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Pariser Kommune 1871: »Pflicht zu sterben


oder zu siegen« – das gescheiterte
Sozialismus-Experiment
Uwe Klußmann, DER SPIEGEL

11-13 minutes

Im Frühjahr 1871 waren die Bewohner von Paris entsetzt und verwirrt. Gerade hatte
Frankreich den Krieg gegen die Deutschen verloren, die am 18. Januar im Spiegelsaal
des Schlosses von Versailles ihr Kaiserreich ausgerufen hatten – um den Gegner zu
demütigen. Das Kaiserreich von Napoleon III., operettenhaftes Regime eines
Populisten, war zusammengebrochen, nachdem der Kaiser, ein Neffe von Napoleon
Bonaparte, im September 1870 in deutsche Gefangenschaft geraten war.

In Paris wurde daraufhin die Dritte Republik ausgerufen und schloss am 28. Januar
1871 einen Waffenstillstand mit den Deutschen. Doch der Rückhalt im einfachen Volk
fehlte, am Stadtrand von Paris standen deutsche Truppen, in der Nationalgarde gärte
es. In neuen Bataillonen aus Arbeitern sammelte sich sozialer Sprengstoff.
Radikaldemokratische und sozialistische Gruppen hatten seit Jahren starken Zulauf
in der Pariser Arbeiterschaft wie auch bei Kleinbürgern und Intellektuellen.

So entstand die Basis für eine Revolution: Die Pariser Kommune währte nur 72 Tage,
dann wurde das sozialistische Experiment vom bürgerlichen Frankreich brutal
zerschlagen. Die Ideen der Kommune aber lebten Jahrzehnte später neu auf – in der
russischen Revolution.

Generäle wurden gelyncht

Anfang März 1871 kam es zu Unruhen, Plünderungen und Angriffen auf


Polizeiposten. Viele Mitglieder der Nationalgarde aus bürgerlichen Familien verließen
die französische Hauptstadt. Die Regierung der Republik unter dem liberal-
konservativen Politiker Adolphe Thiers, im Februar zum »Chef der Exekutive«
gewählt, zog in das von deutschen Truppen geräumte Versailles.

Thiers' Versuch, wieder Herr der Lage zu werden, misslang am Morgen des 18. März.
Da versuchten Armeeinheiten im Regierungsauftrag, der Nationalgarde 400
entwendete Kanonen zu entreißen – vergebens. In den Wirren lynchten
Aufständische zwei Generäle der Regierungstruppen. Die Nationalgarde hatte die
Beute-Artillerie in Arbeitervierteln stationiert.

Von diesem Moment an standen sich zwei Frankreichs bewaffnet gegenüber: die
bürgerliche Republik der Thiers-Regierung und das revolutionäre Paris, das sich um
die Nationalgarde scharte. Zunächst zog ein Zentralkomitee der Nationalgarde ins
Stadthaus ein und verkündete per Proklamation »An das Volk«, eine neue
»Republik« werde »die Ära der Eroberungs- und Bürgerkriege für immer beenden«.

Das Zentralkomitee setzte eine Wahl an, die am 26. März die Spaltung der
Gesellschaft zeigte. Rund 45 Prozent der 492.000 Wahlberechtigten gaben ihre
Stimme ab. In den Gemeinderat von Paris zogen 15 Abgeordnete der bürgerlichen
»Ordnungspartei« ein, nahmen aber ihre Mandate nicht an, ebenso wie sechs weitere
Gewählte.

Von den Abgeordneten gehörten 13 zum relativ gemäßigten Zentralkomitee der


Nationalgarde, 17 waren Sozialisten und Kommunisten, weitere 31 Deputierte
ultralinke »Blanquisten«. Der 66-jährige Berufsrevolutionär Louis-Auguste Blanqui
hatte jahrzehntelang immer wieder sozialistische Geheimbünde organisiert. Weil er
gerade erneut in Haft saß, wurde Blanqui in Abwesenheit gewählt.
»Ein Menschenmeer unter Waffen«

So formierte sich am 28. März 1871 der Rat der Pariser Kommune als revolutionäres
Machtorgan: Die Mehrheit bildeten die Blanquisten gemeinsam mit den Jakobinern,
die in der Tradition der französischen Revolution von 1789 standen, und den
sogenannten Radikalen. Neben Arbeitern und Handwerkern waren auch
Journalisten, Anwälte und Ärzte vertreten. Das Gremium war linkspluralistisch, kein
Einparteiensystem.

Die französische Anarchistin und Feministin Louise Michel, deren begeisterte


Erinnerungen »Die Pariser Commune« jetzt auf Deutsch erschienen sind, schilderte
die Amtseinführung des Kommune-Rates so: »Ein Menschenmeer unter Waffen, die
Bajonette dicht an dicht wie Ähren auf dem Feld, die Blechmusik zerreißt die Luft, die
Trommeln grollen dumpf.«

Der Rat beschloss radikale Schritte zur Umgestaltung des Lebens: Mietern wurden
die Mieten von Oktober 1870 bis April 1871 erlassen. Die Kommune löste das
stehende Heer auf und ersetzte es durch »allgemeine Volksbewaffnung«. Sie verbot
die Nachtarbeit vor fünf Uhr morgens in den Bäckereien, fror den Brotpreis ein,
beschloss unentgeltliche Schulbildung sowie die Bezahlung von Beamten in Höhe
eines Arbeiterlohnes.

Viele Staatsdiener verließen daraufhin Paris, nur ein Viertel arbeitete weiter. Für
Konflikte sorgte auch die nun propagierte Trennung von Kirche und Staat. Die
Rätemacht entzog der Kirche die Schulen; bestehen blieb nur die Krankenpflege
durch Ordensschwestern. Zerschlagen wurde zudem der Polizeiapparat. Als die Leiter
der Polizei und Gendarmerie verhaftet wurden oder flohen, tat sich die Kommune
schwer damit, für Sicherheit zu sorgen. Dem fragilen neuen Gemeinwesen fehlte es an
Fachleuten.

Die Schwindsucht der »schönen Revolution«

Die Kommune verbot auch Hütchen-, Würfel- und Kartenspiele auf der Straße und
unterband den »für die öffentliche Gesundheit schädlichen« Handel mit Tabak.
Derweil blühte die Denunziation. »Das Volk fühlt das Bedürfnis, die Politik des
Verdachts einzuführen«, schrieb »Cri du Peuple« (Schrei des Volkes) als größte
Kommune-Zeitung mit einer Auflage von bis zu 100.000 Exemplaren.

In Paris erschien eine Vielzahl von Zeitungen linker politischer Richtungen. Verboten
wurde ein Dutzend meist bürgerlicher Zeitungen, darunter der »Figaro«. Reißenden
Absatz in Arbeitervierteln wie Montmartre fanden radikale Kampfblätter in einer
vulgären, vermeintlich »volksnahen« Sprache.

Foto: 

KHARBINE-TAPABOR / imago images

Auf den Barrikaden: Die Pariser Kommune 1871

Auch wortgewaltige Aufrufe Pariser Bohemiens konnten nicht darüber


hinwegtäuschen, dass die Kommune in Frankreich isoliert blieb. Ähnliche Versuche
in Lyon und Marseille scheiterten rasch an der Gewalt der Gegenrevolution.

Der Zustand der »schönen Revolution«, wie ihre Anhänger die Kommune nannten,
ähnelte mehr und mehr der Euphorie einer Schwindsüchtigen. Das Komitee einer
Künstlerföderation versprach »gemeinschaftlichen Luxus, zum Glanz der Zukunft
und der Weltrepublik«. Das Pathos war laut, die Realität rau: Dem chaotischen
Gemeinwesen mangelte es an revolutionärer Disziplin. Betrunkene
Nationalgardisten, die durch die Straßen schwankten, waren Vorboten des
Untergangs.

»Schwaches Geschlecht«? Von wegen

Ab April 1871 drangen Regierungstruppen in Pariser Vororte ein und beschossen die
Befestigungen der Kommune. Am 21. Mai begann die Armee die Stadt zu stürmen. Es
war der Anfang vom Ende der Kommune. »Gesetzestreue weicht der Pflicht zu siegen
oder zu sterben«, schrieb die Zeitzeugin Louise Michel.

An der Verteidigung beteiligten sich auch zahlreiche Frauen, geführt von der 20-
jährigen Russin und Sozialistin Elisabeth Dmitrieff, die mit Karl Marx im Austausch
stand. Die Frauen versorgten Verwundete und schleppten Pflastersteine auf
Barrikaden, als gelte es zu beweisen, dass niemand das Recht hatte, vom schwachen
Geschlecht zu reden. Im Mai 1871 schrieb Louise Michel: »Jetzt trägt Paris ein
tragisches Gesicht, die Leichenwagen mit den vier roten Fahnen fahren häufiger,
hinter ihnen gehen Mitglieder der Commune und Abgesandte von Bataillonen zum
Klang der Marseillaise.«

Die Kämpfer der Kommune errichteten 900 Barrikaden, zumeist in den Vierteln der
Arbeiter und der Armen, wo ihr Rückhalt am stärksten war. Ihren letzten Sitz bezog
die Kommune im Viertel Belleville und griff im Untergang zum Terror gegen
gefangene politische Gegner. Am 24. Mai 1871 erschossen Kommunarden nach einem
gescheiterten Gefangenenaustausch 50 Geiseln, darunter der Pariser Erzbischof
Georges Darboy.

Am 28. Mai besiegten die Regierungstruppen die letzten Kommune-Kämpfer und


erschossen 147 Gefangene an der Südmauer des Friedhofs Père Lachaise. Die Zahl der
Getöteten wird auf 7000 bis 17.000 geschätzt; 40.000 Kämpfer und Sympathisanten
der Kommune gerieten in Gefangenschaft. Nach der Haft wurden viele von ihnen
noch in eine Strafkolonie auf der Südseeinsel Neukaledonien verbannt, auch Louise
Michel. Nach einer Amnestie 1880 kehrte die Anarchistin nach Paris zurück.

Lenin nahm Maß für die Russische Revolution

Gut 36.000 überlieferte Dossiers zu den vor Kriegsgerichten angeklagten


Kommunarden geben ein Bild von der Anhängerschaft. Demnach waren die meisten
unter 40 Jahre alt, knapp zwei Drittel Arbeiter, vielfach Metallarbeiter. 80 Prozent
waren zuvor nie straffällig geworden, obwohl sich auch Kleinkriminelle und
»Vagabunden« angeschlossen hatten.

Ein halbes Jahrhundert später zündeten Kommune-Ideen beim Flächenbrand im


größten Flächenland der Welt. Wladimir Uljanow, Führer der Partei der Bolschewiki
und als Lenin viel bekannter, lebte ab 1908 vier Jahre im Pariser Exil und
beschäftigte sich detailliert mit der Geschichte der Kommune. Seine Folgerungen für
die Revolution 1917: Dass die Revolutionäre die »Staatsmaschine zerbrechen«
müssten, sei die »wichtigste praktische Lehre«, schrieb Lenin kurz nach dem Sturz
von Zar Nikolaus II. im März 1917.

Für Russland propagierte Lenin im April 1917 einen »Staat vom Typus der Pariser
Kommune«, der Armee und Polizei »durch die direkte und unmittelbare Bewaffnung
des Volkes« ersetzen müsse. Die Kommune sei »nicht entschlossen genug
vorgegangen« – eine Ursache ihrer Niederlage, so Lenin einige Monate später in
seiner Strategieschrift »Staat und Revolution«. Denn in der Revolution sei es
»notwendig, die Bourgeoisie und ihren Widerstand niederzuhalten«.

Die sowjetische Wirklichkeit mit Einparteienregime und Bezahlung von Funktionären


weit über Arbeiterlohn entfernte sich bald sehr von den Prinzipien der Kommune.
Doch wie wichtig Lenins Anhängern der Bezug zu den französischen Revolutionären
war, zeigte sich noch 40 Jahre nach seinem Tod: 1964 nahmen sowjetische
Kosmonauten die Schleife einer Fahne der Pariser Kommune mit auf ihren
Weltraumflug.

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