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-ANNHEIMERHISTORISCHE3CHRIFTEN Band 5

Wilhelm Kühlmann/Hermann Wiegand (Hrsg.)

Julius Wilhelm Zincgref und der


Heidelberger Späthumanismus.

Zur Blüte- und Kampfzeit


der calvinistischen Kurpfalz

verlag regionalkultur
Julius Wilhelm Zincgref und
der Heidelberger Späthumanismus

Zur Blüte- und Kampfzeit der calvinistischen Kurpfalz

In Verbindung mit Hermann Wiegand


herausgegeben von

Wilhelm Kühlmann

verlag regionalkultur
INHALT

Vorwort ................................................................................................... 9

Theodor Verweyen (Erlangen/Freiburg i. Br.)


Julius Wilhelm Zincgref (1591– 1635)
Dichter und Publizist in der Blütezeit der calvinistischen Kurpfalz .......... 15

Bernhard Walcher (Heidelberg)


Zincgref als ferner Gefährte eines Achtundvierzigers
Ferdinand Freiligraths Gedicht »Vision« (1843) ...................................... 49

Wilhelm Kreutz (Mannheim)


Die Kurpfalz zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges ............................... 71

Hermann Wiegand (Mannheim/Heidelberg)


Die »apobateria dn ivlio zincgravio, Heidelbergâ ad Exteros abeunti.
destinata ab Amicis« – ein poetisches Abschiedsbüchlein im Kontext
des Genres ............................................................................................... 85

Dieter Mertens (Freiburg i. Br.)


Zincgrefs »Epos ad Fridericum« ............................................................... 101

Wilhelm Kühlmann (Heidelberg)


in Verbindung mit Lutz Claren (Mannheim)
und Karl Friedrich Zinkgräf (Dorsten/Westf.)
Laurentius Zincgref, der Vater
Lebensspuren und Lebensleistungen des Heidelberger Hofgerichtsrats
Mit einem juristischen Briefgutachten für den Theologen David Pareus
sowie der Erstübersetzung (von Lutz Claren) der Vita L. Zincgrefs
bei Melchior Adam .................................................................................. 135
Wilhelm Kühlmann (Heidelberg)
»Vermanung zur Dapfferkeit« (1622)
Zincgrefs Heidelberger Kriegsgedicht im Kontinuum
der Tyrtaios-Rezeption des 16. bis 19. Jahrhunderts ................................ 165

Karl Wilhelm Beichert (Schefflenz) /


Wilhelm Kühlmann (Heidelberg)
unter Mitwirkung von Werner Wilhelm Schnabel (Erlangen)
Ungedruckte Briefe Julius Wilhelm Zincgrefs an den Basler
Professor Ludovicus/Ludwig Lucius aus den Jahren der
pfälzischen Katastrophe
Mit Übersetzung und Kommentar .......................................................... 191

Werner Wilhelm Schnabel (Erlangen)


Zincgrefs »Quodlibetisches Weltkefig«
Eine satirisch-polemische Flugschrift gegen
den politischen Katholizismus ................................................................. 223

Achim Aurnhammer (Freiburg i. Br.)


Zincgref, Opitz und die sogenannte
Zincgref ’sche Gedichtsammlung ............................................................. 263

Ralf Georg Czapla (Heidelberg)


»Was der recht Adel sey«
Eine Anekdote Notkers des Stammlers über Karl den Großen und
ihre Rezeption in Gedichten Julius Wilhelm Zincgrefs ............................ 285

Wolfgang Srb (Erlangen)


Zingrefs »Oratio inauguralis«
Übersetzung
Vorläufige Bemerkungen zu Edition,
Kommentar und Interpretation ............................................................... 305

Cornelia Rémi (München)


Zur polyphonen Komposition von Zincgrefs Skandalschrift
»Facetiae Pennalium« ............................................................................... 321
Axel E. Walter (KlaipĖda/Osnabrück)
Medien und Praktiken intersubjektiver Kommunikation in der
späthumanistischen Gelehrtenrepublik
Am Beispiel der Beziehungen von Julius Wilhelm Zincgref
zur Familie Lingelsheim .......................................................................... 347

Friedrich Vollhardt (München)


Julius Wilhelm Zincgrefs »Vermanung zur Dapfferkeit« und die
Popularisierung der Elegie durch Johann Michael Moscherosch .............. 409

Robert Seidel (Frankfurt a. M.)


Zincgref und Melchior Adam
Zu einer literarischen Konfiguration im späthumanistischen
Heidelberg .............................................................................................. 427

Wilhelm Kühlmann (Heidelberg)


Hippolytus a Collibus (1561–1612), ein politischer Schriftsteller,
und der Zincgref-Kreis ............................................................................ 451

Jost Eickmeyer (Heidelberg)


Johann Leonhard Weidner
Freund, Biograf und literarischer Erbe Julius Wilhelm Zincgrefs ............. 471

Personenregister ....................................................................................... 513


Der vorliegende Band versammelt die Vorträge einer Tagung,
die dem Werdegang, Werk, geistigem Milieu und literarischem
Netzwerk des pfälzischen Dichters, Gelehrten, Publizisten und
Politikers Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635) gewidmet
war. Die Vorträge werden hier ergänzt durch die Ergebnisse
weiterer Forschungen vor allem quellenkundlicher Art, die in
Heidelberg sowie im Zusammenhang der von Dieter Mertens
und Theodor Verweyen betreuten großen Gesamtausgabe
der Werke Zincgrefs vorangetrieben wurden. Mit Zincgref
rückt in den Mittelpunkt eine repräsentative Schlüsselfigur
des intellektuellen Lebens an der epochalen Schnittstelle
zwischen der universalen lateinischen Gelehrtenkultur des
europäischen Späthumanismus und der nun einsetzenden
neuen deutschsprachigen Kunstdichtung, die flankiert wur-
de von verschiedenen Formen der politisch-patriotischen,
durchaus auch konfessionspolitisch engagierten Publizistik.
So fesselnd wie kein anderer Autor führt uns Zincgref in die
„Blüte- und Kampfzeit der calvinistischen Kurzpfalz“ vor dem
Dreißigjährigen Krieg. Im belagerten Heidelberg hielt Zincgref
an verantwortlicher Stelle bis zum bitteren Ende (1622) aus,
gehörte auch zu den Autoren, die wortmächtig zum Wider-
stand gegen die politisch-militärische Front der katholischen
Mächte aufriefen. Um so schmerzhafter wurde er in den Strudel
der pfälzischen Katastrophe nach der verlorenen Schlacht am
Weißen Berg hineingezogen, erlebte die Nöte des Exils, ohne
von seinen literarischen Ambitionen abzulassen.

-ANNHEIMERHISTORISCHE3CHRIFTEN Band 5

ISBN 978-3-89735-660-3

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Abb. 1: Carl von Blaas: Karl der Große tadelt die nachlässigen Schüler
Österreichische Galerie Belvedere Wien, Inv.-Nr. 2715
285

RALF GEORG CZAPLA (HEIDELBERG/BERN)

»Was der recht Adel sey«


Eine Anekdote Notkers des Stammlers über Karl den
Großen und ihre Rezeption in Gedichten Julius
Wilhelm Zincgrefs

Als Ulrich Müller und Werner Wunderlich 1996 mit »Herrscher, Helden, Hei-
lige« den ersten ihres insgesamt sieben Bände umfassenden Kompendiums von
Mittelalter-Mythen vorlegten, fand sich Kaiser Karl der Große darin in der Ru-
brik »Herrscher« wieder.1 Andere Einordnungen hätten sich ebenso rechtfertigen
lassen. Aufgrund der siegreich bestandenen Kriege gegen Desiderius und die
Langobarden (773–781), gegen die Sachsen unter Widukind (772–804), gegen
die Mauren in Spanien (778), gegen den Bayern-König Tassilo (787/88), gegen
Slawen (789), Hunnen (791–799) und Dänen (810), durch die er seine Macht
expandierte und festigte, hätte eine Zuordnung Karls zu den Helden kaum An-
stoß erregt, weniger jedenfalls als eine zu den Heiligen, obschon Karl der Große,
was heute weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein geraten zu sein scheint,
auf Veranlassung Kaiser Friedrich Barbarossas am 29. Dezember 1165 von dem
Kölner Erzbischof Rainald von Dassel und dem zuständigen Lütticher Diözesan-
bischof Alexander II. im Dom zu Aachen heilig gesprochen wurde.2 Die Forschung
geht heute von einer politischen, ja, einer »delegierten Heiligsprechung« aus.3
Verstand sich die Kanonisation Karls auf der einen Seite als Antwort auf die Ver-
suche des französischen Königtums, den fränkischen Herrscher für sich zu ver-
einnahmen, so sollte sie ihn auf der anderen Seite als politischen Heiligen für das
staufische Imperium zu instrumentalisieren helfen. Damit verbunden war nicht

1 Vgl. Karl-Ernst Geith: Karl der Große. In: Ulrich Müller/Werner Wunderlich (Hg.):
Herrscher, Helden, Heilige. St. Gallen 1996 (Mittelaltermythen 1), S. 87–100.
2 Warum Geith die Kanonisierung Karls auf 1169 datiert und in Friedrich II. ihren Ur-
heber sieht, ist unklar. Vermutlich handelt es sich schlicht um einen Irrtum. Vgl. ebd.,
S. 93.
3 Vgl. Jürgen Petersohn: Die päpstliche Kanonisationsdelegation des 11. und 12. Jahr-
hunderts und die Heiligsprechung Karls des Großen. In: Stephan Kuttner (Hg.): Pro-
ceedings of the Fourth International Congress of Medieval Canon Law, Toronto, 21–
25 August 1972. Città del Vaticano 1976 (Monumenta iuris canonici C 5), S. 163–209,
hier: S. 201–205.
286 RALF GEORG CZAPLA

nur die Affirmation der Gottesunmittelbarkeit der Kaiserwürde, sondern auch


die der Einheit von Kirche und Reich, zumal der Tag seiner Erhebung mit Bar-
barossas Krönungstag und dem Davidstag zusammenfiel. Karls Heiligsprechung
polarisierte nicht nur die christliche Kirche, aber sie vor allem. Während Papst
Alexander III. ihr die Anerkennung verweigerte, wurde sie von Paschalis III., dem
von Barbarossa als kirchenpolitische Marionette eingesetzten Gegenpapst, bestä-
tigt. Dementsprechend ließ der Kaiser am 8. Januar 1166 ein auf die Kanonisa-
tion bezügliches Diplom ausstellen. Die Tatsache, dass diese Urkunde nicht mehr
im Original, sondern nur in einer Abschrift erhalten ist, hat dazu geführt, dass
ihre Authentizität in der Forschung angezweifelt wurde.4 Zwar ist die Verehrung
Karls als Heiliger seit 1176 in den Bistümern Aachen und Osnabrück gestattet,5
offiziell anerkannt ist sie gleichwohl nicht, da der Eintrag seines Namens ins

4 Die Literatur zur Kanonisierung Karls des Großen lässt sich allenfalls exemplarisch fas-
sen. Hervorgehoben seien in chronologischer Folge die Arbeiten von Martin Kneer: Die
Urkunde über die Heiligsprechung Karls d. Gr. v. 8. Januar 1166 und ihr Verfasser in
der Kanzlei Kaiser Friedrichs I. Erlangen 1930 (Erlanger Abhandlungen zur mittleren
und neueren Geschichte 6), bes.: S. 50–75. Philipp August Becker: Die Heiligsprechung
Karls des Großen und die damit zusammenhängenden Fälschungen. Leipzig 1947 (Be-
richte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leip-
zig. Philologisch-historische Klasse 96,3). Robert Folz: Le souvenir et la légende de
Charlemagne dans l’Empire germanique médiéval. Paris 1950. Erich Meuthen: Karl der
Große – Barbarossa – Aachen. Zur Interpretation des Karlsprivilegs für Aachen. In:
Werner Braunfels/Percy Ernst Schramm (Hg.): Karl der Große. Lebenswerk und Nach-
leben. Bd. 4. Düsseldorf 31968, S. 54–76. Ders.: Barbarossa und Aachen. In: Rheini-
sche Vierteljahrsblätter 39 (1975), S. 28–59. Jürgen Petersohn: Saint-Denis – West-
minster – Aachen. Die Karlstranslation von 1165 und ihre Vorbilder. In: Deutsches Ar-
chiv 31 (1975), S. 420–454. Ders.: Päpstliche Kanonisationsdelegation (Anm. 3). Er-
win Hoheisel: 20 Jahre Karlsamt im Frankfurter Kaiserdom. Welche Gründe führten
zur »Heiligsprechung« Karls d. Großen? In: Almanach. Jahrbuch für das Bistum Lim-
burg 1983, S. 97–101. Odilo Engels: »Des Reiches heiliger Gründer«. Die Kanonisati-
on Karls des Großen und ihre Beweggründe. In: Hans Müllejans (Hg.): Karl der Gro-
ße und sein Schrein in Aachen. Aachen 1988, S. 37–46. Jürgen Petersohn: Kaisertum
und Kultakt in der Stauferzeit. In: Ders. (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hoch-
mittelalter. Sigmaringen 1994 (Vorträge und Forschungen 42), S. 101–146. Odilo En-
gels: Karl der Große und Aachen im 12. Jahrhundert. In: Mario Kamp (Hg.): Krönun-
gen. Könige in Aachen. Geschichte und Mythos. Bd. 1. Aachen 2000, S. 348–356.
Ludwig Vones: Heiligsprechung und Tradition: Die Kanonisation Karls des Großen
1165, die Aachener Karlsvita und der Pseudo-Turpin. In: Klaus Herbers (Hg.): Jakobus
und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin. Tübingen 2003 (Ja-
kobus-Studien 14), S. 89–105.
5 Zur öffentlichen Verehrung Karls des Großen vgl. Ioannes Bollandus: Acta Sanctorum
quotquot toto orbe coluntur, vel a catholicis scriptoribus celebrantur. Ianuarii tomus
II. Antwerpen 1643, S. 874 f. [Diözesan- und Dombibliothek, Köln, LAb1, 1,2]. Fer-
ner Emil Pauls: Die Heiligsprechung Karls des Großen und seine kirchliche Verehrung
in Aachen bis zum Schluss des 13. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Aachener Geschichts-
vereins 25 (1903), S. 335–353.
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 287

»Martyrologium Romanum«, mit dem der Akt der Heiligsprechung kirchen-


rechtlich sanktioniert wird, ebenso unterblieb wie der seines Festes (28. Januar)
ins »Breviarium« der römischen Kirche. Eine Unterscheidung zwischen »beati«
[Seligen] und »sancti« [Heiligen] traf der Heilige Stuhl ohnehin erst ab 1170,
nachdem er die Kanonisierung als ein nicht übertragbares Sonderrecht für sich
reklamiert hatte.
Die Umstände, die Karls Heiligsprechung begleiteten, bestätigen einmal mehr,
dass es sich bei ihm um eine historische Gestalt handelt, deren Exzeptionalität
sich nicht allein aus ihrem quellenkundlich verifizierbaren Leben und Wirken
ergibt, sondern auch aus narrativen Zuschreibungen. Unzählige Anekdoten, Sa-
gen und Legenden entspannen sich an seiner Person,6 immer wieder wurde er in
wechselnden ideologischen Kontexten als idealtypische Herrschergestalt in An-
spruch genommen.7 Den bereits im Mittelalter einsetzenden Prozess der Trans-
formation Karls von einer historischen Größe zu einer literarischen Figur zu
beschreiben,8 kann in Anbetracht des hier vorgegebenen Rahmens nicht die Auf-
gabe sein, so ertragreich dies auch wäre. Verwiesen sei lediglich darauf, dass an
seinem Ende mit der »Carlias« des Florentiner Renaissance-Dichters Ugolino
Verino (1438–1516) ein Epos von bis dahin ungekannten Ausmaßen steht. Die
insgesamt 8 648 Verse verteilen sich auf 15 Bücher, drei mehr, als die »Aeneis«
zählt, mit der die Dichtung in einen intertextuellen Dialog und Wettstreit tritt.
Obwohl sie sich inhaltlich vor allem des Kampfes der Christen gegen die Un-
gläubigen annimmt, wie er in den hochmittelalterlichen Legenden der »Chan-
sons de Geste« vorgebildet ist,9 weist die »Carlias« auch zeitgeschichtliche Bezü-

6 Einen Überblick bieten – mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – die Lexikon-


artikel von Friedrich Wolfzettel: Art. »Karl der Große«. In: Rolf Wilhelm Brednich
(Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 7. Berlin/New York 1993, Sp. 981–1002. Die-
ter Schaller u. a.: Art. »Karl I. d. Große in der Dichtung«. In: Lexikon des Mittelalters.
Bd. 5. Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 961–966. Christine Ratkowitsch/Dorothea Klein/
Susanne Kramarz-Bein: Art. »Karl der Große« (§2–§4). In: Heinrich Beck/Dieter Geu-
enich/Heiko Steuer (Hg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Bd. 16. Ber-
lin/New York 22000, S. 251–269.
7 Vgl. Franz-Reiner Erkens (Hg.): Karl der Große in Renaissance und Moderne. Zur Re-
zeptionsgeschichte und Instrumentalisierung eines Herrscherbildes. Berlin 1999 (Das
Mittelalter 4.2). Bernd Schneidmüller: Sehnsucht nach Karl dem Großen. Vom Nut-
zen eines toten Kaisers für die Nachgeborenen. Die politische Instrumentalisierung Karls
des Großen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Geschichte in Wissenschaft und Unter-
richt 51 (2000), S. 284–301.
8 Vgl. dazu die Beiträge in: Bernd Bastert (Hg.): Karl der Große in den europäischen Li-
teraturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos. Tübingen 2004.
9 Vgl. dazu: Antoine Thomas: Notice sur la Carliade, poème épique latin de Ugolino Ver-
ino. In: Annales de la Faculté des Lettres de Bordeaux 2 (1882), S. 27–37. Alfonso Laz-
zari: Ugolino e Michele Verino. Studi biografici e critici. Turin 1897, bes.: S. 153–
189.
288 RALF GEORG CZAPLA

ge auf,10 denn Ugolino, einst Freund und Vertrauter des religiösen Eiferers Giro-
lamo Savonarola, ehe er zum Verräter an der gemeinsam betriebenen Sache wur-
de, spiegelt in ihr die Herrschaft der Medici in Florenz. In literarhistorischer
Perspektive markiert die »Carlias« den Beginn der frühneuzeitlichen Karlsepik in
lateinischer Sprache. Anleihen für die Ausgestaltung einzelner Szenen nahm der
Dichter u. a. beim sogenannten Aachener Karlsepos »De Karolo rege et Leone
papa«, bei dem es sich um das dritte einer ursprünglich vier Bücher umfassen-
den epischen Dichtung handelt, die vermutlich in der Krönung Karls zum Kai-
ser gipfelte und infolge dessen nach 800 entstanden sein dürfte.11 In den folgen-
den Jahrhunderten gehörten Exkurse über Karl den Großen nicht nur zum in-
tegralen Bestandteil von Herrscherepik, wo sie zumeist im Kontext tatsächlicher
oder bewusst konstruierter Genealogien erschienen, sondern auch von poetischen
Reisebeschreibungen oder Descriptiones von Ländern und Städten, sofern diese
im Lebens Karls eine Rolle spielten. So erzählt etwa der Münsteraner Kleriker
Bernardus Mollerus im fünften Buch seines »Rhenus et eius descriptio elegans«
[›Der Rhein und seine erlesene Beschreibung‹], der in drei Ausgaben aus den Jah-
ren 1570, 1571 und 1596 vorliegt,12 von der Zusammenkunft Karls mit Papst
Leos III. 799 in Paderborn. Er poetisiert damit eben jenes Ereignis (V. 395–
494),13 von dem das noch erhaltene Bruchstück des Aachener Karlsepos handelt
und um dessentwillen die ältere mediävistische Forschung stets vom Paderbor-
ner Karlsepos gesprochen hatte. Dieter Schaller hat das Aachener Karlsepos dem

10 Ugolino Verino: Carlias. Ein Epos des 15. Jahrhunderts erstmals hg. v. Nikolaus Thurn.
München 1995 (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen. Reihe II 31).
Dazu: Nikolaus Thurn: Kommentar zur »Carlias« des Ugolino Verino. München 2002
(Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen. Reihe II 33). – Das Epos blieb
in der Frühen Neuzeit ungedruckt.
11 So die Erkenntnisse der Wiener Latinistin Christine Ratkowitsch, die damit eine The-
se von Dieter Schaller erhärtet. Vgl. Christine Ratkowitsch: Karoli vestigia magna se-
cutus: Die Rezeption des »Aachener Karlsepos« in der Carlias des Ugolino Verino. Wien
1999 (Wiener Studien. Beihefte 25). Dies.: Das »Aachener Karlsepos« und die »Carli-
as« des Ugolino Verino. In: Erkens, Karls der Große (Anm. 7), S. 27–38.
12 Zu Mollerus und seiner Rheindichtung vgl. Beate Czapla: Der Rhein, Europas Strom,
nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ »Rhenus et eius descriptio elegans«
und die Tradition lateinischer Flußdichtung in Europa. In: Jahrbuch für Internationa-
le Germanistik 30 (1998), H. 2, S. 8–31. Dies.: Neulateinische Lehrdichtung zwischen
der literarischen Tradition von Hesiod bis Manilius und der neuzeitlichen Ars apode-
mica am Beispiel von Bernhardus Mollerus’ »Rhenus« und Cyriacus Lentulus’ »Euro-
pa«. In: Neulateinisches Jahrbuch. Journal of Neo-Latin Language and Literature 1
(1999), S. 21–48.
13 Bernardus Mollerus: Rhenus et eius descriptio elegans a primis fontibus usque ad oce-
anum Germanicum: ubi urbes, castra et pagiacentes, item flumina et rivuli in hunc in-
fluentes, et si quid praeterea memorabile occurrat plenissime carmine Elegiaco depin-
gitur. Köln: Johannes Birckmann, 1571, S. 219–222 [ULB Bonn, Dk 321/62].
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 289

kaiserlichen Biografen Einhard zugeschrieben, nachdem er aufgrund von stilana-


lytischen Kriterien die Verfasserschaft anderer Hofdichter hatte ausschließen kön-
nen.14 Dessen »Vita Karoli Magni« – ihr vor allem verdankt Einhard seine lite-
rarhistorische Relevanz – blieb bis in die Neuzeit ein wichtiger Gewährstext für
die Kenntnis von des Kaisers Leben und Wirken, wenn auch beileibe nicht der
einzige.
In dem Maße, da man sich von den Großdichtungen epischen Zuschnitts ab-
und den poetischen Kleinformen zuwendet, entfaltet sich ein reiches Spektrum
an Karlsdichtungen, die weder jemals systematisch erfasst noch quellenkundlich
untersucht wurden.15 Zu ihnen gehört u. a. die »Historia de Carolo Magno«, die
der kurpfälzische Dichter Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635), eine Schwel-
lengestalt im Übergang vom Späthumanismus zum Frühbarock,16 als dritte von
insgesamt 19 Elegien in seinen »Liber elegiarum« aufnahm, der wiederum Teil
der 1619 mit Friedrich Lingelsheim und Johann Leonhard Weidner gemein-
schaftlich ins Werk gesetzten »Triga Amico-Poetica« [›Freundschaftlich-dichteri-
sches Dreigespann‹] ist.17 Die Gedichte des Elegienbuchs geben nicht nur Aus-
kunft über das Leben des Verfassers und über das soziale Netzwerk,18 in dem er

14 Die wissenschaftliche Diskussion um das Karlsepos wird komprimiert wiedergegeben


bei Dieter Schaller: Art. »De Karolo rege et Leone papa«. In: Burghart Wachinger u. a.
(Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 4. Berlin/New York
2
1983, Sp. 1041–1045, bes.: Sp. 1043 f. Vgl. ergänzend dazu Peter Godman/Jörg Jar-
nut/Peter Johanek (Hg.): Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos »Karolus Mag-
nus et Leo Papa« und der Papstbesuch von 799. Berlin 2002.
15 Kaum mehr als vorläufigen Charakter besitzen die Beiträge von Werner Röcke: Litera-
tur und kulturelles Gedächtnis. Zur Rezeptionsgeschichte Karls des Großen im Spät-
mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Erkens, Karl der Große (Anm. 7), S. 5–9,
und Ratkowitsch, Karl der Große (Anm. 6), §2: K. in der lateinischen Dichtung: Hu-
manismus (Anm. 6), Sp. 253 f.
16 Zur Epochenproblematik vgl. Dieter Mertens: Julius Wilhelm Zincgref und das Prob-
lem des Späthumanismus. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 111
(2002), S. 185–208 (dort auch Resümee und bibliografische Erfassung des erreichten
Forschungsstands). – Zu Leben und Werk Zincgrefs vgl. Theodor Verweyen: Die wis-
senschaftliche Erstausgabe der Schriften Julius Wilhelm Zincgrefs. Eine historisch-kri-
tische Edition im Formenfeld frühneuzeitlicher Zweckliteratur. In: Helmut Neuhaus
(Hg.): Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte
und Studien. Erlangen/Jena 2009, S. 347–375.
17 Johann Leonhard Weidner (Hg.): Triga Amico-Poetica, sive Iulii Gulielmi Zincgrefii
Heidelbergensis Iuuenilia Poetica: Friderici Lingelshemii Heidelbergensis p. m. Reli-
quiae Poeticae. Ioannis Leonhardi Weidneri Palatini Conatuum Poeticorum Prodromus.
Editio prima. o. O. 1619, S. 12 f. [Stiftsbibliothek St. Viktor Xanten, 3925].
18 Vgl. Franz Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften. In:
Archiv für Litteraturgeschichte. 8 (1879), S. 1–58 u. 446–490, hier: S. 21: »Ich geden-
ke dieser Triga gleich hier, weil die Entstehung der darin enthaltenen Gedichte Zinc-
grefs bis in seine frühe Jugend zurück reicht. Sie haben freilich für uns mehr Wichtig-
290 RALF GEORG CZAPLA

sich befand, sondern konturieren auch seine Position in gesellschaftlichen und


politischen Fragen. Den überwiegenden Teil bilden Epithalamien und Nänien.
Mit der vierten Elegie bereichert Zincgref das Genre der Brunnen- und Quellen-
poesie, mit der elften, einer Beschreibung Bacharachs und Kaubs, das der »de-
scriptiones et laudes urbium«.19 Die »Historia de Carolo Magno« steht in diesem
Zusammenhang isoliert und ordnet sich als historische Erzählung eher der hexa-
metrischen »Historia Capitolij seruati ab ansere« [›Geschichte von der Rettung
des (römischen) Kapitols durch die Gänse‹] zu, die das Schlussstück der den Ele-
gien vorangehenden Sammlung der »Epica« bildet, als den übrigen Gedichten
des »Liber elegiarum«. Wie so häufig in der neulateinischen Dichtung erfolgt
auch hier die Differenzierung zwischen Epos/Epyllion und Elegie weniger auf-
grund der inneren Sprachform oder des Tenors, in dem das Gedicht gehalten ist,
als aufgrund des verwendeten Versmaßes. Die für die antike Elegie signifikanten
Themen Liebe oder Trauer berührt Zincgrefs Gedicht jedenfalls nicht.

ELEGIA III.
Historia de Carolo Magno.

Carolus à factis Magni qui nomen adeptus,


Gestabat forti regia sceptra manu,
Imperijque potens Romani iura tenebat,
Phoebei custos dulce decusque chori.
5 Inclita Pierijs hîc condidit atria Musis,
Sequana ubi Paridis moenia celsa secat;
Nec non ipse frequens voluit spectator adesse
Progressus specimen quando iuuenta dedit.
Sed cum nobilibus palmam praecerpere sensit
10 Plebeios iuuenes, talia dicta dedit:
Macti este ô pueri, vestram contingere metam
Pergite, quos Musis inuigilasse iuuat.

keit durch ihren für die Kenntnis seines Lebens verwerthbaren Inhalt als durch innere
Vorzüge, aber das Lob gebührt ihnen doch unbedingt, dass sie sich als die Producte ei-
nes Mannes von gründlicher wissenschaftlicher Bildung, edler Sinnesart und feiner Ge-
schmacksrichtung zu erkennen geben.«
19 Zu den genannten literarischen Genera vgl. die Überblicksdarstellungen von Eckart
Schäfer: Deutsche Quellengedichte aus Renaissance und Barock. In: Jürgen Blänsdorf/
Dieter Janik/Eckart Schäfer (Hg.): Bandusia. Quelle und Brunnen in der lateinischen,
italienischen, französischen und deutschen Dichtung der Renaissance. Stuttgart 1993
(Beiträge zur Altertumskunde 32), S. 97–132. Carl Joachim Classen: Die Stadt im Spie-
gel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Litera-
tur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Hildesheim/New York 21986 (Beiträge zur
Altertumswissenschaft 2).
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 291

Vos crescit honos, vos praemia certa manebunt,


Cernetis vestras laude virere domos.
15 Vos mea contiguos olim sibi dextera tanget,
Florebit vestro culta labore Themis.
Vobis Eusebie summos decernet honores,
Suggestu dabitur quando docere sacro.
Ignauos contra iactantes sanguinis ortum,
20 Increpat irato haec pectore verba ferens:
Vos verò Arcadiae pecus & contagia ludi,
Flebile supplicium poenaque dira manet,
Qui nostram audetis contemnere Maiestatem,
Vestrorum innixi nobilitate patrum.
25 Ad nullos unquam vos peruenietis honores,
Hisce sed aeternâ laude vigebit honos.
Sint licet oscurâ prognati stirpe, rependunt
Ingenio generis non sua damna sui.
Hi vos praecedent spretos, virtutis amorem
30 Neglectum vobis dum redijsse sciam.

[Dritte Elegie. Eine Geschichte von Karl dem Großen. Karl, der wegen seiner Taten
den (Bei-)Namen »der Große« erhielt, führte das Szepter des Reiches mit tapferer
Hand. Machtvoll wahrte er das Recht im Römischen Reich und war Schutzherr und
zierlicher Schmuck für den Chor des Apoll. Den Musen, den Pieros-Töchtern, er-
richtete er ein prächtiges Haus, wo die Seine durch Paris’ mauerbewehrte Stadt fließt.
Er selbst geruhte oft als Zuschauer beizuwohnen, wenn die Jugend ihre (Lern-)Fort-
schritte darbot. Als er aber (einmal) bemerkte, dass Knaben von einfachem Stand
besser waren als adlige, sagte er folgendes: »Heil euch, ihr Knaben! Sucht weiter euer
Ziel zu erreichen, ihr, die ihr mit Freude den Musen dient! Ehre wächst euch zu und
sichere Belohnungen erwarten euch. Sehen werdet ihr, dass Ruhm euer Haus erstrah-
len lässt. Meine Hand wird euch als Vertraute berühren, und gepflegt durch euer
mühevolles Tun wird Themis erstrahlen. Die christliche Kirche wird euch mit höchs-
ten Ämtern betrauen, da sie von der heiligen Kanzel herab zu predigen und zu lehren
euch heißt.« Die Säumigen aber, die sich der Abkunft ihres Blutes brüsteten, schalt
er zornigen Sinnes, indem er zu ihnen sprach: »Auf euch aber, ihr arkadisches Vieh,
ihr Verderbnis der Schule, warten schmerzvolle Strafe und grässliche Pein; auf euch,
die ihr es wagt, meine Hoheit gering zu achten, indem ihr euch auf den Adel eurer
Vorfahren beruft. Niemals werdet ihr zu Ehren gelangen, sondern diesen dort wird
Ruhm blühen und Lob auf immer. Mögen sie auch aus Familien ohne Bekanntheit
stammen, so machen sie doch diesen Mangel, der nicht ihr eigener ist, durch ihren
Geist wett. Diese werden bevorzugt, ihr aber zurück gesetzt, bis ich weiß, dass die
Liebe zur Tugend, die ihr vernachlässigt habt, wieder zu euch zurückgekehrt ist.«]20

20 Sofern nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen im vorliegenden Beitrag


vom Verfasser. Sie verstehen sich als Lesehilfen für den lateinischen Text und erheben
keinen Anspruch auf Literarizität.
292 RALF GEORG CZAPLA

Wendet man sich der sprachlich-stilistischen Faktur der Karlselegie zu und fragt
danach, von welchen Musterautoren sich Zincgref hat leiten lassen, so stößt man
allenfalls sporadisch auf Vergilzitate oder, wie man angesichts der Verwendung des
elegischen Distichons hätte vermuten können, auf den durch Catull, Tibull, Pro-
perz und Ovid geprägten Formelschatz der römischen Elegie. Statt der Dichter der
Republik oder des Augusteischen Prinzipats zitiert Zincgref bevorzugt solche der
Spätantike und des Mittelalters. Ausonius, dazu die Epiker Silius Italicus, Statius
und Iuvencus formieren zusammen mit Venantius Fortunatus, dem bedeutendsten
Dichter der frühen Merowingerzeit, und mit karolingischen Poeten wie Modoinus,
Aldhelm, Paulus Diaconus und Ermoldus Nigellus, aus dessen panegyrischem Epos
auf Kaiser Ludwig den Frommen die weitaus meisten Zitate und Allusionen stam-
men, einen namhaften und exklusiven, da in der Latinitas des frühen 17. Jahrhun-
derts keineswegs allenthalben anzutreffenden Kreis von Vorbildautoren. Wie Zinc-
gref kompositorisch verfahren ist, soll im Folgenden anhand ausgewählter
Beispiele illustriert werden. Innerhalb des Zitats als der Form intertextueller Mar-
kierung schlechthin sind vier Gruppen voneinander zu unterscheiden:
Die erste Gruppe fasst solche Stellen antiker bzw. spätantiker Provenienz zu-
sammen, die in der lateinischen Poesie ansonsten nicht oder allenfalls vereinzelt
belegt sind. So lassen sich die auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Junk-
turen »iuventa dedit« (V. 8) und »crescit honos« (V. 13) ausschließlich bei Aus-
onius nachweisen, die eine in »ecloga« 3,12, die andere in »genethliacos« 19. Auch
die Junktur »Pieriis Musis« (V. 5) hat Zincgref vom Dichter der »Mosella« ent-
lehnt, wobei der Umstand, dass er sie an derselben Versstelle platziert hat wie je-
ner in Epigramm 35,1, als ein weiteres Indiz für eine intensive Ausonius-Lektü-
re gelten kann. Aus Silius Italicus’ »Punica« (12,365 f.) stammt das erlesene »fle-
bile supplicium«, das ansonsten in der lateinischen Poesie offenbar keine Verwen-
dung gefunden hat. Zincgref setzt es prononciert an den Beginn von Vers 22
seiner Karlselegie.
Von diesen Belegstellen zu unterscheiden sind als zweite Gruppe solche, die
sich erstmals in der spätantiken Dichtung nachweisen lassen, in mittelalterlicher
jedoch gehäuft auftreten. Zu ihnen zählt die Junktur »aeterna laude« (V. 26) so-
wie das auf Statius’ »Thebais« (4,128 u. 12,177) zurückgehende »virtutis amo-
rem« (V. 29) Die ungewöhnliche Formulierung »inclita atria«, bei Zincgref in
Vers 5 in ein kunstvolles Hyperbaton eingebunden, taucht erstmals bei Corip-
pus im »Panegyricus in laudem Iustini Augusti« 3,60 auf, ehe sie bei Marbod von
Rennes in »Carmen« 1,20,28 wiederkehrt. Geläufiger ist dagegen die Junktur
»vestro labore« (V. 16). In der epischen Versdichtung ist sie zuerst bei Iuvencus,
»Evangeliorum libri« 2,319, dann zweimal im Ludwigsepos des Ermoldus Nigel-
lus (1,153 u. 3,511) und schließlich in der »Alexandreis« des Walther von Châ-
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 293

tillon (7,527) belegt. Bei »summos honores« (V. 17) handelt es sich um eine in
Spätantike und Mittelalter gebräuchliche Formel, »suggestu« (V. 18) findet sich
am Versbeginn und in epischer Sprache überhaupt erst seit Silius Italicus, »irato
pectore« (V. 20) ist vor allem mittelalterlich belegt.
In die dritte Gruppe gehören solche Stellen, die zwar antik als Hapax legome-
na belegt sind, aber erst durch ihre gehäufte Verwendung in mittellateinischer
Dichtung poetisches Gemeingut geworden zu sein scheinen, sodass sie in der
Frühen Neuzeit weitaus eher als mittelalterliche Wendungen wahrgenommen
worden sein dürften denn als antike. So ist der Schluss des Eingangsverses »no-
men adeptus« zwar zweimal in den »Astronomica« des Manilius (1,362 u. 1,783)
belegt, erfreute sich aber erst in der Karolingerzeit größerer Beliebtheit. In Er-
moldus Nigellus’ Epos »In honorem Hludowici« (2,67) und Modoinus’ »ecloga«
(1,38) kehrt er ebenso wieder wie in Gunthers »Ligurinus« (10,257), einer bu-
chepischen Dichtung auf Friedrich I. Barbarossa. Ähnlich verhält es sich bei der
Junktur »regia sceptra« (V. 2), die in mittelalterlicher Dichtung häufiger zu fin-
den ist als in antiker, oder bei der durch Alliteration gebundenen, paronomasti-
schen Formel »dulce decus« (V. 4), die zwar schon antik belegt ist, besonders häu-
fig aber von Venantius Fortunatus und den Dichtern späterer Jahrhunderte ver-
wendet wird. »Moenia celsa«, das die zweite Hemiepes des Pentameters in Vers
6 einleitet, gehört ebenfalls in diese Gruppe von Vorbildstellen und Similien.
Zwar findet sich der früheste Beleg in Ovids »Fasti« (3,92), populär gemacht hat
diese Junktur jedoch Paulus Diaconus in den »Carmina« 2,63 f. und 23,5. Ähn-
lich verhält sich der Fall bei der Formulierung »contingere metam« (V. 11), mit
der sich Zincgref zwar an Horaz, »Ars poetica« 412, anschließt, die ansonsten je-
doch vor allem von den Dichtern der Spätantike und des Mittelalters in Anspruch
genommen wurde.
In die vierte und letzte Gruppe fallen genuin mittelalterliche Junkturen wie
z. B. das in Vers 14 als Hexameterschluss verwendete »dextera tanget«, das so nur
in Aldhelms »Carmen de virginitate« (Praef. 14) zu finden ist und mit veränder-
ter Flexionsendung des Verbs als »dextera tangat« in Hilbert von Lavardins »In
libros regum« (2,181). Ebenso verdankt sich die wirkungsvolle Kadenz »sangui-
nis ortum« (V. 19) der Lektüre des Loire-Dichters, den Caspar von Barth wie so
manchen anderen mittellateinischen Autor für die Frühe Neuzeit rettete. Belegt
ist sie in Hildeberts »Carmina miscellanea« (34,7). Die Verbindung von »incre-
pat« und »verba« (V. 20) lässt sich bei Ermoldus Nigellus in Buch 3,326 seines
Epos nachweisen. Die Formulierung »iura tenebat« (V. 3) kommt als Hexame-
terschluss bei Milo Elnonensis in der »Vita Amandi« (3,210) vor.
Ziehen wir aus den sprachlichen Einzelnachweisen ein Fazit: Zincgref zeigt
sich überaus belesen in der lateinischen Versdichtung der Spätantike und des
294 RALF GEORG CZAPLA

Mittelalters und weiß den überlieferten Formelschatz für die eigene Dichtung
produktiv zu verwenden – eine Frucht wohl seiner philologisch-historischen Stu-
dien, die er seit seiner Immatrikulation an der Universität Heidelberg 1607 als
Hörer von Janus Gruter betrieb, ehe er sich der Rechtswissenschaft zuwandte,21
eine Frucht aber auch seiner vielfältigen Lektüreerlebnisse während seiner Studi-
enreise, die ihn ab 1612 durch Frankreich, die Niederlande und andere Länder
Westeuropas führte. Es scheint, als habe er in Anbetracht des gewählten Sujets
eine mittellateinische Diktion für die »Historia de Carolo Magno« als angemes-
sener empfunden als eine am klassischen Latein orientierte.
Wovon aber handelt dieses Gedicht und woher stammt der darin verarbeite-
te Stoff? Die Begebenheit, von der Zincgref erzählt, besitzt anekdotischen Cha-
rakter. Der Begriff »Historia« ist daher nicht so sehr als Beglaubigung der ge-
schichtlichen Wahrheit in Abgrenzung von der Fabula ficta zu verstehen, son-
dern er betont das Episodische des Erzählten. Nicht die Geschichte ist gemeint,
sondern metonymisch eine Geschichte, und zwar eine Geschichte im Sinne von
›Erzählung‹, ›Begebenheit‹ oder ›Anekdote‹. Entsprechend verwendet der Dich-
ter den präpositionalen Ausdruck mit »de« anstelle des bei anderer Semantik zu
erwartenden Genitivus obiectivus.22 Zincgref erzählt, wie Karl der Große eine Pa-
riser Schule inspiziert, um sich ein Bild von den Lernfortschritten der dort un-
tergebrachten Zöglinge zu machen. Als der Kaiser feststellt, dass die Söhne ein-
facher Leute den Kindern von Adligen deutlich überlegen sind, weil sich diese
lieber auf ihre edle Abkunft verlassen als auf ihren Fleiß, verheißt er den ersteren
eine ruhmreiche Karriere in Kirche und Gesellschaft, während er die letzteren
solange hintan zu halten gedenkt, bis Eifer und Zielstrebigkeit den Zutritt zu hö-
heren Ämtern rechtfertigten. Zincgref stellt Karl den Großen nicht als Herrscher,
Helden oder Heiligen, sondern als moralische Autorität vor, als Befürworter in-
dividueller Tüchtigkeit als unabdingbarer Voraussetzung für den gesellschaftli-
chen Aufstieg.
Bereits der anekdotische, auf eine Pointe zulaufende Duktus der Erzählung
macht eine Verfasserschaft Einhards, der erst in den letzten zehn Kapiteln seiner
Karlsbiografie die an Suetons Kaiserviten geschulte historiografische Nüchtern-

21 Zincgrefs intellektuelles Umfeld konturieren Kasualgedichte, die Freunde und Wegge-


fährten anlässlich seiner juristischen Promotion 1620 verfasst haben. – Vgl. Hans-Hen-
rik Krummacher: »Laurea Doctoralis Julii Guilielmi Zincgrefii« (1620). Ein Heidelber-
ger Gelegenheitsdruck für Julius Wilhelm Zincgref mit einem unbekannten Gedicht
von Martin Opitz. In: Opitz und seine Welt. Festschrift für George Schulz-Behrend
zum 12. Februar 1988. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Ams-
terdam/Atlanta (GA) 1990 (Chloe 10), S. 287–349.
22 Vgl. zur Unterscheidung: Thesaurus linguae Latinae VI,2 (1925–1942), Sp. 2833–
2840.
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 295

heit zugunsten einer populäreren Darstellung aufgibt, unwahrscheinlich. Zwar


spricht Einhard in Kapitel 27 seiner Lebensbeschreibung – sie lag seit 1521 un-
ter dem Titel »Vita et Gesta Karoli Magni« in einer von dem Humanisten Her-
mann d. Ä. Graf von Neuenahr (1492–1530)23 herausgegebenen und bei Johann
Heyl, genannt Soter, in Köln gedruckten Edition vor –,24 von der Fürsorge des
Kaisers für die Armen, konkret ausgeführt oder durch Beispiele illustriert hat er
dies jedoch nicht. Als Quelle diente Zincgref vielmehr ein Text, dessen Verfasser
zwar sichtlich Anleihen bei Einhard nahm, sie aber dank seiner stupenden Fabu-
lierkunst so amplifizierte, dass sie künftigen Rezipienten ein weitaus attraktive-
res Repertoire an Stoffen bot als die konventionell erzählte und zuweilen spröde
Lebensbeschreibung Einhards.25 Die Rede ist von den um 883 entstandenen
»Gesta Karoli Magni Imperatoris« des aus St. Gallen stammenden Mönches Not-
ker I. (840–912), der in der Literaturgeschichte auch unter dem Namen Notker
Balbulus bzw. Notker der Stammler firmiert und über dessen Leben Ekkehard IV.
in den »Casus Sancti Galli« unterrichtet.26 Die »Gesta Karoli« sind nur fragmen-
tarisch überliefert. Nicht erhalten sind die Vorrede des Dichters, der Schluss des
zweiten Buches und das gesamte dritte Buch. Notker bietet seinen Lesern keinen
»Anekdotenklatsch«.27 Vielmehr suchte er »in eingestreuten anekdotischen

23 Ein kurzes, aber prägnantes Porträt von Hermann von Neuenahr bietet neben dem im-
mer noch einschlägigen Artikel von Ludwig Geiger in der Allgemeinen Deutschen Bio-
graphie, Bd. 23 (1886), S. 486, Ingmar Ahl: Humanistische Politik zwischen Reforma-
tion und Gegenreformation. Der Fürstenspiegel des Jakob Omphalius. Stuttgart 2004
(Frankfurter Historische Forschungen 44), S. 123. Ferner vgl. Charles G. Nauert: Graf
Hermann von Neuenahr and the limits of Humanism in Cologne. In: Ellery Schalk
(Hg.): Culture, Society and Religion in Early Modern Europe. Essays by students and
colleagues of William J. Bouwsma. Burlington 1988 (Historical Reflections 15,1), S. 65–
79.
24 Vgl. dazu Ernst Philip Goldschmidt: Medieval texts and their first appearance in print.
New York 1969 (Transactions of the Bibliographical Society. Suppl. 16) [Repr. der Ausg.
London 1943], S. 74.
25 Vgl. dazu die in manchen Schlussfolgerungen allerdings fragwürdige Studie von Hans-
Joachim Reischmann: Die Trivialisierung des Karlsbildes der Einhard-Vita in Notkers
»Gesta Karoli Magni«. Rezeptionstheoretische Studien zum Abbau der kritischen Dis-
tanz in der spätkarolingischen Epoche. Konstanz 1984.
26 Zur Rezeption der »Casus Sancti Galli« in der »Vita Notkeri Balbuli« vgl. Elmar Lech-
ner: Vita Notkeri Balbuli. Geistesgeschichtlicher Standort und historische Kritik. Ein
Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Hagiographie. St. Gallen 1972 (Mittei-
lungen zur vaterländischen Geschichte 47). Editionen der »Vita« durch Henricus Ca-
nisius (1604), Melchior Goldast von Haiminsfeld (1606) und die Bollandisten (1675)
zeugen von dem Interesse an Notker seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Vgl. ebd.,
S. 39–49.
27 Robert Baldauf: Der Mönch von St. Gallen. Leipzig 1903 (Historie und Kritik 1), S. 66.
Vgl. ergänzend das Resümee älterer Forschungsliteratur bei Theodor Siegrist: Herrscher-
296 RALF GEORG CZAPLA

Episoden und fabulierenden Berichten ein Bild Karls des Großen als Priester- und
Kriegerkönig, als Reformer und Politiker zu entwerfen, das fernab historischer
Richtigkeit dem mittelalterlichen Ideal eines Herrschers entspr[ach].«28 Vor allem
seine Darstellung Karls als eines entschiedenen Kritikers eines auf äußere Effek-
te bedachten und wenig bildungsbeflissenen Adels weckte Zincgrefs Interesse.
Sie findet sich im dritten Kapitel des ersten Buches der »Gesta Karoli« nach der
Zählung der im Rahmen der »Monumenta Germaniae historica« erschienenen
historisch-kritischen Ausgabe von 1959. Vermutlich verdankte Notker ihre Kennt-
nis – wie die der übrigen Geschichten des ersten Buches auch – Otfrid von Wei-
ßenburgs St. Galler Studienfreund Werinbert.

Abb. 2: Titelholzschnitt zur Editio princeps von


Einhards »Vita et Gesta Karoli Magni« (1521)

bild und Weltsicht bei Notker Balbulus. Untersuchungen zu den Gesta Karoli. Zürich
1963 (Geist und Werk der Zeiten 8), S. 7–22, hier: S. 11.
28 Rüdiger Krohn: Art. »Notker Balbulus«. In: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopä-
die des Märchens. Bd. 10. Berlin/New York 2002, Sp. 112–116, hier: Sp. 114.
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 297

Cumque victoriosissimus Karolus post longum tempus in Galliam reverteretur, praece-


pit ad se venire pueros, quos Clementi commendaverat, et offerre sibi epistolas et car-
mina sua. Mediocres igitur et infimi praeter spem omnibus sapientiae condimentis
dulcoratis obtulerunt. Nobiles vero omni fatuitate tepentes praesentarunt. Tunc sapien-
tissimus Karolus aeterni iudicis iustitiam imitatus, bene operatos ad dexteram segrega-
tos hos verbis allocutus est: »Multas gratias habete, filii, quia iussionem meam et utili-
tatem vestram iuxta possibilitatem exequi fuistis intenti. Nunc ergo ad perfectum
attingere studete, et dabo vobis episcopia et monasteria permagnifica, et semper hono-
rabiles eritis in oculis meis.« Deinde ad sinistros cum magna animadversione vultum
contorquens et flammante intuitu conscientias eorum concutiens, hyronice haec terri-
bilia tonando potius quam loquendo iaculatus est in illos: »Vos nobiles, vos primorum
filii, vos delicati et formosuli, in natales vestros et possessionem confisi, mandatum
meum et glorificationem vestram postponentes, litterarum studiis neglectis, luxuriae
ludo et inerciae vel inanibus exercitiis indulsistis.« Et his praemissis solitum iuramentum,
augustum caput et invictam dexteram ad caelum convertens, fulminavit: »Per regem
celorum! Non ego magni pendo nobilitatem et pulchritudinem vestram, licet alii vos
admirentur; et hoc procul dubio scitote, quia, nisi cito priorem neglegentiam vigilanti
studio recuperaveritis, apud Karolum nihil umquam boni acquiretis.«29

[Als nun der siegreiche Karl nach langer Zeit nach Frankreich zurückkehrte, ließ er
die Knaben, die er Clemens (Scotus) anvertraut hatte, zu sich kommen und sich ihre
Briefe und Gedichte vortragen. So trugen die Knaben von niederem und geringerem
Stand sie wider Erwarten mit jeder Würze der Weisheit gesüßt vor, während die Kna-
ben von edler Abkunft sich nur so von Einfalt triefend zeigten. Da nun folgte der
überaus weise Karl dem Beispiel der Gerechtigkeit des ewigen Richters. Er sonderte
diejenigen, die ihre Arbeit gut getan hatten, ließ sie zu seiner Rechten treten und
sprach zu ihnen so: »Habt vielen Dank, meine Söhne, dass ihr euch bemüht habt,
meine Weisung zu euerm Frommen nach Kräften zu befolgen. Nun also strebt da-
nach, Vollendung zu erlangen; herrliche Bistümer und Klöster werde ich euch dann
geben, und ihr werdet in meinen Augen stets hochgeehrt sein.« Sodann wandte er
sein Angesicht denen zu, die zu seiner Linken standen, erschütterte mit flammendem
Blick ihr Gewissen und schleuderte ihnen mit Hohn, donnernd eher als redend, die-
se furchtbaren Worte entgegen: »Ihr Hochgeborenen, ihr Söhne der Adligen, ihr Sü-
ßen und Hübschen, ihr habt eurer Herkunft und eurem Besitz vertraut, habt meine
Weisung und euren Ruhm hintangestellt, indem ihr das Studium der Wissenschaften
vernachlässigtet, und habt euch Genuss, Tand sowie eitlem und leerem Treiben hin-
gegeben.« Nachdem er dies vorausgeschickt hatte, wandte er sein erhabenes Haupt
und seine niemals besiegte Rechte zum Himmel und schleuderte, einem Wetterstrahl
gleich, seinen gewohnten Schwur: »Beim König der Himmel! Ich gebe nicht viel auf
euern Adel und euer schönes Aussehen, mögen andere euch auch bewundern. Seid
dessen versichert, dass ihr, wenn ihr nicht rasch eure frühere Nachlässigkeit durch

29 Notker der Stammler: Taten Kaiser Karls des Großen. Hg. v. Hans F. Haefele. Berlin
1959 (MGH, Scriptores rerum Germanicarum 12), S. 4 f. Vgl. [Notker Balbulus], Ges-
ta Karoli Magni Imperatoris (Anm. 32), S. 362 f.
298 RALF GEORG CZAPLA

sorgsame Anstrengung wiedergutmacht, von Karl niemals etwas Gutes zu erwarten


habt!«]30

Schließt man aus, dass Zincgref die Anekdote aus der handschriftlichen Überlie-
ferung der »Gesta Karoli« oder aus sekundären Quellen wie etwa Vinzenz von
Beauvais’ »Speculum historiale« 23,173 oder Heinrich von Herfords »Chronicon«
69 kannte,31 so hat 1601, das Erscheinungsjahr der Editio princeps der »Gesta
Karoli«, als Terminus post quem für die Abfassung seiner »Historia de Carolo Ma-
gno« zu gelten. Der Ingolstädter Professor Henricus Canisius hatte Notkers Er-
zählsammlung in den ersten Band seiner »Antiquae lectiones« aufgenommen, wo
sie im Kontext von zuvor unveröffentlichten, nun erstmals edierten und mit An-
merkungen versehenen Zeugnissen zur Geschichte des Mittelalters für jeden In-
teressierten leicht zugänglich war.32 Da der Name des Autors in der Leithand-
schrift, einem Münchner Codex, nicht mitgeteilt wird33 – erst 1886 konnte für
die »Gesta Karoli« Notkers Verfasserschaft glaubhaft gemacht werden34 –, be-
zeichnet ihn Canisius mit aller gebotenen Vorsicht als »Sangallensis monachus«
bzw. als »quidam monachus Sancti Galli«. Der Beschreibung der Handschrift
nach, die der Edition vorangestellt ist, dürfte es sich bei ihr um den Clm. 17736,
eine in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrte Pergamenthand-

30 Übersetzung auf der Grundlage von: Einhard/Notker der Stammler: Leben und Taten
Karls des Großen. Aus dem Lateinischen übertragen von O[tto] Abel u. W[ilhelm] Wat-
tenbach. Mit einem Nachw. v. Hermann Schreiber u. Anm. v. Anton Ritthaler. Mün-
chen 1965 (Die Fundgrube 14), S. 37–104, hier: S. 40 f. Notker: Taten Karls. In: Quel-
len zur karolingischen Reichsgeschichte. Tl. 3. Unter Benutzung der Übersetzungen
von C[arl] Rehdantz, E[rnst] Dümmler u. W[ilhelm] Wattenbach neu bearb. v. Rein-
hold Rau. Darmstadt 1960 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mit-
telalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), S. 321–427, hier: S. 324–327.
31 Vgl. Thomas Haye: Humanismus in Holstein. Bernhard Vagets Gedicht auf das Gym-
nasium zu Bordesholm. In: Ders. (Hg.): Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche
Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee. Amsterdam/Atlanta (GA)
2000 (Chloe 32), S. 63–104, hier: S. 84 f., Anm. 73. Das »Speculum« des Vincenz lag
bereits im 15. Jahrhundert gedruckt vor, Heinrich von Herfords Chronik wurde erst
im 19. Jahrhundert ediert.
32 [Notker Balbulus:] Gesta Karoli Magni Imperatoris. In: Henricus Canisius: Antiquae
lectionis tomus I. in quo XVI. Antiqua monumenta ad historiam medii aetatis illust-
randam, nunquam edita. Omnia nunc primum e manuscriptis edita et notis illustrata.
Ingolstadt 1601, S. 358–428 [Dom- und Diözesanbibliothek Köln, Dombib.
H.p.800].
33 Vgl. ebd., S. 359.
34 Karl Zeumer: Der Mönch von Sanct Gallen. In: Historische Aufsätze. Dem Andenken
an Georg Waitz gewidmet. Goldbach 1996 [Repr. der Ausg. Hannover 1886], S. 97–
118. – Vgl. auch die Studie von Eberhard Graf von Zeppelin, der unabhängig von Zeu-
mer zu demselben Resultat kam: Wer ist der »Monachus Sangallensis«? In: Schriften des
Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 19 (1890), S. 33–47.
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 299

schrift, handeln, als deren Provenienz das Augustinerchorherrenstift St. Mang in


Stadtamhof gilt. Sie wurde von zwei Händen des 12. Jahrhunderts geschrieben
und vereinigt die beiden Bücher der »Gesta« (Fol. 78r–121v) mit Einhards »Vita
Karoli« (Fol. 1r–19v) und den Reichsannalen (Fol. 19v–78r) zu einem Korpus von
Quellenschriften zur Karolingerzeit, das überdies durch Texte zum Investiturstreit
ergänzt wird.35
Bemerkenswert sind bei allen inhaltlichen Übereinstimmungen Zincgrefs
Versuche, sich von seiner Vorlage sprachlich zu emanzipieren. So verzichtet er
beispielsweise auf eine Entsprechung zu dem von Notker eingangs verwendeten
Adjektiv »victoriosissimus«, einem seit Konstantin dem Großen gebräuchlichen
Epitheton der Herrschertitulatur.36 Karl wird in den »Gesta Karoli« als ein in
Kriegen unbesiegter Kaiser angesprochen, als welcher er später noch einmal in
Erscheinung tritt, wenn er seine nie bezwungene Rechte (»invicta dextera«) zum
Himmel erhebt, um die säumigen Schüler qua seiner von Gott verliehenen Au-
torität zu tadeln, nachdem er sie zuvor wie der Weltenrichter am Jüngsten Tag
(»aeterni iudicis iustitiam imitatus«) von den fleißigen geschieden und zu seiner
Linken hatte treten lassen.37 Zincgref hingegen stellt Karl den Großen zunächst
als Regenten vor, der die Gewalten von Exekutive (V. 2: »gestabat sceptra«) und
Legislative bzw. Judikative (V. 3: »iura tenebat«) in sich vereinigt, ehe er ihn umso
ausführlicher als Hüter und Förderer der Künste (V. 4) sowie als Reformer des
Schulwesens (V. 5 f.) würdigt. Die Lerninhalte, die Notker mit »epistolae et car-
mina« sehr genau spezifiziert hatte,38 spielen bei ihm verglichen mit dem Lern-
fortschritt (V. 8: »progressus«), von dem sich Karl bei der Visitation der Schule
überzeugen will, nur eine untergeordnete Rolle. Zumindest benennt er sie nicht
konkret. Wolfram von den Steinen hat auf die Bedeutung hingewiesen, die dem
Studium von Briefstellern und Poetiken im Unterricht der karolingischen Schu-
len zukam. War die Beschäftigung mit der Ars versificandi, der Kunst, Verse zu
schreiben, vornehmlich dem Otium vorbehalten, auch wenn sie in Gestalt von
Hofdichtung mitunter staatstragende Funktion erfüllte, so diente die Ars dicta-

35 Vgl. Haefeles Beschreibung der Handschrift sowie von ihr abhängender jüngerer Über-
lieferungsträger in: Notker der Stammler, Taten Kaiser Karls des Großen (Anm. 29),
S. XXXI f.
36 Vgl. C. T. H. R. Ehrhardt: »Maximus«, »invictus« und »victor« als Datierungskriterien
auf Inschriften Konstantins des Großen. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik
38 (1980), S. 177–181. Andrea Scheithauer: Super omnes retro principes… Zur inof-
fiziellen Titulatur römischer Kaiser. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 75
(1988), S. 155–177.
37 Anspielung auf Mt. 25,31–46 sowie Mt. 3,12.
38 Vgl. Wolfram von den Steinen: Notkers des Dichters Formelbuch. In: Zeitschrift für
schweizerische Geschichte 25 (1945), S. 449–490, hier: S. 469.
300 RALF GEORG CZAPLA

minis, die Brieflehre, als Form des Negotium speziell der Vorbereitung auf den
Kanzleidienst. Präziser als Notker benennt Zincgref den Schauplatz der von ihm
erzählten Begebenheit. Sprach jener lediglich von einer Schulinspektion Karls in
Frankreich, so versetzt dieser das Geschehen nach Paris (V. 6).
Der markanteste Unterschied zwischen der mittelalterlichen Darstellung und
der frühneuzeitlichen besteht jedoch in dem Bild, das beide vom Kaiser zeich-
nen. Notker lässt Karl einer Gottheit gleich sein,39 die sich dadurch, dass sie mit
der Vehemenz einer Naturgewalt auf die schulischen Versager niederfährt, gera-
dezu archaisch gebärdet. Verben wie »contorquere«, »flammare«, »concutere«,
»tonare«, »iaculari« und »fulminare« lassen den Sprechakt metaphorisch als Un-
wetter bzw. Gewitter erscheinen. Des Kaisers Mahnungen und Drohungen zu-
cken wie Blitze, hallen wie der Donner und dürften eine entsprechende Wirkung
bei den Adressaten hinterlassen haben. Bei Zincgref fehlt diese Nuance, die Not-
kers Darstellung so eindrücklich sein lässt, völlig. Karl erscheint als Lehrer, nicht
als Gott. Er lobt die Fleißigen, schilt und mahnt die Säumigen, donnert aber we-
der, noch schleudert er Blitze.
Zincgref erkannte in Notkers Karlsepisode ein auch für seine Zeit beredtes
pädagogisches Exempel.40 Welche zentrale Bedeutung sie für ihn besaß, lässt sich
an dem Umstand ermessen, dass sie nicht nur seine frühe lateinische Elegie grun-
diert, sondern auch in späteren Texten wiederkehrt. Während sie in den »lusti-
gen Schulbossen«, den ein Jahr vor der »Triga« erschienenen »Facetiae Pennali-
um«, nicht zu finden ist und dort wegen der humoristischen Ausrichtung der
Schrift wohl auch fehl am Platz wäre, hat Zincgref sie mit einigen anderen, gleich-
falls anekdotisch pointierten Episoden41 in den zwischen 1626 und 1631 ent-
standenen »Apophthegmata« zu einem Kapitel über den »Erste[n] Teutsche[n]
Kaiser« zusammengefasst:

39 Zur Gottähnlichkeit Karls vgl. auch Hans-Werner Goetz: Strukturen der spätkarolin-
gischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönches. Eine In-
terpretation der »Gesta Karoli« Notkers von Sankt Gallen. Bonn 1981, S. 102–105.
40 Die Rezeption von Notkers Anekdoten in der bildenden Kunst ist bislang noch nicht
untersucht worden. Der gebürtige Tiroler Historienmaler Carl von Blaas (1815–1894)
etwa schuf auf der Grundlage der Erzählung von Karls Inspektion der Pariser Schule
sein Bild »Karl der Große tadelt die nachlässigen Schüler« (Österreichische Galerie Bel-
vedere Wien, Inv.-Nr. 2715), das auf der Weltausstellung 1855 in Paris ausgezeichnet
wurde (vgl. Abb.1). Vgl. Selbstbiographie des Malers Karl Blaas. Hg. v. Adam Wolf.
Wien 1876, S. 232.
41 Auf Notker gehen die Anekdoten von der Degradierung eines Bischofs wegen Säumig-
keit bei Antritt des Pontifikats (I 5), von der Zurücksetzung eines Bischofs wegen sei-
ner Reitkunst (I 6) und von dem ehrgeizigen Capellan (I 4) zurück. Stellenangaben
nach der Ausgabe in den MGH (Anm. 29).
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 301

Als er die Schul zu Pariß besichtigte / und die Jugend examiniren halff / aber befandt /
dass die Adelichen Kinder von den Burgers und Bauers Söhnen weit übertroffen wur-
den/redet er diese also an: Wohlan / ihr Jüngling / die ihr uns gefolget habt / fahret
fort / wie ihr angefangen / des Fleisses Lohn und Lob zuerwerben / euch will ich Gelt
und Gut verschaffen / und für andern werth halten / auß euch will ich machen Stiffts-
Herren / Bischoff und Päbst / ihr solt Land und Leut regieren / und die Ehr haben
zu dieser meiner Rechten zu sitzen. Ihr übrige Zärtling aber (sprach er zu den jungen
Edlen) die ihr also mit gezierten auffgepüfften Haaren herein ziehet / euch auf euerer
Eltern Reichthumb / Ehr und Standt verlasset / dem Müssiggang und den Wollüsten
nachhanget / eines Röm. Käisers Befehl und Majestät weder achtet noch folget / solt
mir nicht gut genug seyn (weil ihr die Studia hindan setzt / und auß anderer Exem-
ple und guten Lehren euern Verstand nicht zu Lob / Tugend und Weißheit unterrich-
ten lassen wolt) dass ich mich euer annehmen sollte / und sollen diese arme geringe
euch an allen Ehren vorgezogen werden / jedoch da ich sollte spüren / dass ihr es den
Fleissigen mit der Zeit werdet gleich thun / solt ihr billich / auch wegen euers Stands
ander vorgezogen werden.42

Zincgref arbeitet in den »Apophthegmata« die Exempelhaftigkeit der Anekdote


zusätzlich dadurch heraus, dass er die Leerstellen füllt, die Notkers Text bietet.
So identifiziert er nicht nur die von dem St. Galler Mönch als »mediocres […]
et infimi« bezeichneten Knaben, für die er in seiner Elegie noch die altrömische
Bezeichnung »plebeii iuvenes« (V. 11) verwendet hatte, als »Burgers und Bauers
Söhne«, sondern zeichnet vom adligen Nachwuchs ein geradezu dekadentes Bild:
Dieser genieße den Reichtum, den seine Vorfahren ihm als Erbe hinterlassen
hätten, sei dem Müßiggang und der Wollust verfallen und lege mit »gezierten
auffgepüfften Haaren« weitaus größeren Wert auf seine äußere Erscheinung als
auf seine innere Bildung.
Zincgref schreibt mit der Rezeption von Notkers Anekdote die Tradition
späthumanistischer Adelskritik fort. Zugleich sichert er seine Position dadurch
ab, dass er sich mit Karl dem Großen auf eine Gestalt von höchster und unzweifel-
hafter Autorität beruft. Den Transfer auf die Verhältnisse der eigenen Zeit über-
lässt er geschickt dem Leser. Insofern unterscheidet sich seine Strategie katego-
rial von derjenigen des Tübinger Dichters und Gelehrten Nikodemus Frischlin,
der 1578 in seiner Rede »De re rustica« [›Vom Landleben‹] Defizite des Adels in
Kultur und Sittlichkeit brachial zur Sprache gebracht und damit eine erbitterte
Kontroverse ausgelöst hatte, die zu seinem völligen Ausschluss von akademi-

42 Zit. n. der Ausgabe: Julius Wilhelm Zincgref: Teutscher Nation Klug-ausgesprochene


Weißheit […]. Nebst einer Vorrede von Christian Weisen. Frankfurt a. M./Leipzig:
Weidmann 1693, S. 9–15, hier: S. 10 f. Vgl. dazu, wenngleich ohne Berücksichtigung
der Karlsanekdoten: Rudolf Graupner: Julius Wilhelm Zincgref und seine »Apophtheg-
mata«. Diss. Leipzig 1923; Theodor Verweyen: Apophthegmata und Scherzrede. Bad
Homburg/Berlin/Zürich 1970 (Linguistica et Litteraria 5).
302 RALF GEORG CZAPLA

schen Ämtern führte.43 Zincgref indes durfte bei seiner Kritik am Adel auf die
Wertschätzung vertrauen, die Karl der Große im Späthumanismus genoss. Do-
kumentiert ist sie u. a. in einer lateinischen Ode des Heidelberger Dichters Pau-
lus Schedius Melissus (1539–1604), der, obwohl er ein qualitativ wie quantita-
tiv beachtliches Korpus neulateinischer Versdichtung hinterließ, sein literarhis-
torisches Andenken einigen wenigen volkssprachlichen Gedichten verdankt, die
Zincgref 1624 im Anhang zu seiner Edition von Martin Opitz’ »Teutschen Po-
emata« veröffentlichte. Zu Eingang der zwölften Ode des zweiten Buches der
»Paraenetica« würdigt Melissus Karl den Großen als Stammvater der fränki-
schen Könige44 und schreibt eine bestimmte geistige Verfasstheit für denjenigen
fest, der nach der fränkischen Krone strebt und sich in die Nachfolge Karls zu
stellen sucht. Melissus hat seine Ode nicht nur mit einer Widmung, sondern
auch mit einem Titel versehen. Dieser lässt sich als Maxime einer Adelsethik le-
sen lässt, derjenigen nicht unähnlich, die Zincgref implizit in den verschiede-
nen poetischen Bearbeitungen des Notker-Textes formuliert: »Heroica virtus
maiorum aemulanda« [›Die heroische Tugend der Ahnen ist wert, dass man sie
nachahme‹]. Wie im alten Rom die Exempla maiorum den Heranwachsenden
Handlungsmuster und Verhaltensnorm bedeuteten, so müsse die Jugend seiner
Zeit sich der »virtus maiorum« verpf lichtet zeigen und ihr nacheifern. Karl der
Große steht gewissermaßen als Paradigma für diese Tugend.
Adel verpflichtet also, wie ein europaweit in zahllosen Variationen kursieren-
des französisches Sprichwort sagt: Wo ein Edelmann seiner Verpflichtung nicht
nachkommt, können bürgerliche Tugenden wie Fleiß und Eifer fehlende Her-
kunft wettmachen und Menschen von niederer Geburt den Weg zu Ämtern eb-
nen, die zuvor nur Adligen offen standen. Dass Zincgref es fernlag, die Vertika-
lität der Ständeordnung in Frage zu stellen, zeigt sein Epigramm »Was der recht
Adel sey«.45 Es entstand in den Jahren zwischen der Abfassung der »Historia de

43 Vgl. Ronald G. Asch: Bürgertum, Universität und Adel. Eine württembergische Kon-
troverse des Späthumanismus. In: Klaus Garber (Hg.): Stadt und Literatur im deut-
schen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit, 39), S. 384–
419. Wilhelm Kühlmann: Akademischer Humanismus und revolutionäres Erbe. Zu
Nicodemus Frischlins Rede »De vita rustica« (1578). In: Sabine Holtz/Dieter Mertens
(Hg.): Nicodemus Frischlin (1547–1590). Poetische und prosaische Praxis unter den
Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Tübinger Vorträge. Stuttgart-Bad Cann-
statt 1999 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur 1), S. 423–444.
Zusammenfassend: Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine
Einführung. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 132–162, hier: S. 133–135.
44 Paulus Schedius Melissus: Meletematum piorum libri VII. Paraenetica II. Parodiae II.
Psalmi aliquot. Frankfurt a. M.: Hieronymus Commelinus, 1595, S. 330.
45 Martin Opitz: Teutsche Poëmata und Aristarchus wieder die verachtung Teutscher
Sprach. Straßburg: Eberhard Zetzner, 1624, S. 123. Wiederabdruck in: Wilhelm Mül-
»WAS DER RECHT ADEL SEY« 303

Carolo Magno« und der Niederschrift der »Apophthegmata« und gehört zu je-
nen 23 eigenen Gedichten, die der Opitz-Ausgabe von 1624 beigefügt sind. Zinc-
gref löst darin den Kerngedanken von Notkers Karlsepisode aus seinem histori-
schen Kontext, spitzt ihn der epigrammatischen Schreibweise entsprechend poin-
tiert zu und verleiht ihm auf diese Weise Allgemeingültigkeit:

Was der recht Adel sey.

Ein vnzeitige Frucht, bewart in Mutter Leibe,


Lebt halber nur biß sie zum ganzen Menschen wirdt:
So auch ein Kindt erzeugt von einem Edeln Weibe;
Mit halbem Adel nur von der Natur geziert.
5 Der ist ein halber Mensch, der sein vnarth verblümet
Mit seiner Eltern Rhum, den er zur schande lebt,
Der ist ein rechter Mensch den eigne Tugendt rühmet,
Den sein selbst Rath vndt that zu Ehren hoch erhebt.
Die aber so zugleich von Edlem stamm geboren,
10 Durch Tugendt noch darzu vollkommen sein gemacht,
Die sein, die sein allein die Edlen außerkoren,
Die man vor Götter hie vnder den Menschen acht.

Die soziale Perspektive, die in der »Historia de Carolo Magno« vorherrschte, ist
in diesem Epigramm einer anthropologischen gewichen. Nicht von Ämtern in
Staat und Kirche und das, was den Einzelnen dazu prädestiniert, ist mehr die
Rede, sondern von den Bedingungen des Menschseins als solchen. Edle Abkunft
macht nur die eine Hälfte des Menschen aus. Sie erlangt er ohne eigenes Zutun.
Die andere aber muss er sich erwerben. Tut er es nicht, sondern sonnt sich im
Glanz seiner Vorfahren, so steht er demjenigen nach, der zwar von niederem
Stand ist, aber sein Leben mit Tugend führt. Sie erst vervollkommnet den Men-
schen. Wahrhaft edel ist, wer auf eine edle Abstammung verweisen kann und sich
zugleich tugendhaft bewährt. Er genieße, so Zincgref, höchste Achtung bei sei-
nen Mitmenschen und sei Göttern gleich. Ob sich diese ideale Verbindung von
Herkunft und Leistung in der Wirklichkeit finde, lässt der Dichter offen. Der
Konjunktiv des Gedichttitels bedeutet sowohl Wunsch als auch Appell.

ler (Hg.): Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Bd. 7: Auserle-
sene Gedichte von Julius Wilhelm Zinckgref, Andreas Tscherning, Ernst Christoph
Homburg und Paul Gerhard. Leipzig 1825, S. 13 (u. d. T. »Der rechte Adel«). Julius
Wilhelm Zinkgref (Hg.): Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten. Halle/S. 1879 (Neu-
drucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 15), S. 55.

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