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Ulrich Pothast

Nachkriegskindheit. Heikle Jahre


Eine Lebenshälfte
Inhalt
Vorspann

I. Kein schöner Land

1. Drei Bildungskatastrophen
2. Der bombensichere Hühnerpferch
3. Abende am Radio, Nächte im Keller
4. Vaters Abschied von der Wehrmacht
5. Der Krieg geht dem Ende zu
6. Der „Russenzug“ und das letzte Aufgebot
7. Noch einmal Bomben. Kontrollverlust. Letzte Kontakte mit der Wehrmacht
8. Einzug der Amis
9. Erste ruhige Tage
10. Onkel Konrad kommt heim
11. Neue Zeit
12. Tante Karoline
13. Mein Freund Petersein
14. Flüchtlinge und andere Mitbewohner
15. Mein Vater kommt heim
16. Vaters Herkunftsfamilie
17. Kein schöner Land

II. Neues Geld, neue Hoffnung, Arbeit, Arbeit, Arbeit

18. Ende der Wasserfahrten und Anfang des Wiederaufbaus


19. Klauen, Beten, Beichten
20. Bucheckern, Öl und etwas über den Tod
21. Vater findet Arbeit und bekämpft Mäuse
22. Holzversager und andere Vehikel
23. Mobbing in der Schule
24. Das neue Geld
25. Ein kleines Zerwürfnis mit Folgen
26. Eiscreme, die Liebe und das Schachspiel
27. Das neue Haus ist klein ausgefallen
28. Fleißige Flüchtlinge, ein Jude und ein Fremder
29. Schrott, Kino, Kapitalismus und Silvana Mangano
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30. Buttercreme, Herzinfarkte

III. Die Welt öffnet sich

31. Holz, Holland und Striptease


32. Italien! Italien!
33. Brenner, Südtirol, Gardasee
34. Kleiner Unfall
35. Piccola disgrazia in Mailand
36. Piccolissime disgrazie auf der Heimfahrt
37. Glaube kommt, Glaube geht
38. Schweden! Schweden!
39. Gastlichkeit
40. Eine radikale Entscheidung
41. Inari, Hammerfest, Narvik, heim

IV. Wechselfälle. Unruhige Zeiten. Und doch wird ein Beruf daraus

42. Schmerzen der Berufswahl


43. Neuer Anfang in Berlin
44. Wieder eine radikale Entscheidung
45. Subjektive Folgen, objektive Veränderungen
46. Heidelberg I: Einsamkeit und Promotion
47. Heidelberg II: Die Revolution überschlägt sich
48. Princeton
49. Fünf Monate in New York
50. Berkeley, die Hippies und ein gewagter Brief
51. Kleines Zwischenspiel
52. London I: Bereichernde Erfahrungen
53. London II: Heilsame Begegnung mit der Wirklichkeit
54. Immer noch outsider in Bielefeld
55. Und doch wird ein Beruf daraus

Abspann
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Vorspann

Als der Disponent in der Frankfurter Zentrale mir, dem jobbenden Studenten, schon
etwas mehr zutraute, teilte er mich ein für den Zug von Stockholm nach Rom. Es war der
damals sehr populäre Italia-Express, der teilweise mit Liegewagen bestückt war. Er brachte
nord- und mitteleuropäische Kunden, deren Sehnsucht sich auf Italien richtete, ins Land ihrer
Träume. Ich studierte in Marburg an der Lahn und arbeitete in meinen ersten Semesterferien
bei der Deutschen Schlaf- und Speisewagengesellschaft (DSG) als Liegewagenbetreuer oder
kurz und unkorrekt: Liegewagenschaffner. Der Zug kam aus Stockholm, mein
Zugangsbahnhof war Lübeck, die Einstiegszeit etwa 17 Uhr. Vor den Zug war eine Dampflok
gespannt, ein modernes Exemplar mit hohen Rädern, deren Speichen rot bemalt waren. Trotz
dieses eigentlich für Tempo gebauten Geräts brauchte der Zug den ganzen restlichen Tag, um
die Bundesrepublik zu durchfahren. Er brauchte die Nacht, um die Schweiz und den
Gotthardtunnel zu durchqueren. In den frühen Stunden des hellen Sommermorgens dann
schien er sich buchstäblich Zeit zu lassen, um lässig durch das Tessin hinab nach Mailand zu
rollen. Nach kurzem Aufenthalt ging es weiter nach Genua. Hier endete die erste Hälfte
meines Dienstes. Ich stieg aus, der Zug setzte seine Reise fort in Richtung Rom. Ich hatte nun
etwa acht freie Stunden, um in einem Quartier der italienischen Bahn zu schlafen und für den
nächsten Dienst im Gegenzug Richtung Stockholm wieder Kraft zu sammeln.
Der Tag war zu schön, um ihn in einem Bahn-Bett zu verbringen. So wanderte ich
durch Straßen und Gassen von Genua und stieg schließlich auf einen der hinter der Stadt sich
erhebenden Hügel, die zu einem niedrigen Seitenkamm der Alpen gehören. Nach ein paar
Dutzend Höhenmetern Anstieg fand ich einen freien Platz, von dem aus mein Blick auf
Genua, den Hafen und aufs Meer ging. Die Sonne machte das Meer glänzen, und fast
unbewegt dehnte sich die spiegelnde Fläche in eine unabsehbare Ferne. Es war der richtige
Ort, das richtige Wetter und das richtige Lebensalter für ausgreifende, hochfliegende und
lächerliche Gedanken. So hielt auch ich mich nicht zurück und dachte darüber nach, was ich
mit meinem Studium und letztlich mit meinem Leben eigentlich bezweckte. Lehrer wollte ich
nicht werden, obgleich ich aus Sicherheitsgründen zunächst eine Fächerkombination gewählt
hatte, mit der ich auch Gymnasiallehrer hätte werden können. In dieser Lage, als sich
großartig und verlockend wie im Kino die mediterrane Landschaft vor mir dehnte, dachte
auch ich, ich wolle mit meinem Studium und meiner vielfältigen Lektüre mich dehnen, weit
werden wie das Bild, das vor mir lag.
Ich berauschte mich ein wenig an dieser Vorstellung, die mir ohne weitere Gedanken
einleuchtete, und bemerkte dabei natürlich nicht, dass sie auch durch vergangenen
Schulunterricht und vielleicht durch das zurückliegende erste Semester Germanistik
mitgeformt war. Die deutsche Literatur hat mit ihrer Tradition des Bildungsromans
lesewilligen jungen Menschen ein Selbstmodell an die Hand gegeben, das sich leicht
übernehmen lässt, ohne dass die eigenen Ideen besonders konkret werden müssten. Schuld ist
natürlich Goethe, der seinen Wilhelm Meister mitteilen lässt: „ … mich selbst, ganz wie ich
da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht“. Dieser
Passus, eigentlich der Urknall des deutschen Bildungsromans, nennt keine konkreten
Lebensziele. Er lässt sich von jedem Menschen übernehmen, weil jeder das „mich selbst“
auch auf sich anwenden kann, und verpflichtet mit seiner Inhaltsarmut erst einmal zu gar
nichts. Freilich ist er geeignet, eine junge Person in eine schöne Hochstimmung zu versetzen,
und eben diese Hochstimmung durfte auch ich genießen. Übrigens verrät Wilhelm Meisters
Wunsch eine charakteristische Selbstbezogenheit: Zwar kann jeder sich Goethes
Formulierung zu eigen machen, aber nicht jeder wird es tun. Weltzugewandte und zur
entschlossenen Tätigkeit neigende Personen werden sich eher durch konkrete Lebensziele
definieren und führen lassen, weniger von der abstrakten Idee, sich selbst auszubilden.
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Der Italia-Express von Rom nach Stockholm kam gegen 19 Uhr. Ich stieg ein und
übernahm wieder meinen Wagen. Die neuen Fahrgäste waren auffällig gebräunt und guter
Stimmung. Als wir durch den Gotthardtunnel hindurch waren und zum Vierwaldstätter See
hinab fuhren, war es Nacht. Ältere Fahrgäste beschwerten sich über ein Schweizer Pärchen,
das auf einer oberen Liege ziemlich unschweizerisch schmuste. Ich riet ihnen, sich selbst an
die Verliebten zu wenden. Das taten sie ohne Erfolg und zerrten mich dann fast herbei, als
Ordnungsmacht. Als der Schweizer Junge mich in der Uniform der Schlafwagengesellschaft
in der Abteiltür sah, rief er mir von oben her zu: „Und Sie haben uns erst recht nichts zu
sagen. Wir sind hier auf Schweizer Boden und können tun und lassen, was wir wollen.“ In
Zürich stiegen die beiden aus. Während der weiteren Fahrt brachte ich den Gästen morgens
Kaffee, klappte nach Erwachen auch der letzten Langschläfer die Liegen weg, faltete die
Decken, stopfte die abgezogene Wäsche in einen großen Sack, der in Hamburg abgeholt
wurde. In Lübeck endete mein Dienst, ich verließ den Zug und reiste ohne Beschäftigung mit
anderen Zügen zurück nach Frankfurt. Von dort waren es noch achtzig Minuten nach Steinau
an der Straße, wo ich im kleinen Nachkriegshaus meiner Eltern mein früheres Jugendzimmer
hatte. Sehr müde fiel ich ins Bett, war aber froh, mit den langen Fahrten viele Arbeitsstunden
gesammelt zu haben. Sie brachten Geld. An meine Lebenswünsche dachte ich nicht mehr. Für
ausgedehnte Gedanken hätte mir jetzt auch die Kraft gefehlt.
Jetzt sind sechzig Jahre vergangen. Dieses Jahr werde ich 80. Einzelne meiner Kinder
und ein Schwiegersohn haben vorgeschlagen, ich möge etwas aus der Vergangenheit
aufschreiben. „Wie es gewesen ist“, sollten die späteren Mitglieder der Familie, etwa die
Enkel, noch einmal lesen können, wenn sie wollten. Weil meine Kindheit und Jugend in eine
Zeit fielen, die heute bereits recht fremdartig wirkt, erschienen mir die damaligen Ereignisse
erzählenswert. So hat das Kommende einen Schwerpunkt bei Erlebnissen des Kindes und des
Heranwachsenden. Ein zweiter, weniger markanter Schwerpunkt liegt bei einem
Erwachsenenproblem: Wie der eigene Lebenslauf, der in meinem Fall zeitweilig wirr und
ziellos erscheint, doch quasi zur Halbzeit eine eigene Gestalt gewann. Früher hätte man von
„Identitätsfindung“ gesprochen.

I. Kein schöner Land

1. Drei Bildungskatastrophen
Natürlich habe ich keine Erinnerungen an früheste Lebensjahre. Ich bin vier Wochen nach
Beginn des Zweiten Weltkriegs geboren. Erinnerungen mit gut greifbarer Kontur beginnen für
mich etwa im Jahr 1943. Da wir aber schon über Bildung gesprochen haben, fallen mir drei
Katastrophen ein, die sich zum Teil lange vor meiner Geburt ereigneten. Sie betrafen zwei mir
nahestehende Personen, die die Diagnose „Katastrophe“ geteilt hätten, wenn sie noch lebten,
und eine dritte, die noch heute nach ihrem Urteil gefragt werden kann.
Dass mein Vater Pfaffen und Lehrer hasste, war eine Folge seines persönlichen
Bildungsunglücks. Er wuchs als Kind evangelischer Eltern in einem kleinen, katholischen Ort
im Tal des osthessischen Flüsschens Kinzig auf. Der Ort hieß Salmünster (heute Bad Soden-
Salmünster). Die Volksschule, wie sie damals hieß, war zweigeteilt nach Konfessionen. Die
katholischen Kinder gingen auf eine Schule, die von Franziskanermönchen des örtlichen
Klosters betrieben wurde und auch in diesem Kloster ihre Räume hatte. Die wenigen
evangelischen besuchten eine Zwergschule in einer Behelfsunterkunft, mit einem einzigen
Lehrer und einer einzigen Klasse, in der alle Jahrgänge zusammengefasst waren. Das alles
war ein ideales Biotop für das Gedeihen von Frömmelei, Missgunst, Angst und Neid.
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Als mein Vater das vierte Schuljahr fast vollendet hatte, stellte sich die Frage, ob er
eine weiterführende Schule besuchen sollte. Die einzige Schule, die für die Finanzen meiner
Großeltern in Frage kam, war die örtliche „Mittelschule“. Von ihr aus wäre nach Ende des
gerade stattfindenden Ersten Weltkriegs vielleicht ein späterer Wechsel aufs Gymnasium in
einem weiter entfernten Ort möglich gewesen. Nur war die Mittelschule in den Räumen jenes
Klosters beheimatet und wurde ebenfalls von Franziskanern betrieben. So kamen der
evangelische Pfarrer des Ortes und der evangelische Lehrer der Zwergschule für
Andersgläubige zu meinen Großeltern, um „die Sache zu besprechen“. Sie hatten den kurzen
Heimaturlaub meines Großvaters abgepasst, der als wehrpflichtiger Landsturmmann an der
schwer kämpfenden Westfront eingesetzt war. Pfarrer und Lehrer gaben zu bedenken, bei den
Franziskanern werde „der katholische Geist auf das Kind ziehen“ und rieten dringend, es in
der evangelischen Volksschule zu belassen. Es sofort aufs Gymnasium zu schicken, wäre
zwar denkbar gewesen, hätte aber Schuldgeld und Geld für eine Monatskarte der Bahn
gekostet. Für die Familie mit bis dahin sechs Kindern reichte der Wehrsold eines
Landsturmmanns kaum aus. Für mehr war im Krieg kein Spielraum. Also beendete mein
Vater seine Schulbildung schließlich mit der achten Klasse der Volksschule. Zwei Jahre
später durfte aber die Tochter des evangelischen Lehrers sehr wohl jene Mittelschule (und
später das Gymnasium) besuchen, trotz des darüber schwebenden katholischen Geistes. Zum
lebenslangen, bitteren Rückblick meines Vaters auf diese Episode gehörte auch seine
Empörung darüber, dass meine Mutter später in der Familie jahrelang erzählte, ich würde
einmal Pfarrer oder Studienrat. Ein Studienrat ist ein Lehrer, und ein Lehrer ist ein halber
Pfaff.
Die Bildungskatastrophe meiner Mutter war schnell erledigt und führte in späteren
Jahren nur dazu, dass sie mir, dem begünstigten Gymnasiasten in günstigerer Zeit, mehrfach
wehmütig davon erzählte. Ihre Patentante, in Frankfurt am Main verheiratet, hatte dem Kind
gesagt, es könne doch in Frankfurt das Gymnasium besuchen und bei ihr wohnen, das sei
nicht teurer als zu Hause. Das begabte Mädchen freute sich monatelang auf dieses neue Leben
und die neue Freiheit und natürlich auf das Gymnasium. Als die Zeit gekommen war und die
Eltern von dem Plan erfuhren, sagten sie nur, das komme gar nicht in Frage, Mädchen
heirateten sowieso, und Volksschule sei genug. Sie bezahlten ihr dann nach der Volksschule
noch ein Jahr „Handelsschule“ mit Unterricht in Stenographie und Maschineschreiben.
Eben dorthin, auf eine sogenannte Handelsschule, dirigierte meine Mutter vierzig
Jahre später auch meine Schwester. Der Mutter hatte überhaupt nicht gefallen, dass ihr Sohn,
also ich, nach beendetem Gymnasium keineswegs, wie von ihr entworfen, Pfarrer oder
wenigstens Studienrat mit Fach Religion werden wollte. Also beugte sie mit rätselhafter
Logik der Entstehung weiterer unerwünschter Bildungswünsche vor, indem sie meine
Schwester vom Gymnasium nahm, nach der achten oder neunten Klasse. Das Kind kam auf
besagte Handelsschule und lernte Stenographie und Maschineschreiben statt Sprachen und
Mathematik. Noch eine Bildungskatastrophe.

2. Der bombensichere Hühnerpferch


Meine Erinnerungen an die Kriegsjahre sind lückenhaft. Meine Mutter habe ich als schöne
und zärtlich zugewandte Frau in Erinnerung. Meinen Vater hingegen vor allem als abwesend.
Er war als Soldat ja selten zu Hause, und sein frühes Bild ist daher für mich eher blass. Seine
fast ständige Abwesenheit brachte mich auf den Gedanken, ihm ein Paket zu schicken. Das
muss im Sommer oder Herbst 1943 gewesen sein.
Wegen der mageren Versorgungslage im Krieg hatte ich wenig Spielzeug. Wir Kinder
spielten mit allem und jedem und dachten uns alles und jedes dabei aus. Einige Spielsachen
gab es aber doch. Ich hatte etwa eine Garnitur kubischer Bauklötze, die auf allen sechs Seiten
mit bunt bedrucktem Papier beklebt waren. Kraft dieses Papiers mit seinen Bildfragmenten
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formten die Klötze ein dreidimensionales Puzzlespiel. Man konnte verschiedene Bilder damit
zusammensetzen. Diese Bauklötze fand ich so interessant, dass ich meinte, auch mein Vater
solle sich an ihnen erfreuen. Bei der Mutter hatte ich gesehen, wie man ein Paket packt. Ich
packte also die Bauklötze mittels Packpapier zusammen und umwickelte das Ganze mit
einem Bindfaden. Es war ein sehr lockeres Paket, eher nur ein Bündel, da ich keine feste
Schleife binden konnte, und da ich keinen Karton fand, der alles sicher zusammengehalten
hätte. Dieses Bündel trug ich zur örtlichen Post und legte es der Postangestellten, die hinter
dem Schalter saß, auf den Tresen. Die Angestellte sah das lockere Bündel an, aus dem
einzelne Bauklötze schon herauszufallen drohten. Sie fragte, was damit geschehen solle. Ich
sagte ihr, das wolle ich an meinen Papa schicken. „Was soll denn dein Papa damit machen?“
fragte die Postlerin. „Spielen“, antwortete ich. Mit deutlichen Zeichen des Verwunderns und
ein wenig Herablassung bedeutete mir die Frau, dass mein Bündel kein richtiges Paket sei und
daher nicht an den Papa geschickt werden könne. Es fehle ja vor allem auch die Adresse des
Papas. Ich müsse doch die militärische Einheit und, wenn möglich, auch den Standort
angeben. Diese Dinge wusste ich nicht, und Geld für die Sendung hatte ich auch keins dabei.
Ich musste meine Bauklötze wieder nach Hause tragen. Obgleich die Beamtin natürlich Recht
hatte, im Prinzip auch höflich mit mir sprach und mich nicht offen verspottete, habe ich ihr
diese Zurückweisung nie verziehen. Mein kindlicher Groll ist ihr, die ich bei späteren
Postgängen öfter sah, noch jahrelang treu geblieben.
Etwa mit dem Sommer 1944 gewinnt das Erinnerungsbild meines Vaters ein
deutlicheres Profil. Damals startete er unter anderem das Projekt eines „bombensicheren
Hühnerpferchs“. Diese Idee nahm der Vater in Angriff, als er noch einmal auf Kurzurlaub zu
Hause war und etwas für die kriegsgemäße Ernährung seiner jungen Familie tun wollte.
Bislang waren wir vom Bombenkrieg überwiegend verschont geblieben. Wir wohnten als
Familie in der schon erwähnten Kleinstadt Salmünster, etwa 65 km von Frankfurt am Main
entfernt. Es hatten sich bei uns bisher noch wenige Kriegshandlungen ereignet, nur
wiederkehrende Bombenangriffe auf die hier verlaufende Bahnstrecke, recht gut gezielt und
Wohnviertel unversehrt lassend. Aber man sprach davon, dass die Angriffe näher kämen. Und
das Abwehrfeuer der Flak zur Verteidigung des Industriegebietes im Rhein-Main-Raum war
in manchen Nächten deutlich zu hören. Dann sah man auch in der Entfernung, wie die
Scheinwerfer der Flak den Himmel absuchten, um vielleicht einzelne Flugzeuge zu „fangen“
und zu beschießen. Es wurde behauptet, ein solchermaßen gefangener Bomber habe keine
Chance mehr zu entkommen. Er werde von der Flak gezielt „erledigt“. Ganz so leicht war das
Erledigen von Bombern aber offenbar nicht. Sonst hätten wir auch häufiger abstürzende oder
abgestürzte Flugzeuge sehen müssen, was selten der Fall war. Überhaupt hatten wir schon
einiges Vertrauen in die Führung verloren.
Ob Papas Rede davon, dass sein Hühnerpferch „bombensicher“ sein sollte, pure Ironie
war, weiß nicht, ich vermute es. In späteren Jahren jedenfalls gehörte die Fähigkeit zur Ironie,
auch Selbstironie, zu seinen besonders liebenswerten Seiten. In jenem letzten Kurzurlaub
führte der Vater allerlei Arbeiten in Haus und Garten aus und verbreitete gute Laune, was er
wohl für nötig hielt. Ich sehe ihn noch bei schönem Wetter in der Militär-Drillichhose mit
bloßem Oberkörper im Garten stehen und größere Pfähle durch Latten verbinden sowie mit
Maschendraht überziehen. In den Boden einrammen konnte er die Pfähle nur ein kleines
Stück weit, weil der „Garten“ technisch gar kein Garten war. Die Fläche war Teil eines mit
Schottersteinen befestigten Hofbereichs, der zu dem Bauerngut gehörte, auf dem wir eine
Mietwohnung innehatten. Ein Stück dieses Hofes, eigentlich als Garten völlig ungeeignet, war
vom Bauern meiner Mutter zur Nutzung zugewiesen worden. Es war ihr überlassen geblieben,
wie sie daraus einen Garten formen würde. Sie hatte in vielen Fahrten mit einem kleinen
Handwagen Mulch von einem nahen Holzverladeplatz der Bahn herangebracht und auch
etwas Muttererde, so dass sie einiges Gemüse anbauen und tatsächlich ernten konnte. Auch
wenige Hühner konnte sie halten, bislang nur in einem Bretterverschlag, ohne Auslauf. Für
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diesen Auslauf sollte Vaters Pferch sorgen. Für bombensicher erklärte mein lächelnder Vater
sein Konstrukt gerade wegen des Nachteils, dass es wegen des unterliegenden Schotters so
gut wie unmöglich war, die Pfähle tiefer im Boden zu verankern. Sie waren stattdessen durch
ein System waagrecht verlaufender Latten, teils auch Bohnenstangen, miteinander verbunden
und hielten sich so gegenseitig fest. Der Vater erläuterte, was im Ernstfall geschehen würde:
Das Gebilde würde, wenn hier eine Bombe fiele, zwar unter dem schieren Explosionsdruck zu
irgendeiner Seite hin zusammenklappen. Aber es würde im günstigeren Fall kaum als Ganzes
zerreißen. Vielleicht würde es dann doch die Hühner noch für einige Zeit unter sich gefangen
halten, so dass man sie im Wege der Notschlachtung der menschlichen Ernährung zuführen
könnte.
Nicht viel ernster zu nehmen war ein Projekt des NS-Ortsgruppenleiters, etwa um die
gleiche Zeit. Der Mann wollte einen Luftschutzbunker für die nahe wohnende
Zivilbevölkerung schaffen. Dazu ließ er einen Tunnel, durch den ein schmaler Weg unter
einer größeren Straße hindurch geführt wurde, für den Verkehr sperren sowie vorn und hinten
verschließen. Es sollte ein großer Raum entstehen, in den man flüchten könnte, wenn die
Sirenen Fliegeralarm gaben. Natürlich musste der Raum noch weiter ausgebaut, mit
Elektrizität, Wasser und so fort versehen und vor allem vorn wie hinten gegen nahe
detonierende Bomben und Splitter gesichert werden. Um auf beiden Seiten feste Wände und
splittersichere Türen zu erstellen, brauchte man Handwerker. Man hatte aber nur extrem
wenige, und die waren entweder sehr alt oder sie waren Invaliden mit nur einem Bein oder
nur einem Arm oder noch weniger. Deshalb wurden für dieses Projekt und die damit
verbundenen Arbeiten vor allem Frauen herangezogen, die ja „nur“ ihre Kinder zu betreuen
hatten. Ihre Männer waren im Krieg oder gefallen oder vermisst oder sonst wie nicht greifbar.
Meine Mutter hat sich hier wohl unbeliebt gemacht, sei es durch unauffälliges Verweigern, sei
es durch eine Art Dienst auf Vorschrift. Sie hatte dank ihrer religiösen Grundhaltung immer
ein gespanntes Verhältnis zu den Nazifunktionären. Es war schon manchmal zu Gebrüll
gekommen, wenn sie nicht „Heil Hitler“ gesagt hatte, sondern „Guten Tag“. Zu Gebrüll kam
es dann auch hier. Der Ortsgruppenleiter schrie meine Mutter in voller Wut an mit der
Botschaft: Sie habe hier ihre Kraft nicht wirklich eingesetzt, sondern sich gedrückt. Deshalb
dürfe sie mit ihrem Kind bei Fliegeralarm den Bunker auch nicht betreten. Die Mutter nahm
mich an der Hand und ging mit mir nach Hause. Der Anweisung, den Tunnel nicht zu
betreten, sind wir bei den später kommenden Angriffen auch gefolgt. Wir haben nicht im
sogenannten Bunker Schutz gesucht, sondern sind im Keller des Hauses geblieben, in dem wir
wohnten. Freilich verwendeten die Alliierten zu diesem Zeitpunkt längst Bomben, welche die
dünne Decke, die jene Straße über dem Tunnelbunker bildete, mit Leichtigkeit durchschlagen
hätten.
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Meine Eltern als Verlobte, ca. 1934

3. Abende am Radio, Nächte im Keller


Gegen Kriegsende nahmen die Bombardierungen stark zu. Die nahe Bahnlinie wurde auch
tagsüber angegriffen von Jagdbombern, die wir „Jabos“ nannten. Es war eine militärisch
wichtige Bahnlinie; hier verlief die kürzeste Bahnverbindung zwischen dem Norden
Deutschlands und dem Süden. Die Jabos trafen einzelne Züge, zerschossen Lokomotiven und
machten im Übrigen Jagd auf alle Wehrmachtseinheiten, die ihr Pilot oder Beobachter zu
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erkennen glaubte. Leider kamen dabei Irrtümer vor, die niemand verstand und die die
Bevölkerung erbitterten.
Nachts kamen nicht die Jabos, sondern schwerere Bomber. Wenn ihre Bomben die
Bahnlinie trafen, richteten sie große Schäden am Gleiskörper an, deren Beseitigung Tage
dauerte, zumal neue, nicht durch Bomben verbogene Geleise kaum verfügbar waren. Unsere
Familienwohnung in Salmünster hatte seit langem auf der zum Bahnhof hin gelegenen Seite
keine Fensterscheiben mehr. Der Regen hatte hereingeschlagen und die Einrichtung
durchfeuchtet. Meine Mutter und ich hatten zu dieser Zeit auch längst eine vom
Wohnungsamt verfügte Einquartierung. Aus dem zerbombten Frankfurt am Main waren Tante
Mathilde, eine Kusine meiner Mutter, und ihr Kind bei uns eingezogen und bewohnten ein
Zimmer unserer Drei-Zimmer-Wohnung. Küche und Toilette wurden gemeinsam genutzt, ein
Bad gab es nicht. Die Einquartierten aus dem zerstörten Frankfurt hießen „Ausgebombte“,
und es war völkische Pflicht, sie aufzunehmen. Später sollte auch eine vierköpfige
Flüchtlingsfamilie aus dem Osten ein weiteres Zimmer bei uns beziehen, noch später dann
Verwandte meines Vaters im restlichen Zimmer gemeinsam mit uns nächtigen. Aber so weit
war es noch nicht.
Tante Mathilde allerdings war das Flüchten in den Keller und das Erleben eines
Bombenangriffs viel mehr gewohnt als meine Mutter und ich. Sie lehrte uns gemäß staatlicher
Anweisung, eine Art Sturmgepäck aus wichtigsten Habseligkeiten zu packen, das mit in den
Keller genommen wurde. Die deutschen Radiosender verbreiteten stündlich Nachrichten über
die „Luftlage“. Wir besaßen zwar kein Radiogerät, hörten aber bei den Bauersleuten, in deren
Haus unsere Wohnung lag, die Nachrichten über einfliegende Bomberschwärme mit, vor
allem abends. Wir sollten in jeder Hinsicht auf das Schlimmste vorbereitet sein. Die
allabendlichen Radiosendungen fand ich faszinierend. Zwischen den Nachrichten über die
Bomber, die ein Sprecher mit teils gewollt gleichmütiger, manchmal aber auch seltene
Erfolgsmeldungen der Flak schneidig herausschreiender Stimme vortrug, gab es für mich eine
besondere Attraktion: Es ertönte quasi als Generalbass dieser Nachrichten ein regelmäßiges
Tick-Tack wie von einem überlauten Wecker. Ich liebte diesen Weckerton, der für mich teils
etwas Beruhigendes, teils aber auch Spannung Aufbauendes hatte. Er ließ Bedeutendes
erwarten. Ich nannte ihn den „Hicker“.
Wenn tatsächlich Bomben für uns angekündigt waren oder einfach fielen, stiegen wir
hinab in den Keller. Auch hier erwies sich Tante Mathilde als die Erfahrene und durch
Erfahrung Gewitzte. Sie glaubte die fallenden Bomben nach ihrem Geräusch, einem Heulen
oder Pfeifen oder Jaulen oder auch nur Rauschen unterscheiden und klassifizieren zu können.
Diese Klassifizierung schrie sie dann nach der unspezifischen Warnung „da kommt eine
Bombe“ hysterisch heraus. Mit ihrem Geschrei drängte sie auch die Letzten, die noch von der
Kellertür aus den Angriff beobachten wollten, in die Tiefe des Kellers hinein. Ob dieser tiefe
Bereich im Ernstfall Schutz geboten hätte, war fraglich. Erstens war die Kellerdecke für
Bombardierungen nicht gebaut, und zweitens hatte man für diesen Keller keinen zweiten
Ausgang in die Kellerwand gebrochen, der bei Verschüttung den Überlebenden einen Weg für
schnelle Rettung geboten hätte. Tante Mathilde gab sich mit ihrem sachkundigen Geschrei
selbst eine Art Bomben-Obfrau-Funktion für dieses Haus und ließ sich diese Rolle auch durch
ruhige Gespräche außerhalb der Angriffszeiten nicht nehmen. Sie fühlte sich als amtlich
bestallte Hüterin ihrer Mitbewohner.
Als die Lage immer schlechter wurde, packte meine Mutter ihre und meine Sachen
und fuhr mit einem der letzten Zuckel-Züge, die die Jabos noch nicht stillgelegt hatten, in den
Nachbarort zu ihrer Mutter, also meiner Oma. In diesem Nachbarort, genauer: in Haus, Hof
und Keller der Oma erlebten wir die weiteren Luftangriffe und schließlich das Ende der
Kämpfe.
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4. Vaters Abschied von der Wehrmacht


Mein Vater war ein leicht körperbehinderter Soldat. Er konnte seinen rechten Arm nicht
strecken, Folge eines falsch verheilten Bruches. Im Dienstrang eines Feldwebels war er auf
dem Fliegerhorst Rothenbergen bei Gelnhausen eingesetzt. Es oblag ihm die Organisation des
Nachrichtenwesens. Das war eine wichtige Funktion im militärischen Flugbetrieb und hatte
zusätzlich zu den Folgen des frühen Armbruchs dazu beigetragen, dass ihn bislang der
„Soldatenklau“ nicht geholt hatte. „Soldatenklau“ nannte mein Vater später in seinen
Erzählungen die diversen Befehle, kraft deren seit 1943 aus ruhigeren Standorten und
Frontabschnitten Soldaten systematisch abgezogen und an die Ostfront geschickt wurden.
Als die Amerikaner am 23. März 1945 einen zweiten Übergang über den Rhein
geschaffen und dann mit ihren Panzerverbänden sehr schnell Frankfurt am Main
eingenommen hatten, war die militärische Niederlage nur eine Zeitfrage. Die kaum noch
zusammenhängenden Reste der deutschen Front leisteten wenig Widerstand und wichen nach
Nordosten zurück. Die Folge war weiteres schnelles Vorrücken der Amerikaner vom Main
aus durch das hessische Kinzigtal in Richtung Gelnhausen. Als die amerikanische Front sich
dem (schon mehrfach bombardierten) Fliegerhorst Rothenbergen näherte, rückte dessen
deutsche Besatzung, vor allem sämtliche Offiziere und auch das zivile Personal, rechtzeitig
ab. Die Gebäude des Flugplatzes, so weit nicht schon zerstört, steckten sie zuvor noch in
Brand. Sie sollten dem Feind nicht in die Hände fallen. Meinen Vater und einen ihm zur
Unterstützung beigegebenen, etwa 16jährigen Rekruten ließen sie allerdings zurück. Die
beiden hatten Befehl, einen bestimmten Bunker, den „Funkbunker“, der offenbar für das
Nachrichtenwesen und wohl auch für die abrückenden Einheiten besonders wichtig war,
„unter allen Umständen“ zu halten. Bewaffnet waren sie als Nachrichtenleute nur mit
Pistolen. Keine panzerbrechenden Waffen, auch keine Maschinenpistolen, im Grunde fast
nichts. Mein Vater fand das alles wohl nicht sehr gedankenreich, in mehrerlei Hinsicht. Als
am 30. März, Karfreitag 1945, die Panzerspitzen der Amerikaner in der Entfernung
auszumachen waren, entschloss er sich zum Rückzug. Er gab den nicht mehr verteidigbaren
Bunker auf und setzte sich mit dem Rekruten ab in Richtung Spessart.1 Der Rückzug rettete
beiden das Leben. Er geschah per Fahrrad, zwischen Hecken, hinter vereinzelten Gebäuden
und Scheunen, in Hohlwegen und vor allem in dem bald erreichten Wald. Hier begannen die
ausgedehnten Forstgebiete des Spessarts. Eine Weile fuhr mein Vater noch „wichtige“
Kompaniepapiere, die ihm anvertraut waren, mit sich herum. Dann wurde ihm die massive
Papierlast auf seinem Gepäckträger zu viel. Als beide ein Dorf erreichten und bei einem
Bauern rasteten, warf er den großen Packen, zu dem die Papiere verschnürt waren, in die
Jauchegrube dieses Bauernhofs. Bei den Erzählungen des Vaters über das Aufgeben des
Bunkers und die dann folgenden Tage verriet seine Stimme speziell beim Thema des
Jauchewurfs immer eine besondere Befriedigung. Nach dem Krieg in den fünfziger Jahren,
als seine Firma ihm schon wieder ein Auto zur Verfügung stellen konnte, fuhr er ab und zu an
diesem Bauernhof vorbei. Mehrfach hat er meiner Schwester, die ihn manchmal begleitete,
die relevante Grube gezeigt.
Die Entsorgung der Papiere war für meinen Vater die endgültige innere Trennung von
der deutschen Wehrmacht. Er und der Junge schlugen sich mit ihren Fahrrädern in den
östlichen Spessart und ins westliche Franken durch, tags in den Wäldern versteckt, nachts
vorsichtig fahrend. Es gab zwei tödliche Gefahren: die deutsche Feldpolizei einerseits, allzu
schnell schießende Amerikaner auf der anderen Seite. Die Amis konnten zwei Uniformierte
leicht für Reste einer kämpfenden Truppe halten und mit der Sprenggranate eines Panzers
oder mit anderen Mitteln „ausschalten“. Die Feldpolizei konnte sie einem noch sinnlos
1
Eine Notiz über diese Episode bei: Gerhard Freund, Der Fliegerhorst Gelnhausen-Rothenbergen.
Dokumentation 1935-1945. Steinau a.d.Str. , 42016, S. 172.
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kämpfenden Haufen zuweisen oder der Desertion bezichtigen und sofort erschießen. In dem
herrschenden Chaos gab es nicht einmal mehr ein Kriegsgericht.
Schließlich wurden die beiden in einem Waldversteck von der schnell vorrückenden
amerikanischen Front überrollt. Abends waren sie noch im Aktionsradius herumirrender
deutscher Gruppen gewesen, morgens waren die amerikanischen Panzer an ihnen
vorbeigefahren. Sie wurden in ihrem Waldstück noch ein paar Tage lang von einem deutschen
Bauern versorgt, der ihnen unter Vorspiegelung frühlingsmäßiger Arbeit auf seinen Äckern
Lebensmittel und Wasser brachte. Ein bei jenem Bauern tätiger polnischer Zwangsarbeiter
fand die Versorgungstouren seines Chefs auffällig und meldete dies den Amerikanern. Ein
Trupp amerikanischer Soldaten durchkämmte den Wald und nahm die beiden Deutschen
gefangen. Mein Vater als Feldwebel kam in mehrere Gefangenenlager nacheinander, zunächst
auf die berüchtigten „Rheinwiesen“, dann nach Kreuznach, dann in die Nähe von Marseille.
Den Jungen, der kaum als vollwertiger Soldat gelten konnte, ließen die Amerikaner nach einer
Schamfrist laufen. Er kehrte zu seiner Familie zurück.

5. Der Krieg geht dem Ende zu


Der Ort, in den meine Mutter mit mir geflohen war, hieß Steinau (heute gemäß alter
Überlieferung: Steinau an der Straße). Er war vom Ort unserer Familienwohnung in
Salmünster nur 8 Kilometer entfernt. In Steinau, im Haus meiner Großmutter
mütterlicherseits, war ich vier Wochen nach Kriegsbeginn zur Welt gekommen. Mein Vater
war da schon Soldat, er war am ersten Kriegstag eingezogen worden. Während der ganzen
Kriegszeit hatte meine Mutter schon das Haus ihrer Mutter gelegentlich als Zufluchtsort
genutzt, wenn sie sich allein mit ihrem Kind in der Familienwohnung nicht sicher fühlte. So
zog sie sich auch jetzt zu ihrer Mutter zurück und blieb da, bis die ersten Nachkriegswirren
vorbei waren. Das Haus meiner Oma hatte einen tiefen, aus dem 17. oder 18. Jahrhundert
stammenden Gewölbekeller mit eigener Quelle und einer in neuerer Zeit daran
angeschlossenen Pumpe mit zugehörigem Wassertank. Das mächtige Gewölbe bot bei
Bombenangriffen mehr Sicherheit als ein gewöhnlicher flachgedeckter Keller. Mindestens
glaubten das die örtlichen Autoritäten und hatten deshalb Omas Keller als Luftschutzraum für
die Bewohner der umliegenden Häuser ausgewiesen. Große, draußen an die Wände gepinselte
Aufschriften wiesen den Weg in diesen Schutzraum. Wir waren also bei Luftangriffen nicht
nur mit der eigenen Hausgemeinschaft im Keller, sondern auch mit anderen Leuten, die ich
überwiegend nicht kannte.
Der Keller wurde notdürftig beleuchtet von Karbidlampen. Karbid, genauer wohl:
Calciumkarbid, wurde für alle Luftschutzräume des Ortes bereitgestellt. Eine Karbidlampe
bestand aus einem zylindrischen Behälter mit einem Deckel, in den eine senkrecht stehende
Röhre eingelötet war, die nach oben in einen schmalen, mit kleinen Löchern versehenen Kopf
auslief. In den Zylinder füllte man das Karbid und übergoss es, wenn Licht gebraucht wurde,
mit einer gewissen Menge Wasser. Dann wurde der Deckel aufgesetzt. Es entwickelte sich
schnell ein Gas, das durch den Kopf der Röhre ausströmte und an diesem Kopf entzündet
werden konnte. Es entstand an jedem Gerät eine kleine Flamme, so dass der Keller mäßig
erhellt war. Ich werde wohl nie den unverkennbaren Geruch vergessen, den diese Lampen
ausströmten. Er war den Erwachsenen vielleicht unangenehm, aber mir roch dies alles so
verführerisch wie heute vielen Kindern Klebstoffe, Lösemittel und anderes chemisches
Schnüffelzeug.
Bei Angriffen versammelten sich etwa fünfundzwanzig Menschen in diesem Keller.
Freilich geschah das immer ohne meine Oma. Sie, eine tief gläubige Frau aus einer
Odenwälder Hugenottenfamilie, suchte auch bei schweren Bedrohungen nie Schutz unter der
Erde, sondern blieb oben im Haus. Sie ging weiter ihren Geschäften nach und verteidigte sich
bei Aufforderungen wie Vorwürfen mit der Botschaft: „Wenn der liebe Gott will, dass mir
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was passiert, hilft mir der Keller auch nicht.“ Natürlich gehörten zu der gewöhnlichen
Kellerbesatzung auch wieder einige Ausgebombte. Es waren vor allem jüngere Frauen aus
dem Frankfurter Raum mit ihren Kindern. Ähnlich wie Tante Mathilde glaubten manche, den
ahnungslosen Kleinstädtern Führung und Schutz bieten zu müssen. Wir wurden aber nicht
systematisch bombardiert wie die Wohngebiete in vielen Großstädten. Vielmehr
konzentrierten sich die angreifenden Jabos und Bombergruppen in der Hauptsache wieder auf
die strategisch wichtige Bahnlinie und einzelne Industrieanlagen. Nur wenige Häuser des
Ortes wurden tatsächlich von einer Bombe getroffen, dann aber auch mit Mann und Maus
vernichtet. Die Keller halfen den Bewohnern nicht. Der Krieg hatte zu diesem Zeitpunkt die
Phase hinter sich gelassen, in denen die Keller von Wohnhäusern noch Schutz boten. Es
kamen bedeutend schwerere Waffen zum Einsatz. Einzelne Bomben hießen nun „Luftminen“,
ihr Gewicht wurde auf bis zu einer Tonne geschätzt. Diese Bomben richteten sehr große
Schäden an.
Eine Bombe neuerer Konstruktion war es wohl auch, die in einer der letzten Wochen
fiel, welche unsere Kleinstadt noch im Krieg erlebte. Es war ein ruhiger Sonntagmorgen.
Meine Großmutter war in den Stall gegangen, um ihre Ziege zu füttern. Ziegen durfte man
halten, ohne ihre Milch melden und einen Teil abliefern zu müssen. Wo meine Mutter und
ihre ebenfalls zur Oma geflohene Schwester, Tante Li (Kurzform für „Karoline“) sich
aufhielten, weiß ich nicht mehr. Ich selbst spielte im Wohnzimmer oder suchte dort vielleicht
etwas. Jedenfalls saß ich nicht, sondern stand auf meinen Beinen. Plötzlich stand ich auf
diesen Beinen nicht mehr, sondern wurde gegen eine Wand geworfen. Es war eine mächtige
Druckwelle. Ich muss auch den Knall gehört haben, kann mich an den aber nicht erinnern. Da
man überraschende Ereignisse schon gewohnt war und es ohnehin ab und zu pustete und
knallte, war ich nicht besonders alarmiert. Ich spürte auch keine Verletzungen. Erst als die
Oma, meine Mutter und Tante Li fast gleichzeitig ins Wohnzimmer stürzten und voll Schreck
nach meinem Befinden fragten, wurde mir klar: Etwas Ungewöhnliches ist passiert.
Das Ungewöhnliche war die Explosion einer sehr schweren Bombe. Schnell sprach sich
herum, was an diesem Sonntagmorgen getroffen worden war: Die Bombe hatte ein großes
Haus zertrümmert. Wir nannten es im Ort „das Kinderheim“, offiziell hieß es „Stadtheim“.
Dort waren Kinder und Jugendliche, vorwiegend Jungen, untergebracht, die man im Rahmen
der „Kinderlandverschickung“ aus einer süddeutschen Großstadt hierher gebracht hatte. Die
Landverschickung sollte den Großstadtkindern sowohl (relative) Sicherheit bieten als auch,
kraft der Nähe bäuerlicher Betriebe, eine bessere Ernährung für sie gewährleisten.
Einige Jungen waren sofort tot. Andere, die man in den Keller gesteckt hatte, waren
unter den Trümmern verschüttet, eingeschlossen und mussten ausgegraben werden. Nach
mehreren Tagen wurde davon gesprochen, dass etwa fünfzig Jungen den Tod gefunden
hätten. Die Zahl dürfte zu hoch gegriffen sein, aber einen genaueren Wert erfuhren wir
zunächst nicht. Das passt zu den teils chaotischen, teils aber noch immer gnadenlos
repressiven Zuständen, die in der öffentlichen Verwaltung herrschten. Ein Großteil der Opfer
wurde auf dem örtlichen Friedhof begraben. Später sah man dann auf diesem Friedhof eine
auffällige Reihe kleiner Gräber mit weißen Kreuzen, wie Soldatengräber, nur viel kleiner. Sie
hießen „die Kindergräber“. Die Jabo- oder Bomberbesatzung, die die Bombe offenbar gezielt
geworfen und ihr Ziel gut getroffen hatte, könnte auch an deutsche Soldaten gedacht haben.
Denn die Opfer sollen braune, uniformähnliche Kleidung getragen haben, wie sie in der
Hitlerjugend üblich war. Es könnte also sein, dass die fliegenden Bombenwerfer glaubten,
eine militärische oder dem Militär dienende Einrichtung anzugreifen. Dann hätten sie Kinder
für Kombattanten gehalten.

6. Der „Russenzug“ und das letzte Aufgebot


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In den letzten Kriegswochen, als deutlich wurde, dass mindestens dieser Teil Hessens kaum
noch zu halten war, wurden auch verschiedene Lager eilig aufgelöst, Arbeitslager,
Gefangenenlager, wohl auch Konzentrationslager. In Steinau machte sich diese Entwicklung
durch einen großen Menschenzug bemerkbar, der durch die ganze Länge der Hauptstraße, der
sogenannten „Adolf-Hitler-Straße“, getrieben wurde. Wir (Mutter, Oma, Tante Li) hielten die
Menschen für russische Kriegsgefangene, die in ein anderes Lager, weiter von der Front
entfernt, gebracht werden sollten. Sie wurden nicht gefahren, sondern mussten zu ihrem neuen
Bestimmungsort marschieren. Da sie erschreckend, ja einfach entsetzlich abgemagert waren,
vermute ich heute, dass viele von ihnen den Marsch nicht überstanden haben. Ich erinnere
mich, dass einzelne Bewohner der Stadt den Marschierenden Kartoffeln und andere
Lebensmittel, ja sogar Futterrüben zuwarfen, die gierig verschlungen wurden. Auch ich wollte
etwas hinwerfen. Meine Kartoffeln waren ungekocht und ungeschält, wurden aber gleichfalls
sofort gegessen.
Über die Identität der Marschierenden kursieren heute verschiedene Versionen. Eine
dieser Versionen sagt, dass es sich um Juden gehandelt habe, Insassen eines aufgelösten
Konzentrationslagers. Ich bin hierüber etwas im Zweifel, denn nach meiner Erinnerung trugen
die Marschierenden eine Uniform von grünbrauner oder ähnlicher Farbe, die ich zuvor schon
an anderen Männern gesehen hatte. Diese anderen Männer waren uns gegenüber als russische
Kriegsgefangene bezeichnet worden. Man hielt sie in dem Flutgraben des örtlichen Schlosses
gefangen, den die Einheimischen den „Hirschgraben“ nannten. Auch ihnen warfen die
örtlichen Bewohner manchmal Lebensmittel zu. Für die Annahme, bei dem Zug durch die
„Adolf-Hitler-Straße“ habe es sich um russische Kriegsgefangene gehandelt, spricht aus
meiner Sicht noch etwas anderes: Ich kann mich bei denen, die damals durch Steinau
marschieren mussten, nur an Männer in jüngerem oder mittlerem Alter erinnern. Juden
hingegen sollen in jedem Alter deportiert, transportiert, auf Märsche geschickt worden sein,
und auch nicht in grünbrauner Uniform, vielmehr in Zivil oder allenfalls in der
sträflingsartigen KZ-Kleidung. Aber auch diese (naturgemäß unsichere) Vermutung schafft
keine letzte Klarheit.
Mit der Auflösung der Lager kamen weitere Zeichen großer Nervosität und des
nahenden Zusammenbruchs. Ein besonders deutlicher Hinweis war die Formierung des
„Volkssturms“. Männer, die wegen ihres höheren Alters oder aus anderen Gründen bisher als
nicht kampffähig eingestuft waren, wurden zu Einheiten des Volkssturms zusammengestellt.
Dazu gehörten auch pubertierende Jungen, die bislang als zu jung für den Kampf gegolten
hatten. Der alte Schmied der Kleinstadt, ein grauhaariger, aber noch mäßig kräftiger Mann,
ließ sich mit Gewehr in der Hand sehen. Allerdings ging er nur ein wenig mit der Waffe
herum. Es fiel mir auf, dass seine Arme wie seine Knie eigentümlich schlackerten. Er war
eben alt, und seine Gelenke waren nicht mehr die besten. Dass er gesteigerte
Kampfbereitschaft gezeigt hätte, kann ich nicht sagen. Männer erschienen mit Farbtöpfen und
hatten Befehl, die von der Führung ausgegebenen Durchhalteparolen an Mauern und
Hauswände zu malen. Wo immer sich eine größere Fläche bot, auf der die weiße Farbe gut
gesehen werden konnte, wurde einer dieser Sprüche aufgebracht. Die Gespräche der
Erwachsenen klangen besorgt, wenn sie einander wiederholten: „Volk ans Gewehr“,
„Kapitulieren – niemals“, „Für Führer und Vaterland“, „Bis zur letzten Patrone“.
Die Jungs und einige alte Männer, die sie anleiteten, wurden zum Bau von
Panzersperren abkommandiert. Die Straße, die vom unteren Kinzigtal her nach Steinau führte
und diesen Ort mit einem vorgelagerten Dorf verband, wurde aufgerissen. Ein über die ganze
Straße reichender Graben wurde ausgeschachtet. In diesen Graben wurden starke
Baumstämme aufrecht hineingestellt, die eine massive Barriere bildeten. Kein Fahrzeug
konnte mehr diese Stelle passieren. Ob die Sperre auch gegen Panzer helfen würde, die sie
zerschießen oder auf ihren Raupenketten einfach umfahren konnten, musste sich erst zeigen.
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7. Noch einmal Bomben. Kontrollverlust. Letzte Kontakte mit der Wehrmacht

Als die amerikanischen Spitzen näher kamen, hatten wir tägliche Angriffe der Jabos, die nun
fast auf alles schossen, was sich bewegte oder sonst verdächtig erschien. Die Luftalarme
fanden kaum noch ein Ende. Ich spielte mit anderen Jungs Verstecken, als die Sirene wieder
einen der Angriffe meldete. Gerade hatte ich ein vorzügliches Versteck gefunden, einen
dunklen, fensterlosen Raum im Stallbereich, der früher zur Aufbewahrung von Tierfutter
gedient hatte. Hier würde mich kaum jemand finden. Die Spielkameraden riefen: „Bleib, wo
du bist, da wirst du nicht vermisst.“ Ich blieb, es fand mich niemand. Die Kinder suchten
mich allerdings auch nicht, sondern flohen nach Hause. Es dauerte für mein Gefühl endlos,
bis die Sirenen Entwarnung gaben. Als ich bei Entwarnung mein Versteck verließ, war zwar
der Angriff vorbei, hatte aber auch ein klägliches Opfer gefunden. Die Jabos hatten auf
offener Landstraße einen Bauern mit seinem Kuhgespann (Zeichen einer ärmlichen
Bauernwirtschaft) niedergeschossen.
Am Karfreitag, dem 30. März 1945, kam der für uns letzte Luftangriff. Er galt der
örtlichen Seifenfabrik „Dreiturm“. Sie war nahe der Bahn gelegen und war auch bisher schon
manchmal beschossen und gebombt worden. Dieser letzte Angriff jedoch richtete die größten
Zerstörungen an und führte vor allem dazu, dass die Fabrik lichterloh brannte. Als die Jabos
abgeflogen waren und Entwarnung gegeben worden war, eilten viele Steinauer mit kleinen
Gefährten den Hügel hinauf, wo die brennende Dreiturm lag, und retteten, was sie aus der
Fabrik herausreißen konnten. Es war keine geordnete Rettungsaktion, die etwa zum
säuberlichen Aufstapeln der dem Feuer entrissenen Güter an geeigneter Stelle hätte führen
müssen. Es war vielmehr eine offene Plünderung. Jeder griff sich, was er brauchen konnte,
vor allem große, teils schon angekohlte Pakete mit Seife. Schreiend und gestikulierend
rannten die Menschen mit Handwagen, Schubkarren und ähnlichen Hilfsmitteln durch die
Straßen. Die, die ihr Gefährt schon beladen hatten und vom Hügel herunter kamen, riefen
anderen, die erst loszogen, zu, wie sie am besten in den brennenden Bau gelangen und wo sie
dort Seife und anderes Wertvolle finden konnten. Es wurden auch Lebensmittel erbeutet. Das
Städtchen war in hellem Aufruhr. Menschen hetzten mit voll beladenen Schubkarren nach
Hause, luden das Plündergut ab, hetzten wieder hinauf, um noch mehr zu holen. Es gab
Prügeleien um besonders gut erhaltene Pakete mit Produkten der Fabrik oder anderen Gütern.
Beteiligte waren Frauen, Jugendliche, alte Männer und invalide Soldaten, die vom
Frontkampf freigestellt waren. In dem allgemeinen Durcheinander fielen auch zwei oder drei
Packen mit Kernseife für unseren Haushalt ab. Noch Jahre nach Kriegsende wuschen wir uns
mit den Überbleibseln dieses Chaostages.
Am Abend des Karfreitags rückte die letzte Wehrmachtseinheit bei uns ein, die wir zu
Gesicht bekamen. Es war eine typische Kriegs-Einquartierung. Meine Oma hatte diese Einheit
in dem großen alten Haus, das sie bewohnte, und in den zugehörigen Stallungen sowie der
Scheune aufzunehmen. Für mich war besonders interessant, dass die Soldaten ein großes
Raupenfahrzeug mit aufmontiertem Maschinengewehr in Omas Scheune abstellten. Es war
wohl so etwas wie ein Panzerspähwagen. Das Scheunendach bot diesem Kriegsgerät eine
ideale Tarnung gegen die Jabos, die jederzeit wiederkommen konnten, und für die
militärische Panzerfahrzeuge ein Ziel erster Ordnung waren. Merkwürdigerweise waren
dieses Fahrzeug und auch die sonstigen größeren Geräte der deutschen Soldaten nicht in der
gewohnten grün-grau-schwarzen Tarnfarbe gestrichen, sondern vielmehr in sandbeige. Einige
sagten, das Gerät dieser Einheit stamme noch aus dem Wüstenfeldzug in Afrika und habe in
der Zwischenzeit keine neue Tarnfarbe erhalten.
Den Abend mit den deutschen Soldaten, die von Oma verpflegt wurden, werde ich
nicht vergessen: Ich aß zum ersten Mal in meinem Leben eine Substanz, die als „Schokolade“
bezeichnet wurde. Die Stücke, die die Soldaten mir schenkten, kamen aus einer braunen Dose,
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deren Inhalt beim deutschen Militär als Wachhalte- und Konzentrationsmittel diente. Es war
Schokolade mit Kola-Zusatz, vielleicht auch Kokain-Zusatz. Ich liebte diese Substanz, und
ich liebte die Soldaten.
Am nächsten Morgen aber waren sie weg. Offenbar hatte ein kluger Kommandant,
der die Übermacht der Amerikaner richtig einschätzte, den nächtlichen Rückzug angeordnet.
Die Wehrmacht hatte entschieden, Steinau nicht zu verteidigen. Allerdings sprengten
besondere Einheiten, vielleicht Waffen-SS, in der Nacht noch zwei Brücken über die Kinzig.
Sie sollten dem Feind nicht in die Hände fallen. Dass mit der Sprengung auch Brücken
zerstört wurden, über die die weitere Versorgung der hier wohnenden Menschen erfolgen
musste, war diesen Akteuren gleichgültig.
Nun erwartete man die Amerikaner. Ich kann mich nicht erinnern, dass der
Volkssturm ernsthaft in Aktion getreten wäre, wiewohl die Propaganda große Stücke auf ihn
gesetzt hatte. Kämpferische Aktionen des Volkssturms wurden offenbar auch weniger von
den Amerikanern als von der eigenen Bevölkerung gefürchtet. Hätten die alten Männer und
die paar Buben ernsthaft gekämpft, es wäre nur ein letztes schreckliches Blutbad zustande
gekommen. Nur noch mit Spott erinnerte man sich jetzt in Gesprächen der „neuen Waffe“,
von der die Propaganda bis zuletzt geschwärmt hatte. Sie sollte monatelang angeblich noch
kommen und den „Endsieg“ herbeiführen. Natürlich kam sie nicht. Sie hatte mir aber
immerhin eine Erweiterung meines Wortschatzes gebracht. Beim häufigen Gerede über sie
und dem dabei diskutierten Für und Wider unter den Erwachsenen hatte ich das Wort
„Scheißhausparolen“ gelernt. Scheißhausparolen waren Nachrichten, die die Soldaten im
Feld, wenn sie nebeneinander auf der Latrine saßen, untereinander austauschten. Wie die
Lokalität, so war die Qualität dieser Meldungen.

8. Einzug der Amis


Die Oma bereitete sich auf die Übergabe ihres Hauses vor. Die Vorbereitung bestand vor
allem im Bereitlegen und Umfunktionieren eines weißen Bettlakens. Das Laken sollte als
weiße Fahne dienen, die, an einer Bohnenstange befestigt, im richtigen Moment aus dem
höchsten Fenster im Giebel des Hauses hinausgehalten werden sollte. Mit diesem weiß
flatternden Zeichen des Sich-Ergebens wollten viele Bewohner der Stadt verhindern, dass
noch im letzten Augenblick um ihre Häuser oder in ihren Häusern gekämpft und gestorben
wurde. Es gab ja neben dem Volkssturm noch verbohrte Nazis, denen man ein sinnloses
Kämpfen bis zur letzten Patrone wohl zutraute. Vor allem aber traute man den verblendeten
Parteigängern Hitlers zu, Andersdenkende, die sich ergeben wollten, zum Schluss noch als
Wehrkraftzersetzer und Volksfeinde zu erschießen. So hatten denn eine ganze Reihe von
Bürgern, faktisch vor allem Frauen, die Übergabe ihrer Häuser vorbereitet, aus Bettlaken
weiße Flaggen gemacht, warteten aber ängstlich auf den rechten Augenblick, um sie aus dem
Fenster zu hängen.
Wie diese kitzlige Aufgabe gelöst wurde, weiß ich nicht, denn meine Mutter war mit
Tante Li und mir schon im Morgengrauen des 31. März (Ostersamstag) in den Keller
gezogen. Die Verantwortung für das Haus und seine Übergabe behielt Oma, die ohnehin stets
den Keller verschmähte. So ist mir auch nicht bekannt, ob Steinau von einem der noch
amtierenden Nazifunktionäre (oder jemand anderem? Vielleicht einem Volkssturmmann?) als
ganzes Städtchen den Amerikanern übergeben wurde. Oder ob sich das erübrigte, weil die
Wehrmacht abgezogen war und die Frauen einhellig ihre weißen Betttücher flaggten. Große
Kämpfe kann es nicht gegeben haben, denn deren Gefechtslärm wäre auch in unseren Keller
gedrungen. Und was Außengeräusche anging, hörten wir zunächst fast nichts. Vielleicht ein
paar Schritte draußen auf der Straße. Wenige leise gesprochene Worte, die wir nicht
verstanden. Ansonsten war es auf der Straße nach dem Lärm der vergangenen Tage
überraschend ruhig. Mangels Außengeräuschen hörten wir die Geräusche im Keller
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überdeutlich. Einige Menschen beteten, andere wimmerten leise, einige besprachen flüsternd,
wie sie sich gegenüber den Siegern verhalten wollten, wieder andere gaben einander
rätselhafte Zeichen. Drei Frauen spielten Karten. Einige Insassen waren niedergeschlagen,
andere waren hoffnungsvoll, alle waren nervös gespannt und wussten nicht, was geschehen
würde.
Dann spürten wir ein leichtes Zittern des Bodens. Fast gleichzeitig schon hörten wir
Ketten und Motoren der amerikanischen Panzer. Sie hatten die Panzersperren offenbar
spielend überwunden, sich vom Fehlen der gesprengten Brücken nicht behindern lassen, und
rollten nun mit gewaltig anschwellendem Dröhnen durch die „Adolf-Hitler-Straße“. Als sie an
unserem Kellerfenster vorbeifuhren, sahen wir, warum die Sprengung der Brücken ein
dummes und sinnloses Zerstören gewesen war: Die Raupenketten waren nass und spritzten
Flüssigkeit auf das Kopfsteinpflaster. Die Panzer hatten ihren Weg einfach durchs Wasser
genommen. Die hessische Kinzig war zu flach, um solche Panzer aufzuhalten. Auf den
Panzern saßen bewaffnete Soldaten, „aufgesessene Infanterie“ wurde gesagt. Nach den
Panzern kamen kleinere Fahrzeuge und mittelschwere Lastwagen, zuletzt auch Soldaten zu
Fuß. Uns im Keller fiel auf, dass die amerikanischen Soldaten nicht den schweren, hallenden
Tritt hatten, den die deutschen Soldaten stets mit ihren Kommissstiefeln hören ließen.
Vielmehr kamen die Amis auf hohen Schnürschuhen mit flexibler Sohle aus Gummi oder
einem anderen elastischen Material. Den Tritt dieser Schuhe hörten wir zwar, er war aber
überraschend leise und keinesfalls knallend. Die Erwachsenen im Keller sprachen mit
Anerkennung über diese Militärschuhe; sie erschienen viel praktischer und für militärische
Aktionen besser geeignet als die deutschen Knobelbecher. Dieses Verwundern über
erstaunlich unkonventionelle, ideenreich erdachte Ausrüstungsgegenstände, Uniformteile,
Fahrzeuge der Amis sollte sich in den kommenden Wochen bei vielen Gelegenheiten
wiederholen.
Dann stand ein amerikanischer Soldat mit vorgehaltenem Gewehr am Fuß der
Kellertreppe. Durch Schwenken seines Kopfes wie auch des Gewehrs in Richtung Ausgang
gab er uns zu verstehen, dass wir den Keller verlassen sollten. Wir folgten, stiegen hinauf zur
Straße und wurden dort zu größeren Gruppen zusammengestellt. Ein Soldat bewachte uns.
Aus den Giebelfenstern der Nachbarhäuser und auch aus Omas Haus wehten die weißen
Fahnen. Die Amerikaner begannen, die Häuser zu durchsuchen. Ein Haus nach dem anderen
wurde in Augenschein genommen. An die Türen von Häusern, deren Inspektion sie fürs Erste
abgeschlossen hatten, schrieben die Amerikaner mit Ölkreide zwei Buchstaben: OK. Die
Erwachsenen rätselten, was diese Buchstaben zu bedeuten hätten. Einige versuchten, mit
englischen Wörtern, die sie kannten, die Buchstaben als eine spezielle Abkürzung zu deuten.
Aber keine Deutung überzeugte. Allein aus der augenfälligen Funktion im militärischen
Kontext, die die Buchstaben OK zu haben schienen, wurde geschlossen, dass sie so etwas wie
den erfolgreichen Abschluss einer Maßnahme anzeigten. Mit Bezug auf ein eben
kontrolliertes Haus konnten sie ungefähr heißen: „erledigt“. Vielleicht konnten sie auch
heißen, dass in dem Haus nach erstem Augenschein nichts Verdächtiges gefunden wurde.
Dann hießen sie wohl ungefähr „in Ordnung“.
Über solchen Spekulationen und immer neuem Verwundern über Besonderheiten des
amerikanischen Militärs im Gegensatz zum wohlbekannten deutschen verging die Zeit. Von
den Panzern sahen wir nichts mehr. Später erfuhren wir, dass die Spitze des Verbandes, zu
dem die Panzer gehörten, an diesem Tag bis in die Außenbezirke von Fulda gekommen war,
der nächsten mittelgroßen Stadt. Erst dort scheinen einige deutsche Verbände noch
vorübergehend Widerstand geleistet zu haben. Einige Erwachsene sprachen darüber, dass für
uns jetzt der Krieg vorbei sei. Andere zeigten sich niedergeschlagen und enttäuscht. Einzelne
weinten. Die Stimmung in der Gruppe, die auf der Straße zusammenstand und noch immer
von einem Amerikaner beaufsichtigt wurde, war sehr gemischt. Es gab alles von
Erleichterung und Freude bis Trauer und Zorn.
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Nachdem auch unser Haus abgesucht und mit „OK“ beschriftet worden war, durften
wir in unsere Wohnräume zurückkehren. „Wir“, das waren Oma, meine Mutter, Tante Li, eine
weitere Tante, ich und die Ausgebombten, die bei uns Unterschlupf gefunden hatten. Es
handelte sich um junge Frauen aus Frankfurt, teils der Oma weitläufig verwandt, fast alle mit
kleinen Kindern. Oma nannte sie „die Mädchen“. Sie sorgten sich vor allem darum, wie sie
jetzt ihre Kinder und sich selbst ernähren würden. Immerhin schien die Erleichterung über das
Ende der Kämpfe bei dieser Gruppe besonders groß zu sein. Keine Angst vor Bomben mehr,
keine Angst mehr vor Straßenkämpfen mit Toten und schrecklich Verletzten. Vereinzelt
wurde auch schon wieder gesungen.
Besonders beliebt wurde bald ein Lied, das fast zur Hymne der glücklich
Davongekommenen avancierte. Sie sangen, pfiffen und tanzten es, so lange sie noch die
Energie dazu besaßen. Es war ein Lied aus einem UFA-Film, faktisch ein Element der
Nazipropaganda von 1944, aus der Endphase des Krieges. Es war gedacht zur Stärkung des
völkischen Durchhaltewillens an der Front und in den Kellern zertrümmerter Städte. Sein
Text transportierte noch einmal die lockere Sexualmoral der Nazizeit und der Ferienlager
ihrer „Kraft-durch-Freude“-Organisation. Aber er passte nach dem Zusammenbruch für die
Überlebenden verblüffend sicher auch auf ihr Gefühl unerwarteter Rettung und neu sich
regenden Lebens. Noch unter dem Heulen der Luftschutzsirenen, dem Dröhnen der
Bombermotoren, mancherorts sogar dem Pfeifen der fallenden Bomben hatte Marika Rökk
aus Millionen Volksempfängern gesungen:

Ja was mich anbetrifft,


Hab‘ ich ganz viel Schliff
Und ein ganz bestimmtes letztes Ideal.
Doch wenn heute einer kommt
Der mir sagt ich hab dich lieb,
Ist mir alles ganz egal.

So ging es mehrere Strophen weiter mit dem wiederkehrenden Refrain:

In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine,


Denn die Liebe in dem hellen Mondenscheine
Ist das Schönste wenn Sie wissen was ich meine,
Einerseits und andrerseits und außerdem.

Keiner erinnerte sich jetzt bei diesem Song, besser: keiner wollte sich daran erinnern,
warum er eigentlich gedichtet und in Musik gesetzt worden war. Das war jetzt gleichgültig.
Für die, die alles verloren hatten, zählte nur das Leben, das Essen und ein wenig Liebe, wenn
sie denn zu bekommen war. Leider hatten die bei der Oma einquartierten „Mädchen“ keine
jungen Männer ähnlichen Alters. Die waren nämlich gefallen oder vermisst oder in
Gefangenschaft oder lagen in Genesungsheimen, um die Stümpfe ihrer amputierten
Gliedmaßen abheilen zu lassen, oder waren sonst wie abhanden gekommen. Das hinderte die
„Mädchen“ aber nicht, ihrer Sehnsucht nach Liebe und neuem Leben in Gesang und
tanzenden Körperschwüngen Ausdruck zu verleihen. So waren diese Ausgebombten ein
besonders munterer Teil der Hausgemeinschaft. Die jungen Frauen hatten immer etwas zu
sprechen, zu streiten und vor allem zu lachen. Wenn ich mich in den früheren Gesinderäumen,
die ihnen zugewiesen waren, bei ihnen aufhalten durfte, fühlte ich mich angeregt von einer
irgendwie anderen, heitereren Mentalität. Es war ein Stück jugendlichen Großstadtlebens, das
sich hier entfaltete – trotz größter räumlicher Enge und ärmlichster Versorgung mit dem
Nötigsten.
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Im Ganzen begann das neue Leben nach dem Einmarsch der Amerikaner aber
zögerlich. Zur Normalität gehörte schon von der Bombenzeit her für uns die ständige Frage
nach Lebensmitteln für die nächsten Stunden und Tage. Außerdem gab es keinen Strom, nur
zeitweilig Wasser, Gas ohnehin nicht. Alle Hoffnung richtete sich auf die Feinde von gestern,
die Amerikaner. Dass nun eine neue Zeit angebrochen war, kam zumindest mir erst langsam
zu Bewusstsein. Subjektiv wie einen Einschnitt erlebte ich weniger den Einmarsch der Amis
als vielmehr einen Spaziergang, den meine Tante Li am nächsten Morgen, dem Ostersonntag,
auf der Mauerwiese mit mir unternahm. Die Mauerwiese hieß so, weil sie unmittelbar
außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern lag. Sie wurde gern von den Frauen zum
Bleichen der Wäsche genutzt. An sonnigen Waschtagen waren da viele weiße Wäschestücke
ausgebreitet, damit sie von der Sonne getrocknet und aufgehellt würden. Jetzt lag die Wiese
im Licht des Morgens ganz still da, Tautropfen glänzten, man hörte sehr leise das Wasser des
Flüsschens, wenige Vogelstimmen, aber keinerlei Kampfgetöse, auch nicht aus der
Entfernung. Keine Flugzeuge, keine militärischen Kommandos, kein ängstliches Weinen,
keine geraunten Warnungen, gar nichts. Da schien es mir, dass dies der Friede sei. Ich wusste
nicht wirklich, was das Wort bedeutete, aber die Abwesenheit von Krieg, auf unklare Weise
nun auch Ruhe und eine große Erleichterung, konnte ich damit verbinden. In einem Seitenarm
des Flüsschens lag ein sandbeiges Maschinengewehr, von den Deutschen zurückgelassen, nur
noch dem Wasser Gelegenheit bietend für ein paar Wirbel und leises Gluckern. Tante Li ging
mit mir langsam bis zum nächsten Durchbruch in der Stadtmauer und durch diesen Einlass
dann nach Hause. Unseren Weg säumten Häuser, an denen noch die weiß gepinselten Parolen
zum äußersten Widerstand und letzten Opfer aufriefen. Tante Li las sie mir vor. Es ging keine
Bedrohung mehr von ihnen aus.

9. Erste neue Tage


Zwar hatten die Nazis auch zuletzt noch Gerüchte gestreut, die vom Widerstand hinter den
Linien der Feinde sprachen und dazu aufriefen. Immer wieder war die Rede von
„Werwölfen“, die angeblich als Privatleute unerkannt unter uns lebten und bald böse
losschlagen würden, sobald sich die Gelegenheit böte. Die Erwachsenen sprachen über diese
Gerüchte mit Furcht, aber auch mit Skepsis: Zu vieles hatte sich als falsch erwiesen, zu oft
hatte sich eine Ankündigung als Lüge entpuppt. So auch mit den Werwölfen: Ich kann mich
nicht erinnern, dass auch nur von einer einzigen Aktion eines solchen Werwolfs ernsthaft
berichtet wurde. Es gab die Wölfe offenbar nicht. Oder es gab sie vielleicht irgendwo, aber
selbst an sich zweifelnd und von ihrem Durchhaltewillen nicht mehr überzeugt. Die fast
kampflose Niederlage der Wehrmacht in diesem Teil Hessens und die erstaunliche Flucht der
höheren Nazichargen waren ein zu klägliches Zusammenbrechen alles Bisherigen gewesen.
Es könnte auch den letzten Kampfbereiten gedämmert haben: Sie waren jahrelang belogen
worden, ihre Opferbereitschaft missbraucht, ihre Identifikation ein Sich-Unterwerfen unter
Lügner, Betrüger, Verbrecher. In der Bevölkerung im Ganzen hatten auch längst Spottverse
und Witze kursiert, in denen die Unglaubwürdigkeit der „Führung“ und die Enttäuschung
über zahllose gebrochene Versprechen ihren Ausdruck fanden. Viele der Witze verstand ich
nicht, weil sie zu kompliziert für mich waren. Harmlose Kommentare zur Ernährungslage
konnte ich verstehen wie den Vers, den ein älterer Spielkamerad mir schon Monate vor dem
Zusammenbruch zugeraunt hatte: „Beim Schleicher und beim Papen, da gab’s nochmal ‘nen
Braten. Beim Hitler und beim Göring, da gibt’s nicht mal ‘nen Hering.“
Das Ende der Kämpfe bedeutete auch das Ende organisierter Versorgung der
Menschen. Es gab keine Lebensmittel mehr, den Hering natürlich auch nicht. Von deutscher
Seite erhielten wir nach einigen Tagen allenfalls ein wenig Magermilch: Die Felder waren
jetzt im Frühjahr leer, die Wintervorräte der Bauern waren zusammengeschmolzen und
wurden als Eigenbedarf festgehalten. Aber die Kühe, die gekalbt hatten, gaben immerhin
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Milch. Sie wurde nach Auszentrifugieren des Milchfetts verteilt, vor allem an Mütter mit
kleinen Kindern. Die vielen privat gehaltenen Ziegen (wie die meiner Oma), Hühner und
heimlich gehaltenen Stallhasen trugen ihren Teil zur Ernährung bei. Ansonsten waren ja die
Transportwege weitgehend zerstört, und auch Transportfahrzeuge gab es auf deutscher Seite
nicht mehr. Das heißt, es gab ein paar Lastwagen und kleinere Autos, sogar Lokomotiven,
aber zerschossen, defekt, mangels Ersatzteilen irgendwo herumstehend. Und mit den wenigen
vorhandenen Ochsengespannen und Kuhgefährten hätten sich kaum hinreichend viele
Lebensmittel herbeibringen lassen, selbst wenn es genug davon gegeben hätte.
So blieben uns die Sieger. Die Amerikaner versorgten uns notdürftig in den ersten
Wochen nach dem Ende der Kämpfe, bis schrittweise wieder ein primitives System von
Erzeugung, Transport, Verteilung notwendiger Güter hergestellt war. Freilich war die
Versorgung durch die Amis auch amerikanisch. Es wurde zum Beispiel Maismehl verteilt, das
die deutschen Hausfrauen und Bäcker nicht kannten. Sie buken aus dem Maismehl in ihrer
gewohnten Weise Brot und andere Backwaren, aber zunächst nur mit dürftigem Erfolg. Das
aus Maismehl nach deutscher Weise gebackene Brot erwies sich als steinhart. Man könne sich
die Zähne daran ausbeißen, sagte meine Mutter. Die Amerikaner mussten also auch die
deutschen Empfänger ihrer Lebensmittelgaben zugleich so weit schulen, dass diese die
Lebensmittel angemessen zubereiten konnten. Eine Ausnahme war das Corned Beef. Es
machte keine Zubereitungsprobleme, erstaunte vielmehr die Erwachsenen wieder einmal
durch einfache, ideenreich ersonnene Handhabung. Es kam in kleinen, rechtwinkligen Dosen,
an die eine Art Schlüssel zum Öffnen schon angelötet war. Mit diesem Schlüssel konnte man
eine an der Dose befindliche Blechlasche fassen und durch Drehen des Schlüssels die Dose
kinderleicht aufreißen. Eine Sollbruchstelle im Blech ermöglichte das. Die Erwachsenen, die
die großen, umständlichen deutschen Büchsenöffner gewohnt waren, konnten sich nicht
genug tun in Äußerungen des Bewunderns für die Pfiffigkeit und Kreativität, mit denen die
Amerikaner das Leben leichter zu machen wussten. Bald wurden Eigenschaften wie
Ideenreichtum und Erfindungsgeist mit unserem Bild dieser Amis wie selbstverständlich
verbunden.
In das Bild passte die Art, wie die Sieger letzte versteckte deutsche Soldaten
aufspürten, vorwiegend in den umliegenden Wäldern, und als Gefangene zu den
Sammelstellen brachten. Sie fesselten diese Gefangenen nicht etwa oder trieben sie mit der
Waffe vor sich her oder dergleichen, sondern ließen sie Platz nehmen auf den flachen
Kühlerhauben ihrer kleinen, wendigen Fahrzeuge. Dann fuhren sie ihre Beute mit sehr hohem
Tempo (die Leute sagten: „mit einem Affenzahn“) aus den Wäldern heraus und hinunter in
ein provisorisches Lager. Bei dieser Fahrt hätten die Männer zwar noch immer von der Haube
abspringen und fliehen können. Aber nach einem solchen Sprung hatten sie kaum Chancen
auf ein gesundes Weiterkommen, die Verletzungsgefahr dabei war zu hoch. Vielleicht waren
viele aber auch einfach froh, den Übergang vom deutschen Soldaten zum amerikanischen
Gefangenen unversehrt hinter sich gebracht zu haben, und hielten still aus wohlverstandenem
Eigeninteresse. Bald lernten wir auch das Wort für die schnellen kleinen Armeefahrzeuge der
Amis. Das Wort war „Jeep“.
Es kam recht selten vor, dass versprengte Wehrmachtssoldaten, die sich bislang
versteckt gehalten hatten, noch ernsthaft Widerstand leisteten. Sehr vereinzelt hörte man noch
Schüsse Tage nach dem amerikanischen Einmarsch. Mit ihrer Übermacht überwanden die
Amerikaner diese sinnlos kämpfenden Deutschen schnell. Die Toten wurden an Ort und Stelle
begraben, manchmal in dem Schützenloch, das sie selbst für ihren Kampf ausgehoben hatten.
Die Amerikaner kommandierten alte Männer aus der Bevölkerung zu dieser Tätigkeit ab. Auf
das Grab wurde ein einfaches Lattenkreuz gesetzt, manchmal auch mit Namen oder nur mit
der Erkennungsmarke des Soldaten, und auf das Kreuz ein Stahlhelm gebunden. Noch ein
Jahrzehnt später stieß ich als Jugendlicher bei Wanderungen in den Wäldern von Spessart und
Vogelsberg auf solche Stahlhelmgräber.
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Leider machten die vielbestaunten Amerikaner auch nicht alles richtig. Ihr Umgang
mit zurückgelassener deutscher Munition zum Beispiel, und auch eigener Munition, die nicht
mehr gebraucht wurde, war absolut fahrlässig. Im Hof meiner Oma, den die Sieger beim
Einmarsch sehr wohl überprüft hatten, lagen Gewehrpatronen und vereinzelt auch Patronen
für die deutsche 2-cm-Flak noch lange unbeaufsichtigt herum. Wir Hausbewohner hatten
Angst, diese Überbleibsel anzufassen, und so blieben sie liegen. Einige ältere Jungs der
Nachbarschaft, mit den Eigenschaften solcher Munition angeblich vertraut, taten sich durch
besondere Mutproben hervor. Es gelang ihnen, bei einzelnen Gewehrpatronen die Geschosse
von der Hülse abzudrehen. Dann konnten sie das Pulver herausschütten. Es rieselte
schwärzlich-bräunlich heraus wie sehr viele winzige Plättchen. Bald hatten die Jungs ein
kleines Häuflein dieses Pulvers beisammen. Einer, der brennende Streichhölzer „schießen“
konnte, forderte alle Zuschauenden zum Zurücktreten auf. Mit mehreren Jungs floh ich ins
Haus. Es ertönte ein Knall, und eine hochschießende Stichflamme erleuchtete für einige
Sekunden Omas Hof sowie Flur und Küche, wo wir uns aufhielten. Die Erwachsenen waren
über so viel Leichtsinn entsetzt, stürzten herbei und wollten den Hauptakteur greifen. Der war
mit seinen Kumpels davongelaufen. Der Schaden hielt sich aber diesmal in Grenzen. Es war
nur eine Verpuffung gewesen. Einzelne Zuschauer erzählten später von versengten Haaren.
Aber keiner scheint eine ernsthafte Verletzung erlitten zu haben.
Nicht alles Spielen mit herrenloser Munition ging so gut aus. Die Amerikaner hatten
Anweisung gegeben, verlassene Munition, die noch gefunden wurde, in einem bestimmten
Hohlweg zu sammeln. In dieser „Holl“, so wurde der Hohlweg genannt, lagen dann viele
Patronen diverser Größe unbeaufsichtigt herum, bis hin zum Format panzerbrechender
Munition für die deutsche Pak („Panzerabwehrkanone“). Daneben gab es auch Handgranaten,
Gewehrgranaten, Panzerfäuste und anderes. Ein Cousin zweiten Grades von mir, den ich
allerdings kaum kannte, liebte offenbar das Hantieren mit diesen Sprengkörpern. Als ein
Stück Munition explodierte, wurde dieser Junge aufs Schwerste verletzt, die Leute sagten
„zerrissen“. Er starb nach wenigen Tagen. Da das Berühren der angesammelten Munition
streng verboten war, blieb es nicht aus, dass besserwisserische Frauen der Mutter des
Getöteten noch gute Ratschläge gaben. „Wenn das meiner gewese wär‘, ich hätt‘ en noch
verhaue nach Strich un Fade“ verkündete eine dieser Damen.

10. Onkel Konrad kommt heim


Langsam begann das Leben sich zu normalisieren. Einer der ersten, die ihre reguläre Tätigkeit
wieder aufnahmen, war der Schafhirt der Kleinstadt. Er zog morgens mit seinem Hund durch
die „Adolf-Hitler-Straße“, und Familien, die Schafe hielten, trieben ihre Tiere zu ihm hinaus.
Auf dem Weg vom Obertor zum Untertor formte sich so eine Schafherde, die – aus der
Erinnerung geschätzt – gegen 100 Tiere umfasste. Für mich war der Zug des Hirten ein
spannendes Schauspiel. Meine Oma hielt keine Schafe, was die Attraktivität erhöhte.
Besonders die abendliche Rückkehr von Hirt und Herde fand ich sehenswert: Während der
Zug sich vom Untertor zum Obertor durch die enge Straße schob, schickten die Schafhalte-
Familien ihre Kinder, Jugendlichen und manchmal auch Erwachsene hinaus mit dem
wichtigen Auftrag, die eigenen, farblich gezeichneten Tiere aus der Herde herauszufischen
und in den heimischen Stall zu treiben. Das geschah regelmäßig unter lautem Geschrei der
Menschen und Blöken der an ihrer Wolle gepackten Schafe. Manchmal riss sich auch eins
dieser Tiere los, rannte den Mühlberg hinunter über die schmale Kinzigbrücke und erreichte
die Mauerwiese. Das Einfangen solcher Flüchtlinge war bei allen Zuschauenden beliebt wie
kostenloser Zirkus.
Natürlich durfte die „Adolf-Hitler-Straße“ jetzt nicht mehr so heißen. Die Schilder mit
dieser Aufschrift waren schon in den ersten Tagen, vielleicht sogar Stunden nach dem
Einmarsch der Amis übermalt worden. Es gab nur noch keine Behörde, die einen neuen
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Straßennamen hätte festsetzen und in Gestalt von Schildern hätte kundtun können. So
sprachen die Steinauer erst einmal weiter von der „Hitlerstraß“. Etwas Ähnliches wie die
Neutralisierung der Straßenschilder widerfuhr in den Haushalten allen Gegenständen mit
Hakenkreuz und anderen eindeutigen Nazi-Symbolen. Niemand wollte in den Verdacht
geraten, mit dem System verbandelt gewesen zu sein. Also wurde, soweit das möglich war,
die ganze Bild- und Wortsymbolik des früheren Regimes übermalt, zerrissen, verbrannt oder
sonst wie vernichtet. Das allgegenwärtige Buch Hitlers, „Mein Kampf“, das jedem Ehepaar
bei der Eheschließung und vielen Jugendlichen bei der Schulentlassung von den Behörden
geschenkt worden war, trug jetzt wenigstens zur Linderung der Kohleknappheit bei: Es wurde
ganz überwiegend in den Öfen verheizt. In dieser ländlichen Gegend kam es auch manchmal
in die Jauchegrube. Die Säuberungstätigkeit vieler Deutscher stand im Gegensatz zur
Sammeltätigkeit vieler Amerikaner. Manche Soldaten der Siegertruppe nämlich waren
höchlich interessiert an Nazi-Devotionalien, vor allem Parteiabzeichen, Medaillen,
Ehrenzeichen aller Art, die sämtlich an herausgehobener Stelle das Hakenkreuz trugen.
Speziell Parteiabzeichen und Orden mit Hakenkreuz, vor denen die Deutschen jetzt
zurückschreckten wie der Teufel vorm Weihwasser, erfreuten sich bei vielen Amis großer
Beliebtheit.
Einige Wochen nach dem Einzug der Amerikaner kam zu uns noch ein
Wehrmachtssoldat, freilich jetzt schon in Zivilkleidung. Es war Onkel Konrad, der Bruder
meiner Mutter, 25 Jahre alt. Er hatte als Soldat gegen die Sowjets gekämpft und war zuletzt
eingesetzt bei der Verteidigung Berlins, im Südosten der Hauptstadt. Irgendwie war er der
Gefangennahme durch sowjetische Truppen entgangen und hatte sich in Richtung Westen auf
den Weg gemacht. Da die Amerikaner zu diesem Zeitpunkt im heutigen Sachsen-Anhalt, in
Sachsen und in Thüringen standen, muss Konrad nach der Flucht vor den Sowjets zunächst
durch die amerikanischen Linien geschlüpft sein und sich dann ähnlich wie mein Vater hinter
diesen Linien bewegt haben. Genaues ist mir nicht bekannt und kam mir auch erst einmal
nicht zu Ohren. Dass Konrad glücklich nach Hause gekommen war, war viel wichtiger als das
Wie seiner Flucht. Wenn es mir damals erzählt worden wäre, hätte ich die Einzelheiten auch
nicht verstanden. Meine Mutter wollte später wissen, dass Konrad die lange Strecke vom
südlichen Brandenburg bis nach Steinau, etwa 400 Kilometer, in Nacht-Tag-Märschen
zurückgelegt hatte: In den Nächten marschierend, sich am Tag verborgen haltend. Irgendwie,
vielleicht von Bauern wie mein flüchtender Vater, muss er ab und zu etwas zu essen
bekommen haben, und von irgendwem auch die begehrten Zivilsachen.
Jetzt war er erst einmal da, und die Angehörigen waren überglücklich. Ich kann mich
noch erinnern, wie meine Oma, Konrads Mutter, den völlig verschmierten und verdreckten
Konrad auszog, in die Badewanne steckte und als Allererstes von oben bis unten gründlich
abschrubbte. Im oberen Bereich seines Rückens sah ich eine riesige, von einer Seite des
Rückens bis auf die andere reichende, breite, tiefe Narbe, die rötlich glänzte. Sie war das
Überbleibsel eines Streifschusses, der den Wirbelkanal nur um wenige Millimeter verfehlt
hatte. Konrad sprach später manchmal von dem fast unglaublichen Glück, das ihm bei dieser
schweren Verwundung zuteil geworden war: Fast unglaublich war, dass das sowjetische
Geschoss den Wirbelkanal so knapp verfehlt hatte, und fast unglaublich war, dass am Ende
eines langen Lazarettaufenthalts hinter der Front Konrads wirkliche Genesung stand, und
nicht ein Weiterleben als schwer behinderter Mensch.
Den Amerikanern war bekannt, dass viele Soldaten der Wehrmacht im Chaos des
Zusammenbruchs nicht gefangen genommen wurden. Dass sie sich vielmehr – wenn möglich
in Zivil – auf eigene Faust zu eigenen Zielen, in der Regel ihren Angehörigen,
durchzuschlagen suchten. Meinem Vater war das nicht gelungen, denn sein Waldversteck war
den Amis verraten worden. Konrad hingegen hatte es geschafft. Er hatte seine Haut gerettet
und war nach Hause gekommen. Aber mehr gelang ihm zunächst nicht. Denn junge,
kampffähige deutsche Männer in Zivilkleidung waren in der jetzigen Umgebung eine
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Seltenheit und fielen auf. Die Amerikaner sammelten diese Auffälligen ein und brachten sie
in Lager, um sie zu überprüfen. Wenn erkennbar war, dass sie Soldaten waren, wurden sie
weitertransportiert in Gefangenenlager wie die übrigen gefangenen Soldaten auch. Männer
der Naziadministration wurden ebenfalls eingesammelt, kamen aber in spezielle Lager und
harrten dort eines besonderen juristischen Verfahrens. Darüber später. Konrad hingegen, als
heimgekommener Soldat erkennbar, hatte ein weiteres Mal besonderes Glück: Da er ein
ausgebildeter Bäcker war, und da Bäcker zur Broterzeugung dringend gebraucht wurden,
wurde er zwar zunächst in Gewahrsam genommen und als Kriegsgefangener klassifiziert.
Dann aber bekam er besondere Papiere der Besatzungsmacht und durfte, ja sollte in der
Bäckerei seiner Eltern seinen Beruf ausüben.
Meine Oma hatte die Werkzeuge, Maschinen, Räume dieser Bäckerei zum größten
Teil über den Krieg retten können. Sie hatte den Betrieb schon vorher, vom Tod ihres Mannes
1935 bis zum Kriegsausbruch, verantwortlich geführt. Mit besonderer Genehmigung der
Behörden hatte sie auch ihren Sohn Konrad als Lehrling ausgebildet bis zur Gesellenprüfung.
Allerdings war es nicht einfach, die Bäckerei jetzt wieder in Betrieb zu nehmen. Es fehlte vor
allem an Brennstoff für den Backofen und an Mehl für die Backwaren. Auch einzelnes
Werkzeug fehlte, das in den Kriegsjahren für andere Zwecke gebraucht und nicht
zurückgebracht worden war. Nun musste es mühsam beschafft werden. Oder es wurde ein
improvisierter Ersatz gefunden. Der große Backofen wurde, da es keine Kohlen gab, jetzt mit
Reisig beheizt. Das war in früherer Zeit üblich gewesen, und man beherrschte noch die
Technik: Das aus Hecken und dem Waldrand herausgeschnittene Reisig wurde heimgebracht
und, soweit nötig, in der Scheune getrocknet. Dann kam es in den leeren Backofen, wurde
entzündet und gab ein gutes Feuer, das den Backofen erhitzte. Die Schamottsteine des Ofens
speicherten die Hitze des Feuers und gaben sie ab an das Brot oder anderes Backgut, das nach
Entfernen des Reisigs in den Ofen gebracht, im Bäckerdeutsch: „eingeschossen“ wurde. Das
Entfernen des noch teils brennenden, teils glühenden Reisigs war für mich und sowieso alle
Nichtbäcker ein besonderes Schauspiel: Quer vor die Ofentür wurde ein großes Blechteil
gesetzt, das die Form eines Troges hatte. Aus dem Ofen heraus und in den Trog hinein zog
der Bäcker mit einer Art Kralle das glühende Reisig. Dicke Handschuhe schützten die Hände
derer, die den heißen Trog dann ins Freie brachten zur Abkühlung. Draußen wurde Wasser
auf das Reisig gegossen, das ganz herrlich zischte und qualmte.
Der Ort dieses Schauspiels war ein kleiner, neben dem Backhaus gelegener Hof, das
„Höfchen“. Da gab es einen Wasserhahn mit Schlauch, der zum Ablöschen des heißen Reisigs
diente Hier, außerhalb des eigentlichen Wohnhauses, befand sich auch der (unverschlossene)
Zugang zu dem tiefen Keller, in dem wir die letzten Kriegstage verbracht hatten. Und höher,
auf dem Niveau des 1. Stockes, lief ein Balkon alias Altan um das Höfchen herum, so dass
man das Geschehen im Höfchen gut beobachten konnte. Dieses Ambiente mit seinen drei
Ebenen bildete einen schönen Kinderspielplatz, ganz ohne Schaukeln, Rutschen, Sandkästen
und ähnlichen Luxus. Zugleich war es ein Ort der Freiluft-Kommunikation für die
Hausbewohner. In den Gesindestuben des 1. Stockes wohnten ja die ausgebombten
„Mädchen“ mit ihren Kindern. Sie hielten sich oft auf dem Altan auf, schickten auch einzelne
ihrer Kinder hinunter zum Spielen und beaufsichtigten das ganze Freiluftleben im Höfchen
von ihrer Höhenposition aus. Auch sie freuten sich natürlich an dem Gezische und dem
Spritzen, das entstand, wenn das aus dem Ofen gerissene Reisig gelöscht wurde.

11. Neue Zeit


Stück für Stück, beginnend wohl mit dem steinharten Brot, nahm das Backen Fahrt auf. Die
Bäcker lernten, das amerikanische Milchpulver und das amerikanische Trockenei zu
verarbeiten. Auch mit den Maismehl-Problemen wurde man schließlich fertig. Natürlich
durfte das Brot nicht frei verkauft werden. Alle offen gehandelten Lebensmittel konnten nur
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mit besonderen Papieren, den Lebensmittelmarken, bezogen werden. Hier kam den Siegern
entgegen, dass unter Hitler schon seit langem ein System der Lebensmittelrationierung, auch
ein System der Rationierung von Kleidung, Heizmaterial und anderem eingerichtet worden
war. Zunächst waren es die gleichen Marken wie bei den Nazis, die jetzt unter den Siegern für
die Verteilung von Brot, Milch, Fett, Eiern und weiteren Gütern Verwendung fanden.
Lediglich das unvermeidliche Hakenkreuz auf den Karten war durch Schwärzung unkenntlich
gemacht. Für jede Person eines Haushalts wurde zu Monatsanfang eine Lebensmittelkarte
ausgegeben. Sie war in viele Felder eingeteilt, auf denen immer eine bestimmte Menge einer
Sache eingedruckt war. Auf einem solchen Feld konnte etwa stehen: „125 g Brot“ oder „1/4
Liter Magermilch“ oder „25g Fett“. Beim Einkauf gab man so viele abgeschnittene Felder
dieser Art über den Ladentisch, wie für den Kauf benötigt wurden, oder diese Felder wurden
im Laden aus der Karte herausgeschnitten. Im Ganzen stellte das für alle Personen der
Bevölkerung ein sehr mageres, aber doch für ausreichend erklärtes Monatspensum dar. Man
konnte auch Teile der eigenen Lebensmittelkarte abschneiden und verschenken oder
verkaufen. Dann verzichtete man selbst auf diese Teile des eigenen Bezugsrechts und bekam
von der Gegenseite vielleicht etwas anders dafür, sagen wir: ein Fahrradventil, oder eine
Mütze des gefallenen Sohnes oder Ehemanns. Das begünstigte einen kaum kontrollierbaren
Tausch- und Schwarzhandel. Solcher Handel hatte unter den Nazis längst begonnen und war
inzwischen Teil der Tageswirklichkeit. Die Steinauer handelten besonders gern mit Seife aus
der Fabrikplünderung. Sie hatten ja genug. Natürlich kosteten die Lebensmittel und sonstigen
Güter, die in Läden verkauft wurden, auch Geld. Aber die „Reichsmark“, wie das bisherige
Geld hieß, spielte eine nachrangige Rolle, und diese Rolle wurde zunehmend weniger wichtig.
Schon unter den Nazis konnte man für dieses Geld allein nur wenig kaufen. Entscheidend im
Alltag waren die Marken.
Für diejenigen, die Lebensmittel offiziell verkauften und natürlich selbst diese Güter
zuvor irgendwie beschaffen mussten, war das Markensystem eine bürokratische Quälerei.
Nach der Phase direkter Alimentierung durch die Amis und Beginn „normaler“
Mehllieferungen für Onkel Konrad saßen meine Mutter und Tante Li jede Woche ein oder
zwei Abende mehrere Stunden im Wohnzimmer und klebten. Sie klebten abgeschnittene
Brotmarken, gegen die im Laden Brot ausgegeben worden war, auf große Bögen, gewöhnlich
aus Zeitungspapier. Diese Bögen mit vielen aufgepappten Brotmarken brauchte Onkel
Konrad, um wieder Mehl und andere Zusatzstoffe einkaufen zu können. Ohne Marken kein
Mehl, ohne Mehl kein Brot. Ich vermute, bei der Interimsverwaltung der Amerikaner und
dann beim Müller, der nach Ablösung des Maismehls das Mehl lieferte, setzte sich dieses
System fort: Der Müller bekam den Ausgangsstoff für das Mehl, das Getreide, wohl wieder
nur durch Vorlage der zusammengeklebten Marken, natürlich nicht bei den Bauern, sondern
bei einer Getreidesammelstelle. An die mussten die Bauern nach wie vor große Teile ihrer
Ernte (abzüglich Saatgut und Eigenbedarf) abliefern. Freier Handel mit Getreide, Milch,
Eiern, Speiseöl und anderen Grundstoffen der Ernährung war schon unter den Nazis verboten,
wurde als Schwarzhandel eingestuft und streng bestraft. Noch viele Jahre später erzählten
meine Mutter und Tante Li unter Zeichen großer Belustigung, dass ich kurz vor Kriegsende
beinah noch alle ins Gefängnis gebracht hätte. Ich war bei meiner Oma allein zu Hause, und
Nachbarn fragten mich, wo Mutter und Großmutter seien. In breitestem örtlichem Dialekt soll
ich gesagt haben: „Die Mama un die Oma sin in die Mühl un hole Öl.“ Das war eine Straftat.
Aber die Nachbarn hielten dicht, und nichts passierte uns.
Die Strafandrohung änderte wenig daran, dass es den Schwarzhandel gab, und dass er
auch in der neuen Zeit florierte. Die Bauern hatten schon unter den Nazis das natürliche
Interesse, bei der Erfassung ihrer Kapazitäten an Kartoffeln, Getreide, Ölsaaten, Milch, Eiern,
Vieh aller Art die offiziellen Zahlen so gering wie möglich zu halten. Wichen die offiziellen
Zahlen nach unten hin von der Wirklichkeit ab, hatten die Bauern eine gute Chance auf
heimlichen Gewinn. Dieses Prinzip dürfte so alt sein wie jede Art von Zwangswirtschaft. Das
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Eigeninteresse der Bauern und ihrer verschwiegenen Kunden war einfach stärker als das
System, zunächst der Nazis, dann der Sieger. Jeder zweigte ab, was er abzweigen konnte, und
versuchte, unter der Hand aus seinem Eigentum mehr zu machen, als das System erlaubte.
Noch unter den Nazis übrigens hatte meine Mutter am Ort der Familienwohnung, Salmünster,
die von der Stadtverwaltung zugewiesene Funktion, das Vieh zu zählen. Die Zählung diente
der Kontrolle bäuerlicher Angaben. Meine Mutter war gewiss keine Widerständlerin. Aber sie
war auch gewiss keine Freundin der Nazis und ihrer Ideologie. Die Gründe für ihre Haltung
waren eher religiöser als politischer Art. Der Effekt war, dass meine Mutter ihre
Kontrollaufgabe nicht sehr gewissenhaft ausübte. Jahre später erzählte sie, dass sie möglichst
die Angaben der Bauern in ihre Kontrollbögen unkontrolliert übernahm, also nicht wirklich
prüfte. Es sei denn, ein Bauer hatte allzu offensichtlich gelogen, zum Beispiel drei Hühner
gemeldet, während zehn für alle sichtbar auf seinem Hof herumliefen. Ob die unter den Nazis
praktizierte Nachlässigkeit auch nach dem Krieg meiner Mutter (und letztlich auch mir) noch
Vorteile bei den Bauern brachte, kann ich nicht beurteilen. Der Schwarzhandel jedenfalls
sollte erst eintrocknen, als das neue Geld kam und die Zwangswirtschaft endete.
Schritt für Schritt kam es jetzt auch zur Rückkehr einzelner Ausgebombter in ihre
früheren Großstadtwohnungen. Natürlich waren diese Wohnungen beschädigt, teils sehr
schwer, so dass die Rückkehrenden auch manchmal zunächst in den Kellern oder bei
Schicksalsgenossen hausen mussten. Aber für manche dieser Menschen scheint das eigene
Zuhause, wie schadhaft immer, erfreulicher gewesen zu sein als das untergeordnete Wohnen
bei Verwandten oder Bekannten auf dem Land. Für die Ausgebombten, die sich häufig den
Landleuten überlegen fühlten und dies manchmal auch waren, stellte das Wohnklima gerade
in Haus und Wohnung entfernter eigener Angehöriger oft eine größere Belastung dar als das
Wohnen bei gänzlich Fremden. Das Umgekehrte galt ebenfalls. Im Gegensatz zu dem, was
man irgendwann erwartet hatte, erwies sich vielfach die zunächst selbst gewollte Aufnahme
eigener Verwandter als problemreicher denn die Aufnahme vollkommen Fremder. Das hatte
sich schon im Verhältnis meiner Mutter zu Tante Mathilde gezeigt.
Auch die bei der Oma untergekommenen „Mädchen“ strebten mit ihren Kindern
zurück nach Frankfurt am Main. Die jungen Frauen fanden wohl vor allem das eintönige, jetzt
wieder ganz der Arbeit und sparsamen Wirtschaft gewidmete Leben auf dem Land wenig
anziehend und taten alles, um in ihre früheren Behausungen zurückzukehren. Dabei war es
gar nicht das eigentliche Land, wo sie jetzt untergebracht waren, sondern „nur“ eine
Kleinstadt in ländlicher Umgebung. Und es gab eine direkte Bahnverbindung nach Frankfurt
– wenn denn Züge fuhren. Erst einmal fuhren keine. In kleinen Etappen aber wurden die
zerstörten Gleisanlagen, Stellwerke, Bahnhöfe unter der von den Siegern eingesetzten
Verwaltung notdürftig wieder hergestellt. Lokomotiven wurden repariert, Signalanlagen
instand gesetzt. Und dann gab es auch wieder Züge. Mit ihnen zu fahren war zwar ein rechtes
Abenteuer. Denn die Abteile waren mit Menschen überfüllt, draußen auf den Trittbrettern
fuhren weitere Menschen mit, das Tempo war langsam, es gab häufig Unterbrechungen. Aber
in etwa drei bis vier Stunden (statt ehemals einer) konnte man wohl nach Frankfurt kommen.
Tatsache war, dass die „Mädchen“, eine nach der anderen, nach Frankfurt gelangten und ihre
früheren Wohnungen wieder fanden, zwar schwer beschädigt, aber noch immer als
Notquartiere geeignet. Es schien, als ob sich Omas Haus leerte. Aber so schien es nicht lange.
Bald kamen andere Menschen, die das wieder eröffnete städtische Wohnungsamt bei Oma
einquartierte.
Onkel Konrads Arbeiten in der Bäckerei machten gute Fortschritte, das Geschäft lief
schon nach wenigen Monaten in normalem Tempo und mit gutem Kundenstamm. Konrad, der
auch eine Konditorlehre absolviert hatte, schuf bald eine beispiellos attraktive Torte als
offizielles Meisterstück und bestand die Meisterprüfung als Bäcker und Konditor. Er heiratete
– gemäß alter familiärer Bindungen in den Odenwald – eine junge Frau aus dem dortigen
Erbach. Nachdem Konrad vor Jahren bei meiner Taufe als Pate fungiert hatte, bekam ich jetzt
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mit dieser Hochzeit auch eine Patentante, eben seine neue Frau, Tante Maria. Sie war eine
ruhige, freundliche Person aus guten Verhältnissen. Schnell wurde sie in Konrads Geschäft
integriert. Sie leistete in den Folgejahren, wie alle Mitglieder dieses Haushalts, ein ungeheures
Arbeitspensum, lange Jahre ohne Urlaub oder sonstige Erholung. Das war für
Familienbetriebe durchaus im Rahmen des Üblichen. Der Gedanke an Betriebsferien, der in
der Industrie schon geläufig war, kam für Familienbetriebe, soweit ich mich erinnere, erst
nach 1960 auf.

12. Tante Karoline


Fast hätte ich’s vergessen: In Omas Haus wohnte auch noch eine ältere Frau, die in drei
Räumen des Ersten Stocks einen „Sitz“ hatte, das heißt ein grundbuchlich eingetragenes
Wohnrecht auf Lebenszeit. Das Übertragen eines „Sitzes“ im eigenen Haus war eine Weise,
wie die Familien unverheiratete Töchter, die häufig keinen Beruf hatten, zu versorgen
suchten. Diese Frau hieß Tante Karoline. Sie war eine ledig gebliebene Schwester meines
1935 verstorbenen Opas und die Patentante meiner „Tante Li“, die eigentlich „Karoline“ hieß.
Logischer Weise war sie auch Omas Schwägerin, mehre Jahre älter als Oma, und im Übrigen
mit Oma aufs Bitterste verfeindet. Oma als unablässig arbeitende Herrin von Haus, Hof und
zeitweilig auch Bäckerei fand es wohl unangemessen, dass Karoline in ihrem Haus ohne
Miete zwei große Zimmer und eine große Küche bewohnte. Diese Tante beteiligte sich nie an
Arbeiten, die in Haus und Bäckerei anfielen, und wurde überhaupt selten gesehen. Ähnlich
wie Oma war auch sie während des Luftalarms nie in den Keller gekommen. Sie hatte auch
keine Einquartierungen von Ausgebombten oder Flüchtlingen. Sie pflegte keine
Bekanntschaften und ging kaum aus dem Haus. Manchmal erschien sie im benachbarten
Milchgeschäft und kaufte wenige Lebensmittel ein. So kannten auch die Kinder der Nachbarn
diese Frau, deren Namen „Karoline“ die Kinder in „Kaline“ verballhornten. Da sie es nicht
verstand, mit den Kindern Freundschaft zu schließen, wurde sie zum Gegenstand von allerlei
Gespött. Leider forderte sie auch spöttische Spiele der Kinder heraus dadurch, dass sie mit
Haltung und Worten einen gewissen Respekt verlangte, sich aber in anderen Hinsichten recht
ungeschickt verhielt.
So legte sie auch den Kindern den „Holzkrieg“ buchstäblich nahe. Das Holz brauchte
sie, um den kleinen, zylindrischen Eisenofen („Kanonenofen“) zu befeuern, der in ihrer
Küche stand und ihr auch als Herd diente. Karolines ofenfertig klein gehackte Holzstücke
waren in einem überdachten Teil von Omas Hof aufgeschichtet, welcher Karoline zugewiesen
war. Die alte Frau lebte in der ständigen Furcht, dass ihr von diesem Holz etwas gestohlen
werde. Die Furcht war nicht völlig grundlos: Holz war knapp, begehrt, und wurde manchmal
gestohlen. Leider ließ Karoline zu ihrem Unglück auch wissen, dass sie einen Holzdieb unter
den Hausbewohnern vermutete. Das nahmen die übrigen Erwachsenen zwar juristisch nicht
ernst, waren aber persönlich auch nicht amüsiert. So hinderten sie die Kinder nicht, daraus ein
Spiel zu machen. Karoline hatte auf all ihre Holzstücke, um ihre Eigentümerschaft kundzutun,
mit dickem Bleistift die Anfangsbuchstaben ihres Namens geschrieben: „K.B.“ Ein älterer
Junge der Nachbarschaft kam auf den Einfall, Karolines „K.B.“, ebenfalls mit dickem
Bleistift, auch auf anderes Holz zu schreiben, das in Omas Hof aufbewahrt wurde. Dieser
Spielkamerad und ich waren mehrere Stunden damit beschäftigt, alles Holz, das wir fanden,
mit „K.B.“ auszuzeichnen. Später beteiligten sich auch andere Jungen an dem Spiel und
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schrieben „K.B.“ auf beliebige Gegenstände, nicht nur in Omas Hof, sondern auch in der
engeren Nachbarschaft.
Tante Karoline war kurzfristig irritiert, wurde dann sehr zornig, und schließlich weinte
sie nur noch tagelang. Sogar uns Kindern tat sie leid.

13. Mein Freund Petersein


Einsame Kinder erdichten sich Freunde, mit denen sie spielen können. Ich war ein einsames
Kind. Die Jungs, von denen bisher die Rede war, waren durchweg zwei oder mehr Jahre älter
als ich und gingen im Gegensatz zu mir schon zur Schule. Als die Schule ein paar Wochen
nach den Bombenangriffen und dem Einmarsch der Amis wieder anfing, waren sie für mich
vormittags nicht mehr greifbar. Auch nachmittags waren sie oft beschäftigt. Sie mussten etwa
helfen, das oft vorhandene, bescheidene Vieh zu betreuen (Hasen, Hühner, Ziegen, Schafe),
das Nötigste zum Leben zu besorgen, Kriegszerstörungen zu reparieren, eventuell
vorhandenes Feld zu bestellen. Wenn wir miteinander spielten, war das immer nur für kurze
Zeit und vor allem nicht regelmäßig.
In Steinau hatte ich einen Freund, den es nicht gab. Ich hatte ihn schon sehr lange. Er
hieß „Petersein“ und war aktiv, einfallsreich und respektlos. Er hatte stets eine Idee, was wir
tun könnten. Seine Vorschläge waren nicht immer das, was die Erwachsenen von mir
erwarteten. Wo Petersein wohnte, wusste ich nicht und weiß es bis heute nicht. Vielleicht
gehörte er zu einer der ausgebombten oder geflohenen Familien, die von den Einheimischen
etwas verächtlich wie Besitzlose behandelt wurden und oft auch besitzlos waren. Dass sie
diesen Einheimischen auf anderen Gebieten auch einiges voraus hatten, zählte nicht.
Mit Petersein spielte ich gern in dem ausgedehnten, zweistöckigen Mehllager von
Omas Bäckerei, dem „Mehlbau“. Dieser Bau war an das Haupthaus in Richtung der Scheune
und der Stallungen angegliedert und hatte einen Zugang von der Backstube und vom ersten
Stock her. Bevor Onkel Konrad nach Hause kam, befand sich natürlich kein Mehl in dem
Mehlbau, dafür aber allerlei Gerät, mit dem sich vorzüglich wirtschaften ließ. Besonders
beliebt war bei uns beiden die Sackklopfmaschine. Diese Maschine diente, wie der Name
sagt, zum Ausklopfen von leeren Mehlsäcken. Ähnlich wie in einem Klavier befanden sich
darin viele hölzerne Hämmer, nur viel größer als Klavierhämmer. Die Hämmer wurden auch
nicht durch eine Tastatur in Bewegung gesetzt, sondern durch eine große Kurbel, die von
außen zu drehen war. Es kostete etwas Kraft, die Kurbel in Drehung zu bringen, aber wenn
man sie einmal in Bewegung hatte, reichte unsere Kraft, um sie einige Minuten lang
weiterzudrehen. Der Lustgewinn bei dem Spielen mit diesem Gerät bestand vor allem in dem
ungeheuren Lärm, den es machte, wenn die Hämmer auf die nicht vorhandenen Säcke
einschlugen. Sie droschen dann mangels stofflicher Unterlage auf die hölzerne Walze, auf der
eigentlich die Säcke durch dieses Gerät hindurchgezogen und von Mehlresten befreit werden
sollten. Der ganze, ebenfalls hölzerne Körper der Maschine bildete zusammen mit der hohlen
Walze einen vorzüglichen Resonanzraum, kraft dessen unsere Chaosmusik überall in Haus
und Nachbarschaft gehört werden konnte.
Auf Beschwerden hin wurde das unterbunden. Aber in Omas weitläufigen
Räumlichkeiten rund um Hof und Stallungen gab es viele Spielgelegenheiten, von denen die
Erwachsenen einige offenbar ganz vergessen hatten. Zum Beispiel standen da, in eine dunkle
Remise hineingeschoben und seit Jahren nicht mehr benutzt, eine richtige Kutsche und ein
Pferdeschlitten. Mit diesen Fahrzeugen waren noch unter meinem Großvater bis zu seinem
Tod Brot und Brötchen zum Verkauf in umliegende Dörfer gebracht worden. Mein
Urgroßvater, ein unternehmerisch denkender Mensch, hatte den Bäckereibetrieb auf diese
umliegenden Dörfer ausgedehnt. Spätestens seit Onkel Konrad zu Kriegsbeginn Soldat
werden musste, hatte dieser Betrieb geruht und wurde später auch nicht wieder aufgenommen.
Im dunklen Inneren der Kutsche und auf dem hohen Kutschbock mit herabgelassenem
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Regenschutz hatten Petersein und ich ein hervorragendes Versteck, in dem uns niemand fand,
wenn wir nicht wollten. Hier ereignete sich leider auch das kleine Missgeschick, das die
Erwachsenen so untunlich hochspielten. Es wurden in der Remise ein paar zerbrochene
Glasscheiben aufbewahrt, die von dem Bombenzirkus übrig geblieben waren und die man
nicht wegwarf, weil kein neues Glas zu haben war. Ich streifte beim Herumrennen mit einer
Wade an eine dieser Scheiben und holte mir eine große, lange, stark blutende Schnittwunde.
Die Gemeindeschwester musste kommen und diese Wunde klammern sowie verbinden. Sie
kam auch an den folgenden Tagen, um nach mir zu sehen und manchmal den Verband zu
wechseln. Überhaupt war die Gemeindeschwester die erste Ansprechpartnerin bei fast allen
Krankheiten. Es gab zwar eine sehr gute Ärztin in der Kleinstadt, aber zu der ging man nur
bei ernsten Erkrankungen oder richtigen Unfällen, weil sie Geld kostete, das in der Regel
sofort bezahlt wurde.
Das kleine Missgeschick erzeugte bei den Erwachsenen leider ein völlig übertriebenes
Erschrecken. Sie verfielen in absolut unpassende Kontrollmentalität. Es wurde jetzt viel
stärker auf mich aufgepasst. Mein Freund Petersein kam nicht mehr. Auch andere Freunde
kamen nicht, weil sie die Überwachung nicht schätzten. Das Leben nahm einen unerfreulich
ruhigen Charakter an. In einem Jahr oder so sollte ich ja auch in die Schule kommen.

14. Flüchtlinge und andere Mitbewohner


Nach den Ausgebombten kamen die Flüchtlinge und Vertriebenen. Schon unter Hitler waren
große Trecks aus östlichen Teilen des damaligen Deutschland nach Westen gezogen, als die
Sowjets Ostpreußen erreichten. Diese Menschen waren nicht im strengen Sinn vertrieben,
sondern aus eigenem Antrieb geflohen, allerdings geflohen vor einem furchtbaren Übel. Man
sagte, dass die sowjetischen Soldaten auf Zetteln mit einem Text des Dichters Ilja Ehrenburg
die Aufforderung mit sich führten, deutsche Frauen zu vergewaltigen. Sinngemäß soll dieser
Text gesagt haben, das Vergewaltigen sei das Recht der Sieger, und es bestünden keine
Bedenken. Das war eine von vielen Reaktionen auf schlimme Untaten der Deutschen in der
Sowjetunion, bedeutete aber für Frauen, die nicht flüchteten, ein furchtbares Schicksal. Die
Menschen in den ostdeutschen Flüchtlingstrecks waren vorwiegend Frauen, Kinder und alte
Männer. Zu Beginn der Fluchtbewegung kämpften die jüngeren Männer noch, wenn sie nicht
schon gefallen waren. Von diesen Trecks gelangte allerdings nur ein kleiner Teil nach Hessen,
und meine Oma, zum Beispiel, hatte keine Einquartierungen aus dieser Gruppe von
Geflohenen.
Dann kamen die eigentlich Vertriebenen. Sie stammten aus teilweise deutsch
besiedelten Teilen Polens und aus dem früher zu Deutschland gehörenden Schlesien. Andere
stammten aus dem Sudentenland und aus der übrigen Tschechoslowakei, etwa aus Böhmen.
Weitere kamen aus anderen Teilen Ostmitteleuropas. Vorhergegangene Gräueltaten von
Funktionsträgern Nazi-Deutschlands hatten einen großen Anteil an der Rücksichtslosigkeit,
mit der die Vertreibung oft erfolgte. Während viele Ausgebombte, etwa die „Mädchen“, die
Oma zunächst beherbergte, sich so etwas wie Lebenszuversicht erhalten hatten, erschienen
uns die Vertriebenen als geschlagene, geschundene Menschen. Sie besaßen praktisch nur das,
was sie auf dem Leib trugen, waren gravierend unterernährt, viele waren auf dem langen
Weg, den sie hinter sich hatten, krank geworden. Viele hatten auch enge Angehörige auf
diesem Weg durch den Tod verloren.
Obgleich diese Vertriebenen nicht einfach geflohen waren, sondern unter Zwang ihre
Heimat verlassen hatten, wurden sie von den Einheimischen unter dem Sammelausdruck
„Flüchtlinge“ zusammengefasst. Diesen Flüchtlingen wurde oft deutlich weniger Solidarität
entgegengebracht als zuvor den Ausgebombten. Da manche von ihnen so ungeschickt waren,
von ihrem in der Heimat zurückgelassenen Eigentum zu erzählen, standen sie schnell unter
dem Verdacht, Aufschneider zu sein. Besonders die gelegentliche Mitteilung, die eigene
28

Familie habe zu Hause einen Hof besessen, den sie zurücklassen musste, erregte bei den
Landbewohnern Skepsis. Größere bäuerliche Betriebe, die als „Hof“ bezeichnet werden
konnten, gab es in unserer Gegend nur wenige. Auf den Höfen saßen die „Großen Bauern“.
Die Mehrzahl landwirtschaftlicher Betriebe hingegen wurde mehr oder weniger mühselig von
Kleinbauern bewirtschaftet. Oder sie wurden als bloßer Nebenerwerb geführt wie die
Landwirtschaft meines Opas, des verstorbenen Bäckermeisters. Ihre nunmehr leere Scheune
und die Stallungen hatte ich ja vorläufig als Spielplatz geerbt. Charakteristisch für die
verbreitete Skepsis gegenüber den Flüchtlingen war vielleicht ein Witz, der kursierte. Beim
Umschlag zu schlechtem Wetter bildet der Mond oft einen Halo, eine neblige Umrandung, die
auch als „Hof“ bezeichnet wird. Zeigte sich der Mond in dieser Weise, sagten die Leute: „Der
Mond ist Flüchtling. Er hat einen Hof.“
„Unsere“ Flüchtlinge waren zwei Familien. Zu meiner Oma in Steinau wurde eine
größere Familie eingewiesen mit Großmutter, Mutter, heranwachsendem Sohn und mehreren
Kleinkindern. Zu meiner Mutter und mir in die Familienwohnung in Salmünster kamen
zunächst vier Personen: Eine Mutter mit zwei Teenage-Töchtern und etwas später ein schwer
kriegsversehrter Sohn. Die ältere der beiden Töchter hatte sich in einen amerikanischen
Soldaten verliebt und war beim Einzug schwanger. Nach einigen Monaten gebar sie einen
Jungen, der den Namen „Ingo“ bekam. So lebten diese Flüchtlinge bei uns zu fünft in einem
Raum. Während es meiner Steinauer Oma gelang, zu ihrer Flüchtlingsfamilie ein
freundliches, schließlich sogar sehr vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen, gelang das
meiner Mutter nicht. In unserer Wohnung entstand eine Atmosphäre gegenseitiger
Schuldzuweisung und schließlich verbissener Feindseligkeit. Meine Mutter unterstellte den
Flüchtlingen, ihre sorgsam gepflegten, polierten Möbel zu ruinieren, indem sie in dem ihnen
zugewiesenen Speisezimmer (statt in der Küche) kochten, wuschen und überhaupt ihren
ganzen Haushalt entfalteten. Die Flüchtlinge wiederum unterstellten meiner Mutter, sie
bestohlen zu haben. Sie führten dafür fremde Fußstapfen an, die sie in ihrem Zimmer gesehen
zu haben glaubten. Ich als Kind bemerkte die Konflikte und die damit einhergehende
Stimmungsverschlechterung, aber ich war davon wenig betroffen. Ich hatte auch früher die
Spannungen mit der (inzwischen nach Frankfurt zurückgezogenen) Mathilde zwar bemerkt,
sie hatten mich aber wenig berührt.
Stärker berührte mich, dass auch noch weitere Bewohner zu uns gekommen waren. Es
war die Familie meiner Großmutter väterlicherseits. Diese Familie war weder ausgebombt
noch aus dem Osten vertrieben. Sie war vielmehr von den Amerikanern aus ihrem gerade vor
dem Krieg gebauten, also nunmehr modernen und attraktiven Haus ausquartiert worden. Die
Besatzungsmächte nahmen oft private Häuser, die sie geeignet fanden, für ihr Personal in
Beschlag. Die bisherigen Bewohner mussten sehen, wo sie blieben. Hatten sie keine
Verwandten, bei denen sie unterkommen konnten, wies ihnen die von den Siegern eingesetzte
Verwaltung Wohnraum zu. In unserem Fall zogen zusätzlich zu der Flüchtlingsfamilie bei uns
ein: die 67jährige Mutter meines Vaters (also meine andere Oma), ihr etwa 28 Jahre alter
Sohn Willi und die jüngste Tochter der Familie, Hildegard, ca. 24 Jahre alt. Das
Zusammensein mit den Angehörigen gestaltete sich äußerlich friedlicher, seelisch aber
spannungsreicher als das gleichzeitig stattfindende Zusammenwohnen mit der
Flüchtlingsfamilie. Insbesondere Onkel Willi fühlte sich als neuer männlicher
Haushaltsvorstand und produzierte Kommandos sowie Beschützergesten. Das wurde von
meiner Mutter meist mit christlicher Duldsamkeit, von mir mit Groll beobachtet. Tante
Hildegard verirrte sich einmal in den umliegenden Feld- und Waldgebieten beim
Beerensuchen. Es war ja jetzt Sommer, Himbeeren, Heidelbeeren und bald auch Brombeeren
waren reif und wurden von der hungrigen Bevölkerung gierig geerntet. Man zog morgens mit
Milchkannen hinaus, wanderte, bis man einen vielversprechenden Beerenplatz fand oder
mehrere, und hoffte, abends mit vollen Milchkannen heimzukehren. Tante Hildegard kam
eines Abends nicht zurück, wurde gesucht, und schließlich verwirrt und schrecklich weinend
29

gefunden. Ihre Weinkrämpfe dauerten noch Tage und waren wohl Teil einer größeren
Nervenkrise. Natürlich gab es dafür keine medizinische Behandlung. Nach einiger Zeit genas
Hildegard auch von selbst.
Die Zeit der nahen Verwandten in unserer Wohnung, die gemeinsam mit uns in
Schlaf- und Wohnzimmer lebten, dauerte zum Glück nur ungefähr ein Jahr. Recht zügig
hatten die Amerikaner eine frühere deutsche Kaserne für ihre Bedürfnisse hergerichtet. Die
Offiziere, die das vom Großvater gebaute Haus besetzt hielten, zogen aus und gaben
ramponierte Zimmer mit böse beschädigtem Mobiliar wieder frei. Es war dies eines von
mehreren Ereignissen, die dazu beitrugen, dass unser zunächst sehr positives Bild der
Amerikaner auf normales Menschenmaß zurechtgestutzt wurde.
Es blieb uns die Flüchtlingsfamilie. Die Mutter des kleinen Ingo hatte jeden Kontakt
zum amerikanischen Vater ihres Kindes verloren. Sie stand stunden-, manchmal tagelang an
der nahen Durchgangsstraße, über die die amerikanischen Militärkolonnen fuhren, und hoffte,
auf einem der Fahrzeuge ihren verflossenen Liebsten zu entdecken. Das gelang ihr nicht, und
da sie wie auch ihr Bruder, ihre Schwester und ihre Mutter keine Arbeit fand (außer
manchmal Hilfe zur Saisonarbeit beim Bauern), entwickelte sich in unserer Wohnung ein
stickiges, gestautes, von vielen negativen Gefühlen belastetes Beisammensein.
So oft sie konnte, floh meine Mutter mit mir nach Steinau zu ihrer eigenen Mutter und
versuchte, sich in die Arbeitsprozesse der wieder in Betrieb gebrachten Bäckerei
einzugliedern. Auch die Nebenerwerbs-Landwirtschaft meines gestorbenen Großvaters, von
der Scheune und Stallungen übrig geblieben waren, kam langsam wieder in Gang und bot
Gelegenheit, sich zu betätigen. Tante Li, deren Mann wie mein Vater in Kriegsgefangenschaft
war, lebte ebenfalls noch bei ihrer Mutter. Sie hatte schon während des Krieges in einem
Stellwerk der Bahn gearbeitet und nahm diese Tätigkeit wieder auf, sobald einzelne Züge
wieder fuhren. Ich liebte diese Tante. Zum einen war sie schön und hatte ein heiteres Wesen,
was mich sehr ansprach. Und zum anderen brachte sie mir häufig etwas mit von ihrer Arbeit,
etwas Kleines, das sie gesehen hatte und ohne weitere Kosten mitnehmen konnte. Ich erinnere
mich an reife, herrlich glänzende Kastanien, die sie frühmorgens auf dem Weg ins Stellwerk
aufgelesen und für mich gerettet hatte, ehe andere Menschen sie als Viehfutter aufsammeln
konnten.

15. Mein Vater kommt heim


Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Für wahrscheinlich halte ich den Spätherbst 1946.
Eventuell war es aber auch schon an einem winterlichen Tag des Frühjahrs 1946. Jedenfalls
trug der Mann, der eines Abends im Türrahmen stand, einen schweren Wehrmachts-Winter-
mantel. „Das ist dein Papa“, riefen meine Mutter und die Nachbarn mit begeisterten
Gesichtern und erwarteten gleiche Freude von mir. Ich kannte den großen, unrasierten Mann
aber gar nicht und muss wohl etwas skeptisch dreingeschaut haben. Wie schnell oder langsam
sich dann anhand kleiner Merkmale das Wiedererkennen einstellte, kann ich nicht mehr
sagen. Jedenfalls behielt ich keinen Zweifel zurück und muss wohl den zunächst Fremden
ohne Rest als meinen Vater akzeptiert haben.
Vaters Militärmantel war offenbar noch der gleiche, in dem er gefangen genommen
worden war. Vorn auf diesem Mantel sowie auf dem Rücken waren in schwarzer Farbe zwei
sehr große, gut sichtbare Buchstaben aufgemalt: PW. „Prisoner of War“ bedeutete das, wie
einige Nachbarn wussten. Die Amerikaner, bei denen Vater in Gefangenschaft gewesen war,
wollten mit dieser Kennzeichnung sicherstellen, dass aus ihren Lagern möglichst wenig
Soldaten flohen. Jeder Fliehende sollte außerhalb des Lagers sofort als Kriegsgefangener
erkennbar sein und den Amerikanern gemeldet werden. Da Vater die längste Zeit seiner
Gefangenschaft in einem Lager bei Marseille verbrachte, also in „Feindesland“, war das auch
eine rationale Überlegung. Meine Mutter und andere Frauen sprachen darüber, solche Mäntel
30

der heimgekehrten Männer schwarz zu färben, so dass man die Buchstaben nicht mehr sah.
Das Schwarzfärben von Kleidung war ein gut eingeübtes Verfahren, da es im Krieg ständig
neue Trauerfälle gab, aber keine Trauerkleidung. Ich kann mich jedoch an einen
schwarzgefärbten Vater nicht erinnern. Vielleicht hat meine Mutter den Mantel auch zu etwas
anderem umgearbeitet. Sie hatte ein wenig Nähen gelernt, was uns allen in dieser Zeit
zugutekam.
Der heimgekehrte Vater war in meinem Leben zunächst nicht viel stärker gegenwärtig
als zu den Zeiten der Gefangenschaft. Die heimgekehrten Männer wurden, solange sie keine
reguläre Arbeit hatten, im „Holzwald“ beschäftigt. Der Vater ging morgens, wenn es noch
dunkel war, zur Holzarbeit in den Wald und kam abends, als es wieder dunkel war, nach
Hause. Das Wort „Holzwald“ kam weniger davon, dass dort Bäume aus Holz wuchsen, als
vielmehr daher, dass dort Holz geschlagen, geschält, gesägt und abtransportiert wurde. Man
brauchte Holz so gut wie überall für die allernötigsten vorläufigen Reparaturen. So mussten
die vielen Brücken, die in letzter Minute noch gesprengt worden waren, mit Balken notdürftig
wieder hergestellt werden, damit Lastwagen oder auch nur Ochsengespanne fahren und die
Bevölkerung versorgen konnten. Gleich lebensnotwendig waren Eisenbahnschwellen für die
Reparatur der vielfach zerstörten Schienenwege. Und natürlich gab es den enormen
Holzbedarf der Großstädte, wo die Dachbalken der vielen bombengeschädigten Häuser zu
erneuern waren. Brennholz oder gar Kohle für die Zivilbevölkerung wurde in unserer Gegend
nicht ausgegeben. Für die Öfen und Herde musste man selbst Reisig, trockene Kuhfladen,
Unterholz sammeln oder in mühsamer Arbeit die Wurzelstöcke gefällter Bäume ausgraben.
Im Frühjahr und Sommer freilich, als die Tage länger waren, hatte mein Vater auch
Zeit für Unternehmungen, an denen ich teilnehmen konnte. Gut erinnere ich mich an den
Anbau von Tabakpflanzen. Das war 1946-48 ein Standard-Gartenprogramm vieler
Kriegsheimkehrer, soweit sie Raucher waren, und das waren fast alle. Irgendwie war es
möglich geworden, die Ausgangsartikel für Tabakanbau zu bekommen, und in allen Gärten
rauchender Familienväter wuchsen nun im Frühjahr und Sommer stattliche Tabakpflanzen.
Sie waren ungefähr eineinhalb Meter hoch und, das war das Entscheidende, sie hatten große,
auffällige Blätter, die sich im Herbst braun verfärbten oder verfärben sollten und damit zu
Tabak wurden oder werden sollten. Leider gediehen die Tabakpflanzen in unserem Klima
nicht sehr gut. Ihre Blätter „reiften“ nicht so, wie man es erwartete. Natürlich mussten sie
auch nach der Ernte noch ausgiebig getrocknet werden. Erst wenn sie durchgetrocknet waren,
konnten die Raucher sie zerkrümeln und in der Pfeife rauchen oder mit Papier zu Zigaretten
drehen. Die Trocknung erfolgte durch Aufhängen und wochenlanges Hängenlassen in
trockenen Räumen. Hunderte von Tabakblättern hingen dann bei uns, wie bei vielen anderen
Leuten, aufgespießt auf langen Zwirnsfäden auf dem Dachboden oder beim Bauern hoch oben
in einer Scheune, bis sie zum Rauchen gebraucht werden konnten. Der entstehende
Rauchtabak wurde wegen der baumelnden Scheunentrocknung von den Rauchern
„Scheunebambel“ genannt. Er soll nach übereinstimmendem Zeugnis meines Vaters, seiner
Brüder und aller sonstigen Experten vollkommen abscheulich geschmeckt haben.
Die Tätigkeit, die für mich in dieser Tabakindustrie abfiel, war eine durchaus
wichtige: Ich musste im Frühjahr und Sommer jeden Tag in Mamas Gärtlein gehen und
nachsehen, ob die Tabakpflanzen Blüten ausgetrieben hatten. War das der Fall, musste ich mit
einer Schere diese Blüten sofort abschneiden. Der Sinn der Maßnahme war, dass die Pflanzen
dazu gebracht werden sollten, ihre Kraft in die Ausbildung möglichst großer und zahlreicher
Blätter zu lenken, nicht aber in Blüten- und Fruchtbildung. Wurden die Blüten früh
abgeschnitten, konnte man auf eine akzeptable Blätterernte hoffen. Die familiäre Wichtigkeit,
die mir durch diese Arbeit zufiel, musste ich freilich durch eine unangenehme Seite dieses
Tuns bezahlen: Die Tabakblüten waren ekelhaft schmierig, deshalb verklebte ständig die
Schere beim Abschneiden. Und beim Händewaschen bekam ich die Schmiere dann kaum
herunter. Überdies rochen die Blüten eigentümlich süßlich, aber es war eine unangenehme
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Süße, die ich nicht mochte. Ähnlich wie den Geruch der Karbidleuchten in den Kellern der
Bombennächte werde ich auch diesen Tabaksblütenduft nicht vergessen.

16. Vaters Herkunftsfamilie


Papas Mutter, Brüder und Schwestern lebten, soweit sie noch am Leben waren, in der
Kleinstadt Salmünster. Der Vater meines Vaters war, wie der Vater meiner Mutter, zur Zeit
meiner frühesten Erinnerungen schon tot. Vor dem Krieg hatte er, von Beruf Ziegelmeister,
als Pächter in Salmünster eine mittelgroße Ziegelei geführt, von der noch die Rede sein wird.
Im Ersten Weltkrieg war er Soldat gewesen, hatte an mehreren Abschnitten der Westfront
gekämpft, unter anderem in der Somme-Schlacht. Er war mehrfach verwundet worden, war
Träger des Eisernen Kreuzes und anderer Auszeichnungen. Das hinterließ Spuren in seiner
politischen Einstellung. Mein Vater stufte ihn, wenn er über ihn sprach, als „stramm
deutschnational“ ein. Abgefärbt hatte dies auf seinen ältesten Sohn, Onkel Fritz, der zur
Nazizeit in der gesamten Familie, väterlich wie mütterlich, das einzige Parteimitglied war.
Kaum abgefärbt hatte es auf meinen Vater, der zeitlebens eher unpolitisch blieb, allerdings
mit Neigung zu recht konservativen Ansichten.
Die älteste der väterlichen Geschwisterschar war Tante Hermine, von meiner Mutter
als „alte Jungfer“ klassifiziert, und stets etwas griesgrämig. Sie arbeitete im städtischen
Gaswerk und hinterließ nach 45 Jahren Dienst bei Eintritt ihrer Pflegebedürftigkeit eine
erstaunlich große Summe auf mehreren Sparbüchern. Leider fraßen die Kosten des
Pflegeheims das ganze Geld wieder auf. Onkel Fritz war das zweite der Pothast-Kinder, mein
Vater das dritte. Das vierte Kind war Onkel Erich, der zeitlebens für die Sparkasse tätig war.
Das fünfte Kind meiner Großeltern war Onkel Ernst, den mein Vater für seine kreative Art,
Autos und andere Dinge zu reparieren, teils bewunderte, teils für einen Spinner hielt. Onkel
Ernst war in Stalingrad als vermisst gemeldet. Später wurde von einem Schicksalskameraden,
der zurückkam, die Nachricht gebracht, dass Ernst die Kämpfe zwar überlebt hatte und in
sowjetische Gefangenschaft geraten war, dort aber an einer Blutvergiftung starb. Sechstens ist
Tante Gustel („Auguste“) zu erwähnen, die Onkel Kurt geheiratet und mit ihm den „kleinen
Gerd“ hervorgebracht hatte. Dieses Kind war etwa drei Jahre jünger als ich. Es fiel aber als
Spielkamerad aus, weil seine Eltern in Frankfurt wohnten, wo Onkel Kurt für einen
Metallbetrieb arbeitete. Dabei verlor er vier Finger. Die Stümpfe, die noch beweglich waren,
habe ich teils mit Furcht und Mitleid, teils auch mit Faszination immer wieder betrachtet.
Schließlich kamen in der Geschwisterfolge die schon erwähnten Onkel Willi und Tante
Hildegard. Onkel Willi war Ingenieur mit Spezialgebiet Ziegeleitechnik, heiratete eine Tante
Herta und hatte viel Pech mit zwei Ziegeleien, die in Konkurs gingen. Tante Hildegard
verband sich mit einem ausgewanderten Berliner, Onkel Waldemar. Sie hatten zwei Söhne,
die aber zu spät geboren wurden, um noch für mich deutlich Älteren als Spielkumpels
fungieren zu können.
Aus der Ursprungsfamilie meiner Mutter kamen für mich die sehr wichtigen
Bezugspersonen Oma, Tante Li und Onkel Konrad, bald auch dessen Frau. Im Vergleich zu
diesen blieb die ganze Verwandtschaft auf Vaters Seite für mich eigentümlich blass, obgleich
keine Konflikte herrschten und alle Geschwister des Vaters mir freundlich zugetan waren.
Das Ungleichgewicht im Ganzen kam wohl daher, dass meine Mutter in den Kriegs- und
Nachkriegsjahren mit mir oft zu ihrer Mutter nach Steinau floh, niemals aber zu ihrer
Schwiegermutter in das Salmünsterer Haus, solange dies noch nicht besetzt war. Im Übrigen
bauten meine Eltern in den frühen fünfziger Jahren ihr eigenes Haus in Steinau, so dass ich
bis zum 20. Lebensjahr häufigen, oft täglichen Kontakt zu den Verwandten auf der
mütterlichen Seite hatte, nicht aber zur Mutter und den Geschwistern meines Vaters.
Meinen Vater verdross und erbitterte ein wenig der günstige finanzielle Rahmen im
Leben seines älteren Bruders Fritz. Fritz war ein Nazi-Parteimitglied früher Stunde, zwar kein
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„alter Kämpfer“, aber doch bald nach der „Machtergreifung“ in die Partei eingetreten. Nach
dem Krieg musste er, der als Verwaltungsbeamter kein Soldat gewesen war und „eine ruhige
Kugel geschoben“ hatte, sich der „Entnazifizierung“ stellen. Das war als „denazification“ eine
Erfindung der Amerikaner und konnte bei dem bodenlosen Optimismus, den die Amis dabei
zeigten, auch nur eine amerikanische Erfindung sein. Im Einzelnen handelte es sich um ein
gerichtsähnliches Verfahren, in dem durch Befragung von Akten, Zeugen und vielleicht noch
Fürsprechern festgestellt werden sollte, wie tief jemand sich mit der Nazi-Ideologie
identifiziert hatte. Die zuständigen Organe hießen „Spruchkammern“. Heraus kam in vielen
Fällen, dass die Betroffenen als bloße Mitläufer eingestuft wurden und nichts weiter
befürchten mussten. Wie Onkel Fritz eingestuft wurde, weiß ich nicht. Jedenfalls ist mir
nichts von einer regelrechten Strafe bekannt. Damit war er zwar nicht perfekt rehabilitiert,
musste sich aber doch keinem weiteren Gerichtsverfahren stellen.
Trotz dieses günstigen Ausgangs seiner Entnazifizierung kam Fritz beruflich nicht
mehr auf die Beine. Als früherer Verwaltungsbeamter, der einen gewissen Rang erreicht hatte,
bewarb er sich um Stellen dieses Ranges oder höher, hatte aber kein Glück dabei. Vielleicht
hing ihm die Parteimitgliedschaft doch noch nach. Zwar ist meines Wissens nie die
Beschuldigung eines typischen Naziverbrechens gegen ihn erhoben worden, geschweige dass
es eine entsprechende Verurteilung gegeben hätte. Aber es gab auch keinen Neuanfang. Fritz
arbeitete noch Jahre nachdem mein Vater schon längst eine Tätigkeit in seinem Beruf
gefunden hatte, weiter im „Holzwald“. Vielleicht hat ihn das, zugleich mit seinem beruflichen
Misserfolg, niedergedrückt und zur Zerrüttung seiner Gesundheit beigetragen. Schon in der
ersten Hälfte der fünfziger Jahre erlitt Fritz einen Schlaganfall und verlor die Sprache. Als
hilfloser, nur noch lallender Mann lag er im Bett, wenn wir ihn mit meinem Vater besuchten.
Der Punkt, der meinen hart arbeitenden Vater verdross, war, dass Fritz als Beamter
selbst als Altnazi Anspruch auf verbilligte Darlehen für den Bau eines eigenen Hauses hatte.
Auch seine Pension war ihm erhalten geblieben. Und während meine Eltern für ihr dann
gebautes Haus die Zinsen des Marktes bezahlen mussten, kam Fritz mit seiner nicht
berufstätigen Gattin Josefa in den Genuss sehr günstiger Kredite. Beide konnten ihr Haus
wesentlich komfortabler und moderner bauen als meine Eltern das ihrige. Der Schluss, den
mein Vater daraus zog, war: Sein Sohn müsse in den Staatsdienst gehen. Nur da gebe es
wirkliche Jobsicherheit und gute Versorgung auch im schlimmsten Krankheitsfall. Diese
Lehre aus Fritzens und seinem Schicksal hat mir mein Papa dann über die Jahre hin vielfach
weitergegeben, gewöhnlich in Gestalt der Formel: „Geh zum Vater Staat“. Als es schließlich
nach einem für Vaters Geschmack chaotischen Lebenslauf meinerseits viele Jahre später doch
noch zu einem Beamtenverhältnis seines Sohnes kam, war mein Vater so erleichtert, ja
befreit, wie ich ihn zuvor kaum gesehen hatte. Wenige Monate danach starb er, vielleicht mit
dem Gefühl, jetzt sei alles, was er in dieser Welt zu regeln habe, aufs richtige Gleis
gekommen.
33

Meine Mutter, etwa 1932

17. „Kein schöner Land“


Eingeschult wurde ich zu Ostern 1946 in Salmünster. Ob mein Vater da schon zu Hause war
oder erst später kam, weiß ich nicht mehr. Er spielt bei Einschulung und früher Schulzeit in
meiner Erinnerung keine Rolle. Erhalten ist noch ein Foto, das mich in einem Kinderanzug
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mit kurzen Hosen zeigt und mit einer großen Schultüte, die ich stolz in Händen halte. Die
Schultüte ist die gleiche, die auf allen zirka 50 Fotos der anderen Kinder dieses Jahrgangs
gesehen werden kann. Sie enthielt keine Süßigkeiten oder anderen schönen Dinge, sondern
gar nichts. Sie war einfach leer. Sie gehörte dem Fotografen und wurde für jedes Kind immer
aufs Neue verwendet. Meine Mutter sagte später, das Ganze erinnere sie an eine Geschichte,
die aus dem nahen Frankfurt erzählt wurde: Auf dem Höhepunkt der Bombardierungen sollen
die Autoritäten keine Särge für all die Toten mehr gehabt haben, nicht einmal mehr Särge aus
angemalter Pappe. Also verwendeten sie Wechselkulissen, gleichfalls aus Pappe, die nur wie
Särge aussahen und auch keinen Boden hatten. Diese Sargattrappen wurden nur kurzfristig
über die Toten gestülpt für die Dauer einer knappen Begräbniszeremonie. Nach Weggang der
trauernden Angehörigen wurden die Leichen ohne alles ins Grab gekippt, und die Sargkulisse
kam dem nächsten Toten zugute.
Für mich hatte sich auf einem Dachboden noch ein alter lederner Schulranzen
gefunden. Er hatte einst Onkel Willi auf seinen Schultagen begleitet. Der Ranzen war ein
Privileg, viele andere Kinder kamen mit Einkaufstaschen oder sonstigen Behältnissen. Die
Schule wurde zunächst im Rathaus der Kleinstadt abgehalten, wo man einige Räume dafür
freigemacht hatte. Meine Lehrerin war eine freundliche junge Frau, die uns schon in den
ersten Tagen ankündigte, bald würden wir aus dem Rathaus heraus in die schöne, von einem
erfolgreichen deutschen Amerika-Auswanderer gestiftete Volksschule umziehen. Das geschah
dann auch. Die neue Schule war ein großzügiges Gebäude aus der unmittelbaren
Vorkriegszeit, das im Bombenkrieg unversehrt geblieben war. Deshalb hatten auch die
Amerikaner es sehr brauchbar gefunden für einen wichtigen Zweck: Sie nutzten Teile der
Räumlichkeiten als Werkstatt zur Reparatur ihrer Panzer. Vor allem lagerten sie die
ausgebauten Panzerteile wie auch den herbeigeschafften Ersatz auf dem großen Pausenhof.
Wir verbrachten dann also unsere Unterrichtspausen für die erste Zeit zwischen
reparaturbedürftigen Panzerketten, ausgebauten Kanonen, ausgebauten Motoren und anderen
Panzerteilen. Da Kinder sich an vieles gewöhnen, störte auch dies uns sehr wenig. Vielmehr
nahmen wir die neuen, für uns bereitgelegten Kriegsspielsachen dankbar an. Bald waren wir
Spezialisten für allerlei Panzermaterial: Kettenglieder, Kolben, Antennen, Funkgeräte,
Stoßdämpfer, Kanonen. Ein idealistischer Lehrer gab uns aus eigenem Antrieb abends, wenn
der Unterricht längst zu Ende war, einmal pro Woche eine Turnstunde. Sie fand in der von
den Amis geräumten Turnhalle statt. Am Ende dieser Turnstunde setzten wir uns auf den
Boden und sangen regelmäßig, angestimmt vom Lehrer, das bekannte Lied „Kein schöner
Land in dieser Zeit.“ Seine ersten beiden Strophen lauten:

Kein schöner Land in dieser Zeit


Als hier das unsre weit und breit,
Wo wir uns finden
Wohl unter Linden
Zur Abendzeit.

Hier haben wir so manche Stund


Gesessen da in froher Rund
Und taten singen
Die Lieder klingen
Im Eichengrund.

An warmen Tagen gingen wir zum Singen auf den Pausenhof und saßen singend auf den
Panzerteilen. Wir fanden das schön und stimmungsvoll. Der etwas schnulzige Text und die
holprigen Reime störten uns nicht. Dass es einen milden Kontrast gab zwischen dem Lied und
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unseren Sitzgelegenheiten wie überhaupt den Kriegszerstörungen im weiteren Umkreis, kam


uns nicht zu Bewusstsein.
Nach einigen Monaten brachten die Amerikaner die Schulspeisung. Irgendeinem
Komitee von ihnen war aufgefallen, dass deutsche Kinder schlecht ernährt waren. Wir litten
auch an offensichtlichen Mangelerscheinungen. Besonders sichtbar waren unsere Geschwüre.
Sehr viele Schulkinder hatten, wenn sie in der Schule erschienen, jodfarbene Flecken im
Nacken oder sogar Gesicht. Das waren die Furunkel, die morgens von den Müttern noch
schnell mit Jod oder etwas Ähnlichem behandelt wurden, bevor sie ihre Kinder zur Schule
schickten.
Für die Schulspeisung, die auch dieses Übel bessern sollte, mussten wir uns einen
Behälter beschaffen, in den die Speisung gefüllt und aus dem heraus sie dann gelöffelt werden
konnte. Fast alle Kinder erschienen daraufhin mit dem nierenförmigen, an der Körperseite
beim Tragen gut anliegenden Essensgeschirr der Wehrmacht, noch in graugrüner Kriegsfarbe.
Dazu gehörten Löffel, Gabel, Messer aus Aluminium. Leider entsprach die Schulspeisung
nicht ganz dem Aufwand, der für sie getrieben wurde. Sie schmeckte einfach nicht. Vielleicht
lag das auch am anderen Geschmack der Amerikaner, die die Zutaten lieferten. Immerhin
wurde auf diese Weise unsere Ernährung für zwei oder drei Jahre verdienstvoll unterstützt.
Sobald jedoch die Mütter ihren Kindern wieder richtige Pausenbrote schmieren und mitgeben
konnten, meldeten die meisten Eltern ihre Kinder von der Schulspeisung wieder ab.
Kinder sind gute Ingenieure. Die Langstreckenbomber der Alliierten hatten beim
Anflug auf ihre Ziele Reserve-Benzintanks unter den Tragflächen hängen, weil ihre regulären
Tanks nicht ausreichten für die großen Distanzen, die geflogen werden mussten. Diese
Reservetanks konnten, wenn sie leer waren, abgeworfen werden, um den Luftwiderstand des
Flugzeugs zu verringern. Auch in unserer Gegend waren einzelne Reservetanks vom Himmel
gefallen und wurden nach und nach im Wald, in Gebüschen, in Hecken gefunden. Jetzt, wo
das Nazireich nicht mehr bestand, bestand auch nicht mehr der Zwang, jeden Fund
abzuliefern. Zwar gab es bald Schrotthändler, die ein paar Reichsmark oder vielleicht auch
nur Pfennige für einen Reservetank gaben. Viel lohnender aber war der Gebrauch, den einige
ältere Jungs von ihrem Fund machten. Die Tanks bestanden aus Aluminiumblech und hatten
ungefähr die Form windschlüpfriger Zigarren mit einer Länge von zwei bis drei Metern. Einer
der Jungs hatte Zugang zu Blechschere und Metallsäge, brachte beides herbei, und mit etwas
Arbeit wurde ein Reservetank so aufgeschnitten, dass er nicht mehr einer Zigarre, sondern
einem Kanu ähnlich war. Man konnte hineinsteigen und damit auf dem Wasser fahren. Der
scharfkantige Rand der Öffnung, in der man beim Paddeln saß, wurde mit Lumpen abgedeckt
oder umgekantet, so dass man sich nicht daran schneiden musste. Natürlich hatten wir keine
richtigen Paddel, sondern paddelten mit schmalen Brettern, die notdürftig zugeschnitten
waren. Die Paddelei machte viel Spaß, löste aber auch allerhand Streit aus. Wir hofften
inständig, dass noch weitere Tanks umgerüstet würden, und manche Jungs träumten von einer
Art Flottenbauprogramm. Dazu kam es aber nicht.
Andere Wassergefährte wurden aus Benzinkanistern des amerikanischen Heeres
gebaut. Sie hatten die Form rechteckiger, tragbarer Behälter, wie sie heute noch für Benzin in
Gebrauch sind. Sie besaßen einen dichten Verschluss, der nicht nur, wenn sie voll waren, das
Benzin am Auslaufen hinderte, sondern auch, wenn sie leer waren, anderes daran hinderte,
hineinzulaufen, zum Beispiel Wasser. Wenn man mehrere dieser Kanister im leeren Zustand,
nur Luft enthaltend, unter ein Brettergestell setzte und gut festklemmte, wurde das
Brettergestell zu einem Floß. Man konnte darauf stehen, eine Stange zum Staken benutzen
und wunderbare Fahrten auf dem Wasser veranstalten. Es war eine heitere Zeit, aber leider
musste sie bald enden.
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II. Neues Geld, neue Hoffnung, Arbeit, Arbeit, Arbeit

18. Ende der Wasserfahrten, gefährliche Spiele


Das Wasser, auf dem wir fuhren, war ein Teich, der einmal durch Ausbaggern von Lehm für
die örtliche Ziegelei entstanden war. Nicht eigentlich ein Kiesteich, eher ein Lehmteich also.
Jetzt lag das ganze Ziegeleigelände zunächst brach und bildete einen riesigen
Abenteuerspielplatz für die Jugend der Kleinstadt Salmünster, soweit sie in der Nähe wohnte.
Es war die Ziegelei, die mein Großvater vor dem Krieg längere Zeit als Ziegelmeister geführt
hatte, und dann wenige Jahre als Pächter. Der Großvater war 1941gestorben, und schon 1940
hatte er aus Krankheitsgründen den Pachtvertrag aufgelöst. Im Krieg gab es keinen
Nachfolger. Aber nun, als das Wirtschaftsleben langsam wieder erwachte, brauchte man ganz
besonders dringend Steine für die zahllosen Baustellen, die immer mehr wurden. Unter einem
neuen Pächter wurde die Ziegelei wieder in Betrieb genommen. Morgens um 8 Uhr ertönte
zum Beginn der Arbeit der Pfiff der stationären Dampfmaschine, die das Kraftzentrum des
Werkes bildete. Um 16.30 Uhr ertönte sie wieder zum Ende des 8-Stunden-Tages (mit 30 min
Mittagspause). Gearbeitet wurde von Montag bis Samstag in einer 48-Stunden-Woche.
Das war dann auch das Ende der Wasserfahrten in diesem Teil der Kleinstadt. Der
Teich, auf dem wir fuhren, gehörte zum Ziegeleigelände. Vermutlich aus Haftungsgründen
wurde uns verboten, weiterhin darauf herumzufahren. Die älteren Jungs, denen die
Wassergefährte gehörten, trugen diese Konstruktionen auf die andere, d.h. westliche Seite der
Kleinstadt. Dort gab es neben der Kinzig noch einen in sie mündenden Nebenfluss und
einzelne tote Wasserarme, auf denen man zur See fahren konnte. Für mich war es dorthin ein
ziemlich weiter Weg. Ich verzichtete darauf, an den Wasserabenteuern weiter teilzunehmen,
und wandte mich einem neuen Teil unserer riesigen Nachkriegs-Spielplatz-Szene zu: dem
Lehmberg. „Lehmberg“ nannten wir einen Teil des Ziegeleigeländes, der eigentlich eine
Lehmgrube war, in der im Tagebau Lehm gewonnen wurde.
Dieser Lehm war der Rohstoff für die Ziegelsteine, die in der Fabrik hergestellt
wurden. Er wurde nach dem Krieg zunächst von Männern mit Spaten, dann bald von einem
alten Schaufelbagger aus einem lehmigen Steilhang herausgebrochen. Der Lehm wurde auf
Kipploren verladen, die die Arbeiter in das Ziegeleigebäude hineinschoben. Dort wurde der
Lehm in einem längeren Prozess zerkleinert, gereinigt, mit Wasser und anderen Zutaten
versetzt, umgerührt, bis zäher brauner Brei entstand. Diesen Brei drückte eine hydraulische
Anlage durch eine schmale Öffnung, welche genau die Außenmaße der zu fertigenden
Ziegelsteine hatte. Ein dünner, scharfer, straff gespannter Draht fuhr an einem Stahlarm auf
und nieder und schnitt aus dem zähen, langsam wandernden Breistrang Lehmstücke in genau
der Form, die die künftigen Ziegelsteine haben sollten.
Die Lehmteile kamen in einen gerade nicht befeuerten, also gegenwärtig kühlen Teil
des großen Ringofens und trockneten dort so lange, bis relativ feste Lehmstücke daraus
geworden waren. Erst dann wurde der Teil des Ringofens, in dem diese Rohlinge saßen,
verschlossen und befeuert. Nach einiger Zeit, vielleicht mehrere Tage in sehr großer Hitze,
waren aus den gelben Lehmteilen harte, rote Ziegelsteine geworden. Während sich diese
Steine noch im Brennprozess befanden, und dann auch während der Zeit ihres Abkühlens,
wurden in einem anderen Teil des Ringofens schon wieder neu geformte Lehmteile
aufgeschichtet und für das Brennen vorbereitet. Dann wurde dieser Bereich des Ofens
verschlossen und befeuert, bis auch diese Partie von Lehmstücken zu harten Ziegelsteinen
geworden war. Während diese Partie abkühlte, wurden die früher gebrannten, jetzt kühlen
Steine ausgeräumt, auf Lastwagen verladen und wegtransportiert. Jetzt wurden hier neue
Lehmstücke aufgeschichtet und zum Brennen vorbereitet. Und so fort. Der aktuell befeuerte
Bereich wanderte in der gegebenen Ringstruktur dieses großen „Ofens“ immer weiter, bis das
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Feuer im Rhythmus von Vorbereiten, Brennen, Abkühlen, Ausräumen wieder an seinem


Ausgangspunkt angekommen war. Dort ruhte es natürlich nicht, sondern begann seinen
Zyklus von vorn.
Wir hatten mit dem Prozess der Ziegelsteinproduktion als Kinder wenig zu tun. Zwar
staunten wir bei seltenen Gelegenheiten die weit übermannshohe, stationäre Dampfmaschine
an, von deren riesigem Schwungrad über ein enorm kompliziertes System von Rädern und
Riemen die erzeugte Energie bis in die letzten Winkel des Werkes geleitet wurde. Zwar
rannten wir auch manchmal durch Teile des Ringofens, die gerade nicht befeuert oder
bestückt wurden, und schoben einander vielleicht auch auf einer der Loren, die den Lehm
hereintransportierten, hin und her. Aber während der Arbeitszeiten durften Kinder das Werk
nicht betreten, und die meisten Arbeiter hielten sich an diese Regel, so dass wir häufig
hinausgewiesen wurden. Am Ende der Arbeitszeit wurden die Werksgebäude abgeschlossen.
Um den Ringofen lief ein Drahtzaun, der abends und feiertags auf der Innenseite von einem
Schäferhund bewacht wurde.
Aber einen Bereich gab es, in dem man uns zumindest für einige Monate in Ruhe ließ.
Das war ein verlassener Teil des Lehmbergs, in dem gerade kein Lehm gefördert wurde. Er
war nicht eingezäunt. Früher hatte hier wohl ein Bagger gearbeitet, denn es waren meterhohe
Lehmwände entstanden, wie wenn eine riesige Hand dort gegraben hätte. Diese steil
abfallenden Teile rechtfertigten es überhaupt nur, von Lehm-„Berg“ zu sprechen statt bloß
von einer Lehmgrube. Da wir in der Fabrik das Herstellen von Ziegelsteinen beobachtet
hatten, und da das zu dieser Zeit eine Sache großer Wichtigkeit war, wollten wir auch wichtig
sein und Ziegelsteine brennen. Die älteren Jungs kamen auf den Gedanken, in eine besonders
steile Partie des Lehmbergs waagerechte Stollen zu graben. Das war mühsam, gelang aber mit
herbeigeschafftem Gartenwerkzeug letztlich ganz gut. In diese Stollen konnte man
hineinkriechen, sich dort verstecken und übliche Kinderspiele betreiben. Uns ging es aber
nicht um Kinderspiele, wir hatten Bedeutenderes im Sinn: Wir wollten in den Stollen unsere
eigenen Ziegel herstellen. Die Idee war, die verschiedenen Stollen, die wir hatten, so zu
betreiben, dass sie wie verschiedene Teile eines Ringofens fungierten: Ein Teil aktuell
befeuert, ein Teil in der Phase des Abkühlens, und ein Teil in der Phase, in der die
ungebrannten Lehmstücke zum Brennen vorbereitet wurden. Dass die Stollen im Ganzen
keine Ringform darstellten, störte uns wenig. Denn die verschiedenen Funktionen, die im
Ringofen zu einem rationellen Ablauf zusammengefasst waren, ließen sich auch getrennt
voneinander ausführen.
Die Stollen waren gegraben, beim Graben war auch gut formbarer Lehm geschöpft
worden, den wir mit etwas Wasser zu kleinen, handlichen Lehmsteinen zurechtdrückten.
Diese Lehmsteine mussten nun getrocknet und dann gebrannt werden. Auch das Trocknen
gelang in den Stollen recht gut. Das eigentlich Schwierige war das Brennen. Wir liefen in die
umgebende Feld- und Heckenlandschaft und sammelten Brennholz. Obgleich seit längerem
schon viele Leute nach Brennholz suchten, denn Brennmaterial war knapp, gelang es uns
doch, einiges Holz zusammenzubringen. Bei dieser Gelegenheit allerdings zeigte sich ein
größeres Problem unseres Vorhabens: Es kam nicht zu einem gut koordinierten Ablauf, bei
dem wir ja unsere Kräfte nach Plan und Verabredung hätten bündeln müssen. Vielmehr
sammelte im Grunde jeder für sich selbst und seinen eigenen kleinen Stollen. Das hatte auch
zur Folge, dass die Stollen nicht in der beschriebenen, am Ringofen abgelesenen Reihenfolge
bestückt und befeuert wurden, sondern irregulär, nach subjektivem Gutdünken und
Brennholzlage. Entsprechend waren die Ergebnisse: Keinem der Jungen gelang es, akzeptable
kleine Ziegelsteine aus seinen geformten Lehmstücken zu brennen. Das war auch kein
Wunder, denn unsere Holzfeuer waren weit davon entfernt, die Temperatur zu liefern, die im
Ringofen erreicht wurde. Noch ärgerlicher war eine andere, unvorhergesehene Verfärbung der
Lehmziegel: Sie kamen nicht rot aus dem Feuer, sondern unregelmäßig geschwärzt. Die
Schwärzung ging zurück auf den Rauch, den unser Brennholz erzeugte. Es war wohl teilweise
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noch grün, weil wir nicht genug alte, getrocknete Zweige gefunden und dann grüne
hinzugenommen hatten, und rauchte entsprechend. Nach und nach gaben alle Wunsch-
Ziegelmeister die Ziegelproduktion wieder auf.
Das eigentliche Drama kam aber erst zu Hause, nach Wochen, als das ganze
Unternehmen schon vorbei war. Meine Mutter hatte von den Stollen erfahren und von besser
informierten Nachbarsleuten gehört, dass der Lehm unseres „Lehmbergs“ keineswegs stabil
genug war, um ein sicheres Graben solcher Stollen zu erlauben. Was wir getan hatten, war
eine höchst gefährliche Sache gewesen. Es hätte leicht sein können, dass einer der Stollen, in
die man beim Graben ein Stück weit hineinkriechen musste, zusammengebrochen wäre und
ein Kind verschüttet hätte. Die Mutter schimpfte mich ungewöhnlich hart aus. Auch mein
Vater, abends aus dem „Holzwald“ gekommen, gab seine sonstige heitere Zuwendung mir
gegenüber auf und hielt mir eine sehr energische Standpauke. Das nachmittägliche Spielen im
Lehmberg wurde mir ganz verboten. Zum ersten Mal kümmerte sich meine Mutter auch um
Schularbeiten, die ich über dem Spieleifer versäumt hatte. Diese Überwachung gab sie zwar
bald wieder auf, erkundigte sich aber öfter als zuvor, wo und wie ich die freien Teile meiner
Nachmittage verbringe. Im Ganzen verdeutlicht die Sache einen Zug meiner Kindheit, der
heute ungewöhnlich erscheinen mag: Kinder wie ich, bislang ohne Geschwister und ohne
Zwang zur Feldarbeit wie die Bauerskinder, waren bei der Freizeitgestaltung in hohem Maß
sich selbst überlassen. Wir lebten in einer Zeit, in der allerhand schwierige Menschen
unterwegs waren. Dazu gehörten etwa Schwarzhändler, entlassene heimatlose
Zwangsarbeiter, entlassene Kriegsgefangene ohne Wohnung und Familie, seltener auch
professionelle Verbrecher. Trotzdem durften viele von uns Kindern die freien Teile unserer
Tage verbringen, wie wir wollten. Ich zum Beispiel sagte zu Beginn meiner freien Stunden oft
nur, wohin ich gehen wolle, und hinterher, wo ich gewesen war. Dass beides übereinstimmte,
war nicht erforderlich, das Kind konnte seine Pläne auch nach eigenem gusto ändern.

19. Klauen, Beten, Beichten

Natürlich waren gerade in der Kriegs- und Nachkriegszeit die Früchte der Felder, Sträucher
und Bäume außerordentlich begehrt. Schließlich hungerten bis zur Währungsreform viele
Menschen ganz erbärmlich. Auch noch die ärmlichsten Apfelbäume an der nahen Landstraße,
mit wenigen unattraktiven Früchten, wurden im Frühherbst Baum für Baum an Familien
versteigert, die kein eigenes Land besaßen. Natürlich achteten die Familien dann aus der
Entfernung „wie die Schießhunde“ darauf, dass niemand von „ihrem“ Apfelbaum eine Frucht
stahl. Grundsätzlich wurden alle Erzeugnisse der Felder, Gemüse, Obst, Früchte aller Art,
gern gestohlen. Schon die Nazis hatten, um einer Praxis des universellen Diebstahls
entgegenzuwirken, in unserer Kleinstadt Salmünster einen Feldhüter, kurz: „Feldschütz“,
etabliert. Dieser Mann, ein noch immer kräftiger Kriegsinvalide, kannte sich in den Feldern
und Obstgärten aus und wusste natürlich, welche Früchte besonders begehrt waren. Er legte
sich auch in bestimmten Verstecken bewusst auf die Lauer, um Menschen im Augenblick des
Diebstahls zu erwischen. Eben dies widerfuhr auch mir, noch vor Beginn der Schulzeit, also
noch im Krieg oder kurz danach. Ich pflückte gerade zwei schön aussehende Äpfel vom weit
herunterhängenden Ast eines Baumes, als dieser Mann aus einer nah gelegenen
Landmaschinen-Garage hervorkam, sich trotz seiner Kriegsbeschädigung sehr schnell näherte
und mich mit überaus festem Griff am Arm packte. Diesen Griff nicht lockernd, zog und
schleifte er mich Widerstrebenden in Richtung der kleinstädtischen Polizeistation und schrie
dabei: „Jetzt kommst du ins Gefängnis, jetzt kommst du ins Gefängnis, du Dieb.“ Ich war
äußerst erschrocken und versuchte, mich auf den Boden fallen zu lassen, aber der Mann zerrte
mich immer weiter. Schließlich, kurz vor Erreichen des Polizeigebäudes, ließ er mich unter
Flüchen und Beschimpfungen los und drohte mir noch einmal Gefängnis an, sollte er mich
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wieder beim Stehlen erwischen. Diese drastische, wohl aus dem pädagogischen Schatz des
Nazireichs stammende Behandlung hat mich in der Tat fast gänzlich davon abgehalten, auf
den Feldern des Städtchens in nennenswertem Umfang Obst oder andere Früchte der Natur zu
stehlen.
Nun hatte mich zwar der Mann laufen gelassen, aber das Etikett „Dieb“ trug ich noch
immer. Meine Spielkameraden meinten, ich solle zunächst zu Gott um Vergebung beten. Am
besten wäre es aber, wenn ich meine Tat am nächsten Samstag beichten könnte, dann sei alles
wieder gut, und ein Dieb sei ich auch nicht mehr. Ich war über diese Botschaft erstaunt, und
im Lauf der kleinen Diskussion, die sich entspann, wurde ich mit einem noch viel
schlimmeren Übel vertraut, das mir anhaftete. Dieses Übel, sagten die Kumpels, könne ich
nur loswerden, wenn ich ins örtliche Kloster ginge und einen der Patres darum bäte, bei ihm
die Religion wechseln zu dürfen. Täte ich das nicht, käme ich unweigerlich in die Hölle, denn
ein echter Christ sei ich ja gar nicht. Evangelisch sei nicht Christ. Wie meine ganze Familie
war ich protestantisch. Wir lebten aber in diesem durch und durch katholischen Ort, dessen
kirchliche Prägung durch das hier befindliche Franziskanerkloster noch enorm verstärkt
wurde. In dem Kloster lebten damals etwa 50 Mönche, und ihre braunen Kutten waren im
Straßenbild allgegenwärtig. Auch das Gedankengut des katholischen Christentums schien
allgegenwärtig zu sein, wenngleich manchmal in verzerrter Gestalt wie bei den Kindern, mit
denen ich spielte. Da ich neben der mehrfach wiederholten Höllendrohung allerdings keine
schlimmeren Nachteile durch meine Religion hatte (im Gegensatz zu meinem Vater viele
Jahre zuvor, wie berichtet), unterließ ich den Versuch, zum Katholizismus überzutreten.
Natürlich hätte ich das als Kind auch gar nicht gekonnt.
Um die von den Kindern gepriesene Möglichkeit des Beichtens habe ich diese Kinder
allerdings wirklich beneidet: Sie konnten ihre Sünden beichten, und dann war alles wieder
gut. So sagten sie. Diese phantastische Technik der Seelen-Weißwaschung wurde von den
anderen auch mir in Aussicht gestellt, falls ich mich umtaufen ließe. Besonders praktisch
stellte sich mir die Beichte dar bei unseren kleinen Diebstählen auf den Feldern. Im
Spätherbst zum Beispiel schnitzten alle Kinder Rübenfratzen, erleuchteten sie mit
hineingestellten Kerzen und zogen in der frühen Dunkelheit durch die Straßen, allerlei gruslig
sein sollende Laute von sich gebend. Die großen Futterrüben, die sich für unsere
Schnitzarbeiten brauchen ließen, mussten natürlich von irgendeinem Acker gestohlen werden.
Ich war von dem Feldschütz-Abenteuer noch etwas abgeschreckt und wagte zu sagen, das sei
doch Diebstahl. Dafür wurde ich nun herzlich ausgelacht und im Anschluss wieder auf meine
kommende Höllenqual verwiesen. Katholiken hingegen könnten sich ihre Sünden vom
Beichtvater ganz leicht vergeben lassen und brauchten die Hölle nicht zu fürchten.
Heute zurückblickend nehme ich an, dass die Wunderwirkung der Beichte und der
dabei ausgesprochenen Absolution gewiss nicht den Köpfen der Kinder entsprungen war. Es
war vermutlich ein Stück Volkstheologie, eine verbreitete Deutung, die viele Eltern dieser
Kinder der Beichte und der Absolution gaben. Das Erfordernis von Reue und gutem Vorsatz
als Prämisse der Lossprechung kam in dieser Interpretation nicht vor. Letztlich lebten die, die
so dachten, viel angenehmer und irgendwie lebensklüger als etwa meine Mutter, die eine
gewissenhafte Protestantin war. Sie brachte es manchmal wochen- und monatelang, in
gravierenden Dingen über Jahre hin nicht fertig, sich von ihren quälenden Gedanken an
eigene sündhafte Taten zu befreien. Zwar beging sie wenig solche Taten, aber die wenigen
lasteten schwer auf ihr. Ich fürchte, dass diese in der Familie, speziell der Familie meiner
Mutter, liegende Haltung übertriebener Gewissenhaftigkeit auf mich abgefärbt hat. Das
geschah nicht unbedingt auf dem Gebiet christlicher Moral, aber doch etwa in Fragen meiner
Arbeit und des Umgangs mit Menschen. Und von mir, so fürchte ich weiter, hat die gleiche
Haltung auf einzelne meiner Kinder abgefärbt. Die Neigung zu übertriebener Selbstkritik hat
mir im frühen Erwachsenenleben ungemein geschadet, und mit wirklicher Trauer sehe ich
manchmal, dass sie bei manchen meiner Kinder wieder schmerzhaft hervortritt.
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20. Bucheckern, Öl und etwas über den Tod


Die Tätigkeit meines Vaters im Holzwald gewann einen ungeplanten, außerdienstlichen
Höhepunkt im Spätherbst/Winter 1946/47. Die Menschen brauchten Speisefette, besonders
Familien mit Kindern. Die längst als Hungererlaubnisscheine empfundenen
Lebensmittelkarten gaben fast kein Fett her. Fett war für die abgemagerten Menschen aber
jetzt der nötigste Nahrungsbestandteil. Butter und Speiseöl erzielten im Schwarzhandel hohe
Preise. Die uns grammweise zugeteilte Margarine übrigens weniger, sie wurde nämlich, wie
unter Hitler, teilweise noch aus hydrierter Kohle hergestellt und schmeckte, so Vaters Worte,
„wie Knüppel auf den Kopf“. Da verbreitete sich die Kunde, dass die Früchte der Buchen in
unseren Wäldern, „Bucheckern“ genannt, essbar seien. Sie enthielten viel Öl und könnten
auch zu Öl verarbeitet werden. Wir benutzten das neue, von den Amis gelernte Wort „run“,
um die sofort einsetzende Jagd auf Bucheckern zu bezeichnen. Es war der „Bucheckern-run“.
Scharenweise zogen die Leute in den Wald, mit Taschen, Milchkannen, Säcken, Wehrmachts-
Kochgeschirren, um Bucheckern zu sammeln.
Die Bucheckern, also die Früchte der Buchen, wachsen wie die Kastanien in einer
stachligen Hülle. In dieser Hülle fallen sie, auch wie die Kastanien, bei Erlangen der Reife zu
Boden. Gewöhnlich platzt dann die stachlige Hülle auf, und die Früchte, sprich Bucheckern,
fallen (meist) heraus. Sie haben die Form länglicher brauner Keile, die von einer dreieckigen
Basis aus nach oben hin spitz zulaufen. Die Außenhaut der keilförmigen Früchte ist zäh und
kaum genießbar. Man muss diese braune, dreieckig gekantete Umhüllung entfernen, um an
den fetthaltigen Kern zu kommen. Hat man sich aber die kleine Mühe gemacht, die braune
Außenhaut zu öffnen, dann hat man den essbaren, eigentlichen Kern vor sich. Er schmeckt
etwas nussig, zugleich aber auch ein wenig bitter und pelzig. Für die Fettgewinnung
ergiebiger als gelegentliches Sofort-Essen ist das Pressen der ganzen Bucheckern in einer
Ölmühle. Man gewinnt dann ein Speiseöl, das zwar nicht schmeckt wie ein Öl der feinen
Küche, dessen Grundstoff aber sehr billig gewonnen werden kann. Man liest ihn in
Buchenwäldern vom Boden auf.
Natürlich zogen auch meine Eltern in Vaters Freizeit „in die Bucheckern“. Das
geschah, weil es jetzt abends schon früh dunkel wurde, vorwiegend an den Wochenenden. Ich
durfte die Eltern begleiten. Einzelne von Vaters Geschwistern, etwa Tante Hildegard, zogen
mit. Bald fanden die Suchtrupps heraus, dass man ökonomischer arbeitete, wenn man große
Siebe mitnahm. Damit wurden die Bucheckern von unerwünschtem Abfall getrennt. Nach
einiger Zeit scharrten die Sammelnden nur noch auf dem Boden unter den Buchbäumen alles
da Liegende zusammen und siebten es durch. Im Sieb zurück blieben die Reste der stachligen
Schalen, aber auch vieles andere, was auf dem Boden gelegen hatte. Auf dem kleinen Haufen
unter dem Sieb lagen dann die Bucheckern, aber leider auch allerhand sonstige Kleinteile, die
durch das Sieb gefallen waren. Die Sammeltrupps füllten ihr vorläufiges Ergebnis in die
mitgebrachten Milchkannen usw., mussten es aber zu Hause noch einmal sortieren. Es war ein
mühsames Herausklauben und weiteres Sieben, vorwiegend an Tagen mit Regenwetter, bis
die Bucheckern so „sauber“ waren, dass der Ölmüller sie annahm. Natürlich presste der
Ölmüller nicht jede Kleinmenge, die meine Eltern und viele andere Leute ihm lieferten.
Sondern er wog diese Kleinmengen und gab im Tausch dafür so viel Öl heraus, wie seines
Erachtens aus der betreffenden Lieferung zu gewinnen war. Für meine Eltern und die vielen
anderen war das Verhältnis zwischen Arbeitsaufwand und Ölgewinn herzlich schlecht. Aber
es war mehr als nichts, und andere Quellen für kartenloses Speisefett waren nicht sichtbar.
Tante Hildegard hat am Ende dieser Bucheckernsaison, also etwa zu Weihnachten 1946, ein
Gedicht über den großen Run geschrieben, das alle sehr lustig fanden, das aber nicht überlebt
hat.
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Es war ein kalter Winter. Gerade zu Weihnachten lag unsere Gegend unter dickem
Schnee, und es herrschte strenger Frost. Weihnachtsbäume konnte man nicht kaufen, sondern
musste sie stehlen, wenn man einen haben wollte. Mein Vater nahm das stabile Beil, das seit

Mein Vater beim Militär, etwa 1943


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seiner Heimkehr jede Nacht unter seinem Kopfkissen lag, und ging mit mir in den Wald,
einen Christbaum holen. Weniger dauerhaft als diese Diebstahlsaktion ist mir die Lehre im
Gedächtnis, die Vater mir während unserer kleinen Wanderung mehrfach einschärfte: Bei
strengem Frost ist man, vom Stapfen durch den tiefen Schnee ermüdet, leicht in Versuchung,
sich einmal in diesen weichen Schnee zu legen und sich auszuruhen. Das solle man auf keinen
Fall tun, sagte mein Vater mehrere Male. Denn wegen der Müdigkeit und quasi eingeladen
durch das weiche Schneebett, schlafe man schnell ein, und dann erfriere man. Schon damals
fügte mein Vater hinzu, dass dies zwar ein Tod sei, aber auch ein recht schöner Tod. Heute,
wo ich dem Tod etwas näher stehe als damals, muss ich manchmal an diesen
Christbaumausflug denken.

21. Vater findet Arbeit und bekämpft Mäuse


Im Frühjahr/Sommer 1947 bekam mein Vater einen Brief, den er unvorsichtiger Weise auf
seinem Schreibtisch offen liegen ließ. Ich konnte ihn zwar nicht lesen (oder hätte ihn nicht
verstanden), aber das schöne Papier, auf dem er geschrieben war, verlockte mich zum
Gebrauch meiner Buntstifte. Es gab ja so wenig Papier. Selten habe ich meinen Vater so
ärgerlich erlebt, wie am Abend dieses Tages, als er von seiner Holzarbeit heimkam. Ich hatte
ein Schriftstück verunstaltet, das ihm sehr wichtig war: Es war die Aufforderung, sich für eine
Arbeit in seinem erlernten Beruf als Holzkaufmann vorzustellen. Die Firma, die ihn
eingeladen hatte, war eine holzverarbeitende Fabrik in Hanau am Main, die bislang
Streichhölzer hergestellt hatte. Hanau gehört zum Rhein-Main-Industriegebiet und war von
unserem Wohnort Salmünster etwa 40 km entfernt. Es gab eine direkte Bahnverbindung. Die
Stadt Hanau war zwar zu 90 Prozent von den Bomben zerstört, stärker noch als Frankfurt am
Main. Aber zu den Zufällen der Bombardierung gehörte, dass ein schmaler Streifen von
Industrieanlagen in der Nähe des Mainhafens nur gering beschädigt war. Hier lag die Fabrik.
Meine Mutter röstete auf dem früh angezündeten Herd drei Brotscheiben wie bisher
auch, wenn Vater morgens wegging. Vater packte sie (ohne Brotaufstrich) ein und auch etwas
aufgegossenen Kaffeeersatz (echten Kaffee gab es nicht) und fuhr mit der Bahn nach Hanau.
Abends kam er zurück und hatte den Job. Das war zwar objektiv kein Wunder. Denn gesund
heimgekehrte Männer mit solider Ausbildung und obendrein Berufserfahrung, und im besten
Alter, gab es wenige. Mein Vater war im Dezember 1946 vierzig Jahre alt geworden. Bei
seinem Jahrgang und beruflichem Hintergrund hatte die Firma gar keine andere Wahl.
Trotzdem feierten meine Eltern das Ereignis, und wir alle wurden von einem Anflug neuer
Hoffnung erfasst. Zwar war Vaters Arbeit anstrengend, die Fahrerei mit unpünktlichen Zügen
war mühsam, das Geld war nicht üppig, und vor allem konnte man für das Geld wenig kaufen.
Aber trotzdem: Es war ein Neuanfang. Die Firma stellte sich baldigst von Streichhölzern auf
Sperrholz um, ein Produkt, das für den Wiederaufbau in vielen Bereichen dringend gebraucht
wurde. Vater arbeitete ab jetzt in einer Zukunftsbranche.
Das Beil unter Vaters Kopfkissen, das seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft da
lag, kam als Waffe zur Familienverteidigung nicht zum Einsatz, weil wir nicht überfallen
wurden. Es hatte aber eine beruhigende Wirkung. An einer anderen Front kämpfte mein Vater
zwar heldenmütig, doch letztlich vergebens. Das war der Mäusekrieg. Besonders auffällig
wurde der Mäusebefall für mich erst, seit mein Vater aus der Gefangenschaft gekommen war.
Ich durfte jetzt nicht mehr mit meiner Mutter in einem Bett schlafen, sondern bekam ein
eigenes Kinderbett im Wohnzimmer. Es handelte sich um ein älteres Modell mit einem
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gedrechselten Holzgitter an der Seite, welches das Kind am Herausfallen hindern sollte.
Gegen dieses Holzgitter hämmerte ich nachts mit meinen Fäusten, wenn mir das Treiben der
Mäuse auf dem Fußboden, auf Möbeln und Regalen zu viel wurde.
Dass wir so viele Mäuse hatten, war eine Neuentwicklung der Nachkriegszeit. Die
Bauersleute, bei denen wir wohnten, mussten ihr Getreide nicht mehr in gleichen Umfang
abliefern wie unter den Nazis. Sie konnten Vorräte bilden. Unglücklicherweise und sehr
unklug lagerten sie ihren Getreidevorrat auf dem Speicher ihres Hauses. Das Korn war dort
einfach aufgeschüttet, nicht in Säcke gefüllt. Gerade unter diesem Speicher, der das
Dachgeschoss bildete, lag unsere Wohnung im Ersten Stock. Natürlich zog das im Speicher
aufgeschüttete Getreide Ungeziefer an, vor allem Mäuse, die sich dort gut ernährten und
prächtig vermehrten. Vielleicht fanden die Mäuse es langweilig, immer nur Roggen, Weizen
und Hafer zu fressen, und sie suchten nach etwas Schickerem, aber vielleicht auch nach
Wasser, das es auf dem Speicher nicht gab. Sie liefen also nachts in größerer Zahl durch
unsere Wohnung, kletterten, wohin sie klettern konnten, und manchmal gelangte eine Maus
auch in mein Bett. Dann erschrak ich zwar, fand das im Grunde aber weniger ärgerlich als das
unablässige Gescharre, Gekratze und Genage, das eine Art Grundgeräusch der Nächte bildete.
Dieses Grundgeräusch ging höchstens kurzzeitig zurück, wenn ich kräftig gegen mein
Holzgitter schlug, kam aber bald wieder. In hellen Nächten, in denen der Mond durch das
Wohnzimmerfenster schien, konnte ich die Tierchen auch auf dem Fußboden vor meinem
Bett herumlaufen sehen.
Natürlich blieb der frisch heimgekehrte Vater an dieser Front nicht untätig, sondern
kaufte mehrere Mausefallen. Merkwürdigerweise, im Gegensatz zu vielen anderen Gütern,
war an Mausefallen kein Mangel. Es handelte sich zunächst um einfache Bügelfallen. Die
vom Schicksal zum Sterben ausersehene Maus wurde durch ein Stückchen Speckschwarte
angelockt. Sie trat, um die Schwarte zu erreichen, gierig auf ein kleines Brettchen, das
Brettchen senkte sich ein wenig, und dadurch wurde der mit einer Feder hart gespannte Bügel
ausgelöst. Der Bügel schnellte nach vorn und schlug der Maus aufs Rückgrat. Wenn die Maus
Glück hatte, starb sie sofort, wenn nicht, quälte sie sich schwer verletzt noch eine Weile,
bevor der Tod sie erlöste. Dieser Vorgang wiederholte sich bei Einsatz mehrerer Fallen ein
paar Mal pro Nacht, und ich kann nicht sagen, dass das periodische Knallen der Bügel
meinem Schlaf förderlich gewesen wäre. Morgens wurden die toten, kalten, leichenstarren
Mäuse aus den Fallen genommen und von der Mutter ins Herdfeuer geworfen.
Leider ernährten und vermehrten die Mäuse sich so großartig, dass ihnen mit
einfachen Bügelfallen nach etwa einem Jahr nicht mehr beizukommen war. Sie wurden
einfach immer mehr. Mein Vater verfiel daraufhin auf einen Fallentyp, den es schon vor dem
Krieg gegeben hatte, der aber angeblich schon immer verboten war, so auch jetzt. Die
aufmerksame deutsche Geschäftswelt scherte sich aber nicht um das Verbot, sondern stellte
interessierten Kreisen solche Fallen zur Verfügung, sehr teuer und „unter dem Ladentisch“,
wie man sagte. Die Geräte hießen „Wasserfallen“ und funktionierten ebenfalls mit einem
Stückchen Speckschwarte. Dieses Teil baumelte an einem Faden über einem Wasserbehälter.
Die todgeweihte Maus, die schon in ihrer Gier einen kleinen Blechkamin zur
Hinrichtungsstätte hochgeklettert war, sah den Speck nun vor sich baumeln, und vor allem
roch sie ihn. Ohne Bedenken betrat sie eine kleine Trittfläche, ähnlich wie bei den
Bügelfallen, nur aus Blech. War die Maus als Ganze auf dem Blechteil, war ihre Nase nur
noch Millimeter von der Speckschwarte entfernt, kippte das Blech nach unten, und die Maus
fiel in den Wassertank.
Eigentlich können Mäuse schwimmen. Also paddelte das Tier erst einmal, vielleicht
schon mit anderen Opfern, in dem Tank herum und quietschte ab und zu. Es konnte den Tank
aber nicht verlassen, denn dessen Wände waren, wie die ganze Konstruktion, ebenfalls aus
Blech und viel zu glatt, als dass eine Maus hätte herausklettern können. Das Prinzip war, dass
nach hinreichend langer und verzweifelter Paddelei die Kräfte der Maus erlahmten und sie
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jämmerlich ertrank, oft zusammen mit anderen ihrer Art, die genauso ins Wasser gefallen
waren. Morgens lagen dann bis zu sechs tote Mäuse im der Falle. Vater kippte sie mitsamt
dem Wasser in die Jauchegrube des Bauern, mit dieser Entsorgungstechnik hatte er ja
Erfahrung. Natürlich war das alles eine böse Tierquälerei, deshalb war es ja verboten.
Der Mäusekrieg endete nach einiger Zeit - nicht etwa durch Vaters neue Waffe,
sondern durch Rückgang der Mäusepopulation. Zwar verschwanden die Mäuse nicht ganz,
aber der Befall verminderte sich merklich. Vermutlich hatten die Bauersleute erkannt, dass es
nicht fachgerecht gewesen war, ihr Getreide auf dem Speicher lose aufzuschütten. Vielleicht
hatte es in der ersten Zeit nach dem Krieg auch nicht genügend Säcke für das Getreide
gegeben. Wie es ja manche Dinge rätselhafter Weise gab, andere gar nicht.

22. Holzversager und andere Vehikel


Technische Geräte waren äußert schwer zu bekommen und wenn, dann allenfalls im
Tauschhandel. Meine Mutter hatte, als die Amerikaner kamen, ihren Agfa-Fotoapparat
sorgfältig versteckt. Die Besatzer erbeuteten gern Produkte der als führend geltenden
deutschen Optikindustrie und schickten sie nach Hause. Fernstecher, Operngläser, Lupen –
und natürlich Fotoapparate waren beliebte Siegestrophäen. Nach etwa einem Jahr war die
Beutegier der Amerikaner halbwegs gesättigt. Meine Mutter konnte also ihre Agfa wieder
hervorholen und fotografieren. Freilich fehlten Filme. Irgendwie muss meine Mutter doch in
den Besitz eines oder zweier Rollfilme gelangt sein, denn es gibt Fotos meiner Eltern beim
Bucheckernsammeln, meiner Oma in ihrem Garten, meines Vaters in dem Anzug, in dem er
sich bei seiner Firma vorstellte.
Leider gibt es kein Foto mehr von meinem Vater auf seinem ersten
Nachkriegsfahrzeug. Das war ein 98 ccm Kleinmotorrad aus Vorkriegsproduktion der Marke
„Wanderer“. Seine Firma stellte es ihm für das Wochenende mit seiner Familie zur
Verfügung. Ein ganzes Wochenende war es freilich nie, denn der Samstag war ohnehin ein
voller Arbeitstag. Auch erwartete die Firma für das Leihmotorrad eine Gegenleistung. Da
mein Vater den Holzeinkauf der Firma unter sich hatte, fuhr er häufig sonntags für ein paar
Stunden in eines der nahen Waldgebiete, wo etwa eine Partie frisch gefällter Stämme für
industrielle Zwecke zum Verkauf stand. Er hatte die Qualität des Holzes beurteilen und mit
den Verkäufern über einen Abschluss zu verhandeln. Die Verkaufsgespräche für Holz aus
Staatsforst besorgten damals örtliche Forstmeister, die dann wie mein Vater ebenfalls am
Sonntag arbeiteten. Auch private Waldeigentümer gehörten zu den Verkäufern und Sonntags-
Verhandlern, so der elegante Baron von Kühlmann, der später Minister im Kabinett Erhard
wurde.
Eine besondere technische Signatur der Zeit war der allgegenwärtige Holzvergaser,
mein Vater sagte „Holzversager“. Die Erfindung stammte aus frühen Jahren des Automobils
und war schon seit längerem zum Einsatz gekommen, wo man keine Brennstoffe auf
Mineralölbasis hatte. Den Zenit ihrer Breitenwirkung in Deutschland erlangte die Technik in
den späten Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit. Die Grundidee war, Benzin und auch
Dieseltreibstoff durch Holzgas zu ersetzen. Dazu wurde speziell dafür zugeschnittenes, in
kleine Stücke zerteiltes Holz in eine Art Ofen gebracht und dort erhitzt. Das Holz gab unter
der Wirkung von Hitze ein Gas ab, das man in die Ottomotoren leiten und dort wie Benzin,
das aus einem Vergaser kommt, entzünden konnte. Die Holztechnik für Dieselmotoren könnte
ähnlich gewesen sein. Den Ofen, je nach Fahrzeug 50 cm bis 2 m hoch, führten die Fahrzeuge
mit sich. Er war in Form eines kleinen Kanonenofens am Heck der Personenautos
angeschraubt. Die Lastwagen hatten große, fest installierte Holzgas-Öfen auf ihrer
Ladefläche, hinter dem Führerhaus, oft daneben eine abgedeckte Kiste mit Vorratholz.
Natürlich trieb das Holzgas die Fahrzeuge deutlich weniger kraftvoll und vor allem weniger
zuverlässig an als die Treibstoffe, für die die Motoren konstruiert waren. Die
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allgegenwärtigen Holzvergaser-Autos prägten das Straßenbild jedoch in überwältigendem


Maß. Sie taten dies einmal, weil es für Privatleute keine anderen Treibstoffe gab, zum andern,
weil sie so häufig am Rand standen und ein Problem hatten. Oft musste der Ofen nachgeladen
werden, aus mitgeführten Säcken mit „Tankholz“, oder es war etwas zu reparieren, oder die
Hitze musste neu entfacht werden oder sonst etwas.
Die Gründe, aus denen mein Vater die „Holzversager“ verachtete, haben wohl mit
solchen Problemen zu tun. Es war ihm lieber, bei Wind und Wetter mit seiner Wanderer-
Kleinmaschine herumzufahren, dann aber mit Benzin, das nur die Industrie zugeteilt bekam,
und nicht mit einem Holzversager. Auch war ihm klar, dass das Buchenholz für die Vergaser-
Öfen von einer Sorte war, die die Qualität der von ihm in den Fokus genommenen Stämme
für die Sperrholzproduktion bei weitem nicht erreichte. Wenn eine Buchenpartie seinen
Kriterien nicht entsprach, konnte er verächtlich abwinken und dem Forstmeister oder dem
Baron empfehlen, seine „Knüppel“ als Tankholz auf den Markt zu werfen.
Es dauerte nicht lange, bis Vater das nächste, nun etwas bessere Vorkriegsgefährt
bekam: Es war eine 350 ccm Triumph, die wieder hergerichtet worden war. Dieses stärkere
Motorrad kam der Neigung meines Vaters zu sportlichem Fahren entgegen, und vor allem: Es
hatte einen Sozius-Sitz. Auf diesem Sitz durfte ich viele der notorischen, von der Mutter
bereits jetzt gehassten Sonntags-Dienstfahrten des Vaters mitmachen. Wir fuhren durch die
Waldgebiete von Spessart, Rhön und Vogelsberg, tranken Kaffee in teils sehr eigenartigen
Lokalen, und ich langweilte mich während der vielen Gespräche des Vaters mit
Forstmeistern, Gemeinderäten, Grafen und Baronen.
Diese Fahrten setzten sich fort mit Vaters weiteren Fahrzeugen: Das erste
Personenauto war ein Vorkriegs-Adler. Während einer der ewigen Sonntags-Holz-
Verhandlungen ritzte ich ein paar Buchstaben in seinen Lack, was dem Vater Ärger brachte,
denn das Auto hatte die Firma nur geliehen. Dann kam ein Vorkriegs-Hanomag, stark aber
langsam, und dann kam die Krönung von Vaters Vorkriegsvehikeln in der Nachkriegszeit: ein
hinreißend schöner 2-Liter BMW, ein Cabrio, mit Ledersitzen. Ein Wunder, dass dieses
prachtvolle Auto die Bomben und die Beschlagnahmungen privater Fahrzeuge für
Kriegszwecke überlebt hatte. Es war der frühere Wagen des Firmenchefs. Der Chef überließ
meinem Vater dieses Auto, als er sich einen wirklichen Neuwagen kaufte. Der BMW fuhr so
schnell, dass die Nachkriegsstraßen ihm nicht gewachsen waren. Vater hätte anfangs um ein
Haar einen schweren Unfall produziert, als er im unteren Vogelsberg zu schnell in eine Kurve
ging. Bald aber gewöhnte er sich an sein neues Dienstgefährt, und wir hatten viel Freude
daran. Sogar die Mutter schätzte dieses Auto und fuhr auch sonntags manchmal mit nach
Birstein, Lieblos, Sterbfritz, Wildflecken, Oberkalbach, Mittelsinn, oder wie die Dörfer
hießen.

23. Mobbing in der Schule


Kinder, die leicht lernen und obendrein etwas zart besaitet sind, haben es oft schwer in
der Klasse. Der Philosoph Theodor W. Adorno erzählt, dass er, ein sensibles, der Musik
zugeneigtes Kind, während seiner Schulzeit von einem bestimmten Typ Klassenkamerad aufs
Schlimmste gehänselt und gequält wurde. Diesen Typ Mensch glaubte er später, als die Nazis
die Macht übernahmen und Juden buchstäblich jagten, in den ersten Reihen der neuen
Peiniger wieder zu erkennen. – Wie verlässlich Adornos Wiedererkennen war, kann ich nicht
überprüfen. Sicher scheint mir zu sein, dass seine Erfahrung als ein Kind, das bei den
gröberen Spielen zurückblieb und stattdessen musische und intellektuelle Neigungen hatte,
kein Einzelfall war und auch heute kein Einzelfall wäre.
Für mich waren die Sonntage mit dem Vater der Höhepunkt der Woche. Etwa von der
3. Klasse an wandelten sich die Schulbesuche an den Werktagen zu den Niederungen der
Woche. Bis dahin war die Schule wenig problematisch gewesen. Und nachmittags waren
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meine Spielkameraden Jungs und Mädchen, deren Eltern in der Nähe wohnten, die häufig
etwas älter waren und mich manchmal unter ihre Fittiche nahmen. Mit dem 3. Schuljahr
änderte sich vieles. Das geschah teils, weil Familien wegzogen (zurück in die Großstadt
etwa), teils weil neue Kinder in meine Klasse kamen, die dieses Schuljahr wiederholen
mussten. Die Jungs dieser Gruppe waren die erfindungsreichsten Quälgeister. Sie waren älter,
denn sie gehörten an ihren Jahren gemessen eigentlich in eine höhere Klasse, und sie hatten
einen rätselhaften Hass auf schnell lernende Kinder, die sie als Kollaborateure der Lehrer
wahrnahmen. Ich selbst konnte mich nicht so sehen, aber darauf kam es nicht an. Auch einige
andere Kinder, Jungen wie Mädchen, hatten unter ihnen zu leiden. Sie vergällten mir die
Schulbesuche erfolgreich bis zum Übergang ins Gymnasium. Ungefähr um die gleiche Zeit
gewann ich einen Freund, der körperlich stark war, stärker als die meisten anderen, und der
bedingungslos zu mir hielt. Diese Freundschaft kam für die Volksschule (wie die Grundschule
hieß) zu spät, gab mir aber einen Rückhalt während der frühen Gymnasialjahre.
Erst in der Pubertät, als auch die Familie dieses Freundes wieder nach Frankfurt
zurückgezogen war, stellte sich eine neue Hass-Konstellation her, unter der ich zwei Jahre
lang durchaus gelitten habe. Diesmal endete das permanente Hänseln, Piesacken und Drohen
durch ein neuartiges Erlebnis: Ein Junge, der sich kurzzeitig als Quälgeist betätigt hatte, der
Sohn eines Richters am örtlichen Amtsgericht, brach aus der Koalition der Jugendlichen aus,
die es auf mich abgesehen hatten. Er lud mich zu seinem Geburtstag ein und gesellte sich
demonstrativ zu mir, auch außerhalb der Schulzeit. Er strahlte etwas aus, was ich heute
„elementare Anständigkeit“ nennen möchte. Mit seinem demonstrativen Frontwechsel war
alles vorbei. Auch später hat mich ein günstiges Schicksal noch Menschen mit ähnlicher
Ausstrahlung kennenlernen lassen. Sie sind selten und kostbar.

24. Das neue Geld


Man hatte ausreichend Geld, konnte aber nichts dafür kaufen. Das war,
zusammengefasst und verkürzt, die finanzielle Lage der meisten Familien in der
unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Nazireich hatte durch hemmungslose Geldschöpfung
seinen Krieg finanziert, aber dabei das Volumen umlaufenden Geldes so sehr aufgebläht, dass
die „Reichsmark“ faktisch kaum noch etwas wert war. Entscheidend für Einkäufe war nicht
der Preis, sondern die Bezugsmarken für Lebensmittel, Kleidung usw. Außerhalb des Systems
der Bezugsmarken gab es fast nur noch den Tauschhandel. Für einen Sack Kaffee konnte man
ein ganzes Mietshaus kaufen, für Geld so gut wie gar nichts.
Briten und Amerikaner bereiteten in ihren zusammengelegten Besatzungszonen
(„Bizone“) unter strenger Geheimhaltung eine Währungsreform mit Einführung neuen Geldes
vor. Die Franzosen schlossen sich etwas später der „Bizone“ an, es bildete sich eine „Trizone“
der drei westlichen Besatzungsmächte, ein Vorläufer der späteren Bundesrepublik. Trotz
Geheimhaltung scheint die Bevölkerung etwas gespürt zu haben. Da meine Mutter mich
manchmal für Einkäufe in die „Stadt“ (= Kleinstadt) schickte, meine ich sagen zu können,
dass im Frühjahr 1948 die Schlangen länger und das Warenangebot noch dürftiger wurden.
Faktisch wurde dann in einer Rundfunksendung am 18. Juni 1948 mitgeteilt, dass es am
Sonntag, den 20. Juni, neues Geld geben werde. Am Samstag, den 19. Juni, gab mir meine
Mutter noch einmal 10 Reichsmark, ich solle in die „Stadt“ gehen und mir dafür etwas
kaufen. 10 Reichsmark waren, gemessen an den amtlich festgesetzten Lebensmittelpreisen,
für ein Kind viel Geld. Ich ging in das örtliche „Kaufhaus“ und musste feststellen, dass
praktisch nichts zu kaufen war. Schließlich gab mir eine Verkäuferin mit gnädiger Miene für
10 Reichsmark ein hässliches, roh zusammengeklebtes Holzspielzeug, das eine Lokomotive
darstellen sollte und an einzelnen Stellen schon auseinanderbrach. Ich wollte zwar kein
solches Ding, weil ich mich zu alt dafür fühlte, nahm es aber, weil ich für mein Geld nichts
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anderes bekam. Zu Hause warf ich es in eine Ecke. Gekauftes Spielzeug war ich ohnehin
nicht gewohnt.
Am Sonntag, 20. Juni, gingen dann meine Eltern zu der Stelle, an der für diese
Kleinstadt die neuen Scheine ausgegeben wurden. Das neue Geld hieß „Deutsche Mark“, und
für jede Person wurden zunächst 40 Deutsche Mark ausgegeben. Etwas später, ich glaube es
war ein Monat, sollten noch einmal 20 DM pro Person hinzukommen. Es war ein schöner,
sonniger Tag und noch nicht zu heiß. Im Gärtchen meiner Mutter blühten die ersten
Sommerblumen, Vaters Tabakpflanzen verströmten ihren süßlichen Duft. Meine Eltern waren
guter Laune. Ohne greifbaren Grund breitete sich eine Stimmung von Hoffnung und
Zuversicht aus. Das neue Papiergeld allein hätte nach den vielen Anordnungen, Maßnahmen,
Enttäuschungen der zurückliegenden Jahre wohl kaum diese Stimmung erzeugen können.
Vielleicht war es etwas anderes: Die Menschen waren bereit für einen Neuanfang. Sie wollten
die scheußliche Vergangenheit hinter sich lassen und ihr Leben noch einmal beginnen. Das
neue Geld kam im richtigen Augenblick, um zugleich zum Symbol und, sozusagen, zum
Fahrzeug eines neuen Aufbruchs zu werden.
Dass aller Anfang schwer ist, bewahrheitete sich gleich am Montag. Schlagartig waren
für das neue Geld Güter verfügbar, die man lange nicht gesehen hatte. Das war nicht ganz
legal, aber die Illegalität störte kaum. Für die gerade geborene Deutsche Mark war es
möglich, Kaffee, Schokolade, Marzipan, ungarische Salami, Kaviar, ja sogar Champagner zu
beschaffen - Dinge, von denen ich zum Teil noch nie gehört hatte. Auch Kleidungsstücke
elegantesten Zuschnitts waren zu bekommen. Zwar ging die Bewirtschaftung von
Lebensmitteln, Kleidung und einigen anderen Sachen im System der Bezugskarten noch
weiter. Trotzdem war außerhalb des Markensystems für die neue Währung plötzlich alles zu
erhalten, nur eben „unter dem Ladentisch“, und, wohlgemerkt, wenn man in neuer Währung
zahlte. Kurz gesagt: Am Samstag hatte jeder Geld, konnte aber nichts dafür kaufen. Am
Montag konnte jeder alles kaufen, aber keiner hatte genug Geld dafür. Innerhalb eines
Wochenendes hatte sich das Verhältnis von Geld und Warenangebot umgedreht.
Die plötzliche Warenfülle führte zunächst einmal zu einem erheblichen Groll bei den
Menschen. Wo waren all diese Güter die ganze Zeit über gewesen? Beschimpfungen
gegenüber Händlern und Kaufleuten waren an der Tagesordnung. Ich lernte das Wort
„horten“. Die Kaufleute hatten all diese Waren gehortet in Erwartung einer wirtschaftlichen
Erneuerung. Das Horten musste auch schon lange vor dem Zeitpunkt angefangen haben, zu
dem man begann, von neuem Geld zu reden. Offenbar hatten die Menschen die letzte
Währungsreform, die von 1924, noch in plastischer Erinnerung. Damals war das alte Geld,
mit dem der Erste Weltkrieg finanziert worden war, in neues Geld, die „Rentenmark“,
umgetauscht worden, und zwar im Verhältnis eine Billion zu 1. Für eine Billion der alten
Mark hatte man eine einzige neue Mark bekommen. Diese Erinnerung war für viele Leute
noch sehr gegenwärtig. Meine Großeltern mütterlicherseits hatten ihre gesamten, durchweg
auf Sparbüchern stehenden Ersparnisse verloren. Meinem Vater war das Gleiche mit den
Ersparnissen seiner ersten Berufsjahre widerfahren. Natürlich hatten auch die Kaufleute
solches im Gedächtnis und hatten offenbar schon seit Beginn des Wiederaufbaus, vielleicht
auch schon seit den letzten Kriegsmonaten, Stück für Stück haltbare Waren zurückgelegt. Sie
wollten die Dinge zur rechten Zeit für gutes Geld verkaufen, nicht aber zu früh für das
schlechte Geld des Nazireichs.
Immerhin waren die ersten Tage nach dem Sonntag der Währungsreform auch
zunächst Tage einer überraschenden Gleichheit: Neues Geld hatten erst einmal alle nur in der
Menge, die ausgegeben worden war, das heißt 40 DM pro Person und die Aussicht auf
weitere 20 DM einen Monat später. In dieser Hinsicht waren fürs Erste alle gleich. Selbst
frühere Milliardäre bekamen von den Ausgabestellen nicht mehr und nicht weniger neues
Geld. Freilich währte die Gleichheit nicht lange. Denn einige hatten ja Dinge, die sie für das
neue Geld verkaufen konnten, zum Beispiel die Kaufleute, die für gehortete Ware auch neues
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Geld einnahmen. Manche Leute hatten auch Schmuck, Fotoapparate und Ähnliches über die
Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre hinweggerettet und konnten sie jetzt für das neue Geld
zum Kauf anbieten. Sehr schnell also stellten sich ungleiche finanzielle Verhältnisse wieder
her: Wer Sachwerte aus der Katastrophe gerettet hatte, konnte sie verkaufen und damit seinen
Vorrat an neuem Geld vergrößern. In wirtschaftlichen Dingen kundige Menschen hatten
rechtzeitig versucht, ihr Vermögen möglichst in Form von Sachwerten zu halten, und waren
jetzt den anderen voraus. Wirtschaftlich unkundige Menschen wie meine Eltern hatten auch
zu Hitler-Zeiten noch Geld aufs Sparbuch gelegt und dieses Geld nun erst einmal verloren.
Später wurden die Sparbücher zu einem sehr ungünstigen Verhältnis auf neues Geld
umgeschrieben. Als diese Umschreibung schließlich geschah, sprachen meine Eltern davon,
dass sie für 10.000 ersparte Reichsmark 600 Deutsche Mark erhalten hätten.
Die Empörung über die vielen gehorteten Waren und das – etwas später kommende –
Erschrecken der meisten über den eigenen Stand als Inflationsverlierer wichen schließlich
doch der Aufbruchstimmung. Die Menschen wollten die Katastrophe abhaken, sie wollten den
neuen Anfang. Und der kam mit einem neuen Zukunftsglauben: Wenn wir arbeiten und
sparen, werden auch wir uns schöne Wünsche erfüllen können. Rundfunkreden einiger
Politiker forderten eben dazu auf: zu arbeiten, sein Geld zusammenzuhalten, dann aber auch
sich Wünsche zu erfüllen. Das Versprechen, dass das neue Geld dauerhaft werthaltig sei,
wurde geglaubt. Angesichts der geschichtlichen Erfahrung war das fast ein Wunder. Aber es
geschah. Die Menschen fassten wieder Vertrauen in ihre Zukunft, eine Einstellung, die es
lange nicht gegeben hatte. Auch meine Eltern vertrauten wieder darauf, dass ihr Leben und
Arbeiten sinnvoll sei und in eine Zukunft führe, die jedenfalls besser sein würde als die
jüngere Vergangenheit. Erstaunt nahm ich zur Kenntnis, dass sie jetzt manchmal abends auf
ein Fest gingen und mich unter meiner eigenen Aufsicht zurückließen. Ich freute mich, wenn
ich meine Mutter in ihrem dunkelblauen Kleid mit der vorteilhaften weißen Paspelierung sah,
ich liebte diese schöne und schicke Frau. Die Eltern luden jetzt manchmal auch Gäste zu sich
ein, was früher nicht der Fall gewesen war. Mein Vater arbeitete weiterhin sehr viel, auch
sonntags fast regelmäßig einige Stunden. Der Samstag war ohnehin ein voller Arbeitstag.
Das neue Geld brachte auch mir bald einen greifbaren Vorteil. Meine Oma nämlich,
als Herz und Seele einer wieder gut gehenden Bäckerei, wurde vom Wind des Wandels höher
getragen als meine Eltern. Zwar hatte auch sie Geld auf dem Sparbuch verloren, aber im
Großen und Ganzen gehörte sie als Eigentümerin von Land, Haus, Geschäft und einem
kleinen Bestand an Bäckereimaschinen zu den Gewinnern der Inflation. Die Fotos der Zeit
zeigen sie als gut angezogene Frau von etwas über 60 Jahren, heiter lächelnd, und
selbstbewusst. Einige Monate nach der Währungsreform schenkte sie mir etwas, was meine
Eltern bestimmt nicht hätten bezahlen können: mein erstes Fahrrad. Es kostete 148 Deutsche
Mark, eine schier unglaubliche Summe. Seine Marke war „Adler“, es war rot-schwarz
lackiert, und es war ein richtiges Erwachsenen-Gefährt mit 28-Zoll-Rädern. Eigentlich war es
zu groß für mich. Ich lernte aber, darauf zu fahren, und erlebte kurzzeitig einen
Statusaufschwung in der Schule: So ein Rad hatte kein anderer Junge. Und als ich ab und zu
andere darauf fahren ließ, taten sogar die Quälgeister unter den Klassenkameraden so, als ob
sie mich liebten. Natürlich war das Gegenteil der Fall, vielleicht im Innern noch schlimmer
als vorher. Aber erst einmal herrschte eitel Freude und Sonnenschein.
Eines Morgens dann trat mein Vater gegen 5 Uhr an mein Bett und fragte, ob er mein
Fahrrad benutzen dürfe. Wir hatten natürlich kein Telefon, und der Vater wollte zum
Taxiunternehmer fahren, um eilig ein Taxi herbeizurufen. Das Taxi kam, brachte meine
Mutter ins örtliche Krankenhaus, und ich wurde mit einem frühen Zug zur Oma geschickt.
Am Abend dieses Tages sagte mir die Oma mit beglückt strahlendem Gesicht, ich hätte ein
Schwesterchen bekommen. Das war fast genau ein Jahr nach dem Tag, an dem das neue Geld
kam. Es war das sichtbarste Zeichen für den neuen Lebensmut, den meine Eltern gefasst
hatten.
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25. Ein kleines Zerwürfnis mit Folgen


Die Bauersleute, in deren Haus die Eltern unsere Familienwohnung gemietet hatten,
gehörten zunächst ebenfalls zu den Gewinnern der Inflation. Ihr Vermögen bestand aus Hof,
Ackerland, Haus und anderen Sachwerten. Hingegen bestand das Vermögen unserer Familie
in der Hauptsache aus der Arbeitskraft meines Vaters. Als Nahrungsmittelproduzenten waren
die Bauern von Hitler aufs Heftigste umworben worden. Ihre gute Stellung im Nazireich
steigerte sich noch in der ersten Nachkriegszeit. Denn sie waren es, die in den „Hungerjahren“
1945 bis 1947 mit etwas Geschick einzelne ihrer Produkte der Ablieferungspflicht entziehen
und schwarz verkaufen konnten. Dabei waren auch sie es, die die Preise setzten, es gab keinen
öffentlichen Markt, in dem ein reeller Ausgleich von Angebot und Nachfrage hätte stattfinden
können. Mit der Währungsreform änderte sich das. Trotz der zunächst weiter bestehenden
Bewirtschaftung der Lebensmittel entstand plötzlich Konkurrenz unter den Bauern. Das neue
Geld war so knapp und zugleich so wertvoll für die Menschen, dass sich auch für schwarz zu
kaufende Güter wie Kartoffeln, Eier, Milch und einiges andere durch intensive
Mundpropaganda eine Art Markt herstellte. Plötzlich wusste man, was unter der Hand ein
Sack Kartoffeln oder ein Liter Milch kosten durfte.
In unserem Fall war es die Milch, an der sich schlagartig eine Statusänderung der
Bauern andeutete. Sie mussten fürchten, wieder in ihren früheren Stand als
Nahrungsmittelerzeuger in einer Wirtschaft mit freier Konkurrenz zurückzufallen, ohne
Vorteile durch Politik oder krassen Mangel. Die Angst vor einer solchen Veränderung kann
ein Grund für die äußerst erbitterte Reaktion unserer Bauersfrau gewesen sein, als sie mit der
neuen Situation konfrontiert wurde. Meine Mutter und die Bauersfrau unterhielten sich zur
Zeit der Hausarbeit, beide zu einem Schwätzchen aus dem Fenster gelehnt, von Fenster zu
Fenster auch über die Milchpreise. Als meine Mutter wissen ließ, woanders kaufe man die
Milch jetzt billiger als bei unserer Bauersfrau, bekam diese einen Schreianfall. Überaus
wütend und in höchster Lautstärke befahl sie ihrer Tochter, die bereits für uns ins
Treppenhaus gestellte Milch sofort wieder hereinzuholen. Von Stund an herrschte erbitterte
Feindschaft zwischen dieser Frau und meiner Mutter, und wir mussten unsere Milch künftig
woanders kaufen, genauso wie die Kartoffeln, die Eier und andere bäuerliche Produkte. Heute
an diesen Konflikt zurückdenkend, kann ich die Bauersfrau auch aus einem weiteren Grund
besser verstehen: Sie war es ja im Krieg, unter der strengen Lebensmittelkontrolle des
Nazireichs, gewesen, die uns ab und zu mit Milch, selbst gebackenem Brot, sogar einmal mit
einem halben Suppenhuhn ausgeholfen hatte. Die Frau erlebte offenbar das Verhalten meiner
Mutter als berechnend und undankbar. Undankbarkeit, die einen Menschen direkt trifft, kann
diesen Menschen sehr bitter machen.
Außer dass die Frauen kein Wort mehr miteinander sprachen und sich nicht mehr
grüßten, gab es andere Folgen des Milchstreits, von denen eine eher harmlose auch mich
betraf: Da ich ein neues Fahrrad hatte und also beweglich war, musste ich nun jeden Abend
bei einem anderen Bauern, der etwa 2 Kilometer entfernt seinen Hof hatte, unsere Milch
holen. Frisch von der Kuh und noch warm, nur einmal durch ein Tuch geseiht, wurde mir die
Milch in eine Aluminiumkanne gefüllt. Die Kanne hängte ich an den Lenker meines Rades,
wo sie immer etwas hin- und her schlug und Teile ihres Inhalts auf das geliebte Fahrgerät und
meine Beine spritzte. Überhaupt nahm meine Mutter die Existenz des Fahrrades zum Grund,
mir die regelmäßigen Einkäufe in den Läden der Kleinstadt Stück für Stück zu übertragen. Sie
stellte die bisherigen Fahrten mit ihrem eigenen Fahrrad „in die Stadt“ immer weiter ein und
übertrug mir schließlich das Einkaufen und Transportieren des Lebensbedarfs ganz und gar.
Das blieb mit wenigen Unterbrechungen so bis zu meinem Abitur. Aus ihrer Herkunftsfamilie
mit der Bäckerei hatte meine Mutter die bestimmte Erwartung, dass die Kinder nach Kräften
mitzuarbeiten hatten und nicht zu ihrem Vergnügen auf der Welt waren.
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Eine langfristige und sehr viel gewichtigere Folge des Milchstreits war, dass meine
Eltern konkret über einen Hausbau nachdachten. Das häusliche Klima bei der Bauersfrau war
sehr unerfreulich geworden, auch was Mutters Garten und die Erlaubnisse betraf, die für viele
Kleinigkeiten nötig waren. Im gleichen Zeitfenster scheint auch Tante Li, die Schwester
meiner Mutter, die nun in Erbach im Odenwald wohnte, mit ihrem zurückgekehrten Mann an
ein Haus gedacht zu haben. Es passte in die Aufbruchstimmung der Zeit. Für junge oder auch
nicht mehr ganz junge Familien war der Bau eines eigenen Hauses ein zentraler Wunsch und
oft auch schon ein reales Projekt. „Wir bauen“ war ein häufig zu hörender Satz, mit dem
Leute ihren Entschluss und dann auch häufig die begonnene Tätigkeit kundtaten.
Da man zum Bauen vor allem Geld braucht, und die Banken für die nötigen Kredite
den Nachweis eines gewissen Eigenkapitals verlangten, konnten meine Eltern nur mit Hilfe
ihrer Elterngeneration den Hausbauplan weiter verfolgen. Gleiches galt für Tante Li und ihren
Mann. Meine beiden Großväter allerdings waren schon vor dem Krieg gestorben. Meine
Großmutter väterlicherseits besaß nur das Haus, in dem sie mit einzelnen ihrer Kinder
wohnte. Der einzige Mensch in der älteren Generation, der über fungible Vermögenswerte
verfügte, war meine Großmutter mütterlicherseits.
Es kam dann zu einer vorweggenommenen Erbteilung, durch die meine Steinauer
Oma ihr Vermögen an ihre Kinder weitergab. Genaues weiß ich nicht darüber, aber ungefähr
so entnahm ich es den Gesprächen meiner Eltern: Der Sohn, Onkel Konrad, erhielt Haus, Hof,
landwirtschaftliche Flächen und die Bäckerei. Die beiden Schwestern erhielten den
Grundstock für einen Hausbau, teils in Land, teils in Geld. Meiner Mutter kam dabei ein vor
kurzem als Bauland ausgewiesener Acker zu und eine gewisse Summe für den Start der
Bauarbeiten. Diese Erbteilung entsprach einer in vielen protestantischen Landstrichen
üblichen Praxis, die zur möglichst ungeschmälerten Weitergabe des Familienvermögens
führen sollte. Der älteste Sohn erbte Hof und Ländereien, die übrigen Kinder wurden
ausgezahlt oder erhielten eine teure Ausbildung, etwa ein Studium. So war es schon in der
Generation der Urgroßeltern und früher gehandhabt worden.

26. Eiscreme, die Liebe und das Schachspiel


Die Bäckerei warf wieder Gewinn ab, alle in Konrads Familie hatten zu tun. Es war auch
längst kein reiner Familienbetrieb mehr. Konrad hatte das Bäckergeschäft um eine Konditorei
erweitert. Bis zu fünf Gesellen und Lehrlinge waren angestellt, um den Bedarf der Kunden zu
decken, die endlich wieder zu essen hatten und sich auch über den bloßen Hunger hinaus
etwas gönnten. Es war organisch, dass die Konditorei auch ein Café nach sich zog. Der große
Wohnraum der Familie, der neben dem Laden zur Straße hin gelegen war, wurde
umfunktioniert. Er erhielt eine Holztäfelung im Geschmack der Zeit und wurde als Café
eingerichtet. Für mich interessant und folgenreich war es, dass mehrere der neuen Tische als
Schachtische gestaltet waren. Konrad ließ auch Schachfiguren kommen, so dass in diesem
Café nicht nur Kaffee getrunken, Zeitung gelesen, Torte gegessen, sondern auch Schach
gespielt werden konnte. Eine besondere Attraktion für mich war die neue Eismaschine. In ihr
bereitete meine Oma gleich mehrere Sorten köstliches Speiseeis, eine Delikatesse, die ich nun
zum ersten Mal im Leben genießen durfte. Ich tat mir in dieser Sache keinen Zwang an und
holte mir mehrfach diverse Folgezustände, wie sie für übermäßigen Eisgenuss typisch sind.
Wenn viel Betrieb war, durfte ich im Laden beim Bedienen helfen und erhielt dafür als
Belohnung noch mehr Eis.
Onkel Konrad hatte für sein Café auch einen kleinen Bestand an Schallplatten
eingekauft, die die Kundschaft mit zeitgenössischer Schlagermusik unterhalten sollten. Bis
heute habe ich bestimmte Melodien im Ohr, die überwiegend mit eher anspruchslosen Texten
ausgestattet waren, eben im Stil der damaligen Unterhaltungsbranche. Allerdings ist mir auch
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ein Schlager im Gedächtnis, dessen Text ich bis heute nicht völlig blöd finden kann, und der,
mit etwas Übertreibung, das Lebensgefühl dieser ersten Jahre des Aufschwungs ganz gut traf:

Ach du liebe Zeit,


Ach du liebe Zeit,
Was ist das für ne trübe Zeit.
Ach du liebe Zeit,
Ach du liebe Zeit,
Kein Mensch hat für die Liebe Zeit…

Der längere Text, zum ersten Mal zu Foxtrottmusik präsentiert in dem Film „Die Nacht ohne
Sünde“ von 1950, ging als „Jammerfox“ ins Bewusstsein der Leute ein und wurde gesungen
bis zum Überdruss. Natürlich besaß auch Konrad die relevante Electrola-Schallplatte, und der
Song lief in seinem Café jeden Tag mehrere Male.
Auch die klassische deutsche Italiensehnsucht materialisierte sich in diesem Lokal. Es
geschah in akustischer Form, durch regelmäßiges Erklingen der „Capri-Fischer“, der
Oberschnulze jener Jahre. Sogar heute noch kann man sie manchmal hören. Kaum jemand
wusste noch (oder weiß gar heute), dass auch dieser Song ein Produkt der Nazizeit war, aus
dem Jahr 1943. Bloß fielen just in diesem Jahr die Italiener von Hitler ab und mutierten
plötzlich zu Feinden. Also ließ Goebbels die Fischer wieder verschwinden, sozusagen mit
ihren Booten abtauchen. Jetzt aber kamen sie wieder an die Oberfläche und ließen sich überall
vernehmen. Ihre Vergangenheit war egal. Das war ein Zug der Zeit in vielen Teilen des neuen
deutschen Lebens. Bei musikalischer Unterhaltung zum Beispiel griff man ohne Bedenken
auf frühere Schlager zurück, vor allem auch, weil man zu wenig neue hatte. Die
Unterhaltungsindustrie war noch viel zu unentwickelt, um dem sprunghaft ansteigenden
Bedarf in den Jahren nach der Währungsreform voll gerecht werden zu können.
Folgenreich an Konrads Ausflug in die Gastronomie war für mich aber, wie
angedeutet, weniger die Populärmusik als das Schachspiel. Konrad hatte als Soldat zu den
vielen Zeiten, in denen der Soldat auf irgendetwas warten muss, nicht nur einfach
Schachspielen gelernt. Er hatte auch sein Spiel durch ausgedehnte Praxis und Lektüre
verschiedener Schach-Werke verfeinert und auf höheres Niveau gebracht. Jetzt gründete er
um 1950 in seinem Café den Steinauer Schachclub. Er stieß auf reges Interesse, vor allem
älterer Männer, die den Krieg überlebt und höchstens kurz im Volkssturm gedient hatten,
sowie bei den wenigen früheren Soldaten, die glücklich heimgekommen waren. Gespielt
wurde an den neuen Schachtischen mit Figuren, die so aussahen, als seien sie aus Marmor
geschnitten. Natürlich waren sie das nicht, sondern aus Kunststoff gepresst, aber das störte
keinen.
Die früheren Soldaten, alten Handwerksmeister, auch einzelne Lehrer und wenige
andere Akademiker hatten im Ganzen ein für diese Kleinstadt respektables Spielniveau. So
scheint es mir heute im Rückblick. Konrad hatte mir gleich nach seiner Rückkehr aus dem
Krieg das Schachspielen beigebracht, und mein Vater hatte mir, kaum dass er wieder Geld
verdiente, ein Schachspiel geschenkt – noch aus Pappe, typisch für die Jahre vor der
Währungsreform. Ich lernte schnell, und zur Zeit von Konrads Gründung konnte ich meinen
von Arbeit überlasteten Vater schon fast regelmäßig schlagen. Der Schachclub wurde für
mich ein Magnet mit großer Anziehungskraft. Noch bevor wir ins eigene Haus einzogen, fuhr
ich an den Wochenenden manchmal mit dem neuen Fahrrad für einen Tag nach Steinau, um
abends Schach zu spielen. Als wir dann auch als Familie in Steinau wohnten, intensivierte
sich dieses Engagement. Die regelmäßigen Spieler kannten mich gut und behandelten mich
wohlwollend. Als freilich um die Stadtmeisterschaft gespielt wurde, fand dieses Wohlwollen
eine Grenze,
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Meine Großmutter mütterlicherseits, Passfoto von 1941


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und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich zur Spitzengruppe gewiss noch nicht gehörte.
Auch in dem Gymnasium zu Schlüchtern, auf das ich inzwischen (vom Gymnasium zu
Gelnhausen) gewechselt war, wurde Schach gespielt, um die Schulmeisterschaft nämlich. Ich
war im sechsten Schuljahr, als ich immerhin einmal den Schulmeister schlug und fortan als
Favoritenschreck galt.
Leider hatte dies alles, so viel Spaß es mir machte, auch eine Kehrseite. Meine
körperliche Entwicklung blieb zurück. Ich drohte, ein schwächlicher Junge zu werden. Als ich
dann im siebten Schuljahr, der damals so genannten „Quarta“, ein Ausreichend im Turnen
bekam, waren meine Eltern und Onkel Konrad alarmiert, vor allem auch ich selbst. Ich nahm
mir vor, mehr Sport zu treiben, was ich auch tat, und weniger zu spielen, insbesondere
weniger lange Abende in Konrads Schachclub zu verbringen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte dieser Club und vor allem auch das ihn tragende Café die
besten Zeiten bereits hinter sich. Auch Konrad nämlich, der abends oft die Bedienung in
diesem Lokal allein übernommen hatte, spürte die Folgen des enormen Schlafmangels, dem er
ausgesetzt war. Als Bäckermeister musste er morgens um vier Uhr spätestens wieder
aufstehen. Auch sein Körper vertrug es sehr schlecht, abends bei einigen Herren, die zu ihrem
Glas Wein noch eine Partie Schach spielten, auszuharren, bis der letzte gegangen war. Vor
allem aber wurde nach wenigen Jahren eine grundsätzliche Grenze des Cafés sichtbar: Es war
nie wirklich profitabel gewesen. Denn von schachspielenden Männern, die stundenlang
herumsitzen, aber in dieser Zeit gerade ein oder zwei Getränke bestellen, kann kein
Gastronom leben. Und das eigentliche Cafégeschäft, der Verkauf von Kuchen, Torten, Kaffee
und Tee zum Verzehr vor Ort, lief in akzeptablem Umfang allerhöchstens samstags und
sonntags. An den Nachmittagen normaler Wochentage war der große Raum, in dem das Café
betrieben wurde, nahezu tot.
Als klar wurde, dass das Café keine Entwicklungschancen bot, stellte Konrad es ein
und konzentrierte sich auf sein eigentliches Feld, die Erzeugung von Back- und
Konditorwaren. Hier lag die große Stärke dieses Betriebes, in dem alle Familienangehörigen
hart und konzertiert zusammenarbeiteten und noch von Gesellen unterstützt wurden. Hier
wurde reales Geld verdient. Für mich blieb übrigens noch eine Zeitlang Omas Eismaschine:
Der Verkauf von Eis im Laden, zum Verzehr außer Haus, lohnte sich noch eine Weile, und
ich litt weiterhin ab und zu an Magenschmerzen.

27. Das neue Haus ist klein ausgefallen


Da das Baugrundstück meiner Mutter in dem Städtchen Steinau lag, wurde das Haus
der Eltern auch hier gebaut. Es war die Zeit des „Sozialen Wohnungsbaus“. Für Häuser in
kleinen Dimensionen, durch die mit wenig Aufwand die Nachkriegs-Wohnungsnot gelindert
werden konnte, gab der Staat verbilligte Kredite. Besonders beliebt und gefördert war das
Modell des kleinen Zweifamilienhauses. Man baute ein Haus mit einer bescheidenen
Hauptwohnung im Erdgeschoss (z.B. drei Zimmer, Küche, Bad auf 70 qm) und einer
kleineren zweiten Wohnung im Dachgeschoss, das den 1. Stock des Hauses bildete (z.B. 50
qm, auch 3 Zimmer usw.). Wollte man die verbilligten Kredite bekommen, durften die Räume
eine gewisse Größe nicht überschreiten. Die zweite Wohnung musste vermietet werden. Sie
wurde dann vom städtischen Wohnungsamt belegt, nicht mehr mit Ausgebombten aus den
Großstädten, sondern mit Flüchtlingen aus früheren Ostgebieten. Zufällig telefonierte mein
Vater noch vor Abschluss der Kreditverträge mit dem Leiter jenes Wohnungsamts, und der
teilte dem Vater mit, er habe schon eine Flüchtlingsfamilie für unsere zweite Wohnung.
Meinen Vater traf das offenbar wie ein Schock, obwohl es vorauszusehen war. Faktisch lebten
wir ja noch im nahen Salmünster in der bisherigen Wohnung. Von deren drei Zimmern war
eines noch immer mit der erwähnten Flüchtlingsfamilie belegt, die auch Küche und Toilette
benutzte. Sie war mit der Geburt des Amerikaner-Söhnchens auf fünf Personen angewachsen.
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Unsere Konflikte mit diesen Flüchtlingen hatten mittlerweile die Gestalt einer bitteren Fehde
angenommen. Beide Seiten hatten Anwälte beauftragt, es ging auf ein gerichtliches Verfahren
zu. Die Lektüre der Schriftsätze, die, wie unter Anwälten oft, recht aggressiv gehalten waren,
muss meinen Vater sehr belastet haben. So erklärt sich sein Schock: Schon wieder
Flüchtlinge, und jetzt im neuen eigenen Haus!
Meine Eltern entschlossen sich kurzfristig, auf die billigen staatlichen Kredite zu
verzichten und ihr Haus mit normalen Bankkrediten zu bauen. Das hatte den Nachteil einer
deutlich höheren Zinslast, aber den Vorteil, dass die Eltern sich ihre Mieter selbst aussuchen
konnten, selbst wenn es Flüchtlinge sein sollten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Planungen
für das Haus bereits abgeschlossen, die Pläne waren genehmigt, Aufträge waren erteilt, erste
Baumaßnahmen wie die Erschließung des Grundstücks und Abstecken des Umrisses hatten
begonnen. So kam es, dass meine Eltern ein Haus in den Kleinmaßen des sozialen
Wohnungsbaus errichteten, obgleich sie bei Verzicht auf die zweite Wohnung - aber auch
Verzicht auf Mieteingänge - etwas größer hätten bauen können. Faktisch hat dann in den
fünfziger Jahren und bis weit in die Sechziger die Zinslast der Baukredite den Familienetat
stark eingeschränkt und unsere Lebensweise in dieser Zeit geprägt.
Die Maurerarbeiten begannen im Spätherbst 1950. Nach dem Durchleben der üblichen
Hausbaudramen zogen wir am 1. November 1951 ein. Ich erinnere mich noch, wie die Möbel
meiner Eltern auf der Pritsche eines offenen Lastwagens und seinem Anhänger bedenklich hin
und her schwankten. Einen Möbelwagen wollten oder konnten die Eltern sich nicht leisten.
Der Lastwagen gehörte einem der Fuhrunternehmer, die für die Firma des Vaters Holz aus
den Wäldern abholten und zur Fabrik brachten. Die Geliebte des Fuhrunternehmers, eine
junge Flüchtlingsfrau, und ihre Mutter waren unsere ersten Mieter und zogen fast gleichzeitig
mit uns ein. Sie bewohnten einen Raum der im 1. Stock gelegenen Zweitwohnung und
konnten die dortige Küche benutzen. Der Fuhrunternehmer bürgte für die Miete und hatte
tausend Mark als „verlorenen Baukostenzuschuss“ an meine Eltern gezahlt. Dieser Zuschuss
war als vertragliche Mieterleistung bei Neubauten üblich und wurde nicht zurückerstattet, war
daher verloren. Wenig später kam noch eine weitere junge Frau als Mieterin hinzu, die ein
weiteres Zimmer im 1. Stock bezog und sich an der Küchennutzung beteiligte.
Das dritte Zimmer in diesem Stockwerk bekam ich und war überglücklich. Ein eigenes
Zimmer!! Nicht mehr mit den Eltern in einer Wohnung!! Allerdings war mein Zimmer so
klein, dass man zwar einen Schornsteinanschluss gebaut hatte, der als Ofenloch in der Wand
prangte. Aber es gab kein Ofenrohr und erst recht keinen Ofen. Mein Zimmer war so klein,
dass neben den wenigen Möbeln nicht noch ein Ofen eingebracht werden konnte. So lag ich
denn im Winter unter einem dicken Federbett, und vom Hauch meines Atems bildeten sich
bei Frostwetter herrliche Eisblumen an den Fenstern. Für ein Bad im 1. Stock war zwar ein
Raum vorhanden. Aber er war noch nicht mit Wanne und allem anderen Zubehör ausgestattet.
Als Notbehelf griffen wir für meine Abend- und Morgentoilette auf Waschkrug und
Waschschüssel aus Keramik zurück, wie sie früher üblich gewesen waren. Abends nahm ich
in dem großen Krug Wasser mit ins Zimmer, konnte mich an einem alten Waschtisch in der
Schüssel waschen, und goss das Abwasser in einen Eimer. Morgens folgten die letzten zwei
Schritte noch einmal. In Frostnächten gefror das für den Morgen gedachte Frischwasser im
Waschkrug, gottseidank nie so stark, dass das Eis ihn gesprengt hätte. An der Eisschicht
konnte ich ermessen, wie stark der Frost gewesen war, und wie kalt es auf dem Schulweg sein
würde.
Auch das für die Hauptwohnung im Erdgeschoss vorgesehene Bad war zwar als Raum
vorhanden, aber noch nicht eingebaut. Es dauerte mehrere Jahre, bis dort eine Badewanne und
ein mit Holz bzw. Kohle zu heizender Badeofen eingerichtet waren. In der ersten Zeit badete
die Familie, damals nicht unüblich, samstags abends im Keller in der Waschküche. Die
Mutter entfachte das Feuer unter dem großen Kupferkessel, der normalerweise zum Waschen
der Wäsche diente. Von dort wurde das heiße Wasser in eine Zinkbadewanne geschöpft. In
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dieser Wanne, die sich nach Gebrauch wegräumen ließ, nahmen wir nacheinander ein Bad.
Um fremde Blicke fernzuhalten, klatschten wir Zeitungspapier in den Beschlag aus
Wasserdampf, der sich beim Aufheizen des Wassers an den Fenstern gebildet hatte.
Vieles war an unserem Haus also nur behelfsmäßig eingerichtet. Zunächst gab es auch
wie fast überall in dieser hastigen Aufbauphase Baumängel, die viel Ärger bereiteten. So
erwies sich unser Dach schon nach zwei Wintern als nicht mehr brauchbar. Die aus Onkel
Willis inzwischen gegründeter Ziegelei gelieferten Biberschwanz-Ziegel waren zu schwach
gebrannt und hielten der winterlichen Kälte nicht stand. Immerhin sank in den damaligen
Wintern das Thermometer in einzelnen Nächten auf minus 23 Grad. Die Willi-Ziegel brachen
teilweise auseinander mit der Folge, dass auf unserem Dachboden manchmal 20 cm
Flugschnee lagen und hinausgeschippt werden mussten. In der wärmeren Jahreszeit regnete es
herein. Mein Vater ärgerte sich sehr. Es kam für ihn aber noch schlimmer. Vater ließ von
einer anderen Firma bessere, anders geformte Ziegel kommen und das Dach neu decken.
Leider hatten aber – vermute ich heute – die Dachlatten, auf denen die Ziegel lagen, für die
neuen Ziegel nicht den passenden Abstand, oder sonst etwas war nicht richtig. Jedenfalls trieb
der Wind auch in das neue Dach Flugschnee hinein, und dieser Schnee türmte sich zu
regelrechten Schneewehen auf. Die Firma besserte nach, indem sie Filzstreifen zwischen die
neu aufgebrachten Ziegel legte. Das half. Auch im Sommer hielt das neue Dach dann dicht.
Für den Vater gab es aber noch einen weiteren Schlag, den er verkraften musste: Sein
Bruder Willi lieferte offenbar auch anderen Kunden mangelhafte Ware und ging in Konkurs.
Konkurse wurden damals nicht nur im Amtsblatt angezeigt, sondern auch in der örtlichen
Tageszeitung. Papa fürchtete, dass seine Kollegen, der Chef, und viele Kunden, mit denen er
zu tun hatte, die Nachricht vom Konkurs des Willi Pothast gelesen hätten, und schämte sich
maßlos. Soweit meine Kenntnisse reichen, wurde mein Vater aber nicht oder höchstens am
Rande auf die Sache angesprochen, und sie hat ihm wohl nicht geschadet. Konkurse kamen
außerdem in der Hast der Aufbaujahre überall vor. Manche Leute gingen zwei-, dreimal
Pleite, machten mit ihrer vierten Firma wirklich Geld und wurden reich. Spätestens von der
dritten Insolvenz an liefen solche Unternehmen häufig auf den Namen der Frau oder eines
erwachsenen Kindes. Der Pleitier war dann offiziell nur noch „Geschäftsführer“ oder gar nur
noch „Berater“, dirigierte aber aus dieser Position heraus das ganze Unternehmen. Solche
Geschichten machten die Runde, wurden tunlich aufgeblasen und ermunterten andere zu
neuen Konkursen.
Mein Vater war jedoch für Abenteuer dieser Art zu gewissenhaft, er hatte auch sein
Kaufmannshandwerk zu sorgfältig gelernt. Also diente er weiterhin seiner Firma und war
inzwischen deren alleiniger Einkäufer. In Anerkennung seiner Sorgfalt und enormen
Arbeitsleistung, die sich, wie gesagt, auch auf die Sonntage erstreckte, überreichte ihm sein
Chef zu Weihnachten 1951 in repräsentativem Umschlag ein Papier. Es war die Zusage einer
lebenslangen Betriebsrente für ihn und, nach seinem Tod, auch für seine überlebende Ehefrau,
wenn mein Vater bis zur Vollendung seines 60. Lebensjahres für die Firma arbeitete. 1951
war der Vater 45 Jahre alt. Der Betrag der Rente war, solange Vaters Ehe dauerte, auf 400 D-
Mark im Monat festgesetzt und sollte sich, falls der Vater vor meiner Mutter stürbe, für die
Witwe dann lebenslang auf 200 DM stellen. Im Jahr 1951 waren das im Verhältnis zu Vaters
Gehalt von netto ca. 800 DM sehr große Beträge, zumal er davon ausgehen konnte, dass sie
noch zu seiner gesetzlichen Rente hinzu kämen. Leider waren jene Beträge nicht
inflationsgesichert, es gab also für den Fall wieder anziehender Geldentwertung für Papas
Betriebsrente keine Sicherheit. Aber 1951 war von inflationären Entwicklungen noch nicht
die Rede, das neue Geld hatte die Nazi- und Kriegsinflation endgültig abgelöst und galt als
stabil. Vater war für das - damals noch gar nicht übliche - Rentengeschenk sehr dankbar, und
seine Identifikation mit Job und Firma wurde womöglich noch stärker. (Übrigens: Als Vater
dann mit 63 Jahren einen Schlaganfall erlitt, in Ruhestand ging und seine Betriebsrente
beanspruchte, verweigerte die Firma mit fadenscheinigen Gründen die Zahlung. Das
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Unternehmen war inzwischen von seinem früh verstorbenen Gründer auf dessen Kinder
übergegangen, die ein neues Verhältnis zu ihren Mitarbeiten pflegten und am Ort dafür
berüchtigt waren. Mein Vater musste durch alle Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht um
diese Rente kämpfen und wäre bei geschwächter Gesundheit über den Aufregungen des
Prozesses beinahe gestorben. Schließlich gewann er in vollem Umfang. Aber er musste
erleben, dass die Inflation der 70er Jahre die Kaufkraft seiner Rente fast um die Hälfte
verminderte.)

28. Fleißige Flüchtlinge, ein Jude und ein Fremder


Soweit die Stadt Steinau an der Straße heute überregional bekannt ist, verdankt sie dies ganz
wesentlich der Tatsache, dass die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm wichtige Jahre ihrer
Jugend hier verbrachten. Ihr Vater war Amtmann in gräflich-hessischen Diensten und
örtlicher Richter. Er übte sein Amt aus (und wohnte mit seiner Familie) in einem Gebäude aus
der späten Renaissancezeit, das noch erhalten ist und heute als Museum dient. In der Zeit, in
der ich bei meinen Eltern in Steinau lebte (1951 bis 1959), scheint die Brüder-Grimm-
Vergangenheit jedoch noch nicht die zentrale Rolle im Selbstverständnis der Steinauer
gespielt zu haben, die sie heute innehat. Man hatte wohl in diesen Aufbaujahren einfach
andere Sorgen als die Traditionspflege. Das heutige Brüder-Grimm-Haus war damals Sitz des
örtlichen Amtsgerichts, in dem weitläufigen Hof und der zugehörigen Scheune, heute
ebenfalls Museum, spielten die Kinder „Räuber und Gendarm“.
Interessanter für die Gemüter der örtlichen Bevölkerung waren nach dem Krieg die
Neuentwicklungen, vor allem wenn es um Arbeitsplätze ging. Eine dieser Entwicklungen ging
von den Menschen aus, die aus früheren Ostgebieten geflüchtet bzw. vertrieben waren. Die
Flüchtlinge waren, wie gesagt, nicht sehr beliebt, aus verschiedenen Gründen. Noch
unbeliebter machte sich eine Gruppe von ihnen durch Bau eines eigenen kleinen
Gotteshauses, im Grunde nur einer Gottesbaracke. Diese Flüchtlinge waren Baptisten und
übten in ihrer eigenen Form ihre Religion aus. Dass in diesem Ort Steinau, der seit langem
unitarisch-protestantisch war, gleichzeitig auch die aus Schlesien zugewanderten Katholiken
ihren Gebetsraum einrichteten, wurde noch mühsam akzeptiert. Aber Baptisten! Das war eine
Sekte! So etwas hatte man noch nie erlebt. Allerlei Horrorgeschichten über die Gottesdienste
der „Sektierer“ und angebliche heimliche Zusammenkünfte machten die Runde. Dunkle
Unterstellungen kursierten. Diese Leute wurden „geschnitten“, wie es hieß. Es tut mir leid
sagen zu müssen, dass der protestantische Pfarrer der örtlichen Gemeinde nach meiner
Erinnerung nichts (oder höchstens sehr wenig) tat, um die zugewanderten Schwestern und
Brüder in Christo zu verteidigen, geschweige denn, sie willkommen zu heißen.
Die Baptisten wie auch die schlesischen Katholiken waren aber überwiegend
Menschen mit guter Berufsausbildung und soliden Kenntnissen. Sie brachten vor allem
Kenntnisse in der Textilfertigung mit, die in Schlesien und in den polnisch-deutschen
Grenzgebieten eine große Tradition hatte. Und so waren die eingesessenen Steinauer höchst
erstaunt, als eine Gruppe von Flüchtlingen allen Ernstes eine kleine Fabrik gründete. Es sollen
vor allem Baptisten gewesen sein, die bald nach der Währungsreform ein leerstehendes
Lagerhaus mieteten und dort mit der Fertigung von Stoffen begannen. Die große Solidarität
unter den Flüchtlingen dürfte begünstigt haben, dass das Geld für erste Maschinen
zusammenkam. Und die Entbehrungsbereitschaft der Flüchtlinge, die unbedingt wieder Boden
unter den Füßen bekommen wollten, dürfte ein Faktor dafür gewesen sein, dass die Fabrik
zunächst mit bescheidenen Löhnen kostengünstig arbeitete. Tatsache ist, dass diese Fabrik,
mit unternehmerischem Geschick geleitet und von hervorragenden Fachkräften betrieben, in
den fünfziger Jahren wuchs und wuchs. Um das Jahr 1960 gab dieses Werk, genannt „Inhag“,
mehr als 200 Menschen Lohn und Brot. Es hatte zu diesem Zeitpunkt in seiner Bedeutung für
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die Kleinstadt Steinau schon aufgeschlossen zu der seit den dreißiger Jahren eingesessenen
Seifenfabrik „Dreiturm“, die bislang der wichtigste Arbeitgeber gewesen war.
Die Geschichte dieser Seifenfabrik beginnt eigentlich in Spanien. Von dort kam im 16.
Jahrhundert die jüdische Familie Lobo nach Hessen, um den Verfolgungen der Inquisition zu
entgehen. Der Name „Lobo“ wurde eingedeutscht zu „Wolf“. Ein Nachfahre gründete im 19.
Jahrhundert in Schlüchtern eine Fabrik für Seife und Kerzen. Wieder ein Nachfahre, Max
Wolf (1887-1948), dehnte die Aktivitäten aus und erwarb ein großes Grundstück in Steinau,
das den Vorteil eines direkten Gleisanschlusses zur Reichsbahn hatte. Dort errichtete er Ende
der 1920er Jahre ein großzügiges, modernes Fabrikgebäude mit einer Backsteinfassade im
Bauhaus-Stil, die, denkmalgeschützt, noch heute von den Zügen der Bahn aus gesehen
werden kann. Die neue Seifenfabrik Dreiturm wurde 1930 eingeweiht. Gegen den Juden Max
Wolf, der der Sozialdemokratie nahestand, richteten sich schon vor 1930 Angriffe der
örtlichen Nazis. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 intensivierten sich diese Angriffe und
führten schon 1934 nach einer fast unglaublichen Serie von Intrigen und Willkürakten zur
Beschlagnahmung der Fabrik durch den nationalsozialistischen Staat. Die Leitung des Werkes
wurde einem Wirtschaftskommissar übertragen. Später wurde der Zwangsverkauf dieses
jüdischen Eigentums an einen Frankfurter Fabrikanten, der den Nazis nahe stand, in die Wege
geleitet. In der Nachkriegszeit wurde erst nach längeren Gerichtsverfahren und weiteren
Auseinandersetzungen der nach England ausgewanderten Familie Wolf ihr Eigentum
zurückerstattet. Max Wolf, der Erbauer des Steinauer Werkes, erlebte die Rückgabe seines
Eigentums nicht mehr.
Die Stadt Steinau war vor den Bautätigkeiten Max Wolfs eine eher ländliche
Kommune ohne größere Industrie. Zwar hatte sie vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert eine
bemerkenswerte Geschichte als Zentrum des oberen Kinzigtals an der alten via regia, der
„Straße“, und erhielt schon 1290 Stadtrecht. Von dieser Zeit zeugen noch heute das
spätgotische Rathaus, die Stadtmauern, das Schloss aus der Frührenaissance und viele andere
Gebäude. Diese ursprüngliche Bedeutung war ihr aber zu großem Teil verloren gegangen, seit
1821 die Nachbarstadt Schlüchtern Kreisstadt wurde und die frühere Rolle von Steinau als
lokales Zentrum übernahm. Im frühen 20. Jahrhundert lebte Steinau neben der eigenen
Landwirtschaft vor allem davon, dass die Stadt mit ihren Geschäften, Handwerksbetrieben,
Mühlen und einer kleinen Wagenmanufaktur einen wirtschaftlichen Mittelpunkt für die
Bevölkerung der nahgelegenen Dörfer darstellte. Vom Bedarf und den Einkaufsgewohnheiten
der Menschen dieser Dörfer war der Ort in gewissem Umfang abhängig. Max Wolfs Fabrik
Dreiturm war ein erster wichtiger Schritt zu einer begrenzten Industrialisierung, die auch zur
Minderung der Abhängigkeit von den umliegenden Gemeinden beitrug. Die von den
Flüchtlingen gegründete Textilfabrik Inhag war ein zweiter Schritt in diese Richtung. Um das
Jahr 1960 waren beide Fabriken ungefähr gleich groß (geschätzt je 200 bis 250 Mitarbeiter).
Sie waren zu diesem Zeitpunkt die bei weitem wichtigsten Arbeitgeber in Steinau. Ich selbst
habe 1961 zwecks Finanzierung meines Studiums mehrere Wochen in der Inhag gejobbt.
Später ging zwar dieses Werk wegen starker ausländischer Konkurrenz nieder, wie fast die
ganze deutsche Textilindustrie. Aber andere Industriebetriebe siedelten sich neu an, vor allem
in der Nähe der weiter bestehenden Dreiturm, wo eine günstige Verkehrsanbindung gegeben
ist.
Außer den Flüchtlingen gab es noch weitere Fremde, die in den Jahren der
Nachkriegszeit nach Steinau kamen. Zu ihnen gehörte Karl Magersuppe, der Puppenspieler
und Gründer des Marionettentheaters „Die Holzköppe“. Dieses Theater hatte Magersuppe
schon vor dem Krieg an anderem Ort betrieben. In Steinau wurde ihm jetzt ein kleiner
Theaterraum im früheren Marstall des Schlosses zur Verfügung gestellt. Hier gründete er
1955 sein Theater neu. Anfangs von vielen Steinauern belächelt, führte er freundlich, aber
auch energisch seine kleine Bühne auf ein Niveau, auf dem es mit sehr viel bekannteren
Marionettentheatern (Augsburg, Lindau, Düsseldorf, Salzburg) in einem Zug genannt werden
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konnte. Nach Magersuppes Tod spielte sein Theater unter Nachfolgern weiter. Im Programm
standen dank der Bindung an Steinau häufig Märchen der Brüder Grimm. Die kulturelle und
touristische Selbstdarstellung von Steinau stützt sich heute ganz wesentlich auf die
Verbindung mit diesem großen Brüderpaar. In dieser Selbstdarstellung der Stadt hatte
Magersuppes Marionettenbühne für Jahrzehnte einen festen Platz, man kann ruhig sagen: eine
tragende Rolle. Als Wanderbühne, die in Steinau ihren ständigen Sitz hat, besteht es noch
heute.
Vielleicht ist das Ganze nicht untypisch für deutsche Kleinstädte. Fremde sind im
Prinzip nicht allzu willkommen. Aber wenn man sie einmal gewähren lässt und sie ihre
mitgebrachten Kenntnisse und Fertigkeiten nutzen können, kann es sein, dass sie zuweilen
auch sehr bemerkenswerte Dinge zustande bringen, an die die Kleinstädter selbst nie gedacht
hätten.

29. Schrott, Kino, Kapitalismus und Silvana Mangano


Vom Krieg her lagen noch viele Trümmer herum und auch Schrott. Schrott zu sammeln
war einträglich, das alte Zeug brachte ein bisschen Geld, und es gab viel davon. Unser
örtlicher Schrotthändler hatte sich mitsamt seiner Ware in einem alten Hohlweg, einer „Holl“
angesiedelt, ähnlich der, in der die sorglosen Amerikaner seinerzeit die überflüssige Munition
lagerten. Seine Behausung dort war so eigentümlich, dass mir das Wort „Obdachloser“
einfiel. Ich hatte es in der Schule gehört. Reale Obdachlose scheint es in der Zeit um 1950 nur
wenige gegeben zu haben, auch in den zerbombten Großstädten, oder sie traten sehr viel
weniger in Erscheinung als man vermuten möchte. Die Gesellschaft scheint einen besseren
Zusammenhalt gehabt zu haben, trotz vielfach ärmlichster, äußerst enger Verhältnisse.
„Meine“ ersten Obdachlosen in Deutschland habe ich viele Jahre später im Westen Berlins
gesehen, als ich zum Studieren dort hin ging. In Steinau gab es natürlich keine Menschen
dieser Art, und auch der Schrotthändler war nicht obdachlos. Er legte nur keinen Wert auf ein
persönliches Erscheinungsbild, das gängigen deutschen Vorstellungen von einem Herrn in
mittleren bis fortgeschrittenen Jahren entsprochen hätte. Rückblickend meine ich, er war
finanziell sicher flüssiger als z.B. meine Eltern, die an ihrem Haus schleppten und noch lange
daran schleppen sollten.
Dass der Schrotthändler mit seinem Altmetall und Altpapier auch Geld verdiente, war
eigentlich schon immer klar. Es wurde aber wesentlich sichtbarer, als dieser Mann plötzlich
das frühere Steinauer Kino wieder in Betrieb nahm. Es war zwar ein alter Kasten, aber es
gehörte ihm. Außerdem, ein Kino! Alle, die die Erscheinung des Schrotthändlers bislang
missbilligt hatten, hätten sich jetzt sagen müssen, dass er in diesem Ort ein Kulturträger war.
Leider sagten sich das nicht alle, speziell nicht die, die sich selbst für große Kulturträger
hielten, die Volksschullehrer und die Geistlichen aller inzwischen hier vertretenen
Konfessionen. Der Schrotthändler legte auf ihre Anerkennung auch keinen Wert, und die
Massen strömten trotzdem in sein Haus. Es gab noch kein Fernsehen. Der Mann hatte keine
Konkurrenz.
Der Widerstand der Kulturträger gründete sich vor allem auf Die Sünderin. Dieses
Werk löste den größten Filmskandal aus, den das deutsche Kino bis heute gesehen hat.
Angeblich waren es gar nicht so sehr die nackten Brüste der Hildegard Knef, die sehr kurz auf
der Leinwand erschienen, als vielmehr die Gesamthandlung. In ihr wurde wie
selbstverständlich über Freie Liebe, Prostitution, Sterbehilfe und Suizid gesprochen und dies
alles auch praktiziert. Das war zu viel für die Vertreter der Kirchen, und ganz besonders für
die Vertreter der katholischen Kirche. Meine Eltern haben den Film wohl noch wenige
Monate vor dem Umzug ins neue Haus in unserem früheren (erzkatholischen) Wohnort
Salmünster gesehen. Dort predigten die Franziskaner bei jeder Gelegenheit mit solcher Wut
gegen den Film, dass Gottesdienstbesucher einzelnen Predigern nachsagten, bei ihnen fliege
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der Geifer von der Kanzel. Für die Kinobetreiber war dies ein beispielloser Geldsegen. Es
wurde gesagt, dass speziell die katholischen Hausfrauen ausnahmslos in diesen Film liefen,
viele sogar mehrfach. Das waren die Frauen, die in besonderem Maß unter der Fuchtel ihrer
braunkuttigen Beichtväter standen. Natürlich gab es den Aufstand der Frömmelei auch im
evangelischen Steinau, wo selbst meine ansonsten liberale Großmutter, die den Film nicht
gesehen hatte, ihn für ein Werk der Hölle hielt. Meine zur Frömmelei neigende Mutter tat dies
sowieso, hatte aber den Film wenigstens angeschaut.
Seinem moralischen und emotionalen Klima nach gehörte dieser Film eigentlich gar
nicht ins Jahr 1950, sondern in das erste Jahr nach Kriegsende. Er konnte nur damals nicht
gedreht werden, weil alles in Trümmern lag. 1945/46 hätte sich kaum jemand über die
Themen des Films aufgeregt, weil sie sowieso Teil des täglichen Lebens waren. Freie Liebe
und Prostitution hatten schon die Nazis unauffällig gefördert, jetzt waren sie unvermeidlich.
Sterbehilfe und Suizid erlebten im Zusammenbruch und noch Wochen danach einen
beispiellosen Boom. Die Größen des Reichs gingen voran: Magdalena Goebbels vergiftete
sechs ihrer Kinder, bevor sie sich selbst von ihrem Mann erschießen ließ. Der „Führer“ gab
seiner eben erst geehelichten Frau die Giftpille, bevor er sich selbst in den Kopf schoss. Wenn
die Bevölkerung auch von diesen Taten nicht sofort erfuhr, waren sie doch Teil eines
verbreiteten Verhaltensmusters unter denen, die bis zuletzt an den „Endsieg“ geglaubt hatten
und jetzt den totalen Crash ihrer Illusionen erlebten. Die Suizide und Tötungen auf Verlangen
schwollen zu riesigem Ausmaß an. Allein was Berlin angeht, wird für die Wochen vor dem
Zusammenbruch bis etwa drei Monate danach von bis zu sechzigtausend solcher Ereignisse
gesprochen.
Wir Kinder sahen natürlich nicht Die Sünderin und andere Skandalfilme für die
Erwachsenen. Trotzdem wurde der Schrotthändler mit seinem Kino für uns zu einem
Lichtblick in der Kleinstadt, denn er zeigte sonntags nachmittags Western. „Wildwestfilme“
hießen sie damals. Ab und zu gab es auch zeitgenössische Krimis, aber in der Minderzahl. Die
Western waren das Größte. Für uns ritt John Wayne in Rio Grande genauso tapfer durch die
fast immergleiche Landschaft solcher Filme wie in Bis zum letzten Mann oder Der
Teufelshauptmann. Henry Fonda war öfter anwesend, Maureen O’Hara, Shirley Temple,
Olivia Dandridge zeigten ihre ganze Schönheit, und der Shootout war immer großartig. Am
lustigsten wurde es für uns aber, wenn der Film riss. Das geschah in den Kindervorstellungen
fast regelmäßig. Vielleicht waren die per Eisenbahn gelieferten Filmrollen schon abgenutzt
oder die Projektoren waren alt oder der Schrotthändler bzw. sein Vorführer machten
irgendwelche Fehler, weil sie in die Kindervorstellungen keine Aufmerksamkeit investierten.
Wenn der Film riss, wurde der Saal erst einmal dunkel. Das gab Gelegenheit für allerlei
Geschrei und sonstigen Unfug, beim pubertierenden Teil des Publikums natürlich auch für
Geschmuse und Heftigeres. Dann lief der Film oft wieder an. Die, die ihn sehen und den Ton
hören wollten, verlangten Ruhe, und langsam kehrte eine begrenzte Ruhe wieder ein. Da die
Westernhandlungen, wie wir bald bemerkten, alle ähnlich gebaut waren, war es uns auch
manchmal nicht unwillkommen, wenn nach einer längeren Strecke die Vorstellung plötzlich
ganz aufhörte. Schrotthändler oder Vorführer hatten dann den gerissenen Film nicht wieder
zusammengebracht, und wir bekamen unser Geld zurück, hatten aber immerhin ein gutes
Stück Western schon gesehen - kostenlos. Einmal habe ich es erlebt, ein zweites Mal soll es
vorgekommen sein, dass der Film erst kurz vor seinem Ende den Geist aufgab. Da stieg der
Schrotthändler in persona auf die Bühne, sprich: vor die weiße Leinwand, und erzählte den
Schluss. Geld bekamen wir keins zurück, denn wir kannten ja jetzt die Handlung, und waren
wütend. Aber kein Erwachsener wollte sich zum Rächer dieses Geldraubs machen lassen.
Leider, möchte ich fast sagen, kam dann in den mittleren fünfziger Jahren ein kalter
auswärtiger Kapitalist auf die Idee, in Steinau ein ganz neues Kino zu bauen. Natürlich
brachte er den Fortschritt. Sein Kino hatte nagelneue rote Sessel, indirekte Beleuchtung,
hervorragende neue Projektoren und einen Kondomautomat auf dem Herrenklo. Hier trat
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dann auch wieder Marika Rökk in Aktion, die wegen Naziverstrickung ein paar Jahre aus dem
Verkehr gezogen worden war. Außer ihr natürlich Maria Schell, die Angela Merkel des
deutschen Films dieser Jahre. Aber es kamen, als wir schon Heranwachsende waren, auch
Silvana Mangano mit dem nassesten Oberteil, das je auf Brüsten gelegen hat, und Gina
Lollobrigida. Später Marilyn Monroe, Brigitte Bardot und am Ende auch Sophia Loren – alle
ohne Büstenhalter (angeblich). Die letzteren Damen habe ich nicht mehr als Heranwachsender
bewundern können, aber vor allem Silvana Mangano durchaus geschätzt. Leider wurde mir
der Spaß verdorben dadurch, dass nach der dritten Vorstellung von Bitterer Reis, die ich mit
einem Freund besucht hatte, auch meine Mutter unter denen war, die den eben zu Ende
gegangenen Film verließen. Sie müsse doch als Mutter wissen, welche Filme ihr Sohn sich
ansehe, sagte sie.
Das neue Kino war mir durch diese Erfahrung so verleidet, dass ich mich kurzzeitig
einer Gruppe Jugendlicher anschloss, die willentliches, lautes Rülpsen systematisch geübt
hatten. Bei jeder sentimentalen Kuss-Szene gaben wir unsere Rülpser von uns und zogen den
Zorn des übrigen Publikums auf uns. Aber auch diese Sache verlor bald ihren Reiz, und ich
mied das neue Kino fortan, außer wenn mein Vater einmal mitging. Mit ihm konnte man
wenigstens unter Männern noch ein freies Wort über das reden, was man gesehen hatte.

30. Buttercreme, Herzinfarkte

Nach Gründung der Bundesrepublik (24.5.1949) endete 1950 die Lebensmittelbewirt-


schaftung. Man brauchte nun auch amtlich keine Marken mehr, um die Dinge zu kaufen, die
man so lange hatte entbehren müssen. Auch die jahrelang kaum erhältliche Butter war frei
käuflich, wenn man das Geld dafür hatte. Vielleicht ist charakteristisch für die Situation, dass
ein halbes Pfund Deutsche Markenbutter im Jahr 1950 zwei Mark fünfzig kostete, aber heute,
im Jahr 2019, nur etwa 1,15 Euro, also weniger als 68 Jahre zuvor. Die erstaunliche
Preisdifferenz spiegelt nicht nur die Fortschritte der industriellen Landwirtschaft wider, was
man wohl eher bedauern wird, sondern auch den enormen Marktwert der Butter zur frühen
Zeit des Wirtschaftswunders. Butter zu essen, war ein Statussymbol. Das private Auto als
Statussymbol kam erst deutlich später. Im Krieg und der ersten Nachkriegszeit waren Fette
diejenigen Lebensmittel gewesen, die über das Kartensystem der Zivilbevölkerung besonders
kärglich zugeteilt wurden. Jetzt hielten sich die Menschen schadlos für die lange erduldete
Mangelwirtschaft, und Butter war der Favorit.
Wir Kinder, jetzt schon fast Jugendliche, luden einander zu unseren Geburtstagen ein.
Hier ragte der Geburtstag eines Klassenkameraden besonders heraus. Dieser Geburtstag
wurde zur kältesten Zeit des Jahres, im Januar, gefeiert und nahm bald den ersten Rang unter
diesen kleinen Festen ein. Die Mutter des betreffenden Jungen, eine selbst recht beleibte Frau,
fuhr jedes Mal vier oder fünf Buttercremetorten auf, die auch ohne Rest gegessen wurden.
Mein Geburtstag hingegen wurde im Herbst gefeiert, falls meine Mutter überhaupt eine Feier
veranstaltete. Und gemäß dem anderen Geschmack meiner (sehr schlanken) Mutter und ihrem
lebenslangen Interesse an gesunder Ernährung gab es zu meinem Geburtstag, wenn überhaupt,
nur Obsttorten, Obstkuchen und vielleicht noch Rührkuchen mit Schokolade
(„Marmorkuchen“). Eine Buttercremetorte bekam ich nie. Da diese Art Torte aber den
höchsten Status verbürgte, waren meine Geburtstage nicht sehr beliebt. Ich war freilich auch
nicht der fleißigste Gastgeber. Ich war ein eher zum Alleinsein neigender Jugendlicher und litt
nicht sehr darunter, dass ich wenig Besuch bekam.
Erstaunlich schnell machte sich der 1950 schlagartig einsetzende starke Fettkonsum
im Gesundheitszustand vieler Menschen bemerkbar. Es gab Männer, die noch 1948 dürre
Nachkriegsgestalten gewesen waren, die in den frühen 50er Jahren aber dramatisch an
Gewicht zulegten, so dass sich ihr Aussehen völlig veränderte. Vor allem bei Männern mit
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Bürotätigkeit und großem Stress im Beruf waren noch andere schädliche Faktoren beteiligt
wie starkes Rauchen und Bewegungsmangel. Jedenfalls lernte man bald ein neues Wort,
„Managerkrankheit“. Das war ein Oberbegriff, unter den vor allem der Herzinfarkt fiel.
Herzinfarkte, die man zwei Jahrzehnte lang kaum gekannt hatte, kamen plötzlich gehäuft vor
und arrivierten schnell zu einer anerkannten Zeiterscheinung, fast zu einer Zeitsignatur. Dass
manchmal sehr erfolgreiche, weit nach oben gekommene Menschen Herzinfarkte erlitten,
erregte starkes Interesse und punktuell vielleicht auch heimliche Befriedigung bei den
weniger steil Aufgestiegenen.
Mein Vater gehörte zu den Männern, die bei sitzender Beschäftigung, vielen
Zigaretten und fettem Essen sehr stark an Gewicht zulegten. Meine Mutter war überaus
besorgt, das Wort „Managerkrankheit“ fiel in ihren Äußerungen eine Zeit lang unablässig.
Außerdem baute sie in ihrem neu angelegten Garten hinter dem Haus Salate, diverses
Gemüse, noch vieles Weitere, das als gesund galt. Ihre Grünzeugproduktion, in die der
heranwachsende Sohn als widerwilliger Hiwi fest eingebunden war, übertraf unseren Bedarf
bei Weitem. Im Herbst mussten viele ihrer Erzeugnisse an Nachbarn verschenkt werden.
Wenn mein Vater zu Hause war, wurde er äußerst gesund ernährt – nicht unbedingt zu seinem
Ergötzen, er war kein Freund der grünen Lebensform. Der Vater bekam damals keinen
Herzinfarkt, arbeitete unermüdlich weiter und reicherte seine Arbeit um neue Tätigkeitsfelder
an. Hingegen bekam viel später, in seinem 35. Lebensjahr, eben derjenige Junge einen Infarkt,
für den stets die besten Buttercremetorten gebacken worden waren. Das kann natürlich auch
ganz andere Ursachen gehabt haben.

III. Die Welt öffnet sich

31. Holz, Holland und Striptease


Die Firma von Vaters Arbeitgeber wuchs, die Wünsche der Kunden auch. Heimische
Hölzer befriedigten die Ansprüche der Kunden immer weniger. Gefragt waren nun die
wunderschönen und wertvollen Tropenhölzer. Etwa 1953 begann die Firma mit der
Verarbeitung von Tropenholz. Mein Vater, der Einkäufer der Firma und jetzt auch einer
zweiten des gleichen Eigentümers, arbeitete sich in dieses Gebiet ein. Er fuhr regelmäßig nach
Rotterdam, wo die Seeschiffe mit riesigen Holzladungen ankamen. Dort wurde das Holz von
den Einkäufern begutachtet, und es wurden große Posten, die häufig mehrere Binnenschiffe
(Rheinschiffe) füllten, verhandelt und gekauft. Es war eine schwierige, sehr
verantwortungsvolle Tätigkeit, aber sie machte Papa Spaß.
Die Fahrten nach Holland mit dem Firmenwagen waren anstrengend und manchmal
nicht ganz ungefährlich. Da mein Vater, um eine möglichst leere Straße zu haben, gern bei
Nacht fuhr, gehörte er zur Zielgruppe der „Autobahngangster“. Die Voraussetzung für das
Geschäftsmodell dieser Leute war die - noch - geringe Dichte des nächtlichen Verkehrs auf
einigen Straßen, in diesem Fall auf grenznahen Teilen der Autobahn, die über Oberhausen
und Arnheim nach Rotterdam führte. Die Gangster gingen immer ähnlich vor: Sie sperrten die
Bahn, indem sie einen Unfall oder eine sonstige Notlage vortäuschten, oft in Polizeiuniform.
Die wenigen ankommenden Fahrzeuge wurden gestoppt, ihre Fahrer und Fahrzeuge wurden
brutal ausgeraubt. Wenn Gefahr drohte, flohen die Verbrecher in schnellen Autos, die von der
Polizei nicht eingeholt werden konnten. Die ganze Republik empörte sich über die Ohnmacht
der Ordnungshüter. Die Autofahrer griffen zur Selbsthilfe, indem sie sich an bestimmten
Tankstellen sammelten und Geleitzüge bildeten, wie man sie aus dem U-Boot-Krieg kannte.
Schlussendlich bekam die Polizei Wagen der Marke Porsche, fing einige Gangster, und die
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Republik sagte: „Na also, es wurde auch Zeit.“ Ob die Überfälle deswegen zurückgingen oder
einfach, weil der Straßenverkehr auch nachts sehr rasch zunahm, wurde wohl nie aufgeklärt.
Aus Holland brachte mein Vater regelmäßig Güter mit, die noch der Zollkontrolle
unterlagen, vor allem Kaffee und Schokolade, aber auch Zigaretten für sich selbst. Und er
nahm einzelne Familienmitglieder mit auf diese Fahrten, zunächst meine Mutter, dann auch
mich und in späteren Jahren meine Schwester. Vor allem wir Kinder hatten auch die Aufgabe,
den Vater auf den langen Nachtfahrten zu unterhalten und damit am Einschlafen zu hindern.
Die Reisen nach Holland waren für uns alle ein Fenster zu einer anderen Welt. Außer der
Innenstadt von Rotterdam (die schon fast wieder aufgebaut war) zeigten die holländischen
Städte wenige Kriegsschäden. Wir sahen ein gepflegtes, aus unserer Sicht blühendes,
friedliebendes Land. Die Menschen erschienen uns freundlicher, sinnlicher und vor allem
weniger gehetzt als in Deutschland. Sie hatten Sinn für den Genuss ihres Lebens und zeigten,
dass sie genießen konnten. In alle Wohnzimmer konnten wir hineinsehen. Die Holländer
schirmten ihr Wohnen nicht gegen fremde Augen ab. In den Großstädten boten käufliche
Frauen in speziellen Schaufenstern ihre Dienste an. Wir alle zogen unsere Schlüsse aus dem
Gesehenen und diskutierten sie zu Hause. Meine Mutter zum Beispiel sprach voll
Bewunderung von den schönen, gepflegten Villen und Gartenanlagen, die sie in Holland
gesehen hatte. Obgleich sie sich sagen musste, dass diese Villen wohl auch hier überwiegend
aus der Vorkriegszeit stammten und reiche Leute beherbergten, quälte sie sich durch ständiges
Vergleichen. Sie konnte sich nicht genug tun in Äußerungen des Ärgers über das kleine Haus
in den engen Maßen des sozialen Wohnungsbaus, in das ihr Erbteil unwiederbringlich
verschwunden war.
Für meine Mutter wurden die Holland-Fahrten des Vaters leider bald auch
problematisch, weil er nie im Voraus sagen konnte, wann er zurückkommen würde. Seine
Verhandlungen über wichtige Kaufverträge zogen sich manchmal auf unkalkulierbare Weise
hin. Oder es kamen unvorhergesehen noch weitere Schiffe mit Holz an, das beurteilt und
gegebenenfalls gekauft werden musste. Auch das Umladen von den Seeschiffen auf die
Binnenschiffe für die Weiterfahrt auf dem Rhein kostete Zeit. Da wir zu Hause aus
Kostengründen kein Telefon hatten, wusste meine Mutter nie wirklich, wann mein Vater von
einer dieser Reisen zurückkommen würde. Dies und natürlich auch die häufige Abwesenheit
des Ehemanns als solchen müssen meine Mutter sehr belastet haben. In den späteren fünfziger
Jahren habe ich sie als zunehmend schwierig erlebt.
Als ich anfing, mit dem Fahrrad eigene Fahrten zu unternehmen, bald auch ins
Ausland, gingen für mich die Holland-Reisen mit dem Vater zu Ende. Auch war meine
Schwester nun hinreichend alt und verständig, um eine angenehme, unterhaltsame
Reisebegleitung abzugeben. Nur als ich schon 17 Jahre alt war, nahm mein Vater mich noch
einmal mit nach Rotterdam ins Hotel „Atlantik“, wo er zu übernachten pflegte. An den Tagen
stiegen wir auf den Seeschiffen über riesige Stämme, sahen zu, wie die Ladebäume sie aus-
oder umluden, und der Vater verhandelte mit der holländischen Importfirma. An einem der
Abende sagte er, es sei jetzt Zeit, dass ich auch einmal das Hafenleben bei Nacht kennen
lerne, und fuhr mit mir in ein Stripteaselokal. Wir sahen einen sehr professionellen, mit viel
Geschick durch Musik, Tanz und reizvolle Handlungen lang hingezogenen Strip, an dessen
Schluss ich sehr erregt und auch etwas benommen war. Nach der Rückkehr ins Hotel konnte
ich die halbe Nacht nicht einschlafen. Vielleicht zum ersten Mal habe ich mich auch vor dem
Vater ein wenig geschämt.

32. Italien! Italien!


Im Haus der Mutter meines Vaters, das in den Nachkriegsmonaten von amerikanischen
Offizieren besetzt war, hatten diese Besatzer eine militärische Karte des Teils von Hessen
liegengelassen, in dem wir wohnten. Diese Karte, im Maßstab 1:10.000, erwies sich als ganz
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wesentlich genauer denn die Karten, die uns in der Schule über das heimische Hessen
zugänglich gemacht wurden. Sie ermöglichte mir, mit dem Fahrrad sicher orientierte Touren
durch die nahen Wälder des Spessarts, die Hänge des Vogelsbergs und auch Teile der
Vorderen Rhön zu unternehmen. Ich fuhr oft allein, auch ohne meine Mutter zu informieren.
Wie gesagt, neigte ich zum zufriedenen Alleinsein.
Zu dieser Entwicklung gab es jedoch Gegengewichte, für die ich noch heute dankbar
bin. Außer den Jugendgruppen des Vikars Happich, über die noch zu reden ist, gab es ein
weiteres Gegengewicht in Gestalt von zwei unternehmungslustigen Jungen. In den Wäldern
zwischen Spessart und Rhön südöstlich von Steinau, im engen Tal des Flüsschens Jossa, lag
das Dorf Jossa. In ihm wohnte, von den Behörden dort eingewiesen, die aus der sowjetischen
Zone („Ostzone“) zugewanderte Familie eines Klassenkameraden. Der Kamerad hieß Klaus.
Sein Vater war „Hauptmann z.W.“ Er legte Wert darauf, nicht „Hauptmann a.D.“ zu sein,
sondern eben „z.W.“, „zur Wiederverwendung“. Es war der Herbst 1954, in Bonn unter
Adenauer hatten längst die ersten Überlegungen zur Wiederbewaffnung Deutschlands in
einem Bündnis mit den Westmächten begonnen. Man wollte den Sowjets etwas
entgegensetzen können, die als riesige, hochgerüstete Militärmacht nur etwa 60 Kilometer
von uns entfernt an der thüringischen Grenze standen. Bei der Familie des Hauptmanns z.W.
wohnte noch ein weiterer Klassenkamerad von mir, Teddy (alias Friedrich-Georg, alias Orje).
Seine Mutter war nach dem Krieg mitsamt zwei Kindern aus Berlin gekommen und in einem
winzigen Ort der Vorderen Rhön ohne Bahnanbindung einquartiert worden, in einer
notdürftig hergerichteten Burgruine. Beide Kinder konnten nicht anders das Gymnasium in
der Kreisstadt Schlüchtern besuchen als von Gastfamilien aus, die in verkehrsmäßig besser
versorgten Dörfern ihre Wohnungen hatten. Trotz der günstigeren Lage dieser Dörfer mussten
die drei erwähnten Kinder, Klaus, Teddy und seine woanders unterbrachte Schwester, an
Schultagen morgens um 4.50 Uhr aufstehen und um 5.45 den Personenzug in Richtung
Schlüchtern nehmen. Dort kamen sie um 6.18 an, waren gegen 6.30 schon im Schulgebäude,
und mussten sich dort noch bis zum Beginn des Unterrichts (7.25) in einem speziellen
„Aufenthaltsraum“ die Zeit vertreiben.
Klaus und Teddy wurden meine Freunde. Ich konnte ihren Wohnort zwischen Spessart
und Rhön mit einer kleinen Radtour von eineinviertel Stunden erreichen, in einer schönen
Fahrt durch dichte Wälder auf einer Forststraße ohne allen Autoverkehr. Ich liebte diese
stillen Fahrten, und ich liebte die Gesellschaft der beiden Jungs. Sie waren von ihrem
Familienhintergrund her städtischer und weltgewandter als ich, obgleich sie in einem
weltverlassenen Dorf wohnten. Sie hörten den amerikanischen Militärsender AFN (American
Forces Network) und waren dadurch früh mit den neuesten musikalischen Errungenschaften
der westlichen Welt vertraut. Bei mir zu Hause gab es aus Gründen einer inzwischen
übertriebenen Sparsamkeit nicht einmal ein Radiogerät. (Fernsehen gab es ohnehin bislang
nur als Publikumsmagnet in Lokalen). Teddys Mutter, eine lebenslustige Berlinerin von Ende
Dreißig, dachte gar nicht daran, in der Ruine, in der die Behörden ihr eine Bleibe angewiesen
hatten, zu versauern. Sie gewann schnell Freunde, war stets informiert über neueste Trends
und gab ihrem Sohn, den sie berlinisch „Orje“ nannte, manche Idee mit, auf die er sonst nicht
gekommen wäre.
Wer zuerst den Einfall hatte, dass wir zu dritt mit dem Fahrrad nach Italien fahren
könnten, Klaus, Teddy oder seine Mutter, vermag ich nicht mehr zu sagen. Jedenfalls war die
Idee auf einmal da, etwa im Januar/Februar 1955. Sie gewann sehr schnell an Schwung und
Gewicht, bis sie nicht mehr aufzuhalten war, auch nicht durch den negativen Rat unseres
Steinauer Hausarztes. Dieser Arzt votierte in einem Gespräch mit mir strikt dagegen, er hielt
den Plan für zu gefährlich. Offenbar hat der Arzt aber sein Votum nicht meiner Mutter
mitgeteilt, sonst wäre aus allem nichts geworden. Ab April stand dann fest: Wir würden in
den Sommerferien nach Italien fahren. Was unser letztlich treibendes Motiv war, kann ich
nicht genau sagen. Wir hatten in der Schule zwar Mignons „Kennst du das Land, wo die
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Zitronen blühn …“ kennengelernt und wohl auch eine der klassischen Vertonungen. Aber das
waren Kulturgüter. Ich meine, was uns trieb, war am ehesten ein starkes jugendliches
Bedürfnis nach Freiheit, Selbständigkeit und Weitung des Lebenshorizonts. Italien wurde zu
einer Chiffre für all dieses und mehr.
Teddy und Klaus hatten die Adresse eines Versandhandels aufgetan, der zu sehr
billigen Preisen gebrauchte Ausrüstungsteile der amerikanischen Armee verkaufte. Dort
erwarben wir je zwei Packtaschen, die seitlich an die Gepäckträger gehängt werden konnten,
je einen großen Poncho, der bei Regenwetter eine Person und weitgehend auch ihr Fahrrad
bedeckte, sowie ein kleines Zelt, in dem gerade eben drei Menschen schlafen konnten. Wir
kauften Schlafsäcke, Kochgeschirre, Bestecke aus Aluminium, einen Esbit-Kocher,
zugehörigen Brennstoff und anderes, das wir nötig fanden. Luftmatratzen kauften wir nicht,
sie hätten unser Transportgewicht zu weit erhöht. Isomatten gab es wohl noch nicht, jedenfalls
hatten wir keine. Da unser Zelt keinen Boden besaß, würden wir also auf der Erde schlafen,
mit den Ponchos als Unterlage. Wir ließen uns fotografieren und beantragten Reisepässe, die
damals für Italien noch nötig waren, und erhielten sie auch. Klaus‘ Vater, unser Hauptmann
z.W., ergänzte unser Einkaufsprogramm durch Karten, eine Kartentasche, nützliche
Kleinigkeiten und viele Ratschläge. Unsere Ersparnisse, das Reisegeld also, buchten wir auf
Postsparbücher, von denen wir - mit einer Sicherungskarte – auch im Ausland Geld abheben
konnten. Wir brachten unsere Fahrräder in Ordnung, soweit sie dies nicht schon waren. Die
Räder hatten keine Gangschaltung. Sie hatten eine Rücktrittbremse („Torpedo Freilauf“) und
eine Vorderrad-Stempelbremse alter Bauart. Ein Aufrüsten auf modernere Systeme wäre zu
teuer gewesen.
An einem der ersten Tage der Sommerferien stand ich morgens um halb fünf auf,
bestieg etwa um fünf mein schon bepacktes Fahrrad und fuhr durch die Wälder nach Jossa.
Dort erwarteten mich Klaus, Teddy, der Hauptmann z.W. und Klaus‘ Mutter. Auch die Räder
der beiden Kumpels waren schon mit Gepäck bestückt, es gab nicht viele Abschiedsworte,
und nur wenige Tränen seitens der Mutter. Der Hauptmann verpasste uns noch einen
Kernspruch für die Reise, den er offenbar für besonders bestärkend hielt: „Denkt immer
daran: Die stärkste Kette ist nur so stark wie das schwächste Glied.“ Dann rollten wir. Der
Spruch ging mir noch durch den Kopf: Ich war mit 15 Jahren der jüngste. Klaus und Teddy
waren immerhin 16. Aber nur, weil sie im Frühjahr Geburtstag hatten, ich erst im Herbst.
Wir rollten die Jossa entlang, bis die in die Sinn floss, durch das Sinntal, bis die Sinn
in den Main floss. Ein kleines Stück rollten wir am Main entlang, bogen dann aber fast
rechtwinklig nach Süden ab, denn wir wollten nach Italien. Etwa auf der Höhe von Ansbach,
schon ziemlich weit in Bayern, fanden wir (mit Campingführer) einen Campingplatz. Da
schlugen wir unser Zelt auf. Das ging schnell, wir hatten es geübt. Teddy brachte den Esbit-
Kocher in Stellung, einer holte Wasser, wir schütteten Nudeln oder irgendwas funktional
Vergleichbares hinein, kochten und würzten es und aßen unser erstes eigenes Abendessen.
Wir tranken etwas Bier dazu, aber nicht zu viel, denn wir kannten die negative Wirkung auf
unsere Fitness am nächsten Morgen.

33. Brenner, Südtirol, Gardasee


Ohne größere Probleme, aber mit viel Neugier und Genuss fuhren wir mehrere Tage bei
gutem Wetter durch Bayern, über Mittenwald, nach Innsbruck und erreichten den Brenner.
Wir schoben unsere schweren, unhandlichen Nachkriegsräder die österreichische Seite des
Passes hinauf, zeigten unsere Reisepässe an der Grenzkontrolle vor, dann waren wir formell
in Italien. Aber eben nur formell – dass die Südtiroler sich eigentlich zu Österreich gehörig
fühlten, war noch überall zu spüren. Die italienische Sprache hatten sie gelernt und waren
italienische Staatsbürger. Sie begrüßten aber mit demonstrativer Sympathie die zahllosen
Motorräder, Kräder mit Seitenwagen und VW-Käfer der vielen Deutschen, die jetzt nach
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Italien wollten. Wir auf unseren Fahrrädern und in den robusten Lederhosen, die wir im
Sommer alle Tage trugen, fielen natürlich besonders auf und wurden besonders willkommen
geheißen.
Einen Anflug von der Schönheit italienischer Baukunst vermittelten uns die schon sehr
italienisch wirkenden Städte Brixen und Bozen, die wir passierten. Wir hatten das Empfinden
plötzlicher Weitung des Blicks und waren getragen von einem neuen Freiheitsgefühl und
einer heiteren Stimmung, obgleich wir „erst“ in Südtirol waren, immerhin aber bald schon im
Etschtal.
Eine ausführliche Sonderbehandlung erfuhren wir in einem Dorf, in dessen Nähe wir
übernachten wollten. Auf dem Marktplatz kauften wir noch etwas ein. Wir wurden schnell als
Deutsche erkannt, mit Fragen überhäuft und mit Ratschlägen versehen. Da wir nicht in
Südtirol bleiben, sondern ins „richtige“ Italien weiterfahren wollten, brachte uns ein vom
pädagogischen Eros ergriffener Bewohner die italienischen Zahlen bei, damit wir wenigstens
in Feindesland die Preise verstünden. Das dauerte einige Zeit, und langsam sammelte sich
eine ganze Traube von Ortsbewohnern um uns. Lernen braucht Wiederholen. Nachdem der
Mann uns die Zahlen von 1 bis 20 und den Aufbau des übrigen Zahlensystems bis ca. 10.000
schrittweise vermittelt hatte, fragte er uns den Inhalt seiner Lehre ab. Er wollte seine
Ergebnisse kontrollieren und uns beim weiteren Einprägen helfen. Wir hatten von unserem
schulischen Lateinunterricht her wenig Schwierigkeiten, die italienischen Zahlen auf Anhieb
zu verstehen. Aber sie verlässlich zu erinnern und aktiv zu gebrauchen, war eine andere
Sache. So ergab sich auf jenem Marktplatz in der milden Abendluft eine ausgedehnte
Schulstunde. Unser Lehrer exerzierte mit uns hin und her im italienischen Zahlensystem, und
die umstehenden Dorfbewohner klatschten johlend Beifall oder signalisierten bedauernd ein
wenig Enttäuschung, je nach Qualität unserer Leistungen. Gut versorgt mit Südtiroler Wurst,
Brot, Käse und Obst radelten wir müde aber bereichert auf den Campingplatz, schlugen unser
kleines Zelt auf und krochen in die Schlafsäcke.
Am nächsten Tag schon überquerten wir die Grenze zum Trentino und waren nun
„richtig“ in Italien. Historiker mögen da noch Zweifel haben, für uns war klar: Das ist es. Das
fanden auch viele andere Deutsche. Eine Tagesfahrt weiter, in Torbole am Nordende des
Gardasees, war der Campingplatz am Seeufer von den Motorrad-, Seitenwagen- und VW-
Touristen praktisch übernommen worden. Gleich zweifelten wir, ob das vielleicht doch nicht
das sei, was wir suchten, und planten schon unsere Weiterfahrt, die am felsigen Westufer des
Sees erfolgen sollte. Vorher aber wunderten wir uns noch über die Gewalt der deutschen
Italiensehnsucht dieser Jahre – von der wir selbst ja ein Teil waren. Die Stimmung auf dem
Campingplatz war schon am Morgen auf merkliche Weise euphorisch. Viele glühten quasi
vor demonstrativer Freude. Manche Gäste des Campingplatzes hatten, wie sie erzählten, ihre
letzten Mittel aufgewandt, um unbedingt nach Italien zu gelangen. Viel weiter wollten
manche auch gar nicht fahren, der Gardasee war Italien, und das war das Ziel gewesen. Diese
Gäste wollten hier bleiben, See und Sonne genießen, und nach zwei oder drei Wochen
zurückfahren. Der Alkoholpegel war hoch. Einzelne Gruppen stimmten deutsche Lieder an,
und das unabdingbare Sonnenbaden geschah für damalige Verhältnisse recht freizügig.
Wir badeten nur kurz in der kalten Flut, die letztlich von den eisigen Firnfeldern, teils
sogar kleinen Gletschern der nördlich gelegenen Berge gespeist wurde. Wir schlugen das Zelt
ab, schnallten unsere Ausrüstung zusammen oder stopften sie in die Packtaschen und fuhren
weiter. Dass man in Italien dann doch etwas andere Erwartungen an die Sitten von Touristen
hatte, merkten wir ein paar Stunden später, als wir schon fast an der ganzen Erstreckung des
Sees vorbei waren. In der nun eingetretenen Mittagshitze zogen wir unsere Hemden aus, um
mit bloßem Oberkörper zu fahren und vielleicht auch unsrerseits ein bisschen braun zu
werden. Ein nur mäßig freundlicher Herr näherte sich uns auf seinem (viel schnelleren)
Fahrrad und rief in forderndem Ton und heftig gestikulierend „camicia, camicia“. Das
deuteten wir wohl richtig, indem wir annahmen, dass wir die Hemden wieder anziehen
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sollten. Es war - jedenfalls zur damaligen Zeit - in Italien nicht schicklich, mit bloßer
Männerbrust durchs Land zu radeln.
Nach dem Gardasee erreichten wir Verona. Wir sahen das römische Amphitheater, die
Piazza delle Erbe und auch ein Haus, in dem angeblich die legendäre Julia, die Liebe des
ebenso legendären Romeo, gewohnt hatte. Dass in Verona, wo die Geschichte der beiden
Liebenden gespielt haben soll, vielfach dieser Liebe gedacht wird, bemerkten wir ebenso wie,
dass auch in der Umgebung Veronas diverse Orte beanspruchten, Schauplatz des Geschehens
gewesen zu sein.

34. Kleiner Unfall


Einen dieser Orte wird keiner von uns vergessen. Es war ein Inselberg in der Po-Ebene. Im
Erdkundeunterricht hatten wir von solchen Bergen gehört. Sie bildeten sich im Lauf der
Erdgeschichte dadurch, dass eine bestimmte Gesteinsschicht der Erosion des umgebenden
Landes durch Wasser oder sonstige Kräfte widerstand. Dieser Bereich wurde nicht (oder nur
wenig) abgetragen, so dass sich im Lauf der Zeit hier ein isolierter Berg bildete, sehr auffällig
in der umgebenden, niedrigeren Fläche und mit steilen Rändern. „Unser“ Inselberg wurde von
den Einheimischen einem zweiten Inselberg zugeordnet, und von beiden wurde behauptet,
dass sich eben hier die Geschichte von Romeo und Julia abspielte, und nicht im städtischen
Verona. Auf einem der Berge befand sich angeblich die Burg der Julia-Familie, auf dem
anderen die der Romeo-Familie. Die Burgruinen waren noch da. Ob auf „unserem“ Inselberg
Julia oder Romeo gewohnt haben soll, weiß ich nicht mehr. Vieles andere aber steht noch klar
vor der Erinnerung.
Wir nannten den Berg „unseren Inselberg“, weil unser Campingplatz im Burghof der
auf diesem Berg stehenden Burgruine eingerichtet war. Wir schoben unsere Fahrräder nach
dem Lebensmitteleinkauf die steile Straße zur Burg hinauf und kampierten in der gewohnten
Weise. Am nächsten Morgen frühstückten wir, machten uns fertig wie üblich und fuhren die
steile Straße wieder abwärts. Da unsere Fahrräder als Bremsen nur den Rücktritt und die
Stempelbreme am Vorderrad besaßen, durften sie, vor allem im beladenen Zustand, nicht zu
schnell werden, um noch beherrschbar zu bleiben. Wir mussten auf dem kurvigen,
unübersichtlichen Kurs, auch wegen möglichen Gegenverkehrs, die Fahrordnung unbedingt
einhalten, das heißt, strikt hintereinander fahren. Ich fuhr als Letzter. Aus irgendwelchen
Gründen lief mein Fahrrad zu schnell, ich näherte mich dem Rad von Klaus, der vor mir fuhr,
auf bedrohliche Weise. Ich trat auf den Rücktritt. der Rücktritt blockierte, mein Hinterrad
rutschte auf der Straße, der Reifen quietschte laut. Klaus erschrak offenbar und blickte sich
um, nur sehr kurz, aber doch zu lang: Er verlor die Kontrolle über sein Rad, das Rad brach
nach rechts aus. Klaus fuhr in vollem Tempo gegen einen der behauenen, etwa 60 cm hohen
Begrenzungssteine, die die Straße von einem deutlich tiefer liegenden Weinberg trennten.
Klaus stürzte auf die Straße, und das voll beladene Fahrrad stürzte über ihn.
Teddy und ich nahmen Fahrrad und Gepäck von dem Gestürzten und sahen, dass er
diverse Schrammen an Armen und Gesicht und mehrere tiefe Wunden in einer Wade hatte.
Die Schrammen schätzten wir als harmlos ein, die Wunden in der Wade aber nicht. Sie lagen
wie Streifen nebeneinander. Offenbar hatte das große Kettenrad des Fahrrades sich unter der
Wucht des Sturzes mit seinen Zacken sozusagen durch die Wade gepflügt. Weil das Kettenrad
von Öl und Schmutz verdreckt war, war auch viel Schmutz in die Wunden gelangt. Sie
bluteten stark, was wir für gut hielten, und was wohl auch gut war, jedenfalls unter den
Umständen. Da wir spät aufgestanden waren, stand die Sonne an diesem wolkenlosen Tag
schon ziemlich hoch. Sie wirkte schon jetzt heiß und stechend. Teddy und ich bauten aus
zusammengelesenem Holz, den Stäben des Zeltes und unseren großen Ponchos ein
Sonnendach für Klaus auf der anderen Straßenseite. Klaus legte sich darunter. Die Wade
behandelten wir mit Jodtinktur, verbanden sie aber nicht. Überhaupt hatten wir nur wenig
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Verbandmaterial dabei; immerhin, für einen ersten Verband auf der Wade hätte es vielleicht
gereicht.
Klaus‘ Fahrrad war praktisch zerstört. Die Wucht des Aufpralls hatte die
Vorderradgabel weit nach hinten gedrückt und den Rahmen kurz hinter dem Lenker in einem
Winkel von fast 90 Grad abgeknickt. Die Achse des Vorderrades befand sich jetzt neben dem
Tretlager, der Lenker stand so, als sollte jemand damit senkrecht in den Boden steuern.
Natürlich war die Felge des Vorderrades völlig zerknautscht. Wir waren ratlos. Nicht nur war
Klaus in einem Maß verletzt, das nicht auf die leichte Schulter genommen werden durfte. Es
bestand auch keine Hoffnung auf ein Weiterfahren, denn Klaus‘ Fahrrad war offensichtlich
ein Totalschaden. Was mir einen besonderen Schreck einjagte, über den ich aber mit den
anderen nicht sprach, war die Beobachtung: Klaus hatte noch großes Glück gehabt, indem er
auf die Straße fiel. Wäre er auf die andere Seite des gerammten Begrenzungssteins, in den
etwa 3 Meter tiefer liegenden Weinberg gefallen, wären die Verletzungen viel schlimmer
gewesen. Die Weinstöcke waren dort an aufrecht stehenden Stäben befestigt, in die Klaus
hineingefallen wäre. Das hätte sein Tod sein können oder hätte mindestens sehr schwere
Verletzungen zur Folge gehabt. Im Übrigen waren wir alle drei noch immer etwas benommen,
hatten vielleicht auch einen kleinen Schock erlitten, der sich erst langsam milderte.
Aber nun zeigte sich, dass wir wirklich in Italien waren, und nicht mehr in
Deutschland. Natürlich hatten einige Bewohner der Gegend die Trümmer des Rades und den
am Straßenrand liegenden Klaus bemerkt und konnten sich das Nötige zusammenreimen.
Unser praktisch nicht existentes Italienisch brauchten sie nicht. Die Herbeigelaufenen und mit
Rädern Herbeigefahrenen berieten sich untereinander. Sie fanden unsere provisorische
Wundversorgung offenbar fürs Erste in Ordnung und riefen keinen Krankenwagen. Es war
uns nicht klar, ob überhaupt schnell einer zu haben gewesen wäre. Natürlich riefen sie erst
recht keine Polizei oder sonstigen Ordnungskräfte. Stattdessen fuhr einer mit seinem Rad in
das Dorf, das am Fuß des Inselberges lag. Kurze Zeit später kam er zusammen mit einem
zweiten Mann auf einer Vespa wieder zurück. Der zweite Mann, der die Vespa fuhr, trug eine
verschmierte Monteurshose, ein ebensolches Unterhemd, und widmete sich dem Fahrrad.
Unter vielen Ausrufen des Erstaunens, von „Mamma mia“ über „O santo celo“ bis „O dio
mio“ und noch weiter, sowie mit vielem Kopfschütteln wurde der beklagenswerte Zustand
von Klaus‘ Mühle gewürdigt. Dann fuhr der Monteursähnliche, ich nenne ihn von jetzt an
den“ Monteur“, wieder weg. Kam aber ziemlich bald wieder zurück mit einem anderen
Gefährt, das aus einer Vespa mit angebauter Pritsche (oder ähnlich) bestand. In internationaler
Zeichensprache, besser als jedes Esperanto, holte er unsere Genehmigung ein, die Trümmer
von Klaus‘ Rad mitzunehmen. Hoffnungslos wie wir waren, stimmten wir allem zu. Der
Monteur drehte sein Fahrzeug auf der schmalen Straße talwärts, lud das nutzlose
Blechwirrwarr, das einmal Klaus‘ Fahrrad gewesen war, auf die Pritsche und fuhr davon.
Inzwischen hatten andere Beteiligte, im Wesentlichen der weibliche Teil der
Zuschauerschaft, längst Wasser herbeigebracht, auch herrliche Zitronenlimonade, wunderbar
reife Pfirsiche von nie gekannter Schmackhaftigkeit, und für den nahen Mittag ein
Nudelgericht. Das Wort „Labsal“ war mir bislang zwar bekannt, war aber immer ein bisschen
blass geblieben, wohl, weil ich bislang keine Gelegenheit gesehen hatte, es richtig
anzuwenden. Nun fand ich, für diese Bewirtung auf offener Unfallstelle und die mit diesem
Essen und Trinken einhergehende körperliche und seelische Erleichterung war es das richtige
Wort. Zum Nachmittag hin bekamen wir Kaffee, dessen Stärke wir nicht gewohnt waren, ein
wenig Gebäck, und für den Abend schon vorausschauend Wurst, Käse, Butter, Brot und etwas
Wein. Eine Bezahlung, die wir anboten, lehnten die Frauen mit absoluter Entschiedenheit ab.
Da wir nun in der Hauptsache versorgt waren und auch Klaus‘ Lage im Schatten der Ponchos
fürs Erste als vernünftig befunden wurde, zerstreuten sich die Zuschauer. Zwei oder drei
blieben bei uns zurück und kommunizierten mit uns ein wenig mühsam, aber letztlich
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erfolgreich darüber, wo wir herkämen, wo wir hinwollten, wie alt wir seien, in welche Schule
wir gingen, und so weiter.
So kam der Abend heran. Einen wirklichen Plan, wie es weitergehen sollte, hatten wir
noch immer nicht. Irgendwann zwischen sechs und acht Uhr hörten wir dann wieder das
schon vertraute Knattern der Vespa. Der Monteur kam mit seinem Vespa-Pritschenfahrzeug,
und auf der Pritsche lag – nicht mehr ein Blechgewirr, sondern eine Art Fahrrad. Es war nicht
mehr ganz Klaus‘ früheres Rad, wichtige Teile hatte der Monteur ausgetauscht. So hatte er ein
anderes Vorderrad eingesetzt und eine andere Gabel. Den Lenker hatte er zurechtgebogen.
Sein eigentliches Meisterstück aber, über das wir aus dem Staunen nicht herauskamen, war
der Rahmen. Der Monteur hatte den zerknickten und an den Knickstellen gebrochenen
Rahmen in Teile gesägt, an den Schnittstellen dünnere Rohre in die Rohre des bisherigen
Rahmens eingebracht, die Rohrstücke passend zusammengesteckt und alles fest verschweißt.
Es war wieder ein Rahmen entstanden, und mit ihm tatsächlich ein Rad. Natürlich sah man
überall die Schweißnähte, auch an den Schnittstellen die dünneren, innenliegenden Rohre,
und auf allem haftete festgebackener, schwarzer Schmutz von der Schweißarbeit. Aber das
war uns herzlich egal. Hinkend ging Klaus zu dem Rad und stieg auf. Das Rad fuhr, es fuhr
tatsächlich wie Klaus‘ früheres Rad gefahren war. Die Lenkung funktionierte, der Rücktritt
ebenfalls, die zurechtgebogene Stempelbremse funktionierte halbwegs, besser war sie sowieso
nie gewesen.
Strahlend vor Stolz, wie nur ein Italiener strahlen kann, stand der Monteur da und sah
Klaus‘ Probefahrt zu. Wir umarmten ihn in heißer Dankbarkeit. Beinah hätten wir ihn
geküsst, aber dazu reichte es bei uns deutschen Jungs dann doch nicht. Nun die Frage des
Preises. Was das alles kosten solle. Der Monteur nannte einen Preis, der uns geradezu
beschämend niedrig vorkam. Wir wollten das nicht akzeptieren, wir hatten ja noch Reserven
auf den Postsparbüchern. Aber der Monteur blieb standhaft. Mehr nahm er nicht. Wir konnten
den Betrag aus unseren Bar-Beständen begleichen und mussten nicht einmal warten, bis wir
am nächsten Tag eine geöffnete Post fanden. Zum Teil war der günstige Preis wohl dadurch
zustande gekommen, dass der Monteur für die Stücke, die er ersetzen musste (Vorderrad,
Gabel etc.), gebrauchte Teile genommen hatte. Aber das war uns gleich, und heute würde man
es als Beispiel nachhaltiger Wirtschaft betrachten: Lieber altes Material weiter benutzen, als
dauernd neues Zeug kaufen.
Wir verabschiedeten uns, fast in Tränen, von dem Monteur und einigen Umstehenden
und schoben unsere Räder wieder nach oben auf die Burg, in deren Hof wir schon die letzte
Nacht verbracht hatten. Am nächsten Morgen sagte Klaus, er könne weiterfahren. Es fiel auch
das in der Schule gelernte Wort „The show must go on“. Schließlich wollten wir Venedig
sehen, danach noch ein paar Städte in der Po-Ebene, dann Mailand. Und schließlich wollten
wir durch die Schweiz zurückfahren. Wir mussten ja zum Schulbeginn nach unseren jetzigen
Sommerferien wieder zu Hause sein.

35. Piccola disgrazia in Mailand


Venedig sahen wir, und alle Standard-Sehenswürdigkeiten, die dazugehörten. Allerdings
befand sich der Campingplatz ca. 18 km außerhalb auf festem Land und genauer in lehmigem,
wenig einladendem Gelände. Unser amerikanisches Billig-Militärzelt hatte keinen Boden, in
der Nacht lagen wir in unseren Schlafsäcken nur auf dünnen Ponchos, das heißt im Grunde
auf der Erde. Hier führte das dazu, dass wir nach einem kräftigen Gewitter, das sich in der
Nacht entlud, morgens im Wasser lagen, mitsamt unserem Gepäck. Leider war das Wasser
gemäß Bodenbeschaffenheit lehmig-braun. So waren dann auch die Spuren oder
Wasserränder, die auf all unseren mitgeführten Kleidungsstücken zurückblieben. Nach dem
bisher Erlebten nahmen wir diese Kleinigkeit philosophisch und radelten fortan mit einer Art
bräunlicher Tarnfärbung auf den Hemden.
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Klaus‘ Wunden auf der Wade besserten sich, verschlechterten sich wieder und wurden
wieder besser, dann wieder schlechter. Es war wohl doch zu viel Schmutz in ihnen
zurückgeblieben, der jetzt, wie wir sagten, „herauseiterte“. Da sich schon in erheblichem
Umfang Grind gebildet hatte, wäre ein nachträgliches Reinigen der Wunden aus unserer Sicht
auch einem Wieder-Aufreißen der schon verschlossenen Passagen gleich gekommen. Das
wollte Klaus nicht riskieren, hinkte beim Gehen weiterhin ein kleines Bisschen, konnte aber
doch nach seiner Auskunft ohne nennenswerte Schmerzen Rad fahren. Wie man sagt und wie
auch Teddy und ich sagten: Er war ein harter Bursche. Nach diesem Schuljahr, mit dem er die
mittlere Reife erreichte, wollte er Polizist werden. Pünktlich zur Rückfahrt ab Mailand war er
dann auch wieder schmerzfrei.
Wir sahen Padua, Mantua, Cremona und schließlich auch Mailand. In Mailand
verloren wir einander. In dem ampelgeregelten Verkehr, den wir nur wenig gewohnt waren,
hatten Klaus und Teddy vor mir eine Kreuzung passiert, als für mich die Ampel auf Rot
sprang. Als sie wieder auf Grün gesprungen war, sah ich meine Kameraden nicht mehr. Es
war relativ später Abend (untypisch für unseren Tageslauf), und es dunkelte. Die Sicht war
schlecht, und die schwachen Rücklichter zweier Fahrräder sah man besonders schlecht. Nach
einer Weile ratlosen Hinterherfahrens oder auch Fahrens in falsche Richtung gab ich die
Suche auf und fuhr zum Domplatz. Ich hoffte, in dieser großen Stadt zum Beispiel ein
deutsches Konsulat zu finden, das mir vielleicht weiterhelfen würde, mit Rat, einem Ersatz-
Pass und natürlich auch Geld. Das Haupt-Unglück war nämlich, dass mein Postsparbuch,
mein Reisepass, alle Straßenkarten und der Campingführer sich unplanmäßig in Klaus‘ oder
Teddys Packtaschen befanden. Diese Klumpenbildung war bodenloser Leichtsinn, sie war
aber nun passiert. Zwar befanden sich die Sicherungskarten aller Postsparbücher in meinem
Gepäck, aber ich konnte ohne Sparbücher nichts damit anfangen, und die beiden anderen
mangels Karten mit den Büchern auch nichts. Außerdem waren wichtige Teile der Ausrüstung
bei mir aufgepackt. Bargeld hatte ich zwar einstecken, aber nur für ein paar Tage. Ich fühlte
mich ziemlich hilflos. Auf dem Domplatz versuchte ich, unter den diversen deutschen
Touristen einen zu treffen, der mir sagen konnte, wo sich das Konsulat befand. Dass es eines
geben musste, hielt ich für sicher.
Statt eines Menschen, der das Konsulat kannte, fand ich einen Berliner, mit dem ich
mich beraten konnte, und der auch einigermaßen italienisch sprach. Meine Kumpels, nahm
ich an, waren zu einem Campingplatz gefahren. Aber zu welchem waren sie gefahren, es gab
in dieser großen Stadt mehrere, das heißt genauer: in der Umgebung dieser Stadt. In der
Innenstadt von Mailand würde es keinen geben, das schien mir klar. Der Berliner sprach mit
diversen Italienern, und einer von diesen war der Meinung, es komme am ehesten ein
bestimmter Campingplatz außerhalb der Stadt in Frage. Dahin seien es etwa 16 Kilometer. Er
schlug vor, dass er mit seiner Vespa voranfahren und mich dort hin geleiten könne. Ich
brauchte ihm nur zu folgen.
Sehr erleichtert stimmte ich zu. War aber dann doch erstaunt, welches Tempo der
freundliche Italiener mir zutraute. Obgleich ich durch den seit Jahren täglich mit dem Fahrrad
gefahrenen Schulweg von Steinau in die Kreisstadt gut trainiert war, erlebte ich die Fahrt
hinter der Vespa doch wie einen Höllenritt. Tief geduckt, fast auf dem Lenker liegend, von
oben bis unten schweißnass, hetzte ich im Windschatten meines Retters hinter ihm her. Die
Italiener hatten eben bessere, vor allem leichtere Räder als wir, und mit vernünftiger
Gangschaltung. Und der nette Vespafahrer war beim „Ziehen“ eines Radfahrers wohl eher
einen italienischen Hintermann gewohnt als einen deutschen mit schwerem Nachkriegsrad
und schwerem Gepäck. Doch wir kamen an. Teddy und Klaus standen noch im
Eingangsbereich des Campingareals und beratschlagten. Auch sie waren ja ohne mich nicht
voll handlungsfähig.
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Der Vespamann erkannte aus unseren Gesten, dass wir uns gefunden hatten. Er drehte
sein Fahrzeug und verschwand wortlos in der Dunkelheit. Ich konnte mich nicht einmal
bedanken.

36. Piccolissime disgrazie auf der Heimfahrt

Man könnte meinen, nach Venedig sei Mailand der letzte Höhepunkt unserer Italienfahrt
gewesen. Wer das denkt, kennt die Fünfziger Jahre nicht. Die meisten Deutschen fuhren
weniger nach Italien, um die großartigen Kulturgüter dieses Landes zu sehen, als vielmehr,
um in ihren eigenen Vorstellungen vom Glück in Sonne und Süden zu schwelgen. Dafür
eignete sich Mailand mit seinem wunderbaren Dom, dem Kloster Santa Maria delle Grazie
und vielem anderen nur begrenzt. Auch wir waren von diesem deutschen Zeitgeist so weit
angekränkelt, dass wir es mit einem Besuch des Doms genug sein ließen und uns auf den
Heimweg machten. Hier wartete ja auf uns in der Entfernung von nur einer halben Tagesfahrt
noch der absolute Sehnsuchtsort, der perfekte Schnulzenhöhepunkt deutscher
Italienbegeisterung dieser Jahre: der Lago Maggiore. Von zahllosen Gelegenheiten her war
uns der unvermeidliche Rudi Schuricke in Erinnerung, mit seiner im Tangorhythmus
übermittelten Aufforderung, ja fast dem Befehl, glücklich zu sein und uns verzaubern zu
lassen:

Lass uns träumen am Lago Maggiore,


Wo das Glück deine Wünsche erfüllt.
Zarte Weisen erklingen im Chore
All dein Sehnen wird endlich gestillt.
Wie die Boote im Spiel mit den Wellen
Zieht der Mond seine silberne Bahn.
Süßer Zauber der Nacht,
den ein Märchen erdacht,
das am Lago Maggiore begann.

Freilich hatte uns die Gardasee-Erfahrung schon hinreichend abgehärtet, um nicht


ernsthaft hier die Erfüllung irgendwelcher Wünsche zu erwarten. Die milde Seelandschaft im
Ganzen mit ihren großen Wasserflächen erfreute uns jedoch, beruhigte die Augen und das
Gemüt. Das genossen wir. Vieles Andere war eher ernüchternd. Auf dem Campingplatz
wieder zahllose sich sonnende Personen aus Mitteleuropa, mit erschreckend rot verbrannten
Schultern, Bäuchen, Brüsten und Gesichtern. Auch Kofferradios hatten schon den Weg an den
Lago Maggiore gefunden, und plärrten Rudi Schurickes „Florentinische Nächte“, die „Capri-
Fischer“ (auch Rudi) und natürlich das zitierte Lied von Traum, Glück, Sehnen und Märchen.
Man hätte Italien nur mit Mühe noch falscher darstellen können, als es die deutsche
Populärmusik dieser Jahre zustande brachte. Da wir bei Tag die Gesamtsituation schon, nun
ja, „teils, teils“ fanden, wollten wir wenigstens wissen, ob es in der Nacht den süßen Zauber
gab, von dem Schuricke sang. Auch hier wurden wir nicht fündig. Immerhin machte ich von
dem nächtlichen See mittels meiner Box (= primitiver Fotoapparat) ein Foto mit 15 Sekunden
Belichtungszeit, um vielleicht doch noch etwas von der traumhaften Atmosphäre einzufangen.
Das Bild existiert heute noch. Es ist darauf viel Schwärze zu sehen, und in der Schwärze
einige helle Punkte, die wohl Straßenlaternen und andere Lichter am jenseitigen Ufer
darstellen. Zum Gotthardpass hinauf schoben wir unsere Räder nur bis Airolo. Dann luden
wir unsere Packesel in den Zug und ließen uns im Tunnel unter dem höchsten Stück der
Passstraße hindurchfahren. Immerhin ist der Gotthard über 700 Meter höher als der Brenner,
den wir vor ein paar Wochen bewältigt hatten. Diese 700 Meter wollten wir uns nicht mehr
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antun. Da Airolo noch deutlich tiefer liegt als die Passhöhe des Brenner, sparten wir uns im
Ganzen mehr als tausend Höhenmeter.
Nach dem Vierwaldstätter See, weit nördlich des Alpenhauptkamms in niedrigerem
Land, etwa um Winterthur, kamen wir in ein Schlechtwettergebiet. Es brachte zähen,
kräftigen Regen. Er blieb uns fast eine Woche lang treu. Hier gab es noch einmal ein Problem,
weil unser Billigzelt nicht nur keinen Boden hatte (Stichwort Venedig), sondern auch bloß aus
Baumwolle war, die sich bei starkem Regen vollsaugte und durchlässig wurde. Offenbar war
die früher einmal existente Imprägnierung längst aufgebraucht oder herausgewaschen. Wenn
es regnete, durfte man in diesem Zelt liegend die Zeltbahn nicht von innen berühren, weil sich
an diesen Stellen dann Tropfpunkte bildeten. Das kannten wir schon. Was wir nicht kannten,
war die Tatsache, dass unser Zelt besser nicht in nassem Zustand zusammengefaltet und
transportiert werden sollte. Tat man es trotzdem und baute es dann in seiner nassen
Verfassung wieder auf, hielt es dem Wasser gar nicht mehr stand. Das hieß, dass wir jetzt mit
nassem Zelt durchs Land radelten und uns, solange der Regen anhielt, für die Nacht jeweils
ein neues, trockenes Quartier suchen mussten. „Wenn das Wetter ganz schlecht wird, gehn
wir zum Bauern und fragen, ob wir in seiner Scheune schlafen dürfen“, hatten wir zu Anfang
gesagt, als der Hauptmann z.W. uns auf mögliche Wetterprobleme hinwies. Jetzt hatten wir
ein Wetterproblem. Zwei der nun kommenden „Nächte beim Bauern“ sind mir noch in
Erinnerung.
Die erste verbrachten wir auf einem Schweizer Bauernhof. Der Landmann stellte uns
zwar nicht seine Scheune zur Verfügung, wies uns aber einen sauberen Platz in einem Stall
an. Da war es warm und trocken. Wir breiteten unsere Ponchos und Schlafsäcke aus und
legten uns schlafen. Etwa zehn Meter von uns entfernt war ein größeres Tier angebunden, das
wir nicht genau sehen konnten, weil der Stall kaum über Beleuchtung verfügte. Dieses Tier
verhielt sich von Anfang an unruhig, schnaubte hörbar und trampelte auch ein wenig auf der
Stelle. In der Nacht war das Tier mit unserer Anwesenheit nicht mehr zufrieden oder hatte
sonstige Gründe, die es gegen uns aufbrachten. Es stampfte heftig mit seinen Hufen und zerrte
an der Kette, mit dem es angebunden war. Am Klang erkannten wir, dass es sich um eine
durchaus schwere Kette handelte, und im gleichen Zug erkannten wir auch: Das Tier war ein
Bulle! Um es kurz zu machen: Der Bulle tat uns nichts, aber er ließ uns auch keine Ruhe. Die
ganze restliche Nacht schnaubte, zerrte, stampfte und grollte dieses Tier und drohte, sich
loszureißen und uns auf die Hörner zu nehmen. Es geschah uns nichts, aber die Nacht war hin.
Von Ställen hatten wir fortan genug.
Wenige Tage später, es regnete immer noch, hatten wir den Schwarzwald erreicht.
Irgendwie war unsere Navigation in dieser Gegend nicht die beste. Denn es war
unzweckmäßig, auch nur durch Randbereiche des bergigen Schwarzwaldes zu radeln, wo es
doch möglich gewesen wäre, etwa bei Basel den Rhein zu überqueren und in der Ebene
weiterzufahren. Vielleicht hatten wir eine reine Straßenkarte zu Rate gezogen, aber nicht eine
Karte mit guter Geländezeichnung, oder es war uns ein anderer Fehler unterlaufen. Was
immer es gewesen sein mag: Der Schwarzwaldbauer, den wir um ein Scheunenquartier baten,
sagte nicht einfach „ ja“, sondern „ja, aber“. Hinter dem „aber“ kam, dass wir als Bedingung
für das Übernachten einen Wagen Heu abladen sollten, den der Bauer vor kurzem in seine
Scheune eingefahren hatte. Eigentlich fiel uns das nicht schwer. Wir waren kräftige Jungs,
und mit der Heugabel hatten wir auch schon gewerkelt. Also luden wir das Heu ab, stemmten
es auf den Heuboden und legten uns hinein. Kurz vor dem erhofften Einschlafen fiel mir ein:
Wir hatten als Boys vom Lande doch gelernt, dass feucht eingebrachtes Heu sich selbst
entzünden kann. Durch solche Selbstentzündung waren schon diverse Scheunenbrände
entstanden – nicht alle Tage, aber es gab so etwas. Ich machte eine Hand frei und fuhr mit ihr
möglichst tief in das Heu hinein. Das Heu im Innern der Partie, auf der wir lagen, war nicht
nur warm, es war heiß. Je tiefer ich meine Hand hineinbohrte, umso heißer. Ich forderte Klaus
und Teddy auf, den gleichen Test zu machen, und sie kamen zum gleichen Ergebnis. Wie heiß
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muss Heu werden, um sich selbst zu entzünden? Das wussten wir nicht, und wir wussten auch
nicht, wie heiß das Heu in anderen Teilen der Scheune war. Ein Thermometer hatten wir
schon gar nicht.
Auf dem Heu zu schlafen, war bequem, das Heu war weich und warm. Der Boden des
freien Scheunenteils hingegen machte einen harten, kalten Eindruck. Außerdem, so überlegten
wir, würden wir im Fall eines Brandes auf dem Boden der Scheune ebenfalls sterben, wenn
nicht durch Flammen, so durch Rauch. Das Ergebnis war, dass wir vereinbarten, im Wechsel
zu wachen. Jede Stunde sollte die Wache wechseln, und wer Wache hatte, durfte sich auf
keinen Fall hinlegen. Wir schafften es. Die Wachablösungen erfolgten pünktlich, woraus wir
(etwas gewagt) folgerten, dass keine Wache eingeschlafen war. Hinreichend Angst, so dass
wir als Posten wach blieben, hatten wir allemal. Am Morgen erzählten wir alles den
Bauersleuten. Sie lachten über uns, wirkten aber auch ein wenig schuldbewusst. Natürlich war
ihnen die Sache mit der Selbstentzündung bekannt. Die Bauersfrau gab uns noch ein gutes
Frühstück, dann fuhren wir unserer Wege.
Wenige Tage vor Ende unserer Schulferien kamen wir wieder nach Hessen zurück.
Teddy verabschiedete sich schon in Jugenheim an der Bergstraße, wohin seine schicke Mutter
im Sommer gezogen war, um dort vom Herbst an Pädagogik zu studieren. Klaus und ich
erreichten mit einer weiteren Tagesfahrt Steinau an der Straße. Klaus brauchte noch zirka 75
Minuten Fahrt durch die Wälder am Rand des Spessarts, dann war auch er zu Hause.
In der Schule waren wir ein paar Tage lang die Stars der Klasse. Alle wollten unsere
Erzählungen hören, sogar manche Lehrer. Die Mädchen in der Klasse fanden, wir hätten uns
sehr verändert. Ich war in den Stimmbruch gekommen, den Klaus und Teddy schon erledigt
hatten. Ein oder zwei Girlies sagten, wir seien junge Männer geworden. Wir entgegneten, das
sei Quatsch. Aber heimlich freute es uns doch.

37. Glaube kommt, Glaube geht


In einer protestantischen Familie aufgewachsen, wurde ich als Kind und Jugendlicher von der
Mutter in die Kirche geschickt, manchmal getrieben. Sie drohte sonntags mit extrem
schlechter Laune zum Mittagsessen, wenn weder mein Vater noch ich zur Kirche gegangen
war. Sie selbst hielt sich für entschuldigt, weil sie kochen musste, und überdies war sie in
ihren Augen sowieso der Mensch in der Familie, der den Kirchgang am wenigsten nötig hatte.
In Steinau war für Heranwachsende außer dem Kino des Schrotthändlers „nichts los“.
Da erschien plötzlich ein junger Mann von ca. 27 Jahren, kompakt aber sportlich gebaut, mit
straff zurückgekämmtem Haar, einem Fahrrad und einer Gitarre, zu der er auch Lieder singen
konnte. Es war der neue evangelische Vikar, d.h. Pfarrer-Anwärter, der dem bisherigen
Pfarrer zur Seite gestellt wurde. Ihm waren vor allem die Jugendlichen der Gemeinde
anvertraut. Im Gegensatz zu anderen Kulturträgern wie etwa den Volksschullehrern, von
denen man wenig sah und wenig hörte, zog der neue Vikar viele Jugendliche des Ortes an.
Seine Art, Lieder vorzutragen und zum Mitsingen zu animieren, Themen der Zeit
aufzugreifen und aus christlicher Perspektive zu diskutieren, Ausflüge mit seinen Zuhörern zu
unternehmen, hatte Erfolg.
Sein Erfolg gründete sich nicht nur auf seine spontane, jugendliche Art. Der Mann
hatte auch in einer Zeit, die jetzt schon eine Weile zurücklag, Erfahrungen gemacht, die etwas
anderes waren als nur ein theologisches Studium. Er war 1944/45 in Hanau als Schüler
zunächst als Flakhelfer und dann zur Wehrmacht einzogen worden. Dort hatte er regulären
Soldatendienst geleistet. Seine Einheit war in den letzten Tagen der Kämpfe, in denen die
Amerikaner rasch ins Rhein-Main-Gebiet vorstießen, zur „Panzervernichtung“ eingesetzt
worden. Jeder Soldat der hauptsächlich aus Schülern bestehenden Kompanie musste sich ein
Schützenloch graben, in welchem er mit einer Panzerfaust ausharren und heranrollende
Panzer der Amis abschießen sollte. Freilich waren diese Gegner nicht so töricht, sich von
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einem Haufen Schüler erledigen zu lassen. Ihre Panzerkommandanten waren mit der Taktik
der Ein-Mann-Schützenlöcher vertraut. Außerdem wurden die Panzer von Infanterie begleitet,
die darauf trainiert war, solche Panzerfaustattacken zu vereiteln. Jeder Schüler, der sich in
seinem Loch bemerkbar machte, etwa um seine Panzerfaust auf ein Ziel zu richten, wurde von
den Infanteristen abgeschossen oder von einem Panzer mit dem MG bzw. einer Sprenggranate
getötet. Die Schüler, die in ihren Löchern noch übrig blieben, bekamen von den Amis ein
Gnadenangebot. Der amerikanische Flammenwerfer-Panzer fuhr, von seiner Infanterie
gedeckt, zu jedem dieser Löcher hin. Der Kommandant richtete den Strahl seines
Flammenwerfers kurz vor das Loch, so dass die Flammen spritzten und der im Loch sitzende
Schüler die tödliche Gefahr erkennen konnte. Die Schüler, die daraufhin nicht die Hände
hoben und sich ergaben, wurden mit dem Flammenwerfer angefaucht und starben einen
furchtbaren Tod. Unser Vikar war damals so klug, sich zu ergeben. Aber die seelischen
Spuren dieser Erfahrung wie überhaupt der Zeit als Schülersoldat in den letzten
Kriegswochen waren geblieben. Sie hatten aus ihm einen Mann gemacht, dessen christliche
Verkündigung sehr viel überzeugender wirkte als die blassen, immer etwas mühsamen
Predigten unseres bisherigen Pfarrers. Die Jugendlichen, zu denen auch ich gehörte, waren
begeistert. Und meine bisher eher formale, familiär bedingte Bindung ans Christentum
wandelte sich während der Pubertät in durchaus reale Gläubigkeit.
Karlheinz Happich, so hieß der junge Kirchenmann, brachte das Liedgut des
Wandervogel und auch weiterer Zweige der deutschen Jugendbewegung vor der Nazizeit mit.
Zu seiner Gitarre sangen wir die Lieder, die, man kann sagen, schon zwei Generationen von
Jugendlichen vor uns gesungen hatten. Happich machte mit uns Wanderungen in die
Nachbargebiete von Steinau und sehr bald auch mehrtägige Radtouren ins hessische und
fränkische Land. Er spielte Fußball mit uns und konnte auch über die jüngsten Spiele der
Oberliga Süd (Bundesliga gab es noch nicht) mit uns genauso gut fachsimpeln wie der
örtliche Schuster, der die Schuhe und Trikots der SG Steinau betreute. Behutsam und
schrittweise nahm Happich zu unseren Zusammenkünften auch Mädchen hinzu aus der
örtlichen evangelischen Mädchengruppe. Sie war bislang von einer ältlichen
Gemeindeschwester betreut worden und fristete vor Happich ein klägliches Kümmerdasein.
Dass es in unserer Gruppe nun Mädchen gab, eröffnete weitere, neue Formen der Aktivität.
Wir spielten mit Begeisterung Theater und führten jedes Jahr mit großem Einsatz öffentlich
mehrere Stücke auf. Es waren christliche Stücke für Laienspieler, manchmal aus Dramen der
Weltliteratur arrangiert. Dass bei diesen Arrangements auch literarische Höhepunkte verloren
gingen, denen wir spielerisch nicht gewachsen waren, störte uns wenig, auch, weil wir jene
Höhepunkte oft gar nicht kannten. Neben Happichs lebendiger, Begeisterung erregender
Theaterarbeit verblasste nämlich der gymnasiale Deutschunterricht, der uns doch eigentlich an
jene Dramen heranführen sollte. Auf dem Gymnasium hatten wir zwar vier, in manchen
Jahren fünf Deutschstunden pro Woche, bei durchaus guten Lehrern. Da wurde viel Literatur
vermittelt, auch zeitgenössische Literatur. Aber all dies blieb eben Schule. Vieles rauschte an
uns vorbei, weil kein Impuls zu eigener Aktivität, Theater oder sonst etwas, damit verbunden
war.
Happich hingegen entwickelte seine Tätigkeiten noch fort, er plante und organisierte
größere Zeltlager mit anderen Jugendgruppen und schließlich zweiwöchige „Freizeiten“ in
den Alpen. Dort wurde gesungen, Theater gespielt, diskutiert und manchmal auch heimlich
geschmust unter dem Motto: „Zwei Personen sichern sich gegenseitig“. Zu Happichs
Angeboten gab es in Steinau und Umgebung keine konkurrenzfähige Alternative. Der
Höhepunkt in der Zeit, in der ich an diesen Dingen teilnahm, war die Inszenierung eines
kleinen Musicals mit dem Titel „Halleluja Billy“. Es war die Geschichte eines jungen
Paares, das sich aus dem unterdrückten Milieu amerikanischer Slums herausarbeiten und
gemeinsam auf den Weg in ein besseres Leben machen wollte. Das Orchester war eine
Jazzcombo aus Musikern der Umgebung, die Sänger waren Mitglieder von Happichs –
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inzwischen mehreren – Gruppen mit Ergänzung durch erfahrene Kräfte aus anderen Teilen
Hessens. In der Schule sang ich seit drei Jahren im Schulchor, wir hatten unter Leitung einer
großartigen, sehr engagierten Musiklehrerin öffentlich (auch für den Schulfunk des HR)
mehrere Oratorien aufgeführt. In Halleluja Billy sang ich den Billy. Da ich bei Einsätzen ohne
Band nicht ganz sicher war, hatten die Musiker ihre Noten so umgeschrieben, dass mir immer
einer den Ton für den Einsatz gab. Wir führten das Stück vor voll besetzten osthessischen
Turnhallen und anderen Mehrzwecksälen auf, im Ganzen etwa sechs Mal. Und sechs Mal
starb ich, in hautengen Jeans eine steile Treppe hinunterstürzend, den Tod des armen Jungen,
der vom bösen Sheriff hinterrücks erschossen wird. Natürlich waren dies alles im Prinzip
christliche Veranstaltungen. Und unser erstaunlich großes Publikum waren brave
Gemeindemitglieder, die von ihren Pfarrern von der Kanzel herab in diese christliche Abend-
show getrieben wurden.
Meine Rolle als Billy war Höhepunkt und Ende meiner Zeit bei Karlheinz Happich.
Das Abitur stand vor der Tür, und überdies hatte ich während der letzten Monate schon
unangenehme Gewissensbisse. Ich war nämlich, nun mehrere Jahre älter, inzwischen nicht
mehr gläubig im Sinn der christlichen Lehre. Deshalb war ich in Happichs Team eigentlich
nicht mehr am Platz. Der Glaube an die Lehren des Evangeliums, die Happich natürlich auch
verkünden musste, war mir Stück für Stück abhanden gekommen. Vielleicht war das durch
eigene kritische Fragen geschehen, ich neige bis heute zur Skepsis gegenüber allumgreifenden
Welterklärungs- und Lebenslehren. Vielleicht waren es auch erste Kontakte mit der
Philosophie, speziell frühen Schriften Nietzsches, auf die mich ein Deutschlehrer gestoßen
hatte. Vielleicht war es einfach das Heraustreten aus der Pubertät und ein Stück
Erwachsenwerden. Ich sprach mit Happich darüber, und er erwies sich als erstaunlich
verständnisvoll und tolerant. Er gehörte in der Theologie zur Schule von Rudolf Bultmann
und vertrat dessen Programm der Entmythologisierung. Er glaubte an viele Berichte
übernatürlicher Ereignisse in der Bibel, wie etwa den ganzen Wunderkram, auch selbst nicht.
Aber Jesus, Gottvater und wohl auch der Heilige Geist waren für ihn unumstößliche Säulen
seines Christentums und seines Lebens - und mich trugen diese Säulen nicht mehr.
Wenn ich heute sagen soll, welche Menschen mich unabhängig von den Eltern über
Jahre hin durch Vorbild und menschlichen Kontakt geführt und erzogen haben, so gehört
Karlheinz Happich in vorderster Reihe dazu. Neben ihm gibt es nur einen einzigen weiteren
Mann von vergleichbar prägender Kraft in meinem Erwachsenenleben. Später mehr über ihn.

38. Schweden! Schweden!


Über dem Theaterspielen mit Happich, das viel genussvolle Zeit brachte, war ich zwei Jahre
lang zu keiner größeren Fahrt aufgebrochen. Jetzt, 1958, in dem Jahr, in dem ich 19 werden
und im nächsten Frühjahr Abitur machen sollte, hatte sich die Bindung an Happichs Gruppen
innerlich gelöst. Ich wollte während der Sommerferien wieder ins Ausland, diesmal nicht
nach Süden, sondern nach Norden, nach Schweden. Schweden stellte sich auf der Karte als
riesiges, langgestrecktes Land dar mit einer langen Küste an der Ostsee, vielen Wäldern,
vielen Binnenseen und attraktiven Städten. Es war auch nicht zu bergig, oder mindestens
waren die Berge nicht zu steil. Das müsste ein herrliches Gelände für eine große Radtour sein.
Freilich war Schweden kein Land deutscher Träume wie Italien, aber es hatte im Klima dieser
Jahre den Reiz des ganz Anderen.
Leider hatte ich wohl eine Entwicklung der Zeit nicht beachtet oder verschlafen, die
sich sehr schnell unter Jugendlichen meiner Generation angebahnt hatte und schnell
weiterging. Das deutete sich im Vorfeld der Tour schon an, ohne dass ich den vollen Schwung
der neuen Sache erkannte. Ich suchte natürlich Kumpels, die mitfahren würden nach
Schweden. Allein wollte ich nach den Italien-Erfahrungen eine solche Fahrt nicht
unternehmen. Aber ich fand keine Kumpels. Klaus war von der Schule abgegangen und
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machte seine Polizeiausbildung. Ich wusste nicht einmal, wo. Teddy war ebenfalls
abgegangen und nach Jugenheim zu seiner weltgewandten Mutter gezogen, wo er jetzt
wohnte und in eine andere Schule ging. Ich versuchte einen mir sehr sympathischen Jungen
meiner Klasse anzuwerben für eine Zweier-Tour. Aber der Junge wollte nicht. Auch andere
mögliche Begleiter konnte ich in unmittelbarer Nähe nicht gewinnen. Natürlich sollte die
Chemie auch stimmen. Ich radelte zu Teddy nach Jugenheim, eine Tagesfahrt. Es war etwa
Ende April, also für Sommervorbereitungen schon höchste Zeit. Teddy aber war gerade dabei,
seine in den zurückliegenden Osterferien unternommene Schweden-Reise organisatorisch
abzuwickeln. Er hatte, wie seine Mutter es ausdrückte, „eine tolle Schwedin aufgerissen“, die
jetzt gerade wieder auf den Rückweg gebracht werden musste. Mit mir wollte Teddy nicht
nach Schweden fahren, schon gar nicht per Fahrrad. Er hatte auf seiner letzten Reise sich per
Autostopp fortbewegt oder, wie wir sagten, er war getrampt. Langsam dämmerte mir:
Trampen könnte das neue Transportmittel für ausgeschlafene Jugendliche sein. Fahrrad war
vielleicht gar nicht mehr „in“. Im Trampen hatte ich aber keine Erfahrung. Auch war diese
Art der Fortbewegung zwar aus der Nachkriegszeit als Notlösung gut bekannt und akzeptiert,
aber für meine Wahrnehmung eher nicht als Haupt-Transportmittel einer mehrwöchigen Fahrt
in den Ferien.
Also plante ich meine Schwedenreise doch als Fahrradtour, und nolens volens allein.
Ich wechselte einige Stücke meiner Ausrüstung aus, ein neues, leichtes, modernes Fahrrad
hatte ich schon. Ein Zelt nahm ich nicht mit, das hätte für mich als Einzel-Radler zu viel
Gepäck bedeutet. Ich wollte in Jugendherbergen übernachten. Ich hatte auch gehört, dass die
skandinavischen Herbergen zwar deutlich teurer seien als die deutschen. Sie seien aber primär
auf kleine Gruppen eingestellt, auch auf Einzelreisende, und nicht zwangsläufig auf lärmende
Schulklassen wie in Deutschland. Geld hatte ich genug, ja weit mehr als ich zu Schulzeiten
ausgab. Denn ich war während der letzten zwei Jahre in Steinau zum erfolgreichsten
Ansprechpartner für Nachhilfestunden geworden. Bei einem (als sehr gut geltenden)
Stundenlohn von zwei Mark gab ich während der Schulzeit nachmittags ein, zwei, manchmal
drei, einmal sogar vier Nachhilfestunden. Meine Fächer waren Mathe, Latein, Englisch,
Französisch. Ich hatte keine Geldsorgen. Auch das neue Fahrrad war durch diese Stunden
finanziert worden.
Am ersten Tag der Sommerferien schnallte ich die gefüllten Packtaschen links und
rechts auf den Gepäckträger, den Poncho obenauf in die Mitte, und fuhr los. Meine Mutter
weinte beim Abschied, ich auch ein wenig, aber erst, als ich schon ein paar Kilometer entfernt
war. Bis Travemünde an der Ostsee, von wo die Fähre nach Schweden abging, war ich per
Fahrrad in den Pfingstferien schon gewesen. Das war vertrautes Gelände. Ich erreichte die
Ostsee in wenigen Tagen. In Lübeck betrachtete ich Denkmäler der Backsteingotik und ließ
mich von anderen Jugendlichen über Schweden belehren. Alles klang gut.
Die Fähre nach Trelleborg war ein großes Schiff und fuhr zunächst gleichmäßig vor
dem Wind, der kräftig wehte. Dann änderte es seinen Kurs, der Wind kam von der Seite, und
den Leuten wurde schlecht, auch mir. Zwar musste ich mich nicht über die Reling hängen und
mich übergeben. Aber ich fühlte mich reichlich elend, und der Brechreiz würgte beständig im
Hals.

39. Gastlichkeit

Nach dem Ausschiffen verlor sich meine Übelkeit schnell. Die Jugendherberge erwies sich als
eine Art Pension, heute würde man sagen ein Hostel, und bot ein gutes Zimmer sowie ebenso
gute Verpflegung. Sie lag auf dem Gelände eines Sportvereins mit ausgedehnten Anlagen für
vielerlei Sportarten. Ich sah, wie zwei Jungs auf der nebenan liegenden Wiese die
Kombination Rondat (Radwende) mit Flickflack und Salto rückwärts übten. Ich stellte mich
daneben und schaute zu. Da die Jungs etwa im gleichen Alter waren wie ich, verständigten
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wir uns schnell mit bruchstückhaftem Englisch. Sie fragten, ob ich mitmachen wolle. Im
Turnverein übte ich dieselbe Folge, war aber nicht sehr firm darin. Die jungen Schweden
hatten einen Sicherungsgürtel, wie ich ihn noch nicht kannte. Damit konnten zwei Personen,
die neben dem Übenden her liefen, diesen sichern. Die Schweden schnallten mich ein,
sicherten hervorragend und ließen mich eine ganze Weile springen, bis ich rechtschaffen
müde war. Gegen 21 Uhr endete das Turnen, wir verabschiedeten uns herzlich, und ich ging
früh zu Bett.
Mit dieser kleinen Erfahrung fühlte ich mich in Schweden freundlich willkommen
geheißen. Das war in diesem Sommer absolut nicht selbstverständlich, denn wenige Wochen
zuvor hatte in Schweden die Fußball-Weltmeisterschaft 1958 stattgefunden. Deutschland
hatte gegen Schweden im Halbfinale verloren. Die Deutschen daheim an ihren Radio- und
Fernsehgeräten hatten sich ungeheuer aufgeregt über die Weise, wie die Schweden das
Anfeuern ihrer Mannschaft im Stadion durch spezielle Einpeitscher organisierten. Es
herrschte helle Empörung über diese „Unsportlichkeit“, viele führten selbst die deutsche
Niederlage darauf zurück. In Deutschland kam es daraufhin gegenüber schwedischen
Reisenden zu üblen Pöbeleien. Es geschah sogar mehrfach, dass schwedischen Autofahrern
die Reifen aufgeschnitten wurden. Man konnte annehmen, dass schwedische Zeitungen diese
deutschen Unsportlichkeiten und Schlimmeres zu Hause berichtet hatten. Ich habe aber
während meiner ganzen Reise keinerlei negative Reaktion auf diese Entgleisungen zu spüren
bekommen. Und habe auch nur ein Mal eine heitere, amüsierte Anspielung auf den ganzen
Zwist gehört.
Zunächst freute ich mich über sehr schönes Wetter und fuhr gut gelaunt in leichtem
Gelände Richtung Stockholm. Das südliche Schweden erwies sich als ruhiges, dünn
besiedeltes Land. Es gab, wie erwartet, Wälder, weite Horizonte und ungewöhnlich schöne
Seen, in denen man baden konnte. Beim Baden an einem solchen See fing ich mir zwei
auffällige, stark juckende Mückenstiche ein, von denen noch die Rede sein wird. Nach drei
Tagen zog Regen auf und wurde dichter und dichter. Auch meine bewährte Poncho-
Ausrüstung mit Südwester half nicht viel, denn das Wasser spritzte vom Boden her gegen die
Beine, die nur dünn geschützt waren. Die Straße, vor Tagen noch gut asphaltiert, war jetzt nur
noch eine Schotterpiste, auf der entgegenkommende Autos durch Pfützen fuhren und Spritzer
aussandten. Überdies wurde das Gelände nun hügelig und erinnerte manchmal an das
hessische Bergland. Es kam vor, dass ich mein Rad schieben musste.
In Situationen dieser Art entfaltete sich die schwedische Gastlichkeit zu voller Größe.
Es geschah mehrfach auf meinem Weg Richtung Stockholm, dass in kleinen Orten Menschen
auf mich zukamen und mich in ihr Haus einluden. Gemeinsam schimpften wir dann auf das
Wetter, und ich bekam schwedische Köstlichkeiten zu essen und zu trinken, die ich noch nie
genossen hatte. In einer Kleinstadt fiel ich als Fremdling der Reporterin einer Lokalzeitung
auf. Sie interviewte und fotografierte mich und kündigte an, einen Artikel daraus zu machen.
Ob sie es tat und ob der Artikel dann auch gedruckt wurde, habe ich nicht erfahren. Ich habe
auch nicht versucht, irgendwo diese Zeitung aufzutreiben, denn meine Reise nahm eine
überraschende Wende. Mein ganzes Überlegen und Planen ging plötzlich auf völlig andere
Ziele als bisher.

40. Eine radikale Entscheidung

Schon nahe Stockholm, kam ich in der Unterkunft abends ins Gespräch mit einem deutschen
Jungen gleichen Alters, der ebenfalls allein unterwegs war. Er kam aus Finnisch Lappland,
genauer aus der Gegend zwischen Rovaniemi und Inari weit im Norden Finnlands, etwa 1800
Straßenkilometer von unserem Standort entfernt. Er war auf dem Rückweg nach Deutschland,
in ein Bundesland, in dem die Ferien anders begannen und endeten als in Hessen. Sein
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Fortbewegungsmittel war allein das Trampen. Er hielt es für möglich, auf diese Weise über
die Eismeerstraße sogar Hammerfest zu erreichen. Von Hammerfest hatte ich im
Erdkundeunterricht gehört. Der Ort galt als die nördlichste Stadt der Welt, fast auf Höhe des
Nordkaps gelegen, mit langer Dunkelperiode im Winter und langer Zeit nicht endender
Tageshelle im Sommer. Über Probleme, die es beim Trampen nach Lappland und zurück
gegeben habe, sagte der Junge nichts. Es sei alles prima gelaufen. Nach Teddys Ablehnung
einer neuen Radtour war dies der zweite, entscheidende Wink des Schicksals: Radfahren war
out, Trampen war die neue Art des Reisens für junge Leute.
Am nächsten Morgen fuhr ich zum örtlichen Bahnhof, stellte den Lenker meines
Rades in Linie mit dem Rahmen, schraubte die Pedale nach innen und gab das Fahrrad auf
zum Rücktransport nach Steinau an der Straße, Tyskland. Ich nahm meine Packtaschen, die
sich zu einem einzigen Element verbinden ließen, formte aus dem gebündelten Regenzeug
einen weiteren Packen, und stellte mich an die Straße. Es war kurz vor Stockholm, die
Kleinstadt hieß Södertälje. Überraschend schnell nahm mich ein gastlicher Schwede mit und
setzte mich in Stockholm ab.
Da in Hammerfest die Zeit der Mitternachtssonne in zweieinhalb Wochen zu Ende
gehen würde, wollte ich mich beeilen. Nach Hammerfest kommen und dort die
Mitternachtssonne in voller Schönheit betrachten, das war das neue Ziel. Etwas mühsam
fragte ich mich durch Stockholm, kam irgendwie an die Straße nach Norden (Autobahnen gab
es in Schweden noch nicht) und stellte mich wieder auf. Es ging erstaunlich gut. Obwohl ich
den Reisetag spät begonnen hatte, weil ich erst das Fahrrad verschicken musste, kam ich bis
zum Abend ein gutes Stück weiter. Erst spät, die Sommertage hatten auch in Schweden fast
kein Ende, kam ich in eine Herberge und ins Bett. Schade um Stockholm, so eine schöne
Stadt, dachte ich noch vor dem Einschlafen. Aber ich war viel zu müde, um meine kulturellen
Versäumnisse zu bedauern. Und auch zu gierig, in den wirklichen Norden zu kommen. Auch
Uppsala war schon vorbeigerauscht.
Der Norden begann mit deutlichen Veränderungen. Die Besiedelung wurde dünner,
die Bäume niedriger, die Straßen schmaler, und über weite Strecken war (damals) die
Küstenstraße in Nordschweden nur eine Schotterpiste. Mit einem Mann in einem schweren
Citroen, wie man ihn in Deutschland aus französischen Krimis kannte, fuhr ich eine Nacht
hindurch auf einer solchen Piste, mit dünner Musik aus dem Radio, und abscheulich
schlechtem Licht. Unsere Richtung war zunächst fast Norden, nur etwas nach Ost versetzt.
Die Sonne stand als starker roter Schein knapp unter dem Horizont, zunächst etwas nach West
verschoben. Dann stand sie direkt im Norden, dann unmittelbar vor uns und blieb da, nach
Ost wandernd. Auch unser Kurs drehte leicht nach Osten, als sollte der rot blendende Schein
immer vor uns stehen. Es wurde nicht wirklich Nacht, die Nacht bestand aus ein paar Stunden
Zwielicht mit einer fast waagerecht unter dem Horizont wandernden, indirekt in die Augen
stechenden Sonne. Die Scheinwerfer des Wagens erhellten die Szene nicht, es war ja halb Tag
und blieb halb Tag. Selten kam uns ein Fahrzeug entgegen und fuhr rechts an uns vorbei.
Schweden hatte damals Linksverkehr. Mein Fahrer fuhr sehr schnell und wirkte angestrengt.
Ich wusste aus den Holland-Reisen mit dem Vater, dass es bei einsamer Nachtfahrt meine
Aufgabe war, den Fahrer am Einschlafen zu hindern. Mich selbst mühsam wach haltend,
plapperte ich irgendetwas in meinem Schulenglisch. Der Fahrer antwortete selten, er war zum
Lenkrad hin gebeugt und starrte in das unangenehme Licht vor ihm. Plötzlich tauchte aus
einer Senke unmittelbar vor uns ein riesiges Gefährt auf, eine der Maschinen, die bei Nacht
den losen Schotter der Straße glätteten. Ich erschrak zu Tode, wie man sagt, aber der Fahrer
reagierte richtig: Er riss den Wagen nach links, sehr knapp schoss der schwere Citroen an dem
Straßenbaumonster vorbei. Bremsen auf dem Schotter wäre sinnlos gewesen. Dann hielt mein
Mann an, vielleicht das einzige Mal in dieser Nacht. Die Begegnung hatte auch ihn geschockt.
Er musste eine Zigarette rauchen, bevor er weiterfahren konnte.
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Gegen drei waren wir in Haparanda, an der finnischen Grenze. Die Sonne war voll
aufgegangen. Es war heller Tag. Mein Gastgeber im Citroen fuhr noch eine Weile weiter auf
finnischem Boden. Dann trennten sich unsere Wege. Sein Kurs ging jetzt nach Südosten,
meiner nach Norden. Ich wollte zur Eismeerstraße und nach Inari.
In Rovaniemi erreichte ich den Polarkreis. Von mehreren Tagen des Trampens war ich
sehr angestrengt. Überdies waren die „Mückenstiche“ aus Südschweden zu dicken,
schmerzhaften, pochenden Beulen geworden. Ich beschloss, zwei Tage Pause zu machen.
Was ich für Mückenstiche hielt, waren wohl Stiche eines mir unbekannten, giftigen Insekts
gewesen. Ich konnte nur noch mühsam gehen. Immerhin zeigte sich eine gelbliche Färbung
auf der Mitte der Beulen, also Eiter. Ich erinnerte mich unserer Furunkel aus der
Nachkriegszeit, setzte meine Daumen links und rechts an eine Beule und zog sie auf (nicht
drücken, ziehen!). Sie war „reif“, der Eiter schoss heraus und floss ab. Gleiches geschah mit
der zweiten Beule. Sofort gingen Schmerz und Pochen zurück. Die kleinen Wunden heilten in
der Folge problemlos ab.
Die Jugend Rovaniemis genoss den Sommer. Die Sommerzeit ist kostbar in Lappland.
Wir hatten gutes Wetter, es war warm, und in den Nächten blieb es taghell. Leider sprach ich
kein Finnisch, aber viele finnischen Jugendliche sprachen etwas Englisch, wie auch ich.
Damit, sowie mit ein wenig Hilfe von Händen und Füßen verständigten wir uns. An einem der
Abende gab es Tanz. Viele Mädchen und Jungen versammelten sich im Freien auf einem
Tanzboden, zunächst, sehr eigentümlich, nach Geschlechtern getrennt. Sobald die Band
spielte, gingen die Jungen auf die Gruppe der Mädchen zu (was etwas bedrohlich aussah, aber
nur aussah) und forderten eine Tänzerin auf. Getanzt wurde sehr ausgelassen, und fast
ausschließlich Rock ’n‘ Roll. Es war die große Zeit dieses Tanzes, und der Tanz war eine
Botschaft: Wir sind anders, wir wollen frei sein. Die finnischen boys and girls zeigten sich als
perfekt up to date. Hits der Rock ’n‘ Roll-Epoche wie Rock arond the Clock, Tutti Frutti,
Jailhouse Rock und andere wurden von den Musikern der Band kompetent gespielt sowie
gesungen und von den Teilnehmern wild getanzt. Der Tanzstil war erstaunlich freimütig.
Einige Tänzerinnen und Tänzer hatten die stark becken- und körperbetonte Bewegungsweise
Elvis Presleys übernommen, die in Deutschland, jedenfalls auf meinen Schulbällen, noch als
sittenwidrig galt. Wiewohl ich die Hüftschwünge und Beinbewegungen noch nicht à la Elvis
zustande brachte, tanzte ich bis zur Erschöpfung. Die Wunden an den Waden spürte ich nicht.
Die ganze Erfahrung hatte mich in eine Art Euphorie versetzt und gab auch mir ein deutliches
Gefühl des Freier-Werdens. Lange konnte ich nicht einschlafen. Am nächsten Morgen glaubte
ich sicher zu sein: Auch diese Reise wird mich verändern und hat es schon getan.

41. Inari, Hammerfest, Narvik, heim


Die Fahrt nach Inari lehrte mich, dass ab jetzt andere Verhältnisse herrschen würden. Der
Autoverkehr wurde noch dünner als bisher, und die Mehrzahl der wenigen PKWs, die hier
fuhren, transportierten Familien oder Gruppen von Touristen. Diese Autos hatten keinen Platz
für einen Tramper, oder die Personen gehörten so eng zusammen, dass ein Tramper gestört
hätte. Ich musste länger an der Straße stehen und warten als bisher. Aber wenn ein einzelner
Mann in einem Auto kam und nicht signalisierte, dass er nur eine kurze Strecke unterwegs sei,
nahm er mich meistens mit. Skandinavische Gastlichkeit. Mehrere Stunden fuhr ich mit einem
jungen Mann, mit dem ich mich nur in Zeichensprache verständigte. Er teilte seine
Tagesverpflegung, eine große Fleischwurst und finnisches Brot mit mir und fuhr mich am
Schluss noch, über sein eigenes Ziel hinaus, zu einer Stelle, wo das Weiterkommen günstig
sein würde.
In Inari badete ich in dem herrlichen See gleichen Namens, genoss die Sauna und ein
sehr wohlschmeckendes Essen, das ich für eine Spezialität Lapplands hielt. Ich kaufte eine
Mückenschutz-Creme, denn jetzt im Sommer war der aufgetaute Boden das rechte Biotop für
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erstaunlich viele und fleißige Stechmücken. Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg
Richtung Norwegen, genauer: Norwegisch Lappland. Seit langem gab es nur noch
Schotterpisten und immer weniger Verkehr. Jetzt, auf der Verbindungsroute zwischen dem
nördlichsten Finnland und dem nördlichsten Norwegen, zählte ich im Durchschnitt pro Stunde
drei Autos, vorwiegend voll besetzt oder nur lokal unterwegs. Zwischen Inari und Karasjok,
der ersten auf meiner Karte verzeichneten Siedlung in Norwegen, wartete ich im (subjektiv
empfundenen) Nirgendwo einmal eineinhalb Tage, bis ich weiterkam. Wenn jemand Platz
hatte, hielt er an, aber ein solcher musste erst einmal kommen. Ich hatte Zeit, die Landschaft
zu betrachten. Das Gelände war jetzt hügelig bis bergig, die Vegetation bestand aus hartem
Gras, viel Moos verschiedener Art sowie aus niedrigen, krüppelartigen Kiefern und
ebensolchen Birken. Sie sahen besonders in den bergigen Teilen meiner Route eher wie
Gestrüpp aus und wurden dort kaum höher als 40 cm. Ich sah viele Rentiere, die unaufgeregt
und gleichgültig gegen meine unwichtige Person ihres Wegs zogen. Einen Elch, den ich gern
gesehen hätte, sah ich nicht. Vielleicht war hier kein Lebensraum mehr für Elche. Lappen,
zumindest in der prachtvollen, vielfarbigen Lappentracht, sah ich auch nicht, aber das sollte
noch kommen.
Ich erreichte Hammerfest und kannte den Effekt schon: Orte des Begehrens und der
Sehnsucht können einen begeistern – sie können für die Empfindung aber auch unerwartet
flach ausfallen. Letzteres war der Fall mit Hammerfest, rein als Siedlung oder Städtchen. Es
war ein kleiner norwegischer Hafenort weit nördlich des Polarkreises. Fast alle Gebäude
waren neu, die deutschen Besatzer hatten im 2. Weltkrieg das alte Hammerfest zerstört, um
den herannahenden Sowjets keine Infrastruktur zu überlassen. Die Sonne schien, die
Einheimischen fanden es zu heiß, tatsächlich badeten Kinder in dem Becken eines kleinen
Springbrunnens in der Ortsmitte. Im vandrerhjem fanden sich interessante, eigentümliche
Menschen, unter denen ich mich sehr wohl fühlte. Etwa gegen halb elf führte uns der Leiter
dieses Hostels auf einen über der Küste gelegenen Hügel, um „noch einmal“ die Sonne zu
sehen. Er drückte sich so aus, weil es nach Kalender der vorletzte Tag in diesem Jahr war, an
dem man in Hammerfest die Mitternachtssonne sehen konnte – wenn die Sonne schien. Heute
schien sie, morgen sollte es regnen. Ich war gerade noch recht gekommen.
Auf dem Hügel über dem Meer lagerte bei immer noch warmen Temperaturen das
bunte fahrende Volk, das sich in dem vandrerhjem zusammengefunden hatte. Für eine Weile
sprach tatsächlich niemand. Wir sahen mit schützenden Brillen etwa eine Stunde lang zu, wie
die Sonne sich dem Horizont näherte. Dann, als man den Sonnenuntergang unmittelbar jetzt
erwartet hätte, begann sie, sich langsam vom Horizont zu entfernen und stieg in flacher Kurve
wieder empor. Der neue Tag hatte begonnen.
Nach kurzem Morgenschlaf dachte ich an meine Heimreise und erschrak: Es waren
nur noch 10 Tage bis zum Ende meiner Ferien und dem Schulbeginn. Natürlich wusste ich die
Daten immer schon, hatte sie aber erfolgreich vernachlässigt. Jetzt machten sie sich
aufdringlich geltend und trieben mich zur Eile. Ein geplanter Trip zum nahen Nordkap
(damals nur per Schiff möglich) hätte zwei Tage gekostet und fiel der knappen Zeit zum
Opfer.
Heute ist Lappland, ob schwedisch, finnisch oder norwegisch, mit einer ganzen Reihe
asphaltierter Straßen gut zugänglich. Der größere Teil dieser Straßen wurde in den letzten 50
Jahren neu angelegt und existierte damals noch nicht. So gab es auch keine durchgehende
Verbindung zwischen Hammerfest und Narvik, wo ich hoffte, ein Schiff nach Deutschland zu
bekommen. Vielmehr war die Straße zwischen diesen beiden Orten mehrfach durch kleine
Fjorde unterbrochen. An jedem dieser Fjorde musste man auf eine Fähre warten, was mehrere
Stunden kosten konnte. Ich kam quälend langsam voran. Ein weiteres Mal wartete ich
eineinhalb Tage, bis mich überhaupt jemand mitnahm.
Dafür veränderte sich die Landschaft hin zu dramatischen Kontrasten und beglückend
schönen Ausblicken. Die Berge an der norwegischen Küste erreichten jetzt Höhen bis 1800
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Meter. Ihre Gipfel trugen teilweise noch Schnee, ihre Flanken fielen manchmal fast senkrecht
in das Wasser eines der Fjorde hinab. Besonders das Fahren mit den kleinen Fährbooten
genoss ich sehr. Man sah dann oft weit in die Tiefe eines Fjordes hinein, die Perspektive
veränderte sich ständig über der Bewegung des Schiffes, und der Blick heftete sich einmal
nicht auf eine vorausliegende Schotterstraße.
Hier endlich begegnete ich auch einer Samin (Lappin) in traditioneller Tracht. Sie war
eine Frau mittleren Alters und leitete ein vandrerhjem, in dem ich jetzt, als der nordische
Sommer schon auf sein Ende zuging, der einzige Gast war. Beim Frühstück, in Norwegen
traditionell spät aber reichlich, zählte ich 26 Teile, die die Frau auftischte: Mehrere Sorten
Rentierschinken, mehrere Sorten Rentierwurst, mehrere Sorten Rentierkäse, diverse andere
Speisen, die ich nie gegessen hatte. Die Wirtin hatte sichtliche Freude an meiner
Verwunderung und meinem jugendlichen Appetit und achtete sehr drauf, dass von allem, was
ich aß, genug vorhanden war. Skandinavische Gastlichkeit. Sprechen konnten wir nicht
miteinander. Hände, Füße und Mimik genügten vollauf.
Von Narvik fuhren Frachtschiffe mit dem aus Kiruna stammenden Eisenerz nach
Deutschland, das wusste ich aus der Schule. Ich bestieg ein solches vor Anker liegendes
Schiff und fragte mich zum Kapitän durch. Er bestätigte, dass er nach Wilhelmshaven fahre,
lehnte es aber ab, mich als Hilfsarbeiter oder Passagier an Bord zu nehmen: Auf seinem
Schiff sei das nicht möglich, es fehle die Versicherung für zusätzliche Personen. Auch auf den
anderen Schiffen, die diese Route bedienten, würde das so sein, erläuterte er glaubhaft. Damit
scheiterte mein Versuch, alles abzukürzen und schnell auf deutschen Boden zu kommen.
Für das Stück von Hammerfest nach Narvik, eine relativ kurze Strecke, hatte ich sechs
Tage gebraucht. Nach dieser Erfahrung rechnete ich nun für den Rest meiner Reise mit
mindestens zwei Wochen, auch wenn die Verkehrsdichte sich stark bessern würde. Immerhin
waren es noch ca. 2500 Straßenkilometer bis Steinau, Schiffspassagen nicht mitgerechnet. Ich
schrieb meinen Eltern, sie mögen in der Schule wissen lassen, dass ich zum Schulbeginn mit
deutlicher Verspätung kommen würde. (Die Eltern hatten noch immer kein Telefon und
sollten auch erst 14 Jahre später eins bekommen.)
Kaum hatte ich den Brief eingeworfen und aller Pünktlichkeit Ade gesagt,
beschleunigte sich mein Reisetempo auf rasante Weise. Ich bekam einen Einzelfahrer, einen
älteren Mann in einem starken Volvo, einem Wagen des Typs, der in Deutschland
„Buckelvolvo“ hieß. Dieser Herr war ein Geschäftsmann, der nach Hamar wollte, kurz vor
Oslo. Eigentümlich geduckt, mit faltigem, blassem Gesicht und herabgezogenen
Mundwinkeln hockte er hinter dem Lenkrad. Er schoss förmlich über die Schotterstraßen, so
dass mir manchmal Angst und Bange wurde. Am späten Abend, es war noch immer taghell,
erreichten wir Trondheim. Hier hatte mein Mann eine Hotelbuchung. Mich fuhr er zum
örtlichen vandrerhjem und stellte anheim, uns am nächsten Morgen an einem bestimmten
Punkt nah meiner Unterkunft wieder zu treffen. Dann könne ich weiter mitfahren. Ich solle
mich aber auf keinen Fall verspäten, er würde nicht warten. Im vandrerhjem lieh ich mir einen
Wecker und stand früh auf. Leider war es zu früh für ein gutes norwegisches Frühstück, aber
auch mit improvisierter Morgenmahlzeit war ich zufrieden. Ich kam rechtzeitig zum
Treffpunkt, mein Fahrer auch.
Die Fahrt ging durch eine Art Mittelgebirge, dann über einen Hochgebirgspass in sehr
karg bewachsener Landschaft. Hinab fuhren wir durch das Gudbrandstal, von dem ich in der
Schule einiges gehört hatte und später im Studium noch mehr hören sollte. In Hamar kamen
wir an um die späte Mittagszeit. Wir verabschiedeten uns, und ich stellte mich an die Straße
nach Oslo. Ich brauchte nur zwei gastliche Fahrer, um Oslo zu erreichen. Dort war es
zwischen 17 und 18 Uhr. Ich fand heraus, dass die Fähre von Oslo nach Frederikshavn an der
Nordspitze der dänischen Halbinsel Jütland um 19 Uhr abgehen sollte. Mit etwas Hast
schaffte ich es, zu dieser Fähre noch rechtzeitig in den Hafen und an Bord zu kommen. Es
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gab dann eine Verzögerung von ein paar Stunden aus unklaren Gründen, aber zur Nacht hin
verließ die Fähre den Hafen. Am frühen Morgen war ich in Dänemark.
Auf der Fähre hatte ich einen deutschen Vespafahrer kennengelernt, der wie ich
ebenfalls aus Lappland kam. Wir tauschten unsere Erlebnisse aus, berichteten uns von
unseren Highlights und unseren Schwierigkeiten. Er erzählte, weit im Norden, wo auch ich
beim Trampen manchmal auf Stein gebissen hatte, habe seine Kupplung versagt. Der Belag
sei einfach verschlissen gewesen. Ersatzteile für die Kupplung einer Vespa tief im nördlichen
Lappland zu bekommen, war unmöglich. Offenbar verstand der Mann etwas von Mechanik.
Oder er verstand was vom Erfinden. Er sagte nämlich, er habe schließlich in einem der
dortigen Nester in einer Gaststätte die Kronkorken geöffneter Flaschen (Bier oder Sonstiges)
gesammelt, die Korkstücke herausgelöst und sie als Belag auf seine Kupplungsscheibe
geklebt. Damit fahre er nun. Er müsse vorsichtig kuppeln, aber bislang gehe es. Bis heute
weiß ich nicht, ob das überhaupt möglich ist, oder ob es Vespafahrergarn war. Se non è vero

Beim Ausladen der Fähre rollten alle aus ihrem Bauch kommenden Autos an mir, der
ich mich noch im Hafen aufgestellt hatte, vorbei. Schließlich hielt der Vespafahrer und bot an,
mich mitzunehmen. Mit einigen Bedenken, aber vor allem mit Rücksicht auf meine knappe
Zeit, nahm ich an. Zwei Mann mitsamt ihrem Lapplandgepäck auf einer Vespa waren
vielleicht ein bisschen viel für dieses kleine Gefährt. Jedenfalls kamen wir nur langsam voran
an diesem Tag, einem schönen, warmen Sonntag mit Südwestwind, also Gegenwind.
Immerhin, am Abend waren wir in Hamburg. Was schauen sich zwei junge Männer
spätabends in Hamburg an? Die Reeperbahn. Zwei Stunden liefen wir dort herum, dann
fuhren wir weiter. Ich war recht müde, schließlich hatte ich die letzte Nacht nicht geschlafen
und den ganzen Tag auf dem Doppelsattel eines dröhnenden Kleinmotorrads verbracht.
Zwischen Lüneburg und Gifhorn bin ich wohl ein wenig eingedämmert. In einer Kurve
glaubte ich von der Vespa zu fallen, und riss mich wieder hoch. Ob es wirklich ein Fallen war
oder nur der Eindruck zu fallen, ist nicht mehr zu entscheiden, und war es auch damals nicht.
Der Vespamann fuhr bis Braunschweig. Meine Autobahn nach Süden begann in
Northeim. Nur bis dahin war unter Hitler die Autobahn überhaupt gebaut worden, Nord-Süd-
Verbindungen waren für die Kriegsziele des Reiches weniger wichtig als Ost-West-Verbin-
dungen. Ich musste also nach Northeim gelangen. Im Lauf einiger Stunden schaffte ich das
auch. Von da kam ich weiter nach Kassel, von Kassel nach Hanau (was ein Umweg war), von
Hanau über die Bundesstraße nach Steinau. Spätabends stieg ich aus meinem letzten
Gastfahrzeug. In einem schweren Sommergewitter lief ich bei strömendem Regen mit
übergehängten Packtaschen noch einen halbem Kilometer. Dann war ich zu Hause. Meinen
Narvik-Brief an die Eltern hatte ich überholt, er kam zwei Tage nach mir an.
Ein paar Selbstvorwürfe blieben, weil ich von der Kultur der durchreisten Länder so
wenig gesehen hatte. Jahre später, längst im Studium, glich ich das notdürftig aus, indem ich
noch einmal nach Norwegen trampte. Ich blieb mehrere Tage in Oslo, sah Stavanger, Bergen,
den Sognefjord, alte Stabkirchen auf dem Land und fuhr wieder durchs Gudbrandstal zurück
nach Oslo und zur Fähre.

IV. Wechselfälle. Unruhige Zeiten. Und doch


wird ein Beruf daraus

42. Schmerzen der Berufswahl. Erste Semester


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Mit der Berufswahl habe ich mich ungewöhnlich schwer getan. Vor dem Abitur stritten die
Neigung zu einem wirtschaftlichen Fach und die zu einem philosophienahen Studium
miteinander. Ich konnte mich nicht entscheiden. Mein Jahrgang war der erste, der für die im
Aufbau befindliche Bundeswehr „gezogen“ werden sollte. In der Hoffnung, während der Zeit
des Wehrdienstes (damals ein Jahr) kläre sich die Frage der Berufswahl, ließ ich mich gleich
im Anschluss ans Abitur vorzeitig „ziehen“. Tatsächlich stand am Ende meiner
Bundeswehrzeit eine Kombination von Studienfächern fürs Erste fest. Der Preis dafür war ein
weitgehend verlorenes Jahr in einer äußerst wichtigen, lebensformenden Phase. Meine
Klassenkameraden, die sich nicht vorzeitig zum Wehrdienst meldeten, fuhren besser: Sie
wurden von der Bundeswehr mangels Kapazitäten gar nicht eingezogen. Ich hingegen wurde
während meines ganzen Studiums den Eindruck nicht los, durch das verlorene Jahr gegenüber
Gleichaltrigen verspätet zu sein. Im Übrigen verlor ich während der Bundeswehrzeit meine
Steinauer Freundin, ein großartiges Mädchen.
Eigentlich hätte ich gern geradewegs Philosophie studiert. Da es aber für Philosophen
keine reguläre Berufsperspektive gab, damals auch nicht im Schuldienst, begann ich offiziell
mit den Schulfächern Deutsch und Französisch. Philosophie hing ich als freiwilliges Drittfach
daran. Ich begann mein Studium an der alten hessischen Landesuniversität Marburg an der
Lahn. Leider stellte sich bald heraus, dass mir die Art, wie diese Fächer damals dort betrieben
wurden, überhaupt nicht zusagte. Ich kam aus dem Wehrdienst mit einem wirklichen
Studienhunger. Lernte jedoch in den philologischen Fächern (Germanistik und Romanistik)
zum Teil Professoren kennen, die auf mich nur wie die Verwalter großer Traditionen wirkten.
Den inspirierenden Geist dieser Traditionen konnten sie nicht vermitteln. Es gab ein paar
Ausnahmen, aber nicht viele. Fast noch schlimmer war der – damals – einzige Philosophie-
Ordinarius, ein äußerst gelehrter, im Grunde auch kluger Mann. Er verlor sich in seinen
Vorlesungen jedoch tief im Klein-Klein historischer Detailfragen, deren Relevanz wir
Studenten nicht mehr sehen konnten.
Es ergab sich in dieser Lage fast von selbst, dass das alte Berufswahl-Problem mich
wieder bedrängte. Diesmal war die Alternative zu einem geisteswissenschaftlichen Studium
die Medizin. Warum sollte ich nicht die wenig befriedigenden, mit sinnlos erscheinendem
Lernstoff belasteten Fächer gegen etwas Wirklichkeitsnäheres austauschen? Wirklichkeitsnah
erschien mir die Medizin, für die man auch viel pauken musste, mit der man aber letztlich
doch auch einen Beruf gewann, der an Lebensrelevanz kaum zu überbieten war. Ich quälte
mich sehr mit der Wechselfrage, bis ich mit dem Ende des dritten Semesters Marburg verließ
und an die Freie Universität Berlin ging. Ich hatte mich dort um einen Studienplatz in meinen
bisherigen Fächern beworben und ihn erhalten.
Es war der August 1961. In den Semesterferien arbeitete ich diesmal als Kellner im
Speisewagen. Ich hatte nach einer hässlichen Szene mit meiner Mutter bald nach Beginn des
Studiums beschlossen, dieses ohne die Eltern zu finanzieren. Ich war bei der DSG eingesetzt
in einem D-Zug namens „Senator“ von Hamburg nach Frankfurt am Main. Wir waren um 8
Uhr in Hamburg losgefahren. Beim Halt im Bahnhof Hannover lief ein Bahnsteigverkäufer
den Zug entlang, schwenkte wie eine Fahne ein Extrablatt und rief: „Mauerbau in Berlin,
Mauerbau in Berlin“. Ich erwarb ein Exemplar für 10 Pfennig und las, dass die DDR wahr
gemacht hatte, was als Befürchtung seit Wochen in der Luft lag: Durch ganz Berlin von Nord
nach Süd wurde eine Mauer gezogen. Es gab Bilder von Handwerkern, die große Betonteile
aufeinander setzten und von DDR-Soldaten, die mit vorgehaltener Waffe die Arbeit und die
neue Grenze bewachten. Ich war äußerst erregt, konnte aber meine Erregung nicht in Handeln
umsetzen. Erstens war ich eben jetzt nicht in Berlin, und zweitens musste ich weiter meinen
Dienst tun, noch bis Ende September, um meine Berlin-Zeit überhaupt bezahlen zu können.

43. Neuer Anfang in Berlin


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Gegen heftige Vorhaltungen der Eltern, die mich schon in einem sibirischen Lager
sahen, bestieg ich Anfang Oktober mit zwei Koffern den „Interzonenzug“ nach Berlin. Mein
Fahrrad konnte ich im Gepäckwagen aufgeben. Nach drei harten Tagen der Zimmersuche, mit
Übernachtung unter Obdachlosen bei der Bahnhofsmission, bekam ich ein Zimmer. Es lag im
Süden von Zehlendorf, relativ nah an der Freien Universität, aber auch nah am Teltowkanal,
der hier die Grenze zur umgebenden DDR bildete. Zugleich mit dem Mauerbau wurde auch
diese Grenze von der DDR-Seite her stark befestigt. Der genaue Grenzverlauf war in der
Mitte des Gewässers. Gute Schwimmer konnten diese Grenze tauchend überwinden, wenn es
ihnen gelang, ins Wasser zu kommen und tief genug zu tauchen. Das hatten die Grenzsoldaten
des Regimes zu verhindern. In meinem Zimmer konnte ich manchmal das Feuer ihrer
automatischen Waffen hören. Gewiss musste nicht immer ein Fliehender erschossen worden
sein. Aber es genügte um zu bewirken, dass ich nie vergaß, wo ich war.
Das Klima an der Freien Universität war aufs Äußerste gespannt. Immer noch gelang
es Flüchtenden, die Mauer oder die um West-Berlin herumlaufende Grenze zur übrigen DDR
zu überwinden. Waren es Studenten, wurden sie von Kommilitonen empfangen und in einem
Studentenheim gefeiert. Dabei wurden auch ein paar Mal die westlichen Fluchthelfer gefeiert,
die in der Nacht Freiheit und Leben riskiert hatten, um einen Kommilitonen oder eine
Kommilitonin aus dem Osten herüber zu bringen. Meist aber unterließ man eine Feier für die
Fluchthelfer, um das Inkognito dieser mutigen Leute zu wahren. Schließlich lag Westberlin
inmitten von DDR-Territorium. Und wollte jemand auf dem Landweg in den Westen reisen
statt ein Flugzeug zu nehmen, musste er oder sie extrem penible und oft schikanös
verlaufende Kontrollen der DDR-Grenztruppen über sich ergehen lassen. Verhaftungen, auch
ganz willkürliche, kamen oft vor.
Längst gab es auch erste Tote an der Mauer. Und immer mehr Fluchtversuche
scheiterten, weil die DDR immer genauere Kenntnisse über die verschiedenen Fluchtwege
sammelte und ihre Sperrmaßnahmen verfeinerte. Die Wege durch die Kanalisation unter der
Mauer hindurch waren nicht mehr sicher, verschiedene Formen verdeckten Transportes in
raffiniert umgebauten Autos waren aufgeflogen, im Teltowkanal war ein junger Mann unter
Schüssen gestorben. Mehr und mehr Fluchthelfer wurden gefasst und verschwanden
zusammen mit denen, die sie herüberbringen wollten, in DDR-Gefängnissen. All dies
steigerte auf der westlichen Seite noch die Erbitterung und ohnmächtige Wut.
Als frisch Zugezogener hatte ich keinen Kontakt zur Fluchthelferszene. Ich kannte
auch Berlin viel zu schlecht, um in dieser Sache auch nur am äußersten Rand hilfreich zu sein.
Aber etwas musste ich tun, untätig zu bleiben fühlte sich an wie Rückzug ins Privatleben. Ich
schloss mich einer der Gruppen an, die nachdenkend und diskutierend versuchten, sich der
Situation zu stellen. Meine Gruppe bestand aus mehreren Neuankömmlingen, die ich zum
Teil aus Marburg kannte. Alle hatten philosophische Neigungen. So ergab sich fast von selbst,
dass wir uns mit den geistigen Grundlagen des brutalen SED-Regimes befassten.
Gedankliches Durchdringen der Marxschen Lehre und Aufweis ihrer Verfälschungen in der
Politik des Ostens war die Absicht. Dabei fiel mir die Rolle zu, über die Hintergründe von
Marx‘ Philosophie im System Hegels zu sprechen. Gerade war vor wenigen Wochen in einer
Broschürenreihe der Freien Universität ein Aufsatz erschienen mit dem Titel Karl Marx als
Schüler Hegels. Ich las das Papier für mein Referat und war begeistert. Der Text war nicht
leicht, er war wirklich herausfordernd, aber er war gedanklich brillant. Ich konnte mich nicht
erinnern, je eine zeitgenössisch-philosophische Arbeit von solchem Niveau gelesen zu haben.
Der Autor war ein junger Philosophieprofessor der FU namens Dieter Henrich. „Bei dem
Mann muss ich studieren!“ dachte ich. Ich ahnte nicht, dass mich gerade der Mantel des
Schicksals gestreift hatte, meines Schicksals.
Die gespannte Atmosphäre, die man überall spüren konnte, übertrug sich auch auf die
akademische Lehre. Viele Professoren spürten den Druck der plötzlich unabweisbar
dastehenden Wirklichkeit. Sie waren bestrebt, ihre Vorlesungen und Seminare vom Staub des
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gewohnten Universitätsbetriebs und von seinen leeren Ritualen zu befreien. Studieren war
endlich eine Freude, eine fordernde Freude, eine anstrengende Freude. Meine Germanistik-
Professoren Wilhelm Emrich und Eberhard Lämmert waren bekannte Größen ihres Fachs,
und ihre Lehre wurde ihrem Namen gerecht. Die vollkommene Überraschung, der bislang
kein bis nach Westdeutschland reichender Ruf vorausgeeilt war, war jedoch jener 34-jährige
Dieter Henrich. Als ich mich für sein Hauptseminar anmeldete, noch vor Semesterbeginn,
stand ich einem hochgewachsenen, sehr jung wirkenden Mann gegenüber, der mich etwas
überrascht und ein wenig erheitert anblickte. Er fand wohl meinen Wunsch, mit dünnen
Marburger Vorleistungen an seinem Hauptseminar teilzunehmen, ein bisschen gewagt, wies
mich aber nicht zurück. Das Seminar hatte die Transzendentale Ästhetik in Kants Kritik der
reinen Vernunft zum Thema, eigentlich ein klassisches Lehrstück von Kants Philosophie. Ich
übernahm eine schriftliche Hausarbeit.
Sehr überrascht war ich vom Niveau der Diskussionen in diesem Seminar. Nicht nur
sprach Henrich in erstaunlich langen, komplexen Sätzen, in denen der Hauptsatz meist
mehrere Nebensätze überspannte, so dass man äußert aufmerksam folgen musste, um den
Faden nicht zu verlieren. Es war auch so, dass seine fortgeschrittenen Schüler es ihm mit Eifer
nachtaten. Die Versammlung glich eher einem souverän geleiteten Diskussions- und
Gedankenwettbewerb unter glänzenden Nachwuchsphilosophen als einer akademischen
Lehrveranstaltung. Völlig ungewohnt war mir, dass die Diskussion sich das ganze Semester
über nur um ein kleines Textstück drehte. Es waren faktisch eineinhalb Seiten in meinem
Exemplar der Kritik der reinen Vernunft. Jeder Satz Kants wurde auf verschiedene
Deutungsmöglichkeiten hin untersucht, die eventuellen Folgen dieser verschiedenen
Deutungen für das Verständnis des Ganzen wurden diskutiert. Es dauerte lange, bis man sich
auf eine bestimmte Interpretation einigte, und auch die wurde manchmal später wieder in
Frage gestellt.
Das ganze Semester über hatte ich den Eindruck, extrem wenig zu verstehen.
Natürlich wagte ich nicht ein einziges Mal, mich zu Wort zu melden. Sehr langsam begann
ich aber, in diesem Verfahren einen Sinn zu sehen: Henrich wollte, dass wir lesen lernen,
lesen in einem herausragenden, emphatischen Sinn. Einen philosophischen Text lesen hieß für
ihn, alle sich bietenden Möglichkeiten seiner gedanklichen Erfassung nebeneinander zu
stellen, zu sehen, was jede dieser Möglichkeiten für den größeren Zusammenhang bedeutete,
und erst dann eine Entscheidung zu treffen. Und eine solche Entscheidung galt immer nur bis
auf weiteres, sie konnte durch neue Textstellen oder Gedanken jederzeit erneut zur Diskussion
gestellt werden. Nie zuvor, weder in Schule noch in Universität, war ich einer solchen
Sorgfalt, einem solchen Streben nach Genauigkeit begegnet.
Während der dann folgenden Semesterferien schrieb ich die zu Anfang des Seminars
übernommene Hausarbeit. Sie behandelte ein Detailproblem in Kants Schrift Metaphysische
Anfangsgründe der Naturwissenschaft, das mit dem Thema jener eineinhalb ausführlich
gelesenen Seiten zusammenhing. Ich tippte mein Geschriebenes sauber ab und ließ es über
das Sekretariat des Philosophischen Instituts dem Professor Henrich zukommen. Zu Beginn
des nächsten Semesters erhielt ich eine Postkarte. Auf ihr stand in absolut winziger
Handschrift mit extrem sorgfältig geformten Buchstaben folgende Mitteilung: Meine Arbeit
sei gut überlegt, meine Thesen seien einleuchtend begründet, und das Ganze verdiene ein
„sehr gut“. Unterschrieben war die Mitteilung mit „Ihr Ihnen sehr ergebener Dieter Henrich“.
Viel später erst habe ich verstanden, was diese altertümlich-überhöfliche Form der
Anerkennung eigentlich war: Es war eine akademische Werbung. Henrich war interessiert an
guten Studierenden. Er wollte einen Kreis junger Leute um sich haben, Männer wie Frauen,
die er für klug hielt und die mit ähnlichem Engagement und ähnlicher Leidenschaft
Philosophie trieben wie er. Ohne dies damals klar zu sehen, folgte ich der Werbung. Die
schmerzhafte Enttäuschung kam wenige Semester danach.
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44. Wieder eine radikale Entscheidung

Henrich konnte schlecht Französisch lesen und noch schlechter sprechen. In seinem
Oberseminar über Fichte, wo ich mich wieder mit minimaler Vorleistung eingeschmuggelt
hatte, bat er am Ende einer Sitzung um Hilfe beim Finden einer Stelle im Werk Rousseaus. Es
ging um das (wohl aus Indien stammende) Bild von dem großen Elefanten, der die Welt trägt,
aber seinerseits auf einer großen Schildkröte steht, die auf einem großen Elefanten steht, und
so weiter. Er brauchte die Rousseau-Stelle sehr eilig für einen Aufsatz, den er einem
Herausgeber zugesagt hatte. Das Bild spielt eine Rolle in der Entwicklung der deutschen
Philosophie zwischen Kant und Hegel, und Rousseaus Einfluss war Henrich wichtig. Mein
Französisch war relativ gut, ich hatte gerade die Hauptseminar-Aufnahmeprüfung (=
Zwischenprüfung des Studiums) im Fach Französisch hinter mir und konnte zumindest flüssig
lesen. Zwei volle Tage brauchte ich, um in einer vielbändigen Rousseau-Ausgabe den Passus
zu finden. Henrich hatte ungefähr gesagt, worauf man achten müsse. Ich rief den Professor an
und teilte ihm die Stelle mit. Nicht viel später, es mögen wenige Wochen gewesen sein, rief
mich Henrich nach dem Seminar in sein Dienstzimmer und bot mir einen Job als Studentische
Hilfskraft an. Die Bezahlung war nicht üppig, es war keine ganze Stelle, aber es genügte erst
einmal für meinen Lebensunterhalt. Ich war überglücklich: Endlich ein kleines, aber
verlässliches Einkommen, endlich Studieren ohne Neben- und Ferienjobs!
Was sich schon angebahnt hatte, vollendete sich nun mit einem Schlag: Ich stellte von
einem Tag auf den anderen alle Studien in Germanistik und Französisch ein und studierte nur
noch Philosophie. Es waren herrliche, beflügelnde Monate. Ich konnte mich ohne finanzielle
Sorgen ganz auf die Dinge konzentrieren, die Henrich lehrte. Schnell wurde ich seinen
Seminaren einer der ständigen Diskussionsteilnehmer und schüchterte mit meinen Reden –
vermute ich – Neuankömmlinge genauso ein wie ich selbst zu Anfang eingeschüchtert
worden war. Meine Berufsperspektiven waren allerdings höchst fragwürdig. Für Philosophen
war kein Berufsweg sichtbar außer an der Universität zu bleiben und Professor zu werden.
Das war sehr schwierig, ein Erfolg war angesichts der riesigen Konkurrenz unwahrscheinlich,
es war eine völlig unsichere Angelegenheit. Manchmal wurde ich in diesen Monaten gefragt,
was ich denn mit meiner Philosophie-Begeisterung werden wolle. Ich antwortete mit der
Goethe-Zeile „Ich hab mein Sach‘ auf nichts gestellt“. Und innerlich fuhr ich mit Goethe fort:
„Juchhe!“
Da tat Henrich etwas, was meiner Studierlust einen ersten Knacks gab, einen kleinen,
aber deutlichen. Er sagte im Oberseminar, nächstes Semester werde er in einer
Spezialvorlesung „ein selbstgelegtes Ei“ vortragen. Wir alle waren aufs Höchste gespannt.
Ein selbstgelegtes Ei, das würde ja ein Stück von Henrichs eigener, selbst entworfener
Philosophie sein! Auf die waren wir alle äußerst neugierig, endlich würde unser bewunderter
Professor die großen Texte der Vergangenheit hinter sich lassen und einen eigenen
philosophischen Entwurf vortragen! Etwas irritiert waren wir dann über die schriftliche
Ankündigung im Vorlesungsverzeichnis. Sie lautete ungefähr: Details der Entwicklung von
Kant zu Hegel in neuer Sicht. Und dies war dann auch der Inhalt des selbstgelegten Eis:
Henrich trug mit gewohnter Sorgfalt, Genauigkeit und forschenden Leidenschaft eine Sicht
der besagten Entwicklung vor, die an Präzision und historischer Tiefe alles, was man bisher
hatte lesen können, übertraf. Völlig neue Namen spielten auf einmal eine Rolle. Neben den
bekannten Fichte, Reinhold, Schulze traten Personen auf, von denen man noch nie gehört
hatte: Diverse Theologieprofessoren des Tübinger Stifts, wo Hegel, Hölderlin und Schelling
etwa gleichzeitig studierten und gegen eben diese Professoren ein neues Bild von Gott, vom
Menschen und seiner Freiheit entwarfen. Besonderen Wert legte Henrich auf die Rolle eines
Mannes namens Immanuel Carl Diez, der als „Repetent“ (jüngerer Dozent) entscheidenden
Einfluss auf die frühe Gedankenbildung jener berühmten drei Personen ausübte.
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Ich fand das als historische Leistung brillant, als eigene Philosophie des verehrten
Professors, auf die seine Schüler gewartet hatten, unergiebig. Es war historische Forschung
pur, auf höchstem Niveau, aber es war nicht die Art von Philosophie, die ich im Sinn hatte, als
ich mich mit großem Risiko für dieses Fach entschied. Langsam wurde mir klar, was heute,
fast sechzig Jahre später, in Henrichs vielen inzwischen erschienenen Büchern und anderen
Publikationen deutlich vor Augen liegt: Dieser zu Recht aufs Höchste geehrte, international
weit bekannte Forscher war in der Zeit, in der ich in Berlin bei ihm studierte, in erster Linie
Historiker, Historiker der Philosophie. Sein eigener, ja ureigener Zugriff auf philosophische
Probleme begann in dieser Periode erst unauffällig sich zu entwickeln und trat erst nach
weiteren Jahren ans Licht der philosophischen Öffentlichkeit. Ich sah diesen Zugriff zunächst
nicht und erlebte Henrich, insbesondere mit jener Vorlesung, ganz vorrangig als jemanden,
der sich in Historie versenkt - mit unvergleichlicher Genauigkeit und unvergleichlichem
Scharfsinn. Das war aber nicht das, was ich wollte, als ich Germanistik und Romanistik
fahrengelassen hatte. Was mich zur Philosophie getrieben hatte, war der Wunsch, als
Philosoph zu arbeiten, nicht aber als Historiker der Philosophie.
Heute, aus der Rückschau, muss ich hinzufügen, dass ich gegen
philosophiegeschichtliche Arbeit in der Sache absolut nichts einzuwenden habe, ja, sie
überaus wichtig finde. Es besteht ein objektiver, klar darstellbarer Bedarf an
philosophiegeschichtlicher Forschung. Die Kultur muss sich ihrer Ursprünge, speziell ihrer
philosophischen Grundlagen, immer wieder versichern, um sich nicht in Beliebigkeit, Mode,
ideologischer Verfälschung oder noch Schlimmerem zu verlieren. Bloß wurde in jenen Jahren
in der deutschen Philosophie fast nichts anderes als Geschichte der Philosophie gelehrt, teils
in sehr dogmatischer Form. Einige Philosophen (nicht Henrich) gingen so weit zu sagen,
Philosophie heute sei die Interpretation großer Texte der Vergangenheit. Etwas anderes sei
uns Nachgeborenen gar nicht möglich. Dass man überhaupt so denken konnte, mochte durch
die Isolierung Deutschlands in der Kriegs- und Nachkriegszeit sowie die Erinnerung an die
gedanklichen Monstrositäten der Naziperiode bedingt sein. Dass diese Position von einigen
Professoren als unbezweifelbar verkündet und ihren Studenten als alleinseligmachende Lehre
vom Katheder herab eingebläut wurde, erschien und erscheint mir noch heute als Verbrechen
am Geist der Philosophie.

45. Subjektive Folgen, objektive Veränderungen


Man handelt nicht ungestraft gegen seine innersten Absichten. Henrichs Oberseminar ging
zwei Semester hintereinander über Fichte. Fichte war schwer zu verstehen, und seine
philosophischen Ziele widerstrebten mir. In grenzenloser Begeisterung für Kants
Freiheitskonzept und die große Freiheitstat der Französischen Revolution versuchte Fichte,
das menschliche Ich als etwas Absolutes zu denken. Das Ich sollte von nichts und
niemandem, außer von Gott, einen Einfluss erfahren müssen. In Angelegenheiten
menschlicher Existenz auf dieser Erde kam mir das völlig wirklichkeitsfremd vor, und mit
Gott wollte ich mich auch nicht befassen. Ich verstand Fichte nicht, und mir war, als wolle ich
ihn nicht verstehen. Trotzdem studierte ich weiter Philosophie, schließlich hatte ich mich vor
kurzem erst ganz auf dieses Fach geworfen. Mein Körper reagierte unmittelbar: Ich bekam
rasende Kopfschmerzen, wenn ich Fichte las, und die Kopfschmerzen dehnten sich auch auf
die Arbeit mit anderen philosophischen Texten aus. Es war eine Art Selbstsabotage. Nach
außen hin und zum Teil auch mir selbst gegenüber diente mir zur Erklärung der Schmerzen
eine Kleinigkeit an meinen Augen, die von mehreren Augenärzten als harmlos diagnostiziert
worden war.
Die inzwischen eingetretene Enttäuschung über die Inhalte von Henrichs damaligem
Lehrbetrieb führte auch nicht dazu, dass ich bei jemand anderem Philosophie studierte. Es war
für mich in Berlin einfach niemand sichtbar, der mit einer auch nur entfernt vergleichbaren
87

Intensität und Genauigkeit Philosophie vermittelt hätte. Die Lehre von Henrichs Kollegen in
der Professorenschaft fiel gegen die Qualität von Henrichs Lehre in erschreckendem Maß ab.
Mehrere Mitstudenten haben mir bestätigt, dass sie das genauso sahen. Ich blieb also bei
Henrich, aber zu einem hohen Preis: Das alte Berufswahlproblem erhob wieder sein von
Zweifeln durchfurchtes Haupt. Jetzt, wo ich auf höchstem Niveau mit Philosophie in engen
Kontakt gekommen war, erschien mir paradoxerweise ein Medizinstudium verlockender denn
je. Fast heimlich schrieb ich mich für Medizin als nachgeordnetes Fach ein. Nach einer
kurzen Aufnahmeprüfung war das an der Freien Universität möglich. Da ich ein gutes
Gedächtnis hatte, fiel mir die Paukerei in den ersten Medizinsemestern nicht schwer. Ich
erledigte vieles davon während der Bus- oder S- und U-Bahnfahrten, die man als Student in
Berlin fast täglich auf sich nehmen musste. Ich absolvierte auch eine Famulatur, einen
Präparierkurs und die naturwissenschaftliche Vorprüfung („Vorphysikum“). Gleichzeitig
studierte ich weiter Philosophie und funktionierte als Hilfskraft, um mich zu finanzieren.
Dann kam ein weiterer Einschnitt, der sich erst langsam vorbereitete. Ohne dass ich es
zunächst bemerkt hätte, änderte sich das Klima in Berlin, politisch wie vor allem in der
Studentenschaft. Berlin, das heißt West-Berlin, war wohl die politisch wachste Stadt im
Deutschland dieser Jahre. Die Menschen reagierten unmittelbar und in großer Zahl auf
wichtige Ereignisse. Der Besuch von John F. Kennedy in der zweiten Junihälfte 1963 brachte
große Menschenmengen auf die Straße, die sich noch einmal von der strikt
antikommunistischen Haltung, für die Kennedy stand, begeistern ließen. Die Polizei sprach
von 1,5 Millionen jubelnder Berliner, davon allein mehrere Hunderttausend bei Kennedys
Rede auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses. Der Platz vor dem Schöneberger Rathaus,
wo Parlament und Regierung von West-Berlin ihren Sitz hatten, war traditionell der Ort, wo
man sich versammelte, wenn politisch erregende Ereignisse eine Reaktion herausforderten.
Hier hatte Ernst Reuter gesprochen, als die Sowjets den Aufstand vom 17. Juni 1953
niederschlugen, hier hatte Willy Brandt gesprochen, als die DDR den Mauerbau begann. Hier
rief Kennedy, er sei ein Berliner, hierhin zogen wir Studenten einmütig kurz vor Mitternacht,
als am 22. November 1963 die Nachricht von Kennedys Ermordung kam.
Unsere Einmütigkeit war zu diesem Zeitpunkt aber nur noch scheinbar. Es gab
massive Zweifel am allgemeinen Antikommunismus der westlichen Politik, speziell der USA.
Einen negativen Eindruck hinterließen besonders die fortdauernde Unterdrückung der
Schwarzen in USA, gegen die Kennedy ohne wirklichen Erfolg angegangen war, das
Schweinebucht-Desaster, die Erinnerung an die blinde Kommunistenhatz der McCarthy-Ära
und erste Konflikte zwischen einer sturen Universitätsverwaltung und Studenten in Berkeley.
1964 kamen von dort Nachrichten über eine schnell eskalierende Situation an der Universität
und über eine neue Linke, die seit Längerem schon an Boden gewonnen hatte und nun mit
dramatischem Tempo stärker wurde. In Deutschland waren es nicht die
Universitätsverwaltungen, deren Handeln studentischen Zorn erregte, sondern die
Selbstherrlichkeit einiger älterer Ordinarien. Aus Berkeley kamen Einzelheiten über
originelle, zuvor nie praktizierte Protestformen gegen alte Universitätsstrukturen, und bald
gab es solche Proteste auch an der FU Berlin. Vielleicht gewannen 1964 bis 1967 die
Studentenproteste an der Universität so schnell an Schubkraft, weil das Sich-Formieren einer
neuen Linken in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht erst einmal nicht vorankam. Zu stark
war in der Öffentlichkeit noch der verheerende Eindruck des Mauerbaus, zu negativ waren die
Nachrichten aus der sich abschottenden DDR. Mit Aktionen außerhalb der Universität hatten
linke Studierende bislang keine nennenswerten Erfolge. So richteten sich die ganze
Aggressivität und die kreative Ideenbildung einer protestbereiten studentischen Linken gegen
die vielfach überalterte, teils noch aus der Nazizeit überkommene Professorenschaft. Und es
schälten sich schon die künftigen Führungsgestalten einer viel größeren Bewegung heraus.
Persönlich kam ich in Berührung mit Wolfgang Lefèvre und Rudi Dutschke, die ebenfalls am
philosophischen Institut studierten.
88

Ich war jedoch mit meinem inzwischen eingerichteten Doppelstudium Philosophie und
Medizin viel zu beschäftigt, um in größerem Maß an den Aktionen teilzunehmen. Zum Teil
widerstrebten mir auch die Formen. Ich fand es nicht sinnvoll, Professoren, deren politische
Meinung man nicht teilte, in der Vorlesung zur Rede zu stellen oder niederzuschreien. Es
schien mir auch nicht angemessen, den Naziverdacht, der bei manchen dieser Herren (Damen
gab es kaum) berechtigt war, auf alle Professoren auszudehnen. Im Übrigen blieb es am
philosophischen Institut bis auf Weiteres ruhig. Henrich war jung, reagierte auf studentischen
Protest souverän mit Diskussion und Argument und teils sogar mit Unterstützung, wo er das
richtig fand. Die anderen Philosophieprofessoren waren teils selbst Lehrer der weitest links
stehenden Studenten (Hans-Joachim Lieber) und wurden zunächst (!) geschont. Teils war bei
anderen Professoren der Naziverdacht nachweisbar unbegründet (Wilhelm Weischedel,
Michael Landmann), und auch sie hatten zunächst (!) keine Probleme.
In einem schon sehr gespannten Klima an der FU im Ganzen, in dem man nicht
wusste, wo die nächste radikale Aktion stattfinden würde, erhielt Dieter Henrich einen Ruf an
die Universität Heidelberg. Er hatte kurz zuvor einen Ruf nach Würzburg abgelehnt, und
seine Studierenden hofften, er würde auch diesen Ruf ablehnen. Er tat es aber nicht, sondern
nahm ihn an. Da ich in Berlin keine gleichwertige Möglichkeit sah, Philosophie zu studieren,
und da ich bei Henrich mein Geld verdiente, ging auch ich nach Heidelberg. Etwa ein
Dutzend weitere Henrich-Schüler taten das ebenfalls. Es war das Frühjahr 1965. Heidelberg
brachte mir einen Schock, eine Erlösung, und neue Ratlosigkeit.

46. Heidelberg I: Einsamkeit und Promotion


Die Universität Heidelberg hatte hervorragende Gelehrte, das wussten wir vorher. Die Stadt
Heidelberg hingegen wirkte auf uns, die wir aus der Großstadt kamen, kleinbürgerlich und
muffig. Die Zimmerpreise waren exorbitant. Hätte Henrich nicht dafür gesorgt, dass mein
Hilfskraft-Einkommen erhöht wurde, hätte ich dort überhaupt nicht leben können. Die
bisherigen Studenten des Philosophischen Instituts begrüßten uns mit Skepsis. Einer sagte
tatsächlich, hier, in Heidelberg, sei doch der geistige Mittelpunkt Deutschlands. Wir
„Berliner“ hingegen ließen wissen, die Heidelberger Philosophie sei überaltert, und wir seien
die Jugend dieses Faches. Beide Ansichten waren übertrieben und trugen dazu bei, dass man
sich über Jahre fremd blieb.
Ich wohnte zunächst in einem Vorort von Heidelberg in einem kleinen, dunklen,
hässlichen Zimmer und fühlte mich abscheulich. Erst nach einem Jahr ergab sich die
Möglichkeit, in einen Randbereich des eigentlichen Stadtgebiets zu ziehen, aber gut fühlte ich
mich noch immer nicht. Inzwischen waren wir im Sommersemester 1966, es war mein
dreizehntes Hochschulsemester. Ich konnte nicht sehen, wie ich die „grundständige
Promotion“ zuwege bringen sollte, mit der man damals allein ein Philosophiestudium
abschließen konnte. Schon vor zwei Jahren in Berlin hatte ich Henrich um einen Vorschlag
für ein Thema gebeten. Er hatte mich auf ein bislang ungelöstes Problem in Kants Theorie des
Selbstbewusstseins „angesetzt“. Zwei Jahre hatte ich nun über Kant gearbeitet, alle relevanten
Schriften, Briefe, den Nachlass und die Sekundärliteratur durchgeforstet, und war nicht
vorwärts gekommen. Auch das trug zum Gefühl durchdringender Scheußlichkeit bei.
Da tat Henrich etwas, was mir sehr helfen sollte. Er publizierte eine Schrift mit dem
Titel Fichtes ursprüngliche Einsicht. Dort legte er mit Fichteschen Argumenten dar, dass
unser Selbstbewusstsein als ein identisches Ich nur möglich sei auf einem tieferen Grund, der
dieser Welt nicht angehören könne. Ohne es zu sagen, zielte der Professor damit vermutlich
auf etwas Außer- oder Überirdisches, für das man herkömmlich das Wort „Gott“ gebraucht
hätte. Freilich war es nicht der Gott der christlichen Offenbarung, sondern Gott in einem
abstrakt philosophischen Verständnis, ein nicht näher beschriebenes Absolutum. Es war ein
typisches Stück Metaphysik in dem Sinn, dass von Gegebenheiten dieser Welt
89

(Selbstbewusstsein) auf eine Entität jenseits dieser Welt (ein allem zugrunde liegendes
Absolutes) hin argumentiert wurde.
Ich las das und konnte es nicht glauben. Sofort reanimierte ich meine Fichte-Kennt-
nisse und sah mir die Belege für Fichtes Meinung an. Es schien mir bald, dass der Schluss von
der Tatsache unseres Ichbewusstseins auf etwas Tieferes, Außerweltliches lückenhaft sei. Die
These, unser sogenanntes „Ich“ sei ohne einen transzendenten Grund undenkbar, war meines
Erachtens nicht überzeugend begründet. Da auch andere Philosophen zuvor schon auf etwas
angeblich Unerklärbares im Selbstbewusstsein gestoßen waren und ähnliche Argumente wie
Fichte-Henrich gebrauchten, gab es in dieser Sache eine Forschungssituation. Man sprach von
der „Paradoxie des Selbstbewusstseins“ und meinte damit, unser Bewusstsein als identisches
Ich lasse sich nicht rational erklären. Hier müsse man über die Mittel menschlicher Vernunft
hinausgehen.
Das Ganze war für mich eine Erlösung. Endlich war ein philosophischer Gegner da,
mein eigener Lehrer, und gleichgesinnte andere Forscher. Endlich konnte ich direkt zu einem
philosophischen Problem argumentieren und brauchte mich nicht mit Fragen einer bloßen
Philosophiegeschichte abzuquälen. Die Sommerferien 1966 hindurch saß ich an meiner
Schreibmaschine und entwickelte in mehreren Anläufen eine Auffassung des
Ichbewusstseins, die ohne den Griff zu einem außerrationalen Grund oder Wesen auskam. Ich
stand vor einer Sachfrage, die verschiedenen Philosophen rätselhaft erschien, und deren
Rätsel ich zu lösen versuchte. Langsam schälte sich heraus, dass das der Anfang einer
Dissertation sein könnte. Im dann folgenden Semester und in den Frühjahrsferien dehnte ich
meine Überlegungen in Richtung auf allgemeine Probleme des Bewusstseins aus. Im Sommer
1967 glaubte ich mich fähig, eine Doktorarbeit zu schreiben. Meine Arbeiten zu Kant würde
ich für einleitendes Hinführen auf das Thema verwenden. Ich holte mir von Henrich die
Erlaubnis, mich für die kommenden Ferien zurückzuziehen, mietete ein leerstehendes Zimmer
in einem Berliner Studentenheim, weit weg von Heidelberg, und schrieb meine Dissertation
nieder. Es war anstrengend, ich arbeitete nachts und schlief tagsüber und war schließlich
völlig erschöpft. Aber am Ende der Ferien war ein Manuskript fertig. Es richtete sich
ausdrücklich gegen Henrichs Auffassung vom Ich, und es war absolut unklar, wie er reagieren
würde.
Ich schickte es an Henrich mit der Post und trampte nach Paris, um mein Französisch
zu verbessern. Wenn ich promovieren wollte, musste Französisch (neben Deutsch) im
Rigorosum eines meiner Nebenfächer sein. Als ich nach Heidelberg zurückkam, fand ich
wieder eine Postkarte von Dieter Henrich, das zweite Mal in meiner Zeit bei ihm. Er schrieb,
er habe nie ein Manuskript erhalten, von dem er so viel lernen konnte. Diesmal ohne
altertümlich übertriebene Schlusswendung. Aber mit dem Angebot, sein wissenschaftlicher
Assistent zu werden. Die Arbeit wurde beurteilt (summa cum laude), Gutachter waren
Henrich und Gadamer. Anfang März 1968 bestand ich das Rigorosum.
Die erste Zeit nach bestandener Prüfung war im Beruf anstrengend. Am 1. April trat
ich meine Assistentenstelle an und hatte eigene Lehrveranstaltungen zu halten. Das war ich
nicht gewohnt, und unter den Maßstäben, die Henrichs Lehre setzte, war der Qualitätsdruck
erheblich. Aber Arbeiten hatte ich gelernt. Neben einigen Seminarsitzungen, die schief
gingen, gelangen mir auch einige gute, für die die Studierenden mich freimütig lobten. Ich
war kaum älter als meine „Kunden“. Diese Kunden fühlten sich mir gegenüber naturgemäß
freier, Kritik auszusprechen, aber auch eher bereit, Lob zu äußern als bei dem Professor
Henrich, der mittlerweile in der internationalen Philosophieszene zum Star aufgestiegen war.
Er hatte jetzt auch eine permanente Gastprofessur an der Columbia University in New York
und war mehrere Monate im Jahr gar nicht in Heidelberg. Über dem philosophischen Institut
schien aber weiterhin sein Geist zu schweben und zu urteilen, was Gut und Böse sei.

47. Heidelberg II: Die Revolution überschlägt sich


90

In Berlin hatten sich in den drei Jahren seit meinem Umzug die Proteste der Studenten
gegen autoritäre Universitätslehrer zu einer politischen Kraft mit weitgehend neuer
Zielsetzung entwickelt. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) war mit Protesten
gegen den Vietnamkrieg, den kapitalistischen Imperialismus, die Notstandsgesetze, Mängel
der bundesrepublikanischen Demokratie und mit der allgemeinen Empörung über die
Erschießung von Benno Ohnesorg (2.6.67) zu einer machtvollen politischen Bewegung
geworden. Faktische Führungsgruppe war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS),
der auf eine radikale Veränderung aller gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinn eines neuen
Sozialismus hinzielte.
Die einflussreichste Persönlichkeit des SDS war im Frühjahr 1968 der glänzende Agitator und
junge linke Philosoph Rudi Dutschke. Gegen ihn hatte die rechts orientierte Presse des
Springer-Verlages eine wochenlange, rücksichtslose, verleumderische Kampagne geführt. Am
Nachmittag des 11. April 1968 verübte ein aufgehetzter Hilfsarbeiter namens Josef Bachmann
ein Attentat auf Dutschke und streckte ihn mit drei Revolverkugeln nieder. Dutschke erlitt
schwerste Verletzungen, überlebte zwar, aber mit dauerhaften Beeinträchtigungen.
Zufällig war ich an diesem Tag in Berlin, wo meine Freundin lebte. Mein Heidelberger
Semester hatte noch nicht begonnen. Die Empörung nicht nur der Studierenden, sondern auch
großer Teile der Bevölkerung war ungeheuer. Im weit überfüllten Audimax der Technischen
Universität warteten Berliner Studenten auf Nachrichten aus dem Westendkrankenhaus, wo
Ärzte um Rudi Dutschkes Leben kämpften. Es gab hoch erregte Diskussionen über das, was
zu tun sei. Schließlich trat Wolfgang Levèvre ans Pult. Seine kurze Rede gipfelte in dem Satz:
„Wir ziehen nicht vors Schöneberger Rathaus, wo die Marionetten sitzen, wir ziehen zum
Springer-Hochhaus, wo die Drahtzieher und Hintermänner sitzen“. Eine riesige
Menschenmenge, größer als bei allen bisherigen Demos, zog durch die Stadt zum Hochhaus
des Springer-Verlages. Der aufgestaute Zorn machte sich Luft in ersten eindeutig
gewaltsamen Aktionen. Gewaltfreiheit als Demonstrationsprinzip galt nicht mehr.
Pflastersteine wurden aus ihrem Verbund gerissen und gegen das Haus geschleudert. Die
Stimmung war die einer grenzenlosen, aber ohnmächtigen Wut. Das Ganze war auch für
Teilnehmer nicht ungefährlich. Einer meiner Mitstudenten stand in der Menge etwa drei
Meter vor mir. Er wurde von einem zu kurz geworfenen Stein am Kopf getroffen. Allein dank
einer dicken russischen Pelzmütze erlitt er nur eine leichte Verletzung. Seitlich sahen wir
plötzlich einen hellen Feuerschein. Lieferwagen des Springer-Verlages, die am nächsten
Morgen die Zeitungen ausfahren sollten, waren angezündet worden und brannten lichterloh.
Kurz darauf publizierte Ulrike Meinhof in konkret, einer Art Sprachrohr des SDS, ihre
These, dass Gewalt gegen Springer-Autos eine politische Aktion sei, nicht aber eine Straftat
im Sinn des Gesetzes. Schon am Tag nach dem Attentat wurden auf dem Kurfürstendamm
Barrikaden aus umgekippten Bauwagen errichtet sowie Polizeifahrzeuge umgeworfen und
angezündet.
Das bislang gültige Prinzip der Gewaltlosigkeit war mit Meinhofs Aufsatz endgültig
aufgegeben. Teile der Studentenbewegung radikalisierten sich in schnellem Tempo. Gewalt
gegen Sachen (noch nicht gegen Personen) wurde als erlaubtes politisches Mittel offen
propagiert. Schon am 2. April hatte eine Gruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin
Brände in zwei Frankfurter Kaufhäusern gelegt, um gegen das Vietnam-Engagement der USA
zu demonstrieren. Der linksgerichtete Terrorismus in der Bundesrepublik hatte begonnen. Die
Schonung lebender Menschen endete am 14. Mai 1970. An diesem Tag wurde der
inzwischen verhaftete Baader, der unter Bewachung für eine angebliche Buchrecherche in
einer Biliothek „arbeitete“, von zwei jungen Frauen und einem Mann gewaltsam befreit. Das
geschah mit Schusswaffen, die rücksichtslos gebraucht wurden. Zwei Justizbeamte wurden
durch Schüsse verletzt, einer von ihnen schwer. Baader konnte fliehen, die Täter auch. Ulrike
Meinhof, die an der Planung entscheidend beteiligt war, ging mit in den Untergrund. Aus
diesem heraus ließ sie wissen, Polizisten seien Schweine, Handlanger des Systems, und
91

verdienten keine Schonung. Eine zu allem entschlossene Terrorgruppe hatte sich formiert.
Später nannte sie sich „Rote Armee Fraktion“, abgekürzt „RAF“.
Längst war Heidelberg keine verschlafene Oase mehr. Der Tod Benno Ohnesorgs und
das Attentat auf Rudi Dutschke hatte die schon vorhandene Substanz der Universitätsproteste
in kurzer Zeit enorm gestärkt. Die Angriffe auf unliebsame Professoren hatten ein Niveau
erreicht, das in dieser alten Universität bislang unvorstellbar war. Die Ziele studentischer
Agitation in der Universität wurden immer radikaler. Nach Durchsetzung der sogenannten
Drittelparität in einzelnen Gremien (Stimmenverteilung 1/3 Professoren, 1/3 Mittelbau, 1/3
Studenten) schritten verschiedene Studentengruppen weiter. Sie verlangten die „vollständige
Demokratisierung“ der Universität nach dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“. Parallel
dazu versuchten linke Studierende, Kontakte zu Arbeitern nahegelegener Industriebetriebe,
insbesondere in Mannheim und Ludwigshafen, zu knüpfen. Man wollte eine Basis in der
Arbeiterschaft gewinnen. Diese Versuche scheiterten zwar, machten aber die
gesamtgesellschaftlichen Ziele der Studentenbewegung, die über die Universität weit
hinausgingen, auch in Heidelberg deutlich. Der 1968 emeritierte Philosoph Hans-Georg
Gadamer, der zwei Diktaturen erlebt hatte (Hitlerzeit, Ostdeutschland unter den Sowjets),
sagte nach einem Auftritt Rudi Dutschkes in Heidelberg, er glaube, in Kürze werde er seine
dritte Diktatur erleben.
Besonders bitter war das Schicksal des Philosophen und Hegelforschers Jan van der
Meulen, der als außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg lehrte. Er lehnte
die sozialistischen Ziele der Studentenbewegung ab und kündigte, um seine Ablehnung mit
Gründen darzulegen, eine Vorlesung an mit dem Titel: Fichte, Hegel usw. und Marx, Lenin
usw. oder Philosophie und Ideologie. Dass das Gedankengut von Marx und Lenin als
Ideologie bezeichnet wurde, erbitterte die linken Philosophiestudenten. Sie erschienen in van
der Meulens Vorlesung, wo sie sonst nie hingingen, und forderten Diskussion. Dazu war van
der Meulen als konservativ denkender Professor nicht bereit, obgleich Diskussionen in
Vorlesungen jetzt durchaus üblich waren. Die Studenten störten daraufhin seine Vorlesung
sehr energisch mit dem Sprechchor „Diskussion! Diskussion! Diskussion!“. Eine reguläre
Vorlesung durchzuführen, war für van der Meulen nun unmöglich. Nachdem auch eine
Vollversammlung von Lehrenden und Studierenden des Philosophischen Instituts van der
Meulen ersucht hatte, Diskussion zuzulassen, gab van der Meulen nach. Er bot für seine
kommende Vorlesungsstunde eine Diskussion an. Zur vorgesehenen Zeit erschienen
diejenigen, die die Diskussion gefordert hatten, aber nicht. Sie hätten eine wichtige
Demonstration an anderem Ort, ließen sie wissen. Diese Demütigung nach erklärter
Kapitulation verwand van der Meulen nicht mehr. Er nahm sich das Leben.
Als bekannt war, wo man van der Meulen begraben hatte, organisierte das
philosophische Institut eine gemeinsame Fahrt für Lehrende und Lernende zu seinem Grab in
Wiesbaden. Dort legten die Kollegen einen Kranz nieder. Es ist vielleicht kennzeichnend für
die Situation, in der menschliche Zuwendung und menschlicher Respekt kaum noch eine
Rolle spielten, dass kein Student und keine Studentin an dieser Fahrt teilnahmen. Stattdessen
ließen die Haupt-Agitatoren des Falles verlauten, man prüfe jetzt, ob auch dieser Professor ein
Nazi gewesen sei. Die „Prüfung“ dauerte einige Wochen und ging negativ aus. Man fand
nichts. Das interessierte dann aber kaum noch jemanden. Auch das ist kennzeichnend: Die
Entwicklung war in ihrer beispiellosen Hektik, in der ständig neue reale oder erfundene
Anlässe zu wütender Erregung die Gemüter beschäftigten, über den Professor van der Meulen
hinweggegangen.
Obgleich ich eine Assistentenstelle mit hervorragenden Aussichten auf eine schnelle
Karriere hatte, wollte ich an der Universität nicht bleiben. Die Karriere reizte mich in keiner
Weise. Ich meine heute, dass ich durch das Aufbruchsklima und die Widerstandsmentalität
meiner Generation ebenfalls geprägt bin. Ich war zwar nie ein Marxist. Mir erschienen Marx‘
Schriften immer in ihrer mitreißenden Diktion großartig, aber in ihren wirtschaftlichen
92

Analysen lückenhaft und ihren Zukunftsvisionen erschreckend vage. Ich wollte weder
marxistische Politik treiben noch die Laufbahn eines deutschen Professors antreten. Es
deprimierte mich, wenn meine der Tradition näher stehenden Assistenten-Kollegen Aufsatz
um Aufsatz in akademischen Organen publizierten, um ihr Vorwärtskommen zu fördern.
Auch der furchtbare Zustand der deutschen Universitäten in diesen Jahren schreckte mich ab.
Und es schreckte mich der Gedanke ab, nach dem Wagnis des Philosophiestudiums und dem
Wagnis einer unkonventionellen Promotion einen im Großen und Ganzen vorgeformten
Lebenslauf anzutreten. Ich fühlte mich recht ratlos. Ich hatte künstlerische Neigungen. Sehr
stark beeindruckte mich Alexander Kluges Film Abschied von gestern. Der Film war gescheit
und innovativ zugleich. So etwas zu machen, oder mindestens etwas in dieser Richtung,
erschien mir viel erstrebenswerter, als Professor zu werden.
In dieser unklaren Lage schlug mir Dieter Henrich vor, ein Jahr an eine amerikanische
Universität zu gehen und mich dort philosophisch umzusehen. Er befürwortete ein
Stipendium, das ich auch erhielt. Im August 1970 verließ ich Deutschland mit einem der
ersten Jumbo-Jets, die von Frankfurt nach New York flogen.
In Heidelberg zurück ließ ich eine fruchtbare Diskussionssituation mit klugen
Kollegen oder Doktoranden, die auf dem Sprung waren, eine Position im Universitätsleben zu
gewinnen. Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann, Peter Bieri, Rüdiger Bittner, Martin
Schwab, Wolfgang Schrader, Renate Bartsch, Hendrik Birus, Manfred Frank waren einige der
Personen, mit denen ich ab und zu diskutiert hatte. Diese Menschen als Diskussionspartner
zurückzulassen, war ohne Zweifel ein Verlust. Sein Gewicht konnte ich zu dieser Zeit aber
nicht einschätzen, weil ich mich aus der Philosophie, wie sie akademisch betrieben wurde,
eher zurückziehen wollte, als mich dort weiter zu etablieren. Die Kollegen strickten an ihrer
akademischen Karriere, ich versuchte auf verschwiegene Weise, ein anderes Betätigungsfeld
aufzutun. Außerhalb der Philosophie gewann ich an engen Freunden Kurt von Tetzeli und
seine Frau Elisabeth, mit denen ich auch während meiner späteren Londoner Zeit engen
Kontakt hielt, als die ganze Heidelberger Szene für mich weit zurücklag. Natürlich gab es in
Heidelberg auch Beziehungen zu jungen Frauen, die aber in der Mehrzahl schnell wieder
auseinander gingen. In dem Klima sexueller Freizügigkeit, das für Revolutionszeiten typisch
ist, hatte auch ich viele sexuelle Erlebnisse, die beiden Seiten wenig bedeuteten. Einige
Revolutionäre oder solche, die es sein wollten, hatten die Devise ausgegeben: „Wer zwei Mal
mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Das lasen manche Frauen natürlich
auch als „wer zwei Mal mit demselben pennt …“ Im Ganzen wäre dies als Kennzeichnung
der Sexualmoral dieser Zeit sicher übertrieben. Aber die Richtung, in der das Ganze ging oder
gehen wollte, wird durch das Zitat durchaus getroffen. Fast alle jungen Frauen nahmen zur
Empfängnisverhütung die seit kurzer Zeit verfügbare Pille. Die herkömmlichen
Geschlechtskrankheiten galten als überwunden, resistente Stämme waren noch nicht bekannt,
und vor allem: Aids war noch nicht in Sicht. Miteinander ins Bett zu gehen, war fast wie ein
Handschlag. Und wie nach einem bloßen Handschlag ging man auch am nächsten Tag oder
nach einigen Tagen, maximal Wochen, wieder auseinander. Wie die Revolution keine
Stabilität gewann, so gewannen auch die Beziehungen ihrer Kinder keine.
Ein Lebensbereich, den ich über der hochschulpolitischen Hektik, dem ständigen
Reagierenmüssen auf immer neue revolutionäre Ideen, in Heidelberg sträflich vernachlässigt
habe, ist die Musik. Zwar hatte eine aus Amerika zurückkommende Kollegin Platten von Joan
Baez und Bob Dylan mitgebracht. Wir hörten sie mit Staunen und Sehnsucht. Und sangen
„We shall overcome“ oder „The times they are a-changin‘“ ein Stück weit mit. Besonders die
letzte Strophe des Lieds über die sich ändernden Zeiten hat mir gefallen, weil ich sie ein klein
wenig auf mein Verhältnis zur herrschenden Philosophie bezog:

The line it is drawn


And the curse it is cast
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The slowest one now


Will later be fast
And the present now
Will later be past
The order is rapidly fading‘
And the first one now
Will later be last
For the times they are a-changin‘

Aber die Begeisterung für die Freiheitslieder der jungen Leute in Amerika blieb eine Episode.
Diese Lieder stammten zumeist aus den mittleren sechziger Jahren oder waren noch älter, und
in USA war der große Aufbruch jetzt schon im Rückwärtsgang. Sträflich vernachlässigt habe
ich auch Beatles und Stones, die beide in den Sechzigern bekannt wurden. Speziell die Beatles
hatten damals ja ihre große, wunderbare Zeit und gingen schon 1970 auseinander. „All you
need is love“ wurde natürlich auf allen Partys gespielt und gesungen und war vielleicht neben
dem revolutionären Bewusstsein die deutlichste Aufforderung zur freien Liebe.

U.P. 1970
Foto: Ingeborg Klinger
94

48. Princeton
Die Princeton University, an die Henrich mich mit einem Empfehlungsschreiben vermittelt
hatte, bot einen Kontrast zum damaligen Heidelberg, wie er schroffer kaum sein konnte. Die
Lehre war in der Sache hochklassig und sehr anspruchsvoll, im Stil freundschaftlich, in den
Beurteilungen offen und hart. Die studentische Protestkultur, die sich von Berkeley aus über
die USA verbreitet hatte, richtete sich in großer Schärfe gegen die Universitätsverwaltung und
ihre Repräsentanten, aber nicht gegen einzelne Professoren. In meiner ganzen USA-Zeit habe
ich nicht eine einzige Aktion oder Wandzeitung oder einen sonstigen Angriff gegen einen
bestimmten Professor oder eine bestimmte Professorin wahrgenommen. Das stand in
scharfem Gegensatz zu Berlin und Heidelberg, wo einzelne Gelehrte Angriffen hämischster
Art ausgesetzt waren und manchmal darüber zusammenbrachen. In Princeton waren vor allem
der Universitätspräsident Goheen und sein Führungszirkel Ziel studentischer Attacken, nicht
aber einzelne Lehrende. Wie gut die Angriffe auf Goheen begründet waren, konnte ich nicht
beurteilen.
Das Klima von Lehre und Studium war extrem konzentriert, Studieren war
arbeitsintensiv. Für Lehrveranstaltungen, die wöchentliches Lösen von Aufgaben oder
Schreiben von „papers“ erforderten, arbeiteten die Studierenden mit enormem Fleiß und
großer Konsequenz. Noch sonntags mittags im Pancake House, mit der Freundin an ihrer
Seite, saßen die Jungs von Philosophischen Institut über ihren Logik-Aufgaben. Einmal
begründete ein Student mir gegenüber sein großes Arbeitspensum damit, dass das Studieren in
Princeton sehr teuer sei und er seine Eltern nicht über normales Maß belasten wolle. Die
hervorragend bestückte Universitätsbibliothek war rund um die Uhr benutzbar. Zwar gab es
von Mitternacht bis 7 Uhr keine Aufsicht und Beratung, aber man konnte sich für die Nacht in
der Bibliothek einschließen lassen. Automaten für Getränke und Snacks standen zu jeder
Nacht- und Tageszeit bereit. Mir als Gast wurde im dritten Untergeschoss der Bibliothek ein
„carrel“, d.h. eine kleine Zelle zugewiesen, ein fester Arbeitsplatz, an dem mich nie jemand
störte.
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Das philosophische Institut war aber – entgegen dem ersten Augenschein – kein Ort
für bleichgesichtige Bücherfresser, sondern hatte auch ein reges soziales Leben. Fast an jedem
Wochenende lud ein Mitglied des Lehrkörpers zu sich ein. Dann traf man, wenn auch
gewöhnlich kurz, weltbekannte Gelehrte wie Carl Hempel, Thomas Kuhn, Richard Rorty,
Dana Scott und andere. Der deutschstämmige Philosoph Carl Hempel nahm sich, zusammen
mit seiner Frau Diane, meiner an. Beide führten mich in die Gesellschaft der Philosophinnen
und Philosophen ein. Der Umgangston war ungemein freundlich, oft auch sehr witzig. Alle
Konflikte oder Meinungsunterschiede, die es im Alltag geben mochte, spielten für einige
Stunden keine Rolle mehr. Es war nicht die Spur eines Autoritätsgefälles spürbar zwischen
den Stars des Instituts, die philosophische Weltgrößen waren, und Nachwuchsphilosophen,
über deren Schicksal diese Stars vielleicht ein paar Tage später zu entscheiden hatten. Mir
schien, es herrschte bei unbedingtem Primat der philosophischen Sache ein elementares
Wohlwollen, das auch bei negativem Beurteilen einer Leistung oder Ablehnung weiteren
Vorwärtskommens bestehen blieb.
Dass mich meine Zeit in Princeton eher bedrückte als beflügelte, lag an etwas, das ich
sehr schnell erkannte. Ich hätte hier zwar gute Aussichten auf eine Assistenzprofessur gehabt,
aber nicht etwa auf einem der Felder, die mich philosophisch interessierten. Das Institut war
primär auf Arbeit im Feld der (weit verstandenen) Analytischen Philosophie, der
Sprachanalyse und der Wissenschaftsphilosophie ausgerichtet. In diesen Bereichen hatte ich
wenig Kenntnisse, und man hätte mich für diese Felder auch nicht haben wollen. Meine
Aufgabe als Assistenzprofessor wäre eine rein historische gewesen: Das Vermitteln und
weitere Erforschen großer deutscher Philosophie, zum Beispiel von Kant bis Hegel. An diesen
Autoren war man zum randständigen „Abdecken“ eines für wichtig geltenden Bereichs der
Philosophiegeschichte interessiert. Keinerlei Interesse hätte man an einem jungen
Philosophen gezeigt, der seine eigenen philosophischen Themen verfolgen wollte und
obendrein an starken künstlerischen Neigungen litt. Ich war offensichtlich ein outsider und
war stur genug, es bleiben zu wollen.

49. Fünf Monate in New York

Unter anderem deshalb verließ ich die gastliche Unversität Princeton und ging für das nächste
Semester nach New York an die Columbia University. Das philosophische Institut war
vielleicht nicht ganz so herausragend wie das zu Princeton. Immerhin aber las hier der junge
Philosoph Saul Kripke, und im Ganzen war das Institut noch immer sehr, sehr gut. Die Stadt
aber war schlicht großartig. Es beeindruckte mich vor allem die unglaubliche Vielfalt in einer
ganzen Reihe von Hinsichten, speziell was kulturelle, ethnische und soziale Aspekte betraf.
Zu Anfang lief ich stundenlang durch Manhattan, zum Beispiel vom westlichen Teil der 96.
Straße, wo ich wohnte, bis an die Südspitze. Ich begeisterte mich an immer neuen Eindrücken
und vergaß fast, warum ich hierhergekommen war. Nach endlosen Spaziergängen kamen
endlose Museumsbesuche. Ich verbrachte Stunden um Stunden im Museum of Modern Art,
dem Metropolitan Museum of Art, dem Guggenheim und anderen Ausstellungsstätten. Erst
später, bei der Lektüre von Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied (einem
Amerika-Buch) stieß ich auf die Formel für das Hochgefühl, mit dem ich oft eins dieser
Museen verließ: „Bestärkt und aufgerichtet“.
Politisch war es die Zeit des zu Ende gehenden Vietnamkriegs und die Endphase des
vielfach siegreichen Protests gegen diesen in den USA. Zwar startete das von den
Amerikanern unterstützte südvietnamesische Regime noch einzelne kriegerische
Unternehmungen. Trotz riesiger Waffenlieferungen und weitergeführter Luftangriffe der
Amerikaner blieb die Armee Südvietnams aber sehr weitgehend erfolglos. Das schon 1968
konzipierte und seither schrittweise verfolgte Programm der „Vietnamisierung“ des Krieges
96

führte zum beschleunigten Abzug amerikanischer Bodentruppen. In den USA hatte sich die
Meinung durchgesetzt, dass dieser oft äußerst grausam geführte Krieg nicht zu gewinnen sei –
von der ethischen Fragwürdigkeit vieler Aktionen ganz zu schweigen. Unterstützer des
Vietnamkrieges traf ich dementsprechend nur wenige (einzelne Hongkong-Chinesen, die hier
studierten). Hingegen traf ich viele Amerikaner, die den Krieg als eine moralische Schande
und eine militärische Pleite erachteten. Sie hatten die Sache im Grunde auch schon abgehakt.
Während in Vietnam noch weiter geschossen und gestorben wurde, verbreiteten sich in New
York Enttäuschung, Gleichgültigkeit und vielfach auch Scham.
Auch die jungen Leute, die 1968 mit den Beatles „Give peace a chance“ gesungen
hatten, protestierten jetzt allenfalls noch pro forma. 1969 hatten sie bei Woodstock eine
riesige Party gegen den Krieg und für eine neue, friedliche Lebensform gefeiert. Jetzt neigte
sich das Interesse überwiegend jener neuen Lebensform zu, für deren auffälligste
Repräsentanten sich seit Längerem der Ausdruck „Hippies“ eingebürgert hatte. Auf dem
Territorium der USA war der eigentliche Sieger der Konflikte um Vietnam nicht der von
Russland und China gestützte Kommunismus Nordvietnams, sondern die friedfertige,
konsumfeindliche, tolerante Hippie-Bewegung. Seit 1968 lief am Broadway das Musical
Hair, das Langhaarigkeit, Pazifismus und meditative Haltungen propagierte. Die Seite der
freundlichen sexuellen Freizügigkeit, die auch zur Hippie-Bewegung gehörte, kam etwas
pointierter zur Sprache in Oh Calcutta, einer Show, die seit 1969 Off-Broadway gezeigt
wurde. Zu meiner Zeit in New York (Dezember 1970 bis Mai 1971) war das Interesse an
neuen Bewusstseinszuständen weitgehend in ein Interesse an bewusstseinsverändernden
Drogen übergegangen. Daran, so wurde gemutmaßt, waren auch schon mindestens zwei der
großen Künstler aus der Protestzeit gestorben: Jimi Hendrix und Janis Joplin.
Leider habe ich während meines Aufenthaltes keinen der weltweit bekannten Musiker
dieser Zeit live hören können. Die Beatles, die Stones, Pink Floyd, Joan Baez, Bob Dylan und
andere ihres Formats ließen sich nur von der Platte vernehmen. Immerhin gab es im Fillmore
East, der „Church of Rock ‘n‘ Roll“ noch Live-Konzerte von Künstlern der zweiten Reihe.
Hier hörte ich ein Konzert von Leon Russell und ging beinah „stoned“ nach Hause. Schon vor
Beginn, dann aber verstärkt während des Auftritts der Vorband, und fast überwältigend
während der Hauptdarbietung zogen schwere süßliche Gerüche in massiven Schwaden über
die Menge. „Grass“ wurde offen geraucht, der Joint wurde auch an Fremde bereitwillig
weitergegeben. Das Spritzen von Heroin geschah weniger öffentlich, aber noch immer
massenhaft. Und LSD, die Hippie-Droge schlechthin, war in fast allen Händen und wohl auch
in vielen Mägen. Die Hippie-Bewegung zeigte hier deutlich eine Tendenz, an der sie – kaum
zur Dominanz gekommen – bald wieder niedergehen sollte: Das Interesse an neuer Freiheit
und Bewusstseinserweiterung war dabei, sich in Abhängigkeit von den neuen Genüssen zu
verwandeln. Die Folge war nicht selten Persönlichkeitszerfall und schließlich auch soziale
Verelendung. Das hatte zu Beginn niemand gewollt, wohl nicht einmal der leichtfertige
Vordenker und Vormacher Timothy Leary.
Um die positiven Seiten meiner Zeit in New York auch mit der Musik einzuleiten: Es
gelang mir im April 1971 doch noch, einen großen Musiker live zu hören, keinen
Schallplattenkönig, aber doch einen Mann mit Weltgeltung in seinem Fach. Es war der Jazz-
Kontrabassist Charles Mingus. Ich hatte in der Village Voice eine unauffällige Annonce
gesehen mit einem Veranstaltungsort, dessen Adresse ich auf meinem Stadtplan mühsam
suchen musste. Mingus trat mit seiner Band auf in einem Slum der Lower East Side. Ich
parkte meinen VW Käfer in einer Straße ohne Straßenlaternen, stolperte bei sehr düsterem
Licht zu dem angegebenen Gebäude, hangelte mich durch ein perfekt dunkles Treppenhaus in
den ersten Stock und fand hier die Band. Mingus spielte mit drei weiteren Musikern vor sehr
kleinem Publikum, etwa 25 Leuten. Für mich war es ein wunderbares Musikerlebnis,
substanzhaltiger und in der Erinnerung dauerhafter als der Abend im Fillmore East – das
97

übrigens schon im Juni gleichen Jahres geschlossen wurde, Zeichen für den Niedergang der
achtundsechziger Konzertkultur.
Was eigentlich nehme ich aus dieser Zeit an Dingen mit, die mein späteres Leben
mitgestaltet haben? Das ist nicht erschöpfend zu sagen. Manche Lebensereignisse sind wie
Schlüsselszenen eines Dramas, und ihre Bedeutung ist schnell erkennbar. In meinem Fall das
Mich-Lösen von Philosophiegeschichte und Gewinn eines eigenen Zugriffs in der Promotion.
Andere geschehen unauffällig und wirken weiter, ohne dass die Person dies klar
diagnostizieren kann. So meine ich, meine oben berichteten Touren als Jugendlicher hätten
eine wichtige formende Rolle gehabt. Einen Nachweis dafür gibt es nicht. Meine Zeit in
Amerika hat vieles in Bewegung gebracht und war eine Lebensphase von großem Gewicht.
Als Ganzes überschaue ich das zwar nicht. Eine Sache jedoch, die ich heute als für mich sehr
folgenreich ansehe, steht deutlich vor meiner Erinnerung.
Wie gesagt, hatte ich künstlerische Neigungen. Ich hatte Gedichte geschrieben, hatte
Prosafragmente in der Schublade und schrieb aktuell an einem Drehbuch, das ich für einen
Wettbewerb einschicken wollte. In dem Wettbewerb ging es um das Geld, mit dem ein
Drehbuch verfilmt werden konnte. Drehbücher, die in dem Wettbewerb prämiert wurden,
bekamen solches Geld, andere gingen leer aus. Hintergrund meiner Bemühungen war, dass
ich, angeregt durch das schon genannte Vorbild Abschied von gestern, gern einen Film
gemacht hätte. Meine Arbeit ging allerdings quälend langsam voran, ich hatte extrem viele
Skrupel in stilistischer und allgemein-ästhetischer Hinsicht. Vor allem beurteilte ich mich
unablässig, zumeist negativ. In New York, in meinem kleinen Zimmer im 12. Stock eines
älteren „brownstone buildings“ sitzend und an meiner Schreibmaschine nicht weiter wissend,
erschien mir meine Neigung zu ständiger Selbstkritik als sehr zerstörerischer Zug meines
Wesens, ja wie ein innerer Feind. Dieser Feind hatte schon Fußfesseln an meine geistigen
Beine gelegt und hinderte mich am freien Ausschreiten, ich machte nur noch Trippelschritte.
Bald würde es so weit sein, dass ich gar nicht mehr gehen könnte. Diesen Feind in mir musste
ich loswerden oder mindestens die Rollen umdrehen: Ich musste ihn behindern, nicht er mich.
Es ging um eine Art Emanzipation von einem Teil meiner selbst, in künstlerischer wie auch in
philosophischer Hinsicht.
Die Erkenntnis war natürlich nur ein erster Schritt. Der hier begonnene Weg sollte
lang und schwierig werden. Mächtige Züge der eigenen Person ändert man nicht durch
einfachen Beschluss. Bis heute habe ich meine Neigung zu überscharfer Selbstkritik nicht
völlig abgelegt. Jedoch begann in New York die entschiedene Auseinandersetzung mit diesem
Defekt und eine Bewegung, die mich – wie mir scheint – ein gutes Stück weit befreit und zu
mir gebracht hat.
Ich verließ New York Ende Mai ‘71 mit neuem Selbstvertrauen und in großer
Dankbarkeit für das Viele, das ich hier erlebt und gelernt hatte. Mit dem alten VW Käfer, den
ich in Princeton gekauft und mit einem besseren Motor vom Schrottplatz aufgerüstet hatte,
machte ich mich auf den Weg nach Westen. Nach dem Modell der lange zurückliegenden
Italienfahrt hatte ich in einem Army-Navy-Store eine sehr einfache Campingausrüstung
erworben und hangelte mich von Campingplatz zu Campingplatz. Zunächst fuhr ich nach
New Orleans, dann quer durch den Süden nach Los Angeles, dann nach San Francisco. Ich
wollte nach Berkeley. An der dortigen Universität gab es - im Gegensatz zu Princeton und
Columbia - einen „summer term“, ein (verkürztes) Sommersemester. Für mein offizielles
philosophisches Programm versprach das neue Erkenntnisse, und für meine privaten
Hoffnungen weiteren Schwung.

50. Berkeley, die Hippies und ein gewagter Brief


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Deutlich stärker als New York zeigte Berkeley als kleine Stadt die Spuren, die die zerfallende
Studentenbewegung hinterließ. Ich kam spätabends an. Das Hotel, in dem ich meine erste
Nacht verbrachte, war wohl früher einmal ein repräsentatives Haus gewesen. Jetzt war es ein
„welfare hotel“, in dem die Sozialbehörde Menschen unterbrachte, die auf öffentliche
Unterstützung angewiesen waren. Darunter waren auch auffällig junge Personen, die, soweit
für mich erkennbar, wegen Drogenabhängigkeit hier lebten. Schon am nächsten Tag wies mir
die Universität ein Zimmer in einem gut geführten Studentenheim zu. Im Ganzen war der
erste Eindruck ähnlich dem an der Columbia University, nur in bestimmter Hinsicht deutlich
verstärkt: Eine intakt gebliebene Universität mit sehr guten Gelehrten und fleißiger
Studentenschaft. Und eine sich um sie herum gruppierende Szene junger Leute, die aus dem
(sehr teuren) Studium herausgefallen waren und jetzt als „dropouts“ ihre eigene Existenzform
suchten und lebten.
Dabei waren die Drogenabhängigen, die ich zuerst gesehen hatte, eine kleine
Minderheit. Die Mehrheit war wesentlich vielgestaltiger, als ich es hier beschreiben könnte.
Es gab Personen, die in normale bürgerliche Berufe abgewandert waren, die kein Studium
erforderten. Es gab andere, die von ihrer Universitätszeit ohne Abschluss sekundär
profitierten, indem sie auf Feldern tätig waren, auf denen sie ihre bisher erworbenen
Kenntnisse brauchen konnten. Und es gab viele, die wirklich anders leben wollten, als die
bürgerliche Welt und die Erwartungen ihrer Eltern es ihnen vorgaben. Von denen waren die
Hippies die auffälligste Gruppe. Sie zeigte in sich wieder große Unterschiede, die zum Teil
auch durch religiöse oder quasireligiöse Überzeugungen und Lebensregeln bestimmt waren.
Die Hippie-Kommunen mit längerer Tradition und guter innerer Festigkeit hatten sich
weitgehend aus dem teuren Berkeley zurückgezogen. Sie lebten in ländlichen Gegenden, wo
sie sich kleine Grundstücke pachten konnten und man sie in Ruhe ließ. Ich hatte das Glück,
von einer Bekannten aus Berkeley zu einer solchen Kommune mitgenommen zu werden und
einen Abend dort verbringen zu dürfen. Diese jungen Leute wohnten in einem Waldgebiet in
den Hügeln, die sich östlich von Berkeley erstrecken, damals noch unberührt vom Getriebe
der Küstenstädte. Sie pflogen einen sehr bescheidenen, aber überaus freundlichen Lebensstil.
Die Gastlichkeit, die mir als einem vollkommen Fremden entgegengebracht wurde, war
großartig, Wir saßen mehrere Stunden bei Gitarrenmusik, Gesang und natürlich dem Joint, für
den es den ganzen Abend über Nachschub gab. Ich musste aus Europa erzählen und viele
Fragen beantworten. Die Gastgeber gaben bereitwillig Auskunft über ihre Geschichte,
Gegenwart und Lebensauffassung. Diese Kommune schien mir von einer populären Version
östlichen Gedankenguts geprägt zu sein. Es gab auch Anklänge an westliche
Menschheitsutopien, aber die betonte niemand. Eine wirklich klare Zuordnung zu einer
bestimmten indischen, chinesischen oder japanischen Lebenslehre und Weltdeutung ist mir
freilich nicht gelungen. Die jungen Leute legten wohl auch gar keinen Wert auf eine
philosophiegeschichtlich einwandfreie Anbindung. Absolute Friedfertigkeit, Ablehnung
bürgerlichen Besitz- und Konsumdenkens, Verzicht auf individuelles Eigentum, Streben nach
Gerechtigkeit im Sinn gleicher Rechte aller an allen Gütern, wohlwollende Zuwendung zu
jedermann, und wohl auch freie Liebe galten ihnen als Wegweiser in eine bessere Zukunft
ihres Landes, ja der ganzen Menschheit. Ganz erfüllt von der Berührung mit einer anderen, in
ihrer unmittelbaren Gegenwart sehr überzeugenden Lebensweise fuhren meine Bekannte und
ich zurück nach Berkeley. Plötzlich erschien diese Universitätsstadt laut und materialistisch.
Die Bezeichnung „materialistisch“ für das Berkeley dieser Jahre wäre im Ganzen aber
ungerecht gewesen. Berkeley hatte zwar, wie jede moderne Stadt, auch seine materialistischen
Züge. Im Einzelnen jedoch war das soziale Klima ein gutes Stück freier, unbeschwerter,
freundlicher als anderswo. Eine Eigenschaft, die mir bei vielen Amerikanern aufgefallen ist,
schon in Princeton und New York, war die Freimütigkeit im Äußern von Mitteilungen aller
Art. Besonders markant war das bei Aussagen mit negativem Tenor, bei denen man in Gefahr
ist, ein vielleicht vorhandenes freundliches Klima zu verletzen. Die Amerikaner sagten mir
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Dinge ins Gesicht, die ich in Europa nur mit einer gewissen Anstrengung, oder beflügelt
durch Zorn, oder – oft – gar nicht gesagt hätte. Sowohl im Äußern von Dingen, die vielleicht
übelgenommen werden könnten, als auch im Annehmen solcher Aussagen waren die
Amerikaner einfach freier und überzeugender als die Mehrzahl der Menschen, die ich in
Deutschland kannte. Die Amerikaner schonten einander nicht, und, das ist vielleicht noch
bemerkenswerter, sie gaben ihrem Gegenüber auch die Freiheit, Dinge zu sagen, die wenig
schonend waren. Letztlich war das eine wesentlich respektvollere Form von Gegenseitigkeit
als die übervorsichtige und im Effekt dann oft unehrliche Schonung, die man in Europa häufig
erfuhr und leider oft auch erwartete sowie gewährte. Ich glaubte, das auf die große
demokratische Tradition der USA zurückführen zu können, die ja viel älter und tiefer
eingewurzelt ist als zum Beispiel die Demokratie in Deutschland.
Wie man diese Dinge auch deuten mag: Hier war etwas, das ich gern mitnehmen
wollte. Es war eine Grundhaltung freundlicher Freimütigkeit, verbunden mit wechselseitigem
Respekt und großer Toleranz. Es mag mir nicht gelungen sein, dies dann in Europa
durchgängig zu verwirklichen. Für eine Einzelperson in andersdenkendem und
andersfühlendem Umfeld ist das vielleicht auch nicht einfach. Aber als leitende Erinnerung
steht mir die überzeugende, schöne Freimütigkeit einiger amerikanischer Freunde noch immer
vor Augen, sogar jetzt, ein halbes Jahrhundert später, und ich bin sehr dankbar dafür.
Das Ende meiner Zeit in Berkeley kam schnell heran. Ich musste schon meinen Flug
buchen, um einigermaßen billig wieder über den großen Teich nach Hause zu kommen. Nach
Hause? In New York hatte ich vor Monaten Dieter Henrich getroffen und ihm in einem
Coffee Shop alles an Kritik gesagt, was ich – neben größter Dankbarkeit – ihm zu sagen hatte.
Er hatte es hier, in USA, aufgenommen wie ein amerikanischer Freund. In diesem Gespräch
hatte ich auch angekündigt, ich würde nicht mehr auf meine Heidelberger Stelle
zurückkehren. Henrich sagte dazu, was mich aufs Tiefste überraschte: Wenn er noch einmal
jung wäre, würde er es ähnlich machen. Hier in Berkeley schrieb ich jetzt den Brief, mit dem
ich meine Heidelberger Position kündigte. Objektiv war das absolut fahrlässig, ja ein bisschen
verrückt. Es gab damals für Philosophen außerhalb der Universität keine Möglichkeit, diesen
Beruf auszuüben. Eine realistische Idee, was ich nach Berkeley beruflich tun und womit ich
mich ernähren würde, hatte ich nicht – oder allenfalls in sehr verblasenen Umrissen, die sich
bald als illusionär erwiesen. Was hieß also, „nach Hause“ zu fliegen?

51. Kleines Zwischenspiel

Ich landete in Amsterdam und war zunächst einmal entsetzt. Schon auf dem Flughafen
versuchten allerhand zwielichtige Leute, mir ein Geschäft aufzuschwatzen. Auf dem
Hauptbahnhof bekam ich den nächsten Schock. Die Hallen wirkten heruntergekommen, ja
abgerissen. Scheiben waren eingeschlagen, einzelne Ticketschalter waren mit Pappe
verschalt, in Betrieb waren nur wenige. Sämtliche öffentlichen Telefonzellen im Bahnhof und
in seiner Nähe waren unbrauchbar. Ob aufgrund von Nachlässigkeit oder von Vandalismus,
konnte ich nicht erkennen. Erst langsam verstand ich, dass dies die neue Wirklichkeit war,
nach den Protestjahren und nach ihrem Ende in Hippie-Schönheit und Drogenrausch. Die
Drogenrealität, wohl vor allem getragen durch junge Ausländer, die hier gestrandet waren,
sprang in Amsterdam besonders ins Auge. Immerhin aber bekam ich einen Zug nach
Deutschland.
Erst einmal fuhr ich nach Steinau, um meine Eltern zu begrüßen und mir den VW-
Käfer meines Vaters auszuleihen. Ich musste in Heidelberg ja noch mein Zimmer auflösen.
Der neue Zimmerbewohner, ein Doktorand der Theologie, war schon eingezogen. Meine
Bücher und sonstigen Sachen standen in Kartons in einer Ecke. Die lud ich ins Auto. Meine
Idee war, erst einmal nach Berlin zu gehen, wo ich mich vor Jahren sehr wohl gefühlt hatte.
100

Der Theologe fragte, was für eine Stelle das sei, die ich in Berlin antrete. Ich antwortete
wahrheitsgemäß, gar keine. Der Mann schaute sehr erstaunt und wusste nicht recht, was er
sagen sollte. Ich auch nicht. Auf der Universitätsverwaltung nahm ich meine
Entlassungspapiere in Empfang, holte noch restliche Post aus meinem alten Postkorb im
Philosophischen Institut und fuhr erst einmal wieder Richtung Steinau. Dort stellte ich die
meisten meiner Bücher und meine sonstige Habe ab bis auf Sachen, die ich unbedingt zu
brauchen glaubte, und die in vier Koffer passten. Nahm Abschied von meinen sehr besorgt
blickenden Eltern und einer Patentante, die auch nach der neuen Stelle fragte, die es nicht gab.
Dann saß ich im Zug nach Berlin. Durch den Kopf ging mir natürlich Bob Dylans Refrain:

How does it feel?


How does it feel
To be without a home
With no direction home?
Like a complete unknown?
Like a rolling stone?

Ich neigte aber nicht zu Selbstmitleid, sondern beeilte mich, eine erste Unterkunft zu finden.
Ich fand sie in dem Studentenheim, in dem ich auch am Tag des Dutschke-Attentats gastweise
gewohnt hatte. Natürlich konnte ich hier nur vier Wochen bleiben, dann würde das neue
Semester anfangen, und die regulären Bewohner dieser Studentenzimmer würden aus den
Ferien zurückkommen. Ich musste also versuchen, wenigstens einen Plan für ungefähr das
nächste Jahr auf bescheidenem Lebensniveau zu machen, damit dieses Problem aus meinem
Kopf war und ich arbeiten konnte, was ich eigentlich arbeiten wollte.
Ein wenig unglücklich fand ich, dass meine New Yorker Freundin mir noch immer die
ca. dreitausend Dollar (ein Dollar à 4 DM) nicht zurückgezahlt hatte, die sie mir schuldete.
Ich hatte dieser klugen, schönen und im Prinzip auch vertrauenswürdigen Frau das Geld
geliehen, als sie mit ihrem (sehr blauäugig) eröffneten neuen Geschäft auf der Fifth Avenue
(ja war die denn meschugge?) in Schwierigkeiten kam. Das war nun ein halbes Jahr her, und
inzwischen hatte die Frau auch ihren Bankrott erklärt. So. Und nicht einmal jetzt verstand ich,
was das mit dem Bankrott eigentlich bedeutete. Es bedeutete nämlich, dass ich mein Geld auf
Jahre hinaus nicht wiedersehen würde, weil andere Gläubiger vor mir dran waren. Jeder Cent,
den die Frau nun verdienen würde, würde erst einmal in deren Taschen wandern. Und der
Gipfel meiner Ahnungslosigkeit: Ich wusste nicht einmal, dass ich meine Forderung bei
einem Insolvenzverwalter anzumelden hätte, um überhaupt noch irgendwann irgendetwas von
meinem Geld zu sehen. Sehr, sehr langsam begann ich zu verstehen, dass ich es gewesen war,
den ich blauäugig und meschugge hätte nennen müssen, als ich ihr das Geld lieh. Denn ihre
Finanznöte waren für mich absehbar, da sie mich nicht belogen, sondern mich in aller
Offenheit informiert hatte. Diese junge, schwarze Modedesignerin war von ihren weißen
Geschäftspartnern böswillig und hinterlistig hereingelegt worden. Sie hatte ihre gesamten
Ersparnisse aus mehreren Jahren Berufstätigkeit verloren und sich dazu noch erhebliche
Schulden eingehandelt.
Für meine bescheidene Zukunftsplanung auf studentischem Niveau hatte ich nun de
facto deutlich weniger Geld zur Verfügung, als ich dachte. Ich wusste es bloß noch nicht.
Während der nächsten zwei Jahre ging ich immer davon aus, dass das Geld aus New York ja
noch kommen könne. Tat es aber nicht und konnte es auch gar nicht bei gegebenen
Umständen. (Etwa sechs Jahre später übrigens, als ich schon nicht mehr an die Sache dachte,
schickte die Frau einen Scheck in der richtigen Höhe).
Berlin war nicht mehr, wie ich es in Erinnerung hatte. Das war schon an dem
Studentenheim zu bemerken, in dem ich untergeschlüpft war. Auch hier gab es Spuren von
Gleichgültigkeit, Vernachlässigung und Vandalismus. Noch stärker schlugen die mir auf dem
101

Gelände der Freien Universität entgegen, die ich aus altem Interesse kurz besuchte. Es waren
nicht nur äußerliche Spuren eines Niedergangs, es waren vor allem die Spuren des
Niedergangs in der intellektuellen Substanz, die mich erschreckten. Dass im Fach Philosophie
kein einziger der früheren Ordinarien mehr da war, war mir schon bekannt. Neu war mir aber,
dass auch kein einziges Berufungsverfahren für eine Neubesetzung auch nur im Gang war,
und dass der zuständige Senator, also Minister, gar nicht daran dachte, eine Neubesetzung ins
Auge zu fassen. Die Berliner Philosophie war eine Wüste. Die Szenerie wurde faktisch
beherrscht von Jacob Taubes, einem aus New York gekommenen Religionswissenschaftler,
der dabei war, sich als Philosoph zu inszenieren ohne wirklich die dafür nötigen Kapazitäten
zu besitzen. Er war ein intelligenter und sehr hintersinniger Mann, aber kein ausgewiesener
Philosoph. In dieser Szene mich auch nur gastweise zu engagieren, kam nicht in Frage.
Ich wollte ja auch künstlerisch tätig sein und die akademische Philosophie (nicht die
Philosophie überhaupt) ganz hinter mir lassen. In meinen Manuskripten lag noch das
halbfertige Drehbuch, das ich in New York angefangen und bislang nicht zu Ende gebracht
hatte. Obgleich Berlin nicht das Mekka der deutschen Filmszene war (das war München),
lernte ich einen erfahrenen Produktionsleiter kennen, mit dem ich meinen Entwurf besprechen
konnte. Er meinte, mein Text sei schwer zu verfilmen, das sehe man schon, obgleich das Buch
noch nicht fertig sei. Ich würde gute Leute als Schauspieler haben müssen, um diesen Entwurf
zu einem brauchbaren Film zu machen. Immerhin schrieb er mir für den Wettbewerb, an dem
ich teilnehmen wollte, einen Kostenvoranschlag, so dass erkennbar war, was die Verfilmung
ungefähr kosten würde. Ich musste also jetzt eilig mein Produkt fertigstellen, damit ich es
einreichen konnte.
Die Berliner Atmosphäre dieser Tage erlebte ich nicht als anregend. Ich sah überall die
Spuren der im Verfall begriffenen Studentenbewegung und die sich ausbreitende
Drogenwirklichkeit. Hinzu kamen Nachrichten über erste Taten der sich formierenden RAF
und Diskussionen darüber. Ich hatte meine gute Zeit in New York in Erinnerung. Die Idee
kam mir nicht aus dem Kopf, ich müsse eigentlich in eine vergleichbare Stadt gehen, um in
der Atmosphäre einer wirklich lebendigen Großstadt mit meinen künstlerischen Vorhaben
weiter zu kommen. Hier, in dem ausgeleert und gelähmt wirkenden Westberlin, würde es
nichts werden. Die europäische Stadt, die mir nicht aus dem Kopf ging, war London. Wie es
manchmal geschieht, gab eine Kleinigkeit den Ausschlag. Ich wollte in der Amerika-Gedenk-
bibliothek (Kreuzberg) ein Buch konsultieren und geriet in Konflikt mit einem sehr arrogant,
ja feindselig wirkenden Menschen. Er ließ seiner Abneigung gegen alle „Westdeutschen“
freien Lauf. Diese „Westdeutschen“ waren die Bürger der Bundesrepublik Deutschland.
Westberlin gehörte nicht zu diesem deutschen Staat, sondern stand formal noch immer unter
Verwaltung der Siegermächte des Krieges. Die Stadt lebte aber ganz überwiegend von den
Steuern und Subventionsleistungen eben jener „Westdeutschen“, die von vielen Berlinern als
Provinzler betrachtet und als reiche Fettsäcke angefeindet wurden.
Die kleine Feindseligkeit in Kreuzberg, zusammen mit dem generellen Eindruck von
Leere und Lähmung in dieser Stadt, die ich früher geliebt hatte, gab den letzten Anstoß dafür,
dass ich nach London ging. Mit alten Bekannten und meiner früheren Berliner Freundin
feierte ich noch vom 28. September 1971 in meinen Geburtstag am 29. September hinein.
Frühmorgens an dem Tag, an dem ich mein 32. Lebensjahr vollendete, bestieg ich mit meinen
vier Koffern den Zug nach Hoek van Holland, von wo die Fähre nach England abging.

52. London I: Bereichernde Erfahrungen


Ich hatte gerechnet, dass meine Ersparnisse bei bescheidenem Lebensstandard für eine freie
Zeit von zwei Jahren reichen müssten. In dieser Zeit, so glaubte ich, würden sich meine
Berufswünsche und Berufsaussichten so weit klären, dass ich mich dann – je nach Erfolg
meiner Bemühungen – freiberuflich ernähren oder im Notfall wieder an eine Hochschule
102

zurückgehen könnte. Die Kalkulation war unsicher, unter anderem weil das Geld aus New
York noch nicht da war, aber darüber setzte ich mich hinweg.
In den letzten Berliner Tagen hatte mir eine Frau etwa gleichen Alters, die in London
gearbeitet hatte, prophezeit, dass ich mit meinen engen Finanzen dort kein Zimmer finden
werde. Die Zimmersuche gestaltete sich in der Tat schwierig. Aber nach ca. vier Wochen in
wechselnden Unterkünften und mit vielem Hin- und Herfahren in Bussen und U-Bahn fand
ich ein geeignetes Zimmer. Es war ein kleiner, jedoch völlig ruhiger Raum in Fitzrovia, knapp
nördlich der Oxford Street, also absolut zentral gelegen. Das University College war in der
Nähe und auch das Gebäude der „Student Union“ mit einer Mensa und einem Hallenbad. Vor
allem lag mein Zimmer auch in fußläufiger Entfernung vom Britischen Museum, dessen
Bücher man damals noch in der berühmten Rotunde lesen konnte. Die Nachbarschaft dieser
hervorragenden Bibliothek war ein unschätzbarer Vorteil. Ich habe die konzentrierte
Forschungsatmosphäre, die in der Rotunde herrschte, für philosophische wie auch literarische
Arbeit genutzt, so oft ich konnte. Hier traf ich auch gleichgesinnte, ähnlich entwurzelte
Ausländer und natürlich junge Briten, die ihre akademischen Arbeiten schrieben. Entgegen
den Klischees über kühle Engländer gewann ich enge Freunde, von denen mehrere auch für
mein späteres Leben bedeutsam wurden.
Die Station der London Underground, die ich zu Fuß in wenigen Minuten erreichen
konnte, war Goodge Street. Von dieser Station aus waren mit der niedrigsten Preisstufe
(damals 5 Pence) in direkter Linie die Stationen Leicester Square, Charing Cross und
Waterloo erreichbar. Damit hatte ich die weitaus meisten und wichtigsten Kinos, Theater,
Konzertsäle und Opernhäuser der Innenstadt sozusagen vor der Haustür. Das habe ich
weidlich und mit Begeisterung genutzt. Die staatlichen Theater, in denen u.a. die Royal
Shakespeare Company spielte, hatten subventionierte Eintrittspreise ebenso wie die großen
Konzertsäle am Südufer der Themse. Es begann für mich eine Zeit nie gekannten kulturellen
Reichtums, ja Überflusses trotz sehr bescheidener persönlicher Finanzen. Ich sah neben
großartigen Klassiker-Inszenierungen (wie Peter Brooks A Midsummernight’s Dream) auch
Erstaufführungen bekannter Autoren (Harold Pinters Old Times, Anthony Shaffers Sleuth,
Tom Stoppards Jumpers) und Auftritte berühmter Dichter, die eigene Werke vortrugen (Allen
Ginsberg mit Brother Death). Im Konzert hörte ich großartige Musiker wie Martha Argerich,
Daniel Barenboim (damals als Pianist), Yehudi Menuhin, Pinchas Zukerman. Nicht weit
entfernt von dem Haus, in dem ich wohnte, war ein Gebäude des University College, das im
Erdgeschoss einen großen Saal beherbergte. In diesem Saal gastierten junge, noch unbekannte
Popmusiker vor sehr kleinem, weitgehend studentischem Publikum. Der Eintritt kostete
nichts. An Abenden, an denen ich nichts zu tun hatte, bin ich auch hier manchmal zu Gast
gewesen. Besonders beeindruckte mich ein sehr junger Mann, der auf der akustischen Gitarre
eigene Lieder vortrug, vor einem Publikum von zwölf Personen. Er hieß Al Stewart (nicht
Rod Stewart) und hatte wenig später seinen Durchbruch als Popgitarrist und Liedermacher
eigenen Rechts. Sehr nah bei meiner Behausung, in der Nähe des Leicester Square, eröffnete
während meiner Zeit auch die Rockoper Jesus Christ Superstar. Die Eintrittspreise für dieses
Angebot lagen aber jenseits meiner Möglichkeiten wie überhaupt die Preise für große Shows,
die nicht subventioniert waren.
Bald bemerkte ich allerdings, dass heimlich eine Konkurrenz entstanden war zwischen
den wunderbaren kulturellen Erlebnissen, die diese schöne Stadt bot, und meiner eigenen
Arbeit, derentwegen ich eigentlich hierhergekommen war. Ich begann ein neues Drehbuch,
diesmal in der Form nach dem Vorbild von Harold Pinters Arbeiten für den Film. Seine Five
Screenplays waren gerade erschienen und wurden zu Recht enthusiastisch besprochen.
Überdies kam eines dieser Pinter-Drehbücher gerade jetzt in verfilmter Gestalt in die Kinos:
The Go-Between mit Alan Bates und Julie Christie, unter der Regie von Joseph Losey. Ich
habe den Film mehrfach angesehen, konnte aber nicht versuchen, etwas Ähnliches zu
schreiben. Es fehlte mir ein dramatischer Stoff, den ich hätte bearbeiten können. Auch Pinter
103

hatte den Stoff für das Drehbuch zu diesem Film einem Roman von L.P. Hartley entnommen,
der einige Jahre zuvor erschienen war. Die Abhängigkeit von einem durchaus traditionell
geschriebenen Roman teilte dieses Drehbuch mit allen übrigen, die in Pinters Five
Screenplays der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Pinter hatte offenbar erkannt, dass er für
den Film nicht so avantgardistisch schreiben konnte wie für die Bühne. Filme mussten, um ihr
Geld einzuspielen, sich nach Möglichkeit für ein größeres Publikum eignen. Und das taten sie
am ehesten, wenn sie sich einer Vorlage bedienten, die diese Eignung schon mitbrachte.
Experimentelle Filme, die sich an den Formen zeitgenössischer, „modern“ genannter Literatur
orientierten, hatten es schwer. Und noch schwerer hatten es Drehbücher, die sich als
literarische Werke verstanden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wollte sie niemand
verfilmen und erst recht niemand Geld vorschießen, um einen solchen Film zu finanzieren.
Der erfahrene Harold Pinter hatte dies von vornherein gesehen und eigene literarischer
Ansprüche einzig mit seinen Bühnenwerken verfolgt. Der unerfahrene und im Grunde erst
anfangende Ulrich Pothast sah dies nicht und investierte viel Arbeit und Zeit in den Versuch,
mit einem Drehbuch quasi moderne Literatur zu machen.
Natürlich scheiterte das. Ich sah die Besonderheiten meiner Zielgruppe nicht. Ich war
in filmischen Angelegenheiten zwar als Kinogänger ziemlich kundig, hatte auch in
Heidelberg mit bescheidenen Mitteln einen kleinen 16-mm-Film gemacht. Aber ich verfügte
über gar keine Praxis, was das Schreiben von Texten für das Kino anging. Und das Vorbild
von Pinters Skripten hätte allenfalls ein sinnvoller Wegweiser sein können, wenn ich mich
darauf beschränkt hätte, eine literarische Vorlage aus fremder Feder für das Kino zu
bearbeiten. Aber ich wollte mich gar nicht beschränken. Ich litt an Selbstüberschätzung. Zwar
kann Selbstüberschätzung, verbunden mit dem unbedingten Willen, ein Ziel zu erreichen,
manchmal dazu beitragen, dass man überhaupt irgendetwas erreicht. Aber dies ist dann oft
etwas anderes und oft weniger als das Ziel, das der ganzen Anstrengung zugrunde lag.
Allerdings sagt eine alte Erkenntnis: Wenn man in seinem Leben einmal mit aller Kraft
versucht hat, etwas Bestimmtes zustande zu bringen, und dies nicht erreicht hat, bleibt
gewöhnlich doch etwas zurück. Es ist oft etwas Kleineres, weniger Strahlendes als das
ursprüngliche Ziel. Aber es bereichert das Leben trotzdem, und es kann als Erwerbung
langfristig stabiler und substanzhaltiger sein, als ein einmaliger Erfolg es vielleicht gewesen
wäre.

53. London II: Heilsame Begegnung mit der Wirklichkeit


Als mein Drehbuch fertig war und ich es abschicken konnte, sagte ich mir, dass ich von
unverfilmten Drehbüchern nicht leben könne. Und dass meines verfilmt werden würde, war
mir in den letzten Wochen der Arbeit daran zunehmend ungewiss geworden. Also suchte ich
nach etwas Soliderem. Und ohne Kenntnis des kulturellen Betriebes hatte ich die Meinung
gebildet, dass man als unbekannter literarischer Autor mit einem Romanmanuskript wohl
bessere Erfolgsaussichten haben würde denn als unbekannter Kino-Autor mit einem
Drehbuchmanuskript. Also begann ich, sozusagen aus dem hohlen Bauch, auf einen Roman
hinzuschreiben. „Hinschreiben auf …“ muss man mein Verfahren wohl nennen, denn ich
hatte auch auf diesem Gebiet keine Erfahrung und genauso wenig ein klares Konzept. Es war
die Zeit, in der man unter jungen Leuten, die anders und neu sein wollten, „experimentell“
schrieb. Das hieß unter anderem, man schrieb ohne vorgefassten Entwurf. Der Schreibprozess
sollte sich aus sich selbst heraus entwickeln, nicht nach festgelegtem Plan verlaufen. In der
Hoffnung, dass ich schon irgendwo enden würde, begann ich also. Ich sah nicht, dass die
Hoffnung, irgendwo zu enden, ungefähr so viel Erfolgsgewissheit verbürgte wie die
Gewissheit des Flugschülers beim Erstflug, er werde schon wieder runter kommen.
Inzwischen war mir klar geworden, dass ich bei meinen engen Finanzen und der völlig
ungewissen beruflichen Situation es mir nicht leisten konnte, einen Großteil meiner Zeit (und
104

einen nennenswerten Teil meines Geldes) in das Erleben kultureller Highlights zu investieren.
Solche Erlebnisse schulten zwar in gewissem Umfang. Aber wenn es mir nicht gelang, beim
Nachdenken darüber konkrete Hinweise für die eigene Arbeit zu gewinnen, schulten sie
vielleicht das Urteilsvermögen, aber kaum die Kreativität. Und ständiges Urteilen, das war
mir spätestens seit New York deutlich, behindert eigenes Schreiben eher als dass es dies
voranbringt. Der Schluss aus solchen und anderen Überlegungen war, dass ich mir ein
bestimmtes tägliches Schreibpensum vornahm und es auch eisern einhielt. Wenn ich heute
sagen soll, was aus der Londoner Zeit für mein späteres Leben besonders fruchtbar wurde,
muss ich mit Nachdruck eben dies nennen: einen enormen Zuwachs an Arbeitsdisziplin.
Meine bisherigen Leistungen, insbesondere die – schwierige und gewagte – Dissertation, hatte
ich sozusagen anfallartig zustande gebracht. Es war ein mehrwöchiges Arbeiten bei Tag und
bei Nacht, das mich am Schluss erschöpft zurückließ. Ein vielfältig verzweigtes Projekt wie
einen Roman konnte ich auf diese Weise nicht bewältigen. Ich schrieb also jetzt sehr
konsequent jeden Tag ein bestimmtes Minimum oder mehr. War das erledigt, war ich für den
Rest des Tages frei. Bei all meinen späteren Arbeiten, besonders den wissenschaftlichen
Qualifikationsleistungen, ist mir die in London erworbene Arbeitsdisziplin sehr nützlich
gewesen.
Eine zweite Erwerbung, vielleicht noch wichtiger und langfristig folgenreicher, war
eine Gewohnheit, die sich fast absichtslos entwickelte: Ich ging oft in den Regent’s Park, der
im Norden an Fitzrovia grenzt. Beim Herumgehen in diesem ungewöhnlich schönen Garten
ergab es sich hin und wieder und dann zunehmend oft, dass ich ein philosophisches Thema,
an dem ich interessiert war, weiter und weiter überdachte und möglichst systematisch vor
meinem „inneren Auge“ aufbaute. Das klingt etwas pompös, ergab sich aber wie von selbst
für Fragen, an denen ich interessiert war. Ich lernte, meine Gedanken nicht treiben zu lassen
wie sonst auf Spaziergängen, sondern sie möglichst kontrolliert an einer Sache zu halten und
diese Sache in immer weitere Verästelungen zu verfolgen. Ebenfalls wie von selbst ergab sich
auch dann oft eine neue Übersicht über größere Themenbereiche als die, die ich mir zunächst
vorgenommen hatte. „Wie von selbst“ ergab sie sich, weil das Bewusstsein, angeregt durch
absichtsvoll gesteuertes Nachdenken, in „freien“ Zeiten dann ohne willentliche Lenkung
weiter arbeitete und oft zu überraschenden Ergebnissen kam. Wäre das absichtslose Tätigsein
des Bewusstseins nicht durch vorheriges, gesteuertes Nachdenken angeregt worden, hätte ich
diese Ergebnisse wahrscheinlich nicht erreicht. In mein Londoner Tagebuch schrieb ich
irgendwann spontan: „Nun weiß ich, dass ich ein Philosoph sein werde“. Das sah zur
damaligen Zeit, als ich institutionell ganz aus der Philosophie ausgeschieden war, gar nicht
danach aus. Ein Bewusstsein, zur Philosophie zu gehören und die Neigung, wie
selbstverständlich in freien Stunden philosophische Fragen zu verfolgen, stellten sich aber
bald mit größerer Deutlichkeit her, als ich wieder tatsächlich in einem philosophischen Institut
tätig war. Wenn ich auf meine Londoner Zeit zurückblicke, scheint mir, als sei mir erst dort,
während ich in der Hauptsache literarisch arbeitete, klar geworden, dass ich tatsächlich zur
Philosophie gehöre.
Freilich half das alles nichts, als das Geld zu Ende ging. Schon im Sommer 1972 hatte
sich aufgrund einer Panne im Bankwesen die aparte Lage ergeben, dass ich einfach nicht
wusste, wie ich am gerade jetzt bevorstehenden Wochenende mich ernähren sollte. All meine
englischen Freunde waren verreist. Meine Überweisung vom eigenen Konto war nicht
gekommen, meine Bank hatte auch schon Zweifel erkennen lassen. Britische Banken gaben
mir sowieso keinen Kredit. Ich besaß noch einige auf Vorrat gekaufte, gültige Briefmarken
mit dem Kopf der Queen. Ich ging auf die Straße und verkaufte diese geldwerten Marken an
amerikanische Touristen, die das hinreißend lustig fanden. Von dem Erlös konnte ich mir ein
Pfund Hering, Brot und etwas Butter leisten und kam so über das Weekend. Am Montag
kehrte meine Freundin Lynda zurück und half mir aus.
105

Das war eine Vorschau auf die Zukunft. Diese Zukunft trat ein in den ersten Monaten
1973. Das New Yorker Geld war noch immer nicht gekommen. Ich gab die Hoffnung auf.
Mein halbfertiges Romanmanuskript tippte ich ins Reine und schickte es an einen Verlag in
der Meinung, dieser würde mir wohl zügig einen Vorschuss geben. Ich erhielt auf diese
Sendung gar keine Antwort, weder im Guten noch im Schlechten. Später stellte sich heraus,
dass kein Lektor mein Halbfertigprodukt auch nur gelesen hat. Mit den Fragmenten
unbekannter Autoren gaben die sich nicht ab. Lynda erwies sich als absolut großartig. Sie war
ähnlich hilfsbereit, aber auch vertrauensselig, wie ich es in New York gewesen war. Ohne
jede Sicherheit, nur auf ihre Einschätzung meiner Person vertrauend, lieh sie mir Monat für
Monat die Summe, die ich brauchte, um weiter schreibend tätig zu sein.
Irgendwie, ich weiß nicht mehr wie, wurde in der deutschen Philosophie bekannt, dass
meine Finanzen zusammengebrochen waren. Henrich, mit dem ich in Briefkontakt geblieben
war, bot mir ungefragt an, einen Scheck zu schicken. Das nahm ich nicht an. Er fragte aber
auch, ob ich Interesse hätte, meine alte Heidelberger Stelle wieder einzunehmen. Fast
gleichzeitig fragte Lorenz Krüger an, ob ich Interesse hätte, sein Mitarbeiter zu werden.
Krüger war ein brillanter Physiker, der von der Physik zur Philosophie gewechselt war, sich
in Göttingen habilitiert hatte und jetzt seinen ersten Philosophie-Lehrstuhl antrat, an der
Universität Bielefeld. Schließlich fragte auch der mir bislang unbekannte Klaus Michael
Meyer-Abich an, ebenfalls ein philosophierender Physiker, der gerade in Essen seinen ersten
Lehrstuhl bekam. War ich bereit, ins akademische Leben zurückkehren, sah die Zukunft
plötzlich gar nicht mehr so düster aus. In etwa dieser Zeit kam auch die Nachricht, dass
endgültig keine Aussicht bestand, mein zweites Drehbuch verfilmt zu bekommen.
Ich bin heute noch froh, in London eine sehr persönliche Bindung an philosophische
Themen und Fragestellungen empfunden zu haben, bevor die finanzielle Katastrophe
offensichtlich wurde und bevor diese Angebote kamen. So brauchte ich, und brauche mir bis
heute, nicht vorzuhalten, den späteren philosophischen Berufsweg aus bloßer Not gewählt zu
haben. Natürlich: Hätte ein Verlag begeistert auf meinen Halbroman reagiert oder ein
Regisseur begeistert eines meiner Drehbücher aufgenommen, hätte ich es vielleicht länger
„draußen“ ausgehalten. Aber eine Identifikation mit Philosophie und philosophischen Themen
wäre in jedem Fall gegenwärtig geblieben, dessen war ich mir nun sicher. Da machte es nicht
mehr so viel aus, ob ich dieses Interesse innerhalb einer Universität oder außerhalb des
akademischen Betriebes verfolgte.
Ich entschloss mich, zu Lorenz Krüger nach Bielefeld zu gehen, obgleich Bielefeld als
Stadt mich gar nicht anzog. Der Ort war zu diesem Zeitpunkt noch keine Universitätsstadt,
sondern sollte erst eine werden. Es gab bislang dort als Universitäts-Vorläufer nur ein
Bürogebäude als „Aufbau- und Verfügungszentrum“, und im Fach Philosophie noch keine
Studierenden. Die äußere Perspektive war also denkbar unattraktiv. Die intellektuelle
Perspektive war aber hoch interessant. Denn die Stelle bei dem Physiker Krüger versprach
direkte Arbeit an philosophischen Sachthemen und hinreichend Zeit, um sie zu verfolgen. In
Heidelberg, nach meiner damaligen Sicht eine Hochburg der akademischen
Philosophiegeschichte, drohte wieder das erdrückende Übergewicht rein historischer
Fragestellungen. Eben davor war ich fast drei Jahre zuvor gerade geflohen. Übrigens war das
faktisch in Heidelberg inzwischen ganz anders. Henrich hatte die Einseitigkeit der
Heidelberger Tradition gesehen und den jungen Ernst Tugendhat auf eine Professur geholt.
Anfangs wie Henrichs Juniorpartner betrachtet und belächelt, entwickelte der sich schnell zu
einem fachlichen Gegengewicht zu Henrich und drängte diesen in eine direkte philosophische
Diskussion vor der universitären Öffentlichkeit. Letztlich tat das auch Henrich gut, denn es
motivierte ihn dazu, endlich aus sich herauszugehen und die Welt besser erkennen zu lassen,
wie seine ureigene Philosophie aussehen sollte. Aber von London aus zurückschauend, blieb
mir das zunächst verschlossen.
106

Mein Freund Kurt von Tetzeli lieh mir das nötige Geld für die letzten Londoner
Wochen, den Umzug und die erste Zeit in Bielefeld. Auf die Rückzahlung wartete er
geduldig, bis ich flüssig genug war. Mit den Bezügen meiner ersten Monate zahlte ich als
Erstes meine Schuld bei Lynda Fairbairn zurück, plus Zinsen. Ich habe ihr die selbstlose Hilfe
in sehr schwieriger Lage nie vergessen und werde es nie tun.

54. Immer noch outsider in Bielefeld


In Heidelberg und im engeren Umkreis des Heidelberger Instituts hatte es eine kleine Fach-
diskussion über meine Dissertation gegeben. Sie war auf Betreiben des Zweitgutachters Hans-
Georg Gadamer im Verlag Klostermann als Buch erschienen, während ich in Amerika war.
Wegen einzelner provokanter Thesen hatte sie ein wenig Staub aufgewirbelt. Ernst Tugendhat
ging in Vorlesungen darauf ein und publizierte in seinem Buch Selbstbewusstsein und
Selbstbestimmung eine kurze Auseinandersetzung damit. Damit war ich, fast ohne es zu
wollen, in der deutschen akademischen Philosophie nicht mehr ganz unbekannt.
Als Themen, zu denen ich nun schon etwas öffentlich gesagt hatte, blieben mir aus
dieser Dissertation die Frage nach der Natur von Bewusstsein und Selbstbewusstsein sowie
(nur am Rande berührt) die Frage nach der Willensfreiheit. Leichter zugänglich, mit seinen
Verästelungen und Absurditäten einer philosophisch interessierten Öffentlichkeit auch besser
darzulegen, war das Willensfreiheits-Problem. Es interessierte mich. Aber während meiner
ersten Jahre in Bielefeld zielte ich gar nicht primär auf ein neues philosophisches Buch, etwa
eine Habilitation. Ich wollte in meiner freien Zeit zunächst weiter literarisch arbeiten, meine
bisherigen Projekte weiterführen und vielleicht doch noch den Absprung in ein
Schriftstellerleben schaffen. Jemandem, der mich fragte, warum ich wieder an die Universität
zurückgegangen sei, sagte ich, es sei vor allem geschehen, um ein Dach über dem Kopf zu
haben und schreiben zu können. Finanziell sei mir das „draußen“ nicht gelungen. Das war
eine Antwort, die die Stimmung meiner ersten Bielefelder Zeit gut zusammenfasste. Der
Philosoph Hans Friedrich Fulda, ein kluger Mann und guter Beobachter, sagte über mich:
„Halt auch ein Mann, der zwei Berufe hat“. Er sah es richtig: Ich arbeite eigentlich auf zwei
verschiedenen Feldern, und sie blieben in meiner Arbeit konträr, ich brachte sie nicht (wie
etwa der große J.-P. Sartre) zu einer einzigen Lebens- und Arbeitsform zusammen. So hielt
ich auch schon im ersten Bielefelder Jahr Lehrveranstaltungen zu Freiheit und Determinismus
ab, um mich vorsichtshalber in das Thema einzuarbeiten, „für alle Fälle“, falls es nötig
werden sollte, mich zu habilitieren. Ich bereitete auch einen Sammelband zu diesem Thema
vor. Er erschien unter dem Titel Freies Handeln und Determinismus. Da Suhrkamp den Band
preiswert als Taschenbuch herausbrachte, fand er viele Leser, denn er war auch für Studenten
erschwinglich. Weil sich seit vielen Jahren kein deutscher Philosoph zu dem Thema mehr
ausführlich geäußert hatte und der Band zum Teil neueste Literatur präsentierte, stieß er auch
auf Interesse bei der philosophischen Professorenzunft. Meine Zeit im Britischen Museum
kam mir dabei zugute, denn so schnell wie dort hätte ich die Vielzahl angelsächsischer Titel,
die hier relevant waren, in Deutschland nicht bearbeiten können.
Inzwischen war die Zeit weitergegangen. Die jungen Leute hörten nicht mehr so oft
Ton, Steine, Scherben mit den Hausbesetzerliedern von Rio Reiser. Sie sangen auch nicht
mehr abends auf der Straße „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“. Immerhin sangen sie
„Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn“ von Kraftwerk. Mit dem Titel Autobahn verhalf diese
Band 1974/75 dem Krautrock wie auch dem Elektropop zum internationalen Durchbruch. Das
war schon was. Permanent gegenwärtig blieben natürlich Beatles und Stones, ein bisschen
weniger Bob Dylan und Joan Baez. In die Erinnerung zurück fielen die – mutmaßlichen –
Drogentoten Hendrix und Joplin. Symptomatisch für die Zeit war aber wohl der weltweite
Erfolg von ABBA. Ihre stockkonservative Süßmusik überflutete die Welt von 1974 an und
blieb eine ganze Reihe von Jahren in der vordersten Reihe. „Symptomatisch für die Zeit“ sage
107

ich, weil in den siebziger Jahren auf verschiedenen Gebieten eine machtvolle Retro-Welle
begann. Sie war vielleicht eine Reaktion auf die Revolutionsjahre um und nach 1968. Die
Retro-Tendenz zeigte sich in der Musik, in der Literatur, im Film, in der Architektur und in
den Wohnzimmern der Leute. Antike Möbel hatten Konjunktur. Sie waren plötzlich der
Inbegriff des Schönen und Geschmackvollen. Wegen der erstaunlich hohen Inflation nach der
ersten Ölkrise (1974 tendierte die Teuerung in Deutschland gegen 8 %) suchten die Menschen
nach Dingen, die wertbeständig waren. Sie fanden Wertbeständigkeit in Gold, in Immobilien,
in Kunstwerken, in Antiquitäten. Auch mich streifte die Entwicklung, nicht aus Gründen der
Geldanlage, sondern der Mode und des ästhetischen Urteils. Im Herbst 1974 bezog ich,
bislang vagabundierender Junggeselle, mit 35 Jahren meine erste eigene Wohnung. Die
Einrichtung kaufte ich Stück für Stück teils beim Trödler, teils von Privatleuten aus deren
Kellern und Dachböden. Zum ersten Mal im Leben besaß ich dann überhaupt Möbel. Mit
ihnen war ich, der unberechenbare Mensch, der sich selbst nie richtig einschätzen konnte,
einmal im Trend der Zeit, ganz unerwartet.
Während viele Leute um ihr Geld fürchteten und die Erwerbungen ihres Lebens in
Sicherheit bringen wollten, ging in Deutschland das Bomben und Morden der RAF weiter.
Eine riesige, vor allem im Umfeld der Universitäten angesiedelte Sympathisanten- und
Unterstützerszene bot den eigentlichen Akteuren Unterschlupf und Hilfe aller Art. Den
Höhepunkt erreichte der sich „revolutionär“ nennende Terror im Herbst 1977. Eine
Palästinensergruppe, die mit der RAF verbündet war, entführte eine Lufthansa-Maschine mit
86 Passagieren, um inhaftierte Führungspersonen der RAF freizupressen. Die
Bundesregierung ging auf den Erpressungsversuch nicht ein. Die Maschine wurde von einer
Eliteeinheit des Bundesgrenzschutzes gestürmt, alle Passagiere am 18. Oktober 1977 gegen
0.30 Uhr befreit. In der gleichen Nacht töteten sich die RAF-Führer Andreas Baader, Gudrun
Ensslin, Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim selbst, offenbar in Reaktion auf
den fehlgeschlagenen Erpressungsversuch. Ulrike Meinhof hatte sich schon im Mai 1976 in
ihrer Zelle erhängt. Am 19. Oktober dann ermordete die RAF den von ihr entführten
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der sich als wehrloser Mann in ihrer Hand
befand. Im Ganzen war der „Deutsche Herbst“ 1977 Gipfel wie Wendepunkt des RAF-
Terrors. Zwar verübten die zweite und dritte „Generation“ der RAF noch weiter Überfälle,
Attentate und Morde. Aber die eigentliche Spitze des Terrors war gebrochen. Die
Unterstützerszene schmolz ab, Sympathisanten zogen sich zurück, viele aus Erschrecken über
die wirklich feige Ermordung Schleyers. Menschen, die die Gesellschaft verändern wollten,
fanden andere, weniger blutige und glaubwürdigere Themen. Erst über zwanzig Jahre später
im Jahr 1998, fast schon vergessen, erklärte die RAF ihre Selbstauflösung. Schon 1977, im
„Deutschen Herbst“, erschien mir die RAF mit ihrem hochtönenden Revolutionspathos wie
eine verspätete und gescheiterte Radikalisierung der Themen von 1968. Auch in den
furchtbarsten Zeiten der RAF hatte die Propaganda des linken Terrors trotz einer breiten
Helferszene nie eine ganze Generation junger Leute erfasst und begeistert, wie das von 1968
her in Erinnerung war.
Auch für mich wurde 1977 ein Wendejahr. Der erwähnte Sammelband war in der
Druckvorbereitung, ich schien akademisch erst einmal auf sicherem Gelände zu sein. Da kam
ein Gesetzesvorhaben der Nordrhein-Westfälischen Landesregierung, das mich unmittelbar
betraf. Ich hatte in Bielefeld die Dienststellung eines Akademischen Oberrats. Die Gruppe der
Akademischen Räte insgesamt, zu der auch ich gehörte, sollte per Gesetz zu einem doppelten
Lehrdeputat verpflichtet und dafür von allen Forschungsaufgaben „entbunden“ werden.
Faktisch hieß das, die Akademischen Räte sollten in Zukunft ausschließlich
weisungsgebundene Lehrpersonen sein. Sie sollten alle Themen ihrer Lehre sowie sonstigen
Arbeit von den Professoren vorgegeben bekommen und selbst weder Zeit noch Mittel noch
das Recht zu eigener Forschungsarbeit mehr haben. Das wollte ich mir nicht antun. Vor allem
für die Zukunft, in der ich ja älter werden und langfristig auch deutlich jüngere Professoren
108

als Vorgesetzte haben würde, stellte ich mir ein solches Leben als sehr unerfreulich vor. Ich
meinte, ein guter Mann in der Philosophie zu sein und ein eigenes fachliches Urteil zu haben.
Mich irgendwelchen kommenden Jungstars in meiner ganzen philosophischen Tätigkeit
rechtlos zu unterwerfen, war ich nicht bereit.
Es war mir klar, dass ich mich außerhalb der Universität mit eigener Schreiberei nicht
ernähren könnte, das hatte die Londoner Zeit gelehrt. In einer Hochschule zu bleiben, dort
mein Geld zu verdienen und gleichzeitig gemäß eigenem fachlichem Urteil zu arbeiten – das
war für die Zukunft nur möglich, wenn ich mich habilitierte und aufstieg. Ich hatte 1977 zwar
eine verkürzte Fassung meines Londoner Prosaprojekts als „Roman“ veröffentlicht. Es war
aber eigentlich nur eine etwas längere Erzählung, und der finanzielle Ertrag waren lächerliche
1000 Mark gewesen. Einen „richtigen“ Roman, der die Dimensionen und die
Vielschichtigkeit haben sollte, die man unter dieser Bezeichnung erwartet, hatte ich zwar
angefangen. Ich ließ dieses Manuskript jedoch Anfang 1978 liegen, als die akademischen
Existenzprobleme unübersehbar wurden.
Aufbauend auf die Vorarbeiten des Sammelbandes schrieb ich zügig ein Buch, in dem
ich neuere Positionen zum Willensfreiheitsproblem vorstellte, analysierte und kritisch
betrachtete. Das Manuskript, das im Druck ca. 400 Seiten haben sollte, war in einer ersten
Fassung nach neun Monaten fertig. Etwas waghalsig hatte ich mir im Januar 1978 gesagt:
Neun Monate braucht eine Frau, um ein Kind auszutragen, neun Monate gebe ich mir, um
dieses Buch zu schreiben. Ich überzog die neun Monate in einer anstrengenden Nachtschicht
im Oktober 1978 um 4 Stunden, von Mitternacht bis 4 Uhr morgens. Natürlich war die
Habilitationsschrift damit nicht endgültig fertig. Es gab nach kritischer eigener Durchsicht
und nach Diskussionen mit einzelnen Lesern noch verschiedene Änderungen und
Erweiterungen. Aber Ende des Jahres ‘78 konnte ich das Manuskript einreichen. Nach
Beurteilung durch sieben Gutachter verschiedener Fakultäten und Universitäten setzte die
zuständige Fakultät für ihre letzte Sitzung im Sommersemester ‘79 das Kolloquium fest,
sozusagen den mündlichen Teil der Prüfung. Ich hielt meinen Habilitationsvortrag über
„Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett“. Im kurzen Beckett-
Teil des Vortrags sprach ich davon, dass eine Romanfigur Becketts (Murphy) aus der Welt der
Vernünftigen in die Welt der Irren übergehe. Ich bestand. Der Dekan der Fakultät hielt eine
kleine Gratulationsrede und begann sie mit der Feststellung, jetzt endlich sei Hoffnung, dass
ich aus der Welt der Irren in die Welt der Vernünftigen übergehe. War das nur ein Wortspiel,
oder wollte der Mann mir etwas sagen?

55. Und doch wird ein Beruf daraus


Das Willensfreiheits-Buch erschien 1980 unter dem Titel Die Unzulänglichkeit der
Freiheitsbeweise: Zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und
Recht. Ähnlich wie seinerzeit die Dissertation, rief es einigen Widerspruch hervor. Es wandte
sich ja entschieden gegen die Meinung, es gebe schlüssige Argumente für die Existenz einer
Willensfreiheit, die als Basis für die existierende Verantwortlichkeitspraxis taugen könne.
Widerspruch fördert immer den Umsatz. Das Buch verkaufte schnell seine Erstauflage und
kam dann noch in einer Sonderausgabe heraus, die Leser mit bescheidenem Geldbeutel
erreichte. Dann brachte der Verlag es auch als Taschenbuch. Mit zwei nicht ganz unbekannt
gebliebenen Büchern, dem Sammelband und einigen Aufsätzen war ich jetzt wie von selbst
ein Anwärter auf eine philosophische Professur. Das war so trotz eines fast chaotischen
Lebenslaufs, trotz vieler Aktivitäten außerhalb der Universität und trotz meiner generellen
Skepsis gegenüber dem akademischen Betrieb.
Nun ging es darum, dass ich mich nach allgemeiner Erwartung auf eine freiwerdende
Professur bewerben und diese Stelle als neuer Inhaber ausfüllen musste. Zu beidem verspürte
ich aber nicht die mindeste Lust. Ich war durch meine Beobachtungen an der Universität
109

zutiefst abgeschreckt. Der tägliche Universitätsbetrieb mit seinen teils völlig absurden
Gremienschlachten, Eifersüchteleien, Eitelkeiten und vor allem der sehr oft rein taktischen,
letztlich unehrlichen Rede selbst unter Freunden, stieß mich ab. Im Einzelnen hatte mich ganz
besonders mein Habilitationsverfahren vom Glauben abgebracht. Trotz eines im ganzen
zügigen Verlaufs gab es dabei doch viele Winkelmanöver, falsche Freundlichkeiten, kaum
bemäntelte Hinterhältigkeit, verdecktes Austragen alter Konflikte, die mit mir und meiner
Leistung gar nichts zu tun hatten. Mit diesem Paket an Erfahrungen wollte ich viel lieber jetzt
einen Universitätsroman schreiben, als unbedingt Professor werden.
Sogleich fing ich diesen Roman an. Ich verfremdete meine Universitätswirklichkeit so
stark, dass die einzelnen Romangestalten mit ihrem Urbild in der Realität nicht identifiziert
werden konnten. Das hätte nur neuen Ärger gegeben. Ich wollte auch niemandem persönlich
etwas auswischen, obgleich einzelne Akteure der Bielefelder Szene das verdient gehabt
hätten. Meinen Figuren gab ich manchmal die Namen von Dörfern der ostwestfälischen
Landschaft zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge, wo ich oft spazieren gegangen
war. Man hätte also wohl mutmaßen können, dass dem Ganzen Erfahrungen an einer
ostwestfälischen Hochschule zugrunde lagen. Aber eine sichere Zuordnung wäre unmöglich
gewesen. Die Arbeit ging neben meinen Universitätspflichten zügig voran.
Da las ich in der ZEIT eine merkwürdige Stellenanzeige. Es suchte dort eine
Hochschule für Musik und Theater Hannover einen Professor für Philosophie
(Wissenschaftstheorie und Ästhetik) mit der Besoldungsgruppe C4, also der höchsten
Kategorie in der Professorenleiter. Die mir unbekannte Einrichtung stellte sich in der Anzeige
vor als Künstlerisch-wissenschaftliche Hochschule. Ich hatte von dieser Art Institution nie
etwas gehört und musste mich erst einmal schlau lesen. Suchmaschinen der heutigen Gestalt
gab es noch nicht, praktisch alle Infos mussten über das Bibliothekssystem erlangt werden.
Das dauerte ein paar Tage, aber dann entfaltete sich das durchaus attraktive Bild einer
ausgewachsenen Philosophie-Professur mit den Schwerpunkten Wissenschaftstheorie und
Ästhetik vor meinen inneren Augen. Ein wenig Wissenschaftstheorie konnte ich und hatte
auch schon Einführungskurse für dieses Fach gegeben. Ich arbeitete an einem Institut mit
wissenschaftstheoretischem Schwerpunkt. Wissenschaftstheoretische Themen wurden unter
Kollegen fast täglich diskutiert und kamen auch in meinen Schriften vor. Das Problem für
eine Bewerbung meiner Person auf diese Professur war die Ästhetik. Ich hatte zwar auf
künstlerischem Gebiet gearbeitet und konnte dies auch vorzeigen. Aber das war nicht Ästhetik
als philosophisches Nachdenken über Kunst und künstlerische Tätigkeit. In der Theorie der
Kunst hatte ich so gut wie gar nichts aufzubieten. Mein Habilitationsvortrag fiel zwar in
dieses Feld, war aber nicht veröffentlicht.
Der Bewerbungsschluss war Ende September 1980, jetzt hatten wir Ende Juni. Ich
spürte einen Wunsch, diese Stelle zu bekommen, und der Wunsch wurde stärker und stärker.
Professor für Philosophie an einer künstlerisch-wissenschaftlichen Hochschule, das klang
doch, als sei diese Stelle vom Schicksal gerade für einen Mann mit meinem hin und her
schwankenden Lebenslauf geschaffen worden. Anfang Juli fiel die Entscheidung, mich zu
bewerben, und gleichzeitig der Entschluss, in den jetzt kommenden Semesterferien einen
längeren Text, vielleicht sogar ein Buch, über Ästhetik zu schreiben und zusammen mit
meiner Bewerbung einzureichen. Dass mit einer Bewerbung auch unpublizierte Arbeiten
eingereicht wurden, war durchaus üblich.
In der Hitze des Sommers 1980 gelang es einer Grille, auf meinen Balkon zu springen
und in mein Wohn-Arbeitszimmer zu kriechen. Ich bemerkte sie erst, als sie abends gegen 18
Uhr, der eigentliche Abend war noch ganz fern, ihre Grillenmusik begann. Genau genommen
war es wohl ein Heimchen, eine Grillenart, die besonders gern in der Nähe menschlicher
Behausungen lebt. Bei dem nahen Bauernhof, dessen Altenteil an mich vermietet war, gab es
eine ganze Kolonie davon. Natürlich sah ich die Grille zunächst nicht, sie hatte sich geschickt
unter einem Möbel oder einem herumliegenden Gegenstand verborgen. Nach anfänglicher
110

Irritation begann ich, ihre abendliche Musik zu lieben. Ich arbeitete oft bis tief in die Nacht,
und immer begleitete mich der Grillengesang. Meinen Dienst in der Universität fuhr ich in
diesem Sommer auf das Geringstmögliche herunter. Es waren ja Semesterferien, vom
Gesetzgeber durchaus gedacht fürs Bücherschreiben, und eben dies tat ich – wenn auch meine
Kollegen nicht begeistert waren, weil einzelne Verwaltungstätigkeiten liegen blieben. Im
Philosophischen Institut verbreitete sich die Kunde, dass der Pothast jetzt mit einer Grille
zusammenlebe und gegenwärtig nur schwer ansprechbar sei. Beides war auf seine Weise
richtig. Ich erkundigte mich, was eine Grille zum Leben braucht, und stellte ihr in winzigen
Portionen das Nötige hin. Ich sah sie auch jetzt extrem selten. Unter einem großen
Bücherstapel, der sich neben meinem Schreibtisch gebildet hatte, hatte das liebe Tier sich
dauerhaft eingerichtet. Jeden Abend musizierte es, beginnend mit dem Sinken der Sonne, bis
zum nächsten Tag am frühen Morgen, nahezu im Rhythmus meiner Arbeit.
Ende September hatte ich meinen Habilitationsvortrag über Schopenhauer und Beckett
zwar nicht zu einem ganzen Buch, aber doch zu einem halben ausgearbeitet. Es betraf vor
allem Schopenhauers Ästhetik und ihr Umfeld, konnte also durchaus als erster Nachweis einer
Beschäftigung mit philosophischer Ästhetik gelten. Eine sehr hilfreiche Sekretärin tippte mein
Manuskript. Dann verfasste ich einen Bewerbungstext, stellte Zeugnisse, Lebenslauf,
Publikationen und anderen Kleinkram zusammen und schickte alles nach Hannover, pünktlich
zum letzten Tag der Frist.
Im Dezember kam die Einladung zu einem Vorstellungsvortrag, terminiert auf Mitte
Januar. Von 80 Personen, die sich bewarben, hatte man 6 eingeladen. Ich fuhr hin, trug vor
und war erstaunt über die enorme Lebendigkeit des studentischen Publikums. Diese jungen
Leute verstanden zwar kaum etwas von Philosophie, waren aber in einem Maß interessiert
und aufgeschlossen, wie ich es bei sonstigen Vorträgen nicht erlebt hatte. Im April kam die
Mitteilung, man habe mich auf die erste Stelle der Bewerberliste gesetzt. Hinterher erfuhr ich,
dass eigentlich im Vorfeld schon eine stille Einigung auf einen anderen Bewerber bestanden
hatte. Wie oft im Universitätsleben, wusste man schon vorher, wen man wollte, und hatte das
ganze Verfahren nur angeleiert, um dem Gesetz Genüge zu tun. Nur war jener andere
Bewerber wohl seiner Sache zu sicher gewesen und hatte in Vortrag wie Diskussion nicht
überzeugt. So war ich auf den ersten Listenplatz gelangt.
Meine Grille war über Weihnachten, als ich meine Eltern besuchte und ein wenig
Schilaufen ging, gestorben. Bis heute weiß ich nicht, was ich bei ihrer Pflege und Versorgung
falsch gemacht habe.
Das angefangene Buch, das ich mit der Bewerbung eingereicht hatte, schrieb ich im
Frühjahr und Sommer 1981 zu Ende. Es erschien im Folgejahr unter dem Titel Die eigentlich
metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel
Beckett. Übrigens waren meine ersten drei Bücher in der Philosophie (Dissertation, Habil.-
Schrift und das jetzige Buch) meine bei weitem erfolgreichsten. Meine späteren Bücher in
diesem Fach waren zu sehr belastet mit Bedenken, Zögerlichkeiten, vor allem dadurch, dass
ich zu viel wollte. Meine Ziele lagen über meinen Kräften.
Der Ruf auf die Professur kam im September 1981. Nach üblichem Feilschen über die
Bedingungen nahm ich im Frühjahr 1982 an und wurde am 23. März ernannt. Ich war nun,
was ich mir früher gar nicht erträumt hatte, weil ich nicht wusste, dass es dies gab: Professor
für Philosophie an einer künstlerisch-wissenschaftlichen Hochschule. Eine Hochschule mit
starkem künstlerischem Anteil und vollen Universitätsrechten! Hätte ich zu Beginn meines
Studiums genauer sagen können, was ich eigentlich wollte, hätte ich eben dies sagen können.
Besser wären meine unklaren Lebensvorstellungen gar nicht in Worte zu fassen gewesen.
111

Abspann

Damit beende ich diese kleine Lebenserzählung oder genauer: die Erzählung, rund gesagt,
meiner ersten Lebenshälfte. Es ist hier ein guter Punkt zum Haltmachen. Denn meine
bisherigen Probleme und Anstrengungen zu ihrer Lösung waren fast bis zum Erreichen der
Professur allein meine eigenen. Das wurde nun anders. Kurz vor der Ernennung, im Januar
1982, war mein erstes Kind geboren worden, Sören Wollin. In den dann kommenden elf
Jahren folgten fünf weitere Kinder. Die Sorge für sie, die Dramen ihrer Kindheit und Jugend
(aus Elternsicht) und die mit der Sorge verbundenen Vermögensprobleme und –abenteuer
brachten ganz andere Themen in mein Leben, die in ein anders Buch gehören.
Wenn ich von der jetzt erreichten, ungefähren Lebensmitte zurückblicke, auch zurück
zu der merkwürdigen Stunde auf dem Hügel über Genua, liegt es nahe zu fragen: „Wer bin
ich nun geworden?“ Auch wenn man diese Frage in einem möglichst bescheidenen,
untheoretischen Sinn nimmt, lässt sie sich nur schwer auf Anhieb beantworten. Wir kennen
das aus der Geschichte von Ibsens Peer Gynt. Das Wort „ich“ als bloßes Wort liefert keine
Information über die Person, die es gebraucht. Ein bekannter Vorschlag in dieser Sache lautet,
dass man sich selbst am besten kennenlernt, wenn man sich fragt, wie man bisher gehandelt
hat (Sartre). Nicht so sehr, was man sich gewünscht oder sich erträumt hat (Genua), definiert
die Person, sondern viel eher das, was man in der Welt konkret tut oder getan hat. Ein anderer
Vorschlag ist, sich zu fragen, von welchen Menschen man sich hat leiten lassen, wem man
das eigene Leben so weit geöffnet hat, dass er oder sie es in der Tiefe beeinflussen konnte
(Nietzsche).
Welches waren also die Schwerpunkte meines Handelns? Ich habe mehrere Fächer
studiert, vor allem Philosophie. Vorgegebene Karrierewege habe ich oft gemieden. Ich war,
unter anderem wegen meiner künstlerischen Absichten, im Universitätsbetrieb immer ein
Außenseiter. Ein Außenseiter in der deutschen Nachkriegsphilosophie war ich auch dadurch,
dass ich darauf bestanden habe, keinesfalls primär historisch zu arbeiten, wie das zu meiner
Studienzeit fast zwingend war, sondern in direktem Zugriff philosophische Probleme zu
behandeln. Das Schopenhauer-Buch mit starken historischen Anteilen war hier eine
Ausnahme. Wie schon gesagt, möchte ich historisch-philosophische Arbeit in keiner Weise
herabsetzen. Sie ist extrem wichtig für das Gebiet, dessen Geschichte sie darstellt, und
ebenso wichtig für Selbstbild, Bestand, Kreativität und Zukunft einer Kultur. Aber sie war
nicht, was ich wollte.
Wenn ich ein Stück weit in meine zweite Lebenshälfte vorausschaue: Die Bindung an
reine Sachprobleme der Philosophie wurde später noch stärker, wenn ich sie auch mindestens
einmal (Philosophisches Buch, 1988) in einer Form verfolgt habe, die für breite Leserschaften
nicht verständlich war. Im Ganzen, das wurde schon gesagt, bin auch ich ein Kind meiner
Generation, die man als „68er“ bezeichnet, ein Kind, das aus der Art schlug, sozusagen. Den
Bruch mit der Vergangenheit habe ich nicht politisch vollzogen, sondern dies philosophisch
zu tun versucht, mit großem Einsatz und einigem Risiko.
Meine künstlerischen, vor allem literarischen Arbeiten waren wenig erfolgreich. Sie
erreichten in veröffentlichtem Umfang wie in Resonanz bei weitem nicht die Dimension
meiner Arbeiten in der Philosophie. In künstlerische Projekte habe ich viel Kraft investiert
und keinen diesem Einsatz entsprechenden Ertrag gehabt. Auch hier mag es so gewesen sein,
dass ich zu viel wollte und zu wenig Rücksicht auf mein mögliches Publikum nahm. Für den
112

Misserfolg mag es aber auch andere Gründe geben. Ich selbst bin kaum der Mann, der darüber
richten kann. Im Ganzen jedoch gehören meine künstlerischen Absichten in zentraler Rolle zu
mir, und auch ihre schmalen Resultate. Ich möchte auf meine künstlerische Seite in keinem
Fall verzichten, sie gehört aufs Engste zu meiner Lebenskontur, wie sie sich zur Lebensmitte
herausgebildet hat. Am Rande hatten meine künstlerischen Bemühungen doch einen Ertrag,
der gar nicht in Kunstwerken lag, sondern in der Lebens- und Arbeitsweise, die ich mir beim
waghalsigen Anlauf auf eine Schriftstellerexistenz in London angeeignet habe, ja aneignen
musste. Der selbst gewählte Zwang zu sehr disziplinierter Tätigkeit Tag für Tag und der von
den Umständen ausgeübte Zwang zu größter Disziplin in materieller Lebensführung haben
Spuren hinterlassen, die bis in heutige Lebensjahre reichen. Als überaus kostbar empfinde ich
die damals in kritischer Lage ausgebildete und fortan gebliebene Neigung, mir nachdenkend
Rechenschaft über meine Wahrnehmungen, Erlebnisse und Tage zu geben. Das Denken, das
ja vor allem ein inneres Sprechen ist, gibt den Lebensereignissen eine Gestalt, kraft deren sie
in Erkenntnis überführt und in großräumigen Zusammenhängen fruchtbar gemacht werden
können. Erkanntes Leben ist entscheidend mehr als nur Leben.
Wer hatte auf mich den stärksten Einfluss? Starken Einfluss hatte sicher meine
Großmutter mütterlicherseits, die Frau aus einer Odenwälder Hugenottenfamilie. Einiges
Wenige über sie habe ich erzählt. Ihre intensive Gläubigkeit, ihr bedingungsloses Arbeitsethos
und ihr Gleichmut in kritischen Situationen könnten es ausgemacht haben, dass sie mir,
besonders in London, als alles zu kippen drohte, wie ein Versprechen aus der Vergangenheit
erschien: Wenn du so bist wie sie, wirst du nicht untergehen. In frühen Jahren, als ich schon
studierte, hat sie mir eine Goldmünze geschenkt, wohl um mir etwas Werthaltiges zukommen
zu lassen. Auf der Münze war neben heraldischen Motiven eingeprägt: „Avorum non moritura
virtus“, „Die Tugend der Vorfahren wird nicht sterben“. Natürlich konnte die Großmutter dies
nicht lesen, sie verstand kein Latein. Ich aber wohl. In der Londoner Zeit lag die Münze auf
dem wackligen Tisch, an dem ich schrieb, und ich habe mich, wenn mein Mut zu sinken
drohte, an dem Spruch aufgerichtet.
Erheblichen Einfluss könnte ein Mann gehabt haben, der in diesem Bericht zu kurz
erwähnt wurde: Karlheinz Happich, der Pfarrer, der die Jugendgruppen leitete, in denen ich
Theater spielte, sang und erste Fragen philosophischen Inhalts stellte. Happich konnte auf
diese Fragen eingehen, mich viel besser verstehend als die Lehrer in der Schule, die
gelegentlich auch solche Themen berührten. Happich konnte auch etwas, was ich ihm
zunächst nicht zutraute: Er konnte meine späteren Zweifel an der christlichen Lehre
verstehen. Fast möchte ich sagen: Er begleitete mich noch mit seinem Verständnis auf
meinem Weg aus dem Christentum heraus. Übrigens wollte er nicht Karriere machen. Er
wurde nicht Bischof, wozu seine Oberen ihn angeblich drängten, sondern legte mehr Wert auf
seine Familie und einfache Arbeit an der Basis. Vielleicht hat er auch eine Rolle gespielt bei
meiner eigenen Abneigung gegen Karriere. Und spielte vielleicht noch mit bei meiner
Bereitschaft, auch später, als in meinem Beruf ein sehr gutes neues Angebot kam (Ordinariat
an der Universität Genf), zugunsten meiner Familie auf der wenig bekannten Professur in
Hannover zu bleiben.
Offensichtlich am stärksten beeinflusst hat mich Dieter Henrich, wohl der klügste
Mensch, den ich je getroffen habe. Er war intellektuell und, neben der Großmutter und
Happich, auch menschlich eine tief lebensbestimmende Begegnung. Gerade in den Phasen, in
denen ich mich von ihm und seiner damaligen Art, Philosophie zu treiben, entschieden
abwandte, bewährte er sich als älterer Freund, der meine Motive sehen konnte und trotz aller
Differenzen zu mir stand. Als Lehrer hatte er in seinen Seminaren geradezu Freude an
energischem, mit Argumenten vorgetragenem Widerspruch von studentischer Seite. In dieser
Hinsicht war er so, wie Platon den Sokrates manchmal zeichnet: ein Mann, der sich freut,
wenn ihm in der Debatte ein tüchtiger Schüler als Widerpart entgegentritt. Natürlich habe ich
ihm, wie schon angedeutet, in diesem Bericht Unrecht getan, indem ich ihn als primär
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historisch arbeitenden Gelehrten darstellte. So erschien er mir in der Zeit, in der ich bei ihm
studierte und Assistent war, und das gehörte zu den Gründen für meinen Abschied von ihm.
Schon in eben jenen Jahren begann er aber, ausgehend von der erwähnten Fichte-Schrift, mit
der Entwicklung einer eigenen metaphysischen Philosophie. Auf diesem Weg ist er
inzwischen mit mehreren Büchern zu einem originellen Erneuerer und Fortsetzer der großen
neuzeitlichen Tradition philosophischer Grundlegung aus Bewusstsein und Selbstbewusstsein
geworden. Dass Henrich ein Freund war, konnte ich lange Zeit nicht sehen und noch weniger
verstehen. Zu groß war das Autoritätsgefälle zwischen ihm, dem glänzenden, äußerst
erfolgreichen Professor und mir, dem Mann aus kleinem Haus, der sich in der akademischen
Umgebung immer unsicher fühlte, manchmal sogar noch, als dieser kleine Mann schon selbst
Professor geworden war. Henrich hat mich und auch andere immer wieder ermutigt, den
Autoritätsaspekt zu vergessen. Erst als ich selbst eine kleine Autorität geworden war, konnte
ich im eigenen Erleben nachvollziehen, dass es auf dem Feld der Gedanken zwar sachliche
Autorität im Sinn der Überlegenheit an Wissen und Können gibt, aber keine Autorität
aufgrund bloßen Alters oder bloßer Position.
So habe ich auch meinen Studierenden und besonders meinen Kindern gegenüber
zumindest versucht, nicht Autorität durch Position zu sein, sondern allenfalls Autorität durch
Wissen und Erfahrung. Das ist mir bestimmt nicht immer gelungen. Aber vielleicht
manchmal?

Geschrieben 2019, durchgesehen 2020


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U.P. 2020
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Dank

Für die Anregung zu dem Buch danke ich meiner Familie und ganz besonders Jan Vogel.
Das Manuskript gelesen, Korrekturen angemahnt und mich sehr ermutigt haben Marie-
Louise, Brigitte und Laurenz Pothast.

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