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Das Magazin zum Themenjahr 2013

REFORMATION UND TOLERANZ

Schatten
der Reformation
Der lange Weg zur Toleranz
Vorwort Eine junge Frau vor einem Notebook – Licht und
Schatten – im Hintergrund das projizierte Bild
Schattenseiten der eigenen Tradition bewusst
zu werden. Wir tun dies in dem Wissen um
des Gekreuzigten. Der Schatten der Frau fällt auf die Fehlbarkeit und Schuldverstrickungen al-
das Kreuz. Der Schatten des Notebooks auf die ler Menschen, auch unserer Reformatoren. Als
Frau. Nachdenklich, müde, kritisch stützt sie den Christinnen und Christen und als Kirchen leben
Kopf auf. „Schatten der Reformation. Der lange wir dabei zugleich aus der Gewissheit: „Gott aber
Weg zur Toleranz.“ Das Titelbild des Themen- erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus
heftes spiegelt die Sperrigkeit des Themas. Keine für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“
netten, bunten Werbegesichter, kein Loblied der (Römer 5,8).
Vielfalt, keine witzige Aufmachung. Vielmehr Die Beiträge des Heftes gehen aus sehr un-
eine künstlerische Irritation! terschiedlichen Perspektiven der ambivalenten
Das kommende Jahresthema der Luther- Geschichte der eigenen Toleranz- und Intole-
bzw. Reformationsdekade ist nicht einfach: Für ranztraditionen nach: geschichtlich, theologisch,
Toleranz sind zwar irgendwie (fast) alle. Doch juristisch, kulturell, künstlerisch. Und indem sie
schon bei der Definition des Begriffs zeigen sich dies tun, leisten sie einen wichtigen Beitrag zum
Probleme: Heißt Toleranz, ich muss alle anderen Zusammenleben in unserem Land. Wer sich den
Menschen und alle mir fremden und widerstän- eigenen Schattenseiten stellt, zeugt von einem an-
digen Verhaltensweisen „unbedingt“ und wider- deren Licht. Die Autorinnen und Autoren greifen
spruchslos annehmen? Im konkreten Alltag wür- dabei viele aktuelle Fragen auf – vom Kriegs-
de das bedeuten: Ich akzeptiere Alkohol auf dem einsatz über den interreligiösen Dialog bis zu
Marktplatz, öffentliche Tanzveranstaltungen vor Milieukonfrontationen im Alltag. Die verschie-
der Kirche am Karfreitag, den lauten Rasenmäher denen Positionen und Toleranzverständnisse
meines Nachbarn in der Mittagsruhe und pöbeln- drücken dabei weder „die Sichtweise der EKD“
de Hooligans nach verlorenen Fußballspielen. aus noch lassen sie sich untereinander einfach
Wo beginnt Toleranz für mich, wo hört sie zur Deckung bringen. In ihnen kommt vielmehr
auf? Wo liegen für mich ihre Wurzeln und ihre der notwendige kirchliche und gesellschaftliche
Widerstände? Ist das Kreuz Christi ein christ- Diskurs zur Geltung, wie ein gelingendes Zu-
liches Sinnbild für unbedingte Toleranz? sammenleben in Verschiedenheit heute aussehen
Eine Frau, die „im Bild“ sitzt. Ein Notebook und welchen Beitrag der christliche Glaube in re-
als kulturelles Medium, das verdunkelt? Wo ist formatorischer Sicht dazu liefern kann.
mein Ort im Bild? Verdunkle ich das Kreuz? Und Das Heft bietet darüber hinaus Anregungen
in welchen Schatten stehe ich? zur Gestaltung des Reformationstages wie des
Das Bild eröffnet eine selbstkritische Dimen- mit ihm beginnenden Dekadenjahres. Dazu ge-
sion, und eben dies ist die Intention des ganzen hören auch die beiden Fotostrecken, die das The-
Themenheftes. Die evangelische Kirche hatte in ma auf ebenso anspruchsvolle wie anschauliche
den letzten 500 Jahren eine lange, schmerzvolle Weise vor Augen führen.
TitelFoto: K atrin Binner

Lerngeschichte in Sachen Toleranz. Und diese Mein herzlicher Dank gilt den vielen Auto-
Lerngeschichte ist nicht abgeschlossen. Selbst oft rinnen, Autoren und Mitwirkenden, die an der
verfolgt, verhielt sie sich meist nicht weniger in- Gestaltung des Magazins beteiligt gewesen sind.
tolerant und gewaltsam gegenüber Minderheiten, Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine
wenn sie die Macht dazu hatte. Zur Vorbereitung anregende Lektüre und hoffe, dass das Jahr in
des Reformationsjubiläums 2017 gehört es auch, den Gemeinden und darüber hinaus eine segens-
sich der bleibenden Wirkungen dieser dunklen reiche Wirkung haben wird.

P r ä s e s D r . h .c . N i ko l au s S c h n e i d e r
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen ­Kirche in Deutschland
Inhalt

Licht und Schatten Jetzt und Hier Jahr und Tag


4 
v e r d u n k e lt e r c h r i st u s 26 W i e v i e l R e l i g i o n 54 
G röSSer als das Leben –
Mühsam erkämpften v e r t r äg t d i e D e m o k r at i e? Bedr ängend und BEfreiend
Aufklärer Toleranz gegen Ohne Glauben droht die Über den Film und die Toleranz
die verfasste Kirche Banalität des Ökonomischen vo n R a lf M ei s t er
vo n T h i es Gu n d l ach vo n K at r i n 58 
„und Fronle ichna m
G ö r i n g - Eck a r dt hängen wir die
8 
b ü r g e r t u g e n d,
Wä s c h e r au s!“
n i c h t sta at sp f l i c h t 28 S c h i e S S e n f ü r
Über Toleranz und Recht Aus einer Zeit katholisch-
d e n F r i e d e n?
vo n H a n s M i ch a el H ei n i g
evangelischer Rivalität
Über Toleranz und die
vo n P e t r a B o sse- H u b er
12 
S tat i o n e n au f d e m W e g so­­genannte Schutz-
der Freiheit verantwortung in inter- 60 F r e i h e i t u n t e r d e r H au t
Wie sich das Ideal der Toleranz nationalen Krisen Predigtmeditation und Gebete
nach und nach durchsetzte vo n T h o m a s D e M a izi èr e zur Toleranz vo n K at h r i n
Ox en u n d S y lv i a B u kowsk i
14 
D i e St i e f k i n d e r 30 L ä st i g e r N a h b e r e i c h
d e r R e f o r m at i o n Die Kirchen verschenken die 62 L e ss i n g s R i n g pa r a b e l –
Über das Heft ­verteilt:
Über Lutherische, Calvinische Chance, tolerant zu sein wiedergelesen
S e c h s A l ltag s ­
und Täufer: eine Geschichte vo n A r n u lf vo n S ch el i h a Kein Märchen für
g e s c h i c h t e n über
voller Verletzungen Gutmenschen!
34 T o l e r a n zg e d u s e l Mobbing, Schweinefleisch,
vo n Wa lt er vo n P e t r a B a h r
u n d L a s e r st r a h l die Burka und mehr.
Fl ei s ch m a n n - B i s t en 66 D e r E r n st e S C h at t e n Seiten 7, 21, 39, 53, 65, 75
Kommentare zu einem
der Toler anz
18 
Der blutige K a mpf kämpferischen Jesuswort
u m d e n n e u e n g l au b e n Freund, Stasi-IM, uneinsichtig.
vo n T h o r s t en M o o s
Intolerant waren beide Was soll man so einem
Seiten: die Reformatoren und 36 M ac h t d e r G l au b e a n verzeihen?
ihre Opfer vo n Fr i ed r i ch e i n e n G o t t g e wa lt tät i g? Vo n M at t h i a s S to rck

S ch o r l e mm er Stiften Koran und Bibel zu


68 K r e u z a n st e l l e
Gewalttaten an?
vo n l a k s h m i
22 
Vermittlung gescheitert vo n B u r k h a r d W ei t z
Wie Inder am Glauben der
Ein Rückblick auf 450 Jahre
4 0  m i t A l l a h anderen teilhaben
Heidelberger Katechismus
vo l l g e c h i l lt Vo n Gu d ru n L öw n er
vo n M i ch a el W ei n r i ch
Jetzt gilt es, Stereotype über 70 Zw i s c h e n A n g st
25 
Wor mser Religions­ Muslime aufzubrechen! u n d Au f b r u c h
g e sp r äc h e 2013
vo n V er en a B r en n er Wie die arabische Revolution
Eine Stadt knüpft an
das Leben der ägyptischen
die alte Tradition der 42 n u r n i c h t
Christen verändert hat
Religions­gespräche an vereinnahmen
Vo n A n d r e a B usse
vo n VO L K ER G A L L É Ein Essay über Wahrheits­
ansprüche und den säkularen 72 
„ Wa s g i b t e s b e i e u c h?“
Staat vo n F r i ed m a n n Interkulturelles Lernen in
Ei SSl er u n d A n n e K ä fer einer Frankfurter Kita Im Magazin illustrieren
und anderswo Vo n B i rg i t V i e r S c h at t e n b i l d e r die
45 Z e h n T h e s e n z u r T o l e r a n z schmerzhafte Lerngeschichte
Sen d l er- Ko s ch el
Aus der Kundgebung in Sachen Toleranz auf
der 10. EKD-Synode vom 76 
Toler anz fördern den Seiten 4, 14, 18, 36
November 2005 Fünf Projekte
aus den Landeskirchen
46 G e t r e n n t e G e s e l l s c h a f t e n
Vo n S t efa n M a a ss
Zwei aus Berlin: der gebürtige
79 M at e r i a l
Rheinländer Bischof Markus 78 
W i r k l i c h w i l l ko m m e n?
zum Themenjahr
Dröge im Gespräch mit der Sonntagmorgen in der
Wo Praktiker aus
türkischstämmigen Autorin evangelischen Kirchen-
Gemeinde und kirch-
Güner Yasemin Balcı gemeinde, er­dacht
licher Öffentlichkeits-
Vo n M at t h i a s K r epl i n
50 T o l e r a n t au s g l au b e n arbeit Fotos und
Ehrlicher Streit hilft Logos herbekommen
Konflikte entschärfen
79 I m p r e ss u m
vo n M a rg ot K ä ssm a n n
Licht und Schatten

Verdunkelter Christus
Mühsam erkämpften Aufklärer Toleranz gegen die verfasste Kirche: Der lange Schatten
der Reformation – Überlegungen zum Themenjahr vo n Th i e s G u n d l ac h

1. Das Themenjahr „Reformation und Tole-


ranz“ 2013 stellt die Evangelische Kirche in
Toleranz gehört nicht zu den Schmuckstücken
reformatorischer Kirchengeschichte, hier gibt es
Deutschland vor besondere Herausforderungen: keine Heldengeschichten zu erzählen, sondern
Es gilt – im Unterschied zu den durchaus selbst- intolerante Haltungen einzugestehen, die letzt-
bewusst und mit Dankbarkeit gegenüber den lich erst durch die Aufklärung überwunden wur-
Vätern und Müttern zu entfaltenden Themen den. Auch diese Aufklärung entnahm wichtige
der Reformations-/Lutherdekade wie „Refor- Impulse aus den reformatorischen Grundein-
mation und Freiheit“ 2011 oder „Reformation sichten, aber wahr bleibt auch: Die Aufklärung
Foto: K atrin Binner

und Musik“ 2012 – ein Thema der Scham- und musste gegen die beiden im gegenseitigen Ver-
Schuldgeschichte der reformatorischen Kirchen nichtungswillen verhafteten Kirchen durchge-
zu benennen. Die Reformation hat – bei allen zu setzt werden. Glaubwürdigkeit zu gewinnen im
würdigenden Toleranzansätzen – keinen wirk- Blick auf die Jubiläumsfeier 2017 (500 Jahre Re-
lichen Zugang zum Thema Toleranz gefunden. formation) gelingt aber nur, wenn sich die evan-

4
Licht und Schatten

katholischen Kirche, so sehr setzt uns die Intole-


ranz dieser Generation gegenüber ihren eigenen
reformatorischen Partnern zu. Vom Bilderstreit
in Wittenberg, den Luther gegen seinen ur-
sprünglichen Mitstreiter Karlstadt ausfocht, über
die unsäglichen Hetzschriften Luthers gegen die
Bauernaufstände bis hin zur grausamen Verfol-
gung der Täufer ist die Entdeckung der Freiheit
des Evangeliums begleitet von einem intoleranten
Kampf um die Wahrheit. Dies mag auch mit dem
Erschrecken zu tun haben, dass die von der Re-
formation entdeckte Freiheit eines Christenmen-
schen naturgemäß auch die Freiheit von Anders-
glaubenden und -handelnden freilegt. Es hat sich
eingebürgert, die Verbrennung Michael Servets
Verloren in
anlässlich des sogenannten antitrinitarischen
der Projektion –
Streites in Genf und die Zustimmung von Jo- Suchende Zeit­genossin
hannes Calvin zu dieser Verbrennung als das Zei- vor duldendem
chen der Intoleranz der Reformation zu nehmen. ­Schmerzensmann.
Aber diese Tat ist das Ende, nicht der Anfang einer Das erste von vier
„Schattenbildern“
intoleranten Dimension der Reformation: Martin
in diesem Magazin.
Luther ist insofern ein mittelalterlicher Mensch Weitere auf den
geblieben, als er sich nicht vorstellen konnte, dass Seiten 14, 18 und 36.
unterschiedliche Wahrheits- und Glaubensvor-
stellungen nebeneinander bestehen können; und
eben dies war „opinio communis“ der damaligen
Welt, die noch sehr lange galt.
Denn auch die Friedensverhandlungen 1555
mit ihrer Grundregel, dass derjenige Glaube für
alle gilt, der vom jeweiligen Herrscherhaus eines
Gebietes übernommen wurde (cuius regio, eius
religio), war lediglich eine befriedende Maßnah-
me unter der intoleranten Voraussetzung, dass in
einem Staatsgebiet nicht verschiedene Glaubens-
weisen leben können. Befriedend war diese Lö-
sung, insofern man zwar aus seinem angestammten
Wohngebiet vertrieben werden konnte, nicht aber
aus seinem erworbenen Glauben. Die Gewissen
blieben frei, die Religionsausübung durfte in einer
anderen Region gelebt werden. Mit dieser Grund-
haltung wurde zwar Frieden gestiftet zwischen der
römisch-katholischen und der lutherischen und
gelische Kirche selbst mit den von der Reformati- nach 1648 auch der reformierten Konfession, aber
on geworfenen langen Schatten auseinandersetzt. es blieben viele andere auf der Strecke: Nicht nur
Dieses Magazin ist ein Versuch, dies so aufrich- der sogenannte linke Flügel der Reformation, son-
tig, aber auch so fair wie möglich gegenüber den dern auch der jüdische Glaube und die Friedens-
Vätern und Müttern des Glaubens zu tun. kirchen. Von wirklicher Religionstoleranz sind die
damaligen Lösungen weit entfernt.

2. Die dunklen Schatten der Intoleranz, die


das neu entdeckte Licht der Reformation
geworfen hat, sind von Anfang an zu beklagen. 3. Grundsätzlich gilt: Im christlichen Glau-
ben ist die Haltung der Toleranz ebenso
So sehr uns der reformatorische Aufbruch der angelegt wie die der Intoleranz. Es gibt An-
Generation Martin Luthers, Huldrych Zwinglis knüpfungspunkte zu beiden inneren Haltungen
und Johannes Calvins beeindruckt im Blick auf und ein ehrlicher Rückblick auf die vergange-
ihren Mut gegenüber der alles dominierenden nen 500 Jahre Reformationsgeschichte zeigt vor

5
Licht und Schatten

> allem, dass auch in den reformatorischen zu Deutschland; so unbestreitbar richtig dieser
Kirchen und ihrer Theologie die Kräfte der In- Satz ist, so wenig ist es den reformatorischen
toleranz lange Zeit dominierten. Man kann Kirchen und ihrer Theologie gelungen, ein aus-
bestenfalls von einer Lerngeschichte in Sachen gereiftes Verhältnis zu dieser Religion zu finden.
Toleranz erzählen, initiiert und getragen von Zu oft pendeln verschiedene Stimmen zwischen
einer Aufklärung, die zwar nicht prinzipiell kritischer Klarheit und harmlos guter Nachbar-
gott- und glaubensfeindlich war, die ihre we- schaft hin und her. Das mag auch darin begrün-
sentlichen Einsichten aber weithin gegen die det sein, dass das Gegenüber zur Toleranz auch
Kirchen durchsetzen musste. Schon während heute nicht zuerst Intoleranz, sondern die Angst
des Dreißigjährigen Krieges hat eine erschöpfte um Identität ist. Toleranz ist herausgewachsen
europäische Gesellschaft den Mut und die Ein- aus einer reinen, paternalistischen Duldung.
sicht entwickelt, das Existenzrecht der Bürger Toleranz ist heute eine aktive Haltung, die den
zu unterscheiden von den Wahrheits- anderen, den Fremden kennenlernen
ansprüchen. Der Jurist Hugo Grotius Pendeln und verstehen will. Toleranz meint
hat für diese Entwicklung gewisser- zwischen nicht nur ein Hinnehmen dessen, was
maßen 1625 den Startschuss gegeben: kritik ich sowieso nicht verhindern kann,
durch seine berühmte Formulierung, und guter sondern Toleranz meint ein Sich-Be-
dass das Recht auch gelte „etsi deus Nachbar­ mühen um den anderen. Dazu aber
non daretur“ (auch wenn es Gott schaft ist es unerlässlich, sich der eigenen
nicht geben sollte). Natürlich speist zum Isl a m Position sicher und klar zu sein. Gute
sich diese Einsicht auch aus der refor- Nachbarschaft gelingt erst, wenn man
D r . T h i e s G u n d l ac h
matorischen Grunddifferenz zwischen Person Klarheit in den eigenen Positionen gewonnen
ist Vizepräsident des
Kirchenamtes der EKD
und Werk. Das Innere (coram deo) und das Äu- hat. Insofern ist jeder Dialog der Verschiedenen
in Hannover. Er leitet ßere (coram mundo) werden unterschieden, das zugleich die Aufforderung, sich der eigenen
die Hauptabteilung II Äußere mag von der Staatsgewalt bestimmt wer- Überzeugungen bewusst zu sein. Dazu gehört
Kirchliche Handlungs- den, das Innere aber, das Gewissen, der Glaube auch die Verantwortung dafür, die Grenzen ei-
felder. und die Gedanken bleiben frei und unabhängig ner verantwortbaren Toleranz zu kennen. Die
von aller Obrigkeit. Diese Freiheit, die Martin Toleranz muss intolerant werden, wenn sie es
Luther schon vor Kaiser und Reich 1521 in An- mit den Feinden der Toleranz zu tun bekommt.
spruch genommen hat, wurde wiederentdeckt Es geht um eine wehrhafte Toleranz, der ebenso
und gleichsam demokratisiert und generalisiert. viel daran liegt, den anderen zu kennen und zu
Sie aber wirklich durchzusetzen und für jeden verstehen, wie ihr daran liegt, den Feinden sol-
Menschen einklagbar zu machen, war noch ein cher Toleranz zu widerstehen. Denn es nähert
langer Lernweg, den nun nicht nur die Kirchen sich ja einer Selbstvergleichgültigung der refor-
und Konfessionen, sondern alle gesellschaft- matorischen Lerngeschichte in Sachen Toleranz,
lichen Gruppen und Kräfte gehen mussten. wenn die Grenzen der Toleranz nicht auch im
heutigen Gespräch der Religionen formuliert

4. Die notwendige Lerngeschichte dauert würden. Und dass diese Lerngeschichte nur im
an bis heute. Man wird zwar das Ver- Dialog und nicht statt Dialog weitergegeben
hältnis der beiden großen Kirchen in Deutsch- werden kann, liegt ja auch auf der Hand.
land nicht mehr mit der Kategorie Toleranz
beschreiben wollen, weil nach 100 Jahren öku-
menischer Bemühungen die Gemeinsamkeiten 5. Dieses Magazin macht den Versuch, einige
jener langen Schatten der mit der Reforma-
mit großer Selbstverständlichkeit gelebt werden. tion einsetzenden Geschichte der Toleranz und
Immer besser gelingt nach 50 Jahren jüdisch- Intoleranz zu kennzeichnen, aber auch wichtige
christlichem Dialog und den weiterhin nötigen Stationen der Lerngeschichte nachzuzeichnen
gemeinsamen Anstrengungen der christlichen oder wenigsten anzudeuten. Es werden viele
Kirchen, jeder Form von Rassismus und Anti- Aspekte und Gesichtspunkte fehlen, dennoch
semitismus entgegenzutreten, auch das Verhält- versteht sich das Magazin als Auftakt und Anre-
nis zu den jüdischen Glaubensgeschwistern zu gung für das Themenjahr „Reformation und To-
pflegen, wobei wir auch hier nicht von Toleranz leranz“, das 2013 mit vielen weiteren Hinweisen,
sprechen, sondern von Geschwisterlichkeit und Aktionen und Unternehmungen auf die Lernge-
Partnerschaft. Anders und ungeübter ist es da- schichte der christlichen Religion hinweisen will,
gegen im Verhältnis der christlichen Kirchen zu um sich dem Reformationsjubiläum 2017 nicht
den muslimischen Mitbürgern. Der Islam gehört unkritisch zu nähern.

6
Alltagsgeschichte n⁰1 Licht und Schatten

Null Toler anz?


In einer 8. Klasse eines Gymnasiums gestal­ chenden Menüs schlug dann eine Faust den stand ein Streit, was zu tun sei. Die einen spra­
teten Schüler eine interaktive Homepage, Jungen an der entsprechenden Stelle. Dazu chen sich für Sanktionen aus. Andere Lehr­
auf der ein Klassenkamerad beleidigt und ertönte Applaus. Ebenso konnte man Be­ kräfte fanden das Ganze aufgebauscht. Ihrer
gedemütigt werden kann. Die Startseite der leidigungen hinschreiben, für andere Schü­ Meinung nach handelte es sich hier um einen
Homepage zeigte das Bild des Schülers und ler lesbar. Auch fanden sich sehr demüti­ einfachen Schülerstreich. Früher habe man
es blinkte permanent ein Schriftzug auf: gende Geschichten über den Jungen auf der das Bild von eine Klassenkameraden an die
„Lass ihn leiden!“ Homepage. Tafel gemalt und dazu geschrieben: „Dieser
Foto: Basti Arlt

Besucher dieser Homepage konnten ent­ Ein Lehrer erfuhr zufällig von dieser Internet­ Junge ist ein Depp.“ Solche Schülerstreiche
scheiden, ob und wo der Schüler geschlagen seite und berief eine Klassenkonferenz ein. müsse man einfach tolerieren . . .
werden soll. Beim Anklicken des entspre­ Alle Lehrer waren schockiert, dennoch ent­ Vo n St e fa n M a a S S

7
Licht und Schatten

BürgertugenD,
Nicht
Staatspflicht
Über das schwierige Verhältnis von Toleranz
und Recht vo n H a n s M i c h a e l H e i n i g

  I. II.
Gibt man in die juristische Datenbank „juris“ Damit spiegelt sich
das Stichwort „Toleranz“ ein, erhält man mehr in unserer Rechtsord-
als 13.000 Treffer. Toleranz spielt im Rechtsleben nung (an ganz uner-
also augenscheinlich eine wichtige Rolle. Doch warteter Stelle) bis heu-
ein genauerer Blick auf den Befund lässt stutzen. te eine Vorstellung von
In zahlreichen Gesetzesnormen wird Toleranz Toleranz, die historisch
im Plural geschrieben: Bei solchen „Toleranzen“ sehr weit zurückreicht und
geht es um Abweichungen und Spielräume bei ursprünglich aus dem Feld der
technischen Vorgaben. Wer das Handwerk der Religionspolitik stammt: Toleranz
Optikerin oder des Optikers lernt, soll, so sieht als die Duldung von Abweichung,
es die einschlägige Ausbildungsverordnung vor, genauer: als Duldung Andersgläubiger
etwas über „Toleranzen“ wissen. Sonst würde das und Andersdenkender. Toleranz meint in die-
Brillenglas eben aus der Fassung fallen. Auch in sem Sinne keineswegs Beliebigkeit. Toleranz setzt
den meisten gerichtlichen Entscheidungen wird vielmehr begriffsnotwendig einen eigenen Stand-
die Toleranz bemüht, wenn Abweichungen von punkt, die Bereitschaft, den anderen in seiner
Grenzwerten gemeint sind. Wer etwa im Straßen- Andersartigkeit zu ertragen, aber auch gewisse
verkehr zu schnell, aber nicht allzu schnell fährt, Grenzen dieser Duldsamkeit voraus.
wird anders behandelt als bei Überschreitung
gewisser „Toleranzwerte“. Mit Toleranzgrenzen III.
und tolerierten Abweichungen schafft das Recht Toleranz als Grundmuster sozialer Ordnung
also eine Art Zwischenraum, der Verhältnismä- in Deutschland zu etablieren, war ein
ßigkeit und Einzelfallgerechtigkeit sicherstellen mühevoller Prozess. Der Preis, der
soll. Ähnlich wie bei technischen Toleranzen dafür zu entrichten war, hätte höher
wird ein gewisses Abweichen von der Norm kaum ausfallen können. Erst unter
geduldet. Ja, solche Abweichungen erscheinen dem Eindruck der Verheerungen der
gleichsam unvermeidlich. Toleranz meint so ver- konfessionellen Bürgerkriege des
standen, es nicht zu genau zu nehmen mit dem 16. und frühen 17. Jahrhunderts,
Normalmaß. insbesondere des Dreißigjährigen

8
Licht und Schatten

Krieges, der damit verbun- Schon Jenseits


denen Verwüstung Mit- vo m N o r m a l m a S S?
Das Recht zwingt den
teleuropas und des Todes
Intoleranten, die Freiheit
von Millionen setzte sich anderer zu achten.
das Toleranzdenken als eine Auch die ungewohnte
politische Leitidee hierzulan- Grünflächennutzung
de allmählich durch. Auf der Dritter, sofern die sich
Reichsebene wurde die religiöse im Rahmen von Park-
ordnung und geltenden
Wahrheitsfrage suspendiert, damit
Lärmschutzbestim-
die evangelische und die katholischen mungen bewegt.
Religionspartei einen modus vivendi fin-
den konnten. Auf der Ebene der einzelnen
Fürstentümer hingegen blieb es auch nach
dem Westfälischen Frieden zunächst bei
dem Grundsatz, dass der Landesherr die
Religion seiner Untertanen bestimmte
(cuius regio, eius religio). Mit der all-
mählichen Ausbildung einer säkular-
aufgeklärt verstandenen Staatsraison
und der durch Gebietseroberungen
bewirkten konfessionellen Mischung
der Bevölkerung war dann im 18.
Jahrhundert der Boden für eine aktive
staatliche Toleranzpolitik bereitet. Pro-
minenter Ausdruck einer solchen Poli-
tik ist bis heute der Ausspruch Friedrichs
des Zweiten, jeder möge nach seiner Façon
selig werden. Zu ergänzen wäre: Solange er >

9
Licht und Schatten

> nur dem preußischen Staat folgsam diente ristischen, den Laizismus begründenden Kampf
und nutzte. In der Folge zeigte sich immer wie- gegen die Religion, wie er in Frankreich im 19.
der, wie prekär diese Form staatspolitisch moti- Jahrhundert geführt wurde; schließlich von
vierter Toleranz war. Sie konnte staatsbürgerliche der staatlich verordneten Weltanschau-
Gleichheit und grundrechtliche Freiheit nicht ung, sei sie rassistisch-nationalsozialis-
ersetzen. Doch bis sich diese Grundpfeiler west- tischer, sei sie marxistisch-leninistischer
lichen Verfassungsdenkens auch in Deutschland Provenienz. Gerade damit der Staat
durchsetzten, sollte einige Zeit vergehen. Erst selbst nicht (noch einmal) religiös oder
mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 wurde weltanschaulich wird, ist der Staat des
deutschlandweit die bürgerliche und staatsbür- Grundgesetzes offen für die Religionen
gerliche Gleichberechtigung aller Religionen und und Weltanschauungen seiner Bürger.
Weltanschauungen garantiert (Art. 109 Abs. 1,
Art. 128 Abs. 1, Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV) und IV.
damit der Wechsel von der bloßen Toleranz hin Im heutigen Verfassungsdenken wird vom Staat
zu dem, was man in der modernen politischen also weit mehr gefordert als Toleranz. Gleich-
Philosophie mit „wechselseitige Anerkennung wohl geht Toleranz den Staat etwas an. Das
als Freie und Gleiche“ bezeichnet, vollzogen. bringt auch das Recht zum Ausdruck. Denn für
das Zusammenleben der Bürger ist Toleranz eine
III. unverzichtbare Voraussetzung friedlicher Ko-
Toleranz, verstanden als die bloße Duldung An- existenz. Toleranz ist heute nicht Staatspflicht,
dersgläubiger, stellt im Lichte dieser rechtsge- sondern Bürgertugend. Religionsfreiheit, Diskri-
schichtlichen Erfahrungen also eine überwun- minierungsverbot und Neutralitätsverpflichtung
dene Vorstufe zur Religionsfreiheit und zum adressieren als Teilgehalte der Verfassung den
Verbot religiöser Diskriminierungen dar. Tole- Staat. Er muss die religiöse Freiheit seiner Bürger
ranz meint – rechtshistorisch – gerade weniger achten und darf sich nicht mit einer bestimmten
als das Maß an Freiheit und Gleichheit, das aus- Religion identifizieren. Der einzelne Bürger hin-
gehend vom Postulat der Würde eines jeden Men- gegen nutzt diese Freiheit gerade auch, indem er
schen das Grundgesetz garantiert. Nach unserer sich in religiösen Fragen eindeutig positioniert.
heutigen Verfassung bestimmt nicht Toleranz, Er darf eine bestimmte Religion oder Weltan-
sondern die in der gleichen religiös-weltanschau- schauung haben, sein Leben nach den Lehren
lichen Freiheit aller Bürger wurzelnde Neutrali- dieser Religion oder Weltanschauung ausrichten
tät das Verhältnis des Staates zu den Religionen. und andere Religionen oder Weltanschauungen
Der Staat ist mit den Worten des Bundesverfas- gerade entschieden ablehnen.
sungsgerichts „Heimstatt aller Bürger“; nicht Aus dieser Freiheit erwächst in modernen Ge-
Duldung und Privilegierung, sondern die frei- sellschaften eine hochgradige Pluralität, die er-
heitliche Gleichberechtigung bildet deshalb das fahrungsgemäß nicht frei von Konflikten ist. Das
Leitmotiv unseres Religionsverfassungsrechts. Recht ist für die Einhegung der aus religiös-welt-
Dr. Hans Michael Weil religiöse Freiheit nicht nur Abwesenheit anschaulicher Vielfalt resultierenden Konflikte
H e i n i g ist Inhaber von staatlichem Zwang, sondern auch eine posi- aber eine knappe Ressource. Das Recht alleine
des Lehrstuhls für tive Freiheit zum religiösen Handeln umfasst, zielt kann das friedliche und produktive Zusammen-
Öffentliches Recht
das Neutralitätsverständnis des Grundgesetzes leben zwischen Menschen nicht garantieren. Es
an der Universität
Göttingen. Er leitet freilich nicht auf die Ausgrenzung der Religionen ist immer auch auf vor- und außerrechtliche In-
das Kirchenrechtliche und Weltanschauungen aus dem öffentlichen strumente des sozialen Konfliktmanagements
Institut der EKD. Raum. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes angewiesen. Eine weit verbreitete Haltung der
wollten sich vielmehr von drei Erfahrungen ab- Toleranz ist so gesehen beste Konfliktprävention.
setzen: vom Staatskirchensystem des 18. und 19.
Jahrhunderts mit seiner Verbindung von Thron V.
und Altar, in dem die christliche Religion für po- Wer Toleranz übt, muss irgendwo auch Grenzen
litische Zwecke vereinnahmt wurde; vom säkula- der Toleranz ziehen. Toleranz kennt qua Defini-

10
Licht und Schatten

Im am und Kreuz
müssen erlaubt sein –
solange der Imam nicht
zu Rechtsverstößen
aufruft und das Kreuz
im Klassenzimmer nicht
die Religionsfreiheit der
anderen beeinträchtigt.

tion ein Ende. Toleranz meint eben nicht Nihilis- leranz kommt eine kaum zu unterschätzende
mus oder absoluten Relativismus. Wenn Toleranz Bedeutung für die tatsächliche Verwirklichung
eine Tugend des Einzelnen darstellt, bestimmt der Religionsfreiheit als Rechtsgut zu: Je intole-
sich aber auch ihre Grenze nach individuellem ranter eine Gesellschaft ist, umso wichtiger ist
Dafürhalten. Davon tunlichst zu unterscheiden der effektive Schutz der Religionsfreiheit, umso
sind die Grenzen, die der Staat dem Streben und prekärer wird aber auch die Durchsetzung die-
Treiben des Einzelnen setzt, indem er bestimmte ses Anspruchs in der Gesellschaft, weil sie „to-
Verhaltensweisen ge- oder verbietet. Die staatli- leranzverbrauchend“ wirkt. Vor diesem Hin-
che Rechtsordnung setzt der Religionsfreiheit tergrund postulieren Landesverfassungen und
und den anderen Grundrechten Schranken. Sie Schulgesetze die Befähigung zur Toleranz zu
bildet aber nicht einfach die Grenzen der Tole- einem wesentlichen Ziel staatlicher Bildungsbe-
ranz ab. Denn das Recht zwingt auch den Into- mühungen.
leranten zur Achtung der Freiheit Dritter und Das Bundesverfassungsgericht spricht in
erlaubt dem Toleranten, im Verkehr der Bürger diesem Zusammenhang gar von einem „grund-
untereinander weit duldsamer zu sein, als von gesetzlichen Gebot der Toleranz“ – aber eben
ihm zwingend erwartet wird. gerade nicht als Ausdruck eines staatlichen To-
leranzzwanges, dem der Einzelne unterworfen
VI.
Fotos: l aif, epd

ist, sondern als einem verfassungsrechtlich aner-


Gleichwohl hängen Toleranz und Religions- kannten sozialen Gut, als Teil eines bürgerschaft-
freiheit auf geradezu verhängnisvolle Weise lichen Ethos, das es staatlicherseits zu fördern
zusammen. Denn der Bürgertugend der To- und zu schützen gilt.

11
Licht und Schatten

1555 1598 1648 1685


De r Augsburge r Da s Edi k t vo n Nantes De r Westfälisch e Mit dem Edik t vo n
Re ich s- u n d Re lig i o n s- gewährt den Reformierten Frie de beendet den Fo n­t ai­n e­­b le au beraubt
fri e de stellt die faktische in Frankreich, die sich auf Dreißigjährigen Krieg König Ludwig XIV. die
Existenz zweier Konfessi- Johannes Calvin berufen, und den achtzigjährigen französischen Protestanten
onen im Heiligen Römischen Gewissensfreiheit und die Freiheitskampf der Nie- aller religiösen wie bürger-
Reich Deutscher Nation fest freie Religionsausübung an derlande. Katholische wie lichen Rechte. Innerhalb
und ordnet die friedliche gesicherten Orten sowie evangelische Konfession weniger Monate fliehen
Koexistenz von Lutheranern die Bürgerrechte, bekräftigt werden gleichgestellt, Hundert­tausende soge-
und römischen Katholiken. zugleich den Katholizismus auch der reformierte Zweig nannter Hugenotten in die
als Staatsreligion. der Reformation, nicht aber Niederlande, die Schweiz
die sogenannten Täufer. und nach Preußen.

Stationen auf dem Weg der Frei


Eine Folge der Reformation ist die konfessionelle Aufteilung Mitteleuropas in Katholiken, Lutheraner
Miteinander koexistieren können. Erlasse und Erklärungen dokumentieren, wie sich diese Erkenntnis

1812 1847 1918 1927


Da s PreuSSisch e Da s To le r anze dik t Da s Fr au e nwa h lrecht Die Fr aue n o rdinati o n
Jude n e dik t stellt Juden Friedrich Wilhelms IV. wird nach jahrzehnte­ – die Kirche der Alt­
in Preußen gleich, macht ermöglicht auf der langem Kampf der preußischen Union
sie zu Staatsbürgern und Grund­lage der negativen Frauenbewegung um ermöglicht sie. 1958 wird
gewährt ihnen Nieder- Religionsfreiheit (also staats­bürgerliche die erste lutherische
lassungs-, Handels- und der Freiheit, keiner Religion Gleichstellung in der Pastorin zum Dienst in
Gewerbefreiheit. Von anzugehören) in Preußen Weimarer Verfassung der Kirche ordiniert.
Staatsämtern bleiben sie den Austritt aus der Kirche. gesetzlich verankert. Am 1. Januar 1978 voll-
ausgeschlossen, auch ziehen die evangelischen
gilt das Edikt nicht für neu Landes­kirchen die
einwandernde Juden. rechtliche Gleichstellung
von Pfarrerinnen
endgültig per Gesetz.
12
1685 1776 1781 1789
Mit dem Edi k t vo n Die „Virg in ia Da s To le r anzpate nt Die E rkl äru ng de r
P ot sda m bietet Fried- Decl ar ati o n o f Jose ph s II. ermöglicht M e n sch e n- un d
rich Wilhelm, der Große Right s“ legt für die Ein- den durch den West­ Bü rge rrechte in
Kurfürst, 20.000 protestan- wohner des US-Bundes- fälischen Frieden aner- Fr an kre ich ist einer
tischen Glaubensflücht­ staates Virginia die kannten protes­tantischen der Grundtexte für
lingen aus Frankreich freie wichtigsten Grundrechte Kirchen sowie den Ortho- Demo­kratie und Freiheit
und sichere ­Niederlassung fest. Religions-, Meinungs-, doxen in Österreich und in Frankreich. Sie ist
in Brandenburg und Presse- und Versammlungs- den Habsburger Kron- von der amerikani­schen
gewährt Privilegien und freiheit sowie die Trennung ländern erstmals seit der Unabhängigkeits-
Subventionen. Die von Staat und Kirche Gegenreformation wieder erklärung wie auch
Hugenotten tragen zum werden Bestandteil der die Religionsausübung. vom Gedankengut der
Aufbau des Landes bei. amerikanischen Verfassung. Aufklärung geprägt.

heit im Geiste der Toleranz


und Reformierte. Es zeigt sich, dass die Konfessionen nur in einem toleranten
nach und nach durchsetzt

Fotos: akg-im ages (5), bpk (2), Corbis (1), Gett y Im ages (1), istockphoto (1), ull stein bild (1), Wikipedia (3)
Mitunter waren
Toleranzedikte in
der Geschichte
von kurzer Dauer.
Manche wurden mit
der Zeit schleichend
oder durch eine
gegenteilige Ver­
ordnung außer Kraft

1945 1954 1973 gesetzt. So hob das


Edikt von Fontaine­
Mit dem Stut tgarte r Da s E n de de r Apa rth e id ist e in bleau das Edikt von
Sch uldb e ke n ntn i s Ra sse ntre n nung: Ve rb rech e n gege n Nantes wieder auf.
bekannte die nach dem ein amerikanische Rechts- die M e n sch lich ke it,
Zweiten Weltkrieg neu geschichte schreiben- beschließt die Voll-
gebildete Evangelische des Urteil des Obersten versammlung der UNO.
Kirche in Deutschland Gerichtshofes der 1976 tritt die ent-
(EKD) Mitschuld an den Verei­nigten Staaten sprechende Konvention
Verbrechen des National- läutet sie ein. zur Bekämpfung und
sozialismus. Die Erklärung Ahndung des Verbrechens
löste Kontroversen aus der Apartheid in Kraft.
und wurde Ausgangspunkt
einer Neubesinnung des
deutschen Protestantismus.
13
Licht und Schatten

Die Stiefkinder
der Refor m ation
Dulden heißt beleidigen – fand noch der Dichterfürst Johann
Wolfgang von Goethe. Zwölf Thesen und Fakten zur inner­
evangelischen Intoleranz Vo n Wa lte r F le i s c h m a n n -B i ste n

14
Licht und Schatten

Sta at s c h r i st e n ,
Höllenknechte:
Abt Albanus Schacht-
schneider, katholisch,
und Reichsbischof
Ludwig Müller,
evangelisch, dienten
sich Hitler an und
ernteten Widerspruch
aus ihren Kirchen.
Mehr „Schattenbilder“
auf den Seiten 4, 18
und 36.

1. Schwer erklärbar ist diese bittere Wahr-


heit: Wenige Jahrhunderte nach dem
Zentren der Reformation des 16. Jahrhunderts,
in Wittenberg, Zürich und Genf, haben durch
Ende der Christenverfolgungen im Römischen ihre intolerante Haltung gegenüber dem „linken
Reich durch das „Toleranzedikt“ des Jahres 313 Flügel“ bald ihre Glaubwürdigkeit und theolo-
diskriminierten Christen mit staatlicher wie gische Unabhängigkeit („allein die Schrift“) ein-
kirchlicher Billigung angebliche Außenseiter gebüßt.
und theologisch unbequeme Gruppierungen als

2.
Foto: K atrin Binner

„Ketzer“. Vom 11. bis 13. Jahrhundert standen Und das kam kurz gesagt so: Martin Lu-
Judenpogrome und die Verfolgung der Wal- ther hatte erkannt, dass politische Verän-
denser, Katharer und Hussiten auf der Tages- derungen notwendig waren. Doch er fürchtete
ordnung. Umso weniger verständlich ist dies: Aufruhr und Gewalt sowie allzu einschneidende
Auch die verantwortlichen Theologen in den Reformen im Gottesdienst. Deswegen ­plädierte >

15
Licht und Schatten

> er schon früh für Mäßigkeit. Er tat dies mit hat nach seiner Rückkehr nach Genf indirekt am
theo­lo­gischen Gründen wie mit Rücksicht auf die Tode des Mediziners Michael Servet mitgewirkt.
ihn und seine Anhänger schützende Obrigkeit. Auch wenn er freilich nicht – wie oft kolportiert –
Auch Huldrych Zwinglis Sympathie für weitaus der „Mörder Servets“ war, wollte er die Hinrich-
radikalere Konsequenzen einer „Reformation an tung des 44-Jährigen am 27. Oktober 1555 nicht
Haupt und Gliedern“ endete schon bald an den verhindern. Servet hatte schon als junger Mensch
Forderungen der „Täufer“ oder „Taufgesinnte“ gegen die traditionelle Trinitätslehre polemi-
genannten Gruppierungen. Diese entstanden siert. Jesus Christus und der Heilige Geist waren
ebenfalls in den 1520er Jahren in der Schweiz, für ihn nicht Gott selbst, sondern nur göttliche
in Tirol, in Franken und anderen Regionen. Sie Wirkweisen. Außerdem war er der Meinung, die
hatten infolge eines intensiven Bibelstudiums die Kirchenväter, die römische Kirche und die Refor-
Erkenntnis gewonnen, dass das Evangelium nur matoren hätten das Evangelium verfälscht, etwa
die Glaubenstaufe und eine strikte Trennung von in der Frage der Kindertaufe. Calvin begrüßte die
Kirche und Staat zulasse. Gutachten, Servet zum Tode zu verurteilen. Ver-
geblich forderte er mit anderen Pastoren lediglich

3. Der Reichstag in Speyer machte das ge-


samte politische wie theologische Di-
eine mildere Form der Hinrichtung als auf dem
Scheiterhaufen. So stimmt die These von Helmut
lemma offenkundig: Auf der einen Seite protes- Kremers: „Mag die Toleranz den Reformatoren
tierten 14 Reichsstände gegen dessen Beschluss, auch in die Wiege gelegt worden sein, sie blieb
endlich die Reichsacht gegen Martin Luther zu leider allzu oft darin liegen.“
vollziehen und ihn zu beseitigen. Sie begründe-
ten dies mit ihrem Verständnis von Glaubens-
und Gewissensfreiheit. Sie forderten, dass „in 5. Die Bestimmungen des Augsburger Re-
ligionsfriedens von 1555 räumten nur
den Sachen Gottes Ehre und unser Seelen be- den Anhängern der „Confessio Augustana“ und
langend ein jeglicher für sich selbst vor Gott ste- deren Religionsverwandten eine gewisse reichs-
hen und Rechenschaft geben“ müsse. Diese re- rechtliche Gleichstellung ein. Auch die Gesetz-
formatorische Erkenntnis leugnet nun das vom gebung des Westfälischen Friedens von 1648
gleichen Reichstag erneuerte Mandat, gegen alle hatte eine folgenschwere intolerante Schlagsei-
sogenannten Wiedertäufer die Todesstrafe zu te. Selbst nach den schrecklichen Erfahrungen
vollziehen. Auch mit Luthers und Melanchthons des Dreißigjährigen Krieges wurden neben der
theologischer Unterstützung wurden in den römisch-katholischen Religionspartei und den
meisten von der Reformation geprägten Ländern Lutheranern nur die Reformierten reichsrecht-
die Täufer grausam verfolgt. Der unter Reichs- lich einander gleichgestellt. Wie stark diese into-
acht und Bann stehende Luther war dagegen, an- lerante Haltung gegenüber anderen Kirchen der
gebliche Ketzer zu verbrennen. Kritikern seiner Reformation (wie Mennoniten, Baptisten, Me-
Tauf- und Geistlehre zeigte er wenig Gnade. Eine thodisten) noch Jahrhunderte nachwirkte, zeigt
rühmliche Ausnahme war der sich gegen diese die Tatsache, dass in einem renommierten Fach-
intolerante Haltung wendende hessische Land- lexikon noch 2003 über die Entscheidungen von
graf Philipp der Großmütige. Und selbst in der 1648 geschrieben werden konnte: „Die Sekten
Freien Reichsstadt Straßburg, einer rühmlichen blieben jedoch aus den religionsrechtlichen Ga-
Oase religiöser Toleranz, hatten spätestens nach rantien des Westfälischen Friedens ausgeschlos-
dem Interim von 1548 nicht nur die Täufer, son- sen.“
dern auch die Anhänger Johannes Calvins und
der auf innerprotestantischen Ausgleich be-
dachte Martin Bucer keine Zukunft. 6. Diese angeblichen „Sekten“ oder „Son-
dergemeinschaften“ – so etwa noch die
Bezeichnung für die Freikirche der Adventisten

4. Die Merkwürdigkeiten jener Zeit nahmen


kein Ende. Selbst der als Glaubensflücht-
in einem kirchenamtlichen lutherischen Hand-
buch aus dem Jahr 2000 – waren es aber letztlich,
ling in Straßburg am Leben gebliebene Calvin die unter Fortführung des Toleranzgedankens

16
Licht und Schatten

und der reformatorischen Forderung von Glau- dung einer „Arbeitsgemeinschaft Christlicher
bens- und Gewissensfreiheit dem Menschen- Kirchen in Deutschland“ hatten einen wesentlich
recht der Religionsfreiheit den Weg bereitet Anteil an der Überwindung alter Vorurteile.
haben. Die vor allem von der Theologie Bucers
und Calvins beeinflussten Kräfte der Dissenters,
Nonkonformisten, Kongregationalisten und Pu- 9. Nach dieser Geschichte innerevangeli­
scher Intoleranz kommt es einem Wun-
ritaner, waren mit dem Ergebnis der Reformati- der gleich, dass sich erstmals in der Geschichte
on im 16. und 17. Jahrhundert in England nicht der reformatorischen Kirchen bei der Zustim-
zufrieden. Gezwungen zur Auswanderung in die mung zur „Theologischen Erklärung der Be-
„Neue Welt“ konnten sie dort in einem ebenfalls kenntnissynode von Barmen“ vom 31. Mai 1934
mühsamen Prozess unter den neuen politischen Vertreter (und eine Vertreterin) lutherischer,
und konfessionellen Verhältnissen die Durchset- reformierter und unierter Gemeinden und Kir-
zung der Religionsfreiheit als Verfassungsrecht chen auf einen Bekenntnistext einigen konnten.
erreichen. Auch wenn der Bekenntnisrang Barmens bis
heute nicht unumstritten ist, war Barmen mit

7. Über den Artikel 16 der „Virginia Declara-


tion of Rights“ konnte nicht nur das Ende
ein Anstoß für die Lehrgespräche, die europa-
weit 1973 zur Leuenberger Konkordie geführt
der religiösen Intoleranz in Nordamerika er- haben. Dass 1997 auch die Methodisten Europas D r . Wa lt e r
reicht werden. Nach und nach fand der Gedanke in dieses Boot der Evangelischen Kirchen in Eu- F l e i s c h m a n n -B i st e n
der Religionsfreiheit über die US-Verfassung von ropa stiegen und mit den europäischen Baptisten leitet das Konfessions-
1791 auch Eingang in europäische Verfassungen. inzwischen wenigstens eine Art Assoziierungs- kundliche Institut in
Bensheim. Dort gilt sein
Goethes Auffassung „Dulden heißt beleidigen“ abkommen möglich war, sind hoffnungsvolle
besonderes Augenmerk
war schwer zu vermitteln. Die 1846 in London Zeichen. den evangelischen
gegründete „Evangelische Allianz“ spielte dabei Freikirchen und der
gerade in den deutschen Ländern eine oft unter-
schätzte positive Rolle. 10. Neben den schon erfolgten „Heilungen
von Erinnerungen“ – wie das Schuld-
innerprotestantischen
Ökumene.
bekenntnis und die Erklärung zur eucharisti-

8. Trotz des Scheiterns der demokratischen


Paulskirchenverfassung von 1848/49
schen Gastbereitschaft mit den Mennoniten und
die Erklärung voller Kirchengemeinschaft mit
und des nicht mehr aufzuhaltenden Wachstums den Methodisten in Deutschland vor rund 25
evangelischer Freikirchen beendete im Deut- Jahren – sind weitere Schritte nötig. Die in der
schen Reich erst das Inkrafttreten der Weimarer EKD und ihren Landeskirchen Verantwortlichen
Verfassung von 1919 dieses Unverhältnis von müssen die VEF-Kirchen schnellstens mit an den
Landes- und Freikirchen: „Jeder Menschen hat Vorbereitungen für 2017 beteiligen. Für viele von
Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Re- ihnen ist trotz aller Demütigung nicht verges-
ligionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, sen, dass auch sie Kinder der unvollendeten Re-
seine Religion oder seine Überzeugung zu wech- formation sind. Andere Freikirchen werden das
seln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine noch genauer buchstabieren müssen. Die Frage
Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit gegenseitiger Taufanerkennung dürfte dabei
anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch noch immer eine Schlüsselrolle spielen. Gerade
Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung angesichts weiter zunehmender Christenverfol-
von Riten zu bekunden“ (Art. 137). Selbst die gungen vor allem in Afrika und Asien werden
Umsetzung dieser Gleichberechtigung, die den auch die Kirchen der Reformation kritisch auf
Adventisten, Baptisten, Freien evangelischen ihre Missions- und Toleranzgeschichte schauen
Gemeinden, den Methodisten und Mennoniten müssen. Denn auch für sie gilt die These des frü-
endlich die Körperschaftsrechte ermöglichte, war heren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber
noch ein steiniger Weg. Die Gründung der „Ver- von 2011: „Die Selbstreinigung der Religionen
einigung Evangelischer Freikirchen“ (VEF) und vom Geist der Gewalt ist eine zwingende Konse-
die mit Hilfe vieler Freikirchen erreichte Grün- quenz aus dem 11. September.“

17
Der blutige K ampf um den
„Ich röche dich lieber gebraten in deinem Trotz“, rief der eine dem andern zu. „Solchen Mäulern muss
aus der Nase läuft“, erwiderte der andere. Intolerant waren beide – die Reformatoren und ihre Opfer

Z
u den dunklen Kapiteln der Reformati- „Realist“ treu an der Seite der Mächtigen – ge-
on gehört der buchstäblich mörderische gen jede Gesellschaftsutopie, erst recht gegen die
Kampf um Geist und Buchstabe, um re- anarchistischen Münsteraner. Der Wittenberger
ligiöse und soziale Gerechtigkeit, um unmit- Reformator hatte 1522 gegen die Bilderstürmer
Foto: K atrin Binner

telbare Gottesherrschaft als Volksherrschaft ei- für strikte Gewaltlosigkeit in Glaubensdingen


nerseits und von Gott abgeleitete Obrigkeit mit plädiert: „Predigen will ich’s, sagen will ich’s,
Untertanengehorsam andererseits. Im Kampf der schreiben will ich’s. Aber zwingen, mit Gewalt
Bauernhaufen um soziale Gerechtigkeit blieben dringen, will ich niemanden, denn der Glaube
die Fürsten Sieger. Luther stand fortan als der will willig, ungenötigt angenommen werden . . .

18
Licht und Schatten

M at t e s L i c h t Vo n
u n t e n und graublau
schimmert die
Mainbrücke: Projektion
einer Streckbank mit
Stachelrolle. Hinten
rechts in rot der Turm
auf dem alten Schlacht-
hofgelände. Weitere
Schattenbilder auf den
Seiten 4, 14 und 36 in
diesem Magazin.

neuen Gl auben
man mit der Faust antworten, dass ihnen das Blut
Vo n F r i e d r i c h S c h o r le m m e r

Was meint ihr wohl, was der Teufel denkt, wenn rück. Müntzer versteigt sich dazu, „daß man
man die Sache mit Gewalt, mit Rumor ausrich- die gottlosen Regenten, sonderlich Pfaffen und
ten will? Er sitzt hinten in der Hölle und denkt: Mönche töten sollte, die uns das Heilige Evan-
Oh, wie werden nun die Narren so ein feines Spiel gelium Ketzerei schelten und wollen gleichwohl
machen!“ Tolerieren hieß hier: die freie Entschei- die besten Christen sein . . . die Gottlosen haben
dung und freie Einsicht eines jeden respektieren. kein Recht zu leben.“ Da hatten sich die hohen
Fortan wurden indes rechthaberisch Wahrheiten Herren bereichert und den Armen zugerufen:
gegenseitig in Stellung, nicht ins Gespräch ge- „Gott hat geboten, ‚du sollst nicht stehlen‘.“ Doch
bracht. Luther schlägt zu, Müntzer schlägt zu- die Herren seien selber schuld daran, dass der >

19
Licht und Schatten

> arme Mann ihnen Feind wird, zumal sie die Er nahm Gott für seinen Sieg in Anspruch,
Ursache des Aufruhrs nicht wegtun wollen. wollte als ein geistbegabter Mystiker (s)ein Be-
Der Mystiker Müntzer verstand sich als un- freiungswerk tun, statt bloß in innerer und in-
mittelbaren Abgesandten Gottes, der das kla- nerlicher Freiheit zu verharren. Der „Satan zu
re Wort Gottes in der Seele vernommen hätte, Allstedt“ geißelte das „sanftlebende Fleisch zu
während der wortgewaltige Wittenberger darauf Wittenberg“. Hurtig wird beidseitig mit Gott
bestand, dass Christen die Geister prüfen, nicht und Teufel hantiert. Die Juden waren für Luther
drauflos handeln, vielmehr auf das Wort der gar ein vom Satan verführtes Volk und der Islam
Schrift und nicht den eigenen Gesichten trau- eine vom Teufel inspirierte Religion. Manichä-
en sollten. Hatte der Bergmannssohn zunächst isches Gut-Böse-Denken wird stets mörderische
die Sache der Bauern verteidigt und gerecht ge- Praxis. Solange jeder auf seiner Wahrheit als
nannt, so wettert er nun über alleiniger beharrt, kann es keine
das „eitel Teufelswerk“, wenn sie Toleranz geben, nicht einmal not-
mit Gewalt um ihr Recht kämpf- Und doch ist’s dürftige Koexistenz. Es gab leise
ten, Müntzer sei der Erzteufel. mir Leid, dass Ansätze zur Toleranz, die sich bei
Aufruhr sei nicht etwa nur ein man solche Leute Luther 1528 nach den schlimmen
einfacher Mord, sondern gerade- so jämmerlich Verfolgungen der Täufer zeigen:
zu ein Großfeuer, das das ganze Mordet „Doch ist’s nicht recht“, wendet
DR . h . C . F r i e d r i c h Land verwüs­ te. Aufrührerische Luther ein, „und ist mir wahr-
Schorlemmer Menschen müsste man wie einen lich leid, daß man solche elenden
lehrte von 1978 bis Martin Luther
tollen Hund totschlagen. Befürch- Leute so jämmerlich ermordet,
1992 als Dozent am
Evangelischen tete der eine eher die Anarchie, so verbrennt und greulich umbringt.
Predigerseminar schrie sich der andere für die arg gebeutelten Man sollte ja einen jeglichen glauben lassen, was
und war Prediger an Bauern die Seele aus dem Leibe. Müntzer höhnt: er wollt, glaubt er Unrecht so hat er genug Strafe
der Schlosskirche „Schlaf sanft, liebes Fleisch! Ich röche dich lieber an dem ewigen Feuer in der Hölle.“
in der Lutherstadt
gebraten in deinem Trotz . . . in deinem eigenen „Warum sie so martern, sofern sie nicht auf-
Wittenberg.
Südlein gekocht, sollte dich der Teufel fressen. rührerisch werden?“, fragt er besänftigend. Der
Du bist ein Ekelfleisch, du würdest langsam Toleranzgedanke bricht sich erst lang nach dem
gar werden.“ Luther lässt alle Barmherzigkeit Dreißigjährigen (Religions-)Krieg Bahn – über
hintanstehen, rechtfertigt seine harte Schrift die Stufe des notdürftig befriedenden Cuius-
gegen die Bauern: „Denn ein Aufrührer ist es regio-eius-religio-Prinzips. Nicht etwa Theolo-
nicht wert, daß man ihm mit Vernunft antwor- gen standen vornan, sondern Philosophen: der
tet, denn Vernunft nimmt er nicht an. Solchen Engländer Locke, der Franzose Voltaire und der
Mäulern muss man mit der Faust antworten, daß deutsche Aufklärer Wolff. In Deutschland ist
ihnen das Blut aus der Nase läuft . . . Ich will hier es insbesondere der jüdische Philosoph Moses
nichts von Barmherzigkeit hören oder wissen, Mendelssohn, dem der Pfarrerssohn Lessing in
sondern darauf achten, was Gottes Wort will.“ seiner Nathan-Figur ein Denkmal gesetzt hat,
Und Müntzer schreibt nach Frankenhausen: das heute geradezu weltweite Relevanz gewinnt:
„Seid keck und verlasset euch allein auf Gott, so „Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben,
wird er euch in kleinen Haufen mehr Stärk ge- Gutes wollen, das Beste tun.“
ben, denn ihr glauben könnet… lasset euch nur Würde nicht persönliche und gemeinschaft-
nicht mit gutem Worte zu keiner beschissenen liche Gewissheit dem Glauben und den Gläubigen
Barmherzigkeit bringen, so wird eure Sach wohl genügen können, einladend zum Dialog? Jeden-
bestehen.“ Bei beiden kein Gedanke mehr an den falls ist die Akzeptanz der Wahrheitssuche eines
Bergprediger, sondern gnadenlose Vernichtungs­ jeden – statt der Behauptung des Wahrheitsan-
imperative. spruchs der eigenen Wahrheit – ein Schlüssel für
Was das Wort Gottes will, das weiß Luther; er den Weltfrieden. Wer die Suche nach Wahrheit
hält sich selber für den wahren Bibelausleger und dem Besitz von Wahrheit vorzieht, wird bis heu-
den Hüter göttlicher Wahrheit. Und Müntzer re- te von denen ein Relativist und Subjektivist ge-
klamiert für sich den kämpfenden Propheten und scholten, der sein eigenes dogmatisches Gehäuse
leidensbereiten Herold göttlicher Gerechtigkeit. für den Tempel der Wahrheit hält.
„Dran, dran, dran…“, rief Müntzer wort- Und erst die Befreiungstheologie hat im 20.
mächtig den Bauernhaufen zu – als ein direkt Jahrhundert den im Glauben verankerten und
Foto: dpa

von Gott für seinen Kampf Inspirierter und Le- motivierten Kampf gegen soziale Ungerechtig-
gitimierter. keit aufgenommen.

20
Alltagsgeschichte n⁰2 Licht und Schatten

Schweinefleisch
Eine Kleinstadt war innerhalb von 15 Jahren same Essen nach den Arbeitsphasen bot eine es uns schmeckt oder nicht! Es geht um un­
von 8.000 Einwohnern auf 20.000 Einwoh­ wunderbare Gelegenheit, dass sich die Teil­ seren Glauben!“ Ein Muslim wandte sich an
ner angewachsen. Die alteingesessene Be­ nehmenden der Projektgruppe noch besser den Sozialarbeiter und sagte: „Sie werden es
völkerung war unsicher und ängstlich. Die kennenlernten. einmal vor Gott verantworten müssen, was
meisten Zugezogenen kamen aus der ehe­ Beim dritten Treffen ging die Gruppe in ein Sie heute getan haben!“ Der Sozialarbeiter
maligen Sowjetunion und der Türkei. Die chinesisches Restaurant. Diesmal sagte der war nun auch sehr verärgert und entgeg­
Stadt beschloss, Verständnis und Toleranz im Sozial­arbeiter nichts zum Essen. Plötzlich rief nete: „Muss man immer für euch mitdenken.
Zusammenleben zu fördern. eine junge Muslima entsetzt: „Da ist Schweine­ Außerdem will ich auch mal wieder Schwei­
Eine Gruppe von Bürgern ohne Migrations­ fleisch!“ Alle Muslime ließen sofort ihre Gabel nefleisch essen! Ich habe wegen euch zwei­
hintergrund, von Einwohnern mit türkischem fallen. Insbesondere die Jüngeren waren völlig mal auf Schweinefleisch verzichtet. Es gibt
und russlanddeutschen Hintergrund und von verunsichert, was dies für sie bedeute. auch ein Essen ohne Schweinefleisch und ihr
Vertreter/-innen verschiedener sozialer Insti­ Eine ältere Frau fragte den Sozialarbeiter, hättet ja fragen können, welcher Topf kein
tutionen sollten Probleme identifizieren und wieso er nichts zum Essen gesagt habe. Er Schweinefleisch enthält!“
Vorschläge erarbeiten, wie das Zusammen­ antwortete: „Es hat ja niemand gefragt! Entsetzen, Wut und Misstrauen wurden jetzt
leben verbessert werden könne. Die Gruppe Und es gibt ja auch eine Speise mit Hühner­ offen ausgesprochen. Den ganzen Nachmittag
traf sich insgesamt fünf Mal für zwei Tage fleisch!“ Die Emotionen kochten hoch. „Müs­ bearbeitete man diesen Konflikt. Die Teilneh­
von 9 bis 16 Uhr. Die Mitglieder der Gruppe sen wir jedes Mal fragen? Ist nicht bekannt, menden der Gruppe äußerten ihre Zweifel am
gingen sehr rücksichtsvoll miteinander um dass Muslime kein Schweinefleisch essen?“, Erfolg dieses Projekts.
und versuchten, unterschiedliche Positionen fragte eine Muslima. Später zeigte sich, dass es gerade wegen die­
zu verstehen. Der Wirt kam angelaufen und erkundigte ses sehr starken Konflikts möglich war, einan­
Das Mittagessen wurde jedes Mal in einem sich, ob mit dem Essen etwas nicht stimme. der zu begegnen und sich ehrlich die Meinung
anderen Restaurant der Stadt eingenommen. Ein Teilnehmer antwortete: „Einigen von uns zu sagen, aber auch die Meinung des anderen
Als die Gruppe die ersten beiden Male zum schmeckt kein Schweinefleisch und sie wuss­ zu hören. Offenheit und Ehrlichkeit in der
Foto: Ba sti Arlt

gemeinsamen Essen ging, erläuterte der ver­ ten nicht, dass in dem Essen Schweinefleisch Gruppe verhalfen zu mehr Verständnis für­­­
antwortliche Sozialarbeiter, dass das Essen ist.“ Nun wurden die Muslime noch ärger­ einander, so dass das Projekt schließlich er­
kein Schweinefleisch enthalte. Das gemein­ licher und meinten: „Es geht nicht darum, ob folgreich war. Von Ste fan M a aSS

21
Licht und Schatten

Ver mittlung
Gescheitert
Er war kein Bekenntnis zur Toleranz, aber wohl ein
unterschiedliche Lebensauffassungen in gleicher
ernsthafter Versuch, zwischen Reformierten und Weise für gültig zu halten.
Lutheranern zu vermitteln: Ein Rückblick auf 450 Jahre Mit dieser Erklärung gerät die Toleranz aller-
dings unversehens und unvermeidlich in das
Heidelberger Katechismus vo n M i c h a e l We i n r i c h ambivalente Licht, von der diese Gleichgültigkeit
umwittert ist, denn sie kann uns auch allen Un-
terschieden gegenüber gleichgültig machen. Was
aber wäre, wenn mit der Toleranz zugleich die

B
ekenntnis und Toleranz scheinen sich auf Gleichgültigkeit einzöge, wenn die Toleranz als
den ersten Blick gegenseitig auszuschlie- Aufforderung zur Indolenz verstanden würde,
ßen. Zumindest stehen sie zueinander in nach der nicht nur jeder nach seiner eigenen Fas-
einer kritischen Spannung. Dem Bekenntnis eig- son selig werden, sondern eben auch zur Hölle
net ein klarer und selbstbewusst vorgetragener fahren möge? Der bissige Antisemitismus eines
Standpunkt, für den jemand bereit ist einzuste- Voltaire dokumentiert beispielhaft, dass noch
hen. Die Toleranz zielt dagegen auf eine Akzep- ganz andere Abgründe in der Toleranzforderung
tanz, die über alle Standpunkte hinausgeht. liegen können im Sinne der Parole: Toleranz den
Man könnte sagen, die Toleranz ist selbst ein Toleranten! Wir stoßen hier auf das Phänomen,
Bekenntnis, eben ein Bekenntnis, das die Abso- das in der Philosophie die ‚Paradoxie der Tole-
lutheitsansprüche aller Bekenntnisse relativiert. ranz‘ genannt wird, die eigens bedacht sein will,
In diesem Sinne bekennen sich heute viele Men- wenn die Toleranz nicht unversehens zu ihrem
schen ausdrücklich zur Toleranz, weil sie davon eigenen Feind werden soll.
überzeugt sind, dass die Wahrheit strittig ist und Es zeigt sich: Toleranz ist nicht einfach Tole-
bleibt. Dies Bekenntnis hat eine hohe Überzeu- ranz. Es reicht nicht aus, sich zu ihr zu beken-
gungskraft, denn es entspannt das Zusammenle- nen. Vielmehr bedarf es noch eines weiteren
ben, jedenfalls wenn es mehr als ein billiges Lip- Bekenntnisses, um das Bekenntnis zur Toleranz
penbekenntnis ist, das bei der ersten konkreten vor Missbrauch zu schützen. Nur so kann aus der
D r . D r . H . C .
Begegnung mit etwas Ungewohntem in Verges- negativen Toleranz eine positive werden. Immer-
Michael WEinrich
ist Inhaber des Lehr- senheit gerät. hin kann ‚tolerare‘ auch mit ‚erträglich machen‘
stuhls für Systematische Doch wir sollten auch einen zweiten Blick ris- übersetzt werden, wobei das Wort plötzlich einen
Theologie an der kieren. Was bekennt eigentlich ein Bekenntnis zur aktiven Akzent bekommt. Dieses weitere Be-
Ev.-Theol. Fakultät der Toleranz? Es bekennt die Bereitschaft, unterschied- kenntnis kann ein Bekenntnis zum Rechtsstaat,
Ruhr-Universität
liche Weltanschauungen, Glaubensrichtungen und zur Humanität oder zu den Menschenrechten
Bochum und Direktor
des Ökumenischen
Religionen gewähren zu lassen. Freilich ist diese sein, durch das deutlich wird, dass Toleranz nicht
Instituts. Bereitschaft nicht grenzenlos, aber so lange die ei- einfach ein in sich ruhender Selbstzweck ist. Sie
Fotos: akg-im ages, Wikipedia

gene Lebensentfaltung nicht durch andere Lebens- wird mit einer bestimmten förderlichen Erwar-
konzepte beeinträchtigt oder gar bedrängt wird, tung verbunden.
gilt gleichsam der Blankoscheck der Toleranz. Das Dieses weitere Bekenntnis kann aber auch ein
lateinische Verb ‚tolerare‘ wird in der Regel mit Glaubensbekenntnis wie das christliche Glau-
‚ertragen‘, ‚erdulden‘ oder ‚aushalten‘ übersetzt. Es bensbekenntnis sein, das sich zu einem Gott be-
geht darum, etwas passiv hinzunehmen, ohne Ein- kennt, dessen Gnade und Barmherzigkeit allen
spruch zu erheben. Toleranz bekennt sich dazu, Menschen gilt. Das trifft nicht deshalb zu, weil

22
Licht und Schatten

H e i d e l b e r g vor dem
großen Konfessions-
krieg. Die Professoren
der Stadt erarbeiteten
den nach ihr benannten
Katechismus. Ein
Bekenntnis, gedacht
für alle Freunde der
Reformation.
Kolorierter Stich von
Georg Braun, 1572.

wir auch in all den anderen Religionen unseren dass die öffentliche Leugnung der Trinität mit
Gott wiedererkennen, sondern weil der Glaube der Todesstrafe zu ahnden sei.
uns dazu ermutigt, in allen Menschen in ihrer Der sogenannte Augsburger Religionsfriede von
unüberschaubaren Unterschiedlichkeit unab- 1555 hat nicht verhindern können, dass weite
hängig von irgendwelchen Voraussetzungen ein Teile Europas mit den Verheerungen von zahl-
Geschöpf Gottes zu erkennen, dem die Treue sei- reichen Konfessionskriegen überzogen wurden.
nes Schöpfers gilt. Auch dann waren es nicht die Kirchen, die sich
Und wie ist es mit Bekenntnissen, die so aus- eines Besseren besonnen hätten. Vielmehr ha-
drücklich konfessionell sind, wie der ben die aufkommenden National-
Heidelberger Katechismus (1563), staaten und die sie begründende
der seit nunmehr 450 Jahren vor Staatsphilosophie im 17. Jahrhun-
allem die reformierte Tradition ge- dert die Situation befriedigt.
prägt hat? Steht er nicht vor allem für Der Heidelberger Katechismus
eine Haltung der Abgrenzung und ist im Horizont der spannungs-
Rechthaberei? Mit einem Satz wird reichen Gemengelage der zweiten
man diese Fragen nicht beantwor- und dritten reformatorischen Ge-
ten können, weil die Distanz von 450 neration nach seinem Erscheinen
Jahren nicht einfach ignoriert wer- vonseiten einer streng lutherischen
den darf. Im 16. Jahrhundert wäre Minderheit wegen unorthodoxer
beispielsweise kaum jemand auf die W e r d e n au s B r o t Formulierungen im Abendmahls-
Idee gekommen, die substanziellen und Wein der verständnis als aufrührerisch und
Aussagen des Glaubensbekennt- L e i b u n d da s B l u t sogar widergöttlich attackiert wor-
C h r i st i?, fragt der
nisses in den Horizont von Toleranz­ den. Das hat dazu geführt, dass er
Heidelberger Katechis-
erwartungen zu stellen. mus (1563). Antwort: bis heute gegen die ausdrückliche
Wenn im Spätmittelalter davon Nein. – „Aber ja, gewiss Absicht seiner Erstellung und die
geredet wurde, etwas zu tolerieren, doch!“, antworteten Ausrichtung seines Inhalts konfes-
dann ging es darum, in unausweich- die lutherischen Ortho- sionalistisch ins reformierte Lager
doxen und lehnten die
lichen Fällen etwas Inakzeptables zu abgeschoben wurde. Heute mag es
Schrift als reformiert ab.
ertragen, weil dessen Bekämpfung als eine durchaus anmutige Ironie
mit noch größerem Übel verbunden der Geschichte angesehen werden,
wäre als eben die Duldung. Damit war grund- dass dieser Katechismus, der sich eine tragfähige
sätzlich keine Anerkennung verbunden. So wur- Vermittlung zwischen Lutheranern und Refor-
den beispielsweise – wenn auch nur mit strengen mierten zum Ziel gesetzt hatte, infolge eines über-
Auflagen – ‚Heiden‘ und Juden geduldet, während aus kurzatmigen, aber wirksamen Eifers zu einem
es Häretiker in jedem Fall zu bekämpfen galt. Es konfessionellen Bekenntnis der reformierten Tra-
wird deutlich, dass im Blick auf das rechte Ver- dition geworden ist. Die Reformierten fühlen sich
ständnis der Grundlagen des eigenen Glaubens durchaus recht verstanden, wenn sie sich mit die-
die Grenzen für eine solche strategische Toleranz sem Katechismus ausdrücklich zur gemeinsamen
besonders eng gezogen waren. Dementsprechend reformatorischen Tradition bekennen und sich
war es beispielsweise auch unter den sich gegen- eben nicht nur an einzelne Reformatoren wie
seitig bekämpfenden Konfessionen nicht strittig, Zwingli, Luther oder Calvin halten. >

23
Licht und Schatten

> Der Auftraggeber des Heidelberger Ka- ben in den Horizont der Dankbarkeit stellt. Es
techismus, der Pfälzer Kurfürst Friedrich III., kommt eine Freiheit in den Blick, die – wie Luther
ebenso wie sein Hauptverfasser, Zacharias Ur- in seiner berühmten Schrift „Von der Freiheit
sinus, waren im Geiste Melanchthons von dem eines Christenmenschen“ betont – nicht mehr
Motiv beseelt, die sich nach dem Tode Luthers sich selber dienen muss, sondern sich ganz und
vertiefende Kluft zwischen den Lu- gar in den Dienst an den bedräng-
theranern und den Reformierten ten Nächsten gewiesen weiß. Ihm
in einer Union zu überwinden. Der gilt es „Geduld, Frieden, Sanftmut,
Katechismus enthält sich weithin Barmherzigkeit und Freundlichkeit“
reformierter Sonderlehren, um die zu erweisen und „Schaden, so viel
gemeinsame biblisch begründe- uns möglich, von ihm“ abzuwen-
te reformatorische Lehre auf den den, wie es in Frage 107 heißt. Und
Leuchter zu stellen. Er weiß sich damit keiner auf die Idee kommt,
ganz und gar im Dienst der durch dass mit dem Nächs­­ten etwa nur die
die Reformation wieder in den Blick christlichen Nachbarn gemeint sein
gekommenen, freimachenden Bin- könnten, wird ausdrücklich hinzu-
Der Fromme –
dung des Glaubens an das Evange- gefügt, dass „auch unse­ren Feinden
Kurfürst Friedrich III
lium und eines von diesem Glauben von der Pfalz setzte
Gutes“ zu tun sei.
geprägten Lebens und verpflichtet daheim den Heidel­ Der Heidelberger Katechismus ist
sich auf keine konfessionelle Rich- berger Katechismus kein Bekenntnis zur Toleranz, wohl
tung. In diesem Sinne kann er nach durch. Unbekannter aber ein Bekenntnis, das sich nach
unseren heutigen Maßstäben als Künstler, 1574 heutigem Verständnis gern zum Be-
ausdrücklich ökumenisch gewür- kenntnis der Toleranz gesellt, um
digt werden. Diese inzwischen unbestrittene ge- dieses nicht der Gleichgültigkeit und der Leere
samtreformatorische Bedeutung gilt es anlässlich zu überlassen, sondern ihm zu einer besonderen
des 450. Jubiläums besonders herauszustellen. positiven Bestimmung zu verhelfen. Es kann das
Inhaltlich steht der Heidelberger Katechis- Bekenntnis zur Toleranz mit Leben erfüllen, da-
mus ganz und gar im Zeichen der versöhnenden mit dieses über das Niveau hinauskommt, schon
Zuwendung Gottes als dem einzigen tragfähigen damit zufrieden zu sein, die anderen einfach nur
Trost im Leben und im Sterben, der unser Le- in Ruhe zu lassen.

2013: Ter mine zu 450 Jahre Heidelberger K atechismus Stand: April 2012

9. M ai ARD-Gottesdienst aus der Heilig- nellen Gesellschaft kommt es darauf an, punkt setzt das Kurpfälzische Museum
geistkirche, Heidelberg das Zusammenspiel von Konfession und Heidelberg und präsentiert den Heidel-
Toleranz zu lernen und so den „Streit um berger Katechismus in den Zusammen-
11. M ai „Macht des Glaubens“: Festakt die Wahrheit“ mit der „Fähigkeit zum hängen seiner Entstehungszeit.
in der Heiliggeistkirche, Heidelberg, zur Frieden“ zu verbinden. www.machtdesglaubens2013.de
Eröffnung der Heidelberger Ausstellung.
Mit dem Ratsvorsitzenden der EKD, Prä- 11. M ai bis 15. September 12. M ai Festgottesdienst in der Heilig-
ses Nikolaus Schneider und Staatsgäs­ten. „Macht des Glaubens“: Jubiläums­ geistkirche Heidelberg unter Mitwirkung
ausstellung an drei Orten: im Kurpfäl- von Gästen verschiedener Konfessionen
EKD, Union Evangelischer Kirchen in der zischen Museum Heidelberg, im Ott­
EKD (UEK), Reformierter Bund in Deutsch- heinrichsbau des Heidelberger Schlosses 28. September Festakt und Fest­
land und Evangelische Landeskirche in Ba- und in den Niederlanden im Paleis Het gottesdienst der Evangelischen Kirche
den mit dem Land Baden-Württemberg Loo Apeldoorn (Niederlande). Ausstel- der Pfalz in der Stiftskirche in Neustadt
und der Stadt Heidelberg lungsschwerpunkt in den Niederlanden an der Weinstraße, wo Zacharias
Der Heidelberger Katechismus ist bis ist die Religiosität der Oranier und deren Ursinus, Verfasser des Heidelberger
heute in reformierten und unierten Geschichte. Katechismus, von 1577 an lebte und
Kirchen rund um die Welt in Gebrauch Im Heidelberger Schloss geht um es die 1583 starb.
und stellt Christen die Aufgabe, plausibel Kurfürsten und deren Politik, höfische
zu machen, worum es im christlichen Lebensformen und Repräsentationsan- 31. Oktober Verleihung der Luther-
Glauben geht. In einer multikonfessio- sprüche. Den wissenschaftlichen Schwer- Medaille der EKD in Heidelberg

24
Licht und Schatten

Wor mser
Religionsgespr äche 2013
Mit Podiumsdebatten, Workshops und einem
Konzert will die Stadt am Rhein an die Tradition der
Religions­gespräche anknüpfen vo n Vo lk e r G a llé

D u l d e n o d e r V e r st e h e n? Lesepult und
Toraschrein in der Synagoge zu Worms.

G
espräche kommen nur zustande, wenn es nigung dennoch für das Potenzial der Verstän-
verschiedene Meinungen gibt und die Mei- digung in religiösen Fragen. Deshalb greift die
nenden sich dennoch austauschen wollen. Stadt Worms gemeinsam mit der EKHN und der
Das ist bei Religionsgesprächen nicht anders, nur EKD im Themenjahr „Reformation und Tole-
dass Religion vom Grundsatz her mit Wahrheits- ranz“ der Lutherdekade diese Tradition auf und
und Bekenntnisansprüchen einhergeht. lädt vom 19. bis 21. April 2013 zu „Wormser Reli-
1541 suchten Martin Bucer und Johannes gionsgesprächen“ ein, die im ersten Jahr den Ar- Vo l k e r G a l l é ist
Gropper beim ersten Wormser Religionsge- beitstitel „Dulden oder verstehen“ tragen und alle als Kulturkoordinator
spräch nach einem Konsens in ge- zwei Jahre unter einem anderen Thema der Stadt Worms
Seit dem verantwortlich für
meinsamen Lehrartikeln, dem fortgesetzt werden sollen.
die Entwicklung der
„Wormser Buch“. Und auch nach dem Mittel alter Kirchenpräsident i. R. Prof. Dr. Kulturprofile in Worms.
Augsburger Religionsfrieden, der das debattieren Peter Steinacker als Kurator hat bis-
Reich in evangelische und katholische Christen her Zusagen von Prof. Dr. Muhannad
Territorien teilte, wurde 1557 beim mit Juden Khorchide, Islamwissenschaftler und
zweiten Wormser Religionsgespräch, und Soziologe an der Universität Münster,
an dem Melanchthon und Gropper Muslimen Prof. Dr. Rainer Forst, Philosoph und
teilnahmen, ein erneuter Konsens- Politikwissenschaftler an der Uni-
versuch unternommen. Beide Gespräche hatten versität Frankfurt/Main, sowie Landesbischof
nicht den gewünschten Erfolg. Das gilt auch Prof. Dr. Friedrich Weber (Braunschweig) und
für das ebenfalls 1557 in Worms-Pfeddersheim Karl Kardinal Lehmann (Mainz). Angefragt ist
Fotos: Wikipedia , akg-im ages

geführte Gespräch zwischen Reformierten und für das Podium am 21. April weiterhin Rabbi-
Täufern. ner Julien Chaim Soussan. Eröffnet werden die
Seit dem frühen Mittelalter führen Christen Religionsgespräche bereits am Freitagabend mit
und Juden sowie Christen und Muslime in Eu­ einer Rede. Samstags folgen Workshops und ein
ropa und im Nahen Osten Religionsgespräche in Abendkonzert mit Liedern aus dem Reforma-
religiösen Streitfragen. Diese Gespräche stehen tionszeitalter, die als Buchsammlung bei Peter
trotz ihres oft uneingelösten Anspruchs auf Ei- Schöffer in Worms gedruckt wurden.

25
Jetzt und Hier

D Wie viel Religion


er demokratische Rechtsstaat verträgt
nicht nur Religion, zu einem Teil fußt
er in seinen Normen und Werten auch
auf religiösen Wertvorstellungen. Der freiheit-
liche, säkularisierte Staat lebe von Vorausset- vertr ägt die
zungen, die er selbst nicht garantieren könne,
so hat es mehrfach und prominent der Rechts-
philosoph und ehemalige Richter am Bundes-
demokr atie?
verfassungsgericht, Ernst Wolfgang Böcken- Ein gänzlich laizistischer Staat brächte sich
förde, ausgedrückt.
Viele Errungenschaften unseres demokra- um Debatten, die ihn von der Banalität des
tischen Staatswesens sind bereits in den Er- Ökonomischen bewahren
kenntnissen der Reformation angelegt. Und es
gibt Schattenseiten, die nicht bestritten werden vo n K atr i n G ö r i n g - E c k a rdt
sollen und dürfen. Martin Luthers Aussagen
etwa über die römisch-katholische Kirche sei-
ner Zeit und besonders auch gegenüber den
Juden sind im höchsten Maße ambivalent und
alles andere als tolerant. Bei all seinen groß-
artigen Entdeckungen zur Freiheit im Glau-
ben hatte auch Martin Luther offensichtlich
Feindbilder, an denen er sich abgearbeitet hat.
So begann mit ihm zwar ein unumkehrbarer
Weg, aber es brauchte Zeit, bis der Schatz der
Freiheit, der tief im christlichen Menschenbild
wurzelt, in der Folge der Reformation neu ge-
hoben werden konnte. Letztlich musste dieser
urreformatorische Gedanke der Freiheit eines
Christenmenschen sogar gegen kirchliche
Lehrmeinung erkämpft werden. Weil die Kir-
che aber schmerzhaft durch die Reformation
gegangen ist und dabei ihren Alleinvertre-
F e i e r st u n d e m i t Kr e u z e n :
tungsanspruch zugunsten der Anerkennung
Volkstrauertag 2009 im Bundestag
von Pluralität aufgegeben hat, steht die evan-
gelische Kirche heute für Toleranz ein und
wirbt für sie – auch für die Freiheit Anders-
denkender und Andersglaubender und ebenso
für die Freiheit von der Religion.

Die Reformation gehört ganz zentral zur


Vorgeschichte unserer modernen Demokra-
tie. War der Thesenanschlag von Wittenberg
vor fast 500 Jahren eher noch eine akademisch
übliche Diskussionseröffnung, so war Martin
Luther der erste Demonstrant vor Kaiser und
Reich und die Reformation die erste soziale
Bewegung, die von einer breiten Basis getragen
wurde. Vor allen inhaltlichen Forderungen
war die Reformation eine Art Urszene für die
Entwicklung der Zivilgesellschaft in Deutsch-
land und Europa in den darauf folgenden Jahr-
hunderten.
Das „Priestertum aller Getauften“, das Lu-
ther ausrief und das eine der Kernbotschaften

26
der Reformation wurde, bricht radikal mit der vollständig von der Religion und allem Kirch-
Hierarchie zwischen sogenannten Laien und lichen befreien, verkennt die positive Kraft, die
Klerikern, Jahrhunderte, bevor das Standes- in diesem Erbe liegt und die Bereicherung, die
wesen abgeschafft wurde. Der Wert einer Per- die Gesellschaft dadurch erfährt: Der Gedanke
son wird demnach allein in ihrer Anerkennung eines solidarischen Miteinanders hat bis heute
durch Gott begründet, unabhängig von gesell- nichts von seiner Aktualität oder seinem demo-
schaftlichem Status, individuellem Vermögen kratischen Gehalt verloren.
und religiöser oder anderer Leistung. Es ist ein Kennzeichen totalitärer Staaten, sich
Seit der Aufklärung wurde diese Überzeugung die Religion entweder einzuverleiben und für die
zunehmend auf alle Bürgerinnen und Bürger des eigenen Zwecke zu gebrauchen, oder aber sich
Staates ausgeweitet, wobei sowohl die Juden wie von jeglicher Religion befreien zu wollen. Religi-
auch die Frauen sehr lange warten mussten, bis on wird als überflüssig, kontraproduktiv oder als
auch ihnen die gleichen Rechte zuerkannt wur- vollkommener Unsinn diskreditiert und keinerlei
den. Auch im Grundgesetz hat sich diese Über- kritisches Gegenüber geduldet.
zeugung säkularisiert und demokratisiert. Heute Dass totalitäre Systeme eine Konkurrenz und
sind die Grundrechte in den Artikeln 1 bis 19 der Rivalität mit den Religionen fürchten, lässt sich
Verfassung unverrückbar niedergeschrieben; in gut an der friedlichen Revolution in Deutschland
Artikel 3 GG heißt es: „Alle Menschen sind vor von 1989 erkennen: Die Angst der Machthaber
dem Gesetz gleich.“ vor der kirchlichen Opposition war deshalb so
groß, weil die Menschen im Schutzraum der Kir-
Der Zugang zur Sprache – ein Punkt, der chen unempfindlicher für Drohungen und Unter-
gerade heute in den Debatten um Integration drückungen waren. Sie wagten, freier und mutiger
eine wichtige Rolle spielt – wurde von den Re- zu agieren als manch andere, und fürchteten sich Seit dem Jahr 2009
formatorinnen und Reformatoren als Bedingung weniger, ihre Meinung und Kritik öffentlich zu ist K at r i n G ö r i n g -­
für religiöse und gesellschaftliche Teilhabe ange- äußern. E c k a rd t Vorsitzende
sehen. Mit der Übersetzung der Bibel ins Deut- Der demokratische Staat distanziert sich der Synode der EKD.
sche gab Luther den sogenannten „kleinen Leu- nicht von Religion, sondern versteht sie in grö- Sie ist Vizepräsiden­
tin des Deutschen
ten“ Partizipationsinstrumente in die Hand. Mit ßerer Ausdrücklichkeit als ein Gegenüber. In
­Bundestages und kultur­
der Forderung nach Bildung für alle ließ sich der der Demokratie haben unter anderem die Kir- politische Sprecherin
Alleinvertretungsanspruch des Klerus infrage chen und Religionen die Aufgabe, in einem von Bündnis 90/Die
stellen. Luther und die Reformatoren wollten, Spannungsfeld von Nähe und kritischer Distanz Grünen.
dass alle Menschen mündige Leser der Bibel wer- zum Staat diesen einerseits mitzugestalten und
den. Aus dieser reformatorischen Idee erwuchs andererseits ihm einen Spiegel vorzuhalten. Sie
die allgemeine Schulpflicht – die zuerst in pro- sind wichtige Diskussionspartner, die besondere
testantischen Gegenden eingeführt wurde und Aspekte in den öffentlichen Diskurs einbringen
dann zum Allgemeingut der abendländischen können - zum Beispiel bei der Frage, wie sich
Welt werden sollte, eine Grundvoraussetzung für Werte wie Vielfalt, Toleranz und Miteinander
jede demokratische Teilhabegerechtigkeit heute. gestalten lassen. Und Kirchen und Religionen
Deshalb gehört die Reformation zur Vorge- sind nicht zuletzt ein wichtiges Korrektiv in Ge-
schichte der deutschen Demokratie. Durch die sellschaften, deren Sinnstiftung sich immer mehr
reformatorische Schriftorientierung konnten zu ökonomisieren droht: Sie halten das „Fenster
die Gläubigen Kritik und Zweifel erlernen, heu- zum Himmel“ offen.
te würde man sagen: Sie konnten mündige und Insofern profitiert der Rechtsstaat von den
streitbare Bürgerinnen und Bürgern werden. Religionen, ihre Institutionen können insbeson-
Eben nach dem Motto: „Hier stehe ich. Ich kann dere bei ethischen Fragestellungen Meinungen
nicht anders.“ wahrnehmen, die nicht der Logik und den Sach-
zwängen des Politischen gehorchen. Ein gänzlich
Die Reformation steht am Beginn der kultu- laizistischer Staat, der alle Religionsausübung
rellen und religiösen Pluralisierung Europas. Der privatisiert und jede öffentliche Darstellung ver-
demokratische Rechtsstaat fußt auf der Religion bietet, drängt Religion nicht nur in die Hinter-
und ihren Wertegrundlagen, geht aber nicht in höfe der Gesellschaft und macht die Religionen
ihr auf. Die zwar nur gelegentlich, dafür aber so unsichtbar, sondern er bringt sich auch um
Foto: dpa

umso öffentlichkeitswirksamer vorgetragenen Debatten, die ihn vor der Banalität des rein Öko-
Appelle, der demokratische Staat müsse sich nomischen behüten können.

27
Jetzt und Hier

Toleranz in
internationalen
Konflikten
Um Unrecht abzuwenden, muss man manchmal militärisch ein­greifen.
Über Grenzen und Chancen der sogenannten Schutzverantwortung
vo n Th om a s d e M a i z i è r e

D
er Begriff der Toleranz wurde im 16. Jahr- das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen: To-
hundert aus dem Lateinischen entlehnt, leranz, Gleichgültigkeit und Ignoranz liegen nah
„tolerare“ bedeutete ursprünglich: erdul- beieinander.
den, ertragen. Erst mit der Aufklärung wurde Als trauriges Sinnbild für Gleichgültigkeit
die Toleranz zunehmend als Tugend, als Geistes- und Ignoranz geht wohl der Völkermord von
Foto: © 2006 Bundeswehr / L anger

haltung der (zunächst nur) religiösen Offenheit Ruanda in die Geschichtsbücher ein: Am 7. April
verstanden. 1994 begann das Töten. Innerhalb von 100 Tagen
In welchem Verhältnis stehen jedoch Toleranz wurden in dem kleinen afrikanischen Staat Ru-
und Verantwortung zueinander, wenn wir Zeu- anda über eine Million Menschen umgebracht.
gen von Menschenrechtsverletzungen und hu- Die Vereinten Nationen zogen jedoch mitten in
manitären Notlagen in anderen Staaten werden? diesem Völkermord ihre vor Ort stationierten
Wie definieren wir die Grenzen der Toleranz? Blauhelme bis auf eine kleine Truppe ab.
„Ignorieren alleine ist noch keine Toleranz“, mit Zehn Jahre später schreibt der damalige Blau-
diesem Ausspruch beschrieb Theodor Fontane helmkommandeur General Roméo Dallaire in

28
Jetzt und Hier

seinem Buch „Shake hands with the devil“: Die • Können wir mit einem militärischen Eingrei-
„wahren Verräter“, die „wahren Mittäter“, das fen die Situation der Menschen vor Ort verbes-
sind „die Staaten“, die „internationale Gemein- sern?
schaft“, „mit ihrer Gleichgültigkeit und ihren Ei- • Haben wir die entsprechenden Mittel?
geninteressen“. • Wie kann die Politik fortgesetzt werden, wenn
Menschenrechtsverletzungen und humani- und während der Einsatz beginnt, läuft oder be-
täre Notlagen sind leider auch heute Teil unserer endet wird? Dr. Thomas
Welt. Welche Verantwortung trägt Deutschland • Welcher Preis ist zu zahlen, an Menschen, an de Maizière

in solchen Situationen? Zerstörung, an Geld? ist Bundesminister


der Verteidigung.
Völkerrechtlich gesehen basiert unsere in-
ternationale Ordnung seit dem Westfälischen Auch die langfristigen Folgen einer militärischen
Frieden grundsätzlich auf einem System souve- Intervention müssen wir prüfen: Fördern wir
räner Staaten. Eines der konstitutiven Elemente mit unserem Eingreifen möglicherweise nur den
der staatlichen Souveränität ist das Prinzip der Sturz eines bestimmten Regimes? Ist unser mi-
Nichteinmischung eines Staates in die inneren litärisches Eingreifen womöglich nur der Start-
Angelegenheiten eines anderen Staates. schuss für einen neuen Bürgerkrieg? Kann sich
Der Völkermord in Ruanda sowie die Erfah- ein ursprünglich nationaler Konflikt durch das
rungen während der Balkankriege haben jedoch Eingreifen internationaler Truppen möglicher-
einen Prozess des Umdenkens angestoßen: Im weise sogar zu einem Flächenbrand in der ganzen
Jahr 2005 nahm die Generalversammlung der Region entwickeln?
Vereinten Nationen auf ihrem Weltgipfel ein neues
Konzept von Verantwortung auf: Die „Responsi- „Wir mögen künftig auch
bility to Protect“ (Schutzverantwortung) umfasst Schuld auf uns L aden . . . “
eine Verantwortung jedes einzelnen Staates, seine „In Verantwortung vor Gott und den Menschen“
Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, – das ist ein guter Maßstab auch für die Entschei-
ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die dung über eine militärische Intervention im Rah-
Menschlichkeit zu schützen. Um einen solchen men der Schutzverantwortung. Wenn wir nach
Schutz zu gewährleisten, können die Vereinten Abwägung aller bekannten Umstände zu dem
Nationen als letztes Mittel auch „kollektive Maß- Ergebnis kommen: ein militärisches Eingreifen
nahmen nach Kapitel VII der UN-Charta“ (also können wir nicht verantworten, dann wird das
auch militärische Mittel) ergreifen. in der Regel jedoch nicht Ausdruck unserer To-
Wir werden uns darüber Gedanken machen leranz sein. Es wird vielmehr Ausdruck der Tat-
müssen, wie wir diese Verantwortung künftig sache sein, dass wir uns der Begrenztheit unserer
wahrnehmen werden. Folgt aus dem Recht zum militärischen Wirkmöglichkeiten bewusst sind
Eingreifen möglicherweise sogar eine Pflicht, mi- und dass wir bereit sind, die Erfolgsaussichten
litärisch einzugreifen? Sicher nicht. unseres Handelns (selbst-)kritisch einzuschät-
zen. Aber diese Argumentation gilt auch umge-
Verbessert ein Militäreinsatz kehrt: Es kann sein, dass aus Verantwortung ein
die L age der Menschen? Einsatz geboten ist.
Der Grundgedanke jeglicher Entscheidung muss Das Auseinanderfallen von „Wollen“ und
sein: Ist eine militärische Intervention geeignet, „Können“ werden wir jedoch auch künftig
mehr Positives als Negatives zu bewirken? manchmal aushalten müssen. Wir werden Fehler
Einfache Antworten wird es nicht geben. Und machen. Und wir werden möglicherweise durch
einfache Antworten darf es auch nicht geben. künftige Entscheidungen auch Schuld auf uns
Denn: Hinter dieser Fragestellung steht immer laden. Das mag entmutigend und im ursprüng-
auch die existenzielle Frage nach der Legitimität lichen Sinne des Wortes – schwer zu „tolerieren“,
der Anwendung von Gewalt zur Überwindung also schwer zu ertragen sein. Aber – es ist eben
von Gewalt. In jeder Situation müssen wir sehr auch Teil unserer umfassenden Verantwortung
ernsthaft und umfassend abwägen: vor Gott und den Menschen.

29
L ä sti g e r N a h b e r e i c h

Die Kirchen sollten die


Gesellschaf t einladend
sie Möglichkeiten, ein Vo gestalten. Stat tdessen
rbild für Toleranz zu se verschenken
in vo n Ar n u lf vo n S c h
e li h a

30
Jetzt und Hier

A
nonyme Bestattungen auf kirchlichen Mächtigen, sollen den ‚inneren Menschen‘ re- Bilder von oben nach
Friedhöfen? Ein gleichgeschlechtliches spektieren, seine Wahrheit tolerieren. Hinter all unten: Kiss-in, 2005.
Stich in die befruchtete
Paar im Pfarrhaus? Ein muslimischer diesen Einsichten steht das biblische Gleichnis
Eizelle, niederländische
Ehemann einer Pastorin? Auch die Kirchen der vom Unkraut unter dem Weizen (vgl. Mt 13,24– Stammzellforschung.
Reformation tun sich gelegentlich schwer mit der 30.36–43). Jesus lässt auf die Frage der Knechte, Nach den Gebeten zu
toleranten Haltung abweichenden Verhaltens- ob sie das mit dem Weizen wachsende Unkraut Ramadanbeginn: Ein
und Lebensformen gegenüber. Wenn der eigene jäten sollen, den Herrn antworten: „Nein! Damit Mädchen läuft in die
Nahbereich betroffen ist, werden sie lästig. Dann ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ausgebreiteten Arme
von Mohamed Taha
beruft man sich lieber auf die Friedhofsordnung, ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinan-
Sabri, Vor­sitzenden
auf die Tradition oder auf das Dienstrecht. der wachsen bis zur Ernte“ (Mt 13,28f). Hier der Neuköllner
Auch bei den großen ethischen Debatten fällt findet sich Jesu grundsätzliche Weisung, dass Begegnungs­stätte,
Toleranz von moralischen Überzeugungen An- niemand mit Gewalt zum Glauben zu zwingen, August 2009
dersdenkender schwer. Aber es gibt gute Gründe vielmehr sogar Unkraut zu tolerieren ist.
dafür, bestimmte Formen aktiver Sterbehilfe nicht Aber kein Prinzip führt sich selbst aus. Es
für verwerflich zu halten, die Forschungsfreiheit muss interpretiert und angewendet werden.
über den Embryonenschutz zu stellen oder dafür, Das fällt beim Toleranzgebot umso schwerer,
durch Präimplantationsdiagnostik das Risiko je stärker das Eigene, das Intime, die Sphäre
der Geburt behinderter Kinder zu verringern. der Wahrheit berührt
all em die EU
Leider bewahrheitet sich auf diesen schwierigen werden. Daher konn- We nig er die Kir ch en , vo r
an z an
Gebieten oft die Feststellung des Theologen Ernst te Luther die politi- tre ibt he ut e zu me hr To ler
Troeltsch, dass die Moral wesentlich als Waffe zur schen Konsequenzen,
moralischen Entwertung der Gegner, weniger als die Thomas Müntzer der Reformation entnahm,
Regel des eigenen Verhaltens dient. nicht dulden und rief die Obrigkeit gegen ihn zur
Toleranz aber fordert eine Entwaffnung im Hilfe. In Genf hat Johannes Calvin dem religi-
Konflikt. Sie soll die andere Wahrheit dulden. ösen Justizmord an dem Antitrinitarier Michel
Sie ermahnt zur Vielfalt, wo wir intuitiv nach Servet zugestimmt. Dass Christen allen Ernstes
Gleichheit streben. Toleranz ist eine Heraus- Toleranz verwerfen und Intoleranz predigen,
forderung, die anzunehmen etwas abverlangt! zeigt das Beispiel des renommierten „Lexikons
Dieser Selbstaufwand, der zur Toleranz benötigt für Theologie und Kirche“. In dem Artikel „Dul-
wird, dürfte der Grund dafür sein, dass es Mühe dung“ aus dem Jahre 1931 heißt es: „Die katho-
macht, die großen und bis heute Weg weisenden lische Kirche und der Katholik sind . . . absolut
Begründungen von Toleranz mit Leben zu füllen. intolerant wegen des Anspruchs, die absolute
Wenn Toleranz Abschied vom Gewohnten be- und allein wahre Religion zu haben . . . Die Ver-
deutet und vielleicht sogar wehtut, verblassen die werfung der innerchristlichen Häresie von der
großen Formeln, die seit der Reformationszeit Urzeit her ist der schärfste Ausdruck dieser we-
Glauben und Toleranz zusammenbinden. sensnotwendigen theoretischen Intoleranz.“
Da ist Luthers Idee von der Toleranz Gottes,

I
der die Sünden der Menschen erträgt und die ntoleranz um der Wahrheit willen. Diese
Gemeinschaft mit ihm herstellt. Unsere Tole- Einsicht gehört auch in die Geschichte des
ranz wäre dann ein Abbild der Toleranz Gottes Christentums. Sie bildet das Widerlager
mit dem Sünder. Gegenüber den Machtansprü- zu dem Satz: Toleranz um der Wahrheit willen.
chen der katholischen Kirche klagten die Refor- Wegen dieser Ambivalenz brauchte es oft Hilfe
matoren die Freiheit eines Christenmenschen von außen, um das Prinzip der Toleranz durch-
Fotos: Ostkreuz, l aif (2)

ein und entwarfen die Idee einer (unsichtbaren) zusetzen. Der Westfälische Friede, der die blu-
Kirche, in der alle Christen trotz (sichtbarer) Un- tigen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhun-
terschiede eine Gemeinschaft bilden. Schließlich, derts beendet hatte und ein Klima der Toleranz
das obrigkeitliche Handeln wurde am Gewissen zwischen den Konfessionen begründete, wurde
strikt begrenzt. Nur Gottes Wort kann das Ge- den Kirchen von der Politik aufgenötigt. In der
wissen bezwingen. Die Menschen, vor allem die Aufklärungsepoche wirkte der jüdische Re- >

31
Jetzt und Hier

> ligionsphilosoph Moses Mendelssohn bahn- hier die unterschiedliche Sprachverwendung und
brechend. Seine naturrechtlich begründete For- die Kontexte, in denen jemand das von uns Mit-
derung nach Toleranz wirkte so überzeugend, geteilte aufnimmt, verfremdend wirken und die
dass sie in die evangelische Theologie und Kir- Interpretation von Wahrheit prägen. Wahrheit
chen einwanderte. Heute hat man gelegentlich ist uns zugleich zugewendet und entzogen. So ist
den Eindruck, dass es vor allem die Antidiskri- es auch mit Gott, der sich uns erschließt und als
minierungsrichtlinie der EU ist, die uns zu mehr Erschlossener doch verborgen bleibt. Diese Am-
Toleranz und Anerkennung von Vielfalt antreibt. bivalenz begründet die Haltung der Toleranz,
weil gerade Christen, die sich ganz persönlich von

D
er christliche Glaube ist von Haus aus Gott angesprochen fühlen, sich des perspekti-
weder intolerant noch tolerant, sondern vischen Zugangs zur Wahrheit bewusst sind und
verfügt über innere Dispositionen zu bei- auch anderen Menschen eine eigene Perspektive
den Haltungen. Dass heutzutage die Toleranz be- zubilligen können. Dazu kommt ein gnadentheo­
tont und die Intoleranz selbstkritisch eingestan- logischer Gedanke. Wenn wir die Wahrheit des
den wird, ist das Ergebnis einer Lerngeschichte, Evangeliums als Geschenk Gottes verstehen, das
zu der innere und äußere Faktoren wesentlich wir im Glauben annehmen, dann ist niemand
beigetragen haben. Gegenwärtig dürfte klar verantwortlich dafür, wenn er oder sie nicht im
sein: Toleranz ist eine der Besitz der Wahrheit sind. Unwahrheit ist daher
de ren
Die Nie dr igs te Stu fe: de n an
wichtigsten Erfordernisse zu dulden, bis Gott die höhere Einsicht vermittelt.
ne Ex ist en z hin ne hm en in der modernen Gesell- Deshalb gilt: Die Wahrheit von der Freiheit des
ert r ag en , sei
schaft, denn durch In- Gewissens steht höher als die Durchsetzung des
dividualisierung und Pluralisierung hat sich die eigenen Wahrheitsbewusstseins.
Erfahrung von Andersheit und Fremdheit ver- Diese Einsicht ermöglicht erst den Streit um
vielfältigt. Weil auf keinem Gebiet des sozialen die Wahrheit, den es selbstverständlich gibt und
Lebens mehr Uniformität herrscht oder gewollt auch geben muss. In diesem Streit aber zivilisiert
wird, ist die Bildung einer toleranten Haltung die Haltung der Toleranz die Differenzen, so hat
im Privaten, im Beruf und in der Gesellschaft es der amerikanische Philosoph Michael Walzer
unausweichlich. Toleranz hat sich im lebens- ausgedrückt. Zivilisierung der Differenz bedeu-
weltlichen Nahbereich zu bewähren, sie benötigt tet, im Streit zwischen Person und Gesinnung zu
institutionelle Unterstützung und politische Rü- unterscheiden, auf machtvolle Durchsetzung der
ckendeckung, weil das Management von Vielfalt eigenen Wahrheit zu verzichten und sich dann,
schwierig und anstrengend ist. Prekär wird das wenn entschieden werden muss, um ein faires
Management von Toleranz, wenn unterschied- Verfahren zu bemühen, bei dem die Wahrheit des
liche Wahrheitsansprüche aufeinanderprallen. Anderen nicht erstickt wird.
Schließt die Wahrheit des Evangeliums, die

I
wir im Glauben bekennen, die Toleranz anderen n Glaubensfragen aber muss über die Wahr-
Glaubensweisen gegenüber aus? Sind die aus ih- heit gar nicht entschieden werden. Daher gibt
nen abgeleiteten sittlichen Systeme, zum Beispiel es hier große Toleranzspielräume, die leider
die Scharia, zu dulden? Aus reformatorischer nicht immer genutzt werden. So hat die EKD mit
Perspektive ist grundsätzlich zu sagen: Unsere ihrer Handreichung „Klarheit und gute Nach-
Erkenntnis der göttlichen Wahrheit ist stets ge- barschaft. Christen und Muslime in Deutsch-
bunden an das Bewusstsein von dieser Wahrheit, land“ die Möglichkeit verschenkt, ein Vorbild
fällt mit der Wahrheit selbst also nicht zusam- für Toleranz zu sein. Man wollte den Verkauf
men. Das liegt schon im Begriff des Glaubens, der ungenutzter Kirchengebäude an Muslime unter-
ja kein Wissen, sondern ein Vertrauen ist. Daher binden und riet zur Zurückhaltung, Muslimen
ist niemand im ‚Besitz‘ der Wahrheit, sondern hat kircheneigene Räume für Feiern oder andere Ak-
nur einen perspektivisch gebrochenen Zugang tivitäten zu überlassen. Offene Gastfreundschaft
zu ihr. Dieser Brechungscharakter wird intensi- wurde zurückgestellt, um in der Gesellschaft den
viert auf der zwischenmenschlichen Ebene, weil Eindruck zu vermeiden, das Christentum wei-

32
Jetzt und Hier

che vor dem Islam zurück. Selbstverständlich kannt und in seine Gemeinschaft aufgenommen
war das keine intolerante Haltung. Gegen die finden, so wollen wir den Anderen, das Neue,
Existenz des Islam in Deutschland wurde nichts das Fremde ebenfalls verstehen und annehmen.
gesagt. Aber die „gute Nachbarschaft“ wurde mit Anders formuliert: Im Anderen begegnet uns das
Zäunen und Sichtsperren unterlaufen, Verbin- Eigene und wir wollen ihn so verstehen, wie wir
dendes auf ein Minimum reduziert. uns selbst zu verstehen trachten.
Dieses Beispiel zeigt das breite Spektrum von D r . Ar n u l f

B
Toleranz. Auf einer niedrigsten Stufe steht das esonders in diesem Sinne kann der Glau- vo n S c h e l i h a
ist Professor für
resignierte Ertragen des Anderen, dessen Exis­ be beim Aufbau einer Kultur des Dia-
Religionsphilosophie,
tenz zwar hingenommen wird, dem man aber loges und des Verstehens helfen. Dazu Dogmatik und Ethik
mit Gleichgültigkeit begegnet. Eine positive braucht es einen sozialen Rahmen, der durch die an der Universität
Kirchen, die Gesellschaft und die Politik gebaut
Würdigung findet nicht statt. Auf dieser Stufe ist Osnabrück. Einer
Toleranz eine Rechtspflicht (die übrigens in ein-und gestützt werden muss. Überdies ist Toleranz seiner Forschungs­
angewiesen auf ein Gegenüber, das Toleranz schwerpunkte ist das
zelnen Verfassungen von deutschen Bundeslän-
Selbstverständnis
dern verankert ist), der sich der Einzelne beugennicht mit Intoleranz beantwortet. Aber: Ohne
von Christentum
muss. Sie kann innerlich von Ungerührtheit, gar riskante Vorleistungen, ohne Vordenker der To- und Kirche in der
Verachtung begleitet sein. leranz und Vorbilder in Toleranz wird es nicht modernen Gesell­
gehen. Warum sollten sich evangelische Chris-
Auf einer höheren Stufe der Toleranz steht die schaft.
positive Anerkennung der Andersheit des Ande- ten dazu nicht aufgerufen fühlen? Resignation,
ren. Erst hier ist Toleranz im präzisen Sinne mo-Abschottung und Ausgrenzung passieren von
ralisch, weil die selbst in Anspruch genommene allein. Offenheit, Neugier und Verstehen brau-
Freiheit dem Anderen nicht nur zugebilligt, son- chen zusätzliche Antriebe, denn Toleranz ist an-
dern dessen Freiheit auch gewollt wird. Toleranz strengend und gelegentlich braucht man dafür
ist dann der bejahende Umgang mit der Freiheit Ermunterung. Sie kann vom Glauben ausgehen,
des Anderen. der sich seiner Wahrheit sicher ist und zu-
gleich um die Ergänzungsbedürftigkeit des
ho tt un g pa ss ie rt vo n Al le in .
Ab sc menschlichen Lebens weiß.
An tr ie be
Ne ug ie r br au ch t Evangelische Christinnen und Christen
haben sich stets als Motor für die Entwicklung
Religiös verfeinert wird Toleranz, wenn die einer humanen Gesellschaft betrachtet. Sie enga-
Andersheit des Anderen nicht nur anerkannt, gieren sich in der Kirche, in ihren Lebenswelten
sondern auch Gemeinschaft mit ihm gesucht und in der Gesellschaft, um im Geiste Jesu an ei-
wird. Für diese Haltung gibt es im Glauben eine ner Verbesserung der Lebensumstände mitzuwir-
Analogie. So wie Gott sich selbst zum Sein mit ken. In Zeiten von Migration und Globalisierung
dem sündigen Menschen bestimmt, ihn zur Ge- haben wir die Aufgabe und die Chance, durch
meinschaft mit sich erwählt hat und ihn daher Toleranz die Kirchen und die Gesellschaft einla-
als gerecht ansieht, so bestimmen wir uns zu dend zu gestalten. Das macht unser Leben reicher
einer Gemeinschaft mit Menschen, die anders und kann vorbildlich sein für Sozialformen, in
sind als wir. Dabei geht man davon aus, dass denen auf Uniformität, Repression und Ausgren-
das Leben durch die Anwesenheit von Anderen zung gesetzt wird. Manchmal allerdings ist es
und durch den Konflikt um die Wahrheit reicher erforderlich, dafür einige bewährte Traditionen
wird als unter den Bedingungen von Uniformi- preiszugeben, weil neue Wege beschritten werden
tät. Toleranz zielt auf Enrichment, auf wechsel- müssen. Wo auch immer diese hinführen: Zur
seitige Bereicherung. Toleranz gibt es keine christlich vertretbare Al-
Vertieft wird diese Gemeinschaft, wenn es ternative. Sie bedeutet keine Vergleichgültigung
in ihr zu einem Prozess wechselseitigen Verste- der Wahrheit, sondern ist ihre höchste Konkreti-
hens kommt. Auch hier gibt es eine Analogie des on. Denn von den Reformatoren können wir vor
Glaubens: So wie wir uns selbst vor Gott als Sün- allem lernen: Dialogisches Verstehen ist der Weg,
der verstehen und uns dennoch von ihm aner- den Gott mit den Menschen gehen will.

33
Jetzt und Hier
Jetzt und Hier
Jesus Christus spricht:

Ihr sollt nicht meinen, dass ich


gekommen bin, Frieden zu bringen
auf die Erde. Ich bin nicht
gekommen, Frieden zu bringen,
sondern das Schwert. Denn ich bin
gekommen, den Menschen zu
entzweien mit seinem Vater und
die Tochter mit ihrer Mutter
und die Schwiegertochter mit ihrer
Schwiegermutter.

Matthäusevangelium Kapitel 10, Verse 34–35

Toler anzgedusel Religion setzt ein Merkmal absolut


– glauben. Alle anderen sozialen
Unterschiede und Gegensätze sind

und L aserstr ahl daran gemessen unerheblich. Das


Neue Testament sagt: ‚Vor Gott
sind alle gleich.‘ Diese Gleichheit
allerdings gilt nur für jene, die
Ein hartes Wort Jesu. Es klingt nicht nach Toleranz, besagten Gott anerkennen. Neben
nicht nach befriedetem Zusammenleben von der Aufhebung von Klassen und
Nation innerhalb der Glaubensge­
Menschen verschiedener Über­zeugungen. Es geht
meinschaft setzt Religion also eine
um Scheidung der Geister, um Entzweiung, um das neue Fundamentalunterscheidung
Schwert. Sprudelt hier eine Quelle religiöser in die Welt: die zwischen richtig
Gläubigen und falsch Gläubigen. Re­
Intoleranz im H
­ erzen des Christentums? Wir ­haben ligion birgt immer auch (mehr oder
Kommentare zu diesem Text erbeten und Kommentare minder latent) die Dämonisierung
des religiösen Anderen.
gesammelt, aus der Literatur, aus dem Internet.
Ulrich Beck: Der eigene Gott. Von der
Eine Auswahl Vo n Th o r ste n M o o s Friedensfähigkeit und dem Gewalt­
potential der Religionen, Frankfurt am
Main/ Leipzig 2008, S. 3; 209.

34
Jetzt und Hier

W e lt e n r i c h t e r Christus straft
mit dem Stab seines Mundes (Jesaja 11,4).
Altarbild mit Jüngstem Gericht
von Rogier van der Weyden, 1449/51.

Ist nicht deutlich, daß, ebenso wie Ihr Christen legt Isa (a.s.)
es ein Verbrechen ist, den Frieden unglaubliche Sachen in den Mund.
zu stören, wo die Wahrheit regiert,
User „Hamudi“ in einem Internet-­
es ein Verbrechen ist, im Frieden zu Diskussionsforum zum Thema „‚Ich bin
bleiben, wenn man die Wahrheit nicht gekommen, Frieden zu bringen,
zerstört? Es gibt also Zeiten, wo der sondern das Schwert‘ – Was wollte Jesus
Friede gerecht ist, und andere, wo damit andeuten?“
er unrecht ist. Es steht geschrieben,
es gibt Zeichen des Friedens und Dass die Christusnachfolge jedoch
Zeiten des Krieges, und das Anliegen keineswegs einfach Wohlergehen
der Wahrheit ist es, das hier ent­ bringt, ist eine fundamentale Erfah­
scheidet. Es gibt aber keine Zeiten rung der Christenmenschen zu allen
der Wahrheit und keine Zeiten des Zeiten. Frieden zu stiften heißt nicht,
Irrtums, und im Gegensatz hier­ in falsch verstandener Toleranz im
zu heißt es in der Schrift, daß die Sinne einer unkritischen Feindesliebe
Wahrheit Gottes ewig sein wird. die Welt zu versöhnen, sondern mit
Und deshalb sagt Jesus Christus, Entschiedenheit und (gewaltloser)
der gesagt hat, daß er den Frieden Konfliktbereitschaft auf den Frieden
bringen will, auch, daß er gekom­ hinzuweisen, der keine lauen Kom­
men ist, den Krieg zu bringen. Er promisse kennt, sondern scharf wie
sagt aber nicht, daß er gekommen ein Schwert zwischen Ungerechtig­
ist, die Wahrheit und die Lüge zu keit und Gerechtigkeit scheidet. Jesus
bringen. Die Wahrheit ist demnach ist nicht gekommen, um Ruhe zu
die erste Richtschnur und das letzte bringen, sondern um zu unterschei­
Ziel der Dinge. den und zur Entscheidung aufzuru­
Dass man über das nachdenken fen. Und Jesus hat seine Jünger nicht
Blaise Pascal, Über die Religion und über
sollte, was man als endgültig einige andere Gegenstände (Pensées),
ausgesendet, um in einer chaotischen
heilbringend gelernt und über­ hg. von Ewald Wasmuth, 6. Auflage Realität soziale Sicherheiten aufrecht­
nommen hat, dass Annäherung Heidelberg 1963, Fragment 949, S. 442f. zuerhalten und den Willen Gottes
an Wahrheit (was ist Wahr­ Pascal spricht hier vom Frieden in der unter den Scheffel zu stellen, sondern
heit?) schmerzhaft ist, war und Kirche (im Unterschied zum Frieden in um das Evangelium exponiert in der
den Staaten).
bleibt. Das ist das Schwert, das Welt leuchten zu lassen.
er meinte. In heutige Sprache
Esther Schläpfer, Wissenschaftliche
brutal übersetzt: Ruht euch nicht … dass er von politischer korrektheit Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neues
auf eurem Wissen und eurem und dem ganzen toleranzgedusel Testament, Universität Heidelberg.
Hochmut und eurer unsäglichen nichts, aber gar nichts hält. zero
Gier aus, lasst euch kein X für ein tolerance, das ist hier gemeint. das
U vormachen, seid keine so faulen wort des ­meisters ist schärfer als
Säcke, die jeden zeitgeistigen ein laserstrahl. es hat die macht
oder uralten Mist glauben und lüge von wahrheit zu trennen.
auch noch verteidigen. Um dieses
User „halber liter“ in einem Internet-
Wort zu verstehen, muss man Diskussionsforum zum Thema „‚Ich bin
sich kundig machen. nicht gekommen, Frieden zu bringen,
sondern das Schwert‘ – Was wollte D r . T h o r st e n M o o s
User „brummel“ im Internet-Dis­ leitet den Arbeitsbereich
Jesus damit andeuten?“
Foto: akg-im ages

kussionsforum http://de.answers. „Religion, Recht und


yahoo.com zum Thema „‚Ich bin nicht Kultur“ an der Forschungs­
gekommen, Frieden zu bringen, son­ stätte der Evangelischen
dern das Schwert‘ – Was wollte Jesus Studiengemeinschaft
damit andeuten?“ (FEST) in Heidelberg.

35
Jetzt und Hier

Macht der
Glaube an
einen Gott
Intolerant?
Die Religion steht im Verdacht,
Nährboden für Intoleranz zu sein.
Befördern Bibel und Koran
die Gewalt im Namen Gottes?
vo n B u r k h a rd We itz

JA,
sagt der Ägyptologe Jan Ass-
mann. Mit dem Glauben an einen
einzigen Gott sei etwas Neues in
die Welt gekommen: die Unterscheidung zwi-
schen wahrer und falscher Religion. Der Grün-
dungsmythos monotheistischer Religionen sei
stets eine Revolution, die einen Götterkult ge-
waltsam beseitige. Der Monotheismus mache
Menschen intolerant und stachele Gläubige ge-
gen Andersgläubige auf. wie der Gott Israels verlangt, den Bann an Städten
Der Prototyp des religiösen Gewalttäters zu vollstrecken, während sein erwähltes Volk das
heißt Pinhas, von ihm erzählt die Bibel (4. Mose Kanaan in Besitz nimmt. Im Klartext: Das eindrin-
25). Pinhas, der Eiferer für den Herrn, beobach- gende Fremdvolk solle die angestammte Bevölke-
tet einen Israeliten mit einer andersgläubigen Mi- rung ganzer Städte ermorden. Die Bibel erzählt
dianiterin. Heimlich folgt er beiden mit seinem auch, wie der Prophet Elia eine ganze Riege von
Spieß bis in ihre Kammer. Dann stößt er zu. Of- Baalspriestern tötet (1. Könige 18).
fenbar hatte sich das Paar gerade umarmt, denn Allerdings sind diese Tötungsorgien vor dem
der Spieß fährt durch beide hindurch. 6. vorchristlichen Jahrhundert nicht dem Mono-
Pinhas, ein religiöser Terrorist! Ein gnaden- theismus geschuldet. Der setzte sich erst später
loser Fanatiker, der seine Abneigung gegen den durch – als die biblischen Schriftsteller und Bibel-
Götzendienst über das Lebensrecht Einzelner bearbeiter dem wahllosen Morden längst abgesagt
stellt. Bis heute dient diese biblische Figur fun- hatten. Die Gewaltberichte früherer Chronisten
damentalistischen Eiferern etwa in den USA, die wurden umgedeutet: Die Erzählungen von Gottes-
Homosexuelle hassen und Jagd auf Abtreibungs- bann und Priestermord sollten nun nicht mehr das
ärzte machen, als Vorbild. Keine Frage: Wer ge- ­Töten legitimieren, sondern dienten als Parabel für
waltbereit ist und Legitimation in der Bibel sucht, das Volk, den Irrglauben hinter sich zu lassen.
Foto: K atrin Binner

wird fündig. Irgendwann zwischen dem 4. und 3. vor-


Die Geschichtsbücher der Bibel sind voller christlichen Jahrhundert waren die meisten bi-
Gewalt. Denn die Bibel erzählt realistisch von der blischen Schriften in ihrer heutigen Form fertig
anarchischen Frühzeit der Menschheit, in der das bearbeitet. Ihre Hauptthemen: gottgewollter
Recht nur mühsam durchzusetzen war. Sie erzählt, Kult, gottlose Könige, mittellose Witwen und

36
Jetzt und Hier

Waisen. Fast immer steht der Gott der Bibel auf bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten- Hinter den Sonnen­
der Seite der Gedemütigten und Unterdrückten. land, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst l i e g e n leuchtet die
Projektorenlampe
Geschichtlich hat sich der Monotheismus erst keine anderen Götter haben neben mir.“ Die Zehn
durchs Dunkel: ARD-
zu einer Zeit durchgesetzt, als die Nationalkulte Gebote (2. Mose 20) beginnen mit einem Plädoyer Dokumentation „2000
de facto am Ende waren: in Israel mit dem baby- für den Gott der Freiheit: eine zivilisatorische Er- Jahre Christentum“ an
lonischen Exil, in Griechenland mit der rationalis- rungenschaft, in der zugleich die Saat für neues Häuserwand. Weitere
tischen Philosophie, in Arabien Unheil liegt. „Schattenbilder“ auf
Der Absolutheits- den Seiten 4, 14 und 18.
mit der Vision einer weltum- Die wohl radikalste Form des
spannenden Gemeinschaft der anspruch – Eine Gewaltverzichts verkörpert Jesus
Gläubigen (arabisch: Umma). z i v i l i s ato r i s c h e von Nazareth. Er tritt als Heiler auf,
Ein Grundgedanke von Bibel Errungenschaft holt die verlorenen Kinder Israels
und Koran: Wer Unrecht tut, zurück ins Gottesvolk und fordert
kehrt sich von Gott ab. Nicht bloß von einem Na- Feindesliebe ein. Schließlich erleidet er Unrecht
tionalgott sondern vom Schöpfer des Universums, und physische Gewalt und stirbt den Foltertod.
der alle Menschen als Geschwister gleich erschaf- Das Neue Testam ent vergleicht diesen Chris­tus
fen hat. Alle monotheistischen Traditionen ent- (hebräisch: Messias) mit einem Opferlamm. Bei-
werfen große Visionen vom Weltfrieden. de üben keine Gewalt aus, sie erdulden, ertragen
Und alle monotheistischen Glaubenstraditi- (lateinisch: tollere) sie ohne Gegenwehr. In der
onen beanspruchen Universalität und absolute Abendmahlsliturgie singen Christen seit zwei Jahr-
Gültigkeit für ihr Rechtsdenken – in ähnlicher tausenden: „Agnus dei, qui tollis peccata mundi“:
Weise, wie heute die Vereinten Nationen die Men- Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt.
schenrechte heute für universell erklären. „Ich Jesus Christus gilt Christen als „Weg, >

37
Jetzt und Hier

> Wahrheit und Leben“ und somit als einziger langt wird, selbst Verantwortung zu übernehmen,
Weg zu Gott (Johannes 14,6). In der Nachfolge vergessen sie ihre anfänglichen Toleranzforde-
Christi nimmt der Christ das Martyrium auf sich rungen und fallen in die hoch- und spätmittelal-
und erduldet Gewalt. Zugleich grenzt die Chris­ terliche Unkultur der Ketzerbekämpfung zurück.
tenheit unduldsam Fehldeuter des Glaubens aus In der kollektiven Erinnerung der Deutschen
ihrer Gemeinschaft aus. „Jesu Leiden war real“, steht die Urkatastrophe des Dreißigjährigen
hält sie denen entgegen, die Jesus zum schmerz- Krieges am Anfang der Neuzeit: Streit um die
losen Gott verklären. „Sein Heilsweg ist absolut wahre Religion erzeugt maßlose Gewalt. Für US-
und universal“, sagt sie denen, die den Christus Amerikaner ist dagegen religiöse Vielfalt und Le-
auf allzu menschliches Maß stutzen wollen. bendigkeit konstitutiv für die Moderne. Ihre De-
Auch hier liegt im Absolutheitsanspruch die Saat mokratie wurzelt in den Gemeindeverfassungen
für neues Unheil begründet. der Dissenter (Abweichler), die im 17. Jahrhun-
Von Anfang an bejahen Christen die Recht dert dem Druck der reformunwilligen englischen
durchsetzende Gewalt des Staates Staatskirche wichen, um in
– obwohl ihnen der Staat zunächst Neuengland eine tolerante, freie
feindlich gesonnen ist. Im 4. Jahr- Ketzer Gesellschaft im Geiste Jesu zu
hundert entsteht die Reichskirche, ver­brennen ist schaffen. In beiden Ländern for-
Christen stehen nun aufseiten der wider den dern Christen (darunter auch die
Staatsgewalt. Aber sie vernichten Heiligen Geist teils antikirchlichen Aufklärer)
ihre Gegner eben nicht physisch. Toleranz, weil sie am unchrist-
Das jesuanische Gleichnis vom lichen Umgang unter Christen
Unkraut im Weizen steht hierfür Martin Luther Anstoß nehmen.
Pate: Der Herr wird dermaleinst Vom Propheten Mohammed
das „Unkraut“ vernichten, wenn er kommt, nicht bis in die späten 1970er Jahre erschien der Is-
schon seine Knechte (Matthäus 13,24ff). lam in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit
Dem katholischen Kirchenhistoriker Arnold überwiegend als tolerante und friedfertige Reli-
Angenendt zufolge sprach die christliche Häreti- gion, die zwar traditionell kein Recht auf Glau-
kerbekämpfung während des ersten Jahrtausends benswechsel anerkennt, wohl aber weitgehende
nur in einem Verfahren Todesurteile aus: 385 n. Freiheit für Andersgläubige.
Chr. ließ der Usurpator Maximus den Priscillian Seit der iranischen Revolution von 1979 drängt
und einige Gefährten wegen Irrlehre in Trier hin- sich das Bild vom kämpferischen intoleranten Is-
B u r k h a rd W e i t z
ist Journalist und richten. Eine Todsünde auch damals! Die Bischöfe lam in den Vordergrund. Seit Anfang der 1980er
Pfarrer. Als theo­ Martin von Tours und Ambrosius von Mailand kämpfen die Hisbollah im Libanon, die radikalis-
logischer Redakteur kündigen den am Verfahren beteiligten Bischö­ lamische Hamas in Palästina und Mudschaheddin
verantwortet er fen daraufhin die Kirchengemeinschaft auf. in Afghanistan. Charismatische Dschihadisten
die Aboausgabe
Das Papstwahldekret von 1059 löste die Wahl wie Osama bin Laden, Spross einer saudischen
des evangelischen
Magazins chrismon.
des Bischofs von Rom aus der Kontrolle von rö- Unternehmerfamilie, verengten die islamische
mischem Stadtadel und deutschem Kaiser. Die Rechtsauffassung gegenüber Andersgläubigen
Papstkirche entstand. 1095 rief Papst Urban II und lenkten den Terror generell gegen den Westen
zum Kreuzzug auf. Nun wendete sich das Blatt. und seine Werte. Sie verantworten die Anschläge
Ritterheere zogen im Namen Christi mordend vom 11. September und die Attentate in London
durch die Lande, Magistrate gaben dem christ- und Madrid. Saat und Frucht dieses illusionären
lichen Pöbel die jüdische Minderheit zum Po- politischen Islams waren Terror, sonst nichts.
grom frei, Kirchengerichte verurteilten Ketzer Der Monotheismus hat keine qualitativ neue
zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Papst- Gewalt hervorgebracht. Wie jede andere Leh-
kirche setzte ihr Wahrheitsmonopol gewaltsam re und Ideologie ist auch er geeignet, Gewalt zu
durch – und erntete von Anfang an Widerspruch. legitimieren. Christen, die ihrem Glauben nach
Das gesamte Mittelalter hindurch zweifeln Re- eigentlich der Gewalt abschwören sollen, haben
former wie Petrus Valdes, Franz von Assisi, John dies ebenso getan wie Menschen anderer Reli-
Wyclif, Jan Hus und Martin Luther die päpstliche gionen und Ideologien. Aber mehr als andere
und priesterlich-sakramentale Autorität an und leiden sie am Verrat an eigenen Idealen. Gerade
fordern eine Rückbesinnung auf urchristliche deshalb hat das christliche Abendland als Lehre
Ideale, auch auf die Gewaltfreiheit: „Ketzer ver- aus den Religionskriegen der Vergangenheit eine
brennen ist wider den Heiligen Geist“, schrieb Lu- neue universelle und absolute Forderung aufge-
ther 1521. Als von Reformatoren schließlich ver- stellt: die nach interreligiöser Toleranz.

38
Alltagsgeschichte n⁰3 Jetzt und Hier

Burk afr au
Von der Dame, die an der Supermarktkasse im Kopf. – „Für das bissl ’n Fuffzischer!“ – Na- Sie ist auch die Einzige, die hier so herumläuft
Norden Frankfurts ihr Portemonnaie zückt, türlich hat sie alles verstanden. Aber sie sagt – oder noch bis vor einem halben Jahr herum­
ist kein Fetzen Haut zu sehen. Das lange Ge- nichts. lief. Heute ist sie seit langem wieder einmal
wand verhindert jeden Blick auf Knöchel und Wie viel Maskerade kann eine Gesellschaft, zu sehen. Ansonsten hat sie sich vollständig
Handgelenke. Nasenwurzel und Augen ver- in der der Blickkontakt so viel zählt, ertragen? aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
schwinden in einem dunklen Schatten hinter Eine Gesellschaft, in der jeder jederzeit einen Warum sie diesen Aufzug wählt, weiß kei-
einem Gitternetz aus grobmaschigem Stoff. Ausweis mit Lichtbild bei sich tragen sollte – ner so genau. Eine Provokation? Vielleicht.
Selbst die Hände sind – als die junge Frau der auch wenn er ihn fast nie braucht. In der man Ohne Burka würde sie bestimmt gar nicht
Kassiererin einen 50-Euro-Schein reicht – in sich etwas ins Gesicht sagt, wenn man offen auffallen. In der Regel lässt sich kaum je-
Stoffhandschuhen versteckt. miteinander redet. In der man die Augen nur mand aus dem Dorf etwas anmerken, wenn
Foto: Basti Arlt

„Ham Sie’s nett anners?“, fragt die Frau an abwendet, wenn man sich schämt. sie auftaucht. Aber irritiert sind die Leute
der Kasse im breitesten Hessisch. „Klaanar?“ Die Burkafrau ist gebürtige Frankfurterin, noch immer. Sie ertragen den Anblick, sie
Die Verschleierte schüttelt schweigend den wie jeder in diesem Dorf am Stadtrand weiß. billigen ihn nicht.Vo n B u r k h a rd W e i t z

39
Jetzt und Hier

D
em 2012 von W. Heitmeyer herausge­
gebenen Abschlussbericht der repräsen-
tativen, zehnjährigen Langzeitstudie
„m it Allah
„Deutsche Zustände“ zur gruppenbezogenen
Menschenfeindlichkeit zufolge, bejahten etwa 30 
Prozent der 2011 Befragten die Aussage: „Durch
die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal
wie ein Fremder im eigenen Land.“ Über 50 Pro-
zent hätten Probleme damit, in eine Gegend zu
ziehen, in der viele Muslime leben, und circa
23 Prozent vertraten die Auffassung, dass Musli-
men die Zuwanderung nach Deutschland unter-
sagt werden solle. Die Ergebnisse verdeutlichen
eine undifferenzierte Ablehnung von Menschen
muslimischen Glaubens sowie eine Überschät-
zung der Zahl von Muslimen. Dabei machen die
derzeit etwa vier Millionen in Deutschland le-
benden Muslime lediglich eine Minderheit von
Wollen sich Muslime
5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Der Groß- integrieren? Nein,
teil von ihnen hat zwar einen Migrationshinter-
grund, doch die Hälfte hat die deutsche Staatsan-
sagen viele Deutsche –
gehörigkeit. Wie kommt es, dass viele Menschen zu Unrecht. Da hilft
die islamische Religion in Deutschland wie auch
nur eins: Stereotype
in vielen anderen europäischen Ländern trotz
Jahrzehnten des Zusammenlebens als Fremdkör- aufbrechen!
per oder gar Bedrohung wahrnehmen?
V e r e n a Br e n n e r
von Verena Brenner
arbeitet als
Als mit der Arbeitsmigration der 1960er
wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der
Jahre eine größere Zahl von Muslimen nach
Forschungs­stätte Deutschland einwanderte, wurden sie zunächst
der Ev. Studien­ neutral oder sogar positiv aufgenommen. Ihre
gemeinschaft (FEST) religiöse Orientierung galt zunächst nicht als re-
in Heidelberg. levantes Identitätsmerkmal. Die „Gastarbeiter“
wurden vielmehr über ihre nationale Herkunft
definiert. Bis heute entstanden relativ unbemerkt
zahlreiche Vereine und über 2.500 nicht als sol-
che erkennbare Gebetsstätten (sogenannte „Hin-
terhofmoscheen“).
Erst durch die iranische Revolution von 1979
und das Bekanntwerden radikaler islamischer derer aus muslimisch geprägten Herkunftslän-
Gruppierungen verbreitete sich das Bild vom dern unabhängig vom Grad ihrer Religiosität
unaufgeklärten und vormodernen Islam. Durch und ihrer tatsächlichen Religionszugehörigkeit
Debatten um einen vermeintlichen „Kampf der pauschal als Muslime gezählt wurden. Menschen
Kulturen“ ab Mitte der 1990er Jahre sowie die unterschiedlicher nationaler oder kultureller
terroristischen Anschläge des 11. 9. 2001 wur- Herkunft, Milieus und Konfession wurden als
de der Islam gleichgesetzt mit Fundamenta- eine relativ homogene Gruppe betrachtet. Die In-
lismus, Frauenfeindlichkeit und Gewaltbereit- tegrationsfähigkeit muslimischer Bürger/-innen
schaft. Im Zuge dieser Entwicklungen gewann in die säkular geprägte Gesellschaft wird auch
der muslimische Glaube als fremd- oder auch noch heute vielfach angezweifelt. Die Mehrheit
selbstzugeschriebenes Identitätsmerkmal an der Muslime findet sich in diesem Bild allerdings
Foto: Emine Akbaba

Bedeutung. Bis zur Veröffentlichung der Studie nicht wieder.


„Muslimisches Leben in Deutschland“ durch
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Auch wenn es in Deutschland, anders
2009 basierten offizielle Daten zu Muslimen in als in anderen europäischen Ländern, bislang
Deutschland auf Schätzungen, in denen Zuwan- keine etablierten rechtsextremen Parteien gibt,

40
Jetzt und Hier

voll gechillt“

ist doch ein Zuwachs rechtspopulärer und islam­ oder Rheinfelden, eine Chance zum wechselsei- T y p i s c h D e u t s c h?
ablehnender Haltungen zu beobachten. Intole- tigen Kennenlernen und für eine Stärkung des Nach Angaben des
ranz und Ängste gegenüber dem Islam treten interkulturellen Zusammenlebens. Bundesverbands
Deutscher Garten­
insbesondere dann zum Vorschein, wenn es zu
freunde e. V. war 2010
gesellschaftlichen Konflikten wie beispielswei- Toleranz und Offenheit erreicht, wer eine jeder 13. Schreber­
se um den Bau von repräsentativen Moscheen differenzierte Wahrnehmung und eine offene, gärtner Zuwanderer,
kommt. Rechtspopuläre Bewegungen wie z. B. fragende Haltung anstelle von Zuschreibungen von ihnen stammte
„Pro Köln“ mobilisieren große Teile der Ge- fördert. Die Studentin Kübra Kücük tut das auf jeder Fünfte aus der
Türkei. – Gartenkolonie
sellschaft. Diffuse und schwer durchschaubare ihre Weise. Im 2012 erschienenen Magazin „bei
in Hannover.
Koalitionen von Betroffenen wenden sich aus uns daheim: Islam in Baden-Württemberg“ der
den unterschiedlichsten Gründen gegen den Zeitenspiegel-Reportageschule erzählt sie: „Ich
Moscheebau. Es fällt mitunter schwer zwischen habe mir zum Kopftuch ein Kreuz um den Hals
berechtigten Anliegen und islam- bzw. auslän- gehängt, um Nachfragen zu provozieren. Die
derfeindlichen Motiven zu unterscheiden. Zu- Leute sollen erfahren, warum ich das Kopftuch
gleich bieten die Baukonflikte, wo sie schließlich trage und mich nicht nach meinem Äußeren be-
konstruktiv ausgetragen werden wie in Penzberg urteilen.“

41
Jetzt und Hier

Nur nicht
Vereinnahmen!
Toleranz beginnt, wo man Menschen mit anderen Wahrheits-
ansprüchen respektiert. Der säkulare Staat garantiert, dass jeder in
Frieden leben kann Vo n F r i e dm a n n E i SS le r u n d A n n e K ä f e r

„Nichts ist bei den Christen bekannter tenmensch ist so von der Wahrheit erfüllt und
I. und mehr im Gebrauch als die Wahr- darüber so voller Freude, dass er auch anderen
heitsbezeugung. Nimm die Wahrheits- diese Wahrheit bezeugen und auch ihnen seine
bezeugungen weg, und du hast das Christliche Freude gönnen will. Dabei ist ihm klar, dass nicht
weggenommen.“ (Martin Luther, „Vom unfreien er, sondern Gott selbst und Gott allein Glauben
Willen“.) Diese Sätze Martin Luthers bringen wirkt, wo und wann er will. Deshalb kann der
Foto: VISUM

markant zum Ausdruck, dass der christliche Glaubende es getrost Gott, dem Heiligen Geist,
Glaube einen Wahrheitsanspruch in sich trägt, überlassen, dass dieser auch andere Menschen
der nicht verborgen bleiben kann. Ein Chris­ zur Wahrheit führt.

42
Jetzt und Hier

Im Licht der Vorwürfe, die gegen Religion an Zu oft wurden und werden Christen-
sich und gegen einen angeblich unauflöslichen
Zusammenhang von Religion und Intoleranz
­
II. menschen dem nicht gerecht, was von
Luther mit der klaren Unterscheidung
oder gar Gewalt erhoben werden, wird die Bri- von politischer Sphäre und dem Bereich der Re-
sanz der Einsicht Luthers für das Zusammen- ligionsgemeinschaften gefordert ist. Der Weg
leben in der religiös-weltanschaulich pluralen zur Einsicht in die notwendigen Bedingungen
Gesellschaft unmittelbar ersichtlich. Zumal von Toleranz und individueller Religions- und dr . F r i e d m a n n
wenn der Islam mit in den Blick genommen Gewissensfreiheit wurde tatsächlich nicht von E i s s l e r ist Wissen­
schaftlicher Referent
wird, für den unter anderen Vorzeichen ganz Bischöfen und landesherrlichen Kirchenregi-
in der Evangelischen
Entsprechendes gilt. Wie ist – unter diesen Vo- menten geebnet, er musste in der Geschichte Zentralstelle für
raussetzungen! – Toleranz möglich? Wie können gegen kirchliche und konfessionelle Machtan- Weltanschauungs-
Menschen mit konkurrierenden Wahrheitsan- sprüche blutig erkämpft werden. Am Ende aber fragen (EZW) in Berlin.
sprüchen friedlich und gewaltfrei nebeneinander standen Errungenschaften, die Christen bejahen
und miteinander leben? und als angemessen anerkennen können und für
Ein Überlegenheitsdünkel lässt sich aus der die sie mit Engagement und Fantasie nachhaltig
im christlichen Glauben geschenkten Gottesbe- einstehen sollten.
ziehung im Grunde nicht ableiten. Zugleich liegt Der verfassungsrechtliche Rahmen unserer
freilich im Bekenntnis zu Gottes Gegenwart in freiheitlich-demokratischen Grundordnung heu-
Jesus Christus das grundlegend Unterscheidende te wird als säkular bezeichnet. Säkularität be-
und Trennende von Angehörigen anderer Religi- deutet nicht Religionsablehnung oder gar -feind-
onen, die anderes und teilweise Widerstreitendes schaft, sondern schlicht die Ermöglichung von Oberkirchenrätin
Dr. Anne Käfer
bekennen. Religionsfreiheit in der pluralen Gesellschaft.
ist Referentin für
Wie sich das „radikale“ Element der Wahr- Toleranz bedarf vor diesem Hintergrund Theologie und
heits- und Heilsgewissheit des Glaubens coram nicht der vermeintlichen oder auch tatsäch- Kultur im Kirchen-
deo (vor Gott) mit der gesellschaftspolitisch not- lichen theologischen, religiös-inhaltlichen Ge- amt der EKD.
wendigen Selbstrelativierung coram mundo (vor meinsamkeiten. Es ist ein Trugschluss, dass
der Welt ) glaubwürdig verbinden lässt, kann un- Toleranz die inhaltliche Anerkennung des An-
ter Rückgriff auf Luthers „Zwei-Regimente-und- deren einschließe oder gar voraussetze. Toleranz
Reiche-Lehre“ gewinnbringend bedacht werden. be­g innt da, wo Menschen zu dem stehen, was
Luther spricht sich ganz klar dagegen aus, dass ihnen wichtig ist, und nicht – und sei es in bes­
eine „weltliche Gewalt“ es unternimmt, Gesetze ter Absicht – einander religiös zurechtstutzen,
zu erlassen, die das Seelenleben der Gesellschafts- sondern ausreden lassen und achtungsvoll mit
glieder betreffen. Weder könne noch dürfe der dem umgehen, was anderen wichtig ist. Wo sie
Staat einen Menschen zu einem bestimmen Glau- aus Respekt die wesentlichen Unterschiede zwi-
ben zwingen. „Wenn man eines Menschen Gesetz schen den religiösen Glaubens- und Lebenswei-
auf die Seele legt, daß sie glauben soll so oder so, sen ernst nehmen und weder verwischen noch
wie derselbe Mensch es vorgibt, so ist gewißlich verschweigen – wo sie den Anderen nicht nur
da nicht Gottes Wort“ (Martin Luther, „Von welt- „stehen lassen“ (und damit schnell „links liegen
licher Obrigkeit“). Aus Glaubensdingen habe der lassen“), sondern nahe herantreten, weil sie den
Staat sich herauszuhalten und Gewissensfreiheit anderen kennenlernen und verstehen wollen.
zu gewähren. Allerdings sei es seine Aufgabe, Dabei schließt solcher Respekt klare Distan-
„äußerlichen Frieden“ zu wahren (Martin Lu- zierung nicht prinzipiell aus. Toleranz zeichnet
ther, „Von weltlicher Obrigkeit“). Der Staat muss sich neuzeitlich-aufgeklärt dadurch aus, dass sie
für gerechte, geordnete und friedliche politische gerade keine inhaltliche Übereinstimmung vo-
Verhältnisse sorgen. Zugleich damit trägt er auch raussetzt, sondern das Ringen um Gemeinsames
dafür Sorge, dass Religionsgemeinschaften ihre wie auch die Achtung von Differentem auf der
religiösen Überzeugungen ungestört leben kön- Basis wechselseitig zugestandener Freiheit aus-
nen; gewaltsame Religionsausübung wird er zu trägt. Hier ist das Gemeinsame freilich in der Tat
verhindern suchen. zu suchen und zu bekräftigen. >

43
Jetzt und Hier

Islamischer Religionsunterricht, Mo- Schariarechte) etabliert werden sollen. Es genügt


III. scheebau nicht nur in entlegenen In-
dustriegebieten, die Etablierung isla-
nicht (etwa mit Verweis auf Sure 2,256 oder 4,1),
Menschenrechte als der islamischen Religion
misch-theologischer Lehrstühle an Universitäten inhärent zu betrachten, da auf diese Weise die
– die religiöse Betätigung im öffentlichen Raum islamische Religion als ihr Garant auftritt und
und viele solcher Themen sind daher mit großer letztlich vorgeordnet bleibt. Es ist aus demselben
Freiheit und Offenheit gemeinsam anzugehen. Grund nicht hinreichend (etwa unter Hinweis auf
Konflikte hingegen entstehen da und müssen da Sure 5,48 oder 16,93), Pluralismus als gottgegeben
entstehen, wo grundlegende Übereinkünfte und und -gewollt zu reinterpretieren, weil auch dann
Werte der gemeinsamen Gesellschaft tendenzi- die islamische Religion Richterin darüber bliebe,
ell unterlaufen oder verleugnet, zumindest per- in welcher Form sich „der Pluralismus“ als solcher
spektivisch infrage gestellt werden. Das ist der äußern darf und vor allem wo seine Grenzen sind.
Fall, wenn das verbreitete, orthodox islamische Kurz, es darf keine Nischen, keine „rechtsfreien
Verständnis von Koran und Sunna und die Räume“ für kollektive Minderheitenrechte geben.
Auffassung von der Scharia als der praktischen Unabdingbar erscheint deshalb für alle Bürge-
Gestalt islamischen Glaubens gleichsam wie ein rinnen und Bürger die selbstkritische und offene
Vorzeichen vor die Klammer des gemeinsamen Reflexion der verfassungsrechtlich gesicherten
verfassungsrechtlichen Rahmens gestellt werden pluralen Situation gerade als Bedingung der Mög-
(Stichwort Schariavorbehalt). lichkeit für Religionsfreiheit und Pluralität der
Gewiss, der Islam gehört zu Deutschland Lebensentwürfe.
(Christian Wulff). Unter uns leben heute rund vier
Millionen Musliminnen und Muslime, die unse- Die im christlichen Glauben begrün-
re Nachbarn und Mitbürgerinnen sind und blei-
ben werden. Einer Vielfalt der Ethnien, Nationen
IV. dete Toleranz lebt von einem gesell-
schaftlich solidarischen Gemeinsinn,
und Kulturen entspricht die Diversität der Glau- der eine kritische und selbstkritische Ausei-
bensweisen und Lehrtraditionen. Fast die Hälfte nandersetzung mit dem politischen Islam nicht
von ihnen sind deutsche Staatsbürgerinnen. Dies aus-, sondern einschließt. Im Blick auf die theo­
macht eine differenzierte Betrachtungsweise not- logisch-religiöse Dimension bedeutet das: Unter-
wendig – und Pauschalurteile unmöglich. Doch schiede wahrnehmen und respektieren (gegen
liegt zweifellos eine besondere Herausforderung Vereinnahmungsstrategien) und Toleranz nicht
darin, dass viele Muslime seit der Konstituie- auf behaupteten Gemeinsamkeiten, sondern auf
rung der islamischen Umma (Gemeinschaft der dem kritisch-solidarischen Umgang mit den
Muslime) in Medina die Religion auch als grund- Differenzen aufbauen. Bei allen gemeinsamen
legend gesellschaftsgestaltende und damit poli- Interessen: Respekt gegenüber der Differenz!
tische Kraft verstehen. Eine Unterscheidung der Im Blick auf die gesellschaftspolitische Dimen-
„zwei Reiche“ ist ihnen fremd. Hier gilt es, auch sion bedeutet das: den freiheitlichen Rahmen
die Grenzen der Toleranz unmissverständlich zu unserer Gesellschaftsordnung im Sinne der po-
markieren. Die Freiheit unserer Gesellschaft darf sitiven Religionsfreiheit inklusive ihres eminent
nicht missbraucht werden, um intolerantes Den- kritischen Aspekts etwa im Blick auf organisierte
ken jedweder Art so einzuführen, dass es eben die- Formen des politischen Islam stark machen und
ser Freiheit den Boden zu entziehen imstande ist. tatsächlich auf Gemeinsamkeit bauen, nämlich
Ein entscheidender Prüfstein ist die Pluralis- auf gemeinsame Werte der Grundrechte und der
muskompatibilität, also die Bereitschaft, sich der Demokratie. Bei allen kulturellen Unterschie-
pluralen gesellschaftlichen Situation in Wort und den: Respekt gegenüber der gemeinsamen gesell-
Tat zu stellen. Dabei reicht es nicht aus, den ge- schaftlichen Basis!
sellschaftlichen und religiös-weltanschaulichen So kann beides, Wahrheitsbezeugung und To-
Pluralismus deskriptiv als den faktisch gegebenen leranz, nicht nur widerspruchsfrei gedacht, son-
Rahmen zu interpretieren, in dem dann womög- dern auch in Freiheit und gesellschaftlicher Ver-
lich intern religiös definierte Kollektivrechte (z. B. antwortung gelebt werden.

44
Jetzt und Hier

Kundgebung der 10. Synode der Evangelischen Kirche


in Deutschland auf ihrer 4. Tagung vom 6. bis 10. November 2005
in Berlin zum Schwerpunktthema „Tolerant aus Glauben“

Als evangelische Christinnen und Christen Toleranz hat ihre Grenze dort, wo das Denken
nehmen wir den Pluralismus in unserer Gesell­ und das Handeln von Menschen das Leben und
schaft als Chance und Herausforderung an. Dabei die Würde anderer gefährden und bedrohen. Als Kir­
wollen wir unseren Glauben offen bekennen, leben che wollen wir eine verlässliche Anwältin sein für ein
und für ihn werben. Glaubensgewissheit und Tole­ Leben aller Menschen in Würde und ein Ort des Wi­
ranz gehören für uns zusammen. derstandes gegen jede Form von Intoleranz.

Unsere Toleranz ist in der Toleranz des dreiei­ Im Dialog um die zukünftige Gestalt unserer
nigen Gottes begründet, der alle Menschen zu Gesellschaft treten wir ein für die Toleranz als
seinem Bild geschaffen hat, sie liebt und sie zum Grundlage des Zusammenlebens von Menschen un­
Glauben an ihn ruft. Gott in seiner Gerechtigkeit terschiedlicher Kulturen und Religionen. Wir tun dies
verurteilt die Verletzung der Menschenwürde und auf der Grundlage unserer von jüdisch-christlichen
den Missbrauch von Freiheit. Gottes Versöhnung und humanistischen Traditionen geprägten freiheit­
öffnet allen Menschen immer wieder neu den lichen Rechtsordnung.
Weg zum Glauben.
Damit Menschen tolerant sein können, brau­
Toleranz zielt auf die wechselseitige Anerken­ chen sie gelingende Beziehungen und Bildung,
nung der Würde jedes Menschen und seines die ihnen hilft, die eigene Identität zu entwickeln und
Verständnisses von Wahrheit, Leben und Glauben. die sie zu einem verantwortlichen Umgang mit dem
Dabei hängt unsere Toleranz nicht davon ab, dass Fremden ermutigt. Auch unser missionarisches Han­
sie von anderen im gleichen Maße geübt wird. deln zielt darauf, Menschen im christlichen Glauben
Doch nur auf der Basis der wechselseitigen Aner­ zu verwurzeln und sie so auch zur Toleranz zu befä­
kennung kommt es zu einer Streitkultur, die einen higen.
offenen Dialog über die unterschiedlichen Denk-, Unverzichtbar für die Entwicklung von Toleranz
Lebens- und Handlungsweisen ermöglicht. ist, dass Menschen die Möglichkeit zur aktiven
Es entspricht evangelischem Selbstver­ Teilhabe an unserer Gesellschaft bekommen. Zu­
ständnis, Toleranz gegenüber anderen kunftsängste befördern Intoleranz.
Überzeugungen und Lebensweisen zu üben. Die­ In Bindung an das Wort Gottes sind wir be­
ses Selbstverständnis wurde in schmerzhaften reit zum Dialog. Wir streben ein versöhntes
geschichtlichen Prozessen errungen. Heute sind Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher
für uns die auch in der Tradition des Christen­ Kulturen, Weltanschauungen und Religionen an.
tums entwickelten Menschenrechte weltweite Wir bitten Gott: „Richte unsere Füße auf den Weg
Grundlage allen gelingenden menschlichen Zu­ des Friedens“ (Lukas 1,79).
sammenlebens.
www.ekd.de/synode2005/
Foto: stocksnapper / photoc a se.com

Wir wissen um die Unverfügbarkeit der


beschluesse_kundgebung.html
Wahrheit Jesu Christi, die unseren eigenen
Wahrheitsanspruch begrenzt. Letzte Autorität
kommt nur dieser Wahrheit zu, nicht aber de­
nen, die sie vertreten.

45
Jetzt und Hier

Getrennte
Gesellschaften
Der Bischof von Berlin-Brandenburg wünscht sich mehr Glauben,
denn der stärke die Toleranz. Und die türkischstämmige
Journalistin will nicht geduldet werden. Ein Streitgespräch

Herr Bischof, das Jahr 2013 ist der Toleranz ge- nur Grundkenntnisse. Im katholischen Kinder-
widmet. Wie haben Sie bislang Toleranz und In- garten erklärte man mich auch zur Muslimin.
toleranz erlebt? Und allmählich nahm ich dann an den Feiern
Markus Dröge: Ich bin in Nordamerika aufge- nicht mehr mit Überzeugung teil. Irgendwann
wachsen und dort in den Kindergarten gekom- wollte ich auch die Blutwurst nicht mehr essen,
men, wo ich eine offene und tolerante Atmosphä- zu der wir gezwungen wurden. Aber ich habe
re erlebt habe. Ich erinnere mich daran, wie wir mich nicht beirren lassen: Ich wollte mich taufen
Kinder im Kindergarten die US-Fahne malen lassen, weil ich die Taufzeremonie in der Kirche
sollten und die Erzieherin mich bat, ich solle toll fand. Die nächste Erfahrung machte ich in
doch meine Fahne malen. Die habe ich dann der Schule. Meine türkischstämmigen Mitschü-
Schwarz-Rot-Gold gemalt – ohne die Bedeutung ler fanden, dass ich keine Türkin war, keine rich-
zu kennen. Aber ich wusste genau, was Stars and tige Türkin und keine richtige Muslimin. Und so
Stripes bedeuten. In Amerika habe ich eine sehr pendelte ich in der Fremdwahrnehmung. Das,
liebevolle, tolerante Atmosphäre erlebt, und es worüber ich mich heute identifiziere, sind die
waren erst neun Jahre nach dem Zweiten Welt- Grundrechte in diesem Land. Meine Heimat ist
krieg vergangen. Intoleranz erlebe ich bei fun- Deutschland – und darüber hinaus bin ich nie-
damentalistischem Denken, zum einen in der manden eine Erklärung schuldig.
christlichen Kirche, wenn es um die Segnung Wird das akzeptiert?
gleichgeschlechtlicher Paare geht. Da ist mir eine Balcı: Wenn ich sage, ich bin Deutsche und selbst-
Ablehnung entgegengeschlagen, die mich er- bewusst damit umgehe, haben Einwanderer aus
schreckt hat. Zum anderen habe ich im Gespräch der Türkei damit immer wieder ein Problem.
mit jungen Muslimen intolerante Auffassungen Und in der öffentlichen Wahrnehmung kommen
gegenüber meinem christlichen Glauben erlebt. immer noch die Zuschreibungen, die ich seit dem
Güner Yasemin Balcı: Mir wollte man immer Kindergarten kenne. Das ist für mich die gefähr-
wieder zeigen, dass ich nicht dazu gehöre. Und lichste Form der Toleranz: Die Leute denken, sie
das begann in meinem katholischen Kindergar- müssten meinem Vater oder anderen Menschen,
Fotos: Andrea s Schoel zel

ten. Ich fand das alles ganz toll dort – bis zu dem die wie er in den 60er Jahren eingewandert sind
Moment, als man mich immer wieder fragte, ob und Anpassungsschwierigkeiten in Deutschland
ich Türkin sei und dann festlegte, dass ich Tür- hatten, einen Bonus einräumen, weil sie aus einer
kin sei. Das war mir als kleines Kind gar nicht anderen Kultur kamen. Da hört meine Toleranz
bewusst. Ich bin in Deutschland geboren, kannte auf. Denn man unterstellt den Einwanderern, sie
die Türkei nicht und hatte im Türkischen auch könnten sich – kulturell und religiös begründet –

46
Jetzt und Hier

nicht anpassen. Das ist absolute Arroganz, Igno- nicht streiten, ob die Berliner oder die Kölner To- G ü n e r Ya s e m i n B a l c i
lebt in Berlin.
ranz und Intoleranz. leranz größer ist.
Sie ist Journalistin
Was ist für Sie falsch verstandene Toleranz, Bi- Balcı: Als Studentin habe ich projektbezogene So- und Buchautorin.
schof Dröge? zialarbeit gemacht. Und nach meinem Eindruck
Dröge: Zuzulassen, dass die Freiheit bedroht wird. ist Berlin mehr und mehr zu einer Stadt mit ge- D r . D r . h . c . M a r k u s
Toleranz ist für mich die Basis, auf der überhaupt trennten Gesellschaften geworden. Wenn ich D r ö g e ist seit 2009

Freiheit möglich ist. Wenn ich spüre, dass jemand mich an meine Kindheit und Jugend erinnere, Bischof der Evange­
lischen Kirche Berlin-
diesen Boden, auf dem wir stehen, so waren diese vielen Kulturen in
Brandenburg-schlesische
wegziehen will, ist unsere Freiheit Kontakt miteinander, berührten Oberlausitz.
bedroht. Für mich sind die Men- Ich soll eine Nest- sich in der Schule, in der Nach-
schenrechte das Gemeinsame, das beschmutzerin barschaft und im Alltag. Die Leu-
wir gelten lassen müssen – unge- sein? Das berührt te haben sich angefreundet oder
teilt. Wir dürfen kulturelle Werte mich nicht verfeindet, auf jeden Fall aber
nicht über die Menschenrechte miteinander auseinandergesetzt.
setzen. Das betrifft auch die Religi- Das hat total abgenommen. Damit
onsfreiheit, genauso wie das Recht, Güner Yasemin Balcı meine ich nicht den elitären Ober-
dass jeder Mensch sich seine Reli- bau, die Kulturszene der Stadt, die
gion wählen kann. Toleranz impliziert Intoleranz bietet natürlich alles und vielmehr – und ist sehr
gegenüber Intoleranz. tolerant. Aber im Alltagsleben gibt es viel Tren-
Sie sind seit 2009 in Berlin. Ist die Stadt wirklich nendes.
so tolerant, wie sie immer tut? Lassen Sie uns auf religiös motivierte Formen
Dröge: Berlin ist eine Stadt der Vielfalt, das kultu- von Intoleranz schauen.
relle Leben ist unendlich, das Interesse an Musik, Dröge: Welche Form von Religiosität ist das?
an Malerei, an Theater ist riesig, es existiert eine Mein Ansatz ist: Glaube ist prinzipiell Vertrauen,
Kultur, in die sich jeder – unabhängig von seiner zunächst Vertrauen in Gott. Und wenn ich mei-
eigenen Herkunft – hineinbegeben kann. Kultur nen Glauben leben will, versuche ich Vertrauen
transzendiert den Alltag. Berlin hat gute Voraus- und Versöhnung herzustellen. Das ist die Art von
setzungen, eine tolerante Stadt zu sein. Ich erlebe Religion, die Toleranz befördert. Wenn ich aber
natürlich genauso, dass in den einzelnen Kiezen Religion dazu missbrauche, eine Identität aufzu-
ein sehr kleinbürgerliches Verständnis herrscht, bauen, die sich abgrenzt von anderen, und sich
da ist die Stadt prinzipiell nicht anders ist als etwa mein Selbstbehauptungswille dran festmacht,
Frankfurt, München oder Köln. Deshalb will ich dann wird Religion zu einer Motivation für >

47
Jetzt und Hier

und gesagt, das steht dir irgendwann frei, wenn du


alt genug bist, darüber ernsthaft zu entscheiden.
Ich habe auch nie das Gefühl gehabt, dass es ein
Tabu wäre, zu sagen, was bei uns schiefläuft – weil
sonst ja der deutsche Nachbar das Recht hätte, zu
sagen, du blöder Türke oder so.
Andererseits geht immer wieder aus Studien
hervor, dass Glaubensfestigkeit zum Beispiel bei
jungen, integrationsunwilligen Muslimen mit
Intoleranz und Gewaltbereitschaft einhergeht.
Wie sehen Sie den Zusammenhang von Glauben
und Ablehnung Andersgläubiger, der Ablehnung
des Wertsystems in unserem Land?
Balcı: Man muss diesen Vergleich wagen zwi-
schen den Werten der muslimischen Einwande-
rergesellschaft und dem christlichen Glauben,
der dieses Land geprägt hat und bis heute prägt.
Bei der latent vorhandenen Intoleranz – gera-
de von muslimischen Einwanderern gegenüber
anderen Religionen – liegt ein Menschenbild
zugrunde, das nicht vom Individuum ausgeht.
Es hat sehr wenig mit dem zu tun, was den
Einheimische > Intoleranz. Meine große Hoffnung ist, dass Menschen als eigenständige Persönlichkeit aus-
und Zugezogener – wir uns gemeinsam gegen den Missbrauch un- macht und als verantwortliches Mitglied dieser
Ber­linerin mit Rhein­
serer jeweiligen Religion einsetzen. Sprich: Jede Gesellschaft kennzeichnet. Der Einzelne geht in
länder im Gespräch.
Lichthof des Deutschen
Religion kann zu Gewalt anhalten. Wir müssen der Gemeinschaft auf. Das ist sehr verlockend
Historischen im interreligiösen Dialog dazu kommen, dass je- für verlorene Seelen. Man findet sofort Halt in
Museums Berlin der bei sich schaut und dagegen kämpft, dass sei- der Gruppe. Aber das wird instrumentalisiert,
ne Religion missbraucht wird für andere Zwecke. um die Macht und die politische Kraft, die diese
Religionen erheben einen Wahrheitsanspruch – Gruppe beansprucht, zu stärken. Vorurteile re-
wie tolerant können sie sein? Erwächst aus Glau- gieren gegenüber anderen, die nicht bereit sind,
bensfestigkeit und dem unbedingten Einstehen in dieser Gruppe aufzugehen. Und schon haben
für den eigenen Glauben nicht per se Intoleranz? wir Intoleranz gegenüber Juden, Christen, ver-
Dröge: Sie kann daraus erwachsen, muss aber meintlichen Ungläubigen auch in sehr modernen
nicht. Schon der Reformator Philipp Melan­ und fortschrittlichen Gesellschaften wie unserer.
chthon hat gesagt, eine Religion, die nicht gebil- Dröge: Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben,
det wird, verfällt der „ruditas“, der Rohheit und dass es trotz unterschiedlicher Menschenver-
Unwissenheit. Und als gläubiger Mensch wehre ständnisse Integration in der säkularen Gesell-
ich mich dagegen, dass Religion an sich Intole- schaft gibt. Der heute verbrannte Begriff Leitkul-
ranz befördert. Aber eine Gefahr schwingt mit. tur hatte ursprünglich eine andere Bedeutung.
Wenn mir jemand sagt, du darfst nur lesen, was Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi richtete
in meinem heiligen Buch steht, denn das allein ist einen Aufruf an unsere Gesellschaft, nicht mehr
richtig, dann ist prinzipiell kein Verstehen und am ethnischen Gemeinschaftsgefühl zu hängen.
kein Dialog möglich. Aber wenn ich meine Reli- Seine These besagte, wir in Deutschland seien
gion richtig verstehe – als Grundansatz, Vertrau- noch nicht in der Lage, Menschen anderer Kul-
en zu finden, das mich in meiner Identität stärkt turen zu integrieren, weil wir keine gefestigte
– dann gibt mir das die Stärke, mich anderen zu Leitkultur im Sinne der westeuropäischen Welt
öffnen, anderen für ihre Identität Raum zu lassen. hätten. Nur daran aber könnten sich Menschen
Balcı: Ich bin das auch meinem Vater schuldig. Ich anderer Kulturen in Deutschland orientieren,
Foto: Andrea s Schoel zel

bin so erzogen worden. Meine Eltern waren im- ohne ihre eigene ethnische Kultur aufzugeben.
mer ganz ehrliche, offene und tolerante Menschen, In der politischen Diskussion ist dies umgedreht
was meine gesamte Erziehung geprägt hat. Glaube worden. „Leitkultur“ waren plötzlich die deut-
war eine private Sache. Selbst mein Wunsch, mich schen Sitten und Gebräuche. Diese Diskussion
damals taufen zu lassen, stieß jetzt nicht auf Ableh- um den gesellschaftlichen Wertekanon müssten
nung bei meiner Familie. Die hat mich belächelt wir noch einmal führen. Auch wenn das für je-

48
Jetzt und Hier

den Einzelnen eine Zerreißprobe werden kann. Wie sieht es aus mit der Toleranz christlicher Ge-
Balcı: Das klingt alles sehr gut, aber gerade gegen- meinden?
über Bassam Tibi hat sich die mangelnde Tole­ranz Dröge: Toleranz christlicher Gemeinden unterei-
auch islamischer Verbände gezeigt. Da war je- nander?
mand, der die Idee des Euro-Islam weitergedacht Wir sollten nicht so tun, als spreche das Chris­
hat. Damit hat sich die muslimische Community tentum in Deutschland mit einer Stimme.
– vertreten durch die großen Verbände – über- Dröge: Wir lernen ja seit bald 500 Jahren mit
haupt nicht auseinandergesetzt. Bassam Tibi ist unterschiedlichen Konfessionen und mit unter-
verschwunden, denn auch die deutsche Öffent- schiedlichen Wahrheitsansprüchen umzugehen.
lichkeit hat sich damit abgefunden, dass dieser Und das macht mir Hoffnung, weil wir durch
Mann mit seinem sehr fortschrittlichen Religi- eine gewaltgesättigte Geschichte hindurch einen
onskonzept letztlich nicht akzeptiert wurde. Weg gefunden haben, wie man in Frieden mit-
Die muslimische Gemeinschaft verweigerte sich einander lebt. Ich plädiere für ein profiliertes
der Diskussion um den Euro-Islam und die Mehr- Unterschiedlichsein. Ich möchte sagen können,
heitsgesellschaft interessierte sich nicht? warum ich nicht katholisch bin, wofür ich meine
Balcı: Die Debatten finden auf einem intellektuell guten Gründe habe. Ich werde manche Dinge in
abgehobenen Niveau statt. Der einzelne Mensch der katholischen Kirche nie akzeptieren können.
kriegt davon kaum etwas mit. Es Das tragen wir in der Ökumene in
kommt im Alltagsleben nicht an, einer freundschaftlichen Art und
was Bassam Tibi eigentlich ein- Nicht alle sind Weise miteinander aus, wie einen
gefordert hat. Das ist jetzt proble- von unserer gemeinsamen Wettstreit um die
matisch, weil die Verbandsvertre- Toleranzgeschichte Wahrheit. Den führen jetzt auch
ter politisch als unsere einzigen gepr ägt. die vielen Einwanderergemein-
Ansprechpartner gesehen wer- den, die wir gerade hier in Berlin
den. Aber wir lassen völlig außer haben. Über 130 fremdsprachige
Acht, dass schon Formen von Li- Markus Dröge christliche Gemeinden, die nicht
beralität gelebt werden und sich alle von unserer Toleranzgeschich-
Migranten den Werten in diesem Land anpassen. te geprägt sind. Da wird fundamentalistischer ge-
Dröge: Genau da muss man ansetzen. Ich kenne dacht, ein charismatischer Glaube gepflegt, auch
viele, die ihren Weg in unsere Gesellschaft ge- mit einem unmittelbaren Berufungsbewusstsein
funden haben, ohne ihren muslimischen Glau- – das ist jetzt die Auseinandersetzung, die wir als
ben aufzugeben. Sie können anderen zeigen, wie Christen führen müssen.
es sich mit einem modernen Verständnis des Johann Wolfgang von Goethe sagte, Toleranz
Islam lebt und wie sie ihren Glauben in unserer sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein.
Gesellschaft mit unseren Werten interpretieren. Sie müsse zu Anerkennung führen. Dulden hie-
Mich interessiert auch die „deukische“ Genera- ße beleidigen. Fühlen Sie sich beleidigt, weil die
tion – junge deutsch-türkische Frauen und Män- EKD das Jahr der Toleranz ausgerufen hat inner-
ner, Studentinnen und Studenten, die ihren Weg halb der Reformationsdekade?
gemacht haben und die ihre Erfahrungen wei- Balcı: Nein, aber ich fühle mich immer dann be-
tergeben, um gerade auch türkischen Mädchen leidigt, wenn ich den Eindruck habe, dass man
zu zeigen: Guck mal, du kannst in diesem Land mit türkischen Einwanderern besonders tolerant
D r . J acq u e l i n e
Zahnärztin oder Lehrerin werden. umgehen müsse und weniger kritisch als mit sich B oys e n , Journalistin
Balcı: Die Diskussion wird immer aus der Per- selber. Und dass ich viel zu kritisch mit dem Eige- und Historikerin, war
spektive geführt, die Einwanderer als Opfer er- nen umginge – da bin ich richtig beleidigt. lange beim Deutsch­
scheinen lässt. Das ist kontraproduktiv. Ich kann Dröge: Wenn ich unter Toleranz nur Duldung landradio und arbeitet
als Studienleiterin
aus meinen Erfahrungen als Journalistin berich- verstehe, dann ist das nicht der richtige Begriff.
an der Evangelischen
ten: Wenn ich in der türkischen Community frag- Toleranz bedeutet für mich, ich akzeptiere, dass Akademie zu Berlin.
würdige Dinge feststelle, dann stelle ich sie auch es etwas gibt, das anders ist als ich. Das mag mich
so dar. Und nicht nur, dass man dann als Nest- auch mal verunsichern. Aber je mehr ich mich in
beschmutzer gilt – das ist platt und berührt mich dieser Welt beheimatet fühle, desto toleranter
nicht. Aber dass ich dann im intellektuellen Aus- kann ich sein und auch dem anderen Heimat in
tausch immer wieder höre, man dürfe Migranten dieser Welt gönnen, ohne dass er mein Heimat-
nicht so kritisch zeigen, weil die Deutschen alle gefühl durcheinanderbringt.
latent rassistisch seien und islamkritische Berichte
die Einwanderung gefährdeten– das ist gefährlich.  Die Fragen stellte J acq u e l i n e B oys e n

49
Jetzt und Hier

Toler ant T
oleranz und Reformation – die Verbin-
dung dieser drei Worte scheint so gewagt,
dass sie zögern lässt. Denn, das zeigen viele

aus Gl auben
Beiträge in diesem Magazin, mit der Reformati-
onsgeschichte setzt auch eine Geschichte mas-
siver konfessioneller Rivalität und der Intoleranz
gegenüber Andersgläubigen ein. Auf den ersten
Blick also passen Reformation und Toleranz defi-
Ein ehrlicher Streit um die Wahrheit wäre
nitiv nicht zusammen. Es ist daher ein bewusster
auch ein Streit des Interesses, das die zweiter Blick, mit dem ein Zusammenspiel der
Religionen aneinander haben. So ein Streit beiden erprobt werden kann.
Die Reformatoren wussten, die Kirche muss
könnte auch helfen, Konflikte künftig zu sich beständig erneuern. Eine andauernde geistli-
entschärfen vo n M a rg ot K ä ssm a n n che Erneuerung liegt im Wesen des Evangeliums
begründet und kennzeichnet einen Wesenszug
der Kirche. Also bietet das Reformationsjubiläum
2017 einen willkommenen Anlass, im 21. Jahr-
hundert die Gedanken, die vor 500 Jahren die Welt
veränderten, weiterzuentwickeln. Mit Blick auf
die lebensvernichtenden, menschenverachtenden
Foto: Kiên Hoàng Lê

Erfahrungen der Intoleranz gerade des 20. Jahr-


hunderts wurde deutlich: Durch Intoleranz wur-
de der Glaube verdunkelt. Das Evangelium wird
nicht „recht gepredigt“, wie es das Augsburger
Bekenntnis fordert, wann immer Nächs­tenliebe

50
Jetzt und Hier

auf der Strecke bleibt, zum Krieg Mohammed Gottes Prophet ist. Das erschüttert F r e m d e H e i m at –
gerufen wird statt zum Frie- meinen Glauben an Jesus Christus nicht. Eine Hauptstadtbewohner
ostasiatischer und
den, das Schutzgebot gegenüber Glaubenshaltung, die anderen Glauben nicht er-
märkischer Herkunft
den Fremden missachtet wird. trägt – und „tolerare“ meint schließlich auch „er- auf dem Berliner
Anlässlich des Reformations- tragen“ –, ist eher schwach, weil sie Angst davor Bierfestival 2010 vor
jubiläums gilt es zu fragen, was hat, was eine Anfrage gar an eigenem Zweifel aus- der vietnamesischen
„Christum treibet“, wenn wir lösen könnte. Wer andere bedroht, mit Worten, Bühne.
nach Wegen suchen, den eigenen Gewalt und Waffen, kann nicht toleriert werden.
Glauben zu bekennen und gleich- Einem Dialog ist dann jede Grundlage entzogen.
zeitig Menschen zu respektieren,
die einen anderen Glauben haben „W arum sollte ich mich für
oder ohne Glauben leben. Ihren Gl auben interessieren“
Was ist Toleranz? Zum ei- Drei Beispiele, die mich beim Nachdenken ange-
nen meint sie nicht Gleichgül- regt haben:
tigkeit nach dem Motto, jeder 1. Wer die nordamerikanische Geschich-
Mensch möge nach der eigenen te anschaut, sieht, dass die Frage der religi-
Fasson selig werden. Das heißt: ösen Toleranz sie durchzieht. Schon Anfang
Toleranz bedeutet Interesse am des 17.  Jahr­hunderts propagierte Roger Wil-
anderen, am Gegenüber, in die- liams  (1603–1683), ein evangelischer Theologe,
sem Fall an der Religion oder am aufgrund seiner Erfahrung der Religionskriege
Nichtglauben der anderen. Und: in Europa Religionsfreiheit und eine Trennung
Toleranz heißt nicht Grenzen- von Staat und Kirche. Er gründete die Kolo-
losigkeit. Wahre Toleranz wird nie von Rhode Island als Zuflucht für religiöse
ihre Grenze an der Intoleranz Minderheiten – den Puritanern war die Insel ein
finden. Das heißt, Toleranz bezeichnet keine Dorn im Auge. Williams aber studierte india-
statische ­Haltung, sondern sie meint ein dyna- nische Sprachen und trat für faire Beziehungen
misches ­Geschehen auf Gegenseitigkeit. zu den Ureinwohnern ein. Er ist mir ein frühes
Wenn ich über meinen Glauben nachdenke Vorbild für konstruktiven Dialog.
und Luthers These von der Freiheit eines Chris- 2. Bei einem Essen, zu dem ich am Schabbat in
tenmenschen, die niemandem und zugleich je- den USA bei orthodoxen Juden eingeladen war,
dermann gleichermaßen untertan ist, komme sagte mir der anwesende Rabbiner: „Warum
ich zu dem Schluss, dass ich den Glauben anderer sollte ich mich für Ihren Glauben interessieren?
tolerieren kann, gerade weil ich mich in meinem Sie können gern glauben, dass Jesus Gottes Sohn
Glauben beheimatet weiß. Mich bedrückt, wie war, aber für mich ist er auf keinen Fall der Mes-
bei Diskussionen immer wieder heftigst mit Ko- sias, und mir liegt auch nicht an einem Dialog da-
ranversen gewettert wird gegen Menschen mus- rüber, welches Ziel sollte das denn haben?“ Mich
limischen Glaubens. Ich bin keine Koranken- ließ das eher bedrückt zurück – ist nicht der Di-
nerin, aber als Christin ist mir bewusst: ebenso alog der Religionen eine gewichtiger Beitrag zur
könnten Muslime gewalthaltige Verse aus der Verständigung der Völker, zum Frieden der Welt?
Bibel zitieren. Die Frage ist: Ruhe ich mit meiner 3. In den 25 Jahren, in denen ich in Gremien der
Glaubensgewissheit in meiner eigenen Religion? ökumenischen Bewegung aktiv war, habe ich er-
Ich bin überzeugt, wer das im Leben kann und lebt, dass ich immer bewusster lutherisch wurde,
praktiziert, hat auch die innere Offenheit, zu re- je näher ich andere Konfessionen kennen lernte.
spektieren, dass andere anders und anderes oder Die Erfahrung des Anderen hat mir das Bewusst-
nicht im religiösen Sinne glauben. sein für das Eigene gestärkt. Dabei respektiere ich,
Gewiss, für mich ist die Aussage Jesu: „Ich bin dass ein russisch-orthodoxer Gläubiger oder eine
das Licht der Welt“ entscheidende Wegweisung. römische Katholikin ihr Christsein anders prakti-
Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht respek- zieren, andere Zugänge zur gemeinsamen Religion
tieren kann, dass für einen anderen Menschen haben. Das breite Spektrum des Glaubens, das >

51
Jetzt und Hier

> schon in der Bibel angelegt ist, zeigt sich in der damentalismus führt in jeder Religion in die Irre.
Vielfalt der Konfessionen. Die ökumenische Be- Mit manchen Aussagen im Namen des christ-
wegung hat immer wieder eine Art „Theologie der lichen Glaubens aus dem amerikanischen Prä-
Freundschaft“ sichtbar werden lassen, die wächst sidentschaftswahlkampf möchte ich als Chris­tin
durch die persönliche Begegnung miteinander, die ebenso wenig identifiziert werden wie fromme
das Verschiedene positiv sehen kann. Muslime mit islamistischen Hetzern.
„Versöhnte Verschiedenheit“, ein Begriff, der Hass und Angst zu schüren, ist und bleibt
für die lutherischen Kirchen im ökumenischen ein Irrweg in jeder Religion. Es gibt nicht „wir“
Gespräch das Ziel von Einheit umschreibt, und „die“, sondern Menschen verschiedenen
könnte passend sein auch für die die Suche nach Glaubens und nichtreligiöse Menschen, die ihre
einer theologischen Konzeption von religiöser tiefen Überzeugungen von Freiheit, Toleranz
Toleranz: Das Eigene lieben und leben, das Ver- und Verantwortung so umzusetzen haben, dass
Seit dem 1. April 2012
schiedene respektieren und beides so miteinan- ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit für alle
ist D r . M a r g o t der versöhnen, dass gemeinsames Leben möglich Menschen auf dieser Welt möglich wird. Da ist
K ä s s m a n n die ist. Ein so definierter Begriff ließe sich mit Blick Vernunft die beste Ratgeberin gegen Verführung,
Botschafterin des auf Menschen ohne Glauben erweitern, indem Ideologie und Angst.
Rates der EKD für sie als „verschieden“ respektiert und nicht von Bei alledem führe ich gern einen intensiven
das Reformations­
Vornherein als defizitär beschrieben werden. In „Streit um die Wahrheit“. Es ist ein Streit des
jubiläum 2017.
einer säkularen Gesellschaft ist das ein zuneh- Interesses, das wir aneinander haben. Ich kann
mend wichtiger Aspekt. Im Gegenzug ist selbst- das Kirchenverständnis der römisch-katho-
verständlich Voraussetzung, dass religiöse Men- lischen Kirche nicht nachvollziehen, die rus-
schen ebenso Respekt finden. Es scheint in der sische Orthodoxie erscheint mir zu erstarrt, das
säkularen Gesellschaft manches Mal notwendig, Judentum versuche ich zu begreifen, der Islam
das einzufordern. irritiert mich in vielem, der Buddhismus bleibt
Die Einwände, die sich gegen jedes dieser drei mir fremd. Aber mich interessiert der Glaube
Beispiele einlegen lassen, kenne ich natürlich. Zum anderer, und ich halte es für entscheidend, dass
einen: Was ist mit dem Missionsbefehl Matthäus Religionen miteinander im Gespräch bleiben.
­
28? Aber in alle Welt zu gehen und das Evangelium Intoleranz und Rechthaberei haben allzu oft Öl
zu verkündigen, heißt doch genau das: zeigen, dass in das Feuer politischer und ethnischer Kon-
ich meinen Glauben mit Freude lebe, hier Lebens- flikte gegossen. Es wird Zeit, dass Religionen
kraft und Halt finde. Wo das begeisternd, überzeu- ein Faktor bei der Konfliktentschärfung werden,
gend, ansteckend wirkt, werden andere sich fra- weil sie eine Toleranz kennen, die Unterschiede
gen, ob es auch ihr Weg zu Gott oder mit Gott sein nicht mit Gewalt vernichten will, und sich als
kann. Wo das auf andere verachtend wirkt und kreative Kräfte verstehen, die unsere Welt und
ich mich hochmütig und auf Abgrenzung bedacht die Zukunft menschenfreundlich gestalten wol-
verhalte, wird die religiöse Überzeugung, die ich len und können.
teile, wenig einladend erscheinen. Für mich persönlich bleibt Jesus Christus der
Weg, die Wahrheit und das Leben. Das ist meine
Es wird Zeit, dass Religionen Glaubensgewissheit, die ich gern in der Gemein-
Konflikte entschärfen schaft meiner Geschwister im Glauben lebe, in
Zum anderen höre ich: „Die“ (gemeint sind der Welt praktiziere, im Gottesdienst feiere. Es
meist die Muslime) seien intolerant, gewalttätig, ist meine Freiheit, in der ich niemandem unter-
hetzten gegen Christen und verfolgten sie. In der tan bin. Gerade deshalb kann ich respektieren,
Foto: Monik a L awrenz

Tat, Christenverfolgung ist ein hochbrisantes dass andere Menschen anders glauben oder nicht
Thema, und unsere Geschwister im Glauben in glauben. Das ist meine Freiheit, in der ich jeder-
aller Welt brauchen unsere Solidarität. Aber es ist mann untertan bin. Und am Ende kann ich Gott
absurd, alle Muslime mit einem kleinen Prozent- überlassen, wie dieses Geheimnis der verschie-
satz fundamentalistischer, gewaltbereiter, ideolo- denen Religionen sich einst nach dieser Zeit und
gisch verirrter Gewalttäter gleichzusetzen. Fun- Welt lüften wird.

52
Alltagsgeschichte n⁰4 Jetzt und Hier

Br äunungscreme
Ein gewöhnlicher Tag in der City einer Klein- Artikeln, die mit der Bräunung der Haut zu te. Ein Fachgespräch entwickelt sich. Es fal-
stadt in Deutschland, genauer in einer Par- tun haben. Sie greift hier und da in das Re- len die Namen bestimmter Markenartikel.
fümerie. Es duftet mehrschichtig, leuchtet gal, nimmt Tuben, Tiegel oder Fläschchen Schließlich hält die Kundin eine Tube in der
in allen erdenklichen Rottönen aus den Re- heraus und liest die Hinweise auf den Ver- Hand und will sich vergewissern: „Wie sind
galen und über allem liegt ein Hauch von packungen. Offensichtlich scheint das Erfor- denn Ihre Erfahrungen? Sie scheinen es ja
Luxus. In elegantem Schwarz gekleidete Da- schen dieser Informationen sie nicht zu be- selbst ausprobiert zu haben!“ Ein Moment
men und Herren schwirren wie geschäftige friedigen, denn sie wendet sich an eine der der Stille tritt ein, ein gewisses Unverständ-
Bienen durch den Laden, um jeden Wunsch schwarz gekleideten Fachkräfte. Eine dun- nis im Blick der Fachkraft: Die dunkelhäutige
der meist gut frisierten und mit Make-up kelhäutige Frau, die ihr krauses Haar streng Frau steht nach einer Antwort ringend mit
kaschierten Kundschaft zu erfüllen. Der nach hinten gekämmt hat, eilt ihr freundlich offenem Mund da, bis sie in ein schallendes
Eindruck des Besonderen und Kultivierten entgegen. Die gutsituierte Frau trifft mit ih- Lachen ausbricht. Die Kundin wendet sich ir-
Foto: Basti Arlt

vermittelt sich und das wohligwarme Ge- rem Bräunungsproblem auf die dunkelhäu- ritiert ab und lässt die freundliche Fachkraft
fühl: Der Kunde ist König. Eine gutsituiert tige Fachkraft. Es stellt sich heraus, dass sie stehen.
gekleidete Frau nähert sich einem Regal mit eine Selbstbräunungscreme erweben möch- Vo n g a b r i e l e S a n d

53
Jahr und Tag

GröSSer als das Leben


Bedrängend und BEfreiend
Den mächtigen Bildern kann sich der Zuschauer kaum entziehen. Und doch erweitert das
Kino seine Vorstellungswelt. Über den Film und die Toleranz Vo n R a lf M e i ste r

D
er Film selbst erweist sich als eines der Der Film ist ein offenes Kunstwerk. Alle, die ihn
intolerantesten Medien, gleichzeitig ist sehen, treten mit ihm in einen inneren D ­ ialog,
das Kino erstaunlicherweise der Ort, und das Gesehene reizt zugleich auch zum Dia­
an dem die Toleranz ihren Hort findet. Dieses log mit anderen. Filme muten ihrem Publikum
spannungsreiche Verhältnis zwischen Toleranz eine tolerante Haltung zu, zugleich ermutigen sie
und Intoleranz bezieht den Zuschauer ein, gibt selber zur Toleranz. In dieser doppelten Wirkung
ihm Anteil an dieser Spannung. Den mächtigen öffnen Filme ihrem Publikum Fenster zu ande­
Bildern, die das Kino erschafft, können sich die ren Welten.
Zuschauerinnen und Zuschauer kaum entziehen. „Bigger than life“ ist das Kino, größer als das
So erlaubt der Film entweder eine innige Hinga­ Leben. Es erweitert die eigene Vorstellungswelt.
be an das Geschehen, oder er reizt sein Publikum Zu den Lieblingserzählungen des Kinos gehören
zur konsequenten Verweigerung. Geschichten, in denen Menschen ihre eigenen

54
Jahr und Tag

und andere Vorurteile überwinden. Geschichten, dern sich seine Vorstellungen über die benach­
die von Menschen erzählen, die sich in schwie­ barte, aber fremde Kultur, seine Vorurteile brö­
rigen Situationen nicht ergeben, sondern sich ckeln, besonders wegen Thaos kluger Schwester.
ihrem Leben, auch seinen Untiefen, stellen, sie Doch eine Straßengang vergewaltigt sie, Gewalt
aushalten oder sich selber, wie auch die Situation, und Angst ziehen im Viertel ein. Die Grenze
in der sie sich befinden, verändern. zwischen brutaler Fremdenfeindlichkeit und
Intoleranz verschwimmt. Jedoch gibt Clint East­
Gr an Torino wood im Finale seines Filmes eine christlich-
Der zweite von der UNESCO ausgerufenen „To­ religiös zu lesende Antwort. Der Held gibt sein
lerance Day“ am 19.2.2012 stand unter dem Mot­ Leben, damit das Leben weitergehen kann. Thao
to „Enjoy difference, start tolerance“. Pro Sieben erbt den Gran Torino. „Gran Torino“ verbin­
zeigte zur besten Sendezeit den Film „Gran To­ det individuelle Grenzüberschreitung als eine
rino“ (USA 2008). Die Einschaltquote mit über Erfahrung von Toleranz mit dem gesellschaft­

z i e m l i c h b e st e
f r e u n d e (links):
Unverschämt viel Spaß
hat Driss, der Junge aus
der Hochhausvorstadt,
mit dem reichen Krüppel
Philippe.

G r a n t o r i n o (rechts):
Der Automechaniker
Walt Kowalski geht zu
den fremden Nachbarn
zunächst auf Distanz.
Doch die Vorurteile
bröckeln, und schließlich
gibt Walt sogar sein
Leben für die anderen.

17 Prozent war überraschend hoch. Das Meister­ lichen Thema von Fremdenfeindlichkeit, Migra­
werk von Clint Eastwood erzählt vom Kriegs­ tion und Integration.
veteranen und Automechaniker Walt Kowalski, In ähnlicher Weise tut dies auch „Rain Man“
der nach dem Tod seiner Frau verbittert. (USA 1988). Der Film erzählt die anrührende Ge­
Zu seinen Söhnen hat Walt wenig Kontakt, er schichte eines arroganten Yuppie (Tom Cruise),
findet sie oberflächlich und seine Enkel verzo- der seinen autistischen älteren Bruder (Dustin
gen. Der Priester, der ihn besucht, ist ihm viel Hoffman) bei sich aufnehmen muss, um an eine
zu jung und unerfahren, und vor allem seine Erbschaft zu kommen.
Nachbarschaft stört ihn: Menschen fremder
Hautfarbe und Herkunft ziehen in die Häu­ Ziemlich beste Freunde
ser ringsum. Die Grenzen zwischen ihnen und Ebenso eindrücklich ist der neue Kultfilm
seinem Grundstück müssen genau eingehalten „Ziemlich beste Freunde“ (Frankreich 2011),
Fotos: Senator, © Warner Bros./cinetex t

werden, alles, was seinen Wertvorstellungen der im Original „Intouchables“ (Unberührbare)


­w iderspricht, ist auf Distanz zu halten. Er fürch­ heißt und damit genauer beschreibt, worum es
tet den moralischen Niedergang seines Wohn­ geht. Dass sich zwei Menschen begegnen, die in
viertels. derselben Stadt, aber in völlig unterschiedlichen
Der missglückte Autodiebstahl seines Ford Welten leben und scheinbar gar nichts miteinan­
Gran Torino durch den Nachbarjungen Thao der zu tun haben.
bringt die Wende. Thaos Familie schämt sich für Philippe, ein gelähmter reicher Adeliger, hegt
diese „Mutprobe“, zu der eine Jugendgang den Vorbehalte gegenüber einem straffälligen und
jungen Mann gedrängt hat. Thao beginnt, für scheinbar ungebildeten Afrikaner aus den Pari­
Walt zu arbeiten. Gegen dessen Willen verän­ ser Banlieues. Und umgekehrt erwidert der >

55
Jahr und Tag

> gesunde junge Driss dies mit eigenen Vorbe­ bin kein Repräsentant der politischen Korrekt­
halten gegenüber einem völligen „Krüppel“. heit und will es auch nicht sein, sondern setze
Die vielen Millionen Zuschauer dieses Filmes einen Kontrapunkt gegen den Idealismus, der
identifizieren sich wahrscheinlich weder mit selbst Menschen mit den besten Absichten in die
Philippe noch mit Driss, die Berührungsängste Irre führen kann. (...) Es gibt bei mir keine un­
beiden gegenüber kennen dagegen umso mehr. fehlbaren Helden, sondern nur Individuen, die
Sich und die anderen aushalten gelingt nicht, nicht aus ihrer Haut herauskönnen.“
ohne den Fremden kennenzulernen, und das
geschieht in dieser weisen Komödie ebenso hu­ the Ides of M arch
mor- wie farbenfroh. In dem herausragenden Politdrama „The Ides of
Andere Filme gehen davon aus, dass der To­ March – Tage des Verrats“ geht es um die Vorwahl
leranzgedanke unaufgebbarer Grundbestandteil zur US-amerikanischen Präsidentschaftswahl.
der politischen Verfassung ist – so unterschied­ Der demokratische Bewerber scheint ein Mann

r a i n m a n (links):
Das Erbe gibt es nur mit
dem autistischen Bruder.
Also arrangiert sich
­Charlie mit Raymond.

m a n d e r l ay (Mitte):
Grace befreit die schwar-
zen Sklaven. Doch ihr
gesellschaftliches
Experiment scheitert.

i d e s o f m a r c h (rechts):
Nach und nach opfert der
Präsidentschaftskandidat
seine liberalen Prinzipien
dem Machtkalkül.

liche filmische Kunstwerke etwa wie „Mander­ mit Prinzipien zu sein. Er antwortet ehrlich und
lay“ von Lars von Trier (DK 2005) und „The Ides macht nicht jedes Spiel im Stimmenfang mit. Er
of March“ von George Clooney (USA 2011). wirbt für Toleranz in der Gesellschaft und eine

Fotos: cinetex t, © Legend Fil ms/cinetex t, © Sony Pic. Ent./All star/cinetex t


freiheitliche Grundordnung. Die Fragen, die sich
M anderl ay durch den gesamten Film ziehen, sind grundsätz­
In beiden Filmen wird diese staatlich garantierte licher Natur: Wie weit soll man sich auf Kompro­
Toleranz auf die Probe gestellt und korrumpiert. misse einlassen, um seine Ideale durchzusetzen?
„Manderlay“ nimmt die Überwindung der Skla­ Wie menschlich tolerant oder intolerant muss
verei in den Blick. Die junge Frau Grace kommt man in dem harten Geschäft der Politik sein, und
durch Zufall in ein Dorf, in dem noch die Skla­ wo werden aus hehren Begriffen plötzlich hohle
verei herrscht, hier leben weiße Herren und „die­ Phrasen? Schließen sich Macht und Toleranz ge­
nen“ die Schwarzen als Sklaven. Grace ermutigt genseitig aus, und wo liegt der der Bezugspunkt
die Unterdrückten zum Aufstand für Gleichbe­ der Toleranz?
rechtigung. Tatsächlich wird eine neue, gerechte In der Anfangsszene des Films wird der von
Gesellschaftsordnung durchgesetzt. Doch das George Clooney gespielte Gouverneur gefragt,
Experiment scheitert. Die erstrittene Toleranz ist ob sein christlicher Glauben Grundlage für sein
zu anstrengend. Der Film ist ernüchternd, aber Handeln sei. Seine Antwort: Die Bibel ist meine
eine solche nüchterne Sicht zieht den Zuschauer Verfassung. Am Ende opfert er diesen Anspruch
in die Grundspannung zwischen Hingabe und der Macht.
Verweigerung hinein. Das zeitgenössische Kino spielt auf ganz un­
Regisseur Lars von Trier sagte dazu in einem terschiedliche Weise mit dem Verhältnis von
Interview mit BR Online vom Oktober 2005: „Ich Glaubensüberzeugung und Toleranz. Manchmal

56
Jahr und Tag

wird es kritisch gesehen, manchmal beiläufig be­ Kommunist und ein Christ auf gleicher Augen­
rührt, und manchmal wird das Verhältnis von höhe. Schon seine Uraufführung schürt die Er­
Glaubensüberzeugung und Toleranz als drama­ wartungen an die Bereitschaft des DDR-Staates
turgischer Schwerpunkt festgelegt. zum Dialog mit den Kirchen. Es blieb jedoch
nur die Toleranzleistung der DEFA, dass der
Einer tr age des anderen L ast Film produziert wurde und über eine Million
Ein Film, der gleichermaßen Politik und Religion Zuschauer ihn sehen konnten. Für die Toleranz­
herausfordert, auch wenn er schon 25 Jahre alt ist geschichte des DDR-Staates gegenüber den Kir­
und zu Beginn der 1950er Jahre spielt, ist der von chen blieb der Film allerdings folgenlos.
Lothar Warneke gedrehte DEFA-Spielfilm „Einer Das Medium des Films erzählt so unmittel­
trage des anderen Last“ (DDR 1988). Die Hand­ bar die Geschichte von Menschen, dass dem Zu­
lung des Films spielt Anfang der 1950er Jahre in schauer auch fremde Glaubensüberzeugungen
einem privaten Lungensanatorium. Die Prota­ näherkommen. Das mag häufig manipulativ

gonisten – Josef Heiliger, ein junger Kommissar wirken, ist aber zugleich ein kostbares Gut des
der Volkspolizei und überzeugter Marxist, so­ Films, das über die rationale Ansprache hinaus­
wie Hubertus Koschenz, ein evangelischer Vikar geht und sein Publikum in die Erzählung einbe­
– teilen sich, da beide an Tuberkulose erkrankt zieht. Der Film „Einer trage des anderen Last“
sind, unfreiwillig ein Krankenzimmer. Beide steht exemplarisch dafür, er verbindet die tief­
tragen zunächst ihre kontroversen Weltanschau­ gehende Diskussion über zentrale Lebensthe­
ungen demonstrativ zur Schau. men mit einer Geschichte, die von Freundschaft R a l f M e i st e r
Die zwangsläufig entstehenden Diskussi­ und (Nächsten-)Liebe handelt. Dabei gewinnt ist Landes­bischof
onen zeigen jedoch im Laufe der Zeit Gemein­ die Erzählung Oberhand und gibt eine Antwort, der Evangelisch-
lutherischen Kirche
samkeiten auf. Josefs Erkrankung nimmt einen wie Toleranz entstehen und wachsen kann, und
Hannovers.
bedrohlichen Verlauf, während sich Hubertus’ zeigt zugleich, dass eine Entscheidung für ein
Zustand langsam bessert. Hubertus kann über tolerantes Denken Konsequenzen zieht. Für
kirchliche Kontakte neuartige, hochwirksame mich ist dieser Film eine Erinnerung an ver­
Medikamente aus dem Westen beziehen. Diese gangene Zeiten und eine Mahnung für die Ge­
lässt er dann aber, ohne dessen Wissen, an den genwart.
schwerer erkrankten Josef abgeben. Bedingen Der filmische Blick heute öffnet den Zugang
sich Glaubensüberzeugungen und Toleranz, zu einer sehr viel weiteren Welt. Eine evangeli-
oder schließen sie sich gegenseitig aus? In der sche Perspektive wird auch künftig in die Dialo­
Welt des schwer kranken Kirchenmannes wird ge, die Filme eröffnen, eintreten. Sie erwartet von
die Toleranz als Teil seiner Glaubensüberzeu­ sich selber Toleranz und wird sie – ähnlich, wie
gung erfahren. Der Film selber wurde als Signal es dem großen Film gelingt – von anderen ein-
verstanden, denn erstmals begegnen sich ein fordern.

57
Jahr und Tag

„Und Fronleichna m hängen


Wir die Wäsche R aus!“
Die Fremdheit zwischen katholischer Mehrheit und protestantischer Diaspora
ist gegenseitiger Wertschätzung gewichen. Nun kann die einstige Minderheit ihre
Erfahrung nutzen – für die neuen Minderheiten der multikulturelle Gesellschaft
Vo n Pe tr a B o ss e - H u b e r

Ä
ltere Menschen in unseren Gemeinden fahrung. Die Grenze läuft nicht mehr zwischen
erinnern sich noch daran, wie auf den Evangelischen und Katholischen, sondern zwi­
Dörfern evangelische Hausfrauen zu schen Jugendlichen mit und ohne Migrations­
Fronleichnam draußen die Wäsche aufhängten hintergrund, zwischen Christen und Muslimen.
und wie katholische Bauern am Karfreitag Gülle Auch heutige Jugendliche kennen Vorurteile
auf dem Feld verteilten. und Vorgaben, mit wem sie befreundet sein sol­
P e t r a B o ss e - H u b e r Im katholisch geprägten Rheinland und im len und wer mit wem Kontakt haben darf. Selbst
ist Vizepräses der Ruhrgebiet kamen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeteilte Schulhöfe kennen viele aus ihrem
Evangelischen Kirche plötzlich viele evangelische Flüchtlinge aus Ost­ Schulalltag.
im Rheinland und preußen, Schlesien, Siebenbürgen oder anderen Das Verhältnis der katholischen und evange­
begleitet den Weg der
Gebieten an. Vorurteile wurden gepflegt. Es hieß, lischen Christen im Rheinland und in Westfa­
Evangelischen Kirche
in Deutschland Protestanten sollten lieber bei pro­ len ist heute von Wertschätzung
zum Reformations­ testantischen Ladenbesitzern und „Bring mir bloSS geprägt. In vielen Dörfern und
jubiläum 2017. Handwerkern einkaufen als bei keinen evange- Städten arbeiten Kirchengemein­
katholischen – und andersherum. lischen Jungen den beider Konfessionen eng zu­
In den Schützen- oder Karnevals­ mit nach Hause, sammen, gestalten regelmäßig
vereinen blieben die Katholiken M ädchen!“ gemeinsame Gottesdienste oder
lange unter sich; zu diesem Teil Kinderbibelwochen, treffen sich
der Dorfgemeinschaft fanden die Evangelischen in ökumenischen Bibelkreisen und engagieren
nur schwer Zugang, wenn sie es denn überhaupt sich für sozial Schwache und Bedürftige. Doch
wollten. Katholische Mädchen sollten bloß kei­ Respekt, Wertschätzung dessen, was anders und
nen evangelischen Jungen mit nach Hause brin­ „fremd“ erscheint, und die Bereitschaft, vonei­
gen oder gar heiraten. Auf den Schulhöfen gab es nander zu lernen, fallen nicht vom Himmel. Sie
oft getrennte Bereiche für Katholiken und Pro­ müssen gemeinsam eingeübt werden.
testanten. Gewisse Linien zu überschreiten löste Es ist unerlässlich, dass die gesellschaftlichen
Prügeleien aus. Gruppen sich ihrer Rollen bewusst werden: In
Schülerinnen und Konfirmanden fällt es oft welchen Situationen gehöre ich zur Mehrheit und
schwer zu verstehen, was genau das Herausfor- wann zur Minderheit? Wann bin ich auf Toleranz
dernde und Verletzende an diesem Verhalten angewiesen? Wann versage ich anderen Toleranz
war. Für Jugendliche sind diese Geschichten le­ und Respekt – und mit welcher Begründung?
gendenhafte Erinnerungen der Eltern und Groß­ Geschichtlich gesehen kennt die evangelische
eltern. Erst auf Nachfrage wird deutlich: Diese Kirche sowohl die Position der Minderheit als
Art von Grenzziehung kennen sie aus eigener Er­ auch die der Mehrheit. Es gibt Beispiele in Wort

58
Jahr und Tag

und Tat von großer Toleranz und Freiheit im Um­ Pfarrhäusern oder Schulen,
gang mit Menschen anderer Religionen und Kul­ bauen oder gar außerhalb der
turen, aber auch Beispiele großer Intoleranz und Stadtmauern.
Begrenztheit – oft in ein und derselben Zeit. Die Die evangelischen Ge­
Reaktionen auf die Gedanken der Aufklärung im meinden erfuhren oft Wachs­
18. Jahrhundert fielen zum Beispiel unterschied­ tum „von außen“. Sie wuch­
lich aus. Die Haltung gegenüber dem Judentum sen z. B. durch die Ankunft
war im 19. und im frühen 20. Jahrhundert und von religiös Verfolgten wie den Hugenotten aus
besonders in der Zeit des Nationalsozialismus Frankreich. Aber auch der Zuzug von Menschen,
dagegen überwiegend von Intoleranz geprägt. die sich im 19. und 20. Jahrhundert auf der Suche
Auf dem Weg zu mehr Toleranz und Respekt nach Arbeit im Ruhrgebiet niederließen oder die
müssen sich alle Beteiligten in die Lage der Men­ Ansiedelung von Vertriebenen und Flüchtlingen
schen und Gruppen versetzen können, die auf nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges brachte
Toleranz und Respekt angewiesen sind, weil sie den Kirchengemeinden immer wieder viele neue
wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer se­ Mitglieder.
xuellen Orientierung oder ihrer politischen Hal­ Auch die Bücher der Bibel berichten von Min­
tung zu einer Minderheit gehören. derheitserfahrungen des Volkes Israel in Ägyp-
Die evangelischen Kirchen können hier eine ten, im babylonischen Exil und unter fremden
wichtige Rolle spielen, wenn sie sich an ihre eige­ Besatzungsmächten, ebenso von den schwierigen
ne Geschichte als religiöse Minderheit erinnern. Anfängen der ersten christlichen Gemeinden in
In vielen Gebieten gehört die Diaspora­geschichte Kleinasien und Griechenland, von Konflikten
der Evangelischen noch heute zum kulturel­ zwischen Gläubigen verschiedener Herkunft und
Fotos: LWL-Medienzentrum für Westfalen

len Gedächtnis, in den westfälischen und rhei­ unterschiedlicher religiöser Traditionen.


nischen Landeskirchen etwa, auch in den Ge­ Dieses Wissen können evangelische Chris­
meinden der reformierten Kirche in Bayern und tinnen und Christen heute für die multireligi­
Nordwestdeutschland. öse und multikulturelle Gesellschaft fruchtbar
Seit ihren Anfängen am Ende des 16. Jahr­ machen und eine aktive Rolle im Einüben und
hunderts waren viele der ersten protestantischen Erlernen von Toleranz einnehmen. Die Erzäh­
Gemeinden im Rheinland Diskriminierungen lungen vom respektlosen Umgang mit den reli­
bis hin zu blutiger Verfolgung ausgesetzt. Die giösen Bräuchen der Nachbarinnen und Nach­
Evangelischen am linken Niederrhein mussten barn und von aufgeteilten Schulhöfen sollen für
ihre Gotteshäuser als sogenannte Hofkirchen, die Jugendlichen einer zukünftigen Generation
also klein und versteckt in den Höfen hinter den wirklich in den Bereich der Legende gehören.

59
Jahr und Tag

Pre digtm e ditati o n zu Ga l ate r 5,1-6

Freiheit unter der Haut


Ein Plädoyer, inspiriert von Joachim Gauck, eine Psalmenparaphrase
und ein Gebet für friedvollen Umgang Vo n k ath r i n ox e n

D
as Buch passt bequem in die Mantel­ Murren und die Sehnsucht nach den Fleisch­
tasche, klein und handlich und doch töpfen Ägyptens. Ein Murren, das bis heute zu
ein richtiges Buch, schön gemacht mit hören ist. Die Knechtschaft in Ägypten, eine
Schutzumschlag und Vorsatzpapier. „Freiheit. Kirche, die glaubt, dass man die Liebe Gottes
Ein Plädoyer“ von Joachim Gauck. Eine Rede verwalten und verkaufen kann, die Diktaturen
von programmatischer Kraft, zum Mitnehmen, des 20. Jahrhunderts:
Dabeihaben, Immer-wieder-Lesen. Ein Gedan­ Frei waren wir zwar nicht, aber sicher, so si­
kengang, natürlich nicht alles neu, aber kurz cher. Soweit die Kette reicht, solange das Joch
und bündig zusammengefasst: Es gibt unter­ noch eben zu tragen ist, solange jeder zu essen
schiedliche Arten von Freiheit. Die Freiheit von und eine Arbeit hat …
etwas, das ist die Freiheit in ihrer Pubertät. Sie So nicht!, sagt Paulus. Zur Freiheit hat uns
kann erwachsen werden. Dann wird sie die Frei­ Christus befreit. Da liegt dir kein Joch mehr auf
heit zu etwas. Und sie bekommt einen anderen der Schulter, da hast du keinen Ablasszettel und
Namen, sie heißt jetzt Verantwortung, für mich kein Parteibuch in der Hand. Denn die Freiheit
selbst und für die Gemeinschaft. Diese „Freiheit muss woanders sein, unter der Haut. Das fühlt
der Erwachsenen“ macht sensibel für jede Form sich anders an. Dann kann dir nichts mehr im
der Freiheitsberaubung. Und damit sind auch Nacken sitzen, dann klappt der aufrechte Gang.
Grenzen der Toleranz deutlich markiert. Freiheit unter der Haut. Das fühlt sich viel­
Ein Plädoyer für die Freiheit. Auch der Pre­ leicht anders an – aber zu sehen ist nichts davon.
digttext für den Reformationstag ist so ein Plädo­ Ein äußerlich sichtbares Zeichen, das haben nur
yer, von programmatischer Kraft, zum Mitneh­ diejenigen, die von Geburt an zu Gottes Volk
Pfarrerin k at h r i n men, Dabeihaben, Immer-wieder-Lesen. Martin gehören. Die Beschneidung ist das Zeichen des
ox e n leitet das
Luther hat das so gemacht. So lieb und vertraut Bundes, den Gott mit seinem Volk geschlossen
Zentrum für evange-
lische Predigt­kultur
wie die eigene Frau ist ihm der Galaterbrief dabei hat, damals, nach dem Auszug aus Ägypten. Die
in Wittenberg. geworden, „meine Käthe von Bora“ konnte er ihn Beschneidung ist Zeichen der Freiheit – vor allem
nennen. Ein Liebesbrief an die Freiheit. der Freiheit Gottes. Seine Liebe zu den Menschen,
Die Gebete stammen Zur Freiheit hat euch Christus befreit, seine besondere Liebe zu diesem einen Volk, sie
von Pfarrerin S y lv i a schreibt Paulus. Sie sind ihm so nahe, diese bleibt unerklärlich und unberechenbar, wie alle
B u ko ws k i .
Menschen, mit denen er christliche Gemeinden Liebe. Da wird es so verständlich, dass sie sich
gegründet hat und mit denen ihn eine gemein­ nach einem Zeichen sehnen in Galatien, nach
same Geschichte verbindet. Es lief doch gut, ihr einer Bestätigung, nach Sicherheit. Wir möchten
lieft so gut (V. 7) – und in was für Büsche schlagt dazugehören und wir möchten ganz sicher sein.
ihr euch da jetzt? Vielleicht können wir etwas dazu tun?
Die große Enttäuschung eines Menschen, der

U
andere begeistern und mitnehmen kann, eine nd vielleicht sollten wir das sogar tun?
Erfahrung, die mühelos die Zeiten überspringt. Bei der Frage nach der Beschneidung
Plötzlich bleiben sie stehen, biegen ab, kehren geht es auch noch um andere Dinge als
um. Wie damals, am 18. März 1990, als nur noch um das Verhältnis zwischen Gott und seinen
2,9 Prozent der Stimmen für die Bürgerrechts­ Menschen. Wer sich in Galatien beschneiden
Fotos: owik2 / photoc a se.com

bewegung in den Wahlurnen waren. Das reichte lässt, der kann auch in anderer Hinsicht sicher
nicht einmal zu einer Siegerurkunde. sein. Denn anders als die Christen haben die Ju­
Die Freiheit, diese Zumutung. Das ist eine den im römischen Reich schon den Status einer
alte Geschichte. Es geht ja gleich so los, am Be­ anerkannten Religion. Wer sich beschneiden
ginn der Geschichte Gottes mit seinem Volk, lässt, wäre damit auch vor Verfolgung von staat­
nach dem Auszug Israels aus Ägypten. Ein paar licher Seite geschützt. Und vor all den Nach­
Schritte in der Freiheit nur, da beginnt schon das teilen, die es mit sich bringt, wenn man nicht

60
Jahr und Tag

„Im G e i st d e i n e s So h n e s“ konform mit einem Staat lebt, der sich um die


Freiheit des Einzelnen nicht schert.
N ac h P s a l m 46 Du treuer Gott, Keine alte Geschichte. Sie können davon er­
aus der Zusage, zählen, die Menschen im Osten Deutschlands,
dass du mit uns bist, seien sie so prominent wie Joachim Gauck oder
hat deine Kirche so zurückhaltend und unauffällig wie viele
oft das Recht abgeleitet, Chris­ten in den ostdeutschen Gemeinden. Hin­
andere mit Gewalt zu bekämpfen. ten an der Wand im Klassenzimmer, da standen
Wir haben begriffen, Stühle, auf die sich die Mitglieder der Jungen Ge­
dass das unrecht war. meinde setzen mussten. Dreht euch alle mal um,
Aber auch wir sind nicht dagegen gefeit,
sagte der Lehrer, und guckt sie euch an. Diese
Glaubenssätze als Waffe zu nutzen,
vier beteiligen sich nicht am Aufbau unseres so­
um andere damit zu verletzen.
zialistischen Staates, denn diese vier gehen nicht
Wir hören oft nicht wirklich zu
und bedenken nicht, zur Jugendweihe, sondern zur Konfirmation. Sie
was andere sagen, haben es ausgehalten, die Jugendlichen, weil die
weil wir Recht behalten wollen. Freiheit ihnen unter der Haut saß. Sie haben die­
Gott, vor dir können wir nicht verbergen, sen Rest von Freiheit bewahrt, in dem zurechtge­
was wir anrichten stutzten Leben, das für sie vorgesehen war. Und
mit unserer Unduldsamkeit. sie wussten damals doch gar nicht, wie es einmal
Du siehst, wie Menschen manchmal unter uns leiden, ausgehen würde für sie. Einen Studienplatz ha­
und öffnest die schützenden Mauern deiner Güte ben sie jedenfalls erst mal nicht bekommen.
für die, die bei dir Zuflucht suchen

D
vor Fanatismus und Missachtung.
enn wir warten im Geist durch den
Machtvoll trittst du allen entgegen,
Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die
die deinen heiligen Namen missbrauchen,
man hoffen muss, schreibt Paulus. Was
um Feindschaft zu säen.
Wir bitten dich in deinem mütterlichen Erbarmen, für eine Zumutung ist die Freiheit. Wir warten
erneuere uns im Geist des Friedens und wissen nicht, wie lange. Wir leben und wis­
und lehre uns leben sen nie, ob wir das Richtige oder das Falsche tun,
in versöhnter Verschiedenheit. es gibt keine Sicherheit. Der Geist und der Glau­
be sind an unserer Seite, hoffentlich, aber nicht
die Tatsachen und das Wissen. Und die Gerech­
Z u G a l at e r 5,1 – 6 Gnädiger Gott, tigkeit – wenn man überhaupt auf irgendetwas
wir danken dir hoffen muss, dann wohl auf sie. Manchmal be­
für die Freiheit, schneiden wir uns lieber selbst, als die Freiheit
in die du uns führst nur unter der Haut zu wissen.
durch Jesus Christus.
Denn was ist die Freiheit, die von Gott
Bewahre uns davor,
kommt und die Jesus Christus gelebt hat? Vor
sie zu verwechseln mit Beliebigkeit,
der alles gleich-gültig ist,
allem Verzicht, auf Macht und Besitz zum Bei­
was den Glauben betrifft. spiel. Eine Freiheit, die Folgen hat, ein Leben
Lass uns nie aufhören, mit einem hohen Anspruch. Niemandem mehr
nach deiner Wahrheit zu fragen untertan und jedem untertan, so beschreibt das
und sie in der Liebe zu Menschen zu leben. Martin Luther. Du bist ein König, eine Königin
Lehre uns Unterschiede zu achten, und Knecht und Magd zugleich. Ganz frei und
ohne uns voneinander zu trennen; immer verantwortlich, für dich selbst und für
und wenn uns Feindschaft entgegenschlägt die anderen auch. Freiheit unter der Haut, so
lass uns nicht Böses mit Bösem vergelten, fühlt sie sich an.
sondern im Geist deines Sohnes
nach Frieden suchen.
61
Jahr und Tag

Lessings Ringpar abel 


– wiedergelesen
Sie ist kein Märchen für Träumer und Gutmenschen. Der Aufklärer und
Religionsgelehrte schrieb seinen Theateraufruf zur Toleranz, während er selber
von intoleranten Hauptpastoren bedrängt wurde Vo n P e tr a Ba h r

62
Jahr und Tag

G o t t h o l d Ep h r a i m
L e ss i n g , Dichter
der Aufklärung. Er trat
für ein Christentum der
Vernunft ein, das sich
nicht am Dogma, sondern
am Geist der Religion
orientieren solle

„Unter stummer Wiederholung allseitiger Umar­ Bühnenportal gesprayt. Das ist cool und nimmt
mung fällt der Vorhang.“ Die Regieanweisung für den Religionslehrern die Arbeit ab: das Kreuz
den Schluss sagt alles. Es ist zum Augenverdre­ fürs Christentum, der Davidstern fürs Judentum
hen. Mit „Nathan dem Weisen“, dem Klassiker und für den Islam: nein, kein Halbmond, son­
der Toleranzliteratur, lassen sich die Unverträg­ dern ein Passagierflugzeug. Das Bild für Terror
lichkeiten zwischen den Religionen wohl nicht als Zentralsymbol für eine Religion – so kann
lösen. Das Drama aus dem 18. Jahrhundert ist man sich auch demaskieren. Oder wird hier nur Pfarrerin D r . P e t r a
B a h r ist die Kultur­
in Wahrheit ein Märchen für Träumer, für Mul­ eine gut verkäufliche Provokation inszeniert?
beauftragte des Rates
tikultijunkies, Gutmenschen und Akademie­ Das ist „Man wird doch noch mal sagen dür­ der EKD in Berlin.
podien, wo sich die allseitige Umarmung in schö­ fen …“ zum bösen Zeichen geronnen. Peymann
ner Regelmäßigkeit vorführen lässt. will Lessings Traum nicht mehr folgen. Diese Re­
Auf den Schulhöfen in Berlin, Stuttgart, ligion verdient Intoleranz.
Frankfurt und Köln sieht das anders aus. Da ist Vor diesem Ausgang wird der 200 Jahre alte
die Umarmung häufig der erste Griff zu einer Text von Lessing überraschend aktuell, er ver­
ernsten Rangelei. „Türkenschwein“, „Scheiß­ dankt sich nämlich der Todesangst. Der Drama­
christ“, „Juda verrecke“. Brutal, unverhohlen und tiker selbst war kurz vor der Entstehung Opfer
dumm vererben sich die stump­ der Intoleranz seiner Zeit geworden.
festen Ressentiments in jede neue Er hatte sich mit einem Hamburger
Generation, sie passen sich an, Lessing war Hauptpastor angelegt, der dafür
verkleiden sich zeitgemäß und ver­ einer der sorgte, dass die Zensur Lessing mit
fehlen nicht ihre Wirkung. Angst, wenigen, einem Schreibverbot belegt. Heute
Misstrauen, Dummheit, Nichtwis­ die sich in ist das kaum zu glauben, aber die
senwollen. Eine gefährliche Mi­ Islam und Hauptstadtkanzeln waren nicht im­
schung. Die Rollenprosa des Alltags Judentum mer von jener Citykirchentoleranz
scheint von der gestelzten Sprache gut aus- geprägt, die sie heute kennzeichnet.
des Dramatikers aus dem 18. Jahr­ kannten Sie waren häufig Orte blinder Ob­
hundert Lichtjahre entfernt zu sein, rigkeitshörigkeit und böser Hassre­
auch wenn in schöner Regelmäßig­ de, die sich als Predigt ausgab.
keit Schulklassen in die Theater des Landes ge­ Lessing spricht nicht aus der Position einer
karrt werden, um für zwei Stunden in eine Welt selbstgewissen Mehrheit, als er sein Drama der
aus Weisheit, Altersmilde und Religionsfreund­ Toleranz schreibt. Sein Aufruf zur Toleranz ist
schaft entführt zu werden. nicht an „die Anderen“ adressiert, an die Juden, die
Bei Erwachsenen sind die Sprechtexte auch Muslime. Es ist keine Affirmation, sondern bittere
nicht viel niveauvoller. „Man wird doch noch Kritik, dass aus den Quellen des Christentums so
mal sagen dürfen …“, ruft es empört aus dem viel Borniertheit und Angst wachsen konnte ge­
Volk der Dichter und Denker. Hier gilt nicht genüber allem, was anders ist, anders denkt und
Lessing, sondern Thilo Sarrazin als der große anders glaubt. Deshalb lässt er auch nicht einen
Aufklärer. Selbst dem gutwilligsten Theater rut­ lutherischen Pastor sondern einen Juden, der die
Fotos: ull stein bild, dpa

schen Ressentiments durch die Kulissen, die wie Züge eines aufgeklärten Philosophen trägt, das
ein Dementi der weisen Sprüche gelten, die die Märchen vom Ring erzählen. Auch dieses Detail
Schauspieler auf der Bühne zum Besten geben. wird dazu beigetragen haben, dass Lessing die Ur­
Als Claus Peymann am Schiffbauerdamm in aufführung des „Nathans“ nicht selbst erlebt.
Berlin den „Nathan“ inszeniert, werden die drei Dazu muss man wissen, dass Lessing nicht
Symbole für die Weltreligionen als Graffiti aufs nur ein Aufklärer in den theoretischen Din­ >

63
Jahr und Tag

S z e n e n zw e i e r
Au f f ü h r u n g e n von
„Nathan der Weise“. > gen des Geistes war. Er war einer der wenigen nicht mit Macht durchsetzen oder mit Mehrheit
Vorige Seite: Theater
Islamexperten seiner Zeit und kannte sich auch zum Maßstab machen. Sie ist, so gesehen, nur
an der Parkaue, Berlin
(2009), Tempelherr und in den Strömungen des Judentums aus. Die Ge­ dann religiöse Wahrheit, die innere Gewissheit
Kloster­bruder. Bilder schichte von dem Vater, der seinen drei Söhnen verleiht, wenn sie gleichzeitig entzogen bleibt.
oben: Berliner Ensemble drei Ringe vererbt, die für die wahre Religion Hier ist Lessing wirklich emphatisch: Toleranz
(2011), Weiser Nathan stehen, ist hinlänglich bekannt, obwohl sich ge­ im anspruchsvollen Sinne des Wortes, als das Er­
mit Pflegetochter Recha
naues Lesen lohnt. Bevor der Vater stirbt, gibt er tragen des vorderhand Unverträglichen, ja sogar
(links). Nathan belehrt
den Tempelherrn über
jedem seinen Segen. Es kommt, wie es kommen bisweilen Unerträglichen, braucht innere und äu­
Rechas wahre Herkunft. muss: Jeder Sohn erhebt Anspruch darauf, den ßere Aufklärung. Aufklärung, das ist leider kein
einzig wahren Ring zu tragen. Doch „der rechte Projekt, das vor 200 Jahren abgeschlossen wurde.
Ring war nicht erweislich, so unerweislich als der Es ist auch das Projekt der Gegenwart. In Zeiten
rechte Glaube“. Deshalb empfiehlt der Richter, der schwindender Urteile und starker Meinungen, die
den Streit schlichten soll, die Unverträglichkeiten sich um kohärente Argumente weniger kümmern
praktisch zu lösen, durch eine Art Wettkampf, als ums schicke Design und die Like-it-Klicks, ist
dessen Maßstab die Menschenfreundlichkeit das ein mühsames Unterfangen.
und echte Gottesliebe ist: „Es strebe jeder um die Deshalb lässt Lessing die drei Brüder auch
Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag nicht schweigend auseinandergehen. Sie sollen
zu legen. Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit miteinander streiten, wetteifern, sich nicht mit
herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit in­ vorschnellen Antworten zufriedengeben und
nigster Ergebenheit in Gott, zu Hülf’!“ Vielen ist sich ruhig kritisch beäugen. Vor allem sollen sie
diese Lösung zu einfach. Sie mäkeln sich an ihren Taten messen, an der
an Lessing herum, weil sie glauben, Art, wie sie die Welt mitgestalten,
der Ausgang der Parabel öffne dem Lessing wie sie mit Schwachen und Armen
Relativismus Tor und Tür. lässt die und Andersdenkenden und den
Hat Lessing etwa die Wahrheits­ Brüder nicht komplizierten Herausforderungen
frage suspendiert? Nein. Er hat nur schweigend der Gegenwart umgehen.
das Bedürfnis danach, recht zu ha­ auseinander- Vielleicht haben die professio­
ben, ausgehebelt. Recht haben müs­ gehen. Sie nellen Toleranzinszenierer in Kunst
sen und die Wahrheit vertreten sind sollen sich und Kirche Lessing das Märchen zu
für den aufgeklärten Geist nämlich streiten leicht abgekauft. Es ist nämlich kei­
nicht identisch. Der Wahrheit wird ne Gutenachtgeschichte, eher ein
man dann am ehesten gerecht, wür­ Weckruf, ein Einwurf in eine Welt,
de Lessing mit Kant und Co einwerfen, wenn die uns mit ihren starken Bildern über das, was
man sich klarmacht, welche Wahrheit man wissen anders ist, einfängt. Das sollten sich auch die hin­
kann und welche Wahrheit sich nur im Glauben ter die Ohren schreiben, denen Lessings Toleranz
erschließt. Überbietungsansprüche, am schlimm­ nicht genug ist. „Anerkennung“ muss es sein,
Fotos: MuTphoto / Barbar a Br aun

sten noch mit politischer Programmatik, perver­ fordern sie und sehen in Lessing den Vertreter ei­
tieren die Wahrheit immer zum Selbstbetrug. ner alten Welt, der schön daherredet, um gleiche
Das religiöse Bewusstsein der Wahrheit vertritt Rechte vorzuenthalten. Doch Hand aufs Herz:
aber der am glaubwürdigsten, der sie als entge­ mit Lessings neugieriger, von differenzierten
genkommende Wahrheit begreift, über die keine Urteilen und Zuneigung geprägter Toleranz, die
Verfügungsgewalt besteht. Diese Wahrheit kann um der Wahrheit willen aufs Rechthabenwollen
man bezeugen, sie hält sogar ein paar ordentliche verzichtet, wäre auf dem Schulhof, in Talkshows
philosophische Debatten aus. Aber sie lässt sich und auf Theaterbühnen schon viel gewagt.

64
Alltagsgeschichte n⁰5 Jahr und Tag

R auchverbot
In einem Dorf mit ca. 3.500 Einwohnern und sem Gespräch mit dem Bürgermeister. Das „Ihr wisst überhaupt nichts über anständiges
mehr als 50 Prozent evangelischen Bürgern Gespräch wurde von beiden Seiten sehr en- Benehmen! Es ist eine Unverschämtheit und
gab es über längere Zeit Probleme mit den gagiert geführt. Plötzlich warf der Bürgermei- absolute Respektlosigkeit gegenüber einem
Besuchern des örtlichen Jugendraums. Der Ju- ster den Jugendlichen vor, dass sie keinen An- Gast andauernd den Raum und damit auch
gendraum lag im Keller des evangelischen Kin- stand hätten. Er führte als Beispiel an, dass sie das Gespräch zu verlassen. Es fehlt euch an je-
dergartens mitten im Ort. Die Besucher des doch sicherlich gemerkt haben müssten, dass der Erziehung!“ Dies war für die Jugendlichen
Jugendraums waren alle Skinheads mit rechts- er Nichtraucher sei und dennoch würden sie zu viel, da hörte ihre Toleranz auf. Sie sagten,
extremen Ansichten. Die ca. 20 männlichen in seinem Beisein rauchen. Anständige Men- dass sie bereit waren, in Anwesenheit des
und weiblichen Jugendlichen zerstörten im- schen würden außerhalb des Jugendraums Bürgermeisters ausnahmsweise auf das Rau-
mer wieder die Möbel des Raums und vor dem rauchen. Einige Jugendliche entschuldigten chen zu verzichten und auf seinen Vorschlag
Jugendraum kam es öfters zu Schlägereien, sich und verließen den Raum, um draußen draußen zu rauchen einzugehen, aber dass er
auch mit türkischen Jugendlichen, die eben- weiter zu rauchen. sie dann erneut angriff, war zu viel für sie. Sie
falls aus dem Dorf stammten. Das Gespräch ging weiter und nun herrsch- verließen den Raum. Der Jugendraum war da-
Schließlich bat der Bürgermeister des Ortes te ein reges Kommen und Gehen unter den nach erst einmal für längere Zeit geschlossen.
Foto: Ba sti Arlt

alle Jugendlichen zu einem Gespräch in den Jugendlichen, da es immer welche gab, die Die Ruhestörungen und Sachbeschädigungen
Jugendraum und drohte, ihn zu schließen. rauchen wollten und daraufhin nach draußen fanden daraufhin an anderen Plätzen im Ort
Es erschienen zahlreiche Jugendliche zu die- gingen. Schließlich sagte der Bürgermeister: statt. Von Stefan M a aSS

65
Jahr und Tag

Der ernste Schatten


der Toler anz
Der Freund entpuppte sich als IM der Stasi. Später wollte er seinen
Verrat nicht als solchen erkennen. Wie soll man solch einem Menschen
verzeihen, und vor allem: was? Vo n M at th i a s Sto rc k

Die Kraft nicht, noch die Schwäche, Himmelunter mals. Sein Name weckte die Erinnerung an ver­
nichts hat der Mensch auf Dauer.
Der Fluss ist ein geduldiger Lehrmeister für den trauliche Gespräche im ländlichen Pfarrhaus,
Sein Herz verblüht, und breitet
er dann die Arme aus, Gang der Welt. Sein Wasser rückt alles zurecht. an Jasmintee und herbstliche Kartoffelfeuer im
kommt dabei auf der Mauer Erst sammelt der Spiegel das Licht ein. Dann, Garten unter dem heiteren Himmel der Mark
ein Kreuz als Schatten raus. Dächer unten, Häuser und Türme. Es folgen die Brandenburg. Wir liebten den Pfarrer für seine
Baumkronen und das große Gelb der Ginster­ offene Art, bewunderten seinen Mut und schüt­
Louis Aragon
hänge. Selbst die Erinnerungen mit ihren abge­ teten ihm unser Herz aus.
malten Bildern stehen im Fluss auf dem Kopf. Erst jetzt hatten wir die ganze Wahrheit in
Deshalb sitze ich gern am Ufer. Hier könnte ich den Aktenbergen der Gauck-Behörde entdeckt.
fliegen lernen. Himmelunter schwankt die Stadt Unser Vorbild hatte einen Decknamen: „IM
merkwürdig. Ganze Straßenzüge haben sich los­ Klaus“. Unter dem Talar war er einer von ih­
gemacht von allen Fundamenten und hängen nen geworden. Er hatte sich in unser Vertrauen
hilflos vom Himmel herab. Die Wolkenschiffe geschlichen, uns ausgehorcht. Abgründe taten
tragen alles fort. Sie sind ein schönes Bild für das sich auf. Wir stürzten herzüber hinein. Als wir
himmlische Wort „Toleranz“ und seine irdischen ihn kurz vor der Verhaftung das letzte Mal sa­
Übersetzungen: „tragen, ertragen, dulden“. Die hen, wusste er schon, was uns erwartete. Damals
Fotos: m adochab / photoc a se.com

lernten wir im Gefängnis. Dort mussten wir den übergab er uns einen Zettel, um uns zu einem
Himmel in einem Menschenwort, die Freiheit Fluchtversuch zu locken. Wir lehnten ab und
in einer Schlüsseldrehung und die Hoffnung in wurden trotzdem eingesperrt. Wenige Tage spä­
einem Sonnenstrahl forttragen können. ter wurden wir in Drillich und Filzpantoffeln
zum Verhör geschleift. Andere auch, wie wir den
Herzüber Akten entnahmen. In Danzig sollte ein Schiff
Am 3. Februar 1992 fuhren meine Frau und ich mit Flüchtlingen in den Westen auslaufen. Samt
nach Frankfurt am Main. Endlich wollten wir Kapitän und Kurieren versank es in den Löchern
ihn treffen, den Freund und Seelsorger von da­ der Stasi. Alle wurden festgenommen.

66
Jahr und Tag

Wir konnten nicht glauben, was wir gelesen hat­ Ich lernte, dass Toleranz auch heißen kann: „ge­
ten und suchten ihn auf, dreizehn Jahre danach. schehen lassen“. Denn was geschieht, geschieht,
Die Winterzeit fuhr gelassen Intercity. Das ob du willst oder nicht. Dass uns am Ende Gott
Herz raste mit aufdringlichem Gepäck voraus: selbst durch dieses Geschehen getragen haben
Im Ohr den klirrende Gesang der Schlüssel, im muss, ist erst lange danach beim Rückwärtslesen
Hinterkopf den Takt der Bewacherstiefel, Ma­ ein behutsamer Trost. Aber ein starker Anfang
schendraht in den Augen, in der Nase abwech­ für die Toleranz, denn es gehört viel Mut dazu, M at t h i a s St o r c k
selnd Angstschweiß, Maschinenöl und Braun­ sich nach so einem Sturz tragen zu lassen. wurde in der DDR
zusammen mit seiner
kohle. Träume Schwarz-Weiß. Auf der Zunge Damit beginnt meine Geschichte von vorn.
Frau wegen angeblicher
kein Wort zu viel. Aber in der Seele ein leuchten­ Ich sehe einen jungen Mann, nackt bis auf die „landes­verräterischer
des Bild aus dem Gerichtssaal: Tine, meine Frau, Unterhose, in einer Zelle stehen, Gesicht zur Agenten­tätigkeit“
im strahlend blau geblümten Sommerkleid mit Wand, mit ausgebreiteten Armen. Er sieht aus, inhaftiert und nach 14
Handschellen. als wolle er wegfliegen. Das bin ja ich. Das Hun­ Monaten freigekauft.
Als wir unserem einstigen Freund gegenüber­ dert-Watt-Gespenst macht aus meinem Schatten Seit 1988 ist er Pfarrer
in Westfalen.
saßen, trauten wir unseren Ohren nicht. Er muss­ ein Kreuz auf der Mauer.
te zwar bestätigen, was wir ihm schriftlich vor­ Das Wasser im Fluss hat längst einen Himmel
legten, beteuerte aber in einem langen Gespräch, unter das Kreuz geholt. Aber Toleranz ist noch im­
er habe uns „nur helfen wollen“. Es schien, als mer ein Wagnis, ein „Fliegen mit fremden Federn“,
hätten die Wörter ihr Gewissen verloren. Der wie Wolf Biermann es ausdrückt. Wenn es glückt,
Pfarrer war chronisch unschuldig. Was hätten nimmt es allem Irdischen die letzte Schwere.
wir ihm vergeben können? Die Sonne wäscht ihr altes Gold. Die Stadt
regnet bunt aus allen Wolken. Die Geschichte
„Fliegen mit fremden Federn“ steht kopf. Alles rückt auf. Nur Gott bleibt un­
So eine Geschichte hört nie auf. Sie wirft einen ten. Und der ernste Schatten aus Aragons Zeilen
ernsten Schatten in die Seele. steckt mir im Herzen.

67
Jahr und Tag

Kreuz anStelle
von Lakshmi
In Indien nehmen Menschen unterschiedlicher Religionen Anteil aneinander.
Sie feiern ähnliche Feste. Zugleich leben sie in ihrer Religion. Und Christen
bekennen sich öffentlich zu Christus Vo n G u d ru n Löwn e r

E
s ist Sonntag in Kerala im Süden Indiens halten sich an die alte Regel, dass man vor dem
und in Mizoram oder Nagaland im Nord­ Abendmahl nichts essen soll. Nach den Gottes­
osten Indiens, angrenzend an Myanmar. diensten gibt es meistens noch einen Tee. Lange
Früh läutet der Wecker und reißt die Christen stehen die Familien vor der Kirche und unterhal­
hier wie dort aus dem Schlummer. Sie nehmen ten sich. Glaube ist öffentlich, er wird nicht ver­
ein Bad, ziehen ihren besten Sari, ihre Stammes­ steckt.
D r . G u d r u n L öw n e r ,
kleidung oder das beste Oberhemd an. Die Haare Am Montag gehen dann die beiden Kinder
ist Pfarrerin und werden sorgfältig gekämmt und geflochten. Die der Familie je in eine christliche Schule, eine für
Religionswissenschaft- verheirateten Frauen tragen ein gol­ Mädchen und eine für Jungen. Dort
lerin in Südindien am denes Kreuz an einer Kette um den Auch Hindus, treffen sie zahlreiche hinduistische
United Theological Hals, ein Herz mit Kreuz oder eine Sikhs und Kinder aus der Nachbarschaft, die
College in Bangalore.
Taube, Zeichen des Heiligen Geistes, Muslime freiwillig diese christliche Schule
genau da, wo Hindufrauen ihren wollen einen besuchen und stolz darauf sind, dass
Thali (einen Goldanhänger, oft mit Blick auf sie sie besuchen dürfen. Regierungs­
Göttin Lakshmi) tragen. Kinder wer­ Jesus werfen schulen haben keinen guten Ruf und
den herausgeputzt. Dann macht man unterrichten selten in Englisch. An­
sich auf den Weg zur Kirche, meist mit der Bibel dere private Schule sind um vieles teurer als die
unterm Arm: im Dorf zu Fuß, in den Städten mit christlichen. Auf den Dörfern sind solche christ­
Fotos: Gudrun Löwner

öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Auto. liche Schulen oft die einzige Möglichkeit für alle
Eigene Autos sind oft mit Mitbringseln von Wall­ Kinder gleich welchen Glaubens, eine gute Schul­
fahrtsorten wie Schreinen der Mutter Maria so­ ausbildung zu bekommen.
wie mit Bibelsprüchen geschmückt. Trotz der schrecklichen Vorfälle in Oris­
Die meisten Gottesdienste beginnen bereits sa, wo Christen wegen ihres Glaubens sterben
um 7.30 oder spätestens um 8 Uhr. Viele Christen mussten und 5000 Häuser abgebrannt wurden,

68
Jahr und Tag

da man sie zu Unrecht beschuldigte, einen Hin­


duführer ermordet zu haben, bekennen sich
Christen weiterhin überall in Indien zu ihrem
Glauben. Zu Weihnachten leuchten allerorten
bunte Papiersterne vor den Häusern der Chris­
ten, aber auch einiger Hindunachbarn, die be­
sonders in Kerala und Goa gerne einige christ­
liche Feste mitfeiern. Die Krippen werden nicht
in den Kirchen aufgestellt, sondern in einem
Stall vor den Kirchen.
Auch Hindus, Sikhs und Muslime wollen
an diesem besonderen Tag einen Blick auf Jesus
werfen, dem christlichen Gott ins Auge schauen,
„darshan“ (Anschauung) mit ihm haben. Man
weiß ja nie, vielleicht ist dieses Kind
in der Krippe wirklich ein mächtiger Christen
Gott, und es kann nicht schaden, feiern
ihm seine Aufwartung zu machen. Pongal.
So denken viele Menschen in In­ Statt der
dien von allen Religionen. Deswegen hINDU­götter
trifft man auch häufig an den Mau­ verehren
ern, bei den Andenkenverkäufern sie Christus
und in den Hütten und Häusern auf
Poster, die Jesus zusammen mit hinduistischen
Göttern und islamischen Baudenkmälern zeigen.
Die Christen backen zu Weihnachten Kuchen
mit getrockneten Pflaumen, Kirschen und Rosi­
nen. Davon bringen sie etwas zu den Nachbarn.
Die hinduistischen Nachbarn bringen dann an
Diwali, ihrem Neujahrsfest, Mandeln und Süßig­
keiten. Die Muslime bringen ebenfalls an Festen, S a k r a l e M au e r- Christen und
k u n st von einer Hindus verehren
etwa dem Ende des Fastenmonats Ramadan, Sü­
der bedeutendsten gemeinsam das
ßigkeiten zu ihren Nachbarn oder auch Fleisch, indischen Künstle- mit Blumen­ketten
aber nur wenn sie wissen, dass die Nachbarn kei­ rinnen: Anjolie Ela behängte Kreuz
ne Vegetarier sind. Menon aus Neu Delhi (Bild oben). Jesus-
Kinder aller Religionen freuen sich an lauten (Bild links). werbung auf einem
Krachern und Feuerwerk, typisch für alle Feste. kleinen Transporter
in Kerala.
Feste sind das Symbol von Fülle und Überfluss,
so das Erntefest, Pongal, was intensiv in Tamil
Nadu/Südindien gefeiert wird. Dabei wird in
einem neuen Topf Reis mit Milch so lange er­
hitzt, bis die Milch überkocht. Damit hofft man,
Leben in Fülle zu haben. Auch Christen feiern
dieses hinduistische Fest. Statt der Hindugötter
verehren sie Christus. Auch alle Tiere der Fami­
lien werden geschmückt und bekommen ein be­
sonderes Fressen, an diesem Tag dürfen sie ruhen
– bei Hindus und Christen gleichermaßen.
Christliche Symbole finden sich zahlreich in
der Öffentlichkeit: in Kerala, Goa, Tamil Nadu
und den nordöstlichen Staaten, die einen hohen
Anteil an christlicher Bevölkerung aufweisen.
Christen haben sich nicht in den privaten Raum
zurückgezogen, sondern bekennen ihren Glau­
ben im Alltag.

69
Jahr und Tag

Zwischen Angst und Aufbruch


Wie hat die arabische Revolution das Leben der ägyptischen Christen verändert? Die einen
fürchten, dass der Einfluss der streng religiösen Muslime auf ihren Alltag steigt. Andere hoffen,
dass nun die Religionen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden Vo n A n d r e a B u ss e

A
m Anfang, direkt nach der Revolution
im Februar 2011, da hatte Marian große
Hoffnungen: Sie hat davon geträumt,
dass es leichter würde, Kirchen zu bauen, dass
die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Pass
vermerkt würde, dass nicht nur Christen zum
Islam übertreten dürften, sondern auch umge­
kehrt. Aber jetzt?
Mit all den Moslembrüdern und Salafisten im
Parlament stehen die Chancen auf mehr Religi­
onsfreiheit nicht gut, bilanziert sie. Was sie auf
der Straße hört und sieht, macht ihr keinen Mut:
Mitten am Tag – nicht nur am Freitag und nicht
nur zu den Gebetszeiten – schallt nun die Predigt
aus der nahe gelegenen Moschee zu ihr ins Haus,
ob sie will oder nicht. Dass die Verschleierung zu­
nimmt, würde sie noch nicht mal so sehr stören,
wenn diese neue Freiheit im Bezug auf Kleiderre­
geln auch umgekehrt für sie gelten würde, „aber
wir dürfen uns nicht mehr ausziehen“, sagt sie in
etwas unbeholfenem Deutsch und meint damit:
Sie darf im Gegenzug nicht kürzere Ärmel oder
Röcke tragen.
In ihrem Alltag zwischen Club und
Kirche, Compound und Privatschule der
Kinder spürt sie keine Veränderungen.
Ihre muslimischen Freundinnen to­
lerieren nach wie vor ihren anderen
Glauben, nehmen sogar Anteil an der
schwierigen Situation der Christen.
Und im Grunde genommen teilen
sie die Befürchtungen, denn auch li­

70
Jahr und Tag

pROTE ST AU S
vER Z W EIFLUN G :
berale Musliminnen wollen nicht von Predigten Auch David kommt aus einer armen Familie. Nach Ausschreitungen
zwischen Muslimen
zwangsbeschallt und unter den Schleier gezwun­ Er lebt schon immer damit, dass er in seinem
und Christen kamen
gen werden. Stadtviertel im Supermarkt nicht gegrüßt und zwölf Menschen ums
Angst hat sie nicht. Wirklich gefährlich sei es meistens als Letzter bedient wird. Trotzdem Leben. Am 9. Mai 2011
nur für die armen Christen im Land. Die eigent­ wünscht er sich nicht Mubaraks Zeiten zurück. demonstrierten darauf-
liche Grenze verläuft in Ägypten noch immer Er ist froh, dass es mehr Freiheit gibt – auch hin diese Koptinnen
vor dem staatlichen
zwischen den Schichten und nicht zwischen den wenn das heißt, dass immer mehr Muslime frei
Fernseh­sender in Kairo.
Religionen. Marian gehört zur Oberschicht, sie äußern, dass sie Christen für Ungläubige halten.
muss nicht fürchten um Leib Aber er selbst fühlt sich eben
und Leben, sondern nur um auch freier, steht offensiver zu
ihren „freien Lebenswandel“, seinem Glauben. Wenn z. B.
und im Notfall kann sie ge­ im Taxi Koransuren laufen,
hen – so wie viele reiche Kop­ dann bittet er jetzt darum,
ten. Marian aber hängt an ih­ dass das Radio leiser gestellt
rer Heimat und will bleiben. wird. Das alte Regime, so
Allerdings nicht um jeden dav i d hofft auf m i l a d würde glaubt er, hat die Ressenti­
eine besseres sofort das Land
Preis: „Wenn meine Kinder ments zwischen den Religi­
Verhältnis zu den verlassen, wenn
im Arabisch-Unterricht nur Muslimen er könnte
onen eher geschürt, um sich
noch Koran lernen, meine dann als Schutzmacht auf­
Tochter nicht mehr am Sportunterricht teilneh­ zuspielen. Jetzt müssen Christen und Muslime
men darf und ich nicht mehr rausgehen kann“ – endlich lernen, ehrlich miteinander umzugehen
so definiert sie für sich die Grenze ihrer Toleranz. – und zwar überall, wo sie im Alltag aufeinan­
Milad würde sofort gehen, wenn er es sich leis­ dertreffen: im Supermarkt, im Taxi, im Club und
ten könnte. Egal wohin, Hauptsache in ein Land, bei der Arbeit. Begegnungsschulen wie die Deut­
in dem viele Christen leben. Er lebt die meiste Zeit sche Evangelische Oberschule, die Marians Kin­ A n d r e a B u ss e
inkognito, nur Freunde und Bekannte wissen, der besuchen, bemühen sich schon lange, ihren lebt seit 2006 in Kairo.
dass er Christ ist. Wenn im Minibus die Leute Schülern tolerantes Verhalten beizubringen. Ein Sie teilt sich mit ihrem
über Christen lästern, hält er schön den Mund, Baustein davon ist der Kooperative Religions­ Mann die Pfarrstelle
der Deutschsprachigen
und seinen Sohn ruft er auf offener Straße nie unterricht in der Oberstufe, in dem christliche
Evangelischen
mit Namen, denn dieser würde ihn als Christen und muslimische Kinder gemeinsam von einem Gemeinde Ägypten.
­outen. Das Versteckspiel aber funktioniert seit der interreligiösen Lehrerteam unterrichtet werden.
Revolution nicht mehr so gut. Wenn immer mehr Dieser ehrliche Umgang miteinander ist eine
Muslime traditionelle Kleidung und Bärte tragen, große Herausforderung an die Toleranz, aber
denn fällt Milad immer mehr auf. Das macht ihm auch eine Chance.
Angst. „Wirkliche Toleranz vonseiten der Musli­
men gab es noch nie“, so sagt er, auch nicht auf
dem Tahrir, als man gemeinsam gebetet hat, das
sei alles nur Show gewesen. Aber unter Mubarak
Fotos: Pol aris / l aif (2)

habe die Staatsgewalt die Christen wenigstens ge­


schützt. Nach der Revolution brannte die Kirche
direkt neben seinem Haus, er stand in Tränen
daneben und wurde als Ungläubiger beschimpft.
Keine guten Zeiten für Christen – so seine Bilanz.

71
Jahr und Tag

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In einer Frankfurter Kindertagesstätte wird interkulturell gelernt.


Mehr davon in der evangelischen Kirche! vo n B i rg it S e n d le r- Ko s c h e l

L
aura und Ediz-Arda sind Vorschulkinder. gen in der Mitte. Die Erzieherin lässt die Kinder
Mit vier anderen hören sie in der „Esel- die Geschichte im Bild betrachten und das Ge­
Ruben-Gruppe“ die Geschichte von Ab­ hörte nachspielen. Vier Mädchen und zwei Jungen
raham, der in ein fremdes Land zieht. Eine gehören zu der interreligiösen Kleingruppe. Zwei
Fachkraft für interreligiöse und interkulturelle Kinder kommen aus muslimischen Familien. Je
Bildung im Kindergarten der Evangelischen Kir­ ein Kind ist evangelisch, katholisch, äthiopisch-
Foto: Pl ainPic ture

chengemeinde Cantate Domino im Nord­westen orthodox und ohne Konfession.


Frankfurts lässt Ruben, eine Eselhandpuppe, Kinder konstruieren aus dem, was sie erleben,
von Abraham erzählen. Die Geschichte steht so­ ihr Selbst-, ihr Gottes- und ihr Weltbild, auch aus
wohl in der „Kinderbibel“ als auch im „Koran dem, was sie in der interreligiösen E
­ rzählgruppe
für Kinder und Erwachsene“. Beide Bücher lie­ über Bibel und Koran, über sich und die ande­

72
Jahr und Tag

ren erfahren. Sie lernen religiöse Themen und die Kinder religiöse Identität und werden fähig,
Fragen als eine für ihre Lebensdeutung wichtige sich mit anderen zu verständigen.
Weise der Weltbegegnung kennen. Der konstruktive Umgang mit Verschieden­
Die evangelischen Kindertagesstätten haben heit geht in der Frankfurter Kindertagesstätte
laut evangelischer Bildungsberichterstattung noch weiter. Zu jeder der drei Kindergarten­
2011 bundesweit einen überdurchschnittlichen gruppen gehören vier bis fünf Kinder mit Behin­
B i r g i t S e n d l e r-­
Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund: derungen oder mit besonderem Förderbedarf.
Ko s c h e l war Schul­
Durchschnittlich 28 Prozent der Kinder in Evangelischer Kindergarten und Kirchenge­
dekanin in der Ev.
evangelischen Einrichtungen leben und lernen meinde gestalten gemeinsam Feste im Kirchen­ Landeskirche in Würt­
mit einem Migrationshintergrund (mit starken jahr. Die Kinder und ihre Eltern bringen sich in temberg und leitet die
regionalen Schwankungen). Evangelische Kin­ Gottesdiensten ein und finden ihren Platz in der Bildungsabteilung im
dertagesstätten müssen gleichzeitig ihre Arbeit Kirchengemeinde, auch wenn sie nicht evange­ Kirchenamt der EKD.
erkennbar evangelisch profilieren und durch in­ lisch sind. Eine Pfarrerin und ein Imam besu­
terkulturelles und interreligiöses Lernen der Viel­ chen zusammen den Kindergarten. Wer weiß,
falt der Religionen und Kulturen gerecht werden. wo er oder sie zu Hause ist, kann gute Nachbar­
Früh sollen die Kinder Toleranz lernen. Aber schaften pflegen.
nicht alles Religiöse soll zugleich gültig und da­ Während kleine Kinder ihre inneren Ord­
mit gleichgültig sein. Die Kinder können ihre nungsmuster erst konstruieren und daher Unbe­
eigene Religiosität im Kindergartenalltag zeigen, kanntem meist offen entgegentreten, ­nehmen >
sie wachsen in ihre religiöse Identität hinein. Sie
lernen, das Eigene zu benennen − und zugleich
wertschätzend und offen andere religiöse Orien­
S teine un
tierungen wahrzunehmen. Die damit angebahnte
e d
Pluralitätsfähigkeit ist in einer offenen Bürger­
gesellschaft schon jetzt eine Schlüsselkom­ e n Der Schulanfang ist für
e
n
ld

petenz und wird es auch künftig sein. Kinder und Eltern ein wichtiger
ge

Das Frankfurter Erzieherinnenteam Schritt in eine neue Lebensphase. Dabei


Go

geht neue Wege. Es setzt bei der Fami­ gibt es auf den meisten Schulen Kinder ver-
lt r

lienkultur und der Familienreligion schiedener Konfessionen und Religionen. In einem


der Kinder an, bindet die Eltern ein. Gottesdienst zur Einschulung wird dies besonders
Zusammen besprechen und feiern berücksichtigt. Ausgehend vom Modell liturgischer Gast-
äu m e

sie Rituale und Feste der familiären freundschaft sind im Gottesdienst exemplarisch Elemente
Herkunftskultur und Religion. Er­ der islamischen Tradition aufgenommen. Einschlägige
wachsene und Kinder beginnen, Suren aus dem Koran können zu den christlichen Texten
neu über ihren Umgang mit Reli­ hinzugefügt und von einem Vertreter der muslimischen
gion nachzudenken. Sie lernen an Religionsgemeinschaft oder einem Elternteil gelesen
den Differenzen. Neugierig fragen sie werden. Eine Verquickung von Texten („interreli-
nach Unterschieden bei Speisegeboten, giöses“ Beten) ist bewusst vermieden worden.
Festen, Bekleidungsstilen, religiösen Ge­ www.geistreich.de/p213
bäuden, Sprachen und der Musik. Über re­
ligiöse Geschichten und Bräuche entwickeln

73
Jahr und Tag

Vo r b e r e i t u n g
au f s ­G l o b a l e
D o r f: Auch
in d
­ ieser Kita
im ­Frankfurter
Problem­viertel
Gallus arbeiten
die Erzieherinnen
mit Kindern aus
verschiedenen
Kulturkreisen.

n
Erin ern
> Menschen mit zunehmendem Alter die

un Fremdheit anderer massiver wahr.


Erwachsenenbildung, Akademiearbeit und
Jugendliche beschäf- Seniorenarbeit der evangelischen Kirche brau­
d

tigen sich mit dem Rechtsextre- chen noch mehr Akzente in der interreligiösen
mismus in der Gegenwart und der Vergan- und interkulturellen Bildung. Das Lernen an der
Ge

genheit. In einem längeren Prozess entwickeln Differenz kann in jedem Lebensalter helfen, für
sie einen Gottesdienst mit Spielszenen, die aus das Eigene sprachfähiger zu werden – und zu­
den

ihrer Beschäftigung mit dem Buch und dem Film „Der gleich gut informiert, sensibel und offen wahr­
Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne erwuchsen. nehmend mit Fremdem umzugehen.
Der Gottesdienst selbst war dann ein Gedenkgottesdienst Dies fördert auch der Religionsunterricht in
ken

anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. der Schule. Der konfessionell-kooperative Reli­
Dabei war die Beschäftigung der Jugendlichen Teil einer gionsunterricht etwa in Baden-Württemberg ist
längeren Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, durch Kooperationsstandards qualitativ abgesi­
an der Detmolder Schulen, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, chert. Er stärkt zugleich die konfessionelle Iden­
die Stadt, die ortsansässigen Vereine und die Kirchen- tität der Schüler und deren ökumenische Offen­
gemeinde beteiligt waren. Der Gottesdienst erhielt heit. In Projekten kann er interreligiös erweitert
den Gottesdienstpreis 2010. werden.
www.geistreich.de/p331 Religionsunterricht braucht Exkursionen zu
Orten des gelebten Glaubens. Zusammen einen
Taufgottesdienst zu besuchen und mit Tauffami­
lie und Pfarrer darüber nachzudenken, schafft
a l, vers für viele Schülerinnen und Schüler einen Be­

r m ch zug zur eigenen Konfession. Wer die eigene


o i Religion besser kennenlernt, profitiert
n Ein Kirchen­bezirk davon, wenn er dann auch die Mo­
ed

gestaltet einen Nachmittag, an dem schee oder die Synagoge besucht.


t

behinderte und nichtbehinderte Kinder Die Schule für Circuskinder


is

en

und ihre Familien in Andacht und Aktionen der Evangelischen Kirche im


Es

aufeinander zugehen. Kinder mit Behinderungen – Rheinland bietet vielfältige


zu sein

gerade auch geistig behinderte Kinder – kommen in den Chancen für das Lernen an
Kirchengemeinden, in der Kinderarbeit, in den Familien- und mit der Differenz. Ähnlich
gottesdiensten und Gemeindegruppen oft nur wenig vor. wie andere evangelische Schu­
Frühzeitig wurde Kontakt zu der örtlichen Frühförderstelle len fördert sie Mädchen und
gesucht und eine Heilpädagogin eingebunden. Im Gottes- Jungen individuell. Sie zeigt
dienst wurde mit besonderen Symbolen die Situation von ihnen, dass Gott sie in ihrer
Eltern mit behinderten Kindern in ihrer Freude und in Verschiedenheit bejaht, ihnen
ihrer Last sichtbar gemacht. Wir haben die Symbole in Jesus Christus einen Weg
in eine Schale gelegt, die auf dem Altar stand. Menschen verbindender Liebe
Foto: l aif

www.geistreich.de/p262 eröffnet und ihnen Raum gibt zu


leben und ihre Gaben zu entfalten.

74
Alltagsgeschichte n⁰6 Jahr und Tag

HeiligAbend
„Die gesamte Weihnachtszeit ist für mich eine kennen. Sie kommt aus Mexiko und als wir de muss man doch Ausdruck verleihen, und
Zeit der Ruhe und der Besinnung. Heiligabend zum ersten Mal in Deutschland gemeinsam das heißt eine Geburtstagsparty feiern und
ist von dieser Stimmung bestimmt, wenn Weihnachten feierten, war sie schon vom dazu gehört auch tanzen. Ich verstehe ihre
auch das Gefühl der Freude und des Glück- Heiligabendgottesdienst enttäuscht. Für sie Argumentation. Beide Arten Weihnachten zu
lichseins vorherrscht. Seit meiner Kind­
heit war nichts von der Freude über Jesu Geburt feiern sind aus dem christlichen Glauben zu
beginnt Weihnachten mit dem gemeinsamen zu spüren: Die Gottesdienstbesucher würden begründen. Dennoch fällt es mir schwer, an
Besuch des Gottesdienstes an Heiligabend. alle schauen, als wären sie auf einer Beerdi- Heiligabend zu tanzen. Mir sind meine Kultur
Vor der Bescherung singen wir manchmal ge- gung. Nach dem Abendessen legte meine und meine Gewohnheit wichtig. Ich kann nun
meinsam, schließlich darf auch das gemein- Frau eine CD mit Tanzmusik auf und wollte zwar besser verstehen, dass andere Weih-
same Essen nicht fehlen. Der Abend ist von tanzen. Tanzen an Weihnachten? Dies war für nachten eine Party feiern wollen. In der Ehe
Foto: Ba sti Arlt

Freude geprägt und ist doch ein Abend eher mich unvorstellbar. Meine Frau konnte meine bleibt aber die Frage, wie wir gemeinsam den
ruhiger Natur. Eine ganz andere Art Weih- Zurückhaltung nicht verstehen. Die Geburt Weihnachtsabend gestalten.“
nachten zu feiern, lernte ich durch meine Frau Jesu ist doch eine Freude, und dieser Freu-  Vo n St e Fa n M a a S S
Jahr und Tag

Toler anz Fördern,


Wie geht das?
„Bunt ist cool“ Jugendliche werden
Seit 2007 richtet das Amt für Evange­ Friedensstifter
lische Jugendarbeit in Bayern (Eich­ 2007 begann die badische Landeskirche,
kreuz) jährlich in Nürnberg ein großes Jugendliche zu Friedensstifter/-innen
Fußballfest gegen Rassismus und Diskri­ auszubilden. Inzwischen wurden über
1.100 Jugendliche in zweitägigen Semi­
naren geschult. Sie werden für Formen
der Gewalt sensibilisiert, lernen die Ur­
sachen für Gewalt verstehen, entwickeln
Möglichkeiten, eskalierte Gewaltsituati­
onen zu deeskalieren, und werden ermu­
tigt, Konflikte konstruktiv zu bearbeiten.
Das Projekt richtet sich hauptsächlich an
Konfirmandinnen und Konfirmanden,
also meist sehr heterogene Gruppen.
Die Jugendlichen erhalten am Ende des
Seminars einen Friedenspass, der sie er­
mutigen soll, das Gelernte im Alltag an­
zuwenden. Das Projekt hatte von Beginn
an zum Ziel, möglichst viele Personen
zu erreichen. Deshalb wurden auch über
200 Trainer/-innen geschult, die selbst
minierung aus – für Jugendliche und Er­ auch Jugendliche zu Friedensstiftern
wachsene, Mädchen, Jungen, Frauen und ausbilden können. Inzwischen werden
Männer mit und ohne Behinderung. Alle in sieben Landeskirchen Friedensstifter
Sportlerinnen und Sportler verpflichten ausgebildet. Das Projekt „Friedensstif­
sich, weder rassistische noch fremden­ ter“ fördert Toleranz, da es mehr Ver­
feindliche und rechtsradikale Parolen ständnis für andere vermittelt und auch
zu äußern oder zu verbreiten. Diese ermöglicht, eigene Schwächen zu reflek­
Selbstverpflichtung gilt auf dem Fuß­ tieren. Die Konferenz für Friedensarbeit
ballfeld und im sozialen und familiären in der EKD hat die Friedensstifter 2010
Umfeld. Nach einem Gottesdienst lesen als Best-Practice-Modell ausgezeichnet.
Jugendliche die Selbstverpflichtung in Weitere Infos: Stefan Maaß (Badische Landes-
verschiedenen Sprachen vor. Außerdem kirche), friedensstifter@ekiba.de,
wird über Rechtsextremismus und Dis­ www.friedensstifter-baden.de,
kriminierung informiert. Die Konferenz Maik Bischoff (Hannoversche Landeskirche)
friedensstifter@kirchliche-dienste.de,
für Friedensarbeit hat das Projekt 2010
www.kirchliche-dienste.de/friedensstifter
als Best-Practice-Modell ausgezeichnet.
St e fa n M a a S S Auch andere Landeskirchen werden es
arbeitet bei der Arbeits­ vermutlich bald einführen. Die Vielfalt
stelle Frieden der der teilnehmenden Jugendlichen und die
Evangelischen Landes­
inhaltliche Auseinandersetzung mit dem
kirche in Baden als
Landes­jugendreferent.
respektvollen Umgang untereinander
Der Schwerpunkt seiner fördert Toleranz.
Tätigkeit liegt bei der Weitere Infos: Reinhold Schweiger, schwei-
Gewaltprävention und ger@ejb.de, http://eichenkreuz.ejb.de
Konfliktbearbeitung.

76
In mehreren Landeskirchen lernen Jugendlichen, Konflikte friedlich
zu bearbeiten und sich gegen Rassismus und Diskriminierung zu stellen.
Fünf Projekte, zusammengestellt vo n Ste Fa n M a a ss

Schritte gegen Tritte „No Bl a me Approach“ (Peer-)Mediation


In diesem Gewaltpräventionsprojekt ler­ Der „No Blame Approach“ soll Mobbing Mediation ist eine wirksame Form der
nen Jugendliche ab der 7. Klasse etwas lösungsorientiert und nachhaltig stop­ Konfliktbearbeitung, bei der ein neu­
über strukturelle, ethnische und perso­ pen – zum Wohl und Schutz der Mob­ traler Dritter die Verhandlung zwischen
nale Gewalt. Sie eignen sich Methoden bing-Opfer. Im Unterschied zu anderen zwei Konfliktparteien führt. Mediation
der gewaltfreien Konfliktbearbeitung in Versuchen, Mobbing einzudämmen, ist sinnvoll, wenn die Konfliktpartner
altersgemäßer und genderspezifischer wird hier – trotz des schwerwiegenden nicht in der Lage sind, allein zu einem
Form an. Pastor Klaus J. Burckhardt vom Vergehens – auf Schuldzuweisungen und befriedigenden Ausgleich zu kommen.
Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen Bestrafungen verzichtet. Der „No Blame Ziel der Mediation ist es, die Dialogfä­
hat dieses kirchliche Projekt 1993 ent­ Approach“ vertraut vielmehr auf die higkeit zwischen den Konfliktpartnern
wickelt und in Deutschland eingeführt. Ressourcen und Fähigkeiten von Kin­ wiederherzustellen und eine Lösung
Es basiert auf der Antirassismus- und dern und Jugendlichen, ihre Schwierig­ des Konflikts herbeizuführen, der beide
Anti-Apartheidsarbeit in Südafrika. Es keiten selbst zu lösen. Allen Beteiligten, Parteien zustimmen können (die soge-
hat seine Quellen in der biblischen Spi­ also auch den Protagonisten des Mob­ nannte Win-win-Lösung). Das Ergeb­
ritualität der Gewaltfreiheit und bezieht bings, wird unterstellt, dass sie sich für nis der Mediation wird in einer schrift­
ein weites Spektrum anderer religiöser das Wohl ihrer Mitschüler interessieren lichen Vereinbarung festgehalten, die
und weltanschaulicher Erfahrungen mit und bereit sind, an Lösungen mitzuwir­ die Lösung verbindlich und überprüfbar
ein. Bisher sind 140 Multiplikatoren für ken. Wer erlebt hat, wie Schüler einem macht. Dabei sollen die Prinzipien der
anderen Schüler mitunter jahrelang das Freiwilligkeit und der Verschwiegenheit
Leben in der Schule zur Qual machen, nach außen gewährleistet sein. Media­
dem wird es nicht leichtfallen, bei den tion kommt inzwischen in sehr vielen
beschuldigten Schülern diese Bereit­ unterschiedlichen Lebensbereichen zum
schaft vorauszusetzen. Aber der Ansatz Einsatz: in Umweltverfahren, bei Schei­
ist erfolgreich. Die Arbeit mit dem No- dungen und anderen Konflikten zwi­
Blame-Ansatz wurde wissenschaftlich schen Erwachsenen.
evaluiert. In über 80 Prozent der Fälle Am bekanntesten sind die Mediati­
konnte Mobbing gestoppt werden. onsmodelle für Schulen (Peer-Mediati­
Der „No Blame Approach“ fördert on). Schüler vermitteln bei Konflikten
die Toleranz innerhalb einer Klasse und zwischen Schüler/-innen. Bevor sie die­
im Schulbetrieb, wenn der Ansatz kon­ se Tätigkeit wahrnehmen, werden sie
sequent verfolgt wird. Er vermittelt die in einer intensiven Schulung von bis zu
„Schritte gegen Tritte“ ausgebildet wor­ Haltung, dass jeder akzeptiert wird, to­ 30 Schulstunden zu Mediatoren ausge­
den. Pro Jahr durchlaufen circa 5.000 leriert allerdings nicht, dass ein Schüler bildet. Die Mediationsgruppe setzt sich
Jugendliche in Deutschland dieses Trai­ in einer Klasse Ausgrenzung erleidet. aus Schüler/-innen aus verschiedenen
ning. Die Projektleitung liegt seit 2007 Weitere Infos: Heike Blum und Klassen zusammen. In der Regel sind die
im Fachbereich Friedensarbeit im Haus Detlef Beck, info@no-blame-approach.de, Schüler sehr unterschiedlich. So kommt
kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Lan­ www.no-blame-approach.de es häufiger vor, dass sich eher gewalttä­
deskirche Hannovers. „Schritte gegen tige Schüler/-innen mit ganz ruhigen
Tritte“ fördert Toleranz, indem es den Schüler/-innen gemeinsam ausbilden las­
Jugendlichen Erfahrungen von Men­ sen. Dies hat sich als besonders hilfreich
schen mit einem anderen kulturellen für alle Beteiligten erwiesen, da es die
Hintergrund vermittelt. Toleranz unter den Mediatoren fördert.
Weitere Infos: Klaus Burckhardt, Mediation fördert Toleranz, da man
Fotos: pr

burckhardt@kirchliche-dienste.de, dank ihr Klarheit über die eigenen Wün­


www.schrittegegentritte.de sche und Verständnis für die Sichtweisen
des anderen findet.
Weitere Infos: Bundesverband Mediation e. V.
www.bmev.de

77
Jahr und Tag

Bei uns sind


alle willkommen . . .
wirklich?
So könnte ein Sonntagmorgen in einer evangelischen Kirchengemeinde
in Deutschland aussehen vo n m at th i a s K r e pli n

G
ottesdienst an einem Sonntagmorgen im ersten Mal wieder zum Gottesdienst kommen,
Sommer. Eine Taufe ist angesagt. Eltern werden von vielen nicht als wirkliche Gemeinde­
und Verwandte der Eltern stehen vor glieder und Christen anerkannt. Manchmal fällt
der Kirchentür und rauchen. Gemeindeglieder sogar das böse Wort von der Karteileiche.
gehen an ihnen vorbei und betreten die Kirche. Als nach der Taufe alle wieder Platz genom­
Irritiert schauen sie auf tätowierte Oberarme und men haben und das Tauflied gesungen wird,
Oberkirchenrat weit ausgeschnittene T-Shirts. Ihren Gesichtern denkt der Pfarrer für sich im Stillen: Jesus hat­
D r . M at t h i a s K r e p l i n ist die Frage abzulesen: „Wollen die hier in den te keine Berührungsängste, weder bei Armen
leitet im Kirchenamt Gottesdienst kommen?“ Als es sich nicht mehr und Aussätzigen noch bei Gebildeten und Rei­
in Karlsruhe das
länger hinauszögern lässt, betritt die Taufgesell­ chen, weder bei Frommen noch bei Zweiflern.
Referat „Verkündigung
in Gemeinde und
schaft schließlich die Kirche. Der Pfarrer begrüßt Nicht einmal bei Ausbeutern wie dem Zöllner
Gesellschaft“. die Taufgesellschaft an der Kirchentür und führt Zachäus. Er konnte Menschen mit den Augen
sie nach vorne zu den ersten beiden Reihen, Gottes betrachten. Wie kann dieser Geist Jesu
die extra freigehalten sind. uns heute anstecken? Wie
Dort sitzen sie nun, die können wir wirklich offene
Gemeinde im Nacken, und und einladende Gemeinde
fühlen sich sichtlich unsi­ sein?
cher und unwohl: „Wann Während der Pfarrer
muss man hier bloß auf­ etwas ratlos zurückbleibt,
stehen? Und wann muss nimmt der Morgen noch
man sich wieder setzen? eine interessante Wen­
Nur nicht unangenehm dung: Nach dem Gottes­
auffallen!“ Manche Ge­ dienst, die Taufgesellschaft
meindeglieder beäugen die hat gerade etwas steif Fo­
Taufgesellschaft kritisch. tos am Taufstein gemacht,
Hinterher wird man eini­ kommt eine junge Frau auf
ge sagen hören: „Wie kann die Mutter des Täuflings
man sich nur so anziehen, zu: „Hallo, ich heiße Con­
wenn man sein Kind zur ny“, stellt sie sich vor. „Ich
Taufe bringt?“ Und ande­ bin bei der Krabbelgruppe
re werden meinen: „Die können ja nicht einmal dabei, die sich im Gemeindehaus trifft. Kennst du
das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser mich?“ Die Taufmutter schaut fragend. „Ich sitze
mitbeten. Wie wollen die versprechen, ihr Kind samstags im Supermarkt in der Bahnhofsstraße
christlich zu erziehen?! Eine solche Taufe sollte an der Kasse. Da habe ich dich schon ein paar
der Pfarrer doch gar nicht annehmen!“ Mal beim Einkaufen gesehen.“ Es ist zu sehen,
Der Pfarrer spürt die Spannung, die in der wie der Taufmutter ein Licht aufgeht. „Ich habe
Luft liegt. Er weiß, dass seine Gemeinde dem ein Geschenk für euren Elvis.“ Sie übergibt ein
Anspruch nach tolerant und offen sein will. „Bei kleines, schön eingepacktes Päckchen. „Von un­
Foto: pl ainpic ture

uns sind alle willkommen“, hieß es bei den Ziel­ serer Krabbelgruppe. Vielleicht hast du ja Lust,
vereinbarungen der letzten Visitation. Und doch mal mit Elvis vorbeizukommen. Wir treffen uns
sind viele Kirchgänger irritiert von der Art, wie jeden Dienstag. Wir spielen mit den Kindern und
Menschen aus einem anderen Milieu sich klei­ halten einfach einen Schwatz miteinander. Bei
den. Und Kirchenmitglieder, die seit Jahren zum uns sind alle willkommen!“

78
Material zum Themenjahr Impressum

Verantwortlich für den Inhalt


Kirchenamt der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD):
Fo to se ri en fü r di e Ge me in de ar Thies Gundlach, Michael
be it Grimm (verantwortlich),
Prak tiker aus Gemeinde- und Öffent- Henning Kiene, Kerstin Kipp,
„Wir freuen uns über die künstlerisch Thorsten Latzel
lichkeitsarbeit können Bildstrecken
anspruchsvolle Umsetzung und hoffen unter Mitarbeit von
des EKD-Themenheftes jetzt erstmals
darauf, dass viele Leserinnen und Leser Jacqueline Boysen, Karsten
weiterverwenden und damit Postkarte Ilm, Stefan Maaß, Thorsten
n, sich in der Bildsprache wiederfinden
Schaukastenplakate oder Gemeinde- Moos, Kathrin Oxen und
können“, sagt Michael Grimm,
brief vorlagen zum Themenjahr erstellen. Gabriele Sand
zuständiger Pfarrer für
Um diesem Wunsch aus früheren
das Themenheft zum Gestaltung und Produktion
Themenjahren nachzukommen, hat die
Jahr der Toleranz. r ac h e Hansisches Druck- und Verlags-
EKD die Rechte für zwei Bildsequenzen B i l dsp haus, Frankfurt am Main
m
erworben. Kostenfreier Download unte
r zu eine Projektleitung:
www.ekd.de/toleranz rigen Sebastian Knöfel
schwie Bildredaktion: Dorothee
Them a Hörstgen, Lena Uphoff
Layout: Lisa Keßler,
Indrė Kasulaitytė (Mitarbeit)
Textredaktion: Burkhard Weitz
Schlussredaktion: Michael
Behrendt, Andrea Wicke

Druck: DZA Druckerei zu


Altenburg GmbH

Die beiden Fotografen K at r i n B i n n e r und


B a st i A r lt haben die Bilder in
der Rhein-Main-Metropole Frankfur t und
in der bayerischen Landeshauptstadt
München aufgenommen.

o wnlo aden
h e n , D
Mit m ac Am 31. Okto
ber
e n wir in Wie in den vergan
2012 start genen
n ja hr beiden Themenja
das Theme hren
on und (got tesgeschen
„Reformati k 2011 und
afür gottesklang 2012
Toleranz“. D ) stellt
rzeit der Werbedienst
entsteht zu reifende auch 2013
e m e in same, überg ein wiedererken
ein e g von Kirche, nbares
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­ a rk e n kampagne Logo für die Öffe
Da ch aterialien ntlichkeits-
u n d Lä nd ern. Alle M arbeit bereit.
Bund Download
tzeitig zum Ab August 2012
werden rech ie Partner d
er werden
. Werden S auf den Internet
angeboten Sie die W er- ­seiten
a gn e und nutzen w w w.gottesfarbe
itungen der Ka m p könne ie
n S n.de und
di e W er ks tatt: Die Le
nen die it te l ko stenfrei. Hier w w w.komm-web
Blick in stellen pla bem t: shop.de
r Geschäf ts enjahr 2013 wie es geh weitere Ideen, M
nachlesen,
ten b er ge em
Wit
ka m p agne zum Th .d e /m itmachen aterialien
Dachmarke
n er2017 und Pro­dukte zu
ion und To
leranz“. w w w.luth m Themen-
„Reformat jahr erhältlich se
in.

79
Jahr und Tag

Sie haben Lust,


Sie können
Sie haben eine gemeinsa m an
von einem starken
gute Idee – einem „L ex ikon
Projekt er zä h len
und w issen nicht, k irch lichen
oder w üssten gern
wohin damit? Erfahrungsw issens“
von anderen?
zu schreiben?

Hier si nd Sie r ic ht ig!


e/Fok u sToler a n z
w w w.geistreich.d

reichlich evangelisch
80

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