Resident Evil Apocalipse

Das könnte Ihnen auch gefallen

Sie sind auf Seite 1von 161

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufhahme Ein Titeldatensatz fü r diese Publikation

ist bei der Deutschen Bibliothek erhä ltlich.

Dieses Buch wurde auf chlorfreiem,


umweltfreundlich hergestelltem
Papier gedruckt.

In neuer Rechtschreibung.

German translation Copyright © 2004 by Panini Verlags GmbH, Rotebü hlstraße 87, 70.178
Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Resident Evil: Apocalypse“ by Keith R. A.


DeCandido, based on a screenplay by Paul W. S. Anderson, first published by Pocket Books,
a division of Simon & Schuster, Inc. New York. Copyright © 2004 by Davis Films/Impact
(Canada) Inc. / Constantin Film (UK) Limited. AH rights reserved including the right of
reproduction in whole or in part in any form. Resident Evil is a trademark of Capcom Co.
Ltd.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This
edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of
Simon & Schuster, Inc. New York.
No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this
publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any
similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be
reproduced, by any means, without the express written permission of the Copyright
holder(s).

Ü bersetzung: Timothy Stahl


Lektorat: Manfred Weinland
Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Lö ffler
Umschlaggestaltung: TAB Werbung GmbH, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Kö ln
Druck: Panini S.P.A.
ISBN: 3-8332-1127-X
Printed in Italy
www.dinocomics.de

scan by: crazy2001 @ 01/2005


k-leser: klr
-1-

Für Marco,
aus mehr Gründen, als ich öffentlich machen möchte…
-2-
DANKSAGUNGEN

Besonderer Dank an meinen Lektor Marco Palmieri, der mich in diese Sache hineingezogen
hat; an meine Agentin Lucienne Diver, die dafü r sorgte, dass ich dranblieb; an die Autorin
S.D. Perry, die all die anderen Bü cher geschrieben hat; an den Autor Paul W. S.
Anderson, von dem das Quellenmaterial stammt; an die Spiele-Entwickler bei CapCom, von
denen Pauls Quellenmaterial stammt; an Grace Anne Andreassi DeCandido, die dafü r
sorgte, dass ich fleißig schrieb; und an meine superduper sü ße Terri Osborne, die mich auf
Trab hä lt.
-3-
Eins

Major Timothy Cain ließ sich nicht verscheißern.


Auf die Welt gekommen war er unter einem anderen Namen, damals in Berlin, damals, als
die Stadt noch von einer großen Mauer zweigeteilt wurde. Als drittes von vier Kindern und
jü ngster Sohn hatte er das Pech gehabt, auf der falschen Seite jener Mauer aufwachsen zu
mü ssen. Kurz nachdem ihre Mutter gestorben war –
da war er sechzehn gewesen – hatte ihr Vater einen sicheren Weg gefunden, mit ihnen in
die Vereinigten Staaten von Amerika zu emigrieren. Nach ihrer Ankunft hatte er ihnen
erklä rt, dass ihr Name nun Cain sei – eine Anglisierung ihres deutschen Namens – und
seinen Kindern auch neue Vornamen verliehen. Sie hießen fortan Michael, Anthony,
Timothy und Mary, weil diese Namen, so ihr Vater, amerikanisch klangen. Jedes Mal, wenn
sie ihre deutschen Namen benutzten, prü gelte er sie. Und weil sie nicht dumm waren,
lernten sie rasch, sich in ihre neuen Identitä ten einzufinden.
Aus Dankbarkeit seiner neuen Heimat gegenü ber trat Timothy an seinem achtzehnten
Geburtstag der Armee bei. Kurz darauf wurde er nach Ü bersee geschickt, um im Golfkrieg
zu kä mpfen. Sein Vater freute sich darü ber.
Michael, drei Jahre ä lter als Timothy, war nach Chicago gezogen und Polizist geworden.
Anthony war nach San Francisco gegangen und hatte den Kontakt zu seiner Familie
abgebrochen. Mary hatte kein Interesse an Polizei oder Militä r; sie zog eine Laufbahn in der
Wirtschaft vor.
In der Wü ste lebte Timothy Cain zum ersten Mal richtig auf. In der Schule war er stets
erfolgreich gewesen, wenn auch meistens durch Auswendiglernen. Er begriff schnell, aber
er hatte sich nie recht fü rs Lernen
-4-
begeistern kö nnen. Die zwei Schuljahre, die er nach ihrer
Einwanderung
absolvierte,
waren schwierig
gewesen, da er mit einem starken deutschen Akzent sprach, der ihn zum Opfer von
Hä nseleien seiner Mitschü ler gemacht und es ihm erschwert hatte, Freude am Lernen zu
finden.
Am Kampf allerdings fand er Freude – vor allem wenn es gegen die Feinde der USA ging.
Und in der Wü ste interessierte sich niemand fü r seinen Akzent, bis auf ein paar Idioten,
und die hielten alle die Klappe, sobald sie Timothy Cain erst einmal in Aktion erlebt hatten.
Er brauchte nicht lange, um sich hervorzutun und sich die Rangleiter emporzuarbeiten.
Schon nach ein paar Wochen fü hrte er seine Kameraden in den Kampf, und seine Mä nner
folgten ihm blind. Er verfü gte ü ber ein natü rliches Charisma, eine Begabung zum Taktieren
und ein besonderes Talent, Saddams Infanteristen zu tö ten.
Infolge des Hangs der Streitkrä fte, ihren Angehö rigen markante Spitznamen zu verleihen,
wurde er rasch als
„Able“ Cain bekannt – egal, wie aussichtslos eine Mission, egal, wie haarsträ ubend ein Plan,
egal, was auch immer zu erledigen war, wenn man Sergeant Timothy Cain damit betraute,
ging die Sache klar.
Punktum.
Cain lernte vieles in der Wü ste, aber das Wichtigste war, dass das Leben – im Gegensatz zu
dem, was sein Vater ihn stets gelehrt hatte – weder kostbar noch heilig war.
Im Gegenteil, das Leben war etwas ziemlich Armseliges.
Wä re es tatsä chlich etwas so Verehrungswü rdiges, Großartiges und Wundervolles
gewesen, hä tte es wohl kaum so einfach sein dü rfen, es einem anderen Menschen zu
nehmen. Wä re das Leben ein so herrliches Geschenk gewesen, wä re er nicht imstande
gewesen, einen Mitmenschen fast mit links zu tö ten, wie
-5-
er es am Persischen Golf so oft praktiziert hatte…
Als sein Einsatz vorbei war, ging er auf die Offiziersanwä rterschule, um sein Patent zu
bekommen.
Nach einigen weiteren Jahren als Offizier erlangte er dann eine weitere wichtige
Erkenntnis: Das Leben bestand aus mehr als nur dem Militä r.
Diese Wahrheit hatte sich ihm nicht etwa erschlossen, wä hrend er in der Wü ste
herumackerte und den Feind in die Luft jagte – etwas, auf das er sich offen gesagt
hervorragend verstand –, nein, diese Wahrheit kam von den Herren in Anzü gen, die fü r die
Umbrella Corporation arbeiteten und ihn als Leiter der Sicherheitsabteilung ihres
Konzerns angeheuert hatten. Able Cain hatte seinem Land gedient. Und in gewisser
Hinsicht tat er das auch jetzt noch, denn Umbrella unterhielt beste Verbindungen zur
Regierung und versorgte Amerikaner, wo immer es sich als nö tig erwies.
Der hauptsä chliche Unterschied zu frü her war der, dass er jetzt mit einer nahezu obszö n
großen Geldmenge entschä digt wurde.
Nachdem er in den Rang eines Majors aufgestiegen war, hatte Cain das Umbrella-Angebot
angenommen. Er bestand allerdings darauf, nach wie vor mit seinem Rang angesprochen
zu werden. In der Folge hatte er seinem Vater ein Haus in Florida kaufen kö nnen. Und
nachdem Michael im Dienst angeschossen worden war und danach in seinem
Schreibtischjob langsam wahnsinnig wurde, hatte Timothy ihn zum Sicherheitsleiter der
Umbrella-Niederlassung in Chicago ernannt. Er machte Anthony in einem Crack House in
Berkley ausfindig, brachte ihn wieder auf die rechte Bahn und zahlte die Kosten fü r seinen
Entzug. (Dass er spä ter von der Golden Gate Bridge sprang, war wohl kaum Timothy Cain
anzulasten.)
Als Mary herausfand, dass ihr Ehemann sie betrog, bezahlte Cain ihren Scheidungsanwalt.
Dann, nachdem
-6-
die Scheidung rechtskrä ftig geworden war und Mary dem Bastard alles und noch ein
bisschen mehr abgeknö pft hatte, spü rte Cain ihren Ex-Mann auf – er lebte in einer
beschissenen kleinen Einzimmerwohnung in South Bend, Indiana – und jagte ihm eine
Kugel in den Schä del.
Nein, es war kein Problem, ein Leben zu nehmen. Aber es war weitaus befriedigender,
wenn man jemanden vorher vernichtete.
Jetzt stand Cain vor der Villa. In Foxwood Heights, zwei Meilen außerhalb der Stadtgrenzen
von Raccoon City, gelegen, wirkte die Villa eher wie etwas aus einem dieser arroganten
englischen Filme, die Cain so hasste, nicht wie ein tatsä chliches Bauwerk am Rand einer
amerikanischen Kleinstadt.
Die Villa gehö rte der Umbrella Corporation und wurde als Hauptzugang zum Hive genutzt.
Fü nfhundert Mä nner und Frauen, von Umbrella angeheuert, lebten und arbeiteten im Hive,
einem gewaltigen unterirdischen Komplex, in dem die heikelste Arbeit des ganzen
Unternehmens ihre Verrichtung fand.
Die Existenz des Hives wurde nicht geheim gehalten –
es war unmö glich, fü nfhundert Angestellte, von denen viele zu den Besten ihres jeweiligen
Fachgebiets gehö rten, von der Welt abzukapseln, ohne dass es jemand bemerkte –, aber sie
wurde auch nicht in grö ßerem Stil bekannt gemacht. Seine ö ffentliche Zentrale unterhielt
Umbrella mitten in Raccoon, wo jeder sie sehen konnte: das allgemein bekannte Gesicht
des Konzerns,
der
mit
den
landesweit
besten
Computertechnologien und Produkten sowie Diensten zur Gesundheitsfü rsorge
aufwartete.
Doch leider war im Hive etwas fü rchterlich schief gelaufen. Die hoch entwickelte Kü nstliche
Intelligenz der Einrichtung – die so genannte Red Queen – war verstummt.
Sicherheitsmaßnahmen waren in Kraft
-7-
getreten, und der Hive war mittlerweile versiegelt. Cain hatte ein Team unter der Fü hrung
seines besten Sicherheitsagenten, der nur unter dem Codenamen One aktiv war,
hineingeschickt, um herauszufinden, was zum Teufel da eigentlich passiert war.
Das allerdings schien nicht gelungen zu sein, da lediglich ihr Alternativplan – die
Versiegelung des Hives
– zur Umsetzung gekommen war. Dies war nur fü r den Fall vorgesehen gewesen, dass das
Team außer Gefecht gesetzt oder getö tet wü rde.
Vor der Villa hatte Cain ein Team von Ä rzten und Sicherheitspersonal
zur
Unterstü tzung
von
One
versammelt. Dem Protokoll zufolge, das die Red Queen benutzt zu haben schien, war der
Notfall medizinischer Art, und die Kü nstliche Intelligenz hatte es fü r erforderlich gehalten,
eine Quarantä ne zu erlassen.
Deshalb trug das gesamte Team Hazmat-Schutzanzü ge.
Außerdem standen mehrere Tragen und diagnostische Gerä tschaften bereit. Und ein
steriler Tunnel verband den Eingang der Villa mit dem Hubschrauber, der sie zum
Umbrella-Hauptquartier
in
Raccoon
City
zurü ckbringen wü rde.
Cain besah sich auf seinem PDA die Zuspielungen der Ü berwachungskameras, die in der
Villa installiert waren, und wartete mit seinem Team darauf, ob jemand aus dem Hive
auftauchte.
Es kamen nur zwei Personen. Die erste war die Leiterin der Hive-Security, Alice Abernathy,
die zu Cains besten Leuten gehö rte. Die andere, ein Mann, kannte Cain nicht. Von One und
seinem sechskö pfigen Trupp war nichts zu sehen.
Das war ein schlechtes Zeichen. One war nicht nur Cains bester Agent, nein, das Team, das
er gefü hrt hatte, war Umbrellas Elite. Bart Kaplan, Rain Melendez, J.D. Hawkins, Vance
Drew und Alfonso Warner waren die Besten der Besten, und in Olga Danilova hatten sie
-8-
eine begabte Feldä rztin dabei gehabt. Wenn sie alle tot waren…
Cain empfand auch jetzt keine Angst – weil er keine Angst mehr empfunden hatte, seit er
damals in die Armee eintrat. Klar, als Teenager hatte er andauernd Angst verspü rt – er
hatte Akne bekommen, er hatte mit der Sprache zu kä mpfen, er hatte Schwierigkeiten mit
Mä dchen –, aber kaum war er in der Wü ste angekommen, hatte er sich nie wieder vor
irgendetwas gefü rchtet.
Weil er seither das Geheimnis kannte.
Das Leben war armselig.
Cain beobachtete auf dem Bildschirm seines PDA, wie es Abernathy und der Mann in das
Vestibü l unmittelbar hinter der Eingangstü r der Villa schafften.
In der Schulter des Mannes klafften drei Wunden, die aussahen, als seien sie von riesigen
Krallen verursacht worden.
Cain wusste sofort, was geschehen war. Jemand –
wahrscheinlich der beschissene Computer – hatte den verdammten Licker rausgelassen.
Das Ganze wurde zu einem Schlamassel von epischem Ausmaß.
Abernathy stü rzte zu Boden. Sie trug einen Metallkasten bei sich, den sie beim Sturz fallen
ließ. Der verletzte Mann kniete sich neben sie. Abernathy weinte.
Sie weinte? Was zum Teufel war da unten passiert, das einen Profi wie Abernathy zum
Weinen brachte?
Die Kamera verfü gte auch ü ber eine Audio-Anbindung.
Cain drehte sie auf. Ü ber den kleinen Lautsprecher des PDA klang Abernathys Stimme
blechern. „Ich habe versagt. Sie sind alle… Verdammt, es ist meine Schuld!“
Cain schü ttelte den Kopf. Das hö rte sich ganz so an, als wä ren alle tot.
Einer seiner Leute fragte: „Sollen wir reingehen, Sir?“
Cain hob eine Hand und sagte: „Noch nicht.“
-9-
„Hö r zu“, sagte der verletzte Mann, „es gab nichts, was du hä ttest tun kö nnen. Der Konzern
hat Schuld, nicht du.“ Er deutete auf den Kasten, den Abernathy losgelassen hatte. „Und wir
haben endlich den Beweis.
Das heißt, dass Umbrella damit nicht davonkomm…“
Er verstummte, zuckte vor Schmerz zusammen.
Cain lä chelte. Es klang so, als sei dieser Typ eine Art Kreuzfahrer. Damit, wie zum Teufel er
es geschafft hatte, in den Hive zu gelangen, wü rde sich Cain spä ter befassen. So, wie es
aussah, war dieses Arschloch drauf und dran herauszufinden, was die Verletzungen
wirklich zu bedeuten hatten.
Der Idiot redete weiter. „… davonkommen wird. Wir kö nnen…“ Wieder unterbrach er sich
selbst.
„Was ist?“, fragte Abernathy.
Der Mann schrie und fiel auf den Rü cken.
„Du bist infiziert. Das wird schon wieder – ich werde dich nicht auch noch verlieren!“
Cain hatte genug gesehen. „Gehen wir rein.“
Zwei Angehö rige des Sicherheitskommandos ö ffneten die Tü r und traten ein.
Abernathy schirmte ihre Augen gegen das blendende Licht ab, das sich plö tzlich in die
Eingangshalle ergoss.
„Was ist denn? Was tun Sie da?“
Einer der Mä nner griff nach ihr, wä hrend der andere und einer der Ä rzte neben dem
kreuzfahrenden Blö dmann knieten, der am Boden lag und krampfhaft zuckte.
„Stopp!“, schrie sie.
Cain seufzte, als sie den Wachmann mit ein paar gut platzierten Schlä gen abwehrte.
Offenbar war dort unten etwas mit ihr passiert, das sich nachhaltig auf ihre Persö nlichkeit
auswirkte

ihre
Kampffä higkeiten
beeinträ chtigte es indes nicht im Geringsten. Sie war immer noch die Beste.
Wä hrend der verletzte Mann auf eine der Tragen
- 10 -
gebettet wurde, versuchten drei weitere Wachen Abernathy in den Griff zu bekommen. Sie
brauchte etwa fü nf Sekunden, um sie zu besiegen.
Verdammt, sie war wirklich gut.
„Matt!“
Das war also der Name des Kerls. Cain wandte ihm den Bü ck zu und sah, dass diesem Matt
Tentakel aus den drei Wunden seiner Schulter wuchsen.
Hundertprozentig der Licker. Und das mochte sich als genau das erweisen, wonach sie
gesucht hatten.
„Er mutiert. Den brauch ich unbedingt fü rs Nemesis-Programm“, schnappte Cain.
Vielleicht konnten sie ja doch etwas Verwertbares aus diesem Schlamassel herausziehen.
Es dauerte ungefä hr doppelt so lange, wie es eigentlich hä tte dauern dü rfen, aber
schließlich schafften die Wachen es – mit der Hilfe einer Spritze mit Sedativa –, Abernathy
zu bezwingen. Sie hö rte nicht auf, Matts Namen zu brü llen.
Abermals fragte sich Cain, was zur Hö lle dort unten los gewesen sein mochte.
Er ü berprü fte den Kasten, den Abernathy getragen hatte. Er bot Platz fü r alle vierzehn
Phiolen des T-Virus und des Antivirus, aber es fehlten mehrere Phiolen. Das verhieß nichts
Gutes.
„Sie wird unter Quarantä ne gestellt. Ü berwachung rund um die Uhr. Alle Tests. Mal sehen,
ob sie sich infiziert hat. Sie kommt in das Krankenhaus von Raccoon City.
Ruft das Team zusammen. Wir machen den Hive wieder auf. Wir mü ssen wissen, was sich
dort unten abgespielt hat.“
Einer der Ä rzte, ein beschissener kleiner Schwachkopf, dessen Name Cain einen Dreck
interessierte, sagte: „Sir, wir wissen nicht, welcher Art…“
Dafü r hatte Cain keine Zeit. Er brauchte Informationen, und die wü rde er nur im Hive
finden. „Keine Diskussion!“
- 11 -
Abernathy
und
dieser
Matt
wurden
in
den
Hubschrauber
verfrachtet.
Der
Leiter
des
Sicherheitskommandos, ein ehemaliger Marine namens Ward, trommelte seine Leute
zusammen.
„Bereit, wenn Sie es sind, Sir“, sagte Ward, der ungewö hnlich freudlos klang.
„Stimmt etwas nicht, Soldat?“
„Ich sollte heute eigentlich gar nicht hier sein.“ Wards Gesicht war hinter dem
verspiegelten Visier des Hazmat-Schutzanzugs verborgen, aber Cain konnte das Grinsen in
seiner Stimme hö ren.
„Tja, Pech. One steckt irgendwo da unten, und es ist Ihre Aufgabe herauszufinden, was mit
ihm passiert ist.“
„Mit allem Respekt, Sir – wenn One ausgeschaltet wurde, dann haben wir nicht den Hauch
einer Chance.
Wir gehen rein, Sir“, fü gte er rasch hinzu.
Nur diese letzten vier Worte bewahrten den Ex-Marine vor einem Anschiss. Ward konnte
ein echter Jammerer sein, auch wenn er seinen Job stets zur Zufriedenheit erledigte. Aber
gerade heute wollte sich Cain nicht mit dessen ü blicher Marotte herumä rgern.
Bewaffnet mit MP5Ks und alle gleich aussehend in ihren weißen Hazmat-Anzü gen, bewegte
sich das Sieben-Mann-Team in einigermaßen geschlossener Formation durch die hohen
Rä ume der Villa. Einer von ihnen – vermutlich Schlesinger; der kleine Bastard war immer
langsamer – hinkte einen halben Schritt hinter den anderen her. Cain bildete das
Schlusslicht.
Ward gab einem seiner anderen Leute – Osborne, die technische Leiterin von Wards Team,
erkennbar an der sterilen Tricktasche am Gü rtel ihres Schutzanzugs – ein Zeichen, als sie
vor dem riesigen, vom Boden bis zur Decke reichenden Spiegel im Wohnzimmer anlangten.
Sie ö ffnete eine kleine Klappe in der Wand, hinter der sich ein Anschluss verbarg, griff in
ihre Tasche, holte einen Stecker hervor und schob ihn hinein.
- 12 -
Der Spiegel glitt auf und enthü llte eine Betontreppe.
Osborne zog einen Minicomputer hervor und begann mit behandschuhten Hä nden auf der
Tastatur zu tippen. „Sir, ich kann noch immer nicht auf die Red Queen zugreifen, obwohl ich
jetzt eigentlich mit ihr verbunden sein mü sste.“
„Versuchen Sie es noch mal.“
Osborne drü ckte weitere Tasten. „Nichts, Sir.“ Sie sah auf, ihr verspiegeltes Visier zeigte auf
Wards ebenso unkenntliches Antlitz. „Es gibt nur eine Erklä rung, wie es dazu kommen
kö nnte – der Computer muss total hinü ber sein.“
„Ones Team hatte den Auftrag, den Computer abzuschalten und das Mainboard zu
entfernen.“
„Sie haben mehr getan als nur das – wenn es nur das wä re, kö nnte ich sie zumindest im
eingeschrä nkten Modus neu starten. Aber es tut sich absolut nichts. Die Red Queen ist tot.“
Cain knirschte mit den Zä hnen. Hundertprozentig ein episches Schlamassel.
Er nickte Ward zu, und Ward signalisierte seinem Team, die Treppe hinunterzugehen, wo
der Weg von einer riesigen Schutztü r versperrt wurde.
Das war, wie Cain wusste, Teil des umgesetzten Alternativplans.
Den er jetzt wieder rü ckgä ngig machen wü rde.
„Aufmachen.“
Ward nickte erst ihm und dann Osborne zu, die weitere Befehle in ihren Minicomputer
eingab.
Eine Sekunde spä ter ö ffnete sich die Schutztü r.
Ward und Schlesinger sicherten und gingen als Erste hinein, die MP5Ks schussbereit. Der
Rest des Teams folgte, zuletzt Osborne und Cain.
Zwei Sekunden spä ter hö rte Cain den Schrei.
Und gleich nach dem Schrei hö rte er die Schritte.
Erst hatte er gar nicht erkannt, dass es Schritte waren;
- 13 -
sie
waren
so
gleichmä ßig,
dass
er
sie
fü r
Hintergrundgerä usche des Hive-Betriebs gehalten hatte.
Aber nein, es waren Fü ße, die sich langsam und mit peinlicher Akribie voranbewegten.
Osborne zog eine Taschenlampe hervor und richtete ihren Strahl geradeaus, genau in dem
Moment, da vor Cain Schü sse krachten.
Ward feuerte in eine Menschenmenge. Neben ihm lag Schlesinger am Boden. Die Hazmat-
Kapuze war ihm vom Kopf gerissen und aus seiner Kehle ein großer Batzen Fleisch
herausgefetzt worden.
Wie gewö hnlich war Schlesinger zu lahmarschig gewesen.
Ward schoss weiter, doch wä hrend die Leiber zu Boden gingen, drä ngten weitere heran. Es
schien einen unerschö pflichen Vorrat zu geben.
„Was zum Teufel sind das fü r Dinger?“, fragte Osborne.
Cain sagte nichts, sondern starrte die Gestalten nur an.
Alle trugen sie entweder dunkle Anzü ge oder Laborkittel ü ber weißer Kleidung. Besagte
Kleidung war voller Dreck, aber immer noch als Kleidung erkennbar, die der strikten
Vorschrift fü r Umbrella-Mitarbeiter entsprach.
Aber das war nicht der Grund, weshalb Osborne ihre Frage gestellt hatte. Nein, es waren
die Gesichter.
Bestenfalls waren sie leer und ausdruckslos.
Schlimmstenfalls… fehlten Teile davon.
Der Hals einer Person war in unmö glichem Winkel verdreht. Einer anderen fehlte fast die
komplette Kehle, nur die freiliegende Wirbelsä ule hielt den Kopf noch auf dem Kö rper.
Einer weiteren fehlten beide Augen. Einer anderen eine Wange. Viele Kö rper wiesen
Wunden auf –
Bissspuren, Einschusslö cher…
Die 492 Angestellten, die im Hive gewohnt und gearbeitet hatten, waren alle tot. Und sie
waren – allein schon an der Tatsache ersichtlich, dass sie dieser
- 14 -
Umstand nicht davon abhielt, im Hive herumzuspazieren
– durch das T-Virus getö tet worden. Das genau das tat, was die Spitzenwissenschaftler von
Umbrella prophezeit hatten, fü r den Fall, dass es in die Luft geriet. Erst recht nach den
Experimenten in den Wä ldern bei den Arklay Mountains. Umbrella hatte es geschafft,
diesen speziellen Alptraum zu vertuschen und das Projekt dann in den Hive hinunter
verlagert, der im Katastrophenfall hermetisch versiegelt werden konnte.
Theoretisch jedenfalls.
Noch wä hrend Ward und Clark starben, ü berrollt von einer Flut toter Umbrella-
Mitarbeiter, fragte sich Cain, wie es dazu wohl gekommen sein mochte. Am
wahrscheinlichsten war, dass irgendein ü bereifriges Arschloch auf die Idee gekommen war,
T-Virus und Antivirus zu stehlen. Abernathy und ihr Freund Matt vielleicht? Es war
unmö glich, das mit Bestimmtheit zu sagen.
Es wurde weiter gefeuert, aber diejenigen, die zu Beginn des Kampfes niedergestreckt
worden waren, erhoben sich nun wieder. Einer von ihnen sprang Shannon an und biss ihn
durch den Hazmat-Anzug in den linken Arm. In seiner Panik erschoss Heddle sowohl
Shannon als auch seinen Angreifer, und die beiden gingen zu Boden. Doch der Angreifer
stand gleich wieder auf und sprang nach Heddle, ebenso wie eine braunhaarige Frau in
einem Laborkittel.
Osborne hatte ihre Beretta gezogen und stü rmte schießend in die Meute hinein.
Zeitverschwendung.
Cain machte kehrt und ging die Treppe hinauf. Wards Team wü rde die Kreaturen lange
genug beschä ftigen, sodass Cain sich zurü ckziehen konnte.
Abernathy war ihm nie opportunistisch vorgekommen, aber vielleicht hatte ihr jemand ein
Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnte. Es gab da draußen weiß
- 15 -
Gott genug Leute, die das T-Virus in ihre Finger bekommen wollten.
Cain hö rte die Schreie von Wards Team, als einer nach dem anderen starb. Perrella, Kassin
und schließlich auch Osborne – alle kamen um.
Sie hatten ihren Zweck erfü llt. Cain wusste jetzt, was im Hive geschehen war. Und das war
alles, was zä hlte.
Das Leben war schließlich etwas ganz und gar Armseliges.
- 16 -
Zwei

Die Klimaanlage funktionierte immer noch nicht.


Randall Coleman, Nachrichtenregisseur von Raccoon 7, war nicht der Ansicht, dass eine
funktionierende Klimaanlage zu viel verlangt war. Sicher, es war Herbst, aber die ganzen
Gerä tschaften, die sie im Regieraum hatten, mussten kü hl gehalten werden.
Aber als die Klimaanlage vergangene Woche den Geist aufgab, hatte die Geschä ftsfü hrung
die Reparatur angesichts der Jahreszeit nicht auf die Prioritä tenliste gesetzt.
Dann war die Hitzewelle gekommen.
Die ganze Sache war zum Verrü cktwerden. Erst kletterten die Temperaturen auf ü ber 30
Grad Celsius, und nach Sonnenuntergang fielen sie wieder unter zehn Grad. Die Hä lfte der
Mitarbeiter von Channel 7 lag wegen des chaotischen Wetters krank zu Hause.
Aber irgendwie kamen sie trotzdem zurecht. Randalls Assistent Loren Bills hatte im
Regieraum mehrere Ventilatoren aufgestellt, die die drü ckende Luft in Bewegung
hielten
und
dafü r
sorgten,
dass
voraussichtlich wenigstens ein Teil des Equipments weiter funktionieren wü rde.
Zum Glü ck waren die Gerä te selbst von bester Qualitä t.
Raccoon 7 war kein unabhä ngiger Billigsender, der alles seinem Network ü berließ. Nicht
wie diese arroganten Affen von Channel 9, die sich fü r die Grö ßten hielten, nur weil sie mit
UPN verbandelt waren – was sie allerdings meist nur als Ausrede benutzten, um Budgets
und Personal zu kü rzen und Substandard-Equipment zu verwenden.
Channel 7 hingegen war der Lokalsender mit der
- 17 -
hö chsten Einschaltquote in Raccoon City, und das ohne mit einem der sechs großen
Networks verknü pft zu sein.
Sie waren wirklich unabhä ngig.
Und genau so gefiel es Randall.
Der Regiestuhl bei den Frü hnachrichten auf Raccoon 7
war fü r Randall nur ein Sprungbrett, aber ein wichtiges.
Channel
7
war
erwiesene
Qualitä t,
einer
der
angesehensten unabhä ngigen Sender des Landes und dafü r
bekannt,
ausgezeichnete
Techniker
hervorzubringen. Hier konnte Randall das Handwerk des Regisseurs und Produzenten von
der Pike auf lernen.
Spä ter einmal wü rde ihm das einen Job bei den Networks einbringen, und schließlich
wü rde er sich vielleicht selbststä ndig machen und bei richtigen TV-Serien Regie fü hren
kö nnen – oder sogar bei Kinofilmen.
Sicher, was er hier tat, war im Grunde ein Kinderspiel -
Kamera 1 auf Sherry Mansfield, Kamera 2 auf Bill Watkins, Kamera 3 auf beide, Kamera 4
fü r Schwenks.
Aber eines Tages wü rde er die nä chste Stufe erklimmen, vielleicht Regie bei einer Sitcom
oder einer dieser Cop-Serien fuhren.
Randall liebte Cop-Dramen.
Letztlich wü rde er den Durchbruch schaffen und beim Film landen. Und dann wü rde er
vielleicht auch endlich sein Meisterwerk auf die Leinwand bringen kö nnen.
Denn er wusste, dass momentan niemand auch nur einen Blick auf sein großartiges
Filmdrehbuch, Die Schuppen des Drachen, werfen wü rde. Momentan war er noch ein
Niemand, ein Typ, der in einer Kleinstadt Regie bei den Frü hnachrichten fü hrte.
Aber Randall hatte Geduld. Bald schon wü rde er sich an die Spitze hocharbeiten. Bald schon
wü rde er das Zepter in der Hand halten, und dann wü rde Die Schuppen des Drachen
produziert werden.
Ganz gleich, was Mom sagte.
Im Augenblick war Kamera 4 auf Terri Morales
- 18 -
gerichtet, die die Wettervorhersage machte.
Terri trug ihr beruhigendes Lä cheln zur Schau. Es machte sich großartig auf dem
Bildschirm. Genauso wie die Stadtansicht hinter dem Moderatorentisch – und genauso
falsch.
Terris muntere Stimme drang aus den Lautsprechern neben Randalls Monitor.
„Zehn nach sechs am Morgen und schon liegt die Temperatur bei satten 34 Grad. Die
beispiellose Hitzewelle dauert an.“
Randall wischte sich Schweiß von der Stirn. Ihm kam es vor, als herrschten im Regieraum
ü ber vierzig Grad.
„Warum sagen die Leute immerzu ,am Morgen’?“
Randall sah seinen Assistent an. „Loren, ich bin nicht in der Stimmung.“
„Nein, wirklich, ich meine, wozu? Was bringt es dem Satz, außer ihn zwei Wö rter lä nger zu
machen?“
„Wolkenloser Himmel, niedrige Luftfeuchtigkeit, leichter Wind von Westen. Und als
besonderer Bonus nur fü r Sie, liegt die Pollenbelastung bei nur null komma sieben.“
„Nur fü r uns“, sagte Loren, „sicher. Als hä tten sich die Schicksalsmä chte zusammengetan
und gesagt: ,Hey, lasst uns die Pollenbelastung speziell fü r die Zuschauer von Terri Morales
niedrig halten.’“
„Loren, halt’s Maul und mach Kamera drei bereit.“
„Sie haben richtig gehö rt – null komma sieben! Und das ist ein Rekordtief fü r diese
Jahreszeit. Gute Nachricht also fü r all jene unter Ihnen, die an Heuschnupfen und Asthma
leiden. Alles in allem steht uns wieder ein herrlicher Tag bevor.“
Loren schü ttelte den Kopf. „Die ist ja heute richtig in Hochform.“
„Ja, zu dumm, dass es fü r den Wetterbericht keinen Emmy gibt. Geh auf Kamera drei.“
Wä hrend Loren auf Kamera 3 umschaltete, die beide
- 19 -
Moderatoren an ihrem Tisch zeigte, fragte er: „Hey, glaubst du, dass sie ihr jemals den Job
als Anchorwoman zurü ckgeben werden? Farblos genug wä re sie auf jeden Fall.“
Randall lachte prustend. „Nicht, so lange ich lebe.“
Sherry und Bill kamen zum Ende.
„Bleiben Sie bei uns – nach der Werbung werfen wir einen Blick auf die beliebtesten
Urlaubsziele.“
„Achtung – Werbepause in drei… zwei… eins… und aus.“
„In sechzig Sekunden sind wir wieder auf Sendung“, ergä nzte Loren.
Kaum hatte Randall das Wö rtchen „aus“ gesagt, sah er, wie sich Terri Morales’
Gesichtsausdruck auf dem Kamera-4-Monitor von lebhaft und lä chelnd zu verä rgert und
finster wandelte.
„Bring mir jemand einen verdammten Cappuccino, bevor ich kotze!“
Wä hrend
einer
der
verä ngstigten
Produktionsassistenten losrannte, um ihrem Verlangen nachzukommen, griff Terri in eine
Tasche und holte ein Pillendö schen hervor. Randall wusste, dass es mit einem
Sortiment
von
Aufputsch-
und
Beruhigungstabletten gefü llt war, die kein Mensch, der bei klarem Verstand war,
zusammen eingenommen hä tte.
Allerdings hatte noch niemand Terri beschuldigt, bei klarem Verstand zu sein.
Ein Mensch, der bei Verstand war, hä tte niemals Aufnahmen
eines
Stadtrats,
der
Schmiergelder
entgegennahm, ausstrahlen lassen, obwohl man ihm ausdrü cklich gesagt hatte, damit nicht
auf Sendung zu gehen, bis er eine offizielle Quelle benennen konnte, die die
Anschuldigungen
bestä tigte.
Aber
Morales
behauptete, eine zu haben, und hatte den Beitrag gesendet. Danach hatte man ihre Lü ge als
solche
- 20 -
enthü llt, und es war herausgekommen, dass das Filmmaterial ebenfalls gefä lscht war.
Anstatt Stadtrat Miller als korrupten Hurensohn zu entlarven, hatte ihn die Affä re ins beste
Licht gerü ckt und das Medium der Fernsehnachrichten
als
nicht
vertrauenswü rdig
verunglimpft. Die Sache hatte Raccoon 7 ein gewaltiges blaues Auge eingetragen und galt
als dunkler Fleck auf der bis dahin makellos weißen Weste, was saubere Berichterstattung
anging.
Der einzige Grund, weshalb Terri nicht gefeuert wurde, war ein Enthü llungsbericht, den die
Raccoon City Times eine Woche spä ter ü ber Stadtrat Miller verö ffentlichte.
Wie sich herausstellte, waren Schmiergelder nur ein Tropfen im Meer der Bestechlichkeit
dieses Mannes, und wenn dies Terri auch nicht von ihrer Schuld freisprach, verbesserte es
doch wenigstens ihre Situation.
Schließlich sah sich die einzige Person, die durch ihr Handeln geschä digt worden war, nun
einem Dutzend Anklagen gegenü ber.
Trotzdem machte es sich nicht gut. Einer der Grü nde, warum es Randall bei Channel 7
gefiel, war die Tatsache, dass die Mitarbeiter des Senders ihre journalistische
Integritä t
ernst
nahmen.
Vielleicht
konnten sie Terri ja nicht entlassen, ohne einen Gegenschlag zu riskieren – ganz zu
schweigen von der Mö glichkeit, dass sie von der Konkurrenz angeheuert werden kö nnte –,
aber sie konnten sie demoralisieren.
Sie zum Wetterfrö schlein von Raccoon 7 degradieren.
Außerdem ließ es ihren Lebenslauf in den Augen kü nftiger Arbeitgeber schlecht aussehen.
Randall hä tte es wirklich genossen, wenn er sich eines Tages grö ßeren und besseren
Projekten in Hollywood hä tte zuwenden kö nnen, wä hrend Terri Morales den Zuschauern
in Raccoon City immer noch etwas von Pollenwerten erzä hlte.
„Wissen Sie noch, wie es frü her war?“
- 21 -
Randall hob den Blick und sah sich den Werbespot an, der jetzt ü ber den On-Air-Monitor
lief. Der Bildschirm zeigte eine schö ne Frau beim Aufstehen. Sie war von der Sorte, von der
Randall wusste, dass es sie in der wirklichen Welt gar nicht gab. Das Schlafzimmer war
unglaublich aufgerä umt und schick – einer Steuergruppe entsprechend, nach der Randall
seit langem trachtete, die er aber noch nicht erreicht hatte.
„Dieses junge Gesicht, das Sie jeden Morgen im Spiegel gesehen haben?“
Die
Frau
wischte
das
Kondenswasser
vom
Badezimmerspiegel und enthü llte ein wunderschö nes Gesicht.
„Ja, klar“, sagte Loren, „als ob irgendjemand nach dem Aufstehen so gut aussieht – oh,
Verzeihung: am Morgen natü rlich.“
„Bevor Ihnen die Sorgen der Welt zusetzten?“
Jetzt war es zwar noch dieselbe Aufnahme, aber die Frau war ä lter. Selbst das Schlafzimmer
sah ein wenig heruntergekommener aus – mehr wie ein echtes Schlafzimmer. Und was das
anging, sah auch die Frau echter aus: Krä henfü ße, ein paar Falten, die Andeutung von
Trä nensä cken.
„Mö chten Sie die Uhr zurü ckdrehen? Mit Renew Cream kö nnen Sie das jetzt. Tä glich
aufgetragen verjü ngt die einzigartige
T-Zellen-Formel
verbrauchte
und
absterbende Zellen.“
Diese Worte wurden von einer schlichten Grafik begleitet, die zeigte, wie die Creme vom
Kö rper absorbiert wurde und Zellen in krä ftigen Farben tote Hautzellen ersetzten.
„Meine Gü te, besser kriegen die das nicht hin?“, fragte Loren. „Ich mach auf meinem
verdammten Mac bessere Animationen als das da.“
„Loren, halt die Fresse.“ Die Worte kamen Randall reflexartig ü ber die Lippen.
- 22 -
Die schö ne, unechte Version der Frau kehrte zurü ck.
„Renew Cream erweckt Ihre Jugend und Frische wieder zum Leben.“
„Na klar doch, denn Gott bewahre, dass man tatsä chlich so alt aussieht, wie man ist.“
„Loren, welchen Teil von ,Halt die Fresse’ kapierst du nicht?“
Eine beschleunigte Stimme, die fü r Randall klang wie die Schlü mpfe-CD, die seine Neffen
immerzu hö rten, sagte: „Renew ist ein eingetragenes Warenzeichen der Umbrella
Corporation. Befragen Sie erst Ihren Arzt, bevor Sie mit der Behandlung beginnen.
Nebeneffekte sind nicht auszuschließen.“
Randall runzelte die Stirn. „Sind die nicht verpflichtet, die Nebeneffekte aufzulisten?“
Loren schnaubte. „Na, sicher doch.“
„Nein,
im
Ernst,
das
ist
doch
gesetzlich
vorgeschrieben, oder?“
„Wie lange wohnst du schon in Raccoon, Boss?“ Loren grinste. „Inzwischen mü sstest du
doch wissen, dass die Umbrella Corporation nach ihren eigenen Regeln handelt.“
Das konnte Randall nicht abstreiten. Raccoon City gehö rte praktisch Umbrella. Verdammt,
eine der Tochtergesellschaften besaß sogar Anteile an Channel 7. Es war keine Mehrheit,
aber es war, wie Randall wusste, genug, um jede Untersuchung abzubrechen, die sich
gegen
Umbrella
oder
eines
der
Tochterunternehmen richtete.
Jetzt, wo er darü ber nachdachte, fiel ihm ein, dass Terri
Morales
eine
dieser
Untersuchungen
vorgenommen hatte – damals, zu ihrer Zeit…
Der letzte Werbespot begann. „In dreißig Sekunden sind wir wieder auf Sendung“, sagte
Loren.
Randall konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Sendung, gab Kamera 3 ein
Zeichen und dachte an
- 23 -
den Tag, da Die Schuppen des Drachen in Produktion gehen wü rde.
- 24 -
Drei

„Hey, Jeremy, woher kommt der Name ,Ravens’ Gate Bridge’?“


Jeremy Bottroff schwor, dass er seine Eltern umbringen wü rde.
Nein, das wä re ungerecht gewesen. Es war nicht ihre Schuld – zum Teufel, sie waren so nett
gewesen, ihn nach dem Desaster in San Jose wieder einziehen zu lassen.
Nein, es war Mike, den er umbringen musste. Aber natü rlich musste er ihn dazu erst einmal
finden.
„Jeremy?“
Gregs Belä stigungen zu ignorieren wü rde seinen kleinen Bruder leider nicht verschwinden
lassen, und so beantwortete er die Frage endlich. „Frü her gab es in dem kleinen Park auf
unserer Seite der Brü cke jede Menge Raben. Als sich Raccoon City nach dieser Seite des
Flusses ausbreitete, brauchte man einen Namen fü r das Viertel. Weil es hier so verdammt
viele Raben gab, nannte man es Ravens’ Gate. Und als die Brü cke gebaut wurde, beschloss
man, ihr auch diesen Namen zu verleihen.“
Wä hrend
Jeremy
sprach,
bremste
er
seinen
verschrammten alten VW Golf ab. Langsam fuhr er auf das Mauthä uschen zu, dankbar, dass
seine Eltern ihm ihren Free Pass geliehen hatten, mit dem er sich nicht in die
Warteschlange einreihen musste. So konnte er Greg schneller
zum
Pfadfindertraining
bringen,
dann
umkehren, nach Hause fahren – oder vielmehr zu seinen Eltern – und sich wieder ins Bett
legen.
Und dann konnte er sich ü berlegen, wie er den Schlamassel, den er aus seinem Leben
gemacht hatte, wieder in Ordnung brachte.
- 25 -
Nein, das stimmte nicht. Der Schlamassel, den Mike aus seinem Leben gemacht hatte.
Jeremy hoffte, dass Mike, wo es ihn auch hin verschlagen
mochte,
an
irgendeiner
exotischen
Krankheit starb. Da er sich vermutlich in einem Land aufhielt, das kein
Auslieferungsabkommen mit den USA hatte, lag das zumindest im Bereich des Mö glichen.
Außerdem achtete Mike nie darauf, was er aß. Im Gegensatz zu Jeremy, der nie auf die
finanzielle Seite des kleinen Geschä fts geachtet hatte, das er und Mike Jones vor zwei
Jahren in San Jose aufgezogen hatten.
,Mach dir keine Sorgen wegen des Zusammenbruchs der Internetfirmen’, hatte Mike gesagt.
,Mach dir keine Sorgen wegen des Silicon-Alley-Fiaskos’, hatte Mike gesagt.
,Mach dir keine Sorgen wegen unseres kleiner werdenden Kundenstamms’, hatte Mike
gesagt.
Aber: ,Mach dir keine Sorgen darü ber, dass ich mir das bisschen Profit, das wir noch haben,
unter den Nagel reiße, mich ins Ausland absetze und dich die Suppe auslö ffeln lasse’, hatte
Mike ganz sicher nicht gesagt.
Er hä tte es ruhig sagen kö nnen, da Jeremy sich darü ber keine Sorgen gemacht hatte, und
dann war es genau so passiert.
Pleite, ruiniert, sein Gesicht in BusinessWeek als das eines weiteren Opfers des
Konjunkturrü ckgangs des neuen Jahrtausends, war Jeremy in seine Heimatstadt Raccoon
City zurü ckgekehrt.
Vor einem Jahr war er ein großer Geschä ftsmann gewesen. Er hatte Personal gehabt, ein
herrliches Apartment mit traumhafter Aussicht, dazu eine Freundin namens Shawna mit
großen Titten, ohne Hirn und unersä ttlich sexgierig.
Dann war Mike verschwunden, mitsamt des Geldes, und Jeremy verlor, in blitzschneller
Abfolge, Personal, Apartment und Freundin. Oder vielleicht hatte er Shawna
- 26 -
auch vor dem Apartment verloren. Es war alles so schnell gegangen. Wenigstens war er
nicht so bescheuert gewesen, um Shawnas Hand anzuhalten.
Jetzt war er nur noch ein dä mlicher Versager wie viele andere, der daheim bei Mom und
Dad wohnte und nichts weiter tat, als seinen jü ngeren Bruder in aller Herrgottsfrü he zu
den Pfadfindern zu fahren. Aber er hatte ja schlecht nein sagen kö nnen, als seine Eltern ihn
baten, Greg zu fahren. Immerhin ließen sie ihn mietfrei im Haus wohnen, ihre Lebensmittel
essen, ihren Schnaps trinken (eine Menge Schnaps) und sich unter ihrem Dach ausbreiten.
Dennoch, es ging bergauf – oder zumindest ging es nicht bergab. Er hatte einen Termin fü r
ein Bewerbungsgesprä ch mit der Personalabteilung von Umbrella vereinbart. Es hatte
einen Monat gedauert, um ü berhaupt nur den Termin zu bekommen – aus irgendeinem
Grund betrachtete der landesweit grö ßte Anbieter von Computertechnologie einen Mann,
dessen jü ngster Vorstoß in eben diesen Bereich mit Bankrott und Anklagen geendet hatte,
nicht als einen potenziellen Mitarbeiter, den man sich schnellstens angeln musste –
aber heute Nachmittag durfte er sich wenigstens vorstellen.
Und das war der Grund, warum er Greg schleunigst abliefern und dann noch etwas schlafen
wollte.
Andererseits: Wä re er nicht bis um zwei Uhr aufgeblieben, um im Kabel-TV miese Filme zu
schauen und den Tequila-Vorrat seiner Mutter zu schrö pfen, wä re es ihm auch nicht so
schwer gefallen, aufzustehen und Greg zum Training zu kutschieren.
Aber was zum Teufel sollte er denn sonst mit seinem Leben anfangen?
„Warum nennt man es ,Ravens’ Gate’?“, fragte Greg.
„Es ist doch eigentlich gar kein Tor.“
„Sicher ist es das. Es ist das Tor zu dieser Seite des
- 27 -
Flusses, und es ist voller Raben.“ Er lä chelte.
„Außerdem wollten sie es ,Ravens’ Haven’ nennen, aber der Stadtrat meinte, das klinge
doof.“
„Ach, Quatsch.“
„Was, glaubst du mir etwa nicht?“
„Nein.“
„Warum hast du mich dann ü berhaupt gefragt?“
„Weil mir langweilig ist.“
„Und darum muss ich mich auch langweilen, oder wie?“
„Mir doch egal.“
Jeremy seufzte erleichtert, als er das Mauthä uschen passierte und die Anzeige zu verstehen
gab, dass auf dem Free Pass seiner Eltern genug Geld war, um ihn auf die Brü cke zu lassen.
Wenn Greg „Mir doch egal“ sagte, bedeutete das fü r gewö hnlich das Ende des Gesprä chs.
Und da Jeremy es ja gar nicht hatte anfangen wollen…
Es war noch so frü h, dass nur wenige Autos unterwegs waren. In etwa zwanzig Minuten
wü rden die Pendler mit Macht auf die Brü cke drä ngen, und dann wü rde sich hier der
Anblick eines Stilllebens aus Fahrzeugen bieten.
Die meisten davon wahrscheinlich Gelä ndewagen, weil man ja ein beschissenes Offroad-
Fahrzeug brauchte, um von seinem schicken Haus in sein Bü ro in der Stadt zu kommen…
Wie diese Typen da.
Jeremy blinzelte.
Was zum Teufel…?
Gerade als er sie im Rü ckspiegel bemerkte, fragte Greg: „Was ist denn das fü r ein Lä rm?“
Gregs Fenster war nach unten gekurbelt – die Klimaanlage war schon lange kaputt, und
Jeremy befand sich finanziell weiß Gott nicht in der Lage, sie reparieren zu lassen. Greg
steckte den Kopf hinaus und sah nach oben. „Da hinten ist ein schwarzer Hubschrauber. Ich
wette, der kommt von Area fifty-one.“
„Area fifty-one liegt in New Mexico, Klugscheißer.“
- 28 -
„Ich sag Mommy, dass du ,Scheißer’ gesagt hast.“
Jeremy schaute abermals in den Rü ckspiegel – es schien, als raste mehr als ein Dutzend
schwarzer Gelä ndewagen mit mindestens 70 Meilen pro Stunde ü ber die Brü cke.
„Ich bin erwachsen, Greg. Ich kann verdammt noch mal sagen, was ich will.“
Der Golf hatte Mü he, 65 zu fahren. Die Gelä ndewagen ü berholten ihn. Dabei fiel Jeremy auf,
dass sie alle stark getö nte Scheiben hatten. Was, soweit er wusste, absolut illegal war.
Das Erstaunliche war, dass die Wagen Stoßstange an Stoßstange fuhren und trotzdem etwa
70 Sachen drauf hatten. Es war, als wü rden sie von Robotern oder so etwas gelenkt.
Er warf einen kurzen Blick nach oben und sah den schwarzen Helikopter, ü ber den Greg
sich gar nicht mehr einkriegen wollte. Er flog in enger Formation mit den
Gelä ndefahrzeugen.
Was zum Teufel ging hier ab?
Der letzte Wagen zog vorbei, Jeremys Zä hlung zufolge der fü nfzehnte, und dann sah er das
Nummernschild.
Anstelle der fü r gewö hnlich zufä lligen Zahlen- und Buchstabenfolge hatte dieses Fahrzeug
ein spezielles Kennzeichen: UC 15.
Jeremy registrierte außerdem, dass den Rahmen des Kennzeichens das stilisierte Logo der
Umbrella Corporation zierte.
Als sie die Raccoon-City-Seite der Brü cke erreichten, entschied Jeremy Bottroff, dass er sich
jetzt noch viel, viel mehr auf das heutige Vorstellungsgesprä ch freute.
- 29 -
Vier

„Verdammt noch mal, muss das sein?“, fragte Mike Friedberger seinen Partner.
„Was denn?“, fragte Peterson und klang ach so unschuldig, wä hrend er den Gelä ndewagen
durch die Straßen von Raccoon City lenkte.
„Dass du mit deinem Scheißkaugummi knallst.
Verdammt, ich hasse es, wenn du mit deinem Scheißkaugummi knallst.“
Peterson hob die Schultern, wä hrend er um eine Ecke in eine fast leere Seitenstraße bog.
Mike wü nschte, er wü rde nicht gleichzeitig die Achseln zucken und fahren, aber das wü rde
er wohl ebenso wenig bleiben lassen wie das verdammte Kaugummiknallen.
„Pech“, sagte Peterson. „Vielleicht wü rde ich nicht mit meinem Kaugummi knallen, wenn du
weniger fluchen wü rdest.“
„Meine Fresse, red doch keinen Scheiß.“
„Wü rde es dich umbringen, weniger zu fluchen?“
„Fuck, kommt es darauf an? Ich meine, echt, wem schade ich denn, verdammt noch mal?“
Peterson lä chelte sein dä mliches Idiotenlä cheln, das in Mike den Wunsch weckte, ihm ein
paar Mal in die Schnauze zu hauen. „Niemandem. Genau wie ich mit meinem Kaugummi.“
„Ja, aber der Scheißunterschied ist, dass du mit deinem Kaugummi ein verdammt nerviges
Gerä usch machst, das mich verdammt noch mal die Wä nde hochtreibt.“
„Und mich treibt deine Verwendung des Wortes verdammt’ als Satzzeichen die Wä nde
hoch – aber beschwere ich mich?“
„Ja, tust du.“
- 30 -
„Wir sind da.“
„Was?“ Mike drehte den Kopf und sah hinab auf das GPS am Armaturenbrett. Es zeigte eine
Karte der Gegend, ü bertragen von einem Umbrella-Satelliten im Orbit. Ein winziges Gerä t
im Fahrwerk des Wagens sendete ein Signal zu dem Satelliten, und der Computer konnte
einen rot blinkenden Punkt auf die Karte setzen, der anzeigte, wo sich ihr Fahrzeug gerade
befand. Von ihrem Zielort aus sendete ein baugleicher Transmitter ebenfalls ein Signal zum
Satelliten, das in einen blauen Punkt umgesetzt wurde.
Insgesamt kosteten dieser Kram und die anderweitige Ausstattung ü ber eine Million Dollar,
und alles, was dieses Zeug leistete, hä tte Mike verdammt noch mal schlicht damit erreichen
kö nnen, indem er zu seinem getö nten Fenster hinausschaute, wo er das riesige Haus von
Dr. Charles Ashford sah, auf das Peterson jetzt zuhielt.
Das Computerdisplay verriet ihnen, dass Ashford ein Level-6-Mitarbeiter der
wissenschaftlichen Abteilung war und dass es sich um eine Aufgabe von hö chster Prioritä t
handelte. Auch das wusste Mike selber, weil das der Grund war, weshalb sie diesen
scheißschicken Gelä ndewagen in verdammter Herrgottsfrü he durch Raccoon City
kutschierten.
Aber bei Umbrella war man nicht glü cklich, wenn man nicht einen Haufen Geld fü r
irgendwelchen Scheiß ausgab. Das war es nun mal, was große Konzerne taten.
So lange Mikes eigener Gehaltsscheck gedeckt war, konnten sie seinetwegen so viel Geld
zum Fenster rauswerfen, wie sie wollten.
Wenn sie ihn jetzt nur noch mit jemandem zusammengespannt hä tten, der nicht so
beschissen prü de war und nicht andauernd seine Kaugummis knallen ließ…
Peterson lenkte den Wagen in die Zufahrt. Er parkte
- 31 -
ihn exakt in der Mitte und schnurgerade ausgerichtet.
Sah man von seinen Macken einmal ab, war Peterson ein verdammt guter Fahrer.
„Wer ist der Kerl eigentlich?“, fragte Peterson, wä hrend er aus dem Gelä ndewagen stieg.
„Eins von den verdammt hohen Tieren in der wissenschaftlichen Abteilung.“
„Und was heißt das genau?“
„Das heißt, er ist viel schlauer als wir beide, macht mehr Geld, und wenn ihm unsere
verdammten Nasen nicht passen, dann hä ngt er uns eine Scheißkrankheit an, die er in
seinem Labor entwickelt hat.“
Peterson lachte. „Kapiert.“
„Ernsthaft, kennst du diese Faltencreme, fü r die sie all die Scheißwerbespots bringen? Mit
dieser verdammt heißen Braut?“
„Ja, hab ich gesehen. Und kein Mensch sagt heute noch ,Braut’.“
„Wer bist du, die verdammte Sprachpolizei, oder was?
,Verdammt’ kann ich nicht sagen, ,Braut’ kann ich nicht sagen – macht’s dir, verdammt noch
mal, was aus, mir zu verraten, was ich ü berhaupt noch sagen kann?“
Peterson ließ seinen Kaugummi besonders laut knallen. „Sag, was du willst.“
Sie gingen auf das Haus zu. Mike drü ckte den Klingelknopf. „Vielen Dank, Klugscheißer. Wie
auch immer, der Typ hier hat diese Faltencreme entwickelt, so ziemlich jedenfalls.“ Er
lä chelte. „Ach ja, kennst du diesen Computer im Hive?“
„Was, dieses unheimliche kleine Kind?“
Mike nickte. „Das ist die Tochter des Typen.“
„Wirklich?“
„Ja. Verdammt durchgeknallt, wenn du mich fragst. Ich meine, wer will denn jedes Mal,
wenn er seinen Scheißcomputer
benutzen
mö chte,
mit
einem
verdammten Kind reden?“
- 32 -
„Holen wir die Tochter auch ab?“
Mit den Augen rollend fragte Mike: „Hast du bei dem verdammten Briefing ü berhaupt
zugehö rt? Nein, darum kü mmern sich Bob und Howie.“ Mike beneidete seinen Bruder Bob
nicht um diesen Auftrag. Ein kleines Kind aus einem Klassenzimmer zu holen, war immer
ein Scheißjob. Die Lehrer entrü steten sich, und die Kinder waren sowieso alle bescheuert,
und es war einfach eine Drecksarbeit.
Außerdem geschah es Bob ganz recht. Sein Partner ließ im Auto keine Kaugummis knallen.
Howie Stein war ein guter Junge. Besser als es sein verdammter kleiner Bruder verdiente,
wie Mike fand.
Endlich ging die Eingangstü r auf. Mike dachte erst, sie hä tte sich automatisch geö ffnet, weil
niemand zu sehen war.
Dann senkte er den Blick und sah, dass Dr. Charles Ashford behindert war. Er saß in einem
verdammten Rollstuhl.
Equipment fü r ein paar Millionen Dollar im Wagen, ein verdammtes Vorab-Briefing mit
Major Cain, und niemand konnte auch nur einmal erwä hnen, dass der Kerl in einem
Scheißrollstuhl saß?
Mike setzte seine dienstliche Miene auf, sah zu Ashford hinab und sagte: „Verzeihen Sie die
Stö rung, Sir. Es gab einen Zwischenfall.“
Ashfords Augen weiteten sich. „Was?“
„Sie mü ssen mit uns kommen“, fü gte Peterson hinzu.
„Was ist denn passiert? Und wie?“ Ashford klang sauer.
„Sir, bitte.“ Mike sagte das vor allem, weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, was passiert
war, geschweige denn wie. Er tat nur, was Major Cain ihm zu tun befohlen hatte.
Er sah Peterson an und nickte in Richtung des Wissenschaftlers. Peterson, o Wunder,
verstand das
- 33 -
verdammte Zeichen und trat hinter Ashford, um ihn zur Tü r hinauszuschieben.
Ein Vorteil, dass der Typ ein verdammter Krü ppel war, lag darin, dass sie sich nicht lange
mit ihm herumstreiten mussten. Sie konnten ihn einfach mitsamt seines Scheißrollstuhls
einpacken.
Als Peterson die Rollstuhlgriffe umfasste, wiederholte er: „Sie mü ssen mit uns kommen.“
„Aber meine Tochter ist schon unterwegs zur Schule.“
Mike versuchte beruhigend zu klingen, als er sagte:
„Darum kü mmern sich Kollegen, Sir.“
Peterson schob Ashford auf den Gelä ndewagen zu.
Mike fragte sich, wie verkrü ppelt der Typ tatsä chlich war und ob sie es schaffen wü rden,
seinen mageren Arsch in den Gelä ndewagen zu verfrachten.
Vielleicht hatte Bob ja doch den einfacheren Auftrag bekommen.
Wä hrend Peterson Ashford die Einfahrt hinunterschob, ließ er seinen Kaugummi platzen.
Ashford zuckte zusammen. „Muss das sein? Das ist ü beraus lä stig.“
Und plö tzlich entschied Mike, dass er diesen Ashford verdammt noch mal mochte.
- 34 -
Fünf

Angela Ashford hasste den Unterricht beinahe so sehr, wie sie es hasste, Angie genannt zu
werden. Leider musste sie sich mit beidem Tag fü r Tag abfinden.
Jedermann nannte sie Angie, als sei sie ein dummes kleines Gö r, aber das war sie nicht. Sie
war ein großes Mä dchen und klug noch dazu.
Und sie hasste Schule.
Der Unterricht war vor allem deshalb so leidig, weil Bobby Bernstein daran teilnahm.
Angela hasste Bobby Bernstein. Alles, was er tat, war, sie an den Haaren zu ziehen, sie mit
seinem dummen Freunden zu verspotten und ihren Vater einen Krü ppel zu nennen.
Das hasste Angela.
Vor allem, dass er Daddy einen Krü ppel schimpfte.
Es war nicht Daddys Schuld, dass er ein Krü ppel war.
Oder dass Angela einer gewesen war.
Er hatte versucht ihr zu helfen.
Sie erinnerte sich noch an das Gesprä ch, das Daddy mit den Mä nnern von der Firma, fü r die
er arbeitete, gefü hrt hatte. Angela hatte es nicht mit anhö ren sollen, aber sie war aus ihrem
Zimmer gegangen, weil sie zur Toilette musste, und hatte aufgeschnappt, wie aufgeregt ihr
Dad klang.
Angela mochte es nicht, wenn er sich aufregte.
Sie hö rte nicht alles, weil sie im oberen Stockwerk war und Daddy unten in seinem
Arbeitszimmer, aber sie verstand genug, um Angst zu bekommen.
„… Sie haben meine Forschungsarbeit pervertiert“, hatte Daddy gesagt. „Die T-Zelle kö nnte
weltweit jede Krankheit auslö schen!“
Angela wusste nicht, was ‚pervertiert’ bedeutete, aber sie begriff, dass es etwas Schlechtes
war.
- 35 -
„Und
wer
wü rde
dann
Ihren
Gehaltsscheck
unterschreiben, Doc?“ hatte einer der Mä nner gefragt.
Spä ter in dieser Nacht hatte sie gehö rt, wie Daddy in seinem Zimmer weinte. Aber er half
ihr trotzdem. Er hatte es geschafft, dass es ihr besser ging.
In diesem Jahr wurde Angela von einem dummen Mann namens Mr. Strunk unterrichtet. Er
trug falsches Haar auf dem Kopf, von dem er steif und fest behauptete, es sei echt, und er
hatte einen großen Schnurrbart, grau und schwarz gemischt. Die anderen Kinder nannten
ihn alle Mr. Stunk, aber nur, weil die anderen Kinder auch dumm waren. Angela mochte Mr.
Strunk nicht besonders, weil er Bobby Bernstein und den anderen Kindern nie sagte, dass
sie aufhö ren sollten, sie an den Haaren zu ziehen. Aber sie fand trotzdem nicht, dass es sehr
nett war, ihn Mr. Stunk zu nennen.
Mr. Strunk machte die morgendlichen Ansagen. Angela versuchte zuzuhö ren, aber Dana
Hurley tuschelte direkt hinter Angela andauernd mit Natalie Whitaker, und so verstand sie
kein Wort.
Voriges Jahr, in Miss Modzelewskis Klasse, hatte es ihr besser gefallen. Miss Modzelewski
setzte die Kinder in alphabetischer Reihenfolge, und so saß Angela immer vorne in der
ersten Reihe, gleich hinter Carl Amalfitano und vor Tina Baker und neben Anne-Marie
Cziernewski.
Carl und Tina waren immer still, und Anne-Marie war nett zu Angela. Bobby Bernstein saß
am anderen Ende der Reihe, weit weg.
Plö tzlich ging die Tü r auf. Angela erschrak.
Mr. Strunk erschrak offensichtlich ebenfalls, denn er ließ das Klemmbrett fallen, von dem
er die Ansagen ablas. Es schlug mit einem Klappern, das Angela ein zweites Mal
zusammenzucken ließ, zu Boden.
Sie ergriff ihre Spider-Man-Lunchbox. Daddy hatte ihr die Box gegeben, nachdem er dafü r
gesorgt hatte, dass es ihr besser ging. Angela mochte Spider-Man, weil er
- 36 -
am Ende immer gewann, auch dann, wenn er es eigentlich nicht sollte oder wenn ihm
etwas Schlimmes zustieß. Als er sie ihr gab, hatte Daddy gesagt, er hä tte genau diese
Lunchbox ausgesucht, weil sie, Angela, seine kleine Heldin sei.
Allerdings verstaute er darin nicht ihr Mittagessen. Es war etwas viel, viel Wichtigeres.
Das Letzte, was ihr Vater jeden Morgen zu ihr sagte, bevor sie in den Schulbus stieg, war
stets: „Lass diese Lunchbox nie aus den Augen, meine Sü ße.“
Und sie antwortete: „Das werd’ ich nicht, Daddy.“
Und das tat sie auch nicht. Niemals.
So griff sie als Erstes nach der Lunchbox, als die beiden
Mä nner
in
den
grauen
Anzü gen
das
Klassenzimmer betraten.
„Entschuldigen Sie, Sir“, sagte einer der Mä nner, „aber ich fü rchte, ich muss Miss Angela
Ashford aus der Klasse holen.“
„Was hast du denn ausgefressen, Angie?“, fragte Bobby Bernstein in lauerndem Tonfall.
Ein paar der anderen Kinder lachten.
Angela hasste Bobby Bernstein aus ganzem Herzen.
Und sie hatte Angst, dass zu Hause etwas passiert sein kö nnte. Diese Mä nner in den grauen
Anzü gen sahen genauso aus wie jene anderen Mä nner in den grauen Anzü gen. Diejenigen,
die fü r die Firma arbeiteten, fü r die auch ihr Daddy arbeitete.
Angela mochte sie nicht sonderlich.
„Was geht hier vor?“, fragte Mr. Strunk. Er bü ckte sich, um sein Klemmbrett aufzuheben.
„Der Arbeitgeber von Angies Vater hat uns geschickt, Sir. Unsere Anweisung lautet, Angie
abzuholen.“
„Stimmt etwas nicht mit meinem Daddy?“, fragte Angela.
Einer der Mä nner sah Angela an, dann streckte er eine Hand aus. „Bitte, Angie, du musst mit
uns kommen.“
- 37 -
Angela hasste es, Angie genannt zu werden, vor allem von Erwachsenen.
„Ist Dad okay?“ Sie weigerte sich, von ihrem Platz aufzustehen, bis der Mann ihre Frage
beantwortet hatte.
Bobby Bernstein wiederholte mit alberner Stimme: „Ist Daddy okay?“ Seine dummen
Freunde lachten wieder.
„Deinem Vater geht es gut, Angie, aber du musst mit uns kommen, sofort.“
Sie stand auf, umklammerte ihre Spider-Man-Lunchbox fest.
Der andere Mann im grauen Anzug sagte: „Dein Mittagessen brauchst du nicht, Angie.“
„Ohne meine Lunchbox geh ich nicht mit.“
„Na gut, meinetwegen“, sagte der erste Mann. „Und jetzt komm bitte.“
Mr. Strunk trat vor. „Nun hö ren Sie mal, ich kann doch nicht zulassen, dass irgendwelche
fremden Mä nner in mein Klassenzimmer kommen und eine meiner Schü lerinnen
mitnehmen.“
Der zweite Mann griff in die Innentasche seines grauen Jacketts und zog ein Blatt Papier
heraus, das er Mr.
Strunk reichte.
Mr. Strunk las es. Dabei schien sein großer Schnurrbart zu erschlaffen.
„In Ordnung, gut“, sagte der Lehrer und reichte das Blatt Papier zurü ck an den zweiten
Mann im grauen Anzug.
Der erste Mann hielt Angela immer noch seine Hand hin.
„Komm, Angie, wir mü ssen gehen.“
„Ja, Angie, wir mü ssen gehen“, sagte Bobby Bernstein.
Seine Freunde kicherten.
Angela murmelte: „Ich hoffe, du stirbst, Bobby Bernstein.“
Sie sprach zu leise, als dass jemand es hö ren konnte –
bis auf Dana, die Angela zulä chelte.
- 38 -
Dana konnte Bobby Bernstein auch nicht leiden.
Wä hrend die Mä nner in den grauen Anzü gen sie auf den Gang hinaus fü hrten, drü ckte
Angela die Spider-Man-Lunchbox an ihre Brust und fragte: „Wo gehen wir denn hin?“
„Das wirst du gleich sehen, Angie.“
Angela fand nicht, dass das eine richtige Antwort war.
Sie gingen zum Vordereingang der Schule hinaus, der nach Unterrichtsbeginn eigentlich
abgeschlossen sein sollte.
Aber wenn diese beiden Mä nner von der Firma waren, fü r die Daddy arbeitete, dann war
dies wohl nicht das erste Mal, dass sie etwas taten, was sie eigentlich nicht tun sollten.
Eigentlich sollten die Mä nner sie auch nicht einfach so aus der Klasse holen. Aber sie hatten
Mr. Strunk dazu gebracht, es zuzulassen.
Sie drü ckte die Lunchbox fester an sich.
Ein Auto parkte auf der Straße vor der Schule, direkt unter dem roten Schild, auf dem
ABSOLUTES
HALTEVERBOT stand.
Hinter dem Scheibenwischer des Wagens klemmte kein Strafzettel.
Angela wusste, dass etwas Schlimmes passierte.
War Daddy krank? War sie krank? Hatten sie etwas Unangenehmes ü ber Daddy
herausgefunden?
Oder war es etwas noch Schlimmeres?
Der zweite Mann im grauen Anzug ö ffnete die Beifahrertü r des Autos. Es war so groß, dass
Angela wie ü ber eine Stehleiter hineinklettern musste. Fast hä tte sie die Lunchbox fallen
lassen.
Angela saß auf dem Rü cksitz, wä hrend die zwei Mä nner vorne Platz nahmen.
„Let’s boogie“, sagte der auf dem Beifahrersitz.
„Warum sagst du das immer?“
„Was denn?“
- 39 -
„,Let’s boogie’. Das ist beknackt.“
„Wie wä r’s, wenn du einfach nur das Scheißauto fä hrst?“
„Hey, pass auf, was du sagst! Da hinten sitzt ein Kind.“
„Na schö n, wie wä r’s, wenn du das dumme, dumme Auto fä hrst? Mann.“
Das große schwarze Auto fuhr auf die Hudson Avenue, vorbei an der Robertson Street in
Richtung Main Street.
Die Main Street war genau das, was der Name ausdrü ckte: die Hauptstraße von Raccoon
City.
Eigentlich gab es ja viele große Straßen in der Stadt, aber Daddy hatte ihr erzä hlt, dass die
Main Street frü her einmal die einzige gewesen sei. Jetzt gab es noch mehr große, wie
Shadeland Boulevard, Johnson Avenue und Mabius Road, aber die Main Street war nach wie
vor eine der wichtigsten.
Der Mann im grauen Anzug, der am Steuer saß, redete noch, als er die Hudson Avenue
hinunterfuhr.
„Hast du wirklich schon mal Boogie getanzt, nur ein einziges Mal in deinem Leben?“
„Warum mü ssen wir uns darü ber unterhalten?“
„Na? Hast du oder hast du nicht?“
„Herrgott, Howie, das ist eine Redensart. Hast du in deinem Leben noch keine Redensart
gebraucht?“
„Doch, aber ich gebrauche lieber welche, die irgendwie in der Realitä t fußen, verstehst du?“
„Sie fußt in der Realitä t. Boogie ist ein Tanz. Tanz ist eine Bewegungsform. Wir mü ssen uns
bewegen. Es ist nur eine Abwandlung von ,Bewegen wir uns’.“
„Warum sagst du dann nicht einfach: ,Bewegen wir uns’?“
„’Let’s boogie’ hat weniger Silben.“
„Ah, ich verstehe – du bist ein eingetragenes Mitglied der Gesellschaft zur Verhü tung der
Silbenabnutzung.
Hast du deinen Monatsbeitrag schon bezahlt?“
„Weißt du, wenn meine Frau sich so benimmt, gehe ich
- 40 -
davon aus, dass sie scharf auf mich ist. Welche Entschuldigung hast du?“
Der Fahrer nä herte sich dem großen roten Stoppschild an der Ecke Hudson und Main,
bremste aber nicht ab.
„Ich sehe nur keinen Zusammenhang zwischen ,Let’s boogie’ und dem, was wir getan
haben, vor allem, weil du nicht Boogie tanzt.“
„Woher zum Teufel willst du wissen, dass ich nicht Boogie tanze? Waren wir schon mal in
einer Situation, in der ich hä tte tanzen kö nnen?“
Angela schaute nach rechts zum Fenster hinaus. Sie sah
einen
großen
Truck
die
Main
Street
herunterkommen.
Sehr schnell die Main Street herunterkommen.
Der Mann im grauen Anzug, der auf dem Fahrersitz saß, redete immer noch ü ber den
Boogie-Kram. Er war an
dem
Stoppschild
nicht
stehen
geblieben.
Wahrscheinlich dachte er, das mü sse er nicht.
Schließlich musste er auch nicht die Regeln befolgen, die besagten, dass Angela den ganzen
Tag in der Schule sein musste. Er brauchte auch die Regel, der zufolge die Eingangstü r der
Schule wä hrend des Unterrichts abgesperrt bleiben musste, nicht einzuhalten.
Und auch die Regel, dass man vor der Schule nicht parken durfte, kü mmerte ihn nicht.
Also dachte er wohl auch, dass er an einem Stoppschild nicht stehen bleiben musste.
Aber der Truck wurde nicht langsamer.
Ebenso wenig wie der Mann im grauen Anzug.
Bis er den großen Truck sah.
„Herr im Himmel!“
Danach ging alles ganz schnell. Angela konnte nichts sehen, außer der Rü ckseite des Sitzes
unmittelbar vor ihr. Die Welt schien nur noch aus Lä rm zu bestehen.
Sie hö rte ein quietschendes Gerä usch.
Dann hö rte sie einen Ton wie von einem Hammer, der
- 41 -
gegen eine Wand schlug.
Dann hö rte sie ein Gerä usch wie von zerknitterndem Papier.
Dann hö rte sie Schreie.
Fü hlen konnte sie auch noch. Sie fü hlte sich wie in einer Achterbahn. Sie wurde in dem
großen schwarzen Auto umhergeworfen.
Aber ganz gleich, was geschah, sie achtete darauf, dass sie die Spider-Man-Lunchbox nicht
losließ.
Und als sie ein Kreischen hö rte, wie von Fingernä geln, die ü ber eine Tafel schabten, nur
viel, viel lauter, fragte sie sich, ob sie ihren Daddy jemals wiedersehen wü rde.
- 42 -
Sechs

Lloyd Jefferson „L. J.“ Wayne war schon so oft verhaftet worden, dass er sich die
Handschellen praktisch selbst anlegen konnte.
Es war ein beinahe wö chentlich wiederkehrendes Ritual. Entweder buchteten sie ihn fü r
irgendeinen Scheiß ein, in den er verstrickt war, oder jemand anders war in irgendwelchen
Scheiß verstrickt, ü ber den das RCPD Infos brauchte, und dann verknackten sie L. J.
wegen irgendeines Kinkerlitzchens, damit sie ihn in aller Seelenruhe ausquetschen
konnten.
Und weil er kein Idiot war, ließ sich L. J. meistens ausquetschen. Bis auf den letzten
Tropfen.
Er wusste, dass er nur ein Schmalspurganove war.
Das war L. J. ganz recht so. Ja, die Bullen lochten ihn ein, aber er musste nie lange brummen.
Scheiße, er war nur einmal wirklich im Knast gelandet, und da hatte er dann lediglich sechs
Monate absitzen mü ssen.
So lange er es mit seinen kleinen Vergehen hielt, war sein schwarzer Arsch auf der sicheren
Seite. Er verdiente halbwegs gutes Geld, hatte ein Dach ü ber dem Kopf und war sein
eigener Boss. Verdammt, er wusste, was fü r Zeiten herrschten. Er verkaufte Stoff an weiße
Typen, die es nicht so gut hatten wie er, verloren ihre Jobs und all so’n Scheiß, verprassten
ihre Abfindung fü r Junk, weil das Leben so bescheiden war.
Heute allerdings, heute war kein Tag, an dem man im Kä fig des RCPD verrotten wollte,
Mann. Heute war echt die Kacke am Dampfen, und das hier war der letzte Ort, an dem L. J.
sein wollte.
Den ganzen Tag lief schon irgendwas komisch ab.
Leute stolperten herum, als seien sie einem billigen Monsterfilm entsprungen, redeten kein
Wort mit
- 43 -
anderen, sondern bissen sie nur.
Erst glaubte L. X, das sei irgendein verrü ckter Scheiß der Weißen – bis er Dwayne sah.
Dwayne war ein Punk, der sich fü r den großen Nigger im Block hielt, weil er eine
Jugendstrafe abgesessen hatte. Jedenfalls behauptete er das. L. J. glaubte den Scheiß keine
Minute lang, aber er ließ Dwayne reden, so lange er fü r seine Ware bar zahlte.
Heute allerdings tauchte Dwayne torkelnd an L. J.’s Kartenspiel-Stand auf. L. J. war etwas
knapp bei Kasse, und es war Monatsende, was bedeutete, dass Junior Bunk die Runde
machte, um dafü r zu sorgen, dass jeder die monatliche Lieferung voll bezahlte. L. J.
schuldete Bunk zwei Tausender, die L. J. allerdings nicht hatte, weil die verdammten Colts
gegen die verdammten Saints
verloren
hatten,
und
deshalb
hatte
er
beschlossen,
ein
paar
Touristen
etwas
Geld
abzuknö pfen. Er stellte an der Ecke Hill und Polk einen Karton auf, holte seine Glü ckskarten
hervor, die er am Zeitungsstand bei der Bushaltestelle geklaut hatte, zog drei Karten heraus
und begann zu mischen.
Was also war passiert? L. J. erleichterte zwei dä mliche Weiße, darunter einen Arsch, der
meinte, er kenne „alle Tricks, die diese Leute abziehen“, um einen ordentlichen Batzen
Kohle, und dann tauchte Dwayne auf, sagte kein Wort, biss den Arsch und dessen Alte und
stieß den Karton um, den L. J. fü r sein Spiel benutzte.
Was L. J. echt zugesetzt hatte, waren Dwaynes Augen.
Seine Augen waren tot. Außerdem war er blass und, verdammt, seine Haut war eher grau
als braun.
Dann schlurfte Dwayne davon, die Weißen rannten schreiend weg – mit ihrem Geld –, und
L. J. durfte die verfluchte Sauerei aufrä umen.
L. J. sah noch mehr von diesem Scheiß, eine Stunde lang, bevor sich eines der Arschlö cher,
die zum Spielen gekommen waren, als Scheißbulle erwies.
- 44 -
Was ihm wirklich stank, war, dass dies sein letztes Spiel sein sollte. Er hatte die Kohle, die
er brauchte, zwar immer noch nicht beisammen, aber Bunk konnte ihn an seinem
schwarzen Arsch lecken – er wollte jetzt nur noch in seiner Bude sein, seine spezial
angefertigten Uzis in den Hä nden und das Polizeischloss an der Scheißtü r.
Stattdessen buchtete ihn dieser weiße Detective wegen eines kleinen Vergehens ein,
wä hrend sich in der ganzen Stadt Zombies und so’n Scheiß herumtrieben.
So irre, wie es auf den Straßen auch zugehen mochte, es war doch nichts im Vergleich zu
dem, was auf dem Polizeirevier abging. L. J.’s Cousin Rondell erzä hlte immer, was auf den
Revieren in New York los war, aber so was gab es in Raccoon City nicht.
Bis heute. Es wimmelte von Cops, sie rannten herum, schrien einander an, brü llten am
Telefon. L. J. konnte kein Wort verstehen, es war einfach nur eine riesige Wand aus Lä rm.
„Komm schon“, sagte L. J. zu dem Detective, der ihn hereinzerrte. „Glaubst du echt,
irgendwer interessiert sich ausgerechnet jetzt fü r meinen kleinen schwarzen Arsch? Schau
dich doch mal um!“
Der Detective sagte nur, was er andauernd gesagt hatte, seit er L. J. auf der Polk Avenue
seine Rechte vorgebetet hatte: „Halt’s Maul.“ Als sie vor Sergeant Quinns Tresen traten,
sagte der Detective: „Sperren Sie ihn ein. Dreivierzehn.“
„Ihr mü sst den Verstand verloren haben! Seht mich doch an – ich bin ein Geschä ftsmann!“
L. J. ließ den Blick durch das Revier schweifen. Er sah, wie zwei Uniformierte – ein
Bleichgesicht namens Duhamel und sein Partner, ein Nigger namens Cooper –
einen großen Kerl hereinbrachten, der weißer wie Milch aussah.
Er hatte dieselben toten Augen wie Dwayne.
- 45 -
„Da, schaut euch diesen Herman-Munster-Verschnitt an. Das ist euer Problem.“
Duhamel und Cooper hatten alle Hä nde voll zu tun, um Herman festzuhalten. Duhamel
schrie dem Sergeant zu:
„Helft uns! Der Kerl ist wahnsinnig!“
Quinn ging um den Tresen herum und schob L. J. zur Wartebank.
„Mein Gott!“
L. J. drehte sich um – das war Cooper gewesen, der sich jetzt den Arm hielt und das Gesicht
verzog, als habe er heftigste Schmerzen.
„Er hat mich gebissen!“, schrie Cooper. „Der Hurensohn hat mich gebissen!“
Duhamel prü gelte mit seinem Schlagstock auf Herman ein. Die Scheißcops griffen immer
gleich zu ihrem Scheißstock, wenn es nicht so lief, wie sie wollten.
Quinn fesselte L. J. mit den Handschellen an die Bank, dann rannte er hinü ber, um Duhamel
und Cooper beizustehen.
Herman steckte irrsinnige Prü gel ein, aber die Hiebe zeigten keine Wirkung. Er stand
einfach nur da.
Das gefiel L. J. ganz und gar nicht.
„Yo! Du kannst mich nicht einfach hier lassen, Quinn!
Ich brauch ‘ne Waffe, Mann!“
Quinn schenkte ihm keinerlei Beachtung und zog seinen eigenen Stock, um ihn gegen
Herman einzusetzen.
Kopfschü ttelnd drehte L. J. sich um, weil er sehen wollte, wer noch an der Bank hing.
Nur
eine
Frau,
gekleidet
wie
eine
Nutte.
Wahrscheinlich war sie eine Nutte. Scheiße, wenn sie hinter L. J. her waren, rä umten sie
wahrscheinlich auch unter den Nutten an der Harbor Street auf. Ultimo. Bunk war nicht der
Einzige, der die Dinge in Ordnung wissen wollte. Auch die Cops hatten sich vor
Arschlö chern zu verantworten – mussten ihre Quoten erfü llen, also
- 46 -
knö pften sie sich gesetzestreue Geschä ftsleute wie L. J.
vor und ehrliche Nutten wie…
Scheiße, die hier kannte L. J. doch. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil sie den Kopf
hä ngen ließ – er lag praktisch auf ihren Titten. Wo auch ne Menge Platz dafü r war, und
daran hatte L. J. sie ja auch erkannt.
„Rashonda? Gottverdammt, bist du das, Mä dchen?“
Aber Rashonda sagte keinen Ton. Gerade so, als wä re sie eingeschlafen oder so.
Mit der freien Hand stieß L. J. sie an. Wenigstens hockte er nicht allein hier.
„Jetzt sag bloß, du erinnerst dich nicht an mich.“
Sie schaute auf.
Erst jetzt bemerkte L. J. dass ihre Schulter blutete. Sah aus, als sei sie von jemandem
gebissen worden.
Und ihre Augen waren so tot wie die von Dwayne und Herman und all den anderen
Scheißzombies, die er den Tag ü ber gesehen hatte.
„Gottverdammt, Mä dchen, wen hast du denn gefickt?“
Dann ö ffnete sich ihr Mund – viel weiter, als irgendein Scheißmund das Recht hatte, sich zu
ö ffnen. Rashondas Zä hne waren schwarz – und sie versuchte L. J. zu beißen.
„O Scheiße. Gottverdammte Scheiße…!“
- 47 -
Sieben

Sie sagten Jill Valentine, sie sei wahnsinnig.


Sie sagten ihr, sie rede irre. Und dass alles, was sie als Wahrheit verbreitete, dem Reich der
Videospiele und Actionfilme entstamme, nicht dem wirklichen Leben. Sie bilde sich Dinge
ein, tä usche sich und reagiere ü ber.
Dann sagten sie ihr noch, dass sie vom Dienst suspendiert sei.
Und nur, weil sie etwas gemeldet hatte, das sie mit eigenen Augen gesehen – und mit ihrer
eigenen Waffe erschossen hatte.
Oder vielmehr mit der polizeieigenen. Die man ihr jetzt, da sie suspendiert wurde, wieder
abnahm, zusammen mit ihrer Dienstmarke.
Dass sie eine Polizistin mit hohen Auszeichnungen war, zä hlte offenbar nichts. Dass sie
damals als Streifenpolizistin geholfen hatte, das Leben der Bü rgermeisterin zu retten,
ebenso wenig (nun, warum hä tte es auch fü r sie sprechen sollen? Besagte Bü rgermeisterin
war nicht mehr im Amt, und selbst wenn sie es gewesen wä re – Politiker hatten ein
schlechtes Gedä chtnis). Ihre Zugehö rigkeit zur Special Tactics and Rescue Squad hatte ihr
ebenfalls keine Pluspunkte verschafft.
Aber all das hä tte zä hlen sollen. Ihr Wort hä tte Gewicht haben sollen, vor allem wenn man
bedachte, wie engagiert S.T.A.R.S. arbeitete.
Diese… diese Dinger, die sie in den Wä ldern der Arklay Mountains gesehen hatte, waren
real. Es stimmte, dass sie Menschen tö teten. Und es stimmte, dass sie nur knapp mit dem
Leben davon gekommen war.
Aber sie hatten auch etwas mit der Umbrella
- 48 -
Corporation zu tun. Und eines hatte Jill Valentine bei ihrer Arbeit fü r das RCPD gelernt:
Man legte sich nicht mit der Firma an. Der Firma gehö rte die Stadt –
verdammt, der Firma gehö rte das halbe Land. Und man steckte
seine
Nase
nicht
in
Dinge,
die
als
„Firmenangelegenheit“ galten.
Anstatt also den Worten eines ihrer hö chstdekorierten Officers Beachtung zu schenken und
etwas zu unternehmen, um die Bü rger vor diesem untoten Horror zu beschü tzen, entschied
das RCPD – oder wurde vielmehr dazu gezwungen –, besagte Mitarbeiterin fü r verrü ckt zu
erklä ren. Sie wurde vom Dienst suspendiert, weil sie einen „falschen“ Bericht abgeliefert
hatte – der zu hundert Prozent den Tatsachen entsprach.
Jetzt brach in ganz Raccoon City die Hö lle los.
Und genau davor hatte Jill sie gewarnt.
Sie zog ein blaues Tube-Top und Shorts an – es war an diesem Herbsttag ü ber 30 Grad
warm –, und dann, nach kurzem Ü berlegen, schlü pfte sie in ihre hohen Stiefel. Auf den
ersten Blick sah sie aus wie eine ganz normale Mittzwanzigerin. Tatsä chlich aber hatte sie
Arm-und Beinbewegungsfreiheit und -Stiefel, mit denen sie jemanden mit einem gut
platzierten Tritt außer Gefecht setzen konnte.
Und Jill Valentine wusste recht gut, wo sie Tritte platzieren musste.
Als Nä chstes begab sie sich in ihren Hobbyraum. Sie trat ein und nahm die TV-
Fernbedienung auf, neugierig, was die Fernsehnachrichten ü ber die Tatsache zu sagen
hatten, dass genau jene Monster, die sie im Wald gesehen hatte, jetzt durch die Straßen der
Stadt zogen.
Besonders gespannt war sie darauf, ob es ein Statement von Umbrella gab.
Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und zeigte das freudige und zugleich
besorgte Gesicht von Sherry Mansfield.
- 49 -
„… keine Erklä rung fü r diese Welle unerklä rlicher Morde, die ü ber die Stadt gekommen ist.
Mä nner tö ten ihre Frauen, Kinder tö ten ihre Eltern, vollkommen Fremde attackieren sich
gegenseitig. Eine Orgie des Verbrechens, scheinbar ohne Motiv – und ohne absehbares
Ende.“
Kein Querverweis. War ja klar.
Jill fragte sich, ob Umbrella das Ganze vertuschte.
Sie blickte sich in ihrem Hobbyraum um. An einer Wand stand ein Regal voller Trophä en.
Den Großteil davon hatte sie fü rs Schießen bekommen, ein paar fü rs Billardspielen. Ihr
Blick ging zum Billardtisch. Ihr Glü cksqueue lag diagonal auf dem grü nen Filz, die weiße
und die schwarze Kugel lagen noch daneben. Sie hatte heute Morgen ein wenig gespielt –
ein weiterer fruchtloser Versuch, sich zu entspannen.
Ü ber dem Billardtisch hing ein Budweiser-Neonschild, ein Geschenk von Eamonn McSorley,
dem Eigentü mer der Kneipe, in der sie die meiste Zeit ihrer vergeudeten Jugend zugebracht
hatte. Sie war hinter dem Geld von Mä nnern her gewesen, die dem Irrglauben aufsaßen,
dass ein gut aussehendes, brü nettes Mä dchen im Teenageralter leichte Beute sein mü sse.
Nachdem sie in die Polizeischule aufgenommen worden war, hatte sie Eamon gesagt, dass
sie Billard nicht lä nger um Geld spielen kö nne und deshalb auch nicht mehr in McSorley‘s
Bar and Grill aufkreuzen wü rde.
Daraufhin hatte er ihr das Schild geschenkt. Angesichts der Menge von Schotter, die sie der
Kneipe eingebracht hatte – die Nachricht ü ber den heißen Teenager, der beim Billard nicht
zu schlagen war, hatte sich schnell herumgesprochen, und jedes Arschloch der Stadt wollte
derjenige sein, der sie zum ersten Mal schlug –, war es, wie McSorley es formuliert hatte,
das Mindeste, was er tun konnte.
Die beiden Lä ngswä nde des Raumes wurden von
- 50 -
Zielscheiben vereinnahmt. Jede war von Kugeln durchsiebt.
Jill hatte vorgehabt, sie auszutauschen. Nun allerdings erschien ihr das eher sinnlos.
Captain Henderson hatte ihr Dienstmarke und -waffe abgenommen – was natü rlich nicht
hieß, dass Jill sich jetzt nicht mehr verteidigen konnte. Sie ging zu einem Schrank an der
Wand mit all den Trophä en und holte ein Schulterholster und ihre zuverlä ssige Automatik
heraus.
Es war dieselbe Waffe, die sie benutzt hatte, um eines der Monster im Wald zu tö ten,
nachdem ihrer Dienstwaffe die Munition ausgegangen war – und nachdem sie erkannt
hatte, dass die einzige Mö glichkeit, diese Kreaturen zu stoppen, ein Kopfschuss war.
Zum Glü ck verstand sich Jill ganz gut auf Kopfschü sse.
Sie schob die Automatik ins Holster, schnappte sich die Fernbedienung und schaltete
Sherry Mansfields Gesicht ab.
Dann ging sie nach draußen, und dort erwartete sie pures Chaos.
Jill besaß ein Reihenhaus aus rotem Sandstein, das sie von ihrem Onkel geerbt hatte. Der
Hobbyraum befand sich im Keller und hatte einen eigenen Ausgang.
Als sie hinausging und die Tü r zusperrte, sah sie auf dem Gehsteig vor ihrer
Eingangstreppe eine Frau, die einen Mann in den Arm biss. Der Mann schrie.
Jill zog ihre Pistole und schoss der Frau in den Kopf, worauf diese zu Boden stü rzte. Der
Mann schrie immer noch, warf Jill einen Blick zu und rannte die Straße hinunter.
Jill zog in Erwä gung, ihn ebenfalls zu erschießen, aber er bewegte sich zu schnell, und sie
wollte keine Kugeln verschwenden, falls er wider Erwarten doch nicht infiziert worden
sein sollte. Die Frau hatte in seinen Hemdsä rmel gebissen, daher war es mö glich, dass sich
die Infektion nicht auf ihn ü bertragen hatte.
- 51 -
Aber natü rlich war anzunehmen, dass er ü ber kurz oder lang von jemand anderem
gebissen wurde…
Als sie die Straße entlang und auf ihren Porsche zuging – ebenso wie das Haus ein
Geschenk ihres mittlerweile verstorbenen Onkels –, sah sie Noel an seinem Stammplatz
unter dem Alkoven zwischen Jills Nachbarhaus und der Bodega an der Ecke sitzen.
Normalerweise hä tte Jill einen Vierteldollar in den Hut geworfen, der vor Noels
ü berkreuzten Beinen lag. Heute jedoch war der Hut nicht dort, und Noel schien zu schlafen.
„Noel?“
Der Obdachlose sah auf. Seine bislang blauen Augen waren jetzt milchig weiß. Und seine
linke Wange wurde von einer Bisswunde verunstaltet.
Ohne zu zö gern, schoss Jill ihm in den Kopf.
„Hey, du Schlampe, warum hass’n das gemacht?“
Jill drehte sich um und sah einen kleinen Punk, der eine Wollmü tze trug, obwohl das
Quecksilber 30 Grad im Schatten anzeigte. Seine Augen waren normal, und er sprach, also
war er nicht infiziert.
Noch nicht.
„Er war bereits tot“, sagte Jill. „Ich hab ihm nur den Rest gegeben.“
„Du Miststü ck bist doch total durchgeknallt.“
„Das krieg ich andauernd zu hö ren.“
Sie zog die Schlü ssel aus ihrer Tasche und drü ckte den Knopf, der die Tü ren ihres
feuerroten Autos entriegelte.
Sie stieg ein, startete den Motor und warf einen Blick in den Rü ckspiegel. Der Junge mit der
Wollmü tze durchwü hlte Noels Taschen nach Kleingeld.
„Und dieser kleine Leichenfledderer schimpft mich durchgeknallt“, murmelte sie, wä hrend
sie den Wagen in die Fahrspur lenkte. „Wenn das so weiter geht, fang ich noch an,
Selbstgesprä che zu fü hren.“
- 52 -
Raccoon City ging vor die Hunde. In der einen Minute sah sie totales Chaos, in der nä chsten
waren die Straßen so leer wie in einer Geisterstadt. Hier wurde ein Straßencafe von
untoten Bedienungen ü berrannt, die versuchten, ihre Gä ste aufzufressen. Dort schlurfte ein
Zombie durch einen Bus, der in das Schaufenster eines Ladens gekracht war. Und an
anderer Stelle streifte eine Horde lebender Toter durch die Empfangshalle eines
Bü rogebä udes.
Jill traf eine Entscheidung.
Sie hatte ihr Haus in der Absicht verlassen, zum Revier zu fahren, um dort auszuhelfen.
Aber dieser Stadt war nicht mehr zu helfen.
Sie hatten sie verrü ckt genannt. Sie hatten ihre Aussage ignoriert. Sie hatten ihr gesagt,
dass sie ihren Job nicht mehr ausü ben kö nne.
Sollten sie ihr doch den Buckel runterrutschen. Wenn sie nicht wollten, dass sie den
Bü rgern diente und sie beschü tzte, dann wü rde sie eben von hier verschwinden.
Trotzdem fuhr sie auf den Parkplatz des RCPD. Sie wollte noch ein paar von ihren Sachen
aus dem Gebä ude holen.
Im Inneren entpuppte sich der Squad-Room als Katastrophengebiet.
Umgekippte
Schreibtische.
Verbrecher und Cops rannten gleichermaßen entsetzt umher. Ü berall Zombies, einige in
Handschellen, andere in Uniform…
Jill sah, wie Duhamel und Cooper auf Borck und Abromowitz losgingen. Ein alter Sä ufer
griff Fitzwallace an. Der Sergeant hatte es bislang geschafft, am Leben zu bleiben, aber im
Augenblick wehrte sich Quinn gegen einen fetten Mann, der versuchte, ihn anzuknabbern.
Kopfschü ttelnd zog Jill ihre Waffe.
Zehn sehr laute Sekunden spä ter waren sä mtliche Untoten im Raum mit Kugeln in den
Schä deln zu Boden gestü rzt, Quinn sah auf den Leichnam des fetten
- 53 -
Mannes hinab, dann zu Jill herü ber. „Freut mich, Sie wieder im Dienst zu sehen, Valentine.“
Jill schnaubte und ging zu ihrem Schreibtisch, einem der wenigen, der noch nicht
umgeworfen worden war.
„Was zum Teufel tun Sie hier?“
Seufzend ignorierte Jill die vertraute Stimme von Captain Henderson, der aus seinem Bü ro
gestü rmt war.
Es erstaunte sie, dass er den Mut aufbrachte, die Tü r zu ö ffnen.
„Valentine! Sie sind suspendiert!“
Als ob es darauf ankä me. Jill seufzte noch einmal. Sie ö ffnete ihre Schreibtischschublade
und holte ihre Ersatzautomatik heraus, ein Schenkelholster und weitere Magazine. „Ich
hab’s Ihnen ja gesagt“, meinte sie,
„zielen Sie nur auf die Kö pfe.“
„Warum sind Sie hier, Valentine?“
Was fü r eine Frage. Als ob sie kein Cop mehr sei.
Na ja, vielleicht war sie ja auch keiner mehr – jedenfalls nicht in einer Stadt, die von einem
Konzern kontrolliert wurde, der sich einen Dreck um Menschenleben scherte.
Oder bei einer Polizeieinheit, in der Captains nicht fü r ihre Leute einstanden, sondern
zuließen, dass sie unrechtmä ßig suspendiert wurden, nur um einen gottverfluchten
Konzern zu decken.
„Ich rä ume nur meinen Schreibtisch aus.“ Sie schnallte das Holster um ihr Bein, dann
steckte sie die zweite Waffe hinein. Die Munition verstaute sie in den Taschen ihrer Shorts.
Ohne Henderson auch nur eines Blickes zu wü rdigen, den er ohnehin nicht verdiente, ging
Jill hinaus, diesmal am Tresen des Sergeants vorbei. Quinn war immer gut zu ihr gewesen.
„Sind Sie in Ordnung?“, fragte sie.
Quinn gluckste. „Dasselbe wollte ich Sie fragen. Ich glaube, ich hä tte doch in den
Vorruhestand gehen soll, als Sheila daraufdrä ngte. Florida erscheint mir im
- 54 -
Moment sehr verlockend.“
„Soll ich Ihnen einen Rat geben? Gehen Sie heim zu Sheila und verschwinden Sie dann aus
der Stadt.“
Kopfschü ttelnd sagte Quinn: „Auf keinen Fall. Meine Schicht ist noch nicht vorbei.“
Jill seufzte ein drittes Mal. Quinn war seit fast dreißig Jahren bei der Polizei. Sowohl sein
Vater als auch sein Onkel waren beim RCPD gewesen, ebenso sein Großvater. Er war immer
ein bisschen zu pflichtbewusst gewesen. Aber sie konnte ihm seine Loyalitä t nicht zum
Vorwurf machen.
Was Jill anging, sie hatte keinen Grund mehr, dem RCPD gegenü ber loyal zu bleiben.
„In dem Fall, Sarge, schießen Sie auf die Kö pfe. Nur so sind diese Dinger aufzuhalten.“
Quinn nickte. „Viel Glü ck, Valentine.“
„Ihnen auch, Sarge.“
Als sie Quinns Tresen passierte, sah sie eine zum Zombie
gewordene
Nutte,
die
versuchte
einen
aufgeputzten Ganoven zu beißen, der mit Handschellen an die Bank gefesselt war.
„Bleib mir vom Leib!“, schrie der Verbrecher, als die Hure sich ihm nä herte. „Rashonda, hö r
auf! Hilfe!“
Jill verpasste Rashonda einen Kopfschuss. Sie sackte auf der Bank zusammen.
Dann richtete Jill ihre Waffe auf den fein angezogenen Gauner.
„O heilige Scheiße – nicht mich!“
Sie drü ckte ab.
Die Handschellen und der Teil der Bank, an dem sie festgemacht waren, barsten.
Als ihm klar wurde, dass er frei war, sprang der Ganove auf und entfernte sich so rasch er
konnte von der Bank.
„Diese
verdammte,
knochenä rschige
Nutte
hat
versucht, mich zu fressen!“ Dann sah er Jill an. „Und
- 55 -
du… Fuck! Was zum Teufel ist hier los?“
„Hast du eine Waffe bei dir?“, fragte sie.
Der Verbrecher schnaubte. „Schö n wä r’s.“
„Dann solltest du dir eine suchen.“
Sie drehte sich um und sah Quinn, Henderson und die anderen Cops an, die noch am Leben
waren. „Ich verlasse die Stadt – und ich empfehle allen, dasselbe zu tun.“
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging hinaus.
Auf dem Weg zur Tü r hö rte sie aus dem Funkgerä t in der Zentrale die schrille Stimme eines
Streifenpolizisten.
Jill war ziemlich sicher, dass es sich um Wyms handelte.
„Zentrale, wir brauchen Verstä rkung – schickt sofort Verstä rkung zur Kreuzung Rose und
Main. Zentrale?
Kommen, Zentrale. Wir werden ü berrannt. Es hat Tote gegeben. Ziehen uns zurü ck. Helft
uns, verdammt. Wir brauchen Hilfe. Zentrale! Macht schon!“
Wyms’ Flehen wurde noch verzweifelter, aber es verklang in Jills Ohren, als sie zu ihrem
Wagen ging. Sie hatten ihre Chance gehabt, diese Katastrophe zu stoppen, aber sie hatten
sie ungenutzt verstreichen lassen.
Sie hatten Jill Valentine vorgeworfen, irre zu sein.
Und jetzt musste die ganze Stadt dafü r bü ßen.
- 56 -
Acht

Alles in allem war dies der furchtbarste Urlaub in Carlos Oliveras Leben.
Er war gleich nach der Highschool zur Air Force gegangen und hatte dort aufgehö rt, als die
Umbrella Corporation ihm ein Angebot machte, das er nicht ablehnen konnte. Klar, die
USAF war besser als die Straßen von Ost-Texas, wo er aufgewachsen war, aber Umbrella
war auch eindeutig besser gewesen als die USAF. Bessere Bezahlung, bessere Arbeitszeiten,
geringeres Risiko, erschossen zu werden.
Bis heute jedenfalls.
Er hatte sich in einer Blockhü tte im Wald entspannt, als ein Gelä ndewagen mit zwei von
Umbrellas Drohnen in Anzü gen vorfuhr. Sie brachten ihn zu einer Lichtung, auf der ein
Hubschrauber wartete. Alles, was sie ihm gesagt hatten, war, dass er sein Team
zusammentrommeln mü sse.
„Ich bin im Urlaub“, hatte er gesagt. „Ones Team soll sich darum kü mmern.“
„Ones Team ist aus dem Spiel“, hatte der Anzugträ ger erwidert.
„Was ist mit Ward?“, hatte er nach dem anderen der drei Teamfü hrer gefragt.
„Auch aus dem Spiel.“
Bei dieser Umschreibung hatten sich Carlos’ Augen vor Schreck geweitet. Von allen
Einsatzkommandos, die fü r die Sicherheitsabteilung arbeiteten, hatte One das Beste der
Besten – das war der Hauptgrund, weshalb er sich diesen bekloppten Codename geben
durfte und man ihn gewä hren ließ. Und Ward war ein Ex-Marine, der mit so ziemlich allem
fertig wurde. Wenn das, womit sie es zu tun hatten, sowohl One als auch Ward ausschalten
- 57 -
konnte – ganz zu schweigen von Leuten wie Melendez, Hawkins, Schlesinger, Osborne und
den anderen Mitgliedern der entsprechenden Teams –, dann war Carlos alles andere als
scharf darauf, sich ihm zu stellen.
Aber er hatte keine Wahl.
Jetzt saß er in einem von mehreren Darkwing-Helikoptern, die ü ber ein Raccoon City
flogen, das stü ckchenweise zum Teufel gegangen war. Offenbar trieb etwas, das aus dem
Hive ausgebrochen war, sein Unwesen
in
der
Stadt:
Ein
Virus,
das
die
Hauptkomponente von Umbrellas neuer Wundercreme gegen Falten war, tö tete Menschen,
sorgte jedoch dafü r, dass ihre Kö rper sich weiter bewegten und stupide nach Nahrung
suchten.
In Carlos’ Kindheit war seine Familie oft umgezogen, wenn papi Arbeit suchte. Eine Zeit
lang hatten sie in Lubbock
gewohnt,
und
dort
gab
es
dieses
heruntergekommene alte Kino, das nur Monsterfilme zeigte. Carlos und Jorge, sein
damaliger bester Freund –
jedes neue Zuhause bescherte ihm einen neuen besten Freund, da die alten Freunde Vä ter
hatten, die tatsä chlich in der Lage waren, einen Job zu behalten und im Allgemeinen auf der
richtigen Seite des Gesetzes zu bleiben – verbrachten viele Abende in der Gesellschaft von
Frankensteins Monster, Werwö lfen, Mumien, mutierten Insekten, Außerirdischen,
Vampiren und sä mtlichen anderen Kreaturen, die darauf aus waren, die Menschheit zu
vernichten.
Inklusive Zombies.
An seinem letzten Abend in Lubbock, bevor Carlos, mami, papi und seine ä ltere Schwester
Consuela ihre Sachen packten und nach San Antonio aufbrachen, sahen Carlos und Jorge
ein Double-Feature: Abbott und Costello als Mumienrä uber und Die Nacht der lebenden
Toten. Er erinnerte sich noch ganz deutlich an diesen
- 58 -
Abend, vor allem an den Streit hinterher, weil es das letzte Mal war, dass Carlos und Jorge
je miteinander gesprochen hatten.
Carlos hatte immer eine Schwä che fü r Mumien gehabt
– und er hatte sie auch heute noch. Die beiden jü ngsten Mumien-Filme hatten ihn
begeistert, vor allem der coole Typ mit den langen Haaren und dem Bart – aber Jorge war
der Meinung, dass Zombies Furcht erregender waren.
Jetzt, da er von seinem Aussichtspunkt im Darkwing auf die schlurfenden Kreaturen
hinabschaute, die durch die Straßen von Raccoon City streiften und absolut menschlich und
doch auch absolut nicht wie Menschen aussahen, befand Carlos, dass Jorge Recht hatte.
Er richtete den Blick wieder auf sein Team. Nicholai Sokolov, sein Stellvertreter, saß ihm
gegenü ber, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht.
Der Rest des Teams hockte auf den sich gegenü ber stehenden Bä nken des Hubschraubers.
Alle trugen Headsets, die es ihnen ermö glichten, sich ü ber den Rotorenlä rm hinweg zu
verstä ndigen. J. P. Askegreen, der Ex-Cop aus Virginia, der immer einen Zahnstocher im
Mundwinkel hatte. Jack Carter und Sam O’Neill, die wie Carlos von der USAF abgeworben
worden waren, bei Umbrella jedoch wü rden aufhö ren mü ssen, damit sie als Paar
zusammenleben konnten. Yuri Loginov, Nicholais russischer Landsmann, ein ehemaliger
KGB-Agent. Und ihre Ä rztin, Jessica Halprin, die beim Navy Medical Corps gekü ndigt hatte
und zu Umbrella gegangen war.
Sie machten den Eindruck, als seien sie zu allem bereit.
Aber Carlos fragte sich, wie sie fü r das hier wirklich bereit sein sollten.
Ihr Idiot von einem Vorgesetzten, Major Able Cain, hatte sie gebrieft, bevor er sie
losschickte. Fazit war,
- 59 -
dass sie den Schaden eindä mmen sollten. Wer Anzeichen einer Infektion zeigte, war
einzusperren.
Wenn sich herausstellte, dass jemand der Krankheit erlegen war, dann bestand die einzige
Mö glichkeit, ihn zu stoppen, in einem totalen Schä del- oder Rü ckgrat-Trauma.
Falls Cain sich auch nur im Geringsten um die bloße Menge von Menschenleben scherte, die
Umbrellas Inkompetenz geopfert wurde – und nichts anderes als vö llige Inkompetenz
konnte ein Desaster wie dieses erklä ren –, dann zeigte er es nicht, dieser herzlose
Hurensohn.
Andererseits, wä re es damals Cain gewesen, der Carlos aus der Air Force hatte rekrutieren
wollen, und nicht dieser Speichellecker der Firma, der vor all den Jahren an ihn
herangetreten war, hä tte Carlos das Angebot Umbrellas wahrscheinlich abgelehnt.
Menschen wie Cain machten Carlos krank. Mehr noch, es waren Leute wie Cain, die in
Carlos den Wunsch weckten, die Streitkrä fte zu verlassen und stattdessen in der, wie er
glaubte,
weniger
mö rderischen
Welt
der
Sicherheitsdienste in Industrieunternehmen Fuß zu fassen.
Es schien, als hä tte er sich in mehrerlei Hinsicht verrechnet.
Carlos wandte sich wieder der offenen Luke in der Flanke des Hubschraubers zu, durch die
sein Blick nun auf das Dach eines Bü rogebä udes fiel.
Das Dach verfü gte ü ber einen kleinen Treppenzugang, und dessen Tü r stand offen. Carlos
sah zwei Personen, einen Mann und eine Frau, von der Treppe auf die Tü r zueilen.
Als der Mann durch die Tü r war, schlug er sie hinter sich zu. Dann kletterte er ü ber den
Dachrand auf der gegenü berliegenden Seite und verschwand aus Carlos’
Sicht. Vielleicht gab es dort eine Feuertreppe, die er
- 60 -
benutzen wollte – oder er hatte vor, einfach an der Fassade hinunterzuklettern.
Dann platzte die Tü r auf, und die Frau rannte heraus, rasch gefolgt von einem Heer von
Zombies.
Eine der Fragen, die Carlos wä hrend des Briefings beschä ftigt hatten, war die, ob er wohl in
der Lage sein wü rde, die Lebenden von den Untoten zu unterscheiden.
Diese Frage sah er nun beantwortet. Selbst ü ber diese Entfernung war es ganz
offensichtlich, dass die Frau noch am Leben war, ihre Verfolger aber ganz und gar nicht.
Carlos legte die Hand ans Ohr und sagte zum Piloten:
„Lipinski, bringen Sie uns runter!“
Lipinskis Stimme erklang in dem Knopf in Carlos’ Ohr.
„Das kann ich nicht.“
Carlos wollte sich nicht auf eine Diskussion einlassen.
„Bringen Sie uns runter.“
„Der Wind ist zu stark! Ich wü rde die Maschine verlieren!“
„Gottverdammt.“ Er wü rde diese Frau nicht sterben lassen.
Carlos griff unter die Bank und holte ein Seil hervor.
Ein Ende hakte er an seinem Gü rtel fest, den Rest reichte er seinem Stellvertreter. Nicholais
Gesicht zeigte immer noch denselben grimmigen Ausdruck.
Natü rlich, der große Mann hatte immer einen grimmigen Ausdruck im Gesicht, wenn sie im
Einsatz waren. Carlos wusste, dass es ein Tick war. Aus irgendeinem Grund war Nicholai
entschlossen, dem Stereotyp des pessimistischen Russen zu entsprechen.
Er hielt sogar an seinem starken Akzent fest, obwohl er und seine Familie in die USA
eingewandert waren, als er drei war.
Ohne Zweifel zeigte es Wirkung auf die Leute, die seinem Befehl unterstanden. Sie sprachen
darauf an.
Sein Akzent, sein Gebaren und seine Grö ße machten
- 61 -
ihn noch Furcht einflö ßender als Carlos, der selbst sehr einschü chternd wirken konnte,
wenn er es darauf anlegte.
Aber Carlos hatte auch Nicholais wahres Gesicht gesehen, das sich fü r gewö hnlich dann
zeigte, wenn man ihm einen oder sechs Wodkas spendierte. Dann rutschte ihm das Hemd
aus dem Hosenbund, sein Akzent schwankte, und er lä chelte. Manchmal lachte er sogar.
„Mach mich fest, Nicholai.“
Jetzt lachte Nicholai nicht. „Was?“
Carlos schenkte sich die Antwort. Er zog nur seine
.45er Colts aus den Holstern und sprang aus der Seitenluke zum Dach hinunter.
Er wü rde diese Frau nicht sterben lassen.
Nicholais drö hnende Stimme erklang sowohl in seinem Ohrhö rer als auch ü ber dem Lä rm
des Hubschraubers hinweg. „Carlos! Herrgott noch mal!“
Der Wind schlug Carlos ins Gesicht, das Dach kam nä her und nä her. Eine Sekunde lang
machte er sich Sorgen, dass Nicholai ihn womö glich nicht sichern wü rde.
Dann hö rte er die Flü che in seinem Ohr – auf Russisch, das einzige Wort, das Carlos
verstand, war „
chyort“ –, und da wusste er, dass alles in Ordnung war.
Noch bevor sich das Seil spannte, begann Carlos zu feuern. Die Colts ruckten bei jedem
Schuss in seinen Fä usten, doch die Kugeln fanden ihre Ziele und tö teten einen Zombie nach
dem anderen.
Das Seil spannte sich, als er noch etwa sechs Fuß ü ber dem Dach war. Es fü hlte sich an wie
ein Schlag in den Magen, aber Carlos steckte es weg. Er hielt nur lange genug inne, um auf
den Schnellö ffner an seinem Gü rtel zu drü cken, und fiel den Rest der Strecke aufs Dach
hinunter, wo er auf den Fü ßen aufkam.
Die stechenden Schmerzen, die bei der Landung kurz
- 62 -
durch seine Unterschenkel fuhren, ignorierte er und schoss weiter. Das Krachen der Colts
ü bertö nte den Rotorlä rm des Darkwings und die Litanei russischer Flü che in seinem
Ohrhö rer.
Die Hä mmer beider Colts schlugen gleichzeitig klickend ins Leere. Zu diesem Zeitpunkt
waren die Einzigen, die noch auf dem Dach standen, Carlos, die Frau, die er zu retten
versuchte -
- und ein Zombie.
Als seine Familie in Dallas lebte, hatte Carlos eine Kampfsportausbildung begonnen. Er war
nie dazu gekommen, sie zu beenden, aber eines hatte er im Nu beherrscht: den Spinning
Heel Kick. Nachdem er in einem der alten Filme, die er in Lubbock mit Jorge schaute,
gesehen hatte, wie jemand einen solchen Tritt vollfü hrte, war er entschlossen gewesen,
selbst zu erlernen, wie das ging. Im Unterricht war es dann das Erste, was er sich aneignete,
und er meisterte es perfekt, bis papi wieder mal Mist baute und sie nach Austin umziehen
mussten.
Ein solcher Spin-Kick erledigte den Zombie, indem er ihm mit einem befriedigend
klingenden Knacken das Genick brach.
Ü ber seinen Knopf im Ohr hö rte Carlos, wie Nicholai den Rest des Teams einschwor.
Binnen einer Minute wü rden sie hier unten bei ihm sein.
Er wandte sich der Frau zu, um nachzusehen, ob sie in Ordnung war. Sie stü tzte sich einen
Arm mit dem anderen und stand gefä hrlich nahe am Dachrand – nicht weit von der Stelle,
wo der Kerl, der ihr die Tü r vor der Nase zugeschlagen hatte, hinuntergeklettert war.
„Alles okay“, sagte Carlos langsam. „Gehen Sie vom Rand weg.“
Der Wind war immer noch ziemlich heftig – Carlos verstand, warum Lipinski den Darkwing
nicht landen wollte –, und er befü rchtete, ein Windstoß kö nnte die
- 63 -
Frau ü ber die Kante stü rzen lassen.
Doch die Frau tat nicht, was er sagte. Sie drehte sich um und blickte ü ber den Rand des
Daches. Bis nach unten waren es mindestens zwanzig Stockwerke – einen Sturz wü rde sie
definitiv nicht ü berleben. Aber heute gab es in Raccoon City schon genug Tote, Carlos
wollte die Liste nicht noch verlä ngern.
„Kommen Sie hierher zu mir“, sagte er. „Es ist alles in Ordnung.“
„Nein“, sagte die Frau mit dumpfer Stimme, „das ist es nicht.“
Sie streckte den Arm aus. Carlos konnte die Bissspuren auf Unterarm und Handgelenk
erkennen. Er spü rte, wie sich sein Magen bei dem Anblick verkrampfte.
„Ich habe gesehen, was mit einem passiert, wenn man gebissen wird. Es gibt kein Zurü ck.“
Carlos hö rte, wie sich hinter ihm erwartungsgemä ß der Rest des Teams aus dem Darkwing
abseilte.
„Wir
kö nnen
Ihnen
helfen.“
Carlos
versuchte
beruhigend zu klingen, war jedoch nicht sicher, ob es ihm gelang. Ihr Auftrag lautete, jeden
festzusetzen, der infiziert, aber noch kein Zombie war. Bei Cain konnte sich Carlos zwar
nicht hundertprozentig sicher sein, dass man die Leute gut behandeln wü rde. Aber
zumindest blieb ihnen eine Chance.
Die Frau schü ttelte den Kopf und trat einen Schritt nach hinten.
Carlos hatte den Eindruck, sich in Zeitlupe zu bewegen. Die Frau hingegen bewegte sich
furchtbar schnell, als sie einfach so nach hinten trat. Aber ganz gleich, wie schnell er sich
selbst bewegt hä tte, er wä re zu spä t gekommen.
Und er kannte nicht einmal ihren Namen.
„Allmä chtiger.“
Das war Nicholais Stimme. Der große Mann stand
- 64 -
neben Carlos, und sein fü r gewö hnlich grimmiger Gesichtsausdruck war einem entsetzten
gewichen.
Askegreen befand sich direkt hinter ihm. Ihm fiel der Zahnstocher aus dem Mund, als ihm
die Kinnlade herunterklappte.
Carlos nahm an, dass sein eigenes Gesicht denselben Ausdruck zeigte.
„Nein, echt kein schö ner Urlaub“, murmelte er.
„Was haben Sie gesagt?“, fragte Nicholai.
Kopfschü ttelnd erwiderte Carlos: „Nichts. Weiter geht’s!“
- 65 -
Neun

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit erwachte Alice Abernathy nackt.
Diesmal allerdings war sie nicht in einen Duschvorhang gehü llt, sondern in ein dü nnes
Krankenhaushemdchen, das ihre Blö ße kaum bedeckte. Außerdem erinnerte sie sich
diesmal, wer und was sie war – und was hinter ihr lag.
Anstatt Wasserstrahlen aus einem Duschkopf stach etwas anderes auf sie ein.
Nein, es stach nichts auf sie ein. Etwas steckte in ihr.
Drä hte. Man hatte Drä hte in sie gebohrt. Sie waren in ihren Beinen, ihrem Oberkö rper,
ihren Armen und in ihrem Kopf.
Sie setzte sich auf.
SCHMERZ!
Schrecklicher,
entsetzlicher,
sinnesbetä ubender,
qualvoller, sengender, lodernder Schmerz, der jede Faser ihres Seins durchtobte.
Sie riss einen der Drä hte aus ihrem linken Arm.
Das Herausreißen des Drahtes machte den Schmerz unendlich und auf kaum glaubliche
Weise noch schlimmer.
Aber dann verebbte er.
Das ermutigte sie, auch die Drä hte aus ihrem rechten Arm herauszureißen.
Dasselbe: erst noch schlimmerer Schmerz, der dann auf ein Maß herabsank, das beinahe
erträ glich war.
Die beiden Drä hte, die seitlich an ihrem Kopf befestigt waren, hob sie sich bis zuletzt auf.
So entsetzlich und elend schlimm der Schmerz, den sie beim Aufwachen verspü rt hatte,
auch gewesen sein mochte, der, den sie fü hlte, als sie die Drä hte aus ihrem
- 66 -
Kopf riss, war noch um etliche tausend Quantensprü nge schrecklicher.
Als die weißglü hende Agonie endlich zu einem pochenden, tief sitzenden Schmerz
abgeklungen war, versuchte Alice ihre Umgebung in sich aufzunehmen.
Sie war auf einer Untersuchungsliege aufgewacht, auf die ein halbes Dutzend Lampen
herableuchteten. Jetzt allerdings befand sie sich auf dem Fußboden davor.
Sie konnte ihre Beine nicht bewegen.
Als sie sich umschaute, sah sie, dass die Drä hte, die sie aus ihrem Fleisch gezogen hatte, alle
zur Decke fü hrten.
Abgesehen von den Lampen, einer Tü r, den Drä hten und dem Untersuchungstisch war der
Raum weiß und leer – bis auf einen Spiegel. Alice war ziemlich sicher, dass es sich um einen
speziellen Spiegel handelte.
Irgendwie schaffte sie es, auf die Beine zu kommen.
Ihre Beine schienen sich nicht erinnern zu kö nnen, wie sie richtig zu funktionieren hatten.
Sie stolperte auf den Spiegel zu und hieb mit einer Faust dagegen. Rief um Hilfe.
Nichts wies daraufhin, dass jemand sie hö rte.
Sie fragte sich, wie lange sie bewusstlos auf diesem Tisch gelegen hatte.
Sie fragte sich, wo Matt war.
Sie fragte sich, ob sie Cain richtig verstanden hatte und ob er wirklich wahnsinnig genug
war, den Hive wieder zu ö ffnen, nachdem dort unten so viele Menschen gestorben waren.
Alice Abernathy erinnerte sich jetzt an alles. Sie erinnerte sich, von dem T-Virus gelesen zu
haben. Sie erinnerte sich, gedacht zu haben, dass man etwas dagegen unternehmen musste.
Sie erinnerte sich an ihr Treffen mit Lisa Broward und die Vereinbarung, ihr die
Information ü ber das T-Virus zu geben, damit sie sie an Leute weiterleiten konnte, die
Umbrellas Verstrickung in
- 67 -
diese verabscheuungswü rdigen Aktivitä ten ö ffentlich machen wü rden. Sie erinnerte sich,
mit Spence geschlafen zu haben und dass er fort gewesen war, als sie aufwachte. Sie
erinnerte sich, wie sie unter die Dusche gegangen und dann das Nervengas auf sie
eingeströ mt war. Sie erinnerte sich, ohne Gedä chtnis erwacht zu sein und One und seine
Leute gemeinsam mit einem gleichermaßen gedä chtnislosen Spence und einem RCPD-Cop
namens Matt Addison in den Hive begleitet zu haben.
Sie erinnerte sich an die Enthü llung, dass Spence derjenige gewesen war, der das T-Virus
freigesetzt hatte, und dass Matt kein Polizist, sondern Lisas Kontaktperson gewesen war –
beide Angehö rige einer Organisation, deren Ziel es war, Umbrella zu Fall zu bringen.
Sie erinnerte sich, mit angesehen zu haben, wie One und sein ganzes Team getö tet wurden:
One selbst, Danilova,
Warner
und
Vance
durch
das
Sicherheitssystem; Kaplan und Spence von dem Licker; J. D. und Rain von den untoten
Kreaturen, die alles waren, was von den Mitarbeitern im Hive ü brig geblieben war. Sie
erinnerte sich, nach dem Tod des Lickers mit Matt geflohen zu sein, nur um von Cain
erwischt zu werden.
Und sie erinnerte sich an noch etwas. An ein Memo, das sie an Able Cain geschrieben und in
dem sie auf einen Schwachpunkt der Kartenlesegerä te hingewiesen hatte, die ü berall in der
Umbrella-Einrichtung die Sicherheitstü ren ö ffneten: Mit einem spitzen Gegenstand konnte
man die Schaltkreise unterbrechen und so die Tü ren ö ffnen.
Cain hatte auf das Memo nicht reagiert. Alice hä tte darauf gewettet, dass er das Problem
nicht behoben hatte. Cain war ein arrogantes Arschloch.
Alice ergriff einen der blutigen Drä hte, die eben noch
- 68 -
mit ihrem Arm verbunden gewesen waren. Sie schob ihn in das Kartenlesegerä t und
stocherte darin herum, bis die Tü r aufging.
Nein, er hatte das Problem nicht behoben.
Dieser Hurensohn.
Sie ging durch die Gä nge eines Gebä udes, das sie jetzt als das Raccoon City Hospital
erkannte. Der Flü gel, in dem sie sich befand, war von Umbrella gestiftet worden, und der
Konzern benutzte ihn ziemlich regelmä ßig fü r seine eigenen Zwecke.
Der Korridor war vö llig verlassen. Keine Ä rzte, keine Schwestern, keine Patienten. Nichts
und niemand.
Die Stille war ohrenbetä ubend. Nicht nur gab es keine Anzeichen menschlicher Aktivitä ten,
es gab nicht einmal Hinweise auf mö gliche menschliche Aktivitä ten.
Als sie an einem Schrank vorbeikam, schnappte sie sich einen Arztkittel und zog ihn ü ber
ihr dü nnes Kleidchen.
Schließlich fand sie den Vordereingang und ging hinaus.
Was sich hier ihren Augen bot, ließ den Hive wie einen Picknick-Platz aussehen. Verlassene,
zertrü mmerte Fahrzeuge: Busse, Autos, Fahrrä der, Motorrä der, Nachrichten-
Ü bertragungs-Vans. Geborstener Asphalt, umgeworfene
Mü lltonnen,
beschä digte
Gebä ude,
zerbrochenes Glas, gesprungene Fassaden, verstreuter Abfall, umgeknickte
Straßenlaternen, Rauch, Feuer.
Und ü berall Blut.
Aber keine Leichen.
Langsam ging sie barfuss die Straße entlang, wobei sie versuchte den schlimmsten Stellen –
geborstenem Asphalt, scharfkantigen Steinen und Glasscherben –
auszuweichen.
Vor einem Zeitungskiosk in der Nä he steckten mehrere Exemplare der Abendausgabe der
Raccoon City Times in einem Stä nder. Die Schlagzeile auf der ersten Seite
- 69 -
lautete: WANDELNDE TOTE!
Die Wichser hatten den Hive wieder aufgemacht und die infizierten Arbeiter
herausgelassen.
Arschlö cher.
Dennoch, Alice sah keinen Menschen – weder tot noch lebendig.
Oder untot.
Doch sie wusste, dass das nicht so bleiben wü rde.
Zwei der vielen verlassenen, zerstö rten Fahrzeuge um sie herum waren Streifenwagen des
RCPD. Sie schaute in einen hinein, dann in den anderen – im zweiten fand sie, was sie
suchte.
Eine Shotgun.
Sie sah nach, ob sie voll geladen war.
War sie.
Alice lud die Waffe durch.
- 70 -
Zehn

„Es waren die besten Zeiten, es waren die schlimmsten Zeiten“, sagte Jill Valentine leise zu
sich selbst, als sie aus ihrem Wagen stieg.
Dass sie Dickens zitierte, lag an der Geschichte zweier Stä dte, deren Zeugin sie auf ihrer
Fahrt vom Revier zur Ravens’ Gate Bridge – oder besser gesagt bis knapp vor die Brü cke –
geworden war.
Teile von Raccoon City waren immer noch voller Menschen. Viele von ihnen versuchten die
Stadt zu verlassen oder wehrten Zombieattacken ab.
Andere Bereiche hingegen glichen einer Geisterstadt, mit
verlassenen
Fahrzeugen
und
verlassenen
Gebä uden, all dies beträ chtlich beschä digt.
Stellenweise hatte Jill es kaum geschafft, ihren Porsche zwischen den Lü cken aus Wracks
und Trü mmern hindurch zu manö vrieren. Zum ersten Mal wü nschte sie sich, einen
Gelä ndewagen zu besitzen.
Aber nur Idioten fuhren einen Offroader in der Stadt.
Allerdings wusste sie auch, dass die Welt mit Idioten ü bervö lkert war.
Die Hauptzufahrt zur Brü cke war eine Ballung verlassener Autos. Fü r Jill gab es dort kein
Weiterkommen mehr – zumindest nicht mit ihrem fahrbaren Untersatz.
Zum Glü ck gab es keinen Grund, den eigenen Wagen nicht auch einfach stehen zu lassen. So
schö n der Porsche auch sein mochte, er war doch nur ein Gegenstand. Derselbe Onkel, der
ihr Haus und Porsche vermacht hatte, hatte ihr auch genug auf ihrem Bankkonto
hinterlassen, damit sie sich neue Sachen kaufen konnte.
Doch die einzigen Gegenstä nde, die ihr in dieser
- 71 -
Situation tatsä chlich etwas bedeuteten, waren die beiden Automatikwaffen in ihren
Holstern, die Schachtel Zigaretten in ihrer Tasche, die sie noch aus dem Handschuhfach
herausgenommen hatte, und die Karten in ihrem Portemonnaie, die ihr den Zugriff auf ihr
Geld garantierten. Alles andere – ihre Kleidung, ihre Pokale, ihr Billardtisch, ihre CDs und,
ja, ihre Dienstmarke – war ersetzbar.
Wä hrend
die
Raccoon-Seite
der
Brü cke
mit
verlassenen Fahrzeugen – darunter, zu Jills bitterer Belustigung, Dutzende von
Gelä ndewagen – verstopft war, prä sentierte sich die Ravens’-Gate-Seite in gleichem Maße
mit Menschen verstopft. Sie alle versuchten die Stadt zu verlassen.
Die Frage, die sich Jill sofort aufdrä ngte – nä mlich, weshalb diese Leute nicht vorankamen
–, wurde beantwortet, als sie einen genaueren Blick auf das Ende der Ravens’-Gate-Seite
werfen konnte. Dort hatte man eine große, mit Stacheldraht versehene Barriere errichtet,
die von Leuten in Hazmat-Schutzanzü gen und mit sehr großen Knarren bewacht wurde.
Der einzige Weg durch die Wand – die offenbar aus Beton war –, fü hrte
durch
eine
schmale
Lü cke
auf
der
Brü ckenfahrbahn.
Zu Jills großer Verä rgerung trugen die Wand sowie die Leute in den Schutzanzü gen alle das
Logo der Umbrella Corporation.
Natü rlich.
Nein, Moment, nicht alle. Als sie nä her kam, sah sie ein paar Uniformierte vom RCPD, die
aushalfen. Aber es war nicht zu ü bersehen, dass ihre Arbeit nur unterstü tzender Art war.
Umbrella hielt das Heft fest in der Hand.
Warum macht man sich ü berhaupt die Mü he, einen Polizeiapparat zu unterhalten? Oder
eine Regierung?
Soll der Konzern doch gleich alles fü r uns regeln!
- 72 -
Wenn Jills Erfahrungen nach Arklay sie nicht abgestumpft hä tten, hä tte sie angesichts
dieses krassen Machtmissbrauchs wohl den Drang verspü rt, sich zu ü bergeben.
Im Moment jedoch wollte sie nur verdammt noch mal raus aus Dodge. Rü ckblickend hä tte
sie gleich nach ihrer Suspendierung aus Raccoon verschwinden sollen.
Schließlich vermochte eine Polizistin nicht zu ü berleben, wenn sie sich nicht darauf
verlassen konnte, dass ihre Kollegen hinter ihr standen.
Henderson und der Rest des RCPD hatten nicht hinter ihr gestanden – sie hatten sie den
Wö lfen zum Fraß vorgeworfen, jenen Wö lfen, die schicke Anzü ge trugen, wie sie der
Umbrella Corporation gefielen.
Sie war ihnen nichts schuldig.
Und deshalb ging sie.
Alles, was sie tun musste, war, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
Man hatte eine Sanitä tsstation errichtet, wo ein Arzt die Leute durchcheckte, wenn sie auf
das Tor zugingen, bewacht
von
Umbrella-Schlä gern…
und
einem
Burschen, der eine S.T.A.R.S.-Uniform trug.
„Peyton!“, schrie sie, aber sie war nicht zu hö ren ü ber dem
Lä rm
der
Menschen,
die
ungeduldig
daraufwarteten, untersucht zu werden, damit sie endlich abhauen konnten.
Als sie sich durch die Menge in Richtung des Tores drä ngte, fiel ihr Blick auf den Arzt, der
die Untersuchungen vornahm. Mä nnlicher Weißer, Ende zwanzig, aber mit einem Ausdruck
im Gesicht, den Jill nur zu gut kannte – zumeist von Cops der Mordkommission am dritten
Tag der Ermittlungen in einem großen Fall, in ihrer sechsten Schicht in Folge und ohne
Schlaf, nur noch von Kaffee, Zigaretten und den ramponierten Ü berresten ihrer inneren
Stä rke auf den Beinen gehalten. Der Doc sah aus, als wü rde er
- 73 -
gleich umfallen, aber er machte weiter.
Jill bewunderte seine Hingabe. Wenn sie diese Einstellung nur hä tte teilen kö nnen.
Im Moment sah sich der Doc einen Mann, eine Frau und ein Kind an, vermutlich eine
Familie. „Sie sind sauber“, hö rte Jill ihn mit einer dermaßen abgespannten Stimme sagen,
dass sie zu einem dreimal so alten Mann gepasst hä tte, „lasst sie passieren.“
Zwei der Umbrella-Typen begleiteten das Trio zum Tor.
„Die Nä chsten!“, rief der Doc.
Eine menschliche Flut schob sich vorwä rts, sie war von den Schlä gern und Cops kaum
unter Kontrolle zu halten.
Jill ließ sich von der Woge mittreiben und nä her zu ihrem Boss tragen.
Peyton Wells war Jills unmittelbarer Vorgesetzter und im Gegensatz zu seinem
unmittelbaren Vorgesetzten, Henderson, diese Ratte, hatte er nach dem Arklay-
Zwischenfall fü r Jill Partei ergriffen. „So einen Scheiß saugt sich Jill Valentine nicht aus den
Fingern“, waren seine exakten Worte in der Stellungnahme zur Sache gewesen. Er stand
stets hinter seinen Leuten, und seine Leute standen stets hinter ihm. Diese Art von
Loyalitä t brauchte man, wenn man in einer Einheit wie S.T.A.R.S.
die stä ndig unter Druck stand, ü berleben wollte.
Und das war der Grund, warum sich Jill von der vollkommenen Gleichgü ltigkeit der hohen
Tiere – oder vielleicht auch ihrem fehlenden Verstä ndnis – gegenü ber solcher Loyalitä t so
tief getroffen fü hlte.
„Peyton!“, schrie sie jetzt, da sie etwas nä her war, noch einmal, wä hrend die Wachen einen
alten Mann und ein Mä dchen im Teenageralter durchließen.
Diesmal hö rte Peyton sie. Bis jetzt hatte er sein ü bliches Bullenbeißergesicht zur Schau
getragen, aber bei ihrem Anblick wirkte er regelrecht erleichtert.
„Valentine!“ Er zeigte auf sie, wä hrend er einen der Umbrella-Schergen ansah. „Lasst sie
durch, sie gehö rt
- 74 -
zum RCPD – eine von meinen S.T.A.R.S.-Leuten.“
Der Umbrella-Typ furchte die Stirn. „Sie trä gt keine Uniform.“
Peyton verdrehte die Augen. „Klar, wenn ich nicht im Dienst bin und sehe, wie wandelnde
Tote die Stadt zerlegen, ist das Erste, was ich tue, mir Gedanken ü ber meine Klamotten zu
machen. Wü rden Sie sie jetzt bitte durchlassen?“
Jill lä chelte, wä hrend die Schlä gertypen ihr freie Bahn verschafften, damit sie zu Peyton
gelangen konnte.
„Bin froh, dass Sie hier sind“, sagte er. „Wir kö nnen Hilfe gebrauchen.“
Sie verkniff es sich zu sagen, dass sie nicht froh war, hier zu sein, und kein Interesse daran
hatte zu helfen.
Peyton verdiente Besseres.
Aber bevor sie irgendetwas sagen konnte, kippte der alte Mann um, den sich der Doc
angeschaut hatte.
„O mein Gott!“, heulte das Mä dchen auf. „Daddy!“
Wä hrend die Wachen und der Doc nur herumstanden, kniete sich das Mä dchen hin und
ö ffnete dem Mann das Hemd.
Wie armselig war es doch, dachte Jill, dass dieses junge Mä dchen mehr gesunden
Menschenverstand besaß als die so genannten ausgebildeten Profis?
„Er atmet nicht! Es ist sein Herz – er hat ein schwaches Herz.“
Das erklä rte fü r Jill die rasche Reaktion des Mä dchens, wahrscheinlich erlebte sie das nicht
zum ersten Mal.
Als sie jedoch begann, den Mann Mund zu Mund zu beatmen, geriet der Doktor in Panik.
„Geh weg von ihm!“
Das Mä dchen schenkte dem Doc keine Beachtung und setzte die Wiederbelebungsversuche
fort – Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzmassage, das ganze Programm.
Der Doc sah Peyton an. „Schaffen Sie die Kleine von ihm weg.“
Mit einem ä rgerlichen Grunzen packte Peyton zu und
- 75 -
zog das Mä dchen von seinem Vater herunter.
Jill empfand Ekel. Dieses Mä dchen versuchte das Leben seines Dad zu retten, und so wurde
es dafü r behandelt? Jil] musste raus aus diesem Dreckloch, und zwar sofort.
Das Mä dchen wand sich in Peytons krä ftigen Armen.
„Nein, lassen Sie mich los, ich muss…“
Plö tzlich ö ffneten sich die Augen des alten Mannes.
Als er auf das Tor zugegangen war, hatte er braune Augen gehabt.
Jetzt waren sie milchig weiß.
Ach du Scheiße.
Der Mann bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die Jill einem Menschen in seinem Alter
nicht zugetraut hä tte, und biss Peyton ins Bein.
„Aaaaahhhhh!“
Dieser Schrei war nicht angetan, die Menge zu beruhigen. Nachdem sich die Menschen
ohnehin schon gegen die kaum ausreichende Barrikade aus Wachen drä ngten, gerieten sie
nun, als sie sahen, wie Peyton gebissen wurde, in vö llige Raserei.
Jill zog ihre Automatik und jagte dem alten Mann eine Kugel in den Kopf.
Das Mä dchen schrie: „Neeeiiin! Daddy! Daddy! Sie haben ihn umgebracht!“
„Er war bereits tot“, sagte Jill.
Das Mä dchen rannte davon und stieß dabei einen der Umbrella-Kerle um. Ein anderer
nahm seine Stelle ein, um die Menge im Zaum zu halten, aber das Chaos wurde nur noch
schlimmer.
Jill bemerkte, dass der Schlä gertyp sein Headset verloren hatte, als er zu Boden ging. Sie
hob es auf und war gerade im Begriff, es dem Kerl, der den Kopf schü ttelte, um ihn wieder
klar zu bekommen, zurü ckzugeben, als sie Stimmen aus dem Ohrhö rer vernahm.
- 76 -
Eine junge Stimme: „Sir?“
Die nä chste Stimme sprach mit deutschem Akzent: „Es ist hier. Es hat das Tor erreicht.“
Eine dritte Stimme, sie klang ü bereifrig: „Na denn. Wir haben keine Wahl. Wir mü ssen es
gefangen halten.“
Der Deutsche: „Zumachen.“
Der Junge: „Sir?“
Der Deutsche: „Schließen Sie die Tore.“
Der junge Mann: „Aber unsere Leute sind noch da drin!“
Der Deutsche: „Tun Sie, was ich sage.“
Jill sah auf und zu der Wand hin. Das Tor begann zuzuschwingen.
„Scheiße, das tut weh.“
Im Umdrehen sah Jill, dass niemand sich die Mü he gemacht hatte, Peytons Wunde zu
verbinden. Mehr noch, der Arzt war plö tzlich nirgendwo mehr zu sehen.
Das passte ins Bild.
Jill schnappte sich einen Erste-Hilfe-Kasten, den irgendjemand hier liegen gelassen hatte.
Rasch verband sie Peytons Wunde. Dass es dem alten Mann gelungen war, Peytons Hose
und Haut zu durchbeißen, war ziemlich beeindruckend.
Wä hrend sie den Verband fixierte, sagte Jill:
„Verdammt, Peyton, Sie hä tten verschwinden sollen, so lange Sie noch die Chance dazu
hatten.“
„Das sind unsere Leute, Jill.“
Jill schnaubte und schü ttelte den Kopf. Loyal bis zum Ende. Er und Quinn. Wahrscheinlich
wü rde man beiden posthum einen Orden verleihen.
Der ihnen wahnsinnig viel nü tzen wü rde…
„Aus dem Weg! Ich bin ein Star, verdammt noch mal!“
Erstaunlicherweise funktionierte das – ein Meer aus panischen Bü rgern von Raccoon City
teilte sich, um eine forsch wirkende Frau durchzulassen. Jill erkannte sie als Reporterin von
einem der Fernsehsender, aber sie
- 77 -
konnte sich nicht erinnern, wie sie hieß. Tammy Morehead? Theresa Morehouse? So
ä hnlich jedenfalls.
Dann erklang ü ber ihnen eine drö hnende Stimme. Jill schaute auf und sah einen der
Umbrella-Gangster mit einem Megafon in der Hand auf der Mauer stehen.
„Das ist eine Seuchen-Quarantä nezone.“
Die Stimme war die des Deutschen.
„Was ist hier los?“, schrie die Reporterin zur Mauerkrone hinauf.
Der Deutsche ignorierte sie – oder vielleicht konnte er sie auch nicht hö ren – und
wiederholte seine Worte:
„Das ist eine Seuchen-Quarantä nezone. Wegen der Infektionsgefahr dü rfen Sie die Stadt
nicht verlassen.“
„Wovon reden Sie?“, verlangte die Reporterin zu wissen.
Jill war drauf und dran, ihr zuzuschreien, dass er sie nicht hö ren konnte, entschied aber,
dass es die Mü he nicht wert war.
„Es werden alle geeigneten Maßnahmen ergriffen. Die Situation ist unter Kontrolle. Bitte
kehren Sie in Ihre Hä user zurü ck.“
Wenn es nicht so kolossal dumm gewesen wä re, hä tte Jill gelacht. Sie tat es trotzdem
beinahe, weil Lachen das Einzige war, was sie davon abhielt, in ihre Waffe zu beißen.
Zurü ck in die Hä user. Na klar. Raccoon City war ein Friedhof, auf dem sekü ndlich neue
Grä ber ausgehoben wurden. Durch die Schließung dieses Tores hatte der deutsche Arsch
dort oben sie alle zum Tode verurteilt.
Und was noch schlimmer war: Jill nahm an, dass der Deutsche dies wusste. Und dass es ihn
nicht kü mmerte.
Typisch Umbrella.
Die
Bü rger
gerieten
ob
dieser
Anweisungen
verstä ndlicherweise aus der Fassung.
„Zurü ck in unsere Hä user?“
„Sind Sie irre?“
- 78 -
„Was fü r Hä user?“
„Lasst uns durch!“
Die Menge drä ngte nach vorne. Die Schlä gertypen und die Polizisten hatten zunehmend
mehr Mü he, sie zurü ckzuhalten, weil die Verzweiflung den Menschen zusä tzliche Krä fte
verlieh.
Oder vielleicht schwä chte das Dilemma auch die Umbrella-Gorillas und Cops, ü berlegte Jill.
Schließlich saßen sie genauso in der Falle wie alle anderen.
„Das ist eine Seuchen-Quarantä nezone. Bitte kehren Sie in Ihre Hä user zurü ck.“
Jill fragte sich, ob der Deutsche eine Zugschnur am Rü cken hatte, die ihn seine Worte ein
ums andere Mal wiederholen ließ.
Sie sah zu Peyton, der immer noch versuchte, die Menschen zurü ckzuhalten und sie zu
beruhigen, selbst mit seinem verletzten Bein.
Sie dachte an Quinn, der hinter seinem Tresen geblieben war.
„Das sind unsere Leute, Jill.“
„Meine Schicht ist noch nicht vorbei.“
Scheiße.
Sie rief zum oberen Ende der Wand hinauf: „Hier sind Verletzte! Sie brauchen medizinische
Versorgung!“
Als Antwort senkte der Deutsche sein Megafon und hob eine Automatikwaffe – eine MP5K,
wie es aussah.
Er schoss ein Dutzend Mal in die Luft.
Alles wurde still, niemand rü hrte sich mehr.
Der Deutsche hob das Megafon wieder an und sagte:
„Sie haben fü nfzehn Sekunden, um umzukehren und zurü ck in die Stadt zu gehen.“
Sechs weitere dieser Gangster bezogen rund um den Deutschen Stellung auf der Mauer. Jill
fragte sich, welcher von ihnen der junge Kerl war, dessen Stimme sie ü ber den Ohrhö rer
vernommen hatte. Sie waren ebenfalls mit MP5Ks bewaffnet.
- 79 -
Der Deutsche reichte dem Mann, der neben ihm stand, das Megafon, und nun sprach dieser
hinein.
„Wir sind autorisiert, scharfe Munition einzusetzen.“
Ja, das war der Typ, den sie gehö rt hatte.
„Er kann doch keine Menschen erschießen!“, sagte die Reporterin.
Terri Morales, das war ihr Name, ja sie erinnerte sich.
Jill hatte einige Male mit ihr gesprochen, als Morales noch Reporterin gewesen war, bevor
sie mit einer Enthü llung ü ber Stadtrat Miller einen Bock geschossen hatte. Danach ließ man
sie die Wettervorhersage machen – was mehr war, als sie verdiente. Niemand, der eine
Enthü llung ü ber diesen Dreckskerl vermasselte, verdiente es, im Nachrichtenbusiness zu
sein.
Ü ber das, was sie gesagt hatte, machte sich Jill keine Sorgen. Diese Mä nner waren Schergen
eines Konzerns.
Konzerne waren grausam, ja, manchmal skrupellos, oft gleichgü ltig. Aber sie waren niemals
sadistisch.
„Fü nfzehn… vierzehn… dreizehn… zwö lf…“
Der Deutsche nickte den Kerlen auf der Mauer zu. Sie hoben ihre Gewehre.
„Elf… zehn…“
Peyton sah Jill an. „Er blufft nicht.“
„Neun… acht…“
Jill wollte es nicht glauben. „Sie werden nicht in eine Menschenmenge schießen.“
„Sieben… sechs…“
„Schafft sie zurü ck.“
Aus irgendeinem Grund war Peyton Wells sicher, dass sie in die Menge feuern wü rden.
Peyton hatte Jills Urteilsvermö gen vertraut, als niemand sonst es getan hatte. Jetzt musste
sie im Gegenzug dasselbe tun.
„Fü nf… vier…“
Und wenn der Deutsche schon befahl, dass die Tore geschlossen wurden, warum sollte er
dann nicht auch
- 80 -
den Befehl geben, auf unschuldige Menschen zu schießen? Sie waren sowieso schon tot.
„Bewegt euch!“, schrie Jill. „Weg von der Mauer!“
Peyton tat dasselbe, ebenso die anderen RCPD-Cops.
„Drei… zwei…“
Einen Augenblick spä ter griffen auch die Kerle von Umbrella mit ein. Sie versuchten, die
Leute von der Wand zurü ckzudrä ngen.
„Eins…“
Das Nä chste, was Jill hö rte, waren mehrere Schü sse aus Sturmgewehren, die von der
Mauerkrone aus nach unten gerichtet waren.
- 81 -
Elf

Wenn Timothy Cain die Schreie der Menschen hö rte, auf die zu schießen er gerade befohlen
hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken. Er stieg die Metalltreppe hinunter, die ihn und
Giddings ins Basislager fü hrte, und sprach in sein Headset.
„Ravens’ Gate ist gesichert, aber ich habe gerade den Kontakt zu Trupp eins und zwei in der
Stadt verloren.
Die Trupps drei bis sieben sind auf dem Rü ckzug.“
„Gibt es irgendeine Mö glichkeit zur Eindä mmung?“
„Nein,
Sir.
Suppressionsmaßnahmen
sind
fehlgeschlagen. Wir kö nnen es nicht aufhalten. Die Infektion
breitet
sich
schneller
aus,
als
es
vorauszusehen war.“
„Das steht mal fest.“ Der Mann am anderen Ende seufzte vernehmlich. „In Ordnung, dann
werden wir Nemesis aktivieren mü ssen, wie Sie es empfohlen haben. Ende.“
Cain nickte und wandte sich Giddings zu. Sie nä herten sich jetzt einem von mehreren
Dutzend aufblasbaren Zelten, die man in aller Eile aufgestellt hatte, nachdem dieses Lager
errichtet worden war. Auf jedem davon prangte das charakteristische U des Firmenlogos.
Aus seiner Zeit am Golf erinnerte sich Cain an etliche Operationen, die perfekt geplant und
ausgefü hrt worden und doch fehlgeschlagen waren, weil in der Wü ste irgendetwas
Unvorhersehbares geschah. Die Wü ste war buchstä blich eine Naturgewalt, und die Plä ne
von Menschen konnten unter solchen Umstä nden nicht immer gelingen.
Damals, als er noch Gefreiter und grü n hinter den Ohren gewesen war, hatte sein First
Lieutenant immer gesagt: „Eines Tages wird die Wü ste gewinnen.“ Heute
- 82 -
gewann die Wü ste.
Die Operation war wie geplant abgelaufen, aber das T-Virus war einfach nicht unter
Kontrolle zu bringen.
Zu Giddings sagte er: „Machen Sie den C89 startklar und bringen Sie ihn in die Luft. Die
Aktivierung des Nemesis-Programms wurde bestä tigt.“
Giddings nickte und ging davon. Cain hielt auf den Hubschrauberlandeplatz zu, wo er den
im Rollstuhl sitzenden Dr. Charles Ashford vorfand.
Ashford war einer der Hauptgrü nde, weshalb Cain einen so dicken Gehaltsscheck mit nach
Hause nahm.
Viele von Umbrellas lukrativsten – und geheimsten –
Verträ gen hatten mit Ashfords brillanter Virusarbeit zu tun. Genau wie die heutige
Katastrophe. Aber Ashford war dennoch wie ein Kö nig zu behandeln. Cains Vorgesetzte
hatten ihm ganz klar zu verstehen gegeben, dass Ashford wichtiger war als jeder andere in
oder um Raccoon City, inklusive Cain selbst. Deshalb hatte man ihn und Umbrellas andere
Spitzenwissenschaftler heute Morgen evakuiert. Kurz vor der Schließung des Tores hatte
Cain den Befehl erhalten, sie alle an einen sicheren Ort zu bringen, der einige Dutzend
Meilen von hier entfernt lag. Raccoon war nicht sicher, und diese Leute waren Ressourcen,
die geschü tzt werden mussten.
Jetzt allerdings musterte der Wissenschaftler Cain mit ä rgerlicher Miene.
„Dr. Ashford.“
„Warum wurde da geschossen?“
„Das war nichts, um das sich die wissenschaftliche Abteilung
sorgen
muss.
Sollten
Sie
nicht
im
Hubschrauber sein?“
„Ich bleibe hier.“
Cain
versuchte
seine
eigene
Verä rgerung
zu
verhehlen. Diesen Scheiß brauchte er nun wirklich nicht.
Er sah hinü ber zu den Gelä ndewagen, die in der Nä he
- 83 -
parkten – einer fehlte.
„Doktor, ich wurde angewiesen, Sie und die anderen Wissenschaftler aus der heißen Zone
zu schaffen. Sie sind zu wichtig fü r Umbrella, um einer Gefahr ausgesetzt zu werden.“
„Ich bleibe hier, bis ich meine Tochter habe.“
Aha, also war es, wie Cain vermutet hatte, als Stein und einer der Friedberger-Brü der –
Cain konnte sie nie auseinander halten – es nicht geschafft hatten, mit Angie Ashford hier
aufzukreuzen. Die Tochter des behinderten Mannes befand sich noch in Raccoon City.
Was hieß, dass sie tot war.
Aber wie sollte man das einem Vater erklä ren?
„Es tut mir Leid, wirklich, aber die Stadt ist abgeriegelt.
Selbst wenn sie noch am Leben ist, kö nnte ich sie nicht herauslassen. Nicht jetzt – die
Infektionsgefahr ist zu groß. Sie mü ssen das verstehen.“
„Ich verstehe nicht, wie all das passieren konnte. Wie konnte es zu einem Ausbruch
kommen?“
Cain schü ttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Das war die Wahrheit. Das Einzige, was sie herausgefunden hatten, waren der Zeitpunkt, zu
dem das T-Virus im Hive freigesetzt worden war, und dass Alice Abernathy in der Villa
gewesen war und geduscht hatte, als es passierte. Und das wussten sie nur, weil die
Ü berwachungskameras
in
der
Villa
von
der
katastrophalen Beschä digung der Red Queen verschont geblieben waren und deshalb
geborgen werden konnten.
Abernathys Unschuld warf nur noch mehr Fragen auf…
Cain wandte den Blick ab und sah, dass außer Ashford alle an Bord des Helikopters waren.
„Hier kö nnen Sie wirklich nichts tun, Doktor.“
„Ich bleibe.“
Fast hä tte Cain dem Drang nachgegeben, Ashford einfach hochzuheben und in den
Hubschrauber zu setzen, aber er beherrschte sich. Wenn er das tat und
- 84 -
Ashford meldete, dass es dazu gekommen war – was er ganz sicher tun wü rde –, wä re Cains
Job keinen Cent mehr wert gewesen.
Wenn Ashford bleiben wollte, dann wü rde er bleiben.
Aber Cain wü rde ihn nicht herumstreunen lassen.
Er gab dem Hubschrauberpiloten das Zeichen zum Abheben, dann rief er Giddings herbei.
„Ja, Sir?“
„Bringen Sie Dr. Ashford in Arbeitsbereich D.“ Das war eines der Zelte. Es enthielt einen
Arbeitsplatz, einen Umbrella-Computer, der mit dem Firmensatelliten verbunden war, ein
Feldbett und ein Bü cherregal. Dort konnte sich der Doktor beschä ftigen, vielleicht etwas
arbeiten, wä hrend er vergebens darauf wartete, dass seine Tochter zu ihm zurü ckkam.
„Sorgen Sie dafü r, dass er dort in Sicherheit ist.“
„Ja, Sir.“
Giddings trat hinter Ashford und schob seinen Rollstuhl in das genannte Zelt. Kurz darauf
kam er wieder heraus, schloss das Zelt und rief dann einen Angehö rigen des
Kommandotrupps zu sich, einen jungen Rekruten namens Noyce.
„Passen Sie auf ihn auf,“ sagte Giddings. „Er darf das Zelt nicht verlassen.“
„Sir.“ Noyce bestä tigte zackig.
Cain nickte zustimmend.
Dann ging er zur Befehlszentrale, die sie hinter dem Hubschrauberlandeplatz
eingerichtet
hatten.
Sie
vermissten eine Menge Leute in Raccoon City. Nachdem sie One und sein Team, Ward und
sein Team und etwa fü nfhundert Angestellte verloren hatten, wurde es allmä hlich
schwierig, sich mit nur zwei Trupps um die Angelegenheit zu kü mmern.
Es wü rde Umbrella einiges kosten, diese grandiose Scheiße unter den Teppich zu kehren.
- 85 -
Zwölf

In Alice Abernathys Augen sah die Stadt anders aus –


ein Eindruck, der ü ber das Offensichtliche hinausging.
Farben waren krä ftiger. Details waren leichter auszumachen. Formen traten klarer hervor.
Und außerdem konnte sie weiter sehen als zuvor.
Die Hurensö hne hatten etwas mit ihr gemacht.
Irgendwann zwischen dem Moment, da sie ihr das Sedativ verabreicht hatten, und ihrem
Erwachen im Krankenhaus hatten sie etwas mit ihr angestellt.
Sie wusste nicht, was, aber es hatte sie verä ndert.
Und da sie Umbrella kannte, wusste sie, dass es nichts Gutes sein konnte.
Wä hrend sie durch die Straßen ging, sah sie nur sehr wenige Menschen. Einige lebten – sie
waren leicht zu erkennen, weil sie diejenigen waren, die schrien und vor Entsetzen fast den
Verstand verloren –, andere waren wandelnde Leichen.
Manchmal sah sie einen Vertreter der einen ,Spezies’
mit einem ,von der anderen Fraktion’ kä mpfen. Wenn sie nahe beieinander waren, rief
Alice dem Lebenden zu, dem Toten das Genick zu brechen oder, wenn er bewaffnet war, auf
den Kopf zu zielen.
Wenn nicht die Gefahr bestand, den Lebenden zu treffen, nahm Alice einfach die Shotgun,
die sie sich aus dem RCPD-Streifenwagen besorgt hatte, und blies dem Toten den Schä del
weg.
Die Lebenden zeigten sich nur selten dankbar. Fü r gewö hnlich rannten sie davon, als sei
der Teufel hinter ihnen her.
Alice konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Eine Frau in einem Krankenhaushemd, die
eine Shotgun mit sich herumschleppte, war nicht unbedingt jemand, mit dem
- 86 -
man abhä ngen und plaudern wollte.
Wä hrend sie durch die verheerten Straßen von Raccoon City ging, stellte sie fest, wie sehr
das reine Konzept von Gier sie anwiderte.
Gier hatte diesen Alptraum erschaffen.
Umbrellas Gier, das T-Virus ü berhaupt erst zu erzeugen, als Basis fü r eine Faltencreme, die
dem Ego eitler Idioten schmeicheln sollte – und vielleicht auch als etwas,
das
sich
als
Bioterrorwaffe
an
den
Meistbietenden verkaufen ließ.
Und Spence Parks Gier, die ihn dazu getrieben hatte, das Virus und sein Antigen zu stehlen,
um es selbst an den Meistbietenden zu verhö kern. Womit er den ganzen Hive infiziert und
fü nfhundert Menschen zum Tode verurteilt hatte. Und das alles, nur um seine Spuren zu
verwischen.
Rü ckblickend betrachtet hä tte Alice es kommen sehen mü ssen. Spence hatte von dem
Augenblick an, da sie sich kennen gelernt hatten und als getü rktes Ehepaar
zusammengespannt worden waren, das die Villa bewachen sollte, keinen Hehl aus seiner
Gier gemacht.
Er sagte, dass er seinen Job beim Chicago Police Department ohne zu zö gern aufgegeben
hatte fü r den Gehaltsscheck, den er fü r seine Arbeit bei der Sicherheitsabteilung von
Umbrella bekam.
Aber Alice hatte ihm nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt, die darü ber hinausging, wie
gut er in dem Bett war, das sie teilten, und wie gut er seinen Job als ihr Partner versah. Und
das, obwohl ihre Ausbildung, ihre Instinkte, ihr Job von ihr verlangten, hinter die Fassade
zu blicken.
Was hatte sie vor nicht allzu langer Zeit gesagt?
„Beurteile nichts und niemanden nach seinem Ä ußeren.
Erste Regel der Sicherheitsabteilung.“
Alices Instinkte hatten ihr so oft gute Dienste geleistet, aber in Spences Fall hatten sie sie
im Stich gelassen.
- 87 -
Jetzt war Spence tot, die Hive-Mitarbeiter waren tot, Rain und der Rest von Ones Team
waren tot, halb Raccoon City war tot, und die andere Hä lfte wü rde wahrscheinlich folgen.
Sie hatte keine Ahnung, was mit Matt geschehen war – und Gier war der Grund fü r all das.
Gier und Dummheit. Sie kannte Able Cain, und diese Sache stank geradezu nach ihm. So
sehr dieses Arschloch auch von Effizienz reden mochte, seine Operationen waren stets
schlampig und unbesonnen. Er verschwendete
nie
einen
Gedanken
an
Kollateralschä den und ü berlebte nur allzu oft, wä hrend seine Plä ne grü ndlich schiefgingen.
Was hier ganz klar der Fall war.
Das Letzte, was Alice in der Villa aus Cains Mund gehö rt hatte, war, dass er den Hive wieder
aufmachen ließ, was sehr wahrscheinlich das Dü mmste war, das man unter diesen
Umstä nden tun konnte.
Alice hatte geglaubt, ziellos durch die Innenstadt von Raccoon zu streifen, aber als sie um
die Ecke einer abgelegenen.
Straße bog, wusste sie, dass sie ein bestimmtes Ziel im Sinn gehabt hatte, wenn auch nur
unbewusst.
Sie ging auf ein Gebä ude mit einer kurzen Treppe zu.
Die Stufen fü hrten zu einer Eingangsnische mit drei Tü ren. Zwei gehö rten zu Lä den, die das
Erdgeschoss einnahmen – ein Zeitschriftenladen und ein Geschä ft fü r Fußbodenbelä ge. Die
dritte fü hrte in die Lobby eines Apartmenthauses. An die kurze Treppe schloss sich eine
weitere an, die zu einer Tü r hinabfü hrte, auf der in bescheidener Grö ße der Schriftzug CHE
BUONO zu lesen war.
Als Alice das letzte Mal in Raccoon gewesen war, hatte sie Lisa Broward zum Mittagessen
eingeladen. Alice hatte herausgefunden, dass Lisa, die fü r die Sicherheit des
gewaltigen
Red-Queen-Computernetzwerks
- 88 -
verantwortlich war, eine persö nliche Vendetta gegen Umbrella fü hrte. Grund war der Tod
eines frü heren Kollegen. Darum hatte Alice sie angeworben, um ihr zu helfen, Umbrellas
Entwicklung des T-Virus zu enthü llen, was eine Verletzung nationaler und internationaler
Gesetze sowie einer Unzahl von Abkommen darstellte, die die USA im Laufe der Jahre
unterzeichnet hatten.
Was Alice zu dem Zeitpunkt nicht gewusst hatte, war, dass Lisa von ihrem Bruder Matt
Addison in die Firma eingeschleust worden war. Und Matt gehö rte zu einer geheimen
Gruppe, deren Ziel es war, die Leute hinter Umbrella als die Scheißkerle zu entlarven, die
sie waren.
Spences Gier hatte auch das vermasselt. Lisa hatte alles vorbereitet, um das T-Virus an Matt
weiterzugeben, der sie in der Villa treffen wollte. Stattdessen fand sich Matt in dem
Alptraum wieder, den Spence ausgelö st hatte.
Auf Che Buono war Alice zum ersten Mal an einem Valentinstag aufmerksam geworden. Sie
war durch die Stadt spaziert und hatte sich selbst bemitleidet, weil sie allein war an diesem
Tag, der die Zweisamkeit feierte.
Che Buono – ein italienisches Restaurant, das von einer kleinen Familie namens Figlia
gefü hrt wurde, die aus Italien ausgewandert war, um in Amerika ein Lokal zu erö ffnen –
war das einzige Restaurant, in dem es noch einen freien Tisch gab, und Alice hatte in ihrem
ganzen Leben noch nicht so gut gegessen.
Vorsichtig ging
sie
die
Treppe
hinunter,
um
nachzusehen, ob die Figlias in Ordnung waren.
Drinnen herrschte Chaos. Die sechs Tische waren umgekippt, die Stü hle lagen verstreut
umher, viele waren zerbrochen. Die Fotos von Italien hingen schief an den Wä nden, einige
waren heruntergerissen und beschä digt.
Und am schlimmsten von allem: Das Gemä lde der Ponte Vecchio in Florenz, das Herzstü ck
des Lokals, war von Blut befleckt.
- 89 -
Alice sah keine Toten. Sie fragte sich, ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes.
Dann hö rte sie ein Gerä usch.
Die Kü chentü r wurde geö ffnet und vier Personen schlurften heraus.
Anna Figlia, die alte Frau, die als Oberkellnerin des Lokals fungierte. Ihr Sohn Luigi und
seine Frau Antonia, die fü r das Kochen zustä ndig waren. Rosa, die Tochter von Luigi und
Antonia, die die Gä ste bediente…
Wie ein Mann bewegten sie sich auf Alice zu, die Augen milchig, die Mü nder klaffend weit
offen und schwarze Zä hne enthü llend, die beinahe aussahen, als zielten sie auf Alices Hals.
Frü her war der Anblick dieser vier Gesichter wie eine Zuflucht gewesen. Das Che Buono
war eine Schutzzone vor
der
zunehmenden
Frustration,
fü r
verabscheuungswü rdige Leute zu arbeiten, die Alice auftrugen,
aus
verabscheuungswü rdigen
Grü nden
verabscheuungswü rdige Dinge zu tun. Sie hatte Lisa ganz bewusst hierher eingeladen, weil
sie wusste, dass hier ihr wahres Gesicht zum Vorschein kommen und Alice erkennen
wü rde, ob sie ihr wirklich vertrauen konnte. Nie wü rde sie Lisas Miene vergessen, als sie
zum ersten Mal von dem Kalbsfleisch Parmigiano probiert und behauptet hatte, dass es das
Beste sei, das sie gehabt hatte, seit sie als Kind in einem der vielen italienischen Lokale
gegessen hatte, in die sie und ihre Familie in New York City gegangen waren.
Trä nen stiegen Alice in die Augen, als sie die Shotgun hob und viermal abdrü ckte. Dann
drehte sie sich um und verließ das Che Buono zum letzten Mal.
Beim Hinausgehen stieß sie gegen den Tü rrahmen.
Schmerz schoss durch ihren Unterarm, und sie stellte fest, dass sie sich geschnitten hatte.
Die Wunde ignorierend zog sie weiter durch die Straßen.
- 90 -
Schließlich fiel ihr Blick auf eine Ladenfront: SURPLUS
AND MORE. Es war ein guter altmodischer Army- und Navy-Laden

genau
das
Richtige
fü r
einen
postapokalyptischen Einkaufsbummel.
Und sollte sie auch sonst nichts Brauchbares finden: Sie hatte fast keine Munition mehr fü r
die Shotgun.
Wä hrend sie durch den Laden ging und in Gedanken abwog, was sie wirklich brauchte und
was sie problemlos tragen konnte, krü mmte sie sich plö tzlich. Ein schmerzhafter Krampf
durchlief ihren ganzen Kö rper.
Ihre Arme fü hlten sich besonders merkwü rdig an, und sie senkte den Blick und sah ein
sonderbares Krä useln –
als bewegte sich etwas unter ihrer Haut.
Entsetzt erinnerte sie sich, wo sie einen solchen Effekt schon einmal gesehen hatte: auf
Matt Addisons verletztem Arm, unmittelbar bevor sie von Cain und seinen Schergen in der
Villa ü berwä ltigt worden waren.
Dann bemerkte sie noch etwas: Der Schnitt an ihrem Arm war vö llig verheilt.
Eine weitere Woge aus Schmerz bohrte sich in sie, und sie stolperte beinahe zu Boden. Das
war schlimmer als der Schmerz, der sie beim Aufwachen im Krankenhaus gequä lt hatte,
schlimmer noch, als der, den sie verspü rte, als sie sich die Drä hte aus dem Fleisch gerissen
hatte.
Gott, was geschah nur mit ihr?
Der Schmerz verebbte allmä hlich. Sie sah sich im Laden nach einem Spiegel um, fand einen
und rannte darauf zu.
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Die Haare, die man ihr abrasiert hatte, um die Drä hte an
ihrem
Kopf
befestigen
zu
kö nnen,
waren
nachgewachsen, die Wunden, die diese Drä hte hinterlassen hatten, ebenfalls verheilt.
Sie sah zu ihren Fü ßen hinab. Seit sie das Krankenhaus verlassen hatte, war sie barfuß ü ber
- 91 -
zerbrochenes Glas und aufgerissenen Asphalt gelaufen, und doch zeigten ihre Sohlen
keinen Schnitt, nicht einmal eine Abschü rfung.
Die Hurensö hne hatten ganz ohne Zweifel etwas mit ihr gemacht!
Dann hö rte sie ein Gerä usch.
Die Shotgun erhoben, drehte sie sich um und sah einen Pulk von Zombies, der durch die
Eingangstü r auf sie zutaumelte.
Doch bevor die Gruppe zu nahe kam, blieb sie stehen.
Starrte sie aus wä ssrigen Augen an.
Alice hielt ihre Shotgun direkt auf die Stirn der Anfü hrerin gerichtet, bereit zu schießen,
sollte sie oder einer der anderen sie angreifen.
Aber das tat sie nicht.
Ebenso wenig wie die anderen.
Sie schlurften lediglich an ihr vorbei, schenkten ihr keine Beachtung.
Das ergab keinen Sinn.
O ja, die Hurensö hne hatten etwas mit ihr angestellt.
Die Frage war nur… was?
Dann hö rte sie ein weiteres Gerä usch – das Rö hren eines Motorrads.
Sie drehte sich um und sah hinaus. Eine Harley hielt geradewegs auf das Schaufenster des
Ladens zu.
Und wurde nicht langsamer.
In
dem
Moment, als
Alice
sich hinter
den
Verkaufstresen in Deckung warf, durchbrach das Motorrad mit einem Getö se, das Alice
ungewö hnlich laut vorkam, das Schaufenster – zum Teil wirkte es wohl so machtvoll, weil
es ringsum so still gewesen war, aber auch weil ihr Gehö r, wie ihr jetzt bewusst wurde, auf
einmal sehr viel empfindlicher war.
Sie stand auf und sah, dass das Motorrad in einem Regal voller Drillichklamotten zum
Halten gekommen war. Ein großer Mann in einer Lederjacke hing ü ber dem
- 92 -
Lenker, sein Kopf steckte unter einem Haufen grü ner Tarnhosen.
Als sie sich ihm nä herte, richtete sich der Motorradfahrer kerzengerade auf. Seine Augen
konnte sie hinter der verspiegelten Sonnenbrille nicht sehen, aber die Art und Weise, in der
sein Mund weit, weit offen stand, war unmissverstä ndlich.
Ganz ruhig packte Alice seinen Kopf, eine Hand auf jeder Seite, und drehte ihn ruckartig.
Dann stieß sie den Fahrer aus dem Sattel, suchte und fand die Zü ndung, drehte den
Schlü ssel, zog das Motorrad aus dem Kleiderregal und lehnte es gegen die Verkaufstheke.
Jetzt wü rde sie es leichter haben, in der Stadt herumzukommen.
Wä hrend die Zombie-Brigade um sie herumschlurfte, ohne sie auch nur im Geringsten zu
beachten, setzte Alice ihren Einkauf fort – die Liste der Dinge, die sie transportieren
konnte, war gerade etwas lä nger geworden.
- 93 -
Dreizehn

Wä re Jill Valentine gefragt worden, wie sie es geschafft hatte, dem Chaos auf der Ravens’
Gate Bridge zu entkommen, hä tte sie die Frage nicht beantworten kö nnen.
In der einen Minute schrie sie alle in ihrer Umgebung an, dass sie verschwinden sollten. Im
nä chsten Augenblick fielen bereits Schü sse. Und gleich darauf stob ein Heer von Menschen
in alle Richtungen davon.
Das Nä chste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie selbst durch die Straßen von Raccoon
City hetzte, den verletzten Peyton Wells
stü tzend
und
begleitet
ausgerechnet von Terri Morales.
Wä re die Situation ein wenig anders gewesen – wenn zum Beispiel Morales verletzt und
Peyton noch fit gewesen wä re – , hä tte sich Jill nicht von einer Verwundeten behindern
lassen. Peyton allerdings wollte sie nicht zurü cklassen.
Nachdem
diejenigen,
die
das
Umbrellasche
Skeetschießen in Ravens’ Gate ü berlebt hatten, auf die Raccoon-Seite der Brü cke gelangt
waren, zerstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen. Jill hatte sich fü r die Richtung, in die
sie seither gingen, entschieden, weil es dort vergleichsweise leer war. Sie vermutete, dass
die Zombies
sich
grö ßeren
Menschen-Ansammlungen
zuwenden wü rden, und nachdem die meisten die Route 22 oder den Western Boulevard
hinuntereilten, bewegten sich Jill und Peyton – und Morales, die jetzt wie ein Blutsauger an
ihnen hing – die weniger benutzte Dilmore
Place
entlang,
die
zu
einem
heruntergekommenen Wohnviertel fü hrte.
Im Gehen warf sie Peyton, der, einen Arm um ihren Nacken gelegt, neben ihr herhumpelte,
einen Blick zu. Er
- 94 -
war bleich geworden und schwitzte, aber letzteres mochte durchaus an der Hitze liegen,
die auch nach Sonnenuntergang nicht nachließ.
Die meisten Straßenlaternen funktionierten nicht, aber Feuer und brennende Autos
leuchteten ihnen den Weg.
Jills Blick fiel auf eine große Kirche am Ende der Straße, wo sich die Dilmore und die Lyons
Street kreuzten.
Gab es einen besseren Zufluchtsort?
Sie versuchte Peyton Trost zu spenden. „Wir ruhen uns gleich aus.“
„Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, sagte er, verzweifelt bemü ht, taff zu klingen – was
ihm klä glich misslang.
Das zeigte mehr als alles andere, wie schlecht es Peyton ging. Fü r gewö hnlich fiel es ihm
nicht schwer, Durchhaltevermö gen zu vermitteln.
Aus Morales, die bislang gnä digerweise sehr still gewesen war, brach plö tzlich ein
Sturzbach von Worten hervor.
„Was zum Teufel geht hier vor!? Die haben auf Menschen geschossen! Unschuldige
Menschen! Warum haben Sie nichts unternommen? Sie sind doch von der Polizei!“
Die Ex-Reporterin hatte nicht ganz Unrecht. Es war ja nicht so, dass Umbrella eine
Ordnungsmacht war oder Militä rgewalt besaß. Ungeachtet der Worte dieses Kerls auf der
Mauer konnte ein Unternehmen den Gebrauch von scharfer Munition außerhalb eines
Schießstandes eben nicht „autorisieren“.
Aber letzten Endes waren die Einzigen mit wahrer Autoritä t diejenigen, die die grö ßten
Schießeisen in Hä nden hielten. Und im Moment war das zweifelsfrei Umbrella.
Doch Jill hatte weder Lust noch die Geduld, dies der Wetterfee von Raccoon 7 zu erklä ren.
Als sie das Kirchenportal erreichten, sagte Jill: „Da rein.
- 95 -
Hier kö nnen wir uns verstecken.“
Die Kirche war ein gewaltiges Bauwerk im gotischen Stil, das aussah wie etwas, das Frank
Lloyd Wright auf Bitten von Tim Burton hin gebaut hatte, und zwar, als sie beide betrunken
waren. Die abgedrehte Architektur und die riesenhaften Gargoyles wirkten unheimlich in
der von Feuern erhellten Dunkelheit. Im Innern war die Decke scheinbar endlos hoch. Die
Schatten waren lang, und es gab nur wenige, weit voneinander entfernte Lichtquellen.
Ü ber der Eingangstü r befand sich ein großes Fenster mit farbigem Glas, das Luzifers
Verbannung aus dem Himmel in die Hö lle zeigte, eine Szene, die Jill eher aus Das verlorene
Paradies kannte, das sie im College gelesen hatte, als infolge religiö ser Erziehung. Ü ber dem
Altar hing ein riesiges Kreuz.
Gerade als Jill sich fragen wollte, ob diese Idee wirklich so gut war, ertö nte aus den
Schatten eine Stimme.
„Halt! Keinen Schritt nä her!“
Eine Gestalt trat hervor, ein ungepflegter Weißer, vermutlich Anfang 30, der eine .357er
Magnum hielt, die in seiner Hand ungefä hr so deplatziert wirkte, wie sie es in der von
Morales getan hä tte.
Im Laufe der Jahre, seit sie S.T.A.R.S. beigetreten war, hatte Jill den Ausdruck im Gesicht
dieses Mannes Dutzende Male gesehen – vor allem in Gesichtern von Geiselnehmern und
Entfü hrern: der unverwechselbare, wahnsinnige Ausdruck von jemandem, der nichts zu
verlieren hatte und eine großkalibrige Waffe bei sich trug.
Mit ihrer besten Unterhä ndlerstimme – und sich nach Goldblume sehnend, dem
eigentlichen Unterhä ndler von S. T. A. R. S. – sagte Jill: „Es ist okay. Wir sind keine von
diesen Dingern.“
„Dieses Versteck gehö rt mir! Ich hab es gefunden! Hier verstecke nur ich mich!“
Morales warf trocken ein: „Ich wü rde sagen, hier ist
- 96 -
genug Platz fü r uns alle.“
Der Mann fuchtelte mit der .357er herum. „Ihr werdet sie hierher locken! Haut ab!“
Zu Jills Entsetzen ging Morales auf direkten Konfrontationskurs. Entweder hatte sie
gehö rigen Mumm, oder sie war dumm wie Bohnenstroh. Oder beides.
Jill hä tte ihr Geld auf letzteres gesetzt.
„Wir gehen da nicht wieder raus! Kapiert?“
Der Mann richtete die Mü ndung der .357er genau auf Morales’ Gesicht. „Du sagst mir
nicht…“
„Okay, kriegt euch ein! Weg mit der Waffe!“
Beide wichen unter Peytons Befehl, der von der hohen Decke widerhallte, zurü ck.
Jill lä chelte. Offenbar konnte Peyton doch noch taff klingen.
Der Mann senkte seine Waffe.
Jill trat auf ihn zu, streckte eine Hand aus und sagte:
„Die sollten Sie vielleicht mir geben.“
„Das glaub ich nicht.“ Der Mann stand immer noch vö llig neben sich, aber er klang jetzt
etwas weniger verrü ckt.
Peyton sah Morales an. „Und Sie – immer sachte.“
Jill schlug in die gleiche Kerbe. „Hier gibt’s genug Mö glichkeiten, ums Leben zu kommen,
ohne sich erschießen lassen zu mü ssen.“
Morales erwiderte nichts. Stattdessen sah sie auf ihre Hand hinab. Erst jetzt fiel Jill auf, dass
sie etwas Kleines, Metallisches festhielt. Und hä tte sie sich auch nur einen Dreck um Terri
Morales geschert, hä tte sie vielleicht gefragt, worum es sich handelte.
Stattdessen nahm sie auf einer der Kirchenbä nke Platz und holte eine Zigarette hervor.
Ganz kurz meldete sich ihr schlechtes Gewissen, weil sie damit sozusagen heiligen Boden
entweihte, aber das Gefü hl legte sich schnell wieder. Zombies durchstreiften die Straßen,
ein
- 97 -
Konzern schoss auf unschuldige Menschen – wenn es einen Gott gab, dann war Er definitiv
in letzter Zeit nicht in Raccoon City gewesen.
Jill nahm einen Zug und bemerkte, dass Morales jetzt sie anstarrte.
„Jill Valentine, richtig? Kennen Sie mich noch? Ich habe ü ber einige Ihrer Fä lle berichtet –
vor Ihrer Suspendierung.“ Sie streckte eine Hand aus. „Terri Morales, Raccoon 7.“
Ohne die dargebotene Hand zu ergreifen, blies Jill Zigarettenrauch in Morales’ Gesicht. „Ich
habe alles gesehen, was Sie gemacht haben.“
Morales lä chelte. Es kam in ihrem Gesicht nicht sonderlich zur Geltung. „Ein Fan.“
„Eigentlich
nicht.
Sie
machen
jetzt
die
Wettervorhersage, oder?“
Das Lä cheln zerfiel – was Jill ein wenig genoss.
Sie zeigte auf Peyton, der jetzt ebenfalls auf einer der Kirchenbä nke Platz genommen hatte.
„Sergeant Peyton Wells.“
Peyton deutete auf das Ding in Morales’ Hand und fragte: „Was haben Sie da?“
Morales hielt den Gegenstand hoch: eine kleine Videokamera. Das rote Aufnahmelä mpchen
brannte –
Jill vermutete, seit Morales die Brü cke erreicht hatte.
„Meinen Emmy“, sagte sie, wieder lä chelnd. „Wenn ich das hier ü berlebe.“ Sie richtete das
Kameraobjektiv direkt auf Peyton. „Mö chte das Raccoon City Police Department eine
Stellungnahme abgeben, worum es sich bei diesen… Kreaturen handelt?“
„Um die Strafe Gottes.“
Das waren nicht Peytons Worte – die andere Stimme hallte von der Decke wider, doch Jill
stellte schnell fest, dass sie aus Richtung des Altars kam.
Sie drehte sich um und sah einen Priester oder Pfarrer
– oder was er auch sein mochte – auf sie zukommen.
- 98 -
Sein Kollar war schmutzig, sein Talar hatte bessere Jahrzehnte gesehen, und sein Haar sah
aus, als sei es seit der Amtszeit von Prä sident Clinton nicht mehr gekä mmt worden.
„Siehe, ich will Unglü ck ü ber dies Volk bringen, seinen verdienten Lohn, weil es auf meine
Worte nicht achtet und mein Gesetz verwirft. – Wachet auf und rü hmet, die ihr liegt unter
der Erde! Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.
– Die Toten sollen unter den Lebenden wandeln und Verdammnis ü ber sie bringen!“
Als er endete, war er zu ihnen in den Eingangsbereich der Kirche getreten.
„Ziemlich heftige Rede“, meinte Jill, ohne eine Miene zu verziehen.
„Jeremia“, murmelte der Mann mit der .357er. „Der erste Teil jedenfalls. Das danach war
von Jesaja. Was den Rest angeht, bin ich mir nicht sicher.“
Morales lä chelte, die Kamera auf den Priester gerichtet. „Ja, das kommt verdammt noch mal
in die Endfassung.“
Ein plö tzliches Gerä usch hinter dem Altar ließ sie alle zusammenzucken – bis auf den
Priester.
„Was ist das?“, fragte Peyton.
„Nichts.“
Jill schnaubte. So etwas wie ,nichts’ gab es in Raccoon City nicht mehr. Sie ging
schnurgerade auf den Altar zu und umrundete ihn, um zur Sakristei zu gelangen. Ihr Augen
gewö hnten sich allmä hlich an die dä mmrigen Lichtverhä ltnisse, aber sie bewegte sich
trotzdem vorsichtig, weil sie fü rchtete, ü ber einen liegen gebliebenen Rosenkranz oder
irgendetwas anderes zu stolpern.
Nein, Moment: Katholiken benutzten Rosenkrä nze, und sie glaubte nicht, dass dies hier
eine katholische Kirche war. Jill hatte sich nie um solche Dinge geschert. Ihr
- 99 -
Vater war ein vom Glauben abgefallener Episkopale, ihre Mutter eine schlechte Jü din.
Wenn es erforderlich geworden wä re, hä tte Jill sich selbst wohl als gleichgü ltige
Agnostikerin bezeichnet.
Heute, hier und jetzt, wusste sie jedoch nicht, was sie ü berhaupt glauben sollte.
Die Sakristei wurde von einer einzigen Tischlampe erhellt und war, dank ihrer kleineren
Ausmaße, heller erleuchtet als das Kirchenschiff. Mehrere Tische und Stü hle waren
umgeworfen – das schien neuerdings ü blich in Raccoon City zu sein.
Am auffä lligsten war der Blutfleck an einer der Wä nde.
Blut hinterließ solche Muster, wenn es aus der Hauptschlagader
sprü hte,
wie
ihr
auf
der
polizeigeschultes Hirn wusste. Und das war nicht gerade das, was man im
Vorbereitungsraum eines Priesters sehen wollte.
Vor ihr saß eine Frau auf einem Stuhl. Sie schaukelte mit gesenktem Kopf hin und her.
„Sind Sie in Ordnung?“, fragte Jill.
Plö tzlich sagte eine Stimme hinter ihr: „Was tun Sie da?“
Jill fü hlte sich ü berrumpelt. Wo zum Teufel hatte ein Priester gelernt, sich so gekonnt an
einen S.T. A.R.S.-
Officer heranzuschleichen?
Aber die passendere Frage wä re vermutlich gewesen, wie die Instinkte eines S.T.A.R.S.-
Officers dermaßen versagen konnten. Und die schlichte Antwort lautete: weil in Raccoon
City die Zombies die Stadt ü bernommen und in ihre Gewalt gebracht hatten.
„Was ist mit ihr?“, fragte Jill und fü rchtete, die Antwort schon zu kennen.
„Das ist meine Frau. Sie ist – es geht ihr nicht gut.“
Als Jill sich der Frau nä hern wollte, verstellte ihr der Priester den Weg.
„Nein!“
- 100 -
„Gehen Sie zur Seite.“
„Es geht ihr nicht gut, das habe ich Ihnen doch gesagt.“
„Vielleicht kann ich ihr helfen.“ Jill verspü rte kein allzu schlechtes Gewissen ob dieser Lü ge.
Außerdem war es nicht einmal ganz gelogen. Wenn die Frau des Priesters eine von diesen…
diesen Kreaturen war, wü rde es sie erlö sen, wenn Jill ihr eine Kugel in den Kopf jagte.
Als sie sich an dem Geistlichen vorbeidrä ngte, stellte sie fest, dass die Frau mit
Elektrodrä hten an den Stuhl gefesselt war. Beides bestä tigte ihren Verdacht und erklä rte
den Mangel an Licht.
Dann blickte die Frau auf, und Jill bemerkte das Blut um ihren Mund.
„O mein Gott.“
Die Frau rutschte auf dem Stuhl vor und zurü ck und stemmte sich gegen ihre Fesseln.
„Sie sind krank!“, sagte Jill zu dem Priester.
„Gehen Sie einfach“, sagte er, und es klang gleichermaßen wü tend wie traurig.
Jill wusste nicht, ob er ihr Leid tun oder ob sie ihn erschießen sollte.
Oder beides.
„Raus aus meiner Kirche!“, schrie der Priester. „Ich kann ihr helfen, ich kann ihr dieses Ding
austreiben.“
Jill hä tte vielleicht geglaubt, dass er es ehrlich meinte –
bis sie ü ber etwas am Boden stolperte und beinahe hinfiel. Als sie nach unten schaute, sah
sie einen halb aufgefressenen Leichnam.
Das erklä rte das Blut an der Wand und um den Mund der Frau.
Sie sah den Mann entsetzt an. „Was haben Sie getan?“
„Lassen Sie uns in Ruhe!“, kreischte der Priester.
Wä hrend sie zusah, wie die Frau vor- und zurü ckschaukelte, vor und zurü ck, und mit aller
Kraft an den Drä hten zerrte, wurde Jill klar, dass es in dieser Stadt heute mehr als nur eine
Mö glichkeit zu sterben
- 101 -
gab.
Dann hatte die Frau ihre rechte Hand befreit.
Jill zog eine ihrer Pistolen.
„Nein!“
Der Priester sprang auf sie zu, und sie verriss ihren Schuss. Aber was er an Leidenschaft
besaß, fehlte ihm an Kraft, und Jill brauchte nur einen Augenblick, um ihn von sich zu
stoßen…
… in die bereits wartenden Arme seiner Frau.
Genau in dem Moment, da sie auch ihre ü brigen Fesseln zerriss. Sie fing ihren Mann mit
ihren Armen auf, beugte sich zu ihm hinab und biss ihn in den Hals.
Die Schreie des Priesters gellten durch die winzige Sakristei. Jill glaubte, dass sie die ganze
Straße hinunter zu hö ren sein mussten.
Bis sie ihm in den Kopf schoss.
Als er zu Boden fiel, verfuhr sie ebenso bei seiner Frau.
Ohne einen weiteren Blick auf die beiden zu werfen, trat sie wieder zurü ck in die Kirche.
Dem Ausdruck in den Gesichtern von Peyton, Morales und dem Mann mit der .357er nach
zu schließen, hatten sie die Schreie gehö rt.
„Was war da hinten los?“, fragte Peyton.
Jill schü ttelte nur den Kopf.
- 102 -
Vierzehn

Angus McKenzie wollte diese verdammten Typen nicht in seiner Kirche haben.
Na gut, genau genommen war es nicht seine verdammte Kirche, es war die verdammte
Kirche dieses Pfarrers. Aber so wie es sich angehö rt hatte, war das nebensä chlich
geworden. Es waren zwei Schü sse gefallen, der Pfarrer hatte also wahrscheinlich einen
dieser Dä monen dort hinten gehabt.
Wie die Dä monen im Bü ro.
Er wü rde sich nicht von ihnen erwischen lassen. Angus McKenzie war nicht den ganzen
Weg von Schottland nach Amerika gekommen, nur um sich bei lebendigem Leib von einem
Dä mon verspeisen zu lassen.
Na gut, Telemarketing war nicht unbedingt der glanzvollste Beruf der Welt, aber er
verdiente sein verdammtes tä glich Brot damit, oder nicht? Und er war gut in diesem Job.
Der Boss meinte, es liege an seinem Akzent – da wü rden die Leute immer aufhorchen. Sie
hielten es fü r exotisch oder so. Die Leute standen auf Exotik, vor allem Amerikaner.
Die meisten wohl, weil sie keine eigene Geschichte hatten. Das war jedenfalls Angus’
verdammte Meinung.
Dann waren plö tzlich alle durchgedreht.
Angus’ Frau, Gott sei ihrer Seele gnä dig, hatte gesagt, der Teufel sei gekommen, um sie alle
fü r ihre Sü nden zur Rechenschaft zu ziehen. Flora legte großen Wert auf die Vergebung der
Sü nden. Sie starb in der großen Angst, dass sie zur Hö lle fahren wü rde.
Angus war der Ansicht, dass sie keinen Grund zur Sorge hatte. Sie wü rde in den Himmel
kommen, daran bestand fü r ihn kein Zweifel.
Angus selbst allerdings… nun, das war eine andere
- 103 -
Geschichte.
Trotzdem, nichts von dem, was er im Leben getan hatte – und er hatte eine Menge getan,
daraus machte er keinen Hehl –, war so schlimm gewesen, dass er dafü r von Dä monen
aufgefressen werden sollte.
Nicht einmal dafü r, dass er Maria diesen Kreaturen ü berlassen hatte.
Es war falsch gewesen, das wusste er, aber er hatte nicht anders gekonnt. Als sie zum Dach
hinaufrannten, um den Dä monen zu entkommen, in die ihre Kollegen sich verwandelt
hatten, hatte er ihr oben die Tü r vor der Nase zuschlagen mü ssen. Nur so hatte er sich
selbst in Sicherheit bringen kö nnen.
Klar, das war vermutlich ihr Todesurteil gewesen, aber wenigstens wü rde er ü berleben,
oder?
Wä hrend er vom Dach hinuntergeklettert war, hatte er gehö rt, wie die Dä monen
versuchten, Maria zu ü berwä ltigen. Und er hatte gesehen, wie Maria in den Tod gestü rzt
war.
Aber das war egal, oder? Er war am Leben.
Er
hatte
einen
toten
Schwarzen
mit
einer
großkalibrigen
Waffe
im
Gü rtel
gefunden.
Wahrscheinlich irgend so ein Drogendealer. Diese Schwarzen dealten doch alle mit Drogen
und brachten sich gegenseitig um. Angus fand es eine Schande.
Weniger Schande als eine Kollegin, ein unschuldiges Mä dchen, zum Tode zu verdammen?
Er schob den Gedanken beiseite.
Er hatte Zuflucht in einem Haus des Herrn gefunden.
Sicher, es war keine anstä ndige katholische Kirche, sondern eine dieser protestantischen
Abscheulichkeiten.
Und normalerweise hä tte Angus, ein Papist durch und durch, niemals den Fuß in eines
dieser hä retischen Bauwerke gesetzt. Aber in der Not fraß der Teufel Fliegen.
Die Dä monen waren ü berall.
- 104 -
Und hier war er sicher. In den Armen des Herrn. Oder fast jedenfalls.
Was also Angus McKenzie anging, war dies seine Kirche.
Dann waren dieser Bulle und die kleine Morales aus der Glotze und dieses Mä dchen mit
den zwei Knarren aufgetaucht – und dann der Pfarrer. Einer der verdammten Heiden. Und
der hier war irre. Aber so wie es sich angehö rt hatte, hatte sich das Mä dchen mit den zwei
Knarren – sie war wahrscheinlich auch ein Bulle; in diesem verrü ckten Land nahm man ja
immerzu Frauen in den Polizeidienst auf – um den Pfarrer gekü mmert.
Jetzt musste Angus ü berlegen, wie er die anderen drei dazu bringen konnte, dass sie seine
Kirche verließen.
Plö tzlich bewegte sich etwas ü ber die Decke. Angus sah nach oben, aber in der verdammten
Dunkelheit dieser Kirche konnte er nichts erkennen.
Verdammte Heiden, mit ihren Winkeln und Spalten, dem unzulä nglichen Licht und der
versponnenen Architektur.
Der Bulle hatte eine Taschenlampe. Er schaltete sie ein und richtete den Lichtkegel zu der
steinernen Bogendecke hinauf.
Staub- und Gipspartikel schimmerten im Schein der Lampe.
Genau wie die drei Krallenspuren im Stein.
Verdammter Grundgü tiger!
„Was zum Teufel ist das?“
„Da drü ben!“, sagte das Mä dchen mit den zwei Knarren und deutete auf einen anderen Teil
der Decke.
Angus’ Blick folgte dem Taschenlampenstrahl des Cops, der dorthin leuchtete, wo die Frau
hinzeigte.
Alles, was der Lichtkegel aus dem Dunkeln riss, waren weitere Krallenspuren.
„Da!“, schrie Morales.
Diesmal erwischte die verdammte Taschenlampe des
- 105 -
Bullen das, was sich dort oben durch die Schatten bewegte.
Und Angus wü nschte, er hä tte es nicht gesehen.
„Mein Gott!“
Es sah aus wie etwas aus einem Alptraum.
Im Grunde war es von menschlicher Gestalt: zwei Arme, zwei Beine, aber sein Rü ckgrat war
so gebogen, dass es auf allen vieren laufen konnte. Es sah aus, als sei es gehä utet worden.
Rote Muskelsträ nge und weiße Knochen machten seine Oberflä che aus – aber sie wirkte
hart, wie die ledrige Haut eines Nashorns. Die Finger des verdammten Dings liefen in
riesigen Krallen aus, was die Spuren erklä rte.
Doch es war der Kopf, der Angus’ Aufmerksamkeit auf sich zog.
Das aufgerissene Maul war schon schlimm genug – es war randvoll mit spitzen Zä hnen und
einer riesigen Zunge. Angus hatte Frö sche mit proportional kleineren Zungen gesehen als
der, die sich aus dem verdammten Maul dieses Dings schlä ngelte.
Aber was Angus’ ernstlich ü berlegen ließ, ob er sich in die Hosen scheißen sollte, waren die
Augen der Kreatur.
Sie besaß keine.
Nach einer Sekunde verschwand das Monster aus dem Taschenlampenstrahl des Bullen.
Aber fü r Angus war das mehr als genug gewesen.
Er rannte los.
„Warten Sie!“, rief das Mä dchen mit den zwei Knarren, aber Angus beachtete sie nicht und
rannte in den hinteren Teil der Kirche.
Dort wü rde er sicher sein.
„Ich hol ihn zurü ck“, sagte das dä mliche Mä dchen.
Er bog um eine Ecke und lief in einen Teil der Kirche, der durch eine hö lzerne Wand vom
Rest abgetrennt war.
Er sah ein großes Becken, ä hnlich einem Vogelbad, und erkannte, dass er sich in der
Taufkapelle befand. Nahe
- 106 -
des Beckens reihten sich einige kleinere Bä nke.
Plö tzlich fiel ein Kandelaber von der Seitenwand.
Angus fuhr zusammen und zog beinahe den Stecher seiner Waffe durch. Er hatte sie bislang
noch nicht abgefeuert, aber er war verdammt noch mal bereit dazu.
Doch er sah nichts weiter.
Aus dem Bereich, wo die Bä nke standen, drang ein Gerä usch wie von knarrendem Holz zu
ihm. Angus richtete die Waffe dorthin.
Er sah noch immer nichts.
Verdammte Scheiße.
Mit
einem
drö hnenden
Krachen
stü rzte
das
Taufbecken auf den Boden, das Gerä usch hallte von der Decke wider, Weihwasser ergoss
sich vor Angus’ Fü ße.
Er richtete seine Waffe auf die Stelle des Bodens, wo der Taufstein aufgeschlagen war.
Aber er sah immer noch nichts.
Wo war die Kreatur? Warum trieb sie diese Spielchen?
Angus wollte einfach nur leben. War das zu viel verlangt?
Er wandte sich um. Er wollte die Taufkapelle verlassen…
… und sah sich dem augenlosen Gesicht jenes Wesens gegenü ber, auf das er vorhin einen
Blick erhascht hatte.
Die Zunge schnellte aus dem Maul des Monsters und wickelte sich um Angus’ Hals.
Dann zog sie sich zusammen.
Angus bemü hte sich verzweifelt, den Arm zu heben, damit er seine Waffe abfeuern konnte,
aber es fiel ihm so schwer zu atmen, dass ihm kein Teil seines Kö rpers mehr recht
gehorchen wollte.
Die Zunge begann wieder im Maul des Ungetü ms zu verschwinden und zog Angus nä her
auf das Monster zu.
Bizarrerweise fiel ihm auf, dass es fü rchterlichen Mundgeruch hatte.
- 107 -
Sobald Angus nahe genug war, packte die Kreatur ihn.
Mit ausgefahrenen Krallen.
Angus hatte noch nie im Leben derart fü rchterliche Schmerzen verspü rt wie in dem
Moment, da ihn das Monster buchstä blich in Stü cke riss.
Der einzige Trost war, dass die Qual nicht allzu lange andauerte.
- 108 -
Fünfzehn

Als Jill Valentine hinter die hö lzerne Trennwand in einen gesonderten Teil der Kirche trat,
hö rte sie ein Tropfgerä usch. Sie glaubte, dass der Idiot hierher geflohen sein kö nnte.
Oder vielleicht auch dieses Ding, das sie einen Augenblick lang im Licht von Peytons
Taschenlampe gesehen hatten.
Jill fiel auf, dass sie nicht einmal den Namen des Idioten kannte. Allmä hlich wurde ihr alles
zu viel.
Dass Zombies durch die Wä lder von Arklay streiften, war schon schlimm genug. Dann hatte
man sie noch suspendiert. Dann machten dieselben Zombies die Straßen von Raccoon
unsicher. Dann schossen Schergen von Umbrella auf unschuldige Menschen, nachdem
sie
ihnen
den
einzigen
Fluchtweg
abgeschnitten hatten.
Und jetzt saßen sie und Peyton in einer Kirche fest –
mit einem Zombie, einem verrü ckten Priester, einem Wahnsinnigen
mit
einer
.357er,
einer
nervigen
Reporterin und etwas, das einem schlechten Horrorfilm entsprungen zu sein schien.
Wasser sammelte sich um ihre Stiefel. Sie schaute zu Boden und sah, dass sich eine Pfü tze
um ein umgeworfenes Taufbecken gebildet hatte.
Dann handelte es sich wahrscheinlich um Weihwasser.
Pas mochte sich als nü tzlich erweisen, wenn sie auf Vampire stießen – eine Vorstellung, die
jetzt weit weniger an den Haaren herbeigezogen schien, als es noch vor 24 Stunden der Fall
gewesen wä re.
Wie auch immer. Das Wasser hatte sich am Boden verteilt. Es war nicht der Ursprung des
Tropfgerä uschs, das sie hö rte.
- 109 -
Dann fiel ihr auf, dass eine der kleinen Kirchenbä nke zerstö rt worden war. Unter den
Trü mmern lag etwas.
Als sie nä her trat, sah Jill, dass sich etwas Rotes in das Holz gemengt hatte und von den
Splittern der zerbrochenen Bank tropfte.
Blut.
Sie spä hte ü ber die Trü mmer hinweg und sah, was von dem Idioten mit der Knarre ü brig
war. Was immer das Ding, auf das Peyton seine Taschenlampe gerichtet hatte, auch sein
mochte, es war imstande, einen menschlichen Kö rper in bemerkenswert kleine Stü cke zu
zerlegen.
Jill Valentine war Polizistin, seit sie die Schule verlassen hatte. Im Laufe der Jahre hatte sie
viele Tote gesehen. Bei den ersten war ihr etwas schlecht geworden, aber sie hatte sich an
den Anblick, den Geruch, das Gefü hl des Todes gewö hnt. Das musste sie, wenn sie ihren Job
gut machen wollte.
Aber das hier – nichts von all dem, was sie im Laufe ihrer Zeit beim RCPD gesehen hatte,
hatte sie auf diese Form der Beleidigung einer menschlichen Gestalt vorbereitet!
Natü rlich hä tte sie die Ü berreste nach einem Ausweis durchsuchen kö nnen, damit sie
wenigstens wusste, wie der Kerl hieß, aber dazu konnte Jill sich nicht ü berwinden.
Schon gar nicht nach dem, wozu sie sich hatte ü berwinden mü ssen.
Vorsichtig griff sie in die Ü berreste hinab und lö ste den
.357er aus der Hand, die ihn auch jetzt noch festhielt, nachdem sie am Gelenk unsauber
abgetrennt worden war. Die Waffe war blutverschmiert.
Jill machte kehrt und eilte zurü ck ins Kirchenschiff.
Wenn es hier etwas gab, das so etwas anrichten konnte, dann mussten sie auf jeden Fall
zusammenbleiben.
Fragen wirbelten in ihrem Kopf. Wo kam dieses Ding
- 110 -
her? Es glich keinem Tier, das Jill bekannt war – besaß nicht einmal eine vage Ä hnlichkeit.
Konnte Umbrella das getan haben? War das ü berhaupt mö glich?
Verdammt, Zombies waren auch etwas, das sie vor Arklay nicht fü r mö glich gehalten hä tte.
Wenn der Konzern eine zentrale ‚Spezies’ des Horrorgenres Wirklichkeit werden lassen
konnte, warum nicht auch noch andere?
Erst als sie den vorderen Teil der Kirche erreichte, bemerkte sie, wie still es hier war – und
leer.
Wo zum Teufel waren Peyton und Morales?
Eine Hand legte sich auf ihren Mund, ein Arm fasste sie um die Hü ften und zog sie in eine
Nische hinter dem Altar.
Jill sprengte den Griff, wirbelte mit erhobenem, blutverschmiertem .357er herum…
… und erkannte, dass es Peyton war, der sie gepackt hatte. Morales stand neben ihm.
Peyton wirkte stinksauer, die Reporterin hatte offensichtlich eine Heidenangst.
„Peyton…“, setzte Jill wü tend an, aber der Sergeant brachte sie mit einem Blick zum
Schweigen.
Er deutete auf die Kanzel. Jill drehte sich um und sah dort die Kreatur hocken, wie ein
Geier, der bereit war, sich auf sein Opfer zu stü rzen. Die Zunge pendelte durch die Luft.
Gerade als Jill fragen wollte, warum sie sich hier versteckten, wo die Kreatur doch so nahe
war, zeigte Peyton auf das Eingangsportal der Kirche.
An der Wand ü ber der Tü r hing wie eine Art Gecko eine weitere dieser Kreaturen.
Großer Gott. Zwei von dieser Sorte!
„Sie haben uns in die Zange genommen“, flü sterte Peyton.
Morales schaute nach oben. „Was ist das?“
- 111 -
Jill folgte ihrem Blick und sah, dass das Luzifer-fä hrt-zur-Hö lle-Fensterbild ü ber dem
Eingang zu leuchten begann.
In diesem Moment konnte sie der Symbolhaftigkeit absolut nichts abgewinnen.
Dann fuhr Jill beinahe aus der Haut, als eine dritte Kreatur direkt an ihr vorü berstrich.
Sie war heute so oft zusammengezuckt, dass es allmä hlich an ihren Nerven zu zehren
begann.
Aus irgendeinem Grund hatte das Wesen sie noch nicht bemerkt. Vielleicht lag es daran,
dass es keine Augen hatte. Was es auch war, Jill rechnete nicht damit, dass es sie lange
ignorierte. Ihre beste Chance bestand darin, sich nicht zu rü hren und still zu sein.
Was sie und Peyton instinktiv wussten.
Wenn man nur auch von Morales dasselbe hä tte behaupten kö nnen.
Jill konnte es Morales nicht wirklich zum Vorwurf machen, dass sie ihre Videokamera
wieder einschaltete.
Sie hatte nicht ü bertrieben, als sie meinte, diese Aufnahmen seien einen Emmy wert –
vielleicht sogar einen Pulitzer –, wenn sie hier lebend rauskamen.
Verdammt, wenn Jill mit Videoaufnahmen hä tte belegen kö nnen, was in Arklay geschehen
war, wä re sie nie suspendiert worden.
Doch leider gab die Kamera ein Piepsen von sich, als sie aufzunehmen begann.
Ein Laut, der wie ein Schuss durch die stille Kirche hallte.
Die Kreatur wandte sich ihnen zu.
Peyton hatte seine Waffe gezogen, bevor Jill auch nur Luft holen konnte. „Rennt, macht
schon!“, schrie er, wä hrend er auf das Ding zu feuern begann.
Doch die Kreatur war zu schnell – sie jagte nach oben, der Decke entgegen.
Gleichzeitig sprang das andere Wesen, das ü ber dem
- 112 -
Kirchenportal seine Gecko-Imitation vorgefü hrt hatte, zu ihnen herunter.
Nein – es sprang auf Jill zu!
Ehe sie den .357er auch nur anheben konnte, prallte das Wesen gegen sie, trieb ihr die Luft
aus den Lungen und ließ sie zu Boden stü rzen. Die vom Blut schlü pfrige Waffe entglitt
ihrem Griff und schlitterte ü ber den Kirchenboden unter eine Bank.
Jill schnappte nach Luft, rollte sich auf Hä nde und Knie und tastete nach einer ihrer
Automatikwaffen. Nicht weit entfernt versuchte Peyton die Kreatur zu erlegen, die Jill zu
Fall gebracht hatte. Aber die Zunge des Monsters fuhr wie eine Schlange auf ihn zu und
schlug ihm die Waffe aus der Hand.
Dann sah Peyton nach oben. Jill folgte seinem Blick.
Das Leuchten des Buntglasfensters war heller geworden. Und sie konnte das Gerä usch
eines Motors hö ren.
Nein, nicht irgendeines Motors – es war der Motor einer Harley.
Jill lä chelte.
„Runter!“, schrie Peyton, aber Jill duckte sich bereits.
Mit einem Krachen, das wie die Explosion einer Atombombe durch die alte Kirche drö hnte,
zerbarst das Buntglas in tausend Scherben, Opfer einer Harley Davidson, die mit hoher
Geschwindigkeit hindurchbrach.
Das Motorrad traf die Kreatur, stieß sie beiseite und schleuderte sie durch die Kirche.
Schmerz tobte in Jills Brust, sie hatte Mü he zu atmen, und noch schwerer fiel es ihr, auf die
Beine zu kommen.
Wä hrend sie um Atem rang, versuchte sie einen genaueren Blick auf ihren Retter zu
werfen.
Er entsprach nicht Jills Erwartungen.
Zuallererst einmal war er eine Sie. Solche Harleys wurden fü r gewö hnlich von großen
Mä nnern mittleren Alters gefahren. Die schlankere Unterart wog im
- 113 -
Allgemeinen 300 Pfund oder mehr und neigte zu einer Gesichtsbehaarung, die die
Frontmä nner von ZZ Top glatt rasiert aussehen ließ.
Diese Harley allerdings wurde von einer athletisch aussehenden Weißen mit schmutzig
blondem Haar gefahren.
Sie
hatte
eine
Shotgun
in
einem
Rü ckenholster, zwei nickelbeschlagene Uzis an den Hü ften und einen .45er Colt in einem
Schulterhalfter.
Außerdem trug sie ein Krankenhaushemdchen und darü ber einen weißen Laborkittel.
An einem x-beliebigen Tag hä tte Jill das merkwü rdig gefunden.
Die Frau sah Jill aus eisblauen Augen an und sagte nur ein einziges Wort.
„Raus.“
Morales musste man das nicht zweimal sagen. Sie rannte auf das Kirchenportal zu, als sä ße
ihr der Teufel im Nacken. Peyton hinkte ihr hinterher, wä hrend Jill immer noch versuchte,
auf die Beine zu kommen.
Das erwies sich als riesiger taktischer Fehler.
Auf der anderen Seite der Tü r, die Morales ö ffnete, befand sich eine wimmelnde Meute von
Zombies, die alle herein wollten, um die Wenigen zu fressen, die noch am Leben waren.
Peyton kam zu ihrer Rettung, und gemeinsam schlugen sie die Tü rflü gel zu.
Der Vordereingang schied also aus.
Unterdessen trieb die Biker-Lady den Motor ihrer Harley weit in den roten Bereich hoch,
dann legte sie den Gang ein – aber mit den nackten Fü ßen auf dem Boden.
Die Maschine schoss zwischen ihren Beinen hervor –
eine weitere Symbolik, auf die Jill hä tte verzichten kö nnen – und direkt gegen eine der
Kreaturen.
Sowohl das Wesen als auch die Harley wurden in die Luft geschleudert.
- 114 -
Die Biker-Lady zog ihren Colt und feuerte einen Schuss ab.
Gerade als Jill sich fragte, wie diese Frau auf den Gedanken kam, dass eine Kugel genü gen
wü rde, um dieses Ding zu stoppen, sah sie, wie das Geschoss den Tank der Harley traf.
Und dann explodierte das Motorrad und zerfetzte im gleichen Zug die Kreatur, einen
großen Teil des Altars, die Kanzel, das Lektionarium und etliche Kerzen.
Die dritte Kreatur ließ sich von der Decke fallen, aber die Biker-Lady war auch darauf
vorbereitet. Sie zog beide Uzis und jagte Dutzende von Kugeln in das Wesen, noch wä hrend
es fiel.
Als es zu Boden schlug, stand es nicht mehr auf.
Jill spü rte, wie sie ihren Atem unter Kontrolle bekam.
Sie rappelte sich auf. Es mochten zehn Sekunden vergangen sein, seit die Harley durch das
Buntglas gekracht war.
Die erste Kreatur, die beim Eintreffen der Harley davongeschleudert worden war, erhob
sich und griff die Biker-Lady von hinten an.
Bevor Jill eine Warnung hervorstoßen oder eine ihrer Waffen ziehen konnte, versetzte die
Biker-Lady einer der Bä nke einen krä ftigen Tritt.
Jill hatte den Mund geö ffnet, um eine Warnung zu rufen, doch jetzt stand er nur vor
Verblü ffung offen, wä hrend die Bank durch die Kirche und direkt auf die Kreatur
zuschlitterte.
Alles, was die Biker-Lady bis zu diesem Punkt getan hatte, lag zumindest im Bereich des
Mö glichen. Dass jemand so gut mit einem Motorrad umgehen, so gut schießen, so schnell
ziehen konnte – all das hatte Jill im richtigen Leben schon gesehen. Verdammt, Jill war
selbst eine, mindestens ebenso gute Schü tzin wie diese Frau, wenn nicht sogar besser.
Aber eine Kirchenbank, die am Boden befestigt war,
- 115 -
mit einem einzigen Tritt quer durch den Raum zu treten?
Das war unmö glich.
Aber natü rlich galt das auch fü r wandelnde Tote sowie augen- und hautlose Kreaturen mit
Zungen von der Grö ße einer Riesenschlange.
Außerdem verfü gten besagte Kreaturen ü ber einen ausgezeichneten Ü berlebensinstinkt –
das Ding sprang in die Luft und ü ber die Bank hinweg.
Dadurch jedoch hatte die Biker-Lady freie Schussbahn.
Sie zog die Shotgun aus dem Rü ckenholster, lud sie durch und schoss dem Wesen genau in
die Brust.
Als die Kreatur gegen die Wand schlug, kam Jill auf die Beine, aber sie tat nichts. In diesem
Moment war sie zufrieden damit, einfach nur die Show zu genießen.
Die Biker-Lady schob die Shotgun zurü ck ins Holster und zog ihren Colt.
Keiner der Schü sse traf die Kreatur. Eine Sekunde darauf erkannte Jill, selbst eine
Meisterschü tzin, dass die Frau trotzdem alles getroffen hatte, worauf sie gezielt hatte.
Das Wesen erhob sich und setzte trotz der Brustwunde auf die Biker-Lady zu.
Doch sie steckte nur ihren Colt ein und kehrte dem Angreifer den Rü cken zu.
In dem Moment, da das Ding angriff, stü rzte das Kreuz, das ü ber dem Altar gehangen hatte
– bis die Biker-Lady es aus seinen Halterungen schoss –, zu Boden und spießte die Kreatur
auf.
Erstaunlicherweise starb es dadurch nicht, jedenfalls nicht sofort. Das Wesen brü llte und
seine Zunge schlug nach der Biker-Lady.
Kalt wie das sprichwö rtliche Eis zog die Biker-Lady ihre Shotgun ein weiteres Mal und
schoss dem Ding in die Fratze.
Endlich fand Jill ihre Stimme wieder.
„Wer zum Teufel sind Sie?“
- 116 -
„Ich heiße Alice. Hier drin ist es nicht sicher. Das Feuer wird sich ausbreiten.“
Irgendwie schaffte Jill es, sich zu beherrschen und nicht darauf hinzuweisen, dass es gar
kein Feuer gegeben hä tte, wenn diese Alice die Harley nicht in die Luft gejagt hä tte.
Peyton murmelte: „Meine Fresse.“ Und lauter sagte er:
„Ich bin Sergeant Peyton Wells von S. T. A. R. S. – das ist Officer Jill Valentine, sie gehö rt zu
meinen besten Leuten.“
„Ich bin beeindruckt, dass Sie in der Stadt geblieben sind.“
Jill entschied sich, ihre Lebensgeschichte fü r sich zu behalten. „Schü tzen und dienen, das ist
unser Job.“
Alice sah Jill an. „Hat man Sie nicht suspendiert?“
„Ja. Ich sah Zombies im Wald bei den Arklay Mountains. Alle hielten mich fü r verrü ckt.“
„Im Moment“, sagte Peyton, „spielen wir wohl alle ein bisschen verrü ckt.“ Er zeigte auf
Morales, die ein paar Pillen einwarf. „Unser bestes Beispiel: Terri Morales, Wetterfee von
Raccoon 7 und ein hoffnungsloser Fall.“
Alice nahm Morales’ Anwesenheit kaum zur Kenntnis.
Stattdessen zog sie ihren Colt und bewegte sich ebenso schnell wie geschmeidig in
Richtung des hinteren Teils der Kirche.
Jill ging zu Peyton und streckte ihm einen Arm entgegen. Der Sergeant sah jetzt noch
blasser aus.
„Sie sehen beschissen aus, Peyton.“
„Gut“, sagte er und nahm ihre Hand. „Wä re ja blö d, wenn ich mich nur so fü hlen, aber nicht
so aussehen wü rde.“
Wä hrend sie Peyton half, in den rü ckwä rtigen Bereich der Kirche zu humpeln, drehte sich
Jill um und sah Morales an. Sie filmte das brennende Wrack der Harley.
„Kommen Sie mit, Wetterfee?“
„Ja, ja“, sagte Morales. „Das wird eine verdammt heiße
- 117 -
Story.“
- 118 -
Sechzehn

Bis sie mit ihrer Harley um die Ecke von Dilmore Place bog, hatte Alice geglaubt, dass die
untoten Kreaturen alles seien, worum sie sich sorgen musste.
Dann spü rte sie die Gegenwart der Lickers.
Die gentechnisch erschaffenen Monstrositä ten wurden in Tanks gehalten, die in einem
Raum des Hives standen, der auf den offiziellen Plä nen als „Kantine“
bezeichnet wurde. Die darin verborgene Ironie war Alice nicht entgangen: Die Dinger in
dem Raum fraßen so ziemlich alles.
Oder besser gesagt: jeden.
Die Red Queen hatte einen der Licker freigesetzt, als Notfallplan fü r den Fall, dass es ihr
nicht gelingen sollte, das T-Virus zu stoppen. Das Ding hatte Spence getö tet (der es verdient
hatte) und Kaplan (der es wirklich nicht verdient hatte), bevor Alice und Matt es vernichten
konnten – mit knapper Not.
Aber bis sie die Anwesenheit von dreien dieser Dinger in der Kirche spü rte, hatte sie keine
Ahnung gehabt, dass noch weitere ausgebrochen waren.
Und ebenso wenig hatte sie gewusst, dass sie die Gegenwart dieser Kreaturen spü ren
konnte.
Einmal mehr fragte sie sich, was zum Teufel man mit ihr getan hatte, nachdem sie und Matt
gefangen genommen worden waren.
Ganz zu schweigen davon, was mit Matt geschehen sein mochte.
Als ob die Untoten nicht schon genug gewesen wä ren.
Nachdem sie sich darum gekü mmert hatte, stellte sie fest, dass sie noch mehr Leute
babysitten musste. Aber sie konnte Valentine, Wells und Morales auch nicht einfach zum
Sterben zurü cklassen. Deshalb fü hrte sie
- 119 -
die drei hinten hinaus auf den Friedhof. Die Kirche wü rde bald in Flammen stehen.
„Wie seid ihr da drin gelandet?“, fragte Alice.
„Tja, wir haben versucht die Stadt zu verlassen, aber Umbrella hat die Ravens’ Gate Bridge
abgeriegelt“, sagte Valentine. „Man hat eine schö ne hohe Mauer hochgezogen, damit der
Pö bel nicht raus kann. Wer sich der Mauer nä herte, auf den wurde geschossen.
Mehrfach.“
„Und deswegen seid ihr in eine Kirche gegangen?“
Valentine zuckte die Achseln. „Es war nicht so, dass uns viel zu Auswahl stand. Wir dachten,
da drin wä ren wir in Sicherheit. Aber das war ein Irrtum.“
„Und was zur Hö lle tun wir hier?“, fragte Morales, wä hrend sie eine unbestimmte Anzahl
von Tabletten schluckte, die sie wahrscheinlich nicht zusammen hä tte einnehmen sollen.
„Hallo? Hat’s schon jemand gemerkt?
Wir sind auf einem Friedhof, Leute!“
Alice
nahm
an,
dass
diese
ausgeprä gte
Beobachtungsgabe der Grund war, weshalb sie eine Reporterin war. Aber sie sagte nichts.
Zumindest Valentine und Wells wü rden dank ihrer Ausbildung von Nutzen sein. Morales
war purer Ballast.
Dann fing es an zu regnen.
Vor einem Monat war Alice noch die Leiterin der Hive-Security, bekam einen dicken
Gehaltsscheck, der ihr ein angenehmes Leben ermö glichte und teilte ein Haus mit einem
falschen Ehemann, mit dem sie ausgezeichneten Sex hatte. Ja, sie arbeitete fü r die
Dreckskerle, aber sie hatte versucht, damit klar zu kommen, und wenigstens wusste sie,
dass ihr Posten mehr oder weniger sicher war und ihr Leben mehr oder weniger einen Sinn
ergab.
Jetzt lief sie im Regen ü ber einen matschigen Friedhof, trug nur ein
Krankenhausnachthemd und einen Laborkittel, schleppte genug Feuerkraft mit sich herum,
um es mit einem Armeebataillon aufzunehmen, und
- 120 -
stand den untoten Einwohnern von Raccoon City sowie einem Rudel gentechnisch
erschaffener Ungeheuer gegenü ber.
Komisch, wie viel sich in einem Monat verä ndern konnte.
Der Friedhof wurde auf drei Seiten von einem Maschendrahtzaun begrenzt und auf der
vierten von der Kirche selbst. Das Feuer wü rde wahrscheinlich dafü r sorgen, dass ihnen
von dieser vierten Seite her keine Gefahr drohte, und auch zwei der Zaunseiten waren
sauber, aber es rannten immer mehr Zombies gegen den Zaun zur Lyons Street hin. Frü her
oder spä ter wü rden sie voraussichtlich durchbrechen.
Morales trat zu Alice, der Regen verschmierte ihr Makeup. Die verklumpende
Wimperntusche verlieh ihr ein Aussehen, das dem des Tieres glich, nach dem die Stadt
benannt war.
„Wie sieht Ihr Plan aus?“, fragte die Reporterin.
„Am Leben bleiben.“
Morales blinzelte. „Das ist alles?“
„Das ist alles.“
Die Reporterin schü ttelte den Kopf. „Netter Plan. Soll ich mir eine Zielscheibe aufs Gesicht
malen?“
„Nur zu.“
„Wir mü ssen eine kurze Pause einlegen“, sagte Valentine hinter ihnen.
Alice drehte sich um und sah, dass Wells wegen seiner Beinwunde kaum noch laufen
konnte. Sie war fachmä nnisch verbunden, sah aber trotzdem nicht gut aus.
„Das halte ich fü r keine gute Idee“, sagte Morales. „Es kö nnte noch mehr von diesen
Dingern geben.“
Alice schü ttelte den Kopf und sagte: „Sie jagen in Rudeln. Wenn noch mehr hier wä ren,
hä tten wir sie inzwischen schon bemerkt.“
Morales kreiselte herum und sah Alice aus ihren
- 121 -
Waschbä renaugen an. Ihr Gebaren war jetzt das einer neugierigen Reporterin. „Dann
wissen Sie also, was das fü r Kreaturen sind?“
Es gab keinen Grund, es zu verheimlichen. „Biowaffen aus den Umbrella-Laboren unter der
Stadt.“
„Wie kommt es, dass Sie so viel ü ber Umbrella wissen?“, fragte Valentine in
verstä ndlicherweise argwö hnischem Tonfall.
„Ich habe fü r Umbrella gearbeitet – bevor ich herausfand, was das fü r ein Fehler war.“
Noch bevor Valentine etwas sagen konnte, schrie Wells vor Schmerz auf. „Verdammt!“
Die Wunde begann wieder zu bluten.
Alice stieß langsam die Luft aus.
„Sie sind infiziert.“
„Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.“
Aber es war nicht Wells, um den Alice sich sorgte. Sie zog den Colt aus dem Holster.
Schneller als Alice es jemandem außer sich selbst zugetraut hä tte, zog Valentine eine ihrer
Waffen und richtete sie direkt auf Alices Kopf. „Keine Bewegung!“
Wells zog seine Waffe und richtete sie auf Alice.
Alice zog eine ihrer Uzis und richtete sie auf Valentine.
Morales hob, natü rlich, ihre Kamera, damit sie das alles auch auf Band bekam. Welcher
Reporter konnte schon
einem
Logenplatz
bei
einem
schö nen
altmodischen mexikanischen Showdown widerstehen?
„Was haben Sie vor?“, fragte Valentine.
Das war vermutlich das Dü mmste, was sie fragen konnte. „Er ist verwundet“, antwortete
Alice langsam.
„Die Infektion breitet sich aus.“
„Ich bin okay“, sagte Wells.
Er klang so furchtbar wie Rain, als sie behauptet hatte, sie sei immer noch okay. Sie war im
Zug gestorben, nur Minuten, bevor sie entkommen waren. Matt hatte ihr einen Kopfschuss
verpassen mü ssen.
- 122 -
Alice sah Valentine an. „Sie sollten sich jetzt um ihn kü mmern.“
Fast hä tte sie hinzugefü gt: So wie ich mich nicht um Rain gekü mmert habe, als ich die
Chance dazu hatte.
„Er ist mein Freund.“ Valentine hatte ihre Pistole noch nicht gesenkt.
„Ich verstehe“, sagte Alice und meinte es von Herzen ehrlich, „aber spä ter wird es noch
schwieriger sein. Das wissen Sie.“ Dann spannte sie den Hahn ihres Revolvers.
„Nein!“, schrie Valentine und tat dasselbe mit ihrer Waffe. „Wenn es so weit ist – werde ich
mich selbst darum kü mmern.“
Automatisch dachte Alice an den Zug zurü ck, an den Moment unmittelbar vor dem Angriff
des Lickers, als sie, Matt, Kaplan und Rain schon geglaubt hatten, es geschafft zu haben.
„Ich will keins von diesen Dingern werden“, hatte Rain gesagt. „Ganz ohne Seele irgendwo
rumkrebsen. Wenn das Zeug nicht wirkt, kü mmerst du dich um mich.“
Zwischen Valentine und Wells bestand dieses Band, wie es nur Gesetzeshü ter knü pfen
konnten. Alice kannte es aus ihrer vergeudeten Zeit beim Finanzministerium, bevor der in
der Regierung herrschende Sexismus sie in die wartenden und gut zahlenden Arme von
Umbrella getrieben hatte.
Sie senkte ihre Waffen.
„Wie Sie wollen.“
Erst jetzt senkte Valentine auch die ihre.
Alice wandte sich an Wells.
„Es ist nichts Persö nliches. Aber in einer, vielleicht in zwei Stunden werden Sie tot sein.
Und ein paar Minuten spä ter werden Sie einer von denen sein. Sie werden zur Gefahr fü r
Ihre Freunde, werden versuchen sie umzubringen – und vielleicht wird es Ihnen gelingen.
Tut mir Leid, aber so ist das nun mal.“
- 123 -
Bevor der entsetzt dreinsehende Wells eine Antwort formulieren konnte, zuckten sie alle
unter dem Gerä usch zerreißenden Metalls zusammen.
Die Untoten brachen durch den Zaun.
Morales filmte das natü rlich mit ihrer Kamera. Alice stellte mit einem Anflug von
Belustigung fest, dass die Kamera von einer der Tochterfirmen von Umbrella hergestellt
worden war.
Zum Glü ck hatten die Untoten sie noch nicht richtig ins Auge gefasst, und sie bewegten sich
immer noch lä cherlich langsam. Der grö ßte Vorteil der Lebenden war Geschwindigkeit.
Dann schrie Morales auf.
Alice sah zu ihr hin. Die Reporterin wurde von dem dort Beerdigten in eines der Grä ber
hinabgezogen.
Das T-Virus war in den Boden gelangt.
Valentine zerrte Morales heraus, wä hrend Wells noch seine Waffe zog.
Alice legte ihm eine Hand auf den Arm. „Sparen Sie Ihre Munition.“
Dann erledigte sie den Untoten mit einem schnellen Tritt gegen den Kopf, der ihm das
Genick brach.
„Diese Dinger reagieren auf Gerä usche. Wenn Sie Ihre Waffen benutzen, locken wir nur
noch mehr an.“
„Glauben Sie wirklich, dass es darauf noch ankommt?“, fragte Valentine, den Blick an Alice
vorbei gerichtet.
Dutzende von Untoten drä ngten von der Lyons Street herein. Und Dutzende weitere
erhoben sich aus ihren Grä bern.
Alice setzte sich in Bewegung.
Valentine schaltete ein paar aus, und Wells erwischte vielleicht einen. Morales stand nur da
und filmte alles.
Alice erledigte den Rest der Untoten.
Es war ein seltsames Gefü hl – ein bisschen wie Zen und die Kunst des Zombietö tens. Sie
musste gar nicht richtig darü ber nachdenken, was sie tat, sie ü berließ sich
- 124 -
einfach ihren Instinkten. Was Cains wissenschaftliche Schergen auch immer mit ihr getan
haben mochten, es hatte ihre natü rliche Sportlichkeit und ihr jahrelanges Training um ein
Mehrfaches gesteigert.
Noch wä hrend sie einem der Untoten mit den Armen das Genick brach, bereiteten ihre
Beine die Fü ße auf einen Spin-Kick vor, der einem anderen das Rü ckgrat zertrü mmerte.
Dann rammte ihre Hand gegen die Kehle eines dritten, und sie brach einem vierten mit
einem Tritt das Bein, damit sie ihm in der nä chsten Bewegung den Hals umdrehen konnte –
und das alles tat sie in der Zeit, die Valentine brauchte, um einen einzigen Schlag zu landen.
Als nur noch einer ü brig war, zerschmetterte Alice dessen Kopf an einem Grabstein, drosch
ihn mitten hinein in die Worte RUHE IN FRIEDEN.
Valentine warf Alice einen gleichermaßen wü tenden wie neugierigen Blick zu.
Im Augenblick allerdings verwies sie nur auf Alices letztes Opfer und die Worte auf dem
Grabstein. „Mir reicht’s fü r heute wirklich mit der Ironie.“
Alice ließ sich zu einem leichten Lä cheln hinreißen.
„Gehen wir.“
Auf der anderen Seite gab es ein Tor, das auf den Killiany Way hinausfü hrte, eine schmale
Seitenstraße, die in die Swann Road mü ndete, die eine grö ßere Straße war, auf der man
sich demzufolge leichter verteidigen konnte, aber auch nicht so geschä ftig, dass man
befü rchten musste, sie wü rde von Untoten wimmeln.
Der Regen hatte aufgehö rt, und der Himmel klarte auf.
Der Mond war nicht ganz voll, und sein Licht, sowie das eines brennenden Autos hier und
da, war das einzige, das der Vierergruppe den Weg leuchtete, als sie sich zur Swann Road
aufmachte.
„Was jetzt?“, fragte Morales.
- 125 -
Alice hob den Blick und stellte fest, dass dies vielleicht doch der falsche Weg war.
An der Ecke von Killiany und Swann stand ein imposantes Ziegelgebä ude, in dessen
Mauerwerk ü ber dem Eingang eine große Inschrift eingemeißelt war: STÄ DTISCHES
LEICHENSCHAUHAUS
Auf Morales’ Frage antwortete Alice: „Nichts wie weg hier.“
Sie erreichten die Swann Road. Alice blieb auf dem Mittelstreifen, die anderen folgten ihr.
„Kein Netz.“
Alice wandte sich um und sah, wie Wells versuchte, ein Handy zu benutzen. Er hielt es sich
immer wieder ans Ohr, dann blickte er anklagend auf das Display. Sie hä tte fast gelacht.
„Absolut kein Empfang.“
„Er wird gestö rt“, sagte Alice.
„Von wem?“
„Umbrella. Sie wollen nicht, dass man draußen erfä hrt, was hier los ist.“
„Das werden wir ja sehen“, murmelte Morales. Sie ging in Richtung des Bü rgersteigs, um
eines der geplü nderten Gebä ude zu filmen.
„Bleiben Sie in der Straßenmitte“, rief Alice. „Halten Sie sich von geschlossenen Rä umen
fern. Die meisten dieser Dinger sind langsam. Wenn wir uns frei bewegen kö nnen, sind wir
im Vorteil.“
Zu Alices Ü berraschung hö rte Morales auf sie. Sie vermutete, dass sie sich damit, wie sie
unter den Untoten aufgerä umt hatte, Respekt verschafft hatte.
Sie schü ttelte den Kopf. Ass-Kicking Alice – das war in der Sicherheitsabteilung ihr
Spitzname gewesen. Schien so, als hä tte sie ihn sich jetzt wirklich verdient.
Morales holte ein weiteres Pillendö schen hervor.
Diesmal hatte Alice Erbarmen mit ihr – und außerdem mussten sie all ihre Sinne
beisammen haben, wenn sie
- 126 -
hier herauskommen wollten. Um Valentine machte sich Alice keine Sorgen, und Wells
wü rde nur noch fü r kurze Zeit eine Rolle spielen – wenn Valentine ihn nicht tö ten konnte,
wü rde Alice es tun –, aber Morales musste so gut es eben ging auf Zack sein.
Deshalb schlug Alice ihr das Tablettendö schen aus der Hand, sodass es auf den feuchten
Asphalt fiel.
„Hö ren Sie auf damit. Das Zeug ist nicht gut fü r Sie.“
Sie lä chelte. „Ich kenne mich ein bisschen aus mit Arzneimitteln.“
Einen Moment lang wirkte Morales wie betä ubt, dann nickte sie.
„Ja – ja, natü rlich – Sie haben Recht.“
Alice ging weiter. Von hinten warf Valentine ihr einen weiteren dieser wü tendneugierigen
Blicke zu. Die Tatsache, dass Alice gar nicht hinsehen musste, um das zu wissen, machte ihr
Angst – noch etwas, das sie Cain zu verdanken hatte.
„Was glotzen Sie so?“, fragte sie.
„Ich weiß nicht genau.“ Valentine schloss auf und ging neben Alice her. „Das war eine
ziemlich coole Show, die Sie da hinten abgezogen haben. Ich bin selbst nicht schlecht –
manche wü rden vielleicht sagen, ich sei die Beste. Aber so gut bin ich nicht.“
„Dafü r sollten Sie dankbar sein“, sagte Alice leise.
„Was meinen Sie damit?“
„Man hat irgendwas mit mir gemacht.“
Alice zuckte zusammen. Das war wirklich alles, was sie sagen konnte. Sie hatte keine
Bedenken, Valentine zu vertrauen, in Anbetracht dessen, was sie durchmachten
– und dass sie morgen frü h wahrscheinlich alle tot sein wü rden –, aber sie wusste wirklich
nichts weiter, als dass Cain und seine Schergen irgendetwas mit ihr angestellt hatten.
Als sie an einem Mü nztelefon vorbeikamen, begann es zu klingeln.
- 127 -
„Gehen wir lieber weiter, bevor das Gerä usch irgendetwas anlockt“, sagte Alice und
beschleunigte ihr Tempo.
Valentine wurde ebenfalls schneller und hielt mit ihr Schritt, Morales und Wells fielen
zurü ck.
Das Klingeln hö rte auf, sobald sie an dem Mü nztelefon vorbei waren.
Seltsam.
Und als sie dann ein grö ßtenteils geplü ndertes Feinkostgeschä ft passierten, begann das
Mü nztelefon neben der Eingangstü r zu lä uten.
„Geht weiter“, sagte Alice. Die Sache gefiel ihr gar nicht.
Wieder hö rte das Klingeln auf, als sie daran vorbei waren.
„Kommt es nur mir so vor“, sagte Morales, „oder ist das ein bisschen sehr komisch?“
Sie erreichten eine Kreuzung, und plö tzlich befanden sie
sich
inmitten
eines
Big-Ben-Lä utens
aus
Telefonklingeln: Jedes Mü nztelefon in Sichtweite fing an zu bimmeln.
Nach drei- oder viermaligem Klingeln verstummten alle wieder…
… bis auf das neben einem ausgebrannten Restaurant.
Es wollte und wollte nicht aufhö ren, sich bemerkbar zu machen.
„Ich hab so das Gefü hl“, meinte Valentine, „da will jemand mit uns reden.“
Alice pflichtete ihr bei. Sie begab sich zu dem Telefon und nahm vorsichtig den Hö rer ab.
Neben ihr zog Valentine ihre Pistole.
„Hallo?“
„Ich dachte schon, Sie wü rden nie drangehen“, sagte eine Mä nnerstimme am anderen Ende
der Leitung.
„Wer spricht da?“
„Ich kann Sie aus der Stadt schaffen. Alle vier.“
- 128 -
Alice legte die Hand ü ber die Sprechmuschel und sagte zu Valentine: „Er kann uns sehen.“
Der Mann am anderen Ende sprach weiter. „Aber erst mü ssen wir uns auf etwas einigen.
Sind Sie bereit, einen Handel einzugehen?“
Valentine begann sofort mit einer systematischen Ü berprü fung der Umgebung, um
herauszufinden, wo sich der Typ versteckte. Alice bewunderte die Effizienz, aber die Mü he
war vergebens. Ein Blick ü ber die Straße verriet ihr, wie dieser Mann sie sehen konnte.
„Sind Sie
bereit,
einen
Handel
einzugehen?“,
wiederholte der Mann.
„Bleibt uns denn eine Wahl?“
Ein bitteres Lachen drang aus dem Hö rer. „Nicht, wenn Sie morgen noch leben wollen.“
Valentine beendete ihre Suche. Stumm formte sie die Worte: „Hier ist niemand.“
Alice deutete auf die Ü berwachungskamera, die ü ber der Kreuzung hing. Das Kameranetz
diente vor allem der Ü berwachung von Verkehrsstö rungen. Es war vor drei Jahren von
Umbrella installiert und per Vertrag dem RCPD zur Nutzung ü berlassen worden.
„Wie lautet Ihre Antwort?“, fragte der Mann.
Nach dem zu schließen, was Valentine ihr erzä hlt hatte, war es nahezu unmö glich, aus der
Stadt zu entkommen. Umbrella hatte sicher jede nach draußen fü hrende
Hauptverkehrsader abgeriegelt, und es sah Cain absolut ä hnlich, dass er seinen Leuten
befahl, tö dliche
Gewalt
gegen
unschuldige
Menschen
anzuwenden.
Dieses Arschloch.
Wie sie in ihrer Antwort auf die Frage des Anrufers schon angedeutet hatte, traf damit voll
ins Schwarze: Es blieb ihnen keine Wahl.
„Lassen Sie hö ren.“
- 129 -
Siebzehn

So etwas hatte Carlos Olivera noch nie im Leben gesehen. Und wenn er hundert Jahre alt
wü rde, bezweifelte er, dass er so etwas noch einmal sehen wü rde.
Andererseits schien es ausgesprochen zweifelhaft, dass er auch nur den morgigen Tag
erlebte.
Jorge hatte hundertprozentig Recht: Zombies waren Furcht erregender. Vor allem jetzt, da
sie zu Hunderten in nahezu perfekt choreografiertem Gleichklang auf ihn und sein Team
zuschlurften, Dutzende bleiche, widerliche lebende Leichen mit wä ssrigen Augen,
schwarzen Zä hnen und nur einem Gedanken im Kopf: Carlos und seine Leute fressen zu
wollen.
Askegreen war umgebracht worden, als sie vom Dach
– wo Carlos es nicht geschafft hatte, die blonde Frau zu retten – auf die Straße
heruntergekommen waren.
Carter war verletzt worden, als einer der Zombies ihn in den Arm biss, und er konnte kaum
noch seine MP5K
halten.
Carlos, Loginov, O’Neill und Nicholai versuchten, den Dingern in den Kopf zu schießen, aber
es waren so viele…
Die anrü ckenden Zombies mit Salven bestreichend, die sie zurü cktreiben sollten, schrie
Carlos: „Rü ckzug! Zieht euch zurü ck, hab ich gesagt!“
Wä hrend sie sich zur Main Street zurü ckzogen, kam eine weitere Woge von Zombies aus
einer Gasse hervor und schnitt Loginov vom Rest des Teams ab.
„Verdammt! Yuri!“ Carlos stü rmte in die Zombiemenge hinein. Er hatte bereits einen Mann
verloren, er wü rde nicht noch einen verlieren.
Genau wie er es auf dem Dach getan hatte, schoss
- 130 -
Carlos mit beiden Colts auf die Meute, die Loginov bei lebendigem Leibe auffressen wollte –
bis beide Waffen leer waren.
Damit lö schte Carlos genug der Kreaturen aus, um den jetzt verwundeten Loginov aus der
Menge schleifen und ihm zurü ck zum Rest des Teams helfen zu kö nnen.
Askegreen stand ihm im Weg. Blut aus der großen Kopfverletzung, die ihn getö tet hatte,
bedeckte sein Gesicht. Aber der Teil seines Gehirns, den das T-Virus befallen hatte, war
offenbar noch intakt.
J. P. Askegreen war ein Officer des Prince Georges County Sheriffs Department gewesen,
aber er hatte den Posten dort aufgegeben, weil er, wie er oft im Scherz behauptete, „den
Intelligenztest bestanden“ hatte. Fü r Askegreens Dafü rhalten gab es in jenem speziellen
Grenzstaat, oder zumindest im Bü ro des Sheriffs, zu viele Rednecks, und er hatte es satt,
sich mit Leuten abzugeben, deren hö chstes Ziel es war zu sehen, „wie viele Nigger sie vor
dem Mittagessen einlochen konnten“.
Sechs Monate nachdem er vor Ekel gekü ndigt hatte, erhielt seine Frau ein Stellenangebot
von einer Firma in Raccoon City, und sie waren umgezogen. Cain hatte ihn angeheuert und
Carlos’ Einheit zugeteilt. Er war ein guter Kerl und ein liebevoller Ehemann, und in drei
Monaten wü rde er ein guter Vater sein.
So hatte es jedenfalls bis heute Morgen ausgesehen.
Sie hatten keine Ahnung, was mit Askegreens im sechsten Monat schwangerer Frau war.
Und jetzt musste Carlos ihm eine Kugel in den Kopf schießen.
„Hundertpro der ü belste Urlaub meines Lebens“, brummte Carlos. Und die Blockhü tte war
auch so gemü tlich gewesen…
Er schloss zum Team auf, als Carter sich zur Seite beugte und O’Neill in den Hals biss.
- 131 -
An einem anderen Tag hä tte Carlos den beiden einen Verweis wegen ö ffentlicher
Zurschaustellung von Zä rtlichkeiten erteilt. Heute bedeutete es lediglich, dass der eine der
beiden tot war und die andere es bald sein wü rde.
Bevor Carlos etwas tun konnte, packte O’Neill den Kopf ihres Lebensgefä hrten und brach
ihm das Genick.
„Fuck“, sagte sie, fasste sich an den Hals und sah dann auf das Blut, das sich in ihrer
Handflä che gesammelt hatte.
Ohne zu zö gern, zog sie ihre Beretta und schob sich den Lauf in den Mund.
„Nein!“, schrie Carlos, aber es war zu spä t. Sam O’Neills Blut und Gehirn verteilten sich in
einem breiten Sprü hmuster auf der Wand hinter ihr, und ihr Kö rper fiel neben dem von
Jack Carter auf den Asphalt.
Carlos schaute sich um und sah, dass keine Zombies mehr in der Nä he waren. Nur Nicholai
stand noch.
„Wo ist Halprin?“
Nicholai deutete zu Boden, wo Jessica Halprin lag, ihr Kopf auf unmö gliche Weise verdreht.
„Jack ging zuerst auf die Ä rztin los. Sie stieß ihn von sich, stü rzte und brach sich den Hals.“
Loginov, ein frommer Katholik – was der Grund war, weshalb er die Sowjetunion vor
zwanzig Jahren verlassen hatte –, bekreuzigte sich. „Sie – sie wird wenigstens nicht wieder
aufstehen – als eines dieser –
dieser Dinger.“
„Das ist kein besonderer Trost.“ Carlos sah die Straße entlang. Weitere Zombies drä ngten
sich zusammen und kamen auf sie zu. „Gehen wir.“
Zwischen den verlassenen, brennenden Autos und den Stellen aufgerissenen Asphalts
hindurchmanö vrierend fü hrte Carlos die beiden Russen zu einer Gasse, wo eine
Straßenbahn aus den Schienen gesprungen und gegen eine Mauer gekracht war.
- 132 -
Sie stiegen hinein, vergewisserten sich, dass sich in der Tram keine Zombies versteckten,
und dann besah Carlos
sich
Loginovs
Wunde
und
zog
ein
Verbandspä ckchen aus einer Tasche seiner Uniform.
Binnen weniger Minuten hatte er die Verletzung verbunden. „Ich habe die Blutung gestillt.“
Er schaute auf und sah, dass Loginov das Bewusstsein verlor. „Hey. Hey! Bleib wach. Du
musst bei Bewusstsein bleiben, klar?“
„Ja.“ Aber Loginov trieb noch immer am Rande einer Ohnmacht dahin.
„Achtung, Soldat! Augen geradeaus!“, bellte Carlos.
Daraufhin klä rte sich Loginovs Blick. „Kapiert. Ich bin okay – ich bin okay.“
Er klang nicht okay. Er klang, als wü rde er gleich umkippen und sterben, und dieser Tonfall
passte auch zu seinem Aussehen.
Aber wenigstens war er wach.
„Gut.“
„Danke – dass du zurü ckgekommen bist.“
„Du hä ttest dasselbe fü r mich getan.“ Carlos hä tte fast hinzugefü gt, dass er heute zumindest
einen Menschen hatte retten mü ssen, tat es aber nicht. In dieser Richtung lauerte der
Wahnsinn. „Und jetzt reiß dich zusammen, klar?“
Loginov brachte ein schiefes Lä cheln zustande. „Ja, Sir.“
Nicholai
versuchte
unterdessen
jemanden

irgendjemanden – ü ber Funk zu erreichen.
„Alpha-Team an Basis, Alpha-Team ruft Basis.
Kommen, Basis. Basis, bitte melden. Verdammt!“ Er warf Carlos einen Blick zu. „Warum
antworten sie nicht? Die kö nnen uns doch nicht einfach hier lassen. Warum werden wir
nicht evakuiert?“
Carlos war stets ehrlich zu seinen Leuten gewesen, und er sah keinen Grund, jetzt damit
aufzuhö ren.
- 133 -
Deshalb sagte er nur: „Ich weiß es nicht“, anstatt irgendwelchen Scheiß zu labern, den
Nicholai ihm sowieso nicht geglaubt hä tte.
„Warum hat man uns ü berhaupt hier reingeschickt?“
Nicholai tigerte in der Straßenbahn auf und ab, gereizter, als Carlos ihn je gesehen hatte.
Mehr noch, der Russe war gereizter, als Carlos es ihm ü berhaupt zugetraut hä tte.
„Wir hatten von Anfang an keine Chance. Darauf waren wir nicht vorbereitet – niemand
kann darauf vorbereitet sein! Wir…“
„Sei mal still.“ Carlos unterbrach Nicholais Wortschwall, als er ein vertrautes Gerä usch
vernahm.
Er stand auf.
„Was ist?“, fragte Nicholai.
„Hö r mal.“
Es war ein Hubschrauber.
Lipinski hatte Befehl, zur Basis zurü ckzukehren, nachdem er sie abgesetzt hatte, und so
saßen sie ohne Evac in dieser Scheiße fest. Aber vielleicht wurden sie jetzt ja abgeholt.
„Gott sei Dank!“ Nicholai bewegte sich schneller, als Carlos den großen Mann sich jemals
hatte bewegen sehen, und rannte auf die Straße hinaus. „Gott sei Dank!“
Carlos folgte ihm in gemä chlicherem Tempo, genau wie Loginov. Draußen winkte der große
Mann mit beiden Armen einem C89 ü ber ihnen zu. Umbrella hatte den Helikopter,
zusammen mit einigen weiteren von gleicher Bauart, der russischen Regierung abgekauft.
Deshalb trug er jetzt das stilisierte Logo der Firma.
„Hier unten! Wir sind hier unten! Hier unten!“
Aber der Hubschrauber flog ü ber sie hinweg.
Nicholai warf Carlos einen Blick zu. „Was soll das?“
Carlos hingegen hielt den Blick auf den Helikopter gerichtet. „Sie landen dort drü ben.“
- 134 -
Ohne auch nur ein Wort darü ber verlieren zu mü ssen, nahm jeder von ihnen einen von
Loginovs Armen und schlang ihn sich um die Schultern. Dann hinkte das Trio in die
Richtung, in die sich der Hubschrauber entfernte.
Als sie von der Main Street auf die Johnson Avenue einbogen, erkannte Carlos, wo der
Hubschrauber vermutlich hinflog: zum Raccoon City Hospital. Die Firma hatte dem
Krankenhaus einen Flü gel gestiftet und nutzte ihn fü r einen Teil ihrer medizinischen
Arbeit.
Nicholai versuchte seinen Landsmann aufzumuntern.
„Es kommt alles in Ordnung, Yuri. Wir flicken dich wieder zusammen, und dann besaufen
wir uns. Wir lassen es richtig krachen.“
Carlos schnaubte. Yuri Loginov mochte zwar ein frommer Katholik sein, aber er trank wie
ein frommer Muslim, nä mlich gar keinen Alkohol. Daran hatten bislang auch Nicholais
Bemü hungen, ihn bekehren zu wollen, nichts geä ndert.
Als sie in Sichtweite des Krankenhauses kamen, sah Carlos, dass der Helikopter ü ber dem
Atrium der Einrichtung schwebte und den Lichtkegel eines Suchscheinwerfers auf eines
der Fenster richtete.
Nicholai fing wieder an zu winken, und Carlos musste Loginov allein stü tzen.
„Wir sind hier!“
Jemand im Hubschrauber schleuderte zwei stabile Bordkoffer durch eines der Fenster.
Das Splittern des Glases war ü ber dem Rotorenlä rm des Helikopters kaum zu hö ren, der
daraufhin abdrehte und davonflog.
„Nein! Bleibt hier!“ Nicholai hü pfte jetzt auf und ab, immer noch mit den Armen fuchtelnd.
„Wir kommen! Wir sind hier unten!“
Als der Hubschrauber nicht mehr zu sehen war, wandte Nicholai sich wü tend an Carlos.
„Sie haben etwas ins Krankenhaus geworfen. Hast du
- 135 -
das gesehen?“
Carlos nickte.
„Vielleicht ein Funkgerä t? Eines, das funktioniert!“
„Sehen wir mal nach“, meinte Carlos. „Komm.“
Sie betraten das Krankenhaus.
Nicholai und Carlos stü tzten den verletzten Loginov jetzt wieder zu zweit.
Das Gebä ude war verlassen. Keine Ä rzte, keine Schwestern, keine Patienten.
Aber
wenigstens
gab
es
noch
Strom.
Die
krankenhauseigenen
Generatoren
funktionierten
vermutlich noch, obwohl das Stromnetz von Raccoon grö ßtenteils zusammengebrochen
war.
Sie erreichten das Atrium. Inmitten der in Tö pfen wachsenden Palmen, Riesenfarnen und
anderen hä sslichen
Pflanzen,
von
denen
jemand
unerklä rlicherweise annahm, sie wü rden die Kranken beruhigen, lagen zwei stabile
Waffenkoffer.
Große stabile Waffenkoffer.
Sie lehnten Loginov – der immer wieder die Besinnung zu verlieren drohte – gegen eine der
Palmen.
„Was zum Teufel soll das?“, fragte Nicholai.
Die Koffer waren leer.
„Sieht aus wie Waffenkoffer.“
„Wir brauchen keine Waffen, wir brauchen einen Evac!“
„Diese Koffer waren nicht fü r uns bestimmt.“
Carlos sah Nicholai an. Jemand hatte die schweren Koffer bereits geö ffnet und
herausgenommen, was sich darin befand.
Jemand, der wahrscheinlich noch hier war.
Instinktiv blickte Carlos nach oben.
Fü r einen kurzen Moment sah er die gewaltige Silhouette von etwas, das wie ein Panzer auf
Beinen aussah.
Dann war es verschwunden.
Carlos schaute Nicholai an.
- 136 -
Nicholai schaute Carlos an.
Und dann verspü rte Carlos einen furchtbaren Schmerz, als Yuri Loginov – oder besser
gesagt Yuri Loginovs Leichnam – ihn in die Schulter biss.
Carlos schlug seinem Untergebenen ins Gesicht, und die Zä hne lö sten sich aus seiner
Schulter. Dann packte er Loginovs Kopf und drehte ihn.
Das erwartete Knacken folgte einen Sekundenbruchteil spä ter.
Der Russe fiel zu Boden und blieb als verdrehtes Bü ndel liegen.
Nicholai blickte traurig auf den Toten hinab. „Dann werde ich ihn wohl doch nicht besoffen
machen kö nnen.“
„Gehen wir“, sagte Carlos.
„Eine Schande – ich wette, er hä tte einen guten Besoffenen abgegeben.“
Drä ngender wiederholte Carlos: „Gehen wir.“
„Jetzt muss ich mich fü r uns beide besaufen.“
Carlos legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte:
„Nicholai! Reiß dich zusammen! Wir sind in einem Krankenhaus, hier muss es den einen
oder anderen Erste-Hilfe-Kasten geben, in dem mehr drin ist als in unseren
Verbandspä ckchen. Wir mü ssen einen finden, bevor ich hier verblute, okay?“
„Ja – ja, richtig, natü rlich.“ Nicholai schü ttelte den Kopf
„Gehen wir.“
Sie brauchten nicht lange, um die Zufahrt fü r die Krankenwagen zu erreichen, wo sie ein
verlassenes Fahrzeug nach Erste-Hilfe-Material durchwü hlten. Im Krankenhaus war das
Meiste gestohlen, beschä digt oder verschmutzt gewesen. Aber dieser Sanitä tswagen war
zumindest unversehrt. Dafü r war Carlos dankbar.
Doch leider schien nichts von dem, was er tat, um seine Blutung zu stoppen, wirklich zu
helfen. Das Blut wollte nicht gerinnen und so die Wunde schließen.
Was bedeutete, dass Carlos sehr wahrscheinlich selbst
- 137 -
zu einem von Jorges Furcht erregenden Zombies mutieren wü rde.
Hundertpro ein Scheißurlaub.
„Es hö rt nicht auf zu bluten“, sagte er, eigentlich nur, um Nicholai in ein Gesprä ch zu
verwickeln.
„Wie kö nnen sie uns ü bersehen haben?“, fragte Nicholai.
„Was?“
„Der Helikopter. Wir standen mitten auf der Straße, direkt vor dem Krankenhaus. Wie
kö nnen sie uns da nicht gesehen haben?“
Carlos seufzte und sprach laut aus, was er sich bislang nicht hatte eingestehen wollen.
„Sie haben uns gesehen.“
„Was redest du da?“
Carlos erhob sich und legte seine unverletzte Hand auf Nicholais Schulter. „Wir sind nur
Diener, Nicholai.
Diener, die man opfern kann. Und man hat uns gerade geopfert.“
Bevor sie weiter ü ber das Thema sprechen konnten, fingen das Mü nztelefon neben dem
Eingang der Notfallaufhahme, ein liegen gelassenes Handy auf dem Beifahrersitz des
Krankenwagens und mehrere Telefone hinter dem zerbrochenen Schaufenster des
Motorola-Ladens auf der anderen Straßenseite an zu klingeln –
alle gleichzeitig. Carlos starrte Nicholai verwirrt an.
- 138 -
Achtzehn

Nemesis wurde aktiv.


Alle Systeme gingen der Reihe nach online.
Der Drogenfluss versiegte.
Sein Kopf klä rte sich.
Ein Auge ö ffnete sich, dann das andere.
Nemesis nahm seine Umgebung in sich auf.
Dabei versuchte er sich zu erinnern, wer er war.
Moment, das war albern. Er wusste, wer er war: Nemesis. Er brauchte jetzt nur noch die
Anweisungen seiner Herren von der Umbrella Corporation. Sie hatten ihn erschaffen, und
sie steuerten ihn.
Nein!
Eine Stimme brü llte in seinem Kopf auf.
Die Stimme wirkte vertraut und war doch vö llig unbekannt.
Ich bin kein Werkzeug von Umbrella! Ich versuche, den Konzern zu vernichten!
Vernichten? Was fü r eine absurde Vorstellung. Er war Nemesis. Sein einziger Lebenszweck
bestand darin zu tun, was ihm die Firma befahl.
Nemesis erhob sich von seinem Bett. Er sah sich im Raum um und identifizierte ihn als
Krankenzimmer.
Neben den Farben und Strukturen konnte er auch feststellen, wie heiß oder kalt etwas war,
und jegliche ultraviolette Strahlung genü gte ihm, um Formen zu erkennen.
Mein Gott, wie ist das mö glich? Ich kann im Infrarot-und Ultraviolett-Spektrum sehen.
Abermals empfand Nemesis Verwirrung. Die Stimme war immer noch in seinem Kopf, aber
er erkannte sie nicht.
Ich bin Matthew Addison! Ich sollte mich mit meiner
- 139 -
Schwester Lisa Broward treffen. Sie wollte mir Informationen ü bergeben, mittels derer ich
die illegalen Aktivitä ten der Umbrella Corporation enthü llen wollte.
Stattdessen geriet ich in ein Alptraumszenario. Ein unterirdischer Komplex von Umbrella
wurde mitsamt der fü nfhundert darin befindlichen Menschen vernichtet. Ich sah Menschen
sterben, musste sogar selbst ein paar umbringen – und infizierte mich letztlich mit
demselben T-Virus, das die Umbrella-Mitarbeiter tö tete. Ich erinnere mich nicht, was
danach geschah. Was haben die mit mir gemacht?
Nemesis ignorierte die Stimme. Was sie sagte, ergab keinen Sinn.
Ü ber das Display in einer Ecke seines Sichtfeldes lief eine Textzeile.
ALLE SYSTEME AKTIVIERT.
Dann empfing Nemesis weitere Anweisungen. Nicht durch Worte – er wusste einfach, was
er als Nä chstes zu tun hatte.
Mein Gott, senden die direkt in meinen Schä del?
Nemesis ging zur Tü r. Eine große Hand drehte den Knauf.
Grundgü tiger, wie ist denn meine Hand so groß geworden? Und was zum Teufel hat es mit
all diesen Schlä uchen und Drä hten auf sich?
Mit schweren Schritten, die den Boden bis an die Grenzen seiner Tragfä higkeit zu belasten
schienen, ging Nemesis in Richtung des Atriums. Er kannte den kü rzesten Weg vom
Umbrella-Flü gel aus, obwohl er bis heute noch nie einen Fuß in dieses Krankenhaus gesetzt
hatte.
Mehr noch, er hatte seinen Fuß bis heute noch nirgendwohin gesetzt. Er erinnerte sich an
nichts vor seinem Erwachen im Krankenhaus.
Verdammt, das stimmt nicht! Ich bin Matt Addison! Ich bin ein Mensch, Herrgott noch mal,
und ihr kö nnt mir
- 140 -
meinen Kö rper – mein Leben – nicht einfach so wegnehmen! Lasst mich verdammt noch
mal hier raus!
Nemesis begriff, dass sich bei der Stimme um ein Ü berbleibsel des Templates handelte.
Oder vielleicht um ein Phantomprogramm in seinem Kernspeicher. Egal, er wü rde es
ignorieren, bis es verschwand.
Nemesis passierte ein zerbrochenes Fenster und fand zwei große Koffer auf dem Boden des
Atriums. Er beugte sich nach vorne und ö ffnete einen davon.
Meine Fresse, das ist ein riesiger Raketenwerfer. Ich hab noch nie so was Großes gesehen.
Wie soll den jemand halten?
Nemesis nahm den Raketenwerfer auf, der gut zwei Meter lang und mit einem
Schulterriemen versehen war.
Er schlang sich den Trageriemen ü ber die Schulter, so mü helos, als sei es ein Rucksack.
Was zum Teufel haben die mit mir gemacht?
Der zweite Koffer enthielt eine Rail-Gun.
Das ist eins von diesen Dingern, die man an Hubschraubern montiert.
Nemesis hob die Waffe mit seiner riesigen Hand auf.
Dann ging er weiter in Richtung Ausgang.
DIREKTIVE: IN RACCOON CITY PATROUILLIEREN.
Nemesis sah ein paar Menschen im Krankenhaus, aber sie strahlten keine Wä rme ab,
waren also offensichtlich Untote, die durch das T-Virus wiederbelebt worden waren. Sie
stellten keine Gefahr dar, und er war nicht angewiesen worden, sie anzugreifen.
Deshalb ignorierte er sie.
Er erhaschte einen kurzen Blick auf zwei Mä nner, die von einem dritten angegriffen
wurden. Die beiden Mä nner lebten noch, der dritte nicht. Er erhielt auch keinen Befehl, sich
mit ihnen zu befassen, und so beachtete er sie nicht weiter und bewegte sich auf den
Ausgang zu.
Was zum Teufel ist hier los? Diese Typen dort tragen
- 141 -
dieselben Outfits, wie Rain, Kaplan und die anderen. Sie mü ssen auch zu den
Schlä gertruppen von Umbrella gehö ren.
Nemesis trat ins Freie.
Er sah mehrere verlassene, beschä digte Motorvehikel, verschiedene Modelle, angefangen
von Tracks ü ber Gelä ndewagen
und
Busse
bis
hin
zu
Personenkraftwagen und Motorrä dern und so weiter.
Viele Fenster waren zerbrochen, und die Straßen waren mit Glasscherben ü bersä t – und
voller Blut.
Er sah sich um und fand kein Anzeichen von Leben, bis auf ein, zwei Ratten.
Ich fasse es nicht. Diese Wichser haben den Hive wieder aufgemacht und die zu Zombies
gewordenen Angestellten rausgelassen. Und ich hatte schon gedacht, Umbrella kö nnte
nicht mehr tiefer sinken…
Nemesis
ging
die
Straße
entlang.
Sä mtliche
Hindernisse wurden, ungeachtet ihrer Grö ße, beiseite gefegt oder zermalmt. Nichts stand
ihm im Wege.
Nichts konnte sich ihm in den Weg stellen. Er war Nemesis. Erschaffen von der Umbrella
Corporation – als perfekte Kampfmaschine.
Er bog von der Johnson Avenue in die Main Street ein.
In der Ferne sah er mehrere Tote, die das T-Virus wiederbelebt hatte. Außerdem vernahm
er eine menschliche Stimme.
„Kommt doch her und holt mich.“
Einer der Toten wurde von einer Kugel getroffen, die aus einer Shotgun abgefeuert worden
war.
„Kommt schon, davon hab ich noch mehr. Reicht fü r alle!“
Ein weiterer Toter wurde getroffen. Die Kö pfe der beiden waren fast verschwunden.
„Ja, kommt ran, kommt ran.“
Nemesis machte die Quelle der Stimme aus, indem er sie mit den Flugbahnen der Kugeln
abglich. Es war ein
- 142 -
Mann, der auf dem Dach einer Lokalitä t namens Grady’s Inn stand. Seine Uniform wies ihn
als Angehö rigen der Special Tactics and Rescue Squad des Raccoon City Police Departments
aus, obwohl er dazu auch noch einen großen Cowboyhut trug, der nicht Teil der offiziellen
Kleiderordnung war.
Als Nemesis sich dem S.T.A.R.S.-Heckenschü tzen nä herte, wurde dieser auch auf ihn
aufmerksam.
„Verdammt, was ist denn das?“
Herrgott, du Arschloch, mach, dass du vom Dach runterkommst, bevor ich dich umbringe!
Und warum zum Teufel stehst du ü berhaupt da oben und spielst Tontaubenschießen mit
den Zombies? Ist das deine Vorstellung von Beschü tzen oder Helfen? Ich kann nicht
glauben, dass ich so getan habe, als sei ich einer von euch RCPD-Wichsern.
Nemesis
machte
eine
Anzahl
weiterer
Wä rmesignaturen aus. Sie befanden sich in einem nahe gelegenen Geschä ft namens Mostly
Colt, ein Laden, der sich auf den Verkauf von Handwaffen spezialisiert hatte.
Als er daran vorbeiging, sah er, dass die meisten von ihnen ebenfalls S.T.A.R.S.-Uniformen
trugen.
Eine Shotgun-Kugel traf ihn in die Brust.
Heilige Scheiße, ich wurde angeschossen – aber es fü hlte sich an wie ein leichter
Rippenstoß. Was zum Teufel haben die verdammt noch mal mit mir gemacht?
„Ich muss daneben geschossen haben“, sagte der Heckenschü tze auf dem Dach. „Aber ich
schieße nie daneben.“
Hast du ja auch nicht, du Arsch, und jetzt hau endlich ab!
DIREKTIVE: SUCHE UND VERNICHTE S.T.A.R.S.-
ANGEHÖ RIGE.
Verdammt, nein. Nein, zwing mich nicht, das zu tun.
Er konnte hö ren, wie die Patrone eingelegt wurde, das Klacken von Metall auf Metall, als
der Heckenschü tze
- 143 -
seine Waffe durchlud.
„Hurensohn! Dich mach ich alle!“
Nemesis hob die Rail-Gun, hielt die gewaltige Waffe hoch, als sei sie ein Sechsschü sser.
Es ist, als wiege sie nichts. Großer Gott…
Der Heckenschü tze stutzte beim Anblick der auf ihn gerichteten Rail-Gun.
Ja, da wü rde ich verdammt noch mal auch stutzen.
„Scheiße!“
Hunderte von Geschossen explodierten rings um das Dach von Grady’s Inn. Doch Nemesis
konnte den Heckenschü tzen immer noch anhand der Hitze, die er abgab, ausmachen. Er
war noch am Leben und hatte hinter dem Aufbau, durch den man aufs Dach gelangte,
Deckung gefunden.
Nemesis lö ste die Rail-Gun weiter mit einer Hand aus.
Mit der anderen, und ohne den Finger auch nur geringfü gig vom Abzug der anderen Waffe
zu nehmen, hob er den Raketenwerfer auf seine Schulter und feuerte ein Missile auf das
Dach von Grady’s Inn ab.
Einen Augenblick spä ter, als es unter dem Einschlag des Flugkö rpers explodierte, wurde
das ganze Lokal eine einzige gewaltige Hitzesignatur.
Nemesis senkte seine Waffen, nachdem er seine jü ngste Direktive befolgt hatte.
Grundgü tiger…
Dann wandte sich Nemesis dem Waffengeschä ft Mostly Colt zu.
- 144 -
Neunzehn

„Was gibt’s?“, wandte sich Cain an Johanssen.


Der junge Mann sah auf, als der Major zu ihm trat. Karl Johanssen war einer der fü hrenden
Techniker, die dem Nemesis-Programm zugeteilt waren, und der einzige, den Cain
ausstehen konnte. Johanssen hatte zwei Turnusse beim US Marine Corps gedient, bevor er
seinen Posten bei Umbrella antrat. Sicher, er war ein blö der Wichser, aber trotzdem fiel es
Cain leichter, mit ihm zu reden, als mit einem von den anderen, den noch viel grö ßeren
Wichsern im Nemesis-Programm. Keiner von ihnen stellte zwar ein so großes Ä rgernis dar
wie Ashford. Aber wä hrend Cain zu Ashford nett sein musste, war er im Umgang mit den
Wissenschaftlern, Technikern und anderen hochnä sigen Arschlö chern nicht dazu
verpflichtet.
Johanssen kapierte Dinge wie Befehlskette oder wie man eine Order zu befolgen hatte.
Deshalb war er der Verbindungsmann zwischen dem Programm und Cain.
Nachdem Nemesis nun aktiv war, hatte Cain Johanssen befohlen, die Kontrolle zu
ü bernehmen.
Der Leiter des Nemesis-Programms, ein nervtö tender kleiner Blö dmann namens Sam
Isaacs, hatte Einspruch erhoben und gemeint, dass doch wohl er derjenige sein sollte, der
Nemesis steuerte und ü berwachte, da er das Programm besser kenne als sonst jemand, und
obschon er Mr. Johanssen nur den allergrö ßten Respekt entgegenbringe, wä re es doch
wirklich sinnvoller, wenn er an den Kontrollen sä ße.
Cain sagte Isaacs, er solle sich ins Knie ficken, und wies Johanssen an, die Steuerung zu
ü bernehmen.
Das hieß, dass Johanssen Zugriff hatte auf Nemesis’
Sicht, die auf einem Plasmabildschirm abgebildet wurde;
- 145 -
auf sein Gehö r, das ü ber hochmoderne Lautsprecher von Perry Myk (einer
Tochtergesellschaft von Umbrella) ü bertragen wurde; auf seine Vitalfunktionen, die auf
einem anderen Plasmamonitor einzusehen waren; und auf
sein
Gehirn,
und
zwar
mittels
eines
Computerterminals mit einem ergonomischen Keyboard, dessen Eingaben direkt in
Nemesis’ Großhirnrinde ü bertragen wurden.
Im Moment zeigt der Sichtmonitor ein Waffengeschä ft und mehrere Wä rmesignaturen. Da
die Untoten nicht im Infrarotbereich abgebildet wurden, hieß das, dass es sich um
Lebewesen handelte.
Johanssen antwortete auf Cains Frage: „Ein Dutzend bewaffnete Mä nner, gut organisiert.“
Cain schü ttelte den Kopf. „Es ü berrascht mich, dass noch jemand am Leben ist.“
„Das sind S.T.A.R.S.“, sagte Johanssen. „Sozusagen das S.W.A.T.-Team von Raccoon City. Das
sind die Besten.“
„Die Besten.“ Cain schnaubte. One und sein Team waren die Besten gewesen. Diese Typen
waren nur glorifizierte Streifenpolizisten, die mit den besseren Spielsachen umgehen
durften. „Wollen wir doch mal sehen, wie gut sie wirklich sind.“
Johanssen nickte verstehend. Das war ein weiterer Grund, warum Cain Johanssen mochte –
er verstand, was Cain ihm sagte, ohne dass er es ein Dutzend Mal erklä ren musste. Und es
war ja nun nicht so, als gä be es noch moralische Bedenken. Alle, die sich in Raccoon City
aufhielten, waren so gut wie tot – wenn das T-Virus sie nicht erwischte, dann wü rde es die ,
Sä uberung’
morgen frü h besorgen –, was machte es also fü r einen Unterschied, wie sie starben?
Das Leben war nun mal wie es war. Armselig.
„Protokollä nderung.“ Damit rollte Johanssen seinen Stuhl zu der ergonomischen Tastatur
hinü ber und
- 146 -
begann, Befehle einzutippen.
Die Befehlszeile erschien auf dem Bildschirm.
Johanssen schrieb:
SUCHE UND VERNICHTE S.T.A.R.S.-ANGEHÖ RIGE.
Wä hrenddessen ließ Cain den Monitor nicht aus den Augen. Der Computer hatte die
meisten der Leute in dem
Waffengeschä ft
anhand
ihrer
Uniformen
identifiziert. Einer der drei in Zivilkleidung war Ryan Henderson, der fü r S.T.A.R.S.
verantwortliche Captain.
Bei den anderen beiden handelte es sich vermutlich um Officers, die nicht im Dienst waren,
als die Hö lle losbrach, oder Zivilisten, die von den anderen beschü tzt wurden.
Dann fand Nemesis einen S.T.A.R.S.-Heckenschü tzen auf dem Dach eines nahe gelegenen
Gebä udes.
Cain wandte den Kopf und sah, dass Johanssen die Identifizierung des Heckenschü tzen
anhand seiner Zü ge aufrief. Es handelte sich um einen S.T.A.R.S.-
Scharfschü tzen namens Michael Guthrie, gebü rtiger Texaner – was den nicht zur Uniform
gehö renden Cowboyhut erklä rte, den er trug –, der sich vier Verweise wegen unnö tiger
Gewaltanwendung eingehandelt hatte.
Wie es vorauszusehen gewesen war, schoss Guthrie auf Nemesis, sobald er ihn sah.
Und ebenso war vorauszusehen gewesen, dass der Schuss keine nennenswerte Wirkung
bei Nemesis zeigte.
Das hieß, etwas bewirkte er doch – aber das wusste Cain nur aufgrund dessen, was andere
Bildschirme vor ihm anzeigten.
Johanssen bestä tigte die Informationen auf den Monitoren, indem er meldete:
„Nullkommanullein Prozent Schaden. Regenerierung auf zellularer Ebene.“
Cain nickte. Wie Isaacs gesagt hatte, war Nemesis’
Metabolismus hinreichend aufgeladen, sodass er Gewebe regenerieren konnte, um jede
Wunde zu heilen.
- 147 -
Johanssen sah zu Cain auf. „Sekundä r-Direktive eingerichtet. Nemesis wird jetzt jeden
angreifen, den er als S.T.A.R.S.-Angehö rigen identifiziert.“ Johanssen zö gerte. „Sir, das heißt,
er wird nichts gegen die anderen beiden Leute in dem Laden unternehmen – es sei denn,
sie bedrohen ihn mit kö rperlicher Gewalt.“
„Schon gut, mein Sohn“, sagte Cain mit einem kleinen Lä cheln. „Ich wü rde sagen, dass
Letzteres sehr wahrscheinlich der Fall sein wird, meinen Sie nicht auch?“
„Ja, Sir.“
Als Johanssen diese beiden Worte aussprach, zeigte der Monitor, der mit der
Verkehrsü berwachungskamera des RCPD verbunden war, wie Nemesis die Rail-Gun hob.
Welch ein Anblick!
Mochte der Kö rper von Nemesis ursprü nglich auch einem verdammten Unruhestifter
namens Matthew Addison gehö rt haben, war besagter Kö rper nun doch kaum noch als der
von Addison zu erkennen.
Aus welchem Grund auch immer war Addisons DNS
fü r die Modifizierungen, die das Nemesis-Programm erforderte, besonders empfä nglich.
Mehrere Dutzend Versuchsobjekte – alles Gefangene aus der Strafanstalt von Raccoon City,
die sich freiwillig gemeldet hatten, nachdem man ihnen Bewä hrung versprochen hatte, falls
sie ü berleben sollten (wobei man diesem letzten Kandidaten dieses Angebot natü rlich nicht
gemacht hatte) – hatten verheerende Reaktionen auf die Modifizierungsversuche gezeigt.
Doch als Addison im Hive von einem der Licker angegriffen wurde, hatte er anders als
erwartet darauf reagiert. Der Mann war ohnehin so gut wie tot gewesen, also hatte Cain
keinen Grund gesehen, ihn nicht ins Nemesis-Programm zu stecken, um zu erfahren, was
sich daraus ergeben mochte.
- 148 -
Als zusä tzlichen Bonus hatten sie eine Menge ü ber die Gruppe herausgefunden, zu der
Addison gehö rte – eine elende Ansammlung von reichen Liberalen, verbitterten
Gesetzeshü tern
und
anderem
Abschaum
der
Gesellschaft, die Umbrella zu Fall bringen wollten. Cain hatte bereits Schritte eingeleitet,
um sicherzustellen, dass man sich um Aaron Vricella und den Rest von Addisons Kumpanen
kü mmerte.
In der Zwischenzeit diente Addison der Fö rderung der Ziele eben jenes Konzerns, den er
tö richterweise in den Untergang treiben wollte. Wenn Nemesis funktionierte –
und es sah mehr und mehr danach aus, als sei dies der Fall –, dann verfü gten sie ü ber einen
Supersoldaten, der, wie Cain wusste, von großem Interesse fü r seine frü heren Kameraden
bei den Streitkrä ften sein wü rde.
Nemesis war acht Fuß groß, und seine Muskeln waren weit ausgeprä gter als die der besten
Bodybuilder.
Verschiedene Drä hte und Leitungen verstä rkten auf elektronischem und
kybernetischem Wege
seine
ohnedies schon beträ chtliche Kraft und Kondition sowie vier seiner fü nf Sinne (davon
ausgenommen waren seine Geschmacksnerven, die sie abgetö tet hatten, weil ein
ausgeprä gter Geschmackssinn im Einsatz hinderlich sein konnte), und Schlä uche fü hrten
seinem Blutkreislauf diverse Stimulanzien zu.
Mit einem baumstammstarken Arm hielt er eine Rail-Gun, als wiege sie nichts. Mit dem
anderen trug er den speziell modifizierten Raketenwerfer, den nur wenige selbst mit zwei
Hä nden hochwuchten konnten.
Jetzt feuerte er diesen Raketenwerfer ab, wä hrend er das Dach ohne Unterbrechung mit
der Rail-Gun unter Beschuss nahm.
Augenblicke spä ter lö sten sich das Dach, das Gebä ude und Michael Guthrie in einer
Feuersbrunst auf, die Timothy Cains Herz mit Stolz erfü llte.
Dann wandte sich Nemesis dem Waffenladen zu.
- 149 -
Zwanzig

Nachdem das gut aussehende, aber durchgeknallte weiße Luder im blauen Tube-Top
Rashonda erschossen hatte, war L. J. schleunigst aus dem RCPD
verschwunden. Auf der Straße war es sicherer. Wenn auch nicht sehr viel, das stand
gottverdammt noch mal fest.
Doch das Luder hatte Recht gehabt. L. J. mochte zwar in Raccoon zur Welt gekommen und
aufgewachsen sein, aber was zu viel war, war verdammt noch mal zu viel.
Auf keinen Fall wü rde er seinen kleinen Arsch in dieser Stadt belassen. Wenn er Zombies
sehen wollte, dann holte er sich einen Film aus der Videothek. Nein, Mann, L. J. wü rde sich
dorthin absetzen, wo ein Nigger leben konnte.
So schnell er konnte schwang L. J. seinen Arsch nach Hause, um sich seine Uzis und seinen
Glü cksring zu holen. Er hatte den Ring nicht getragen, weil er zu schwer war, wenn er die
Nummer mit den drei Karten abzog. Der Goldring bildete das Wort LOVE, weil L. J.
genau darauf von Kopf bis Fuß eingestellt war.
Außerdem steckte er seine Rick-James-CD ein. Er hä tte das Haus nicht ohne seine
Schießeisen, seinen Ring und seinen Rick verlassen sollen.
Scheiße, das war wahrscheinlich der Grund gewesen, warum sie ihn geschnappt hatten.
Jetzt brauchte er nur noch eine Karre.
Das Problem war nur, dass sie L. J. die Karre vorigen Monat abgenommen hatten, als Junior
Bunk auf den Trichter gekommen war, dass L. J. mit seinen Zahlungen keine drei Tage in
Verzug sein durfte. Na ja, und obendrein hatte L. J. Bunk noch gesteckt, dass er vielleicht
seine Ritalin-Dosis checken sollte…
- 150 -
Nun, der Scheißer hatte null Sinn fü r Humor, und das hieß, dass L. J.’s Chevy in Bunks
Garage gelandet war.
Inzwischen war der Motor vermutlich schon in Baltimore, die Batterie in Seattle, der
Kü hler in New York und das Fahrgestell in Japan.
Aber L. J. landete immer auf den Fü ßen, und kaum war er zur Tü r hinausgegangen, sah er
mitten auf der Straße einen wunderschö nen roten Camaro stehen.
L. J. schaute sich um, sah aber niemanden. Als er sich dem Wagen nä herte, hö rte er, dass
der Motor noch lief.
Er spä hte durch das Fenster, und tatsä chlich, der Schlü ssel steckte.
Ah, Scheiße, ein Nigger schaute einem geschenkten Gaul nicht ins Maul.
Die Beifahrertü r war offen, und L. J. sah etwas Blut am Boden, aber scheiß drauf, in seinem
Chevy klebte auch Blut am Boden. Der Dreck ging nicht mehr raus, und L.
J. war daran gewö hnt. War vermutlich Blut von einem dieser Zombieä rsche.
Der Camaro hatte sogar einen CD-Spieler.
Gerade als er sich auf den Fahrersitz pflanzte, knallte ein weißer Knabe aufs Dach, und L. J.
machte sich vor Schreck fast ins Hemd. Der Typ hatte diese Zombieaugen und diese
verdammten schwarzen Zä hne.
„Schwing deinen Arsch da runter, du Pisser!“
Er jagte den Motor hoch, stieß den Automatikhebel auf
,Drive’ und trat abrupt das Bremspedal durch.
Der Scheißzombie rutschte von der Motorhaube, und als L. J. wieder Gas gab, schlug die
andere Tü r zu – was ihm die Mü he sparte, sie von Hand zu schließen.
Nachdem er den Zombie noch ü berrollt hatte, fuhr L. J.
los und schob die CD in den Player.
L. J. wollte nichts weiter, als aus Raccoon verschwinden. Wo er auch hinschaute, sah er
noch mehr dieser verdammten Zombies.
L. J. hatte die Schnauze voll von den Scheißzombies.
- 151 -
Dann sah er eine Politesse, die ihren Arsch die Straße entlang schleifte. Ein Arm hing schlaff
an ihrem Kö rper.
Als L. J. noch seinen Chevy besaß, hatten ihn dauernd die Politessen am Arsch gehabt, sie
hatten ihm Strafzettel verpasst und waren ihm tierisch auf den Sack gegangen. L. J. warf nie
Geld in eine Parkuhr – er trug nur Scheine bei sich, mit Kleingeld hatte er nichts am Hut,
darum hatte er nie Vierteldollarmü nzen. Er hatte ein Handy, also brauchte er auch fü r
Mü nztelefone kein Kleingeld.
Er lenkte den Wagen auf die Politesse zu und fuhr sie ü ber den Haufen.
„Da haste, du Schlampe! Zehn Punkte! Leck mich fett am Arsch!“
Lachend und Rick James’ Gesang mit seiner Stimme begleitend – nach all den Jahren war
Rick immer noch der Grö ßte – bog er um die Ecke und in die Harbor Street ein.
Das war die einzige Straße, die er vermissen wü rde, wenn er aus der Stadt raus war. Hier
befand sich der Playa’s Club. Viele Nä chte hatte er damit zugebracht, Dollarscheine in den
G-String von Ludern mit dicken Mö psen zu stecken. Er spendierte ihnen Zwanziger, damit
sie auf dem Tisch tanzten, und manchmal, wenn er Glü ck und genug große Scheine hatte,
nahm er eine mit ins Seitengä sschen.
Sein Liebling war LaWanda. Das Mä dchen konnte sich aber auch bewegen – ein Hintern,
der nie mü de wurde, und die besten Titten, die man fü r Geld kriegen konnte.
Und
da
war
sie
nun,
stolperte
auf
ihren
Plateauschuhen die Straße hinunter, trug ein weißes Tank-Top und einen schwarzen
Lederminirock, und in ihrem Bein klaffte ein Riesenloch.
Einerseits tat es L. J. Leid, dass sie tot war.
Andererseits sah sie immer noch verdammt heiß aus.
„Scheiße, du Miststü ck“, rief er der Zombienutte zu, „du
- 152 -
hast’s immer noch!“
Sie trug keinen BH unter dem weißen Tank-Top, und L.
J. befand, dass sie, Zombieluder oder nicht, immer noch ein geiles Fahrgestell hatte.
Dann explodierte ihm ein Airbag ins Gesicht, und im selben Moment spü rte er einen
scharfen Schmerz im Rü cken.
Er brauchte ein paar Minuten, um seinen Kopf klar zu bekommen, aber schließlich befreite
er sich von dem verdammten Airbag und versuchte die Tü r zu ö ffnen.
Sie rü hrte sich nicht.
Er stemmte sich mit der Schulter gegen das Scheißteil, und dann ging sie auf, kreischend
wie Fingernä gel, die ü ber eine Tafel kratzen. Er fiel aus dem Wagen und sah, dass der
Camaro im Arsch war. Was daran lag, dass L.
J. so beschä ftigt gewesen war, das Hinterteil der Nutte abzuchecken, dass er das Hinterteil
des verlassenen Ford nicht gesehen hatte, der mitten auf der Straße stand.
Der Camaro war ein Totalschaden. Außerdem wü rde L.
J. ohnehin nicht mit einem Airbag in der Fresse herumfahren.
Als
er
sich
hochrappelte,
sah
er
sich
von
Scheißzombies umringt: die Politesse, die Nutte und ein ganzer Haufen anderer Leutchen.
„Ach du Scheiße.“
Er rannte los.
Das Gute an den Scheißzombies war, dass sie verdammt lahmarschig waren, und so
bereitete es L. J.
keine Probleme, es zur Kreuzung von Harbor und Main zu schaffen.
Er bog in die Main Street ein und sah weitere Scheißzombies die Straße herunterkommen.
„Scheiße, Mann, ich komm mir vor wie in einem verdammten Michael-Jackson-Video.“
In einem Gebä ude gab es noch Licht und Anzeichen
- 153 -
von Leben. Von wirklichem Leben. Mostly Colt. L. J.
kannte den Laden – ein paar Brü der besorgten sich dort ihre Knarren, L. J. allerdings nicht.
Der Typ, dem der Laden gehö rte, war ein Redneck namens Lance Halloran. Und L. J. kaufte
seine Kracheisen nicht bei Weißen.
Heute jedoch war keine Zeit, um wä hlerisch zu sein.
Er rannte auf den Laden zu, gerade als jemand die Tü r schließen wollte.
„Warte“, rief er, „warte!“
Er zwä ngte sich durch die Tü r und sah sich um.
Cops.
Ein ganzer Raum voller Cops.
Schlimmer noch, das waren alles S.T.A.R.S.
„Scheiße!“
Die einzigen beiden unter all diesen Weißen, die keine S.T.A.R.S.-Uniform trugen, waren
Halloran und ein anderer alter weißer Bastard mit Krawatte. Er musste ebenfalls ein Cop
sein.
„Vielleicht war ich da draußen sicherer – das hier sieht mir verdammt nach irgendso ‘ner
Ü berlegenheitsscheiße der weißen Rasse aus.“
Sie schauten ihn alle an, als ob er verrü ckt sei.
Nun, im Moment war L. J. verrü ckt, verdammt noch mal. Zumal es so aussah, als verkrieche
er sich hier mit diesen Weißbroten.
„Ihr wisst, dass ihr die Erde nicht erbt, oder?“
Der Cop in Zivil hielt eine Pumpgun in Hä nden. Er hob sie an – L. J. zuckte zusammen, doch
dann reichte er sie L. J.
„Hier.“
Ein weißer Hurensohn gab einem Neger einen Schießprü gel. Mann, diesen Tag musste er
im Kalender rot anstreichen!
Aber er brauchte keine Almosen von Weißen. Er hielt seinen Mantel auf und zeigte seine
Uzis.
- 154 -
„Leute, bitte – mein Scheiß ist maßgeschneidert.“
„Verdammt richtig, L. J.“, sagte Halloran. „So ‘n Dreck verkauf ich hier nicht.“
„Ja, Halloran, du verkaufst nur an beschissene Weiße, die Bambi mit Schrotflinten und so
‘nem Dreck in Fetzen schießen.“
Der Cop wandte sich an Halloran. „Du kennst dieses Arschloch, Lance?“
L. J. hob eine seiner Uzis und sagte: „Pass auf, was du sagst, Halloran. Ich bin verdammt
außergewö hnlicher Abschaum, und weißt du, warum?“
„Warum?“ Der Cop lachte jetzt sogar.
„Weil ich noch japse und kein Scheißzombie bin, darum.“
„Verdammt richtig“, sagte der Cop. „Ich bin Captain Henderson. Wenn du hier bleiben
willst, tust du, was ich dir sage, wenn ich’s dir sage, sonst erschieße ich dich
hö chstpersö nlich. Klar?“
„Wie Schlamm, Captain. Jagen wir ein paar Zombies in die Luft.“
Henderson lä chelte, dann wandte er sich wieder an Halloran. „Lass die Rolllä den runter.“
„Kein Problem“, sagte Halloran und warf L. J. einen Blick zu.
Gerade als Halloran zum Schaufenster ging und nach dem Griff fasste, um die Metalllä den
herunterzukurbeln, sagte L. J.: „Was zum Teufel ist denn das?“
L. J. hatte in seinem Leben schon eine Menge Scheiße gesehen – er hatte allein heute eine
Menge Scheiße gesehen –, aber so etwas wie das da hatte er noch nie vor die Pupillen
gekriegt.
Ein weißer Typ, der mindestens neun verdammte Fuß groß war. Aus seinen Hä nden ragten
Schlä uche und all so ‘n Zeug, und seine Muskeln ließen Arnold Schwarzenegger aussehen
wie Arnold Palmer.
Das da war kein Zombie.
- 155 -
Das war schlimmer.
Und L. J. hatte gedacht, etwas Schlimmeres als Zombies kö nnte es nicht geben.
Der große Typ schleppte zwei mordsmä ßige Knarren mit sich herum. Die eine war von der
Sorte, wie man sie in Hubschraubern hatte – nur dass dieser Wichser das Gerä t in der Hand
hielt.
In der anderen hatte er einen Raketenwerfer.
L. J. dachte daran, dass er die Rick-James-CD aus dem Wrack des Camaro hä tte mitnehmen
sollen. Im Moment brauchte er alles Glü ck, das er kriegen konnte.
Dann fing der große Typ an, mit der Rail-Gun auf eines der umliegenden Gebä ude zu
schießen.
„Scheiße, auf dem Dach dort ist Guthrie!“, rief einer der Cops.
Henderson warf dem Mann einen Blick zu, der L. J. fast noch mehr Angst einjagte, als er
sowieso schon hatte.
„Was zum Teufel hat Guthrie dort oben zu suchen?“
Der Cop hob die Schultern. „Sagte, er wollte ein paar Schießü bungen machen.“
Bevor Henderson irgendwelchen Scheiß ü ber dieses Arschloch Guthrie reden konnte,
wuchtete der große Typ den Raketenwerfer hoch und jagte das Gebä ude, auf das er
ballerte, in die Luft.
Mit einem Blick auf Halloran, der sich elend lange Zeit ließ mit seiner Kurbelei, schrie
Henderson: „Beeil dich!“
L. J. stand immer noch unter Schock. „Heilige Scheiße
– schaut euch diesen riesigen Scheißkerl an.“
Der letzte Rollladen krachte herunter wie eins von diesen Toren an diesen alten Burgen,
die man in Europa und so hatte.
„Der Hurensohn kommt hier unmö glich rein“, sagte Halloran.
Mann, waren diese Cops denn alle total matschig in der Birne? „Der Typ hat ‘nen
Raketenwerfer, Alter! Wir werden hier drin gleich alle hochgehen!“
- 156 -
„In Deckung, verdammt!“, rief Henderson.
Die Cops bezogen Stellung hinter Vitrinen und Ladentischen.
L. J. merkte, dass er allein mitten im Laden stand, und das gefiel ihm gar nicht. Er rannte
hinter den Verkaufstresen, wo auch Henderson war. Im Zweifelsfall blieb man am besten
bei dem Scheißer, der das Sagen hatte.
Das nä chste Gerä usch war so laut, dass L. J. seine Uzis fallen lassen musste, um sich die
Ohren zuzuhalten.
Der
große
Typ
setzte
die
Hubschrauberwumme gegen die Fassade des Ladens ein.
Dann trat Stille ein. L. J.’s Ohren klingelten immer noch
-Scheiße, wahrscheinlich wü rden sie noch eine Stunde klingeln –, aber der große Typ
schoss nicht mehr.
Jetzt klaffte ein verdammtes Riesenloch in der Vorderseite, etwa von der Grö ße des Typen.
Es sah aus wie eines dieser Lö cher, die Zeichentrickfiguren hinterließen, wenn sie durch
eine Wand rannten, die ihre Umrisse nachformte.
L. J. hob seine Uzi auf und richtete sie auf die Tü r. L. J.
Wayne wü rde sich nicht von einem verschissenen Weißbrot mit einem Raketenwerfer
umnieten lassen, auf keinen Fall!
Er wartete.
Und wartete.
Und wartete.
Wo zum Teufel steckte dieses Ding?
Dann hö rte er ein verdammt lautes Krachen und musste husten.
Der große Typ kam durch die Scheißdecke, und L. J.
schluckte verdammten Gips- und Verputzstaub. Der Typ schoss mit seiner
Hubschrauberwumme, und die Cops erwiderten das Feuer.
L. J. hockte nur hinter dem Tresen, starr wie eine
- 157 -
verdammte Eistü te. Auf keinen Fall wü rde er sich von der Stelle rü hren. Er war zu
beschä ftigt damit, zu beten und zu hoffen, dass es in der Hö lle nicht so schlimm sein wü rde,
wie Momma es immer gesagt hatte.
Von hinten rannte einer der Cops herbei. Er hatte eine MP5K und er feuerte sie auf
Vollautomatik ab.
Der große Typ zuckte nicht einmal zusammen. Er schwang nur herum und schoss mit der
Rail-Gun direkt auf den Cop.
L. J. blickte nach rechts und sah, dass Henderson mehr Lö cher im Balg hatte als ein
verdammter Schweizer Kä se. Er schaute sich um und sah, dass die anderen Cops ebenfalls
tot waren.
Scheeeeiiiiße!
Die einzige andere Person, die im Mostly Colt außer dem großen Typen und L. J. noch lebte,
war Halloran.
Er richtete sich mit seinem Gewehr hinter dem Tresen auf.
Und, Mann, dieser weiße Scheißkerl sah vielleicht sauer aus!
„Fick dich!“, schrie er, lud die Waffe durch und schoss dem großen Typen genau in den
Bauch.
Nichts. Der große Typ reagierte nicht einmal. Absolut null.
Bis er die Helikopterknarre hob und auf Halloran feuerte.
L. J. war nicht blö de, und ganz sicher wusste er, dass man nicht auf eine zehn Fuß große
Arschgeige schoss, die gerade einen Raum voller Cops alle gemacht hatte.
Er ließ seine Uzis fallen.
„Respekt“, sagte er schnell, schloss die Augen und wartete darauf, dass der große Typ
seinen schwarzen Arsch zur Hö lle schickte. „Peace, Mann – Peace.“
Das Einzige, was L. J. bereute, war, dass er sich bei Momma nie dafü r entschuldigt hatte, sie
in diesen Pyramidenbeschiss hineingezogen zu haben. Sie hatte
- 158 -
Jahre gebraucht, um die Strafe abzuzahlen. Er hä tte ihr ja geholfen, aber da waren seine
eigenen Probleme gewesen.
Einige Sekunden spä ter war L. J. immer noch nicht tot.
Er machte die Augen auf.
Der große Typ marschierte durch das Riesenloch in den Rolllä den aus dem Laden hinaus.
Scheeeeiiiiße.
Vielleicht brachte ihm der Ring allein ja doch eine gehö rige Portion Glü ck.
- 159 -
Einundzwanzig

Jill Valentine sah zu, wie die Frau namens Alice ihre Waffen ablegte.
Auf den ersten Blick war Alice kein besonderer Hingucker. Sicher, sie hatte ein hü bsches
Gesicht, aber ihr Kö rperbau war ganz gewö hnlich – ordentlich in Form zwar, aber sie sah
nicht mehr oder weniger fit aus als jeder andere Zivilist, der regelmä ßig Sport trieb.
Doch was Jill von ihr gesehen hatte, ging ü ber das Normalmenschliche weit hinaus.
Andererseits schien Raccoon City heute Nacht ü berlaufen zu sein von Dingen, die in diese
Schublade passten.
Nach dem geheimnisvollen Telefonanruf hatte Alice ihre Begleiter, Jill, Peyton und Morales,
zu einer verlassenen Straßenbahn in einer Gasse nahe der Swann Road gefü hrt, um sie
darü ber zu informieren, was sie erfahren hatte. Trotz allem, was vorging, schaffte Jill es,
ä ußerlich gelassen zu wirken, in erster Linie deshalb, weil jemand gelassen bleiben musste.
Peyton fü hrte einen aussichtslosen Kampf gegen die drohende Bewusstlosigkeit, und
Morales war vö llig durch den Wind.
„Sein Name“, sagte Alice, „ist Dr. Charles Ashford. Er leitet die Advanced Genetics and Viral
Research Division von Umbrella.“
Morales blinzelte. „Er arbeitet fü r die?“
„Ja.“
„Was will er von uns?“, fragte Jill.
Dass dieser Ashford fü r Umbrella arbeitete, lag auf der Hand – anderenfalls hä tte er sich
unmö glich in das Netz der
polizeilichen
Verkehrsü berwachungskameras
einklinken kö nnen. Man hä tte eigentlich annehmen
- 160 -
sollen, dass Morales als Reporterin – na gut, ehemalige Reporterin – wissen mü sste, welche
Fragen wichtig und welche einfach nur ü berflü ssig waren.
Aber, wie gesagt, sie war ja auch nur eine ehemalige Reporterin.
Alice beantwortete Jills Frage. „Seine Tochter Angela sitzt in der Stadt fest. Wenn wir sie
finden, hilft er uns, aus der Stadt zu entkommen.“
„Nein“, sagte Peyton mit rauer Stimme. „Ich schlage vor, wir suchen uns das Gebä ude mit
den dicksten Wä nden und den stä rksten Tü ren, verbarrikadieren uns darin und warten auf
Hilfe.“
Jill schü ttelte den Kopf. Unter anderen Umstä nden hä tte sie dem Plan ihres Vorgesetzten
zugestimmt. Aber sie hatte das Gefü hl, dass es nicht so einfach sein wü rde.
Alice bestä tigte dieses Gefü hl. „Es wird keine Hilfe kommen. Laut Ashford weiß Umbrella,
dass die Infektion nicht aufzuhalten ist. Deshalb wird Raccoon City bei Sonnenaufgang
vollstä ndig desinfiziert.“
Morales wurde blass. „Desinfiziert?“
„Ein
Prä zisionsatomsprengkö rper

eine
halbe
Megatonne. Er wird die Infektion und sä mtliche Beweise auslö schen.“
Obwohl sie eine Antwort wie diese erwartet hatte, schauderte Jill.
Morales wirkte wie betä ubt. Peyton schaute so schockiert drein, wie es ihm in Anbetracht
seines teigig bleichen Gesichts und all des Schweißes, der ihm darü ber lief, mö glich war.
„Das glaub ich nicht“, sagte Peyton. „Ich meine… wie sollten sie damit davon kommen? Das
kä me doch in allen Nachrichten.“
„Die Geschichte, um das Ganze zu vertuschen, ist in der Mache – das ist der einzige Grund,
weshalb sie bis zum Morgen warten. Ein Meltdown im ö rtlichen
- 161 -
Atomkraftwerk – ein tragischer Unfall.“
Peyton schü ttelte den Kopf. „Nicht einmal Umbrella ist dazu fä hig.“
Jill dachte an ihre eigene Situation zurü ck. Umbrella hatte einen ganzen Wald voller
Zombies verschwinden lassen und es geschafft, Cops gegen Cops aufzuhetzen, indem man
die Fü hrung des RCPD dazu brachte, einen ihrer besten Leute – sie nä mlich – den Wö lfen
zum Fraß vorzuwerfen. Und sie waren dazu fä hig gewesen, diese Situation ü berhaupt erst
zu erschaffen.
Warum also sollten sie nicht auch eine ganze Stadt auslö schen?
Sie wandte sich an Alice. „Sie kennen diese Leute –
was glauben Sie?“
Ohne zu zö gern, sagte Alice: „Ich glaube, wir sollten bei Sonnenaufgang von hier
verschwunden sein.“
Wie um ihre Worte zu betonen, rammte sie den Munitions-Clip in eine ihrer Uzis.
„Gut“, sagte Jill, „dann mal los.“ Sie hatte ihre beiden Waffen bereits nachgeladen und in die
Holster gesteckt.
Jetzt half sie Peyton auf die Beine. „Wohin gehen wir?“
„Ashford sagte, dass sich seine Tochter in ihrer Schule versteckt hä lt – das ist die an der
Kreuzung von Hudson und Robertson.“
„Wie kann er sich dessen so sicher sein?“
„Es gibt ü berall in der Stadt Ü berwachungskameras.
Auf die hat er Zugriff.“
„Na toll. Das heißt aber nicht, dass wir ihm trauen kö nnen.“
„Das mü ssen wir auch nicht.“
Jill schü ttelte den Kopf. Die ganze Situation war beschissen, aber das traf auch auf den
ganzen Tag zu.
Jetzt unternahmen sie wenigstens etwas.
Außerdem missfiel Jill die Vorstellung, dass ein kleines Mä dchen in diesem Hö llenloch
festsaß. Selbst wenn ihr Vater ein hohes Tier bei Umbrella war.
- 162 -
„Was ist, wenn es keinen Weg aus der Stadt heraus gibt?“, fragte sie Alice, wä hrend sie die
Straßenbahn zum hinteren Ende der Gasse hin verließen.
Alice hob die Schultern. „Hatten Sie heute Nacht noch was anderes vor?“
Jill grinste schief. „Nein, ich laufe immer in solchen Klamotten herum.“
Als Alice das Lä cheln erwiderte – ein richtiges Lä cheln diesmal, kein maskenhaftes Grinsen,
wie sie es bisher hin und wieder gezeigt hatte –, wurde Jill bewusst, dass sie diesen
Ausdruck zum ersten Mal bei Alice sah. Sie hatte immer noch diese Hä rte und Strenge – wie
ein japanisches katana, elegant und doch unzerstö rbar –, aber das Lä cheln ließ sie etwas
menschlicher erscheinen.
Dann erlosch es, und Alice blieb stehen.
„Wartet.“
Sie befanden sich nach wie vor in der Gasse, direkt neben einem verlassenen Steifenwagen
des RCPD.
Alices Blick wanderte den Weg hinunter und fand dort etwas an der Einmü ndung in die
Swann Road.
„Was ist?“, fragte Jill.
Doch Alice starrte nur weiter die Gasse entlang.
Peyton wollte an ihr vorbeigehen, aber sie streckte die Hand aus und hielt ihn am Arm
zurü ck.
„Nein.“
Peyton bedachte die Hand mit einem finsteren Blick und knurrte: „Der Sonnenaufgang
wartet nicht.“
„Da draußen ist etwas.“ Alice sprach mit einer Sicherheit und Endgü ltigkeit, die Jill mehr als
beunruhigte.
Jill sah nichts – keine Bewegung, rein gar nichts. Ein Teil von ihr wollte glauben, dass Alice
die Wahrheit sagte, aber sie wusste doch wirklich verdammt wenig ü ber diese Frau.
Andererseits hatte Alice bereits bewiesen, dass sie sie
- 163 -
alle drei schon mehrere Male hä tte tö ten kö nnen. Sie hatte es aber nicht getan – eine Gnade,
die sie den Monstern in der Kirche und den Zombies auf dem Friedhof nicht gewä hrt hatte.
Das war doch zumindest eine Grundlage fü r ein bisschen Vertrauen.
Aber Jill sah noch immer nichts am Ende der Gasse.
„Ich sehe nichts“, sagte Peyton gereizt.
„Das ä ndert nichts an der Tatsache, dass dort draußen etwas ist.“ Wieder war da diese
Gewissheit in Alices Stimme.
„Wir haben keine Zeit fü r solchen Scheiß.“ Peyton schob sich an Alice vorbei und ging
weiter die Gasse hinunter.
„Nein…“, begann Alice, aber Peyton schenkte ihr keine Beachtung.
Jill wollte ihm gerade folgen, als der Lä rm Dutzender gleichzeitig abgefeuerter Schü sse
gegen ihr Gehö r brandete…
… und als diese Schü sse in Peyton einschlugen. Blut spritzte umher, als die Kugeln durch
seinen Kö rper fetzten, und er flog fö rmlich nach hinten.
Er war tot, bevor er den Boden berü hrte, was ungefä hr sechs Fuß von der Stelle entfernt
geschah, wo er eben noch gestanden hatte.
„Peyton! Nein!“
Jill sah auf, als eine Gestalt aus den Schatten trat.
„Gestalt“ war nicht das richtige Wort. Das… Wesen war mindestens acht Fuß groß und
hatte gewaltige Muskeln.
Schlä uche ragten aus seinem Fleisch und bohrten sich an anderen Stellen wieder hinein. Es
hatte eine Waffe bei sich, die etwa so groß wie Texas war, und auf dem Rü cken trug es
einen Raketenwerfer, genau auf dieselbe Weise, wie Alice sich ihre Shotgun umgehä ngt
hatte.
Wie es dieser Typ geschafft hatte, sich in den Schatten zu verbergen, ging ü ber Jills
Begriffsvermö gen hinaus.
Morales sah aus, als habe sie sich in die Hose
- 164 -
gemacht. „Was ist das? Kann mir jemand sagen, was zur Hö lle das ist?“
„Nemesis.“
Jill kreiselte herum und starrte Alice an, die das Wort nur geflü stert hatte.
Dann blickte sie auf den Leichnam von Peyton Wells hinunter.
Im Gegensatz zu den hohen Tieren beim RCPD hatte Peyton ihr immer geglaubt – mehr
noch, er hatte an Jill geglaubt. Nicht jeder war absolut begeistert davon, dass eine gut
aussehende junge Frau bei S.T.A.R.S. war. Die Tatsache, dass sie eine meisterhafte Schü tzin
und brillante
Polizistin
war
und
das
Leben
der
Bü rgermeisterin gerettet hatte, war nur zweitrangig gegenü ber der, dass sie eine attraktive
junge Frau war und somit unmö glich gut genug fü r S.T.A.R.S. sein konnte – es sei denn, sie
hä tte sich nach oben gefickt.
Peyton hatte sich jeden vorgeknö pft, der versucht hatte, sie dessen zu beschuldigen – nicht,
dass sie Hilfe brauchte, sie wusste sich selbst sehr gut gegen die sexistischen Arschlö cher
zu wehren. Dennoch war sie dankbar fü r die Unterstü tzung gewesen.
Peyton hatte sogar Henderson zusammengestaucht, als man Jill suspendierte, was ihm
beinahe selbst eine Suspendierung eingehandelt hä tte.
Und jetzt lag er tot in einer Gasse.
Jill Valentine hatte heute eine Menge Leichen gesehen, mehr als in ihren ganzen Jahren bei
der Polizei. Aber von all den Toten war dies der Erste, der ihr etwas bedeutete.
Das Nä chste, was sie bewusst tat, war, mit ihren beiden Automatikwaffen auf das Nemesis-
Ding zu feuern.
Jeder Schuss traf sein Ziel.
Aber keiner zeigte Wirkung.
Nemesis zuckte unter den Treffern nicht einmal
- 165 -
zusammen.
Tatenlos jedoch blieb er nicht. Er hob den Arm, der die große Waffe hielt.
Als Jill sich hinter einen Mü llcontainer warf, immer noch aus beiden Lä ufen feuernd,
erkannte sie Nemesis’
„Handfeuerwaffe“ endlich als Rail-Gun. Wenn sie auch nur von einer Kugel daraus getroffen
wurde, wü rde diese durch ihren Kö rper pflü gen, als bestü nde er aus Klopapier.
Genau wie es bei Peyton geschehen war.
Als sie hinter dem Container aufkam, klickten ihre Waffen nur noch. Eine Millisekunde
spä ter hä mmerten die Schü sse der Rail-Gun gegen den Container, doch keine der Kugeln
bohrte sich hindurch.
Bislang.
Jill lud nach und fragte sich, wie sie aus dieser Sache herauskommen sollten. Jeder einzelne
ihrer Schü sse hatte getroffen – Jill hatte bisher noch nie daneben geschossen, und das hatte
sie auch jetzt nicht getan.
Aber dieses Nemesis-Ding war offenbar kugelsicher.
Wirklich großartig .
Die Schü sse verstummten.
Jill riskierte einen Blick ü ber den Container hinweg. Sie sah, wie Nemesis Alice anstarrte.
Und wie Alice Nemesis anstarrte.
Hinter ihnen filmte Morales das Ganze. Mehr Futter fü r ihren verdammten Emmy.
Was zum Teufel ging denn hier ab?
„Du musst gehen“, sagte Alice zu Jill, ohne sie dabei anzusehen. Sie und Nemesis duellierten
sich mit Blicken. „Los, mach schon!“
Ohne es zu wollen, sah Jill auf Peytons Leiche hinab.
Obwohl sie ihren Blick nicht von Nemesis abwandte, wusste Alice offenbar, dass Jill ihren
Freund betrachtete.
„Er ist tot. Du kannst ihm folgen – oder du kannst tun, was ich dir sage.“
- 166 -
Jill schaute noch immer auf Peytons Leichnam.
Wie man es auch drehte und wendete, er war ohne jeden Zweifel tot. Er hatte mehr Lö cher
im Leib als Julius Cä sar.
Aus irgendeinem irrsinnigen Grund traute sie Alice.
Und aus irgendeinem irrsinnigen Grund stellte sich Alice Nemesis alleine entgegen.
Sollte sie doch!
Jill rannte aus der Gasse. Das Erste, was sie sah, war ein Pick-up-Truck, der im rechten
Winkel zum Mittelstreifen auf der Swann Road stand. Die Fahrertü r war weit offen. Jill
beugte sich in den Wagen, tastete unter dem Armaturenbrett herum und riss die
Abdeckung ü ber der Zü ndung heraus, damit sie das Fahrzeug kurzschließen konnte.
Zu Jills Ü berraschung stieg Morales auf der Beifahrerseite ein.
„Was denn?“, fragte Jill, ohne die Reporterin anzusehen. „Wollen Sie denn nicht den großen
Kampf filmen?“
„Zur Hö lle damit – ich will hier raus. Dieser Ashford will, dass wir seine Tochter finden,
damit wir verschwinden kö nnen. Ich bin einverstanden mit diesem Deal. Ich will nicht so
enden wie Ihr Freund Wells.“
Jill knirschte mit den Zä hnen, sagte jedoch nichts und setzte ihre Bemü hungen fort.
„Außerdem – ist dieses Weib verrü ckt. Mit diesem Ding kann sie nicht fertig werden.“
Der Motor erwachte brü llend zum Leben. Jill dankte im Stillen ihrem Vater fü r alles, was er
ihr in ihrer vergeudeten Jugend beigebracht hatte, und wand sich aus dem Fahrzeug
heraus…
… wo sie sich der blutigen, von Kugeln durchsiebten Gestalt von Peyton Wells
gegenü bersah.
„Peyton!“
Die Teile seines Gesichts, die nicht blutverschmiert
- 167 -
waren, wirkten jetzt noch blasser, und seine Augen glä nzten wä ßrig.
Jill zog eine ihrer Automatikwaffen, als Peyton Anstalten machte, sie in den Hals zu beißen.
Sie trat ihn von sich weg und zielte mit der Waffe auf seinen Kopf.
Aber sie konnte nicht abdrü cken.
Dann sprang Peyton wieder vor.
Morales schrie.
Jill erinnerte sich an das, was sie auf dem Friedhof zu Alice gesagt hatte: „ Wenn es so weit
ist – werde ich mich selbst darum kü mmern.“
Sie drü ckte ab.
Peytons Kopf ruckte unter dem Treffer nach hinten.
Dann kippte seine jetzt vollends tote Gestalt vornü ber und in Jills Arme.
Angewidert sprang Jill zurü ck in die Fahrerkabine des Pick-ups und ließ Peytons Leiche zu
Boden fallen.
„Himmelherrgottverdammtescheiße!“
„Amen“, murmelte Morales.
„Kommen Sie“, sagte Jill, „wir haben ein kleines Kind zu retten.“
Sie zog die Tü r zu, schnallte sich an, legte den Gang ein und fü hr an.
Im nä chsten Moment sprang eine Gestalt vor den Truck.
- 168 -
Zweiundzwanzig

Alice starrte Nemesis an.


Sie wusste vom Nemesis-Programm, natü rlich – als Security-Leiterin des Hives musste sie
davon wissen.
Aber so weit sie gehö rt hatte, war das Projekt nicht besonders gut gelaufen. Sä mtliche
vorherigen Versuche, eine Superwaffe zu erschaffen, waren fü rchterlich fehlgeschlagen.
Und doch, hier stand sie nun Auge in Auge einem Erfolg eben dieses Experiments
gegenü ber.
Und einem verdammt großen Erfolg noch dazu.
Alice verfluchte sich dafü r, dass sie das Ganze so langsam angegangen war. Die Idee, sich
Lisa Browards Hilfe zu versichern, um die Hurensö hne als solche zu entlarven, war ihr
schon vor Wochen gekommen. Aber sie war vorsichtig zu Werke gegangen. Erst hatte sie
sich vergewissern mü ssen, dass Lisa die Richtige fü r diese Aufgabe war. Dann musste Alice
sie rekrutieren, was sie beim Mittagessen im Che Buono getan hatte.
Was also war geschehen? Genau an dem Tag, da sie ihren Plan umsetzen wollte, beschloss
Spence, das T-Virus im Hive freizusetzen, um von seinem Diebstahl eben dieses Virus
abzulenken.
Wenn sie ihren Zug nur einen Tag frü her gemacht hä tte, wä re nichts von all dem passiert.
Sie ließ Nemesis nicht aus dem Blick.
Irgendetwas an seinen Augen kam ihr vertraut vor.
Nein, es war mehr als nur das – an Nemesis selbst war etwas Vertrautes. Nicht nur an
seinem Kö rper, sondern an seinem ganzen Wesen, so bizarr das auch klang.
Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust. Seit sie im Raccoon City Hospital aufgewacht war,
spü rte sie dank ihrer geschä rften Sinne ihren Herzschlag, aber jetzt war das
- 169 -
Gefü hl noch intensiver als zuvor.
Und im nä chsten Moment wusste sie auch, warum.
Sie hö rte nicht nur ihr eigenes Herz – sie hö rte auch das von Nemesis.
Und es schlug in absoluten Gleichklang mit ihrem.
Dann machte Nemesis einen Schritt nach vorn.
Genau wie Alice.
Sie zog ihre beiden Uzis.
Nemesis hob die Rail-Gun.
Alice feuerte beide Uzis auf Nemesis ab.
Die Kreatur wurde nicht einmal langsamer, als die Kugeln in ihre Brust einschlugen.
Sie stü rmten wie zwei Stiere aufeinander zu, bis sie nur noch drei Schritte voneinander
entfernt waren.
Dann sprang Alice in die Luft, schlug einen Salto ü ber Nemesis’ acht Fuß große Gestalt
hinweg und kam hinter ihm sicher auf.
Bevor Nemesis sich nach ihr umdrehen konnte, rannte sie auf das Basketballfeld zu, das
jenseits der Gasse lag.
Sie schlug die Tü r in der Umzä unung hinter sich zu, als sie auf den Platz hinausrannte, aber
das hielt Nemesis natü rlich nicht auf. Doch zu Alices Ü berraschung zerfetzte Nemesis den
Maschendrahtzaun nicht einfach.
Er stieg auf den RCPD-Streifenwagen und sprang von dort aus ü ber den Zaun.
Als Nemesis auf dem Feld landete, bekam der Asphalt unter seinen riesenhaften Fü ßen
Risse. Dann hob er eine gewaltige Faust und ließ sie nach unten fahren.
Hä tte Alice sich nicht zur Seite geworfen, hä tte die Faust sie zu Brei zermalmt.
Sie blieb in Bewegung und ließ Nemesis keine Chance, sie anzuvisieren. Sie sprintete auf
dem Basketballplatz hin und her. Leider nü tzte ihr der begrenzte Raum nichts. Ihre grö ßten
Vorteile waren Geschwindigkeit und Flinkheit, und dafü r brauchte sie Platz.
- 170 -
Binnen weniger Augenblicke hatte er sie in eine Ecke und damit in die Enge getrieben.
Sie kletterte am Zaun empor und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Elegant kam sie am
Boden auf.
Sie wusste, dass ihr diese Aktion nur ein paar Sekunden Vorsprung brachte.
Aber wenn sie Glü ck hatte, reichte das.
Sie rannte auf die Swann Road hinaus, ü berquerte die Straße und hielt auf ein Bü rogebä ude
an der Ecke zur Cleveland Street zu. Die Tü r lag um die Ecke an der Cleveland Street, aber
direkt vor ihr befand sich ein Fenster, das ihr vollkommen genü gte.
Alice rannte, sprang und brach durch das Fenster. Sie schü tzte ihr Gesicht mit den Armen.
Im selben Moment hö rte sie das Krachen der Rail-Gun.
Verdammt.
Kalter Schmerz fuhr durch ihre Arme und Schultern, als Glasscherben ihre Haut
aufschnitten, unmittelbar gefolgt von einem einzelnen heißen Schmerz in ihrem linken
Arm.
Eine der Kugeln aus der Rail-Gun hatte sie getroffen.
Das Erstaunliche war, dass sie nur von einem Schuss erwischt worden war.
Von Glasscherben bedeckt rollte sie ü ber den Boden, richtete sich taumelnd auf und rannte,
das Blut und die Schmerzen ignorierend, weiter.
Von hinten kam das Donnern einer acht Fuß großen genetisch erschaffenen Monstrositä t,
die durch eine Mauer brach und Verputz und Ziegel bersten ließ.
Alice hoffte, dass das Ungetü m keinen Stü tzbalken umriss.
Nemesis machte beträ chtlich grö ßere Schritte als sie und holte bereits auf. Und so rannte
Alice einfach weiter, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wohin sie eigentlich
lief.
Das erwies sich als Fehler. Nach wenigen Sekunden
- 171 -
schon fand sie sich in einer Sackgasse wieder – vor ihr war eine Wand, hinter der sich ein
Postschacht befand, der von einer Luke verdeckt wurde, und es gab keinen anderen Weg
als den nach hinten.
Aber
dort
hinten
lauerte
Nemesis
mit
zwei
ü berdimensionierten Waffen.
Ohne innezuhalten, hob Alice ihre Uzis und begann auf die Luke des Postschachts zu
schießen, dann warf sie sich mit dem Kopf zuerst nach vorne, so wie sie es kurz zuvor beim
Fenster getan hatte, und hoffte, dass die Einschü sse die Luke so in Mitleidenschaft gezogen
hatten, dass sie hindurchbrechen konnte.
Sie hatte Glü ck. Die Luke gab nach, der Aufprall jagte eine Schmerzwelle durch ihre
Knochen, und dann stü rzte sie den Schacht hinunter.
Den sehr engen Schacht.
Nemesis wü rde unmö glich hindurchpassen, und er hatte auch keine Mö glichkeit, den
Schacht zu weiten. Er konnte ihr nur folgen, wenn er nach draußen und um das Gebä ude
herum zur Rü ckseite ging.
Und bis dahin wollte Alice lä ngst verschwunden sein.
Hart landete sie auf dem Kellerboden. Drei Meter rechts von ihr lag der große
Postauffangbehä lter – von dem sie gehofft hatte, dass er ihren Sturz abfangen wü rde –, der
normalerweise unter dem Schacht stand.
Er war umgekippt und in Stü cke zerrissen.
Als
sie
sich
aufrappelte,
schossen
mehrere
weißglü hende Lanzen aus Schmerz durch ihren linken Arm. Beim Durchbrechen der Luke
in den Schacht hatte sie sich eine Schulter ausgekugelt, in ihrem Bizeps steckte eine Kugel,
und beim Aufprall hier unten hatte sie sich zwei Finger gebrochen. Ganz zu schweigen von
all den Schnittwunden, die sie sich bei ihrem Sprung durch das Fenster zugezogen hatte.
Sie rannte quer durch den Raum und ließ sich gegenü ber der einzigen Tü r gegen eine
Wand und hinter
- 172 -
mehrere Postbehä lter sinken. Mit etwas Glü ck wü rde Nemesis sie nicht sehen, wenn er
hereinkam.
Mit einer Hand machte sie aus einem Leinwandstreifen des zertrü mmerten
Auffangbehä lters eine Aderpresse, mit der sie die Blutung ihrer Schusswunde stoppte.
Vor Jahren, als sie noch beim Finanzministerium gearbeitet hatte, war Alice in einen Kampf
mit einem Straßenrä uber verwickelt gewesen, der sie fü r eine hilflose junge Frau gehalten
hatte, die in Washington, D.C. eine dunkle Straße entlangging. Sie hatte ihn rasch eines
Besseren belehrt, aber zuvor hatte ihr der Scheißkerl noch mit seinem Springmesser die
Schulter aufgeschlitzt.
Die Narbe von dieser Begegnung hatte Alice immer noch. Aber wichtiger war, dass sie sich
noch an die sengende Agonie dieser Messerwunde erinnerte, als sie noch ganz frisch war,
und an den steten Schmerz, mit dem die Wunde verheilt war. Es hatte Wochen gedauert,
bis sie ihren linken Arm wieder voll gebrauchen konnte –
was sie fast in den Wahnsinn getrieben hatte, weil Alice Linkshä nderin war.
Was ihr jetzt auffiel, war, dass die Verletzung, die sie sich heute zugezogen hatte, um
einiges schlimmer war als jene Messerwunde – und doch schwä chte der damit verbundene
Schmerz sie weit weniger.
Sie wusste, dass der Schock oder der Blutverlust ihr eigentlich das Bewusstsein hä tten
rauben mü ssen.
Aber das war nicht der Fall.
Stattdessen renkte sie ihre Schulter wieder ein und setzte
ihre
gebrochenen
Fingerknochen
wieder
zusammen.
Die Schmerzen waren immens, doch Alice empfand sie nur auf geistiger Ebene. Sie zehrten
nicht an ihren Krä ften.
Sie fü gte auch das der Liste von Dingen hinzu, die Umbrella mit ihr angestellt hatte…
- 173 -
Als sie ihren Arm betrachtete, sah sie, dass die Schnittwunden, die sie beim Sprung durch
das Fenster erlitten hatte, bereits verheilt waren.
Zufrieden, dass sie sich nicht geschlagen geben musste, erhob sie sich. Ihr rechtes Bein, das
sich nach ihrer Landung im Keller etwas wackelig angefü hlt hatte, war jetzt wieder in
Ordnung.
Immer noch kein Anzeichen von Nemesis.
Sie riskierte es, auf die einzige Tü r zuzugehen. Sie hatten immer noch ein kleines Mä dchen
zu retten.
- 174 -
Dreiundzwanzig

Jill Valentine wollte nichts weiter, als aus Raccoon City verschwinden. Wenn sie ganz brutal
ehrlich zu sich selbst war – und was fü r einen besseren Zeitpunkt konnte es dafü r geben als
jetzt, da sie mit einem kurzgeschlossenen Truck durch die toten Straßen der Stadt fuhr,
eine verä ngstigte Wetterfee auf dem Beifahrersitz, und kurz nachdem sie einen ihrer
besten Freunde in den Kopf geschossen hatte, weil der zum Zombie geworden war? –, war
das ihr Ziel gewesen, seit man sie suspendiert hatte.
Alles, was sie je interessiert hatte, war, Polizistin beim RCPD zu werden. Der grö ßte
Moment ihres Lebens war ihr Abschluss der Polizeischule gewesen, dicht gefolgt von der
enormen Ehre, zu S.T.A.R.S. berufen zu werden.
Aber jetzt war die Stadt dem Irrsinn verfallen und starb.
Nein, sie war bereits tot. Sie war in dem Augenblick gestorben, da Umbrella mit den
Zombieexperimenten begonnen
hatte.
Das
hatte
sowohl
zu
Jills
Suspendierung gefü hrt – und ihre Laufbahn als Cop in dieser Stadt irreparabel geschä digt –
als auch zum heutigen Desaster.
Ihr ganzes Leben war auf einen Befehl reduziert worden: Raus aus Raccoon!
Und im Moment bedeutete das, Angela Ashford zu finden, damit ihr Vater ihnen den Weg
nach draußen ebnete. Und wenn ihr Dad auf die dumme Idee kommen sollte, sich nicht an
die Abmachung zu halten, wü rde Jill nicht zö gern, Angela als Geisel zu benutzen, um zu
bekommen, was sie wollte.
Das mochte nicht ganz den Regeln aus dem Handbuch der ,Good Guys’ entsprechen, aber
das kü mmerte Jill
- 175 -
lä ngst nicht mehr.
Kurz sah sie auf ihre Hä nde hinab. Sie waren immer noch blutverschmiert.
Mit Peytons Blut.
Als sie aufsah, erblickte sie einen Mann, der vor ihr mitten auf der Straße auf- und
abhü pfte.
Instinktiv trat Jill auf die Bremse. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor.
Dann fiel es ihr wieder ein – der Gangster, der im Squad-Room des Hauptreviers beinahe
von einer Zombienutte gebissen worden wä re.
Er plapperte wie ein Maschinengewehr, genau wie er es auf dem Revier getan hatte, und er
hatte keine sichtbaren Verletzungen, war also nicht infiziert.
Noch nicht.
Der Gangster rannte zum Fenster auf der Fahrerseite, wo Jill ihm die Mü ndung einer ihrer
Waffen ins Gesicht drü ckte.
Mit erhobenen Hä nden rief der Gangster: „Alles cool, Officer, alles cool! Ich bin keins von
diesen Dingern! Bin nicht mal gebissen worden.“
Um das zu beweisen, drehte er sich einmal um seine eigene Achse. Seine Kleidung war
etwas ramponiert –
und verdammt hä sslich –, aber er war zumindest nicht ernstlich verletzt.
Mit Geste zur Beifahrerseite sagte sie: „Steig ein.“
Wä hrend der Gangster um den Truck herum zur anderen Seite lief, sagte er: „Verdammt –
ich dachte, ich sei der letzte Ü berlebende, aber als ich die Schü sse hö rte, bin ich
hergerannt.“
Er ö ffnete die Tü r, rutschte neben Morales auf den Sitz und hielt ihr die Hand hin.
„Lloyd Jefferson Wayne. In Anbetracht der legeren Lage kö nnen Sie mich L. J. nennen.“
Bevor L. J. die Tü r schließen konnte, fuhr Jill wieder an und die Straße hinunter.
- 176 -
„Terri Morales.“ Sie schü ttelte L. J. die Hand.
L. J. sprang beinahe aus dem Sitz. „Scheiße, ich kenn Sie! Ich kenn Sie! Sie machen das
Wetter – Sie sind ‘ne gottverdammte Berü hmtheit!“
„Ja, das bin ich“, sagte Morales, und zum ersten Mal seit Ravens’ Gate hellte sich ihre Miene
auf.
Jill knirschte mit den Zä hnen. Sie hatte Peyton verloren. Alice tanzte irgendwo mit dem
Frankenstein-Monster, und wen hatte sie an der Backe? Einen starbegeisterten
Schmalspurganoven
und
die
Wettertusse von Raccoon 7.
Die Alternative, sich selbst in den Kopf zu schießen, erschien ihr zunehmend verlockender.
„Meine Fresse! Terri Morales, Sie sind der Hammer, Baby!“
„Oh, danke, L. X, es ist schö n, wenn man bei den Leuten ankommt.“
Andererseits gefiel Jill die Idee, Morales und L. J. in den Kopf zu schießen, noch um einiges
besser.
Als sie in die Hudson Avenue abbog, fragte L. J.: „Hey, Cop-Lady, wo fahren wir ü berhaupt
hin? Ich kann Ihnen nä mlich sagen, dass das nicht der Weg aus der Stadt raus ist, und
woanders kann man nicht hin, alles klar?“
„Wir suchen ein kleines Mä dchen namens Angela Ashford.“
„Wollen Sie mich verscheißern? Wir sollen in dieser Stadt ein kleines Kind finden? Hey, wir
reden hier von Stecknadeln und Heuhaufen.“
„Wir wissen, wo sie sich wahrscheinlich aufhä lt“, sagte Jill. „Wenn wir sie finden, wird ihr
Vater uns helfen, die Stadt zu verlassen.“
„Ja, okay, bin ich voll dafü r. Ich hab heute eine Scheiße gesehen, bei der sogar ich weiß
werden kö nnte. Wenn ihr mich hier rausholen und irgendwo hinbringen kö nnt, wo’s
keine
Scheißzombies
und
keine
weißen
Riesenscheißer mit Schlä uchen in den Armen gibt, die
- 177 -
Cops abknallen…“
„Was haben Sie gesagt?“, fragte Jill rasch.
„Was hab ich wann gesagt?“
„Wer hat Cops abgeknallt?“
„Dieser zwö lf Fuß große Scheißer mit den Schlä uchen und den Riesenknarren hat Mostly
Colt, diesen Waffenladen, zusammengeballert. War irgend so ein Cop namens Henderson
drin, dazu ein paar von dieser Mondtruppe.“
Jill umklammerte das Lenkrad fester. „Sie meinen sicher S.T.A.R.S.“
„Ja, oder so, Baby, jedenfalls sind die jetzt alle tot wegen diesem Riesenarsch. Das heißt
also, je schneller Sie meinen dü rren Hintern hier rausschaffen, desto besser.“
„Damit eines klar ist, Arschloch“, sagte Jill mit scharfer Stimme. „Wenn du uns hilfst,
kommst du auch aus der Stadt raus. Wenn du mir auch nur ein bisschen in den Weg
kommst – oder von einem unserer Mitbü rger gebissen wirst – , jage ich dir eine Kugel in die
Erbse, die du Gehirn nennst, verstanden?“
L. J. hob die Hä nde. „Hey, alles cool, alles cool, ey. Sie sind die Chefin.“
„Vergiss das nur nicht.“
Kopfschü ttelnd lenkte sie den Pick-up ü ber die Kreuzung Hudson und Robertson.
Henderson war tot. Das war wohl eine Art gö ttliche Heimzahlung dafü r, dass es Peyton
erwischt hatte.
Sie fragte sich, wer sonst noch bei Henderson gewesen sein mochte. Markinson
wahrscheinlich – wenn er sich zu weit von Hendersons Arsch entfernte, litt sein Naschen
vermutlich unter Entzugserscheinungen –, und vielleicht auch Wyrnowski. Und wenn sie in
einem Waffengeschä ft waren, dann war Guthrie, dieser Redneck, mit fast
hundertprozentiger Sicherheit auch bei ihnen.
- 178 -
Alle tot.
Die bislang Letzten in einer langen Reihe.
Es bereitete Jill kein Problem, die Schule zu finden –
von allen Gebä uden auf dieser Seite der Hudson Avenue war die Schule das einzige, vor
dem noch Licht brannte.
Jill fragte sich, ob das ein gutes Zeichen war.
Sie parkte den Wagen direkt vor dem Schultor. Nicht weit entfernt machte sie ein Fahrzeug
aus, das gegen eines der Gebä ude neben dem verwaisten Spielplatz gekracht war. Aus
dieser Entfernung sah es aus wie ein RCPD-Truck, aber sie konnte nicht erkennen, zu
welcher Abteilung er gehö rte – und im Augenblick interessierte sie das nicht genug, um
hinzugehen und nachzusehen.
Sie hatten ein Mä dchen zu finden.
Inzwischen frö nte L. J. wieder seiner Starbegeisterung.
„Mann, Terri Morales. Ist das eigentlich schwer? Ich mein’, zum Fernsehen zu kommen und
so ‘n Scheiß?“
„Es bedarf harter Arbeit und Entschlossenheit“, sagte Morales mit einem derart
strahlenden Lä cheln, dass Jill der Versuchung widerstehen musste, mit der Faust
hineinzuschlagen.
Beide Waffen
gezogen nä herte
sich
Jill
der
Eingangstü r der Schule. Morales und L. J. folgten ihr dichtauf.
Die Tü r war nur angelehnt. Sie quietschte, als Jill sie aufdrü ckte.
„Verdammt, hier geht ja voll der Horrorfilmscheiß ab.“
L. J. hatte es geschafft, ganze drei Sekunden nicht zu quasseln, was offenbar mehr war, als
er ertragen konnte.
Vor ihnen erstreckte sich ein langer, dunkler Korridor, an dessen Seiten sich Spinde und die
Tü ren zu den Klassenzimmern reihten.
Morales murmelte: „Ich habe die Schule immer gehasst.“
- 179 -
„Ich nicht.“ L. J. zuckte die Achseln. „Ich war in meiner Schule der Ghetto-Superstar.
Knarren, Drogen, Nutten –
hab ich alles im Renaissancestil abgezogen!“
Jill hatte endgü ltig die Nase voll. „Besteht irgendwie die Gefahr, dass du mal einen
Augenblick lang das Maul hä ltst?“
L. J. hob verteidigend die Hä nde, sagte aber, o Wunder, nichts.
„Wir mü ssen uns aufteilen, um das Gebä ude zu durchsuchen.“
„Vergessen Sie’s“, sagte Morales. „Ich hab nicht mal eine Waffe. Ich geh nirgendwo alleine
hin.“
„Ich kö nnte Sie begleiten“, meinte L. J. mit breitem Lä cheln.
Mit einem Blick auf L. J. sagte Jill: „Du nimmst den Ostflü gel.“ Dann reichte sie Morales eine
ihrer Pistolen.
„Und Sie nehmen den Westflü gel.“
Morales nahm die Automatik und hielt sie, als sei es eine tote Ratte.
„Ich habe noch nie mit einer Waffe geschossen.“
Jill widerstand der Versuchung, ihr zu sagen, dass sie ihnen allen einen Gefallen tä te, wenn
sie sich ins Knie schießen
wü rde.
Stattdessen
erklä rte
sie
in
ermutigendem Ton: „Das ist nicht schwierig. Zielen, abdrü cken, wiederholen.“ Mit einem
Lä cheln fü gte sie hinzu: „Versuchen Sie, den Dingern in den Kopf zu schießen.“
Unter normalen Umstä nden hä tte Jill nicht auf diese Aufteilung bestanden, da L. J.
bestenfalls unzuverlä ssig und Morales bestenfalls absolut unfä hig war, aber ihnen lief
die
Zeit
davon.
Wenn
sie
Raccoon
bei
Sonnenaufgang nicht verlassen hatten, wü rde ihre bislang
anhaltende
Glü ckssträ hne,
der
sie
es
verdankten, in dieser zur Todesfalle gewordenen Stadt noch am Leben zu sein, ein jä hes
Ende finden.
Sie mussten Angela Ashford finden, und zwar schnell.
- 180 -
Jill nahm sich den Keller vor, weil sie vermutete, dass sie das Mä dchen dort wohl am
ehesten finden wü rde.
Ein kleines Kind, das sich verstecken wollte, ging sicher nach unten.
Als sie die Tü r zum Keller ö ffnete, hö rte sie Morales murmeln: „Zielen, abdrü cken,
wiederholen, zielen, abdrü cken,
wiederholen,
zielen,
abdrü cken,
wiederholen…“
Wenn sie wirklich Glü ck hatte, wü rde Jill das Kind finden und verschwinden kö nnen, bevor
L. J. und Morales auch nur merkten, dass sie fort war.
Nein, das wä re nicht fair. Sie verdienten ebenso eine Chance zu leben…
… wie Peyton sie gehabt hatte?
Verdammt.
Der Keller war ein Labyrinth aus Kü hlungsschä chten, Heizrohren und schlechter
Beleuchtung. Jill hatte eine Taschenlampe, aber der Strahl war kaum imstande, das Dunkel
zu durchdringen.
Hier unten konnte sich alles Mö gliche versteckt halten.
- 181 -
Vierundzwanzig

Den Titelsong von Shaft summend – er hä tte ihn ja gesungen, aber bis auf den Satz „Shut yo’
mouth!“
konnte er sich an keinen Text mehr erinnern – trottete L.
J. durch die Gä nge der finsteren Schule.
Das, befand er, war cool. Ja, okay, die meisten Einwohner der Stadt waren tot, aber L. J.
zappelte noch, und nur darauf kam es an. Und jetzt war er unterwegs, um ein kleines
Mä dchen zu retten.
Und das, nachdem er das verdammte St.-Valentine’s-Day-Massacre in Hallorans
Waffenladen ü berlebt hatte.
Aber das Beste war, dass er mit Terri Morales abhing!
Eine gottverdammte Berü hmtheit!
Nicht
schlecht
fü r
einen
Typen
aus
seiner
Nachbarschaft.
Er betrat das erste Zimmer, auf das er in diesem Flü gel stieß. Es sah aus wie ein Labor –
darin standen diese großen Tische mit den schwarzen Oberflä chen, Wasserhä hnen,
Bunsenbrennern und all dem Scheiß.
Entlang der Wand reihten sich alle mö glichen Glä ser mit schmutzigem Wasser und toten
Tieren.
L. J. schü ttelte den Kopf. Kein Wunder, dass die Welt am Rad drehte, wenn man kleine
Kinder mit so ‘nem Scheiß spielen ließ.
Auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine Tü r mit Milchglaseinsatz. Dort
bewahrte der Lehrer wahrscheinlich all die Ersatzleichen und ä hnlichen Scheiß auf. Mann!
Dann blinzelte L. J. – er sah etwas durch das Scheißfenster!
Scheeeiiiße.
L. J. erster Impuls war, seinen Arsch hier rauszubewegen, aber dann blieb er stehen.
- 182 -
Er hatte das Bullenhaus ü berlebt, das in Die Nacht der lebenden Leichen verwandelt
worden war.
Er hatte es ü berlebt, dass er fast von dieser Rashonda-Scheißzombie-Nutte gefressen
worden wä re.
Er hatte einen Auto-Crash ü berlebt.
Und er hatte vor allem diesen Riesenarsch ü berlebt, der einen Raum voller Cops zu Klump
geschossen hatte.
Also konnte er auch diesen Scheiß ü berleben, kein Problem.
Er ging zu der Tü r.
Legte seine Hand auf den Griff.
Nahm seine Hand vom Griff.
Widerstand abermals dem Drang, davonzurennen.
Endlich riss er die Tü r auf, hob seine maßgefertigte Uzi, bereit, diesem Zombie eine Kugel
mitten in den Arsch zu pfeffern…
Hinter der Tü r war ein Skelett. Eines dieser Scheißplastikskelette, die am Haken hingen
und die L. J.
in Zuhä lterklamotten gesteckt hatte, als er zur Schule gegangen war.
Scheeeiiiße.
L. J. war sauer und froh in einem. Ja, klar, er musste es nicht mit einem dieser
Scheißzombies aufnehmen –
andererseits durfte er es nicht mit einem dieser Scheißzombies aufnehmen, er durfte nur
wie ein blö des Arschloch aussehen.
Wenigstens sah Terri nicht, wie er sich zum Idioten machte.
Er senkte seine Uzi, drehte sich um…
… und stieß direkt gegen einen Scheißzombie!
Er hob seine Uzi erneut. Der Zombie war ein Weißer mit einer widerlichen Matte auf dem
Schä del und einem potthä sslichen Schnurrbart – wahrscheinlich ein Lehrer, den Klamotten
nach zu schließen, die der Scheißer trug
–, und er packte L. J.’s Uzi, bevor der etwas damit anstellen konnte.
- 183 -
Dann schickte sich der Zombielehrer an, L. J. zu beißen, genau wie Rashonda es getan hatte.
L. J.
steckte fest – auf der einen Seite war das Skelett, auf der anderen der Zombie.
Zum zweiten Mal heute – Scheiße, zum zweiten Mal im Leben - betete L. J.
Jemand packte den Zombie von hinten und brach ihm das Genick.
Die Kreatur fiel zu Boden.
L. J. blinzelte. Ein Typ in schwarzer Uniform hatte den Zombie gekillt! Heilige Scheiße!
An der Uniform befand sich ein Namensschild, auf dem OLIVERA stand.
Olivera bü ckte sich, hob L. J.’s Uzi auf und hielt sie ihm hin.
„Ich glaube, die gehö rt dir.“
Noch immer verblü fft nahm L. J. die Waffe entgegen.
Außerdem konnte er diesen Olivera jetzt besser erkennen. Er schwitzte wie blö d, und seine
Augen waren rot geä dert.
„Hat er dich auch angerufen?“, fragte Olivera.
„Was?“
„Bist du wegen des Mä dchens hier?“
L. J. nickte. „Ja, ja – wir suchen die kleine Ashford. Mit der kommen wir hier raus.“
„Ashford hat nichts davon gesagt, dass er auch mit anderen einen Deal gemacht hat… Naja,
sieht so aus, als wä ren wir Partner.“
„Moment mal!“ Das gefiel L. J. gar nicht. Er hatte es allein auf dem Kasten, er brauchte keine
Hilfe. „Langsam mit dem Partnerscheiß!“
Olivera sah ihn scharf an.
Scheiße, wenn alle Cops vom RCPD so hä tten starren kö nnen, wü rden sie mehr
Gestä ndnisse aus ihren Kunden raus bekommen.
L. J. sagte: „Gut, meinetwegen. Partner. Aber erzä hl
- 184 -
keinem von der Knarre, okay?“
„Meine Lippen sind versiegelt“, sagte Olivera. „Gehen wir.“
- 185 -
Fünfundzwanzig
„Zielen, abdrü cken, wiederholen.“
Das alles war D. J. Mclnerneys Schuld.
„Zielen, abdrü cken, wiederholen.“
Es war D. J. gewesen, von dem Terri Morales das Material ü ber Stadtrat Miller erhalten
hatte. Es war D. J.
der ihr versicherte, das Zeug sei echt. Es war D. J. der ihr sagte, dass eine Bestä tigung nicht
vonnö ten sei.
„Zielen, abdrü cken, wiederholen.“
Wenn er Terri nicht in diese Scheiße geritten hä tte, wü rde sie immer noch die Nachrichten
moderieren.
Verdammt, wahrscheinlich wü rde sie es mittlerweile in einer richtigen Stadt tun, anstatt in
diesem Kaff. Sie wä re vielleicht sogar eine berü hmte Enthü llungsjournalisten in einer Top-
Adresse wie Baltimore oder San Francisco oder Dallas. Vielleicht sogar in New York oder
Chicago.
„Zielen, abdrü cken, wiederholen.“
Oder L. A.
„Zielen, abdrü cken, wiederholen.“
Das war natü rlich ihr wahrer Traum. Los Angeles, die Stadt der Lichter.
„Zielen, abdrü cken, wiederholen.“
Oder war das Paris?
Sei’s drum, wenn D. J. sie nicht reingelegt hä tte, wü rde sie jetzt in einer richtigen Stadt die
Nachrichten moderieren, und nicht in einer Stadt voller Zombies durch die Gä nge einer
verlassenen Schule latschen, um ein Kind zu suchen, wä hrend sie „Zielen, abdrü cken,
wiederholen“ vor sich hinbrabbelte, als sei es ein heiliges Mantra.
Und sie hä tte keine Schusswaffe in der Hand. Terri hasste Schusswaffen. Aber vielleicht
musste sie ja nicht schießen…
- 186 -
Sie ö ffnete die Tü r zu einem der Klassenzimmer.
Der Raum war ein einziges Chaos. Tische waren umgekippt, ü ber den Boden verstreut
lagen Papiere und Bü cher.
Wie eben auch ü berall sonst in der Stadt.
Pflichtbewusst filmte sie das Zimmer mit ihrer Kamera, die sich in ihrer Rechten sehr viel
angenehmer anfü hlte, als dieses blö de Schießeisen in ihrer Linken, das Officer Valentine ihr
gegeben hatte.
Was zum Teufel hatte sich diese Frau dabei gedacht, als sie ihr eine Pistole gab? Das war
doch verrü ckt.
Sicher, sie hatte sich beschwert, dass sie keine Waffe besaß, aber das tat sie nur, weil sie
eine bewaffnete Begleitung
wollte.
Gewalt
ü berließ
sie
solchen
Schlä gertypen wie Valentine. Die wurden dafü r bezahlt.
Terri wurde dafü r bezahlt, dass sie Nachrichten verkü ndete. Oder das Wetter. Was sie
diesem Bastard D. J. zu verdanken hatte.
Ganz besonders sauer machte sie der Umstand, dass D. J das Material gar nicht hä tte
fä lschen mü ssen. Miller hatte Dreck am Stecken, das wusste jeder. Es war nur eine Fragt
der Zeit, bis er solche Scheiße baute, dass man ihn auch dabei erwischte. Mehr noch, in der
darauf folgenden Woche war er ja erwischt worden – von einem gottverdammten
Zeitungsreporter. Und wenn so ein Schmierfink Miller festnageln konnte, dann war letztlich
jeder dazu imstande. Terri hä tte es ganz sicher geschafft, hä tte sie auf eine brauchbare
Quelle zurü ckgreifen kö nnen.
Ihr Fehler war es gewesen, D. J. dafü r zu halten.
D. J. war, gleich nachdem das Band als fachmä nnische Digitalfä lschung entlarvt worden
war, verschwunden.
Das stank Terri aus zweierlei Grü nden. Zum einen wollte sie sich den kleinen Scheißer
vorknö pfen, weil er ihre Karriere ruiniert hatte. Zum anderen hielt er sich vermutlich im
Moment nicht in der Stadt auf, und das
- 187 -
bedeutete, dass er dem Schicksal der meisten Einwohner von Raccoon City entkommen
war. Wenn es aber jemand verdiente, zu einem Zombie zu mutieren und in den Kopf
geschossen zu werden, dann D. J.
Mclnerney.
Nichtsdestotrotz wusste sie, dass sie letztendlich aus diesem Karriereloch herauskommen
wü rde. Sie war schließlich immer noch berü hmt. Selbst Straßenratten wie L. J. wussten,
wer sie war. Und selbst die Wettervorhersage konnte immer noch zu einer richtigen
Karriere fü hren – man brauchte sich ja nur AI Roker anzusehen.
Sie zuckte zusammen, als sie etwas hö rte. Es klang wie ein Wimmern.
„Angela?“
Terri bewegte sich auf das Gerä usch zu und fand ein kleines Mä dchen, das in der Ecke
kauerte. Es sah aus, als hielte es eine Puppe in den Armen.
Das arme Ding.
„Ist schon gut, Schä tzchen. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind hier, um dich nach
Hause zu bringen.“
Terri stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte, wie Angela Ashford aussah. So weit sie
wusste, war das hier einfach nur ein kleines Mä dchen.
Aber selbst wenn es nicht Ashfords Tochter war, war es besser, die Kleine zu retten, als sie
hier zurü ckzulassen.
Das Mä dchen wandte Terri den Rü cken zu. Sie setzte die Kamera kurz ab – die Waffe aus
der Hand zu legen, war wohl keine so gute Idee – und berü hrte das Mä dchen an der
Schulter, um es herumzudrehen.
Ein schreckliches Gesicht glotzte ihr entgegen.
Das Erste, was Terri auffiel, waren die blutroten Lippen darin – die Farbe rü hrte daher,
dass sie tatsä chlich mit Blut bedeckt waren.
Dann sah sie die milchig weißen Augen. Beides stand
- 188 -
in schaurigem Kontrast zur fahlen Haut.
Das Mä dchen war tot.
Terri wich zurü ck. „Grundgü tiger!“
Aber es war nicht der Anblick des Mä dchens, der ihr die schlimmste Angst einjagte.
Es war die Puppe.
Genauer gesagt war es eben keine Puppe, sondern ein anderes kleines Kind, von dem das
Mä dchen gerade gefressen hatte.
Terri Morales hatte einen strapazierfä higen Magen, und bislang war sie durch diesen Tag
gekommen, ohne sich zu ü bergeben. Jetzt allerdings, beim Anblick eines Kindes, das ein
anderes verspeiste, stü lpte sich ihr der Magen um.
Sie stieß gegen etwas. Erst dachte sie, es sei eine der Schulbä nke. Aber als sie sich
umdrehte, sah sie, dass es ein Junge war.
Ein weiterer lebender Toter.
Ihr Blick schweifte durch den Klassenraum, und sie sah, dass hier noch Dutzende von ihnen
waren.
Allesamt kleine Kinder. Allesamt tot. Alle mit Blut auf den Lippen. Und alle bewegten sich
auf sie zu.
Sie hatten sie buchstä blich in die Ecke gedrä ngt. Es gab keinen Weg aus dem Zimmer
heraus. Von allen Seiten kam ihr diese Armee aus toten Kindern entgegen.
Der Junge packte ihren rechten Arm und biss hinein.
Terri schrie auf. Ein anderer bekam ihr Bein zu fassen.
Ein dritter grub seine Zä hne in die Hü fte.
Der Schmerz war gewaltig, als sich Hunderte kleiner Zä hne in ihr Fleisch gruben und daran
zerrten.
Sie hä tte ihre Pistole benutzen kö nnen, aber wie sollte sie auf kleine Kinder schießen?
Stattdessen schrie sie noch lauter, auch dann noch, als ihre Waffe zu Boden polterte.
Ihre zerfetzten Beine konnten ihr Gewicht nicht mehr tragen. Sie stü rzte, und die
Kinderleichen warfen sich
- 189 -
ü ber ihren jetzt hingestreckt liegenden Kö rper.
Sie sah ihre Kamera, die in einem seltsamen Winkel auf einem der Tische lag und immer
noch aufzeichnete.
Und Jills letzter Gedanke war, dass es jetzt nur noch eine Mö glichkeit gab, ihren so heiß
ersehnten Emmy zu bekommen.
Posthum.
- 190 -
Sechsundzwanzig

Angela Ashford hatte heute zum ersten Mal einen Toten gesehen.
Nein, eigentlich hatte sie heute Morgen ja sogar zwei gesehen. Nach dem Unfall.
Der große Truck war in den Gelä ndewagen gekracht, den die beiden Mä nner fuhren, die sie
aus dem Unterricht geholt hatten.
Die beiden Mä nner waren bei dem Unfall gestorben.
Das wusste Angela, obwohl sie noch nie einen Toten gesehen hatte. Sie hatte nä mlich
versucht, die beiden aufzuwecken, aber sie atmeten und bewegten sich nicht und waren
blutverschmiert.
Der dritte Tote, den Angela sah, war der Truckfahrer, der
schon
stank.
Angela
wusste
aus
dem
Biologieunterricht, dass Leichen zu stinken begannen, sobald sie eine Weile tot waren. Der
Mann hatte außerdem ein großes Loch in der Brust.
Angela lebte nur noch, weil sie ihren Sicherheitsgurt angelegt hatte. Ihre Brust tat ein
bisschen weh, weil sie bei dem Unfall gegen den Gurt geworfen worden war.
Aber
wenigstens
wurde
sie
nicht
durch
die
Windschutzscheibe geschleudert wie einer der beiden Mä nner, und sie war auch nicht vom
Dach zerquetscht worden wie der andere.
Es war schwierig, aus dem Wrack zu kommen, aber sie schaffte es. Immer noch hielt sie
ihre Spider-Man-Lunchbox umklammert. Denn die war, wie sie wusste, das Allerwichtigste.
Sie lief zurü ck zur Schule. Mr. Strunk wü rde wissen, was wegen des Unfalls zu tun sei. Und
wenn nicht, dann wü rde Rektor Armin es wissen.
Aber dann bewegte sich auch der Truckfahrer in
- 191 -
Richtung der Schule.
Was keinen Sinn ergab, da der Truckfahrer doch tot war.
Gewiss, Angela hatte bis heute noch keinen Toten gesehen, aber sie schaute fern und damit
Filme, und sie hatte im Biologieunterricht aufgepasst.
Wenn man nicht atmete und ein Loch in der Brust hatte, dann war man tot.
Was bedeutete, dass dieser Mann zu einem Monster geworden war.
Der Truckfahrer – der ein Erwachsener war und daher lä ngere Beine hatte – schaffte es
schneller zur Schule als Angela.
Die Konrektorin, Miss Rosenthal, sprach auf dem Gang mit ihrer Sekretä rin, Miss Garcia, als
der Truckfahrer das Gebä ude betrat. Angela war nicht weit hinter ihm.
„Verzeihen Sie, Sir, aber Sie dü rfen hier nicht…“
Miss Rosenthal verstummte, als sie das große Loch in der Brust des Mannes erkannte.
Angela schrie, als er Miss Rosenthal in den Hals biss.
Miss Garcia rannte davon. Rektor Armin kam aus seinem Bü ro.
„Was ist hier los?“ Dann sah er den Truckfahrer. „O
mein Gott.“
Als der Truckfahrer auf Rektor Armin zuging, sagte er ein ganz schlimmes Wort.
Dann biss der Truckfahrer auch ihn.
Eine Sekunde danach erhob sich Miss Rosenthal. Sie sah ganz komisch aus. Der Truckfahrer
hatte sie ebenfalls in ein Monster verwandelt.
Angela ging zu ihr und fragte sie, ob sie okay sei. Aber die Konrektorin sagte nichts,
beachtete Angela nicht einmal.
Stattdessen
gingen
sie
und
der
Truckfahrer
miteinander den Korridor hinunter.
Bald darauf tat Rektor Armin dasselbe.
- 192 -
Die nä chsten Stunden wurde es noch schlimmer.
Rektor Armin ging in Mr. Strunks Klasse und biss ihn.
Die Kinder gerieten alle in Panik, aber der Truckfahrer, Miss Rosenthal, einer der
Hausmeister und die beiden Mä nner in den grauen Anzü gen, die jetzt alle Monster waren,
verstellten ihnen den Weg und fingen an, sie zu beißen.
In ihrer Klasse hatte Angela zu Bobby Bernstein gesagt, dass sie hoffte, er wü rde sterben.
Am spä ten Vormittag durfte sie mit ansehen, wie es geschah.
Die anderen Kinder versuchten sich im Keller zu verstecken, aber die Monster fanden sie
bald und verwandelten sie in weitere Monster. Bald gab es mehr Monster als Kinder.
Aber Angela ließen alle in Ruhe.
Sie verstand es nicht. Was war an ihr so Besonderes?
Lag es an dem, was ihr Dad mit ihr getan hatte, damit sie nicht mehr verkrü ppelt war?
Irgendwann im Laufe des Tages krachte ein Truck gegen das Schulgebä ude. Die Aufschrift
auf beiden Seiten besagte, dass er der Hundefü hrerstaffel der Polizei von Raccoon City
gehö rte. In dem Truck befanden sich einige Hunde.
Auch sie waren jetzt Monster.
Als es Nacht wurde, liefen ü berall in der Schule Monsterkinder, Monsterlehrer,
Monsterhausmeister und Monsterhunde umher. Die Hunde streiften zumeist in der Nä he
der Cafeteria herum, die anderen Monster im Rest des Gebä udes.
Angela ließen sie immer noch in Ruhe.
Nach einer Weile wurde ihr klar, warum das so war: Was ihr Daddy auch benutzt hatte, um
sie zu heilen, es war auch verantwortlich fü r das, was heute hier geschah.
Sie war nicht sicher, woher sie das wusste, aber sie war sich dessen sicherer als sonst einer
Sache.
- 193 -
Außerdem erklä rte es, warum die Monster sie nicht anrü hrten.
Weil… sie auch ein Monster war.
Die anderen fü nf Leute, die spä ter kamen, ließen die Monster nicht in Ruhe. Es waren zwei
schwarz gekleidete Mä nner und dann noch zwei Frauen und ein Mann in komischer
Kleidung. Angela sah sie von ihrem Dach-Versteck aus, ihre Lunchbox fest an sich gedrü ckt.
Nach einem Weilchen entschied sie sich, nach unten zu gehen, um zu sehen, ob sie ihr
helfen konnten – oder ob sie ihnen helfen und verhindern konnte, dass sie auch zu
Monstern wurden.
Angela sah, wie die Ungeheuer ü ber eine der beiden Frauen herfielen. Es war zu spä t, um
sie noch zu retten.
Die andere Frau, die das blaue Top trug, kam herein, nachdem die Ungetü me die erste Frau
fortgeschafft hatten. Diese Frau war bewaffnet.
„Sie kö nnen ihr nicht helfen. Jetzt nicht.“
Die Frau drehte sich mit erhobener Pistole um.
„Ich hab gesehen, was sie machen.“
Die Frau senkte die Waffe und fragte: „Bist du Angela?“
Angela nickte. „Wir sollten uns beeilen, bevor sie zurü ckkommen.“
Die Frau entdeckte etwas auf dem Boden und hob es auf. Es sah aus wie eine Videokamera.
Angela nahm an, dass sie der anderen Frau gehö rte, die auch bald ein Monster sein wü rde.
„Ich heiße Jill. Dein Vater hat mich geschickt, um dich zu suchen.“
Erleichterung erfü llte Angela. Sie hatte gewusst, dass ihr Daddy einen Weg finden wü rde,
um sie zu retten!
Jill fü hrte sie auf den Gang hinaus.
„Angela Ashford – das ist ein ziemlich erwachsener Name fü r ein kleines Mä dchen.“
„Ich bin neun. Ich bin kein kleines Mä dchen.“
„Verstehe.“
- 194 -
„Außerdem“, brummelte Angela, „nennen mich alle Angie.“
„Angie, hm, das gefä llt mir.“
Normalerweise hasste Angela es, wenn Erwachsene sie so nannten. Aber als Jill es sagte,
mochte sie es irgendwie.
Sie wandten sich in Richtung der Cafeteria.
Angela
blieb
stehen.
„Da
kö nnen
wir
nicht
durchgehen.“
„Schon gut, Schä tzchen, das ist der schnellste Weg.“
„Nein! Da sind diese Dinger drin!“
Jill nahm Angelas Hand. Ein warmes, beruhigendes Gefü hl.
„Das ist schon okay. Sie sind langsam – wir kö nnen vor ihnen davonlaufen.“
Es torkelten wirklich ein paar der Monster herum, als sie die Cafeteria betraten. Sie
schauten auf, als sie eintraten.
Aber das war es nicht, was Angela Sorgen machte.
„Nein, die meine ich nicht.“ Sie zeigte auf eines der Hundemonster. „Die da.“
Der Hund kauerte ü ber einer Leiche – ü ber Miss Modzelewski.
Angela hä tte gerne um ihre Lieblingslehrerin geweint, aber sie hatte schon seit Stunden
keine Trä nen mehr.
Knurrend setzte das Hundemonster auf Jill zu.
Jill hob ihre Pistole und schoss auf das Monster, aber es prallte trotzdem noch gegen sie. Sie
fiel, und ihre Waffe schlitterte ü ber den Boden bis in den Kü chenbereich.
Obwohl das Hundemonster getroffen war, bewegte es sich noch.
Angela kroch in Deckung. Sie konnte nicht zuschauen.
Sie hatte genug Menschen sterben sehen, sie wollte nicht eine neue Freundin finden und
mit ansehen mü ssen, wie auch sie starb.
- 195 -
Dann
hö rte
sie
ein
Gerä usch
wie
tausend
Trommelschlä ge. Kurz darauf begriff sie, dass es sich um Maschinengewehrfeuer handelte,
wie in einem Film.
Eine tiefe Stimme mit einem seltsamen Akzent sagte:
„Dachte, Sie kö nnten etwas Hilfe brauchen.“
Dann sagte Jill: „Sie arbeiten fü r Umbrella.“
Das war Daddys Firma!
„Ich habe fü r Umbrella gearbeitet – bis sie uns zum Verrecken hier zurü ckließen. Jetzt
betrachte ich mich als Freischaffenden. Nicholai Sokolov, zu Ihren Diensten.“
Das musste einer der beiden Mä nner in Schwarz sein.
Dann hö rte Angela eine Menge anderer Gerä usche -
Schreie, Schlä ge, Knurren. Sie riskierte es, aufzublicken.
Mr. Sokolov wurde von mehreren der Hundemonster in Fetzen gerissen.
Aber Jill war okay. Angela rannte zu ihr und zupfte sie am Bein. So lange die Hundemonster
mit Mr. Sokolov beschä ftigt waren, konnten sie vielleicht fliehen.
„Komm schon! Da lang!“
Angela fü hrte Jill in die Kü che. Hier gab es mehr Verstecke, und die meisten der Hunde
waren draußen in der Cafeteria.
Außerdem lag hier irgendwo Jills Pistole.
In der Kü che befanden sich nur zwei Hundemonster, beide auf der anderen Seite des
Herdes, den Jill als Versteck fü r sie beide ausgewä hlt hatte.
Jill legte einen Finger auf die Lippen. Angela nickte. Sie wusste, dass sie still sein musste.
Mit etwas Glü ck wü rden sie bald hier wegkommen, und sie wü rde ihren Dad wiedersehen.
Jills Waffe lag nicht weit entfernt. Bis jetzt hatten die Hundemonster sie beide nicht
gesehen. Aber wenn Jill die Pistole ergreifen wollte, musste sie ihre Deckung verlassen. Sie
zö gerte.
Angela hatte Angst.
Dann wurde Jill von Miss Gorfinkle, der die fü r die
- 196 -
Verpflegung zustä ndig gewesen war, gepackt. Angela hatte sie nicht kommen sehen. Miss
Gorfinkle war jetzt natü rlich auch ein Monster.
Jeder, der von einem der Monster angegriffen wurde, verwandelte sich ebenfalls in ein
Monster. Jill jedoch nicht – stattdessen nahm sie Miss Gorfinkle in den Schwitzkasten, und
dann tat sie etwas, das ein furchtbares Knacken verursachte.
Miss Gorfinkle fiel zu Boden.
„Alles in Ordnung?“, flü sterte Jill Angela zu.
Angela formte mit den Fingern das Okay-Zeichen. Sie mochte ihre neue Freundin sehr.
Sie kauerten im Sichtschutz eines der beiden Herde.
Dummerweise stand jetzt eines der Hundemonster genau ü ber Jills Pistole.
Jill sah auf die Herdoberflä che.
Dann lä chelte sie.
Sie drehte alle Brenner auf. Angela konnte das dumpfe Zischen des Gases hö ren – und
riechen konnte sie es auch.
Das Hundemonster schnü ffelte. Angela wusste aus dem Biologieunterricht, dass Hunde
einen besseren Geruchssinn hatten als Menschen, und sie nahm an, dass dies auch fü r
Monsterhunde galt. Wenn sie das Gas riechen konnte, dann konnte das Hundemonster es
erst recht.
Jill
griff
in
ihre
Tasche
und
holte
ein
Streichholzheftchen hervor.
Dann ergriff sie Angelas Arm, und sie rannten in Richtung der Cafeteria. Im Laufen
entzü ndete Jill eines der Streichhö lzer, ohne es von dem Heftchen abzureißen, dann warf
sie das ganze Pä ckchen hinter sich.
Angela schaute zurü ck, wä hrend sie davonrannten.
Daddy hatte ihr immer gesagt, dass es gefä hrlich sei, in der
Nä he
eines
Herdbrenners
ein
Streichholz
- 197 -
anzuzü nden, weil das Gas Feuer fangen konnte. Jetzt allerdings wollte Jill ganz
offensichtlich, dass das Gas Feuer fing – um die Monsterhunde aufzuhalten.
Das Heftchen brannte lichterloh. Taumelnd segelte es durch die Luft.
Die Hundemonster hielten auf sie zu.
Die Streichhö lzer erloschen.
Bevor sie mit dem Gas in Berü hrung kamen.
Die Monsterhunde kamen weiter auf sie zu.
Angela hö rte ein leichtes Zischen. Sie hob den Blick und sah eine Zigarette durch die Luft
fliegen, was merkwü rdig war, weil das Rauchen im Schulgebä ude doch verboten war.
Eine blonde Frau stand in der Tü r. Angela glaubte nicht, sie schon einmal gesehen zu
haben, aber sie kam ihr trotzdem irgendwie bekannt vor. Die Frau packte Angela und
schü tzte sie in den Falten des Kittels, den sie trug.
Angela spü rte die Hitze der Explosion durch den Kittel der Frau, der Knall drö hnte in ihren
Ohren.
Dann entließ die Frau sie aus ihrem Kittel.
„Danke“, sagte Angela zu ihrer Retterin.
Jill lag am Boden, was seltsam war, denn die blonde Frau war nicht von den Beinen
gerissen worden.
„Schö n, dass Sie vorbeischauen, Alice“, sagte Jill. „Das wird allmä hlich zur Gewohnheit, dass
Sie immer gerade rechtzeitig auftauchen, um meinen Arsch zu retten.“
Aber die Frau, Alice, hö rte nicht auf das, was Jill sagte.
Sie starrte Angela an.
Angela starrte zurü ck.
Irgendwie – mit derselben Gewissheit, mit der Angela wusste, dass die Monster sie nicht
beachteten –
erkannte sie, dass Alice genau wie sie war.
Hatte Daddy auch ihr geholfen?
„Ihr beide kennt euch?“, fragte Jill.
„Sie ist infiziert“, sagte Alice. „In hohem Maße.“
- 198 -
Jill runzelte die Stirn. „Woher wollen Sie das wissen?“
Angela beantwortete die Frage. „Weil sie es auch ist.
Keine Sorge, ich weiß, was das fü r ein seltsames Gefü hl sein muss.“
Jill kreiselte zu Alice herum und fuhr sie an: „Moment mal! Sie sind infiziert? Und wann
wollten Sie mir das verraten?“
Alice schenkte Jill auch jetzt noch keine Beachtung, was Angela nicht sehr nett fand.
Stattdessen starrte sie Angelas Lunchbox an.
„Zeig her.“ Alice streckte eine Hand aus.
„Nein!“ Ihr Dad hatte gesagt, dass sie diese Lunchbox niemals aus den Augen lassen sollte.
Aber Alice nahm sie trotzdem, entriss sie Angelas Hä nden. Dann ö ffnete sie die Box, um
nachzusehen, was Angela immer bei sich trug, weil ihr Daddy es ihr aufgetragen hatte.
Das Innere wurde zum grö ßten Teil von einer Art grauem Schaum ausgefü llt, der vier
ungewö hnliche Nadeln schü tzte. Dad nannte sie Spritzen – und er bezeichnete sie
außerdem als sehr, sehr wichtig.
„Das ist das Antivirus“, sagte Alice. „Das Heilmittel fü r das T-Virus.“
„Es gibt ein Heilmittel?“
Alice nickte, dann sah sie Angela an. „Habe ich Recht?“
Angela sagte nichts.
„Woher hast du das?“
Zunä chst antwortete Angela immer noch nicht. Dann schloss Alice die Lunchbox und gab
sie ihr zurü ck. Als sie sie nahm, entschied sie, ihnen die ganze Geschichte zu erzä hlen.
Schließlich hatte Jill gesagt, Daddy habe sie geschickt, und beide hatten ihr das Leben
gerettet.
„Mein Dad – mein Dad hat es fü r mich gemacht. Er ist krank, und eines Tages werde ich
auch krank werden.
Und das wollte er verhindern. Als ich klein war, musste
- 199 -
ich mit Krü cken gehen. Sie sagten, es wü rde nie besser werden, nur immer schlimmer.
Dann wü rde ich im Rollstuhl sitzen, wie Daddy. Aber er fand eine Mö glichkeit, mich stä rker
zu machen.“
Jill legte den Kopf schief. „Das T-Virus.“
Angela nickte. „Aber sie haben ihm seine Erfindung weggenommen. Die Mä nner von
Umbrella. Ich hö rte ihn auch weinen, nachts, wenn er dachte, dass niemand ihn hö ren
kö nnte. Aber ich habe ihn gehö rt. Er ist kein bö ser Mensch, wisst ihr? Er wollte nicht, dass
all das geschieht. Ehrlich.“
Trä nen stiegen in Angelas Augen. Sie hatte gedacht, sie hä tte keine Trä nen mehr. Aber zu
wissen, dass sie endlich ihren Daddy wiedersehen wü rde…
„Ehrlich.“
Sie brach in den Armen von Alice zusammen.
„Ich glaube dir“, sagte Alice. „Es ist schon gut. Alles wird gut.“
Dann hö rte Angela, wie eine Tü r aufgestoßen wurde.
Plö tzlich hielt Alice eine Shotgun in der Hand und richtete sie auf die Tü r.
Und auf Alices Brust prangte ein rotes Licht.
Angela blickte in den vorderen Teil des Raumes und sah einen Mann, der ein großes
Gewehr mit einem darauf montierten roten Licht hielt.
Der Mann mit dem Gewehr trug dieselbe schwarze Uniform wie Mr. Sokolov. „Zielen Sie
nicht mit dem Ding auf mich, wenn Sie es nicht auch benutzen wollen.“
Er sprach, demnach war er kein Monster.
„Er ist cool!“, sagte eine andere Stimme. Der Mann, der so komisch angezogen war und mit
Jill und der anderen Frau, die jetzt tot war, hergekommen war, trat hinter der Gestalt mit
dem Gewehr ein. „Er ist cool. Er hat auch
‘nen Pakt mit Dr. Doom geschlossen, genau wie Sie.“
Jill musterte den Mann in Schwarz. Angela konnte jetzt ein Namensschild, auf dem Olivera
stand, auf seiner
- 200 -
Brust erkennen. „Zu wie vielen seid ihr hier?“
„Was meinen Sie damit?“, fragte Olivera.
Dann sah Mr. Olivera die Leiche von Mr. Sokolov, und er senkte den Kopf.
„Nicholai…“, flü sterte er.
Angela war es leid, Leichen anzusehen. Sie wollte zu ihrem Daddy.
„Wann wurden Sie gebissen?“, fragte Alice.
Jetzt musterte Angela Mr. Olivera genauer. Er sah ganz blass und krank aus.
„Vor zwei Stunden.“
Angela hielt die Spider-Man-Lunchbox hoch.
Alice lä chelte. „Das ist Ihr Glü ckstag.“
„In dieser Stadt hat heute niemand einen Glü ckstag, Alice“, sagte Mr. Olivera. „Ich weiß
nicht, ob Sie sich an mich erinnern – Carlos Olivera.“ Er blickte auf Angela herab. „Ich
nehme an, das ist das Paket, das wir abholen sollen?“
„Sieht so aus. Dr. Ashford setzt offenbar nicht gern alles auf eine Karte.“
„Er arbeitet fü r Umbrella, natü rlich hat er mehrere Eisen im Feuer.“
Jill sagte: „Arbeitet ihr beide nicht auch fü r Umbrella?“
Alice und Mr. Olivera sagten gleichzeitig: „Nicht mehr.“
Angela verspü rte einen seltsamen Drang zu kichern.
„Wie auch immer. Lasst uns verdammt noch mal von hier verschwinden. Ich hab draußen
einen Pick-up stehen, wir kö nnen ihm seine Spritze dort verabreichen.“
„Alles klar“, sagte der komisch angezogene Mann. „Wir mü ssen nur noch die hü bsche TV-
Lady finden.“
„Die ,hü bsche TV-Lady’ ist tot“, sagte Jill.
„Was? Quatsch! Sie kann nicht tot sein, sie ist ein Star!“
„Ich fü rchte doch.“ Jill zog die Videokamera aus ihrer Tasche. „Uns bleibt nur ihr
Vermä chtnis.“
„Verdammt. Da geht sie hin… meine Chance, berü hmt
- 201 -
zu werden.“
- 202 -
Siebenundzwanzig

Charles Ashford fragte sich, wann genau er seine Seele verloren hatte.
War es schrittweise geschehen, oder hatte die Umbrella Corporation sie einfach
aufgefressen, wie Geier, die einen Leichnam zerrupften, bis nichts mehr ü brig war außer
blanken Knochen?
Natü rlich hatte er hehre Absichten gehabt. Es gab so viele Dinge in Erfahrung zu bringen, so
viele Durchbrü che zu erreichen – aber um das zu tun, benö tigte man Ressourcen.
Umbrella hatte tiefere Taschen als sonst jemand auf der Welt. Nur ein solches
Unternehmen konnte seine Forschungen finanzieren, konnte diese Forschungen auf die
nä chste Stufe fü hren und sie in der wirklichen Welt anwenden, jenseits des theoretischen
O-Mann-wow-wä re-das-nicht-toll-wenn-wir-das-tun-kö nnten-Stadiums der Laborarbeit,
das Ashfords frustrierender Status Quo gewesen war, bis er von Umbrella angestellt wurde.
Umbrella hatte sich auch nicht um seine degenerative Nervenkrankheit geschert. Ashford
hatte nie verstanden, warum in einer Welt, in der Stephen Hawking der berü hmteste
lebende Wissenschaftler war, ein Mann im Rollstuhl solche Schwierigkeiten hatte,
Finanziers fü r seine wissenschaftliche Arbeit zu gewinnen. Aber Dutzende Male hatte man
ihm zugesicherte Gelder und Projekte entzogen, nachdem die entsprechenden Leute von
seiner Behinderung erfuhren.
Es war zum wahnsinnig werden.
Aber noch schlimmer war, dass er die Krankheit an seine Tochter weitervererbt hatte.
Das T-Virus sollte seine grö ßte Schö pfung werden, auch wenn man es fü r eine Anti-
Faltencreme verwenden
- 203 -
wü rde. Aber fü r Teststudien taugte das so gut wie sonst etwas. Es war eine praktische
Anwendung an einer großen
Anzahl
von
Menschen
mit
minimalen
Konsequenzen, falls sich das Ganze als Fehlschlag erwies.
Aber es war auch der Schlü ssel zur Heilung vieler Krankheiten.
Vor allem derjenigen, an der sowohl Ashford als auch seine Tochter litten. Angela wü rde
ein normales Leben fuhren kö nnen.
Das hatte er jedenfalls geglaubt.
Ashford begriff, dass etwas nicht stimmte, als sie die T-Virus-Forschung hinunter in den
Hive verlegt… und ihn davon ausgeschlossen hatten. Stattdessen ü bertrugen sie die Leitung
diesen beiden sexbesessenen jungen Leuten, Mariano Rodriquez und Anna Bolt. Ganz
ordentliche
Wissenschaftler,
alle
beide,
mit
vielversprechender Zukunft. Aber sie waren jung und impulsiv. Und, wie Ashford bald
herausfand, sehr viel einfacher zu manipulieren.
Jetzt war alles zum Teufel gegangen.
Nein, mehr noch, die tiefste Hö lle hatte sich aufgetan.
Und es gab absolut nichts, was Charles Ashford noch dagegen tun konnte.
Das Einzige, was ihm blieb, war, seine Tochter zu retten. Das war sein einziges Ziel
geworden. Er wusste, dass er nichts unternehmen konnte, um Cain und seine bewaffneten
Schergen daran zu hindern, die furchtbare Lage in Raccoon City noch schlimmer zu
machen.
Ashfords Kontakte zum Umbrella-Aufsichtsrat – ein weiterer Empfä nger der zerfetzten
Ü berreste seiner Seele – reichten aus, um sich Cain mehr oder weniger vom Hals zu halten.
Aber dieser Schutz gestattete es ihm ganz sicher nicht, sich mit Cain anzulegen.
Da er ein Leben lang zum Sitzen gezwungen war, hatte Ashford viel Zeit am Computer
verbracht. Er hä tte sich
- 204 -
zwar nicht als erstklassigen Hacker bezeichnet, aber er kannte sich ganz gut aus, und mit
seinem hohen Zugriffslevel auf Umbrellas Zentralrechner konnte er das System gefahrlos
umgehen. In diesem Rahmen vernetzte er seinen Laptop oft mit den von Umbrella
angeblich zur polizeilichen Nutzung eingerichteten Kameras ü berall in der Stadt. Ashford
wusste, dass Umbrella selbst sie zu allen mö glichen Zwecken nutzte, ganz wie es dem
Konzern gerade in den Kram passte.
Im Augenblick nutzte Ashford sie, um seine Tochter zu retten.
Cain stö rte das Mobiltelefonnetz, doch durch die Ü berlandleitungen, die der
Telefongesellschaft Verizon gehö rten, hatte Ashford sein eigenes Satellitentelefon –
eine Sondervergü nstigung, die er seiner Position verdankte – mit den Mü nztelefonen
innerhalb der Stadt verbinden kö nnen.
Er wusste, dass es Ü berlebende geben wü rde. Selbst in einem so obszö n
postapokalyptischen Szenario, wie es sich in Raccoon City zutrug, gab es Menschen, die
hartgesotten genug waren, um auch unter schlimmsten Umstä nden zu bestehen. Er hatte
deren mehrere gefunden: Alice Abernathy und Carlos Olivera, beide Angehö rige der
Sicherheitsabteilung von Umbrella, und Officer Jill Valentine von der S.T.A.R.S.-Einheit des
Police Departments. Tatsä chlich war Valentine die Einzige, der er traute, aber er wusste,
dass sie alle von dem Wunsch zu ü berleben beseelt waren. Umbrella hatte sie alle dem Tod
ü berlassen. Ashford warf ihnen eine Rettungsleine zu.
Und diese Chance wü rden sie sich nicht entgehen lassen.
Sehr zu seiner Verä rgerung gab es in der Schule keine Kameras, die er anzapfen konnte,
deshalb musste er ein waches Auge auf die Kamera an der Ecke von Hudson und Robertson
halten.
- 205 -
Schließlich, nach einer endlosen Wartezeit, sah er Officer Valentine, Abernathy und Olivera
auftauchen, dazu den schwarzen Burschen, der sich ihnen angeschlossen hatte…
… und Angie! Sie hatten es geschafft!
„Gott sei Dank“, murmelte Ashford.
Ihm fiel auf, dass weder die Fernsehreporterin noch Sokolov herauskamen. Das war
tragisch, gewiss – aber nach dem, was Ashford in den Frü hnachrichten gesehen hatte,
wü rde der Tod von Terri Morales wohl nicht von sehr vielen Zuschauern betrauert werden.
Und in Anbetracht der Ereignisse des Tages waren die meisten Zuschauer ohnehin lä ngst
tot. Alles, was Ashford jetzt noch interessierte, war seine Tochter. Er wollte sie zurü ck
bekommen.
Nachdem er mehrere Tasten gedrü ckt hatte, die sein Telefon mit dem Mü nzfernsprecher in
der Nä he des Spielplatzes hinter der Schule verbanden, wä hlte Ashford die Nummer.
Auf dem Bildschirm beobachtete er, wie Abernathy und die anderen darauf reagierten.
Kaum hatte Abernathy den Hö rer abgenommen, sagte Ashford: „Lassen Sie mich mit
meiner Tochter sprechen.“
„Erst sagen Sie uns, wie wir hier rauskommen.“
Wü tend entgegnete Ashford: „Versuchen Sie nicht, mit mir zu handeln.“
Da legte Abernathy den Hö rer auf.
Ashford blinzelte. Verdammt, fü r wen hielt sich diese Frau? Er bot ihr einen Fluchtweg an –
eine Mö glichkeit zu ü berleben, wä hrend der Rest der Stadt krepierte! Wie konnte sie es
wagen, ihn wie einen gewö hnlichen Schurken zu behandeln?!
Er blinzelte noch einmal.
War er denn kein gewö hnlicher Schurke? Immerhin war Beihilfe zum Mord ein Verbrechen,
und mit der Erschaffung des T-Virus hatte er sich genau dessen
- 206 -
schuldig gemacht. Wahrscheinlich wü rde er vor Gericht nicht dafü r verurteilt werden –
Umbrella bezahlte vielen Anwä lten gutes Geld, um die hö heren Tiere davor zu bewahren,
dass
sie
sich
jemals
etwas
so
Unbedeutendem wie Konsequenzen stellen mussten –, aber das ä nderte nichts an den
Tatsachen.
Ashford wä hlte die Nummer noch einmal.
Abernathy ließ es fü nfmal klingeln, bevor sie abnahm.
„Verstehen wir uns?“
„Ein Hubschrauber wird schon vorbereitet. Er startet in…“, Ashford warf einen Blick auf die
Zeitanzeige in der Ecke des Monitors, „… siebenundvierzig Minuten. Das ist der letzte
Transport, der Raccoon City verlä sst.“
„Ich nehme an, dieser Hubschrauber ist nicht extra fü r uns reserviert, wie?“
Ashford lä chelte. „Nein. Er dient einem anderen Zweck, aber er wird nur leicht bewacht.“
„Wo steht er?“
Jetzt musste Ashford die Grenze ziehen. „Erst lassen Sie mich mit Angie reden.“
Zu Ashfords Erleichterung gab Abernathy diesmal nach. Sie reichte den Hö rer weiter.
„Daddy!“
Beim Klang der Stimme seines kleinen Mä dchens, gesund und lebendig und sogar ein
bisschen munter, was schlicht und ergreifend ein Wunder war, empfand Charles Ashford
zum ersten Mal seit Jahren wahre Freude.
Wahrscheinlich zum ersten Mal seit Angies Mutter gestorben war.
„Ich bin hier“, sagte er mit leiser Stimme.
„Wann sehen wir uns denn wieder?“
Nicht frü h genug, dachte Ashford, aber er wollte seinem kleinen Mä dchen Mut zusprechen.
„Es ist okay, Baby. Diese Leute werden dich zu mir bringen. Wir sehen uns bald wieder.“
- 207 -
„Das hoffe ich so, Daddy. Ich mö chte, dass du meine neuen Freunde kennen lernst.“
Ashford schauderte. Er wollte nicht, dass seine Tochter sich mit solchen Leuten
anfreundete. Andererseits waren sie noch am Leben in einer Stadt voller wandelnder Toter.
Es war nur natü rlich, dass sie sich unter diesen Umstä nden zu den ersten lebenden
Menschen hingezogen fü hlte, die sie sah. Zumal zu denjenigen, die sie zu ihrem Vater
zurü ckbringen wü rden.
„Angie, wü rdest du bitte Miss Abernathy wieder ans Telefon holen?“
„Okay, Daddy. Ich hab dich lieb.“
„Ich hab dich auch lieb, meine Sü ße.“
Abernathy war wieder am Hö rer. „Nun?“
„Der Hubschrauber steht vor dem Rathaus. Ich rate Ihnen zur Eile – Sie haben nur noch
dreiundvierzig Minuten.“ Er lä chelte. „Aber keine Sorge, der Verkehr sollte nicht allzu
schlimm sein.“
„Dann sehen wir uns bald, Doktor“, war alles, was Abernathy darauf sagte.
Dann legte sie auf.
Mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht beobachtete er, wie die fü nf zu dem Pick-up
gingen, den Officer Valentine zuvor besorgt hatte.
Eine Minute spä ter waren sie unterwegs, fuhren die Hudson Avenue hinauf und hielten
grob auf das Rathaus zu.
Ashford
schaltete
von
einer
Verkehrsü berwachungskamera zur nä chsten, sodass er sie nicht aus den Augen verlor.
Dann flackerte der Bildschirm des Laptops und wurde dunkel.
„Was zum Teufel…?“
Er drü ckte in rascher Folge eine Reihe von Tasten, aber es tat sich nichts. Die Verbindung
war unterbrochen.
Aber das war eine T3-Leitung. Normalerweise wä re die
- 208 -
Verbindung drahtlos gewesen, aber die Methode, mit der die Mobiltelefone gestö rt wurden,
hä tte auch ein drahtloses Signal gestö rt, deshalb waren sä mtliche Netzwerkverbindungen
im
Basislager
von
Hand
verkabelt worden.
„Computer“, sagte hinter ihm eine vertraute Stimme mit deutschem Akzent. „So
unzuverlä ssig. Wie Menschen.“
Cain.
Ashford wendete seinen Rollstuhl und sah Timothy Cain,
dem
man
den
widerwä rtig
unpassenden
Spitznamen „Able“ verliehen hatte. Er hielt ein Messer und das durchgeschnittene T3-Kabel
in Hä nden.
„Dachten Sie wirklich, ich wü sste nichts von Ihrem kleinen Ein-Mann-Aufstand?“
„Das ist kein Aufstand“, presste Ashford zwischen zusammengebissenen Zä hnen hervor.
„Ich will nur meine Tochter zurü ck haben.“
„Ihre Tochter steht auf der Verlustliste – und zwar seit dem Moment, da wir die Brü cke
dicht machten. Es ist bedauerlich, dass Ihr kleines Mä dchen sterben muss, Doktor, wirklich.
Aber noch bedauerlicher ist, dass Sie durch
Ihr
Tun
auch
Ihr
eigenes
Todesurteil
unterschrieben haben.“
Diese Worte entlockten Ashford unwillkü rlich ein leises Lachen.
„Darf ich fragen, was Sie so amü sant finden, Doktor?“
„Nichts Bestimmtes, Cain, es ist nur… bis ich Sie kennen lernte, glaubte ich nicht, dass es
wahrhaftig Menschen gibt, die so reden.“
Cain trat hinter Ashfords Rollstuhl und schob ihn aus dem Zelt. „Es gibt sehr vieles, was Sie
ü ber manche Menschen nicht wissen, Doktor. Ich fü rchte, Ihnen steht eine sehr
unangenehme Lektion bevor.“
- 209 -
Achtundzwanzig

Als der Pick-up losfuhr, bat Alice, die mit Carlos und Angie auf dem schmalen Rü cksitz saß,
das Mä dchen um seine Lunchbox.
„Ich muss Carlos das Antivirus injizieren.“
Angie nickte und reichte ihr die Box.
„Danke“, sagte Alice mit einem warmen Lä cheln.
Sie hatte keine sehr hohe Meinung vom Vater dieses Mä dchens. Schließlich war er es
gewesen, der das T-Virus ü berhaupt erst entwickelte. Ihres Wissens nach hatte man ihm
das Projekt schon nach kurzer Zeit aus der
Hand
genommen,
und
die
verwerflicheren
Anwendungen – diejenigen, die das T-Virus fü r Spence Parks interessant genug gemacht
hatten, um es zu stehlen – waren erst danach ins Spiel gekommen. Aber das ä nderte nichts
an der Tatsache, dass er es geschaffen hatte.
Nichtsdestotrotz freute sie sich, dass sie ihn wenigstens wieder mit seinem kleinen
Mä dchen zusammenfuhren konnte.
So viel Glü ck hä tten sie alle haben sollen.
Carlos krempelte den Ä rmel hoch. Dabei kam ein Kampfmesser zum Vorschein, das er dort
vermutlich als Notfallreserve verbarg. „Was ist das fü r ein Zeug?“
Alice antwortete, wä hrend sie seinen Arm desinfizierte und die Spritze vorbereitete. „Das
T-Virus fordert das Zellwachstum. Es kann tote Zellen reanimieren, was dazu fü hrt, dass
die Toten wieder aufstehen. In einem lebenden Menschen kann es eine unkontrollierbare
Mutation auslö sen. Und einem kleinen Mä dchen mit verkrü ppelten
Beinen“,
fü gte
sie
mit
einem
Augenzwinkern in Angies Richtung hinzu, „kann es helfen, wieder zu laufen, wenn das
Virus unter Kontrolle
- 210 -
gehalten wird.“
Carlos runzelte die Stirn, als Alice ihm die Nadel in den Arm stach. „Dieses kleine Mä dchen
ist infiziert?“
Alice nickte. „Deshalb haben die Untoten in der Schule Angie nicht angerü hrt. Sie ist mit
dem T-Virus infiziert, genau wie sie.“ Sie deutete auf die Spritze. „Aber das hä lt den Virus
unter Kontrolle. Das Zellwachstum beschrä nkt sich auf ein Maß, das sie auf den Beinen hä lt,
ohne weitere Mutationen zu verursachen.“
Valentine saß hinter dem Steuer und fuhr den Track.
Auf dem Beifahrersitz hockte dieser L. J. Wayne, den Valentine aufgegabelt hatte. Alice
hatte keine Zeit gehabt, sich seine Geschichte anzuhö ren, aber er kam ihr vor wie der
typische ahnungslose Punk, der mit einer Mischung aus großer Klappe und Glü ck in den
Straßen jeder Großstadt ü berlebte.
Valentine fragte: „Und Sie hat man ebenfalls mit dem T-Virus infiziert?“
„Ja.“
Carlos sah sie erschrocken an.
Sie fuhr fort: „Sie haben mich zu einem ihrer kleinen Monster gemacht.“
„Wenn Sie also infiziert sind“, sagte Valentine, „warum haben diese Kreaturen Sie dann auf
dem Friedhof angegriffen?“
„Das haben sie nicht.“ Alice grinste schief. „Ihr wurdet angegriffen. Ich bin ihnen nur in die
Quere gekommen.
Ich hatte bereits herausgefunden, dass sie an mir kein Interesse haben. Als ich durch die
Straßen lief, bevor ich euch in der Kirche fand, traf ich auf einen ganzen Haufen Untoter –
aber sie ließen mich in Ruhe. Nicht einmal der Motorradfahrer, dem ich seine Harley
abnahm, griff mich an.“
Carlos
hatte
inzwischen
seinen
Ä rmel wieder
heruntergerollt und das Messer darunter versteckt, und allmä hlich sah er fast wieder
lebensecht aus. „Das ist ja
- 211 -
eine herbe Geschichte.“
Angela fragte: „Aber warum musst du die Medizin nicht nehmen, wenn du doch auch krank
bist?“
Alice schü ttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
„Hier.“
Alice blickte auf. Die Polizistin reichte ihr einen kleinen Metallgegenstand nach hinten.
Als Alice ihn entgegennahm, erkannte sie, worum es sich handelte: um Terri Morales’
kleine Videokamera.
Sie hatte das Ding ununterbrochen eingeschaltet gelassen, als sie durch die Stadt gegangen
waren. Das war vermutlich das einzige Zeugnis der Geschehnisse dieses Tages.
Alice sah sich den Schluss der Aufzeichnung an. Das Letzte, was die Kamera aufgenommen
hatte, war Terris eigener Tod.
Kopfschü ttelnd schaute Alice auf und bemerkte, dass Valentine ihr im Rü ckspiegel einen
Blick zuwarf.
„Ich werde dafü r sorgen, dass diese Aufnahmen einem guten Zweck dienen.“
Dann erst verstand Alice.
Valentine war ein Cop, und Cops dachten an Beweise, die man vor Gericht prä sentieren
konnte. Es gab fü r gewö hnlich zwei Formen von Beweisen: Beweismittel und Aussagen von
Augenzeugen.
So gut Beweismittel auch sein mochten, sie reichten nicht immer aus, vor allem, wenn
Zweifel an ihrer Echtheit bestehen konnten.
Valentine wollte eine Aussage. Sie wollte ein Gestä ndnis. Und Alice war die Einzige, die ein
Gestä ndnis ablegen konnte.
Die Kamera auf ihr eigenes Gesicht gerichtet drü ckte sie den Aufnahmeknopf und begann
zu sprechen.
„Mein Name ist Alice Abernathy. Ich arbeitete fü r die Umbrella Corporation…“ Sie zö gerte,
dann fü gte sie hinzu:
„…
den
grö ßten
und
mä chtigsten
- 212 -
Wirtschaftskonzern der Welt.“ Sollte ruhig jeder wissen, dass sie sich sehr wohl darü ber im
Klaren war, mit wem sie sich anlegte, und dass es ihr egal war.
„Ich war Leiterin der Sicherheitsabteilung einer Hightech-Einrichtung von Umbrella, des so
genannten Hives – ein gigantisches unterirdisches Labor, in dem unter anderem
experimentelle Viralwaffen entwickelt wurden.“
Alice stockte kurz. Sollte sie an dieser Stelle auf Spences Diebstahl eingehen?
Nein, das hatte nicht viel Sinn. Spence war tot, und das Wissen um die Identitä t seiner
potenziellen Abnehmer war mit ihm gestorben. Es war nichts gewonnen, wenn sie ihn
beschuldigte, nachdem er schon den endgü ltigen Preis bezahlt hatte – und es wü rde vom
wichtigen Teil ablenken.
„Aber es gab einen Unfall. Das Virus wurde freigesetzt, und alle im Labor – fü nfhundert
Menschen, alles Mitarbeiter der Umbrella Corporation – starben.“
Sie zö gerte abermals. Sie hatte es weiß Gott wie oft mit angesehen, seit sie die ersten
wiederbelebten Leichen in der „Kantine“ des Hives auf sich zuschlurfen sah, aber es fiel ihr
immer noch schwer, ihre tatsä chliche Situation zu begreifen.
„Aber sie blieben nicht tot. Das T-Virus reanimierte die Leichen – erweckte die Toten
wieder zum Leben. Und sie gierten nach dem Fleisch der Lebenden.“
Gott, das klang wie der Text auf der DVD-Hü lle eines schlechten B-Movies aus den
Fü nfzigern.
Dennoch war es die Wahrheit. Und diese Wahrheit musste sie aufzeichnen, und sie durfte
sich nicht erlauben, sie herunterzuspielen.
„Ich blickte in die Hö lle, sah Dinge, die ich nicht beschreiben kann.“
Ungebeten tauchten Bilder ihres Aufenthalts im Hive vor ihrem geistigen Auge auf,
angefangen von den
- 213 -
Laserstrahlen, die One, Drew, Warner und Danilova in Stü cke schnitten, weiter ü ber die
endlosen Schwä rme untoter Kreaturen, die sie durch die Gä nge und Schä chte des Hives
jagten, ü ber den Licker, der den armen Kaplan packte und zerriss, bis hin zu Matt, der
gezwungen war, Rain in den Kopf zu schießen…
… und zu den Straßen von Raccoon City, die zu einem einzigen gigantischen Friedhof
geworden waren.
„Aber ich ü berlebte. Ich und ein anderer – ein Mann namens Matt Addison. Als wir aus dem
Labor entkamen, wurden wir von Umbrella-Wissenschaftlern gefangen genommen. Matt
und ich wurden getrennt.“ Alice holte tief Luft.
„Wir dachten, es sei vorbei. Wir dachten, wir hä tten das Grauen ü berlebt. Aber wir irrten
uns. Der Alptraum hatte gerade erst angefangen.“
Sie zö gerte von neuem, und diesmal schaute sie auf und wurde sich des Ausdrucks in den
Gesichtern von Carlos und Angie bewusst.
Bis jetzt hatten sie das wahre Ausmaß dessen, was im Hive passiert war, nicht gekannt.
Alice fragte sich, ob es nicht besser gewesen wä re, wenn sie es nicht erfahren hä tten – vor
allem die arme Angie, die mehr durchgemacht hatte, als ein neunjä hriges Mä dchen jemals
erleben sollte. Aber sie brauchten dieses Gestä ndnis. „Dies hier sind Aufzeichnungen, die
Terri Morales von Raccoon 7 gemacht hat, bevor auch sie getö tet wurde. Die Umbrella
Corporation wird wohl versuchen, das alles zu vertuschen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Hö ren Sie nicht auf diese Leute. Umbrella ist verantwortlich fü r diese Katastrophe.
Millionen von Menschen mussten schon wegen der Nachlä ssigkeit dieser Leute sterben. Sie
mü ssen aufgehalten werden.“
Alice drü ckte die Stopp-Taste.
Von vorne sagte L. I: „Und darauf ein verdammtes Amen.“ Carlos schnaubte. „Und wie.“
Wieder senkte sich
- 214 -
Schweigen ü ber den Pick-up. Dann lehnte sich Angie herü ber und schlang ihre Arme fest
um Alice.
Mit geschlossenen Augen und einen Atemzug ausstoßend, von dem sie gar nicht gewusst
hatte, dass sie ihn anhielt, erwiderte Alice die Umarmung dankbar.
„Wir sind fast beim Rathaus“, sagte Valentine. „Macht euch fertig.“
Valentine parkte den Track einen Block vom Rathaus entfernt, das nur noch eine
qualmende Ruine war.
Carlos hatte ein Fernglas dabei. Er kletterte auf das Wagendach und sah sich um.
„Da ist er. Ein C89, auf dem Platz neben dem Brunnen.
Er wird von drei Leuten bewacht, und um sie herum stehen ein paar Glasplatten, die
wahrscheinlich den Pö bel abhalten sollen. Verdammt, das muss dieses PlastiGlas sein, das
Umbrella entwickelt hat – kugel- und wahrscheinlich auch zombiesicher.“ Er senkte das
Fernglas. „Leicht bewacht. Na klar doch.“
Wayne hielt seine Uzi hoch. „Wir sind vier, die zu dritt.“
„Nein“, meinte Carlos, „sie sind zu viert. Ich seh zwar niemanden, aber ich bin sicher, dass
auf dem Dach ein Scharfschü tze postiert ist. Das ist immer so.“
„Scheißegal, Alter – treten wir ihnen in den Arsch, Mann.“
„Ruhig, Kleiner“, sagte Valentine zu Wayne, dann sah sie Carlos an. „Womit sind sie
bewaffnet?“
„MP5Ks.“
„Wahrscheinlich voll aufmunitioniert. Wir haben im Vergleich dazu nur ein paar
Spielzeugpistolen und kaum noch Patronen. Die erledigen uns im Handumdrehen.“
„Ich kü mmere mich um die Wachen“, sagte Alice.
„Ach ja?“
Valentine klang skeptisch. Nicht einmal nach den Ereignissen in der Kirche und in der
Schule konnte sie wirklich einschä tzen, wie gut Alice war.
„Ja. Und es wird kein Schuss fallen.“
- 215 -
Im
Grunde
konnte
Alice nicht
einmal selbst
einschä tzen, wie gut sie war.
Aber was Umbrella ihr auch angetan haben mochte, sie war dabei, es den Verantwortlichen
heimzuzahlen.
Minuten spä ter war Alice zu den Ü berresten des Rathausdaches hinaufgeklettert. Wie
Carlos vermutet hatte, war hier ein Scharfschü tze postiert, der eine komplette
Abseilausrü stung bei sich hatte, fü r den Fall, dass er schnell zur Straße hinunter musste.
Das war nichts Ungewö hnliches.
Aber ausgesprochen nü tzlich.
Fü r Alice.
Als Erstes schaltete sie den Scharfschü tzen aus. Was sich als kluger Schachzug erwies, da er
auf Carlos angelegt hatte, um ihm einen Kopfschuss zu verpassen, wä hrend der sich mit
Valentine dem Platz nä herte.
Wayne hatten sie zurü ckgelassen, damit er auf Angie aufpasste, bis sie ihm das Zeichen
gaben. Gegen diesen Teil des Planes hatte Wayne ausfü hrlich protestiert, bis Valentine ihm
bildlich vor Augen gefü hrt hatte, was sie mit seiner Milz anstellen wü rde, wenn er nicht die
Klappe hielt und tat, was sie ihm sagten.
Alice fand zunehmenden Gefallen an Jill Valentine.
Nachdem der Scharfschü tze erledigt war, spulte Alice die Metallleine ab und warf sie auf
den Platz hinunter, zwischen den C89 und die drei Wachen.
Die Wachen bemerkten nichts. Ihre Aufmerksamkeit war verstä ndlicherweise nach außen
gerichtet. Dort lauerte schließlich die wahre Gefahr, die von den Legionen Untoter drohte,
die auf sie zugeschlurft kommen konnten und sich womö glich nicht von einer PlastiGlas-
Barriere aufhalten ließen.
Alice befestigte einen Haken an der Leine und diesen dann an ihrem Kittel. Sie ließ ihre
Waffen in den Holstern stecken, rutschte an der Leine hinab und stoppte dicht ü ber dem
Platz.
- 216 -
Das reißverschlussartige Gerä usch, mit dem der Stahlhaken ü ber die Leine glitt,
veranlasste die Wachen, sich umzudrehen. Aber bevor sie reagieren konnten, kam Alice
ü ber sie.
Als Erstes brach sie einem der Wä chter das Genick.
Dann stieß sie dem zweiten ihren Handballen gegen die Nase, brach sie und trieb Knorpel-
und Knochensplitter in sein Gehirn, was ihn auf der Stelle tö tete.
Und schließlich zertrü mmerte sie dem dritten mit der rechten Hand den Kehlkopf. Er starb,
bevor ihr erstes Opfer auch nur zu Boden gefallen war.
Als sie auch den Letzten erledigt hatte, waren Carlos und Valentine bei ihr.
Nachdem er sich zwischen zwei der PlastiGlas-Platten hindurchgezwä ngt hatte, riss Carlos
plö tzlich sein Kampfmesser hervor und schleuderte es an Alice vorbei.
Sie kreiselte herum und sah, dass der zweite Wä chter nicht so tot war, wie es hä tte sein
sollen. Er war nicht zum Untoten geworden – seine Augen waren klar, und er sagte:
„Scheiße!“, als Carlos’ Messer ihn in die Brust traf, offenbar hatten sich die Schä delsplitter
nicht so tief in sein Gehirn gebohrt, wie sie gedacht hatte.
„Einen ü bersehen“, sagte Carlos mit einem Lä cheln.
Achselzuckend meinte Alice: „Musste doch einen fü r Sie ü brig lassen.“
Valentine rollte mit den Augen. „Ihr zwei kö nnt spä ter die Hosen runterlassen und
vergleichen, wer den Grö ßten hat.“ Sie steckte ihre kleinen Finger in den Mund und pfiff.
Alice fuhr zusammen. Der durchdringende Pfeiflaut schnitt fö rmlich in ihre
hypersensitiven Ohren.
Sekunden spä ter rannten Wayne und Angie herbei.
„Gute Arbeit“, sagte Wayne.
„Gehen wir“, drä ngte Alice. Sie wollte nicht, dass Angie sich lä nger als nö tig in
unmittelbarer Nä he der Leichen
- 217 -
aufhalten musste.
Und nicht lä nger, als sie es bereits getan hatte.
Sie stiegen in den Frachtraum des Hubschraubers, und Alice wurde augenblicklich von
einem Dejavu-Gefü hl ü berwä ltigt.
In der Mitte des Frachtraums standen zwei große Untersuchungstische. Einer glich genau
dem, auf welchem sie im Raccoon City Hospital aufgewacht war.
Der andere ä hnelte dem ersten, war jedoch um einiges grö ßer. Alice wusste instinktiv, fü r
wen er bestimmt war.
Fü r Nemesis.
Ashford hatte ihr nicht gesagt, welchem Zweck dieser Transport eigentlich diente. Jetzt
kannte sie ihn: Damit sollten sie und Nemesis aus der Stadt geschafft werden, bevor
Raccoon City in die Luft gejagt wurde.
„Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte Valentine.
„Wir mü ssen uns beeilen“, war alles, was Alice darauf erwiderte.
Wenn Umbrella sie aus der Stadt schaffen wollte, dann hieß das, dass Nemesis jede Minute
hier eintreffen konnte. Sie war mit Mü he und Not mit dem Leben davon gekommen, als sie
ihm das letzte Mal gegenü ber gestanden hatte. Sie glaubte nicht, dass sie noch einmal so
viel Glü ck haben wü rde.
„Es ist okay“, sagte Carlos, den Blick zum Himmel gerichtet. Bis Sonnenaufgang waren es
noch zwanzig Minuten. „Wir haben noch Zeit. Wir schaffen es.“
Alice sah zur offenen Frachtluke hinaus. Ohne auch nur darü ber nachdenken zu mü ssen,
wusste sie, wo sie hinschauen musste.
Sie deutete auf ein Dach, das etwas entfernt lag. „Nein, wir mü ssen uns beeilen.“
Die anderen folgten ihrem Blick, um zu sehen, was sie sah.
Eine riesenhafte Gestalt stand dort auf dem Dach, eine Rail-Gun in der Hand.
- 218 -
Nemesis.
Waynes Augen sprangen ihm beinahe aus dem Kopf.
„Wem klauen wir den Helikopter? Scheeeiiiße!“
„Ich bring uns in die Luft.“ Alice zog ihren Colt .45 und begab sich zum Cockpit. Als sie die
Schiebetü r ö ffnete, sah sie einen Mann, der dieselbe schwarze Umbrella-Uniform trug wie
Carlos – und die auch One, Rain, Kaplan und die anderen getragen hatten.
„Starten.“
Der Pilot rü hrte sich nicht.
Alice drü ckte ihm die Coltmü ndung gegen den Hinterkopf.
„Los.“
Der Pilot lä chelte, bewegte sich aber immer noch nicht.
„Mach schon!“
„Wozu die Eile?“
Alice wirbelte herum, den Colt erhoben.
Es war Cain, der gesprochen hatte. Er war bewaffnet mit einer Glock, die er Angie Ashford
an die Schlä fe hielt.
„Kommen Sie bitte mit.“
Alice fiel auf, dass Cain sie nicht aufforderte, ihre Waffen fallen zu lassen. Nicht, dass es
einen Unterschied gemacht hä tte – denn sie wü rde nichts unternehmen, so lange Angies
Leben in Gefahr war.
Sie war nur ein paar Sekunden weg gewesen, aber in dieser Zeit war ein ganzer Trupp von
Cains Leuten gekommen und hatte Valentine, Carlos und Wayne ü berwä ltigt. Sie knieten
auf dem Rathausplatz, bei ihnen ein Mann mittleren Alters, den Alice nicht kannte.
Angie hingegen schon.
„Daddy!“
Cain nahm die Waffe von Angies Kopf, und sie rannte zu ihrem Vater. Mit Trä nen in den
Augen umarmten sie einander, Ashford immer noch auf Knien.
„Angie.“
- 219 -
„Ich wusste, dass du mich nicht hier lassen wü rdest“, sagte Angie schluchzend.
„Niemals, Baby, niemals.“
„Haben sie dir weh getan?“
„Nein.“ Ashford log das Blaue vom Himmel herunter.
Das konnte Alice ihm ansehen. „Nein, ich bin okay, Baby.“
Alice wandte den Kopf und sah einen Darkwing-Stealth-Hubschrauber, der gelandet war,
ohne dass sie es mitbekommen hatte. Mit einem Helikopter genau derselben Art war One
kurz nach Alices Erwachen bei der Villa eingetroffen, wä hrend im Hive schon die Hö lle
losgebrochen war – den hatte sie ebenso wenig kommen hö ren.
Cains Leute legten Valentine, Carlos und Wayne Handschellen an. Als Wayne gefesselt
wurde, murmelte er: „Scheiße, Mann, das hart’ ich heut’ doch schon mal.“
Derjenige, der Valentine die Handschellen verpasste, fragte: „Was sollen wir mit ihnen
machen, Sir?“
Alice hö rte, wie sich schwere Schritte nä herten.
Nemesis kam.
„Gar nichts“, sagte Cain. „Sie sterben frü h genug. Uns bleibt gerade noch genug Zeit, um
unser kleines Experiment abzuschließen.“
Wä hrend Cain sprach, betrat Nemesis den Platz und setzte mit einem Sprung ü ber die
PlastiGlas-Barriere hinweg, die eine wachsende Zahl von Untoten zurü ckhielt.
„Der Virusausbruch war zwar bedauerlich, aber er bot ein ausgezeichnetes Testszenario fü r
das Nemesis-Programm.“
Alice warf Cain einen Blick zu. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, was fü r ein
elender Bastard er war. Aber selbst nach seinen Maßstä ben war es schlicht unmö glich, die
heutigen Ereignisse als „bedauerlich“
abzutun.
- 220 -
Indessen deutete Cain mit einer beinahe theatralischen Geste auf Nemesis. „Der perfekte
Soldat.“
Sie standen sich jetzt von Angesicht zu Angesicht gegenü ber, Alice und Nemesis. Keiner von
beiden bewegte sich. Zum zweiten Mal spü rte Alice den unheimlichen Riesen eher, als dass
sie ihn sah. Ihrer beider Herzen schlugen in perfektem Gleichklang.
„Ihr beide wart so vielversprechend.“ Cain redete unaufhö rlich weiter – er hatte den Klang
der eigenen Stimme schon immer gemocht. „Aber wir mussten euch in Aktion erleben. Und
ihr wart hö chst beeindruckend.“
Er sah sie beide nacheinander an. „O ja. Spü rst du es?“
Zö gerlich sagte Alice: „Ich spü re…“ Sie verstummte, weil sie es nicht in Worte fassen
konnte.
Cain beendete den Satz fü r sie: „Verwandtschaft. Ihr seid
wie
Bruder
und
Schwester.
Erhö hte
Geschwindigkeit,
Kraft,
Beweglichkeit.
Derselbe
Killerinstinkt.“ Er lä chelte. „Nur in einer etwas attraktiveren Verpackung. Aber unter der
Haut seid ihr fast identisch. Parallele Forschungsreihen. Und jetzt finden wir heraus,
welche der anderen ü berlegen ist.“
Die ganze Zeit ü ber hatte Nemesis regungslos dagestanden, eine acht Fuß hohe Statue. Die
einzige Bewegung rü hrte vom gelegentlichen Blinzeln seiner blauen Augen her.
Blaue Augen.
Das schien irgendwie nicht richtig zu sein.
Und doch waren sie sehr vertraut.
Alice wandte den Blick ab. Sie sah zu Valentine und den anderen hin.
Ganz kurz begegnete ihr Blick dem von Carlos.
Carlos nickte kaum wahrnehmbar.
Gut. Die Umbrella-Truppe hatte ihnen zwar die Handfeuerwaffen abgenommen, sie aber
ansonsten nicht sorgfä ltig durchsucht. Carlos hatte immer noch einen Trumpf im Ä rmel,
buchstä blich: das Messer, das
- 221 -
er vorhin aus der Leiche des Wä chters gezogen hatte, den er tö ten musste, um Alice zu
retten.
Cain
wandte
sich
unterdessen
an
Nemesis.
„Primä rwaffen ablegen.“
Das Gerä usch, mit dem Nemesis den Raketenwerfer und die Rail-Gun fallen ließ, hallte von
den PlastiGlas-Platten wider.
„Und jetzt – tö te sie.“
Es dauerte weniger als eine Sekunde. Im einen Augenblick spielte Nemesis noch Standbild.
Im nä chsten griff er sie an.
Aber so schnell er auch war, Alice war schneller. Ohne große Mü he wich sie der
Frontalattacke aus.
Er nahm einen neuen Anlauf. Sie wich abermals aus, griff ihn jedoch nicht an.
So ging es einige Minuten lang. Alice musste nur genug Zeit gewinnen, damit Carlos sein
Messer aus dem Ä rmel bekam und sich befreien konnte.
Cain allerdings wurde langsam ungehalten.
„Wehr dich! Kä mpfe!“
„Nein.“ Alice hatte nicht die Absicht, Nemesis zu verletzen, wenn sie es nicht musste. Wer er
auch sein mochte, er war genauso ein Opfer wie sie.
Cain zog seine Glock und sagte: „Wehr dich oder sie sterben.“
Scheiße.
Alice hä tte damit rechnen mü ssen, dass Cain auf diese Taktik verfiel.
Aber andererseits wusste er nicht, ob ihr die anderen etwas bedeuteten. Deshalb versuchte
sie zu bluffen.
„Wie kommst du auf die Idee, dass mir das etwas ausmacht?“
Ohne zu zö gern, drü ckte Cain ab.
Ashford fiel zu Boden, Blut sammelte sich um seinen Kopf.
Angie schrie: „Daddy!“
- 222 -
Cain richtete die Glock auf Valentine. „Fü r den Konzern war er von Bedeutung. Mich
interessieren diese Leute ü berhaupt nicht.“
Alice nickte zä hneknirschend und wandte sich Nemesis zu.
Cain senkte die Waffe. „Fang an“, sagte er.
Als Alice seinerzeit in Columbus, Ohio, die ersten Martial-Arts-Kurse belegte, sagte ihr
Sensei, dass wirklich große Kä mpfer in eine Trance fallen, in der sie nichts außer ihren
eigenen Bewegungen zur Kenntnis nehmen. „Man denkt nicht. Man handelt nur.“ Solch
meisterhafte Kä mpfer waren jedoch selten. Es gab vielleicht einen unter einer Million.
Er sage ihr dies, hatte er ihr zu verstehen gegeben, weil er eine Grö ße in ihr sehe, die es ihr
eines Tages vielleicht erlauben wü rde, einer dieser seltenen Meister zu werden.
Mit Hilfe von Umbrellas Verä nderungen war Alice mehr als nur das geworden.
Schon einmal war sie heute Nacht drauf und dran gewesen, in diese Trance zu verfallen: auf
dem Friedhof hinter der Kirche, als die Untoten ihren Grä bern entstiegen.
Jetzt passierte es wieder.
Sie bewegte sich.
Des Kollateralschadens auf dem Platz wurde sie sich kaum bewusst. Nemesis’ Krä fte waren
monumental, und jeder Hieb, der sie verfehlte, traf eine Statue, ein Auto, den Asphalt oder
einen Kiosk.
Die Zuschauer nahm sie, wie den Schaden, ebenfalls nicht
zur
Kenntnis.
Aber
sie betrachteten
sie
wahrscheinlich als Verliererin, da ihre Bewegungen zunehmend defensiver wurden.
Nemesis drä ngte sie zurü ck, bis sie mit dem Rü cken zu einer Wand stand.
Sie saß in der Falle.
- 223 -
Eine gewaltige Faust schoss auf ihren Kopf zu.
In letzter Sekunde wich sie ihr aus, dann rammte sie Nemesis’ Brust, drehte sich und
verpasste ihm in der Bewegung einen Tritt ins Gesicht, der ihn rü cklings zu Boden krachen
ließ.
Der Tritt hä tte jedem anderen das Genick gebrochen.
Nemesis steckte ihn weg. Beinahe jedenfalls.
Benommen griff er nach einem zehn Fuß langen Stü ck Metall. So konzentriert, wie Alice
war, hatte sie keine Ahnung, wo das Metall herkam – ein Stü tzpfosten, Teil einer Statue,
vielleicht ein Stü ck eines Fahrzeugs, es war egal.
Worauf es ankam, war, dass Nemesis es jetzt wie ein Schwert schwenkte.
Mit einem Rü ckwä rtssalto entging sie dem ersten Schlag, der sie um Zentimeter verfehlte.
Der zweite Hieb fuhr direkt auf ihren Kopf zu, genau in dem Moment, als sie wieder auf den
Fü ßen landete.
Sie riss die Hä nde hoch, presste sie gegen die flachen Seiten der Klinge und stoppte sie
dicht vor ihrem Kopf.
Ihre Kraft hinderte Nemesis daran, den tö dlichen Streich zu fü hren.
Doch seine Kraft bewahrte ihn davor, dass sie das provisorische Schwert auf ihn zudrü cken
und in seine Brust treiben konnte.
Zunä chst.
Alice hatte einen Teil von Senseis Lehren aus den Augen verloren, aber da war immer noch
ihre Wut. Seit sie nackt in der Dusche der Villa, die zum Hive fü hrte, aufgewacht war, hatte
sie viel zu viele Menschen sterben sehen. Lisa Broward. Rain Melendez. Bart Kaplan. Terri
Morales. Peyton Wells. Charles Ashford.
Sie nahm ihren Zorn auf die Ungerechtigkeit einer Welt, in der gute Menschen wie Lisa,
Rain, Kaplan, Wells und die anderen sterben mussten und dieser Scheißkerl Timothy Cain
leben durfte, und konzentrierte
- 224 -
ihn auf ihre beträ chtliche Stä rke.
Und dann drü ckte sie stä rker als jemals zuvor.
Nemesis stolperte nach hinten, und ein zehn Fuß langes Metallstü ck bohrte sich ihm in die
Brust.
Alice nutzte ihren Vorteil und schlug auf ihren gefallenen Gegner ein. Jeder Hieb bedeutete
Rache fü r Kaplan und Rain und Wells und Hunderte andere, die sie nicht kannte und die
gestorben waren, nur weil Umbrella ein Supervirus haben musste und weil Spence so gierig
auf das große Geld gewesen war und…
… und dann traf ihr Blick den von Nemesis.
Plö tzlich wusste Alice, warum ihr die blauen Augen so bekannt vorkamen.
Matt!
- 225 -
Neunundzwanzig

Stundenlang hatte Matthew Addison versucht die Herrschaft ü ber Nemesis zu erringen.
Umbrellas Programmierung war gut. Sie hatten Matts Persö nlichkeit so weit wie mö glich
unterdrü ckt – ganz auslö schen konnten sie sie allerdings nicht.
Aber jeder Versuch, die Kontrolle ü ber seinen Kö rper zurü ckzugewinnen, war
fehlgeschlagen.
Als sie am Rathaus eingetroffen waren und Matt Alice wiedergesehen hatte, sank sein
Kampfgeist. Er wusste, dass Nemesis’ Primä raufgabe darin bestand, Alice aufzuspü ren und
sie zu tö ten. Er hatte es schon einmal versucht, und nur Alices Geschicklichkeit und die
Tatsache, dass sie kleiner und mithin wendiger war, hatte das Schlimmste verhü tet.
Diesmal jedoch wü rde Matt etwas anderes probieren.
Erinnerungen.
Nemesis kannte nur seine Programmierung, Matt aber wusste, wo diese Programmierung
herkam.
Er versuchte, Nemesis Bilder aus seinem Gedä chtnis aufzuzwingen: All die Male, die er
wä hrend seiner Zeit beim U.S. Marshals Service auf die Umbrella Corporation
gestoßen
war.
Seine
zunehmende
Frustration, weil es ihm nicht gelang, ihnen auch nur eine ihrer illegalen Aktivitä ten
nachzuweisen. Aaron Vricella, der ihn fü r eine Geheimorganisation angeheuert hatte, deren
Ziel es war, Umbrella zu Fall zu bringen. Die Jahre noch grö ßerer Frustration, als ihrer
Gruppe jeglicher Fortschritt versagt blieb, wä hrend Umbrellas Macht und Einfluss
wuchsen.
Sein Vorschlag, seine Schwester Lisa, die ihren eigenen Hass gegen Umbrella hegte, in die
Firma einzuschleusen, damit sie die Beweise suchen konnte,
- 226 -
die sie brauchten. Die Vernichtung des Hives an genau jenem Tag, an dem Lisa ihm die
Beweise ü bergeben sollte – die Schuld eines gierigen Arschlochs namens Spence Parks.
Matts Weg durch die verheerten Ü berreste des Hives, erst als Gefangener der von Umbrella
angeheuerten Schergen, dann als einer der wenigen Ü berlebenden der Folgen von Spences
Gier: fü nfhundert untote Kreaturen.
Der Angriff des Lickers auf den Zug, wobei er verletzt worden war und zu mutieren
begonnen hatte. Der Zusammenbruch in der Eingangshalle der Villa und die
Gefangennahme durch Umbrella-Wissenschaftler in Schutzanzü gen. Die Experimente, die
ein Mann namens Sam Isaacs an ihm vorgenommen hatte. Isaacs war der Leiter des
Nemesis-Programms, und auch sein Vorgesetzter war mit von der Partie gewesen, Major
Timothy Cain, ein elender Hurensohn.
Die Manipulation seiner DNS, ein qualvoller Prozess, der noch schlimmer wurde, weil er
nicht imstande war zu schreien. Die Unterdrü ckung seiner eigenen Gedanken durch
eine
Reihe
von
Programmanweisungen,
geschrieben von Isaacs und ü berwacht von Cain, wodurch er gezwungen wurde, diese
beiden Kerle als seine Herren zu betrachten.
Das Wissen, dass eben jener Konzern, dessen Vernichtung er sein Leben verschrieben
hatte, ihn in seine ultimative Waffe verwandelt hatte.
Und direkt neben ihm lag wä hrend des ganzen Vorgangs Alice, an
der
dieselben
Experimente
vorgenommen wurden.
Aber wä hrend Isaacs Matt in Frankensteins Monster verwandelte, blieb Alice sie selbst. Sie
war kö rperlich unverä ndert, ä ußerlich jedenfalls.
Endlich drang Matt durch.
Nemesis wurde schwä cher.
Gerade rechtzeitig, dass Alice ihm die Brust
- 227 -
durchbohren konnte.
Und rechtzeitig, dass Alice endlich erkannte, gegen wen sie die ganze Zeit gekä mpft hatte.
Mit demselben Ausdruck, den Matt in ihrem Gesicht gesehen hatte, als Rain sie bat, sie zu
tö ten, falls sie mutierte, flü sterte Alice jetzt: „Es tut mir Leid, Matt.“
„Erledige ihn!“ Das war die Stimme, die Nemesis nur als die seines Herrn kannte, Matt
hingegen wusste, dass sie Cain gehö rte.
„Nein.“ Alice erhob sich und machte einen Schritt auf den Herrn zu. Auf Cain. Nicht auf den
Herrn. Du bist Matt Addison, nicht Nemesis!
Einige der Schergen des Herrn – Cains Schergen! –
hoben ihre Waffen, aber Cain gab ihnen einen Wink, sich zurü ckzuhalten.
„Nein, nein, ist schon gut.“ Er sah Alice an. „Verstehst du nicht, wie wichtig du fü r uns bist?
Die Kreatur ist eine Sache, aber du? Du bist etwas ganz, ganz Besonderes.
Irgendwie hast du dich auf Zellebene mit dem T-Virus verbunden. Du hast ihn adaptiert, du
hast ihn verä ndert.
Du bist etwas Großartiges geworden.“
Das, so erkannte Matt, war der Grund, warum sie unverä ndert blieb, wä hrend er in etwas
verwandelt worden war, das Cain so unverblü mt als Kreatur bezeichnete.
„Ich bin ein Freak geworden“, sagte Alice.
Nein, wollte Matt herausschreien, ich bin der Freak, nicht sie.
„Aber ganz und gar nicht“, sagte Cain, und dieses eine Mal im Leben war Matt seiner
Meinung. „Du bist keine Mutation, du bist die Evolution.“
Mutation ist Teil der Evolution, du Idiot! Aber Matt konnte
seine
Stimmbä nder
noch
immer
nicht
kontrollieren.
„Ü berleg doch nur. Wir brauchten fü nf Millionen Jahre, um aus den Wä ldern
hervorzukommen. Du hast den
- 228 -
nä chsten Schritt in weniger als fü nf Tagen getan. Stell dir nur vor, was du mit unserer Hilfe
erreichen kannst.
Und wer kann das verstehen? Wer weiß das zu wü rdigen? Wir – sonst niemand. An wen
willst du dich denn wenden, wenn nicht an uns?“
An irgendjemanden, der ein Gewissen hat! Das ist der Grund, weshalb ich so verzweifelt
versucht habe, euch zu vernichten, ihr arroganten Hurensö hne!
„Und was ist mit ihm?“, fragte Alice. Sie wies auf Nemesis.
Cain zuckte nur die Achseln. „In der Evolution gibt es Sackgassen. Erledige ihn. Nimm
deinen Platz an meiner Seite ein.“
Mein Gott, er ist nicht nur ein Arschloch, er ist auch noch grö ßenwahnsinnig.
„Ich verstehe“, sagte Cain, „dass er dein Freund war.“
Er zog seine Glock und hielt sie Alice hin. „Hier, damit du dir nicht die Hä nde schmutzig
machen musst.“
Alice sah die Waffe an, dann zu Nemesis hin.
Zu Matt.
„Er will es ja selbst“, sagte Cain.
Und wie, du Schwein.
„Er will von seinem Elend erlö st werden.“
Nein, du Arschloch. Ich will dich von deinem Elend erlö sen! Um Himmels willen, Alice, tu‘s
nicht!
Alice hob die Glock. „Ja.“
Dann drehte sie sich, richtete die Waffe auf Cain und drü ckte ab.
Ja!
Aber die Glock gab nur ein trockenes Klicken von sich.
Leer.
Verdammt!
Cain lä chelte und hielt den Munitionsclip der Glock hoch.
„All diese Stä rke, aber keine Willenskraft, sie auch anzuwenden. Was fü r eine
Verschwendung. Du
- 229 -
enttä uschst mich.“
„Du hast ja keine Ahnung, wie mich das freut.“ Matt konnte die Verachtung fö rmlich aus
Alices Tonfall triefen hö ren.
„Nun gut.“ Cain seufzte und wandte sich an den Piloten des Hubschraubers. „Machen Sie die
Maschine startklar.“
Mehr als sonst etwas wollte Matt aufstehen und Cain dieses Grinsen aus dem Gesicht fegen.
Zu seiner Ü berraschung reagierte sein Kö rper auf diesen Gedanken. Er konnte aufstehen.
Heilige Scheiße.
Dann zog er den Metallstab aus seiner Brust.
Cain schwafelte immer noch. „Du magst zwar der ü berlegene Krieger sein“, sagte er zu
Alice, „aber er ist der ü berlegene Soldat. Er weiß zumindest, wie man Befehle befolgt.“
Das werden wir ja sehen, du Arschloch.
Den Blick auf ihn gerichtet sagte Cain: „Tö te sie.“
Matt bewegte sich nicht.
„Ich habe gesagt, du sollst sie tö ten!“
Matt machte einen Schritt auf Alice zu, was Cain zu freuen schien.
Dann ging er an ihr vorbei, dorthin, wo er als Nemesis vorhin die Rail-Gun hatte fallen
lassen.
„Was tust du da?“
Was ich tun wollte, seit du mich in der Villa festgeschnallt hast, Bastard.
Cain erkannte, was Matt vorhatte, als er nach der Rail-Gun griff. „In Deckung!“ Und noch
wä hrend er schrie, setzte er seine Worte auch schon in die Tat um.
Matt hob die Rail-Gun auf und begann, auf die Soldaten zu schießen.
Ein paar von ihnen warfen sich in Deckung. Andere versuchten das Feuer zu erwidern.
Aber selbst ihre Treffer zeigten keine Wirkung. Umbrella hatte zu gute
- 230 -
Arbeit geleistet.
Matt hatte keine Ahnung, wer die Gefangenen waren, die Alice begleitet hatten, aber einer
von ihnen – der schlecht angezogene Schwarze, der im Waffengeschä ft als Einziger
ü berlebt hatte – schrie: „Gottverdammt! Er hat das Team gewechselt! Los, du Scheißer, los,
mach sie alle!“
Wä hrend er Matt anfeuerte, sah dieser, wie einer der Wä chter auf Alice anlegte.
Matt wollte seine Waffe herumschwenken, um ihn auszuschalten, als ein anderer
Gefangener – der in der Umbrella-Uniform; offenbar hatte er, wie auch Alice, die Seiten
gewechselt – aufsprang und die Wache erledigte.
Er hatte sich von seinen Handschellen befreit.
Genau wie die Frau in dem blauen Top. Sie und der Umbrella-Typ schnappten sich fallen
gelassene Waffen und schossen gemeinsam mit Matt auf Cains Soldaten.
„Hier spricht Cain, neue Prioritä t – Abschuss initiieren, sofort!“
Er konnte ihn noch immer nicht sehen, aber die Stimme dieses Schweinehundes hö rte Matt
nur allzu deutlich. Er hatte den Missile-Abschuss befohlen. Bald schon wü rde Raccoon City
in einem gewaltigen Feuersturm vergehen.
Dann hob der Stealth-Hubschrauber ab und machte Jagd auf Alice.
Sie blieb ihnen einen Schritt voraus, aber das konnte nicht lange klappen. Selbst Alice hatte
ihre Grenzen.
Deshalb rannte Matt los und packte den Raketenwerfer.
Dann drehte er sich um und hielt auf das Gebä ude gegenü ber dem Rathaus zu, wo der
Helikopter hinter Alice her war.
Als er dort anlangte, sah Matt, dass Alice trotzig mit einem Colt .45 gegen die kugelsichere
Frontscheibe und die 50-mm-Kanonen des Hubschraubers antrat. Matt konnte nicht umhin,
ihre Hartnä ckigkeit zu bewundern,
- 231 -
aber eine Chance hatte sie nicht.
Jedenfalls nicht mit dieser Waffe.
Mit einem gewaltigen Sprung setzte sich Matt zwischen die Mü ndungen der
Hubschrauberkanonen und Alice.
Dann hob er den Raketenwerfer und feuerte ihn ab.
Als Nemesis die Kneipe in die Luft jagte, auf deren Dach der S.T.A.R.S.-Scharfschü tze stand,
hatte Matt vor Qual gewimmert, weil er gezwungen war, mit anzusehen, wie er einen Cop
tö tete, der nichts Falsches getan hatte – außer in einen Alptraum zu geraten.
Hier und jetzt allerdings empfand er nichts außer Befriedigung.
Der Helikopter explodierte in einer Feuersbrunst.
Zufrieden beobachtete er, wie der Heckrotor vom Rest der Maschine abbrach und zu Boden
stü rzte – genau auf sie zu.
Verdammte Kacke.
So schnell er und Alice auch waren, nicht einmal sie konnten dem Rotor – oder dem Rest
des Wracks – noch rechtzeitig ausweichen.
Vielleicht ist es besser so.
Ein Feuerball donnerte herab und begrub Matt unter Trü mmern,
brennendem
Metall,
explodierendem
Treibstoff und aufgerissenem Asphalt.
Jetzt ist es endlich vorbei.
- 232 -
Dreissig

Timothy Cain wusste, wann es Zeit zum Rü ckzug war.


Es sah so aus, als mü ssten sie auch mit dem Nemesis-Programm noch einmal von vorne
anfangen. Und er wü rde seinen Vorgesetzten erklä ren mü ssen, warum Charles Ashford
nicht lebend aus Raccoon City herausgekommen war. Natü rlich wü rde er die Schuld dem
guten Doktor selbst anlasten, indem er sagte, dass er es irgendwie in die Stadt zurü ck
geschafft hatte, in einem tö richten Versuch, sein kleines Mä dchen zu retten.
Das wü rde man ihm glauben. Ashford war diesem blö den Kind geradezu verfallen. Der
Aufsichtsrat hatte sogar seine Zustimmung erteilt, damit das Mä dchen als Vorlage fü r den
Avatar der kü nstlichen Intelligenz des Hives dienen konnte, eine Entscheidung, die Cain
nun gar nicht verstand.
Dennoch, sie hatten viel gelernt, und beim nä chsten Mal wü rden sie nicht dieselben Fehler
begehen.
Das Wichtigste war wahrscheinlich, eine Mö glichkeit zu finden, die Persö nlichkeit des
Wirtskö rpers komplett auszulö schen.
Daran
waren
beide
Teile
des
Experiments gescheitert. Abernathys Individualitä t hatte sich als zu problematisch
erwiesen, und selbst Addison hatte es geschafft, die Programmierung zu ü berwinden.
Es wü rde auch eine Weile dauern, die Truppfü hrer, die sie verloren hatten, zu ersetzen. Die
Soldaten selbst stellten kein Problem dar – solche Sö ldner fanden sich zuhauf, wenn man
ü berall auf der Welt die Streitkrä fte, Police Departments und Gefä ngnisse durchkä mmte.
Diese Einrichtungen waren nahezu unerschö pfliche Quellen.
Nein, Mä nner wie Olivera, Ward und One waren
- 233 -
schwer zu ersetzen. Einzig ihren Verlust und den Ashfords bedauerte Cain – beinahe
jedenfalls.
Aber selbst sie wü rden sich letztendlich ersetzen lassen.
Schließlich war das Leben etwas Armseliges.
Er kletterte in den C89. Montgomery, der Pilot, hatte den Hubschrauber bereits gestartet.
Den Lä rm der Rotoren und des Motors ü bertö nend, schrie Cain: „Bringen Sie uns in die
Luft!“
Hinter sich hö rte er das Feuergefecht, das sich seine Leute mit Olivera und dieser Frau im
blauen Top lieferten, wer sie auch sein mochte. Dem Wenigen nach, das er gesehen hatte,
war sie eine meisterhafte Schü tzin, denn sie und Olivera – dessen Fä higkeiten Cain bereits
bekannt gewesen waren – schlugen sich mehr als nur wacker gegen fast ein Dutzend von
Cains handverlesenen Soldaten.
Außerdem hö rte er, wie die Frau schrie: „Er entkommt uns!“
Falsch, dachte er, ich bin euch bereits entkommen. Er wü rde ü berleben, denn das war es,
was Timothy Cain am besten konnte. Er ü berlebte alles, was ihm die Welt in den Weg warf,
angefangen bei dem Alptraum, als frisch eingewanderter Deutscher zur Highschool gehen
zu mü ssen, ü ber die Gefahren am Persischen Golf bis hin zu den vergangenen paar Tagen in
Raccoon City.
Und er hatte nicht nur ü berlebt, er war daran gewachsen.
Deshalb war er der Beste.
Er stand bereits seit einigen Sekunden im Frachtraum, aber der Hubschrauber hatte sich
noch nicht bewegt.
„Warum sind wir noch nicht in der Luft?“, wollte er wissen.
„Weil ich keinen blassen Schimmer habe, wie das geht.“
Das war nicht Montgomerys Stimme.
- 234 -
Der Mann im Pilotensitz drehte sich um und gab sich als dieser schwarze Punk zu
erkennen, der mit Olivera und der Frau im blauen Top gekommen war. Außerdem war er
mit den S.T.A.R.S.-Leuten in dem Waffenladen gewesen. Aber weil er ganz offensichtlich
kein Cop war, hatte Nemesis sein Leben verschont.
Jetzt sah Cain ein, dass das ein taktischer Fehler gewesen war.
Als er nach seiner Glock griff, schlug ihm der Schwarze mit der Faust ins Gesicht.
Benommen ging Cain zu Boden.
„Die Nummer hab ich schon in der Grundschule gelernt.“
Cains Blick verschwamm. Seit der Grundausbildung hatte ihn niemand mehr so kalt
erwischt!
Er versuchte aufzustehen, aber seine Glieder wollten ihm nicht gehorchen. Vage erkannte
er neben sich Montgomerys ebenfalls flach gelegte Gestalt am Boden des Cockpits.
Das Nä chste, was er mitbekam, waren Hä nde, die ihn an der Brust packten.
„Hommdirr…“
Das klang irgendwie nicht richtig.
Sein Blick klä rte sich.
Er sah die Frau in dem blauen Tube-Top. Sie hatte gesagt: „Hoch mit dir“, wie ihm jetzt
bewusst wurde. Aber er konnte seine Beine immer noch nicht bewegen.
Deshalb zerrte ihn die Frau in die Hö he und stieß ihn in den Frachtraum. Das kalte Metall
einer Pistolenmü ndung drü ckte sich in seinen Nacken.
Er blinzelte ein paar Mal, dann sah er Ashfords kleines Mä dchen im Frachtraum stehen. Sie
umklammerte, ausgerechnet, eine Lunchbox, als hinge ihr Leben davon ab. Olivera war
auch hier. Er stü tzte Abernathy, die eine hä ssliche Brustverletzung hatte.
Aber sie wü rde verheilen. Physisch war sie stark, auch
- 235 -
wenn sie psychisch schwach sein mochte.
Er fragte sich, was wohl mit Nemesis geschehen war.
Jetzt war fü r ihn die Zeit zum Handeln gekommen. Er konnte immer noch aus dieser Sache
herauskommen.
„Ihr habt keine Ahnung, was ich fü r euch tun kö nnte.
Macht keinen Fehler.“
„Halt dein verdammtes Maul“, sagte die Frau im Top.
Hinter sich hö rte er die Stimme des Schwarzen. „Bring uns in die Luft, los! Zwing mich
nicht, dich noch mal zu schlagen, Mann!“ Offenbar sprach er mit Montgomery.
„Ich kö nnte euch besorgen, was ihr wollt“, sagte Cain.
„Ich kö nnte…“
Abernathy starrte ihn aus ihren eisblauen Augen an.
Timothy „Able“ Cain hatte sich furchtlos den Schrecken des Wü stenkriegs gestellt. Er war
dem Tod hundert Mal von der Schippe gesprungen. Wä hrend seiner gesamten Dienstzeit
hatte er nicht ein einziges Mal Angst verspü rt.
Zehn Jahre spä ter stand Timothy Cain nun im Frachtraum eines Hubschraubers, der sich
mitten in einer Stadt befand, die gleich mit Kernwaffen angegriffen werden wü rde, einer
einzelnen, verwundeten Frau gegenü ber – und hatte Angst.
Saddams Truppen hatten den Feind tö ten wollen. Es war nichts Persö nliches, sie taten ihre
Pflicht, so wie Cain es getan hatte, als er sie tö tete.
Alice Abernathy jedoch wollte Cain tot sehen, weil er Timothy Cain war.
Zum ersten Mal erkannte Cain, dass das Leben ganz und gar nicht armselig war. Es war
kostbar.
Und er wollte seines behalten.
„Bitte“, sagte er. „Was hast du mit mir vor?“
Alice kam auf ihn zu. Sie packte ihn am Hemd, so, wie die Frau im Top es getan hatte.
„Absolut nichts.“
Dann warf sie ihn aus dem Frachtraum.
Er schlug hart auf, aber der Schmerz war
- 236 -
vergleichsweise gering. Der Helikopter hatte noch nicht abgehoben. Er hatte schon
Schlimmeres erlebt.
Jetzt hob der C89 ab. Cain versuchte auf die Beine zu kommen…
… aber etwas packte ihn.
Selbst kugelsicheres Material gab nach, wenn man genug Druck darauf ausü bte, und so gut
Umbrellas neues
Plasti-Glas
auch
sein
mochte,
unter
entsprechendem Beschuss zerbrach auch es.
Unter dem Beschuss mit der Jail-Gun und dem Feuergefecht zwischen Olivera, der Frau im
Top und seinen eigenen Leuten waren die Barrieren, die die wandelnden Toten davon
abgehalten hatten, den Platz einzunehmen, zusammengebrochen.
Jetzt kamen sie in Scharen. Und nachdem der Hubschrauber gestartet war und die anderen
Menschen auf dem Platz bereits tot waren, blieb ihnen nur ein Opfer.
Cain.
Er schoss auf den, der sich sein Bein gegrapscht hatte, dann auf den dahinter. Beide Male
brachte er einen Kopfschuss an, womit sie auf der Stelle erledigt waren, aber das ä nderte
nichts an dem, was geschah. Es waren Hunderte – einige davon hatten zu seiner Truppe
gehö rt, wiederbelebt vom T-Virus, das die Luft erfü llte.
Cain sah rasch ein, dass er keine Chance hatte. Er stand als Einziger gegen eine Ü bermacht
von Gegnern.
Dies war nicht die Wü ste. Hier konnte er sich nicht auf den Rest seines Zuges oder
Verstä rkung verlassen.
Er war allein.
Und er wü rde sterben.
Aber wenn es schon sein musste, dann wü rde er es wenigstens zu seinen Bedingungen tun.
Er setzte sich die Mü ndung der Glock an den Kopf.
Drü ckte ab.
Ein trockenes Klicken.
- 237 -
Keine Munition mehr.
Dann packte ihn der Leichnam von Dr. Charles Ashford, von klaffenden Schusswunden
durchlö chert, und biss ihn in den Hals.
Timothy Cain schrie.
Andere packten und bissen ihn, zerrten ihm mit ihren schwarzen Zä hnen das Fleisch vom
Leibe.
Cain starb einen langsamen Tod.
Ihm blieb mehr als genug Zeit, um zu erkennen, wie verdammt armselig sein eigenes Leben
geworden war.
- 238 -
Einunddreissig

Bis heute hatte Alice es nie genossen, dabei zuzusehen, wie ein Mensch starb. Aber jetzt
erfü llte es sie mit Schadenfreude, als sie sah, wie eine Horde Untoter ü ber Major Cain
herfiel und ihn bei lebendigem Leibe verspeiste.
Von allem, was Umbrella – was Cain – ihr angetan hatte, war dies wahrscheinlich das
Schlimmste: Man hatte sie in jemanden verwandelt, der Freude empfinden konnte, wenn er
mit ansah, wie ein Mensch auf schreckliche Weise umkam!
Der Helikopter hob endlich ab, nachdem sie den Piloten ü berzeugt hatten, wie dringend sie
aus Raccoon City verschwinden mussten, wenn sie nicht alle sterben wollten.
Alice hatte ihre Krä fte aufgebraucht und brach zusammen.
Der Rotor des Darkwings, den Nemesis – den Matt – in die Luft gejagt hatte, hatte sich in
ihre Brust gebohrt. Sie konnte von Glü ck reden, dass sie noch lebte.
Oder auch nicht.
Matt selbst schien unter den brennenden Trü mmern des Stealth-Hubschraubers begraben
worden zu sein.
Selbst wenn er noch lebte, hä tten sie ihn unmö glich rechtzeitig rausholen kö nnen.
Er wü rde sterben, wenn die Missiles einschlugen.
Als sie auf dem Boden des C89 zusammenbrach, sah Alice die Kondensstreifen der Raketen,
die immer nä her auf die Stadt zurasten.
Sie hoffte, dass der C89 schneller war, als er aussah.
Matt hatte etwas Besseres verdient.
Verdammt, sie alle hatten etwas Besseres verdient, aber Matt noch mehr als jeder andere.
Außer Lisa
- 239 -
vielleicht, die wenigstens schnell gestorben war. Ja, das T-Virus hatte sie reanimiert, aber
Alice hatte ihr danach den Dienst erweisen kö nnen, sie schnell zu tö ten.
Gott – den Dienst erweisen…
Aber alles, was Matt gewollt hatte, war, einen Konzern zu
stoppen,
dessen
Machenschaften
bestenfalls
rü cksichtslos
und
illegal
und
schlimmstenfalls
mö rderisch gewesen waren.
Sie kroch tiefer in den Frachtraum und verfluchte Spences Namen. Wenn er nur noch einen
Tag gewartet hä tte. Lisa hä tte Matt die Beweise das T-Virus betreffend ü bergeben. Matt
hä tte sie der Presse zugespielt, und vielleicht wä re der Hive dicht gemacht worden.
Und Raccoon City wä re jetzt keine Geisterstadt.
Es war nur schade, dass sie Spence kein zweites Mal tö ten konnte. Und kein drittes Mal.
Immer noch floss Blut aus ihrer Wunde. Wä re sie eine Normalsterbliche gewesen, wä re sie
bereits tot, aber selbst mit ihren außergewö hnlichen Fä higkeiten glaubte sie nicht, dass es
noch lange dauern wü rde.
Sie schaute auf und sah Angie in einem der Sitze des Helikopters.
Irgendwie brachte sie ein Lä cheln zustande. „Schnall dich an, Schä tzchen.“
Angie sah zu Tode entsetzt aus, schien aber trotz allem durchzuhalten. Alice wü nschte sich,
sie wä re so tapfer wie das Mä dchen.
„Wirst du wieder gesund?“, fragte das Kind.
„Ich glaube nicht.“
Alice konnte ihren eigenen Herzschlag hö ren.
Er wurde schwä cher.
Der C89 hatte die Stadtgrenzen hinter sich gelassen, aber sie waren immer noch nä her, als
es gut sein konnte.
Carlos rief: „Haltet euch irgendwo fest!“
Dann geschah es.
- 240 -
Die Explosion war das Lauteste, was Alice je gehö rt hatte.
Und das Heißeste, was sie je gespü rt hatte.
Der C89 geriet unter dem Ansturm der Druckwelle ins Wanken.
Sie wusste, dass Raccoon City jetzt endgü ltig tot war.
Obwohl, die Stadt war schon tot gewesen. Sie war von dem Moment an tot gewesen, da Cain
– dieser Idiot, dieses Arschloch, dieser Wichser – befohlen hatte, den Hive wieder zu ö ffnen.
Die Missiles besorgten lediglich die Einä scherung.
Valentine schrie: „Wir stü rzen ab!“
Der Hubschrauber trudelte durch die Luft. Alice wurde ü bel.
Dann sah sie, wie sich ein Teil des C89 lö ste und auf Angie zustü rzte.
Es wü rde das Mä dchen glatt zerfetzen.
„Nein!“
Alice raffte jedes bisschen Kraft ihres sterbenden Kö rpers zusammen, sprang quer durch
den Frachtraum und…
(genau wie Matt es fü r sie getan hatte)
… warf sich zwischen Angie und die Gefahr.
Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten wurde Alice von einem scharfen Stü ck Metall
aufgespießt.
Ein perfektes Ende fü r einen perfekten Tag.
- 241 -
Zweiunddreissig

Es gab Tage, an denen Dr. Sam Isaacs seinen Job hasste.


Im Moment sehnte er sich nach einem solch guten Tag.
Wä hrend er in seinem Hazmat-Schutzanzug dastand und den Technikern – ebenfalls in
Schutzanzü gen –
dabei zusah, wie sie das Wrack des Hubschraubers durchsuchten, der kurz nach der
Auslö schung von Raccoon City in den Arklay Mountains abgestü rzt war, dachte er an die
einzige gute Nachricht, die er heute erhalten hatte.
Timothy Cain war tot.
Sicher, Isaacs freute sich nicht wirklich ü ber die Tatsache, dass der Mann verstorben war,
aber es bedeutete doch wenigstens, dass dieser nicht mehr Isaacs’ Vorgesetzter war. Der
Mann war ein totaler Schwachkopf mit Hang zum Grö ßenwahn gewesen.
Schlimmer noch, er hatte keine Ahnung vom wichtigsten Grundsatz
der
Wissenschaft
gehabt,
dem
des
kontrollierten Experiments nä mlich.
Stattdessen hatte er das T-Virus aus dem Hive gelassen, der ein hü bsch kontrolliertes
Umfeld gewesen war, und dann hatte er beschlossen, die Killing Fields von Raccoon City im
Fahrwasser dieses Alptraums herzunehmen, um das Nemesis-Programm zu testen.
Das machte Isaacs verrü ckt. Nemesis war ewig nicht vorangekommen, und jetzt hatten sie
endlich einen Durchbruch erzielt. Abernathy und Addison waren die perfekten Testobjekte
– Addison hatte sich mit den Mutationen sofort in seinem Element gefü hlt, und mit
Abernathy war das Ganze sogar noch einen Schritt weitergegangen.
- 242 -
Aber ließ Cain Isaacs seinen Job tun und den Prozess verfeinern?
Nein, er hatte sie in die Stadt entlassen und einen idiotischen Zweikampf auf Leben und
Tod inszeniert.
Jetzt waren beide Testobjekte so tot wie Cain, und Isaacs musste wieder ganz von vorne
anfangen.
Doch diese Sache genoss im Augenblick nicht die hö chste Prioritä t im Konzern. Schließlich
musste man sich mit ernstlicheren Schwierigkeiten befassen. Isaacs wusste nicht, wie sie
das bewerkstelligen wollten – eine Stadt in die Luft zu jagen war nicht gerade etwas, das
man unter den Teppich kehren konnte –, aber das war ja wohl kaum sein Problem.
Er wusste nur – und zwar aufgrund der letzten Meldung von Ian Montgomery, bevor der
Pilot bei dem Absturz gestorben war –, dass Cain tot und Abernathy an Bord dieses
Hubschraubers gewesen war, als er die Stadt verließ. Wenn es etwas – irgendetwas – zu
bergen gab, musste Isaacs es haben.
Dann hob einer der Techniker ein Wrackteil beiseite, und darunter kam Abernathys Kö rper
zum Vorschein.
Unversehrt.
Nun, grö ßtenteils unversehrt – ein großes Metallstü ck hatte sich in ihre Brust gebohrt, aber
das konnte man entfernen. Und ihren Leichnam zu untersuchen, wü rde ausgesprochen
hilfreich sein.
„Holen Sie das Medi-Team“, sagte er zu einem der Techniker.
„Sir? Sie ist tot, Sir.“
„Tun Sie, was ich sage.“ Gott, warum erlö ste ihn niemand von verblö deten Technikern!
„Irgendeine Spur von den ü brigen?“
Ein anderer Techniker schü ttelte den Kopf. „Nein, Sir.
Im Pilotensitz sind verkohlte Ü berreste – das war vermutlich Montgomery. Aber es gibt
keine Anzeichen von sterblichen Ü berresten sonstiger Personen. Ich
- 243 -
vermute, dass Olivera, die beiden Zivilisten und die kleine Ashford den Absturz ü berlebt
haben.“
Isaacs schü ttelte den Kopf.
„Unglaublich.
Der
gentechnisch
entstandene
Supersoldat schafft es nicht, aber die Normalsterblichen und das kleine Mä dchen kommen
mit dem Leben davon?“
Der Techniker hob die Schultern. „Es ist eine verkehrte Welt, Sir.“
„Wohl wahr.“ Isaacs seufzte. „Suchen Sie weiter. Nur fü r alle Fä lle.“
„Ja, Sir.“
Isaacs sah zu, wie das Medi-Team eintraf und damit begann, Abernathys Leiche aus dem
Wrack zu bergen.
Jill Valentine sah vom Gipfel eines der Berge auf das Wrack hinab. Sie, Carlos, Angie und L. J.
hatten Stunden gebraucht, um hier heraufzusteigen und sich so weit wie mö glich von dem
Wrack – und Umbrellas Einfluss – zu entfernen.
Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Fü r Jill hatte diese ganze Sache in den
unweit gelegenen Wä ldern angefangen, wo sie Zombies gesichtet hatte.
Als sie es meldete, hatte Umbrella quasi Ü berstunden eingelegt, um sie in Misskredit zu
bringen und fü r ihre Suspendierung zu sorgen.
Jetzt war sie wieder in Arklay. Doch die Stadt, in der sie aufgewachsen war – in der sie ihr
ganzes Leben verbracht hatte und die sie zu schü tzen, der sie zu dienen geschworen hatte
–, gab es nicht mehr.
Carlos, der Angie Ashford auf den Schultern trug, sagte: „Sie werden uns jagen.“
Jill griff in ihre Jackentasche. „Das wä re dann ihr Fehler.“
Im Gegensatz zum letzten Mal hatte Jill jetzt Beweise.
Sie wü rden es nicht mehr unter den Teppich kehren kö nnen.
- 244 -
„Hey, kö nnen wir jetzt abhauen?“, fragte L. J.
Jill sah zu ihm hin. Sie fragte sich, wie dieses Arschloch es geschafft hatte zu ü berleben,
wä hrend Peyton draufgegangen. L. J. war eine verdammte Kakerlake.
Aber bekanntermaßen waren gerade Kakerlaken auch Ü berlebenskü nstler.
„Ja, wir mü ssen weiter. Außerdem sind da ‘ne Menge toter Leute, fü r die jemand sprechen
muss. Peyton, Angies Dad, Captain Henderson, Morales.“
„Yuri“, sagte Carlos leise. „Nicholai. J. P. Jack. Sam.
Jessica.“
„Rashonda“, fü gte L. J. hinzu. „Dwayne.“
„Und Alice. Und sogar Nemesis.“
Angie ergriff das Wort. „Alice ist nicht tot.“
Jill und L. J. fuhren zu ihr herum. Sie saß auf Carlos’
Schultern. „Was?“
„Alice ist nicht tot.“
„Schä tzchen“, sagte Jill, „sie wurde aufgespießt. Ich glaube nicht…“
„Ich weiß, was du glaubst“, sagte Angie entschieden,
„aber ich weiß, dass sie nicht tot ist.“
Jill spü rte, wie ihr ein Schauer ü ber den Rü cken lief.
Zum Teil wegen der Vorstellung, dass Umbrella mit Alice Dinge angestellt haben mochte,
die dafü r sorgten, dass nicht einmal der Tod sie stoppen konnte.
Und zum Teil wegen des Gedankens, dass sie, wenn sie noch lebte, im Wrack des C89 war.
Was hieß, dass Umbrella sie finden wü rde.
- 245 -
Dreiunddreissig

„… unbestä tigte Meldungen ü ber eine Katastrophe in Raccoon City…“


„… gerade erreichten uns diese schockierenden Bilder von Toten, die durch die Straßen
laufen…“
„… sieht es aus, als wü rde eine mysteriö se Seuche oder ein Virusausbruch grassieren…“
„… ä hnlich wie der SARS-Ausbruch in Zentralasien und Kanada scheint sich eine Art Seuche
in der Stadt ausgebreitet zu haben…“
„… ist die Umbrella Corporation in den Tod unschuldiger Bü rger verwickelt, die versuchten
ü ber die Ravens’ Gate Bridge aus der Stadt zu entkommen. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht bekannt, warum Umbrella und nicht etwa eine Regierungsbehö rde die
Ü berprü fung der Flü chtlinge vornahm und warum man auf diese Leute schoss. Vereinzelt
wird schon die Frage gestellt, warum Umbrella ü berhaupt einen bewaffneten
Sicherheitsdienst beschä ftigt, mehrheitlich jedoch ist man der Ansicht, dass Fragen wie
diese in Anbetracht der weiteren Folgen momentan kaum von Bedeutung sind…“
„… die Aufnahmen stammen offenbar von Terri Morales, der frü heren
Nachrichtenmoderatorin von Raccoon 7, die
vor
einigen
Monaten
in
die
meteorologische Abteilung des Senders versetzt wurde.
Das Filmmaterial erzä hlt eine grausige Geschichte…“
„…
neue
Beweise,
die
frü here
Berichte
als
geschmacklose Scherze zu entlarven scheinen…“
„… das gefä lschte Videoband ist nun vollends unglaubwü rdig. Die Frau, die diese
Aufnahmen gemacht hat, Terri Morales, wurde von ihrer Position als
Nachrichtenmoderatorin von Raccoon 7 abberufen, als
- 246 -
sie gefä lschtes Filmmaterial ü ber einen Stadtrat sendete, und es scheint, als habe sie diese
Neigung nicht verloren…“
„… nichts weiter als ein aufwä ndiger Schwindel, der sich die sehr reale Tragö die zunutze
machte, die vor einigen Tagen ü ber Raccoon City hereinbrach…“
„… der Reaktor des Kernkraftwerks explodierte am frü hen Morgen…“
„… die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl im Jahr 1986…“
„…. Mitarbeiter der Umbrella Corporation vor Ort, um im Angesicht der furchtbaren
menschlichen Katastrophe humanitä re Hilfe zu leisten, obwohl der Konzern selbst große
Verluste
erlitt.
Umbrella
verlor
seine
Konzernzentrale in Raccoon City sowie fast tausend Angestellte…“
„… Gouverneur dankte der Umbrella Corporation fü r ihre schnelle Unterstü tzung des FBI,
der National Guard und des Zentrums fü r Seuchenkontrolle…“
„…. mö chte sich dieser Sender entschuldigen fü r das Leid und die Sorge, die
mö glicherweise durch frü here Falschmeldungen ü ber einen Virusausbruch verursacht
wurden…“
„… einem Sprecher der Umbrella Corporation zufolge befand sich Terri Morales in Raccoon
City, als das Unglü ck geschah. Doch die Drahtzieher des Schwindels, Jill Valentine und
Carlos Olivera, werden jetzt vom FBI gesucht. Valentine war Officer beim Raccoon City
Police Department, genau genommen gehö rte sie bis zu ihrer Suspendierung zur Special
Tactics and Rescue Squad, kurz S.T.A.R.S. genannt. Einzelheiten des Verdachtes gegen
Valentine sind nicht bekannt, aber eine Quelle innerhalb der Umbrella Corporation wies
darauf hin, dass ein Zusammenhang mit einem ä hnlichen Fall bestehe, der sich ebenfalls als
Schwindel herausstellte.
Olivera ist ein ehemaliger Umbrella-Mitarbeiter, der kurz
- 247 -
vor dem Unfall entlassen wurde. Zuletzt wurde er in einer Blockhü tte im Wald gesichtet. Es
ist mö glich, dass er
aus
Wut
auf
Umbrella
mit
Valentine
zusammenarbeitete, um die Firma in Verruf zu bringen, wobei Morales das ahnungslose
Opfer beider wurde…“
- 248 -
Vierunddreissig

Sie erwachte nackt und mit dem Gefü hl, dass dies schon einmal passiert war.
Sie konnte sich nur nicht erinnern, wann oder wie oder warum.
Und auch nicht daran, wer sie war.
Sie befand sich in einer Rö hre – das immerhin war ihr klar. Und dass sie vö llig durchnä sst
war.
Irgendetwas war auf ihrem Gesicht, und was es auch sein mochte, es ermö glichte ihr, unter
Wasser zu atmen.
Eine Anzahl von Schlä uchen waren mit ihrem Kö rper verbunden. Sie fragte sich, ob diese
Schlä uche sie mit Nahrung versorgten.
Die aufrecht stehende Rö hre, in der sie steckte, stand in einer Art Laboratorium.
Zwei Personen sprachen miteinander, ein Mann und eine Frau. Sie waren unter den
Dutzenden von Leuten in dem Labor und die Einzigen, deren Worte verstä ndlich waren. Sie
erkannte keinen von beiden, hatte aber das Gefü hl, sie kennen zu sollen. Sie trugen weiße
Kleidung.
Sie verstand nicht, wie sie so viel wissen konnte – zum Beispiel, wie ein Labor aussah – und
sich gleichzeitig nicht an mehr erinnerte. An ihren Namen etwa.
Die Frau sagte zu dem Mann: „Sie nimmt kaum Nä hrstoffe aus dem System an. Die
Regeneration scheint fast spontan zu erfolgen. Es ist, als sauge sie Kraft aus der blanken
Luft.“
Sie hatte keine Ahnung, was diese Worte bedeuteten.
Bis auf „blanke Luft“, von der sie, wie sie annahm, abgeschnitten war, da sie ja von Wasser
umschlossen war.
Der Mann blickte sie an. „Kannst du mich hö ren?
Verstehst du, was ich sage?“
- 249 -
Das Ding auf ihrem Mund erlaubte es ihr zu atmen, verwehrte aber das Sprechen. Sie
entsann sich, dass Nicken in einer solchen Situation funktionierte, und so tat sie es.
„Gut.“ Der Mann wandte sich an einen der anderen, die sich im Labor aufhielten. „Beginnen
Sie mit dem Lä uterungsprozess.“
Sie hö rte ein seltsames Gerä usch. Wenig spä ter war das Wasser bis unter ihren Kopf
abgesunken – dann unter ihren Hals, ihre Brust und so weiter, bis die Rö hre leer war. Ein
paar Sekunden lang wurde sie von einem Strom heißer Luft getroffen, der sie trocknete.
Dann ö ffnete sich die Rö hre, und jemand entfernte die Schlä uche und das Ding um ihren
Mund.
Jetzt konnte sie sich ungehindert bewegen. Sie erkundete den Raum, nahm die Bilder,
Gerä usche, Strukturen in sich auf – die unterschiedlichen Farben der Mö belstü cke und
Kleidungen der Leute, das Summen verschiedener Gerä tschaften, die Kä lte des Bodens
unter ihren nackten Fü ßen.
„Ihre Genesung ist bemerkenswert.“ Eine der Gestalten in Weiß sprach ü ber etwas –
wahrscheinlich ü ber sie.
„Die Regeneration ihrer Organe und des Gewebes ist schlicht phä nomenal. Und ihre Krä fte,
die kö rperlichen wie auch die geistigen, scheinen sich sprunghaft zu entwickeln. Das ist
mehr, als wir es uns je erhoffen konnten.“
Eine der weiß gekleideten Personen – nicht diejenige, die gerade sprach – saß da und
benutzte eine Art Stö ckchen auf einem Blatt Papier. Wiederum eine andere – diejenige, der
die Verantwortung fü r alles zu obliegen schien – fragte: „Weißt du, was das ist?“
Sie starrte das Ding nur an – sie hatte keine Ahnung.
Der Mann, der offenkundig die Verantwortung trug, nahm es dem anderen ab und begann,
dessen Bewegungen nachzuahmen. „Stift. Siehst du?“
- 250 -
Er fasste ihre Hand, legte den Stock – oder den Stift eben – hinein und fü hrte sie ü ber das
Blatt Papier.
„Ein Stift“, wiederholte er.
Der Verantwortliche ließ ihre Hand los, und sie bewegte sie selbst. Sie konnte nicht viel
damit anfangen, und obwohl sie gerade erst herausgefunden hatte, was dieses Ding war,
erkannte sie doch, dass das, was sie damit tat, dumm aussah.
So dumm sogar, dass sie lä chelte.
„Ja, richtig“, lobte der Mann, das, was er als Fortschritt betrachtete, „ein Stift.“
Zum ersten Mal, seit man sie aus der Rö hre gelassen hatte, versuchte sie zu sprechen. „W…“
Der Laut kam krä chzend ü ber ihre Lippen. Sie versuchte es noch einmal.
„W-wo…“
Der Mann half ihr. „Wo du bist?“
Sie nickte.
„In Sicherheit. Erinnerst du dich an irgendetwas?
Erinnerst du dich an deinen Namen?“
Was war das?
„Dein Name?“, wiederholte er.
„Name?“
„Ja, genau.“
„Mein – Name – ist…“
Das Konzept rü hrte sich irgendwo tief in ihrem Kopf.
Sie ahnte, was ein Name war, sie war sich fast sicher…
aber es wollte nicht in ihr Bewusstsein rü cken.
Sie seufzte.
Der Verantwortliche wandte sich an die Anderen. „Ich mö chte, dass sie rund um die Uhr
beobachtet wird.
Sä mtliche Blut- und Chemotests – und eine Elektrolyt-Analyse. Und zwar bis heute Abend.“
Dann fiel es ihr plö tzlich ein.
„Was ist deine Geschichte? Hier wimmelt es von ehemaligen Gesetzeshü tern, die hier
landeten, weil’s
- 251 -
ü berall sonst zum Kotzen ist. Da muss es doch eine Geschichte dazu geben.“
„Beurteile nichts nach seinem Ä ußeren. Erste Regel der Sicherheitsabteilung.“
„Ich bin hier, weil ich auf die Dinge geachtet habe, die mich nerven. Ich behielt also einfach
dich im Auge. Dann bemerkte ich etwas.“
„Nachdem mir klar wurde, dass du und al-Rashan Kollegen und Freunde seid, passte auf
einmal alles zusammen. Du arbeitest fü r genau denselben Konzern, der fü r den Tod deines
Freundes verantwortlich war. Du zogst sogar aus der Stadt weg, in der du dein ganzes
bisheriges Leben verbrachtes – , ein Umzug, den du sechs Jahre zuvor noch abgelehnt
hattest. Sicher, es gab Umstä nde, die das alles erklä rten – aber nicht, warum du so
aggressiv versuchtest einen Blick auf Dinge zu werfen, fü r die du keine Befugnis hattest.“
„Es ist ein T- Virus, und du hast Recht, es ist ganz und gar unnatü rlich. Ob du es glaubst
oder nicht, es entstand durch
Forschungen,
deren
Ziel
es
war,
den
Alterungsprozess zu verzö gern – eine Salbe, die das Absterben von Hautzellen verhindern
sollte.“
„Ich kann dir helfen, das Virus zu bekommen. Ich habe Zugriff auf Sicherheitsplä ne,
Ü berwachungscodes und so weiter.“
„Hö r zu. Ich will wissen, wer ihr seid, und ich will wissen, was hier los ist. Und zwar sofort.“
„Kaplan, du musst dich beeilen, du musst ihnen helfen!“
„Mein Gott, Kaplan, irgendetwas bringt sie da drinnen um!“
„Du bist kein Cop, oder?“
„Dieses mö rderische Miststü ck ist womö glich unser einziger Weg hier raus.“
„Rain? Rain! Wir mü ssen deine Wunden versorgen.“
„Kaplan – halt durch! Wir kommen dich holen. Wir
- 252 -
mü ssen dieses Kabel durchschneiden, dann kö nnen wir es ihm zuwerfen. Und dann kö nnen
wir zu ihm und ihn holen. Halt durch!“
„Blau fü r Virus, grü n fü r Antivirus. Das ist mal ein Heilmittel.“
„Ich war die Verbindungsperson deiner Schwester.“
„Dachtest du, so wü rden all meine Trä ume wahr werden?“
„Ich weiß nicht, was mit uns war, aber es ist vorbei.“
„Das Antivirus ist da auf der Plattform – es ist genau dort!“
„Rain, bitte, steh auf.“
„Ich vermiss dich jetzt schon.“
„Hey – hier stirbt niemand mehr.“
„Ich kö nnte dich kü ssen, du Miststü ck.“
„Ich hab versagt. Ich hab sie im Stich gelassen. Ich hab sie alle im Stich gelassen.“
„Du bist infiziert. Aber du kommst wieder in Ordnung –
ich werde dich nicht verlieren.“
„Ich heiße Alice. Hier drin ist es nicht sicher. Das Feuer wird sich ausbreiten.“
„Sie jagen in Rudeln. Wenn noch mehr hier wä ren, hä tten wir sie inzwischen schon
gesehen.“
„Ich habe fü r sie gearbeitet – bis mir klar wurde, dass ich auf dem falschen Weg war.“
„Es ist nichts Persö nliches. Aber in einer, vielleicht in zwei Stunden werden Sie tot sein.
Und ein paar Minuten spä ter werden Sie einer von denen sein. Sie werden zur Gefahr fü r
Ihre Freunde, werden versuchen sie umzubringen – und vielleicht wird es Ihnen gelingen.
Tut mir Leid, aber so ist das nun mal.“
„Umbrella. Die wollen nicht, dass draußen bekannt wird, was hier passiert.“
„Sie haben etwas mit mir gemacht.“
„Seine Tochter Angela sitzt in der Stadt fest. Wenn wir sie finden, hilft er uns, aus dieser
Falle zu entkommen.“
- 253 -
„Es wird keine Hilfe kommen. Laut Ashford weiß Umbrella, dass die Infektion nicht
aufzuhalten ist.
Deshalb wird Raccoon City bei Sonnenaufgang vollstä ndig desinfiziert.“
„Er ist tot. Du kannst ihm folgen – oder du kannst tun, was ich dir sage.“
„Sie ist infiziert. In hohem Maße.“
„Sie haben mich zu einem ihrer kleinen Monster gemacht!“
„Mein Name ist Alice Abernathy. Ich arbeitete fü r die Umbrella Corporation.“
„Ich blickte in die Hö lle, sah Dinge, die ich nicht beschreiben kann.“
„Ich bin ein Freak geworden.“
„Sir!“
Das war einer der Labortechniker – er hieß Cole, wie Alice sich jetzt erinnerte. Ihm war
etwas auf der Gehirnwellenanzeige aufgefallen, und er versuchte den verantwortlichen
Mann darauf aufmerksam zu machen.
Dr. Samuel Isaacs.
Der
Mann,
der
an
ihr
und
Matt
Addison
herumexperimentiert hatte, auf Geheiß von Major Timothy Cain – und alles zum Wohle der
Umbrella Corporation.
Isaacs schenkte jedoch weder Cole noch Alice Beachtung.
„Umfangreiche Reflextests sind eine weitere Prioritä t.
Ich mö chte, dass die elektrischen Impulse ü berwacht werden und…“
„Sir!“ Das war wieder Cole.
Isaacs fragte in gereiztem Tonfall: „Was ist denn?“
Sie gab ihm keine Chance zu antworten. „Mein Name ist Alice. Und ich erinnere mich an
alles.“
Isaacs wurde blass. Er gab einem der Wä chter, die an der Tü r standen, ein Zeichen, einem
jungen Mann namens Doyle.
- 254 -
Bevor er seine Handfeuerwaffe auch nur ziehen konnte, sprang Alice auf Doyle zu. Sie hielt
den Stift noch in der Hand und zielte damit auf sein Auge.
Starr vor Schrecken rü hrte Doyle sich nicht vom Fleck, dennoch stoppte Alice ihre Attacke
einen Millimeter vor der Hornhaut seines Auges. Der Treffer hä tte ihn getö tet, und Alice
war nicht daran interessiert, einen jungen Mann zu tö ten, der nur seine Arbeit verrichtete.
Außerdem erwartete seine Frau ein Baby, und es wä re ihr gegenü ber nicht fair gewesen.
Stattdessen schlug sie ihn bewusstlos.
Zwei Pfleger tauchten wie aus dem Nichts auf, um sie zu ü berwä ltigen.
Alice ü berwä ltigte sie – in zweieinhalb Sekunden.
Dann packte sie Isaacs’ Arm.
Ihn wollte sie tö ten. Aber, nein, das war auch nicht fair
– denn wenn er starb, dann wü rde er nicht einmal ansatzweise fü r das bü ßen, was er ihr
angetan hatte.
So brach sie ihm stattdessen den Arm. Er sollte den Schmerz eine Weile spü ren. Das war
zumindest ein Anfang, um die Qualen wettzumachen, den sie durch ihn und Cain erlitten
hatte.
Dann warf sie ihn mit dem Kopf voran in den Tank, in dem sie festgehalten worden war.
Ein Taser-Pfeil bohrte sich in ihr nacktes Fleisch und jagte Tausende Volt durch ihren
Kö rper.
Sie lachte. Es kitzelte.
Sie hatten zu gute Arbeit an ihr geleistet. So gut, dass sie nun nicht in der Lage waren, sie
aufzuhalten.
Sie zog den Taser-Pfeil heraus und schleuderte ihn zurü ck auf den Wä chter, der ihn
abgefeuert hatte.
Er lachte nicht. Ihn kitzelte er nicht – der Pfeil schickte den Mann zu Boden, wo er reglos
liegen blieb.
Die anderen Techniker, Pfleger und Wissenschaftler flü chteten aus dem Labor.
Sie waren klug.
- 255 -
Alice wusste – sie war nicht sicher, wie, aber sie wusste es –, dass ein Stü ck weit den
Korridor hinunter ein Wä chter namens Daellanbach sie auf einem Ü berwachungsmonitor
beobachtete
und
in
einen
Telefonhö rer brü llte.
„Hier ist die Zentrale! Brauchen dringend maximale Verstä rkung. Das Nemesis-Experiment
spielt verrü ckt –
wiederhole, das Nemesis-Exp…“
Alice wollte, dass er aufhö rte zu reden.
Und so hö rte er auf, fiel zu Boden, Blut lief ihm aus der Nase, und er brü llte auf, als sich
etwas durch sein Denken frä ste.
Ohne auf irgendwelchen Widerstand zu stoßen, verließ sie das Labor und ging zum
Vordereingang. Sie befand sich im Umbrella-Hauptquartier in San Francisco, wo sich der
Konzern nach dem Raccoon-City-Desaster niedergelassen hatte, wie Alice inzwischen
wusste.
Sie wusste außerdem, dass draußen auf einem Parkplatz ein paar Freunde auf sie warteten.
Sie spü rte die Gegenwart eines dieser Freunde.
Angie Ashford.
Sie war bei Carlos und Jill geblieben, die jetzt Flü chtige waren und das Risiko auf sich
genommen hatten, hier aufzukreuzen, weil Angie wusste, dass Alice heute hier sein wü rde.
Und tatsä chlich stand ein Gelä ndewagen genau dort, wo sie ihn vorzufinden erwartet hatte.
Carlos saß am Steuer, Jill und Angie kauerten auf dem Rü cksitz.
„Wo hast du denn gesteckt?“, fragte Jill grinsend. „Wir warten schon die ganze Nacht.“
„Es war ziemlich riskant, hierher zu kommen“, sagte Alice, als sie neben Carlos auf dem
Beifahrersitz Platz nahm.
„Wir leben gerne gefä hrlich“, erwiderte Carlos. „Angie sagte, dass du hier sein wü rdest, also
sind wir gekommen. Du bist uns das Risiko wert.“
- 256 -
„Vorausgesetzt“, ergä nzte Jill, „dass du immer noch all diese Zaubertricks drauf hast, die du
in Raccoon City abgezogen hast.“
„Ich hab sogar noch ein paar dazugelernt“, sagte Alice leise.
Umbrella hatte geglaubt, es sei vorbei, als die Katastrophe von Raccoon City vertuscht
werden konnte.
Das war ein Irrtum.
Vor einer Ewigkeit, in einem anderen Leben, war Alice an Lisa Broward herangetreten, um
mit ihrer Hilfe die Existenz des T-Virus publik zu machen, in der Hoffnung, die Umbrella
Corporation in Misskredit zu bringen und den Konzern so zu zwingen, fü r seine illegalen,
unmoralischen Aktivitä ten gerade zu stehen.
Jetzt war Lisa tot, Raccoon City war vernichtet, und Umbrella machte munter weiter und
galt in aller Welt als wohltä tiges Unternehmen.
Alices Entschlossenheit, das zu ä ndern, hatte nur noch zugenommen.
Und die Mittel, mit denen sie es tun wü rde, waren eben jene
enormen
Fä higkeiten,
die
Umbrellas
Wissenschaftler ihr verliehen hatten.
Fü r die Umbrella Corporation hatte der Alptraum somit gerade erst begonnen.

NICHT DAS ENDE…


- 257 -
DER AUTOR

Keith R. A. DeCandido wurde in der Bronx als Kind einer streunenden Horde von
Bibliothekaren geboren. Er ist der erfolgreiche Verfasser Dutzender Romane,
Kurzgeschichten, Comics, eBooks und Sachbü cher ü ber eine Vielzahl medialer Universen,
angefangen bei Star Trek und Doctor Who ü ber Farscape und Gene Rodenberry‘s
Andromeda bis hin zu Spider-Man, X-Men, Buffy the Vampire Slayer und Xena. Der
vorliegende Roman ist sein zweiter Ausflug in die Welt von Resident Evil, die Fortsetzung
zu Resident Evil: Genesis. Sein erster Originalroman wurde in den USA im Sommer 2004
verö ffentlicht, daneben arbeitet er momentan an mehreren
Star
Trek-Werken.
Weitere,
vö llig
uninteressante Details finden sich auf Keiths offizieller Homepage unter
www.DeCandido.net.
- 258 -

Das könnte Ihnen auch gefallen