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Veröffentlichungen Bildungskonzepte

des Nordost-Instituts und Bildungsinitiativen


Band 13 in Nordosteuropa (19. Jahrhundert)
Herausgegeben von
Anja Wilhelmi

Handout Blockseminar Dr. Rapp „Deutsch-russische


Wissenschaftskulturen und Wissenschaftssprachen im
Vergleich“ 14. -19. Juni 2021

2011 2011
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
Herausgeber:
Nordost-Institut
Institut für Kultur und Geschichte
der Deutschen in Nordosteuropa e.V.
an der Universität Harnburg
Conventstr. 1
21335 Lüneburg
www.ikgn.de
Inhalt
Redaktion des Bandes: Konrad Maier
Anja Wilhelmi
Umschlagabbildung: Helene Schjerfbeck (1862-1946): Kansakoulutyttö [Volksschul-
mädchen] (1908). Öl auf Leinwand, 70,5 cm x 40,5 cm. Kunstmuseum "Ateneum",
Vorwort .................................. : .................................... . 9
Helsinki/Finnland.

Gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien


aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Einführung
Detlef Gaus
Dimensionen und Funktionen des Bildungsbegriffs im langen 19. Jahrhundert.
Zur Begriffsgeschichte und Begriffsverwendung eines deutschen Synkretismus ..... . 15
Jan Kusber
Bildungskonzepte und Bildungsinstitutionen im Nordosteuropa des 19. Jahrhunderts.
Ein Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Einzeluntersuchungen
~

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar. n tversit.ä-t·c., Das Russische Reich
B ib !io t r~r--::i:/v-
Bibliographie information published by the Deutsche Nationalbibliothek F . . · :~·'
The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche I ret burr" , f:..-) •.
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Andrej Andreev
Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the interner
at http://dnb.d-nb.de.
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Russische Universitäten aus europäischer Perspektive:
Rezeption der "klassischen" Universitätskonzeptionen
im Russischen Reich des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.... ... ... ... . ....... 59

Informationeil zum Verlagsprogramm finden Sie unter { Trude Maurer


http://www.harrassowitz-verlag.de Universität und Stadt im Russischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
© Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2011
Das Werk ein~chließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Hartmut Rüdiger Peter
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Migration als Strategie:- Die "Universitätsfrage" in Russland und der Zustrom
Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere russischer Studenten an die deutschen Universitäten vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . 92
für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
für die Einspeicherung in elektronische Systeme.
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Die Provinzen des Russischen Reiches
Satz: fio & flo, Thorn, Polen Vija Daukste
Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AG
Printed in Germany "Was ein motivierter Bauer wissen sollte?" -
Die Diskussion über die Volksschulbildung in Estland und Lettland
ISSN 1862-7455
ISBN 978-3-447-06503-0 in den 30er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts................................. 110

UB Freiburg
Gvido Straube
Die kirchlichen Institutionen und die Frage der "Bauernbildung"................... 120
1111111111111111111111111111111111111111
296983
6 Inhalt Inhalt 7

Michael Garleff Die Provinzen des Russischen Reiches


Höhere Bildung in den Ostseeeprovinzen. Anja Wilhelmi
Aspekte der deutschbaltischen Bildungsdiskussion im 19. Jahrhundert........... . . . 128
Mädchenbildung. Bildungspraktiken und -diskurse
Jan Hecker-Stampehl in der deutschbaltischen Bevölkerungsgruppe ( 1850-1900). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Zu den Auffassungen J.V. Snellmanns über die Rolle der Universität Lea Leppik
und den Charakter des akademischen Studiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Über Bildungsmöglichkeiten von Frauen im Russischen Reich.
Darius Staliünas Das Beispiel der Universität Dorpat bis 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Die Russifizierung der Grundschulbildung in Litauen und Belarus nach 1863 . . . . . . . 160 Sirje Tamul
Ewa Skorupa Die ersten Handarbeits-und Haushaltungsschulen im estnischen Mädchenschulwesen
Bildungssystem- Elementares Schulwesen- (19. Jahrhundert bis 1917) ......... . ....................... .. . . ................ . 339
Zensur im Kongresspolen des 19. Jahrhunderts................................... 171 Ralf ·Müller
Arkadiusz Janicki Aspekte der Frauen- und Mädchenbildung im Finnland des 19. Jahrhunderts........ 365
Polnische Initiativen, Ansichten und Entwicklungsbedürfnisse der (universitären
Dietlind Huechtker
und technischen) Ausbildung auf dem Gebiet der westlichen Gouvernements
"Mädchenbildung" im Dickicht der Narrative über Gesellschaftsreform............. 378
und des Königreichs Polen im 19. Jahrhundert.................................... 179
Leszek Zasztowt
Illegale Schulen im Wilnaer Lehrbezirk in den 1870er Jahren...................... 193
Geografisches Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Die jüdische Bevölkerungsgruppe


Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
Desanka Schwara
Tradition und Innovation: Konkurrierende Bildungskonzepte
Die Autoren des Bandes ......... : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
erneuern die ostjüdischen Gemeinden ....................... : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Egle Bendikaite
Jüdisches Erziehungswesen in Litauen und zionistische Bewegung:
Der steinige Weg zur nationalen Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Einzeluntersuchungen zu Aspekten der Frauenbildung


Das Russische Reich
Natal' ja Puskareva
Die häusliche Erziehung adliger Mädchen in Russland am Ende des 18.
und zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Inhalte, Entwicklung und die Rolle der Mütter. 259
Beate Fieseier
Besonderheiten ·des mittleren Mädchenbildungswesens im Russischen Reich
(19. Jahrhundert)............................................................... 278
Yvonne Piesker
Die höhere Mädchen- ·und Frauenbildung in Russland
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ........................................ 292
Andrej Andreev

Russische Universitäten aus europäischer Perspektive:


Rezeption der "klassischen" Universitätskonzeptionen
im Russischen Reich des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts

1. Einführung
In ihrer Frühphase übernahmen die Universitäten des Russischen Reiches vor allem euro-
päische Vorbilder und passten sie russischen Verhältnissen an.
Unter allen in Russland eingeführten Neuerungen war die Institution der Universität
vielleicht die europäischste und weit entfernt von den Gegebenheiten und Bedürfnissen
der russischen Gesellschaft. Ihre Adaption wurde erst mit der allmählichen Europäisierung
Russlands im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts möglich. 1 In diesem Prozess spielten
die deutschen Universitäten eine wichtige Rolle, waren doch ihre Strukturen Vorbild beim
Aufbau der russischen Hochschulen.
Um 1700 gab es in Russland erste Versuche, eine Universität nach europäischem Vor-
bild zu errichten. 2 1755 schließlich wurde die Moskauer Universität auf Erlass von Kaiserin
Elisabeth eröffnet- sie sollte die einzige erfolgreiche Universitätsgründung im 18. Jahrhun-
dert bleiben. Mit der Bildungsreform von 1803/04 unter Alexander I. entstand ein Netz von
Universitäten, das das gesamte Reichsgebiet erfasste. 3 Die sechs kaiserlichen Universitäten
in Moskau, Kazan', Char'kov, St. Peterburg, Dorpat und Vilno standen an der Spitze der
neuen Bildungsinstitutionen; ihnen unterstanden Bildungseinrichtungen auf unterer Ebene
(Gymnasien und Kreisschulen). Die Einrichtung der Universitäten war eine rein staatliche,
vom Ministerium für Volksaufklärung geleitete und finanzierte Angelegenheit.
In der Forschung wird diskutiert, inwieweit es ein "russisches" oder "zarisches" Uni-
versitätsmodell gegeben habe. 4 Weder russische noch nichtrussische Wissenschaftler ha-

"Vvodja nravy i obycai Evropejskie v Evropejskom narode". K problerne adaptacii zapadnych


idej i praktik v Rossijskoj imperii ["Europäische Sitten und Gebräuche in ein europäisches Land
einführen". Zum Problem der Adaptierung westlicher Ideen und Praktiken im Russischen Reich],
red. v. Andrej V. Doronin. Moskva 2008.
2 Andrej Jur'evic Andreev, Nacalo univerzitetskogo obrazovanija v Rossii. Tocki zrenija rossijskoj
i zarubeznoj istoriografii [Die Anfänge der Universitätsbildung in Russland. Aspekte der russischen
und ausländischen Historiografie], in: Otecestvennaja istorija 4 (2008), S. 157-169.
3 Fedor A. Petrov, Forrnirovanie sistemy universitetskogo obrazovanija v Rossii [Die Entstehung
des Hochschulwesens in Russland]. T. 1-4, Moskva 2002-2003; James T. Flynn, The University
Reform of tsar A1exander I. 1802-1835. Washington 1988; Jan Kusber, Eliten- und Volksbildung
im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs,
Gesetzgebung und Umsetzung. Stuttgart 2004 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen
Europa. 65).
4 Walter Rüegg, A History of the University in Europe. Vol. 3: Universities in the nineteenth and
early twentieth century (1800-1945), hrsg. v. dems. Cambridge 2004, S.10, 52, 66 f.
60 Andrej Andreev Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 61

ben ein solches Modell aber bisher hinreichend beschrieben. Unter russischen Historikern Grundsätzlich sind Universitätskonzeptionen aus zwei Richtungen nach Russland ge-
war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ansicht verbreitet, die Universitätsgeschichte langt: zum einen aus den süddeutsch- und polnisch-katholischen, zum anderen aus den nord-
Russlands sei die Folge innenpolitischer Entwicklungen des Russischen Staates und seiner deutsch-protestantischen Gebieten. Infolge des süddeutsch-polnischen Transfers entstanden
gesellschaftlichen Institutionen gewesen und der Epoche des "Fortschritts" beziehungswei- Kollegien und Akademien, die der Russischen Orthodoxen Kirche unterstanden und ähnlich
se der "Reaktion" zuzurechnen. 5 Spielt es in diesem Zusammenhang eine Rolle, dass die wie die jesuitischen Universitäten organisiert waren. Beispiele sind die Akademien in Kiev
Universität an sich eine europäische Institution war? War die Geschichte der europäischen und Moskau sowie die Kollegien in Char'kov, Cernigov und Perejaslavl. 9 Ihr Status erinnert
Universitäten in irgendeiner Weise bedeutsam für die Universitäten im Russischen Reich? in vielem an die privilegierten Gelehrtenkorporationen Europas der damaligen Zeit: Dazu
In der späteren Forschung des 20. Jahrhunderts wurden diesen Fragen verneint, ja nicht gehört vor allem die vom Zaren verliehene akademische Freiheit in ihrer mittelalterlichen
einmal ernsthaft gestellt. In der monumentalen "Geschichte der Moskauer Universität" von ("vorklassischen") Bedeutung, insbesondere die Selbstgerichtsbarkeit
1955 wurde die Universitätsgründung Mitte des 18. Jahrhunderts verbunden mit der Krise Der norddeutsch-protestantische Transfer führte zur Bildung von Institutionen in Analo-
des Feudalsystems und der Verschärfung des bäuerlichen Klassenkampfes marxistisch in- gie zu den deutschen Reformuniversitäten Halle und Göttingen, zu zeigen etwa am Beispiel
terpretiert.6 Demnach entstand die Universität spontan als entsprechende sozioökonomische der Moskauer Universität 1755. 10 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fanden die "eta-
Voraussetzungen existierten. Die gesamte russische Universitätslandschaft sei demzufolge tistischen" Hochschulreformen der Österreichischen Monarchie und des nachrevolutionären
als ein isoliert entwickeltes Phänomen zu betrachten. Für Vergleichsstudien standen nicht- Frankreich Beachtung. Als Russland schließlich Anfang des 19. Jahrhunderts ein eigenes
russischen Historikern zu wenig Quellen zur Verfügung, so dass eine europäische Kontex- Netz an Universitäten schuf, waren also bereits verschiedenste Konzepte im Umlauf, die
tualisierung ausblieb. nun in der Organisation der neuen Hochschulen ihren Niederschlag fanden und zu inne-
Dagegen ist es der Forschung in den letzten Jahren gelungen, allgemeine Gesetzmä- ren Widersprüchen und Konflikten führten. Ein wichtiger Aspekt bei der Übertragung der
ßigkeiten und Etappen der europäischen Hochschulgeschichte herauszuarbeiten, wobei die Universitätsidee auf russische Verhältnisse war ihre Anpassung an die Bildungsbedürfnisse
Institution als ganze sowie auch Einzelaspekte (z.B. Finanzierung, akademische Qualifizie- der Adelsgesellschaft So wurden im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert
rung) in den Blick genommen wurden. 7 Die Verbreitung der Universitäten in Europa wird "Adelspensionen" ("blagorodnye pansiony") an den Universitäten geschaffen, eine Misch-
als "Export" bestimmter Hochschulmodelle dargestellt. Drei Grundmodelle mit Varianten form zwischen Adelsschulen und Universitäten, deren Schüler dieselben Rechte wie die
werden den üblichen drei Epochen der europäischen Universitätsgeschichte zugeordnet. 8 Studenten erhielten. Diese an die Universitäten gekoppelten Schulen sind ein Beispiel für
Das "vorklassische" Modell beschreibt die Organisation und Funktionen der mittelalterli- einen Sonderweg, der sich an den Universitäten in der vom Adel dominierten Ständegesell-
chen korporativen Universität, das "klassische" die Forschungsuniversität des 19. und der schaft Russlands ausformte. 11
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das "postklassische" schließlich die heutige Massenuni- Der Transfer von Hochschulkonzeptionen lief nicht nur über institutionelle Vorbilder,
versität sondern auch über persönliche Kontakte. Deutsche Hochschulabsolventen wurden zur Lehre
Nun ist es eine Aufgabe der russischen Forscher, die Besonderheiten der russischen und zur Forschung nach Russland eingeladen und füllten die Anfang des 19. Jahrhunderts
Universitätsgeschichte mit den verschiedenen Phasen des Transfers europäischer Univer- neu gegründeten Universitäten. 12 Dieser unmittelbare Transfer von deutschen Gelehrten
sitätskonzeptionen zu verbinden, somit den Weg aus der Isolierung zu weisen und die
Universitäten Russlands "aus europäischer Perspektive" zu betrachten.
9 Sergej Vasilevic Rozdestvenskij, Ocerki po istorii sistem narodnogo prosvescenija v Rossii XVIII-
nacalo XIX v. [Studien zur Geschichte der Volksaufklärungssysteme in Russland vom 18. zum Be-
5 V.E. Jakuskin, Iz istorii russkich universitetov v XIX veke [Zur Geschichte der russischen Uni- ginn des 19. Jahrhunderts]. T. 1, Sankt Peterburg 1912, S. 42-58; L.Ju. Posochova, Transformacija
versitäten im 19. Jahrhundert], in: Vestnik vospitanija (1901), H. 7, S. 34-58. obrazovatel'noj tradicii v Vostocnoj Evrope XVII-XVIII v. [Die Transformation der Bildungstra-
6 lstorija Moskovskogo universiteta [Geschichte der Universität Moskau], red. v. M.N. Tichomirova. dition in Osteuropa im 17. und 18. Jahrhundert], in: "Byt' russkim po duchu i evropejcem po obra-
T. 1, Moskva 1955, S. 11. zovaniju". Universitety Rossijskoj imperii v obrazovatel'nom prostranstve Central'noj i Vostocnoj
7 Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhun- Evropy XVIII - nacala XX v. ["Russisch im Geist und Europäisch aus Bildung". Universitäten
dert, hrsg. v. Rainer Christoph Schwinges. Basel 2001 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für des Russischen Reichs im Universitätsraum Zentral- und Osteuropas vom 18. bis Anfang des 20.
Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. 3); Finanzierung von Universität und Wissenschaft in Jahrhudnerts], red. v. Andrej Ju. Andreev. Moskva 2009, S. 32-51.
Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. v. Rainer Christoph Schwinges. Basel 2005 (Veröffentlichun- 10 Andrej Jur'evic Andreev, Osnovanie Moskovskogo universiteta i russko-nemeckie universitetckie
gen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. 6); Examen, Titel, Promotio- svjazi v seredine XVIII veka [Die Gründung der Moskauer Universität und russisch-deutsche
nen. Akademisches und Staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. Universitätsbeziehungen in der Mitte des 18. Jahrhunderts], in: Vestnik istorii, literatury, iskusstva
v. Rainer Christoph Schwinges. Basel 2007 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- (2005), H. 1, S. 353-366.
und Wissenschaftsgeschichte. 7). 11 Ju.A. Dission, "Blagorodnaja al'ternativa" rossijskim universitetam: licei i blagorodnye pansiony
8 Peter Moraw, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: Academia v Rossii konca XVIII- pervoj treti XIV v. [Eine "vornehme Alternative" zu den Universitäten:
Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, hrsg. v. dems. u. Volker Press. Russische Lyzeen und Adelspensionen im 18. Jahrhundert und ersten Drittel des 19. Jahrhunderts],
Marburg 1982, S. 1-43; Claudius Geliert, The emergence of three university models. Institutional in: Voprosy istorii estestvoznanija i techniki (2007), H. 4, S. 125-143.
und functional modifications in European higher education. Florenz 1991. 12 Fedor Aleksandrovic Petrov, Nemeckie professora v Moskovskom universitete [Deutsche Profes-
62 Andrej Andreev Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 63

brachte Professoren nach Russland, die in der Rolle von Kosmopoliten Fremdkörper in der werden). 17 Auch die raznocincy sahen in der Wissenschaftskarriere eine ausgezeichnete
russischen Gesellschaft waren und sich hier mit den Ansprüchen der Universität auf eine Möglichkeit, rasch zu Dienstgraden zu kommen, die sie andernfalls nur durch jahrzehnte-
Führungsrolle innerhalb der russischen Kultur und Gesellschaft konfrontiert sahen. Deshalb lange Arbeit im Kanzleidienst erlangen konnten.
wurden die Universitätsvertreter nach Russland "verpflanzt", aber gleichzeitig in solche Eine derartige Zweckgebundenheit des Studiums widersprach freilich den Zielen der
Staats- und Gesellschaftsverhältnisse eingebunden, die sich von denen Europas deutlich "klassischen" Universitätsbildung. Sie gehört zu den wichtigsten Besonderheiten des rus-
unterschieden. sischen Hochschulwesens im gesamten 19. Jahrhundert (Ab 1835 wurden bei Abschluss
Die russische Hochschule entstand demnach im 18. Jahrhundert im Rahmen eines rein des Studiums sogar noch höhere Dienstgrade verliehen: Der Status "wirklicher Student"
staatlich verordneten Aufklärungsprojekts, das einen neuen Untertanentypus, den "nützli- ["dejstvitel'nyj student"] entsprach dem 12., der des Kandidaten dem 10. Dienstgrad; 1884
chen Staatsdiener" hervorbringen sollte. 13 Damit war das Projekt auf gesellschaftliche An- wurden diese Grade durch ein zweistufiges Diplomsystem mit gleich bleibenden Dienstgra-
erkennung angewiesen. Zu solcher gelangte die Moskauer Universität im 18. Jahrhundert. den abgelöst). 18
Sie war durch ihr Gymnasium, das auf das Studium vorbereitete und sowohl Adlige als Im Weiteren soll die Adaption europäischer Universitätskonzeptionen im 19. Jahrhundert
auch raznoCincy 14 aufnahm, relativ fest in die Gesellschaft eingebunden. Um Schüler bzw. betrachtet werden. Für diesen Zeitraum waren vor allem die Idee der Anfang des 19. Jahr-
Studenten anzulocken, verband Kaiserin Elisabeth das Studium mit Privilegien: Wer Student hunderts in Deutschland entstehenden und sich von dort in Europa ausbreitenden "klassi-
war, konnte die unteren Stufen der Dienstrangtabelle damit vergleichsweise leicht erklim- schen" oder "Humboldtschen" Universität maßgeblich. 19 Auch in Russland kannte man diese
men.15 Dadurch konnte die Moskauer Universität von Anfang an stabile Studentenzahlen Ideen, versuchte sie in Reformprojekte umzusetzen, lehnte sie teilweise aber auch heftig ab.
vorweisen. Durch einen Vergleich der Universitäten des Russischen Reiches mit der "klassischen" Uni-
Dieses Prinzip wurde im ersten Universitätsstatut von 1804 noch weiter entwickelt und versität lassen sich die Besonderheiten des "russischen" Modells besonders gut erkennen.
außer auf die Moskauer Universität auch auf die neuen Universitäten in Kazan' und Char'kov
und später St. Peterburg angewandt. Als das Ministerium für Volksaufklärung zur Förde- 2. Das Universitätsstatut von 1804 im Spannungsfeld
rung des Hochschulwesens geschaffen wurde, erhielten die einzelnen Universitätsstellen und zwischen "vorklassischen" und "klassischen" Konzeptionen
akademischen Grade genaue Entsprechungen auf der Dienstrangtabelle. Wer sein Studium
In den nachfolgenden Diskussionen über die "Universitätsfrage" wird das Universitätsstatut
abschloss und die Behörde für Volksaufklärung verließ, wurde automatisch der 14. Klasse
von 1804 als Geburtsstunde und Ideal der russischen Universität gesehen. 20 Bei näherer
zugeteilt und damit in den Stand eines Adeligen erhoben (wenn er nicht bereits adelig war);
Betrachtung treten jedoch zahlreiche innere Widersprüche zu Tage, die die unterschiedlichen
dazu wurde ihm feierlich ein Degen überreicht. 16
Vorstellungen seiner Verfasser widerspiegeln:
Uniform und Degen wurden im Bewusstsein der russischen Studenten bald zu wichtigen
Einige der liberalen Reformer im Umfeld Alexanders I. waren Anhänger des französi-
Attributen, durch die der Aufenthalt an der Universität belegt und eine erfolgreiche Karriere
schen Bildungssystems. Dies schlug sich zum einen in der dem Institut National folgenden
im Staatsdienst garantiert wurde. Bei Erlangung höherer akademischer Grade winkte ein
Aufteilung der Fakultäten nieder, zum anderen in der Einführung von Lehrbezirken, die wie
noch schnelleres Vorankommen: Derjenige Kandidat, der (nach dem Statut von 1804) in
in Frankreich und Polen von den höchsten Lehranstalten eines Bezirks geleitet wurden.
allen Fakultätsfächern erfolgreich Prüfung ablegte, erhielt den 12. Rang, die Doktorwürde
Gleichzeitig wurde die schon bei der Neugründung der deutsch geprägten Dorpater
berechtigte zum 8. Rang und zur Aufnahme in den Erbadel. Im ersten Jahrzehnt des 19.
Universität von 1802 verankerte Selbstverwaltung in ihrer "vorklassischen Bedeutung" ein-
Jahrhunderts, als die Verleihung akademischer Grade noch nicht an formelle Leistungser-
geführt. 21 Dazu gehörte das noch aus dem Mittelalter stammende Universitätsgericht, das
bringung gebunden war, versuchten nicht wenige Adelsfamilien, ihrem Nachwuchs zu einem
für Professoren und Studenten gleichermaßen und auch in vermögensrechtlichen Streitsa-
schnellen Aufstieg im Staatsdienst zu verhelfen, indem sie ihn die verschiedenen Stufen der
wissenschaftlichen Laufbahn rasch nacheinander durchlaufen ließen (der Kandidatenstatus
konnte zum Beispiel ganz ohne Prüfungen durch Übereinkunft mit den Professoren erlangt 17 Andrej Jur'jevic Andreev, Moskovskij universitet v obscestvennoj i kul'turnoj zizni Rossii nacala
XIX v. [Die Moskauer Universität im gesellschaftlichen und kulturellen Leben Russlands zu
Beginn des 19. Jahrhunderts] . Moskva 2000, S. 215 f.
soren an der Moskauer Universität]. Moskva 1997; Trude Maurer, Hochschullehrer im Zarenreich. 18 Anatolij E. Ivanov, Ucenye stepeni v Rossijskoj imperii XVIII v.- 1917 g. [Akademische Grade
Ein Beitrag zur russischen Sozial- und Bildungsgeschichte. Köln (u.a.) 1998. im Russischen Reich vom 18. Jahrhundert bis 1917]. Moskva 1994, S. 42 f.
13 Jan Kusber, Eliten- und Volksbildung (wie Anm. 3), S. 122 ff. 19 Zu den wichtigsten Prinzipien der "klassischen Universität" (Einheit von Forschung und Lehre,
14 Ein Beamter ohne Erbadel, wörtlich: Leute aus verschiedenen Rängen. Vgl. Elise K. Wirtschafter, Bildung durch Wissenschaft etc.) vgl. Humboldt International (wie Anm. 7).
Structures .9f Society: Imperial Russisa's "peoples of various ranks". DeKalb 1994. 20 Fedor Aleksandrovic Petrov, Universitetskij ustav 1804 g. i stanovlenie sistemy universitetskogo
15 Stepan P. Sevyrev, Istorija imperatorskogo Moskovskogo universiteta, napisannaja k stoletnemu obrazovanija v Rossii [Das Universitätsstatut von 1804 und die Entstehung des Hochschulsystems
ego jubileju [Geschichte der kaiserlichen Universität Moskau, geschrieben zu ihrem hundertsten in Russland] , in: Vestnik Moskovskogo universiteta. Serija Istorija (2004), H. 2, S. 61.
Jahrestag] . Moskva 1855, S. 52 f. 21 Andrej Jur'evic Andreev, Imperator Aleksandr I, professor G.F. Parrot i vozniknovenie "univer-
16 Sbornik postanovlenij po ministerstvu narodnogo prosvescenija [Gesammelte Verordnungen über sitetskoj avtonomii" v Rossii [Kaiser Alexander I., der Professor G.F. Parrot und die Entstehung
das Ministerium für Volksaufklärung]. T. 1, Sankt Peterburg 1864, S. 255. der "universitären Autonomie" in Russland], in: Otecestvennaja istorija (2006), H. 6, S. 19-30.
64 Andrej Andreev Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 65

chen zuständig war. Der Universitätsleitung, bestehend aus Rektor und Dekanen, wurden erst danach ihrem eigentlichen Studienfach an der Fakultät "entsprechend ihrem späteren
sämtliche wirtschaftlichen Angelegenheiten anvertraut, was in Westeuropa, wo die Univer- Stande" (§ 112) nachgehen konnten. 25 Diese Formulierung weist auf die Gründe für die
sitäten über eigene Mittel verfügten, gerechtfertigt war, nicht jedoch in Russland, wo sie Einschränkung der Lernfreiheit Wie im französischen Hochschulwesen war das Studium
gänzlich vom Staat finanziert wurden. Nikolaj M. Karamzin, der das Moskauer Universi- nicht als Selbstzweck, sondern als Vorbereitung auf den künftigen Dienst konzipiert(§ 112).
tätsleben aus erster Hand kannte, spottete: "Die besten Professoren, die sich voll und ganz Die bereits erwähnte Zuteilung von Dienstgraden an Studenten gehört ebenso in diesen
der Wissenschaft widmen sollten, schlagen sich mit Bestellungen von Kerzen und Feuerholz Kontext. Das wiederum erforderte eine Kontrolle des Lernfortschritts, weshalb das Ministe-
für die Universität herum!" 22 rium für Volksaufklärung 1819 auch für Selbstzahler- anders als ursprünglich vorgesehen-
Über Neubesetzungen vakanter Lehrstühle stimmte die Professorenschaft ab, ebenfalls Abschlussprüfungen einführte, die nach drei Jahren Studium abgelegt werden konnten. 26
für damalige Verhältnisse eine antiquierte Praxis, die einer "klassischen" Universität, wo Gleichzeitig richteten die Universitätsräte Zulassungsprüfungen ein, womit die Studienauf-
Professoren von der Regierung ernannt wurden, nicht gemäß war. Deutsche Gelehrte kom- nahme jetzt nur noch zum Beginn des Studienjahres möglich war, und legten schließlich
mentierten damals, das Recht der Selbstbestimmung werde die Universität nicht voran- alljährliche Zwischenprüfungen fest, deren Bestehen für die Anrechnung des Studienjahres
bringen und lediglich zu Fehden und Intrigen führen, weshalb diese Praxis früher oder Voraussetzung war. Auch wenn das neu entstandene Kurssystem vielfach kritisiert wurde
später einzuschränken sei. 23 Sogar Vasilij Nazarovic Karazin, der maßgeblich an der Re- und mehrere Anläufe unternommen wurden, die Lernfreiheit an den russischen Universitä-
form mitwirkte, klagte, die Universitäten in Russland würden "nach Manier der deutschen ten einzuführen, wurde es doch in allen weiteren Statuten bestätigt und trug zum Ende des
Universitäten des 15. Jahrhunderts" errichtet. 19. Jahrhunderts noch rigidere Züge.
Sah das Statut von 1804 die in der "klassischen" Universitätsidee implizit enthaltene In Bezug auf die Lehr- und Lernfreiheit entsprach das Statut von 1804 also nicht dem
Lehr- und Lernfreiheit vor? Auch hier muss die Antwort eher negativ ausfallen. Obwohl "klassischen" Ideal. Besser war es dagegen um den Forschungsimperativ bestellt. Murav'ev
das Statut prinzipiell in Orientierung an deutschen Vorbildern konzipiert wurde, wurde in betonte in seinem Satzungsentwurf immer wieder die Bedeutung der Forschung für die
dieser Frage nicht dem Beispiel der Vorzeigeuniversitäten Halle und Göttingen gefolgt, an Universität, wo "alle Bemühungen darauf abzielen müssen, auf dem gleichen wissenschaft-
denen Lehr- und Lernfreiheit herrschten. Michail Nikitic Murav'ev, Kurator an der Mos- lichen Stande zu sein wie die anderen Länder Europas und alle neuen Erkenntnisse in den
kauer Universität und besser als jeder andere mit der Lehre an den Reformuniversitäten Unterricht mit einzubeziehen, sofern sie die Zustimmung der Gelehrten finden". 27 In §§ 60
vertraut, schlug in seinem Satzungskonzept von 1803 vor, die Lehrfreiheit gesetzlich zu bis 62 wird im Statut vorgeschrieben, dass Bewerber für Professoren- oder Assistenten-
verankern: "wissenschaftliche Ansichten dürfen keinen Anlass für Schikanen bieten (... ) stellen ihre Schriften einzureichen hätten, wodurch in Russland erstmals wissenschaftliche
Respekt der Professoren untereinander soll ihnen im Gegenteil den wissenschaftlichen Aus- Anforderungen an die Besetzung universitärer Posten gestellt wurden. Leider wurden diese
tausch leicht machen. "24 In der Endfassung des Statuts wurde jedoch keine Aussage über Forderungen in den 1810er und 1820er Jahren unter Duldung der Kuratoren ignoriert und
die Reichweite dieser Freiheit gemacht und damit ihre Auslegung den Kuratoren überlas- infolgedessen Lehrstühle mit Personen besetzt, die "der Forderung nach Loyalität, nicht
sen. Durch deren Kontrolle sahen sich die Professoren mit der Zeit immer stärker auf die aber nach wissenschaftlicher Qualifikation entsprachen". 28 Zur Belebung der universitären
eigentlichen Lehrinhalte ihres Lehrstuhls festgelegt, was nach Verabschiedung des Statuts Forschung wurde eine Reihe von Gelehrtengesellschaften gegründet (ebenso wie an den
zunächst anders gewesen war. Am deutlichsten trat die "Lehrunfreiheit" jedoch während der besten deutschen Universitäten Ende des 18. Jahrhunderts, z.B. in Göttingen und Jena).
so genannten razgromy (Verwüstungen) an den Universitäten in Kazan' und St. Peterburg Aber auch sie waren auf das Interesse und die Unterstützung des Staates angewiesen; ohne
Ende der 181 Oer und Anfang der 1820er Jahre zu Tage, als sich die Kuratoren missliebiger diese kam die Forschung zum Stillstand, wie das Beispiel der Gelehrten Gesellschaften an
Professoren entledigten und politischen Druck auf die Lehre (wie in den deutschen Ländern der Moskauer Universität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt.
infolge der Karlsbader Beschlüsse von 1819) ausübten.
Im Unterschied zur Lehrfreiheit erfuhr die Lernfreiheit schon im Satzungstext erheb- 3. Der Einfluss des "Humboldtschen Modells" auf die russischen Universitäten
liche formale Beschränkungen. In §§ 117 bis 120 wurde für auf Staatskosten studierende in den 1830er und 1840er Jahren
Studenten ein Kurssystem festgelegt, bei dem Pflichtprüfungen zwischen zwei aufeinander
Gegen Ende der 1820er Jahre befand sich das russische Universitätssystem sichtbar in der
folgenden Kursen, d.h. Studienjahren, abgelegt werden mussten. Dabei bestand die Mög-
Krise, vor allem mangelte es an hochqualifizierten russischen Wissenschaftlern. In der Leh-
lichkeit, ein Jahr zu wiederholen. Für Selbstzahler war die freie Studienwahl insofern ein-
re lagen die russischen Universitäten nicht nur weit hinter denen Westeuropas, sondern auch
geschränkt, als sie zunächst die "vorbereitenden Wissenschaften" zu studieren hatten und
hinter der Darpater Universität zurück. An der Peripherie der europäischen Gelehrtenwelt

22 Nikolaij Michajlovic Karamzin, Zapiska o drevnej i novoj Rossii [Gedanken an das alte und neue
Russland]. Moskva 1991, S. 67. 25 Sbornik postanovlenij (wie Anm. 15), S. 1139.
23 Christoph Meiners, Geschichte der Entstehung und Entwicklung der hohen Schulen unsers Erd- 26 Ebenda, S. 1135.
theils. Bd. 4, Göttingen 1805, S. 214 f. 27 Zit. nach: Andreev, Moskovskij universitet (wie Anm. 16), S. 275.
24 Zit. nach Andreev, Moskovskij universitet (wie Anm. 16), S. 275. 28 Petrov, Forrnirovanie (wie Anm. 3), T. 2, S. 349.
66 Andrej Andreev Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 67

gelegen, pflegte die Dorpater Universität dennoch weitaus intensivere Kontakte zur west- Das unter Uvarov in Kraft getretene Statut von 1835 war daher kein Rückschritt, wie
europäischen Wissenschaftslandschaft als die meisten russischen Hochschulen und nahm so oft in der Forschung behauptet, sondern im Gegenteil ein Schritt nach vorn, hin zur
die Strömungen einer neuen akademischen Epoche in sich auf. Es war ein Professor der russisch-nationalen Universität und der Beginn der "klassischen" Epoche in der russischen
Dorpater Universität, Georg Friedrich Parrot, der Zar Alexander I. 1803 in einem Schreiben Hochschulgeschichte. Der Ablösung des Statuts von 1804 durch das Statut von 1835 ent-
drängte, die Hochschulbildung zur nationalen Angelegenheit zu erklären, die dem Drang der sprach auf der Ideenebene einer Umorientierung von Göttingen nach Berlin, vom Ideal einer
Nation zur Wissenschaft entsprechen werde. "Das Ziel ist, der russischen Nation wahrhaft "der ganzen Welt" gehörenden Forschergemeinschaft (das so allerdings in Russland nie ver-
nationale Universitäten zu geben. Die Bildung muß endlich eingeboren werden. Um dazu wirklicht wurde) zur nationalen Universität unter der Kontrolle und Obhut des Staates.
zu gelangen, muß man eine Masse unterrichteter Leute schaffen, der man die Aufklärung Das Statut von 1835 beseitigte viele Elemente, die dem klassischen Universitätsmodell
der Nation anvertrauen kann, ohne auf Ausländer zurückzugreifen. Aber Ausländer müssen nicht entsprochen hatten: Die Universitäten besaßen nun nicht mehr die Aufsicht über die
den ersten Grund legen. "29 Lehrbezirke, die Verwaltung der Universität wurde von der Lehre abgekoppelt, das Uni-
Auf Parrots Vorschlag hin genehmigte bereits der folgende Kaiser, Nikolaus I., Ende versitätsgericht und die Selbstgerichtsbarkeit abgeschafft, die Struktur der Fakultäten dem
der 1820er und Anfang der 1830er Jahre den Aufenthalt zahlreicher künftiger Universi- Berliner Vorbild angeglichen. Bei der Besetzung der Ämter wurden wissenschaftliche Kri-
tätsprofessoren im Ausland. An dem zu diesem Zweck gegründeten "Professoreninstitut" terien aufgewertet war und ein Professorenwechsel nach 25-jähriger Amtszeit vorgesehen,
wurde eine neue Generation russischer Gelehrter nach westlicher Prägung ausgebildet und wodurch einer Vergreisung der Universitätsangehörigen vorgebeugt werden sollte. Profes-
an die Ideen der "klassischen Universität" herangeführt Diese gaben dem russischen Hoch- soren und Assistenten konnten laut § 80 des Statuts von 1835 wie bisher gewählt oder
schulsystem schließlich einen nationalen Charakter, indem sie zur Gründung eigener Wis- nunmehr auch direkt durch den Minister für Volksaufklärung ernannt werden. Damit wurde
senschaftsschulen beitrugen und der Forschung zu gesellschaftlichem Rang und Ansehen die körperschaftliche Abgeschlossenheit aufgebrochen und die russische Universität noch
verhalfen. "In einer Art poetischer Begeisterung für das Wissen und Denken kamen die jun- weiter dem "klassischen Modell" angenähert. Welche Möglichkeiten diese neue Bestim-
gen Menschen in ihr Heimatland zurück und erzählten ihren Zuhörern von den Idealen, die mung bot, zeigte Uvarov selbst, indem er junge, auslandserfahrene Wissenschaftler auf
sie erfüllten, von hehren Zielen, die ihr Tun bestimmten", 30 erinnert sich Boris N. Cicerin, russische Lehrstühle setzte und so frischen Wind durch alle Universitäten des Reichs we-
der Zeuge dieses geistigen Umbruchs an den russischen Universitäten wurde. hen ließ. 33 In einem Satzungsentwurf für die Universität Kiev (1842) formulierte Uvarov
Wichtige Schritte in dieser Richtung wurden unter Sergej Semenovic Uvarov unternom- weitere Prinzipien der klassischen Universitätsidee: die Ausweitung der Lernfreiheit durch
men, der als Minister für Volksaufklärung in den 1830er/40er Jahren immer wieder die Idee Abschaffung der jährlichen Zwischenprüfungen und die Einführung von Privatdozenturen
einer "russischen Universität" als integraler Bestandteil eines nationalen Bildungssystems (Dozenturen ohne Lehrstuhl). Diese Neuerungen wollte Uvarov auch auf andere Universi-
propagierte und in der russischen Staatsideologie verankerte. Bei seinem Antrittsmemo- täten des Reiches ausweiten. 34
randum 1833 warf er seinen Vorgängern vor, sie hätten nicht "den einen, den festen Plan Uvarov dankte jedoch 1848 ab, und es folgten "sieben bildungsfeindliche Jahre" ("mrac-
gehabt, die Vorteile der europäischen Aufklärung mit den Vorzügen des Volkstums zu ver- noe semiletie"), in denen die Regierung sämtliche Ergebnisse der Reform in Frage stellte,
einen", weshalb die Universitäten "immer noch nicht den gewünschten Nutzen erbracht" vor allem die "Loyalität" der Universität zum Staat und den "Staatsnutzen" der Wissen-
hätten und wie "exotische Pflanzen verkümmerten, ohne Wurzeln zu schlagen oder Früchte schaft anzweifelte. 35 Den Bemühungen zur Verbesserung von Lehre und Forschung setzte
zu tragen". 31 In seinem Rechenschaftsbericht über die Moskauer Universität von 1832 war die reaktionäre Politik der von Revolutionsängsten beherrschten Regierung ein jähes En-
Uvarov für eine umfassende Reform des Bildungswesens und Erneuerung des wissenschaft- de. Die Universitäten wurden in ihrer Entwicklung zurückgeworfen und entfernten sich mit
lichen Denkens eingetreten und hatte diese in einen Nationalgedanken eingebettet. Dort fand jeder neuen Verletzung der akademischen Freiheiten (z.B. Abschaffung der bis dahin un-
sich die ihm zufolge einhellige Zustimmung unter den Studenten, man müsse "zunächst im antastbaren Wählbarkeit des Rektors und der freien Studienfachwahl mit Ausnahme des
Geiste Russe sein, und erst danach die Bildung eines Europäers anstreben". Der Akzent Medizinstudiums) weiter vom "klassischen" UniversitätsmodelL Ihre Lage ist in den letzten
bei der Synthese dieser beiden Prinzipien lag eindeutig auf dem nationalen Charakter der Jahren der Herrschaft Nikolaus' I. in mehrfacher Hinsicht bedrängt zu nennen.
"Universität für Russland". 32
4. Hochschulkonzeptionen in der Zeit der "Großen Reformen"
29 Friedrich Gustav Bienemann, Der Dorpater Professor Georg Friedrich Parrot und Kaiser Alexan-
der I. Reval 1902, S. 327. Die Bewältigung der Bildungskrise erforderte ein erneutes Nachdenken darüber, wie sich
30 Boris N. Öcerin, VospoJilinanija [Memoiren]. Moskva 1991, S. 27. die Grundsätze der Hochschule auf die russischen Verhältnisse anwenden ließen. Ende der
31 Zit. nach Maksim M. Sevcenko, Konec odnogo velicija. Vlast', obrazovanie i pecatnoe slovo
v imperatorskoj Rossii na poroge Osvoboditel'nych reform [Das Ende der Größe. Macht, Bildung
und Presse im Kaiserlichen Russland an der Schwelle zu den Großen Reformen]. Moskva 2003,
S. 231, 235. 33 Petrov, Forrnirovanie (wie Anm. 3), T. 4, C. 1, S. 23.
32 Sergej Semenovic Uvarov, Otcet ob obozrenii Moskovskogo universiteta [Bericht über die Revision 34 Cynthia H. Whittaker, Graf Sergej Semenovic Uvarov i ego vremja [Graf Sergej Semenovic Uvarov
der Moskauer Universität], in: Sbornik postanovlenij (wie Anm. 15), T. 2, Otd. 1 (1825-1839). ~nd seine Zeit]. Sankt Peterburg 1999, S. 202.
Sankt Peterburg 1875, S. 506. 35 Sevcenko, Konec odonogo velicija (wie Anm. 31), S. 122 ff.
68 Andrej Andreev Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 69

1850er und Anfang der 1860er Jahre fand erstmals eine breite öffentliche Debatte über die Konstantin Drnitrievic Kavelin, der die europäischen Hochschulen 1862/63 im Auftrag des
"Universitätsfrage" statt. Welchen Platz sollten die Universitäten in Staat und Gesellschaft Volksaufklärungsministeriums bereiste und zahlreiche Aufsätze darüber schrieb, bemerk-
haben? Viele, die unterschiedliche europäische Hochschulsysteme kennen gelernt hatten, te, der Aufbau der deutschen Universitäten folge universalen Prinzipien, die sich auf je-
darunter mehrere angesehene Wissenschaftler, verteidigten die "Reinheit" des deutschen des Land anwenden ließen und jedes Bildungssystem positiv beeinflussen könnten. Seine
Hochschulmodells und forderten erstmals öffentlich die Umsetzung "klassischer" Hoch- Überlegungen zur Lehr- und Lernfreiheit und ihrer theoretischen Herleitung halten durchaus
schulprinzipien.36 Nikolaj Ivanovic Pirogov verglich die russischen Universitäten am Ende einem Vergleich mit den Schriften Wilhelm von Humboldts oder Friedrich Schleiermachers
der 1850er Jahre mit anderen Hochschulen Europas: stand. Er veranschaulichte, wie der Name der "klassischen Universität" zu verstehen sei:
"Unsere Universität unterscheidet sich völlig von der mittelalterlichen englischen, da sie "Die deutschen Universitäten gehören in ihrem Fundament zu den klassischen, unsterb-
weder kirchlich noch korporativ noch gesellschaftsbezogen oder edukativ angelegt ist. lichen Zeugnissen der Geschichte; die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien haben allge-
Unsere Universität ähnelt der französischen nur insofern, als sie- und zwar noch stärker meine, universale Geltung, sie können unendlich weiterentwickelt und unzählige Male
und von ihrem Ursprung her - bürokratisch ist, dagegen ist sie noch kein Teil des (... ) auf die historischen, zeitlichen und lokalen Verhältnisse anderer Länder und Völker
Volksaufklärungsministeriums wie die französische, und unsere Fakultäten sind weniger angewendet werden". 39
voneinander losgelöst. Schließlich ähnelt unsere Universität noch weniger der deutschen,
Das neue Statut von 1863 spiegelte die Ergebnisse der Diskussion zur "Universitätsfrage"
die ihr als Vorbild gedient hat, da ihr deren wichtigste Merkmale fehlen - die völlige
in der russischen Gesellschaft teilweise wider. Seine Autoren aus dem Ministerium für
Lehr- und Lernfreiheit und der Anspruch, über Anwendbarkeit und Nützlichkeit erhaben
Volksaufklärung standen zweifellos unter dem Einfluss der "klassischen Universitätsidee",
zu sein (... ) Unsere Universitäten pflegen sich so sehr als staatliche Einrichtungen auf-
was in einer Reihe von Dokumenten deutlich wird, die die Annahme des ustav begleiteten.
zufassen, dass sie sich einzig und allein darauf konzentrieren, Menschen Diplome, Titel
Ein Abschnitt über die wissenschaftliche Zweckbestimmung der Universitäten hätte aus der
und Ränge für den Staatsdienst zu verleihen; die Bildung des Landes, der Gesellschaft
Feder eines deutschen Neuhumanisten stammen können:
ist für sie reinste Nebensache."
"Die Wissenschaft wird an den Universitäten um ihrer selbst willen gelehrt und die Natur
Zur Überwindung dieser Missstände und Belebung der Wissenschaft schlug Pirogov ein
des verschiedene Bereiche erfassenden menschlichen Wissens bildet die Grundlage für
Reformpaket vor. Darin forderte er ein strenges Auswahlverfahren bei der Besetzung der
die Einteilung der Universität in Fakultäten. Das Studium kann demjenigen wahren
Stellen, die Ausweitung der Lehre mit Hilfe von Privatdozenten, den Ausbau des Seminar-
Nutzen bringen, der im Tempel der Wissenschaft nur Wissenschaft, das heißt Wissen
systems, die Einführung der Lernfreiheit als conditio sine qua non, die Abschaffung der
sucht, nicht aber demjenigen, den materielle, berechnende Motive bewegen. "40
jährlichen Zwischenprüfungen und schließlich das Ende der Rangverleihung an Studenten,
in der Pirogov ein Hauptübel des russischen Hochschulsystems sah: "Wir alle wünschen uns Die Ministerialbeamten wandten sich dagegen, die Studenten mit Diensträngen anzulocken,
jetzt, dass unsere auf den Staatsdienst ausgerichteten Universitäten zu rein wissenschaftli- und ermöglichten den Universitäten die Einführung der Lernfreiheit ("Bekanntermaßen
chen Institutionen werden". 37 werden an den deutschen Universitäten, wo Lernfreiheit herrscht, ungleich bessere Ergeb-
Ebenso deutlich sprach sich Ivan Kondrat'evic Babst für die Annahme der "klassischen nisse erzielt als an den französischen , die ein festes Curriculum haben. Das neue Statut
Universitätsidee" aus: lockert den bisher völlig starren Lehrplan dadurch auf, dass der Universitätsrat nunmehr
mit Erlaubnis des Ministeriums präzisieren darf, welche Fächer Pflichtfächer sein sollen. "41 )
"Entscheiden wir doch zuallererst, was unsere Universitäten sein sollen - Schulen et-
Anknüpfend an die Gründungsideen für die Berliner Universität schlug das Ministerium vor,
wa, wo für fleißiges Lernen und gutes Betragen Dienstgrade verliehen werden und die
das Lehrangebot zu erweitern und das wissenschaftliche Niveau durch die Einführung der
Vorbereitung auf den Staatsdienst stattfindet? Oder allgemein zugängliche Hochschulen
Privatdozentur zu heben: "Alle Seiten setzen ihre größten Hoffnungen in die Privatdozen-
mit absoluter Lehrfreiheit, ohne die der Fortschritt der Wissenschaft nicht denkbar ist,
ten. Sie sollen den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Besetzung der Lehrstühle sichern
mit absoluter Lernfreiheit und freier Fächerwahl, ohne die eine ernsthafte Beschäftigung
und frischen Wind an die Universitäten bringen. " 42
mit der Wissenschaft nicht denkbar ist. " 38
Viele der neuen Verordnungen waren in der Praxis wirkungslos. Dies zeigt, dass das
Statut von 1863 letztlich ein Kompromiss war undtrotzseiner innovativen Tendenzen Me-
chanismen beinhaltete, die keine Erneuerung des Hochschulwesens ermöglichten, sondern

36 Regina Genrichovna Ejmontova, Russkie universitety na putjach reformy. Sestidesjatye gody XIX
veka [Russische Universitäten auf dem Reformweg. Die 1860er Jahre]. Moskva 1993, S. 81. 39 Konstantin Dmitrievic Kavelin, Sobranie socinenij [Werke]. T. 3, Sankt Peterburg 1899, S. 70.
37 Nikolaj Ivanovic Pirogov, Izbrannye pedagogiceskie socinenija [Ausgewählte pädagogische Schrif- 40 Anatolij lchil' evic Avrus, Istorija rossijskich universitetov. Ocerki [Studien zur Geschichte der
ten]. Moskva 1953, S. 352-369. russischen Universitäten]. Moskva 2001 , S. 66.
38 Ivan Kondrat'evic Babst, Ot Moskvy do Lejpciga [Von Moskau nach Leipzig]. Moskva 1859, 41 Zurnal ministerstva narodnogo prosvescenija (1863), H. 8, S. 383.
S.63. 42 Ebenda, S. 400.
70 Andrej Andreev Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 71

im Gegenteil die überkommenen Zustände bewahrten. So lag die Einführung der Lernfrei- wird, dann sprechen wir den Universitäten ihre Bedeutung als Ort ab, wo Wissenschaft
heit im Ermessen der Universitätsräte, welche aber überall die alte Form der Lernkontrollen und Denken zu Hause sind". 44
(jährliche Zwischenprüfungen) bewahrten. Ebenso wenig etablierte sich in den 1860er und Solche Thesen weisen Ljubimov als Vermittler der "klassischen Universitätsidee" in Russ-
1870er Jahren die Privatdozentur, da die Finanzierungsfrage nicht präzise geregelt war und land aus.
die in deutschen Ländern üblichen Honorarverträge von der Regierung nicht genehmigt Als die öffentliche Debatte der "Universitätsfrage" in den 1870er Jahren in eine neue
wurden. Infolgedessen stürzten sich die jungen Wissenschaftler, die nicht gleichzeitig als Runde ging, waren auch entgegengesetzte Ansichten zu hören. So widersprach Vladimir
Privatdozenten unterrichten und sich anderweitig ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, Ivanovic Ger'je (Woldemar Guerrier) Ljubimov in allen grundsätzlichen Punkten. Er leug-
auf die staatlichen Dozentenstellen. Diese waren faktisch nichts anderes als die früheren As- nete zwar nicht die wissenschaftliche Bedeutung der deutschen Universitäten, zeigte aber,
sistentenstellen, mit ihnen waren ebenso wenig Rechte verbunden und über ihre Besetzung dass diese sie nicht wegen, sondern trotz ihrer Struktur ausbauen konnten. Insofern überhole
entschieden Beziehungen innerhalb der Professorenschaft Ein regelmäßiges Nachrücken man durch das Statut von 1863 die derzeitige Entwicklung an den europäischen Universi-
der jüngeren Generation war auf diese Weise daher nicht gewährleistet. Auch in der Frage täten. Ger'je vertrat die Auffassung, dass die Lehr- und Lernfreiheit, die Ernennung der
der Trennung von Studium und Dienst blieb es bei Absichtserklärungen: Beide akademi- Professoren, die Privatdozentur und ihre Honorarentlohnung in Russland nicht funktionie-
schen Grade- der des "wirklichen Studenten" (von Pirogov als "Zuflucht für Ignoranten" ren könnten und auch die deutsche Wissenschaft nur ungenügend voranbrächten. Ger' je
bezeichnet), und der des "Kandidaten" blieben mit Rangbeförderungen verbunden. 43 sah keinen Nutzen in der Konkurrenz zwischen den Hochschullehrern und führte deren
Kritik an den Reformen der 60er Jahre wurde schon im darauf folgenden Jahrzehnt laut. Erfolg in Deutschland auf einen Forscherüberschuss zurück, den es in Russland nicht ge-
Im Gefolge von Pirogov, Babst und Kavelin trat jetzt Nikolaj Alekseevic Ljubimov, Professor ben werde. Wie sehr sich die Regierung auch immer anstrenge, "in Russland wird keine
an der Universität Moskau, für die "klassische Universitätsidee" ein. Das Hochschulsystem Dissertation umsonst geschrieben, gibt es nicht einen überschüssigen Professor". 45 Eine
sei von "allgemeiner Verantwortungslosigkeit" geprägt, die liberalen Tendenzen der Reform wichtige Aufgabe der Universitäten sah Ger' je in der Vermittlung von Fachkenntnissen und
von 1863 seien wirkungslos geblieben. "Welche Maßnahmen in Bezug auf die Universitäten der Durchführung von Leistungskontrollen.
sind wahrhaft und ernsthaft liberal? Doch wohl solche, die die akademischen Freiheiten der Die Debatte sollte die Revision des Statuts von 1863 und die Verabschiedung eines
Lehre und Forschung herbeiführen (und schützen), Wissenschaft und Unabhängigkeit des neuen ustav im Jahr 1884 prägen. Trotzdem enthielt auch das neue Reformwerk immer
Geistes fördern, Interesse an den höheren Aufgaben der Wissenschaft wecken und die Phi- noch innere Widersprüche. Einerseits ermöglichte es einen weiteren Schritt in Richtung der
losophie beleben." Solche Ziele seien den Universitäten völlig fremd; Auswahlverfahren mit "klassischen Universität" - Einführung eines Wettbewerbsverfahrens im Ministerium zur
mehreren Bewerbern fänden praktisch nicht statt, die Minister verzichteten zwar nicht völlig Besetzung der Professorenstellen, feste Etablierung der Privatdozentur auf Honorarbasis
auf ihr Recht, Professoren zu ernennen, aber die Inanspruchnahme dieses Rechts werde als bei gleichzeitiger Abschaffung der staatlichen Dozentenstellen, Einführung von praktischen
gegen die Universität gerichtet, als Zeichen des Misstrauens oder Strafe gewertet. Dieser wissenschaftlichen Übungen (Seminaren), Erweiterung der naturwissenschaftlichen Labors
Situation stellte Ljubimov die Moskauer Universität in den 1840er Jahren entgegen, wo und Institute- Einrichtungen also, die in Buropa schon seit der ersten Hälfte des 19. Jahr-
Elemente der "klassischen Universitätsidee" umgesetzt worden waren: "(D)ank einer klei- hunderts "die Einheit von Forschung und Lehre" sichern sollten. Allein an der Moskauer
nen Gruppe von gleichgesinnten Professoren atmete die Lehre den Geist der Humanität und Universität wurden an der Wende zum 20. Jahrhundert 17 Institute neu gegründet, da-
Freiheit - und das auch unter ungünstigen äußeren Bedingungen -, die Universität besaß von zwölf an der medizinischen, vier an der physikalisch-mathematischen und eins an der
Unabhängigkeit, eine Vision und Stärke." Diese Unabhängigkeit des Universitätskörpers, historisch-philosophischen Fakultät. Erste Seminarleiter an letzterer waren y.a. Ger' je, Pavel
betonte Ljubimov, bestand "einzig und allein im Geiste der Forschung und Lehre". Konkret Gavrilovic Vinogradov, Nikolaj Il'ic Storozenko und Georgij Nikolaevic Celpanov.
plädierte er für den Ausbau der Privatdozentur ("sie soll die Anwärterschaft für die Profes- Andererseits wurde die Leitung der Universitäten unter die Kontrolle der Bürokratie
sorenstellen, nicht aber die Professorenstellen selbst, erweitern und attraktiver machen"), trat gebracht. Dem Ministerium wurden sämtliche Schlüsselbefugnisse übertragen bis hin zum
für "eine freie Verteilung der Kurse" ein, wandte sich gegen die "Willkür" der Lehrstühle Recht, die Universitätsverwaltung zu ernennen. Von diesen machte es nicht zum Nutzen
im Statut von 1863 und setzte sich für die Abschaffung der jährlichen Zwischenprüfungen der Wissenschaft, sondern zur Belohnung für Regierungstreue Gebrauch. Darin unterschied
ein. sich das Ministerium für Volksaufklärung von seinem preußischen Pendant, dessen Vorbild-
Der universitäre Unterricht ist seinem Wesen nach vielseitig und frei. Sein Ziel ist funktion die russische Behörde stets betont hatte.
~icht in erster Linie die Wissensvermittlung, sondern die Förderung der Eigeninitiative. Das preußische Kultusministerium zielte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts
Wenn wir ihn durch fest gefügte Programme und äußere Vorgaben einengen, wenn wir
die Universitäten in Schulen verwandeln, wo ein bestimmtes Maß an Wissen vermittelt
44 Nikolaj Alekseevic Ljubimov, Po povodu predstojascego peresmotra universitetskogo Ustava [Zur
bevorstehenden Revision des Hochschulstatuts], in: Russkij vestnik (1873), H. 2, S. 886-903.
43 Statut von 1863, in: Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii [Gesetzbuch des Russischen 45 Vladirnir I. Ger'e, Nauka i gosudarstvo [Die Wissenschaft und der Staat], in: Vestnik Evropy
Reichs], 2. Ausg., Nr. 39752. (1876), H. 11, S. 345-384.
72 Andrej Andreev. Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 73

im so genannten "System Althoff" auf die optimale Verteilung von Wissenschaftlern und schulwesens vor. Inzwischen waren die als "Nobelpreisschmieden" bezeichneten deutschen
finanziellen Mitteln auf die einzelnen Universitäten des Landes. Infolgedessen erlebten diese Universitäten nicht mehr nur in Europa, sondern weltweit führend. 49 Die Berliner Universität
im Deutschen Kaiserreich ihre Blütezeit und brachten dem "klassischen Universitätsmodell" feierte ihr 100-jähriges Bestehen; Wilhelm von Humboldt, dessen wichtigste Schriften ge-
weltweite Anerkennung. 46 Das russische Ministerium für Volksaufklärung dagegen nutzte rade veröffentlicht worden waren, wurde als Hochschultheoretiker in Presse und Forschung
sein Recht auf Ernennung und Absetzung von Professoren nicht zur Beförderung der Wis- gewürdigt (und es entstand der bis heute existierende "Mythos Humboldt"): 50 Hier ist vor
senschaft, sondern zur Bekämpfung "liberaler Professoren", zu denen Il'ja Il'ic Mecnikov, allem Eduard Sprangers Werk "Über das Wesen der Universität" von 1910 zu nennen, in
Klement Arkad'jevic Timirjazev, Vladimir Ivanovic Vernadskij, Pavel Gavrilovic Vinogra- dem die neuhumanistische Konzeption der "klassischen" Universität behandelt wird. 51
dov und Sergej Andrejevic Muromcev u.a. gehörten. Einige von ihnen waren in ganz Buropa In Russland berichtete der Publizist und Bildungshistoriker Nikolaj Vasil' evic Sperans-
bekannt. Infolge ihres Konfliktes mit dem Ministerium fanden sie sich schließlich in der kij über diese Ereignisse. Speranskij, der lange in Deutschland gelebt hatte, ist den "Ver-
Emigration wieder und setzten dort ihre Forschungen fort. 47 mittlern" der in deutschen Gelehrtenkreisen verbreiteten Ideen zuzurechnen. Dass er mit
Gleichzeitig entstand unter dem Einfluss der an und bei den Lehrstühlen zu hörenden Sprangers Werk vertraut war, steht außer Zweifel, da er Humboldts theoretische Schriften
liberalen Ansichten eine Studentenbewegung, die in den Professoren bisweilen ihre Inter- erstmals öffentlich zitierte und sie in den Kontext der Entstehung der "klassischen Univer-
essenvertreter sah. 48 Auch diese Bewegung versuchte das Ministerium zu unterdrücken. sität" einfügte.
Anstatt das wissenschaftliche Interesse der Studenten durch Gewährung der Lernfreiheit In seinem Essay "Der Staat und die Wissenschaft" ("Gosudarstvo i nauka", 1911) behan-
zu fördern, betrieb es eine Sozialpolitik, die vor allem Kindern aus Adelsfamilien den delte Speranskij die staatliche Einmischung in universitäre Angelegenheiten, wobei er sich
Zugang zum Studium ermöglichte, da der Besuch des Gymnasiums durch die Einführung auf Humboldts berühmte Denkschrift "Über die innere und äußere Organisation der höheren
von Griechisch und Latein als Pflichtfächer erschwert wurde. An der Universität überwach- wissenschaftlichen Anstalten in Berlin" stützte (und diese offenbar als erster und einziger in
ten dem Ministerium unterstellte Inspektoren die Schritte der Studenten. Zu einer weiteren der russischen Presse zitierte). "Wenn der Staat öffentliche Mittel für den wissenschaftlichen
Bürokratisierung kam es, als Prüfungskommissionen zur Abnahme der nun staatlich regle- Nachwuchs ausgibt, muss er sich eine Reihe von Selbstbeschränkungen auferlegen", allein
mentierten Abschlussprüfungen und Vergabe von Diplomen samt zugehörigen Rängen (10. um zu "verhindern, dass die innere Freiheit verloren geht", schrieb Speranskij und schil-
und 12. Dienstgrad) eingesetzt wurden. Für die Prüfungszulassung musste eine bestimmte derte sogleich die Konsequenzen einer solchen Politik: Das so handelnde Deutschland sei
Zahl absolvierter Studienhalbjahre vorgewiesen werden, die das alte Kurssystem und die dank seiner Universitäten, die dem Land ein Gefühl der nationalen Einheit vermittelt hätten,
jährlichen Zwischenprüfungen bestätigten. Auch wenn jetzt neben den Pflichtkursen weitere zu seiner gegenwärtigen Macht und Ehre gelangt. Am Ende des Textes äußerte Speranskij
nichtobligatorische Kurse besucht werden konnten, war der Anreiz denkbar gering, Kurse jedoch Zweifel an der Erreichbarkeit ähnlicher Resultate in Russland, wo Staat und Wis-
zu wählen, die nicht im Fächerkanon des Ministeriums enthalten waren. Damit wurde die senschaft enger als anderswo miteinander verbunden, "durch Armut zusammengeschweißt"
mit der Ausweitung der Privatdozentur beabsichtigte Förderung der Lehrfreiheit entwertet. seien. 52
Am Beispiel des Statuts von 1884 wird deutlich, dass die in Russland viel beschwore- Welche Möglichkeiten die Verwirklichung der "klassischen Universitätsidee" in Russ-
nen Prinzipien der deutschen "klassischen" Universitätsidee dort letztlich kaum umgesetzt land habe, diskutierte Speranskij in einem weiteren Aufsatz mit dem Titel "Europa und wir"
wurden. Das von Humboldt beschriebene Gleichgewicht zwischen der Einmischung des ("Evropa i my", 1910). Speranskij bezog sich auf den Entwurf eines neuen Statuts, das vom
Staates in universitäre Belange und der Bewahrung der akademischen Freiheiten wurde in Ministerium für Volksaufklärung unter Ivan Ivanovic Tolstoj erarbeitet und ausländischen,
Russland nicht gefunden. Anstatt die Wissenschaft zu fördern, wie es die deutsche Regie- darunter auch deutschen Experten zur Begutachtung vorgelegt worden war. Die Gutachter
rung aus einer ganz ähnlichen Ausgangsposition heraus tat, beschäftigte sich die russische bemängelten, dass es in Russland immer noch keine Freiheit für Forschung und Lehre ge-
Bildungsbehörde mit politisch unbequemen Studenten und Professoren. be, und begrüßten die liberalen Tendenzen des neuen Entwurfs. Gleichzeitig warnten sie, er
falle ins andere Extrem und schwäche die Rolle des Staates an den Universitäten zu Guns-
5. Neue Impulse der "klassischen Universität" zu Beginn des 20. Jahrhunderts ten ihrer Selbstverwaltung zu sehr. Dies gehe soweit, dass Professoren und Dozenten nun
von Hochschulgremien gewählt werden sollten. Für Speranskij herrschte Klarheit darüber,
Nach der Revolution von 1905 gingen die Diskussionen um die Krise der russischen Uni-
versitäten in eine neue Runde, und die Regierung bereitete eine weitere Reform des Hoch-

49 Vgl. Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik (wie Anm. 46).


46 Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter: das "System Althoff'' in 50 Sylvia Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen
historischer Perspektive, hrsg. v. Bernhard von Brocke. Hildesheim 1991. Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002),
47 Sergej Grigor'evic Svatikov, Opal'naja professura 80-ch godov [Missliebige Professoren der 80er S. 183-205.
Jahre], in:VGolos rninuvsego (1917), H.2, S. 70. 51 Eduard Spranger, Über das Wesen der Universität. Leipzig 1910.
48 Galina I. Scetinina, Studencestvo i revoljucionnoe dvizenie v Rossii. Poslednjaja cetvert' XIX v. 52 Nikolaj V. Speranskij, Krizis russkoj skoly. Torl.estvo politiceskoj. Krusenie universitetov [Die
[Studenten und die revolutionäre Bewegung in Russland. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts]. Krise der russischen Schule. Der Triumph der Reaktion. Der Zusammenbruch der Universitäten].
Moskva 1987. Moskva 1914, S. 33-43.
74 Andrej Andreev Russische Universitäten aus europäischer Perspektive 75

dass die "klassische Universitätskonzeption" gleichermaßen auf wissenschaftlicher Freiheit der "Epoche der Großen Reformen" mit dem Statut von 1863, ein weiteres Mal in der
und völliger institutioneller und materieller Abhängigkeit vom Staat beruhen müsse. Aber Zeit der "Gegenreform" und dem Statut von 1884 und vor allem nach der Revolution von
er verteidigte den Entwurf gegen diese Kritik und verwies auf die Unterschiedlichkeit der 1905, als die weltweite Führungsrolle der auf den Humboldtschen Ideen fußenden deutschen
Regierungen im Deutschen und Russischen Reich, die sich sowohl in ihrem Rechtssystem Universitäten für niemanden mehr zu übersehen war.
als auch in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft ausmachen ließen. Im Deutschen Reich be- Jedoch fand zu keiner Zeit eine vollständige Umsetzung dieser Prinzipien in Russland
deute staatliche Intervention Förderung der Wissenschaft, in Russland Blockierung ihrer statt. Jedes neue Statut führte zwar zu einer weiteren Annäherung an die klassische Uni-
vitalsten und talentiertesten Kräfte. Speranskij verwies in diesem Zusammenhang auf die versitätsidee, bewahrte aber auch gleichzeitig Elemente, die mit dieser nicht zu vereinbaren
Politik von Aleksandr Nikolaevic Svarc, Minister für Volksaufklärung von 1908 bis 1910. waren (korporative Verfasstheit der Professorenschaft, Kurssystem, Verknüpfung von akade-
Er hatte sich geweigert, den angesehenen Historiker und Liberalen Aleksandr Aleksandro- mischen Graden und Dienstgraden, Unterricht nach staatlichen Programmvorgaben). Eben
vic Kiesewetter im Amt zu bestätigen, und vorgegeben, keine Politik an den Hochschulen diese Elemente prägten aber das Verhältnis der russischen Gesellschaft zu ihren Univer-
dulden zu wollen. Aus eben diesen Hochschulen, so Speranskijs Vorwurf, mache das Minis- sitäten. Aufmerksame Beobachter wie zum Beispiel Speranskij fragten, ob die Errichtung
terium einen Polizeistaat. Die russischen Universitäten sollten in die Lage versetzt werden, der "klassischen" Universität in der Form, wie sie in Europa bestand, überhaupt möglich
sich gegen politische Eingriffe zur Wehr zu setzen. 53 Speranskijs schlimmste Befürchtungen sei, und wiesen darauf hin, dass sich hierfür erst der Staat und das Bewusstsein in der
sollten sich bewahrheiten, als Minister Lev Aristidovic Kasso gegen liberal gesinnte Profes- Gesellschaft ändern müsse. Aber eben das fördere vor allem die "klassische" Universität!
soren weiter vorging und damit den kollektiven Rücktritt von einem Drittel der Professoren Eine Auflösung dieses Widerspruchs gelang nicht mehr vor dem Sturz der Monarchie.
und Privat-Dozenten an der Moskauer Universität auslöste. (Deshalb gab Speranskij sei- Mit der bolschewistischen Machtergreifung änderten sich die Prioritäten und Ziele der Hoch-
ner 1914 erschienenen Aufsatzsammlung "Die Krise der russischen Schule" den Untertitel schulbildung radikal und die "klassische" Universität geriet für lange Zeit in Vergessenheit. 55
"Der Triumph der politischen Reaktion. Der Zusammenbruch der Universitäten".) Kassos
Politik führte zum Scheitern der geplanten Hochschulreform. Noch während des Ersten Aus dem Russischen übersetzt von Corinna Tuchtenhagen, Berlin
Weltkriegs wurde erneut ein Umbau des Hochschulwesens angedacht, aber vor dem Fall
des Zarenreiches nicht mehr umgesetzt. 54

6. Zusammenfassung
Prinzipien der "klassischen Universität" wurden in bedeutendem Maße in den 1830er Jah-
ren unter Volksaufklärungsminister Uvarov auf die Universitäten des Russischen Reiches
angewendet. Der Verfall der Hochschulen infolge des Statuts von 1804 mit seinen "mittelal-
terlichen Elementen" hatte eine Erneuerung dringend notwendig gemacht. Uvarovs Reform
und seine kontinuierlichen Bemühungen um eine Erneuerung der Professorenschaft und
eine optimale Nutzung ihrer wissenschaftlichen Potenziale verschafften den Universitäten
hohes Ansehen in der Gesellschaft. Die Ereignisse in Europa von 1848 führten jedoch zu
einer Desavouierung dieser Erfolge in den Augen der höchsten Machthaber. Es folgten "sie-
ben bildungsfeindliche Jahre", in denen die "klassischen Hochschulprinzipien" bekämpft
wurden.
Die sich über die zweite Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstreckenden
Hochschuldebatten zeigten, dass die Hinwendung zum "klassischen" Universitätsmodell von
Bildungspolitikern als wirksames Mittel gesehen wurde, den Beitrag der Universitäten für
Staat und Gesellschaft und ihre nationale Bedeutung zu steigern. Das geschah einmal in

53 Ebenda, S. 80. 55 Für eine zusammenfassende Darstellung des sowjetischen Hochschulsystems siehe: Sajchulla Ch.
54 A.N. Dmitriev, Pervaja Mirovaja vojna: universitetskie reformy i internacional' naja transforma- Canbarisov, Formirovanie sovetskoj universitetskoj sistemy (1917-1938) [Die Entstehung des so-
cija rossijskogo akademiceskogo soobscestvo [Hochschulreformen und die internationale Trans- wjetischen Hochschulsystems (1917-1938)]. Ufa 1973; T.M. Smirnova, Istorija razrabotki i pro-
formation der russischen akademischen Gemeinschaft im Ersten Weltkrieg], in: Nauka, technika vedenija V zizn' pervogo sovetskogo ustava vyssej skoly [Die Geschichte der Ausarbeitung und
i obscestvo Rossii i Germanii vo vremja Pervoj Mirovoj vojny [Wissenschaft, Technik und Gesell- Umsetzung des ersten sowjetischen Hochschulstatuts], in: Gosudarstvennoe rukovodstvo vyscej
schaft Russlands und Deutschlands in der Zeit des Ersten Weltkriegs], red. v. Eduard I. Kolcinskij skoloj v dorevoljucionnoj Rossii i SSSR [Staatliche Hochschulverwaltung im vorrevolutionären
(u.a.). Sankt Peterburg 2007, S. 236-255. Russland und in der UdSSR]. Moskva 1979, S. 7-38.

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