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Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention

Author(s): Dieter Grimm


Source: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV)
, 1986, Neue Folge, Vol. 1 [69], No. 1/2 (1986), pp. 38-54
Published by: Nomos Verlagsgesellschaft mbH

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38 KritV 1986

Dieter Grimm
Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema
Prävention

I. Das Dilemma der Prävention

Prävention ist zu allen Zeiten ein Requisit der öffentlichen Gewalt gew
Auch der liberale Staat ließ seine Polizei patrouillieren und nicht nur im R
auf die Anzeige geschehener Verbrechen warten, so wie umgekehrt kein to
Staat die Vorkehr gegen Unbotmäßigkeit so perfekt zu organisieren verm
daß er auf Repression völlig verzichten könnte. Dennoch galt lange der Er
rungssatz, daß Systeme, die individuelle Entscheidungsfreiheit nur im en
Rahmen eines überindividuell definierten materialen Gemeinwohls zul
stärker zu präventiven Mitteln greifen als Systeme, die das Gemeinwohl ge
in der Sicherung und Ermöglichung individueller Entfaltung erblicken. Zw
in solchen Systemen die Freiheit ebenfalls nicht unbegrenzt. Sie endet pr
piell aber erst an der gleichen Freiheit der anderen, und diese im G
generell und abstrakt gezogene Grenze mußte nach liberalem Staatsverstän
im konkreten Fall überschritten oder unmittelbar bedroht sein, ehe die öff
che Gewalt Sanktionen verhängen durfte. Prävention war dann aber
eigenständige staatliche Strategie zur Steuerung der gesellschaftlichen Entw
lung, sondern nur die fallweise vorgezogene Repression zur Verhütung ein
rechtswidrigen Schädigung. Im übrigen hatte es mit der präventiven Wirk
die von der bloßen Existenz des Repressionsapparats ausgeht, sein Bew
den.
Seit einiger Zeit läßt sich aber auch bei Staaten, die in der liberalen Tradit
stehen, eine Ausweitung und Neuorientierung der Prävention beobach
Neben die traditionellen Anwendungsfelder der Verbrechensbekämpfung
der Gefahrenabwehr, vor allem bei Lebens- und Arzneimitteln sowie tech
schen Anlagen und Geräten, sind ausgedehnte staatliche Vorkehrungen ge
den Eintritt von Krankheit und Not, abweichendem Verhalten und sozialem
Protest, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Stagnation, Umweltbelastung und
Ressourcenerschöpfung getreten. Im Zuge dieser Entwicklung wird die Präven-
tion von ihrem Bezug auf gesetzlich definiertes Unrecht weitgehend gelöst und
zur Vermeidung unerwünschter Lagen aller Art eingesetzt. Dieser Wandel
vollzieht sich, obwohl er das Verhältnis von Staat und Gesellschaft grundlegend
umformt, relativ reibungslos. Die Erklärung liegt vermutlich darin, daß fast
jede Prävention einen evidenten Nutzen vorzuweisen hat. Erfolgreich ange-
wandt, erspart sie dem Einzelnen Nachteile, die mittels Repression bestenfalls
auszugleichen, oft aber gar nicht wiedergutzumachen sind, und der Gesamtheit
Lasten und Konflikte, die meist kostspieliger werden als rechtzeitige Vorbeu-
gung. Da der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Prävention immer neue
Gegenstände erschließt, wird sie dem Staat auch zunehmend abverlangt. Am
Ende zeichnet sich eine Umkehrung des liberalen Verteilungsprinzips ab, so

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daß Repression nur noch als Auffangbecken für mißglückte Prävention ihre
Berechtigung behält.
Es wäre freilich eine Illusion anzunehmen, die Vorteile der Prävention seien
kostenlos zu haben. Die Kosten fallen indes weniger direkt und weniger konkret
an als der Nutzen. Daher pflegen sie auch seltener ins Entscheidungskalkül
eingestellt zu werden. Sie schlagen bei der Selbstbestimmung des Einzelnen und
der Freiheitlichkeit des Gesamtsystems zu Buche. Im Gegensatz zu einem Staat,
der sich primär als Repressionsinstanz versteht und deswegen den Eintritt eines
sozialschädlichen Ereignisses abwarten kann, um dann zu reagieren, muß der
präventiv orientierte Staat mögliche Krisen bereits im Ansatz aufspüren und zu
ersticken versuchen, ehe sie zum Ausbruch kommen. Nicht erst konkrete
Gefahren, sondern schon abstrakte Risiken rufen unter diesen Umständen den
Staat auf den Plan. Der Einzelne vermag ihn durch legales Betragen nicht auf
Distanz zu halten. Vielmehr weitet sich die staatliche Kontrolle über Bürger
und Bürgerverhalten zwangsläufig aus. Das gilt sowohl in quantitativer als auch
in qualitativer Hinsicht. Quantitativ nimmt die Kontrolle zu, weil die Gefahren-
quellen stets erheblich zahlreicher sind als die tatsächlich eintretenden Scha-
densfälle. Qualitativ intensiviert sie sich, weil die Wurzeln sozialer Risiken tief
in die Persönlichkeitsstruktur und die Kommunikationssphäre reichen, so daß
Prävention, wenn sie wirksam sein soll, in die Bereiche der Gesinnung, Lebens-
führung und sozialen Kontakte vordringen muß.
Gleichzeitig entzieht sich die präventive Staatstätigkeit den traditionellen Kon-
trollen der Staatsgewalt aber weit stärker als die repressive. Staatliche Repres-
sion äußert sich im Einschreiten gegen manifeste Störungen eines gesetzlich
vorgegebenen Normalzustands mit dem Ziel seiner Wiederherstellung. Sie
wirkt also reaktiv und punktuell. Als solche ist sie aber normativ verhältnismä-
ßig gut determinierbar. Die Norm legt im Tatbestand generell und abstrakt fest,
was als Störung der Ordnung zu gelten hat, und bestimmt auf der Rechtsfolgen-
seite, welche Maßnahmen der Staat zur Wiederherstellung der gestörten Ord-
nung ergreifen darf. Das Handlungsprogramm läßt sich in einem diskursiven
öffentlichen Prozeß formulieren, der so organisiert werden kann, daß die
Betroffenen Gelegenheit haben, Interessen anzumelden. Einwände zu erheben
und Alternativen vorzubringen, und akzeptable Ergebnisse möglich erscheinen.
Die staatliche Verwaltung ist an das Normprogramm gebunden. Sie kann nur
noch prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen ihres Einschreitens im
Einzelfall vorliegen, und die vorgesehene Rechtsfolge setzen. Ihre Entschei-
dung erscheint dann lediglich als Vollzugsakt, in den freilich wegen der unvoll-
kommenen Bindungskraft von Normen stets Entscheidungselemente eingehen.
Als normativ programmierter unterliegt der Verwaltungsakt wiederum der
Rechtmäßigkeitskontrolle durch unabhängige Gerichte, die auf Verlangen des
Betroffenen nachprüfen, ob sich der Staat an die Norm gehalten hat oder
nicht.
Im Gegensatz dazu stellt sich präventive Staatstätigkeit als Vermeidung uner-
wünschter Entwicklungen und Ereignisse dar. Sie wirkt also prospektiv und
flächendeckend. Eine solche zukunftsgerichtete und komplexe Aktivität läßt
sich aber gedanklich nicht vollständig vorwegnehmen und daher auch nur
begrenzt in generelle und abstrakte Normen einfangen. In der Regel müssen

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sich Präventionsnormen d
hung von Gesichtspunkte
berücksichtigt werden so
kleineren Teil Produkt des demokratischen Prozesses. Die handelnde Verwal-
tung muß es vielmehr von Situation zu Situation vervollständigen oder korrigie-
ren. Sie programmiert sich auf diese Weise weitgehend selbst, ohne dabei
spezifisch normative Techniken zu verwenden. Im selben Maß verdünnt sich
freilich auch die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle, die von der Existenz
justitiabler Normen abhängt. Die präventive Staatstätigkeit führt also in ein
Dilemma. Im Zuge der Verhütung einzelner Freiheitsgefahren droht sie die
Freiheitlichkeit der Sozialordnung insgesamt zu schmälern und höhlt gleichzei-
tig die demokratischen und rechtsstaatlichen Kautelen, die zur Begrenzung der
Staatsmacht im Interesse individueller Freiheit entwickelt worden sind, partiell
aus. Es ist dieser Umstand, der Prävention zum Problem des Verfassungsrechts
macht.

II. Der Funktionswandel des Staates und die Rolle der Prävention

1. Der präventionsfeindliche liberale Ordnungsstaat

Eine verfassungsrechtliche Bewertung dieser Entwicklung läßt sich nicht ohne


Kenntnis ihrer Ursachen und Bedingungen vornehmen. Von diesen hängt es
nämlich ab, in welchem Maß sie normativ beeinflußbar ist und wo eine
verfassungsrechtliche Steuerung ansetzen kann. Geht man den Ursachen nach,
so fällt die Parallele zwischen dem Anwachsen präventiver Politik und der
Herausbildung des modernen Wohlfahrtsstaats ins Auge. In den Gründen, die
den Wohlfahrtsstaat hervorgebracht haben, könnte daher auch der Schlüssel zur
Prävention zu finden sein. Seine Anfänge fallen mit dem Versagen des reduktio-
nistischen liberalen Staatsmodells zusammen. Der Liberalismus glaubte die
Staatsfunktionen drastisch reduzieren zu können, weil er von der Annahme
ausging, daß das gesellschaftliche Leben nicht anders als die Natur von Gesetz-
mäßigkeiten beherrscht sei, die, wenn sie nur ungehindert zur Geltung kämen,
Wohlstand und Gerechtigkeit automatisch zur Folge hätten. Die Konsequenz
dieser Prämisse war eine Abkoppelung der verschiedensten Sozialsysteme, allen
voran der Wirtschaft, von der Politik, die bis dahin für sich in Anspruch
genommen hatte, das gesamte private und öffentliche Leben nach einem von ihr
definierten Tugendideal umfassend zu regulieren. Das Recht zu präventiven
Maßnahmen war darin immer schon eingeschlossen, weil die vom Staat vertre-
tene Wahrheit unbedingte Geltung verlangte und schon im Vorfeld möglicher
Gefährdungen verteidigt werden mußte. Stattdessen sollte sich nun jedes So-
zialsystem nach ihm eigenen Rationalitätskriterien entfalten dürfen und gerade
auf diese Weise das Gemeinwohl, das der absolute Staat vergebens angestrebt
hatte, desto zuverlässiger erreichen. Als einzige Voraussetzung galt die Freiheit
jedes Einzelnen von staatlichen, ständischen und korporativen Zwängen. Diese
Freiheit fand ihre Grenze nur an der gleichen Freiheit aller anderen. In dem von
Wahrheit auf Freiheit umgestellten System sollte sich der Wohlstand mehren,

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weil die Schaffenskraft des Einzelnen entfesselt und ihr Einsatz durch die
Früchte der eigenen Leistung belohnt wurde. Gerechtigkeit sollte sich einstel-
len, weil die gleiche Freiheit aller keine einseitige Herrschaft, sondern nur
gegenseitige Vereinbarungen zuließ, die jeden vor Übermächtigung durch
Dritte schützten und einen besseren Interessenausgleich ermöglichten als zen-
trale obrigkeitliche Regulierungen. Die Konstruktion schloß weder soziales
Gefälle noch Armut und Not aus, doch schienen sie in einem System, das jedem
die gleiche Entfaltungschance bot, nicht extern auferlegt, sondern individuell
zurechenbar und insofern nicht ungerecht. Die Selbststeuerungsfähigkeit der
Gesellschaft machte allerdings den Staat nicht überflüssig, weil die von Herr-
schaft befreite und atomisierte Gesellschaft gleich Freier die Gelingensvoraus-
setzungen des Modells, Freiheit und Gleichheit, aus sich heraus nicht zu sichern
vermochte. Sie benötigte dafür weiterhin eine außerhalb ihrer selbst gelegene
und mit Macht versehene Instanz, eben den Staat. Seine Funktion reduzierte
sich aber auf die Garantie der vorausgesetzten, quasi-natürlichen Ordnung,
während es einer staatlichen Vorsorge für die allgemeine Wohlfahrt angesichts
des aus dem freien Spiel der Kräfte automatisch resultierenden Gemeinwohls
nicht mehr bedurfte. Der Staat erfüllte seine Aufgabe, indem er Freiheitsbeein-
trächtigungen unterdrückte, und bediente sich dazu der traditionellen staatli-
chen Mittel von Befehl und Zwang. Vor dem Grundprinzip gesellschaftlicher
Autonomie wurde aber jeder repressive Akt des Staates zum „Eingriff", und
um die Entschärfung des im Eingriff gelegenen Gefahrenpotentials für die
Autonomie der Subsysteme und ihr Medium, die Individualfreiheit, kreiste das
konstruktive Bemühen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Lösung wurde in der
rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung gefunden, die den staatlichen
Rechtserzeugungs- und Rechtsdurchsetzungsapparat ihrerseits wieder rechtli-
chen Bindungen unterwarf. Grundrechte markierten den Bereich gesellschaftli-
cher Autonomie, in dem maßgeblich nicht die Raison des Staates, sondern der
Wille des Einzelnen war. Eingriffe in diesen Bereich durften nicht nach dem
Gutdünken des Staates, sondern nur im Interesse der Gesellschaft erfolgen.
Deswegen benötigte der Staat für jeden Eingriff eine Ermächtigung, die die
Gesellschaft durch gewählte Repräsentanten in genereller Form im Gesetz
erteilte. Der Zweck der Konstruktion lag gerade in der Beschränkung der
staatlichen Machtmittel auf die Störungsbekämpfung. Ihre Existenz mochte
dann präventiv wirken, der zielgerichtete Einsatz präventiver Steuerung gesell-
schaftlicher Abläufe war aber systemwidrig, was freilich nicht ausschloß, daß
der liberale Staat gleichwohl zu solchen Mitteln griff, wenn es der herrschenden
Klasse nützte. Das Gesetz legte die Merkmale einer Störung sowie die zulässi-
gen Reaktionen abschließend fest. Die staatliche Exekutive war an das Gesetz
gebunden. Eine Maßregel, die sich als Eingriff darstellte, ohne eine gesetzliche
Deckung zu besitzen, galt danach als rechtswidrig und berechtigte den Betroffe-
nen, Unterlassung zu verlangen und seinen Anspruch nötigenfalls mit Hilfe
unabhängiger Gerichte durchzusetzen. Gerade diese Beschränkung des Staates
auf genau bezeichnete Fälle der Repression schien die Freiheit des Einzelnen
am wirksamsten zu gewährleisten.

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2. Die Krise des Liberali

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seinen Grund darin, daß
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Die Täuschung des Libe
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zweiten Schritt ging der

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gen und Krisen zu intervenieren und mit öffentlichen Mitteln Ausgleich oder
Abhilfe zu schaffen. Im Unterschied zu den Maßnahmen der ersten Etappe
konnte er sich dabei allerdings nicht mehr mit Rechtskorrekturen begnügen,
sondern mußte reale Leistungen in Gestalt von Geld- oder Sachmitteln erbrin-
gen. Ihr reaktiver Einsatz ließ aber auch in dieser Phase die Prävention noch
nicht in den Vordergrund der Staatstätigkeit rücken, wenngleich sie sich, etwa
im Arbeitsschutz, merkbar verstärkte. Mit zunehmender Differenzierung der
sozialen Strukturen und Funktionen, die die Gesellschaft zwar leistungsfähiger,
aber auch störungsanfälliger macht, schien das reaktive Krisenmanagement für
Bestandssicherung und Fortentwicklung des Systems nicht mehr ausreichend. In
einer dritten Phase ist der Staat deswegen dazu übergegangen, mögliche Krisen
schon im Ansatz aufzuspüren und durch vorbeugende Maßnahmen am Entste-
hen zu hindern und die Rahmenbedingungen für Wachstum und Entwicklung
selbständig zu verbessern. Von Erfolgen auf diesem Feld hängt mittlerweile
seine Legitimität ab. Insofern besitzt der Staat, was den Grundsatz betrifft,
keine Wahlfreiheit mehr. Er trägt vielmehr die Globalverantwortung für die
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. Dabei ergeben sich aus der
Sache selbst keine Grenzen, denn die kapitalistische Gesellschaft produziert mit
dem eingebauten Zwang zum Wachstum laufend neue Krisenherde, denen der
von Wählergunst abhängige demokratische Parteienstaat sozusagen vorbeugend
nachlaufen muß, wenn er keinen Loyalitätsentzug riskieren will.

3. Die Rolle der Prävention

Es liegt auf der Hand, daß erst dieser Funktionswandel des Staates der
Prävention endgültig Bahn brechen konnte. Ihre erstaunliche Konjunktur er
klärt sich daraus allein aber noch nicht. Als treibende Kraft tritt vielmehr der
wissenschaftlich-technische Fortschritt hinzu. Wo er neue Sicherheitsrisiken
unerhörten Ausmaßes schafft oder natürliche Ressourcen aufzehrt, leuchtet da
unmittelbar ein. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hat aber auch indi-
rekte Auswirkungen auf den Präventionsbedarf. Seine Ergebnisse pflegen ja im
wirtschaftlichen Wettbewerb kommerziell verwertet oder rationalisierend und
kostensparend eingesetzt zu werden. Die damit verbundenen Folgeprobleme:
fortschreitende Zerstörung der Natur, immer maschinengerechtere Umgestal-
tung der Lebenswelt, wachsende Belastung des menschlichen Organismus durch
Umweltreize und Chemieprodukte, beschleunigte Ersetzung zwischenmenschli-
cher Kommunikation durch maschinenvermittelte anonyme Kommunikation
haben inzwischen Schwellenwerte überschritten, hinter denen sie von vielen
nicht mehr dem Fortschritt gutgeschrieben, sondern als Verarmung und Bedro-
hung empfunden werden. Die Fortschrittsskepsis hätte sich freilich nicht so
schnell ausbreiten können, wenn von dem Rationalisierungsprozeß nicht auch
die Sozialisierungsbedingungen der Industriegesellschaft verändert worden wä-
ren. Der sinkende Personalbedarf der Wirtschaft bei steigenden Qualifikations-
anforderungen an die Beschäftigten führt allenthalben zur Verlängerung der
Ausbildung und Verkürzung der (Wochen- und Lebens-) Arbeitszeit, seit
mehreren Jahren auch zu hoher Arbeitslosigkeit. Infolgedessen schrumpft der
Anteil der Bevölkerung, der den Imperativen des Produktionsprozesses unter-

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4. Das präventive Instrumentarium

Die inzwischen schon klassische Realprävention im Bereich der technischen


Sicherheit kam noch mit den spezifisch staatlichen Mitteln von Befehl und
Zwang aus, deren sich der auf Gefahrenabwehr spezialisierte Ordnungsstaat
typischerweise bediente. Anlagen, die von vornherein ein Risiko für die Allge-
meinheit bildeten, wurden nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen ge-
nehmigt; Anlagen, von denen nachträglich eine konkrete Gefahr ausging,
wurden stillgelegt. Die moderne Personalprävention kann mit diesen Mitteln
nur noch teilweise zum Ziel kommen. Da es bei ihr nicht so sehr darum geht,
aktuelle Gefahren abzuwehren, als potentielle erst aufzuspüren, personell
zuzuordnen und vorsorglich auszuschalten, ist mit der Prävention zwangsläufig
ein erhöhter Informationsbedarf verbunden. Je mehr persönliche Daten vorrä-
tig und kombinierbar sind, desto zuverlässiger lassen sich Krisenherde orten.
Die zwangsweise Erhebung personenbezogener Daten stößt freilich schnell an
rechtliche und faktische Grenzen. Der Staat weicht daher auf andere Wege der
Informationsbeschaffung aus. Wo die Datenerhebung faktisch erschwert ist,
etwa im Milieu abweichenden Verhaltens, stellt er eigene Recherchen an. Wo
er auf rechtliche Hindernisse stößt, etwa bei der Früherkennung von Krankhei-
ten durch Suchtests oder ähnliche Verfahren, schafft er Anreize zur freiwilligen
Datenpreisgabe. Aber auch die präventiven Maßnahmen selbst, die der Gefah-
renlokalisierung folgen, können nur in begrenztem Maß mittels Befehl und
Zwang durchgesetzt werden. Darin gleichen sie zahlreichen anderen Steue-
rungsaufgaben, die dem Staat im Zuge seiner Funktionsausweitung zugewach-
sen sind. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen war die Vermehrung der
Staatsaufgaben nicht von einer entsprechenden Vergrößerung der Eingriffsbe-
fugnisse begleitet. Vielmehr sichern die Grundrechte ungeachtet der Globalver-
antwortung des Staates für wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Gerechtig-
keit dem Einzelnen weiterhin ein hohes Maß an Selbstbestimmung und den
sozialen Subsystemen so eine relativ große Autonomie. Zum zweiten versagen
imperative Steuerungsmittel, selbst wenn sie rechtlich statthaft wären, überall
dort, wo ein staatlicherseits erwünschtes Verhalten von bestimmten Fähigkei-
ten, Einstellungen oder Werthaltungen des Bürgers abhängt. Schließlich gibt es
eine Reihe von Sozialbereichen, in denen der Einsatz von Befehl und Zwang
zwar rechtlich zulässig und tatsächlich möglich ist, aber zu kostspielig erscheint.
Unter Kosten sind dabei nicht nur die finanziellen, beispielsweise für einen
umfangreichen Überwachungsapparat, sondern auch die politischen, etwa in
Gestalt verbandlichen Gegendrucks oder drohender Stimmenverluste zu verste-
hen. In all diesen Fällen ist der Staat zur Erreichung seiner Ziele auf die
Folgebereitschaft autonomer Entscheidungsträger angewiesen und muß daher
versuchen, diese für das gewünschte Verhalten zu gewinnen oder von dem
unerwünschten abzubringen. Die Motivationsmittel sind zahlreich. Sie können
in bloßen Informationen über Nutzen und Schaden eines bestimmten Verhal-
tens bestehen, sich aber auch zur Betreuung oder Behandlung gefährdeter
Kreise oder Personen ausweiten. Damit steht die Neuorientierung der Polizei
und die Psychologisierung und Pädagogisierung der Sozialarbeit in Zusammen-
hang, auf die Albrecht hinweist. Dem staatlich erwünschten Verhalten kann

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aber auch durch Verschä


gen, Aus- oder Abbau
druck verschafft werden
Anreize und Abschrecku
vergünstigungen, Prämi
mit Zusatzabgaben bestr
schiedlich, kann aber
rechtlich fortbestehend
verhält es sich nicht selt
Kontrollen, wie sie in d
Vergabe staatlicher Lei
rechtlich nicht erzwing
macht, die in der Preis
Behandlung, der Verri
indirekt wirkende Motiv
daß sich die präventive K
reich hinaus erstrecken
verschafft.

III. Die Präferenzen

1. Der grundgesetzliche
Die Ausbreitung und Ne
nach den bisher getroffe
Sie erweist sich vielmeh
insofern, jedenfalls was
Änderung der zugrundel
machen. Angesichts de
schritts, auf den sie zur
Abnahme. Für das Verfa
ignorieren noch unterbin
die Prävention einstellen
tet durch die verfassung
gik der Prävention, geei
kürzlich im Volkszählun
Informationstechniken g
Formen und Mittel der
punkte andererseits geh
keln ist anders zu beurte
anders als die Früherken
ausgebreitet werden. W
abstecken, in den die ve
Dieser Rahmen soll hie
diesem Zweck zunächst d
Menschenwürde auszug

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Sozialordnung erhebt und in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 für unantastbar erklärt. Der
Staat wird in Satz 2 auf die Menschenwürde bezogen und tritt ihr gegenüber mit
seinen Machtmitteln in eine dienende Funktion. Die Menschenwürde selbst
erblickt das Grundgesetz, wie die Verknüpfung mit den Menschenrechten
Abs. 2 anzeigt und die folgenden Grundrechtsbestimmungen verdeutlichen
nicht in der Hinordnung des Individuums auf ein vorgegebenes, transzenden
oder irdisch legitimiertes Ideal individueller oder sozialer Perfektionierung,
der Folge, daß aus der menschlichen Würde die staatlich durchsetzbare Pfl
des Einzelnen hervorgeht, sich dem Ideal nach Kräften anzunähern.
Grundgesetz versteht die Würde vielmehr als immer schon gegebene Grund
stattung des Menschen, aus der das Recht des Einzelnen folgt, autonom üb
Lebensplan und Glücksvorstellung zu entscheiden, und auch dort, wo d
Autonomie sich im frühen Entwicklungsstadium des Menschen noch nicht o
aufgrund schwerer geistiger und körperlicher Defekte niemals zu aktualisie
vermag, als Angehöriger der Gattung Mensch geachtet zu werden. Das Gru
gesetz stützt die personale Autonomie sodann an Stellen, die sich in de
Vergangenheit als besonders gefährdet erwiesen haben, durch konkrete Fr
heitsverbürgungen in Gestalt von Spezialgrundrechten ab, die mit der Garan
freier Persönlichkeitsentfaltung in Art. 2 Abs. 1 beginnen und diese allgem
Freiheit dann in einzelne konkret benannte Freiheiten ausformen. Dabei fü
nicht als eigene Freiheit, sondern als Modalität der Freiheitsgarantien, Art
hinzu, daß die in personaler Autonomie sich äußernde und durch Grundrec
konkret geschützte Würde für alle in gleicher Weise gilt. Daher kann
Autonomie nicht das Recht umschließen, die Autonomie anderer zu zerstören
oder zu verkürzen. Daraus folgen Schranken der Selbstbestimmung, jedoch
nicht im Interesse eines überindividuellen Kollektivwerts, sondern im Interesse
der Ermöglichung friedlichen Zusammenlebens autonomer, aber sozialbezoge-
ner Individuen. Um dieser Möglichkeit willen ist die Staatsgewalt nötig und zur
Freiheitsbegrenzung befugt. Das Grundgesetz richtet den Staat in Art. 20ff.
aber so ein, daß er auf das Grundprinzip der Menschenwürde verpflichtet bleibt
und die Machtausübung an diesem legitimieren muß. Nicht allein der Grund-
rechtsteil, sondern auch der Organisationsteil der Verfassung ist als Ausfor-
mung von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 zu lesen. Dem dient das Demokratieprinzip,
indem es politische Herrschaft an einen Auftrag der Beherrschten knüpft und
diesen Auftrag, da über seine Erfüllung unter der Voraussetzung individueller
Freiheit legitimerweise unterschiedliche Auffassungen bestehen, nur zeitlich,
gegenständlich und funktional begrenzt vergibt. Dem dient das Rechtsstaats-
prinzip, indem es die Ausübung der Herrschaft nicht ins Belieben jedes
Funktionsträgers stellt, sondern an feste Maßstäbe bindet, die im Voraus
gesetzlich festgelegt werden und dem Zielwert der Freiheit Rechnung tragen
müssen, damit dem Einzelnen die Möglichkeit selbstverantworteter Lebenspla-
nung und -führung auch unter den Bedingungen staatlich regulierter Freiheit
erhalten bleibt. Dem dient ferner das Sozialstaatsprinzip, indem es verbürgt,
daß die aus der Würde folgende Freiheit nicht nur formal besteht, sondern auch
real nutzbar ist. Dem dient schließlich der Föderalismus, indem er die Varia-
tionsbreite politischer Gestaltung vergrößert und die Staatsgewalt machtbegren-
zend auch vertikal aufteilt.

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2. Prävention als Freiheitsschutz

Versucht man, die staatliche Prävention in das verfassungsrechtliche Wertsy-


stem einzuordnen, so steht die Frage im Vordergrund, wie sie sich auf die aus
der Menschenwürde fließende und in den Grundrechten konkretisierte Selbst-
bestimmung des Individuums auswirkt. Darauf gibt es nicht von vornherein eine
eindeutig positive oder negative Antwort. Positive und negative Elemente
pflegen sich vielmehr zu mischen, und das Mischungsverhältnis wechselt von
Fall zu Fall. Regelmäßig schlägt aber der evidente Nutzeffekt, der sich für fast
alle präventiven Maßnahmen ins Feld führen läßt, auch grundrechtlich auf der
Habenseite zu Buche. Jede verhinderte Gewalttat, jede nicht zum Ausbruch
gekommene Krankheit, jeder nicht geborstene Atommeiler wirkt sich auf Seiten
der potentiellen Opfer freiheitswahrend aus. Berücksichtigt man das, so hat die
Prävention selbst wieder eine grundrechtliche Stütze. Die Grundrechte werden
ja längst nicht mehr nur als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat verstan-
den. Seitdem bekannt ist, daß die grundrechtlich geschützten Freiheiten nicht
nur vom Staat bedroht werden und daher durch bloße Ausgrenzung von
Freiräumen ihm gegenüber auch nicht hinreichend zu bewahren sind, hat sich
der Radius der Grundrechte zu einer Rundum-Sicherung der Freiheit erweitert.
Zwar entfalten sie ihre unmittelbare Abwehrkraft nach wie vor nur gegenüber
dem Staat. Dieser ist aber von Grundrechts wegen nicht nur gehalten, selbst
Freiheitsverletzungen zu unterlassen, sondern die grundrechtlich garantierten
Freiheiten auch vor Beeinträchtigungen durch Dritte aktiv zu schützen. Diesen
gegenüber realisiert sich der Grundrechtsschutz dann vermittelt durch das
staatliche Gesetz. Für einen solchen Freiheitsschutz hat der Staat freilich längst
gesorgt, ehe ihn die Konstruktion einer grundrechtlichen Schutzpflicht dazu
auch verfassungsrechtlich anhielt. Nahezu das gesamte Strafrecht und weite
Teile des Privatrechts dienen dem Schutz individueller Freiheit vor rechtswidri-
gen Beeinträchtigungen durch Dritte. Einer grundrechtlichen Schutzpflicht
bedurfte es insoweit nicht. Für ihre Funktion ist es aber aufschlußreich, daß sie
bei Gelegenheit der Aufhebung einer Strafdrohung, nämlich des § 218 StGB
a. F., Eingang in die Judikatur fand. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht
wirkt einerseits, wie man daran ablesen kann, als Bestandsgarantie für die zur
Sicherung einer grundrechtlichen Freiheit unerläßlichen Vorkehrungen. Sie
verlangt andererseits, daß solche Vorkehrungen vom Gesetzgeber getroffen
werden, wo grundrechtliche Freiheiten bislang noch nicht oder nicht ausrei-
chend gegen gesellschaftliche Bedrohungen gesichert erscheinen. Das kann im
wesentlichen aus drei Gründen der Fall sein. Der erste liegt in der meist
wissenschaftlich-technisch bedingten Entstehung neuartiger Freiheitsgefahren,
denen die alten Gesetze nicht Rechnung tragen. Das gilt etwa für die Kernkraft
oder die Gentechnik. Der zweite resultiert daraus, daß das zentrale Schutzmit-
tel, das der Liberalismus gegen Freiheitsbedrohungen seitens Dritter vorgese-
hen hatte, die Vertragsfreiheit, unter den Bedingungen der Industriegesell-
schaft den Einzelnen nicht mehr hinreichend vor gesellschaftlicher Übermächti-
gung zu schützen vermag. Freiheitsschutz erfordert dann vermehrte materiale
Bindungen der Privatautonomie. Der dritte Grund wurzelt darin, daß die
repressiven Mittel des Freiheitsschutzes eingetretene Schäden vielfach nur

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Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention KritV 1986 49

unzureichend oder gar nicht wiedergutmachen können. Überall wo strafrechtli-


che Sanktionen und zivilrechtlicher Schadensersatz keine angemessene Wieder-
gutmachung versprechen, muß daher der Freiheitsschutz vorverlagert werden
und bereits bei den möglichen Schadensquellen ansetzen. Auch dieser Fallbe-
reich vergrößert sich durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung und die
damit verbundenen Schadensdimensionen zusehends. Die Entscheidung für den
sozialen Rechtsstaat, deren grundrechtsdogmatische Konsequenz die Schutz-
pflicht ist, trägt also die Entscheidung für Prävention in sich, und die Frage kann
nicht lauten, ob der Staat befugt ist, präventive Mittel einzusetzen, sondern nur,
zu welchem Zweck, in welchem Maß und unter welchen Voraussetzungen ihm
der Einsatz gestattet sein soll.

3. Prävention als Freiheitseingriff

Die Schutzpflicht für eine grundrechtliche Freiheit pflegt freilich gerade durch
die Einschränkung einer anderen Freiheit oder der Freiheit eines anderen
erfüllt zu werden. Freiheitsschutz und Freiheitseingriff korrespondieren also
miteinander, die Schutzpflicht für das Leben des ungeborenen Kindes beispiels-
weise mit dem Eingriff in die Handlungsfreiheit der Mutter. Was aus der
Opferperspektive Schutz ist, stellt sich aus der Perspektive des Handelnden als
Beschränkung dar. Die Prävention macht da keine Ausnahme. Impf-, Gurt-,
Versicherungspflichten etc. sind Maßnahmen präventiven Zwangs. Das Pro-
blem ist bekannt und wird im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung durch
Abwägung zwischen dem geschützten und dem verkürzten Grundrecht gelöst.
Diese Lösung findet auch auf Präventionsakte Anwendung, jedenfalls soweit sie
imperative Mittel verwenden. Das ist indes, wie sich gezeigt hat, gerade bei den
neuen Formen der Personalprävention nicht der Regelfall. Sie erscheint entwe-
der als faktisches Staatshandeln oder sucht ihren Erfolg unter Einsatz nicht-
imperativer Mittel. Gleichwohl dringt sie in bislang private Zonen vor, setzt
auch den legal handelnden Bürger staatlichen Kontrollen aus und verändert die
Rahmenbedingungen des Freiheitsgebrauchs. Ob die Grundrechte den Betrof-
fenen auch vor nicht-imperativer Prävention schützen, hängt davon ab, inwie-
weit diese als Eingriff zu betrachten ist. Der klassische Eingriffsbegriff ließ das
nicht zu. Als Eingriff galt danach nur ein staatlicher Akt, der dem Adressaten
absichtsvoll und unter Einsatz von Befehl und Zwang eine ihn unmittelbar
belastende Rechtsfolge auferlegte. Dieses Eingriffsverständnis war auf den
liberalen Ordnungsstaat bezogen, der eine von ihm unabhängige, als gerecht
vorausgesetzte Sozialordnung lediglich vor Störung bewahrte. Nur wenn eine
Störung vorlag, durfte er einschreiten und diese unter Einsatz seiner Machtmit-
tel beseitigen. Das System ließ ihm also gar keine Möglichkeit, dem Einzelnen
anders als durch gegen ihn gerichtete und ihn unmittelbar belastende Zwangs-
akte zu begegnen. Staatstätigkeit und Grundrechtsschutz kamen auf diese
Weise zur Deckung. Bliebe es angesichts der enormen Ausweitung der Staatstä-
tigkeit bei dem liberalen Eingriffsbegriff, so würde diese Kongruenz aufgege-
ben, und die Grundrechte könnten ihre Schutzfunktion gegenüber dem Staat
nicht mehr voll erfüllen. Ein solches Defizit läßt sich nur vermeiden, wenn man
auf den freiheitsbeschränkenden Effekt staatlichen Handelns, nicht die damit

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50 KritV 1986 Dieter Grimm

verfolgte Absicht oder d


daher heute jede auf st
einem Grundrechtsträg
genießt, unmöglich mach
schütztes Verhalten verh
des Staates auf den im üb
eingriff. Grundrechtsein
oder Recherche, solang
Räume oder Kommunikat
geschütztes Verhalten ni
ten, sondern schon, wen
dort der Fall sein, wo ei
Nachteile, zum Beispiel
werden kann oder wo di
momenten registriert
feststellbar. Dazu läßt si
des eingesetzten Prävent
geschlossen, daß dabei a
Abs. 1 GG neue besondere Persönlichkeitsrechte nach Art des Rechts auf
informationelle Selbstbestimmung hervorgehen. Nimmt ein nicht-imperativer
Präventionsakt vor dieser weiten Definition Eingriffscharakter an, so ist er nur
unter denjenigen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zulässig, die allge-
mein für Grundrechtseingriffe gelten. Er muß sich im Rahmen des jeweiligen
Eingriffsvorbehalts bewegen und bedarf einer hinreichend bestimmten gesetzli-
chen Grundlage. Auf letztere verzichtet die herrschende Meinung nur bei
Folge- und Nebenwirkungen eines an sich zulässigen Staatsakts, die sich beim
Zusammentreffen mit einer bestimmten Tatsachenkonstellation faktisch als
Grundrechtsbeschränkung erweisen, ohne daß dies beabsichtigt oder auch nur
vorhersehbar gewesen wäre. Für solche unvorhersehbaren Folge- oder Neben-
wirkungen kann ohne Gefahr der Lähmung des Staates in der Tat keine
gesetzliche Grundlage gefordert werden. Prävention ist freilich stets finales
Handeln (was unbeabsichtigte Fernwirkungen nicht ausschließt). Es bedarf
daher, soweit es Eingriffsqualität annimmt, immer einer gesetzlichen Grund-
lage, bei der alle wesentlichen Entscheidungen vom Parlament selbst getroffen
sein müssen.

4. Das Abwägungsproblem
Freiheitsbeschränkende Gesetze bedürfen freilich angesichts des Ranges, den
das Grundgesetz der Individualfreiheit zumißt, stets eines legitimierenden
Grundes, der letztlich selbst wieder nur aus der Freiheit gewonnen werden
kann. Das ist die Basis des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das die funktionale
Abhängigkeit des staatlichen Freiheitseingriffs von der Freiheit des Einzelnen
aufrechterhält und Freiheitsbeschränkungen auf das notwendige Maß zurück-
führt. Damit hat es sich zur praktisch wichtigsten Schranke für den freiheitsbe-
schränkenden Staat entwickelt. Im Regelfall handelt es sich darum, daß ein
Grundrecht beschränkt wird, weil sein ungehinderter Gebrauch die Grund-

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Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention KritV 1986 51

rechte Dritter gefährdete. Gefährdungen, die eine Grundrechtsbeschränkung


rechtfertigen, können sich aber auch auf die Allgemeinheit oder den Staat als
Garanten der individuellen Freiheit beziehen. Die Verfassungsmäßigkeit der
Einschränkung hängt dann von einem angemessenen Ausgleich ab, bei dem die
Bedeutung der kollidierenden Rechtsgüter, die Intensität der Einschränkung
und das Ausmaß der Gefahr ins Gewicht fallen. Diese Konstellation kommt
auch bei zahlreichen Grundrechtsbeschränkungen zu präventiven Zwecken vor.
Wer Lehrer werden oder Fleisch verkaufen will, muß sich einer Röntgenunter-
suchung unterziehen, damit diejenigen Personen, mit denen er beruflichen
Kontakt aufnimmt, vor ansteckenden Krankheiten bewahrt werden. Das Abwä-
gungsproblem bietet hier keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Bei den moder-
nen Formen der Prävention treten aber auch andere Konstellationen auf. Eine
der Besonderheiten besteht darin, daß durch die präventive Maßnahme nicht
bereits erkannte Gefahren bekämpft, sondern mögliche Krisenherde erst ent-
deckt werden sollen. Die Zahl der präventiv Überprüften kann dadurch stark
anwachsen, und es müssen schon hinreichende Verdachtsmomente und schwere
Gefährdungen eines hochrangigen Rechtsguts vorliegen, wenn der Suchzweck
Grundrechtsbeschränkungen rechtfertigen soll. Eine weitere Besonderheit er-
gibt sich daraus, daß die Prävention häufig auf ein Verhalten zielt, das weder
bestimmte Personen oder die Allgemeinheit in ihrer Freiheit noch den Staat in
seiner Funktion als Freiheitsgarant schädigt. Die Schäden treten vielmehr in
erster Linie beim Schädiger selbst ein, während Dritte allenfalls Nachteile
erleiden, die sich nicht zu Beeinträchtigungen grundrechtlicher Freiheiten ver-
dichten. So verhält es sich etwa beim Konsum gewisser Rauschmittel, bei nicht
übertragbaren Krankheiten oder bei unüblichen Formen des Lebenswandels.
Freilich leiden die grundrechtlich geschützten Güter wie Leben und Gesundheit
unabhängig davon, ob die Schädigung von einem Dritten oder dem Grund-
rechtsträger selbst ausgeht. Dennoch folgt daraus nicht, daß jede Grundrechts-
gefahr, die präventiv bekämpft werden kann, auch präventiv bekämpft werden
muß. Die grundgesetzliche Ordnung geht von der Würde und Selbstbestim-
mung des Einzelnen aus. Daher gestaltet sie die Grundrechte prinzipiell als
subjektive Rechte aus und überläßt den Freiheitsgebrauch der Entscheidung
des Berechtigten. Darin liegt die Freiheit zur je persönlichen Kombination von
Risiko und Sicherheit, zu Wagnis und Scheitern, sogar zur Selbstzerstörung
begründet. Dem Staat steht darüber kein Urteil zu, solange gleich- oder
höherrangige Rechte Dritter nicht angegriffen werden. Er ist nach dem Grund-
gesetz dazu bestellt, die Selbstentfaltung der Person zu ermöglichen und zu
schützen. Das geschieht, indem er die ökonomischen und kulturellen Grundvor-
aussetzungen der Persönlichkeitsentfaltung sichert und externe Gefahren besei-
tigt, nicht aber, indem er den zur Selbstentfaltung Berufenen bei der Wahl des
Lebensziels und dem Stil der Lebensführung bevormundet. Grundrechte wür-
den sich sonst unter der Hand in Pflichten verkehren. Freilich lassen sich zur
Rechtfertigung des Schutzes Einzelner vor sich selbst immer auch öffentliche
Zwecke ins Feld führen: die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die
Entlastung der Allgemeinheit von den Folgekosten individueller Risikofreude
etc. Es ist dann aber sehr genau zu unterscheiden, ob es sich bei der Aufrechter-
haltung der öffentlichen Ordnung gerade um die Freiheitsordnung oder nur um

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52 KritV 1986 Dieter Grimm

einen bestimmten status qu


hinter sich hat. Ebenso gilt
individueller Risikofreude
bot. Die Allgemeinheit träg
des Tabakrauchens und des
lierens. Der Umstand, daß b
von wenigen übernommen
Auch das ist eine Folge der

IV. Die ungelösten Pr

Es wäre allerdings voreilig,


weitung und Intensivierun
für gelöst zu halten. Sie b
einen vorhandenen dogmat
die Probleme der Prävention
kommen zu bewältigen verm
cher Kontrolle zugänglic
Schutzpflicht verstehen u
Eingriffsbegriff subsumier
fassungsrechtlich nur schw
Rahmenbedingungen grund
schaft so viele Sicherheitsri
güter nur noch unter betr
schützen im Stande ist. Jed
men, als verhältnismäßig ge
gen Rechtsguts, gleich de
angemessen erscheinen und
rechtseingriffe nehmen und
verkümmern lassen. Die Grenzlinie ist schwer zu erkennen. Wird sie aber
überschritten, so findet sich die freiheitliche Verfassung, ohne daß es einer
einzigen Textänderung bedürfte, an der Peripherie des Soziallebens wieder.
Die Schwäche des Verfassungsrechts gegenüber der Prävention wird ferner an
denjenigen Problemen sichtbar, die sich aus der begrenzten gesetzlichen Steuer-
barkeit präventiver Staatstätigkeiten ergeben. Dadurch büßen tragende Struk-
turprinzipien der Verfassungsordnung wie Rechtsstaat und Demokratie an
Wirkung ein. Beide sind ja auf das Medium des Gesetzes angewiesen. Unter
demokratischen Aspekten sorgt es erstens dafür, daß alle wesentlichen kollektiv
verbindlichen Entscheidungen unter öffentlicher Beteiligung und Kontrolle
Zustandekommen und dadurch eine gewisse Aussicht auf Verallgemeinerungs-
fähigkeit bieten. Zweitens bindet es die staatliche Exekutive an den Träger der
Staatsgewalt. Die Verwaltung als selbst nicht von Wahlen abhängige Gewalt
kann ja nur dadurch in den demokratischen Legitimations- und Verantwor-
tungszusamenhang einbezogen werden, daß sie ihr Handlungsprogramm von
den aus Wahlen hervorgehenden und in Wahlen wieder zur Rechenschaft
gezogenen Staatsorganen empfängt. Soweit sie sich dagegen fern vom Gesetz

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Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention KritV 1986 53

selbst steuert, bleiben die verfassungsrechtlichen Mechanismen von Wahl,


Diskurs und Kontrolle wirkungslos. Der Versuch des Bundesverfassungsge
richts, die demokratische Lücke durch eine Ausweitung des Gesetzesvorbehalt
zu schließen, muß dort fehlschlagen, wo sich der Regelungsgegenstand gegen
normative Vorabfestlegungen sperrt, wie das gerade für eine Reihe präventiver
Aktivitäten zutrifft. Der gleichwohl zum Handeln genötigte Gesetzgeber flüch-
tet dann in abstrakte Zielbestimmungen und globale Blankettermächtigungen,
die nur schwach verdecken, daß es doch wieder die Verwaltung ist, die ihr
eigenes Handeln bestimmt.
Unter rechtsstaatlichen Aspekten fungiert das Gesetz vor allem als Mittel zur
Verhinderung staatlicher Willkür, indem es die Ausübung öffentlicher Gewalt
an zwar nicht unveränderliche, aber jedenfalls im voraus festgesetzte Regeln
bindet. Für den Einzelnen liegt allein in dieser Regelhaftigkeit des staatlichen
Verhaltens und noch ungeachtet des Regelinhalts ein nicht zu unterschätzender
Schutz. Einem regelrecht vorgehenden Staat ist er nicht blindlings ausgeliefert,
sondern kann dessen Aktionen vorausberechnen und sein eigenes Verhalten
darauf einstellen. Diese Gewißheit erst ermöglicht ihm eine verantwortliche
Lebensplanung und eine angstfreie Wahrnehmung der eigenen Interessen. Im
materiellen Rechtsstaat verstärkt sich diese Schutzwirkung dadurch, daß sie
nicht nur auf dem Formerfordernis der Gesetzesbindung der Verwaltung be-
ruht, sondern zusätzlich den Gesetzesinhalt auf die Individualfreiheit verpflich-
tet. Wo dagegen die Regelhaftigkeit nicht erreichbar ist, weil das Handlungs-
programm erst angesichts wechselnder Situationen vom Handelnden selbst
aufgestellt, komplettiert oder verändert werden muß, geht der rechtsstaatlich
vermittelte Schutz wieder verloren, und die Verwaltung kann nach ihrem durch
den Selbstbindungsgrundsatz nur mühsam gezügelten Belieben handeln. Das
scheint gerade bei der Prävention gegenüber abweichendem oder politisch
oppositionellem Verhalten besonders oft der Fall zu sein, so daß die Befürch-
tung nicht unbegründet ist, daß hier die Sicherheitsinteressen des Staatsapparats
oder mächtiger Klienten ein verfassungsrechtlich nicht verdientes Übergewicht
über die bürgerliche Freiheit erlangen.
Das Gesetz bildet aber nicht nur den Verhaltensmaßstab für die staatliche
Exekutive, sondern auch den Kontrollmaßstab für die sie überprüfende Verwal-
tungsgerichtsbarkeit. Das Recht des Einzelnen, von einem unabhängigen Ge-
richt kontrollieren zu lassen, ob sich der Staat im Kontakt mit ihm gesetzmäßig
verhalten hat oder nicht, und der Anspruch, im Fall regelwidrigen Verhaltens
Abhilfe zu erlangen, verleiht der rechtsstaatlichen Bindung des Staates im
Konfliktfall erst Wirksamkeit, ganz abgesehen von der Vorwirkung, die die
bloße Existenz der gerichtlichen Kontrolle für die Gesetzestreue der Verwal-
tung hat. Insofern vollendet sich der Rechtsstaat in der Tat im gerichtlichen
Rechtsschutz. Der gerichtliche Rechtsschutz hängt freilich an der Existenz
justitiabler Normen, und wo diese fehlen, kann auch keine Rechtmäßigkeits-
kontrolle stattfinden. Wird sie gleichwohl geübt, wozu die Verwaltungsgerichte
ohne Rücksicht auf die Determinationskraft und Regelungsdichte von Normen
neigen, dann wandelt sich die Justiz von der Rechtmäßigkeitskontrolle zur
Fachaufsicht oder zur politischen Gestaltungsinstanz. Auf diese Weise schließt
sie die rechtsstaatliche Lücke, indem sie eine demokratische aufreißt. Das ist

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54 KritV 1986 Peter-Alexis Albrecht

nicht allein ein Problem prävent


gestaltenden Verwaltung schle
nungsverwaltung konditional pr
fällt aber selbst das seit einiger
gung der Betroffenen an dem
weiten Sicherheitsbereich, die
brächte.
All diese Breschen, die neuartige Staatsaufgaben und Instrumentarien in die
verfassungsrechtliche Disziplinierung der Staatsgewalt schlagen, indizieren nur,
daß die Verfassung auf eine Problemlage bezogen ist, die der heutigen nicht
mehr entspricht. Die Verfassung war eine bürgerliche Erfindung, die unter der
Prämisse von der Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft den Staat auf
Garantiefunktionen für Individualfreiheit beschränken und in der Erfüllung
dieser begrenzten Funktion an die Interessen der von ih.n getrennten autono-
men Gesellschaft binden sollte. Die damit bezeichnete Aufgabe war so beschaf-
fen, daß sie gerade in einem höherrangigen, den Staat selbst verpflichtenden
Recht ihre Lösung fand. In der Begrenzung des Staates und seiner funktions-
adäquaten Organisation entfaltete die Verfassung ihre spezifische Rationalität.
Die aktuellen Aufgaben der Wohlfahrtsvorsorge und Entwicklungssteuerung
zwingen den Staat dagegen zu ausgreifenden Aktivitäten in immer enger
werdender Kooperation mit den organisierten Kräften der Gesellschaft. Unter
diesen Umständen geht es aber nicht mehr um Ausgrenzung und Beschränkung,
sondern um Leistung und Gestaltung. Aufgaben dieser Art finden ihre Lösung
nicht schon in der Setzung von Normen, sondern erst in dem hinter der Norm
gelegenen Tun, ohne daß dieses jedoch normativ ausreichend steuerbar wäre.
Die weltweite Verbreitung der Verfassung und ihre auffällige Rolle in einem
System mit ausgebildeter Verfassungsgerichtsbarkeit verdeckt dann aber nur
den schleichenden Verlust an innerer Formkraft und Problemnähe. Die Präven-
tion ist dafür nur das neueste Beispiel.

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