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Ein anderes lacansches Mathem der Siebzigerjahre notiert
zwischen der Produktion und dem Platz der Wahrheit, la Vérité,
den Vektor Impuissance, Unfähigkeit. 2 Der Weg zwischen den
Signifikantenketten, die unter Umständen auch das gesamte
Kunstschaffen enthalten, und der Wahrheit ist versperrt. Das
gebarrte Subjekt ist der Akteur, die Akteurin in eigener
Autorisierung. Ein lustiges, listiges Treiben, um einen Herrn zu
dominieren – dominer un Maître.
S. 40.
Die Plätze der Einheiten wären entsprechend der Ausführung in Encore (siehe
Anmerkung 2) in der Übersetzung von Norbert Haas: Wahrheit (unten links),
Agens (oben links), Anderer (oben rechts), Produktion (unten rechts).
2
Jacques Lacan: Le Séminaire Livre XX. Encore. Paris: Éditions du Seuil
1975, 26.
3
Das Mathem zum Discours du Capitaliste – in: Lacan, «Du discours
psychanalytique», S. 40.
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herbeiführt.4 Innere Nötigung, die Welt der Warenproduktion auf
der Seite des Ersatzes in Gang zu setzen, eine Art objektive
Ökonomie von Wahrheit im Falschen, die ihrerseits das
Mehrgenießen propelliert.
4
Die Verhältnisse verdeutlicht Lacan bildhaft in «Du discours
psychanalytique», S. 48–50.
5
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe Band I., Frankfurt am
Main: S. Fischer 1972, S. 535.
6
Sigmund Freud: «Das Ich und das Es», in: Ders.: Studienausgabe Band III.
Frankfurt am Main: S. Fischer 1975, S. 293.
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse / Neue
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe
Band I. Frankfurt am Main: S. Fischer 1969, S. 515.
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Wahrnehmung, Bewusstsein. Hysterie und Kapitalismus haben
beide eine unabweisbare Objektivität.
Die auf Dominanz zielende Strategie der Hysterie speist sich aus
einem Phantasma ihrer Träger. «Was will sie, was will er?» mag
sich objektiv die Adressatin, der Adressat fragen. Dabei können
diese auch im Plural auftreten, Hysterie ist durchaus
massentauglich. Wäre das Begehren bewusst, erschiene es also
als Wissen, so verlöre es sein Drängen. Daher findet die
Produktion der Signifikantenketten bewusstlos, unbewusst statt.
Bilder, Gesten, Appelle, Texte, Szenen ergeben sich in
abstufbaren Dimensionen. En gros sind es die von Platon etwa
ihrer Wahrheitsferne wegen weitgehend diskreditierten Künste,
en détail ist es insbesondere die Lüge.
Was aber macht, wenn die Ökonomie des und der Lügenden
unbewusst verläuft, sie also Wunschproduktion ist, den Reiz
gegenüber spezifischen Adressaten aus? Es sind die Lügen
selbst, ihre Geschichten, Fiktionen, Signifikate. Dies ebenso
wegen ihrer geschmeidigen Performanz, ihrer brüsken
Provokation, ihrer inneren Verführungskraft, der ostentativen
Präsentation, schamlosen Rückhaltlosigkeit eines abgründigen
Begehrens sowie der Untrennbarkeit von Subjekt der Aussage
und Subjekt der Äußerung.
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Lügen sind in dieser Hinsicht, vor allem mit Nietzsches Geleit, die
gesamte Welt der Illusion von Wahrheit, eingeschlossen
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Wissenschaft und sprachliche Verständigung.
7
Friedrich Nietzsche: «Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne»,
in: Nietzsches Werke, Zweiter Band. Stuttgart: Alfred Kröner 1921, S. 10:
«Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien,
Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die,
poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die
nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken:
die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche
sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen,
die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in
Betracht kommen.»
8
Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre XX ;. «Les non dupes errent»;
verschiedene, nicht autorisierte Ausgaben.
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Existenz der Sprache produzieren kann, als soziales
Band fungiert,
9
Lacan: Du discours psychanalytique, S. 51: «Le discours c’est quoi ? C’est ce
qui, dans l’ordre […] dans l’ordonnance de ce qui peut se produire par
l’existence du langage, fait fonction de lien social.»
10
Jacques Lacan: «Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der
Psychoanalyse». Vortrag auf dem Kongress in Rom am 26. und 27.
September 1953 im Istituto di Psicologia della Università di Roma. In: Ders.:
Schriften 1., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 (Taschenbuch
Wissenschaft), S. 108.
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bezogen, zeigt sich, dass ein durchaus arbiträr gesetzter Platz
der Wahrheit von allem eingenommen werden kann, was im
Diskurs eine Rolle spielt. Es ergeben sich lediglich
unterschiedliche Figuren. Allerdings sind diese so weit gedehnt,
dass sie große Partien dessen abdecken, was sich als
Wirklichkeit erfahren lässt.
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keine sexuelle Differenz implementiert, was zweifellos zur
Homogenisierung der über die zentrale Figur des
Selbstbewusstseins erschlossenen Geistes- und Geisterwelt
führt, endete die Parallelisierung von «äußerer Weltgeschichte»
und «begriffener Aufgefasstheit» bereits hier.13
13
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807],
Frankfurt am Main: Suhrkamp (Taschenbuch Wissenschaft) 1973, S. 590 [VIII
Das absolute Wissen].
14
Zur Doppelzüngigkeit des Achilles zwei Positionen in unterschiedlichen
Umgebungen:
Vierter Auftritt, Vers 608ff. Achilles, der sich den Helm aufsetzt, zu Odysseus,
Diomedes, Antilochus, Automedon:
«Die Schäferstunde bleibt nicht lang mehr aus:
Doch müßt ich auch durch ganze Monden noch,
Und Jahre, um sie frein: den Wagen dort
Nicht ehr zu meinen Freunden will ich lenken,
Ich schwör's, und Pergamos nicht wiedersehn,
Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht,
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.»
Elfter Auftritt, Vers 1414ff. Achilles, ohne Helm, Rüstung und Waffen, bei den
Amazonen:
«Laßt, laßt!
Mit euren Augen trefft ihr sicherer.
Bei den Olympischen, ich scherze nicht,
Ich fühle mich im Innersten getroffen,
Und ein Entwaffneter, in jedem Sinne,
Leg ich zu euren kleinen Füssen mich.»
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Das Problem ist die Annahme des Begehrens des Anderen. Auf
die Anerkennung des Selbst zielend, birgt dieses umfassende
Fallstricke, die mit der Virtualisierung des Anderen, seiner
Mentalisierung, auch mit Sartres Autrui 15 eng verbunden sind.
Eine komplette Entwicklungsgeschichte des Selbst wäre
abzuarbeiten, um dies zu erläutern.
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Discours capitaliste nimmt den einzig verbliebenen Gegenposten
bewusst auf – für einen Moment allerdings nur.
Pseudologia phantastica
Was tut also der schamlos Lügende – wobei es nicht gleich ist,
wie die geschlechtlichen Positionen der sich dem
pseudologischen Diskurs Aus- oder Entgegensetzenden
organisiert sind? Eine Scheinwelt im Akt der Äußerung entstehen
zu lassen, als Garant des Sinns ad personam dafür einstehen zu
müssen, erfordert Phantasie und Mut. 16 Beide müssen dem
aktivierten Potenzial des Adressaten überlegen sein. Dies zu
erreichen, spielen Effekte – Überraschung, Verwunderung,
Schreck – eine ebenso große Rolle wie die Zeit. Zeit, die den
Belogenen nicht zur Verfügung steht, im Akt der Lüge das
Wahrheitsfundament zu erkunden. Die Lüge selbst ist in solchem
16
Derzeit ist es noch zu früh, die Konsequenzen «postfaktischer Diskurse» und
«alternativer Wahrheiten» im Detail zu ziehen. Das von August Ruhs
konstatierte «allgegenwärtige Leuchten der Bildschirme» aber ist zweifellos
das Einstiegstor in eine umfassend virtualisierte Wirklichkeitsauffassung, der
die Überprüfungs- und Rückbindungsmöglichkeiten zunehmend abhanden
kommen (August Ruhs: Lacan. Eine Einführung in die strukturale
Psychoanalyse. Wien: Löcker 2010, S. 104).
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Sinn eine Kreation von Wahrheit über den Zustand der Welt und
die Unfähigkeit des Subjekts, sich dessen innezuwerden, ohne
dass es seine akkulturativ generierten Identitätspositionen
aufgeben muss.
So zielt das Telos des Lügens auch auf Gemeinschaft. Die auf
Metonymie oder Metapher gerichtete Arbeit der Verdrängung hat
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der Camouflage gegenüber wenig Bestand. Statt sich bloßer
Unbewusstheit zu ergeben, sucht die Lüge die Szene. Daher ist
auch die Äquivalenzwährung Schuld nur bedingt anzutreffen.
Phänomenologisch skizziert und theoretisch ungedeckt sind in
Momenten der Einsicht remorse Haltungen des lügenden
Subjekts die treffenderen, das heißt unbestimmte Reue und
Unterwürfigkeit dem Belogenen gegenüber, stärker noch dem
Betrogenen. Bitte um Vergebung. Kontrastierend zum
performativen Lügengespinst gewinnt im Moment der Enttarnung
ein unmissverständlicher Appell an Eindeutigkeit die Oberhand.
Unterwerfung. Geste.
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Vgl. Ulrich Hermanns: In the Heart of the Wild Triangle. Resonances from the
Kenyan-German Other (Novel). Düsseldorf: Peras Verlag 2014.
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Die grundlegenden Züge scheinen mir in der Struktur des
kindlichen Phantasmas eingeschrieben zu sein. In dem einzigen
männlichen Fall handelt es sich um Unzugänglichkeiten zum
Vater, der kriegsbedingt absent war, praktisch nicht greifbar.
Seine Spuren hinterließ er jedoch in den unübersehbaren
Resultaten sporadischer Anwesenheit, den dann gezeugten
Geschwistern. Als herkunftslose Spukwesen mögen diese dem
später nachhaltig pseudologisch Agierenden erschienen sein. Es
wäre zu umfangreich, die weitere Entwicklung hier auszubreiten.
Maßgeblich ist der Wunsch, die Welt wäre anders. Dies geht
einher mit dem Impuls, die verfügbaren eigenen Kräfte zu
mobilisieren, um diesen phantasieinduzierten Realitätsposten zu
halten und zu modulieren. Dass solches mit der Einbuße an
Vertrauen dem konkreten Anderen gegenüber verbunden ist, die
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Rückbindung der Vergewisserung stattdessen bevorzugt sich an
das eigene Ich richtet – Eitelkeit –, impliziert unter Umständen
lebenslange Kompromisse.
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18
Jacques Lacan: «Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns
in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint», in: Schriften I. Olten und
Freiburg im Breisgau: Walter 1973, S. 70.
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Dass doch alles anders wäre. Über Lüge, Phantasie und
Objektivität
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Que tous serrait différent. Le Mensonge, l’imagination et
l’objectivité
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CV
Ulrich Hermanns: Selbständiger Berater für Kommunikation,
Marketing und Unternehmensstrategie. Studium Philosophie und
Deutsch. Erstes Philologisches Staatsexamen der Universität
Düsseldorf; Diploma in European Business Administration,
London Chamber of Commerce. Eigene Studien und sporadische
Veröffentlichungen zu Psychoanalyse und Philosophie. U. a.
Discours capitaliste und Plus-de-Jouir. Zur Ökonomischen
Terminologie Jaques Lacans 1969 – 1972. Düsseldorf: Peras
Verlag 2011; In the Heart of the Wild Triangle. Resonances from
the Kenyan-German Other (Novel). Düsseldorf: Peras Verlag
2014.
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