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Sendung vom 10.04.2001

Professor Dr. Carsten Peter Thiede


Theologe und Historiker
im Gespräch mit Dr. Ernst Emrich

Emrich: Grüß Gott, verehrte Zuschauer, ich begrüße Sie zum Alpha-Forum. Unser
Gast ist heute Professor Carsten Peter Tiede, Theologe und Historiker. Herr
Professor Tiede, ich freue mich, dass wir Sie für unsere Sendung gewinnen
konnten, denn bisher kenne zumindest ich Sie nur von Ihren Büchern.
Historiker und Theologe: Das klingt nicht nach dem Populärsten, das sich
Büchermacher so vorstellen können. Wenn man sich die Bücher ansieht,
die Sie geschrieben haben – ich habe zwei davon hier in greifbarer Nähe
liegen, eines heißt "Ein Fisch für den römischen Kaiser" und das andere
"Geheimakte Petrus" –, dann merkt man, dass Sie sich mit dem Neuen
Testament auseinander setzen, mit der ganz jungen Kirche unmittelbar
nach dem Tod und der Auferstehung Jesu und nach dem Fall Jerusalems.
Es entstehen dabei Bücher, die zunächst einmal wissenschaftlich
aussehen, aber dann doch von Verlagen übernommen werden, die auf ein
breiteres Publikum zielen, wie Bastei-Lübbe, Ullstein, Kreuz Verlag usw.
Wie kommt man zu einem solchen Thema und wie kann man ein solches
Thema so interessant darstellen? Für welche Menschen machen Sie diese
Bücher?
Tiede: Zunächst einmal sind das ja ungemein spannende Themen: Ein guter
Freund von mir hat einmal gesagt, dass das ein Thema sei, für das seit
2000 Jahren kostenlos Reklame gemacht wird. Das ganze Abendland ist
wissentlich oder unwissentlich davon geprägt, dass es eine jüdisch-
christliche Geschichte gab und gibt. Diese Bücher befassen sich bewusst
von einer Warte aus, die populär und verständlich sein will, mit den
wissenschaftlichen Ergebnissen, die in den letzten Jahrhunderten und
Jahrtausenden zusammengetragen worden sind.
Emrich: Aber Sie sind nicht Neutestamentler in dem Sinne, dass Sie sagen würden,
Ihr Gebiet seien alle Schriften des Neuen Testaments und deren
Interpretation und Auslegung. Stattdessen begleiten Sie die Bibel des
Neuen Testaments mit vergleichenden Forschungen im Bereich der
übrigen Historie jener Zeit. Ist das richtig formuliert?
Tiede: Meine akademische Herkunft ist die Alte Geschichte und die vergleichende
Literaturwissenschaft, also das Studium der Quellen, wenn man so will, von
den Anfängen bis zur Gegenwart. Da spielt die Theologie zunächst einmal
noch überhaupt keine Rolle. Es geht dabei zu wie auf anderen Gebieten
auch: Ob man nun nach Cäsar oder nach Jesus forscht, macht für den
Althistoriker keinen Unterschied. Das ist gleichwertig, wenn es zunächst
einmal darum geht, was unsere Quellen sind: Was wissen wir heute noch?
Wie nahe kommen wir an die Ereignisse von damals heran? Wie
zuverlässig ist unser Wissen dabei?
Emrich: Wie kommt man als Historiker in einen solchen Bereich hinein? Gab es da
eine Brücke, eine Brücke zwischen dem Historiker und dem Theologen?
Tiede: Mein eigener Einstieg war die persönliche Neugierde, als ich während
meines Studiums der antiken Geschichte feststellte, dass es hier eine
Epoche von ungefähr 400 Jahren gibt – von 100 v. Chr. bis ungefähr 300 n.
Chr. –, die eben nicht nur von Historikern, sondern auch von Theologen und
Bibelwissenschaftlern behandelt wird und wo die Meinungen sehr weit
auseinander gehen darüber, was wir eigentlich wissen und sagen können.
Da wurde ich eben als Historiker selbst so neugierig, dass ich mich speziell
damit befassen wollte und dieses Gebiet dann auch als mein Spezialgebiet
aufnahm.
Emrich: Wenn man von diesem Spezialgebiet aus noch einmal einen Schritt
rückwärts geht und sich vergegenwärtigt, was in Ihrer Vita alles aufgezählt
ist, welche Studien sie betrieben haben, wo sie überall Deutsch, Englisch,
Literatur, vergleichende Literaturwissenschaften, mittellateinische Philologie
und Geschichte studiert haben, dann tauchen da Stationen auf wie Oxford,
Wissenschaftstheorie, Professur in Basel, Ausgrabungen in Israel. Da
taucht aber auch das Stichwort Papyrologie auf: Können Sie mir sagen,
was ein Papyrologe ist? Das hat vermutlich mit dem Papyrus zu tun.
Tiede: Genauso ist es. Papyrologie ist ein Sammelbegriff: Das ist eine der vielen
Wissenschaften, die Teil der Altertumswissenschaften sind. Alles das, was
Sie soeben aufgezählt haben, gehört irgendwie zu Altertumswissenschaften
im weitesten Sinne. Die Papyrologie ist diejenige Disziplin, die sich mit den
noch erhaltenen Schriften befasst: auf Papyrus, also einem
Beschreibmaterial aus einer Pflanze, eben der Papyrus-Staude, aber auch
auf Leder, Pergament, Holz, Tonscherben usw.
Emrich: Die Wissenschaftlichkeit dabei ist das handwerkliche Verfahren, wie man
diese Dinge entziffert, wie man sie erhalten kann. Was macht man denn
noch mit solchen Resten, wenn man sie findet?
Tiede: Zuerst einmal muss man sie finden. Hier kommt also der Archäologe zu
seinem Recht, denn man muss sie in der Tat erst einmal finden. Danach
kommt dann der Papyrologe, der sie wieder sichtbar macht, denn häufig
sind sie in einem sehr schlechten Erhaltungszustand: verblasst, beschädigt
oder fragmentarisch, also zerrissen oder zerfallen. Man muss sie also
zuerst einmal mit neuen Techniken wieder sichtbar machen. Ich selbst habe
mit einem Kollegen extra dafür ein eigenes Mikroskopierverfahren
entwickelt: Das ist eine besondere Form der konfokalen
Laserrastermikroskopie, mit der man bis zu 90 Schichten eines Papyrus
durchdringen kann.
Emrich: Eines einzigen Blattes?
Tiede: Ja, eines einzigen Blattes: Das sind Mikrometer, um die es sich dabei
handelt. Man kann also diese einzelnen Mikrometerschichten separat
darstellen oder dreidimensional bündeln und sie dann mit einer 3-D-Brille
lesen. Dadurch entgeht einem dann wirklich nichts mehr: Man kann da
nämlich durch Dreck durch Schmutz, durch verschwundene Tinte hindurch
noch die Abdruckspuren des Griffels, des Schreibgeräts messen und auf
diese Weise Buchstabe für Buchstabe rekonstruieren. Auch diese neueste
Anwendungstechnik gehört also zur Papyrologie. Es geht zunächst um das
Wieder-lesbar-Machen. Dann, zum Schluss, kommt das vielleicht
Wichtigste für den normalen Benutzer: Man will dann nämlich auch
verstehen, was auf diesem Schriftstück steht. Was ist das für ein Text? Wer
hat ihn geschrieben? Wann ist er geschrieben worden und worum geht es?
Wie kann man das verloren Gegangene wiederherstellen?
Emrich: Es geht also auch um die Frage der Datierung.
Tiede: Ja, die Frage, wann ein Schriftstück zu datieren ist, ist eine häufig sehr
umstrittene Frage. Ich gehöre zu den Wissenschaftlern, die wie viele andere
Altertumswissenschaftler auch gerne so nahe wie möglich an die Quellen
herankommen wollen. Ich vertrete also die Auffassung, dass man so nahe
wie möglich an die erhaltenen Quellen heran muss und mit den Quellen an
die Ereignisse. Das würden die meisten Altertumswissenschaftler auch so
sehen – vermutlich aber nicht alle Theologen. Die Nähe suchen ist also ein
wissenschaftliches Gebot. Dazu gehört selbstverständlich auch die
Datierung: Wie nah kann ich an den Text mit dem Fragment, mit dem
Papyrus wieder herankommen?
Emrich: Ich erwähne nun noch ein Stichwort, das vielen Zuschauern bekannt sein
dürfte: Sie haben sich offenbar verdient gemacht auf dem Gebiet der
Schadensforschung, also bei der genauen Untersuchung über die
Zustände der Papyri von Qumran. Qumran ist dieser Ort, in dem vor einigen
Jahrzehnten diese berühmten Funde gemacht worden sind und über den
viel geschrieben worden ist. Darüber ist vermutlich auch viel Unsinn
geschrieben worden, wie Sie sicherlich bestätigen können: Was da
angeblich alles an Geheimnissen aufgedeckt worden sei! Jedenfalls sind in
Qumran ganz frühe Schriften des Neuen Testaments gefunden worden:
Schriften, die älter sind als die davor bekannten.
Tiede: Man hat – und tut das auch heute noch – leidenschaftlich darüber debattiert,
um welche Art von Texten es sich bei den Texten von Qumran überhaupt
handelt. Man hatte dabei lange nicht im Blick, dass das frühe Christentum in
seiner Anfangszeit doch eine jüdische Bewegung gewesen ist: messianisch
und auch endzeitlich orientiert, also eschatologisch orientiert, wie man so
schön sagt. Die Debatte um den wahren Messias - war es Jesus oder
müssen wir noch warten? – war eine innerjüdische Debatte. So hat man
auch solche Schriften - etwa einen Markus – bei den Essenern in Qumran
in dieser großen Studienbibliothek gelesen. Man wollte eben wissen, was
die Rivalen denken. Das war also ein ganz normaler Ort innerjüdischer
Debatte. Es gab damals vor dem Jahr 68 n. Chr., also bevor Qumran
erobert und zerstört worden ist, ja noch kein neues Testament. In diesem
Sinne müssen wir also vorsichtig sein und sollten daher noch nicht von
christlichen oder neutestamentlichen Schriften, sondern von jüdischen,
messianischen Schriften über Jesus von Nazareth sprechen, die ein Teil
einer innerjüdischen Debatte waren. Das ist die eine Seite. Die andere Seite
ist: Wenn wir nicht aufpassen, dann ist jedoch von all diesen schönen
Fragmenten, also von der großen Jesaja-Rolle und den vielen anderen
Texten, die jeder mal irgendwo irgendwie gesehen hat, bald nichts mehr da,
weil – und das war das, was Sie soeben angesprochen haben – es an
diesen Schriften organische Schäden gibt: Pilzsporen, Spinneneier usw.
Das sind also Schäden, die noch aus der Antike stammen, aber das sind
auch Schäden, die aufgrund von neueren Behandlungsfehlern und -
irrtümern aufgetreten sind. Wir haben nun mit diesem
Mikroskopierverfahren der konfokalen Laserrastermikroskopie eine Technik,
mit der wir sie nicht nur finden können, sondern auch beschreiben können,
ob diese Schäden noch aktiv sind oder schon kollabiert, also sozusagen
schlafend sind. Wir können aber auch angeben, wie man sie ein für alle Mal
loswird. Und das ist nun eine ganz spannende Geschichte.
Emrich: Es kann ja sein, dass sich da Dinge über zwei Jahrtausende erhalten
haben, aber durch falsche Behandlung oder durch unser Unwissen doch in
wenigen Jahrzehnten verloren gingen.
Tiede: Es gibt herrliche Photos aus der Frühzeit der Entdeckung von Qumran.
1947 bis 1956 waren die entscheidenden Jahre: Da sieht man
Wissenschaftler, wie sie die Fragmente auf langen Tischen sortieren – mit
glühenden Zigaretten in der Hand und Kaffeetassen, die sie neben sich
stehen haben. Das sind authentische Bilder aus dieser Zeit. Man hat diese
Fragmente auch nicht mit Handschuhen angefasst, sondern mit bloßen
Fingern: Da ist natürlich Schweiß mit dabei gewesen. Die ganzen
organischen Schäden, die wir heute auf diesen Fragmenten finden,
stammen meistens von Menschen aus der Zeit nach der
Wiederentdeckung. Die meisten Schäden stammen also aus dem 20.
Jahrhundert und nur die wenigsten aus der Antike. Ja, und das muss man
eben reparieren.
Emrich: Sie haben vorhin etwas erwähnt, das ich gerne hinterfragen würde, weil ich
es nicht ganz verstanden habe. Dass der Jesaja-Text zum Alten
Testament, zur hebräischen Bibel gehört, ist klar. Sie sagten aber auch,
dass dort in Qumran noch nichts gefunden worden ist aus Texten des
Neuen Testaments in seiner heute vorliegenden Fassung. Habe ich Sie da
richtig verstanden? Gab es Vorläufertexte, möglicherweise sogar
Quellenmaterial, aus denen die Evangelisten geschöpft haben?
Tiede: Das, was wir heute Neues Testament nennen, also diese 27 Schriften, ist
sicherlich zuerst einmal von Juden für Juden verfasst worden: Dabei ging es
um die Frage, wie man anderen Juden Jesus als den von allen erwarteten
Messias nahe bringen kann. In einer zweiten Etappe erst ging das dann
über das Judentum hinaus. Das Jahr 68 n. Chr. ist das Enddatum von
Qumran, denn da wurde es von den Römern erobert. Dies wiederum
bedeutet, dass nichts von dem in Qumran Gefundenen jünger, also später
geschrieben sein kann. Wenn wir also dort ein Fragment des Markus-
Evangeliums finden – was ich und viele Kollegen von mir als richtig
identifiziert halten –, dann ist dabei der Begriff "Evangelium"
missverständlich. Der Begriff "Neues Testament" wäre ebenso
missverständlich. Der Begriff des Christentums wäre aber auch
missverständlich, denn ein etabliertes Christentum, eine Kirche hat es
damals noch nicht gegeben. Es gab damals also noch kein gesammeltes
Neues Testament. Das, was wir also in Qumran gefunden haben, ist
sicherlich bereits der Text des Markus, wie wir ihn auch heute noch im
Neuen Testament wiederfinden: Dieser Text figurierte jedoch eben nicht
unter dieser Bezeichnung, denn das war damals noch eine innerjüdische
Literatur, eine innerjüdische Debatte. Wenn man einmal klargestellt hat,
dass es hier also nicht um einen Fremdeinfluss geht, dass es sozusagen
kein Überrollen von Qumran und des Judentums durch das Christentum
gibt, dann wird die Sache schon klarer. Denn ein solches Überrollen hat es
nie gegeben.
Emrich: Das war vielmehr etwas, das herausgewachsen ist aus der jüdischen
Religion und Glaubenstradition.
Tiede: Ja. Das muss man mal klarstellen und dann ist man schon einen großen
Schritt weiter.
Emrich: Sie haben etwas klargestellt, was mich außerordentlich überrascht hat. In
dem Buch, das ich vorhin gezeigt habe, in dem Buch "Geheimakte Petrus"
also haben Sie möglicherweise mit Blick auf Ihren zweiten Vornamen den
Petrus genauer unter die Lupe genommen und dabei ein Bild von Petrus
gezeichnet, das mein eigenes bisheriges Bild von Petrus quasi auf den Kopf
gestellt hat. Petrus ist bei uns üblicherweise dargestellt mit einem
freundlichen Bart, der schwer an den Nikolaus erinnert. Er wird darüber
hinaus als sehr impulsiv dargestellt: Alles, was er macht, macht er gleich mit
Anlauf. In seinen Reaktionen gilt er als sehr sanguinisch und gleichzeitig gilt
er auch als ein wenig naiv. Zu diesem Bild gehört auch, dass er derjenige
ist, der Jesus in dieser Nacht vor dem Karfreitag dreimal verraten hat.
Trotzdem ist er dann später der erste Papst geworden. Man hatte also
bisher von diesem Mann keine eindeutige Vorstellung außer vielleicht
derjenigen, dass er möglicherweise eine leicht merkwürdige Type war – bei
aller Ehrfurcht und bei allem Respekt. Da kommen nun Sie daher und
sagen: Das war alles ganz anders. Was war denn nach Ihrer Meinung so
anders?
Tiede: Es ist sicher so, dass Petrus – zumindest ist das meine Auffassung und
deswegen habe ich dieses Buch ja auch geschrieben – eine der
schillerndsten Persönlichkeiten der neutestamentlichen Zeit ist. Er steht
immer im Schatten des Paulus und das hat sicherlich auch seine guten
Gründe: Aber Paulus war gemessen an Petrus eine extrem gradlinige
Figur. Paulus war zuerst ganz der Verfolger der Christen und dann ganz der
Apostel: Jedesmal macht er das mit dem gesamten Einsatz seiner
Persönlichkeit und Kraft. Manchmal will er auch mit dem Kopf durch die
Wand, aber er ist dabei jedenfalls immer gradlinig. Petrus ist daran
gemessen eine gespaltene, eine zerrissene Persönlichkeit, die den eigenen
Weg finden muss, die reifen muss, die wachsen muss, die immer wieder
zurückfällt und die dabei vor allem persönlichen Mut hat. Aber selbst an
diesem Mut scheitert Petrus zuweilen: Er wird hochgehoben, fällt - und
macht trotzdem weiter.
Emrich: Das wäre ja sympathisch. Das würde mir die Person Petrus sehr
sympathisch machen. Darin könnte sich heutzutage auch mancher Christ
wiederfinden. Aber dass er kein dahergelaufener dummer Fischer war,
sondern möglicherweise ein mittelständischer Unternehmer und dass er
möglicherweise nicht nur Aramäisch gesprochen hat, sondern auch noch
andere Sprachen beherrscht hat, hat mich doch überrascht.
Tiede: Ich nehme Petrus als ein herausragendes Beispiel dafür, was wir heute
über den Jünger-Kreis und überhaupt über Juden aus dieser Zeit, auch
wenn sie nicht Jünger von Jesus waren, zusammentragen können. Sie
lebten mehrsprachig in einem Gebiet Galileas, das von griechischer Kultur
ebenso durchdrungen war wie von jüdischer. Sie hatten internationale
Kontakte, weil sie an der größten Handelsstraße des östlichen Römischen
Reiches lebten. Sie hatten Erfahrungen mit fremden Menschen und
Kulturen, die dann in das Handeln des Petrus und der anderen auch
einflossen. Ich habe mir auch die Frage gestellt – ohne sie in allen Details
beantworten zu können –, warum sich Jesus nun gerade für Petrus und
diese anderen Jünger entschieden hat und ob es dafür nicht doch auch
Gründe gegeben hat. Vielleicht werden wir das nicht in allen Fällen genau
erfahren können, aber wir sollten doch genau nachschauen: Wir sollten
versuchen herauszufinden, was wir über diese Zeit und diese Menschen
wissen können. Das macht den Petrus eben auch so aufregend: Er wird für
uns wieder erkennbar als ein Repräsentant des gewerbetreibenden,
erfolgreichen und zugleich gebildeten Judentums dieser Zeit.
Emrich: Dass dort am See Genezareth Griechisch gesprochen wurde, war nicht
jedermann vertraut. Sie nehmen also tatsächlich an, dass die Leute dort
zweisprachig waren. Ihrer Ansicht nach haben die Juden in der Synagoge
hebräisch und untereinander als eigenen Dialekt Aramäisch gesprochen.
"Eure Sprache verrät euch", heißt es ja in der Passionsgeschichte, als diese
Magd Petrus anspricht, weil die Galiläer doch so komisch sprechen. Und
daneben haben diese Leute dann auch noch Griechisch gesprochen Ihrer
Ansicht nach?
Tiede: Es ging gar nicht ohne Griechisch. Wer als Fischereiunternehmer in
Kapernaum oder vorher in Bethsaida tätig war, wollte seinen Fisch ja auch
verkaufen. Dieser Fisch wurde aber an der Handelsstraße verkauft. Die
Leute, die dort in beide Richtungen auf und ab zogen, kamen im wahrsten
Sinne des Wortes wirklich aus aller Welt. Die Verkehrs- und
Handelssprache war Griechisch.
Emrich: Mit lateinischen Einflüssen, wie ich annehme.
Tiede: Ja, das ist z. T. mit Latein vermischt. Die römischen Soldaten, die in
Kapernaum eine Garnison hatten, waren als Soldaten aus der Umgebung
eingezogen worden. Deren Sprache untereinander war Griechisch und nur
die Offiziere sprachen Latein. Man konnte also ohne fließende
Griechischkenntnisse gar nicht überleben: vor allem dann nicht, wenn man
einen Betrieb aufrechtzuerhalten zu hatte und Handel trieb. Die Kenntnis
des Griechischen ist darüber hinaus vor allem für diesen Teil Galileas
deswegen nachweisbar, weil wir wissen, dass der damalige Fürst dieser
Gegend, der Vierfürst oder Tetrach Philippus, ganz bewusst griechische
Einflüsse und griechische Kultur und Sprache in seinen Landesteil
hineingetragen hat: Er wollte, dass die Menschen das lernten, dass sie von
dieser Kultur erfuhren. Das reicht dann bis zu den Namen, die die Personen
erhalten. Der Bruder des Simon Petrus heißt Andreas: Das ist ein rein
griechischer Name. Ein anderer Jünger heißt Philippus, also der
Pferdefreund: Auch das ist ein rein griechischer Name. Auch Simon, der
eigentliche Name des Petrus, taucht als Name zuerst in Athen auf: im
fünften vorchristlichen Jahrhundert. Denn ein Freund des Sokrates hieß so:
Simon, der Schuhmacher. Dessen Laden in Athen ist ja von Archäologen
wieder ausgegraben worden. Man kann da also eine ganz eindeutige
Vernetzung zwischen dem Judentum und der griechischen Sprache und
Kultur feststellen: Das waren keine Gegensätze, sondern waren Dinge, die
damals Hand in Hand gingen.
Emrich: Von daher könnte man ja auch fast annehmen, dass da auf Seiten von
Jesus ein gewisser Weitblick vorhanden gewesen ist: Denn für die
Verbreitung dessen, was er der Welt mitteilen wollte - "Gehet hin in alle Welt
und lehret" – war es klug, jemanden zu nehmen, der sich auch jenseits
seiner engen Heimatgrenzen noch verständlich machen konnte, weil er
andere Sprachen sprechen konnte, weil er sich z. B. in Griechisch
ausdrücken konnte.
Tiede: Als Petrus auf seine ersten Reisen ging - über Galilea und dann, nach
Ostern, auch über Jerusalem hinaus, bis er zum Schluss bis nach Rom
kam –, war er sicherlich nicht hilflos. Er kannte Leute, traf vielleicht auch
alte Bekannte aus Handel und Wandel und konnte sich mit ihnen auch
unterhalten.
Emrich: Sie haben noch etwas anderes herausgearbeitet, zu dem ich gerne noch
ein paar Worte von Ihnen gehört hätte. Sie sprechen von dem geschickten
diplomatischen und gelegentlich auch strategischen Petrus. Das ist etwas
Neues für mich: Für mich war er immer ein impulsiver Mensch. Ich hätte
daher auch eher gedacht, dass er die Leute öfter mal vor den Kopf
gestoßen hat. Wenn ich jedoch Ihre Reflexionen über den Bericht von der
ersten Apostelversammlung, also vom ersten Apostelkonzil lese, dann stellt
sich das doch etwas anders dar. Musste denn da einer vermitteln können?
Tiede: Wahrscheinlich schon, denn die Meinungen und auch die Strategien gingen
doch sehr weit auseinander. Petrus hatte in der Phase nach Ostern und
dann speziell zu Pfingsten die Chance, das Vertrauen, das Jesus und auch
die anderen immer wieder in ihn gesetzt hatten, unter Beweis zu stellen. Er
wächst also an seiner Aufgabe. Ich halte Lukas, der uns ja in der
Apostelgeschichte darüber berichtet, für einen sehr zuverlässigen Historiker,
der nach dem Modell anderer antiker Geschichtsschreiber arbeitete: Bis
zum Beweis des Gegenteils ist er dort, wo man das überprüfen kann,
immer genau, exakt und zuverlässig. Wenn uns also Lukas solche Reden
wiedergibt, dann können wir auch davon ausgehen, dass wir hier einen
historischen Kern der Strategie des Petrus wiederentdecken. Petrus
versucht jedenfalls, möglichst viele Menschen mit ganz unterschiedlicher
Herkunft aus allen Teilen des Römischen Reiches so anzusprechen, dass
sie sich wirklich angesprochen fühlen, dass sie zumindest neugierig
werden. Er will sie nicht überrollen, wie das ja gelegentlich andere Apostel
und Missionare sehr wohl gemacht haben, wenn sie die Menschen vor
eindeutige Entscheidungen gestellt haben. Petrus vertrat keine solche
Holzhammer-Apostolizität. Stattdessen ging geschickt und manchmal
vielleicht auch etwas zu behutsam und diplomatisch auf die Menschen zu.
Er wartete ab, wie sie ganz langsam auf den Weg geführt werden, den er
für den richtigen hält. Das hat natürlich einem Paulus nicht immer gefallen
und so kam es dann eben auch zu Konflikten, über die offen berichtet wird.
Emrich: Da wurde offen gestritten.
Tiede: Ja.
Emrich: Wenn man das mit einem Beispiel illustriert: Da war ja auch einiges
auszugleichen, denn diejenigen, die aus dem Judentum kamen – alle
Apostel kamen ja aus dem Judentum –, fragten sich, ob denn die
Menschen, die Heiden, die zukünftig zu ihnen stoßen werden, erst einmal
Juden werden und sich beschneiden lassen müssen. Die andere
Möglichkeit war, dass sie Christen werden konnten, ohne zuerst den Weg
über das Judentum nehmen zu müssen. Da war Jakobus wohl einer von
denjenigen, die eher konservativ dachten, während in der Frage andere
etwas aufgeschlossener waren. Auch da hatte sozusagen der Vorsitzende
der Apostelkonferenz auszugleichen.
Tiede: Und er tat das dann ja auch. Er tat das meiner Meinung nach mit weit
gehendem Erfolg, wenn wir die Kirchengeschichte betrachten. Denn der
Kompromiss – wenn man ihn so nennen darf –, der damals geschlossen
wurde, dass ein großer Teil der jüdischen Gesetze, vor allem der
Reinheitsgesetze, also der Kaschudgesetze beibehalten werden muss,
wurde tatsächlich noch bis ins hohe Mittelalter auch in westlichen
christlichen Staaten praktiziert. König Alfred der Große hat in Großbritannien
sein Gesetzbuch mit einer umschriebenen Wiedergabe dieses
Kompromisses aus dem Apostelkonzil angefangen, also mit den Worten
von Petrus und Jakobus. Der damalige Kompromiss bedeutete also ein
Mindestmaß an Beibehaltung des jüdischen Wurzelgrundes: Und genau
das war eben bis ins hohe Mittelalter hinein vom Christentum nicht zu
trennen. Das war u. a. ein Werk des Petrus.
Emrich: Ich würde nun gerne einen Sprung machen und auf ein Buch zu sprechen
kommen, das einen ungeheuer interessanten Inhalt hat. Sie sind in diesem
Buch folgender Frage nachgegangen: In der katholischen Kirche gab es
früher einen Festtag namens "Kreuzauffindung". An diesem Tag feierte
man also, dass das Kreuz Jesu gefunden worden sei. Wer hat es
gefunden? Angeblich die so genannte Heilige Helena: Kaiserin und Mutter
Kaiser Konstantins. Was war nun der Anlass, dass Sie dieser Sache
zunächst einmal als Wissenschaftler nachgegangen sind und dann daraus
ein Buch gemacht haben? Das Buch hat den Titel "Das Jesusfragment.
Kaiserin Helena und die Suche nach dem Kreuz."
Tiede: Das war wieder die Neugierde, ein unbehandeltes bzw. lange
vernachlässigtes Thema zu bearbeiten, über das auch viel gespottet
worden ist: Einige Spötter sagen ja, dass Helena quasi die Erfinderin der
christlichen Archäologie und damit der Anfang vom Elend sei. Andere
hingegen sagen, dass dieses Fest auf Lateinisch ja "inventio crucis" heißt.
"Inventio" heißt aber eben auch Erfindung und nicht nur Auffindung. Daher
behaupten diese Leute, dass sich Helena das alles quasi erfunden hätte
bzw. dass die Geschichte folgendermaßen abgelaufen sei: Sie wäre nach
Jerusalem gekommen und wollte das Kreuz Jesu sehen. Weil sie die Mutter
des Kaisers Konstantin war, hat man natürlich auch prompt eines gefunden
und gesagt, dass dieses Kreuz das Kreuz Christi gewesen sei. Auf diese
Weise wird eben diese ganze Geschichte ebenfalls gerne abgetan. An
dieser Überlieferungsgeschichte ist jedoch zu viel dran, das den Historiker
neugierig macht. Es reizte mich dann, den anscheinend so sicheren
Überzeugungen, mit denen wir heute auch durch die geschichtliche
Landschaft laufen - "So kann das nicht gewesen sein!", "Wir wissen, dass
das damals überhaupt nicht so hätte sein können!" – etwas kritischer
gegenüberzutreten. Da stellt sich eben sehr schnell heraus, dass wir heute
über das, was Helena damals tatsächlich gemacht hat, was sie finden
konnte und was sie dann auch wirklich gefunden hat, mehr sagen können,
als man gemeinhin glaubt.
Emrich: Eine wichtige Rolle spielt dabei ein "Plakat", der so genannte "Titulus", also
der "Titel". Das ist das "Plakat", das wir heute noch bei allen
Kreuzdarstellungen lesen können: "I.N.R.I.", also "Iesus Nazarenus Rex
Iudaeorum". Damit wird derjenige bezeichnet, der da am Kreuz hängt. In
der Passionsgeschichte der verschiedenen Synoptiker steht ja auch drin,
was da am Kreuz gestanden habe, denn Pilatus habe in drei Sprachen
schreiben lassen, "Jesus von Nazareth, König der Juden": in Hebräisch, in
Griechisch und in Lateinisch, also in der Sprache der Besatzungsmacht.
Nun ist man der Meinung, dass die Kaiserin nicht nur das Kreuz gefunden
habe, sondern auch dieses Dokument, diesen Zettel, dieses Plakat, das
man über den Gekreuzigten ans Kreuz genagelt hatte. Besitzt das
irgendeine Form von Wahrscheinlichkeit?
Tiede: Das besitzt sehr viel mehr Wahrscheinlichkeit als die Frage, ob wir heute
noch echte Kreuzespartikel wiederfinden können. Denn diejenigen, die es
heute noch gibt, sind so klein, dass sie einer naturwissenschaftlichen
Analyse gar nicht mehr unterworfen werden können. Es gibt ja die These,
dass man aus den vielen Kreuzfragmenten, die überall aufbewahrt werden,
eine ganze römische Flotte oder doch zumindest einen Wald hätte machen
können. Diese Sache hat aber jemand mal wirklich ausgerechnet. Wenn
man die wirklich verehrten Kreuzespartikel weltweit zusammenfasst, dann
reichen sie noch nicht einmal aus, um ein Drittel des Stammes eines
römischen Kreuzes zusammenzustellen.
Emrich: Es sind also doch nicht gar so viele Teile.
Tiede: Ja, das sind winzig kleine Partikel, bei denen sichere Analysen heute nicht
mehr möglich sind. Man kann der Tradition also glauben, sie aber nicht
beweisen. Bei diesem Stück Holz, bei diesem so genannten Titulus, sieht
das aber ganz anders aus.
Emrich: Das darf man sich eben nicht als Stück Papier oder beschriftetes Leder
vorstellen: Das war beschriftetes Holz, also eine Holztafel, die mit Farbe
beschriftet worden war.
Tiede: Ja, eine Holztafel, die nach alter römischer Sitte geweißt bzw. getüncht
worden ist. Danach hat man dann ausgeschnittenen oder auch vertieften,
die eingekerbten Buchstaben mit roter oder manchmal auch schwarzer
Farbe ausgemalt, sodass der Kontrast zwischen diesen Farben einen
weithin sichtbaren Text ergab. Denn das war ja der Sinn der ganzen
Geschichte: Man hat diese Tafeln bei Gekreuzigten, bei Hingerichteten
angebracht, damit die Vorbeigehenden – Kreuzigungen wurden ja an
öffentlichen Stätten vorgenommen – sehen konnten: "Aha, der ist das und
deswegen ist er also hingerichtet worden." Man beabsichtigte also einen
Abschreckungseffekt und deswegen wollte man die Tafel möglichst gut
lesbar machen.
Emrich: Diese Tafel ist z. T. erhalten geblieben, wie Sie sagen.
Tiede: Ja, das ist erhalten geblieben. Es gibt die Überlieferungsgeschichte, die
freilich nur bis ins 4. Jahrhundert zurückführt, dass die Kaiserin Helena eben
bei ihrem Besuch in Jerusalem im Jahr 326 nicht nur das Kreuz, sondern
auch diese Inschrift wiedergefunden hat und sie dann in zwei Teile aufteilte.
Ein Teil verblieb in Jerusalem und der andere Teil wurde von ihr mit nach
Hause, also nach Rom genommen. Wir haben heute ja so ein heilig-
ehrfurchtsvolles Verhältnis gegenüber antiken Objekten, seien sie nun
religiös oder nicht: Man möchte möglichst viel bewahren und das dann auch
würdevoll und weihevoll für die Nachwelt in Museen erhalten. So hat man
damals aber keinesfalls gedacht. Man wollte im Gegenteil möglichst viele
Menschen daran teilhaben lassen. Wenn Helena Zeit und Lust dazu gehabt
hätte, dann hätte sie diese Holztafel vermutlich in noch mehr Teile
zerschnitten, damit es in jedem ihrer Reichsteile ein Stück von dieser Tafel
gäbe. Damals hatte man also diesen Dingen gegenüber ein ganz anderes
Denken. Ein Teil blieb also in Jerusalem und wird dort noch bis ins 7.
Jahrhundert von Pilgern beschrieben: Unter dem Persersturm ging dieses
Stück dann verloren. Der Teil in Rom jedoch, der von Helena in ihren Palast
mitgenommen worden war, blieb erhalten: u. a. auch deswegen, weil ihr
Palast nach ihrem Tod in eine Kirche umgebaut wurde. Das ist die heute
noch stehende Kirche "Santa Croce in Gerusalemme" .
Emrich: Die Kirche "Santa Croce" steht also sozusagen auf jenem Palast: Das ist
die übliche Form, in der der Schutt der Geschichte immer höher wächst, um
am Schluss heute sichtbaren Endpunkt zu finden. Ein berühmter Heiliger
der katholischen Kirche, Ambrosius, hat diesen Teil in Rom ebenfalls
gesehen.
Tiede: Ambrosius hat ihn gesehen und erwähnt ihn auch in seiner Totenrede auf
Kaiser Theodosius. Es gibt dann eine immer wiederkehrende punktuelle
Erwähnung in Dokumenten. Zum ersten Mal für eine breitere Öffentlichkeit
dargelegt wurde das im 11. Jahrhundert. Das ist insofern ein wichtiges
Datum, weil diese ganze Suche nach "Reliquien", bei der dann auch viel
Fragwürdiges auftauchte, eigentlich erst in der Folge des ersten
Kreuzzuges begann. Erst dort wurde es Mode, Reliquien mit nach Hause
zu nehmen. Wenn wir aber hier einen sicheren Nachweis haben für die
öffentliche Bekanntheit dieses Objekts lange vor dem Beginn des ersten
Kreuzzuges, können wir diese Phase der Fragwürdigkeit schon
ausschließen. Das ist für einen Historiker recht wichtig.
Emrich: Wir dürfen also nicht von vornherein sagen: "Ach, das ist nur eine von
diesen Reliquien. Das kennen wir doch, das ist doch alles Lug und Trug."
Abgesehen davon gibt es dazu auch noch folgende Überlegung. Ich selbst
habe gelegentlich mal darauf hingewiesen, dass verliebte Menschen recht
schnell ein Verhältnis zu Reliquien bekommen können, wenn sie sich
trennen müssen. Wenn ein junger Mann woanders arbeiten muss und
seine Freundin nur selten sehen kann, dann nimmt er etwas von ihr mit,
weil er etwas von ihr bei sich haben möchte. Wenn jemand stirbt, dann freut
man sich auch, wenn man von dieser Person noch etwas besitzt: etwas,
das die verstorbene Person benutzt hat, was ihr lieb gewesen ist. Diese
Präsenz sollte es eigentlich verständlich machen, dass man auch in
religiösen Zusammenhängen solche Erinnerungsstücke hoch geschätzt
hat. Weil dies, wie gesagt, damals noch nicht zur Inflation geworden war,
sind solche Dinge auch durchaus ernst zu nehmen. Sie sagen übrigens,
wenn ich das recht verstanden habe, in dem Buch nicht, dass Sie
hundertprozentige Garantie dafür übernehmen, dass dieses Dokument, das
in Santa Croce aufbewahrt wird, tatsächlich der Titulus des Kreuzes Jesu
gewesen sein. Es gibt aber Vorarbeiten, die diese These doch
wahrscheinlich machen, auch wenn endgültige naturwissenschaftliche
Tests noch erbracht werden müssten. Von denen dann aber auch nicht
mehr zu erwarten wäre, als die Feststellung der Tatsache, dass dieses
Material eben in diese Zeit hineinpasst. Eine Garantie würde es auch auf
diesem Weg nicht geben können.
Tiede: Das müssen wir uns ganz einfach eingestehen und das gilt auch für die
gesamte Altertumswissenschaft außerhalb von Judentum und Christentum:
Es gibt Bereiche der antiken Geschichte in ihrer Gesamtheit, bei denen wir
letzte Sicherheit ganz einfach nicht mehr gewinnen können. Deswegen wird
der Historiker immer wieder die Methode anwenden, die ich gerne die
Sherlock-Holmes-Methode nenne. Das heißt, er wird alles
Unwahrscheinliche ausschließen, bis das Wahrscheinliche übrig bleibt. Im
konkreten Fall dieses Titulus' - der ja in allen vier Evangelien erwähnt wird,
der dem römischen Brauch entsprach und den wir daher bei einer
Kreuzigung erwarten müssen, weil es diesen Titulus immer gegeben hat –
heißt das also, dass wir versuchen, all das, was für eine Fälschung
sprechen könnte, zu untersuchen und auszuscheiden – was in dem Fall ja
auch gelingt. Selbst wenn der letzte Echtheitsbeweis in einem
mathematischen Sinne nicht erbracht werden kann, dann haben wir alles,
was für eine Fälschung spricht, ausschließen können. Damit bleibt als
Wahrscheinlichkeit die Echtheit übrig. Um das mal mit dem berühmten Wort
eines belgischen Patristikers zu sagen: "Nicht jede Relique, deren Echtheit
über alle Zweifel erhaben ist, muss gefälscht sein!"
Emrich: Sehr schön.
Tiede: Das ist natürlich eine kleine feine Ironie, aber sie passt gut zu unserem
Beispiel, denn wir sollten lernen – und das gilt nicht nur für dieses
Kreuzesfragment –, wieder offen zu sein für diese Dinge; für Dinge nämlich,
für die wir aus Gründen, die wir in unserer aufgeklärten Zeit für richtig und
gut halten, nur Skepsis glauben aufbringen zu müssen. Skepsis an und für
sich ist nichts Schlechtes: Sie darf nur nicht zum Selbstzweck werden. Es
braucht also auch die Neugierde, um einmal hinter die Skepsis zu sehen
und zu fragen, was denn an einer alten Überlieferung eigentlich dran sein
könnte. Diese Frage zu stellen, gehört eben auch zu einer Kultur wie der
unseren. Genau das aber müssen wir wieder lernen.
Emrich: Es gab ja in der Vergangenheit – und bis in die Gegenwart hineinwirkend –
auch eine teils heilsame, teils vielleicht auch übersteigerte Skepsis
gegenüber Dingen, die im Neuen Testament berichtet werden. Bultmann z.
B. hatte seine Zweifel, ob es diesen Titulus überhaupt je gegeben hat. Das
ist ein ganz typisches Beispiel dafür: Welche Gründe hatte er für diesen
Zweifel, wenn ihm die Historiker doch sagen können, dass alle
Hinrichtungen mit solchen Schildern versehen worden sind? Damit sind wir
allerdings bei der Frage angelangt, ob Sie bei dem, was Sie schreiben, in
vielen Fällen nicht auch eine gewisse offensive Haltung einnehmen
gegenüber der historisch-kritischen Methode, mit der gelegentlich
katholischer- wie evangelischerseits das Neue Testament gelesen und
analysiert wird. Ist diese meine Beobachtung richtig?
Tiede: Vereinfacht gesagt ist das sicherlich so. Das ist von Kritikern meiner
Forschung und meiner Publikationen auch so interpretiert worden: Dies sei
ein Angriff, eine Polemik gegen eine spätestens seit Bultmann etablierte
Methode der neutestamentlichen Wissenschaft. So sehe ich das aber
selbst nicht. Grundsätzlich sollten wir nämlich bei allen Methoden
aufpassen, egal wie sie heißen, denn es besteht die große Gefahr, das wir
uns als Wissenschaftler, als Leser von Büchern, als aufmerksame
Zeitgenossen, als Besucher von Museen usw. zu Sklaven von vorgefassten
Zugängen, von bestimmten Methoden machen. Unser Vorwissen, unser
Raster, unser Koordinatensystem prägt dann das, was wir sehen, so sehr,
dass wir gar nicht mehr offen sind.
Emrich: Unter Umständen ist dann auch der Weg zur Wahrheit verstellt.
Tiede: Genau. Denn es darf ja nicht so sein, dass der Gegenstand, den ich
überhaupt erst einmal kennen lernen möchte, zum Opfer meiner Methode
wird, indem diese Methode den Gegenstand prägt. Stattdessen muss es so
sein, dass der Gegenstand meine Methode und mein Denken beeinflussen
muss. Deswegen ist meine Skepsis eine eher grundsätzliche gegenüber
Methoden, die sich verabsolutiert haben und die den Blick auf das
verstellen, was hinter den Texten steht. Nun ist der Historiker ja in dem
Sinne kein Theologe: Er muss also gar nicht mit solchen Methoden
arbeiten, sondern kann offen und offensiv an die Texte herangehen. Dass
man das tun kann und auch tun darf, gehört zu den Dingen, die ich auch
gerne Nicht-Fachwissenschaftlern vermitteln möchte.
Emrich: Dies scheint Ihnen mehrfach gelungen zu sein, denn Sie haben diverse
Male herausgefunden, dass bestimmte Dinge, die bisher als wenig
glaubwürdige Überlieferung abgetan worden sind, bei einer näheren
Sondierung der umliegenden Quellen am Schluss doch viel Wahrheit, viel
Realität für sich in Anspruch nehmen konnten. Mir scheint, dass das etwas
ist, das speziell Sie kennzeichnet: Sie gehen nicht nur vom einzelnen Text
aus – übrigens geht auch kein Neutestamentler nur vom biblischen Text
aus, sondern zieht noch andere Quellen heran –, sondern sagen, dass es
da ja auch noch Münzen, Ausgrabungen, Steine, Inschriften und andere
Schriftwerke aus der gleichen Zeit gibt und dass man sich aus denen
heraus ein Bild dieser Zeit machen muss. Mit dem Blick auf dieses Bild
betrachten Sie dann erst ein einzelnes Objekt wie z. B. einen
Evangelientext.
Tiede: Das ist sicherlich ein ganz wesentlicher Aspekt. Es hat ja auch mal ein
bekanntes Buch mit dem Titel "Die kleine Welt des Jesus Christus"
gegeben: Man hat also eine Zeit lang geglaubt, dass diese Gegend des
Jesus Christus eine finstere hintere Ecke des Römischen Reiches gewesen
sei, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht gesagt hätten. Weil dort
ansonsten nicht viel passierte, konnte und wollte die Welt von diesen
Dingen auch nichts wissen. Das war aber eine verkürzte und, wie ich sagen
würde, sogar eine falsche Sichtweise. Wenn wir den gesamten Kontext des
Römischen Reiches sehen, wenn wir also all das berücksichtigen, was Sie
soeben auch aufgezählt haben, dann bekommen wir ein farbiges Bild dieser
Zeit. Der Kontext, der Zusammenhang also ist für uns in den letzten Jahren
immer wichtiger geworden, weil erst dadurch bestimmte Dinge, die man
ansonsten gar nicht sehen würde, wie von einem Schlaglicht getroffen für
sich selbst sprechen können. Es hat mal jemand etwas ironisch gesagt:
"Eines Tages wird bestimmt mal ein neuer Papyrus des Johannes-
Evangeliums gefunden werden. Da wird dann der erste Vers nicht mehr
lauten 'am Anfang war das Wort', sondern 'am Anfang war der Kontext'."
Denn der Kontext ist momentan wirklich das, was man am Anfang aller
Studien sehen sollte. Es geht also um Kontext und Zusammenhang.
Jenseits aller Ironie ist da eben auch sehr viel Wahres dran.
Emrich: Es geht bei Ihrer Arbeit also auch um eine detektivische Arbeit, um ein
Zusammentragen von Elementen, um ein Puzzlespiel, aus dem sich eine
tiefere Einsicht und ein größerer Überblick ergeben können. Ich habe jetzt
am Schluss noch ein paar ganz praktische Fragen. Was ist denn der
Unterschied zwischen einem Papyrus und einem Kodex? Das ist etwas,
das immer wieder vorkommt: Es gibt Kodices, in denen die alten Schriften
festgehalten sind, und es gibt Papyrus.
Tiede: In dem einen Buch, das Sie vorhin gezeigt haben, "Ein Fisch für den
römischen Kaiser", ist dieser auf den ersten Blick relativ komplizierten Frage
ein Kapitel gewidmet. Ich versuche es mal ganz einfach zu sagen: Papyrus
ist zunächst einmal einfach nur das Material. Gewonnen wird dieses
Material aus einer Pflanze, aus der ägyptischen Papyrus-Staude. In der
Regel hat man aus Papyrus Rollen hergestellt: Schriftrollen. Das hat die
gesamte Antike so gemacht und das waren Rollen, die wie heute
meinetwegen eine Faxrolle oder eine Küchenrolle aufgerollt waren: innen
beschriftet und die Außenseite schützte die Innenseite. Juden wie Christen,
Römer wie Griechen taten das. Im ersten Jahrhundert n. Chr. hat es dann
einen Übergang gegeben, einen Übergang zu einem neuen Format, zu
einer neuen Form des Buches. Das hatte sich aus den Notizbüchern, die
man bei sich führte, ergeben: Das waren zwei, drei Wachstafeln
übereinander, manchmal war das auch ein Pergament. Das sieht, wenn wir
das heute im Museum sehen, auf den ersten Blick schon so aus wie das,
was wir heute ein Buch nennen.
Emrich: Mit Seiten, die man blättert.
Tiede: Genau. Daraus entwickelte sich dann die gefaltete Lage: Man nahm ein
großes Blatt und faltete es mehrmals, bis man die gewünschte Größe hatte.
– Daher kommen noch unsere heutigen Ausdrücke wie Folio und Oktav:
Das sind die verschiedenen Buchformate, die beim unterschiedlich häufigen
Falzen eines Bogens entstehen. Damals nannte man das jedenfalls rein im
Hinblick auf das Format "Kodex". Das ist in dem Fall kein Ausdruck für das
Material wie beim Papyrus, sondern für das Format. Der Vorläufer unseres
heutigen Buches war ein Kodex. Er konnte aus Papyrus sein, er konnte
aber auch aus Leder sein usw.
Emrich: Man kann ja sagen, dass in der Bibel mehr Wahres steht, als manche für
möglich halten. Ich erinnere mich dabei an ein Wort eines jüdischen
Fachmannes für das Neue Testament. Dieser Mann hieß David Flusser
und er hat einmal gesagt: "Es ist erstaunlich, was Menschen alles bereit
sind zu glauben, damit sie nicht glauben müssen, was geschrieben steht."
Er sagt damit, dass der Zweifel so dominant geworden ist, dass man diese
Dinge gar nicht mehr für möglich hält, dass man sich praktisch die Sicht auf
die Originalität und die Wahrheit dieser Dinge verstellt. Nun gibt es aber im
Neuen Testament auch Engel; es gibt die Stimme aus der Wolke usw. Das
sind Dinge, von denen die einen sagen, sie seien historisch geschehen,
während die anderen sagen, dass das nur wunderschöne alte literarische
Formen sind, die lediglich deutlich machen sollen, was in diesem jeweiligen
Moment des Leben Jesu eigentlich gemeint war. Wenn am Jordan bei der
Taufe die Stimme aus der Wolke kommt, dann soll das demnach nur
deutlich machen, was da in Wirklichkeit geschehen ist. Die Engel oder die
Stimme aus der Wolke sind den Juden ja wohl bekannt: Wenn so etwas
auftaucht, dann geht es um etwas Jenseitiges, um etwas, das mehr
Gewicht hat, als das eigene Alltagsleben. Wo liegt daher das Kriterium, mit
dem man zwischen historischer Wahrheit und legendärer, bildhafter
Übersetzung unterscheiden kann? Wo liegt der Unterschied zwischen
historischer Wahrheit und einem Inhalt, der Wahrheit meint, auch wenn das
in einer bildhaften Sprache ausgesprochen wird?
Tiede: Es ist eine ganz schwierige Grenzziehung, zwischen bildhafter Sprache und
historischer Genauigkeit zu unterscheiden. In dieser Grauzone kann der
Historiker auch nicht immer eine historische Antwort geben. Manchmal ist
das dann der Punkt, an dem der Theologe diese Sache übernehmen muss.
Ich kann dazu aber so viel sagen: Die damalige Kultur ist nicht mehr die
unsere, das dürfen wir nicht vergessen und deswegen sollten wir diese
Dinge auch nicht an dem messen, was Menschen in unserer heutigen Zeit
erleben, sondern an dem, wie es damals erlebt und bezeugt worden ist. In
dieser damaligen jüdischen Kultur, die dann weit über Israel hinaus zu einer
jüdisch-christlichen Kultur wurde, waren bestimmte Dinge so gut bezeugt,
dass wir den Leuten, die davon berichten, vertrauen dürfen, auch wenn wir
selbst das nicht mehr so erleben. Ich will das an einem Beispiel deutlich
machen. Der Hohe Priester Kaiphas, der sehr intensiv daran arbeitete, dass
Jesus an Pilatus ausgeliefert und letztlich auch hingerichtet wird, bezweifelt
zu keinem Augenblick, dass Jesus alle diese Wunder tatsächlich getan hat,
dass er diese Stimmen hörte usw. All das bezweifelt Kaiphas nicht und
genau das ist gerade das Problem: Weil Kaiphas glaubt, dass das genau so
geschehen ist, sagt er, dass sie diesen Messias zu dieser historischen
Stunde nicht brauchen können, weil er diesen fragilen Frieden mit den
Römern stört und zerstört. Genau aus diesem Grund wollte Kaiphas, dass
man Jesus den Römern übergibt, damit die selbst sehen, wie sie ihn
loswerden können. Kaiphas fordert dies gerade deshalb, weil er selbst
dieses Unglaubliche glaubt, weil er das alles ernst nimmt, weil er all diese
Wunder und Ereignisse glaubt. Nicht als Skeptiker, sondern im dem Sinne
als ein Gläubiger will er Jesus aus dem Weg räumen. Auch das ist eben
wieder ein Beispiel für den Kontext: Wir müssen zurückgehen und danach
fragen, wie das eigentlich damals ein Mensch aufgefasst hat, ob und warum
er daran glauben konnte. Wenn wir so vorgehen, dann sehen wir das
anders, als wir es heute aus unserer Perspektive sehen würden.
Emrich: Ich wünsche mir, noch einige Bücher von Ihnen lesen zu dürfen, um irritiert
und zum Nachdenken angeregt zu werden. Ich bedanke mich sehr für
dieses Gespräch.

© Bayerischer Rundfunk

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