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DEADBURGER FACTORY

Der Florentiner Keyboarder & Elektroniker Vittorio Nistri macht mich, ermutigt durch die
Schnittmenge unserer Lieblingsmusiken, bekannt mit einem Projekt, das mich mit dem
unz unz unz einer Technoparty auf Böcklings Toteninsel lockt, die zu Füßen einer aus-
gebombten Hotelruine stattfindet. Freilich ist das erstmal nur der visuelle Anreiz durch
die Comics von Paolo Bacilieri, der mit Goldene Berge und Barokko auch schon einge-
deutscht wurde (Schreiber & Leser). Seine grauen Illustrationen verzieren hier die Musik,
genauer, die Musiken einer Band, deren Debut Deadburger 1997 erschienen ist, gefolgt
von 5 Pezzi Facili (1999), S.t.0.r.1.e (2003) und dem von Julian Cope gelobten C'è Ancora
Vita Su Marte (2007), der es zwischen Overhang Party und Fausts IV aufhängte. Jetzt
sind auf einem Schlag, nämlich als Box, die Alben # 5 - 7 erschienen: Puro Nylon (100%),
Microonde - Vibroplettri und, auch als Gesamtüberschrift genommen,
LA FISICA DELLE NUVOLE (Goodfellas Records, GF30021-23 / Snowdonia).
Jede Scheibe steht für sich, wobei für #1 neben Nistri noch der Gitarrist Alessandro
Casini und der Bassist & Lyriker Tony Vivona verantwortlich zeichnen (dabei aber nicht
nur zu dritt agieren), für #2 im rein instrumentalen Split Nistri & Casini, und für #3 dann
Deadburger als Pool von ca. 8 Leuten, deren akustisch-psychedelische Jams im Nach-
hinein erst zu Songs perfektioniert wurden.

#1: Das Stichwort »coincidentia oppositorum« weist die Italiener als manieristisch be-
wandert aus, oder zumindest als von R. A. Wilson & R. Shea illuminiert. Schon 'pures
Nylon' ist ein Insichwiderspruch, weil Nylon etwas denkbar Künstliches ist. Beim Auftakt
'1940/Madre' rahmt Sampling in Reminiszenz an Duchamps Ready-Mades Gedanken an
eine sizilianische Schulzeit, die Vivona angesichts eines alten Fotos gekommen sind. Die
Band rockt dabei düster, aber von Viola verschönt. Strings prägen auch die 'Variazioni
su un campione di Erik Satie #1-3, allerdings auch Synthesizer, so dass wieder eine
Spannung entsteht aus dem kammermusikalisch-elektronischen Gegensatz. Der Kom-
ponist und der Dichter werden dabei inthronisiert als Könige, deren Reich allerdings nur
aus dem leeren Papier vor ihnen besteht. 'Oltre' (Jenseits) folgt als elegischer Rocksong
mit Bass und Drums, Geigenstrichen der Geigenbauerin Jamie Marie Lazzara und einem
Rezitativ von Marinella Ollino (die als Lalli in den 1980ern bei der R.I.O.-Band Franti ge-
sungen hat). Danach feiert 'Obsoleto Blues' mit einem furiosen Gitarrensolo zu Sprech-
gesang und galoppierendem Drumming Rock als Phönix aus der Asche. Einer vierten,
wie gesummten Satie-Variation mit E-Gitarre, Cello und Piano folgt 'In Ogni Dove' als Psy-
chedelik, die ohne Psychedelik-Klischees, aber wieder mit Lalli, einer gestopften Trom-
pete und unaufgeregtem Beat vor allem eines transportiert - Feeling. Bacilieri besiegelt
das (im Stil von Will Eisner) mit dem Kuss eines heruntergekommenen, aber miteinander
glücklichen Paars. 'Ancora Piu' Oltre' behält die Stimmung bei mit Don-Cherry-Kornett,
Strings und Lallis Summen, als ein wehmütiges Wiegenlied für all die Unsichtbaren jen-
seits der Glanzlichter.

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#2: Nistri erschuf 'Microonde' ausschließlich per Mikrowelle, allerdings mit Wah-wah- &
Fuzz-Pedalen und Marshall-Verstärker aufgedreht bis zum Harsh Noise, der einem in die
Glieder fährt als Schrei wie aus einem von Edvard Munch gemalten Mund. Dabei spielte
er tatsächlich mit einem gewöhnlichen Küchengerät, trommelte aufs Gehäuse oder
schlug mit der Tür. Aber er zauberte daraus auch das groovig rockende 'Strategia Del
Topo', mit Illusionen von Bass- und Drumspuren und dem Bild von einem Eingesperrten,
der gegen die Zellenwände trommelt. 'Magnetron' woosht und loopt, zuletzt rückwärts.
Und 'Micronauta' braucht weniger als vier Minuten, um den Kosmos zu durchqueren.
Mehr benötigt Nistri nicht, um die kosmischen Essenzen auszukosten, der Rest wäre
dann nur Dehnung und Wiederholung. Casini seinerseits spielt alles auf der Gitarre.
'Vibroplettri' darf man sich vorstellen als Soundtrack zu W. S. Burroughs' Nova Express.
Mit einem Tamtam riesiger Insektenglieder und einer Desert-Gitarre, die von Tanger in
die Wüste aufbricht. Dem folgt das schwere Neuroblues-Riffing von 'Cuore Di Rana', mit
der auf 2:48 eingekochten Essenz eines 20-min. Acid-Solos. Für 'Dr Quatermass, I Pre-
sume' diente ein Vibrator als Trommelstock, um damit die Gitarrensaiten beben zu las-
sen. Zuletzt kreisen bei 'Arando I Campi Di Vetro' hell plinkende Frippertronic-Loops
über eine dunkle Bassspur, und Alienkrallen schrillen über Panzerglas.

#3: Um das Songscapeing dieses freakadelischen Miteinanders in der für sie ungewöhn-
lich stromarmen Instrumentierung mit Viola, Flöte, Trompete, akustischer Gitarre und
altertümlicher Percussion (neben fretless Bass, Orgel und Keyboards) in eine historische
Perspektive zu bringen, beruft sich Deadburger auf Teo Macero und Holger Czukay. Aus
Trips ins kollektive Halbbewusste werden mit klarem R.I.O.-Bewusstsein Lieder aus dem
Mund von Simone Tilli. Das Titelstück, das auf deutsch 'Wolkenphysik' bedeutet, nennt
als Sprechgesang die beiden Hauptmotive seines Schreibens, die Kurt Vonnegut von
seinem Bruder als jungem Vater und von seiner an Krebs sterbenden Schwester über-
nommenen hat: Here I am cleaning shit off practically everything. Und: No pain. 'Amber'
identifiziert sich mit einer afrikanischen Migrantin, die die alten Geister anruft für einen
Voodoo-Fluch, den sie über die verhängen möchte, die sie schickanieren. Allerdings ist
der Mond über unseren kalten Städten zu klein, um Gehör zu finden bei den Loas. Tilli
nähert sich da fast der Theatralik von Claudio Milano an. 'Bruciando Il Piccolo Padre' ent-
zündet sich wild rockend an einem Werbeslogan wie: »Kommunismus gäb's noch, wenn
er unserer Mode gefolgt wäre«, und lässt Lenins Geist jammern, dass auf dem Rote Platz
wohl bald ein 5-Sterne-Hotel stehen wird und die letzten Spuren seines Idealismus ge-
tilgt werden. 'Cose Che Si Rompono' inszeniert den wachsenden Groll von jungen Italie-
nern in frustrierenden und befristeten Jobs, aber vor allem ganz ohne, als ein monotones
Tamtam, das jederzeit explodieren könnte. 'Wormhole' phantasiert sanft und introspektiv
raunend von einer Reise in die Vergangenheit, um die Weichen anders zu stellen, wäh-
rend 'Il Mare E' Scomparso' mit Viola, Theremin und einem Bläserchor eine dystopische
Vision von Michel Houellebecq aufgreift, das Desaster einer neuen Eiszeit, das die Men-
schen aus den Städten vertreibt und unter Wölfe zurückwirft, deren Pfoten im vierhän-
digem Beat widerhallen. 'Deposito 423' flötet und geigt zum Tanz von Salarymen und
dergleichen Anzugträger, lauter Außerirdischen, wie man durch John Carpenters They
Live! wissen sollte. Akustische Gitarrenspritzer und elektronische Triller sind nur zwei
der vielen Raffinessen dabei. 'C'e Ancora Vita Su Marte' lässt dann, wieder mit Theremin
und Gesängen eines gemischten Mars Gospel Choir, Sun Ra and his Arkestra von der Bühne
des Slow Club ins All abheben, in einem Bilderbogen aus Blue Velvet, Velvet Goldmine
(Oscar Wilde), Magnolia (der Froschregen) und Dark Side of the Moon. Die Reichhaltig-
keit dieser in einer Spannweite von Antonio Moresco [von dem auf deutsch nur, aber
immerhin Aufbrüche vorliegt] bis zu Marvel Comics so phantasievollen wie engagierten
Musiken erinnert stark an Claudio Milanos extraordinäres Bath Salts + L'Enfant et le
Ménure-Quartett. Im Interview mit thenewnoise.it verweist Nistri auf Milanio auch als
erstes, aber nennt auch noch Bachi Da Pietra, Cesare Basile, Calibro 35, Hobocombo
und Ronin als Rufer in der Wüste, die Italien Respekt bewahren, wenn andere ihn ver-
spielen. Ich jedenfalls tippe mir an die Kappe gen Süden: Ossequi!

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