EINLEITUNG
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GERNOT BÖHME
Abb. 1:
Utagawa
Hiroshige:
100 berühmte
Ansichten von
Edo: Abend-
schauer über der
großen Brücke in
Atake, ukiyo-e,
1857.
EPHEMEROS
Das Wort ephemer stammt aus dem Altgriechischen und ist Bestandteil
aller großen europäischen Sprachen. Das Wort setzt sich aus der Präposi
tion epi und dem Nomen hemera zusammen. Hemera heißt der Tag. Das
zusammengesetzte Wort kann vielerlei bedeuten, weil die Präposition
je nach Kasus einen anderen Sinn hat. Der deutsche Altphilologe Ernst
Fränkel hat für ephemeros drei Hauptbedeutungen ausgemacht:
- dem Tag untenvorfen, labil
- täglich
88
DIE SANFTE KUNST DES EPHEMEREN
- eintägig, kurzlebig. 2
Der Ausdruck ist damit geeignet, sowohl das Alltägliche und das täglich
Wiederkehrende zu bezeichnen, als auch die Unberechenbarkeit dessen,
was der Tag bringt, als auch schließlich die Flüchtigkeit 1:1nd Hinfälligkeit
des Daseins selbst.
Ernst Fränkel hat nun nachgewiesen, dass in der Frühzeit der griechi
schen Dichtung, d.h. also von Homer angefangen bis zu den Lyrikern und
Festsängern -wie Pindar, der Ausdruck ephemer zur Charakterisierung
des menschlichen Daseins verwendet wurde, so dass ephemeroi gera
dezu eine Bezeichnung des Menschengeschlechts war, so wie brotoi, die
Sterblichen. Seine zentrale Stelle findet sich in Pindars 8. Phythischem
Gedicht:
»Tageswesen: Was ist man, und was nicht? Der Mensch ist ein Schat
ten im Traum.«
Das klingt sehr resignativ, und in der Tat ist die Charakterisierung des
menschlichen Lebens als ephemer in der Regel klagend, ja anklagend:
Die Menschen sind Vorübergehende, mit den Göttern verglichen arm
selig, hinfällig, bedeutungslos. Der Mensch ist ein schwankendes Rohr im
Wind, allen Einflüssen des Tages ausgesetzt, unbeständig, wankelmütig,
dem Schicksal unterworfen. Umso auffälliger ist, dass Fränkel auch posi
tive Bedeutungen des Ephemeren im menschlichen Dasein ausmachen
konnte. Verwiesen sei wiederum auf eine andere Zeile des griechischen
Dichters Pindar:
»Indem i.ch der ephemeren Freude nachgehe, werde ich mit Heiter
keit in mein Greisentum eintreten und in das Schicksal, das für mein
Dasein verhängt ist«. 3
2 Ernst Fränkel: »EPHEMEROS als Kennwort für die menschliche Natur«, in: ders.: Wege und
Formen frühgriechischen Denkens, München 1968, S. 36.
3 Pindar: »7. Isthmische Ode«, 40-42 (Übersetzung nach Fränkel). Der Schluss des Verses wird
von Dieter Bremer wohl treffender mit »bis in die schicksalsbestimmte Lebenszeit« übersetzt.
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GERNOT BÖHME
Man erkennt, dass es offenbar von der Haltung, die man zum mensch
lichen Leben einnimmt, abhängt, ob man dessen ephemeren Charakter
als Schwäche und Grund von Bedeutungslosigkeit ansieht oder vielleicht
gerade darin eine Quelle des Glücks findet oder gar die eigentliche Würde
des Menschen. Der Gedanke leuchtet auf, dass Glück im erfüllten Augen
blick liegen könnte, so flüchtig er auch sein mag, und dass umgekehrt
das Unglück des Menschen seinen Grund gerade im Schielen nach der
Unsterblichkeit und der Orientierung am Ewigen und Jenseitigen hat.
Das Ephemere kann so zum Leitwort der Lebensbejahung und der Zuwen
dung zum Diesseitigen werden.
Was nun die Geschichte des Wortes ukiyo angeht, muss ich mich vor
sichtig ausdrücken, da ich mich nur auf westliche Literatur stützen kann.
Daraus ist zu entnehmen, dass dieser Ausdruck eine ähnliche Ambiva
lenz enthält wie der griechische Ausdruck ephemeros. Ursprünglich sei
ukiyo auch eine Bezeichnung des hinfälligen und vergänglichen Lebens
und habe eher einen negativen Klang gehabt. Den Hintergrund dafür
bilde die buddhistische Abwendung von dieser unserer Welt, als einer
Welt des Leidens und das Todes. In der Edo-Periode folgte dann aber eine
allmähliche Zuwendung zur Welt, zur Welt des Alltags und der Natur,
durch die ukiyo eine Umwertung erfahren habe von der Bedeutung »wert
lose Welt der Täuschung« zu »haltlosfließende Welt der Verlockungen«.
Peter Pörtner sieht in seinem Aufsatz Die Freuden der Vergänglichkeit4
diese Wende des Begriffs ukiyo in einem Haiku von Kabayashi Issa »auf
eine unnachahmliche Formel« gebracht:
Siehe die von ihm herausgegebene Ausgabe: Pindar: Siegeslieder, Düsseldorf, Zürich, 2. überarb.
Aufl. 2003, S. 298f.
L1 Peter Pörtner; »Die Freuden der Vergänglichkeit. Über eine Seite der bürgerlichen Kultur der
Edo-Zeit«, in: Franziska Ehmcke und Masako Shöno-Sladek (Hg.): Lifestyle in der Edo-Zeit. Facet
ten der städtischen Bürgerkultur Japans vom 17.-19. Jahrhundert, lvlünchen 1994, S. 35-53, S. 37.
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DIE SANFTE KUNST DES EPHEMEREN
Thematisch wendet sich die Kunst des ukiyo-e dem Diesseits zu. Es
sind Bilder von Schauspielern und Schauspielerinnen - und zwar des
5 Ebd,
6 Bürger sind in Europo zwar auch die Handwerker und Kaufleute, nur dass sie wegen der Selbst·
ständigkeit der Stadt-Staaten seit je einen eigenständigen politischen Status gehabt hoben,
7 Pörtner: >lOie Freuden der Vergänglichkeit«, in: Lifestyle in der Edo-Zeit, a.a,O., S. 39.
8 Michail Uspenski: Hiroshige. Hundert Ansichten von Edo, London 2003, S.7.
9 Uspenski: Hiroshige, a.a.O,, S. 8. Ebenso Gerhard Pulverer: »Japanische Holzschnitte und der
Impressionismus«, in: Lifestyle in der Edo-Zeit, a.a.O., S. 211-224, S, 212.
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\
GERNOT BÖHME
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DIE SANFTE KUNST DES EPHE/"1EREN
Abb. 2:
Utagawa
Hiroshige:
100 berühmte
Ansichten von
fdo: Ansicht
der Nihonboshi
Stroße, 1858.
10 tv1anet besaß beispielsweise 230 japanische Holzschnitte, darunter 49 von Hiroshige. Ebenso
besaß Degas 40 Hiroshiges und van Gogh 43. Van Gogh hat sogar mehrere japanische Holz
schnitte nachgemalt, darunter zwei von Hiroshige. In Paris gab es in den 80er Jahren des 19. Jahr
hunderts mehrere Ausstellungen japanischer Kunst, und der in Paris lebende deutsche Kunst
manager Samuel Bing gab ein dreibändiges Werk über japanische Kunst heraus. Zu dem ganzen
Komplex siehe Genevieve Aitken: La col/ection d'estampe Joponoise de Claude fvlonet a Givemy,
Givemy 1983.
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GERNOT BÖHME
Abb. 3:
Utogowo
Hiroshige:
Benten-Heilig
tümer in heutiger
Zeit: Kurtisane bei
der Betrachtung
von Drucken,
1820-1822.
Japanern aufgegriffen. 11 Für die Frage nach dem Ephemeren ist jedoch
eher entscheidend, dass die Impressionisten in den japanischen Künst
lern des ukiyo-e gewissermaßen Verbündete sahen, kongeniale Meister in
der Darstellung der sinnlichen Welt. Am deutlichsten sprach dies Pissarro
aus, als er nach dem Besuch einer Ausstellung japanischer Kunst an
seinen Bruder schrieb: »Hiroshige est un impressioniste merveilleux«.12
11 Siehe dazu Pulverer: »Japanische Holzschnitte und der Impressionismus«, in: Lifestyle in der
Edo-Zeit,o.a.O., S. 218-221.
12 Aitken: La co//ection d'estompeJaponoise de Claude /vlonet o Givemy, a.o.O., S. 13.
94
1""-;;____________
Natürlich ist die Malerei etwas ganz anderes als die Holzschnittkunst
des uki;yo-e - das liegt schon daran, dass die Impressionisten in Öl mal
ten. Dennoch gibt es eine große Verwandtschaft in den Sujets und dann
vor allem in der Darstellungsabsicht. Hier wie dort ein Interesse an All
tagsszenen - wenngleich es häufig solche des Theaters. oder öffentlicher
Ereignisse waren -, hier wie dort das Interesse an Natur: Wasserfälle,
Meereswellen, Sturm, Regenbögen. 13 Vor allem aber das 'Interesse an der
aktuellen Erscheinungsweise: Tageszeit, Jahreszeit, Witterung, Beleuch
tung spielen in der Darstellung die entscheidende Rolle - ja, sie über
decken zuweilen geradezu das Sujet, den Gegenstand der Darstellung.
Extrem wird das bei Turner, der manchmal überhaupt nur noch die
Atmosphäre malt. Charakteristisch,. wie überhaupt für die Beziehung
von ukiyo-e und Impressionismus, ist das gemeinsame Interesse am Ver
gänglichen, z.B. wenn Claude Monet die Kathedrale von Rouen viermal
in anderer Beleuchtung, zu anderer Tageszeit malt.14 Er interessierte sich
für das Licht auf den Dingen, das Licht, das an den Dingen spielt. Es sind
also nicht eigentlich die Dinge, um die es geht, sondern ihre jeweilige
Erscheinung - und die ist nicht nur durch sie selbst bestimmt, sondern
durch die Konstellation, in der sie erscheinen, und durch das Licht, in
dem sie erscheinen.
In der Tat versuchten die Künstler des Impressionismus den Ein
druck wiederzugeben, den sie in leiblicher Anwesenheit erhielten. Doch
die Art der Wiedergabe zielt darauf, dem Betrachter diesen Eindruck zu
vermitteln. Diese Malerei ist deshalb wie kaum eine andere am Betrach
ter orientiert. Nicht was auf dem Bild ist, sondern was es ausstrahlt,
ist entscheidend. Charakteristisch ist die Maltechnik des Pointillismus,
die Erzeugung einer Farbwirkung nicht durch .Mischung der Farben,
sondern ihre gemeinsame Wirkung im Raum. Deshalb könnte man die
Impressionisten auch Expressionisten nennen - jedenfalls ist es nicht
13 Pulverer: »Japanische Holzschnitte und der Impressionismus«, in: Lifestyle in der Edo-Zeit,
a.a.O., S. 223.
14 Eine entsprechende Serie fertigte Monet von Heuschobern.
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\
GERNOT BÖH/v1'::
Abb. 4:
Claude Monet:
Die Kathedrale
von Rauen
(Sonnenunter
gang), 1892-94.
erstaunlich, dass sich dieser Übergang vollzog. Der Protagonist dafür ist
vanGogh.
Die Impressionisten haben so durch ihre Malweise in das, was sie und
die Künstler des ukiyo-e gemeinsam interessierte, etwas Neues hineinge
bracht. Was sie gemeinsam interessierte, war das Ephemere, der flüchtige
Augenblick, das Erscheinen und die hiesige, die sinnliche Welt, in der wir
leben. Impressionismus wie ukiyo-e schätzen in der vergänglichen Welt
gerade das Flüchtige, das vorübergehende Aufleuchten, die momentane
Stimmung, die zufä.Uige Konstellation, die Atmosphäre. Die Künstler des
ukiyo-e haben etwas Bedeutendes geleistet, indem sie in dieser Zuwen
dung zum Diesseits dem Einfachen, der Natur, wie sie sich gibt, und den
einfachen Leuten- um mit Adorno zu reden: dem Nicht-Identischen - die
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DIE SANFTE KUNST DES EPHE/vtfRl::N
Abb. 5:
Vincent von
Gogh: Blühender
Pflaumenbaum
(nach Hiroshige),
1887.
15 Deshalb sind auch für uns diese Bilder noch reiche Quellen von Information, insb. zur Wirt
schafts- und Sozialgeschichte. Für ein Beispiel einer solchen Auswertung von ukiyo-e-Bildern
siehe Franziska Ehmcke: ,,faszinierende Ein-Blicke in das frühmoderne Japan - Die Tokaido-Holz-
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GERNOT BÖHME
musste man schon hinfahren, die Bilder sind dafür nur eine Verheißung.
Was das einzelne Bild mitzuteilen hat, hängt deshalb auch nicht an die
sem einzelnen: ukiyo-e ist von vornherein eine reproduktive Kunst.
In dieser Hinsicht sind die impressionistischen Gemälde anders. Bei
ihnen steht nicht mehr im Vordergrund, was sie über ihre Sujets mitzu
teilen haben. Die Sujets sind deshalb auch häufig anonym und es kommt
auf sie nicht entscheidend an. Denn die Bilder der Impressionisten wol
len nicht eine Atmosphäre dokumentieren, sondern sie wollen, dass der
Betrachter sie am Bild selbst erfährt. Der flüchtige Augenblick wird nicht
nur im Bild dargestellt, sondern er vollzieht sich in der Rezeption durch
den Betrachter selbst: Der Betrachter soll am Bild Erfahrungen machen.
Dies hat wesentlich mit der schon erwähnten Maltechnik zu tun: Die
Licht- und Farbeffekte sind nicht auf dem Bilde, sondern ergeben sich
aufgrund der im Bild gesetzten Bedingungen im Blick des Betrachters.
Deshalb sind impressionistische Bilder auch wesentlich Unikate: Ihre
fotografische oder sonstige technische Reproduktion kann dieses Ereig
nis, das sich zwischen Bild und Betrachter ergibt, nicht wiederholen.
Gleichwohl bleiben sie Bilder; und obgleich sie dazu beitragen, dass sich
an ihnen selbst ein Ereignis der flüchtigen Welt vollbringt, sind sie noch
immer Kunstdinge, die etwas darstellen, das sie selbst nicht sind. In die
ser Hinsicht sollte sich im .20. Jahrhundert in der Kunst des Ephemeren
noch ein bedeutender Wandel vollziehen.
schnittserien«, in: OAG Notizen, 6/2003, S. 10-31 (Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völker
kunde Ostasiens, Tokyo).
16 Siehe dazu meinen gleichnamigen Vortrag 1987, abgedruckt in Gernot Böhme: Für eine öko
logische Naturösthetik, Frankfurt a.M. 1999, S. 166-189.
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DIE SANFTE KUNST DES EP/-/E/vlEREN
Ephemere für seine Theorie Bedeutung erhält. An sich ist Adornos Ästhe
tik explizit eine Theorie des Kunstwerks, nicht seiner Produktion oder
Rezeption, und zum Werk gehört für ihn - ganz klassisch - auch Voll
endung und Dauer. Doch da er für seine Zeit das Wesentliche der Kunst
gerade in der Mimesis, und das hieß für ihn in der Annäherung an ihr
Anderes - an das Vorkulturelle,. das Materielle, kurz: das Nicht-Identi
sche - sah, erhalten in seiner Theorie Randphänomene der Kunst eine
überraschend zentrale Bedeutung. Dazu gehört das Feuerwerk: leb zitiere
eine der beiden Stellen in voller Länge:
Es sind solche Stellen, an denen Adorno wie ein Söhnchen aus gutem
Hause sehnsüchtig den vulgären Spielen des Volkes zusieht und in ihnen
das eigentliche Leben ahnt. Gerade die Dauer von Kunstwerken birgt
die Gefahr ihrer Verdinglichung und ihre Vollendung als Werk kann
sie in sich verschließen. Demgegenüber erscheint das Feuerwerk, »das
als einzige Kunst nicht dauern wolle«, 18 von unübertre.tfiicher noblesse. 19
99
GEPNOT BÖHME \
\
Abb. 6:
Utagawa
Hiroshige:
100 berühmte
Ansichten von
Edo: Feuer
werk über der
Ryogoku-hashi,
1858.
Kunstwerke sind nach diesem Paradigma nur mehr als bloße Dinge,
wenn sie »aufstrahlend zur Erscheinung sich aktualisieren«. 20
Adorno antizipiert mit dieser Dialektik die Auflösung des Werkbegriffs,
wie sie sich in der Generation nach ihm vollziehen sollte. Dieter Mersch hat
diese Entwicklung als Übergang vom Werk zum Ereignis und als Wandel
von der Werk-Ästhetik zur Ästhetik der Performanz beschrieben. 21 Es
20 Ebd., s. 126.
21 Dieter tvlersch: »Vorn Werk zum Ereignis. Zur performativen Wende in der Kunst«, in: ders.:
Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002,
S. 157-244.
100
DIE SANFTE KUNST DES EPHEMEREN
sind die Bewegung des Happening und des Fluxus, die Entstehung der
Kunst der Performance und der Installation, die er für die zweite Hälfte
des 20. Jahrhunderts als entscheidend ansieht. Nach seiner These han
delt es sich um eine Re-Auratisierung der Kunst. Nachdem Walter Ben
jamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz von 193722 eine Auflösung der Aura
von Kunstwerken durch die Möglichkeit ihrer technischen Reproduzier
barkeit analysiert hatte, sei unter den Künstlern eine Gegen-Bewegung
entstanden. Sie hätten Werke geschaffen, die schlechthin einmalig seien,
weil sie selbst nicht von Dauer seien, sondern vielmehr Ereignischarak
ter hätten. Man müsse anwesend sein, um zu erfahren, was und wie sie
sind. Ihr Kunstcharakter bestünde allein in ihrem Ekstatischsein, also in
dem, was sie aktualiter ausstrahlen. Werke von Beuys beispielweise sind,
so gesehen überhaupt nur Relikte, Dokumente und Spuren von Kunst,
die sich ereignete.
Damit hat das Ephemere, das als Thema von der ukiyo-e-Kunst aufge
nommen wurde und im Impressionismus anfing, auf die Seite der Kunst
rezeption überzugreifen, schließlich die Kunst im Ganzen verwandelt.
Kunst, die einst die vergängliche Welt transzendieren und in ihren Wer
ken selbst ein Stück Ewigkeit realisieren wollte, ist selbst ephemer gewor
den. Sie hat sich nicht nur der Welt des Vergänglichen zugewandt, son
dern sie ist in die Welt des Vergänglichen eingegangen. Sie stellt deshalb
die Welt auch nicht mehr dar, sondern bringt sie selbst zur Erscheinung.
Sie repräsentiert nicht mehr, was ist, sondern artikuliert das Erschei
nende und intensiviert es in seinem Erscheinen.
Wir wollen nun an einigen konkreten Beispielen sehen, was das bedeutet.
Ich konzentriere mich dabei bewusst auf die sanfte Kunst des Ephemeren.
101
GERNOT BÖH/vlE \
23 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des östhetischen Scheins, Frankfurt a.M.
1987.
102
DIE SANFTE KUNST DES EPHEMEREN
24 Siehe dazu Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002,
s.357ff. Mersch macht in seiner Ästhetik der Performanz übrigens nicht den Unterschied von
sanfter und gewaltsamer Kunst und er unterscheidet entsprechend nicht zwei Möglichkeiten des
Gegenwartsbewusstseins.
103
GERNOT BÖH/VIE
BEISPIELE
104
DIE SANFTE KUNST DES EPHEMEREN
Abb. 7:
Fridhelm Klein:
Ohne Titel, 1980.
Abb. 8:
Fridhelm Klein:
Ohne Titel, 1980.
26 Leben und Weben ist eine Formel des deutschen Idealismus und der Romantik für die Tätigkeit
der Natur. Sie stammt aus der Bibel.
105
- --
- --·-····· ··-·--· · · ·--· .
GERNOT BÖHME
Abb. 9:
Nils Udo:
Ohne Titel,
1999, Buche,
Vogelbeeren.
106
DIE SANFTE KUNST DES EPHEMEREN
Das Werk von Nils Udo fasst nachgerade alles bisher Gesagte zusam
men: Er schafft naturverwandte Gebilde, die er in den natüdichen
Zusammenhang einfügt und ihn dadurch neu sehen lässt, wie z.B. seine
verschiedenen schwimmenden Blumen-Inseln. Er artikuliert ein vorge
fundenes Stück Natur, etwa die Fläche eines schilfigen Teiches durch eine
Blattkette oder einen Strand durch einen Halbkreis von Bambusstäben.
Er setzt Farnwedel ins Wasser oder hebt Bruchlinien in der Erde oder
dem Eis durch Farnblätter hervor. Schließlich setzt auch er in die Natur
Gebilde hinein, die ihre Künstlichkeit nicht verleugnen, doch gerade
durch ihre sanfte Anwesenheit die Stille der Natur zum Sprechen brin
°
gen. E s geht bei diesen Gebilden nicht um sie selbst, sondern darum -wie
wir das Wort von Adorno jetzt in verwandelter Form aufnehmen kön
nen-, dass sie aufstrahlend die Natur an diesem Ort und in diesem Augen
blick zur Erscheinung aktualisieren.
Zum Schluss ist noch eine Bemerkung notwendig: Zu sehen sind hier
Reproduktionen, Fotos. Doch in welchem Verhältnis stehen diese Fotos
zur Kunst des Ephemeren? Das Charakteristische dieser Kunst besteht
doch darin, dass sie den flüchtigen Augenblick im Naturzusammenhang
artikuliert. Wenn man diese Artikulation als das eigentliche Kunstwerk
oder besser als den Kunstakt ansieht, so sind die Fotos nichts als Zeug
nisse dieses Aktes, sie sind Erinnerungsspuren. 27 zugleich entstehen bei
den Dokumentationen auch Fotos, die nun selbst wieder als Kunstwerke
angesehen werden können. Hiermit verschiebt sich unter Umständen die
Perspektive: Das ephemere Arrangement kann auch als Arrangement
für ein Foto angesehen werden. Viele künstlerische Fotos setzen ja eine
27 Obgleich anzunehmen ist, dass die Künstler im Vollzug dieses Aktes ihre Erfüllung finden oder
auch in der Teilnahme von anwesenden Zuschauern, so legen sie doch großen Wert darauf, dass
ihr flüchtiges Arrangement auch dokumentiert wird. Das hat natürlich mit ihrem Beruf zu tun. Sie
müssen sich immer wieder ausweisen, und sei es, um Sponsorengelder einzuwerben.
107
GERNOT BÖHfvlE
\
\
Inszenierung der Wirklichkeit für das Foto voraus, wie bei Cindy Sher
man oder Helmut Newton. Wir müssen damit rechnen, dass der profes
sionelle Zwang zum bleibenden Werk bei vielen Künstlern dazu führt,
dass sie selbst häufig ihr ephemeres Arrangement als Inszenierung für
ein Foto ansehen. Doch kann der fotografische Blick auchjene Artikula
tion des flüchtigen Augenblicks sein, die die sanfte Kunst des Ephemeren
als ihr Proprium ansieht. Auch dann kann sie allerdings für den Betrach
ter nichts anderes sein, als Zeugnis des flüchtigen Augenblicks.
Diese Problematik mag abschließend eine weitere Arbeit von Fridhelm
Klein zeigen. Sie steht gewissermaßen in der Mitte zwischen der Kunst
des Ephemeren und der Kunst der Fotografie: Klein hat auf dem Meer
schwimmende Flügel von toten Vögeln fotografiert. Er zeigt uns in seinen
Fotos, was die Natur selbst ihm gezeigt hat: Wie durch diese Flügel die
unbestimmte Bewegung zwischen Himmel und Erde sich verdichtet - und
so das Leben und Weben der Natur im Augenblick zur Erscheinung sich
aktualisiert.
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SICHTBARKEITEN 1: ERSCHEIN!EN
ZUR PRAXIS DES PRÄSENTATIVEN
fv'IIRA FLIESCHER,
FABIAN GOPPELSRÖDER,
DIETER fv'IERSCH (HG.)
DIAPHANES
10/\ l A.'13 r t\
Universität Hamburg
Martha-Muchow-Biblioth.et.
Diese Publikation wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der
Deutschen Forschungsgemeinschaft.
1. Auflage
ISBN 978-3-03734-420-0
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DIE OSIRIS-METHODE
»DIALEKTIK DER FORMEN<< IM WERK SERGEJ EISENSTEINS 39
MICHAEL MAYER
VERSCHWINDEN ERSCHEINEN
DIE SHOAH UND DER ANSPRUCH DER TOTEN 67
GERNOT BÖHME
DIE SANFTE KUNST DES EPHEMEREN 87
D:IETER.MERSCH
PHAINESTHAI
ZU HEINRICH BARTHS PHÄNOMENOLOGIE DES ERSCHEINENS 109
HEINRICH BARTH
EIN AUSZUG AUS »ERKENNTNIS DER EXISTENZ
GRUNDLINIEN EINER PHILOSOPHISCHEN SYSTEMAT/K« 121
JANINE LUGE-WINTER
DAS ERHABENE ERSCHEINT
AUSZUG AUS DIONYSIOS AREOPAGITES ȆBER DIE NAMEN GOTTES((
fvl/T EINER EINLEITUNG UND AUSFÜHRLICHEM KOMMENTAR 133
B.ERNHARD WALDENFELS UND DIETER MERSCH
ERSCHEINUNG UND EREIGNIS 173