–30 s Nicht mög-


10 Standardstu- lich
fen ohne Hände 27
(fakultativ, wird
selten bestimmt)
886 27  Skalen und Scores  

Tab. 27.20  Besinger-Score (Forts.)


0 Pkt. (ohne 1 Pkt. (geringe 2 Pkt. (mäßige 3 Pkt. (star-
Sympt.) Sympt.) Sympt.) ke Sympt.)

Vigorimetertest: 0–15 % 16–20 % 21–75 % > 75 %


Dekrement nach
10 max. Faust-
schlüssen (fakul-
tativ, wird selten
bestimmt)

Fazio-pharyngeale Muskulatur

Gesichtsmuskula- Normal Schwäche im Lidschluss in- Amimie


tur Lidschlusstest komplett („i“,
(o. bei „i“, „o“) „o“ deutlich
eingeschränkt)

Kauen Normal Kauschwäche Zerkleinerte Magenson-


(Ermüdung Kost de
während des
Essens)

Schlucken Normal Erschwert Inkompletter Magenson-


­(Ermüdung bei Gaumenschluss de
Essen u. Trin- (häufiges
ken) ­Verschlucken,
nasale
­Sprache)

Okuläre Symptome

Doppelbilder > 60 s 11–60 s 1–10 s Spontan

Ptose > 60 s 11–60 s 1–10 s Spontan

Auswertung: Gesamtpunktzahl dividiert durch Anzahl der durchgeführten Tests


(0 = keine myasthene Symptomatik; 3 = schwerste myasthene Symptomatik) o. An-
gabe der Einzelpunktwerte
Verlaufsbeurteilung anhand der Score-Änderung: ± 0,3: Unverändert. ± 0,3–1: Rele-
vante Änderung. ± > 1: Wesentliche Änderung

Quelle: Besinger UA, Toyka KV, Heininger K et al. Long-term correlation of clinical
course and acetylcholine receptor antibody in patients with myasthenia gravis. Ann
NY Acad Sci 1981; 377: 812–815.

27
   Index  887

Index
Symbols Aktivkohle 156 Aneurysma, zerebrales, Lokalisa­
α-Tocopherol Siehe Vitamin E Akustikusneurinom 485 tion 325
β-Amyloid 774 Albträume  850, 851 Anfälle 408–446
–– Alzheimer-Demenz 778 Alemtuzumab –– akute symptomatische  414
–– bei MS  398–399 –– Differenzialdiagnose 412
A –– Monitoring 399 –– dissoziative Siehe Anfälle,
ABCD-Regel 167–169 Alexie 132 ­psychogene
Abduzensparese  100, 101 Alien-Limb-Syndrom 551 –– einfach motorische  415
A-Betalipoproteinämie  560, 589 Alkoholentzugsdelir  768, 769 –– epileptische Siehe Epilepsie
–– Polyneuropathie 662 Alkoholenzephalopathie 811– –– fokale  412, 413
Absence(n) 413 812 –– funktionelle, dissoziative Siehe
–– EEG 409 Alkoholfolgekrankheiten 814 Anfälle, psychogene
Absencen-Epilepsie, Alkoholmyopathie 721 –– generalisierte 413
­kindliche  416 Allodynie 16 –– – tonisch-klonische Siehe
Absence-Status, Therapie  442 All-Ulnar-Hand 611 Grand-Mal-Anfall
Abszess(e) Almotriptan 218 –– lokalisationsbezogene Siehe
–– epiduraler 348 ALS Anfälle, fokale
–– – Rückenmark 508–509 –– Mills-Variante, hemiple- –– partielle Siehe Anfälle, fokale
–– Spinalkanal 349 gische 580 –– psychogene  412, 445–446
–– subduraler, Rücken- –– primäre 580 –– tonische 851
mark 508–509 –– Therapie 582 Angiitis
–– ZNS 466 ALS-Plus-Syndrom 581 –– allergische 301
Acetylsalicylsäure Siehe ASS ALS 580–582 –– zerebrale 301
Achillessehnenreflex Siehe ASR Altersmyasthenie 728 Angio-CT 83
acute inflammatory demyelinating Alzheimer-Demenz  784, 777– Angiografie
polyradiculoneuropathy Siehe 779 –– Aa. vertebrales Siehe
Guillain-Barré-Syndrom –– Diagnostik 778 ­Vertebralisangiografie
Adamkiewicz-Arterie 507 –– Lewy-Körperchen-Variante –– A. carotis Siehe Karotisangio-
ADCA Siehe SCA ­Siehe DLB grafie
Adduktorenreflex 10 –– Liquorbefund 42 –– zerebrale 89–92
ADEM 404 –– mit Parkinson-Veränderungen –– – bei Hyperthyreose  89
Adie-Syndrom 104 Siehe DLB Angiomatose, enzephalotrigemi-
Adrenalin 185 –– Therapie 779 nale Siehe Sturge-Weber-Syn-
–– Reanimation 168 Amantadine Siehe Glutamatant­ drom
Adrenoleukodystrophie agonisten Angiom(e)
–– adulte zerebrale  793 Amaurosis fugax  449 –– arteriovenöses 308–310
–– X-chromosomale 793 Ambenoniumchlorid Siehe Cholin­ –– kapilläres 310
–– – olivo-ponto-zerebelläre 793 esterasehemmer –– venöses 310
Adrenomyeloneuropathie 793 Ambivalenz 145 Angiopathie, kongophile Siehe
AEP 54–55 Amitriptylin 243 Amyloidangiopathie(n), zere-
Affektinkontinenz 144 Amnesie 133–135 brale
Affektivität 24 –– anterograde 134 Angst 141
–– Störungen 143–145 –– retrograde 134 Anhidrosis 130
Affektlabilität 144 –– transiente globale  134–135 Anisokorie 103
Affektstarre 145 Amöbiasis 385 Anorexie, Enzephalopathie 
AHLE Siehe Leukenzephalitis, Amygdala-Hippokampektomie, 818–819
­hämorrhagische, akute selektive 437 Anosmie 448
Ahornsirupkrankheit 589 Amyloidangiopathie(n), Anosognosie 132
AICA-Syndrom 278 ­zerebrale  299, 796 Anticholinergika
AIDP Siehe Guillain-Barré-­ Amyloidose, Polyneuropa- –– bei IPS  536
Syndrom thie 662 –– Intoxikation, Therapie  771
AIDS 371 Amyotrophie, diabetische  661 –– Nebenwirkungen 536
AION 451 Analgetika 234–243 Antidementiva 775–776
Akalkulie 132 –– antipyretisch wirkende Siehe Antidepressiva, trizyklische 
Akathisie 555 auch Antipyretika 243
Akinese 524 –– nichtopioiderge 234 Antidota, Vergiftungen  158
–– IPS 525 –– Richtlinien der WHO  241 Antiepileptika 424–430
Akoasmen 142 Analgosedierung 182–185 –– Interaktionen 432
Akromegalie 720 –– bei Hirndrucksteigerung  194 –– Schwangerschaft 435
–– Polyneuropathie 662 An-Alphalipoproteinämie 662 –– Stillzeit 435
Aktigrafie 829 –– Polyneuropathie 662 –– Wahl nach Anfallstyp  423
Aktimetrie 829 Analreflex 12 –– Wechselwirkungen 431
Aktinomykose 363 Anamnese 2 Antiphlogistika, nichtsteroidale
Siehe NSAID
888  Index 

Antipyretika Arteria-spinalis-anterior-­ Augenhintergrund 5


–– antipyretisch wirkende  Syndrom 507 Augenmuskellähmung(en) 100,
235–236 Arteriitis 102
–– nichtsaure 235 –– cranialis Siehe Arteriitis tempo- –– Ursachen 100
–– saure 236 ralis Augenstellung, bei Bewusstlosig-
Anti-Synthetase-Syndrom 715 –– temporalis  214, 301, 304–306 keit 173
Antithrombin-III-Mangel 312 –– zerebrale, Lues  354 Augensymptome 97–111
Antrieb 24 Arteriopathie, zerebrale autosomal Aura
Antriebsarmut 145 dominante, mit subkortikalen –– Epilepsien 415
Antriebshemmung 145 Infarkten u. Leukenzephalopa- –– ohne Kopfschmerz  216
Antriebssteigerung 145 thie Siehe CADASIL Ausfallsymptome, sensible  126
Antriebsstörung(en) 145 Arthritis, rheumatoide  678 AV-Angiom Siehe Angiom(e),
Aphasie(n) 131–132 Ashworth-Score, modifizierter ­arteriovenöses
–– amnestische 132 ­Siehe MAS AV-Malformation Siehe
–– Broca-, Siehe Broca-Aphasie Aspergillose 382 Angiom(e), arteriovenöses
–– globale 131 ASR  10, 11 Axonotmesis 601
–– Leitungs-, Siehe Leitungsapha- –– Klonus 11 Azathioprin, Myasthenia
sie ASS  234, 235–236 ­gravis  733
–– nicht flüssige Siehe Aphasie(n), –– zerebrale Ischämien  289
primär progressive Astrozytom(e) B
–– primär progressive  781 –– anaplastische  471, 478 Babesiose 385
–– transkortikale gemischte  131 –– intramedulläre 512 Babinski-Zeichen 13
–– transkortikale motorische  131 –– niedrig maligne  471, 478 Balkendurchtrennung Siehe
–– transkortikale ­sensorische  131 –– pilozytische 471 ­Kallostomie
–– Wernicke-, Siehe Wernicke- Ataxia teleangiectatica  589 Ballismus 555
Aphasie Ataxie(n)  123, 586–592 Bande(n), oligoklonale Siehe
Apixaban, zerebrale Isch­ –– autosomal dominant vererbte  ­Oligoklonale Banden
ämien 292 590–591 Bandscheibenvorfall
Apnoe-Hypopnoe-Index 845 –– autosomal rezessiv vererbte  –– lumbaler 646
Apnoe-Test, Hirntod  197 587–590 –– thorakaler 645
Apomorphin, bei IPS  536 –– episodische 591 Bárány-Zeige-Versuch 15
Apomorphin-Test 529 –– im Rahmen maternal vererbter Barbiturate, Analgosedie-
Apraxie(n)  132, 133 Systemerkrankungen 590 rung 183
–– bukkofaziale 111 –– mit isoliertem Vitamin-E-­ Barthel-Index 867
Arachnoiditis 511 Defizit 589 Basilarismigräne 116
Arachnopathie 511 –– mit okulärer Apraxie  588 Basilarisspitzen-Syndrom 276
Aran-Duchenne Siehe SMA, Typ –– Mutationen der Polymerase γ Basilaristhrombose 275–276
Aran-Duchenne Siehe POLG Bassen-Kornzweig-Syndrom Siehe
arc de cercle, bei psychogenem –– sensible Siehe Ataxie(n), spina- A-Betalipoproteinämie
Anfall 445 le Bauchhautreflex 12
Armplexusläsion(en) –– spinale 123 Beatmung 186–189
–– exogene 631–632 –– sporadische, im Erwachsenenal- –– assistierte 187
–– geburtstraumatische 632–633 ter beginnende Siehe SAOA –– Indikationen 187
–– Leitsymptome 628 –– zerebelläre 123 –– invasive maschinelle  186
–– radiogene 635 –– – autosomal dominante Siehe –– kontrollierte 187
–– tumorbedingte 634 SCA –– maschinelle, invasive 
Armplexusneuropathie, kryptoge- –– – idiopathische Siehe SAOA 186–188
netische Siehe Myatrophie, Ataxie-Telangiektasie Siehe Ataxia Becker muscular dystrophy Siehe
neuralgische teleangiectatica Muskeldystrophie(n), Becker
Armplexusparese Atemstillstand 169 Bedeutungswahn 140
–– globale 628 Athetose 555 Beeinträchtigungswahn 140
–– mittlere 628 Atrophie(n) 13 Befehlsautomatismus 145
–– obere 628 –– dentato-rubro-pallido-lysiale  Befunderhebung, psychopatholo-
–– untere 628 563 gische 21–24
Arnold-Chiari-Fehlbildung 514 –– olivo-ponto-zerebelläre Siehe Behçet-Krankheit 302
Arousal, Polysomnografie  828 MSA-C Beinbewegung(en), periodische,
Arousalstörung(en)  829, 848 Atropin, Reanimation  169 im Schlaf  578
Arsenvergiftung 667 Aufklärungspflicht 29 Bein(e)
Arteria-carotis-interna- Aufmerksamkeit 23 –– radikuläre segmentale Versor-
Stenose(n), extrakranielle, –– Untersuchung 24 gung 640
­Graduierung  72–74 Aufmerksamkeitsstörung(en)  –– sensible Versorgung  621
Arteria-cerebelli-inferior-anterior- 137–138 Beinplexusläsion(en) 629
Syndrom Siehe AICA-Syndrom Aufwach-Grand-Mal-Epilepsie  Beinplexusparese, globale  629
Arteria-cerebelli-inferior-posteri- 417 Bell-Phänomen 455
or-Syndrom Siehe PICA-­ Aufwachstörung(en) Siehe Bell’s Palsy Siehe Fazialisparese,
Syndrom Arousalstörung(en) periphere, idiopathische
Arteria-cerebelli-superior-­ Augenbewegung(en), bei Bewusst- benign intracranial hypertension 
Syndrom Siehe SCA-Syndrom losigkeit 173 192
   Index  889

Benommenheit  137, 175 BMI  864, 865 Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung


Benommenheitsschwindel 112 Body-Mass-Index Siehe BMI Siehe Neuropathie(n), heredi-
Benzodiazepine Botulismus 738 täre
–– Analgosedierung 183 Bourneville-Pringle-Krankheit Charcot-Trias  124, 389, 390
–– bei Delir  771 ­Siehe Hirnsklerose, tuberöse Cheiralgia paraesthetica  609
Berger-Effekt 49 Brachialgia paraesthetica noctur- Cheyne-Stokes-Atmung 171
Beriberi Siehe Vitamin-B1-Mangel na  614, 616 Childhood ataxia with central
Beschäftigungsdystonie(n) 567 Brachialgie 633 ­nervous system hypomyelina­
Besinger-Score 885 Bracken-Schema 505 tion Siehe CACH
Beta-EEG 49 Bradykinese 524 Child-Pugh-Score 806
Betreuung 30–31 Braguard-Handgriff 641 Cholinesterasehemmer 732–
Bewegungsschwindel 113 Brillenhämatom 747 733, 775, 776
Bewegungsstörung(en) Broca-Aphasie  111, 131 –– Nebenwirkungen 776
–– akinetisch-rigide Siehe Bronchialkarzinom Chorea 555
­Parkinson-Syndrom(e) –– Hirnmetastasen 490 –– benigne familiäre  563
–– choriatiforme 563 –– paraneoplastisches Syn- –– senile 563
–– extrapyramidale 521–578 drom 493 Chorea-Akanthozytose 560
–– hyperkinetische 555–563 Brown-Séquard-Syndrom 501 Chorea Huntington Siehe Hun-
–– – medikamentenindu- Brudzinski-Zeichen  18, 19, 338 tington-Erkrankung
zierte 563 Brueghel’s Syndrom Siehe Meige- Chorea minor  561–562
–– SPECT/PET 531 Syndrom Chorea Sydenham Siehe Chorea
Bewusstlosigkeit 169–174 BSR  10, 11 minor
–– Notfalltherapie 174 Budipin Siehe Glutamatantago- Christbaumschmuckkatarakt 
Bewusstsein 137 nisten 708
Bewusstseinseinengung 137 Bulbärparalyse, progressive  580 chronic inflammatory demyelina-
Bewusstseinseintrübung 137 Bulbi ting polyneuropathy Siehe
Bewusstseinsstörung(en) 137, –– divergente 173 CIDP
169–181, 339 –– schwimmende 173 Churg-Strauss-Syndrom 301,
–– akute 169–174 Buprenorphin  239, 241 678
–– Anamnese 170 –– transdermal 242 –– Angiitis, allergische  678
–– Differenzialdiagnosen  Burning-Feet-Syndrom 655 Chvostek-Zeichen 201
174–179 CIDP 674–676
–– qualitative 137 C CIS Siehe KIS
–– quantitative 137 CACH 795 CK-Erhöhung 723
Bewusstseinsverschiebung 137 CADASIL  299–797, 782 Claudicatio intermittens
Beziehungswahn 140 Café-au-Lait-Fleck 592 –– der Cauda equina Siehe Claudi-
Bickerstaff-Enzephalitis 347 Calciferol Siehe Vitamin D catio intermittens, neurogene
bi-level positive airway pressure Calpainopathie 696 –– neurogene 649
Siehe Bi-PAP Cancer-associated Retinopa- Claudicatio masticatoria  214,
Bilharziose 386 thy 494 305
Bimastoidlinie 79 Candidose 382 Clipping, intrakranielles
Biopsie(n) 94 Capsaicin, neuropathische ­Aneurysma  332
Biot-Atmung 171 Schmerzen 246 Clobazam, Epilepsietherapie 
Bi-PAP 845 Caput medusae  311 425
Bizepssehnenreflex Siehe BSR Carbamazepin 244 Clomethiazol 771
Black holes  390 –– bei Delir  771 Clonazepam, Epilepsiethera-
Blei, Enzephalopathie  816 –– Epilepsietherapie 424 pie 425
Bleivergiftung 667 Carnitinmangel 701 Clonidin
Blepharospasmus 566 –– muskulärer 701 –– Analgosedierung 183
Blickmotorik –– sekundärer 701 –– bei Delir  771
–– Differenzialdiagnosen 102 –– systemischer 701 Clopidogrel, zerebrale Isch­
–– Störungen 102 Carnitin-Palmitoyl-Transferase ämien 289
Blickparese 5 Siehe CPT Cluster-Kopfschmerz 223–224
–– horizontale  102, 103 Catechol-O-Methyltransferase Cobalaminmangel 513
–– vertikale 102 ­Siehe COMT Cockayne-Syndrom 589
Blickrichtungsnystagmus 108 Cauda-equina-Syndrom 648– Coenästhesie 142
Blinkreflex 63–64 649 Coenzym-Q10-Mangel 
Blitzschlag 764 CCT 83–85 590
Blutpatch 859 cerebral salt waste syndrome Coenzym-Q 799
Blutung(en) Siehe auch ­Siehe CSWS Cogan-Zeichen 731
Hämatom(e) Cerebrotendinosis xanthomatosa  Coiling, intrakranielles
–– infratentorielle 323 794 ­Aneurysma  332
–– intrakranielle 318–335 Ceroid-Lipofuszinose, Collet-Sicard-Syndrom 461
–– – venöse 335 adulte 792 Coma vigile Siehe Syndrom(e),
–– intrazerebrale Siehe Intrazere- CHA2DS2VASc-Score 265 apallisches
brale Blutung(en) Chaddock-Zeichen 13 Commotio spinalis  759
–– spinale 508 Chamberlain-Linie 79 Computertomografie Siehe CT
–– traumatische 750–756 Computertomogramm Siehe CT
890  Index 

COMT-Hemmer –– mit Lewy-Körperchen Siehe DLB 780


–– bei IPS  533 DLB Donepezil Siehe Cholinesterase-
–– Nebenwirkungen 534 –– Normaldruckhydrozepha- hemmer
Continous-wave-Doppler-Sono- lus 785 Donnerschlagkopfschmerz,
grafie Siehe CW-Doppler –– Schweregrade 772 ­primärer  226
continuous positive airway pres- –– semantische 781 Dopaminagonisten
sure Siehe CPAP –– senile, Lewy-Körperchen-Typ –– bei IPS  535
Contusio spinalis  759–761 Siehe DLB –– Nebenwirkungen 534
Coxiellose 361 –– subkortikale 773 Doppelbilder 97
CPAP 845 –– Therapie 774–778 Doppler-Sonografie Siehe
CPEO 705–706 –– Untersuchung 25 ­Duplex-Sonografie
–– plus 705 –– vaskuläre 782–784 Downbeat-Nystagmus 109
CPT-Mangel 702 –– – ADDTC-Kriterien 782 Downbeat-Nystagmusschwindel 
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit  –– – Untergruppen 782 116
380–381 Demenz-Screening 773 Drehschwindel 112
Critical-illness-Myopathie 209, DemTect 773 Drogenarteriitis 302
721 Denken DRPLA 798
Critical-illness-Polyneuropa- –– eingeengtes 139 DSA 89
thie 207–208 –– formales 23 DTI 89
CRPS 247–249 –– inhaltliches 23 Duane-Syndrom 454
–– Formen 247 –– umständliches 139 Duchenne-Erb-Lähmung Siehe
CSWS 205 –– Verlangsamung 139 Armplexusparese, obere
CT 84–86 Denkhemmung 139 Duchenne muscular dystrophy
–– kraniale Siehe CCT Denkstörung(en) 139–141 ­Siehe Muskeldystrophie(n),
–– spinale 86 –– formale 138–139 Duchenne
Cushing-Reflex 171 –– inhaltliche 139–141 Duloxetin 243
CW-Doppler 69–70 Denny-Brown-Syndrom 495 Duplex-Sonografie 68–79
Dentatorubropallidoluysian atro- –– extrakranielle  71, 72
D phy Siehe DRPLA –– farbkodierte 71
Dabigatran, zerebrale Ischämien  Depersonalisation 143 –– konventionelle 71
292 Derealisation 143 –– transkranielle 75–77
Dalrymple-Zeichen 453 Dermatom(e) 640 –– – intrakranielle Verschlüsse 
Dandy-Walker-Syndrom 514 Dermatomyositis 715–717 77
Dawson’s fingers  390 –– paraneoplastische 494 Durafistel 311
Degeneration Dermoid 488 Durchbruchschmerz(en), Thera-
–– kortikobasale 551–553 Desmopressin 206 pie 245
–– – Diagnosekriterien 552 Detrusorhyperreflexie  127, 129 Durchgangssyndrom 768
–– – Therapie 553 Detrusorhyporeflexie  127, 129 Durchschlafstörung(en) 832
–– kortiko-basal-ganglionäre, Detrusor-Sphinkter-Dyssyner- –– Therapie 834
­Siehe Degeneration, kortikoba- gie  127, 129 Dysarthrie 111
sale Developmental Venous Anomaly Dysästhesie 16
–– kortiko-dentato-rubrale, Siehe Siehe Angiom(e), venöses Dyschromatopsie 452
Degeneration, kortikobasale déviation conjuguée Siehe Blick- Dysferlinopathie 696
–– striato-nigrale Siehe MSA-P parese, horizontale Dysfunktion(en), kraniomandibu-
Déjerine-Sotts-Syndrom Siehe Devic-Syndrom Siehe Neuromye- läre 230–231
Neuropathie(n), hereditäre, litis optica Dyskinesie(n) 555
motorische und sensible, Typ 3 Diabetes insipidus –– akute 200
Delir  147, 149, 767–771, 850 –– renaler 205 –– oromandibuläre 566
–– Diagnostik 769 –– zentraler 205 –– paroxysmale 562
–– durch Alkohol Siehe Alkohol- Diadochokinese 15 –– – belastungsabhängige 562
entzugsdelir Diagnosefindung, psychia­ –– – hypnogene 562
–– durch psychotrope Substanzen trische 136 –– – kinesiogene 562
Siehe Alkoholentzugsdelir Dialyse-Dysequilibrium-Syn- –– – nichtkinesiogene 562
–– lebensbedrohliches 769 drom 807 –– tardive 559–560
–– – Therapie 770 Dialyseenzephalitis 807 Dyskonnektionssyndrom 437
–– nach Schädel-Hirn-Trau- Diastematomyelie 515 Dysosmie 448
ma 749 Diffusion Tensor Imaging Siehe Dysphonie(n), spasmo-
–– Therapie 770–772 DTI dische 567
Demenz  147, 149, 772, 779 Dimethylfumarat 395 Dysphorie 144
–– Diagnostik 773–774 Diplomyelie 517 Dysplasie, fibromuskuläre  296
–– frontale 773 Diplopie 5 Dysraphie(n), spinale  515–516
–– frontotemporale 780–781, Dipyridamol, zerebrale Isch­ Dyssomnie(n)  829, 830
784 ämien 289 Dystonia musculorum deformans
–– gemischte 782 Dissoziative Störung(en)  851 Oppenheim Siehe Torsionsdys-
–– kortikale 773 Diurese, forcierte  158 tonie, idiopathische
–– mit kortikalen agyrophilen DLB  546–547, 784 Dystonie(n) 563–570
­Körperchen  785 –– klinische Kriterien  547 –– fokale 565–567
–– Therapie 548 –– generalisierte 567–568
   Index  891

–– Klassifikation 563 Elektroenzephalogramm Siehe –– bei Hyperparathyreoidis-


–– levodopasensitive 568 EEG mus 809
–– medikamenteninduzierte 569 Elektromyografie Siehe EMG –– bei Hyponatriämie  809
–– segmentale 565–567 Elektromyogramm Siehe EMG –– bei Hypoparathyreoidis-
–– sekundäre 568–570 Elektroneurografie 59–64 mus 809
–– symptomatische Siehe –– F-Welle 62 –– bei Hypophosphatämie  811
Dystonie(n), sekundäre Elektronystagmografie 67 –– bei Hypothyreose  808
–– zervikale 565–566 Elektrookulogramm Siehe EOG –– bei Morbus Wilson  802
Dystrophie(n) Elektrotrauma 763–765 –– bei Nebennierenrindenerkran-
–– infantile neuroaxonale Siehe El-Escorial-Kriterien 581 kung 809
Neurodegeneration, panto- Embolie(n) 312 –– bei Nierenerkrankungen 
thenatkinaseassoziierte –– Detektion 78 806–808
–– myotone, Curschmann- –– paradoxe, Nachweis  79 –– bei Organversagen  809
Steinert  707–710, 711 EMG 67 –– bei Pankreatitis  809
Dystrophinopathien Siehe –– Schlafstadien 826 –– bei Porphyrie  801–802
Mukeldystrophie(n), Becker Emissionscomputertomogra- –– bei Stoffwechselerkran-
Dystrophinopathien Siehe fie 92–93 kungen 802
Mukeldystrophie(n), Duchenne Empyem –– durch Anorexie  818–819
DYT-5 Siehe Dystonie(n), levodo- –– epidurales 348 –– durch Blei  816
pasensitive –– subdurales 349 –– durch Mangan  816
Endstellnystagmus 108 –– durch Quecksilber  816
E –– horizontaler, unerschöpf- –– durch Schwermetalle  815
Eagle-Syndrom, Siehe Processus- licher 108 –– durch Thallium  816
styloideus-Syndrom Enhancement 85 –– endokrine 809
Early-onset cerebellar ataxia Siehe Entfernungsschwindel 113 –– hepatische 805
EOCA Entwicklungsstörung(en) 580– –– – akute 803
Early-onset myasthenia Siehe 598 –– – chronische 803
EOMG Entzugssyndrom, Therapie  770 –– – Therapie 805
Echinokokkose Envelopathie, nukleäre Siehe –– HIV-assoziierte 371
–– alveoläre 386 Muskeldystrophie(n), Emery- –– hyperkalzämische 810–811
–– zystische 386 Dreifuss –– medikamentös induzierte  815
Edrophoniumchlorid-Test Siehe Enzephalitis  147, 214, 260, 341, –– paraneoplastische 494
Tensilon®-Test 466 –– septische  206, 816–817
EDSS 872 –– bulbäre, paraneoplas- –– steroidresponsive, mit Autoim-
EEG 52 tische 495 munthyreoiditis Siehe Hashi-
–– Ableitungen 46 –– Ehrlichiose 362 moto-Enzephalopathie
–– Allgemeinveränderungen 50 –– Fleckfieber- 362 –– subkortikale arteriosklerotische
–– Auswertung 50–52 –– limbische 493 Siehe Mikroangiopathie(n),
–– bei metabolischen Stö- –– – paraneoplastisches ­zerebrale, durch Arterioloskle-
rungen 50 ­Syndrom  494 rose
–– epilepsietypische Potenzi- –– Liquorbefund 42 –– thyreotoxische 808
ale 51 –– paraneoplastische –– toxische 815
–– flaches Siehe Niederspannungs- –– – Autoantikörper 497 –– urämische 806–807
EEG –– – Tumormarker 497 –– valproatassoziierte 814
–– Fotostimulation 47 –– Syphilis Siehe Neurolues –– Vitaminstoffwechselstö-
–– Grundtätigkeit 48 –– tuberkulöse Siehe Neurotuber- rungen 820–821
–– Herdbefunde 51 kulose –– ZNS-Infektionen 817
–– Hyperventilation 47 –– virale 363 EOCA 588
–– Monitoring 52 Enzephalomyelitis EOG, Schlafstadien  826
–– Normalbefund 48 –– disseminierte, akute Siehe EOMG 728
–– Provokationsverfahren 47 ADEM Ependymom(e) 481
–– unregelmäßiges 49 –– paraneoplastische 494 –– intramedulläre 512
Ehrlichiose 362 –– Syphilis Siehe Neurolues Epidermoid 488
Eifersuchtswahn 140 –– tuberkulöse Siehe Neurotuber- Epikonussyndrom 502
Eineinhalb-Syndrom 102 kulose Epilepsia partialis continua
Einklemmung Enzephalomyopathie(n) ­Kozevnikov  415
–– obere  189, 190 –– angeborene 800–801 Epilepsie(n)
–– untere 190 –– mitochondriale –– Allgemeinmaßnahmen 422
Einschlafstörung(en) 832 –– – mit Laktatazidose u. stroke- –– Aura 415
–– Therapie 834 like episodes Siehe MELAS- –– benigne, des Kindesalters, mit
Einschlusskörperchenmyopathie, Syndrom okzipitalen Sharp Waves  421
hereditäre 718 –– – neurogastrointestinale Siehe –– Beratung 438
Einschlusskörperchenmyositis, MNGIE –– EEG 409
sporadische 717–718 Enzephalopathie-Index 804 –– einfach fokale  416
Einwilligung 29 Enzephalopathie(n)  150, 788–821 –– – EEG 409
–– berechtigte Personen  28 –– alkoholtoxische 813–814 –– fokale 419–421
Ekmnesie 138 –– bei Elektrolytstörungen  809– –– – EEG 409
Elektroenzephalografie Siehe EEG 811 –– – idiopathische 416
892  Index 

–– – kryptogene 416 Eslicarbazepin-Acetat, Epilepsie­ Friedreich-Ataxie 588


–– – paraneoplastische 494 therapie 425 Froment-Zeichen 611
–– Geburt 435 Esmarch-Handgriff 167 Frontallappenanfälle, nächt-
–– generalisierte  413, 416 Esmarch-Prothese 845 liche 851
–– – EEG 409 Essstörung(en), Testverfah- Frontallappenepilepsie 419
–– – idiopathische 415–417 ren 26 Frozen-Shoulder-Syndrom 607
–– generalisierte tonisch-klonische Ethosuximid, Epilepsiethera- Früherwachen 832
Anfälle, EEG  409 pie 425 Frühmeningitis, posttrauma-
–– Hemisphärektomie 437 Etomidat 184 tische 748
–– juvenile myoklonische  417 Euphorie 144 Frühsommer-Meningoenzephali-
–– – EEG 409 Expanded Disability Status Scale tis Siehe FSME
–– Klassifikation  408, 412–414 Siehe EDSS FSHD Siehe Muskeldystrophie(n),
–– komplex fokale  419–421 Extinktionsphänomen 18 fazioskapulohumerale
–– – EEG 409 Extremitätenataxie 123 FSME 367
–– Kontrazeption 434 Extubation 189 –– Liquorbefund 42
–– Lebensführung 438 Fuchsbandwurm 386
–– Lobektomie 437 F Fucosidose 792
–– Malariaprophylaxe 443 Facies myopathica  690, 708 Führerschein, bei Narkolep-
–– mit myoklonisch astatischen Fading 249 sie 842
Anfällen 418 Fahr-Krankheit 809 Funktionsstörung(en), zerebel-
–– Niereninsuffizienz 431 Faktor-V-Mutation 312 läre 124
–– Operationen 443 Fallfuß 623 Furcht 141
–– pharmakoresistente 431 Fallhand 608 Fußklonus 12
–– posttraumatische 756–757 Farbfehlsichtigkeit Siehe Dys­ F-Welle, Neurografie  62
–– – Risikofaktoren 756 chromatopsie
–– primär generalisierte  412 Fasziitis, eosinophile  718 G
–– psychische Verände- Faszikulation(en) 14 Gabapentin 244
rungen 443 Fazialisparese  7, 8 –– Epilepsietherapie 425
–– Resektionen 436–437 –– periphere 455–457 Galantamin Siehe Cholinesterase-
–– Schutzimpfungen 443 –– – idiopathische 455 hemmer
–– Schwangerschaft 434–436 –– – symptomatische 455 Gammopathie(n), monoklonale,
–– sekundär generalisierte  412 –– – Therapie 456–457 unklarer Signifikanz Siehe
–– Sport 444 –– Prognoseabschätzung 457 MGUS
–– Stillzeit 436 Fazio-Londe-Syndrom 585 Gangataxie 123
–– Stimulationsverfahren 437 Fehlbildung(en), Wirbelsäule  Gangliogliom 483
–– symptomatische 416 514–516 Ganglionitis, virale  364
–– Therapie 431–434 Fehlbildungstumoren 488 Gangliozytom 483
–– – ältere Patienten  434 Felbamat, Epilepsietherapie  425 Gangprüfung 15
–– – medikamentöse 422–430 Felsenbeinspitzen-Syndrom 461 Gangstörung(en)  124, 125
–– – nichtmedikamentöse 436– Fibrillieren 14 Garcin-Syndrom Siehe Hemiba-
438 Fibromyalgiesyndrom 254–255 sis-Syndrom
–– – operative 436 –– diagnostische Kriterien  254 Garin-Bujadoux-Bannwarth-Syn-
–– Topektomie 437 –– Tender points  255 drom Siehe Neuroborreliose
–– vestibuläre 116 Fieber 338 Gaumensegelparese 8
–– ZNS-Tumoren 465 –– zentrales 206 GBS Siehe Guillain-Barré-­
–– – Therapie 473 Finger-Folge-Versuch 15 Syndrom
Episode(n), amnestische Siehe Finger-Nase-Versuch 15 GCS Siehe Glasgow Coma Scale
Amnesie, transiente globale Fingolimod, bei MS  400 Gedächtnis  24, 138
Erbrechen 338 Fisher-Skala 327 –– Untersuchung 24
–– induziertes 157 Fissura-orbitalis-superior-­ Gedächtnisstörung(en) 133,
Erklärungswahn 140 Syndrom 461 137–138
Erkrankung(en) Fixations-Pendel-Nystagmus  Gedanken, hypochondrische 
–– degenerative 580–598 109 141
–– – motorisches System  580– Flail-Arm-Syndrom 580 Gedankenabreißen 139
586 Flaschenzeichen  613, 614 Gedankenausbreitung 143
–– entzündliche, Rücken- Fleckfieber-Enzephalitis 362 Gedankendrängen 139
mark 509–512 Flexibilitas cerea  145 Gedankeneingebung 143
–– immunologische, Enzephalopa- Floppy infant  584, 693, 699, 709 Gedankenentzug 143
thien 817–818 Flow-void-Zeichen 855 Gedankensperrung 139
–– leukodystrophische Siehe Flupirtin 237 Gefäßmalformation(en) 
Leukodystrophie(n) Fogging-effect 85 307–311
–– myositisassoziierte 718–719 Foramen-jugulare-Syndrom 461 –– spinale 507–508
–– neurodegenerative, mit Eisen- Foramen ovale, offenes  293 Gegenhalten 19
ablagerungen im Gehirn  568 Foraminotomie 644 Gelegenheitsanfälle 409
–– zerebelläre, Therapie  586 Foster-Kennedy-Syndrom 460 Gerinnungsstörung(en) 
Erythema chronicum mi- Fragiles-X-Syndrom 797 311–313
grans 357 Fremdreflex(e) 12 Gerstmann-Sträussler-Scheincker-
ESES-Syndrom 851 Frey-Syndrom 458 Syndrom 381
   Index  893

Geruchshalluzinationen Siehe Glykogen storage disease Siehe HARP-Syndrom 568


Halluzinationen, olfaktorische Glykogenose(n) Hartnup-Krankheit 802
Geruchsstörung(en) 447–448 GM1-Gangliosidose 792 HAS-BLED-Score 291
Geschäftsfähigkeit 26–27 GM2-Gangliosidose 792 Hashimoto-Enzephalopathie 
Geschmackshalluzinationen Siehe Gnomenwaden 693 818
Halluzinationen, gustatorische Gonalgia paraesthetica Siehe Neu- Hautantwort, sympathische  67
Geschmacksstörung(en)  ropathia patellae Hautreflex, sympathischer  130
458–459 Gordon-Zeichen 13 HDLS 798
Gesichtsfelddefekt(e) 99 GOS Siehe Glasgow Outcome Headache and Neurological
Gesichtsfeldprüfung, fingerperi- ­Scale ­Deficits with Lymphocytic
metrische 5 Gower-Zeichen  690, 693 ­pleocytosis  213
Gesichtsschädelfraktur, Le-Fort- Gradenigo-Syndrom Siehe Felsen- Heerfordt-Syndrom 455
Einteilung 747 beinspitzen-Syndrom Hemibasis-Syndrom 460
Gesichtsschmerz(en) 231 Grand-Mal-Anfall  413, 414–415 Hemicrania continua  225
–– anhaltender idiopathi- –– EEG 411 Hemikraniektomie, dekompres-
scher 230 Granulomatose, allergische  678 sive 287
–– atypischer Siehe Greifen, orales  19 Hemikranie, paroxysmale  224
Gesichtsschmerz(en), anhal- Greifreflex 19 Hemisphärotomie 437
tender idiopathischer Grenzzoneninfarkt 268 Herdenzephalitis 347
Getriebenheit 144 Größenwahn 141 Hereditary diffuse leukencephalo-
Giftelimination 156–158 Grübeln 139 pathy with neuroaxonal sphero-
–– primäre 156–157 GSD Siehe Glykogenose(n) ids Siehe HDLS
–– sekundäre 157–158 Gubler-Schwellung 609 Hereditary neuropathy with liabi-
Giftinformationszentren 156 Guillain-Barré-Syndrom  lity to pressure palsy Siehe
Giftnotrufzentralen 156 670–674 Neuropathie(n), hereditäre, mit
Gilles-de-la-Tourette-Syn- –– akutes 199 Neigung zu Druckläsionen
drom  574, 575 –– Diagnosekriterien 672 Herniation(en) 189–191
Glabellareflex 12 –– Liquorbefund 42 –– hintere Schädelgrube  191
Glasgow Coma Scale  862 –– Varianten 670 –– transtentorielle 189
Glasgow Outcome Scale  863 Gummata, zerebrale  354 –– – Hirnstammsyndrome 190
Glatirameracetat 396 Gürtelrose Siehe Varicella-Zoster- Herpes-simplex-Enzephalitis 
Glaukomanfall 213 Infektion 365–367
Gliedergürteldystrophie(n) 695– Herpes zoster Siehe Varicella-­
696 H Zoster-Infektion
–– autosomal dominante  695 Haemophilus-influenzae-Menin- Herxheimer-Reaktion Siehe
–– autosomal rezessive  696 gitis ­Jarisch-Herxheimer-Reaktion
Glioblastom(e)  471, 480–481 –– Impfung 346 Herzdruckmassage 168
–– Strahlentherapie 475 –– Therapie 343 Hinterstrangläsion 502
Gliom(e) Halluzination(en) 142 Hirayama-Erkrankung 585
–– Chemotherapie 476 –– akustische 142 Hirnabszess  260, 348
–– Strahlentherapie 475 –– gustatorische 142 –– Liquorbefund 42
–– Therapie  482, 483 –– hypnagoge 840 –– Therapie 349
–– WHO-Graduierung 471 –– olfaktorische 142 Hirndruck
Gliose, familiäre progressive sub- –– optische 142 –– Erhöhung Siehe Hirndruckstei-
kortikale 381 –– taktile 142 gerung
GLOA 247 Halmagyi-Test 107 –– Messung 192
–– neuropathische Schmer- Haloperidol, bei Delir  771 –– Steigerung Siehe Hirndruckstei-
zen 247 Hämangiom(e), kavernöses Siehe gerung
Globoidzell-Leukodystro- Kavernom Hirndrucksteigerung 189–195
phie 790–791 Hamartom 488 –– akute 189–191
Glossopharyngeusneural- Hämatom(e) Siehe auch –– chronische 191
gie 228–229 Blutung(en) –– moderate kontrollierte Hyper-
Glossopharyngeusneuropathie, –– epidurales 751–753 ventilation 193
symptomatische 460 –– intrazerebrales 755–756 –– Therapie 193–195
Glukokortikoide, ZNS-Tumo- –– subdurales 785 Hirnerkrankung(en), ischämische
ren 472 –– – akutes 753–754 Siehe Zerebrale Ischämie(n)
Glutamatantagonisten  775, 776 –– – chronisches  260, 754–755 Hirninfarkt(e) 467
–– bei IPS  536 –– – subakutes 753–754 –– hämodynamischer 267
–– Nebenwirkungen 536 Hämodialyse, bei Vergif- –– ischämischer
Glutarazidurie 797 tungen 158 –– – Akuttherapie 281–287
Glykogenose(n) 698–700 Hämoperfusion, bei Vergif- –– – Blutdruckeinstellung 283
–– dynamische 699 tungen 158 –– – Diagnostik 280–282
–– statische 699 HaNDL, Siehe Headache and neu- –– – Heparinisierung 286–287
–– Typ II Siehe Morbus Pompe rological Deficits with Lympho- –– – Rehabilitation 284
–– Typ V Siehe Morbus McArdle cytic pleocytosis –– – Sekundärprophylaxe 287
–– Typ VII Siehe Morbus Tarui Hangman’s Fracture  758 –– – Thrombolyse 285–287
Glykogenspeicherkrankheiten Harnblase, Innervation  128 –– – Thromboseprophylaxe 284
­Siehe Glykogenose(n) Harnblasenstörung(en) 128–129 –– lakunärer 267
894  Index 

–– mikroangiopathischer 266 Hustenreflex, bei Bewusstlosig- Hypophysenadenom


–– raumfordernde 287 keit 172 –– basophiles 489
–– supratentorieller 269 HWS-Distorsion 762–763 –– chromophobes 488
Hirnkreislauf, hinterer  272 –– Schweregrade 762 –– eosinophiles 488
–– Infarkt 270 Hydrocephalus malresorpti- Hypophysentumor(en) 488–490
Hirnmetastasen  260, 490–491 vus 854 –– hormonaktive 488
Hirnnerven Hydrozephalus –– hormoninaktive 488
–– Erkrankungen 448–460 –– Normaldruck- Siehe Normal- Hypophysitis 347
–– Funktion 4 druckhydrozephalus Hyposmie 448
–– Läsionen, multiple  460 –– Subarachnoidalblutung 329 Hypotension, idiopathische ortho-
–– Untersuchung 4–8 Hypalgesie 16 statische Siehe MSA
–– Verletzungen, bei Schädelfrak- Hypästhesie 16 Hypothermie bei Hirndruck  194
tur 748 Hyperabduktionssyndrom 633 Hypothese, cholinerge  775
Hirnödem Hyperakusis 7 Hypothyreose  720, 808
–– Osmotherapie 193–194 Hyperalgesie 16 –– Polyneuropathie 662
–– vasogenes 191 Hyperästhesie 16 Hypoventilation, alveoläre  846–
–– zytotoxisches 192 Hyperekplexie Siehe Startle- 847
Hirnsklerose, tuberöse  593–594 Syndrom(e), primäres –– primäre Siehe Undines Fluch
–– Diagnosekriterien 594 Hyperglykämie, Hirninfarkt, –– sekundäre 846
Hirnstammblutung Siehe ­Akuttherapie  283 Hypovitaminose(n), Enzephalopa-
Blutung(en), infratentorielle Hyperhidrosis 130 thien 820–821
Hirnstammenzephalitis, paraneo- Hyperhomocysteinämie 312 Hypsarrhythmie 52
plastische 495 Hyperkalzämie 810
Hirnstamminfarkt 270–277 –– Enzephalopathie 810–811 I
–– hinterer Hirnkreislauf  270 Hyperkinese(n) 13 ICB-Score nach Hemphill  322
Hirnstammläsion(en), Schmer- Hyperkinesie(n) 555 Ice-on-Eyes-Test 731
zen 250 Hypermnesie 138 Ich-Erleben 23
Hirnstammreflexe, bei Bewusstlo- Hyperosmie 448 Ich-Störung(en) 143
sigkeit 172–173 Hyperparathyreoidismus 720, IDCA Siehe SAOA
Hirnstammsyndrom(e) 274 809 Ideenflucht 139
–– gekreuzte 274 Hyperpathie  16, 125 Idee(n), überwertige  139
Hirnstimulation, tiefe  438 Hypersomnie(n)  847, 829 IgG-Index 41
Hirntod 195–198 –– idiopathische 842 Illusion(en) 142
–– Dokumentation 198 –– prolongierte 180 Immunsuppression, Myasthenia
–– Feststellung 196 –– rezidivierende 843 gravis 732–734
–– klinische Kriterien  196 Hypertension, idiopathische intra- Impfungen, bei MS  403
Hirntumor 260 kranielle 215 Immune Reconstitution Inflamm-
–– Liquorbefund 42 Hyperthermie, maligne  724– atory syndrome, Siehe IRIS
Hirnverletzung(en) Siehe Schädel- 725, 204 Impression(en), basiläre  514
Hirn-Trauma Hyperthyreose 720 Inaktivitätsatrophie, arthro-
HIV-Infektion 370–379 Hyperventilation, moderate kon- gene 607
–– Therapie 375–378 trollierte, bei erhöhtem Hirn- Inching 62
HIV-Myelopathie 372 druck 193 Incisura-scapulae-Syndrom 605
Hochspannungsschaden 764 Hyperventilationstetanie 201 Infarkt(e)
Hoffmann-Tinel-Zeichen 125, Hypervitaminose(n), Enzephalo- –– migranöser 217
614, 616, 623, 624 pathien 820–821 –– strategische 782
Höhenschwindel 113 Hypnic Headache  226 –– zerebelläre, ausgedehnte Siehe
Holmes-Tremor 523 Hypoglykämie 260 Hirninfarkt(e), raumfordernde
Horner-Syndrom 104–105 –– Hirninfarkt, Akuttherapie  283 Initialschrei 414
Hörstörung(en) 458–459 Hypohidrosis 130 Inkohärenz 139
Horton-Syndrom Siehe Arteriitis Hypokalzämie 810 Innervation, sensible, Haut  16,
temporalis –– Akuttherapie 201 17
Hot Cross Bun Sign  591 Hypokinese 524 Insomnie(n)  829, 831–838
Houndsfield-Einheiten 82 Hypomimie 524 –– akute anpassungsbe-
Howship-Romberg-Phänomen Hypomyelinisation, kongenitale dingte 836
­Siehe Obturatoriusneuralgie Siehe Neuropathie(n), heredi- –– Ätiologie 831–832
Hundebandwurm 386 täre, motorische und sensible, –– bei Angststörungen  837
Huntington-Erkrankung 556– Typ 3 –– bei bipolaren Störungen  837
558 Hyponatriämie –– bei Delir  838
–– adulte Form  556 –– Elektrolytstörungen 809 –– bei Depression  837
–– juvenile Form  557 –– hypervolämische 810 –– – Therapie 835
–– Therapie 558–559 –– hypovolämische 810 –– bei Manie  837
–– Westphal-Variante Siehe –– normovolämische 810 –– bei posttraumatischer Bela-
­Huntington-Erkrankung, Hypoparathyreoidismus 720, stungsstörung 837
­juvenile Form 809 –– bei psychischen Erkran-
Hustenkopfschmerz, Hypophosphatämie 662 kungen 837–838
­primärer  225 Hypophosphatämie-Enzephalopa- –– bei Schizophrenie  837
thie 811 –– bei Schmerzen, Therapie  835
   Index  895

–– fatale familiäre  381 –– Tremordominanz-Typ 527 Kjer-Syndrom Siehe Optikusatro-


–– Hypnotikatherapie 833–835 –– Wearing-off 539 phie, autosomal dominante
–– Klassifikation 830 IRIS 401 K-Komplexe 826
–– letale familiäre  838 Isaacs-Mertens-Syndrom Siehe Klappmesserphänomen 121
–– nichtorganische 838 Neuromyotonie Kleine-Levin-Syndrom 843
–– – chronische 836 Ischämie(n), zerebrale Siehe Zere- Kleinhirnatrophie
–– – Therapie 836 brale Ischämie(n) –– autoimmune 588
–– Polysomnografie 832 –– infektiöse 587
–– psychophysiologische Siehe J –– medikamentös-toxische 587
Insomnie(n), nichtorganische Jabs and Jolts  226 –– metabolische 587
–– Schlaf-EEG 832 Jackson-Syndrom 461 –– Zöliakie 587
–– Therapie 832–835 Jarisch-Herxheimer-Reaktion  Kleinhirnblutung Siehe
–– – nichtmedikamentöse 833 356 Blutung(en), infratentorielle
Inspektion 3 Jeans-Krankheit 619 Kleinhirnbrückenwinkel-­
Instinktbewegung 19 Jendrassik-Handgriff 11 Syndrom 461
Insuffizienz, vertebrobasi- Jetlag 847 Kleinhirnbrückenwinkeltu-
läre 116 mor 485
Intelligenz, Test  25 Kleinhirndegeneration
Interferon(e) K –– alkoholische 587
–– Antikörper, neutralisieren- Kakosmie 448 –– paraneoplastische  494, 587
de 397 Kallostomie 437 Kleinhirninfarkt 277–279
–– bei MS  396–398 Kalottenfraktur 746 Klippel-Feil-Syndrom 514
Interview Kanalkrankheiten 711 Klippel-Trenaunay-Syn-
–– psychiatrisches 136 Karnofsky-Index 863 drom 596
–– strukturiertes 22 Karnofsky performance status Klumpke-Dejerine-Lähmung
–– unstrukturiertes 22 ­Siehe Karnofsky-Index ­Siehe Armplexusparese, untere
Intoxikation(en) Siehe Karotisangiografie 90 Knie-Hacken-Versuch 15
Vergiftung(en) Karotisdissektion  214, 294–296 Knipsreflex  10, 11
Intrakranielles Aneurysma  Karotis-Sinus-cavernosus-­ Knochenfenster 76
324–326 Fistel  311, 749 Koanalgetika 243–244
–– unrupturiertes 324 Karotissinus, hypersensi- Kollagenose(n) 718
–– – Blutungsrisiko 324 tiver 445 Kolloidzyste 488
–– – Primärprophylaxe 325 Karpaltunnelsyndrom 615–617 Koma  137, 175
–– Verschluss 331 Karpopedalspasmen 201 –– psychogenes 181
Intrazerebrale Blutung(en)  213, Karzinom(e), gastrointestinale, Kompartmentsyndrom 600
260, 467 Hirnmetastasen 490 Kompressionssyndrom(e), neuro-
–– spontane supratentorielle  Kataplexie 839 vaskuläre 460
318–323 Katecholamintherapie  Konfabulationen 138
–– – Diagnostik 319–320 185–186 Kontrastmittel 93–94
–– – Therapie 320–322 Kaudasyndrom 502 Konusfixation 515
In-vitro-Kontraktur-Test 725 Kausalgie 126 Konussyndrom 501
IPPV 846 Kavernom 310 Konvergenzparese 5
IPS 525–526 Kearns-Sayre-Syndrom 706 Konvergenz-Retraktions-Nystag-
–– akinetisch-rigider Typ  527 Keilbeinflügel-Syndrom 460 mus 109
–– Äquivalenztyp 527 Kennedy-Syndrom Siehe Muskela- Konzentration 138
–– Diagnosekriterien 532 trophie, spinobulbäre Kennedy Koordination, Untersu-
–– Diagnostik 529–532 Kennmuskel(n) 641 chung 14–15
–– Dyskinesie(n), bipha- –– Wurzelkompressions­ Kopfschmerz(en) 212–226
sische 540 syndrom(e) –– bei Medikamentenüberge-
–– End-of-Dose-Akinese 539 –– – lumbale 641 brauch 225
–– fortgeschrittenes, Therapie  –– – zervikale 641 –– idiopathische Siehe
539–540 Kernfunktion(en) Kopfschmerz(en), primäre
–– Freezing 539 –– internistische 171 –– posttraumatische 214
–– Frühphase, Therapie  539 –– neurologische 171–172 –– primäre 212
–– Gangbild 526 Kernhüllenmyopathie Siehe –– – bei körperlicher Anstren-
–– Initialtherapie 538 Muskeldystrophie(n), Emery- gung 225
–– juveniles 527 Dreifuss –– – bei sexueller Aktivität  226
–– Klassifikation 527 Kernig-Zeichen  18, 19, 338 –– – schlafgebundene Siehe Hypnic
–– Klinik 525–526 Ketamin 184 Headache
–– Motorfluktuationen 539 Kiefersperre 202 –– – stechende 226
–– Off-Dose-Dystonie 540 Kiloh-Nevin-Syndrom Siehe –– sekundäre  212, 214
–– paroxysmales On-off  539 Nervus-interosseus-anterior-­ –– symptomatische Siehe
–– Peak-Dose-Dyskinesien 539 Syndrom Kopfschmerz(en), sekundäre
–– Schweregradbeurteilung  Kimura-Test  737, 738 –– täglicher, neu aufgetre-
528 Kinderlähmung Siehe Poliomyeli- tener 226
–– Therapie 541 tis anterior acuta –– trigeminoautonome 222–225
–– – nichtmotorischer Symptome  KIS  391, 392 –– vom Spannungstyp Siehe Span-
540–541 –– Therapieempfehlungen 395 nungskopfschmerz
896  Index 

–– zervikogener 221–222 Lamotrigin 244 –– Komplikationen 577


–– ZNS-Infektion 338 –– Epilepsietherapie 426 –– Nebenwirkungen 532
–– ZNS-Symptome 465 Lance-Adams-Syndrom Siehe Levodopa-Test 529
Kornealreflex 7 ­Myoklonus, posthypoxischer Lewy-Körperchen-Erkrankung
–– bei Bewusstlosigkeit  172 Landau-Kleffner-Syndrom 851 ­Siehe DLB
Körperhalluzination 142 Landry-Guillain-Barré-Strohl- LGMD Siehe
Korsakow-Syndrom  150, 812 Syndrom Siehe Guillain-Barré- Gliedergürteldystrophie(n)
–– isoliertes 812 Syndrom LGMD1 Siehe
–– traumatisches 749 Langzeit-EEG 46 Gliedergürteldystrophie(n),
Kortikosteroide Larmor-Frequenz 86 ­autosomal dominante
–– bei MS  393–394 Lasègue-Zeichen  18, 19, 338, LGMD2 Siehe
–– Monitoring 394 641 Gliedergürteldystrophie(n),
–– Myasthenia gravis  733 Läsion(en), spinale Siehe ­autosomal rezessive
KPS Siehe Karnofsky-Index Rückenmarkläsion(en) Lhermitte-Duclos-Syndrom 
Krallenhand 611 Late-Onset-IPS 527 483
Krampfanfall, fokaler  260 Late-onset myasthenia Siehe Lhermitte-Zeichen  18, 389, 643
Krampi 656 LOMG Lichtbogen 764
Kraniopharyngeom 487 Lateralsklerose Lichtempfindlichkeit 97
Kreatinmonohydrat 799 –– amyotrophe Siehe ALS Lid lag  708
Kreislaufstillstand 169 –– myatrophe Siehe ALS Lidocain, neuropathische Schmer-
Kremasterreflex 12 LBSL 796 zen 247
Krise(n) LCC 797 limb-girdle muscular dystrophy
–– akinetische Siehe Parkinson- Leber-Optikusneuropathie 452 Siehe
Krise Le-Fort-Einteilung 747 Gliedergürteldystrophie(n)
–– cholinerge  199, 735–736 Legionellose 362 Lindau-Zysten 595
–– hypertensive 213 Leitsymptom(e) 97–159 Linie(n), digastrische  79
–– hypokalzämische 201 Leitungsaphasie 131 Lipidspeichermyo­
–– myasthene  199, 735 Leitungsblock 62 pathie(n) 701–702
–– thyreotoxische LEMS  494, 737–738 Liquor  41–44, 854
–– – Enzephalopathie 808 –– paraneoplastisches 494 –– Albuminquotient 38
–– – Therapie 808 Lennox-Gastaut-Syndrom 418, –– Amyloid 42
Krokodilstränen 457 851 –– bei degenerativen Erkran-
Kryptokokkose 382 –– EEG 409 kungen 42
Kubitaltunnel-Syndrom Siehe Lepra 669 –– Beurteilung 40
Nervus ulnaris, Kompression, Leptospirose 361 –– Diagnostik 37–42
am Ellenbogen Leriche-Syndrom 503 –– Druckmessung 36
Kugelberg-Welander Siehe SMA, LETM 405 –– nach Blutung  41
Typ III Leukämie(n), Hirnmetasta- –– Pleozytose 40
Kulissenphänomen 8 sen 490 –– Tau-Protein 42
Kumarinderivate, zerebrale Isch­ Leukencephalopathy –– ZNS-Tumoren 470
ämien 290–291 –– with brain stem and spinal cord Liquorbefund
Kupfermangel-Myelopathie 513 involvement and elevated white –– bei Meningitis  340
Kurtzke-Skala Siehe EDSS matter lactate Siehe LBSL –– bei PNP  659
Kußmaul-Atmung 171 –– with vanishing white matter Liquorbildung 854
­Siehe VWMD Liquor cerebrospinalis Siehe
L Leukenzephalitis, hämorrha- Liquor
­

Labyrinthläsion, akute  115 gische, akute  404 Liquorfistel  42, 747


Lacertus-fibrosus-Syndrom  Leukenzephalopathie(n) 788– Liquorfluss 854
614 821 Liquorpunktion 37–38
Lachen, pathologisches  19 –– familiäre spongiforme  381 –– Komplikationen 38
Lacosamid, Epilepsiethera- –– mit Kalzifizierungen u. Zysten –– Vorbereitung 36
pie 426 Siehe LCC Liquorrhö 743
Lagenystagmus, zentraler  109 –– posteriore reversible  819–820 Liquorsystem 854
Lagerungsnystagmus 110 –– progressive multifokale Siehe Liquorunterdruck­
Lagerungsschwindel PML syndrom(e)  213, 858–859
–– benigner paroxysmaler  110, –– – unter Natalizumab  401 –– idiopathisches 859
113 Leukodystrophie(n) 788–797 Liquorzirkulationsstö­
–– zentraler 116 –– Erwachsenenalter 789–797 rung(en) 854–859
Lagerungstraining nach –– lysosomale 792 Lisch-Knötchen 592
Brandt 113 –– metachromatische 790 Listerienmeningitis 346
Lähmung(en) Siehe auch –– peroxisomale 794 –– Therapie 343
Parese(n) Leukoenzephalopathie 766 Lobektomie 437
–– akute 165–200 Levetiracetam, Epilepsiethera- Locked-in-Syndrom  180, 181
–– postparoxysmale 260 pie 427 Loge-de-Guyon-Syndrom 611,
–– psychogene 14 Levodopa 612
Laktat-Ischämie-Test 692 –– bei IPS  532–533 Logorrhö 145
Lambert-Eaton-myasthenes –– – intraduodenale Applikation  LOMG 728
­Syndrom Siehe LEMS 537
   Index  897

longitudinally extensive transverse Mees-Bänder 667 –– Prophylaxe 219–220


myelitis Siehe LETM Megalencephalic leukoencephalo- –– retinale 216
Lou Gehrig Disease Siehe ALS pathy with subcortical cysts –– Schmerzlokalisation 217
Louis-Bar-Syndrom Siehe Ataxia ­Siehe MLC –– Therapie 219
teleangiectatica Mehrschicht-CT 83 –– vestibuläre 216
Lower-Body-Parkinson 855 Meige-Syndrom 566 Mikroangiopathie(n) 297–300
Lues Siehe Neuolues Melanoma-associated Retinopa- –– zerebrale, durch Arterioloskle-
Lumbalgie 651 thy 494 rose  298, 782
Lumbalpunktion 36 Melanose(n), neurokutane  597 mild cognitive impairment 
Lupus erythematodes, MELAS-Syndrom 706–707 772
­systemischer  301, 678 Melkersson-Rosenthal-Syn- Millar-Gubler-Syndrom 274
Lyme-Borreliose Siehe Neurobor- drom 458 Miller-Fisher-Syndrom 674
reliose Meniére-Krankheit 114 Mills-Variante, hemiplegische,
Lymphadenitis cutis benigna  Meningeom(e) 485 ALS 580
357 –– intraspinales 512 Minamata disease  816
Lymphom(e), Hirnmetastasen  Meningeosis 491–493 Mini-Mental-Status-Test Siehe
490 –– Liquorbefund 42 MMST
Meningismus minor leak  324
M –– Koma 173 Mischgliome 479
M.-rectus-abdominis-­ –– ZNS-Infektion 338 –– anaplastische 479
Syndrom 627 Meningitis 214 Mischkollagenose(n) 718
Machado-Joseph-Krankheit 590 –– chronische luetische  354 Mitbewegung(en), patholo-
MAD-Mangel 702 –– eitrige 341–346 gische 13
Magenspülung 157 –– Haemophilus influenzae Siehe Mitochondriopathie(n) 
magnetic evoked sympathetic skin Haemophilus-influenzae-Me- 798–801
response Siehe Hautreflex, ningitis Mitoxantron 401
­sympathischer –– Liquorbefund  42, 340 Mittelhirninfarkt 276
Magnetresonanztomografie Siehe –– Listerien Siehe Listerienmenin- Mittelhirnsyndrom(e) 272
MRT gitis Mixed connective tissue disease
Magnetresonanztomogramm –– Meningokokken Siehe Menin- Siehe MCTD
­Siehe MRT gokokkenmeningitis MLC 795
Magnetstimulation 55–56 –– Pneumokokken Siehe Pneumo- MMST 773
Major Stroke  266 kokkenmeningitis MNGIE 800–801
Makroangiopathie(n) 294–297 –– Staphylokokken Siehe Staphylo- Möbius-Syndrom 458
Malaria 384 kokkenmeningitis Möbius-Zeichen 453
Malformation(en), durale  311 –– Syphilis Siehe Neurolues Modified Rankin-Scale  868
Malignes Melanom, Hirnmetasta- –– tuberkulöse Siehe Neurotuber- Monoaminoxidase Siehe MAO
sen 490 kulose Monokelhämatom 747
Maltafieber 362 –– virale 363 Mononeuropathia multiplex  660
Mammakarzinom, Hirnmetasta- Meningoenzephalitis Mononeuropathie, paraneoplas-
sen 490 –– akute, HIV-assoziierte  371 tische 496
Mangan, Enzephalopathie  816 –– Liquorbefund 42 Morbus Alexander  797
MAO-B-Hemmer –– virale 363 Morbus Alzheimer Siehe Alzhei-
–– bei IPS  533 Meningokokkenmeningitis 346 mer-Demenz
–– Nebenwirkungen 533 –– Impfung 346 Morbus Bang  362
Martin-Gruber-Anastomose 611 –– Therapie 343 Morbus Behçet  393
MAS 876 Meningomyelozele 515 Morbus Binswanger Siehe
Maschinenatmung 171 Meningozele 515 Mikroangiopathie(n), zerebrale,
Maskenbeatmung, intermittieren- Meralgia paraesthetica  619 durch Arteriolosklerose
de 186 MERRF-Syndrom 706–707 Morbus Boeck Siehe Sarkoidose
Masseterreflex  6, 7 Merkfähigkeit 138 Morbus Fabry  685, 791
Mäusetest 738 Metamizol  234, 235 Morbus Krabbe Siehe Globoidzell-
McDonald-Kriterien, MS  392 –– Intoxikation 235 Leukodystrophie
McGregor-Linie 79 Metastasen Morbus Kufs Siehe Ceroid-­
McLeod-Syndrom 560 –– Gehirn Siehe Hirnmetastasen Lipofuszinose, adulte
McRae-Linie 79 –– intraspinale 512 Morbus McArdle  700
MCTD 718 –– ZNS Siehe ZNS-Metastasen Morbus Niemann-Pick  791
Mechanikerhände 715 MGFA-Klassifikation  730, 884 Morbus Parkinson Siehe IPS
Mediainfarkt, maligner Siehe MGUS 681 Morbus Pick  781
Hirninfarkt(e), raumfordernde Migräne 216–220 Morbus Pompe  699–700
Medikamente, arteriovenöse ko- –– chronische 216 Morbus Refsum  684, 794
gnitive Störungen  785 –– familiäre hemiplegische  216 Morbus Salla  793
Medulla-oblongata-Syndrom(e), –– mit Aura  216, 260 Morbus Tangier Siehe An-­
dorsolaterales Siehe Wallen- –– mit Hirnstamm-Aura  216 Alphalipoproteinämie
berg-Syndrom 273 –– ohne Aura  216 Morbus Tarui  700
Medulloblastom(e) 484 –– ophthalmoplegische Siehe Morbus Tay-Sachs Siehe
–– Chemotherapie 476 Neuropathie(n), ophthalmople- ­GM2-Gangliosidose
–– Strahlentherapie 475 gische, schmerzhafte Morbus Waldenström  681
898  Index 

Morbus Weil  720 –– spinale Siehe SMA –– Schweregrade 884–885


Morbus Wilson  570–572, 802 –– spinobulbäre, Kennedy  584 –– seronegative 728
Morphin  239, 241 Muskelbiopsie  94, 692, 696 Myatrophie
Morton-Neuralgie 625 Muskeldystrophie(n) –– neuralgische 636
Motoneuronsyndrom(e), paraneo- –– Becker 693–694 –– proximale 657
plastische 494 –– Duchenne 693–694 Mycophenolat-Mofetil,
Moya-Moya-Erkrankung 297 –– Emery-Dreifuss 697–698 ­Myasthenia gravis  734
MR-Angiografie 91–92 –– fazioskapulohumerale 696– Myelinolyse, zentrale ponti-
MRC-Kraftgrade 862 697 ne 813–814
MR-Spektroskopie 89 –– Hauptmann-Thannhäuser  Myelitis  350, 510
MRT 87–89 698 –– akute nekrotisierende 
–– Diffusionsgewichtung 88 –– myotone, proximale Siehe 510
–– Diffusion Tensor Imaging Siehe PROMM –– demyelinisierende 510
DTI –– okulopharyngeale 698 –– paraneoplastische 
–– funktionelle 89 –– progressive 692–698 495, 510
–– Kontrastmittelanreiche- –– Typ Landouzy-Déjerine Siehe –– tuberkulöse Siehe Neurotuber-
rung 469 Muskeldystrophie(n), fazioska- kulose
–– Tumorgewebe 469 pulohumerale –– virale 363
–– Untersuchungsfrequenzen 87 Muskeleigenreflex(e) 9 Myelo-CT 92
MS 388–403 –– Auslösung 9 Myelografie 92
–– aktive Verlaufsform, Thera- –– Bahnung 9 Myelomeningozele 515
pie 398–401 Muskelerkrankung(en) 687–725 Myelopathie(n)
–– hochaktive Verlaufsform, The- –– CK 691 –– HIV-1-assoziierte 373
rapie 398–401 –– Diagnostik 687–692 –– HIV Siehe HIV-Myelopathie
–– klinisch isoliertes Syndrom –– entzündliche 713–720 –– metabolische 513
­Siehe KIS –– Negativ-Symptome 689 –– toxische 503
–– Krankheitsmanagement 403 –– Positiv-Symptome 689 –– zervikale 644–645
–– Liquorbefund  42, 390 –– Vererbungsmodus 689 Myelose, funikuläre Siehe
–– milde Verlaufsform, Thera- Muskelfunktion, Untersu- ­Vitamin-B12-Mangel
pie 398 chung 14–15 Myelozele 515
–– moderate Verlaufsform, Thera- Muskelkrankheit(en) Siehe Myoadenylat-Deaminase-Mangel
pie 398 Muskelerkrankung(en) Siehe MAD-Mangel
–– primär chronische Siehe PPMS Muskelschwäche 117–120 Myoarthropathie 230–231
–– progredient schubförmige Siehe –– hysterische 127 Myoklonie(n) Siehe auch Myoklo-
PRMS Muskeltonussteigerung, aku- nus
–– schubförmig remittierende te 200–205 –– kortikale 572
­Siehe RRMS Muskulatur, Untersuchung  13 –– spinale 572
–– Schubtherapie 393–394 Mutismus 145 –– subkortikale 572
–– sekundär progrediente Siehe –– akinetischer  180, 181 Myoklonus Siehe auch
SPMS Myasthenia gravis  493, 728–737 Myoklonie(n)
–– Symptome 388–403 –– Azathioprin 733 –– essenzieller 573
–– Therapie 393–403 –– Cholinesterasehemmer 732– –– medikamentenindu-
–– – symptomatische 401–403 733 zierter 573
–– Therapieempfehlungen 395 –– Diagnostik 731 –– physiologischer 122
MSA  542–546, 591 –– Einteilung 728–729 –– posthypoxischer 573
–– diagnostische Kriterien  544 –– Immunsuppression 732–734 Myoklonusepilepsie
–– Klassifikation 543 –– – Ausweichpräparate 734 –– mit ragged red fibers Siehe
–– Therapie 545–546 –– Kortikosteroide 733 MERRF-Syndrom
–– vom Parkinson-Typ Siehe –– MGFA-Klassifikation 730 –– progressive 418
MSA-P –– Operationen 736–737 Myokymie 14
MSA-C  543, 544 –– Osserman-Klassifikation  Myopathie(n)
–– Therapie 545 730 –– bei Akromegalie  720
MSA-P  543, 544 –– paraneoplastische 494 –– bei Hyperparathyreoidis-
–– Therapie 545 –– Schwangerschaft 736 mus 720
MSLT 828 –– Therapie 733–735 –– bei Hyperthyreose  720
MSUD Siehe Ahornsirupkrankheit –– – symptomatische 733 –– bei Hypoparathyreoidis-
Mukopolysaccharidose 792 –– Thymektomie 734–735 mus 720
Multiinfarktdementz Siehe Myasthenie –– bei Hypothyreose  720
Mikroangiopathie(n), zerebrale, –– als GvHR  729 –– bei Nebenniereninsuffizi-
durch Arteriolosklerose –– auslösende Medikamente  730 enz 720
Multiple Sklerose Siehe MS –– generalisierte 728 –– durch Statine  721
Multiple Sleep Latency Test Siehe –– – paraneoplastische 729 –– endokrine 720
MSLT –– kongenitale 729 –– medikamentenindu-
Multisystematrophie Siehe MSA –– medikamentös induzierte  729 zierte 721–722
Muskelatrophie(n) –– MuSK-Antikörper-posi- –– metabolische 698–702
–– monomelische Siehe SMA, tive 730 –– mitochondriale 702–707
­segmentale –– neonatale 729 –– myotone, multisyste-
–– progressive 580 –– okuläre 728 mische 709–711
   Index  899

–– nekrotisierende 717 Nervensystem, Infektionskrank- Nervus opticus  449–452


–– toxische 721–722 heiten Siehe ZNS-Infektion(en) –– Erkrankungen 452
Myophosphorylase-Mangel Siehe Nervi glutei, Läsionen  620 –– Schädigung, toxische  452
Morbus McArdle Nervus abducens  5 –– Untersuchung 5
Myositis –– Erkrankungen 453–454 Nervus peroneus
–– bakterielle 720 –– Lähmung Siehe Abduzenspa­ –– Kompression, exogene, von
–– durch Pilze  720 rese Hautästen 623–624
–– erregerbedingte 719–720 –– Untersuchung 5–6 –– Läsionen 623–624
–– nicht erregerbedingte  714– Nervus accessorius Nervus pudendus, Läsionen  620
718 –– Läsionen 604–605 Nervus radialis
–– okuläre 719 –– Untersuchung 9 –– Läsionen 608–610
–– orbitale 719 –– Versorgungsgebiet 604 –– Parese Siehe Radialisparese
–– parasitäre 719 Nervus axillaris –– Verlauf 608
–– virale 719 –– Läsionen 606–607 –– Versorgungsgebiet 608
Myositis-Synovitis-Alveoli- –– Versorgungsgebiet 606 Nervus recurrens, Parese  8
tis 715 Nervus cutaneus femoris lateralis, Nervus suprascapularis
Myotonia congenita Läsionen Siehe Meralgia par­ –– Läsionen 604–605
–– Becker 712 aesthetica –– Versorgungsgebiet 605
–– Thomsen 713 Nervus facialis Nervus suralis, Läsionen  626
Myotonie(n) –– Erkrankungen 458–459 Nervus thoracicus longus
–– mit enzephalopathischer –– Kompressionssyndrom, neuro- –– Läsionen 606
­Begleitsymptomatik  801 vaskuläres Siehe Spasmus –– Versorgungsgebiet 606
–– nichtdystrophische 711–714 ­hemifacialis Nervus tibialis, Läsionen  623–
Myxödemkoma, Therapie  809 –– Läsionen 456 626
–– Parese Siehe Fazialisparese Nervus trigeminus
N –– Untersuchung 7 –– Erkrankungen 454
Naratriptan 219 Nervus femoralis –– Kompressionssyndrom, neuro-
Narkolepsie 841–842 –– Läsionen 623 vaskuläres Siehe Spasmus he-
–– EEG 840 –– – in der Leiste  621 mimasticatorius
–– Fahrtauglichkeit 842 –– – intrapelvine 621 –– Neuropathien Siehe
–– Polysomnografie 840 –– retroperitoneales Häma- Trigeminusneuropathie(n)
–– Therapie 841 tom 622 –– Untersuchung 6
NARP 800 Nervus fibularis Siehe Nervus –– Versorgungsgebiete 7
Natalizumab ­peroneus Nervus trochlearis  5
–– Antikörper, neutralisieren- Nervus genitofemoralis, Läsi- –– Erkrankungen 454
de 400 onen 618 –– Lähmung  100, 101
–– bei MS  400–401 Nervus glossopharyngeus Nervus ulnaris
–– PML 401 –– Erkrankungen 459–460 –– Innervationsanomalien 611
Natriumbikarbonat, Reanimati- –– Untersuchung 8 –– Kompression, am Ellenbo-
on 169 Nervus hypoglossus gen 612–613
NBIA Siehe Neurodegeneration, –– Parese 9 –– Läsionen 610–613
with Brain Iron Accumulation –– Untersuchung 9 –– Parese Siehe Ulnarisparese
Nebenniereninsuffizienz 720 Nervus iliohypogastricus, Läsi- –– Verlauf 611
Nebennierenrindenerkrankung onen 618 –– Versorgungsgebiet  610, 611
(en) 809 Nervus ilioinguinalis, Läsi- Nervus-vagus-Stimulation 437
Negativismus 145 onen 618 Nervus vagus, Untersuchung  8
Neglekt  18, 20, 132 Nervus-intermedius-Neural- Nervus vestibulocochlearis
Neologismen 139 gie 229 –– Erkrankungen 459
Neostigmin Siehe Cholinesterase- Nervus-interosseus-anterior-­ –– Kompressionssyndrom, neuro-
hemmer Syndrom  614, 617–618 vaskuläres Siehe Vestibularis-
Nervenbiopsie 94 Nervus ischiadicus, Läsi- Paroxysmie
Nervenblockade(n), neuropa- onen 626 –– Untersuchung 8
thische Schmerzen  247 Nervus medianus Neuralgie, postzosterische Siehe
Nervendehnungszeichen 18 –– Läsionen 613–618 Varicella-Zoster-Infektion 
Nervenläsion(en) 600–627 –– Verlauf 615 125
–– Diagnostik 602 –– Versorgungsgebiet 615 Neurapraxie  62, 601
–– Klassifikation 601 Nervus musculocutaneus Neurinom(e), intraspinale  512
–– Therapie 603–604 –– Läsionen 607 Neuritis nervi optici Siehe Opti-
–– Ursachen 600 –– Versorgungsgebiet 607 kusneuritis
Nervenleitgeschwindigkeit 61–62 Nervus obturatorius, Läsionen Neuroakanthozytose-­
–– Leitungsblock Siehe Neurapra- ­Siehe Obturatoriusneuralgie Syndrome 560–561
xie Nervus oculomotorius  5 Neuro-Behçet 510
–– motorische 60 –– Erkrankungen 453–454 Neuroborreliose 357–359
–– sensible  60, 61 –– Lähmung  100, 101 –– akute 358
–– Verlangsamung 62 –– Untersuchung 5 –– chronische 358
Nervenschäden Siehe Nervus olfactorius –– Liquorbefund 42
Nervenläsion(en) –– Erkrankungen 447–448 –– Polyneuropathie 669
Nervenstimulation, repetitive  63 –– Untersuchung 5 Neurobrucellose 362
900  Index 

Neurodegeneration Neurotmesis 601 –– stark wirksame


–– pantothenatkinaseassoziierte  Neurotuberkulose 351–354 –– – für die Langzeitbehand-
568 Nicolau-Syndrom 620 lung 241–242
–– with Brain Iron Accumulation  Niederspannungs-EEG 49 –– – transdermale Applikationssy-
568 Niedrigspannungsschaden 764 steme 241–242
Neurofibromatose 593 NIH Stroke Scale  868 –– – zur Kurzzeitbehand-
–– Typ 1  592 Nimodipin 777 lung 240–241
–– – Diagnosekriterien 592 Ninhydrin-Test  21, 637 –– Therapie mit Siehe Opioid-The-
–– Typ 2  593 Nokardiose 363 rapie
–– – Diagnosekriterien 593 Non-REM-Schlaf 824 Opioid-Therapie
–– von Recklinghausen Siehe Neu- Non-REM-Stadium 826 –– Adjuvanzien 242
rofibromatose, Typ 1 Nootropika 777 –– Fahrtauglichkeit 242
–– zentrale Siehe Neurofibromato- Noradrenalin 186 Opisthotonus  202, 338
se, Typ 2 Normaldruckhydrozephalus 854 OPMD Siehe
Neuroleptika –– Demenz 785 Muskeldystrophie(n), okulo-
–– Analgosedierung 183 Notfälle 167–209 pharyngeale
–– atypische 777 –– psychiatrische 26 Oppenheim-Zeichen 13
–– bei Delir  770 Nothnagel-Syndrom 274 Opsoklonus 110
Neuroleptika-Syndrom, NSAID 236–237 Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom,
­malignes  203 Nukleotomie, offene  648 paraneoplastisches
Neurolues 353–357 Nystagmus  6, 105–108 ­Syndrom  495
–– Liquorbefund 42 –– bei Bewusstlosigkeit  173 Optikopathien 451
Neurolyse 604 –– dissoziierter 109 Optikusatrophie, autosomal domi-
Neuromyelitis optica  404–406, –– kongenitaler 108 nante 452
510 –– muskelparetischer 108 Optikusneuritis 450–451
–– Diagnosekriterien 406 –– optokinetischer  6, 108 –– MS 388
Neuromyelitis optica spectrum –– periodisch alternierender  109 –– rekurrierende isolierte  405
­diseases (NMOSD)  405 –– retraktorischer 109 Optikusneuropathie, ischämische
Neuromyotonie  494, 714 –– anteriore Siehe AION
–– paraneoplastische 494 O –– posteriore Siehe PION
Neuronitis vestibularis  114 Oberschenkelvorderseite, sensible Orbicularis-oculi-Reflex Siehe
Neuropathia patellae  622 Versorgung 618 Blinkreflex
Neuropathie(n) Obturatoriusneuralgie 620 Orbicularis-oris-Reflex 13
–– hereditäre Ocular Bobbing  110, 173 Orbitaspitzen-Syndrom 461
–– – axonale Form Siehe Ocular Tilt Reaction  102 Orbitopathie(n) 453–454
Neuropathie(n), hereditäre, OKT4/OKT8-Quotient 374 –– endokrine 453
Typ 2 Okulomotoriusparese Siehe Ner- Orientierung  23, 137
–– – demyelinisierende Form Siehe vus oculomotorius, Lähmung Orientierungsstörung(en) 137
Neuropathie(n), hereditäre, Okzipitalisneuralgie 229 OSAS 843
Typ 1 Okzipitallappenepilepsie 420 –– Klinik 844
–– – mit Neigung zu Druckläsi- Oligoastrozytom Osmotherapie, bei Hirn­
onen 685 –– anaplastisches 471 ödem 194
–– – motorische und sensible, –– niedrig malignes  471 Osserman-Klassifikation 730
Typ 3  684 Oligodendrogliom(e) 479 Otitis media  215
–– – Typ 1  682–683 –– anaplastische  471, 479 Overlap-Syndrome 718–719
–– – Typ 2  683 –– niedrig malignes  471 Oxcarbazepin 244
–– – Typ 5  685 Oligoklonale Banden  41 –– Epilepsietherapie 427
–– – Typ 6  685 OPCA Siehe MSA-C
–– – Typ 7  685 Operation(en), bei Myasthenia P
–– HIV-assoziierte 373 gravis 736–737 Paget-Schroetter-Syndrom 631
–– immunvermittelte demyelini- Ophthalmopathie(n), endokrine Painful Arc  607
sierende 677 Siehe Orbitopathie(n), endokri- Palilalie 524
–– mit Ataxie und Retinitis pig- ne Pallanästhesie 18
mentosa Siehe NARP Ophthalmoplegia Pallhypästhesie 18
–– multifokale –– externa 100 Palmomentalreflex 19
–– – diabetische Polyneuropa- –– interna 100 Panayiotopoulos-Syndrom Siehe
thie 661 Ophthalmoplegie Epilepsie(n), benigne, des Kin-
–– – motorische 676–677 –– chronisch progrediente externe desalters, mit okzipitalen Sharp
–– ophthalmoplegische, schmerz- Siehe CPEO Waves
hafte  216, 453 –– diabetische 661 Pancake-Hämatom 755
Neuropathische Schmer- –– internukleäre  102, 103 Pancoast-Tumor 634
zen 245–256 Opioide 238–243 PANDA 773
–– Klinik 245 –– Analgosedierung 185 Pandy-Test 38
–– Therapie 246–247 –– Äquivalenzdosierung 239 Panenzephalitis
–– – medikamentöse 246–247 –– Fahrtauglichkeit 242 –– chronische 370
–– – nichtmedikamentöse 247 –– Intoxikation 238 –– – Liquorbefund 42
Neuropsychologie 20 –– Langzeittherapie, bei nichtma- –– subakut sklerosierende Siehe
Neurosyphilis Siehe Neurolues lignem Schmerz  242 Panenzephalitis, chronische
   Index  901

Panikattacken, schlafgebun- Perfusions-CT 83 Polymyalgia rheumatica  307


dene 837 Perfusions-MRT 89 Polymyositis 717
Pankreatitis 809 Perilymphfistel 115 –– paraneoplastische 494
Papillitis 451 Periodic lateralized epileptiform Polyneuritis
Paracetamol 234 discharge Siehe PLED –– akute idiopathische Siehe
–– Intoxikation 235 Perseveration 139 ­Guillain-Barré-Syndrom
Parakinese 145 persistent vegetative state Siehe –– chronische idiopathische Siehe
Paralyse(n) Syndrom(e), apallisches CIDP
–– periodische 713 Pes equinovarus  623 Polyneuropathie(n) 655–685
–– – hyperkaliämische 713 PET 93 –– alkoholtoxische 664–665
–– – hypokaliämische 713 Phakomatose(n) 592–597 –– bei Stoffwechselerkran-
–– progressive 354 Phalen-Zeichen 616 kungen 660–664
–– supranukleäre, progressive Phantomschmerz(en)  126, 249– –– chronische entzündliche Siehe
­Siehe PSP 250 CIDP
Paramnesie(n) 138 –– chronischer 249 –– chronische inflammatorische
Paramyotonia congenita Eulen- Phantomsensationen 249 demyelinisierende Siehe CIDP
burg 713 Phantosmie 448 –– diabetische 662
Paraproteinämie(n) Phenobarbital, Epilepsiethera- –– durch Industriegifte  666
–– nutritiv-toxische 663–664 pie 427 –– durch toxische Substan-
–– Polyneuropathie 680–681 Phenytoin, Epilepsiethera- zen 666
Parasitose(n), ZNS Siehe ZNS-­ pie 428 –– entzündliche 670–682
Parasitosen Phobie 141 –– exotoxische 667
Parasomnie(n)  829, 830, 848– Phoneme 142 –– Hepatitis-C-assoziierte 670
852 Phosphofruktokinase-Mangel –– hereditäre 682–685
–– REM-Schlaf-assoziierte 829, ­Siehe Morbus Tarui –– immunvermittelte 670–682
850–852 PICA-Syndrom 278 –– Leitsymptome
Parästhesie(n)  16, 125, 655 Pick-Körperchen 781 –– – objektive 656
Parathymie 145 Pickwick-Syndrom 846 –– – subjektive 655–656
Parese(n) 14 Pick-Zellen 781 –– Lepra 669
–– Armvorhalteversuch 14 Pilzinfektionen 382–383 –– Liquorbefund 42
–– bei MS  389 Pinealistumor(en) 484 –– Lisch-Knötchen 592
–– Beinvorhalteversuch 14 Pinealom 484 –– Lyme-Borreliose 669
–– Differenzialdiagnosen 119 PION 452 –– medikamentös-toxische 664,
–– latente 14 Piracetam 777 665
–– periphere  118, 119 Piriformis-Syndrom  620, 626 –– Minussymptome 656–657
–– schlaffe 502 Plasmapherese, bei Vergif- –– parainfektiöse 668–670
–– spastische 502 tungen 158 –– paraneoplastische  494, 668
–– zentrale  118, 119 Plasmozytom 681 –– paraproteinämische 680–681
Parietallappenepilepsie 420 PLED 52 –– Plussymptome 655–656
Parinaud-Syndrom 102 Pleozytose 340 –– postdiphtherische 669
Parkinson-Erkrankung Siehe IPS –– Liquor 40 –– Sarkoidose 669
Parkinson-Krise 200 Plexus cervicobrachialis –– Schädigungstypen 658
Parkinson Neuropsychiatric –– Engpasssyndrome 633–634 –– Schmerzen 252–253
­Dementia Assessment Siehe –– Läsionen 632–636 –– Typen 656–657
PANDA Plexusläsion(en) 628–637 –– Umweltgifte 666–667
Parkinson-Syndrom(e)  –– Differenzialdiagnosen 630 –– urämische 662
524–554 Plexus lumbalis, Läsionen  629 –– vaskulitische 677–680
–– familiäre 541–542 Plexus lumbosacralis, Läsi- Polyradikuloneuritis, akute
–– idiopathisches Siehe IPS onen 636–637 ­idiopathische Siehe Guillain-
–– Klassifikation 524 Plexusneuritis Siehe Myatrophie, Barré-Syndrom
–– sekundäre 553–554 neuralgische Polysomnografie  46, 828
Parkinson-Tremor 528 Plexus sacralis, Läsionen  629 Polyspike-wave-Potenziale 51
Parosmie 448 PNET 484 Polytrauma, Management  744–
Parry-Romberg-Syndrom  –– Chemotherapie 476 745
459 Pneumatozele, posttrauma- Ponssyndrom(e) 272
Parsonage-Turner-Syndrom tische 749 Porphyrie 801–802
Siehe Myatrophie, neuralgische Pneumokokkenmeningitis 346 –– akute intermittierende, Poly-
Partialepilepsie, benigne, des Kin- –– Impfung 346 neuropathie 662
desalters, mit zentrotemporalen –– Therapie 344 Positronen-Emissionscomputerto-
Sharp Waves Siehe Rolando- POLG 589 mografie Siehe PET
Epilepsie Polioencephalopathia haemorrha- Postamputationssyndrom 
Patellarklonus 12 gica superior Siehe Wernicke- 249
Patellarsehnenreflex Siehe PSR Korsakow-Enzephalopathie Postdiskektomie-Syndrom 
Pavor nocturnus  848, 849, 850 Poliomyelitis anterior acuta  650
Pelizaeus-Merzbacher-Erkran- 510–511 Posteriorinfarkt 277
kung 798 Polyarteriitis nodosa  301, 678 Post-Lyme-Disease-Syn-
Perampanel, Epilepsiethera- Polyglukosanskörperchen-Erkran- drom 358
pie 427 kung 794–795 Post-Polio-Syndrom 511
902  Index 

Potenzial(e), evozierte  59 Querschnittslähmung 500 Robertson-Pupillen 104


–– akustisch Siehe AEP Querschnittssyndrom, chro- Rolando-Epilepsie  420, 851
–– motorisch Siehe Magnetstimu- nisches 500 –– EEG 409
lation Romberg-Versuch 15
–– somatosensibel Siehe SSEP R Röntgen 79–82
–– visuell Siehe VEP Radialisparese 608 –– konventionelles 81
PPMS  391, 392 Radikulitis 350 –– Schädel 79
Prädelir 769 Radikulopathie(n), diabe- –– Wirbelsäule 80–82
–– Therapie 770 tische 661 Rossolimo-Reflex 10
Pregabalin 243 Radiusperiostreflex 10 Rötelnpanenzephalitis, progres-
–– Epilepsietherapie 428 Ramsay-Hunt Syndrom  251 sive Siehe Panenzephalitis,
Primidon, Epilepsietherapie  Ramsay-Score 182 chronische
428 Ratlosigkeit 144 Rot-grün-Sehschwäche 452
Primitivreflex(e) 19 Reanimation 618–169 RRMS 391
PRIND 266 Rebound-Phänomen 15 –– Therapieempfehlungen 395
Prionkrankheiten 381 referred pain  256 Ruber-Tremor Siehe Holmes-Tre-
PRMS 391 Reflexbogen 9 mor
Processus-styloideus-Syn- Reflex(e) Rückenmark
drom 460 –– okulozephaler 190 –– Erkrankungen Siehe
Progressive Stroke  266 –– – bei Bewusstlosigkeit  172 Rückenmarkläsion(en)
Prolaktinom 488 –– Untersuchungen  13, 63–64 –– Längsschnitt 503
Prolaps 646 –– vestibulookulärer 190 –– Läsionen Siehe
PROMM 710–711 –– – bei Bewusstlosigkeit  172 Rückenmarkläsion(en)
Pronator-teres-Syndrom 614, –– ziliospinaler, bei Bewusstlosig- Rückenmarkläsion(en) 500–517
617 keit 172 –– Akuttherapie 505
Propofol 184 Reflexklonus 12 –– Diagnostik 504
Protein-C-Mangel 312 Reiber-Formel 41 –– Höhenlokalisation  500, 502
Protein-S-Mangel 312 Reiber-Schema 39 –– Komplikationen/Spätfol-
Protrusion 646 Reithosenanästhesie 502 gen 505
Pseudodemenz 779 Reizbarkeit 144 –– Leitsymptome 500–502
Pseudo-Graefe-Phänomen 708 Reizpleozytose 40 –– Therapie 504–506
Pseudohalluzinationen 142 Reizschwindel, physiolo- –– – antispastische 506
Pseudoptosis 105 gischer 112–113 –– Transport 504
Pseudotabes alcoholica  664 Reizsymptome 125–126 –– vaskuläre 506–508
Pseudotabes diabetica  660 Relaxierung 188 –– zentrale 501
Pseudotumor cerebri  192, 215, REM-Schlaf 824 Rückenmarksver­
856–857 REM-Schlaf- letzung(en) 757–763
Pseudotumor orbitae  453 Verhaltensstörung(en) 412, Rückenmarksyndrom 250
PSP, Therapie  551 850–852 Rückenschmerz, chronischer, un-
PSP-CBS 549 Restless-Legs-Syndrom 576–578 spezifischer Siehe Lumbalgie
PSP-cerebellar 549 –– idiopathisches 576 Rückfallfieber 361
PSP-PAGF 549 –– symptomatisches 576 Rucknystagmus 67
PSP-Parkinsonismus 549 Retinol Siehe Vitamin A Rucksacklähmung  606, 631
PSP-PNFA 549 Retinopathie, paraneoplas- Rufinamid, Epilepsiethera-
PSP-Richardson-Syndrom 549 tische 494 pie 428
–– Diagnosekriterien 550 Retrobulbärneuritis Siehe Opti- Rumpfataxie 123
PSP 548–550 kusneuritis Rumpfnerv(en), Läsionen  626–
PSR  10, 11 Retropulsionstest 526 627
Psychose(n), schizophrene  Reye-Syndrom 805
147 Rhabdomyolyse  207, 723–724 S
Ptosis 105 Rhombenzephalitis, paraneoplas- Salzverlustsyndrom, zerebrales
Pupillenstarre 104 tische 495 ­Siehe CSWS
Pupillenstörungen, bei Bewusstlo- Rhomboideusparese 605 SAOA 592
sigkeit 172 Riche-Cannieu-Anastomose 611 Saphenusneuropathie 622
Pupillomotorik, Störungen  103– Rickettsiose 362 Sarkoglykanopathien 696
104 Riesenzellarteriitis Siehe Sarkoidose  466, 669
Puppenkopfphänomen 191 Arteriitis temporalis Saugreflex 19
Pyramidenbahnläsion 502 Rigid spine  697 Saure-Maltase-Mangel Siehe Mor-
Pyramidenbahnzeichen 13 Rigor  120, 121, 524 bus Pompe
Pyridostigminbromid Siehe Cholin­ –– IPS 525 Scapula alata  605
esterasehemmer Rimmed vacuoles  718 SCA 590–591
Pyritinol 777 Ring-Enhancement 85 SCA-Syndrom 277
Rinne-Versuch 8 Schädelfraktur 746–749
Q Rippling muscle disease  695 Schädel-Hirn-Trauma 740–751
Q-Fieber 361 Risus sardonicus  202 –– Diagnostik 741–744
QST 246 Rivastigmin Siehe Cholinesterase- –– Einteilung 740
Quecksilber, Enzephalopa- hemmer –– Erstversorgung 744
thie 816 Rizatriptan 219 –– Folgen 756–757
   Index  903

–– Grad I  740, 749 Schleiersehen 97 Short-lasting unilateral neuralgi-


–– Grad II  740, 750 Schmerz(en) 234–256 form headache with conjuncti-
–– Grad III  740, 750 –– bei Hirnstammläsionen  250 val injection and tearing Siehe
–– leichtes Siehe Schädel-Hirn- –– bei Polyneuropathie  252–253 SUNCT
Trauma, Grad I –– neuropathische Siehe Neuropa- Short-lasting unilateral neuralgi-
–– Leitsymptome 740 thische Schmerzen form headache with cranial au-
–– mittelschweres Siehe Schädel- Schmerzsyndrom(e) tonomic symptoms Siehe SUNA
Hirn-Trauma, Grad II –– komplexes regionales Siehe Shulman-Syndrom Siehe Fasziitis,
–– offenes 750–751 CRPS eosinophile
–– schweres Siehe Schädel-Hirn- –– myofasziales 255–256 Shy-Drager-Syndrom Siehe MSA
Trauma, Grad III –– zentrale 250 SIADH  202–203, 204, 809
–– Therapie 745–746 Schmetterlingsgliom 480 Signe de cils  455, 690
–– – medikamentöse 745 Schock, spinaler  500, 759 Simpson-Test 731
–– Warnsymptome 749 Schrankenstörung  38, 41 Single-Photonen-Emissionscom-
Schädel-Hirn-Verletzung Siehe Schreibkrampf 567 putertomografie Siehe SPECT
Schädel-Hirn-Trauma Schrotschuss-Schädel 79 Sinnestäuschung(en) 141–142,
Schädelprellung 746 Schuldwahn 141 23
Schädelverletzung(en) Siehe Schä- Schultermyatrophie Siehe Sinus-cavernosus-Syndrom 461
del-Hirn-Trauma ­Myatrophie, neuralgische Sinusitis 215
Schädigung(en), neurogene Siehe Schwangerschaft Sinusvenenthrombose  213, 260,
Nervenläsion(en) –– Antiepileptika 435 313–315
Schellong-Test 21 –– bei MS  403 –– blande 313–314
Schistosoma 386 –– Epilepsie(n) 434–436 –– septische 315
Schizophrenie, Testverfahren  25 –– Myasthenia gravis  736–737 Sjögren-Larssen-Syndrom 797
Schlaf 824–852 Schwangerschaftschorea 563 Sjögren-Syndrom  302, 678
–– Bedeutung 825 Schwankschwindel 112 Skala nach Hunt und Hess  326
–– Diagnostik 829 –– phobischer 116 Skalenuslücke 633
–– EEG Siehe Schlaf-EEG Schwannomatose 593 Skalenussyndrom 633
–– Muster 827 Schwannom(e) 485 Skew Deviation  102, 173
–– normaler Ablauf  824 Schwartz-Bartter-Syndrom Siehe Slow Eye Movements  826
Schlafapnoe-Syndrom 843–846 SIADH slow wave sleep  825
–– obstruktives Siehe OSAS Schweigepflicht 30 SMA 584–586
–– Polysomnografie 844 Schweinebandwurm 386 –– adulte Form Siehe SMA, Typ IV
–– Therapie 845–846 Schweißsekretions­ –– distale 585
–– zentrales Siehe ZSAS störung(en) 129–130 –– infantile Form Siehe SMA,
Schlafbeschwerden 832 Schwerpunkt-Polyneuropa- Typ I
Schlaf-EEG  46, 825 thie 657 –– intermediäre Form Siehe SMA,
–– Schlafstadien 826 Schwindel 111–117 Typ II
Schlafentzug 825 –– medikamentöser 117 –– juvenile Form Siehe SMA,
Schlaf-Grand-Mal 851 –– nichtvestibulärer 117 Typ III
Schlafhygiene 833 –– otogener 260 –– Kugelberg-Welander Siehe
Schlaflähmung 840 –– peripher-vestibulärer 114– SMA, Typ III
Schlaf-Latenz-Test, multipler 115 –– proximale 584–585
­Siehe MSLT –– psychogener 117 –– segmentale 585
Schlafprofil  825, 832 –– zentral-vestibulärer 115–116 –– Typ Aran-Duchenne  585
Schlafspindeln 826 Schwurhand  613, 614 –– Typ I  584
Schlafstadien  49, 824 Second-wind-Phänomen 699 –– Typ II  584
–– EEG 826 Seddon-Klassifikation, Nervenläsi- –– Typ III  584
–– EMG 826 onen 601 –– Typ IV  584
–– EOG 826 See-saw-Nystagmus 109 –– Vulpian-Bernhardt-Variante 
Schlafstörung(en) 146 Segawa-Syndrom Siehe 585
–– Klassifikation 829 Dystonie(n), levodopasensitive –– Werdnig-Hoffmann Siehe SMA,
–– organische 830 Sehbahn 98 Typ I
Schlaf-wach- Sehstörung(en) 97 small-fiber neuropathy  660
Rhythmusstörung(en) 829, –– Differenzialdiagnosen 99 SND Siehe MSA-P
847–848 Selbstbeschädigung 146 SNEPCO 237
–– Zeitzonenwechsel Siehe Jetlag Semmelzeichen Siehe Hot Cross Somnambulismus Siehe Schlaf-
–– zirkadiane 847–848 Bun Sign wandeln
Schlaf-wach-Übergang, Stö- Sensibilität Somnolenz  137, 175
rungen 829 –– Anamnese 16 Sopor 137
Schlafwahrnehmungsstö­ –– Untersuchung 16–18 Spannungskopfschmerz 221–
rung(en) 837 Sensibilitätsstörung(en) 125– 222
Schlafwandeln  848, 850 126, 502 –– Schmerzlokalisation 221
Schlaganfall 258 –– spinale Wurzelkompressionsyn- Spasmus hemimasticatorius  459
–– Akutmanagement 258 drome 641 spastic paraplegia gene Siehe SPG
–– Diagnostik 259–260 Serratusparese 605 Spastik  120, 121
–– Differenzialdiagnosen 260 Sharp-Syndrom 718 Spätabszess, traumatischer  750
–– Rehabilitation 262 Sharp waves  51
904  Index 

Spätdyskinesie Siehe Dyskinesien, Stillzeit –– der verzögerten Schlafpha-


tardive –– Antiepileptika 435 se 847
SPG 582 –– Epilepsie 436 –– der vorverlagerten Schlafpha-
Spikes 51 Stimmenhören 142 se 847
Spike waves  51 Stimmstörung, psychogene  111 –– des frei laufenden Rhyth-
Spina bifida Stimmung 23 mus 847
–– aperta 515 Stiripentol, Epilepsiethera- –– des Mittelhirnfußes Siehe We-
–– occulta 515 pie 429 ber-Syndrom
Spinalparalyse Stoffwechselerkrankung(en), Poly- –– extrapyramidal-motorische, pa-
–– luetische 354 neuropathien 660–664 raneoplastische 495
–– spastische Siehe SSP Störung(en) –– kostoklavikuläres 633
–– – hereditäre Siehe SSP –– affektive, Testverfahren  25 –– Lambert-Eaton-myasthenes
SPIR 396 –– dissoziative, Testverfahren  25 ­Siehe LEMS
Spiral-CT 83 –– metabolische, EEG  50 –– mesenzephales 190
SPMS 391 –– organisch amnestische  150 –– myasthene, kongenitale Siehe
–– Therapieempfehlungen 395 –– psychomotorische 144–145 Myasthenie, kongenitale
Spondylodiszitis  350, 509, 650– Strabismus paralyticus  5 –– paraneoplastische 493–497
651 Strahlenmyelopathie 513 –– pontines 190
Spontannystagmus 108 Strahlenschäden 764–766 –– postpunktionelles 858–859
Sporadic Adult Onset Ataxia  592 Strümpell-Lorrain-Syndrom Siehe –– posttraumatisches, nach Schä-
Sport, Epilepsie  444 SSP del-Hirn-Trauma 750
Sprache, Test  25 Strümpell-Zeichen 13 –– spätes dienzephales  190
Sprue 587 Stumpfschmerz(en)  126, 249 –– zentrales anticholinerges  203
SREAT Siehe Hashimoto-Enze- Stupor 145 Synkinesie(n), Fazialisparese 
phalopathie Sturge-Weber-Krabbe-Syndrom 457
SSEP 57–59 Siehe Sturge-Weber-Syndrom Synkope(n)  260, 412
SSPE Siehe Panenzephalitis, chro- Sturge-Weber-Syndrom 596 –– neurogene 444–445
nische Subarachnoidalblutung 213, –– neurokardiogene 444
SSP 582–583 260, 323–335 –– vasovagale 445
Stammganglienblutung 318 –– aneurysmatische, Thera- Syphilis Siehe Neuolues
Standataxie 123 pie 331 Syringobulbie 516–517
Staphylokokkenmeningitis, Thera- –– Begleittherapie 334 Syringomyelie 516–517
pie 343 –– begünstigende Faktoren  Syringostomie 517
Startle 556 326 System(e), funktionelle, MS,
Startle-Syndrom(e) 562 –– Diagnostik 327–328 Schweregradbestim-
–– primäres 562 –– Komplikationen 329–330 mung 873–875
–– sekundäre 562 –– ohne Aneurysmanach-
Statin(e), Myopathie  721 weis 334–335 T
Status epilepticus  438–442 –– Rezidivblutung 329 T1-Wichtung 88
–– drohender, Therapie  441 –– Schweregrad 326 T2-Wichtung 88
–– einfach fokaler  415 Subclavian-steal-Effekt 278 Tabak-Alkohol-Amblyopie 452
–– fokaler, Therapie  440 Subclavian-steal-Syndrom 70, Tabes dorsalis  354
–– generalisierter, konvulsiver, 279 Taboparalyse 355
Therapie 440 Subokzipitalpunktion 36 Takayasu-Arteriitis 301
–– konvulsiver 438 Subtraktionsangiografie, digitale Tapentadol 239
–– nonkonvulsiver 438 Siehe DSA Tapir-Mund 697
–– Therapie 439–442 Sudomotor-Axon-Reflex-Test, Tarsaltunnelsyndrom
–– zeitliche Entwicklung  439 quantitativer 130 –– hinteres 624–626
Status lacunaris  782 Suicide-Headache 223 –– vorderes 623
Status migraenosus  217 Suizidalität  24, 146 Tau-Protein 774
–– Therapie 219 Sulcus-ulnaris-Syndrom Siehe Taut bands  256
Stauungspapille  5, 110, 451 Nervus ulnaris, Kompression, TEA, zerebrale Ischämien  293
Steele-Richardson-Olszewski-Syn- am Ellenbogen Teleangiektasie, kapilläre Siehe
drom Siehe PSP SUNA 224 Angiom(e), kapilläres
Stellwag-Zeichen 453 SUNCT 224 Telescoping 249
Stenose(n) Supinatorlogensyndrom 609 Temporallappenanfälle 851
–– extrakranieller Arterien, hoch- Suralisneuralgie 626 Temporallappenepilepsie
gradige 293 Susac-Syndrom 393 –– mesiale 419
–– intrakranielle, symptoma- Swanton-Kriterien 392 –– neokortikale 419
tische 293 Syndrom(e) –– psychische Verände-
Steppergang  124, 623, 690 –– amnestisches Siehe Korsakow- rungen 443
Stereognosie 18 Syndrom Temporallappenresektion, anteri-
Steroidmyopathie 721 –– apallisches  179–181, 180 ore 436
Stiff-Person-Syndrom –– bulbäres 190 Tender points, Fibromyalgie  255
–– idiopathisches 494 –– der inadäquaten ADH-Sekreti- Tensilon®-Test  199, 731
–– paraneoplastisches 494 on Siehe SIADH TENS, neuropathische Schmer-
Stilling-Türk-Duane-Syndrom –– der kaudalen Brückenhaube zen 247
­Siehe Duane-Syndrom ­Siehe Millard-Gubler-Syndrom Teriflunomid 398
   Index  905

Terminalschlaf 415 –– essenzieller  522–523, 528 Untersuchung


Territorialinfarkt(e)  266, 267 –– – klassischer 522 –– Hirnnerven 4–8
Test(s) –– IPS 526 –– Kopf 3
–– neuropsychologische 24–25 –– Klassifikation 521 –– neuropsychologische 20
–– psychologische 24–25 –– orthostatischer 522 –– psychiatrische 26
Testung, quantitativ-sensorische –– physiologischer 521–522 –– – störungsbezogene 25
Siehe QST –– positionspezifischer 523 Untersuchungsgespräch, psychiat-
Tetanie –– psychogener 524 risches 24
–– hypomagnesiämische 201 –– zerebellärer 523 Unzinatus-Anfälle 448
–– normokalzämische 201 Trendelenburg-Gang  124, 690 Upbeat-Nystagmus 109
Tetanie-Syndrom 201 Trigeminusneuralgie  224, 228 UPDRS 877
Tetanus 202–203 Trigeminusneuropathie(n)  Urogenitalkarzinom, Hirnmeta-
Tethered- Cord  515 227 stasen 490
Thalamushand 126 –– symptomatische 454 Uveitis 449
Thalamusinfarkt, bilateraler  276 Trigeminusreizstoffe 5 Uvulopalatopharyngoplastik 845
Thalamusschmerz 250 Triggerpunkte 255
Thallium, Enzephalopathie  816 Trismus 202 V
Thallliumvergiftung 667 Trizepssehnenreflex Siehe TSR Valproathepatopathie 430
Thermanästhesie 17 Trochlearisparese Siehe Nervus Valproinsäure, Epilepsiethera-
Thermhypästhesie 17 trochlearis, Lähmung pie 429
Thiamin Siehe Vitamin-B1 Trömner-Reflex  10, 11 Varicella-Zoster-Infektion 213,
Thoracic-Outlet-Syndrom 633– Trousseau-Test 201 252, 368–369
635 TSR 10 –– akute 251–252
Thrombendarteriektomie Siehe Tuberkulom 467 Vaskulitis 718
TEA –– Hirn u. Rückenmark Siehe Neu- –– erregerassoziierte 302
Thrombolyse, Hirninfarkt  285– rotuberkulose –– erregerbedingte 302
287 –– meningeales Siehe Neurotuber- –– isolierte, des peripheren Ner-
Thymektomie 734–735 kulose vensystems 679
TIA 266 Tuberkulostatika 353 –– toxische 302
Tiagabin, Epilepsietherapie  429 Tuberöse Hirnsklerose Siehe –– zerebrale Siehe Zerebrale Vas-
Tibialis-posterior-Reflex 10 Hirnsklerose, tuberöse kulitis
Tic douloureux  227 Tumor(en) Vasokonstriktionssyndrom, rever-
Tic(s) 574–575 –– intraspinale 512–513 sibles zerebrales (RCVS)  213
–– einfache 574 –– primitiver neuroektodermaler Vasomotorenreserve 78
–– komplexe 574 Siehe PNET Vasopressin 206
–– vokale 574 –– ZNS Siehe ZNS-Tumoren Vasospasmus, Subarachnoidalblu-
Tiefenhirnstimulation, bei Tumorschmerz(en), Thera- tung 330
IPS 537–538 pie 244–245 Venlafaxin 243
Tiefschlaf 825 Twitch response  256 Ventrikelsystem 854
Tietze-Syndrom 627 VEP 54
Tigeraugenzeichen 569 U Verarmungswahn 141
Tilidin 239 Übelkeit 338 Verfolgungswahn 140
–– mit Naloxon  239 Übergang. kraniozervikaler, Mess- Vergiftung(en) 151–159
Tinnitus 117–118 linien 79 –– Antidota 158
–– objektivierbarer 117 Überleitungsstörung(en), neuro- –– Symptome 152
–– subjektiver 117 muskuläre 728 –– Therapie 159
Tolosa-Hunt-Syndrom 230 Uhren-Test 773 Verhaltensstörung(en), im REM-
Topektomie 437 Uhthoff-Phänomen 390 Schlaf Siehe REM-Schlaf-
Topiramat, Epilepsiethera- Ulnarisparese 612 Verhaltensstörung(en)
pie 429 Ulnarisrinnen-Syndrom Siehe Vernet-Syndrom Siehe Foramen-
Top-of-the-basilar-Syndrom Siehe Nervus ulnaris, Kompression, jugulare-Syndrom
Basilarisspitzen-Syndrom am Ellenbogen Vertebralisangiografie  90, 91
Torkeln 125 Ultraschallverfahren 68 Vertebralisdissektion  214, 296
Torsionsdystonie, idiopa- Undines Fluch  846 Vertebralsyndrom 640
thische 567–568 Unified Parkinson Disease Rating Vertex-Wellen 826
Tourniquetlähmung 609 Scale Siehe UPDRS Verwirrtheit 146–151
Toxoplasmose 383–384 Unruhe Vestibularis-Paroxysmie 115,
Tracheotomie 188 –– motorische 145 460
–– bei Schlafapnoe  846 –– nächtliche Vestibulopathie, bilaterale  115
Tramadol 239 –– – bei Demenz  850 Vierhügel-Syndrom Siehe
Tränensekretionsstörung 97 –– – im Alter, Therapie  835 ­Nothnagel-Syndrom
Trapeziusparese 605 Unterberger-Tretversuch 15 Vigabatrin, Epilepsiethera-
Traumphase 825 Unterbringung 31–33 pie 430
Tremor  121–122, 521 –– öffentlich rechtliche  31–33 Villaret-Syndrom 460
–– aufgabenspezifischer 523 –– strafrechtliche 33 Visusverlust 97
–– bei peripherer Neuropa- –– zivilrechtliche 32–33 Vitamin A, Hyper-/Hypovitami-
thie 523 Unterkieferprotrusionsschiene  nosen 821
–– dystoner 523 845 Vitamin-B1-Mangel 663
906  Index 

Vitamin-B6-Mangel 664 Whipple-Krankheit 361 –– Leitsymptome 338


Vitamin-B12-Mangel  513, 663 WHO-Stufenschema 244–245 –– Parasiten Siehe ZNS-Parasito-
Vitamin D, Hyper-/Hypovitami- Wilson-Erkrankung Siehe Morbus sen
nosen 821 Wilson –– Pilze Siehe Pilzinfektion(en)
Vitamin E, Hyper-/Hypovitamino- Windpocken Siehe Varicella-Zo- –– virale 379
sen 821 ster-Infektion –– – akute, ohne Erregernach-
Vitamin-K-Antagonsten, zerebrale Wirbelsäule weis 364–365
Ischämien 290–291 –– Fehlbildungen 514–516 ZNS-Lymphom(e)
Vitaminstoffwechselstörung(en), –– Verletzung(en) 757–763 –– Chemotherapie 476
Enzephalopathien 820–821 –– – knöcherne 758–759 –– HIV-Infektion 378
Vogt-Koyanagi-Harada-Syn- Wundstarrkrampf Siehe Tetanus –– primäre 486–487
drom  302, 393 Würgreflex 8 –– Strahlentherapie 475
Von-Graefe-Zeichen 453 –– bei Bewusstlosigkeit  172 ZNS-Metastasen
Von-Hippel-Lindau-Syn- Wurmerkrankung(en) 386 –– Chemotherapie 476
drom 595–596 Wurzelkompressionssyndrom(e) –– Strahlentherapie 475
–– Diagnosekriterien 595 –– lumbale  641, 646–648 ZNS-Parasitosen 337–385
Vorbeireden 139 –– spinale 642–651 –– Liquorbefund 42
Vorderhornläsion 502 –– – Diagnostik 642–643 ZNS-Trauma 740–766
Vorsorgevollmacht 30–31 –– zervikale  641, 643–644 ZNS-Tumoren 464–497
Vulpian-Bernhardt-Variante, –– Chemotherapie 476–477
SMA 585 X –– Diagnostik 467–468
VWMD 795 X-Tremor-Ataxie-Syndrom, fragi- –– Differenzialdiagnosen 467
les 590 –– frontobasale 785
W –– Leitsymptome 466
Wachanfall 840 –– primäre 464
Y –– Rehabilitation 478
Wachstadium 826 Young-Onset-IPS 527
Wahn  24, 140–141 –– sekundäre 464
–– hypochondrischer 141 –– Strahlentherapie 474–475
–– nihilistischer 141 Z –– – interstitielle 475
–– systematisierter 140 Zahnradphänomen 121 –– Symptomatik 466
Wahndynamik 140 Zentralarterienverschluss 449 –– Therapie 473–477
Wahneinfall 140 Zentralvenenthrombose 450 –– – Nachsorge 477
Wahnidee 140 Zephalgie(n) Siehe –– – operative 473–474
Wahnstimmung 140 Kopfschmerz(en) –– – symptomatische 472–473
Wahnwahrnehmung 140 Zerebellitis, paraneoplas- –– WHO-Klassifikation 464
Wahrnehmung 23 tische 495 Zöliakie 587
Wallenberg-Syndrom 274 Zerebrale Ischämie(n)  213, 260, Zolmitriptan 219
Warm-up-Phänomen  712, 713 294 Zonisamid, Epilepsiethera-
warning leak  324 –– Antikoagulation, orale  290– pie 430
Wartenberg-Zeichen 13 293 Zosterganglionitis Siehe Varicella-
Waterhouse-Friderichsen-Syn- –– Primärprävention 264–266 Zoster-Infektion
drom 346 –– Risikofaktoren 264 Zostermeningoenzephalitis Siehe
Watschelgang  124, 662, 690, 693 –– Sekundärprophylaxe 288–294 Varicella-Zoster-Infektion
Weaning 188 –– TEA 293 Zostermyelitis Siehe Varicella-­
Weber-Syndrom 274 –– Thrombozytenfunktionshem- Zoster-Infektion
Weber-Versuch 8 mung 288–290 Zoster ophthalmicus Siehe Vari-
Wegener-Granulomatose 301, Zerebrale Vaskulitis  301–307 cella-Zoster-Infektion
678 Zerebralparese, infantile  597– Zoster oticus Siehe Varicella-­
Weil-Krankheit 361 598 Zoster-Infektion
Weinen, pathologisches  19 Zerfahrenheit 139 ZSAS 843
Werdnig-Hoffmann Siehe SMA, Zisternalpunktion Siehe Subokzi- –– Klinik 844
Typ I pitalpunktion Zungenvakuumprotraktor 845
Wernicke-Aphasie 131 ZNS Zwang  23, 141
Wernicke-Enzephalopathie 150, –– Elektrotrauma 763–765 Zwangshandlung 141
812 –– Strahlenschäden 766 Zwangsidee 141
Wernicke-Korsakow-Enzephalo- ZNS-Erkrankung(en) Zwangsimpuls 141
pathie 812–813 –– demyelinisierende 388–406 Zwei-Punkt-Diskrimination 18
Wernicke-Mann-Gang 124 –– ischämische 258–315 Zystizerkose  386, 467
West-Syndrom 417 ZNS-Infektion(en) 338–386 Zytomegalievirusinfekti-
–– EEG 409 –– bakterielle 361 onen 369
WFNS-Skala 326 –– Diagnostik 339–341
–– Enzephalopathien 817
Referenzwerte Labor (Erw.)
Material Konventionelle SI-Einheiten Hausinterne
Einheit Werte
Blutbild
Leukozyten 4,0–11,0 G/l 4.000–11.000 /µl
Lymphozyten 1,0–3,5 G/l 1.000–3.500 /µl
Granulozyten 1,8–7,5 G/l 1.800–7.500 /µl
Erythrozyten F: 4,2–5,4 T/l
M: 4,6-5,9 T/l
Hb F: 12–16 g/dl F: 7,4–9,9 mmol/l
M: 14–18 g/dl M: 8,7–11,2 mmol/l
MCH 26–32 pg 1,6–2,0 fmol
MCV 80–100 fl
Hkt F: 38–43% F: 0,38–0,43
M: 42–48% M: 0,42–0,48
Thrombozyten 140–350 G/l 140–350 /nl
Blutgase (art.)
pH 7,37–7,45
pCO2 F: 35–46 mmHg F: 4,7–6,1 kPa
M: 32–43 mmHg M: 4,3–5,7 kPa
pO2 71–104 mmHg 9,5–13,0 kPa
Standardbikarbonat 21–26 mmol/l
Basenüberschuss –2 bis +2 mmol/l
Blutsenkung
BSG (1. h) F < 50 J.: ≤ 20 mm
F > 50 J.: ≤ 30 mm
M < 50 J.: ≤ 15 mm
M > 50 J.: ≤ 20 mm
Gerinnung
Quick (PTZ) / INR Quick: testabhängig INR: ca. 1,0
PTT ca. 25–36 s
Thrombinzeit (TZ) ca. 16–22 s
Fibrinogen 180–350 mg/dl 1,8–3,5 g/l
Serum/Plasma
Albumin ca. 3,5–5,0 g/dl ca. 35–50 g/l
Ammoniak ca. 27–90 μg/dl ca. 16–53 μmol/l
α-Amylase < 110 U/l
AP F: 35–103 U/l
M: 40–130 U/l
Bili (gesamt) < 1,2 mg/dl < 21 μmol/l
BZ (nüchtern) 55–100 mg/dl 3,0–5,5 mmol/l
CK testabhängig
Material Konventionelle SI-Einheiten Hausinterne
Einheit Werte
Serum/Plasma
CK-MB < 6% der CK
Coeruloplasmin ca. 20–60 mg/dl ca. 0,2–0,6 g/l
CRP < 0,82 mg/dl < 8,2 mg/l
Eisen F: ca. 20–150 μg/dl F: ca. 3,6–26,9 μmol/l
M: ca. 35–170 μg/dl M: ca. 6,3–30,4 μmol/l
Ferritin F: 9–140 μg/l
M: 18–360 μg/l
Gesamteiweiß 6,6–8,3 g/dl 66–83 g/l
(Serum)
GOT (AST, ASAT) F: < 35 U/l
M: < 50 U/l
GPT (ALT, ALAT) F: < 35 U/l
M: < 50 U/l
γ-GT F: < 40 U/l
M: < 60 U/l
Harnsäure F: 2,3–6,1 mg/dl F: 137–363 μmol/l
M: 3,6–8,2 mg/dl M: 214–488 μmol/l
Harnstoff (BUN) 17–43 mg/dl 2,8–7,2 mmol/l
Kalium ca. 3,5–5,5 mmol/l
Kalzium (gesamt) 2,15–2,58 mmol/l
Krea F: ca. 0,6–1,0 mg/dl F: ca. 53–88 μmol/l
M: ca. 0,7–1,2 mg/dl M: ca. 62–106 μmol/l
Laktat (venös) 4,5–20 mg/dl 0,5–2,2 mmol/l
LDH < 250 U/l
Lipase testabhängig
Magnesium 0,75–1,1 mmol/l
Natrium 135-145 mmol/l
Osmolalität 280–300 mosmol/kg H20
Procalcitonin keine Sepsis, wenn < 0,5 µg/l
< 0,5 ng/ml
T3 testabhängig
fT4 testabhängig
Troponin (cTnT) < 0,04 ng/ml < 0,04 µg/l
TSH basal testabhängig
Sonstige

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