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Dänemark dkr 57,95 Frankreich € 6,80 Italien € 6,80 Österreich € 6,00 Portugal (cont) € 6,80 Slowenien € 6,50 Spanien/Kanaren € 7,00 Ungarn Ft 2670,- Printed in Germany

Was uns aus dem


APP & ANTIKÖRPER

Shutdown holen kann


NEW YORK

Geisterstadt
Big Apple wird zur
Jobs und Wohlstand frisst
Wie Corona unsere Wirtschaft infiziert,

Protokoll
Das Pleitevirus

eines Versagens
SCHUTZMASKEN
Nr. 15 / 4.4.2020
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Volle
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Transparenz?
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Streitgespräch, New York, »DEIN SPIEGEL« Durch digitale Zusammenarbeit

mit meinem Steuerberater.


Noch vor wenigen Wochen war Deutschland das
Kraftzentrum Europas mit selbstbewussten Unter-
nehmern und mächtigen Konzernen. Nun, in der
Coronakrise, sind die meisten Läden dicht, in vielen
Fabriken herrscht gespenstische Ruhe, Millionen
Menschen fürchten um ihre Jobs. Wie lange kann
STEPHEN LAM

das Land dies überstehen? Ein SPIEGEL-Team um


Reporter Thomas Schulz hat die aktuelle Lage re-
cherchiert und erlebte dabei Wirtschaftsführer zwi-
Schulz schen Verzweiflung und Hoffnung. Simon Hage
sprach mit Managern der Autoindustrie darüber,
wie sich die Krise vom Großkonzern bis hin zu Händlern und Kunden frisst. Martin
Hesse diskutierte mit dem Krisenstab des Outdoor-Ausrüsters Vaude, wie sich eine
nachhaltige Firmenkultur trotz allem aufrechterhalten lässt. Und Gerald Traufetter
begleitete Wirtschaftsminister Peter Altmaier. »Am Ende«, sagt Hage, »müssen alle
zugeben, dass sie die Krise ohne den Staat nicht meistern können.« Seite 8

Im Dezember war es noch ein eher theoretischer Schlagabtausch. Der Bestsellerautor


Marc Friedrich warnte im SPIEGEL-Streitgespräch vor dem »größten Crash aller Zei-
ten«, der Ökonom Peter Bofinger hielt das für Quatsch. Seither sind die Börsenindizes
teilweise um bis zu 40 Prozent abgestürzt. Die SPIEGEL-Redakteure Tim Bartz und
Armin Mahler luden die beiden deshalb zu einer Fortsetzung des Streitgesprächs ein,
diesmal per Videokonferenz. Wieder prallten die Meinungen unversöhnlich aufein-
ander. »Das wird nicht gut gehen«, sagt Friedrich über die Rettungsprogramme der
Staaten und Notenbanken. »Wir schaffen das«, glaubt Bofinger. Wer von den beiden
recht hat? »Das werden wir alle bald sehen«, sagt Mahler. Seite 18

Der neue Brennpunkt der globalen Coronakrise heißt New York City. SPIEGEL-Korres-
pondent Marc Pitzke hat hier schon vieles miterlebt – den 11. September 2001, Hurrikan
»Sandy«, zwei große Blackouts. Doch diese Katastrophe, so berichtet er, drohe größer
zu werden als alles, was bislang geschah. Pitzke begleitete mehrere New Yorker durch
den Alltag im Notstandsgebiet: Ein
Arzt kämpft um das Leben von Co-
vid-19-Patienten und hat sich dabei
selbst angesteckt, ein Stadtrat, Fran-
RYAN CHRISTOPHER JONES / DER SPIEGEL

cisco Moya, warnt US-Präsident


Donald Trump vor den Risiken der
Seuche, Broadwaystars begegnen der
Zukunftsangst mit Humor. Auch Pitz-
ke muss sein Leben in Brooklyn neu
organisieren, in seinem Freundeskreis
Mit den digitalen DATEV-Lösungen haben Sie jederzeit
tauchen immer mehr Corona-Fälle
den Überblick über Ihre aktuellen Geschäftszahlen.
auf. Sein sehr persönliches Protokoll
einer »Woche, die alles veränderte«, Und sind direkt mit Ihrem Steuerberater verbunden. So
finden Sie auf Seite 80. Pitzke, Moya in New York können Sie anstehende Investitionen sicher entschei-
den. Informieren Sie sich im Internet oder bei
Ihrem Steuerberater.

Auch Kinder haben viele Fragen zur Weltviruskrise. Woher kommt


Sars-CoV-2? Wann kann man sich dagegen impfen lassen? Ist das
Digital-schafft-Perspektive.de
Virus auch für junge Menschen gefährlich? Die Titelgeschichte von
»DEIN SPIEGEL« gibt erste Antworten. Kinder erzählen zudem,
wie sie die Quarantäne erleben. Außerdem im Heft: Der Sänger
Mark Forster spricht über Gefühle in der Musik. Und: warum Moore
so wichtig für den Umweltschutz sind. Das Nachrichten-Magazin
für Kinder erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 3


Inhalt
74. Jahrgang | Heft 15 | 4. April 2020

Titel Hochschulen Die Universitäten


sind geschlossen – wer
Wohlstand Wie das Virus die darf jetzt noch Staatsexamen
gesamte Wirtschaft erfasst – machen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
und wie Deutschland aus der
Krise kommen kann . . . . . . . . . 8 Kriminalität Wie skrupellose
Betrüger in Zeiten von
Pandemie Crash-Prophet Corona die Verunsicherung
Marc Friedrich und Ökonom der Menschen nutzen . . . . . . . 50
Peter Bofinger im SPIEGEL-
Streitgespräch über die Frage, Essay In systemrelevanten
ob Schulden die Ursache oder Berufen arbeiten vor allem
die Lösung der Krise sind . . . 18 Frauen – nun zeigt sich,
wie ungleich Lasten zwischen

CARLO COZZOLI / EMPICS / ACTION PRESS


den Geschlechtern verteilt
Deutschland sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Leitartikel Die Bundesregierung Gerichte Die Coronakrise


sollte in der Coronakrise überfordert die Justiz . . . . . . . 54
Solidarität mit den Schwächs-
ten in Europa zeigen . . . . . . . . . 6 Rassismus Der rechte
Attentäter von Hanau war
Politiker kritisieren RKI-Chef psychisch krank . . . . . . . . . . . . . 55
Wieler / Single-Eltern fürchten
Virus besonders / Mehr Grenz-
kontrollen? / Die Gegendar-
Zoff um Corona-Hilfen Reporter
stellung / So gesehen: Corona- Ärmere EU-Staaten ächzen unter den enormen
Polizeistaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Familienalbum / Kann man
Kosten der Pandemie – doch Berlin verweigert Corona wegputzen? . . . . . . . . . 56
Europa I Die EU streitet Finanzhilfe durch sogenannte Eurobonds. Der
um die Frage der Solidarität internationale Druck wächst, nun verweist der Eine Meldung und ihre
zwischen den Nationen . . . . . 26 Bund auf den Rettungsschirm ESM. Der soll Geschichte Bollerwagen-
protest gegen Google ....... 57
Europa II Haushaltskommissar
bei Bedarf ordentlich aufgestockt werden. Seite 26
Hahn über die finanziellen Gesundheit Wenn Einsamkeit
Wünsche an die Deutschen 30 die Seele schwächt –
Besuch bei einer Frau, die
CDU Bei den Christdemokraten professionell berührt . . . . . . . 58
werden die Karten im Kandi-
datenspiel neu gemischt . . . . 32 Abschied Alexander Osang
reist aus Israel heim
Gesundheit An den Schutz- ins Krisengebiet Deutsch-
masken zeigen sich die land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Probleme der Krisenpolitik 34
Ohne dich Wie lebt
VNA / XINHUA / DPA

Gesundheitspolitik Lockdown – der Komiker Otto Waalkes


kein Ende in Sicht . . . . . . . . . . 40 in so ernsten Wochen? . . . . . . 65

Grundrechte SPIEGEL-Streit-
gespräch zwischen Katja Suding Wirtschaft
(FDP) und Karl Lauterbach
(SPD) über die Beschrän-
kungen der Freiheit in Zeiten
Das Symbol der Krise 50 Milliarden für Wiederauf-
bau / VW macht Riesenverluste
von Corona . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Noch mag die Bundesregierung das Volk bei Nutzfahrzeugen . . . . . . . . . 66

Senioren Nirgendwo ist das


nicht zwingen, Schutzmasken Umwelt Wirft die Corona-
Virus so gefährlich wie in zu tragen. Aber sie könnten wichtig für krise den Klimaschutz in der
Alten- und Pflegeheimen . . . 46 eine Exitstrategie werden. Seite 34 Industrie zurück? . . . . . . . . . . . 68

4 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Konzerne Allianz-Chef Wissen
Oliver Bäte über die Pandemie
als Versicherungsfall und die Neue Saurierart entdeckt /
Krise der Kapitalanlage . . . . 72 Überlebenschance für den
Eisbären / Wie kann ich
Finanzen Kommen die Milliar- mir das Gesichtsfummeln
denhilfen des Bundes bei den abgewöhnen? . . . . . . . . . . . . . . 100
Unternehmen an? . . . . . . . . . . . 74
Medizin Die Fälle der ersten
Gesundheit Die Seuche Corona-Opfer in Deutschland
beschleunigt die Digitalisierung zeigen, wen das Virus tötet und
der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 wie die Menschen sterben 102

Ökologie Umweltzerstörung,
Ausland Klimawandel, Artensterben –
auf Umwegen züchtet
Die erratische US-Außenpolitik der Mensch neue Seuchen 106
in Venezuela / Covid-19-Tote

GETTY IMAGES
in Iran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Epidemiologie Nicht alle
Infizierten haben Symptome –
USA New York ist von so breitet sich Sars-CoV-2
der Pandemie betroffen weiter aus als gedacht . . . . . . 108
wie keine zweite In der Geisterstadt
Metropole auf der Welt –
Bericht aus einer Stadt In New York schießen die Zahlen der Kultur
vor dem Zusammenbruch . . . 80 Infizierten und Toten dramatisch in die Höhe,
Dokumentation »But
Südkorea Regierungsstrategen
das Virus hat die Achteinhalb-Millionen- Beautiful« / Neuer Roman
berichten, wie mit Metropole nahezu komplett lahmgelegt. Porträt von Julia Holbe /
großflächigen Tests und einer Weltstadt im Katastrophenmodus. Seite 80 Serie »Bibi & Tina« . . . . . . . . 112
dem Tracking von
Patienten das Land das Kulturbetrieb Musiker und
Virus eingedämmt hat . . . . . . 86 Theaterleute stemmen
sich mit Onlineaktionen
Armut Die Auswirkungen Todesfalle Altenheim gegen die Krise . . . . . . . . . . . . 114
der Seuche werden in
armen Ländern am größten Die Pandemie bedroht vor allem Alte Unter dem Motto »SPIEGEL
sein, was für den Westen und Kranke, immer mehr Menschen sterben liest« öffnen jeden Tag
zur Gefahr werden kann . . . 88 Autorinnen und Autoren ein
in den Heimen, Besuchsverbote sollen die Fenster in ihre Wohnung
Italien Außenminister Bewohner schützen. Viele Rentner fühlen sich und in die Welt . . . . . . . . . . . . 116
Luigi Di Maio über jedoch isoliert, und sie haben Angst. Seite 46
die Frage, was er sich Autoren Leïla Slimani ist der
in der Krise von neue Star der französischen
der Europäischen Union Literatur, mit ihrem Corona-
erhofft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Tagebuch provoziert sie einen
Streit über Arm und Reich
Gastbeitrag Viktor Orbán in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . 118
wird in Ungarn zum
MARKO RISOVIC / NYT / REDUX / LAIF

Diktator, Europa schaut Performance Marina Abra-


bisher nur zu . . . . . . . . . . . . . . . . 92 mović, eine der berühmtesten
Künstlerinnen der Welt,
über ihr wildes Leben . . . . . 120
Sport

Übungen für die Zeit der


Kontaktsperre / Gut zu wissen:
Wie lässt sich das Immun-
system stärken? . . . . . . . . . . . . . 95 »Einsamkeit macht kreativ«
SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . . 29
Vereine Können Geister- Die Performancekünstlerin Marina Abramović Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
spiele Pleiten im Fußball erlebt diese Wochen in München, wo sie eine Impressum, Leserservice . . . 124
verhindern? . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Oper inszenieren wollte. Ein SPIEGEL-Gespräch Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
So leer sind die Kassen bei über Krisen, Herausforderungen Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
vielen Ballsportvereinen . . . 99 und viele beglückende Momente. Seite 120 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelbild: Getty Images 5


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Corona macht’s nötig


Leitartikel Die deutsche Ablehnung von Eurobonds ist unsolidarisch, kleingeistig und feige.

E
urobonds, versicherte Kanzlerin Angela Merkel vor allein gestellt schon bald kein Geld mehr am Kapitalmarkt
acht Jahren, auf dem Höhepunkt der Eurokrise, wer- aufnehmen können, die Zinsen wären zu hoch.
de es nicht geben, »solange ich lebe«. So wurden die Wenn Italien, Spanien und Frankreich aber ähnlich gene-
südeuropäischen Länder beim Videogipfel der EU- röse Hilfsprogramme und Garantien für ihre stillstehenden
Staats- und Regierungschefs vergangene Woche erneut brüsk Volkswirtschaften auflegen müssen wie die Deutschen, um
abgebürstet, als sie wieder mal Eurobonds ins Spiel brachten, ein Massensterben von Firmen zu verhindern, wären dafür
um ihre Volkswirtschaften gegen die Einschläge der Corona- nicht Milliarden, sondern Billionen Euro nötig. Und wenn
Pandemie abzuschirmen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Europäer nicht sofort signalisieren, dass sie sich dieser
sprach abfällig von einer »Gespensterdebatte«. Krise gemeinsam entgegenstemmen, wird das ein Fest für
Entweder begreifen Deutsch- Populisten, EU-Feinde und die
lands Regierende nicht, was sie Hedgefonds in London oder
da so fahrlässig abschmettern. New York. Wie schon im Fall
Oder sie wollen es nicht begrei- Griechenlands werden sie auf
fen, weil sie Angst haben, die einen europäischen Staats-
AfD könne Hilfen für europäi- bankrott wetten. Und diesmal
sche Nachbarn für ihre Pro- wird die Wette aufgehen.
paganda ausschlachten. Schließ- Staaten wie Italien oder
lich war es die erbitterte De- Spanien sind zu groß, um sie
batte über die Unterstützung mit vorhandenen Instrumen-
für Griechenland, die 2013 zur ten wie dem Europäischen
Gründung der AfD führte. Rettungsfonds ESM aufzu-
Statt den Deutschen ehrlich fangen. Dessen 410 Milliarden
zu sagen, dass es zu Eurobonds Euro reichen nicht mal für
in einer Krise wie dieser keine Italien allein lange. Zudem
ALBERTO LINGRIA / REUTERS

Alternative gibt, suggeriert uns sind ESM-Hilfen an Auflagen


die Regierung Merkel, dass mit gebunden, die bei einem exo-
diesen Bonds etwas faul wäre. genen Schock wie Corona
Dass sie am Ende von den fleißi- nicht sinnvoll wären.
gen deutschen Steuerzahlern Die Deutschen würden die-
beglichen werden müssten, weil se Auflagen gern aufweichen
Italiener mit Geld angeblich Italiens Premierminister Giuseppe Conte und verweisen auf die Europäi-
noch nie umgehen konnten. Die sche Zentralbank. Die könne
Kanzlerin hat dieses Narrativ so ja aufkaufen, was sonst keiner
oft bedient, dass jedes Eingeständnis an Spanier und Italie- wolle. Die Notenbank wurde von der Politik schon vor
ner wie eine Niederlage wirken würde. Sie hätte es nie acht Jahren als letztes Bollwerk missbraucht, weil die
so weit kommen lassen dürfen. Schon aus Mitgefühl und Regierenden zu feige waren, die Probleme selbst zu lösen.
Solidarität nicht. Die Wucht der Corona-Pandemie führt in De facto aber würden all diese Vorschläge auf das Gleiche
Italien und Spanien zu einer menschlichen und medizini- hinauslaufen: eine gigantische Vergemeinschaftung von
schen Tragödie – auch weil beide Staaten, wie von Brüssel Risiken – nur werden sie nicht Eurobonds genannt.
gewünscht, zuletzt hart gespart haben. Und nicht, weil sie Da ist es ehrlicher und effizienter, auf den jüngsten Vor-
über ihre Verhältnisse lebten. schlag der Franzosen einzugehen, den inzwischen selbst
Europa steckt dieser Tage in einer existenziellen Krise. Eurobonds-Skeptiker gut finden: Corona-Bonds. Das sind
Sich in einer solchen Situation als finanzpolitischer Tugend- europäische Staatsanleihen, die zeitlich begrenzt und
wächter aufzuspielen ist kleingeistig und schäbig. Vielleicht an einen ganz bestimmten Zweck gebunden sind – die Pan-
erinnern wir uns mal kurz daran, wer nach dem Kriegs- demie zu bewältigen. Sie wären ein starkes Signal an
ende den Wiederaufbau Deutschlands mitfinanziert hat. die Finanzmärkte, aber auch an die Menschen in Europa.
Eurobonds sind gemeinsame Anleihen aller Eurostaaten, Es würde beweisen, dass wir einander in größter Not
keine Transferunion. Sie haben den Vorteil, dass sie als nicht im Stich lassen, dass Europa mehr ist als ein Bündnis
sichere Anlage gelten, weil Staaten mit gutem Leumund von Egomanen, mehr als ein gut geölter, aber kaltherziger
wie Deutschland für Verpflichtungen nicht ganz so solider Binnenmarkt mit (noch) gemeinsamer Währung. Ach ja,
Schuldner wie Italien mithaften. Das macht Kredite für und eine bombensichere Geldanlage, die endlich wieder
Deutschland etwas teurer, für Italien aber deutlich billiger. Zinsen abwirft, wären Corona-Bonds auch. Nur für Hedge-
Berlin kann sich das leisten, Rom hingegen würde auf sich fonds nicht. Steffen Klusmann

6 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


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Titel Das Virus ruiniert die deutsche Wirtschaft – Branche für
Branche. Tausenden Unternehmen droht die Pleite, Millionen
Menschen die Arbeitslosigkeit. Eine Staatswirtschaft auf Zeit soll das
Schlimmste verhindern. Aber was kommt danach?
RAFAEL MARCHANTE / REUTERS

8 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


F
Frank Iwer hat das Homeoffice schon nach
zwei Tagen aufgegeben, Krisenstäbe las-
sen sich nur schwer von zu Hause aus lei-
ten. Jeden morgen ab sieben Uhr sitzt er
nun wieder in der weitgehend verwaisten
Firmenzentrale, ein Glaskasten wenige
Hundert Meter vom Bodensee, Zeugnis
von Jahrzehnten des Erfolgs. Die abrupt
beendet sind. »Der Markt ist auf unbe-
stimmte Zeit praktisch zum Erliegen ge-
kommen«, fürchtet er.
Iwer ist Personalleiter Deutschland von
ZF Friedrichshafen, einem der größten
Autozulieferer der Welt, rund 150 000 Mit-
arbeiter, 37 Milliarden Euro Umsatz.
Wenn es so etwas wie ein Herz der deut-
schen Wirtschaft gibt, dann schlägt es hier,
in der Autoindustrie, mit Tausenden Un-
ternehmen, mit 1,6 Millionen Arbeitsplät-
zen, die an der Branche hängen, alle aufs
Engste miteinander verbunden. Wenn die-
ses Herz stottert, krankt der ganze Orga-
nismus.
Iwer war lange Zeit Gewerkschafter, lei-
tete Strategie und Planung bei der IG Me-
tall, im vergangenen Herbst holte ihn ZF
Friedrichhafen als Modernisierer. Um die
Mitarbeiter auf das schleichende Ende des
Verbrennungsmotors einzustimmen, um
mit dem Vorstand eine Zukunftsstrategie
für 2030 zu entwickeln und weitere gol-
dene Jahre zu garantieren. Stattdessen ar-
beiten die ZF-Manager jetzt Tag und
Nacht daran, Jobs zu retten und das Un-
ternehmen flüssig zu halten.
Für Iwer und seine Managementkol-
legen ist klar, dass die Coronakrise nicht
nur die Autoindustrie, sondern die gesam-
te Wirtschaft »in eine komplett andere
Welt katapultiert hat«. Über Nacht wur-
den Gewissheiten von Jahrzehnten außer
Kraft gesetzt, die Grundregeln von
Globalisierung und Marktwirtschaft infra-
ge gestellt.
Die Ökonomen können noch nicht ge-
nau sagen, wie schwer das Virus die Wirt-
schaft verwüsten wird, wie viele Unter-
nehmen pleitegehen werden, wie viele
Arbeitslose es geben wird, wann und wie
Stillstehende Bänder im VW-Werk in Palmela, Portugal diese Krise enden wird. Kommendes Jahr
mit zwei Millionen Arbeitslosen und fünf

9
Prozent Einbruch der Wirtschaftsleistung? telte. Wenn fast alle Läden dicht sind, Herde aussortiert werden. Die Ungleich-
In drei Jahren mit vier Millionen ohne Job wenn die Fabrikbänder stillstehen und Lie- heit würde weiter zunehmen, die Schere
und zehn Prozent Einbruch? ferketten zusammenbrechen, wenn das zwischen Arm und Reich sich noch weiter
Sicher ist: So eine abrupte Vollbrem- ganze Leben für Wochen, womöglich Mo- öffnen.
sung der globalen Wirtschaft hat es noch nate angehalten wird, dann rast die Krise Welche Konflikte hier drohen, zeigte in
nie gegeben, und die Folgen werden heftig wie ein Buschfeuer durch die komplette der vergangenen Woche besonders scharf
sein. Bekannte Firmen wie Vapiano und Wirtschaft. Ohne Ausnahme. der Fall Adidas: Ein deutscher Vorzeige-
Maredo sind bereits insolvent, Galeria Die Politik versucht zu löschen, wo es konzern, gesättigt von jahrelangen Rekord-
Karstadt Kaufhof flüchtete unter den Ret- geht, mit unerhörten Mengen Geld, mit gewinnen und üppigen Reserven, be-
tungsschirm. Viele weitere werden folgen. pauschalen Zusicherungen, mit weitrei- schließt einfach, die Miete für seine deut-
470 000 Unternehmen hatten bis vergan- chenden Garantien. Aus das ist eine Ge- schen Geschäfte auszusetzen. Wie weit
gene Woche bereits Kurzarbeit beantragt. wissheit dieser Krise: Die deutsche Wirt- dürfen Unternehmen gehen, um ihr Über-
Eine schier unglaubliche Zahl. Selbst zum schaft wird auf absehbare Zeit eine Staats- leben zu sichern? Und was macht man mit
Höhepunkt der Finanzkrise waren es ge- wirtschaft sein. Nur überlebensfähig, weil rücksichtslosen Krisengewinnlern?
rade mal 23 000. der Bund Milliarden Euro direkt in Unter- Die aufziehende Depression wird eine
»Wir kämpfen um jeden Arbeitsplatz«, nehmen pumpt, sich beteiligt, zinslose Kre- Mammutaufgabe für Unternehmen und
verspricht Arbeitsminister Hubertus Heil dite verschafft, Arbeitsplätze mit Steuer- Politik gleichermaßen, denn allein mit
(SPD). In vielen Fällen wird dieser Kampf geldern finanziert, Schutzschirme über gan- kurzfristigem Krisenmanagement ist es
nicht zu gewinnen sein. ze Industrien spannt, Konjunkturprogram- nicht getan. Wenn die deutsche Wirtschaft
Ein Vergleich lässt sich allenfalls mit me auflegt. Und riesige Schulden macht. eines Tages wieder aus dem dunklen Tun-
dem Jahr 1929 ziehen, als Deutschland be- Das ist wohl alternativlos, aber es wirft nel auftauchen wird, darf sie nicht um
gann, in der Großen Depression zu versin- neue Probleme auf. Welche Regeln gelten Jahre zurückgeworfen sein, eine reine In-
ken: Damals brach die Industrieproduk- für diese staatsgestützten Unternehmen, dustriewirtschaft, dominiert von Autokon-
tion nach und nach um 40 Prozent ein, und wer macht sie? Konzerne werden zernen, Maschinenbauern, schwerfälligen
mehr als fünf Millionen Menschen wurden meist besser durch die Krise kommen als Dax-Konzernen, während die jungen
erwerbslos. Die Ursachen waren andere, Mittelständler und Familienunternehmen, Technologieunternehmen, kreativen Neu-
aber die Folgen ähnlich: Das ganze Land die oft weniger Barreserven haben. Wenn gründungen, Start-ups und junge innova-
war paralysiert. die Großen nun ungehindert die Kleinen tive Dienstleister verschwunden sind.
Dieses Allumfassende ist es, was die fressen, würde das die gesamte Wirt- Aber: Deutschland könnte auch als Ge-
Ökonomen auch heute umtreibt. Es gibt schaftsstruktur verändern. Es würde die winner aus dieser Krise kommen. Schon
nicht nur ein Epizentrum, wie 2008, als Tür öffnen zu einem neuen Raubtierkapi- jetzt ist zwischen all den Notfallplänen
die Finanzindustrie zusammenbrach. Oder talismus, mit zahllosen Schwachen und und Rettungsszenarien zu erkennen, dass
1973, als die Ölkrise die Welt durchschüt- Angeschlagenen, die gnadenlos aus der Corona den seit Langem tobenden System-
wettbewerb verschärfen, vielleicht ent-
scheiden wird: Auf der einen Seite sind
die Chinesen, die auf Befehl hundert Flug-
häfen schneller bauen als Deutschland ei-
nen, aber auch 50 Millionen Menschen
einschließen. Dann die Amerikaner, die
einen Technologiegiganten nach dem an-
deren hervorgebracht haben, nun aber
innerhalb einer einzigen Woche 6,6 Mil-
lionen Menschen in die Arbeitslosigkeit
entlassen.
Deutschland galt schon als abgehängt:
Zu langsam, zu sehr auf eine soziale Markt-
wirtschaft, auf Arbeitsplatzsicherung, auf
solide Unternehmen bedacht. Auf Solida-
rität. Nun könnten diese vermeintlichen
Schwächen sich als Stärken erweisen. Die
kommenden Wochen werden darüber we-
PHILIP FROWEIN / DER SPIEGEL

sentlich entscheiden.

Personalleiter Iwer denkt in diesen


Tagen viel über Domino nach. Jeden Tag
muss er zusehen, wie ein Steinchen das
nächste umwirft. Eine katastrophale Kas-
kade, an deren Ende alle am Boden liegen.
Mitte März haben alle deutschen Auto-
»Der Markt ist auf unbestimmte Zeit praktisch konzerne von BMW bis VW ihre Fabriken
stillgelegt. Um die Arbeiter vor dem Co-
zum Erliegen gekommen.« ronavirus zu schützen, aber auch weil ge-
rade kaum jemand Autos kauft. Das war
der erste Stein.
Frank Iwer,
Seitdem benötigen die Autohersteller
Personalleiter Deutschland des Automobilzulieferers ZF Friedrichshafen
auch keine Teile mehr von den Zulieferern.
BMW etwa braucht von ZF Friedrichs-

10 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Coronakrise

Das Bröckeln der Börsen 9. Januar


China meldet erstes Todesopfer
Ausgewählte Indizes des neuartigen Coronavirus.
Veränderung an den Börsentagen
– 70 % 0 + 11 % 30. Januar
gegenüber dem 1. Januar in Prozent
WHO ruft den internationalen
Gesundheitsnotstand aus.
Jan.
14. Februar

50
x- Frankreich: Erster Todesfall in Europa
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IWF stellt 50 Milliarden Dollar
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Go
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N
S
D

für ärmere Länder zur Verfügung.


9. März
Ölpreis fällt an einem Tag so stark
wie zuletzt 1991. Gold erreicht
höchsten Stand seit sieben Jahren.
12. März
Die US-Notenbank kündigt Hilfen von bis
Febr. zu 1,5 Billionen Dollar für US-Banken an.
13. März
Bundesregierung verkündet Kredit-
und Garantierahmen für die Wirtschaft
»ohne Begrenzung«.
16. März
Stärkster Absturz des Dow-Jones-Index
seit dem »Schwarzen Montag« 1987
18. März
EZB-Notfallprogramm: 750 Mrd. Euro
März für Staats- und Unternehmensanleihen
bis Ende 2020
25. März
Der Bundestag beschließt ein Rettungs-
paket in Höhe von 750 Mrd. Euro.
27. März
US-Kongress beschließt ein Hilfspaket
über zwei Billionen Dollar.
2. April
Die Zahl der nachweislich Infizierten
weltweit übersteigt eine Million,
April die der Toten 50 000.
–27% –28% –25% –22% –25% –9% –55% +6%
gegenüber dem 1. Januar

Historische Tiefststände
Standard & Poor’s 500 Index, wöchentliche Veränderung Quelle: Refinitiv

+10 %

0%

– 10 %
Platzen der
»Schwarzer Dotcom-Blase
Montag«
Finanz-
– 20 % krise Corona-
Große Depression Pandemie

1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020

11
Coronakrise

hafen kaum noch Acht-Gang-Automatik- nicht die notwendigen Teile liefern kön- Es könne durchaus so glimpflich ausge-
getriebe. Seitdem haben die meisten der nen, damit VW die Produktion dauerhaft hen, die Lage sei »nicht wie in einem Krieg,
knapp 9000 Mitarbeiter des ZF-Getriebe- erneut aufnehmen könnte. wo der Kapitalstock zerbombt wird und
werks in Saarbrücken keine Arbeit. Bis »Die ganze Wertschöpfungskette wieder die Arbeiter an der Front sterben«, sagt
Ende Juni ist für sie zunächst Kurzarbei- hochzufahren ist ein Kraftakt, wie wir ihn der Wirtschaftsweise Volker Wieland. »So-
tergeld beantragt. Der zweite Stein. noch nie leisten mussten«, sagt Iwer. »Die bald die Maßnahmen aufgehoben werden,
Weil das ZF-Werk kaum noch Getriebe bisher übliche Methode, dass die Großen stehen der Volkswirtschaft wieder alle Ka-
baut, werden keine Metallteile bestellt. den Kleinen finanziell aushelfen, funktio- pazitäten zur Verfügung.«
Die kamen bislang vom Druckgussspezia- niert nicht mehr.« Die meisten Unternehmen sind aller-
listen Voit aus dem benachbarten St. Ing- dings deutlich weniger optimistisch. Laut
bert. Dort steht das Werk nun ebenfalls Alle Unternehmen stecken im gleichen einer aktuellen Umfrage des Deutschen
still. Stein drei. Dilemma. Sie wollen Pläne für die Zeit Industrie- und Handelskammertages
Voit hat viele Maschinen, die von exter- nach der Krise entwickeln – aber niemand (DIHK) bei 15 000 Betrieben rechnen
nen Monteuren und Anlagenbauern ge- weiß, wann das sein wird. Sicher ist nur: mehr als 80 Prozent mit einem deutlichen
wartet wurden. Sie werden jetzt nicht Je länger der Shutdown andauert, desto Umsatzminus, jeder vierte sogar mit ei-
mehr gebraucht. Auch nicht die lokalen schwieriger wird es für die Politik, lang- nem Verlust von mehr als dem halben Jah-
Handwerker, die sich um Bauarbeiten oder fristige Schäden am wirtschaftlichen Ge- resumsatz.
Sicherheitstechnik im Werk gekümmert flecht zu verhindern. Je länger die Läden Und fast jede fünfte der befragten Fir-
haben. Der vierte Stein. geschlossen sind, desto weniger können men fürchtet demnach, die Coronakrise
Die Handwerker und Kleinbetriebe kön- vor allem kleinere Firmen die Pleite noch nicht zu überleben und Insolvenz anmel-
nen sich nun erst mal keine Kleintranspor- abwenden. Die entlassenen Mitarbeiter den zu müssen. Es droht ein Rekordjahr
ter mehr leisten, die nach Hause geschick- konsumieren nicht mehr, die Wirtschaft der Pleiten, besonders für ohnehin ange-
ten Industriearbeiter und arbeitslosen Kö- erholt sich deutlich langsamer bis gar nicht. schlagene, überschuldete Firmen.
che und Kellner keine Pkw. Das trifft die So skizziert es Lars Feld, der Vorsitzende Sollte das Wirtschaftsleben substanziell
Autohäuser. Sie werden von den großen des Sachverständigenrats der Bundesre- über den Sommer hinaus vom Kampf ge-
Herstellern zwar unterstützt, doch reiche gierung zur Begutachtung der gesamtwirt- gen Covid-19 betroffen sein, könnte die
ihre Liquidität meistens nur »für 30 bis 40 schaftlichen Entwicklung, bekannt als Rat Krise eine grundsätzlich andere Verlaufs-
Tage, danach ist ein Großteil der Betriebe der Wirtschaftsweisen. form nehmen und ein »U« beschreiben:
tot«, warnt Dirk Weddigen von Knapp, Auch die Ökonomen kämpfen mit der Die Wirtschaftskraft würde steil abfallen,
Präsident des Volkswagen und Audi Part- Ungewissheit. Sie arbeiten daher vor al- längere Zeit auf niedrigem Niveau verhar-
nerverbands. Den Autohäusern drohen lem mit drei grundlegenden Szenarien des ren und erst nach zwei oder mehr Jahren
Massenpleiten. Der fünfte Stein. Krisenverlaufs. Im besten Fall vollzieht wieder stark zunehmen.
Solche Kaskaden rollen derzeit durch die Wirtschaftsentwicklung des Landes Der Sachverständigenrat hält eine sol-
den gesamten Autosektor. Der fränkische ein »V« nach: Nach kurzem steilen Ab- che Entwicklung für möglich, falls die
Zulieferer Schaeffler etwa hat bereits 17 sturz normalisiert sich alles wieder und Lage sehr unübersichtlich wird, weil wei-
seiner 52 Werke für Autoteile dichtge- es geht ebenso steil bergauf. Der harte ter unklar ist, wann die Pandemie unter
macht. Dahinter stehen allein in Europa »Shutdown« dauert in diesem »Basissze- Kontrolle sein wird. Weil Firmen dann
1200 kleinere Lieferanten. VW hat mehr nario« fünf Wochen an. Bis zum Ende des ihre Investitionen langfristig herunterfah-
als 300 Zulieferer aus Italien, die geschlos- Jahres läuft die Wirtschaft wieder rei- ren, könnte das mittelfristig das Potenzial
sen sind. Und damit auch bis auf Weiteres bungslos. der Wirtschaft insgesamt senken, Produk-
te und Dienstleistungen zu produzieren.
Weniger Maschinen, weniger Computer –
Hoffen auf das nächste Jahr weniger Jobs. Die Privathaushalte wieder-
um könnten aus Angst vor Arbeitslosig-
Szenarien des Sachverständigenrats zur Entwicklung des BIP keit dazu neigen, ihr Geld insgesamt stär-
Deutsches Bruttoinlandsprodukt in Mrd. €, saison- und kalenderbereinigt ker beisammenzuhalten als in normalen
Zeiten. In diesem Szenario würde die Auf-
holjagd der deutschen Wirtschaft länger
840
auf sich warten lassen. 2020 würde sie
823 mindestens um 4,5 Prozent schrumpfen –
und 2021 mit 1,0 Prozent nur sehr schlep-
pend wachsen.
800 816 Es gibt einen weiteren Buchstaben, mit
dem die Ökonomen einen möglichen Kri-
senverlauf bezeichnen: das L. Nach einem
791 steilen Absturz geht es nur noch seitwärts,
Prognosezeitraum
nicht mehr aufwärts. Das Ifo-Institut hält
760
etwa im schlimmsten Fall ein Minus von
20 Prozent für möglich. Die Wirtschaft
wäre so niedergeschmettert, dass sie nicht
736 mehr in Gang zu bekommen wäre, den
720 Menschen fehlte es an Geld zum Konsu-
2018 2019 2020 2021 mieren, den Firmen an Kapital zum Inves-
tieren. Millionen Menschen wären dauer-
haft arbeitslos. Ein solches Depressions-
vor Epidemie Prognose 2019 / 20 Risikoszenario 1 ausgeprägtes V szenario will die Politik mit allen Mitteln
Basisszenario V-Entwicklung Risikoszenario 2 langes U verhindern.

12
Seit vergangener Woche rollt das größte pression gab es mehrmals Anzeichen für
Hilfspaket für die deutsche Wirtschaft in eine Erholung und dafür, dass die Konjunk-
der Geschichte der Bundesrepublik. Rund tur wieder anziehen könnte – worauf es
1,4 Billionen Euro sollen dabei helfen, In- jedes Mal wieder schlimmer kam.
dustrie, Handel und Dienstleistungen am
Leben zu halten. Soloselbstständige, frei- Für Axel und Ulrike Sassor, die Eigen-
schaffende Künstler bis hin zum Taxichauf- tümer eines kleinen Gastbetriebs im nord-
feur, bekommen einige Tausend Euro di- hessischen Dodenau, begann die Krise mit
rekt auf das Konto überwiesen. Kleinun- einer Reihe von Anrufen. Urlauber, die ei-
ternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten nes der 37 Zimmer im »Motorradhotel Sas-
erhalten bis zu 15 000 Euro Soforthilfen. sor« gebucht hatten, wollten plötzlich wis-
Großkonzerne wiederum können im sen, wie es denn mit Stornogebühren aus-
schlimmsten Falle darauf hoffen, dass der sehe. Das war vor ein paar Wochen. »Wir
Staat sich bei ihnen beteiligt, um eine Plei- wussten zuerst nicht mal, was sie meinen«,
te abzuwenden. Das soll über den mit 600 sagt Axel Sassor. Ihr Hotel ist beliebt und
Milliarden Euro dotierten Wirtschaftssta- notorisch ausgebucht; kurzfristige Anfra-
bilisierungsfonds (WSF) geschehen. Für gen beantwortete das Paar schon mal

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL


die breite Masse der Unternehmen springt scherzhaft mit der Gegenfrage: »Nächstes
der Staat mit einem Kurzarbeiterpro- oder übernächstes Jahr?«
gramm ein, zahlt die Sozialbeiträge für die Mitte März musste das Hotel auf be-
Mitarbeiter. Er stundet Steuern und bietet hördliche Anordnung schließen. Und Sas-
Kredite über die jeweilige Hausbank an, sor seinen Mitarbeitern erklären, dass es
bei denen die KfW für bis zu 90 Prozent für sie bis auf Weiteres keine Arbeit gebe
als Bürge im Hintergrund steht. Höhe des – sieben schickte er in Kurzarbeit, drei
Programms: unbegrenzt. Minijobbern kündigte er. Er bat Strom-
Es sind gigantische Maßnahmen und und Gasanbieter, Zahlungen aussetzen zu
enorme Mittel. Eine »Bazooka«, wie Fi- »Niemand bestellt dürfen, stornierte Obst- und Gemüsebe-
nanzminister Olaf Scholz (SPD) sagt. Und stellungen bei Großlieferanten und sagte
doch werden sie wohl nicht ausreichen. mehr.« Malern und Handwerkern ab, um Kosten
Insbesondere für den Mittelstand. Dort zu sparen. Ohne Einnahmen keine Auf-
Thorsten Zindel,
klafft eine Lücke im Rettungsnetz des Bun- träge. »Wir haben überall angerufen und
Tiefkühllieferant
des, vor allem weil die Laufzeiten der Kre- gesagt: Wir können nicht anders«, sagt
dite zu kurz sind. Sassor. Der erste Stein.
Schon wird über einen zweiten Rettungs- Knapp 50 Kilometer von Dodenau ent-
schirm diskutiert, der zielgenauer auf ein- en über das Entstehen von Wirtschaftskri- fernt hat Schwalenstöcker und Gantz sei-
zelne Branchen zugeschnitten ist, die jetzt sen einen Namen gemacht. Er sucht Ant- nen Sitz, ein Lebensmittelgroßhändler, der
durch das Raster zu fallen drohen: der sta- worten in der Vergangenheit, um die Ge- von seinen Kunden »Schwalli« genannt
tionäre Handel, die kleinen Firmen in der genwart zu verstehen. Vorzugsweise ihre wird. Thomas Raabe, geschäftsführender
Tourismusbranche, etwa Reisebüros. »Der Krisenphasen. Gesellschafter, gehörte zu den Ersten, die
Fantasie sind derzeit wirklich keine Gren- Auch 1929 war die Nachfrage nach Gü- die Not der Sassors zu spüren bekamen.
zen gesetzt, so groß ist die Not«, sagt der tern aller Art dramatisch gesunken. Die »Wenn die Hotels keine Umsätze machen,
CDU-Wirtschaftsexperte und Fraktions- Geschäfte blieben auf ihren Waren sitzen, kommen bei uns auch keine Umsätze an«,
vize Carsten Linnemann. »Eine Branche selbst wenn die Händler sie billiger anbo- sagt Raabe. Seine Lkw transportieren Le-
nach der nächsten gerät in den Abwärts- ten. Die Regierung forderte die Bürger auf, bensmittel; Hotellerie und Gastronomie
strudel.« »jedes Übermaß an Feiern und Vergnügun- machen 85 Prozent seiner Lieferungen aus.
Die Nervosität in Berlin ist so groß, weil gen« zu vermeiden. Immer mehr Laden- Der Rest ginge an Betriebskantinen, Schu-
es dieses warnende historische Beispiel besitzer gaben auf, jeden Tag wurde Inven- len und Kitas – wären die nicht ebenfalls
gibt, weil schon einmal solche Kaskaden tar zwangsversteigert, vor allem Gastro- geschlossen.
durchs Land rollten. Und das Beispiel ist nomen litten Not. Das ganze Land stand Nicht nur das Hotel Sassor braucht seine
nicht die Lehman-Krise, es ist schlimmer. still, ähnlich wie heute. Lieferungen nicht mehr. Von den zwei Dut-
In der letzten Oktoberwoche 1929 rausch- Allerdings war dem Niedergang zur zend Lkw-Touren, die Schwalli normaler-
ten die Börsenkurse ins Bodenlose – und Weimarer Zeit eine Phase wilder Speku- weise täglich fuhr, sind gerade mal fünf üb-
es sollte 22 Jahre dauern, bis die Kurse lation und maßloser Gier vorausgegangen. rig geblieben. Jetzt sind Raabes Lager voll,
wieder das Niveau von vor der Krise er- Diesmal trägt der Finanzsektor keine nur den kleinsten Teil seiner Waren konnte
reichten. Der Kollaps der Finanzmärkte Schuld an der Krise. Sie entspringt viel- er an Endverbraucher loswerden. »Bei uns
riss die Weltwirtschaft in den Abgrund. In mehr der Realwirtschaft, dem kollektiven gibt es Sahne im Fünf-Liter-Pack und Roast-
Deutschland schrumpfte die Wirtschafts- Absturz von Gastwirten, Ladeninhabern beef im 20-Kilo-Karton«, sagt Raabe, »ver-
leistung bis 1933 um mehr als ein Viertel. oder Friseuren, die keine Einnahmen ha- suchen Sie mal, das einer kleinen Familie
Die Welt war vor 90 Jahren eine kom- ben, aber laufende Kosten – was dann wie- zu verkaufen.« Sein Umsatz ist um fast 85
plett andere, dennoch sehen Ökonomen derum aber zur Gefahr für die Kreditwirt- Prozent eingebrochen. Wie lange kann er
mehr Berührungspunkte, als ihnen lieb ist. schaft werden könnte: »Je länger diese Si- das durchstehen? »Drei Monate vielleicht,
»So ungebremst, wie jetzt Produktion und tuation andauert, desto größer wird der aber dann muss ich viele Jahre Schulden
Nachfrage abstürzen, kann das Ganze so Druck auf die Banken«, sagt Schularick. zurückzahlen.« Der zweite Stein.
schlimm werden wie die Große Depres- Eines hat die Geschichte der Weltwirt- Von Dodenau bis nach Witzenhausen
sion«, sagt Moritz Schularick. Der Öko- schaftskrise gelehrt: Auch wenn es so bei Göttingen sind es rund 130 Kilometer,
nom, derzeit Gastprofessor in New York, wirkt, als sei das Gröbste überstanden, ist dort stehen die Früchte von Thorsten Zin-
hat sich mit historisch-empirischen Studi- es noch nicht vorbei. In der Großen De- del und türmen sich bis unter die Decke.

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 13


Coronakrise

»Weil niemand mehr bestellt, ist unser Tief-


kühllager bis zum Rand gefüllt«, sagt Zin-
del. Das Unternehmen des 58-Jährigen
gibt es seit 1947: Großvater Alfred vertrieb
frische Kirschen aus der Region, Enkel
Thorsten spezialisierte sich auf die tiefge-
kühlte Variante. Großhändler wie Schwalli
kaufen bei der Alfred Zindel AG ein, um
dann an die Gastbetriebe zu liefern.
Dass die Hotels und Gastronomen lang-
sam Probleme bekamen, merkte Thorsten
Zindel Anfang März, an den Lieferungen,
die sein Lager Richtung Großhandel ver-
ließen. Zuerst wurden von Paprika und
Kirschen nur noch halbe Paletten ange-
fragt, dann nur noch einzelne Lagen, dann
gar keine mehr. Am 16. März, als im Hotel

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL


Sassor die ersten Mitarbeiter gehen muss-
ten, brach sein Geschäft nahezu komplett
ein. »Je länger dieser Shutdown andauert,
desto schlimmer wird es für uns alle«, sagt
er. Sein Auftragsvolumen ist um 80 Pro-
zent eingebrochen. Ein paar Monate hält
er das durch, vielleicht. Der dritte Stein.
Der Service-Bund, ein Zusammen-
schluss von deutschen Lebensmittelgroß-
händlern, fordert mittlerweile weit größere »Wenn die Hotels keine Umsätze machen,
Hilfen, als sie der Bundestag bisher be-
schlossen hat. Man müsse unbedingt Gas- kommen bei uns auch keine Umsätze an.«
tronomen und Hoteliers entlasten, sagt Ge-
Thomas Raabe,
schäftsführer Ulfert Zöllner – den Anfang
Lebensmittelgroßhändler in Nordhessen
der Kette, das erste Dominosteinchen. Er
schlägt eine Übernahme sämtlicher Fix-
kosten vor, von Bruttogehältern über Mie-
ten und Gas- und Stromrechnungen, so im Februar vergangenen Jahres vorgeschla- Allerdings wird es teuer, wenn der Staat
wie in Dänemark. Nur auf diese Weise gen – damals für den Fall, dass sich ein aus- für alles geradesteht, wenn er temporär
könne man die Kette stoppen, bevor sie ländischer Investor ein deutsches Hightech- Konzerne, Mittelständler oder Soloselbst-
alle anderen Unternehmen mitreiße. »Das Unternehmen unter den Nagel reißen will. ständige finanzieren und den Bürgern Ar-
Geld muss vorn fließen«, sagt Zöllner, »Was haben mich die Ökonomen damals beitsplatz und Einkommen sichern will.
»nicht irgendwo dazwischen.« gescholten, als ich staatliche Beteiligungen Das geht nur über neue Schulden, extrem
vorgeschlagen habe«, sagt Altmaier heute. hohe Schulden. Der Bundestag hat bereits
Egal, wo das Geld fließt, eines steht fest: Nun bekommt er Lob von fast allen Sei- entschieden, die im Grundgesetz ver-
Es kommt vor allem vom Steuerzahler. ten für seine riesigen staatlichen Krisen- ankerte Schuldenbremse zeitweise auszu-
Der Staat wird nun zwangsweise zum zen- programme. Und niemand widerspricht, setzen. Ein »überschaubares Risiko«, fin-
tralen Akteur in der Wirtschaft. wenn staatliche Beteiligungen nun nicht det Schularick, denn die Zinsen sind nied-
»Diese Pandemie erfordert nicht nur mas- mehr nur für Konzerne, sondern auch für rig, und Deutschland hat viele gute Jahre
sive staatliche Finanzhilfen, sie erfordert kleinere Mittelständler ab 250 Angestell- hinter sich.
Intervention, eine staatlich gesteuerte Re- ten vorgesehen sind. Wenn die Bundeslän- Die Probleme liegen in den nächsten
organisation der gesamten Wirtschaft«, sagt der in der Not sogar bei noch kleineren Monaten wohl zunächst auf ganz anderen
Edmund Phelps, kein linker Theoretiker, Unternehmen direkt als Anteilseigner ein- Gebieten. Wenn die Wirtschaftsordnung
sondern Wirtschaftsnobelpreisträger. Es steigen sollen. durcheinandergewirbelt wird, wenn der
brauche eine »systemische Absicherung«, Deutschland auf dem Weg in die Staats- Staat plötzlich alte Regeln außer Kraft
mit »groß angelegten Eingriffen des Staates, wirtschaft: Das klingt befremdlich, nach setzt und im Schnellverfahren durch neue
in die Art und Weise wie die Wirtschaft pro- Planerfüllung und Ineffizienz, nach DDR. ersetzt, wird es zu Chaos kommen.
duziert«. Vor ein paar Wochen noch hätte Viele Ökonomen halten so einen System- Die Bundesregierung hat den normalen
sich kaum ein etablierter Ökonom zu einer wechsel allerdings für machbar – solange Wirtschaftskreislauf mit den Anti-Corona-
solchen Aussage hinreißen lassen, nun kom- er vorübergehend ist. In Zeiten von Krie- Gesetzen bereits an mehreren Stellen un-
men solche Forderungen aus allen Lagern. gen habe der Staat gezeigt, dass er die Ka- terbrochen: Vermieter dürfen Mietern
Für den deutschen Wirtschaftsminister pazität hat, Marktmechanismen außer nicht mehr kündigen, wenn diese ihre Mie-
ist das trotz aller aktuellen Sorgen auch ein Kraft zu setzen und selbst die Wirtschaft te infolge der Coronakrise vorerst nicht
wenig Genugtuung. Wenn man Peter Alt- zu steuern, sagt Krisenexperte Schularick. begleichen können. Konsumenten, die ein
maier in diesen Tagen bei seiner Arbeit »Die Ressourcen werden dann auf ein Ziel Verbraucherdarlehen etwa zur Finanzie-
begleitet, erlebt man einen angespannten, gebündelt – damals den Krieg, heute das rung ihrer Wohnung aufgenommen haben,
aber auffallend selbstbewussten Politiker. Virus.« In solchen Situationen sei der Staat dürfen die Raten bis vorerst Juni aussetzen
Verstaatlichung, das war bis vor Kurzem autorisiert, zentrale Güter zu bewirtschaf- und später nachzahlen. Wenn nötig, darf
noch ein Schimpfwort in seiner Partei. Alt- ten, im Krieg die Erdölvorräte, heute viel- die Große Koalition die Maßnahmen sogar
maier hatte es in seiner Industriestrategie leicht Beatmungsgeräte. bis Ende September verlängern, ohne dass

14 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


der Bundestag das noch einmal absegnen
müsste.
Flexibel bleiben.
»Mit diesen Eingriffen ins Vertragsrecht
hat die Regierung eine Grenze überschrit-
Lesen Sie den SPIEGEL,
ten«, sagt Clemens Fuest, Chef des Münch-
ner Ifo-Instituts. »Sie stellt damit die Si-
cherheit von Vertragsbeziehungen infrage,
solange Sie möchten.
dafür muss man schon sehr gewichtige Frei Haus.
Gründe haben.«
Dass kein Mieter wegen der Corona-
Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
krise seine Wohnung, kein Selbstständiger 4 % sparen.
sein Ladengeschäft verlieren sollte, steht Für nur € 5,10 pro Ausgabe statt € 5,30 im Einzelkauf
außer Frage. Doch es waren nicht strau-
chelnde Privatpersonen, sondern Unter- Ohne Risiko.
nehmen wie Adidas, Deichmann, und Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
H & M, die als Erste ankündigten, ihre La-
Vergünstigte Tickets.
denmieten vorerst als präventive Maßnah-
me zurückhalten zu wollen. Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen
Die Fälle zeigen, wie groß die Nervosi- auf www.spiegel-live.de
tät in den Unternehmen ist. Und wie drin-
gend es klare Regeln für die neue Corona-
Wirtschaft braucht. Ungewohnte Fragen
sind dringend zu klären: Können Unter-
nehmen mit staatlichen Krediten machen,
was sie wollen, oder müssen klare Bedin-
gungen an die Vergabe geknüpft werden? Einfach jetzt anfordern:
Dürfen staatlich gestützte Unternehmen
noch Boni zahlen, Aktien zurückkaufen
oder Wettwerber übernehmen?
abo.spiegel.de/flexibel
Und wer entscheidet eigentlich, wie lan- oder telefonisch unter 040 3007-2700
ge wir Zombies am Leben halten: Unter-
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP-FLEX)
nehmen, die auch vor Corona schon kri-
selten oder vor dem Aus standen, und nun
dank Staatshilfe eine künstliche Lebens- Keine
verlängerung erhalten? Mindest-
Hier setzt traditionell die Kritik am star-
ken Staat an: Wenn Politiker und Beamte laufzeit
versuchen, die Wirtschaft zu dirigieren,
geht das immer schief. Und wenn nun auch
noch in die Grundlagen der Wirtschafts-
ordnung eingegriffen wird, könnte vor lau-
ter Krisenmanagement schnell vergessen
werden, dass die deutsche Wirtschaft nach
Corona weiter wettbewerbsfähig sein
muss. Mehr noch als vorher sogar. Denn
die Weltwirtschaft wird nach der Krise
eine andere sein.

Niemand kann derzeit vorhersagen, wie


zukunftsträchtig das deutsche Exportmo-
dell in einer sich deglobalisierenden Welt
noch ist. Deutschland ist wie kaum ein an-
deres Land abhängig von Ausfuhren, gut
die Hälfte der Waren, die die Industrieun-
ternehmen herstellen, werden im Ausland
verkauft. Die deutsche Wirtschaft: Das ist
Siemens, Bosch oder BASF – Konzerne,
die überproportional vom Welthandel ab-
hängen. Und es sind die rund tausend mit-
telständischen »Hidden Champions«, oft
regional verwurzelt, die am Weltmarkt
eine Spitzenstellung einnehmen.
Das macht sie in der Coronakrise so au-
ßerordentlich verwundbar, wenn Liefer-
ketten reißen und Grenzen geschlossen
werden. Das Virus legt brutal die Schwä-
chen und Gefahren der Globalisierung of-

15
Coronakrise

fen. Die Deglobalisierung sei längst im hierzulande? Oder warum haben die Un- und Sicherheit, sagt Schularick. Für die
Gange, sagt Ökonom Schularick. »Durch ternehmen ihre Lagerhaltung derart he- Exportnation Deutschland bedeutet das:
die Finanzkrise und dann den Populismus runtergefahren, sich auf Just-in-time-Be- Ihre Unternehmen müssen sich auf einen
hatten wir schon einige Jahre vor Aus- lieferungen verlassen und sich mit ihren noch härteren globalen Wettbewerb ein-
bruch des Virus den Höhepunkt erreicht langen Lieferketten höchst verletzlich ge- stellen.
und überschritten.« Der Aufstieg der Popu- macht? »Da wird man neu nachdenken«, Es ist ein fast unmöglicher Balanceakt:
listen, die Konflikte im Welthandel, erwartet Schularick. Die Unternehmen kämpfen gegen den
höhere Zölle und neue Vorschriften: Viele Am Ende geht es um nicht weniger als vielleicht größten Absturz der Geschichte
Regierungen sind längst vom Prinzip of- die Suche nach einem neuen Wirtschafts- und sollen gleichzeitig noch eine Schippe
fener Märkte abgerückt. Der Corona- modell. Weniger global, weniger arbeits- drauflegen. Innovativer, technologiestär-
Schock beschleunigt den Prozess nun. teilig. Dies würde die Produktion ineffi- ker, exportunabhängiger werden.
Die Krise wirft neue Fragen auf: Warum zienter und teurer machen. Ein Nachteil, Dass es dafür mehr kleine, wendige Fir-
wird etwas Überlebenswichtiges wie An- den die Menschen gleichwohl in Kauf näh- men braucht, Start-ups insbesondere, steht
tibiotika in China produziert und nicht men, gewännen sie damit an Souveränität schon lange fest. Aber die gehören nun zu
den Ersten, die in der Krise fallen.
Kaum eine Branche trifft das Beben so
unvorbereitet wie die deutsche Start-up-
Szene. Selbst in wirtschaftlich ruhigen
Zeiten sind viele der Neugründungen auf
Kante genäht, angewiesen auf immer neue
Kapitalspritzen. Das ist Teil des Konzepts:
Potenzielle Geldgeber interessiert das
Wachstum eines Unternehmens mehr, als
die Frage, ob es Gewinne macht oder gar
Rücklagen für magere Jahre bildet.
In Krisenzeiten offenbaren sich die Tü-
cken dieses Spiels: »Wer in den nächsten
Monaten dringend Kapital braucht, hat
jetzt ein Problem«, sagt Christian Miele,
Präsident des Bundesverbands Deutsche
Start-ups und Urenkel des gleichnamigen
Waschmaschinenpioniers. Er ließ in der
vergangenen Woche eine Umfrage bei
mehr als tausend jungen Gründern und
Gründerinnen durchführen – mit erschre-
ckendem Ergebnis: Acht von zehn sehen
sich in ihrer Existenz gefährdet.
Miele konnte diese Ergebnisse anfangs
kaum glauben: »Das Bild ist weit dramati-
scher, als wir es uns vorgestellt haben«,
sagt er. Zwei Drittel der Befragten planen,
den Staat um Hilfe zu bitten.
Für Deutschland ist das Überleben der
Start-ups elementar. Allein in Berlin schu-
fen sie in den vergangenen zehn Jahren
80 000 neue Jobs. Und zogen dort ver-
gangenes Jahr 3,7 Milliarden Euro Kapital
an. Der Schuhversandhändler Zalando ist
mittlerweile einer der größten Arbeit-
geber der Stadt. »Es geht jetzt darum, ein
Desaster abzuwenden«, sagt Miele. Den
PHILIP FROWEIN / DER SPIEGEL

Bundestag hat er bereits überzeugt: Der


jüngst verabschiedete Wirtschaftsstabi-
lisierungsfonds schließt rund 150 bis 200
Start-ups mit einer Bewertung von über
50 Millionen Euro ein, auch Selbststän-
dige und Kleinunternehmer sind abge-
sichert. Am Dienstag kündigte die Bun-
desregierung zusätzlich an, Gründern
»Wir wollen wirtschaftlich erfolgreich sein, kurzfristig mit einem Zwei-Milliarden-
Euro-Fonds zu helfen.
aber auf verantwortliche Art.« Im Wirtschaftsministerium widmen sich
mehrere Stäbe, unterstützt von einer Hun-
dertschaft an Beratern, der Zeit nach der
Antje von Dewitz,
Krise: Es werden erste Szenarien entwi-
Haupteigentümerin des Outdoor-Spezialisten Vaude
ckelt, wie Deutschland bei einer globalen
Aufholjagd vorneweg laufen könnte.

16
Öffentlich will man darüber noch nicht der Planung und Vorbereitung für die kom-
reden, die Krisenhilfe soll im Vordergrund Wer kam besser aus der Krise? menden Saisons beteiligt sind, arbeiten
stehen. Aber intern sieht man die Chance, noch. Auch der deutsche Teil der Fertigung,
all das Lähmende endlich abzustreifen, USA China Eurozone die Taschenmanufaktur in Tettnang, läuft
über das jahrelang gestritten wurde und zunächst weiter, weil noch Auftragsrück-
auf dessen Beseitigung man sich nicht ei- stände aufzuholen sind. Leute, die in der
nigen konnte: die überbordende Bürokra- Logistik arbeiten, wo es jetzt fast nichts zu
Beginn der Weltfinanzkrise
tie, die zähen Genehmigungsverfahren, tun gibt, helfen dort aus. Die 200 Mitar-
2008 beiter, die Dewitz ins Homeoffice geschickt
ideologische Grundsatzkämpfe. »Für all
das ist keine Zeit mehr«, sagt ein hochran- hat, bekamen ein paar Tage Sonderurlaub,
giger Mann im Wirtschaftsministerium. um Kinderbetreuung und das Leben im
Jetzt öffne sich ein Zeitfenster, um mit der Bruttoinlandsprodukt Krisenmodus zu organisieren.
Gesellschaft einen Konsens über einen Veränderung zum Vaude verhandelte Kompromisse mit
tiefgreifenden Wandel der Wirtschaft her- Vorjahr, in Prozent den Händlern, die Bestellungen stornieren
zustellen. So wie der damalige Kanzler 11,4 und Zahlungsaufschub bekommen wollen,
Gerhard Schröder einst eine tiefe Krise vereinbarte mit den in Asien angesiedelten
nutzte, um den Arbeitsmarkt grundlegend 6,1 Produzenten und Lieferanten spätere Zah-
zu reformieren. lungsziele.
Doch dazu müssen die Unternehmen Das Unternehmen verhandelt mit den
den Schock erst einmal überleben, vor al-
3,5 Vermietern seiner vier Outlets über Miet-
2,3
lem die kleinen und mittleren. Und viel- minderungen für die Zeit, in der auf
leicht ist der langfristig bessere Weg dafür behördliche Anordnung die Läden ge-
nicht der kalte Konzernegoismus. Vielleicht 1,7 schlossen bleiben. »Wir glauben, dass es
1,2
kommen gerade jene Unternehmen besser unsere Position stärkt, wenn wir uns jetzt
durch die Krise, die versuchen, ihre Netz- als verlässlicher Partner zeigen«, sagt
werke zu erhalten und solidarisch zu sein. Dewitz.
– 4,5 Solidarisches, nachhaltiges Wirtschaften
Der schwäbische Outdoor-Spezialist als alternative Krisenbewältigung zum
Vaude hat in den vergangenen Jahren viele Raubtierkapitalismus, kann das gut gehen?
Auszeichnungen bekommen: den Umwelt- Arbeitslosenquote Wenn sich der Shutdown bis Ende Mai
preis für Unternehmen des Landes Baden- 9,6 in Prozent oder Juni zieht, stößt auch der kooperative
Württemberg, den European Business Weg von Vaude an Grenzen. Selbst im bes-
Award; es war für den Preis für soziale 5,1 ten Fall wird am Ende des Jahres ein deut-
3,7
Verantwortung der Bundesregierung no- licher Verlust stehen, zumal Dewitz davon
miniert. Ein Mittelständler, der nicht nur ausgeht, dass der Markt mit herunter-
schnell wächst, sondern seine Trekking- gesetzter Ware überschwemmt werden
rucksäcke, Mountainbike-Schuhe und wird, sobald das Geschäft wieder anläuft.
Funktionsjacken auch nachhaltig und so- 4,2 3,8 Das Bankenkonsortium der Firma trägt
zial verantwortlich produziert. »Wir wol- dieses Szenario mit, vorerst reicht auch
len wirtschaftlich erfolgreich sein, aber auf die Liquidität.
verantwortliche Art und partnerschaftlich offizielle chinesische Angaben Bleiben die Läden bis Ende Mai zu,
mit unseren Mitarbeitern«, sagt Chefin muss Dewitz den Kurs ändern. »Dann fah-
Antje von Dewitz. 12,0 ren wir auf Notreserve runter, es müsste
Sie hat die Führung der Firma vor elf 9,1 einen radikalen Kostenstopp geben.«
7,6
Jahren von ihrem Vater übernommen. Seit Die Produktion in der Manufaktur würde
drei Wochen fragt sie sich, wie viel davon stillgelegt, die Beschaffung in Asien für
noch übrig bleibt. Auch Vaude kämpft Sommer 2021 würde massiv reduziert.
über kurz oder lang um das nackte Über- Dann würden auch Marketing und Pro-
leben. Am 11. März erhielt die Vaude-Che- duktentwicklung drastisch gekürzt und
fin eine E-Mail ihres wichtigsten Vertriebs- ein Großteil der Belegschaft in Kurzarbeit
partners in Italien. Er schilderte die dra- geschickt.
matische Situation im Land und kündigte 29,0 Warenexporte In dieser Woche hat Vaude mit den Ban-
an, alle 720 Filialen zu schließen. Veränderung ken besprochen, wie hoch die KfW-Kredi-
Von da an ging es Schlag auf Schlag. In zum Vorjahr, te sein müssten, um liquide zu bleiben.
allen Kernmärkten sind die Sport- und in Prozent Noch sind das Vorsichtsmaßnahmen,
Outdoor-Läden, die Kaufhäuser und 24,8 die Hoffnung überwiegt. Dewitz versucht,
Franchisenehmer, über die Vaude verkauft, die Stimmung hochzuhalten, den Zusam-
mittlerweile geschlossen. Auch der Online- 7,7 2,3* menhalt zu fördern. Mit einem neuen On-
handel lahmt. Der Umsatz ist insgesamt 1,8* lineprogramm machen Mitarbeiter aus
auf etwa zehn Prozent des normalen Ni- dem Homeoffice nun gemeinsam Sport
veaus abgestürzt. 5,2 per Videokonferenz.
Dewitz arbeitet mit drei Szenarien: 0,9* »Wir schaffen das«, sagt Dewitz.
Shutdown bis Ende April, bis Ende Mai Simon Hage, Martin Hesse,
*Schätzung;
oder bis Ende Juni. Noch plant sie mit der – 14,3 Quellen: IWF, Ameco Alexander Jung, Anton Rainer,
optimistischsten Variante. Marcel Rosenbach, Thomas Schulz,
Vaude hat für 40 Prozent der Beschäf- Anne Seith, Gerald Traufetter
tigten Kurzarbeit angemeldet. Alle, die an 2005 2012 2019

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 17


Coronakrise

nicht bewältigen. Jetzt geht es darum, dass

»Der Staat muss man den Patienten ausreichend versorgt,


damit er diese Zeit ohne größere Schäden
überlebt. Denn wie das Ganze ausgeht,

wie ein Arzt das System steht ja noch gar nicht fest. Der riesige
Crash ist nicht zwingend. Man kann das
hinkriegen.
SPIEGEL: Wie denn?

stabilisieren« Bofinger: Was die Bundesregierung ge-


macht hat, ist richtig, aber nur ein erster
Schritt. Wenn wir noch vier oder sechs
Wochen Shutdown haben, brauchen wir
nicht nur Liquiditätshilfen für die Unter-
nehmen, Kredite allein genügen nicht. Ich
habe deshalb eine Art negativer Einkom-

»Ich würde mensteuer vorgeschlagen: Der Staat soll


den Unternehmen einen Teil der Steuern,
die sie im vergangenen Jahr gezahlt haben,

den Patienten friedlich zurückgeben.


Friedrich: Ob das den Unternehmen
wirklich hilft? Das ganze System ist doch
krank. Wir werden eine Pleitewelle sehen,
einschlafen lassen« die 1929 in den Schatten stellen wird. Die
USA haben vorige Woche den größten
Anstieg der Arbeitslosigkeit seit Beginn
der Aufzeichnung gemeldet, das ist leider
auch hier zu erwarten. Wann haben die
SPIEGEL-Streitgespräch Der Bestsellerautor Marc Friedrich hat großen Automobilkonzerne Daimler und
den größten Crash aller Zeiten prophezeit und sieht VW jemals zuvor die Produktion ge-
stoppt?
sich durch die Pandemie bestätigt. Der Ökonom Peter Bofinger Bofinger: Das hat doch nichts mit einem
hält die Thesen noch immer für Quatsch. angeblich kranken System zu tun. Sie kom-
men mir vor wie ein Vulkanforscher, der
sagt, der Vulkan bricht aus, und das Dorf
A wird verschüttet. Dann brennt es im
SPIEGEL: Herr Friedrich, im Dezember und negative Zinsen, deshalb kommt es Dorf B, und Sie sagen: Ich habe es doch
haben wir mit Ihnen und Herrn Bofinger zu einer Krise in der Finanzwirtschaft. Das gleich gesagt. Die großen deutschen Kon-
ein Streitgespräch über den von Ihnen Virus trifft jetzt aber vor allem die Real- zerne haben riesige Liquiditätspolster …
prognostizierten größten Crash aller Zei- wirtschaft. Wie sich das auf die Finanzwirt- Friedrich: … noch. Ich glaube, wir werden
ten geführt. Seither sind die Börsenindizes schaft auswirkt, muss man erst mal sehen. in wenigen Wochen in einer komplett an-
teilweise um bis zu 40 Prozent eingebro- Friedrich: Dann darf ich noch einmal da- deren Welt aufwachen.
chen. Fühlen Sie sich bestätigt? ran erinnern, was Sie in unserem letzten Bofinger: Ich glaube: Wir schaffen das.
Friedrich: Mir war klar, dass der Crash ir- Gespräch gesagt haben: Ich sehe keinerlei Das hier ist kein klassischer Konjunktur-
gendwann kommen würde, mir war nur Anlass für eine Weltrezession, einen Zu- einbruch. Der geht meistens vom Investi-
nicht klar, was der Auslöser sein würde. sammenbruch der Finanzmärkte oder eine tionsbereich aus, vom Export oder dem
Das Coronavirus hat das Ganze beschleu- starke Inflation. Immobiliensektor. Dieses Mal geht der pri-
nigt, es war die Nadel, die die Finanz- Bofinger: Das ist doch alles richtig. vate Verbrauch voll in die Knie. Wenn wir
marktblase zum Platzen gebracht hat. Friedrich: Des Weiteren haben Sie gesagt: eine große Pleitewelle vermeiden, kann
Dass eine Rezession kommen musste, Es gibt keine Anzeichen, dass die Welt- die Beschäftigung nach der Krise ohnehin
habe ich ja immer gesagt, weil die Märkte wirtschaft um 20 Prozent abstürzen könn- wieder hochgefahren werden. Aber dafür
seit Jahren aus dem Gleichgewicht sind. te. Wo sollte das denn herkommen? Ich muss die Politik jetzt mutig sein.
SPIEGEL: Herr Bofinger, das sehen Sie habe immer gesagt und geschrieben: Aus- SPIEGEL: Das heißt, sie muss mehr Schul-
sicher anders. löser könnte eine Naturkatastrophe sein den machen als jetzt schon geplant?
Bofinger: Natürlich. Ich finde es abenteu- oder der Zusammenbruch einer großen Bofinger: Das ist die einzige Lösung. Der
erlich, das Coronavirus zu instrumenta- Bank. Die Frage ist nicht, was es ist, son- frühere EZB-Chef Mario Draghi hat das
lisieren. Die ganzen wirtschaftlichen Pro- dern wann es geschieht. Und es ist gesche- sehr schön gesagt: Die Schulden dürfen
bleme sind ja nur entstanden durch die hen. Ökonomen wie Sie und die Noten- nicht bei den Unternehmen sein, sondern
Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche. banken können Krisen immer nur im der Staat muss sie in seine Bilanz nehmen.
Der Shutdown hat die gesamte Wirtschaft Nachhinein erklären, sie sehen sie nie kom- Friedrich: Dann kriegen wir eine Hyper-
lahmgelegt. Betroffen sind nicht hoch ver- men. Wäre dieses Virus auf ein gesundes inflation.
schuldete Unternehmen, sondern der Ein- Finanzsystem gestoßen, wären die Verwer- Bofinger: Überhaupt nicht, der ganze Pro-
zelhandel, der Mittelstand. Die hatten zu- fungen nicht so groß. zess ist hoch deflationär. In einer schweren
vor keine Finanzierungsprobleme. Bofinger: Das gesündeste Finanzsystem Rezession haben wir hohe Arbeitslosig-
Friedrich: Beim letzten Punkt bin ich der Welt würde einen solchen Shutdown keit, viele Insolvenzen, Überkapazitäten,
ganz bei Ihnen. ohne staatliche Hilfe nicht verkraften. Die also Deflation. Deshalb müssen Staaten
Bofinger: Moment. Ihre These war doch: Wirtschaft wurde in ein künstliches Koma und Notenbanken noch mehr als jetzt tun,
Wir haben eine Überschuldung in der Welt versetzt, das kann sie aus eigener Kraft um die Wirtschaft am Leben zu erhalten.

18 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


ANDREAS REEG / DER SPIEGEL

ANDREAS REEG / DER SPIEGEL


Friedrich, 44, Autor und Vermögensberater, hat Bofinger, 65, ist Professor für Volkswirtschaftslehre
zusammen mit seinem Partner Matthias Weik den Bestseller an der Universität Würzburg und war 15 Jahre lang Mitglied
»Der größte Crash aller Zeiten« geschrieben. des Sachverständigenrats.

Friedrich: Wir versuchen seit Jahren, dro- Bofinger: Japan lebt mit einer sehr hohen untergegangen ist, sondern gestärkt aus
hende Rezessionen mit Gelddrucken und Staatsverschuldung, derzeit sind es fast ihnen hervorgegangen ist. Nach dem Welt-
Zinssenkungen zu bekämpfen. Diese Me- 240 Prozent relativ zur Wirtschaftsleis- krieg kam das Wirtschaftswunder.
dikamente haben nie funktioniert. Mit tung, seit Jahrzehnten bestens. Bofinger: Das ist abenteuerlich!
Gelddrucken kann man weder Wohlstand Friedrich: Ihr Problem ist: Sie trauen sich SPIEGEL: Herr Friedrich, was würden Sie
erzeugen noch das Virus bekämpfen. nicht aus Ihrem Denken heraus. Wenn denn jetzt konkret tun?
Wenn die amerikanische Notenbank wei- man, wie Sie, Krisen nicht erkennt, sucht Friedrich: Ich würde versuchen, die Her-
terhin wie in der vergangenen Woche je- man lieber nach Punkten, die für das Sys- denimmunität zu stärken. Damit die Volks-
den Abend 125 Milliarden Dollar ins Sys- tem sprechen. Für mich ist das Ding durch, wirtschaft nicht zu sehr in die Knie geht,
tem pumpt, dann würde ihre Bilanz bis ich glaube nicht, dass man das System noch sollten Vorgeschädigte und Ältere ein,
zum Jahresende rund 30 Billionen Dollar einmal wird retten können. Wir können zwei Monate zu Hause bleiben, der Rest
groß sein, das ist Wahnsinn! Die Ungleich- uns ein wenig Zeit erkaufen, aber spätes- geht raus und macht seine Arbeit. So könn-
gewichte im Finanzsystem werden immer tens 2021, 2022 werden die Schuldenblasen te man das Wirtschaftssystem noch ein
größer. Das wird nicht gut gehen. platzen. Und dann stehen wir vor densel- bisschen beibehalten.
Bofinger: Ich sehe es genau andersherum: ben Problemen, nur dass sie sich bis dahin Bofinger: Als Ökonom würde ich mir eine
Die Lösung des Problems wird genau das potenziert haben. Weiterhin Geld hinein- solche Aussage nicht zutrauen, das würde
sein, was Sie als Ursache sehen: Schulden. zupumpen kann nicht die Lösung sein. ich den Leuten überlassen, die mehr davon
Friedrich: Sobald ein Land in der Vergan- Bofinger: Wir kommen da nicht zusam- verstehen. Aber was würden Sie tun, wenn
genheit eine Verschuldung von mehr als men. Wenn die Staaten sich nicht weiter wir von der Prämisse ausgehen, dass der
hundert Prozent des Bruttoinlandspro- verschulden würden, hieße das ja, die Shutdown nötig ist?
dukts hatte, kam es immer zu Inflation Dinge einfach laufen zu lassen. Dann be- Friedrich: Die Staaten werden sich ver-
oder einer Währungsreform. kämen wir genau jene Krise, die Sie pro- schulden, um das Karussell am Laufen zu
Bofinger: Das stimmt doch nicht. Sehen Sie phezeien. halten, und das ist wahrscheinlich die ein-
sich die Kriegsfinanzierung der USA und Friedrich: Das System als Ganzes ist ma- zige Lösung, die es momentan im System
Großbritanniens an. Die hatten einen riesi- rode, aber Sie trauen sich nicht, den Ste- gibt. Nur löst es die Probleme nicht.
gen Anstieg der Schulden, die sie nach dem cker zu ziehen. Ich würde den Patienten SPIEGEL: Wie würden Sie diese Probleme
Krieg und einer kurzen Phase der Inflation friedlich einschlafen lassen. denn lösen?
problemlos wieder abgebaut haben … SPIEGEL: Wie bitte? Friedrich: Ich würde den Euro ad acta
Friedrich: … weil es nach dem Krieg den Friedrich: Warum soll man einen Patien- legen und den Ländern die Schulden er-
größten Aufschwung in der Geschichte der ten am Leben erhalten, der nur noch lassen. Wir müssen den Menschen direkt
Menschheit gab. Wir haben seit Jahren Schmerzen hat? Die Vergangenheit hat solidarische Hilfe zukommen lassen. Ich
weltweit ein schwaches Wachstum. bewiesen, dass die Welt nach Krisen nie würde Italien 10, 20 Milliarden Euro ge-

19
Coronakrise

ben, als Geschenk und nicht ver- SPIEGEL: Die Eurozone ist aber
packt in Corona-Bonds. Wir brau- kein eigener Staat.
chen ein neues Geldsystem, das Bofinger: Es ist in der Tat ein Pro-
nicht auf Schulden finanziert ist. blem, dass wir unterschiedliche
Und wir werden uns verabschie- Nationalstaaten haben, aber eine
den müssen von den ganzen In- gemeinsame Notenbank. Trotz-
stitutionen, die den Menschen dem: Wenn die Eurozone geeint
nichts bringen. am Kapitalmarkt auftritt, steht
SPIEGEL: Welche Institutionen der Euroraum so geschlossen da
meinen Sie? wie Japan und die USA.
Friedrich: EU, EZB, all das, was SPIEGEL: Also Eurobonds?
zentralistisch und planwirtschaft- Bofinger: Es geht nicht um Euro-
lich fern der Menschen ist. bonds, sondern um Corona-
Bofinger: Die EU würden Sie ab- Bonds. Das muss eine einmalige
schaffen? Jedes Land soll sein ei- Veranstaltung sein. Wenn wir aus-
genes Glück in der Weltwirtschaft rechnen, dass diese Krise drei,
versuchen? Sie meinen, wenn die vier oder fünf Prozent des Brut-
Länder national vorgehen, kön- toinlandsprodukts kostet, dann
nen sie sich global besser behaup- Bofinger, Friedrich beim SPIEGEL-Streitgespräch* begeben wir halt Corona-Bonds
ten? Was glauben Sie, was los »Seien Sie nicht so negativ« in dieser Höhe und verteilen das
wäre, wenn wir jetzt noch die D- Geld auf die Länder nach einem
Mark hätten? festen Schlüssel. Als ganz gezielte
Friedrich: Es gibt keine Heilung ohne Friedrich: Der Kapitalismus in seiner heu- Maßnahme und nicht, um die Schulden
Schmerzen. Wir müssen endlich die Rea- tigen Form ist eine Illusion, er ist am Ende. der Vergangenheit zu begleichen. Das wird
lität anerkennen. Diese Politik wird die Wir haben uns 2008 entschieden, den fal- den Menschen einleuchten.
linken und rechten Ränder stärken. schen Weg der Verschuldung und des billi- SPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass die Euro-
Bofinger: Sobald nur der geringste Ge- gen Geldes weiterzugehen. Damals haben staaten dann versuchen würden, künftig
danke laut würde, der Euro sollte abge- die Notenbanken die Banken gerettet, in- alle Probleme auf diesem Weg zu lösen?
schafft werde, gäbe es tatsächlich den zwischen müssen wir uns fragen: Wer ret- Bofinger: Das kann sein. Ich hätte auch
größten Crash. Das wäre so, als würden tet die Notenbanken und die Staaten? nichts dagegen, wenn wir nach dieser Krise
Sie einem Corona-Patienten auf der In- Bofinger: Also mal langsam. Man hat aus sagen würden, dass wir Geld für den Klima-
tensivstation auch noch eine Hüftopera- der letzten Krise viel gelernt und die Ban- wandel brauchen und das über Klimabonds
tion zumuten. ken stabiler gemacht. Deren Kreditver- hereinholen. Die EZB könnte diese Bonds
Friedrich: Wenn Sie den Blinddarm ope- gabe war in den vergangenen Jahren sehr ebenso wie die Corona-Bonds aufkaufen.
rieren und dabei Krebs feststellen, müssen zurückhaltend. Man muss einfach mit SPIEGEL: Das wäre dann direkte Staats-
Sie auch handeln. Dieses System ist dem Instabilität leben. Die Staaten können ein- finanzierung durch die Notenbank.
Tod geweiht. Das Coronavirus wird den greifen, wenn es brennt, sie können die Bofinger: Wo wäre das Problem?
Euro killen. Schulden in ihre Bilanzen nehmen. Friedrich: Weil das schon wieder ein Ver-
SPIEGEL: Herr Bofinger, zurück zu Ihrer Friedrich: Wie soll das denn finanziert tragsbruch wäre …
Lösung: Mehr Geld drucken. werden? Und die Banken sind nicht stabi- SPIEGEL: … denn die direkte Staatsfinan-
Bofinger: Seien Sie mal nicht so negativ. ler – schauen Sie sich nur mal die Aktien- zierung durch die EZB ist verboten. So
Wir müssen den Patienten mit möglichst kurse der europäischen Banken an. steht es in den EU-Verträgen.
wenig Schäden durch das Koma kriegen, Bofinger: Durch die Notenbanken, was Bofinger: Ja, aber wir haben auch eine
das kostet nun mal viel Geld. denn sonst! beispiellose Krise.
SPIEGEL: Riskieren wir nicht, durch die Friedrich: Na super! SPIEGEL: Herr Bofinger, der Staat macht
billionenschweren Hilfsprogramme Unter- Bofinger: Da müssen Sie gar nicht lachen. Schulden, die die EZB aufkauft– das erin-
nehmen, die schon vorher so gut wie tot Wenn der Staat die Schulden nicht über nert an ein Perpetuum mobile. Gibt es für
waren, sogenannte Zombies, künstlich am die Märkte finanziert bekommt, dann über Sie keine Grenze der Staatsverschuldung?
Leben zu halten? die Notenbanken. Dann wird sich die Lage Bofinger: Doch natürlich, die Grenze sind
Bofinger: Man kann jetzt kein Finetuning normalisieren, ohne Inflation. Der Staat die realen Ressourcen einer Volkswirt-
betreiben, wir werden Mitnahmeeffekte muss einschreiten, wenn Deflation droht. schaft. Wenn ich die Staatsverschuldung
sehen. Aber man muss klotzen, darf nicht Man muss da situativ herangehen. Japan exzessiv einsetze, droht Inflation. Wenn
kleckern. Die Frage ist immer: Macht man macht das seit Jahrzehnten. ich sie kontrolliert in der richtigen Situa-
zu viel oder zu wenig? In dieser Krise wür- Friedrich: Sie können doch Japan nicht tion einsetze, vermeide ich Deflation. Es
de ich lieber zu viel machen. mit der Eurozone vergleichen. kommt immer darauf an, die richtige
Friedrich: Der Schaden wird umso größer, Bofinger: Doch, beides sind große Volks- Diagnose zu treffen und die richtige Dosis
je länger man die Rettung von Firmen in wirtschaften. zu finden. Und gegenwärtig haben wir
die Länge zieht, die nicht überlebensfähig Friedrich: Japan hatte Glück im Unglück, eine sehr spezielle Situation.
sind. dass seine Blasen mit Beginn der Globali- Friedrich: Ich finde es unfassbar, dass
Bofinger: Ich vergleiche Wirtschaftssyste- sierung geplatzt sind, zudem ist der Staat Sie immer noch glauben, weiteres Geld-
me mit dem menschlichen Körper. Der ist im Inland verschuldet und hat eine eigene drucken würde die Krise lösen.
im Prinzip ein geniales System und hat Währung. Bofinger: Und ich finde es unfassbar, dass
stabile Abwehrreaktionen. Aber manche Bofinger: Genau wie die USA und Groß- Sie keine Lösung haben. Sie würden die
Schocks verträgt er nicht. Dann muss der britannien. Weltwirtschaft zusammenbrechen lassen.
Staat wie ein Arzt das ganze System sta- SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Friedrich,
bilisieren. Ein absolut schockresistentes * Mit den Redakteuren Tim Bartz (unten l.) und Armin wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Wirtschaftssystem ist eine Illusion. Mahler (oben r.) in Videokonferenz.

20 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


DANKE!
Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen in schwierigen Zeiten einen großartigen Job. Sie sorgen dafür,
dass Briefe und Pakete zu Ihnen kommen. Damit Sie, liebe Kunden, zu Hause bleiben können. Bitte helfen Sie uns,
Kontakte während der Zustellung zu reduzieren. Danke für Ihre Unterstützung und Ihr Vertrauen! Danke an alle in
der Zustellung, in der Sortierung, in den Filialen und hinter den Kulissen für ihren einzigartigen Einsatz!

Aktuelle Informationen unter deutschepost.de/coronavirus und dhl.de/coronavirus


Deutschland

EMILE DUCKE / THE NEWYORKTIMES/REDUX / LAIF


Fußgängerzone Die Budapester Straße ist die Pulsader der alten City West von Berlin – gen Nordwesten
führt sie als Hardenbergstraße vierspurig am Bahnhof Zoo vorbei, östlich mündet sie in den Tiergarten. Jetzt
sind die riesigen Straßenzüge so leer wie zu Normalzeiten nicht einmal mitten in der Nacht.

Politiker rügen RKI-Chef Wieler


Robert Koch-Institut Abgeordnete der Regierungskoalition erbost über öffentlichen Schlingerkurs

 Politiker von Union und SPD üben Lage wie derzeit ist Verlässlichkeit wich- tensivplätzen noch ausländische Patienten
Kritik am Robert Koch-Institut (RKI) und tig.« Auch der CDU-Haushaltsexperte aufnehmen, ist mehr als verständlich.«
seinem Chef, dem Veterinärmediziner Andreas Mattfeldt kritisiert den RKI- Mattfeldt wirft dem RKI zudem vor,
Lothar Wieler. »Mal heißt es, die Lage Chef: »Ich war sehr irritiert, dass Profes- nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. »Es
entspanne sich, dann heißt es plötzlich sor Wieler italienische Szenarien für verwundert schon, dass die Johns Hop-
wieder, wir stünden vor einer Lage wie in Deutschland skizziert hat.« Dies entbeh- kins University in den USA für Deutsch-
Italien«, klagt Bärbel Bas, Vizevorsit- re »jedweder Grundlage«. Bislang seien land anscheinend aktuellere und genauere
zende der SPD-Bundestagsfraktion. Als genug Intensivbetten in den Kranken- Daten liefert als unser mit Bundesmitteln
Gesundheitspolitikerin habe sie zwar häusern vorhanden. »Dass aufgrund der finanziertes RKI.« Die Verzögerungen
noch weitere Informationsmöglichkeiten, Aussagen von Herrn Wieler Normalbür- erklärt das Robert Koch-Institut damit,
andere Menschen hätten diese aber ger uns Politikern die Frage stellen, warum dass nur offiziell gemeldete Fälle verwen-
nicht. »Gerade in einer so angespannten wir denn bei den angeblich knappen In- det würden. LYR, VME

22 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Pandemie oder in Pflegefamilien betreut. Alexander Neubacher Die Gegendarstellung
Nicht zu bedenken scheinen

Heilsamer Horror
Alleinerziehende Behörden, dass diese Kinder
in Not mit Covid-19 infiziert sein
könnten. »Zudem wären klei-
 Der Verband der alleinerzie- ne Kinder völlig verstört, Sollten wir jetzt alle Maske tragen? Gesundheits-
henden Mütter und Väter wenn sie plötzlich von einer minister Jens Spahn sagte diese Woche, er sei
(VAMV) fordert Notfällpläne Mutter getrennt würden, die dagegen, er halte das im Moment nicht für not-
für die Betreuung von Kindern vielleicht schon seit Tagen wendig. Ich bin kein Virenexperte; ich weiß
alleinerziehender Eltern, die Fieber hat«, sagt Jaspers, nicht, ob das stimmt. Doch ich wunderte mich,
schwer an Corona erkrankt »das ist ein ganz anderes Sze- dass am selben Tag Spahn auf Fotos, die sein
sind. »Wenn eine Alleinerzie- nario, als wenn bei der typi- Ministerium auf Facebook und Twitter verbreitete,
hende unverzüglich ins Kran- schen Inobhutnahme ein ver- selbst eine Maske trägt, ebenso wie Mediziner um ihn herum.
kenhaus muss, haben wir ein nachlässigtes Kind geborgen Will Spahn eine Panik vermeiden? Ist er nur deshalb gegen
ernsthaftes Problem«, sagt die wird.« In Berlin, mit rund die Maskenpflicht, weil er und seine Leute es nicht schaffen,
VAMV-Vorsitzende Daniela 100 000 Alleinerziehenden genug Exemplare aufzutreiben, damit es für alle reicht?
Jaspers, »insbesondere wenn Hauptstadt der Single-Eltern, Die Maskendebatte zeigt, wie schwierig Kommunikation in
kein Kontakt mehr zum ande- antwortete die Senatsverwal- Krisenzeiten ist. Spahns Botschaft ist unklar; er sendet wider-
tung für Familie zunächst: sprüchliche Signale. Seine schiefe Kommunikation befeuert
»Eine solche Konstellation ist Verschwörungstheoretiker und löst ebenjene Panikreaktionen
nicht bekannt.« Auf Nach- aus, die Spahn verhindern will. Masken werden gehamstert
frage wurde auf die Senatsver- und geklaut.
waltung für Gesundheit Wie sollte die Regierung die Bürger in der Coronakrise
verwiesen, die die Anfrage informieren? Der Psychologe und Risikoforscher
SEBASTIAN ARLT / LAIF

unbeantwortet ließ. Hamburg Bernhard Streicher sagt: »Menschen können viele schwierige
schreibt, »dass in dem hypo- Situationen durchstehen. Was sie aber nicht gut können,
thetischen dargestellten Sze- ist, mit Unsicherheit umzugehen. Also nicht zu wissen,
nario üblicherweise auf Unter- was passiert.« Darum sei so entscheidend, dass Politiker offen
stützung aus dem familiären sagten, was sie planten.
Mutter mit Kind in München oder räumlichen Umfeld Fachleute im Innenministerium haben
zurückgegriffen würde«. einen 17 Seiten langen Leitfaden ent-
ren Elternteil besteht.« Vom Einzig der Stadtstaat Bre-
Bei der Lek- wickelt, Überschrift: »Wie wir Covid-19
SPIEGEL stichprobenartig men scheint vorbereitet. Dort türe des Worst unter Kontrolle bekommen«. An erster
befragte Bundesländer wirken seien Mitarbeiter der Inob- Case tritt Stelle nennen sie das Thema Kommu-
wenig vorbereitet. hutnahme bereits »für Infek- nikation. Die Experten raten zu brutaler
Bayern, Berlin, Hamburg, tionsschutzaspekte« geschult.
eine deeska- Offenheit. Sie schlagen vor, die Bürger
Nordrhein-Westfalen oder »Summarisch gilt«, so ein lierende, mit dem schlimmstmöglichen Szenario
Schleswig-Holstein verweisen Sprecher des Bremer Sozialse- beruhigende zu konfrontieren, um eine Schockwir-
darauf, dass in solchen Fällen
etwa eine »Inobhutnahme«
nats: »In der Abwägung ran-
giert die Sorge um das Kindes-
Wirkung ein. kung zu erzielen.
Einige Textpassagen lesen sich wie das
seitens der Jugendämter in wohl bei einem ansonsten un- Drehbuch für einen Horrorfilm: »Viele
den dafür zuständigen Kom- versorgten Säugling oder Klein- Schwerstkranke werden von ihren Angehörigen ins Kranken-
munen oder Bezirken infrage kind höher als die Sorge vor haus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um
käme. Dabei werden Kinder einer möglichen Ansteckung Luft ringend zu Hause.« Oder: »Wenn Kinder dann ihre Eltern
in der Regel von Erziehern mit dem Coronavirus.« AB anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie
das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie zum Beispiel
vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen,
ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.«
Nachgezählt Bundesinnenminister Horst Seehofer hat das Papier sicher-
Datendiebstahl, Sabotage
heitshalber mit dem Stempel »VS – Nur für den Dienst-
und Industriespionage
bei Unternehmen gebrauch« versehen lassen. Ich halte das für einen Fehler.
Es wäre klug, das Papier zu veröffentlichen.
Gerade weil die Experten konkret beschreiben, wie der

56 %
der betroffenen Unternehmen
sagten, ehemalige Mitarbeiter
Worst Case der Pandemie aussieht, tritt bei der Lektüre eine
deeskalierende, beinahe beruhigende Wirkung ein. Die
Angst vor dem Unbekannten schwindet. An ihre Stelle tritt die
Furcht vor einem greifbaren Szenario, aber auch die Erleichte-
rung, die Risiken realistischer einschätzen zu können – und
hätten Schäden etwa durch auch die anderen Szenarien in Betracht zu ziehen, die weitaus
Datenleaks verursacht, aller- weniger schlimm verlaufen.
dings fast die Hälfte ohne Absicht. Es ist das Gefühl der Erleichterung, das Patienten beschrei-
Weitere Tätergruppen (Auswahl): ben, wenn sie nach langer Leidensgeschichte eine verlässliche
Privatpersonen /Hobbyhacker ................ 38 % Diagnose bekommen: endlich Klarheit.
Organisierte Kriminalität ............................. 21 %
konkurrierende Unternehmen ............... 20 %
Quelle: Bitkom Research; Umfrage 2019; 801 befragte Unternehmen, die in An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher und Markus Feldenkirchen
den vergangenen zwei Jahren betroffen waren; Mehrfachnennungen möglich im Wechsel.

23
So gesehen Chappattes Welt

Corona-
Polizeistaat
Neue Sprachregeln für Beamte
G Dienstanweisung +++ an alle Polizei-
dienststellen +++ gilt ab sofort +++ Bei
steigenden Temperaturen ist verstärkt
mit Verstößen gegen die Ausgangsbe-
schränkungen zu rechnen. Umso wichti-
ger ist die korrekte Ansprache der Bür-
ger. Die Innenministerkonferenz der
Länder hat sich deshalb auf eine länder-
spezifische Sprachregelung für Polizei-
beamte geeinigt, die den regionalen
Bedürfnissen der staatlichen Autoritäts-
demonstration gerecht werden soll.
Beispielsituation: Familie mit Klein-
kind steht auf einer Brücke, um Enten-
küken zu betrachten.
Eröffnung: »Liebe Bürgerinnen und
Bürger«, Zusatz Bayern: »Ministerprä-
sident Dr. Markus Söder verfügt:« Bundeswehr Tod eines Offiziersanwärters. Der Vertei-
Handlungsanweisung: digungsausschuss und ich haben darauf
»Geh’n Se nach Hause!« (Brandenburg)
»Größter Einsatz im gedrungen, dass die Grundausbildung
»Bitte nicht stehen bleiben.« (Ham- Innern« umgestellt wurde. Nun wird im Heer zu-
burg, Bremen, Hessen, Saarland, Thü- nächst die körperliche Leistungsfähigkeit
ringen, Schleswig-Holstein) Der Wehrbeauftragte Hans- gesteigert. Nach sechs Wochen ist die
»Ortsfremde Per- Peter Bartels, 58 (SPD), über schwächste Gruppe oft besser trainiert als
W. KUMM / DPA

sonen sind virenver- die Bundeswehr im Krisen- es die mittlere zu Anfang war.
Auch in der dächtig und haben modus und seine Hoffnung SPIEGEL: Die Ausrüstung der Soldaten ist
Krise gilt: unverzüglich das auf eine zweite Amtszeit immer noch unterirdisch …
alles eine Bundesland zu ver- Bartels: Für meinen Jahresbericht ans
lassen. Kommen SPIEGEL: Herr Bartels, wie werden Solda- Parlament muss ich überlegen, wie ich
Sache der Sie gern bald wieder ten in der Corona-Pandemie eingesetzt? den Eindruck vermeide: Der erzählt im-
richtigen in unser gastfreund- Bartels: Die Truppe gibt Essen aus, rich- mer das Gleiche. Aber die Mangelwirt-
Ansprache. liches Ferienpara- tet Teststationen ein, fliegt Intensivpa- schaft ist nicht behoben. Langsam verlie-
dies.« (Mecklen- tienten aus schlimmer betroffenen Teilen ren die Soldaten die Geduld.
burg-Vorpommern) Europas ein und hilft mit ihren Kranken- SPIEGEL: Es fehlen Bewerber. Wirken die
»Sie sind aufgefordert, die Brücke häusern und Laborkapazitäten. Es wird Rekrutierungskampagnen nicht?
ausschließlich zur Überquerung des der größte Einsatz im Innern in der Ge- Bartels: Seit die Wehrpflicht weg ist, ope-
Gewässers zu benutzen.« (NRW, Nie- schichte der Bundeswehr. Aber bitte riert die Bundeswehr auf dem allgemei-
dersachsen, Rheinland-Pfalz) nicht sofort alle Kapazitäten binden! Bes- nen Arbeitsmarkt. Da konkurriert sie
Mit Zusatz (Bayern, Sachsen, Sach- ser, man behält Reserven für das, was mit ihren Zeitverträgen gegen die Polizei
sen-Anhalt, Baden-Württemberg): noch kommen kann. Und nicht jede und die bisher gut laufende Wirtschaft.
»… oder es droht ein Bußgeld.« Spe- Amtshilfe ist realistisch: Fehlende Schutz- Vielleicht ändert sich das in der Krise.
zialzusatz Stadt Tübingen: »… zahlbar ausrüstung kann auch der Bundeswehr- Aber viel größer als jetzt dürfte die Bun-
direkt an den Oberbürgermeister.« Sanitätsdienst nicht herbeizaubern. deswehr als reine Freiwilligenarmee den-
Keine Neuregelung in der Bundes- SPIEGEL: Was hat sich jetzt geändert? noch kaum werden.
hauptstadt Berlin. Dort gilt weiterhin Bartels: In der Truppe ist weiträumig SPIEGEL: Ihre Amtszeit endet am 21. Mai;
die bewährte Praxis zur Ahndung von Schichtbetrieb eingerichtet, um die An- Ihr SPD-Kollege Johannes Kahrs interes-
Ordnungswidrigkeiten aller Art: lang- steckungsgefahr zu reduzieren. Und siert sich für Ihren Job. Wie geht es weiter?
same Vorbeifahrt des Streifenwagens. es gibt eine strenge Quarantäne vor der Bartels: Bei der SPD liegt laut Koalitions-
Stefan Kuzmany Verlegung nach Afghanistan und in die absprache das Vorschlagsrecht. Über
anderen Einsatzgebiete. den sehr freundlichen Zuspruch aus der
SPIEGEL: Auch in Nicht-Corona-Zeiten Bundeswehr und den Fraktionen im
hat ein Wehrbeauftragter viel zu tun. Verteidigungsausschuss freue ich mich.
Wann greifen Sie ein? Möglicherweise gäbe es wie bei meiner
Bartels: Beim Fehlverhalten von Vorge- ersten Wahl 2015 eine breite Mehrheit im
setzten oder etwa bei körperlicher Über- Bundestag, auch mit Stimmen aus der
forderung. 2017 gab es eine Reihe von Opposition. Das wäre gegebenenfalls
Märschen, die für Soldatinnen und Solda- auch für einen anderen SPD-Kandidaten
ten im Krankenhaus endeten, bis hin zum wünschenswert. LYR

24 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Strafverfolgung in welchen Bereichen gesetz-
geberischer Handlungsbedarf
Gesetz für V-Mann- besteht«. Grundlage dafür
Einsätze der Polizei soll ein von der Großen Straf-
rechtskommission des Deut-
 Die Bundesregierung prüft schen Richterbundes im
eine gesetzliche Regelung zum Dezember 2019 vorgelegtes
Einsatz von Vertrauensperso- Gutachten sein. Der Einsatz
nen bei der Polizei. Das geht von V-Leuten bei der Polizei
aus der Antwort des Parlamen- war erneut zum Debatten-
tarischen Staatssekretärs im thema geworden, nachdem
Bundesjustizministerium der legendäre V-Mann Murat

FABIAN STRAUCH / DER SPIEGEL


Christian Lange (SPD) auf Cem, alias »VP01«, sein
eine schriftliche Frage der Bun- Schweigen gebrochen hatte
destagsabgeordneten Canan (SPIEGEL 11/2020).
Bayram (Grüne) hervor. Cem wurde von der Polizei
Bislang erfolgt der Einsatz knapp zwei Jahrzehnte lang
von V-Personen bei der Poli- fast wie ein verdeckter Er-
zei anders als bei V-Leuten mittler eingesetzt, zuletzt im
des Verfassungsschutzes ohne Umfeld des Attentäters vom
eigene gesetzliche Grundlage. Berliner Breitscheidplatz, Der Augenzeuge
Er bewege sich zwar »nicht Anis Amri. Cem hatte wieder-
außerhalb eines rechtlichen
Rahmens«, schreibt Lange.
Dennoch habe das Ministe-
holt vor Amri gewarnt.
Nach seinem Einsatz im Amri-
Umfeld hatte die Polizei
»Wir kleinen Heinis«
rium eine »grundlegende Cem abgeschaltet und fallen Vorstellungen im Autokino sind wohl die einzigen
Prüfung eingeleitet, ob und gelassen. FIS, JDL, ROL Großveranstaltungen, die jetzt in Deutschland
noch stattfinden dürfen. Frank Peciak, 59, Chef des
Drive-in-Kinos in Essen-Bergeborbeck, erlebt gerade
Regierung ungehindert fließen. Wie aus die Renaissance einer oft tot geglaubten Institution.
Regierungskreisen verlautet,
Mehr will das Innenministerium  »Das macht richtig Spaß im Moment, du hast hier Dankbar-
Grenzkontrollen? die strengen Einreisebedin- keit pur. Die Leute sind so froh, aus ihrem Stubenarrest raus-
gungen ebenfalls für die zukommen. Die sagen, sie werden sonst verrückt zu Hause.
 Das Corona-Kabinett will Grenzen zu Polen, Tsche- Wir haben hier genug Platz für 1000 Autos und würden das
in seiner Sitzung am Montag chien, Belgien und den Nie- Gelände wahrscheinlich jeden Abend auch bei zwei Vorstel-
über den Vorschlag von derlanden sowie an den Flug- lungen vollkriegen. Aber wegen der Corona-Vorschriften las-
Innenminister Horst Seehofer häfen einführen, um »Um- sen wir pro Film nur 250 Autos rein.
(CSU) beraten, die Grenzkon- gehungstatbestände« zu ver- Alle Tickets müssen online gebucht werden. Wir scannen
trollen in Deutschland zu hindern, wie es heißt. Derzeit die an der Kasse durch die geschlossenen Fenster. In jedem
erweitern sowie eine Quaran- kommen noch jeden Tag Wagen dürfen zwei Personen sitzen, das kontrollieren wir
täneverpflichtung für alle Ein- 20 000 Menschen aus Dritt- genau. Wir achten auch darauf, dass die Leute zum Rauchen in
reisenden über den Luftweg ländern nach Deutschland, den Autos sitzen bleiben. Die Toiletten sind geöffnet, aber
zu diskutieren. die nach Ansicht des Innen- auch da gilt es, noch mehr Abstand als sonst zu halten.
Seit 16. März darf an den ministeriums potenziell Meistens spielen wir aktuelle Filme, die jetzt auch im nor-
Grenzen zur Schweiz, zu das Coronavirus ins Land malen Kino laufen würden. Aber vielen Leuten ist ganz egal,
Österreich, Frankreich, Luxem- bringen. Zusätzlich soll es was sie sehen. Nächste Woche zeigen wir zum Beispiel ›Manta
burg und Dänemark nur noch deshalb eine Quarantäne- Manta‹, das haben sich viele Kunden gewünscht. Wir könnten
einreisen, wer einen triftigen pflicht für alle geben, die per auch ›Dick und Doof‹ spielen, die Leute würden uns trotzdem
Grund hat, etwa Berufspendler. Flugzeug nach Deutschland die Bude einrennen.
Auch der Warenverkehr soll einreisen. Manche Menschen glauben, dass wir uns jetzt eine goldene
Aus der EU-Kommission Nase verdienen, aber so ist das nicht. Die Snackbar mussten
und manchen Bundesländern, wir schließen, auch die Trödel- und Automärkte auf dem
etwa NRW, kommt Kritik an Gelände sind abgesagt. Da fehlen schon Einnahmen. Die Ein-
weiteren EU-Binnenkontrol- trittspreise haben wir nicht erhöht, das wäre gierig. Die Kun-
len. Sie halten die Maßnahme den bringen sich ihre Snacks und Getränke jetzt selbst mit.
für überzogen. Nach Informa- Und manche auch warme Decken, weil wir keine Heizungen
tionen des Bundesinnen- ausleihen können. Aber dann kuschelt man sich eben etwas
ministeriums wurden an den enger aneinander, dafür sind Autokinos ja auch da.
FELIX KÄSTLE / DPA

Grenzen zu den bislang fünf Meinen Mitarbeitern habe ich gesagt, wir schreiben jetzt
betroffenen Ländern rund Geschichte. Das klingt vielleicht etwas pathetisch, aber es ist
60 000 Menschen zurückge- doch so: Gefühlt steht gerade die ganze Welt still, nur wir
wiesen, die keinen triftigen kleinen Heinis in unserem klitzekleinen Autokino halten ein
Paare am deutsch- Grund zur Einreise angeben Stück normales Leben am Laufen. Ein schönes Gefühl!«
schweizerischen Grenzzaun konnten. AMP, KNO Aufgezeichnet von Matthias Bartsch

25
Coronakrise

Union der Einzelgänger


Europa I Wieder wird über Eurobonds gestritten, wieder stehen sich der Süden
und der Norden gegenüber. Auch in der Coronakrise tut sich die EU schwer, eine gemeinsame
Linie zu finden. Vor allem von den Deutschen wird mehr Solidarität erwartet.

D
rei Aussagen über den Zustand
der Europäischen Union in die-
sen Tagen: »Wenn irgendjemand
in Europa sich für überlegen hält,
wird er sehr teuer dafür zahlen: Das ist
uns schon zweimal im 20. Jahrhundert pas-
siert, mit schrecklichen Folgen.« Felipe
González, früher spanischer Ministerprä-
sident, ein Freund Willy Brandts und Hel-
mut Kohls.
»Europa droht der prominenteste Coro-
na-Tote zu werden. Die Stimmung in Ita-
lien ist dramatisch. Russen und Chinesen
werden als Retter gefeiert. Von Europa
fühlt man sich allein gelassen.« Lars Cas-
tellucci (SPD), Abgeordneter des Deut-
schen Bundestags.
„Es gibt nur eine Frage: Stehen wir zu-
sammen oder nicht? Oder geben wir in
der Welt das traurige Bild eines in Nord
und Süd geteilten Kontinents ab?« Bruno
Le Maire, Finanzminister von Frankreich.
Auch er bezieht sich wie die beiden ande-
ren versteckt auf Deutschland.
Die Deutschen und Europa, eine lange
Geschichte zwischen Kriegen und Verbrü-
derungen, geht in ihr nächstes Kapitel. In
der Coronakrise richten sich hoffende Bli-
cke auf das große, starke Land in der Mitte
des Kontinents: Bringt es genug Solidarität
auf, um Schwächeren zu helfen, vor allem
Spaniern und Italienern, die bislang am
heftigsten vom Virus verheert wurden?
Es gibt Zweifel. Italien war schockiert,
als die Bundesregierung Schutzmaterial
zunächst unter ein Exportverbot stellte.
China sprang ein. Zwar haben die Deut-
schen ein bisschen Ansehen zurückgewon-
nen, als sie Patienten aus Italien und Frank-
reich aufnahmen. Aber von den Deut-
schen wird vor allem finanzielle Solidarität
erwartet.
So war das schon in der Eurokrise, die
2010 ausbrach. Damals verweigerte die
Bundesregierung sogenannte Eurobonds,
SALVATORE LAPORTA / IPA / DDP IMAGES

die zum Beispiel Griechenland hätten hel-


fen können. Der Süden Europas war em-
pört, hier und dort tauchten Vergleiche zu
den Nazis auf. González’ Worte weisen in
diese Richtung.
Wieder soll die Bundesregierung Euro-
bonds zustimmen, diesmal Corona-Bonds
genannt. Wieder wehrt sie sich dagegen.
Und wieder zeigt sich Europa in einer
Wartende vor Essensausgabe in Neapel: »Die Stimmung ist dramatisch« schweren Krise in übler Verfassung.

26
Es stand ja schon vor Corona schlecht Amtszeit schmücken wollte, der Grüne Doch diesmal geht es nicht darum, alte
um diesen Kontinent. Spaltungen in Süd Deal für Europa etwa, sind weit nach hin- Schulden Italiens oder Spaniens umzuver-
und Nord, in Ost und West, die Renaissance ten gerutscht, auf den Umgang mit Ungarn teilen. Diese Länder werden von einer Pan-
des Nationalstaats, die Rückkehr von Gren- findet sie, wie schon ihr Vorgänger, keine demie heimgesucht, die alle Mitgliedstaa-
zen in der Flüchtlingskrise, Führungslosig- überzeugende Antwort. Dabei wäre die ten trifft.
keit, vor allem weil Bundeskanzlerin An- Kommission als Hüterin der Verträge hier Merkel und Scholz pflegen gleichwohl
gela Merkel und Frankreichs Präsident Em- ausnahmsweise einmal zuständig. noch immer dieselben Vorbehalte gegen
manuel Macron nicht zusammenfanden. Von der Leyens Versuch, es allen recht die Bonds, wie die Bundesregierung sie
Das Virus macht das alles noch schlim- zu machen, stößt an Grenzen. Mal kann schon zur Zeit der Eurokrise hatte. Sie be-
mer. Geschlossene Grenzen, nationale Al- sie sich Corona-Bonds vorstellen, dann fürchten, dass die neuen Anleihen zu einer
leingänge, wirtschaftlicher Absturz. Jeder sieht sie wieder schwierige Haftungsfragen Dauereinrichtung werden, obwohl von
verfolgt seinen eigenen Weg, eine Union und spricht von einem bloßen »Schlag- einer zeitlichen Befristung die Rede ist.
der Einzelgänger. Und Ungarns Minister- wort«. Auf den Rüffel von Italiens Premier Ihre Unterhändler in Brüssel verweisen
präsident Viktor Orbán nutzt die Krise, um Conte, der umgehend folgte, passte sie ihre zudem darauf, dass bislang kein Land der
seinen Staat in eine Diktatur zu verwan- Haltung flugs erneut an. Eurozone Schwierigkeiten hat, sich an den
deln. Martin Schulz, Europapolitiker der Die Fliehkräfte in der Union sind in den Finanzmärkten Geld zu beschaffen, auch
SPD, beschreibt das so: »Orbán ist ein kalt ersten Wochen zu stark, um sie von ihrer Italien nicht.
kalkulierender Zyniker. Er sieht die schwie- Brüsseler Behörde aus zusammenzuhal-
rige Lage der europäischen Mitgliedstaaten ten. Das musste von der Leyen einsehen. Das ist nicht von der Hand zu weisen.
und der Europäischen Union in dieser Kri- Wer tut es dann? Eigentlich müsste dies Am Mittwoch hat die spanische Wirt-
se. Sein Kalkül ist: Die Europäer haben die Bundeskanzlerin tun, als Regierungs- schaftsministerin Nadia Calviño ausge-
jetzt für alles Zeit, aber nicht dafür, meine chefin des bevölkerungsreichsten Landes. schlossen, dass Spanien als Folge der Co-
autoritäre Politik zu bekämpfen. Also zieht Zudem übernimmt Deutschland am 1. Juli vid-19-Pandemie ein Rettungspaket von
er das gnadenlos durch.« der EU beantragen müsste. »Wir
Kommende Woche bietet sich haben keine Probleme, uns an
den Staats- und Regierungschefs den Finanzmärkten mit Krediten
womöglich die Chance, Signale zu versorgen«, sagte sie.
der Hoffnung in diese gespaltene, Für den Notfall schlagen die
verunsicherte Union zu senden. »geizigen vier«, wie Deutschland,
Wieder sollen sie sich zu einem Österreich, Finnland und die Nie-
Gipfel per Video treffen. Wenn es derlande in Brüssel genannt wer-
gut läuft, einigt man sich auf finan- den, andere Instrumente vor. Sie
zielle Solidarität und weist Orbán wollen zusätzliches Geld auf her-
massiv in die Schranken. Wenn es kömmlichem Weg auftreiben. So
schlecht läuft, geht man im Streit sollen Mittel im EU-Etat zuguns-
auseinander und befasst sich nicht ten der Krisenbekämpfung umge-
mit Ungarn. schichtet werden. Auch soll die
Am Donnerstag vor einer Wo- Europäische Investitionsbank ein
che lief es schlecht. Sechs Stunden neues Programm auflegen, das
GETTY IMAGES

dauerte die Videokonferenz, in der die Wirtschaft vor allem in Län-


die Staats -und Regierungschefs dern stützt, die über keine eigene
eine gemeinsame Antwort auf die Förderbank verfügen.
ökonomischen Folgen der Corona- Bundeskanzlerin Merkel: »Sei nicht so kritisch« Am meisten setzen Merkel und
krise finden wollten. Ein großes Scholz auf den Rettungsschirm
Thema waren die Corona-Bonds. ESM. Der hat sich schon in den
Merkel, aus häuslicher Quarantäne zu- die rotierende EU-Ratspräsidentschaft. vergangenen Jahren bewährt, als er Grie-
geschaltet, zeigte sich hartleibig und warb Damit wird Merkel qua Amt Europas chenland, Irland, Portugal und Zypern vor
für den europäischen Rettungsschirm ESM. wichtigste Krisenmanagerin. Allerdings der Pleite bewahrte.
»Sei nicht so kritisch«, soll Merkel zu Ita- ist die deutsche Kanzlerin gleichzeitig Par- Der Rettungsschirm verfügt über freie
liens Ministerpräsidenten Giuseppe Conte tei im Streit um die Corona-Bonds, an de- Mittel in Höhe von 410 Milliarden Euro.
gesagt haben. »Wenn du auf Corona-Bonds nen nun Europas Schicksal zu hängen Sie könnten als Kredite an bedürftige Län-
wartest, so werden sie nie kommen.« Dies scheint. der ohne scharfe Auflagen vergeben wer-
berichtet die spanische Zeitung »El Pais«. Das Problem: Es wird befürchtet, dass den, so die Überlegung in Kanzleramt und
Spaniens Ministerpräsident Pedro Sán- die Bonität von Ländern wie Italien oder Finanzministerium. Der Charme der Va-
chez unterstützte seinen italienischen Kol- Spanien so weit sinkt, dass sie keine Kre- riante besteht darin, dass sie der Europäi-
legen, weshalb es keine gemeinsame Gip- dite auf dem Finanzmarkt bekommen schen Zentralbank ermöglicht, in unbe-
felerklärung gab, nur einen mickrigen oder nur zu ruinösen Bedingungen. schränktem Umfang Staatsanleihen der
Arbeitsauftrag an die Finanzminister. Sie Corona-Bonds wären Gemeinschafts- betroffenen Länder aufzukaufen.
sollen eine Lösung finden. Für die Bürger anleihen der Euroländer, für die auch Sollten Italien und Spanien allerdings
blieb dieser Eindruck: Auf Europa können finanzstarke Länder einstünden. Italien gleichzeitig Hilfe brauchen, könnten dem
sie sich in der Not nicht verlassen. oder Spanien hätten keine Probleme mehr, ESM die Mittel ausgehen. Doch dafür ha-
Kommissionschefin Ursula von der sich zu refinanzieren. ben Merkel und Scholz eine Lösung parat.
Leyen versucht mühsam, die auseinander- Ein Gegenargument in der Eurokrise war, Sie wären bereit, den ESM zu verdoppeln.
strebenden Kräfte beisammenzuhalten, dass zum Beispiel Griechenland schludrig Auf Deutschland käme eine Kapitalspritze
doch auch sie muss sich in der neuen mit seinen Finanzen umgegangen sei, über für den ESM von 22 Milliarden Euro zu.
europäischen Krisenrealität erst zurecht- seine Verhältnisse gelebt habe. Dafür wollte Das wäre der Preis, den die Bundes-
finden. Die Themen, mit denen sie ihre Merkel nicht geradestehen müssen. regierung zahlt, um Corona-Bonds zu ver-

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 27


Coronakrise

meiden. Frankreich will Deutschland nun das ändert: »In der Wirtschaftskrise, auf Frankreichs Präsident Emmanuel Ma-
entgegenkommen und hat einen Sonder- die wir zusteuern, werden diese Fragen cron hingegen hat die Rolle und Verant-
fonds für die Zeit nach der Krise vor- wieder stärker aufkommen.« wortung Europas in dieser Krise schon in
geschlagen. Finanzminister Le Maire hat Die SPD ist eigentlich für Corona- seiner ersten Rede an die Nation zum
darüber mit Olaf Scholz gesprochen. Der Bonds, hat aber mal wieder das Problem, Thema gemacht.
aber ist skeptisch. dass sie regiert. Ihr Vizekanzler und Fi-
Ein Problem auch dieser Debatte ist, nanzminister Olaf Scholz ist gegen Bonds Drei Motive leiten die Franzosen in die-
dass es nicht nur um Sachfragen geht, son- und für den ESM als Schutzschild gegen sen Wochen: der alte Wunsch Macrons
dern auch um die Symbolik. Eurobonds die Krise. Ihm folgt nun die Partei, wenn nach einem politisch starken, souveränen
sind vor allem im Süden zu einem Symbol auch etwas mürrisch. Der Parteivorsitzen- Europa. Die Überzeugung, diese europa-
für die europäische Solidarität geworden. de Norbert Walter-Borjans hatte sich mit weite Krise nicht mit nationalen Lösungen
Im Norden stehen sie weithin für den Ver- Scholz darauf geeinigt, dass die SPD des- überwinden zu können. Und die Angst,
such des Südens, die Wirtschaftskraft von sen Kurs übernimmt. Im Deutschlandfunk den Weg für Populisten freizumachen,
Deutschland oder den Niederlanden aus- bezeichnete Walter-Borjans dann aber wenn Europa sich jetzt nicht solidarisch
zunutzen. Corona-Bonds als den »richtigeren Weg«, zeigt mit Ländern wie Italien und Spa-
Die CDU, traumatisiert von der Euro- also richtiger als die ESM-Kredite. nien – und diese dann in die Massenarbeits-
krise, hockt auch deshalb tief in ihren Grä- Klarheit herrscht dagegen bei den Grü- losigkeit und Dauerrezession abstürzen.
ben. »Diese ideologische Debatte ist voll- nen. Es brauche eine »gemeinsame Kraft- »Wir müssen allen, die schon immer ge-
kommen unnötig«, schimpft Bundeswirt- anstrengung«, sagt Robert Habeck, einer gen Europa waren und nur darauf warten,
schaftsminister Peter Altmaier. Die Gegen- der beiden Parteivorsitzenden. »Deutsch- dass wir scheitern, nun beweisen, dass die-
argumente aus der Eurokrise würden land ist keine Insel. Wir können die Pan- ses Europa stark ist und die Krise überwin-
immer noch gelten. demie und eine Wirtschaftskrise nur euro- den kann«, sagt Frankreichs Europaminis-
Da ist sich die Partei weitgehend einig. päisch bekämpfen. Auch unsere Wirtschaft terin Amélie de Montchalin. »Ich habe das
CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sagt: ist darauf angewiesen, dass die europäi- Gefühl, dass die politische Diskussion auf
»Wir müssen Europa wieder gemeinsam schen Ökonomien stabil sind. Deshalb einem guten Weg ist, und ich habe den
zu neuer Stärke führen, und Deutschland brauchen wir europäische Anleihen.« Eindruck, dass auch die Deutschen ge-
wird seinen großen Beitrag leisten. Von Bei den Grünen wartet man in diesen Ta- meinsam mit uns aus dieser Krise heraus-
uns gibt es aber zu Corona-Bonds ein kla- gen sehnlich auf eine Art Ruckrede der Bun- finden wollen.« Trotzdem ein Wink mit
res Nein. Wir sind solidarisch, aber es kann deskanzlerin zu Europa. Angela Merkel soll dem Zaunpfahl: Im Übrigen könnten sich
nicht die Lösung sein, einfach eine gemein- endlich ihren Führungsanspruch einlösen. auch Deutschland und die Niederlande
same Kreditkarte anzuschaffen. Was wir In ihrer Fernsehansprache an die Nation nicht gut erholen, solange es den anderen
in der jetzigen Situation brauchen, ist eine kam das Wort Europa nicht ein Mal vor. nicht gut gehe.
zielgenaue Unterstützung der Länder, die Italien zum Beispiel. Es ist schon einige
besonders von Corona betroffen sind.« Tage her, dass Carlo Calenda mit anderen
Die Europäische Zentralbank italienischen Politikern einen offenen
Allerdings steckt die Union in einem Brief in der »Frankfurter Allgemeinen«
Dilemma. Bleibt sie beim Thema Corona- im Krisenmodus veröffentlichte. Warum die »lieben deut-
Bonds hart, rettet sie am Ende womöglich Bilanzsumme in Mrd. Euro schen Freunde« so hart auf die Katastro-
die eigene Überzeugung – aber setzt die 5063* phe in seiner Heimat reagierten – das
5000
Zukunft des Kontinents aufs Spiel. Das hat kann der ehemalige Wirtschaftsminister
die Partei von Konrad Adenauer und Hel- immer noch nicht verstehen.
mut Kohl schon während der Eurokrise »Wenn Europa keine gemeinsamen
schier zerrissen, als die Fraktion im Bun- 3000 finanziellen Mittel gegen die Pandemie
destag 2015 dem letzten Hilfspaket für bereitstellt, denken die Bürger nach der
Griechenland nur widerwillig zustimmte. Krise, dass die Europäische Union nutzlos
Diese Zeit hat die CDU traumatisiert, ist.« Dann könne sich der Eindruck durch-
zumal sich 2013 die AfD gegründet hatte – 1000 setzen, dass autoritäre Staaten bessere
als Anti-Euro-Partei. Die Angst sitzt tief, Partner seien. Und das, sagt Calenda,
dass die Rechtspopulisten aus Corona- 0 »wäre ein tragischer Fehler«.
Bonds Kapital schlagen könnten. 2008 2012 2016 2020 »In ein bis zwei Jahren werden die Schul-
Doch obwohl die AfD mit der Euro- den viel, viel höher sein als heute«, be-
kritik groß geworden ist, verfängt das The- schreibt Wirtschaftsprofessor Guido Tabel-
ma aktuell nicht einmal an der eigenen Ba- Volumen der von der EZB lini von der Mailänder Universität Bocconi
sis. Parteichef Jörg Meuthen lehnt Coro- gehaltenen Anleihen (Auswahl) das Risiko. »Und dann kehrt die Schulden-
na-Bonds ab, wie er auch diese Woche in in Mrd. Euro, Käufe im Rahmen krise zurück. Das wäre fatal.« Nun räche
einem Facebook-Posting deutlich machte. des PSPP** sich, dass der Währungsunion bisher keine
Aber die Reaktionen darauf liegen deutlich 531,2 Fiskalunion folgte, sagt Tabellini. Corona-
unter seinem sonstigen Durchschnitt, ist 370,6 Bonds wären ein Schritt dahin.
Meuthen aufgefallen. »Das Thema ist sper- 261,2 Aber es wird sie wahrscheinlich nicht
rig und setzt Basiswissen voraus, das ver- geben, wie ein internes Papier des Bun-
meiden die Menschen gerne«, sagt er. Spanien Italien Deutschland desfinanzministeriums zeigt. Es dient der
Das sei aber nicht neu. »Schon seit der Vorbereitung für die Euro-Gruppe, die
Flüchtlingskrise 2015 klickt anderes besser, 11,7% 16,7% 23,9% Runde der Finanzminister aus der Wäh-
Asyl oder jetzt Corona zum Beispiel.« Er rungsunion. Sie schaltet sich am kommen-
Anteil am Gesamtbestand
habe immer mal wieder »Testballons« flie- den Dienstag zusammen, um Finanzie-
gen lassen, aber die Finanzpolitik sei kein * Stand KW13; ** Public Sector Purchase Programme rungsinstrumente für die Krise zu ent-
Aufregerthema mehr. Er hofft, dass sich Quelle: EZB wickeln.

28
Programm
»Aus Sicht der Bundesregierung sollte
sich die Diskussion auf die Nutzung von
Instrumenten konzentrieren, bei denen
Lösungen zügig umgesetzt werden kön-
nen«, heißt es in dem Papier. Eurobonds
sind damit nicht gemeint, ihre Realisierung
mit allen rechtlichen Änderungen würde
zwei Jahre dauern.
»Das Instrumentarium des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus (ESM) bie-
tet sich in der aktuellen Krise an«, schrei-
ben die Beamten von Scholz. So könne
eine sogenannte vorbeugende Kreditlinie
des ESM »dazu beitragen, den Markt-

ANGELA WEISS / AFP


zugang von einzelnen Mitgliedstaaten
der Eurozone zu stabilisieren, um die Fi-
nanzstabilität der Währungsunion zu wah-
ren«. Neue Instrumente brauche der ESM
nicht. Park Avenue im Corona-Epizentrum New York City
Auch wenn das inhaltlich richtig wäre,
nur mit solchen Papieren kann man nicht
Politik machen. Das wäre viel zu wenig. SPIEGEL TV WISSEN SPIEGEL TV
Wenn Merkel dieses Programm über- SONNTAG, 5. 4., 11.40 – 12.25 UHR, SKY MONTAG, 6. 4., 23.25 – 0.00 UHR, RTL
nimmt, sollte sie anschließend eine Rede und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
an die Europäer halten, so wie sie eine Corona reist um die Welt
Rede an die Deutschen gehalten hat. Und 24h@ Warschau In Italien gibt es ein Dorf, das das
die Aussage müsste sein, dass sich die Bun- Warschau gilt als der Trendsetter Virus überwunden hat, in New York
desrepublik in dieser Krise aus ganzem unter den polnischen Städten, wütet es mit ungebremster Kraft,
Herzen solidarisch mit den anderen Euro- die Start-up-Szene wird für Investo- und Deutschland rüstet sich für
päern verhalten werde, zunächst über den ren immer interessanter. Auch die den Höhepunkt. Bierbrauer stellen
ESM, aber wenn dies notwendig werden Immobilienbranche boomt – das Infektionsmittel her, Mecklenburg-
sollte, auch über Corona-Bonds. mobilisiert vor allem junge Polen, die Vorpommern schottet sich ab,
Und dann könnte sie für die deutsche für bezahlbaren Wohnraum kämpfen. Forscher arbeiten fieberhaft an
Ratspräsidentschaft ein Programm vorstel- einem Schnelltest, und im Frauen-
len, das Michael Roth (SPD), Staatsminis- knast werden Schutzmasken
ter für Europa im Auswärtigen Amt, so genäht – SPIEGEL TV mit einer
skizziert: »Viele Probleme, die wir in der MONTAG, 6. 4., 20.15 – 22.15 UHR, VOX Reportage über die aktuelle Lage.
EU seit Langem haben, verstärken sich Corona – Mein Leben im
durch Corona: Der Währungsunion fehlt Ausnahmezustand
es an einer sozialen Dimension. Daher
bekommen viele Themen, die wir uns für SPIEGEL TV REPORTAGE
die Präsidentschaft vorgenommen hatten, DIENSTAG, 7. 4., 23.10 – 0.15 UHR, SAT.1
durch Corona eine noch größere Dring-
lichkeit: die Vollendung der Wirtschafts- Feuerwache Neukölln –
und Währungsunion, die Verhandlungen Rettung in letzter Sekunde
über einen nachhaltigen, dem Klimaschutz Die Arbeit im Berliner Problembezirk
verpflichteten EU-Haushalt, die Stärkung Neukölln gilt als besondere Heraus-
der Rechtsstaatlichkeit in Europa, nicht forderung. Feuerwehrmann ist hier
VOX

nur in Polen und Ungarn, ein besseres kein Beruf, sondern eher Berufung.
Teamspiel in der Außen- und Sicherheits- Musiker Max Giesinger in seiner Wohnung Diesmal hält ein Brand in der Sonnen-
politik.« allee die Männer in Atem. Schnell
Für den Umgang mit Ungarn hat Martin Mit immer drastischeren Maßnah- wird klar: Es sind noch Menschen
Schulz gleich einen konkreten Vorschlag, men versucht die Regierung, die Aus- in dem brennenden Haus, die Woh-
bei dem es auch um Geld geht: »Ich er- breitung des Coronavirus einzudäm- nungen sind aber schwer zu errei-
warte, dass die EU bei ihrem Haushalt men. Neben der Gefahr für Leib und chen. Jetzt wird allen alles abverlangt.
neue Prioritäten setzt. Priorität hat jetzt Leben ist die wirtschaftliche Existenz
nicht die Strukturförderung in Ungarn, Hunderttausender bedroht. In der
sondern die Bewältigung der Coronakrise zweistündigen Dokumentation zei-
in Spanien und Italien.« gen VOX und SPIEGEL TV Menschen,
deren Leben sich durch die Krisen-
Julia Amalia Heyer, Frank Hornig,
Dirk Kurbjuweit, Veit Medick, situation von einem Tag auf den
anderen völlig verändert hat. Ob Kin-
SPIEGEL TV

Ann-Katrin Müller, Peter Müller,


Christian Reiermann, Lydia Rosenfelder, der, Eltern, Senioren, Unternehmer
Britta Sandberg, Christoph Schult, oder Prominente – alle stehen
Christian Teevs, Gerald Traufetter, vor ungeahnten Herausforderungen. Feuerwehrmann in Berlin-Neukölln
Helene Zuber

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 29


Coronakrise

»Keine Almosen«
phenschutz zuständig. Wir in Brüssel kön-
nen nicht entscheiden, wo Ausgangssper-
ren sinnvoll oder wo Masken zu tragen
sind. Dafür haben wir schnell und effizient
für den freien Verkehr von Waren und me-
Europa II Budgetkommissar Johannes Hahn über nationale Alleingänge, dizinischer Versorgung gesorgt. Wenn es
toxische Corona-Bonds und notwendige um die wirtschaftliche Koordination geht,
Solidarität – von der auch Länder wie Deutschland profitieren darum, dass der Binnenmarkt funktioniert,
und beim Wiederaufbau nach der Krise –
da ist Europa wichtig. Da kommen wir ge-
Kaum einer kennt das verstehen, geholfen aber hat es nie- meinsam mit den Mitgliedern ins Spiel.
Brüsseler Geschäft länger manden. SPIEGEL: Ihr Optimismus in allen Ehren,
als Johannes Hahn, 62, SPIEGEL: Markus Söder, der bayerische aber die EU-Mitglieder zeigen doch gera-
AFP / GETTY IMAGES

der derzeit seine dritte Ministerpräsident, hat Brüssel zuletzt de, wie uneinig sich die Gemeinschaft auch
Amtszeit als Kommissar scharf kritisiert. Dort sei es in der Krise in diesen Fragen ist. Italien, Spanien und
absolviert. Und kaum überraschend still, sagt er und mahnt an, Frankreich etwa fordern gemeinsame
einer hat mehr zu sagen, die EU-Kommission müsse die Verteilung Schuldentitel, die Corona-Bonds. Deutsch-
wenn es ums Geld geht. von Hilfen in Europa besser organisieren. land und auch Österreich sind dagegen.
Österreichs EU-Kommissar ist für den Hahn: Ich sage da immer: Jeder kehre Hahn: Das Virus ist überall, die Konse-
Haushalt zuständig, der für den Wieder- vor seiner Tür. Zu Beginn der Krise hat quenzen in den verschiedenen Ländern
aufbau von Europas Wirtschaft ein ent- Deutschland kurzzeitig einen Exportstopp fallen aber derzeit sehr unterschiedlich aus.
scheidendes Instrument ist. verhängt. Ausgerechnet Länder wie Italien Wir müssen sehen, dass wir den Mit-
konnten daher keine medizinische Aus- gliedern, die besonders betroffen sind, Ita-
SPIEGEL: Herr Kommissar, hat die EU in rüstung mehr einkaufen. Das war nicht lien und Spanien etwa, rasch und effektiv
der Coronakrise versagt? nur uneuropäisch, das verstößt gegen helfen. Das ist nicht nur eine wirtschaftli-
Hahn: Wir waren auf eine derartige unsere Prinzipien und Gesetze. che, sondern auch eine moralische Frage.
Krise nicht vorbereitet, das gilt für die SPIEGEL: Wir erleben in dieser Krise die Wir erleben vielerorts unendliches Leid.
EU-Kommission genauso wie für die Mit- Rückkehr des Nationalstaats. Hat Söder Es gibt Regionen in Europa, da gibt es kei-
gliedstaaten. Viele der Mitgliedstaaten nicht recht, wenn er diese Entwicklung ne Familie, kein Freundeskreis, wo nicht
haben spontan reagiert, denken Sie an auch auf mangelndes Krisenmanagement Opfer zu beklagen sind.
die Grenzkontrollen, die oft ohne Ab- in Brüssel zurückführt? SPIEGEL: Sind Corona-Bonds das richtige
sprache mit den Nachbarn eingeführt Hahn: Die Nationalstaaten sind für die Mittel, um in dieser Krise zumindest wirt-
wurden. Ich kann solche Reaktionen Gesundheitsversorgung und den Katastro- schaftlich Solidarität zu zeigen?

ELIOT BLONDET / POOL / BESTIMAGE / ACTION PRESS

Ärzte und Pfleger bei Verlegung von Patienten am Pariser Gare d’Austerlitz: »Lackmustest für Solidarität«

30
Hahn: Ehrlich gesagt: Ich glaube, der Be- Buch-
Fragen Sie Ihren
Schaden dieser Krise so gering wie mög-
griff des Bonds ist seit der Eurokrise für lich halten wollen, müssen wir uns eng
neuen
händler nach der
manche toxisch geworden. Wir sollten uns abstimmen, wenn es darum geht, unsere
nicht auf Begriffe fixieren, die mit Dissens Volkswirtschaften wieder anzukurbeln.
e!
verbunden sind. Es geht darum, gemeinsam
Instrumente zu finden, die die Widerstands-
SPIEGEL: Sie spielen auf die enge Verflech-
tung der EU-Volkswirtschaften an …
Frühjahrsausgab
kraft einzelner Mitgliedstaaten in der Wirt- Hahn: … ja, in einem Europa der eng-
schaft und im Sozialen im Falle einer Krise maschigen Lieferketten bestimmt sonst
stärken. Eines möchte ich den Ländern in der Letzte das Tempo. Jedes EU-Mitglied
Nordeuropa dabei ins Stammbuch schrei- exportiert etwa zwei Drittel seiner Pro-
ben: Sie sind es, die von einem funktionie- dukte und Dienstleistungen in ein anderes
renden Binnenmarkt besonders profitieren. EU-Land. In allen EU-Ländern ist etwa
Wenn sie Ländern wie Italien helfen, ver- jeder fünfte Arbeitsplatz vom Export ab-
geben sie keine Almosen. Im Gegenteil: Sie hängig. Das müssen Sie nur zusammen-
handeln in ihrem ureigensten Interesse. zählen, um zu sehen, wie wichtig koordi-
SPIEGEL: Kommissionschefin Ursula von niertes Vorgehen ist. Wann öffnen Res-
der Leyen schlägt ein europäisches Kurz- taurants wieder, wann kleine und große
arbeitsgeld vor und will den nächsten Geschäfte, wann die Fabriken? All das
mehrjährigen Haushalt ganz darauf trim- müssen wir absprechen. Aus dieser Krise
men, der Wirtschaftskrise zu trotzen. Sol- kommen wir nur gemeinsam heraus.
len reichere Mitgliedstaaten wie Deutsch- SPIEGEL: Wenn wir über Corona reden,
land oder Österreich mehr einzahlen? geht es nicht nur um Gesundheitspolitik
Hahn: Der Vorschlag für ein europäisches und Geld, sondern auch um Bürgerrechte
Kurzarbeitergeld wird ein erster Lackmus- und Demokratie. Ungarns Regierungschef
test dafür sein, wie es um die Solidarität Viktor Orbán nutzt die Krise, um das Par-
der Mitgliedstaaten bestellt ist. Beim EU- lament zu entmachten. Warum reagiert
Budget für die nächsten sieben Jahre geht Ihre Behörde nicht schärfer darauf?
es insgesamt um deutlich mehr als eine Hahn: Es gibt derzeit 14 Mitgliedstaaten,
Billion Euro, so der Vorschlag der Kommis- die in der einen oder anderen Form Not-
sion. Es ist klar, dass die vorliegenden standsgesetze erlassen haben, die meisten
Entwürfe angesichts der Krise angepasst Regierungen haben den engen Schulter-
werden müssen. Die ersten drei oder vier schluss mit der Opposition gesucht und
Jahre unseres Haushalts werden vom Wie- ihre Parlamente voll eingebunden. Ich ver-
deraufbau geprägt sein. Ich weiß aber stehe nicht, warum Ungarn einen anderen
auch, wie schwer die Folgen des Virus für Weg beschreitet, zumal Orbáns Regierung
alle Mitglieder zu bewältigen sind. Daher ja ohnehin mit einer Zweidrittelmehrheit
rechne ich nicht damit, dass das Gesamt- regiert. Hier zu sagen, das Parlament
volumen signifikant wächst. schränkt mich ein, ist absurd. Die Entwick-
SPIEGEL: Wir sprechen also über eine an- lung ist absolut besorgniserregend.
dere Form der Verteilung. Wie wollen Sie SPIEGEL: Sie sind auch stellvertretender
Italien oder Spanien konkret helfen? Chef der Europäischen Volkspartei, zu der lebenswert ist das Trendmagazin für
Hahn: Wir denken gerade mehrere Optio- Orbáns Partei Fidesz gehört. Ist der Raus- die Themenfelder Gesundheit, Familie
nen durch. Das EU-Budget muss die nöti- schmiss hier nicht überfällig?
ge Flexibilität haben, damit wir auf Krisen Hahn: Wenn die Evaluierung der Kommis- und Genuss. Die Frühjahrsausgabe
rasch und stark reagieren können. Wichtig sion ergibt, dass Orbáns Handeln unseren jetzt kostenlos im Buchhandel!
ist es, dass das künftige mehrjährige EU- Grundprinzipien widerspricht, werden wir
Budget sein volles Potenzial als Investi- die notwendigen Konsequenzen ziehen. Lesen Sie u. a., wie wichtig es ist, die

© Elijah Henderson
tionsinstrument entfalten kann. Die Kom- Wenn es um die Einhaltung der Verträge eigenen Gefühle zu verstehen, finden
mission hat ein exzellentes Rating bei den geht, kann es keinen Rabatt geben. Sie Orientierung im Dschungel medi-
Agenturen, also könnten wir, abgesichert SPIEGEL: Europas Richter halten mit ihrer zinischer Halbwahrheiten und lernen
durch die Mitgliedstaaten, Kredite auf- Meinung nicht hinter dem Berg: Länder
nehmen, um Ländern wie Italien zu helfen. wie Ungarn hätten die von der EU be- Sie unbekannte Reiseziele kennen.
Immer unter Kontrolle der Mitglieder und schlossene Verteilung von Flüchtlingen im
des Parlaments. Die Coronakrise ist eine September 2015 nicht ignorieren dürfen,
globale Krise. Manche Regionen und Kon- sagen sie. Erwarten Sie, dass dieses Urteil Inkl. „Gelassen bleiben
tinente werden gestärkt herausgehen, man- zu einem Umdenken bei Orbán führt? in Corona-Zeiten“
che nicht. Ich wünsche mir: Europa first. Hahn: Als Mitglied der EU-Kommission,
SPIEGEL: Um die Zahl der Opfer möglichst die ja Hüterin der EU-Verträge ist, begrüße
gering zu halten, haben sich Europas ich, dass der Gerichtshof das nun klar und Das Magazin lebenswert erscheint in der
Volkswirtschaften in eine Art Winterschlaf deutlich gesagt hat. Und natürlich hoffe Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien
begeben. Haben Sie bereits verlässliche ich, dass es in den betreffenden Ländern GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund
Zahlen, wie groß der Schaden sein wird? ein Umdenken geben wird. Das EU-Recht
Hahn: Das hängt stark davon ab, wie ist schließlich die Grundlage der Europäi-
schnell wir unsere Volkswirtschaften wie- schen Union. Urteile des EuGH sind von
der hochfahren können. Dieser Aspekt allen Mitgliedstaaten zu respektieren.
kommt mir derzeit viel zu kurz. Wenn Interview: Peter Müller
wir den ohnehin großen wirtschaftlichen

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 31


www.buchaktuell.de
Deutschland

CHRISTIAN SPICKER / IMAGO IMAGES


Vorsitzende Kramp-Karrenbauer: Ihr Wort hat wieder Gewicht

Flinke Ente
war davon gar nichts mehr übrig. Die Grü-
nen lagen in den Umfragen schon beinah
auf Augenhöhe mit der Union, und Kramp-
Karrenbauers persönliche Beliebtheitswer-
te ließen eine Kanzlerkandidatur nahezu
CDU Annegret Kramp-Karrenbauer war Parteichefin auf Abruf, undenkbar erscheinen.
bis die Krise kam. Nun wirkt sie von Tag zu Tag stärker, während ihre Und jetzt, inmitten der Krise? Ist die
potenziellen Nachfolger schwächeln. Union in einigen Umfragen wieder dop-
pelt so stark wie die Grünen. Wirkt der
Machtpoker von Erfurt wie ein skurriles

A m Montagmorgen um halb neun


saß Annegret Kramp-Karrenbauer
allein in einem Besprechungsraum
des Konrad-Adenauer-Hauses. Wobei,
zutreten – auch die Frage, wer nächster
CDU-Chef werde, also ihr Nachfolger. Nie-
mand würde verstehen, wenn die CDU
dieses Thema derzeit in den Vordergrund
Schauspiel aus einer anderen Zeit. Haben
Kramp-Karrenbauers Parteifreunde ganz
andere Sorgen, als über ihre Chefin zu läs-
tern. Thüringen, was war da noch genau?
ganz allein war sie nicht, im Raum befand rückte. Innerparteilicher, »kleinkarierter« Das wirft Fragen auf: Was wäre eigent-
sich, mit dem derzeit gebotenen Abstand, Streit sei nicht das, was das Land jetzt lich gewesen, wenn Annegret Kramp-Kar-
noch ihr Bundesgeschäftsführer. Doch die brauche. renbauer die Umfragewerte, die Lästereien
übrigen Mitglieder des CDU-Präsidiums Es war eine klare Ansage an die Bewer- und Thüringen einfach ausgesessen hätte?
waren nicht physisch anwesend, sondern ber, den Wahlkampf vorerst einzustellen. Wäre sie jetzt auf dem Weg zur Kanzler-
zugeschaltet. Wie so häufig dieser Tage. Vor ein paar Wochen wäre sie ungehört kandidatin? Und was sagt die Tatsache,
Kramp-Karrenbauer allein zu Haus, es verhallt, doch Corona verändert alles, dass sich diese Fragen überhaupt stellen,
hätte gut zu ihrer Lage gepasst, schließlich auch die Lage in der CDU. Kramp-Karren- über ihre möglichen Nachfolger aus?
ist sie nur noch eine Vorsitzende auf Abruf, bauers Wort hat plötzlich wieder Gewicht. Am vergangenen Wochenende war die
seit sie im Februar ihren Rückzug ange- Als sie vor knapp zwei Monaten ihren deutsche Luftwaffe mal wieder im Einsatz,
kündigt hat. Doch die Frau, die da am Rückzug als CDU-Chefin ankündigte, in friedlicher Mission, ganz ohne Pannen.
Montagmorgen sprach, klang nicht wie wirkte der Schritt unausweichlich. Schon Die Soldaten flogen am Samstag sechs
eine einsame Chefin – sondern wie eine, lange war ihre Autorität angekratzt – nach schwerkranke Italiener nach Köln, die
die nach wie vor das Sagen hat. dem Tabubruch von Erfurt, wo die CDU Covid-19-Intensivpatienten sollten in
Es gehe jetzt, sagte sie laut Teilnehmern gegen den Willen der Bundespartei ge- Deutschland behandelt werden. »In Zeiten
zum Auftakt, um das Land und die Men- meinsam mit der AfD einen FDP-Mann größter Not ist es selbstverständlich, dass
schen, dahinter habe alles andere zurück- zum Ministerpräsidenten gewählt hatte, wir unseren Freunden zur Seite stehen«,

32 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


ließ sich die Verteidigungsministerin Kramp- Mittwoch Nachmittag, Anruf bei Merz, Die Krise ist die Stunde der Regenten,
Karrenbauer zitieren. der überraschend gut gelaunt klingt. Er nicht der Redner. Und Merz, früher mal
Es war einer von vielen Einsätzen, mit war mit dem Coronavirus infiziert, zum Fraktionschef der Union im Bundestag,
denen die Bundeswehr derzeit in der Krise Glück verlief die Krankheit mild, Hals- hat nie regiert, war nie Minister. Er kann
hilft, insgesamt 15 000 Soldaten sollen mit- schmerzen, Ohrenschmerzen, Schnupfen. derzeit nicht viel mehr tun, als hin und
anpacken, bislang beteiligte sich die Trup- Mittlerweile geht es ihm besser, Merz geht wieder Lebenszeichen zu senden. In der
pe unter anderem, indem sie im Stau ge- wieder Brötchen holen, fährt ins Büro, »Zeit« warnte er vor einer Pleitewelle. Auf
strandete Lkw-Fahrer an der polnischen beobachtet Freund und Feind. Vor allem Twitter teilte er ein Foto von sich im
Grenze versorgte. Feind. Homeoffice, vor ihm ein Bildschirm, ein
Normalerweise interessieren sich die Die Sozialdemokraten etwa, die jetzt Tablet, ein Buch. Es sah etwas traurig aus.
Deutschen nicht groß für ihre Armee. Reiche einmalig zur Kasse bitten wollen, Merz muss auf die Zeit hoffen, in der es
Wenn es aber zur Katastrophe kommt, um die Krise zu überwinden. Ein Wahn- weniger um die gesundheitlichen Aspekte
wenn Deiche brechen oder eine Pandemie sinn, findet Merz: »Über Steuererhöhun- geht – und stärker um die ökonomischen
durchs Land zieht, ist die Truppe beliebt. gen brauchen wir jetzt wirklich nicht zu Folgen der Krise. Einen Wiederaufbauplan
Die Bundeswehr, dein Freund und Helfer. diskutieren«, sagt er. »Entscheidend ist, entwerfen, das könnte er vielleicht besser
Das Amt der Verteidigungsministerin wie wir die Menschen vor der Infektion als seine Konkurrenten Armin Laschet
gilt eigentlich als eines, in dem man wenig schützen und wie wir danach die Unter- oder Norbert Röttgen.
gewinnen, aber viel verlieren kann – wes- nehmen und die Arbeitsplätze retten.« Die beiden haben ja auch Probleme, vor
halb es in der CDU als nahezu ausgeschlos- Zur CDU hingegen will er lieber gar allem Laschet. Der nordrhein-westfälische
sen galt, dass Kramp-Karrenbauer ihre nichts sagen. Das interessiere doch gerade Ministerpräsident hat den Beginn der Kri-
miesen Popularitätswerte noch einmal ent- wirklich niemanden. se verschlafen und erst spät realisiert, wel-
scheidend würde verbessern können. In Mindestens ihn selbst dürfte die Lage che Gefahr von Corona ausgeht. Mittler-
Zeiten wie diesen aber, in denen die Trup- der Partei brennend interessieren, schließ- weile hat er sich gefangen, hat ein dickes
pe populär ist, kann auch die Ministerin lich gerät gerade sein ganzer Plan in Ge- Rettungspaket für sein Bundesland auf den
gewinnen. fahr. Monatelang hatte er Kramp-Karren- Weg gebracht und stößt Diskussionen über
Der Kampf gegen Corona sei lang, »ein bauer vor sich hergetrieben. Als sie dann ein Ende der Einschränkungen an. Trotz-
Marathon«, verkündete sie der Nation ihren Rückzug ankündigte, sah es aus, als dem steht er im inoffiziellen Wettbewerb
diese Woche mit ernster Miene im ARD- könnte endlich sein Moment kommen. um das beste Krisenmanagement momen-
»Morgenmagazin«. Die Bundeswehr wer- Weniger Merkel, mehr Merz, weniger tan allenfalls im Mittelfeld, abgeschlagen
de helfen. Katastrophenhilfe im Inland Moderation, mehr Führung – es wirkte, hinter seinem bayerischen Amtskollegen
liegt der ehemaligen Landesinnenministe- als wäre das jetzt gefragt. Und nun? Markus Söder.
rin des Saarlands wohl schlicht näher als Nun sitzt Merz, 64, zu Hause im Sauer- Und hinter Jens Spahn, der in der CDU
Luftbetankung über Syrien. land und muss zusehen, wie andere sich eigentlich sein Stellvertreter werden soll –
An Annegret Kramp-Karrenbauer lässt profilieren. Markus Söder marschiert in so der bisherige Plan. Doch schon fragen
sich derzeit die Umkehrung eines politi- Bayern voran, bei Gesundheitsminister manche in der Union, ob das die richtige
schen Naturgesetzes beobachten. Kündigt Jens Spahn wundert man sich, wenn er Rangfolge ist, ob es nicht nach der Krise
ein Politiker seinen Rückzug an, gilt er von mal wenige Minuten nicht auf einem Bild- andersherum sein müsste: Spahn als Num-
diesem Moment an als Lame Duck, als lah- schirm zu sehen ist, und Merz’ alte Rivalin mer eins, Laschet dahinter?
me Ente, auf die man nicht mehr groß hö- Kramp-Karrenbauer funktioniert die Bun- Es sind Zwischenstände, Momentauf-
ren muss. Es ist kein angenehmer Zustand, deswehr zum Technischen Hilfswerk in nehmen, täglich kann sich alles ändern.
Kramp-Karrenbauer wollte ihn Ende April Flecktarn um. Selbst die Kanzlerin, an der Spahn kann noch entscheidende Fehler
beenden, dann sollte der CDU-Parteitag er sich so lange schon abarbeitet, ist auf machen, genauso wie Söder, der zwar als
ihren Nachfolger wählen. Doch der Partei- einmal wieder fast so beliebt wie zu ihren CSU-Chef nicht Vorsitzender der CDU
tag ist abgesagt, nun wird dieser Zustand besten Zeiten. werden kann, sehr wohl aber Kanzler-
deutlich länger dauern, womöglich bis Merz hat keine Funktion in dieser Krise. kandidat der Union. Alles wieder offen.
zum regulären Parteitag im Dezember. Vor Seine gesamte Arbeitsgrundlage ist weg- Wirklich alles? Könnte am Ende also
allem aber ist er gar nicht so unangenehm gebrochen, sie beruhte auf vollen Sälen, auch die Frage stehen, ob die CDU wirk-
wie üblich. Kramp-Karrenbauer ist derzeit in denen er sich von der Parteibasis feiern lich einen neuen Chef braucht? Ob Kramp-
als ziemlich flinke Ente unterwegs. ließ. Doch Großveranstaltungen sind seit Karrenbauer in dieser Lage gehen muss?
Es liegt darin aber auch eine Tragik. Je Wochen verboten. Nach den allgemeinen politischen Ge-
besser es läuft, desto häufiger dürfte sich setzmäßigkeiten ist es kaum vorstellbar,
ihr die Frage aufdrängen: Was wäre gewe- dass jemand seinen Rücktritt ankündigt,
sen, wenn …? Wenn ich gewartet, die Ner- ihn aber nicht vollzieht. Andererseits: Hat
ven behalten hätte? Kürzlich wurde sie von nicht Vizekanzler Olaf Scholz auch einmal
der »FAZ« gefragt, ob sie es inzwischen versichert, sich auf keinen Fall um den
bereue, den Vorsitz aufgegeben zu haben. SPD-Vorsitz zu bewerben – um sich kurz
Nein, sagte sie, »diese Entscheidung ist darauf für den SPD-Vorsitz zu bewerben?
gefallen, und ich stehe dazu«. Dann fügte Und was heißt das derzeit überhaupt –
sie hinzu: »Wenn allerdings zu dem Zeit- nicht vorstellbar?
punkt die Corona-Lage schon so gewesen Am Montag im Präsidium, so hört man
ARMIN WEIGEL / DPA

wäre wie heute, hätte ich gewartet.« von Teilnehmern, soll es Lob für Kramp-
Vielleicht ist eine Lehre aus dem Fall, Karrenbauer gegeben haben, für die Kran-
dass Politiker in diesen schnellen Zeiten kentransporte der Luftwaffe. Von Armin
öfter den Moment vorbeiziehen lassen soll- Laschet. Und Jens Spahn. Auch das wäre
ten, bevor sie schwerwiegende Entschei- vor Kurzem kaum vorstellbar gewesen.
dungen treffen. Nur: Was wäre dann eigent- CSU-Chef Söder (r.) Christoph Hickmann, Veit Medick
lich aus Friedrich Merz geworden? Bayern marschiert voran

33
Coronakrise

Der Stoff der Krise


Gesundheit Die Bundesregierung hat es versäumt, genügend Schutzmasken zu besorgen.
Auch deshalb verweigert sie sich nun einer Tragepflicht für alle Bürger –
obwohl dies eine Lockerung der Kontaktsperre ermöglichen könnte. Protokoll eines Versagens.

A
ls dem Hamburger Zahnarzt Nor- Europa« sei, dass »die Leute keine Masken und im Nahverkehr, 35 Prozent sind dage-
man von Sternberg Ende Februar tragen«. gen. Doch die Bundesregierung verweigert
die Atemschutzmasken ausgin- Auch in Deutschland wächst nun der sich bislang einer solchen Pflicht. Bundes-
gen, sah es so aus, als müsste er soziale Druck, die Mitmenschen mittels gesundheitsminister Jens Spahn sieht »in
seine Praxis schließen. Der Markt für Mas- Maske vor einer Infektion zu schützen. der jetzigen Lage keine Notwendigkeit für
ken ist leer gefegt. In seiner Verzweiflung Laut einer Forsa-Umfrage für RTL und eine Verpflichtung«. Auch in einer Schalte
wurde Sternberg kreativ: Von einem be- n-tv befürworten 57 Prozent der Deut- von Kanzlerin Angela Merkel, einigen
freundeten Autolackierer borgte er sich schen eine Maskenpflicht beim Einkauf Bundesministern und den Ministerpräsi-
eine Maske aus schwarzem Gummi mit
aufsetzbaren Filtern gegen Gase und
Dämpfe. Seine Assistentin staffierte Stern-
berg mit einer Schnorchelmaske aus, die
das Gesicht bedeckt. So kann er wenigs-
tens die Notfallpatienten weiter versorgen.
Wie überall im Lande fehlt auch den
1300 Mitarbeitern des St.-Antonius-Hos-
pitals im rheinischen Eschweiler der nötige
Schutz für Mund und Nase. In ihrer Not
wandte sich die Pflegedirektorin auf Face-
book an die Bevölkerung und rief dazu
auf, Stoffmasken für das Klinikpersonal
zu nähen. Nun wird in Heimarbeit jene
Ware produziert, die zum Symbol der
Coronakrise geworden ist.
Not macht erfinderisch. Und die Not ist
deshalb so gewaltig, weil die Bundesregie-
rung sich viel zu wenig um den Schutz von
Ärzten und Pflegern vor dem Coronavirus
gekümmert hat. Zunächst verschlief sie es,
rechtzeitig Vorräte anzulegen, insbesonde-
re für Praxen, Krankenhäuser und Pflege-
heime. Und nun lässt sie die Bürger im Un-
klaren darüber, ob das Tragen von Schutz-
masken im Alltag sinnvoll wäre, um die
Ansteckungsgefahr zu reduzieren.
Anders als in Deutschland müssen die
Bürger in Österreich vom kommenden
Montag an beim Einkaufen weite Teile
ihres Gesichts verhüllen. Die einfachen
Masken bieten zwar keinen vollständigen
Schutz vor Ansteckung anderer mit dem
Coronavirus, verringern aber die Wahr-
scheinlichkeit. Der Virologe Alexander Ke-
kulé hält eine Maskenpflicht für »absolut
sinnvoll«. Sogar ein altes T-Shirt vor Mund
XANDER HEINL / PHOTOTHEK.NET / IMAGO IMAGES

und Nase helfe, um Tröpfchen abzuhalten.


In asiatischen Ländern wie Südkorea,
Taiwan oder Japan, die bisher gut durch
die Coronakrise kommen, ist die Schutz-
maske längst wichtiger Bestandteil der Stra-
tegie, um die Ausbreitung des Virus zu ver-
hindern und zugleich das wirtschaftliche
Leben am Laufen zu halten. George Gao,
Direktor des chinesischen Seuchenkontroll-
zentrums, warnt im Magazin »Science«,
dass es der »große Fehler in den USA und

34 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


denten wurde eine Maskenpflicht nicht obwohl eine Risikoanalyse der Bundesregie- gelten.« Solche Stimmen mehren sich die-
ernsthaft erwogen. Ein Hauptargument rung für 2012 ein Krisenszenario skizziert ser Tage in der deutschen Politik. »Länder
war nicht etwa, dass diese sinnlos sei. Es hatte, das der aktuellen Lage verblüffend wie Taiwan oder Südkorea zeigen, dass
ist viel einfacher: Man verzichtet auf die ähnelt. Der Mangel an Masken hat nicht nur Atemmasken ein wichtiger Baustein sein
Masken, weil es sie schlicht nicht gibt. medizinische, sondern auch gesellschaftliche können, gerade auch mit Blick auf Schritte
Eine Tragepflicht ließe sich derzeit gar Folgen. Stünden mehr Masken zur Verfü- raus aus dem Lockdown«, sagt auch Grü-
nicht umsetzen, weil die Regierung es ver- gung, könnte womöglich die Kontaktsperre nenchefin Annalena Baerbock. Wenn es
säumte, genügend Masken zu beschaffen. früher gelockert werden. Wenn eines Tages allerdings »einen Riesenmangel an Mas-
Wenn 80 Millionen Deutsche zum Atem- die Geschichte der Coronakrise aufgearbei- ken« gebe, ergebe es wenig Sinn, über eine
schutz verpflichtet würden, würden die tet wird, dürfte das Kapitel Masken als Chro- flächendeckende Maskenpflicht zu spre-
Masken gerade jenen fehlen, die sie am nik von Fehlschlägen und Versäumnissen chen. »Die volle Kraft muss jetzt auf der
nötigsten brauchen: Ärzten, Krankenpfle- der Bundesregierung erzählt werden. Entwicklung einer Pandemiewirtschaft
gern oder dem Personal von Pflegeheimen. »Ob wir wieder ein normales Leben füh- liegen, die die nötige Ausrüstung schnells-
Als Beispiel diente in der Runde der Kanz- ren können, hängt auch davon ab, ob der tens produziert und flächendeckend be-
lerin Südkorea, wo Samsung pro Tag und Staat über viele Monate genug Schutz- reitstellt«, fordert Baerbock.
Mitarbeiter zwei Masken ausgibt. In masken zur Verfügung stellen kann«, sagt Sogar die FDP ist offen. »Wenn die Leu-
Deutschland wäre das nicht möglich. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. te sich nicht daran halten und Masken für
Schon jetzt ist klar: Die Bundesregierung »Beim Einkaufen oder im öffentlichen Per- alle erhältlich sind, könnten wir über eine
war nicht vorbereitet auf diese Pandemie, sonennahverkehr muss eine Maskenpflicht vorübergehende Verpflichtung nachden-
ken«, sagt der Abgeordnete Andrew Ull-
mann, der selbst Mediziner ist. »Um wie-
der ein wenig Normalität herzustellen,
wäre vor allem eine Maskenpflicht in Apo-
theken und Lebensmittelläden, aber auch
in anderen Geschäften sinnvoll.«
Deutschlands führende Virologen, die
die Regierung beraten, äußerten sich lange
zurückhaltend zu der Frage, ob es sinnvoll
wäre, dass auch die Bürger im Alltag Mas-
ken tragen. Ihre missverständlichen und
widersprüchlichen Aussagen schürten
Zweifel, ob sie überhaupt gegen die Ver-
breitung von Corona wirksam sind. So
herrscht bei den Bürgern bis heute große
Verunsicherung darüber, was hilft.
Viele fragen sich zu Recht, warum für
sie falsch sein soll, was für Ärzte und Kran-
kenpersonal richtig ist. Im Grundsatz gibt
es zwei verschiedene Arten von Mund-
schutzen: Die einen schützen den Träger,
die anderen die Mitmenschen.
Partikelfiltrierende Atemschutzmasken,
auch FFP-Masken genannt (FFP steht für
filtering face piece), dienen dem Eigen-
schutz, sie verhindern das Einatmen kleins-
ter Partikel oder Tropfen und sind für
medizinisches Personal gedacht, das Pa-
tienten mit ansteckenden Erkrankungen
behandelt. Es gibt drei Varianten mit
zunehmender Dichte und Schutzklasse:
FFP1, FFP2 und FFP3 (siehe Grafik). Bei
Kontakt mit Covid-19-Patienten ist FFP2
der Mindeststandard. Bei Höchstrisiko-
eingriffen wie einer Lungenspiegelung gilt
die Schutzklasse FFP3 als unabdingbar.
Der einfache Mund-Nasen-Schutz aus
leichtem Stoff, oft als OP-Maske bezeich-
net, soll dagegen andere vor Infektionen
schützen. Krankenpfleger und Ärztinnen
tragen ihn beispielsweise bei Operationen,
damit keine Tröpfchen aus Nase oder

* In Düsseldorfer Uniklinik.

CDU-Politiker Armin Laschet, Spahn*


»Die Politik lässt uns allein«

35
Mund die Patienten treffen. Die selbst
gebastelten Masken aus Stoff, wie sie nun Gegen den unsichtbaren Feind
in Eschweiler und andernorts genäht wer-
Übertragungsweg
den, dienen ebenfalls nur dem Schutz
anderer. Aber immerhin.
Gegner einer Atemschutzpflicht fürchten,
dass die Masken eine trügerische Sicherheit Tröpfchen Beim Niesen
vermitteln und die Bürger dazu verleiten fallen beim fliegen sie bis
könnten, den Sicherheitsabstand nicht mehr Ausatmen zu 6 Meter weit.
einzuhalten. Angeführt wird auch, dass bis zu
Masken selbst zu Virenschleudern werden 1,5 Meter weit.
können, wenn sie falsch getragen werden.
Diese Sorge treibt offenbar auch die Kanz-
Tröpfchen können beim Ausatmen mit Wenn sie mit hoher Geschwindigkeit
lerin um. In der Besprechung mit den Mi-
einer Geschwindigkeit von weniger als (50 Meter/Sekunde) durch Niesen
nisterpräsidenten warnte Angela Merkel,
dass selbst gebastelte Masken sogar das In- 1 Meter/Sekunde zu Boden fallen. ausgestoßen werden, können sie weit
fektionsrisiko erhöhen könnten, wenn man getragen werden.
sie zu lange trage oder falsch aufsetze. Virus und Filter im Vergleich
Sicher ist, dass es bisher zu wenig wis- Spezialmasken filtern Partikel
senschaftliche Studien zum Mund-Nasen-
mit einem Durchmesser von
Schutz und damit keine Evidenz über
mehr als 0,6 Mikrometern (μm). ca. 10 μm 60 μm
seine Wirksamkeit gibt. Zu kaum einem
Gebiet in der Hygiene gebe es so wenig schwebende menschliches
Forschung wie zu Atemschutzmasken, Tröpfchen Kopfhaar
sagt Walter Popp, Vizepräsident der Deut-
0,1 μm 0,6 μm
schen Gesellschaft für Krankenhaushygie-
(0,0001 mm) Masken-
ne. Trotzdem ist der Arzt sicher: »Jede
Coronavirus filter
Maske ist besser als keine Maske.« Auch
der Nationale Pandemieplan geht davon Unterschiedliche Schutzklassen
aus, dass durch einen Mund-Nasen-Schutz undichte Passung,
»prinzipiell sowohl ein besserer Schutz für Mund-Nasen-Schutz hoher Luftdurchlass
Dritte (wenn die Maske-tragende Person schützt andere vor abgegebenen an den Rändern des
selbst infiziert ist) als auch für die tragende Speicheltröpfchen des Trägers Atemschutzes
Person selbst erreicht werden kann«. 3-lagige Vliesschicht
Das Robert Koch-Institut hat seine Ein- schützt Mund und Nase geringe wasserabweisend
schätzung für das Tragen eines Mund-Na- vor Berührung durch Filterwirkung
sen-Schutzes gerade offiziell revidiert. Auf filtert Partikel
kontaminierte Hände beim
den Internetseiten mit den Corona-Emp- nimmt Schweiß und
Einatmen
fehlungen heißt es nun, eine solche ein- schützt nicht vor luft- Speichel auf
fache Schutzmaske könne das Risiko getragenen Viren
verringern, »eine andere Person durch Hus-
ten, Niesen oder Sprechen anzustecken«. enge Passung,
Auch die US-Seuchenschutzbehörde wird unbeabsichtigter
nun voraussichtlich das Tragen von Mas- FFP1-Maske Luftdurchlass bis
ken empfehlen – und selbst die Weltge- filtert zusätzlich auch die Atemluft zu 25 %
sundheitsorganisation WHO ist mit gehö- des Trägers von außen Elektrostatisch
riger Verspätung inzwischen dabei, ihre geladenes Filter-
Empfehlungen zu ändern. WHO-Nothilfe- schützt nicht material zieht Partikel
filt
ltert
t tm minndestens
d t an und setzt sie fest.
direktor Michael Ryan hatte am vorigen umfassend vor luft-
Montag noch davon abgeraten, »Mund-
80 % der
derr
getragenen Viren Partikel
tik in derr Luf
LLuftt Engmaschige Vlies-
schutz zu tragen, wenn man nicht selbst beimim Ei
Einatmen
t n
schichten filtern
krank ist«. Da aber schätzungsweise 25 Pro- Partikel mit einem
zent der Corona-Infizierten keine Symp- Durchmesser von
0,6 μm.
tome zeigen, könnte ein ahnungsloser
Virusträger die Erkrankung an Dutzende
Menschen weiterverbreiten – verschiedene optimale Passung,
FFP2- und FFP3-Maske unbeabsichtigter
Fälle solcher »Superspreader« wurden be- Luftdurchlass bis
reits dokumentiert. Wenn alle von ihnen zusätzlich zertifizierter zu 11 % (FFP2) und
Masken getragen hätten, hätten sie gewiss Schutz vor luftgetragenen 5 % (FFP3)
weniger Schaden angerichtet. Viren
Im Zentrum der Versäumnisse der Bun-
desregierung beim Umgang mit Schutz- großer Atemwiderstand 94 % (FFP2
FFFP2)
masken steht Gesundheitsminister Jens bi
bis Zusätzliche Lagen
Spahn. Schon Anfang Februar hatte ein hohe Kosten 99 % (FFP3)
FFP3 dichteren Filter-
Hersteller sein Ministerium darauf hinge- materials fangen
weitere Partikel auf.
wiesen, dass es durch die Lage in China
auch in Deutschland zu einem Mangel an

36
Coronakrise

Masken kommen könne. 90 Prozent des


weltweiten Bedarfs werden dort herge-
stellt, ausgerechnet die Region Wuhan ist
das Zentrum der Produktion.
Doch Spahns Leute schenkten den War-
nungen zu wenig Gehör. Zwar sprach der
gemeinsame Krisenstab von Gesundheits-
und Innenministerium bereits auf seinen
ersten Sitzungen Ende Februar über das
Thema. Doch zunächst verfiel die Runde
auf protektionistische Maßnahmen. Wenig
später verhängte sie ein Exportverbot für
Schutzmasken.
Die Preise explodierten. Anfang März
beauftragte der Krisenstab das Beschaf-
fungsamt der Bundeswehr und die Gene-
ralzolldirektion, auf der ganzen Welt nach

PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL


Schutzmasken zu fahnden. Doch der Er-
folg blieb überschaubar, gerade einmal
30 000 Masken wurden geliefert.
Inzwischen hat die Bundesregierung
eine eigene Taskforce eingesetzt, intern
»Troubleshooting Agentur« genannt, um
dafür zu sorgen, dass bestellte Ware auch
tatsächlich ankommt. Das Auswärtige Frau mit Schutzmaske in Berlin: »Absolut sinnvoll«
Amt greift ein, wenn andere Länder Mas-
ken beschlagnahmen. Das Verkehrsminis-
terium sorgt dafür, dass Flugzeuge mit der verlangt, stellenweise stieg der Preis um Hamburg, warnt vor dem hohen persön-
Ware auch landen können. fast das 50-Fache. lichen Risiko für die Mediziner. »Uns jetzt
Der Gesundheitsminister klemmte sich Jeder versucht zu ergattern, was er be- ohne ausreichende Schutzkleidung arbei-
in den vergangenen Tagen selbst ans Tele- kommen kann. Besonders aggressiv sind ten zu lassen ist unverantwortlich. Die
fon, um Textilunternehmen im Land zu die USA auf dem chinesischen Markt un- Politik lässt uns allein.«
bewegen, auf das Nähen von Schutzaus- terwegs. »Die Amerikaner nehmen gerade »Die Bundesregierung hatte groß ange-
rüstung umzusteigen – und um Großunter- viel Geld in die Hand und kaufen die Welt- kündigt, Schutzmasken zu besorgen. Das
nehmen wie Volkswagen zu bitten, ihre produktion an Masken und anderer Ergebnis ist enttäuschend«, sagt auch Wie-
Restbestände an Masken zur Verfügung Schutzausrüstung weg. Das treibt noch- demann von Asklepios. Bislang seien nur
zu stellen. 20 Millionen Stück seien durch mals die Preise hoch«, sagt Reinhard Wie- kleinste Mengen angekommen, sie hätten
das Ministerium beschafft worden und demann, Chefeinkäufer der privaten Kli- gerade für einzelne Häuser und wenige
würden verteilt, meldete Spahns Ressort nikkette Asklepios. Selbst für lange bestell- Tage gereicht. Und was da kam, war zum
zu Wochenbeginn. Die aber reichen nicht. te Ware zögen Lieferanten nun ihre Zu- Teil unbrauchbar, der Stoff eingetrocknet,
Allein die Kliniken in Deutschland brau- sagen zurück, heißt es bei Kliniken. Haltebänder fielen ab. »Das waren wohl
chen Schätzungen zufolge etwa 17 Millio- In Deutschland kämpft der Bund gegen sehr alte Bestände, von der Bundeswehr
nen FFP2-Masken im Monat. Hinzu kom- die Länder, diese konkurrieren untereinan- oder Polizei vielleicht«.
men 45 Millionen einfache Schutzmasken. der; Kliniken, Arztpraxen und Pflegehei- Ganz unschuldig am Notstand sind al-
Im weiteren Verlauf der Pandemie könnte me jagen sich gegenseitig die letzten Mas- lerdings auch die Kliniken nicht. Der Na-
der Bedarf erheblich steigen. kenbestände ab. Es ist eine Schlacht aller tionale Pandemieplan schreibt Kranken-
Gesundheitsexperte Lauterbach fordert gegen alle. Zudem wurden deutschland- häusern vor, dass »der erhöhte Bedarf an
inzwischen, dass sich eine Bundesbehörde weit schon Hunderttausende Masken ge- persönlicher Schutzausrüstung« zu be-
darum kümmern müsse, die Herstellung stohlen, schätzen Klinikbetreiber. rücksichtigen sei. Doch aus Kostengrün-
von Masken in Deutschland zentral zu Der Gesundheitsminister und das Ro- den verzichteten viele Kliniken auf einen
koordinieren – »das kann kein Politiker bert Koch-Institut empfehlen inzwischen, Vorrat an Masken.
im Nebenjob machen«. Dass auch der die Einmalmasken notfalls gereinigt mehr- Das Unternehmen ClinicPartner mit
bayerische Ministerpräsident Markus Sö- fach zu verwenden. In den Kliniken geht Sitz in Gelsenkirchen ist eine bundesweite
der inzwischen nach einem Staatseingriff die Angst um. Was, wenn die Zahl der Co- Einkaufsgemeinschaft für Krankenhäuser,
ruft, muss man als Kritik an Gesundheits- rona-Fälle steigt und die Schutzmasken Alten- und Pflegeeinrichtungen. Über
minister Spahn verstehen. »Wir brauchen ausgehen? »Soll ich dann meine Ärzte und Agenten und Vertragspartner in China be-
jetzt eine Umstellung der Produktions- Pflegekräfte ohne Maske zu den Patienten zieht ClinicPartner seit Jahren Schutz-
kapazitäten auf diese Notfallwirtschaft«, schicken?«, fragt der Chefarzt einer gro- masken – und hat aus nächster Nähe er-
erklärte der CSU-Politiker. ßen Klinik. Man fürchtet Zustände wie in lebt, wie der Markt außer Kontrolle geriet.
In der Schalte mit Merkel und den Mi- Italien, wo Mediziner teilweise auch ohne »Wir haben im Januar mitbekommen,
nisterpräsidenten erläuterte Spahn am Mundschutz arbeiten müssen. Viele sind dass die Chinesen in Europa ganz massiv
Mittwoch auch die Lage auf dem Welt- selbst erkrankt. »Notfalls werden auch Atemschutzmasken aufkaufen«, sagt Vor-
markt. Er herrschten »Wildwest«-Verhält- unsere Mitarbeiter ohne Schutz arbeiten stand Wolfgang Appelstiel. Die hätten fast
nisse. Das ist noch milde ausgedrückt. Im müssen«, sagt ein Klinikmanager. jeden Preis bezahlt. »Im Januar und Fe-
weltweiten Kampf ist die Maske zum Spe- Wut und Enttäuschung über die Politik bruar, als wir noch glaubten, das Virus sei
kulationsobjekt für Glücksritter und Be- wachsen, auch bei den niedergelassenen weit weg, wurde hier der Markt fast leer
trüger geworden. Wucherpreise werden Ärzten. Matthias Soyka, Orthopäde aus gekauft.« Der Unternehmenschef wirft der

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 37


Coronakrise

Bundesregierung, vor allem Gesundheits- Do it yourself schen hat eine Reihe von Firmen ihre Pro-
minister Spahn, Versäumnisse vor. »Man duktion umgestellt, darunter der Textil-
Selbst gemachter Atemschutz: Anteil
hätte im Februar sehen müssen, dass in konzern Trigema, der Unterwäschespe-
der Viren, die beim Ausatmen* zurück-
Deutschland dringend aufgebaut werden zialist Triumph und der bayerische Auto-
muss, um die Versorgungslage mit Atem- gehalten werden, in Prozent zulieferer Zettl, der normalerweise Sitz-
schutzmasken zu verbessern. Wir haben bezüge herstellt. Auch das Modelabel
OP-Maske zum Vergleich 90
uns viel zu sicher gefühlt«, sagt Appelstiel. Prada produziert nun Schutzmasken. Und
Er wirft Spahn vor, sich nicht mit den Bran- Staubsaugerbeutel 86 selbst das Staatstheater Cottbus hat seine
chenkennern beraten zu haben. »Herr Geschirrtuch 73 Kostümschneiderei auf das neue Mangel-
Spahn will das Problem mit herkömm- produkt umgestellt.
lichen Mitteln lösen. Aber er hat über- Baumwollmischgewebe 70 Auch manche Start-ups haben aus der
haupt nicht verstanden, wie man in China Kissenbezug antimikrobiell 69 Not eine Tugend gemacht. Die Firma Be-
Geschäfte macht«, sagt er. So sei viel Zeit Wooden etwa, die sonst Modeaccessoires
mit Ausschreibungen verschwendet wor- Leinen 62 wie Holzbroschen herstellt, bietet nun
den, die nicht funktioniert hätten. Kissenbezug 57 Stoffmasken an – auch um die Näherinnen
Eine, die weiß, wie man es macht, ist in ihrer kleinen Manufaktur in Tschechien
Ming Gutsche. Vor mehr als 20 Jahren grün- Seide 54 weiterbeschäftigen zu können. Gründer
dete die gebürtige Chinesin eine Schutzbe- T-Shirt** 51 Henrik Roth glaubt, die Masken könnten
kleidungsfirma. Inzwischen lässt das Rastat- bald zum »Alltagsaccessoire« werden.
ter Unternehmen über 20 Millionen Mas- Schal 49 Vorstand Appelstiel von ClinicPartner
ken pro Jahr herstellen und zählt zu den * Test mit dem Virus Bacteriophage MS2 bleibt dennoch skeptisch. »Wir begrüßen,
Marktführern. Vor drei Wochen war Gut- ** 100 % Baumwolle dass in Deutschland Produktionsstätten
Quelle: Anna Davies et al. (2013): Testing the Efficacy of
sche zu Spahn ins Gesundheitsministerium Homemade Masks: Would They Protect in an Influenza
hochkommen«, sagt er, »aber bei dem Mil-
in Berlin geladen. Vergangene Woche fragte Pandemic? liardenbedarf, der jetzt weltweit herrscht,
dann das Ministerium in Rastatt an. Man kann nur China das Problem lösen.« Appel-
brauche Schutzmasken in größerer Menge. stiel geht davon aus, dass die Chinesen bald
»Ich habe mit der Regierung der Stadt einem der größten Medizinproduktehänd- mehr Schutzmasken produzieren als vor der
Shenzhen gesprochen und gebettelt«, sagt ler in Deutschland mit Sitz im fränkischen Coronakrise. »Der Staat hat verfügt, dass
Gutsche. Sie erinnerte die chinesischen Of- Hof. FFP3-Schutzmasken werden nach sei- Masken gemacht werden ohne Ende, sodass
fiziellen daran, dass ihre Firma nach Aus- ner Einschätzung auf dem Weltmarkt bis der Weltmarkt bedient werden kann.«
bruch der Krise Schutzkittel nach China Juli nicht zu bekommen sein, noch nicht In Deutschland wächst derweil der
geliefert habe. Wenig später hatte sie eine mal mit familiären Beziehungen. »Wir ha- Wunsch nach einer schnellen Lockerung
Zusage über 300 000 Atemschutz- und ben in China private Kontakte zu einem der Ausgangsbeschränkungen. Spätestens
drei Millionen OP-Masken, die diese Wo- Hersteller«, sagt Koch. »Selbst die sagen dann wird sich die Frage stellen, ob es eine
che geliefert wurden. uns, dass sie nicht helfen können.« Maskenpflicht für alle Bürger geben soll.
Ein Paradebeispiel für die Schwerfällig- Gleichzeitig wird der Markt mit zwei- Jena hat sie eingeschränkt bereits ange-
keit der deutschen Bürokratie ist eine ge- felhaften Angeboten geflutet. »Es produ- kündigt. Eine stichprobenartige Umfrage
scheiterte Großlieferung von sechs Mil- zieren nun Firmen Masken, die sonst Hun- des SPIEGEL unter Bürgermeistern ergab,
lionen FFP2-Masken nach Deutschland. debekleidung herstellen. Das ist lebens- dass viele andere Kommunen zwar keine
Schon Anfang März hatte sich ein eigent- gefährlich«, warnt Koch. Nicht alles, was Pflicht wollen, ihren Bürgern aber das
lich auf Badezimmerausstattung speziali- er kaufen kann, taugt auch etwas. »Derzeit Tragen von Masken empfehlen. Ein Argu-
sierter Onlineversand aus Niedersachsen kursieren viele Fälschungen von irgend- ment gegen den Zwang ist auch hier der
mit einem Angebot für Schutzmasken welchen Glücksrittern. Da werden Zertifi- Mangel.
bei der Generalzolldirektion gemeldet. kate nachgemacht, manchmal so plump, Denn wie sollte eine Maskenpflicht in
Für rund 40 Millionen Euro wollte die Fir- dass auf der Kiste was anderes draufsteht Deutschland funktionieren, wenn schlicht
ma 6 Millionen Masken des Herstellers als am Produkt«, sagt Koch. das Material fehlt? Viele Unternehmen,
3M beschaffen. Der produziert in Kenia Die Luftfrachtpreise haben sich laut deren Geschäfte noch geöffnet sind, fürch-
Schutzmaterial für den afrikanischen Koch um ein Vielfaches erhöht. Lufthansa ten jetzt, dass der Staat sie bald dazu
Markt. Schon Tage später war ein Vorver- belädt sogar schon Passagiermaschinen verpflichten könnte, ihren Kunden solch
trag unterzeichnet. Die Ware wurde in ei- mit Schutzmasken – die Kisten stehen auf einen Schutz anzubieten. In Österreich ist
nem Lager nahe dem Flughafen in Nairobi den Sitzen in der Economyclass und in den dies bereits geschehen.
für die Lieferung nach Deutschland ver- Handgepäckfächern. Die Luftfracht sei bis Die Märkte der Drogerieketten Ross-
packt, der Transport war für den 20. März zu 300 Prozent teurer, weil einfach viel mann und dm etwa werden täglich von
geplant. zu wenig Flugzeuge unterwegs sind, sagt jeweils rund zwei Millionen Menschen be-
Dass der Deal am Ende scheiterte, ist Wolfgang Appelstiel von ClinicPartner: sucht. »Müssten wir die Kunden mit Mas-
aus Sicht des Onlinehändlers vor allem der »Wir haben Angebote, da kostet der Flug ken ausstatten, wäre das aus meiner Sicht
Bürokratie bei der Generalzolldirektion eine Million US-Dollar.« Man habe die nicht machbar«, sagt Rossmann-Geschäfts-
anzulasten. Anders als zunächst verein- Bundesregierung gebeten, Flüge der Luft- führer Raoul Roßmann. »Wo sollen wir
bart, sei eine Vorabzahlung von gut 50 waffe zur Verfügung zu stellen, um Mas- diese Zahl an Masken herbekommen?«
Prozent des Auftragswerts verweigert wor- ken auszufliegen. Vergebens. Es ist nur eine von vielen berechtigten
den. So stieg der Vertragspartner in Kenia Viel zu spät hat die Bundesregierung Fragen an die Bundesregierung.
aus dem Geschäft aus. Die in Deutschland damit begonnen, auch in Deutschland auf Jörg Blech, Matthias Gebauer,
dringend benötigte Ware, so vermutet die eine eigene Produktion zu setzen. Seit Kristina Gnirke, Julia Amalia Heyer,
Firma, sei umgehend an andere Interes- dieser Woche verspricht Spahn den Her- Christoph Hickmann, Christiane
senten verkauft worden. stellern eine Abnahmegarantie. Die gilt Hoffmann, Nils Klawitter, Martin U. Müller,
»Es ist wirklich dramatisch«, sagt Mi- bis Ende 2021. Die Mindestliefermenge Cornelia Schmergal, Christoph Schult
chael Koch, Produktmanager bei Medika, pro Woche liegt bei 100 000 Stück. Inzwi-

38 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


In diesen Tagen
ist vieles unsicher.
Strom soll es
nicht sein.
Wir leben in dramatischen Zeiten. Vieles, was unser Leben ausgemacht hat,
ist auf unbestimmte Zeit nicht mehr verfügbar. Gerade jetzt ist Strom eine
wichtige Konstante. Wo Strom ist, sind Licht, Wärme und Kommunikation,
dabsind Produktion, medizinische Versorgung und Mobilität. Wir bei RWE
setzen alles daran, betriebliche Risiken zu minimieren und unsere Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter zu schützen – um unser Produkt Strom
jederzeit und lückenlos liefern zu können. Darauf können Sie sich
verlassen. Seit über 120bJahren und insbesondere in diesen Tagen.
Einstieg in den Exit nicht die Rede sein.
Im Gegenteil. »Die Dynamik der Verbrei-
tung des Coronavirus (SARS-CoV-2) in
Deutschland ist noch immer zu hoch«,
hieß es hinterher im Protokoll. »Wir müs-
sen daher weiterhin alles dafür tun, die
Geschwindigkeit des Infektionsgeschehens
zu vermindern und unser Gesundheitssys-
tem leistungsfähig zu halten.« Eine ent-
scheidende Rolle komme weiterhin der
»Reduzierung von Kontakten« zu.
Deshalb sollten die Deutschen auch an
Ostern »auf private Reisen und Besuche –
auch von Verwandten – verzichten«. Das
gelte ebenfalls für »überregionale tages-
touristische Ausflüge«.
Nicht nur in dieser Frage war sich die
Runde überraschend einig. »Weniger bis-
sig, aber dafür konstruktiv«, lobte Thürin-

ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES


gens Ministerpräsident Bodo Ramelow
(Linke). Auch sein hessischer Amtskollege
Volker Bouffier (CDU) freute sich über die
ganz große Corona-Koalition: »Es macht
keinen Sinn, in einen falschen Wettbewerb
der Länder einzutreten.«
Als die Kanzlerin die nächste Telefon-
konferenz terminieren wollte, plädierte
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Da-
Passantin mit Schutzmaske in München niel Günther (CDU) für einen Termin nach
Handy-Apps könnten eine Art digitales Immunsystem schaffen Ostern. Er fürchte, dass sonst vor den Fei-
ertagen Druck auf die Länder aufgebaut
werden könnte, doch über Lockerungen
nachzudenken. Niemand widersprach.

Kein Exit Auch Armin Laschet nicht.


Bayerns Ministerpräsident Markus Sö-
der (CSU) konnte sich einen Seitenhieb
Gesundheitspolitik Eine Lockerung des Shutdowns ist auch nach nicht verkneifen: Nun sollten sich aber alle
auch an die gemeinsam beschlossene Linie
Ostern nicht in Sicht. Die Hoffnung ruht nun auf Antikörpertests und halten, niemand dürfe vorpreschen.
Apps, um eine schrittweise Rückkehr zur Normalität zu ermöglichen. Am Dienstag nach Ostern sollen das
Robert Koch-Institut (RKI) und andere
Epidemiologen die Regierungen über den

E
s gibt Zahlen, die gelten seit je als falens Ministerpräsident Armin Laschet aktuellen Stand der Corona-Entwicklung
magisch. Die 7 zum Beispiel oder (CDU) hat sich positioniert – mit einer Aus- unterrichten. Erst danach soll über weitere
die 13. Die 20 war bislang nur eine sage, deren unverbindliche Maßgeblich- Maßnahmen entschieden werden. Aller-
von vielen im Zahlenraum von keit Hoffnungen wecken kann, aber nicht dings, so Ramelow, seien alle skeptisch ge-
1 bis 100. Doch seit Kurzem gilt sie in man- muss: »Der Satz, es sei zu früh, über eine wesen, ob es nach dem 20. April Locke-
chen deutschen Rathäusern und Parlamen- Exitstrategie nachzudenken, ist falsch.« rungen geben könne.
ten als Symbol der Hoffnung. Denn bis Doch nirgendwo sind derzeit Über- Zwei Tage vor der Runde mit den Mi-
zum 20. April wollen Bund und Länder legungen erkennbar, die ernsthaft Plan ge- nisterpräsidenten hatte die Kanzlerin ihr
evaluieren, wo das Land im Kampf gegen nannt werden könnten. Wie unübersicht- Corona-Kabinett bereits auf ein klassi-
das Coronavirus steht. lich die Lage ist, zeigte sich am vergange- sches Merkel-Vorgehen getrimmt. Die ge-
Dann, so sagen Politiker und Experten, nen Montag in einer Videokonferenz der lernte Physikerin entscheidet nicht gern
könne man abschätzen, was die Einschrän- Hamburger SPD-Bürgerschaftsfraktion. aus dem Bauch, lieber sammelt sie so viele
kungen und Verbotsverfügungen der ver- Regierungschef Peter Tschentscher, gelern- Fakten wie möglich, dann erst wägt sie ab.
gangenen Wochen gebracht hätten und ob ter Mediziner, erläuterte, warum die Schu- Und so beauftragte sie am Montag ihre
Lockerungen denkbar seien. len der Stadt bis zum 20. April geschlossen wichtigsten Minister bis kommenden Mitt-
Für Hamburgs parteilosen Wirtschafts- bleiben müssten. Wenig später schilderte woch, Berichte zu den dringlichsten Fra-
senator Michael Westhagemann scheint die Gesundheitssenatorin ihre Sicht der gen erarbeiten zu lassen.
»ob« keine Option. Für ihn ist ein Ende Lage: Sie rechne im Mai mit dem Höhe- Schon die Arbeitsaufträge lassen erken-
des Shutdowns offenbar so gut wie be- punkt der Neuinfektionen. Als ein Abge- nen, was die Parameter für ein Ende der
schlossen: »Nach Ostern sollte Hamburgs ordneter fragte, ob da nicht ein Wider- harten Maßnahmen in der Krise sein wer-
Wirtschaft wieder langsam anlaufen«, spruch bestehe, hielt keiner dagegen. den. So soll das Gesundheitsressort einen
mahnte er im »Hamburger Abendblatt«. Auch nach der Telefonkonferenz der genauen Überblick über Infizierte, Neuin-
Westhagemann ist nicht der Einzige, der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsi- fektionen, Quarantänefälle, Verstorbene
in Sachen Exit aus dem Corona-Stillstand dentinnen und Ministerpräsidenten am und Geheilte liefern. Zudem soll ein de-
aufs Tempo drückt. Auch Nordrhein-West- vergangenen Mittwoch konnte von einem taillierter Report vorgelegt werden, welche

40 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Coronakrise

Regionen überfordert sind und wie man


bundesweit mit dem Ziel vorangekommen
Die Pepp-PT-App Die größte Frage ist, ob sich genügend
Menschen eine App aufs Handy laden, die
ist, die Klinikkapazitäten zu verdoppeln. 1 Nutzer: Pepp-PT unterstützt. Eine weite Verbrei-
Das Innenressort soll ein Papier vor- installiert App und tung des Systems erreiche man nur, wenn
legen, wie stark Regierung und die Sicher- aktiviert Bluetooth die Bürger ihm vertrauten, so RKI-Berater
heitsbehörden vom Virus erfasst sind und Wiegand. Außerdem nutzen rund 20 Pro-
ob die Behörden auf mittlere Sicht über- ID 998
ID 117
zent der Deutschen über 14 Jahre gar kein
haupt noch durchhaltefähig sind. Smartphone, mutmaßlich etliche davon in
Auch der Aufbau von sogenannten Kon- ID 117 der älteren Generation, die zur Risikogrup-
ID 998
taktverfolgungsteams, die jeweils mit 2m pe gehört.
5 Personen pro 20 000 Einwohner die Spu- Doch was bleibt der Gesellschaft ande-
Die App speichert eine Liste der Handys,
ren des Virus verfolgen, Infizierte identi- res übrig angesichts einer Krankheit, gegen
fizieren und isolieren sollen, muss präzise die gleichzeitig die App installiert und die es kein Heilmittel gibt, keine Impfung
durchgeplant werden. Und das For- dabei Bluetooth aktiviert haben sowie und viel zu wenige Tests? Falls es wirklich
schungsressort erhielt den Auftrag, ein Re- mindestens für 15 Minuten weniger als funktioniert, könnten Handy-Apps eine
gister zur Erfassung schwerer Krankheits- zwei Meter entfernt sind. Art digitales Immunsystem schaffen, zu-
verläufe zu erstellen. mindest könnten sie das Tempo der Pan-
Mit den Berichten soll vor allem ein kla- 2 Arzt: Diagnose demie verlangsamen.
reres Bild entstehen, auf welches Szenario Corona-positiv Auch sogenannte Antikörpertests sollen
man sich in den kommenden Wochen vor- dazu beitragen, die Einschränkungen im
Datenfreigabe in der App
bereiten muss. Zudem sollen kurzfristig öffentlichen Leben zu lockern. Denn Pa-
durch den Infizierten
Studien entstehen, ob man möglicher- tienten, die an Corona erkrankt waren und
weise die Todeszahlen auch dadurch nied- Andere App-Nutzer aus der Handyliste nun wieder gesund sind, – oder Menschen,
rig halten kann, dass man Patienten, deren des Infizierten werden benachrichtigt. die infiziert waren, ohne es zu merken –
Infektion vermutlich schwer verlaufen gelten nach derzeitigem Kenntnisstand als
wird, frühzeitig identifiziert und in dafür ID 117 ID 998 immun gegen das Virus. Sie haben Anti-
ausgestatteten Kliniken behandelt. körper entwickelt, die sich im Blut nach-
Auf die drängendsten Fragen aber gibt weisen lassen. Diese Menschen könnten
es bisher noch keine Antworten: Wie kön- Sie können sich beim Gesundheitsamt etwa in der Krankenpflege ohne Risiko
nen die Ausgangsbeschränkungen beendet melden und eventuell testen lassen. arbeiten oder von Kontaktsperren befreit
werden, ohne dass die Epidemie sich un- werden.
gehemmt ausbreitet? Muss sich die gesam- Um eine akute Infektion festzustellen,
te Bevölkerung so verhalten, als wäre sie stellt haben – datenschutzkonform und sind diese Tests ungeeignet. Antikörper
infiziert, obwohl das wohl nur auf einen grenzüberschreitend. Pepp-PT heißt das bilden sich erst nach mehr als zehn Tagen
Bruchteil zutreffen dürfte? Können sich System (»Pan-European Privacy-Preser- und zeigen nur, wer in der Vergangenheit
Infektionsherde nicht präziser eingrenzen ving Proximity Tracing«). Der Plan: Die mit dem Virus in Kontakt geraten ist. Hin-
lassen? Nutzer laden sich freiwillig eine App auf zu kommt: Die Tests können in manchen
Derzeit gibt es mindestens drei Ideen, das Smartphone, die Alarm schlägt, falls Fällen auch bei harmlosen Coronaviren
wie sich die bislang verordneten Maßnah- man in den vergangenen Wochen in der anschlagen, gegen die 90 Prozent der Er-
men womöglich lockern ließen: eine teil- Nähe einer infizierten Person gewesen ist, wachsenen Antikörper in sich tragen.
weise Mundschutzpflicht für alle wie in die das Programm ebenfalls nutzt. Das Helmholtz-Zentrum für Infektions-
Österreich und Jena; eine Tracing-App Wer und wann und wo das war, bleibe forschung in Braunschweig und zahlreiche
und massenhafte Antikörpertests, um fest- geheim, sagt Thomas Wiegand, der Leiter andere Institute bereiten jetzt Studien mit
zustellen, wer bereits gegen das Virus im- des Heinrich-Hertz-Instituts in Berlin, der insgesamt mehr als 100 000 Probanden
mun ist. maßgeblich an Pepp-PT beteiligt ist und vor.
Eine allgemeine Maskenpflicht hatte die auch das RKI berät. Die Tests sollen in vielen Fällen in re-
Ministerrunde am Mittwoch mit einem Die App arbeitet mit Bluetooth, setzt gelmäßigen Abständen wiederholt wer-
ebenso schlichten wie überzeugenden Ar- nicht auf Bewegungsprofile (»Tracking«), den. Die Wissenschaftler wollen so heraus-
gument verworfen: Man könne die Bürger sondern funktioniert eher wie ein digitaler finden, wie weit sich das neue Virus schon
zu nichts verpflichten, was es im Moment Zollstock, der Alarm auslöst, nachdem der ausgebreitet hat und wie viele Menschen
nicht oder kaum zu kaufen gebe. Nutzer einem Infizierten zu nahe gekom- es tatsächlich tötet. Diese Ergebnisse sol-
In puncto App war Bundesgesundheits- men ist (»Tracing«). Der Pepp-PT-Stan- len den politisch Verantwortlichen helfen
minister Jens Spahn im März mit der For- dard soll am 7. April veröffentlicht werden zu entscheiden, wann Lockerungen des
derung vorgeprescht, Patienten über ihre und könnte schon eine Woche später ein- Shutdowns möglich sind. Die ersten Re-
Mobiltelefone zu überwachen, durch die satzbereit sein. So ließe sich Europa zu sultate sollen Ende April oder im Mai vor-
Funkzellenortung der Mobilfunkprovider. einem Corona-Warnsystem zusammen- liegen, immerhin.
Datenschützer protestierten. Auch das Jus- schalten, für die Freiwilligen. Falls es über- Bis dahin gilt: Wer nicht hören will,
tizministerium meldete Bedenken an. Da- haupt technisch funktioniert. muss zahlen. In vielen Bundesländern sind
bei ist der wichtigste Einwand technischer Noch ist nämlich einiges unklar: Gelingt Bußgeldkataloge in Arbeit. Der in Sachsen
Natur. Um festzustellen, wann ein Nutzer es, den oft wackligen, ungenauen Blue- ist seit Mittwoch in Kraft. Wer sein Zuhau-
einem Infizierten begegnet ist, ist die von tooth-Funk für eine Distanzmessung zu se ohne triftigen Grund verlässt, ist mit
Spahn angedachte Funkzellenortung mit optimieren? Gehen Nutzer, wenn sie ge- 150 Euro dabei. Kein Exit in Sicht.
einem Radius von teils mehreren Hundert warnt werden, tatsächlich in Quarantäne? Matthias Bartsch, Jan Friedmann,
Metern zu ungenau. Eine elektronische Überwachung des Stu- Matthias Gebauer, Hubert Gude,
Einen komplett anderen Weg geht ein benarrests ist mit der App nicht machbar. Veronika Hackenbroch, Gunther Latsch,
neues Projekt, das mehr als 130 Forscher Auch zum Aufspüren besonders infektiö- Hilmar Schmundt, Steffen Winter
aus acht Nationen am Mittwoch vorge- ser Orte ist das Warnsystem ungeeignet.

41
Coronakrise

Bremse. Weil es eine Notsituation ist. Und

»Wir sind doch nicht deshalb fand ich es doch überraschend,


dass Sie schon nach einer Woche lamen-
tieren, Ihre Freiheitsrechte seien bedroht.

in Ungarn!« Als Politiker sollten wir jetzt nicht lamen-


tieren, sondern den Bürgern die harten,
aber notwendigen Maßnahmen erklären.
Wer weiß, ob sie nicht sogar noch ver-
schärft werden müssen.
SPIEGEL: Welche Schicksale und Schilde-

»Vielleicht müssen wir rungen haben Sie zu Ihrem Tweet ver-


anlasst, Frau Suding?
Suding: Meine Tante lebt in einem Pflege-
heim, ich denke an sie und die unzähligen

sogar verschärfen« anderen Menschen in einer solchen Situa-


tion, viele von ihnen dement. Sie können
keinen Besuch bekommen, manche auch
nicht telefonieren. Sie werden oft nicht
SPIEGEL-Streitgespräch Die stellvertretende FDP-Chefin verstehen, warum sich plötzlich niemand
aus der Familie mehr blicken lässt. Für sie
Katja Suding streitet sich mit dem SPD-Abgeordneten und die Angehörigen ist das ein ganz har-
Karl Lauterbach um das richtige Maß an Einschränkungen. ter Eingriff. Wie für viele andere auch.
Denken Sie an die wirtschaftlichen Exis-
tenzen, die jetzt vernichtet werden. Oder
an die vielen Schulkinder, die in sehr
SPIEGEL: Frau Suding, »Was ist das Leben einschränke, um das Leben anderer Men- schwierigen Verhältnissen leben. Wer jetzt
wert, wenn wir uns die Freiheit zu leben schen zu retten. zu Hause beim Lernen keine Unterstüt-
nehmen lassen?« haben Sie auf Twitter SPIEGEL: Ging es Ihnen tatsächlich um zung von den Eltern bekommt, fällt im
gefragt. Wie kamen Sie dazu, diese Frage Restaurantbesuche, Frau Suding? Unterricht noch weiter zurück und verliert
zu stellen? Suding: Nein, natürlich nicht. Als ob es Chancen im Leben.
Suding: Wir erleben gerade, dass unsere ums Weintrinken oder den Friseurbesuch SPIEGEL: Herr Lauterbach, wie würden
Grundfreiheiten massiv eingeschränkt wer- ginge, wie mir unterstellt worden ist. Das Sie der Tante von Frau Suding, die plötz-
den. Wir dürfen nicht mehr einfach so ist zynisch und verkennt den Ernst der lich die Welt nicht mehr versteht, erklären,
rausgehen. Wir können nicht mehr un- Lage. Jetzt stehen Menschen, die sich über dass sie keinen Besuch mehr bekommt?
eingeschränkt unseren Berufen nachge- Jahrzehnte ein Business aufgebaut haben, Lauterbach: Ich würde ihr in einfachen
hen. Geschäfte liegen brach. Wir dürfen vor den Scherben ihrer Existenz. Kleine Worten sagen, dass wir das zu ihrem
unsere Angehörigen in Pflegeheimen nicht Restaurants und Einzelhändler. Ich höre Schutz machen. Gerade Demenzkranke
mehr besuchen. Kinder und Frauen lei- bei Ihnen, Herr Lauterbach, so ein bisschen werden besonders von der Krankheit
den noch viel stärker unter häuslicher raus, dass es ja auch mal ganz schön sei, heimgesucht. Ich würde ihr auch erklären,
Gewalt. Da sind wir als offene Gesell- seinen Konsum einzuschränken und sich dass ein älterer Mensch, der mehrere
schaft verpflichtet, immer wieder zu fra- ein wenig selbst zu finden. Aber hier geht Wochen beatmet wurde, ein deutlich
gen: Erfüllen die beschlossenen Maß- es nicht um Selbstfindung. Die Menschen höheres Risiko hat, im Anschluss eine
nahmen tatsächlich den Zweck, unsere haben Angst, weil sie vor dem Ruin stehen. Demenz zu entwickeln. Viele sterben zwar
Gesundheit zu erhalten? Sind sie verhält- Das darf man nicht abtun, Herr Lauter- nicht, aber müssen danach ins Pflegeheim.
nismäßig? Sind wir auf dem richtigen bach. Wir sind Abgeordnete, unser Geld Suding: Das ist jetzt ein Scherz, oder? Das
Weg? Diese Fragen müssen wir jeden Tag kommt weiter aufs Konto, wir leiden kein wollen Sie meiner Tante erklären? Oder
stellen. Ich möchte den vielen Menschen, bisschen. Andere können vor Sorgen nicht wollen Sie es mir erklären? Ich verstehe
die sich Sorgen machen, ein Sprachrohr schlafen und wissen nicht ein noch aus. Das es, ein demenzkranker Mensch nicht.
sein. kann man gar nicht ernst genug nehmen. Lauterbach: Ich würde Ihrer Tante erklä-
SPIEGEL: Herr Lauterbach, Sie haben Lauterbach: Ich muss Ihnen widerspre- ren, dass sie besonders gefährdet ist und
direkt auf Frau Sudings Tweet reagiert. chen. Ich hatte erst einmal an Sie gedacht. dass wir sie besonders schützen.
Was hat Sie so auf die Palme gebracht? Denn Sie waren es doch, die sich gefragt Suding: Netter Versuch, aber das wird
Lauterbach: Die Kontaktsperre ist gerade hat, ob das Leben von Ihnen noch einen nicht viel nützen.
mal ein paar Tage in Kraft, und da stellt Wert hat, wenn Sie so eingeschränkt sind. Lauterbach: Ich weiß natürlich auch, dass
Frau Suding schon die Frage, ob das Leben Die Sorgen der Menschen, die gerade um man manchen Demenzkranken nicht mehr
noch wert sei, gelebt zu werden. Das hat ihre Existenz kämpfen, versuchen wir viel erklären kann. Aber ich würde ihr das
mich überrascht. Verglichen mit Katastro- doch gerade mit vielen Hilfsangeboten zu Gefühl geben, dass wir sie schützen. Das
phen wie dem Zweiten Weltkrieg ist es lindern. Im Worst Case müssen wir damit ist die einzige Möglichkeit. So erkläre ich
im Moment doch noch ziemlich harmlos. rechnen, dass die Wirtschaftsleistung um auch meiner Mutter, warum ich sie im Mo-
Dass unsere Freiheiten eingeschränkt wer- 20 Prozent einbricht. Dann gäbe es das ment nicht besuche. Sie ist 85 Jahre alt und
den, ist bitter, aber man muss es eben auch Wirtschaftssystem, wie wir es kennen, gar nicht dement. Ich besuche sie nicht, weil
ins Verhältnis setzen. Zu fragen, ob das nicht mehr. Bekommen wir Corona nicht ich sie nicht anstecken will.
Leben noch lebenswert ist, wenn ich mal unter Kontrolle, könnten allein in Deutsch- Suding: Herr Lauterbach wird das Pro-
nicht ins Restaurant oder zur Arbeit gehen land mehr als eine Million Menschen ster- blem mit meiner Tante nicht lösen können,
kann, halte ich für unangemessen. Das ben. Und es gäbe wahrscheinlich Millio- und das ist auch nicht seine Aufgabe. Aber
Leben gewinnt doch auch an Wert, wenn nen Menschen mit schweren dauerhaften ich will darauf aufmerksam machen, dass
ich mich aus Überzeugung eine Zeit lang Schäden. Deshalb treten wir jetzt auf die wir es im Moment nicht mit einer großen

42 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


500 000 Menschen sterben würden. Vo-
rausgesetzt, die Krankenhäuser wären
nicht völlig überlastet, denn dann könnten
es mehr als eine Million Tote werden. Des-
halb diese Vollbremsung überall in Europa.
Wir müssen die Pandemie unter Kontrolle
bringen. Und das wurde auch oft genug
und klar genug kommuniziert.
SPIEGEL: Widerspruch, Frau Suding?
Suding: Wenn Frau Merkel sagt, die Fall-
zahlen dürften sich nur alle zehn Tage ver-
doppeln, bevor irgendetwas gelockert wer-
den könne, frage ich mich: Warum setzt

CHRISTIAN O. BRUCH / DER SPIEGEL


sie das nicht ins Verhältnis zu den Tests?
Wenn wir demnächst explosionsartig
mehr Tests haben, worauf wir alle hoffen,
werden wir ja in jedem Fall höhere Fall-
zahlen haben. Das kann also kein taug-
liches Kriterium sein, um Maßnahmen zu
lockern, zu verlängern oder zu verschär-
fen. Fallzahlen müssen doch ins Verhältnis
Suding, 44, ist FDP-Landesvorsitzende in Hamburg und stellvertretende Bundes- zu der Anzahl der Tests gesetzt werden.
vorsitzende. Seit 2017 sitzt die frühere Kommunikationsberaterin im Bundestag. Lauterbach: Das stimmt. Die Verdopp-
lungszahl allein kann natürlich nicht das
entscheidende Kriterium sein. Mich hat
diese isolierte Aussage auch stark verwun-
dert. Man muss noch ganz andere Para-
meter im Auge haben.
SPIEGEL: Sind die Maßnahmen also un-
verhältnismäßig?
Suding: Wenn man hier in Hamburg an
die Alster geht, haben Sie das Gefühl, Sie
wären auf einem Volksfest. Da sind Jogger,
es ist voll, und kaum jemand kann den Ab-
stand einhalten. Das also ist erlaubt, wäh-
rend gleichzeitig der Einzelhändler nicht
öffnen darf, selbst wenn er seine Kunden
nur einzeln und brav hintereinander be-
dient. Das ist sehr schwer zu verstehen.
SPIEGEL: Herr Lauterbach, uns würde der
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

Maßstab interessieren, den Sie an die Ein-


schränkung der Freiheit anlegen. Ist alles
gerechtfertigt, wenn damit auch nur ein
Mensch gerettet werden kann?
Lauterbach: Auf so eine Ethikhaarspalte-
rei werde ich mich nicht einlassen. Wir ver-
suchen gerade, die Pandemie so einzudäm-
Lauterbach, 57, ist Mediziner und Gesundheitsökonom und als stellvertretender men, dass wir jeden einzelnen Infizierten
Fraktionschef der SPD zuständig für Gesundheitspolitik und Pflege. wieder nachvollziehen können. Gelingt
uns das nicht, haben wir nicht nur eine
medizinische, sondern auch eine ökono-
Pyjamaparty zu tun haben, wie offenbar genug, das geht viel besser. Wenn Kanz- mische Katastrophe. Hier geht es nicht
einige denken. Hey, wir bleiben zu Hause! leramtschef Helge Braun darauf mal eben um Gesundheit gegen Wirtschaft. Gerät
Nein, es gibt unfassbare Härten. Über die per Zeitungsinterview antwortet, ist das die Pandemie außer Kontrolle, dann bricht
müssen wir reden. keine angemessene Krisenkommunika- die Wirtschaft ein, noch bevor die letzten
SPIEGEL: Aber was folgt daraus? Meinen tion. Wenn die Maßnahmen deshalb im- Kranken gestorben sind.
Sie, die Maßnahmen sind falsch? mer weniger akzeptiert werden, haben wir SPIEGEL: Ist das Schwarzmalerei, Frau
Suding: Ich bin keine Virologin. Ich höre ein ganz anderes Problem. Suding?
unterschiedliche Meinungen, die sich zum SPIEGEL: Herr Lauterbach, wie bewerten Suding: Herr Lauterbach hat ja vollkom-
Teil widersprechen. Eines ist doch klar: Sie die Kommunikation der Bundesregie- men recht, dass man Menschenleben und
Wenn eine Regierung so drastische Maß- rung? wirtschaftliche Freiheit auf keinen Fall ge-
nahmen beschließt, muss sie sehr gut Lauterbach: Ich verteile keine Noten. Wir geneinander aufwiegen kann. Doch wahr
erklären, warum sie notwendig sind. Wie haben aber doch klar erklärt, warum wir ist natürlich auch: Wenn unsere Wirtschaft
lange braucht man sie? Was sind die Ziele? all das machen. Das kapiert doch inzwi- zusammenbricht, werden wir auch die Men-
Was sind die Kriterien? Wann können wir schen jeder. Wenn wir gar nichts täten, schen nicht mehr versorgen können. Dann
sie lockern, wann beenden? Da ist mir die würden sich bis zu 50 Millionen Deutsche bricht auch unser sehr gutes Gesundheits-
Kommunikation der Regierung nicht klar infizieren, von denen im günstigsten Fall system zusammen. Deshalb müssen wir

43
beides zusammendenken, wir müssen die tertür gestohlen werden. Die Pandemie
Gesundheit der Menschen schützen, dürfen wird unsere Gesellschaft stark verändern –
aber nicht zulassen, dass die Wirtschaft kol- aber nicht in dieser Hinsicht.
labiert. Es muss daher unbedingt schon Suding: Ich bin froh, dass wir in einem
jetzt eine Exitstrategie entwickelt werden. Land mit einer Regierung leben, die das

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL


SPIEGEL: Ihr Parteifreund Marco Busch- Wohl der Menschen im Blick hat. Aber den-
mann hat im SPIEGEL vor einer Radikali- noch müssen wir uns als selbstbewusste
sierung der Mittelschicht und einem »Zu- Abgeordnete das Recht sichern, notfalls ein-
sammenbruch politisch geordneter Verhält- zugreifen und grundrechtseinschränkende
nisse« gewarnt. Teilen Sie diese Sorge? Maßnahmen beenden zu können. Wir dür-
Suding: Mir machen die Einschränkungen fen nicht naiv sein. Man kann nicht aus-
der Freiheitsrechte mehr Sorge. Wir müs- schließen, dass es in Zukunft eine Regierung
sen uns überlegen, wie wir die schlimms- Suding, Lauterbach beim SPIEGEL-Gespräch* geben könnte, die andere Absichten hat.
ten Auswirkungen abmildern können. Das »Im Moment kann jeder infektiös sein« SPIEGEL: Wir haben jetzt viel über Leid
ist es, was mich umtreibt. und Beschränkungen gesprochen. Aber
SPIEGEL: Herr Lauterbach, die beschlos- liegt in der Krise auch eine Chance?
senen Maßnahmen sind – vielleicht auch SPIEGEL: Was passiert, wenn das nicht Suding: Ich finde es unglaublich befreiend
wegen der großen Eile – wenig differen- gelingt? zu sehen, wie viele Menschen in dieser
ziert. Wäre es nicht sinnvoll, gezielte Maß- Lauterbach: Dann ist es sehr fraglich, dass schwierigen Situation erfinderisch und
nahmen zu ergreifen, statt alle Menschen wir die Maßnahmen nach dem 20. April kreativ werden. Ob es der Hamburger Un-
in gleichem Maße einzuschränken. schon lockern können. ternehmer ist, der ein Festival ins Leben
Lauterbach: Dass wir jetzt alle treffen, SPIEGEL: Frau Suding, wie misstrauisch ruft, das »Keiner kommt« heißt. Wo die
liegt daran, dass wir tatsächlich alle im sind Sie, wenn der Bund und die Länder Einnahmen als Spende für Künstler und
Moment isolieren müssen. Es ginge gar jetzt so massiv in die Freiheitsrechte ein- kleine Klubs und Bühnen weitergereicht
nicht gezielter, weil wir ja nicht wissen, wer greifen? Sind Sie besorgt, dass die Rechte werden. Oder wenn ich die Lehrer sehe,
infiziert ist. Mindestens 40 bis 50 Prozent länger als nötig eingeschränkt werden? die in dieser unglaublich schwierigen Si-
der Betroffenen werden von einem Men- Suding: Misstrauen ist das falsche Wort. tuation den Unterricht digital weiterfüh-
schen angesteckt, der keine oder nur leich- Aber es ist doch meine Pflicht als Abgeord- ren. Ich finde es in dieser Hinsicht sehr
te Symptome zeigt. Im Moment kann also nete und Staatsbürgerin einzufordern, dass ermutigend, was gerade in diesem Land
jeder infektiös sein, egal ob sie oder er die Aufgaben, von denen Herr Lauterbach passiert. Und ich hoffe, dass dieser Spirit
Symptome zeigen oder nicht. spricht, endlich erledigt werden. Und im- anhalten wird, wenn wir die Krise irgend-
Suding: Aber was ist mit den Menschen, mer wieder zu mahnen, dass klar kommu- wann überstanden haben.
die Covid-19 überstanden und bereits niziert wird, warum eine Maßnahme statt- Lauterbach: Ich glaube, dass wir auf die
Antikörper gebildet haben? Angenom- findet, wann sie wieder aufgehoben werden nächsten Pandemien besser vorbereitet sein
men, ich wäre so ein Fall. Könnte ich dann könnte oder ob sie verschärft werden muss. werden. Es wird mehr dieser Pandemien
meine Tante besuchen? Eine solche Debatte sollte in einer offenen geben. Das ist jetzt ein tragischer, riesiger
Lauterbach: Wenn Sie komplett genesen Gesellschaft selbstverständlich sein. Wir Warnschuss. Wenn wir gut durchkommen,
sind, natürlich. Aber das betrifft aktuell sind doch nicht in Ungarn, wo gerade die steht auch fest, dass es nicht der Populismus
gerade mal geschätzt einen von 300 bis Demokratie zerstört wird! ist, der so eine Krise löst, sondern demo-
500 Menschen in Deutschland. Ich bin ja SPIEGEL: Werden, wenn das Ganze irgend- kratisch gewählte Parlamente und Regie-
völlig bei Ihnen, dass wir die Auflagen für wann vorbei ist, die Freiheitseinschränkun- rungen, die in der Lage sind, selbst die größ-
die Wirtschaft und das soziale Leben drin- gen tatsächlich komplett verschwinden? ten Herausforderungen zu meistern.
gend wieder lockern müssten. Aber das Lauterbach: Ja, die Freiheitsrechte, die SPIEGEL: Was vermissen Sie beide in die-
geht erst, wenn wir unsere Aufgaben wir gehabt haben, werden komplett wie- ser Phase der Einschränkung persönlich
erledigt haben. der zurückkommen. am meisten?
SPIEGEL: Und die wären? Suding: Das müssen sie! Suding: Wenn ich ehrlich sein soll: nicht
Lauterbach: Wir müssen die Testkapazi- Lauterbach: Was wir uns jetzt an Freiheits- allzu viel. Die politische Arbeit geht weiter.
täten sehr stark erhöhen, wahrscheinlich beschränkungen erlauben, ist alles nur Und ich habe zwei Söhne, 16 und 17 Jahre
auf bis zu eine halbe Million am Tag. Das geliehen zur Bekämpfung der Pandemie alt, die zwar schon sehr selbstständig sind,
wären etwa siebenmal mehr Tests, als das, und zum Erhalt unserer freien Gesellschaft. bei denen ich das Homeschooling aber
was wir zurzeit maximal haben. Ob uns Das gibt es alles wieder zurück. Es darf trotzdem beaufsichtigen muss. Beim Gro-
das gelingt, ist völlig unklar. Dann müssen nichts an Freiheitsrechten durch die Hin- ßen steht jetzt das Abitur an. Ich bin damit
wir die Gesundheitsämter so verstärken, so sehr beschäftigt, dass sowieso kaum
dass wir bei jedem einzelnen Fall die Kon- Zeit bliebe, Freunde zu treffen. Noch geht
takte relativ vollständig nachvollziehen es also, aber fragen Sie mich in drei
können. Und wir brauchen Schutzmaterial »Es gibt unfassbare Wochen noch mal.
für alle, die in der Pflege, in den Kranken-
häusern und in den Praxen arbeiten. Bis-
Härten. Über die Lauterbach: Ich vermisse die Abende mit
guten Freunden beim Wein. Und ich ver-
her verbrauchen wir noch mehr, als wir
nachgeliefert bekommen. Und schließlich
müssen wir reden.« misse die Tischtennisturniere mit meiner
Tochter, die für den 1. FC Köln spielt. Die
müssen wir die Zahl der Neuinfektionen Saison musste ja leider unterbrochen wer-
auf maximal ein paar Hundert Fälle pro den. Dabei hatte ich als ihr mehr oder we-
Tag runterbekommen, besser noch deut-
lich weniger.
»Hier geht es niger erfolgloser Coach dem Saisonfinale
schon sehr entgegengefiebert.
nicht um Gesundheit SPIEGEL: Frau Suding, Herr Lauterbach,
* Mit den Redakteuren Konstantin von Hammerstein wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
und Markus Feldenkirchen. gegen Wirtschaft.«
44 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020
vr.de

r sch a f fen
Wi .
us am m en
das z
Die großen Aufgaben unserer Zeit lösen wir nur
zusammen. Deshalb entscheiden wir mit unseren
mehr als 18,6 Millionen Mitgliedern gemeinsam,
wie wir als Banken handeln. Und obwohl diese
Idee schon mehr als 170 Jahre alt ist, könnte sie
kaum moderner sein.
Gemeinsam schauen wir nach vorn und sagen:
Morgen kann kommen. Wir machen den Weg frei.
Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg

ALEXANDER KOERNER / GETTY IMAGES


Wie die Pest
Senioren In deutschen Heimen gibt es immer mehr Infizierte, auch die Zahl der Toten steigt.
Während dem Pflegepersonal Handschuhe und Schutzkittel
ausgehen, fürchten sich viele Alte vor dem Virus – und leiden unter der Isolation.

D
raußen vor der Eingangsschleuse genproblemen. Von den knapp 800 To- men inzwischen nur noch in Ausnahme-
hängt jetzt ein Spender mit Des- desopfern der Seuche in Deutschland wa- fällen gestattet. In Baden-Württemberg
infektionsmittel. Jeder, der das ren 70 Prozent über 70 Jahre alt. Beson- wird jeder Verstoß dagegen mit bis zu
Pflegeheim »Haus Ilse« in Nor- ders Alten- und Pflegeheime sind von Co- 2500 Euro Geldbuße geahndet.
derstedt bei Hamburg betreten will, muss vid-19 bedroht. Rund 14 500 solcher Ein- Auch das Haus Ilse bei Hamburg darf
sich gründlich die Hände reinigen. Die richtungen gibt es hierzulande, 818 000 kaum jemand noch besuchen. Bislang gibt
meisten der 66 Bewohner sind hochbetagt, Senioren leben dort, auf engem Raum. es hier keinen Corona-Fall. Das soll auch
dement, pflegebedürftig. Sie brauchen Hil- In einem Heim in Würzburg fielen der so bleiben. »Wir müssen noch üben, Dis-
fe im täglichen Leben. In normalen Zeiten Pandemie innerhalb kurzer Zeit 16 Men- tanz zu halten«, sagt Heimleiterin Garber.
verlassen sie das Haus manchmal zu be- schen zum Opfer. In einer Wolfsburger Ein- Zumal das Haus auf Vertrautheit setze.
gleiteten Spaziergängen oder Arztbesu- richtung für Demenzkranke sind bislang »Wir vermitteln den Demenzkranken Si-
chen. Nun müssen alle drinnen bleiben. mehr als 20 Bewohner gestorben. Täglich cherheit. Das geht eigentlich über Nähe,
Die Leiterin Julia Garber hat von der steigt die Anzahl der Neuinfektionen in Gesten, Mimik, ein Lächeln.«
Aufsicht die Anweisung bekommen, die deutschen Seniorenheimen, in München, Das Tragen von Masken sei für viele
Bewohner am besten in ihren Zimmern zu Paderborn und im niedersächsischen Wil- Senioren irritierend. Garber erinnert sich,
isolieren. Die Pfleger sollen Schutzklei- deshausen. Experten warnen vor einem wie ihr eine ältere Dame genervt gesagt
dung und Masken tragen. »Sonst waren »Flächenbrand«. Während sich Gesunde habe: »Nimm doch mal das Ding aus dem
wir immer darauf bedacht, uns nicht selbst und Junge zu Hause vor dem Virus ver- Gesicht!«
mit Keimen anzustecken«, sagt Garber. schanzen, könnte die Seuche Ältere und Überall in Deutschland haben Bewoh-
»Jetzt ist es umgekehrt. Wir hoffen, dass Kranke in Heimen und Kliniken umso ner von Pflege- und Altenheimen mit der
wir niemanden infizieren.« schneller dahinraffen. neuen Situation zu kämpfen. Viele leiden
Jede Ansteckung könnte tödlich sein. Die Behörden versuchen deshalb, Be- unter der staatlich verordneten Isolation.
Das Coronavirus gefährdet vor allem älte- wohner zu schützen. Vielerorts verhäng- Ihre Familie dürfen sie nicht mehr sehen.
re Menschen mit Vorerkrankungen. Viele ten sie Aufnahmestopps. In den meisten Als Ersatz bleiben häufig nur Telefonate
leiden an Bluthochdruck, Herz- oder Lun- Ländern ist das Betreten von Seniorenhei- oder Videoanrufe.

46 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Coronakrise

Doch auch den Angehörigen fällt die der Einrichtung in eine Quarantänestation im Bett. »Gemeinsam mit den Ärzten lin-
Trennung schwer. Mona Winkel aus Ham- für Infizierte umfunktioniert. dern wir ihr Leiden, so gut wir können.«
burg ist eine von ihnen. Ihre Großeltern Eine Altenpflegerin der Station berich- Normalerweise besuchen in dieser Pha-
darf die 36-Jährige nicht besuchen. Win- tet, sie lege einen Schutzanzug an, bevor se Angehörige die Sterbenden. Doch jetzt
kels Oma, 82, lebt seit einem Jahr in einem sie über einen eigenen Fahrstuhl zu den ist das nicht mehr möglich. »Das ist das
Pflegeheim. Ihr Opa, 79, gehe normaler- Bewohnern fahre. »Die Leute reagieren Schlimmste«, sagt die Altenpflegerin,
weise täglich zu seiner Frau, sagt Winkel, schon ängstlich, wenn plötzlich jemand »wenn niemand mehr kommen darf, um
nun müsse auch er zu Hause bleiben. voll vermummt mit Schutzbrille, Mund- sich zu verabschieden.« Mit einem Sohn,
Regelmäßig versorgt Winkel ihre Groß- schutz und Gummihandschuhen auf sie der seine Mutter sehen wollte, verabrede-
mutter mit allem, was sie braucht und zukommt«, sagt sie. »Ganz wichtig ist die ten sie, dass er draußen an das Fenster trat.
wünscht: Fernsehzeitschriften, Bücher, Sü- Stimme. Die Stimme macht wahnsinnig »Seine Mutter ist in einem guten Zustand.
ßes. Sie muss die Dinge in eine Schleuse viel aus. Wenn wir sie freundlich anspre- Wenn es ihr gut geht, kann sie ihm zuwin-
stellen, es besteht striktes Kontaktverbot. chen, erkennen sie uns doch.« ken. Das ist für uns alle hier ein Highlight.«
Winkel macht sich große Sorge um die Die Frau hat sich freiwillig für den Einige Bewohner sind gleichwohl in
seelische Verfassung ihrer Großmutter. Als Dienst auf der Infiziertenstation gemeldet. einem kritischen Zustand, andere sind be-
die alte Dame vor zwei Wochen plötzlich Sie ist vor Ort, wenn Menschen sterben. reits gestorben. Den Leichnam eines Ver-
stark zu husten begann, betraten Pfleger Das sei schon schwer zu ertragen, sagt sie. storbenen schoben sie im Keller vor eine
das Zimmer nur noch in Schutzkleidung. Mehrfach stockt sie, während sie davon Glastür, damit die Tochter ihren toten Va-
Am Ende stellte sich jedoch heraus, dass erzählt. Sie muss weinen. »Manche zeigen ter noch einmal sehen konnte. In der Not
der Husten eine allergische Reaktion auf kaum Symptome, werden müde und schla- »versuchen wir alles Mögliche möglich zu
ein Medikament war. »Oma ging es gar fen viel, bevor sie sterben.« Andere lägen machen«, sagt die Pflegerin. Das Team, in
nicht gut«, sagt Winkel. tagelang mit Luftnot und flacher Atmung dem auch infizierte Kollegen arbeiteten,
Zu dem Gefühl der Einsamkeit kommt halte zusammen. Angst vor einer Infektion
für Tausende Senioren die Angst, sich mit habe sie nicht mehr. »Anfangs war mir
dem Virus anzustecken. Sie informieren Auf Hilfe angewiesen schon mulmig zumute.« Inzwischen denke
sich über die Krise, gucken Fernsehen, le- Anteil der Pflegebedürftigen sie nur noch an die Senioren und daran,
sen Zeitung. Ihnen ist nicht entgangen, in Deutschland an der jeweiligen ob sie morgen noch da seien.
was andernorts geschah. Altersgruppe »Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
Die Tragödie von Würzburg begann am der Alten- und Pflegeheime gebührt nicht
Sonntag vor drei Wochen, als ein 83-jäh- 20% 40% 60% 80% nur unser Dank, sondern größte Hochach-
riger Bewohner des Pflegeheims St. Niko- unter tung«, sagt Dieter Bien, der Chef des Bun-
laus mit grippeähnlichen Symptomen in 60 Jahre desverbands der kommunalen Senioren-
die Uniklinik eingeliefert wurde. Nur vier und Behinderteneinrichtungen. Doch sei es
Tage später starb der Mann. Er war das 60 bis 69 längst nicht sicher, ob die Krise mit dem vor-
erste bayerische Opfer von Covid-19. Männer handenen Personal bewältigt werden könne.
Die Ereignisse überschlugen sich. Das 70 bis 74 Frauen Die Republik ist vom Pflegenotstand di-
Virus traf das Heim völlig unvorbereitet. rekt in die größte medizinische Krise der
Alle 149 Bewohner mussten eiligst isoliert bundesdeutschen Geschichte geschlittert.
werden. Pflegekräfte betraten die Zimmer 75 bis 79 Die Pflegerinnen und Pfleger in den Al-
nur noch in Schutzkleidung. Die Leitung tenheimen sind nicht nur schlecht bezahlt,
erließ ein striktes Besuchsverbot. Doch es 80 bis 84 überlastet, ausgebrannt. Ihnen mangelt es
war schon zu spät. auch an Atemschutzmasken, Handschu-
Die Seuche hatte sich unbemerkt ver- hen, Schutzanzügen. Bien sagt: »Wenn
breitet. Es war nicht mehr herauszufinden, 85 bis 89 eine Welle an Infektionen auf die Pflege-
wer sie eingeschleppt hatte. Ein Angehö- einrichtungen zukommt und der Material-
90 und
riger, ein Pfleger, ein Zulieferer? Immer nachschub nicht gewährleistet wird, gera-
älter
mehr Bewohner zeigten Symptome. Nur ten wir innerhalb von zwei bis drei Wo-
Quelle: Destatis; Stand: 2018
eine Woche nach dem ersten Todesfall chen an unsere Grenzen.« In einzelnen
waren weitere acht Menschen gestorben. Regionen drohe dann sogar der Kollaps.
Ein Corona-Test ergab: 27 Bewohner so- Versorgung der Pflegebedürftigen Was das Material betrifft, sind Pflege-
wie 33 Angestellte waren positiv. heime im deutschen Gesundheitssystem
Die Zahl der Toten stieg auf 16. Die Ge-
im Heim vollstationär seit je das schwächste Glied in der Kette.
schehnisse in Würzburg warfen zum ersten Wegen Corona gibt es in der Politik inzwi-
Mal in Deutschland ein Schlaglicht darauf, schen zwar ein Umdenken. Die Bundes-
was geschieht, wenn sich das Virus unter 24 % regierung stellt zig Millionen Euro bereit.
den Alten, den Kranken verbreitet. Aus Doch was nutzt das ganze Geld, wenn
heutiger Perspektive wirken die Ereignisse kaum noch Ware da ist?
wie eine Blaupause für das, was anderen
insgesamt Auch im Haus Ilse in Norderstedt wartet
Einrichtungen noch bevorstehen könnte. 3,4 Millionen Heimleiterin Garber auf die Lieferung
Gleiches gilt für das Hanns-Lilje-Heim dringend benötigter Schutzmittel. Von den
in Wolfsburg. In dem Haus für Demenz- 24 % 52 % Behörden hat sie bislang nichts erhalten.
kranke wütete die Corona-Seuche wie die Das Pflegeheim ist im Amtsjargon »Selbst-
Pest im Mittelalter. Insgesamt 80 Senioren versorger«, was nichts anderes heißt, als
sind positiv auf das Virus getestet, 23 von zu Hause zu Hause dass die Heimleiterin sehen muss, wie sie
ihnen gestorben. Jeden Tag gibt es Krisen- zusammen durch Angehörige an ihre Ausrüstung kommt.
sitzungen mit Vertretern des Gesundheits- mit /durch Als das Toilettenpapier in Deutschlands
Quelle: Destatis;
amts. Die Leitung hat die oberste Etage Pflegedienste Stand: Ende 2017 Supermärkten knapp wurde, hat Garber

47
Coronakrise

erst einmal Nachschub an Windeln geor- ses verhielten sich bislang aber alle ver-
dert. »Wenn uns die ausgehen, haben wir
ein echtes Problem«, sagt sie. Weil richtig
dichte Masken nicht zu bekommen sind,
nünftig und kooperativ. Bereits Mitte März
hat Schmalkuche die Angehörigen infor-
miert, dass sie ihre Familienmitglieder
Die Gedulds-
nutzen ihre Mitarbeiterinnen Leinentü-
cher, die vor Mund und Nase gebunden
und regelmäßig gewaschen werden.
nicht mehr besuchen dürften. Ausgenom-
men ist nur die Sterbebegleitung.
Das Martinusheim ist seitdem immer
prüfung
Wirklich sicher ist das nicht. Um effek- abgeschlossen. Die Bewohner dürfen noch Hochschulen Die Universitäten
tiv zu verhindern, dass sich die Corona- in den Garten gehen. Manche ziehen sich bleiben geschlossen, doch die
Pandemie weiter rasant unter den Kran- aber auch allein in ihre Zimmer zurück.
ken, Schwachen und Alten ausbreitet, Sie vermissen ihre Verwandten. »Wir ver- Staatsexamen in Lehramt, Jura
wären eigentlich flächendeckende Tests suchen, den fehlenden Kontakt zu den und Pharmazie finden mancher-
nötig. Doch das scheint unmöglich. Hier- Angehörigen mit mehr Gesprächen aufzu- orts statt – nur anders als sonst.
zulande gibt es 3,4 Millionen Pflegebe- fangen«, sagt Schmalkuche.
dürftige. Rund 1,2 Millionen Menschen Innerhalb des Hauses sollen sich keine
waren 2017 in Pflegediensten und -heimen
beschäftigt.
Weil nicht alle getestet werden können,
muss das Personal in den Heimen noch pe-
größeren Gruppen bilden. Stattdessen gibt
es nun Hockergymnastik. Da ließe sich aus-
reichend Abstand einhalten, sagt Schmal-
kuche. »Das gesamte Personal läuft mit
E in bisschen merkwürdig sei es schon
gewesen, sagt Diana Schneider. Sie
hinter der Plastikscheibe, die Prü-
fer und der Schriftführer davor. Der Hand-
nibler auf Hygiene achten. Dauerhaft auf Mundschutz herum.« schlag zur Begrüßung strengstens verbo-
Abstand zu gehen ist in der Pflege aber Die Leiterin achtet darauf, dass die Hy- ten. Abstand halten, bitte. Ein Hauch von
ausgeschlossen. Kontaktsperren sind gera- gieneregeln befolgt werden. Doch das Hochsicherheitstrakt.
de für Demenzkranke schwer umzusetzen, Schutzmaterial reiche nur noch für etwa Die 36-Jährige möchte in diesen Tagen
auch im Haus Ilse. »Eine Isolierung ist zwei Wochen. Bestellte Ware sei nicht ge- an der Universität Tübingen das zweite
nicht möglich«, sagt Garber. Die Zimmer kommen. Schmalkuche hat deshalb schon Staatsexamen in Pharmazie ablegen. Das
seien in der Regel offen, weil die meisten einen Notvorrat in ihrem Büro gebunkert. heißt: eine mündliche Prüfung pro Woche,
Betroffenen einen starken Bewegungs- »Wir fürchten, dass eine Ansteckung nicht insgesamt fünf Wochen lang. Vier Prüfun-
drang hätten und Gemeinschaft suchten. komplett vermieden werden kann.« gen hat sie geschafft, eine kommt noch.
Auch in Seniorenresidenzen fällt es häu- Im ersten Stock des Heims wohnt Anni Monatelang hatte Schneider gepaukt:
fig schwer, Distanz zu halten. Das Konzept In der Stroth. Die 91-Jährige sagt, es sei in Pharmakologie, Klinische Pharmazie, Phar-
vieler Einrichtungen lautet: selbstständiges Ordnung, dass sie jetzt vorerst nicht mehr mazeutische Technologie, Pharmazeuti-
Wohnen mit Service. Und so verstehen es rausgehen dürfe. »Uns ist das erklärt wor- sche Biologie, Medizinische Chemie, bis
viele Bewohner auch, trotz Corona. Etli- den, wir haben das angenommen und uns zu 14 Stunden am Tag. »Freizeit war in
che Ältere sind noch fit, rüstig, unterneh- damit arrangiert.« Ihre Verwandten emp- meinem Lernplan nicht vorgesehen.«
mungslustig. Manche spazieren weiterhin fängt sie jetzt am Fenster: »Die Kinder Es sind Tage mit viel Anspannung und
in die Innenstädte, weil ihnen langweilig kommen unten zu dem gepflasterten Weg. wenig Schlaf – doch Schneider ist froh da-
ist. Sie kaufen ein, gehen zum Bäcker und Dann können wir uns unterhalten.« rum. Sie habe großes Glück gehabt, ihr
essen Eis. Damit gefährden sie ihre Mit- Ein wenig unheimlich findet In der Examen noch ablegen zu dürfen. So emp-
bewohner. Stroth die Situation aber schon. »So etwas findet sie es, auch wenn ihre Prüfung so
Das Personal hat in solchen Fällen we- habe ich noch nie erlebt«, sagt sie. »Im anders abläuft als in den Jahrgängen zuvor.
nig Handhabe. »Wir dürfen hier nieman- Krieg war ich ja noch ein Kind.« Schneider musste allein vor den Prüfern
den festbinden«, sagt Daniela Schmalku- Felix Bohr, Lisa Duhm, Sarah Heidi Engel, erscheinen, nicht wie üblich mit einem an-
che. Die 44-Jährige leitet das Seniorenzen- Michael Fröhlingsdorf, Hubert Gude, deren Kandidaten. Auf dem Flur hielt sie
trum St. Martinus der Caritas in Bramsche Katja Thimm Sicherheitsabstand zu den Kommilitonen.
bei Osnabrück. Die 44 Bewohner des Hau- Aufgabenblätter mit chemischen Struktur-
formeln, die sie analysieren musste, hielten
die Prüfer vor die Scheibe – zu groß die
Gefahr, beim Herüberreichen des Zettels
könnten Keime übertragen werden.
»Das alles habe ich gern in Kauf genom-
men«, sagt Schneider. Sie ist erleichtert,
dass ihr die Hängepartie erspart bleibt,
die zahlreiche Kommilitonen im ganzen
Land derzeit erleben. In Freiburg, nur gut
PATTY VARASANO / PICTURE ALLIANCE / HMB MEDIA

hundert Kilometer von Tübingen entfernt,


wird das Staatsexamen in Pharmazie »bis
auf Weiteres verschoben«, wie es auf der
Internetseite des Instituts steht. In Mün-
chen, Erlangen, Würzburg: abgesagt.
Vor wenigen Tagen hat Bundesgesund-
heitsminister Jens Spahn (CDU) eine Ver-
ordnung unterzeichnet, die unter ange-
henden Medizinern für Protest gesorgt
hatte: Studierende, die kurz vor dem zwei-
ten Staatsexamen stehen, sollen ihr Prak-
tisches Jahr vorziehen und sich in den Kli-
Rettungskräfte vor Pflegeheim St. Nikolaus in Würzburg: Jede Ansteckung könnte tödlich sein niken um Patienten kümmern, statt ihre

48
kann verstehen, dass man Prüfer und Stu-
dierende nicht gefährden möchte.«
Auch die Examina für Lehramtsstudie-
rende werden in einigen Bundesländern
auf unbestimmte Zeit verschoben. In Sach-
sen-Anhalt allerdings werden Prüfungen
stattfinden. Noch bis zum 9. April sollen
die Lehramtskandidaten ihre Klausuren
schreiben, »unter höchsten Sicherheitsvor-
kehrungen«, wie Kultusminister Marco
Tullner (CDU) versichert. Danach stehen
die mündlichen Prüfungen an.
»Die Studierenden haben sich langfristig
vorbereitet«, sagt Tullner. Die Prüfungs-
bedingungen seien intensiv mit den Ge-
sundheitsbedingungen abgestimmt wor-
den. »Es wird die Einhaltung der vorge-
gebenen Standards gesichert.«
In vielen Bundesländern herrscht Leh-
rermangel. Gerade Sachsen-Anhalt ist auf
jeden einzelnen Absolventen angewiesen.
17 Prozent der dortigen Lehrkräfte sind

JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL


älter als 60 Jahre und werden in den kom-
menden Jahren in den Ruhestand eintre-
ten. Nur in Thüringen und Brandenburg
ist der Anteil noch ein bisschen höher.
Der Grundschullehrerverband kritisier-
te das Vorgehen des Ministeriums scharf.
Kandidat Ali in Osnabrück: »Da war auf einmal eine große Leere« »Die Entscheidung steht in krassem Wider-
spruch zu allen aktuellen Empfehlungen
und Maßgaben im Kontext der Corona-
Klausuren zu schreiben. »Das zweite den Stunden am Schreibtisch, fiel aus. Die Krise«, heißt es in einer Stellungnahme.
Staatsexamen, das im April ansteht, wird beiden Klausurenkurse, die Ali besuchte, »Die mehrstündige Versammlung von bis
im Grundsatz bundesweit verschoben«, um alte Prüfungsaufgaben zu lösen, stell- zu 100 Absolvent*innen in einem Raum
heißt es darin. Allerdings steht dort auch: ten auf Onlinebetrieb um. Am Freitag, den kann nicht im Sinne der aktuellen Ein-
»Die Länder haben nach Lage vor Ort die 13. März, schloss die rechtswissenschaft- dämmungsstrategie der Virus-Bekämp-
Möglichkeit, hiervon abzuweichen, wenn liche Bibliothek in Osnabrück. fung sein und erscheint rechtswidrig.«
sie die ordnungsgemäße Durchführung Am Montag darauf folgte die Mitteilung Ähnliche Kritik kam aus vielen Richtun-
der Prüfung unter den Bedingungen der des Prüfungsamtes: Das Staatsexamen wer- gen, sodass Tullner schließlich einlenkte
epidemischen Lage sicherstellen können.« de ausgesetzt. Nachholtermine würden zu und den Examenskandidaten ein Sonder-
Jedes Bundesland darf also für sich ent- gegebener Zeit genannt. »Da war auf ein- rücktrittsrecht einräumte: Wer nicht will,
scheiden, wie es mit der Situation umge- mal eine große Leere«, sagt Ali. Er fühle muss nicht zur Prüfung erscheinen.
hen möchte. Planungssicherheit für die sich wie ein Sprinter, der im vollen Lauf ge- Karina Kaiser hätte es gut gefunden,
Examenskandidaten sieht anders aus. stoppt wurde. »Ich lag doch gut in der Zeit.« wenn ihre Examensprüfung abgesagt
Auch bei den Staatsexamensprüfungen Nun versucht er weiterzumachen. Wäh- worden wäre. »Ich hatte schon seit Wo-
in Jura, Pharmazie und im Lehramt geht rend der private Kursanbieter die Bespre- chen Schwierigkeiten, mich aufs Lernen
es munter durcheinander – wobei die Ent- chung der Klausuren kurzerhand über ei- zu konzentrieren«, sagt die 26-Jährige. Die
scheidung je nach Hochschule und Fach nen Videochat organisiert, fällt beim Uni- Ausbreitung des Virus bereite ihr Sorgen,
unterschiedlich ausfallen kann. Die ange- Kurs die Rückkopplung mit Dozenten und die Kontaktsperre erschwere ihren Alltag.
hende Pharmazeutin Diana Schneider Kommilitonen weitgehend flach. »Wir be- »Ich habe Angst, dass mein Mann oder
durfte in Tübingen antreten. Für Lehramts- kommen die Lösungen zwar per E-Mail nahe Verwandte erkranken könnten.«
anwärter, mit denen sie oft Seite an Seite zugeschickt«, sagt Ali. Eine Diskussion, Kaiser studiert Lehramt an Förder-
in der Bibliothek gelernt hat, wurde das wie sie sonst im Seminarraum entsteht, sei schulen in Halle an der Saale. Sie heißt
Examen verschoben. aber nicht möglich. In der Krise räche sich, eigentlich anders. Doch als angehende
Namir Ali zählt zu denen, die das Virus dass viele Hochschulen die Digitalisierung Lehrkraft möchte sie ihren Namen nicht
jäh ausgebremst hat. Der 23-jährige Jura- haben schleifen lassen. veröffentlicht sehen, wenn sie sich kri-
student sollte an der Universität Osna- Die Entscheidung, die Prüfungen zu tisch äußert.
brück in knapp drei Wochen mit den Klau- verlegen, findet er trotz allem richtig. »Ich Sie hat lange gezögert. »Ich habe bis
suren für das erste Staatsexamen beginnen, zum Morgen der Klausur überlegt, was ich
seit anderthalb Jahren hatte er sich darauf tun soll«, sagt Karina Kaiser. Schließlich
vorbereitet.
Schon als Ende Januar die ersten Mel-
Der Kultusminister meldete sie sich ab – und muss nun ein
halbes Jahr warten, um die Prüfung nach-
dungen über Erkrankungen in Deutsch-
land auftauchten, habe er »Schlimmes
verspricht »höchste holen zu können. »Das ist zwar ärgerlich«,
sagt sie. »Aber lieber warte ich, als dass
geahnt«, sagt er. In den folgenden Wochen Sicherheits- ich mich mit dem Virus infiziere.«
nahmen die Einschränkungen zu. Das Fuß-
balltraining, der so wichtige Ausgleich zu vorkehrungen«. Miriam Olbrisch

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 49


Coronakrise

Auf Netzbetrug
Hausbüro mit unzureichend geschützten
Rechnern arbeiten.
Für jene Bürger, die immer die jüngsten
Zahlen von Infizierten und an Covid-19

umgeschult Gestorbenen wissen wollen, dienen sich


seit Mitte März diverse Corona-Karten an.
Wer sie ansteuert, holt sich allerdings auch
eine Ausspähsoftware auf den Rechner, die
Kriminalität Informationsbedürfnis, Nervosität, Verzweiflung – Passwörter und Zugangsdaten ausliest.
Betrüger nutzen die Sorgen der Menschen in der Krise Offenbar suchen Täter für ihre Phishing-
Raubzüge Gebiete aus, in denen die Seuche
aus und passen ihre krummen Geschäftsmodelle blitzschnell an. stark grassiert. Laut Analysen der Sicher-
heitsfirma Cynet hat sich die Zahl solcher
Attacken in Italien von Mitte Februar bis

D ie Politik hatte mächtig Tempo ge-


macht, binnen einer Woche das
50-Milliarden-Euro-Soforthilfepa-
ket auf den Weg gebracht. Die Betrüger
zur Verfügung stünden, sollten sich die
»Kundinnen und Kunden« zwei Minuten
Zeit nehmen, um Adressen, Telefonnum-
mern und E-Mail-Adressen zu überprüfen
Mitte März mehr als verdoppelt.
Sogenannte Fake-Shops im Netz bieten
laut dem Präventionsexperten Schmidt ge-
gen Vorkasse besonders gefragte Produkte
waren schneller. und gegebenenfalls zu aktualisieren. »Prä- an wie Schutzmasken und Desinfektions-
Am Freitag vergangener Woche, der vention ist keine Hysterie, und Ignoranz mittel. Oder sie locken mit Dumpingprei-
Bundesrat hatte dem Rettungsplan für ist auch kein Mut!«, so endet das wohlfor- sen Schnäppchenjäger für Artikel jeglicher
Selbstständige und Kleinunternehmen so- mulierte Schreiben, »Ihr Sparkassenver- Art an – bleiben die Ware aber schuldig.
eben zugestimmt, entdeckten Beamte des band«. Alte Tricks werden, auf Corona ge-
Landeskriminalamts Baden-Württemberg Kaum weniger raffiniert ist eine Mail, trimmt, wieder aufgewärmt. So bekam die
eine Website, die Unterstützung beim Aus- vorgeblich von der Stadtsparkasse Mün- Pensionärin Rita Jacob-Auth aus Kassel
füllen der Anträge zur staatlichen Sofort- chen, die sich um die Sicherheit der werten neulich eine Mail von einem Deutschen,
hilfe anbot. 30 000 Euro würden im Nu Kunden sorgt: Da es gegenwärtig Betrüge- der angab, im italienischen Covid-19-Hot-
ausgezahlt, man müsse nur ein paar reien mit den Bankkonten gebe, sehe man spot Bergamo seit einer Woche im Hotel
Angaben leisten. Die Kriminellen hatten sich genötigt, »nachträglich eine zusätzli- Casa Pignolo festzusitzen. Er habe seine
es auf die Informationen abgesehen. che Autorisation von den Kunden durch- Brieftasche »vor Tagen verlegt«, auch sein
»Personen- oder firmenbezogene Daten, zuführen«. Telefon bereits verkauft, weshalb er nun
Adressen«, sagt Kriminaloberrat Harald Das Virus lähmt nicht nur die freie öf- Hilfe brauche: »Es macht mir nichts aus,
Schmidt, »mit denen Betrugshandlungen fentliche Welt, es setzt auch jenen zu, die das Doppelte von dem zu zahlen, was du
begangen werden können.« im Illegalen ihre Geschäfte treiben. Dieb- mir leihst.« Der Geldtransfer an ihn möge
Callcenter im Ausland hatten da bereits stähle machen regelmäßig mehr als ein mit Bitcoins erfolgen, das Hotel würde die-
erste Geschäftsleute gezielt angerufen und Drittel der Fallzahlen in der Polizeilichen se akzeptieren.
auf die Offerte im Netz hingewiesen. Wie Kriminalstatistik aus, doch nun verzeich- Rita Jacob-Auth recherchierte, aus kri-
meistens, sagt Schmidt, sei die Website nen einige Länder deutliche Rückgänge: minalistischer Neugier: Es gibt in Bergamo
professionell gestaltet gewesen. Ein klas- Viele Häuser und Wohnungen sind rund das Casa Pignolo, es gibt auch einen Mann
sischer Fall von Phishing, dem Abgreifen um die Uhr belebt. Ladendiebe stehen vor mit dem angegebenen Namen, bei der
sensibler Daten. geschlossenen Geschäften. Taschendiebe Agentur für Arbeit in Halle an der Saale.
Das Informationsbedürfnis, die Nervo- vor leergefegten Touristenattraktionen. Die ehemalige Lehrerin zahlte nicht, son-
sität und auch die Verzweiflung vieler Men- Auch Kriminelle versuchen nun umzu- dern erstattete Anzeige gegen unbekannt.
schen sind groß in Zeiten wie diesen – und schulen. Sind dort aktiv, wo die Menschen An Corona-Zeiten angepasst wird in die-
damit bieten sich auch Kriminellen Einfalls- besonders viel Zeit verbringen – weil sie sen Wochen auch der Enkeltrick, bei dem
tore. »Sehr schnell nach Beginn der Coro- im Homeoffice arbeiten, weil sie online Senioren angeblich vom Neffen oder Enkel
nakrise mussten wir feststellen, dass die einkaufen und kommunizieren oder sich angerufen werden; der berichtet, an Covid-
Betrüger keine neuen Tricks erfinden, son- einfach langweilen. Den Netzbetrügern 19 erkrankt zu sein und dringend Geld für
dern bekannte Modi Operandi einfach an kommt entgegen, dass die Heimwerker im Medikamente oder Krankenhausrechnun-
die aktuelle Lage anpassen«, sagt gen zu benötigen – er könne einen
Schmidt. Als Geschäftsführer der Freund vorbeischicken, der es bar ab-
Polizeilichen Kriminalprävention holen werde.
der Länder und des Bundes ist er so In Oranienburg tauchten Krimi-
etwas wie der Oberwarner der Poli- nelle in Schutzkleidung auf und ga-
zei. Er sagt: »Es ist schamlos und per- ben sich als Mitarbeiter des Gesund-
fide, wie Kriminelle auf die Verunsi- heitsamts aus, die Räumlichkeiten
cherung in der Bevölkerung setzen.« desinfizieren. In Wahrheit suchten
Schon Mitte März ploppte in E- sie nach Wertgegenständen. Andere
Mail-Accounts vieler Bürger eine stellten sich an der Haustür als Arzt
Mitteilung der »Sparkasse« auf, dass vor, der einen behördlich angeord-
man sich entschieden habe, »unsere neten Abstrich nehmen müsse, für
kleineren Filialen bis auf Weiteres 200 Euro.
zu schließen«, da die Gesundheit der Sogar aus den von den Regierun-
Kunden und der Mitarbeiter »uns gen verordneten Kontaktbeschrän-
sehr am Herzen« liege. Weil die kungen versuchen Betrüger, Profit
Sparkassenangestellten aber telefo- Fake-Shop-Website für Medizinprodukte zu schlagen. Am Montag vergange-
nisch, per E-Mail und im Onlinechat Erst Vorkasse, dann keine Ware ner Woche, die neuen Regeln waren

50
sche Krankenhäuser sind früher bereits ins
Visier von Interneterpressern geraten, die
mit Schadprogrammen eine ganze IT-In-
frastruktur lahmlegen können.
Um ihre IT-Sicherheit müssen sich
auch Regierungen weltweit sorgen, die
jetzt vielfach per Videokonferenz Politik
machen – und so anfällig werden für das
»Zoombombing«, benannt nach der Video-
chat-Plattform Zoom. Die Technik macht
es Fremden leicht, sich in Videoschalten
einzuloggen, mitzuhören und diese zu trol-
len, indem man sie mit Hassbotschaften
oder pornografischen Bildern flutet. Der
britische Premier Boris Johnson etwa twit-
terte einen Screenshot nach seiner ersten
Kabinettssitzung via Zoom, aus dem die
»ID« hervorging, mit der man sich bei
einem Meeting einschleichen kann.
So zeigt uns das Coronavirus, wie
verwundbar nicht nur unser Körper ist.
Mag das Bundeskriminalamt auch Kräfte
bündeln und am Mittwoch eine Abteilung
»Cybercrime« eingerichtet haben, die Tä-
ter sind kreativ und anpassungsfähig.
Als Sebastian Fiedler, Vorsitzender des
Bundes Deutscher Kriminalbeamter, am
Montag hörte, dass allein in Nordrhein-
Westfalen übers Wochenende bereits
100 000 Anträge auf Soforthilfe für Selbst-
ständige und Kleinunternehmer bewilligt
wurden, sei ihm klar gewesen, dass sich
seine Kundschaft diesen Geldregen nicht
entgehen lassen werde: »In so kurzer Zeit
kann nicht genau geprüft werden, also
wird es da Missbrauch durch Organisierte
PETER-JUELICH.COM / DER SPIEGEL

Kriminalität geben – das Phänomen haben


wir schon 2009 bei der Abwrackprämie
für alte Autos beobachtet.«
Fiedler rechnet damit, dass die Organi-
sierte Kriminalität von Corona profitieren
wird. Zwar seien im internationalen Dro-
genhandel die Lieferketten wegen der ge-
Getäuschter Autofahrer Weber: »Die Polizei nimmt doch gar kein Bargeld« schlossenen Grenzen gestört. Von mexi-
kanischen Kartellen wisse man, dass sie
auf Rohstoffe aus China warteten. Und da
kaum eingeführt, fuhr Aaron Weber ge- lung sei möglich, sagte einer der beiden einschlägige Bars und Klubs als Umschlag-
gen 5.20 Uhr im sauerländischen Winter- Uniformierten. »Die Polizei nimmt doch plätze ausfielen sowie der Straßenverkauf
berg zur Arbeit. Der 20-jährige Konstruk- gar kein Bargeld«, entgegnete Weber. erschwert sei, so der Kriminalhauptkom-
tionsmechaniker war spät dran, mit sei- Das brachte den falschen Polizisten missar, werde sicher mehr über das Dark-
nem Audi A4 wohl ein wenig schnell un- in die Defensive. Das EC-Kartenlesegerät net und Paketdienste abgewickelt.
terwegs, als in Höhe des Bahnhofs hinter hätten sie auf der Dienststelle vergessen, Die große Stunde der Kriminellen die-
ihm plötzlich ein Blaulicht blinkte. Weber es bleibe dann eben bei einer Verwarnung. ser Milieus könnte laut Fiedler aber in den
hielt an. Auch wenn das Verlangen einer Bescheini- nächsten Monaten schlagen, wenn recht-
Doch die zwei Männer in Uniform, die gung des Arbeitgebers Unsinn war: »Vom schaffene Gastwirte und Ladenbesitzer
aus dem silbernen VW Passat stiegen, wa- Auftreten und der Sprache her hatte das vor dem Ruin stünden. Mitglieder der Or-
ren nicht daran interessiert, wie schnell er schon einigermaßen gepasst«, sagt Weber, ganisierten Kriminalität würden dann ver-
gefahren war. Wohin er denn trotz des »außerdem trugen sie ja Uniform.« Die ech- suchen, »ihr Schwarzgeld in die legale
Kontakt- und Ausgehverbots unterwegs te Polizei leitete ein Strafverfahren gegen Wirtschaft einzuschleusen«. So mancher
sei, so erzählt es Weber, habe einer der unbekannt wegen Amtsanmaßung ein. Corona-geschädigte Kaufmann werde sich
vermeintlichen Beamten wissen wollen. Manche Täter schrecken in dieser Welt- an einen Strohhalm aus düsteren Kreisen
»Zur Arbeit«, antwortete er. Daraufhin krise nicht mal vor Attacken auf Kranken- klammern. Fiedler: »Alles schon da gewe-
wurde er nach der Bescheinigung seines häuser zurück. So traf ein Cyberangriff die sen, letztmalig nach der Finanzkrise 2008.«
Arbeitgebers gefragt, die brauche man Uniklinik im tschechischen Brno, die auch Roman Lehberger, Marcel Rosenbach,
jetzt, wegen Corona. So etwas habe er Corona-Tests durchführt. Operationen Ansgar Siemens, Andreas Ulrich,
nicht, antwortete Weber. Das sei ein klarer mussten verschoben, einige schwer kranke Alfred Weinzierl
Verstoß, 95 Euro koste das, nur Barzah- Patienten abgewiesen werden. Auch deut-

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 51


Wir sind von den Fünfzigerjahren gar nicht so weit ent-
Anna Clauß
fernt, wie wir denken. Dass Paare in traditionelle Rollen-

Feminismus kann
muster kippen, dafür braucht es hierzulande keine Viren-
pandemie. Die Geburt eines Kindes reicht in der Regel.
Die Coronakrise macht lediglich sichtbar, wie brüchig
die Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland ist.

Leben retten
Die Gesellschaft brauche jetzt »Krankenschwestern
und keine Diversity-Berater, Naturwissenschaftler und
keine Gendergaga-Experten«, twitterte die AfD-Poli-
tikerin Beatrix von Storch vor ein paar Tagen. Und die
Werteunion, eine reaktionäre Splitterbewegung innerhalb
Essay Die momentane Krise zeigt, wie brüchig die der CDU und CSU, befand zeitgleich, »dass Professuren
Gleichberechtigung der Geschlechter ist. für Medizin unendlich viel wichtiger sind als solche für
›Gender Studies‹«.
Klingt nach einem Luxusproblem? Ist es aber nicht. In Zeiten, in denen anderswo die Triage wieder ein-
geführt werden muss, ist genau das Gegenteil richtig:
Feminismus wird mehr denn je gebraucht. Er kann Le-

N
ben retten.
ie war es leichter, den Tod zu bekämpfen. Zu Als Mitte März die Kindergärten und Schulen schlos-
Hause bleiben, Nudeln kochen, Pornos schauen. sen, führte das in Bayern dazu, dass viele der dringend
»Wichsen und Musik sind die beste Medizin«, benötigten Krankenschwestern und Pflegerinnen zu Hau-
textet die Punkband »Die Ärzte« in ihrem vor se ihre Kinder betreuten, statt Corona-Infizierten bei-
einer Woche erschienenen Quarantäne-Song »Lied für zustehen. In die Notbetreuung durften sie den Nachwuchs
Jetzt«. Jede Strophe beginnt mit derselben Feststellung: zumindest anfangs nur dann schicken, wenn der Partner
»Ich sitze zu Hause und langweile mich.« ebenfalls in einem systemrelevanten Beruf arbeitete.
Kein Wunder, die Bandmitglieder sind Männer. Bei der War das nicht der Fall, verdiente der Mann meist deutlich
Bekämpfung der aktuellen Virenpandemie sind vor allem mehr. Folglich konnte es sich die Familie nicht leisten, den
Frauen schwer gefordert. Sie kassieren im Supermarkt, Vater an der unbezahlten Hausaufgabenfront zu verpflich-
machen Schichtdienst im Krankenhaus und übernehmen ten, während die Mutter geringbezahlt Menschenleben
die Notbetreuung in den Kindergärten. rettet. Ein Problem, das mehr Feminismus lösen könnte.
Mütter haben dieser Tage besonders viel zu tun: Sie Zum Beispiel, indem er dafür sorgt, dass eine system-
halten den Nachwuchs zum Briefebasteln für die isolier- relevante Tätigkeit auch wie eine solche honoriert wird.
ten Großeltern an, sie lesen vor, lernen Lateinvokabeln, Und dass weibliche Selbstaufopferung und Fürsorglich-
üben Dreisatzregeln, sie puzzeln, putzen, kochen, treten keit nicht länger als angeborene Charaktereigenschaften,
auf Legosteine, schimpfen und bitten vergebens um Ruhe sondern als wertvolle Qualifikationen betrachtet werden.
im Homeoffice. Wenn sie ihren Job nicht ohnehin ausge-

D
setzt, runtergefahren oder gar verloren haben. Es ist
erstaunlich, wie viele Paare das Coronavirus zurück in die er Frauenanteil in den derzeit systemrelevanten
Fünfzigerjahre katapultiert hat: Der Mann führt die ver- Berufen liegt laut einer Studie des Deutschen
bliebenen Geschäfte, die Frau das Unternehmen Familie. Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bei
In Krisen besinnen sich Menschen auf Altbewährtes. fast 75 Prozent. Obwohl die Herausforderungen
Offenbar gilt Gleiches für das Verhältnis der Geschlechter. der derzeitigen Situation zu einem erheblichen Teil
»Klare Rollenbilder versprechen Sicherheit«, sagt die von Frauen gemeistert werden, sind ihre Jobs unter-
Politikwissenschaftlerin Regina Frey. Wenn der bayeri- durchschnittlich bezahlt, konstatieren die vier DIW-For-
sche Ministerpräsident Markus Söder wie im SPIEGEL- scherinnen. Reinigungskräfte oder Verkäuferinnen im
Gespräch der vergangenen Woche davon spricht, dass Supermarkt erhielten eine so geringe Bezahlung, dass
in der Krise oft nach dem Vater gefragt werde, ist das sie in den Niedriglohnbereich fallen, also weniger als
wohl kein konservatives Wunschdenken, sondern die bit- 2200 Euro brutto pro Monat verdienen. »Eine Debatte
tere Realität. über die Rolle der Daseinsfürsorge in Deutschland«
Das Haushaltseinkommen, um das so viele in Zeiten sei überfällig. Das ist richtig. Aber Reden, Diskutieren,
drohender Arbeitslosigkeit bangen müssen, erwirtschaftet Solidarisieren, selbst lautes Klatschen auf Balkonen hilft
in aller Regel der Mann. Zwar haben in jeder dritten Fami- leider nur bedingt.
lie beide Elternteile einen Job, aber 2017 arbeiteten nur Auf Riesenkrisen wie diese folgen in der Regel Spar-
14 Prozent der Frauen mit Kindern unter sechs Jahren maßnahmen. Der Handelsverband HDE fordert zum
Vollzeit. Alle anderen sind auf Teilzeitbasis berufstätig Überleben schon jetzt einen »Arbeitsplatz-Rettungs- und
oder überhaupt nicht – ein Wert, der sich Unternehmens-Nothilfe-Tarifvertrag«, der allen Beschäf-
auch mit steigendem Alter der Kinder kaum tigten im Einzelhandel einen Beitrag abverlangt. Das
75 Prozent der erhöht. Gehalt der Supermarktkassiererinnen würde frühestens
Während rund zwei Drittel der Familien- im nächsten Jahr steigen statt wie vereinbart in diesem
Beschäftigten väter Partnerinnen an der Seite haben, Frühjahr. Trotz Angela Merkels Dank in ihrer Fernseh-
in systemrele- die ihnen im Zweifel den Rücken freihalten, ansprache zur Coronakrise: »Sie stehen für uns in diesem
vanten Berufen braucht die berufstätige Mutter in der Regel
städtische oder private Betreuungshilfe,
Kampf in der vordersten Linie.«
In Bayern bekommen Beschäftigte in Krankenhäusern
sind Frauen. um arbeiten gehen zu können. Nicht einmal und Pflegeheimen seit Mittwoch dieser Woche nicht nur
Quelle: Deutsches Institut für
sechs Prozent der Männer mit Minderjähri- warme Worte, sondern auch die Verpflegung vom Frei-
Wirtschaftsforschung gen im Haushalt arbeiten Teilzeit. staat spendiert. Eine nette Geste. Die vergessen machen

52 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Coronakrise

ROBERT MICHAEL / DPA


Kassiererin in einem Supermarkt in Sachsen

soll, dass gerade die Parteien der Union mit »Leistungs- Vollzeit und vollzeitnahe Beschäftigung gewinnen«. Und
trägern der Gesellschaft« jahrelang Topverdienerinnen sie für »tendenziell männerdominierte Branchen und
und -verdiener meinten, denen sie die Streichung des Soli Berufe begeistern«, zum Beispiel das Metallverarbeitungs-
versprachen. gewerbe. Auf so eine Idee können nur Männer kommen!
Für die Abschaffung des Ehegattensplittings wäre jetzt

W
übrigens ein guter Zeitpunkt. Damit Eheleuten mehr Netto
vom Brutto bleibt, wird der Batzen des meist männlichen arum ist es so schwer, Berufe, für die sich Frau-
Ernährers verhältnismäßig gering besteuert, das meist nied- en interessieren und die obendrein systemrele-
rigere Einkommen der Frau überproportional hoch. Das vant sind, genauso gut zu bezahlen wie die von
sorgt nach Ansicht vieler Experten nicht nur dafür, dass es Ingenieuren und Maschinenbauern? Oder
sich für Frauen weniger lohnt zu arbeiten. Sie profitieren wie wäre es, das Renteneintrittsalter heraufzusetzen, dafür
auch weniger vom aktuellen Kurzarbeitergeld, weil sich aber kürzere gesetzliche Arbeitszeitregeln für alle einzu-
dessen Bemessung am Nettoverdienst orientiert. führen? Hätten beide Geschlechter einen zusätzlichen Tag
Die Berliner Wirtschaftsberaterin Mara Kuhl hat des- in der Woche zur freien Verfügung, wären es vielleicht
wegen schon 2012 »Kriterien für geschlechtergerechte Kri- nicht mehr vor allem die Frauen, die mit den Kindern
senpolitik« entwickelt. Kuhl hat die staatlichen Rettungs- Hausaufgaben machen, den Anruf der Oma entgegenneh-
maßnahmen nach der Finanzkrise 2008 untersucht und men und Atemschutzmasken aus Stoffresten nähen.
unter anderem herausgefunden, dass mehr als 85 Prozent Männer, die momentan allein daheim die Stellung hal-
des Geldes für die berufliche Qualifizierung während - ten und sich heldenhaft der Belagerung durch die Kinder
des Bezugs von Kurzarbeitergeld aus dem Europäischen ergeben, mögen sich jetzt ungerecht behandelt fühlen.
Sozial Fonds in Deutschland an Männer floss. Als vier Aber nur, solange sie nicht zugeben müssen, sich nach
Jahre später die Schlecker-Pleite Tausende Frauenarbeits- der Rückkehr in die Vollzeitnormalität zu sehnen. Sei der
plätze vernichtete, gab es keine staatliche Unterstützung. Kaffee am alten Arbeitsplatz noch so schlecht.
Solange es Männer sind, die den Laden leiten, den Krisen müssen nicht zwangsläufig in der Restitution
die Frauen mühsam am Laufen halten, wird sich an diesen enden. »Sie können auch dazu führen, dass Rollenkli-
Zuständen in Zukunft wenig ändern. schees über Bord geworfen werden«, sagt Geschlechter-
Wieder ein Beispiel aus Bayern: Diese Woche kamen forscherin Regina Frey. Schön wäre es, wenn Frauen künf-
aktuelle Daten zur Ungleichbezahlung von Frauen tig mehr arbeiten, aber auch mehr Stundenlohn dafür
und Männern heraus, die im Freistaat mit 23 Prozent bekommen würden. Und Männer weniger arbeiten wür-
Unterschied besonders groß ist. Der Hauptgeschäftsfüh- den, ohne durch Jobverlust dazu gezwungen zu werden.
rer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft glaubt, Wer sich in den nächsten Wochen langweilt, der darf
man müsse als Lösung für das Problem »mehr Frauen für gern auf Feminist oder Feministin umschulen. I

53
Coronakrise

Recht
dem Landgericht Bonn kürzte die Kam- sie angreifbar machen. Revisionen drohen,
mer eilig ab und verkündete das Urteil. das Verfahrensrecht kennt keine Seuche.
Der Loveparade-Prozess in Duisburg wur- Eigentlich müssen im Sitzungssaal so

im Stress
de unterbrochen. In Kiel, Göttingen, Dres- viele Zuhörer Platz finden, dass sie noch
den und Darmstadt verhandelte man oft »als Repräsentanten einer keiner beson-
einfach weiter. Es herrschte ein Zustand, deren Auswahl unterliegenden Öffentlich-
wie man ihn Juristen nie zugetraut hätte, keit angesehen werden können«. So hat
Gerichte Prozesse werden es herrschte heilloses Durcheinander. es ein ehemaliger Richter des Bundes-
abgesagt, Zuschauer Vergangene Woche trat dann ein Gesetz gerichtshofs (BGH) kommentiert. Wenn
in Kraft, das Ordnung schaffen soll. Es er- es nur noch zwei Plätze im Saal gibt, da-
ausgesperrt. Verstößt laubt den Strafgerichten, Hauptverhand- von einen für Journalisten, wie unlängst
die Justiz damit gegen lungen weit länger zu unterbrechen als bis- vor dem Landgericht München II, ist das
her möglich. Bislang durfte zwischen zwei kaum gegeben.
die Verfassung? Verhandlungstagen maximal ein Monat Heikel könnten vor diesem Hintergrund
liegen, ansonsten musste der Prozess von auch die geltenden Verordnungen man-
vorn beginnen. Für Großverfahren wie cher Länder sein. So darf man in Berlin

W enn Rechtsanwalt Adam Ahmed


in diesen Tagen das Landgericht
München II betritt, muss er ein
Formular ausfüllen: Leiden Sie an Atem-
Terrorprozesse, die sich oft über Jahre
ziehen und Millionen kosten, wäre das der
größtmögliche anzunehmende Unfall.
Nun dürfen Strafverhandlungen sogar für
und Brandenburg die Wohnung zwar
noch verlassen, um Gerichte oder Behör-
den aufzusuchen – aber nur wegen »drin-
gend erforderlicher Termine«. In Bayern
wegsproblemen? Hatten Sie Kontakt zu mehr als drei Monate pausieren. Doch was gilt eine ähnliche Regelung. Der Grund-
einem Covid-19-Erkrankten? Haben Sie in der Theorie möglich ist, wird nicht über- satz der Öffentlichkeit bedeutet aber, sagt
sich in einem Risikogebiet aufgehalten? all praktiziert. Rechtsanwalt Michael Rosenthal, dass
Im Verhandlungssaal legt ein Wacht- Der Grund dafür liegt in einer Beson- »jeder Interessierte zumindest theoretisch
meister dann ein DIN-A4-Blatt zwischen derheit des Rechtsstaats. Richter sind un- die Möglichkeit haben muss, an einer Ver-
Ahmed und seinen Mandanten. Es mar- abhängig, nur dem Gesetz unterworfen. handlung teilzunehmen«. Und zwar ohne
kiert eine Grenze, näher dürfen sich sich für sein Interesse besonders
Verteidiger und Angeklagter nicht rechtfertigen zu müssen. Angesichts
kommen. Außerdem sei der Saal ge- der geltenden Ausgangsbeschrän-
lüftet und desinfiziert worden, heißt kungen »scheint mir das nicht ge-
es, alle Anwesenden müssten Dis- wahrt zu sein«, so Rosenthal. Der
tanz wahren, weshalb nur noch drei Öffentlichkeitsgrundsatz sei schon
Zuschauer hineindürften. Die Vor- dann verletzt, wenn man befürchten
kehrungen sollen verhindern, dass müsse, der Besuch der Verhandlung
sich Prozessteilnehmer infizieren. könne konkrete Nachteile mit sich
Doch Rechtsanwalt Ahmed kann bringen.
über die Unbeholfenheit des Ge- Werde die Öffentlichkeit eines
richts nur lachen. »Die Justiz weiß Strafverfahrens nicht hergestellt,
nicht, wie sie mit dieser Stresssitua- sei das ein »absoluter Revisions-
tion umgehen soll«, sagt er. Ahmed grund«, steht in der Strafprozess-
hat mehrere Verfassungsbeschwer- ordnung. Ein solches Urteil muss
den eingelegt, auch weil derzeit nicht aufgehoben werden, auch wenn sich
SIMON KOY / DER SPIEGEL

jedem interessierten Bürger ständi- dieser Fehler im Ergebnis gar nicht


ger Zutritt zu den Verhandlungen ausgewirkt hat. Nur wenn das Ver-
möglich ist – bislang erfolglos. Dabei säumnis nicht dem Gericht zuzu-
ist das Problem offensichtlich. rechnen ist, macht der Bundes-
Die Coronakrise versetzt gerade gerichtshof eine Ausnahme. Das ist
Amts-, Land-, Oberlandes- und Bun- etwa der Fall, wenn ein Wachtmeis-
desgerichte in den Ausnahmezustand. Gerichtssaal im Justizpalast München: ter versehentlich eine Eingangstür
In München soll ein Richter Zeugen Verhandeln, pausieren? verschlossen hat und die Richter
fragen, ob sie sich die Hände gewa- davon nichts wussten.
schen haben. In Hagen erklärte Amtsrichter Und so obliegt die Entscheidung darüber, Ein Gericht kann natürlich nichts für
Harald Barkam seinen Sitzungssaal zur was Corona für einen Prozess bedeutet die Ausgangssperren. Und doch könnten
Sperrzone. Wer hineinwollte, musste Mund- dem jeweiligen Richter. Verhandeln? Pau- sie ein Argument sein, um Urteile anzu-
schutz tragen – wie der Richter auch. Zuvor sieren? Masken für alle? greifen, sagt der Revisionsspezialist Ali B.
hatte Barkam einen Zettel an die Tür ge- Jede Richterin, jeder Richter steht damit Norouzi. Im Grunde sei es Bürgern zurzeit
hängt: »Bei Zuwiderhandlung drohen sit- vor einem gewaltigen Dilemma. Wie lässt »rechtlich unmöglich«, an einem Prozess
zungspolizeiliche Maßnahmen und/oder Ab- sich die Ausbreitung des Virus eindämmen, teilzunehmen. Solche Ausgangsbeschrän-
bruch der Verhandlung und Vertagung.« gleichzeitig aber Recht sprechen und zu- kungen stellten damit »ein rechtliches
Das sei ein Einzelfall gewesen, sagte der dem der Grundsatz eines öffentlichen Ver- Risiko für die Hauptverhandlung« dar.
Sprecher der Gerichts hinterher. Es klang fahrens wahren? In einigen Monaten dürften diese Fra-
entschuldigend – und machte doch die ver- Ein Rechtsstaat urteilt im Namen des gen vor dem BGH landen. Die Richter
trackte Lage deutlich. An vielen Gerichten Volkes, das Volk muss zu seinen Prozessen müssen dann auch darüber befinden, ob
gibt es keine einheitliche Regelung, wie in zugelassen sein. Aber ist es das, wenn nur einige Länder zu gedankenlos waren, als
dieser Ausnahmesituation Recht gespro- drei Zuschauer zuschauen dürfen? sie die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger be-
chen werden soll. Ein wegweisendes Ver- Richter, die lange Verfahren führen, schränkten. Dietmar Hipp, Julia Jüttner
fahren wegen Steuerhinterziehung vor fürchten, dass die Corona-Anordnungen

54 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Deutschland

chologen Formulierungen im Jargon des


Nationalsozialismus.
Einig sind sich die Experten, dass Rath-
jen seine Opfer nach rassistischen Krite-
rien auswählte. Er schoss in Shishabars,
in einem Kiosk und auf der Straße gezielt
auf Menschen, die er für Migranten hielt.
»Die Tatbegehung beruhte auf rassisti-
schen Motiven«, betont auch BKA-Chef
Holger Münch. Das Attentat wird von sei-
ner Behörde daher nach wie vor als rechts-
extrem eingestuft, selbst wenn der Täter
kein klassischer Rechtsextremist mit Ver-
wurzelung in der Szene war, wie etwa der
mutmaßliche Mörder des CDU-Politikers
Walter Lübcke.
Abschließende Erkenntnisse über Rath-
jens Motivation soll ein psychiatrisches
Gutachten ergeben, das der Generalbun-
desanwalt in Auftrag gegeben hat.
Womöglich hätte die Tat verhindert
werden können, wenn die zuständigen
Ordnungsbehörden von seiner Erkran-
kung erfahren und ihm seine Waffen ab-
Waffenfreak Rathjen: Schießtrainings in der Slowakei genommen hätten. Der 43-Jährige war in
Schützenvereinen aktiv und besaß zwei
halbautomatische Pistolen.

Hitler und die Aliens Erst im vergangenen Jahr überprüfte


die Waffenbehörde des Main-Kinzig-Krei-
ses seine Zuverlässigkeit, allerdings nur
nach Aktenlage. Berichte über den Ge-
Rassismus War der Attentäter von Hanau ein Wahnsinniger oder ein sundheitszustand waren nicht dabei.
Rechtsterrorist? Ermittler und Psychologen verfolgen neue Spuren. Wenige Monate bevor Rathjen zum
Mörder wurde, übte er nach Erkenntnis-
sen der Ermittler auf einem Schießstand

T obias Rathjen hatte sich penibel vor-


bereitet. Auf einem Flipchart hatte
er den Hanauer Heumarkt markiert,
einen der späteren Tatorte. Außerdem hat-
größtmögliche Aufmerksamkeit verspro-
chen. Demnach wäre Rathjen eine Art
Trittbrettfahrer des weltweiten rechten
Terrors.
in der Slowakei. Rathjen soll mindestens
zweimal, im Juli und September 2019, Ge-
fechtstrainings absolviert haben. Als Aus-
bilder fungieren bei diesen Übungen ehe-
te er Dinge aufgelistet, die er vor dem At- Psychologen der hessischen Polizei er- malige Militärs und Spezialeinsatzkräfte,
tentat noch erledigen wollte. Dazu gehör- kannten bei dem Einzelgänger posthum auch Zivilisten dürfen teilnehmen. Auf
te, ein Video aufzunehmen, in dem er über Anzeichen einer psychischen Erkrankung. Anfrage sagte der Organisator, eine slowa-
Ausländerkriminalität schwadronierte. In Seine in Videos formulierten Wahnvorstel- kische Sicherheitsfirma, der Name Tobias
einem Pamphlet, das Rathjen auf seine lungen deuteten auf eine paranoide Schi- Rathjen tauche nicht in seiner Datenbank
Website stellte, erging er sich in völkischen zophrenie hin. Im Jahr 2002, das ergaben auf, er könne aber nicht ausschließen, dass
Vernichtungsfantasien: Wer nicht »reinras- die Ermittlungen, sei er wegen einer sol- er auf dem Schießstand gewesen sei.
sig« sei, gehöre ausgelöscht. chen Krankheit für kurze Zeit in einer Kli- Am ehesten hätte Rathjens Umfeld auf-
Bundesinnenminister Horst Seehofer nik gewesen, er studierte damals in Bay- fallen können, in welche Wahnwelt er
(CSU) sprach nach dem Attentat, dem am reuth. Hinweise auf eine weitere Behand- abgedriftet war. Zuletzt wohnte er, ohne
19. Februar acht Männer und eine Frau lung fanden sich jedoch nicht. Arbeit, wieder im Elternhaus in Hanau-
aus Einwandererfamilien zum Opfer fielen, Auch die Polizeipsychologen sahen Kesselstadt, sein Zimmer lag im Kellerge-
von Rechtsterrorismus. Generalbundes- in ihrer ersten Einschätzung die Wahn- schoss. Doch die Familie hatte eigene Pro-
anwalt Peter Frank attestierte dem Täter vorstellungen des Attentäters als zentra- bleme, die Mutter war ein Pflegefall, der
eine »zutiefst rassistische Gesinnung«. len Antrieb. Gleichzeitig gingen sie aber Vater als Querulant bekannt, der Ämter
Nun aber hat das Bundeskriminalamt davon aus, dass der Täter ein überzeugter mit Beschwerden überzog.
(BKA) für Irritationen gesorgt. In einer Rassist war, der Migranten auslöschen Sogar Rathjens Glauben an eine Ge-
vorläufigen Bewertung formulierten Er- wollte. Demnach waren bei Rathjen heimdienstverschwörung hielt der Vater
mittler die Hypothese, dass ein rechts- Wahn und Ausländerhass untrennbar offenbar nicht für ein Hirngespinst. Sein
extremes Motiv nicht an erster Stelle ge- verwoben. Sohn sei einer brisanten Sache auf der Spur
standen habe. Rathjen sei seit etwa 20 Jah- Teile seiner Verschwörungstheorie be- gewesen, sagte er der Polizei nach dem
ren krankhaft davon überzeugt gewesen, zog er offenbar aus Büchern, die er bei Attentat. Dass er die Morde beging und
von einer Geheimorganisation überwacht Amazon bestellte. Neben Machwerken anschließend sich selbst erschoss, wollte
zu werden. Darauf habe er mit aller Macht aus rechten Verlagen über Geheimgesell- der Vater nicht wahrhaben – der Sohn sei
hinweisen wollen. schaften und Außerirdische waren darun- Opfer einer Verschwörung geworden.
Von rassistischen Morden wie in Neu- ter Schriften über die NS-Zeit und ein Jörg Diehl, Sven Röbel,
seeland und Halle, lautete die Einschät- Band mit Reden Adolf Hitlers. Auch in Wolf Wiedmann-Schmidt
zung der Staatsschützer, habe er sich Rathjens Pamphleten entdeckten die Psy-

55
Reporter
Hygiene
Kann man Corona
wegputzen, Frau Paaßen?
SPIEGEL: In diesen Wochen finden sich
im Netz jede Menge Tipps zum Thema
»So wische ich Corona weg, mit Mit-
teln zum Selbermachen«. Wischen Sie
auch mit solchen Sachen?
Paaßen: Ich liebe das Internet, aber
manchmal hasse ich es. Nein, das mache
ich nicht! Ich verwende Mittel, die ich
kaufen kann. Die sind getestet, da weiß
ich, dass die Zusammensetzung stimmt.
SPIEGEL: Aber helfen die auch gegen
dieses neuartige Virus?
Paaßen: Corona ist von einer Fett-
schicht umhüllt. Die handelsüblichen
Putzmittel enthalten Tenside und teil-
weise Alkohol. Die wirken gut gegen
Fett, also auch gegen das Virus. Ich
empfehle großes Misstrauen gegenüber
vielen Tipps im Netz. Man kann da
schreckliche Dinge finden.
SPIEGEL: Welche zum Beispiel?
Paaßen: Da trifft man schon mal auf
die Empfehlung, zum Bleichen eine
Mischung aus Waschmittel und Toilet-
Familienalbum von meinem Alltag, wir muntern uns tenreiniger herzustellen – nein! Bitte

Fernbeziehung, dann gegenseitig auf. Zum ersten Mal


habe ich ihn im vergangenen Mai per-
nicht!
SPIEGEL: Immer wieder stößt man auf

2019 sönlich getroffen. Tony sitzt 23 Stunden


am Tag in einer Einzelzelle, eine Stun-
Essig als eine Art Wundermittel.
Paaßen: Diese Legende ist nicht totzu-
de hat er Ausgang – allein. Wir konnten kriegen. Essig kann Dichtungen kaputt
Stefan Heikens, 41: vier Stunden reden. Er hat noch nie machen. Essig wirkt auch nicht gut als
Der Mann in der weißen Kleidung das Internet benutzt, bei guter Führung Entkalker im Badezimmer, das ist ein
neben mir ist Tony Egbuna Ford, mein darf er einmal im Jahr für fünf Minuten Mythos. Nehmen Sie Zitronensäure,
bester Freund. Er sitzt in Texas im telefonieren. Im November war ich die stinkt nicht und wirkt viel besser.
Hochsicherheitsgefängnis Polunsky wieder bei ihm, damals ist dieses Bild Und: Essig ist kein Mittel gegen Viren.
Unit und wartet dort auf seine Hinrich- entstanden. Wenn ich Tony besuche, SPIEGEL: Aber es gibt ja zurzeit kaum
tung. Am 14. Oktober 1993 hatte ihn trennt uns eine Panzerglasscheibe, wir Desinfektionsmittel. Was tun?
ein Gericht zum Tode verurteilt – müssen über Telefon miteinander spre- Paaßen: Tun Sie, was Sie immer tun
Tony soll bei einem Raubüberfall einen chen. Manchmal darf ich uns einen sollten: gründlich putzen. Vergessen Sie
Mann erschossen haben. Ich kenne Schokoriegel kaufen, ein Wärter bringt über Corona die anderen Keime nicht.
Tony seit anderthalb Jahren. Damals dann Tony seine Hälfte, sodass wir Denken Sie an Spülschwämmchen
habe ich viel mit Bekannten über die wenigstens für einen Moment densel- und Wischlappen, die sind echte Keim-
Todesstrafe diskutiert. Ich halte diese ben Geschmack teilen. Eigentlich soll- schleudern, so warm, so feucht.
Art der Bestrafung für unmenschlich. te Tony im März hingerichtet werden, Den Wischlappen häufig waschen, bei
Im September 2018 habe ich eine das hat mich völlig fertiggemacht. Zum 60 Grad Celsius, das hilft. Unsere
Brieffreundschaft mit Tony begonnen. Glück wurde der Termin verschoben. Mütter wussten das noch.
Seitdem schicken wir uns mehrmals im Er versucht weiter, seine Unschuld zu SPIEGEL: Putzen Sie eigentlich gern?
Monat Briefe. Tony hat eine Zeit lang beweisen, aber die Zeit läuft ihm davon. Paaßen: Ja. Ich finde, das ist eine
in Deutschland gelebt, wir mögen beide Aufgezeichnet von Maik Großekathöfer spirituelle Aufgabe. Das Schöne ist:
Heavy-Metal-Musik, das waren die Man sieht ein Ergebnis. Und man kann
ersten Themen. Inzwischen schildert ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
dabei über vieles nachdenken. BSU
er mir auch die Zustände in amerikani- uns Ihre Geschichte erzählen möchten?
schen Gefängnissen und was er dort Schreiben Sie an: Urte Paaßen, 54, ist Diplombiologin
an Rassismus erlebe, ich schreibe ihm familienalbum@spiegel.de und Meisterin der Hauswirtschaft
in Essen.

56
Ziel erreicht: Tucholskystraße 2, 10117 Berlin. »Es war frus-
Eine Meldung und ihre Geschichte
trierend«, sagt er. »Wir waren da, aber die Aktion hatte nicht
geklappt.«

Der Staumelder Die Tucholskystraße liegt in Berlin-Mitte, wo weniger Müll


als anderswo herumliegt und wo sich viele Leute auf Englisch
mit amerikanischem Akzent unterhalten. Google hat hier
Wie zwei Berliner mit einem ein helles Haus direkt an der Spree bezogen, entworfen vom
Architekten Martin Gropius. Die Google-Mitarbeiter blicken
Bollerwagen voller Smartphones gegen auf den Fernsehturm und auf das Bode-Museum gegenüber.
Google demonstrierten Von außen sieht man nicht gleich, dass Google hier Büros
unterhält. Es gibt kein großes Schild, auf dem in bunten Buch-
staben der Firmenname steht. Das sei so, sagt Weckert, weil

E s war ein sonniger Tag im Herbst vergangenen Jahres,


als Simon Weckert loszog, um Google mit seinen eigenen
Waffen zu schlagen. Weckert, ein hagerer Dreißigjähriger
im Kapuzenpullover, legte an jenem Morgen 99 Smartphones,
die Google-Leute wüssten, dass sie in Berlin keiner haben
wolle. Als der Konzern vor gut zwei Jahren ein großes
Quartier in Kreuzberg errichten wollte, ganz in der Nähe
von Weckerts Atelier, protestierten viele Berliner aus Angst
die er sich ausgeliehen hatte, auf den Küchentisch seines Künst- vor Gentrifizierung dagegen, darunter Weckert.
lerateliers im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Dann, so erzählt Sein Atelier liegt in einem Teil von Kreuzberg, wo der Dö-
er es, schaltete er die Geräte ein, eines nach dem anderen. Auf ner oft noch 2,50 Euro kostet und sich viele Menschen auf
jedem Gerät öffnete er die Karten-App Google Maps und tipp- Türkisch und Arabisch unterhalten.
te in die Navigationszeile »Tucholskystraße 2, 10117 Berlin« Weckert ist freischaffender Künstler, in seinem Atelier
ein, die Adresse der Berliner Google-Zentrale. Als auf allen könnte mal staubgesaugt werden. Bevor er dieses Atelier
Smartphones dasselbe Ziel ausgewählt war, drückte Weckert fand, sei er aus vier anderen Gebäuden in Berlin rausge-
die Starttaste, lud die Geräte in ei- schmissen worden, wegen der Gen-
nen roten Bollerwagen und sagte trifizierung, sagt er. Er findet, gro-
zu einem Freund: »Ab zu Google, ße Unternehmen wie Google seien
Stau machen.« daran schuld, dass Leute wie er
Die beiden verließen das Atelier den Reichen Platz machen müss-
und zogen ihren Bollerwagen Rich- ten. »Wie in San Francisco!«, sagt
tung Google. Sie schlurften, beweg- er. San Francisco sei tot, weil die
ten sich im Schneckentempo vor- gut bezahlten Informatiker aus
wärts, dann wieder joggten sie ein dem Silicon Valley in der Innen-
Stück, hielten abrupt an und war- stadt leben wollten. »Dadurch stei-
teten einige Minuten. Fußgänger gen die Mieten, und kein normaler
seien stehen geblieben und hätten Mensch kann da mehr wohnen.«
ihnen nachgeschaut, sagt Weckert. Er sagt, er habe »keinen Bock«,
Zwei Touristen aus Brasilien hätten dass Berlin wie San Francisco wer-
gesagt, wenn er mit einem Boller- de. Deshalb müsse man was gegen
wagen voller Smartphones durch die Tech-Riesen tun.
Rio liefe, hätte er schnell keinen Weckert wurde in Karl-Marx-
mehr. Einmal hätten einige Halb- Stadt geboren, er war schon oft in
starke vorgeschlagen, ihm ein paar den USA. Seine Oma sei auch In-
der Smartphones abzunehmen, er formatikerin gewesen, sagt We-
habe ja genug davon. Weckert ließ Weckert-Freund in Berlin ckert, so wie die Google-Leute, nur
sich nicht beirren. Er sagt, wenn halt in der ehemaligen DDR. Sie
man so tun wolle, als sei man ein habe für die volkseigenen Betriebe
Auto im Stau, müsse man sich eben Lochkartensysteme entwickelt, da-
bewegen wie ein Auto im Stau. mit die Arbeiter sich nach ihrer
Google Maps ist ein Navi- Schicht austragen konnten. In Ber-
gationssystem, das Nutzern die Von der Website Faz.net lin setzten sich die Leute für ihre
schnellste Route anzeigt, zu Fuß, Rechte ein, sagt Weckert, und das
mit dem Auto und mit öffentlichen bleibe auch so.
Verkehrsmitteln. Es zeigt auch Verkehrsbehinderungen an. Als sie an der Tucholskystraße 2 standen und die
Wenn viele Nutzer auf einem Streckenabschnitt Google Maps 99 Smartphones im Bollerwagen anzeigten, dass sie ihr Ziel
benutzen und sich dabei nur langsam fortbewegen, weiß die erreicht hätten, überlegten Weckert und sein Freund, was
App offenbar, dass dort ein Stau sein muss. Auf der Karte zu tun sei. Sie hätten abbrechen und nach Hause gehen kön-
färbt sich die Straße dann rot. nen, Weckert hatte eigentlich keine Lust mehr. Doch in
Weckert schaute immer wieder auf die App. Sein Ziel, sagt diesem Moment, sagt er, habe er gespürt, dass er an der
er, sei es gewesen, einen Stau zu produzieren, den es nicht gab. Schwelle zu etwas Besonderem stehe. Dass er, wenn er sich
Ein Stau, der nur für Google Maps existierte. Am Ende der nur ein bisschen mehr anstrengen würde, den Algorithmus
Route sollte selbst die Zufahrtsstraße zur Google-Zentrale wie besiegen könnte.
gesperrt aussehen, damit die Mitarbeiter sie umfahren müssten. Weckert nahm seinen Bollerwagen und ging los. Er tippelte,
Weckert wollte die Straßen rot färben, um damit gegen Google joggte, schlurfte, wartete, tippelte. Eine Stunde lang, min-
zu demonstrieren. Google sei in Berlin nicht willkommen, sagt destens. Plötzlich habe er bemerkt, dass keine Autos mehr
Weckert. Dies sei seine Art, es Google zu zeigen. an ihm vorbeifuhren. Er betrat die Fahrbahn und zog den
Straße für Straße schlurfte, joggte und trödelte Weckert Bollerwagen hinter sich her. Dann schaute er auf eines der
mit seinem Bollerwagen, doch die App zeigte keine Verkehrs- Handys.
behinderungen an. Nach zweieinhalb Stunden hatte er sein Die Straße war rot. Max Polonyi

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 57


Coronakrise

beliebte Menschen können sich allein füh-

Anderthalb Meter len. Das ist wie bei Bridget Jones: abends
traurig Eiscreme essen, allein. Andrea sehn-
te sich danach, gehalten zu werden.
Sie machten mit Alexandra Ueberschär
einen Termin aus, er dauerte eine Stunde.
Gesundheit In Corona-Zeiten behelfen wir uns Er lief immer folgendermaßen ab: Ueber-
mit Videokonferenzen und Lieferdiensten. Doch eines schär begrüßte die Klienten, setzte sich
können sie nicht ersetzen: den körperlichen Kontakt. mit ihnen auf das Sofa. Sie fragte: »Hast
du einen Wunsch?«
Ohne ihn droht Vereinsamung. Besuche bei einer Frau, die Die Antworten lauteten:
professionell berührt. Von Barbara Hardinghaus »Ich möchte mich anlehnen.«
Oder: »Ich möchte, dass du meinen
Kopf hältst.«
Ueberschär strich ihnen dann über die

D
ie Haut ist das größte Sinnes- und eine neue Art von Einsamkeit, die ent- Wange, die Stirn oder sie öffnete ihre Ar-
organ des Menschen. Bis zu 900 steht, weil die Menschen zwar Teil einer me, und ein fremder erwachsener Mensch
Millionen Rezeptoren im Körper Gruppe sind, aber trotzdem allein leben. ließ sich hineinfallen.
erfassen Eindrücke und senden Es gibt jetzt Großeltern, die ihre Enkel 80 Euro kostete das.
sie an das Gehirn. Der Mensch kann Un- nicht mehr umarmen dürfen, und Berufs- Beim ersten Mal, als Ueberschär ihr
ebenheiten ertasten, die mit dem Auge tätige, die im Homeoffice nun niemandem über die Wange streichelte, musste Andrea
nicht wahrnehmbar sind. Er spürt über die mehr begegnen. Die Großeltern können weinen.
Haut Erhebungen und Druck, Kälte und skypen oder telefonieren, die Berufstäti- Man könnte das alles abtun und sagen:
Wärme, aber auch die Richtung und die gen haben Videokonferenzen, aber was Das sind ein paar spezielle Menschen. Was
Geschwindigkeit von Berührungen. Über- auch ihnen in diesen Zeiten fehlen könnte, hat das mit uns zu tun? Das Gegenteil aber
all, wo Haare wachsen, hat der Mensch so- das sind: Berührungen. ist der Fall. Die meisten Menschen brau-
genannte C-taktile Fasern, freie Nervenen- Jeder fünfte Deutsche lebt allein, 17 Mil- chen Berührungen; wer nicht berührt wird,
digungen, die auf Berührung ansprechen, lionen Menschen insgesamt. Experten ha- verkümmert. Das ist eher die Regel, nicht
besonders dann, wenn sie langsam erfolgt, ben schon vor Corona von einer »Einsam- die Ausnahme.
in einem Tempo von einem bis drei Zen- keitsepidemie« in der westlichen Welt ge- Berührungen setzen im Belohnungs-
timetern pro Sekunde und in einem sprochen, sie waren alarmiert von den zentrum des Gehirns, der Insula, Oxytocin
Temperaturbereich der Haut von 36 bis wachsenden Zahlen. Wenn das damals ein frei, ein Hormon, das uns vertrauen lässt,
37 Grad Celsius, Körpertemperatur. Problem war, was droht dann jetzt, da je- und Endorphine. Es ist ein anderer Hor-
Die Haut des Menschen ist darauf ein- der anderthalb Meter Abstand zu anderen moncocktail als der, der beim Sex ausge-
gerichtet, von anderen berührt zu werden. Menschen halten soll? schüttet wird, er soll Verbundenheit und
Ende September 2019 stand im »Ham- Ruhe schaffen. Eine nicht sexuelle Berüh-
burger Abendblatt« eine Nachricht: Man muss in der Vor-Corona-Zeit begin- rung gibt Sicherheit. Sie ist schmerzlin-
»Deutschlands erste Kuschelpraxis er- nen, um die Macht der Berührung zu er- dernd und verstärkt das Gefühl der positi-
öffnet«. Das klang ein bisschen verrückt gründen. Die Praxis von Alexandra Ueber- ven Bindung.
damals, aber auch interessant. schär liegt in Hamburg-Altona, an einer Einer der Ersten, der dazu forschte, war
Die Praxis betreibt Alexandra Ueber- Kopfsteinpflasterstraße, Wohngegend, erste der amerikanische Psychologe Harry Har-
schär, 41 Jahre alt. Vor rund einem Jahr Etage. Eine Couch vor dem Fenster, graue low. Er trennte in den Fünfziger- und Sech-
kam sie auf die Idee, einen Ort zu schaffen, Kissen, Holzfußboden, ein kleiner Tisch, zigerjahren neugeborene Affen von ihren
an dem Menschen professionell und ohne blaue Gardinen. Ueberschär trägt Woll- Müttern. Er stellte fest, dass sie sich weit-
sexuelle Hintergedanken berührt werden socken und reicht zur Begrüßung die Hand. aus schlechter entwickelten als Affen mit
können. Wenig später gründete sie zusam- Auf die Frage, wer zu ihr in die Praxis Mutterkontakt. Eine andere, ethisch um-
men mit einer Kollegin die Praxis. komme, sagte sie: »All diejenigen, die un- strittene Studie zeigte, dass das Gehirn-
Jeder Achte empfand laut einer Forsa- ter Kontaktarmut leiden oder einsam sind, volumen der untersuchten rumänischen
Umfrage schon vor Jahren einen Mangel aus unterschiedlichen Gründen.« Heimkinder vergleichsweise klein war.
an körperlicher Nähe. Einsamkeit, statis- Es kam damals Max*, 27 Jahre alt, blond, Dies allein ließe sich auch mit fehlender
tisch erfasst, ist in Deutschland ein Phäno- Dreitagebart. Er mag keine Menschen- Ansprache erklären. Doch es gibt viele
men folgender Größe: Jeder zehnte Deut- ansammlungen und ging wenig raus. Das Studien und Untersuchungen, die darauf
sche gibt an, sich einsam zu fühlen. Ein- letzte Mal habe er im Sommer 2019 etwas hinweisen, dass der Mensch, um gesund
samkeit betrifft besonders die Alten, aber unternommen, sagte er, mit seiner Nachba- zu bleiben, Berührungen braucht. Früh-
zunehmend auch die Jüngeren: 29 Prozent rin, die Ende fünfzig ist. Sie waren spazie- chen, die längere Zeit Hautkontakt zu
der 20- bis 29-Jährigen geben laut einer ren. Die Nachbarin nennt er »eine Bekann- ihren Eltern haben, sind Studien zufolge
Studie des Instituts der Deutschen Wirt- te«, die einzige, die er habe. Wie sich das später weniger impulsiv, aggressiv und
schaft an, sie seien »einsamer geworden«. Alleinsein anfühlt? »Wie vom Lkw über- hyperaktiv.
Das war vor Corona. fahren. Druck auf der Brust.« Versuche in einem Scanner zeigen, dass
Nachdem das Virus in vielen Ländern, Es kam Andrea*, 59 Jahre alt, seit fünf Schmerz abnimmt, wenn ein Partner dem
auch in Deutschland, zu Kontaktbeschrän- Jahren ohne Beziehung. Andrea hatte anderen, im Scanner liegend, die Hand
kungen und Bewegungsauflagen geführt Freunde, sang im Chor, spielte Theater, ar- hält.
hat, sieht die Situation nun, im April 2020, beitete in einer Weiterbildungseinrichtung, Menschen, die häufig umarmt werden,
so aus: Die, die sich zuvor schon einsam telefonierte da viel. Aber schwarz sei alles sind weniger anfällig für Erkältungen.
fühlten, wurden noch einsamer, beiläufige trotzdem manchmal, hatte sie gesagt. Auch Eine Studie deutet darauf hin, dass be-
Kontakte beim Friseur oder im Verein fal- stimmte Berührungen den Blutdruck und
len nun aus. Hinzu kommen neue Einsame * Name geändert. den Herzschlag senken.

58 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Auch Nebenbeikontakte, wie ein Hän-
dedruck oder ein Schulterklopfen, können
positiv wirken. Wissenschaftler in den
USA haben die Berührungsmuster von
Basketballteams untersucht, es ging um
Schulterklopfen, Klapse, kurze Umarmun-
gen. Sie beobachteten die Saison 2008/09
und fanden heraus: Die Teams, die sich
in der ersten Saisonhälfte besonders oft
während der Spiele durch Berührungen
bestärkt hatten, waren im Laufe der Saison
teamfähiger und erfolgreicher. Die guten
Spieler der Berührungsteams gaben häu-
figer den Ball ab.
Berührung ist ein Kleber, der die Gesell-
schaft zusammenhält.
In Gefängnissen ist die Isolationshaft
die höchste Strafe.
Alexandra Ueberschär, die Therapeutin,
berührte immer direkt die Haut ihrer
Klienten, Handoberflächen, Arme, Gesich-
ter, den Hals. Sie sagt, dass die Nerven-
enden genau an diesen Stellen besonders
stark reagieren. Sie riet denen, die unter
einem starken Berührungsmangel litten,
im T-Shirt zu ihr zu kommen.
Sie berührte Narben, sie glaubt, dass
diese besondere Beachtung brauchen.
Klienten, die Infusionen bekamen, berühr-
te sie auf der Haut über dem Port. »Sie
sind an diesen Stellen ganz bedürftig nach
positiver Berührung«, sagt Ueberschär.
Alexandra Ueberschär ist eine Frau, die
Ruhe ausstrahlt. Es gab Zeiten in ihrem
Leben, sagt sie, in denen sie sich selbst
ROMAN PAWLOWSKI / DER SPIEGEL

einsam fühlte. So sei sie auf die Idee ge-


kommen, die Praxis zu gründen. Sie be-
suchte Seminare, sie begann, bei einem
Lebenshilfe-Coach zu assistieren. Dabei
stellte sie fest, dass es manchmal mehr half,
einen Menschen zu berühren, als mit ihm
zu reden.
In Zeiten von Corona empfängt Ueber-
schär ein zweites Mal. Dieses Mal nicht in
der Praxis, denn die hat seit dem 15. März
geschlossen. »Ist erst zwei Wochen her,
wirkt wie Monate«, schreibt sie. Sie
schlägt einen Treffpunkt an einer Kirche
im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld vor,
dahinter liege ein kleiner Wald, »da ist nie
jemand!« In diesen Zeiten ist das eine gute
Nachricht.
Sie trägt einen langen roten Anorak und
eine Wollmütze. Das Gespräch findet auf
einer Holzbank statt, mit Abstand. Sie
sagt: »Das Thema ›Berührung‹ oder ›Nicht-
berührung‹ war das letzte Mal noch Ni-
ROMAN PAWLOWSKI / DER SPIEGEL

sche. Jetzt ist es ein situationsbedingtes


Massenphänomen.«

Pascal Vrticka forscht an der Universität


in Essex in Großbritannien zu diesem The-
ma, er sagt: »Soziale Distanz kann auch
Risiken bergen.«
Vrticka erklärt es so: Wenn das soziale
Berührungstherapeutin Ueberschär mit Klientin Umfeld nicht gegeben ist, wenn Kontakte
»Ich möchte, dass du meinen Kopf hältst« und Berührungen ausbleiben, kann das

59
Coronakrise

Gehirn in einen kurzfristigen Überlebens- Wie lang kann eine Gesellschaft mit Es lässt sich, trotz der bisherigen For-
modus wechseln. Es registriert: Ich bin al- deutlich weniger Berührungen durchhal- schung, nicht genau vorhersehen, wie die
lein, kein anderer wird für mich kämpfen, ten? verordnete soziale Distanz in Zeiten einer
ich muss immer bereit sein. Das Gehirn Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse Pandemie die Gesellschaft verändern wird.
veranlasst dann eine erhöhte Ausschüt- aus anderen Epidemien. Viele Menschen, Es werden aktuell viele neue Studien be-
tung von Cortisol, dem Hauptstresshor- die bei Ausbrüchen von Sars, der Schwei- gonnen, Onlinefragebögen sollen helfen
mon, das die Bereitschaft erhöht, auf Ge- negrippe, Ebola und anderen Infektions- zu erforschen, wie sich die Gesellschaft im
fahren zu reagieren. Der Schlaf wird un- krankheiten unter Quarantäne gestellt Ganzen gerade verändert, wie der Einzel-
ruhiger, weil der Körper auch in der Nacht worden waren, litten unter kurz- und lang- ne reagiert.
reagieren können will; er hört mehr Ge- fristigen Gesundheitsproblemen und grif- Andrea, die Klientin von Ueberschär,
räusche. Eine Studie aus Israel hat gezeigt, fen im Schnitt häufiger zu Drogen. sagt am Telefon, sie habe vor Weihnachten
dass Menschen, die das Gefühl haben, auf Das Risiko für psychische Probleme noch eine Reise begonnen, die »wunder-
sich allein gestellt zu sein, einen erhöhten kann schon nach zehn Tagen in Quaran- schön« gewesen sei. Sie beobachtete Son-
Glukosespiegel aufweisen und auch mehr täne erhöht sein. nenaufgänge, bestaunte den Lichtwechsel,
Zucker aufnehmen – wahrscheinlich, um Während des Sars-Ausbruchs 2003 wur- von dunkel zu Blau, von Orange zu Gelb;
mehr Energie zu haben, für den Fall, dass den 549 Krankenhausangestellte in Peking die Entspannung, sagt sie, fühle sie noch
sie sich allein gegen eine Gefahr verteidi- immer. Corona mache ihre Lage eher ein-
gen müssen. facher als vorher: Dass so viele allein seien,
Vrticka sagt, generell erhöhe sich in Iso-
lation die sogenannte Vigilanz gegenüber
»Der Mensch sehnt helfe gegen den Druck und die gesellschaft-
liche Erwartung.
sozialen Bedrohungen. Das bedeutet: Der
Mensch wird sensibler. Er fühlt sich schnel-
sich nach Berührung Max sagt am Telefon, er lese seine Mails
nicht mehr, weil er sie im Internet abrufen
ler ausgeschlossen, wird, je nach Tempe-
rament, ängstlicher oder aggressiver oder
durch einen müsse. Im Internet aber stoße er ständig
auf Nachrichten. Er höre kein Radio mehr,
beides. anderen Menschen.« er sehe nur noch nachts Fernsehen, wenn
All das kann Menschen chronisch krank Spielfilme laufen. Er sagt, er schotte sich
machen. Es kann zu Depression oder Blut- mehr ab als zuvor.
hochdruck führen, zu Fettleibigkeit oder untersucht. Etwa die Hälfte derer, die un- Forschungen zeigen, dass Berührungen
Diabetes. Studien deuten darauf hin, dass ter Quarantäne gestellt worden waren zwischen Menschen bei vielen durch
in westlichen Ländern die Einsamkeit die oder in einer Umgebung mit hohem Risiko nichts ersetzt werden können. Aber es gibt
Lebenserwartung stark beeinflusst, stärker gearbeitet hatten, berichteten noch drei Mittel, ähnliche Gefühle auszulösen. Re-
als Rauchen oder Alkoholkonsum. Jahre darauf über einen erhöhten Alko- den beispielsweise oder virtueller Kontakt
Zusammengefasst heißt es: Einsamkeit holkonsum. zu vertrauten Menschen hilft. Studien be-
kann tödlich sein. Aber nicht alle Isolierten fühlen sich ein- legen, dass der schmerzlindernde Effekt
Angela Merkel soll im März in kleiner sam und leiden. Manche Menschen sind von Berührung auch entstehen kann,
Runde sinngemäß gesagt haben, dass sie gern allein, andere fühlen sich schon nach wenn man Versuchspersonen Wörter vor-
auch deshalb gegen eine Ausgangssperre wenigen Minuten verlassen. Außerdem spielt, die Geborgenheit und Sicherheit be-
sei, weil sie befürchte, dass es am Ende bestehen soziale Kontakte nicht nur aus schreiben, und ihnen Fotos von vertrauten
mehr Tote durch Suizide in der Einsamkeit Berührungen, sondern aus vielen Kompo- Menschen zeigt. Im Gehirn dieser Men-
gebe, als durch das Coronavirus. nenten. schen stellte sich »eine positive Tendenz«
Auf der Parkbank sagt Alexandra Ue- Wenn die Einsamkeit aber empfunden ein.
berschär, dass sie natürlich auch an ihre wird, kann sie zu einer Sehnsucht nach Der Körper hat ein Berührungsgedächt-
Klienten denke. Einige gehörten zu sozialer Nähe und auch Berührung führen, nis, viele kennen das im Negativen: Wer
jenen, denen es schon vor der Krise die laut Forschern vergleichbar ist mit Ent- einmal einen Aufprall in einem Auto erlebt
schlecht ging. Ueberschär lebt mit ihrem zugserscheinungen. hat, kann sich körperlich daran erinnern.
Mann zusammen, sie hat zwei Kinder, Umgekehrt gilt: Wer in der Kindheit an-
das eine ist drei Jahre alt. Vom kleinen genehme Nähe erfahren hat, durch Vater,
Wald auf der Bank sieht sie auf den Kita- Mutter, Geschwister, kann das Gefühl der
Garten ihres Sohnes. Leere Schaukeln, Verbundenheit reaktivieren. Berührungs-
eine leere Rutsche, ein leeres Klettergerüst. losigkeit kann also ersetzt werden und
Vieles von dem, was Alexandra Ueber- muss nicht in jedem Fall in Einsamkeit
schär einst für unverzichtbar hielt, ist jetzt münden.
unerreichbar. Alexandra Ueberschär rät, »sich daran
Vor Corona hatte Ueberschär angefan- zu erinnern, dass man zwei Hände hat«.
gen, auch außerhalb der Praxis zu berüh- Sie legt ihre Hände flach auf ihr Gesicht
ren, Menschen im Bus beispielsweise. Sie und sagt: »Und jetzt zwei-, dreimal tief
beschreibt es so: Sie setzte sich zu jeman- durchatmen.«
ROMAN PAWLOWSKI / DER SPIEGEL

dem und begann ein Gespräch. »Ist voll »Seid jetzt offen!«, das ist Ueberschärs
heute.« Oder: »Endlich scheint die Sonne.« Rat.
Dann wartete sie. Und das nützt was?
Und wenn der andere antwortete, was »Ein wenig«, sagt sie. »Am Ende sehnt
fast immer der Fall war, sprachen sie eine sich der Mensch nach Berührung durch
Weile miteinander – und reichten sich, zur einen anderen Menschen.«
Verabschiedung, die Hände. Sie verabschiedet sich mit einem leich-
Eine kleine Berührung, sagt Ueberschär ten Kopfnicken, einem Lächeln, die Hände
auf der Parkbank in etwa zwei Metern Ent- Praxisbetreiberin Ueberschär in den Taschen.
fernung, kann vielleicht schon helfen. »Seid jetzt offen!«

60 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


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Mutter mit Kindern in Tel Aviv: Der sanfte Charme der Sperrstunde

Transit
Abschied Wer jetzt aus dem hochgesicherten Israel nach Deutschland reist, glaubt
in ein Krisengebiet zu fahren. Oder in die Freiheit. Von Alexander Osang

V
or einer Woche rief mich meine Kater beim Tierarzt in Jaffa und beim Vete- so war. Inzwischen läuft Wladimir Putin in
Mutter aus Berlin-Steglitz in Tel rinäramt in Aschkelon gewesen, um mir einem »Outbreak«-Raumanzug durch die
Aviv an, um mir mitzuteilen, bestätigen zu lassen, dass er gesund genug Fernsehnachrichten, und Easyjet fliegt nir-
dass Russland seinen Flugverkehr sei, um nach Deutschland einreisen zu gendwohin mehr.
einstellt. Wahrscheinlich war das der dürfen. Ursprünglich wollten wir mit El Al Natürlich gibt es ernstere Probleme zur-
Moment, in dem mich die weltweite Pan- zurück, aber dieser Flug war vor einer zeit, als eine Katze von Tel Aviv nach Berlin
demie erfasste, am Zipfel meines Schlaf- Woche gestrichen worden. Die letzte Mög- zu bekommen. Aber ich war seit drei Wo-
T-Shirts. Ich putzte mir gerade die Zähne. lichkeit, Israel mit Katze zu verlassen, chen allein und seit fast zwei Wochen iso-
Meine Mutter hatte die Nachricht auf schien Aeroflot. Sechs Stunden Aufenthalt liert. Meine Frau war Anfang März nach
Deutschlandradio gehört. Sie ist 82 Jahre in Moskau. Vorgestern hatte es noch einen Berlin geflogen und konnte nicht mehr zu-
alt und befindet sich in der Isolierung. In Direktflug mit Easyjet gegeben, aber die rück. Zuletzt durfte man sich in Israel nur
Steglitz, einem Berliner Stadtteil, der für nehmen keine Haustiere mit. noch hundert Meter vom Haus entfernen.
mich auch ohne Coronavirus nach Isola- Der stellvertretende Chef des Goethe- Ich habe viel Zeit mit dem Kater verbracht.
tion klingt. Sie liest Kafka, den SPIEGEL, Instituts von Tel Aviv hatte angeboten, den Ich habe angefangen, mit ihm zu reden,
hört Deutschlandradio und sieht aus dem Kater bei sich aufzunehmen, bis die Krise über den Rothschild-Boulevard, Aeroflot,
Fenster. Meine Schwester bringt ihr Essen vorbei sein würde. Er hat eine Wohnung die Krise und das alles. Bei der deutschen
an die Tür. am Rothschild-Boulevard, mit Dachter- Botschaft erfuhr ich, dass es jetzt nur noch
»Was machst du jetzt?«, fragt meine rasse. Der Kater hätte sich verbessert, aber einen Flug von Israel nach Berlin gab. Mit
Mutter. damals, vor fünf Tagen, dachte ich noch, einer weißrussischen Airline, zehn Stunden
»Mal sehen«, sage ich. dass Russland eine sichere Bank sei. Die Aufenthalt in Minsk. Aber der war ausge-
Ich hatte meine Rückreise nach Berlin Zahlen der Infektionen dort waren erstaun- bucht. Zwei Stunden später traf eine auto-
gut geplant, zumindest für meine Verhält- lich gering, wenn man sie mit dem Rest matische Ansage von Aeroflot auf meinem
nisse. Ich hatte ein Umzugsunternehmen der Welt verglich. Es gab sogar Beiträge, Handy ein, die mir mitteilte, dass mein Flug
bestellt und einen Flug, ich war mit meinem in denen Experten erklärten, warum das gestrichen worden sei. Auf Russisch.

62 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Coronakrise

Wie auf der »Titanic« dachte jeder nur lerin beruhigt, die in Tel Aviv gestrandet demie an. Kleine farbige Bälle, die sich
noch an sich selbst. Seltsamerweise beru- war. Sie kam ursprünglich aus Deutsch- mit hoher Geschwindigkeit durch langsam
higte mich die Ausweglosigkeit. Ich war land, hatte aber den Großteil ihres Lebens fliegende Bälle bewegen und sie farbig ma-
gefangen, aber am sichersten Punkt der in Oxford verbracht, die vergangenen chen. Das waren Leute wie ich, die in den
Welt. Auf einer Arche. Einem Isolations- Jahre lebte sie in einer Wohnung der New vermutlich letzten KLM-Flug nach Europa
raum so groß wie Hessen. York University, wo sie unterrichtete. Seit stiegen. Zwei Stunden lang versinke ich in
ein paar Wochen war sie zu einem den Nachrichten, bis ich mir sicher bin, in
Israel hat als eines der ersten Länder Studienaufenthalt in Tel Aviv. Sie wollte eine Zombiewelt zu reisen. Dann packe
seine Einreisebestimmungen verschärft, weg, wusste aber nicht, wohin sie reisen ich zwei Koffer und gehe zum Abendessen
seit Wochen darf praktisch niemand mehr sollte. In Deutschland war nur ihre alte bei meinen Nachbarn Carianne und Itay,
ins Land, der sich nicht 14 Tage in Qua- Mutter, ihre New Yorker Wohnung hatte um mich zu verabschieden.
rantäne begibt. Damals fragte ein Redak- sie untervermietet. Am meisten zu Hause Itay ist ein früherer Stardirigent, der als
teur des SPIEGEL, ob man diese besorg- war sie wohl in Großbritannien, aber junger Mann Leonard Bernstein assistierte
niserregende Praxis nicht beschreiben da war sogar der Gesundheitsminister und heute als Coach für das Topmanage-
müsse. Inzwischen gilt sie als vorbildlich. infiziert. Für eine Stunde war ich der ment von Weltfirmen arbeitet, auch für
Die Einhaltung der Quarantäne wird strikt Experte vor Ort, ich redete und redete, den israelischen Geheimdienst. Er ist ein
überwacht. Polizei patrouilliert auf den ohne wirklich Ahnung zu haben, spürte manchmal trauriger, aber meist sehr lusti-
Straßen. Die Kontrolle über das Gesund- aber, dass ich mir keine Alternative vor- ger Mann.
heitsministerium hat praktisch der Ver- stellen konnte zu der Insel, auf der wir Ein Coaching-Kollege von ihm, ein ehe-
teidigungsminister übernommen. Ganz festsaßen. Ich erlag dem sanften Charme maliger General, sagt, man brauche jetzt
oben regiert der Patriarch, der über dem der Sperrstunde. Führung, Stärke. Itay aber glaubt an das
Gesetz zu stehen scheint. Ein Mann, der Am Nachmittag treffe ich draußen, in Teilen in der Not, an Solidarität, an das
Wahlergebnissen und Strafverfolgung meiner Hundertmeterzone, eine Nachba- Gute. Was das genau bedeutet, auch für
trotzt. Der das Virus für sich arbeiten lässt. rin, die in Quarantäne steckt, seit sie von mich, kann er nicht sagen. Als Benny
Benjamin Netanyahu. Vor ein paar Stun- einer Reise aus den USA zurückgekommen Gantz einknickte, schien Itay verzweifelt.
den hatte sich ihm sein Herausforderer ist. Offenbar war die Zeit um. Die Nach- Er hat sich vor Wochen einen portugie-
Benny Gantz gebeugt. Am Telefon erzählt barin organisiert exklusive Kleinreisen für sischen Pass besorgt, seine Lebensgefähr-
mir ein Politikprofessor der Universität Prominente, Stars und Politiker. Zu ihren tin Carianne ist Niederländerin, sie haben
Tel Aviv, dass wir uns in Israel in einem deutschen Kunden gehört Frank-Walter ein Grachtenhaus in Amsterdam, mit
perfekten Sturm befänden, was momentan Steinmeier. An diesem Nachmittag hat sie Boot. Sie reden ständig darüber wegzu-
ein beliebtes Sprachbild ist. die Ausreise von ein paar Pilgern aus Bet- ziehen, seit der Pandemie haben sie damit
»Netanyahu ist jetzt unangreifbar«, ruft lehem im Westjordanland organisiert, die aufgehört. Sie sind nicht überzeugt vom
der Professor. wegen Covid-19-Fällen gesperrt wurde. holländischen Krisenmanagement. Sie
In den zwei Jahren, die ich in Israel lebe, »Für 30 000 Euro könnte ich dich mit fühlen sich hier sicher. Carianne referiert,
war Netanyahu nie so populär wie im einem Privatflugzeug nach Venedig fliegen während sie den Fisch serviert, die aktu-
Moment. Selbst die sogenannten Linken lassen«, sagt sie. ellen Todeszahlen aus Italien und den
scheinen erleichtert, dass er da ist. Ähnlich Ein Satz, von dem ich nicht angenom- Niederlanden. Als ich gehe, gibt sie mir
wie in Bayern, wo ein Mann wie Markus men hatte, ihn jemals zu hören. Er ver- Handdesinfektionsmittel und eine Tüte
Söder zum Volkshirten werden konnte. stärkt das angenehme Gefühl, keine Wahl Gummihandschuhe. Itay sagt, ich solle
Vor ein paar Tagen, als es noch erlaubt mehr zu haben. die Belüftung über meinem Flugzeugsitz
war, ging ich mit einem befreundeten Jour- Mehr oder weniger nachlässig recher- voll aufdrehen. Die Luft sei sehr gut. Sie
nalisten am Strand spazieren, auch er ein chiere ich ein bisschen und finde einen wirke wie ein Schutzschirm, sagt Carian-
aufrechter Linker, der plötzlich erfreut da- KLM-Flug nach Amsterdam für den nächs- ne. Es klingt, als hätten sie oft darüber
rüber war, dass der grauenvolle Netanyahu ten Morgen um sechs. Von Amsterdam geredet.
das Land mit harter Hand führt. Wenn die könnte ich einen Mietwagen nehmen. Ich
Krise vorbei ist, wird der Kollege wieder reserviere. Mit den Möglichkeiten kehren Im Taxi zum Flughafen starre ich in die
auswandern wollen. Wegen Netanyahu. die Skrupel zurück. Ich sehe mir ein Mo- dunkelblaue, warme Nacht. Mein Atem ras-
Ich kannte das vom New Yorker Bürger- dell mit den Superbeschleunigern der Pan- selt unter der Schutzmaske. Es ist der über-
meister Rudy Giuliani, den die stürzte Abschied von Tel Aviv, wo
Linken hassten, kurz nach dem ich glücklich war. Aber nicht nur.
11. September 2001 aber liebten. Als ich vor zwei Jahren hierher-
Dann bald wieder hassten. zog, sah es so aus, als bewegte ich
Einen Tag nach unserem Spa- mich in die Gefahr, und jetzt, da
ziergang wurde die Ausgangs- ich in die umgekehrte Richtung
sperre verhängt. Es erschien mir gehe, ist es wieder so. Es ist nur
logisch. Ich ging nur noch mit noch ein Terminal geöffnet, zwei
Gesichtsmaske aus dem Haus Schalter, ein Flug. Man muss den-
und betrachtete Menschen, die noch durch dieses Labyrinth aus
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

mir auf der Straße begegneten, Absperrungen, das sie in der men-
als Gefahr. Ich lief wie der Bom- schenleeren Halle aufgebaut ha-
benentschärfer in dem Film »The ben, als fände hier später noch
Hurt Locker« durch die Stadt. eine große Spielshow statt. Am
Bislang waren in Israel 14 Men- anderen Ende des Wandelganges
schen am Virus gestorben, die steht ein Mann aus Norwegen. Er
meisten sehr alt oder sehr krank. sieht auf meine Katzenbox und
Vor vier Tagen, eine Ewigkeit sagt, dass er seinen Hund diesmal
jetzt, hatte ich eine Wissenschaft- Osang-Kater Jimmy: Stärke und Solidarität bei seiner israelischen Freundin

63
gelassen habe. Zu viel Stress. Er freundes, der mich, ganz zum
kommt aus Stavanger. Schluss, bat, wenn ich ihn und das
Ich sage: »Ich habe gerade ein Land schon verlasse, auf keinen
Buch gelesen, dessen Held aus Fall die kontaminierten Rastplät-
Stavanger kommt. Es heißt ›Max, ze an den deutschen Autobahnen
Mischa und die Tet-Offensive‹.« zu benutzen. Seinetwegen habe
Er schaut mich verständnislos an. ich, allen Ernstes, eine Rolle israe-

ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL


In der menschenleeren Halle lisches Klopapier im Koffer.
klingt der Titel seltsam. Das Buch Hier, vor dieser verpissten Rast-
handelt von der Fremde und stätte an der Zonengrenze, verän-
der verschwindenden Heimat. Es dert sich mein Blick, lockert sich
hat mich sehr berührt, aber das meine Ausgangssperre. Als ich in
ist alles schwer zu erklären mit Berlin ankomme, freue ich mich
dem Sicherheitsabstand und den über die Menschen, die ich in den
Masken, die wir tragen. Ein Nor- Autor Osang in Berlin: Nicht wild, sondern frei Parks sehe. Im Fernseher in Tel
weger und ein Deutscher mit Kat- Aviv hielt ich sie für rücksichtslos,
zenbox reden in einer riesigen, jetzt erinnern sie mich daran, dass
leeren Abfertigungshalle im Nahen Osten der Mann am Sixt-Schalter, der mir einen es eine Zukunft gibt. Vielleicht ist Berlin
über ein Buch, das nur einer von ihnen ge- Audi A7 zum Golf-Preis gibt. »It’s your gar nicht wild, sondern frei, denke ich. Ein
lesen hat. So sieht das Ende der Welt aus. lucky day«, sagt er, und ich glaube, er ziemlicher Zombiegedanke. Ich habe, wie
Der Norweger meint, dass mehr Chine- redet mit der Katze. Der Audi ist nagel- gesagt, sehr wenig geschlafen.
sen durch die Umweltverschmutzung neu, aber ich desinfiziere sein Lenkrad,
gestorben seien, die durch den Lockdown als hätte ich dort drinnen den Vorbesitzer Ich bringe den Kater in unsere Wohnung.
ausblieb, als durch das Virus, es klingt erschossen. Er war 17 Stunden in seiner Box und betritt
sinnvoller als der Titel des wunderbaren Mir fehlt, fürchte ich, meine Ausgangs- die neue Berliner Welt ganz vorsichtig. An-
Buches. Als der Norweger nach vorn ge- sperre. Ich entspanne mich erst auf der derthalb Stunden nachdem ich angekom-
rufen wird, bin ich kurzzeitig der letzte Autobahn, was natürlich auch ein selt- men bin, gibt unsere israelische Freundin
Wartende in der Halle. Dann kommt noch samer Satz ist. Es sind die mitteleuro- Yael ein Balkonkonzert in unserer Berliner
ein Argentinier, der fürchtet, dass er seinen päischen Frühlingsbäume am Straßenrand, Straße, in der auch sie seit drei Jahren
Anschlussflug in Rio de Janeiro verpasst. der Frühlingshimmel, die Menschen in den wohnt. Vor fünf Wochen haben meine
Ich stelle mir vor, wie er in einer anderen anderen Autos, aber auch die bezwingbare Frau und ich sie mit ihrer Band in Neve
Zeit landet, in der es vielleicht keine Über- deutsche Grenze, der ich mich nähere. Es Tzedek gesehen. Jetzt sehen wir sie vom
lebenden mehr gibt. steht nur ein kleines Polizeiauto an einem Balkon aus. Es ist eiskalt, auch auf den
Ich bin, wie gesagt, emotional etwas an- bundesdeutschen Grenzpolizeigebäude, anderen Balkonen stehen Leute, aber es
geschlagen. Ich fahre mit der Katze über das aussieht, als stammte es aus der Kulisse sind auch viele Fenster dunkel, Fenster der
leere Rollbänder und durch stille Flure, ich der Fernsehserie »Dark«, wenn die in den Nachbarn, die aufs Land geflüchtet sind.
stelle die Katzenbox für ein Foto neben Achtzigerjahren spielt, als diese Grenze Auf der Straße steht ein Kamerateam des
eine Statue von David Ben-Gurion, der vor für mich unüberwindbar war. Das Polizei- RBB, das gute Nachrichten sucht.
über hundert Jahren im Hafen von Jaffa auto ist leer, im meinem Herzen wummert Yael singt: Hold my hand, I’m flying to
ankam und merkte, dass das verheißene die Europahymne. Ich verstehe Angela the moon.
Land ganz anders aussah, als er sich das Merkel und jene ostdeutschen Politiker, Später sitzen wir mit den Kindern noch
vorgestellt hatte. Ein Weltreisender, der nur die sich weigern, die Menschen einsperren ein bisschen im Wohnzimmer und reden
in der Bewegung glücklich schien und den- zu lassen. über Corona und die Welt. Meine Tochter
noch diesen Staat gründete. Auf der Anzei- Was dieses euphorische Gefühl ver- und mein Sohn, die beide in Krankenhäu-
getafel stehen alle Flüge, die in den nächs- stärkt, ist das Hörbuch von »Nochmal sern arbeiten, und die Freundin meines Soh-
ten 24 Stunden Israel verlassen. Es sind vier. Deutschboden«, das in meinem Autoradio nes, die aus London kommt, aber seit drei
Amsterdam. Newark. London. Moskau. läuft. Als der Autor erzählt, wie ein leicht Jahren in Berlin lebt, sitzen im Sicherheits-
angetrunkener Zehdenicker Kneipengast abstand um uns herum wie in einer Talk-
Im Flugzeug stelle ich die Belüftung auf ihm an einem Vormittag mit der Molle in show, und ich spiele den Bedenkenträger.
volle Kraft und nehme unter dem sicheren der Hand erklärt, wo hier zu Ostzeiten die Ich rede vom deutschen Leichtsinn und
Luftschutzschirm Platz, von dem ich seit Wände standen, muss ich so lachen, dass kündige an, mich in Quarantäne zu bege-
Kurzem weiß. Es gibt kaum Bordservice, mein Mietwagen mich bittet, die Spur zu ben. Meine Frau sagt, dass ihr das zum
was ich begrüße. Wir fliegen in den auf- halten. Ich stoppe in Marienborn, dem ehe- Anfang genauso ging, vor drei Wochen,
gehenden Tag. Als wir in Holland landen, maligen Grenzübergang in den Westen. als sie ankam. Sie sieht mich an wie einen
klatscht niemand, was darauf hindeutet, Das Ende der Welt einst, jetzt ein bemit- Kranken, was mich zu einem noch größe-
dass keine Israelis an Bord sind. Ich be- leidenswerter, verstruppter Rastplatz. Als ren Bedenkenträger macht. Der Kater
danke mich beim KLM-Personal am Aus- ich die Toiletten sehe, denke ich noch mal streicht durch die Wohnung, als wäre er
gang. Das sind Helden, für die niemand an den Rat meines Tel Aviver Journalisten- nie weg gewesen. Ich brauche ein bisschen
auf Balkonen singt. länger, glaube ich.
Dann betrete ich Europa. Die Einreise- Am nächsten Tag bucht die Freundin
kontrollen sind lächerlich, wenn man
israelischen Service gewohnt ist. Niemand
Als ich ankomme, meines Sohnes einen Flug nach London.
Sie weint die ganze Nacht, aber sie will
will die Katzenpapiere sehen, obwohl ich
einen Hefter mit Unterlagen dabeihabe,
freue ich mich bei ihrer Familie sein. Sie hat Angst. Auch
wenn sie das nicht so sagt, weiß ich, dass
als würde ich einen Pandabären einführen.
Das Flughafenpersonal wirkt gelassen,
über die Menschen sie auch Angst vor mir hat. Dem Beschleu-
niger. Und ich versteh das sehr gut.
kaum jemand trägt Masken. Auch nicht in den Parks.
64 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020
Coronakrise

»Ich mache Ostfriesen-Yoga«


Ohne dich Malen, singen, mit Rolf Zuckowski telefonieren – der Komiker Otto Waalkes
hat auch in diesen Zeiten viel zu tun. Eines vermisst er dennoch: Umarmungen.

SPIEGEL: Otto, wo erwischen wir Sie gerade? Waalkes: Gerade hatte ich noch so gute Laune. Vielen
Waalkes: Auf dem Weg vom Küchentisch zum Sessel. Dank für dieses Gespräch. Ein Risiko war ich übrigens
SPIEGEL: Einem Unruhegeist wie Ihnen muss es schwer- schon in der Schule.
fallen, einfach mal zu Hause zu bleiben. SPIEGEL: Wie intensiv verfolgen Sie die Berichterstattung?
Waalkes: Ich hatte schon vergessen, wie das geht, ich bin Waalkes: Das Wichtigste lass ich mir von Thomas erzäh-
ja oft monatelang unterwegs. Fühlt sich toll an. Ich werde len. Der schaut jede Sendung an und wirkt schon ganz
die Zeit nutzen und entschleunigen. So schnell wie möglich! verstört. Ich sehe zu, dass ich fit bleibe. In normalen Zeiten
SPIEGEL: Wird’s schon langweilig? spiele ich jeden Morgen Tennis, das fehlt mir. Als Aus-
Waalkes: Nie. Zur Not rede ich mit mir selbst. »Otto!« – gleichssport mache ich Ostfriesen-Yoga: aufstehen, hinset-
»Jaaaa?« – »Ich habe alle deine Filme gesehen.« – »Oh, das zen, fertig. Ich renne auch vom Erdgeschoss in den zweiten
freut mich!« – »Sind alle scheiße.« Stock. Dort ist mein Atelier. In dieser geschenkten Zeit
SPIEGEL: Sie wohnen allein. male ich viel, Acryl auf
Waalkes: Aber mit Thomas Leinwand, grundiert mit
im Souterrain. Ostfriesentee. Und ich
SPIEGEL: Thomas ist …? denke mir neue »Hänsel
Waalkes: … meine rechte und Gretel«-Varianten
Hand, mein Bühnendesigner, aus. (Greift zur Gitarre und
Hausmeister, Kritiker, bester singt) »Gehen zwei kleine
Freund. (Singt) »Ein Freund, Kinder / durch diesen
ein guter Freund …« Er be- Wald …« Erkennst du’s?
kocht mich jetzt jeden Tag. SPIEGEL: Abba? »Mamma
Fisch. Spaghetti mit Pasta – mia«?
Quatsch: Pasta mit Pesto! Waalkes: Jaaaa! (Singt wei-
Nachmittags ruft Rolf ter) »Mamma mia / wie sieht
Zuckowski an, der Lieder- die denn aus / wie ’ne alte
macher, ein Nachbar von mir. Hexe. Mamma mia / hol
Dann gehen wir beide raus, dein Handy raus / ruf Mama
jeder auf seinen Balkon, Rolf an und weck se …«
stimmt »De Hamborger SPIEGEL: Anders als viele
Veermaster« an, wir singen Stars gelten Sie als jemand,
gemeinsam und schauen auf der sich freut, wenn er von
die Elbe. Bis einer kommt – Fans angesprochen wird.
einer, der Ruhe brüllt. Fehlt Ihnen das?
SPIEGEL: Wen vermissen Sie Waalkes: Das geht auch
in diesen Tagen besonders? übers Internet, wie ich fest-
Waalkes: Hmmm … Meine gestellt habe. Ich verbreite
Ex-Frauen? Neee, da kommt dort jeden Tag ein Video
mir Abstandseinhaltung sehr Waalkes, 71, in seinem Hamburger Haus, fotografiert von Thomas, und achte auf die Reaktio-
entgegen. Dann schon eher seinem »Hausmeister, Kritiker und besten Freund« nen der Leute, als Test für
meinen Bruder Karl-Heinz, meine Tournee im kommen-
mein großes Vorbild, fünf den Jahr – hoffentlich fin-
Jahre älter als ich. Er lebt immer noch in unserer Heimat- det wenigstens die statt! Die Leute wollen doch Otto live
stadt Emden. Am Telefon führen wir tiefsinnige Gespräche. sehen, holahiti! Manchmal gebe ich auch Musikunterricht.
Er sagt »Moin«, und ich antworte »Moin«. Ostfriesen ma- SPIEGEL: Wie das?
chen ungern viele Worte. Wenn er mal »Moin, moin« sagt, Waalkes: Neulich habe ich einen Clip gepostet, da spiele
denke ich schon: Was labert der so viel? ich auf der Gitarre die Pianosonate von Mozart, Köchelver-
SPIEGEL: Eigentlich sollten Sie jetzt als Zauberer Catweazle zeichnis 545. Ein Gitarrist schrieb: Otto, wie hast du das ge-
vor der Kamera stehen. macht? Ich habe geantwortet: Hier ist meine Nummer, ruf
Waalkes: Wir mussten die Dreharbeiten nach zwei Wochen an. Dann haben wir per Videocall telefoniert, ich hab ge-
unterbrechen. Dabei lief es gerade so gut. sagt, guck, das sind die Griffe, du spielst einfach: düdeldö,
SPIEGEL: Traurig? düdeldö, dö ... Nein! Doch nicht dudödel du! ... düdeldö, dö!
Waalkes: Teilweise. Es war auch anstrengend. Wir haben SPIEGEL: Offenbar gibt es nichts, das Ihnen wirklich fehlt.
eine Woche lang eine Szene gedreht, in der ich in einer Waalkes: Doooch. Ich würde so gern mal wieder umarmt
Badewanne saß und sagen musste: »Hier sprudelt eine werden! Interview: Alexander Kühn
warme Quelle!« Dabei war das Wasser eiskalt. Zwischen-
durch haben sie mich an die Heizung gelehnt, zum Auf-
tauen. ‣ An dieser Stelle berichten Menschen über das Vermissen
SPIEGEL: Mit 71 Jahren gehören Sie zur Corona-Risiko- in Zeiten der Pandemie. Wenn Sie uns Ihre Geschichte
gruppe … erzählen möchten, schreiben Sie an: ohnedich@spiegel.de

65
Wirtschaft

MICHELE TANTUSSI / REUTERS


Scholz

50 Milliarden Euro für die Konjunktur


Krise Finanzminister Scholz plant ein Anschubpaket und will dafür auf die Asylrücklage zurückgreifen.
 Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) plant für die Zeit nahmen, mit denen die private Investitionsnachfrage angeregt
nach der Corona-Epidemie ein kräftiges Anschubpaket für die werden könnte, sind im Gespräch. So denken die Experten des
Wirtschaft. In dieser »zweiten Phase« der Krise, wie Scholz sie Bundesfinanzministeriums darüber nach, Unternehmen Investi-
nennt, hält er ein Konjunkturprogramm für notwendig, um die tionszulagen oder Abschreibungsvergünstigungen zu gewähren.
brachliegende Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Als Scholz will vorerst auch darauf verzichten, die Ausgaben für
Volumen schwebt ihm eine Größenordnung von fast 50 Milliar- die Milliardenhilfen, die er zur akuten Abwehr der Krise bereit-
den Euro vor. Dafür will Scholz auf die Asylrücklage des Bundes stellt, wieder einzusparen, sobald die Wirtschaft anspringt.
zurückgreifen. Sie blieb bislang unangetastet. Mit dem Geld will »Das Schlimmste wäre, wenn man in einer Krise gegen die Krise
Scholz staatliche Investitionen hochfahren. Aber auch Maß- anspart«, sagt er. »Da müssen wir genau das Gegenteil tun.« REI

E-Commerce oder an anderen gesonderten Flächen vor kann derzeit online beschafft werden. Da
Stationärer Handel soll den Geschäften. Auch Einkaufszentren wäre die Möglichkeit einer stationären
sollten solche Dienstleistungen anbieten Abholung ein großer Vorteil für die Kon-
Waren ausgeben dürfen dürfen. sumenten«, sagt Wenk-Fischer. Auch helfe
»Die Läden sind voll mit Ware, zum eine solche Möglichkeit den Händlern,
 Der Bundesverband E-Commerce und Teil handelt es sich auch um Saisonware, die Krise zu überstehen. »Die Gesundheit
Versandhandel fordert, klar zu regeln, wie die schnell massiv an Wert verliert, wenn von Käufern und Personal hat oberste
während der Pandemie im Internet oder man sie nicht verkaufen kann«, sagt Chris- Priorität. Doch überall da, wo man eine
telefonisch bestellte Ware in stationären toph Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer solche Abholung einrichten kann, sollte
Geschäften abgeholt werden kann. Denk- des Verbands. In manchen Teilen Deutsch- man das auch zulassen. Das entlastet
bar wären etwa kontaktlose Übergaben an lands sei nicht klar geregelt, dass Ware zusätzlich die angespannte Warenlogis-
Parkplätzen, die zu den Läden gehören, ausgegeben werden dürfe. »Nicht alles tik«, so Wenk-Fischer. MUM

66 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Corona-Lasten
Reichenabgaben könnten
25 Milliarden Euro bringen
 Wohlhabende Bürger könn- auf bis zu 1,8 Billionen Euro
ten jedes Jahr mit 20 Milliar- summieren.
den bis 25 Milliarden Euro SPD-Chefin Saskia Esken
zusätzlich belastet werden, hatte mit der Forderung nach
ohne dass dies die deutsche einer einmaligen Vermögens-
Wirtschaft schwächen würde. abgabe für Reiche diese
Zu diesem Ergebnis kommt Woche für eine Debatte in
Stefan Bach, Steuerexperte der Großen Koalition gesorgt.
des Deutschen Instituts für Unionspolitiker lehnen das
Wirtschaftsforschung (DIW). mit Hinweis auf mögliche

VOLKSWAGEN AG
Die Summe könnte je zur Schäden für den Mittelstand
Hälfte durch eine einmalig ab. Auch DIW-Ökonom Bach
festgelegte, aber über mehre- verweist darauf, dass der
re Jahre gezahlte Vermögens- überwiegende Teil der Ver-
abgabe für die reichsten fünf mögen der wohlhabendsten VW-Elektro-Bulli ID.Buzz
Prozent sowie durch einen Deutschen aus familiengeführ-
Corona-Solidaritätszuschlag ten mittelständischen Unter- Volkswagen gelt es noch an den nötigen
auf die Einkommensteuer für nehmen bestehe. Würden sie Enormer Verlust Elektrofahrzeugen, um den
Besser- und Hochverdiener durch eine Vermögensabgabe Flottenverbrauch zu senken.
zusammenkommen. »Am zu stark getroffen, könnte das mit Nutzfahrzeugen Die E-Version des Bulli,
sinnvollsten wäre ein ausge- Geld für Investitionen fehlen der ID.Buzz, soll erst 2022
wogener Mix aus Vermögens- und die deutsche Wirtschaft  Die VW-Tochter Volks- auf den Markt kommen. Ein
und Einkommensbelastung insgesamt geschwächt wer- wagen Nutzfahrzeuge (VWN) neues Sparprogramm mit
für die oberen Schichten«, den. Dies könne aber durch rechnet für das laufende Jahr dem Namen »Grip Perfor-
sagt Bach. Mit dem Geld großzügige Freibeträge für mit einem operativen Verlust mance« soll bis Jahresende
könnte in den nächsten Jah- Betriebsvermögen und eine in Höhe von rund 500 Mil- gut 400 Millionen Euro
ren ein Teil der staatlichen Streckung der Zahlung über lionen Euro – die Folgen der einspielen, sodass unterm
Corona-Hilfspakete refinan- einen Zeitraum von 15 bis 20 Coronakrise sind darin noch Strich ein Verlust von etwa
ziert werden, die sich derzeit Jahren verhindert werden. FDI nicht einkalkuliert. 2019 hat- 100 Millionen Euro bleibt.
te der Hersteller von Model- Betriebsbedingte Kündigun-
len wie Caddy, Crafter oder gen sind allerdings bis 2029
Multivan noch gut eine halbe ausgeschlossen. VWN erklärt
Milliarde Euro Gewinn ver- dazu, man nehme in der
zeichnet. Grund für den Ab- größten Transformation der
sturz sind hohe Investitionen Geschichte »bewusst zwei
in neue Modelle sowie dro- schwierige Jahre in Kauf«.
hende CO2-Strafzahlungen In den ursprünglichen Pla-
an die Europäische Union. nungen vor Corona habe
VWN hat viele große, ver- das Unternehmen wegen
DOROTHEA SCHMID / LAIF

brauchsintensive Fahrzeuge der hohen Investitionen, Ent-


im Angebot, die in Brüssel wicklungskosten und der
teilweise als Pkw angerech- CO2-Vorgaben bereits »mit
net werden. Die Modellpalet- negativen Auswirkungen
te ist veraltet. Zugleich man- gerechnet«. SH

Inflationsrate te, damit sie dort die Preise deshalb anders behelfen. Sie greifen sie auf den Wert der
Schlau schätzen von etwa 700 Waren oder durchsuchen mehr noch als bis- nächsthöheren Güterkategorie
Dienstleistungen notieren. Bis- her das Internet nach Preisen, zurück, also statt Zitronen zum
 Die deutschen Statistikbe- lang waren dies häufig Rentner. denn inzwischen verkaufen Beispiel Südfrüchte. Für den
hörden befürchten Schwierig- Wegen der Coronakrise fehlt es hier auch Händler, die bislang April werde die Preisermitt-
keiten, die Verbraucherpreise nun an Preisfahndern, denen nur stationär präsent waren. lung deutlich schwerer fallen
für April in gewohnter Präzi- es zuzumuten ist, die Aufgabe Punktuell bekommen die als sonst, sagt Christoph-Mar-
sion ermitteln zu können. Nor- zu übernehmen. Bei den meis- Ämter zudem Daten von Scan- tin Mai, Referatsleiter beim
malerweise schicken die Statis- ten Gaststätten, Möbelhäusern nerkassen elektronisch übermit- Statistischen Bundesamt: »Die
tischen Landesämter rund oder Modeboutiquen stünden telt. Vielfach schreiben sie Prei- Qualität nimmt ab, aber auch
600 Personen, die sich etwas sie wegen der angeordneten se auch fort, etwa für Kinokar- dank der engen Abstimmung
dazuverdienen möchten, in Schließungen ohnehin vor ver- ten. Oder sie nutzen das soge- mit dem Europäischen Statis-
den ersten drei Wochen eines schlossenen Türen. Die nannte Imputationsverfahren: tikamt erwarte ich, dass die
Monats bundesweit in Geschäf- Statistikbehörden müssen sich Fehlt der Preis für eine Ware, Zahlen verlässlich bleiben.« AJU

67
Coronakrise

KRISZTIAN BOCSI / BLOOMBERG / GETTY IMAGES


VW-Chef Diess bei Produktionsstart des Elektroautos ID.3 in Zwickau im November 2019: Beim Wiederaufbau die richtigen Strukturen anlegen

Corona oder CO2


Umwelt Wirtschaftspolitiker fordern bereits, die Industrie im Abschwung vor zu viel Klimaschutz
zu bewahren. Doch die Konzerne sind gar nicht so erpicht auf diese
Erleichterungen. Sie haben die CO²-Reduktion längst als Wettbewerbsvorteil verbucht.

E
s sind nicht mehr Zehntausende Corona so viel Raum einnimmt, aber auch, Noch vor ein paar Wochen gab es in der
junger Menschen, die freitags durch weil es vielleicht nicht angemessen wäre«, Wirtschaft kein drängenderes Thema als
die Straßen der Städte ziehen. Der sagt Carla Reemtsma, eine der prominen- den Klimaschutz. Konzerne und Inves-
Klimaprotest in Zeiten der Pande- testen Aktivistinnen. toren überboten sich in Ankündigungen,
mie ist leiser geworden, auch bescheidener. Corona hat die Klimakrise aus der Öf- angetrieben durch Politik und Proteste,
In einem Video stehen drei junge Menschen fentlichkeit verdrängt, mehr noch, die Pan- durch kritische Anleger und ökologisch
auf dem Balkon und rufen: »Kohle in die demie scheint der Menschheit wertvolle angehauchte Geldgeber. Kaum ein Poli-
Pflege statt Kohle aus der Mine«. Anfang Zeit zu verschaffen. Satellitenbilder zeigen, tiker oder Topmanager ließ die Gelegen-
der Woche hatte das Filmchen 878 Aufrufe. wie die Luftverschmutzung zuletzt zurück- heit aus, sich mit Greta Thunberg, der
In den Millionen-Teilnehmer-Maß- gegangen ist. Deutschland könnte durch Begründerin der Freitagsproteste, fotogra-
stäben der Klimaschutzbewegung Fridays das zwangsweise Herunterfahren der Wirt- fieren zu lassen.
For Future (FFF) ist das mickrig, aber kein schaft sogar das Klimaziel für das Jahr Und nun? Bedeutet der nachlassende
Grund zum Verzweifeln. »Wir drängen 2020 erreichen – was bis vor Kurzem als öffentliche Druck, dass der grüne Umbau
uns gerade nicht aktiv nach vorn, weil unvorstellbar galt. vertagt wird? Zumal der Shutdown für

68 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


immer mehr Firmen existenzbedrohend Mitte März stellte sie noch die Zahlen Gegenüber dem Meinungsforschungs-
wird und sich die Prioritäten radikal ver- der Treibhausgasemissionen aus dem Jahr institut Civey sprachen sich 35 Prozent der
schoben haben. 2019 vor und verkündete einen erstmals Befragten dafür aus, »Maßnahmen zum
Der ehemalige EU-Kommissar Günther spürbar gesunkenen Ausstoß. Es wäre der Klimaschutz in Deutschland aufgrund der
Oettinger (CDU) forderte im Branchen- ideale Auftakt gewesen, um dem Klima- Corona-Pandemie und ihrer wirtschaft-
blatt »Automobilwoche« bereits, die stren- schutz endgültig zum Durchbruch zu ver- lichen Folgen« zu lockern. 57,3 Prozent
gen CO2-Ziele zu lockern: Die Politik dür- helfen. Deutschland hätte nur die letzten sind laut Umfrage dagegen. Doch nur
fe nicht »auf Vorgaben beharren, die unter Fragen zum Kohleausstieg sowie die Ab- zaghaft geht Schulze jetzt wieder in die
anderen Geschäftsgrundlagen beschlossen standsregeln für Windräder klären müssen Offensive: »Selbstverständlich werden wir
wurden«. und hätte als Musterland des Klimaschut- Konjunkturprogramme nach der Corona-
Im Wirtschaftsflügel der Union macht zes im Juli die EU-Ratspräsidentschaft krise so konzipieren müssen, dass sie uns
das Wort von einem Belastungsmorato- übernehmen können. helfen, die Zukunftsherausforderungen un-
rium die Runde. Nicht nur CO2-Grenzwer- Stattdessen begab sich die Umweltmi- serer Volkswirtschaft zu meistern«, sagt
te für Autos werden hinterfragt. Auch die nisterin erst einmal in kommunikative sie. Dazu zähle natürlich der Aufbau einer
Bauern sollen geschont werden. Und soll- Quarantäne. Ermahnende Worte für mehr klimaneutralen Wirtschaft, um »anderen
ten die geplanten Strukturhilfen für den Klimaschutz, so die Einschätzung ihrer Be- Krisen besser begegnen zu können«.
Kohleausstieg in Höhe von 50 Milliarden rater, würden bei den Bürgern derzeit Ihr neu gefasster Mut könnte auch daher
Euro nicht besser verwendet werden, um schlecht ankommen. Vielleicht ist die Sor- rühren, dass sie aus der Wirtschaft aufmun-
die Realwirtschaft zu retten? ge unbegründet. Angesichts der Corona- ternde Signale erhält. Dort stehen die Zei-
Vor allem manche Landwirte begreifen krise ist laut einer Umfrage im Auftrag des chen, anders als vielleicht erwartet, nicht
die Pandemie offenbar als Chance, die un- SPIEGEL nur jeder Dritte in Deutschland auf Konterrevolution. »Die Unternehmen
geliebte Diskussion über eine ökologische dafür, die Regulierungen beim Klima- gehen davon aus, dass sie nach der Corona-
Agrarwende auf unbestimmte Zeit zu ver- schutz zurückzufahren. krise den Ausstoß von Treibhausgasen in
tagen. Die industrielle Landwirtschaft ist ihrer Produktion weiter drastisch reduzie-
einer der größten Treibhausgasemittenten ren müssen«, sagt der Manager Bernhard
im Land, nach der Energiewirtschaft, der Lorentz. Er leitet bei der Unternehmungs-
Industrie und dem Verkehr. beratung EY eine Taskforce für die Trans-
Nicht wenige Bauern hoffen, derzeit als formation der Industriekonzerne. Erst vor
Ernährer des Volkes eine Art Freifahrt- wenigen Tagen hat ihn ein neuer Kunde aus
schein in Sachen Umweltschutz zu erhal- der Stahlbranche als Berater verpflichtet.
ten. So versuchte die Protestbewegung Lorentz glaubt, der Druck auf die Unter-
SOCIALMEDIASERVICE / DDP IMAGES
»Land schafft Verbindung« (LsV), die von nehmen werde sogar noch wachsen. In der
der EU per Gerichtsurteil erzwungene Krise »werden die das Rennen machen, die
Düngeverordnung im letzten Moment zu technologisch fortgeschritten und am wei-
kippen – mit dem dramatischen Slogan: testen auf dem Weg zur Klimaneutralität
»Hungern die Pflanzen, hungern wir alle!« gekommen sind«. Er rät seinen Klienten,
Im Bundesrat ging das Vorhaben am ver- den Wandel weiter voranzutreiben. Nicht
gangenen Freitag knapp durch, allerdings trotz, sondern wegen der aktuellen Krise.
nur durch das Zugeständnis, dass die Bau- Die deutsche Industrie teilt diese Ein-
ern die Düngeregeln erst zum nächsten Klimaaktivistin Thunberg schätzung. Das gilt vor allem für Firmen,
Jahr umsetzen müssen. In der Landwirt- Der Protest ist leiser geworden die besonders viel CO2 produzieren, und
schaft hat Corona gegen Klima also zumin- deshalb schon lange gezwungen sind, den
dest einen Punkt geholt. Ausstoß von Klimagasen zu reduzieren.
Zum Beispiel BASF.
Geht es nach manchen Bauern, nach Ambitionierte Ziele »Unser Klimaziel, bis 2030 klimaneutral
Oettinger und dem Wirtschaftsflügel der Deutsche Treibhausgasemissionen, in zu wachsen, gilt unverändert«, sagt ein
Union, könnte der Klimaschutz vor einer Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten Sprecher des Chemiekonzerns. Die Lud-
gewaltigen Rolle rückwärts stehen. wigshafener haben im Vergleich zu 1990
Die Klimaschützer haben dem erst ein- 1045 den CO2-Ausstoß in absoluten Zahlen hal-
Klimaziele der
mal wenig entgegenzusetzen. Der Vorsit- 942 Bundesregierung biert, während sich die Produktion etwa
zende des BUND, Olaf Bandt, zeigt zu- verdoppelt hat. Um die Emissionen weiter
nächst einmal Verständnis für die Milliar- 805 signifikant zu senken, muss BASF neue
denhilfen, die Sozialsysteme und Wirtschaft 751 Technologien entwickeln, etwa die Pro-
bekommen. Erst dann fordert er einen duktion von grünem – also CO2-neutra-
»Green Deal«, damit die Wirtschaft nach lem – Wasserstoff. Der Konzern hat hohe
der Krise wieder richtig durchstarten könne. 563 Investitionen vorgesehen.
Auch Bundesumweltministerin Svenja
Schulze (SPD) hält sich bewusst zurück. Diese Strategie werde weiterverfolgt, so
»Aktuell steht die Bewältigung der Pande- 375 heißt es in Ludwigshafen. Im Moment pro-
mie im Mittelpunkt«, sagt sie. Dann erinnert fitiert BASF wie die gesamte Industrie
sie daran, dass »der Aufbau einer vollständig sogar davon, dass mit gedrosselter Produk-
weit-
auf erneuerbaren Energien basierenden gehend tion auch der CO2-Ausstoß sinkt. Der
Wirtschaft« im Fokus bleiben müsse. Mit- klima- Preis für Emissionszertifikate, mit denen
telfristig. »Das war schon vor der Pandemie neutral sich Firmen von der Reduktion ihres Treib-
die Aufgabe, und die kraftvolle Umsetzung hausgasausstoßes freikaufen können, ist
wird auch ein Teil unserer Strategie für die 2000 2010 2019* 2020 2030 2040 2050 seit dem Ausbruch der Coronakrise um
Wirtschaft sein müssen.« *Schätzung Quelle: Umweltbundesamt rund ein Drittel gefallen. Noch offensiver

69
zeitig stellt sie aber klar: Die Autoindustrie
wolle an den Pariser Klimazielen für 2050
und den geltenden CO2-Zielen festhalten.
»Die Branche steht mitten im Transforma-
tionsprozess«, so Müller, »und ist entschlos-
sen, diesen auch weiterzuführen.« Ähnlich
pragmatisch äußerten sich BMW, Daimler
und Volkswagen. Zudem hieß es beim VDA,
der Lobbyistenbrief an die EU wende sich
hauptsächlich gegen die baldige Einführung
strengerer Typgenehmigungsverfahren.
Die unterschiedlichen Botschaften deu-
ten darauf hin, dass die Einschätzungen in

PHILIPP SCHULZE / DPA


Europas Autoindustrie gerade auseinan-
dergehen.
ACEA-Präsident Mike Manley, einer
der Unterzeichner des Brandbriefs, ist im
Hauptberuf Vorstandschef von Fiat Chrys-
Landwirt beim Düngen mit Gülle: »Hungern die Pflanzen, hungern wir alle!« ler. Der italienisch-amerikanische Auto-
konzern hat bislang kaum Elektroautos
in seinem Angebot, ein Moratorium für
als BASF formuliert HeidelbergCement halb der geltenden Fristen« auf EU-Gesetze die CO2-Ziele käme ihm sicher nicht un-
sein Bekenntnis zur Klimapolitik. Der Ze- und Regularien vorbereiten. »Deshalb glau- gelegen.
menthersteller gehört zu den großen CO2- ben wir«, so das Fazit, »dass das Timing VW-Chef Herbert Diess dagegen hat
Emittenten und arbeitet seit Jahren an ei- dieser Gesetze angepasst werden müsste.« sein Unternehmen voll auf Elektro einge-
ner Transformation. »Es wäre verkehrt, Es sah nach einer koordinierten Aktion schworen. Diesen Wettbewerbsvorteil will
wenn wir jetzt von unseren CO2-Zielen aus, auch weil am Samstag Ex-EU-Kommis- er sich von Corona nicht wieder nehmen
abrücken würden«, erklärt der Dax-Kon- sar Oettinger mit seiner Eingebung vor- lassen.
zern. »Die Klimakrise geht ja wegen der preschte. Doch der Vorstoß verhallte. Der In der deutschen Autoindustrie gibt es
Corona-Epidemie nicht weg.« deutsche Verband der Automobilindustrie bereits Überlegungen, sich in Berlin und
In dieser Woche hat HeidelbergCement (VDA) warnt zwar davor, die Flottengrenz- Brüssel für ein Konjunktur- und Innova-
angekündigt, ein Verfahren zur industriel- werte für 2025 und 2030 kurzfristig weiter tionspaket starkzumachen, das sowohl die
len Anwendbarkeit zu bringen, das es er- zu verschärfen: »Unsere Unternehmen Kaufkraft als auch den Klimaschutz stärkt.
laubt, bei der Zementherstellung anfallen- brauchen Planungssicherheit«, sagt Ver- Angeregt werden soll ein Investitions-
des CO2 abzuscheiden und einer anderen bandspräsidentin Hildegard Müller. Gleich- fonds, der Projekte wie die Produktion
Verwendung zuzuführen. »Wir zeigen da- von Elektrobatterien, erneuerbare Ener-
mit, dass es möglich ist, den ökologischen gien oder Ladesäulen fördern soll. »Wir
Fußabdruck der Zementproduktion erheb- Teure Luft sollten die Krise als Chance nutzen, Euro-
lich zu verringern«, sagt Vorstandschef Do- Drohende Strafzahlungen aufgrund pa bei Zukunftsthemen souveräner auf-
minik von Achten. verfehlter CO2-Ziele für Autobauer zustellen«, sagt der hochrangige Vertreter
Von der Coronakrise besonders getrof- eines Autokonzerns, »damit wir künftig
im Jahr 2021, in Millionen Euro
fen ist die Autoindustrie. Die Produktion nicht zwischen den USA und China zer-
(Prognose)
steht auf unbestimmte Zeit still. Außerhalb rieben werden.«
Chinas, wo sich die Wirtschaft langsam Unterstützt wird er dabei vom Ökono-
erholt, werden derzeit praktisch nir- 2461 men Christoph Schmidt, Präsident des
gendwo mehr Autos abgesetzt. RWI – Leibniz-Instituts für Wirtschafts-
Fiat Chrysler forschung. Er ist einer der Hauptau-
Eigentlich sollte diesen Sommer
eine Verkaufsoffensive für Elektro-
4504 1456 toren einer Studie der Wissenschafts-
vereinigung Acatech, in dem er für
Volkswagen
autos starten. Den Konzernen dro- Ford die Zeit nach der Krise ein zukunfts-
hen Milliardenstrafen, wenn sie nicht weisendes Konjunkturpaket skizziert.
genügend E-Autos auf den Markt brin- 1057 »Wir müssen darauf achten, dass wir
gen. Branchenanalysten rechnen jedoch
damit, dass die EU ihre strengen CO2-Vor-
997 beim Wiederaufbau die richtigen Struktu-
ren anlegen, auch für den Klimaschutz.«
gaben zumindest für das Krisenjahr 2020 938 Renault Daimler
Klimaforscher Reinhard Hüttl vom Geo-
aufweichen werde – keiner will der euro- Nissan forschungszentrum in Potsdam sieht für
PSA
päischen Kernindustrie den Todesstoß ver- Mitsubishi die Wirtschaft ohnehin keine andere Mög-
passen.
797 lichkeit. Die Coronakrise sei eine schlechte
Für Aufregung sorgte am Mittwoch ver-
gangener Woche ein dreiseitiges Schreiben 877 754
Ausrede, um bei der Klimafrage zu schlu-
dern. Das Problem der Klimaerwärmung
des europäischen Automobilverbands BMW Hyundai Kia sei nicht aus der Welt, nur weil es aus der
ACEA an EU-Kommissionspräsidentin Ur- Mazda Berichterstattung verschwunden sei.
sula von der Leyen. Darin warnen die Lob-
byisten, unterstützt von Organisationen der 18 382 322 93 Simon Hage, Martin Hesse,
Stefan Kaiser, Jonas Schaible,
Zulieferer, Reifenhersteller und Händler, Honda Jaguar Michaela Schießl, Gerald Traufetter
Toyota Volvo
wie stark Covid-19 ihr Geschäft beeinträch- Land Rover Mail: gerald.traufetter@spiegel.de
tige. Die Industrie könne sich nicht »inner- Quelle: PA Consulting

70 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


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Mobiles Zahlen Was Anleger wissen sollten

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Informationen: ËÌÜÛÚÊÏÌ~ÉÈÕÒËÌÊÖÙÖÕÈ
Coronakrise

»Wie eine
SPIEGEL: Die Allianz ist allerdings weit da-
von entfernt zusammenzubrechen, zuletzt
hat sie einen Rekordgewinn von elf Mil-

Atomexplosion«
liarden Euro vor Steuern erzielt. Und im
Moment gibt es nur eine kleine Zahl von
Pandemieversicherungen. Es würde die
Allianz Peanuts kosten, die Ansprüche aus
diesen Policen jetzt zu übernehmen.
Konzerne Allianz-Chef Oliver Bäte, 55, über die Pandemie als Bäte: Wenn wir Pandemiedeckung ange-
Versicherungsfall und mangelnden unternehmerischen Anstand boten haben, werden wir die bezahlen.
Pacta sunt servanda. Und wenn es unklar
ist, ein neutraler Dritter aber sagt, es ist
versichert, dann werden wir natürlich
zahlen.
SPIEGEL: Einige US-Bundesstaaten wol-
len Versicherer zwingen, Schäden aus Be-
triebsunterbrechungen infolge von Corona
auszuzahlen. Betrifft das auch die Allianz?
Bäte: Soweit ich weiß, nicht. Aber wir wür-
den uns mit allen Mitteln dagegen weh-
ren. Es ist nicht in Ordnung, wenn Versi-
cherungskunden im Kollektiv für Schäden
von Firmen aufkommen sollen, die keinen
Versicherungsschutz bezahlt haben. Wenn
ein solches Vorgehen nicht verhindert wird,
werden einige Versicherer pleitegehen,

DOMINIK BUTZMANN / LAIF


und dann wird es in Zukunft erst recht
keine Kapazitäten für die Deckung solcher
Risiken geben, weil kein privates Kapital
mehr da reinfließt.
SPIEGEL: Wie müsste denn eine kollektive
Lösung für den Schutz gegen Pandemien
Manager Bäte: »Dieses Jahr wird nicht zum Lachen« wie Corona aussehen?
Bäte: Wir sollten in Europa eine gemein-
same Lösung finden, weil wir eine Gefah-
SPIEGEL: Herr Bäte, die Welt lebt in einer SPIEGEL: Warum braucht es solche Kol- rengemeinschaft sind. Ich wäre dafür, auf
Phase maximaler Unsicherheit und extre- lektivlösungen? europäischer Ebene einen Fonds einzu-
mer Risiken. Ist das jetzt die große Stunde Bäte: Wir haben es mit einer gewaltigen richten, in den die Versicherungsbranche
der Versicherungen? Pandemie zu tun und, bedingt dadurch, einzahlt und den man in Krisensituatio-
Bäte: Wir müssen beweisen, dass wir für mit einem Systemausfall. Das ist vergleich- nen anzapfen kann – und zwar nicht nur
unsere Kunden da sind, wenn sie uns brau- bar mit Katastrophen wie Erdbeben oder für Pandemien, sondern auch für schwe-
chen. Wenn beispielsweise jemand anruft der Explosion eines Atomkraftwerks. Für re Naturkatastrophen. Der Klimawandel
und sagt, er könne im Moment die Prämie solche Situationen gibt es in vielen Län- wird so gravierende Folgen haben, dass es
nicht bezahlen, dann finden wir einen Weg, dern eine Kooperation zwischen öffentli- gut wäre, sich dafür ein Polster zuzulegen.
um Aufschub zu gewähren. cher Hand und Privatwirtschaft, weil die SPIEGEL: Sollten in diesen Fonds auch öf-
SPIEGEL: Verzichten Sie dabei auch auf Versicherungsbranche solche Systemaus- fentliche Mittel fließen?
Verzugszinsen? fälle nicht beherrschen kann. Bäte: In einem Extremszenario wie einer
Bäte: Da würden wir uns gern mit der In- SPIEGEL: Warum nicht? Pandemie wird das private Kapital nie aus-
dustrie abstimmen. In Italien hat das her- Bäte: Wir haben nicht genug Eigenkapital, reichen, da brauchen wir immer eine Part-
vorragend geklappt, da haben wir uns mit um die Verluste, die entstehen, tragen zu nerschaft zwischen öffentlicher Hand und
den Wettbewerbern koordiniert, wie wir können. Wenn statt 7 bis 8 Prozent der Au- Privatwirtschaft.
bei der Autoversicherung vorgehen. Da tos 90 Prozent im Jahr einen Unfall hätten, SPIEGEL: Die Schäden durch Cyberatta-
verzichten wir auf Verzugszinsen. dann wären die Versicherungsprämien in der cken, Naturkatastrophen und Epidemien
SPIEGEL: Vielen Unternehmern erschließt Autoversicherung unbezahlbar. Wir versi- haben sich in den vergangenen Jahren ge-
sich nicht, warum Versicherungen gegen chern Zufälle in einem begrenzten Rahmen. häuft. Zugleich erzielen die Allianz und
Betriebsunterbrechungen in der Regel SPIEGEL: Dann gibt es keinen Schutz gegen andere Versicherer Rekordgewinne. Ent-
nicht zahlen, obwohl jetzt der Betrieb ruht. ein solches Zufallsereignis? zieht sich die Versicherungsbranche der
Wie erklären Sie das? Bäte: Die faktische Schließung der Wirt- Verantwortung?
Bäte: Ich kann den Ärger zum Teil ver- schaft ist kein Zufallsereignis, das hat die Bäte: Nein. Naturkatastrophen versichern
stehen. Unsere Produkte sind oft noch zu Politik beschlossen. So etwas kann kein wir ja. Und weltweit und in Summe ver-
kompliziert, obwohl wir begonnen haben, Unternehmen versichern, weil man das dient die Versicherungsbranche noch nicht
sie zu vereinfachen. Wichtig sind aber Risiko nicht berechnen kann. Wir dürfen einmal ihre Kapitalkosten. Es gibt eben
auch hier Kollektivvereinbarungen. Wenn das Baby nicht mit dem Bad ausschütten. Versicherer, die gut wirtschaften, und sol-
man etwa feststellt, dass Restaurants und Wenn ein Unternehmen wie die Allianz che, die es nicht tun. Wir werden unserer
Hotels ein Riesenproblem haben, dann in Schieflage gerät, weil sie alle Schäden Verantwortung gerecht. Die Allianz hat
sollte man sich in der Branche einigen, bezahlt, die gar nicht versichert sind, dann seit vielen Jahren auf den Klimawandel
wie man das handhabt. ist niemandem geholfen. hingewiesen und umgesteuert. Wir sind

72 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


DANKE FÜR MEHR NACHBAR-
SCHAFTSHILFE.

JETZT ZÄHLT DAS WIR.

Aktuelle Informationen unter www.bundesregierung.de/coronavirus


Coronakrise

Patriotischer
aus der Kohlefinanzierung ausgestiegen SPIEGEL: Wie gut wird sich die deutsche
und haben dafür viel Ärger in Kauf ge- Wirtschaft von der Coronakrise erholen?
nommen. Das ist aber etwas ganz anderes Bäte: Die Krise ist viel fundamentaler als

Auftrag
als der Umgang mit einer Pandemie. die Finanzkrise von 2008/09. Wir werden
SPIEGEL: Die Bundesregierung hat Hilfen es hier in Deutschland gut in den Griff be-
in nie da gewesener Höhe bereitgestellt. kommen. Aber ich weiß nicht, ob das auch
War das angemessen? für andere Länder gilt. Wir müssen uns da-
Bäte: Das Programm ist umfassend und rauf vorbereiten, dass von dort eine zweite Finanzen Vom Hilfsprogramm
sehr schnell entstanden. Es ist gut, dass und dritte Welle an Infektionen zu uns des Bundes kommt bei geschädig-
wir viele Jahre lang vorsichtig waren, jetzt kommt. Das ist der medizinische Teil. ten Firmen noch wenig an.
haben wir den fiskalischen Spielraum, die SPIEGEL: Und der wirtschaftliche?
Reserven zu nutzen. In vielen Ländern ist Bäte: Es ist normal, dass sich am Anfang Die Hausbanken sind überlastet,
das anders. Ich bin froh, dass wir Angela einer Krise jeder erst einmal um sich selbst manche risikoscheu.
Merkel haben, die mit ruhiger Hand, ohne kümmert. Man kann nicht anderen helfen,
Panikmache und Polarisierung den Men- wenn man selbst angeschlagen ist und
schen vermittelt, was jetzt notwendig ist.
SPIEGEL: An den Hilfen haben sich auch
Konzerne schadlos gehalten, die es eher
nicht nötig haben. Ist das ein Problem?
Panik hat. Das ist wie im Flugzeug, wenn
die Masken runterfallen, da setzt man sich
erst mal selbst eine auf, ehe man anderen
hilft. Aber jetzt müssen wir überlegen, was
I n einer Corona-freien Welt würden
Christian Paulicks Leute jetzt über die
Ozeane schippern. Der Hamburger ist
Gründer und Teilhaber der Firma Cruise-
Bäte: Es ist wichtig, dass man sich als gro- auf europäischer Ebene zu tun ist und wie Vision; 100 Mitarbeiter, davon 90 freie, pro-
ßes Unternehmen mit einer bedeutenden man Ländern wie Italien helfen kann, die duzieren auf Kreuzfahrtschiffen Fotos und
Marke seiner Verantwortung bewusst ist, besonders stark betroffen sind. Wir haben Filme, die die Urlauber an Bord kaufen kön-
nicht nur für die Aktionäre, sondern auch hohe finanzielle Reserven auf europäi- nen. Das Geschäft lief gut seit der Grün-
für die Kunden, Mitarbeiter und die Ge- scher Ebene. Der Rettungsfonds ESM hat dung 2009: CruiseVision setzte in 2019
410 Milliarden Euro Feuerkraft, die Euro- rund acht Millionen Euro um, erwirtschaf-
päische Investitionsbank kann etwa 200 tete bis 2017 jedes Jahr Gewinn. Das Eigen-
»Auch Manager Milliarden Euro mobilisieren, im alten EU-
Haushalt liegen noch fast 40 Milliarden
kapital betrug 2018 1,7 Millionen Euro.
In den vergangenen zwei Jahren machte
verfallen in Panik.« Euro. Und den neuen EU-Haushalt will CruiseVision Verlust, addiert etwa 500 000
Kommissionschefin Ursula von der Leyen Euro, auch weil sich der Markt verändert.
auf den Wiederaufbau konzentrieren. »Wer eine Kreuzfahrt als Pauschalreise
sellschaft. Ich glaube, dass diese Fehler SPIEGEL: Brauchen wir Corona-Bonds? bucht, gibt an Bord nicht mehr so viel Geld
nicht passieren, weil die Menschen böse Bäte: Nein. Wenn dahinter eine Vergemein- aus; viele filmen mit dem eigenen Handy«,
sind, sondern weil auch Manager in so ei- schaftung der Schulden steckt, ohne dass sagt Paulick. CruiseVision stellte sein Kon-
ner Extremsituation gelegentlich in Panik die jemals zurückgezahlt werden, dann ist zept um, senkte die Kosten. Der Jahres-
verfallen. Man muss ausgewogen handeln. das keine gute Idee. Aber wir brauchen start war vielversprechend, die Firma auf
Aber das ist leicht gesagt. Auch ich habe sie auch nicht. Die Eurokrise hat gezeigt, Kurs zum Jahresgewinn – bis das Virus
einige Nächte nicht geschlafen. Man kann dass gut strukturierte Hilfsprogramme wie den Tourismus lahmlegte.
Fehler machen, aber die muss man dann in Portugal, Irland und anderswo hervor- Ein typischer Fall dieser Tage. Deutsch-
schnell korrigieren. ragend funktionieren. lands Wirtschaft macht wegen der Coro-
SPIEGEL: Kann es sein, dass börsennotier- SPIEGEL: Die EZB hat den Geldhahn noch nakrise eine Vollbremsung. Der Staat ver-
te Unternehmen über Jahre so darin ge- weiter aufgedreht, um die Folgen der Co- sucht, große und kleine Firmen zu retten.
schult worden sind, sich an den Aktionärs- rona-Pandemie einzudämmen. Was heißt Über rückzahlungsfreie Zuschüsse, direkte
interessen zu orientieren, dass sie jetzt das für die Zinsen? Staatsbeteiligungen – vor allem aber über
genau nach dieser Maxime handeln, auch Bäte: Die Zinsen werden dauerhaft niedrig die KfW. Die Förderbank des Bundes bie-
wenn es zulasten des Gemeinwesens geht? bleiben. Darauf haben wir uns schon lange tet günstige Kredite: 1,0 bis 2,12 Prozent
Bäte: Für die Allianz geht das gar nicht. vor Corona eingestellt. Und die Anreize Zins, maximal fünf Jahre Laufzeit. Bean-
Alles, was man kurzfristig optimiert, rächt für Regierungen, die Zinsen künstlich nied- tragen müssen solche Kredite die Haus-
sich sofort. Jeder vierte Deutsche ist unser rig zu halten, also Sparer zu enteignen, banken der hilfsbedürftigen Unternehmen.
Kunde. Wenn man die missachtet, sind sie steigen nun eher noch. Sie prüfen die wirtschaftlichen Aussichten
sofort weg. In Deutschland steht die so- SPIEGEL: Das heißt: Die Garantiezinsen und schicken bei positivem Befund den
ziale Marktwirtschaft nicht nur auf dem für die Lebensversicherungen werden wei- Antrag an die KfW, die selbst erst ab zehn
Papier. Und innerhalb Deutschlands sehe ter sinken, richtig? Millionen Euro Kreditbedarf vertieft prüft.
ich nicht, dass sich Unternehmen nur an Bäte: Ja, das ist so. Doch so weit ist CruiseVision gar nicht
Aktionärsinteressen ausrichten. SPIEGEL: Corona hat die Börsen abrut- gekommen. Die Sparkasse Lüneburg ließ
SPIEGEL: Aber ist es in Ordnung, wenn Un- schen lassen. Wie sehr trifft Sie das als frühzeitig durchblicken, dass sie keine
ternehmen nun Hilfskredite beantragen großen Kapitalanleger? Chance auf Fortführung des Geschäfts
und gleichzeitig Dividenden ausschütten, Bäte: Gehen Sie mal davon aus, dass wir sieht. Dass sie einen KfW-Kredit beantragt,
Aktien zurückkaufen und Boni zahlen? in diesem Jahr keinen Rekordgewinn er- ist unwahrscheinlich. Schlimmer noch: Am
Bäte: Nein, das ist nicht in Ordnung. Wenn zielen werden. Dieses Jahr wird nicht zum 25. März kündigte sie CruiseVision fristlos
man in so einer Krise massiv in das Leben Lachen. Aus den Aktiengeschäften haben den lebenswichtigen Kontokorrentkredit,
der Mitarbeiter eingreifen muss, ist es wir zwar nicht mehr die schönen Wert- eine Art Dauerdarlehen, um kurzfristige
selbstverständlich, dass man nicht Riesen- polster, die wir mal hatten, aber auch kei- Liquiditätsengpässe zu überbrücken.
boni für die Führung zahlen kann. Wenn ne Verluste. Über unser Geschäftsmodell Vor Corona habe die Sparkasse, die sich
man zur Regierung gehen muss, um Hilfe mache ich mir keine Sorgen. nicht äußern möchte, nie signalisiert, am
zu holen, kann man keine Dividenden Interview: Martin Hesse Geschäftsmodell der Firma zu zweifeln,
zahlen. Das ist selbstverständlich. sagt Paulick. Zumal CruiseVision ein sol-

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venter Kunde war: Kredite wurden stets muss in Windeseile allerhand Unterlagen
früh getilgt, die Kontokorrentlinie von bereitstellen. »Die Bilanz, Gewinn- und
500 000 Euro nie ausgeschöpft. Die Firma Verlustrechnung, Liquiditätsplanung im
hat sogar ein Cash-Guthaben von knapp Worst-Case- und Best-Case-Szenario, Kos-

FRANK RUMPENHORST / PICTURE ALLIANCE / DPA


400 000 Euro. Die Aussichten waren gut, tenpläne, damit die Kreditsumme mög-
und sie wären es auch wieder, wenn das lichst niedrig ausfällt«, berichtet Doris Bie-
Tourismusgeschäft zurückkommt. Bis da- dermann, Co-Geschäftsführerin der Karl
hin aber braucht das Unternehmen Geld Conzelmann GmbH. Das Unternehmen
von der KfW, als Überbrückung. Das aber mit seinen 120 Mitarbeitern vertreibt unter
bekommt es nicht. Ein Teufelskreis. dem Label »Nina von C.« Damenunter-
»Unsere Reserven reichen für drei Mo- wäsche aus Albstadt auf der Schwäbischen
nate«, sagt Paulick. »Dann wird es düster.« Alb, gegründet 1920, bis heute im Fami-
Das Dilemma des Unternehmens illus- lienbesitz – mehr Mittelstand geht nicht.
triert im Kleinen das große Drama der Aber jetzt sind 90 Prozent Umsatz weg,
deutschen Wirtschaft und die entscheiden- KfW-Zentrale in Frankfurt am Main Kurzarbeit ist angesagt. Die örtliche Spar-
de Rolle, die den Banken in dieser Jahr- Permanent nachbessern kasse zeigt sich kooperativ, obwohl auch
hundertkrise zukommt. Mit ihrer Gier hat- hier nicht klar ist, wie viel vom Geschäft
ten die Banken den Crash von 2008 aus- zurückkommt. »Die Konkurrenz aus Fern-
gelöst – jetzt sollen ausgerechnet sie, men, dass die Kreditprüfung der Geschäfts- ost und im Internet ist groß«, sagt Bieder-
zusammen mit der KfW, die Realwirt- bank zu lax war. Letztlich aber sei die mann. Der KfW-Antrag ist Mittwoch raus-
schaft vor dem Zusammenbruch retten. Eigenbeteiligung »kein Hindernis, die Un- gegangen. Ob und, wenn ja, wann Geld
Der plötzliche patriotische Auftrag ternehmen in dieser außergewöhnlichen fließt, weiß sie nicht. Das erste Jahr wäre
schmeichelt den Instituten, und er ver- Situation zu unterstützen«, glaubt Beumer. tilgungsfrei, blieben vier Jahre, um den
spricht Rehabilitation. »Wir sind wie die Das klingt heroisch. Andererseits arg- Rest des Kredits abzuzahlen. Liefe das Ge-
Feuerwehrleute vom 11. September«, sagt wöhnen manche Unternehmer, Banken schäft nach der Krise wie zuvor, wäre das
Mario Peric, Commerzbank-Bereichsvor- und Sparkassen könnten die Krise nutzen, machbar, zumal Berlin überlegt, die Til-
stand für Privat- und Unternehmerkunden um Kunden bewusst auszusteuern, vulgo: gung auf zehn Jahre zu strecken, die Ban-
West. Seine Berater arbeiten am Anschlag. loszuwerden. Siehe CruiseVision, siehe die ken von der Resthaftung zu befreien oder
»Die Mitarbeiter fahren Zusatzschichten, Klagen von anderen Gewerbetreibenden, KfW-Kredite wie Bafög zu behandeln –
haben bis zu 40 Firmenkunden am Telefon die anonym bleiben, weil sie es sich mit abstottern, wie es passt.
pro Tag, sechsmal so viele wie sonst. Wir den Banken nicht verscherzen wollen. Vieles wurde eilig beschlossen, die KfW-
übernehmen eine brutale Verantwortung.« Die Sache ist komplex. Wer bei seiner Konditionen sind erst seit knapp zwei Wo-
Knapp tausend Filialen unterhält die Hausbank einen KfW-Kredit beantragt, chen bekannt, permanent wird nachgebes-
Commerzbank. 150 sind geschlossen, sert. Finanzminister Olaf Scholz (SPD)
200 normal geöffnet. In mehr als 600 fin- sagt, die Banken sollten bei der Kredit-
det kein Kundenverkehr mehr statt, aber vergabe »alle fünfe gerade sein lassen«, Fe-
Mitarbeiter sind da und arbeiten die Kredit-
Rettung für Groß und Klein lix Hufeld, Chef der Finanzaufsicht BaFin,
anträge ab. 17 000 sind binnen zwei Wo- Gesamtvolumen der KfW-Coronahilfe dagegen mahnt zur Vorsicht. Derweil über-
für Unternehmen (Stand: 2. April):
chen eingegangen und werden jetzt geprüft. wältigt die Antragsflut Banken und KfW.
Viele Mitarbeiter sitzen im Homeoffice. über 9,8 Mrd. Euro Der Mittelstand klagt, dass nur Firmen bis
»Zum Glück sind alle Kreditakten digita- Zahl der Antragsvolumen maximal 50 Mitarbeiter rückzahlungsfreie
lisiert, ein echter Segen«, sagt Peric. »Viele Kreditanträge in Millionen Euro Zuschüsse erhalten und Großkonzerne eh
Millionen« habe die Commerzbank vor- gerettet würden, das Gros der Unterneh-
gestreckt, bis die KfW-Gelder ab kommen- men aber durchs Rost falle.
der Woche fließen, vom kleinen Friseur 2391 749 »Wir gehen jedem Hilferuf und jeder Be-
Kredite bis 3 Millionen €
bis zum Großunternehmen sei alles dabei. schwerde nach, aber das Programm läuft
»Und das ist erst der Anfang. Wir müssen ja erst an«, sagt KfW-Chef Günther Bräu-
den Mittelstand durchbringen.« 16 98 nig. Klar sei aber, dass die Unternehmen
Die Hausbanken sind das Rettungsseil über 3 bis 10 Millionen € rasch ihre Dokumente zusammentragen
zwischen Firmen in Not und dem Geld der müssten, »da ist viel Arbeit zu leisten«.
KfW. Mehr als 2400 Kreditanträge im Um-
fang von 9,8 Milliarden Euro sind bis Don-
16
Kredite über 10 bis 100 Mio. €
548
Wenn die Bonität zu schwach sei, könne
eben nicht jeder einen Kredit bekommen.
nerstag bei der KfW eingegangen, 2100 Und obwohl die Regierung so viel Geld
über 750 Millionen Euro wurden bereits lockermacht wie nie, wächst die Angst.
bewilligt. Für die Hausbanken ist das kein Vielen Unternehmen läuft die Zeit davon.
übles Geschäft: Sie kassieren den komplet-
ten Zins, tragen aber nur 10 oder 20 Pro-
9 Riesenkredite über 100 Mio. € »Die Hausbanken sind extrem bemüht, die
Kunden in das Programm zu bekommen.
zent des Risikos, falls der Kredit ausfällt. Aber da ist schon ein bisschen Panik da-
Dennoch sei der Haftungsumfang »auch bei«, sagt Bräunig. Immerhin: Seine KfW
angesichts der Masse an Krediten nicht ge- rüstet jetzt ihre IT auf, von der neuen Wo-
ring«, findet Markus Beumer, Unterneh-
menskundenchef der HypoVereinsbank. 8445
Mio. €
che an soll bei einem positiven Bescheid
sofort Geld an die Firmen fließen. Einem
Immerhin müssen die Banken das Risiko Kleingewerbler wie CruiseVision würde
von Kreditausfällen in Höhe ihrer Haftung das nicht helfen. Geschieht kein Wunder,
mit Eigenkapital absichern. Zudem drohen hat das Virus ein nächstes Opfer gefunden.
Regressforderungen, sollte ein Darlehen Tim Bartz, Martin Hesse
platzen und die KfW zu dem Schluss kom-

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PATRICIA KÜHFUSS / DER SPIEGEL
PATRICIA KÜHFUSS / DER SPIEGEL
JENS GYARMATY / DER SPIEGEL

Hebamme Hammerl, Allgemeinmediziner Schneider-Rathert, Schutzkleidung


»Der Nutzen für jeden Arzt, jede Pflegefachkraft und jeden Patienten ist jetzt unübersehbar«

Doktor auf Distanz


Gesundheit Die Angst vor dem Virus sorgt dafür, das reformresistente deutsche Gesundheitswesen
schneller zu digitalisieren, als Experten es für möglich hielten.

F
ür Christiane Hammerl bedeutet zur Seite legen und später weiterschreiben, zialisten digital zur Visite in kleineren Häu-
die Coronakrise vor allem eines: wenn das Baby nicht mehr schreit«, sagt sern hinzu, um Expertise zu teilen.
Fragen, Fragen, Fragen. Hammerl Hammerl. Manche Wöchnerin wolle im Erwin Böttinger leitet das Digital Health
ist Hebamme, und in diesen Tagen Moment keinen Besuch, auch nicht von Center am Hasso-Plattner-Institut in Pots-
haben besorgte Schwangere jede Menge der Hebamme, um Kontakte zu reduzie- dam. Der Internist hat lange in den USA
Fragen: Kann meinem ungeborenen Kind ren. »Diese Frauen kann man digital be- gearbeitet und blickt staunend auf die Ver-
etwas passieren, wenn ich mich mit dem treuen.« Auch Geburtsvorbereitungskurse änderungen in Deutschland: »Es tut sich
Coronavirus anstecke? Muss ich mich jetzt gibt es jetzt online. gerade in rasender Geschwindigkeit sehr
testen lassen? Mehr als anderthalb Jahrzehnte lang viel.« Ob in Ministerien, im Kanzleramt
Ihre Antworten gibt Hammerl von ihrer hat sich Deutschland an der Digitalisie- oder bei den Gesundheitsbehörden – über-
Wohnung in Berlin aus – per Video, Chat rung seines Gesundheitswesens zerrieben. all erlebe er digitale Aufbruchstimmung.
oder am Telefon. Neben ihrer eigenen Nun sorgt die Coronakrise dafür, dass im »Vor der Coronakrise hätte man Daten-
Praxis arbeitet sie für das Start-up Kinder- Rekordtempo nachgeholt wird, was bis schutzargumente angeführt, warum dies
heldin, einen digitalen Hebammendienst. dato unmöglich schien. Nicht nur Hebam- oder jenes nicht geht.« Heute seien die
»Die Zahl der Anfragen ist drastisch nach menpraxen von Hamburg bis Freiburg Bedenken leiser geworden, weil es zuerst
oben gegangen«, sagt sie. 70 Prozent mehr steigen auf Onlineangebote um. darum gehe, Menschenleben zu retten –
Nutzerinnen hatte Kinderheldin vergan- Die Kassenärztliche Bundesvereinigung was sich vor allem an der Debatte um eine
gene Woche im Vergleich zu den sieben (KBV) berichtet, dass derzeit so viele Me- App zeigt, mit der Kontakte von Corona-
Tagen davor. diziner Videosprechstunden anböten, dass Infizierten nachverfolgt werden können.
Rund 1000 Anfragen beantwortet das das Datenvolumen vielerorts kaum ausrei- Bislang müssen Amtsärzte in Deutsch-
Unternehmen derzeit durchschnittlich im che. Kliniken speisen ihre Infos über freie land handschriftliche Listen abtelefonie-
Monat – die meisten im Onlinechat. »Das Beatmungsplätze für Covid-19-Patienten ren, wenn sie potenzielle Kontakte von
ist am praktischsten für die Mütter, dann in ein bundesweites Register ein. Große Corona-Infizierten informieren wollen –
kann man das Telefon auch mal schnell Kliniken wie die Charité schalten ihre Spe- ein zeitraubendes Verfahren. »Uns trifft

76
Coronakrise

das Coronavirus digital völlig unvorberei- gen. »Ich bin sicher, dass wir in den nächs- tionen – auch solche in Technik – sind die
tet«, sagt Böttinger. ten Monaten eine weitere Zunahme er- Länder zuständig, die sich davor allerdings
Schon Ende 2018 hatte die Bertelsmann leben – unabhängig davon, wie es mit oftmals drücken.
Stiftung dem deutschen Gesundheitssys- der Krise weitergeht«, sagt Compugroup- Ein ähnlicher Verantwortungswirrwarr
tem in Sachen Digitalisierung ein vernich- Gründer Frank Gotthardt. bremste auch die elektronische Patienten-
tendes Urteil ausgestellt. Andere Länder Telemedizin war bis zur Covid-19-Krise akte aus. Die Politik überließ das Projekt
sind deutlich weiter. In Estland können auch in anderen Ländern nicht unbedingt der Selbstverwaltung von Kassen, Ärzten
Patienten Untersuchungsergebnisse online ein Massenmarkt. Selbst in den USA nutz- und Kliniken; erst Gesundheitsminister
einsehen und entscheiden, welcher Arzt ten 82 Prozent der Verbraucher keine di- Jens Spahn verdonnerte die gesetzlichen
darauf zugreifen darf. In Kanada werden gitale Sprechstunde. Wissenschaftliche Be- Kassen dazu, ab 2021 eine elektronische
Rezepte selbstverständlich digital ver- lege für die Qualität der Behandlungen Patientenakte anzubieten. Für die Coro-
schickt. In Israel erinnern Krankenkassen fehlen, manche Studien deckten gar Män- nakrise kommt das zu spät.
per Mail an die Krebsvorsorge. gel auf. »Einfach nur einen Arzt vor einen Wenn Covid-19-Patienten demnächst
Deutschland jedoch debattierte 15 Jahre Bildschirm statt ins Sprechzimmer zu set- von einer überfüllten Klinik verlegt wer-
lang über ein Stück Plastik mit Chip: Die zen bringt nicht furchtbar viel«, sagt To- den müssen, wie behalten sie im Durch-
elektronische Gesundheitskarte wurde bias Gantner, Arzt und Unternehmer in einander Zugriff auf all ihre Befunde, die
zum Symbol für die Reformfeindlichkeit Sachen Digitalmedizin. Es brauche medi- in unterschiedlichen Kliniken und Praxen
im Land. Bis vor Kurzem vertrauten viele zinisches Zubehör beim Patienten, etwa gesammelt wurden? Darum kümmert sich
Ärzte noch immer vor allem auf die Kom- Blutdruckmessgeräte. Ältere Menschen Jörg Debatin. Der Radiologe leitet im Auf-
munikation per Fax. besitzen oft nicht einmal ein Smartphone. trag des Gesundheitsministers den Health
Digitalisierung, sagt Thomas Koster, Ge- Deshalb halten Experten Telemedizin Innovation Hub (HIH) in Berlin – ein
sundheitsexperte bei der Bertelsmann Stif- dort für besonders sinnvoll, wo die Tech- Büro, das Industrie, Kliniken, Ärzte und
tung, sei vor allem eine Frage der Akzep- nik schon vorhanden ist: in Kliniken. So Start-ups zusammenbringen soll.
tanz. Und wenig befördere die Akzeptanz können Ärzte etwa unter Anleitung von Debatin will das drohende Chaos abfe-
so sehr wie die Coronakrise: »Der Nutzen Spezialisten aus anderen Krankenhäusern dern, in dem er eine »Corona-Dokumen-
für jeden Arzt, jede Pflegefachkraft und Säuglinge wiederbeleben. In Aachen holt tation für infizierte Menschen« entwickeln
jeden Patienten ist jetzt unübersehbar.« sich der Rettungsdienst schon seit Jahren lässt. Es wäre eine Art Testlauf: Jeder Pa-
Der Mediziner Wolfgang Schneider-Ra- Unterstützung von einem Telenotarzt. tient bekäme eine elektronische Akte, ver-
thert praktiziert in einer hausärztlichen Ge- Die Charité, das größte Klinikum Euro- schlüsselt abgelegt in einer Gesundheits-
meinschaftspraxis in Braunschweig. Neuer- pas, setzt dieser Tage große Hoffnung in cloud. Ärzte könnten darauf zugreifen, so-
dings immer öfter vor der Kamera. Er sehe das Projekt »Eric«, um Zustände wie in bald der Patient seine Daten freischaltet.
für die Videosprechstunde in der anrollen- Norditalien zu verhindern. Allerdings birgt die schnel-

66 %
den Coronakrise riesigen Bedarf, sagt er. Björn Weiß, Oberarzt in der le und improvisierte Digitali-
Seit Anfang März ist das Programm »Click- Intensivmedizin, führt digita- sierung Gefahren – Gesund-
doc« bei ihm im Praxiseinsatz – er kennt le Visiten in Krankenhäusern heitsdaten sind sensibel und
den Hersteller Compugroup, arbeitet schon durch, die zum Teil mehr als bei Cyberkriminellen begehrt.
seit zehn Jahren mit ihm zusammen. hundert Kilometer entfernt der Bundesbürger Patientendaten werden im
Aktuell nutzten etwa 30 Patienten am sind. Vier digitale Arbeits- meinen, Ärzte sollten Darknet teils zu höheren
Tag seine Videosprechstunden, sagt er. plätze für Ärzte und Pflege- Online-Sprechstunden Preisen angeboten als Kredit-
Er sieht darin viele Vorteile: Für ihn, sein fachkräfte gibt es dafür. Die anbieten, um die kartendaten. Mit Informa-
Personal und andere Patienten gebe es kei- Intensivstationen von elf an- Ansteckungsgefahr tionen über Erbkrankheiten,
nerlei Infektionsrisiko. Er spare Zeit und deren Kliniken werden zuge- in der Praxis zu Abtreibungen oder HIV-In-
Schutzkleidung. Und Kollegen, etwa aus schaltet, genauso wie andere reduzieren. fektionen werden Opfer er-
Kliniken, die unter Quarantäne stünden, Abteilungen der Charité. Bitkom-Umfrage, 11. bis 15. März presst. Sicherheitsexperten
könnten am Bildschirm weiterpraktizieren. In den Kliniken vor Ort ste- 2020, 1002 Befragte warnen deshalb davor, sen-
Dass Ärzte und Therapeuten jetzt die hen Visitenroboter, die Bild sible Daten zentral zu spei-
Vorzüge der digitalen Sprechstunde ent- und Ton vom Patientenbett chern, statt sie lokal zu hü-
decken, hat auch damit zu tun, dass diese übertragen. »Ich kann mit der Kamera ten. Ein großes Datenleck könnte schnell
neuerdings komplett honoriert wird. Bis- nahe an den Patienten heranfahren«, sagt neues Misstrauen gegenüber der Digitali-
lang durften Mediziner nur 20 Prozent Weiß. Manchmal könne eine gemeinsame sierung schüren.
ihrer Patienten per Video behandeln. Am Entscheidung den Zustand des Patienten Bertelsmann-Stiftungs-Forscher Tho-
Montag vor zwei Wochen verständigten erheblich verbessern. mas Kostera empfiehlt, die neuen digitalen
sich der Spitzenverband der gesetzlichen Die Charité ist ein Level-1-Kranken- Angebote nach der Krise systematisch
Krankenversicherung und die KBV darauf, haus. Das heißt: Hier können schwerst- auszuwerten. »Die Situation ist schreck-
diese Obergrenze aufzuheben. kranke Patienten mit akutem Lungenver- lich. Aber wir gewinnen einen Erfahrungs-
Die KBV bittet Patienten nun ausdrück- sagen beatmet werden. Die Einstellung der schatz, aus dem wir wertvolles Wissen
lich, die Videosprechstunde zu nutzen. Geräte erfordere jahrelange Erfahrung mit schöpfen können.«
Praxen sollen sie nur noch betreten, wenn dieser Art von Patienten, sagt Weiß. Hebamme Hammerl ist von der Tech-
es dringend erforderlich ist – und auf kei- Deutschland hat zwar im europäischen nologie überzeugt. In ihrem Fall ist das
nen Fall mit Schnupfen oder Husten. Vergleich viele Beatmungsbetten, doch die leicht: Ihre Patientinnen sind jung und
Laut Softwareanbieter Compugroup ist Behandlung ist nicht überall gleich gut, Smartphone-affin. Bleibt die Geburt selbst.
die Nachfrage der Praxen nach »Clickdoc« weil es an Personal mit Know-how fehlt. Die betreut Hammerl bei ihren Schwan-
zuletzt explodiert. Die Firma bietet das Dieses Gefälle können Ärzte aus der Ferne geren immer noch im Krankenhaus. Kom-
Programm für eine begrenzte Zeit kosten- mithilfe von »Eric« ausgleichen. plett analog.
los an. In den vergangenen vier Wochen Der digitale Rückstand in vielen Klini- Martin U. Müller, Marcel Rosenbach,
sei die Zahl der teilnehmenden deutschen ken ist auch der komplizierten Kranken- Cornelia Schmergal, Hilmar Schmundt
Praxen von 700 auf mehr als 17 500 gestie- hausfinanzierung geschuldet. Für Investi-

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 77


Ausland

GETTY IMAGES
Nach neun Wochen Ausgangssperre posieren Mitarbeiter eines Gucci-Geschäfts im International Plaza Shopping
Center in Wuhan für ein Foto – kurz vor der Wiedereröffnung. In der Elf-Millionen-Stadt im Zentrum Chinas
hatte das Sars-CoV-2-Virus zuerst gewütet, um sich dann seit Ende vergangenen Jahres über die Provinz Hubei in
die ganze Welt zu verbreiten. In Wuhan öffnen nach dem Abklingen der Neuansteckungen wieder viele Läden.

Drogenbekämpfung Richtung Venezuela zu schicken. Die Ameri-


Kopfgeld für den kaner gehen offenbar nach dem Prinzip »trial and error« vor:
Mal locken sie mit Zuckerbrot, dann drohen sie mit der Peitsche –
irgendetwas wird schon funktionieren. Trump möchte mit dem
Wahlkampf ersehnten Sturz Maduros im Wahlkampf punkten, er braucht
die Stimmen der Exilvenezolaner und -kubaner in Florida. Das
könnte das eigentliche Motiv für das hektische Vorgehen der US-
Analyse Der Umgang der USA mit dem autoritären Regierung sein. Doch Trump ist aus guten Gründen nicht bereit,
Regime in Venezuela wird zunehmend chaotisch. die einzige Karte auszuspielen, die Maduro wirklich fürchtet:
eine militärische Intervention wie einst in Panama, als die Ameri-
 Es wird immer schwieriger, hinter der erratischen US-Politik kaner den Narco-Diktator Manuel Noriega gefangen nahmen und
gegenüber Venezuela eine Strategie zu erkennen. Erst klagt die in den USA vor Gericht stellten.
US-Regierung den autokratisch herrschenden Machthaber Nicolás Es ist zwar nicht auszuschließen, dass sich tatsächlich ein paar
Maduro und andere hohe Repräsentanten des Regimes wegen hohe Offiziere finden, die den Autokraten für das ausgesetzte
»Drogen-Terrorismus« an. Wenige Tage später legt sie einen Über- Kopfgeld von 15 Millionen Dollar ans Messer liefern. Aber bislang
gangsplan vor, der eine Interimsregierung ohne Maduro und sei- hat Maduro sich als resistent gegen Versuche erwiesen, ihn aus
nen Widersacher Juan Guaidó vorsieht. Der Plan war offenbar dem Amt zu befördern. Mit jeder gescheiterten Initiative schwin-
nicht mit Guaidó abgestimmt. Er wird im Machtkampf zwischen den Washingtons Glaubwürdigkeit und Ansehen in der Region.
Washington und Caracas immer mehr zum Spielball. Am Mitt- Und Europa muss sich fragen, ob es eine kluge Idee war, jede Volte
woch drohte US-Präsident Donald Trump an, Kriegsschiffe zur der Amerikaner widerspruchslos nachzuvollziehen. Jens Glüsing

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Corona-Bekämpfung Allein Weltbank und IWF hät- Jermak. Geheime Videoauf-
Minister fordert ten rund 200 Milliarden Dol- nahmen schüren den Verdacht,
lar angeboten. »Die Maß- dass sein Bruder Denys – der
Weltkrisenstab nahmen müssen international selbst kein Regierungsamt
koordiniert und wirksam hat – hohe Positionen in Staats-

EPA-EFE / SHUTTERSTOCK
 Bundesentwicklungsminis- umgesetzt werden. Vermutlich unternehmen und Behörden
ter Gerd Müller (CSU) befür- werden die bisherigen Ansät- zum Kauf anbot, was er
wortet zur globalen Bekämp- ze nicht ausreichen«, sagte er. abstreitet. Selenskyj, der Kor-
fung der Corona-Pandemie »Brechen Entwicklungsländer ruption zum Wahlkampf-
einen »Weltkrisenstab«. Diese zusammen, gibt es nur Chaos, thema gemacht hatte, schwieg
neue Einrichtung könnte Unruhen und Bürgerkrieg«, Selenskyj ebenso wie Jermak zu den
Uno-Generalsekretär António so der Bundesentwicklungs- Vorwürfen. Nun wird gegen
Guterres leiten. Jetzt schlage minister. Dann würden auch Ukraine den Abgeordneten aus der
»die Stunde der Vereinten die Fluchtbewegungen nach Präsidentenpartei ermittelt,
Nationen«, sagte Müller dem Europa zunehmen.
Verdacht der der die Videos veröffentlichte.
SPIEGEL. In seinem Ministerium will Korruption Jermak hat sich als Unter-
Guterres müsse interna- Müller eine eigene Arbeits- händler im Donbass-Konflikt
tionale Hilfsorganisationen in einheit einrichten, die die  In Kiew fällt die Corona- viele Feinde in Kiew gemacht.
enger Abstimmung mit Ins- Pandemie bekämpfen soll. krise mit einer der Führung Er verabredete mit Moskau
titutionen wie Weltbank und Sie könnte sich vor allem der zusammen. Zweimal wurde die Bildung eines Beratungs-
Internationalem Währungs- sogenannten Zoonose wid- das Gesundheitsministerium gremiums, das Vertreter
fonds (IWF) koordinieren. men, der Virenübertragung im März neu besetzt – genau- Kiews und prorussische Kräfte
Die Pandemie sei ein »globa- zwischen Tier und Mensch. so das Finanzministerium. in der Ostukraine zusam-
ler Weckruf zur Zusammen- Ein Ansatz, den man verfol- Nun schwächt ein Skandal die menbringen soll. Selenskyj
arbeit«. Der CSU-Politiker gen wolle, sei es, in Zukunft Position von Präsident Wo- braucht jetzt jede Stimme
bezweifelt, dass die bereitge- Nutztiere in Entwicklungs- lodymyr Selenskyj. Im Mittel- seiner Fraktion, um Reform-
stellten Mittel ausreichen, um ländern umfassend zu impfen punkt steht sein Stabschef gesetze durchzubringen
die Liquidität der Entwick- und sie langfristig auf Erreger und enger Vertrauter aus der und so die Hilfe des IWF nicht
lungsländer zu gewährleisten. zu überprüfen. HEY, KNO Zeit als TV-Komiker Andrij zu verlieren. ESC

Iran erstmals die europäische


Tauschplattform Instex ge-
»Sogar Moscheen wurden geschlossen« nutzt werden. Sie soll den
Warenverkehr zwischen
Azadeh Zamirirad, 38, ist Iran- 3000 Tote, fast 50 000 Infi- und Ausrüstung nach Iran zu Europa und Iran ermöglichen.
expertin der Stiftung Wissen- zierte. Wir wissen aber nicht, exportieren, wo sie gerade Was kann sie leisten?
schaft und Politik in Berlin. Iran wie hoch die Infektionsrate tat- jetzt dringend gebraucht wer- Zamirirad: Instex ist ein Trop-
leidet besonders stark unter sächlich ist. Die iranische Füh- den. Offiziell sind solche fen auf den heißen Stein.
der Epidemie: Von dort wurde rung hat Zahlen lange zurück- Güter von Sanktionen ausge- Trotzdem war diese erste
das Coronavirus in etwa zehn gehalten. Missmanagement nommen. Unternehmen haben Transaktion wichtig: Durch
weitere Staaten verbreitet. Wie ist ein gewaltiges Problem im aber wegen der US-Sanktio- Instex sind jetzt medizinische
kann Europa trotz der Sanktio- Land. Es sieht im Moment nen Schwierigkeiten, die Güter Güter im Wert von gut
nen medizinische Güter liefern? allerdings so aus, als würde die überhaupt nach Iran zu trans- 500 000 Euro nach Iran
Kurve landesweit abflachen. portieren und Banken zu fin- gelangt. Größere humanitäre
SPIEGEL: Frau Zamirirad, SPIEGEL: Inwiefern verschär- den, die den Zahlungsverkehr Hilfslieferungen werden hof-
Deutschland hat am Mittwoch fen die Sanktionen die Lage? abwickeln. fentlich folgen.
alle Direktflüge nach und aus Zamirirad: Sie machen es sehr SPIEGEL: Nach über einem SPIEGEL: Sollten die Sanktionen
Iran ausgesetzt – wegen der schwer, medizinische Güter Jahr Vorbereitung konnte nun jetzt aufgehoben werden?
Pandemie. Wie ist die Lage? Zamirirad: Es geht nicht
Zamirirad: Das ist eine abso- um eine generelle Aufhebung
lute Ausnahmesituation, wie aller Auflagen. Es sollte jetzt
anderswo auch. Es wurden darum gehen, bestimmte
nicht nur Schulen und Univer- US-Wirtschaftssanktionen
sitäten geschlossen, sondern auszusetzen, die den humani-
erstmals in der Geschichte der tären Warenverkehr beschrän-
MORTEZA NIKOUBAZL / ACTION PRESS

Islamischen Republik auch ken. International gibt es


Moscheen und Pilgerstätten. bereits Zuspruch für diese For-
Iran hat erst sehr spät reagiert derung, unter anderem von
und ist dadurch zu einem Epi- Großbritannien und vonsei-
zentrum der Krise geworden. ten der Vereinten Nationen.
SPIEGEL: Wie viele Menschen Deutschland sollte sich
sind bislang gestorben? anschließen und öffentlich
Zamirirad: Nach offiziellen Position beziehen.
Berichten gibt es mehr als Videoprojektion auf dem Freiheitsturm in Teheran Interview: Raniah Salloum

79
Coronakrise

Ghost Town
USA New York ist zum globalen Brennpunkt der Pandemie geworden.
Die Straßen sind leer, die Intensivstationen füllen sich. Wie lange
hält die Stadt das aus? Acht Tage im Katastrophengebiet. Von Marc Pitzke

80
Der Geisterzug, das ist der »A Train«, virus-Welle an einem New-York-City-
Friedhof vor Skyline von Manhattan die längste U-Bahn-Linie von New York. Krankenhaus«. Gemeint ist das Elmhurst
Normalerweise pendeln damit Tausende Hospital, das Krankenhaus, in dem Fran-
von Queens durch Brooklyn nach Inwood, cisco Moya zur Welt kam.
in den nördlichsten Zipfel Manhattans, Eine Notärztin hatte der Zeitung Videos
und normalerweise stehen die Pendler ein- und Fotos aus dem Krankenhaus zuge-
gezwängt Schulter an Schulter. Aber im spielt. »Ich will, dass die Leute wissen, wie
Moment ist hier nichts normal. schlimm es ist«, sagte die Ärztin. »Dass
Seit voriger Woche ist New York City die Menschen sterben, dass uns die Aus-
das Zentrum der Corona-Pandemie. Mehr rüstung fehlt.« Zum ersten Mal sehen die
als 48 000 Menschen haben sich mit dem New Yorker das nun selbst.
Virus infiziert, über 1300 sind gestorben, Für Francisco Moya bestätigt der Be-
mehr als in Deutschland. Der Gouverneur richt, was er auf den Straßen von Queens
von New York hat inzwischen die meisten seit Tagen hört und sieht. Erst gestern hat
Geschäfte und Firmen schließen lassen er dem Krankenhaus 750 Atemschutzmas-
und eine Ausgangssperre verhängt, genug, ken übergeben, am Tag davor 1000. Der
um komplette Viertel der Achteinhalb-Mil- Queensboro FC hat sie gespendet, ein ört-
lionen-Metropole stillzulegen. licher Fußballklub.
Der »A Train« und die anderen U-Bah- Moya zieht sein Smartphone heraus
nen dienen nun vor allem als Zuflucht für und filmt die Schlange der Kranken, die
die Patienten, die keiner will. In jedem sich testen lassen wollen. Sie wird von Tag
Wagen, auf jedem Bahnsteig dämmern zu Tag länger. Am Hintereingang, wo er
Obdachlose, beäugt von den wenigen die gespendeten Masken abgibt, hat ein
Pendlern, die die Subway noch nutzen. Lkw angedockt, der sonst Tiefkühlfleisch
Ich trage ebenfalls eine Maske. Sie transportiert. Er wurde umfunktioniert in
kratzt und stinkt. Ich habe sie im Schrank ein provisorisches Kühlhaus für Leichen.
gefunden, in den Geschäften sind Masken Moyas Eltern stammen aus Ecuador.
ausverkauft. Seit 27 Jahren wohne ich Bis heute wohnt er in dem Haus, in dem
in der Stadt, ich habe die Anschläge des er aufgewachsen ist, zehn Minuten vom
11. September erlebt, den Blackout von Hospital entfernt. Seine Mutter ist 76, sein
2003, die große Finanzkrise, die Wirbel- Vater 77, Moya hat sie unter Quarantäne
stürme »Irene« und »Sandy«. Es waren gestellt, um zu verhindern, dass sie sich
Katastrophen, die die New Yorker zusam- anstecken. Er warnt seit Tagen davor, dass
menbrachten. Sie umarmten sich, sie fei- es schlimmer werde. Er hat einen offenen
erten das Leben, das weitergehen musste. Brief an Donald Trump geschrieben, aber
Diese Krise ist anders. Das Virus raubt viele Leute wollten ihm lange nicht glau-
der Stadt das Gesicht. Es zwingt die Men- ben, was er aus Queens berichtete.
schen zur Abschottung. New York ist eine Der Bezirk Elmhurst in Queens, zehn
Stadt der Bunker geworden. Kilometer Luftlinie östlich von Manhattan,
Francisco Moya steht auf einem Park- ist einer der vielfältigsten der USA. Mehr
platz vor dem Elmhurst Hospital, er trägt als 130 Sprachen werden hier gesprochen,
über der Maske eine Hornbrille und auf zwei Drittel der Bewohner sind Immigran-
dem Kopf eine Schiebermütze. »Willkom- ten. Das Nachbarviertel heißt Corona,
LOKMAN VURAL ELIBOL / GETTY IMAGES

men am Ground Zero«, sagt er. nicht nach dem Virus, sondern, so die Le-
Moya ist ein Stadtrat für Queens, er gende, nach einer früheren Baufirma, die
wurde im Elmhurst Hospital geboren, eine Krone im Logo hatte.
einem abweisenden Klotz, dessen Fenster »80 Prozent der Leute, die sich bei uns
stellenweise mit Postern von lachenden mit dem Virus anstecken, sind Latinos«,
Kindern zugeklebt sind. Moya erlebt zur- sagt Moya. »Viele haben keine Papiere.
zeit, wie seine Nachbarn in diesem Kran- Sie arbeiten im Gastgewerbe. Sie sind
kenhaus sterben. »Was bei uns gerade Fahrradboten. Sie leben in vollgepackten
passiert«, sagt er, »das ist die Zukunft des Wohnungen und Kellern.«

E
ganzen Landes.« Die meisten Patienten, die im Elmhurst
in Geisterzug fährt kreischend Moya sagt das in einer Woche, in der Hospital landen, haben keine Versiche-
in den Tunnel von Brooklyn das Virus von New York City Besitz er- rung. Die ersten Fälle mit Corona-Symp-
nach Manhattan. Drinnen auf greift. Der »A Train« wird leerer, die In- tomen kamen Anfang März ins Kranken-
den Bänken liegen vier Obdach- tensivstationen füllen sich. So fängt es an. haus, seitdem herrscht drinnen Krieg.
lose, eingerollt in Mäntel und Donna Gordon ruft an, die ältere
Decken. Ab und zu hustet einer, ohne die Mittwoch, 25. März: Schwester meines Partners. Auch sie fühlt
Augen zu öffnen. Es ist mittags, kurz vor 20 011 Infizierte, 280 Tote sich seit vergangener Woche nicht wohl.
eins. Abgesehen von den Männern sitzen Und trotzdem ist die Coronakrise immer
zwei Fahrgäste im Wagen, eine Frau und noch nicht im Bewusstsein aller New Yor- Donnerstag, 26. März:
ein Mann. Beide tragen Latexhandschuhe. ker angekommen. Manche Straßen sind 23 112 Infizierte, 365 Tote
Die Frau hat eine Atemschutzmaske über belebt, viele Parks noch gut besucht. Donna hat zwei Klappstühle ins Treppen-
ihr Gesicht gespannt. Dann knallt eine Schlagzeile auf die haus gestellt, auf die wir uns setzen sollen.
In der Fulton Street öffnen sich die Website der »New York Times«: »13 Tote Sie sinkt auf ein Plastikhöckerchen im Tür-
Türen, aber keiner steigt ein. an einem Tag: ›Apokalyptische‹ Corona- rahmen, drei Meter entfernt. »Danke für

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 81


Coronakrise

die Salami«, murmelt sie durch die Maske Wir sind mit dem Fahrrad zu Donna kannt aus der Kultserie »Law & Order«.
und streckt ihre Hände aus, die in Latex- gefahren, um die U-Bahn zu meiden. Auf Und Eddie, der einst in fast jedem
handschuhen stecken, um die Tüte aus dem Weg zu ihr hatten wir bei »Brown Downtown-Nightclub, in dem ich früher
dem Lebensmittelladen an der Ecke ent- Butter« gehalten, meinem Stammcafé, wo verkehrte, an der Tür stand.
gegenzunehmen. sich ein weiteres Drama abspielt. Ein Fall macht Schlagzeilen: Kious Kelly,
Donna ist 64 und lebt allein in Crown »Brown Butter« hat noch geöffnet, aber ein Krankenpfleger am Mount Sinai Hos-
Heights in Brooklyn. Ihre Eltern kamen nur zur Selbstabholung. Die Stühle stehen pital, 48 Jahre alt. Im Februar hatte er sich
von den Westindischen Inseln in die Stadt, auf den Tischen. »Ein Jammer«, sagt My- um meinen Bekannten Sal gekümmert, als
Donna ist gebürtige New Yorkerin. Eine riam Nicolas, die Besitzerin. Sie ist über der einen Bandscheibenvorfall hatte. Kelly
Katastrophe wie diese, sagt sie, habe sie ihr iPad gebeugt, weil sie endlose Online- ist angeblich der erste Pfleger, der dem
noch nie erlebt. Dann wurde sie krank. formulare für einen Corona-Kredit der Virus erlegen ist. »Er versprach mir, dass
Es begann mit Fieber. 37,4 Grad, dann Stadt New York ausfüllen muss, die Klein- alles okay sein würde«, schreibt Sal.
38,9, dann 36,7, dann wieder 38,7. Sie liest betrieben je maximal 75 000 Dollar in Aus-
uns die Temperaturen aus ihrem akribisch sicht stellt. Freitag, 27. März:
geführten Tagebuch vor. Sie habe nicht Nicolas kam als Zehnjährige aus Port- 25 399 Infizierte, 450 Tote
schlafen können. Ihre Glieder schmerzten. au-Prince, der Hauptstadt Haitis, in die »Dieser Moment wird diese Nation verän-
Sie wählte 911 und kam zu ihrer eigenen USA. Seit zwei Jahren betreibt sie das dern«, sagt Gouverneur Andrew Cuomo
Überraschung sogar durch, obwohl die Café, außerdem hat sie eine Cupcake-Bä- bei seiner täglichen Pressekonferenz.
Notrufzentralen überschwemmt werden ckerei, berühmt für einen scharf gewürz- »Dies ist ein Moment, der Charakter
wie seit dem 11. September nicht. ten Kakao. »Ich will den Laden offen hal- schmiedet, Menschen schmiedet, Men-
Die Rettungskräfte seien in voller ten, damit meine Angestellten arbeiten schen verändert, sie stärker macht, sie
Schutzmontur angerückt, Masken, Hand- können«, sagt sie. Acht Leute beschäftigt schwächer macht.«
schuhe, Gummistiefel, sagt Donna. Im sie hinter der Theke und in der Küche, Wenig später laufe ich durch Manhattan.
Krankenhaus stellte man ihr Fragen. Habe nicht größer als ein Kleiderschrank. Das Das Finanzviertel der Stadt ist menschen-
sie Husten? Gliederschmerzen? Kopf- Ladenlokal kostet 4200 Dollar Monats- leer, zur Lunchzeit, werktags. Sonst schie-
schmerzen? Ihre Lungen wurden geröntgt. miete, keiner weiß, ob die jetzt ausgesetzt ben sich hier Touristen übers Kopfstein-
»Sie haben das Corona«, habe eine wird. Andrew Cuomo, der Gouverneur pflaster, jetzt wirken die Büros wie eine
Ärztin lakonisch gesagt. Dann sei sie mit von New York, hat angekündigt, Zwangs- Filmkulisse, mit harten Schatten. Ab und
Paracetamol heimgeschickt worden: »Sie räumungen 90 Tage lang auszusetzen. zu zischt ein Fahrradbote vorbei.
sind nicht krank genug.« Sie solle sich in Während Nicolas von ihrer ungewissen Luis Vazquez führt seinen Hund spazie-
Quarantäne begeben und anrufen, wenn Zukunft erzählt, von den Schulden, die ren, einen Labradoodle mit dem Namen
sich ihr Zustand verschlechtere. nun wohl auf sie zukommen, erreichen Fiesta. Vazquez ist 60 und wohnt unweit
Auch eine zweite Klinikvisite verlief er- uns immer mehr Textnachrichten mit Ka- der Wall Street in einem zu Lofts umge-
gebnislos, diesmal fuhr Donna mit dem tastrophenmeldungen. Nashom Wooden, bauten Art-déco-Tower aus den Zwanzi-
Bus. »Ich bin eine alte, schwarze Frau«, ein Jugendfreund meines Partners, ist ge- gerjahren.
sagt sie. »Deshalb bin ich es denen viel- storben. Nashom war 50, einst eine Night- Seit die Großbanken nach Midtown ge-
leicht nicht mehr wert.« life-Ikone und die personifizierte Lebens- zogen sind, ist der Finanzdistrikt eines der
Also sitzt sie in der Wohnungstür, dank- lust. Er ist der erste Todesfall in unserem schicksten Viertel Manhattans geworden.
bar für den Besuch. Sie trägt über der Mas- Bekanntenkreis. Vazquez betreibt seit elf Jahren einen Blog
ke einen Strohhut und eine Sonnenbrille, Die Namen der Opfer werden vertrau- und vernetzt die Menschen und die Ge-
die ihre müden Augen kaschiert. Ihre En- ter. Der Dramaturg Terrence McNally ist schäfte auf Facebook miteinander. Er ist
kel kaufen ihr Lebensmittel, leider haben gestorben, den viele Freunde kannten. Der so etwas wie der inoffizielle Bürgermeister
sie die Salami vergessen. Schauspieler Mark Blum ebenfalls, be- der Wall Street und einer der Letzten, die
nach dem Rechten schauen, während die-
jenigen, die Geld haben, aufs Land oder
in ihre Häuser in die Hamptons geflohen
sind. »Ein Drittel meiner Nachbarn ist
weg«, sagt Vazquez. »Ich habe beschlos-
sen, dass mein Platz hier ist.«
Vazquez wurde in der Bronx geboren,
wuchs in Queens auf und ging in Manhat-
tan pleite. Er sagt über sich: »Ich bin der
amerikanische Traum.« Inzwischen arbei-
tet er als Makler für Luxusimmobilien. Er
hat Erfahrung mit Krisen. Als 2012 nach
dem Hurrikan »Sandy« der Strom ausfiel,
hatte sein Gebäude als einziges im Viertel
RYAN CHRISTOPHER JONES / DER SPIEGEL

RYAN CHRISTOPHER JONES / DER SPIEGEL

einen funktionierenden Generator. Wie


damals hilft er den Gestrandeten auch heu-
te wieder. Er kocht fürs Haus, kauft ein,
erkundet, welche Läden geöffnet haben.
Er führt Fiesta auf einen Grünstreifen
im Schatten der New Yorker Filiale der Fe-
deral Reserve. Die Fed stützt in der Krise
die kollabierende Wirtschaft mit Billionen-
spritzen und Anleihenkäufen und macht
Makler Vazquez, Stadtrat Moya: Selbst nach dem 11. September war es nicht so ruhig Gelder für Hilfsleistungen locker. Ein

82
STEPHANIE KEITH / THE NEW YORK TIMES / LAIF
Passant im Stadtteil Queens: »Wir sind hart im Nehmen«

Großteil dieser gigantischen Summen wird tinnen und Ärzten, Krankenpflegern und prädestiniert, und wir kommen zusam-
hinter den Mauern betreut, vor denen ein medizinischen Helfern im Viertel Applaus men. Darin finden wir Stärke.«
Labradoodle jetzt aufs Gras pinkelt. zu spenden. Er spricht sich Mut zu, aber seiner Bran-
Unter uns, 24 Meter im Boden, in einem Sale ist Schauspieler und Barkeeper, che, der Bar- und Kulturszene der Stadt,
dreistöckigen Tresorbunker, lagern die tätowiert, muskulös, ein New Yorker All- geht es dreckig. Alle 41 Broadway-Theater
größten Goldreserven der Welt – eine gute roundtalent. Das Konzert der applaudie- haben dichtgemacht, 31 Shows und Musi-
Corona-Finanzsicherheit, wenn alles an- renden Bürger ist einer der seltenen Mo- cals mussten schließen, darunter Hits wie
dere versagt. »Die Währung, wenn alle mente, in denen er Kontakt zur Außenwelt »The Lion King«, »Hamilton« und »Mou-
Stricke reißen«, schreibt Goldman Sachs hat. Er steigt dann mit seinem siebenjähri- lin Rouge«. So lange wie jetzt waren die
diese Woche an seine Klienten. Die New gen Sohn auf die Feuerleiter im fünften Theater noch nie dicht. Selbst nach 9/11
York Stock Exchange macht ebenfalls wei- Stock, erzählt er am Telefon. »Es ist be- gingen die Lichter am Broadway nach
ter. Die Börse hat ihr historisches Parkett wegend, all die Gesichter zu sehen.« zwei Tagen wieder an, diesmal befürchten
an der Wall Street zwar geschlossen. Doch Sale ist 46, stammt aus Virginia Beach Produzenten Einnahmenverluste von min-
der Handel reißt nicht ab, den Kauf und im Bundesstaat Virginia und hatte Neben- destens 100 Millionen Dollar.
Verkauf von Wertpapieren kann man auch rollen in allen möglichen Fernsehshows, Isaac Itsarah hatte erst im Oktober als
von zu Hause aus organisieren. »Law & Order«, »The Good Fight«, »Per- Kostümbildner am Broadway angefangen.
Vazquez muss nach Hause, er hat eine son of Interest«. Als das Virus kam, syn- »Auf einmal bin ich wieder arbeitslos«,
Videokonferenz mit Wohnungsinteressen- chronisierte er eine spanische Netflix- sagt der Modedesigner aus Thailand, der
ten. »Das Business«, sagt er, »darf auch Show, abends mixte er Drinks im W Hotel. seit zehn Jahren in New York lebt.
jetzt nicht aufhören.« Beide Jobs waren über Nacht weg. Nun Ich kenne Isaac seit drei Jahren, wir sind
Von der Wall Street laufe ich zum neuen sitzt er mit seinem Sohn in einer Zweizim- uns ab und zu auf Partys begegnet. Die
World Trade Center, das aus den Ruinen merwohnung auf der Upper East Side in Corona-Tage verbringt er in seinem Apart-
des alten erwachsen ist. Selbst nach dem freiwilliger Quarantäne, weil er fürchtet, ment in der Bronx, manchmal geht er in
11. September war es nicht so ruhig hier. sich anzustecken. Selbst Lebensmittel lässt den Park, um Luft zu schnappen. »Ich bin
Ein Piepsen erfüllte damals die Luft, von er sich inzwischen vor die Tür liefern. zu 30 Prozent okay«, sagt er. Oft fühle er
den Alarmgeräten verschütteter Feuer- Sie haben trotzdem Spaß. Er hilft sei- sich einsam, nachts habe er Angst.
wehrleute. Die Stille jetzt ist massiver. nem Sohn bei Mathe, Musik und Kunst, Itsarah arbeitete für das Kostümstudio des
dafür hat ihm sein Sohn die Haare ge- Film- und Theaterdesigners Eric Winterling.
Samstag, 28. März: schnitten. Sales Kopf ist jetzt kahl rasiert. Er kümmerte sich um die Kunden, wählte
30 766 Infizierte, 672 Tote Ein neuer Look für die Apokalypse, wa- Stoffe aus, betreute Anproben. Er schneider-
Jonathan Sale freut sich auf die Abende. rum nicht? te Kostüme für Sarah Jessica Parkers Broad-
Punkt 19 Uhr klettern die Nachbarn auf Er liebe diese Stadt, sagt Sale. »Wir sind way-Show, die im März Premiere haben soll-
ihre Feuerleitern und Dächer, um den Ärz- hart im Nehmen, wir sind für Größeres te, und das Britney-Spears-Musical »Once

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 83


Coronakrise

Upon a One More Time«. Alle Projekte lie- spendete sie ihre N95-Atemschutzmasken Ich entschließe mich zu einem letzten
gen nun auf Eis. Itsarah fragt: »Selbst wenn an ein Krankenhaus, füllte einen Antrag auf Spaziergang. Die Viertel, in denen ich mal
ich eines Tages wieder arbeiten kann – was Arbeitslosenhilfe aus und schwang sich auf wohnte – das East Village, das West Vil-
wird dann aus dem Broadway werden?« den Sattel. Inzwischen fahren mehr als 320 lage und Chelsea –, sind nicht wieder-
Nachmittags schaue ich bei »Brown But- Corona-Kuriere durch die fünf Stadtteile. zuerkennen. Ich gehe an Klubs, Bars,
ter« vorbei. Myriam Nicolas steht müde Krisen bringen das Gute und das Restaurants, Cafés vorbei. Es ist totenstill.
im Café. Sie habe entschieden, den Laden Schlechte in Menschen hervor. In New Die Bühne ist noch da, aber die Schauspie-
dichtzumachen, sagt sie. Gestern habe ein York dominiert das Gute, bis jetzt. ler fehlen. Nur die Vögel zwitschern.
Kunde das Mädchen am Tresen ange- Auf der West 12th Street kommt mir ein
hustet. »Ich bin nicht mehr bereit, dieses Montag, 30. März: Paar entgegen, sie halten sich an den Händen
Risiko einzugehen und jeden, der für mich 38 087 Infizierte, 914 Tote und rufen durch die Masken: »Bleib tapfer!«
arbeitet, zu gefährden«, sagt Nicolas. Im Central Park ist über Nacht ein Feld- Ich bleibe an einem Luxuswohnblock
lazarett gewachsen, ein halbes Dutzend stehen, der früher das St. Vincent’s Hospi-
Sonntag, 29. März: weißer Zelte in Sichtweite der Millionärs- tal war. Hier tobte einst die Aidskrise, die
33 768 Infizierte, 776 Tote villen an der Fifth Avenue. 68 Betten, fi- Sterbenden lagen auf der Isolierstation.
Kit Hourig ist spät dran. Die 33-Jährige nanziert von Samaritan’s Purse, einer Or- Lange sprach keiner über sie. Sie waren
biegt mit ihrem Rennrad auf die Third Ave- ganisation, die von dem schwulenfeind- Aussätzige, verstoßen von der Gesell-
nue. Gewöhnlich herrscht viel Verkehr im lichen TV-Prediger Franklin Graham ge- schaft. Jetzt sind wir alle Aussätzige.
East Village, an diesem Tag fegt ein eisiger leitet wird. In Zeiten der Not kann man Gegenüber parkt ein Kühllaster.
Wind über die leeren Straßen. sich schlecht aussuchen, wer einem hilft.
Hourig hat sich in Jacke, Schal, Mütze Ein weiteres Feldlazarett mit 1000 Bet- Dienstag, 31. März:
und feste Stiefel eingepackt, sie trägt eine ten wird im Javits Center eröffnet, dem 43 139 Infizierte, 1096 Tote
weiße Schutzmaske und auf dem Rücken Kongresszentrum von Manhattan, wo Donna meldet sich. Seit Tagen stehen wir
einen blauen Kurierrucksack. Sie gehört unter anderem 2016 die Wahlparty von nur noch telefonisch in Kontakt. Gestern
zu den »Corona Couriers«, einer Gruppe Hillary Clinton stattfinden sollte, die dann ging es ihr etwas schlechter, doch sie wollte
freiwilliger Helfer, nach einer Idee aus dem zum politischen Begräbnis wurde. nicht wieder ins Krankenhaus und blieb
chinesischen Wuhan. Die Kuriere annon- Vormittags läuft das Lazarettschiff USNS lieber im Bett. Heute geht es ihr besser.
cieren in sozialen Medien und besorgen »Comfort« der Marine ein. Die »Comfort« Ähnliche Berichte erhalte ich von zwei
Einkäufe für Alte, Kranke, Behinderte und verfügt über 1000 Betten und zwölf Opera- Freunden, die im Krankenhaus liegen. Die
andere, die nicht nach draußen können tionssäle, sie soll keine Covid-19-Kranken Symptome kommen schubweise.
oder wollen. Hourig sieht aus, als wäre sie aufnehmen, sondern Patienten, die ander- Unser Privatleben schnurrt auf eine
auf einer Gebirgsexpedition. weitig Hilfe benötigen, um die Kliniken zu winzige Ecke von Brooklyn zusammen.
Sie schließt ihr Rad an und läuft zum entlasten. Donald Trump hat das Schiff nach Abends flimmert Trump über den Fern-
Westside Market, wo sich Apfel- und Bir- New York beordert. Der Anblick des Schiffs sehschirm. Der Mann, der anfangs erzähl-
nenkisten stapeln. Drinnen wischt sie mit weckt Erinnerungen an eine andere Kata- te, es handle sich bei dem Virus um »eine
Latexfingern über ihr Smartphone. Ein hal- strophe. Im Januar 2010, nach dem Erd- Grippe«, spricht jetzt von 100 000 Toten
bes Hühnchen mit Gemüse soll sie einkau- beben in Haiti, ankerte die USNS »Comfort« in den USA, im besten Fall. Es könnten
fen, Couscous, Ingwer, Joghurt. Sie ist zum vor Port-au-Prince, um Verletzte zu behan- aber auch 240 000 werden.
ersten Mal in diesem Laden. »Wo sind die deln. Ich verbrachte einige Zeit an Bord und
Champignons?«, ruft sie. Hourig wohnt in sah, wie US-Militärärzte um Leben kämpf- Mittwoch, 1. April:
Fort Greene in Brooklyn. Als sie wegen der ten, wie sie weinten, als sie den Kampf ver- 47 440 Infizierte, 1374 Tote
Pandemie ihren Job als Schweißerin verlor, loren. Jetzt retten sie ihre Landsleute. Mein Bekannter Demetrio Muñoz ruft an.
Als ich ihn kennenlernte, studierte er noch
Medizin, seit zwei Jahren ist er Arzt am
NYP / Weill Cornell Medical Center in
Manhattan. Wir telefonieren regelmäßig.
Vorige Woche erzählte er, die Notaufnah-
me sei voll. Seitdem wurden seine Anrufe
panischer, manchmal weinte er. Er war frü-
her beim Militär, so aufgewühlt habe ich
ihn noch nie erlebt.
Der Alltag in der Stadt steht jetzt fast
still. Die Verkehrsadern sind ausgetrock-
net, die Wolkenkratzer ragen in den Him-
mel wie Ruinen nach einer Apokalypse.
Ghost Town. An dem Basketball-Court,
wo am Wochenende noch Kids spielten,
hängt das Schild: »Teamsport verboten«.
Mittags klopfen wir bei Myriams Cup-
SPENCER PLATT / GETTY IMAGES

cake-Bäckerei, sie packt gerade Kartons.


Neben ihrem Café muss sie jetzt auch noch
die Bäckerei schließen. Wir kaufen die letz-
ten beiden Stücke Schoko-Karamell-Torte.
»Ich gucke keine Nachrichten mehr«, sagt
Myriam Nicolas. »Sagt mir Bescheid,
wenn das alles vorbei ist.«
Lazarettschiff USNS »Comfort« im Hudson River: Es soll die Kliniken entlasten

84 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


AUF DIE DETAILS
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(zum Nulltarif aus dem dt. Fest- und Mobilfunknetz). tolles Design - alles in Einem mit Windows 10.
Doch am Ende waren alle 240 000 An-
hänger der Sekte im Land getestet und
isoliert, ebenso wie alle Menschen, die
enger mit ihnen zu tun hatten. Diese Kon-
taktpersonen wurden auch mithilfe von
Location-Tracking erkannt, dafür wurden
Daten von Kreditkarten und Smart-
phones abgefragt. Mehr als 50 südko-
reanische Sonderbeamte sind nur dafür
abgestellt.
Indem die Südkoreaner diese Eingriffe
in die Privatsphäre hinnehmen, sichern sie
sich eine andere Freiheit – sie dürfen sich
weiter uneingeschränkt bewegen. »Das
digitale Verfolgen der Infizierten greift nur
in die Rechte weniger ein, eine Ausgangs-
sperre in die Rechte aller«, erklärt Kim
Dong-hyun von der Koreanischen Gesell-
schaft für Epidemiologie, der das Gesund-
Präsident Moon Jae In (ohne Maske) bei einer Kabinettssitzung heitsministerium berät. »Würde man die

DPA
Fälle nicht einzeln nachverfolgen, wäre ein
Ausgangsverbot unvermeidlich.«
Eine wichtige Rolle spielt für die süd-

Ein Land wird getestet koreanischen Bürger und Strategen auch


die Erinnerung an den Ausbruch der In-
fektionskrankheit Mers, die das Land vor
fünf Jahren heimsuchte. »Wir werden das
Südkorea Die Regierung hat einen großen Corona-Ausbruch erfolgreich nie vergessen können. Wir müssen das wie-
eingedämmt – mit rigorosem Tracken und Isolieren von dergutmachen«, sagt ein hochrangiges Mit-
Infizierten. Verantwortliche berichten von den entscheidenden Wochen. glied der koreanischen Seuchenschutz-
organisation KCDC. Vielleicht halten sich
die Koreaner auch deshalb bereitwillig an

E s war Mitte Februar, als der südkorea-


nische Arzt Min Pok-kee realisierte,
dass sich das neuartige Coronavirus
in seiner Stadt unter den Mitgliedern einer
Alle potenziell Erkrankten müssen auf-
gespürt und getestet werden. Nur so kann
verhindert werden, dass sich das Virus
unbemerkt ausbreitet und massenhaft
die Regeln der sozialen Distanzierung, tra-
gen Masken, bleiben zu Hause.
Bereits bei der Mers-Katastrophe sei man
der Lehre gefolgt, dass man Fälle früh identi-
Sekte rasant ausbreitete. Min ist der Leiter Menschen infiziert. Nur so können milde fizieren müsse, sagt Lee Hyuk-min, der als
des Krisenstabs in Daegu im Südosten des von schweren Verläufen getrennt und Labormediziner der Taskforce der Regierung
Landes. Von Anfang an hatte er befürchtet, Krankenhäuser geschont werden. angehört. Schon Ende Januar zitierte die
dass sich das Virus hier so stark verbreiten Die Entscheidung, die der Krisenstab Taskforce Vertreter von Biotech-Firmen zu
könnte wie im chinesischen Wuhan. Nun von Daegu trifft, ist riskant. Min erzählt, einem Notfalltreffen im Seouler Hauptbahn-
ging es los – und er sagte sich: »Wir müs- dass einige Teilnehmer eingewandt hät- hof. »Wir waren sehr angespannt, wir fürch-
sen das dringend stoppen.« ten, dass es Südkoreas Ansehen schade, teten eine Pandemie«, erinnert sich Lee.
Die erste Patientin war schon am 19. Ja- wenn die Infektionszahlen Die Unternehmen seien ge-
nuar nach Südkorea eingereist, kurz darauf explodierten. Einige verwie- drängt worden, so schnell wie
meldeten auch die USA eine erste Erkran- sen auf Japan, das kaum Infi- Vorbild Südkorea möglich Diagnostiktests zu
kung. Doch während die Vereinigen Staa- zierte zu haben schien, weil Täglich gemeldete entwickeln. Sie wurden im
ten wertvolle Wochen verschwendeten, es wenig testete. Min sagt, er Sars-CoV-2- Eilverfahren genehmigt. Nur
reagierte das ostasiatische Land früh. habe diesen Einwand nicht Neuinfektionen eine Woche später war der
Der Ausbruch unter den Mitgliedern gelten lassen: »Wir sind Ärzte in Südkorea erste einsetzbar, auch wenn er
der christlichen Shincheonji-Sekte stellte und Wissenschaftler. Wir sind laut Lee nicht so perfekt funk-
909
Südkorea auf eine harte Probe. Denn ab der Wahrheit verpflichtet.« tionierte wie ein monatelang
dem 19. Februar stieg die Zahl der Fälle in Die folgenden Wochen soll- entwickelter Test. Als der Mas-
800
Daegu plötzlich rapide an. Eine 61-Jährige ten die härtesten seines Lebens senausbruch von Daegu das
hatte bei Zusammenkünften als eine Art werden, oft mit nicht mehr als Land aufschreckte, war man
Superverbreiterin rund 40 Leute infiziert. einer Stunde Schlaf pro Nacht. 600 vorbereitet.
Am 21. Februar versammelt Min, der Einige Mediziner warnten, In Südkorea übersteigt die
Krisenstabsleiter von Daegu, im Rathaus es sei nicht zu schaffen, alle Zahl der Geheilten inzwi-
zwei Dutzend Vertreter von Ärzten und rund 10 000 Sektenmitglieder 400 schen die der Kranken. Doch
Pflegepersonal und hochrangige Beamte. in Daegu zu testen. Das Virus die Entscheider fürchten eine
An diesem Abend treffen sie die Ent- habe sich bereits zu weit ver- neue Welle von Infektionen
scheidung, ausnahmslos alle Mitglieder breitet. Und wohin mit den er- 200 89 aus dem Ausland. Alle Einrei-
der Sekte zu testen. »Wenn wir das nicht kannten Fällen? Eilig wurden senden müssen daher für zwei
getan hätten«, sagt Min, »wären wir jetzt Betten organisiert, Kranken- 0
Wochen in Quarantäne. Wer
dort, wo die USA oder Spanien sind.« häuser umstrukturiert, wurde 18. Febr. 2. April
sie bricht, muss mit Strafen
Er setzt damit die südkoreanische Stra- medizinisches Personal aus Quelle: Korea Centers for rechnen. Katharina Graça Peters
tegie um, die weltweit Beachtung findet: ganz Südkorea angefragt. Disease Control and Prevention

86 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


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Coronakrise

Die nächste Katastrophe


Armut Allmählich erreicht das Virus die Favelas und Slums der Welt.
Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Folgen werden gigantisch sein.

I
n den Tagen, bevor auch in Rio de Risse. In Brasilien melden immer mehr Fa- sich in einem toten Winkel der Aufmerk-
Janeiro das Sterben begann, druckte velas Infektionen. Betrachtet man den ers- samkeit befinden, weil die USA, China
die brasilianische Tageszeitung »O ten Monat, erinnert die Kurve an Italien. und Europa einen Schritt voraus sind?
Globo« auf der Titelseite ein Foto, Möglich, sagte der brasilianische Gesund- Einige Nationen, darunter Brasilien und
das wie ein apokalyptischer Blick in die heitsminister vergangene Woche, dass die Indien, sind groß wie Kontinente und
Zukunft wirkte. Alles, was man darauf Krankenhäuser Ende April unter der Last haben eine enorme wirtschaftliche Kraft.
sah, waren Häuser. Ein Gewirr zahlloser, zusammenbrechen würden. Andere, wie Haiti, sind klein und waren
ineinander verschachtelter, windschiefer Bis Donnerstagnachmittag zählte seine schon vor Covid-19 bitterarm. Manche
Hütten, die einen Hang hinaufwuchern. Behörde mehr als 7000 Fälle, 252 Men- sind Demokratien, in anderen herrschen
Die Menschen, die dort leben, dicht an schen starben. Länder wie Nigeria, Thai- Autokraten, Populisten oder Warlords,
dicht in dunklen, muffigen Zimmern, ent- land oder Südafrika, das gerade seine ers- deren Bürgerkriege seit Wochen aus den
lang von engen, nach Müll und Abwasser ten Fälle in den Armensiedlungen meldete, Nachrichten verschwunden sind. Aber es
stinkenden Gassen, sah man nicht. liegen nur wenige Tage zurück. Aus Iran gibt ein paar gemeinsame Bruchlinien in
Aber man konnte sie sich denken. Etwa heimgekehrte schiitische Pilger streuen das diesen Ländern – die soziale Ungleichheit,
100 000 sind es, die sich in der Rocinha Virus im Nahen und Mittleren Osten, in die hohe Rate an Vorerkrankungen, das
drängen, im Süden von Rio, einer der größ- Indien tragen es Wanderarbeiter durchs Vorhandensein kleiner Eliten, die biswei-
ten Favelas Lateinamerikas. Land, die vor der Ausgangssperre in den len aus wenigen Familien oder Clans be-
Das Bild war Ausdruck einer Angst, die Städten in ihre Heimatdörfer fliehen. stehen und sich abschotten.
nicht nur Brasilien erfasst hat. Dieselbe Während Forscher der Princeton Uni- Zudem wiegten sich manche Staaten
Angst geht um in Venezuela, wo die Ar- versity errechnet haben, dass sich ohne entlang des Äquators in trügerischer Si-
menviertel Barrios heißen, in Südafrika, Gegenmaßnahmen bis Juli vermutlich bis cherheit. Im warmen Klima der Tropen,
wo man sie Townships nennt, in den zu 400 Millionen Inder infizieren könnten, so hieß es, finde das Coronavirus eine
Slums von Lagos, Bangkok oder Delhi: gibt es solche Modelle für die meisten feindliche Umgebung vor. Dazu legten die
Was ist, wenn sich das Virus erst an diesen anderen Länder nicht. Viele Regierungen Bilder aus China und Europa nahe, dass
Orten einnistet? Wenn es die globale Un- kennen nicht einmal annähernd die Zahl es mehrheitlich alte Menschen töte, was
terschicht befällt, all die Staaten, deren der Infizierten, weil flächendeckende Tests in den jungen Gesellschaften als Vorteil
Gesundheitssystem schon lange vor Co- in bevölkerungsreichen Ländern logistisch gedeutet wurde. Dass einige Staatschefs
rona vor dem Kollaps stand? und finanziell kaum zu stemmen sind. glaubten, das Virus aussitzen zu können,
Bislang, so schien es, war Sars-CoV-2 Weil es keine belastbaren Daten gibt, kostete sie vermutlich wertvolle Zeit.
ein Virus der Reichen. Staunend und ent- greifen viele Experten zu Metaphern. Es »Wir wissen nicht, wie sich Corona in
setzt blickte der arme Süden auf die Dra- ist kein Zufall, dass in diesen Tagen, in Afrika verhält«, sagt David Heymann von
men in Italien und Spanien, auf Kranken- denen Dutzende Fallkurven kurz vor dem der London School of Hygiene and Tro-
häuser, von denen man annahm, sie ge- Übergang ins exponentielle Wachstum ste- pical Medicine. »Aber wir haben keinen
hörten zu den besten der Welt. Die Seuche hen, oft die Rede von einem Tsunami ist, Hinweis darauf, dass es anders sein wird
schien weit weg, weil jene, die das Virus der auf die armen Länder zurollt. Milliar- als im Rest der Welt.«
in die armen Länder einschleppten, Frem- den Menschen halten gerade den Atem an. Tatsächlich ist es schwierig, in diesen
de waren oder Angehörige einer Elite. Wie viele Jahre, fragen sie sich, werden Zeiten etwas zu finden, das zuversichtlich
Die Wahrnehmung, dass Corona ein sie zurückfallen in ihrer Entwicklung? Wer stimmt. In vielen Ländern wird das niedrige
Problem der anderen sei, bekommt nun steht ihnen bei in dieser Krise, in der sie Durchschnittsalter der Bevölkerung durch
die oft harten Lebensumstände relativiert.
An Orten wie der Favela Rocinha gibt es
Geschundener Kontinent Reales BIP-Wachstum in Afrika*, in Prozent oft nicht mal genug Wasser zum hygienisch
korrekten Händewaschen. In Indien, wo
+10,0 Großstädte wie Mumbai oder Delhi häu-
10 ab 1990
1981 2014 bis 2016
fig unter einer Smogglocke liegen, leiden
Aids-Epidemie Ebola-Epidemie
8 drei Millionen Menschen an Tuberkulose.
80 Millionen sind Diabetiker. Das Im-
6
munsystem vieler Afrikaner ist zusätzlich
4 geschwächt durch mangelnde Ernährung,
+ 2,4
+2,4 durch HIV, Malaria oder das Lassafieber.
2 Armut ist nun wie das Alter ein Risi-
kofaktor. Und Armut bedeutet auch: das
0
Abgeschnittensein von Information, von
–2 seriösen Quellen, die entlarven, dass Män-
– 2,5 ner wie der Präsident von Tansania mit
der Gesundheit ihres Volkes spielen, wenn
1961 Quelle: Weltbank 1983 * Subsahara-Region 2018 sie dazu aufrufen, sich gerade jetzt in

88
Touristenhotels untergebracht werden. Es
geht darum, den Kollaps hinauszuzögern.
Das Problem ist, dass die Menschen in
den armen Ländern ungleich stärker unter
den Ausgangsbeschränkungen leiden als
die Bewohner reicher Staaten. Was das be-
deuten kann, brachte der Pakistaner Imran
Khan kürzlich auf den Punkt. Khan ist
Premierminister eines Landes, in dem sich
ein Viertel der Bevölkerung, 50 Millionen
Menschen, nur eine Mahlzeit täglich leis-
ten kann. »Wenn wir unsere Städte ab-
riegeln«, sagte er, »dann retten wir die
Menschen vor dem Virus. Zugleich aber
schicken wir sie in den Hungertod.«

MAURO PIMENTEL / AFP


Milliarden Menschen, die durch die Iso-
lierung ihre Arbeit und ihre Lebensgrund-
lage verlieren, müssen versorgt werden.
Die Taxi-, Uber- oder Rikschafahrer von
Rio, Kapstadt und Neu-Delhi, die Tage-
löhner, deren Baustellen ruhen, die flie-
genden Händler, die auf leeren Straßen
und an Stränden keine Kunden finden.
85 Prozent der Erwerbstätigen, schätzt die
Weltbank, arbeiten auf dem afrikanischen
Kontinent im informellen Sektor. In Indien
sind es drei Viertel der arbeitenden Bevöl-
kerung. Brasilien zählt mehr als 61 Mil-
lionen prekär Beschäftigte. Es sind Men-
schen, die in dieser Krise kein soziales
Netz auffängt.
In vielen Ländern geht die Angst vor
Plünderungen um. Um die Ausgangssper-
ren durchzusetzen, patrouilliert in Pakis-
tan schon das Militär. In Südafrika gingen
Polizisten äußerst rüde vor. Was aber pas-
siert, wenn die Krankenhäuser Menschen
abweisen müssen?
Der Direktor des afrikanischen Center
for Disease Control and Prevention, John
Nkengasong, prophezeit vielen Ländern
eine »Sicherheitskrise, eine Wirtschafts-
AFP

krise und eine Gesundheitskrise, in dieser


Favela in Rio de Janeiro, Polizeikontrolle in Indien: Den Kollaps hinauszögern Reihenfolge«.
Die Möglichkeiten der Regierungen sind
begrenzt. Während Europa und die USA
Kirchen zu versammeln. John Magufuli ihr Personal und Material kaum einsetzen ihre Bürger und Unternehmen mit Billio-
glaubt, Corona sei ein Teufel, der im Kör- können. Zugleich lässt der venezolanische nen stützen, fehlt den meisten Ländern
per Jesu keine Überlebenschance habe. Autokrat Nicolás Maduro ausländische des Südens schlicht das Geld. Seit Januar,
Magufuli mag wie ein Sonderfall er- Hilfskräfte ohnehin nicht ins Land. Den so der »Economist«, seien Investitionen
scheinen, aber er ist es nur bedingt. Seine wenigen Ärzten, die nach langen Krisen- in Milliardenhöhe aus den Schwellenlän-
Regierung verfügt über mehr Minister, jahren noch in den Krankenhäusern aus- dern abgeflossen. Dazu kommt, dass dort
nämlich 19, als das nationale Referenzkran- harren, fehlt es an Seife, Desinfektionsmit- wichtige Einnahmen wegbrechen, weil
kenhaus in Dar es Salaam über Intensiv- teln, Latexhandschuhen oder Atemschutz- Touristen fernbleiben oder die Rohstoff-
betten (es sind 6). Nicht viel besser ist es masken. In Indien brauchte es eine Million preise sinken. Wenn die Verwandten im
im Nachbarland Uganda. In Malawi, wo Beatmungsgeräte und bis zu vier Millio- Ausland kein Geld mehr überweisen, weil
mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter nen Intensivbetten. sie selbst in Schwierigkeiten stecken, dann
der Armutsgrenze lebt, gibt es 25 dieser Es sind monströse Zahlen, aber sie hel- schrumpft die Wirtschaftskraft eines Lan-
Betten. Die Zahl der Ärzte in der Region: fen zu verstehen, warum eine Regierung des wie Lesotho um 23 Prozent.
einer pro 5000 Menschen. In Europa wie die von Sierra Leone die Grenzen be- Wenn all dies dazu führt, dass Kredite
kommt einer auf 300. Die Zahl der Be- reits schloss, als es noch keinen einzigen an den internationalen Finanzmärkten
atmungsgeräte in Mali oder Mosambik: bestätigten Fall gab. Sie helfen zu verste- unerschwinglich werden, was bleibt den
eins pro eine Million Einwohner. hen, warum die Regierung in Delhi ihren Regierungen, um ihre Gesundheitssyste-
Schon jetzt klagen große NGOs, die süd- 1,3 Milliarden Bürgern bei Verstößen ge- me, ihre Bürger und Unternehmen über
lich der Sahara häufig die Versorgungs- gen die Lockdown-Regeln mit brutalen die nächsten Monate zu bringen?
lücken schwacher Staaten füllen, dass sie Strafen droht oder Hunderte Bewohner Viele Volkswirtschaften sind zu wenig
aufgrund der Mobilitätseinschränkungen der Rocinha jetzt eilig in leer stehenden diversifiziert und damit verwundbar. Von

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 89


Coronakrise

»Wir müssen noch viel


einem »break-the-glass moment« spricht
der ghanaische Finanzminister Ken Ofo-
ri-Atta, jenem Moment, in dem es höchste

mehr investieren«
Zeit ist, die Scheibe vor dem Feuerwehr-
schlauch einzuschlagen. Um den Konti-
nent vor einer wirtschaftlichen und hu-
manitären Katastrophe zu bewahren,
brauche es wesentlich mehr Hilfe als
die von der Weltbank und dem Interna- Italien Außenminister Luigi Di Maio fordert mehr Solidarität
tionalen Währungsfonds (IWF) für die ein und verlangt, dass die EU sich am
ärmsten Länder bereitgestellten 50 Mil- zwei Billionen schweren Hilfsprogramm der USA orientiert.
liarden Dollar.
Abebe Selassie, der die Afrikaabteilung
des IWF leitet, fordert die Gläubiger im Di Maio ist seit September vorigen Jahres chen die ganze Kraft der EU und euro-
Norden auf, den ärmsten Ländern mit so- der oberste Diplomat Italiens, zuvor war päische Staatsgarantien, um die Zukunft
fortiger Wirkung ihre Schulden zu erlas- er Vizepremier in der ersten Regierung von Europas zu sichern.
sen. Die Frage ist, ob die internationale Ministerpräsident Giuseppe Conte. In Rom SPIEGEL: Der portugiesische Premier An-
Gemeinschaft in diesem existenzbedro- gilt der 33-jährige Di Maio, bis vor Kurzem tónio Costa hat die Haltung von reichen
henden Moment die Hilfeschreie aus dem Chef der populistischen Fünf-Sterne-Bewe- EU-Staaten wie den Niederlanden als »ab-
Süden hört. Ob es Ländern wie den USA, gung, als Pragmatiker. stoßend« bezeichnet. Hat er recht?
Deutschland oder Frankreich irgendwann Di Maio: Wir brauchen jetzt keine Wortge-
wieder gelingt, über die Grenzen ihrer Na- SPIEGEL: Herr Außenminister, Italien wur- fechte, sondern Zusammenhalt. Es geht um
tionalstaaten hinauszudenken. Vorerst ist de von der Coronakrise besonders hart die nächsten 10, 15 Jahre. Wir haben erst
durch dieses Um-sich-selbst-Kreisen des getroffen. Ihre Regierung verlangt nun Un- 2010 die Eurokrise erlebt – und jetzt das
Westens eine Solidaritätslücke entstanden, terstützung von seinen Partnern in der Eu- Corona-Debakel. Keine andere Generation
in die China drängt. ropäischen Union, auch von Deutschland. in Europa musste in so kurzer Zeit zwei so
Bis vor Kurzem schien es undenkbar, Erlebt Europa jetzt eine ähnliche Zerreiß- große Krisen bestehen. Das schaffen wir
dass China als Gewinner aus dieser Krise probe wie während der Eurokrise? nur mit größter Ernsthaftigkeit und Kraft.
hervorgehen könnte. Zu hoch waren die Di Maio: Eine Situation wie heute haben SPIEGEL: Was sind die größten Probleme
Opferzahlen, zu groß das Leid in Wuhan, wir noch nie erlebt. Es gibt einfach keinen in Italien derzeit?
zu ohnmächtig die Wut mancher auf einen historischen Vergleich zu den gewaltigen Di Maio: Im Moment müssen wir erst mal
Staat, der versuchte, unliebsame Wahrhei- gesundheitlichen und wirtschaftlichen dafür sorgen, dass unsere Unternehmen
ten zu zensieren. Gut zwei Monate später Folgen der Pandemie. Wir finden keine liquide bleiben, wir Arbeitsplätze sichern
hat sich das Blatt gewendet. Maskendiplo- Lösung, wenn wir nur nach hinten blicken. können und die Löhne garantiert sind.
matie ist die Strategie der Stunde. Es spielt doch heute keine Rolle, wie einst Dazu schauen wir uns übrigens das deut-
83 Ländern hat China inzwischen Not- der Marshallplan funktionierte, welche sche Modell genau an. Und dann müssen
hilfen angeboten. Griechenland wurde Schulden Deutschland nach dem Krieg er- wir in den nächsten Jahren unser Gesund-
mit Schutzmasken ausgestattet, Italien lassen wurden oder was Griechenland mit heitssystem stärken.
versorgte man mit Beatmungsgeräten, die der Eurokrise zu tun hatte. SPIEGEL: Wie ist die aktuelle Lage im me-
Ukraine mit Desinfektionsmitteln. China SPIEGEL: Sondern? dizinischen Bereich?
schickte medizinische Experten in den Di Maio: Es geht jetzt um die Zukunft des Di Maio: Wir setzen auf die Kraft unserer
Irak und Testkits nach Indonesien. Wäh- europäischen Volkes. Wir stehen vor einer Ärzte, Krankenpfleger und Arbeitskräfte
rend die Stiftung des Alibaba-Gründers globalen Herausforderung. Europa muss im Gesundheitswesen. Sie arbeiten 24 Stun-
Jack Ma Hilfsgüter an alle 54 Länder Afri- sich mit den USA und China messen. Nie- den pro Tag, um das Leben der Kranken
kas verschickt, verhandelt die Regierung mand sollte erwarten, dass er nach der zu retten. Ich möchte mich bei der Gele-
mit Peru über die Lieferung eines der aus Krise einen wirtschaftlichen Aufschwung genheit aber auch dafür bedanken, dass
Wuhan bekannten Fertigbau-Kranken- als einzelner Staat schaffen kann. Deutschland italienische Patienten auf-
häuser. SPIEGEL: Italien und andere südliche Mit- nimmt. Niemand ist schuld, dass wir es
Noch nie seit ihrer Gründung, heißt es gliedstaaten wollen neue Schulden über mit einer Pandemie zu tun haben. Und
in Peking, habe die Volksrepublik in sol- EU-Staatsanleihen, sogenannte Corona- dass wir über 13 000 Tote haben. Italien
chem Umfang humanitäre Hilfe geleistet. Bonds, vergemeinschaften. Länder wie erwartet jetzt eine gemeinsame Antwort
Wenn irgendwann abgerechnet wird, dann Deutschland und die Niederlande sind da- auf diesen Schmerz, der alle betrifft, da
kann es sein, dass Chinas Umgang mit den gegen. Sie fürchten ein Fass ohne Boden. die Situation auch in Deutschland, Frank-
armen Ländern die Kräfteverhältnisse in Di Maio: Italien hat seine Schulden immer reich und Spanien schwierig ist.
der Welt verschoben hat. bezahlt. Mehr noch: Im vorigen Jahr ha- SPIEGEL: Was haben Sie unternommen,
Diejenigen, die insgeheim darauf hoffen, ben wir unser Defizit sogar auf 1,9 Prozent um die wirtschaftlichen Folgen der Pande-
dass die Bilder aus den Krankenhäusern des Bruttoinlandsprodukts gesenkt – dabei mie zu lindern?
in der Lombardei abschreckende Wirkung hatten wir mit der EU-Kommission vorher Di Maio: Allein im März haben wir 25 Mil-
auf Flüchtlinge und Migranten haben, wer- einen Spielraum von über zwei Prozent liarden Euro bereitgestellt. Wenn wir in
den sich täuschen. Heute sind die Armen vereinbart. Europa, wie der Internationale Währungs-
eingesperrt. Bald aber wird der politische, SPIEGEL: Warum braucht es dann Corona- fonds berechnet hat, für jeden Lockdown-
wirtschaftliche und soziale Fallout der Bonds? Monat etwa fünf Prozent des Brutto-
Pandemie eine Fluchtursache sein. Di Maio: Es interessiert mich nicht, wie
wir die Instrumente zur Krisenbekämp-
Marian Blasberg, Georg Fahrion,
Laura Höflinger, Susanne Koelbl,
Fritz Schaap
fung nennen. Es geht darum, das beste In-
strument zu finden und gemeinsam auf
»China hat uns
diese schwere Krise zu reagieren. Wir brau- sehr geholfen.«
90
KARL MANCINI / DER SPIEGEL
inlandsprodukts verlieren, müssen wir Di Maio: Natürlich können wir über den sche Patienten auf, und US-Präsident Do-
natürlich noch viel mehr investieren. nächsten EU-Haushalt sprechen. Oder nald Trump will uns mit 100 Millionen
SPIEGEL: Wie viel? über Reformen der Europäischen Union, Dollar unterstützen. Italien war immer
Di Maio: Wir müssen uns vor Augen halten, die wir uns gut vorstellen können. Aber eine Brücke zwischen Ost und West, aber
dass die USA als wirtschaftlicher Konkur- in diesen Tagen müssen wir erst mal unsere Heimat ist in der europäischen und
rent der EU zwei Billionen Dollar bereit- schnell die richtigen Maßnahmen und atlantischen Allianz.
stellen, also 2000 Milliarden. Auch China Instrumente für die Gegenwart finden. Wir SPIEGEL: Wie verändert das Coronavirus
mobilisiert riesige Summen. Die Unterneh- müssen sicherstellen, dass die Mitglied- die internationale Politik?
men dieser Staaten könnten damit sogar staaten so viel ausgeben können wie nötig, Di Maio: Ich glaube nicht, dass sich das
gestärkt aus der Krise hervorgehen. Darauf um ihren Völkern zu helfen. geostrategische Gleichgewicht verschiebt.
müssen wir in Europa eine angemessene SPIEGEL: Bricht die Europäische Union Mich beschäftigt mehr, wie sich die Pan-
Antwort finden. auseinander, wenn ihre Mitglieder jetzt demie auf die Weltwirtschaft auswirkt.
SPIEGEL: Letztlich sagen Sie also: Wir nicht zusammenfinden? Wir dürfen nicht vergessen, welchen
brauchen Corona-Bonds gewaltigen Aus- Di Maio: Die Finanzmärkte sehen ein star- großen Erfolg wir mit dem europäischen
maßes. Oder nicht? kes Europa, wenn es mit einer einzigen Binnenmarkt in der Vergangenheit erzielt
Di Maio: Wir müssen die bestmögliche Stimme spricht. haben, mit offenen Grenzen, freiem Ver-
Übereinkunft finden. Und das sage ich SPIEGEL: Lega-Chef Matteo Salvini hetzt kehr. Das darf nicht verloren gehen. Ich
nicht zugunsten Italiens, sondern Euro- gerade wieder gegen die EU. Macht Ihnen kann nicht vorhersagen, wie sich die Welt
pas. Wenn einer fällt, fallen alle. Europa das Sorgen? nach Corona entwickelt. Aber vielleicht
erlebt gerade seine Stunde null. Man Di Maio: Salvini ist im Moment wirklich lernen wir als Weltgemeinschaft aus die-
gewinnt zusammen, oder man verliert zu- das kleinste Problem. Das Thema sind ser Krise auch, dass nicht nur wirtschaft-
sammen. Die EU sollte jetzt handeln – jetzt nicht antieuropäische Kampagnen – liche Freiheiten wichtig sind. Sondern
und nicht ein weiteres Mal unvorbereitet sondern europäische Antworten. Wenn auch der Sozialstaat und die Gesundheits-
reagieren. wir die finden, haben jene, die Europa zer- systeme.
SPIEGEL: 72 Prozent der Italiener sind laut stören wollen, keine Chance. SPIEGEL: Wann und wie kehrt Ihr Land
einer Umfrage von der bisherigen EU-Ant- SPIEGEL: Russland und China haben Ita- wieder zurück in die Normalität?
wort auf die Pandemie enttäuscht. lien frühzeitig geholfen. Kann es sein, dass Di Maio: Es wäre unverantwortlich, kon-
Di Maio: Das sind Momentaufnahmen. sich Ihr Land von Europa ab- und anderen krete Schritte der Lockerung zu planen,
Die Italiener sind Europäer und fühlen sich Partnern zuwendet? solange es keine entsprechenden Signale
dem europäischen Volk zugehörig. Ich hof- Di Maio: China hat uns gerade am Anfang der Wissenschaftler gibt, die uns beraten.
fe nur, dass die EU den Erwartungen der sehr geholfen, als es uns Mediziner schick- SPIEGEL: Aber das Schlimmste haben Sie
Bürger gerecht wird und Lösungen für die te und vor allem den Export von Schutz- jetzt überstanden?
Krise findet. masken und Beatmungsgeräten ermöglicht Di Maio: Mal sehen. Die Wissenschaftler
SPIEGEL: Ihr Land ist Nettobeitragszahler hat. Aber auch viele andere Länder haben sagen uns, dass wir den Höhepunkt er-
in der EU. Der Vorsitzende des Europäi- uns unterstützt, neben den Russen zum reicht haben. Aber wir haben ihn noch
schen Stabilitätsmechanismus, Klaus Reg- Beispiel Albanien, Kuba und Polen. Aus nicht überwunden.
ling, hat schon vorgeschlagen, das zu än- Frankreich kamen Schutzausrüstungen, Interview: Frank Hornig
dern. Würde dies helfen? Deutschland nimmt, wie gesagt, italieni-

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 91


Coronakrise

Unbegrenzte Macht
Gastbeitrag Ungarns Premier Viktor Orbán hat die Demokratie abgeschafft. Die EU muss handeln,
sonst wird sich der Autoritarismus in Europa ausbreiten. Von Daniel Hegedüs

I
n Ungarn zeigt sich in diesen Tagen, was für Europa Geschichte Ungarns in den vergangenen zehn Jahren ist die
politisch auf dem Spiel steht. Schon seit mehr als zehn Geschichte eines Demokratieabbaus. Orbán hat Krisen stets
Jahren ist das Land unter Premierminister Viktor Orbán genutzt, um seine Macht auszubauen – und was er einmal
wegen seiner antidemokratischen Entwicklung bekannt. erobert hat, hat er nie wieder abgegeben. Zwischenzeitlich
Doch Ungarn ist keine isolierte Insel des Autoritarismus wollte die Regierung sogar die Kompetenzen der Bürgermeis-
in Europa. Es ist dessen Laboratorium. Sogar in den alten ter einschränken– ein Racheakt für den Erfolg der Opposition
EU-Mitgliedstaaten verfolgen viele sehnsüchtig Orbáns Ex- bei den Kommunalwahlen vom letzten Herbst.
perimente. Nun ist seine Fidesz-Partei die erste politische Was kann Orbán machtpolitisch mit dem Gesetz über-
Kraft auf dem Kontinent, die die Coronakrise zur autoritären haupt noch gewinnen? Ungarn war schon seit Langem keine
Machtergreifung instrumentalisiert. Aber sie ist nicht die Demokratie mehr. Mit dem Ermächtigungsgesetz ist nun aber
einzige, die davon träumt. auch das demokratische Erscheinungsbild des Regimes weg.
Es ist ein politischer Spagat, in Zeiten Das kann Orbán auf der europäischen
der Epidemie effektives Krisenmanage- Bühne ernste Schwierigkeiten bereiten.
ment zu betreiben. Bürgerrechte können Die Erklärung für diese irrational
zeitweise eingeschränkt werden, aber anmutenden Schritte liegt in seinem
der demokratischen Grundordnung darf Machthunger und seinem autoritären
kein Schaden zugefügt werden. Die Not- Instinkt. Das sind keine Alleinstellungs-
standsregelungen in der Coronakrise merkmale Orbáns in Europa. Er setzt
müssen zeitlich begrenzt, verhältnis- offensichtlich auf den langfristigen
mäßig und der Kontrolle des Rechts- Erfolg der autoritären Kräfte in Europa.
staats unterworfen sein. Doch das un- Für die meisten europäischen Ent-
befristete Notstandsgesetz, praktisch ein scheidungsträger war der Abbau der
Ermächtigungsgesetz, das das ungari- Demokratie in EU-Mitgliedstaaten wie
sche Parlament am 30. März verabschie- Ungarn oder Polen eine zweitrangige
det hat, erfüllt keines dieser Kriterien. politische Frage. Diese Haltung hat die
Erstens: Die Regierung kann frei Autokratisierung der beiden Länder
entscheiden, bis wann ihre fast unbe- erst ermöglicht; sie hätte gegen ent-
grenzten Machtkompetenzen gelten. schlossenen Widerstand nicht durchge-
Premier Orbán kann zeitlich unbe- setzt werden können.
grenzt per Dekret regieren. Was kann die EU nun tun? Dass sie
ZOLTAN MATHE / AP

Zweitens: Das Gesetz ist weder ver- Sanktionen gegen Ungarn beschließt,
hältnismäßig noch notwendig. Die ist unrealistisch. Dafür wäre Einstim-
Regierung hatte schon am 11. März den migkeit nötig, doch Polen und andere
Ausnahmezustand verkündet. Er ver- Staaten werden nicht zustimmen.
lieh ihr alle notwendigen Kompetenzen Fidesz-Vorsitzender Orbán Der EU-Rat kann und sollte aber im
zur Bekämpfung der Krise. Zwar müs- Rahmen des Artikel-7-Verfahrens end-
sen diese alle 15 Tage vom Parlament lich offiziell feststellen, dass in Ungarn
bestätigt werden – doch Orbán verfügt über die nötige Zwei- die Gefahr der schwerwiegenden Verletzung der EU-Grund-
drittelmehrheit, und die Oppositionsparteien waren bereit, werte besteht. Und die Europäische Volkspartei, der Orbáns
diese Sonderrechte bis Ende Juni politisch mitzutragen. Partei ebenso angehört wie die deutsche CDU, sollte Fidesz
Es ging Orbán offenkundig nicht um Krisenmanagement, unverzüglich ausschließen.
sondern um die Eroberung unbegrenzter Machtkompetenzen Die EU-Staaten könnten während der laufenden Verhand-
und die weitere Spaltung der Gesellschaft. lungen über den mehrjährigen Europäischen Finanzrahmen
In das Strafgesetzbuch sind neue Tatbestände aufgenom- starken finanziellen Druck aufbauen. Die Werkzeugkästen
men worden, darunter die Verbreitung falscher oder verzerr- des Europarechts und der Diplomatie bieten genügend Maß-
ter Informationen, die »die erfolgreiche Verteidigung« in der nahmen, um der Autokratisierung entgegenzuwirken.
Krise behindern oder »Verwirrung und Unruhe« stiften. Sie Schon während der vergangenen Jahre hat es nicht an
können mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Der Text Handlungsoptionen gemangelt, sondern vor allem am poli-
ist bewusst unpräzise gehalten, um Journalisten einzuschüch- tischen Willen. Wenn die Europäische Volkspartei, die Euro-
tern und den Spielraum der politisch gesteuerten Staats- päische Kommission und die Bundesregierung aber selbst in
anwaltschaft möglichst groß zu halten. dieser Lage nicht entschlossen zur Verteidigung der Demo-
Drittens: Ungarn ist kein Rechtsstaat mehr. Die im Geset- kratie auftreten, werden sie die historische Verantwortung
zestext verankerte Kontrolle durch das Verfassungsgericht reicht tragen: Die Büchse der Pandora muss geschlossen werden –
nicht aus. Es ist seit 2013 mit Fidesz-nahen Richtern besetzt oder der Autoritarismus in Europa schreitet voran.
und kein unabhängiges Organ der Gewaltenteilung mehr.
Es ist nicht anzunehmen, dass Orbán seine Vollmachten Der ungarische Politologe Daniel Hegedüs, 38, arbeitet für die unabhängige
von selbst abgibt, wenn die Coronakrise vorbei ist. Die Denkfabrik German Marshall Fund in Berlin.

92 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


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Hüftbreiter, lockerer Laufen Sie auf der Auf die Stuhlkante
Stand, Oberkörper auf- Stelle, und ziehen setzen. Die Hände
recht. In eine kleine Sie Ihre Knie im rechts und links vom Stehender Crunch
Grätsche springen, Wechsel so weit Seilspringen Körper auf die Kante
Knie dabei leicht beugen. Kniebeugen wie möglich ohne Seil legen, mit den Hüftbreit stehen.
Gleichzeitig die Arme nach nach oben. Lassen Fingern über die Rechtes Bein heran-
oben heben und strecken, Etwa schulterbreit Sie die Arme mit in Schulterbreiter Stand. Kante fassen. Das ziehen, dabei den
Beinstrecker sodass sich die Hände stehen. Beide Füße die Bewegung ein- Flach springen und Gewicht nach vorn Oberkörper in Rich-
über dem Kopf berühren. zeigen leicht nach fließen. Für mehr gleichzeitig die Arme verlagern, und den tung rechtes Bein
Setzen Sie sich Danach in die Ausgangs- außen. Spannen Sie Herausforderung kreisen – so, als Po in Richtung rotieren. Der linke
auf einen Stuhl. position zurückspringen. Ihren Bauch an. die Frequenz der hätten Sie ein Seil. Boden senken und Ellenbogen geht
Strecken Sie die Das Körpergewicht Schieben Sie Ihre Kniehübe steigern. Den Oberkörper wieder anheben. zum Knie. Bauch-
Beine komplett bleibt auf den Fußballen. Hüfte nach hinten, aufrecht halten. nabel fest nach
aus, und pendeln und beugen Sie Die Kniegelenke innen ziehen. Rücken-
Sie abwechselnd Ihre Knie langsam und sollten zur Ab- muskulatur ebenfalls
mit den Beinen. Der kontrolliert. Halten Sie federung leicht anspannen. Das
Oberkörper bleibt den unteren Rücken gebeugt sein. Standbein bleibt
aufrecht. Geübte gerade. Sind die Springen Sie leicht gebeugt. Wieder
halten eine Flasche Oberschenkel parallel ausschließlich auf zurück in die Aus-
zwischen ihren zum Boden, die Beine die Fußballen, und gangsposition und
Füßen und heben wieder nach oben berühren Sie nie den Gewicht auf links
diese an. durchstrecken. rechts links Boden mit den Fersen. Quelle: www.sport.mri.tum.de lassen. Seite wechseln.

Fit daheim: Diese sieben Übungen für die Zeit der Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen wurden von
Martin Halle, dem Ärztlichen Direktor der Präventiven Sportmedizin und Sportkardiologie der TU München,
zusammengestellt. Sie sind für Untrainierte wie auch Trainierte gedacht und verbessern Kraft, Ausdauer und
Koordination. Führen Sie jede Übung eine Minute lang durch. Wenn Sie ein richtiges Workout wollen, können Sie
das Programm auch dreimal hintereinander absolvieren. Was der Mediziner Halle noch rät? Sieben Stunden
Schlaf pro Nacht, mindestens 30 Minuten frische Luft am Tag und lieber Obst statt Schokolade.

Immunsystem stärken und – das ist fast


»Erst Vollgas, dann auf die Bremse« noch wichtiger – ausbalancieren.« Ge-
meint ist damit, dass die Abwehrkräfte
Gut zu wissen Wie kurzfristig lässt sich das Immunsystem stärken? zunächst angemessen auf einen bislang
unbekannten Erreger reagieren, also
 Sport stärkt das Immunsystem, diese Infektionsrisiko beeinflussen, jedoch die »erst Vollgas geben, um diesen zu elimi-
These ist vielfach erforscht und weithin Art, wie der Körper gegebenenfalls mit nieren, dann aber auf die Bremse treten«,
bekannt. Weitaus weniger Menschen dem Virus fertig wird. wenn sie die Infektion im Griff haben.
wissen jedoch, wie rasch sich mit ein Den Einfluss von Sport auf die Virus- Diese Eigenregulation sei wichtig,
wenig Training die Abwehrkräfte ver- abwehr erklärt Bloch so: »Bei jedem Reiz um eine überschießende Immunreaktion
bessern lassen. setzt der Körper Faktoren frei, die das zu verhindern, die am Ende ebenso
Wilhelm Bloch, Leiter des Instituts für wie die originäre Infektion lebensbedroh-
Kreislaufforschung und Sportmedizin an lich sein könne.
der Deutschen Sporthochschule Köln, Blochs Botschaft deshalb: Wer gern
beschäftigt sich seit vielen Jahren damit, walkt, joggt oder Rad fährt, möge genau
wie sich Bewegung auf den menschlichen das auch beibehalten. Wer bislang Couch-
Organismus auswirkt. »Das Immun- potato war, sollte gerade jetzt vom Sofa
system ist ein sich schnell anpassendes hochkommen und sich alle zwei Tage so
System. Schon eine Woche körperliches bewegen, dass der Körper warm wird und
Training beschert nachhaltig positive leicht ins Schwitzen gerät – sofern man
Effekte, wie wir aus Studien wissen«, sich natürlich nicht kränklich oder ange-
KOKENGE / NORDPHOTO

erklärt Bloch. schlagen fühlt.


Um sich bestmöglich gegen das neue Zu beachten gibt es laut Bloch dabei
Coronavirus zu wappnen, empfiehlt der nur eines: »Wichtig ist, sich seinem Leis-
Forscher deshalb – neben allen anderen tungsstand entsprechend zu bewegen.
Schutzmaßnahmen –, gerade jetzt aktiv Denn wer sich völlig auspowert, schwächt
zu sein. Zwar ließe sich dadurch nicht das Jogger im März bei Vechta seine Immunabwehr.« WIN

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 95


Coronakrise

Überlebenskünstler
Vereine Die Fußballbundesliga will sich mit Geisterspielen vor der Pleite retten.
Ein absurder Plan – oder realistisches Szenario?

N
ach einer Woche der Ausgangs- Dabei gehört der Profifußball zu jenen diskutieren ein ähnliches Modell. Ein Sai-
beschränkung meldete sich Uli Branchen, die wohl eher besser durch die sonende in einer Art Turnierform, jeden
Hoeneß zu Wort. Der Ehren- Krise kommen werden. Großklubs wie der Tag mehrere Spiele – auch ohne Publikum.
präsident des FC Bayern wohnt FC Bayern oder Borussia Dortmund, aber Virologen warnen allerdings davor, Bun-
oberhalb von Bad Wiessee mit Blick auf auch der VfL Wolfsburg oder der SC Frei- desligaspiele generell wieder zuzulassen.
den Tegernsee. Sein Stammrestaurant hat burg konnten in den vergangenen Jahren Auch wenn die Stadien leer sein sollten,
wegen der Covid-19-Pandemie geschlos- Rücklagen bilden. Selbst jene Klubs, so würden sich Fans womöglich zu Hun-
sen. Er geht nur noch zum Einkaufen aus nicht gut gewirtschaftet haben, können derten vor den Arenen versammeln – so
dem Haus. damit rechnen, dass sie gerettet werden, wie es beim Champions-League-Spiel
Er mache sich Sorgen, sagt Hoeneß in sich ein Investor findet oder ein Mäzen, zwischen Paris und Dortmund im März
einem Interview mit dem »Kicker«. Auch der die Bilanzen ausgleicht. Fußballklubs geschehen ist. Eine Horrorvorstellung
um den Fußball. hätten selbst in schwierigen Zeiten bewie- für die Verantwortlichen, die versuchen,
In ganz Deutschland darf nicht mehr sen, dass sie »wahre Überlebenskünstler« Menschenansammlungen zu verhindern.
gespielt werden. Plätze, Trainingszentren seien, sagt der Regensburger Sportöko- Der Chef der Deutschen Fußball Liga
und Stadien sind gesperrt, die Bundesliga- nom Albert Galli. (DFL) Christian Seifert steht aber bereits
saison wurde unterbrochen. Profivereine leben von der Leidenschaft in Kontakt mit dem Bundesgesundheits-
Das letzte große Projekt von Hoeneß der Menschen für den Fußball. Diese ministerium und dem Robert Koch-Insti-
im Amt als Präsident des FC Bayern war Ressource schwindet auch in Zeiten von tut, um einen Korridor für die Geister-
der Bau der Nachwuchsakademie, in der Covid-19 nicht. spiele zu finden. Angepeilt ist ein Termin
der Nachschub für den Profikader des Im Gegenteil. Der Soziologe Tobias im Mai. Spätestens im Juni aber müsste
Klubs herangezogen werden soll. Die Ta- Werron von der Universität Bielefeld hat es losgehen, damit die Klubs die Saison
lentfabrik umfasst acht Spielfelder, ein Sta- zur Popularität im Weltsport geforscht. noch pünktlich abschließen und das noch
dion, einen Kantinenbereich, der von Star- Seit mehr als drei Wochen pausiert der ausstehende Geld aus der TV-Vermark-
koch Alfons Schuhbeck betrieben wird. Spielbetrieb in der Bundesliga, und schon tung kassieren könnten. Die Rede ist von
Auch auf dieser Anlage ruht der Betrieb, jetzt, sagt Werron, könnten viele Fans es 384 Millionen Euro.
die Spieler sind bei ihren Familien. Sie le- kaum erwarten, dass es endlich wieder Die Entscheidung, ob die Bundesligapro-
sen Bücher, lernen fürs Abitur. »Andere losgeht. fis wieder spielen dürfen oder nicht, treffen
fangen an, mit ihrer Mutter zu kochen«, Die Deutsche Fußball Liga (DFL) und Behörden und Politiker in Absprache mit
sagt ein Spielerberater. die Manager der Klubs schmieden deshalb den Medizinern. Die Fußballmanager kön-
Hoeneß findet diesen Stillstand bedroh- große Pläne für den Neustart der Bundes- nen nur versuchen, Vorbereitungen zu tref-
lich. Wenn der Ball nicht bald wieder rollt, liga, obwohl da draußen ein Virus wütet. fen – und für ihren Plan werben.
glaubt er, werde eine »neue Fußballwelt« Um den wirtschaftlichen Schaden durch Das tun sie. Die Pandemie hat den
entstehen. Eine, in der alle den Gürtel die Coronakrise gering zu halten, soll die weltweiten Sportkalender durcheinander-
enger schnallen müssten. »Die Koordina- nach dem 25. Spieltag unterbrochene Sai- gewirbelt. Die Fußball-EM und die Olym-
ten werden sich etwas verändern.« son mit Partien ohne Publikum durchge- pischen Sommerspiele, zwei gigantische
Dass es einen solchen Kollaps geben zogen werden. Ein Experiment. 82 Geis- Unterhaltungsspektakel, die eigentlich
könnte, war für ihn und die anderen Len- terspiele wären allein in der ersten Liga im Sommer stattfinden sollten, wurden
ker des Kommerzfußballs bislang unvor- nötig, um die Meisterschaft abzuschließen. um ein Jahr verschoben. Meisterschaften
stellbar. Der Spitzenfußball war immer ein Die Mannschaften sollen womöglich in im Volleyball und Eishockey abgesagt,
Märchenland. »Eine Traumwelt«, wie der Hotels abgeschirmt und nur für die Spiele Tennisturniere fallen aus. Die Tour de
Geschäftsführer von Hannover 96, Martin in die leeren Arenen gelassen werden. France steht auf der Kippe. Nun soll we-
Kind, sagt. Kind hat ein Hörgeräteunter- Wenn die Gladiatoren ihren Job getan ha- nigstens die Fußballbundesliga der Bevöl-
nehmen aufgebaut, der Konzern beschäf- ben, sperrt man sie bis zum nächsten Auf- kerung zur Erbauung in dunklen Zeiten
tigt heute mehr als 3500 Mitarbeiter. tritt wieder weg. Die Fans könnten sich dienen.
In den vergangenen zehn Jahren flossen die Geistershow im Pay-TV angucken. »Etwas Ablenkung, andere Inhalte« –
der Bundesliga rund acht Milliarden Euro Die Planer der englischen Premier diese Botschaft sendet vor allem Krisen-
allein durch die TV-Vermarktung der Spie- League, die auch in Schieflage geraten ist, manager Seifert jetzt unermüdlich hinaus
le in die Kasse. Beim FC Bayern feierten ins Land. Wenn Kneipen und Restaurants
sie fast jedes Jahr einen neuen Umsatz- geschlossen sind, man nicht mehr mit
rekord.
Jetzt klagen die Manager, wie hart ihre
»Etwas Ablenkung, Freunden feiern kann, wenn Theater und
Kinos keine Vorstellung haben, könnte die
Klubs von einer Absage der Spielzeit ge-
troffen würden. Von einem möglichen
andere Inhalte« – Bundesliga den schwierig gewordenen
Alltag auflockern.
Vereinssterben ist die Rede, sollte in die- diese Botschaft sen- Der Fußball gibt dem Leben vieler Men-
sem Jahr gar nicht mehr gespielt werden schen einen Rahmen. Fans denken von
dürfen. det der DFL-Chef. Spieltag zu Spieltag. Wenn am Wochen-

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Instagram-Fotos: 1 | Kai Havertz, 2 | Marco Reus, 3 | Robert Lewandowski, 4 | Joshua Kimmich, 5 | Jérôme Boateng, 6 | Jonathan Tah,
7 | Javi Martínez, 8 | David Alaba, 9 | Karim Bellarabi, 10 | Mario Götze mit Ehefrau, 11 | Jadon Sancho, 12 | Luca Waldschmidt

97
Coronakrise

ende die Lieblingsmannschaft aufläuft, auch feststellen, dass das Risiko, das sie in die Taschen der Fußballer, kritisiert
spielen alle Sorgen für 90 Minuten mal mit Geisterspielen eingehen würden, Havemann. Bei den Bundesligisten ma-
keine Rolle. Man kann sich emotional aus- doch zu hoch ist. Dann muss man sich chen die Personalkosten für den Spieler-
powern. Und am nächsten Wochenende auch trauen, dies schnell und offen zu kader im Schnitt fast 40 Prozent des Ge-
kommt schon das nächste Spiel. kommunizieren. Und den Plan zu ver- samtbudgets aus.
Dieses Ventil existiert gerade nicht. We- werfen. Dass ausgerechnet dieser zügellose, ver-
gen eines Erregers. Die Fortführung der In der Zwischenzeit tut der Fußball viel, schwenderische Fußball in der Corona-
Bundesliga würde den Leuten das Gefühl um sein sympathisches Gesicht zu zeigen. krise einen Sonderweg für sich reklamiert,
geben, dass die Normalität vielleicht lang- Im Stadion von Real Madrid wird nicht ge- mit Ausnahmegenehmigungen für Geister-
sam zurückkehrt. kickt, die Arena wird zum Lager für spiele, sorgt bei jenen, die sich nicht für
Denn wenn im Fernseher wieder medizinisches Material. AS Rom verteilt das Spiel interessieren, für Unverständnis.
Spiele zu sehen sind, Dortmund gegen Carepakete an ältere Fans. Deutsche Na- In scharfen Debatten im Netz wird die
Schalke, Bayern gegen Leipzig, Gladbach tionalspieler spenden Millionensummen, Relevanz der Profiklubs angezweifelt.
gegen Köln, erinnert man sich an die damit Schutzbrillen, Atemschutzmasken DFL-Chef Seifert weiß um die Kritik.
Tage zurück, als alles normal war, als es und Beatmungsgeräte gekauft werden kön- Er formuliert deshalb vorsichtig, wenn er
Covid-19 noch nicht gab. Wissenschaftler über einen möglichen Neustart der Bun-
Werron spricht von einem »Normalisie- desliga spricht. Man wolle da nichts durch-
rungsdrang«, der sich weiter verstärken Geldmeister boxen, sagt er. Alles geschehe in Abstim-
werde, wenn die Infektionskurven ab- mung mit den Behörden. Die Gesundheit
Verteilung der TV-Gelder *
flachen. der Menschen stehe über allem.
an die Vereine der Fußball-Bundesliga,
Es ist legitim, dass der Fußball ver- Seifert ist eigentlich ein impulsiver Typ.
Saison 2019/20, in Millionen Euro
sucht, sein Geschäftsmodell mit Geister- Er kann sehr lakonisch sein. Aber er
spielen zu retten. 56 000 Jobs hängen am Bayern München 67,9 schafft es dieser Tage, sich zurückzuneh-
Bundesligabetrieb, darunter Platzwarte, men. Für sein Krisenmanagement wird er
Wäschefrauen, Mitarbeiter auf den Ge- Borussia Dortmund 66,6 von den Vereinsmanagern gelobt. Auch
schäftsstellen. Einfache Leute, deren Ge- Bayer 04 Leverkusen 65,3 weil er das Szenario im Blick hat, dass
halt ein Bruchteil von denen der Profis Borussia Mönchengladbach 63,2 die Saison womöglich doch abgesagt wer-
ausmacht. den muss, weil die Infektionszahlen in
In vielen Vereinen haben sie bereits auf TSG 1899 Hoffenheim 61,2 Deutschland nicht entscheidend zurück-
Kurzarbeit umgestellt, um durch die Krise RB Leipzig 59,4 gehen und die Behörden Bundesligaspiele
zu kommen. Es gibt rührende Geschich- deshalb nicht zulassen.
FC Schalke 04 59,2
ten von Betreuern, die von sich aus ange- Der Fußball wird sich dann andere Ret-
boten haben, auf Geld zu verzichten. Eintracht Frankfurt 56,0 tungsmodelle überlegen müssen. Die ECA,
Auch viele Profis zeigen sich solida- Hertha BSC 54,0 eine europäische Klubvereinigung, will
risch. Bei Borussia Dortmund kommen das Financial Fair Play ausgesetzt sehen,
durch den Gehaltsverzicht der Fußballer Werder Bremen 52,1 um Investoren einen Einstieg bei den
Millionen zusammen. VfL Wolfsburg 49,6 Klubs zu erleichtern.
Aber dieses Geld wird am Ende viel- FSV Mainz 05 46,4 Ein Modell für die Bundesliga könnte
leicht nicht reichen. Deshalb wäre es aus sein, dass die DFL Fremdkapital für alle
wirtschaftlichen Überlegungen falsch, es FC Augsburg 43,3 siechen Vereine beschafft. Entweder über
nicht zu versuchen, die noch ausstehen- SC Freiburg 41,5 die Platzierung einer Anleihe oder über
den Millionen aus der TV-Vermarktung die Aufnahme eines Kredits bei Banken,
1. FC Köln 38,6
doch noch irgendwie abzugreifen. die über die Verpfändung künftiger Erlöse
Allerdings dürfen auch Bundesliga- Fortuna Düsseldorf 32,7 der Medienrechte besichert werden könn-
klubs nicht die Gesundheit von Menschen Union Berlin 29,4 ten, wie Wirtschaftsprofessor Galli vor-
gegen Geld aufwiegen. Bevor gespielt schlägt. Wichtig sei nun, dass die Vereine
wird, müssen sie abklären, wie man ge- SC Paderborn 26,1 erkennen, dass »der ganze Zirkus nur als
währleisten kann, dass sich Spieler nicht * aus der nationalen Vermarktung gemeinsames Produkt« funktioniere, sagt
anstecken. er. Alleingänge einzelner Klubs sind der-
Die DFL hat dazu eine medizinische zeit nicht erwünscht.
Taskforce aufgestellt. Die Ärzte sollen nen. Lionel Messi verzichtet auf 70 Prozent Bei einer Videokonferenz der DFL am
einen Plan entwickeln, wie man die Ak- seines Gehalts. vorigen Dienstag spielten solche grund-
teure schützen kann. Vorgesehen ist offen- Für solchen Großmut feiern Fans die sätzlichen Themen noch keine Rolle. Es
bar, dass die Spieler vor jeder Partie auf Spieler. Sie folgen ihnen auf Instagram – ging bei der Besprechung der Bosse allein
Corona getestet werden müssten. Erst die Fußballer sind derzeit nicht die Helden um die Fortsetzung der Saison mit Geis-
wenn alle Tests negativ sind, kann an- auf dem Platz und werden dennoch zu terspielen – den großen Rettungsplan für
gepfiffen werden. Vorbildern für die Gesellschaft hochstili- die Bundesliga. Alle Klubs sollten sich
Der Fußball kann es sich offenbar leis- siert. bereithalten, sagte DFL-Chef Seifert.
ten, über solche Szenarien zu diskutieren, Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Bei Borussia Dortmund hatten die Fuß-
während in Italien, den USA und zu Hause Gehälter der Spieler sind der Kern des baller das Training schon wieder aufge-
Menschen sterben. Die Virologen und Problems, das der Fußball gerade hat. »Sie nommen. Die Spieler übten in Zweiergrup-
Epidemiologen, die ansonsten die Debatte sind viel zu hoch«, sagt der Historiker pen. Erst wenn ein Pärchen eine Einheit
über die Pandemie dominieren, halten Nils Havemann, der die wirtschaftliche beendet hatte, durfte das nächste auf das
sich bisher beim Thema Geisterspiele weit- Entwicklung des Sports seit Jahrzehnten Spielfeld.
gehend zurück. beobachtet. Duschen mussten die Profis zu Hause.
Vielleicht müssen die Manager am En- Statt Eigenkapital zu bilden, pumpten Peter Ahrens, Gerhard Pfeil
de aller Beratungen mit den Ärzten viele Klubs ihre hohen Einnahmen direkt

98 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Bundesligen In Basketball und Handball geht es für Vereine jetzt nicht Geld, das sich auch durch Geisterspiele
nicht wieder eintreiben lässt. Im Gegen-
mehr darum, wie sie die Krise überstehen. Sondern: ob überhaupt. teil. Anders als im Fußball stehen nicht
Millionen Euro an TV-Geldern auf dem

»Maximal gefährdet« Spiel, sondern nur ein schmales Zubrot.


Basketball läuft im Spartenfernsehen,
pro Saison fällt für die Vereine jeweils
ein niedriger sechsstelliger Betrag ab.
Entscheidender sind die Sponsoren.
Rund 200 hat Bayreuth, dazu etwa
50 Kleinstunterstützer. »90 Prozent kom-
men aus Bayreuth oder der Region«, sagt
Geschäftsführer Albrecht, »der Lokalkolo-
rit ist bei uns deutlich stärker ausgeprägt als
etwa im Profifußball.« Vielen Unternehmen
sei es deshalb wichtig, dass die Zuschauer
in der Halle ihr Sponsoring wahrnehmen.
Bei Geisterspielen wäre dies nicht gegeben.
Im Handball sind Spiele vor leeren Rän-
gen eher eine Option, zumindest für die
Liga. Am Dienstag überraschte Frank
Bohmann, Geschäftsführer der Handball-
bundesliga, in einer Telefonkonferenz
die Vereinsvertreter mit seinem Planspiel,
bis Weihnachten Geisterspiele auszutra-
gen. Bohmann will offenbar unbedingt die

SASCHA KLAHN
bestehenden Verträge mit Sky sowie
ARD und ZDF über die Krise retten. Bei
den Klubvertretern war die Aufregung
THW-Kiel-Geschäftsführer Szilágyi, Trainer Filip Jicha: Nur schwer zu stemmen groß, sie protestierten heftig. »Reine Geis-
terspiele wie im Fußball sind im Hand-
ball schlicht nicht umsetzbar«, sagt Viktor
 Die Bemühungen der Fußballbranche, drücken: Wohnungsbestand, Fuhrpark, Szilágyi, 41, Geschäftsführer bei Bran-
mit Geisterspielen relativ unbeschadet Versicherungen. Doch es gibt keine chenprimus THW Kiel.
durch die Pandemie zu kommen, ist eine Planungssicherheit. Noch hat die Liga, Rund 200 000 Euro kassiert jeder Ver-
Besonderheit im deutschen Profisport. die bis mindestens zum 30. April pausiert, ein derzeit pro Saison an TV-Einnahmen.
Bei vielen Erstligisten im Handball und im die Saison nicht endgültig abgebrochen. In Kiel machte das im Geschäftsjahr
Basketball steht derzeit alles auf dem In Bayreuth plädiert man für eine schnelle 2018/19, in dem der Klub 13,4 Millionen
Spiel: Es geht um die Existenz. Die Kalku- Entscheidung, auch um gegenüber Fans Euro umsetzte, nicht einmal zwei Prozent
lationen der Manager drehen sich darum, und Sponsoren glaubwürdig zu bleiben. seiner Erlöse aus – demgegenüber stehen
wie sie im Mai oder Juni ihre Rechnungen Was aber, wenn diese dann Geld zurück- fast 40 Prozent durch Ticketverkäufe.
begleichen können. fordern? Sollte es wirklich auch in der neuen
Björn Albrecht, 39, ist einer von ihnen. »Maximal gefährdet« sei dann die Saison zu Geisterspielen kommen, müsste
Als die Basketballbundesliga am Spielbetriebs-GmbH in Bayreuth, sagt Kiel die Personalkosten in seiner Profi-
12. März ihren Spielbetrieb unterbrach, Albrecht. Fünf Liga-Heimspiele stünden abteilung, die in der Saison 2018/19 rund
begann der Geschäftsführer von Medi noch aus, dazu eins im Europe Cup, in sieben Millionen Euro betrugen, noch
Bayreuth zu rechnen. »Hätten wir unsere dem Bayreuth im Halbfinale steht. Pro radikaler als bisher kürzen. Die Hallen-
Kosten nicht reduziert, wären wir Ende Partie fehlen dem Verein bei einer Absage miete müsste bezahlt werden. Und das
April zahlungsunfähig geworden«, sagt er. 80 000 bis 100 000 Euro aus Ticket- Instrument der Kurzarbeit, das ihnen der-
Bayreuth, Tabellenmittelfeld, Europa- einnahmen, Catering, VIP-Angeboten. zeit erhebliche Summen an Sozialversi-
pokalteilnehmer, ging mit einem Etat von Zudem stehen noch rund 300 000 Euro cherungsbeiträgen spart, fiele weg.
4,8 Millionen Euro in die Saison, rund an offenen Sponsorenzahlungen aus. Falls bis zum 1. Juli nicht absehbar ist,
70 Prozent davon sind Personalkosten. wann und wie der Spielbetrieb weitergeht,
Diese hat Albrecht nun innerhalb weniger hat der THW noch ein ganz anderes Pro-
Tage radikal eingekürzt. Die Verträge
mit fünf US-amerikanischen Spielern wur-
den aufgelöst, mit einem sechsten laufen
Verhandlungen. Alle restlichen Spieler,
Trainer und Mitarbeiter der Geschäfts-
450 000
Euro an Personalkosten
blem: Sander Sagosen. Der norwegische
Starspieler wechselt dann, so ist vor Mona-
ten ausgehandelt worden, von Paris nach
Kiel, sein Monatsgehalt an der Förde soll
42 000 Euro netto betragen. Eine Preis-
stelle befinden sich in Kurzarbeit. »Rund hat Basketballerstligist klasse, die der Verein angesichts der Krise
450 000 Euro konnten wir dadurch nur schwer wird stemmen können. Wahr-
einsparen«, sagt Albrecht. Die drohende Bayreuth seit Beginn der scheinlich, so Geschäftsführer Szilágyi,
Liquiditätsgrenze wurde so von Ende Coronakrise eingespart, müsse man dann mit Sagosen neu verhan-
April auf Anfang Juni geschoben. deln: »Wir können nicht wegen eines
Nun versucht Albrecht aus dem Home- fünf Spielerverträge wurden Vertrags die Existenz des ganzen Klubs
office heraus, weitere Fixkosten zu aufgelöst. riskieren.« Erik Eggers, Thilo Neumann

99
Wissen

NASA / SCIENTIFIC VISUALIZATION STUDIO


Als Brennstoff wird Erdgas weltweit genutzt; es gilt als verhältnismäßig klimafreundlich. Denn das Methanmolekül,
aus dem Erdgas im Wesentlichen besteht, hat den geringsten Kohlenstoffanteil aller fossilen Energieressourcen. Ge-
langt es unverbrannt in die Atmosphäre, ist sein Beitrag zur Klimaerwärmung allerdings enorm. Dieses Computer-
modell der amerikanischen Raumfahrtbehörde Nasa illustriert, wo Methan (rot/orange/gelb) aus natürlichen und men-
schengemachten Quellen wie der Landwirtschaft entsteht und wie es sich fortwährend in der Atmosphäre verteilt.

Fummeln stoppen Schädlingen wie dem Coronavirus. Aus diesem Grund weisen
Infektiologen darauf hin, dass das Unterbinden dieser Neigung
womöglich eine präzisere Waffe im Kampf gegen die Epidemie
Analyse Um Infektionen vorzubeugen, sollen sein könnte als Ausgehverbote oder Handytracking. Psychologen
geben nun Tipps, wie die Umerziehung funktionieren kann.
wir uns nicht mehr an Mund, Auge und Nase fassen. Nützlich sei das Anlegen eines Tagebuchs, das Fummelepisoden
Wie das gelingen kann. penibel auflistet. Überdies möge man etwa bei dem Verlangen,
sich ins Gesicht zu fassen, die Hände zu Fäusten ballen oder fest
 Die Existenz von Viren war dem Nervenarzt Heinrich Hoff- auf die Oberschenkel pressen. Dabei ahnt wohl jeder: Es lernt sich
mann noch nicht bewusst, als 1845 sein »Struwwelpeter« weit einfacher per YouTube-Video, wie man sich in Chirurgen-
erschien. Wohl aber ahnte der Autor, dass es nicht gesund sein manier die Hände wäscht, als sich solche Unarten abzugewöhnen.
konnte, mit den Händen im Gesicht herumzufummeln. Deshalb Insbesondere, da die Fummelei nicht einfach nur eine schlechte
büßt der arme Konrad im Buch als erzieherische Maßnahme Angewohnheit ist, wie der im Oktober verstorbene amerikanische
schließlich beide Daumen ein, an denen er unaufhörlich lutscht. Neuropsychologe Robert Provine herausgefunden hat. Er unter-
Aller Brachialpädagogik zum Trotz tatscht auch der Mensch der suchte über Jahre Phänomene wie den Schluckauf oder das
Gegenwart gern und oft im eigenen Gesicht herum – im Schnitt Gähnen; in der Neigung zum Schubbern erkannte Provine den
23-mal in der Stunde, haben australische Mediziner 2015 in evolutionären Zweck, die Körperoberfläche von Flöhen,
einer Studie herausgefunden. Insbesondere bei der Berührung der Läusen oder Stechmücken zu befreien – von Plagegeistern also,
Schleimhäute (Augen, Nase, Mund) droht eine Infektion mit die schon der selige Heinrich Hoffmann kannte. Frank Thadeusz

100 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Paläontologie Fußnote

134
Berühmter Räuber
 Mit dem Kinospektakel
»Jurassic Park« (1993) erlang-
te eine Gruppe vergleichs-
weise kleiner Saurier schauri- Hautkrankheiten kann ein
ge Berühmtheit: Unter der von südkoreanischen For-
Bezeichnung »Raptoren« schern entwickelter Algorith-
wurden die flinken Räuber mus anhand von Fotos dia-

SERGEY KRASOVSKIY
weltbekannt. Fachleute fan- gnostizieren, erste Behand-
den im San-Juan-Becken lungsvorschläge machen und
des US-Bundesstaats New Dineobellator (im Vordergrund) Prognosen über die Fortent-
Mexico weitere Fossilien die- wicklung des Leidens erstellen.
ser Fleischfresser und gaben 220 000 Patientenbilder wur-
der neu entdeckten Art den lichkeit des Schwanzansatzes armknochen, an denen wohl den zu diesem Zweck ausge-
Namen Dineobellator noto- sehen die Forscher das beson- Federkiele ansetzten, lassen wertet. In manchen Bereichen
hesperus. Wie die meisten sei- dere Merkmal des neu ent- darauf schließen, dass Dineo- sei die künstliche Intelligenz
ner Verwandten besaß er eine deckten Exemplars. »Man bellator wie seine nähere schon vergleichbar mit der
schmale Schnauze, mit schar- muss sich etwa die Bewegun- Verwandtschaft gefiedert war. Diagnosefähigkeit von Ärzten,
fen Krallen bewehrte Greif- gen des Schwanzes einer Er zählte zu den letzten erklärt Forschungsleiterin
arme, je eine sichelförmige rennenden Katze vor Augen Exemplaren der Dinosaurier, Jung-Im Na von der Seoul
Kralle am Fuß und einen lan- rufen«, sagt Steven Jasinski die mit Ausnahme der Vögel National University. Ob dem
gen Schwanz, der ihm die vom State Museum of Penn- vor etwa 66 Millionen Jahren Digitaldoktor auch eine Unter-
nötige Balance bescherte, sylvania in Harrisburg, der durch einen Asteroiden- scheidung von Hautkrebs
wenn er seiner Beute nach- mit seinen Kollegen das Fossil einschlag ein abruptes Ende und harmlosen Krankheiten
setzte. In der großen Beweg- untersuchte. Beulen an Unter- fanden. CW gelinge, sei noch zu prüfen.

Klima sich die Situation in der Arktis Abkommen verwendet wur-


in dieser Zeit verändert? den, waren zu konservativ.
»Schockierend, wie schnell Klenzendorf: Als wir zu SPIEGEL: Der Eisbär ist nur
Beginn des Jahrtausends das eine von zahlreichen Tierarten,
sich alles verändert« Eisbärenprogramm des die durch den Klimawandel
WWF entwickelten, wussten bedroht sind. Warum steht er
Sybille Klenzen- Staaten nun bekräftigt, dass sie wir, dass der Klimawandel so im Fokus?
dorf, 48, Pro- intensiver zusammenarbeiten ein zentrales Thema sein wür- Klenzendorf: Er ist ein Sympa-
grammleiterin wollen. Außerdem wurde fest- de. Aber schockierend ist, thieträger. Außerdem steht er
für Artenschutz- gehalten, wie wichtig es ist, wie schnell sich alles verän- in der Nahrungskette am Ende.
wissenschaft dass alle Länder ihre Verpflich- dert. Das hätte ich mir nicht Hat er genügend Lebensraum
und Monitoring tungen im Rahmen des Pariser träumen lassen. Mittlerweile und Nahrung, gilt das auch für
bei der Umwelt- Klimaabkommens umsetzen. rechnen wir damit, dass alle anderen Arten.
schutzorganisa- SPIEGEL: Die Regierung wir bis 2050 ein Drittel der SPIEGEL: Ist der Eisbär noch
tion WWF, über die Überlebens- der USA leugnet den Klima- Eisbärenpopulation verlieren zu retten?
chancen der Eisbären wandel und steigt aus werden. Ein Großteil des Som- Klenzendorf: Ich bin optimis-
dem Pariser Abkommen aus – mereises in der Arktis könnte tisch. Es wird wohl leider deut-
SPIEGEL: Frau Klenzendorf, wie soll da die Zusammen- schon 2030 verschwunden lich weniger Eisbären geben,
Sie waren Anfang März auf arbeit weiter funktionieren? sein. Die Prognosen, die noch aber wir sind nicht so weit zu
Spitzbergen, wo Vertreter der Klenzendorf: Auch die US- vor fünf Jahren für das Pariser sagen, dass die Art ausstirbt. SAY
»Eisbärenstaaten« USA, Kana- Delegierten haben auf Spitz-
da, Grönland, Norwegen und bergen die gemeinsame Erklä-
Russland über Schutzmaß- rung unterschrieben. Sowohl
nahmen für Eisbären berieten. Biologen des U. S. Fish and
Was kam dabei heraus? Wildlife Service als auch wei-
Klenzendorf: Das erste Eis- tere Vertreter des Innenminis-
bären-Schutzabkommen wur- teriums und eine Frau aus dem
de schon 1973 unterzeichnet; Außenministerium sprachen
damals ging es vor allem um sich dafür aus, dass die USA
Jagdbeschränkungen. Darauf- Klimaschutz betreiben sollten.
hin erholten sich vielerorts die Ich fand es mutig von diesen
Bestände – bis der Klimawan- Leuten, dass sie das öffentlich
STEFAN HENDRICKS

del kam. Seit 2013 beinhaltet so klar gesagt haben.


das Abkommen auch Maß- SPIEGEL: Sie engagieren sich
nahmen für den Klimaschutz, seit fast zwei Jahrzehnten für Eisbär
und auf Spitzbergen haben die den Eisbärenschutz – wie hat

101
FELIX VON DER OSTEN / DER SPIEGEL

Krankenzimmer auf der Intensivstation 18 im Uniklinikum Aachen

102
Coronakrise

Um jedes Leben
Medizin In Deutschland hat das Sterben begonnen, die Zahl der Corona-Toten steigt,
und nun zeigt sich: Das Lungenleiden trifft nicht nur Alte
und Kranke. Wer wird beatmet, wenn die Plätze knapp werden sollten?

A
uf der 18, wie die internistische davon intensivmedizinisch. »Gerade ha- Nicht nur das Virus, auch seine Opfer
Intensivstation hier heißt, hat die ben wir diese Fälle ausgewertet«, sagt Dre- gilt es besser einschätzen zu können. Wer
Schlacht begonnen. Während in her; jetzt muss die Studie rasch an die ist anfällig für Covid-19? Und bei wem ver-
vielen Krankenhäusern Deutsch- Öffentlichkeit. Der wissenschaftliche Aus- läuft die Krankheit besonders aggressiv?
lands die Ärzte und Pfleger noch in eilig tausch über die Erfahrungen ist dringlich. Schemenhaft beginnt sich das Bild des
freigeräumten Stationen auf den Ansturm Deutschen Ärzten stehen schwere Ent- typischen Covid-19-Patienten abzuzeich-
der Corona-Patienten warten, sind diese scheidungen bevor. Und helfen kann ihnen nen, und mit jedem neuen Fall wird es
am Aachener Uniklinikum bereits zur dabei nur eines: mehr Wissen. schärfer. »Wir können inzwischen schon
neuen Normalität geworden. Vor zwei Covid-19 verläuft ähnlich, doch nicht eine ganze Menge sagen«, meint Dreher.
Wochen habe sich noch in jedem der Bet- genauso wie andere schwere Lungeninfek- Zwar bestätige sich die Erfahrung, die
ten auf Station 18 ein anderes medizini- tionen. Der Vergleich fördert auch gute seine Kollegen in China und Italien ge-
sches Drama abgespielt, sagt Oberarzt Nachrichten zutage: Die Lunge der Coro- macht haben: Betroffen sind eher ältere
Ertunc Altiok. »Inzwischen sehen wir nur na-Patienten bleibt dehnungsfähig, sie Patienten, und viele von ihnen litten
noch ein Krankheitsbild.« versteift nicht wie bei vielen Grippe- schon vor der Coronavirus-Infektion an
Zehn Patienten ringen hier gerade, patienten. Das erleichtert die Beatmung. Krankheiten.
unterstützt vom Gerätepark der Hochleis- Auch scheint es seltener zu einem zusätz- Dennoch, warnt der Intensivmediziner,
tungsmedizin, mit dem Coronavirus Sars- lichen bakteriellen Befall der Lunge zu sei die Vorstellung falsch, dass das Virus
CoV-2. Zwei weitere in kritischer Verfas- kommen. nur Kranke und Betagte befalle. »Covid-
sung sind angekündigt. Die Klinik liegt Andererseits erweist sich Covid-19 als 19 ist nicht eine Erkrankung alter Men-
35 Kilometer südlich von Heinsberg, dem besonders hartnäckige Erkrankung. Oft schen.«
ersten deutschen Epizentrum der Corona- verschlimmert sich der Zustand nach der Die Altersspanne der Intensivpatienten
Pandemie. Klinikeinweisung über viele Tage hin, und in der Aachener Studie reicht von 45 bis
Reglos und weitgehend nackt liegen die auch nach der Verlegung auf die Intensiv- 84 Jahren, das mittlere Alter lag bei 62.
Covid-19-Kranken zumeist bäuchlings auf station ist nicht mit rascher Besserung zu »Unser jüngster Patient ist im Moment
den Betten, angeschlossen an die Schläu- rechnen. »Teilweise müssen die Patienten eine 40-jährige Frau«, sagt Oberarzt Al-
che des Beatmungsgeräts, das ein Sauer- über Wochen beatmet werden«, sagt Chef- tiok. Zwar leide sie unter Asthma, ansons-
stoffgemisch in ihre Lungen pumpt. Einige arzt Dreher. Für das deutsche Gesund- ten aber war sie gesund.
tragen transparente Fausthandschuhe, da- heitswesen ist das eine Hiobsbotschaft, Schon der erste tödliche Verlauf einer
mit sie sich nicht, wenn sie orientierungs- denn es heißt: Die Patienten binden für Covid-19-Erkrankung in Deutschland ver-
los aus der Narkose erwachen, die Zugän- lange Zeit die verfügbaren Beatmungs- stieß gegen die gängigen Regeln – sodass
ge aus dem Körper reißen. »Wir haben ih- plätze. der Fall zunächst unerkannt blieb. Anfang
nen das vorher genau erklärt«, sagt Altiok. März klagte ein 67-jähriger Mann in der
All diese Menschen wurden mit akutem württembergischen 15 000-Einwohner-Ge-
Lungenversagen hierher verlegt oder ein- Demografie des Sterbens meinde Remshalden östlich von Stuttgart
geliefert. »Schocklunge« nennt sich dieser über Husten und Fieber. Die Symptome
Zustand auch. Jetzt überwachen Monitore Covid-19-Todesfälle in Deutschland waren anfangs nicht schlimm. Es ist nicht
nach Lebensalter
die Organfunktionen. Vier der Patienten einmal klar, ob der Mann überhaupt ärzt-
hängen gerade an der Dialyse, einige zei- Männer Frauen lich behandelt wurde. Jedenfalls kam er
gen schlechte Leberwerte. »Herzprobleme nie in eine Klinik.
sehen wir derzeit nicht so viel«, sagt Chef- unter 60 Jahren Über die näheren Umstände seines To-
arzt Michael Dreher. »Aber auch das des möchte das Landesgesundheitsamt kei-
müssen wir im Auge behalten.« 48 ne Angaben machen. Sicher ist nur, dass
In drei Fällen sahen sich die Aachener 60 bis 69 Jahre
Patient Nummer eins am 4. März zu Hau-
Intensivmediziner gezwungen, die Behand- se verstarb. Die Corona-Pandemie schien
lung aufzugeben: Multiorganversagen. Vier 72 damals noch in so weiter Ferne, dass nie-
weitere Covid-19-Patienten verstarben auf mand Verdacht schöpfte.
den Normalstationen des Klinikums. 70 bis 79 Jahre Vorerkrankungen des Mannes sind
Vorrangiges Ziel der Ärztinnen und Ärz- 200 nicht bekannt. Im Februar erst war er von
te ist es, Leben zu retten. Doch zugleich einer Reise aus dem Kongo zurückgekehrt,
geht es jetzt auch darum, den Gegner 80 bis 89 Jahre was dafür spricht, dass er noch mitten im
möglichst genau kennenzulernen, mit dem 447 Leben stand. Die Todesursache wäre nie
sie es in den nächsten Wochen zu tun aufgeklärt worden, wenn nicht die Witwe
haben werden. 90 Jahre und älter wenig später über ähnliche Symptome
Insgesamt 60 Covid-19-Patienten wur- geklagt hätte. Ihr Coronavirus-Test war
103
den bisher in Aachen behandelt, die Hälfte Quelle: RKI; Stand: 2. April positiv, deshalb suchten die Pathologen im

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 103


Coronakrise

Gewebe des Verstorbenen nach dem Virus im Spektrum der Covid-19-Erscheinungs- storbenen zu den Infizierten, nimmt von
und wurden fündig. formen ein Patient steht. Die Ärzte wer- Tag zu Tag zu. Mitte März lag sie noch bei
In ganz anderem Gewand erschien der den lernen müssen einzuschätzen, wie nur 0,2 Prozent. Anfang vergangener
Corona-Tod, als er mit knapp zwei Wo- erfolgversprechend und wie sinnvoll ihre Woche hat sie sich auf 0,4 Prozent verdop-
chen Verzögerung den Norden Deutsch- intensivmedizinische Hilfe in jedem Ein- pelt. Seither hat sie sich noch einmal ver-
lands erreichte. In der Nacht zum 13. März zelfall wirklich ist. dreifacht, auf 1,2 Prozent, und kaum einer
stieg bei dem 76-jährigen Bewohner eines Während sich deutsche Ärzte und Kran- zweifelt mehr daran, dass sie weitersteigen
Altenpflegeheims in Hamburg das Fieber. kenhäuser vorbereiten, werden sie neu- wird.
Wenige Stunden später war er tot, die gierig aus dem Ausland beäugt. Denn in Es bestätigt sich damit, was die Exper-
Corona-Infektion wurde posthum festge- den vergangenen Wochen hat sich der Ein- ten von Charité und Robert Koch-Institut
stellt. Der Mann war schon zuvor krank druck verfestigt, dass irgendetwas grund- nicht müde wurden zu betonen. Nicht die
gewesen. Weil nicht nachgewiesen wurde, legend anders läuft in Deutschland. Als Todesrate in Deutschland sei ungewöhn-
dass die Corona-Infektion todesursächlich in Frankreich, Spanien und Italien der lich niedrig, sondern die Testrate unge-
war, hat die Stadt Hamburg ihn nie als Tod grassierte, blieb die Zahl der Opfer wöhnlich hoch. Deshalb ließen sich die
offizielles Corona-Opfer gemeldet. hierzulande vergleichsweise gering – und Zahlen nicht mit denen anderer Länder
Ganz ähnlich waren die Umstände, als das, obwohl die Durchseuchung in vergleichen.
drei Tage später der erste Corona-Tote In Deutschland vollzieht sich nun mit
Schleswig-Holsteins in der Statistik auf- geringfügiger Verspätung, was Frankreich
tauchte. In der Uniklinik Lübeck hatte seit einer Woche und Italien seit drei Wo-
sich der Zustand eines 78-jährigen Tumor- Deutschland chen durchleben. Voller Sorge fragen sich
patienten verschlimmert. Der Mann litt nun Gesundheitsbehörden und Kliniklei-
unter metastasiertem Speiseröhrenkrebs. hat kostbare Zeit tungen: Wird bald auch das deutsche Ge-
Die Ärzte wollten versuchen, seine Leiden sundheitswesen, wie das der Nachbarn, an
mit Bestrahlung zu lindern. gewonnen. seine Grenzen stoßen?
Doch nun war zur Krebserkrankung Zwar stimmt die Statistik viele Experten
eine Lungenentzündung hinzugekommen. vorsichtig optimistisch. Doch noch weiß
»Wir konnten seinen Zustand anfangs mit Deutschland den offiziellen Zahlen zufol- niemand mit Gewissheit, wann es gelingt,
Antibiotika verbessern«, sagt der hinzu- ge kaum geringer ist als in den Nachbar- die Dynamik des Sterbens abzubremsen.
gezogene Infektiologe Jan Rupp. »Doch ländern. Schon rätselten WHO-Experten Und eines ist sicher: Dem exponentiellen
dann verschlechterte er sich rapide.« Alle und internationale Presse: Sind die Deut- Fortschreiten einer Seuche kann kein Ge-
Versuche einer Stabilisierung blieben ver- schen vor Corona gefeit? Was machen sie sundheitssystem der Welt dauerhaft stand-
gebens. Der Mann starb an Herz-Lungen- besser? halten.
Versagen. Erst nach seinem Tod stellte sich Seit Anfang vergangener Woche jedoch Zwar fühlen sich die deutschen Medizi-
heraus, dass er Corona-positiv war. schwindet der Glaube an den deutschen ner für den bevorstehenden Notfall ver-
Die Beispiele zeigen, wie unterschied- Sonderweg. Die Zahlen haben rasant an- gleichsweise gut gewappnet. »Wir stehen
lich sich ein schwerer Covid-19-Verlauf gezogen, unerbittlich bekommen die Kli- noch lange nicht mit dem Rücken zur
äußern kann. Auf der einen Seite des Spek- niken jetzt die Dynamik exponentiellen Wand«, sagt der Aachener Intensivmedi-
trums stehen die Fälle, in denen das Coro- Wachstums zu spüren. Etwa alle drei Tage ziner Dreher. Trotzdem richten sich die
navirus die Rolle der klassischen Lungen- verdoppelt sich die Zahl der Toten. Die Ärzte darauf ein, dass auch hierzulande
entzündung übernimmt, die einem von Letalitätsrate, also das Verhältnis der Ver- die Versorgung der Kranken knapp wer-
schwerer Krankheit Geschwächten die den könnte.
letzte Lebenskraft nimmt. »Die Pneumo- Gemeinsam haben die Vertreter von
nie ist der Freund des alten Menschen«, sieben medizinischen Fachgesellschaften
heißt eine alte ärztliche Weisheit – Corona darüber beraten, wie sie sich verhalten soll-
kann demnach einen vergleichsweise sanf- ten, falls es irgendwann an Behandlungs-
ten Tod bedeuten, der einen Sterbenden kapazität fehlt. Wer soll dann die über-
von Schlimmerem erlöst. lebensnotwendige Beatmung bekommen?
Auf der anderen Seite des Spektrums Und vor allem: Wem soll sie verwehrt wer-
stehen jene, die das Virus mitten aus einem den? Ethiker, Intensiv- und Palliativmedi-
erfüllten Leben reißt. Es gibt extreme Fälle, ziner haben eine Richtlinie zur »Priorisie-
in denen sich der Zustand von Patientin- rung« ausgearbeitet – von der alle hoffen,
nen und Patienten so rasant verschlechter- dass sie nie zur Anwendung kommt.
te, dass die Zeit fehlte, noch vor dem Lun- Um das Leben ihrer Patienten kämpfen
genversagen ins Krankenhaus zu kommen. zu müssen, sind Ärzte gewohnt. Und auch
Vorerkrankungen, insbesondere wenn diesen Kampf zu verlieren, gehört zu
sie die Atemwege oder Herz und Kreislauf ihrem Alltag. Doch ihn gar nicht erst auf-
betreffen, können die Widerstandskraft nehmen zu können, weil es am nötigen
FELIX VON DER OSTEN / DER SPIEGEL

der Patienten schwächen. Oft handelt es Gerät mangelt, widerspricht zutiefst ihrer
sich dabei um gut eingestellte Leiden, die Ethik. Schnell bleibt das Gefühl zurück,
im Alltag nur geringfügige Einschränkun- schwere Schuld auf sich geladen zu haben.
gen bedeuten, sich im Fall einer Corona- »Es ist erschütternd gewesen zu sehen,
Infektion jedoch als lebensbedrohliches unter welchem Druck Kollegen in Italien
Handicap erweisen. und Frankreich Entscheidungen dieses
Um angesichts der auf die deutschen Ausmaßes fällen mussten, ohne irgendeine
Kliniken zurollenden Pandemie angemes- Orientierung zu haben«, sagt Uwe Jans-
sen reagieren zu können, wird es von Chefarzt Dreher sens, der Präsident der Deutschen Inter-
großer Wichtigkeit sein zu ermitteln, wo »Noch nicht mit dem Rücken zur Wand« disziplinären Vereinigung für Intensiv- und

104 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Zwar schwindet derzeit der Glaube da-
ran, dass Deutschland vom großen Sterben
verschont bleibt, aber es wächst das Ver-
trauen, dass das Land der bevorstehenden
moralischen und medizinischen Heraus-
forderung gewachsen ist. Drei Faktoren
sprechen dafür, dass Deutschland besser
gerüstet ist, als es Italien, Frankreich und
Spanien waren.
Erstens: Deutschland verfügt über mehr
Intensivbetten und mehr Beatmungsplätze
als fast alle anderen Länder Europas. In
den vergangenen Jahren ist vielfach be-
klagt worden, dass wirtschaftliche Zwänge
die Kliniken dazu genötigt haben, die
Hightechmedizin auf Kosten der Grund-
versorgung auszubauen. Doch im Ange-
sicht der Coronakrise könnte sich das jetzt
als Vorteil erweisen.
Zweitens: Deutschland hat kostbare
Zeit gewonnen. Mit den umfänglich durch-
geführten Corona-Tests ist es zumindest
eine Zeit lang gelungen, das Aufflackern
der Seuche frühzeitig zu erkennen und
Infektionsketten zu unterbrechen. Des-
halb setzte die epidemische Ausbreitung
verzögert ein. Das verschaffte den deut-
schen Kliniken rund zwei Wochen Zeit,
sich auf den Ansturm der Corona-Kranken
einzustellen. Die Ärzte im Elsass und in
der Lombardei dagegen wurden unvor-
bereitet überrollt.
Drittens: Deutschland hat eine gut ent-
wickelte Kultur der Entscheidungsfindung
am Lebensende. Die katholisch geprägte
Ethik in Ländern wie etwa Italien lässt die
Ärzte davor zurückschrecken, eine lebens-
FELIX VON DER OSTEN / DER SPIEGEL

erhaltende Therapie abzubrechen und so


gleichsam dem lieben Gott ins Handwerk
zu pfuschen. In Deutschland dagegen sind
Behandlungsabbrüche nichts Ungewöhn-
liches. Im Gegenteil: Die Intensivtherapie
wird in der Mehrzahl der Fälle nicht bis
zum Eintritt des Todes fortgesetzt, son-
dern beendet, wenn sie nicht länger
Arztzimmer in der Aachener Uniklinik: »Das geht an niemandem spurlos vorbei« sinnvoll erscheint. »Wir sind es gewohnt,
solche Entscheidungen zu treffen«, sagt
der Hamburger Beatmungsexperte Martin
Notfallmedizin DIVI. »Die Kollegen sind vermieden werden, wo die Ärzte in ihrer Bachmann.
schwer traumatisiert. Das geht an nieman- Not beschlossen haben, über 80-Jährige Bei Covid-19-Kranken gehen die Ärzte
dem spurlos vorbei.« grundsätzlich nicht mehr zu beatmen. dabei nicht anders vor als bei anderen
Die Richtlinie, die Janssens zusammen Der Text der Priorisierungsrichtlinie ist Patienten mit akutem Lungenversagen,
mit 13 Co-Autoren ausgearbeitet hat, ist durchdrungen von der Hoffnung, dass den sagt Oberarzt Altiok auf der Aachener
eher vorsichtig gehalten. Bei der Entschei- Ärzten die schwersten Entscheidungen Intensivstation 18: »Wenn sich abzeichnet,
dung, ob ein Covid-19-Patient beatmet erspart bleiben können, wenn frühzeitig dass das zuvor vereinbarte Therapieziel
wird oder wann eine Beatmung abgebro- darüber nachgedacht wird, welche Art der nicht länger erreichbar ist, dann ändern
chen wird, dürfe einzig die Erfolgsaussicht Behandlung für welchen Patienten sinn- wir es in Absprache mit den Angehöri-
dieser Therapie eine Rolle spielen. »Wir voll ist. Die Intensivmediziner müssen gen« – auch ein sanfter Tod darf als Ziel
haben auf klare Ausschlusskriterien ver- dazu den Allgemeinzustand eines Kran- gelten.
zichtet«, sagt der Münchner Medizinethi- ken bereits kennen, wenn er bei ihnen ein- Unter strengen Schutzmaßnahmen kön-
ker Georg Marckmann. Das gebe den Ärz- geliefert wird. Und auch der Wille des nen dann die Nächsten Abschied nehmen,
ten zwar keine einfach handhabbaren Patienten sollte bereits ermittelt sein. Das und ein Priester vollzieht, wenn dies ge-
Faustregeln vor, erlaube aber flexiblere heißt: Die Ärzte sollten wissen, was für wünscht ist, die Salbung. Die Ärzte haben
Entscheidungen. eine Behandlung er überhaupt wünscht. gelernt, dass auch ein harmonisches Ster-
Wichtig ist den Experten, dass nicht das All das kann verhindern, dass überlastete ben als erfolgreich beendete Therapie
Alter allein den Ausschlag geben darf. Un- Mediziner Ad-hoc-Entscheidungen über betrachtet werden kann. Johann Grolle
bedingt sollten Verhältnisse wie im Elsass Leben und Tod fällen müssen.

105
Coronakrise

stehung von Zoonosen«, sagt Thomas Met-

Gefahr aus tenleiter, Chef des Bundesforschungsinsti-


tuts für Tiergesundheit auf der Insel Riems.
»Die urbanisierten Zentren der Erde bieten

der Höhle ideale Bedingungen für die Ausbreitung.«


Eine »wachsende Gefahr für die globale
Gesundheit, Sicherheit und Wirtschaft«
sieht Kate Jones heraufziehen, Expertin
für Biodiversität am University College
London. Treiber dieser Entwicklung sei
der »zunehmende Einfluss des Menschen
auf Umwelt und Ökosysteme«.

Auch Umweltministerin Svenja Schulze


(SPD) sieht Handlungsbedarf. »Die Natur-
zerstörung ist die Krise hinter der Coro-
nakrise«, sagt sie. Nach dem Ende der Pan-
demie gelte es deshalb, »eine neue globale
Biodiversitätsstrategie zu beschließen«.
Die Liste der Ausbrüche neuartiger, oft
exotischer, den Menschen gefährdender
Viren liest sich wie ein Kaleidoskop des
Grauens: Machupo-Virus, Bolivien, 1962
bis 1964; Marburg-Virus, Deutschland,
1967; Ebola-Virus, Zaire und Sudan, 1976;
HIV/Aids-Virus, USA, ab 1981; Sin-Nom-
bre/Hanta-Virus, USA, 1993; Vogelgrippe
H5N1, Hongkong, 1997; Mers, Saudi-Ara-
bien, 2012. Jetzt Sars-CoV-2, China, 2019.
Und das ist nur eine Auswahl.
Ökologie Der Ausbruch des Covid-19-Erregers Allein zwischen 1960 und 2004 seien
war kein unglücklicher Zufall. Artensterben, Naturzerstörung 335 Krankheiten beim Menschen neu auf-
getaucht, berichtet Biologin Jones. Min-
und Klimawandel erhöhen das Risiko, dass neue destens 60 Prozent der Erreger seien von
Seuchen von Tieren auf den Menschen überspringen. Tieren übergesprungen.
Ein Seuchenreservoir fällt dabei immer
wieder auf: Fledermäuse und die mit ihnen

D
as Coronavirus kann seine Her- doch nicht der Allmächtige hat es über die verwandten Flughunde. Die Tiere zählen
kunft kaum verbergen. Winzige Menschheit gebracht – Covid-19 ist haus- zu den artenreichsten Säugetiergruppen
Eiweißmoleküle ragen wie Ärm- gemacht. Die Mechanismen der Evolution der Erde. Viren in großer Zahl sind ihre
chen aus seiner Hülle – sie äh- haben die Seuche hervorgebracht. Der ständigen Begleiter, darunter auch Erreger,
neln verblüffend jenen von Viren, die bei Mensch hat nachgeholfen. die dem Menschen gefährlich werden kön-
Malaiischen Schuppentieren vorkommen. Forscher warnen bereits seit Jahren, nen. Mindestens 3200 Coronaviren sind
Noch verräterischer ist sein Erbgut. Zu dass ein neuartiges, für Menschen gefähr- bei Fledermäusen und Flughunden identi-
etwa 96 Prozent stimmt es mit Erregern liches Coronavirus auftauchen könnte. fiziert worden. Auch Filoviren kommen in
überein, die in Java-Hufeisennasen gefun- Immer wieder springen Krankheits- den Tieren vor, die Verursacher von Ebola.
den wurden, einer in Südostasien heimi- erreger von Tieren auf Menschen über. Den Fledermäusen tun die Erreger we-
schen Fledermausart. Zoonosen heißen solche Infektionskrank- nig. Durch ihr spezielles, sehr aktives Im-
Eine Odyssee von Tierart zu Tierart hat heiten. Sie nehmen weltweit zu. Denn munsystem gelingt es den Tieren, sich mit
das neuartige Coronavirus hinter sich, das Bevölkerungswachstum und Naturzer- ihren Untermietern zu arrangieren. Erst
derzeit die Welt in Atem hält. Die Viren- störung, Artensterben und Klimawandel wenn es zum Wirtswechsel kommt, wer-
reise kann Jahre gedauert haben. Am fördern ihre Entstehung und Aus brei - den die Viren mitunter rabiat. Und der
Ende gelang Sars-CoV-2 der Sprung auf tung. wird immer wahrscheinlicher.
den Menschen. Nun stürmt das Virus mit »Schon allein das schnelle Wachstum »Wir bewegen Wildtiere rund um die
alttestamentarischer Wucht um die Erde, der Weltbevölkerung begünstigt die Ent- Welt wie nie zuvor und erzeugen dadurch

106 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


neue Virencocktails«, sagt die Biologin Heute sind es Zika- oder Ebolaviren, die spitzung. Denn so schlicht ist es nicht.
Jones. »Wir erschaffen Lebensräume, in scheinbar urplötzlich aus dem Regenwald »Gebt nicht den Wildtieren und den Fle-
denen Viren einfacher übertragen werden, über Menschen herfallen. dermäusen die Schuld!«, sagt die Biologin
und dann wundern wir uns, dass es neue Ebenso kann der Klimawandel die Aus- Kate Jones.
Erreger gibt.« Mensch und Tier rückten breitung von Erregern beeinflussen. Das Die Märkte einfach zu schließen, hält
immer näher zusammen, »und es gibt Hin- West-Nil-Virus beispielsweise befällt vor sie nicht für eine nachhaltige Lösung, da
weise, dass dadurch jene Arten begünstigt allem Vögel, kann jedoch auch beim Men- diese in Afrika und Asien wichtig für die
werden, die Krankheiten besonders effek- schen eine gefährliche Fieberkrankheit Nahrungsversorgung der Bevölkerung sei-
tiv übertragen können«. auslösen. Schon lange gelangt der Erreger en, sagt die Forscherin. Sie zu untersagen
Wie genau dieser fatale Mechanismus mit Zugvögeln aus den Tropen in den Mit- könne Schwarzmärkte mit noch zweifel-
funktioniert, untersucht Sandra Junglen telmeerraum. Erstmals 2018 entdeckten hafterer Hygiene heraufbeschwören.
von der Charité in Berlin. Die Virologin Experten das Virus auch bei Wild- und Viel wichtiger erscheint es den Wissen-
geht in Afrika und Mittelamerika auf Er- Zoovögeln in Deutschland. schaftlern, Ökosysteme zu stärken und
regerjagd. Sie will verstehen, wie sich »Wir beobachten erste Fälle beim Men- der Natur wieder mehr Raum zu geben.
durch Insekten und andere Gliedertiere schen«, sagt Thomas Mettenleiter. Steigen- Artenvielfalt, so beschreibt es die US-
übertragene Viren – sogenannte Arbovi- de Temperaturen würden die Verbreitung Biologin Felicia Keesing, führe zu einem
ren – ausbreiten. vermutlich begünstigen. Stechmücken »Verdünnungseffekt«, der die Gefahr der
Neben Fledermäusen und Nagetieren übertragen das Virus auf den Menschen, Entstehung neuer Infektionskrankheiten
gehören Mücken zu den größten Viren- unter ihnen auch die Asiatische Tigermü- verringere.
schleudern des Tierreichs. Sie übertragen cke, deren Anzahl hierzulande zunimmt. In vielfältigen Ökosystemen hätten es
Viren, die beim Menschen Dengue-, Gelb- Wie also lassen sich neue Pandemien einzelne Tierarten und so auch deren Vi-
fieber oder bestimmte Gehirnentzündun- wie Covid-19 künftig verhindern? Vor ren schwerer, sich durchzusetzen, erklärt
gen auslösen können. Keesing. Damit sinke auch die Wahrschein-
Junglen will ergründen, welche Auswir- lichkeit des gefürchteten Überschwappens
kungen Ökosystemveränderungen auf der Erreger auf neue Wirte.
Krankheitserreger und deren Wirte haben. Fast die Hälfte aller seit 1940 von Tieren
Dafür jagen die Biologin und ihr Team In- auf den Menschen übertragenen Krank-
sekten, zum Beispiel in Uganda oder im heiten lasse sich auf veränderte Landnut-
nördlichen Namibia: Licht- und Lockstoff- zung, Landwirtschaft, die Veränderung
fallen setzen die Forscher dafür ein, einer-
seits in den letzten unberührten Regenwäl-
dern und Savannenregionen, andererseits
in den Dörfern, den Kakao- und Kaffee-
plantagen.
500 000
Menschen (mindestens)
der Ernährungsgewohnheiten oder die
Jagd zurückführen, berichtete die Forsche-
rin zusammen mit Kollegen bereits 2010
im Fachmagazin »Nature«.
Keesing empfiehlt, »Hotspots« mögli-
Gefangene Insekten werden vor Ort in cher Krankheitsausbrüche weltweit zu
flüssigem Stickstoff schockgefroren. Die
sterben jährlich durch identifizieren und diese engmaschig zu
Virenfracht der Tiere analysieren die Wis- Krankheitserreger, die überwachen. Natürliche Lebensräume soll-
senschaftler im Hochsicherheitslabor der von Mücken übertragen ten dort erhalten und strikt geschützt wer-
Charité in Berlin. den – »um den Kontakt zwischen Mensch
Dabei zeigt sich: Einzelne Stechmücken- werden. und Tier zu verringern«.
arten profitieren von der Zerstörung des Außerdem müsse die Massentierhaltung
Regenwalds, weil sie mit den Umweltver- in den gefährdeten Gebieten intensiv über-
änderungen besser zurechtkommen als allem empfehlen Forscher, Virenreservoirs wacht werden, mahnt die Biologin – Hüh-
andere Arten. Biologen nennen die Über- fernzubleiben. Gerade Märkte wie jene ner oder Schweine sind häufig Zwischen-
lebenskünstler »Generalisten«. Das Fatale: im chinesischen Wuhan, auf dem sich wirte für neue Erreger.
Auch die Viren, die in diesen Moskitos le- Ende 2019 vermutlich der erste Mensch Eines der für den Menschen verhee-
ben, sind fortan ausgesprochen erfolgreich. mit Sars-CoV-2 infizierte, bieten Erregern rendsten Viren aller Zeiten sprang vermut-
Sobald also die Vielfalt schwindet, ideale Bedingungen, um Artgrenzen zu lich vom Haustier über. Die Spanische
schwingen sich einzelne Krankheitserreger überwinden. Grippe tötete Anfang des 20. Jahrhunderts
zur Übermacht auf. Schnell passen sie sich Experten warnen schon lange vor sol- weltweit schätzungsweise 50 Millionen
an die neuen Bedingungen an. Darauf deu- chen Märkten. Eine »Zeitbombe« sahen Menschen. Das verantwortliche Virus fand
ten zumindest erste Daten der Wissen- Forscher um Vincent Cheng von der Uni- im Mittleren Westen der USA den Weg
schaftler hin. Die »Koevolutionsmaschine« versität Hongkong in der Kombination aus zum Menschen. 2009 tauchte ein ver-
springe an, sagt Junglen. Falls die Erreger einem »großen Reservoir an Sars-CoV- wandter Erreger auf. H1N1, das Schweine-
in solchen hoch dynamischen Situationen ähnlichen Viren in Fledertieren« und der grippe-Virus, tötete weltweit geschätzte
in die Nähe von Dörfern oder Feldern »Tradition aus dem Süden Chinas, exoti- 280 000 Menschen.
kommen, können sie relativ leicht auch sche Säugetiere zu essen«. Das notierten »Wenn sich der Staub legt, müssen wir
auf Menschen überspringen. die Wissenschaftler im Jahr 2007 im Fach- uns daran erinnern, dass das Coronavirus
Warnendes Beispiel sind die ersten blatt »Clinical Microbiology Reviews«. Da nichts Einzigartiges und auch kein Un-
Gelbfieber-Ausbrüche im 16. Jahrhundert. war gerade die erste Sars-Epidemie über- glück war, das einfach über uns kam«,
Schon damals wurde der afrikanische Re- standen, an der zwischen November 2002 schreibt der US-amerikanische Wissen-
genwald gerodet. Das Gelbfiebervirus zir- und Juli 2003 fast 800 Menschen starben. schaftsautor David Quammen in der
kulierte bis dahin nur zwischen Mücken Sind also Fledermäuse und Chinas Wild- »New York Times«. Diese Pandemie sei
und Affen. »Als der Mensch in deren Le- tiermärkte schuld an der derzeitigen glo- vorhersehbar gewesen. »Sie war – sie ist –
bensraum vordrang, breitete sich das Virus balen Gesundheitskrise? US-Präsident Teil eines Musters von Entscheidungen,
aus – durch den Sklavenhandel bis nach Donald Trump sprach lange vom »chine- die wir Menschen treffen.« Philip Bethge
Amerika«, berichtet Junglen. sischen Virus«, einer populistischen Zu-

Fotos: NATURE PICTURE LIBRARY / IMAGO, JEAN-MARIE HOSATTE / LAIF 107


Coronakrise

Der Erreger hat sich offenbar früher, zurück. Während des Fluges wurden sie
Unterm schneller und weiter im Land verteilt als
gedacht. Die Studie aus den Niederlanden
auf Symptome untersucht; wer Fieber hat-
te und hustete, kam in die Isolation. Zwei
untermauert, wie wichtig ein »Lockdown« der Ausgeflogenen fühlten sich gut – und
Radar in der gegenwärtigen Phase der Virus-
ausbreitung ist. Zugleich stellt sie die eta-
dennoch erwiesen sie sich beim Test nach
der Landung als positiv für Sars-CoV-2.
blierten Strategien zur Bekämpfung der Beide waren infektiös für andere, erkrank-
Epidemiologie Das Virus Seuche infrage. ten aber nicht.
verbreitet sich heimtückisch: Es reicht anscheinend nicht, Auch japanische Mediziner

86
Überraschend viele Infizierte nur unter Menschen mit Fieber spürten unter Wuhan-Heim-
und Husten nach Infizierten zu kehrern mehrere Infizierte auf –
bleiben gesund – und tragen suchen. Manche, die das Virus 31 Prozent dieser Leute zeigten
den Erreger ahnungslos weiter. in sich haben, zeigen selbst nur keine Symptome. Von den rund
sehr leichte oder sogar über- 700 Virusträgern auf dem Kreuz-
haupt keine Symptome. Und fahrtschiff »Diamond Princess«

D er erste offizielle Patient mit Covid-


19 in den Niederlanden war ein
56-jähriger Modeunternehmer, der
kurz zuvor auf Messen in Mailand gewe-
dennoch können sie wahrschein-
lich den Erreger auf andere über-
tragen. Mitarbeiter
Wie die Autoren der Studie zweier Groß-
wurde fast die Hälfte positiv ge-
testet, ohne dass sie bis dahin
Krankheitszeichen entwickelt
hatten. Südkoreanische Epide-
sen und viel durch Europa gereist war und schreiben, offenbart sich gerade miologen – berühmt dafür, be-
zwischendurch daheim ausgiebig Karneval »die heimtückische Natur« des kliniken sind sonders viel zu testen – fanden
gefeiert hatte. Ende Februar kam er in der Erregers. Er »kann leicht unter- infiziert – nur unter ihren Verdachtspersonen
Stadt Tilburg nahe der belgischen Grenze
auf die Isolierstation einer Klinik.
halb des Radars fliegen«, sagt
die Virologin Marion Koopmans
zwei Wochen mehr als 20 Prozent gesund wir-
kende Infizierte.
Den Mann entließ man bald in häus- vom Medizinischen Zentrum nachdem der Die Weltgesundheitsorgani-
liche Quarantäne, enge Kontaktpersonen der Erasmus Universität in Rot- erste Covid- sation WHO war zunächst da-
wurden aufgespürt und getestet. Die terdam. von ausgegangen, dass die Aus-
Situation, so schien es den Ärzten, war Damit ist klar: Menschen, die 19-Fall in den breitung von Sars-CoV-2 durch
unter Kontrolle, doch offenbar hatten sie sich für hinreichend gesund hal- Niederlanden asymptomatische Menschen
sich getäuscht. ten, viele davon Pfleger, Ärzte, nur eine kleine Rolle spielt. Die-
Tage später litten die ersten Mitarbeiter Therapeuten, Angehörige, Freun- bekannt wurde. se Ansicht ist nicht mehr zu
des Elisabeth-TweeSteden-Krankenhauses de, bringen das Virus ahnungslos halten. Robert Redfield, Direk-
in Tilburg plötzlich unter Fieber. Diagnose: zu denen, die es in großer Zahl tor der »Centers for Disease
Covid-19. töten kann, in Altenheimen, Pflegeeinrich- Control and Prevention« in den USA,
Niederländische Mediziner wollten nun tungen, Krankenhäusern. glaubt mittlerweile, dass sogar bis zu ein
ergründen, wie weit sich das Virus unter Weitere Studien kommen zu dem Er- Viertel der Infizierten das Virus weiter-
dem medizinischen Personal bereits aus- gebnis, dass aus der Abwesenheit von reichen könnte, ohne selbst krank zu sein
gebreitet hatte. Zwischen dem 7. und dem Krankheit eben nicht die Abwesenheit des oder zu werden.
12. März untersuchten sie in der betroffe- Erregers folgt. Die Bundeswehr holte An- Im »New England Journal of Medicine«
nen Klinik sowie einer weiteren in der fang Februar 126 Menschen aus Wuhan berichten chinesische Forscher von Covid-
Nachbarstadt Breda alle Krankenhaus- 19-Patienten, die insbesondere zu Beginn
angestellten, die über Fieber oder leichte ihrer ersten Symptome Viren in sehr hoher
Atemwegsbeschwerden berichteten. Konzentration durch die Nase ausstießen.
Knapp zwei Drittel hatten sich gut ge- Sie fanden allerdings auch einen Infizier-
nug gefühlt, um weiterhin zum Dienst zu ten, der gesund blieb – die Anzahl Viren,
erscheinen. Keiner von ihnen war zuvor die dieser produzierte, war nicht kleiner
in Risikogebieten wie Italien oder China als bei den Kranken.
gewesen. Nur drei der Angestellten hatten Wie lässt sich der Motor der Epidemie
mit dem ersten nachgewiesenen Covid-19- stoppen? Erstens: Es müssen alle bekann-
Fall Kontakt gehabt. ten Kontakte von Erkrankten getestet wer-
Das verblüffende Ergebnis: Von 1353 den, ob sie Symptome haben oder nicht.
Tests fielen 86 positiv für Sars-CoV-2 aus. Nur so lassen sich gesunde Überträger
Nur knapp zwei Wochen nach der Ent- finden und der Quarantäne zuführen. In
deckung des ersten niederländischen Falls Südkorea geschieht dies regelhaft (siehe
waren damit an zwei Großkliniken bereits Seite 86) – in Deutschland bisher nicht.
6,4 Prozent der nach eigener Auffassung Zweitens: Die Kontaktsperre muss so-
vielfach lediglich leicht kränkelnden Be- gar noch ausgeweitet werden. Die körper-
legschaft zu Virusträgern geworden. liche Distanz bietet derzeit den besten
Die Zahl der tatsächlichen Infektionen Schutz vor Ansteckung. Mundschutzmas-
GUIDO BENSCHOP / VISUM

lag damit fast zehnfach höher als die Zahl ken würden vermutlich dazu beitragen,
der bereits bekannten Infektionen unter dass zumindest die symptomlosen Über-
dem Personal. Und sieben Infizierte, so zeig- träger weniger Viren in ihrer direkten
te sich in den Interviews der Forscher, hatten Umgebung freisetzen. Das Grundproblem
bereits Symptome, bevor der erste offizielle bleibt: Die meisten Infizierten wissen
Fall ins Krankenhaus eingeliefert wurde. nicht, dass sie infiziert sind. Marco Evers
Sars-CoV-2 war vielleicht sogar schon vor Virologin Koopmans Mail: marco.evers@spiegel.de
Patient Nummer eins im Hospital. Schon vor Patient eins war der Erreger da

108 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Warum stecken wir Menschen
so gern in Schubladen?
Neues aus der SPIEGEL-Welt: Im aktuellen SPIEGEL WISSEN erfahren Sie,
wie Sie Ihre Menschenkenntnis verbessern. LESE
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Der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash, 71, erklärt unser Bedürf- nach dem einen Schlüssel, mit dessen Hilfe man das vermeint-
nis danach, das wahre Selbst unserer Mitmenschen zu erkennen. liche wahre Selbst hinter der Oberfläche erkennen kann.
SPIEGEL: War Menschenkenntnis zu bestimmten Zeiten be-
SPIEGEL: Seit Jahrtausenden versucht der Mensch, den Men- sonders populär?
schen zu entschlüsseln. Gibt es dabei bestimmte Linien, die Ash: Sie war nie unpopulär. Das Bedürfnis nach einer Verwis-
sich durch die Geschichte ziehen? senschaftlichung der Menschenkenntnis ist so alt wie die Wis-
Ash: Eine Linie ist der Glaube, dass der Mensch eine Einheit senschaft vom Menschen. Und der Wunsch, den anderen zu
bildet, die zu erkennen sei. Heute nennt man das Persönlichkeit, verstehen, treibt alle Menschen an. Wenn man dann ein System
früher sprach man von Charakter. Ob es diese Einheit aber hat, wähnt man sich im Vorteil. Ob dieses System stimmig ist
überhaupt gibt, ist eine zentrale Frage der psychologischen oder nicht, ist zweitrangig. Interview: Sandra Schulz
Forschung. In den letzten Jahrzehnten reden Wissenschaftler
eher von Faktoren oder Einstellungen, die sich verschieden
mischen können. Trotzdem hält sich im Alltag bis heute der Weitere Themen im aktuellen Heft
Glaube an eine Einheit.  Jobinterview: So machen Sie einen
SPIEGEL: Warum hält er sich so stark? guten Eindruck
Ash: Weil er höchst funktional ist im Umgang der Menschen  Kennenlernen: Wie präzise ist unser
miteinander. Es vereinfacht sehr, Menschen in Schubladen zu Bauchgefühl?
stecken und sich selbst dementsprechend zu verhalten. Und  Hochstapler: Darum fallen wir auf
dieser Glaube ist höchst funktional, um uns selbst zu begreifen. sie herein
Denn wir sind komplexer, als wir glauben.  Coaching: vier Übungen für mehr
SPIEGEL: Können Sie noch andere Linien in der historischen Einfühlungsvermögen
Perspektive ausmachen?
Ash: Ja, nämlich die Annahme, dass man körperliche Eigen- SPIEGEL WISSEN erscheint viermal im Jahr und beleuchtet
schaften als Zeichen verwenden könne, um Rückschlüsse auf jeweils ein aktuelles Thema unserer Lebenswelt – auf
die Persönlichkeit zu ziehen. Einer der populärsten Vertreter dem Stand der Forschung und mit praktischer Alltagshilfe.
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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Kultur

PANDORA FILM VERLEIH


Szene aus »But Beautiful«

geist auf Neuland wagen. Ein Schweizer Ehepaar, das alle


Zeit der Umkehr Sicherheiten hinter sich lässt und auf La Palma versucht, völlig
ausgelaugte und verödete Flächen wieder zu bepflanzen.
Dokumentationen Wie kann das Leben gelingen? Oder einen Förster, der auf die Idee kommt, Holzhäuser zu ent-
Der Filmemacher Erwin Wagenhofer zeigt Beispiele. werfen und zu bauen. Den Frauen und Männern, die Wagen-
hofer in seinem Film porträtiert, geht es darum, in dem aufzu-
 Wie könnte es aussehen, ein glückliches und sinnerfülltes gehen, was sie tun, mit sich und der Welt im Einklang zu sein
Leben? Diese Frage stellt sich der österreichische Dokumenta- und Dinge von nachhaltiger Qualität und Schönheit zu erschaf-
rist Erwin Wagenhofer in seinem Film »But Beautiful«, der im fen. »But Beautiful« handelt vom Innehalten, Nachdenken und
vorigen Jahr im Kino lief und am 17. April auf DVD erscheinen Umkehren. Davon, dass man in Zukunft manches vielleicht
wird. Er zeigt Menschen, die sich teilweise mit großem Pionier- anders angehen sollte als bisher. LOB

Sachbücher Autor Peter Pomerantsev, sei- Netz außer Kraft gesetzt. Man weniger obskure digitale
en völlig unkontrollierte, zum weiß schlicht nicht, wer wofür Kanäle, versetzen die Öffent-
Geheime Teil auch unbekannte Kräfte bezahlt und welche Botschaf- lichkeit in einen Zustand der
Propaganda am Werk. In seinem neuen ten welche Zielgruppen errei- Kopflosigkeit und der ver-
Buch »Das ist keine Propagan- chen. Pomerantsev, dessen schwörungstheoretisch befeu-
 In einer offenen Gesellschaft da« (DVA; 22 Euro) schlüsselt Eltern aus Russland stammen, erten Panik. So entsteht nicht
gilt die Kraft des besten Ar- der an der London School of warnt vor einer schleichenden nur ein spannend geschriebe-
guments. Aber ein Urteil über Economics forschende Autor Aushöhlung der Demokratie nes Panorama einer finsteren
den Wert von Argumenten auf, über welche Wege und mit und der offenen Gesellschaft Wirklichkeit, sondern man
können wir uns nur anhand welchen Mitteln Staaten, Fir- durch zunehmendes Misstrau- versteht auch, welche Maßnah-
von Informationen und Fakten men und andere Meinung digi- en, denn dies sei das bevor- men nun dringend getroffen
bilden. Zunehmend beziehen tal manipulieren. All die zugte Mittel von autoritären werden müssten – die Macht
wir die aus dem Internet und Regeln, die für Medien, Partei- Herrschern aller Art: Sie säen der großen digitalen Konzerne
den sozialen Netzwerken. Hier en und Wahlkämpfe in der Zwietracht, Angst und Des- muss endlich politisch einge-
aber, so warnt der britische analogen Welt gelten, seien im information über mehr oder rahmt werden. NM

112 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Museen Literatur lich eine Normalität gewesen
Vom Glück ist, als es passierte. Es handelt
Masken aus von Freundinnen, wilden und
Druckern davor seltsamen Männern und spielt
zum Teil am Atlantik und zum
 Immer lauter wird der  Da waren der Strand und Teil in der Heimat der Autorin,
Mangel an Schutzbekleidung der Grill und die vier Freun- in Luxemburg. Es wird gere-
beklagt, schon haben Textil- dinnen, und es war diese ste- det, geliebt, manche Flasche

HOCHSCHULPRESSESTELLE
fabrikanten ihre Produktion hende Zeit. Sie würde immer Rotwein wird entkorkt. Am
umgestellt und lassen Mund- so stehen bleiben. Niemand Ende sehen die Menschen
schutzmasken nähen. Der hier, der einen Grund für Ver- wie im Schock auf ihr Leben
Kulturbetrieb leistet ebenfalls änderungen wüsste. Kann danach: »Was haben wir
seinen Beitrag. So spendeten doch sein, dass diese versam- eigentlich in der Zwischenzeit
einige Museen von Amster- melte Wunschlosigkeit auch gemacht?, fragte ich mich. Ein
dam bis New York Ausrüstun- Mundschutzprototyp die Zeit bezwingen kann, ein- Leben gelebt, antwortete ich
gen, mit denen sie sonst ihre fach stehen zu bleiben. Julia mir. Wir alle haben das.« VW
Restauratoren schützen. Nun man noch auf der Suche nach Holbes Debüt »Unsere glück-
Julia Holbe: »Unsere glücklichen
sollen sie medizinischem Per- dem geeigneten Material, es lichen Tage«erzählt eigentlich Tage«. Penguin; 320 Seiten; 20 Euro.
sonal zugutekommen. Auch finden Versuche mit Bio- nur davon, was der Titel ver-
die Berliner Stiftung Preußi- kunststoff statt. Der Abstand spricht. Vom Glück von einst.
scher Kulturbesitz schickte zwischen den Studenten blei- So wie wir heute schon nach
eine größere Menge unter be gewahrt, betont eine Spre- kurzer Zeit auf unsere so
anderem an Schutzanzügen, cherin. Die Hochschule und schöne alte Normalität zurück-
Atemschutzmasken, Hauben, ihre Studierenden wollen so schauen, aus der Zeit, als
Handschuhen und Überschu- bald wie möglich mit einer »Coronavirus« noch eine Figur
hen an die Kassenärztliche größeren Zahl von Masken aus »Asterix« war und wir alle
Bundesvereinigung. Die die Stadt Halle unterstützen, gemeinsam das Haus verlas-
Kunsthochschule Burg Giebi- der Katastrophenschutz vor sen haben, um gemeinsam in
chenstein in Halle zeigt sich Ort wird für die Material- der Welt zu sein. Wir lesen die
ebenso hilfsbereit – und dazu prüfung zuständig sein. Die Welt anders, seit das Virus die
noch kreativ. Entwickelt wird Details des Entwurfs werden Macht übernommen hat. Und
derzeit unter anderem ein allgemein zugänglich also lesen wir auch die Bücher

STEFAN GELBERG
Prototyp für eine Mund- gemacht, so könnte die Mas- anders. Julia Holbe hat ein
schutzmaske, die sich mit- ke dann auch woanders schönes, leichtes und doch mit
hilfe eines 3-D-Druckers ferti- gedruckt werden. Das Inte- aller Kraft beschwörendes
gen lässt. In den Werkstätten resse ist nach Angaben der Buch über ein vergangenes
der Ausbildungsstätte ist Akademie groß. UK Glück geschrieben, das eigent- Holbe

Serien Pophits gemacht. Deren Kom- auch bei der Serienweiterfüh- mir gar nicht hart vor«, heißt
ponist, Peter Plate, ehemalige rung wieder dabei und steuerte es darin, und der Song gibt die
Cooler dösen Rosenstolz-Hälfte, schaffte es
sogar, den unangenehm knö-
den neuen potenziellen Ohr-
wurm »36 Grad« bei, der in
Stimmung der Serie vor: ewige
Ferien, Baden im See, sorg-
 Das Leben ist kein Ponyhof, delnden Titelsong in ein locker anderen Zeiten als beinahe loses Dösen im Schatten.
wer möchte es bestreiten? swingendes Coolness-State- sicherer Sommerhit hätte gel- Da muss man schon mal
Aber man kann ihn ja mal kon- ment zu verwandeln. Plate ist ten dürfen. »Das Leben kommt schlucken beim Gedanken an
taktfrei besuchen: Die Kinder- die düsteren Sommeraussich-
heldinnen Bibi und Tina sind ten 2020 – den zu unterdrü-
zurück und springen unver- cken gelingt nicht einmal dem
drossen mit ihren Pferden über hier ansonsten geltenden Es-
Wassergräben – jetzt mit kapismuskonzept.
neuen Hauptdarstellerinnen Es geht zwar auch um den
und in Serienform bei Amazon Klimawandel und um Influen-
Prime Video. cer, aber das ist eher dem
Muss ja, scheint sich der etwas holprigen Kurzschluss
Regisseur Detlev Buck gedacht mit dem Zeitgeist geschuldet.
zu haben, was soll man ma- Im Grunde winken »Bibi &
ANDREAS SCHLIETER / AMAZON

chen bei dem Erfolg? Buck hat Tina« aus einer Heimatfilm-
bereits die vier Kinofilme seligkeit herüber, die hier und
über die beiden Freundinnen da unter dem topmodischen
verantwortet und aus der bie- Kostüm unangenehm nach
deren Hörspielreihe um ein Mottenkugeln riecht. Immer-
Mädchen, das hexen kann, ein hin nicht nach Desinfektions-
bezauberndes, quietschbuntes mittel, das ist in diesen Tagen
Popmärchen mit eingebauten Katharina Hirschberg (r.), Harriet Herbig-Matten in »Bibi & Tina« ja auch schon mal was. KAE

113
ARMIN SMAILOVIC

Hamburger Thalia-Theater-Ensemble des Stücks »Maria Stuart. Ode an die Freiheit«: Die Klickzahlen sind erstaunlich hoch

114
Coronakrise

»Hallo, wir sind noch hier«


Kulturbetrieb Die Künstler des Landes stemmen sich mit
Onlineaktionen gegen den Shutdown. Langsam dämmert ihnen jedoch, wie tief sie getroffen
werden. Vor allem Musikklubs stehen am Abgrund, aber auch Theater.

E
s ist der Mittwoch, bevor in ganz Für ganz Deutschland rechnet die Bun- berufler, darunter Musiker, Techniker, De-
Deutschland das öffentliche Le- desregierung im Augenblick mit Umsatz- signer. Für den Klub beginnt schon jetzt
ben zum Stillstand kommt. In einbußen von bis zu 28 Milliarden Euro das Sommerloch, das üblicherweise von
einem Berliner Technoklub ver- für die Kultur- und Kreativbranche im lau- Juni bis August dauert. Das heißt: ein hal-
sammeln sich am frühen Abend ungefähr fenden Jahr. Je länger der Stillstand dau- bes Jahr ohne Einnahmen. Stundungen
70 Leute. Ein bekannter deutscher Rapper ere, desto gravierender werde der Ausfall. von Steuer- oder Mietzahlungen seien
stellt sein neues Album vor, es ist eine so- Die Kultur, gerade in Deutschland oft als zwar im Gespräch, würden sich aber mas-
genannte Listening Session. Niemand im Ort der Innerlichkeit verklärt, ist eben an siv auf die nächsten Jahre auswirken, fügt
Raum trägt einen Mundschutz. Dass es die Öffentlichkeit gebunden. Das wird Felix Mörl hinzu, ein weiterer Booker.
besser wäre, Abstand zu halten, dieser Ge- schmerzlich bewusst in diesen Tagen. Es dürfte keinen Klub geben, dem es
danke ist ähnlich weit weg wie der, zu Hau- Und auch wenn noch vollkommen un- besser geht. Ob in Berlin, Frankfurt am
se zu bleiben. Man steht herum, hört sich klar ist, wie lange das alles dauert, eines Main, München, Leipzig, Köln: Das Nacht-
die Stücke an, macht sich ein paar Notizen, zeichnet sich ab und sickert langsam auch leben der deutschen Großstädte bildete
trinkt etwas. Normalität – und längst Er- zu den Musikern und Klubbetreibern, einen kulturellen Flickenteppich, der so
innerung an eine untergegangene Welt. Theatermachern und Schauspielern durch: einzigartig war wie das System der deut-
Denn in den nächsten Tagen geht es schen Stadttheater – und der wahrschein-
ganz schnell. Am Freitag macht der Klub lich nicht wieder so werden wird, wie er
zu, wie alle anderen in der Hauptstadt – es gerade eben noch war.
ohne dass klar ist, wann und wer über- Im Uebel & Gefährlich setzt man nun
haupt wieder aufmacht. Tanzen nach den auf Spenden, hofft auf Hilfen durch die
Regeln des Social Distancing? Undenkbar. Politik – und ahnt sicherlich, dass der Staat
Körperliche Nähe ist eine der Grundlagen auch noch Hunderttausende andere Un-
der Popkultur. Ein paar Tage später be- ternehmen wird retten müssen, wenn die
kommt dann jeder, der bei der Albumvor- Krise erst einmal vorbei ist.
stellung war, eine Nachricht: Ein Anwe- Und sonst? Macht man dort, was gerade
sender sei positiv auf Corona getestet wor- überall gemacht wird: Man nimmt sich die
den. Tests müssen organisiert werden, es Öffentlichkeit, die noch da ist. Das Inter-
CLUBKOMBINAT

geht für viele in die Quarantäne. Die Plat- net. Auftritte werden gestreamt, die Zu-
te des Rappers? Noch ist sie nicht abge- schauer können virtuelle Tickets kaufen,
sagt. Aber wer könnte in dem Augenblick, die Einnahmen werden aufgeteilt und zum
da das ganze Land stillsteht, so tun, als Teil gespendet an NGOs wie Sea-Watch.
wäre alles wie immer? Wer kann glaub- Aufruf des Clubkombinats Hamburg Diese Livestreamings seien zum einen da,
würdige Geschichten vom gefährlichen Schon jetzt das Sommerloch um zu sagen, hallo, wir sind noch hier, er-
Leben auf der Straße erzählen, wenn die klärt Mörl. Zum anderen, um einen Bei-
Straße leer ist und alle bösen Jungs zu Niemand wird so schwer getroffen werden trag dazu zu leisten, »die Einsamkeit aus
Hause sitzen? wie Musik und Theater. Kunstformen, die den Wohnzimmern rauszuholen«.
Es ist nur eine kleine Anekdote von vie- stärker als alle anderen auf die körperliche Livestreamings ziehen sich momentan
len, jede und jeder, die in Deutschland mit Anwesenheit ihres Publikums angewiesen durch alle Künste: Der Pianist Igor Levit
Kultur zu tun haben, dürften Ähnliches sind, die wird es auf absehbare Zeit nicht spielt, übertragen auf Twitter, Klavier in
erzählen können. Die Theater und die mehr geben. Selbst wenn die Kontakt- seiner Wohnung, wie er es sonst in der
Opern sind zu. Die Konzerthäuser und die sperre in den kommenden Monaten ge- Londoner Wigmore Hall tut. Der Buch-
Klubs ebenfalls. Die Kinos. Die Museen. lockert werden wird. Dass im nächsten hal- preisträger Saša Stanišić liest auf Insta-
Verlage haben ihre Angestellten in die ben Jahr wieder Popkonzerte, Festivals gram und Twitch aus seinen Texten, Cold-
Kurzarbeit geschickt. Sehr viele Kreative oder die Aufführungen an den Stadtthea- play-Sänger Chris Martin gibt Akustik-
haben Unterstützung beantragt, besonders tern stattfinden können, ist nur sehr versionen der Hits seiner Band. Jeden Tag
in der deutschen Hauptstadt, wo die War- schwer vorstellbar. überträgt der SPIEGEL eine Lesung (siehe
tezahl der Antragsteller zeitweilig die Hun- Das Hamburger Uebel & Gefährlich Kasten Seite 116).
derttausendergrenze überschritt. Der ehe- etwa, einer der bekanntesten Musikklubs Andere Musiker finden in der Krise
malige Berliner Kulturstaatssekretär Tim der Landes, steht möglicherweise vor dem neue Formen: Die britische Popsängerin
Renner postete eine Fotomontage auf sei- Aus. »Im März und April fallen insgesamt Charli XCX verweist über ihren Instagram-
ner Facebook-Seite, die die weltberühmte 62 Veranstaltungen weg, bei denen jeweils Account auf Veranstaltungen anderer
Schlange vor dem Technoklub Berghain zwischen 10 bis 35 Mitarbeiter beschäftigt Künstler, etwa Yogakurse oder Horoskop-
zeigt – mit dem Schriftzug der Investi- worden wären«, sagt Malte von der Lan- lesungen. Die deutschsprachigen Rapper
tionsbank Berlin an der Fassade, die zahlt cken, einer der Programmmacher des La- Xatar oder RAF Camora nutzen ihre
die Zuschüsse aus. dens. Das betreffe Angestellte wie Frei- Reichweite in den sozialen Medien, um

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 115


Literatur Auf der Website des SPIEGEL lesen jeden Tag Schrift- darauf hinzuweisen, dass sie Atemschutz-
masken zur Verfügung stellen könnten; im
stellerinnen und Schriftsteller aus ihren Büchern. Fall von RAF Camora von seiner eigenen

Fenster zur Welt


Modelinie Corbo designt.
DJs legen auf den diversen Plattformen
der Klubs ihre Musik auf, Westbam etwa
im leeren Berliner Metropol. Der Auftritt
wurde vom RBB übertragen – und war so
gut gemeint wie traurig: ein alter Mann,
der ganz allein in einem riesigen Saal
spielt, in dem er vor mehr als 30 Jahren
seine große Zeit hatte. Dabei ist Westbam
ein Star, jemand, der sich keine Sorgen
über Geld machen muss.
All die anderen DJs und Musiker,
die gerade auf dem Berliner United We
Stream oder dem Kölner Dringeblieben
Autorin Berg, Schauspieler Matthes, Riemann: Unter Menschen auftreten, spielen in das schwarze Loch der
Onlineöffentlichkeit hinein. Wissen nicht,
ob zu Hause getanzt oder abgewaschen
 Ingo Schulze war der Erste. Er kam Laptop in Berlin. Und bevor die Lesung wird zur Musik – und Geld gibt es auch
allein den breiten, leeren Bürgersteig beginnt, erscheint Benjamin Denes, keins, abgesehen von Spenden. In Erinne-
am Alexanderufer neben dem Berliner unser leitender Videoredakteur, auf dem rung bleiben, zeigen, dass man da ist, dass
Hauptbahnhof entlang. Begrüßung mit Bildschirm, dann ist es kurz wie in einem man den Mut nicht verliert, dass man sich
dem Ellenbogen, wie man es damals alten Maschinenraum, Knöpfe, Regler, nicht unterkriegen lässt und an das utopi-
eben machte, als die Krise noch frisch »Moment noch« – und wir sind bei sche Moment der Kunst glaubt: Darum ge-
war, dann ins leere SPIEGEL-Hauptstadt- den Autorinnen und Autoren zu Hause: hen diese Auftritte in Wirklichkeit. Zeigen,
büro vor das Bücherregal, Sessel auf Judith Hermann, Deborah Feldman, dass man sich den Spaß nicht nehmen lässt,
anderthalb Meter Abstand. Wie es ihm Francesca Melandri, Ulrich Matthes und ist oft wichtiger als der Spaß selbst.
geht? Schulze wirkte an dem Tag noch all den anderen. Wie im Pop läuft es auch in der klassi-
recht zuversichtlich. Wir sind noch unter Einige mussten überredet werden. schen Musik.
Menschen. Ulrich Matthes wollte seinen Platz Die großen deutschen Orchester stellen
Ingo Schulze ist einer von denen, die keinem Debütanten wegnehmen, Judith alte Aufnahmen gratis ins Netz, Solisten
die Absage aller Lesungen, die Schlie- Hermann lässt sich nicht gern ins Haus spielen und streamen aus dem Wohnzim-
ßung der Buchhandlungen, die verzöger- schauen und mag Kameras nicht. Sibylle mer. Seit dem 1. April stehen an jedem
te Auslieferung bei Amazon schwer Berg meinte, dass sie Sendungen mit Wochentag um 19 Uhr maximal jeweils
getroffen hat. Sein kurz zuvor erschie- Gesichtern grundsätzlich ablehnt. Sie zwei Mitglieder des HR-Sinfonieorches-
nener Roman »Die rechtschaffenen Mör- hatte sich einen schwarzen Hoodie über- ters und der HR-Bigband auf der Bühne
der« war auf bestem Weg, ein Bestseller gezogen und sich in eine weiße Bunker- des Sendesaals in Frankfurt, in gebotenem
zu werden. Er hätte ihm unter normalen atmosphäre zurückgezogen, war skep- Abstand natürlich, und spielen live für
Umständen Honorare eingebracht, von tisch, dass es bald noch eine Menschheit das Publikum im Netz. Musiker des Phil-
denen er eine ganze Weile gut hätte leben gibt, hatte für die Lesung aus ihrem harmonischen Staatsorchesters in Ham-
können. Jetzt bricht das alles weg. neuen Buch »Nerds retten die Welt« burg haben daheim in der Küche eine auf
Am 17. März war das. Seitdem liest Katja Riemann dazugebeten. vier Minuten zusammengekürzte Version
jeden Tag ein Autor auf SPIEGEL.de So viele schöne und tröstliche Momen- der Verdi-Oper »La Traviata« inszeniert.
etwas vor, und wir reden darüber. Es sind te. Ulrich Matthes las Schiller-Balladen, Die Hauptrollen werden von zwei Scho-
ruhige, intensive Gespräche und längere und beim Lesen des Gedichts von der koküssen gespielt, Handyvideos steuern
Lesepassagen. Eine Stunde lang in Ruhe »Hoffnung« kamen ihm fast die Tränen. die Instrumente bei. Wo gerade keine
reden und lesen vor so viel Publikum Judith Hermann hatte sich extra vor Pauke zur Hand war, durfte es auch mal
– bis zu 170 000 Zugriffe – das hatte man eine weiße Wand gesetzt, um nichts aus ein Kochtopf sein.
vorher nicht oft. Am Anfang kamen ihrer Welt zu zeigen. Aber mit der grünen Das Berliner Stegreif-Orchester, das
noch Bov Bjerg und Sascha Lobo und Wasserflasche im Vordergrund und eigentlich am 25. März erstmals in der Ber-
Anja Rützel mit ihrem freundlichen dem – aufgrund der schlechten Internet- liner Philharmonie auftreten sollte, produ-
Hund Juri ans Alexanderufer. Auch sie verbindung – verschwommenen Bild sah zierte für diesen Tag einen ziemlich spek-
liefen diesen großen, leeren Weg hinab, es aus wie die perfekte Inszenierung takulären Stream mit Einzelauftritten aus
Lobo noch mit seinem lasch herunter- einer Judith-Hermann-Erzählung. Und Wohnzimmern und WG-Küchen, der seit-
hängenden Haarkamm, den er erst für Deborah Feldman, deren Lebensgeschich- her auch auf der YouTube-Seite des Or-
die Kamera wieder steil aufrichtete. te gerade als Netflix-Serie Premiere chesters zu sehen ist.
Dann ging es nicht mehr weiter im hatte, erzählte von der Gemeinde ihrer Es ist eine ganz eigentümliche Rolle, die
Hauptstadtbüro, die Kontaktsperre- Herkunft, die, durch ihre Weigerung, Musikern und Künstlern da gerade zu-
Regeln setzten ein. Wie große Teile der sich von der Welt belehren zu lassen, vom kommt. Als würden in Zeiten der Krise
Weltkultur in kürzester Zeit auf Strea- Virus gerade besonders gefährdet ist. die Aufgaben der Kirche, etwa Trost und
ming aus dem Homeoffice umgestellt Es sind kurze Momente der Gemein- Zuversicht zu spenden, neu verteilt. Die
haben, so wurden auch die Lesungen schaft in diesen Tagen der Vereinzelung. Kultur ergänzt die Religion. Sie lenkt ab,
nach Hause verlegt. Ich sitze nun zwi- Blicke ins Fenster nach Hause und raus in sie baut auf, sie schafft es, dass sich alle et-
schen meinen Büchern und meinem die Welt. Volker Weidermann was besser fühlen und, vor allem, weniger
allein. Sie soll eine Pause vom Ausnahme-

116 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


zustand ermöglichen, und obwohl das kul-
turelle Gefüge selbst vor dem Zusammen- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
bruch steht, ist sie doch noch der einzige nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Lichtblick.
Zugleich sehen wir in diesen Wochen Belletristik Sachbuch
viele Szenen, die wirklich altmodisch
wirken – obwohl sie neu sind. Der Balkon 1 (1) Lutz Seiler 1 (1) Peter Hahne Seid ihr noch ganz
spielt da eine große Rolle, fast wie zur Stern 111 Suhrkamp; 24 Euro bei Trost! Quadriga; 12 Euro
Zeit William Shakespeares. Auf Balkonen
wird plötzlich gesungen, musiziert, ge- 2 (3) Delia Owens Der Gesang 2 (6) Bas Kast Der Ernährungskompass
klatscht. Wir erleben einen Kirchentag der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

ohne Kirche. 3 (11) Hilary Mantel 3 (2) Markus Krall Die Bürgerliche
Auch viele Theater streamen im Au- Spiegel und Licht DuMont; 32 Euro Revolution LangenMüller; 22 Euro
genblick. Aufnahmen bewährter Insze-
nierungen, aber manche produzieren 4 (4) Laetitia Colombani 4 (3) Kübra Gümüșay
auch neue Events. Auf der Seite der Das Haus der Frauen S. Fischer; 20 Euro Sprache und Sein Hanser Berlin; 18 Euro
Münchner Kammerspiele haben die Dar-
5 (7) Monika Helfer 5 Samer Tannous / Gerd Hachmöller
steller der Produktion »Yung Faust« ge- Die Bagage Hanser; 19 Euro
(11)
meinsam mit Regisseurin Leonie Böhm Kommt ein Syrer
eine Videoperformance mit Liveeinblen- nach Rotenburg (Wümme) DVA; 18 Euro
6 (2) John Grisham
dungen aus ihren jeweiligen Wohnstuben Die Wächter 6 (9) Rutger Bregman
präsentiert. Heyne; 24 Euro Im Grunde gut Rowohlt; 24 Euro
Auf der Seite des Hamburger Thalia
In den Anwaltskrimis die-
Theaters zeigte der Regisseur Antú Rome- ser Machart ist die Welt 7 (4) Maja Göpel Unsere Welt
ro Nunes statt seiner eigentlich geplanten erwartbar schlecht, die neu denken Ullstein; 17,99 Euro
Premiere »Maria Stuart. Ode an die Frei- Literatur aber in Ordnung.
Effektive Unterhaltung 8 (14) Marc Friedrich / Matthias Weik
heit 1« eine ulkige Videokostprobe mit den mit sanftem Moralkern. Der größte Crash aller Zeiten
Eichborn; 20 Euro
7 (9) Leif Randt
Die Kultur ergänzt Allegro Pastell Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro 9 (5) Thomas Piketty
Kapital und Ideologie C. H. Beck; 39,95 Euro
gerade die Religion, 8 (6) Pascal Mercier
Das Gewicht der Worte Hanser; 26 Euro 10 (10) Michelle Obama
sie spendet Trost. 9 (5) Ingo Schulze Die
Becoming Goldmann; 26 Euro

rechtschaffenen Mörder S. Fischer; 21 Euro


11 (12) Julia Voss
Hilma af Klint S. Fischer; 25 Euro
grandiosen Schauspielerinnen Karin Neu- 10 (8) Lucinda Riley
häuser und Barbara Nüsse, die sich in der Die Sonnenschwester Goldmann; 22 Euro
12 (–) Kyle Harper
Garderobe für ihre Rollen als Maria Stuart Fatum C. H. Beck; 32 Euro
und Elizabeth I. schminkten. Die Klick- 11 (–) Paluten / Klaas Kern Freedom.
Die Schmahamas-Verschwörung 13 Stephen Hawking Kurze Antworten
zahlen sind erstaunlich hoch. »Lieber als (7)
Community Editions; 12 Euro auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro
von Trost würde ich von der Freude spre-
chen, die einem das Theater verschaffen 12 (10) Saša Stanišić
kann«, sagt Joachim Lux, der Intendant 14 (15) Moritz von Uslar
Herkunft Luchterhand; 22 Euro
Nochmal Deutschboden
des Thalia.
»Als Theatermensch, der im Augenblick 13 (15) Christina Henry Die Chroniken von Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro

weitgehend seiner Werkzeuge beraubt Alice. Finsternis im Wunderland


und auf sich selber zurückgeworfen ist, Penhaligon; 18 Euro Zehn Jahre nach »Deutsch-
boden« ist der Autor nach
spüre ich enorm den Drang, wieder ins 14 (–) Claire Lombardo Der größte Spaß, Zehdenick zurückgekehrt, um
Spielen zu kommen«, sagt Nicolas Ste- den wir je hatten dtv; 25 Euro seine ostdeutsche
mann, einer der beiden Leiter des Schau- Reportage fortzuschreiben.
spielhauses in Zürich, der gerade ein zu- 15 (19) Jasmin Schreiber
nächst online startendesWerk mit dem Marianengraben Eichborn; 20 Euro 15 (–) Katja Lewina
Titel »Corona Passionsspiele« vorbereitet. Sie hat Bock DuMont; 20 Euro

Am Anfang klassischer Passionsspiele ste- 16 (18) Sebastian Fitzek


Das Geschenk Droemer; 22,99 Euro 16 (–) Rüdiger Safranski
he meist ein religiöses Gelübde, wonach Hölderlin Hanser; 28 Euro
man als Dank für eine überstandene Be- 17 (–) Graeme Simsion Das Rosie-Resultat
drohung, etwa durch die Pest, eine from- Fischer Krüger; 20 Euro 17 (–) Patrik Svensson Das Evangelium
me Geschichte zum Lob des Himmels er- der Aale Hanser; 22 Euro
zählen wolle. Stemann sagt: »Unser 18 (–) Nick Hornby Keiner hat gesagt,
Schwur ist natürlich ein weltlicher.« Dass dass du ausziehen sollst 18 (8) Umberto Eco
es weitergehe. Irgendwann. Kiepenheuer & Witsch; 18 Euro Der ewige Faschismus Hanser; 10 Euro

Er mag weltlich sein. Er bleibt ein from-


19 (14) Sigrid Nunez 19 (16) Ajahn Brahm Der Elefant,
mer Wunsch. Der Freund Aufbau; 20 Euro der das Glück vergaß Lotos; 16,99 Euro
Martin Doerry, Wolfgang Höbel,
Ulrike Knöfel, Tobias Rapp, Jurek Skrobala 20 (16) Susanne Fröhlich 20 (19) Henning Beck
Ausgemustert Knaur; 16,99 Euro Das neue Lernen Ullstein; 19,99 Euro

117
Coronakrise

Warten, dass es vorbeigeht


Autoren Die Französin Leïla Slimani schreibt ein Shutdown-Tagebuch aus ihrem Landhaus.
Und entfacht eine neue alte Debatte – über die da oben und die da unten.

KASIA WANDYCZ / CONTOUR / GETTY IMAGES


Schriftstellerin Slimani: »Die Leute halten mich für ein Mitglied dieser Bourgeoisie, die sie so hassen«

I
hren Kindern hat sie gesagt, es sei Kindern von Paris aufs Land gefahren, wie nun stelle ich fest, ich kann nicht schreiben.
wie bei Dornröschen, das 100 Jahre an jedem Wochenende, mit leichtem Ge- Nicht mit dieser Unruhe im Herzen. Ich
schlafen musste, um nicht zu ster- päck für einige wenige Tage, wie sie sagt. kann nicht mehr richtig denken, die ersten
ben, die Feen hätten sich das ausge- Sie sind dann einfach dageblieben. Tage war ich wie gelähmt. Das, was da
dacht, um es zu retten. »Bei uns ist es ähn- Tagebucheintrag vom 18. März: draußen gerade geschieht, ist so groß, dass
lich, wir müssen uns nun ausruhen und zu Alles ist zum Stillstand gekommen. Wie in man jetzt nur eines tun kann: warten, dass
Hause bleiben. Und so wie der Prinz eines diesem Kinderspiel mit den Stühlen. Der es vorbeigeht.«
Tages kam, um Dornröschen wach zu küs- Refrain hört auf, man muss sich hinsetzen Sie macht nun täglich mit ihrem Sohn
sen, werden wir uns auch bald wieder küs- und darf sich nicht mehr bewegen. Auf ein- Hausaufgaben, kontrolliert seine Multi-
sen«, so schrieb Leïla Slimani es in der ers- mal hat das Karussell aufgehört, sich zu plikationsrechnungen heimlich mit dem
ten Folge ihres Corona-Tagebuchs, das die drehen. Nie schien die Zukunft so ungewiss Taschenrechner unter dem Küchentisch,
Tageszeitung »Le Monde« seit zwei Wo- zu sein. kocht, wäscht und liest. »Lesen ist das Ein-
chen abdruckt. Das Paradox sei, sagt sie in unserem zige, was jetzt hilft, von F. Scott Fitzgerald
Sie habe nicht gewusst, wie sie es ihrem Gespräch, eingeschlossen zu sein, sich ab- bis Richard Yates.« Und sie schreibt ihr
neunjährigen Sohn und ihrer kleinen, drei- geschirmt vom Rest der Welt auf das Tagebuch.
jährigen Tochter anders hätte erklären sol- Schreiben konzentrieren zu können. Ei- Leïla Slimani hat eine sehr sanfte, an-
len, sagt Slimani am Telefon. Es ist die drit- gentlich eine Situation, die sich jeder genehme Stimme am Telefon. Sie sitzt in
te Woche der Ausgangssperre in Frank- Schriftsteller ständig herbeiwünsche: ihrem efeubewachsenen Wochenendhaus,
reich. Drei Tage bevor sie verkündet wur- »Man untersagt sich rauszugehen, man tut während wir telefonieren, durch die Fens-
de, war Slimani mit ihrem Mann und den alles, um nicht gestört zu werden. Aber ter sieht sie erste Lindenblüten, sanfte

118
Hügel und Felder. Um die Kinder kümmert einen, zusammenstehen. Aber wir sind mir nicht diktieren, was ich zu schreiben
sich gerade der Vater, ein Banker, den sie nicht alle gleich. Die kommenden Tage wer- habe«, sagt sie. Im Übrigen sei jedes Tage-
vor Jahren in einer Bar in Paris kennen- den mit einer Grausamkeit, die schon jetzt buch Ausdruck einer subjektiven Sicht.
gelernt hat. Die sanfte Stimme erzählt in abzusehen ist, die Ungleichheiten vertiefen. »Aber keine Subjektivität ist schlechter
ihren Romanen dunkle, verstörende Ge- Zwischen jenen, die nichts haben; jenen, oder besser als eine andere.«
schichten: In »All das zu verlieren« ist das die wenig haben; jenen, für die jeder ein- Die Kritik habe sie weder überrascht
die Erzählung einer sexsüchtigen jungen zelne Tag in Zukunft ungewiss sein wird, noch verletzt. »Frankreich ist ein zutiefst
Frau, die mit einem angesehenen Pariser und jenen, die nicht so viel Glück haben gespaltenes Land, das unter großen sozia-
Arzt verheiratet ist, mit dem sie einen klei- wie ich. len Ungerechtigkeiten leidet, in dem die
nen Sohn hat. Was sie nicht davon abhält, Weil Slimani aber am selben Tag auch Wut noch immer groß ist. Und die Leute
wie besessen Sex mit Unbekannten zu su- über den Raureif auf den Wiesen vor ih- halten mich für ein Mitglied dieser Bour-
chen, hinter Mülltonnen und in herunter- rem Haus schrieb und von den Bildern geoisie, die sie so hassen. Das ist nicht das
gekommenen Hotelzimmern, je schmutzi- ihrer Kinder erzählte, die sie aufgefordert erste Mal.«
ger, desto besser. hatte, ein Porträt des Coronavirus zu zeich- Es gehört zu den Widersprüchen Slima-
In »Dann schlaf auch du« (Originaltitel: nen, ergoss sich nur Stunden später in den nis, dass sie in ihren Romanen mit klini-
»Chanson douce«) bringt das Kindermäd- sozialen Netzwerken Häme und Hass über scher Kälte die dunklen Seiten der Mensch-
chen einer jungen bourgeoisen Familie in sie. In einem »Brief an bourgeoise Schrift- heit beschreibt, sich als Schriftstellerin
Paris die ihr anvertrauten Kinder, einen steller« beklagt ein Autor, ihre idyllischen politisch äußert und sich für die sexuelle
Jungen und ein Mädchen, auf grausame Fotos mit dem Blick auf Wiesen und Felder Freiheit von Frauen in Marokko einsetzt –
Art um, nachdem sie über Monate alles hätten einen »pornografischen Beige- aber auch den Glamour und den roten Tep-
darangesetzt hat, das uneingeschränkte schmack«. Sie seien etwas »Obszönes« für pich liebt und dies offen zugibt.
Vertrauen der Eltern zu gewinnen. »Chan- all jene, die in Paris nur auf die Hauswand Auf Filmfestivals, zu denen sie eingela-
son douce« verkaufte sich in Frankreich gegenüber blickten und deren Leben sich den wurde, machte sie Selfies, die sie ihrer
mehr als eine Million Mal, es wurde in auf einem Raum von 15 Quadratmetern Mutter und ihren Schwestern schickt, mit
44 Sprachen übersetzt, 2016 erhielt Slima- abspiele. einem Champagnerglas in der Hand. Die
ni den französischen Literaturpreis Prix Familie ist auch in Frankreich eine enge
Goncourt für den Roman. Da war sie ge- Bande geblieben, ihre Mutter wohnt in
rade 35 Jahre alt.
Er machte die junge, schöne Schriftstel-
Wo sind die Tagebü- Paris in derselben Straße wie sie.
Tagebucheintrag vom 24. März:
lerin zu einem Star. Slimani ist in Marokko
aufgewachsen, sie studierte an einer Pari-
cher von Frauen, die Wir sind inzwischen über eine Milliarde
Menschen in Hausarrest. Ich stelle mir vor,
ser Eliteuniversität. Ihr Aufstieg verzau-
berte die Franzosen wie der keiner ande-
sich jetzt verprügeln wie man vielleicht in 50 oder 100 Jahren
in der Ritze eines Sessels, unter einem Holz-
ren Schriftstellerin seit Françoise Sagan. lassen müssen? parkett oder im doppelten Boden eines Kof-
Die »New York Times« führte »Dann fers Schulhefte mit Notizen aus dieser Zeit
schlaf auch du« unter den zehn besten Bü- finden wird, unbeholfen und zerbrechlich
chern des Jahres auf. Präsident Emmanuel In einem großen Landhaus in der Nor- aneinandergereihte Wörter. Und ich frage
Macron fragte Slimani 2017, ob sie Kultur- mandie eingesperrt zu sein sei keine Qual, mich, was unsere Nachkommen dann über
ministerin werden wolle. Sie lehnte ab, das seien Ferien, schrieb ein Mann namens die Menschen, die wir waren, denken wer-
nahm aber den Posten der Botschafterin Mehdi auf Twitter. Wieso es keine Tage- den. Welches Bild werden sie von dieser
für Francophonie an und darf seither welt- bücher gebe von Frauen, die sich jetzt zu Zeit, dieser Epoche haben, in der sich das
weit für die französische Sprache werben. Hause von ihren Ehemännern verprügeln Leben einer Welle gleich von der Welt zu-
2018 wählte die »Vanity Fair« sie zur ein- lassen müssten, von Franzosen mit klei- rückgezogen hat?
zigen Frau unter den drei einflussreichsten nem Gehalt, von all jenen, die in den Vor- Manchmal denke sie, so sagt Leïla Sli-
Franzosen des Jahres. Die anderen beiden orten von Paris lebten, und von allen Fran- mani am Ende unseres Telefongesprächs,
waren der Fußballer Kylian Mbappé und zosen, die keinen Notausgang aus dieser dass es vielleicht gut war, alles anzuhalten,
der Modemacher Hedi Slimane. Krise hätten, fragte ein anderer. um nachzudenken, was wir tun, wohin wir
Zu Beginn der Verbreitung des Corona- Es ist die Wucht der Kritik, die über- gerade im Begriff waren zu gehen. Sie be-
virus in Frankreich kam ihr neues Buch he- rascht, der tiefe Hass, der jede Zeile füllt. trachte die leeren Seiten ihres Kalenders,
raus: »Le pays des autres«. »Das Land der Existenzielle Krisen haben im besten Fall die vielen ausradierten Termine ohne
anderen« ist der erste Teil einer Familien- das Potenzial, ein Land zu einen, zerrüttete Melancholie, ohne Bedauern. Jetzt sei Zeit
trilogie, angelehnt an das Schicksal ihrer Lager zusammenzuführen und alte Kon- für etwas anderes: einfach wieder zu ler-
Großmutter, einer Französin, die zu ihrem flikte vergessen zu machen. Die Corona- nen, da zu sein, wo man sich gerade auf-
Mann nach Marokko zog und sich dort in krise scheint in Frankreich das Gegenteil hält, diesen Ort mit Leben zu füllen.
einer kolonialistischen und patriarcha- zu bewirken und die Gräben zu vertiefen. Wird sich etwas ändern, wenn das alles
lischen Gesellschaft behaupten musste. Hauptstädter, die sich noch vor der Aus- mal vorbei ist?
Das Virus ließ ihr noch Zeit genug, das gangssperre aufs Land oder in den Süden »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Viel-
Buch zu einem Bestseller werden zu lassen. flüchteten, berichten, dass sie nun ihre Au- leicht geht auch alles weiter wie zuvor.
Slimani gab ein paar Lesungen; in einigen tos mit Pariser Kennzeichen in der Garage Dostojewski sagt, der Mensch passe sich
Monaten wollte sie eigentlich mit ihrer Fa- versteckten, um der Wut der Anwohner an alles an. Wir werden uns auch noch an
milie nach Harvard gehen für eine Gastpro- auf »die da oben« zu entgehen. Der tiefe dieses eingesperrte Leben gewöhnen. Und
fessur. Doch dann hielt das Karussell an. Klassenkonflikt, der sich schon in den Pro- wenn wir wieder rausdürfen, unser altes
Tagebucheintrag, 18. März: testen der Gelbwesten zeigte, ist nicht ver- Leben wiederaufnehmen. Und irgend-
Im Fernsehen sagt ein Mann, der – davon schwunden. Im Gegenteil, er artikuliert wann vergessen, wie das hier war. Gut
bin ich überzeugt – es gut meinte, wir seien sich gerade mit großer Schärfe. möglich, dass es auch so ausgeht.«
alle gleichermaßen von dieser Bewährungs- Slimani hat auf die Tweets, Blogeinträge Britta Sandberg
probe betroffen. Wir müssten uns nun ver- und Mails nicht geantwortet. »Ich lasse

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 119


Kultur

»Ich bin eine


Provokation«
SPIEGEL-Gespräch Die berühmte Performancekünstlerin
Marina Abramović will eine Oper über das Lieben und Sterben
von Maria Callas auf die Bühne bringen. Nun muss sie pausieren
– und gibt Auskunft über ihr eigenes spektakuläres Leben.

M
ünchen, eine weitgehend ver- uraufführen können. Wir organisierten
waiste Bayerische Staatsoper. stattdessen einen Livestream. Inzwischen
Marina Abramović, 73, will haben wir selbst den abgesagt. Der Zu-
hier ein Herzensprojekt ver- stand ist eine Belastung. Es fühlt sich an,
wirklichen. Die Performancekünstlerin als wären wir im Krieg.
ist es gewohnt, überall auf der Welt zu ar- SPIEGEL: Wirklich wie im Krieg?
beiten. Abramović lebt in New York, reiste Abramović: Eine gute Freundin von mir,
aber aus London an, die dortige Royal Susan Sontag, hat während des Bosnien-
Academy wird ihr eine große Ausstellung krieges Becketts »Warten auf Godot« in
widmen. In München arbeitet Abramović, einem Schutzraum in Sarajevo inszeniert,
unterstützt von Sängerinnen, an einer un- ich muss oft an sie denken. Bei ihr war es
gewöhnlichen Opernidee: einer Hommage laut, bei uns ist es still. Ich weiß, uns be-
an Maria Callas. Die Uraufführung war droht kein Krieg, sondern ein Virus, aber
für den 11. April geplant, doch der Termin ich denke, auch das ist ein furchtbarer
ist nicht zu halten. Gegner. Dass wir so wenig über diesen
Abramović hat legendäre Werke ge- Gegner wissen, dass er unsichtbar ist,
schaffen, das ist in dem Dokumentarfilm macht ihn so gefährlich, und wir alle spü-
»Body of Truth« zu sehen (dessen Kino- ren diese Gefahr.
start vorerst verschoben wurde). Dazu SPIEGEL: Wie arbeiten Sie unter den
zählte auch ihre Performance »The Artist aktuellen Bedingungen?
is present« im Museum of Modern Art in Abramović: Zuerst haben wir die Teilneh-
New York im Jahr 2010. Mehrere Wochen merzahl reduziert, auf nur zwei Personen,
lang empfing sie täglich über viele Stunden manchmal drei Personen. Abends gingen
Besucher, jeden der mehr als 1500 Men- wir in einer seltsamen Stimmung nach
schen blickte sie regungslos an. Hause, und am nächsten Morgen kamen
Die Begegnung mit Abramović findet wir mit ihr zurück. Wir erstatteten uns
Mitte März in einem Separee der Münch- gegenseitig Bericht, zu wem wir sonst
ner Staatsoper statt, die Coronakrise spitzt noch Kontakt haben, aber kaum jemand
sich bereits zu, aber es gibt noch keine von uns sieht andere Menschen. Aber jetzt
Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen. brauchten wir das ganze Orchester, das ist
Abramović ist guter Laune und bietet erst unter diesen Umständen nicht möglich.
mal Desinfektionsmittel aus einem kleinen Also pausieren wir, ich beaufsichtige die
blauen Fläschchen an. Zehn Tage später technischen Aufbauten, die Einrichtung
noch ein Telefonat, jetzt klingt sie weniger der Lichttechnik.
zuversichtlich. SPIEGEL: Das Stück heißt »7 Deaths of
Maria Callas«, es geht um Leidens- und
SPIEGEL: Frau Abramović, Sie sind An- Sterbeszenen auf der Bühne, die die legen- Doch ich gehe durch Mauern hindurch. Es
fang März nach München gereist, nun däre Opernsängerin verkörperte, aber auch wird eine Zeit kommen, in der wir das
kommen Sie aus Deutschland erst mal um Callas’ eigenen Tod 1977 in Paris. Virus bekämpft haben und einen riesigen
nicht mehr heraus. Wie geht es Ihnen Abramović: Ich verarbeite mit dieser Oper Hunger nach Kultur, nach Opern und
damit? ausgerechnet jetzt ein Thema, das ich seit Ausstellungen verspüren werden.
Abramović: Es ist schwierig. Alle Beteilig- 30 Jahren im Kopf habe. Und außerdem SPIEGEL: Wird das Publikum, wenn es
ten hatten anfangs noch die Hoffnung, das bereite ich eine große Ausstellung in der endlich wieder die Oper besuchen darf,
Vorhaben mit viel Enthusiasmus voran- Londoner Royal Academy vor. Sie trägt ausgerechnet ein Stück sehen wollen, das
treiben zu können, obwohl bald klar war, den Titel »After Life«, also: »Nachleben«. vom Tod handelt?
dass wir diese Oper nicht vor Publikum Beide Projekte wirken, als hätten wir et- Abramović: Das Stück handelt nicht vom
was vorhergesehen. Aber so war es nicht. Tod an sich, es handelt vom Leiden und
Das Gespräch führten die Redakteurinnen Ulrike Die momentane Situation kann einem das Sterben aus Liebe. Die unglückliche, ver-
Knöfel und Claudia Voigt in München. Gefühl geben, hinter einer Mauer zu leben. zweifelte Liebe ist ein anderes großes The-

120
MARCO ANELLI

Darstellerin Abramović als Sängerin Callas in »Lucia di Lammermoor«: »Wenn Sie ein Talent haben, dürfen Sie es nicht verschwenden«

ma, es ist universell und ewig. Viele von darstellen musste. Maria Callas gab sich viel wollen: Kinder und Familie und Liebe
uns kennen es, ich kenne es ganz sicher. für Aristoteles Onassis auf, dann starb sie und Harmonie und Kunst und Erfolg.
SPIEGEL: Auch Ihre persönlichen Erfah- wegen dieser unerfüllten Liebe, da war SPIEGEL: Und das ist unmöglich?
rungen fließen in diese Inszenierung ein? sie erst 53 Jahre alt. Abramović: Als ich meine ersten Perfor-
Abramović: Selbstverständlich, sie haben SPIEGEL: Sie selbst haben Ihr Leben der mances machte, noch in Jugoslawien, da
viel mit diesem Projekt zu tun. Als mich Kunst untergeordnet, sagen Sie in dem war ich oft nackt, meine Eltern wurden auf
mein italienischer Ehemann verließ, war Dokumentarfilm »Body of Truth«. Ist die den Treffen der Kommunistischen Partei
ich am Boden zerstört. Ich konnte nicht Kunst eine bessere Wahl als die Liebe? angegriffen, man wollte mich in eine psy-
schlafen, nicht essen, ich fand mich selbst Abramović: Wenn Sie ein Talent haben, chiatrische Klinik einweisen lassen, aber
unerträglich. In meinem Unglück dachte dürfen Sie es nicht verschwenden. Eine ich war überzeugt, dass meine Perfor-
ich an Maria Callas, daran, dass sie an höhere Ordnung sieht das so vor, davon mancekunst richtig ist, dass ich das machen
gebrochenem Herzen starb und in so war ich immer überzeugt. Es gibt so weni- muss. Jahrelang war ich allerdings die Ein-
vielen Rollen als Sängerin das Sterben ge große Künstlerinnen, weil Frauen zu zige, die das so sah. Ich wollte keine Kinder,

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 121


Kultur

keine Familie. Ich wusste, dass es viele ich so lange geliebt hatte und mit dem ich Toilette aufsuchen. Wenn du das schaffst,
Frauen gibt, die hervorragende Mütter sein diese Performance erfunden und durch- bist du anschließend ein anderer Mensch.
werden. Ich würde nicht dazu zählen. Wer geführt hatte. Das war eine Zäsur in mei- Ich habe es geschafft, und ja, dann kam
sich für einen solchen Weg entscheidet, nem Leben und in meiner Arbeit. Ulay ist Ulay.
nimmt Opfer und Einsamkeit in Kauf. nach langer Krankheit gerade erst, Anfang SPIEGEL: Ein YouTube-Video zeigt diesen
SPIEGEL: Es ist also kein Klischee, dass März, gestorben. Moment.
es eine Verbindung zwischen schwierigen SPIEGEL: Viele Jahre lang bildeten Sie bei- Abramović: Und viele, viele Millionen
Erfahrungen und guter Kunst gibt? de ein scheinbar perfektes Team, zwei ra- Menschen haben den Film gesehen.
Abramović: Nein, die Geschichte der dikale Performancekünstler, die gemein- SPIEGEL: Moderne Kunst ist selten so
Kunst ist doch voller Beispiele. Wobei sam durch die Welt zogen. berührend wie in diesem Augenblick.
Depressionen etwas anderes sind, die Abramović: Jede Performance war ein Abramović: Nach jedem Besucher habe
müssen behandelt werden. Aber Gefühle Gemeinschaftswerk, wie ein Gemälde, das ich den Kopf gesenkt, mich kurz gesam-
wie Einsamkeit und Leiden wirken positiv von zwei Künstlern geschaffen und signiert melt, wenn ich die Augen wieder öffnete,
auf die Kreativität. Wer glücklich ist, möch- wird, von mir und dem Mann, den ich saß der nächste dort. Als ich Ulay erkann-
te an diesem Zustand möglichst nichts liebte. Doch die Wanderung auf dieser te, musste ich tief einatmen. Ich habe mei-
ändern, deshalb entsteht daraus nichts. gigantischen Mauer war ein Moment der ne Regeln gebrochen, ich konnte nicht an-
Glück macht nicht kreativ. Erkenntnis. Ich dachte damals, ich will ders. Ulay war nicht irgendein Besucher.
SPIEGEL: Sie wirken alles andere als nichts mehr von mir verstecken, nicht als SPIEGEL: Er hat ein wenig gelächelt, bei
unglücklich. Mensch, nicht als Künstlerin, ich will Ver- Ihnen flossen die Tränen.
Abramović: Eine der besten therapeuti- letzlichkeit zeigen dürfen. Nichts zu ver- Abramović: Ich sah das Leben vor mir, das
schen Maßnahmen meines Lebens war die bergen ist die größte Herausforderung im wir zusammen hatten. Und trotzdem ver-
Arbeit mit dem Regisseur Bob Wilson, mit Leben. klagte er mich einige Jahre später.
dem ich die Inszenierung »The Life and
Death of Marina Abramović« entwickelte.
SPIEGEL: Warum war das therapeutisch?
Abramović: Ich habe Bob Wilson damals
meine Tagebücher, meine Arbeiten, alle
meine privaten Geschichten überlassen. Ich
begab mich wie eine Puppe in seine Hände,
weil ich mich durch die Augen eines ande-
ren sehen wollte. Während der Proben bin
ich fast jeden Tag in Tränen ausgebrochen,
weil ich mich so vieler Dinge geschämt
habe. Wilson hat gesagt: »Hör auf zu wei-
nen, die Zuschauer können weinen, aber
nicht du.« Als das Stück zur Aufführung
kam, war ich wie befreit, wundervoll.
SPIEGEL: Würden Sie sich als besonders

WILFRIED HÖSL
mutig bezeichnen?
Abramović: Wenn ich es in meinem Alter
nicht wäre, wann dann? Ich verrate Ihnen
ein Geheimnis: Sie müssen Ihre inneren Regisseurin Abramović bei Probe in München, bei Dreharbeiten für ihre Callas-Oper:
Widersprüche akzeptieren. Ich, zum Bei-
spiel, habe entdeckt, dass mindestens drei
Marinas in mir stecken, alle müssen in Har- SPIEGEL: Viele Jahre später haben Sie eine SPIEGEL: Das war 2015, da ging es um
monie miteinander auskommen. Sie sind völlig andere Langzeitperformance durch- Fragen des Urheberrechts an alten Perfor-
sehr unterschiedlich. Eine ist tatsächlich geführt, 2010 im Museum of Modern Art mances, die Sie später ohne ihn neu auf-
mutig, sogar heldenhaft mutig, geht durch in New York. Sie haben wochenlang Be- geführt haben. Ulay forderte eine finan-
Mauern, ist in fast schon militärischer sucher empfangen, ohne sich zu rühren. zielle Beteiligung.
Weise diszipliniert. Die zweite Marina ist Einer war Ulay, mit dem Sie damals seit Abramović: Ich verlor vor Gericht, und
spirituell und glaubt an jeglichen Hokus- Jahren keinen Kontakt mehr hatten. ich war so wütend. Ich war fassungslos,
pokus, parallele Welten und so etwas. Die Abramović: Diese Performance bedeutete: dass er nach allem, was wir durchgestan-
dritte liebt Trash jeder Art, schlechte Filme, drei Monate lang nahezu regungslos sit- den hatten, gerichtlich gegen mich vorging.
Schokolade, Faulsein. Und es wäre doch zen. Das ist die Hölle auf Erden. Ich habe Offenbar dachte er, ich sei nun – insbeson-
schrecklich, wenn ich nur eine dieser Per- ein Jahr lang trainiert, wie ein Astronaut dere nach der Schau im Museum of Mo-
sonen zeigen dürfte und die anderen ver- für eine Weltraummission. Während der dern Art – eine reiche Schlampe. Das hat
stecken müsste. Denn erst wenn Sie nichts Öffnungszeiten des Museums unterbrach mir das Herz gebrochen. Erneut.
von sich verstecken, macht Sie das stark. ich meine Performance nicht, ich konnte SPIEGEL: Konnten Sie ihm irgendwann
SPIEGEL: Auch in Ihren Performances also nicht essen, nicht trinken, nicht die vergeben?
offenbaren Sie sich, Sie haben sich nicht Abramović: Schon bald sogar. Gleich nach
nur nackt gezeigt, Sie haben sich gelegent- dem Prozess bin ich nach Indien gereist,
lich auch in Lebensgefahr gebracht. ich war so traurig, so erschöpft. Ich habe
Abramović: Nachdem ich 1988 eine mona-
»Wer glücklich ist, möchte einen Platz in einer Ayurvedaklinik ge-
telange zehrende Wanderung über die an diesem Zustand bucht, die immer nur 18 Personen gleich-
Chinesische Mauer bewältigt hatte, fühlte zeitig aufnimmt, es hat 30 Stunden gedau-
ich mich sogar deprimiert. Danach trennte
nichts ändern. Glück ert, dorthin zu gelangen, und wen treffe
ich mich von Ulay, von dem Mann, den macht nicht kreativ.« ich dort? Ulay und seine Frau. Wie in

122
einem Hollywoodfilm. Wir mussten alle SPIEGEL: Hat sich mit dieser Ausstellung
morgens um fünf aufstehen und gemein-
»Ich bin ein Beispiel und dem Auftritt in Belgrad ein Kreis für
sam meditieren. Wir haben uns versöhnt, dafür, dass jede Frau so Sie geschlossen?
endgültig, und ich bin froh, denn wäre es Abramović: Nun ja. Jemand sagte mir, ich
nicht so gewesen, hätte ich mich jetzt nach
leben kann, wie sie will. sei der neue Tito, weil die Menschen in
seinem Tod sehr schlecht gefühlt. Das löst Ablehnung aus.« Bussen und von überallher kamen, um die
SPIEGEL: Ihnen ist eine einzigartige Kar- Ausstellung zu sehen. Aber das Tolle war,
riere gelungen, die großen Museen dieser sie konnten dort sehen, was zeitgenössi-
Welt haben Ihnen Ausstellungen gewid- erste weibliche Regierungschefin des Lan- sche Kunst sein kann, was sie schon in
met, nur Ihre Heimat hat Sie lange igno- des, sie ist auch jung, Mitte vierzig. Wissen den Siebzigern sein konnte.
riert. Erst im vergangenen Jahr zeigte das Sie, die Menschen meiner Generation in SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Museum für zeitgenössische Kunst in Bel- Serbien, sogar die Künstler meiner Gene- Abramović: Heute verhindert die Political
grad eine große Werkschau. Was bedeutet ration, hassen mich. Correctness jegliche Kreativität, insbeson-
Ihnen Serbien? SPIEGEL: Wofür? dere in den USA, aber eigentlich längst
Abramović: Ich bin in Belgrad geboren Abramović: Das sind traditionelle Maler. überall. Heute wäre einiges, was wir uns
und aufgewachsen, wir hatten aber auch Sie können nicht verstehen, weshalb ich damals getraut haben, kaum noch möglich.
ein Haus am Meer in Slowenien, und stu- diese ganze Aufmerksamkeit erhalte, ob- Das sollte uns zu denken geben.
diert habe ich in Zagreb. Deshalb fühle ich wohl ich scheinbar nichts mache, außer SPIEGEL: Sie waren eine Provokateurin.
mich nicht als Serbin. Meine Heimat war auf einem Stuhl zu sitzen. Warum ist sie Abramović: Ich bin immer noch eine Pro-
Jugoslawien, nur existiert dieses Land, aus so berühmt? Aber zur jungen Generation vokation. Ich liebe die Kunst, sie macht
dem ich komme, nicht mehr. Dabei habe habe ich eine Verbindung. Ich hatte zuge- mich glücklich. Allerdings löst das vor
ich es geliebt. sagt, in Belgrad auch einen Vortrag zu hal- allem bei Frauen reflexhaft Ablehnung aus,
auch Neid, all diese negativen Gefühle. Ich
bin ein Beispiel dafür, dass jede Frau sich
die Freiheit nehmen kann, so zu leben, wie
sie will. Ich provoziere also nicht nur mit
der Kunst, sondern auch weil ich eine
glückliche Künstlerin bin. Und dann sind
da andere große Themen, die eine regel-
rechte Eifersucht hervorrufen, meine Be-
ziehungen, der Sex.
SPIEGEL: Erklären Sie uns das?
Abramović: Mein jetziger Freund ist 21 Jah-
re jünger als ich, wir lieben uns. Ich kann
mich glücklich schätzen, denn anstatt einer
Familie, die mir auf die Nerven gehen
würde, habe ich ihn. Aber: eine ältere Frau
und ein jüngerer Mann, das wird immer
MARCO ANELLI

MARCO ANELLI

noch nicht gutgeheißen.


SPIEGEL: Immerhin ist der jüngere Mann
dann über 50, und wir haben das Jahr 2020.
»Heute verhindert die Political Correctness jegliche Kreativität« Abramović: Ich weiß, und trotzdem breche
ich damit Regeln. Die Gesellschaft ist noch
nicht so weit und fortschrittlich, wie Sie un-
SPIEGEL: Obwohl Sie dort angefeindet ten, im Museum hätten dafür 250 Plätze terstellen. Ich breche die Regeln nicht nur,
wurden? zur Verfügung gestanden. Dann haben ich verstecke meine Art zu leben auch nicht.
Abramović: Ja, das hat mir eine ungeheu- sich 6500 Leute angemeldet, also wurde Warum sollte ich? Warum sollte ich diesen
re Stärke gegeben. Ich liebe Scherze, es draußen eine Bühne aufgebaut. Es war ein Mann verstecken? Er ist hinreißend, er fin-
war unsere Art zu überleben, obwohl man Woodstock für die Kunst. Warten Sie, ich det mich großartig, ich habe mehr Proble-
in Jugoslawien für Jahre ins Gefängnis ge- zeige Ihnen auf meinem Handy ein Foto, me mit dem Altersunterschied als er.
hen konnte, wenn man einen politischen es wurde von der Bühne aus aufgenom- SPIEGEL: Das klingt nun doch typisch
Witz machte. Dann zog ich in den Sieb- men. Hier, man sieht die Menschenmenge weiblich.
zigerjahren nach Amsterdam, wo alles vor der Bühne. Abramović: Stimmt. Aber wenn wir in ein
erlaubt war, es hat keinen geschert, wenn SPIEGEL: Wie bei einem Popkonzert. Hotel einchecken, beide unsere Pässe vor-
du nackt auf die Bühne gegangen bist. Abramović: Aber unten war totale Stille, legen und jeder sieht den Altersunter-
Plötzlich fehlten die Verbote. Das war ein die Menschen haben wirklich zugehört, schied schwarz auf weiß – das fühlt sich
Problem für mich, ich musste meine Rol- und ich habe zweieinhalb Stunden gespro- etwas merkwürdig an. Ich denke, wir soll-
len neu finden. chen. Alle dort, an dem Abend, waren ten alle innerlich freier werden. Es stimmt
SPIEGEL: Als Sie 2019 zur Ausstellungs- jung, und das hat mich stolz gemacht. doch wirklich, dass das Leben einzigartig,
eröffnung nach Belgrad reisten – fühlte Und für das Museum in Belgrad war mei- kostbar und leider kurz ist. Nach allem,
sich das dennoch so an, als kämen Sie nach ne Ausstellung auch von Vorteil, denn was ich erlebt und durchlitten habe, kann
Hause? meine alten Performances zeige ich ja ich heute mit Bestimmtheit sagen, in ei-
Abramović: Es war meine erste Ausstel- oft auf Bildschirmen, und die Premier- nem gewissen Alter ist Trübsinn ein Luxus,
lung dort, seit ich das Land verlassen hatte. ministerin sorgte dafür, dass viele neue den wir uns nicht leisten können.
Ich bin einer Einladung der Premierminis- Geräte angeschafft wurden. Nun können SPIEGEL: Frau Abramović, wir danken
terin Ana Brnabić gefolgt. Sie hatte mich junge Künstler diese technische Ausstat- Ihnen für dieses Gespräch.
gebeten zu kommen. Sie ist nicht nur die tung nutzen.

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 123


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Nachrufe
Thomas Schäfer, 54 batschows Perestroika
In der hessischen CDU verglich er 1988 mit einem
sahen viele den fast zwei »Flugzeug, bei dem man
Meter großen Juristen schon nicht weiß, ob am Zielort
als den nächsten Minister- eine Landebahn ist«.
präsidenten des Bundeslan- Jurij Bondarew starb am
des. Finanzminister Thomas 29. März in Moskau. UKL
Schäfer ließ bei Gesprächen
im kleinen Kreis auch we- Krzysztof Penderecki, 86
nig Zweifel daran, dass er Der Dunkelheit gab er einen
sich das Amt zutrauen wür- Sound, der bis heute un-
de. Als Büroleiter im Justiz- erreicht ist. Der polnische
ministerium und in der Komponist und Dirigent
Staatskanzlei des damali- Krzysztof Penderecki, ein
gen Ministerpräsidenten Pionier der zeitgenössischen
Roland Koch (CDU) absol- Musik, verband in seinem
vierte er die Ochsentour in Werk Avantgarde und Tradi-
der Landespolitik. Seit 2010 tion, Religiosität und Politik.
war Schäfer als Minister Es umfasst Sinfonien und
für den Haushalt des Landes Opern, aber auch herausfor-

KEYSTONE
Hessen zuständig. Er ver- dernde Stücke wie »Anakla-
sis« für 42 Streicher und
Schlagzeuggruppe, das ihm
Barbara Rütting, 92 schon mit Mitte zwanzig
Sie gab ihre Fotos in den Filmstudios Berlin Tempelhof ab den Durchbruch im Westen

BERT BOSTELMANN / LAIF


und wurde sofort engagiert; für ihre Rolle als Tamara in brachte. Zur Welt kam er in
»Die Spur führt nach Berlin« erhielt sie 1953 den Bundes- Dębica, im Südosten Polens.
filmpreis. Barbara Rütting, als Waltraut Goltz 1927 ge- Hier verbrachte er während
boren, entschloss sich nach den Schrecken des Weltkriegs, des Zweiten Weltkriegs
Schauspielerin zu werden, was sie später als »eine Art seine Kindheit, lernte Geige
Flucht aus der (schwer zu ertragenden) Wirklichkeit in eine und Klavier zu spielen.
schönere Traumwelt« erklärte. In dieser Traumwelt traf sie schaffte sich im Kabinett Wäre er nicht dort geboren
Stars wie Gary Cooper, Klaus Kinski, Maximilian Schell. von Regierungschef Volker worden, hätte er nicht
Mit ihrer »Geierwally«, einer 1956 sehr populären Heimat- Bouffier mit pragmatischen damals gelebt, sagte er ein-
schnulze, wurde sie endgültig berühmt. Doch bei der Lösungen und klugen Ana- mal, hätte er vielleicht
Flucht sollte es nicht bleiben. Rütting stellte sich der Wirk- lysen das Image eines Fel- auch nie sein »Polnisches
lichkeit und wurde zu einer Aktivistin und Politikerin. Sie sens in der Brandung. Erst Requiem« geschrieben
propagierte bereits in den Siebzigerjahren vegetarische nach seinem Tod kamen für die Opfer des Aufstands
Ernährung in Deutschland, sie arbeitete als Gesundheits- Kabinettskollegen und der Werftarbeiter von 1970
beraterin, schrieb diverse Bücher, kämpfte für Tierschutz Beobachter auf den Gedan- oder Stücke wie »Threnos«,
und trat zweimal bei den Grünen ein – und wieder aus; ken, dass der Eindruck ein »Klagelied für die Opfer
sie war Alterspräsidentin im Bayerischen Landtag, und ihre womöglich getäuscht und von Hiroshima«. Wie kaum
Energie und Leidenschaft waren wohl manchmal anstren- Schäfer Hilfe gebraucht hat. ein zeitgenössischer Kompo-
gend, aber immer beeindruckend. Ihre Autobiografie Thomas Schäfer beging nist schlug Penderecki Brü-
heißt: »Durchs Leben getobt«. Barbara Rütting starb am am 28. März Suizid. MAB cken zwischen Klassik und
28. März im fränkischen Marktheidenfeld. KS Popkultur, zwischen dem
Jurij Bondarew, 96 Abseitigen und dem Main-
Er kämpfte als junger Offi- stream: Stanley Kubricks
Reimar Lüst, 97 zier gegen Hitlers Wehr- »The Shining« oder William
Der deutsche Astrophysiker war einer der ganz großen Wis- macht, die Kriegserlebnisse Friedkins »Der Exorzist«
senschaftsmanager Europas. Von 1972 an leitete er als jüngs- prägten Leben und Werk des wären ohne seine verstö-
ter Präsident die Max-Planck-Gesellschaft, dann wurde Rei- russischen Schriftstellers.
mar Lüst zum Pionier bei der Gründung der Europäischen Seit den Fünfzigerjahren
Weltraumorganisation Esa, der er von 1984 an als General- hatte Jurij Bondarew Erfolg
AGENCJA GAZETA / REUTERS

direktor vorstand. Seine Karriere verlief erst verschlungen, mit Erzählungen und Roma-
dann kometenhaft. 1923 wurde er in der Nähe von Wupper- nen. Er schilderte den Krieg
tal geboren, eigentlich wollte der Pfarrerssohn Schiffbau frei von Stahlgewitterpa-
studieren. Doch 1941 meldete er sich zum Militärdienst, er thos, Hass gegen die Deut-
diente als Ingenieur auf einem U-Boot. Nur knapp überleb- schen war ihm fremd. Sein
te er dessen Versenkung und geriet mit 20 Jahren in Kriegs- Roman »Heißer Schnee«
gefangenschaft, erst in Großbritannien, dann in den USA. über die Kämpfe bei Stalin-
Nach dem Krieg studierte er in Frankfurt und Göttingen grad wurde in viele Spra- renden Filmmusiken wohl
Physik und promovierte 1951. Zwölf Jahre später gründete chen übersetzt. Zum sowje- nie zu Meisterwerken des
der Plasmaphysiker das Max-Planck-Institut für extrater- tischen Staat stand er loyal, Horrorkinos geworden.
restrische Physik. Ein Asteroid trägt seinen Namen: »(4386) seit 1944 war er Mitglied Krzysztof Penderecki starb
Lüst«. Reimar Lüst starb am 31. März in Hamburg. HIL der KPdSU. Michail Gor- am 29. März in Krakau. SKR

DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020 125


Personalien

CHARLIE GRAY
Performance statt Po Golightly in »Breakfast at Tiffany’s« auf. Aber das ganze Pro-
jekt – inklusive ihres eigenen Beitrags – sei »furchtbar, schreck-
lich, schrecklich, sehr schlecht« gewesen, sagte Clarke der
G Als Drachenmutter Daenerys Targaryen ist sie in »Game »Sunday Times«. Nun versuchte Clarke es am Londoner West-
of Thrones« zum internationalen Star geworden, das end mit einem Klassiker der Theaterliteratur: als Nina in Anton
»Time«-Magazin erklärte sie zu einer der 100 einflussreichsten Tschechows Drama »Die Möwe« von 1895. Wie und ob die
Personen 2019, nachdem sie acht Jahre lang die Fans der Produktion in Zeiten des Coronavirus noch ein Publikum fin-
Serie in Atem gehalten hatte. Doch kürzlich sagte die Britin det, bleibt abzuwarten. Kritiken interessieren Clarke eher nicht:
Emilia Clarke, 33, sie verstehe sich vor allem als Bühnenschau- Sie lese keine Rezensionen mehr, seitdem einmal ihr Po statt
spielerin. Das ist insofern verwirrend, als sie bisher wenig ihrer Performance während der »Game of Thrones«-Zeit im
Theater gespielt hat. Zwar trat sie 2013 am Broadway als Holly Mittelpunkt der Diskussion um die Serie gestanden habe. KS

bemerkenswert«, sagte Stone ment machen: »Du kannst


Überrasche dich in einem Instagram-Video Dinge tun, während du zu
selbst! offenkundig zufrieden mit Hause bist und nicht weißt,
einem Bild, das sie gemalt hat. was du tun sollst, von denen
G Vier Jahrzehnte Holly- Wie viele Stars dieser Tage du gar nicht wusstest, dass
wood liegen hinter ihr, davon lässt sie ihre Fans via soziale du sie tun kannst.« Die pink-
zwei als Sexsymbol – die Medien an ihrer Corona- farbene, weit geöffnete Blüte
amerikanische Schauspiele- bedingten Abgeschiedenheit auf ihrem Bild entstammt
rin Sharon Stone, 62, hat teilhaben. Stone versuchte übrigens weder ihrer Fantasie,
einiges erlebt. Jetzt ist sie sich zum ersten Mal als Male- noch hat Stone eine echte
von sich selbst überrascht: rin. Das Erlebnis scheint sie Blume als Vorlage benutzt,
»Es sieht tatsächlich nach zu inspirieren, ihren Zuschau- das Werk ist mit »Malen nach
etwas aus, das finde ich sehr ern will sie Mut fürs Experi- Zahlen« entstanden. KS

126 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


für die wenigen, aber herz- den und Außerirdische ein-
Löffelhund und erwärmenden Aliennach- gesetzt wurde, dem Mix
Wickelbär wuchs-Klänge als kompliziert. echte Säuglingsgeräusche und
Er habe in einem Wildtier- Aufnahmen seiner eigenen,
G Dem Gurren von David reservat außerhalb von San hochgepitchten Stimme hin-
Acord lauschen momentan Diego die Laute des Löffel- zu. Referenzen standen ihm
Millionen Menschen im Inter- hunds und des Wickelbären dabei nicht zur Verfügung:
net und beim Streamingdienst aufgenommen, erzählte Yodas namenlose Spezies
Disney+. Der aus Delaware Acord in einem Podcast. bleibt im »Star Wars«-Univer-
stammende, vielfach ausge- Daraus habe er einen Sound sum ein Mysterium, weil nur
zeichnete Tontechniker hat kreiert, der beim »The der etwa 900-jährige Jedi-

FRAZER HARRIS / GETTY IMAGES


seine Stimme dem Sound bei- Mandalorian«-Erfinder Jon meister selbst, ein Weibchen
gemischt, mit dem sich das als Favreau allerdings nicht auf namens Yaddle und eben
Baby Yoda bekannte Außer- Gegenliebe stieß. Baby Yoda das als The Child bezeichnete
irdischenbaby aus der Disney- sollte menschenähnlicher Baby Yoda bekannt sind. Das
serie »The Mandalorian« in klingen. Deshalb fügte Acord, Baby dürfte übrigens etwas
die Herzen seiner Fans fiepst. der immer mal wieder als älter sein als Acord: Es ist 50.
Dabei erwies sich die Arbeit Synchronsprecher für Droi- Süß klingt es trotzdem. RED

Die Serientäterin bestimmen. Jedes zweite


Kapitel endet damit, dass
G Die amerikanische Auto- Ally sich zwischen zwei
rin und Schauspielerin Handlungsalternativen ent-
Lena Dunham, 33, (»Girls«) scheiden muss, die Leser
eifert großen Vorbildern stimmen ab, wie es weiter-
nach. Wie seinerzeit der bri- geht, Dunham setzt den Text
tische Schriftsteller Charles entsprechend fort. Die Idee

ALFREDO ESTRELLA / AFP / GETTY IMAGES


Dickens (1812 bis 1870) sei ihr angesichts der Aus-
veröffentlicht Dunheim jetzt breitung des Coronavirus
einen Roman in Serie. gekommen, als sich abzeich-
Auf der Website des ameri- nete, dass es Isolationsmaß-
kanischen Modemagazins nahmen geben müsse, sagte
»Vogue« erscheint von Mon- Dunham der »Vogue«.
tag bis Freitag je ein Kapitel »Ich habe mich gefragt, wie
ihrer modernen Romanze wir eine Gemeinschaft bil-
»Verified Strangers«, was auf den können – und Geschich-
Deutsch etwa »Nachweislich ten zu erzählen war für mich
Unbekannte« heißt. Im Mit- immer schon ein Weg, Nähe zu leben, bevorzugt er seine
telpunkt steht die 32-jährige zu anderen Leuten herzu-
Tröstliches Heimat Medellín, früher
Ally auf der Suche nach dem stellen. Besonders, wenn ich Farbenspiel Kolumbiens Drogenhaupt-
perfekten Date. Der Clou mich allein fühlte.« Die stadt, nun die selbst erklärte
an der Sache: Die Leserinnen gebürtige New Yorkerin lebt G Eigentlich wollte der Stadt des ewigen Frühlings.
(und wahrscheinlich etwas zurzeit in London, wo kolumbianische Sänger »Ich will etwas mehr Farbe
weniger Leser) können den strenge Ausgangsbeschrän- J Balvin, 34, jetzt unter- und Leben in die Welt brin-
Fortgang der Geschichte mit- kungen gelten. KS wegs sein, um sein neues gen«, sagt er im Videochat
Album »Colores« zu bewer- aus seinem grünen Garten.
ben. Doch die Coronakrise Nicht nur mit Musik: Zusam-
zwingt auch den Latin-Pop- men mit dem japanischen
star (»Mi gente«) zur häus- Künstler Takashi Murakami,
lichen Quarantäne. Balvin der das farbenfrohe Cover
schlug sich einst in New von »Colores« gestaltete,
York ohne Arbeitserlaubnis hat Balvin der Organisation
mit Gelegenheitsjobs durch, Families Belong Together
um seinen Traum zu ver- ein Ausmalbild zur Verfü-
GILBERT CARRASQUILLO / GC / GETTY IMAGES

wirklichen und so reich und gung gestellt. Die Organisa-


berühmt wie Rapmogul tion kümmert sich um Kin-
Jay-Z zu werden. Inzwi- der, die wegen der Migra-
schen ist Balvin ein erfolg- tionspolitik Donald Trumps
reicher Botschafter für die von ihrer Familie getrennt
Latinokultur. Seine von wurden. Malbücher würden
Reggaeton und Hip-Hop ihm helfen, sich zu entspan-
beeinflussten Songs singt er nen, sagt Balvin, jetzt sollen
konsequent auf Spanisch; die fröhlichen Farben auch
statt in New York oder L. A. anderen Trost spenden. BOR

127
»Eine ausgezeichnete Zusammenfassung, die Orientierung bietet
in diesem unübersichtlichen Informationschaos, in dem der Bürger
von morgens bis abends förmlich ertränkt wird.«
Michael Manns, Stahnsdorf (Brandenburg)

Corona, Corona, Corona! Artensterben, Klimaerwärmung, brutale mun sein, aber werden diese Demokratie,
Tierhaltung und die himmelschreiend un- die Freiheit, die Kunst und die allgemeine
Nr. 14/2020 Wie kommen wir da wieder raus
gerechte Verteilung des Wohlstands: Wir Kultur des Miteinanders überleben, wenn
(ohne uns anzustecken oder zu ruinieren)?
Auswege aus dem Corona-Albtraum sehen doch, was das ewige Mantra »Wachs- ihre Akteure so geschwächt sind, dass jen-
tum um jeden Preis« angerichtet hat. Des- seits des nackten Überlebens nichts mehr
Ich lese gern den SPIEGEL. Nur über die halb verstehe ich nicht, dass die jetzige Aus- bewältigt werden kann? Schon jetzt gedei-
letzte Ausgabe war ich ein wenig verärgert. bremsung der Wirtschaft so große Panik hen die ersten Verschwörungstheorien auf
Denn es ging um Corona, um Corona, ach auslöst. Vielleicht ist dieses Virus der letzte der verzweifelten Suche nach Schuldigen.
ja, und um Corona! Wir wissen es nun. Als Warnschuss, der uns endlich zu einer nach- Wie sich das entwickeln würde bei einem
Nachrichten-Magazin sind Sie sicherlich haltigen und gerechteren Art zu wirtschaf- massiven wirtschaftlichen Einbruch, das
verpflichtet, darüber zu berichten, aber ten bringt. Vielleicht besinnen wir uns, mag man sich als gebildeter und freiheits-
vielleicht gibt es ja auch andere wichtige dass nicht gieriger Konsum, sondern Mit- liebender Bürger gar nicht ausmalen!
Neuigkeiten? Oder vielleicht auch einfach menschlichkeit, intakte Natur, Kreativität, Beate Ramisch, Detmold
wieder ein Thema, das unterhaltsam ist Musik und vieles andere, das nur von uns
und die Menschen ablenkt, die gar nicht abhängt, unser Glück begründen. Keck, aber inhaltsreich
rauskommen gerade. Ingeborg Maucksch, Herrieden (Bayern)
Nr. 13/2020 Juso-Chef Kevin Kühnert
Cornelia Fester, Freiburg
im SPIEGEL-Gespräch über mehr
Staatseinfluss im Gesundheitswesen und
Jetzt – noch vor der eigentlichen Infektions- seine Begeisterung für Olaf Scholz
welle – ungeduldig über Ausstiegsszena-
BERND VON JUTRCZENKA / DPA
rien aus der Coronakrise nachzudenken Bisher war ich aus verschiedenen Gründen
erscheint unangemessen. Handelt es sich ein erklärter Gegner von Herrn Kühnert,
doch bei Covid-19 um eine extrem an- vor allem weil sein Weg in den Bundestag
steckende Infektionskrankheit, die sich in mir schon arg vorgezeichnet schien. Auch
kürzester Zeit über den Globus ausbreiten weil dort »Fleischtöpfe« stehen, für die zu
konnte und für einen beträchtlichen Teil kämpfen es sich lohnt. Seine schlagfertigen
der Infizierten eine tödliche Bedrohung Krisenzentrum des Auswärtigen Amts Antworten in diesem Gespräch – keck,
darstellt. Ein Ausstieg aus der Dynamik aber inhaltsreich – und seine ansprechen-
dieser Seuche ist ohne geeignete Behand- de Ausdrucksweise haben meine Meinung
lungsmöglichkeiten gar nicht erreichbar. Die meisten werden überleben geändert. Ich glaube nun, dass seine Wahl
Dr. Hans Christian Hummel, Hannover an die Spitze richtig war.
Nr. 14/2020 Leitartikel: Die Regierung
Konrad Nachtwey, Kassel
darf keine Menschenleben opfern – die
In diesen Tagen werden drastische Maß- Wirtschaftskraft aber auch nicht
nahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Herr Kühnert war offensichtlich bisher
Coronavirus zu verlangsamen. Menschen Ich war erschüttert, dass gerade der SPIEGEL in der wohligen Lage, noch nie in einem
zeigen sich solidarisch und verändern ihre die sensible Debatte um den Wert mensch- Land, das seinem sozialistischen Weltbild
Verhaltensweisen. Ein Ergebnis ist, dass lichen Lebens in Relation zu wirtschaft- folgt, ins Krankenhaus zu müssen. Er wür-
der Auto- und Flugzeugverkehr verringert lichen Folgen in der Coronakrise anzu- de sich umgehend nach Deutschland zu-
und dass vermehrt auf digitale Möglichkei- führen scheint. Mir ist bewusst, dass diese rücksehnen.
ten für Konferenzen gesetzt wird. Die Co- Debatte früher oder später geführt werden Liane Martin, Nürnberg
ronakrise könnte daher auch deutlich ma- muss. Dass allerdings gerade Sie zu einem
chen, dass eine Abwendung der vermutlich so frühen Zeitpunkt im ersten Artikel der Herr Kühnert beklagt zu Recht, dass
noch größeren globalen Krise, der Klima- Ausgabe einen so eindeutigen Zweifel an »Krankenhäuser geschlossen werden, weil
katastrophe, durch konsequentes Handeln der Pflicht äußern, ältere und, nicht zu sie keine schwarzen Zahlen schreiben«.
erreicht werden könnte. So wie aktuell vergessen, auch jüngere immunschwache Das ist in der Tat oft bedauerlich, ent-
die jüngere Generation ihr Verhalten ein- Mitbürger zu schützen, stellt für mich spricht jedoch den Spielregeln der freien
schränkt, um ältere Mitmenschen nicht zu mein gesamtes Verständnis des Magazins Marktwirtschaft. Diese greifen zwangsläu-
gefährden, so könnte sich auch die ältere als journalistische Instanz für demokrati- fig, wenn ein Krankenhaus nicht mehr in
Generation solidarisch zeigen und echte sche und humanistische Werte infrage. erster Linie Hort der Menschenliebe ist,
Maßnahmen zum Klimaschutz ergreifen. Mirko Boysen, Freiburg sondern ein Unternehmen. Das allein »25
Dr. Kathrin Staufenbiel, Wiesbaden Jahren neoliberaler Beschallung« anzulas-
Vielen Dank für diese ernsthafte und aus- ten greift zu kurz, vielmehr ist es der der-
Ich erwarte von der Regierung, dass sie gewogene Auseinandersetzung mit einem zeitige Entwicklungsstand eines Prozes-
alle pekuniär durch die Krise bringt. Denn Thema, welches diese Gesellschaft in Kür- ses. Ausgangspunkt war der »Lahnstein-
wir alle haben damals die Zockerbanken ze fundamental beschäftigen wird. Das Vi- Kompromiss« von 1992, der den Kranken-
gerettet. Jetzt sind wir dran! rus wird bleiben, die allermeisten von uns häusern erst den »Budgetdeckel« und spä-
Dr. Jean-Arno Topp, München werden überleben, irgendwann sogar im- ter die Fallpauschalen einbrachte. Damit

128 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


Briefe

gestiegenen Bedarf handelt. Bevorratung oder die Pflegerinnen und Pfleger in den
ist gut. Dass wir Alte, weil viele andere Krankenhäusern fallen einem da ein. Ne-
maßlos ohne Sinn und Verstand horten, ben vielen anderen natürlich. Ich käme

GENE GLOVER / DER SPIEGEL


für ein zweites Kilo Mehl durch die Läden allerdings nie auf die Idee, einen Bordell-
schleichen müssen, ist nicht witzig. Auch betreiber, der gerade großherzig Frauen
wenn Ihr Schreibstil dies suggeriert. aus Rumänien und Bulgarien »Zimmer
Friedrich Buchsbaum, Hamburg für umsonst« überlässt, als »einsamen Hel-
den« zu bezeichnen.
Dass ein solch unbedachter Artikel im Dirk Kohn, Am Mellensee (Brandenb.)
Sozialdemokrat Kühnert SPIEGEL erscheint, finde ich bedauerlich.
Ich habe nichts dagegen, dass man Vorräte Steile Thesen fürs Geschäft
war der Weg in den freien Wettbewerb anlegt. Nur nicht in einer Krisenzeit. In
Nr. 13/2020 Der Historiker Yuval Noah Harari
gebahnt, mit allen heute beklagten Aus- Krisenzeiten gilt (hoffentlich) Kants kate-
ist der erfolgreichste Welterklärer unserer
wüchsen. Für einen stellvertretenden SPD- gorischer Imperativ. Ich muss mir also die Zeit – seine Kernthese: Der Homo sapiens
Vorsitzenden wäre es ein Gebot der Red- Frage stellen: Kann ich wollen, dass jeder steht vor dem Ende
lichkeit, die Co-Patenschaft der SPD für so handelt, wie ich es gerade tue (zum Bei-
diesen Prozess anzuerkennen, war doch spiel wenn ich meinen Ängsten und Sor- Wenn man sich »Eine kurze Geschichte
dieser Kompromiss von Rudolf Dreßler – gen nachgebe und meinen Vorratskeller der Menschheit« vornimmt, stellt man
SPD-Urgestein – maßgeblich mitverhan- fülle)? Das kann ich natürlich nicht. Denn bald fest, dass hier grober Unfug in effekt-
delt und vertreten worden. Die Abgeord- dann sind die Läden nicht nur leer. Es gibt hascherischem Stil steht. Hararis Gedan-
neten der Union sowie von SPD und FDP vor allem jede Menge Leute, die (zumin- kengänge sind viel zu oberflächlich und
stimmten der Gesetzesvorlage damals dest zeitweise) gar nichts mehr kriegen, überheblich. Schlussfolgerungen beruhen
mehrheitlich zu, sodass die initial dadurch weil sie zu spät gekommen sind. Wenn Sie meist auf einem Konglomerat plausibel
herbeigeführte heutige Situation in der also in Krisenzeiten Vorräte anlegen, dann klingender, aber vager Vermutungen und
Tat »dem Willen des Volkes« entspricht. geht das nur gut, weil die Mehrheit der Meinungen. Letztendlich ist es ein globa-
Prof. Dr. Jan-Peter Jantzen, Seelze (Nieders.) Bevölkerung glücklicherweise gelassener listisches Manifest mit dem Ziel eines Welt-
ist, als Sie es sind. staats. Wie kann man einem Mann hinter-
Leer wie die Wüste Gobi Lutz Boberg, Bielefeld herrennen, der seine Buchinhalte derart
unfundiert zusammengebastelt hat? Das
Nr. 13/2020 Ich, der Hamster – eine
Die Virenschleudern wäre doch die wichtigste Frage gewesen.
Verteidigungsrede
Oder ob der Autor und seine Thesen ir-
Nr. 13/2020 Was hilft gegen die Ausbreitung
An die Empfehlung des Bundes, sich einen gendetwas gemein haben mit Religionen
der Viren in Bus und Bahn?
Vorrat für Not- oder Katastrophenfälle an- oder rechtsradikalen Strömungen, die ja
zulegen, habe auch ich mich erinnert. Die Die altbekannte Weisheit »Eine Kette ist auch nur einfache Antworten geben.
Befürchtung, dass eine Ausgangssperre so stark wie ihr schwächstes Glied« wird Birgit Heid, Landau (Rhld.-Pf.)
drohen könnte, veranlasste mich, bei je- im öffentlichen Personennahverkehr igno-
dem Einkauf etwas mehr für den Vorrat riert. Was nützen die rigorosen Einschrän-
mitzunehmen. Wir haben nicht unsolida- kungen in allen Bereichen des öffentlichen

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL


risch gehandelt, sondern vorausschauend! Lebens, wenn U- und S-Bahnen und Busse
Jetzt haben wir die Katastrophe, und die nach wie vor als Virenschleudern aktiv
Zustände vor den Lebensmittelgeschäften sind? Der Münchner Verkehrsverbund
sind zum Teil heftig, weil nur eine begrenz- konnte es gar nicht erwarten, die Ausdün-
te Anzahl von Kunden eingelassen wird. nung des Verstärkertakts in den Stoßzeiten
Ich bin jedenfalls beruhigt, dass ich nicht anzukündigen, als die allgemeine Schul-
unter die Leute muss. Hier hat eher die schließung bekannt gegeben wurde. Statt-
Regierung versäumt, die Bürger und die dessen hätte seine Beibehaltung helfen Autor Harari in Antwerpen
Händler rechtzeitig auf die Notwendigkeit können, die Fahrgastdichte zu verringern.
einer Bevorratung aufmerksam zu machen. Und: Was spricht gegen eine Fiebermes- Steile Thesen sind gut fürs Geschäft, apo-
Helga Streich, Hünfeld (Hessen) sung an den wichtigsten Haltestationen? kalyptische allemal. Herr Harari schreibt
Was gegen eine Begrenzung der Passagier- auch sehr vernünftige Dinge, zum Beispiel
Schön für Sie, dass Sie die geforderte Qua- zahlen? Jede Maßnahme stärkt dieses räumt er ein: »Mit Xenophobie, Isolatio-
rantäne der Behörden bequem im Home- schwächste Glied. Wie die an den Tag nismus und gegenseitigem Misstrauen
office aussitzen können, weil alles im Kel- gelegte Inkompetenz der ÖPNV-Verant- wird das Virus nicht zu besiegen sein.« So
ler ist. Für uns ist das anders: Als Ehepaar wortlichen jedoch bislang zeigt, muss weit – Chapeau! Aber »homo deus« be-
in der gefährdeten Altersgruppe, zum Teil der Durchgriff wohl von höherer Stelle ziehungsweise »hackable animal« – mit
mit Vorerkrankung, versuchen wir seit kommen. Verlaub, was für ein Gedöns. Empathie ist
zwei Wochen, die Zahl unserer Einkaufs- Walter Scharl, Riemerling (Bayern) vielleicht nicht immer alles, aber ohne Em-
tage zu minimieren, um unnötige Kontak- pathie bleibt alles nichts. Keinerlei Empa-
te zu vermeiden. Vergangenen Freitag bei Ist er ein Held? thie findet sich in den Ausführungen Ha-
Aldi: der Versuch, unter anderem ein Kilo raris. Nur Science-Fiction-Gelaber.
Nr. 13/2020 Bleiben müssen, wenn
Mehl zu kaufen. Wo sonst zwei Sorten Alex Bauch, Freiburg
andere gehen: sieben Geschichten aus
Weizenmehl auf Paletten und Dinkelmehl der Einsamkeit in Corona-Zeiten
im Regal stehen – gähnende Leere! Also
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
auf zu Edeka gegenüber: drei Meter Mehl- In der Tat gibt es in Zeiten von Corona (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
regal leer wie die Wüste Gobi! Ich denke, viele, die den Laden am Laufen halten sowie digital zu veröffentlichen und unter
Sie gehen mit mir konform, dass es sich und daher unseren Respekt verdienen. www.spiegel.de zu archivieren.
hier nicht um einen plötzlich exorbitant Die Leute an den Kassen der Supermärkte

129
Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die »Berliner Zeitung« analysiert
den bayerischen Ministerpräsidenten
Markus Söder (CSU) anhand seines
Hinweis in der Tageszeitung »Die Glocke« SPIEGEL-Gesprächs »Natürlich braucht
es irgendwann eine Exitstrategie – der
Zeitpunkt ist entscheidend« (Nr. 14/2020):
Aus der »Süddeutschen Zeitung«:
»Die Bundesrepublik Angela Merkel … steht wieder mit Abstand
exportiert viel mehr patentgeschützte ganz oben im Politbarometer, an die zwei-
Medikamente, als sie ausführt.« te Stelle hat sich der CSU-Vorsitzende Sö-
der geschoben. Er ist jetzt ganz klar der
starke Mann der Union, der auch die an-
deren Bundesländer vor sich hertreibt.
Man könne gar nicht mehr von Föderalis-
mus reden, daraus sei ein Söderalismus
geworden – noch so ein Kommentar des
Spötters Welke (Oliver Welke von der ZDF-
Aushang eines spanischen »heute-show« –Red.). Die Stärke des Bay-
Restaurants in Kassel ern rührt auch aus der neu entdeckten
Loyalität zu Merkel. »Ohne die Bundes-
kanzlerin hätten wir echte Probleme«,
Aus dem »Tagesspiegel«: Jetzt im Handel stellte er gerade im SPIEGEL-Interview
»Wie dramatisch mittlerweile die Lage fest. Sollte er nicht doch Kanzlerkandidat

Das alte
in anderen Krisenregionen ist, zeigt eine der Union werden wollen, wird es gewiss
schonungslose Analyse des Deutschen niemand, der nicht seinen Segen hat.
Instituts für Katastrophenmedizin, die

Ägypten
dem Tagesspiegel vorliegt. Das Nadelöhr
seien ›die zu beamtenden Patienten‹.« Die griechische Tageszeitung
»Kathimerini« zum SPIEGEL-Bericht
»Türkische Provokateure« (Nr. 14/2020):

Einem SPIEGEL-Bericht zufolge haben


Bauern, Mumien, deutsche Geheimdienste Hinweise, dass
Pharaoninnen. Zusammenstöße an der Grenze von der
Türkei angestiftet wurden. De facto bestä-
Die Forschung zeichnet tigt der Bericht, dass türkische Sicherheits-
Kleinanzeige aus den kräfte unter den Migranten waren. Ankara
»Kieler Nachrichten«
ein neues, faszinie- hat die Vorwürfe zurückgewiesen, was selt-
rendes Bild vom alten sam ist angesichts der Tatsache, dass Tür-
keis Innenminister Süleyman Soylu noch
Aus einer E-Mail des Gesundheitsamts Reich am Nil. vor zwei Tagen öffentlich gesagt hat, dass
Radolfzell: »Die aktuelle Entwicklung türkische Kräfte Migranten unterstützt
mit Bezug zu der Ausbreitung von hätten, indem sie Tränengas-Kartuschen
Sars-CoV-2-Infektionen verläuft sehr gegen Griechen abfeuerten.
dynamisch, sodass fahrlässige Aussagen
für die Zukunft nicht ausreichend
sicher getroffen werden können.« Die »Süddeutsche Zeitung« über
einen Gastbeitrag des Schweizer Autors
Lukas Bärfuss »Das Kapital hat
nichts zu befürchten, der Mensch schon«
(SPIEGEL.de am 24. März):

Online Wirbel hat eine Polemik des Schriftstellers


Lukas Bärfuss auf SPIEGEL ONLINE aus-
bestellen gelöst. Der Schweizer, der sein Land gern
scharf kritisiert, machte seiner Wut über
meine-zeitschrift.de die Mentalität Luft, mit der die Krise an-
Schild vor einem Kindergarten oder gegangen werde. Die Schweiz sei ȟber-
amazon.de/spiegel
in Waiblingen haupt nicht auf das Virus vorbereitet«,
sei wohl »zu lange von Schwierigkeiten
verschont geblieben«. Die größte Angst
Von Focus.de: »Am Donnerstagnachmittag gelte dem »drohenden wirtschaftlichen
erreichten die 12,7 Tonnen Abstieg«. Eine derart pauschale Schweiz-
medizinisches Personal den Frankfurter Kritik sei momentan »kontraproduktiv«,
Flughafen in rund 6000 Kartons.« so der Zürcher »Tages-Anzeiger«.

130 DER SPIEGEL Nr. 15 / 4. 4. 2020


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