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Dass doch alles anders wäre

Über Lüge, Phantasie und Objektivität


ULRICH HERMANNS

Erschienen in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Herausgeber Peter Widmer,


Nummer 87 (2018/1), Zürich: Vissivo 2018, 92-99.

Tell me lies, tell me sweet little lies …


Fleetwood Mac, 1987

Die nachfolgende Betrachtung der Lüge stellt weniger die


Protagonisten ins Zentrum als vielmehr das sie Verbindende:
eine Äußerung, die, ganz grob notiert, durch die Absenz von
Wahrheit gekennzeichnet ist. Ob Wahrheit auf die
Übereinstimmung von Vorgestelltem und ihrem Bezugsobjekt
zielt oder einen Konsens von Aussagen oder Aussagesubjekten
demonstriert – die Lüge ist deren Gegenteil. Sie handelt in
komplexen Wahrheitssystemen, die für große Teile des
kulturellen Fundaments stehen, ostentativ als Opponent. Dies
zumeist situativ und singulär, sieht man von Totalisierungen wie
etwa der Lebenslüge ab. Sofern Wahrheit strukturell der Fiktion
nahekommt, gleicht sie der Lüge. Die Lüge aber schafft ihre
Wirklichkeit durch ein gehöriges Maß an Arbeit, pseudologischer
Arbeit.

Zur Binnenlogik des Discours de l‘Hystérique

Der hysterische Diskurs generiert Ketten von Signifikanten (S 2).


Sie konstituieren zugleich ein Mehrgenießen, le Plus-de-jouir. 1
1
Das Mathem zum Discours de l’Hystérique – in: Jacques Lacan: «Du
discours psychanalytique, Discours de Jacques Lacan à l‘Université de Milan
le 12 mai 1972», in: Lacan in Italia 1953 – 1978, Milan: La Salamandra 1978,

-1-
Ein anderes lacansches Mathem der Siebzigerjahre notiert
zwischen der Produktion und dem Platz der Wahrheit, la Vérité,
den Vektor Impuissance, Unfähigkeit. 2 Der Weg zwischen den
Signifikantenketten, die unter Umständen auch das gesamte
Kunstschaffen enthalten, und der Wahrheit ist versperrt. Das
gebarrte Subjekt ist der Akteur, die Akteurin in eigener
Autorisierung. Ein lustiges, listiges Treiben, um einen Herrn zu
dominieren – dominer un Maître.

Der Logik Lacans entsprechend ist der Maître aber in einem


anderen, eigenen Diskurs unterwegs. Eine kleine Variation im
Discours du Maître bringt den Discours du Capitaliste hervor. 3
Das gebarrte Subjekt verharrt nicht länger auf dem Platz der
Wahrheit, sondern schwingt sich zum Agens auf. Dadurch wird
das Band zerschnitten, das über den Herrensignifikanten eine
Welt der Fülle von Signifikantenbündeln zu erschließen hat.
Diese (S2) sind zugleich der Hort des Wissens. Eine «permanente
Panne», die den «Wind unter den Schwingen» des Kapitalismus

S. 40.

Die Plätze der Einheiten wären entsprechend der Ausführung in Encore (siehe
Anmerkung 2) in der Übersetzung von Norbert Haas: Wahrheit (unten links),
Agens (oben links), Anderer (oben rechts), Produktion (unten rechts).
2
Jacques Lacan: Le Séminaire Livre XX. Encore. Paris: Éditions du Seuil
1975, 26.
3
Das Mathem zum Discours du Capitaliste – in: Lacan, «Du discours
psychanalytique», S. 40.

-2-
herbeiführt.4 Innere Nötigung, die Welt der Warenproduktion auf
der Seite des Ersatzes in Gang zu setzen, eine Art objektive
Ökonomie von Wahrheit im Falschen, die ihrerseits das
Mehrgenießen propelliert.

Die Kritik am Modell des Discours du Capitaliste ist vielfältig,


Lacan selbst hat die Konzeption nur kurzzeitig vertreten, dafür
aber umso eindringlicher.

Der hysterische und der kapitalistische Diskurs sind bezüglich der


Rolle des Subjekts als Agent strukturell identisch. Freuds
Vorstellung des Kapitalisten, wie er sie unter anderer Perspektive
in der Traumdeutung skizziert, sieht in ihm «alle Male und
unweigerlich einen Wunsch aus dem Unbewussten» 5. Wunsch
und Kapital werden von gedanklichen Tagesresten, das heißt
nach Realisierung strebenden, doch über keinen eigenen Antrieb
verfügenden Ideen unter der motilitätsgehemmten Kondition des
Träumens aktiviert, zum manifesten Trauminhalt.

Sowohl im hysterischen wie im kapitalistischen Diskurs entfällt die


Binnenfesselung der Motilität im Traum. Beide agieren im System
W-Bw entsprechend Freuds Ausführungen in Das Ich und das Es
und in der Neuen Folge der Vorlesungen6. W-Bw steht für

4
Die Verhältnisse verdeutlicht Lacan bildhaft in «Du discours
psychanalytique», S. 48–50.
5
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe Band I., Frankfurt am
Main: S. Fischer 1972, S. 535.
6
Sigmund Freud: «Das Ich und das Es», in: Ders.: Studienausgabe Band III.
Frankfurt am Main: S. Fischer 1975, S. 293.
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse / Neue
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe
Band I. Frankfurt am Main: S. Fischer 1969, S. 515.

-3-
Wahrnehmung, Bewusstsein. Hysterie und Kapitalismus haben
beide eine unabweisbare Objektivität.

Die auf Dominanz zielende Strategie der Hysterie speist sich aus
einem Phantasma ihrer Träger. «Was will sie, was will er?» mag
sich objektiv die Adressatin, der Adressat fragen. Dabei können
diese auch im Plural auftreten, Hysterie ist durchaus
massentauglich. Wäre das Begehren bewusst, erschiene es also
als Wissen, so verlöre es sein Drängen. Daher findet die
Produktion der Signifikantenketten bewusstlos, unbewusst statt.
Bilder, Gesten, Appelle, Texte, Szenen ergeben sich in
abstufbaren Dimensionen. En gros sind es die von Platon etwa
ihrer Wahrheitsferne wegen weitgehend diskreditierten Künste,
en détail ist es insbesondere die Lüge.

Was aber macht, wenn die Ökonomie des und der Lügenden
unbewusst verläuft, sie also Wunschproduktion ist, den Reiz
gegenüber spezifischen Adressaten aus? Es sind die Lügen
selbst, ihre Geschichten, Fiktionen, Signifikate. Dies ebenso
wegen ihrer geschmeidigen Performanz, ihrer brüsken
Provokation, ihrer inneren Verführungskraft, der ostentativen
Präsentation, schamlosen Rückhaltlosigkeit eines abgründigen
Begehrens sowie der Untrennbarkeit von Subjekt der Aussage
und Subjekt der Äußerung.

-4-
Lügen sind in dieser Hinsicht, vor allem mit Nietzsches Geleit, die
gesamte Welt der Illusion von Wahrheit, eingeschlossen
7
Wissenschaft und sprachliche Verständigung.

Betrug, Täuschung, fauler Zauber …

Die Nicht-Betrogenen irren.8 Nichtbetrogene Irre. Die kleine


lautliche Verschiebung (la lancée) des Nom-du-père öffnet eine
Perspektive auf die Welt, deren vermeintlich verlässliches
Ankertau keinen tauglichen Boden mehr findet. «Wer hat denn
das Kommando hier?», fragt Captain Willard, der gebrochene
Held in Coppolas Apocalypse Now, nächtens einen Soldaten an
der Do Long Bridge, als er den sicheren Sektor auf dem Mekong
verlässt. «Bist es nicht Du?», so die drogierte Antwort. Das
Grauen nimmt seinen Lauf.

Welchen Halt bietet also die symbolische Ordnung? Es sind


deren Diskurse, so zirkulierend das Begehren darin ist.

Ein Diskurs ist was? Es ist das, was in der Ordnung,


in der Verordnung, dessen, was sich mittels der

7
Friedrich Nietzsche: «Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne»,
in: Nietzsches Werke, Zweiter Band. Stuttgart: Alfred Kröner 1921, S. 10:
«Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien,
Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die,
poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die
nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken:
die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche
sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen,
die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in
Betracht kommen.»
8
Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre XX ;. «Les non dupes errent»;
verschiedene, nicht autorisierte Ausgaben.

-5-
Existenz der Sprache produzieren kann, als soziales
Band fungiert,

so Lacan 1972 im Discours psychanalytique.9

Das soziale Band aber inkludiert die ökonomische Makroordnung,


die Dingproduktion, ebenso wie die immateriellen Schöpfungen
und die solches fundierenden Produktivkräfte – Zeichen,
Wünsche, Arbeit, Kapitaläquivalente – und ihre gesellschaftlichen
Funktionsgaranten.

Das Begehren des Menschen findet seinen Sinn im


Begehren des anderen. Und das nicht so sehr, weil
der andere den Schlüssel zum begehrten Objekt
besitzt, sondern vielmehr weil sein erstes Objekt
darin besteht, vom anderen anerkannt zu werden,

so charakterisierte Lacan in Funktion und Feld des Sprechens


das Verbindende auf der Ebene des Begehrens. 10

Indem Lacan Hegels Modell von Herrschaft und Knechtschaft


folgt, die Bedingungen aber auf das Feld der Diskurse zieht und
es somit aus der Sphäre von Bewusstsein und Geist herausführt,
vollzieht er den Bruch mit adäquationsbasierten
Wahrheitstheorien. Ausschnitthaft auf die Diskursmatheme

9
Lacan: Du discours psychanalytique, S. 51: «Le discours c’est quoi ? C’est ce
qui, dans l’ordre […] dans l’ordonnance de ce qui peut se produire par
l’existence du langage, fait fonction de lien social.»
10
Jacques Lacan: «Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der
Psychoanalyse». Vortrag auf dem Kongress in Rom am 26. und 27.
September 1953 im Istituto di Psicologia della Università di Roma. In: Ders.:
Schriften 1., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 (Taschenbuch
Wissenschaft), S. 108.

-6-
bezogen, zeigt sich, dass ein durchaus arbiträr gesetzter Platz
der Wahrheit von allem eingenommen werden kann, was im
Diskurs eine Rolle spielt. Es ergeben sich lediglich
unterschiedliche Figuren. Allerdings sind diese so weit gedehnt,
dass sie große Partien dessen abdecken, was sich als
Wirklichkeit erfahren lässt.

Dass es aus psychoanalytischer Perspektive um keine


Fundamentalontologie gehen kann, versteht sich von selbst.
Philosophie als Disziplin trifft aus dieser Sicht gar das Verdikt der
Hysterie.11 Bei Freud lautete die Charakterisierung im Extrem:
Psychose.12 Die adäquate Hysterie-Analogie war für Freud Kunst,
womit sich der hier vorgestellte Kontext der Signifikantenketten
objektivierter Phantasie bestätigt.

Wo wäre, bezüglich des fundamental aus dem materiellen


Wahrheitsverständnis mittels Adäquation von Dingen und
Vorstellungen herausführenden Konzepts der gegenseitigen
Anerkennung dessen Weiterführung in greifbare,
psychoanalysenahe Begrifflichkeiten zu verorten? Zweifellos im
Geschlechterverhältnis. Wo Hegel zwischen Herrn und Knecht
11
In Verallgemeinerung von Lacans Charakterisierung des hegelschen
Diskurses – «Hegel, le plus sublime des hystériques, nous désigne étant celle
[le place] de la vérité.» Jacques Lacan : Le Séminaire Livre XVII. L’envers de
la psychanalyse. Paris: Éditions du Seuil 1991, S. 38.
12
«Man ist bereit zu verfolgen, welche Erfüllungen dieselben [Wünsche nach
Einheitlichkeit der Weltanschauung] sich in den Leistungen der Kunst, in den
Systemen der Religion und der Philosophie geschaffen haben, aber man kann
doch nicht übersehen, daß es unrechtmäßig und in hohem Grade
unzweckmäßig wäre, die Übertragung dieser Ansprüche auf das Gebiet der
Erkenntnis zuzulassen. Denn damit öffnet man die Wege, die ins Reich der
Psychose, sei es der individuellen oder der Massenpsychose, führen […].»
Freud, Vorlesungen, S. 587. Weiter ausgeführt wäre die entsprechende
individuelle Psychose Paranoia.

-7-
keine sexuelle Differenz implementiert, was zweifellos zur
Homogenisierung der über die zentrale Figur des
Selbstbewusstseins erschlossenen Geistes- und Geisterwelt
führt, endete die Parallelisierung von «äußerer Weltgeschichte»
und «begriffener Aufgefasstheit» bereits hier.13

Die konkrete Ausführung einer Variante des auf


Geschlechterdifferenz basierenden Anerkennungsstrebens führt
Kleist in der Penthesilea aus. Dort ist es Achilles, der sein
Begehren maskiert und so das Drama des offen
ausgesprochenen weiblichen Begehrens über seine gleichwohl
medial bedingte Verschlossenheit – es handelt sich um die
Textvorlage zum Drama – hinaus motiviert.14

13
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807],
Frankfurt am Main: Suhrkamp (Taschenbuch Wissenschaft) 1973, S. 590 [VIII
Das absolute Wissen].
14
Zur Doppelzüngigkeit des Achilles zwei Positionen in unterschiedlichen
Umgebungen:
Vierter Auftritt, Vers 608ff. Achilles, der sich den Helm aufsetzt, zu Odysseus,
Diomedes, Antilochus, Automedon:
«Die Schäferstunde bleibt nicht lang mehr aus:
Doch müßt ich auch durch ganze Monden noch,
Und Jahre, um sie frein: den Wagen dort
Nicht ehr zu meinen Freunden will ich lenken,
Ich schwör's, und Pergamos nicht wiedersehn,
Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht,
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.»

Elfter Auftritt, Vers 1414ff. Achilles, ohne Helm, Rüstung und Waffen, bei den
Amazonen:
«Laßt, laßt!
Mit euren Augen trefft ihr sicherer.
Bei den Olympischen, ich scherze nicht,
Ich fühle mich im Innersten getroffen,
Und ein Entwaffneter, in jedem Sinne,
Leg ich zu euren kleinen Füssen mich.»

Das Begehren Penthesileas spricht im neunten Auftritt, Vers 1187ff.:

-8-
Das Problem ist die Annahme des Begehrens des Anderen. Auf
die Anerkennung des Selbst zielend, birgt dieses umfassende
Fallstricke, die mit der Virtualisierung des Anderen, seiner
Mentalisierung, auch mit Sartres Autrui 15 eng verbunden sind.
Eine komplette Entwicklungsgeschichte des Selbst wäre
abzuarbeiten, um dies zu erläutern.

Abgekürzt betrachtet fände sich die große andere Variante in der


idealisierten Form romantischer Liebe als Ausweg. Auch die
Konzeption der Liebe, welche zu christlicher Erlösung führt. Dies
sind wiederum fundamentale Kulturposten, welche die
Problematik auf der Ebene von Objektivität konkret abarbeiten.

Die Auflösung des Herrschaft-Knechtschaft-Banns erfolgte


komplett anders, fände sich unmittelbar dort bereits forcierte
Sexualisierung. Erst einhundertfünfzig Jahre später kommt sie in
den Séminaires Lacans zur Revision. Nicht unerwähnt soll
bleiben, dass die Ausblendung allen Politischen und
Ökonomischen im idealistischen Idiom deren ungestörte
Entfaltung im Objektiven – des Ausbleibens von Kritik wegen –
unterstützt hat. Lacans versuchter Anschluss an Marx im

«Ist's meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht


Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben?
Was will ich denn, wenn ich das Schwert ihm zücke?
Will ich ihn denn zum Orkus niederschleudern?
Ich will ihn ja, ihr ewgen Götter, nur
An diese Brust will ich ihn niederziehn!»
Heinrich von Kleist: «Penthesilea. Ein Trauerspiel» In: Ders.: Dramen. Zweiter
Teil. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 41976 , S. 161–258, hier: S.
179, 196f., 205.
15
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer
phänomenologischen Ontologie [1943]. Frankfurt am Main: Rowohlt
Taschenbuchverlag 112005.

-9-
Discours capitaliste nimmt den einzig verbliebenen Gegenposten
bewusst auf – für einen Moment allerdings nur.

Pseudologia phantastica

Solch umfassende Perspektiven sind dem normalen Lügner und


dem Lügen als individueller Sozialtechnik fremd. Auch wenn im
politischen Kontext entdeckte Lügen durchaus offenbaren
können, wie sehr Objektivität ein Prozess des Verschiebens von
Positionen ist, um deren Wahrheitskern zu verschleiern. Nicht nur
Watergate einst und der Blutzoll, den Völker für die politischen
Lügen zu zahlen hatten, zeugen davon. Die Spuren führen mitten
in das Hic et Nunc hinein.

Was tut also der schamlos Lügende – wobei es nicht gleich ist,
wie die geschlechtlichen Positionen der sich dem
pseudologischen Diskurs Aus- oder Entgegensetzenden
organisiert sind? Eine Scheinwelt im Akt der Äußerung entstehen
zu lassen, als Garant des Sinns ad personam dafür einstehen zu
müssen, erfordert Phantasie und Mut. 16 Beide müssen dem
aktivierten Potenzial des Adressaten überlegen sein. Dies zu
erreichen, spielen Effekte – Überraschung, Verwunderung,
Schreck – eine ebenso große Rolle wie die Zeit. Zeit, die den
Belogenen nicht zur Verfügung steht, im Akt der Lüge das
Wahrheitsfundament zu erkunden. Die Lüge selbst ist in solchem
16
Derzeit ist es noch zu früh, die Konsequenzen «postfaktischer Diskurse» und
«alternativer Wahrheiten» im Detail zu ziehen. Das von August Ruhs
konstatierte «allgegenwärtige Leuchten der Bildschirme» aber ist zweifellos
das Einstiegstor in eine umfassend virtualisierte Wirklichkeitsauffassung, der
die Überprüfungs- und Rückbindungsmöglichkeiten zunehmend abhanden
kommen (August Ruhs: Lacan. Eine Einführung in die strukturale
Psychoanalyse. Wien: Löcker 2010, S. 104).

- 10 -
Sinn eine Kreation von Wahrheit über den Zustand der Welt und
die Unfähigkeit des Subjekts, sich dessen innezuwerden, ohne
dass es seine akkulturativ generierten Identitätspositionen
aufgeben muss.

Daher auch die affektiv aufgeladenen Reaktionsszenarien, sobald


der Schein der Lügen durchschaut zu werden droht. Die
Fundamente des Selbst wanken, Vertrauen, Wahrheit, eigenes
Begehren stehen in Zweifel. Sind denjenigen ausgeliefert, die mit
dreister Pseudologie eine unverhoffte Gegenwelt annoncieren.
Das Manische des Lügens als Praxis mag seinen Reiz daraus
beziehen, diese graduell differenzierte Verwirrung der Adressaten
auszukosten und darüber hinaus auf dem Pfad des
phantasievollen Signifikats Genuss als Mehrwehrt zu generieren,
sublimen Plus-de-jouir.

Solche Produktivität als Posten narzisstischer Störung zu


annoncieren, Hypostasierung des Selbst auf Kosten der Einsicht
in konkrete Kreatürlichkeit und Generativität, sich nicht dem
Begehren des Anderen anerkennend zu unterwerfen, ist zugleich
Repräsentation eines Objektivierungsverhältnisses, welches Welt
als solche erst präsent macht. Wie immer die beglaubigenden
Größen offiziell lauten, Geld, Gott, Kreativität – die Lüge setzt
ihnen im Einklang mit neutestamentlicher Offenbarung eines
entgegen – das Wort. Und aktiviert die affiliierte Kategorie, den
Glauben.

So zielt das Telos des Lügens auch auf Gemeinschaft. Die auf
Metonymie oder Metapher gerichtete Arbeit der Verdrängung hat

- 11 -
der Camouflage gegenüber wenig Bestand. Statt sich bloßer
Unbewusstheit zu ergeben, sucht die Lüge die Szene. Daher ist
auch die Äquivalenzwährung Schuld nur bedingt anzutreffen.
Phänomenologisch skizziert und theoretisch ungedeckt sind in
Momenten der Einsicht remorse Haltungen des lügenden
Subjekts die treffenderen, das heißt unbestimmte Reue und
Unterwürfigkeit dem Belogenen gegenüber, stärker noch dem
Betrogenen. Bitte um Vergebung. Kontrastierend zum
performativen Lügengespinst gewinnt im Moment der Enttarnung
ein unmissverständlicher Appell an Eindeutigkeit die Oberhand.
Unterwerfung. Geste.

Dass solches Agieren manische Züge annehmen kann, ist leicht


ersichtlich, bedarf doch gelingende Vergebung notwendig der
Anderen – der Nicht-Betrogenen, die sich aber final irren.
Erlösung ist also nicht das Ziel.

Die wenigen eigenen Fallstudien, vier an der Zahl,


unveröffentlicht, lassen mich nur vermuten, wo im kindlichen
Erschließen der Welt die Neigung zu elaborierten
Lügengebäuden gründet. Lügenwelten, die bis in den objektiven
Betrug hinein sich fortsetzen, damit an der Grenzlinie zur
Kriminalität agieren. Wobei Kriminelles die Einschreibung in
Objektivität forciert, damit dem Rekurs auf wiedereingeholtes
Verdrängtes weitgehend den Boden entzieht. Schuld wird dann
zur kollektiv verordneten Kategorie. 17

17
Vgl. Ulrich Hermanns: In the Heart of the Wild Triangle. Resonances from the
Kenyan-German Other (Novel). Düsseldorf: Peras Verlag 2014.

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Die grundlegenden Züge scheinen mir in der Struktur des
kindlichen Phantasmas eingeschrieben zu sein. In dem einzigen
männlichen Fall handelt es sich um Unzugänglichkeiten zum
Vater, der kriegsbedingt absent war, praktisch nicht greifbar.
Seine Spuren hinterließ er jedoch in den unübersehbaren
Resultaten sporadischer Anwesenheit, den dann gezeugten
Geschwistern. Als herkunftslose Spukwesen mögen diese dem
später nachhaltig pseudologisch Agierenden erschienen sein. Es
wäre zu umfangreich, die weitere Entwicklung hier auszubreiten.

Eine weibliche Variante reproduziert im pseudologischen


Phantasma frühkindliche Bedrohungen der Relation zu den
familialen Außenposten und der damit einhergehenden
Lebenssituation. Die Protagonistin gibt offen zu, dass ihre
erfundenen Geschichten der Sicherung der äußeren Position im
Erwachsenenleben dienen. In früher Kindheit war sie durch
wechselnde Partnerschaften der Mutter zu zahlreichen
Stiefgeschwistern gekommen und erziehungstechnisch zeitweilig
zu Stiefmüttern, Großmüttern, Stiefgroßmüttern und Tanten
gegeben worden. Identitätsorientiert unter Druck geraten, war sie
vermehrt auf sich selbst angewiesen. Auch hier wären Details
zum weiteren Verlauf zu umfangreich.

Maßgeblich ist der Wunsch, die Welt wäre anders. Dies geht
einher mit dem Impuls, die verfügbaren eigenen Kräfte zu
mobilisieren, um diesen phantasieinduzierten Realitätsposten zu
halten und zu modulieren. Dass solches mit der Einbuße an
Vertrauen dem konkreten Anderen gegenüber verbunden ist, die

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Rückbindung der Vergewisserung stattdessen bevorzugt sich an
das eigene Ich richtet – Eitelkeit –, impliziert unter Umständen
lebenslange Kompromisse.

In gewisser Weise führt sich die ostentative, in eigene Regie


gestellte Übernahme des Signifikanten der Realitätsprägung,
vielleicht als verspätete Wiederholung, selbst an den markanten
Punkt des Spiegelstadiums, den Ort, an dem «die wahre Reise
beginnt».18

--

18
Jacques Lacan: «Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns
in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint», in: Schriften I. Olten und
Freiburg im Breisgau: Walter 1973, S. 70.

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Dass doch alles anders wäre. Über Lüge, Phantasie und
Objektivität

Lüge korreliert mit Objektivität. Die Position des Lügens rührt an


die soziale Bedingtheit existenzieller Fundamente. Lügnerin und
Lügner arbeiten und produzieren, indem sie ihren eröffneten
Phantasiewelten den Status von Wahrheit zu verleihen suchen.
Dabei kommt ihnen die diskursive Vermittlung von Objektivität zu
Hilfe.

Lüge – Wahrheit – Hysterischer Diskurs – Kapitalistischer Diskurs


– Illusion – Symbolische Ordnung – Soziales Band – Herrschaft
und Knechtschaft – Geschlechterverhältnis – Begehren des
Anderen – Schuld

That everything should be different. On lies, imagination and


objectivity

Lies are deeply related to objectivity. The position of lies touches


the social conditioning of existential foundations of reality. The
target of male and female liars is to give a status of truth to the
phantasy worlds they create. They benefit from the fact that
objectivity is the result of complex intermediation.

Lies – Truth – Hysteric Discourse – Capitalist Discourse – Illusion


– Symbolic order – Social ties – Master-slave dialectic – Sex ratio
– Desire of the Other – Guilt

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Que tous serrait différent. Le Mensonge, l’imagination et
l’objectivité

Le mensonge est en corrélation avec l’objectivité. La position de


mentir touche le fait que tous fondations existentielles sont dûs à
un consensus social. Menteuse et menteur travaillent et
produisent avec le but que leur mondes imaginaires créent un
statut de vérité. Ils bénéficient de l’intermédiation de l’objectivité.

Mensonge – Vérité – Discours de l’Hystérique – Discours du


Capitaliste – Illusion – Imaginaire – Ordre symbolique – Lien
social – Le maître et l'esclave – Désir de l'Autre – Culpabilité

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CV
Ulrich Hermanns: Selbständiger Berater für Kommunikation,
Marketing und Unternehmensstrategie. Studium Philosophie und
Deutsch. Erstes Philologisches Staatsexamen der Universität
Düsseldorf; Diploma in European Business Administration,
London Chamber of Commerce. Eigene Studien und sporadische
Veröffentlichungen zu Psychoanalyse und Philosophie. U. a.
Discours capitaliste und Plus-de-Jouir. Zur Ökonomischen
Terminologie Jaques Lacans 1969 – 1972. Düsseldorf: Peras
Verlag 2011; In the Heart of the Wild Triangle. Resonances from
the Kenyan-German Other (Novel). Düsseldorf: Peras Verlag
2014.

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