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Der unkonventionelle Wilhelm von

Humboldt
Wilhelm von Humboldt gehörte zu seiner Zeit zur kulturellen europäischen Elite.
Schlaglichter auf einen Jahrhundertdenker.

Ein unkonventioneller Mensch war Wilhelm von Humboldt mit Sicherheit, und das ist noch
harmlos ausgedrückt. Oder haben Sie schon einmal jemanden kennengelernt, der sich über
schlaflose Nächte freute, statt sich über sie zu grämen? Der unumwunden zugab, solange er
ein Buch lese, überzeugten ihn die Argumente des Autors zumeist; wenn er dann ein anderes,
gegenteiliges lese, finde er das ebenso einleuchtend? Der als Parkinson-Kranker in
fortgeschrittenem Alter unendliche Mühe mit den gewöhnlichsten Alltagsverrichtungen haben
musste, aber seiner Freundin schreiben konnte, es verdrieße ihn nicht, wenn er lange brauche,
um einen Knopf zuzukriegen, denn dabei habe er genug zu denken?

Ein Mann also offenbar, der sich eigene Gedanken machte und auch keine Furcht davor hatte,
ausgelacht zu werden(lässt sich nicht von der Meinungen der anderen beeinflussen), wenn er
sie äußerte. Schließlich musste er ja wohl voraussetzen, auf Unverständnis zu stoßen, wenn er
im Rahmen eines Bildungsplanes beispielsweise schrieb, es könne einem Tischler nicht
schaden, Griechisch zu lernen; und er machte die Sache nicht wirklich besser damit, dass er
hinzufügte, es könne auch einem Gelehrten nicht schaden, das Tischlerhandwerk zu erlernen.
An merkwürdigen Äußerungen dieser Art finden sich bei Humboldt viele, etwa die, ein
Mensch müsse erst in sich selbst ganz gut werden(sich besser kennen lernen, erforschen,
verbessern, an sich selbst arbeiten), bevor er auf andere wirken könne. Vielleicht war
Wilhelm von Humboldt eben doch ein etwas verschrobener preußischer Junker, der es sich
herausnahm, sonderbare Ansichten auch laut zu äußern.

Ja, ein Adliger des späten 18. Jahrhunderts war vielleicht souveräner als ein Bürgerlicher.
Nicht zufällig deutet Goethe in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre so etwas an, wo er
seinen Helden aussprechen lässt, eine volle Bildung zum Menschen könne eigentlich nur ein
Adliger erlangen; die Sphäre des Bürgers sei zu beschränkt. Trotzdem darf man sich dieses
Adelserbe nicht als borniert vorstellen, weil es nicht den Stand, sondern die Menschheit zum
Zielpunkt hat. Auch das findet man bei Humboldt: "Es gibt nur zwei wohltätige Potenzen in
der Welt: Gott und das Volk(akzeptiert die Trennung zwischen Adler und Burger , als
Intellektueller zum Volk; der einzelne Mensch als Teil des Volks). Was in der Mitte ist, taugt
rein weg nichts, und wir selbst nur insofern, als wir uns dem Volk nahestellen".

Das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen


Dabei geht es offenbar um das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen – einer der wesentlichen
Fluchtpunkte seines Denkens. Der Mensch als Individuum – und kaum einer fand
hochtönendere Worte zum Preis der Individualität als gerade Humboldt – und die Menschheit
im Ganzen, das waren die Pole, um welche seine Bemühungen kreisten. Freilich, man muss
dabei auch die Grenzen sehen, die ihm selber so deutlich waren, dass er sie auch formulieren
konnte: Er empfand sich als unmusikalisch und ‚religiös unmusikalisch‘ (um einen Ausdruck
Max Webers aufzugreifen). Humboldts Spiritualität blieb im wesentlichen gebunden an das,
was ihm die abendländische Tradition zur Verfügung stellte, namentlich die Griechen, die er
wie wenige andere verehrte. Er war vielseitig interessiert: von der Kunst bis zur Literatur, von
der Philosophie und Politik bis zur Sprachwissenschaft, von der Geschichte bis zu (fast)
allem, was das Kulturleben zu bieten hatte – aber eben weder Religion noch Musik.

Wofür sein Ohr zugänglich war: Rhythmus. Humboldt freute sich nicht nur an den
klassischen Metren, sondern berauschte sich geradezu am kunstvoll komponierten Silbenfall,
insbesondere griechischer Dichtung und griechischer Dramen, den er auch in deutschen
Übersetzungen nachzuahmen suchte, aber darüber hinaus an der Dichtkunst aller Sprachen,
die ihm zugänglich waren, und es gab keine damals bekannte Sprache, die ihm unzugänglich
blieb. Seine Begeisterung für rhythmisches Sprechen ist so hervorstechend, dass er selber
meinte, damit habe ihn die Natur für den Mangel eines musikalischen Gehörs entschädigt.

Die Sprachphilosophie
Statt Religion und Musik also Sprache und Philosophie. Und nun das Größte, wozu sein
umfassender Intellekt fähig war: die Koppelung beider als ‚Sprachphilosophie‘. Seine
leitenden Ideen öffneten ihm den Horizont für das Allgemeinste: die Vernunft der Sprache.
Sprache ist nicht nur ein Mittel, uns anderen Menschen mitzuteilen, verständlich zu machen;
Sprache ist das Medium der Vernunft selbst. Sprache hat Logos-Qualität, könnte man sagen.
"Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache", formulierte Humboldt anknüpfend an Herder.
Es kann hier nur angedeutet werden, dass dieser Gedanke ein ungeheuerliches, menschliche
Kräfte überforderndes Pensum zum Sprachenlernen und Systematisieren, zum Sammeln und
Reflektieren enthält. Humboldts Art der Philosophie besteht aber gerade in seinen Analysen
zur Sprache, seinem progressiven Eindringen in immer subtilere Gesetze der Artikulation und
Reflexion, der Phonetik und der Grammatik.

Das Bildungsprogramm
Man wird sich, an diesem Punkt angelangt, nicht darüber wundern, dass Sprache der
entscheidende Gegenstand seines Bildungsprogrammes sein sollte, wie es in dem von ihm
reformierten preußischen Gymnasium mit Wirkungen auf ganz Deutschland zutage tritt.
Humboldt vertrat die Idee, auch ein sehr unzulängliches Sich-Abarbeiten an Problemen der
Sprache nütze jedem Menschen. Allgemeine Schulbildung sollte für alle Kinder möglich sein:
"Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, jeder überhaupt eine
vollständige, nur da, wo sie noch zu weiterer Entwicklung fortschreiten könnte, verschieden
begränzte Bildung, jede intellectuelle Individualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner
brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmäligen Entwicklung selbst zu suchen". In
der Reformkrise des preußischen Staates konnte dieser Gedanke in Verbindung mit der Idee
der Nation erstaunlich produktiv gemacht werden. Die "höchste und proportionirlichste
Ausbildung aller Kräfte zu einem Ganzen" sollte nicht nur das Ziel eines individuellen
Bildungsganges sein; damit verknüpfte sich für Humboldt direkt das Wohl der Gesellschaft
und des Staates. Der Liberale wollte nicht nur die freie, möglichst ungehinderte Bildung jedes
Einzelnen, sondern auch eine solche Festlegung der Strukturen, welche Bildung im Sinne des
Ganzen optimierte.

Der Kern des Humboldt’schen Bildungsdenkens liegt in der Trennung der Bildung von der
Arbeit. Die Philanthropen hatten eine Bildung des Bürgers zum Menschen durch möglichst
umfassende Einbeziehung schon des Kindes in wirkliche oder simulierte ökonomische
Prozesse angestrebt. Der Mensch sollte den 'Zweck seines Daseins' erlangen durch Förderung
seiner 'Brauchbarkeit als Bürger'. Hier kam nun der liberale Adlige mit seinen
unkonventionellen Ideen dazwischen und kehrte die Beziehungsverhältnisse gerade um: Den
optimalen Nutzen hat ein Staat, eine Gesellschaft, eine Nation nicht von 'brauchbaren
Bürgern', sondern von umfassend gebildeten Menschen. Anders gesagt: Bildung kann nicht
nach einem festgestellten Bedarf bewirtschaftet werden; sie muß vielmehr geleitet sein von
der Idee, dass sich das Optimum gerade dann herauskristallisiert, wenn jeder Einzelne in
seiner individuellen Bildung bestmöglich gefördert wird. Entfremdung soll vermieden
werden: Jeder Einzelne bleibt mit sich selbst identisch, muss sich nicht den übergeordneten
Zwecken eines Anderen unterordnen. Aber es gehört eben auch der Glaube dazu, dass sich
aus dieser Förderung der Individualität und dem freien Wettbewerb in der geistigen Sphare
der Kräfte eine Harmonie entwickele, die der Nation und der Menschheit ersprießlich sei.

In enger Kommunikation mit Schiller entwarf Humboldt den Gedanken des Spieles: Es ist
nicht nur die unvermeidliche Arbeit, die uns fördert, indem wir uns in der Welt abmühen; es
ist auch das zweckfreie Medium des Spieles, das zur Entfaltung eines Heranwachsenden
unabdingbar ist. Anders gesagt: Nicht die direkte Verfolgung eines Zweckes bringt uns ans
Ziel, sondern ein gewissermaßen Überschießendes, das in seiner Zweckhaftigkeit vielleicht
nicht sogleich erkennbar ist, sich aber letztlich als förderlicher erweist, und zwar nicht nur für
das Individuum, sondern für die Menschheit.

Der preußische Staat, wie er ihm in seiner formativen Phase entgegengetreten war, bedeutete
für Humboldt nicht das Ziel der Geschichte, sondern vielmehr eine Institution, die man in
ihrer Wirksamkeit möglichst beschränken mußte. In der Perspektive der Menschheit galt es,
die Freiheit des Einzelnen zu sichern, um die Entwicklungsmöglichkeiten des Ganzen zu
optimieren.

Als Deutscher und Kosmopolit konnte sich der Adlige Wilhelm von Humboldt seinen
Zeitgenossen verständlich machen, während seine Ideen zur Bildung, zur Geschlechtlichkeit
des Menschen und zur Vereinbarkeit des Individuellen mit dem Ganzen in vieler Hinsicht
unkonventionell blieben. Erstaunlich, dass er mit solchen Ideen zu geschichtlicher Wirkung
gelangen konnte! Das war nur in einer tiefgreifenden Krise des preußischen Staates möglich.
Seine eigene Wirkung auf die Zeitgenossen bestand nicht in einem bestimmten Werk, schon
gar nicht einer Publikation, sondern vielmehr in der Kraft einer Persönlichkeit, der sich alle in
seiner Umgebung beugten. Er verstand es, andere zu überzeugen. Aber letztlich stand er
wesentlich mit seiner individuell ausgeformten Persönlichkeit für seine Ziele ein. Es war der
Charakter, der etwas bewirkte, nicht der Politiker.

Die Universitätspolitik
Dieser Zug betrifft auch seine Universitätspolitik entscheidend. Mag er auch gescheitert sein
mit seiner Idee, die Universität Berlin auf ein vom Staat unabhängiges finanzielles Fundament
zu stellen, gelang es ihm doch, seine Idee einer weitgehenden Freiheit von Forschung und
Lehre durchzusetzen. Auch auf dieser Ebene fällt wieder besonders die Auflösung einer
direkten Zweckbindung auf, der Ablehnung einer Indienstnahme der höheren Bildung für den
Staat. Letztlich war es Humboldts klassisches Menschenbild, getragen von Ideen Schillers
und Goethes, in Anknüpfung an die alten Griechen, welches eine überraschende Öffnung
ermöglichte, die man so durch eine zweckgerichtete Universitätsreform nicht hätte erzielen
können.

Auch damals war es näherliegend, einen Studienplan mit Pflichtveranstaltungen und


Regelstudienzeit zu organisieren. Dagegen meinte Humboldt, das Studium kenne "keine
Gränze nach seinem Endpunkt zu", es hänge "allein vom Subject" ab. Der Besuch von
Vorlesungen sei "eigentlich nur zufällig; das wesentlich Nothwendige" sei, daß man zwischen
der Schule und dem Eintritt ins Berufsleben "eine Anzahl von Jahren ausschliessend dem
wissenschaftlichen Nachdenken an einem Orte widme, der Viele, Lehrer und Lernende in sich
vereinigt".

Man stelle sich einmal versuchsweise vor, man hätte damals schon wissen können, daß das
19. Jahrhundert wesentlich ein Jahrhundert der Industrialisierung werden sollte. Wäre es da
nicht konsequent gewesen, Fachhochschulen technischen Charakters mit einem straffen
Studienplan zur leitenden Form höherer Bildung zu machen? Man hätte mit den
ökonomischen Chancen argumentieren können und mit dem Aufstieg Deutschlands.

Nichts dergleichen: Gerade die Idee einer zweckfreien, persönlichkeitszentrierten


Wissenschaft in Forschung und Lehre trieb eine ungeahnte Blüte des gesamten Sektors der
Wissenschaft und eine ungeahnte Expansion des Universitätssystems hervor. Die Philologien
entwickelten sich zur Weltgeltung; die neuen Naturwissenschaften wuchsen aus der
Philosophischen Fakultät heraus; Deutschland wurde im 19. Jahrhundert zur führenden
Wissenschaftsnation. Jeder Interessierte und Gebildete, ob nun in Amerika, Rußland oder
Italien, lernte im 19. Jahrhundert Deutsch!

Ich will nicht sagen, daß Humboldt das vorhergesehen hätte, aber der Erfolg bestätigte
immerhin die Richtigkeit seiner anthropologischen Analyse. So absurd das klingen mag:
Deutschland entwickelte sich zur führenden Wissenschaftsnation nicht, indem es die
ökonomisch-technischen Bedürfnisse direkt zum Zweck nahm, sondern indem es in einer
Krisensituation sich auf das zurückbesann, was menschlich entscheidend ist.

Wilhelm von Humboldt, der unkonventionelle Liberale, war ein Glücksfall. Und zwar gerade
deshalb, weil er den Mut hatte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, statt das zu
liefern, was seine Auftraggeber vielleicht von ihm erwarten mochten. Gewiß: Als Adliger
konnte er ein widerborstiges Selbstbewusstsein leichter aufbringen. Aber damit erbrachte er
auch indirekt einen Beleg für seine uns heute überwiegend befremdenden Auffassungen von
Persönlichkeit und Individualität. Vielleicht war es doch nicht so verkehrt, sich an den alten
Griechen zu orientieren, obwohl sie noch keine Dampfmaschine kannten und auch keine
Eisenbahn?

Von hier aus können wir noch einmal zurückblicken auf die unkonventionellen
Sonderbarkeiten, die uns am Anfang zu denken gegeben haben. Der Parkinson-Kranke
konzentriert sich technisch auf das Knöpfen, ist aber zu dieser Zeit als ‚ganzer Mensch‘ im
Spiel, also psychisch und intellektuell frei für das Strömen der Gedanken. Schlaflos, öffnet er
sich für die Ideen, die ihn durchströmen. Nicht: "Ich denke", sondern: "Es denkt in mir". Aus
demselben Grund muß er auch nicht kritisch sofort die Inhalte des einen Buches gegen die
konträren des anderen treiben, weil er in der Souveränität des Weisen sein Ich zurücknehmen
kann.

Statt Humboldts Namen in bildungspolitischen Debatten gebetsmühlenartig anzurufen, wäre


es weiser, sich seiner Reflexion über die wesentlichen Grundlagen des Menschseins zu
versichern: Freiheit, Individualität, Persönlichkeit.
„Wilhelm von Humboldt war ja mit seiner Idee der Reform Preußens, und dafür auch
Universität als Kosmos zu nutzen, visionär.“
Ausgerechnet als Preußen am Boden lag, schlug die Stunde des Bildungstheoretikers Wilhelm
von Humboldt. Von Napoleon besiegt, wollte das aufstrebende Bürgertum den verstaubten
Staat modernisieren. Humboldt war gerade Gesandter in Rom, als er 1808 zum Sektionschef
für Kultus und Unterricht im Innenministerium berufen wurde. Nun hatte er freie Hand für
seine Idee von Bildung. Sie sollte nicht von der Herkunft abhängen und keine reine
Ausbildung sein. Der Staat hatte sich rauszuhalten.
Der Autonome Weltbürger
Ziel war der autonome Weltbürger, der vernünftig ist und selbstständig denken kann. In nur
16 Monaten führte Humboldt ein dreigliedriges Unterrichtssystem aus Volksschule,
Gymnasium und Universität ein. Die Krönung: 1810 wurde er Mitbegründer der Universität
zu Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, die sich – ganz in Humboldts Sinn – die
akademische Freiheit und die Einheit von Forschung und Lehre auf die Fahne schrieb.
„Humboldt liebte die Totalität und das Ganze und stellte sich vor, dass die Bildung irgendwie
etwas Rundes schafft.“
Begeisterung für die Antike
Wilhelm von Humboldt, am 22. Juni 1767 in Potsdam geboren, sah selbst keine Schule von
innen. Sein Vater, ein preußischer Offizier, ließ ihn und Bruder Alexander zu Hause von
ausgesuchten Aufklärern unterrichten. Zur Uni ging Wilhelm nur vier Semester. Er
schwärmte fürs antike Griechenland und schloss Freundschaft mit Goethe und Schiller.
Nach seiner Zeit als Bildungsreformer wurde er Gesandter in Wien, das wichtigste
außenpolitische Amt, das Preußen zu bieten hatte. Ab 1819 aber drehte der Wind in den
deutschen Staaten. Mit der freiheitsfeindlichen und nationalen Reaktion begann der politische
Abstieg Humboldts. Er zog sich als Privatgelehrter nach Tegel bei Berlin zurück und verfasste
bis zu seinem Tod 1835 Beiträge zur Sprachwissenschaft, die später viel Beachtung fanden.

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