J.J. WINCKELMANN
WDE
G
JOHANN JOACHIM WINCKELMANN
KLEINE SCHRIFTEN
VORREDEN · ENTWÜRFE
Zweite Auflage
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Umschlagabbildung: Johann Heinrich Lips, Winckelmann.
Stich aus: J . C. Lavater, Essai sur la Physiognomie II, 1783, Taf. XLIII.
Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin
Geleitwort zur zweiten Auflage
Das in den zwanziger bis vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts neu er-
wachte Interesse an Johann Joachim Winckelmann - der Archäologe Gerhart
Rodenwaldt sprach in seiner Begrüßungsrede zum 1 0 1 . Winckelmannfest der
Archäologischen Gesellschaft zu Berlin am 9. Dezember 1 9 4 1 von einer zwei-
ten „Winckelmann-Renaissance" — widerspiegelt sich nicht nur in damals zahl-
reich erschienenen Romanen wie Gerhart Hauptmanns Romanfragment „Das
Verhängnis" (1940/1941), Novellen wie „Winckelmanns Ende" von Wilhelm
Schäfer ( 1 9 2 5 , 1 9 4 1 ) oder Biographien zum Leben und Wirken Winckelmanns,
sondern auch in der intensiveren Beschäftigung der Wissenschaften mit dem
Begründer der klassischen Archäologie und modernen Kunstwissenschaft. Wie
schon zur Zeit der „ersten Winckelmann-Renaissance", die mit Goethes Win-
ckelmann-Schrift „Winckelmann und sein Jahrhundert" (1805) einen Höhe-
punkt erreichte und eine philologische Fortsetzung in der von Heinrich Meyer
und Ludwig Fernow unternommenen ersten deutschen Werkausgabe Winckel-
manns (Winckelmanns Werke I-VIII, hrsg. von Carl Ludwig Fernow, Heinrich
Meyer und Johann Schulze, Dresden 1 8 0 8 - 1 8 2 0 ) fand, entstand in den dreißi-
ger Jahren des 20. Jahrhunderts das Projekt einer neuen, nun aber kritischen
Ausgabe der Werke Winckelmanns. Für die von Gerhart Rodenwaldt initiierte
Winckelmann-Ausgabe, zunächst unter Schirmherrschaft des Deutschen Ar-
chäologischen Instituts in Berlin, konnte der Germanist Waither Rehm gewon-
nen werden. Dieser konzentrierte sich zunächst auf die Herausgabe der - zum
Teil noch unpublizierten - Briefe Winckelmanns, die er zusammen mit dem
Archäologen Hans Diepolder ausführlich kommentierte. Der Zweite Weltkrieg
hatte die Drucklegung der auf vier Bände konzipierten Briefedition um Jahre
zurückgeworfen: Sie konnten erst 1 9 5 2 - 1 9 5 7 im Verlag Walter de Gruyter er-
scheinen.
chen Kommentare, die auch das gedruckte Werk Winckelmanns und den unpu-
blizierten handschriftlichen Nachlass einbezogen, die Forschung zum Werk auf
eine neue Grundlage. Walther Rehm, der sich zunächst auch eine genaue Dispo-
sition zur Herausgabe der Werke Winckelmanns gemacht hatte, rückte nach
dem Zweiten Weltkrieg von diesem Vorhaben wieder ab. Wie Hellmut Sichter-
mann (gest. am ζ . i . 2002) in der Einleitung zu diesem Band (s. folgender
Beitrag) vor knapp 35 Jahren schrieb, begründete Rehm seine Entscheidung
mit der Behauptung, dass die Werke Winckelmanns „erbarmungslos veraltet"
seien, besonders für die Archäologen. Und doch hatte er es im Blick auf die
damals anstehenden Winckelmann-Jubiläen 1 9 6 7 / 1 9 6 8 übernommen, die aus
germanistischer und kunstästhetischer Sicht relevanten „Kleinen Schriften"
Winckelmanns neu zu publizieren und mit einem ausführlichen Kommentar zu
versehen. Sie erschienen 1 9 6 8 , ebenfalls im Verlag de Gruyter, unter dem Titel
„Johann Joachim Winckelmann. Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe".
Walther Rehms Tod im Jahre 1 9 6 3 hatte die letzte Durchsicht des Manu-
skripts und die geplante Einleitung zu diesem Band verhindert, ein Band, der
zusammen mit seiner Briefedition die Grundlage der neueren Winckelmann-
Forschung bildete und in die germanistische, die kunsthistorische und archäo-
logische Beschäftigung mit Winckelmann fundierend hineinwirkte. Für die
letzte Redaktion der hinterlassenen Manuskripte Rehms konnte man Hellmut
Sichtermann gewinnen, der für wichtige Stellen des archäologischen Kommen-
tars Ergänzungen und neue Stichworte lieferte und die noch fehlende Einleitung
schrieb. Dabei w a r Sichtermann eine glänzende Darstellung gelungen, die die
Verbindungslinien zwischen Winckelmanns Persönlichkeit, seinem Leben und
Schicksal, und seiner Lehre, die sich in seinem Werk manifestiert, deutlich auf-
zeigt. Winckelmanns Begeisterungsfähigkeit und seine subjektive, den Leser an-
sprechende Art der Beschäftigung mit antiker Kunst hat Sichtermann in über-
zeugender Weise geschildert und so für den heutigen Leser einen neuen Z u g a n g
zum Werk Winckelmanns geschaffen. Sichtermann legte dar, dass das Zusam-
menwirken von dichterischem und wissenschaftlichem Impetus („Die beiden
Federn, die Winckelmann zu führen verstand, liegen wohl auch heute noch auf
dem Schreibtisch eines jeden Archäologen") zur eigentlichen Wirkung seines
Werkes führte, das bis über das zwanzigste Jahrhundert hinaus seine Kraft ent-
faltet.
Für eine solche Einführung in das Werk Winckelmanns eignen sich die
„kleinen Schriften" in besonderer Weise. Winckelmanns „Pioniertat" und
Gründerrolle für die archäologische und kunsthistorische Wissenschaft w a r
verbunden mit einer scharfen und emotionalen Polemik, mit der er seine Ideen
durchzusetzen und sich von seinen Vorgängern und Zeitgenossen abzugrenzen
Geleitwort zur zweiten Auflage VII
suchte. Dies tat er auch im traditionellen Gelehrtenstreit, vor allem aber, indem
er kritisch seine Vorstellungen von antiker Kunst und ihrer Bedeutung für die
zeitgenössische europäische Kultur an ein breites Publikum, eine neue Gruppe
von bürgerlichen Lesern, herantrug. Der Text „Gedancken über die Nachah-
mung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst" von
1 7 5 5 , Winckelmanns Erstlingsschrift, die in diesem Band aufgenommen ist,
wendet sich deshalb programmatisch an die „Liebhaber und Künstler", nicht
an Gelehrte. In unserer Ausgabe finden sich auch andere Frühschriften Win-
ckelmanns, die von Christian Felix Weiße ( 1 7 2 6 - 1 8 0 4 ) in seiner „Bibliothek
der schönen Wissenschaften und der freyen Künste", einer der bedeutenden
deutschen Kunst- und Literaturzeitschriften jener Zeit, veröffentlicht wurden:
Fünf ästhetische Schriften, darunter der wichtige Beitrag „Von der Grazie in
Werken der Kunst", also jene Texte, die ihn in Deutschland populär machten
und zu einem wichtigen und angesehenen Autor werden ließen. Später, in Rom,
traten als Leser die nun zahlreicher werdenden Rom- und Italienreisenden
hinzu. Für die neuen Themen, die er sich aus seiner Begegnung mit antiken
Kunstwerken in Rom erschloss und für den literarischen Markt aufbereitete,
entwickelte er eine „körnigte Schreibart" (Friedrich Nicolai), die ein breites
bürgerliches Lesepublikum dankbar annahm. So hat er zwischen den Möglich-
keiten, sich als freier Autor auf dem neuen literarischen Markt zu behaupten
und damit finanziell unabhängig zu werden oder als Gelehrter in Abhängigkeit
von den Auftrag- bzw. Geldgebern zu arbeiten, lange geschwankt. Zahlreiche
Projekte für kürzere und längere Essays, ebenso an ein breites Publikum gerich-
tet, entstanden in seiner römischen Zeit seit 1 7 5 5 , die im Titel einleiten mit
„Sendschreiben . . . " , „Nachrichten . . . " , „Erinnerung . . . " , „Unterricht...", Es-
says, die oftmals nur bis zum ersten Entwurf gelangten oder als Fragment un-
veröffentlicht verblieben waren. Es ist ein Verdienst dieser Ausgabe, sie gesam-
melt und abgedruckt zu haben. Gerade in den Entwürfen, die noch nicht von
eigener Hand überarbeitet waren, findet man jene von Hellmut Sichtermann
beschriebene emotionale, aber direkte Sprache besonders kräftig ausgeprägt,
mit der Winckelmann sich an seine Leser wenden wollte.
den großen Vermittlern zwischen Antike und Gegenwart, die der deutschen
Klassik den Weg für ihren Rückgriff auf die Antike geebnet haben.
Die neue interdisziplinäre Beschäftigung mit der Antike hat vor wenigen
Jahren auch zu einer längst fälligen, nun aber im Anfang stehenden historisch-
kritischen Gesamtausgabe der Winckelmann-Schriften geführt, für die Rehm
mit seinen „Kleinen Schriften" Maßstäbe gesetzt hat. 2 Um so erfreulicher ist
es, dass sich der Verlag de Gruyter entschlossenen hat, diese Schriften Winckel-
manns erneut und nun als Studienausgabe herauszugeben: Die noch immer
gültige Ausgabe ermöglicht noch heute dem Leser ein tiefes Eindringen in die
Geisteswelt des Begründers der Klassischen Archäologie und der modernen
Kunstwissenschaft und in ein Jahrhundert, das Johann Wolfgang Goethe 1 8 0 5
das Winckelmann-Jahrhundert nannte.
Editorische Notiz
2, Johann Joachim Winckelmann, Schriften und Nachlaß, hrsg. von der Akade-
mie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, der Akademie gemeinnütziger
Wissenschaften zu Erfurt und der Winckelmann-Gesellschaft Stendal, Mainz
1996ff. (erschienen bis 2,000: Bd. 1; 2 , 1 - 3 ; 3)·
Vorwort
viele der „Urbilder", die Winckelmann hier vereinigt fand, heute in andere
Städte und Länder verteilt sein, so bleibt diese Stadt doch immer nodi, um
mit ihm selbst zu reden, „eine unerschöpfliche Quelle" für denjenigen, der
auf seinen Spuren wandelt. So hatte auch W. R. die Absicht, in Rom mit
Hilfe der Bibliothek des Deutschen Archäologischen Instituts und der Biblio-
theca Hertziana den Kommentar abzuschließen. Mit Hellmut Sichtermann
ergab sich in mündlichem und schriftlichem Austausch ein harmonisches,
fruchtbares Zusammenarbeiten; es sei ihm dafür an dieser Stelle ganz
besonders gedankt.
Weiterhin muß mit großer Dankbarkeit der Hilfsbereitschaft gedacht
werden, mit der Professor Dr. Walter-Herwig Schuchhardt in Freiburg sich
nach dem Tod des Herausgebers für das Zustandekommen dieser Ausgabe
eingesetzt hat. Er hat nicht nur die Beziehung zu Hellmut Sichtermann her-
gestellt, sondern auch das Deutsche Archäologische Institut in Berlin für die
Unterstützung des Bandes gewonnen. So ist es der Unterzeichneten ein auf-
richtiges Bedürfnis, dem Präsidenten dieses Instituts, Professor Dr. Kurt
Bittel, für das tätige Interesse zu danken, das er der Herausgabe der „Kleinen
Schriften" Winckelmanns durch Bewilligung eines beträchtlichen Druckkosten-
zuschusses entgegengebracht hat.
Professor Dr. Hans Zeller, Zürich, begleitete in freundschaftlicher Weise
mit Rat und Tat die letzten Arbeiten an dem Band und steuerte noch nach-
träglich seine schon länger zurückliegende (vergriffene) Edition der Entwürfe
zur Beschreibung des Apollo im Belvedere bei. Diese Entwürfe stehen nun
neben den gleichzeitig entstandenen, hier zum ersten Male vollständig ver-
öffentlichten Entwürfen zur Beschreibung des Torso im Belvedere. Herzlicher
Dank gebührt ferner den Herren Dr. Josi Dörig, Freiburg, Dr. Reinhardt
Habel, Marburg, Peter Jehn, Freiburg, und Dr. Lucas Wüthrich, Zürich, für
oft in Anspruch genommene Hilfe sowie allen im Kommentar genannten
Damen und Herren, die, zum Teil noch auf Anfragen von W. R., Nachweise
aus ihren Fachgebieten freundlich zur Verfügung stellten.
[VI]
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort V
Verzeichnis der Abbildungen IX
Einleitung XI
Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und
dem Unterrichte in derselben 211
Widmung vor der Geschichte der Kunst des Alterthums 234
Vorrede zu der Geschichte der Kunst des Alterthums 23 j
Widmung vor den Anmerkungen über die Gesdiidite der Kunst des Alterthums 247
Vorrede zu den Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums . 249
Anhang
Beschreibung des Apollo im Belvedere, in der Gesdiidite der Kunst des
Alterthums . 267
Entwürfe zur Besdireibung des Apollo im Belvedere 269
Entwürfe zur Besdireibung des Torso im Belvedere 280
Erinnerungen über die Begriffe der Schönheit in Werken neuerer Künstler, in
den Anmerkungen über die Gesdiidite der Kunst des Alterthums 286
Kommentar
Textgestaltung 291
Gebrauch der Klammern im Text 293
Bericht über die Erläuterungen 294
Verzeichnis der Abkürzungen 296
Werke 296
Literatur 297
Erläuterungen 3°3
Nachträge 510
Register jn
[VIII]
Verzeichnis der Abbildungen
4. Tydeus. Etruskische Gemme, aus: Description des Pierres Gravies du feu Baron
de Stosch dediie έ Son Eminence Monseigneur le Cardinal Alexandre Albani par
Μ. L'Abbi Winckelmann, Florence 1760, Taf. bei S. 348 (Zu S. 16$).
Einleitung
Es war Walther Rehm nidit mehr vergönnt, seine Auswahl aus den
Schriften Winckelmanns einleitend zu begründen. Er hat jedodi in einem
Brief an den Verlag in sehr entschiedenen Worten dargelegt, warum er
überhaupt eine Auswahl statt des Gesamtwerkes zur Edition empfehle und
hat damit in dem seit dem Tode Winckelmanns hin und her gehenden Streit
der Meinungen über den schriftstellerischen und sonstigen Wert seiner
Schriften eine klare Stellung bezogen: „Winckelmann ist weder ein philo-
sophischer noch ein schöngeistig-dichterischer Schriftsteller; er ist ein unge-
wöhnlich inspirierter und wirklich großer Gelehrter; als soldier teilt er das
Schicksal aller Gelehrten, daß die Wissenschaft über ihn fortsdireitet und
daß sein Werk unweigerlich veraltet." Es handele sich bei seinen Schriften
„nicht um diditerisdie oder philosophische Texte, die einen unüberholbaren
Eigenwert besitzen, sondern um Texte eines Gelehrten, deren sachlicher
Gehalt größtenteils erledigt ist oder nur noch antiquarisches Interesse erwek-
ken kann". Und nach genauer Darlegung der geradezu unüberwindlichen
Schwierigkeiten, die sich einer kritischen Ausgabe des Hauptwerkes, der
„Geschichte der Kunst des Alterthums" sowie der befriedigenden Präsentie-
rung und Kommentierung des französisch veröffentlichten Kataloges der
Sammlung Stosdi und der italienisch verfaßten „Monumenti antichi inediti"
entgegenstellen, erklärt Walther Rehm: »Was man allenfalls tun und ver-
antworten könnte, wäre eine kritisch-historische Edition seiner kleineren
Aufsätze und Essays, in denen er audi als Sprachkünstler und in seinem
pädagogischen Impuls sichtbar wird", dessen also, was „an Winckelmann
lebendig geblieben ist, seine Erstlingsschrift, einige kleinere Essays, auf
die er selbst großen Wert gelegt hat . . zum Abschluß heißt es dann:
„Man müßte freilidi am Beginn eines solchen Bandes . . . genau die Gründe
darlegen, die es sinnlos erscheinen lassen, eine Gesamtedition in die Wege
zu leiten."
Dem spät hinzugekommenen Mitherausgeber dieser nun wirklich zu-
stande gekommenen einbändigen Ausgabe, die an die Stelle der vor dreißig
Jahren noch geplanten Gesamtausgabe tritt und deren Umfang, Anordnung
XVIII Einleitung
und Gestalt bei seinem Hinzutreten bereits festlagen, will eine solche Dar-
legung nach den klaren Worten ihres Schöpfers jedoch nicht mehr notwendig
ersdieinen. Wird im Grundsätzlichen die Ablehnung überzeugend motiviert,
so kann man sich die Aufzählung der Einzelgründe ersparen. Es muß auch
verlockender ersdieinen, nicht die negativen, sondern die positiven Gründe
dieser Ausgabe darzulegen, nicht zu erklären, warum man weggelassen,
sondern warum man ausgewählt hat. Wenn die „großartige Bedeutung"
Winckelmanns nach den Worten Walther Rehms „sich sozusagen auf weite
Strecken hin von seinem Werk gelöst hat und greifbar ist vor allem im
Impuls, den er gegeben hat, und damit in der Weiterentwicklung der archäo-
logischen Wissenschaft, die er inauguriert" — warum dann trotzdem noch
eine Beschäftigung mit diesem Werk, und sei es audi nur in Auswahl?
Man wird es dem Schreiber dieser Zeilen nicht verdenken, daß er
gerade diese zuletzt zitierten Worte zum Ausgangspunkt seiner Einleitung
wählt. Daß Winckelmann die Ardiäologie begründet hat, ist heute zu einem
Gemeinplatz geworden. Warum aber hat dann der Herausgeber seiner
Schriften gerade des mangelnden Interesses der Ardiäologen wegen eine
Gesamtausgabe abgelehnt? „Niemand würde das lesen und von der Edition
Gebrauch machen; schon gar nidit die Archäologen, die ihn schon seit bald
hundert Jahren nicht mehr anschauen und seinen Namen nur jeweils im
Dezember bei dem sogenannten Windcelmannstag in den Mund nehmen und
ihre Programme nadi ihm benennen", heißt es in dem eingangs erwähnten
Brief. Eine neuzeitliche Kommentierung der Schriften hätte keinen Sinn:
„Die Archäologen kümmern sich nicht darum, höchstens hin und wieder
einer, der sich nolens volens mit der Geschichte der Disziplin befassen muß."
Dieser ihr Mangel an Interesse sei aber durchaus begreiflich: „Daß sie ihn
nicht mehr lesen, kann man ihnen nidit verübeln: er ist erbarmungslos
veraltet."
Das sind Worte aus einem Brief an den Verlag, und Waither Rehm hätte
sidi in einer Einleitung wohl weniger pointiert geäußert. Wir können das
audi der wesentlich großzügigeren Formulierung aus der Einleitung zur
Briefausgabe entnehmen, in der es heißt, daß Winckelmann „ursprünglich
und von Haus aus ein Gelehrter ist und sein will und dann erst ein Schrift-
steller im neuen Sinne wird" — wo also das reine Gelehrtentum Winckel-
manns keineswegs mit solcher Ausschließlichkeit behauptet wird. Vielleicht
hätte Walther Rehm dann audi sein Urteil über die Gleichgültigkeit der
Archäologen weniger apodiktisch ausgedrückt; denn gar so ungenannt ist
er bei diesen denn nun doch nicht: außer den direkt sich mit ihm befassen-
den Arbeiten von E. Gerhard, O. Jahn, A. Milchhöfer, B. Sauer, F. Koepp,
[XII]
Einleitung XIX
Η . Thiersch, Ο. Brendel, G. Karo, P. H . v. Blankenhagen, L. Curtius,
G. Bendinelli und R. Bianchi Bandinelli sind audi Auseinandersetzungen
fachlicher und methodischer Art mit ihm durchaus zu nennen: Adolf Furt-
wängler knüpfte in seinen „Meisterwerken" ausdrücklich an die Betrach-
tungsweise Winckelmanns an, Walter-Herwig Schudihardt setzte sich in der
Einführung zu seiner „Kunst der Griechen" ausführlich mit ihm auseinander,
Otto Brendel berücksichtigt ihn sogar in seinen „Prolegomena" zu einer
römischen Kunstgeschichte und German Hafner geht in der „Geschichte der
griechischen Kunst" mit langen, wörtlichen Zitaten bewußt von seinem großen
Vorgänger aus; ja, F.W.Bissing begann seine Behandlung der sardischen
Bronzen — gerade dieser, nicht etwa klassischer Meisterwerke! — noch
1928 mit ausführlicher Zitierung aller Äußerungen Windtelmanns, wobei
er bemerkte, daß man seither nicht über ihn hinausgekommen sei; und
kürzlich hat Heinz Luschey bemerkt, daß auch über Persepolis die
treffendsten Äußerungen von Winckelmann stammen. Daß Reinhard Herbig
keine bessere Kennzeichnung des dritten pompejanisdien Stiles als die For-
mulierung Winckelmanns fand: „Flüchtig wie ein Gedanke und schön wie
von der Hand der Gratien" sei als Beispiel für das Weiterleben sogar ein-
zelner Wendungen genannt.
Doch es ist keine Frage, daß im ganzen die Archäologie sich um den
Archäologen Winckelmann nicht mehr kümmert, und daß ihre „Festgedan-
ken", je festlicher sie sind, das Fehlen eines wirklichen Interesses nur um
so deutlicher machen. Das, was in seinen Schriften reine Wissenschaft war,
ist, soweit es richtige Erkenntnisse brachte, in den anonymen Komplex des
Gewußten eingegangen, soweit es Irrtümer enthielt, stillschweigend der
Vergessenheit überlassen worden. Um das, was darüber hinausgeht, seine
Grundeinstellung zur antiken Kunst und die daraus resultierenden ästheti-
schen Begriffe, kümmern sich heute nur noch wenige, und was dann dabei
gelegentlich geäußert wird, zeugt nicht immer von intensivem Interesse.
Wenn Ludwig Curtius, den nur „historische Erziehung" daran hinderte,
vom Auftreten Winckelmanns „mit Unwillen erfüllt" zu werden, und der
ihn in seiner „Klassischen Kunst Griechenlands" nur zweimal ganz kurz
erwähnt, sein „Verständnis und Gefühl für das Archaische" rühmt — nach-
dem schon A. W. Schlegel erkannt hatte, daß er sich im Gegenteil vornehm-
lich „Werken des gelehrten und zierlichen Stils" zugewandt hatte —, dann
ist das nicht viel verständnisvoller, als wenn Ernst Buschor die in einer
Abhandlung über „Begriff und Methode der Archäologie" nun einmal nicht
zu umgehende Nennung des Namens in die rasch aufgegriffene Floskel
„Winckelmann und seine Zeitgenossen" kleidet —, um sich mit ihm selbst
[XIII]
XX Einleitung
gar nicht erst beschäftigen zu müssen. Man mag sich hier an den eigentlichen
Sinn des Wortes „Fortsetzen" erinnern: Buschor ist sicher der größte „Fort-
Setzer" Windtelmanns gewesen! Nicht zu reden von jener, durdi J . D. Beaz-
ley repräsentierten Richtung, die sidi bewußt von der Suche nach verlorenen
Idealen abwendet und ihre ganze Kraft dem Vorhandenen um seiner selbst
willen widmet, sei es noch so klein und unscheinbar.
„Was er lehrte, ist abgetan; was er lebte, wird bleiben stahn: seht ihn
nur an — niemandem war er Untertan!" — sollen wir heute diese Worte
Nietzsches über Schopenhauer auch auf Winckelmann anwenden — viel-
leicht sogar mit mehr Recht auf diesen als auf jenen?
In der Tat scheint seit etwa hundert Jahren nicht nur die archäologische,
sondern die gesamte Beschäftigung mit Winckelmann ein solches Urteil zu
rechtfertigen: neben einigen wenigen Arbeiten, die sich mit seinen Werken
befassen, sind es immer wieder biographische Studien, die über ihn erscheinen,
und sie gipfeln fast alle in der Feststellung: „Seine Person ist größer als
seine Lehre" (Wilhelm Waetzoldt); Walther Rehms Briefausgabe, die er,
im Gegensatz zur Werkausgabe, dodi für sinnvoll und wichtig hielt, wäre
nichts als die weithin sichtbare Bekrönung all dieser Bemühungen.
Sie sind gewiß spektakulärer als die Beschäftigung mit seinem Werk,
und wer wollte bestreiten, daß Gerhart Hauptmann als Romanschreiber
einen guten Griff getan hat, als er sich Winckelmann zum Helden erwählte.
Dennoch, in den letzten Jahrzehnten sind einige Arbeiten zum Werk er-
schienen, die zu einer Revision des einseitigen Urteils zwingen. Die frühen,
oft verkannten Schriften, die schon Goethe „sowohl dem Stoff als der Form
nach . . . barock und wunderlich" genannt hatte und in welchen auch Carl
Justi „sibyllinische Dunkelheit" fand, sind von Gottfried Baumecker als
durchaus sinnvoll gefügt und durchdacht erwiesen worden, und aus der
Gesamtheit seiner Schriften, von deren Lektüre noch Ludwig Curtius ab-
raten zu müssen glaubte, hat Ingrid Kreuzer ein erstaunlich klares System
ästhetischer Anschauungen herausgearbeitet, welches nicht mehr als restlos
„abgetan" beiseite geschoben werden darf; auch die nicht immer leicht zu-
gängliche Sprache Winckelmanns ist in ihrem Verhältnis zum Gegenstand
in neues Licht gerückt worden, zunächst durch eine ausführliche Analyse
Hanna Kodis, sodann durch Hans Zellers großartige Arbeit über die
Beschreibung des Apoll.
Diese Arbeit zeigt nun in ganz neuer Weise, wie Werk und Leben,
Gedanke und Gefühl bei Winckelmann eine Einheit bilden, und von hier
aus wird auch das Verständnis der übrigen Schriften zu suchen sein. Daß
sie im Theoretischen, in der Methode und sogar bis in die Wahl der Worte
[XIV]
Einleitung XXI
[XV]
XXII Einleitung
der deutschen Literatur, bald den überragenden Gelehrten sah; und wenn der
gewissenhafte Eiselein, Winckelmanns Werke präsentierend, mit Nadidruck
erklärte: „Winckelmanns vorzüglicher Ruhm besteht keineswegs darin, ein
ausgezeichneter Archäolog gewesen zu sein; ihn hierein sezen, hiesse den
Mond zur Sonne machen", so polemisierte er damit ganz sidier nicht nur
gegen Heynes Lobschrift. Audi in neuester Zeit ist die Unsicherheit des
Urteils nicht gewichen; Ludwig Curtius etwa erklärte sich außerstande,
seinen großen Vorgänger befriedigend einzuordnen: „Halb ist er gelehrt-
nüchtern, halb ist er religiöser Hymnendiditer", und selbst in den eingangs
zitierten Äußerungen Walther Rehms fehlt sie nicht ganz.
So hat ihn sich auch keine Spezialwissenschaft wirklich zu eigen machen
können. All die zahlreichen und unaufhörlichen Lobpreisungen von Winckel-
manns Stil, die mit Herder, Schelling und Nicolai beginnen und in neueren
Zeiten in dem Urteil gipfeln, daß die „Geschichte der Kunst des Alterthums"
für die deutsche Prosa kaum mindere Bedeutung habe, wie Klopstocks
„Messias" für die deutsche Poesie (Wilhelm Waetzoldt), und daß die Ver-
öffentlichung der Apollo-Beschreibung das „Geburtsdatum der modernen
deutschen Dichtung" darstelle (Horst Rüdiger), haben ihm dodi nicht den
Ruf eines reinen Schriftstellers oder gar Dichters eingetragen; selbst dem
Gipfel seiner Prosa, der Beschreibung des Apoll, gehört nach neuestem Urteil
zwar ein Kapitel in der „Geschichte der deutschen Sprache und des Stils"
und natürlich auch eines in der „Kunstgeschiditssdireibung und der Beschrei-
bung von Kunstwerken" (Hans Zeller), nicht aber in der Literaturgeschichte,
und wenn auch Herder das „Pindarische" an ihm rühmte und sogar Goethe
ihm bescheinigte, daß er ein „tüchtiger unverkennbarer Poet" sei, so wird
man ihn in der Geschidite der Dichtkunst vergeblich suchen — die er doch
angeblich eingeleitet hat. Andererseits haben aber auch die Archäologen,
selbst diejenigen, die sich „nolens volens" mit der Geschidite ihrer Disziplin
befaßten, sich mit Wort und Tat für inkompetent erklärt, das letzte Wort
über ihn zu sagen.
Wenn wir nun auch legitimerweise bei der Klassifizierung eines bedeu-
tenden Menschen das Urteil der Nachwelt und nicht diesen selbst befragen,
so mag angesichts der Unsicherheit dieser Nachwelt hier eine Ausnahme
gestattet sein. Als was hat Windtelmann sich selbst gesehen?
Eine nach heutigen Begriffen bündige Antwort können wir nicht er-
warten. Immerhin lassen sich bemerkenswerte Abgrenzungen vornehmen.
Vor allem steht fest, daß er nicht als bloßer Gelehrter betrachtet werden
wollte. Nicht nur, daß er Sendschreiben und anderes verfaßte, was er
ausdrücklich für Nicht-Gelehrte bestimmte, daß er bei seinen Veröffent-
[xvi]
Einleitung XXIII
lichungen schon aus materiellen Gründen vor allem auf das Interesse der
„Liebhaber" spekulierte, so hat er sich auch anläßlich seines gewiß nicht
populären „Versuchs über die Allegorie" dem Verleger Walther gegenüber
ganz klar in diesem Sinne geäußert: „Ich schreibe von Dingen, die zur
Erleuchtung unserer Nation und zum guten Geschmack beytragen, und nicht
Sachen, die bloß Gelehrsamkeit betreffen . . . " ; und in der Vorrede zu den
nun wirklich ganz gelehrten Anmerkungen über die „Geschichte der Kunst
des Alterthums" steht dann sogar: „Die Gelehrsamkeit soll in Abhandlun-
gen über die Kunst der geringste Theil sein, wie denn dieselbe, wo sie
nichts wesentliches lehret, vor nichts zu achten ist." Wie zahlreich sind auch
seine abfälligen Äußerungen über das bloße Gelehrtentum, über die „akade-
mischen Kathedral-Possenreißer" und ihre „Pedanterie", das reine Bücher-
wissen ohne Kontakt mit den Gegenständen.
Viel davon ist allerdings nur Kritik an der falschen und schlechten
Gelehrsamkeit, nicht an dieser selbst. Daß er so ganz auf den Ruf und Ruhm
eines Gelehrten nicht verzichten wollte, zeigen schon seine Bemühungen,
Mitglied wissenschaftlicher Akademien zu werden, und seine Freude, wenn
diese Bemühungen Erfolg hatten. Auch ist bei ihm wohl eine gewisse Ent-
wicklung wahrzunehmen, wie sie Walther Rehm in dem oben zitierten Satz
aus der Einleitung zur Briefausgabe gekennzeichnet hat — wobei wir frei-
lich im äußeren Ablauf des Lebenswerkes gerade den umgekehrten Gang
vom Schriftsteller zum Gelehrten, von den „Gedanken" zu den „Monu-
menti" bemerken.
Wenn Winckelmann nun auch ablehnte, als bloßer Gelehrter eingestuft
zu werden, so hat er sich doch audi keineswegs als reiner „Literator"
gefühlt. Wohl hat er oft darauf hingewiesen, daß seine Werke „Original-
schriften" seien, daß alles, was er schreibe, sein „eigener Stoff" sei, ja, er
konnte Gessner kollegial zurufen: „Ich weiß, was Schreiben vor ein schweres
Werk ist" und erklären, daß es die „höchste Belohnung" für ihn sein
werde, wenn er „der Nachwelt würdig geschrieben zu haben erkannt
werde"; aber damit hat er seine Werke nicht etwa in die Sphäre reiner
Literatur rücken wollen: „Derjenige, welcher in das Wesen des Wissens zu
dringen suchet, hat sich nicht weniger vor der Begierde ein Litterator zu
werden, als vor dem, was man insgemein unter dem Worte Antiquarius
verstehet, zu hüten."
Beides wollte er nicht sein, und im ausschließlichen Sinne ist er auch
keines von beiden gewesen. Die Gründe dafür lassen sich deutlich auf-
zeigen, und durch die negative Abgrenzung ergibt sich auch die Möglichkeit
zur positiven Bestimmung.
[XVII]
XXIV Einleitung
Der eine, der Dichter wie auch der Philosoph, sieht das Einzelne als
Teil des Allgemeinen an, und nur als solcher hat es für ihn Bedeutung: von
seiner allgemeinen Höhe schaut er auf den Gegenstand herab und bemerkt
ihn nur, wenn er in seiner Blickrichtung liegt. Der andere, der Antiquarius
oder der bloße Gelehrte, sieht nur das Einzelne, und das Allgemeine hat für
ihn Bedeutung nur, sofern es mit dem Einzelnen zusammenhängt: er bildet
von seinem Gegenstand nur dann empor, wenn dieser zufällig von einem
Lichtstrahl aus der Höhe getroffen wird. Er zitiert die Dichter allenfalls,
dichtet aber niemals selbst.
Ganz anders Winckelmann. Das Wissen ist auch ihm wichtig, aber nur,
wenn er „in sein Wesen dringen" kann. So geht er, wie der Antiquarius,
audi vom einzelnen Gegenstand aus und lehnt die philosophische Methode,
welche „vom Allgemeinen auf das Besondere und Einzelne . . . gehet", aus-
drücklich ab. Aber er bleibt nicht bei dem einzelnen Gegenstand in seiner
Beschränkung stehen, sondern sieht ihn als Repräsentant des Allgemeinen,
wonach er dann beides, Gegenstand und Allgemeines, erst recht begreifen
und würdigen kann. Wenn man will, ist es ein paradoxer Vorgang: im
Apoll sieht er die Göttlichkeit — und von der Göttlichkeit her begreift er
ihn. Er fällt sein Urteil nicht als Philosoph, sondern durch sein Urteil wird
er Philosoph; er besingt seinen Gegenstand nicht als Dichter, sondern durch
das Besingen wird er zum Dichter. Er leiht nicht seine Sprache, seinen Stil
dem Gegenstand, sondern sucht umgekehrt, um dessen „Schönheit zu be-
weisen", seine „Schreibart aufs höchste zu treiben".
Diese seine ganz neue und besondere Art mußte freilich alle die in Ver-
wirrung bringen, welche Dichtung und wissenschaftliche Abhandlung, breite
Wirkung und Gelehrtenlorbeer streng zu trennen gewohnt waren. Daß hier
einer aufstand, dem die strenge und nüchterne Kenntnis des Gegenstandes
nur Vorbedingung war zu seiner Schau im Allgemeinen, daß er dazu weder
auf wissenschaftliche Akribie nodi auf dichterische Wirksamkeit verzichten
wollte, beides aber nur in gegenseitiger Relation gelten ließ, war etwas
gänzlich Neues, ebenso die sich daraus ergebende pädagogische Folgerung:
„Die Absicht aller Gelehrten Untersuchungen und Bemühungen sollte seyn
der allgemeine und besondere Unterricht, und wo dieser nicht zu erhalten
ist, ziehe die H a n d ab vom Werke und opfere es der Latona; denn es ist der
Nachwelt nicht würdig" — ein so kräftiges Ceterum Censeo zum Thema
„Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", an dem Nietzsche
seine Freude gehabt hätte, mußte den Zeitgenossen fremd und unerhört
vorkommen.
Es konnte da nicht an Mißverständnissen fehlen. Sah man, wie Barthe-
[XVIII]
Einleitung XXV
lemy, Frau von Stael, Brandes und viele andere in Winckelmanns Werken
nur eine gefällige Verbindung von gründlicher Gelehrsamkeit mit Geist und
Geschmack, die seine Schriften „agr^ables et utiles" madite, so stempelte
man den Sdireiber zum geschickten Popularisator, der als erster die „Aus-
beutung einer bisher esoterischen Wissenschaft in literarisch-künstlerischer
Richtung" betrieb (Carl Justi) und eine trockene Materie fesselnd darzu-
stellen verstand. Hielt man dagegen seine dichterische Behandlung für bloße
Manier, für „Pindarisieren" (Wieland), so erschien sie lediglich als persön-
liche Schwäche.
Aus bloßer literarischer Geschicklichkeit, sei sie auch noch sosehr von
wirklichem Geschmack gelenkt, hätte jedoch nie die große Wirkung der
Schriften Winckelmanns hervorgehen können. Sie bieten nicht Unterhaltung,
sie bieten Belehrung.
Daß aber aus gelehrten Untersuchungen „allgemeiner und besonderer
Unterricht" erwachsen kann, liegt nun wohl nicht nur an dem Untersuchen-
den, sondern auch an seinem Gegenstand. Und man könnte die Wirkung
Winckelmanns schon aus der Wahl seines Gegenstandes erklären: wenn
irgend etwas, dann sind griechische Kunstwerke dazu geeignet, sowohl die
forschende Neugier als auch die allgemeinsten und erhabensten Gedanken
zu erwecken.
Warum aber blieben so viele beim Forschen stehen, ohne zu bemerken,
daß ohne erhabene, erhebende Gedanken auch dieses Forschen ziellose
Ameisenarbeit bleiben mußte?
Beides mußte sich in seltener Konstellation treffen: Gegenstand und Be-
trachter, Objekt und Persönlichkeit. Daraus erst konnte das Bleibende,
Weiterwirkende entstehen, das Werk, das beide überlebt. Was Waither
Rehm bereits in „Griechentum und Goethezeit" ausgeführt hat, ist nach
Erscheinen der Briefe noch klarer zutage getreten: die schöpferische Frucht-
barkeit der Begegnung Winckelmanns mit der griechischen Kunst.
Die Persönlichkeit Winckelmanns als Vorbedingung seiner Leistung —
nicht in dem Sinne, in welchem die Tiefenpsychologie, der es an wirklicher
Tiefe eben oft mangelt, das Zustandekommen seines Werkes begreifen
würde: als ein Produkt der Verdrängung und Sublimierung sinnlicher Nei-
gungen. Ohne Frage war sie da, und sein Wort über den Faunskopf, den er
selbst besaß, ist vielleicht das Bezeichnendste, was sich zu diesem Verhältnis
anführen läßt: „Er ist mein Ganymedes, den ich ohne Ärgernis nel cospetti
di tutti i Santi küssen k a n n . . . " : man könnte ohne weiteres seine gesamte
kunstbetrachtende und kunstauslegende Tätigkeit als solch ein „Küssen,
ohne Ärgernis zu erregen" auffassen. Wäre aber nur das Negative, die Ver-
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XXVI Einleitung
[XX]
Einleitung XXVII
empfangen zu sein scheinen in einem von der Beobachtung der Natur abge-
zogenen Geist und wie zur Beschämung der Natur selbst, vielleicht nichts
sind als Bildnisse von Personen, die vor alten Zeiten gelebt haben" — dann
liegt diesem äußeren Widerspruch der glücklich gefühlte innere des Kunst-
werkes selbst zugrunde: daß es Natur und zugleich Gegennatur ist.
Begeisterung nur für die Schönheit der Form, nur für die Kunst ist
ebensowenig ein Ausgangspunkt zu ihrem Verständnis wie die Begeisterung
nur für die Schönheit der Natur, welche die Kunst wiederzugeben habe:
etwas Höheres, über der Kunst und der Natur Liegendes muß den zünden-
den Strahl aussenden, wenn es dann auch nur durch die Kunst oder die
Natur geschaut werden kann — nicht als Kunst- und nicht als Naturschön-
heit, sondern als Schönheit schlechthin. Mit einer solchen Einstellung hat
Winckelmann sich die Erlaubnis verschafft, zu schwärmen, ohne Ärgernis zu
erregen; er hat mit ihr aber auch die Tür aufgestoßen zum Verständnis des
Kunstwerkes über alle Schwärmerei hinaus: „Man geht also gewisser und
mit beständigeren Ideen in marmornen Schönheiten" — und auf beständige
Ideen kam es ebenso an wie auf die Schönheit.
Die gleiche Rolle, wie die sinnliche Bewunderung der Naturschönheit als
solche, spielt bei Winckelmann auch ihre bestimmte Richtung und Färbung,
die Bevorzugung des Männlichen. Wäre sie nicht vorhanden gewesen, so wäre
er nie zu seiner besonderen Art der Kunstbetrachtung mit allem, was sie für
die Nachwelt bedeutet, gekommen; doch das Ergebnis, das gültige, weiter-
wirkende Werk, ist frei von ihr. Es ist daher ebenso falsch, sie für über-
flüssig zu halten, wie es falsch ist, ihr den Charakter einer Lehre beizu-
messen. Man versteht Winckelmanns Werk wohl sehr wenig, wenn man
sich nur an die Ergebnisse hält und ihren besonderen Ursprung mit süß-
saurem Lächeln entweder verharmlost oder, wie Carl Justi, mit geradezu
mitleiderregenden Kapriolen darum herumredet als von einer unnötigen,
unverständlichen und eigentlich höchst bedauerlichen Zugabe. Welch völligen
Mangel an Einsicht in die Besonderheit des Schöpfertums seines Helden
zeigt es, wenn er diesen in heiliger Einfalt zurechtweist, weil er seine Schrift
vom Schönen dem jungen Freiherrn von Berg gewidmet habe: „Besser am
Platze wäre jene Widmung gewesen bei einem jungen Edelmann, der ein
Jahr nach von Berg in Rom eintraf: Dalberg" — der schließlich auch ein
schöner Mann gewesen sei! —, und wenn er den Beschreibungen die starke
Bevorzugung des Männlichen vorwirft: „Viel erfreulicher wäre es gewesen
und sogar Pflicht, wenn er uns etwas zu hören gegeben hätte über die herr-
liche Replik der knidischen Aphrodite . . a l s wenn irgend jemand außer
Winckelmann selbst seine „Pflicht" gekannt hätte, und als wenn die Schrift
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XXVIII Einleitung
über das Schöne nicht einzig und allein durch und für den Freiherrn von
Berg hätte entstehen können. Was hätte der die Pfliditen Winckelmanns so
gut kennende Kritiker wohl dazu gesagt, wenn dieser sein Vorhaben aus-
geführt hätte, dem sechzehnjährigen Florentiner Nicolo Castellani eine Ab-
handlung zu widmen? Bei der nicht nur von Winckelmann in höchsten
Tönen gerühmten Schönheit des jungen Mannes muß die gesamte Kunst-
wissenschaft bedauern, daß diese Abhandlung nicht zustande gekommen
ist, zumal wir — nicht erst seit Marcel Proust — wissen, wozu gerade die-
jenigen anregen können, die für das Ergebnis ihrer Anregung keinerlei
Verständnis haben — und auch nicht haben dürfen, sofern sie anregen
sollen.
Nicht viel besser als solche Kritiker verstehen aber auch diejenigen das
Werk Winckelmanns, die sich nur an seinen besonderen Ursprung halten
und entweder aus ihm, wie Berthold Vallentin, ein in sich selbst wertvolles,
idealisiertes System abstrahieren, oder ihn, wie es neuerdings wohl hie und
da geschieht, einfach „beim Namen nennen". Nicht trotz seiner Neigung,
aber auch nicht wegen ihr hat Winckelmann sein Werk geschaffen, sondern,
in doppelter Bedeutung, durch sie. Kenntnis und Weiterführung dieses Wer-
kes haben mit ihr nichts zu tun; seine großen Fortsetzer haben sie kaum
geteilt, ja, manch einer hat sie gar aus der Wissenschaft herauskomplimen-
tieren wollen: was hätte Winckelmann wohl dazu gesagt, wenn ihm Ernst
Buschors Verdeutschung des griechischen „o παις καλός" mit „Prachtkerl" zu
Ohren gekommen wäre! Aber doch ist es so: nachdem Winckelmann seine
παίδες καλοί im Marmor und im Fleisch angeschwärmt und, die marmornen
jedenfalls, dadurch paradoxerweise zum Rang von wissenschaftlichen Objek-
ten erhoben hat, können sie nunmehr, als solche, durchaus als „Prachtkerle"
auftreten; es tut ihrem Rang keinen Abbruch. Er selbst hat, wenn er die
Fähigkeit zur Würdigung männlicher Schönheit wohl auch als Bedingung für
die wahre Kenntnis der griechischen Kunst ansah, den Begriff der „höchsten
Schönheit" ausdrücklich über den Unterschied der Geschlechter erhoben,
nicht nur da, wo er ihn im Kunstwerk selbst verwischt sehen wollte, son-
dern auch da, wo er neben dem Apoll und dem Faun auch die Niobe
rühmte und einem Athenakopf gegenüber in fassungsloses Entzücken geriet.
Daß aber hier nicht etwa schon jene abstrakte Stufe erreicht war, die ihn
dann auch von der Schönheit der Baukunst sprechen ließ, sondern Natur
und Sinne nicht ausgeschlossen blieben, zeigen seine höchst bezeichnenden
Worte in einem Brief vom August 1766: „Die Ähnlichkeit der Viscioletta
[einer bekannten römischen Kokotte] mit der Venus kann vielleicht statt
Enden; denn wenn die Schönheit auf einem sehr hohen Grad ist, da das
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Einleitung XXIX
höchste nur Eins seyn kann, kann und muß eine Ähnlichkeit unter zwei
solchen Bildern seyn" — Naturschönheit und Kunstschönheit also zwei
gleichwertige „Bilder" derselben Schönheit!
Aus der Betrachtung einer solchen Schönheit ist dann alles sinnliche
Begehren verbannt; Winckelmann war trotz seines Ganymedes-Faun alles
andere als ein Pygmalion, und darin unterscheidet er sich mehr von man-
chem seiner Zeitgenossen, als es den Anschein hat. Kaum einen größeren
Gegensatz zu seiner Art Kunst zu sehen und zu würdigen gibt es als etwa
diejenige Lichtenbergs, der die „Erfindungen" in der Dichtkunst auf den
„ Erzeugungstrieb" zurückführte und bedauerte, daß die „feurigen Mädgen
nicht von den schönen Jünglingen schreiben dürfen wie sie wohl könnten",
weshalb die männliche Schönheit noch nicht „von den Händen gezeichnet
worden, die sie allein zeichnen könnten", und der auch von der bildenden
Kunst erklärt: „Alles wird uns schön was einige Relation auf sinnliche
Liebe hat . . . Wir haben die armen Knaben nicht mehr lieb wie die Grie-
chen, wenn unsere neuere Zeiten ein sdiönes Stück in der Bildhauerkunst
liefern, so muß es ein Mädgen sein" — wobei der Gegensatz zu Winckel-
mann gewiß nicht nur in der Wahl der Objekte liegt. Aber hat nidit sogar
Goethe „den Marmor erst redit verstanden", wenn er mit „fühlendem Auge
sah" und mit „sehender Hand fühlte"? Dabei hätte er nur Schiller zu be-
fragen brauchen, der wohl zugab, daß uns eine lebende weibliche Schönheit
„noch ein wenig besser als eine ebenso schöne bloß gemalte" gefalle, der aber
dabei genau wußte, daß sie dann „nicht mehr . . . dem reinen ästhetischen
Gefühl" gefalle. „Alsdann ist es nicht die Schönheit, die uns einnimmt, son-
dern die Wollust" hatte zu diesem Thema Winckelmann schon lange vorher
erklärt, er, dem die höchste Schönheit in Gott lag — ohne daß er ihre
wollüstige Wurzel verkannt oder verleugnet hätte. Aber er wußte zwischen
Wurzel und Frucht zu unterscheiden.
Auch hier ist es wiederum die besondere Art des Gegenstandes, die es
ermöglichte, daß aus der ebenso besonderen Art ihres Betrachters eine gültige
Methode ihrer Interpretation und Erforschung hervorwachsen konnte. Von
den Kuroi bis zum praxitelischen Hermes ist die griechische Kunst ohne
den Nährboden sinnlichster Erotik nicht denkbar; gerade aber, weil diese
Sinnlichkeit in der Kunst aufging, ist ihre besondere Richtung und Färbung
gleichgültig geworden, sind ihre Werke von göttlicher Reinheit und Un-
schuld. „Die griechischen Künstler reinigten ihre Bilder von allen persön-
lichen Neigungen, welche unseren Geist von der wahren Schönheit ablen-
ken" — das ist mehr als ein persönliches Bekenntnis. Und mehr als ein
solches ist es auch, wenn er vor die Anleitung, das Schöne in der Kunst
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XXX Einleitung
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Einleitung XXXI
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XXXII Einleitung
[XXVI]
Einleitung XXXIII
werden; man lese den Brief Heinrich Füsslis, den Walther Rehm im vierten
Band der Briefausgabe mitteilt, in welchem berichtet wird, wie Windtel-
mann mit Erklärungen von „philosophischer Deutlichkeit" beginne und
„begeistert wie sein Schutzgott, der vaticanische Apollo" endige. In den
deutlichen Erklärungen war die Begeisterung schon enthalten, und diese
setzte wiederum die philosophische Deutlichkeit voraus.
Ist es nur die parteiische Meinung des Schreibers dieser Zeilen, wenn er
in alldem genau das wiederfindet, was bis heute die Eigenart der Archäo-
logie ausmacht, ihrer Forschung, ihrer Art, sich dem Gegenstand zu nähern
und sich über ihn zu äußern?
Winckelmann als Inaugurator der Archäologie — nicht in einem rein
historischen, die Dinge allzu vereinfachenden Sinne, sondern als Beginner
dessen, was auch heute noch andauert, mit allem Großen und Fruchtbaren,
mit allen Fehlern und Schwächen: weil seine Weise, die antike Kunst zu
sehen und zu erforschen, die dem Gegenstand angemessene war und darum,
bei allem Wandel im einzelnen, in ihren Grundzügen bis zum heutigen
Tag andauern mußte.
Da ist schon der Beginn, die große Subjektivität, der persönliche Ge-
schmack. Beides hat seit Winckelmann die Archäologie nicht verlassen, und
ob man nun die klassischen Kunstwerke in edler Einfalt und stiller Größe
sieht oder sie in einer Hohen Schicksalswelt beheimatet, ist neben dem
gerade herrschenden Zeitgeist von der Persönlichkeit des Betrachters ab-
hängig.
Diese persönliche Schau muß sich notwendig in einer persönlichen
Sprache äußern, und auch darin hat Winckelmann der Archäologie das
Signal gegeben: wenn auch heute kaum noch pindarisiert wird, sondern eher
rilkisiert oder georgisiert, so ist der Ausgangspunkt der gleiche: nur ein
literarisches Kunstwerk kann einem Werk der bildenden Kunst gerecht wer-
den. Der Archäologe muß hier, wie Goethe gesagt hat, „Poet sein, er mag
daran denken, er mag wollen oder nicht". Ob jemand neue antiquarische
Erkenntnisse in guter oder schlechter Sprache vorträgt, tut der Bedeutung
dieser Erkenntnisse keinen Abbruch; soll aber von der Kunst geredet wer-
den, so muß die Sprache zur Prosa werden, bei der das „Was" und das
„Wie" nicht mehr zu trennen sind.
Es tut dabei nichts zur Sache, daß die Archäologie der hohen Anforde-
rung, zugleich Wissenschaft und Interpretation zu sein, nicht immer nach-
kommen kann, daß einige diese Sachlage ausnutzen und durch geschickte
Täuschungsmanöver bei den trockenen Antiquaren als geistvoll, bei den
geistreichen Laien als gelehrt gelten — wo sie doch weder das eine nodi
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XXXIV Einleitung
das andere sind, oder daß andere sich gar zu provokatorisch nur in einem
dieser beiden Bereiche bewegen, als sei e r der einzig legitime; es genügt, daß
die doppelte Forderung besteht. Es tut deshalb genausowenig zur Sache,
daß die Forderung nach literarisch-poetischem Ausdruck von vielen falsch
verstanden oder am Unrechten O r t erfüllt wird, und daß viele, gar zu viele,
dieser Forderung nur den guten Willen entgegenzusetzen haben — weshalb
die Stilblüten und sprachlichen Entgleisungen in der archäologischen Lite-
ratur von jeher ein üppiges Dasein geführt haben. „Wer künftig von der-
gleichen schreiben will, muß einen höheren Flug nehmen", hat Winckel-
mann seinen Nachfolgern zugerufen; er selbst besaß die starken Flügel dazu,
doch vielen der späteren Icarusse schmolz das Wachs an der unerbittlich
strahlenden Sonne, und statt des Hochiluges stand der elende Sturz am
Ende.
Die irdische Schwerkraft setzt freilich jedem Flug seine Grenze, und auch
Winckelmann hat sie zu spüren bekommen; was schon seine Zeitgenossen
beklagten, daß der Zwang, sich mit tausend gelehrten Fragen abgeben zu
müssen, den Schwung seiner Feder gehemmt habe, dasselbe läßt audi heute
immer wieder jene seltsamen Zwittergebilde aus hymnischer und unter-
suchender Sprache entstehen, die im Grunde keinen Leser mehr ansprechen.
Die beiden Federn, die Winckelmann zu führen verstand, liegen wohl auch
heute noch auf dem Schreibtisch eines jeden Archäologen — wer aber wüßte
immer im richtigen Augenblick die passende zu wählen?
Hierin ist Winckelmann wie die Archäologie überhaupt an die Grenze
ihrer allgemeinen Bedeutung gelangt, die letzten Endes im Gegenstand selbst
begründet ist. Wer von einem einzigen Objekt herkommt, um zur Allge-
meinheit vorzudringen, kann diese bei allem Talent nur so weit erreichen,
wie der Gegenstand es zuläßt. Die griechische Kunst ist groß und weit, aber
sie ist nicht allumfassend.
So begleitet gerade hier seit Winckelmann eine heimliche Enttäuschung
den Archäologen: als Fachgelehrter überschätzt er notwendig die mensdi-
lidie Bedeutung seines Gegenstandes — und muß bemerken, wie die Umwelt
dort stehenbleibt, wo er noch weitereilen will. Deshalb haben die wirklich
Großen, die Dichter und Seher, ihren Gegenstand, sofern sie dessen Gren-
zen fühlten, mit kühner Gebärde verlassen, um in das höhere Reich einzu-
dringen; selbst ein so leidenschaftlich dem Griechentum verbundener Geist
wie Hölderlin hat die steilen Gipfel seines Dichtertums nur dann erreicht,
wenn er die Griechen unter sich ließ: „Wenn du den Schnee des Pols und die
Geheimnisse des südlichen Himmels erblickt hättest, so würde deine Stirn,
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Einleitung XXXV
[XXIX]
XXXVI Einleitung
seins gemacht, und trotz aller Ausgrabungen ist es das bis heute geblieben.
Publizieren — das heißt nicht nur die eigenen Gedanken, sondern audi die
„Monumenti" selbst, sie von „inediti" zu „editi" machen; und da ist alles
schon da bei ihm wie bei den heutigen Archäologen: die Sorge um die Aus-
stattung, den Druck, und — immer und immer wieder um die „Kupfer",
die Abbildungen, die nicht rechtzeitig und nicht gut genug geliefert wurden;
ja, wenn man will, hat er sich schon Gedanken über einen Punkt gemacht, der
seither zum Kernproblem der modernen Wiedergabe antiker Plastik, des
Photographierens, geworden ist: die vorteilhafteste Beleuchtung — wobei
er zu dem auch heute noch gültigen Ergebnis gelangte, daß diese von oben
kommen müsse; darum seien auch, wie er pädagogisch liebenswürdig neben-
her bemerkt, die jungen Römerinnen ihren Freiern im Pantheon vorgestellt
worden.
Und gehört es nicht schließlich auch zum Bilde des Archäologen schlecht-
hin, daß er ein starkes, ganz persönliches, dabei keineswegs unkritisches und
bei aller Innigkeit doch distanziertes Verhältnis zu jenem Lande sudite und
fand, in weldiem allein der Grund zur Anschauung klassisch-antiker Kunst
gelegt werden kann?
Anderes ist demgegenüber mehr in den Hintergrund getreten oder hat
sich doch bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Wenn auch, und sei es nur im
stillen, die normative Anschauung der griechischen Kunst audi in der heuti-
gen Archäologie nodi ihre Wirkung ausübt, und wenn sogar kritisch-beleh-
rende Seitenblicke auf die nachantike und moderne Kunst nicht fehlen, so
ist doch der direkte oder gar fordernde Vergleich vollständig verschwunden.
Hierin war Winckelmann nicht so sehr der erste A r c h ä o l o g e , als der e r s t e
Archäologe; wer vor allen anderen in der griechischen Kunst die „hödiste
Schönheit" entdeckt hat, mußte notwendig fordern, diese Schönheit auch in
der späteren Kunst verwirklicht zu sehen — da die höchste Schönheit nur
eine sein kann. Je weiter Winckelmann sich von seinen Anfängen entfernte,
desto mehr gab er selbst diese Forderung auf.
Daß der von ihm in der fordernden Anfangszeit verwendete Begriff
der „Nachahmung", der heute ganz aus der Archäologie verschwunden ist,
nicht in dem platten modernen Sinne des „Imitierens" genommen werden
dürfe, ist sdion so oft gesagt worden, daß hier nicht erneut darauf einge-
gangen zu werden braudit. Auch Winckelmann wußte, daß die „Kunst erst
dort beginnt, wo die Nachahmung endet" (Oscar Wilde), und er hat sidh
deutlich genug darüber geäußert, daß das bloße „Nachmadien" noch keine
Kunst hervorbringe; ja, seine abfälligen und einschränkenden Bemerkungen
sind so zahlreich, daß man sidi wundert, wie er überhaupt je diesen Begriff
[XXX]
Einleitung XXXVII
positiv zu fassen unternahm. Da charakterisiert er bestimmte Zeichner, die
höchstens geschickt seien, das „Schöne nachzuahmen, nicht selbst zu finden",
nennt die römisdien Künstler „Nachahmer der Griechen", die „also keine
besondere Schule und keinen eigenen Styl haben bilden können", erklärt in
der „Geschichte der Kunst", daß die Kunst zu „sinken" anfing „in den
Nachahmern derselben", weshalb er einen „dritten Styl der Nachahmer"
postulierte; die Nachahmung aber „schränket den Geist ein", heißt es schließ-
lich sogar, sie „befördert den Mangel eigener Wissenschaft", und der Nach-
ahmer sei „allezeit unter dem Nachgeahmten geblieben". Zu solchen Auf-
fassungen kam er nicht etwa erst nach seiner Dresdner Zeit; schon in den
„Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte"
heißt es, daß die Geschichte von Gelehrten und Künstlern „nur Erfinder,
nicht Copisten, nur Originale, keine Sammler" verewige.
Der scheinbare Widerspruch solcher Äußerungen zu der programmati-
schen Frühschrift läßt sich allerdings nicht nur mit einem Wandel der Auf-
fassungen ihres Autors erklären; er ist letzten Endes im damaligen Gebrauch
des Wortes selbst begründet. Winckelmann hat — übrigens genau wie Les-
sing, der nicht immer seiner eigenen Definition folgte — mit „Nachahmen"
einmal das Kopieren anderer Kunstwerke, das andere Mal das Darstellen,
d. h. künstlerische Wiedergeben eines Gegenstandes gemeint — was schon
Adolf Frey in seinem geistreichen Büchlein über „Die Kunstform des
Lessingschen Laokoon" herausgestellt und neuerdings, nach Walther Rehm,
auch Otto Brendel ähnlich formuliert hat. Windcelmann hat wohl noch
weniger als Lessing die beiden Bedeutungen streng geschieden, und hat wohl
viel mehr, als wir nach dem heutigen Sprachgebrauch glauben würden,
auch bei der „Nachahmung der griechischen Werke" an die zweite Bedeu-
tung gedacht: statt der Natur solle man die Werke der griechischen Kunst
darstellen, als Gegenstände wählen — weshalb er eben von der Nach-
ahmung der griechischen W e r k e , nicht der Griechen selbst sprach. „Nicht ein
neues V e r f a h r e n zeigt seine Lehre den Künstlern seiner Zeit, sondern ein
neues O b j e k t " (Ingrid Kreuzer). Dadurch konnten diese Künstler dann
wohl auch endlich zu einer neuen W e i s e gelangen: „Wie die Griechen, nicht
nach den Griechen" (Walther Rehm).
Gerade in solchem Wortgebrauch zeigt sich die fruchtbare Eigenart
Winckelmanns. Daß er kein Philosoph war noch sein wollte, daß er auch der
philosophischen Kunstästhetik als solcher gleichgültig oder gar ablehnend
gegenüberstand, ist bisher meist als negatives Zeichen gedeutet worden.
Hinter solcher Ablehnung steht aber das richtige Gefühl, daß der forschen-
den Betrachtung der Kunst nicht mit der Theorie, sondern nur mit der
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XXXVIII Einleitung
Anschauung gedient sei; daß man also über Kunst, sofern man zu neuen
Einsichten gelangen will, nicht mit Termini tedinici, sondern nur mit leben-
digen Worten reden dürfe. So konnte er, in einem Brief an Franke, in aller
Unschuld erklären, daß die „Beschreibung des Apollo den höchsten Styl"
erfordere, da dessen Wirkung „unbeschreiblich" sei; das Unbeschreibliche zu
beschreiben ist der lebendigen Sprache nicht unmöglich. Mochten also nur
auch spätere und auch schon frühe Kritiker sich über die Unlogik entrüsten,
daß man durch Nachahmung des Unnachahmlichen selber unnachahmlich
werden solle (R. Benz) — als „Das untrügliche Mittel" sogar von Klop-
stock epigrammatisch verspottet —, sie verkannten genau das, worin hier
der Sinn des Wortes „Nachahmung" besteht: eben daß es kein Terminus
eines ästhetischen Dogmas, sondern ein lebendiges, darum in sich unlogi-
sches Wort ist.
Es ist erstaunlich, wie wenig bisher die Begriffe Winckelmanns unter
diesem Gesichtspunkt betrachtet worden sind, und wie häufig daraus Fehl-
interpretationen und MißVerständnisse entstanden. Erklärt man mit Ludwig
Curtius: „Kaum eines seiner Worte können wir heute noch wörtlich wieder-
holen", ohne an den inzwischen stattgefundenen Bedeutungswandel dieser
Worte zu denken, so bleibt allerdings nichts als die Folgerung, daß es un-
möglich sei, seine „durcheinandersdiillernden ästhetischen Begriffe in ein
System zu bringen". Die Unmöglichkeit einer „wörtlichen Wiederholung"
der Winckelmannschen Begriffe liegt jedoch nicht am unpräzisen Sprach-
gebrauch Winckelmanns, sondern an der Entwicklung, die diese Begriffe in
den vergangenen zweihundert Jahren durchgemacht haben. Außer der
„Nachahmung" wäre da noch manch anderes Wort zu nennen, wie etwa
Wohlstand, Verstand, Wissenschaft, Talent, Selbstdenken, das Wesentliche
— wir mißverstehen Windkeimann, wenn wir hier nur an den heutigen
Sinn dieser Wörter denken. Carl Justi etwa hält seinem Helden vor, daß er
abfällig von der „gemeinen" Natur spreche, wobei er übersieht, daß dieses
Wort hier noch nicht den herabsetzenden Ton hat, der ihm später anhaftet
— was Baumecker zwar tadelnd erwähnt, ohne jedoch des weiteren in seiner
sonst so gelehrten Schrift den Wortbedeutungen irgendwelche Aufmerksam-
keit zu schenken; selbst nicht bei so eklatanten Wörtern wie „Kontrapost"
und „Witz", die er in wörtlichen Zusammenhängen zitiert.
Dieses Schwanken der Wörter und Begriffe zwischen zeitgebundener,
lebendiger Bedeutung und terminologischer Erstarrung ist nun wiederum
ein Charakteristikum der archäologischen Literatur überhaupt, und hier
wären wir erneut beim Thema „Winckelmann als erster Archäologe" ange-
langt. So, wie der Archäologe nie zum absoluten Dichter oder audi nur
[XXXII]
Einleitung XXXIX
„Litterator" werden kann, so ist ihm auch das andere Extrem, das der exak-
ten Ästhetik oder Kunstphilosophie, versagt, wobei es jedoch bezeichnend
bleibt, daß er stets nach dem einen oder dem anderen hinüberschaut. Es
war kein Zufall, daß sich Windcelmann etwa in seiner „Allegorie" einen
Gegenstand wählte, der, wie schon Schlegel feststellte, sein theoretisches Ver-
mögen überstieg. Das Ahnen abstrakt theoretischer Zusammenhänge ist für
die Archäologie genauso kennzeichnend wie das Ahnen tiefster künstle-
rischer Geheimnisse; auch in seinen theoretischen Versuchen war Winckel-
mann der erste Archäologe.
Doch ist es Zeit, nun auch im positiven Sinne den Ton auf das Beiwort
zu legen. Es hat eine Bedeutung, die den rein wissenschaftlichen Bereich
weit hinter sich läßt. Zum Archäologe-Sein gehört nicht mehr als Talent,
Fleiß, Liebe zur Sadie und die Fähigkeit, sich mit Leib und Seele überhaupt
einem „Fache" zu verschreiben. Der e r s t e Archäologe zu sein, dazu gehört
— Genie!
Dieses ursprünglich Geniale bei Winckelmann ist es, was seine wahre
Unsterblichkeit ausmacht, nicht seine Tüchtigkeit als Gelehrter. Er war eben
nicht nur ein genialer Archäologe — er war ein Genie, das zum Archäo-
logen wurde. Das war es, was die vielen Nicht-Archäologen angezogen hat,
was sie veranlaßt hat, sich mit ihm, seinem Leben, seinen Briefen — und
dann endlich auch mit seinen Werken zu befassen; nicht seine meßbare,
benennbare Leistung, sein Ruhm als Fachmann. Auch nicht, daß er außer
einem Archäologen vielleicht noch etwas anderes gewesen wäre — Philosoph,
Dichter, Kunsttheoretiker, Geschichtsschreiber oder dergleichen; die fehl-
geschlagenen Versuche, ihn für eines dieser Fächer oder alle zusammen zu
gewinnen, zeigen deutlich, wie man das Unzulängliche spürte, ihn nur als
Archäologen zu sehen, sie zeigen aber auch, wie verfehlt es ist, ihn deshalb
einfach in ein anderes, „höheres" Fach oder, als vielseitiges Talent, in
mehrere andere zu versetzen, um seine Größe dadurch zu erklären. Er w a r
nichts anderes als Archäologe; aber er war es als Genie.
Dieses sein Genie-Sein zeigt sich in vielem, in großen und kleinen Din-
gen, im Leben und im Werk. Da er etwas w a r , brauchte er keinen Beruf;
da er ein inneres Ziel verfolgte, brauchte er, der als „vagus et inconstans"
galt, kein äußeres; da er sein eigener Richter war, brauchte er keine anderen.
Weil er der erste war, der ein großes Labyrinth betrat, fühlte er das jedem
genialen Wegbereiter innewohnende pädagogische Bedürfnis, die nachher
Eintretenden zu lenken und zu leiten, und er konnte das, weil er, im Gegen-
satz zu den Nur-Fachleuten, den Eingang nie aus den Augen verlor. Daher
seine Gabe — die er mit allen großen Lehrern der Menschheit teilt —
[XXXIII]
XL Einleitung
[XXXIV]
Einleitung XLI
[XXXV]
1
Fragment
Das größte Stück von Correggio an 3 Manns Längen hoch ist gleich-
falls eine sitzende Madonna mit etlichen Heiligen und einem Bischof in
einem reichen Habit, und ist auf Leinewand gemahlet, so wie eine andere
Madonna fast in eben der Größe mit einem Evangelisten und dem h.
J Francisco zur Seiten und neben jeden eine Nonne. Sie sind von seiner
ersten Manier, die in des Andrea Mantegna seine fällt. Aber Richardson
hat nicht wohl gesehen, wenn er die Manier des ersten von diesen 2 letz-
ten Stücken mit dem h. Georgen vergleichet.
Man siehet mit Vergnügen und Verwunderung den Sprung von sei-
10 ner ersten bis zu seiner vollkommensten Manier.
Außer diesen großen Stücken ist ein Portrait eines Medici von Cor-
reggio, doch nicht von seiner besten Manier: auch aus Modena.
Von Titiano sind die merkwürdigsten ein Frauenzimmer, nicht'
aber mit einem Portrait, sondern mit einem Fächer nach damahliger
n Mode, in Form des Tuchs an der Standarte, in der Hand. Sie soll die
Liebste des Mahlers Violanta seyn. Man hält es für eins der schönsten
Portraits von seinem Pinsel. N u r schade, daß es zu hoch stehet. Das
Frauenzimmer ist in weiß Satin gekleidet.
Die drey Gratien sind in seiner ersten A r t l:denn Titian hat seinen
20 Styl mehr als einmahl verändert :l das ist mit harten Contours. Contours
sind die äußersten Linien, die eine Figur umschreiben. Hart heißen die-
selben, wenn sich die äußersten Züge nicht almählich verlauffen, sondern
auf einmahl gleichsam abgeschnitten sind. Die Jünger von Emaus sind
schöner, und Christus, den man die Zinse-Müntze zeiget |: Christo alia
21 Moneta :l ist das berühmteste: aus Modena. Es findet sich eine Copie von
diesem, die dem Original so ähnlich ist als ein E y dem andern.
Man giebet außerdem noch eine liegende nackende Venus vor ein W e r k
dieses Meisters aus: sie hat aber keine vorzügliche Schönheiten, und kann
vielleidit nur aus seiner Schule seyn.
Von Titians Meister Giovanni Bellino ist ein Salvator schätzbar we-
gen des Alterthums, guten Ausdrückung und wegen der äußeren Schön-
heiten die dieses Werk von den ersten Jahren des X V I . Jahrhunderts be-
halten hat. Die Figur ist groß als die Natur; der Mantel von dem schön-
sten Ultramarin, welcher damahls wegen des Handels der Venetianer
nach dem Orient nicht so theuer muß gewesen seyn.
Es ist bekant daß diese Farbe aus einem edlen Stein Lapis Lazuli
1 Lasur-Stein I genannt gemacht wird. Man verfertiget noch itzo zu Ve-
nedig dergleichen Farbe von geringeren Werthe aus dergleichen Stein,
der in Welschland gebrochen wird. Der beste kommt aus der Tartarey,
und selbst das Waßer, das übrig bleibt, wenn diese kostbare Farbe ab-
getrieben und etliche mahl gereiniget ist, machet eine besondere Wür-
kung, wenn nur die Figuren damit überstrichen werden, ζ. E. in Ba-
taillen-Stücken kan man durch dergleichen saniften Anstrich machen,
daß die Lointains weit zurückprellen.
Bellino ist der erste unter den Venetianern der in Oel gemahlet.
Vom Tintoretto des Titians Schüler ist ein Christus wie er die Käufier
und Verkäuffer aus dem Tempel treibet mit mäßigen Figuren: aus
Modena.
Von Bassano ist eine Austreibung auch daher 2 Fuß 2 Zoll hoch:
2 Fuß 3 Zoll breit. Dieser Mahler gebraucht zu viel grün; das macht seine
Werke kenntlich. Man halte dieses gegen seine Geburth, und gegen seinen
Zug der Kinder Israel aus Egypten; man wird eben das Colorit finden.
Des Tintoretto Geist aber und seine oft ausschweifende Stellungen
zeigen sich nicht so sehr in kleinen als in großen Werken, wie sein Ertz-
Engel Michael ist. Werke von seinem Pinsel findet man fast in allen
Schilderey-Sammlungen, weil er viel und geschwinde gearbeitet hat.
Von Giorgione aber Titians Zeitgenoßen und Giov. Bellino Schüler,
findet man wegen seines kurtzen Lebens nicht so häuffig Stücke. Hier
sind einige sdiöne Köpfe und insonderheit ein schöner Christus mit dem
Zins-Groschen.
Man kan ihn vor den ersten halten in der frechen Art zu mahlen mit
tieffen Schatten. Der Weg war außerordentlich; aber es gelung ihm: in
den Gemählden seiner Vorgänger war mehrentheils alles helle, ohne Gra-
dation und Abweichung. Sein[e] Nachfolger in dieser starken und dun-
kelen Art, als Midiael Angelo da Caravaggio, Spagnolet und einige an-
dere sind nodi weiter gegangen.
Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie 3
Ungeübte Sinnen urtheilen von Stücken dieser Art bey nahe wie die
Sinesen überhaupt von unsern Gemählden urtheilen; sie gefallen ihnen
nidit wegen der vielen schwartzen Flecken: so nennen sie die Schatten.
Man glaubt, es sey der Natur Gewalt gesdiehen, die selten unfreundlich
und finster sondern sdiön und lachend ist. In Rubens Gemählden ist das
Gegentheil: das Licht breitet sich allenthalben aus. Aber diese verschie-
dene Manier gründet sich auf die verschiedene Einrichtung der Sinne und
Gemüther. Es haben daher schon unter den Mahlern der alten Griechen
und Römer einige die dunckele, andere die helle Manier angenommen.
Bey Liebhabern der Kunst, die keine Zeichner sind, muß nur nidit der
erste Anblick solcher Stücke entscheidend seyn. Sauvέs la premiere vue et
vous en seris content sagte jemand zu Ludwig X I V . den die Prinzeßin
aus Bayern Victoria bey ihrer Ankunft als Braut des Dauphin nidit auf
den ersten Augenblick eingenommen hatte.
Man wird audi oft bemerken, daß Künstler aus Furdit mit dem Pöbel
zu urtheilen, der gemeinen Empfindung und dem Sensui communi ent-
gegen rennen; da denn bey den meisten die dunckele Art den Vorzug
behält. Man pflichtet ihnen bey in den Stücken vom Guido, unter denen
die von seiner ersteren stärckeren und Caravaggio-mäßiger Art, die von
seiner letzten hellen und vaguen Art übertreffen, wenigstens an Stärcke,
Ausdrückung und Erhobenheit.
Von Caravaggio findet sich ein Soldat, aus Modena, groß wie die
Natur, an den er alles recht greiflich gemacht hat durch seine schwartze
Schatten. Vollkommener aber sind sein Petrus im Gefängniß und eine
Gesellschafft, die in der Carte spielet. Besagte Stücke hängen sehr hoch.
Ein Stück aber von einem Filou, der mit jemanden in der Carte spielet,
hänget niedriger, seine Art eigentlich zu bemerken.
Von Spagnolet sind sonderlich ein Betender Eremit und ein h. Ste-
phanus, groß wie die Natur, zu bemerken, von denen der letzte in seiner
sehr dunckelen Art ist. Der h. Franciscus, sonderlich Petrus im Gefängniß
sind von seiner besten Art. Seinen Eremiten kan man mit dem Eremi-
ten I: oder dem h. Hieronymo, unter welchen Namen dieses Stück auch
bekant ist :l von Rubens, vergleichen.
Von Guido Reni sind schätzbare Stücke vorhanden. In seiner starken
und ersten Manier; die so genannte Vorstellung Christi mit den 4 Evan-
gelisten groß wie die Natur: ein h. Hieronymus von gleicher Größe,
welche vor ihre Treflichkeit nur gar zu hoch hängen. In dem ersten
stehet hinten ein Cardinal, der viel ähnliches hat mit dem Cardinal Carlo
4 Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie
stärckste. Die Madonna nebst dem Evangelisten, der ihr zur Seiten
stehet, zeiget ihn in seiner Größe. Das Stück ist über drittehalb Manns
Längen hoch. Der Evangelist ist bey nahe noch einmahl so groß als die
Natur und ein Wunder von vollkommener Zeichnung.
Er hat es gemacht im 28."" Jahre seines Alters, wie das Jahr 1588.
zeiget, welches er in dem Fußgestell, auf welchem die Madonna sitzet, an-
gemercket. Allein er hat sich ebenfalls wieder die Zeitrechnung verstoßen.
Der h. Franciscus erscheinet hier dem Evangel, gegen über, und küßet
dem Kinde die Füße. Seine Brüder hatten diesen Fehler nicht begangen:
sie waren gelehrter.
Scarsellino da Ferrara hat in seiner heiligen Familie noch gröber
gefehlet, wo der Cardinal Carlo Borromeo I: den man an seinen spitzigen
Gesicht und großen Nase kennet :l vor dem Kinde kniet. Sie ist aus
Modena.
Das zweyte große Stück vom Annibale sind die Allmosen des h.
Rocchi, welches in Italien unter dem Namen Opera dell'Elemosina be-
kannt gewesen.
Ferner ist von ihm ein kleines längliches Stück: Christo in agonia:
groß wie die Natur und vollkommen schön. Ein Apollo in den Wolcken
groß wie die Natur, vortreflich leicht I suelto I gezeichnet, und wie das
vorige sehr wohl colorirt und beßer als seine großen Stücke. In den
Wolcken um den Apollo erscheinen 7 Köpfe kleiner geniorum, die wenig
grace haben. Dieses Stück ist 8 Fuß hoch und 4 breit.
Von Luigi Caraccio ist die Himmelfarth der Madonna, mit den
Figuren aller Apostel, groß, ja die vorderen größer als die Natur. Das
Gesicht der Mad. ist voll Majestät und zugleich voll Zärtlichkeit. Man
glaubet, daß sie mit den Engeln, welche sie begleiten, würcklich davon
flieget.
Alle Stücke der Caracci sind aus Modena: ich habe sie alle außer ihren
Quadri gesehen.
Diese drey Brüder, die ihrer Kunst Ehre machen, haben ihre gröste
Stärke in einer Zeichnung, die wenig ihres gleichen hat. Die schöne
Natur, Licht und Schatten war ihnen nicht vollkommen bekant.
Wenn ich der wenigen Kenntniß dieser und anderer Künstler in Licht
und Schatten gedencke und gedencken werde, ist dadurch nicht gemeinet,
daß sie nicht gewust, Licht und Schatten zu werffen nach der Richtung,
wohin ihn die Natur wirft, und daß sie nicht diejenigen Theile zu er-
leuchten gewust, die es der Natur nach seyn müssen. Sondern es ist ein
etwas, welches ihren Werken fehlet, und in der Correggio, Guido, Rubens,
6 Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie
3
Malvasia Felsina Pittrice.
* Esa. I. 3. Habac. III. 8.
Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerte 7
Geburt des Heilandes bis zur Reinigung seiner Mutter 30 Tage nach dem
Gesetz verfließen müßen, welche Zeit sie nicht an einem fremden Ort
wird zugebracht haben. Das Griechische Wort οικία bedeutet auch eigent-
lich ein Wohnhaus und φά[τνη] wird von mehr Dingen als von einer
Krippe gebrauchet.
Die Ordonnance ist gut; die Gewänder sind gut geworffen und reich;
das Gesicht der Madonna ist schön. Man kann die Vorzüge dieses Stüdes
noch mehr durch Vergleichung mit der kostbaren großen Anbetung der
Weisen von Albrecht Dürern, wo von ich unten reden werde, einsehen
lernen.
Dürer hat keinen Ochsen und Esel dabey nöthig befunden: er hat so
gar an statt des Stalles ein prächtiges Portal gemacht.
Gioseppe Chiari, ein neuerer Mahler hat diese Geschöpfe in seiner
großen Anbetung der Weisen ebenfalls weggelaßen.
Paolo hat seine Schwäche in Zeichnung des nackenden meistentheils
vermieden. Man entdecket aber dennoch dieselbe, ohne ein Meister in der
Kunst zu seyn, in seiner Auferstehung an den schlecht gezeichneten
Füßen des Heylandes und sonderlich an dem einen Fuß des einen Wädi-
ters bey dem Grabe. Die Zehen sind unterwerts zusammengezogen, als
es vor großer Pein in eine Marter geschehen würde.
Von seinen gewöhnlichen Fehlern wider die Costume sind die übrigen
Stücke, außer den Mode-Kleidungen seiner Zeit, ziemlich frey bis auf
die Erfindung Moses I: oder wie die Egyptisdie Prinzeßin den jungen
Moses aus dem Wasser ziehen lässet :l Es hat ihm gefallen, Schweitzer
mit Hellebarten darin anzubringen. Dieses Stück, welches nebst der Auf-
erstehung kleiner als die andern ist, hat gewisse Vorzüge vor den andern.
Es ist wohl grouppiret und [hat] sich wohl und helle erhalten.
Die Prinzeßin ist eine vollkommene und erhabene Schönheit; der-
gleichen in seinen Werken nach dem Zeugniß der Kenner etwas selte-
nes ist.
Paolo merkte, was ihm in der Zeidmung fehlet und suchte sich nad»
den Werken des Parmeggianino zu beßern.
Von diesem großen Meister in der Colorit in der Zeichnung und
sonderlich in den sanften rührenden Schönheiten seiner Gesichter ist erst-
lich der h. Stephanus und Johannes der Täuffer in der Glorie.
Es werden sich von geistlichen Stücken, ausser die vom Correggio
wenige finden, die diesem zu vergleichen sind. Die Erfindung ist sehr
einfältig, aber der Geist der Colorit, die Gewänder, und gewisse dem
Künstler eigene Schönheiten, die sich leicht von anderer Meister ihren
8 Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie
Die Figuren sind groß, wie die Natur. Beyde Stücke sind aus Modena.
Seine Madonna, groß wie die Natur, ist so groß, aber vollkommen
in seinem Styl. Das Kind ist fast zu nackend. Die Madonna hat gar zu
lange Finger für eine schöne Hand.*
In der Zärtlichkeit hat es Albano noch weiter gebracht. Man findet
hier ausnehmend schöne Stücke von ihm. Ein Bad der Nymphen, und
Diana und die Nymphen im Bade nebst dem Actäon: alle beyde auf
Holz gemahlet. Sie sind klein; ziehen aber so gleich aller Äugen auf sich:
Albano hat auch mehrentheils in kleinen gemahlet.
Liebes-Götter, spielende Nymphen und Dryaden
5 Man könte an diesem Orte von mir fordern wollen, die eigentlichen
Unterscheidungszeichen der Manier dieses Künstlers von andern Künstlern
anzugeben. Es verhält sich mit den Schönheiten der Gemähide wie mit der
Schönheit überhaupt. Man fragte einen alten Philosophen: Was ist die
Schönheit? Ich rede vom Aristoteles; Laßet, gab er zur Antwort, diese
Frage für die Blinden. Komm und siehe, stehet im Evangelio. Man würde
unendliche Umstände angeben müssen, diese Merkmale nur einigermaßen
zu bestimmen, und bey jemand der ohne genie gebohren, oder nicht Ge-
legenheit hat, dergleichen Werke oft zu sehen, würde es fast eine eben so
vergebliche Mühe seyn als in Meiers Anfangs-Gründen der schönen Wis-
senschaften eine Kette von Millionen definitionen für Leute ist, die eben so
wenig von dem Feuer, das Prometheus den Göttern gestohlen, haben, als
der Verfasser selbst davon bekommen hat.
6 Ε la Candida man spesso si vede
Lunghetta alquanto e di larghezza angusta
Ariosto Orl. Fur. Cant. VII. Str. 1 j.
Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie 9
7
Man vergleiche damit das erste Kupfer von Audran nach Albano Werken
gestodien, unter den 4 Stüdcen, welche unter den Copien von Watteau
vor dem grünen Cabinet zu Nöthnitz hängen.
* Vincta quaedam quasi solvenda de industria sunt, illa quidem maximi la-
boris, ne laborata videantur. Quintil. Inst. Orat. 1. X . c. 4.
10 Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie
laßen, es reifer zu machen. Mit dieser Erfahrung muß man die neuesten
Stücke von H . Hofmahler Dietrich beurtheilen. Seine Carnaggione komt
des Albano seiner am nächsten bey. Man vergleidie ferner mit ange-
führten Meistern und Stücken die Entführung der Proserpina von
Johann Rothenheimer aus München l:an der Seiten des Eingangs zur
Linken in die innere Gallerie, und zwar inwendig* :l
In dem Talent der Zärtlichkeit und in Ausdrückung sanfter Leiden-
schaften l:aber in größeren Figuren :l stellet man billig dem Albano zu
Seiten, den Ritter Carlo Cignani und Carlino Dolce.
Von jenem ist der keusche Joseph groß wie die Natur, 3 Fuß hoch
und eben so viel Fuß breit.
Von diesem zwey Stücke in eben der Größe groß wie die Natur:
die h. Cecilia I: die Patronin der Music :l und die Tochter der Herodias
mit dem Haupte Johannis.
Cecilia spielet auf einem Clavecin. Ihr Auge zeiget, daß sie sich
vergißet in einer Entzückung über eine himmlische Music, welche sie
höret. I: Sie soll alle ihre Instrumente weggeworfen haben, da sie die-
selbe gehöret :l Ein gemeiner Künstler würde aus Besorgung, daß man
weiter auf nichts als auf ein spielendes Frauenzimmer denken würde,
eine Englische Music in den Lüften angebracht haben, wie in der Cecilia
auf der Gallerie aus der Schule des Rafaels, aber mit Redit, geschehen.
Unser Künstler hat dieses in das Auge geleget und sein Stück nur
für ein denkend Auge gemacht.
Man muß nicht alles schreiben, was man schreiben könte; also audi
nicht alles mahlen
Diese Stücke sind mit solchen Fleiß gemacht, daß man fast keinen
erhobenen Pinselstrich siehet.
Allein man muß die Größe der Gallerie so wie die Größe der Kunst
in großen Stücken suchen.
Der Bethlehemitische Kinder-Mord von Cav. Celesti und vom
Trevisano ist ein wahres Helden-Gedicht, und beyde sind so voll-
kommen in ihrer A r t als des Ritter Marino Gedicht. I Strage degli Inno-
centi I
9 Ich habe den O r t von ein paar kleinen Stücken angezeiget. Größere Stücke
sind eher zu finden.
Beschreibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie 11
10
Man vergleiche in der Colorit mit diesen beyden seinen Cupido und
Psydie: groß wie die Natur: man wird wieder eine andere Art finden.
12 Besdireibung der Gemälde der Dreßdner Gallerie
Über Xenophon
Fragment
1
Diog. Laert. L. II. Sect. 48. p. 109. edit. Menag. Chio Epist. 3. in Collect.
Epist. Aldina graec.
2
Photii Biblioth. Cod. CCLX. edit. Rothomag. 16$}. p. 1456.
3 Dionys. Halicarn. Epist. ad Pom[p]ejum. §. 4. edit. Oxoniens. Tom. II.
p. 210. — Idem Censura de prisc. Scriptor. c. III. §. 2.1. c. p. 12$.
14 Ober Xenophon
jüngere, Cyrus. Darius ließ sie, da er kranck wurde und sein Ende
merckte, vor sich kommen."
Man fühlet den Unterschied: hier spricht gleichsam die unschuldige
Jugend, dort ein männliches Alter. Ein Scribent der bey Entwerfung
einer Geschichte noch mehr Absichten als die Wahrheit hat, könte glau-
ben, sein Werck würde mit dergleichen Eingang gar keinen Anfang zu
haben scheinen.
Die Lehrer der Redekunst unter den Griechen fanden diesen An-
fang vollkommen schön und stelleten denselben in verschiedenen Fällen
als ein Muster vor*.
Man 5 suchte ihn nachzuahmen, aber vielleicht (noch) mit noch
wenigem Beyfall als in einem gekünstelten und weitgesuchten Eingang
geschehen seyn würde. Die nackten Gratien würden dem Meister mehr
Mühe zu schildern kosten als die Gemahlin des Jupiters mit aller ihrer
Pracht: ein prächtiger Aufzug vom Cagliari wird leichter als eine Diana
im Bade von Albano nachzuahmen seyn.
Thucidydes hat vor gut befunden vor Erzehlung der Geschichte des
Peloponnesischen Krieges, welchen er erlebet, in die ältere Geschichte
von Griechenland zurück zu gehen. Cäsar der dem Xenophon, wie es
scheinet als seinem Muster gefolget ist, trit nidit wie derselbe mit dem
ersten Wort in die Geschichte des Gallischen Krieges, welchen er selbst
geführet.
Aber an bey den Orten war eine vorläuffige Nachricht nöthig: ein
Anfang ohne Eingang würde hier mangelhaft gewesen seyn, und man
würde vielleicht geurtheilet haben, wie Aristoteles von des Gorgias Lob-
rede auf die Eleenser, welche sich anfieng: „Elis ist eine glückliche Stadt".
Er sagt, in dergleichen Rede auf solche Art anzufangen heiße überhin
gefahren, kahl und nachläßig 6 .
4
Aristid. Art. Orat. Lib. II. 16. edit. Jebb Tom. II. c. 12. §. 2. p. 516.
5
Lucian. de hist, scrib.
6 Aristot. Rhet. L. III. c. 14. edit. Lond. 1619. 4. p. 223. — ως αυτοκαυδαλα
φαίνεται.
Ober Xenophon 15
7 Cie. de Orat. Nihil est in historia pura & illustri brevitate dulcius.
8
Diodor. Sic. Hist. L. XLIV. c. 13. edit. Weßeling. p. 649.
16 Über Xenophon
wolten vielleidit in einer Rede mehr Feuer als in einer Erzehlung haben.
Livius und Tacitus würden sie mehr rühren. Mich däudit aber sie wür-
den an diesen Ort und in diesen Umständen wie Clearch mit einer
} heftigen Rede getadelt zu werden verdienen.
Das Heer war aufsätzig; ihr Feldherr konte es allein mit Gelaßenheit
besänftigen.
Die Rede welche Cäsar dem Ariovistus halten läßt, ist frech, so wenig
sidi audi der Ausdruck über die vorgehende Erzehlung erhebt (bricht ab)
17
Diese und ähnliche Kentnisse, wenn sie aus den ersten und wahr-
scheinlichsten Quellen hergeleitet sind, geben diejenigen großen Züge,
welche den Kayser vollkommener schildern, und uns von dem innersten
seiner Seele mit mehrerer Zuverläßigkeit zu urtheilen erlauben, als aus
seinem raren Portrait von Christoph Ambergern nach dem Leben ge-
mahlt, nicht geschehen kann.
Die Wahrheit ist zwar so ehrwürdig und so schätzbar, daß sie auch
in den geringsten Umständen, ja in angegebenen Tagen der Urkunden
selbst, nach der eigenen Rechtfertigung eines bekamen Gelehrten über
dergleichen Untersuchungen, einer ernsthaften Nachforschung würdig ist:
Man überlaße auch unsere meisten heutigen Geschichtschreiber einem
strengen und tyrannischen Gesetz, welchem sie ihre eigene Wilkühr und
Wahn unterwerfen, alles zu schreiben, was man schreiben kann: In einem
mündlichen Vortrage aber kan man, wie ich glaube, einige Nachsicht
fordern, wenn man sich über Kleinigkeiten erhebt, und nicht mit einem
Calender in der Hand, seinem Held von Tag zu Tag, von Schritt zu
Schritt folget. Ja man muß es verzeihen, wenn man in Entwerfung der
Thaten einiger Helden I: ich rede nur von der neueren Geschichte :l ihre
Siegeszeichen nur in ein schwaches Licht, und in dem entferntem Grund
ihres Gemähides setzet.
Es ist nicht zu läugnen, die großen Tage, wo Helden ihre Lorbern
gesamlet, geben einer Geschichte keinen geringem Glantz als dem Krie-
ger selbst, und das menschliche Hertz hat einmahl die Verderbniß, es
höret mit Vergnügen von großen Niederlagen und Blutvergießen; die
Kinder sind aufmerksam bey Erzehlung solcher Fabeln wovor ihnen
die Haut schaudert. Die Todten selbst sind, wie Horaz sagt, nicht klüger
geworden. Sie gönnen den Gedichten der Sappho und des Alcäus ein
geneigtes Gehör, aber ihre Entzückung ist viel größer über des letzten
seinen, der nichts als Kriege und Schlachten besungen
Man siehet freylich den grösten Mann unter allen Griechen nirgend
größer als bey Leuctra und Man tinea: Der Uberwinder Hannibals er-
scheinet in dem Gefilde bey Zama in seinem grösten Glantz.
Aber es führen uns zween Feldherrn auf diese ewig berühmten
Vom mündlichen Vortrag der neueren Geschichte 19
Wahlplätze; sie führen uns wie die Minerva des Homers, und wir sehen
nichts als Vorwürffe von Verwunderung. Dort ist es Xenophon, ein
Schüler und Freund des Socrates, das Haupt von zehen tausend Helden,
der göttliche Mund durch den die Musen selbst gesprochen: hier ist es
Polybius der Lehrer und Freund des großen Scipio (was für ein Lob,
was für ein Ruhm!) der Feldherr des Achäischen Bundes, der große
Lehrer aller Krieger und Helden nach ihn.
Wer ist der Herold von dem Mantinea der Deutschen, wo der Epa-
minondas aus Norden, durdi diejenigen neuen und ursprünglichen Ord-
nungen und Bewegungen der Völker, die ihn Leuctra und Mantinea
gelehret, die deutsche Freyheit, selbst in seinem Tode siegreich, aus der
drohenden Kneditsdiaft befreyet?
Merian, ' ein Timäus neuerer Zeiten' hat sich hier zum Xeno-
phon aufgeworfien. In seinem so genannten Schauplatz von Europa
muß man die ersten Nachrichten von der Disposition und den großen
Bewegungen beyder Kriegsheere suchen, und diese sind so mangelhaft
und ungelehrt, daß der große Ausleger des Polybius mündlich fort-
gepflantzte Umstände nöthig gehabt, um uns einen deutlichen Plan von
dem blutigen Schauplatz bey Lützen zu geben.
Dieser große Mann und sein Nachfolger, der Aristoteles der Krieges-
Kunst haben endlich zu unsern Zeiten einem Lehrer der Geschichte, der
sie zu nutzen gelernet hat, das Feld geöfnet. Ihre Schrifften sind ge-
schickter als Gorgias und Phalin uns den Krieg unter den Büchern zu
lehren. Man nehme was man nöthig hat, aus denselben.
Man zeige was das ist das berühmten Kriegern die wahrhafte Größe
giebt. Türenne ist größer auf seinen Märschen gegen den Montecucoli,
als in dem Sieg über den Printz von Conde. Die mit Klugheit und ohne
tausend Menschenopfer überwundene Schwierigkeiten machen den Held.
Fabius Maximus und Sartorius sind vielleicht größer als Cajus Marius.
Das Flegma und die ruhige Stille des Spartaner Clearchus in der grösten
Gefahr, machen audi den Sieger bey Blenheim unsterblich.
Und da ein mündlicher Vortrag mehrere Freyheit gestattet Helden
und Printzen die Larve abzuziehen; so erkühne man sich zu sagen, daß
Carl I. in Engeland ein Tyrann, Leopold der Große ein schwacher Printz.
und Philipp V. ein Narr gewesen.
Der letzte Hertzog von Lothringen, den Ludwig XIV. von Land und
Leuten verdrungen, ist unendlich erhabener in den Augen der Weisen
und bey denen welche die wahre Menschheit fühlen, als der vergötterte
König.
20 Vom mündlidien Vortrag der neueren Geschichte
Er ist der Titus und Trajan eines kleinen Volks, ein Freund der Men-
schen, ein Vater des Vaterlandes, ein Helfer der Unterdrückten, ein groß-
müthiger Beförderer der Künste: Der würdigste Printz die Welt zu
regieren und tausend Lebens-Jahre von den Parcen erhalten zu haben.
Ist es aber nicht eine Schande für unsere Zeit? Das Andenken dieses
Phönix unter den Printzen wird kaum in der Geschichte erhalten werden.
Solte denn, wie es sdieinet, ein gütiger Printz, der Friede in seinen
Grenzen und Ruhe in seinen Pallästen heget, kein Vorwurff seyn, den
Geist und die Beredsamkeit eines Geschichtschreibers zu zeigen, so sey
es ein Vorwurff des mündlichen Vortrags. Man sammle die Asche gütiger
Fürsten: man unterrichte durch Vollkommenheiten der Seele mehr als
durch die Stärke des Arms.
Ich würde vollkommenen Printzen die Nahmen starker und ewiger
Freunde zur Seite setzen, zum Unterricht der Menschenkinder, den
Schatz zu suchen, von dem alle Welt, wie von Erscheinungen, spricht,
und den niemand gesehen.
Allein es erscheint kein Theseus und Pyrithous, kein Plato und Dion,
kein Epaminondas und Pelopidas, kein Scipio und Lälius in den großen
Geschichten neuerer Zeiten. Kaum ist das Andencken zweyer göttlichen
Freunde, Nicolas Barbarigo und Marcus Trivisano, aus den ansehnlich-
sten Häusern des Adels zu Venedig in einer kleinen raren Schrifft der
Vergessenheit entrissen worden. Eine Freundschafft die ein ewiges Denck-
mahl auf allen öffentlichen Plätzen ihres Vaterlandes verdienet hätte,
und derjenigen nicht an, die uns sagen, was Jupiter der Juno ins Ohr
gesaget hat.
Man entsehe sich nicht auch so gar einen Moncada de Velasco, einen
Vom mündlichen Vortrag der neueren Gesdiidite 21
zu den Säulen des Herkules, und von der Caspischen- bis in die Ost-See
alle Meere und Flüße mit ihren Schiffen bedecket, werden sich vielleicht
vor den Schiffen in zwey kleinen Hafens in der Nähe fürchten müssen.
Diese große Veränderungen sind die Berge die an die Stelle der
Hügel kommen, nach jenes Weisen Lehr-Satz; es sind die Berge, aus
welchen wiederum Hügel entstehen werden wenn sie Zeit dazu haben.
Man zeige zugleich die großen Mittel an wodurch Staaten glück-
lich und mächtig geworden. Durch Handlung und durch Beschäftigung
vieler Hände hat Perikles Athen, so wie Elisabeth Engeland dem Neide
selbst zum Wunder gemacht.
Ein Land welches vor Alters nur Hunde und Zinn an andere Na-
tionen überlaßen konte, und weldies allererst unter dem Severus als eine
Insel bekant wurde, kleidet mit seiner Wolle, die man vor 200 Jahren
im Lande selbst nidit zu verarbeiten gelernet hatte, die gantze Welt.
Die Nation die unter Heinrich VIII. ja noch unter der Elisabeth sidi
genöthiget sähe, von den Kaufleuten in Memmingen und Antwerpen
Geld-Summen, das Hundert für zwölf, aufzunehmen; diese Nation,
sage ich, ist in dem Schooß des Ueberflußes vergnügt, wenn Ausländer bey
ihnen für drey das Hundert suchen.
Die Betrachtung über den wunderbaren Wechsel in den Reichen ist
eine von den glücklichen Gelegenheiten, welche der mündlidie Vortrag zu
nutzen hat, und wo demselben weitere Grenzen als dem Geschicht-
schreiber gegeben sind. Man wage eine kleine Ausschweifung dem großen
Endzweck gemäß, lehrreich zu seyn, um die merkwürdige Perioden und
Cirkel der Staaten in älteren Zeiten.
Die Carthaginenser und nach ihnen die Römer holeten ihr Silber aus
Spanien: es war billig, daß sich die Spanier ihres Schadens anderwerts
erholeten: sie holen ihr Silber aus Indien: vielleicht kommt künftig die
Reihe auch an die Indianer, das Recht der Wiedervergeltung zu üben.
Omnia nunc fiunt fieri quae posse negabam
Et nihil est de quo non sit habenda fides.
Die Spanier vertauschten ehemahls mit den Tyriern ihre Silber-
barren gegen Oel, welches ihnen diese zuführten; die Einwohner der
Balearischen Inseln schmiereten sich mit Butter an statt des Oels, weldies
ihnen mangelte. Das Blat hat sich gewandt: Spanien und gedachte
Inseln sind itzo diejenigen Länder die andere Völker mit Oel versehen
können.
Zu den großen Begebenheiten in den Reichen gehören die berühmten
Vom mündlidien Vortrag der neueren Geschichte 23
Entdeckungen in der Natur und Kunst: auf beyde sollen Lehrer der
Geschichte nidit weniger als Staaten aufmerksam seyn.
In der Regierung des vorigen Königs in Portugal wird die Ent-
deckung der Goldkörner, noch mehr aber die Menge von Diamanten in
Brasilien, die man eine geraume Zeit als Kieselsteine weggeworffen hat,
einer der merkwürdigsten Zeitpuncte bleiben.
Die Entdeckungen in der Kunst sind nodi allgemeiner als zum Theil
die in der Natur
neuerer Zeiten sind oftmals weniger durch sich selbst als durch Beyspiele
zu erklären und zu richten. Die altern werden uns in den neuern über-
zeugen, daß die Staatskunst sich fast allezeit aus einer unglücklichen und
kläglidien Nothwendigkeit über die Moral erhoben. Diese Vergleichun-
} gen werden uns zugleich zeigen, daß die neuere Welt nicht böser und daß
unsere Zeiten nidit durchgehends schlechter sind. Bey allen Ausschwei-
fungen aber hüte man sich nicht mit dem Sack auszustreuen sondern mit
der Hand.
Gedancken
über
die Nachahmung der Griechischen Wercke
in der
Mahlerey und Bildhauer-Kunst.
Dem
Allerdurchlauchtigsten, Großmäditigsten
Fürsten und Herrn,
HERRN
FRIDERICH AUGUSTO,
Könige in Pohlen etc. Churfürsten
zu Sachsen etc.
28
Zu Augusti Zeiten würde man geglaubet haben, ein Werck, das die
Künste betrift, verlöhre an sich selbst viel, wenn es jemand anders, als
dem August selbst, dem Vater der Künste, gewidmet worden wäre.
Das wenige, was idi bringe, sey zugleich ein Opfer für den Schutz-
Gott des Reichs der Künste, dessen Grentzen ich zu betreten gewaget
habe; und Opfer sind allezeit weniger durch sich selbst, als durch die
reine Absicht derselben, gefällig gewesen: diese wird für mich das Wort
reden.
Der gute Geschmack, welcher sidi mehr und mehr durch die Welt aus-
breitet, hat sich angefangen zuerst unter dem Griechischen Himmel zu
bilden. Alle Erfindungen fremder Völdker kamen gleichsam nur als der
erste Saame nach Griechenland, und nahmen eine andere Natur und Ge-
stalt an in dem Lande, welches Minerva, 1 sagt man, vor allen Ländern,
wegen der gemässigten Jah II res-Zeiten, die sie hier angetroffen, der
Griechen zur Wohnung angewiesen, als ein Land, welches kluge Köpfe
hervorbringen würde.
Der Geschmack, den diese Nation ihren Werdken gegeben hat, ist ihr
eigen geblieben; er hat sich selten weit von Griechenland entfernet, ohne
etwas zu ver I liehren, und unter entlegenen Himmel-Strichen ist er spät
bekannt geworden. Er war ohne Zweifel gantz und gar fremde unter
einem Nordischen Himmel, zu der Zeit, da die beyden Künste, deren
grosse Lehrer die Griechen sind, wenig Verehrer fanden; zu der Zeit, da
die verehrungswürdigsten Stücke des Correggio im Königlichen Stalle zu
Stockholm vor die Fenster, zu Bedeckung derselben, gehänget waren.
Und man muß gestehen, daß die Regierung des grossen Augusts der
eigentliche glückliche Zeit-Punct ist, in welchem die Künste, als eine
fremde Colonie, in Sachsen eingeführet worden. Unter seinem Nachfolger,
dem deutschen Titus, sind dieselben diesem Lande eigen worden, und
durch sie wird der gute Geschmack allgemein.
Es ist ein ewiges Denckmahl der Grösse dieses Monarchen, daß zu
Bildung des guten Geschmacks die größten Schätze aus Italien, und was
sonst vollkommenes in der Mahlerey in andern Ländern hervorgebracht
worden, vor den Augen aller Welt aufgestellet ist. Sein Eifer, die Künste
zu verewigen, hat endlich nicht geruhet, bis wahrhafte untrügliche
Wercke Griechischer Meister, und zwar vom ersten Range, den Künstlern
zur Nachahmung sind gegeben worden.
Die reinsten Qvellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie
findet und schmecket. Diese Qvellen suchen, heißt nach Athen reisen;
und Dreßden wird nunmehro Athen für Künstler. II
Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahm-
lich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom
Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl ver-
stehen gelernet, gilt auch von den Kunst-Wercken der Alten, sonderlich
der Griechen. Man muß mit ihnen, wie mit seinem Freund, bekannt ge-
worden seyn, um den Laocoon eben so unnachahmlich als den Homer zu
finden. In solcher genauen Bekanntschafft wird man wie Nicoma I thus
von der Helena des Zeuxis urtheilen: „Nimm meine Augen", sagte er
zu einen Unwissenden, der das Bild tadeln wollte, „so wird sie dir eine
Göttin scheinen."
Mit diesem Auge haben Michael Angelo, Raphael und Poußin die
Wercke der Alten angesehen. Sie haben den guten Geschmack aus seiner
Qvelle geschöpfet, und Raphael in dem Lande selbst, wo er sich gebildet.
Man weiß, daß er junge Leute nach Griechenland geschicket, die Ueber-
bleibsel des Alterthums für ihn zu zeichnen.
Eine Bildsäule von einer alten Römischen Hand wird sich gegen ein
Griechisches Urbild allemahl verhalten, wie Virgils Dido in ihrem Gefolge
mit der Diana unter ihren Oreaden verglichen, sich gegen Homers Nau-
sicaa verhält, welche jener nachzuahmen gesuchet hat.
Laocoon war den Künstlern im alten Rom eben das, was er uns ist;
des Polyclets Regel; eine vollkommene Regel der Kunst.
Ich habe nicht nöthig anzuführen, daß sich in den berühmtesten
Wercken der Griechischen Künstler gewisse Nachläßigkeiten finden: der
Delphin, welcher der Mediceischen Venus zugegeben ist, nebst den spielen-
den Kindern; die Arbeit des Dioscorides ausser der Haupt-Figur in sei-
nem geschnittenen Diomedes mit dem Palladio, sind Beyspiele davon.
Man II weiß, daß die Arbeit der Rück-Seite auf den schönsten Müntzen der
Egyptischen und Syrischen Könige den Köpfen dieser Könige selten bey-
kommt. Grosse Künstler sind auch in ihren Nachläßigkeiten weise: sie
können nicht fehlen, ohne zugleich zu unterrichten. Man betrachte ihre
Wercke, wie Lucian den Jupiter des Phidias will betrachtet haben; den
Jupiter selbst, nicht den Schemmel seiner Füsse.
Die Kenner und Nachahmer der Griechischen Wercke finden in ihren
Meister-Stücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als
Natur; das ist, I gewisse Idealische Schönheiten derselben, die, wie uns ein
alter Ausleger des Plato1 lehret, von Bildern bloß im Verstände ent-
worffen, gemacht sind.
Der schönste Cörper unter uns wäre vielleicht dem schönsten Grie-
chischen Cörper nicht ähnlicher, als Iphicles dem Hercules, seinem Bruder,
war. Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels würdkte bey der ersten
1
Proclus in Timasum Piatonis.
[Β: 4||5 Α: 4|5] Gedancken über die Nachahmung 31
1
v. Pindar. Olymp. Od. VII. Arg. & Sdiol. |
32 Gedandken über die Nachahmung [Β: 5]|6 A: 5|6 B: 6||7]
zu Athen ihren Anfang nehmen lassen, machet uns ein Bild von den
edlen Seelen der Jugend, und lasset uns auch hieraus auf gleichförmige
Handlungen und Stellungen an diesen Orten und in ihren Leibes-Uebun-
gen sdiliessen. I
Die schönsten jungen Leute tantzten unbekleidet auf dem Theater,
und Sophocles, der große Sophocles, war der erste, der in seiner Jugend
dieses Schauspiel seinen Bürgern machte. Phryne badete sich in den II
Eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechen, und wurde beym
Heraussteigen aus dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus
Anadyomene; und man weiß, daß die jungen Mädgen in Sparta an einem
gewissen Feste gantz nackend vor den Augen der jungen Leute tantzten.
Was hier fremde scheinen könte, wird erträglicher werden, wenn man
bedendcet, daß audi die Christen der ersten Kirche ohne die geringste
Verhüllung, so wohl Männer als Weiber, zu gleicher Zeit und in einem
und eben demselben Taufstein getauft, oder untergetaucht worden sind.
Also war audi ein jedes Fest bey den Griedien eine Gelegenheit für
Künstler, sich mit der schönen Natur aufs genaueste bekannt zu machen.
Die Menschlichkeit der Griechen hatte in ihrer blühenden Freyheit
keine blutigen Schauspiele einführen wollen, oder wenn dergleichen in
dem Ionischen Asien, wie einige glauben, üblich gewesen, so waren sie
seit geraumer Zeit wiederum eingestellet. Antiochus Epiphanes, König in
Syrien, verschrieb Fechter von Rom, und ließ den Griechen Schauspiele
dieser unglücklichen Mensdien sehen, die ihnen anfänglich ein Abscheu
waren. Mit der Zeit verlohr sich das menschliche Gefühl, und audi diese
Schauspiele wurden Schulen der Künstler. Ein Ctesilas studirte hier seinen
sterbenden Fechter,1 „an welchem man sehen konte, wie viel von seiner
Seele noch in ihm übrig war."
Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur veranlasse-
ten die Griechischen Künstler noch weiter zu gehen: sie fiengen an, sich
gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten so wohl einzelner Theile als II
gantzer Verhältnisse der Cor I per zu bilden, die sich über die Natur
selbst erheben solten; ihr Urbild war eine blos im Verstände entworfene
geistige Natur.
So bildete Raphael seine Galathea. Man sehe seinen Brief 1 an den
1
Einige muthmassen, daß dieser Fechter, von welchem Plinius redet, der be-
rühmte Ludovisisdie Fediter sey, der itzo in dem grossen Saal des Capi-
tolii einen Platz bekommen hat. |
1
v. Bellori Descriz. delle Imagini dipinte da Rafaelle d'Vrbino etc. Roma.
1695. fol.
[Β: lOlIll A: 9|10] Gedandcen über die Nachahmung 35
1
v. Stosch Pierres grav. pi. XXXIII. |
36 Gedancken über die Nachahmung [Β: 11 [| 12 A: 10|ll B: 12|13]
Schönheit ihrer Figuren hat streitig machen wollen. Er war ausser dem der
Meynung, daß die N a t u r allen ihren Theilen das erforderliche Schöne zu
geben wisse: die Kunst bestehe darinn; es zu finden. Er hat sich gerühmet,
ein Vorurtheil abgeleget zu haben, worinn er in Ansehung des Reitzes
der Mediceischen Venus anfänglich gewesen, den er jedoch nach einem
mühsamen Studio bey verschiedenen Gelegenheiten in der N a t u r wahr-
genommen. 1 I
Also ist es die Venus gewesen, welche ihn Schönheiten in der N a t u r
entdecken gelehret, die er vorher allein in jener zu finden geglaubet
hat, und die er ohne der Venus nicht würde in der N a t u r gesuchet haben.
Folget nicht daraus, daß die Schönheit der Griechischen Statuen eher zu
entdecken ist, als die Schönheit in der Natur, und daß also jene rühren-
der, nicht so sehr zerstreuet, sondern mehr in eins vereiniget, als es diese
ist? Das Studium der N a t u r muß also wenigstens ein längerer und müh-
samerer Weg zur Kenntniß des vollkommenen Schönen seyn, als es das
Studium der Antiquen ist; und Bernini hätte jungen Künstlern, die er
allezeit auf das Sdiönste in der N a t u r vorzüglich wieß, nicht den kürt-
zesten Weg dazu gezeiget.
Die Nachahmung des Schönen der N a t u r ist entweder auf einen ein-
zelnen Vorwurf gerichtet, oder sie sammlet die Bemerckungen aus II ver-
schiedenen einzelnen, und bringet sie in eins. Jenes heißt eine ähnliche
Copie, ein Portrait machen; es ist der Weg zu Holländischen Formen und
Figuren. Dieses aber ist der Weg zum allgemeinen Schönen und zu Idea-
lischen Bildern desselben; und derselbe ist es, den die Griechen genommen
haben. Der Unterschied aber zwischen ihnen und uns ist dieser: Die Grie-
chen erlangeten diese Bilder, wären auch dieselben nicht von schönern
Cörpern genommen gewesen, durch eine tägliche Gelegenheit zur Beob-
achtung des Schönen der Natur, die sich uns hingegen nicht alle Tage zei-
get, und selten so, wie sie der Künstler wünschet.
Unsere N a t u r wird nicht leicht einen so vollkommenen Cörper zeu-
gen, dergleichen der Antinous Admirandus hat, und die Idee wird sich
über die mehr als menschlichen Verhältnisse einer schönen Gottheit in
dem Vaticanischen Apollo, nichts bilden können: was Natur, Geist und
Kunst hervor zu bringen vermögend gewesen, lieget hier vor Augen.
Ich glaube, ihre Nachahmung könne lehren, geschwinder klug zu
werden, weil sie hier in dem einen den Inbegrif desjenigen findet, was in
der gantzen N a t u r I ausgetheilet ist, und in dem andern, wie weit die
1
v. Baldinucci Vita del Cav. Bernino. |
38 Gedancken über die Nachahmung [Β: 14||15 A: 13|14 B: 15||16]
schönste Natur sidi über sidi selbst kühn aber weißlich erheben kan. Sie
wird lehren, mit Sicherheit zu dencken und zu entwerfen, indem sie hier
die höchsten Grentzen des menschlich und zugleich des göttlidi Sdiönen
bestimmt siehet.
Wenn der Künstler auf diesen Grund bauet, und sich die Griechische
Regel der Schönheit Hand und Sinne führen lasset, so ist er auf dem
Wege, der ihn sicher zur Nachahmung der Natur führen wird. Die Be-
griffe des Gantzen, des Vollkommenen in der Natur des Alterthums wer-
den die Begriffe des Getheilten in unserer Natur bey ihm läutern und II
sinnlicher machen: er wird bey Entdeckung der Schönheiten derselben
diese mit dem vollkommenen Sdiönen zu verbinden wissen, und durdi
Hülfe der ihm beständig gegenwärtigen erhabenen Formen wird er sidi
selbst eine Regel werden.
Alsdenn und nicht eher kan er, sonderlich der Mahler, sidi der Nach-
ahmung der Natur überlassen in solchen Fällen, wo ihm die Kunst ver-
stattet, von dem Marmor abzugehen, wie in Gewändern, und sich mehr
Freyheit zu geben, wie Poußin gethan; denn „derjenige, welcher beständig
andern nachgehet, wird niemahls voraus kommen, und welcher aus sidi
selbst nichts gutes zu machen weiß, wird sich audi der Sachen von anderen
nicht gut bedienen," wie Michael Angelo sagt.
Seelen, denen die Natur hold gewesen,
ahmung der Natur deutlicher zeigen können, als wenn man zwey junge
Leute nähme von gleich schönen Talent, und den einen das Alterthum,
den andern die bloße Natur studiren liesse. Dieser würde die Natur bil-
den, wie er sie findet: als ein Italiener würde er Figuren mahlen vielleicht
wie Caravaggio; als ein Niederländer, wenn er glücklich ist, wie Jacob
Jordans; als ein Franzos, wie Stella: jener aber würde die Natur bilden,
wie sie es verlanget, und Figuren mahlen, wie Raphael.
Könte auch die Nachahmung der Natur dem Künstler alles geben, so
würde gewiß die Richtigkeit im Contour durch sie nicht zu erhalten seyn:
diese muß von den Griechen allein erlernet werden.
Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle Theile der schön-
sten Natur und der Idealischen Schönheiten in den Figuren der Griechen;
oder er ist vielmehr der höchste Begrif in beyden. Euphranor, der nach
des Zeuxis Zeiten sich hervor that, wird vor den ersten gehalten, der dem-
selben die erhabenere Manier gegeben.
Viele unter den neueren Künstlern haben den Griechischen Contour
nachzuahmen gesuchet, und fast niemanden ist es gelungen. Der grosse
Rubens ist weit entfernt von dem Griechischen Umriß der Cörper, und
in denenjenigen unter seinen I Wercken, die er vor seiner Reise nadi
Italien, und vor dem Studio der Antiquen gemachet hat, am weitesten.
Die Linie, welche das Völlige der Natur von dem Ueberflüßigen der-
selben scheidet, ist sehr klein, und die grösten neueren Meister sind über
diese nicht allezeit greifliche Grentze auf beyden Seiten zu sehr abge-
wichen. II Derjenige, welcher einen ausgehungerten Contour vermeiden
wollen, ist in die Schwulst verfallen; der diese vermeiden wollen, in das
Magere.
Michael Angelo ist vielleicht der einzige, von dem man sagen könnte,
daß er das Alterthum erreichet; aber nur in starcken musculösen Figuren,
in Cörpern aus der Helden-Zeit; nicht in zärtlich jugendlichen, nicht in
weiblichen Figuren, welche unter seiner Hand zu Amazonen geworden
sind.
Der Griechische Künstler hingegen hat seinen Contour in allen Figuren
wie auf die Spitze eines Haars gesetzt, auch in den feinsten und müh-
samsten Arbeiten, dergleichen auf geschnittenen Steinen ist. Man betrachte
den Diomedes und den Perseus des Dioscorides;1 den Hercules mit der
Iole von der Hand des Teucers,® und bewundere die hier unnachahmlichen
Griedien.
1
v. Stosdi Pierres grav. pi. XXIX. XXX.
1
v. Mus. Flor. Τ. II. t. V.
40 Gedandcen über die Nachahmung [A: 15|16B: 17||18]
Das Haupt dieser beyden Figuren ist mit keinem Schleyer bedecket,
welches ihnen aber den Titel der Vestalen nicht streitig machet; da er-
weißlidi ist, daß sich auch anderwerts Priesterinnen der Vesta ohne
Schleyer II finden. Oder es scheinet vielmehr aus den starcken Falten des
Gewandes hinten am Halse, daß der Schleyer, welcher kein abgesondertes
Theil vom Gewände ist, wie an der größten Vestale zu sehen, hinten
übergeschlagen liege.
Es verdienet der Welt bekannt gemacht zu werden, daß diese drey
göttlichen Stücke die ersten Spuren gezeiget zur nachfolgenden Entdeckung
der unterirrdischen Schätze von der Stadt Herculanum. I
Sie kamen an das Tagelicht, da annoch das Andencken derselben
gleichsam unter der Vergessenheit, so wie die Stadt selbst, unter ihren
eigenen Ruinen vergraben und verschüttet lag: zu der Zeit, da das traurige
Schicksal, welches diesen Ort betroffen, nur fast noch allein durch des
jüngern Plinius Nachricht von dem Ende seines Vetters, welches ihn in der
Verwüstung von Herculanum zugleich mit übereilete, bekannt war.
Diese grossen Meisterstücke der Griechischen Kunst wurden schon un-
ter den deutschen Himmel versetzet, und daselbst verehret, da Neapel
noch nicht das Glück hatte, ein eintziges Herculanisches Denckmahl, so
viel man erfahren können, aufzuweisen.
Sie wurden im Jahr 1706. in Portici bey Neapel in einem verschütte-
ten Gewölbe gefunden, da man den Grund grub zu einem Landhause
des Printzen von Elbeuf, und sie kamen unmittelbar hernach, nebst an-
dern daselbst entdeckten Statuen in Marmor und Ertzt, in den Besitz des
Printzen Eugens nach Wien.
Dieser grosse Kenner der Künste, um einen vorzüglichen Ort zu
haben, w o dieselben könten aufgestellet werden, hat vornehmlich für diese
drey Figuren eine Sala terrena bauen lassen, w o sie gantz allein ihren
Platz bekommen haben. Die gantze Academie und alle II Künstler in Wien
waren gleichsam in Empörung, da man nur noch gantz dunckel von der-
selben Verkauf sprach, und ein jeder sähe denselben mit betrübten Augen
nach, als sie von Wien nach Dreßden fortgeführet wurden.
Der berühmte Matielli
hat, ehe noch dieses geschähe, alle drey Vestalen mit dem mühsamsten
Fleiß in Thon copiret, um sich den Verlust derselben dadurch zu ersetzen.
Er folgete ihnen einige Jahre hernadi, und erfüllete Dreßden mit ewigen
Werdcen seiner Kunst: aber seine Priesterinnen blieben auch hier sein
Studium in der Drapperie, wor I inn seine Stärdke bestand, bis in sein
Alter; welches zugleich ein nicht ungegründetes Vorurtheil ihrer Tref-
lichkeit ist.
Unter dem Wort Drapperie begreift man alles, was die Kunst von
Bekleidung des Nackenden der Figuren und von gebrochenen Gewändern
lehret. Diese Wissenschaft ist nadi der schönen Natur, und nach dem
edlen Contour, der dritte Vorzug der Wercke des Alterthums.
Die Drapperie der Vestalen ist in der höchsten Manier: die kleinen
Brüche entstehen durch einen sanften Schwung aus den grösseren Partien,
und verlieren sidi wieder in diesen mit einer edlen Freyheit und sanften
Harmonie des Gantzen, ohne den schönen Contour des Nackenden zu
verstecken, welcher ohne Zwang vor Augen liegt. Wie wenig neuere
Meister sind in diesem Theil der Kunst ohne Tadel!
Diese Gerechtigkeit aber muß man einigen grossen Künstlern, sonder-
lich Mahlern neuerer Zeiten, wiederfahren lassen, daß sie in gewissen
Fällen von dem Wege, den die Griechischen Meister in Bekleidung ihrer
Figuren am gewöhnlichsten gehalten haben, ohne Nachtheil der Natur
und II Wahrheit abgegangen sind. Die Griechische Drapperie ist mehren-
theils nach dünnen und nassen Gewändern gearbeitet, die sich folglich,
wie Künstler wissen, dicht an die Haut und an den Cörper schliessen,
und das Nackende desselben sehen lassen. Das gantze oberste Gewand
des Griechischen Frauenzimmers war ein sehr dünner Zeug; er hieß daher
PEPLON, ein Sdileyer.
Daß die Alten nicht allezeit fein gebrochene Gewänder gemacht ha-
ben, zeigen die erhabenen Arbeiten derselben. Die alten Mahlereyen,
und sonderlich die alten Brust-Bilder. Der schöne Caracalla unter den
Königlichen Antiqven in Dreßden kan dieses bestätigen.
In den neuern Zeiten hat man ein Gewand über das andere, und zu-
weilen schwere Gewänder, zu legen gehabt, die nicht in so sanfte und
fliessende Brüche, wie der Alten ihre sind, fallen können. Dieses gab folg-
lich Anlaß zu der neuen I Manier der grossen Partien in Gewändern, in
welcher der Meister seine Wissenschaft nicht weniger als in der gewöhn-
lichen Manier der Alten zeigen kan.
Carl Maratta und Frantz Solimena können in dieser Art vor die
grösten gehalten werden. Die neue Venetianische Schule, welche noch
weiter zu gehen gesuchet, hat diese Manier übertrieben, und indem sie
nichts als grosse Partien gesuchet, sind ihre Gewänder dadurch steif und
blechern worden.
Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meister-
stücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der
Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt,
die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den
Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte
Seele. II
Diese Seele schildert sich in dem Gesicht des Laocoons, und nicht in
dem Gesicht allein, bey dem heftigsten Leiden. Der Schmertz, welcher sich
in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdecket, und den man gantz
allein, ohne das Gesicht und andere Theile zu betrachten, an den schmertz-
lidi eingezogenen Unter-Leib beynahe selbst zu empfinden glaubet; dieser
Schmertz, sage ich, äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte
und in der gantzen Stellung. Er erhebet kein schreckliches Geschrey, wie
Virgil von seinem Laocoon singet: Die OefFnung des Mundes gestattet
es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es
Sadolet beschreibet. Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele
sind durch den gantzen Bau der Figur mit gleicher Stärcke ausgetheilet,
und gleichsam abgewogen. Laocoon leidet, aber er leidet wie des So-
phocles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir
wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.
Der Ausdruck einer so grossen Seele gehet weit über die Bildung der
schönen Natur: Der Künstler muste die Stärcke des Geistes in sich selbst
fühlen, welche er seinem Marmor einprägete. Griechenland hatte Künstler
und Weltweisen in einer I Person, und mehr als einen Metrodor. Die
Weisheit reichte der Kunst die Hand, und bließ den Figuren derselben
mehr als gemeine Seelen ein.
Unter einem Gewände, welches der Künstler dem Laocoon als einem
Priester hätte geben sollen, würde uns sein Schmertz nur halb so sinnlich
gewesen seyn. Bernini hat so gar den Anfang der Würdkung des Gifts der
Schlange in dem einen Schenckel des Laocoons an der Erstarrung desselben
entdecken wollen. II
Alle Handlungen und Stellungen der Griechischen Figuren, die mit
diesem Character der Weißheit nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig
und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler
PARENTHYRSIS nannten.
Je ruhiger der Stand des Cörpers ist, desto geschickter ist er, den
44 Gedancken über die Nachahmung [A: 20|21 B: 23|[24]
La Fage der grosse Zeichner hat den Geschmack der Alten nicht erreichen
können. Alles ist in Bewegung in seinen Wercken, und man wird in der
Betrachtung derselben getheilet und zerstreuet, wie in einer Gesellschaft,
wo alle Personen zugleich reden wollen.
Die edle £infalt und stille Grösse der Griechischen Statuen ist zugleich
das wahre Kennzeichen der Griechischen Schriften aus den besten Zeiten;
der Schriften aus Socrates Schule, und diese Eigenschaften sind es, welche
die vorzügliche Grösse eines Raphaels machen, zu welcher er durdi die
Nachahmung der Alten gelanget ist. I
Eine so schöne Seele, wie die seinige war, in einem so schönen Cörper
wurde erfordert, den wahren Character der Alten in neueren Zeiten zuerst
zu empfinden und zu entdecken, und was sein gröstes Glück war, schon in
einem Alter, in welchem gemeine und halbgeformte Seelen über die
wahre Grösse ohne Empfindung bleiben.
Mit einem Auge, welches diese Schönheiten empfinden gelernet, mit
diesem wahren Geschmack des Alterthums muß man sich seinen Wercken
nähern. Alsdenn wird uns die Ruhe und Stille der Haupt-Figuren in
Raphaels Attila, welche vielen leblos scheinen, sehr bedeutend und erhaben
seyn. Der Römische Bischof, der das Vorhaben des Königs der Hunnen,
auf Rom loszugehen, abwendet, erscheinet nicht mit Geberden und Be-
wegungen eines Redners, sondern als ein ehrwürdiger Mann, der blos
durch seine Gegenwart einen Aufruhr stillet; wie derjenige, den uns Virgil
beschreibet
mit einem Gesicht voll göttlicher Zuversicht vor den Augen des Wü-
terichs. Die beyden Apostel schweben nicht wie Würge-Engel in den
Wolcken, sondern wenn es erlaubt ist, das Heilige mit dem Unheiligen zu
vergleichen, wie Homers Jupiter, der durch das Wincken seiner Augen-
lieder den Olympus erschüttern macht.
Algardi in seiner berühmten Vorstellung eben dieser Geschichte in
halb erhobener Arbeit, an einem Altar der St. Peters-Kirche in Rom, hat
die wircksame Stille seines grossen Vorgängers den Figuren seiner beyden
Apostel nicht gegeben, oder zu geben verstanden. Dort erscheinen sie wie II
Gesandten des Herrn der Heerschaaren: hier wie sterbliche Krieger mit
menschlichen Waffen.
46 Gedandken über die Nachahmung [Α: 22|23 Β : 26\\27 A : 23|24]
1 v. Wright's Travels. |
[Β: 27||28 A: 24|25 Β: 28||29] Gedancken über die Nachahmung 47
Die Zeit hat allerdings vieles von dem scheinbaren Glantz dieses
Gemähides geraubet, und die Kraft der Farben ist zum Theil ausgewit-
tert; allein die Seele, weldie der Sdiöpfer dem Werck seiner Hände ein-
geblasen, belebet es noch itzo.
Alle diejenigen, welche zu diesem und andern Wercken Raphaels
treten, in der Hofnung, die kleinen Schönheiten anzutreffen, die den
Arbeiten der niederländischen Mahler einen so hohen Preis geben; den
mühsamen Fleiß eines Netschers, oder eines Dou, das elfenbeinerne
Fleisch eines Van der Werff, oder auch die geleckte Manier einiger von
Raphaels Landes-Leuten unserer Zeit; diese, sage ich, werden den grossen
Raphael in dem Raphael vergebens sudien. II
Nach dem Studio der schönen Natur, des Contours, der Drapperie,
und der edlen Einfalt und stillen Grösse in den Wercken Griechischer
Meister, wäre die Nachforschung über ihre Art zu arbeiten ein nöthiges
Augenmerck der Künstler, um in der Nachahmung derselben glück-
licher zu seyn.
Es ist bekannt, daß sie ihre ersten Modelle mehrentheils in Wachs
gemachet haben; die neuern Meister aber haben an dessen statt Thon
oder dergleichen geschmeidige Massen gewählet: sie fanden dieselben,
sonderlich das Fleisch auszudrücken, geschickter als das Wachs, welches
ihnen hierzu gar zu klebricht und zähe schien. I
Man will unterdessen nicht behaupten, daß die Art in nassen Thon
zu bilden den Griedien unbekannt, oder nicht üblich bey ihnen gewesen.
Man weiß so gar den Nahmen desjenigen, welcher den ersten Versuch
hierinn gemachet hat. Dibutades von Sicyon ist der erste Meister einer
Figur in Thon, und Arcesilaus, der Freund des grossen Lucullus, ist mehr
durch seine Modelle in Thon, als durch seine Wercke selbst, berühmt
worden. Er machte für den Lucullus eine Figur in Thon, welche die Glück-
seligkeit vorstellete, die dieser mit 60000. Sesterzen behandelt hatte,
und der Ritter Octavius gab eben diesem Künstler ein Talent für ein
blosses Modell in Gips zu einer grossen Tasse, die jener wolte in Gold
arbeiten lassen.
Der Thon wäre die geschickteste Materie, Figuren zu bilden, wenn
er seine Feuchtigkeit behielte. Da ihm aber diese entgehet, wenn er
trocken und gebrannt wird, so werden folglich die festeren Theile des-
selben näher zusammen treten, und die Figur wird an ihrer Maaße ver-
liehren, und einen engeren Raum einnehmen. Litte die Figur diese Ver-
minderung II in gleichem Grade in allen ihren Puncten und Theilen, so
bliebe eben dieselbe, obgleich verminderte, Verhältnis. Die kleinen Theile
48 Gedancken über die Nadiahmung [A: 25|26 B: 29||30]
derselben aber werden geschwinder trocknen, als die grösseren, und der
Leib der Figur, als der stärckste Theil, am spätesten; und jenen wird also
in gleicher Zeit mehr an ihrer Maaße fehlen als diesem.
Das Wachs hat diese Unbequemlichkeit nicht: es verschwindet nichts
davon, und es kan demselben die Glätte des Fleisdies, die es im Pou-
ßiren nicht ohne grosse Mühe annehmen will, durch einen andern Weg
gegeben werden.
Man machet sein Modell von Thon: man formet es in Gips, und
giesset es alsdenn in Wachs.
Die eigentliche Art der Griechen aber nach ihren Modellen in Mar-
mor zu arbeiten, scheinet nicht diejenige gewesen zu seyn, welche unter
den meisten heutigen Künstlern üblidi ist. In dem Marmor der Alten
entdecket sich allenthalben die Gewißheit und Zuversicht des Meisters,
und man wird auch in ihren Wercken von I niedrigem Range nicht leicht
darthun können, daß irgendwo etwas zu viel weggehauen worden. Diese
sichere und richtige Hand der Griechen muß durch bestimmtere und
zuverläßigere Regeln, als die bey uns gebräuchlich sind, nothwendig
seyn geführet worden.
Der gewöhnliche Weg unserer Bildhauer ist, über ihre Modelle, nach-
dem sie dieselben wohl ausstudiret, und aufs Beste geformet haben,
Horizontal- und Perpendicular-Linien zu ziehen, die folglich einander
durchschneiden. Alsdenn verfahren sie, wie man ein Gemähide durch
ein Gitter verjünget und vergrössert, und eben so viel einander durch-
schneidende Linien werden auf den Stein getragen. II
Es zeiget also ein jedes kleines Viereck des Modells seine Flächen-
Maaße auf jedes grosse Viereck des Steins an. Allein weil dadurch nicht
der cörperlidie Inhalt bestimmet werden kan, folglich audi weder der
rechte Grad der Erhöhung und Vertiefung des Modells hier gar genau
zu beschreiben ist: so wird der Künstler zwar seiner künftigen Figur
ein gewisses Verhältniß des Modells geben können: aber da er sich nur
der Kenntniß seines Auges überlassen muß, so wird er beständig zweifel-
haft bleiben, ob er zu tief oder zu flach nach seinem Entwurf gearbeitet,
ob er zu viel oder zu wenig Masse weggenommen.
Er kan auch weder den äusseren Umriß noch denjenigen, welcher die
inneren Theile des Modells, oder diejenigen, welche gegen das Mittel
zu gehen, oft nur wie mit einem Hauch anzeiget, durch solche Linien
bestimmen, durch die er gantz untrüglich und ohne die geringste Ab-
weichung eben dieselben Umrisse auf seinen Stein entwerfen könnte.
[A: 26]27 Β: 301131 A: 27128] Gedancken über die Nachahmung 49
fallen, folglich größer erscheinen, je höher oder tiefer sie unserem Sehe-
Punct sind. II
Zum Copiren der Antiquen, mit denen man nicht nach Gefallen um-
gehen kan, behalten die Bley-Faden noch bis itzo ihren Werth, und man
hat diese Arbeit noch nicht leichter und sicherer machen können: aber
im Arbeiten nach einem Modell ist dieser Weg aus angezeigten Gründen
nicht bestimmt genug.
Michael Angelo hat einen vor ihm unbekannten Weg genommen,
und man muß sich wundern, da ihn die Bildhauer als ihren grossen
Meister verehren, daß vielleicht niemand unter ihnen sein Nachfolger
geworden.
Dieser Phidias neuerer Zeiten und der gröste nach den Griechen ist,
wie man vermuthen könte, auf die wahre Spur seiner grossen Lehrer
gekommen, wenigstens ist kein anderes Mittel der Welt bekannt gewor-
den, alle möglich sinnlichen Theile und Schönheiten des Modells auf der
Figur selbst hinüber zu tragen und auszudrücken.
Vasari hat diese Erfindung desselben etwas unvollkommen be-
schrieben1: der Begriff nach dessen Bericht ist folgender: I
Michael Angelo nahm ein Gefäß mit Wasser, in welches er sein
Modell von Wachs oder von einer harten Materie legte: Er erhöhete
dasselbe allmählig bis zur Oberfläche des Wassers. Also entdeckten sich
zuerst die erhabenen Theile, und die vertieften waren bedeckt, bis end-
lich das gantze Modell blos und ausser dem Wasser lag. Auf eben die
Art, sagt Vasari, arbeitete Michael Angelo seinen Marmor: er deutete
zuerst die erhabenen Theile an, und nach und nach die tieferen.
Es scheinet, Vasari habe entweder von der Manier seines Freundes
nicht den deutlichsten Begriff gehabt, oder die Nachläßigkeit in seiner
Erzehlung verursachet, daß man sich dieselbe etwas verschieden, von dem,
1
Vasari Vite de' Pittori, Scult. & Archit. edit. i$68. Part. III. p. 776. - -
„quattro prigioni bozzati, che possano insegnare ä. cauare de' marmi le fi-
gure con un modo sicuro da non istorpiare i sassi, die il modo e questo, che
s' e' si pigliassi una figura di cera ό d' altra materia dura, e si mettessi i
giacere in una conca d' acqua, la quale acqua essendo per la sua natura
nella sua sommiti piana e pari, alzando la detta figura ä poco ^ poco del
pari, cosi vengono k scoprirsi prima le parti piu rileuate e έ nascondersi
i fondi, ciol· le parti piu basse della figura, tanto che nel fine ella cosi viene
scoperta tutta. Nel medesimo modo si debbono cauare con lo scarpello le
figure de' marmi, prima scoprendo le parti piu rileuate, e di mano in mano
le piu basse, il quale modo si vede osservato da Michel Agnolo ne' sopra
detti prigioni, i quali Sua Eccellenza vuole, che servino per esempio de
suoi Accademici." |
[Β: 331134 Α: 29|30] Gedancken über die Nachahmung 51
äussersten Puncte der Erhobenheiten Theile sind. Diese Linie war mit
dem Fall des Wassers in seinem Gefässe gleichfalls wagrecht fortgerücket,
und der Künstler war dieser Bewegung mit seinem Eisen gefolget, bis
dahin, wo ihm das Wasser den niedrigsten Abhang der erhabenen Theile, II
der mit den Flächen zusammen fließt, bloß zeigete. Er war also mit
jedem verjüngten Grad in dem Kasten seines Modells einen gleich ge-
setzten grösseren Grad auf seiner Figur fortgegangen, und auf diese
Art hatte ihn die Linie des Wassers bis über den äussersten Contour in
seiner Arbeit geführet, so, daß das Modell nunmehro vom Wasser ent-
blößt lag. I
Seine Figur verlangte die schöne Form. Er goß von neuen Wasser
auf sein Modell, bis zu einer ihm dienlichen Höhe, und alsdenn zehlete
er die Grade des Kastens bis auf die Linie, welche das Wasser beschrieb,
wodurch er die Höhe des erhabenen Theils ersähe. Auf eben denselben
erhabenen Theil seiner Figur legte er sein Richtscheid vollkommen wage-
recht, und von der untersten Linie desselben nahm er die Maaße bis auf
die Vertiefung. Fand er eine gleiche Anzahl verjüngter und grösserer
Grade, so war dieses eine Art Geometrischer Berechnung des Inhalts, und
er erhielt den Beweis, daß er richtig verfahren war.
Bey der Wiederholung seiner Arbeit suchte er den Druck und die
Bewegung der Muskeln und Sehnen, den Schwung der übrigen kleinen
Theile, und das Feinste der Kunst, in seinem Modelle, audi in seiner
Figur auszuführen. Das Wasser, welches sich auch an die unmercklichsten
Theile legte, zog den Schwung derselben aufs schärfste nach, und beschrieb
ihm mit der richtigsten Linie den Contour derselben.
Dieser Weg verhindert nicht, dem Modell alle mögliche Lagen zu
geben. Ins Profil geleget, wird es dem Künstler vollends entdecken, was
er übersehen hat. Es wird ihm auch den äusseren Contour seiner erhabe-
nen und seiner inneren Theile und den gantzen Durchschnitt zeigen. II
Alles dieses und die Hoffnung eines guten Erfolgs der Arbeit setzet ein
Modell voraus, welches mit Händen der Kunst nach dem wahren Ge-
schmack des Alterthums gebildet worden.
Dieses ist die Bahn, auf weldier Michael Angelo bis zur Unsterblich-
keit gelanget ist. Sein Ruff und seine Belohnungen erlaubeten ihm Muße,
mit solcher Sorgfalt zu arbeiten.
Ein Künstler unserer Zeiten, dem Natur und Fleiß Gaben verliehen,
höher zu steigen, und welcher Wahrheit und Richtigkeit in dieser Manier
findet, sieht sich I genöthiget, mehr nach Brod, als nach Ehre, zu arbeiten.
Er bleibet also in dem ihm üblichen Gleise, worinn er eine grössere Fer-
[Β: 36||37 Α : 32|33] Gedancken über die Nachahmung 53
tigkeit zu zeigen glaubet, und fähret fort, sein durch langwierige Uebung
erlangtes Augenmaaß zu seiner Regel zu nehmen.
Dieses Augenmaaß, welches ihn vornehmlich führen muß, ist endlich
durch practische Wege, die zum Theil sehr zweifelhaft sind, ziemlich
entscheidend worden: wie fein und zuverläßig würde er es gemacht
haben, wenn er es von Jugend auf nach untrüglichen Regeln gebildet
hätte?
Würden angehende Künstler bey der ersten Anführung, in Thon
oder in andere Materie zu arbeiten, nach dieser sichern Manier des
Michael Angelo angewiesen, die dieser nach langen Forschen gefunden,
so könten sie hoffen, so nahe, wie er, den Griechen zu kommen.
Alles, was zum Preiß der Griechischen Wercke in der Bildhauer-
Kunst kan gesaget werden, solte nach aller Wahrscheinlichkeit auch von
der Mahlerey der Griechen gelten. Die Zeit aber und die Wuth der
Menschen hat uns die Mittel geraubet, einen unumstößlichen Ausspruch
darüber zu thun.
Man gestehet den Griechischen Mahlern Zeichnung und Ausdruck zu;
und das ist alles: Perspectiv, Composition und Colorit spricht man ihnen II
ab. Dieses Urtheil gründet sich theils auf halb erhobene Arbeiten, theils
auf die entdeckten Mahlereyen der Alten (der Griechen kan man nicht
sagen) in und bey Rom, in unterirdischen Gewölbern der Palläste des
Mäcenas, des Titus, Trajans und der Antoniner, von welchen nicht viel
über dreyßig bis itzo gantz erhalten worden, und einige sind nur in
Mosaischer Arbeit.
Turnbull hat seinem Wercke von der alten Mahlerey 1 eine Samm-
lung der bekanntesten Stücke, von Camillo Paderni gezeichnet und von
Mynde gestochen, I beygefüget, welche dem prächtigen und gemißbrauch-
ten Papier seines Buchs den eintzigen Werth geben. Unter denselben sind
zwey, wovon die Originale selbst in dem Cabinet des berühmten Artztes
Richard Meads in London sind.
Daß Poußin nach der so genannten Aldrovandinischen Hochzeit
studiret; daß sich noch Zeichnungen finden, die Annibal Caraccio nach
dem vorgegebenen Marcus Coriolanus gemacht; und daß man eine grosse
Gleichheit unter den Köpfen in Guido Reni Wercken, und unter den
Köpfen auf der bekannten Mosaischen Entführung der Europa, hat fin-
den wollen, ist bereits von andern bemercket.
Wenn dergleichen Fresco-Gemählde ein gegründetes Urtheil von der
Mahlerey der Alten geben können; so würde man den Künstlern unter
ihnen aus Ueberbleibseln von dieser Art audi die Zeichnung und den
Ausdruck streitig machen wollen.
Die von den Wänden des Herculanischen Theaters mit samt der
Mauer versetzte Mahlereyen mit Figuren in Lebens-Grösse, geben uns,
wie man versichert, einen schlechten Begrif davon. Der Theseus, als ein
Ueberwinder des Minotauren, wie ihm die jungen Athenienser die Hände
küssen und seine Knie umfassen: die Flora nebst den Hercules und einen II
Faun: der vorgegebene Gerichtsspruch des Decemvirs Appius Claudius,
sind nach dem Augen-Zeugniß eines Künstlers zum Theil mittelmäßig
und zum Theil fehlerhaft gezeichnet. In den mehresten Köpfen ist, wie
man versichert, nicht allein kein Ausdruck, sondern in dem Appius Clau-
dius sind auch keine guten Charactere.
Aber eben dieses beweiset, daß es Mahlereyen von der Hand sehr
mittelmässiger Meister sind; da die Wissenschaft der schönen Verhält-
nisse, der Umrisse der Cörper, und des Ausdrucks bey Griechischen Bild-
hauern, auch ihren guten Mahlern eigen gewesen seyn muß.
Diese den alten Mahlern zugestandene Theile der Kunst lassen den
neueren Mahlern noch sehr viel Verdienste um dieselbe. I
In der Perspectiv gehöret ihnen der Vorzug unstreitig, und er bleibt,
bey aller gelehrten Vertheidigung der Alten, in Ansehung dieser Wissen-
schaft, auf Seiten der Neueren. Die Gesetze der Composition und Ordon-
nance, so starck auch Echion in derselben gewesen seyn mag, waren den
Alten nur zum Theil und unvollkommen bekannt; wie die erhobenen
Arbeiten von Zeiten, wo die Griechischen Künste in Rom geblühet, dar-
thun können.
In der Colorit scheinen die Nachrichten in den Schriften der Alten
und die Ueberbleibsel der alten Mahlerey auch zum Vortheil der neueren
Künstler zu entscheiden.
Verschiedene Arten von Vorstellungen der Mahlerey sind gleichfalls
zu einen höheren Grad der Vollkommenheit in neuern Zeiten gelanget.
In Viehstücken und Landschaften haben unsere Mahler allem Ansehen
nach die alten Mahler übertroffen. Die schöneren Arten von Thieren
unter andern Himmel-Strichen scheinen ihnen nicht bekannt gewesen
zu seyn; wenn man aus einzelnen Fällen, von dem Pferde des Marcus
Aurelius, von den beyden Pferden in Monte Cavallo, ja von den vor-
gegebenen Lysippischen II Pferden über dem Portal der S. Marcus-Kirche
33—34 Aristides . . . die Seele] Parrhasius, ein Maler, der wie Aristides die
Seele θ
56 Gedancken über die Nachahmung [Α: 35|36 Β: 40||41 A: 36]37]
nur allein durch den Weg der Allegorie, durch Bilder, die allgemeine
Begriffe bedeuten.
Der Künstler befindet sich hier wie in einer Einöde. Die Sprachen der
wilden Indianer, die einen grossen Mangel an dergleichen Begriffen
haben, und I die kein Wort enthalten, welches Erkentlidikeit, Raum,
Dauer u. s. w. bezeichnen könte, sind nicht leerer von solchen Zeichen,
als es die Mahlerey zu unseren Zeiten ist. Derjenige Mahler, der weiter
dencket als seine Palette reichet, wünschet einen gelehrten Vorrath zu
haben, wohin er gehen, und bedeutende und sinnlich gemachte Zeichen
von Dingen, die nicht sinnlich sind, nehmen könte. Ein vollständig Werck
in dieser Art ist noch nicht vorhanden: die bisherigen Versuche sind nicht
beträchtlich genug, und reichen nicht bis an diese grosse Absichten. Der
Künstler wird wissen, wie weit ihm des Ripa Iconologie, die Denck-
Bilder der alten Völcker von van Hooghe Genüge thun werden.
Dieses ist die Ursach, daß die grösten Mahler nur bekannte Vor-
würfe gewählet. Annibal Caraccio, an statt, daß er die berühmtesten
Thaten und Begebenheiten des Hauses Farnese in der Farnesischen
Gal II lerie, als ein Allegorischer Dichter durch allgemeine Symbola und
durch sinnliche Bilder hätte vorstellen können, hat hier seine gantze
Stärcke blos in bekannten Fabeln gezeiget.
Die Königliche Gallerie der Schildereyen in Dreßden enthält ohne
Zweifel einen Schatz von Wercken der grösten Meister, der vielleicht alle
Gallerien in der Welt übertrift, und Se. Majestät haben, als der weiseste
Kenner der schönen Künste, nach einer strengen Wahl nur das Voll-
kommenste in seiner Art gesuchet; aber wie wenig historische Wercke
findet man in diesem Königlichen Schatz! von Allegorischen, von dich-
terischen Gemählden noch weniger.
Der grosse Rubens ist der vorzüglichste unter grossen Mahlern, der
sich auf den unbetretenen Weg dieser Mahlerey in grossen Wercken, als
ein erhabener Dichter, gewaget. Die Luxenburgische Gallerie, als sein
gröstes Werck, ist durch die Hand der geschicktesten Kupferstecher der
gantzen Welt bekannt worden.
Nach ihm ist in neueren Zeiten nicht leicht ein erhabeneres Werde in
dieser Art unternommen und ausgeführet worden, dergleichen die Cup-
pola der Kayserlichen I Bibliothec in Wien ist, von Daniel Gran ge-
mahlet, und von Sedelmayern in Kupfer gestochen. Die Vergötterung des
Hercules in Versailles als eine Allusion auf den Cardinal Hercules von
Fleuri, von Le Moine gemahlet, womit Franckreich als mit der grösten
Composition in der Welt pranget, ist gegen die gelehrte und sinnreiche
[Β: 41)142 Α: 37|38 Β: 42]|43] Gedancken über die Nachahmung 57
ι Mahlers] Künstlers Β
58 Gedancken über die Nachahmung [ A : 38|39 B: 43||44]
haben nicht allein kein Verhältniß mit dem Stand und mit den Umständen
des Besitzers, sondern sie sind demselben so gar oftmahls naditheilig.
Der Abscheu vor den leeren Raum füllet also die Wände; und Ge-
mählde von Gedancken leer, sollen das Leere ersetzen.
Dieses ist die Ursach, daß der Künstler, dem man seiner Willkühr
überläßt, aus Mangel allegorischer Bilder oft Vorwürfe wählet, die mehr
zur Satire, als zur Ehre desjenigen, dem er seine Kunst weihet, gereichen
müssen: und vielleicht, um sich hiervor in Sicherheit zu stellen, verlanget
man aus feiner Vorsicht von dem Mahler, Bilder zu machen, die nidits
bedeuten sollen.
Es macht oft Mühe, auch dergleichen zu finden, und endlich
Man benimmt also der Mahlerey dasjenige, worinn ihr gröstes Glück
bestehet, nehmlich die Vorstellung unsichtbarer, vergangener und zu-
künftiger Dinge. I
Diejenigen Mahlereyen aber, welche an diesem oder jenem Ort bedeu-
tend werden könten, verliehren das, was sie thun würden, durch einen
gleichgültigen oder unbequemen Platz, den man ihnen anweiset.
Der Bauherr eines neuen Gebäudes
wird vielleicht über die hohen Thüren seiner Zimmer und Säle kleine Bil-
der setzen lassen, die wider den Augen-Punct und wider die Gründe der II
Perspectiv anstoßen. Die Rede ist hier von solchen Stüdken, die ein Theil
der festen und unbeweglichen Zierathen sind; nidit von solchen, die in
einer Sammlung nach der Symmetrie geordnet werden.
Die Wahl in Verzierungen der Bau-Kunst ist zuweilen nicht gründ-
licher: Armaturen und Tropheen werden allemahl auf ein Jagd-Haus
eben so unbequem stehen, als Ganymedes und der Adler, Jupiter und Leda
unter der erhobenen Arbeit der Thüren von Ertzt, am Eingang der
S. Peters-Kirche in Rom.
Alle Künste haben einen gedoppelten Endzweck: sie sollen vergnügen
und zugleich unterrichten, und viele von den grösten Landschafft-Mahlern
haben daher geglaubet, sie würden ihrer Kunst nur zur Hälfte ein Genüge
gethan haben, wenn sie ihre Landschaften ohne alle Figuren gelassen
hätten.
[ A : 39|40] Gedancken über die Nachahmung 59
Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunckt seyn,
wie jemand von dem Sdireibe-Griffel des Aristoteles gesaget hat: Er soll
mehr zu dencken hinterlassen, als was er dem Auge gezeiget, und dieses
wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedancken in Allegorien nicht
s zu verstecken, sondern einzukleiden gelernet hat. Hat er einen Vorwurf,
den er selbst gewählet, oder der ihm ge I geben worden, welcher dichte-
risch gemacht, oder zu machen ist, so wird ihn seine Kunst begeistern,
und wird das Feuer, welches Prometheus den Göttern raubete, in ihm
erwecken. Der Kenner wird zu dencken haben, und der bloße Liebhaber
10 wird es lernen.
60 [47|48]
Mein Freund!
Sie haben von den Künsten und von den Künstlern der Griechen
gesdirieben, und ich hätte gewünscht, daß Sie mit ihrer Sdirift, wie die
griediisdien Künstler mit ihren Werken, verfahren wären. Sie stelleten sie
den Augen aller Welt und sonderlich der Kenner blos, ehe sie dieselben
aus den Händen liessen, und ganz Griechenland urtheilete über ihre
Werke in den grossen Spielen, sonderlich in den Olympischen. Sie wissen,
daß Aetion sein Gemälde von Alexanders Vermählung mit der Roxane
dahin brachte. Sie hätten mehr als einen Proxenides, der dort I den Künst-
ler richtete, nöthig gehabt. Wenn sie nicht gar zu heimlich mit ihrer
Schrift gewesen wären, so hätte ich dieselbe, ohne den Namen des Ver-
fassers zu melden, einigen Kennern und Gelehrten, mit denen ich hier
in Bekantschaft gekommen bin, vor dem Druck mittheilen wollen.
Einer von ihnen hat zweymal Italien und die Gemälde der größten
Meister an dem Orte selbst, wo sie gemacht sind, ganze Monate ein jedes
angesehen. Sie wissen, daß man allein auf diese Art ein Kenner wird.
Ein Mann der ihnen so gar zu sagen weiß, welche von Guido Reni Altar-
blättern auf Tafiend oder auf Leinwand gemalet sind; was vor H o l z
Raphael zu seiner Transfiguration genommen, u. s. w. dessen Urtheil,
glaube ich, würde entscheidend gewesen seyn!
Ein anderer unter meinen Bekanten hat das Alterthum studiret: er
kennet es am Gerüche;
er weiß wie viel Knoten an der Käule des Hercules gewesen sind; wie
viel des Nestors Becher nach dem heutigen Maas enthalten: ja man sagt,
er werde endlich im Stande seyn, alle die Fragen zu beantworten, welche
Kaiser Tiberius den Sprachlehrern vorgeleget hat.
[48|49 49|50] Sendschreiben über die Gedanken yon der Nachahmung 61
Noch ein anderer hat seit vielen Jahren nichts als alte Münzen ange-
sehen. Er hat viel neue Entdeckungen gemacht, sonderlich zu einer Ge-
schichte der alten Münzmeister; und man sagt, er werde die Welt auf-
merksam machen durch einen Vorläufer von den Münzmeistern der Stadt
Cyzicum.
Wie sicher würden Sie gefahren seyn, wenn ihre Arbeit vor den Rich-
terstuhl solcher Gelehrten wäre gebracht worden! Diese Herren haben
mir I ihre Bedenken über dieselbe eröfnet: es ist mir leid um Ihre Ehre,
wenn dergleichen öffentlich erscheinen solten.
Unter andern Einwürfen wundert sich der erste, daß Sie die beyden
Engel auf dem Raphael der Königlichen Gallerie zu Dreßden nicht be-
schrieben haben. Man hat ihm gesagt, daß ein Maler von Bologna, da
er dieses Stück zu St. Sixt in Piacenz gesehen, voller Verwunderung in
einem1 Briefe ausruft; „O! was vor ein Engel aus dem Paradiese"!
Dieses deutet er auf diese Engel, und er behauptet, daß es die schönsten
Figuren in Raphaels Werke seyn.
Er könnte Ihnen auch vorwerfen, der Raphael sey in der Art beschrie-
ben, wie Raguenet 2 einen H. Sebastian von Beccafumi, einen Hercules
mit dem Antäus von Lanfranc u. s. w. schildert.
Der zweyte glaubet, der Bart des Laocoons hätte eben so viel Auf-
merksamkeit in Ihrer Schrift als der eingezogene Leib desselben verdienet.
Ein Kenner der Werke der Griechen, sagt er, muß den Bart des Laocoons
mit eben den Augen ansehen, mit welchen der P. Labat den Bart des
Moses von Michael Angelo angesehen hat.
Dieser erfahrne Dominicaner,
Qui mores hominum multorum vidit & vrbes,
hat nach so vielen Jahrhunderten aus dem Barte der Statue bewiesen, wie
Moses seinen Bart getragen, und wie die Juden denselben tragen müssen,
wenn sie wollen Juden heissen3.1
Sie haben nach dieses Mannes Meinung ohne alle gelehrte Kentniß
1
Lettere d' alcuni Bolognesi Vol. I. p. 159.
2
Raguenet Monumens de Rome, Paris, 12.
3
Labat Voyag. en Espagne & en Ital. T. III. p. 213. — Michel Ange etoit
aussi savant dans 1' Antiquite que dans 1' Anatomie, la Sculpture, la Pein-
ture & 1' Architecture, & puisqu'il nous a represente Moyse avec une belle
& si longue barbe, il est sur & doit passer pour constant, que ce Prophete
la portoit ainsi, & par une consequence necessaire les Juifs, qui preten-
dent le copier avec exactitude, & qui font la plus grande partie de leur
religion de 1' observance des usages, qu'il a laisse, doivent avoir de la barbe
comme lui, ou renoncer i la qualite des Juifs. |
62 Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung [50|51]
von dem Peplon der Vestalen geschrieben: an der Beugung des Schleyers
über der Stirn der größten Vestale hätte er Ihnen vielleicht eben so
viel entdecken können, als Cuper von der Spitze 1 des Schleyers an der
Figur der Tragoedie auf der berühmten Vergötterung des Homers gesagt
hat.
Es fehlet auch der Beweis, daß die Vestalen wirklich von der Hand
eines griechischen Meisters sind. Unser Verstand bringt uns sehr oft nicht
auf Sachen die uns natürlich einfallen solten. Wenn man Ihnen bewei-
sen wird, daß der Marmor zu diesen Figuren nicht Lychnites gewesen,
so kann es nicht fehlen, die Vestalen verlieren nebst Ihrer Schrift einen
grossen Wehrt. Sie hätten nur sagen dürfen, der Marmor habe grosse
Körner: Beweis genug über eine griechische Arbeit; wer wird Ihnen so
leicht darthun können, wie groß die Körner seyn müssen, um einen grie-
chischen Marmor von dem Marmor von Luna, den die alten Römer nah-
men, zu unterscheiden. J a , was noch mehr ist, man will sie nicht einmahl
vor Vestalen halten.
Der Münzverständige hat mir von Köpfen der Livia und der
Agrippina gesagt, welche das von Ihnen angegebene Profil nicht haben.
An I diesem Orte, meinet er, hätten Sie die schönste Gelegenheit gehabt,
von dem, was die Alten eine viereckigte Nase nennen, zu reden, welches zu
Ihren Begriffen von der Schönheit gehöret hätte. Unterdessen wird Ihnen
bekannt seyn, daß die Nase an einigen der berühmtesten griechischen Sta-
tuen, als an der mediceisdien Venus, und an den picchinischen Meleager
viel zu dicke scheinet, als daß sie unsern Künstlern ein Muster der schö-
nen Natur seyn könnte.
Ich will Sie nicht kränken mit viel Zweifeln und Einwürfen, die wider
Ihre Schrift vorgebracht sind, und welche zum Eckel wiederholet wurden,
da ein academischer Gelehrter, der den Character des homerischen Mar-
gites zu erlangen strebet, dazu kam. Man zeigte ihm die Schrift; er
sähe sie an und legte sie weg. Der erste Blick war ihm also schon anstössig
gewesen, und man sähe es ihm an, daß er um sein Urtheil befragt seyn
wolte, welches wir alle thaten. Es scheinet eine Arbeit, fieng er an, über
welche sich des Verfassers Fleiß nicht in Unkosten hat setzen wollen: ich
finde nicht über vier bis fünf Allegata, und diese sind zum Theil nachlässig
angegeben, ohne Blatt und Capitel zu bemerken. Es kann nicht fehlen,
er hat seine Nachrichten aus Büchern genommen, die er sich anzuführen
schämet.
Endlich muß ich Ihnen sagen, daß jemand etwas in der Schrift will
gefunden haben, was mir noch itzo in derselben verdeckt geblieben ist;
nemlich, daß die Griechen als die Erfinder der Malerey und Bildhauer-
kunst angegeben worden; welches ganz falsch ist, wie sich derselbe zu er-
klären beliebet. E r hat gehöret, daß es die Egypter gewesen, oder noch
ein älter Volk, welches er nicht kenne. I
Man kann auch aus den unerheblichsten Einfällen Nutzen ziehen:
unterdessen ist klar, daß Sie nur allein von dem guten Geschmadke in die-
sen Künsten haben reden wollen, und die erste Erfindung einer Kunst ver-
hält sich mehrentheils zu dem Geschmacke in derselben, wie das Saamen-
korn zu der Frucht. Man kann die Kunst in der Wiege unter den Egyp-
tern in späteren Zeiten, und die Kunst in ihrer Schönheit unter den Grie-
chen auf ein und eben demselben Stücke vergleichen. Man betrachte den
Ptolomäus Philopator von der H a n d des Aulus, auf einem geschnittenen
Steine, und neben besagten Kopfe ein paar Figuren 1 eines egyptischen
Meisters, um das geringe Verdienst seiner Nation um diese Künste einzu-
sehen.
Die Form und den Geschmack ihrer Gemälde haben Middleton 2 und
andere beurtheilet. Die Gemälde von Personen in Lebensgrösse auf zwo
Mumien in dem Königlichen Schatze der Alterthümer zu Dreßden geben
von der elenden Malerey der Egypter deutliche Beweise. Diese beyden
Körper sind unterdessen unter mehr als einem Umstände merkwürdig, und
ich werde meinem Schreiben eine kleine Nachricht von denselben beyfügen.
Ich kann nicht leugnen, mein Freund, ich muß diesen Erinnerungen
zum Theil Recht widerfahren lassen. D e r Mangel angeführter Schriften
gereichet Ihnen zu einigem Vorurtheil: die Kunst aus blauen Augen
schwarze zu machen hätte wenigstens ein Allegatum verdienet. Sie machen
es fast wie Democritus; Was ist der Mensch? fragte man ihn: etwas das
wir alle wissen, antwortete er. Welcher vernünftige Mensch kann alle
griechische Scholiasten lesen! I
schaft oder des Gegentheils den Ausschlag geben zu lassen. Ich würde
mich im ersteren Fall befinden: Allein um dieses Vorurtheil zu heben,
werde ich meine Einwürfe so weit zu treiben suchen, als es mir möglich ist.
Die erste und andere Seite will ich Ihnen schenken; ob ich schon über
die Vergleichung der Diana des Virgils mit der Nausicaa des Homers,
und über die Anwendung derselben, ein paar Worte sagen könnte. Ich
glaube audi, die Nachricht auf der zweyten Seite von den gemißhandel-
ten Stücken des Correggio, welche vermuthlidi aus des Herrn Graf Tes-
sins Briefen genommen ist, hätte können erläutert werden mit einer Nach-
richt von dem Gebrauche, den man zu eben der Zeit von den Stücken der
besten Meister in Stockholm gemacht hat.
Man weis, daß in der Eroberung der Stadt Prag a. 1648. den 15
Julii durch den Graf Königsmark, das beste aus der kostbaren Samm-
lung von Gemälden Kaiser Rudolphs I I . weggenommen und nach Schwe-
den geführet ist. 1 Unter denselben waren etliche Stücke des Correggio,
die derselbe f ü r den Herzog Friderich von Mantua gearbeitet hatte, und
die dieser dem Kaiser schenkte. Die berühmte Leda, und ein Cupido der
an seinen Bogen arbeitet, waren die vornehmsten von besagten Stücken. 2 I
Die Königin Christina, die zu derselben Zeit mehr Schulwissenschaft
als Geschmack hatte, verfuhr mit diesen Schätzen, wie Kaiser Claudius
mit einem Alexander von der H a n d des Apelles, der den Kopf der Figur
ausschneiden, und an desselben Stelle des Augustus Kopf setzen ließ. 1
Aus den schönsten Gemälden schnitte man in Schweden die K ö p f e , Hände
und Füsse heraus, die man auf eine Tapete klebete; das übrige wurde
dazu gemalet. Dasjenige, was das Glück gehabt hat, der Zerstümmelung
zu entgehen, sonderlich die Stücke vom Correggio, nebst den Gemälden,
welche die Königin in Rom angekauft hat, kamen in den Besitz des Her-
zogs von Orleans, der 250 Stücke vor 90,000 Scudi erstanden: unter
denselben waren eilf Gemälde von der Hand des Correggio.
Ich bin auch nicht allerdings zu frieden, daß Sie den nordischen Län-
dern allein vorwerfen, daß der gute Geschmack bey ihnen spät bekannt
geworden, und dieses aus ihrer geringen Achtung schöner Gemälde.
Wenn dieses von dem Geschmacke zeuget, so weis ich nicht, wie man
von unsern Nachbarn urtheilen könnte. Da Bonn die Residenz der Chur-
fürsten von Cölln, in der so genannten fürstenbergischen Sache, nach dem
1
Puffendorf. reb. Suec. L. XX. §. 50. p. 796.
2
Sandrart Acad. Pict. P. II. L. z. c. 6. p. 118 conf. St. Geiais descr. des Tabl.
du Palais Royal p. 52. seq. |
1
Plin. Hist. Nat. L. 35. c. 10.
[54|55 55|56] Sendschreiben über die Gedanken von der Nadiahmung 65
Tode Maximilian Henrichs, von den Franzosen erobert wurde, ließ man
die grossen Gemälde von ihren Ramen ohne Unterschied herausschneiden,
und über die Bügel der Wagen spannen, auf welchen die Geräthe und
die Kostbarkeiten des churfürstlichen Schlosses nach Frankreich abgeführet
s wurden. Glauben Sie nicht, daß ich mit bloß historischen Erinnerungen,
wie ich angefangen habe, fortfahren werde. Ehe ich Ihnen aber |
meine Zweifel bringe, kann idi nicht umhin, Ihnen zwey allgemeine
Puncte vorzuhalten.
Sie haben zum ersten in einem Stile geschrieben, w o oft die Deutlich-
10 keit unter der Kürze zu leiden scheinet. Haben Sie besorget, Sie möchten
künftig zu der Strafe desjenigen Spartaners, der mehr als drey Worte
gesaget, verdammet werden; nemlidi Guicciardins Krieg von Pisa zu
lesen? W o ein allgemeiner Unterricht der Endzweck ist, das muß für jeder-
mann faßlich seyn. D i e Speisen sollen mehr nach dem Geschmack der
n Gäste, als nach dem Geschmack der Ködie zugerichtet werden,
Hernach geben Sie sich fast in einer jeden Zeile mit einer allzugrossen Pas-
sion für das Alterthum blos. Ich hoffe, Sie werden der Wahrheit etwas
20 einräumen, wenn ich in der Folge meiner Anmerkungen, w o mir etwas
in diesem Puncte anstössig scheinet, erinnere.
D e r erste besondere Einwurf, den ich Ihnen mache, ist auf der dritten
Seite. Erinnern Sie sich allezeit, daß ich glimpflich mit Ihnen verfahre;
ich habe die zwo ersten Seiten unangefochten gelassen;
25 non temere a me
Quiuis ferret idem.
Η OR.
Wären es Nachlässigkeiten von der Art, welche die alten „Parerga"® nen-
neten, und dergleichen man wünschte, daß Protogenes in seinem Ialysus
begangen hätte, wo der grosse Fleiß des Malers an ein Rebhun den
ersten Blick auf sich zog, zum Nachtheil der Hauptfigur, so wären sie I
wie gewisse Nachlässigkeiten an dem Frauenzimmer, welche zieren. Weit
sicherer wäre es gewesen, den Diomedes des Dioscorides gar nicht anzu-
führen; der Verfasser aber, der diesen Stein gar zu wohl zu kennen schei-
net, wolte sich gleich anfänglich wider alle Einwendungen über die Fehler
der alten Künstler verwahren, und da er glauben können, wenn man
ihm in einer der berühmtesten und schönsten Arbeiten der Griechen, wie
der Diomedes ist, Fehler zeigen würde, daß dieses zugleich wenigstens ein
Vorurtheil wider geringere Werke der Künstler dieser Nation geben kön-
nen, so suchte er eine ganz leichte Abfertigung, und meinete alle Fehler
unter dem glimpflichen Ausdruck der Nachlässigkeiten zu bededken.
Wie! wenn ich zeige, daß Dioscorides weder Perspectiv noch die ge-
meinsten Regeln der Bewegung des menschlichen Körpers verstanden, ja
so gar wider die Möglichkeit gehandelt habe? Ich werde es wagen; aber
1
Strabo Geogr. L. VIII. p. 542.
* Vitruv. L. III. c. I.
* Plin. Hist. Nat. L. 3j. c. ίο. I
[57|58] Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung 67
und ich würde vielleicht nidit zu erst Fehler in diesem Steine entdecken,
aber mir ist gänzlich unbekannt, daß jemand dieselben schriftlich mit-
getheilet habe.
Der Diomedes des Dioscorides ist eine Figur, die entweder sitzet, oder
die sich von dem Sitze heben will; denn die Action desselben ist zwey-
deutig. Er sitzet aber nicht; welches offenbar ist: er kann sich aber auch
nicht heben; welches in der Action, die er macht, nicht geschehen kann.
Die Bemühung die unser Körper anwendet, von einem Sitze aufzu-
stehen, gesdiiehet den Regeln der Mechanik zu folge, nach den Mittelpunct
der Schwere zu, welchen der Körper sucht. Diesen suchet der sich he- I
bende Körper zu erhalten, wenn er die im Sitzen vorwerts gelegten Beine
nach sich ziehet;1 und auf unserm Steine ist hingegen das rechte Bein
gestreckt. Die Bemühung sich zu erheben fängt sich an mit aufgehobenen
Fersen, und die Schwere ruhet in diesem Augenblicke nur auf den Zehen;
welches Felix2 in seinem geschnittenen Diomedes beobachtet hat: hier hin-
gegen ruhet die ganze Fußsohle.
In einer sitzenden Stellung, in welcher Diomedes ist, mit dem unter-
geschlagenen linken Beine, kann der Körper, wenn er sich erheben will,
den Mittelpunct seiner Schwere nicht blos durch das Zurückziehen der
Beine finden; folglich sich unmöglich durch diese Bewegung, die er sich
giebt, allein heben. Diomedes hat in der linken Hand, welche auf dem
untergeschlagenen Beine ruhet, das geraubte Palladium, und in der rech-
ten Hand ein kurzes Schwerdt, dessen Spitze nachlässig auf dem Posta-
mente liegt. Des Diomedes Körper äussert also weder die erste und na-
türliche Bewegung der Füsse, die zu einer jeden ungezwungenen Auf-
richtung eines sitzenden nothwendig ist, noch auch die Kraft der stüt-
zenden Arme, die in einer ungewöhnlichen Lage des Sitzens zum heben
erfordert wird; folglich kann sich Diomedes nicht heben.
Zu gleicher Zeit ist die Figur in dieser Action betrachtet, ein Fehler
wider die Perspectiv begangen.
Der Fuß des linken untergeschlagenen Beins berühret das Gesims
des Postaments, welches über die Grundfläche, worauf es selbst und
1
Boreil. de motu animal. P. I. c. 18. prop. 142. p. 142. edit. Bernoul.
1
Stosch. Pierr. grav. pi. 35.
68 Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung [58)59 59|60]
der vordere ausgestreckte Fuß ruhet, hervorraget; folglich ist die Linie,
die I der hintere Fuß beschreiben würde, auf dem Steine die vordere, und
diejenige, welche der vordere Fuß madit, die hintere.
Wäre auch diese Stellung möglich, so ist sie wider den Character in
den meisten Werken der griechischen Künstler, als welche allezeit das
Natürliche, das Ungezwungene gesucht haben, welches niemand in einer
so gewaltsamen Verdrehung des Diomedes finden kann.
Ein jeder der sich bemühen wird, diese Stellung im Sitzen möglich
zu machen, wird dieselbe beynahe unmöglich finden. Könnte man aber
dieselbe durch Mühe endlich erhalten, ohne sich aus vorhergegangenen
Sitzen in dieselbe zu setzen, so wäre sie dennoch wider alle Wahrschein-
lichkeit: denn welcher Mensch wird sich mit Fleiß in einem so peinlichen
Stande die äusserste Gewalt anthun?
Felix, welcher vermuthlich nach dem Dioscorides gelebet, hat zwar
seinen1 Diomedes in der Action gelassen, welche sein Vorgänger dem-
selben gegeben hat, aber er suchte das Gezwungene derselben wo nicht zu
heben, doch wenigstens erträglicher vorzustellen durch die dem Diomedes
gegen über gestellete Figur des Ulysses, welcher, wie man sagt, die Ehre
des geraubten Palladii dem Diomedes nehmen, und ihm dasselbe hin-
terlistiger Weise entreissen wollen. Diomedes setzt sich also zur Gegen-
wehr und durch die Heftigkeit, welche der Held äussert, bekommt dessen
Stellung einige mehrere Wahrscheinlichkeit.
Eine sitzende Figur kann Diomedes eben so wenig seyn, welches der
freye und ungedruckte Contour der Theile des Gesässes und des Schen-
kels zeiget: es könnte auch der Fuß des untergeschlagenen entfernteren
Beins nicht sichtbar seyn; zugeschweigen, daß eben dieses Bein mehr auf-
werts gebogen stehen müste. I
Der Diomedes beym Mariette1 ist vollends wider alle Möglichkeit:
denn das linke Bein ist wie ein zugelegtes Taschenmesser untergeschlagen,
und der Fuß, welcher nicht sichtbar ist, hebt sich so hoch, daß er nirgend
auf etwas ruhen kann.
Kann man dergleichen Fehler mit dem Titel der Nachlässigkeiten ent-
schuldigen, und würde man sie in den Werken neuerer Meister mit sol-
chem Glimpfe übergehen?
Dioscorides hat sich in der That in dieser seiner berühmten Arbeit nur
als einen Copisten des Polyclets gezeiget. Man glaubt,8 dieser sey eben
1
Stosch. Pierr. grav. pl. 3$. |
1
Mariette Pierr. grav. Τ. II. n. 94.
* Stosch. Pierr. grav. pl. 54.
[60|61] Sendschreiben über die Gedanken von der Nadiahmung 69
1
Pausan. L. VI. c. 7. p. 470.
* Dioscor. de re medica L. V. c. 179. conf. Salmas. Exercit. Plin. c. IJ. p.
134. b.
70 Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung [61|62 62|63]
ich weis nicht, ob die Kunst einigen Antheil an der Farbe derselben gehabt
hat.
Ueber die Blattergruben würden audi ein paar Worte aus dem Hip-
pocrates zu reden seyn, wenn man sich in Worterklärungen einzulassen
gesonnen wäre. I
Ich bin im übrigen der Meinung, die Verstellung, die ein Gesicht durch
Blattern leidet, verursache einem Körper keine so grosse Unvollkommen-
heit, als diejenige war, die man an den Atheniensern bemerken wollen.
So wohlgebildet ihr 1 Gesicht war, so armseelig war ihr Körper an dem
Hintertheile. 2 Die Sparsamkeit der Natur an diesen Theilen war wie
der Ueberfluß derselben bey den Enotoceten in Indien, die so grosse
Ohren sollen gehabt haben, daß sie sich derselben anstatt der Küssen
bedienet.
Ueberhaupt glaube ich, unsere Künstler würden vielleicht eben so gute
Gelegenheit haben können, das schönste Nackende zu studiren, wie in
den Gymnasien der Alten geschehen. Warum nutzen sie diejenige nicht,
die man den Künstlern in Paris vorschlägt,3 in heissen Sommertagen
längst den Ufern der Seine, um die Zeit, da man sich zu baden pfleget,
zu gehen, wo man das Nackende von sechs bis zu fünfzig Jahren wäh-
len kann? Nadi solchen Betrachtungen hat Michael Angelo in seinem
berühmten4 Carton von dem Kriege von Pisa vermuthlich die Figuren
der Soldaten entworfen, die sich in einem Fluße baden, und über dem
Schall einer Trompete aus dem Wasser springen, zu ihren Kleidern eilen,
und dieselben über sich werfen.
Einer von den anstössigsten Orten in der Schrift ist ohne Zweifel der-
jenige, wo zu Ende der zehenten Seite die neueren Bildhauer gar zu tief I
unter die griechischen herunter gesetzt werden. Die neueren Zeiten haben
im Starken und Männlichen mehr als einen Glycon, und im Zärtlichen,
Jugendlichen und Weiblichen mehr als einen Praxiteles aufzuweisen.
Michael Angelo, Algardi und Schlüter, dessen Meisterstücke Berlin zieren,
haben musculöse Körper, und
1 S. Den Cupido (a) des Solons; den Cupido der die Löwinnen führet vom
(b) Sostratus, und ein Kind neben einem Faun vom (c) Axeodius.
(a) Stosdi. Pierr. grav. pl. 64. (b) Ibid. pl. 66. (c) Ibid. pl. 20. |
1 v. Bartoli Admiranda Rom. Fol. 50. 51. 61. Zanetti Statue antiche P . II.
fol. 33·.
1 v. Callistrat. p. 903.
® v. Philostrat. Heroic.
72 Sendsdireiben über die Gedanken von der Nachahmung [64|65 65|66]
1
Baldinucci Vita del Cav. Bernino, p. 47.
8
v. Ibid. p. 72.1
[66|67] Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung 73
dung, nicht die Bilder selbst, sondern nur eine Vorstellung derselben; und
die Kunst in der Malerey so wohl, als in der Poesie bestehet in der Nach-
ahmung. Alles, was durch dieselbe wirklich und körperlich nach seiner
Maaße also würde hervorgebracht werden, wie es in der Natur erscheinet,
ist wider das Wesen der Kunst. Sie soll machen, daß das, was nicht er-
haben ist, erhaben, und was erhaben ist, nicht erhaben scheine.
Aus diesem Grunde sind ganz hervorliegende Figuren in erhobenen
Arbeiten eben so anzusehen, als feste und wirklich aufgeführte Säulen
unter den Verzierungen eines Theaters, welche blos wie ein angenehmes
Blendwerk der Kunst als solche unserem Auge erscheinen solten. Die
Kunst erhält hier, so wie jemand von der Tragödie gesagt hat, mehr
Wahrheit durch den Betrug, und Unwahrheit durch Wahrheit. Die Kunst
ist es, welche macht, daß oft eine Copie mehr reizet, als die Natur selbst.
Ein natürlicher Garten, und lebendige Bäume auf der Scene eines Thea-
ters machen kein so angenehmes Schauspiel, als wenn dergleichen durch
Künstler Hände glücklich dargestellet werden. Wir finden mehr zu be-
wundern an einer Rose von van Huysum, oder an einer Pappel von Vee- I
rendaal, als an denen, die der geschickteste Gärtner gezogen hat. Eine
entzückende Landschaft in der Natur, ja das glückselige thessalische Tempe
selbst wird vielleicht nicht die Würkung auf uns machen, die Geist und
Sinne bey Betrachtung eben dieser Gegend durch den reizenden Pinsel
eines Dieterichs erhalten müssen.
Auf diese Erfahrungen kann sich unser Urtheil über die erhobenen
Arbeiten der Alten gründen. Die zahlreiche Sammlung der Königlichen
Alterthümer in Dreßden enthält zwey vorzügliche Werke von dieser Art.
Das eine ist eine Bacchanale an einem Grabmale: das andere ist ein Opfer
des Priapus an einem grossen marmornen Gefässe.
Es ist ein absonderliches Theil der Kunst eines Bildhauers, erhobene
Werke zu arbeiten: nicht ein jeder grosser Bildhauer ist hierinn glücklich
gewesen. Matielli kann hier als ein Beyspiel dienen. Es wurden auf Be-
fehl Kaiser Carls VI. von den geschicktesten Künstlern Modelle ver-
fertiget zu dergleichen Arbeiten auf die beyden Spiralsäulen an der Kirche
des H. Caroli Borromäi. Matielli, der allbereits einen grossen Ruf er-
langet hatte, war einer der vornehmsten, die hierbey in Betrachtung ge-
zogen wurden: allein seine Arbeit war nicht diejenige, welche den Preis
erhielt. Die gar zu erhabene Figuren seines Modells beraubeten ihn der
Ehre eines so wichtigen Werks aus dem Grunde, weil die Masse des
Steins durch die grossen Tiefen würde verringert und die Säulen geschwächt
worden seyn. Mader heißt der Künstler, dessen Modelle vor seiner Mit-
74 Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung [67|68 68|69]
werber ihren den größten Beyfall fanden, und die er an den Säulen
selbst unvergleichlich ausgeführet hat. Es ist bekannt, daß es eine Vor-
stellung des Heiligen ist, dem die Kirche geweihet worden. I
Ueberhaupt ist bey dieser Arbeit zu merken: Erstlich; daß nicht eine
jede Action und Stellung zu derselben bequem sey, dergleichen sind allzu-
starke Verkürzungen, welche daher vermieden werden müssen. Zum an-
dern: daß nachdem die einzelne modellirte Figuren wohl ordonnirt und
gruppirt worden, der Durchmesser einer jeden derselben in der Tiefe, nach
einem verjüngten Maasstabe zu den Figuren der erhobenen Arbeit selbst
genommen werde, also, daß wenn ζ. E. der Durchmesser einer Figur einen
Fuß gehalten, die Maas des Profils eben derselben Figur, nachdem sie
halb oder weniger erhoben gearbeitet werden soll, in drey Zoll oder we-
niger gebradit werde; mit dieser nothwendigen Beobachtung, daß die Pro-
file perspectivisdi nicht allein gestellet, sondern in ihrer gehörigen Degra-
dation verjünget werden müssen. Je mehr Rundung der fladi gehaltene
Durdimesser einer Figur giebt, desto grösser ist die Kunst. Insgemein
fehlet es der erhobenen Arbeit an der Perspectiv; und wo Werke von die-
ser Art keinen Beyfall gefunden, ist es meistentheils aus diesem Grunde
geschehen.
Da ich nur eine kleine Anmerkung über die erhobene Arbeiten der
Alten zu machen gedachte, merke ich, daß ich, wie jener alte Redner, bey
nahe jemand nöthig hätte, der mich widerum in den Ton brächte. Ich
bin über meine Grenzen gegangen; und mich deucht, es sey eine gewisse
Beobachtung unter Scribenten, in Absicht der Erinnerungen über eine
Schrift: keine zu machen, als über ausdrücklich in der Schrift befindliche
bedenkliche Puncte. Zugleich erinnere ich mich, daß ich einen Brief und
kein Buch schreiben will: es fält mir auch zuweilen ein, daß ich für mich
selbst einen Unterricht ziehen könnte,
aus dem Ungestüm gewisser Leute wider den Verfasser, die nicht zugeben
wollen, daß man eins und das andere schreibe über Dinge, wozu sie ge-
dungen worden.
Die Römer hatten ihren Gott Terminus, der die Aufsicht über die
Grenzen und Marksteine überhaupt, und, wenn es diesen Herren gefält,
auch über die Grenzen in Künsten und Wissenschaften hatte. Gleichwohl
urtheileten Griechen und Römer über Werke der Kunst, die keine Künst-
[69|70] Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung 75
ler waren, und ihr Urtheil sdieinet audi unsern Künstlern gültig. Idi
finde auch nicht, daß der Küster in dem Tempel des Friedens zu Rom, der
das Register über den Schatz von Gemälden der berühmtesten griechi-
schen Meister, die daselbst aufgehänget waren, haben mochte, sich ein
Monopolium der Gedanken über dieselbe angemasset, da Plinius die Ge-
mälde mehrentheils beschrieben,
Wie gemein und niedrig sind die Betrachtungen über die Malerey von dem
grossen Nicolas Poussin, welche Bellori2 aus einer Handsdirift als etwas
seltenes mittheilet, und dem Leben dieses Künstlers beygefüget hat?
Der Verfasser hat ohnzweifel nicht für Künstler schreiben wollen; sie
würden auch viel zu großmüthig seyn, als daß sie über eine so kleine
Schrift einen Aristarchus vorstellen wolten. Ich erinnere dem Verfasser
nur einige Kleinigkeiten, die ich einigermassen einzusehen im Stande bin;
1
Trattato della Pittura e Scultura, uso & abuso loro, composto da un Teo-
logo e da un Pittore, Fiorenza, 1652, 4.
' Bellori Vite de' Pittori etc. p. 300.
76 Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung [70|71 71|72]
Was aber die blosse Nachahmung der Natur mit Hindansetzung des
Antiquen betrift, so bin ich völlig der Meinung des Verfassers: aber zu I
Beyspielen von Naturalisten in der Malerey würde ich andere Meister
gewählet haben. Dem grossen Jordans ist gewiß zu viel geschehen. Mein
Urtheil soll hier nicht allein gelten; ich berufe mich auf dasjenige, welches
3
Ridiardson. T. III. p. 94. |
1
Xenoph. Memorab. L. III. c. 6. 7. |
[72|73] Sendschreiben über die Gedanken von der Nadiahmung 77
wie die übrigen Urtheile von Malern wenige verwerfen werden. „Jacob
Jordans" sagt 1 ein Kenner der Kunst, „hat mehr Ausdruck und Wahrheit
als Rubens."
„Die Wahrheit ist der Grund und die Ursach der Vollkommenheit
und der Schönheit; eine Sache, von was vor Natur sie auch ist, kann
nicht sdiön und vollkommen seyn, wenn sie nicht wahrhaftig ist, alles was
sie seyn muß, und wenn sie nicht alles das hat, was sie haben muß."
Die Richtigkeit des obigen Urtheils vorausgesetzt, so wird nach dem
Begrif von der Wahrheit in einer berühmten2 Originalschrift, Jordans
mit mehrern Recht unter die größten Originale, als unter die Affen der
gemeinen Natur zu setzen seyn. Ich würde hier an die Stelle dieses gros-
sen Künstlers einen Rembrant, und für den Stella einen Raoux oder
einen Vatteau gesetzt haben; und alle diese Maler thun nichts anders,
als was Euripides zu seiner Zeit gethan hat; sie stellen die Menschen vor,
wie sie sind. In der Kunst ist nichts klein und geringe; und vielleicht ist
auch aus den so genannten holländischen Formen und Figuren ein Vortheil
zu ziehen, so wie Bernini die Caricaturen genutzet hat. Dergleichen über-
triebenen Figuren hat er, wie man versichert, eins der größten Stücke der
Kunst zu danken gehabt, nemlich3 die Freyheit seiner Hand, und seit I
dem ich dieses gelesen, habe ich angefangen etwas anders zu denken über
die Caricaturen, und ich glaube, man habe einen grossen Schritt in der
Kunst gemacht, wenn man eine Fertigkeit in denselben erlanget hat. Der
Verfasser giebt es als einen Vorzug bey den Künstlern des Alterthums
an, daß sie über die Grenzen der gemeinen Natur gegangen sind: thun
unsere Meister in Caricaturen nicht eben dieses? und niemand bewundert
sie. Es sind vor einiger Zeit grosse Bände von solcher Arbeit unter uns ans
Licht getreten, und wenig Künstler achten dieselben ihres Anblicks
würdig.
Ueber die vierzehende Seite werde ich dem Verfasser ein Urtheil un-
serer Academien vorlegen. Er behauptet mit dem Tone eines Gesetzgebers,
„die Richtigkeit des Contours müsse allein von den Griechen erlernet wer-
den." In unseren Academien wird insgemein gelehret, daß die Alten
von der Wahrheit des Umrisses einiger Theile des Körpers wirklich abge-
gangen sind, und daß an den Schlüsselbeinen, am Ellenbogen, am Schien-
beine, an den Knien, und wo sonst grosse Knorpel liegen, die Haut nur
über die Knochen gezogen scheinet, ohne wahrhaftig deutliche Anzeigung
der Tiefen und Höhlungen, welche die Apophyses und Knorpel an den
Gelenken madien. Man weiset junge Leute an, soldie Theile, wo unter
der Haut nidit viel fleischigtes lieget, eckigter zu zeichnen; und eben so
im Gegentheil, wo sich das meiste Fett ansetzet. Man hält es ordentlich
vor einen Fehler, wenn der Umriß gar zu sehr nadi dem alten Geschmacke
ist. Ganze Academien in Corpore, die also lehren, werden doch, hoffe ich,
nicht irren können.
Parrhasius selbst, „der größte im Contour", hat „die Linie, welche
das Völlige von dem Ueberflüssigen scheidet", nidit zu treffen gewust: 1
Er ist, wie man1 berichtet, da er die Schwulst vermeiden wollen, in das
Magere verfallen. Und Zeuxis hat vielleicht seinen Contour wie Rubens
gehalten, wenn es wahr ist, daß er völligere Theile gezeichnet, um seine
Figuren ansehnlidier und vollkommner zu machen. Seine weiblichen
Figuren hat er nadi Homers Begriffen2 gebildet, dessen Weiber von
starker Statur sind. Der zärtliche Theocrit selbst malet seine Helena*
fleischigt und groß, und Raphaels Venus in der Versammlung der Göt-
ter des kleinen farnesischen Pallastes in Rom, ist nach gleichförmigen
Ideen einer weiblidien Sdiönheit entworfen. Rubens hat also wie Homer
und wie Theocrit gemalet: was kann man mehr zu seiner Vertheidigung
sagen?
Der Character des Raphaels in der Schrift ist richtig und wahr ent-
worfen: aber würde nidit eben das, was Antalcidas der Spartaner einem
Sophisten sagte, der eine Lobrede auf den Hercules ablesen wolte, auch
hier gelten? „Wer tadelt ihn", sagte er. Was die Schönheiten betritt, die
man in dem Raphael der Königlichen Gallerie zu Dreßden, und ins
besondere an dem Kinde auf den Armen der Madonna finden wollen,
so urtheilet man sehr verschieden darüber.
Der Verfasser hätte eben so rühmlich die Person eines Patrioten anneh-
men können wider einige jenseit der Alpen, denen alles, was niederlän-
disch ist, Eckel macht: I
Ist nicht die Zauberey der Farben etwas so wesentliches, daß kein Ge-
mälde ohne dieselbe allgemein gefält, und daß durch dieselbe viel Fehler
theils übergangen, theils gar nicht angemerket werden? Diese madiet
nebst der grossen Wissenschaft in Licht und Schatten den Werth der nie-
derländischen Stücke. Sie ist dasjenige in der Malerey, was der Wohl-
klang und die Harmonie der Verse in einem Gedichte sind. Durch diese
Zauberey der dichterischen Farben verschwinden dessen Vergehungen, und
derjenige, welcher ihn mit dem Feuer, worinn er gedichtet, lesen kann,
wird durch die göttliche Harmonie in solche Entzückung mit fortgerissen,
daß er nicht Zeit hat an das, was anstössig ist, zu gedenken.
Bey Betrachtung eines Gemäldes ist etwas, was vorangehen muß;
dieses ist die Belustigung der Augen, sagt1 jemand; und diese bestehet
in den ersten Reitzungen, anstatt daß dasjenige, was den Verstand rüh-
ret, allererst aus der Ueberlegung folget. Die Colorit ist überdem allein
Gemälden eigen; Zeichnung suchet man in jedem Entwürfe, in Kupfer-
stidien und dergleichen; und diese scheinet in der That eher als jene von
Künstlern erlanget zu seyn. Ein grosser Scribent in der Kunst 8 will auch
bemerkt haben, daß die Coloristen viel später als die dichterischen Maler
in Ruf gekommen sind. Kenner wissen, wie weit es dem berühmten
Poussin in der Colorit gelungen ist; und alle diejenigen,
werden hier die niederländischen Maler vor ihre Meister erkennen müssen.
Ein Maler ist ja eigentlich nichts anders, als ein Affe der Natur, und je
glücklicher er diese nachäffet, desto vollkommener ist er.
Der zärtliche Van der Werf, dessen Arbeiten mit Golde aufgewogen wer-
den, und nur allein die Cabinette der Grossen in der Welt zieren, hat sie
für jeden welschen Pinsel unnachahmlich gemacht. Es sind Stücke, welche
die Augen der Unwissenden, der Liebhaber und der Kenner auf sich
ziehen. „Ein jeder Poet, welcher gefällt", sagt der critisdie englische Dich-
ter, „hat niemahls übel geschrieben", und wenn der niederländische Maler
dieses erhält, so ist sein Beyfall allgemeiner, als derjenige, den die rich-
Die Regungen der Seele, die mit einander zu streiten scheinen, fliessen
hier mit einer friedlichen Stille zusammen. Die Genesung meldet sich in
dem siechen Gesichte, so wie die Ankündigung der ersten nahen Blicke der
Morgenröthe, die unter dem Schleyer der Nacht selbst den Tag, und einen
schönen Tag zu versprechen scheinet.
Der Verstand und der Geschmack des Künstlers breiten sich durch
sein ganzes Werk aus bis auf die Vasen, die nach den besten Werken
des Alterthums in dieser Art, entworfen sind. Das Tischgestell vor dem
Bette hat er, wie Homer, von Elfenbein gemacht.
Das Hinterwerk des Gemäldes stellet eine prächtige griechische Bau-
kunst vor, deren Verzierungen auf die Handlung selbst zu deuten scheinen.
Das Gebälke an einem Portal tragen Caryatiden, die einander umfassen,
als Bilder einer zärtlichen Freundschaft zwischen Vater und Sohn, und
zugleich einer ehelichen Verbindung. I
Der Künstler zeigt sich bey aller Wahrheit seiner Geschichte, als einen
Dichter, und er machte seine Nebenwerke allegorisch, um gewisse Um-
stände durch Sinnbilder zu malen. Die Sphinxe an dem Bette des Prin-
zen deuteten auf die Nachforschung des Arztes, und auf die besondere
Entdeckung der Ursach von der Krankheit desselben.
Man hat mir erzählt, daß junge Künstler jenseits der Gebürge, die
dieses Meisterstück gesehen, da ihnen der Arm des Prinzen, der etwa um
eine Linie zu stark seyn mag, ins Gesicht gefallen, vorbeygegangen, ohne
nach den Vorwurf des Gemäldes selbst zu fragen. Wenn auch Minerva
selbst gewissen Leuten, wie dem Diomedes, wolte den Nebel wegnehmen,
so würden sie dennoch nicht erleuchtet werden.
8
Theodoret. Dial. Inconfus. p. 76.
4
Horapoll. Hierogl. L. [I] c. 33. conf. Blakwall Enquiry of Homer, p. 170. |
[83|84 84|85] Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung 85
Befehlshaber. Socrates der Weise, welcher damahls ein Glied des Raths
war, erklärte sich nebst etlichen andern wider die Anklage; aber ver-
gebens: die tapferen Sieger wurden anstatt der Ehrenbezeugungen, die
sie hoffen konnten, zum Tode verurtheilet. Einer unter ihnen war der
einzige Sohn des Pericles von der berühmten Aspasia. I
Parrhasius, der diese Begebenheit erlebet hat, war um so viel geschick-
ter, durch die wahren Character der hier handelnden Personen seinem
Bilde ohne Allegorie eine Deutung zu geben, die weiter, als auf die blosse
Vorstellung einer Geschichte gieng; als welche noch itzo einem Künstler
bequem genug seyn könnte, eben den Widerspruch in dem Character der
Athenienser zu schildern.
Und endlich, meinet eben derselbe, komme dasjenige, was man Künst-
lern, und sonderlich Malern in Absicht der Allegorie aufzubürden sudit,
auf eben die Forderung hinaus, die Columella an einen Landmann macht.
Er 1 sähe gern, daß er ein Weltweiser wäre, wie Democritus, Pythagoras
und Eudoxus gewesen.
Kann man hoffen mit den Allegorien in Verzierungen glücklicher zu
seyn, als mit denen in Gemälden? Mich deucht, der Verfasser würde
mehr Schwierigkeit finden, seine vermeinte gelehrte Bilder hier anzubrin-
gen, als Virgil fand, die Namen eines Vibius Caudex, eines Tanaquil
Lucumo, oder eines Decius Mus in heroische Verse zu setzen.
Man solte vermuthen, das Muschelwerk würde in Verzierungen der
Baukunst und sonst angebracht, nunmehro mit allgemeinen Beyfall ange-
nommen zu seyn scheinen können. Ist denn weniger Natur in der Zierde,
die dasselbe geben soll, als in den corinthischen Capitälern, wenn man auf
den bekannten vorgegebenen Ursprung derselben siehet? Ein Korb, den
man auf das Grab eines jungen Mädgens von Corinth mit einigen Spiel-
sachen von ihr angefüllet, gesetzt, und mit einem breiten Ziegel bedeckt
hatte, gab Gelegenheit zu der Form dieses Capitals. Es wuchs unter I
demselben die Pflanze Acanthus hervor, die denselben bekleidete. Der
Bildhauer Callimachus1 fand an diesem bewachsenen Korbe so viel ar-
tiges, daß er das erste Capital zu einer corinthischen Säule nach diesem
Modelle arbeitete.
Dieses Capital ist also ein Korb mit Blättern, und er soll das ganze
Gebälke auf einer Säule tragen. Vielleicht fand man es zu Pericles Zeiten
noch nicht der Natur und Vernunft gemäß genug, da es einem berühmten
1
de re rust, praef. ad L. I. § . 32. p. 392. edit. Gesn. I
1
Vitruv. L. IV. c. i.
86 Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung [85|86]
1
Pocock's Travels Τ. II.
3
Plutarch. Num. p. 149.1.14. edit. Bryani.
4
Passerii Lucern. I
[86|87 87|88] Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung 87
Man wird auch wahrhaftig nicht viel Exempel beybringen können, wo die
Alten allegorisch gezieret haben.
Idi weiß ζ. E. nicht, was vor eine Schönheit, oder vor eine Bedeu-
tung der berühmte Graveur Mentor in der Eidexe gesucht hat, die er auf
einem1 Becher gegraben. Denn
sind zwar das lieblichste Bild auf einem Blumenstücke einer Rachel Ruysch,
nicht aber auf einem Trinkgeschirre. Was vor eine geheime Bedeutung
haben Weinstöcke mit Vögeln, welche von den Trauben an denselben fres-
sen, auf einem2 Aschentopfe? Vielleicht sind diese Bilder eben so leer und
willkürlich anzusehen, als es* die in einem Mantel gewürkte Fabel vom
Ganymedes ist, mit welchem Aeneas den Cloanthus, als einen Preis in
den Wettspielen zu Schiffe, beschenkte.
Und was vor widersprechendes haben endlich Tropheen auf ein fürst-
liches Jagdhaus? Glaubt der Verfasser, als ein eifriger Verfechter des
griechischen Geschmacks, es erstrecke sich derselbe so gar bis auf die Nach-
ahmung Königs Philippi, und der Macedonier überhaupt, von denen4
Pausanias meldet, daß sie sich selbst keine Tropheen errichtet haben?
Eine I Diana mit einigen Nymphen in ihrem Gefolge, nebst ihrem
übrigen Jagdzeuge,
schiene etwa dem Orte gemässer zu seyn. Die alten Römer hängeten ja
aussen an der Thüre ihrer Häuser die Waffen überwundener Feinde auf,
die der Käufer nicht herabnehmen durfte, um dem Eigenthümer des
Hauses eine immerwährende Erinnerung zur Tapferkeit zu geben. Hat
man bey Tropheen vorzeiten diese Absicht gehabt, so glaube ich, können
dieselbe nirgend zur Unzeit für grosse Herren angebracht werden.
Ich wünsche bald eine Antwort auf mein Schreiben zu sehen. Es kann
Sie, mein Freund, nicht sehr befremden, daß es öffentlich erscheinet: in
p. 240.1
Sendschreiben über die Gedanken von der Nadiahmung 89
der Zunft der Schriftsteller ist man seit einiger Zeit mit Briefen verfahren,
wie auf dem Theater, wo ein Liebhaber, der mit sidi selbst spricht, zu
gleicher Zeit das ganze Parterre als seine vertrautesten Freunde ansiehet.
Man findet es aber im Gegentheil nicht weniger billig, Antworten
Alle vier Mumien des Königl. Cabinets sind in Rom, wie man weiß,
erhandelt, und diese Nadiridit bewog midi zu untersuchen, ob die Mumie
mit der Schrift nicht etwa eben diejenige sey, weldie della Valle besessen.
Ich fand, daß die umständliche Beschreibung seiner zwo Mumien mit
den beyden unversehrten Königl. Mumien vollkommen auch in den klein-
sten Verzierungen übereinstimmete.
Diese beyden Mumien sind über die gewöhnlichen leinen Binden, wo-
mit dergleichen Körper unzählidie mahl pflegen bewunden zu seyn, und
welche nach Art eines Barrecan gewebet worden, in verschiedene (und
wie jemand1 an einer Mumie in Engeland bemerken wollen, in drey)
Arten von gröberer Leinwand eingewickelt. Diese Leinwand ist durch
besondere Bänder, fast wie Gurte, jedoch sdimäler gearbeitet, befestiget,
dergestalt, daß nicht die geringste Erhobenheit eines Theils des Gesichts
zu sehen. Die oberste Decke ist eine feine Leinewand, weldie mit einem
gewissen dünnen Grund übertragen, häufig vergoldet, und mit allerhand
Figuren gezieret ist: auf derselben ist die Figur des Verstorbenen ge-
malet. I
Auf der Mumie mit der Sdirift bezeichnet, zeiget sidh die Figur eines
Mannes, der in seinen besten Jahren verstorben, mit wenigem und krausen
Barthaare, nidit aber, wie ihn Kirdier vorgestellet, als ein alter Greis
mit einem langen und spitzen Barte. Die Farbe des Gesichts und der
Hände ist braun: der Kopf ist umgeben mit vergoldeten Hauptbinden,
auf denen köstliche Steine angedeutet worden. Am Halse ist eine gol-
dene Kette gemalt, an welcher eine Art von einer Münze mit verschiede-
nen Charactern, halben Monden u. s. w. bezeichnet, hänget, und über
derselben raget der Hals eines Vogels hervor, welches vermuthlich ein
Sperber oder ein Habidit war; man hat ihn audi auf andern Mumien auf
der Brust gefunden.1 In der rechten Hand hält die Person eine vergoldete
Tasse mit etwas rothen angefüllet; und da die Priester dergleichen2 bey
den Opfern führeten, so könnte man muthmassen, der verstorbene sey
ein Priester gewesen. An der linken Hand haben der Zeigefinger und der
kleine Finger einen Ring, und in dieser Hand ist etwas rundes von dun-
kelbrauner Farbe, welches della Valle vor eine nahmhafte Frucht aus-
giebt. Die Füsse sind wie die Beine blos, und mit Sohlen, von denen die
Bänder zwischen den grossen Zehen hervorgehen, und mit einer Schleife
auf dem Fuse selbst befestiget sind.
1
Shaw Voyag. Τ. II. p. 123.
1
della Valle Viaggi Lettr. 11. §. 9. p. 32 j. seq. |
1
Herodot. L. II. c. 36. Diod. Sic.
[94|95] Nachricht von einer Mumie 93
1
Plutarch, de Isid. & Osir. p. 374.
s
Kirdier Oedip. 1. c. Ej. Prodrom. Copt. c. 7.
4
Herodot. L. II. c. 153. |
1
Diogen. Laert. v. Democr.
* Diodor. Sic. L. I. c. 29. edit. Wessel.
94 Nachricht von einer Mumie [95|96 96]97]
im ganzen Reidie abgeschaffet habe, und daß folglich kein Körper mehr
balsamiret worden. Er berufet* sich abermahls auf den Herodot, und
andere haben auf sein Wort getreulich nachgeschrieben. Es hat jemand
noch mehr wissen wollen, indem er vorgegeben, die Egypter und Aethio-
pier hätten nur bis auf den Cambyses ihre verstorbenen 4 auf überkleister-
ten Leinen ihrer Mumien gemalet.
Herodot aber sagt kein Wort von gänzlicher Abschaffung des Gottes-
dienste in Egypten, und noch weniger von Aufhebung des Gebrauchs, I
ihre Körper vor der Fäulniß zu verwahren, nach des Cambyses Zeiten;
und im Diodor von Sicilien ist ebenfalls nichts dergleichen zu finden: es
ist vielmehr aus seiner Nachricht, die er von den Anstalten der Egypter
mit ihren Todten giebt, zu schliessen, daß dieselben noch zu seiner Zeit,
das ist, da Egypten schon eine römische Provinz war, üblich gewesen.
Es ist also nicht zu erweisen, daß unsere Mumie älter sey, als die
persische Eroberung von Egypten: und wenn sie es auch wäre, so weis
ich nicht, ob nothwendig daraus folge, daß eine Schrift auf einem Kör-
per, der auf egyptische Art gehandhabet worden, ich will auch setzen, der
durch ihrer Priester Hände gegangen, in egyptischer Sprache seyn müsse.
Es kann ein Körper vielleicht eines in gewisser Maasse nationalisirten
Ioniers oder Cariers seyn. Man weis, daß Pythagoras sich zu der Re-
ligion der Egypter bekennet, und daß er sich so gar 1 beschneiden lassen,
um sich den Zutritt zu der versteckten Wissenschaft der Priester dadurch
zu erleichtern. Ja die Carier feyerten den Dienst der Isis nach Art der
Egypter, und giengen noch weiter als diese in dem Aberglauben; sie zer-
fetzten sich so gar das Gesicht bey den Opfern an die Göttin. 2
Das Wort auf der Mumie ist ein griechisches Wort, wenn anstatt
des ι der Diphtonge ει gesetzt wird: oder es ist hier aus Nachlässigkeit eine
gewöhnliche Verwechselung geschehen,' die man auf griechischen Mar-
morn, noch mehr aber in Handschriften wahrgenommen hat; und mit
eben dieser Endung findet sich dieses Wort 4 auf einem geschnittenen
Steine und bedeutet: Lebe wohl. Es war der gewöhnliche Nachruf derl
lebenden an die verstorbene, und eben dieses Wort findet sich auf alten
3
Kircher. Oedip. 1. c. — it. Ejusd. China illustrata. P. III. c. 4. p. 151.
4
Alberti englische Briefe Β |
1
Clem. Alex. Strom. L. I. p. 354. edit. Pott.
2
Herod. L. II. c. 61.
3
Montfaucon Palaeogr. graeca L. III. c. j. p. 230. Kuhn. Not. ad. Pausan.
L. II. p. 128.
4
Augustin. Gemm. P. II. tab. 32. |
[97|98] Nachricht von einer Mumie 95
1
Gruter Corp. Inscr. p. D C C C L X I . ευτυχείτε χαίρετε.
8
Prideaux Marm. Oxon. 4. & 179.
3
Demosth. Orat. pro Corona p. 485. & 499. edit. Frf. 1604.
4
Gruter. Corp. Inscr. p. D C X L I . 8.
5
Montfaucon. Palaeogr. L. IV. c. 10. p. 336. 338.
β
Montfaucon. 1. c. L. II. c. 6. p. 152.
7
Descript. de 1* Egypt, par Mascrier. Lettr. V I I . p. 23. |
1
Herod.L. II.
* Descript. de 1' Egypte. 1. c.
s
Chishul Inscr. Sig. p. 12.
4
Kircher. Obelise. Pamph. c. 8. p. 147.
96 Nachricht von einer Mumie
eben das geschehen, was mit dem geschnittenen Kopfe Königs Ptolomäus
Philopator vorgenommen ist. Hier hat eine egyptische Hand zwey
unförmliche Figuren hinzugefüget, und auf gedachtem Steine kann die
Schrift ein Zusatz von einem Griechen seyn. Die Sprachkundigen werden
s wissen, daß man nicht viel zu ändern nöthig hat, um dieselbe in die
Rechtschreibung zu setzen.
[101|102] 97
1
du Bos. Reflex, sur la Poesie & sur la Peint. Τ. II. p. 144.
2
Herodot. L. III. c. 106.
3
Cie. ad Attic. L. VI. ep. 2.
4
Περί τόπων p. 288. edit. Foesii. Galenus δτι τά της ψυχής ήθη τοις τοΰ
σώματος κράσεσιν ϊπεται. fol. 171· Β. 1. 43- edit. Aldin. Τ. I.
5
Chardin Voyage en Perse Τ. II. p. 127. seq.
* Iournal des S;avans l'an 1684. Aur. p. 153. |
1
ap. Euseb. Praepar. Euang. L. V. c. 29. p. 226. edit. Colon.
2
Plin. Hist. Nat. L. V. c. 8.
[107|108] Erläuterung der Gedanken von der Nadiahmung 101
mehr pfeifen als reden, und andere, die ohne Bewegung* der Lippen
reden können. Die Phasianer in Griechenland hatten, wie man es von den
Engeländern 4 sagt, einen heiseren Laut.
Unter einem raudien Himmel werden harte Tone formirt, und die
Theile des Körpers, welche hierzu dienen, haben nicht die feinsten seyn
dürfen.
Der Vorzug der griechischen vor allen bekannten Sprachen ist unstrei-
tig: ich rede hier nicht von dem Reidithume, sondern von dem Wohlklange
derselben. Alle nordische Sprachen sind mit 5 Consonanten überladen,
welches ihnen oftmals ein unfreundliches Wesen giebt. In der griechi-
schen Sprache hingegen sind die Vocalen mit jenen dergestalt abgewechselt,
daß ein jeder Consonant seinen Vocalen hat, der ihn begleitet: zwey
Vocalen aber stehen nicht leicht bey einem Consonant, daß nicht so gleich
durch die Zusammenziehung zwey in einem solten gezogen werden. Das
sanfte der Sprache leidet nicht, daß sich eine Sylbe mit den drey rauhen I
Buchstaben (ΘΦΧ) endige, und die Verwechselung der Buchstaben, die
mit einerley Werkzeug der Rede gebildet werden, hatte füglich statt, wenn
dadurch der Härte des Lauts konnte abgeholfen werden. Einige uns
scheinbar harte Worte können keinen Einwurf machen, da wir die wahre
Aussprache der griechischen so wenig als der römischen Sprache wissen.
Dieses alles gab der Sprache einen sanften Fluß, machte den Klang der
Worte mannigfaltig, und erleichterte zu gleicher Zeit die unnachahmliche
Zusammensetzung derselben. Ich will nicht anführen, daß allen Sylben
auch im gemeinen Reden ihre wahre Abmessung konnte gegeben werden,
woran sich in den abendländischen Sprachen nicht gedenken läßt. Solte
man nicht aus dem Wohlklange der griechischen Sprache auf die Werk-
zeuge der Sprache selbst schliessen können? Man hat daher einiges Recht zu
glauben, Homer verstehe unter der 1 Sprache der Götter die griechische,
und unter der Sprache der Menschen die phrygische.
Der Ueberfluß der Vocalen war vornehmlich dasjenige, was die
griechische Sprache vor andern geschickt machte, durch den Klang und
durch die Folge der Worte auf einander die Gestalt und das Wesen der
Sache selbst auszudrücken. Zwey Verse im2 Homer machen den Drude,
1
Iliad, π', v. 21 j.
1
Longin. περί ύψ. Sect. 13. §. 1.
3
Odyss. ί, v. 71. conf. Iliad, γ' v. 363. & Eustath. ad h. 1. p. 424.1. 10. edit.
Rom.
4
Eustath. 1. c. conf. Id. ad Iliad, έ, p. j 19.1. 43.
5
Gregor. Thaumat. Orat. paneg. ad Origenem. p. 49.1. 43. |
[110|111] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 103
sich lustig über einen1 Cinesias, einen2 Philetas, und über einen' Ago-
racritus.
Dieser Begrif von der Natur der Griechen könnte dieselben vielleicht
als Weichlinge vorstellen, die durch den zeitigen und erlaubten Genuß der
Wollüste nodi mehr entkräftet worden sind. Idi kann midi hierauf
durch des Pericles Vertheidigung der Athenienser gegen Sparta, in Ab-
sicht ihrer Sitten, einigermassen erklären, wenn mir erlaubt ist, dieselbe
auf die Nation überhaupt zu deuten: Denn die Verfassung in Sparta
war fast in allen Stücken von der übrigen Griechen ihrer verschieden. „Die
Spartaner", sagt4 Pericles, „suchen von ihrer Jugend an durch ge-
waltsame Uebungen eine männliche Stärke zu erlangen; wir aber leben
in einer gewissen Nachlässigkeit, und wir wagen uns nichts desto weniger
in eben so grosse Gefährlichkeiten; und da wir mehr mit Müsse, als mit
langer Ueberdenkung der Unternehmungen, und nicht so wohl nach Ge-
setzen, als durch eine grosmüthige Freywilligkeit der Gefahr entgegen
gehen, so ängstigen wir uns nicht über Dinge, die uns bevorstehen, und
wenn sie wirklich über uns kommen, so sind wir nicht weniger kühn, sie zu
ertragen, als diejenigen, welche sich durch eine anhaltende Uebung dazu I
anschicken. Wir lieben die Zierlichkeit ohne Uebermasse und die Weis-
heit ohne Weichligkeit. Unser vorzügliches ist, daß wir zu grossen Un-
ternehmungen gemacht sind."
Ich kann und will nicht behaupten, daß alle Griechen gleich schön
gewesen sind: unter den Griechen vor Troja war nur ein Thersites.
Dieses aber ist merkwürdig, daß in den Gegenden, wo die Künste geblühet
haben, auch die schönsten Menschen gezeuget worden. Theben war un-
ter einem1 dicken Himmel gelegen, und die Einwohner waren dick und
stark,2 auch nach des Hippocrates Beobachtung3 über dergleichen sumpfigte
und wäßrigte Gegenden. Es haben auch die Alten schon bemerket, daß
diese Stadt, ausser dem einzigen Pindarus, eben so wenig Poeten und
Gelehrte aufzeigen können, als Sparta, ausser dem Alcman. Das attische
Gebiet hingegen genoß einen reinen und heitern Himmel, welcher feine
Sinne würkte, (die man 4 den Atheniensern beyleget,) folglich diesen pro-
1
Aristoph. Ran. v. 148$.
* Athen. Deipnos. L. XII. c. 13. Aelian. Var. hist. 1. IX. c. 14.
s
Aristoph. Equit.
4
Thucyd. 1. II. c. 39. I
1
Horat. L. II. ep. I. v. 244.
2
Cie. de Fato. c. 4.
3
περί τόπων. p. 204.
4
Cie. Orator, c. 8. conf. Dicaeardi. Geogr. edit. Η . Steph. c. 2. p. 16.
104 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [111|112 112|113]
portionirte Körper bildete; und in Athen war der vornehmste Sitz der
Künste. Eben dieses liesse sich erweisen von Sicyon, Corinth, Rhodus,
Ephesus u. s. w. welches Schulen der Künstler waren, und wo es also
denselben an schönen Modellen nicht fehlen konnte. Den Ort, welcher in
dem Sendschreiben aus dem5 Aristophanes zum Beweise eines natür-
lichen Mangels bey den Atheniensern angeführet worden, nehme ich, wie
er muß genommen werden. Der Scherz des Poeten gründet sich auf eine
Fabel vom Theseus. Massig völlige Theile an dem Orte, wo I
Sedet aeternumque sedebit
Infelix Theseus,
Virg.
1
waren eine attische Schönheit. Man sagt, daß Theseus aus seinem
Verhafte bey den Thesprotiern nicht ohne Verlust der Theile, von welchen
geredet wird, durch den Hercules befreyet worden, und daß er dieses als
ein Erbtheil auf seine Nachkommen gebracht habe. Wer also beschaffen
war, konnte sich rühmen, in gerader Linie von dem Theseus abzustammen,
so wie ein Geburtsmahl in Gestalt eines Spiesses2 einen Nachkommen
von den Spartis bedeutete. Man findet audi, daß die griechischen Künst-
ler an diesem Orte die Sparsamkeit der Natur bey ihnen, nachgeahmet
haben.
In Griechenland selbst war unterdessen allezeit derjenige Stamm von
der Nation, in welcher sich die Natur freygebig, doch ohne Verschwen-
dung erzeigte. Ihre Colonien in fremde Länder hatten beynahe das Schick-
sal der griechischen Beredsamkeit, wenn diese aus ihren Grenzen gieng.
„So bald die Beredsamkeit", sagt8 Cicero, „aus dem atheniensischen H a -
fen auslief, hat sie in allen Inseln, welche sie berühret hat, und in ganz
Asien, welches sie durchzogen ist, fremde Sitten angenommen, und
ist völlig ihres gesunden attischen Ausdrucks, gleichsam wie ihrer Ge-
sundheit, beraubet worden." Die Ionier, welche Nileus nach der Wie-
derkunft der Herakliden aus Griechenland nach Asien führete, wurden
unter dem heisseren Himmel nodi wollüstiger. Ihre Sprache hatte wegen
der gehäuften Vocalen in einem Worte, noch mehr spielendes. Die I
Sitten der nächsten Inseln waren unter einerley Himmelstrich von den
ionisdien nicht verschieden. Eine einzige Münze 1 der Insel Lesbos
5
Nubes, v. 136j. |
1
Sdiol. ad Aristoph. Nub. v. 1010.
* Plutarch, de sera num. vindict. p. 563.1. 9.
8
Cie. de Orat. L. |
1
Golz. Τ. II. tab. 14.
[113|114] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 105
kann hier zum Beweise dienen. In der Natur ihrer Körper muß sich also
audi eine gewisse Abartung von ihren Stammvätern gezeiget haben.
Noch eine grössere Veränderung muß unter entfernteren Colonien der
Griechen vorgegangen seyn. Diejenige, welche sich in Africa, in der Ge-
gend Pithicussa niedergelassen hatten, fiengen an die Affen so ernstlich als
die Eingebohrnen anzubeten; sie nenneten ihre Kinder so gar nach diesem
Thiere2.
Die heutigen Einwohner in Griechenland sind ein Metall, das mit dem
Zusatz verschiedener andern Metalle zusammen geschmolzen ist, an wel-
chen aber dennoch die Hauptmasse kenntlich bleibt. Die Barbarey hat die
Wissenschaften bis auf dem ersten Saamen vertilget, und Unwissenheit
bedecket das ganze Land. Erziehung, Muth und Sitten sind unter einem
harten Regimente erstickt, und von der Freyheit ist kein Schatten übrig.
Die Denkmale des Alterthums werden von Zeit zu Zeit noch mehr vertil-
get, theils weggeführet; und in englischen Gärten stehen itzo Säulen*
von dem Tempel des Apollo zu Delos. So gar die Natur des Landes
hat durch Nachlässigkeit seine erste Gestalt verlohren. Die Pflanzen in
Creta4 wurden allen andern in der Welt vorgezogen, und itzo siehet man
an den Bädien und Flüssen, wo man sie suchen solte, nichts als wilde I
Ranken und gemeine Kräuter. 1 Und wie kann es anders seyn, da ganze
Gegenden, wie die Insel Samos, die mit Athen einen langwierigen und
kostbaren Krieg zur See aushalten konnte,2 wüste liegen.
Bey aller Veränderung und traurigen Aussicht des Bodens, bey dem
gehemten freyen Strich der Winde durch die verwilderte und verwachsene
Ufer, und bey dem Mangel mancher Bequemlichkeit, haben dennoch die
heutigen Griechen viel natürliche Vorzüge der alten Nation behalten. Die
Einwohner vieler Inseln, (welche mehr als das feste Land von Griechen
bewohnt werden) bis in klein Asien, sind die schönsten Menschen, sonder-
lich was das schöne Geschlecht betrift, nach aller Reisenden Zeugniß.3
Die attische Landschaft giebt noch itzo, so wie ehemals,4 einen Blick
von Menschenliebe. Alle Hirten und alle Arbeiter auf dem Felde hiessen
Auf einer Vase,1 weldie Carl Patin besessen, und in weldier, wie
er muthmasset, die Asche eines berühmten Fechters verwahret gewesen,
kann man sich die verschiedenen Arten und Grade des Ringens bey den
Alten sehr deutlich vorstellen.
Wären die Griechen beständig barfuß, wie sie selbst die Menschen
aus der Heldenzeit 2 vorstelleten, oder allezeit nur auf einer angebunde-
nen Sohle gegangen, wie man insgemein glaubt, so würde ohne Zweifel
die Form ihrer Füsse sehr gelitten haben. Allein es läßt sich erweisen,
daß sie auf die Bekleidung und auf die Zierde ihrer Füsse mehr, als wir
verwandt haben. Die Griechen hatten mehr als zehen Namen, wodurch
sie Schuhe bezeichneten.1
Die Bedeckung, welche man in den Spielen um die Hüfte trug, war
bereits weggethan vor der Zeit, da die Künste in Griechenland anfiengen
zu blühen; 4 und dieses war für die Künstler nidit ohne Nutzen. Wegen
der Speise der Ringer in den grossen Spielen, in ganz uralten Zeiten,
fand ich es anständiger von der Milchspeise überhaupt als von weidien
Käse zu reden.
Ich erinnere mich hier, daß man die Gewohnheit der ersten Christen,
die ganz nackend getauft worden, fremde ja unerweislich finde, unten
ist mein Beweis;5 ich kann mich in Nebendingen nidit weitläuftig ein-
lassen. I
Ich weiß nicht, ob ich mich auf meine Wahrscheinlichkeiten über eine
vollkommenere Natur der alten Griechen beziehen darf: ich würde bey
dem zweyten Puncte an der Kürze viel gewinnen.
Charmoleos, ein junger Mensch von Megara, von dem ein einziger
Kuß auf zwey Talente geschätzt wurde, 1 muß gewiß würdig gewesen
seyn, zu einem Modelle eines Apollo zu dienen, und diesen Charmoleos,
den Alcibiades, den Charmides, den2 Adimantus konnten die Künstler
alle Tage einige Stunden sehen, wie sie ihn zu sehen wünschten. Die
1
Patin. Nutnism. Imp. p. 160.
' Philostrat. Epist. 22. p. 922. conf. Macrob. Saturn. L. V. c. 18. p. 357. edit.
Lond. 1694, 8. H y g i n fab. 12.
5
conf. Arbuthnot's Tables of antient Coins, dj. 6. p. 116.
4
Thucyd. L. I. c. 6. Eustath. ad. II. ψ. p. 1324.1. 16.
5
Cyrilli Hieros. Catech. Mystag. II. c. 2. 3. 4. p. 284. 8$. edit. Th. Milles,
Oxon. 1703. fol. los. Vicecomitis Observ. de antiq. Baptismi ritibus, L. IV.
c. 10. p. 286—289. Binghami Orig. Eccles. Τ. IV. L. X I . c. 11. Godeau
Hist, de 1' Eglise Τ. I. L. III. p. 623. |
1
Lucian. Dial. Mort. X . §. 3.
* Idem N a v i g . c. 2. p. 248.
108 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [11Z| 118]
Künstler in Paris hingegen will man auf ein Kinderspiel verweisen; und
über dem sind die äussersten Theile der Körper, die nur im Schwimmen
und Baden sichtbar sind, an allen und jeden Orten ohne Bedeckung zu
sehen. Ich zweifle auch, daß derjenige,® der in allen Franzosen mehr fin-
den will, als die Griechen in ihren Alcibiades gefunden haben, einen so
kühnen Aussprudi behaupten könnte.
Ich könnte auch aus dem vorhergehenden meine Antwort nehmen
über das in dem Sendschreiben angeführte Urtheil der Academien, daß
gewisse Theile des Körpers eckigter, als bey den Alten geschehen, zu zeich-
nen sind. Es war ein Glück für die alten Griechen und für ihre Künst-
ler, daß ihre Körper eine gewisse jugendliche Völligkeit hatten; sie müssen
aber dieselbe gehabt haben: denn da an griechischen Statuen die Knöchel
an den Händen eckigt genug angemerkt sind, welches an andern in dem
Sendschreiben benannten Orten nicht geschehen ist, so ist es sehr wahr-
scheinlich, daß sie die Natur also gebildet, unter sich gefunden haben. 1
Der berühmte borghesische Fechter von der Hand des Agasias von
Ephesus hat das Eckigte, und die bemerkten Knochen nicht, wo es die
Neuren lehren: er hat es hingegen, wo es sich an anderen griechischen
Statuen befindet. Vielleicht ist der Fechter eine Statue, welche ehemals an
Orten, wo die grossen Spiele in Griechenland gehalten wurden, gestanden
hat, wo einem jeden Sieger dergleichen gesetzet wurde. Diese Statuen
musten sehr genau nach eben der Stellung, in welcher der Sieger den Preiß
erhalten hatte, gearbeitet werden, und 1 die Richter der olympischen
Spiele hielten über dieses Verhältnis eine genaue Aufsicht: ist nicht hier-
aus zu schliessen, daß die Künstler alles nach der Natur gearbeitet haben?
Von dem zweyten und dritten Puncte meiner Schrift ist bereits von
vielen geschrieben worden: meine Absicht, wie es von selbst zeigen kann,
war also nur, den Vorzug der Werke der alten Griechen und die Nach-
ahmung derselben mit wenigen zu berühren. Die Einsicht unserer Zeiten
fordert sehr viel von Beweisen in dieser Art, wenn sie allgemein seyn sol-
len, und sie setzen allezeit eine nicht geringe vorläufige Einsicht voraus.
Unterdessen sind die Urtheile vieler Scribenten über der Alten ihre Werke
in der Kunst zuweilen nicht reifer, als manche Urtheile über ihre Schrif-
ten. Könnte man von jemand, der von den schönen Künsten überhaupt
schreiben wollen, und die Quellen derselben so wenig gekannt hat, daß
er dem Thucydides, dessen Schreibart dem Cicero, wegen ihrer körnig-
s
De la Chambre Discours, ou il est prouvi que les Frangois sont les plus
capables de tous les Peuples de la perfection de 1' Eloquence, p. ι j. |
1
Lucian. pro. Imagin. p. 490. edit. Reitz. Τ. II.
[118|119 119(120] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 109
ten Kürze und Höhe, wie er selbst bekennet, 2 dunkel war, den Character
der3 Einfalt andichtet; könnte man, sage idi, von einem solchen Richter
ein wahres Ur I theil über die griechischen Werke in der Kunst hoffen?
Auch in einer fremden Tracht muß Thucydides niemanden also er-
scheinen. Ein anderer Schriftsteller scheinet mit dem Diodor von Sicilien
eben so wenig bekannt zu seyn, da er ihn vor einen Geschichtschreiber
hält, der den 1 Zierlichkeiten nachläuft. Mandier bewundert auch etwas
an der Arbeit der Alten, was keine Aufmerksamkeit verdienet. „Ken-
nern" sagt2 ein Reisebeschreiber, „ist der Strick, mit welchem Dirce an
den Ochsen gebunden ist, das schönste an dem größten Gruppo aus dem
Alterthum, welches unter dem Namen il T O R O FARNESE bekannt ist."
Ah miser aegrota putruit cui mente salillum.
Ich kenne die Verdienste der neuern Künstler, die in dem Sendschrei-
ben denen aus dem Alterthume entgegen gesetzet sind: aber ich weiß
auch, daß jene durch Nachahmung dieser geworden, was sie gewesen sind,
und es würde zu erweisen seyn, daß sie gemeiniglich, wo sie von der
Nachahmung der Alten abgewichen, in viele Fehler des größten Haufens
derjenigen neuern Künstler, auf die ich nur allein in meiner Schrift ge-
zielet, verfallen sind.
Was den Umriß der Körper betrift, so scheinet das Studium der
Natur, an welches sich Bernini in reifern Jahren gehalten hat, diesen
grossen Künstler allerdings von der schönen Form abgeführet zu haben.
Eine Charitas von seiner Hand an dem Grabmale Pabst Urban VIII. soll
gar zu fleischigt seyn3, und eben diese Tugend an dem Grabmale Alex-
ander VII. I will man so gar häßlidi finden. Gewiß ist, daß man die
Statue Königs Ludwig XIV. zu Pferde, an welcher Bernini funfzehen
Jahr gearbeitet, und welche übermässige Summen gekostet, nicht hat ge-
braudien können. Der König war vorgestellet, wie er einen Berg der
Ehre hinauf reiten wolte: die Action des Helden aber so wohl als des
Pferdes ist gar zu wild und gar zu übertrieben. Man hat daher einen
Curtius, der sich in den Pfuhl stürzt, aus dieser Statue gemacht, und sie
stehet itzo in dem Garten der Tuillerie. Die sorgfältigste Beobachtung
der Natur muß also allein nicht hinlänglich seyn zu vollkommenen Be-
2
Cie. Brut. c. 7. & 83.
' Considerations sur les revolutions des Arts. Paris. 1 7 5 J , p. 3 3 . |
1
Pagi Discours sur l'hist. Grecque p. 45.
!
N o u v e a u Voyage d'Hollande, de l'Allem. de Suisse & d'Italie par Mr.
de Blainville.
3
Ridiardsoon's Account, etc. 294. 95. |
110 Erläuterung der Gedanken von der Nadiahmung [120|121]
griffen der Schönheit, so wie das Studium der Anatomie allein die schön-
sten Verhältnisse des Körpers nicht lehren kann. Lairesse hat diese, wie
er selbst berichtet, nadi den Skelets des berühmten Bidloo genommen. Man
kann jenen vor einen gelehrten in seiner Kunst halten; und dennoch findet
man, daß er vielmals in seinen Figuren zu kurz gegangen ist. Die gute
römische Schule wird hierinn selten fehlen. Es ist nicht zu läugnen, die
Venus des Raphaels bey dem Göttermale scheinet zu schwer zu seyn, und
idi möchte es nicht wagen, den Namen dieses grossen Mannes in einem
Kindermorde von ihm, welchen Marcantonio gestochen, über eben diesen
Punct, wie in einer seltenen1 Schrift von der Malerey geschehen, zu recht-
fertigen. Die weiblichen Figuren haben eine gar zu volle Brust, und die
Mörder dagegen ausgezehrte Körper. Man glaubt die Absicht bey diesem
Contrapost sey gewesen, die Mörder noch abscheulicher vorzustellen.
Man muß nicht alles bewundern: die Sonne selbst hat ihre Flecken.
Man folge dem Raphael in seiner besten Zeit und Manier, so hat man,
wie er, keine Vertheidiger nöthig; und Parrhasius und Zeuxis die in dem I
Sendschreiben in dieser Absicht, und überhaupt die holländischen Formen
zu entschuldigen, angeführet worden, sind hierzu nicht dienlich. Man
erkläret zwar die daselbst berührte Stelle des1 Plinius, welche den Par-
rhasius betrift, in dem Verstände, wie sie dort angebracht worden, nem-
lich,! „daß der Maler in das Magere verfallen sey, da er die Schwulst
vermeiden wollen." Da man aber, wenn Plinius verstanden, was er ge-
schrieben hat, voraussetzen muß, daß er sich selbst nicht habe wider-
sprechen wollen, so muß dieses Urtheil mit demjenigen, worinn er kurz
zuvor dem Parrhasius den Vorzug in den äussersten Linien, das ist, in dem
Umrisse zuschreibet, verglichen und übereinstimmend gemacht werden.
Die eigentlichen Worte des Plinius sind; „Parrhasius scheine mit sich selbst
verglichen, sich unter sich selbst herunter zu setzen, in Ausdrückung der
mittlem Körper." Es ist aber nicht klar, was „mittlere Körper" seyn
sollen. Man könnte es von denjenigen Theilen des Körpers verstehen,
welche der äusserste Umriß einschließt. Allein ein Zeichner soll seinen
Körper von allen Seiten, und nach allen Bewegungen kennen: er wird
denselben nicht allein vorwerts, sondern auch von der Seite, und von allen
Puncten gestellet, verstehen zu zeichnen, und dasjenige, was im ersteren
Falle von dem Umrisse eingeschlossen zu seyn scheinen könnte, wird in
diesem Falle der Umriß selbst seyn. Man kann nicht sagen, daß es für
1
Chambray Idie de la Peint. p. 46. au Mans. 1662. 4. |
1
Plin. Hist. Nat. L. 35. c. 10.
2
(Durand) Extrait de l'hist. de la Peint. de Pline p. 56.
[121J122 122] 123] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 111
einen Zeichner mittlere Theile des Körpers giebt: (ich rede nicht von dem
Mittel des Leibes:) eine jede Muskel gehöret zu seinem äussersten U m -
risse und ein Zeichner, der fest ist in dem äussersten Umrisse, aber nicht
in dem Umrisse derjenigen Theile, weldie der äusserste einschließt, ist
ein Begrif, der sich weder an sich selbst, noch I in Absicht auf einen Zeich-
ner gedenken läßt. Es kann hier die Rede ganz und gar nicht von dem
Umrisse seyn, auf welchem das Magere oder die Schwulst beruhet. Viel-
leicht hat Parrhasius Licht und Schatten nicht verstanden, und den
Theilen seines Umrisses ihre gehörige Erhöhung und Vertiefung nicht
gegeben; welches Plinius unter dem Ausdrucke der „mittleren K ö r p e r "
oder „der mittleren Theile desselben" kann verstanden haben; und dieses
möchte die einzige mögliche Erklärung seyn, welche die Worte des
Plinius annehmen können. Oder es ist dem Maler ergangen, wie dem
berühmten L a Fage, den man vor einen grossen Zeichner halten k a n n :
man sagt, so bald er die Palette ergriffen und malen wollen, habe er seine
eigene Zeichnung verdorben. Das Wort „Geringer" beym Plinius gehet
also nicht auf den Umriß. Mich deucht, es können des Parrhasius Ge-
mälde ausser den Eigenschaften, die ihnen obige Erklärung giebt, nach
Anleitung der Worte des Plinius, audi noch diesen Vorzug gehabt haben,
daß die Umrisse sanft im Hintergrunde vermalet und vertrieben worden,
welches sich in den mehresten übrig gebliebenen Malereyen der Alten, und
in den Werken neuerer Meister zu Anfange des sediszehenden Jahr-
hunderts nicht findet, in welchen die Umrisse der Figuren mehrentheils
hart gegen den Grund abgeschnitten sind. D e r vermalte Umriß aber gab
den Figuren des Parrhasius dennoch allein ihre wahre Erhobenheit und
Ründung nicht, da die Theile derselben nicht gehörig erhöhet und ver-
tieft waren; und hierinn war er also unter sich selbst herunterzusetzen. Ist
Parrhasius der größte im Umrisse gewesen, so hat er eben so wenig in
das Magere, als in die Schwulst verfallen können.
Was des Zeuxis weibliche Figuren betrift, die er nach Homers Be-
griffen stark gemacht, so ist daraus nicht zu schliessen, wie in dem Send- I
schreiben geschehen, daß er sie stark, wie Rubens, das ist, zu fleischigt
gehalten. Es ist zu glauben, daß das spartanische Frauenzimmer, ver-
möge ihrer Erziehung, eine gewisse männliche jugendliche Form gehabt
hat, und gleichwohl waren es, nach dem Bekäntnisse des ganzen Alter-
thums, die größten Schönheiten in Griechenland; und also muß man sich
das Gewächs der Helena einer Spartanerinn, beym Theocrit 1 vorstellen.
1
Theocrit. Idyll. i8. v. 29.
112 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [123|124]
1
Observat. sur les Arts & sur quelques Morceaux de Peinture & de Sculpt,
εχροβέβ au Louvre en 1748. p. 6j.
[124)125 125|126] Erläuterung der Gedanken von der Nadiahmung 113
ler gethan, ein gewisses französisches Wesen geben: ein anderer würde
ihr eine Habiditsnase machen; da es würklich geschehen,8 daß man die
Nase an der mediceischen Venus also gebildet finden wollen: noch ein
anderer würde ihr spitzige und spillenförmige Finger zeichnen, wie der
J Begrif einiger Ausleger der Schönheit, weldie Lucian beschreibet, gewe-
sen. Sie würde uns mit sinesischen Augen ansehen, wie alle Schön- I
heiten aus einer neuern italienischen Schule; ja aus jeder Figur würde man
das Vaterland des Künstlers ohne Belesenheit errathen können. Nach
des1 Democritus Vorgeben sollen wir die Götter bitten, daß uns nur
io glückliche Bilder vorkommen, und dergleichen Bilder sind der Alten ihre.
Die Nachahmung der Alten in ihrem Umrisse völlig gebildeter Körper
kann unsern Künstlern, wenn man will, eine Ausnahme in Absicht der
fiammingischen Kinder gestatten. Der Begrif einer schönen Form läßt
sidi bey jungen Kindern nicht eigentlich anbringen: man sagt; ein Kind
is ist schön und gesund: aber der Ausdrude der Form begreift schon die
Reife gewisser Jahre in sich. Die Kinder vom Fiammingo sind itzo bey
nahe wie eine vernünftige Mode, oder wie ein herrschender Geschmack,
dem unsere Künstler billig folgen, und die Academie in Wien, welche ge-
schehen lassen, daß man den antiquen Cupido den Abgüssen vom Fiam-
20 mingo nachgesetzt, hat dadurch von der Vorzüglichkeit der Arbeit neuerer
Künstler in Kindern über eben die Arbeiten der Alten keine Entscheidung,
wie midi deucht, gegeben; welches der Verfasser des Sendschreibens aus
dieser angebrachten Nachricht möchte ziehen wollen. Die Academie ist
bey dieser Nachsicht dennoch bey ihrer gesunden Lehrart und Anweisung
2S zur Nachahmung des Alterthums geblieben. Der Künstler, welcher dem
Verfasser diese Nachricht mitgetheilet, ist, so viel ich weiß, meiner Mei-
nung. Der ganze Unterschied ist dieser: die alten Künstler giengen auch
in Bildung ihrer Kinder über die gewöhnliche Natur, und die neuern
Künstler folgen derselben. Wenn der Ueberfluß, welchen diese ihren
30 Kindern geben, keinen Einfluß hat in ihre Begriffe von einem jugend-
lichen Körper I und von einem reifen Alter, so kann ihre Natur in dieser
Art schön seyn: aber der Alten ihre ist deswegen nicht fehlerhaft.
Es ist eine ähnliche Freyheit, die sich unsere Künstler in dem Haar-
putze ihrer Figuren genommen haben, und die ebenfalls bey aller Nach-
3s ahmung der Alten bestehen kann. Will man sich aber an die Natur hal-
ten, so fallen die vordem Haare viel ungezwungener auf die Stirn
8
Nouvelle diuision de la Terre par les differentes ispeces d'hommes etc.
dans le Iourn. des Sjav. l'an I 6 [ 8 ] 4 Avr. p. I J 2 . |
1
Plutarch. Vit. Aemil. p. 147. edit. Bryani Τ. II. |
8 WINCKELMANN, KLEINE S(TRIFTEN
114 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [126|127]
herunter, wie es sich in jedem Alter bey Mensdien, die ihr Leben nicht
zwischen dem Kamme und dem Spiegel verliehren, zeigen kann: folglich
kann auch die Lage der Haare an Statuen der Alten lehren, daß diese
allezeit das einfältige und das wahre gesucht haben; da es gleichwohl bey
ihnen nicht an Leuten gefehlet, die sich mehr mit ihrem Spiegel, als mit
ihren Verstände unterhalten, und die sich auf die Symmetrie ihrer Haare
so gut als der zierlichste an unsern Höfen verstanden. Es war gleichsam
ein Zeichen einer freyen und edlen Geburt, die Haare so, wie die Köpfe
und Statuen der Griechen zu tragen.1
Die Nachahmung des Umrisses der Alten ist unterdessen audi von
denen, welche hierinn nicht die glücklichsten gewesen sind, niemals ver-
worfen worden, aber über die Nachahmung der edlen Einfalt und der
stillen Grösse sind die Stimmen getheilt. Dieser Ausdruck hat selten all-
gemeinen Beyfall gefunden, und Künstler haben mit demselben allezeit
viel gewaget. Also sähe man diese wahre Grösse an dem8 Hercules vom
Bandinello in Florenz als einen Fehler an: in dem3 Kindermorde des
Raphaels verlanget man mehr wildes und schreckliches in den Gesich-
tern der Mörder. I
Nach dem allgemeinen Begriffe „der Natur in Ruhe" könnten die
Figuren vielleicht den jungen Spartanern des Xenophon ähnlich werden,
welches der Verfasser des Sendschreibens auch nach der Regel der „stillen
Grösse" besorget; ich weiß auch, daß der größte Theil der Menschen, wenn
auch der Begrif meiner Schrift allgemein fest gesetzt und angenommen
wäre, ein Gemälde nach diesem Geschmacke des Alterthums gearbeitet,
dennoch ansehen könnte, wie man eine Rede vor den Areopagiten gehal-
ten, lesen würde. Allein der Geschmack des größten Haufens kann nie-
mahls Gesetze in der Kunst geben. In Absicht des Begrifs „der Natur
in Ruhe" hat der Hr. von Hagedorn in seinem Werke, welches mit so vie-
ler Weisheit als Einsicht in dem Feinsten der Kunst abgefasset ist, voll-
kommen Recht, in grossen Werken mehr Geist und Bewegung zu ver-
langen. Aber diese Lehre hat allezeit viel Einschränkung nöthig: niemals
so viel Geist, daß ein ewiger Vater einem rächenden Mars, und eine Hei-
lige in Entzückung einer Bacchante ähnlich werde.
Wem dieser Character der höhern Kunst unbekannt ist, in dessen
Augen wird eine Madonna vom Trivisano, eine Madonna vom Raphael
niederschlagen: ich weiß, daß selbst Künstler geurtheilet haben, die Ma-
1
Lucian. Navig. s. votum. c. 2. p. 249.
' Borghini Riposo L. II. p. 129.
s
Chambray Idie de la Peint. p. 47. |
[127|128 128|129] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 115
donna des erstem sey dem Königl. Raphael ein wenig vorteilhafter
Nachbar. Es schien daher nicht überflüssig, vielen die wahre Grösse des
seltensten aller Werke der Gallerie in Dreßden zu entdecken, und diesen
gegenwärtig einzigen unversehrten Schatz von der Hand dieses Apollo
der Maler, welcher in Deutschland zu finden ist, denen die ihn sehen,
schätzbarer zu machen.
Man muß bekennen, daß der Königliche Raphael in der Composi-
tion der Transfiguration desselben nicht beykommt; dahingegen hat
jenes I Werk einen Vorzug, den dieses nicht hat. An der völligem Aus-
arbeitung der Transfiguration hat Giulio Romano vielleicht eben so viel
Antheil als dessen grosser Meister selbst, und alle Kenner versichern, daß
man beyde Hände in der Arbeit sehr wohl unterscheiden könne. In jenem
aber finden Kenner die wahren ursprünglichen Züge von eben der Zeit
des Meisters, da derselbe die Schule zu Athen im Vatican gearbeitet hat.
Auf den Vasari will ich midi hier nicht noch einmahl berufen.
Ein vermeinter Richter der Kunst, der das Kind in den Armen der
Madonna so elend findet, ist so leidit nicht zu belehren. Pythagoras siehet
die Sonne mit andern Augen an als Anaxagoras: jener als einen Gott,
dieser als einen Stein, wie ein alter1 Philosoph sagt. Der Neuling
mag Anaxagoras seyn: Kenner werden der Parthey des Pythagoras
beytreten. Die Erfahrung selbst kann ohne Betrachtung des hohen Aus-
drucks in den Gesichtern des Raphaels Wahrheit und Schönheit finden
und lehren. Ein schönes Gesicht gefällt, aber es wird mehr reizen, wenn
es durch eine gewisse2 überdenkende Mine etwas ernsthaftes erhält. Das
Alterthum selbst sdieinet also geurtheilet zu haben: ihre Künstler haben
diese Mine in alle Köpfe des Antinous gelegt; die mit den vordem Locken
bedeckte Stirn desselben giebt ihm dieselbe nicht. Man weiß ferner, daß
dasjenige, was bey dem ersten Augenblicke gefällt, nadi demselben viel-
mahls aufhöret zu gefallen: was der vorübergehende Blick hat sammlen
können, zerstreuet ein aufmerksamers Auge, und die Schminke versdiwin-
det. Alle Reizungen erhalten ihre Dauer durch Nachforschung und Ueber-
legung, und man sucht in das verborgene gefällige tiefer einzu I dringen.
Eine ernsthafte Schönheit wird uns niemahls völlig satt und zufrieden
gehen lassen; man glaubt beständig neue Reizungen zu entdecken: und so
sind Raphaels und der alten Meister ihre Schönheiten beschaffen: nicht
spielend und liebreich, aber wohlgebildet und erfüllet mit einer1 wahr-
1
Maxim. Tyr. Diss. 25. p. 303. edit. Marklandi.
1
v. Spectator η. 418. |
1
Philostr. Icon. Anton, p. 91.
116 Erläuterung der Gedanken von der Nadiahmung [129|130]
*
Plutarch.
3 Observat. sur les Arts. etc. p. 6$.
4 Quintil. Inst. L. I X . c. 4.
* Plutarch. Timoleon. p. 142. |
1 Plutarch, adul. & amici disc. p. 53. D.
[130|131 131 [ 132] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 117
Stücke von diesem Maler, um etwas von ihm zu haben, weiter aber ver-
lange er keine mehr, wenn man sie ihm audi schenken wolle". Eben so
urtheilete ein gewisser Engeländer von Stande: man wolte ihm denneri-
sdie Köpfe anpreisen; „Meinet ihr", gab er zur Antwort, „daß unsere
Nation Werke der Kunst schätzet, an welchen der Fleiß allein, der Ver-
stand aber nicht den geringsten Antheil hat?"
Dieses Urtheil über Denners Arbeit folget unmittelbar auf den Van
der Werff nicht deswegen, daß man eine Vergleichung zwischen beyden
Meistern zu machen, gesonnen wäre; denn er reichet bey weiten nicht an
van der Werfs Verdienste: sondern nur durch jenes Arbeit, als durch ein I
Beyspiel zu zeigen, daß ein Gemälde, welches gefällt, eben so wenig ein
allgemeines Verdienst habe, als ein Gedicht, welches gefällt, wie der
Verfasser des Sendschreibens scheinet behaupten zu wollen.
Es ist nicht genug, daß ein Gemälde gefällt; es muß beständig ge-
fallen: aber eben dasjenige, wodurch der Maler hat gefallen wollen, macht
uns seine Arbeit in kurzer Zeit gleichgültig. Er scheinet nur für den
Geruch gearbeitet zu haben: denn man muß seine Arbeit dem Gesichte so
nahe bringen als Blumen. Man wird sie beurtheilen, wie einen kostbaren
Stein, dessen Werth der geringste bemerkte Tadel verringert.
Die größte Sorgfalt dieser Meister gieng also blos auf eine strenge
Nachahmung des allerkleinsten in der Natur: man scheuete sich das ge-
ringste Härchen anders zu legen, als man es fand, um dem schärfsten
Auge, ja wenn es möglich gewesen wäre, selbst den Vergrösserungsglä-
sern das unmerklichste in der Natur vorzulegen. Sie sind anzusehen
als Schüler des Anaxagoras, der den Grund der menschlichen Weisheit
in der Hand zu finden glaubte. So bald sich aber diese Kunst weiter
wagen, und die grössern Verhältnisse des Körpers, und sonderlich das
Nackende hat zeichnen wollen, so gleich zeigt sich
Die Zeichnung bleibt bey einem Maler, wie die Action bey dem Redner
des Demosthenes das erste, das zweyte und das dritte Ding.
Dasjenige was in dem Sendschreiben an den erhobenen Arbeiten der
Alten ausgesetzet ist, muß ich zugestehen, und mein Urtheil ist aus mei-
ner Schrift zu ziehen. Die geringe Wissenschaft der Alten in der Per-
spectiv, welche ich daselbst angezeigt habe, ist der Grund zu dem Vor- |
wurf, den man den Alten in diesem Theile der Kunst machet: ich behalte
mir eine ausführliche Abhandlung über demselben vor.
118 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [132(133]
1
Aristot. Rhet. L. I. c. II. p. 6i. edit. Lond. 1619.4.
1
Plato Phaed. p. 46.1. 44. |
[133(134 134|135] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 119
wählen kann; die blosse Nachahmung aber wird sie nidit zu dem Grade
erheben, den eine Tragödie oder ein Heldengedicht, das Höchste in der
Dichtkunst, hat. Homer hat aus Menschen Götter gemacht, sagt1 Cicero;
das hei£t, er hat die Wahrheit nicht allein höher getrieben, sondern
er hat, um erhaben zu dichten, lieber das unmögliche,® welches wahr-
scheinlich ist, als das blos mögliche gewählet; und Aristoteles setzt hierinn
das Wesen der Dichtkunst, und beriditet uns, daß die Gemälde des Zeu-
xis diese Eigensdiaft gehabt haben. Die Möglichkeit und Wahrheit,
welche Longin von einem Maler im Gegensatze des Unglaublichen bey
dem Dichter fordert, kann hiermit sehr wohl bestehen. I
Diese Höhe kann ein Historienmaler seinen Werken nicht durch einen
über die gemeine Natur erhabenen Umriß, nicht durch einen edlen Aus-
druck der Leidenschaften allein geben: man fordert eben dieses von einem
weisen Portraitmaler, und dieser kann beydes erhalten ohne Nachtheil
der Aehnlichkeit der Person, die er schildert. Beyde bleiben noch immer
bey der Nadiahmung; nur daß dieselbe weise ist. Man will so gar in
van Dyks Köpfen die sehr genaue Beobachtung der Natur als eine kleine
Unvollkommenheit ansehen; und in allen historischen Gemälden würde sie
ein Fehler seyn.
Die Wahrheit, so liebenswürdig sie an sich selbst ist, gefällt und
machet einen stärkeren Eindruck, wenn sie in einer Fabel eingekleidet ist:
was bey Kindern die Fabel, im engsten Verstände genommen, ist, das
ist die Allegorie einem reifen Alter. Und in dieser Gestalt ist die Wahr-
heit in den ungesittetesten Zeiten angenehmer gewesen, auch nadi der sehr
alten Meinung, daß die Poesie älter als Prosa sey, welche durch die
Nachrichten von den ältesten Zeiten verschiedener Völker bestätiget wird.
Unser Verstand hat ausserdem die Unart, nur auf dasjenige aufmerk-
sam zu seyn, was ihm nicht der erste Blick entdecket, und nachlässig zu
übergehen, was ihm klar wie die Sonne ist: Bilder von der letzten Art
werden daher, wie ein Schif im Wasser, oftmals nur eine augenblickliche
Spur in dem Gedächtnisse hinterlassen. Aus keinem andern Grunde
dauren die Begriffe von unserer Kindheit länger, weil wir alles, was uns
vorgekommen, als ausserordentlich angesehen haben. Die Natur selbst
lehret uns also, daß sie nicht durch gemeine Sachen beweget wird. Die
Kunst soll hierinn die Natur nachahmen, sagt der1 Scribent der Bücher
von der Redekunst, sie soll erfinden, was jene verlanget. I
1
Cie. Tusc. L. I. c. 26.
1
Aristot. Poet. c. 2 j . |
1
Rhet. ad Herenn. L. III. |
120 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [135|136]
Eine jede Idee wird stärker, wenn sie von einer oder mehr Ideen be-
gleitet ist, wie in Vergleidiungen, und um so viel stärker, je entfernter
das Verhältniß von diesen auf jene ist: denn wo die Aenlidikeit derselben
sich von selbst darbiethet, wie in Vergleichung einer weissen H a u t mit
Sdinee, erfolgt keine Verwunderung. Das Gegentheil ist dasjenige,
was wir Witz, und was Aristoteles unerwartete Begriffe nennet: er
fordert eben dergleichen 1 Ausdrücke von einem Redner. J e mehr uner-
wartetes man in einem Gemälde entdecket, desto rührender wird es; und
beydes erhält es durch die Allegorie. Sie ist wie eine unter Blättern und
Zweigen versteckte Frucht, welche desto angenehmer ist, je unvermutheter
man sie findet; das kleinste Gemälde kann das größte Meisterstück wer-
den, nachdem die Idee desselben erhaben ist.
Das Verhältniß der Zeichen mit dem Bezeichneten gründete sidi auch
zum Theil auf unbekannte oder unbewiesene Eigenschaften der ersteren.
Von dieser Art war der Roßkäfer, als ein Bild der Sonne bey den
Egyptern, und diese solte das Insect vorstellen, weil man glaubte, 4 daß
kein Weibgen in seinem Gesdilechte sey, und daß er sechs Monate in der
Erde und eben so lange Zeit ausser derselben lebe. Eben so solte die Katze,
weil man wolte bemerkt haben, 1 daß sie so viel Junge als Tage in einem
Umlaufe des Monds zu werfen pflege, ein Bild der Isis oder des
Monds seyn.
Die Griechen, weldie mehr Witz und gewiß mehr Empfindung hat-
ten, nahmen nur diejenigen Zeichen von jenen an, die ein wahres Ver-
hältniß mit dem Bezeichneten hatten, und vornehmlich welche sinnlich
wa I ren: ihren Göttern gaben sie durchgehends1 menschliche Gestalten.
Die Flügel bedeuteten bey den Egyptern schnelle und wirksame Dienste:
das Bild ist der Natur gemäß; Flügel stelleten bey den Griechen eben
dieses vor, und wenn die Athenienser ihrer Victoria die gewöhnlichen
Flügel nicht gaben, wolten sie dadurch den8 ruhigen Aufenthalt dersel-
ben in ihrer Stadt vorstellen. Eine Gans bedeutete dort einen behutsa-
men9 Regenten, und man gab in Absicht hierauf den Vordertheilen an
Schiffen die Gestalt einer Gans. Die Griechen behielten dieses Bild
bey, und der alten ihre Sdiiffschnäbel endigen sich mit einem4 Gänse-
hals.
Der Sphinx ist von den Figuren, die kein klares Verhältniß zu ihrer
Bedeutung haben, vielleicht die einzige, welche die Griechen von den
Egyptern angenommen haben: er bedeutete bey jenen beynahe 6 eben das,
was er bey diesen lehren solte, wenn er vor dem Eingange ihrer
Tempel stand. Die" Griechen gaben ihrer Figur Flügel, und bildeten
den Kopf mehrentheils frey ohne Stola; auf einer7 atheniensisdhen
Münze hat der Sphinx dieselbe behalten.
4
Plutarch, de Isid. & Osir p. 355. Clem. Alex. Strom. L. V. p. 657. 58. edit.
Potteri. Aelian. Hist. Anim. L. 10. c. 1$.
5
Plutarch. 1. c. p. 376. Aldrovand. de quadruped, digit, vivipar. L. III.
P· 574· I
1
Strabo. L. X V I . p. 760. al. 1104.
2
Pausan. L. III. p. 245.1. 21.
' Kircher. Oedip. Aeg. T. III. p. 64. Lucian. Navig. s. votum. c. 5. Bayf. de
re naval, p. 130. edit. Bas. 1537. 4.
4
Sdieffer. de re nav. L. III. c. 3. p. 196. Passerii. Lucern. Τ. II. tab. 93.
' Lactant. ad v. 2$j. L. VII. Thebaid.
• Beger Thes. Palat. p. 234. Numism. Museil. Reg. & Pop. tab. 8.
7
H a y m Tesoro Brit. Τ. I. p. 168.
122 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [137|138 138|139]
Ein Bild, dergleichen die* Schlange ist, die sich um ein Ey geschlungen,
auf einer tyrischen Münze des dritten Jahrhunderts, wird schwerlich
auf einer griechischen Münze zu finden seyn. Auf keinem einzigen ihrer
Denkmale ist eine fürchterliche Vorstellung: sie vermieden dergleichen
noch mehr als gewisse so genannte unglückliche Worte. Das Bild des
Todes erscheinet vielleicht nur auf* einem einzigen alten Steine: aber in
einer Gestalt, wie man es bey ihren4 Gastmalen aufzuführen pflegte;
nemlich sich durch Erinnerung der Kürze des Lebens zum angenehmen
Genüsse desselben aufzumuntern: der Künstler hat den Tod nach der
Flöte tanzen lassen. Auf einem andern Steine5 mit einer römischen In-
schrift ist ein Todtengerippe mit zwey Schmetterlingen, als Bildern der
Seele, von denen der eine von einem Vogel gehaschet wird, welches auf
die Seelenwanderung zielen soll; die Arbeit aber ist von spätem Zeiten. 1
Man hat auch angemerket,1 daß, da alle Gottheiten geweihete Altäre
gehabt haben, weder unter den Griechen noch Römern ein Altar des To-
des gewesen, ausser an den entlegensten Küsten der damals bekannten
Welt.
Die Römer haben in ihrer besten Zeit gedacht wie die Griechen, und
1
ap. Philostr. Heroic, p. 693.
4
Vaillant. Num. Colon. Rom. Τ. II. p. 136. conf. Bianchini Istor. Vniv.
P· 74·
* Mus. Flor. Τ. I. tab. 91. p. 175.
4
Petron. Satyr, c. 34.
6
Spon. Miscell. Sect. I. tab. j. |
1
in extremis Gadibus. v. Eustath. ad. Ii. I, p. 744. 1.4. edit. Rom. Idem ad
Dionys, περιηγ. ad v. 453. p. 84. edit. Oxon. 1712.
[139] 140] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 123
1
Kirdier Oedip. T. III. p. yyy. Cuper. de Elephant. Exercit. I. c. 3. p. 32.
3
Kirch. Oedip. Aeg. T. III. p. yjy.
4
Horapollo Hierogl. L. II. c. 84.
s
Cuper. 1. c. Spanh. Diss. Τ. I. p. 169.
• Agost. Dialog. II. p. 68. |
124 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [140|141 141|142]
epische Grösse: eine einzige Figur kann ihr dieselbe geben: je mehr Be-
griffe sie in sich fasset, desto höher wird sie, und jemehr sie zu denken
veranlasset, desto tiefer ist der Eindruck, den sie machet, und um so viel
sinnlicher wird sie also.
Die Vorstellung der Alten von einem Kinde, welches in der Blüte sei-
ner Jugend stirbt, war ein solches: sie maleten ein Kind in den 1 Armen I
der Aurora entführet; ein glückliches Bild: vermuthlich von der Gewohn-
heit, die Leichen junger Leute beym Anbruche der Morgenröthe zu begra-
ben, hergenommen; der gemeine Gedanke der Künstler vom heutigen
Wuchs ist bekannt.
Die Belebung des Körpers durch Einflössung der Seele, einer der
abgesondertesten Begriffe, ist durch die lieblichsten Bilder sinnlich, und zu-
gleich dichterisch von den Alten gemalet. Ein Künstler, der seine Mei-
ster nicht kennet, würde zwar durch die bekannte Vorstellung der Schöp-
fung eben dieses anzudeuten glauben: sein Bild aber würde in aller Augen
nichts anders als die Schöpfung selbst vorstellen, und diese Gesdiichte schei-
net zur Einkleidung eines blos philosophischen menschlichen Begrifs und
zur Anwendung desselben an ungeweiheten Orten zu heilig: zu geschwei-
gen, daß er zur Kunst nicht dichterisch genug ist. In Bildern der ältesten
Weisen und Dichter eingekleidet erscheinet dieser Begrif Theils auf 1 Mün-
zen, Theils auf 2 Steinen. Prometheus bildet einen Menschen von dem
Thone, von welchem man noch zu s Pausanias Zeiten grosse versteinerte
Klumpen in der Landschaft Phocis zeigte; und Minerva hält einen
Schmetterling, als das Bild der Seele, auf dem Kopf derselben. Auf der
angeführten Münze Antonini Pii, wo hinter der Minerva ein Baum
ist, um den sich eine Schlange gewunden hat, hält man es vor ein Sinn-
bild der Klugheit und Weisheit des Prinzen.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Bedeutung von vielen allegorischen
Bildern der Alten auf blosse Muthmassungen beruhet, die daher von un-1
sern Künstlern nicht allgemein angewendet werden können. Man hat
in der Figur eines Kindes auf einem geschnittenen Steine, welches einen
Schmetterling auf einen Altar setzen will, den 1 Begrif einer Freundsdiaft
bis zum Altar, das ist, die nicht über die Gränzen der Gerechtigkeit
1
Horn. Odyss. έ, v. 121. conf. Heraclid. Pontic, de Allegoria Homeri p. 492.
Meurs. de Funere. c. 7. |
1
Venuti Num. max. moduli tab. 25. Romae, 1739, fol.
* Bellori Admiranda, fol. 80.
1
Pausan. L. X. p. 806.1. 16. |
1
Licet. Gemm. Anul. c. 48.
[142|143] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 125
gehet, finden wollen. Auf einem andern Steine soll die Liebe, die den
Zweig eines alten Baums, als ein vorgegebenes Bild der Weisheit, auf
welchen eine so genannte Nachtigal sitzet, nach sich zu ziehen bemühet, 2
die Liebe zur Weisheit vorstellen. Eros, Himeros und Pothos waren bey
den Alten diejenigen Bilder, welche die Liebe, den Appetit und das
Verlangen andeuteten: diese drey Figuren will man 3 auf einem geschnit-
tenen Steine finden. Sie stehen um einen Altar, auf welchem ein heiliges
Feuer brennet. Die Liebe hinter dasselbe, so daß sie nur mit dem Kopfe
hervorraget; der Appetit und das Verlangen auf beyden Seiten des Al-
tars: jener nur mit einer Hand im Feuer, in der andern aber mit einem
Kranze: dieser mit beyden Händen im Feuer.
Eine Victorie, die einen Anker krönet, auf einer Münze Königs Se-
leucus, war sonst als ein Bild des Friedens und der Sicherheit, den der
Sieg verschaffet, angesehen; bis man die wahre Erklärung gefunden.
Seleucus soll mit einem4 Mahle in der Gestalt eines Ankers gebohren
seyn, welches Zeichen nicht allein dieser König, sondern auch die5 Se-
leucider, dessen Nachkommen, zur Bezeichnung ihrer Abkunft, auf ihre
Münzen prägen lassen. I
Wahrscheinlicher ist die Erklärung, die man einer Victorie 1 mit
Schmetterlingsflügeln an ein Siegeszeichen gebunden, giebt. Man glaubt
unter derselben einen Held zu finden, der als ein Sieger, wie Epaminon-
das, gestorben. In Athen war 2 eine Statue und ein Altar der Victoria
ohne Flügel, als ein Bild des unwandelbaren Glüdts im Kriege: der ange-
bundene Sieg könnte hier eine ähnliche Bedeutung erlauben, verglichen
mit dem3 angeschlossenen Mars zu Sparta. Die Art von Flügeln, die der
Psyche eigen ist, war der Figur vermuthlidi nicht von ohngefähr ge-
geben, da ihr sonst Adlersflügel gehören: vielleicht liegt der Begrif der
Seele des verstorbenen Helden unter denselben verborgen. Die Muth-
massungen sind erträglich, wenn eine Victorie an Tropheen von Waffen
überwundener Völker gebunden, sich mit einem Sieger dieser Völker
reimen liesse.
Die höhere Allegorie der Alten ist freylich ihrer größten Schätze be-
raubet auf uns gekommen; sie ist arm in Ansehung der zweyten Art.
1
Beger Thes. Brand. Τ. I. p. 182.
' Ibid. p. 2 j i .
4
lustin. L. XV. c. 4. p. 412. edit. Gronov.
5
Spanh. Diss. Τ. I. p. 407. |
1
Αρ. D. C. de Moezinsky.
1
Pausan. L. V. p. 447.1. 22.
* Ibid. L. III. p. 24j. 1. 20.
126 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [143|144 144|145]
Diese hat nicht selten mehr als ein einziges Bild zu einem einzigen Aus-
druck. Zwey verschiedene finden sich auf Münzen Kaisers Commodus, die
Glückseligkeit der Zeit zu bezeichnen. Das eine4 ist ein sitzendes Frauen-
zimmer mit einem Apfel oder Kugel in der Rechten, und mit einer Schaale
in der linken Hand unter einem grünen Baume: vor ihr sind drey Kinder,
von welchen zwey in einer Vase oder in einem Blumentopfe, als das ge-
wöhnliche Symbo I lum der Fruchtbarkeit. Das andere bestehet aus vier
Kindern, weldie die vier Jahrszeiten vorstellen durch die Sachen, welche
sie tragen: die Unterschrift beyder Münzen ist: „Glückseligkeit der
Zeiten."
Diese und alle andere Bilder, welche eine Schrift zur Erklärung nö-
thig haben, sind vom niedrigen Range in ihrer Art: und einige würden
ohne dieselbe für andere Bilder können genommen werden. Die1 Hof-
nung und die2 Fruchtbarkeit könnte eine Ceres, der3 Adel eine Minerva
seyn. Der Gedult4 auf einer Münze Kaisers Aurelianus fehlen auch die
wahren Unterscheidungszeichen, so wie der Muse Erato; und die Parcen
sind allein5 durch ihre Bekleidung von den Gratien unterschieden. Un-
terdessen sind andere Begriffe, die in der Moral unmerkliche Gränzen
haben, wie es die Gerechtigkeit und die Billigkeit ist, von den Künstlern
der Alten sehr wohl unterschieden. Jene wird® mit aufgebundenen Haa-
ren und einem Diadem in einer ernsthaften Mine, so wie sie7 Gellius
malet, diese wird mit einem holden Gesichte und mit fliegenden Haaren
vorgestellet. Aus der Waage, welche diese hält, steigen Kornähren hervor,
welche man auf die Vortheile der Billigkeit deutet; zuweilen hält sie in
der andern Hand ein Horn des Ueberflusses.
Unter die vofti stärkeren Ausdrucke gehöret der Friede auf einer®
Münze Kaisers Titus. Die Göttin des Friedens stützt sich mit dem lin- I
ken Arm auf eine Säule, und in eben der Hand hält sie einen Zweig von
einem Oelbaume, in der andern des Mercurs Stab über einen Schenkel
eines Opferthiers, welcher auf einem kleinen Altare liegt. Diese Hostie
4 Morel. Specim. rei num. tab. 12. p. 132. conf. Spanh. ep. IV. ad Morel,
p. 247.1
1 Spanh. Diss. Τ. I. p. 154.
* Spanh. Obs. ad Iuliani Imp. Orat. I. p. 282.
* Montfaucon Ant. expl. Τ. III.
* Morel. Specim. rei num. tab. 8. p. 92.
5 Artemidor. Oneirocr. L. II. c. 49.
β Agost. Dialog. II. p. 45. Roma. 1650. fol.
» Noct. Att. L. XIV. c. 4.
8 Tristan. Comment, hist, des Emper. Τ. I. p. 297. |
[145|146] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 127
deutet auf die unblutigen Opfer der Göttin des Friedens: man sdilachtete
dieselben ausser dem Tempel, und auf ihren Altar wurden nur die Schen-
kel gebracht, um denselben nicht mit Blut zu beflecken.
Gewöhnlich siehet man den Frieden mit einem Oelzweige und
Stabe des Mercurs, wie1 auf einer Münze eben dieses Kaisers; oder
auch auf einem Sessel, welcher auf einem Haufen hingeworfener Waffen
stehet, wie auf einer2 Münze vom Drusus: auf einigen3 von des Tiberius
und Vespasianus Münzen verbrennet der Friede Waffen.
Auf einer Münze Kaisers Philippus ist ein edles Bild: eine schlafende
Victoria. Man kann sie mit besserem Rechte auf einen zuversichtlichen
gewissen Sieg, als auf die Sicherheit der Welt deuten, was sie nach der
Unterschrift vorstellen soll. Eine ähnliche Idee enthielt dasjenige Ge-
mälde, wodurch man dem atheniensischen Feldherrn Timotheus ein blin-
des Glück in seinen Siegen vorwerfen wolte.4 Man malete ihn schlafend,
und das Glück, wie es Städte in ihr Netz fieng.
Zu dieser Classe gehöret der Nil mit seinen sechszehen5 Kindern
im Belvedere zu Rom. Dasjenige Kind, welches mit den Kornähren
und den Früchten in dem Horn des Nils, gleich hoch stehet, bedeutet I
die größte Fruchtbarkeit; diejenigen von den Kindern aber, die über das
Horn und dessen Früchte hinauf gestiegen, deuten auf Miswadis. Plinius1
giebt uns die Erklärung davon. Egypten ist am fruchtbarsten, wenn der
Nil sechszehen Fuß hoch steiget, wenn er aber über diese Maas kommt,
ist es dem Lande eben so wenig zuträglich, als wenn der Fluß die ge-
wünschte Maas nicht erreichet. In des Roßi seiner Sammlung sind die
Kinder weggelassen.
Was sich von allegorischen Satyren findet, gehöret mit zu dieser
zweyten Art. Ein Exempel giebt der Esel aus der Fabel2 des Gabrias,
den man mit einer Statue der Isis beladen hatte, und welcher die
Ehrfurcht des Volks gegen das Bild auf sich deutete. Kann der Stolz
des Pöbels unter den Grossen in der Welt sinnlicher vorstellet werden?
Die höhere Allegorie würde aus der gemeinern können ersetzet wer-
den, wenn diese nicht gleiches Schicksal mit jener gehabt hätte. Wir wis-
sen ζ. E. nicht, wie die Beredsamkeit oder die Göttin Peitho gebildet ge-
1
Numism. Museil. Imp. R. tab. 38.
1
Ibid. tab. 11.
9
Ibid. tab. 29. Erizzo Didiiaraz. di medagl. ant. P. II. p. 130.
4
Plutarch. Syll. p. jo. j 1.
6
conf. Philostr. Imag. p. 737. |
1
Plin. Hist. Nat. L. XVIII. c. 47. Agost. Dial. III. p. 104.
1
Gabriae Fab. p. 169. in Aesop, fab. Venet. 1709, 8.
128 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [146|147 147|148]
wesen; oder wie Praxiteles die Göttin des Trostes Parergon, von welchem3
Pausanias Nachricht giebt, vorgestellet habe. Die 4 Vergessenheit hatte
einen Altar bey den Römern; vielleicht war auch dieser Begrif persönlich
gemacht. Eben dieses läßt von der Keuschheit gedenken, deren5 Altar
man auf Münzen findet; ingleidien von der® Furcht, welcher Theseus
geopfert hat. I
Unterdessen sind die übrig gebliebenen Allegorien von Künstlern
neuerer Zeiten noch nicht insgesamt verbraucht: es sind vielen unter die-
sen hier und da einige unbekannt geblieben; und die Dichter und die übri-
gen Denkmale des Alterthums können noch allezeit einen reichen Stof zu
schönen Bildern darreichen. Diejenigen, welche zu unseren und unserer
Väter Zeiten dieses Feld haben bereichern, und nicht weniger zum Unter-
richt als zur Erleichterung der Künstler arbeiten wollen, hätten Quellen,
die so rein und reich sind, suchen sollen. Es erschien aber eine Zeit in
der Welt, wo ein grosser Haufe der Gelehrten gleichsam zur Ausrottung
des guten Geschmacks sich mit einer wahrhaften Raserey empörete. Sie
fanden in dem, was Natur heißt, nichts als kindische Einfalt, und man
hielt sich verbunden, dieselbe witziger zu machen. Junge und Alte fingen
an Devisen und Sinnbilder zu malen, nicht allein f ü r Künstler, sondern
auch f ü r Weltweise und Gottesgelehrte; und es konnte kaum ferner ein
Grus ohne ein Emblema anzubringen, bestellet werden. Man suchte
dergleichen lehrreicher zu machen durch eine Unterschrift desjenigen, was
sie bedeuteten, und was sie nicht bedeuteten. Dieses sind die Schätze
nach die man noch itzo grabet. Nachdem nun einmal diese Gelehrsam-
keit Mode worden war, so wurde an die Allegorie der Alten gar nicht
mehr gedacht.
Das Bild der 1 Freygebigkeit w a r bey den Alten eine weibliche Figur
mit einem Hörne des Ueberflusses in der einen Hand und in der andern
die Tafel eines römischen Congiarii. Die römische Freygebigkeit schien
vielleicht gar zu sparsam; man gab der 2 selbst gemachten in jeder I
Hand ein Horn, und das eine umgekehrt, um auszustreuen. Auf den
Kopf setzte man ihr einen Adler, der, ich weiß nicht was, hier bedeuten
solte. Andere 1 maleten eine Figur mit einem Gefässe in jeder Hand.
3
Pausan. L. I. c. 43. p. 10$. 1. 7.
4
Plutarch. Sympos. L. IX. qu. 6.
5
Vaillant Numism. Imp. Τ. II. ρ. 13$.
• Plutarch. Vit. Thes. p. 26. |
1
Agost. Dial. II. p. 66. 67. Numism. Museil. Imp. Rom. tab. 11 j .
2
Ripa Iconol. n. 87. |
1
Thesaur. de arguta diet.
£148)149] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 129
Die Ewigkeit 2 saß bey den Alten auf einer Kugel oder vielmehr auf
einer Sphäre mit einem Spiesse in der H a n d ; oder sie3 stand, mit der
Kugel in der einen Hand, und im übrigen wie jene; oder eine Kugel in
der Hand, und ohne Spieß; oder 4 audi mit einem fliegenden Sdileyer um
j den Kopf. Unter so verschiedenen Gestalten findet sich die Ewigkeit auf
Münzen der Kaiserinn Faustina. Den neuern Allegoristen schien dieses
zu leicht gedacht: 5 sie maleten uns etwas sdirecklidies, wie vielen die
Ewigkeit selbst ist; eine weibliche Gestalt bis auf die Brust, mit Kugeln
in bey den Händen; das übrige des Körpers ist eine Schlange, die in sich
ίο selbst zurück gehet mit Sternen bezeidinet.
Die Vorsicht hat® mehrentheils zu ihren Füssen eine Kugel und einen
Spieß in der linken H a n d . Auf einer 7 Münze Kaisers Pertinax hält
die Vorsicht die Hände ausgestreckt gegen eine Kugel, welche aus den
Wolken zu fallen scheinet. Eine 8 weibliche Figur mit zwey Gesiditern
is schien den Neuern bedeutender zu seyn. I
Die 1 Beständigkeit siehet man auf einigen Münzen Kaisers Claudius,
sitzend und stehend mit einem Helme auf dem Haupte und einem Spiesse
in der linken H a n d ; audi ohne Helm und Spieß: aber allezeit mit einem
auf das Gesicht gerichteten Zeigefinger, als wenn sie etwas ernstlidi be-
20 haupten wolte. Bey2 den Neuern konnte die Vorstellung dieser Tugend
ohne Säulen nicht förmlich werden.
Es scheinet, Ripa habe oft seine eigene Figuren nicht verstanden zu
erklären. Das Bild der 3 Keuschheit hält bey ihm in der einen H a n d
eine Geissei, (welche wenig Reitzung zur Tugend giebt) und in der andern
25 H a n d ein Sieb. Der Erfinder dieses Bildes, von dem es Ripa geborget,
hat vermuthlich auf die Vestalin Tuccia zielen wollen; Ripa, dem die-
ses nicht eingefallen ist, kommt mit den gezwungensten Einfallen hervor,
die nidit verdienen, daß sie wiederholet werden.
Idi spredie durch den gemachten Gegensatz unseren Zeiten das Recht
30 der Erfindung allegorischer Bilder nidit ab: es können aber aus der ver-
2
Numism. Musell. Imp. R. tab. 107.
3
Ibid. tab. 106.
4
Ibid. tab. 10 j.
s
Ripa Iconol. P. I. n. $3.
β
35 Agost. Dial. II. p. $7. Numism. Musell. 1. c. tab. 68.
7
Agost. 1. c.
8
Ripa Iconol. P. I. n. 135.1
1
Agost. Dial. II. p. 47.
2
Ripa Iconol. P. I. n. 31.
40 » Ibid. P. I. n. 25.
9 W i n i e l m a n n , Kleine Schriften
130 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [149|150]
1
v. Picinelli Mund. symb.
* Shaw. Voyag. Τ. I.
* Haym. Tesoro Brit. Τ. I. p. 219.
[150|151 151(152] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 131
Ein Bild auf einer von Königs Ludewig XIV. Münzen verdienet
hier audi angemerkt zu werden.2 Es wurde dieselbe gepräget, da der
Herzog von Lothringen, welcher bald die französische bald die österreichi-
sche Parthey ergrif, nach der Eroberung von Marsal, aus seinen Landen
weichen muste. Der Herzog ist hier Proteus, wie sich Menelaus dessel-
ben mit List bemächtiget, und ihn bindet, nachdem er vorher alle mög-
liche Formen angenommen hatte. In der Ferne ist die eroberte Vestung,
und in der Unterschrift ist das Jahr derselben angezeiget. Die Bedeutung
der Allegorie hätte die Ueberschrift: Protei artes delusae; nidit nöthig
gehabt.
Ein gutes Exempel der gemeinem Allegorie ist* die Gedult oder
vielmehr die Sehnsucht, das sehnliche Verlangen unter dem Bilde einer
weiblichen Figur, die mit gefaltenen Händen die Zeit an einer Uhr be-
trachtet. I
Bisher haben freylich die Erfinder der besten malerischen Allegorien
noch immer aus den Quellen des Alterthums allein geschöpfet, weil man
niemanden ein Recht zugestanden, Bilder für Künstler zu entwerfen, da
denn also keine allgemeine Aufnahme derselben statt gefunden. Von den
meisten bisherigen Versuchen ist dergleichen nicht zu hoffen gewesen: in
der ganzen Iconologie des Ripa sind etwa zwey oder drey erträglich,
4
Egnatius de exempl. illustr. Viror. Venet. 1. V. p. 133. |
1
Numism. Barbad. gent. n. 37. Padova. 1732. fol.
* Medailles de Louis le Grand, a. 1663. Paris, 1702. fol.
* Thesaur. de argut. diet. |
132 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [152|153]
und die1 verlohrne Mühe durch einen Mohr, der sich -wäsdiet, vorgestellet,
möchte nodi das beste seyn. In einigen guten Schriften sind Bilder ver-
steckt und zerstreuet, wie die Dumheit und der Tempel derselben in2 dem
Zusdiauer ist: diese müste man sammlen und allgemeiner machen. Es
ist ein Weg, Wochen- und Monatsdiriften sonderlich unter Künstlern be-
liebt zu machen: ein Beytrag von guten allegorischen Bildern würde die-
ses würken. Wenn die Schätze der Gelehrsamkeit der Kunst zufliessen,
so könnte die Zeit erscheinen, daß der Maler eine Ode eben so gut als
eine Tragödie schildern würde.
Ich will selbst versudien ein paar Bilder anzugeben: Regeln und
viel Exempel unterrichten am besten. Ich finde die Freundschaft allent-
halben schlecht vorgestellet, und die Sinnbilder derselben verdienen nicht
einmahl beurtheilet zu werden: sie sind mehrentheils mit fliegenden und
beschriebenen Wimpeln; man weiß, wie tief alsdenn die Begriffe liegen.
Ich würde diese größte menschliche Tugend durch Figuren zweyer
ewigen Freunde aus der Heldenzeit, des Theseus und des Pirithous I
malen. Auf 1 geschnittenen Steinen gehen Köpfe unter dem Namen des
ersteren: auf einem2 andern Steine erscheinet der Held mit der Keule, die
er dem Periphetes, einem Sohne des Vulcans, genommen hat, von der
Hand des Philemons: Theseus kann also den Erfahrnen im Alterthume
kentlich gemacht werden. Zu Entwerfung des Bildes einer Freundschaft
in der größten Gefahr könnte ein Gemälde zu Delphos dienen, welches3
Pausanias beschreibet. Theseus war vorgestellet, wie er sich mit seinem
Degen in der einen Hand, und mit dem Degen, welchen er seinem Freunde
von der Seite gezogen hatte, in der andern Hand, gegen die Thesprotier
zur Gegenwehr setzet. Oder der Anfang und die Stiftung ihrer Freund-
schaft, so wie sie4 Plutarch beschreibet, könnte ebenfalls ein Vorwurf
dieses Bildes seyn. Ich habe mich gewundert, daß ich unter den Sinn-
bildern von weltlichen und geistlichen grossen Helden und Männern aus
dem Hause Barbarigo keins gefunden habe, auf einen wahren Menschen
und ewigen Freund. Nicolaus Barbarigo war ein solcher: er stiftete mit
Marco Trivisano eine Freundschaft, die ein ewiges Denkmal verdienet
hätte:
1
Ripa Iconol. P. II. ρ. 166.
2
Spectator edit. 1724. Vol. II. p. 201. |
1
Canini Imag. des Heros, η. I.
* Stosch. Pierr. grav. pi. 51.
3
Pausan. L. X . p. 870. 71.
4
Vit. Thes. p. 29.
[153|154 154|155] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 133
5
De monstrosa amicitia respectu perfectionis inter Nie. Barbar. & Marc.
Trivisan. Venet. ap. Franc. Baba. 1628. 4.
8
Vit. Marcelli. Orteiii Capita Deor. L. II. fig. 41.1
1
Thomasin. Donar, vett. c. j.
1
Plutarch. Quaest. Rom. p. 266. F.
3
Vulp. Latium. Τ. I. L. I. c. 27. p. 406.
4
Agost. Dialog II. p. 81.
5
Agost. 1. c.
* Ibid. & Beger. Obs. in Numism. p. 56.
7
II. i, v. 498. conf. Heraclides Pontic, de Allegoria Homeri. p. 4J7. 58.1
134 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [155(156]
Vater, der Göttin Ate Befehl zu geben, einen solchen wegen der Härte
seines Herzens zu strafen."
Man könnte audi aus einer bekanten alten Fabel ein neues Bild
machen. Salmacis und der Knabe, den sie liebte, wurden in eine Quelle
verwandelt, weldie weibisch machte; also daß
Die Quelle war bey Halicarnassus in Carien. Vitruv 1 glaubt, die Wahr-
heit dieser Erdichtung gefunden zu haben. Einige Einwohner aus Argos
und Trözene, sagt er, begaben sidi dahin, und vertrieben die Carier
und Leleger, die sich ins Gebürge retteten, und anfiengen die Grie-
chen mit Streifereyen zu beunruhigen. Einer von den Einwohnern, wel-
cher besondere Eigenschaften in dieser Quelle entdecket hatte, legte bey
derselben ein Gebäude an, wo diejenigen die den Brunnen gebrauchen
wolten, ihre Bequemlichkeit hatten. Es fanden sich Barbaren so wohl
als Griechen hier ein, und jene gewöhneten sich an die sanften griechischen
Sitten, und legten freywillig ihr wildes Wesen ab. Die Vorstellung
der Fabel selbst ist Künstlern bekannt: die Erzählung des Vitruvs könnte
ihnen Anleitung geben ein Bild eines Volks zu machen, weldies gesittet
und menschlidi geworden, wie die Russen unter Peter I. angefangen
ha I ben. Die Fabel des Orpheus könnte zu eben dieser Vorstellung dienen:
es kommt auf den Ausdrude an, ein Bild vor das andere bedeutender
zu madien.
Ist dasjenige, was ich allgemein über die Allegorie gesagt habe, nicht
überzeugend genug die Nothwendigkeit derselben in der Malerey darzu-
thun, so werden wenigstens die Bilder, welche als Beyspiele angebracht
sind, zur Rechtfertigung meines Satzes dienen können; „daß sich die
Malerey auf Dinge erstrecke, die nicht sinnlich sind."
Die beyden größten Werke der allegorisdien Malerey, die ich in mei-
ner Schrift angeführet habe, nemlich die luxenburgische Gallerie und
die Cuppola der kaiserlichen Bibliothec zu Wien, können zeigen, wie ihre
Meister die Allegorie glücklich und dichterisch angewendet haben.
Rubens wolte Henrich IV. als einen menschlichen Sieger malen, der
in Bestrafung der frevelhaften Aufrührer und meichelmörderischer Maje-
1
Architect. L. II. c. 8.1
[156|157 157|158] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 135
Neben dieser Figur stehet ein alter Mann, der auf einer Tafel den
Bau ausmißt, und unter ihm ein Genius mit einem Senkbleye, zur Vor-
stellung der eingerichteten Befolgung. Zur Seite des Alten sitzet die sinn-
reiche Erfindung mit dem Bilde der Isis in der rechten Hand, und mit
einem Buche in der Linken, die Natur und Wissenschaft als Quellen der
Erfindung anzuzeigen, deren schwere Auflösungen das Bild eines Sphinx,
welches vor ihr lieget, abbildet.
Die Vergleichung dieses Werks mit den grossen Plafond von le Moine
zu Versailles, die ich in meiner Schrift gemacht habe, ist blos als
zwischen den neuesten und größten Arbeiten unserer Zeiten in Deutsch-
land und Frankreich angestellet. Die grosse Gallerie des erwehnten Lust-
schlosses von Carl le Brun gemalet, ist ohne Zweifel das Höchste in der
dichterischen Malerey, was nach dem Rubens ausgeführet worden, und
Frankreich kann sich rühmen, daß es an dieser und der luxenburgischen
Gallerie die gelehrtesten Werke der Allegorie in der Welt habe.
Die Gallerie von le Brun stellet die Geschichte Ludewig XIV. vom
pyrenäisdien bis zum nimwegischen Frieden vor in neun grossen und acht-
zehen kleinen Feldern. Dasjenige Gemälde, wo der König den Krieg wi-
der Holland beschließt, enthält allein eine sinnreiche und hohe Anwen-
dung bey nahe der ganzen Mythologie, und ist von Simoneau dem
Aeltern gestochen. Der Reichthum desselben erfordert eine Beschreibung,
die für eine kleine Schrift zu stark werden würde: man urtheile aus ein
paar kleinern Compositionen unter diesen Gemälden, was der Künstler
im Stande gewesen zu denken und auszudrücken. Er malete den berühm- I
ten Uebergang der französischen Völker über den Rhein. 1 Sein Held
sitzet auf einem Kriegeswagen mit einem Donnerkeile in der Hand, und
Hercules, als ein Bild des heroischen Muths, treibet den Wagen mitten
durch die unruhigen Wellen. Die Figur, welche Spanien vorstellet, wird
von dem Strohme mit fortgerissen: der Gott des Rheins ist bestürtzt und
Iäßt sein Ruder fallen: die Victorien kommen herzugeflogen, und halten
Schilder, auf welche die Namen der Städte, die nach diesem Uebergange
erobert sind, angedeutet worden. Europa siehet voller Verwunde-
rung zu.
Eine andere Vorstellung betrift den Friedensschluß. Holland läuft,
ohnerachtet es durch den Reichsadler beym Rocke zurück gehalten wird,
dem Frieden entgegen, welcher vom Himmel herab kömmt, umgeben mit
den Geniis der Scherze und des Vergnügens, die allenthalben Blumen
1
Lepicil Vies des prem. Peintres du Roi Τ. I. p. 64.
[159|160 160|161] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 137
1
Eben diese Geschichte und warhaftig von Poußins Hand ist auf der
Königlichen Gallerie zu Dreßden. Man siehet, wie vortheilhaft sidi der
Künstler der Figur des Flusses zu seiner Composition bedienet hat.
1
Plato Alcibiad. II. p. 457.1. 30.
s
Baldinucci Notiz, de' Profess, del disegno p. 118.
4
Argenville Abregi de la Vie des Peintres hat, wie es scheinet, das Wort
Ciliegia nicht verstanden; weil er gesehen, daß es ein Zeichen des Früh-
lings seyn sollen, so machte er aus der Kirsche einen Sommervogel; den
Hauptvorwurf des Gemäldes ließ er unberührt, und nahm nur das Mäd-
gen allein. |
138 Erläuterung der Gedanken von der Nadiahmung [161|162]
über einen Specht hielt, der nach derselben schnappete, war nothwen-
dig sehr vielen ein Geheimniß. Die Kirsche bedeutete die Jahrszeit, in
welcher der Heilige seinen Geist aufgegeben hatte.
Alle grosse Machinen und Stücke eines öffentlichen Gebäudes, Pal-
lastes etc. erfordern billig allegorisdie Malereyen. Das, was groß ist, hat
einerley Verhältniß: eine Elegie ist nicht gemacht, grosse Begebenheiten
in der Welt zu besingen. Ist aber eine jede Fabel eine Allegorie zu ihrem
Orte? Sie hat es weniger Recht zu seyn, als der Doge verlangen könnte
dasjenige in Terra ferma vorzustellen, was er zu Venedig ist. Wenn
ich richtig urtheile, so gehöret die farnesische Gallerie nicht unter die alle-
gorischen Werke. Vielleicht habe ich dem Annibal an diesem Orte in mei-
ner Schrift zu viel gethan, wenn die Wahl nicht bey ihm gestanden:
man weiß, 1 daß der Herzog von Orleans vom Coypel die Geschichte des
Aeneas in seine Gallerie verlanget.
Des Rubens 2 Neptun auf der Königlichen Gallerie zu Dreßden,
war ehemals für den prächtigen Einzug des Infant Ferdinands von Spa-
nien, als Gouverneur der Niederlande, in Antwerpen gemacht; und da-
selbst war es an einer3 Ehrenpforte ein allegorisches Gemälde. Der Gott
des Meers, der beym Virgil den Winden Frieden gebietet, war dem I
Künstler ein Bild der nach ausgestandenen Sturm glücklichen Farth und
Anländung des Prinzen in Genua. Itzo aber kann es weiter nichts, als
den Neptun beym Virgil vorstellen.
Vasari 1 hat nach der gleichsam bekannten und angenommenen Absicht
bey Gemälden an Orten, dergleichen ich namhaft gemacht habe, geurthei-
let, wenn er in Raphaels bekanntem Gemälde im Vatican, welches unter
dem Namen der Schule zu Athen bekannt ist, eine Allegorie finden wol-
len; nemlich die Vergleichung der Weltweisheit und Sterndeutung mit
der Theologie: da man doch2 nichts weiter in demselben zu suchen hat,
als was man augenscheinlich siehet, das ist, eine Vorstellung der Acade-
mie zu Athen.
Im Alterthume hingegen war eine jede Vorstellung der Geschidite
einer Gottheit in dem ihr geweiheten Tempel auch zugleich als ein alle-
gorisches Gemälde anzusehen, weil die ganze Mythologie ein Gewebe von
1
Lepicii Vies des prem. Peintr. P. II. p. 17. 18.
* Recueil d' Estamp. de la Gall, de Dresde fol. 48.
* Pompa & Introitus Ferdinandi Hisp. Inf. p. 1 5. Antv. 1641. fol. |
1
Vasari Vite de' Pittori etc. P. III. Vol. I. p. 76.
1
Chambray Idee de la Peint. p. 107. 108. Bellori Descriz. delle Imagini
dipinte da Rafaello etc.
[162)163 163|164] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 139
Allegorie war. Homers Götter, sagt jemand unter den Alten, sind natür-
liche Gefühle der verschiedenen Kräfte der Welt; Schatten und Hüllen
edler Gesinnungen. Für nichts anders sähe man die Liebeshändel des
Jupiters und der Juno an einem Plafond eines Tempels dieser Göttin
zu Samos an. Durch den Jupiter wurde3 die Luft und durch die Juno
die Erde bezeichnet. I
Endlich muß ich mich über die Vorstellung der Widersprüche in den
Neigungen des atheniensischen Volks, von der Hand des Parrhasius, er-
klären. Ich will zugleich einen Fehler anmerken, den ich in meiner Schrift
begangen habe: an die Stelle dieses Malers ist in der Schrift Aristides
gesetzt, welchen man insgemein den Maler der Seele hieß. In dem
Sendschreiben hat man sidi den Begrif von besagtem Gemälde sehr leicht
und bequem gemacht: man theilet es zu mehrerer Deutlichkeit in verschie-
dene Gemälde ein. Der Künstler hat gewiß nicht so gedacht: denn so
gar ein Bildhauer, Leochares, machte eine Statue des atheniensischen
Volks, so wie man einen1 Tempel unter diesem Namen hatte, und die
Gemälde, deren Vorwurf das Volk zu Athen war, scheinen wie des Par-
rhasius Werk ausgeführet gewesen zu seyn. Man2 hat noch keine wahr-
scheinliche Composition desselben entwerfen können, oder da man es mit
der Allegorie versuchet, so ist eine schreckliche Gestalt erschienen, wie3 die-
jenige ist, die uns Tesoro malet. Das Gemälde des Parrhasius wird
allezeit ein Beweis bleiben, daß die Alten gelehrter als wir in der Allegorie
gewesen.
Meine Erklärung über die Allegorie überhaupt, begreift zugleich das-
jenige in sich, was ich über die Allegorie in Verzierungen sagen könnte:
da aber der Verfasser des Sendschreibens besondere Bedenken über dieselbe
angebracht hat, so will ich diesen Punct wenigstens berühren. I
In allen Verzierungen sind die beyden vornehmsten Gesetze: Erstlich,
der Natur der Sache und dem Orte gemäß, und mit Wahrheit; und
Zweitens, nicht nach einer willkührlichen Phantasie zu zieren.
Das erste Gesetz, welches allen Künstlern überhaupt vorgeschrieben
ist, und von ihnen verlanget, Dinge dergestalt zusammen zu stellen, daß
das eine auf das andere eine Verhältniß habe, will auch hier eine genaue
Uebereinstimmung des Verzierten mit den Zierathen.
' Heraclid. Pontici Allegor. Homeri p. 443. 462. inter Th. Gale Opusc.
Mythol. I
1
Iosephi Antiquit. L. XIV. c. 8. p. 699. edit. Haverc.
1
Dati Vite de' Pittori ρ. [ι]73·
* Thesaur. Idea argut. diet. Cap. III. p. 84.1
140 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [164|165]
Das Unheilige soll nicht zu dem Heiligen, und das Schreckhafte nicht
zu dem Erhabenen gestellet werden; und aus eben diesem Grunde ver-
wirft man 1 die Schaafsköpfe in dem Metopen der dorischen Säulen an
der Capelle des luxenburgischen Palais in Paris.
Das zweyte Gesetz schließt eine gewisse Freyheit aus, und schrenkt
Baumeister und Verzierer in viel engere Grenzen ein als selbst die Maler.
Dieser muß sich zuweilen so gar nach der Mode in historischen Stücken
bequemen, und es würde wider alle Klugheit seyn, wenn er sidi mit seinen
Figuren in seiner Einbildung allezeit nach Griechenland versetzen wolte.
Aber Gebäude und öffentliche Werke, die von langer Dauer seyn sollen,
erfordern Verzierungen, die einen längern Perioden als Kleidertrachten
haben, das ist, entweder solche, die sich viele Jahrhunderte hindurch
in Ansehen erhalten haben und bleiben werden, oder solche, die nadi den I
Regeln, oder nach dem Gesdimacke des Alterthums gearbeitet worden;
Widrigenfalls wird es geschehen, daß Verzierungen veralten und aus
der Mode kommen, ehe das Werk, wo sie angebracht sind, vollendet
worden.
Das erste Gesetz führet den Künstler zur Allegorie: das zweyte zur
Nachahmung des Alterthums; und dieses gehet vornehmlich die kleinern
Verzierungen an.
Kleinere Verzierungen nenne ich diejenigen, welche Theils kein Ganzes
ausmachen, Theils ein Zusatz der grösseren sind. Musdieln sind bey den
Alten nirgend, als wo es der Fabel, wie bey der Venus und den Meer-
göttern, oder wo es dem Orte gemäß gewesen, wie in Tempeln des Nep-
tuns geschehen, angebracht worden: Man glaubt audi, daß 1 alte Lam-
pen mit Musdieln gezieret, in Tempeln dieser Gottheit gebraucht worden
sind. Sie können also an vielen Orten schön ja bedeutend seyn; wie in
den2 Festons an dem Rathhause zu Amsterdam.
Die Sdiaaf- und Stierköpfe geben so wenig eine Rechtfertigung des
Muschelwerks, wie der Verfasser des Sendschreibens vielleicht glaubt,
daß sie vielmehr den Misbrauch desselben darthun können. Diese von
der Haut entblößten Köpfe hatten nicht allein ein Verhältniß zu den Op-
1
Blondel Mais, de plaisance. Τ. II. p. z6. |
1
Passerii Lucernae fict. tab. j i.
* Quellinus Maison de la Ville d' Amst. 1655. fol.
[165|166 166|167] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 141
fern der Alten; sondern man glaubt auch, sie3 hätten die Kraft deml
Blitze zu widerstehen, und Numa wolte hierüber einen besonderen Befehl
vom Jupiter bekommen haben. 1 Das Capital einer corinthischen Säule
kann eben so wenig zu dem Muschelwerk, als ein Beyspiel eines scheinbar
ungereimten Zieraths gesetzt werden, der durch die Länge der Zeit Wahr-
heit und Geschmack erhalten. Der Ursprung dieses Capitals scheinet weit
natürlicher und vernünftiger zu seyn, als Vitruvs Angeben ist. Diese
Untersuchung aber gehöret in ein Werk der Baukunst. Pocoke, welcher
glaubt, daß die corinthisdie Ordnung vielleicht nicht sonderlich bekannt
gewesen, da Pericles den Tempel der Minerva gebauet, hätte sich erinnern
sollen, daß dieser Göttin ihren Tempeln dorische Säulen gehören, wie 2
Vitruv lehret.
Man muß in diesen Verzierungen so wie überhaupt in der Baukunst
verfahren. Diese erhält eine grosse Manier, wenn die Eintheilung der
Hauptglieder an den Säulenordnungen aus wenig Theilen bestehet;
wenn dieselben eine kühne und mächtige Erhobenheit und Ausschweifung
erhalten. Man gedenke hierbey an die canellirten Säulen am Tempel I
des Jupiters zu Agrigent, in deren 1 einzigem Reife ein Mensch füglich
stehen konnte. Diese Verzierungen sollen nicht allein an sich wenig seyn,
sondern sie sollen auch aus wenig Theilen bestehen, und diese Theile sollen
groß und frey ausschweifen.
Das erste Gesetz (um wieder auf die Allegorie zu kommen) könnte in
sehr viel subalterne Regeln zergliedert werden: die Beobachtung der N a -
tur der Sachen aber und der Umstände ist allezeit das allgemeine Augen-
merk der Künstler; und was die Beyspiele betrift, so scheinet hier der
Weg der Widerlegung lehrreicher als der Weg der Vorschrift.
Arion auf einem Delphine reitend, so wie er als ein Gemälde zu einer
Sopraporte in einem2 neuern Werke der Baukunst, wiewohl nicht mit
Vorsatz, wie es scheinet, angebracht ist, würde nach der gewöhnlichen
Deutung nur allein in Sälen und Zimmern eines Dauphin von Frank-
reich, dem Orte gemäß seyn: an allen Orten aber, wo dieses Bild nidit
entweder auf Menschenliebe, oder auf Hülfe und Schutz, weldien Künst-
ler, wie Arion finden, ziehen kann, würde es nicht bedeutend seyn. In
der Stadt Tarent hingegen könnte eben dieses Bild, doch ohne Leyer,
noch itzo, an allen öffentlichen Gebäuden seinen Ort zieren: denn die alten
Tarentiner, die des Neptuns Sohn Taras vor ihren Erbauer hielten,
prägten denselben, wie er auf einem Delphine ritt, auf ihre Münzen.
Man hat wider die Wahrheit gehandelt in den Verzierungen eines
Gebäudes, an dessen Aufführung eine ganze Nation Theil hat; an dem I
Palais Bleinheim des Herzogs von Marlborough,1 wo über zwey Por-
tale ungeheure Löwen von Stein gehauen liegen, welche einen kleinen
Hahn in Stücken reissen: die Erfindung ist nichts als ein sehr gemeines
Wortspiel.
Es ist nidit zu läugnen, man hat eins oder ein paar Beyspiele von
ähnlich scheinenden Gedanken aus den Alterthume, wie die Löwinn auf
dem Grabmale der Liebste des Aristogitons, mit Namen Leäna war,
welches dieser Person als eine Belohnung aufgerichtet wurde, wegen der
bezeigten Beständigkeit in der Marter des Tyrannen, um von ihr ein
Geständniß der Mitverschwornen wider ihn zu erpressen. Ich weiß nidit,
ob dieses Grabmal zur Rechtfertigung der Wortspiele in neueren Verzie-
rungen dienen könnte. Die Liebste des Märtyrers der Freyheit zu Athen
war eine Person von berüchtigten Sitten, deren Namen man Bedenken
trug auf ein öffentliches Denkmal zu setzen. Eine gleiche Beschaffen-
heit hat es mit den2 Eidexen und Fröschen an einem Tempel, wodurch
die beyden Baumeister3 Saurus und Batrachus ihre Namen, die sie
nidit offenbar andeuten durften, zu verewigen suchten. Gedachte Löwinn
hatte keine Zunge und dieser Gedanke gab der Allegorie Wahrheit. Die
Löwinn, weldie auf der berühmten Lais4 Grab gesetzt wurde, war ver-
muthlidi von jener eine Copie, und hielt hier mit den Vorderfüssen einen
Widder, als5 ein Gemälde ihrer Sitten. In übrigen wurde auf dem
Grabmal tapferer Leute insgemein ein Löwe gesetzt. I
Es ist zwar nicht zu verlangen, daß alle Verzierungen und Bilder der
Alten audi so gar auf ihren Vasen und Geräthe allegorisch seyn sollen.
Die Erklärung von vielen derselben würde auch entweder sehr mühsam
1
v. Spectator. Ν . $9.
8
Pausan. L. I. c. 43.1. 22.
* Plin. Hist. Nat. L. 36. c. j.
4
Pausan. L. II. c. ι . ρ. 115.1. 11.
* Pausan. L. IX. c. 40. p. 795.1.11.1
[169|170] Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung 143
1
Aldrovand. de quadrup. bisulc. p. 141.
* Bellori Lucern. sepulcr. P. I. fig. 17.
3
Spon Miscell. Sect. II. Art. I. p. 25.
* Beger Thes. Palat. p. 100.
8
v. Buonarroti Osserv. sopra alcuni Medagl. Proem, p. XXVI. Roma.
1698.4.1
1
Plutardi. de garrulit. p. 502.
2
Tristan Comment, hist, des Emp. Τ. I. p. 632.
144 Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung [170|171 171|172]
gemacht hatte, hierzu bestimmete, wurde ihm sein Vorhaben durch die
Oberpriester, deren Gutachten er vorher einholete, untersaget, unter
dem Vorwande, daß ein einziger Tempel nicht zwo Gottheiten fassen
könnte. Marcellus ließ also zwey 3 Tempel nahe an einander bauen,
dergestalt, daß man durdi den Tempel der Tugend gehen muste, um in I
den Tempel der Ehre zu gelangen; um dadurch zu lehren, daß man
allein durch Ausübung der Tugend zur wahren Ehre geführet werde.
Dieser Tempel war 1 vor der Porta Capena. Es fällt mir hierbey ein
ähnlicher Gedanke ein. Die Alten 2 pflegten Statuen von häßlichen Sa-
tyrs zu machen, welche hohl waren: wenn man sie öfnete, zeigten sich
kleine Figuren der Gratien. Wolte man nicht dadurch lehren, daß
man nicht nach dem äusseren Scheine urtheilen solle, und daß dasjenige,
was der Gestalt abgehet, durch den Verstand ersetzet werde?
Ich befürchte, daß einige Bedenken in dem Sendschreiben wider meine
Schrift von mir können übergangen worden seyn, auf die ich zu ant-
worten gewillet war. Ich entsinne mich hier auf die Kunst der Grie-
dien aus blauen Augen schwarze zu machen: Dioscorides 3 ist der einzige
Scribent, der von derselben Meldung gethan hat. Es ist in dieser Kunst
auch in neuern Zeiten ein Versuch geschehen. Eine gewisse Gräfin in
Schlesien war eine bekannte Schönheit unserer Zeiten: man fand sie voll-
kommen; nur hätten einige gewünscht, daß sie statt der blauen Augen
schwarze gehabt hätte. Sie erfuhr den Wunsch ihrer Anbeter, und wen-
dete alle Mittel an, die Natur zu ändern, und es gelung ihr: sie bekam
schwarze Augen; wurde aber blind. I
Ich habe mir selbst und vielleicht auch dem Sendschreiben kein Ge-
nüge gethan: Allein die Kunst ist unerschöpflich, und man muß nicht alles
schreiben wollen. Ich suchte mich in der mir vergönneten Muße ange-
nehm zu beschäftigen, und die Unterredungen mit meinem Freunde, Herrn
Friedrich Oeser, einem wahren Nachfolger des Aristides, der die Seele
schilderte, und für den Verstand malete, gaben zum Theil hierzu die
Gelegenheit. D e r N a m e dieses würdigen Künstlers und Freundes soll
den Schluß meiner Schrift zieren.
Reifere Gedancken
Uber die Nachahmung der Alten
In der Zeichnung und Bildhauerkunst.
Fragment
hiezu. Die allgemeine Kentnis der Griechen lehrte denken wie sie (und
flößte einen Geist der Freyheit ein) und durch die Weisen breitete sich
der Geist der Freyheit aus: (deswegen lehret Hobbes die Lesung der
Alten der Jugend zu untersagen) welcher wie Hobbes lehret nicht leichter
ersticket werden kan, als wenn der Jugend die Lesung der Alten unter-
saget würde. Viele (Zeiten) Länder hatten ein sanftes Joch die unter
dem Zwange seufzen, und unter der Menschlichkeit war so viel Un-
gleichheit nicht eingeführet. Aber die Gelehrten dieser Zeit hatten ein
großes und noch näheres Antheil an der Größe zu welcher Raphael und
Michael Angelo gelanget sind. Ihre Freunde waren diejenigen die Xeno-
phon und Plato gebildet hatten, und deren Sdiriften ihrer Nation das-
jenige sind, was jene aller Welt seyn solten.
Man hörete nach der Zeit nicht gantz und gar auf nach den Werken
der Alten zu studiren aber die Kunst wurde Handwerdksmäßig getrieben
selbst unter den Carracci, und diejenigen welche ihre Schüler wurden
mehr angewiesen zur Fertigkeit der Hand und zur Nachahmung ihrer
Meister als zu den hohen Schönheiten der alten Künstler. Eben so gieng
es mehrentheils mit der Anweisung zur Lesung einiger Schriften der
alten Griechen.
147
GEDANKEN
Es gehet mit dem Urtheil über Werke der Kunst wie mit Lesung
der Bücher: man glaubet zu verstehen was man lieset, und man verstehet
nicht, wenn man es erklären soll. Ein anderes ist den Homerus lesen, ein
anderes ist, ihn im Lesen zugleich zu übersetzen. Mit Geschmack die
Werke der Kunst ansehen und mit Verständnis sind zwo verschiedene
Dinge, und aus einem allgemeinen richtigen Gedanken über dieselbe ist
nicht auf die Kentniß zu schließen, so wie es nicht folget, wenn Cicero
saget, daß Canachus und Calamis härter als Polycletus gewesen, daß
er gründlich verstanden habe, was er sdirieb.
Idi habe in den Versudi der Historie der Kunst lieber wie Herodotus
als wie Thucydides verfahren wollen: jener fänget an von den Zeiten
da die Griechen anfiengen groß zu werden und höret auf mit der Erniedri-
gung ihrer Feinde: dieser fangt an von den Zeiten wo die Griechen
anfiengen unglücklich zu werden.
Sie (die Griechen) bildeten ihre Schönheiten wie die Natur; diese
würde nach der ihr von dem Sdiöpfer eingepflanzten Wirkung welche
auf das beste und vollkommenste zielet, aus einer ihrer Absicht gemäßen
Anlage schöne Menschen zubereiten, wenn sie die Frucht in der Mutter
frey von allen gewaltsamen Zufällen und ohne Störung heftiger Leiden-
schaften bilden könte.
In dieser Absicht suchten die ersten großen Künstler die Köpfe und
den Stand ihrer Götter und Helden rein von Empfindlichkeit und ent-
fernt von inneren Empörungen in einem Gleichgewicht des Gefühls und
in einer friedlichen immer gleichen Seele vorzustellen.
+ + +
V O N DER SCHÖNHEIT
Die Schönheit ist nichts anders als das Mittel von ζ extremis. Wie die
Mittelstraße in allen Dingen das beste ist, so ist sie auch das schönste. Um
das Mittel zu treffen muß man die beyden extrema kennen. Gott und die
Natur hat das beste gewählet und die Schönheit der Form bestehet selbst
ja darin, daß sich Dinge zu einem Mittel verhalten: die Uniformität macht
keine Schönheit. Unser Gesicht konte also nicht wie das Gesicht der Thiere
aus ζ theilen, Stirn und Nase bestehen. Die Harmonie ist vollkommener
in ungleichen Zahlen, zwey Dinge neben ein ander thun ohne ein drittes
nicht gut: wenn aber die Gleichheit der Zahlen wächst, so wird die Uni-
formität unmercklicher und sie nehmen die Natur der ungleichen Zahlen
an.
149
wenig mit allen ihren verdrehten Wendungen. Denn wie es sdiwerer ist,
viel mit wenigem anzuzeigen, als es das Gegentheil ist, und der riditige
Verstand mit wenigem mehr als mit vielem zu wirken liebet; so wird eine
einzelne Figur der Schauplatz aller Kunst eines Meisters seyn können.
Aber es würde den mehresten Künstlern ein eben so hartes Gebot seyn,
eine Begebenheit in einer einzigen oder in ein paar Figuren, und dieses in
groß I gezeichnet vorzustellen, als es einem Scribenten seyn würde, zum
Versuch eine ganz kurze Schrifft aus eigenem Stoff abzufassen: denn hier
kann beyder Blöße erscheinen, die sich in der Vielheit verstecket. Eben
daher lieben fast alle angehende und sich selbst überlassene junge Künstler
mehr, einen Entwurf von einem Haufen zusammengestelleter Figuren
zu machen, als eine einzige völlig auszuführen. Da nun das wenige, mehr
oder geringer, den Unterschied unter Künstlern machet, und das wenige
unmerkliche ein Vorwurf denkender empfindlicher Geschöpfe ist, das
viele und handgreifliche aber schlaffe Sinne und einen stumpfen Verstand
beschäfftiget; so wird der Künstler, der sich Klugen zu gefallen begnüget,
im einzelnen groß und im wiederholten und bekannten mannigfaltig und
denkend erscheinen können. Ich rede hier wie aus dem Munde des Alter-
thums: Dieses lehren die Werke der Alten, und es würde ihnen ähnlich
geschrieben und gebildet werden, wenn ihre Sdiriften wie ihre Bilder
betrachtet und untersuchet würden.
Der Stolz in dem Gesichte des Apollo äußert sich vornehmlich in dem
Kinn und in der Unterlefze, der Zorn in den Nüsten seiner Nase, und
die Verachtung in der Oeffnung des Mundes; auf den übrigen Theilen
dieses göttlichen Haupts wohnen die Grazien, und die Sdiönheit bleibet
bey der Empfindung unvermischet und rein wie die Sonne, deren Bild er
ist. Im Laocoon siehest du bey dem Schmerz den Unmuth, wie über ein
unwürdiges Leiden in dem Krausen der Nase, und das väterliche Mit-
leiden auf den Augäpfeln wie eine trübe Duft schwimmen. Diese I Schön-
heiten in einem einzigen Drucke sind wie ein Bild in einem Worte beym
Homerus; nur der kann sie finden, welcher sie kennet. Glaube gewiß, daß
der alten Künstler so wie ihrer Weisen Absicht war, mit wenigem viel
anzudeuten: Daher lieget der Verstand der Alten tief in ihren Werken;
in der neuern Welt ist es mehrentheils wie bey verarmten Krämern, die
alle ihre Waare ausstellen. Homerus giebt ein höheres Bild, wenn alle
Götter sich von ihrem Sitze erheben, da Apollo unter ihnen erscheinet, als
Callimadius mit seinem ganzen Gesänge voller Gelehrsamkeit. Ist ein
Vorurtheil nützlidi, so ist es die Ueberzeugung von dem, was ich sage;
mit derselben nähere dich zu den Werken des Alterthums, in Hoffnung
[4|5 5|6] Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst 151
viel zu finden, so wirst du viel suchen. Aber du mußt dieselbe mit großer
Ruhe betrachten; denn das viele im wenigen und die stille Einfalt wird
dich sonst unerbauet lassen, wie die eilfertige Lesung des ungeschmückten
großen Xenophon.
Gegen das eigene Denken setze ich das Nachmachen, nicht die Nach-
ahmung: unter jenem verstehe ich die knechtische Folge; in dieser aber
kann das Nachgeahmete, wenn es mit Vernunft geführet wird, gleichsam
eine andere Natur annehmen und etwas eigenes werden. Domenichino,
der Mahler der Zärtlichkeit, hat die Köpfe des so genannten Alexanders
zu Florenz und der Niobe zu Rom zu Mustern gewählet: sie sind in
seinen Figuren zu erkennen, (Alexander im Johannes zu St. Andrea Deila
Valle in Rom, und Niobe in dem Gemähide des Tesoro zu St. Gennaro
in Neapel) aber doch sind sie nicht eben dieselben. Auf Steinen und Mün-
zen findet man sehr I viele Bilder aus Poußins Gemählden; Salomon in
seinem Urtheil, ist der Jupiter auf macedonischen Münzen; aber sie sind
bey ihm wie eine versetzte Pflanze, die sich verschieden vom ersten Grunde
zeiget.
Nachmachen ohne zu denken ist, eine Madonna vom Maratta, einen
H. Joseph vom Barocci und andere Figuren anders wo nehmen und ein
Ganzes machen, wie eine große Menge Altarblätter auch in Rom sind:
ein solcher Mahler war der kürzlich verstorbene berühmte Masucci zu
Rom. Nachmachen nenne ich ferner, gleichsam nach einem gewissen For-
mular arbeiten, ohne selbst zu wissen, daß man nicht denket. Von diesem
Schlage ist derjenige, welcher für einen Prinzen die Vermählung der
Psyche, die ihm vorgeschrieben wurde, verfertigte. Er hatte vermuthlich
keine andere gesehen, als die vom Raphael in klein Farnese; die seinige
könnte auch eine Königinn aus Saba seyn. Die mehresten letzten großen
Statuen der Heiligen in St. Peter zu Rom sind von dieser Art: große
Stücke Marmor, welche ungearbeitet jedes joo Scudi kosten. Wer eine
siehet, hat sie alle gesehen.
Das zweyte Augenmerk bey Betrachtung der Werke der Kunst soll
die Schönheit seyn. Der höchste Vorwurf der Kunst für denkende Men-
schen ist der Mensch, oder nur dessen äußere Fläche, und diese ist für den
Künstler so schwer auszuforschen, wie von den Weisen das Innere des-
selben, und das schwerste ist, was es nicht scheinet, die Schönheit, weil sie,
eigentlich zu reden, nicht unter Zahl und Maaß fällt. Eben daher ist das
Verständniß des Verhältnisses des Ganzen, die Wissenschaft von Ge- I
beinen und Muskeln nicht so schwer und allgemeiner, als die Kenntniß
des Schönen; und wenn auch das Schöne durch einen allgemeinen Begriff
152 Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst [6|7]
Die Form der .wahren Schönheit hat die erhobenen Theile nidit stumpf,
und die gewölbeten nicht abgeschnitten: der Augenknochen ist prächtig
erhaben, und das Kinn völlig gewölbet. Die besten Künstler der Alten
haben daher dasjenige Theil, auf I welchem die Augenbranen liegen,
sdiarf geschnitten gehalten, und in dem Verfalle der Künste im Alter-
thum, und in dem Verderbniß neuerer Zeiten ist dieses Theil rundlich,
und stumpf vertrieben, und das Kinn ist insgemein zu kleinlich. Aus den
stumpf gehaltenen Augenknochen kann man unter andern urtheilen, daß
der berühmte fälschlich so genannte Antinous im Belvedere zu Rom nicht
aus der höchsten Zeit der Kunst seyn kann, so wenig wie die Venus.
Dieses ist allgemein gesprochen von dem Wesentlichen der Schönheit des
Gesichts, welches in der Form bestehet: die Züge und Reizungen, welche
dieselbe erhöhen, sind die Grazie, von welcher besonders zu handeln ist.
Aber ich merke, daß ich meinen Vorsatz überschreite, welchen mir die
Kürze der Zeit und meine überhäufte Arbeit setzen: idi will hier kein
System der Schönheit, wenn idi auch könnte, schreiben.
Eine männlidie Figur hat ihre Schönheit wie eine jugendlidie; aber
da alles einfache mannigfaltige in allen Dingen schwerer ist, als das Man-
nigfaltige an sidi; so ist eben deswegen, eine schöne jugendlidie Figur groß
zu zeichnen, (idi verstehe in dem möglichen Grade der Vollkommenheit)
das schwerste. Die Ueberzeugung ist für alle Menschen audi von dem
Kopfe allein. Nehmet das Gesidit der schönsten Figur in neuern Gemähl-
den; so werdet ihr fast allezeit eine Person kennen, die schöner ist: ich
urtheile nadi Rom und Florenz, wo die sdiönsten Gemähide sind.
Ist ein Künstler mit persönlicher Sdiönheit, mit Empfindung des
Sdiönen, mit Geist und Kennt I niß des Alterthums begäbet gewesen, so
war es Raphael; und dennoch sind seine Schönheiten unter dem Schönsten
in der Natur. Idi kenne Personen, die schöner sind, als seine unvergleich-
liche Madonna im Pallast Pitti zu Florenz und als Alcibiades in der
Schule von Athen: die Madonna des Correggio ist keine hohe Idee, noch
die vom Maratta in der Gallerie zu Dreßden, ohne Nachtheil von den
ursprünglidien Schönheiten in der Nacht des erstem zu reden: die berühmte
Venus vom Titian in der Tribuna zu Florenz ist nach der gemeinen Natur
gebildet. Die Köpfe kleiner Figuren vom Albano scheinen schön; aber vom
Kleinen ins Große zu gehen, ist hier fast, als wenn man nach Erlernung
der Sdiiffkunst aus Büchern die Führung eines Schiffes im Ocean unter-
nehmen wollte. Poußin, welcher das Alterthum mehr als seine Vorgänger
untersuchet, hat sich gekannt, und sich niemals ins Große gewaget.
Die Griechen aber scheinen Schönheiten entworfen zu haben, wie ein
154 Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst [9|10 10)11]
Topf gedrehet wird: denn fast alle Münzen ihre* freyen Staaten zeigen
Köpfe, die vollkommener sind von Form, als was wir in der N a t u r ken-
nen, und diese Schönheit bestehet in der Linie, die das Profil bildet. Sollte
es nicht leicht scheinen, den Zug dieser Linie zu finden? Und in allen
Münzbüchern ist von derselben abgewichen. H ä t t e nicht Raphael, der sich
beklagte, zur Galatee keine würdige Schönheit in der N a t u r zu finden,
die Bildung derselben von den besten Syracusischen Münzen nehmen
können, da die schönsten Statuen, außer dem Laocoon, zu seiner Zeit
noch nicht ent I decket waren? Weiter, als diese Münzen, kann der mensch-
liche Begriff nicht gehen, und idi hier audi nicht. Ich muß dem Leser
wünschen, den Kopf des schönen Genii in der Villa Borghese, die Niobe
und ihre Töchter, die Bilder der höchsten Schönheit, zu sehen: außer Rom
müssen ihn die Abgüße oder die geschnittenen Steine lehren. Zween der
schönsten jugendlichen Köpfe sind die Minerva vom Aspasius, itzo zu
Wien, und ein jugendlicher Herkules in dem Stoßischen Museo zu Florenz.
Wer die besten Werke des Alterthums nicht hat kennen lernen, glaube
nicht zu wissen, was wahrhaftig schön ist: unsere Begriffe Werden außer
dieser Kenntniß einzeln und nach unserer Neigung gebildet seyn; von
Schönheiten neuerer Meister kann ich nichts vollkommeners angeben, als
die griechisdie Tänzerinn vom Herrn Mengs, groß wie die Natur, halbe
Figur, in Pastel auf Holz gemahlet, für den Marquis Croimare zu Paris.
Daß die Kenntniß der wahren Schönheit in Beurtheilung der Werke
der Kunst zur Regel dienen kann, bezeugen die mit großem Fleiße nach
alten geschnittenen Steinen gearbeitete neuere Steine. Natter hat sich
gewaget, den angeführten Kopf der Minerva in gleidier Größe und kleiner
zu copiren, und dennoch hat er die Schönheit der Form nicht erreichet:
die Nase ist um ein H a a r zu stark, das Kinn ist zu platt, und der Mund
schlecht; und eben so verhält es sich mit anderen Nachahmungen in die-
ser Art. Gelinget es den Meistern nicht, was ist von Schülern zu hoffen,
und was könnte man sich von selbst entworfenen Schönheiten verspre-
chen? Ich will nicht I die Unmöglichkeit so gar der einfachen Nachahmung
alter Köpfe daraus zu erkennen geben; aber es muß solchen Künstlern
irgendwo fehlen: Natters Buch von geschnittenen Steinen zeiget nicht viel
Einsicht der alten Kunst auch in der einzigen Art, die er allein getrieben,
welches künftig kann dargethan werden.
Die eigene Ueberzeugung von der schwer zu erreichenden Schönheit
der Alten ist daher eine der vornehmsten Ursachen von der Seltenheit
untergeschobener griechischen Münzen in der besten Zeit: eine falsche
neue Münze, die in griechischen freyen Staaten gepräget ausgegeben
[11|12] Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst 155
würde, wäre gegen eine jede ächte zu entdecken. Unter den Kaiserlichen
Münzen ist der Betrug leichter gewesen: die zu alten Münzen geschnit-
tenen Stempel des berühmten Padoano sind im Museo Barberini zu Rom,
und die vom Michel, einem Franzosen, der diese Kunst zu Florenz ge-
trieben, sind in dem Stoßisdien Museo.
Was zum dritten die Ausarbeitung eines Werks der Kunst im engern
Verstände, nach dessen geendigten Entwürfe, betrifft; so ist der Fleiß in
derselben zu loben, aber der Verstand zu schätzen. Die Hand des Mei-
sters erkennet sidi, so wie in der Schreibart an der Deutlichkeit und
kräftigen Fassung der Gedanken, also in der Ausarbeitung des Künstlers
an der Freyheit und Sicherheit der Hand. Auf der Verklärung Christi
vom Raphael siehet man die sichern und freyen Züge des großen Künstlers
in den Figuren Christi, St. Peters und der Apostel zur rechten Hand,
und an der mühsam vertriebenen Arbeit des Giulio Romano an einigen
Figuren zur linken. Bewundere niemals weder am Marmor die glänzende
sanfte I Oberhaut, noch an einem Gemähide die spiegelnde glatte Fläche:
jene ist eine Arbeit, die dem Tagelöhner Schweiß gekostet hat, und diese
dem Mahler nicht viel Nachsinnen. Der Apollo des Bernini ist so glatt,
wie der im Belvedere, und eine Madonna vom Trivisano ist noch viel
fleißiger, als die vom Correggio gemahlet. Wo Stärke der Arme und Fleiß
in der Kunst gilt, hat das Alterthum nichts vor uns voraus; auch der
Porphyr kann eben so gut bearbeitet werden, wie vor alters, welches viel
unwissende Scribenten läugnen, und zuletzt Clarencas in einem Buche,
dessen Uebersetzung den Deutschen keine Ehre madiet.
Die größere Glätte an Figuren tiefgeschnittener alter Steine ist nicht
das Geheimniß, welches Maffei (Veron. illustr. P. III. c. 7. p. 269.) der
Welt zum Besten mittheilend entdecken will, wodurch sich die Arbeit eines
alten Künstlers im Steinschneiden von den Neuern unterscheidet: unsere
Meister in ihrer Kunst haben die Glätte so hoch als die Alten getrieben;
die Glätte der Ausarbeitung ist wie die feine Haut im Gesichte, die alleine
nicht schön machet.
Ich tadle dadurch nicht die Glätte einer Statue, da sie zur Schönheit
viel beyträget, ohnerachtet ich sehe, daß die Alten das Geheimniß er-
reichet haben, eine Statue bloß mit dem Eisen auszuarbeiten, wie am
Laocoon geschehen ist: es ist auch in einem Gemähide die Sauberkeit des
Pinsels ein großer Werth desselben; dieses muß aber von Verschmelzung
der Tinten unterschieden werden: denn eine baumrindenmäßige Fläche
einer Statue würde so unangenehm seyn, als ein bloß mit Borstpinseln
ausgeführtes Bild, so wohl in der Nähe, als in der Ferne. Man muß mit
156 Erinnerung über die Betrachtung der "Werke der Kunst [12|13]
Feuer I entwerfen und mit Phlegma ausführen. Meine Meinung geht auf
solche Arbeiten, deren größtes Verdienst der Fleiß allein ist, wie die aus
der Berninischen Schule in Marmor, und die vom Denner, Seybold, und
ihres gleichen auf Leinwand.
s Mein Leser! Es ist diese Erinnerung nöthig. Denn da die mehresten
Mensdien nur an der Schale der Dinge umhergehen; so ziehet auch das
Liebliche, das Glänzende unser Auge zuerst an, und die bloße Warnung
für Irrungen, wie hier nur geschehen können, machet den ersten Schritt
zur Kenntniß.
10 Ich habe überhaupt in etlichen Jahren meines Aufenthalts in Italien
eine fast täglidie Erfahrung, wie sonderlich junge Reisende von blinden
Führern geleitet werden, und wie nüchtern sie über die Meisterstücke der
Kunst hinflattern. Ich behalte mir vor, einen ausführlichem Unterricht
hierüber zu ertheilen.
[13|14 14|15] 157
Im ruhigen Stande, wo ein Bein das tragende ist, und das andere das
spielende, tritt dieses nur so weit zurück, als nöthig war, die Figur aus der
senkrechten Linie zu setzen, und an Faunen hat man die ungelehrte Natur
auch in der Riditung dieses Fußes beobachtet, welcher, gleichsam un-
merksam auf Zierlichkeit, einwärts stehet. Den neuern Künstlern schien
ein ruhiger Stand unbedeutend und ohne Geist, sie rücken daher den
spielenden Fuß weiter hinaus, und um eine idealische Stellung zu machen,
setzen sie ein Theil der Schwere des Körpers von dem tragenden Beine
weg, und drehen den Oberleib von neuem aus seiner Ruhe, und den Kopf
wie an Personen, die nach einem unerwarteten Blitze sehen. Diejenigen,
welchen dieses, aus Mangel der Gelegenheit das Alte zu sehen, nicht
deutlich ist, mögen sich einen Ritter einer Comödie, oder auch einen jun-
gen Franzosen in seiner eigenen Brühe vorstellen. Wo der Raum diesen
Stand der Beine nicht erlaubete, um nicht das Bein, welches nicht träget,
müßig zu lassen, setzet man es auf etwas erhabenes, als ein Bild eines
[16|17 17|18] Von der Grazie in Werken der Kunst 159
Menschen, welcher, um mit jemand zu reden, das eine Bein allezeit auf
einen Stuhl setzen wollte, oder um fest zu stehen, sich einen Stein unter-
legete. Die Alten waren dergestalt auf den höchsten Wohlstand bedacht,
daß nicht leicht Figuren mit einem Beine über das andere geschlagen stehen,
es sey denn ein I Bacchus in Marmor, Paris oder Nireus auf geschnittenen
Steinen, zum Zeichen der Weichlichkeit.
In den Gebährden der alten Figuren bricht die Freude nicht in Lachen
aus, sondern sie zeiget nur die Heiterkeit vom inneren Vergnügen: auf
dem Gesichte einer Bacchante blicket gleichsam nur die Morgenröthe von
der Wollust auf. In Betrübniß und Unmuth sind sie ein Bild des Meers,
dessen Tiefe stille ist, wenn die Fläche anfängt unruhig zu werden; auch
im empfindlichsten Schmerzen erscheinet Niobe noch als die Heldinn,
welche der Latona nicht weichen wollte. Denn die Seele kann in einen
Zustand gesetzet werden, wo sie von der Größe des Leidens, welches sie
nicht fassen kann, übertäubet, der Unempfindlichkeit nahe kömmt. Die
alten Künstler haben hier, wie ihre Dichter, ihre Personen gleichsam
außer der Handlung, die Schrecken oder Wehklagen erwecken müste,
gezeiget, auch um die Würdigkeit der Menschen in Fassung der Seele
vorzustellen.
Die Neuern, welche theils das Alterthum nidit kennen lernen, oder
nicht zur Betrachtung der Grazie in der Natur gelanget sind, haben nicht
allein die Natur gebildet, wie sie empfindet, sondern auch, was sie nicht
empfindet. Die Zärtlichkeit einer sitzenden Venus in Marmor zu Potsdam,
vom Pigalle aus Paris, ist in einer Empfindung, in welcher ihr das Wasser
aus dem Munde, welcher nach Luft zu schnappen scheinet, laufen will:
denn sie soll vor Begierde schmachtend aussehen. Sollte man glauben,
daß ein solcher Mensch in Rom einige Jahre unterhalten gewesen, das
Alterthum nachzuahmen! Eine I Caritas vom Bernini an einem der
Päbstlichen Grabmale in St. Peter zu Rom soll liebreich und mit mütter-
lichen Augen auf ihre Kinder sehen: es sind aber viel widersprechende
Dinge in ihrem Gesichte; das Liebreiche ist ein gezwungenes satyrisches
Lachen, damit ihr der Künstler seine ihm gewöhnliche Grazie, die Grüb-
chen in den Wangen geben konnte. In Vorstellung der Betrübniß gehet es
bis auf das Haar ausreissen, wie man auf vielen berühmten Gemählden,
welche gestochen sind, sehen kann.
Die Bewegung der Hände, welche die Gebährden begleiten, und deren
Haltung überhaupt ist an alten Statuen wie an Personen, die von niemand
glauben beobachtet zu werden; und ob sich gleich wenig Hände an den-
selben erhalten haben, so siehet man doch an Richtung des Arms, daß die
160 Von der Grazie in Werken der Kunst [18|19 19]20]
Bewegung der Hand natürlich gewesen ist. Diejenigen, welche die man-
gelnden oder zerstümmelten Hände ergänzet, haben ihnen vielmals, so
wie an ihren eigenen Werken, eine Haltung gegeben, die eine Person vor
dem Spiegel machen würde, welche ihre vermeinte schöne Hand denen,
die sie bey ihrem Putze unterhalten, so lange und so oft sie kann, im
völligen Lichte wollte sehen lassen. Im Ausdrucke sind die Hände ins-
gemein gezwungen, wie eines jungen Anfängers auf der Canzel. Fasset
eine Figur ihr Gewand, so hält sie es wie Spinnewebe. Eine Nemesis,
welche auf alten geschnittenen Steinen gewöhnlich ihr Peplum von dem
Busen sanft in die Höhe hält, würde es in neuern Bildern nicht anders
thun können, als mit zierlich ausgestreckten drey letzten Fingern. I
Die Grazie in dem Zufälligen alter Figuren, dem Schmucke und der
Kleidung lieget, wie an der Figur selbst, in dem, was der Natur am
nächsten kömmt. An den allerältesten Werken ist der Wurf der Falten
unter dem Gürtel fast senkrecht, wie sie an einem dünnen Gewände natür-
lich fallen wird. Mit dem Wachsthum der Kunst wurde die Mannigfaltig-
keit gesuchet; aber das Gewand stellete allezeit ein leichtes Gewebe vor,
und die Falten wurden nicht gehäufet, oder hier und da zerstreuet, son-
dern sind in ganze Maßen vereiniget. Dieses blieben die zwo vornehm-
sten Beobachtungen im Alterthume, wie wir noch an der schönen Flora
(nicht der Farnesischen) im Campidoglio, von Hadrians Zeiten, sehen.
An Bacchanten und tanzenden Figuren wurde das Gewand zerstreueter
und fliegender gearbeitet, auch an Statuen, wie eine im Pallaste Riccardi
zu Florenz beweiset: aber der Wohlstand blieb beobachtet, und die Fähig-
keit der Materie wurde nicht übertrieben. Götter und Helden sind wie
an heiligen Orten stehend, wo die Stille wohnet, und nicht als ein Spiel
der Winde, oder im Fahnenschwenken vorgestellet; fliegende oder lüftige
Gewänder suche man sonderlich auf geschnittenen Steinen, an einer Ata-
lanta, wo die Person und die Materie es erforderte und erlaubete.
Die Grazie erstrecket sich auf die Kleidung, weil sie mit ihren Ge-
schwistern vor alters bekleidet war, und die Grazie in der Kleidung bildet
sich wie von selbst in unserm Begriffe, wenn wir uns vorstellen, wie wir
die Grazien gekleidet sehen möchten: man I würde sie nicht in Gala-
kleidern, sondern wie eine Schönheit, die man liebete, im leichten Ueber-
wurf kürzlich aus dem Bette erhoben, zu sehen wünschen.
In neuern Werken der Kunst scheinet man nach Raphaels und dessen
bester Schüler Zeiten, nicht gedacht zu haben, daß die Grazie auch an der
Kleidung Theil nehmen könne, weil man statt der leichten Gewänder
die schweren gewählet, die gleichsam wie Verhüllungen der Unfähigkeit,
f20|21 21|22] Von der Grazie in Werken der Kunst 161
das Schöne zu bilden, anzusehen sind: denn die Falten von großem Inhalt
überheben den Künstler der von den Alten gesuchten Andeutung der
Form des Körpers unter dem Gewände, und eine Figur scheinet öfters
nur zum Tragen gemachet zu seyn. Bernini und Peter von Cortona sind
} in großen und schweren Gewändern die Muster ihrer Nachfolger ge-
worden. Wir kleiden uns in leichte Zeuge; aber unsere Bilder genießen
diesen Vortheil nicht.
Wenn man geschichtmäßig von der Grazie nach Wiederherstellung der
Kunst reden sollte; so würde es mehr auf das Gegentheil gehn. In der
10 Bildhauerey hat die Nachahmung eines einzigen großen Mannes, des
Michael Angelo, die Künstler von dem Alterthume und von der Kenntniß
der Grazie entfernet. Sein hoher Verstand und seine große Wissenschaft
wollte sidi in Nachahmung der Alten nicht allein einschränken, und seine
Einbildung war zu feurig zu zärtlichen Empfindungen, und zur lieblichen
is Grazie. Seine gedruckten und noch ungedruckten Gedichte sind voll von
Betrachtungen der hohen Schön I heit; aber er hat sie nicht gebildet, so
wenig wie die Grazie seine Werke. Denn da er nur das ausserordentliche
und das schwere in der Kunst suchete; so setzete er diesem das gefällige
nach, weil dieses mehr in Empfindung, als in Wissenschaft bestehet, und
30 um diese allenthalben zu zeigen, wurde er übertrieben. Seine liegende
Statuen auf den Grabmalen in der Großherzoglidien Capelle zu St. Lo-
renzo in Florenz haben eine so ungewöhnliche Lage, daß das Leben sich
Gewalt anthun müste, sich also liegend zu erhalten, und eben durch diese
gekünstelte Lage ist er aus dem Wohlstande der Natur und des Orts, für
2S welchen er arbeitete, gegangen. Seine Schüler folgten ihm, und da sie ihn
in der Wissenschaft nicht erreidieten, und ihren Werken audi dieser Werth
fehlete, so wird der Mangel der Grazie, da der Verstand nicht beschäftiget
ist, hier noch merklicher und anstößiger. Wie wenig Guil. della Porta, der
beste aus dieser Schule, die Grazie und das Alterthum begriffen hat, siehet
30 man unter andern an dem farnesischen Odisen, an welchem die Dirce bis
auf den Gürtel von seiner Hand ist. Johann Bologne, Algardi und Fiam-
mingo sind große Künstler, aber unter den Alten, audi in dem Theile der
Kunst, wovon wir reden.
Endlich erschien Lorenzo Bernini in der Welt, ein Mann von großem
35 Talent und Geiste, aber dem die Grazie nicht einmal im Traume erschienen
ist. Er wollte alle Theile der Kunst umfassen, war Mahler, Baumeister
und Bildhauer, und sudite als dieser, vornehmlich ein Original zu werden.
Im I achtzehenden Jahre machte er den Apollo und die Daphne, ein
wunderbares Werk für ein solches Alter, und welches versprach, daß durch
11 Windtelmana, Kleine Schriften
162 Von der Grazie in Werken der Kunst [22|23]
ihn die Bildhauerey auf ihren höchsten Gipfel kommen würde. E r machte
hierauf seinen David, welcher jenem Werke nicht beykömmt. Der all-
gemeine Beyfall machte ihn stolz, und es scheinet, sein Vorsatz sey ge-
wesen, d a er die alten Werke weder erreichen noch verdunkeln konnte,
einen neuen Weg zu nehmen, den ihm der verderbte Geschmack selbiger
Zeit erleichterte, auf welchem er die erste Stelle unter den Künstlern
neuerer Zeit erhalten könnte, und es ist ihm gelungen. Von der Zeit an
entfernete sich die Grazie gänzlich von ihm, weil sie sich mit seinem
Vorhaben nicht reimen konnte. Denn er ergriff das entgegengesetzte Ende
vom Alterthum: seine Bilder suchte er in der gemeinen Natur, und sein
Ideal ist von Geschöpfen unter einem ihm unbekannten Himmel genom-
men; denn in dem schönsten Theile von Italien ist die N a t u r anders, als
an seinen Bildern gestaltet. Er wurde als der Gott der Kunst verehret
und nachgeahmet; und da nur die Heiligkeit, nicht die Weisheit Statuen
erhält, so ist eine Berninische Figur beßer für die Kirche als der Laocoon.
Von R o m kannst du, mein Leser, sicher auf andere Länder schließen, und
ich werde künftig Nachrichten dazu ertheilen. Ein gepriesener Puget,
Girardon und wie die Meister in ONG heissen, sind nicht besser. Was der
beste Zeichner in Frankreich kann, zeiget eine Minerva in einem Kupfer-
leisten zu Anfang der geschnittenen Steine vom Mariette. I
Die Grazien stunden in Athen beym Aufgang nach dem heiligsten
Orte zu: unsere Künstler sollten sie über ihre Werkstatt setzen und am
Ringe tragen, zur unaufhörlichen Erinnerung, und ihnen opfern, um
sich diese Göttinnen hold zu machen.
Ich habe mich in dieser kurzen Betrachtung vornehmlich auf die Bild-
hauerey eingeschränket, weil man sie über Gemähide auch außer Italien
machen kann, und der Leser wird das Vergnügen haben, selbst mehr
zu entdecken, als ich gesaget habe: ich streue nur einzelne Körner aus zu
einer größeren Aussaat, wenn sich Muße und Umstände dazu finden
werden.
Florenz. W.
[23124 24|25] 163
Meine viele Geschaffte erlauben nidhit, von einem Theile des Stoßischen
Musei, nehmlich von den alten geschnittenen Steinen, eine so umständliche
Nachricht, als ich wünschte und dieser Schatz es verdienete, zu geben: ich
verweise Sie auf das Verzeichniß desselben in französischer Sprache, dessen
erster Entwurf in weniger Zeit wird geendiget seyn. Ich gieng von Rom
nach Florenz, und übernahm diese I Arbeit, theils zu Erweiterung meiner
Kenntnisse, theils zu einem Denkmal des weiland berühmten Besitzers
audi das meinige beyzutragen. Der Herr von Stosdi wurde mein Freund,
so bald ich nach Rom kam, und er blieb es bis an sein Ende, ungeachtet
ich ihn von Angesicht nicht gekannt habe: er war es, der mir zu der Gnade,
und wenn ich es ohne Eitelkeit sagen kann, zu der Freundschaft Sr. Emi-
nenz des Hrn. Cardinais Alessandro Albani den ersten Zutritt öffnete.
Die Sammlung der geschnittenen Steine, der alten Pasten und einiger
neuern, von seltenen Steinen genommen, erstrecket sich über zwey tausend
fünf hundert: die Camei oder erhaben geschnittene Steine in eben diesem
Museo sind nicht hierunter begriffen; sie machen eine besondere Samm-
lung. Das Stoßische Museum ist also von denen, welche bekannt und sicht-
bar sind, das stärkste in der Welt. Des Königs in Frankreich Cabinet
kommt hier nicht einmal in Vergleichung. Die berufene Sammlung im
Pallast Barberini zu Rom ist ein Schatz, von welchem ich nur habe reden
hören: und weder ich, noch sonst jemand, ja der Besitzer selbst wird keine
Nachricht davon geben können. Der Herr Cardinal Albani hat in seiner
Jugend etwas davon gesehen, und niemals hernach wiederum dazu ge-
langen können: denn die geschnittenen Steine liegen uneingefasset in
Säcken; unterdessen wissen Se. Eminenz, daß an achzig Steine unter den-
selben sind mit dem Namen des Künstlers. I
Von dem Stoßischen Museo war eine gründliche Beschreibung zu wün-
schen, aber ohne von meiner geringen Fähigkeit zu reden, von mir nicht
164 Nachrichten von dem Stoßisdien Museo [25|26]
Wie sollte ein Mahler eine Furie machen? Er würde ihr eine Fackel
geben. Aber wie mahleten sie die Griechen? Außer der Beschreibung des
Aeschylus, saget** Banier, haben wir kein Bild von ihnen übrig. Wir
haben sie auf einem Carniol im Laufe mit fliegendem Rocke und Haaren,
und einem Dolche in der Hand.
Wie stiegen die Reuter der Alten zu Pferde? Wie wir, wird man
sagen, und auf ihren Landstrassen waren erhöhete Steine. Diese aber
waren nidit hoch genug dazu, welches man unter andern von Terracina
an bis Capua sehen kann; und wie hätten sie es im freyen Felde oder in
der Schlacht gemacht? An ihren Spießen war eine Krampe, die ihnen
zum Aufsteigen dienete: und es geschähe nidit wie bey uns, von der linken,
sondern von der rechten Seite. Dieses sehen wir auf zween verschiedenen
Steinen unsers Musei. Wissen wir nicht viel, wenn wir das wissen? I
Es ist eine andere Kleinigkeit, zu wissen, wie das Theil an den Wagen
der Alten aussahe, über welches sie ihre Zügel hängeten: allein man ver-
stehet ohne dieselbe einige Stellen des Homerus nicht, wie diese ist:
— δοιαί δέ περίδρομοι αντυγές είσι. iL. έ 7 2 8 .
Sam. Clarke hat es geglaubet nach dem Sinne der alten Erklärer zu über-
setzen :
— duoque s e m i c i r c u l i , unde habenae suspenduntur, erant.
Die Stücke waren nicht Zirkelrund; sie hatten die Gestalt einer stählernen
Feder " > , nach Anzeige einer großen alten Paste, die einen von dem
Siege gekrönten Held auf dem Wagen, vom Mars begleitet, vorstellet.
Auf etlichen Münzen siehet man eben dieses gebogene Wesen: man weiß
also künftig, was es ist und bedeutet.
Bey einem Priapus, welcher das, was die atheniensischen Neuvermähl-
ten küßeten, und worauf sie ritten, nebst dessen Zubehör am Halse hängen
hat, fiel mir ein, was Periplectomenes beym Plautus jemanden thun
wollte, wenn er ihn bey seiner Frau treffen würde: er will es ihm ab-
schneiden, saget er, und als ein Spielwerk an den Hals hängen.
Es sind die Herren Critici zu erinnern, über die Form des ältesten
griechischen Sigma, in einer Stelle beym Athenäus (L. X . p. 4J4.) wo ein
Schäfer, der nidit schreiben konnte, jemanden die Buchstaben des Namens
vom Theseus andeuten will, und dieses aus einigen Steinen, wo Herku-
les nach den stymphalischen Vögeln schießt: denn sei I nen Bogen hatte er
von einem scythisdien Schäfer bekommen. Aber diese und ähnliche Unter-
suchungen in der Beschreibung des Musei sind nicht kurz zu fassen.
Ich habe angezeiget, was der Vogel bedeutet auf einem Steine des
mediceisdien Musei, (Mus. Flor. Τ. II. tab. 39. η. 4.) auf welchem The-
seus ist. Es ist die in den Vogel "Ιυγξ verwandelte Tochter des Pan und
der Pitho. (TZETZ. in Lycophr. V. 310.) Dieser Vogel diente in Liebes-
tränken, und Venus hatte ihn zu demjenigen gebraucht, welchen sie dem
Jason gab, die Medea zu gewinnen, (FIND. Pythion. Od. 4.)
Diese kurze Anzeige kann Ihnen einigen Begriff von dieser Arbeit
machen. Ich gebe sie Ihnen aber nicht umsonst, sondern mit der Bedingung,
daß Sie dieselbe unserm gemeinschaftlichen Freunde, Hrn. Bianconi, vor-
lesen und verdollmetschen. Sie sehen wohl, daß idi geschrieben habe, was
mir am ersten eingefallen ist: wenn mir die sehr seltene Lust wieder kom-
men wird, einen langen deutschen Brief zu schreiben, verspreche idi Ihnen
nodi eine Hand voll von dergleichen Kleinigkeiten. Ich erwarte einige von
meinen Papieren aus Rom, und unter denselben vielleicht eine Beschrei-
bung des TORSO im Belvedere, aber bloß nach dessen Ideal, die idi vor
ein paar Jahren gemacht habe. Diese werde idi Ihnen mittheilen. Sie
werden Sich entsinnen, daß ich eine Beschreibung der schönsten Statuen
nadi ihrem Ideal, und nach der Kunst angefangen hatte: in drey Mona-
ten that ich zu derselben Zeit nichts, als I denken. Ich habe aber dieses
Unternehmen liegen lassen.
Erinnern Sie Sich, ob Sie den 13 Jänner an mich gedadit haben:
idi habe Ihre und Bianconi Gesundheit aus vollen Gläsern, nach deutscher
Art, in der edelsten Verdea von Arcetri, und in dem besten Syracuser
getrunken, und unsere Tischgesellschaft that desgleichen. Gott befohlen.
Winkelmann.
[33|34] 169
+ + +
170 Beschreibung des Torso im Belvedere [34|35 35|36]
Ich führe dich itzo zu dem so viel gerühmten, und niemals genug
gepriesenen Trunk eines Herkules; I zu einem Werke, welches das schönste
in seiner Art, und unter die hödiste Hervorbringung der Kunst zu zählen
ist, von denen, welche bis auf unsere Zeiten gekommen sind. Wie werde
ich dir denselben beschreiben, da er der zierlichsten und der bedeutende-
sten Theile der Natur beraubet ist! So wie von einer mächtigen Eiche,
welche umgehauen und von Zweigen und Aesten entblößet worden, nur
der Stamm allein übrig geblieben ist, so gemißhandelt und verstümmelt
sitzet das Bild des Helden; Kopf, Brust, Arme und Beine fehlen.
Der erste Anblick wird dir vielleicht nichts, als einen ungeformten
Stein sehen lassen: vermagst du aber in die Geheimniße der Kunst einzu-
dringen, so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du dieses
Werk mit einem ruhigen Auge betrachtest. Alsdenn wird dir Herkules
wie mitten in allen seinen Unternehmungen erscheinen, und der Held und
der Gott werden in diesem Stücke zugleich sichtbar werden.
Da, wo die Dichter auf gehöret haben, hat der Künstler angefangen:
Jene schweigen, so bald der Held unter die Götter aufgenommen, und
mit der Göttinn der ewigen Jugend ist vermählet worden; dieser aber
zeiget uns denselben in einer vergötterten Gestalt, und mit einem gleich-
sam unsterblichen Leibe, welcher dennoch Stärke und Leichtigkeit zu den
grossen Unternehmungen, die er vollbracht, behalten hat.
Ich sehe in den mächtigen Umrissen dieses Leibes die unüberwundene
Kraft des Besiegers der gewalti I gen Riesen, die sich wider die Götter
empöreten, und in den phlegräischen Feldern von ihm erleget wurden:
und zu gleicher Zeit stellen mir die sanften Züge dieser Umrisse, die das
Gebäude des Leibes leicht und gelenksam machen, die geschwinden Wen-
dungen desselben in dem Kampfe mit dem Achelous vor, der mit allen
vielförmigen Verwandlungen seinen Händen nicht entgehen konnte.
In jedem Theile dieses Körpers offenbaret sich, wie in einem Ge-
mählde, der ganze Held in einer besondern That, und man siehet, so wie
die richtigen Absichten in dem vernünftigen Baue eines Pallastes, hier
den Gebrauch, zu welcher That ein jedes Theil gedienet hat.
Ich kann das wenige, was von der Schulter noch zu sehen ist, nicht
betrachten, ohne mich zu erinnern, daß auf ihrer ausgebreiteten Stärke,
wie auf zwey Gebirgen, die ganze Last der himmlischen Kreise geruhet.
Mit was für einer Großheit wächst die Brust an, und wie prächtig ist die
anhebende Rundung ihres Gewölbes! Eine solche Brust muß diejenige
gewesen seyn, auf welcher der Riese Antäus und der dreyleibichte Geryon
erdrücket worden. Keine Brust eines drey- und viermal gekrönten olym-
[36|37 37|38] Beschreibung des Torso im Belvedere 171
So vollkommen hat weder der geliebte Hyllus nodi die zärtliche Iole
den Herkules gesehen; so lag er in den Armen der Hebe, der ewigen
Jugend, und zog in sich einen unaufhörlichen Einfluß derselben. Von kei-
ner sterblichen Speise und groben Theilen ist sein Leib ernähret: ihn
erhält die Speise der Götter, und er scheinet nur zu genießen, nicht zu
nehmen, und völlig, ohne angefüllet zu seyn.
Ο möchte ich dieses Bild in der Größe und Schönheit sehen, in welcher
es sich dem Verstände des Künstlers geoffenbaret hat, um nur allein von
dem Ueberreste sagen zu können, was er gedacht hat, und wie ich denken
würdig zu beschreiben. Voller Betrübniß aber bleibe ich stehen, und so
wie Psyche anfieng die Liebe zu beweinen, nachdem sie dieselbe kennen
sollte! Mein großes Glück nach dem seinigen würde seyn, dieses Werk
gelernet; so bejammere ich den unersetzlichen Schaden dieses Herkules,
nachdem ich zur Einsicht der Schönheit desselben gelanget bin.
Die Kunst weinet zugleich mit mir: denn das Werk, welches sie den
größten Erfindungen des Witzes und Nachdenkens entgegen setzen, und
durch welches sie noch itzo ihr Haupt wie in ihren goldenen Zeiten zu
der größten Höhe menschlicher Achtung erheben könnte; dieses Werk,
welches vielleicht das letz I te ist, an welches sie ihre äußerste Kräfte ge-
wandt hat, muß sie halb vernichtet und grausam gemißhandelt sehen.
Wem wird hier nicht der Verlust so viel hundert anderer Meisterstücke
derselben zu Gemüthe geführet! Aber die Kunst, welche uns weiter unter-
richten will, rufet uns von diesen traurigen Ueberlegungen zurück, und
zeiget uns, wie viel noch aus dem Uebriggebliebenen zu lernen ist, und
mit was für einem Auge es der Künstler ansehen müsse.
+ + +
den ältesten Zeiten zu geben, sonderlich da Vitruvius, und die nach ihm
gekommen sind, von der ältesten Art derselben nichts lehren. Wer bisher
eine in der Kunst gegründete Geschichte der GRIECHISCHEN Baukunst
hätte schreiben wollen, würde mit dem Vitruvius von der Nothwendig-
keit, welche gelehret Hütten und Häuser zu bauen, mit einmal einen
Sprung bis auf die I Zeiten der zierlichsten Baukunst haben thun müssen:
zu Füllung dieser Lücke werde ich suchen einige Materialien beyzubringen;
ich muß mich aber auf solche einschränken, die ohne Kupfer anzudeuten
und zu verstehen seyn. Es haben meine Umstände noch nicht erlaubet,
die Alterthümer zu Girgenti selbst zu sehen, und ich gründe meine An-
merkungen auf einige mir mitgetheilete Nachrichten eines Schottländi-
schen Liebhabers der Baukunst, Herrn Roberts Mylne, welcher die Ueber-
bleibsel der alten Gebäude in Sicilien mit Fleiß untersuchet hat, und vor
kurzer Zeit in sein Vaterland zurück gekehret ist.
Einige Maaße, welche ich angeben werde, sind nach dem englischen
Fuß genommen, welchen man leicht mit andern Maaßen überschlagen
kann. Der englische Fuß ist kleiner als der alte griechische, aber der Unter-
scheid ist sehr geringe: der englische Fuß welcher zwölf Zolle hat, ist
um 875Ao ooo, oder, um das zehentausendeste adithunderteste und fünf und
siebenzigste Theil eines Zolles kleiner als der griechische Fuß. Der pariser
Fuß ist größer als der englische, und jener enthält mehr als dieser um
8le %0 ooo, oder um den achttausendesten hundert und sechzigsten, zehen-
tausendesten Theil eines seiner Zolle. Wenn man den pariser Fuß in zehen
tausend Theile eintheilet, so hat der griechische Fuß 9431 seiner Theile.
Diese genaue Bestimmung hat mir Herr Henry Esq. ein durch große
Reisen bekannter Irländer, aus dem von ihm verbesserten Verhältniß der
Maaße in den Tafeln des Arbuthnots mitgetheilet. Dieser Herr lebet seit
einigen Jahren zu Florenz. I
Der so genannte Tempel der Concordia zu Girgenti ist ohne Zweifel
eins der ältesten griechischen Gebäude in der Welt, und hat sich von außen
unbeschädigt erhalten. Der Erklärer der Sicilianischen Alterthümer giebet
von demselben den Grundriß und die Aufrisse; in die Beschreibung der-
selben aber läßt er sich nicht ein: denn diese hat sich derjenige, dessen
er sich zum Zeichnen bedienet, vorbehalten. Dieser aber, welcher niemals
die Baukunst getrieben, wird Mühe haben etwas an das Licht zu geben.
Dieser Tempel ist von dorischer Bauart, und Hexastylos Peripteros,
das ist, der um und um auf einer Reihe freystehender Säulen ruhet, und
deren sechs und eben so viele hinten hat, welche den Pronaos und Opisto-
176 Baukunst der Tempel zu Girgenti [226|227 227|228]
domos, oder zwo freye Hallen beym Eingange und Hinten machen. Auf
beyden Seiten sind eilf Säulen, oder dreyzehen, wenn die Edtsäulen
zweymal gezählet werden. Es ist dieser Tempel zween von den Tem-
peln zu Pesto am salernitanisdien Meerbusen vollkommen von außen
ähnlich, und diese und jener scheinen von gleichem Alterthume. Von dem
Tempel zu Girgenti war Nachricht, aber von denen zu Pesto hat man
allererst angefangen vor zehen Jahren zu reden, ohngeachtet dieselbe
niemals versdiüttet, sondern beständig in einer großen und ganz un-
bewohnten Fläche am Gestade des Meeres sichtbar gewesen sind. Der
Mangel der Nachricht von diesen Gebäuden hat daher verursachet, daß
man außer Griechenland keine andere dorische Werke gekannt hat, als
die untersten Säulen am Theater des Mar | cellus, am Amphitheater des
Vespasianus zu Rom, und an einem Bogen zu Verona*.
Die Säulen an dem Tempel zu Girgenti haben mit dem Capital in der
Höhe nidit völlig fünf Durchmesser des untersten Endes der Säule, so wie
die zu Pesto. Vitruvius setzet die Höhe der dorischen Säulen auf sieben
Durdimesser, oder auf vierzehen Moduli; weldies gleichgültig ist: denn
ein Modulus ist ein halber Durchmesser der Säule. Da aber dieser Scri-
bent die Verhältnisse in der Baukunst, so wie am Menschen, auf Geheim-
nisse in gewissen Zahlen, und zum Theil auf die Harmonie bauen will;
so konnte er von sieben Durchmessern keinen andern Grund als seine
heilige Sieben geben, welches geträumet heißet, so wie diejenigen unter
den Neuern thun, die mit der Septima in der Musik erscheinen. Von
sechs Durchmessern einer Säule wäre ein scheinbarer Grund anzugeben
aus dem Verhältnisse des Fußes, welcher bey den allerältesten Bild-
hauern als der sediste Theil der Höhe einer Figur angenommen wurde.
Von der Höhe der Säulen, von welchen wir hier reden, ist die Ursache
in dem Plan des Tempels, nicht in den Säulen selbst zu suchen; da ihr
Verhältniß nidit durch ganze Durchmesser kann bestimmet werden: denn
was über vier Durchmesser ist, fället in Fuße und Zolle. Ich finde, daß
die Höhe der Säulen der Breite des Tempels gleich ist, I welche allezeit
die Hälfte der Länge entweder des ganzen Tempels, oder auch der Celle
allein, an dorisdien Tempeln war. Also war hier kein gelehrtes Verhält-
niß von etwas außer dem Gebäude genommen anzubringen, sondern es
lag in dem Gebäude selbst.
Wenn eine Stelle des Plinius* zu verstehen ist, wie sie gelesen wird,
w o er saget, daß in den ältesten Zeiten die Höhe der Säulen das Drittheil
von der Breite des Tempels gewesen; so würden die Säulen noch kürzer als
jene gewesen seyn. Denn wenn wir die Länge eines Tempels zu 50 Fuß
s setzen, und also die Breite 25, so würden ungefähr 8 Fuß auf die Säulen
kommen. Nehmen w i r 2 Fuß zum Durchmesser der Säulen, so würden
sie nur 4 Durchmesser haben.
Diese Säulen haben eine kegelförmige Verjüngung, welche ihren
Grund weniger in dem Maaße derselben, als in ihrem Endzwecke hat.
10 Denn eine cylindrirte Form mit gleichen Durchmessern unten und oben
hätte die Steine, aus welchen eine Säule bestehet, in G e f a h r gesetzet, Risse
zu bekommen und zu zersprengen, da die Last des Gebälks vornehmlidi
auf die A x e des Cylinders würde gefallen seyn; die kegelförmige Ver-
jüngung aber vereinigte die lasttragenden Puncte mehr in eins. Die Säulen
n sind nach dorischer A r t gereift, das ist, z w o Aushohlungen schließen sidi
durch einen scharfen Eck , da an ionischen und corinthischen
gereiften Säulen die Ecken platt sind l^^/V^/1" ·I
Das Gebälk dieses Tempels bestehet, wie an andern, aus drey Glie-
dern; der Architrave unmittelbar über den Säulen, der Frise und der
20 Cornische. Vitruvius will, daß die Höhe der Glieder des Gebälks nadbi
der Länge oder Kürze der Säulen eingerichtet seyn soll; und der Archi-
trave geben einige neuere Baumeister nicht viel über die H ä l f t e der
Frise: das hohe Alterthum aber wußte weder von der ersten nodi von
der zwoten Regel. Denn an dem Tempel zu Girgenti so wohl als an
2s denen zu Pesto ist das Gebälk groß und prächtig, und stärker, als es die
Höhe der Säulen erforderte, und dem Auge nach scheinet die Architrave
und die Frise gleiche Höhe zu haben, und daß es vermuthlich sey, wie
es scheinet, wird man unten aus dem Maaß des Gebälks von dem Tempel
des olympischen Jupiters schließen können; die Cornische hat etwa drey
30 Theile von der Höhe der Frise.
Das Verhältniß der Triglyphen und der Metopen, oder des vier-
eckichten Raums zwischen denselben, findet sich wie an andern bekann-
ten dorischen Ordnungen; weil sich aber in R o m kein ganzes dorisches
Gebäude erhalten hat, so sieht man nur an jenen Tempeln die Ausnahme
3! der Alten von der Symmetrie in Absicht der Triglyphen über den Säulen
an den Ecken, welche nicht auf das Mittel dieser Säulen fallen, sondern
gegen den Eck der Frise gerücket sind, um den Eck nicht bloß zu lassen.
Die Triglyphen an diesen Tempeln sind nicht auf der Frise selbst gear-
beitet, sondern in dieselbe eingefuget, und an dem einen Tempel zu Pesto
fehlen sie alle bis auf I einen, welche vermuthlich in barbarischen Zeiten
weggenommen sind.
Da die Triglyphen über den vier Ecksäulen gegen die Sdiärfe der Frise
geriicket sind, so würde die Metope von ihnen etwas größer seyn als die
andern; sie ist es aber dem Auge nach nidit, weil die nädisten Säulen an
dem Eds enger stehen, als die in der Mitten, so daß die Intercolumnia der
drey Säulen von jedem Eck an kleiner sind, als die folgenden, jedoch mit
diesem Unterschiede, daß der erste Raum kleiner ist als der zweyte, und
dieser kleiner als der dritte; welche Verschiedenheit aber nicht durch das
Auge, sondern durch Messen gefunden wird. Die näher an einander ste-
henden Ecksäulen hatten, wie sidx schließen lässet, die Festigkeit des Ge-
bäudes zum Grunde.
Die fünf großen und oben rundlichen Oeffnungen statt der Fenster
an der Seiten des Tempels zu Girgenti sind, wie man offenbar siehet, in
spätem Zeiten durchgebrochen, und vermuthlich von den Saracenen,
welche diesen Tempel gebrauchet haben, wie sich Nachricht findet: denn
die viereckichten Tempel der Alten hatten insgemein kein anderes Licht,
als welches durch die Thüre kam.
Die Einfassung der Thüren an dem Tempel zu Girgenti ist wie an
denen zu Pesto weggenommen; aber sie wird vermuthlich oben enger
als unten gewesen seyn, wie Vitruvius die dorischen Thüren vorschreibet:
an einem andern kleinen Tempel zu Girgenti, von den Einwohnern die
Capelle des Phalaris genannt, ist die Thüre also gemacht. Der I Zeichner
des P. Pancrazi hat dieselbe, ich weiß nicht aus was für einem Grunde,
mit einem Baume bedecket, so daß man auf dem Kupfer (Tom. II. tab.
14.) die Form derselben nidit siehet. Diese Thüre ist von den Mönchen
zugemauret, und an der Seite gegen über, wo keine Thüre war, ist eine
durchgebrochen. Warum? Weil der Altar nadi einer gewissen Gegend der
Welt stehen muß.
Diese Art von Thüren war nicht, wie es aus dem Vitruvius scheinen
konnte, der dorischen Bauart allein eigen, sondern das ganze hohe Alter-
thum scheinet sie vielmals also gemachet zu haben: von den Egyptern
ist es gewiß; wie an den Thüren auf der isisdien Tafel und auf einigen
egyptisdien geschnittenen Steinen zu sehen ist. Der Grund davon war
die Festigkeit: denn die Last und der Druck des Gebäudes fällt nidit
[231|232 2321233] Baukunst der Tempel zu Girgenti 179
allein oben auf die Thüre, sondern drucket auch von beyden Seiten auf
die schrägliegenden Pfosten.
Die Verzierungen an dem Tempel zu Girgenti und an denen zu
Pesto sind, wie überhaupt in den ältesten Zeiten, groß und einfältig.
Die Alten sucheten das Große, worinn die wahre Pracht bestehet: daher
springen die Glieder an diesen Tempeln mächtig hervor, und viel stärker,
als zu Vitruvius Zeiten, oder wie er selbst lehret. Die den Alten ganz
entgegen gesetzte A r t siehet man an denjenigen Gebäuden zu Florenz
und Neapel, welche nicht lange vor Wiederherstellung der Kunst gebauet
sind. Denn da man in Italien noch allezeit mehr Begriff als anderwärts
von der alten Bauart gehabt hat, I so entstand aus dieser und dem Ge-
schmacke damaliger Zeit eine Vermischung: die Gesimse und Cornischen.
ließ man unmerklich hervor treten; weil man im Kleinlichen die Schön-
heit suchte. Die Einfalt bestehet unter andern in der wenigen Aus-
schweifung: daher siehet man an unsern Tempeln weder Hohlkehlen noch
halbrunde Leisten, sondern alles geht nach fast geraden Linien; das einzige
Glied an dem Capitäl ausgenommen, welches insgemein mit den so ge-
nannten Eyern gezieret ist, schweifet an den Tempeln zu Pesto in fast
unmerklicher Runde aus und hat die E y e r nicht. In eben diesem Stil
sind die ältesten Altäre und Grabsteine gearbeitet, (conf. Fabretti Inscr.
c. I I I . p. 239. [n. 637.] c. X . p. 696. n. 172.) und diese Beobachtung
zeiget das hohe Alterthum derselben.
V o n diesem Tempel sieht man noch itzo den ganzen Plan des Grundes
vor aller Augen entdecket, aber ganz mit aufgethürmten Trümmern des-
selben umgeben, über welche der Erklärer der sicilianischen Alterthümer
und dessen Gefährte nicht werden hingeschauet haben. Diese Trümmern
schließen einen freyen mit Gras bewachsenen Platz ein, und dieser giebt
den Plan des Tempels so deutlich zu erkennen, daß man an einigen Orten
so gar nodi die Stufen sieht, die rund um den Tempel giengen: man
sieht audi in einer Elle die Grundlage ausgegraben.
Die Länge dieses Platzes kommt mit dem Maaße des Diodorus über-
ein, welcher die Länge des Tempels auf 340 Fuß setzet; nach dem eng-
lischen Maaß sind es 345 Fuß; weil dieser etwas kleiner ist als der Grie-
chische, wie ich angezeiget habe. Die Breite dieses Platzes hält 165 Fuß,
welches sich mit dem Maaße des Diodorus von 60 Fuß nicht reimet.
Wenn aber die Breite eines Tempels die Hälfte von dessen Länge war,
und 170 die Hälfte von 340, so kommt das itzige Maaß der Breite,
welche unter Trümmern so genau nicht seyn kann, dieser Verhältniß
sehr nahe. Folglidi kann das Maaß der Breite I beym Diodorus von
sechzig Fuß nicht richtig seyn, und es fehlet nothwendig hundert vor der
Zahl Sechzig. Die geringste Erwägung des bey den Alten bestimmten
Verhältnisses ihrer Tempel hätte hier Zweifel über die Richtigkeit des
griechischen Textes erwecken sollen, und dennoch ist es niemanden ein-
gefallen. Die alten Handschriften, welche ich in Rom und in Florenz,
bis auf die älteste vom Diodorus in der Bibliothek des Hauses Chigi zu
Rom, nachgesehen habe, stimmen mit dem gedruckten überein. Man muß
sich nicht vorstellen, daß die Griechen, nach A r t einer gewissen neu-
erbauten reformirten Hauptkirche in Deutschland, einen Tempel würden
aufgeführet haben, dessen Breite das sechste Theil seiner Länge gewesen.
Die Höhe dieses Tempels, ohne die Höhe der Stufen umher zu rechnen
(χωρίς τοΰ κρηπιδώματος) war hundert und zwanzig Fuß. Κρηπίδωμα
ist von den Uebersetzern nicht verstanden worden: denn man hat es
für die Grundlage genommen. Der neuliche französische Uebersetzer hat
hier klügeln wollen und hat seine Unwissenheit verrathen. Er glaubet,
es sey hier die Cornische gemeinet. Warum? Weil δώμα bey ihm auch das
Oberste eines Hauses bedeuten soll; welches er aber hätte beweisen sol-
len. Hernach decket die Cornische nicht das Gewölbe, wie wir alle wis-
sen, und griechische Tempel, die nicht rund waren, hatten, so viel bekannt
ist, kein Gewölbe.
Die Säulen waren rund von außen und viereckicht inwendig, nach
den Worten des Diodorus, an welche sich die lateinische Uebersetzung
[234|235 235|236] Baukunst der Tempel zu Girgenti 181
mit eben der I Kürze hält. ECKICHT INWENDIG könnte heißen, daß diese
Säulen innerhalb der Mauer eckicht gewesen: ein Stück von einer halb-
runden Säule von Porphir mit der andern eckichten Hälfte derselben
findet sich zu Bolsena. Idi bin aber vielmehr der Meinung, daß Diodorus
habe sagen wollen; dieser Tempel habe auswärts halbrunde Säulen und
von innen Pilaster gehabt.
Der Umkreis dieser halbrunden Säulen war zwanzig griechische Fuß:
das INNERE derselben, welches ebenfalls die Uebersetzer nicht verstanden
haben, das ist, der Durdimesser der Säulen, war zwölf Fuß. Wenn der
Durchmesser einer Säule dreymal genommen, den ganzen Umkreis der-
selben giebt, hier 36 Fuß, so wäre der halbe Umkreis derselben 18 Fuß
gewesen: da es aber 20 Fuß waren, so haben die Säulen mehr als einen
halben Zirkel gemachet. Aus einigen Stücken der Säulen ist auch dieses
Maaß richtig befunden: denn der Durchmesser derselben gab etwas über
1 1 englische Fuß, so aus viel zerbrodienen Stücken zu bestimmen war.
Der Durchmesser der acht halbrunden Säulen an der Facciata der St. Pe-
terskirche in Rom, welches die größten Säulen in der neuern Welt sind,
wird ohngefähr neun englische Fuß seyn, woraus man sich also die Größe
der Säulen an dem Tempel des Jupiters vorstellen kann.
Vitruvius gedenket unter so vielen Arten von Tempeln keines ein-
zigen mit halbrunden Säulen; es findet sich audi bey andern Scribenten
keine Meldung von einem solchen alten griechischen Gebäude. Von Tem-
peln ist der von der Fortuna Yirilis, oder I St. Maria Egizzia zu Rom,
das schlechteste unter allen alten Werken, mit dergleichen Säulen, und
das Theater des Marcellus und das Amphitheater des Vespasianus haben
halbrunde Säulen.
Diodorus giebt uns ein sinnliches Bild von der Größe der Säulen an
dem Tempel des Jupiters, wenn er berichtet, daß in einem einzigen
hohlen Reife (διάξυσμα) derselben, deren zwanzig an einer dorisdien
Säule stehen müssen, ein Mensch stehen könne. Die Weite der Reifen
an den übrigen Stücken beträgt zween römische Palmen oder Spannen
und viertehalb Zoll; ein bequemes Maaß für die Breite eines Menschen.
Pancrazi beklaget sich, daß er keine Spur von den Säulen dieses Tem-
pels finden können. Die Größe gereifter Säulen aus dem Alterthum
in Rom sind drey freystehende Säulen mit ihrem Gebälke, auf dem
Campo Vaccino von 41 römisdien Fuß und 5 Zoll in der Höhe, und
4 Fuß 14 Zoll im Durdimesser: aber die Weite einer Reife ist noch nicht
die Hälfte von jenen; denn sie ist eine starke Spanne. Die größten
182 Baukunst der Tempel zu Girgenti [236|237 237|238]
Höhe der Säulen nach der Breite der Tempel, wie oben angezeiget wor-
den, auf sechs Durchmesser und endlich auf sieben gegangen sey. Sechs
Durchmesser für dorische Säulen scheinet also in den blühendesten Zeiten
der Griechen das Verhältniß derselben gewesen zu seyn. Denn in der
93 Olympias kamen die Carthaginenser zum zweytenmal nach Sicilien,
und Agrigentum ward von ihnen zerstöret; durch diesen Krieg, saget
Diodorus, sey die Ausführung des Tempels unterblieben.
Da ich also glaube wahrscheinlich dargethan zu haben, daß die
Säulen dieses Tempels weder unter noch über sechs Durchmesser können
gehabt haben; so kann also audi der Tempel des Theseus zu Athen,
welcher älter ist, und kurz nadi der Schlacht bey Marathon gebauet
worden, keine Säulen, nur den Schaft derselben allein gerechnet, von
sieben Durchmessern haben, welche Pococke diesen und allen andern
dorischen Gebäuden zu Athen giebt. I
Der Tempel, von welchem wir reden, muß Hexastylos gewesen seyn,
das ist, sechs Säulen vorne gehabt haben. Denn sechs Säulen von zwölf
Fuß im Durchmesser machen schon 72 Fuß, und fünf Intercolumnia, jedes
zu drey Moduli oder zu anderthalb Durdhmesser der Säule geredinet,
machen neunzig Fuß, und zusammen 162, welches mit der Breite von
160 Fuß bis auf zween Fuß übereinkommt.
Von der Mechanic bey Erbauung dieses Tempels finden sidi noch die
Spuren an einigen großen Steinen des Gebälks. Diese Spuren sind gewisse
Aushohlungen in Form eines Hufeisens, wie ich erwähnet habe, an den
beyden schmalen Enden der Steine. In diese Aushöhlung wurde ein Stride
oder Kette gespannet, und beym Aufziehen dieser großen Lasten von
beyden Seiten oben zusammen genommen. Durch solches Mittel nickete
man diese Steine dicht an einander ohne alle Hebezeuge, und wenn die
Steine neben einander lagen, zog man den Strick heraus, und der Anfang
des Einsdinitts, welcher oben offen war, wurde alsdenn mit Holz ver-
schlagen, damit keine Feuditigkeit hinein dringen konnte. Es hat sich
noch etwas Holz in einem dieser Einschnitte der Aushohlungen über zwey
tausend Jahre bis itzo frisch I und fest erhalten. Unter den Zeichnungen von
alten Gebäuden des berühmten Baumeisters Sam. Gallo in der barberini-
184 Baukunst der Tempel zu Girgenti [240|241]
sehen Bibliothek sehe ich unter den Ruinen des Tempels der Venus zu Epi-
daurus in Griechenland, an den Enden der Steine einen ähnlichen Einschnitt,
aber eckicht. Dieser Weg große Lasten Steine zu heben, und unmittelbar
im Aufziehen audi an ihren Ort zu setzen, ist sehr vorzüglich vor der
J Anweisung des Vitruvius (L. X. c. j.); und die Säcke mit Sand beym
Plinius, nach Poleni Auslegung (Diss, sopra al tempio di Diana d'Efeso
§. XIX.) scheinen dagegen lächerlich.
Man sieht hier, wie ungekünstelt der Alten ihr Weg zu wirken war,
und die neuere Welt scheint in der Mechanic mit aller Künsteley und
10 Ausrechnung der bewegenden Kräfte die Alten nicht erreichet zu haben.
Man erwäge die ungeheuren Obelisken: die ganze Welt ist voll von den
Anstalten, die Fontana unter dem Pabst Sixtus V. machete, einen
Obeliskus aufzurichten, und bey den Alten findet sich kein Wort von
ihrer Aufrichtung. Wie vorzüglich der natürlichste und leichteste Weg
15 in der Mechanic vor allem gelehrten Trieb- und Radewerke ist, wo es
die Natur der Sachen nicht erfordert, hat Zabaglia in Rom zu unseren
Zeiten gezeiget, ein Mensch ohne allen Unterricht, welcher weder lesen
noch schreiben konnte. Aus sich selbst und aus einem Geiste ursprüng-
licher Erfindung hat er Werkzeuge an das Licht gebracht, die nichts be-
x deutend scheinen, und durch ihre Wirkung erstaunen madien, und hat
Dinge ausgeführet, die vor anderer Baumeister Augen verborgen waren. I
Da nun der Tempel des Jupiters, von welchem wir reden, nicht
geendiget wurde; so geschähe es mit der Zeit, daß man ganz nahe an
dem Tempel hinan Häuser bauete, und endlich wurde der Tempel ganz
25 von andern Gebäuden umgeben: dieses ist der Verstand der Worte des
Diodorus, die, wie es mir scheint, von niemanden verstanden sind. Των
άλλων ή μέχρι τοίχων τους νεώς οίκοδομούντων, ή κυκλώσι τους οίκους
περιλαμβανόντων. Die lateinische Uebersetzung des ersten Comma ist:
Cum alii ad parietes usque templa educant. Man lese an statt τους νεώς,
30 τού νεώ, und übersetze es: Cum alii ad parietes usque templi aedificiis
fabricandis accederent. Im zweyten Comma lesen Henr. Stephanus und
Rhodomann, an statt Κυκλώσι, in circuitu, κίοσι, columnis. Weßeling
suchet beyde Wörter zu behalten, und meinet, man müsse κυκλψ κίοσι,
oder κυκλώσι κιόνων lesen. Ich bleibe hier bey dem gedruckten Text,
3S und der sprachkundige Leser wird ohne akademische Weitläuftigkeit hier
einsehen, ob diese Gelehrte den Text verstanden haben, und welche Er-
klärung vorzuziehen ist. Der französische Uebersetzer springet wie ein
leichter Tänzer über diese Stelle hin.
+ + +
[241|242] Baukunst der Tempel zu Girgenti 185
Mein Freund.
Ich übersdiicke Ihnen einige Betrachtungen die denenjenigen welche
(Rom sehen können) die Reise nach Rom thun wollen nützlich seyn kön-
ten. Man ist in Deutschland so wohl als in anderen Ländern nicht genug
unterrichtet von dem was diese Stadt (allen) denen die sie kennen,
sdiätzbar machet: denn die Nachrichten der Reisenden, die sich über
3 Monat nicht in Rom aufhalten ist zu sehr mangelhaft und unzuver-
läßig; und gebohrne Römer in Deutschland oder anderwerts sind ent-
weder nicht in den Jahren oder Umständen gewesen ihr Vaterland recht
kennen zu lernen; (oder) sie würden auch wenn sie sich nicht von Rom
entfernet hätten zu der Kentniß alles deßen, was ein Reisender suchen
soll nicht gelanget seyn; theils weil wir gegen das was uns beständig vor
Augen ist, gleich gültig werden, theils weil viel Wißenschaft dazu ge-
höret. Aus diesem letzten Grunde wäre es überhaupt schlecht angewandt
einen Unterricht (, Rom recht) zu schreiben, Rom recht nützlich zu
sehen: denn zu dieser Absicht gehöret eine Vorbereitung von vielen
Jahren, ein langer Aufenthalt an diesem Ort, alle Bequemlichkeit zu
untersuchen und zu studiren, der Umgang mit den besten und grösten
Leuten in Rom und ein unermüdeter Fleiß.
Mein gutes Glück hat mir alle diese Vortheile genießen laßen, und
idi könte Nachrichten geben die wichtiger sind als aus dem Keyßler.
Verzeihen Sie mir mein ungeneigtes Urtheil von den Reisen dieses ge-
schätzten Mannes. £s ist das beste Buch in seiner Art was wir und andere
Nationen haben: aber was es von Rom schreibet hatte er (auch) zum
theil in Hannover oder in Gartau wißen können, denn er hat die elen-
desten Bücher als den irrenden Mercurius ausgeschrieben: das übrige ist aus
dem Munde des Antiquarii gefloßen, welches Leute sind, die nicht viel
wißen noch recht wißen können. Ich rede von diesem Buche, weil es
unsere Reisende mit sich führen und in Rom lesen.
Unterricht für die Deutschen von Rom 187
Erlauben Sie mir aber daß ich so wahr schreibe, als ich gedencke:
denn idi (habe mich in Rom) bin gewohnt worden in Rom die Wahr-
heit so ungesdieut zu sagen, daß ich sie gegen keinen Cardinal zurück-
halten würde. Man redet hier außer der Religion, audi von dem Pabst
i so übel man will, man mag Recht haben oder nicht: es (darf einen) kan
mich niemand kränken. Sie müssen audi keine sehr strenge Ordnung
von mir fordern: es ist ein Brief und kein Budi.
Rom ist ein Ort welcher anfänglich nicht gefällt (bricht ab)
188
Entwurf
Mein Freund!
Da Eudi endlidi meine Beschreibung der tiefgeschnittenen Steine des
Stoßischen Musei zu Händen gekommen ist, so, glaube ich, werdet Ihr
aus dieser Arbeit selbst urtheilen können, ob es wahr sey, was Herr
Natter, berühmter Steinschneider, welcher itzo in Holland ist, allent-
halben vorgiebt, daß wenigstens die Hälfte der beschriebenen geschnit-
tenen Steine neu und größtentheils von ihm selbst gearbeitet sey. Ich
glaube mich hierüber gegen Eudi, und durch Euch gegen andere recht-
fertigen zu können; und da Herr Natter bereits vor zwey Jahren, nach-
dem meine Beschreibung in Engeland bekant worden, wo er sich damahls
aufhielt, wider mich zu schreiben unternehmen wollen, welches, so viel
ich weiß noch nicht geschehen, so könte ihm vielleicht eine nähere Ge-
legenheit dazu gegeben werden.
Das Vorgeben dieses berühmten Künstlers ist so wohl dem rühmlichen
Andenken des Herrn von Stosch, als mir vornemlich nachtheilig: denn es
beschuldiget (jenen so wohl als mich) beyde einer Betriegerey, und midi
insbesondere der Unwißenheit. Was den ehemaligen Sammler und Be-
sitzer dieser geschnittenen Steine betritt, so kan ich über diese Beschuldi-
gung viel hundert Personen von hohen Stande und von Erfahrung, die
ihn genau gekannt haben, zu Zeugen rufen. Irren hätte er sich können,
da er dreyßig Jahr von Rom abwesend gewesen und beständig in Florenz
gelebet, welches nicht der Ort zu einer weitläuftigen Kentniß in dieser
Art ist; aber (alle) die mehresten Steine womit er sein Museum in
Florenz vermehret hat, sind entweder von Sr. Eminenz dem Herrn
Card. Alexander Albani besorget worden, oder doch durdi deßen Hände
gegangen. Dieses wird Herrn Natter so wohl als mir und anderen bekant
seyn, und was will derselbe sagen, wenn ich mit (einem solchen) dem
Namen eines solchen Mannes auftrete, welcher von Kindesbeinen an bis
Sendschreiben an Herrn Lippert 189
Sendschreiben
Von der Reise eines Gelehrten nach Italien
und insbesondere nach Rom
an Herrn M. Franken.
Entwurf
kaum das Schreiber-Lohn verdienet. Glauben Sie nicht, daß ich nur von
den erst angehenden Gelehrten und von jungen Schößlingen rede; ich
kan die Arbeit des berühmten Phil. d'Orville hier zum Beyspiel anführen.
Dieser Mann gieng zwey bis drey Jahre hindurch alle Morgen nach der
Vaticana welches von der Gegend wo er wohnete, drey Viertel Stunden
hin und eben so viel zurück ist, und er arbeitete in dieser Zeit vomemlich
an der Griechischen Anthologie, nach der alten Handschrift aus der Hei-
delbergischen Bibliothec. Dieser Gelehrte wurde vom Tode übereilet in
seinem Anschlage einer neuen Auflage der Anthologie; und der Nutzen
aus dieser beschwerlichen Arbeit sind nicht zehen Sinnschriften in seinen
Erklärungen des Charitons. Denn was außerdem in den gedruckten
Anthologien ist, sind unsaubere Zoten, die in ewiger Vergeßenheit hätten
bleiben sollen; Ruhnken aber, welcher dieselbe von d'Orville erhalten [,]
hat sich mit Bekantmachung einiger derselben und vielleicht der häß-
lichsten wollen verdient machen. Das brauchbarste von vorher unge-
druckten Sinnschriften war bereits von Lucas Holstein in seinen Noten
über den Stephanus (und) von Ludolf Küster in deßen Suidas und
Aristophanes und von anderen angebracht. Idi kann davon mit Sicherheit
reden, weil ich die alte Heidelbergische Handschrift lange unter Händen
gehabt habe.
Die Absicht aller Gelehrten Untersuchungen und Bemühungen solte
seyn der allgemeine und besondere Unterricht, und wo diese [r] nicht zu
erhalten ist, ziehe die Hand ab vom Werke und opfere es der Latona;
denn es ist der Nachwelt nicht würdig. Nach diesem Grundsatz aber,
wird man sagen, könnte ein junger Reisender Gelehrte schwerlich mit
etwas hervortreten was er in Bibliotheken gesammlet; und dieses gestehe
ich zu und wäre ihm beßer. Die Kentniß der (Menschen) Gelehrten und
der besten und seltensten Schriften erfordert in Rom eine lange Zeit, von
welcher der Eitelkeit nichts hinzuwerfen ist.
Gelehrte sind in anderen Ländern diejenigen welche auf dem Lehr-
Stuhle oder in Schriften lehren und zu lehren vermeinen; in Rom sind
Gelehrte, welche keins von beyden thun. Denn hier entscheidet der Hof,
welcher mehr als andere Höfe auf Gelehrsamkeit bestehet, über das Ver-
dienst in derselben, und ein Cardinal, wie Passionei war, giebt hier den
Ton. Bey Fürsten sind insgemein Gelehrte und Pedanten Synonyma,
welche beyde einerley Geruch an Weltlichen Höfen geben. Man kann
folglich in Rom zu einer Achtung seines Wißens kommen, ohne ein öfent-
licher Scribent zu seyn, und wer es hier ist, wird es auch an anderen
Orten in Italien, weil Rom der Mittelpunct ist, werden können und seyn.
192 Sendschreiben an Herrn Franken
Viele die weise sind, begnügen sich mit dieser Achtung, und da die we-
nigsten sich in einer fremden Sprache fertig ausdrücken können, so ist
ihre Bekantschaft nicht für flüchtige Reisende, und diese nicht für jene.
Sie genießen die Freundschaft und Vertraulichkeit der Großen, und
einige stunden gleichsam in einer Brüderschaft mit gedachten Cardinal
Paßionei, von welcher auch ich ein un(7Jwürdiges Mitglied war, und
man genoß auf seinem Eremo, oberhalb Frascati, das Landleben mit eben
der völligen Freyheit, die man sich wo man auf eigene Kosten lustig
seyn will, nur irgend zu nehmen gewohnt ist: zu Abend speisete man mit
Sr. Eminenz im völligen Nachtzeuge [.] Der Weg zum Leben und
Unterhalt eines Gelehrten ist ebenfalls wie der zu Achtung verschieden
von demjenigen wo man jenes sonderlich in Protestantischen Ländern
suchen muß. Denn hier muß es bey den mehresten die Lunge verdienen,
und in Rom giebt es die Kirche dem der es zu suchen weiß. D a nun diese
den ehelosen Stand befiehlet und das Clima selbst die Mäßigkeit lehret,
so ist das was anderwerts kaum nothdürftig wäre hier hinreichend, zu-
mahl da die Menge der öfentlichen Büchersäle und der stündliche Eintritt
zu einigen derselben einem Gelehrten die größten Kosten erleichtert.
Viele von den hiesigen Gelehrten leben also in der Stille, genießen sich
selbst und die Musen; sind also wahre Philosophen, ohne es zu scheinen.
Man kan also von der Menge der Schriften die jenseit der Gebürge
jährlich ans Licht treten, und von den wenigen die in Rom gedruckt
werden keinen Schluß auf die größere oder geringere Übung in den Wis-
senschaften machen. So wie in Deutschland außer den berühmtesten
neuern Welschen Dichtern, Ariosto, Tasso, Marino, wenige andere bekant
sind, eben so verhält es sich in gewißer Maße mit den Gelehrten. Aber
so wie kaum der Name des grösten Lyrischen Dichters Alex. Guidi jen-
seit der Gebürge gehöret worden, so würde man daselbst audi vom Gra-
vina nichts wißen, wenn er nichts anders als seine Ragion poetica in
Welscher Sprache geschrieben hätte, welches Buch in alle Sprache übersetzt
zu seyn verdienete. Der junge Reisende aber lernet diese Werke hier so
wenig wie anderwerts kennen, sondern (er lieset) an statt hier das un-
vergleichliche Pastorale, den Endymion (gedachten) gemeldeten Dichters
zu lesen, lieset er den Roman des Roußeau.
Aus demjenigen was ich gesagt habe, werden Sie von selbst geschloßen
haben, daß die Pedanterie unter den Gelehrten in Rom seltener als ander-
werts seyn müße. Diese hangt vielen an an Orten, wo sie niemand über
sich sehen, und wo sie von einer unerfahrnen Menge bewundert werden,
wie auf den Universitäten jenseit der Gebürge, und welcher es nicht ist,
Sendschreiben an Herrn Franken 193
scheinet es zuweilen. Denn das Leben an Orten welche von Höfen ent-
fernet und ohne große Veränderung sind, in einem Umgang nur mit
seines gleichen oder mit jungen Leuten, in beständiger Arbeit und in Sor-
gen der Nahrung, schrenckt den Geist ein, und die Verhältniße in welche
} man stehet, erlauben nidit fröhlich nach Art der Jugend zu seyn. Daher
verhüllet sich das Gesicht vor der Zeit in Ernsthaftigkeit, die Stirn leget
sich in Runzeln und die Sprache selbst wird Sentenzenmäßig. In Rom
hingegen und überhaupt in Italien scheinet der Einfluß des Himmels,
welcher Frölichkeit wirket, wider die Pedanterie zu verwahren.
Sendschreiben
Von der Reise nach Italien.
Entwurf
Die mehresten bemerken nur mit Augen und mit Händen und wenig
mit der Vernunft.
Einige bemerken in dieser großen Landschaft einen Rauch oder Staub
welcher aufsteigt, oder einen Eseltreiber mit seinem Thiere eher als ein
s schönes Landhaus (bricht ab)
196 um
Vorbericht
zu den
Anmerkungen über die Baukunst der Alten.
IDI bin dem PUBLICO eine Erklärung schuldig über die GESCHICHTE
DER K U N S T , UND SONDERLICH DER BILDHAUEREY DER ALTEN V Ö L K E R , V O R -
deren Ankündigung ich vor ein paar Jahren
NEHMLICH DER G R I E C H E N ,
veranlasset habe. Ich hätte damals mit derselben hervortreten können,
es wird aber mir und dem Leser nützlicher seyn, daß es nicht geschehen
ist. Denn da ich die BESCHREIBUNG DER TIEFGESCHNITTENEN S T E I N E DES
STOSSISCHEN M U S E I ZU Florenz, übernahm, mußte ich mich von neuem
in viele Untersuchungen einlassen, die ich vorher nicht mit gleicher Auf-
merksamkeit gemachet hatte. Dieses in französischer Sprache verfassete
Werk ist zu Florenz gedruckt, die Vorrede aber und das Register zu
Rom, und es ist ohne diese beyde Stücke an sechshundert Seiten in Quart
stark. Da ich nun nach Vollendung dieser Arbeit meine Geschichte von
neuem übersähe, fand ich dieselbe mangelhaft, theils an nothwendigen
Sachen, theils an gewissen Beweisen, I und in dieser Ueberlegung entschloß
ich mich, die ganze Schrift in ein anderes Systema zu bringen. Ich habe
mehr Zeichnungen zu nöthigen Kupfern machen lassen, welche nach und
nach gestochen werden; und dieses sind die Ursachen der Verzögerung.
Gegenwärtige ANMERKUNGEN ÜBER DIE BAUKUNST DER A L T E N sind
unter den Untersudiungen erwachsen, welche ich in mehr als fünf Jahren,
die ich in Rom und in anderen Städten von Italien lebe, über alles, was
die Künste betrifft, gemacht habe, und ich habe dazu alle erforderliche
Hülfsmittel gehabt, sonderlich in dem vertrauten Umgange, dessen mich
Se. Eminenz, der Herr Cardinal Alexander Albani, der größte Kenner
der Alterthümer, würdiget.
Ueber das, was ich hier von der Baukunst geschrieben habe, kann
ein Gelehrter, welcher die Alterthümer aufmerksam untersuchet, und die
erforderlichen Kenntnisse dazu hat, eben so gründlich, als ein Baumeister,
reden; und hier kann gelten, was * Aristoteles von den Spartanern
Von der Stadt Pesto, weldie etwa anderthalb Italienische Meilen von
dem Gestade des Meers entfernet ist, hat sidi die ganze Ringmauer mit
ihren vier Thoren, ins Gevierte gezogen, erhalten, und diese ist aus
ungemein großen Steinen, welche viereckigt oder länglicht gehauen sind,
ohne Mörtel zusammen gesetzet, so daß die äußere Seite derselben in
sedis Flächen, nach Art der Diamanten, gehauen ist: auf der Mauer
stehen in gewisser Weite von einander runde Thürme. Innerhalb der
Mauern und in der Mitte der ehemaligen Stadt stehen zween Tempel,
und ein drittes öffentliches Gebäude, welches entweder eine Basilica,
oder eine Palästra oder Gymnasium gewesen ist. Dieses sind ohne Zwei-
fel die ältesten Griechischen Gebäude, und nebst dem Tempel zu Girgenti
in Sicilien, und dem Pantheon zu Rom, ist kein anderes Werk der Bau-
kunst, welches sich so völlig erhalten hat: denn der eine Tempel hat vorne
und hinten sein völliges Frontispicium, und auf dem andern ist das
mehreste von demselben geblieben.
Die zween Tempel sind, so wie das dritte Gebäude, AMPHIPROSTYLI,
das ist, sie haben einen freyen Säulengang rings umher, und vorne und
hinten eine freye Halle. Der größte Tempel, und welcher weniger gelit-
ten, hat sechs Säulen vorne und hinten, und vierzehen auf der Seite,
die Ecksäulen zweymal mit gezählet. Der kleinere Tempel hat vorne
und hinten, wie jener, sedis Säulen, und dreyzehn auf der Seite. Die
Zellen dieser Tempel, oder das Innere derselben, war mit einer Mauer,
wie gewöhnlich, eingeschlossen, und die in dem größeren Tempel hat I
vorne und hinten wiederum ihre besondere Halle von zwo Säulen am
Eingange und die Eckpilaster, und zwo Reihen Säulen waren auch inner-
halb der Zelle, eine jede von sieben Säulen, von welchen nodi viele stehen.
Die Zelle des andern Tempels hat nur vorne ihre besondere Halle, von
eben so viel Säulen, und innerhalb der Zelle gegen das Ende ist eine
große viereckigte längliche Erhöhung, welches etwa ein Altar gewesen ist.
Der grössere Tempel hat über die untern Säulen innerhalb der Zelle,
noch eine obere Ordnung kleinerer Säulen, welche sich auch großen Theils
erhalten hat. Alle Säulen sind dorisch und gereift, und haben nicht fünf
Durchmesser, wie ich in den Anmerkungen selbst angezeiget habe. Sie
sind außerdem ohne Base, und die um den größeren Tempel haben gegen
das Capital zu zween Ringe umher (Collarini), dergestalt ein Theil der
Reifen einige Finger breit über dieselbe bis an das Capitäl hinausgehen.
Die Zellen sind drey Stufen hoch erhaben und so viel höher, als der
äußere Säulengang der Tempel, und diese Stufen, sind wie diejenigen,
weldie um den Tempel herum gehen, von einer ungewöhnlichen Höhe,
[V|V/ V7|V//] Anmerkungen über die Baukunst. Vorbericht 199
zwey Drittheil Palme; welches also von der Regel des Vitruvius abgeht.
Der ganze Boden dieses Gebäudes hat einen sanften Abhang auf beyden
Seiten, zum Ablaufe des Regens.
Ueberhaupt merke man, daß alle drey Gebäude von dem Gebälke
auf den Säulen, oder von der Architrave die beyden untere Glieder haben,
aber das dritte und obere Glied des Gebälkes, nämlich die Cornische fehlet
an allen dreyen. Von den Eigenschaften der dorisdien Ordnung derselben
habe ich in den Anmerkungen geredet. Die Länge und Breite dieser Ge-
bäude sind von der dritten und oberen Stufe, auf welche man zu den-
selben hinaufsteiget, gemessen, und der Palm ist der Neapelsdie, welcher
größer ist als der Römische.
Außer den beschriebenen Gebäuden ist erstlich fast mitten auf dem
Platze der Stadt ein AMPHITHEATER, von welchem noch die untern Ge-
wölber, und zehen Reihen Stufen oder Sitze über dieselben, übrig sind.
Nach Antonini Angeben ist die Länge desselben hundert und fünf und
sechzig Palme, und die Breite hundert und zwanzig. Außer dem finden
sich Spuren von einem Theater, und außer den Mauern drey Grabmäler
von Ziegeln.
Dieses ist die erste ausführliche Nachricht von den Alterthümern der
Stadt Pesto, so viel ohne Kupfer deutlich anzugeben ist. Man hat mich
versichert, daß zu Velia, ehemals auch Elea genannt (von welcher Stadt
die ELEATISCHE SCHULE den Namen hat) funfzehen Italienische Meilen
jenseit Pesto, beträchtliche Stüdken von alten Gebäuden, und halb er-
haltene Tempel zu sehen seyn: I Niemand aber hat in Schriften, so viel
ich weiß, davon Meldung gethan.
Zu Croton in Großgriechenland stehen noch weitläuftige Ruinen,
welche man itzo die SCHULE DES PYTHAGORAS nennet; außerdem aber hat
sich wenig in diesen Gegenden, wo so große und berühmte Städte waren,
erhalten, wie ich unter andern vom Mylord Brudnell weiß, welcher vor
etwa drey Jahren die ganze Küste von Calabrien bis nach Taranto durch-
reiset ist.
Von den Denkmaalen der alten Baukunst in Sicilien hat allererst vor
wenig Jahren der P. Pancrazi in seinem ERLÄUTERTEN SICILIEN, die ersten
Zeidinungen gegeben, und dessen Nachricht von den Trümmern des
Tempels des olympischen Jupiters zu Agrigentum (Girgenti) habe ich
in einer besondern kleinen Sdirift aus richtigem Entdeckungen verbessert.
Außer den Ueberbleibseln an diesem Orte hat eine allgemeine Verstörung
alle Werke der alten Baukunst in dieser Insel zernichtet.
Die mehresten Tempel und Gebäude in Griechenland hat Herr le
\yiII\IX IX'IX] Anmerkungen über die Baukunst. Vorbericht 201
Itzo fehlet uns noch eine ähnliche Arbeit über die Gebäude zu Theben
und an anderen Orten in Aegypten: Dieses hätte Norden unternehmen
sollen, wenn er Zeit und Kosten dazu gehabt hätte, so würde er der
Nachwelt ein nützlicher Werk gelas I sen haben, an statt, daß er entweder
längst bekannte oder wenig bedeutende Dinge vorträgt.
Der Leser erlaube mir hier noch mit einem Worte die höchste Pflicht
202 Anmerkungen über die Baukunst. Vorbericht
und Verbindlichkeit, die idi auf der Welt habe, zu bekennen. Diese bin
ich Sr. Hochwürden dem Herrn P. Leo Rauch, Sr. Königl. Majestät in
Pohlen Beichtvater schuldig, einem der würdigsten Menschen, der mir
Vater, Freund und das Liebste auf der Welt ist. Er allein ist der Grund
von der Zufriedenheit, die ich genieße, welche ich niemals fühle und
schmecke, ohne Erinnerung immerwährender Dankbarkeit: mein höchstes
menschliches Verlangen geht zu ihm, und alle meine Wünsche sind auf
ihn gerichtet, die Gott wolle in Erfüllung gehen lassen. Ein anderes
Bekenntniß der Dankbarkeit, welches ich an einem würdigern Orte ab-
zulegen gedachte, bin ich zween meiner Freunde schuldig, Herrn Will,
Königlichem Kupferstecher zu Paris, und Herrn Fueßli, Maler und Stadt-
schreiber zu Zürich. Die Art, mit welcher sie mir, ohne mich persönlich
zu kennen, beygestanden haben, machet der Menschlichkeit Ehre: Aber
die Bescheidenheit ihrer großmüthigen Seelen hält mich zurück, wider
ihre Absicht zu handeln, welche war ins geheim Gutes zu thun. Ich
empfehle mich allen Liebhabern der Künste und meinen Gönnern und
Freunden in Deutschland und in anderen Ländern.
Rom, den ersten December 1760.
203
Sendschreiben
Von der Reise eines Liebhabers der Künste nach Rom
an Herrn Baron von Riedesel.
Entwurf
Es könte nach dem Sprichwort der Alten eine Ilias nach dem Home-
rus scheinen, ein Sendschreiben an Sie zu richten zum Unterricht einer
Reise nadi Rom, welche Sie mit vieler vorläufigen Einsicht und großen
Nutzen gemacht haben. Meine Absicht aber für Sie ist Erinnerung nicht
Lehre, und anderen welche zu belehren sind, habe ich das Vergnügen
nidit nehmen wollen, eigene (Entdeckungen) Bemerkungen in Rom zu
machen, daher ist dieser Entwurf kein Führer und Begleiter sondern
höchstens nur ein Wegweiser, und zwar für diejenigen deren Zeit ein-
geschränckt ist. Die jungen Deutschen Stiftsherren, die ein ganzes Jahr in
Rom zu stehen, verbunden sind, haben diesen Unterricht nicht nöthig.
(Es kan audi nodi einen anderen Bewegungs-Grund dieses Sendschrei-
bens geben nemlich den Fall, Ihren Rath einem jungen und angehenden
Reisenden nach Rom zu geben.) Andere Reisende befinden sich in Rom
wie in einem großen Gedränge, wo man niemand bemerken kan, andere
sind wie der Wind in den Orgel-Pfeifen, und entfernt von hier, wie
der Wind vorher war, auf beyde Arten habe ich ebenfalls nidit gedacht,
sondern auf diejenigen, die wie Sie so sehen, als wenn vor einer erleuch-
teten Versammlung Rechenschaft davon zu geben wäre, und die Liebe
zu Rom und zu den Künsten unterhalten.
gerücket wurden. Diese Grenzen aber sind mit ein paar Worte sehr
deutlich anzugeben. Gegen Mitternacht war die Stadt-Mauer unten am
Campidoglio, wo der Aufgang ist, gegen Abend war die Tiber die
Grenze, gegen Morgen der Agger des Tarquinius, welcher noch itzo in
dem Garten der Cartheuser und in der Villa Negroni zu sehen ist, und
gegen Mittag erstreckte sich die Stadt so weit als itzo. Jenseit der Tiber
war mehrentheils das Quartier der Juden. Dieses waren die Grenzen
unter dem Augustus und in den folgenden besten Zeiten; das Flavische
Amphitheater war in der Mitten der Stadt. Folglich war der gröste
bebauete Theil des neuen Roms außer dem alten und war der so ge-
nannte Campus Martius welchen Namen auch noch itzo eine Gegend
hat. Dieser Campus war mit öffentlichen Gebäuden besetzet; hier wur-
den die Kayser vorrechtlich allein verbrannt und ihre Asche beygesetzet;
es ist auch von des Augustus Grabmaale noch ein großes Theil der Ein-
faßung zu sehen; hier wurden auch die Römer in Waffen und anderen.
Spielen geübet. Der niedrigste und schmutzigste Theil am Fluße wurde
(in der mittleren Zeit zuerst) nach den Zerstörungen zuerst angebauet
wegen der Bequemlichkeit des Waßers. Denn die Wasserleitungen waren
zerfallen und man trug, wie in Paris, Wasser zu kaufen umher; dieses
geschähe noch unter Pabst Paul den Zweyten. (Auf dem Spanischen
Platze, wo die Herbergen für Fremde sind, war vermuthlich ehemahls
die Naumachia Kaysers Domitianus von welcher noch vor zweyhundert
Jahren einige Spuren standen.) Zwo Haupt-Straßen führeten mitten
durch zur Stadt selbst; Via I (Triumphalis) Recta war die eine, und
gieng über die Vaticanische Brücke, von welcher noch ein Pfeiler stehet,
längst der Tiber wo izt Strada Giulia ist; Via Flaminia war die andere,
und ist die längste gröste und prächtigste Straße, il Corso genannt. (Die
Grenzen zweyer von den Sieben Hügeln, nemlich des Viminalis und des
Esquilinus sind nicht an allen Orten genau zu bestimmen, weil die Thä-
ler zwischen denselben vollgefüllet und wie hoch, kan man aus dem
alten Pflaster der Via Flaminia schließen, welches dreyßig und mehr
Palmen unter dem itzigen Pflaster des Corso ist.)
Nach den Grenzen sind die Sieben Hügel anzuzeigen (welche von
dem Viminalis) die aber nicht allenthalben so deutlich sind wie ehemahls;
denn die Thäler sind vollgefüllet und verschüttet, und wie hoch, läßet
sich aus dem alten Pflaster der Via Flaminia schließen, welches etliche
dreyßig Palmen unter dem itzigen Pflaster des Corso ist. Vornemlidi
ist die ehemalige Gestalt des Capitolii und Palatini zu bemerken. Wo
itzo der Aufgang zum Campidoglio ist, war vor alters keiner und der
206 Sendschreiben an Herrn von Riedesel
Hügel war absdiüßig, und mit Mauren daselbst befestiget. An der Mauer
lag oben in der Mitten das Asylum und auf beyden Seiten war ein kleiner
Eichen-Wald. Zur Rechten stand der Tempel des olympischen Jupiters,
zur Linken war Curia Calabra. Mit[ten] auf dem Hügel, wo itzo die
Statue Marcus Aurelius zu Pferde ist, war der Tempel des Jupiters
Majoris. Was man itzo das Campidoglio nennet oder die Wohnung des
Senators von Rom, war das Archiv der Stadt, und vor demselben siehet
man noch hinterwerts die Spuren der Dorischen Bauart deßelben, (Die
vielen) Von den vielen Tempel auf dem Capitolio, (von welchen) ste-
hen noch drey Säulen von dem Porticus des Tempels des Jupiter Tonans
mit dem Gebälke und acht Säulen von dem vermeinten Tempel der Con-
cordia, und diese waren nicht sehr geräumlich und stunden auf drey ver-
schiedenen Absätzen dieses Hügels, über welche krum herumgeführet der
einzige Weg auf das Capitolium gieng. Was itzo Campo Vaccino heißt,
war ehemahls Via Sacra und in der Mitten war Forum Romanum: in
der ersten Gaße zur linken Hand war Forum Augusti, in der zweyten auf
eben der Seite Forum Cäsaris, und hinter dem ersten Foro war Forum
Nervä. Unter diesem war Forum Trajani.
Den Palatinischen Berg stelle man sich eben wie das Capitolium vor
mit Absätzen und verschiedenen Erhöhungen so wohl umher als oben
gegen der Höhe zu. (Jenes zeigen die Trümmer umher und) Dieses be-
weiset eine[s] von den zwo erhaltenen Zimmer von dem Kayserlichen
Pallaste, welches kein anderes über sich hatte: denn das Licht komt in
demselben von oben durch eine runde erhaltene Oefnung. In diese Zim-
mer aber zu gelangen muß man tief hinuntersteigen, und es sind ober-
werts (viel) weit höhere Trümmer. Folglich waren diese Zimmer von
einem Theile des Pallastes, welches an der Anhöhe lag. Jenes zeigen
die Trümmer um den Berg umher. Aus jenen Zimmern gelangete man in
die Bäder des Augustus, welche völlig erhalten entdecket wurden;
der letzte Herzog von Parma aber aus dem Hause Farnese, als Herr
der Villa Farnese auf diesem Hügel fand gut, die Säulen, Pilaster, Be-
kleidungen der Mauren von seltenem Marmor nebst den Statuen ab-
und wegnehmen und nach Parma führen zu laßen. Gegen Abend unter
diesem Hügel und an dem Fuße des Aventinischen war Circus Maxi-
mus, deßen Grenzen und Größe das vertiefte und in Kraut-Gärten ver-
wandelte Erdreich zeiget.
Erinnern Sie sich hier, daß ich nicht für diejenigen, die unter dem
37 Eine andere Fassung des Abschnittes: Erinnern Sie sidi, daß ich nicht
für diejenigen die unter dem eigentlichen Namen der Gelehrten reisen, schreiben
Sendschreiben an Herrn von Riedesel 207
Titel der Gelehrten reisen, schreibe, als welche von dem was ich gesagt,
mehr und viel geschrieben verlangen. Es würde aber überflüßig seyn
auf diese seine Absicht zu richten, und dieses aus drey Gründen: erstlich
weil wenig oder gar keine fremde Gelehrten in dem Alter, wo sie es
seyn können nach Italien reisen, zweytens weil für diese ein paar
Monate in Rom nichts nutzen, und drittens weil diese was sie wißen
wollen, in mehr als ein Buche nachlesen, aufsuchen und prüfen können.
Der Liebhaber der Künste muß die Baukunst, Bildhauerey und Mah-
lerey mit einander vereinigen, von welchem Rom die Schule und der
höchste Lehrer ist, und in jeder Kunst verdienen die neuern Werke nicht
weniger Aufmerksamkeit als die alten.
In der Baukunst sind die Form und Ordnung der Bauart, die Zier-
lichkeit) rathen und die Materien zu betrachten, und hier könte ich in
Absicht der Alten auf meine Anmerkungen über ihre Baukunst verwei-
sen, man kan aber in wenig Anzeigen die Beobachtungen des Liebhabers
leiten.
Die Form des Tempels des Friedens ist die einzige mit drey Navaten,
welches, wie Vitruvius sagt, eine hetrurische Bauart war. Die übrigen
viereckigten wie der Tempel des Antoninus und der Faustina haben keine
Navaten, audi innerhalb keine Säulen weldie die (mehresten) Tempel
in Rom wegen ihrer mäßigen Größe nicht nöthig hatten; Innere Säulen-
Gänge wie in S. Paolo sind eine Nachahmung der alten Basiliken und
nicht der Tempel.
Von (Säulen) Ordnungen der Baukunst findet sich die Dorische nur
allein an dem Theater des Marcellus übrig, und in der Kirdie zu S. Pietro
in Vincoli sind zwo Reihen Dorischer Säulen; weiter ist nichts von dieser
Ordnung übrig, weil dieselbe audi vor Alters an wenig Tempeln ange-
bracht war. Von der Ionischen Ordnung ist ein kleiner schlechter vier-
eckigter Tempel, itzo die Armenier Kirdie, übrig, aber Säulen, auf welche
Ionische Capitäler gesetzet sind, finden sich in Menge, und die größten
und schönsten sind zu S. Maria in Trastevere und zu Lorenzo außer
Rom. In dieser Kirche kann man das seltene Capitäl mit der Eydexe
und dem Frosche bemerken, welches die Symbolische Vorstellung zweyer
Griedi. Baum. Saurus und Batr. ist. Uber die Corinthische Ordnung ist
will: wenn diese alle Orte die durch Begebenheiten, Personen und in Schriften
berühmt sind, aufsuchen wollen, so werden nicht Monate sondern Jahre erfordert.
Es komen aber wenige oder gar keine Gelehrten von jenseit der Gebürge nadi
Rom in einem Alter wo sie es seyn können, und solche Untersuchungen zu machen
im Stande sind.
208 Sendschreiben an Herrn von Riedesel
ίδέςι τε καλόν
"Ωρςι τε κεκραμμένσν.
PINDAJI.
212 Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen [3|4]
Mein Freund!
Ueber den Verzug dieses Ihnen versprochenen Entwurfs von der
Fähigkeit das Sdiöne in der Kunst zu empfinden, erkläre ich mich mit
dem Pindarus, da er den Agesidamus, einen edlen Jüngling von Locri,
„welcher sdiön von Gestalt, und mit der Gratie übergössen war," auf
eine ihm zugedachte Ode, lange hatte warten lassen: „Die mit Wucher
bezahlete Schuld, sagt er, hebet den Vorwurf." Dieses kann Ihre Gütig-
keit auf gegenwärtige Abhandlung deuten, welche umständlicher ausgefal-
len ist, als es die anfängliche Meynung war, da das versprochene unter
andern sogenannten Römischen Briefen erscheinen sollte.
Der Inhalt ist von Ihnen selbst hergenommen. Unser Umgang ist
kurz, und zu kurz für Sie und für mich gewesen; aber die Ueberein-
stimmung der Geister meldete sich bey mir, da ich Sie das erstemal er-
blickte. I Ihre Bildung ließ midi auf das, was ich wünschte, schließen, und
ich fand in einem schönen Körper eine zur Tugend geschaffene Seele, die
mit der Empfindung des Schönen begabt ist. Es war mir daher der Ab-
schied von Ihnen einer der schmerzlichsten meines Lebens, und unser
gemeinschaftlicher Freund ist Zeuge davon, auch nach Ihrer Abreise:
denn Ihre Entfernung unter einem entlegenen Himmel, läßt mir keine
Hoffnung übrig, Sie wieder zu sehen. Es sey dieser Aufsatz ein Denkmaal
unserer Freundsdiaft, die bey mir rein ist von allen ersinnlichen Absich-
ten, und Ihnen beständig unterhalten und geweihet bleibet.
+ + +
Die Fähigkeit das Schöne in der Kunst zu empfinden, ist ein Begriff,
welcher zugleidi die Person und Sache, das Enthaltende und das Ent-
haltene in sich fasset, weldies ich aber in eins schließe, so daß ich hier
vornehmlich auf das erstere mein Absehen richte, und vorläufig be-
merke, daß das Schöne von weiterem Umfange, als die Schönheit, ist:
[4|5] Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen 213
diese geht eigentlich die Bildung an, und ist die höchste Absicht der
Kunst; jenes erstrecket sich auf alles, was gedacht, entworfen und aus-
gearbeitet wird.
Es ist mit dieser Fähigkeit, wie mit dem gemeinen gesunden Ver-
stände; ein jeder glaubet denselben zu besitzen, welcher gleichwohl sel-
tener, als der Witz, ist: weil man Augen hat, wie ein anderer, so will
man so gut, als ein anderer, sehen können. So wie sich selbst nicht leicht
ein Mädchen für garstig hält, so verlanget ein jeder das Schöne zu ken-
nen. Es ist nichts empfindlicher, als jemanden den guten Geschmack,
welcher in einem andern Worte eben diese Fähigkeit bedeutet, abspredien
wollen; man bekennet sich selbst eher mangelhaft in allen Arten von
Kenntnissen, als daß man den Vorwurf höre, zur Kenntniß des Schönen
unfähig zu seyn. Die Unerfahrenheit in dieser Kenntniß gestehet man zur
Noth zu, aber die Fähigkeit zu I derselben will man behaupten. Es ist
dieselbe, wie der Poetische Geist, eine Gabe des Himmels, bildet sich
aber so wenig, wie dieser, von sich selbst, und würde ohne Lehre und
Unterricht leer und todt bleiben; folglich hat diese Abhandlung zwey
Stücke, diese natürliche Fähigkeit überhaupt, und den Unterricht in der-
selben.
Die Fähigkeit der Empfindung des Schönen hat der Himmel allen
vernünftigen Geschöpfen, aber in sehr verschiedenem Grade gegeben.
Die mehresten sind wie die leichten Theile, welche ohne Unterschied von
einem geriebenen Electrischen Körper angezogen werden, und bald wie-
derum abfallen; daher ist ihr Gefühl kurz, wie der Ton in einer kurz-
gespanneten Saite. Das Schöne und das Mittelmäßige ist denselben gleich
willkommen, wie das Verdienst und der Pöbel bey einem Menschen von
ungemessener Höflichkeit. Bey einigen befindet sidi diese Fähigkeit in so
geringem Grade, daß sie in Austheilung derselben von der Natur über-
gangen zu seyn scheinen könnten; und von dieser Art war ein junger
Britte vom ersten Range, welcher im Wagen nicht einmal ein Zeichen
des Lebens und seines Daseyns gab, da ich ihm eine Rede hielt über die
Schönheit des Apollo und anderer Statuen der ersten Classe. Von einem
ähnlichen Gemächte muß die Empfindung des Grafen Malvasia, des Ver-
fassers der Leben der Bolognesischen Maler, gewesen seyn: dieser Schwät-
zer nennet den großen Raphael einen Urbinatischen Hafner, nach der
pöbelhaften Sage, daß dieser Gott der Künstler Gefäße bemalet, welche
die Unwissenheit jenseit der Alpen als eine Seltenheit aufzeiget: er
entsieht sich nicht vorzugeben, daß die Caracci sich verdorben durch die
Nachahmung des Raphaels. Auf solche Mensdien wirken die wahren
214 Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen [5|6 6|7]
Schönheiten der Kunst wie der Nordschein, welcher leuchtet und nicht
erhitzet; man sollte beynahe sagen, sie wären von der Art Geschöpfe,
welche, wie Sanchoniaton sagt, keine Empfindung haben. Wenn auch
das Schöne in der Kunst lauter Gesicht I wäre, wie, nach den Aegyptern,
Gott lauter Auge ist, würde es dennoch so in einem Theile vereint, viele
nicht reizen.
Man könnte auch auf die Seltenheit dieser Empfindung aus dem
Mangel von Schriften, die das Schöne lehren, einen Schluß machen; denn
vom Plato an bis auf unsere Zeit, sind die Schriften dieser Art vom
allgemeinen Schönen leer, ohne Unterricht, und von niedrigem Gehalte;
das Schöne in der Kunst haben einige Neuere berühren wollen, ohne es
gekannt zu haben. Hiervon könnte ich Ihnen, mein Freund, durch ein
Schreiben des berühmten Herrn von Stosch, des größten Alterthums-
kundigen unserer Zeiten, einen neuen Beweis geben. Er wollte mir in
demselben zu Anfang unseres Briefwechsels, weil er mich persönlich nicht
kannte, Unterricht geben über den Rang der besten Statuen, und über die
Ordnung, in welcher ich dieselben zu betrachten hätte. Ich erstaunete, da
ich sah, daß ein so berufener Antiquarius den Vaticanischen Apollo, das
Wunder der Kunst, nach dem schlafenden Faun im Pallaste Barberini,
welches eine Waldnatur ist, nach dem Centaur in der Villa Borghese, wel-
cher keiner Idealischen Schönheit fähig ist, nach den zween alten Satyrs
im Campidoglio, und nach dem Justinianischen Bock, an welchem das
beste Stück der Kopf nur ist, setzte. Die Niobe und ihre Töchter, die
Muster der höchsten weiblichen Schönheit, haben den letzten Platz in des-
sen Ordnung. Ich überführte ihn seiner irrigen Rangordnung, und seine
Entschuldigung war, daß er in jungen Jahren, die Werke der alten Kunst,
in Gesellschaft zweyer noch lebender Künstler jenseit der Gebürge ge-
sehen, auf deren Urtheil das seinige sich bisher gegründet habe. Es wur-
den verschiedene Briefe zwischen uns gewechselt über ein rundes Werk
in der Villa Pamphili, mit erhobenen Figuren, welches er für das aller-
älteste Denkmaal der Griechischen Kunst hielt, und ich hingegen für eins
der spätesten unter den Kaisern. Was für Grund hatte dessen Meynung?
Man hatte das Sdilech I teste für das Aelteste angesehen; und mit eben
diesem Systema gehet Natter in seinen geschnittenen Steinen, welches aus
dem, was er über die dritte und sechste Kupferplatte vorbringet, zu er-
weisen ist. Eben so falsch ist dessen Urtheil über das vermeyntliche hohe
Alterthum der Steine auf der achten bis zur zwölften Platte: er geht hier
nach der Gesdiidite, und glaubet, eine sehr alte Begebenheit, wie der Tod
des Othryades ist, müsse audi einen sehr alten Künstler voraussetzen.
[7|8] Von der Fähigkeit der Empfindung des Sdiönen 215
Durch soldie Kenner ist der vorgegebene Seneca im Bade, in der Villa
Borghese, in Achtung gekommen, welcher ein Gewebe von strickmäßigen
Adern ist, und in meinen Augen der Kunst des Alterthums kaum würdig
zu achten. Dieses Urtheil wird den mehresten einer Ketzerey ähnlich sehen,
und ich würde dasselbe vor ein paar Jahren noch nicht öffentlich gewaget
haben.
Diese Fähigkeit wird durch gute Erziehung erwecket und zeitiger ge-
macht, und meldet sich eher, als in vernachläßigter Erziehung, welche
dieselbe aber nicht ersticken kann, wie ich hier an meinem Theile weis.
Es wickelt sich dieselbe aber eher an großen als kleinen Orten aus, und
im Umgange mehr, als durch Gelehrsamkeit: denn das viele Wissen,
sagen die Griechen, erwecket keinen gesunden Verstand, und die sich
durch bloße Gelehrsamkeit in den Alterthümern bekannt gemacht haben,
sind auch derselben weiter nicht kundig worden. In gebohrnen Römern,
wo dieses Gefühl vor andern zeitiger und reifer werden könnte, bleibet
dasselbe in der Erziehung sinnlos, und bildet sich nicht, weil die Menschen
der Henne gleich sind, die über das Korn, welches vor ihr liegt, hingehet,
um das entferntere zu nehmen: was wir täglich vor Augen haben, pflegt
kein Verlangen zu erwecken. Es lebet nodi itzo ein bekannter Maler Nie.
Ricciolini, ein gebohrner Römer, und ein Mann von großem Talente und
Wissenschaft, auch außer seiner Kunst, welcher vor ein paar Jahren, und
allererst im siebenzigsten Jahre seines Alters, die Statuen in der Villa
Borghese zum erstenmale sah. Es hat derselbe die Baukunst aus dem
Grunde studiret, und dennoch hat er eines I der schönsten Denkmaale,
nemlich das Grab der Cacilia Metella, des Crassus Frau, nicht gesehen,
ohnerachtet er, als ein Liebhaber der Jagd, weit und breit außer Rom
umher gestreifet ist. Es sind daher aus besagten Ursachen, außer dem
Giulio Romano, wenig berühmte Künstler von gebohrnen Römern auf-
gestanden; die mehresten, welche in Rom ihren Ruhm erlanget haben,
sowohl Maler, als Bildhauer und Baumeister, waren Fremde, und es thut
sich auch itzo kein Römer in der Kunst hervor. Dieser Erfahrung zu-
folge, nenne ich ein Vorurtheil, gebohrne Römer zu Zeichnern der
Gemälde einer Gallerie in Deutschland mit großen Kosten verschrieben zu
haben, wo man geschicktere Künstler fand.
Bey angehender Jugend ist diese Fähigkeit, wie eine jede Neigung,
in dunkele und verworrene Rührungen eingehüllet, und meldet sich wie
ein fliegendes Jucken in der Haut, dessen eigentlichen Ort man im Krat-
zen nicht treffen kann. Es ist dieselbe in wohlgebildeten Knaben eher,
als in andern, zu suchen, weil wir insgemein denken wie wir gemacht
216 Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen [8 [9]
sind, in der Bildung aber weniger, als im Wesen und in der Gemüthsart:
ein weiches Herz und folgsame Sinnen sind Zeichen soldier Fähigkeit.
Deutlicher entdecket sich dieselbe, wenn in Lesung eines Scribenten die
Empfindung zärtlich gerühret wird, wo der wilde Sinn Überhin fährt,
wie dieses verschiedentlich geschehen würde in der Rede des Glaucus an
den Diomedes, welches die rührende Vergleichung des Menschlidien
Lebens mit Blättern ist, die der Wind abwirft, und die im Frühlinge wie-
derum hervorsprossen. Wo diese Empfindung nicht ist, prediget man
Blinden die Kenntniß des Schönen, wie die Musik einem nicht Musika-
lischen Gehöre. Ein näheres Zeichen ist bey Knaben, die nicht nahe bey
der Kunst erzogen werden, noch eigen zu derselben bestimmet sind, ein
natürlicher Trieb zum Zeichnen, welcher, wie der zur Poesie und Musik,
eingebohren ist. I
Da ferner die Menschliche Schönheit, zur Kenntniß, in einen allge-
meinen Begriff zu fassen ist, so habe ich bemerket, daß diejenigen, welche
nur allein auf Schönheiten des Weiblichen Geschlechts aufmerksam sind,
und durdi Schönheiten in unserem Geschlechte wenig, oder gar nicht,
gerühret werden, die Empfindung des Schönen in der Kunst nicht leicht
eingebohren, allgemein und lebhaft haben. Es wird dasselbe bey diesen
in der Kunst der Griechen mangelhaft bleiben, da die größten Schön-
heiten derselben mehr von unserm, als von dem andern Geschlechte,
sind. Mehr Empfindung aber wird zum Schönen in der Kunst, als in der
Natur, erfordert, weil jenes, wie die Thränen im Theater ohne Schmerz,
ohne Leben ist, und durch die Einbildung erwecket und ersetzet werden
muß. Da aber diese weit feuriger in der Jugend, als im Männlichen
Alter, ist, so soll die Fähigkeit, von welcher wir reden, zeitig geübet und
auf das Schöne geführet werden, ehe das Alter kommt, in welchem
wir uns entsetzen zu bekennen, es nicht zu fühlen.
Es ist aber, wenn jemand das Schlechte bewundert, nicht allezeit zu
schließen, daß er die Fähigkeit dieser Empfindung nicht habe. Denn so
wie Kinder, welchen man zuläßt, alles, was sie anschauen, nahe vor Augen
zu halten, schielen lernen würden, eben so kann die Empfindung ver-
wöhnet und unrichtig werden, wenn die Vorwürfe der ersten betrach-
tenden Jahre mittelmäßig oder schlecht gewesen. Ich erinnere mich, daß
Personen von Talent an Orten, wo die Kunst ihren Sitz nicht nehmen
kann, über die hervorliegenden Adern an den Männerchen in unseren
alten Domkirchen viel sprachen, um ihren Geschmack zu zeigen: diese
hatten nichts bessers gesehen, wie die Mayländer, die ihren Dom der
Kirche von St. Peter zu Rom vorziehen.
[9|10 10|11] Von der Fähigkeit der Empfindung des Sdiönen 217
Das wahre Gefühl des Schönen gleichet einem flüßigen Gipse, welcher
über den Kopf des Apollo gegossen wird, und denselben in allen Thei- I
len berühret und umgiebt. Der Vorwurf dieses Gefühls ist nicht, was
Trieb, Freundschaft und Gefälligkeit anpreißen, sondern was der innere
feinere Sinn, welcher von allen Absichten geläutert seyn soll, um des
Sdiönen willen selbst, empfindet. Sie werden hier sagen, mein Liebster,
ich stimme mit Platonischen Begriffen an, die vielen diese Empfindung
absprechen könnten; Sie wissen aber, daß man im Lehren, wie in Ge-
setzen, den höchsten Ton suchen muß, weil die Saite von selbst nachläßt:
ich sage, was seyn sollte, nicht was zu seyn pfleget, und mein Begriff ist
wie die Probe von der Richtigkeit der Rechnung.
Das Werkzeug dieser Empfindung ist der äußere Sinn, und der Sitz
derselben der innere: jener muß richtig, und dieser empfindlich und fein
seyn. Es ist aber die Richtigkeit des Auges eine Gabe, welche vielen man-
gelt, wie ein feines Gehör, und ein empfindlicher Geruch. Einer der be-
rühmtesten gegenwärtigen Sänger in Italien, hat alle Eigenschaften seiner
Kunst, bis auf ein richtiges Gehör; ihm fehlet das, was der blinde Saun-
derson, des Newtons Nadifolger, überflüßig hatte. Viele Aerzte würden
geschickter seyn, wenn sie ein feines Gefühl erlanget hätten. Unser Auge
wird vielmals durch die Optic, und nicht selten durch sich selbst be-
trogen.
Die Richtigkeit des Auges bestehet in Bemerkung der wahren Gestalt
und Größe der Vorwürfe, und die Gestalt geht sowohl auf die Farbe,
als auf die Forme. Die Farben müssen die Künstler nicht auf gleiche Weise
sehen, weil sie dieselben verschiedentlich nachahmen. Zum Beweise des-
selben will ich nicht die überhaupt sdilechte Colorit einiger Maler, als
des Poußin, anführen, weil dieselbe zum Theil an Vernachläßigung, an
schlechter Anführung, und an der Ungeschicklichkeit lieget; ich schließe
unterdessen aus dem, was ich selbst ausführen gesehen, daß solche Maler
ihre schlechte Colorit nicht erkennen. Einer der besten Brittischen Maler
hätte seinen Tod des Hectors, in Lebensgröße, wo die Colorit weit unter
der I Zeidinung ist, weniger geschätzet: dieses Stück wird in weniger Zeit,
zu Rom in Kupfer gestochen, erscheinen. Mein Satz gründet sich vornehm-
lidi auf diejenigen Künstler, die unter die guten Coloristen gezählet wer-
den, und gewisse Mängel haben; und ich kann hier den berühmten Frie-
drich Barocci anführen, dessen Fleisdi ins Grünlidie fällt. Es hatte der-
selbe eine besondere Art, die erste Anlage des Nackenden mit Grün zu
madien, wie man an einigen unvollendeten Stücken in der Gallerie Albani
augenscheinlich erkennet. Die Colorit, welche in des Guido Werken sanft
218 Von der Fähigkeit der Empfindung des Sdiönen [11|12]
und frölich ist, und stark, trübe, und vielmals traurig im Guercino er-
scheinet, liest man so gar auf dem Gesichte dieser beyden Künstler.
Nidit weniger verschieden sind die Künstler in Vorstellung der wah-
ren Gestalt der Forme, welches man schließen muß aus den unvollkom-
menen Entwürfen derselben in ihrer Einbildung. Barocci ist an seinen
sehr gesenkten Profilen des Gesichts, Pietro von Cortona an dem klein-
lichen Kinne seiner Köpfe, und Parmigianino an dem langen Ovale und
an den langen Fingern kenntlich. Ich will aber nicht behaupten, daß zu
der Zeit, da alle Figuren gleichsam schwindsüchtig waren, wie vor dem
Raphael, und da dieselben wie wassersüchtig wurden durch den Bernini,
allen Künstlern die Richtigkeit des Auges gemangelt habe: denn hier liegt
die Schuld an einem falschen Systema, welches man wählete, und ihm
blindlings folgete. Mit der Größe hat es eben die Bewandniß. Wir sehen,
daß Künstler auch in Portraits, in der Maaße der Theile, die sie in Ruhe
und nach ihrem Wunsche sehen, fehlen; an einigen ist der Kopf kleiner,
oder größer, an andern die Hände; der Hals ist zuweilen zu lang, oder
zu kurz, u. s. f. Hat das Auge in einigen Jahren von beständiger Uebung
diese Proportion nicht erlanget, so ist dieselbe vergebens zu hoffen.
Da nun dasjenige, was wir auch an geübten Künstlern bemerken,
von einer Unrichtigkeit ihres Auges herrühret, so wird dieses noch häufi- I
ger bey andern Personen seyn, die diesen Sinn nicht auf gleiche Art ge-
übet haben. Ist aber die Anlage zur Richtigkeit vorhanden, so wird die-
selbe durch die Uebung gewiß, wie selbst im Gesichte geschehen kann:
der Herr Cardinal Alex. Albani ist im Stande, bloß durch Tasten und
Fühlen vieler Münzen zu sagen, welchen Kaiser dieselben vorstellen.
Wenn der äußere Sinn richtig ist, so ist zu wünschen, daß der in-
nere diesem gemäß vollkommen sey: denn es ist derselbe wie ein zweyter
Spiegel, in welchem wir das Wesentliche unserer eigenen Aehnlichkeit,
durch das Profil, sehen. Der innere Sinn ist die Vorstellung und Bil-
dung der Eindrücke in dem äußeren Sinne, und, mit einem Worte, was
wir Empfindung nennen. Der innere Sinn aber ist nicht allezeit dem äus-
seren proportionirt, das ist, es ist jener nicht in gleichem Grade empfind-
lich mit der Richtigkeit von diesem, weil er mechanisch verfährt, wo
dort eine geistige Wirkung ist. Es kann also richtige Zeichner geben ohne
Empfindung, und ich kenne einen solchen; diese aber sind höchstens nur
geschickt, das Schöne nachzuahmen, nicht selbst zu finden und zu entwer-
fen. Dem Bernini war diese Empfindung in der Bildhauerey von der
Natur versagt; Lorenzetto aber war mit derselben, wie es scheint, mehr,
als andere Bildhauer neuerer Zeiten, begabt. Er war des Raphaels
[12|13 13]14] Von der Fähigkeit der Empfindung des Sdiönen 219
Schüler, und sein Jonas, in der Capelle Chigi, ist bekannt; ein vollkom-
mener Werk aber von ihm, im Pantheon, eine stehende Madonna, nodi
einmal so groß, als die Natur, welche er nach seines Meisters Tode machte,
wird von niemand bemerket. Ein anderer verdienter Bildhauer ist
noch weniger bekannt: er heißt Lorenzo Ottone, ein Sdlüler des Hercu-
les Ferrata, und von demselben ist eine stehende heil. Anna in eben dem
Tempel; so daß zwo der besten neueren Statuen an eben dem Orte ste-
hen. Die schönsten Figuren neuerer Bildhauer neben diesen, sind der
heil. Andreas von Fiamingo, und die Religion von le Gros, in der Kir-1
die al Gesu. Ich begehe hier eine Ausschweifung, welche, weil sie unter-
richtet, Verzeihung verdienet. Dieser innere Sinn, von welchem ich rede,
muß fertig, zart, und bildlich seyn.
Fertig und schnell muß derselbe seyn, weil die ersten Eindrücke die
stärksten sind, und vor der Ueberlegung vorhergehen: was wir durch diese
empfinden, ist schwächer. Dieses ist die allgemeine Rührung, welche uns
auf das Schöne ziehet, und kann dunkel und ohne Gründe seyn, wie mit
allen ersten und schnellen Eindrücken zu geschehen pfleget, bis die Unter-
suchung der Stücke die Ueberlegung zuläßt, annimmt und erfordert.
Wer hier von Theilen auf das Ganze gehen wollte, würde ein Gramma-
ticalisches Gehirn zeigen, und schwerlich eine Empfindung des Ganzen
und eine Entzückung in sich erwecken.
Zart muß dieser Sinn mehr, als heftig, seyn, weil das Schöne in der
Harmonie der Theile bestehet, deren Vollkommenheit ein sanftes Steigen
und Sinken ist, die folglich in unsere Empfindung gleichmäßig wirket,
und dieselbe mit einem sanften Zuge führet, nicht plötzlich fortreißet. Alle
heftige Empfindungen gehen über das Mittelbare hinweg zum Unmittel-
baren, da das Gefühl hingegen gerühret werden soll, wie ein schöner
Tag entstehet, durch Anmeldung einer lieblichen Morgenröthe. Es ist
audi die heftige Empfindung der Betrachtung und dem Genüsse des Sdiö-
nen naditheilig, weil sie zu kurz ist: denn sie führet auf einmal dahin, was
sie stuffenweise fühlen sollte. Auch in dieser Betrachtung scheint das Alter-
thum ihre Gedanken in Bilder eingekleidet zu haben, und verdeckte den
Sinn derselben, um dem Verstände das Vergnügen zu gönnen, mittelbar
dahin zu gelangen. Es sind daher sehr feurige, flüchtige Köpfe, zur
Empfindung des Schönen nicht die fähigsten, und so wie der Genuß un-
ser selbst, und das wahre Vergnügen in der Ruhe des Geistes und des
Körpers zu erlangen ist, so ist es audi das Gefühl und der Genuß des I
Sdiönen, welches also zart und sanft seyn muß, und wie ein milder Thau
kommt, nicht wie ein Platzregen. Da sidi audi das wahre Schöne der
220 Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen [14|15]
Engeland, ist die Pembrokisdie zu Wilton, und in derselben ist alles, was
der Cardinal Mazarin gesammelt hat; man muß sich aber durch den Na-
men des Künstlers Cleomenes unter etlichen Statuen so wenig, als durch
die an einigen Brustbildern zu München gesetzte Taufnamen, irren lassen:
es ist leicht gepfiffen dem, der leicht tanzet. Nach dieser kommt die Arun-
dellische Sammlung, in welcher das beste Stück eine Consularische Sta-
tue ist, unter dem Namen Cicero, folglich wird in derselben nichts seyn,
was schön heißen kann. Eine der schönsten Statuen in Engeland, ist
eine Diana, welche Herr Cook, ehemaliger Englischer Minister zu Flo-
renz, vor vierzig Jahren aus Rom wegführete. Sie ist im Laufen und
Schießen vorgestellet, von ausnehmender Arbeit, und es fehlet ihr nichts,
als der Kopf, welcher neu zu Florenz gemacht ist.
In Frankreich ist die beste Statue der sogenannte Germanicus, zu
Versailles, mit dem wahren Namen des Künstlers Cleomenes, und diese
Figur hat keine besondere Schönheit, sondern scheint nach einem gewöhn-
lichen Modelle im Leben gearbeitet zu seyn. Die Venus mit dem schönen
Hinteren, an eben dem Orte, als welcher daselbst für ein Wunderwerk
gehalten wird, ist wahrscheinlich eine Copie der unter eben dem Namen
noch berühmteren Venus im Pallaste Farnese; aber auch diese kann kaum
unter den Statuen vom zweyten Range stehen, und hat I außerdem einen
neuen Kopf, welches nicht ein jeder sieht, von den Armen nicht zu ge-
denken.
In Spanien, und zwar zu Aranjuez, wo die ehemalige Odescaldiische
Sammlung von Alterthümern stehet, welche der Königinn Christina ge-
hörete, sind das Beste zween wahrhaftig schöne Genii, (welche man ins-
gemein Castor und Pollux nennet) und diese sind schöner, als alles, was in
Frankreich ist. Ferner ist daselbst ein überaus schönes ganzes Brustbild
des Antinous, über Lebensgröße, und eine fälschlich sogenannte liegende
Cleopatra, oder schlafende Nymphe. Das übrige dieser Sammlung ist
mittelmäßig, und die Musen in Lebensgröße haben neue Köpfe, von Her-
cule Ferrata gemacht, von dessen Hand auch der ganze Apollo ist.
In Deutschland fehlet es ebenfalls nicht an Werken der alten Kunst.
Zu Wien aber ist nichts, was Erwähnung verdienete, außer ein schönes
Gefäß von Marmor, in der Größe und Form der berühmten Vase in der
Villa Borghese, mit einem erhaben gearbeiteten Bacchanale umher. Die-
ses Stück ist in Rom gefunden, und gehörete dem Cardinale Nie. del Giu-
dice, in dessen Pallaste zu Neapel es stand. Bey Berlin zu Charlotten-
burg, steht die Sammlung alter Werke, welche der Cardinal Polignac
zu Rom gemacht hat. Das bekannteste sind eilf Figuren, welche der ehe-
224 Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen [19|20 20|21]
malige Besitzer eine Familie des Lycomedes getauft hat, das ist, Achilles
in Weiberkleidern unter den Töchtern von jenem verstecket: man muß
aber wissen, daß alle äußeren Theile dieser Figuren, sonderlich die Köpfe,
neu, und, was das schlimmste ist, von jungen Anfängern in der Fran-
zösischen Academie zu Rom gemacht worden sind; der Kopf des soge-
nannten Lycomedes, ist das Bild des berühmten Herrn von Stosch. Das
beste Stück daselbst, ist ein sitzendes Kind von Erzt, welches mit den
Knochen spielet, welche die Griechen Astragali, und die Römer Tali
nenneten, und anstatt der Würfel dieneten. Der größte Schatz von Alter-
thümern befindet sich zu Dreßden: es bestehet derselbe aus der Gallerie
Chigi in I Rom, welche König Augustus mit 60,000 Scudi erstand, und
denselben mit einer Sammlung von Statuen vermehrete, welche der Herr
Cardinal Alex. Albani demselben für 10,000 Scudi überließ. Idi kann
aber das Vorzüglichste von Schönheit nicht angeben, weil die besten
Statuen in einem Schuppen von Bretern, wie die Heringe gepacket, stan-
den, und zu sehen, aber nicht zu betrachten waren. Einige waren be-
quemer gestellet, und unter denselben sind drey bekleidete Weibliche
Figuren, welche die ersten Herculanischen Entdeckungen sind.
Von Gemälden des großen Raphaels, ist in Engeland nichts, wo es
nicht ein St. George des Grafen Pembroke ist, welcher, so viel ich mich
entsinne, dem in der Gallerie des Herzogs von Orleans ähnlich ist; jener
ist von Pagot gestochen. Zu Hamptoncourt aber, sind acht Cartone des-
selben zu eben so viel Tapeten, weldie in der St. Peterskirche verwahret
werden: diese sind von Dorigny gestochen. Neulich wurde dem Könige
in Engeland von Lord Baltimore eine Zeichnung der Verklärung Christi
von diesem großen Meister, groß wie das Original, aus Rom zum Ge-
schenke überschicket, welche vermuthlich an eben dem Orte wird aufge-
hänget werden. Es ist dieselbe auf das Werk selbst abgezeichnet, mit
schwer nachzuahmender Kunst in schwarzer Kreide ausgeführet, und diese
dergestalt auf das Papier befestiget, daß die Zeichnung nichts leiden kann.
Sie kennen, mein Freund! den Künstler derselben, Herrn Johann Casa-
nova, den größten Zeichner in Rom nach Mengs, dessen Meister, und wir
haben dieses einzige Werk mehr, als einmal, betrachtet und bewundert.
In Frankreich, und zwar zu Versailles, ist die berühmte H. Familie
des Raphaels von Edeling gestochen, und nachher von Frey, nebst der H.
Catharina. In Spanien, im Escurial, sind zwey Stücke von dessen Hand,
von welchen das eine eine Madonna ist. In Deutschland sind zwey Stücke:
zu Wien die H. Catharina, und zu Dreßden das Altarblatt aus dem
Kloster St. Sisto zu Piacenza; aber dieses ist nicht von dessen besten Ma- I
[21122] V o n d e r F ä h i g k e i t der E m p f i n d u n g des Schönen 225
dieses Feld nicht zu weitläuftig hier zu bestreiten wäre. Ich muß nach den
Gränzen dieser Schrift, und nadi denjenigen, die mir andere wichtige
Ausarbeitungen und Geschäfte setzen, mich begnügen, einzelne Blumen
und Kräuter auf demselben zu suchen.
Das Schöne in diesen Künsten ist schwerer in der Ersteren, leichter in
der Zweyten, und noch leichter in der Dritten einzusehen: der Beweis
aber von der Ursache des Schönen, ist allenthalben schwer, und hier gilt
der bekannte Satz, daß nichts schwerer ist, als der Beweis einer augen-
scheinlichen Wahrheit, und die von allen durch Hülfe der Sinne be-
griffen wird.
In der Baukunst ist das Schöne mehr allgemein, weil es vornehmlich
in der Proportion besteht: denn ein Gebäude kann durch dieselbe allein,
ohne Zierrathen, schön werden und seyn. Die Bildhauerey hat zwey
schwere Theile, nemlich die Colorit, und Licht und Schatten, nicht, durch
welche die Malerey ihre größte Schönheit erhebet, und also ist es stuffen-
weis leichter, die eine, als die andere Kunst, zu besitzen und einzusehen.
Aus diesem Grunde konnte Bernini, ohne Gefühl des Menschlichen Schö-
nen, ein grosser Baumeister seyn, welches Lob derselbe in der Bildhauerey
nicht verdienet. Dieses ist so sinnlich, daß es mich wundert, wie es Leute
geben können, welche gezweifelt, ob die Malerey oder die Bildhauerey
schwerer sey: denn daß es in den neueren Zeiten weniger gute Bildhauer,
als Maler, gege I ben, kann dieses nicht zweifelhaft machen. Hieraus fol-
get, da das Schöne in der [Baukunst] mehr, als in den beyden andern
Künsten, auf Eins gerichtet ist, daß die Empfindung desselben in diesen
so viel seltener seyn müsse, da dieselbe in jener Kunst selten ist, wie sich
dieses auch so gar in Rom selbst an den neuesten Gebäuden offenbaret,
unter welchen wenige nach den Regeln der wahren Schönheit ausgeführet
sind, wie es die von Vignola ohne Ausnahme zu seyn pflegen. In Florenz
ist die schöne Baukunst sehr selten, so daß nur ein einziges kleines Haus
schön heißen kann, welches audi die Florentiner als ein Wahrzeichen
weisen: eben dieses kann man von Neapel sagen. Venedig aber Übertrift
diese beyden Städte durch verschiedene Palläste am großen Canale, welche
von Palladio aufgeführet sind. Man mache selbst den Schluß von Italien
auf andere Länder. In Rom aber sind mehr schöne Palläste und Häuser,
als in ganz Italien zusammen genommen; das schönste Gebäude unserer
Zeiten, ist die Villa des Herrn Cardinais Alex. Albani, und der Saal in
derselben kann der schönste und prächtigste in der Welt heißen.
Der Inbegriff des Schönen in der Baukunst, ist an dem schönsten
Gebäude in der Welt zu suchen, und dieses ist St. Peter. Die Mängel,
[23|24] Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen 227
ist ein Gesicht von dieser Art, der Borghesische Genius von jener; der
Kopf des Apollo kommt nur einer unmuthigen und verach I tenden Gott-
heit zu. Das Bekleidete der alten Figuren kann in seiner Art schön, wie
das Nackende, heißen: denn alle ihre Gewänder sind gut und schön
geworfen, und nicht alle sind nach nassen Gewändern gearbeitet, wie
insgemein irrig vorgegeben wird; dieses sind die feinen Gewänder, welche
nahe am Fleische liegen mit niedrigen und kleinen Falten. Man kann also
aus diesem Grunde die neuern Künstler nicht entschuldigen, die in histo-
rischen Werken, anstatt der Gewänder der Alten, sich andere gebildet
haben, die niemals gewesen sind.
An den erhobenen Arbeiten der Alten haben einige Scribenten, welche
von ihren Werken nur wie die Pilgrimme von Rom reden können, auszu-
setzen gefunden, daß alle Figuren gleich erhoben seyn, ohne Malerische
Abweichung, welche verschiedene Gründe und Weiten erfordert. Sie setzen
dieses als erwiesen voraus, und schließen auf eine Ungeschicklichkeit, als
wenn es schwerer wäre flach, als erhoben, zu modelliren. Diesen sage man,
daß sie vieles nicht wissen: es finden sich solche Werke von drey ver-
schiedenen Abweidlungen und Erhobenheiten der Figuren, und ein solches
steht in dem prächtigen Saale der Villa Albani. In Werken neuerer Bild-
hauer muß man von der gemeinen Regel abgehen; man kann hier nicht
allezeit von dem Werke auf den Meister schließen: denn ζ. E. die Statue
des H. Dominicus mit der Kleidung seines Ordens, in St. Peter, war dem
geschickten le Gros ein fast unüberwindlicher Widerstand zur Schönheit
zu gelangen.
Die Schönheit in der Malerey ist sowohl in der Zeichnung, und in
der Composition, als in der Colorit, und im Lichte und Schatten. In der
Zeichnung ist die Schönheit selbst der Probierstein, auch in dem, was
Furcht erwecken soll: denn was von der schönen Form abweichet, kann
gelehrt, aber nicht schön gezeichnet heißen. Verschiedene Figuren in dem
Göttermahle des Raphaels, können mit diesem Satze nicht bestehen; aber
dieses Werk ist von dessen Schülern ausgeführet, unter welchen Giulio
Romano, der ihm am liebsten war, das Gefühl des wahren Schönen nicht
besaß. I Da die Raphaelische Schule, welche nur wie die Morgenröthe
hervor kam, aufhörete, verließen die Künstler das Alterthum, und gien-
gen, wie vorher geschehen war, ihrem eigenen Dünkel nach. Durch die
beyden Zucchari fieng das Verderbniß an, und Giuseppe von Arpino ver-
blendete sich und andere. Beynahe fünfzig Jahre nach dem Raphael fieng
die Schule der Caracci an zu blühen, deren Stifter Ludwig, der Aeltere
von ihnen, nur auf vierzehen Tage Rom sah, und folglich seinen Enkeln,
[26|27] Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen 229
Viel und gut steht selten beysammen, und derjenige, welcher an seinen
Freund schrieb: ich habe nicht Zeit gehabt, mich kürzer zu fassen, wußte,
daß nicht das Viele, sondern das Wenige, schwer ist. Thiepolo macht mehr
in einem Tage, als Mengs in einer Woche: aber jenes ist gesehen und ver-
gessen; dieses bleibt ewig. Wenn aber die großen Werke nach allen Thei-
len ausstudiret sind, wie das jüngste Gericht des Michael Angelo, wovon
sich viele erstere eigenhändige Entwürfe einzelner Figuren, und Haufen
mehrerer, in den vormals Albanischen, itzo Königl. Englischen Zeichnun-
gen fin I den, und wie die Schlacht des Constantins vom Raphael ist, wo
wir nicht weniger Vorwürfe von Verwunderung sehen, als der Held, dem
Pallas beym Homerus das Schlachtfeld zeigen würde, alsdenn, sage ich,
haben wir ein ganzes Systema der Kunst vor Augen. Die Erläuterung
der obigen Erinnerung giebt die Schlacht des Alexanders wider den Porus,
von Pietro von Cortona, im Campidoglio, welches ein Gemengsei von
geschwind entworfenen und ausgeführten kleinen Figuren ist, insgemein
aber als ein Wunderwerk gezeiget und gesehen wird, um so viel mehr,
da die Legende sagt, Ludwig X I V . habe dem Hause Savelli, wo dieses
Stück war, 20,000 Scudi dafür gebothen, welche Lügen neben dessen
Gebothe von 100,000 Louis für die Nacht des Correggio stehen kann.
Wissen, anpreisen. Jene aber zeigen die Gewißheit und Zuversicht, und
der freye Pinsel verlieret nichts im nahen, und wirket viel weiter, als
jener. Von dieser Art ist die Krone aller Gemälde im Kleinen in der Welt,
im Pallaste Albani, nemlich die berühmte Verklärung Christi des Ra-
phaels, welches viele für das Werk dieses Meisters I selbst halten, einige
aber dessen Schülern zuschreiben. Von der andern Art ist eine Abneh-
mung vom Kreuze von Van der Werf, eines seiner besten Werke, an eben
dem Orte, welches der Künstler für den Churfürsten von der Pfalz zum
Geschenke an Pabst Clemens XI. gemacht hat. In der Colorit des Nacken-
den sind Correggio und Titiano die Meister unter allen: denn ihr Fleisch
ist Wahrheit und Leben: Rubens, welcher in der Zeichnung nicht Idealisch
ist, ist es hier; sein Fleisch gleichet der Rothe der Finger, welche man
gegen die Sonne hält, und seine Colorit ist gegen jene, wie das ächte
Porcellan gegen eine durchsichtige Glascomposition.
In Absicht des Lichts und Schattens, können wenige Werke des Ca-
ravaggio und des Spagnoletto schön seyn: denn sie sind der Natur des
Lichts zuwider. Der Grund ihrer finsteren Schatten ist der Satz: ent-
gegen gesetzte Dinge neben einander, werden scheinbarer; wie es eine
weis[s]e Haut durch ein dunkles Kleid wird. Die Natur aber handelt
nicht nach diesen Satz; sie geht stuffenweis auch in Licht, Schatten und
Finsterniß, und vor dem Tage geht vorher die Morgenröthe, und vor der
Nacht die Demmerung. Die Pedanten in der Malerey pflegen diese
schwarze Kunst zu sdiätzen, wie die in der Gelehrsamkeit einige be-
schmauchte Scribenten. Aber ein Liebhaber der Kunst, welcher in sich ein
Gefühl des Schönen bemerket, und nicht genügsame Kenntniß besitzet,
wird irre, wenn er von vermeynten Kennern Gemälde schätzen höret,
wo ihm sein Sinn das Gegentheil spricht. Hat derselbe die Werke der
besten Meister betrachtet, so daß er eine nothdürftige Erfahrung erlanget
hat, kann derselbe sein Auge und sein Gefühl mehr, als den Ausspruch,
welcher ihn nicht überzeuget, sich eine Regel seyn lassen. Denn es giebt
Leute, die nur das loben, was andern nicht gefällt, um sich dadurch über
die gemeine Meynung hinweg zu setzen: so wie der berühmte Maifei,
welcher sehr seicht im Griechischen war, den finsteren und gezwungenen
Nicander dem Homerus gleich schätzte, um etwas fremdes zu sagen, und
von sich glauben zu machen, daß er seinen Held gele I sen und verstanden.
Der Liebhaber der Kunst kann versidiert seyn, daß, wenn es nicht nöthig
wäre, die Manier gewisser Meister zu kennen, die Gemälde des Luca
Giordano, des Preti von Calabrese, des Solimena, und überhaupt aller
Neapelschen Maler, kaum die Zeit werth sind, dieselben zu untersuchen:
232 Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen [30|31]
eben dieses kann von den neueren Venetianischen Malern, sonderlich vom
Piazzetta, gesagt werden.
Ich füge diesem Unterrichte zur Empfindung des Schönen in der
Kunst folgende Erinnerungen bey. Man sey vor allen Dingen aufmerksam
auf besondere eigenthiimlidie Gedanken in den Werken der Kunst, welche
zuweilen wie kostbare Perlen in einer Schnur von schlechteren stehen, und
sich unter diesen verlieren können. Unsere Betrachtung sollte anheben von
den Wirkungen des Verstandes, als dem würdigsten Theile, auch der
Schönheit, und von da heruntergehen auf die Ausführung. Dieses ist son-
derlich bey Poußins Werken zu erinnern, wo das Auge durch die Colorit
nicht gereizet wird, und also den vornehmsten Werth derselben übersehen
könnte. Es hat derselbe die Worte des Apostels: „Ich habe einen guten
Kampf gekämpfet," in dem Gemälde der letzten Oelung, durch einen
Schild über dem Bette des Sterbenden vorgestellet, auf welchem der Name
Christus, wie auf den alten Christlichen Lampen steht; unter demselben
hängt ein Köcher, welches auf die Pfeile des Bösewichts deuten kann. Die
Plage der Philister an heimlichen Orten ist in zwo Personen ausgedrücket,
welche dem Kranken die Hand reichen, und sidi die Nase zuhalten. Ein
edler Gedanken ist in der berühmten Io des Correggio der lechzende
Hirsch am Wasser, aus den Worten des Psalmisten: „Wie der Hirsch
schreyet" etc. genommen, als ein reines Bild der Brunst des Jupiters:
denn das Schreyen des Hirsches heißt im Hebräischen zugleich etwas
sehnlich und brünstig verlangen. Schön gedacht ist der Fall der ersten
Menschen vom Domenidiino in der Gallerie Colonna: der Allmächtige,
von einem Chor der Engel getragen, hält dem Adam sein Vergehen vor;
dieser wirft die Schuld auf die I Eva, und Eva auf die Schlange, welche
unter ihr kriechet; und diese Figuren sind stuffenweis, wie die Handlung
ist, gestellet, und in einer Kette von hinübergehender Handlung einer auf
die andere.
Die zwote Erinnerung sey die Beobachtung der Natur. Die Kunst,
als eine Nachahmerinn derselben, soll zur Bildung der Schönheit allezeit
das Natürliche suchen, und alles Gewaltsame, so viel möglich ist, vermei-
den, weil selbst die Schönheit im Leben durch gezwungene Gebährden
misfällig werden kann. Wie viel angebrachtes Wissen in einer Schrift,
einem klaren und deutlichen Unterrichte weichen muß, so soll es dort die
Kunst der Natur thun, und jene soll nach dieser abgewogen werden.
Wider diesen Satz haben große Künstler gehandelt, deren Haupt hier
Michael Angelo ist, welcher, um sich gelehrt zu zeigen, in den Figuren
der Großherzoglichen Gräber, so gar die Unanständigkeit derselben über-
[31|32] Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen 233
sehen hat. Aus diesem Grunde soll man in starken Verkürzungen keine
Schönheit suchen: denn diese sind wie die ausstudirte Kürze in des Car-
tesius Geometrie, und verbergen, was sichtbar seyn sollte; es können
dieselben Beweise seyn von der Fertigkeit im Zeichnen, aber nicht von
der Kenntniß der Schönheit.
Die dritte Erinnerung betrifft die Ausarbeitung. Da diese nicht das
erste und das höchste Augenmerk seyn kann, so soll man über die Künste-
leyen in derselben, als wie über Sdiönfledce, hinsehen: denn hier können
die Künstler aus Tirol, welche das ganze Vater unser erhoben auf einem
Kirschkerne geschnitten haben, allen den Rang streitig machen. Wo aber
Nebendinge mit der Hauptsache gleich fleißig ausgeführet worden, wie es
die Kräuter auf dem Vorgrunde der Verklärung Christi sind, zeiget es
die Gleichförmigkeit des Künstlers im Denken und Wirken, welcher, wie
der Schöpfer, auch im Kleinsten groß und schön erscheinen wollen. Maffei,
welcher, wiewohl irrig, vorgiebt, daß die alten Steinschneider die Gründe
ihrer vertieften Figuren glätter, als die Neuern, zu machen verstanden,
muß auf Kleinigkeiten in der Kunst mehr, als auf das Wesentliche, auf-
merksam gewesen seyn. Die Glätte des Marmors ist also keine Eigenschaft
einer Statue, wie die Glätte I eines Gewandes, sondern höchstens wie es
die glatte Oberfläche des Meeres ist: denn es sind Statuen, und zwar einige
der schönsten, nicht geglättet.
Dieses kann zur Absicht dieses Entwurfs, welcher allgemein seyn sollte,
hinlänglich geachtet werden. Die höchste Deutlichkeit kann Dingen, die
auf der Empfindung bestehen, nicht gegeben werden, und hier läßt sich
schriftlich nicht alles lehren, wie unter andern die Kennzeichen beweisen,
welche Argenville in seinen Leben der Maler von den Zeichnungen der-
selben zu geben vermeynet. Hier heißt es: gehe hin und sieh; und Ihnen,
mein Freund, wünsche ich wieder zu kommen. Dieses war Ihr Ver-
sprechen, da ich Ihren Namen in die Rinde eines prächtigen und belaubten
Ahorns, zu Frascati, schnitt, wo ich meine nicht genutzte Jugend in Ihrer
Gesellschaft zurück rief, und dem Genius opferte. Erinnern Sie sich des-
selben und Ihres Freundes: genießen Sie Ihre schöne Jugend in einer
edlen Belustigung, und ferne von der Thorheit der Höfe, damit Sie sich
selbst leben, weil Sie es können, und erwecken Sie Söhne und Enkel nach
ihrem Bilde.
234
Dem
Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn,
HERRN
FRIEDRICH CHRISTIAN
Königlichen Prinzen in Pohlen etc.
Herzoge zu Sachsen etc. etc.
DURCHLAUCHTIGSTER CHURFÜRST,
Gnädigster Herr!
EW. KÖNIGL. H O H E I T
unterthänigster Knecht,
Johann Winckelmann.
[IX|X] 235
Vorrede
zu, der
Geschichte der Kunst des Alterthums.
Die Geschichte der Kunst des Alterthums, welche ich zu schreiben
unternommen habe, ist keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Ver-
änderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort GESCHICHTE in der
weiteren Bedeutung, weldie dasselbe in der Griechischen Sprache hat,
und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern. Dieses
habe ich in dem Ersten Theile, in der Abhandlung von der Kunst der
alten Völker, von jedem insbesondere, vornehmlich aber in Absicht der
Griechischen Kunst, auszuführen gesudiet. Der Zweyte Theil enthält die
Geschichte der Kunst im engeren Verstände, I das ist, in Absicht der
äußeren Umstände, und zwar allein unter den Griechen und Römern.
Das Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl, als in jenem Theile, der
vornehmste Entzweck, in welches die Geschichte der Künstler wenig
Einfluß hat, und diese, welche von andern zusammengetragen worden,
hat man also hier nicht zu suchen: es sind hingegen auch in dem zweyten
Theile diejenigen Denkmale der Kunst, welche irgend zur Erläuterung
dienen können, sorgfältig angezeiget.
Die Geschichte der Kunst soll den Ursprung, das Wachsthum, die
Veränderung und den Fall derselben, nebst dem verschiedenen Stile der
Völker, Zeiten und Künstler, lehren, und dieses aus den übrig gebliebenen
Werken des Alterthums, so viel möglich ist, beweisen.
Es sind einige Schriften unter dem Namen einer Geschichte der Kunst
an das Licht getreten; aber die Kunst hat einen geringen Antheil an den-
selben: denn ihre Verfasser haben sich mit derselben nidit genug bekannt
gemachet, und konnten also nichts geben, als was sie aus Büchern, oder
von sagen hören, hatten. In das Wesen und zu dem Innern der Kunst
führet fast kein Scribent, und diejenigen, welche von Alterthümern han-
deln, berühren entweder nur dasjenige, wo Gelehrsamkeit anzubringen
war, oder wenn sie von der Kunst reden, geschieht es theils mit allgemei-
nen Lobsprüchen, oder ihr Urtheil ist auf fremde und falsche Gründe
236 Geschichte der Kunst. Vorrede [ X | X I X I | X I I ]
gebauet. Von dieser Art ist des Monier Geschichte der Kunst, und des
Dürand Uebersetzung und Erklärung der letzten Bücher des Plinius, un-
ter dem Titel: GESCHICHTE DER ALTEN M A L E R E Y : audi Turnbull in seiner
Abhandlung von der alten Malerey, gehöret in diese Classe. Aratus,
welcher die Astronomie nicht verstand, wie Cicero sagt, konnte ein be-
rühmtes Gedicht über dieselbe schreiben; ich weis aber nicht, ob audi ein I
Grieche ohne Kenntniß der Kunst etwas würdiges von derselben hätte
sagen können.
Untersuchungen und Kenntnisse der Kunst wird man vergebens
suchen in den großen und kostbaren Werken von Beschreibung alter
Statuen, die bis itzo bekannt gemachet worden sind. Die Beschreibung
einer Statue soll die Ursache der Schönheit derselben beweisen, und das
besondere in dem Stile der Kunst angeben: es müssen also die Theile der
Kunst berühret werden, ehe man zu einem Urtheile von Werken der-
selben gelangen kann. Wo aber wird gelehret, worinnen die Schönheit
einer Statue besteht? welcher Scribent hat dieselbe mit Augen eines weisen
Künstlers angesehen? Was zu unsern Zeiten in dieser Art geschrieben
worden, ist nicht besser, als die Statuen des Callistratus; dieser magere
Sophist hätte nodi zehenmal so viel Statuen beschreiben können, ohne
jemals eine einzige gesehen zu haben: unsere Begriffe schrunden bey den
mehresten solcher Beschreibungen zusammen, und was groß gewesen, wird
wie in einen Zoll gebracht.
Eine Griechische und eine sogenannte Römische Arbeit wird insgemein
nach der Kleidung, oder nach deren Güte, angegeben: ein auf der linken
Schulter einer Figur zusammengehefteter Mantel soll beweisen, daß sie
von Griechen, ja in Griechenland gearbeitet worden 1 . Man ist sogar darauf
gefallen, das Vaterland des Künstlers der Statue des Marcus Aurelius,
in dem Schöpfe Haare auf dem Kopfe des Pferdes zu suchen; man hat
einige Aehnlichkeit mit einer Eule an demselben gefunden, und dadurch
soll der Künstler Athen haben anzeigen wollen 2 . So bald eine gute Figur
nur nicht als ein Senator gekleidet ist, heißt sie Grie I chisch, da wir doch
gleichwohl Senatorische Statuen von namhaften Griechischen Meistern
haben. Ein Gruppo in der Villa Borghese führet den Namen Marcus
Coriolanus mit seiner Mutter: dieses wird vorausgesetzet, und daraus
sdiließt man, daß dieses Werk zur Zeit der Republik gemacht worden 1 ,
und eben deswegen findet man es schlechter, als es nicht ist. Und weil einer
1
Fabret. Inscr. p. 400. n. 293.
* Pinaroli Rom. ant. mod. P. I. p. 106. Spectat. Vol. 3. |
1
Ficoroni Rom. ant. p. 20.
[ X I I I X I I I ] Geschichte der Kunst. Vorrede 237
Statue von Marmor in eben der Villa der Name der Zigeunerinn (Egizzia)
gegeben worden, so findet man den wahren Aegyptischen Stil in dem
Kopfe 2 , welcher nichts weniger zeiget, und nebst den Händen und Füßen,
gleichfalls von Erzt, vom Bernini gemachet ist. Das heißt, die Baukunst
nach dem Gebäude einriditen. Eben so ungründlich ist die von allen ohne
aufmerksame Betrachtung angenommene Benennung des vermeynten Pa-
pirius mit seiner Mutter, in der Villa Ludovisi 3 , und dü Bos findet4 in
dem Gesichte des jungen Menschen ein arglistiges Lächeln, wovon wahr-
haftig keine Spur da ist. Dieses Gruppo stellet vielmehr die Phädra und
den Hippolytus vor, dessen Figur Bestürzung im Gesichte zeiget über den
Antrag der Liebe von einer Mutter: die Vorstellungen der Griechischen
Künstler, (wie Menelaus der Meister dieses Werks ist,) waren aus ihrer
eigenen Fabel und Heldengeschichte genommen.
In Absicht der Vorzüglichkeit einer Statue ist es nicht genug, so wie
Bernini vielleicht aus unbedaditsamer Frediheit gethan6, den Pasquin für
die schönste aller alten Statuen zu halten; man soll auch seine Gründe
bringen: auf eben diese Art hat I te er die M E T A S U D ANTE vor dem Coliseo
als ein Muster der alten Baukunst anführen können.
Einige haben aus einem einzigen Budistaben den Meister kühnlich
angegeben1, und derjenige, welcher die Namen einiger Künstler an Sta-
tuen, wie bey dem gedachten Papirius, oder vielmehr Hippolytus, und
bey dem Germanicus gesdiehen, mit Stillschweigen übergangen, giebt uns
den Mars von Johann Bologna in der Villa Medicis für eine Statue aus
dem Alterthume an 2 ; dieses hat zugleich andere verführet 3 . Ein anderer,
um eine sdilechte alte Statue, den vermeynten Narcissus in dem Pallaste
Barberini4, anstatt einer guten Figur, zu beschreiben, erzählet uns die Fabel
desselben, und der Verfasser einer Abhandlung von drey Statuen im
Campidoglio, der Roma, und zween Barbarischer gefangener Könige,
giebt uns wider Vermuthen eine Geschichte von Numidien 6 : das heißt,
wie die Griechen sagen, Leucon trägt ein Ding, und sein Esel ein ganz
anderes.
1
Mafiei Stat. ant. n. 79.
» Ibid. n. 63.
4
Reil, sur la Poes. Τ . I. p. 3 7 2 .
5
Baldinuc. Vit. di Bern. p. 72. Bern. Vit. del med. p. 1 3 . 1
1
Capac. Antiq. Campan. p. 10.
1
Mafiei Stat. ant. n. 30.
s
Montfauc. Diar. Ital. p. 222.
4
Tetii Aedes Barber, ρ. 18 j .
* Brasdiius de trib. Stat. c. 13. p. 1 2 $ .
238 Geschichte der Kunst. Vorrede [XIII|XIV XIV|XV]
nodi von sonst jemand, bemerket worden ist, weil er in dem Keller unter
dem Pallaste steht.
Montfaucon hat sein Werk entfernet von den Schätzen der alten
Kunst zusammengetragen, und hat mit fremden Augen, und nadi Kup-
fern und Zeichnungen geurtheilet, die ihn zu großen Vergehungen ver-
leitet haben. Hercules und Antäus im Pallaste Pitti zu Florenz, eine
Statue von niedrigem Range, und über die Hälfte neu ergänzet, ist beym
Maffeia und bey ihm3 nidits weniger, als eine Arbeit des Polycletus. Den
Schlaf von schwarzem Marmor in der Villa Borghese, vom Algardi, giebt
er für alt aus4: eine von den großen neuen Vasen aus eben dem Marmor,
von Silvio von Veletri gearbeitet, die neben dem Sdilafe gesetzet sind,
und die er auf einem Kupfer dazu gesetzt gefunden6, soll ein Gefäß mit
schlafmachendem Safte bedeuten. Wie viel merkwürdige Dinge hat er
übergangen! Er bekennet®, er habe niemals einen Hercules in Marmor
mit einem Hörne des Ueberflusses gesehen: in der Villa Ludovisi aber,
ist er also in Lebensgröße vorgestellet, in Gestalt einer Herma, und das
Horn ist wahrhaftig alt. Mit eben diesem Attribute steht Hercules auf
einer zerbrochenen Begräbnißurne7, unter den Trümmern der Alter-1
thümer des Hauses Barberini, welche vor einiger Zeit verkauft worden
sind.
Es fällt mir ein, daß ein anderer Franzos, Martin, ein Mensch, weldier
sich erkühnen können zu sagen, Grotius habe die Siebenzig Dolmetscher
nicht verstanden, entscheidend und kühn vorgiebt1, die beyden Genii an
den alten Urnen können nicht den Schlaf und den Tod bedeuten; und der
Altar, an welchem sie in dieser Bedeutung mit der alten Ueberschrift des
Schlafs und des Todes stehen, ist öffentlich in dem Hofe des Pallastes
Albani aufgestellet2. Ein anderer von seinen Landesleuten straft den
Jüngeren Plinius Lügen, über die Beschreibung seiner Villa3, von deren
Wahrheit uns die Trümmer derselben überzeugen.
Gewisse Vergehungen der Scribenten über die Alterthümer, haben sich
2
Stat. ant. n. 43.
8
Antiqu. expl. Τ . I. p. 361. Supplem. Τ. I. p. 2 1 j.
4
Ant. expl. Τ. I. p. 365.
8
Montelat. Vil. Borgh. p. 294.
' Ant. expl.
7
conf. Winckelm. Descr. des Pier. gr. etc. p. 273. |
1
Explic. des Monum. qui ont rapport έ la relig. p. 3 6.
2
conf. Spanh. Obs. in Callim. Hymn, in Del. p. 459.
* conf. Lancis. Animadv. in Vil. Plin. p. 22.
240 Geschichte der Kunst. Vorrede. [XVI|XVII X V I I | X V I I I ]
durch den Beyfall und durch die Länge der Zeit gleichsam sicher vor der
Widerlegung gemacht. Ein rundes Werk von Marmor in der Villa Giusti-
niani, dem man durch Zusätze die Form einer Vase gegeben, mit einem
Bacchanale in erhobener Arbeit, ist, nachdem es Spon zuerst bekannt
gemachet hat 4 , in vielen Büchern in Kupfer erschienen, und zu Erläute-
rungen gebraucht worden. J a man hat aus einer Eydexe, die an einem
Baume hinauf kriechet, muthmaßen wollen, daß dieses Werk von der
Hand des Sauros seyn könne 6 , welcher mit einem Batradius den Portico
des Metellus gebauet hat: gleichwohl ist es eine neue Arbeit. Man sehe,
w a s ich in den ANMERKUNGEN ÜBER DIE BAUKUNST v o n diesen beyden
Baumeistern gesagt I habe. Eben so muß diejenige Vase neu seyn, von
weither Spon in einer besondern Schrift handelt 1 , wie es der Augenschein
den Kennern des Alterthums und des guten Geschmacks giebt.
Die mehresten Vergehungen der Gelehrten in Sachen der Alterthümer
rühren aus Unachtsamkeit der Ergänzungen her: denn man hat die Zu-
sätze anstatt der verstümmelten und verlohrnen Stüdke von dem wahren
Alten nicht zu unterscheiden verstanden. Ueber dergleichen Vergehungen
wäre ein großes Buch zu schreiben: denn die gelehrtesten Antiquarii haben
in diesem Stücke gefehlet. Fabretti wollte aus einer erhobenen Arbeit im
Pallaste Mattei, welche eine J a g d des Kaisers Gallienus vorstellet 2 , be-
weisen, daß damals schon Hufeisen, nach heutiger A r t angenagelt, in
Gebrauch gekommen 3 ; und er hat nicht gekannt, daß das Bein des Pferdes
von einem unerfahrnen Bildhauer ergänzet worden. Die Ergänzungen
haben zu lächerlichen Auslegungen Anlaß gegeben. Montfaucon, zum
Exempel, deutet4 eine Rolle, oder einen Stab, welcher neu ist, in der Hand
des Castors oder Pollux, in der Villa Borghese, auf die Gesetze der Spiele
in Wettläufen zu Pferde, und in einer ähnlichen neu angesetzten Rolle,
welche der Mercurius in der Villa Ludovisi hält, findet derselbe eine
schwer zu erklärende Allegorie; so wie Tristan auf dem berühmten Agath
zu St. Denis, einen Riem an einem Schilde, welchen der vermeynte Ger-
manicus hält, f ü r Friedensartikel angesehen6. Das heißt, St. Michael eine I
4
Miscell. ant. p. 28.
5
Stosdi Pref. Pier. gr. p. 8. |
1
Discours sur une piece ant. du Cab. de Iac. Spon.
!
Bartoli Admirand. ant. Tab. 24.
3
Fabret. de Column. Traj. c. 7. p. 225. conf. Montfauc. Antiqu. explic.
T. 4. p. 79.
4
Idem Antiqu. expl. Τ. I. p. 297.
• Comment, hist. Τ. I. p. 106. |
[ X V I I I I X I X ] Geschichte der Kunst. Vorrede 241
Ceres getauft 1 . Wright hält 2 eine neue Violin, die man einem Apollo in
der Villa Negroni in die Hand gegeben, für wahrhaftig alt, und berufet
sidi auf eine andere neue Violin, an einer kleinen Figur von Erzt, zu
Florenz, die auch Addison anführet 3 . Jener glaubet Raphaels Ehre zu
} vertheidigen, weil dieser große Künstler, nach seiner Meynung, die Form
der Violin, welche er dem Apollo auf dem Parnasso im Vatican in die
Hand gegeben, von besagter Statue werde genommen haben, die allererst
über anderthalb hundert Jahre nadiher vom Bernini ist ergänzet worden;
man hätte mit eben so viel Grunde einen Orpheus mit einer Violin, auf
10 einem geschnittenen Steine, anführen können4. Eben so hat man an dem
ehemaligen gemalten Gewölbe in dem alten Tempel des Bacchus vor Rom,
eine kleine Figur mit einer neuen Violin zu sehen vermeynet 5 ; hierüber
aber hat sich Santes Bartoli, weldier dieselbe gezeichnet, nadiher besser
belehren lassen, und aus seiner Kupferplatte das Instrument weggenom-
15 men, wie ich aus dem Abdrucke desselben sehe, welchen er seinen aus-
gemalten Zeichnungen von alten Gemälden, in dem Museo des Herrn
Cardinais Alexander Albani, beygefüget hat. Durch die Kugel in der
Hand der Statue des Cäsars im Campidoglio 6 hat der alte Meister der-
selben, nach der Auslegung eines neuern Römischen Dichters7, die Be-
20 gierde desselben nach einer unumschränkten Herrschaft andeu I ten wollen:
er hat nicht gesehen, daß beyde Arme und Hände neu sind. Herr Spence
hätte sich bey dem Zepter eines Jupiters nicht aufgehalten 1 , wenn er
wahrgenommen, daß der Arm neu, und folglich auch der Stab neu ist.
Die Ergänzungen sollten in den Kupfern, oder in ihren Erklärungen,
25 angezeiget werden: denn der Kopf des Ganymedes in der Gallerie zu
Florenz muß nadi dem Kupfer einen schlechten Begriff machen2, und er
ist noch schlechter im Originale. Wie viel andere Köpfe alter Statuen
daselbst sind neu, die man nicht dafür angesehen hat! wie der Kopf eines
Apollo, dessen Lorbeerkranz vom Gori als etwas besonders angeführet
30 wird 3 . Neue Köpfe haben der Narcissus, der sogenannte Phrygische
1
v. Hist, de l'Acad. des Inscr. T . 3. p. 300.
8
Observ. made in Travels through France Ital. p. 26j.
* Remarks, p. 241.
4
Maffei Gemme, T . 4. p. 96.
5
35 Ciampini vet. Monum. T. 2. tab. 1. p. 2.
β
Maffei Stat. ant. tav. ι j.
7
Concorso dell'Acad. di S. Luca, n. 1738. |
1
Polymet, Dial. 6. p. 46. not. 3.
1
Mus. Flor. Τ. 3· tav. j.
40 * Ibid. alia tav. 10.
Priester, eine sitzende Matrone, die Venus Genetrix 4 : der Kopf der Diana,
eines Bacchus mit dem Satyr zu dessen Füßen, und eines andern Bacchus,
der eine Weintraube in die Höhe hält, sind abscheulidi schlecht6. Die
mehresten Statuen der Königinn Christina von Schweden, welche zu
St. Ildefonse in Spanien stehen, haben ebenfalls neue Köpfe, und die
acht Musen daselbst auch die Arme.
Viele Vergehungen der Scribenten rühren auch aus unrichtigen Zeich-
nungen her, welches zum Exempel die Ursache davon in Cupers Erklärung
des Homerus ist. Der Zeichner hat die Tragödie für eine Männliche Figur
angesehen, und es ist der Cothurnus, welcher auf dem Marmor sehr
deutlich ist, I nicht angemerket. Ferner ist der Muse, welche in der Höhle
steht, anstatt des PLECTRUM eine gerollete Schrift in die Hand gegeben.
Aus einem heiligen Dreyfuße will der Erklärer ein Aegyptisches Tau
machen, und an dem Mantel der Figur vor dem Dreyfuße behauptet der-
selbe drey Zipfel zu sehen, welches sich ebenfalls nicht findet.
Es ist daher schwer, ja fast unmöglidi, etwas gründliches von der
alten Kunst, und von nicht bekannten Alterthümern, ausser Rom zu
schreiben: es sind auch ein paar Jahre hiesiges Aufenthalts dazu nicht
hinlänglich, wie ich an mir selbst nach einer mühsamen Vorbereitung
erfahren. Man muß sich nicht wundern, wenn jemand sagt1, daß er in
Italien keine unbekannte Inschriften entdecken können: dieses ist wahr,
und alle, welche über der Erde, sonderlich an öffentlichen Orten, stehen,
sind der Aufmerksamkeit der Gelehrten nicht entgangen. Wer aber Zeit
und Gelegenheit hat, findet noch allezeit unbekannte Inschriften, welche
lange Zeit entdecket gewesen, und diejenigen, welche ich in diesem Werke
sowohl, als in der Beschreibung der geschnittenen Steine des Stoßischen
Musei, angeführet habe, sind von dieser Art: aber man muß dieselben
zu suchen verstehen, und ein Reisender wird dieselben schwerlich finden.
Noch viel schwerer aber ist die Kenntniß der Kunst in den Werken
der Alten, in welchen man nach hundertmal Wiedersehen noch Entdeckun-
gen machet. Aber die mehresten gedenken zu derselben zu gelangen,
wie diejenigen, welche aus Monathssdiriften ihre Wissenschaften sam-
meln, und unterstehen sich vom Laocoon, wie diese vom Homerus, zu
urtheilen, auch im Angesichte desjenigen, der diesen und jenen viele
Jahre studiret hat: I sie reden aber hingegen von dem größten Dichter,
wie Lamothe, und von der vollkommensten Statue, wie Aretino. Ueber-
4
Ibid. tav. 71. 80. 88. 33.
* Ibid. tav. 19. 47. jo. |
1
Chamillart Lettre 18. p. 101.
[ X X I I X X I I ] Geschichte der Kunst. Vorrede 243
haupt sind die mehresten Scribenten in diesen Sachen, wie die Flüße,
welche aufschwellen, wenn man ihr Wasser nicht nöthig hat, und trocken
bleiben, wenn es am Wasser fehlet.
In dieser Geschichte der Kunst habe ich mich bemühet, die Wahrheit
zu entdecken, und da ich die Werke der alten Kunst mit Muße zu unter-
suchen alle erwünschte Gelegenheit gehabt, und nichts ersparet habe,
um zu den nöthigen Kenntnissen zu gelangen, so glaubte ich, midi an
diese Abhandlung machen zu können. Die Liebe zur Kunst ist von Ju-
gend auf meine größte Neigung gewesen, und ohnerachtet mich Erzie-
hung und Umstände in ein ganz entferntes Gleis geführet hatten, so
meldete sich dennoch allezeit mein innerer Beruf. Ich habe alles, was ich
zum Beweis angeführet habe, selbst und vielmal gesehen, und betrachten
können, so wohl Gemälde und Statuen, als geschnittene Steine und Mün-
zen; um aber der Vorstellung des Lesers zu Hülfe zu kommen, habe ich
sowohl Steine, als Münzen, welche erträglich in Kupfer gestochen sind,
aus Büchern zugleich mit angeführet.
Man wundere sich aber nicht, wenn man einige Werke der alten
Kunst mit dem Namen des Künstlers, oder andere, welche sich sonst
merkwürdig gemacht haben, nicht berühret findet. Diejenigen, welche
ich mit Stillschweigen übergangen habe, werden Sachen seyn, die ent-
weder nicht dienen zur Bestimmung des Stils, oder einer Zeit in der
Kunst, oder sie werden nicht mehr in Rom vorhanden, oder gar ver-
nichtet seyn: denn dieses Unglück hat sehr viel herrliche Stücke in neueren
Zeiten betroffen, wie ich an verschiedenen Orten angemerket habe. Idi
würde den Trunk einer Statue, mit dem Namen APOLLONIUS DES N E - I
STORS S O H N AUS ATHEN 1 , welche ehemals in dem Pallaste Massimi war,
beschrieben haben; er hat sich aber verlohren. Ein Gemälde der Göt-
tinn Roma, (nicht das bekannte im Pallaste Barberini) welches Spon
beybringet 2 , ist auch nicht mehr in Rom. Das Nymphäum, vom Holstein
beschrieben3, ist durch Nachläßigkeit, wie man vorgiebt, verdorben, und
wird nicht mehr gezeiget. Die erhobene Arbeit, wo die Malerey das
Bild des Varro malete, welches dem bekannten Ciampini gehörete4, hat
sich ebenfalls aus Rom verlohren, ohne die geringste weitere Nachricht.
Die Herma von dem Kopfe des Speusippus5, der Kopf des Xenocrates®,
1
Spon. Miscel. ant. p. 112. Dati Vite de'Pittori, p. 118.
1
Redierch. d'Antiq. Diss. 13. ρ. 19$.
* Vet. pict. Nymph, referens, Rom. 167J. fol.
4
in fronte alle Pitture ant. di Bartoli.
5
Fulv. Vrsin. Imag. 137. conf. Montfauc. Palaeogr. Gr. L. 2. c. 6. p. 1 5 3 .
8
Spon. Miscel. ant. p. 136.
244 Gesdbidite der Kunst. Vorrede [XXII|XXIII XXIII|XXIV]
und verschiedene andere mit dem Namen der Person, oder des Künstlers,
haben gleiches Schicksal gehabt. Man kann nicht ohne Klagen die Nach-
richten von so vielen alten Denkmalen der Kunst lesen, welche sowohl in
Rom, als anderwerts, zu unserer Väter Zeiten vernichtet worden, und
von vielen hat sich nicht einmal die Anzeige erhalten. Ich erinnere mich
einer Nachricht, in einem ungedruckten Schreiben des berühmten Peiresc
an den Commendator del Pozzo, von vielen erhobenen Arbeiten in den
Bädern zu Pozzuolo bey Neapel, welche noch unter Pabst Paul I I I . da-
selbst standen, auf welchen Personen mit allerhand Krankheiten behaftet
vorgestellet waren, die in diesen Bädern die Gesundheit erlanget hatten:
dieses ist die einzige Nachricht, welche sich von denselben findet. Wer
sollte glauben, daß man noch zu unsern Zeiten aus dem Sturze! einer
Statue, von welcher der Kopf vorhanden ist, zwo andere Figuren
gemachet? und dieses ist zu Parma in diesem Jahre, da ich dieses
schreibe, geschehen, mit einem Colossalischen Sturze eines Jupiters, von
welchem der schöne Kopf in der Maleracademie daselbst aufgestellet ist.
Die zwo neuen aus der alten gemeißelte Figuren, von der Art, wie man
sich leicht vorstellen kann, stehen in dem Herzoglichen Garten. Dem
Kopfe hat man die Nase auf die ungeschickteste Weise angesetzet, und
der neue Bildhauer hat für gut gefunden, den Formen des alten Meisters
an der Stirne, an den Backen und am Barte nachzuhelfen, und das, was
ihm überflüßig geschienen, hat er weggenommen. Ich habe vergessen
zu sagen, daß dieser Jupiter in der neulich entdeckten verschütteten Stadt
Velleja, im Parmesanischen, gefunden worden. Ausserdem sind bey Men-
schen Gedenken, ja seit meinem Aufenthalte in Rom, viel merkwürdige
Sachen nach Engeland geführet worden, wo sie, wie Plinius redet, in
entlegenen Landhäusern verbannet stehen.
Da die vornehmste Absicht dieser Geschichte auf die Kunst der Grie-
chen geht, so habe ich auch in dem Capitel von derselben umständlicher
seyn müssen, und ich hätte mehr sagen können, wenn ich für Griechen,
und nicht in einer neuern Sprache geschrieben, welche mir gewisse Behut-
samkeiten aufgeleget; in dieser Absicht habe ich ein Gespräch über die
Schönheit, nach Art des Phädrus des Plato, welches zur Erläuterung der
Theoretischen Abhandlung derselben hätte dienen können, wiewohl un-
gerne, weggelassen.
Alle Denkmale der Kunst, sowohl von alten Gemälden und Figuren
in Stein, als in geschnittenen Steinen, Münzen und Vasen, welche ich zu
Anfang und zu Ende der Capitel, oder ihrer Abtheilungen, zugleich zur
Zierde und zum Beweise, angebracht I habe, sind niemals vorher öffent-
[XXIVIXXV] Geschichte der Kunst. Vorrede 245
lieh bekannt gemadiet worden, und idi habe dieselben zuerst zeichnen
und stechen lassen.
Ich habe mich mit einigen Gedanken gewaget, welche nicht genug
erwiesen scheinen können: vielleicht aber können sie andern, die in der
Kunst der Alten forschen wollen, dienen, weiter zu gehen; und wie oft ist
durch eine spätere Entdeckung eine Muthmaßung zur Wahrheit geworden.
Muthmaßungen, aber solche, die sich wenigstens durch einen Faden an
etwas Festen halten, sind aus einer Schrift dieser Art eben so wenig, als
die Hypotheses aus der Naturlehre zu verbannen; sie sind wie das Ge-
rüste zu einem Gebäude, ja sie werden unentbehrlich, wenn man, bey
dem Mangel der Kenntniße von der Kunst der Alten, nicht große
Sprünge über viel leere Plätze machen will. Unter einigen Gründen,
welche ich von Dingen, die nicht klar wie die Sonne sind, angebracht habe,
geben sie einzeln genommen, nur Wahrscheinlichkeit, aber gesammelt
und einer mit dem andern verbunden, einen Beweis.
Das Verzeichniß der Bücher, welches vorangesetzet ist, begreift nicht
alle und jede, welche ich angeführet habe; wie denn unter denselben von
alten Dichtern nur der einzige Nonnus ist, weil in der ersten und seltenen
Ausgabe, deren ich mich bedienet, nur die Verse einer jeden Seite, und
nicht der Bücher in demselben, wie in den übrigen Dichtern, gezählet sind.
Von den alten Griechischen Geschichtschreibern sind mehrentheils die Aus-
gaben von Robert und von Heinrich Stephanus angeführet, welche nicht
in Capitel eingetheilet sind, und dieserwegen habe ich die Zeile einer
jeden Seite angemerket.
An Vollendung dieser Arbeit hat mein würdiger und gelehrter Freund,
Herr Frank, sehr verdienter Aufseher der berühmten I und prächtigen
Bünauischen Bibliothek, einen großen Antheil, wofür ich demselben
öffentlich höchst verbindlichen D a n k zu sagen schuldig bin: denn dessen
gütiges H e r z hätte mir von unserer in langer gemeinschaftlicher Einsam-
keit gepflogenen Freundschaft kein schätzbareres Zeugniß geben können.
Ich kann auch nicht unterlassen, da die Dankbarkeit an jedem Orte
löblich ist, und nicht oft genug wiederholet werden kann, dieselbe meinen
schätzbaren Freunden, Herrn Fueßli, zu Zürich, und Herrn Will, zu
Paris, von neuem hier zu bezeugen. Ihnen hätte mit mehrerem Rechte,
was ich von den Herculanischen Entdeckungen bekannt gemachet habe,
zugeschrieben werden sollen: denn unersucht, ohne mich zu kennen, und
aus freyem gemeinschaftlichen Triebe, aus wahrer Liebe zur Kunst, und
zur Erweiterung unserer Kenntnisse, unterstützten sie mich auf meiner
ersten Reise an jene Orte durch einen großmüthigen Beytrag. Menschen
246 Geschichte der Kunst. Vorrede [ X X V | X X V I ]
von dieser Art sind, vermöge einer solchen That allein, eines ewigen
Gedächtnisses würdig, welches Sie ihre eigenen Verdienste versichern.
Ich kündige zugleich dem Publico ein Werk an, welches in Welscher
Sprache, auf meine eigene Kosten gedruckt, auf Regal-Folio, im künf-
tigen Frühlinge zu Rom erscheinen wird. Es ist dasselbe eine Erläuterung
niemals bekannt gemachter Denkmale des Alterthums von aller Art, son-
derlich erhobener Arbeiten in Marmor, unter welchen sehr viele schwer
zu erklären waren, andere sind von erfahrnen Alterthumsverständigen,
theils für unauflösliche Ratzel angegeben, theils völlig irrig erkläret
worden. Durch diese Denkmale wird das Reich der Kunst mehr, als vor-
her geschehen, erweitert; es erscheinen in denselben ganz unbekannte
Begriffe und Bilder, die sich zum Theil auch in den Nachrichten der
Alten verlohren haben, und ihre Schriften werden I an vielen Orten, wo
sie bisher nicht verstanden worden sind, audi ohne Hülfe dieser Werke
nidit haben können verstanden werden, erkläret, und in ihr Licht ge-
setzet. Es besteht dasselbe aus zweyhundert und mehr Kupfern, welche
von dem größten Zeichner in Rom, Herrn Johann Casanova, Sr. Königl.
Majestät in Pohlen pensionirten Maler, ausgeführet sind, so daß kein
Werk der Alterthümer Zeichnungen aufzuweisen hat, welche mit so viel
Richtigkeit, Geschmack und Kenntniß des Alterthums sich anpreißen
können. Ich habe an der übrigen Auszierung desselben nichts ermangeln
lassen, und es sind alle Anfangsbuchstaben in Kupfer gestochen.
Diese Geschichte der Kunst weihe ich der Kunst, und der Zeit, und
besonders meinem Freunde, Herrn Anton Raphael Mengs.
Rom, im Julius, 1763.
247
HERRN
Heinr. Wilh. M u z e l S t o s c h
zugeeignet.
Edler Freund!
Idi setze Ihren Namen dieser Arbeit vor, weniger in Absicht einer
Zuschrift, als vielmehr um Gelegenheit zu haben, von unserer geprüfeten
Freundschaft, die von höherer Natur ist, ein öffentlich Zeugniß zu geben.
Wenn die Stärcke, mit welcher die Freundschaft in Abwesenheit wachset,
ein Beweis der Wahrheit derselben seyn kann, so hat die unsrige diesen
seltenen Vorzug. Wenige Zeit und mit vieler Arbeit überhäuft, habe ich
dieselbe persönlich genossen; aber ich bin Ihnen mit Herz und Geist
von Florenz nach London, und aus Engeland nadi Constantinopel, bis
in unserem gemeinschaftlichen Vaterlande gefolget, und je weiter ent-
fernet, desto grösser ist meine Sehnsucht und Liebe geworden. In Ver-
bindungen mit anderen, die ich zu schließen gesuchet habe, I glaube ich
der wirksamste Theil gewesen zu seyn, in der unsrigen aber räume ich
Ihnen diesen Vorzug ein. Eine einzige Wollust aber haben wir beyde
in unserer Freundschaft nicht genossen, nemlidi diejenige, die der Mahler
und der Bildhauer währender Arbeit seines Werks hat; das ist, den
Freund zu bilden und zu schaffen. Denn wir waren einer für den andern
bereits ersehen, und Freunde, wie der erste Mensch wurde, oder wie ein
hoher Gedanke und ein erhabenes Bild nicht stüdeweis, sondern auf einmal
in seiner Grösse und Reife entstehet. In Ihnen lebet itzo die Liebe des
natürlichen Vaterlandes von neuen auf, dessen Erinnerung in einem
würdigen Genuße des Lebens und in einer edlen Muße, zu Rom, ziem-
248 Anmerkungen über d. Gesch. d. Kunst. Widmung
lidi gleichgültig geworden war, und ich sehne mich itzo dasselbe, und
den würdigsten der Freunde von Angesicht zu sehen, um sein in mir
erneuertes Bild wiederum dahin zurück zu bringen, wo vermuthlich der
Sitz meiner Ruhe bleiben wird.
} Ich zähle bereits die Monate bis zu der Zeit der Vollendung dieses
Wunsches, und bleibe mit Geist und Leib
Vorrede
zu den
Anmerkungen über die Geschichte der Kunst
des Alterthums.
Diese Anmerkungen waren nicht bestimmet, besonders zu erscheinen,
sondern ich würde vermittelst derselben eine vermehrte und verbesserte
Ausgabe der Geschichte der Kunst haben liefern können; aber die starke
Auflage derselben und die Französische Uebersetzung haben midi be-
wogen, meine Bemerkungen, die ich bey Gelegenheit angezeichnet hatte,
zu sammlen. Denn auf der einen Seite würde ich noch lange haben an-
stehen müssen, was ich nöthig fand, zu erinnern, auf der anderen Seite
aber, da die Geschichte der Kunst in fremder Tracht, obgleich ungeschickt
und unwissend eingekleidet, sich allgemeiner gemachet, eraditete ich es
meine Schuldigkeit, diese Arbeit durch gegenwärtige Zusätze vollständiger
zu machen.
Ich entsehe mich nicht die Mängel der Geschichte der Kunst zu be-
kennen; so wie es aber keine Schande ist, auf der Jagd in einem Walde
nicht alles Wild zu fangen, oder Fehl-Schüße zu thun, so hoffe ich Ent-
schuldigung zu verdienen, über das was von mir übergangen oder nicht
bemerket worden, und wenn ich nicht allezeit den rechten Fleck getrof-
fen habe. Ich kann hingegen auch versichern, daß manches sowohl dort
als hier mit Fleiß nicht berühret worden, theils weil aus Mangel der Kup-
fer die Anzeige undeutlich oder mangelhaft gewesen seyn würde, theils
weil ich mich in gelehrte Untersuchungen hätte einlassen müssen, die zu
weit von meinem Zwecke abgegangen wären. Denn die Gelehrsamkeit
soll in Abhandlungen über die Kunst der geringste Theil seyn, wie denn
dieselbe, wo sie nichts wesentliches lehret, vor nichts zu achten ist, und
alsdenn wie bey seichten Rednern, oder bey schlechten Saytenschlägern
(um mit den Alten zu reden) das Husten zu seyn pfleget, netnlich ein
Zeichen des Mangels. Ich gestehe auch gerne, daß ich zuweilen einige
Kleinigkeiten nicht völlig richtig angegeben gehabt, weil man ofte dem I
Gedächtnisse zu sehr trauet, oder Gänge an entlegene Orte ersparen
will, und dieser Vorwurf würde weniger bedeutend seyn als derjenige,
250 Anmerkungen über d. Gesdi. d. Kunst. Vorrede [II|III]
den man mit Rechte dem Prideaux machet, welcher die Arundelisdien
Marmor, da er zu Oxfort war, wo dieselben an einem Orte beysammen
stehen, in dunkelen Stellen nicht selbst untersuchet hat.
Der Leser wird hoffentlich nidit ungeneigt deuten, wenn ich in
diesem Vorberichte, da mir vielleicht künftig die Gelegenheit fehlen
möchte, zu dessen Unterrichte, den Weg anzeige, den ich in Untersuchung
der Alterthümer und der Werke der Kunst genommen habe.
Idi gieng nadi Rom nidit auf Kosten eines Hofes, wie man sich vor-
stellet, noch weniger mit einem Vorsdiuße des Herrn, dem ich in Sach-
sen gedienet, welches ein unwissender Schmierer kühnlich vorgiebt, son-
dern von einen würdigen Freunde unterstützet, dem ich öffentlich meine
Dankbarkeit bezeiget habe; ich gieng hierher mit dem Vorsatze im Ler-
nen zugleich auf den Unterricht zu denken, und da ich glaubete, daß
von Werken der alten Kunst vielleicht wenig mit philosophischer Be-
trachtung und mit gründlicher Anzeige des wahren Schönen in Schriften
abgehandelt bekannt worden, so hoffete ich, es würde meine Reise nidit
ohne Nutzen seyn. Ich hatte, so viel mir die sehr wenige Zeit, über die
ich Herr war, erlaubete, mich zu diesen Absichten vorher zubereitet, und
aus meinen damaligen Betrachtungen erwuchs die Schrift von der Nach-
ahmung der Alten in der Mahlerey und Bildhauerkunst. Diese meine
Absicht zu erreichen, schlug ich alles aus, was mir sowohl vor meiner
Reise von Rom aus, als auch nadi meiner Ankunft in Rom von zween
wohlbekannten Cardinälen angetragen wurde; denn ohne Unabhänglidi-
keit würde ich meinem Zwedk verfehlet haben.
Das ganze erste Jahr sähe ich und betrachtete, ohne einen bestimm-
ten Plan zu machen: denn ob ich gleich das Wesentliche allezeit zum
Augenmerke hatte, wurde es mir schwer, auf dem von mir betretenen
und ungebahnten Wege mit gewünschten Erfolg fortzugehen, ja, ich
wurde vielmals irre gemachet durdi das Urtheil der Künstler, welches
meiner Empfindung und Kenntnis widerspradi. Da aber der Satz unum-
stößlidi fest in mir war, daß das Gute und das Schöne nur Eins ist, und
daß nur ein einziger Weg zu demselben führet, anstatt daß zum Bösen
und Schlechten viele Wege gehen, I sudite ich durdi eine Systematische
Kenntnis meine Bemerkungen zu prüfen und zu befestigen.
Mein vorläufiger Entsdiluß war, anfänglich weniger aufmerksam zu
seyn auf die Alterthümer der Orte, der Lagen, Gegenden und auf alte
Ueberbleibsel der Gebäude, weil vieles ungewiß ist, und weil das was
man wissen und nidit wissen kann, von mehr als einem Scribenten hin-
länglich gründlich abgehandelt worden. Ich konnte mich auch nicht ein-
[IIIIIV] Anmerkungen über d. Gesch. d. Kunst. Vorrede 251
lassen, alles aufzusudien, weil diejenigen, die midi hätten führen können,
mir zu kostbar waren. Da nun diese Kenntnis auch ohne alles Genie er-
langet werden kann, nahm ich nur so viel auf meinem Wege mit, als idi
selbst finden und untersuchen konnte. Denn ich verglich diese Wissenschaft
mit der Bücher-Kenntnis, welche nicht selten diejenigen die Gelegenheit
gehabt haben, dieselbe zu erlangen, verhindert hat, den Kern der Bücher
zu kennen. Derjenige, welcher in das Wesen des Wissens zu dringen
sudiet, hat sidi nicht weniger vor der Begierde ein Litterator zu werden,
als vor das was man insgemein unter das Wort Antiquarius verstehet, zu
hüten. Denn das eine sowohl als das andere ist sehr reizend, weil es
Beschäftigungen sind, die dem Müßiggange und der uns angebohrnen
Trägheit zum eigenen Denken, schmeicheln. Es ist ζ. E. angenehm zu
wissen, wo im alten Rom die Carina waren, und ohngefehr den Ort anzu-
geben, wo Pompejus gewohnet hat, und ein Führer der Reisenden, der
ihnen dieses zu zeigen weiß, pfleget es mit einer gewissen Genügsamkeit
zu thun; was weiß man aber mehr, wenn man diesen Ort, wo nicht die
geringste Spur von einem alten Gebäude ist, gesehen hat?
Aus eben dem Grunde war ich nidit sehr um Römische Münzen
bekümmert, theils weil es schwer ist, noch itzo neue Entdeckungen in
denselben zu madien, theils audi, weil idi sähe, daß Menschen ohne alle
Wissenschaft eine grosse Kenntnis in diesem Fache erlanget haben. Die
seltensten Römischen Münzen (die Medaglioni wegen der Schönheit ihres
Gepräges ausgenommen) sind den seltenen Büchern zu vergleichen, die
sich einzeln gemacht haben, weil ein Buchhändler durch den Nachdruck
derselben nidits gewinnen würde, und ein seltener Pertinax oder Pescen-
nius in Silber oder Golde sollte nicht mehr als eins von Giordano Bruno
Büchern gesdiätzet werden. Idi sudiete hingegen Münzen Griediischer
Länder und Städte zu sehen, die von Münzkrämern, weil in denselben
nidit I leicht, wie in den Römisdien eine Folge zu madien ist, nidit sonder-
lich gesuchet werden. Auch in diesem Studio wird man sidi nicht in Klei-
nigkeiten verlieren, wenn die Alterthümer betrachtet werden als Werke
von Menschen gemadit, die höher und männlicher dachten als wir, und
diese Einsicht kann uns bey Untersuchung dieser Werke über uns und
über unsere Zeit erheben. Eine denkende Seele kann am Strande des
weiten Meers sidi nicht mit niedrigen Ideen beschäftigen; der unermeß-
liche Blick erweitert audi die Schranken des Geistes, welcher sidi anfäng-
lich zu verlieren scheinet, aber grösser wiederum in uns zurück kommt.
Nachdem idi ferner bald einsähe, daß sehr viele Werke alter Kunst
entweder nidit bekannt, oder nicht verstanden noch erkläret worden,
252 Anmerkungen über d. Gesch. d. Kunst. Vorrede [IV|V]
so suchte ich die Gelehrsamkeit mit der Kunst zu verbinden. Die größte
Schwierigkeit in Sachen die auf Gelehrsamkeit bestehen, pfleget zu seyn,
zu wissen was andere vorgebracht haben, damit man nicht vergebene
Arbeit mache, oder etwas sage, was bereits mehrmahl wiederholet ist.
Diese Besorgung wurde gehoben, da ich die Bücher von alten Denkmalen
der Kunst von neuen durchsähe und versichert seyn konnte, daß dasjenige
was nicht in Rom selbst erkläret worden, schwerlich mit Richtigkeit
ausserhalb geschehen können. Der freye Gebrauch der grossen Bibliothec
des Cardinais Passionei gab mir die Bequemlichkeit zu diesem Studio,
bis ich die Aufsicht der Bibliothec und des Musei des Herrn Cardinais
Alex. Albani bekam, und nachher als Professor der Griechischen Sprache
in der Vaticanischen Bibliothec die zu meinem Vorhaben dienenden
Schätze in denselben durchzusuchen, Freyheit gehabt habe.
Die Untersuchung der Kunst aber blieb beständig meine vornehmste
Beschäftigung, und diese mußte anfangen mit der Kenntnis, das neue
von dem alten und das wahre von den Zusätzen zu unterscheiden. Ich
fand bald die allgemeine Regel, daß frey abstehende Theile der Sta-
tuen, sonderlich die Arme und Hände mehrentheils für neu zu achten
sind, und folglich auch die beygelegten Zeichen; es fiel mir aber anfänglich
schwer über einige Köpfe aus mir selbst zu entscheiden. Da ich in dieser
Absicht den Kopf einer weiblichen Statue in der Nähe betrachten wollte,
fiel dieselbe um, und es fehlete wenig, daß ich nicht unter derselben zer-
quetschet und begraben worden. Hier muß ich bekennen, daß ich aller-
erst vor wenig Jahren einen erhoben gearbeiteten Apollo in dem Pallaste
Giustiniani, I welcher durchgehende für alt gehalten und von einem gerei-
seten Scribenten 1 als das schönste Stück in gedachten Hause angegeben
wird, als eine neue Arbeit erkannt habe.
Da das Schlechte aber, welches der neue Zusatz zu seyn pfleget, leich-
ter, als das Gute gefunden wird, so wurde es mir weit schwerer, das
Schöne zu entdecken, wo es über meine Kenntnis gieng. Ich sähe die
Werke der Kunst an, nicht als jemand der zuerst das Meer sähe und
sagte, es wäre artig anzusehen: die Athaumastie, oder die Nicht-Ver-
wunderung, die vom Strabo angepriesen wird, weil sie die Apathie her-
vorbringet, schätze ich in der Moral, aber nicht in der Kunst, weil hier
die Gleichgültigkeit schädlich ist. In dieser Untersuchung ist mir zuweilen
das Vorurtheil eines allgemeinen Rufs den einige Werke haben, zu statten
gekommen, und trieb mich, wenigstens etwas Schönes in denselben zu
Nach einiger Erleuchtung die ich erlanget, bemühete ich mich den Stil
der Künstler der Aegypter und der Hetrurier, wie nicht weniger den
Unterschied zwischen diesem letzten Volke und der Kunst der Grie-
chen zu bestimmen. Die Kennzeichen Aegyptisther Arbeiten schienen sich
von selbst anzubiethen; mit dem Stil der Hetrurier aber gelung es mir
nicht auf gleiche Weise, und ich unterstehe mich noch itzo nicht unwider-
sprechlich zu behaupten, daß einige erhobene Arbeiten, die Hetrurisch
254 Anmerkungen über d. GesA. d. Kunst. Vorrede [VI|VII]
scheinen, nicht von dem ältesten Stil der Griechen seyn können. Mit mehr
scheinbarer Gewisheit entdeckete ich verschiedene Zeiten in Griechischen
Werken, aber es giengen einige Jahre vorbey, ehe sich von dem hohen
Alter einer Muse im Pallaste Barberini einige Beweise darbothen.
Die Betrachtung der Kunst hatte midi die zwey ersten Jahre meines
hiesigen Aufenthalts dergestalt beschäftiget, daß ich nur wie im Vorbey-
gehen an das bloß gelehrte Alterthum gedenken konnte. In dieses Gleis
aber brachte mich die Arbeit der Beschreibung der tief geschnittenen
Steine des damals bereits verstorbenen Herrn von Stosdi, die ich binnen
neun Monate meines Aufenthalts zu Florenz aus dem gröbsten entwarf,
und hernach zu Rom endigte. Hier lernete ich, in Absicht der geschnitte-
nen Steine, daß allezeit je schöner die Arbeit ist, desto natürlicher die
Vorstellung und folglich die Erklärung leicht sey, so daß die Steine mit
Namen der Künstler von jedermann verstanden werden. Ferner bestim-
mete die Erfahrung bey mir, daß die Griechischen Arbeiten in dieser Art
weniger dunkele Bilder als die Hetrurischen haben, und daß die ältesten
insgemein die schwersten sind, so wie die Mythologie der ältesten Grie-
chischen Dichter des Pampho und des Orpheus dunkler war als diejenige
weldie ihre Nachfolger lehren. Ich kam hier zu erst auf die Spur I einer
Wahrheit, die mir nachher in Erklärung der schwersten Denkmale von
grossen Nutzen gewesen, und diese bestehet in dem Satze, daß auf
geschnittenen Steinen sowohl als in erhobenen Arbeiten die Bilder sehr
selten von Begebenheiten genommen sind, die nach dem Trojanischen
Kriege, oder nadi der Rückkehr des Ulysses in Ithaca vorgefallen, wenn
man etwa die Heracliden, oder Abkömmlinge des Hercules, ausnimmt:
denn die Geschidite derselben grenzet nodi mit der Fabel, die der Künst-
ler eigener Vorwurf war. Es ist mir jedoch nur ein einziges Bild der
Geschichte der Heracliden bekannt, welches mit weniger Veränderung auf
verschiedenen alten Steinen wiederholet ist, nemlich das Loos welches
Cresphontes und Temenus After-Enkel des Hercules mit zween Söhnen
ihres Bruders Aristomachus über die Theilung des Peloponnesus macheten,
nachdem sie dieses Land mit gewafneter Hand eingenommen hatten. Die-
ser Stein ist irrig vom Beger und von Gori erkläret. Die Wahrheit ge-
dachten Satzes wurde bey mir bestätiget sonderlich in der öfteren Unter-
suchung von acht und zwanzig tausend Abdrücken in Schwefel die der
Herr von Stosch von allen und jeden alten Steinen die ihm vorgekom-
men waren, oder von weldie er Nadiridit erhalten, hatte machen lassen.
Idi machte vermöge dieser Erfahrung einen Schluß wider das Alterthum
aller Steine, wo Römisdie Geschichten gebildet sind, welches an diesen.
[VIIlVIII] Anmerkungen über d. Gesch. d. Kunst. Vorrede 255
durch die Arbeit selbst den Kennern in die Augen fallen kann. Dieses
zeiget sich unwidersprechlich an zween Cameen in dem Museo Strozzi
zu Rom, auf welchen Quintus Curtius geschnitten, wie er sidi zu Pferde
in den Abgrund stürzet. Die schön ausgeführte neue Steine sind von
Gori1, als alt bekannt gemadiet und beschrieben. Was ich hier von der
Römischen Geschichte anmerke, muß nicht auf Werke in Marmor gedeutet
werden, die in Rom gemacht und öffentliche Denkmale waren: denn
es findet sidi eben der Curtius auf einer kleinen erhobenen Arbeit im
Campidoglio und in Lebensgrösse in der Villa Borghese.
Als ich hierauf nadi geendigter gedachten Beschreibung und nach
Vollendung der Geschichte der Kunst, an die Erläuterung derjenigen
Denkmale des Alterthums gieng, die noch nicht bekannt gemachet worden,
war vorerwehnter Satz mein Führer, und obgleich derselbe an und vor
sidi nichts erkläret, so wird jedoch dadutdi die I Aufmerksamkeit in einem
engeren Umfange von Bildern eingesdirenket, und die Einbildung sdiwei-
fet nicht in Geschichten über den Mythischen Cirkel hinaus.
In dieser Arbeit setzete ich eine andere nidit weniger nützliche Er-
fahrung fest, nemlich, daß die alten Künstler sonderlich auf erhobenen
Werken von mehr Figuren kleine bloß Idealische Bilder entworfen, das
ist, solche die keine bekannte Geschichte vorstellen, sondern daß in allen
entweder die Mythologie der Götter oder der Helden zu suchen sey. Ich
nehme allezeit Bacchanale, Tänze u. s. f. aus. Wenn diejenigen die sich
mit Erklärung alter Denkmale abgegeben haben, diesen Satz zum Grunde
geleget hätten, würde die Wissenschaft der Alterthümer weit gründlicher
und gelehrter geworden seyn. Dieses können folgende Beyspiele erklären.
Bellori bezeichnet ein vom Bartoli gestochenes erhobenes Werk mit dem
Titel: EPITHALAMIUM"; er hätte aber untersuchen sollen, ob es nicht viel-
mehr die Vermählung des Cadmus mit der Harmonia oder des Peleus
mit der Thetis seyn könne, so wie diese letztere nach meiner Meinung
auf der sogenannten Aldovrandinischen Hochzeit vorgestellet worden.
Was bey eben demselben FERALIS POMPA heißt, und an dem Deckel einer
Begräbnis-Urne im Pallaste Barberini gearbeitet istb, bildet das Leidi-
begängnis des Meleagers und dessen Ehegenossin Cleopatra, die sich das
Leben nimmt. Eben so sind die Bilder auf einer andern Begräbnis-Urne
in gedachten Pallastec nicht mit einer allgemeinen Benennung des Ueber-
1
Mus. Flor. Τ. 2. Tab. 29. n. 2. 3. |
» Barthol. Admir. tab. 62.
b
Ibid. tab. 70. 7 1 .
c
Ibid. tab. 7 ; . 76.
256 Anmerkungen über d. Gesdi. d. Kunst. Vorrede [VIII|IX]
d
Ibid. tab. j 2 .
[IX|X] Anmerkungen über d. Gesch. d. Kunst. Vorrede 257
ner Schriften aber gehet nur auf versteckte Gelehrsamkeit und es erkläret
derselbe nur Münzen, die nicht schwer sind. In der dunkeln Mythologie
und in der Helden-Geschichte muß man sich an die Alten halten: Denn
Banier hat nicht aus Quellen geschöpfet; sein vornehmster Scribent bey
f dessen Arbeit, ist, wie man gewahr wird, der Evangelische Beweis des
Huet, und er hat nach dessen Anleitung, alles aus der Bibel herzuleiten
und zu derselben hinzuführen gesuchet. Damit ich aber nicht scheine alle
andere neue Scribenten wegzuwerfen, so preiße ich zu einer Arbeit, von
welcher die Rede ist, Hennings Genealogischen Sdiauplatz an. Dieses
10 wenig bekannte noch weniger gelesene und seltene Werk, sonderlich
in Italien, lehret mehr als alle Schriften aller I anderen Nationen zusam-
men genommen; idi verstehe diejenigen, die von der Fabel und von der
Griechischen Helden-Geschichte handeln. Ich will auch nicht behaupten,
daß keine Critische Schriften über alte Scribenten, und Abhandlungen
is über Alterthümer Licht geben können, sondern diese müssen, so viel
möglich ist, nachgesehen werden.
Mein größtes Vergnügen in Erläuterung der Werke alter Kunst ist
gewesen, wenn ich durch dieselbe einen alten Scribenten erläutern oder
verbessern können. Entdeckungen dieser Art haben sich mir mehrentheils
20 ungesucht, wie alle Entdeckungen, gezeiget, und können also ungezwun-
gener seyn, als viele andere Versuche der Gelehrten, die sich hier ver-
dient gemacht haben. Ich kann nicht läugnen, daß sich ehemals die Eitel-
keit bey mir gemeldet, auf diesem Wege meine Kräfte zu prüfen; da es
mir nun in dem Werke der erklärten unbekannten Denkmale des Alter-
2! thums, welches itzo unter der Presse ist, gelungen, durch eben diese Denk-
male mein Verlangen zu erfüllen, so bin ich um so vielmehr zufrieden,
daß ich die wenige Zeit meines Lebens nicht verlohren in alten abgegrif-
fenen Handschriften, wozu ich alle erwünschte Gelegenheit gehabt hätte.
Ich habe mir allezeit, diesen Kützel zu unterdrücken, den berühmten
30 Orville vorgestellet, welcher ein paar Jahre in Rom angewendet, alle
Morgen nach der Vaticanischen Bibliothec zu gehen, um den Heidelber-
gischen Codex der Griechischen Anthologie theils mit dem gedruckten
zu vergleichen, theils diesen aus jenen zu verbessern und zu ergänzen.
Denn ich halte diese Zeit um so vielmehr schlecht angewendet, weil ich
3S anfänglich eben diese Arbeit unternahm, aber bey Zeiten aufhörete, da
ich sähe, daß dasjenige was in dem Gedruckten fehlet, nicht werth ist, an
das Licht zu treten. Wo auch irgend in solchen Sinnschriften noch Salz
zu finden wäre, sind dieselben voller Häßlichkeiten, und es kann dem-
jenigen welcher einige derselben aus Orville Handschriften, in Holland
Ich hätte midi auch an eben diesem Orte deutlicher erklären sollen
über das Drechseln der Figuren in Elfenbein, welches nach meiner
Meinung diejenige Kunst ist, die die alten Torevtice nennen, in der
sich Phidias vornemlich hervorgethan hat. Es ist bekannt, daß erhobene
Arbeiten in ziemlicher Grösse in neueren Zeiten, von Elfenbein aus-
gedrechselt worden; es können aber keine untergegrabene Figuren heraus-
gebracht werden: denn das Eisen kann nur auf der Oberfläche arbeiten.
Wollte man sich also vorstellen, Phidias habe die Statuen, die er stück-
weis aus Elfenbein zusammen gesetzet, auf der Drechselbank gearbeitet,
so muß ich gestehen, daß dieses ζ. E. von dem Kopfe einer Figur, so weit
die Kunst zu unseren Zeiten gelanget, nicht begreiflich genug ist. Denn
wenn man sich den Kopf, obgleich vorher aus Stücken zusammengesetzet,
im Drechseln völlig vorstellen muß, so würde vorauszusetzen seyn, daß
sich der Kopf beständig unter dem Eisen beweget habe, und dennoch kön-
nen die schrägen Tiefen nicht ausgedrechselt werden, sondern es muß hier
mit dem Meißel gearbeitet seyn.
[XIIXII] Anmerkungen über ά. Gesch. d. Kunst. Vorrede 259
Zu eben dem Capitel kann die Erinnerung über die Irrung angebracht
werden, worinn mit dem Berkelius1 vielleicht andere seyn mögen, daß
man zu Augustus Zeiten allererst angefangen habe, auf der Mauer zu
mahlen, wovon der Erfinder Ludius sey. Dieses hat gedachter Scribent
aus einer misverstandenen Nachricht des Plinius gezogen1»: denn dieser
saget nicht, daß Ludius der erste I in Rom gewesen, welcher auf der Mauer
gemahlet habe, sondern daß er zu erst die Wände der Zimmer mit Land-
schaften und dergleichen leblosen Vorstellungen ausgezieret, da vor ihm
keine andere als historische Stücke angebracht worden. Gronov hat dieses
dem Berkelius in seinen Anmerkungen übersehen. Jener hätte sein Ver-
sehen merken sollen, da er unter den Künstlern die auf der Mauer ge-
mahlet, audi den Pausias nennet, welcher gleichwohl ein paar hundert
Jahre vor des Augustus Zeit geblühet hat; denn er war ein Schüler des
Pamphilus, des Meisters des Apelles.
Im vierten Capitel von der Kunst unter den Griechen könnte ein
Gedanken des Dio Chrysostomus, wenn er Grund hätte, zu weiterer
Betrachtung Anlaß geben. Es sagt dieser Scribent von seiner Zeit, unter
dem Trajanus, daß die schöne Bildung unter den Menschenkindern ab-
genommen habe; an schönen Weibern sey kein Mangel, aber Schönheiten
in unserem Geschlechte werden sehr wenige mehr erzeuget, oder wenn
sie auch vorhanden seyn, bleiben dieselben verborgen, weil man nicht
mehr, wie unter den älteren Griechen geschähe, auf männliche Schönheiten
achtsam sey, oder dieselbe zu schätzen wisse®. Dem ohngeachtet sagt eben
derselbe von einem bildschönen jungen Ringer seiner Zeit, daß wenn er
sich audi nicht in Leibes-Uebungen hervorgethan hätte, die Schönheit
seiner Gestalt allein ihn berühmt gemacht haben würde b .
Bey den Anmerkungen über die Bekleidung in eben diesem Capitel
erinnere sich der Leser, daß ich in dem Versuche der Allegorie eine un-
gegründete Meinung über ein Heft an den Riemen der Schuhsohlen, in
Gestalt eines Kreuzes angezeiget habe. Da ich dieses schrieb, war in Rom
an keiner Statue, und an keinen Füßen, von welchen der Bildhauer
Barthol. Cavaceppi eine merkwürdige Sammlung gemacht hat, der-
gleichen Kreutz zu finden, um dadurch jene Meinung mehr zu wider-
legen. Vor kurzer Zeit aber hat gedachter Bildhauer einen schönen
männlichen Fuß von einer Statue, die weit über Lebensgrösse gewesen,
1
Not. in Steph. de Vrb. ν. Βοϋρα. η. 8i.
b
L. 3j. c. 37. p. 223. I
a
Orat. 21. p. 269. D.
b
Orat. 28. p. 289. D.
260 Anmerkungen über d. Gesdi. d. Kunst. Vorrede [XII|XIII]
erhalten, und an diesem findet sich ein solches Kreuz-Heft. Eben so hätte
ein Kinder-Kopf zwischen zween Flügeln, wie wir die Engel pflegen
vorzustellen, welches der Zierrath eben dieses Hefts ist an den Füßen
eines schönen Bacchus in der Villa Ludovisi, wenn die Füße besonders
gefunden wären, auf ein christliches Bild gedeutet werden können. I
Im zweyten Theile dieser Anmerkungen, wo angezeiget worden, daß
die vom Plinius bestimmte Zeit der Blüte grosser Künstler, sich insgemein
auf beygelegte Kriege beziehe, kann das Griechische Sprichwort Φειδίας
προσήκει είρηνη gemerket werden. Es ist dasselbe vom Suidas angeführet,
aber von ihm selbst so wenig als von anderen verstanden. Dieser Scribent
deutet es auf eine unverständliche lächerliche Art aus: Er sagt, der Friede
gehöre für den Phidias, weil er ein Künstler ist; denn es werde der Friede
wohlgebildet vorgestellet. Man wird aus den Beweisen, die ich an seinem
Orte gegeben habe, leicht einsehen, daß wenn dieses wirklich ein Sprich-
wort gewesen, woran Küster zweifelt, so müsse dasselbe von dem Frie-
den, in welchem allein die Künste blühen, verstanden werden.
In meiner Meinung dem Scopas vielmehr als dem Praxiteles die Niobe
zuzuschreiben, bin ich noch mehr bestärket worden durch einen Abguß
in Gips von einem Kopfe der Niobe selbst, und dieser Abguß ist der ein-
zige der in Rom geblieben ist; der Kopf selbst aber befindet sich nicht
mehr hier. Da man nun zwischen den Kopf der Niobe und jenem ein-
zelnen Abgüsse, und in diesem mehr Rundung bemerket, auch den Mund
besser gebildet gefunden, haben einige daraus schließen wollen, daß viel-
mehr der besagte Gips von dem wahren Kopfe der Niobe genommen
seyn könne, und daß der Kopf, welcher itzo auf der Statue stehet, eine
alte Wiederholung eben dieses Werks sey, aber von einem geringeren
Künstler. Diese hatten keine Betrachtung gemachet, über die Eigenschaft
des hohen Stils, welchem die Rundung noch nicht völlig eigen gewesen ist,
und daß der rundlich gehaltene Augen-Knochen auf spätere Zeiten deute.
Ferner hatten diese nicht bemerket, daß der Mund des Kopfs der Niobe
sehr gelitten, und daß beyde Lippen mit Gipse schlecht ergänzet sind.
Man könnte also jenen Kopf der Niobe, welcher wahrhaftig schön ist,
wegen mehrerer Weiche und Rundung an demselben für eine Wider-
holung dieses Werks aus dem schönen Stil und vielleicht für ein Werk
des Praxiteles halten. Die Vergleichung beyder Köpfe lehret den Unter-
schied dieses sowohl als jenes Stils.
Wo ich p. 357. eines Bildhauers Ctesias gedacht habe, muß es Ctesilas
heißen, von welchem ich umständlich zu Anfange des zweyten Theils
dieser Anmerkungen geredet habe. Aus der dortigen Untersuchung erhel-
[XIIIIXIV XIVIXV] Anmerkungen über d. Gesch. d. Kunst. Vorrede 2 6 1
let, daß der sogenannte sterbende Fechter im Campi I doglio nicht von
diesen Künstler seyn könne, zumal da Plinius von einem sterbenden
Heide und von keinem Fechter redet.
Nachdem idi den Farnesischen Ochsen von neuen betrachtet in Ab-
sicht der Inschrift der zween Künstler desselben, die ehemals an diesem
Werke stand, und itzo nidit mehr zu sehen ist, finde ich daß dieselbe an
dem Sturze eines Baums habe eingehauen seyn können, welcher der Figur
des Zethus zur Stütze dienet: denn dieses war der scheinbarste Platz für
dieselbe, und dieser Sturz ist gröstentheils neu.
Ueber die Heroische Gestalt der Statue des Pompejus habe ich gesaget,
daß ich glaube, es sey die einzige Statue eines Römischen Republicaners,
die ganz nackend gebildet ist. Man könnte mir aber die vermeinte Statue
des Agrippa im Hause Grimani zu Venedig entgegen setzen", die eben-
falls in Heroischer Gestalt ist, und ich könnte diesen Einwurf heben
durch die Betrachtung, daß die Republicanische Mäßigkeit und Beschei-
denheit unter dem Augustus auch in der Kunst nicht mehr gesuchet
worden. Es ist aber noch nicht bewiesen, daß diese Statue den Marcus
Agrippa vorstelle, und wenn in dem Kopfe einige Aehnlidikeit mit dessen
Bildern ist, muß an dem Orte selbst untersudiet werden, ob der Kopf der
Statue eigen sey.
Wider die Benennung des fälschlich sogenannten Seneca im Bade,
in der Villa Borghese, hätte idi einen deutlichen Beweis führen können
aus einer Statue in Lebensgrösse in der Villa Pamfili, von weißen Marmor,
die jener vollkommen audi im Gesichte ähnlich ist, und in der linken
Hand ein Gefäß wie einen Korb gestaltet träget. Dieser Statue sind
wiederum zwo kleine Figuren in der Villa Albani ähnlich, und tragen,
wie jene, einen Korb; zu den Füßen der einen stehet eine Comische Larve,
so daß man deutlich siehet, daß diese sowohl als jene Knechte der
Comödie vorstellen, die wie Sosia zu Anfang der Andria des Terentius
zum einkaufen von Eßwaaren ausgeschicket wurden.
Die Mutmaßungen, daß die irrig sogenannten Sieges-Zeichen des
Marius vielmehr dem Kayser Domitianus zuzuschreiben sind, hätte ich
unterstützen können durch Anführung einiger Stücke von Sieges-Zeichen
in der Villa Barberini zu Castel-Gandolfo, welche hier, wo ehemals die
Villa des Publius Clodius und nachher des Domitianus war, ausgegraben
sind. Die Zierlichkeit der Arbeit an diesen Stücken weidiet der Kunst an
jenem im geringsten nicht, I und man muß schließen, daß dieselben wo
nicht von einem Meister, nicht ohne Grund von einer Zeit zu achten sind.
Da nun Domitianus Sieges-Zeidien in seiner Villa setzen lassen, so kann
er auch Sieges-Zeichen an einer Wasserleitung, die etwa von ihm aus-
gebessert worden, haben anbringen lassen.
Zuletzt muß ich das Schicksal beklagen, welches der Gesdiichte der
Kunst in der Französischen Uebersetzung begegnet, die zu Paris bey
Saillant gedruckt, in zween Bänden in Octav erschienen ist. Man hat, da
das Format geändert worden, besser gefunden, den am Rande gesetzten
Inhalt, über jeden Absatz worauf sich derselbe beziehet, zu setzen, und
so viel besondere Abschnitte und Paragraphen zu machen. Durch diese
Zergliederung wird der Zusammenhang unterbrochen, und da auf diese
Art ein jedes Stück von dem andern abgesondert worden, so erscheinen
dieselben als vor sich bestehende Glieder, um so viel mehr da der Ueber-
setzer an vielen Orten die Verbindungs-Worte entweder geändert oder
gar ausgelassen hat. Man könnte zu einer Entschuldigung das Format
angeben, welches etwa nicht erlaubet, den Inhalt auf dem Rande zu set-
zen; aber man kann auf keine Weise entschuldigen, daß Absätze gemachet
worden, wo in dem Originale keine sind, noch seyn sollen, wie zu An-
fange des zweyten Theils geschehen ist. Hier hat der Uebersetzer das
Stüde welches ein Verzeichnis der ältesten Künstler vor den Zeiten des
Phidias enthält, in ganz kleine Brocken zerstücket, und man hat die
kurzen Anzeigen von diesen Meistern mit besonderen Zahlen und mit
übergesetzten Namen gedachter Künstler von neuen abgesetzet, als wenn
man besorget hätte, der Leser werde den Othem verlieren, wenn das
aneinanderhangende Stück von zwo Seiten nicht zerschnitten würde: aus
einem einzigen Satze sind vier und zwanzig Sätze gemachet.
An die Uebersetzung selbst aber kann ich ohne Eckel nicht gedenken:
denn ich glaube, daß nicht leicht eine Schrift, die aus ihrer eigenen
Sprache in eine fremde versetzet worden, übler gemishandelt sey. Ich
fieng an die Fehler des Misverstandes auf dem Rande anzuzeigen, aber
ich wurde müde, weil nicht eine einzige Seite frey blieb. Der Uebersetzer
zeiget nicht allein eine grobe Unwissenheit auch in den gemeinsten Kennt-
nissen der Kunst, sondern man kann demselben aus unzähligen Stellen
beweisen, daß er die deutsche Sprache nicht völlig verstehet. I
Ich wäre bereit gewesen, die Uebersetzung mit aller Aufmerksamkeit
durchzusehen und zu verbessern, wenn mich diejenigen die Theil an der-
selben haben, hierum ersuchet hätten. Ich bin aber ohne alle Nachricht
geblieben, und da ich vor zwey Jahren, ich weiß nicht wie, von einer
Uebersetzung dieser meiner Arbeit hörete, fragte ich bey einigen meiner
Anmerkungen über d. Gesch. d. Kunst. Vorrede 263
Bekannten in Paris deswegen an, und ich erfuhr gleichwohl nicht mehr.
Endlich da die Nachricht von der Uebersetzung bekräftiget wurde, ließ
ich den Lieutenant von der Policey in Paris ersuchen, dieser Arbeit die
Censur nicht zu ertheilen, bevor ich dieselbe geprüfet und gebilliget hätte;
ich glaube aber, daß dieses Ansuchen zu spät gewesen. Plato sagt, es sey
niemand vorsetzlich böse, welches gegenwärtiger Fall zu widersprechen
scheinet: denn man hätte ohne Kosten eine richtige Uebersetzung liefern
können, und man hat nicht gewollt; es ist also diese Misgeburt an das
Licht erschienen.
Ich kann nunmehro die Ausgabe meines Italiänischen Werks der bisher
nicht bekannt gemachten Denkmale des Alterthums ankündigen, und es
wird dasselbe auf meine eigene Kosten, und ohne Pränumeration, ge-
druckt, gegen die nächste Ostern in zween Bänden in groß Folio erscheinen.
Es enthält dasselbe ausser den Kupfern zur Zierde des Werks, zwey-
hundert und zehen Kupfer alter Denkmale, welche in demselben erkläret
und erläutert worden, nebst einer vorläufigen ausführlichen Abhandlung
von der Kunst der Zeichnung der Aegypter, der Hetrurier und besonders
der Griechen.
Rom, den ersten September, ι y66.
ANHANG
[392|393] 267
in der
Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen
Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind.
Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebauet,
und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nöthig
war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo
übertrifl alle andere Bilder desselben so weit, als der Apollo des Homerus
den, welchen die folgenden Dichter malen. Ueber die Menschheit erhaben
ist sein Gewächs, und sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe.
Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die rei-
zende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und
spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder.
Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten, und
versuche ein Schöpfer einer Himmlischen Natur zu werden, um den Geist
mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier
ist nichts Sterbliches, noch was die Menschliche Dürftigkeit erfordert.
Keine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein
Himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strohm ergossen, hat gleichsam
die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllet. Er hat den Python, wider
welchen er zuerst seinen Bogen gebraucht, verfolget, und sein mächtiger
Schritt hat ihn erreichet und erleget. Von der Höhe seiner Genügsamkeit
geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hin-
aus: Ver I achtung sitzt auf seinen Lippen, und der Unmuth, welchen er
in sich zieht, blähet sich in den Nüsten seiner Nase, und tritt bis in die
stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer seligen Stille auf
derselben schwebet, bleibt ungestört, und sein Auge ist voll Süßigkeit,
wie unter den Musen, die ihn zu umarmen suchen. In allen uns übrigen
Bildern des Vaters der Götter, welche die Kunst verehret, nähert er sich
nidit der Größe, in welcher er sich dem Verstände des Göttlichen Dichters
offenbarete, wie hier in dem Gesichte des Sohnes, und die einzelnen Schön-
268 Beschreibung des Apollo im Belvedere [393|394]
heiten der übrigen Götter treten hier, wie bey der Pandora, in Gemein-
schaft zusammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Göttinn der Weis-
heit schwanger ist, und Augenbranen, die durch ihr Winken ihren Willen
erklären: Augen der Königinn der Göttinnen mit Großheit gewölbet,
und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten Branchus die
Wollüste eingeflößet. Sein weiches Haar spielet, wie die zarten und
flüßigen Schlingen edler Weinreben, gleichsam von einer sanften Luft
bewegt, um dieses göttliche Haupt: es sdieint gesalbet mit dem Oel der
Götter, und von den Gratien mit holder Pracht auf seinem Scheitel ge-
bunden. Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks
der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit
Würdigkeit anzusdiauen. Mit Verehrung sdieint sich meine Brust zu er-
weitern und zu erheben, wie diejenige, die ich wie vom Geiste der Weißa-
gung aufgeschwellet sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos
und in die Lycischen Hayne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart
beehrete: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen,
wie des Pygmalions Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu
beschreiben. Die Kunst selbst müßte mir rathen, und die Hand leiten,
die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig auszuführen.
Ith lege den Begriff, welchen ich von diesem Bilde gegeben habe, zu des-
sen Füßen, wie die Kränze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten,
welche sie krönen wollten, I nicht erreichen konnten. Der Begriff eines
Apollo auf der Jagd, welchen Herr Spence1 in dieser Statue finden will,
reimet sich nicht mit dem Ausdrucke des Gesichts.
1
Polymet. Dial. 8. p. 87.
269
[3] Der Apollo so die erste Statue zu Linker Hand dieses Hofes,
so ehemahls ein Garten gewesen ist, ist der Apollo genannt de Belvedere.
Diese Statue ist von der allerwunderbarsten Schönheit so sich unter denen
übergebliebenen antiquen Statuen findet. Sie ist über Lebens-Größe von
der allersdiönsten Proportion in ihrer Länge und geschlancke Glieder. In
dieser Figur sieht man eine außerordentliche Regung: denn sie ist in
großheit gebildet, und scheinet als solte sie vorstellen den Apollo wie er
den Python erleget in eben der Zeit da er den Bogen abgeschoßen und
davon gehen würde. Es scheinet als sähe man eine hochmüthige halb er-
zürnete und verachtende Mine in seinem Gesicht. Der Character des
gantzen Kopf ist über die maßen schön: die Stirn ist wie des Jupiters
Stirn, so sind auch die Augen: die Nase aber ist dünner und spitzer, den-
noch bey den Nüsten ist sie breit und selbige sind gleichsam aufgeblasen.
Der Mund ist an bey den Enden herabgezogen; Bey de Seiten der Ober-
Lefzen sind in die Höhe gebogen und folgen damit gleichsam den auf-
geblasenen Nüsten nach. Die Unterlippe aber ist vorwerts und etwas
herabhängend. Das Kinn gehet gleichsam ein wenig hervor: die Kinn-
backen sind nach dem Griechischen Gebrauch groß. Die Backen flach, die
Ohren etwas tief, aber größer als (sie) insgemein der Antiquen Gebrauch
ist, wiewohl man von selben nur die Unterhälfte siehet. Die Haar-Locken
spielen über alle maßen schön um das Haupt herum, und sind herrlich
hin und her geworfen, obschon dieselben nicht mit dem grösten Fleiß
ausgemacht, so (sehen) kommen sie nach Bildhauer-Art den Haaren des
Corregio nahe. (Diese Art die Haare zu arbeiten ist nach dem (best)
Gebrauch der besten Zeiten der Griechen, denn in den ältesten waren sie
/sie/ sehr kleinlich steif und gleichsam machten sie ihre Haare, als wären
sie naß auf Art der Egyptier und Hetrurier. (Siehe das bas-relief vom
Callimacho im Campidoglio.) In Phidias und Alex. Zeiten aber ist dieser
26 und Cupido und 27—28 und in dem Borghesisdien großen Cupido nachgetra-
gen J2 zwischen sollen und Es ein Verweisungszeichen, daß der Text 271, 26 ff.
(bis 2j2,10?) hier einzurücken sei j j einige Zeit > lange Zeit
Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere 271
Es scheinet als hätten viele der grösten Meister der alten Griechen
die Gewänder mit einiger Nachläßigkeit gemacht, ob sie schon an einigen
Orten die Wahrheit derselben nidit vergeßen, so sind dennoch die Falten
von weniger Invention. Dennoch könten wohl unter den großen Leute
einige in diesem Theil verständige Leute gewesen seyn, aber man hört die
Schönheit der Gewänder nicht viel rühmen von den alten Scribenten.
Diejenigen so den Jupiter vom Phidias, die Venus von Gnidos und den
Cupido von Thespiis sich zu rühmen beflißen [ , ] haben von keinen beklei-
deten Statuen geredet. Auch haben sie die H a a r e nie so fleißig ausge-
arbeitet.
Diese Statue ist sehr glatt und sauber gearbeitet. Es sind Arme und
Beine davon zerbrochen gewesen. Das spielende Bein scheinet nicht wohl
angesetzt zu seyn, sondern etwas zu vil einwerts stehend. Das stehende
aber ist gut restauriret.
Es ist bey den Alten ein allgemeiner Gebrauch gewesen, die schönen
und zarten Gottheiten nicht nach der Wahrheit so vil als nach der Idee
zu machen. Denn mehrentheils siehet man die Arme und Beine vil runder
auf denselben als die Natur. Sie haben vermieden das sehnigte Fleisch
anzumerken und haben die Fügungen der Glieder fast als ohne Sehnen
gemacht, ohne Zweifel um dadurch eine größere Zärte und Schönheit aus-
zudrücken. D a über dieses die Sehnen und starke Muskeln Theile sind,
so gleichsam der Menschlichen Nothdurft zugehören. Man sieht klar an
alle Antiquen Statuen des Jupiters, daß die Glieder rundlich und fleisdiigt
gehalten sind. Man sehe einen Faun gegen einen Jupiter, einen Meleager
gegen den Apollo so wird man leicht die Wahrheit von dem, was ich
vorgeschlagen, ersehen können. J a so gar haben sie nie Adern auf ihren
Gottheiten, gemacht.
Ich unternehme [die] Beschreibung eines Bildes welches über alle Be-
griffe menschlicher Schönheit erhaben ( i s t ) , (u. deßen Vollkommenheit
der höchste Schwung meiner Ausdrücke nicht zu erreichen fähig ist) ein
Ii und sauber nachgetragen 29 Ich wage mit der Beschreibung > Ich wage eine
Beschreibung > Text
Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere 273
Neben 7—8: unlasttragende Regung, wie ein Geschöpf das noch nie feste Mate-
rie mit seinen Füßen betreten hat
Neben 9—11: Die Zartigkeit ist nidit so wohl d. Jugend als eine vollkommene
Schönheit welche d. Männlkt zieret. Es scheinet daß er mit geistiger Nahrung
genähret worden.
10 seiner Glieder > der Glieder 10 glücklichen > glückseligen 17—18 schei-
net die gantze Umschreibung der Figur erfüllet zu haben > Text 23 Zorn . . .
Verachtung mit Bleistift geändert zu: Hochmuth und eine fröliche Verachtung
25—26 und in einer ewigen wie eines stillen Meers > und in einer ewigen Ruhe
wie auf der Fläche eines stillen Meers > Text ly welches seinen Schatten über
die > Text 29 so herrschete > so heiter
Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere 275
erhebt sich seine Stirn mit einer sanft schwellenden Fülle der Majestät
und mit der Großheit des Vaters der Götter.
Seine H a a r e scheinen gesalbet mit dem O e l der Götter und von den
Gratien auf seinem Scheitel gebunden: ungeschmüdkt in ihrer Zierde u.
lieblidi in ( E i n ) natürl. Einfalt laufen sie in sich zurück wie die zarten
/Rancken/ Schlingen des Weinstocks u. fließen in wellenförmigen Locken
auf seine Schultern herab.
<Alle W e l t ) Gefiele es der Gottheit sich in dieser Gestalt <zu> den
Sterblichen z u offenbaren, alle Welt würde z u deßen Füßen anbeten: die
unerleuditeten Indianer und die finsteren Geschöpfe die ein ewiger Winter
bedecket würden eine höhere N a t u r in ihr erkennen, und wünschen ein
ähnlidies Bild zu verehren: die Weisen der ältesten Zeiten würden hier die
Gottheit der Sonne in Menschlicher Gestalt finden.
[74 r ] So verklärt und rein ist deßen K ö r p e r und aus seiner Brust gehet
gleichsam ein Ausfluß eines himmli[s]chen Lichts, welches denselben um-
floßen.
(Zweiter Entwurf)
2 mit einer > mit der 4 ist ihre Zierde > in ihrer Zierde 20 Wesen > Na-
turen > Wesen 20 unter bestimmt steht gemadit 20 war > gewesen scheinet:
> war
276 Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere
tischen Natur zu werden und wenn du in dir selbst ein Bild erzeuget und
eine vollkomnere Gestalt (hervor gebracht hast) als dein Auge gesehen,
hervor gebracht hast, als denn trit hinzu zu dem Bilde dieser Gottheit
Mich däucht ich sehe dich in deinen Gedanken erniedrigt u. dein Bild
welches dir in denselben erschienen ist, verschwinden gegen dasjenige,
welches du hier gegenwärtig erblickest, so wie der Traum weichet, wenn
die Wahrheit erscheinet
[7ο1"] Eine mit Bestürtzung vermischte Verwunderung wird dich
(einem?) außer dich setzen wie dort den Pygmalion unter deßen Händen
sein Bild Leben u. Bewegung bekam: ja das Körperliche wird dir geistig
(erscheinen) werden
Aus dem was ich selbst empfunden (de?) bey dem ersten Anblick die-
ses Werdks bilde ich mir die Rührung einer Seele die mit natürlicher Emp-
findung des Schönen begabt ist und in Entzückung gegen das was die
Natur übersteigt; kan gesetzet werden.
Mit Verehrung schien sich meine Brust zu erweitern u. aufzuschwellen
und ich nahm gleichsam einen erhabenem Stand an, um mit Würdigkeit
anzuschauen. (Ich sah mehr als mir) Unvermerckt fand ich midi im Geist
nach Delos u. in die Lycischen Hayne, Orte die Apollo mit seiner Gegen-
wart beehrete, geführet u. ich glaubte den schönsten der Götter (zu
sehen) mit Bogen u. Pfeile zu sehen, (vor) den die Musen zu umarmen
wünschen u. vor den die übrigen Gottheiten erzittern u. (aufstehen) wenn
er vor ihnen einhertrit von ihren Sitzen aufstehen (u.)
[ 7 1 * ] Über die Menschlichkeit erhaben ist sein Gewächs und sein Stand
zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling der Jugend
bekleidet die vollkommene Männlichkeit dieses Körpers und der Reitz
von blühender Schönheit gefälliger Jahre spielet auf dem stoltzen Ge-
bäude seiner Glieder. So wie in dem glückseeligen Elysien, wo niemahls
ein Nördlicher Wind das Haupt der Blumen gebäuget, noch die schwüle
Mittags Hitze die Lust der Thäler verdorret, (geschlancke Reben mit
immergrünem Laube sich mit dem Oelbaum gatten) u. Blüthe u. Früchte
zugleich die Zweige der Bäume frölich machen.
Unter 23: N B Hier ist noch die Beschreibung des Apollo aus dem I B. der Ilias
anzubringen
1 hervorgebracht hast > erzeuget hast > erzeuget 4—6 Midi däucht ich sehe
dich in deinen Gedanken u. dein Bild welches dir in denselben erschienen ist, er-
niedrigt u. gegen dasjenige, was > Text 1} zu setzen ist > kan gesetzet werden.
1 7 nahm gleichsam > nahm > nahm gleichsam 18 wurde ich > fand ich midi
26—2j bekleidet diesen Körper vollkommener Jahre und der Reitz blühender
Schönheit eines (abgebrochen) > Text
Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere 277
3 dem Ansehen nach nachgetragen 4 so leidit > Text 4—j scheinet er wie auf
Flügeln der Winde zu gehen > Text 6 der K r ä f t e nachgetragen 11 gleichsam
nachgetragen 19 Jahre wo in der regen Natur > Jahre die sich mit einer regen
Wollust in das sanfte Gefühl > Jahre die sich in das sanfte Gefühl der regen
Natur > Text 27J, 18—27S, 2 gestrichen
278 Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere
Hier sind die Zärtlichkeiten (die) eines Jünglings der das erste Gefühl
offenbaret aber mit ungleichen Blicken der sich selbst gelaßenen Natur.
[74 r ] Und in diesem Gesicht siehest du in der That mit einem Blick das
höchste u. schönste (aller) der über andere erhabenen Gottheiten, so wie
sie sich dem Verstände des Göttlichen Dichters gezeiget u. dem Alterthum
zur Verehrung vorgestellet worden.
Eine Stirn wie diejenige (aus welcher) die von der Göttin der Weiß-
heit schwanger war u. die im Apollo von dem Geist der (Weißheit)
Weißagung zu Delos u. Claros aufgeschwellet scheinet: Augenbranen
nach dem Begrif derjenigen die den Olympus erschüttert: Augen der
Königinn/en/ der Göttinnen [mit] Majestät gewölbet und der schönste
Mund voller Zärtlichkeit einen Hiacynthus von (?) Pamfo zu küssen
Der Unmuth selbst wieder den Python der sich in der Nase (auf-
blähet) ist wie ein Wetter welches in den Unteren Gegenden der Luft
bleibet u. (nidit) die obere Atmosphäre nicht beunruhiget
j Und hie[r] siehest du mit einem Blick > Text 4—j so wie sich dem > Text
9 zu Delos u. Claros nachgetragen 10—11 erschüttert und Augen mit Majestät
> Text 12 einen Hiacynthus von (?) Pamfo] vielleicht verschrieben für: einen
Hyacinthus und von Paphos den Cinyras 12 zu küssen nachgetragen, davor
Zwischenraum 13 Der Unmuth der den Gott wieder seinen Feind aufgebracht
der /die Nase erweitert und den Mund ö f n e t / > Text 29 in dem > in einem
Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere 279
u. der schönste unter viel tausenden di[e] vor Troja kriegten, u. den
Apollo selbst liebte
Hätte der Thebanische Dichter uns die Schönheit des Theseus gemahlet
(der) über welche das gantze Volck in Athen erstaunete, (da er zu erst
in sein Vaterland) u. den Gott der Musen zu sehen glaubeten da jener
zu erst in sein Vaterland erschien. Hätte Homer den schönsten jungen
Helden unter viel tausenden vor Troja, den welchen Apollo selbst liebte
(wie den Thersites) gemahlet
[74 v ] Der Künstler hat den Apollo vorgestellet da er nodi nicht die Daphne
geliebet hatte: denn er hat nodi keinen Lorbeer Krantz. v. Lucian Dial. Deor.
X V . c. 2. — και νυν αντ' εκείνων στέφανους εχω.
[12] II TORSO
Dieses Stück Statue so ohne Arme Beine und Kopf ist hat allezeit bey
allen verständigen Künstlern und Liebhabern großen Ruhm und A u f -
mercksamkeit verdienet wegen seiner großen Schönheit. Es scheinet einen
Herkules zu bedeuten. Der Character dieser Statue ist wunderschön. Die
Proportion ist über die maßen wohl verstanden. In diesem Stücke findet
sich zugleich die Weichigkeit des Apollo, das Verständniß der Anatomie
vom Laocoon und vom Borghesisdien Fechter, die Großheit des Hercules
von Farnese. Den göttlichen stilo so die alten Griedien gebraucht haben
Göttlidie Personen vorzustellen, nemlich ohne alle überflüßige Kleinigkei-
ten, als kleine Falten der Haut, Adern, zu starke Bemerkung der Sehnen
und Knochen. Es scheinet audi, als wäre dieses Stüde in allen Zeiten vor
sehr schön gehalten worden, ja so gar von dem Meister selber, weil er sei-
nen Namen sehr ausführlich und deutlich daran gesetzt. Auch siehet man
daß diese Statue vor alten Zeiten restauriret worden. Denn am Hintertheil
siehet man daß es zum restauro zu gerichtet worden, weil (das) es grade
abgehauen und wieder rauh behauen wie man pflegt zu thun im restau-
riren, um den Kitt gut an zu tragen machen. Auf selben Ort findet sich noch
eine alte eiserne Klammer und der gantze Marmor dieses behauenen Orts
hat eben die patina angenommen wie das übrige, also daß es nicht von
neueren Zeiten seyn könne. Man könte zwar glauben, daß die Statue an
einem festen Ort angemadit gewesen wäre, und darum das Eisen daselbst
stünde. Aber der Künstler [13] würde sich nicht so vil Fleiß gegeben
haben um den Rücken so schön zu machen, wenn er gegen die Mauer oder
gegen sonst was gestanden hätte. Der (gantze) Haupt Gusto dieser
Figur kommt dem von Michael Angelo ziemlich nahe so in denen Figuren
auf der Großherzoge von Florenz Begräbniß, aber der antique Künstler
Übertrift den Michael Angelo sehr weit in der Zarte und in der An-
nehmlidikeit. Denn Midi. Angelo seine Statuen fehlen allezeit ein wenig
in der Leichtigkeit, in dem eleganten Zug des Contours, in der Größe
Entwürfe zur Beschreibung des Torso im Belvedere 281
der Einbügung und bleiben allezeit Stein und diese scheinet Fleisdi zu
seyn.
[ 2 1 ] TORSO
Bey dem ersten Anblick dieses Stückes wird man nichts anders gewahr
als einen fast ungeformten Klumpen Stein, aber so bald das Auge die
Ruhe angenommen, und sidi fixiret auf dieses Stüde, so verliehret das
Gedächtniß den ersten Anblick des Steins und scheinet er weichliche zarte
Materie zu (sehen) werden. Ob dieses Stück schon ohne Kopf, Arme noch
Beine ist, so bildet die Vollkommenheit des übrigen in unseren Gedanken
schönere Glieder, als wir jemahls gesehen haben. Die Gottheit und Voll-
kommenheit erscheinet so wohl durch die Form als Zärtlichkeit der mäch-
tigen Muskeln des vergötterten Helden. Derjenige so einen Begrif von
der Großheit der Griechischen Künstler hat, wird in seinen Gedanken
leicht die verlohrnen Theile ersetzen. Denn da man im gantzen Körper
keine Nothdürftige theile als Härte der Knochen, angespannte Sehnen
Nerven oder Adern siehet, so stellet man sich leicht vor, wie in dem Haupt
die Gottheit des Vaters gewesen sey, {auf?) aus den üb[er]bliebenen
Schultern ersiehet man /,/ die Stercke deßen der nach der Poet[isch]en
Beschreibung] den Himmelsglob[us] getragen. In der Leichtigkeit und
Schmäle des Bauchs erscheinet die immer gesunde vollkommene Natur
(bricht ab)
[ 2 5 ] B R . IL TORSO
Wenn ich den Torso von Belvedere besehe, so weiß ich nicht, ob ich
mehr traurig über den Verlust der schönen Glieder oder frölidi über den
wunderschönen Körper, so uns übrig bleibt, seyn soll. Dieses Stück, so
ohne Kopf Arme und Beine ohne Brust und Achseln [,] an welchen also
nur der Bloße Rücken seiten und Bauch mit ziemlich verdorbenen Schen-
keln zu sehen, verdienet dennoch den Rang mit den allerschönsten Werken
des Alterthums, so uns übrig geblieben.
Man (siehet) findet in diesem Stüde alle Ideen der grösten Kunst der
alten Meister. In seiner großen Art und Character (findet) erkennet man,
wie schön ein Jupiter von solchen Künstler würde seyn vorgestellet
worden. Man findet gleichsam das Göttliche Wesen, was einen Leib, der
nidit mehr mit Menschlicher Speise genähret wird, zu kommt [.] Die
flüßigen Conturen eines Apollos sind in dem Systema der Kunst auch in
diesem Stück zu finden. J a ich kan sagen, daß er einer höheren Zeit der
2f an welchen nachgetragen
282 Entwürfe zur Beschreibung des Torso im Belvedere
Kunst näher kommt als wie der Apollo selbst. Es findet sich die Weißheit
des Künstlers des Laocons und die Fleischigkeit findet sich in keinem an-
deren Bilde wie in diesem.
In der Form ist er mächtig und in der Arbeit zärtlidi. Die Anatomie
ist in ihrem höchsten Grad verstanden und mit solcher Sparsamkeit ge-
wiesen, daß der weise Künstler sie siehet, und der einfältige sie nicht
darinn finden kan, noch es glauben kan.
Die Gebeine (sind) scheinen mit einer fettlichen Haut überzogen: die
Muskeln sind feist ohne den geringsten Überfluß. Die Sehnen sind spar-
sam gezeiget, die Adern siehet man gar nicht.
[27] (Weil dieses ohne Zweifel) Daraus siehet man daß dieses Stück
ohne Zweifel einen schon vergötterten Hercules hat vorstellen sollen. Dar-
nach sind alle Theile eingerichtet. Denn es ist keine Härtigkeit (ohne?)
oder sehr starke Action der Muskeln zu sehen, wie es in Menschlichen
Körpern seyn könte. Um ein so schönes Stück in Malerey vorzustellen, so
müste Raphael den ersten Riß davon geben, Michel Angelo ihn mit
seinen mäditigen Umschweifen vergrößern, und nur allein Correggio
könte ihn mahlen. Denn wer könte sonsten die immerwährend veränder-
ten Formen so in diesem Körper erscheinen, mahlen und mit Licht und
Schatten ausdrücken.
Die Umkreise dieses g[an]tzen Körpers sind so wunderbarlidi, daß
(ihm) im nachzeichnen niemand sich der Richtigkeit versehen kan, indem
eine immerwährende Ausfließung einer Form in die andere alle Striche
regieren muß [.] Wie der Fluß Achelous. Es würde dem Zeichner gehen,
wie dem Herkules, da er Achelous überwinden wolte. Meereswellen.
Es ist in allem dieser Körper wie die Natur, wenn sie bis auf den
Göttlichen Grad erhöhet wäre. Dieselbe Eigenschaft haben beyde, daß
obschon alles darin (?) verborgen lieget, dennoch ein jeder nur darin
siehet, was er weiß [.]
Wenn es erlaubt ist alles zu sagen was ich dencke, so dürfte ich wagen
nach dem Sprichwort des Löwens in meinen Gedancken die verlohrnen
Glieder (aus dies) nach diesem herrlichen Körper erdacht, dazu zu setzen.
Wer die Kunst verstehet wird sehen, daß ich Recht gedacht, obschon
der thörige darüber lachen wird.
Die gröste Regel der Kunst, so die Alten Griechen zum Vorzug gehabt
ist die Vollkommenheit in der Gleichförmigkeit aller ihrer Umriße, nach
[29] diesem Körper also müste nothwendiger Weise ein leichter Kopf,
28 darin nachgetragen
Entwürfe zur Besdireibung des Torso im Belvedere 283
<so wie) weil der Leib sdilandk ist; die Stirn müste feist seyn, weil alle
Muskeln des Körpers sidi so verhalten. Die Knochen aber klein, weil an
dem Körper sie eben so sind. Also der Hirnschädel nicht groß, die
Jochbeine auch nicht gar weit, die Backen ohne hohle Gruben. Die Nase
diddicht auf dieselbe Art wie der Farnesisdie Hercules. Nur würde er
in diesem unterschieden seyn, daß jener sdiwerer und menschlicher gegen
diesen scheinen würde. In der Arbeit müsten alle Dellen weiter und mehr
wellichte Umriße haben, so in allen eine leichtere Form geben. Die Augen
würden ohnezweifel größer und runder seyn nach dem höheren Grie-
chi[s]dien Stil auch von jüngerem Alter in allem vorgestellet als jener,
weil man audi in dem Körper nicht die Schwere des dicken Fleisches
siehet wie in jenem.
Das was aber nodi da ist von dem Körper ist so sdiön daß man von
dem geringsten Stücke eine gantze Beschreibung machen könte. Ich be-
fürchte aber daß selbige wenig Menschen dienen mödite, weil alles so über
unseren Begrif gehet, von uns vor unwahr gehalten wird. Doch finde ich
midi gezwungen, da ich von der großen Schönheit gerühret worden, in
kurzem dieses Rückenstück zu übergehen.
Das Genidt oder Anfang des Rüdegrades (ist würdig) verdienet mit
Recht die gröste Aufmerdesamkeit des Studierenden da man alle Ge-
werck-Beine des Grades sehen kann ohne daß sie die geringste Härte
haben. Man siehet klar wie die Mönchskappen Muskel dieselben be-
decket durch die Dicke des Ursprungs derselben. Auf der lincken Hand
erscheinet daß das Haupt audi auf solche Seite gewendet war. Der
Einsdiluß dieser Muskel an dem Ocromium und Sdilüßel Bein ist sehr
sdiön bedeutet, und (sind) macht die Höhle zwisdien dem Vorderen und
Hinteren theil des Leibes auf eine schöne Weise [31] Das Ende dieser
Muskel auf dem Rüdegrad ist sehr zart und weich angedeutet, (und
dieses) dadurch sieht man, daß keine der beyden Arme hinterwerts
gezogen worden, wie audi aus den Sdiulter-Blättern.
[33] Wenn ich von dem Genick anfange zu sehen bis auf das
Kuckucks Bein so erscheinen alle unterschiedene Bewegungen des Rück-
grades als nemlich der Haupt Ausbug der Gewerk Beine des Rüdkens
der Lenden bis auf das heilige Bein. Die gantze Masse des Thorax ist groß
und ersdieint daraus daß das gantze Gebau des Leibes zur Stercke er-
schaffen war (und erscheinet daraus) Indem der Thorax ewigerweise der
jf daraus nachgetragen
284 Entwürfe zur Beschreibung des Torso im Belvedere
Kastro der noblesten Theile der Intestine ist, als Lunge und Hertz,
welche an allen starken Bewegungen theil haben. Der Künstler hat nach
der höchsten Idee der Kunst gearbeitet, nemlidi daß er am stercksten
die nothwendigsten theile angezeiget bis endlich auf die allergeringsten
Kleinigkeiten. Denn so wie er in der gantzen Haupt-Gestalt die H a u p t -
maße der Gebeine bezeichnet so hat er audi von denen Muskeln die noth-
wendigsten am stercksten angedeutet. Man siehet am mercklichsten die
Lenden Muskeln und am vorderen Leib die ζ gerade Muskeln, (nach
diesen folgen die) welche die Haupt-Bewegungen des Menschlichen
Körpers verursachen, als nemlich das vor und hinterbeugen. Nach diesen
siehet man die 2 sehr weite Muskeln so dem Leib die Zwerg-Action
geben. Nach diesen [die] Mönchs Kappen Muskeln, so den Kopf und die
Schul[tern] regieren. Sdiade daß man nicht auch die Brust Muskeln in
gantzem siehet, wiewohl das kleine Stück so noch übrig, wunderschön
und eben die mächtige Art angedeutet wie das übrige. Die Sägen-
förmige Muskeln sind herrlich angedeutet doch nicht mit einer starcken
Andeutung wie die am Laocoon: das ist auch billig, wegen der großen
expression so in jener Eigen ist, da diese vil ruhiger; vielleicht hat der
Künstler auch diese Muskeln mit Sparsamkeit anzeigen wollen, weil
diese zu einem großen (?) Menschlichen Amte, nemlich zum Athem-
hohlen dienen. [35] Man findet insgemein fast auf allen vergötterten
Figuren dieselbe schwach angedeutet. Dahingegen an Ringern und ande-
ren dergl. Menschen dieselben gantz abgesondert und deutlich zu sehen
seyn.
Der Bauch ist nicht dick sondern eingezogen[.] Aus obgesagten wird
man leicht die Ursach ersehen können.
Nach den Rippen wird der Leib etwas dünn. Die Hüften sind mit
einer großen Art aber nicht groß vorgestellet. Der Anfang der Hüften
mit den Schenkeln ist wunderwürdig schön, indem man wircklich den
Raum zwischen dem Hüft Bein und dem großen Umdrehe[r] siehet, in
diesem Stücke siehet man den großen Verstand dieses Künstlers. Der ob
er schon die Großheit und Stärke zu seinem Ziel gehabt, dennoch die
Warheit und Leichtigkeit nicht vergeßen, welches ein Fehler gewesen
wäre, in welchen auch große Leute gefallen seyn, wie der Kenner so
Michael Angelo Wercke mit wahrer Einsicht zu beschauen weiß, ersehen
kan. Denn Michael Angelo hat auch große und mächtige Körper vor-
gestellet, aber auf eine solche Weise daß wenn sie auch das Leben an-
nehmen könten so würden sie sich dennoch nicht regen können; weil
ihre Glieder und Gebeine dermaßen mit feisten Muskeln erfüllet, daß sie
sdieinen nur zu der einzigen Action erschaffen zu seyn. Deswegen hätte
M . Angelo wohl einen Herkules machen können, der so starck geschie-
nen wie dieser, aber er würde nie einen Gott bedeutet haben. E r hätte
wohl den Herkules vorgestellet, der den Himmels Cirkel tragen sollen,
aber nicht zu gleicher Zeit den Hirsch mit Hörnern von Ertz im Laufen
einholen können.
Wenn man den Unterschied also von M. Angelo und den Torso v.
Belveder bedenket, so bleibet der Farnesische Herkules in der Mitte
zwischen beyden. E r hat nicht die Leichte dieses Torso und auch nicht
die Schwere des Michael Angelo. Hingegen mehr Härte als alle beyde.
[ 3 7 ] Die Proportion so in den übrig gebliebenen Schenkeln von diesem
Torso giebt uns zu erkennen daß er von der allerschönsten Proportion
gewesen. Denn die Schenkel seyn lang gegen den Leib, und sehr starck
im dicken Fleisch. Die Muskeln sind gleichsam in Haupt-Massen einge-
theilet wie der Körper. Gegen die Knie zu verliehret sich die Dicke mit
einer überaus eleganten Art. Die Kniescheiben sind schon angedeutet
und das (übrige v o n ) üb[er]bliebene von dem A n f a n g des Beins macht
uns das verlohrne beweinen. Wir haben im gantzen übrig gebliebenen
Alterthum keine Beine, so uns diejenige Idee geben könten wie diese
gewesen als die von dem Silen mit dem jungen Bacchus auf seinem
Arm in der Villa Borghese[.] Wäre es aber möglich daß die Beine dieses
Torso den Leib so viel übertreffen, wie diese den Silenus, so gestehe ich,
daß sie meiner Einbildung und Vorstellung zu hoch (müsten) gewesen
seyn. Wo ich aber Arme zu dieser Statue finden könte, das wüste ich
nicht zu sagen, weil alle die uns übrig geblieben zu schlecht, um uns ( e r )
dieses Verlustes zu trösten.
286 [62|63]
in den
Anmerkungen über die Geschichte der Kunst
des Alterthums.
Alles dieses was sowohl von der Sdiönheit überhaupt, als audi über
die Action angemerket worden, muß derjenige überdenken, welcher eine
Vergleidiung der alten und neueren Bildhauer machen will, und ein ge-
lehrtes Mitglied der Academie in Frankreich würde, wenn derselbe einige
Kenntnis von den Werken der Alten gehabt hätte, sich nimmermehr ge-
trauet haben, zu sagen, daß unsere Bildhauer, oder weldies derselbe
eigentlich sagen will, die Französischen, endlidi dahin gelanget seyn,
nicht allein das schönste, was Rom I und Athen hervorgebracht, zu er-
reichen, sondern dasselbe sogar zu übertreffen.» Schwer aber sind der-
gleichen Urtheile bey dem der sie äussert, zu widerlegen, und unmöglich
sdiien es mir bey einem Russen von Stande, welcher auf seiner vor-
gegebenen dritten Reise nach Italien, in Gegenwart anderer Personen,
mir sagte, daß er alle Statuen, den Apollo, den Laocoon, den Farnesi-
schen Hercules, nichts achte gegen den Mercurius von Pigalle, in Sans-
souci bey Potsdam.
Andere die bescheidener im Riditen scheinen, und glauben, daß ein
Michael Angelo, ein Puget, ein Fiammingo, ohne sich verkriechen zu
dürfen, neben einen Apollonius, oder einen Agasias, auftreten können,
mögen zum Probier-Steine dieses Vergleichs die Schönheit nehmen. Man
fange an die besten Köpfe der Helden neuerer Kunst zu betrachten;
man lege ihnen vor den schönsten Christus von Michael Angelo, den
berühmten Kopf der Klugheit auf dem Grabmale Papsts Pauls III. in
der St. Peters Kirche, von Guil. della Porta, des vorigen Schüler, ferner
den Kopf der beschrienen H. Susanna von Fiammingo, und den von der
H . Bibiana des Bernini, als welche Statue allezeit angeführet wird von
» Burette Diss, sur les effets de la Musiq. dans les Mem. de l'Acad. des Inscr.
T.J.p· 133·
[63|64] Begriffe der Schönheit in Werken neuerer Künstler 287
Mit der Mahlerey der neueren Zeit verhält es sich verschieden von der
Bildhauerey, und jener ist die Vergleichung mit den Bildern der Alten
nicht in gleichem Grade nachtheilig. Die Ursach ist vermuthlich, weil
die Mahlerey seit ihrer Wiederherstellung mehr als die Bildhauerey
geübet worden, I und folglich weniger in dieser als in jener Kunst sich
grosse Meister zu bilden Gelegenheit gehabt haben. Lionardo da Vinci
und Andrea del Sarto, welche wenige Werke der Alten zu sehen
Gelegenheit hatten, dachten und arbeiteten, wie wir uns die Griechi-
schen Mahler vorstellen müssen, und Christus mit den Pharisäern von
der Hand des ersteren, ist wie die Madonna del Sacco von dem letzteren,
zu Florenz, des Alterthums würdig. J a in des Andrea Köpfen ist so
viel Unschuld, und wahre anerschaffene Gratie, daß ein Pythagoräer
sagen würde, es habe die Seele des Protogenes oder des Apelles in dessen
Körper ihre Wohnung genommen. Man kann überhaupt sagen, daß in
der goldenen Zeit der Kunst, zu Anfange des Sechzehenden Jahrhunderts,
die Gratie den Mahlern sich mehr als ihren Nachfolgern geoffenbaret
habe. Im Annibal Caracci wurde dieser Geist nach langer Zeit von neuen
erwecket, und von der Würdigkeit seines Denkens zeuget unter andern
unsterblichen Werken desselben der Leichnam des entblaßten Christus in
der Königlichen Farnesischen Gallerie zu Neapel, von welchem das
Altar-Blad in der Haus-Capelle des Pallastes Pamfili al Corso, zu Rom,
eine Wiederholung des Meisters selbst zu seyn scheinet. Caracci hat den
288 Begriffe der Schönheit in Werken neuerer Künstler
Heiland als einen jungen Helden ohne Barte gebildet, und demselben
eine hohe Idea gegeben, die er von den schönsten Köpfen der Alten
genommen hat, um den Schönsten der Menschenkinder vorzustellen.
Ein ähnliches heldenmäßiges Gesicht, ohne Barte, hat Guercino seinem
verstorbenen Christus in einem schönen Gemähide des Pallastes Pamfili,
auf dem Platze Navona, gegeben, zu Beschämung der niedrigen und
pöbelhaften Gestalt des Heilandes in dessen Köpfen von Michael Angelo.
Dazu der w'uhtige Einschub in der zweiten Auflage der „Geschichte der
Kunst des Alterthums" S. 297 /. Jenen Begriffen der alten Künstler, von der
Schönheit der Helden gemäß, hätten die neueren Künstler die Figuren des Hei-
landes bilden, und denselben also der prophetischen Weissagung ähnlich machen
sollen, die ihn als den schönsten der Menschenkinder ankündiget. In den meh-
resten Bildern aber, und vom Michael Angelo anzufangen, scheinet man die Idea
von den barbarischen Arbeiten der mittleren Zeit genommen zu haben, und man
kan nichts unedlers von Gesichtsbildung als solche Köpfe des Christus sehen.
Wie weit edler Raphael gedacht hat, siehet man in einer kleinen Originalzeich-
nung desselben, die sich in dem königlichen farnesischen Museo zu Neapel be-
findet, und die Beerdigung des Heilandes vorstellet, wo das Haupt desselben die
Sdiönheit eines jungen Helden ohne Bart zeiget. Hannibal Caracci ist der ein-
zige, so viel ich weiß, der ihm gefolget ist in drey ähnlichen Gemälden von eben
der Vorstellung, wovon sich das eine in itzo gedachtem Museo, das andere zu
St. Francesco a Ripa zu Rom, und das dritte in der Hauskapelle des Palastes
Pamfili befindet. Sollte aber eine solche Bildung des Heilandes, wegen der an-
genommenen bärtigen Gestalt desselben, eine anstößige Neuerung scheinen
könen; so betrachte der Künstler den Heiland des Leonardo da Vinci, und
sonderlich einen wunderbar schönen Kopf von der Hand dieses Künstlers, wel-
cher sich in dem Kabinete des Durchl. Fürsten Wenzel von Lichtenstein, zu Wien
befindet: denn in diesem Bilde ist, ungeachtet des Barts, die höchste männliche
Schönheit abgebildet, und man kan diesen Kopf als das vollkommenste Muster
anpreisen.
1. Paestum. Sogenannter Cerestempel
2. Diomedes. Gemme des Steinschneiders Dioskurides
3. Iulia. Gemme des Steinschneiders Evodos
η. rp/t
TYDEVS HEROS
Peft leqiihanem afmd Τιtf'ntu·· crintum
J μ Jas m. tftun
Die Wiedergabe der Schriften erfolgte nach den Erstdrucken, da sämtliche hand-
schriftlichen Vorlagen zu Winckelmanns Werken verschollen sind. Zu dem kurzen
Xenophon-Fragment und zu den Entwürfen lagen Handschriften vor, und für
19*
292 Textgestaltung
Druck kenntlich gemacht; die zwei ersten Beiträge für die „Bibliothek der schönen
Wissenschaften und der freyen Künste" und die spätere »Abhandlung von der Fähig-
keit der Empfindung des Schönen in der Kunst" bringen keinerlei Hervorhebungen,
und in den „Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums" fehlen sie
fast ganz. So war es wohl zu verantworten, bei a l l e n Beiträgen in diesem Band
die „Auszeichnungen" der Namen zu unterlassen; andere Hervorhebungen in den
Schriften, wie ζ. B. solche bei Sadi- oder Titelangaben, wurden beibehalten und
durch Kapitälchen kenntlich gemacht.
Eine weitere Abweichung vom Originaltext hat sich durch die heute allgemein
übliche Verwendung der Antiqua ergeben. Winckelmann schrieb deutsche Schrift,
seine Werke sind der Zeit entsprechend in Fraktur gesetzt. Selbstverständlich er-
schienen aber in Schrift und Druck fremdsprachige Namen und Zitate in lateinischen
Buchstaben. In den noch in Fraktur gedruckten Briefbänden konnte diese Unter-
scheidung beibehalten werden. Für den vorliegenden Band ergab sich folgende Alter-
native: entweder durchgehend in Antiqua zu setzen oder die fremdsprachigen Worte
durch kursiven Satz wiederzugeben. Um auch hier „die Harmonie des Druckes" nicht
zu unterbrechen, wurde der erste Weg gewählt. Die kursive Schrift sollte aufgespart
bleiben für alle Zutaten des Herausgebers, ζ. B. für Titel, die nicht von Winckel-
mann selbst stammen, sowie für Hinweise im Text und in den Lesarten. Nach diesem
Grundsatz sind auch die Zeilenzähler, die den Gebrauch der Erläuterungen erleich-
tern werden, kursiv gesetzt.
In den Kolumnentiteln sind die Originalseitenzahlen angegeben, der entspre-
chende Ubergang von einer Originalseite zu anderen ist im Text mit einem senkrech-
ten Strich bezeichnet. Im Abdruck der „Gedancken über die Nachahmung" stehen,
unterschieden durch den Zusatz von Α und B, die Hinweise auf beide Ausgaben
(1755 und 1756). Die Wiedergabe der Fußnotenbezifferung bereitete einige Schwie-
rigkeiten; sie konnten durch Übernahme der senkrechten Striche auch in die Anmer-
kungen behoben werden. Diese Regelung hatte den Vorteil, die Ziffern der Origi-
naldrucke sowohl im Text als auch in den Anmerkungen übernehmen zu können,
obgleich im Neudruck die Seiten und Zeilen dem alten Text natürlich nicht mehr
entsprechen. E. R.
Bibliographie
Winckelmann-Bibliographie I = Hans Ruppert, Winckelmann-Bibliographie. Ver-
zeichnis der Veröffentlichungen von und über Winckelmann, Berlin 1942; Windtel-
mann-Gesellschafl Stendal, Jahresgabe 1942, S. 5-50
Winckelmann-Bibliographie II = Hans Ruppert, Ergänzungen zur Winckelmann-
Bibliographie für die Jahre 1942-1955, Berlin 1956; Windtelmann-Gesellschaft
Stendal, Jahresgabe 1954/55, S. 7 - 1 7
Winckelmann-Bibliographie III = Hans Henning, Winckelmann-Bibliographie.
Folge 3 für die Jahre 1955-1966. Sondergabe für das Gedenkjahr 1967, Berlin
1967, 22 S.; Wrackelmann-Gesellschaft Stendal, Jahresgabe 1967
Gesamtausgaben
WA. = Winckelmanns Werke, hg. von C[arl] L[udwig] Fernow, Heinrich Meyer
und Johann Schulze, I - V I I I , Dresden 1808-20 (Weimarer Ausgabe)
Eis. = Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe, hg.
von Joseph Eiselein, I—XII, Donauöschingen 1825—29
Br. = Johann Joadiim Winckelmann, Briefe. In Verbindung mit Hans Diepolder hg.
von Walther Rehm, I - I V , Berlin 1952-57
Einzelveröffentlichungen
Besdireibung = Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde der Dreßdner Gallerie.
Fragment (1752), aus dem Nachlaß publ. 1923
Xenophon = Über Xenophon. Fragment (1754?), aus dem Nachlaß publ. in frz.
Übers. 1809; dt. 1866
Vortrag Gesdiidite = Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen
Geschichte (1754/55), aus dem Nachlaß publ. 1800
Gedancken = Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mah-
lerey und Bildhauer-Kunst, 1755
Sendschreiben = Sendschreiben über die Nachahmung der griechischen Werke in der
Malerey und Bildhauerkunst, in: Gedanken über die N a c h a h m u n g . . z w e i t e
vermehrte Aufl. 1756
Mumie = Nachricht von einer Mumie in dem Königlichen Cabinet der Alterthümer
in Dreßden, in: Gedanken über die N a c h a h m u n g . . z w e i t e verm. Aufl. 1756
Erläuterung = Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung in der Malerey und
Bildhauerkunst, in: Gedanken über die Nachahmung . . z w e i t e verm. Aufl. 1756
Verzeichnis der Abkürzungen 297
Reifere Gedancken = Reifere Gedancken über die Nachahmung der Alten in der
Zeichnung und Bildhauerkunst. Fragment (1756/57?), aus dem Nadilaß publ.
1811
Betrachtung = Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst, 1759
Grazie = Von der Grazie in Werken der Kunst, 1759
Stoß. Museo = Nachrichten von dem berühmten Stoßischen Museo in Florenz, 1759
Torso = Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom, 1759
Baukunst Girgenti = Anmerkungen über die Baukunst der alten Tempel zu Girgenti
in Sicilien, 1759
Description = Description des Pierres gravies du feu Baron de Stosch, 1760
Anmerkungen Baukunst = Anmerkungen über die Baukunst der Alten, 1762
Sendschreiben Hercul. Entd. = Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckun-
gen, 1762
Abhandlung (für Berg) = Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des
Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben, 1763
GK. = Geschichte der Kunst des Alterthums, 1764
Nachrichten Hercul. Entd. = Nachrichten von den neuesten Herculanischen Entdek-
kungen, 1764
Allegorie = Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, 1766
MI. = Monumenti antichi inediti, I—II, 1767. In I: ( X V - X X I V ) Prefazione. —
I—CH Trattato preliminare dell'arte del disegno degli antichi popoli
AGK. = Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums, 1767
Handschriftlicher Nadilaß
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Nachlaß Hamburg = Hamburg, Staatsbibliothek
Nachlaß Montpellier = Montpellier, Biblioth£que de la Faculti de Medecine
Nachlaß Paris = Paris, Biblioth^que Nationale, Fonds Allemand
Nachlaß Rom = Roma, Biblioteca Nazionale Centrale
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Posse = Hans Posse, Die Staatliche Gemäldegalerie zu Dresden. 1. Abt. Die roma-
nischen Länder, Dresden 1929
Verzeichnis der Abkürzungen 301
Sonstige Abkürzungen
(S.) = Sichtermann
D = Druck
Ε = Entwurf
Η = Handschrift (Hs.)
Κ = Kopie
bes. 97—155: Riflessioni sopra i tre gran pittori Raffaello, il Correggio, e Tiziano,
e sopra gli Antidii. S. 156-199: Memoria concernenti la vita, e le opere di Antonio
Allegri denominato il Correggio. Der Maler war für W., zusammen mit Albani und
Guido Reni, einer der „padri della grazia" (MI. I p. L; XLIV), wenn audi nidit
der hohen, so doch der gefälligen oder der niedrigen Grazie (GK.* S. 485: grazia
Correggesca; AGK. S.47) und wurde immer wieder angeführt; s. Register; GK. S. 29;
AGK. S. 42 (Mahler der Gratien); Allegorie S. 136 f.; Br. I 91, 153, 208, 338
(pastosita, e morbidezza; s. dazu 9,9) 427; 524, 537, 548; II 293, 329; 375, 487, 503;
III 50, 248; 443; IV 578, 580. 4 andere Madonna: Die Madonna des hl.
Franziskus; Posse Nr. 150 mit Abb. 150 (Kat. 1963, S. 37). W. hält offenbar den
links hinter dem hl. Franziskus stehenden hl. Antonius für eine Nonne. Die redits
hinter dem hl. Johannes stehende Gestalt ist die hl. Katharina. Posse, Meister-
werke S. 39; Gronau a.a.O. Abb. S. 13-15; 158. 6 von seiner ersten Manier:
aus dem italienischen „maniera" als Bezeichnung für den individuellen Stil eines
Künstlers (DWB. 6, 1552 f.) übernommen und zunächst, audi bei W., ohne jeden
pejorativen Beigeschmack in der Kunstliteratur als feststehender Terminus ver-
wendet; s. 40,21; 141,14: grosse Manier. Erst allmählich sdiiebt sich der tadelnde
Sinn in den Wortgebraudi ein und wird audi bei W. spürbar. Vgl. E. Panofsky,
Idea, Berlin 21960, S. 58, 114 f., 138 f.; M. Treves, Maniera; The History of a Word;
Marsyas 1, 1941, 69-88. Zur weiteren Vorgeschichte: G. Weise, Maniera und
pellegrino: zwei Lieblingswörter der italienischen Literatur der Zeit des Manierismus;
Romanistisdies Jahrbuch 3, 1950, 321-403; bes. 321-376. 6 Andrea Mantegna:
vgl. GK. S. 29: ,Denn auch Correggio ist nicht... ohne Kenntniß des Alterthums zu
seiner Größe gelanget: dessen Meister Andreas Mantegna [1431—1506] kannte das-
selbe, und es finden stA von dessen Zeichnungen nach alten Statuen, in der großen
Sammlung des Herrn Cardinal Alexander Albani; daher ihm Felicianus eine Samm-
lung alter Inschriften zueigneteOber die Slg. der Handzeidinungen, jetzt in Wind-
sor Castle, s. 229,11 und Α. E. Popham-J. Wilde, The Italian Drawings of the XV
and XVI Centuries at Windsor Castle, London 1949, S. 174 f.; Nr. 17: Hercules und
Antaeus (Sdiule des Mantegna); Abb. 155. Felice Feliciano, der Antiquario genannt,
war Professor in Padua und starb 1467. Seine hs. Sammlung von Inschriften, auf
deren Vorhandensein zuerst der Archäologe Lorenzo Pignoria (1571-1631) in seinem
Symbolarum epistolicarum liber, Patav. 1629, S. 18 f. (so audi von W. zur Stelle
in GK. zitiert), und dann Francesco Scipione Maffei, Verona illustrata, Verona
1731, II 98 f., hingewiesen haben, ist in der Biblioteca Capitolare zu Treviso
erhalten, aber nidit ediert. Abdruck der Widmung „ad splendidissimum Andream
Mantegnam Patavum Pictorem incomparabilem" vom 1.1.1463 bei P. Kristeller,
Andrea Mantegna, Berlin 1902, S. 490 Nr. 6; vgl. ebd. zu Feliciani S. 184 ff.; 523 f.;
Nr. 34: Brief Felicianis an Mantegna vom 23.9.1464. Zum Problem s. I. Blum,
Andrea Mantegna und die Antike, Straßburg 1936. Der „Mantegna", den W. seit
1750 in Dresden sehen konnte, war eine Fälschung. Das Bild, eine Verkündigung,
ist von Francesco Cossa (um 1435-1477); Posse S. 18 f. Nr. 43 mit Abb. 43 (Kat.
1963, S. 37); Posse, Meisterwerke S. 23; Menz S. 80 f. 6 Richardson: Jonathan
Ridiardson (Vater; 1665-1745) und Jonathan Richardson (Sohn; 1694-1771);
engl. Porträtisten und Kunstsdiriftsteller. Schlosser S. 477, 494, 585; Stark S. 168 ff.
und besonders Sdiudt, Reisen S. 34 ff.; 415. Vom älteren R.: An Essay on the Theory
of Painting, London 1715; Two Discourses, London 1719, I: An Essay on the
whole Art of Critizism as it relates to Painting, II: An Argument in behalf of the
Science of a Connoisseur. Beide, Vater und Sohn, publizierten: An Account of
some of the Statues, Bas-Reliefs, Drawings and Pictures in Italy . . . with Remarks,
London 1722. Diese Arbeiten wurden in frz. Übersetzung zusammengefaßt unter
dem Titel: Traiti de la Peinture, et de la Sculpture, I—III, Amsterdam 1728, I: Un
[1,6-1,28] Beschreibung der Gemälde 305
Essai sur la Theorie de la Peinture, II: Un Essai sur l'Art de critiquer, I I I : Descrip-
tion de divers fameux Tableaux, Desseins, Statues, Bustes, Bas-Reliefs . . . , qui
se trouvent en Italie. W. hat zumeist die frz. Version benutzt und auch später noch
mit ihren verschiedenen Teilen exzerpiert (Nadilaß Paris vol. 61, 12; 29v—46;
vol. 67, 7 ff.: Miscellanea Romana inchoata mense Nov. 1755 [nicht 1757]; vol. 70,
127; Tibal S. 104 f.; 122, 135; vgl. Baumecker S.28ff., 132 f.), aber er hat den
für ihn besonders wichtigen 3. Teil (Description), offenbar in Dresden, auch in der
engl. Originalausgabe gelesen (An Account); Exzerpte im Nadilaß Montpellier
Nr. 356: Miscellanea Nothniziana inchoata mens. Mart. 1751, 15 f.; 55 T ; 124,
freilich nicht mit dem in der Erläuterung (s. 109,21) aus An Account, S. 294, 295
genommenen Zitat. Die von W. bemängelte Stelle: Richardson, Description p. 684.
Vgl. auch 238,17 und Br. I 217, 232, 236, 242; 552. 8 mit dem h. Georgen: Die
Madonna des hl. Georg; Posse S. 76 f. Nr. 153 mit Abb. 153 auf S. 77 (Kat. 1963,
S. 37); Posse, Meisterwerke S. 42; Gronau a.a.O. Abb. S. 136, 137; 166. 11 Por-
trait eines Medici: Bildnis eines Gelehrten, des sog. „Arzt des Correggio". Nicht
von Correggio, sondern von einem unbekannten oberitalienischen Meister um 1530;
Posse S. 73 Nr. 155 mit Abb. 155 (Kat. 1963, S. 77). 13 Von Titiano ... ein
Frauenzimmer: Bildnis einer Dame in Weiß, früher irrtümlich als Tizians Tochter
Lavinia bezeichnet; Posse S. 87 Nr. 170 mit Abb. 170 (Kat. 1963, S. 109); Posse,
Meisterwerke S. 54; Menz S. 112 f. Tizian (Ticiano Vecello; 1477—1576) spielt,
zusammen mit Raffael und Correggio, in der Kunstanschauung W.s eine große
Rolle; in der römischen Zeit besonders wieder unter dem Einfluß von Mengs und
seinen Ausführungen in Opere, ed. Fea, S. 97—155: Riflessioni . . . (s. 1,2). Vgl.
GK. S. 29; Allegorie S. 17; Br. I 362 f.; 367, 389; 594; II 111, 210; IV 30, 40;
435, 437; Schudt, Reisen S. 356 ff. 19 drey Gratien: nicht von Tizian, sondern
von Palma Vecchio (1480-1528). 1743 durch Algarotti als „Die drei Grazien" er-
worben, jetziger Titel: Die drei Schwestern; Posse S. 92 f. Nr. 189 mit Abb. 189
(Kat. 1963, S. 79); Posse, Meisterwerke S. 46. 20 Contours: Umrisse; Terminus
aus der Kunstästhetik; s. auch 38,35. 23 Die jünger von Emaus: Kopie nach
dem Original des Gemäldes von Tizian in Paris, Louvre (s. O. Fischel, Tizian,
Berlin und Leipzig 5 1926, S. 121; 314; Klassiker der Kunst 3), 1749 als Original
aus der Kaiserl. Galerie zu Prag nach Wien gebracht; Posse S. 91 Nr. 181.
25 Christo alia Moneta: Der Zinsgroschen; Original, 1746 aus Modena erworben;
Posse S. 86 Nr. 169 mit Abb. 169 (Kat. 1963, S. 109). Posse, Meisterwerke S. 52;
110 f.; Fischel a.a.O. Abb. S. 39; 307. Zur angeblich eigenhändigen Wiederholung
s. Posse S. 86. 27 nackende Venus: wahrscheinlich meint W. die Schlummernde
Venus von Giorgione (s. 2,30); Posse S. 83 f. Nr. 185 mit Abb. 185 (Kat. 1963,
S. 53); Posse, Meisterwerke S. 44; Menz S. 108 f. Das Bild wurde 1697 als Gior-
gione erworben, im Inventar von 1722 (A 49) aber als „die berühmte nackende
Venus, auf dem Rücken liegend, Original von Tizian" geführt. Möglich, daß W. auch
an eine der beiden in Dresden befindlichen Kopien nach Tizian denkt: Venus mit
dem Lautenspieler (veränderte Wiederholung der Venus mit dem Orgelspieler,
Madrid, Prado; Fischel a.a.O. Abb. S. 145, 146; 316) oder Ruhende Venus (nach
dem Vorbild der Danae in Neapel, Gall. Nazionale; Fischel a.a.O. Abb. S. 130,
131; 315); Posse S. 89 Nr. 177 mit Abb. 177 auf S. 90, und ebd. S. 90 Nr. 288 mit
Abb. 288 (177 vermißt; 288 vernichtet; Kriegsverluste S. 151, 59). 28 Abrege des
Vies des Peintres: von Antoine-Joseph Dezallier d'Argenville (1680-1765), Natur-
forscher und Kunstschriftsteller; Abreg£ de la vie des plus fameux Peintres, I—III,
Paris 1745—52. Ebd. I 145: „On voit dans la galerie du Due de Modene la femme
adultire, une Vierge avec le portrait d'un homme et d'une femme en priores."
Exzerpte aus dem „so genannten Auszug" (s. 112,4) im Nachlaß Paris vol. 61, 27;
vol.62, 13; Tibal S. 104, 107; dazu Br. I 125; 533; II 293; 486; Schlosser S.431,
442.
2,3 Giovanni Bellino ... ein Salvator: nicht von Bellini (um 1428—1516), son-
dern von Giovanni Battista da Conegliano, gen. Cima (1459/60-1517/18); Posse
S. 29 Nr. 61 mit Abb. 61 (Kat. 1963, S. 35); Posse, Meisterwerke S. 30. Im Inventar
von 1754 aufgeführt als Bellini, ebenso wie Cimas Mariae Tempelgang; Posse S. 29 f.
Nr. 63 mit Abb. 63 (Kat. 1963, S. 36); Posse, Meisterwerke S. 29; Menz S. 92 f. Das
dritte in Dresden befindliche Bild von Cima (Posse S. 29 Nr. 62 mit Abb. 62:
Christus; vielleicht nur Werkstattarbeit) galt im Inventar von 1722 als ein Lionardo.
4 Ausdrückung: ältere, noch im 18. Jh. gebräuchliche Bezeichnung für Ausdruck;
DWB. 1, 848. In Κ verbessert aus: Abdrückung. 12 Tartarey: s. unten 32,31.
16 Bataillen-Stücken: z.B. von Jacques Courtois-Bourguignon (1621-1675) oder
Luca Giordano (1632-1705); Posse S. 362-366 Nr. 744-748; ebd. S.214 Nr. 492.
Oder Römerschlacht (Posse S. 55 Nr. 112; vernichtet; Kriegsverluste S.25), Kopie
nach dem Fresko des Giuseppe Cesari, gen. II Cavaliere d'Arpino (1568-1640) im
Konservatorenpalast in Rom, Sala degli Orazi e Curiazi; Pietrangeli, Mus. Cap.
S. 76 f. Bei A. Venturi, Storia dell'Arte Italiana, Milano 1932, IX 5, 937-939 nicht
aufgeführt; s. ebd. 922. Zur Schätzung Arpinos s. Schudt, Reisen S. 365; W. hat sich
später in Rom negativ über ihn geäußert (s. 228,21); vgl. L. Ozzola, I Pittori di
battaglia nel Seicento e nel Settecento, Mantua 1951; S. 17 (d'Arpino), 41 ff. (Gia-
como Courtois). 17 Lointains: Terminus für Hintergrund, Hintergrundsgestal-
tung in einem Gemälde; s. 80,18 (im Hinterwerke). 19 Tintoretto ... Christus:
Jacopo Robusti, gen. Tintoretto (1518-1594); Posse S. 113-117, und auch sonst, ver-
zeichnet nichts Entsprechendes. Vielleicht meint W.: Die Ehebrecherin vor Christus;
aus Prag, nicht aus Modena; Posse S. 113 Nr. 270 Α mit Abb. 270 A (Kat. 1963,
S. 108); Posse, Meisterwerke S. 68. Zur Schätzung Tintorettos s. Schudt, Reisen
S. 357 f. 22 Bassano ... Austreibung: Francesco da Ponte, gen. Bassano (1549
bis 1592); im Katalog 1920 und bei Pigler I 326 mit Nr. 277 verzeichnet und mit
gleicher Nr. bei Venturi a.a.O. (1929, IX 4, 1289, Fig. 879) abgebildet, jedoch bei
Posse S. 136 f. und bei E. de Asian, Ii Bassano, Milano 1960, I 338 nicht mehr auf-
geführt. 24 seine Geburth: vielleicht identisch mit Anbetung der Hirten; Posse
S. 136 Nr. 278 mit Abb. auf S. 137 (vernichtet; Kriegsverluste S. 20); Asian a.a.O.
II Nr. 347 weist das Bild Gerolamo da Ponte (1566-1621) zu. 25 seinen Zug der
Kinder Israel: vielleicht Die Israeliten in der Wüste, von Jacopo da Ponte, gen.
Bassano (um 1510-1592); Posse S. 108 Nr. 253 mit Abb. 253 (Kat. 1963, S. 24), von
Asian a.a.O. II Nr. 210 jedoch Francesco da Ponte zugewiesen; erworben 1747;
Posse, Meisterwerke S. 69. 28 Tintoretto ... Ertz-Engel MUhael: Der Kampf des
Erzengels Michael mit dem Satan; Posse S. 114 f. Nr. 266 mit Abb. 266 (Kat. 1963,
S. 108); Posse, Meisterwerke S. 64; Menz S. 114 f. 29 Schilderey-Sammlungen:
Schilderey als bildliche Darstellung, Gemälde, Malerei; das aus dem ndl. stammende
Wort im 17. und 18. Jh. neben Gemälde; DWB. 9, 127. Von W. häufig gebraucht;
vgl. Br. I 76, 208; unten 46,11 u. ö. 30 Giorgione: Giorgio da Castelfranco, gen.
Giorgione (um 1478-1510); Zuschreibungen falsch; ein Zinsgrosdien ist, auch mit
Hilfe von Pigler I 330 f., aus den Dresdener Beständen nicht nachzuweisen. Vielleicht
Verwechslung mit Tizians Gemälde, obwohl W. es bereits richtig als von Tizian
stammend erwähnt hatte (s. 1,25). Die .Köpfe", die damals unter dem Namen
Giorgiones gekauft worden waren und als Originalarbeiten galten, sind identisch
etwa mit: Ein Liebespaar, von Callisto Piazza da Lodi (vor 1505-1561; Posse
S. 104 f. Nr. 221 mit Abb. 221); Bildnis eines Mannes (Venezianische Schule des
16. Jh.; Posse S. 107 Nr. 219 mit Abb. 219 auf S. 106). Zu dem Originalwerk
Giorgiones s. 1,27. 34 in der jrechen Art ... mit tiejfen Schatten: W. sagt das in
[2,34-3,10] Beschreibung der Gemälde 307
Übereinstimmung mit der Kunst- und Malerästhetik des 17. und 18. Jh. Vgl. E.
Heudc, Die Farbe in der französischen Kunsttheorie des 17. Jh., Straßburg 1929,
S. 65, 71. 38 Caravaggio: Michelangelo Merisi, gen. Caravaggio (1573—1610).
W. nennt ihn auch später wiederholt, auf Grund erweiterter Bilderkenntnis, steht
aber, wie Baglione, Bellori und der ganze Klassizismus dem Maler mit kritischer
Reserve gegenüber; vgl. 231,15 und außerdem Br. I 396; 623; IV 39 f.; 42, 236;
435, 440. Dazu AGK. S. 120 mit Bezug auf Polidoro da Caravaggio (um 1496 bis
1543), dessen Zeichnungen W. aus der Slg. Albani kannte; s. Α. E. Popham-J. Wilde,
The Italian Drawings of the X V and X V I Centuries at Windsor Castle, London
1949, S. 294-297. Zur Schätzung und Kritik C.s im 17. und 18. Jh. s. Schudt, Reisen
S. 377 ff.; M. Cutter, Caravaggio and the seventeenth Century; Marsyas 1, 1941,
89—115; Schmerber S. 11, 137 ff., 142; D. Mahon, Studies in Seicento Art and
Theory, London 1947, S. 155—191. Die Dresdener Galerie hatte zwar verschiedene
Bilder als Originalarbeiten C.s erworben, aber die Zuschreibungen stellten sidi später
als Arbeiten von Schülern und Nadiahmern heraus; s. unten 3,22—27. 38 Spagno-
letto: Jusepe de Ribera, gen. Lo Spagnoletto (1589—1652). Der Maler ist in der
Dresdener Galerie repräsentativ vertreten; Posse S. 338-341 Nr. 682-688 (329 Nr.
690: 1746 aus Modena als Ribera erworben; unbekannter Meister); Kat. 1963, S. 89;
Posse, Meisterwerke S. 321-323; Menz S. 244 f. In Villa Albani (s. 226,36) Testa
d'un vecdiio, detto il pensiero (Morcelli-Fea S. 330 Nr. 64).
3 , 2 wie die Sinesen: Sinesen [Chinesen] als das andere, mindere; s. unten 35,10
u. ö.; GK. S. 32; AGK. S. 34. 5 In Rubens Gemählden: Peter Paul Rubens
(1577—1640); die reichen Bestände in Dresden verzeichnet Gemäldegalerie Dresden
Kat. 1927, S. 109 f. (Kat. 1963, S. 93 ff.); R. Oldenbourg-A. Rosenberg, P. P. Ru-
bens, Stuttgart und Berlin 4 1921, S. 474 (Klassiker d. Kunst 5); Posse, Meisterwerke
S. 142—152; Menz S. 176—183. Die Verehrung, die W. dem Maler entgegenbringt, ist
zwar bedeutend, aber nidit uneingeschränkt. Seine Werke werden später in der Erst-
lingssdirift herangezogen (s. 39,18; 56,30) und audi sonst des öfteren erwähnt; Br. II
111, 143; 307: „Rubenscher Pinsel"·, „la furia di pennello", sagte Bellori (s. 35,37)
in seiner Rubens-Vita (Vite, 1672, S. 247); zum ganzen Problem und W.s Gegner-
schaft zu de Piles (s. 38,25) und dessen uneingeschränkter Verherrlichung der Ge-
mälde von Rubens vgl. Baumecker S. 25 f. Weiterhin Br. I I I 368 ff. 568 f.; IV 109 f.;
458 f. GK. S. 20: „Rubens hat ηαώ einem vieljährigen Aufenthalt in Italien seine
Figuren beständig gezeichnet, als wenn er niemals aus seinem Vaterlande gegangen
wäre." O. Bock von Wülfingen, Rubens in der deutschen Kunstbetrachtung, Berlin
1947, S. 27-30; ebd. 11 ff. für Bellori-Rubens. W. Weisbadi, Stilbegriffe und Stil-
phänomene, Wien 1957, S. 107 f. 8 unter den Mahlern der alten Griechen und
Römer: wohl im Hinblick auf Plinius, n. h. 35, 29. 10 nicht der erste Anblick:
GK. S. 184 f.: „Ich füge dieser Betrachtung über die Schönheit eine Erinnerung bey,
welche jungen Anfängern und Reisenden die erste und vornehmste Lehre in Be-
trachtung Griechischer Figuren seyn kann. Suche nicht die Mängel und Unvollkom-
menheiten in Werken der Kunst zu entdecken, bevor du das Schöne erkennen und
finden gelernet. Diese Erinnerung gründet sich auf eine tägliche Erfahrung, und den
mehresten, weil sie den Censor machen wollen, ehe sie Schüler zu werden angefangen,
ist das Schöne unerkannt geblieben: denn sie machen es wie die Schulknaben, die
alle Witz genug haben, die Schwäche des Lehrmeisters zu entdecken. Unsere Eitelkeit
wollte nicht gerne mit müßiger Anschauung vorbey gehen, und unsere eigene Genug-
thuung will geschmeichelt seyn; daher wir suchen ein Urtheil zu fällen. So wie aber
ein verneinender Satz eher, als ein bejahender, gefunden wird, eben so ist das Un-
vollkommene viel leichter, als das Vollkommene, zu bemerken und zu finden, und
es kostet weniger Mühe, andere zu heurtheilen, als selbst zu lehren." Ebd. S. 288:
20·
308 Beschreibung der Gemälde [3,10-3,28]
„Aber es ist das Schöne und Nützliche nicht mit einem Blicke zu greifen, wie ein
unweiser Deutscher Maler nach ein paar Wochen seines Aufenthalts in Rom meynete:
denn das Wichtige und Schwere gehet tief, und fließet nicht auf der Fläche. Der
erste Anblick schöner Statuen ist bey dem, welcher Empfindung hat, wie die erste
Aussicht auf das offene Meer, worinn sich unser Blick verlieret, und starr wird, aber
in wiederholter Betrachtung wird der Geist stiller, und das Auge ruhiger, und gehet
vom Ganzen auf das Einzelne. Man erkläre sich selbst die Werke der Kunst auf eben
die Art, wie man andern einen alten Scribenten erklären sollte: denn insgemein gehet
es dort, wie in Lesung der Bücher; man glaubet zu verstehen, was man liest, und man
verstehet es nicht, wenn man es deutlich auslegen soll. Ein anders ist, den Homerus
lesen, ein anders, ihn im Lesen zugleich übersetzen13 Victoria: die bayerische
Prinzessin Maria Anna (1660—1690), Tochter des Kurfürsten Ferdinand Maria von
Bayern (1636—1679), wurde 1680 mit dem Dauphin von Frankreich, Ludwig (1661
bis 1711), vermählt. 15 mit dem Pöbel zu urtheilen: dazu Sdimerber S. 185 mit
einer Stelle aus Bellori: jene täten der Schönheit Unrecht, welche an den Schöpfungen
der hervorragenden Künstler vorübereilen, und denen es genüge, „di volger sola-
mente gli occhi intorno, e riguardare Ii colori, e l'oro, e come nelle pompe giudicare
della ricchezza e dello splendore dell* apparato [Vite, 1672, S. 44]". 18 vom
Guido: Guido Reni (1575—1642). W. bringt ihm, als einem der „padri della grazia"
(MI. I p. L) neben Correggio und Albani, entsprechend der Kunstauffassung des
17. Jh., höchste Wertschätzung entgegen, auch dann, wenn er in der Abhandlung für
Berg (s. 229,14) und in AGK. S. 36, ähnlich wie sogar von Raffael, von Reni sagt:
den Begriff der hohen oder der idealischen Schönheit habe er nicht erreicht. Vgl. 46,1;
Br. I 279; 569; III 369; 569; IV 30, 41 f.; 438 f.; 440; MI. I p. X L I V ; Allegorie
S. 30: „seiner schönen büssenden Magdalena ... im Pallaste Barbarini"; nicht mehr
in Pal. Barb.; eine der vielen Magdalenendarstellungen des Malers; s. Boehn S. 105
mit Abb. 64—66 auf S. 69—71 (Genua, Paris, Liechtenstein); Pigler I 448. Vgl. ferner
Boehn S. 114 ff.; Sdimerber S. 7 und 9; Schudt, Reisen S. 373 f. 21 Ausdrückung:
Ausdruck, s. 2,4. 21 Erhobenheit: hier wie wahrscheinlich auch 6,24: Erhaben-
heit. W. gebraucht sowohl in der Beschreibung als auch besonders in den Gedancken
abwechselnd erhoben und erhaben, und es ist oft schwer zu entscheiden, wann er den
geistig-seelischen Ausdruck, wie an vorliegender Stelle, oder dessen bildnerische
Plastizität im Wortverstand, das Heraustreten aus der Fläche, meint (DWB. 3, 851
gibt nur einen Beleg aus Goethe: Erhobenheiten an einer Wand). Vgl. 52,1 und Zeller
S. 57. 22 Von Caravaggio ... ein Soldat: aus dem Dresdener Gesamtmaterial
nicht zu identifizieren. Die Galerie besitzt kein Bild Caravaggios; s. 2,38. 24 Pe-
trus im Gefängniß: wahrscheinlich gemeint: Die Verleugnung Petri, von Bartolomeo
Manfredi (um 1580 bis um 1617; in Rom unter dem Einfluß Caravaggios tätig);
Posse S. 187 Nr. 413 mit Abb. 413. 25 Gesellschaft, die in der Carte spielet: Art
des Bartolomeo Manfredi: Kartenspieler; Posse S. 187 Nr. 414 mit Abb. 414 (etwa
in der Größe des Petrusbildes), 1746 aus Modena als Original Caravaggios erwor-
ben. Oder von Manfredi: Die Wachtstube, ebenfalls aus Modena als Original
Caravaggios erworben; Posse S. 186 Nr. 411 mit Abb. 411 (Kat. 1963, S. 68); Voss
S. 453 mit Abb. S. 98. 26 Filou: Die Falschspieler, von Valentin, gen. Valentin
de Boullogne (1591-1634); Posse S. 352 f. Nr. 408 mit Abb. 408 (Kat. 1963, S. 111).
1749 als Hauptwerk Caravaggios aus der kaiserl. Galerie in Prag erworben. Posse,
Meisterwerke S. 119; Menz S. 254 f.; Voss S. 454. Ein weiteres Bild von Valentin
befand sich damals in der Slg. Brühl in Dresden (1769 nach Rußland verkauft):
Die Verleugnung Petri; das Thema auch in eine Wachtstubenszene verflochten. Vgl.
Musie d'Ermitage. La Peinture franjaise de Poussin έ nos jours, Paris 1957; dt.
Berlin 1958, ebd. S. 16 ff. mit Abb. S. 13; s. auch Voss S. 454. 28 Spagnolet ...
[3,28-4,35] Beschreibung der Gemälde 309
Betender Eremit: s. 2,38; wohl Der Einsiedler Paulus; Posse S. 340 Nr. 687 mit
Abb. 687 (Kat. 1963, S. 89). 29 h. Stephanus: richtig: Der hl. Andreas; Posse
S. 340 f. Nr. 688 mit Abb. 688 (Kat. 1963, S. 90). 30 h. Francisco: Der hl. Fran-
ziskus auf den Dornen; Posse S. 339 Nr. 685 mit Abb. 685 (Kat. 1963, S. 89). 30
Petrus im Gefängniß: Die Befreiung Petri aus dem Gefängnis; Posse S. 339 Nr. 684
mit Abb. 684 auf S. 338 (Kat. 1963, S. 89); Posse, Meisterwerke S. 323. 32 dem
h. Hieronymo ... von Rubens: Gemäldegalerie Dresden Kat. 1927, S. 109 Nr. 955
(Kat. 1963, S. 93); Posse, Meisterwerke S. 143; Menz S. 176 f.; R. Oldenbourg -
A. Rosenberg a.a.O. (s. 3,5) Abb. S. 97. 35 Guido Reni ... Vorstellung: keine
Vorstellung Christi von Reni in Dresden; vielleicht Verwechslung mit A. Turchi,
gen. Orbetto; Posse S. 227 f. Nr. 516 mit Abb. 516. Eine Darbringung Christi von
Reni im Louvre; Pigler I 245; Boehn S. 38, Abb. 34. 36 h. Hieronymus: Posse
S. 156, Nr. 331 mit Abb. 331 auf S. 157 (magaz. 1963).
4 , 3 Sunt delicta: Horaz, ars poet. 347. 4 die 4 Evangelisten: nicht von
Guido Reni; hat W. die vier „Quadrat-Stücke" Matthäus, Markus, Lukas und
Johannes von Guercino gemeint (Giov. Francesco Barbieri, gen. Guercino; 1591 bis
1666)? Posse S. 166 f. Nr. 357-360 mit Abb. 357-360 (Kat. 1963, S. 57). 6 David
mit dem Kopf Goliaths: Kopie nadi dem Original in Paris, Louvre, von Fr. Gessi
und von Reni selbst übergangen; Posse S. 156 Nr. 332 (magaz. 1963); s. Boehn
S. 59, Abb. 53. 10 Ausdrüdeung .. . Erhobenheit: s. 3,21. 11 Zärtlichkeit:
tendresse; tendre. Vgl. E. Heudc, Die Farbe in der frz. Kunsttheorie des 17. Jh.,
Straßburg 1929, S. 77 (nach Filibien): „C'est en terme de Peinture et de Sculp-
ture le contraire de dur et de sec; on dit cela est peint, ou travailli tendrement."
Schmerber S. 52 ff.: grazia; 74 ff.: dolcezza. Ein bei W. immer wieder auftauchender
Begriff. Vgl. später über Guidos „Colorit": „sanft und frölido" (s. 217,39). 20
heilige Vorstellungen: ζ. B. Maria auf dem Throne mit Heiligen, Der Auferstandene
vor seiner Mutter, Christus mit der Dornenkrone etc.; Posse S. 152—154 Nr. 328
(Kat. 1963, S. 88), 322 (vernichtet; Kriegsverluste S. 50); 323 (Kat. 1956, S. 74).
21 kleinen Bacchus: Posse S. 155 Nr. 327 mit Abb. 327 auf S. 156 (Kat. 1963,
S. 88). 23 Ahasverus und Esther: vielmehr Ninus und Semiramis; Posse S. 154
Nr. 325 mit Abb. 325 auf S. 155 (vernichtet; Kriegsverluste S. 50). Das Bild
wurde 1752 durch den Maler und Kunstschriftsteller, den Canonicus Luigi Crespi
(gest. 1779) für 3000 Dukaten in Bologna für Dresden angekauft; von der von
W. erzählten Geschichte vermerkt Posse nichts, vermutlich eine Galerielegende.
Luigi Crespi war damals ungefähr 40 Jahre alt; ein anderer Crespi kommt kaum
in Frage. 27 Solimena: Francesco Solimena (1657—1747); Posse S. 216—219
Nr. 496-504; 496 vernichtet, 503 vermißt (Kriegsverluste S. 56, 145), die andern
Nrn. noch in Dresden (s. Kat. 1963, S. 102; die übrigen magaz.). 29 Carnaggione:
carnation, Fleischfarbe, Darstellung des Nackten; s. Heuck a.a.O. S. 64 (nach de
Piles, Termes): „C'est en gέnέral les chairs qui sont peintes dans un tableau. On
dit ,ce peintre a une belle carnation', pour dire qu'il donne aux chairs une
veritable et belle couleur; mais l'on ne dit point d'une partie en particulier qu'elle
est d'une belle carnation, mais qu'elle est bien de chair." 32 Antonio Burini:
Giovanni Antonio Burrini (1656—1727); bei Posse und sonst, soweit zu sehen, nicht
aufgeführt. Thieme-Becker 5,272 verzeichnet ihn für Bologna und Ravenna. 35
Luigi und Annibale Caraccio: die drei Häupter der sog. Bolognesischen Schule,
Lodovico (1555-1619; Vetter, nicht Bruder Annibales und Agostinos), Annibale
(1560-1609) und Agostino Carracci (1557-1602), sind für W. in Übereinstim-
mung mit der durch die it. Kunsttheorie des 17. Jh. geprägten Meinungen, fest-
stehende Wertbegriffe: Vertreter des „Stils der Nachahmer" (GK. S. 248) und
„Eclectici" (s. 229,2). W. hatte von Annibales malerischem Werk bereits in Dresden
310 Beschreibung der Gemälde [4,35-5,19]
dem Torbogen, aber mit Ochs und Esel, oder an den von 1511, ohne Ochs und Esel,
aber auch ohne das sog. „prächtige Tor" (vielmehr nur hölzerner Pfeilerrahmen;
Winkler Abb. S. 312). Daß W. die großen Holzschnitte und Stiche kannte, zeigt
auch der beiläufige Hinweis auf das Adam und Eva-Blatt von 1504 in Br. II 27;
380 f. (Winkler Abb. S. 127, 424; ebd. S. 447: Übersicht über die Dresdener Dürer-
Bilder). Der Dresdener Altar (Gemäldegalerie Dresden Kat. 1927, S. 190 f. N r . 1869;
Kat. 1963, S. 44 f.; Posse, Meisterwerke S. 286) wurde erst nach 1835 als Werk
Dürers erkannt. Weitere Werke in Dresden: Bildnis eines jungen Mannes (Nr. 1871;
Kat. 1963, S. 45); Schulbilder (Nr. 1875-1881; Kat. 1963, S.45); W. erwähnt Dürer
sonst selten, aber respektvoll; GK. S. 29: « . . . Holbein und Albrecht Dürer, die
Väter der Kunst in Deutschland, haben ein erstaunendes Talent in derselben gezeiget,
und wenn sie, wie Raphael, Correggio und Titian, aus den Werken der Alten hätten
lernen können, wurden sie eben so groß, wie diese, geworden seyn, ja diese vielleicht
übertroffen haben." Ähnlich am 28.11. 1756 (Br. I 251) der Bezug zur Antike.
Außerdem GK. S. 175: „.. . am Apollo, welcher etwas über sieben Köpfe hoch ist,
hat der stehende Fuß drey Zolle eines Römischen Palms mehr in der Länge, als der
Kopf; und eben dieses Verhältniß hat Albrecht Dürer seinen Figuren von acht
Köpfen gegeben, an welchen der Fuß das sechste Theil ihrer Höhe ist." W.s Ausfüh-
rungen über die Proportion der Alten und Erklärung der Mängel in AGK. S. 39—41
(vgl. Nachlaß Paris vol. 59, 15—18; Tibal S. 78) bringen Dürers Namen nidit mehr.
Es ist schwer zu entscheiden, ob W. die fraglichen Ausführungen und Proportions-
zeichnungen Dürers in Dürers Werk: Vier Bücher von menschlicher Proportion,
Frankfurt 1528 (vor allem nach Β III ff.) selbst gelesen und gesehen hat, etwa auch
in dem sog. Dresdner Skizzenbuch (R. Bruck, Das Skizzenbudi von Albrecht Dürer
in der Kgl. öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Straßburg 1905), oder ob er sein
Wissen von Mengs übernahm. Denn dieser hat offenbar W. während seiner ersten
römischen Jahre in Proportionsprobleme eingeführt; was W. in GK. S. 176 f. dazu
bietet, stützt sich, mit namentlicher Nennung, auf seinen „Freund, Herrn Anton
Raphael Mengs", dessen Proportionslehre in den Lezioni pratiche di Pittura zu fin-
den ist, besonders in § 11: Delle proporzioni del corpo umano (Opere, ed. Fea,
S. 252-255); GK. S. 176 ff. und Opere S. 253 f. berühren sich. Erste Niederschrift
von GK. S. 176 f. im Nachlaß Florenz, Societi Colombaria N r . I V - I I - I I - 5 2 ,
S. 3—5 neben einigen Proportionszeichnungen für Köpfe, vermutlich von der Hand
W.s. Vgl. auch Dürer und die Nachwelt, ed. H. Lüdecke und S. Heiland, Berlin 1955,
S. 124 f.; Mengs a.a.O. S. 340 f. 13 Gioseppe Chiari: Giuseppe Bartolomeo
Chiari (1654-1727), Schüler Marattis. Anbetung der Könige; Posse S. 196 Nr. 444
mit Abb. 444 auf S. 195 (Kat. 1963, S. 35); Voss S. 605 mit Abb. S. 355. 17 Paolo
... Auferstehung: Posse S. 128 Nr. 235 mit Abb. 235 auf S. 129. Zur Zuschreibung
ebd. S. 392. (Kat. 1963, S. 114.) 21 Fehlern wider die Costume: s. oben 5,7.
23 Erfindung Moses: s. oben 6,29. 32 Parmeggianino: Francesco Mazzola, gen.
II Parmigianino (1504—1540). 35 h. Stephanus und Johannes der Täuffer: Maria
zwischen zwei Heiligen erscheinend; Posse S. 78 f. Nr. 160 mit Abb. auf S. 79 (Kat.
1963, S. 80).
8, 3 Fortuna: weder bei Posse nodi bei L. Fröhlidi-Bum, Parmigianino und der
Manierismus, Wien 1921, für die Schule verzeichnet. Auch mit Hilfe von Pigler II
465 f.; 468 nicht zu bestimmen. 8 Hör. Carm. III. 29: 3,29, 49 f. 10 Ma-
donna: Die Madonna mit der Rose; Posse S. 79 Nr. 161 mit Abb. 161. (Kat. 1963,
S. 80); Posse, Meisterwerke S. 43. Das Bild stammt aus Bologna; seit 1752 in Dres-
den. 12 zu lange Finger: s. 218,7; vgl. 113,4. 13 Albano: Francesco Albani
(1578-1660), Schüler der Carracci in Bologna. Auch dieser Künstler genoß zusammen
mit Correggio und Reni als Vater und Maler der Gratia (s. 229,26), in Überein-
314 Beschreibung der Gemälde [8,13-9,24]
Stimmung mit der Zeitanschauung, W.s besondere Vorliebe; vgl. MI. I p. L f.; Br. IV
31, 39 f.; 42; 431, 435, 439. Zur Schätzung Albanis s. Schudt, Reisen S. 376. 14
Bad der Nymphen: Diana und Aktäon; Posse S. 158 f. Nr. 338 mit Abb. 338 auf
S. 160. 15 Diana und die Nymphen: Diana und Aktäon; Posse S. 159 Nr. 339
mit Abb. 399 auf S. 160 (Kat. 1963, S. 21). Die beiden inhaltlich und motivisch ver-
wandten Bilder sind auf Grund der Beschreibung W.s nicht sicher auseinander zu
halten. 17 in kleinen: s. später 153,34. 19 lunctaeque: Horaz, carm. 1, 4, 6.
20 Kinder-Mord: Anspielung auf die beiden großen Bilder in Dresden von Trevi-
sani und Celesti; s. 10,32; 10,33. Maße etwa 2 Vi : 4 V* m. 22 Gebeine bey dem
Propheten: wohl mit Bezug auf das oben erwähnte Bild Parmigianinos mit Johannes
dem Täufer auf der rechten Bildseite. 30 Aristoteles: nach Diogenes Laertius 5,
1, 20. 31 Komm und siehe: Joh. 1, 47 (Komm und sieh es!). W. verwendet den
Spruch noch einmal 1763, leicht verändert, am Sdiluß der Abhandlung für Berg
(s. 233,27), ebenso Br. II 139; 419, mit III 591; und zwar jetzt, um die Bedingung
aller Kunsterkenntnis zu betonen, das Selbstsehen der „Urbilder" in Italien und
besonders in Rom. W. sagt es auf Grund eigener Erfahrung (Br. I 191, 200, 224,
226, 238, 266, 335), die es ihm ermöglicht, all denen, die nicht in Italien gewesen
waren, „nicht gesehen" hatten und doch als „Scribenten" von der Kunst sprachen,
entgegenzutreten, so etwa Caylus (Br. II 182), Hagedorn (Br. II 298), Oeser (Br. II
307) und besonders Lessing (Br. III 195; 204: „Er komme nach Rom, um auf dem Ort
mit ihm zu sprechen." Dazu III 506, 511). 33 ohne genie: ohne ingenium, höhere
Begabung; W. bedient sich noch der frz. Wortform. 35 Meiers Anfangs-Gründen:
Georg Friedrich Meier (1718-1777), Schüler des Ästhetikers A. G. Baumgarten (1714
bis 1762), publizierte sein weitverbreitetes Lehrbuch: Anfangsgründe aller schönen
Wissenschaften, I—III, Halle 1748—50, auf Grund von Baumgartens lat. Vorlesungen;
dessen „Aesthetica" erschien Frankfurt, I—II, 1750—58. 37 Feuer ... Prometheus:
das Bild vom Feuer des Prometheus als Zeichen der Schaffenskraft des Künstlers
wird wieder aufgenommen am Schluß der Gedancken (s. 59,8). 41 Anosto: W.
hat sich die Werke des it. Dichters Ludovico Ariosto (1474—1533) schon bald ange-
eignet, wohl auf Grund der bei Bünau vorhandenen sieben Ausgaben (s. CBB. I 3,
2066 f.). In Rom liest er Ariost zusammen mit Giacomelli, dem „würdigen Prälaten
und großen Gelehrten" (Br. I 265, 279; über Michelangelo Giacomelli [1695-1774]
s. Justi II 112-116), und bestellt sich 1761 aus Paris eine dort gedruckte neue Aus-
gabe, wahrscheinlidi die vierbändige von 1746, die er dann wohl auch erhalten hat;
s. Br. II 182, 270 f.; 438; III 413 f.; 583; IV 19, 91 f. Dazu Nachlaß Paris vol. 75,
18, 18v, 19;TibalS. 150.
9,2 Ball der Liebesgötter: Amorettentanz; Posse S. 158 Nr. 337 mit Abb. 337
auf S. 160; Posse, Meisterwerke S. 76 (magaz. 1963). 6 quae quinta parte: Horaz,
carm. 1, 13, 16. 8 lointain: Hintergrund; s. oben 2,17. 9 Morbidezza: auch
Morbido; Terminus der Kunst- und Malerästhetik. Weichheit, Sanftheit der Farben;
s.Heuck a.a.O. S. 73 (nach Dupuy): „Iis les [couleurs] mettent plus Ipaisses, couvrent
et recouvrent plusieurs fois leurs carnations, ce que les Peintres apellent bien empater,
d'oü vient le ,Morbido' et,Pastoso' que les Italiens demandent tant dans la Peinture;
et quand ils hadient, le dessous est sec ou presque sec." 16 Soubleras: Pierre
Subleyras (1699-1749); Christus beim Pharisäer Simon; Posse S. 380 Nr. 789 mit
Abb. 789 auf S. 382. Vgl. audi Voss S. 642-644 mit Abb. S. 404, 405; V.Golzio,
Seicento e Settecento, Torino 1960, II 1085 Fig. 837. 17 Albano ... Venus: wohl
Venus und Vulkan; Posse S. 160 Nr. 341 mit Abb. 341 auf S. 161. Kein Schulbild.
20 kleine Geburt: vielleicht Die hl. Familie; Posse S. 162 Nr. 346 mit Abb. 346 auf
S. 161. Oder die nur noch im Kat. 1912, S. 41 unter Nr. 344 verzeichnete Anbetung
der Hirten; 1742 aus Paris erworben; Verbleib unbekannt. 24 Werken des
[9,24-10,34] Beschreibung der Gemälde 315
Witzes: des Verstandes, der klugen Einfalle, der Erfindungsgabe; DWB. 14, 2, 862 ff.
Vgl. Lessing als Herausgeber der Beilage der Vossischen Ztg.: Das Neueste aus dem
Reiche des Witzes. 26 Camaggione: s. oben 4,29. 27 Venus und Adonis ...
des Orbetto: Alessandro Turchi, gen. Orbetto (1582-1648); Posse S. 228 Nr. 521 mit
Abb. 521 (Kat. 1963, S. 110); Posse, Meisterwerke S. 93. 34 das erste Kupfer
von Audran: nicht von dem berühmtesten Vertreter der Kupferstecherfamilie
Audran, von dem Br. II 188 (mit 439) genannten Girard Audran (1640-1703), wie
W. hier anzunehmen scheint — denn dieser hat nie nach Albani gearbeitet (s. J. Meyer,
Allgemeines Künstlerlexikon 2, 1878, 405—417) —.sondern von Charles (1594—1674),
Benoist (1661-1721) oder Jean Audran (1667-1756). Meyer a.a.O. 395 Nr. 34 (Ma-
donna auf Wolken), 397 Nr. 96 (Apollo und Merkur) für Charles Α.; 418 Nr. 22
(Taufe Christi), 419 Nr. 42-45 (Liebschaft der Venus und des Adonis), für Benoist
Α.; 423 Nr. 15 (Verkündigung Mariae), 424 Nr. 41 (Christuskind) für Jean A. Ver-
mutlich ist Benoist Audran mit seinen Stichen „Liebschaft der Venus und des Adonis"
gemeint. 35 Copien von Watteau ... Nöthnitz: nichts vermerkt in der Beschrei-
benden Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen,
Dresden 1904, Heft 24; auch nidits bei C. Gurlitt, Amtshauptstadt Dresden-Altstadt
(Land) S. 86-90; vermutlich später entfernt. Gurlitt S. 90: „Audi jetzt sind nodi
mehrere, jedoch nicht bestimmbare Bilder im Schlosse enthalten." Die Dresdener
Galerie besitzt zwei Watteaus: Gesellige Unterhaltung im Freien; Posse S. 377
Nr. 781 mit Abb. 781; Das Liebesfest; Posse S. 377 Nr. 782 mit Abb. 782 auf S. 378
(beide Nrn. im Kat. 1963, S. 115); Posse, Meisterwerke S. 124, 125; Menz S. 266 ff.
10,2 Dietrich: Christian Wilhelm Dietrich (Dietricy, 1712-1774; Hofmaler, seit
1748 Galerie-Inspektor in Dresden); Gemäldegalerie Dresden Kat. 1927, S. 213-216
Nr. 2103-2155 (laut Kriegsverluste S. 91 sind 14 Bilder vermißt). Abb. bei G. Bier-
mann, Deutsches Barodk und Rokoko, Leipzig 1914, II 468 ff. (Nr. 791-795); 597
(Nr. 1003). Posse, Meisterwerke S. 308 (Thetis und Achilles; erst 1766 erworben).
W. war mit Dietrich befreundet, erhielt von ihm ein Empfehlungsschreiben für
Mengs in Rom und stand wohl auch mit ihm im Briefwechsel; s. Br. I 218, 221 f.;
226; 545, 555; II 293; 487; IV 210; 494, 572. Die erwähnten „neuesten Stücke"
etwa Nr. 2120 (1746), 2122 (1751; Hirtinnen und Herden am Steinrunddenkmal).
4 Entfährung der Proserpina ... Rothenheimer: Johann Rottenheimer (1564—1623;
aus München); das Bild stammt nicht von ihm, sondern von Joseph Heintz (1564 bis
1609). Gemäldegalerie Dresden Kat. 1927, S. 202 Nr. 1971 (Kat. 1963, S. 60); Abb.
bei Menz S. 283; Abb. des Stichs von Lukas Kilian (1579-1637) im Jahrb. d. Kunst-
historischen Sammlungen in Wien 35, 1920, 139; Taf. XXXV Fig. 57. 9 Carlo
Cignani: 1628-1719, Schüler Albanis; Joseph und Potiphars Weib; Posse S. 176
Nr. 387 mit Abb. 387 auf S. 177 (Kat. 1963, S. 35); Posse, Meisterwerke S. 86; Menz
S. 134 f. Carlino Dolce: Carlo Dolci (1616-1686); Die hl. Caecilie; Posse S. 224
Nr. 509 mit Abb. 509; Die Tochter der Herodias; Posse S. 223 Nr. 508 mit Abb. 508
auf S. 222 (beide Nrn. im Kat. 1963, S. 42 f.); Posse Meisterwerke S.90f.; Menz
S. 132 f. 20 Cecilia ... aus der Schule des Rafaels: Kopie des Originals in der
Pinakothek zu Bologna (Rosenberg Abb. S. 117; 239; Fischel II Nr. 244, dt. Neu-
ausgabe Nr. 191-195); Posse S. 48 Nr. 94 mit Abb. 94 auf S. 48 (magaz. 1963).
23 ein denkend Auge: wie der denkende Künstler wird im Sinne der Zeit auch der
denkende Betrachter gefordert; vgl. dazu unten 55,26. 26 Ut iatn nunc: Horaz,
ars poet. 142. 32 Cav. Celesti: Andrea Celesti (1637-1706); Der Bethlehemiti-
sdie Kindermord; Posse S. 239 f. Nr. 542 mit Abb. 542 (vermißt; Kriegsverluste
S. 84). 33 Trevisano: Francesco Trevisani (1656—1747); Der Bethlehemitisdie
Kindermord; Posse S. 197 Nr. 445, mit Abb. 445 auf S. 196 (vernichtet; Kriegsver-
luste S. 59); Voss S. 616 mit Abb. S. 374; s. oben 8,20. 34 Ritter Marino: Giam-
316 Beschreibung der Gemälde [10,34-12,6]'
battista Marino (1563—1625). Sein berühmtes, für die Malerei des 17. Jh. wichtiges
Gedieht: La Strage degli Innocenti, Napoli 1632, das W. später (s. 228,36: Arpino)
kritischer beurteilte. CBB. I 3, 2069 f.: Ausg. Hamburg 1727 mit dt. Obersetzung von
Β. H. Brockes; Exzerpte, allerdings nur aus Marinos Lettere (Genova 1627) im Nach-
laß Paris vol. 75, 19*-23; Tibal S. 150. Vgl. O. Grautoff, Nicolas Poussin, München
1914, I 349—355; W. Weibel, Jesuitismus und Barockskulptur in Rom, Straßburg
1909, S. 42; Pigler I 251-258; W. Weisbach, Der Barock als Kunst der Gegenrefor-
mation, Berlin 1921, S. 32 f.; G.Ackermann, Gian Battista Marino's Contribution
to Seicento Art Theory; The Art Bulletin 43,1961, 326-343.
11,6 Schlacht mit den Amazonen: Posse verzeichnet von Celesti kein derartiges
Bild. Pigler II 281 f. nennt eine Amazonenschladit des sonst in Dresden mit vielen
Werken, audi mit zwei Schlachtendarstellungen vertretenen Luca Giordano (1632 bis
1705) für Neapel; Gall. Nazionale (Capodiimonte). Möglicherweise hat W. das
Nachtstück Giordanos in Dresden: Gideons Sieg über die Midianiter (Posse S. 214
N r . 493 mit Abb. 493 auf S. 215) für eine Amazonensdilacht gehalten. Außerdem
noch in Dresden: Peter Sdioubroeck (gest. 1608), Die Amazonensdilacht; Gemälde-
galerie Dresden Kat. 1927, S. 106 Nr. 916 (1643 aus Paris erworben; Abb. bei E.
Plietzsdi, Die Frankenthaler Maler, Leipzig 1910, Taf. VI). 8 Bacchus und die
Ceres: Celesti, Bacchus und Ceres; Posse S. 240 Nr. 544 mit Abb. 544 (magaz. 1963).
9 Beytrag der Israeliten: Celesti, Die Israeliten, ihren Schmuck für den Guß des
goldenen Kalbes zusammentragend; Posse S. 240 Nr. 543 mit Abb. 543 (Kat. 1963,
S. 35). 20 die Alten vom Menander: gemeint ist Plutardi, Comp. Aristoph. et
Men. 4 (ed. Bernardakis, Leipzig 1888—96, V207). Audi die Äußerung über
Menander in GK. S. 346 und in MI. I p. LXXVI ist von Plutardi und den übri-
gen Testimonia veterum zu Menander beeinflußt; Menandri et Philemonis Reliquiae
. . . Graece et Latine, cum notis Hugonis Grotii et Joannis Clerici, Amstel. 1709,
p. XI—XV. 21 aus dem Meere geschöpft: im Hinblick auf Trevisanis Triumph
der Galathea, Kassel, Staad. Gemäldegalerie; Voss S. 617 mit Abb. S. 375. 24 Carlo
Maratti: (1625-1713); Posse S. 192 f. Nr. 436-439; Posse, Meisterwerke S. 87; Voss
S. 592—603; s. unten 42,36 u. ö. 25 modo vago: in undeutlicher, d. h. verschwim-
mend-duftiger Weise. Terminus ist: Vaghezza = Duftigkeit, Undeutlichkeit des Um-
risses; s. Heuck a.a.O. S. 78 (nach de Piles, Termes): „,Vaguesse*, de l'Italien
,Vaghezza'. Ce terme a differentes significations en peinture: tantot il dlsigne des
tons brillants et lumineux, ou des touches larges et meplates; tantot il signifie un
grand goßt de dessein, de grandes parties de jour et d'ombres, et enfin une certaine
vapeur qui semble envelopper tous les objets du tableau." Dazu Sdimerber S. 19, 45,
210. 34 Seine Madonna mit dem Kinde: wohl Trevisani, Die Ruhe auf der
Flucht nach Ägypten; Posse S. 197 Nr. 447 mit Abb. 447 (Kat. 1963, S. 110); Voss
S. 617 mit Abb. S. 377. 37 Cupido und Psyche, groß wie die Natur: bei Posse
und Thieme-Becker 6,266 für Celesti nidit vermerkt. Kaum gemeint Renis Bild:
Venus und Amor (Posse S. 154 Nr. 324 mit Abb. 324 auf S. 155; Kat. 1963, S. 88).
Vielleicht eine Verwechslung mit dem Bild Amor und Psyche von Antonio Molinari
(1665 bis nach 1727); Posse S. 224 Nr. 552 mit Abb. 552 (magaz. 1963), gleichfalls
»groß wie die Natur" (h. 1, 91, br. 1, 66); 1723 erworben.
12,1 Landschaft: zur Landschaftsdarstellung vor allem im italienischen Seicento
s. L'Ideale Classico del Seicento in Italia e la Pittura di Paesaggio. Catalogo: V.
Mostra Biennale d'Arte Antica, Bologna 1962, mit Abb. und Literaturangaben. 6
Claude Lorrain: Claude Gellie, gen. Claude Lorrain (1600-1682). Die Galerie be-
sitzt zwei Gemälde: Landschaft mit der Fludit nach Ägypten; Posse S. 359 Nr. 730
mit Abb. 730; Küstenlandschaft mit Acis und Galathea; Posse S. 359 N r . 731 mit
Abb. 731 auf S. 360 (Kat. 1963, S.67); Posse, Meisterwerke S. 123 (Acis); Menz
[12,6-13,10] Beschreibung · Über Xenophon 317
S. 262-265; W. Friedländer, Claude Lorrain, Berlin 1921, Abb. S.57 und 82. W. kam
später nicht mehr auf den Lothringer zu sprechen. Daß dieser „seine Gegenden von
Anbruch des Tages bis am Abend" betrachtet habe, hatte W. in Sandrarts Teutscher
Akademie der edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, Nürnberg 1675-79 (s. 64,37)
gelesen; II 2, Kap. 23: er suchte „ . . . auf alle Weiß der Natur beyzukommen, läge
vor Tags und biß in die Nacht im Felde, damit er die Tagröhte, der Sonnen Auf-
und Nidergang neben den Abendstunden redit natürlich zu bilden erlernete . .
(Neuausgabe von A. R. Peltzer, München 1925, S. 209). Zu W.s Sandrart-Lektüre s.
Br. I 76; 519 und unten 64,37. Die Bilder des von Sandrart eingehend gewürdigten
deutsdi-römischen Malers Adam Elsheimer (1578—1610; Peltzer S. 160 ff.), die bereits
damals in der Dresdener Galerie hingen (Kat. 1927, S. 202 N r . 1975: Judith; von
Drost, Adam Elsheimer und sein Kreis, Potsdam 1933, Carlo Saraceni [1580-1620]
zugeschrieben; 1977: Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis, 1978: Landsdiafi
mit der Flucht nadi Ägypten [Posse, Meisterwerke S. 306, 307; Menz S. 160 f.; 283;
Kat. 1963, S. 47 f.]), hat W. zumindest im vorliegenden Fragment nicht gewürdigt.
Auch in Rom äußerte er sich nie über Elsheimer. Das im Inv. von 1722 als Elsheimer
aufgeführte Bild: Joseph wird von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen, ver-
zeichnet der Kat. 1927, S. 162 Nr. 1547 Α als Arbeit von Claes Moeyart (1592 bis
1655); nach Drost a.a.O. S. 181 f. und Kat. 1963, S. 84 von Jacob Pynas (geb. um
1585, Todesdatum unbekannt). Uber die Zuschreibungen vgl. jetzt: Städelsches
Kunstinstitut Frankfurt a. M., Adam Elsheimer. Werk, künstlerische Herkunft und
Nachfolge, 1966/67, N r . 38, 48, 84 mit Abb. 35, 42a, 70. [Nachtrag: W. hatte sidi
aus der lat. Ausgabe des Werkes von Sandrart (1683; s. unten 64,37) einen Absatz
„Adamus Elzheimer —" abgeschrieben; Nachlaß Paris vol. 71, 63.]
Uber Xenophon
Fragment
H : Paris, Bibliotheque Nationale, Fonds Allemand, vol. 71, 75—78 (Tibal
S. 138). D: 1809 in frz. Übersetzung von M. Hartmann im Magasin Encyclopedique
(de Miliin) I 74—78; deutsch zuerst veröffentlicht von C. Justi, Windtelmann . . . ,
Leipzig Ί 8 6 6 , I 508 ff. Zur Datierung des Fragments: Tibal S. 138 setzt die Nieder-
schrift in das Jahr 1754, da das Papier (papier bleuti) dem eines Briefes an Bünau
vom Februar 1754 gleich sei. Eine frühere Niederschrift ist aber durchaus möglich;
Xenophon (um 430 bis um 355 v. Chr.) gehörte von früh an zu den von W. bevor-
zugten griechischen Schriftstellern, bei denen er das fand, „was man damals den
griechischen Geschmack nannte" (Justi I 174). Zum Ganzen vgl. Justi I 185 f. (Zitate
nach der 5. Auflage, Köln 1956).
13,2 Urtheil der Alten: Marcus Fabius Quintiiianus (2. Hälfte des 1. Jh. n.
Chr.), röm. Rhetor und Verfasser des einflußreichen Werks De institutione oratoria
libri XII; W. denkt an 10,1, 82: „Quid ego commemorem Xenophontis illam iucun-
ditatem inadfectatam, sed quam nulla consequi adfectatio possit? ut ipsae sermonem
finxisse Gratiae videantur, et quod de Pericle veteris comoediae testimonium est,
in hunc transferri iustissime possit, in labris eius sedisse quandam persuadendi deam."
4 sein Lehrer (Socrates): Xenophon hat seine Erinnerungen an Sokrates (um 469
bis 399 v. Chr.) in seinen Memorabilia (4 Bücher) aufgezeichnet. 10 Isocrates:
attischer Rhetor (436—338 ν. Chr.). Der Ausspruch ist überliefert in dem zitierten
Werk des byzantinischen Gelehrten Photios (vor 820—891): Bibliotheca. Die Stelle:
318 Ober Xenophon [13,10-16,8]
260, p. 486, 36 ff. (ed. Bekker, Berlin 1824). 15 Herodot: der griedi. Historiker
(um 484 bis um 425 v. Chr.) im Prooimion zu seinen Historien. Dazu Justi I 179 f.;
184 f. 21 Geschichte von dem persischen Feldzug: die sog. Anabasis, in der
Xenophon die Teilnahme der berühmten zehntausend Griechen am Feldzug des
jüngeren Kyros gegen seinen Bruder Artaxerxes, den Beherrscher des persischen
Königreiches, beschrieb, d. h. den Hinmarsch bis zur Schlacht bei Kunaxa 411 v. Chr.
und den Rückmarsch, dessen Leiter Xenophon dann selbst war. 23 edlen Einfalt:
zu dieser Kennzeichnung s. unten 43,5. 25 Diog. Laert. L. II.: 2,48. 25 Chio
Epist. 3.: Chion, Schüler Piatons; epist. 3, 3. 28 Dionys. Halicarn. Epist. ad
Pom[p]ejum: Dionysios aus Halikarnassos, griedi. Rhetor und Geschichtsschreiber,
seit 30 v. Chr. in Rom. Der Brief an Pompejus ist seiner kritisdi-ästhetischen
Schrift De admirabili vi dicendi in Demosthene angefügt; die Stelle: 4,1.
14,15 Cagliari: Paolo Veronese; s. 6,26. 16 Albano: Francesco Albani;
s. 8,14. 18 ut sibi quivis: Horaz, ars poet. 240 f. (recte: laboret). 21 Τ bud-
dy des: Thukydides (um 460 bis um 400 v. Chr.), Geschichtsschreiber des Peloponne-
sisdien Krieges; er behandelte im ersten Buch seines umfassenden Werkes die ganze
Geschichte der Griechen bis zum Ausbruch des Krieges im Jahr 431, einschließlich
der sog. Urgeschichte, der „Archäologie" (1,12—19). Die Gegenüberstellung Thu-
kydides—Xenophon auch später im Aufsatz Von der Grazie (s. 157,13) und in GK.
S. 144; GK.* S. 273. Zu Thukydides-Herodot vgl. 147,18. 33 Aristid. Art. Orat.:
der Rhetor Publius Aelius Aristides (um 120 bis um 180 n.Chr.); die Stelle: Rhet. 2,31
(Rhet. Gr. 5, p. 85, 24 und passim; Schmid). 35 Aristot. Rhet. L. III.: 1415 b
38 ίϊ. (αύτοκάβδαλα).
15,5 Geschichte von der Erziehung des Cyrus: die sog. Erziehung des Kyros
in acht Büchern, in der Xenophon die Monarchie als die für das sich zerfleischende
Griechenland heilsamste Staatsform beschreibt. Gemeint ist der ältere Kyros
(Kyros II. d. Gr.), pers. König von 559 bis um 529 v. Chr. 10 Clearch, sagt er:
Anabasis 1,1, 9. Uber Kleardios s. 19,30. 14 Kürtze: s. dazu und zum Zitat
(Cicero, Brut. 75) unten 24,2. 16 Diodor: der griedi. Geschichtsschreiber Diodoros
aus Agyrion in Sizilien lebte zur Zeit des Caesar und des Augustus in Rom. Er ver-
faßte eine Weltgeschichte (Bibliotheca historica) in 40 Bänden, von denen 15 ganz,
die restlichen nur fragmentarisch erhalten sind; RE. 5, 1, 663 ff. (E. Schwartz).
Die von W. benutzte Ausgabe: Bibliothecae historicae libri qui supersunt..., ed. Wes-
seling, I—II, Amst. 1745. Die Stelle: 14,12 (nicht 13), 9. Exzerpte, wahrscheinlich aus
der Seehausener Zeit, im Nachlaß Paris vol. 63 (3 Hefte mit Auszügen aus griechi-
schen Schriftstellern: S. 66-115); Tibal S. 112, dazu Justi 1 I 138 Anm. 21 edle
Größe: noble grandeur; s. 43,5; 43,24. 27 redet sie Clearch an: Anabasis 1, 3, 3 ff.
16,1 Non omnes: Vergil, ecl. 4 , 2 (recte: omnis). 6 aufsätzig: aufsässig;
DWB. 1, 719. 8 Ariovistus: Caesar, bell. gall. 1, 44.
der vorzüglidisten Gemälde der Dreßdner Gallerte. Es ist nidit festzustellen, aus
welcher Zeit die Abschriften beider Aufsätze stammen; Κ bringt gegenüber D und
Eis. X I I , S. I I I - X V offensichtlich den getreueren Text. Das Horazzitat Dura fugae
(18,30-34) fehlt in D, und das von W. auch später immer wieder gebrauchte Wort
»Vorwurf* ist in D mit dem moderneren Wort „Gegenstand" wiedergegeben; der
Name Phalin (19,24) erscheint sowohl in D (Phalie) als auch bei Eis. (Phanias)
verstümmelt, der letzte Satz Bey allen Ausschweifungen ... (25,7-9) fehlt ganz.
Die Niederschrift (Ende 1754 oder Anfang 1755) hängt zusammen mit den
Bemühungen W.s, in der Hof- und Gelehrtenwelt Dresdens festen Fuß zu fassen;
s. Brief an Berendis vom 10. 3.1755 (Br. I 167). Sie weist auch auf die früheren
geschichtlichen Vorlesungen zurück, die W. der Tochter Bünaus in der Nöthnitzer
Zeit gehalten hatte (Br. I 94). In Nr. 105, 106, 107 hatte W. seine „Extraits" und
seine „historischen Ausarbeitungen" zurückverlangt, die er für die geplanten geschicht-
lichen Vorlesungen benötigte. Er hat vermutlich nur diese eine Einleitungsvorlesung
ausgearbeitet; die Verwirklichung des Planes scheiterte, wie er in Nr. 109 schrieb,
an der Schläfrigkeit, d. h. Uninteressiertheit der in Frage kommenden Kreise (Br. I
167). Über W.s geschichtliche Studien s. Justi I 243-253; bes. 247-250.
17,1 Zeitweise: Sokrates, mit Bezug auf die von W. vermutlich aus dem
Gedächtnis zitierten Stellen in Xenophon, mem. 1, 2 , 1 und 4; 4, 4, 9 (Nachweis von
W. Kulimann). Weltweiser: namentlich im späten 17. und 18. Jh. für Philosoph;
DWB. 14,1,1,1724 if. (s. später 43,27; 57,10). 10 artigen: eleganten, hübschen
(belle histoire); DWB. 1, 573. 11 Carl V.: 1500-1558, deutscher Kaiser und
König von Spanien. W. entnahm die Anekdote der Lebensbeschreibung des Stral-
sunder Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow (Zastrow; 1520-1603), und zwar dem
einzigen damals veröffentlichten Abschnitt (Einige besondere Umstände vom
Schmalkaldisdien Kriege . . . ) in der Diplomatischen und curieusen Nachlese zur
Historie von Ober-Sachsen, ed. Chr. Schöttgen und G. Chr. Kreysig, Dresden 1731;
III (Theil 5 - 8 ) 269-305, ebd. 281; vgl. Br. I 527. Exzerpt im Nachlaß Paris vol. 71,
26; Tibal S. 136. Erste Gesamtpublikation: Bartholomäi Sastrowen Herkommen,
Geburt und Lauff seines gantzen Lebens auch was sich in dem Denckwerdiges zuge-
tragen, so er mehrentheils selbst gesehen und gegenwärtig mit angehöret hat, von
ihm selbst beschriben. Aus der Hs. hrsg. und erläutert von G. Chr. Fr. Mohnike,
I—III, Greifswald 1823-24. Die Stelle: II 31. Vgl. Schudt, Reisen S. 44 f.; 416. 11
mit seinen Völckern: Heerscharen; DWB. 12, 2, 461. 16 Ertzherzog Ferdinand:
Ferdinand I. (1503-1564), der jüngere Bruder Karls V., nach dessen Abdankung
1558 deutscher Kaiser.
18,5 Christoph Ambergern: um 1500—1561/62, namhafter Porträtist; sein
Bildnis Kaiser Karls V., gemalt um 1532, in Berlin; Stiftung Preuß. Kulturbesitz.
Staad. Museen, Gemäldegalerie, Kat. Berlin 1964, S. 11 Nr. 556 (erworben vor 1820).
Vielleicht zuvor im Kabinett vonPraun zu Nürnberg; vgl. K. Brandl, Kaiser Karl V.,
München 1 9 3 7 - 4 1 , 1 288 (mit Abb.), 555; II 422. W. kannte das Bild wohl aus einem
der beiden Einblattholzschnitte, die M. Geisberg, Die deutschen Einblatt-Holzschnitte
1500-1550, München 1930, als Nr. 46, 47 verzeichnet; s. H.W.Singer, Neuer Bild-
niskatalog, Leipzig 1938, III 4, Nr. 17 902, 17 912 f. 9 bekannten Gelehrten:
wohl sicher gemeint Graf Heinrich von Bünau (1697-1762), Staatsmann, Historiker,
erster „Herr" und Gönner W.s; s. Br. I 520 mit näheren Angaben über Bünau, 524
über W.s Mitarbeit an der Reichshistorie Bünaus, 523 über den Bibliothekskatalog:
Catalogus Bibliothecae Bunavianae (zitiert: CBB.); vgl. auch Br. I 95. 26 Horaz:
Quintus Horatius Flaccus (65-8 v.Chr.). W. standen Zitate aus den Werken des
römischen Dichters für jede Gelegenheit zur Verfügung; sie erscheinen besonders
zahlreich in den Frühschriften. Für die hier angeführte Stelle verweist Eis. X I I S. V
320 Vom mündlichen Vortrag [18,26-19,28]
auf Carm. II, aber mit falscher Angabe; carm. 2, 13, 30 f. GK. 2 S. 333 spielt mit
deutlicherem Bezug nochmals auf diese Horazstelle an. 27 Sappho ... Alcäus:
die Dichterin und der Dichter der Lyrik von Lesbos, 6. Jh. v. Chr.; zu Sappho
s. 147, 26; zu Alkaios s. 66, 11. 35 den grösten Mann: Epaminondas, der theba-
nische Feldherr und Staatsmann (um 418—362 v.Chr.); Schlacht bei Leuktra 371,
bei Mantinea 362 v. Chr. In dieser Schlacht fiel er als Sieger. 36 Überwinder
Hannibals: P.Cornelius Scipio Africanus Maior (235—183 v.Chr.), in der Schlacht
bei Zama 202 v. Chr.
19,1 Wahlplätze: Walplatz, d. h. Kampfplatz, Schlachtfeld; DWB. 13, 1322 f.
1 wie die Minerva des Homers: Ilias 5, 1 ff.; 118 ff. W. bezieht sich verschiedent-
lich auf diese und ähnliche Stellen; s. 82,23; 165,22; 220,4. Vgl. audi Kraus S. 28 f.;
Schadewaldt S. 607 mit den Hinweisen auf W.s Homer-Exzerpte und auf Odyssee 2,
405; 3,22,29; außerdem Br. I 120; 532; GK. 2 S. 333. 2 Vorwürfe: Stoffe,
Themen; DWB. 12, 2, 1968 f.; s. 37,20. 2 Xenophon ... durch den die Musen
selbst gesprochen: s. 13,2. 5 Polybius: der griech. Geschichtsschreiber Polybios (um
200 bis um 120 v. Chr.), Freund und Begleiter des römischen Feldherrn P. Cornelius
Scipio Africanus Minor (185—129 v.Chr.); vgl.20,18. 8 Epaminondas aus Norden:
Gustav II. Adolf (1594-1632) in der Schlacht von Lützen am 16.11.1632, dem
„Mantinea der Deutschen", denn der Sieger von Mantineia, Epaminondas, war
362 v. Chr. in dieser Schlacht gefallen (s. 18,35). 13 Merian: Matthäus Merian d. Ä.
(1593—1650), Kupferstecher und Topograph; W. bezieht sich auf dessen großes Werk:
Theatrum Europaeum, das in 20 Bänden in Frankfurt von 1635—1738 erschienen
ist und das er Ende 1740 sich erbat (Br. I 67; 516), und zwar auf die beiden
Stiche (Ausgabe Frankf, 1679, II, zwischen S. 692 und 693): Instructio aciei
Caesareanorum et Suecorum prope Luzzenam; Typus Cruentissimi . . . Praelij.
Beschreibung der Schlacht und der Stiche: II 693—698. 13 ein Timäus neuerer
Zeiten: wohl im Hinblick auf Timaios aus Tauromenium in Sizilien (um 345—249
v. Chr.), griech. Geschichtsschreiber, Verfasser der sog. Sikelika. 17 Ausleger
des Polybius: Jean-Charles Chevalier de Folard (1669—1752); L'Histoire de Polybe,
nouvellement traduite du Grec par Dom Vincent Thuillier . . . Avec un commen-
taire ou un corps de science militaire enridii de notes, oü toutes les grandes parties
de la guerre . . . sont expliquees . . . et representies en figures . . . par Μ. de Folard,
Paris 1727—30 u. ö. In dem mehrbändigen Kommentar sind auch die Schlachten von
Leuktra, Mantinea und Lützen behandelt worden.; W. hat diese Dinge exzerpiert:
Nachlaß Paris vol. 60, 246—257; Tibal S. 102; Nachlaß Montpellier Nr. 356, 5^, 6.
20 Aristoteles der Krieges-Kunst: entweder der später genannte Feldherr und Mar-
schall Henry de La Tour d'Auvergne, Vicomte deTurenne (1611—1675), der in seinen
Memoires, Paris 1666 u. ö., seine Feldzüge beschrieben hat, oder, wahrscheinlicher,
Jacques de Chastenet, Marquis de Puysegur (1656-1743). Dessen Werk: L'Art de
la guerre par principes et par regies, Paris 1748 f. Exzerpt Nachlaß Paris vol. 60,
257 f.; Tibal S. 102. Exzerpte aus und zu Turenne: Nachlaß Montpellier Nr. 356, 2»,
22 f. 23 Gorgias: entweder der aus Piatons Dialog bekannte griechische Sophist
und Lehrer der Beredsamkeit (gest. nach 399 v. Chr.) oder der griechische Rhetor
(um 40 v. Chr.), der Verfasser des Werks über die Redefiguren. W. würde dann
den Namen nennen, um den Abstand von Theorie und Praxis zu betonen (s. auch
GK. S. 133) An den Taxiarchen Gorgias, der unter Alexander d. Gr. wirkte, wird
W. kaum gedacht haben; s. RE. 7, 2, 1597. 24 Phalin: Phalinos; nach Diodor
und Xenophon ein Kenner der Taktik; RE. 19, 2,1669. 27 Montecucoli: Rai-
mond Graf von Montecuccoli (1609—1680), österr. Feldherr, von 1673-1675 in Hol-
land und am Rhein Gegner und schließlich Besieger Turennes. 28 Printz von
Conde: Ludwig II. von Bourbon, Prinz von Condd (1621—1686), verlor gegen
[19,28-20,34] Vom mündlichen Vortrag 321
Turenne am 11.6.1658 die Schlacht auf den Dünen. 29 Fabius Maximus: Quintus
Fabius Maximus Rullianus, berühmt als Feldherr durch seine Kriegszüge gegen
Etrusker und Samniter, mehrfacher Konsul und Zensor (um 380-290 v. Chr.).
29 Sartorius:Quintus Sertorius,röm.Feldherr, gest.72 v.Chr. 29 CajusMarius:
Gajus Marius, röm. Feldherr (156—86 v.Chr.). 30 Clearchus: der spartanische Flot-
tenführer Kleardios aus dem Peloponnesisdien Krieg, später persischer Feldherr (vor
und nach 400 v. Chr.); s. 15,10. 31 Sieger bei Blenheim: John Churchill, Herzog
von Marlborough (1650—1722), britischer Staatsmann und Feldherr, der im Spanischen
Erbfolgekrieg am 13. 8. 1704 die Franzosen bei Blenheim (Blindheim) — Höchstädt
besiegte (s. auch 46,10). 34 Carl /.: König von England, Schottland und
Irland (1600-1649). 34 Leopold der Große: Leopold I. (1640-1705), seit 1658
deutscher Kaiser. 35 Philipp V.: König von Spanien (1683—1746), Enkel Lud-
wigs XIV., 1700 von Karl II. von Spanien zum Erben bestimmt. 36 der letzte
Hertzog von Lothringen: Leopold Joseph Karl (1679—1729); sein Land ging 1733
im Polnischen Erbfolgekrieg zuerst an Frankreich und dann 1735 an den ehemaligen
König Stanislaus I. Leszcynski von Polen (1677—1766) verloren. W. meint diesen
Herzog, nicht dessen Sohn, den wirklich letzten Herzog von Lothringen, Franz
Stephan (1708—1765), den nachmaligen deutschen Kaiser Franz I., den Gemahl und
Mitregenten der Kaiserin Maria Theresia.
20,6 Phönix unter den Printzen: diese rhetorische Ausdrucksweise, die den
ständigen messenden Bezug der Moderne zur Antike deutlich macht, kehrt nicht
nur in diesem Aufsatz immer wieder (Epaminondas aus Norden, Aristoteles der
Kriegskunst, Timäus neuerer Zeiten), sondern ist audi später noch bei W. zu
finden: z.B. der deutsche Titus für Friedrich August I