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6/14/2021 Diskussionsrunde über das Lügen - Von der Freiheit, die Unwahrheit zu sagen (Archiv)

Diskussionsrunde über das Lügen

Von der Freiheit, die Unwahrheit zu


sagen
Psychologen haben herausgefunden, dass jeder Mensch mehrfach am
Tag lügt. Unter US-Präsident Trump würden Lügen sogar belohnt,
schreibt Ex-FBI-Chef James B. Comey in seinem neuen Buch. Über die
Konjunkturen der Unwahrheit wurde in der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften diskutiert.

Von Cornelius Wüllenkemper

Immer ganz ehrlich? Auch die Teilnehmer der Berliner Diskussion gaben zu, gelegentlich zu
lügen (imago / Chromorange)

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6/14/2021 Diskussionsrunde über das Lügen - Von der Freiheit, die Unwahrheit zu sagen (Archiv)

Gleich zu Beginn der Diskussion bekannte der Philosoph Wolfgang Klein, selbst
Erfahrungen im Lügen zu haben. Zwar schäme er sich dafür, bereue es aber
zumeist nicht. Die Lüge hat traditionell einen ziemlich schlechten Ruf. Der
Kirchenlehrer Augustinus etwa befand schon in der Spätantike, dass Lügen per se
unmoralisch seien. Selbst Notlügen, Höflichkeitslügen oder Lügen zur Abwendung
einer Gefahr haftet der Ruf der Verlogenheit und Falschheit an. Sein Gegenüber zu
täuschen, Wahrheiten zu leugnen oder Unwahrheiten zu verbreiten ist generell
verpönt. Dabei ist dieser Rigorismus selbst bereits eine Verlogenheit. Denn wir alle
lügen. Eltern belügen ihre Kinder nicht nur, sondern bringen ihnen das Lügen sogar
bei, meint etwa der Linguist Jörg Meibauer.

„Was meinen Sie, wie schrecklich das ist, wenn die Kinder das nicht lernen. Dann
sind sie pragmatisch gestört. Und das wird behandelt. Insofern ist das ganz klar:
Die Kinder müssen lügen lernen, weil Lügen eine allgemeine kognitive Fähigkeit
des Menschen ist.“

Ungenauigkeiten und Übertreibungen

Tiere können zwar täuschen, aber nicht lügen. Der Linguist Meibauer legte bei der
Berliner Diskussionsrunde dar, wie Menschen sich die Sprache zum Lügen
dienstbar machen, wie sie Unwahrheiten sprachlich kaschieren. Neben
verallgemeinernden Ausdrücken wie „bekanntlich“ oder auch „wohl“ und vagen
Formulierungen wie „nicht hilfreich“ oder undefinierten Lobpreisungen wie
„fantastisch“ werden im Kontext einer Unterhaltung gerne auch Halbwahrheiten
benutzt oder Informationen strategisch ausgelassen. Jörg Meibauer führte dazu
empirische Versuche durch.

„Von ihrem misstrauischen Partner gefragt, ob sie sich mit ihrem Ex getroffen habe,
berichtet eine Frau wahrheitsgemäß, dass sie in der Mittagspause in der Cafeteria
war, aber erwähnt ihren Ex, mit dem sie dort war, mit keinem Wort. Fünfundsechzig
Prozent von 451 Teilnehmern fanden das eine Lüge.“

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6/14/2021 Diskussionsrunde über das Lügen - Von der Freiheit, die Unwahrheit zu sagen (Archiv)

Lügen können nicht nur sehr unterschiedliche sprachliche und inhaltliche Formen
annehmen. Auch die Auffassungen davon, was eine Lüge ist, unterscheiden sich
zum Teil stark. Der empirische Philosoph Alexander Wiegmann differenziert
zwischen subjektiven und objektiven Lügen. Subjektive Lügen setzen voraus, dass
man wissentlich die Unwahrheit sagt. Bei objektiven Lügen kommt es nur darauf
an, was faktisch gegeben ist, unabhängig davon, was man selbst für wahr oder
unwahr hält. Ist es also eine Lüge, wenn man unwillentlich die Wahrheit sagt,
obwohl man eigentlich lügen wollte?

„Mit zunehmendem Alter konnten wir einen eindeutigen Trend zu einem subjektiven
Lügenverständnis hin beobachten. Aus empirischer Sicht kann man sagen: Ja,
Leute denken, dass man auch mit einer wahren Aussage lügen kann.“

Lügen ist kein Tatbestand

Wiegmanns Untersuchungen zeigen zugleich, dass je nach Fragestellung auch


innerhalb der gleichen Probandengruppe große Unsicherheit darüber herrscht, was
letztlich als Lüge zu bezeichnen ist und was nicht. Tendenziell scheint man dem
Begriff der Lüge mit zunehmendem Alter gelassener entgegenzutreten – vielleicht
weil man lernt, dass ein Leben ohne Lügen weder wünschenswert noch möglich ist.
Das belegte sogar der Jura-Professor Michael Soiné. Er führte aus, das der
Rechtsstaat etwa zur Gewinnung von Informationen grundsätzlich leugnen,
täuschen und lügen darf, ja sogar muss.

Auch das Strafgesetzbuch kennt den Tatbestand der Lüge nicht. Es schützt zwar
die Echtheit von Urkunden, nicht aber die Wahrheit. Die Diskussion in der Berlin-
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entpuppte sich als Podium zur
Ehrenrettung der Lüge. Und tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Lüge bei allen
Gefahren, die sie birgt, nicht auch ein Instrument der Freiheit ist. Wer würde schon
in einer Welt der absoluten Wahrheit leben wollen?

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