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Diabetes mellitus
Katja Gollisch
Indizes
Diabetes mellitus, orale Antidiabetika, GLP-1-Agonisten, Insulintherapie, Folgeerkrankungen,
Parodontitis, Hypoglykämie
Zusammenfassung
Patienten mit Diabetes mellitus sind auch in der Zahnarztpraxis häufig. Der vorliegende Beitrag soll
ein grundlegendes Verständnis über Pathogenese, Diagnostik und Therapie des Diabetes mellitus
vermitteln. Der Zusammenhang von Diabetes mellitus und Parodontitis wird dargestellt. Außerdem
werden konkrete Handlungsempfehlungen zum Umgang mit dem Notfall Hypoglykämie gegeben.
unter 15-Jährigen eine Prävalenz voraus, die von Die Diabetesklassifikation unterscheidet zwischen
94.000 im Jahre 2005 auf 160.000 im Jahre 2020 1. Diabetes mellitus Typ 1,
steigen soll14. 2. Diabetes mellitus Typ 2,
3. anderen spezifischen Diabetesformen und
Diabetes mellitus Typ 2 ist mit ca. 95 % der Dia- 4. Gestationsdiabetes.
beteserkrankungen am häufigsten, gefolgt
von Diabetes mellitus Typ 1 mit ca. 5 %. Die
Inzidenz beider Diabetesformen ist steigend. Diabetes mellitus Typ 2
Pathogenese und Diagnose
Neben Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 gibt es
eine Vielzahl anderer Störungen, die zu einer diabe- Meist entwickelt sich der Diabetes mellitus Typ 2
tischen Stoffwechsellage führen. Diese sind in ihrer schleichend über Jahre. Bei genetischer Prädisposi-
Prävalenz jedoch deutlich untergeordnet. Sie werden tion und häufig als Folge von Überernährung ent-
als „andere spezifische Diabetestypen“ klassifiziert, steht eine Insulinresistenz, d. h. die Körperzellen re-
beinhalten genetische Defekte der Betazellfunktion agieren schlechter auf Insulin. Die Betazellen der
oder der Insulinwirkung, Pankreaspathologien sowie Bauchspeicheldrüse kompensieren dieses Stadium
Endokrinopathien und medikamentöse oder infek zunächst durch vermehrte Insulinproduktion, sodass
tiöse Ursachen12. Diese Erkrankungen können dem die insulinresistenten Zellen dennoch ausreichend
Bild des Diabetes mellitus Typ 2 gleichen, wenn eine Glucose aufnehmen; der Blutzucker hält sich noch
Insulinresistenz im Vordergrund steht. Ist ein absolu- normal. Im weiteren Verlauf lässt die Insulinproduk-
ter Insulinmangel krankheitsbestimmend, so ähnelt tion nach, es entsteht ein relativer Insulinmangel,
das Bild einem Diabetes mellitus Typ 1. Eine eigene der Blutzuckerspiegel steigt, und der Diabetes wird
Gruppe in der Diabetesklassifikation bildet schließ- manifest. Diagnosekriterien sind wiederholt erhöhte
lich der Gestationsdiabetes. Hiermit bezeichnet man Nüchtern- oder Gelegenheits-Blutzuckerwerte oder
einen Diabetes mellitus, der sich erstmals während ein erhöhter Blutzuckerlangzeitwert (HbA1c) oder er-
einer Schwangerschaft manifestiert und in den meis- höhte Werte in einem oralen Glucosetoleranztest
ten Fällen nach der Schwangerschaft wieder ver- (Tab. 1)12.
schwindet12. Ein Gestationsdiabetes bringt ein er-
höhtes Risiko für die spätere Entwicklung eines Insulinresistenz und Betazelldysfunktion bestim
Diabetes mellitus Typ 2 mit sich. Aufgrund der Zu men die Entwicklung eines Diabetes mellitus
lassungsbeschränkung anderer Medikamente wird Typ 2.
diese Diabetesform diätetisch oder zusätzlich mit
Insulin behandelt.
Therapie 6,5 % und 7,5 % (selten auch < 6,5 %) nicht erreicht
wird, ist eine medikamentöse Therapie indiziert. Das
Die Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 beginnt orale Antidiabetikum der ersten Wahl ist das Biguanid
mit einer nichtmedikamentösen, lebensstilmodifi- Metformin. Wird unter einer medikamentösen Mono
zierenden Basistherapie. Diese beinhaltet eine Er- therapie (meist mit Metformin) das Therapieziel er-
nährungstherapie und die Steigerung der körperli- neut nicht erreicht, folgen Kombinationstherapien
chen Aktivität. Eine strikte Diät wird heute nicht aus oralen Antidiabetika mit oder ohne Hinzunahme
mehr empfohlen. Vielmehr soll auf eine gesunde, von Insulin. Die früher sehr verbreiteten Antidiabe
ausgewogene Ernährung geachtet werden. Die Re- tika, Sulfonylharnstoffe und Glinide, haben dabei zu-
duktion von Fetten und Zucker soll die Gesamtkalo- letzt an Bedeutung verloren, da sie Unterzuckerun-
rienzahl vermindern. Eine Gewichtsabnahme von gen herbeiführen können und eine Gewichtszunahme
nur wenigen Kilogramm führt oft zu einer deutlich unterstützen. Die neueren Medikamente umfassen
besseren Stoffwechsellage und es kann gelingen, „Sodium dependent glucose transporter“-2 (SGLT-2)-
den Diabetes auch lange Jahre ohne Medikamente Hemmer sowie die sogenannten Inkretin basierten
zu beherrschen11. Therapien, Dipeptidylpeptidase-4 (DPP-4)-Hemmer
Die Diabetestherapie ist eine Stufentherapie: und Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1)-Agonisten. Diese
1. Lebensstilmodifizierende Basistherapie Medikamente verursachen keine Unterzuckerung.
2. Medikamentöse Monotherapie (Metformin) DPP-4-Hemmer gelten als gewichtsneutral und SGLT-
3. Medikamentöse Kombinationstherapie 2-Hemmer und die subkutan zu injizierenden GLP-
4. Ergänzende Insulintherapie 1-Agonisten unterstützen sogar eine Gewichtsab-
nahme11. Ein Überblick der aktuell zur Verfügung
Wenn nach 3 Monaten unter der Basistherapie das stehenden oralen Antidiabetika und GLP-1-Analoga
individuelle Therapieziel eines HbA1c zwischen ist in Tabelle 2 zusammengestellt.
Tab. 3 Prinzipien der Insulintherapie bei Diabetes mellitus Typ 2. Modifiziert nach Demmer et al.5
Dies erlaubt eine stundengenau vorgegebene Abga- gung der kleinen Gefäße beschreibt, und die Makro-
be von Insulin, durch die der individuelle Bedarf an angiopathie, die eine Schädigung größerer Gefäße
Basalinsulin tageszeitenabhängig gedeckt werden bezeichnet. Der Mikroangiopathie werden die diabe-
kann. Das Mahlzeiteninsulin wird in Form von Bolus- tische Retinopathie, also die Netzhautschädigung,
gaben ebenfalls über die Pumpe abgegeben. sowie die diabetische Nephropathie, die Nierenschä-
digung, zugeordnet. Der Makroangiopathie hinge-
Therapieziele bei Diabetes mellitus gen werden kardiovaskuläre Komplikationen wie
Herzinfarkt, Schlaganfall oder die periphere arteriel-
Unabhängig von der Form des Diabetes verfolgt le Verschlusskrankheit (pAVK) zugeordnet. Im Ver-
eine Diabetesbehandlung mehrere Ziele. Das kurz- lauf einer Diabeteserkrankung kann es außerdem zu
fristige Ziel besteht darin, eine gute Lebensqualität einer Nervenschädigung kommen, der diabetischen
zu gewährleisten, indem Blutzuckerentgleisungen in Neuropathie. Auch hier geht man davon aus, dass
Form von Hypo- oder Hyperglykämien vermieden eine Störung der neuronalen Mikrozirkulation eine
werden. Mittel- und langfristig sollen Folgeerkran- wesentliche pathogenetische Rolle spielt13. Man un-
kungen des Diabetes mellitus verhindert werden. terscheidet die sensomotorische Polyneuropathie
Durch die medikamentöse Therapie wird eine stabile, von einer autonomen Polyneuropathie. Die senso-
normnahe Blutzuckereinstellung angestrebt, um die motorische Polyneuropathie äußert sich in zum Teil
genannten Ziele zu erreichen. Gleichzeitig gilt es, schmerzhaften Gefühlsstörungen der Extremitäten,
Nebenwirkungen der Therapie und die Belastung primär der Füße. Zur autonomen Polyneuropathie
des Patienten durch die Therapie zu minimieren. In gehören die erektile Dysfunktion oder die diabeti-
Tabelle 5 sind anzustrebende Blutzucker- und HbA1c- sche Gastroparese, die zu Völlegefühl, Übelkeit und
Zielwerte zu sehen. Diese Empfehlungen dienen als Erbrechen führen kann.
Orientierung im Rahmen einer individualisierten
Therapie9,11. Diabetes mellitus verursacht eine Mikroangio-
pathie (diabetische Nephropathie, diabetische
Folgeerkrankungen bei Diabetes Retinopathie), eine Makroangiopathie (pAVK,
mellitus koronare Herzerkrankung, zerebrale Ischä
mien) und eine sensomotorische und autonome
Das Risiko für Folgeerkrankungen ist abhängig von Polyneuropathie (diabetisches Fußsyndrom,
der Erkrankungsdauer und der Güte der Blutzucker- Gastroparese, erektile Dysfunktion etc.).
einstellung. Weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren
wie Rauchen oder Bluthochdruck beschleunigen die Trotz fortgesetzter Bemühungen, die Behandlung
Entwicklung von Folgeschäden. Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus zu optimieren, sind es weiter-
des Diabetes mellitus entstehen primär durch chro- hin die Folgeerkrankungen des Diabetes, die die Le-
nische Gefäßschäden aufgrund von zu hohen oder bensqualität der Betroffenen massiv einschränken
zu stark schwankenden Blutzuckerwerten. Man un- und erhebliche gesellschaftliche Kosten verursa-
terscheidet die Mikroangiopathie, die eine Schädi- chen. Weiterhin sind die meisten Fälle von Erblin-
Chronische Entzündung
dung im Erwachsenenalter3 sowie von terminaler zahnärztekammer empfiehlt daher bei Patienten mit
Niereninsuffizienz mit Dialysepflicht18 Diabeteser- rezidivierender Parodontitis einen Blutzuckertest
krankungen zuzuschreiben. Fortgesetzte Bemühun- zum Ausschluss einer Diabeteserkrankung. Gegebe-
gen zur bestmöglichen Therapie von Diabeteserkran- nenfalls soll eine Überweisung an einen Diabetolo-
kungen sind daher essenziell. gen erfolgen. Bei vorbekanntem Diabetes und par-
odontaler Symptomatik ist immer die Erhebung
Diabetes mellitus und Parodontitis eines parodontalen Komplettbefundes empfohlen.
Der Parodontale Screening Index (PSI) sollte auch
Die Parodontitis wird bei den klassischen Folgeer- bei negativem Befund jährlich erhoben werden und
krankungen des Diabetes mellitus nicht erwähnt, die Patienten sollten besonders für geeignete Maß-
hätte aber durchaus ihren Stellenwert hier verdient. nahmen der häuslichen Mundhygiene geschult wer-
Sogenannte Endprodukte der fortgeschrittenen Gly- den1. Denn ebenso wie eine parodontale Infektion
kierung („advanced glycation endproducts“ [AGE]) eine Diabeteserkrankung verschlechtert, so hat eine
akkumulieren infolge von Hyperglykämie in der Gin- effektive Prophylaxe und Behandlung der Parodonti-
giva und im Parodont von Diabetikern und lösen tis eine äußerst positive Auswirkung auf den Diabe-
durch die Sekretion von Entzündungsmediatoren tes. Metaanalysen zeigen eine Senkung des HbA1c
wie TNF-α und Interlukin-1β eine Entzündungsreak- um bis zu 0,8 % durch eine nicht chirurgische Par-
tion aus15. Dieser Mechanismus ist vermutlich mit- odontitistherapie4,10,17.
verantwortlich für das dreifach erhöhte Risiko von
Diabetikern, an Parodontitis zu erkranken, für schwe- Bei rezidivierender Parodontitis:
rere Krankheitsverläufe und für das schlechtere An- ■ Diabetes mellitus ausschließen
sprechen auf Therapien7. Gleichzeitig wirkt sich ge-
rade eine schwer verlaufende Parodontitis ungünstig Bei Parodontitis und bekanntem Diabetes
auf die Blutzuckereinstellung aus: Eine chronische mellitus:
systemische Entzündungsreaktion verstärkt zytokin- ■ Parodontalen Komplettbefund erheben
vermittelt die Insulinresistenz16, und ein vorbeste- ■ Parodontaler Screening Index (PSI) einmal
hender Diabetes verschlechtert sich (Abb. 1). Zudem jährlich
kann ein Prädiabetes in einen manifesten, therapie- ■ Patientenschulung zur Mundhygiene
bedürftigen Diabetes konvertieren5. Die Bundes-
Notfall: Hypoglykämie
Bewusstlosigkeit?
nein ja
nein ja
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