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Der Nervenarzt

Übersichten

Nervenarzt Andreas Heinz1,2 · Melissa Gül Halil1 · Stefan Gutwinski1,2 · Anne Beck1 · Shuyan Liu1
https://doi.org/10.1007/s00115-021-01071-7 1
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Bonhoefferweg 3,
Angenommen: 23. Dezember 2020 Berlin, Deutschland
2
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en) 2021

ICD-11: Änderungen der


diagnostischen Kriterien der
Substanzabhängigkeit

Hinführung zum Thema tergrund neurobiologischer, sozialer und legal oder illegal sind. Die Beeinträch-
klinischer Befunde. tigung wesentlicher Rollenerwartungen,
Mit der 11. Version des International das Auftreten negativer Konsequenzen
Statistical Classification of Diseases and Hintergrund etwa beim Versuch, eine illegale Droge zu
Related Health Problems (ICD-11) wer- beschaffen, und Auseinandersetzungen
den die Kriterien für die Diagnose einer In der ICD-11 werden gegenüber der im persönlichen Umfeld auch beim noch
Substanzabhängigkeit neu formuliert. ICD-10 die Kriterien für die Diagnose nicht abhängigen Konsum einer Droge
Neben der Veröffentlichung der Be- einer Substanzabhängigkeit neu definiert werden somit von den gesellschaftlichen
schreibung der Substanzabhängigkeit ([2, 3, 5]; Überblick siehe . Tab. 2). Ab- Rahmenbedingungen entscheidend be-
durch die World Health Organization hängigkeitserkrankungen werden wei- einflusst [7]. Wer versucht hat, ein Glas
(WHO; . Tab. 1; [1]) wurde von Mit- terhin vom schädlichen Gebrauch einer Wein in einem Land zu konsumieren,
gliedern der Arbeitsgruppe der WHO Substanz unterschieden. Der Nachteil in dem dies gesetzlich verboten ist, kann
zur Erstellung des Kapitels „Mental, eines solchen Vorgehens ist, dass der diese Erfahrung auch als deutsche Staats-
Behavioural or Neurodevelopmental dimensionale Charakter der Substanz- bürgerin oder Staatsbürger machen. Die
Disorders“ des ICD-11 ein Entwurf der gebrauchsstörungen damit nicht gut wesentlichen Veränderungen der vorab
diagnostischen Kriterien der Substanz- abgebildet wird. Das heißt der häufig veröffentlichten Kriterien der ICD-11 lie-
abhängigkeit veröffentlicht, auf die sich gleitende Übergang vom exzessiven, gen demgegenüber in der Neugruppie-
unsere Diskussion bezieht (. Tab. 2; genussorientierten Substanzgebrauch zu rung der Symptome einer Abhängigkeits-
[2]). Die endgültigen diagnostischen habituellem Drogenkonsum, der schließ- erkrankung. Dieser Entwurf der Kriteri-
Kriterien (CDDG, Clinical Descripti- lich sogar trotz schwerwiegender per- en soll im Folgenden diskutiert und mit
on and Diagnostic Guidelines) werden sönlicher Nachteile fortgesetzt wird, wird dem Stand der Kenntnisse bez. neurobio-
voraussichtlich im Verlauf von 2021 ver- weiterhin kategorial in unterschiedliche logisch und klinisch gut belegter Mecha-
öffentlicht. Zudem verfolgt die WHO Störungsbilder unterteilt. Die Beibe- nismen der Entwicklung und Aufrechter-
erstmalig einen offenen Ansatz, sodass haltung der Unterscheidung zwischen haltung einer Abhängigkeitserkrankung
es neben einer festen Version („frozen dem schädlichen Substanzgebrauch und verglichen werden. In der ICD-11 wer-
release“) auch eine offen Version („main- dem abhängigen Drogenkonsum hat den die bisherigen 6 Kriterien der Abhän-
tenance platform“) geben wird, in der aber den Vorteil, dass das relativ klar gigkeitserkrankung zu 3 Paaren zusam-
Änderungen eingepflegt werden können definierte Krankheitsbild der Abhängig- mengefasst, die jeweils 2 der bisherigen
und die dann in regelmäßigen Abstän- keitsstörung nicht wie im DSM-5 mit Kriterien als Aspekte des neuen gemein-
den in die „frozen version“ überführt der Kategorie des schädlichen Konsums samen Kriteriums auflisten. Von diesen
wird. vermengt wird, die in viel stärkerem 3 neuen Kriterien müssen 2 erfüllt sein,
Anders als im Diagnostic and Statisti- Ausmaß durch soziale Wertungen und um eine Abhängigkeitserkrankung dia-
cal Manual of Mental Disorders (DSM- Regulierungen beeinflussbar ist [6]. gnostizieren zu können, bisher waren es 3
5) [4] werden in der ICD-11 die diag- Ob der Konsum einer Substanz für die von 6 in der ICD-10 [8]. Möglicherweise
nostischen Kategorien für den schädli- betroffene Person mit negativen Konse- wird die genaue Formulierung der Krite-
chen Gebrauch und die Abhängigkeits- quenzen verbunden ist, liegt nicht nur an rien noch verändert, in der vorliegenden
erkrankung des ICD-10 aufrechterhal- den direkten Auswirkungen der Droge Form könnte aber die Schwelle zur Dia-
ten. Wir diskutieren Vor- und Nachteile selbst, sondern auch an sozialen Fakto- gnosestellung herabgesetzt werden, da in
der aktuellen Neuerungen vor dem Hin- ren wie etwa der Frage, ob Erwerb und jedem der 3 neuen „Doppelkriterien“ nur
Konsum der Droge im jeweiligen Land Aspekte der (früher unabhängig vonein-

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Tab. 1 Beschreibung der Abhängigkeit und des Abhängigkeitssyndroms in ICD-11 und ICD-10
ICD-11 Abhängigkeit ICD-10 Abhängigkeitssyndrom
Eine Störung der Regulierung von Substanzgebrauch, die durch wiederholten oder Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen
kontinuierlichen Konsum entsteht Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch
Charakteristisches Merkmal ist ein starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren, entwickeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die
welches sich durch die fehlende Fähigkeit manifestiert, den Konsums zu kontrollieren, Substanz einzunehmen, eine verminderte Kontrolle über ihren
einer zunehmenden Priorisierung des Konsums gegenüber anderen Aktivitäten und Konsum und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher
fortgeführten Konsum trotz Schädigung oder negativer Konsequenzen. Diese Erfah- Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Ak-
rung ist häufig begleitet durch subjektives Verlangen oder Drang zu konsumieren. tivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine
Physiologische Merkmale der Abhängigkeit können ebenfalls bestehen, einschließlich Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyn-
Toleranz gegenüber der Substanz, Auftreten von Entzugssymptomen nach Absetzen drom
oder Reduktion der Substanz oder Konsum einer gleichartigen Substanz, um Ent- Das Abhängigkeitssyndrom kann sich auf einen einzelnen
zugssymptome zu verhindern oder abzuschwächen. Die Merkmale der Abhängigkeit Stoff beziehen (z. B. Tabak, Alkohol oder Diazepam), auf eine
bestehen in der Regel in einem Zeitraum von 12 Monaten, oder die Diagnose kann Substanzgruppe (z. B. opiatähnliche Substanzen) oder auch
auch bei Substanzkonsum bei anhaltendem (täglich oder fast täglich) gestellt werden auf ein weites Spektrum pharmakologisch unterschiedlicher
Substanzen
Die Übersetzung des ICD-11 ist keine offizielle Übersetzung, sondern erfolgte durch die Autoren (Beschreibung des ICD-11 [„Description“] nach der WHO [1],
aktuelle „frozen Version“, ICD-10 nach Freyberger und Dillinger [3])
ICD International Classification of Diseases, WHO World Health Organization

Tab. 2 Diagnostische Kriterien für Abhängigkeit und das Abhängigkeitssyndrom in ICD-11 und ICD-10
ICD-11 Abhängigkeit ICD-10 Abhängigkeitssyndrom
Die Diagnose erfordert, dass 2 oder mehr der 3 zentralen Kriterien über Um die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms stellen zu können, müs-
einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten bestehen, kann aber auch sen 3 oder mehr Kriterien mindestens einen Monat lang gleichzeitig oder
gestellt werden, wenn die Substanz mindestens einen Monat kontinuier- wiederholt innerhalb von 12 Monaten vorhanden sein
lich (täglich oder fast täglich) konsumiert wird
1 Beeinträchtigte Kontrolle über den Substanzkonsum – Bezogen auf 1 Ein starkes Verlangen („craving“) oder eine Art Zwang, die Substanzen zu
Beginn, Menge und Umstände oder Ende des Konsums. Wird oft, aber konsumieren
nicht notwendigerweise von subjektiven Empfindungen von Drang oder 2 Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch, d. h. über Beginn,
Verlangen, die Substanz zu konsumieren, begleitet Beendigung oder die Menge des Konsums, deutlich daran, dass oft mehr
von der Substanz oder über einen längeren Zeitraum konsumiert wird als
geplant, oder an dem anhaltenden Wunsch oder an erfolglosen Versu-
chen, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
2 Physiologische Merkmale (indikativ für substanzbezogene Neuroadap- 3 Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen der Substanz. Für ei-
tion) manifestiert sich als: ne Intoxikation oder um den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen
(i) Toleranz, (ii) Entzugserscheinungen nach Konsumstopp oder -reduktion größere Mengen der Substanz konsumiert werden, oder es treten bei fort-
oder (iii) wiederholter Konsum der Substanz, um Entzugserscheinungen gesetztem Konsum derselben Menge deutlich geringere Effekte auf
zu mindern oder zu verhindern 4 Ein körperliches Entzugssyndrom, wenn die Substanz reduziert oder
Entzugserscheinungen müssen dem Entzugssyndrom der Substanz ent- abgesetzt wird, mit den für die Substanz typischen Entzugssymptomen
sprechen und sind nicht auf anhaltende Substanzeffekte zurückzuführen oder auch nachweisbar durch den Gebrauch derselben oder einer sehr
ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden
3 Substanzkonsum wird fortschreitend zur Priorität im Leben, d. B., dass 5 Einengung auf den Substanzgebrauch, deutlich an der Aufgabe oder
die Substanz Vorrang über andere Interessen, Vergnügungen, alltägliche Vernachlässigung anderer wichtiger Vergnügungen oder Interessensberei-
Aktivitäten, Verpflichtungen oder der Gesundheitspflege oder persönli- che wegen des Substanzgebrauchs; oder es wird viel Zeit darauf verwandt,
chen Pflege erhält. Der Substanzkonsum nimmt zunehmend eine zentrale die Substanz zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen
Rolle im Leben der Person ein und verschiebt andere Aspekte des Lebens 6 Anhaltender Konsum trotz eindeutiger schädlicher Folgen, deutlich an
in die Peripherie und wird oft trotz des Auftretens von Problemen fortge- dem fortgesetzten Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über Art und
führt Ausmaß des Schadens bewusst ist oder bewusst sein könnte
Die Übersetzung des ICD-11 ist keine offizielle Übersetzung, sondern erfolgte durch die Autoren (Diagnostische Kriterien nach Saunders et al. [2]); ICD-10 nach
Dillinger und Freyberger [3]
ICD International Classification of Diseases

ander bewerteten) Kriterien erfüllt sein kommen, müssen es aber nicht, denn die Fortführung des Substanzkonsums
müssen. So heißt es beispielsweise bei es ist die Rede vom Auftreten von Tole- trotz negativer Konsequenzen trete „oft“
ICD-11-Kriterium 1, dass der Kontroll- ranzentwicklung, Entzugserscheinungen hinzu, ist aber zur Erfüllung des Krite-
verlust „oft, aber nicht notwendigerweise oder anhaltenden Konsum zur Verhin- riums nicht notwendig [2].
von subjektiven Empfinden oder Drang“ derung von Entzugssymptomen [2]. In Da die Clinical Description and Diag-
begleitet wird. Bei Kriterium 2 können Kriterium 3 steht die Priorität im Vor- nostic Guidelines der WHO noch nicht
die früher als eigenständige Kriterien se- dergrund, die dem Substanzkonsum im offiziell veröffentlicht sind, ist es mög-
parat gelisteten Aspekte gemeinsam vor- Leben der Betroffenen eingeräumt wird, lich, dass sich die Zusammensetzung der

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Zusammenfassung · Abstract

Nervenarzt https://doi.org/10.1007/s00115-021-01071-7
© Der/die Autor(en) 2021

A. Heinz · M. Gül Halil · S. Gutwinski · A. Beck · S. Liu


ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit
Zusammenfassung
Hintergrund. In der ICD(International Classifi- Erkenntnisse im Suchtbereich zeigen sich Diagnosesysteme wurde unter Verwendung
cation of Diseases)-11 ändern sich die Kriterien Vor- und Nachteile. Hierbei könnte sich die der ICD-11 die Alkoholabhängigkeit ca. 10 %
für die Diagnose der Substanzabhängigkeit. Spezifität der Diagnosestellung gegenüber häufiger gestellt als mittels ICD-10.
Ziel der Arbeit (Fragestellung). Erörterung dem ICD-10 verschlechtern, da pro Paar Schlussfolgerung. In der ICD-11 werden die
der Vor- und Nachteile der neu verfassten nur ein Kriterium erfüllt sein muss und Diagnosen der Substanzabhängig und des
Diagnosekriterien. somit die Möglichkeit besteht, dass nicht Missbrauchs als klinisch sinnvolle Syndrome
Material und Methoden. Diskussion unter problematisches Konsumverhalten inkorrekt aufrechterhalten. Ob die diagnostischen
Berücksichtigung neurobiologischer, sozialer pathologisiert und falsch diagnostiziert Neuerungen in der Praxis hilfreich sind oder
und klinischer Forschungsergebnisse. wird. Das erscheint als problematisch, da die beispielsweise negative soziale Auswirkungen
Ergebnisse. Im ICD-11 werden wie bisher Definition des ICD-10 „Anhaltender Konsum für die Betroffenen im Sinne unangemessener
Abhängigkeitserkrankungen und schädlicher trotz eindeutiger schädlicher Folgen“, im ICD- Pathologisierung mit sich bringen, ist
Gebrauch unterschieden. Zur Diagnose 11 weiter gefasst wird als „Oft fortgeführter systematisch zu prüfen.
der Abhängigkeit werden die ehemals Konsum trotz Auftreten von Problemen“. Dies
6 Diagnosekriterien in 3 Paaren gebündelt, könnte dazu führen, dass das Kriterium einfach Schlüsselwörter
von denen künftig 2 erfüllt sein müssen. deshalb erfüllt wird, weil der Konsum einer Alkoholkonsumstörung · Diagnose ·
Innerhalb der Paare genügt ein erfülltes Substanz in einem bestimmten Land illegal Klassifikation · ICD-11 · ICD-10
Kriterium, damit das Paar als bejaht gilt. ist. In der bisher größten multinationalen
Unter Bezugnahme wissenschaftlicher Studie in 10 Ländern zur Konkordanz der

ICD-11: changes in the diagnostic criteria of substance dependence


Abstract
Background. In ICD(International Classifi- fulfilled. With reference to scientific findings because a substance is illegal in a certain
cation of Diseases)-11 the criteria for the in the field of addiction, this appears to country. In the largest multinational study
diagnosis of substance dependence have provide advantages as well as disadvantages. in 10 countries concerning concordance of
been revised. The specificity of the diagnosis of substance diagnostic systems, alcohol dependence was
Objective. Discussion of the advantages dependence might get worse compared to diagnosed approximately 10% more often
and disadvantages of the revised diagnostic ICD-10, because only one symptom of the using ICD-11 compared to ICD-10.
criteria. syndrome pairs has to be fulfilled in each Conclusion. In ICD-11 the well-established
Material and methods. Discussion of criteria newly constructed pair in order to fulfill the distinction between substance dependence
with respect to neurobiological, social and criterion. Therefore, the risk of false positive and harmful drug use is preserved. Systematic
clinical research. diagnosis of substance dependence could studies are required to assess whether the
Results. In the new ICD-11, harmful drug use increase. new diagnostic criteria are clinically helpful or
and substance dependence remain separate This is a potential reason for concern because increase social problems by increasing false
diagnostic categories. Regarding substance the definition of ICD-10 “persisting substance positive diagnoses of addiction.
dependence, the former six diagnostic criteria use despite clear evidence of overtly harmful
are condensed into three pairs, two of which consequences”, is more broadly reworded Keywords
must be fulfilled to diagnose this disorder. in ICD-11 as “substance use often continues Alcohol use disorder · Diagnosis · Classifica-
Within the pairs, one affirmed symptom or despite the occurrence of problems”. This tion · ICD-11 · ICD-10
aspect is sufficient for the new criterion to be criterion may hence simply be fulfilled

Kriterien oder Inhalte im Verlauf noch der vorherigen Toleranzentwicklung ist, Alkoholkonsum GABAerge Rezepto-
ändern werden. Die vorliegende Arbeit da es sich bei beiden Symptomen neuro- ren in ihrer Sensitivität herabreguliert,
bezieht sich auf den vorab veröffentlich- biologisch um die Folge neuroadaptive während NMDA-Rezeptoren hochregu-
ten Entwurf der Kriterien des ICD-11 Veränderungen handelt, die im Sinne liert werden [11, 12]. Damit kann unter
von Saunders und Kollegen [2], die Mit- einer Aufrechterhaltung der Homöosta- der Voraussetzung des fortgesetzten Al-
glieder der WHO-Arbeitsgruppe sind. se der Drogenwirkung entgegengesetzt koholkonsums eine neue Homöostase
sind [9, 10]. Wirkt also beispielsweise Al- erreicht werden, d. h. die dämpfende und
Toleranzentwicklung und kohol GABAerg und damit inhibierend inhibierende Wirkung des Alkohols wird
Entzugssymptomatik und subjektiv sedierend und hemmt ausgeglichen durch eine entsprechende
Alkohol zudem die glutamaterge Neuro- Neuroadaptation der inhibitorischen
Schon lange wurde argumentiert, dass transmission am NMDA-Rezeptor, dann und exzitatorischen Systeme im Gehirn.
die Entzugssymptomatik nur ein Aspekt werden entsprechend bei chronischem Fällt der Alkoholkonsum plötzlich weg,

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was bei schwer abhängigen Menschen sich Entzugssymptome auch bei ande- Person ist motiviert, den Drogenkonsum
bereits durch die Unterbrechung des ren zentralnervös wirksamen Drogen zu wiederholen [14, 18, 19].
Trinkens während des Schlafes gesche- und Medikamenten finden. Letztendlich Beim wiederholten Drogenkonsum
hen kann, dann ist die inhibitorische sind neuroadaptive Anpassungen an die kommt es zu einer zunehmenden Ge-
Wirkung der GABAergen Neurotrans- Substanzwirkung ubiquitär und finden wohnheitsbildung, die im Tiermodell
mission reduziert, während eine erhöhte sich auch bei Einnahme von ß-Blo- mit der Verschiebung der Aktivierung
Zahl der NMDA-Rezeptoren zur zen- ckern, Antidepressiva oder anderen vom ventralen in Richtung dorsales
tralnervösen Erregung beitragen kann. Medikamenten, die keine Abhängig- Striatum verbunden ist [20, 21]. Eine
Insofern hier auch die Regulation zen- keitserkrankung verursachen [16]. Um Untersuchung bei Personen mit Alkohol-
tralnervöser Kerngebiete betroffen ist, eine Suchterkrankung bzw. eine Abhän- abhängigkeit beobachtete ebenfalls eine
die das autonome Nervensystem steuern gigkeitserkrankung in der Terminologie Aktivierung im dorsalen gegenüber dem
(wie beispielsweise der Locus coeru- der ICD-10 und -11 zu diagnostizieren, ventralen Striatum bei Entwicklung einer
leus als Ursprungsgebiet noradrenerger ist demnach auch weiterhin das Erfüllen Abhängigkeitserkrankung [22], während
Neurone im Hirnstamm), kann es zur zusätzlicher Kriterien notwendig. dies in anderen Untersuchungen nicht
vegetativen Dysfunktion und damit zu der Fall war [23, 24]. Aktuelle Untersu-
den auch körperlich sichtbaren Zeichen Craving und verminderte chungen, die die Gewohnheitsbildung
eines Entzugs kommen [13]. Deshalb Kontrolle über den Substanz- mit komputationaler Modellierung des
ist es sinnvoll, Toleranzentwicklung und gebrauch Verhaltens erfassen wollen, zeigen keine
Entzugssymptomatik als gemeinsames generelle Zunahme habituellen Verhal-
Geschehen zu verstehen und die beiden Auch die Symptome des starken Dro- tens bei Menschen mit Abhängigkeitser-
bisher getrennt gelisteten Leitkriterien genverlangens („craving“) und der ver- krankungen; vielmehr sind Personen mit
als zwei Aspekte eines gemeinsamen Kri- minderten Kontrolle über den Sub- Abhängigkeitserkrankungen offenbar
teriums im ICD-11 zusammenzufassen. stanzgebrauch werden in der ICD-11 dann besonders rückfallgefährdet, wenn
Das Kriterium der Toleranzentwick- gemeinsam gelistet und es genügt, dass zur Tendenz der Gewohnheitsbildung
lung wird seit längerer Zeit kritisch dis- einer dieser beiden Aspekte vorliegt, da- auch eine hohe Erwartung gegenüber
kutiert, da die Toleranzentwicklung im mit das Kriterium erfüllt ist. Auch diese den Alkoholwirkungen vorhanden ist
Rahmen der klinischen Untersuchungen Gruppierung erscheint neurobiologisch [25]. Hinzu kommt eine verstärkte Re-
meist anamnestisch, retrospektiv erho- und klinisch sinnvoll, da die Kontrolle aktion auf konditionierte Alkoholreize,
ben wird und die Erinnerung täuschen über den Substanzmittelgebrauch aus wobei hier in bildgebenden Untersu-
kann. Es kommt hinzu, dass etwa Tole- unterschiedlichen Gründen reduziert chungen eine verstärkte Aktivierung
ranz gegen die akuten Alkoholwirkungen oder ganz verloren sein kann. Ein we- des medialen präfrontalen Kortex in
partiell genetisch bedingt ist [14]. Dem- sentlicher Grund hierfür ist das starke mehreren Untersuchungen mit einer
entsprechend können Menschen, die be- Verlangen, das betroffene Personen dazu hohen Rückfallneigung nach Entgiftung
reits während der ersten Erfahrungen bringt, ihre bewusst gefassten Vorsätze verbunden war [23, 26]. Das starke
mit der Substanz Alkohol wenig uner- nach Reduktion des Suchtmittelkon- Verlangen nach der abhängigkeitserzeu-
wünschte Wirkungen wie Sedation oder sums oder nach Abstinenz nicht einzu- genden Substanz wird daher vermutlich
Übelkeitzeigen, häufigerzu einem erhöh- halten. Die neurobiologisch orientierte durch Aktivierung entsprechender mo-
ten Alkoholkonsum neigen, wahrschein- Suchtforschung hat in den letzten Jahr- tivationaler Netzwerke begleitet oder
lich, weil ihnen entsprechende Warnzei- zehnten eine Vielzahl zentralnervöser bedingt, wobei dem ventralen Striatum
chen fehlen [15]. Im Nachhinein ist al- Korrelate des Suchtverlangens und der und weiterer limbischer Regionen eine
lerdings schwer zu unterscheiden, was Manifestation impulsiv oder zwanghaft wesentliche Rolle zugeschrieben wird.
bereits angeborene oder möglicherweise anmutender Verhaltensweisen identifi- Demgegenüber wird die kognitive
auch stressbedingt früh erworbene Tole- zieren können [3, 8, 17]. Schon lange ist Kontrolle über den Drogenkonsum in
ranz gegenüber den akuten Alkoholwir- bekannt, dass Substanzen mit Abhängig- der Regel als Funktion des präfrontalen
kungen ist und was sich erst in Folge fort- keitspotenzial deutlich mehr Dopamin Kortex verstanden [5, 8]. Da Striatum
gesetzten Alkoholkonsums als Toleranz- im Bereich des ventralen Striatums, einer und frontaler Kortex allerdings in unter-
entwicklung gegenüber der Drogenwir- Kernregion des sog. hirneigenen Beloh- schiedlichsten Regelkreisen verbunden
kung eingestellt hat. Deshalb erscheint nungssystems, freisetzen und dass diese sind, wäre es nicht richtig, hier von
es sinnvoll, das alleinige Auftreten einer Freisetzung auch bei wiederholtem Dro- eigenständig operierenden Hirnzentren
Entzugssymptomatik als hinreichend zu genkonsum nicht abnimmt [17]. Wird zu sprechen. Es wäre falsch anzuneh-
werten, um das Kriterium als erfüllt zu durch Drogen eine unphysiologisch ho- men, dass im frontalen Kortex eine Art
betrachten. he Dopaminfreisetzung ausgelöst, führt unabhängige Kontrollinstanz „sitzt“, die
Die Erfüllung eines dieser neuen Kri- das zur Enkodierung eines sog. Vorher- durch übermäßige Begierde aus älteren
terien reicht allerdings nicht aus, um sagefehlers, d. h. die Drogenwirkung ist Hirnregionen quasi „überrannt“ wird.
eine Abhängigkeitserkrankung zu dia- besser als erwartet und die betroffene Vielmehr sind diese Hirnregionen in
gnostizieren. Das ist sehr berechtigt, da engster Interaktion, und bei der Ent-

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fortgesetzten Konsum trotz schädlicher
Infobox 1 Die Probe aufs Exempel: Ist die Atemsucht eine Sucht?
oder nachteiliger Auswirkungen. Damit
Will man den Sinn von Krankheitsklassifikationen testen, lohnt es sich, imaginäre Beispiele wird der Beobachtung Rechnung getra-
zu überprüfen. Gibt es also beispielsweise eine Atemsucht? Würde die ICD-11-Klassifikation
gen, dass ein subjektives Verlangen nach
dazu führen, dass das Atmen als Suchterkrankung im Sinne der Substanzgebrauchsstörung
klassifizierbar wäre, dann wäre die Definition zu hinterfragen. In der bisherigen ICD-10 ist das der Droge bei alkoholabhängigen Pati-
bisher nicht der Fall. Zwar kann man davon sprechen, dass es bei Unterbrechung der Luftzufuhr zu enten nicht notwendigerweise auftreten
starken Entzugserscheinungen und zu einem starken Verlangen nach dem Atmen kommt. Nicht und mit einem erhöhten Rückfallrisi-
erfüllt sind aber das Kriterium des Schadens durch das Atmen, es gibt keine Toleranzentwicklung ko verbunden sein muss und dass un-
in dem Sinne, das im Laufe des Atmens immer größere Mengen an Luft konsumiert werden
terschiedliche neurobiologische Korrela-
müssen, um die ursprünglich erwünschte Wirkung zu erzielen oder einer Entzugssymptomatik
vorzubeugen, und es gibt keine Kontrollminderung gegenüber dem Atmen (sieht man von te der Kontrollminderung, des Verlan-
anderweitig verursachten Fällen angstbedingter Hyperventilation ab). Auch eine Verengung der gens nach Alkohol und der Vernachläs-
Verhaltensvielfalt auf das Atmen findet sich allenfalls als bewusst gewählter Akt bei meditativen sigung anderer Aktivitäten identifiziert
Techniken, nicht aber als ungewollte Folge einer Suchterkrankung. Im ICD-10 gibt es also keine werden konnten [28–30]. Es bleibt ab-
Atemsucht.
zuwarten, ob sich die von Saunders und
In der ICD-11 ist diese Frage nicht mehr so einfach zu beantworten, denn hier genügt es ja,
dass einer der Aspekte innerhalb der jeweils paarweise neu zusammengeführten Kriterien Kollegen vorab veröffentlichten Kriterien
erfüllt sein muss, um eine Abhängigkeitserkrankung zu diagnostizieren. Das Auftreten von mit den endgültigen der WHO decken
Entzugssymptomen beim plötzlichem Unterbrechen der Luftzufuhr würde also genügen, um oder ob hier noch Akzentverschiebun-
eines der 3 Kriterien zu erfüllen, das 2. Kriterium wäre erfüllt, wenn das starke Verlangen zu gen beispielsweise in der Gewichtung des
Atmen und eine reaktive Hyperventilation bei kurzfristiger Unterbrechung der Substanzzufuhr als
Cravings erfolgen.
Kontrollminderung mit Craving gewertet wird. Damit wären aber 2 von 3 Kriterien erfüllt und die
Diagnose der „Atemsucht“ könnte gestellt werden. Was hier ironisch klingt, kann aber politisch
gefährlich werden: Überträgt man die Suchtkriterien auch auf die Verhaltenssüchte, könnte Substanzgebrauch als Priorität
etwa eine starke persönliche Motivation zum politisch kritischen Bloggen auf Kosten anderer im Leben, die trotz schädlicher
Verpflichtungen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen pathologisiert werden.
Folgen persistiert
Das 3. neue Kriterium derAbhängigkeits-
wicklung von Suchterkrankungen zeigte klinischen Überlappung der Symptome erkrankungen führt zwei heterogen wir-
sich, dass das ventrale Striatum und und der neurobiologisch verflochtenen kende Kriterien der ICD-10 zusammen,
der präfrontale Kortex gemeinsam und Regelkreise erscheint diese Zusammen- einerseits die zunehmende Vernachläs-
gleichsinnig verstärkt reagieren, wenn führung sinnvoll. sigung alternativer Verpflichtungen und
eine Personen sich für einen schädlichen Im Bereich dieser Phänomene besteht Vergnügen zugunsten des Drogenkon-
Alkoholkonsum entscheidet [27]. die stärkste Überlappung zu den sog. Ver- sums und andererseits den fortgesetzten
Alkohol und andere Drogen haben haltenssüchten, d. h. der Glückspielsucht Drogenkonsum trotz schädlicher Konse-
neurotoxische Wirkungen, die die Funk- und des pathologischen Spielens, die in quenzen. Das Kriterium in der ICD-10
tion des präfrontalen Kortex direkt be- der ICD-11 gesondert gelistet werden. „Anhaltender Konsum trotz eindeutiger
einträchtigen können. Allerdings zeigten Wiederum erscheint es sinnvoll, dass das schädlicher Folgen“ wird in der ICD-11
Untersuchungen des mit dem frontalen alleinige Vorliegen eines starken Verlan- weniger scharf formuliert und es wird
Kortex verbundenen Arbeitsgedächtnis- gens oder einer Kontrollminderung oh- nur noch gefordert, dass der Konsum
ses, dass Menschen mit Alkoholabhän- ne Toleranzentwicklung oder Entzugs- „oft“ trotz des Auftretens von „Proble-
gigkeit gegenüber gesunden Kontrollper- symptomatik einerseits oder die noch zu men“ fortgesetzt wird.
sonen üblicherweise offenbar kaum Ein- diskutierenden schädlichen Folgen des Klinisch ist es durchaus plausibel,
schränkungen aufweisen [8]. Drogenkonsums andererseits nicht aus- dass zu den Voraussetzungen für die
Bezüglich der Aspekte des starken reichen, um eine Suchterkrankung zu di- Diagnose einer Substanzgebrauchsstö-
Verlangens nach Alkohol oder einer an- agnostizieren. Denn starkes Verlangen rung schädliche Konsequenzen gehören.
deren Substanz und einer verminderten und Kontrollminderung sind Phänome- Würde das Individuum wegen der Sub-
Kontrolle über den Substanzgebrauch ne, die sich bei jeder leidenschaftlichen stanzgebrauchsstörung keinerlei nach-
handelt es sich neurobiologisch um Tätigkeit der Menschen nachweisen las- weisbare Schädigungen erleiden, stellt
Aspekte integrierter Regelkreise, die ge- sen können und die deshalb per se nicht sich die Frage, warum die Medizin über-
meinsam auftreten können, aber auch pathologisch sind [5]. In dem von der haupt zuständig sein sollte. Warum der
– insbesondere bei differenzieller neu- WHO bereits veröffentlichten Beschrei- Aspekt der jetzt recht allgemein betitel-
rotoxischer Schädigung – unabhängig bungen wird der „internal drive“ beson- ten „Probleme“ aber zusammengeführt
voneinander ausgeprägt sein können. ders betont, der sich nicht nur als subjek- werden soll mit der zunehmenden Ver-
In der ICD-11 genügt, dass einer die- tiv starkes Verlangen zeigen kann („cra- nachlässigung alternativer Vergnügen,
ser beiden Aspekte erfüllt ist, damit ving“), sondern auch im Verlust der Kon- ist nicht wirklich verständlich. Dass die
das Kriterium als Hinweis auf das Be- trolle über den Drogenkonsum, in der WHO diesen oder einen ähnlich weit
stehen einer Abhängigkeitserkrankung zunehmenden Priorität des Drogenkon- auslegbaren Begriff verwenden wird, ist
gewertet werden kann. Aufgrund der sums über andere Tätigkeiten und im sehr wahrscheinlich, da in der von der

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WHO bereits veröffentlichten Beschrei- alkoholkonsumierenden Personen unter


Tab. 3 Rate der Alkoholabhängigkeit über die Lebenszeit in der ICD(International Classification of Diseases)-10 und ICD-11 bei Personen, die jemals im Leben Alkohol konsumiert haben. (Adjustierte Raten

bung der Alkoholabhängigkeit (. Tab. 1) der Verwendung der ICD-11 bei 7 und
2,3–14,9
3,9–17,3
Range

sogar von anhaltendem Konsum trotz damit um 10 % höher als unter Ver-
negativer Konsequenzen („negative con- wendung der ICD-10, bei der die Rate
sequences“) gesprochen wird. In diesem 6,3 betrug [31]. Auch wenn dieser Un-
(n = 12.182)

Punkt werden offenbar in der ICD- terschied in der Studie nicht statistisch
Argentinien Gepoolt

11 unterschiedliche Phänomene ver- signifikant war, ist er klinisch relevant


6,3

mengt: einerseits die Vernachlässigung und würde für Deutschland bedeuten,


7

anderer Vergnügen, deren neurobiologi- dass anhand der ICD-11 zu den bisher
sches Korrelat im Tiermodell und beim schätzungsweise 2,9 Mio. Menschen mit
(n = 726)

Menschen mit GABAergen Funktions- Alkoholabhängigkeit (entspricht 3,5 %


2,8
4,3

störungen im Bereich der Amygdala der Bevölkerung [32]) zusätzlich etwa


in Verbindung gebracht werden konn- 300.000 weitere Personen die Diagnose
(n = 1333) (n = 424)

te [28], und andererseits das Auftreten einer Alkoholabhängigkeit bekämen.


Murcia

von Problemen wie etwa der finanziel- Eine weitere Arbeit zeigt bei Jugend-
2,3

len Verschuldung durch den Kauf von lichen sogar eine 2,3-fach höhere Präva-
4

Drogen, deren Preis auch durch ge- lenz der Alkoholabhängigkeit im ICD-
sellschaftliche und gesetzliche Vorgaben 11 gegenüber der Verwendung des ICD-
Polen

beeinflusst wird. Die Zusammenführung 10 [33] und etwa 50 % häufiger die Dia-
6,7
7,1

dieser unterschiedlichen Aspekte in ein gnose der Cannabisabhängigkeit unter


einziges Kriterium überzeugt demnach Verwendung des ICD-11. Dies sind kli-
Australien Nordirland Portugal
(n = 5409) (n = 1084) (n = 949)

nicht. Sie ist offenbar der Absicht ge- nisch relevante Unterschiede und wei-
schuldet, die bisherigen 6 Kriterien auf sen darauf hin, dass es durch die ICD-
3,9
3

3 zu reduzieren, ohne dass zwingende 11 zu einer Zunahme der Abhängigkeits-


inhaltliche Gründe für dieses schema- diagnosen kommen kann.
tisch anmutende Vorgehen ersichtlich In einer weiteren Veröffentlichung
werden. wurde die australische Subgruppe der
4,7
4,7

multinationalen ersten Studie genau-


ICD-11 in der Praxis er beschrieben. Es zeigten sich keine
statistisch signifikanten Unterschiede
6,1
6,8

Neben der Frage, ob bisher nicht als hinsichtlich des Vorkommens von Alko-
Suchterkrankungen verstandene Kon- hol-und Cannabisabhängigkeitzwischen
Rumänien São Paulo Medellin
(n = 1480) (n = 399)

summuster oder Verhaltensweisen als der Klassifikation nach ICD-11, ICD-


Abhängigkeitserkrankung klassifizier- 10 und DSM-IV [34]. Allerdings wurde
14,9
17,3

bar werden, stellt sich die Frage, ob die Alkoholabhängigkeit mittels ICD-
die Anwendung der ICD-11-Kriterien 11 insgesamt trotzdem 10 % häufiger
die Zahl oder Gruppe der Personen als mittels dem ICD-10 diagnostiziert.
entnommen aus den Supplement Data von Degenhardt et al. 2019 [31])

signifikant verändert, die bisher in der Auch zeigte der Vergleich der genannten
10,6
11

ICD-10 beispielsweise als substanzab- Diagnosesysteme (ICD-10 und ICD-11,


hängig diagnostiziert wurden. In der DSM-IV) mit der Kategorie der neuen
(n = 318)

bisher größten Studie von Degenhard Substanzgebrauchsstörung des DSM-5


und Kollegen wurden in 10 Ländern nur eine geringe Überschneidung, was
5,9
6,4

bzw. Regionen in der Welt bei über Zweifel an der Kategorisierung mittels
12.000 Personen die Konkordanz von des DSM-5 weckt. Aber auch kultu-
(n = 60)

der ICD-10, ICD-11 sowie der DSM-IV relle und regionale Einflüsse auf die
13,7
13,7
Irak

und DSM-5 bei Alkohol- und Canna- Kategorisierung mittels ICD-11 müssen
biskonsum [31] untersucht. Hier zeigte erwogen werden. Da in den öffent-
sich, dass in 8 von 10 Regionen und in lich zugänglichen Versionen des ICD-
allen Regionen mit mittleren Einkom- 11 nur noch von „Problemen“ [1] bzw.
men (Brazilien-Sao Paolo, Kolumbien- „negativen Konsequenzen“ [2] beim Sub-
Abhängigkeit, ICD-11
Abhängigkeit ICD-10

Medellin und Rumänien) die Alkohol- stanzkonsum die Rede ist, können auch
abhängigkeit in der ICD-11 häufiger als soziale Schwierigkeiten darunter gefasst
in der ICD-10 diagnostiziert wurden werden, die allein aufgrund regional
Definition

(. Tab. 3 und . Abb. 1; [31]). In einer unterschiedlicher Gesetze eintreten. So


gepoolten Analyse war die Rate der kann fortgesetzter Konsum trotz ge-
Alkoholabhängigkeit bei erwachsenen setzlichen Verbots zu „Problemen“ oder

Der Nervenarzt
18
17
Abhängigkeit ICD-10
Rate der Alkoholabhängigkeit über die Lebenszeit

16
Abhängigkeit ICD-11
15
14
13
12
11
10
9
8 Abb. 1 9 Rate der Alko-
7 holabhängigkeit über
6 die Lebenszeit in der
5 ICD(International Classifi-
cation of Diseases)-10 und
4
ICD-11 bei Personen, die
3
jemals im Leben Alkohol
2
konsumiert haben. (Adjus-
1 tierte Raten entnommen
0 aus den Supplement Data
Irak Rumänien São Paulo Medellin Australien N. Irland Portugal Polen Murcia Argentinien gepoolt von Degenhardt et al. 2019
[31])

„negativen Konsequenzen“ ohne eigent- terials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers
Korrespondenzadresse einzuholen.
lichen Krankheitswert führen, wenn
diese Probleme einfach nur im Rahmen Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der
der gesetzlichen Strafen und der damit Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/
Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus licenses/by/4.0/deed.de.
verbundenen persönlichen Nachteile
Bonhoefferweg 3
auftreten. Bezüglich der Umsetzung der Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Deutschland
neuen ICD-11 in die alltägliche Praxis andreas.heinz@charite.de Literatur
sollte also systematisch untersucht wer-
den, in welchen sozialen Kontexten für 1. World Health Organsiation (2019) https://icd.who.
Funding. Open Access funding enabled and organi-
int/browse11/l-m/en. Zugegriffen: 10. Nov. 2020
die Betroffenen unangemessene Patholo- zed by Projekt DEAL.
2. SaundersJ,DegenhardtL,ReedG,PoznyakV(2019)
gisierung oder Stigmatisierung auftreten Alcohol use disorder in ICD-11: past, present, and
könnten. future. Alcohol Clin Exp Res 43(8):1617–1631
Einhaltung ethischer Richtlinien 3. Dillinger H, Freyberger HJ (Hrsg) (2013) Ta-
schenführer zur ICD-10-Klassfikation psychischer
Fazit für die Praxis Interessenkonflikt. A. Heinz, M. Gül Halil, S. Gutwin- Störungen. Huber, Bern
ski, A. Beck und S. Liu geben an, dass kein Interessen- 4. American Psychiatric Association (2013) Diagnos-
konflikt besteht. tic and statistical manual of mental disorders,
4 Die Änderungen in den Abhängig- 5. Aufl. American Psychiatric Publishing, Washing-
keitskriterien der ICD(International Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine
ton, DC
Classification of Diseases)-11 um- 5. Heinz A (2002) Dopaminergic dysfunction in alco-
Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.
holism and schizophrenia—psychopathological
fassen eine Zusammenführung der Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort
and behavioral correlates. Eur Psychiatry
angegebenen ethischen Richtlinien.
bisherigen 6 Kriterien der ICD-10 zu 17(1):9–16
3 Doppelkriterien, die jeweils zwei 6. Heinz A, Friedel E (2014) DSM-5: wichtige
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative
Änderungen im Bereich der Suchterkrankungen.
Aspekte umfassen. Pro Paar muss ein Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz
Nervenarzt 85:571–577
veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung,
Aspekt bzw. Symptom erfüllt sein. Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jegli-
7. Heinz A, Zhao X, Liu S (2019) Implications of
4 Zukünftig müssen nur 2 der 3 Kriteri- the Association of Social Exclusion With Mental
chem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die
Health. JAMA Psychiatry. https://doi.org/10.1001/
en erfüllt sein. ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsge-
jamapsychiatry.2019.3009
mäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz
4 Die sozialen Auswirkungen der ICD- beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenom-
8. Charlet K, Beck A, Jorde A, Wimmer L, Vollstädt-
11-Neuerungen für Betroffene sollten Klein S, Gallinat J et al (2014) Increased neural
men wurden.
activityduringhighworkingmemoryloadpredicts
zukünftig systematisch erforscht low relapse risk in alcohol dependence. Addict Biol
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges
werden. Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten
19(3):402–414
9. Koob G (2013) Negative reinforcement in drug ad-
Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil-
diction: the darkness within. Curr Opin Neurobiol
dungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be-
23(4):559–563
treffende Material nicht unter der genannten Creative
10. Koob G, Le Moal M (2005) Plasticity of reward
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung
neurocircuitryandthe‘darkside’ofdrugaddiction.
nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für
Nat Neurosci 8(11):1442–1444
die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Ma-
11. Krystal J, Staley J, Mason G, Petrakis I, Kaufman J,
Harris R et al (2006) Gamma-aminobutyric acid

Der Nervenarzt
Übersichten

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