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verlag regionalkultur
Julius Wilhelm Zincgref und
der Heidelberger Späthumanismus
Wilhelm Kühlmann
verlag regionalkultur
INHALT
Vorwort ................................................................................................... 9
-ANNHEIMER HISTORISCHE 3CHRIFTEN Band 5
ISBN 978-3-89735-660-3
9<HTOIUH=dfg ad>
Abb. 1: Carl von Blaas: Karl der Große tadelt die nachlässigen Schüler
Österreichische Galerie Belvedere Wien, Inv.-Nr. 2715
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Als Ulrich Müller und Werner Wunderlich 1996 mit »Herrscher, Helden, Hei-
lige« den ersten ihres insgesamt sieben Bände umfassenden Kompendiums von
Mittelalter-Mythen vorlegten, fand sich Kaiser Karl der Große darin in der Ru-
brik »Herrscher« wieder.1 Andere Einordnungen hätten sich ebenso rechtfertigen
lassen. Aufgrund der siegreich bestandenen Kriege gegen Desiderius und die
Langobarden (773–781), gegen die Sachsen unter Widukind (772–804), gegen
die Mauren in Spanien (778), gegen den Bayern-König Tassilo (787/88), gegen
Slawen (789), Hunnen (791–799) und Dänen (810), durch die er seine Macht
expandierte und festigte, hätte eine Zuordnung Karls zu den Helden kaum An-
stoß erregt, weniger jedenfalls als eine zu den Heiligen, obschon Karl der Große,
was heute weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein geraten zu sein scheint,
auf Veranlassung Kaiser Friedrich Barbarossas am 29. Dezember 1165 von dem
Kölner Erzbischof Rainald von Dassel und dem zuständigen Lütticher Diözesan-
bischof Alexander II. im Dom zu Aachen heilig gesprochen wurde.2 Die Forschung
geht heute von einer politischen, ja, einer »delegierten Heiligsprechung« aus.3
Verstand sich die Kanonisation Karls auf der einen Seite als Antwort auf die Ver-
suche des französischen Königtums, den fränkischen Herrscher für sich zu ver-
einnahmen, so sollte sie ihn auf der anderen Seite als politischen Heiligen für das
staufische Imperium zu instrumentalisieren helfen. Damit verbunden war nicht
1 Vgl. Karl-Ernst Geith: Karl der Große. In: Ulrich Müller/Werner Wunderlich (Hg.):
Herrscher, Helden, Heilige. St. Gallen 1996 (Mittelaltermythen 1), S. 87–100.
2 Warum Geith die Kanonisierung Karls auf 1169 datiert und in Friedrich II. ihren Ur-
heber sieht, ist unklar. Vermutlich handelt es sich schlicht um einen Irrtum. Vgl. ebd.,
S. 93.
3 Vgl. Jürgen Petersohn: Die päpstliche Kanonisationsdelegation des 11. und 12. Jahr-
hunderts und die Heiligsprechung Karls des Großen. In: Stephan Kuttner (Hg.): Pro-
ceedings of the Fourth International Congress of Medieval Canon Law, Toronto, 21–
25 August 1972. Città del Vaticano 1976 (Monumenta iuris canonici C 5), S. 163–209,
hier: S. 201–205.
286 RALF GEORG CZAPLA
4 Die Literatur zur Kanonisierung Karls des Großen lässt sich allenfalls exemplarisch fas-
sen. Hervorgehoben seien in chronologischer Folge die Arbeiten von Martin Kneer: Die
Urkunde über die Heiligsprechung Karls d. Gr. v. 8. Januar 1166 und ihr Verfasser in
der Kanzlei Kaiser Friedrichs I. Erlangen 1930 (Erlanger Abhandlungen zur mittleren
und neueren Geschichte 6), bes.: S. 50–75. Philipp August Becker: Die Heiligsprechung
Karls des Großen und die damit zusammenhängenden Fälschungen. Leipzig 1947 (Be-
richte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leip-
zig. Philologisch-historische Klasse 96,3). Robert Folz: Le souvenir et la légende de
Charlemagne dans l’Empire germanique médiéval. Paris 1950. Erich Meuthen: Karl der
Große – Barbarossa – Aachen. Zur Interpretation des Karlsprivilegs für Aachen. In:
Werner Braunfels/Percy Ernst Schramm (Hg.): Karl der Große. Lebenswerk und Nach-
leben. Bd. 4. Düsseldorf 31968, S. 54–76. Ders.: Barbarossa und Aachen. In: Rheini-
sche Vierteljahrsblätter 39 (1975), S. 28–59. Jürgen Petersohn: Saint-Denis – West-
minster – Aachen. Die Karlstranslation von 1165 und ihre Vorbilder. In: Deutsches Ar-
chiv 31 (1975), S. 420–454. Ders.: Päpstliche Kanonisationsdelegation (Anm. 3). Er-
win Hoheisel: 20 Jahre Karlsamt im Frankfurter Kaiserdom. Welche Gründe führten
zur »Heiligsprechung« Karls d. Großen? In: Almanach. Jahrbuch für das Bistum Lim-
burg 1983, S. 97–101. Odilo Engels: »Des Reiches heiliger Gründer«. Die Kanonisati-
on Karls des Großen und ihre Beweggründe. In: Hans Müllejans (Hg.): Karl der Gro-
ße und sein Schrein in Aachen. Aachen 1988, S. 37–46. Jürgen Petersohn: Kaisertum
und Kultakt in der Stauferzeit. In: Ders. (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hoch-
mittelalter. Sigmaringen 1994 (Vorträge und Forschungen 42), S. 101–146. Odilo En-
gels: Karl der Große und Aachen im 12. Jahrhundert. In: Mario Kamp (Hg.): Krönun-
gen. Könige in Aachen. Geschichte und Mythos. Bd. 1. Aachen 2000, S. 348–356.
Ludwig Vones: Heiligsprechung und Tradition: Die Kanonisation Karls des Großen
1165, die Aachener Karlsvita und der Pseudo-Turpin. In: Klaus Herbers (Hg.): Jakobus
und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin. Tübingen 2003 (Ja-
kobus-Studien 14), S. 89–105.
5 Zur öffentlichen Verehrung Karls des Großen vgl. Ioannes Bollandus: Acta Sanctorum
quotquot toto orbe coluntur, vel a catholicis scriptoribus celebrantur. Ianuarii tomus
II. Antwerpen 1643, S. 874 f. [Diözesan- und Dombibliothek, Köln, LAb1, 1,2]. Fer-
ner Emil Pauls: Die Heiligsprechung Karls des Großen und seine kirchliche Verehrung
in Aachen bis zum Schluss des 13. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Aachener Geschichts-
vereins 25 (1903), S. 335–353.
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ge auf,10 denn Ugolino, einst Freund und Vertrauter des religiösen Eiferers Giro-
lamo Savonarola, ehe er zum Verräter an der gemeinsam betriebenen Sache wur-
de, spiegelt in ihr die Herrschaft der Medici in Florenz. In literarhistorischer
Perspektive markiert die »Carlias« den Beginn der frühneuzeitlichen Karlsepik in
lateinischer Sprache. Anleihen für die Ausgestaltung einzelner Szenen nahm der
Dichter u. a. beim sogenannten Aachener Karlsepos »De Karolo rege et Leone
papa«, bei dem es sich um das dritte einer ursprünglich vier Bücher umfassen-
den epischen Dichtung handelt, die vermutlich in der Krönung Karls zum Kai-
ser gipfelte und infolge dessen nach 800 entstanden sein dürfte.11 In den folgen-
den Jahrhunderten gehörten Exkurse über Karl den Großen nicht nur zum in-
tegralen Bestandteil von Herrscherepik, wo sie zumeist im Kontext tatsächlicher
oder bewusst konstruierter Genealogien erschienen, sondern auch von poetischen
Reisebeschreibungen oder Descriptiones von Ländern und Städten, sofern diese
im Lebens Karls eine Rolle spielten. So erzählt etwa der Münsteraner Kleriker
Bernardus Mollerus im fünften Buch seines »Rhenus et eius descriptio elegans«
[›Der Rhein und seine erlesene Beschreibung‹], der in drei Ausgaben aus den Jah-
ren 1570, 1571 und 1596 vorliegt,12 von der Zusammenkunft Karls mit Papst
Leos III. 799 in Paderborn. Er poetisiert damit eben jenes Ereignis (V. 395–
494),13 von dem das noch erhaltene Bruchstück des Aachener Karlsepos handelt
und um dessentwillen die ältere mediävistische Forschung stets vom Paderbor-
ner Karlsepos gesprochen hatte. Dieter Schaller hat das Aachener Karlsepos dem
10 Ugolino Verino: Carlias. Ein Epos des 15. Jahrhunderts erstmals hg. v. Nikolaus Thurn.
München 1995 (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen. Reihe II 31).
Dazu: Nikolaus Thurn: Kommentar zur »Carlias« des Ugolino Verino. München 2002
(Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen. Reihe II 33). – Das Epos blieb
in der Frühen Neuzeit ungedruckt.
11 So die Erkenntnisse der Wiener Latinistin Christine Ratkowitsch, die damit eine The-
se von Dieter Schaller erhärtet. Vgl. Christine Ratkowitsch: Karoli vestigia magna se-
cutus: Die Rezeption des »Aachener Karlsepos« in der Carlias des Ugolino Verino. Wien
1999 (Wiener Studien. Beihefte 25). Dies.: Das »Aachener Karlsepos« und die »Carli-
as« des Ugolino Verino. In: Erkens, Karls der Große (Anm. 7), S. 27–38.
12 Zu Mollerus und seiner Rheindichtung vgl. Beate Czapla: Der Rhein, Europas Strom,
nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ »Rhenus et eius descriptio elegans«
und die Tradition lateinischer Flußdichtung in Europa. In: Jahrbuch für Internationa-
le Germanistik 30 (1998), H. 2, S. 8–31. Dies.: Neulateinische Lehrdichtung zwischen
der literarischen Tradition von Hesiod bis Manilius und der neuzeitlichen Ars apode-
mica am Beispiel von Bernhardus Mollerus’ »Rhenus« und Cyriacus Lentulus’ »Euro-
pa«. In: Neulateinisches Jahrbuch. Journal of Neo-Latin Language and Literature 1
(1999), S. 21–48.
13 Bernardus Mollerus: Rhenus et eius descriptio elegans a primis fontibus usque ad oce-
anum Germanicum: ubi urbes, castra et pagiacentes, item flumina et rivuli in hunc in-
fluentes, et si quid praeterea memorabile occurrat plenissime carmine Elegiaco depin-
gitur. Köln: Johannes Birckmann, 1571, S. 219–222 [ULB Bonn, Dk 321/62].
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 289
ELEGIA III.
Historia de Carolo Magno.
keit durch ihren für die Kenntnis seines Lebens verwerthbaren Inhalt als durch innere
Vorzüge, aber das Lob gebührt ihnen doch unbedingt, dass sie sich als die Producte ei-
nes Mannes von gründlicher wissenschaftlicher Bildung, edler Sinnesart und feiner Ge-
schmacksrichtung zu erkennen geben.«
19 Zu den genannten literarischen Genera vgl. die Überblicksdarstellungen von Eckart
Schäfer: Deutsche Quellengedichte aus Renaissance und Barock. In: Jürgen Blänsdorf/
Dieter Janik/Eckart Schäfer (Hg.): Bandusia. Quelle und Brunnen in der lateinischen,
italienischen, französischen und deutschen Dichtung der Renaissance. Stuttgart 1993
(Beiträge zur Altertumskunde 32), S. 97–132. Carl Joachim Classen: Die Stadt im Spie-
gel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Litera-
tur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Hildesheim/New York 21986 (Beiträge zur
Altertumswissenschaft 2).
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[Dritte Elegie. Eine Geschichte von Karl dem Großen. Karl, der wegen seiner Taten
den (Bei-)Namen »der Große« erhielt, führte das Szepter des Reiches mit tapferer
Hand. Machtvoll wahrte er das Recht im Römischen Reich und war Schutzherr und
zierlicher Schmuck für den Chor des Apoll. Den Musen, den Pieros-Töchtern, er-
richtete er ein prächtiges Haus, wo die Seine durch Paris’ mauerbewehrte Stadt fließt.
Er selbst geruhte oft als Zuschauer beizuwohnen, wenn die Jugend ihre (Lern-)Fort-
schritte darbot. Als er aber (einmal) bemerkte, dass Knaben von einfachem Stand
besser waren als adlige, sagte er folgendes: »Heil euch, ihr Knaben! Sucht weiter euer
Ziel zu erreichen, ihr, die ihr mit Freude den Musen dient! Ehre wächst euch zu und
sichere Belohnungen erwarten euch. Sehen werdet ihr, dass Ruhm euer Haus erstrah-
len lässt. Meine Hand wird euch als Vertraute berühren, und gepflegt durch euer
mühevolles Tun wird Themis erstrahlen. Die christliche Kirche wird euch mit höchs-
ten Ämtern betrauen, da sie von der heiligen Kanzel herab zu predigen und zu lehren
euch heißt.« Die Säumigen aber, die sich der Abkunft ihres Blutes brüsteten, schalt
er zornigen Sinnes, indem er zu ihnen sprach: »Auf euch aber, ihr arkadisches Vieh,
ihr Verderbnis der Schule, warten schmerzvolle Strafe und grässliche Pein; auf euch,
die ihr es wagt, meine Hoheit gering zu achten, indem ihr euch auf den Adel eurer
Vorfahren beruft. Niemals werdet ihr zu Ehren gelangen, sondern diesen dort wird
Ruhm blühen und Lob auf immer. Mögen sie auch aus Familien ohne Bekanntheit
stammen, so machen sie doch diesen Mangel, der nicht ihr eigener ist, durch ihren
Geist wett. Diese werden bevorzugt, ihr aber zurück gesetzt, bis ich weiß, dass die
Liebe zur Tugend, die ihr vernachlässigt habt, wieder zu euch zurückgekehrt ist.«]20
Wendet man sich der sprachlich-stilistischen Faktur der Karlselegie zu und fragt
danach, von welchen Musterautoren sich Zincgref hat leiten lassen, so stößt man
allenfalls sporadisch auf Vergilzitate oder, wie man angesichts der Verwendung des
elegischen Distichons hätte vermuten können, auf den durch Catull, Tibull, Pro-
perz und Ovid geprägten Formelschatz der römischen Elegie. Statt der Dichter der
Republik oder des Augusteischen Prinzipats zitiert Zincgref bevorzugt solche der
Spätantike und des Mittelalters. Ausonius, dazu die Epiker Silius Italicus, Statius
und Iuvencus formieren zusammen mit Venantius Fortunatus, dem bedeutendsten
Dichter der frühen Merowingerzeit, und mit karolingischen Poeten wie Modoinus,
Aldhelm, Paulus Diaconus und Ermoldus Nigellus, aus dessen panegyrischem Epos
auf Kaiser Ludwig den Frommen die weitaus meisten Zitate und Allusionen stam-
men, einen namhaften und exklusiven, da in der Latinitas des frühen 17. Jahrhun-
derts keineswegs allenthalben anzutreffenden Kreis von Vorbildautoren. Wie Zinc-
gref kompositorisch verfahren ist, soll im Folgenden anhand ausgewählter
Beispiele illustriert werden. Innerhalb des Zitats als der Form intertextueller Mar-
kierung schlechthin sind vier Gruppen voneinander zu unterscheiden:
Die erste Gruppe fasst solche Stellen antiker bzw. spätantiker Provenienz zu-
sammen, die in der lateinischen Poesie ansonsten nicht oder allenfalls vereinzelt
belegt sind. So lassen sich die auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Junk-
turen »iuventa dedit« (V. 8) und »crescit honos« (V. 13) ausschließlich bei Aus-
onius nachweisen, die eine in »ecloga« 3,12, die andere in »genethliacos« 19. Auch
die Junktur »Pieriis Musis« (V. 5) hat Zincgref vom Dichter der »Mosella« ent-
lehnt, wobei der Umstand, dass er sie an derselben Versstelle platziert hat wie je-
ner in Epigramm 35,1, als ein weiteres Indiz für eine intensive Ausonius-Lektü-
re gelten kann. Aus Silius Italicus’ »Punica« (12,365 f.) stammt das erlesene »fle-
bile supplicium«, das ansonsten in der lateinischen Poesie offenbar keine Verwen-
dung gefunden hat. Zincgref setzt es prononciert an den Beginn von Vers 22
seiner Karlselegie.
Von diesen Belegstellen zu unterscheiden sind als zweite Gruppe solche, die
sich erstmals in der spätantiken Dichtung nachweisen lassen, in mittelalterlicher
jedoch gehäuft auftreten. Zu ihnen zählt die Junktur »aeterna laude« (V. 26) so-
wie das auf Statius’ »Thebais« (4,128 u. 12,177) zurückgehende »virtutis amo-
rem« (V. 29) Die ungewöhnliche Formulierung »inclita atria«, bei Zincgref in
Vers 5 in ein kunstvolles Hyperbaton eingebunden, taucht erstmals bei Corip-
pus im »Panegyricus in laudem Iustini Augusti« 3,60 auf, ehe sie bei Marbod von
Rennes in »Carmen« 1,20,28 wiederkehrt. Geläufiger ist dagegen die Junktur
»vestro labore« (V. 16). In der epischen Versdichtung ist sie zuerst bei Iuvencus,
»Evangeliorum libri« 2,319, dann zweimal im Ludwigsepos des Ermoldus Nigel-
lus (1,153 u. 3,511) und schließlich in der »Alexandreis« des Walther von Châ-
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tillon (7,527) belegt. Bei »summos honores« (V. 17) handelt es sich um eine in
Spätantike und Mittelalter gebräuchliche Formel, »suggestu« (V. 18) findet sich
am Versbeginn und in epischer Sprache überhaupt erst seit Silius Italicus, »irato
pectore« (V. 20) ist vor allem mittelalterlich belegt.
In die dritte Gruppe gehören solche Stellen, die zwar antik als Hapax legome-
na belegt sind, aber erst durch ihre gehäufte Verwendung in mittellateinischer
Dichtung poetisches Gemeingut geworden zu sein scheinen, sodass sie in der
Frühen Neuzeit weitaus eher als mittelalterliche Wendungen wahrgenommen
worden sein dürften denn als antike. So ist der Schluss des Eingangsverses »no-
men adeptus« zwar zweimal in den »Astronomica« des Manilius (1,362 u. 1,783)
belegt, erfreute sich aber erst in der Karolingerzeit größerer Beliebtheit. In Er-
moldus Nigellus’ Epos »In honorem Hludowici« (2,67) und Modoinus’ »ecloga«
(1,38) kehrt er ebenso wieder wie in Gunthers »Ligurinus« (10,257), einer bu-
chepischen Dichtung auf Friedrich I. Barbarossa. Ähnlich verhält es sich bei der
Junktur »regia sceptra« (V. 2), die in mittelalterlicher Dichtung häufiger zu fin-
den ist als in antiker, oder bei der durch Alliteration gebundenen, paronomasti-
schen Formel »dulce decus« (V. 4), die zwar schon antik belegt ist, besonders häu-
fig aber von Venantius Fortunatus und den Dichtern späterer Jahrhunderte ver-
wendet wird. »Moenia celsa«, das die zweite Hemiepes des Pentameters in Vers
6 einleitet, gehört ebenfalls in diese Gruppe von Vorbildstellen und Similien.
Zwar findet sich der früheste Beleg in Ovids »Fasti« (3,92), populär gemacht hat
diese Junktur jedoch Paulus Diaconus in den »Carmina« 2,63 f. und 23,5. Ähn-
lich verhält sich der Fall bei der Formulierung »contingere metam« (V. 11), mit
der sich Zincgref zwar an Horaz, »Ars poetica« 412, anschließt, die ansonsten je-
doch vor allem von den Dichtern der Spätantike und des Mittelalters in Anspruch
genommen wurde.
In die vierte und letzte Gruppe fallen genuin mittelalterliche Junkturen wie
z. B. das in Vers 14 als Hexameterschluss verwendete »dextera tanget«, das so nur
in Aldhelms »Carmen de virginitate« (Praef. 14) zu finden ist und mit veränder-
ter Flexionsendung des Verbs als »dextera tangat« in Hilbert von Lavardins »In
libros regum« (2,181). Ebenso verdankt sich die wirkungsvolle Kadenz »sangui-
nis ortum« (V. 19) der Lektüre des Loire-Dichters, den Caspar von Barth wie so
manchen anderen mittellateinischen Autor für die Frühe Neuzeit rettete. Belegt
ist sie in Hildeberts »Carmina miscellanea« (34,7). Die Verbindung von »incre-
pat« und »verba« (V. 20) lässt sich bei Ermoldus Nigellus in Buch 3,326 seines
Epos nachweisen. Die Formulierung »iura tenebat« (V. 3) kommt als Hexame-
terschluss bei Milo Elnonensis in der »Vita Amandi« (3,210) vor.
Ziehen wir aus den sprachlichen Einzelnachweisen ein Fazit: Zincgref zeigt
sich überaus belesen in der lateinischen Versdichtung der Spätantike und des
294 RALF GEORG CZAPLA
Mittelalters und weiß den überlieferten Formelschatz für die eigene Dichtung
produktiv zu verwenden – eine Frucht wohl seiner philologisch-historischen Stu-
dien, die er seit seiner Immatrikulation an der Universität Heidelberg 1607 als
Hörer von Janus Gruter betrieb, ehe er sich der Rechtswissenschaft zuwandte,21
eine Frucht aber auch seiner vielfältigen Lektüreerlebnisse während seiner Studi-
enreise, die ihn ab 1612 durch Frankreich, die Niederlande und andere Länder
Westeuropas führte. Es scheint, als habe er in Anbetracht des gewählten Sujets
eine mittellateinische Diktion für die »Historia de Carolo Magno« als angemes-
sener empfunden als eine am klassischen Latein orientierte.
Wovon aber handelt dieses Gedicht und woher stammt der darin verarbeite-
te Stoff? Die Begebenheit, von der Zincgref erzählt, besitzt anekdotischen Cha-
rakter. Der Begriff »Historia« ist daher nicht so sehr als Beglaubigung der ge-
schichtlichen Wahrheit in Abgrenzung von der Fabula ficta zu verstehen, son-
dern er betont das Episodische des Erzählten. Nicht die Geschichte ist gemeint,
sondern metonymisch eine Geschichte, und zwar eine Geschichte im Sinne von
›Erzählung‹, ›Begebenheit‹ oder ›Anekdote‹. Entsprechend verwendet der Dich-
ter den präpositionalen Ausdruck mit »de« anstelle des bei anderer Semantik zu
erwartenden Genitivus obiectivus.22 Zincgref erzählt, wie Karl der Große eine Pa-
riser Schule inspiziert, um sich ein Bild von den Lernfortschritten der dort un-
tergebrachten Zöglinge zu machen. Als der Kaiser feststellt, dass die Söhne ein-
facher Leute den Kindern von Adligen deutlich überlegen sind, weil sich diese
lieber auf ihre edle Abkunft verlassen als auf ihren Fleiß, verheißt er den ersteren
eine ruhmreiche Karriere in Kirche und Gesellschaft, während er die letzteren
solange hintan zu halten gedenkt, bis Eifer und Zielstrebigkeit den Zutritt zu hö-
heren Ämtern rechtfertigten. Zincgref stellt Karl den Großen nicht als Herrscher,
Helden oder Heiligen, sondern als moralische Autorität vor, als Befürworter in-
dividueller Tüchtigkeit als unabdingbarer Voraussetzung für den gesellschaftli-
chen Aufstieg.
Bereits der anekdotische, auf eine Pointe zulaufende Duktus der Erzählung
macht eine Verfasserschaft Einhards, der erst in den letzten zehn Kapiteln seiner
Karlsbiografie die an Suetons Kaiserviten geschulte historiografische Nüchtern-
23 Ein kurzes, aber prägnantes Porträt von Hermann von Neuenahr bietet neben dem im-
mer noch einschlägigen Artikel von Ludwig Geiger in der Allgemeinen Deutschen Bio-
graphie, Bd. 23 (1886), S. 486, Ingmar Ahl: Humanistische Politik zwischen Reforma-
tion und Gegenreformation. Der Fürstenspiegel des Jakob Omphalius. Stuttgart 2004
(Frankfurter Historische Forschungen 44), S. 123. Ferner vgl. Charles G. Nauert: Graf
Hermann von Neuenahr and the limits of Humanism in Cologne. In: Ellery Schalk
(Hg.): Culture, Society and Religion in Early Modern Europe. Essays by students and
colleagues of William J. Bouwsma. Burlington 1988 (Historical Reflections 15,1), S. 65–
79.
24 Vgl. dazu Ernst Philip Goldschmidt: Medieval texts and their first appearance in print.
New York 1969 (Transactions of the Bibliographical Society. Suppl. 16) [Repr. der Ausg.
London 1943], S. 74.
25 Vgl. dazu die in manchen Schlussfolgerungen allerdings fragwürdige Studie von Hans-
Joachim Reischmann: Die Trivialisierung des Karlsbildes der Einhard-Vita in Notkers
»Gesta Karoli Magni«. Rezeptionstheoretische Studien zum Abbau der kritischen Dis-
tanz in der spätkarolingischen Epoche. Konstanz 1984.
26 Zur Rezeption der »Casus Sancti Galli« in der »Vita Notkeri Balbuli« vgl. Elmar Lech-
ner: Vita Notkeri Balbuli. Geistesgeschichtlicher Standort und historische Kritik. Ein
Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Hagiographie. St. Gallen 1972 (Mittei-
lungen zur vaterländischen Geschichte 47). Editionen der »Vita« durch Henricus Ca-
nisius (1604), Melchior Goldast von Haiminsfeld (1606) und die Bollandisten (1675)
zeugen von dem Interesse an Notker seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Vgl. ebd.,
S. 39–49.
27 Robert Baldauf: Der Mönch von St. Gallen. Leipzig 1903 (Historie und Kritik 1), S. 66.
Vgl. ergänzend das Resümee älterer Forschungsliteratur bei Theodor Siegrist: Herrscher-
296 RALF GEORG CZAPLA
Episoden und fabulierenden Berichten ein Bild Karls des Großen als Priester- und
Kriegerkönig, als Reformer und Politiker zu entwerfen, das fernab historischer
Richtigkeit dem mittelalterlichen Ideal eines Herrschers entspr[ach].«28 Vor allem
seine Darstellung Karls als eines entschiedenen Kritikers eines auf äußere Effek-
te bedachten und wenig bildungsbeflissenen Adels weckte Zincgrefs Interesse.
Sie findet sich im dritten Kapitel des ersten Buches der »Gesta Karoli« nach der
Zählung der im Rahmen der »Monumenta Germaniae historica« erschienenen
historisch-kritischen Ausgabe von 1959. Vermutlich verdankte Notker ihre Kennt-
nis – wie die der übrigen Geschichten des ersten Buches auch – Otfrid von Wei-
ßenburgs St. Galler Studienfreund Werinbert.
bild und Weltsicht bei Notker Balbulus. Untersuchungen zu den Gesta Karoli. Zürich
1963 (Geist und Werk der Zeiten 8), S. 7–22, hier: S. 11.
28 Rüdiger Krohn: Art. »Notker Balbulus«. In: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopä-
die des Märchens. Bd. 10. Berlin/New York 2002, Sp. 112–116, hier: Sp. 114.
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 297
[Als nun der siegreiche Karl nach langer Zeit nach Frankreich zurückkehrte, ließ er
die Knaben, die er Clemens (Scotus) anvertraut hatte, zu sich kommen und sich ihre
Briefe und Gedichte vortragen. So trugen die Knaben von niederem und geringerem
Stand sie wider Erwarten mit jeder Würze der Weisheit gesüßt vor, während die Kna-
ben von edler Abkunft sich nur so von Einfalt triefend zeigten. Da nun folgte der
überaus weise Karl dem Beispiel der Gerechtigkeit des ewigen Richters. Er sonderte
diejenigen, die ihre Arbeit gut getan hatten, ließ sie zu seiner Rechten treten und
sprach zu ihnen so: »Habt vielen Dank, meine Söhne, dass ihr euch bemüht habt,
meine Weisung zu euerm Frommen nach Kräften zu befolgen. Nun also strebt da-
nach, Vollendung zu erlangen; herrliche Bistümer und Klöster werde ich euch dann
geben, und ihr werdet in meinen Augen stets hochgeehrt sein.« Sodann wandte er
sein Angesicht denen zu, die zu seiner Linken standen, erschütterte mit flammendem
Blick ihr Gewissen und schleuderte ihnen mit Hohn, donnernd eher als redend, die-
se furchtbaren Worte entgegen: »Ihr Hochgeborenen, ihr Söhne der Adligen, ihr Sü-
ßen und Hübschen, ihr habt eurer Herkunft und eurem Besitz vertraut, habt meine
Weisung und euren Ruhm hintangestellt, indem ihr das Studium der Wissenschaften
vernachlässigtet, und habt euch Genuss, Tand sowie eitlem und leerem Treiben hin-
gegeben.« Nachdem er dies vorausgeschickt hatte, wandte er sein erhabenes Haupt
und seine niemals besiegte Rechte zum Himmel und schleuderte, einem Wetterstrahl
gleich, seinen gewohnten Schwur: »Beim König der Himmel! Ich gebe nicht viel auf
euern Adel und euer schönes Aussehen, mögen andere euch auch bewundern. Seid
dessen versichert, dass ihr, wenn ihr nicht rasch eure frühere Nachlässigkeit durch
29 Notker der Stammler: Taten Kaiser Karls des Großen. Hg. v. Hans F. Haefele. Berlin
1959 (MGH, Scriptores rerum Germanicarum 12), S. 4 f. Vgl. [Notker Balbulus], Ges-
ta Karoli Magni Imperatoris (Anm. 32), S. 362 f.
298 RALF GEORG CZAPLA
Schließt man aus, dass Zincgref die Anekdote aus der handschriftlichen Überlie-
ferung der »Gesta Karoli« oder aus sekundären Quellen wie etwa Vinzenz von
Beauvais’ »Speculum historiale« 23,173 oder Heinrich von Herfords »Chronicon«
69 kannte,31 so hat 1601, das Erscheinungsjahr der Editio princeps der »Gesta
Karoli«, als Terminus post quem für die Abfassung seiner »Historia de Carolo Ma-
gno« zu gelten. Der Ingolstädter Professor Henricus Canisius hatte Notkers Er-
zählsammlung in den ersten Band seiner »Antiquae lectiones« aufgenommen, wo
sie im Kontext von zuvor unveröffentlichten, nun erstmals edierten und mit An-
merkungen versehenen Zeugnissen zur Geschichte des Mittelalters für jeden In-
teressierten leicht zugänglich war.32 Da der Name des Autors in der Leithand-
schrift, einem Münchner Codex, nicht mitgeteilt wird33 – erst 1886 konnte für
die »Gesta Karoli« Notkers Verfasserschaft glaubhaft gemacht werden34 –, be-
zeichnet ihn Canisius mit aller gebotenen Vorsicht als »Sangallensis monachus«
bzw. als »quidam monachus Sancti Galli«. Der Beschreibung der Handschrift
nach, die der Edition vorangestellt ist, dürfte es sich bei ihr um den Clm. 17736,
eine in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrte Pergamenthand-
30 Übersetzung auf der Grundlage von: Einhard/Notker der Stammler: Leben und Taten
Karls des Großen. Aus dem Lateinischen übertragen von O[tto] Abel u. W[ilhelm] Wat-
tenbach. Mit einem Nachw. v. Hermann Schreiber u. Anm. v. Anton Ritthaler. Mün-
chen 1965 (Die Fundgrube 14), S. 37–104, hier: S. 40 f. Notker: Taten Karls. In: Quel-
len zur karolingischen Reichsgeschichte. Tl. 3. Unter Benutzung der Übersetzungen
von C[arl] Rehdantz, E[rnst] Dümmler u. W[ilhelm] Wattenbach neu bearb. v. Rein-
hold Rau. Darmstadt 1960 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mit-
telalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), S. 321–427, hier: S. 324–327.
31 Vgl. Thomas Haye: Humanismus in Holstein. Bernhard Vagets Gedicht auf das Gym-
nasium zu Bordesholm. In: Ders. (Hg.): Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche
Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee. Amsterdam/Atlanta (GA)
2000 (Chloe 32), S. 63–104, hier: S. 84 f., Anm. 73. Das »Speculum« des Vincenz lag
bereits im 15. Jahrhundert gedruckt vor, Heinrich von Herfords Chronik wurde erst
im 19. Jahrhundert ediert.
32 [Notker Balbulus:] Gesta Karoli Magni Imperatoris. In: Henricus Canisius: Antiquae
lectionis tomus I. in quo XVI. Antiqua monumenta ad historiam medii aetatis illust-
randam, nunquam edita. Omnia nunc primum e manuscriptis edita et notis illustrata.
Ingolstadt 1601, S. 358–428 [Dom- und Diözesanbibliothek Köln, Dombib.
H.p.800].
33 Vgl. ebd., S. 359.
34 Karl Zeumer: Der Mönch von Sanct Gallen. In: Historische Aufsätze. Dem Andenken
an Georg Waitz gewidmet. Goldbach 1996 [Repr. der Ausg. Hannover 1886], S. 97–
118. – Vgl. auch die Studie von Eberhard Graf von Zeppelin, der unabhängig von Zeu-
mer zu demselben Resultat kam: Wer ist der »Monachus Sangallensis«? In: Schriften des
Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 19 (1890), S. 33–47.
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 299
35 Vgl. Haefeles Beschreibung der Handschrift sowie von ihr abhängender jüngerer Über-
lieferungsträger in: Notker der Stammler, Taten Kaiser Karls des Großen (Anm. 29),
S. XXXI f.
36 Vgl. C. T. H. R. Ehrhardt: »Maximus«, »invictus« und »victor« als Datierungskriterien
auf Inschriften Konstantins des Großen. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik
38 (1980), S. 177–181. Andrea Scheithauer: Super omnes retro principes… Zur inof-
fiziellen Titulatur römischer Kaiser. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 75
(1988), S. 155–177.
37 Anspielung auf Mt. 25,31–46 sowie Mt. 3,12.
38 Vgl. Wolfram von den Steinen: Notkers des Dichters Formelbuch. In: Zeitschrift für
schweizerische Geschichte 25 (1945), S. 449–490, hier: S. 469.
300 RALF GEORG CZAPLA
minis, die Brieflehre, als Form des Negotium speziell der Vorbereitung auf den
Kanzleidienst. Präziser als Notker benennt Zincgref den Schauplatz der von ihm
erzählten Begebenheit. Sprach jener lediglich von einer Schulinspektion Karls in
Frankreich, so versetzt dieser das Geschehen nach Paris (V. 6).
Der markanteste Unterschied zwischen der mittelalterlichen Darstellung und
der frühneuzeitlichen besteht jedoch in dem Bild, das beide vom Kaiser zeich-
nen. Notker lässt Karl einer Gottheit gleich sein,39 die sich dadurch, dass sie mit
der Vehemenz einer Naturgewalt auf die schulischen Versager niederfährt, gera-
dezu archaisch gebärdet. Verben wie »contorquere«, »flammare«, »concutere«,
»tonare«, »iaculari« und »fulminare« lassen den Sprechakt metaphorisch als Un-
wetter bzw. Gewitter erscheinen. Des Kaisers Mahnungen und Drohungen zu-
cken wie Blitze, hallen wie der Donner und dürften eine entsprechende Wirkung
bei den Adressaten hinterlassen haben. Bei Zincgref fehlt diese Nuance, die Not-
kers Darstellung so eindrücklich sein lässt, völlig. Karl erscheint als Lehrer, nicht
als Gott. Er lobt die Fleißigen, schilt und mahnt die Säumigen, donnert aber we-
der, noch schleudert er Blitze.
Zincgref erkannte in Notkers Karlsepisode ein auch für seine Zeit beredtes
pädagogisches Exempel.40 Welche zentrale Bedeutung sie für ihn besaß, lässt sich
an dem Umstand ermessen, dass sie nicht nur seine frühe lateinische Elegie grun-
diert, sondern auch in späteren Texten wiederkehrt. Während sie in den »lusti-
gen Schulbossen«, den ein Jahr vor der »Triga« erschienenen »Facetiae Pennali-
um«, nicht zu finden ist und dort wegen der humoristischen Ausrichtung der
Schrift wohl auch fehl am Platz wäre, hat Zincgref sie mit einigen anderen, gleich-
falls anekdotisch pointierten Episoden41 in den zwischen 1626 und 1631 ent-
standenen »Apophthegmata« zu einem Kapitel über den »Erste[n] Teutsche[n]
Kaiser« zusammengefasst:
39 Zur Gottähnlichkeit Karls vgl. auch Hans-Werner Goetz: Strukturen der spätkarolin-
gischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönches. Eine In-
terpretation der »Gesta Karoli« Notkers von Sankt Gallen. Bonn 1981, S. 102–105.
40 Die Rezeption von Notkers Anekdoten in der bildenden Kunst ist bislang noch nicht
untersucht worden. Der gebürtige Tiroler Historienmaler Carl von Blaas (1815–1894)
etwa schuf auf der Grundlage der Erzählung von Karls Inspektion der Pariser Schule
sein Bild »Karl der Große tadelt die nachlässigen Schüler« (Österreichische Galerie Bel-
vedere Wien, Inv.-Nr. 2715), das auf der Weltausstellung 1855 in Paris ausgezeichnet
wurde (vgl. Abb.1). Vgl. Selbstbiographie des Malers Karl Blaas. Hg. v. Adam Wolf.
Wien 1876, S. 232.
41 Auf Notker gehen die Anekdoten von der Degradierung eines Bischofs wegen Säumig-
keit bei Antritt des Pontifikats (I 5), von der Zurücksetzung eines Bischofs wegen sei-
ner Reitkunst (I 6) und von dem ehrgeizigen Capellan (I 4) zurück. Stellenangaben
nach der Ausgabe in den MGH (Anm. 29).
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 301
Als er die Schul zu Pariß besichtigte / und die Jugend examiniren halff / aber befandt /
dass die Adelichen Kinder von den Burgers und Bauers Söhnen weit übertroffen wur-
den/redet er diese also an: Wohlan / ihr Jüngling / die ihr uns gefolget habt / fahret
fort / wie ihr angefangen / des Fleisses Lohn und Lob zuerwerben / euch will ich Gelt
und Gut verschaffen / und für andern werth halten / auß euch will ich machen Stiffts-
Herren / Bischoff und Päbst / ihr solt Land und Leut regieren / und die Ehr haben
zu dieser meiner Rechten zu sitzen. Ihr übrige Zärtling aber (sprach er zu den jungen
Edlen) die ihr also mit gezierten auffgepüfften Haaren herein ziehet / euch auf euerer
Eltern Reichthumb / Ehr und Standt verlasset / dem Müssiggang und den Wollüsten
nachhanget / eines Röm. Käisers Befehl und Majestät weder achtet noch folget / solt
mir nicht gut genug seyn (weil ihr die Studia hindan setzt / und auß anderer Exem-
ple und guten Lehren euern Verstand nicht zu Lob / Tugend und Weißheit unterrich-
ten lassen wolt) dass ich mich euer annehmen sollte / und sollen diese arme geringe
euch an allen Ehren vorgezogen werden / jedoch da ich sollte spüren / dass ihr es den
Fleissigen mit der Zeit werdet gleich thun / solt ihr billich / auch wegen euers Stands
ander vorgezogen werden.42
schen Ämtern führte.43 Zincgref indes durfte bei seiner Kritik am Adel auf die
Wertschätzung vertrauen, die Karl der Große im Späthumanismus genoss. Do-
kumentiert ist sie u. a. in einer lateinischen Ode des Heidelberger Dichters Pau-
lus Schedius Melissus (1539–1604), der, obwohl er ein qualitativ wie quantita-
tiv beachtliches Korpus neulateinischer Versdichtung hinterließ, sein literarhis-
torisches Andenken einigen wenigen volkssprachlichen Gedichten verdankt, die
Zincgref 1624 im Anhang zu seiner Edition von Martin Opitz’ »Teutschen Po-
emata« veröffentlichte. Zu Eingang der zwölften Ode des zweiten Buches der
»Paraenetica« würdigt Melissus Karl den Großen als Stammvater der fränki-
schen Könige44 und schreibt eine bestimmte geistige Verfasstheit für denjenigen
fest, der nach der fränkischen Krone strebt und sich in die Nachfolge Karls zu
stellen sucht. Melissus hat seine Ode nicht nur mit einer Widmung, sondern
auch mit einem Titel versehen. Dieser lässt sich als Maxime einer Adelsethik le-
sen lässt, derjenigen nicht unähnlich, die Zincgref implizit in den verschiede-
nen poetischen Bearbeitungen des Notker-Textes formuliert: »Heroica virtus
maiorum aemulanda« [›Die heroische Tugend der Ahnen ist wert, dass man sie
nachahme‹]. Wie im alten Rom die Exempla maiorum den Heranwachsenden
Handlungsmuster und Verhaltensnorm bedeuteten, so müsse die Jugend seiner
Zeit sich der »virtus maiorum« verpf lichtet zeigen und ihr nacheifern. Karl der
Große steht gewissermaßen als Paradigma für diese Tugend.
Adel verpflichtet also, wie ein europaweit in zahllosen Variationen kursieren-
des französisches Sprichwort sagt: Wo ein Edelmann seiner Verpflichtung nicht
nachkommt, können bürgerliche Tugenden wie Fleiß und Eifer fehlende Her-
kunft wettmachen und Menschen von niederer Geburt den Weg zu Ämtern eb-
nen, die zuvor nur Adligen offen standen. Dass Zincgref es fernlag, die Vertika-
lität der Ständeordnung in Frage zu stellen, zeigt sein Epigramm »Was der recht
Adel sey«.45 Es entstand in den Jahren zwischen der Abfassung der »Historia de
43 Vgl. Ronald G. Asch: Bürgertum, Universität und Adel. Eine württembergische Kon-
troverse des Späthumanismus. In: Klaus Garber (Hg.): Stadt und Literatur im deut-
schen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit, 39), S. 384–
419. Wilhelm Kühlmann: Akademischer Humanismus und revolutionäres Erbe. Zu
Nicodemus Frischlins Rede »De vita rustica« (1578). In: Sabine Holtz/Dieter Mertens
(Hg.): Nicodemus Frischlin (1547–1590). Poetische und prosaische Praxis unter den
Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Tübinger Vorträge. Stuttgart-Bad Cann-
statt 1999 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur 1), S. 423–444.
Zusammenfassend: Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine
Einführung. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 132–162, hier: S. 133–135.
44 Paulus Schedius Melissus: Meletematum piorum libri VII. Paraenetica II. Parodiae II.
Psalmi aliquot. Frankfurt a. M.: Hieronymus Commelinus, 1595, S. 330.
45 Martin Opitz: Teutsche Poëmata und Aristarchus wieder die verachtung Teutscher
Sprach. Straßburg: Eberhard Zetzner, 1624, S. 123. Wiederabdruck in: Wilhelm Mül-
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 303
Carolo Magno« und der Niederschrift der »Apophthegmata« und gehört zu je-
nen 23 eigenen Gedichten, die der Opitz-Ausgabe von 1624 beigefügt sind. Zinc-
gref löst darin den Kerngedanken von Notkers Karlsepisode aus seinem histori-
schen Kontext, spitzt ihn der epigrammatischen Schreibweise entsprechend poin-
tiert zu und verleiht ihm auf diese Weise Allgemeingültigkeit:
Die soziale Perspektive, die in der »Historia de Carolo Magno« vorherrschte, ist
in diesem Epigramm einer anthropologischen gewichen. Nicht von Ämtern in
Staat und Kirche und das, was den Einzelnen dazu prädestiniert, ist mehr die
Rede, sondern von den Bedingungen des Menschseins als solchen. Edle Abkunft
macht nur die eine Hälfte des Menschen aus. Sie erlangt er ohne eigenes Zutun.
Die andere aber muss er sich erwerben. Tut er es nicht, sondern sonnt sich im
Glanz seiner Vorfahren, so steht er demjenigen nach, der zwar von niederem
Stand ist, aber sein Leben mit Tugend führt. Sie erst vervollkommnet den Men-
schen. Wahrhaft edel ist, wer auf eine edle Abstammung verweisen kann und sich
zugleich tugendhaft bewährt. Er genieße, so Zincgref, höchste Achtung bei sei-
nen Mitmenschen und sei Göttern gleich. Ob sich diese ideale Verbindung von
Herkunft und Leistung in der Wirklichkeit finde, lässt der Dichter offen. Der
Konjunktiv des Gedichttitels bedeutet sowohl Wunsch als auch Appell.
ler (Hg.): Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Bd. 7: Auserle-
sene Gedichte von Julius Wilhelm Zinckgref, Andreas Tscherning, Ernst Christoph
Homburg und Paul Gerhard. Leipzig 1825, S. 13 (u. d. T. »Der rechte Adel«). Julius
Wilhelm Zinkgref (Hg.): Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten. Halle/S. 1879 (Neu-
drucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 15), S. 55.