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Literatur – 205
188 Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
»Das Wichtigste im Leben ist die Wahl des Berufes. Der Zufall entscheidet darüber.«(Blaise
Plascal)
»Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens und seine Wahl die wichtigste Entscheidung, die
der Mensch treffen muss.« (Friedrich Nietzsche)
> Durch den Wandel der Arbeitswelt gleicht die Berufsbiographie vieler Menschen heute oft
einem Flickenteppich: Sie haben schon sehr unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt, um
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit
sind nicht ungewöhnlich (7 Kasten »Erwerbsarbeit und Privatleben heute«).
Im Folgenden sollen die psychologischen Hintergründe der Berufsfindung und der
beruflichen Entwicklung angesichts des aktuellen Wandels der Arbeitswelt aus der Pers-
pektive der Erwerbstätigen dargestellt werden. In 7 Abschn. 14.1 werden die Begriffe Job
und Beruf einander gegenübergestellt und die generelle Bedeutung der Erwerbsarbeit
für die psychische Gesundheit erläutert. Es entspricht den gängigen Alltagsvorstellungen
in einer Leistungsgesellschaft, dass jede Person selbst der Schmied ihres beruflichen Glü-
ckes sei. Dass dem nicht ganz so sein könnte, darauf hat schon der Philosoph und Mathe-
matiker Blaise Pascal (1623–1662) hingewiesen. Was subjektiv als freie Wahl erscheint,
wird durch den Zufall der Geburt in eine bestimmte Familie und ihr soziales Umfeld sehr
stark mitgeprägt. Deshalb wird in 7 Abschn. 14.2 die Bedeutung der sozialen Schicht-
zugehörigkeit des Elternhauses für den späteren Berufserfolg am Beispiel der Ergeb-
nisse der PISA-Studien behandelt.
Auch aus psychologischer Sicht beginnt die berufliche Entwicklung schon lange vor
dem Eintritt ins Erwerbsleben. Zwischen dem 4. und 13. Lebensjahr werden die Grundla-
gen für die berufliche Planungs- und Entscheidungskompetenz gelegt. Jugendliche müs-
sen dann ein Selbstkonzept bezüglich ihrer Bedürfnisse und Kompetenzen entwickeln
und dieses in Beziehung zu den Gegebenheiten der Berufswelt setzen. Diese Wachstums-
und Explorationsphasen der beruflichen Entwicklung werden in 7 Abschn. 14.3 dar-
gestellt. Der Prozess der Berufsfindung in normativer und deskriptiver Hinsicht ist dann
Gegenstand von 7 Abschn. 14.4. Die normative Frage betrifft das Problem, wie die Berufs-
wahl eigentlich stattfinden sollte. Was sollten die jungen Erwachsenen dabei beachten
und was sollte man ihnen – z. B. in der Berufsberatung – empfehlen? Die deskriptive Frage
14 betrifft den Sachverhalt, wie sich die Berufsfindung tatsächlich vollzieht und welche Rolle
dabei die berufssuchende Person spielt.
Es kennzeichnet einen Aspekt des aktuellen Wandels der Erwerbsarbeit, dass eine
dauerhafte berufliche Etablierung (7 Abschn. 14.5) für viele Erwerbstätige ungewiss ist.
Sie sind auch nach dem 45. Lebensjahr noch zu beruflichen Re-Etablierungsphasen oder
sogar Re-Explorationsphasen genötigt. In 7 Abschn. 14.6 werden deshalb drei Konzepte
vorgestellt, die beschreiben sollen, wie Erwerbstätige mit dieser beruflichen Unsicherheit
erfolgreich umgehen können. Es handelt sich um das proteanische Laufbahnmodell,
das Konzept der entgrenzten Laufbahn sowie das Employability-Konstrukt. Zum Ab-
schluss (7 Abschn. 14.7) wird kurz auf die Perspektiven aufgrund des demographischen
Wandels in Deutschland, eingegangen: Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot, die
immer älteren Arbeitsanbieter und die erhöhten Qualifikationsanforderungen verlangen
nach einer Erhöhung der Erwerbstätigenquoten von Frauen und Älteren.
14.1 · Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit
189 14
Definition
Jobs sind durch folgende Merkmale gekennzeich- Dies bedeutet, dass es innerhalb eines Berufes auch
net (Dostal, Stooß & Troll, 1998): Möglichkeiten des Aufstieges und der Zunahme der
4 Die Tätigkeiten dienen allein dem Geldver- eigenen Qualifikationen sowie der Vergrößerung der
dienen. persönlichen Verantwortung gibt. Es bedeutet weiter-
4 Sie sind kurzfristig angelegt. hin, dass mit dem Beruf eine Absicherung für Krank-
4 Sie stellen geringe Qualifikationsanforderungen. heit und Alter angestrebt wird. Langfristig ist das Ein-
4 Die qualifizierte Ausführung ist schnell erlernbar. kommen in einem Beruf so bemessen, dass die berufs-
4 Es findet seitens der Ausführenden und der Ar- tätige Person damit den Lebensunterhalt ihrer Familie
beitgeber ein häufiger Wechsel statt. bestreiten und die Ausbildung der Kinder finanzieren
4 Seitens der Ausführenden liegt in der Regel nur kann. Frauen dient der Beruf häufig auch zur Siche-
eine geringe und instabile Identifikation mit der rung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Ehe-
Aufgabe vor. oder Lebenspartner.
Die berufliche Tätigkeit ist ein Teil der persönlichen
Identität. Personen wählen einen Beruf und engagieren
Im Gegensatz zu einem Job ist berufliche Erwerbsar- sich in einer beruflichen Tätigkeit, um damit die Vor-
beit auf Dauer angelegt. Wer eine Erwerbstätigkeit als stellungen, die sie von sich selbst und der ihnen für sich
Beruf ausüben möchte, strebt ein unbefristetes Be- selbst angemessen erscheinenden sozialen Rolle haben,
schäftigungsverhältnis an. Der Beruf kann auch über verwirklichen zu können. Gleichzeitig ist die ausgeübte
einen Wechsel des Arbeitgebers hinweg stabil ausgeübt berufliche Tätigkeit mitdefinierend für den sozialen
werden. Status einer Person (. Tab. 14.1).
Ein Beruf stellt hohe Qualifikationsanforderungen.
Diese werden durch jahrelange Ausbildung oder ein Stu-
190 Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Beruf Prozentwert
Arzt 71
Krankenschwester 56
Polizist 40
Hochschulprofessor 36
Pfarrer/Geistlicher 34
. Abb. 14.1. Das Vitaminmodell der Arbeitsbedingungen von
Lehrer 31 Warr (1987)
Rechtsanwalt 25
Ingenieur 24
Rechten und Pflichten verbunden. Beispielsweise haben
Botschafter/Diplomat 23 Pfarrer und Diplom-Psychologen eine Schweigepflicht
Apotheker 22 in Bezug auf ihnen von ihren Pfarrkindern (Beichtge-
heimnis) oder Klienten anvertraute Sachverhalte.
Unternehmer 21
Obwohl die konkrete Arbeitstätigkeit einer Person
Atomphysiker 21 oft nicht ihren Ansprüchen genügt, sondern als belas-
tend und mühselig erlebt wird, ziehen viele Menschen es
Spitzenpolitiker 20
vor, weiterhin erwerbstätig zu bleiben, anstatt sich ar-
Informatiker/Programmierer 19 beitslos zu melden oder in Rente zu gehen. Dies hat häu-
Schriftsteller 15
fig finanzielle Gründe. Die Sicherung des Lebensunter-
haltes ist daher von Jahoda (1981) auch als manifeste
Manager in Großunternehmen 14 Funktion der Erwerbsarbeit bezeichnet worden. Darü-
Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Demoskopie, Allensbach.
Offizier 10 ber hinaus hat die Erwerbsarbeit aber auch viele sog.
latente Funktionen. Sie müssen den Betroffenen nicht
Journalist 10 immer bewusst sein. Trotzdem haben sie einen positiven
Buchhändler 7 Einfluss auf das psychische Wohlbefinden. Diese la-
14 tenten, positiven Funktionen der Erwerbsarbeit haben
Politiker 6
sich aus der Forschung bei Arbeitslosen und Personen,
Fernsehmoderator 6 die altershalber aus dem Erwerbsleben ausgeschieden
sind, ergeben. Jahoda (1981) unterscheidet fünf latente
Gewerkschaftsführer 5
Funktionen der Erwerbsarbeit, die im entsprechenden
Frage: »Hier sind einige Berufe aufgeschrieben. Könnten 7 Kasten aufgeführt werden.
Sie bitte die fünf davon heraussuchen, die Sie am meisten Jahodas sechs Funktionen der Erwerbsarbeit sind
schätzen, vor denen Sie am meisten Achtung haben?«
später von Warr (1987) in ein umfassenderes Modell der
(Vorlage einer Liste)
psychischen Gesundheit – das sog. Vitaminmodell – in-
tegriert worden (. Abb. 14.1).
Warr vergleicht Umweltbedingungen, unter denen
dium z. T. mit anschließenden Referendariaten oder As- Personen tätig sind, mit Vitaminen. Eine Bedingungs-
sistenzzeiten erworben. Der Erwerb und der Nachweis gruppe nennt er metaphorisch die Vitamingruppe CE
der beruflichen Qualifikationen sind formal geregelt. (»constant effects«), nämlich Bezahlung, Arbeitssicher-
Ein spezifischer Beruf ist durch bestimmte Tätigkeitsge- heit und soziale Wertschätzung. Eine weitere Gruppe
genstände, Arbeitsmittel und eine spezifische Umwelt- von Umweltbedingungen nennt er, ebenfalls metapho-
beschaffenheit charakterisiert und mit bestimmten risch, die Vitamingruppe AD (»additional decrement«),
14.2 · Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Schlüssel zum Berufserfolg
191 14
Jugendlichen mit sehr langfristigen beruflichen Konse- ten und Bücher lesen und darüber diskutieren) prägt
quenzen verbunden. die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata
der Kinder. Kinder haben umso mehr Erfolg in der
! Welche Schullaufbahn eine Person absolviert,
Schule, je stärker die Passung zwischen dem, was in der
wird stark von sozialen Faktoren bestimmt.
Schule von den Schülern erwartet wird, und dem, was
Ein ganz wesentlicher Faktor ist dabei das Elternhaus. aufgrund des kulturellen Kapitals in einer Familie prak-
Die Eltern prägen durch ihr Erziehungsverhalten und tiziert wird.
durch die Art ihres Umgangs mit ihren Kindern die In- Neben dem kulturellen spielt das soziale Kapital
teressen und Werte, die Persönlichkeit, die Fähigkeiten (Coleman, 1988) ebenfalls eine wichtige Rolle. Soziales
und die Ziele ihrer Kinder. Die materiellen Ressourcen, Kapital bildet sich in sozialen Netzwerken. Diese Netz-
das Vorbild der Eltern, ihre sozialen Kontakte sowie die werke vermitteln Ziele und Normen, schaffen Vertrauen,
Informationen, über die sie verfügen, bieten den Kin- ermöglichen Zusammenarbeit, erzeugen Informationen
dern größere oder begrenzte Gelegenheiten, Schullauf- und sanktionieren Normverletzungen. Das Ausmaß des
bahnen mit eingeschränkten oder weiterreichenden be- sozialen Kapitals in einer Familie hängt davon ab,
ruflichen Möglichkeiten zu ergreifen und erfolgreich zu 4 ob es sich um eine vollständige oder unvollständige
durchlaufen. Familie handelt,
Kohn und Schooler (1983) fanden Zusammenhänge 4 ob die Eltern arbeitslos oder Vollzeit beschäftigt sind
zwischen denjenigen Persönlichkeitsmerkmalen, von und
denen der Erfolg des Vaters in seiner jeweiligen Berufs- 4 wie der Stil und die Intensität der Kommunikation
tätigkeit abhängt, und den Erziehungswerten dieser Vä- innerhalb der Familie beschaffen sind.
ter. Väter, deren Beruf in hohem Umfang eigenständiges
Entscheiden erfordert, fördern selbstbestimmtes Han- Enge Beziehungen und eine intensive Kommunikation
deln bei ihren Kindern. Väter, die beruflich geringe in der Familie stärken das Selbstvertrauen der Kinder
Handlungsspielräume haben und eng durch Vorgesetzte und begünstigen intrinsische Arbeitsinteressen.
kontrolliert werden, fördern bei ihnen dagegen Anpas- Sehr eindrucksvolle, aktuelle Belege für die Aus-
sung und Gehorsam. Insgesamt ist der Beruf der Eltern wirkungen der sozioökonomischen Stellung der Eltern
ein zentraler Indikator für die sozioökonomische Stel- sowie ihres kulturellen und sozialen Kapitals auf das
lung einer Familie. Sie kennzeichnet das Ausmaß an ver- Niveau der Schulbildung ihrer Kinder liefern die Er-
fügbaren finanziellen Mitteln, an relativer sozialer Macht gebnisse der PISA-Studien aus Deutschland. Eine der
und an gesellschaftlichem Prestige des Herkunftseltern- zentralen Fähigkeiten von Schülern stellt deren Lese-
hauses. kompetenz dar, also die Fähigkeit, auch schwierige und
14 Neben der sozioökonomischen Stellung ist das kul- komplexe Texte zu verstehen. Die Chance, dass ein
turelle Kapital (Bourdieu, 1983) einer Familie ein wei- etwa 15-jähriges Akademiker- im Gegensatz zu einem
terer wesentlicher Faktor für die schulischen Erfolgs- 15 Jahre alten Facharbeiterkind nicht die Realschule,
chancen der Kinder. Wichtige Einflussgrößen bzw. Ma- sondern das Gymnasium besucht, liegt bei ca. 3:1. Die-
nifestationen des kulturellen Kapitals sind se ungleichen Chancen haben weder etwas mit den
4 die Sprache, die in der Familie gesprochen wird, kognitiven Grundfähigkeiten der Schüler noch etwas
4 das Humankapital der Eltern sowie mit ihrer Lesekompetenz zu tun (vgl. Baumert & Schü-
4 die kulturelle Praxis der Eltern. mer, 2001). Berücksichtigt man neben den Unterschie-
den im Elternberuf auch die Unterschiede im kulturel-
In Bezug auf die Familiensprache ist wichtig, ob sie der len und sozialen Kapital, dann ist die Chancenun-
Verkehrssprache in einer Gesellschaft entspricht oder gleichheit noch deutlicher ausgeprägt. Schüler, die das
nicht. Wenn die Familiensprache von der Verkehrsspra- Glück haben, dass ihre Eltern bezüglich des ökonomi-
che abweicht, ist dies ein erheblicher Nachteil für die schen, sozialen und kulturellen Status in Deutschland
Kinder. Das Humankapital der Familie ergibt sich aus im oberen Viertel liegen, haben eine über 5-mal besse-
dem Niveau der Schul- und Berufsausbildungen der re Chance das Gymnasium anstatt der Realschule zu
Eltern. Die kulturelle Praxis der Familie (z. B. das Aus- besuchen, als Schüler, die das Pech haben, dass ihre
maß, in dem Eltern hochwertige Zeitungen, Zeitschrif- Eltern nur dem zweiten Viertel (25–50%) in Hinblick
14.3 · Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter
193 14
auf den Status angehören. Diese ungleichen Chancen dinger & Ebner, 2006). Es ist allerdings wichtig zu er-
haben weder etwas mit den kognitiven Grundfähigkei- kennen, dass es sich bei diesen Befunden um zusam-
ten der Schüler noch etwas mit ihrer mathematischen mengefasste, statistische Aussagen handelt. Man darf
Kompetenz zu tun. deshalb keine Zwangsläufigkeiten für Einzelfälle da-
Die Platzierung in einem bestimmten Schultyp hängt raus ableiten. Vielmehr erkennt man gerade an Einzel-
neben Leistungsunterschieden von den Empfehlungen fällen, dass der weitere Berufsweg nicht alleine durch
der Lehrer beim Übergang von der Grund- in eine wei- den Schulstart bestimmt wird. Beispielsweise verließ
terführende Schule, dem Wunsch der Eltern sowie den ein späterer Chef des nachmaligen Automobilunter-
Wünschen der Kinder ab. Zumindest in den USA ist au- nehmens Daimler-Chrysler die Schule mit der mitt-
ßerdem im Verlauf der Schulkarriere ein Abstieg aus ei- leren Reife und machte eine Berufsausbildung als Kfz-
ner höheren Schulform in einer niedrigere wahrschein- Mechaniker (Grässlin, 1998). Aufgrund seiner Schul-
licher als umgekehrt. Betroffen von dieser Tendenz zur bildung waren seine Chancen, an die Spitze eines
Abwärtsmobilität in den Schulkarrieren sind vor allem Weltkonzerns zu gelangen, also sehr gering. Trotzdem
Mädchen, ältere Schüler und Schüler aus Schichten mit hat er es später geschafft.
geringerem sozialem Status.
Die Zuordnung zu einem bestimmten Schultyp ent-
scheidet auch über den objektiven Leistungsstand. Der 14.3 Anfänge der beruflichen
Unterschied in Bezug auf die mathematischen Fähigkei- Entwicklung von der Kindheit bis
ten von Gymnasiasten und Realschülern lag in der zwei- ins frühe Erwachsenenalter
ten PISA-Studie bei 96 Kompetenzpunkten. Dies ent-
spricht einem durchschnittlichen Zugewinn von 2 Schul- Ein wichtiger Auslöser individueller Entwicklungs-
jahren. Fast ebenso groß war der Unterschied zwischen prozesse sind sog. Entwicklungsaufgaben, die als ge-
Real- und Hauptschülern. Dies bedeutet, dass die Zuord- teilte normative Erwartungen von der sozialen Umge-
nung zu unterschiedlichen Schulniveaus nicht nur sozi- bung an das Individuum herangetragen werden. Bei-
ale Unterschiede zwischen den Elternhäusern widerspie- spielsweise erwartet man von einem Kind ab einem
gelt, sondern auch die Leistungsunterschiede zwischen bestimmten Alter, dass es sich selbst anziehen kann,
den Schülern vergrößert (Baumert & Schümer, 2001). dass es lernt »bitte und danke« zu sagen etc. Entwick-
Wer also als 10-jähriges Kind in seiner Schulbildung am lungsaufgaben begleiten uns entlang unserer gesam-
Anfang unten einsteigt, hat trotz gleicher kognitiver ten Lebensspanne. Die erfolgreiche Bewältigung einer
Grundfähigkeiten mit zunehmender Schulzeit immer Entwicklungsaufgabe führt zu Zufriedenheit und
schlechtere Chancen bei der Lesekompetenz und der Anerkennung, während das Versagen bei einer Ent-
mathematischen Kompetenz das gleiche Niveau zu er- wicklungsaufgabe das Individuum unglücklich macht,
reichen wie Kinder, die in der gleichen Zeit das Gymna- auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu
sium besucht haben. Damit sinken auch die Chancen, Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Ent-
später erfolgreich an weiterführende Schulen überzu- wicklungsaufgaben führt. Entwicklungsaufgaben von
wechseln. Und dies hat wiederum zur Folge, dass trotz Jugendlichen sind beispielsweise der Aufbau von
gleicher Fähigkeiten und gleicher Leistungsbereitschaft Beziehungen zu Gleichaltrigen, die Akzeptanz des
die Zugangschancen zu beruflichen Tätigkeiten mit hö- eigenen Körpers, das Erreichen emotionaler Unab-
herem sozioökonomischem Status je nach Herkunft und hängigkeit von den Eltern, die Vorbereitung auf das
Anregungsbedingungen im Elternhaus ganz unter- Berufsleben und die Auswahl eines Berufes sowie Be-
schiedlich ausfallen. mühungen zur Sicherung der späteren wirtschaft-
Gute individuelle Bildung ist Voraussetzung für ak- lichen Unabhängigkeit.
zeptable persönliche Arbeitsmarktchancen. Deshalb ist In der Laufbahnentwicklungstheorie (Savickas, 2002)
es wichtig, gleiche Bildungschancen für alle herzustel- wird das Alter zwischen 4 und 13 Jahren als Wachs-
len. Die Leistungspotenziale von Kindern aus unteren tumsphase der beruflichen Entwicklung bezeichnet
sozialen Schichten und von Migranten sollten in (7 Übersicht). Mit zunehmendem Alter erwartet man
Deutschland – gerade auch im Interesse der Gesamtbe- von Heranwachsenden, dass sie sich mit ihrer eigenen
völkerung – viel besser ausgeschöpft werden (Allmen- beruflichen Zukunft befassen, diese als persönliche
194 Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Von einer heranwachsenden Person wird auch er- und Berufe stellen und bieten, sammeln, um damit eine
wartet, dass sie Kriterien für die Ausbildungs- und Be- individuelle kognitive Landkarte über die Berufswelt
rufswahl entwickelt. Solche Kriterien können ganz un- zu entwickeln. Aus dem Vergleich von Selbstkonzept
terschiedlich sein, wie z. B. »Hauptsache, es macht und individueller kognitiver Berufslandkarte sollen
Spaß!«, »Man soll das als Beruf wählen, worin man gut sich vorläufige Präferenzen für bestimmte Berufsfelder
ist!«, »Ich will etwas lernen, wo ich unabhängig und auf ergeben. Die Spezifikationsaufgabe beinhaltet dann
niemand angewiesen bin«, »Den Beruf, den man wählt, die Auswahl einer spezifischen Wunschtätigkeit aus
hat man sein ganzes Leben«, »Man kann den Beruf auch den vorläufigen Präferenzen. Die Aktualisierungsauf-
wechseln, wenn er keinen Spaß mehr macht«, »Ich will gabe besteht schließlich darin, den Weg vom Wunsch
nie arbeitslos werden!«, etc. Die Herausbildung solcher zu dessen aktiver Realisierung tatsächlich – auch gegen
Kriterien fördert das Wissen über die eigene Person und Widerstände und angesichts von Schwierigkeiten – zu
erleichtert es damit, später eine bessere Übereinstim- gehen.
mung zwischen den eigenen Bedürfnissen und Fähigkei- Für die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben
ten mit den Angeboten in der Berufswelt herstellen zu haben Jobs von Jugendlichen in Ergänzung zur Schule
können. eine wichtige Bedeutung (Kirkpatrick Johnson & Mor-
Die erfolgreiche Problembewältigung in Alltagsdin- timer, 2002): Jugendliche gewinnen so erste Erfah-
gen zu Hause, in der Schule oder bei Hobbys erhöht die rungen im Erwerbsleben und können besser für sich
eigene Selbstwirksamkeitseinschätzung, fördert die ihre beruflichen Interessen und individuellen Arbeits-
Selbstakzeptanz und steigert das Selbstwertgefühl. Dies werte klären. Empirische Studien zeigen, dass diese Jobs
schafft die Grundlagen für das Zutrauen zu sich selbst, bei den Jugendlichen zu einer verbesserten Pünkt-
die Herausforderungen der Berufswahl und der erfor- lichkeit, einem stärkeren Verantwortungsbewusstsein,
derlichen beruflichen Anpassungen erfolgreich bewälti- höherer Zuverlässigkeit, einem größeren Selbstver-
gen zu können. trauen und einem verbesserten Bewerbungsverhalten
Das Alter zwischen 14 und 24 Jahren wird in der führen. Wenn die Arbeitszeiten im Job allerdings zu
Laufbahnentwicklungstheorie (Savickas, 2002) als Ex- lange dauern, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit von
plorationsphase der beruflichen Entwicklung be- Substanzmissbrauch (Tabak und Alkohol), Delinquenz
zeichnet. In dieser Zeit sollen die Personen den Weg und eines Absinkens der schulischen Leistungen. Gute
von ihren beruflichen Wünschen und Tagträumen zu Schüler haben relativ kurze Arbeitszeiten in ihren Jobs
einer konkreten Stelle in der Arbeitswelt finden. Die und können deshalb stark davon profitieren. Schlechte
Entwicklungsaufgabe besteht also darin, eine Berufs- Schüler haben dagegen oft zu lange Arbeitszeiten paral-
wahlentscheidung treffen und umsetzen zu sollen. Man lel zur Schule, was mit den genannten negativen Effek-
unterscheidet dabei drei Aspekte dieser Entwicklungs- ten einhergeht.
aufgabe: Kristallisation, Spezifikation und Aktualisie- Savickas (2002) berichtet über drei Stile, mit den Ent-
rung. wicklungsaufgaben der Explorationsphase umzugehen:
Die Kristallisationsaufgabe (7 obige Übersicht) be- 4 Der informationsorientierte Stil zeichnet sich
steht einerseits darin, durch gezielte Selbsterprobungen durch ein aktives Suchverhalten sowie ein eigenstän-
zu einer differenzierteren Einschätzung der eigenen diges, stark problemorientiertes Vorgehen aus.
beruflichen Interessensfelder (z. B. primär Umgang mit 4 Der normorientierte Stil zeichnet sich durch eine
Menschen oder primär Umgang mit Dingen), der eige- sehr enge Anlehnung an die Vorgaben und Erwar-
nen berufsrelevanten Fähigkeiten (liegen z. B. Stärken tungen signifikanter anderer Personen und eine enge
eher im sprachlichen Bereich oder im mathematischen Bindung an die Herkunftsfamilie aus.
Bereich) sowie der Ausprägung der eigenen Arbeits- 4 Der vermeidende Stil äußert sich in hinauszögern-
werte (z. B. Sicherheit des Arbeitsplatzes vs. Abwechs- den und vermeidenden Verhaltensweisen gegen-
lung am Arbeitsplatz) zu gelangen. Es besteht also die über beruflichen Entscheidungen. Den Betroffenen
Aufgabe, ein differenziertes berufliches Selbstkonzept fehlen positive Rollenmodelle. Ihr Verhalten hat
zu entwickeln. Andererseits soll die berufssuchende Defizite beim problemorientierten Vorgehen und
Person gezielt Informationen über die Anforderungen, zeichnet sich durch emotionszentrierte Bewälti-
Routinen und Belohnungen, die bestimmte Berufsfelder gungsversuche aus.
196 Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Wenn ein informationsorientierter Stil vorliegt, kann 4 Der normative Aspekt betrifft das Problem, wie die
man von einer hohen sog. Berufswahlreife ausgehen. Berufswahl eigentlich stattfinden sollte. Was sollten
Damit bezeichnet man die Bereitschaft und die Fähig- die Berufswähler dabei beachten und was sollte man
keit, die Entwicklungsaufgabe der Berufswahl in Angriff ihnen – z. B. in der Berufsberatung – empfehlen?
zu nehmen und erfolgreich zu bewältigen. Berufswahl- 4 Der deskriptive Aspekt betrifft den Sachverhalt, wie
reife umfasst folgende Aspekte: Planungskompetenz, sich die Berufsfindung tatsächlich vollzieht und wel-
Entscheidungskompetenz, Wissen über das Selbst und che Rolle dabei die berufssuchende Person spielt.
die relevante berufliche Umwelt sowie die Berufswahl-
zuversicht. Die Theorie der Arbeitsanpassung (Dawis, 1996, 2002)
In der Bundesrepublik Deutschland dürfte der Alters- und das hexagonale Berufswahlmodell von Holland
korridor von jungen Erwachsenen ohne Hochschulaus- (Holland, 1996; Spokane, Luchetta & Richwine, 2002)
bildung für die Explorationsphase in der Tat zwischen 14 gehen davon aus, dass sich bei Personen im Alter
und 24 Jahren liegen. Da Hochschulabsolventen hierzu- der Berufsfindung, also zwischen 14 und 24 Jahren, be-
lande ihr Studium aber häufig erst nach dem 25. Lebens- reits stabile individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse
jahr abschließen, ist für diesen Teil des Berufsnachwuch- herausgebildet haben, die für die Dauer des Berufs-
ses die Explorationsphase länger. Durch eine Verkürzung lebens im Großen und Ganzen stabil bleiben, was
der Gymnasialzeit sowie die Einführung des 3-jährigen kleinere Modifikationen aber nicht ausschließt. Bedürf-
Bachelorstudiums als erstem berufsqualifizierendem nisse werden hier breit im Sinne von Motiven, Tempe-
Hochschulabschluss wurden in jüngster Zeit aber zielge- ramentseigenschaften, Interessen oder Werthaltungen
richtet berufspolitische Maßnahmen initiiert, um eine verstanden.
frühere Berufseinmündung bei Hochschulabsolventen Nach dem Matching-Ansatz soll nun eine Passung
herbeizuführen. zwischen dem Beruf mit seinen Anforderungen und sei-
nen Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten einerseits
und den Qualifikationen sowie den Bedürfnissen der
14.4 Psychologische Konzepte Person andererseits hergestellt werden (. Tab. 14.2 zu
zur Berufsfindung verschiedenen Aspekten der Passung).
Im Gegensatz zur Stellenwahl (7 Kap. 17), bei der vor
Zur Berufsfindung gibt es zwei zentrale psychologische allem die Tätigkeitsanforderungen einer bestimmten
Ansätze, nämlich den passungstheoretischen Ansatz Stelle relevant sind, stehen bei der Berufswahl die lang-
(Matching) sowie die Konzeption der Laufbahnentwick- fristigen Laufbahnanforderungen im Vordergrund.
lungstheorie. Beide sollen im Folgenden kurz vorgestellt Wenn man Berufe als eine spezifische Sequenz von Auf-
14 werden. Anschließend werden die Haupthindernisse für gaben und Positionen versteht, die Personen im Laufe
eine angemessene Berufsfindung von Jugendlichen und ihres Erwerbslebens dann möglicherweise durchlaufen
jungen Erwachsenen vorgestellt. (7 Übersicht »Laufbahnsequenz im Lehrerberuf«), kommt
Das Problem der Berufsfindung hat aus psychologi- es nach Auffassung der Vertreter des Matching-Ansatzes
scher Sicht zwei Aspekte, einen normativen und einen zum einen darauf an, die Fähigkeiten zu identifizieren,
deskriptiven. die benötigt werden, um das zu erlernen, was man
braucht, um diese Aufgaben später erfolgreich zu erfül- . Tab. 14.3. Unterschiedliche Intelligenzmittelwerte in ver-
len (potenzialbezogene Passung). Dabei spielt – neben schiedenen Berufen. (Nach Engelbrecht 1994)
anderem – die individuelle Lernfähigkeit eine wichtige
Rolle. Beruf Intelligenzmittelwert
Bäcker 43
ruf bietet, den individuellen Bedürfnissen, also den Mo- Gravitationshypothese (7 Kap. 6). Bestätigende Hin-
tiven, Interessen und Werthaltungen mit ihrem jeweiligen weise für die Gravitationshypothese liefert eine Studie
Anspruchsniveau entspricht. von Judge, Higgins, Thoresen und Barrick (1999). Die-
Holland (1997) unterscheidet sechs verschiedene, se Autoren haben Langzeitstudien ausgewertet, bei de-
primäre berufliche Interessensbereiche, nämlich nen in Kalifornien Persönlichkeitsmerkmale von Per-
4 handwerklich-technische Interessen, sonen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren erfasst und
4 forschende Interessen, dann mit dem Berufsprofil ca. 30–35 Jahre später, also
4 künstlerische Interessen, im Alter zwischen 41 und 50 Jahren in Beziehung ge-
4 soziale Interessen, setzt wurden. Dabei zeigte sich zum einen eine relativ
4 Interesse an Führungstätigkeiten sowie hohe Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale (die
4 Interesse an verwaltenden Tätigkeiten. Durchschnittskorrelation betrug r=.43). Zum anderen
zeigte sich eine überzufällige, aber schwach ausgepräg-
Holland geht weiter davon aus, dass sich bestimmte In- te Kongruenz zwischen Person und beruflicher Um-
teressensbereiche gut ergänzen, wie z. B. technische, for- welt.
schende und verwaltende Interessen, aber andere Inter- Während im passungstheoretischen Ansatz die
essenbereiche in sich konflikthaft sind, wie z. B. hand- objektive Merkmalsbeschreibung der Person von Aus-
werklich-technische vs. soziale Interessen, forschende schlag gebender Bedeutung ist (z. B. die Frage, wie
Interessen vs. Interesse an Führungstätigkeiten oder intelligent jemand objektiv ist), steht für die Lauf-
künstlerische Interessen vs. Interesse an verwaltenden bahnentwicklungstheorie (vgl. Savickas, 2002) das
Tätigkeiten. Je klarer und konsistenter das individuelle Selbstkonzept einer Person als die entscheidende
Interessenprofil ist und je mehr es mit den Inhalten eines Größe im Vordergrund (Abele-Brehm & Stief, 2004).
bestimmten Berufes übereinstimmt, desto Nicht in erster Linie die objektive Höhe der allge-
4 höher, so Holland, wird die spätere Berufszufrieden- meinen Intelligenz, sondern das Selbstvertrauen
heit sein, desto (Selbstwirksamkeit) und das Ausmaß, in dem eine
4 langfristiger wird jemand in einem bestimmten Be- Person sich selbst als entscheidend dafür erachtet, wie
ruf verbleiben und desto erfolgreich sie beruflich sein wird (interner Locus of
4 besser wird die berufliche Leistung der betreffenden Control) steuern das Berufswahl- und Berufsfin-
Person ausfallen. dungsgeschehen. Nicht vor allem der objektive Neu-
rotizismus, sondern das Ausmaß der Selbstwertschät-
Diese Hypothesen von Holland konnten allerdings zung ist für das Handeln der Personen entscheidend.
nicht generell bestätigt werden (Spokane et al., 2002). Nicht die objektiven Bedürfnisse, sondern die kon-
14 Zwar korrelierte in einer Metaanalyse (7 Kap. 3) die be- kreten individuellen Wertungen und Formungen von
rufliche Zufriedenheit mit der Passung der Interessen Bedürfnissen und Wünschen dienen der individuellen
im Schnitt zu ca. r=.22, sie variierte jedoch zwischen Bewertung des individuellen Berufsfindungsgesche-
–.07 und .51. Die Dauer des Verbleibs in einem Beruf hens. Es kommt weniger darauf an, was eine Person
korrelierte mit der Passung im Durchschnitt zu r=.15 objektiv leistet und wie gut sie objektiv zu einem be-
und die berufliche Leistung nur zu r=.06 (Assouline & stimmten Beruf passt, sondern wie die betroffene Per-
Meir, 1987). son selbst die individuelle Passung wahrnimmt und
Wie findet nun aber die Berufswahl tatsächlich einordnet.
statt? Nach Holland streben Personen von sich aus da- Für den Erfolg der Berufsfindung sind folgende As-
nach, in beruflichen Umwelten tätig werden zu kön- pekte wichtig:
nen, die mit ihren individuellen Interessenschwer- 4 eine positive Selbstwertschätzung,
punkten und Fähigkeiten übereinstimmen. Wenn eine 4 klare statt diffuse Selbsteinschätzungen,
Person feststellt, dass eine berufliche Umwelt nicht 4 in sich konsistente statt in sich widersprüchliche
wirklich ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht, Selbsteinschätzungen,
verlässt sie diese wieder und sucht nach einer Umwelt, 4 realistische Selbsteinschätzungen,
zu der eine höhere Übereinstimmung besteht (Spo- 4 differenzierte Selbsteinschätzungen und
kane et al., 2002). Man bezeichnet dies als berufliche 4 positive Selbstwirksamkeitseinschätzungen.
14.5 · Berufliche Etablierung
199 14
Nach dieser Auffassung wird die Berufswahl und Berufs- nierungen keinen Zugang zu passenden beruflichen
findung als ein von der Person selbst gesteuerter, konti- Umwelten haben, Lern-, Qualifizierungs- oder Aus-
nuierlicher Entscheidungs- und Ausführungsprozess bildungsmöglichkeiten für sie eingeschränkt oder
gesehen, der auch nicht immer linear verläuft, sondern bestimmte Laufbahnmuster (z. B. Übernahme von
in dem es viele Wiederholungen, Überlagerungen und Führungs- und Personalverantwortung) für Ange-
Auslassungen gibt. Entsprechend der Laufbahnentwick- hörige bestimmter Gruppen nicht zugänglich sind.
lungstheorie haben Personen bei diesem Prozess das Ziel
vor Augen, im Beruf solche Positionen und Rollen anzu- Probleme bei der Berufsfindung können mithilfe der
streben, die ihnen die Gelegenheit geben, ihr berufliches Skala zur Laufbahnproblembelastung von Seifert (1992)
Handeln als Bestätigung ihres Selbstkonzeptes zu inter- erfasst werden (7 Kasten »Itembeispiele aus der Skala zur
pretieren. Wenn Personen nicht die Möglichkeit sehen, Laufbahnproblembelastung«). Eine ausführliche, aktuelle
ihr Selbstkonzept zu verwirklichen, orientieren sie sich Darstellung des Vorgehens bei der psychologischen
beruflich um. Laufbahnberatung findet sich bei Hohner (2006).
Die Berufsfindung wird von der Laufbahnentwick-
lungstheorie also als ein Prozess und Versuch der Selbst-
konzeptvalidierung verstanden. Hierzu ein Beispiel: Sie- 14.5 Berufliche Etablierung
verding (1992) ging der Frage nach, warum es zwar in
etwa gleich viele weibliche und männliche Absolventen Das Alter zwischen 25 und 44 Jahren diente in der her-
des Medizinstudiums, aber wesentlich mehr männliche kömmlichen Struktur der Berufswelt, die bis Mitte der
als weibliche Fachärzte in Deutschland gibt. Sie fand da- 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den westli-
bei heraus, dass die Absolventinnen des Medizinstudi- chen Industriegesellschaften vorherrschend war, der be-
ums glaubten, für eine sich an das Studium anschließen- ruflichen Etablierung. Die Entwicklungsaufgabe bestand
de Facharztausbildung in einer Klinik sei es erforderlich, darin, aus einem befristeten Arbeitsverhältnis oder einer
aggressiv, dominant, cool, egoistisch und hart aufzutre- Teilzeitbeschäftigung in eine unbefristete Vollzeitbeschäf-
ten. Ihr Wunschselbstkonzept war jedoch, auch im Me- tigung zu wechseln (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungs-
dizinberuf in der Klinik freundlich, hilfreich und herz- aufgaben«: Stabilisierung). Wenn dies gelang, konnten die
lich zu sein. Sieverding erklärt mit dieser Diskrepanz Erwerbstätigen auf eine langfristige, stabile, kalkulierbare
zwischen dem Berufskonzept und dem Wunschselbst- und sichere Tätigkeit in ihrer Organisation setzen, die ih-
konzept, warum viele weibliche Absolventen keine wei-
tere Facharztausbildung an einer Klinik anstreben.
Hinsichtlich der Ursachen für die Haupthindernisse
Itembeispiele aus der Skala zur Laufbahnprob-
in Bezug auf eine angemessene Berufsfindung kom-
lembelastung bei Ausbildungsabsolventen
men der passungs- und der laufbahnentwicklungstheo-
nach Seifert (1992) in der Adaptation von
retische Ansatz zu ähnlichen Einschätzungen, nämlich
Blickle (1997)
dass Personen
4 keine klaren beruflichen Präferenzen haben, 4 Ich kenne meine hauptsächlichen beruflichen
4 sie in sich konfligierende berufliche Wünsche ha- Stärken und Schwächen noch zu wenig.
ben, 4 Ich fühle mich noch zu wenig darüber infor-
4 sie unzutreffende Informationen über verschiedene miert, welche beruflichen Möglichkeiten ich
berufliche Umwelten haben, d. h., sie verkennen die habe.
beruflichen Umwelten, die zu ihnen passen bzw. ei- 4 Ich weiß noch zu wenig darüber Bescheid, wel-
gentlich nicht zu ihnen passen, che Anforderungen in den für mich in Frage
4 sie soziale Konflikte haben, weil die beruflichen Er- kommenden beruflichen Tätigkeiten gestellt
wartungen an sie aus ihrem sozialen Umfeld und werden.
insbesondere aus ihrer Familie weit entfernt von ih- 4 Es beschäftigt mich, dass meine beruflichen In-
ren eigenen beruflichen Wünschen sind, teressen und meine Fähigkeiten auf verschiede-
4 sie aufgrund der geographischen Lage, der wirt- nen Gebieten liegen.
schaftlichen Situation oder aufgrund von Diskrimi-
200 Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
nen nach dem einmaligen Erlernen des relevanten Wis- gés konnten in einer Metaanalyse im Vergleich zu nicht
sens sowie der entsprechenden fachlichen Fähigkeiten protegierten Personen folgende Unterschiede in Bezug
und Fertigkeiten überschaubare Aufgaben zumutete auf den beruflichen Erfolg und die berufliche Zufrieden-
(7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Konso- heit empirisch festgestellt werden (Allen, Eby, Poteet,
lidierung), was bei entsprechender Loyalität und Einord- Lentz & Lima, 2004): Protégés erleben sowohl weniger
nungsbereitschaft zu schrittweisem hierarchischem Auf- Rollenstress als auch weniger Rollenkonflikte und ihre
stieg (7 Übersicht »Laufbahnsequenz im Lehrerberuf«) Arbeitszufriedenheit ist höher. Protégés steigen schneller
und betrieblicher Absicherung gegen Lebensrisiken (Un- auf, sie haben ein höheres Einkommen sowie eine erfolg-
fälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut) führte. reichere organisationale Sozialisation.
Die Höhe der Bezahlung hing vor allem vom Alter, vom Unter Networking versteht man den Aufbau und
Familienstand, der Dauer der Betriebszugehörigkeit, aber die Nutzung von Beziehungen im Berufsleben. In einer
auch vom Geschlecht ab. Die Weiterbildung wurde vom netzwerktheoretischen Neukonzipierung des Stellen-
Arbeitsgeber organisiert und finanziert. wertes von Mentor-Protégé-Beziehungen für die Lauf-
Auch heute noch wichtige berufliche Etablierungs- bahnentwicklung haben Blickle, Kuhnert und Rieck
mechanismen sind Mentoring (Blickle & Schneider, (2003) darauf aufmerksam gemacht, dass Mentor-Pro-
2007) und Networking (Wolff & Moser, 2006). Es han- tégé-Beziehungen nur eine Art von laufbahnförderli-
delt sich dabei um ähnliche, aber doch unterschiedliche chen Unterstützungsbeziehungen darstellen (Higgins &
Formen der Laufbahnunterstützung. Thomas, 2001). Denn neben Beziehungen zu Mentoren
Der Begriff Mentor bezeichnet eine höherrangige, gibt es auch andere laufbahnförderliche Beziehungen:
einflussreiche Person männlichen oder weiblichen Ge- In der einen Beziehung mag ganz die emotionale Unter-
schlechts im Arbeitsumfeld einer Nachwuchskraft, die stützung im Vordergrund stehen, in einer anderen da-
dort über große berufliche Erfahrung sowie breites be- gegen der Aspekt des Coachings dominieren, d. h., die
rufliches Wissen verfügt und der daran gelegen ist, die fördernde Person unterstützt insbesondere das Erlernen
berufliche Entwicklung der Nachwuchskraft zu fördern der sachlichen Aspekte der Tätigkeit und gibt dazu
und ihren Aufstieg zu unterstützen (7 Kap. 19). Innerhalb wichtige Hinweise und Ratschläge. In einer dritten Be-
der Mentor-Protégé-(Mentee-)Beziehung nimmt ein ziehung mag die Laufbahnplanung im Mittelpunkt ste-
Mentor drei verschiedene Funktionen wahr, nämlich hen. Die fördernde Person ermutigt dazu, die eigene
4 eine karrierebezogene, Karriere in Angriff zu nehmen. Sie gibt Tipps und Hin-
4 eine psychosoziale sowie die weise für die berufliche Zukunft und hilft bei der Lauf-
4 Funktion als Rollenmodell. bahnplanung. In einer vierten unterstützenden Bezie-
hung kann der Fokus darauf liegen, dass Sichtbarkeit für
14 Die karrierebezogene Funktion beinhaltet Unterstüt- die unterstützte Person entsteht: Die fördernde Person
zung, die dem Weiterkommen und dem Aufstieg des sorgt dafür, dass die Leistungen und das Potenzial der
Protégés innerhalb der Organisation zu Gute kommen Nachwuchskraft einflussreichen Persönlichkeiten posi-
soll. Der Mentor fördert die Talente des Protégés, ge- tiv auffallen. Im Gegenzug arbeitet die Nachwuchskraft
währt Einblicke in berufliche Kniffe, zeigt formale und der fördernden Person zu, entlastet sie von Detailaufga-
informale Regeln auf und führt in die Mikropolitik der ben und bringt eigene Ideen zur Unterstützung der för-
Organisation ein. Er ermöglicht neue Kontakte, macht dernden Person ein. Ein solches Netzwerk von unter-
Leistungen und Potenzial des Protégés für andere ein- stützenden Beziehungen hat zum einen den Vorteil, dass
flussreiche Personen sichtbar, verhilft ihm zu Beförde- die Abhängigkeit von einzelnen Personen nicht zu groß
rungen und Versetzungen, unterstützt bei der Karriere- wird, und zum anderen, dass die unterstützte Person
planung und schützt bei drohendem Schaden. Die psy- gleichzeitig Zugang zu sehr vielen und sehr unterschied-
chosoziale Funktion betrifft hingegen emotionale lichen Informationen bekommt, was nicht der Fall ist,
Aspekte. Der Mentor hört aktiv zu, erteilt Ratschläge, wenn sie nur von einem einzelnen Mentor unterstützt
zeigt Stärken und Schwächen auf und hilft auch bei per- wird. In einer Metaanalyse (Ng, Eby, Sorensen & Feld-
sönlichen Problemen. Einige Autoren fügen dieser Liste man, 2005) zeigten sich positive Effekte von Networking
den Aspekt hinzu, dass Mentoren Rollenmodell und auf die Höhe des Einkommens, den Aufstieg und die
Vorbild für die Nachwuchskraft sein können. Bei Proté- Berufszufriedenheit.
14.6 · Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf
201 14
14.6 Auswirkungen der veränderten
. Tab. 14.4. Alter und neuer psychologischer Kontrakt nach
Beschäftigungsverhältnisse auf Cascio (2003)
den Berufsverlauf
Alter psychologischer Neuer psychologischer
Kontrakt Kontrakt
Das Alter zwischen 45 und 64 Jahren diente in der her-
kömmlichen Struktur der Berufswelt der Sicherung des Stabilität, Vorhersehbarkeit Veränderung, Ungewissheit
erreichten beruflichen Status. Die Entwicklungsaufgabe Langfristigkeit Zeitliche Befristung
bestand darin, die erreichte Position zu sichern (7 Über-
Standardisierte Aufgaben Flexible Aufgaben
sicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«), das erforderli-
chen Wissen und die eigenen, beruflich notwendigen Belohnung von Loyalität Belohnung von Leistung und
Fertigkeiten auf dem neuesten Stand zu halten (7 Über- Wissen
sicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Aktualisierung) Patriarchalische Fürsorge Eigenverantwortung
und sein Erfahrungswissen zu nutzen, um neue Aufga- Sicherheit des Arbeitsplatzes Arbeitsplatzunsicherheit*
ben zu übernehmen (7 Übersicht »Berufliche Entwick-
lungsaufgaben«: Innovation). Ausgelöst wurden diese Lineare Berufslaufbahnen Berufliche Patchworkbio-
graphien
Entwicklungsaufgaben durch sich schrittweise verän-
dernde Technologien in der Branche, durch den Konkur- Lernen am Berufsanfang Lebenslanges berufliches
. Tab. 14.5. Neue normative Leitkonzepte für Berufstätige. (Nach Inkson, 2006)
Selbstbestimmung und Anpassungsfähig- Proaktive Entgrenzung durch Bewältigungshandeln durch sichere Identität,
keit durch Identität und persönliche Werte Akkumulation von Karrierekapital Laufbahnanpassungsfähigkeit, sowie Human-
und Sozialkapital
14.6 · Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf
203 14
4 das Knowing why (berufliche Identität und berufli- chancen sowie zu ihren Chancen am Arbeitsmarkt be-
che Werte), fragt wurden. Die Autoren fanden in Übereinstimmung
4 das Knowing how (berufliche Fertigkeiten und be- mit der Laufbahnentwicklungstheorie, dass für den bis-
rufliche Erfahrung) sowie herigen Laufbahnerfolg und die Beurteilung der eigenen
4 das Knowing whom (Aufbau von persönlichen Netz- internen Aufstiegschancen ein differenziertes berufliches
werken und sowie einer positiven persönlichen Re- Selbstkonzept die vergleichsweise höchste Bedeutung
putation). hatte. Für die externen Arbeitsmarktchancen hatte das
individuelle Humankapital das größte relative Gewicht.
Fugate et al. (2004) haben versucht, mit dem Konstrukt Begünstigende Faktoren für die berufliche Weiter-
der Employability diejenigen Faktoren zu identifizieren, bildungsbereitschaft wurden von Blickle und Schnei-
die dazu beitragen, dass eine Person ihre Erwerbstätigkeit der (2008) zusammenfassend dargestellt und werden in
auch angesichts prekärer Arbeitsmarktchancen erhalten der entsprechenden Übersicht wiedergegeben.
kann. Das Konstrukt ist stärker deskriptiv orientiert als
die beiden Leitbilder. Das Konstrukt der Employability
wird von den Autoren als gemeinsame Schnittmenge der Begünstigende Faktoren für die berufliche
beruflichen Identität, der beruflichen Anpassungsbereit- Weiterbildungsbereitschaft
schaft sowie des individuellen Sozial- und Humankapi- Wichtige individuelle Motive
tals konzipiert. 4 Allgemeines Bedürfnis zur persönlichen Weiter-
Aufgrund eines differenzierten beruflichen Selbst- entwicklung und Selbstverbesserung
konzeptes, d. h. einer sicheren beruflichen Identität (Ca- 4 Hoffnung auf finanzielle Verbesserung
reer Identity – Knowing why) sowie einer reichhaltigen 4 Wunsch nach Arbeitsplatzsicherung
individuellen kognitiven beruflichen Landkarte sollen 4 Aussicht auf Reputationszuwachs
Personen für sie in Frage kommende Beschäftigungs- 4 Wunsch, das berufliche Fachwissen zu aktuali-
möglichkeiten explorieren. Förderlich ist dabei ein in- sieren
formationsorientierter Stil, der sich durch aktives 4 Wahrgenommene Verpflichtung zur Weiterbil-
Suchverhalten sowie ein eigenständiges, stark problem- dung seitens des Arbeitgebers
orientiertes Vorgehen auszeichnet. Die berufliche An-
passungsfähigkeit wird durch folgende individuellen Begünstigende organisationale Faktoren
Einstellungen und Dispositionen gefördert: Optimis- (7 Kap. 19 und 26)
mus, Lernbereitschaft, Offenheit für Erfahrung, ein in- 4 Vorhandene betriebliche Lernkultur
ternaler Locus of Control sowie eine positive, generali- 4 Lernförderliche Aufgabengestaltung
sierte Selbstwirksamkeitserwartung. Soziales Kapital 4 Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
manifestiert sich im sozialen Netzwerk einer Person.
Netzwerke variieren in Bezug auf ihre Größe und Stärke. Faktoren, die die Motivation, an Trainingsmaß-
Sie verschaffen Informationen und Einfluss und damit nahmen teilzunehmen, fördern (7 Kap. 19 und 26)
die Gelegenheit, berufliche Chancen zu entdecken und 4 Geringe Ängstlichkeit
die Möglichkeit, sie zu realisieren. Das individuelle Hu- 4 Internale Kontrollüberzeugung
mankapital manifestiert sich in den individuellen Fähig- 4 Hohe Selbstwirksamkeit
keiten, der Schulbildung, dem Studium, der beruflichen 4 Hohe Gewissenhaftigkeit
Ausbildung, der beruflichen Weiterbildung sowie der 4 Starke Leistungsmotivation
Dauer und Intensität der Arbeits- und Berufserfahrung.
Eby, Butts und Lockwood (2003) untersuchten die Problemgruppen der beruflichen Weiterbildung
relative Bedeutung der drei Größen Knowing why (dif- 4 Frauen
ferenziertes berufliches Selbstkonzept), Knowing how 4 Ältere
(Humankapital) und Knowing whom (Sozialkapital) bei 4 Personen mit niedrigem Bildungsabschluss
458 nordamerikanischen Hochschulabsolventen des Ab- 4 Personen mit niedrigem sozialem Status
solventenjahrganges 1995, die 2001, also nach 6 Jahren, 4 Beschäftigte in Klein- und Mittelbetrieben
zu ihrem beruflichen Erfolg, ihren internen Aufstiegs-
204 Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
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