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Idee 6 | Wie gutes Storytelling entsteht

„Wir Super-Migranten“
Emilia Smechowski 1. Der Originaltext
erzählt die Geschichte
einer perfekten ICH BIN WER, DEN DU NICHT SIEHST
Integration. Es
ist ihre eigene. ANPASSUNG. Die größte Gruppe, die nach Deutschland einwandert, sind Polen. Nur

Wer ihren Artikel merkt das keiner, weil sie sich unsichtbar machen. Unsere Autorin hält das für einen
Fehler. Sie ist eine von ihnen.
gelesen hat, sieht
EMILIA SMECHOWSKI (TEXT) UND ELÉONORE ROEDEL (ILLUSTRATION)
und fühlt und denkt
anders als zuvor. Im Es war der 17. Juni 1988, als wir einen polnischen Abgang machten, wobei ich erst viel
später verstand, was das heißt, und auch, dass der Ausdruck uns Polen ein bisschen
Making-of erzählt die beleidigen soll. Aber in dieser Nacht von Freitag auf Samstag war es tatsächlich so: Wir
Autorin, wie sie aus hauten einfach ab, grußlos (Aufbruch der Protagonisten).
Wir waren etwa 50 Kilometer gefahren, raus aus dem grauen Plattenbau, raus aus
einem Unbehagen Wejherowo, als meiner Mutter das Wörterbuch einfiel. Sie hatte es auf dem Bügelbrett
liegen lassen, Deutsch-Polnisch, Polnisch-Deutsch. Tränen rannen über ihre Wangen,
einen großen Text wie so oft in diesen Tagen unserer Flucht. Was, wenn es uns verrät? Die ganze Aufre-
entwickelt hat. Das gung, die Lügen, alles umsonst (den Protagonisten droht Gefahr)?
So begann das neue Leben meiner Eltern, und somit auch meins und das meiner
Reporter-Forum hat Schwester. Mit Angst (zentrales Motiv).
ihn ausgezeichnet – Vielleicht erklärt diese Angst, warum meine Eltern, als sie es tatsächlich nach
Deutschland geschafft hatten, fast genauso weitermachten: Bloß nicht auffallen. Unsere
als besten Essay 2015. Leitfrage der kommenden Jahre lautete: Wie machen es die Deutschen? So machten
wir es auch.
Wer Strebermigranten studieren will, der kann uns als Musterfamilie nehmen (Hinweis
auf die Relevanz des Beispiels).
Meine Eltern, beide Ärzte, bekamen Arbeit, wir lernten Deutsch, mein Vater stieg
auf, meine Mutter weniger, wir bauten ein Haus. Wir fuhren erst einen Mazda, dann
einen BMW, dann einen Chrysler, und später eine Limousine von Audi. Ich besuchte
ein humanistisches Gymnasium, lernte Klavier und Ballett, mit Polen wollte ich erst
mal nichts zu tun haben, ich ging nach Paris und Rom (die Geschichte im Zeitraffer/in der
Nussschale).
Erst viel später, als ich erwachsener wurde, fielen sie mir auf: all die Polen in Deutsch-
land. Meine Generation, Anfang 30, die im Kindesalter mit ihren Eltern eingewandert
war. Top integriert, erfolgreich, sie wirkten fast deutscher als die Deutschen.
Ich war wie sie.

Jetzt interessiert sich sogar die Wissenschaft für uns


Heute gibt es kein Volk, das zahlreicher nach Deutschland einwandert, als wir Polen es
tun (Überraschung). Seit Jahren schon.
Nur: Als Migranten sieht man uns kaum. Wir sind unsichtbar. Wir sind quasi gar nicht
mehr da, so gut gliedern wir uns ein (These).
Nun interessiert sich deshalb die Wissenschaft für uns. Dissertationen werden ge-
schrieben, Bücher. Studien vergleichen uns mit anderen Migranten und stellen fest:
Wir lernen die Sprache schneller. Wir studieren öfter. Integrieren uns besser in den
Arbeitsmarkt. Heiraten eher Deutsche als Polen. Polnische Mädchen schneiden in der
Schule sogar oft besser ab als ihre deutschen Freundinnen. Wir sind die Champs.
medium magazin #02/2016 | iW | 22

Wie Chamäleons haben wir gelernt, uns in der deutschen Gesellschaft zu verstecken.
Die Studien klingen, als sei das ein Erfolg. Als würden sich Menschen ernsthaft wün-
schen, lieber nicht gesehen zu werden. Serie Handwerk
In der Nacht unserer Flucht, als ich auf der Rückbank unseres kleinen Fiat Polski saß,
wusste ich gar nicht, dass es so etwas wie Ausland gibt. Ich war fünf und konnte mir
Storytelling
nicht verzeihen, dass ich Tomek nicht gefunden hatte. Am Nachmittag hatte meine
Mutter gesagt: „Wir fahren in den Urlaub, nach Italien.“ Was ist es?
Ich rannte auf den Hof mit den verrosteten Teppichstangen, an denen wir manchmal „Wir Super-Migranten“ ist der elfte Text in
turnten. Ich wollte mich verabschieden, von meinem besten Freund. Lief hin zu dem unserer Serie „Handwerk Story­telling“: Sie
Sandkasten, in dem wir, zwei Jahre nach Tschernobyl, endlich wieder spielen durften. finden in jeder Ausgabe der Ideen-Werk-
Kein Tomek. Und ich weiß nicht, ob ich ahnte, dass wir nie zurückkehren würden, statt ein Best-Practice-Beispiel mit
aber als meine Mutter mich ins Auto setzte, fing ich an zu heulen (die Perspektive schafft besonders gut erzählten Texten aus allen
Nähe). Es ist meine einzige Erinnerung (impliziter Hinweis: spätere Szenen sind also nicht Genres.
erinnert, sondern rekonstruiert) an unsere Flucht. Diese Panik, mich unbedingt verab-
schieden zu wollen. Und dann einfach wegfahren zu müssen, ohne Tschüss zu sagen. Wer macht es?
Beziehungsweise: „pa“. Autorin der Serie ist Marie Lampert, die die
1988, als wir beschlossen zu fliehen, hieß es in der deutschen Politik noch immer: jeweiligen Texte analysiert, kommentiert
Deutschland ist kein Einwanderungsland. Die Ausländer, die schon seit Jahrzehnten da und hier erstmals vorstellt. Die Serie
waren, waren ja nur Gastarbeiter. Also Gäste. Und Gäste reisen irgendwann wieder ab. entsteht in Kooperation mit dem Portal
Mein Vater buchte einen Zelturlaub in Rimini. Dass wir nach Westberlin wollten, wo mein storytelling.abzv.de der ABZV, dem
Onkel schon lebte, behielten meine Eltern für sich. Nur die Großeltern wussten Bescheid. Bildungswerk der Zeitungen.
Während ich an Tomek dachte, ruckelte und zuckelte unser Fiat durch die Nacht, die
Schlaglöcher auf Polens Landstraßen waren fast so groß wie unser Auto. Meine Eltern Was bringt es?
schwiegen. Antworten auf die Fragen: Was macht
Die Grenze zur DDR passierten wir einfach. Dann kam die zweite. BRD. Wir sahen einen guten Text aus? Und welche dabei
sie schon von Weitem. Es war drei Uhr nachts, als sich vor uns ein riesiger Tempel aus genutzten Werkzeuge sind für jedermann
gleißenden Strahlern erhob. Drei Beamte liefen auf uns zu und winkten uns zur Seite. brauchbar?
Sie befahlen uns auszusteigen. Meine Mutter hob meine schlafende Schwester hoch,
und mit mir an der Hand lief sie zum Toilettenhäuschen nebenan. Mein Vater blieb
allein zurück (rekonstruierte Szene). „Das Entscheidende in
Wir ließen unsere Identität an der Grenze der Geschichte war ja das
Meine Mutter ist schon immer ein sehr ängstlicher Mensch gewesen, sie ist es bis Motiv der Angst.“
heute, und ich kann mir kaum ausmalen, wie sich das für sie angefühlt haben muss.
Da standen wir nun, mit einem Bein im alten, mit dem anderen im neuen Leben, als Emilia Smechowski (siehe Interview
diese bewaffneten Männer anfingen, unseren Kofferraum zu durchsuchen und die Sitze
„Making-of“, Seite 30)
hochzuheben.
Sie fanden nur Badeanzüge, Handtücher und ein Zelt.
Als wir wieder losfuhren, hörte es plötzlich auf zu ruckeln, als hätte jemand Butter auf
den Asphalt geschmiert. Dafür fuhren wir jetzt im Kreis, wie in einem Schneckenhaus,
es ging gar nicht mehr geradeaus! Mein Vater verlor die Orientierung und meine Mutter
schrie: „Fahren wir jetzt etwa wieder zurück?“
Es war der erste Satz, den meine Eltern sprachen, seit wir aus Wejherowo raus waren,
und sie lachten erleichtert, als sie begriffen, dass diese Straßenschnecke lediglich dazu
diente, sie auf die erste Autobahn ihres Lebens zu führen. NachWestberlin (rekonstru-
ierte Szene).
Wir ließen den Eisernen Vorhang, den Stillstand, das System, das unsere Freiheit so
willkürlich einschränkte, hinter uns. Nun mussten wir es schaffen.
Linktipp
Ob Kriegsflüchtlinge aus Syrien oder Arbeitsmigranten aus Südeuropa – die meisten
Einwanderer haben heute den einen Wunsch: irgendwann wieder zurückzukehren.
Wir wollten nicht zurück. Vielleicht fiel es uns deshalb so leicht, unsere Identität an Dem Thema Storytelling mit weiteren
der Grenze zu lassen. Analysen von Marie Lampert ist ein
Wenn ich heute meine Eltern frage, warum sie damals ausgereist sind, sagt mein Va- Webportal der ABZV gewidmet, das Sie
ter, er wollte sich nie wieder einsperren lassen, und meine Mutter sagt, sie wollte, dass hier finden:
wir Töchter bessere Chancen hatten.
In Polen gab es keine. So wie es keine Babynahrung in den Läden gab, keine Möbel,
kein Fleisch. Es sei denn, man hatte Geduld – oder Kontakte in den Westen. Während
4
ihres Medizinstudiums hatten meine Eltern Alkohol einfach selbst destilliert. www.storytelling.abzv.de
Idee 6 | Wie gutes Storytelling entsteht

Nach dem Studium, als beide schon Anästhesisten waren, arbeiteten sie rund um die
Uhr, es reichte trotzdem gerade für einen mittleren Standard. Wohnung: Platte. Küche
und Auto: von den Großeltern. Dieses eine Wort gab es in Polen nicht: Aufstiegsver-
sprechen (Schlüsselbegriff).
Der einzige Lichtblick waren die Päckchen, die ein deutscher Freund meines Opas
schickte. Mit Kaffee, Schokolade, und dem größten Schatz, den meine Mutter sich
vorstellen konnte: dem Burda-Katalog. Unsere Kleider waren immer genäht „jak w
Burdzie“. Wie bei Burda.
In unseren ersten Tagen in Westberlin kamen wir bei dem Onkel unter. Wir verkauften
unseren Fiat Polski für 1.000 Mark. Dann zogen wir um, ins Lager. Eine große Halle in
Berlin-Neukölln, eigentlich gedacht für Obdachlose, aber, weil in diesen Jahren so viele
von uns kamen, wurde sie auch für Aussiedler geöffnet. Überall Eisenbetten und Plastik-
tüten, es roch nach Schnaps, und meine Schwester und ich krallten uns an den Beinen
unserer Mutter fest.
„Ihr könnt hier nicht bleiben“, sagte mein Vater, und fuhr uns zurück zum Onkel. Er
selbst schlief wochenlang in der Halle, damit wir den Platz behielten.
Mein Vater hatte in Polen seine Bücher zurückgelassen, Goethe, Mann, Dostojewski.
In Deutschland hatte er nun Putzdienst und schrubbte Klos und Flure.

Die ersten Wochen liefen wir fast stumm herum


Ein Fernsehteam kam und fragte meine Eltern auf Englisch, was sie sich am meisten
wünschten. Mein Vater sagte: Er würde gern das Ganze, die Flucht, die Ankunft hier,
so schnell wie möglich vergessen. Meine Mutter sagte, sie werde erst wieder glücklich
sein, wenn sie wieder alles hat, was sie hatte aufgeben müssen: Arbeit, Wohnung, Auto.
In diesen ersten Tagen in Deutschland dämmerte es ihnen: Hier ankommen werden sie
nur, wenn sie anders werden, als sie sind.
Und ausgerechnet die Nazis hatten dafür gesorgt, dass ihnen das leichter fiel als an-
deren.
Wie viele Polen im Sozialismus hatten auch meine Eltern nach einem „deutschen
Großvater“ gesucht, der Eintrittskarte in den Westen. Sie fanden ihn. Mein – durch
und durch polnischer – Urgroßvater hatte bei der Reichsbahn gearbeitet und sich in
die „Deutsche Volksliste“ eintragen lassen. Denn als die Nazis gemerkt hatten, dass
es schier unmöglich ist, alle Polen auszulöschen, um das Land zu „germanisieren“,
beschlossen sie, die übrigen Polen irgendwie zu Deutschen zu machen. Mein Urgroß-
Disziplinierte Demonstranten vater galt somit als Deutscher und wir waren, auf dem Papier und ohne einen einzigen
Die Berliner „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ geht erstaunlich reibungslos über
die Bühne. Zehntausende feiern auf dem Myfest Berichte SEITE 51, 52 deutschen Verwandten zu haben: Aussiedler (Schlüsselbegriff). Unser Ticket in eine neue
Welt. Meine Familie spricht bis heute nicht gern darüber.
Statt für Fleisch stellten sich meine Eltern nun morgens um fünf Uhr für Papiere an.
AUSGABE BERLIN | NR. 10703 | 18. WOCHE | 37. JAHRGANG | € 3,50 AUSLAND | € 3,20 DEUTSCHLAND | SONNABEND/SONNTAG, 2./3. MAI 2015

Krankenkasse, Monatskarte, Begrüßungsgeld, als Aussiedler bekamen wir die Luxus-


behandlung.
Odenwaldschule
School’s out
forever
Vom Missbrauchs-
skandal konnte sie sich
nicht erholen, jetzt
Mein Vater konnte es nicht fassen. Ohne jemals einen Pfennig in die deutsche Arbeits-
Wir
Super-
Wie polnische
Einwanderer
muss die Odenwald-
schule schließen. Was losenversicherung eingezahlt zu haben, bekamen beide Arbeitslosengeld. Meine Eltern
bedeutet das für die
hatten den Eindruck, sie schuldeten diesem Land nun etwas. Auch der Sprachkurs im
deutscher wurden
Migranten als die Deutschen Reformpädagogik in
SEITE 18–20 Deutschland? SEITE 3

Der stärkste Satz


Die Welt wäre
Goethe-Institut war, wie für alle Aussiedler, kostenlos. 90 Prozent sprachen damals
keine schlech-
tere, wenn es
eine Band wie
kein Wort Deutsch.
Rammstein
nicht geben würde
„FLAKE“, Keyboarder von Rammstein, im taz-Ge-
In den ersten Wochen liefen wir mehr oder weniger stumm durch die Gegend, denn
meine Eltern hatten beschlossen: Auf deutschen Straßen sprechen wir deutsch. Dafür
spräch auf SEITE 24, 25

Weitere Autoren dieser Ausgabe: DOMINIC


JOHNSON und DANIEL ZYLBERSZTAJN über
Großbritannien vor der Wahl, SABINE AM ORDE

wiederholte meine Mutter ihn danach umso öfter, einen ihrer ersten deutschen Sätze.
über den Fall der AfD und ULRIKE HERRMANN
über die Zahl, die Hitler besiegte. Dazu Kolumnen
von BETTINA GAUS und CHRISTEL BURGHOFF

b  taz.berlin
MAI 1945 Wie ein irischer
„Pass auf!“
Wenn ein Mensch von einem Land in ein anderes zieht, kommt zu all den Rollen,
Soldat die Stadt erlebte.
Fünf-Seiten-Special zum
Kriegsende Seite 41, 44–47

Selbsthilfe
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die er in seinem Leben einnimmt, eine weitere. Er ist nun nicht mehr nur Arzt, Vater,
Literaturliebhaber, sondern auch: Einwanderer.
vor Ort &
regionale
Solidarität
stärken
Je mehr Rollen, sagen Forscher, desto mehr Spannungen. Vielleicht haben meine El-
tern einfach beschlossen, diese Spannung zwischen zwei Kulturen so klein wie möglich
Stichwort:
Nepal
www.medico.de/

zu halten. Sie legten die Rolle der Polen ab. Und büffelten dafür umso mehr für die der
Illustration: Eléonore Roedel; Foto oben: reuters

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Die tageszeitung wird ermöglicht Aboservice: 030 | 25 90 25 90 tazShop: 030 | 25 90 21 38
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Deutschen.
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taz. am wochenende, Auf meinem Pass prangte jetzt kein weißer, sondern ein schwarzer Adler. Aus der
2./3. Mai (Titelseite) polnischen Emilka Smiechowska war die deutsche Emilia Smechowski geworden.
medium magazin #02/2016 | iW | 24

Unsere Namen ändern, das, was von Geburt an immer bleiben sollte – einen größeren
Schnitt hätten wir nicht machen können.
Manche Flüchtlinge warten jahrzehntelang auf die Papiere, die bestätigen, was
schon längst ihre Wirklichkeit geworden ist: Sie sind Deutsche. Sie wissen, wie man in
Deutschland lebt. Bei mir war es andersherum.
Ich war Deutsche, bevor ich wusste, dass man sich in Deutschland Schokolade aufs
Brot schmieren kann. Bevor ich wusste, dass die deutschen Lebensmittelläden Aldi
heißen. Dass dort die Regale nie leer sind. Und dass man in der Kirche die Hostie in die
Hand statt in den Mund gelegt bekommt.
Als Turbo-Deutsche mühten wir uns ab, dem, was auf dem Papier stand, zu entspre-
chen. Dieses Land wies viele Menschen ab, uns sah es als Deutsche. Hätten wir in dieser
Situation die Hand heben sollen und sagen: Aber wir bleiben trotzdem auch polnisch,
okay?
Neben der Obdachlosenhalle in Berlin-Neukölln gab es noch ein anderes, ein kleineres
Haus. Dort hatte jede Familie ihr eigenes Zimmer. Und eine Familie war ausgezogen.
Mein Vater kaufte die billigste Flasche Whiskey, die er finden konnte, machte sich auf
zum Pförtner und schob sie ihm rüber. Der schaute ihn verdutzt an. Dann schob er sie
wieder zurück. „Wir machen so was nicht in Deutschland“, sagte er. „Hier regelt man
die Dinge anders.“
Wir bekamen das Zimmer. Einfach so (Geschichte in der Geschichte).
Meine Eltern lernten Deutsch.
Wir gingen bei Aldi einkaufen.
Ich spielte mit alten Stücken aus Pappe.
Wir waren glücklich.
Wir wurden immer mehr.
In den 80er-Jahren kam eine Million Einwanderer nach Deutschland, davon 800.000
Aussiedler (elegant: die Überleitung zum Faktenblock). Mit dem Fall der Mauer wurden es
noch mehr. Heute leben etwa 4,1 Millionen Menschen in Deutschland mit Aussiedler-
Status, darunter etwa zwei Millionen Polen. Wir sind, nach den Türken, die zweitgrößte
Migrantengruppe. Während die Türken Deutschland eher wieder verlassen, stehen wir
seit Jahren an der Spitze der Einwanderungsstatistik.
70.000 Polen kamen im Jahr 2013 unterm Strich nach Deutschland. So steht es im
aktuellen Migrationsbericht der Bundesregierung.
Und doch haben wir keinen Cem Özdemir, keine Aydan Özoguz im Bundestag, es gibt
keinen Verband, der für uns spricht, und wenn der Deutsche schnell was auf die Hand
will, holt er sich ganz sicher keine Piroggen um die Ecke. 18 TAZ.AM WOCHENENDE  SONNABEND/SONNTAG, 2./3. MAI 2015 Gesellschaft

Klar, wir sind auch nicht die Protagonisten in Büchern eines Thilo Sarrazin, wir sind Der Lohn für Anpassung ist,

es nicht, die Zehntausende Dresdner dazu treiben, „Wir sind das Volk!“ zu rufen.
dass alle dich mögen außer dir selbst
Rita Mae Brown, US-amerikanische Schriftstellerin und Feministin

Nicht mehr. VON EMILIA SMECHOWSKI (TEXT) chen es die Deutschen? So mach- Nun interessiert sich deshalb wir, zwei Jahre nach Tschernobyl, von Weitem. Es war drei Uhr Es war der erste Satz, den mei-

Emilie Mansfeld (Expertin 1) kam wie ich als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland.
UND ELÉONORE ROEDEL ten wir es auch. die Wissenschaft für uns. Disser- endlich wieder spielen durften. nachts, als sich vor uns ein riesi- ne Eltern sprachen, seit wir aus
(ILLUSTRATION) Wer Strebermigranten studie- tationen werden geschrieben, Kein Tomek. Und ich weiß nicht, ger Tempel aus gleißenden Wejherowo raus waren, und sie
ren will, der kann uns als Muster- Bücher. Studien vergleichen uns ob ich ahnte, dass wir nie zurück- Strahlern erhob. Drei Beamte lie- lachten erleichtert, als sie begrif-
s war der 17. Juni 1988, als familie nehmen. Meine Eltern, mit anderen Migranten und stel- kehren würden, aber als meine fen auf uns zu und winkten uns fen, dass diese Straßenschnecke

E wir einen polnischen Ab-


gang machten, wobei ich
beide Ärzte, bekamen Arbeit, wir
lernten Deutsch, mein Vater
len fest: Wir lernen die Sprache
schneller. Wir studieren öfter. In-
Mutter mich ins Auto setzte, fing
ich an zu heulen. Es ist meine ein-
zur Seite. Sie befahlen uns auszu-
steigen. Meine Mutter hob meine
lediglich dazu diente, sie auf die
erste Autobahn ihres Lebens zu

Heute arbeitet sie als Politologin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
erst viel später verstand, stieg auf, meine Mutter weniger, tegrieren uns besser in den Ar- zige Erinnerung an unsere schlafende Schwester hoch, und führen. Nach Westberlin.
was das heißt, und auch, dass der wir bauten ein Haus. Wir fuhren beitsmarkt. Heiraten eher Deut- Flucht. Diese Panik, mich unbe- mit mir an der Hand lief sie zum Wir ließen den Eisernen Vor-
Ausdruck uns Polen ein bisschen erst einen Mazda, dann einen sche als Polen. Polnische Mäd- dingt verabschieden zu wollen. Toilettenhäuschen nebenan. hang, den Stillstand, das System,
beleidigen soll. Aber in dieser BMW, dann einen Chrysler, und chen schneiden in der Schule so- Und dann einfach wegfahren zu Mein Vater blieb allein zurück. das unsere Freiheit so willkür-
Nacht von Freitag auf Samstag später eine Limousine von Audi. gar oft besser ab als ihre deut- müssen, ohne Tschüs zu sagen. lich einschränkte, hinter uns.
war es tatsächlich so: Wir hauten Ich besuchte ein humanistisches schen Freundinnen. Wir sind die Beziehungsweise: „pa“. Wir ließen unsere Nun mussten wir es schaffen.

„Durch den Verzicht aufs Polnische haben wir einen Teil unserer Identität verloren. Der
einfach ab, grußlos. Gymnasium, lernte Klavier und Champs. 1988, als wir beschlossen zu Identität an der Grenze Ob Kriegsflüchtlinge aus Syri-
Wir waren etwa fünfzig Kilo- Ballett, mit Polen wollte ich erst- Wie Chamäleons haben wir fliehen, hieß es in der deutschen Meine Mutter ist schon immer en oder Arbeitsmigranten aus
meter gefahren, raus aus dem mal nichts zu tun haben, ich ging gelernt, uns in der deutschen Ge- Politik noch immer: Deutsch- ein sehr ängstlicher Mensch ge- Südeuropa – die meisten Ein-
grauen Plattenbau, raus aus nach Paris und Rom. sellschaft zu verstecken. land ist kein Einwanderungs- wesen, sie ist es bis heute, und ich wanderer haben heute den einen
Wejherowo, als meiner Mutter Erst viel später, als ich erwach- Die Studien klingen, als sei das land. Die Ausländer, die schon kann mir kaum ausmalen, wie Wunsch: irgendwann wieder zu-
das Wörterbuch einfiel. Sie hatte sener wurde, fielen sie mir auf: ein Erfolg. Als würden sich Men- seit Jahrzehnten da waren, waren sich das für sie angefühlt haben rückzukehren. Wir wollten nicht

Begriff mag angestaubt sein, aber er trifft es noch immer: Migranten sind Brückenbau-
es auf dem Bügelbrett liegen las- all die Polen in Deutschland. Mei- schen ernsthaft wünschen, lie- ja nur Gastarbeiter. Also Gäste. muss. Da standen wir nun, mit ei- zurück. Vielleicht fiel es uns des-
sen, Deutsch-Polnisch, Polnisch- ne Generation, Anfang dreißig, ber nicht gesehen zu werden. Und Gäste reisen irgendwann nem Bein im alten, mit dem an- halb so leicht, unsere Identität an
Deutsch. Tränen rannen über ih- die im Kindesalter mit ihren El- In der Nacht unserer Flucht, wieder ab. deren im neuen Leben, als diese der Grenze zu lassen.
re Wangen, wie so oft in diesen tern eingewandert war. Top inte- als ich auf der Rückbank unseres Mein Vater buchte einen Zelt- bewaffneten Männer anfingen, Wenn ich heute meine Eltern
Tagen unserer Flucht. Was, wenn griert, erfolgreich, sie wirkten kleinen Fiat Polski saß, wusste urlaub in Rimini. Dass wir nach unseren Kofferraum zu durchsu- frage, warum sie damals ausge-

er. Wir aber haben die Brücke hinter uns gleich abgerissen“, sagt sie.
es uns verrät? Die ganze Aufre- fast deutscher als die Deutschen. ich gar nicht, dass es so etwas wie Westberlin wollten, wo mein On- chen und die Sitze hochzuheben. reist sind, sagt mein Vater, er
gung, die Lügen, alles umsonst? Ich war wie sie. Ausland gibt. Ich war fünf und kel schon lebte, behielten meine Sie fanden nur Badeanzüge, wollte sich nie wieder einsperren
So begann das neue Leben konnte mir nicht verzeihen, dass Eltern für sich. Nur die Groß- Handtücher und ein Zelt. lassen, und meine Mutter sagt,
meiner Eltern, und somit auch Jetzt interessiert sich sogar ich Tomek nicht gefunden hatte. eltern wussten Bescheid. Als wir wieder losfuhren, hör- sie wollte, dass wir Töchter besse-
meins und das meiner Schwes- die Wissenschaft für uns Am Nachmittag hatte meine Während ich an Tomek dach- te es plötzlich auf zu ruckeln, als re Chancen hatten.
ter. Mit Angst. Heute gibt es kein Volk, das zahl- Mutter gesagt: „Wir fahren in den te, ruckelte und zuckelte unser hätte jemand Butter auf den As- In Polen gab es keine. So wie es
Vielleicht erklärt diese Angst, reicher nach Deutschland ein- Urlaub, nach Italien.“ Fiat durch die Nacht, die Schlag- phalt geschmiert. Dafür fuhren keine Babynahrung in den Läden
warum meine Eltern, als sie es wandert, als wir Polen es tun. Seit Ich rannte auf den Hof mit löcher auf Polens Landstraßen wir jetzt im Kreis, wie in einem gab, keine Möbel, kein Fleisch. Es
tatsächlich nach Deutschland ge- Jahren schon. Nur: Als Migranten den verrosteten Teppichstangen, waren fast so groß wie unser Au- Schneckenhaus, es ging gar nicht sei denn, man hatte Geduld –
schafft hatten, fast genauso wei- sieht man uns kaum. Wir sind an denen wir manchmal turnten. to. Meine Eltern schwiegen. mehr geradeaus! Mein Vater ver- oder Kontakte in den Westen.
termachten: bloß nicht auffal- unsichtbar. Wir sind quasi gar Ich wollte mich verabschieden, Die Grenze zur DDR passier- lor die Orientierung und meine Während ihres Medizinstudiums

Der große Wagen ist noch oben


len. Unsere Leitfrage der kom- nicht mehr da, so gut gliedern von meinem besten Freund. Lief ten wir einfach. Dann kam die Mutter schrie: „Fahren wir jetzt hatten meine Eltern Alkohol ein-
menden Jahre lautete: Wie ma- wir uns ein. hin zu dem Sandkasten, in dem zweite. BRD. Wir sahen sie schon etwa wieder zurück?“ fach selbst destilliert.

Kennen Sie den noch?


ANPASSUNG Die größte Gruppe, die nach Deutschland einwandert, sind Polen. Nur merkt das keiner,
weil sie sich unsichtbar machen. Unsere Autorin hält das für einen Fehler. Sie ist eine von ihnen

„Eine kurze Anzeige mit drei Lügen: Anständiger Pole mit eigenem Auto sucht Arbeit.“ Ich bin wer, den du nicht siehst
Oder den?
„Woran merkt man, dass noch kein Pole im All war? Der große Wagen ist noch oben.“
Noch einen?
„Wann gibt es in Polen Weihnachten? Zwei Tage, nachdem in Deutschland Bescherung war.“
Harald Schmidt hat diese Witze erzählt, der große Entertainer des deutschen Fernse-
hens. In den 90er-Jahren war das. Das war die Stimmung.
Da waren wir schon längst raus aus dem Heim, hatten fünf Zimmer, Küche, Bad bezo-
gen, unsere erste Sozialwohnung. Sogar einen Balkon gab es, mit einem grünen Belag,
der aussehen sollte wie Rasen. Am ersten Abend saßen wir auf dem hellen Teppich im taz. am wochenende,
leeren Wohnzimmer und aßen Brot mit Philadelphia. 2./3. Mai (Seite 18)
Idee 6 | Wie gutes Storytelling entsteht

Andere Flüchtlinge im Heim kauften vom Geld, das ihnen der Staat gab, sofort Fern-
seher und Stereoanlage. An unserem ersten deutschen Weihnachten gab es einen Plas-
tikbaum und etwas Lametta. Wir tranken aus ausgewaschenen Senfgläsern. Wir fuhren
mit unserem Sozialticket U-Bahn. Nach Polen fuhren wir erst mal nicht. Keiner von uns
ahnte, dass nur ein Jahr später der Eiserne Vorhang fallen sollte.
Am 9. November 1989 sahen meine Eltern die Gesichter im Fernsehen. Die Flaggen.
Dieses Jetzt-ist-alles-wieder-möglich-Gefühl. Deutschland war wieder vereint. Mei-
nen Eltern machte das wieder: Angst.
Mein Vater fing in einem Krankenhaus an, meine Mutter in einem anderen, wir gingen
in den Kindergarten. Ihren Kollegen erzählten sie nicht, wie sie bisher gelebt hatten.
Es fragte auch keiner.
Mein Vater staunte, wie niedrig die Differenz zwischen seinem Gehalt und dem Preis
für ein Auto war. In Polen musste er etliche Jahre auf etwas sparen, das es dann oft gar
nicht gab. Die Butterpreise schwankten manchmal von einem Tag auf den anderen um
das zwölffache. Jetzt wartete er vier Monatsgehälter und kaufte einen grauen Mazda,
schnell und geschmeidig wie eine Raubkatze.

Nur eine 2+? Wie konnte das denn passieren?


Wenn wir andere Polen im Supermarkt hörten, rollten wir noch immer mit den Augen.
„Nur weil ich Polen im Ausland treffe, heißt das ja nicht, dass sie meine Freunde wer-
den müssen“, sagte mein Vater. Deutsch bedeutete Erfolg und Geld. Polnisch bedeutete
Armut. Und etwas Dreck (der Kontrast schafft Spannung).
Mit aller Macht wollten wir verhindern, dass man auf uns herabsah.
Mit sieben wurde ich eingeschult. Meine Mutter wiederholte es wie das Vaterunser: „Du
musst dich mehr anstrengen als die deutschen Kinder.“ Wenn ich mit einer 2+ nach
Hause kam, legte sich ihre Stirn in Falten. Wo denn das Problem gewesen sei?
Zahnpasta mit Erdbeergeschmack. Benjamin Blümchen. Eis in der Form eines Blei-
stifts. Wurst in der Form eines Bärchens. 4You-Schulranzen. Levi’s-Jeans.
Urlaub in Schweden. Urlaub auf Capri. Aktien. Schiffsanteile, um Steuern zu sparen.
Wir wollten Freiheit. Und bekamen Kapitalismus.
Es gab auch die Sommer, wie sie schon immer waren. Wir Schwestern mit unseren
Großeltern, in unserem Wald in Polen, unser Zelt, unsere zwei Seen, unsere Birken,
unser Moos, unser Feuer („unser“ – das Altvertraute).
Unsere Eltern blieben in Berlin. Arbeiten.
Gesellschaft 19
Das bisschen Arbeitslosengeld, das sie bezogen hatten, hatten sie tausendfach mit
Steuern zurückgezahlt. Die Rechnung war beglichen.
SONNABEND/SONNTAG, 2./3. MAI 2015  TAZ.AM WOCHENENDE

Der Mensch leidet an einer fatalen Spätzündung:


Er begreift alles erst in der nächsten Generation
Stanislaw Jerzy Lec, polnischer Satiriker
Meine Mutter stand nervös in der Küche, als sie deutsche Freunde zum Essen einlud.
Was sollte sie kochen? Es gab dann Tomate mit Mozzarella, Lasagne und Tiramisu. Von
Nach dem Studium, als beide
schon Anästhesisten waren, ar-
beiteten sie rund um die Uhr, es
reichte trotzdem gerade für ei-
Mein Vater konnte es nicht
fassen. Ohne jemals einen Pfen-
nig in die deutsche Arbeitslosen-
versicherung eingezahlt zu ha-
Piroggen hatte sie genug.
Mittlerweile besaßen wir einen 3er BMW (Symbol für erfolgreiche Integration) in Grün-
nen mittleren Standard. Woh- ben, bekamen beide Arbeitslo-
nung: Platte. Küche und Auto: sengeld. Meine Eltern hatten den
von den Großeltern. Dieses eine Eindruck, sie schuldeten diesem
Wort gab es in Polen nicht: Auf- Land nun etwas. Auch der
stiegsversprechen. Sprachkurs im Goethe-Institut
Der einzige Lichtblick waren war, wie für alle Aussiedler, kos-

metallic. Diese Blicke, wenn wir damit durch polnische Dörfer fuhren. Wir parkten auf
die Päckchen, die ein deutscher tenlos. Neunzig Prozent spra-
Freund meines Opas schickte. chen damals kein Wort Deutsch.
Mit Kaffee, Schokolade, und dem In den ersten Wochen liefen
größten Schatz, den meine Mut- wir mehr oder weniger stumm
ter sich vorstellen konnte: dem durch die Gegend, denn meine

bewachten Parkplätzen, natürlich, und mein Vater befestigte die Lenkradsperre. Unser
Burda-Katalog. Unsere Kleider Eltern hatten beschlossen: Auf
waren immer genäht „jak w deutschen Straßen sprechen wir
Burdzie“. Wie bei Burda. deutsch. Dafür wiederholte mei-
In unseren ersten Tagen in ne Mutter ihn danach umso öf-
Westberlin kamen wir bei dem ter, einen ihrer ersten deutschen
Onkel unter. Wir verkauften un- Sätze. „Pass auf!“

neues Leben wurde beäugt. Von Fremden, aber auch von Tanten, Onkels, Cousinen, die
seren Fiat Polski für 1.000 Mark. Wenn ein Mensch von einem
Dann zogen wir um, ins Lager. Ei- Land in ein anderes zieht, kommt
ne große Halle in Berlin-Neu- zu all den Rollen, die er in seinem
kölln, eigentlich gedacht für Ob- Leben einnimmt, eine weitere. Er
dachlose, aber, weil in diesen Jah- ist nun nicht mehr nur Arzt, Va-
ren so viele von uns kamen, wur- ter, Literaturliebhaber, sondern

in Polen geblieben waren.


de sie auch für Aussiedler geöff- auch: Einwanderer. Je mehr Rol-
net. Überall Eisenbetten und len, sagen Forscher, desto mehr
Plastiktüten, es roch nach Spannungen. Vielleicht haben
Schnaps, und meine Schwester meine Eltern einfach beschlos-
und ich krallten uns an den Bei- sen, diese Spannung zwischen
nen unserer Mutter fest. zwei Kulturen so klein wie mög-

In Deutschland schämten wir uns dafür, arme Polen zu sein. In Polen schämten wir
„Ihr könnt hier nicht bleiben“, lich zu halten. Sie legten die Rolle
sagte mein Vater, und fuhr uns der Polen ab. Und büffelten dafür
zurück zum Onkel. Er selbst umso mehr für die der Deut-
schlief wochenlang in der Halle, schen.
damit wir den Platz behielten. Auf meinem Pass prangte jetzt

uns dafür, reiche Deutsche zu sein. Wir fühlten uns wie die Wölfe im Schafspelz.
Mein Vater hatte in Polen sei- kein weißer, sondern ein schwar-
ne Bücher zurückgelassen, Goe- zer Adler. Aus der polnischen
the, Mann, Dostojewski. In Emilka Smiechowska war die
Deutschland hatte er nun Putz- deutsche Emilia Smechowski ge-
dienst und schrubbte Klos und worden.
Flure. Unsere Namen ändern, das,

Ist das der Preis einer Integration? Die Unsichtbarkeit? Die Scham?
was von Geburt an immer blei-
Die ersten Wochen liefen ben sollte – einen größeren
wir fast stumm herum Schnitt hätten wir nicht machen
Ein Fernsehteam kam und fragte können.
meine Eltern auf englisch, was Manche Flüchtlinge warten
sie sich am meisten wünschten. jahrzehntelang auf die Papiere,

„Tja“, sagt der polnische Historiker Robert Traba (Experte 2). „Die Generation Ihrer
Mein Vater sagte: Er würde gern die bestätigen, was schon längst
das Ganze, die Flucht, die An- ihre Wirklichkeit geworden ist:
kunft hier, so schnell wie mög- Sie sind Deutsche. Sie wissen, wie
lich vergessen. Meine Mutter man in Deutschland lebt. Bei mir
sagte, sie werde erst wieder war es andersherum.

Eltern, die damals zu Hunderttausenden nach Deutschland kam, litt unter einem
glücklich sein, wenn sie wieder Ich war Deutsche, bevor ich
alles hat, was sie hatte aufgeben wusste, dass man sich in
müssen: Arbeit, Wohnung, Auto. Deutschland Schokolade aufs
In diesen ersten Tagen in Brot schmieren kann. Bevor ich
Deutschland dämmerte es ih- wusste, dass die deutschen Le-
nen: Hier ankommen werden sie bensmittelläden Aldi heißen.

Minderwertigkeitskomplex. Sie hatten das Gefühl, etwas aufholen zu müssen, was die
nur, wenn sie anders werden, als Dass dort die Regale nie leer sind. Wir waren glücklich. treiben, „Wir sind das Volk!“ zu den neunziger Jahren war das.
sie sind. Und dass man in der Kirche die Ich war Deutsche, Wir wurden immer mehr. rufen. Das war die Stimmung.
Und ausgerechnet die Nazis Hostie in die Hand statt in den In den achtziger Jahren ka- Nicht mehr. Da waren wir schon längst
hatten dafür gesorgt, dass ihnen Mund gelegt bekommt. bevor ich wusste, men eine Million Einwanderer Emilie Mansfeld kam wie ich raus aus dem Heim, hatten fünf
das leichter fiel als anderen. Als Turbo-Deutsche mühten dass man sich nach Deutschland, davon als Kind mit ihren Eltern nach Zimmer, Küche, Bad bezogen,
Wie viele Polen im Sozialis- wir uns ab, dem, was auf dem Pa- 800.000 Aussiedler. Mit dem Deutschland. Heute arbeitet sie unsere erste Sozialwohnung. So-
in Deutschland

Deutschen ihnen voraushatten. Der Druck, so zu werden wie die Deutschen, war groß.
mus, hatten auch meine Eltern pier stand, zu entsprechen. Die- Fall der Mauer wurden es noch als Politologin bei der Deutschen gar einen Balkon gab es, mit ei-
nach einem „deutschen Großva- ses Land wies viele Menschen ab, Schokolade aufs mehr. Heute leben etwa 4,1 Milli- Gesellschaft für Auswärtige Poli- nem grünen Belag, der aussehen
ter“ gesucht, der Eintrittskarte in uns sah es als Deutsche. Hätten onen Menschen in Deutschland tik. „Durch den Verzicht aufs Pol- sollte wie Rasen. Am ersten
den Westen. Sie fanden ihn. Mein wir in dieser Situation die Hand
Brot schmieren mit Aussiedler-Status, darunter nische haben wir einen Teil unse- Abend saßen wir auf dem hellen
– durch und durch polnischer – heben sollen und sagen: Aber wir kann etwa zwei Millionen Polen. Wir rer Identität verloren. Der Begriff Teppich im leeren Wohnzimmer
Urgroßvater hatte bei der Reichs- bleiben trotzdem auch polnisch, sind, nach den Türken, die zweit- mag angestaubt sein, aber er und aßen Brot mit Philadelphia.

Sie haben sich nicht integriert, sondern assimiliert. Assimilation aber führt ins Nichts.“
bahn gearbeitet und sich in die okay? größte Migrantengruppe. Wäh- trifft es noch immer: Migranten Andere Flüchtlinge im Heim
„Deutsche Volksliste“ eintragen Neben der Obdachlosenhalle rend die Türken Deutschland sind Brückenbauer. Wir aber ha- kauften vom Geld, das ihnen der
lassen. Denn als die Nazis ge- in Berlin-Neukölln gab es noch eher wieder verlassen, stehen ben die Brücke hinter uns gleich Staat gab, sofort Fernseher und
merkt hatten, dass es schier un- ein anderes, ein kleineres Haus. wir seit Jahren an der Spitze der abgerissen“, sagt sie. Stereoanlage. An unserem ers-
möglich ist, alle Polen auszulö- Dort hatte jede Familie ihr eige- Einwanderungsstatistik. ten deutschen Weihnachten gab
Der große Wagen

Heute belächeln wir diesen Minderwertigkeitskomplex und gründen Kulturvereine


schen, um das Land zu „germani- nes Zimmer. Und eine Familie 70.000 Polen kamen im Jahr es einen Plastikbaum und etwas
sieren“, beschlossen sie, die übri- war ausgezogen. 2013 unterm Strich nach ist noch oben Lametta. Wir tranken aus ausge-
gen Polen irgendwie zu Deut- Mein Vater kaufte die billigste Deutschland. So steht es im aktu- Kennen Sie den noch? waschenen Senfgläsern. Wir fuh-
schen zu machen. Mein Urgroß- Flasche Whiskey, die er finden ellen Migrationsbericht der Bun- „Eine kurze Anzeige mit drei ren mit unserem Sozialticket U-
vater galt somit als Deutscher konnte, machte sich auf zum desregierung. Lügen: Anständiger Pole mit ei- Bahn. Nach Polen fuhren wir
und wir waren, auf dem Papier Pförtner und schob sie ihm rü- Und doch haben wir keinen genem Auto sucht Arbeit.“ erstmal nicht. Keiner von uns

wie den „Club der polnischen Versager“. Damals konnten Deutschland und Polen un-
und ohne einen einzigen deut- ber. Der schaute ihn verdutzt an. Cem Özdemir, keine Aydan Özo- Oder den? ahnte, dass nur ein Jahr später
schen Verwandten zu haben: Dann schob er sie wieder zurück. guz im Bundestag, es gibt keinen „Woran merkt man, dass noch der Eiserne Vorhang fallen sollte.
Aussiedler. Unser Ticket in eine „Wir machen sowas nicht in Verband, der für uns spricht, und kein Pole im All war? Der große An 9. November 1989 sahen
neue Welt. Meine Familie spricht Deutschland“, sagte er. „Hier re- wenn der Deutsche schnell was Wagen ist noch oben.“ meine Eltern die Gesichter im
bis heute nicht gern darüber. gelt man die Dinge anders.“ auf die Hand will, holt er sich Noch einen? Fernsehen. Die Flaggen. Dieses
Statt für Fleisch, stellten sich Wir bekamen das Zimmer. ganz sicher keine Piroggen um „Wann gibt es in Polen Weih- Jetzt-ist-alles-wieder-möglich-

terschiedlicher kaum sein. Sozialismus und Kapitalismus, Arm und Reich, Grau und
meine Eltern nun morgens um 5 Einfach so. die Ecke. nachten? Zwei Tage, nachdem in Gefühl. Deutschland war wieder
Uhr für Papiere an. Krankenkas- Meine Eltern lernten Deutsch. Klar, wir sind auch nicht die Deutschland Bescherung war.“ vereint. Meinen Eltern machte
se, Monatskarte, Begrüßungs- Wir gingen bei Aldi einkaufen. Protagonisten in Büchern eines Harald Schmidt hat diese Wit- das wieder: Angst.
geld, als Aussiedler bekamen wir Ich spielte mit alten Stücken Thilo Sarrazin, wir sind es nicht, ze erzählt, der große Entertainer
die Luxusbehandlung. aus Pappe. die Zehntausende Dresdner dazu des deutschen Fernsehens. In Fortsetzung auf Seite 20

Glitzer. Wer schämte sich da nicht, als Grauer?


taz. am wochenende, Meine zweite Schwester wurde geboren. Meine Eltern kauften ein Grundstück. Mit Garten.
2./3. Mai (Seite 19) Sie stritten sich jetzt öfter. Meine Mutter wollte Designerstühle, mein Vater fand sie zu bunt.
medium magazin #02/2016 | iW | 26

In der Schule sprachen wir zum gefühlt zehnten Mal über das Dritte Reich. Lasen „Jakob
der Lügner“ und „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Lasst mich endlich in Ruhe mit
diesen bescheuerten Nazis! Der Lehrer schaute irritiert. Ach, war die nicht aus Polen? Tja,
dachte ich, jetzt fragst du dich, wie viele aus meiner Familie vergast wurden. Dabei inter-
essierte mich das Thema brennend. Politik überhaupt. Nur konnte ich nichts anfangen mit
dem kollektiven Schuldgefühl der Deutschen. Was sie wohl in polnischen Schulen lehrten?
Denkt ein Deutscher an Italien, sieht er Pizza. Denkt ein Deutscher an Polen, sieht er
das Tor von Auschwitz.
Bismarck, Hitler, Vertriebene. Brandts Kniefall in Warschau. Meine beiden Länder
waren vor allem durch Schuld und Sühne verwoben. „Es gibt keine deutsche Identität
ohne Auschwitz“, hat neulich unser Bundespräsident gesagt. Genau das war lange Zeit
mein Problem.
Wir waren das Auschwitz in Deutschland, die Opfer im Täterland. Und wollten uns als
solche lieber nicht zu erkennen geben, 40 Jahre nach Kriegsende. In Deutschland war
doch jetzt so vieles anders, was sollten wir da in alten Wunden rühren. Lieber werden
wie die Deutschen. Weg mit dem Unterschied.
In den USA ist das anders. In allen größeren Städten gibt es polnische Communitys,
polnische Feste, polnische Läden. Und ob man samstagabends Piroggen oder Ribs essen
geht, entscheidet lediglich der Appetit, nicht die Geschichte. Es gibt sie nicht zwischen
Polen und den USA, nicht so.
Ich fing an zu studieren. Ging ins Ausland. Und fing mit der Zeit an, ein kleines Spiel
zu spielen. Ich tanzte zwischen den Kulturen, bediente mich mal dieser, mal jener
Identität, je nachdem, wie es besser passte. Auf deutschen Formularen hatte ich keine
Lust auf Nachfragen und gab gar nicht erst meine polnische Herkunft an. Um Auslands-
stipendien zu bekommen, schrieb ich seitenlange Motivationsschreiben über meine
polnischen Wurzeln. Es hatte schizophrene Züge.
Sollte ich am Telefon meinen Namen buchstabieren, sagte ich „Siegfried, Marta, Emil,
Cäsar, Heinrich, Oskar, Wilhelm, Siegfried, Kaufmann, Ida“ und ließ unkommentiert,
wenn jemand mein akzentfreies Deutsch lobte.
Meine Eltern schämen sich noch heute, wenn sie merken, dass sie einen winzigen
Grammatikfehler gemacht haben. Mein Vater ist mittlerweile Chefarzt. Je höher er auf-
steigt, desto mehr muss er darauf achten, keine Fehler zu machen, sagt er. Meine Mut-
ter verwechselt noch immer „der, die, das“. Sie sagt „Witzbeutel“, wenn sie Witzbold
meint. Und „Tiefkultur“ statt Tiefkühltruhe (schöner kann man Sprache nicht verfeinern).
Wenn ich heute meine Eltern frage, warum sie sich so unsichtbar gemacht haben, sagt
mein Vater, man schämte sich eben damals als Pole, und meine Mutter sagt, sie hatte 20 TAZ.AM WOCHENENDE  SONNABEND/SONNTAG, 2./3. MAI 2015 Gesellschaft

Angst, es sonst nicht zu schaffen. Wir alle tragen Masken, und es kommt der Zeitpunkt, an dem wir sie

„Es ist verständlich, dass unsere Eltern so reagiert haben“, sagt Katharina Blumberg-
nicht mehr abnehmen können, ohne dabei Stücke unserer Haut mit abzutrennen
André Berthiaume, kanadischer Schriftsteller

Stankiewicz (Expertin 3). Als Politikwissenschaftlerin promoviert sie über die unsicht- Fortsetzung von Seite 19 Ist das der Preis einer Integra- Dabei interessierte mich das turen, bediente mich mal dieser, Deutschland, so heißt es, ist
........................................................................................................................................................................................................
Was will die Politik?

baren Polen. „Aber man sieht, wie wir als zweite Generation darauf reagieren. Wir
tion? Die Unsichtbarkeit? Die Thema brennend. Politik über- mal jener Identität, je nachdem, das zweitbeliebteste Einwande-
........................................................................................................................................................................................................
Mein Vater fing in einem Scham? ■ Ein Gesetz: Fast alle Parteien haupt. Nur konnte ich nichts an- wie es besser passte. Auf deut- rungsland der Welt geworden.
Krankenhaus an, meine Mutter „Tja“, sagt der polnische Histo- wollen ein Einwanderungsgesetz, fangen mit dem kollektiven schen Formularen hatte ich kei- Die Politik hat sich ein Wortunge-
in einem anderen, wir gingen in riker Robert Traba. „Die Genera- das Migranten aus Nicht-EU-Staa- Schuldgefühl der Deutschen. ne Lust auf Nachfragen und gab tüm ausgedacht, um all die An-
den Kindergarten. Ihren Kolle- tion Ihrer Eltern, die damals zu ten das Arbeiten in Deutschland Was sie wohl in polnischen Schu- gar nicht erst meine polnische gekommenen zu vereinen. Aber
gen erzählten sie nicht, wie sie Hunderttausenden nach erleichtern soll – spätestens in der len lehrten? Herkunft an. Um Auslandssti- auch wir „Menschen mit Migrati-

straucheln. Und holen uns irgendwann das Polnische zurück.“


bisher gelebt hatten. Es fragte Deutschland kam, litt unter ei- nächsten Wahlperiode, verspricht Denkt ein Deutscher an Itali- pendien zu bekommen, schrieb onshintergrund“ wissen nicht,
auch keiner. nem Minderwertigkeitskomp- die SPD. Wegen des Geburten- en, sieht er Pizza. Denkt ein Deut- ich seitenlange Motivations- wie wir lieber genannt werden
Mein Vater staunte, wie nied- lex. Sie hatte das Gefühl, etwas rückgangs fehlen in den kommen- scher an Polen, sieht er das Tor schreiben über meine polni- wollen. „Neue Deutsche“? „Men-
rig die Differenz zwischen sei- aufholen zu müssen, was die den zehn Jahren fünf Millionen von Auschwitz. schen Wurzeln. Es hatte schizo- schen mit ausländischen Wur-
nem Gehalt und dem Preis für Deutschen ihnen voraus hatten. Fachkräfte, heißt es. Bismarck, Hitler, Vertriebene. phrene Züge. zeln“? „Hybride Identitäten“?
ein Auto war. In Polen musste er Der Druck, so zu werden wie die ■ Ein Vorbild: Kanada etwa bevor- Brandts Kniefall in Warschau. Sollte ich am Telefon meinen Egal, welches Label wir uns ge-

Manchmal steht, wer glaubt, sich entscheiden zu müssen, am Ende verloren da. As-
etliche Jahre auf etwas sparen, Deutschen, war groß. Sie haben zugt Hochqualifizierte, jeder Ein- Meine beiden Länder waren vor Namen buchstabieren, sagte ich ben: Den Unterschied lässt es
das es dann oft gar nicht gab. Die sich nicht integriert, sondern as- wanderer erhält Punkte, für Quali- allem durch Schuld und Sühne „Siegfried Marta Emil Cäsar nicht verschwinden.
Butterpreise schwankten similiert. Assimilation aber fikation, Sprachen, Alter. Doch das verwoben. „Es gibt keine deut- Heinrich Oskar Wilhelm Sieg- Soll es auch nicht. Ich will als
manchmal von einem Tag auf führt ins Nichts.“ System gilt nicht mehr als Allheil- sche Identität ohne Auschwitz“, fried Kaufmann Ida“ und ließ un- Frau die gleichen Rechte wie ein
den anderen um das zwölffache. Heute belächeln wir diesen mittel – der Bedarf an Arbeitskräf- hat neulich unser Bundespräsi- kommentiert, wenn jemand Mann, das gleiche Gehalt, die

similation ist kein Ankommen, es ist ein Versteckspiel.


Jetzt wartete er vier Monatsge- Minderwertigkeitskomplex und ten lässt sich schwer vorhersagen. dent gesagt. Genau das war lange mein akzentfreies Deutsch lobte. gleichen Aufstiegschancen. Das
hälter und kaufte einen grauen gründen Kulturvereine wie den Zeit mein Problem. Meine Eltern schämen sich heißt doch aber auch nicht, dass
Mazda, schnell und geschmeidig „Club der polnischen Versager“. Wir waren das Auschwitz in noch heute, wenn sie merken, ich ein Mann sein will.
wie eine Raubkatze. Damals konnten Deutschland Deutschland, die Opfer im Täter- dass sie einen winzigen Gram- Ich habe heute wieder zwei
und Polen unterschiedlicher land. Und wollten uns als solche matikfehler gemacht haben. Pässe – und will mich nie wieder
Nur eine 2 plus? Wie konnte kaum sein. Sozialismus und Ka- Migranten sind lieber nicht zu erkennen geben, Mein Vater ist mittlerweile Chef- entscheiden müssen. Ich bin we-

Der Versuch, mich zu de-assimilieren, führt mich nach Polen (Wende: die Protagonistin
das denn passieren? pitalismus, Arm und Reich, Grau vierzig Jahre nach Kriegsende. In arzt. Je höher er aufsteigt, desto der „neue Deutsche“ noch „alte
Wenn wir andere Polen im Super- und Glitzer. Wer schämte sich da
Brückenbauer. Deutschland war doch jetzt so mehr muss er darauf achten, kei- Polin“. Was bitte ist mit dem Da-
markt hörten, rollten wir noch nicht, als Grauer? Wir aber haben vieles anders, was sollten wir da ne Fehler zu machen, sagt er. zwischen? Noch immer scheint
immer mit den Augen. „Nur weil Meine zweite Schwester wur- die Brücke hinter uns in alten Wunden rühren. Lieber Meine Mutter verwechselt noch ethnische Vielfalt ein Symbol für
ich Polen im Ausland treffe, de geboren. Meine Eltern kauften werden wie die Deutschen. Weg immer „der, die, das“. Sie sagt gescheiterte Integration zu sein.
heißt das ja nicht, dass sie meine ein Grundstück. Mit Garten. Sie gleich abgerissen, mit dem Unterschied. „Witzbeutel“, wenn sie Witzbold Wo keine homogene Masse zu se-

sucht die Heimat in Polen). Als ich beruflich zwei Monate in Warschau verbringe, fühlt es
Freunde werden müssen“, sagte stritten sich jetzt öfter. Meine sagt die Politologin In den USA ist das anders. In meint. Und „Tiefkultur“ statt hen ist, wo man die Migranten als
mein Vater. Deutsch bedeutete Mutter wollte Designerstühle, allen größeren Städten gibt es Tiefkühltruhe. solche erkennt, muss etwas
Erfolg und Geld. Polnisch bedeu- mein Vater fand sie zu bunt. polnische Communitys, polni- Wenn ich heute meine Eltern falsch gelaufen sein.
tete Armut. Und etwas Dreck. In der Schule sprachen wir sche Feste, polnische Läden. Und frage, warum sie sich so unsicht- Die Polen als Vorbild der Inte-
Mit aller Macht wollten wir zum gefühlt zehnten Mal über ob man samstagabends Piroggen bar gemacht haben, sagt mein gration? Hätten sich alle Migran-
verhindern, dass man auf uns das Dritte Reich. Lasen „Jakob der oder Ribs essen geht, entscheidet Vater, man schämte sich eben da- ten so „integriert“ wie wir, wür-

sich irgendwie schräg an. Ich bin erwachsen, schwanger, will arbeiten. Aber am liebs-
herabsah. Lügner“ und „Als Hitler das rosa lediglich der Appetit, nicht die mals als Pole, und meine Mutter den wir in Deutschland nur
Mit sieben wurde ich einge- Kaninchen stahl“. Lasst mich Geschichte. Es gibt sie nicht zwi- sagt, sie hatte Angst, es sonst Schweinsbraten oder Grünkohl
schult. Meine Mutter wiederhol- endlich in Ruhe mit diesen be- schen Polen und den USA, nicht nicht zu schaffen. mit Pinkel essen und uns im The-
te es wie das Vaterunser: „Du scheuerten Nazis! Der Lehrer so. „Es ist verständlich, dass unse- ater langweilen.
musst dich mehr anstrengen als schaute irritiert. Ach, war die Ich fing an zu studieren. Ging re Eltern so reagiert haben“, sagt
die deutschen Kinder.“ Wenn ich nicht aus Polen? Tja, dachte ich, ins Ausland. Und fing mit der Katharina Blumberg-Stankie- Die gehen ins Ausland, sind

ten würde ich mich mit meiner Oma an der Hand in der nächsten Bäckerei anstellen,
mit einer 2 plus nach Hause kam, jetzt fragst du dich, wie viele aus Zeit an, ein kleines Spiel zu spie- wicz. Als Politikwissenschaftle- polnisch und stolz darauf!
legte sich ihre Stirn in Falten. Wo meiner Familie vergast wurden. len. Ich tanzte zwischen den Kul- rin promoviert sie über die un- Danzig, Breslau, nochmal War-
denn das Problem gewesen sei? sichtbaren Polen. „Aber man schau. Ich schreibe über polni-
Zahnpasta mit Erdbeerge- sieht, wie wir als zweite Genera- sche Obdachlose und die boo-
schmack. Benjamin Blümchen. tion darauf reagieren. Wir strau- mende Wirtschaft. Sehe Hipster

für ein Mohn-Quark-Teilchen. Nur ist meine Oma mittlerweile tot.


Eis in der Form eines Buntstifts. cheln. Und holen uns irgend- und Hochhäuser und spreche
Wurst in der Form eines Bär- wann das Polnische zurück.“ mit Jugendlichen und denke: Die
chens. 4You-Schulranzen. Levi’s- Manchmal steht, wer glaubt, kennen den polnischen Minder-
Jeans. sich entscheiden zu müssen, am wertigkeitskomplex gar nicht!
Urlaub in Schweden. Urlaub Ende verloren da. Assimilation Die gehen ins Ausland und sind
auf Capri. ist kein Ankommen, es ist ein polnisch und stolz drauf!

Ich lese polnische Geschichtsbücher und polnische Lyrik, gehe in die Botschaft und
Aktien. Schiffsanteile, um Versteckspiel. Mein Heimatland hat sich ver-
Steuern zu sparen. Der Versuch, mich zu de-assi- ändert. Wie kein anderes aus
Wir wollten Freiheit. Und be- milieren, führt mich nach Polen. dem ehemaligen Ostblock hat es
kamen Kapitalismus. Als ich beruflich zwei Monate in den Systemwechsel geschafft –
Es gab auch die Sommer, wie Warschau verbringe, fühlt es sich aus eigener Kraft. 2009 war es
sie schon immer waren. Wir irgendwie schräg an. Ich bin er- das einzige Land in Europa, das

will meine polnische Staatsbürgerschaft zurück. Nicht aus Prinzip. Ich will wählen
Schwestern mit unseren Großel- wachsen, schwanger, will arbei- trotz Eurokrise ein Wirtschafts-
tern, in unserem Wald in Polen, ten. Aber am liebsten würde ich wachstum zu verzeichnen hatte.
unser Zelt, unsere zwei Seen, un- mich mit meiner Oma an der Das britische Magazin Economist
sere Birken, unser Moos, unser Hand in der nächsten Bäckerei schrieb: Seit dem 16. Jahrhundert
Feuer. anstellen, für ein Mohn-Quark- war Polen nicht mehr so wohlha-
Unsere Eltern blieben in Ber- Teilchen. Nur ist meine Oma bend, friedlich, vereint und ein-

gehen. Wie ich es in Deutschland seit 13 Jahren tue.


lin. Arbeiten. mittlerweile tot. flussreich.
Das bisschen Arbeitslosen- Ich lese polnische Geschichts- Polen wird heute bewundert,
geld, das sie bezogen hatten, hat- bücher und polnische Lyrik, gehe nicht belächelt.
ten sie tausendfach mit Steuern in die Botschaft und will meine Und wir?
zurückgezahlt. Die Rechnung polnische Staatsbürgerschaft zu- Haben diese Entwicklung nur
war beglichen. rück. Nicht aus Prinzip. Ich will aus der Ferne beobachtet. Uns ist

Als die CSU vorschlägt, wir Migranten sollten zu Hause besser deutsch reden, bringen
Meine Mutter stand nervös in wählen gehen. Wie ich es in nun auch dieses Land ein biss-
der Küche, als sie deutsche Deutschland seit dreizehn Jah- chen fremd geworden.
Freunde zum Essen einlud. Was ren tue. Meine Mutter hat noch immer
sollte sie kochen? Es gab dann To- Als die CSU vorschlägt, wir Mi- 50 Eier im Gepäck, jedes Mal,
mate mit Mozzarella, Lasagne granten sollten zu Hause besser wenn sie in Polen war. Ein Ei ist

wir unserer Tochter gerade bei, dass „spac“ und „schlafen“ das Gleiche bedeuten, dass
und Tiramisu. Von Piroggen hat- deutsch reden, bringen wir unse- dort mittlerweile genauso teuer
te sie genug. rer Tochter gerade bei, dass wie hier.
Mittlerweile besaßen wir ei- „spac“ und „schlafen“ das Glei- Meine Schwester hat einen
nen 3er BMW in Grünmetallic. che bedeuten, dass „babcia“ und Deutschen geheiratet und heißt
Diese Blicke, wenn wir damit „Oma“ dieselbe Person ist. jetzt anders.
durch polnische Dörfer fuhren. Eine Initiative von polnischen Mich kostet es noch immer

„babcia“ und „Oma“ dieselbe Person ist.


Wir parkten auf bewachten Park- Frauen, die sich „Zwischen den Überwindung, polnisch über den
plätzen, natürlich, und mein Va- Polen“ nennt, veranstaltet eine Spielplatz zu rufen.
ter befestigte die Lenkradsperre. Weihnachtsfeier. Wir essen Man- Sprachlich sei er irgendwie
Unser neues Leben wurde be- darinen und reden über unseren heimatlos geworden, sagt mein
äugt. Von Fremden, aber auch Heiligabend zu Hause. Über das Vater. Er spricht jetzt seine Mut-
von Tanten, Onkels, Kusinen, die Extragedeck für den fremden tersprache mit deutschem Ak-

Eine Initiative von polnischen Frauen, die sich „Zwischen den Polen“ nennt, veran-
in Polen geblieben waren. Gast, das Warten auf den ersten zent.
In Deutschland schämten wir Stern, darüber, wie wir die große
uns dafür, arme Polen zu sein. In Oblate geteilt haben. ■ Emilia Smechowski, 31, ist Re-
Polen schämten wir uns dafür, Bin ich jetzt rückwärtsge- dakteurin der taz.am wochenende
reiche Deutsche zu sein. Wir wandt? Konservativ? Oder lebe ■ Eléonore Roedel, 42, ist freie Il-
fühlten uns wie die Wölfe im ich einfach nur mein eigenes lustratorin. Sie wurde in Metz ge-

staltet eine Weihnachtsfeier. Wir essen Mandarinen und reden über unseren Heilig-
Schafspelz. Multikulti? boren und wuchs in Würzburg auf

abend zu Hause. Über das Extragedeck für den fremden Gast, das Warten auf den ersten taz. am wochenende,
Stern, darüber, wie wir die große Oblate geteilt haben. 2./3. Mai (Seite 20)
Idee 6 | Wie gutes Storytelling entsteht

Bin ich jetzt rückwärtsgewandt? Konservativ? Oder lebe ich einfach mein eigenes
Multikulti?
Info im Originaltext: Deutschland, so heißt es, ist das zweitbeliebteste Einwanderungsland der Welt ge-
worden. Die Politik hat sich ein Wortungetüm ausgedacht, um all die Angekommenen
Was will die Politik? zu vereinen. Aber auch wir „Menschen mit Migrationshintergrund“ wissen nicht, wie
wir lieber genannt werden wollen. „Neue Deutsche“? „Menschen mit ausländischen
n Ein Gesetz: Fast alle Parteien wollen ein Wurzeln“? „Hybride Identitäten“?
Einwanderungsgesetz, das Migranten Egal, welches Label wir uns geben: den Unterschied lässt es nicht verschwinden.
aus Nicht-EU-Staaten das Arbeiten in Soll es auch nicht. Ich will als Frau die gleichen Rechte wie ein Mann, das gleiche
Deutschland erleichtern soll – spätes- Gehalt, die gleichen Aufstiegschancen. Das heißt doch aber auch nicht, dass ich ein
tens in der nächsten Wahlperiode, Mann sein will.
verspricht die SPD. Wegen des Ich habe heute wieder zwei Pässe – und will mich nie wieder entscheiden müssen.
Geburtenrückgangs fehlen in den Ich bin weder „neue Deutsche“ noch „alte Polin“. Was bitte ist mit dem Dazwischen?
kommenden zehn Jahren fünf Millionen Noch immer scheint ethnische Vielfalt ein Symbol für gescheiterte Integration zu sein.
Fachkräfte, heißt es. Wo keine homogene Masse zu sehen ist, wo man die Migranten als solche erkennt, muss
etwas falsch gelaufen sein.
n Ein Vorbild: Kanada etwa bevorzugt Die Polen als Vorbild der Integration? Hätten sich alle Migranten so „integriert“ wie
Hochqualifizierte, jeder Einwanderer wir, würden wir in Deutschland nur Schweinsbraten oder Grünkohl mit Pinkel essen
erhält Punkte, für Qualifikation, und uns im Theater langweilen.
Sprachen, Alter. Doch das System gilt
nicht mehr als Allheilmittel – der Die gehen ins Ausland, sind polnisch und stolz darauf!
Bedarf an Arbeitskräften lässt sich Danzig, Breslau, noch mal Warschau. Ich schreibe über polnische Obdachlose und die
schwer vorhersagen. boomende Wirtschaft. Sehe Hipster und Hochhäuser und spreche mit Jugendlichen und
denke: Die kennen den polnischen Minderwertigkeitskomplex gar nicht! Die gehen ins
Ausland und sind polnisch und stolz drauf!
Mein Heimatland hat sich verändert. Wie kein anderes aus dem ehemaligen Ostblock
hat es den Systemwechsel geschafft – aus eigener Kraft. 2009 war es das einzige Land
in Europa, das trotz Eurokrise ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatte. Das
britische Magazin „Economist“ schrieb: Seit dem 16. Jahrhundert war Polen nicht mehr
so wohlhabend, friedlich, vereint und einflussreich.
Polen wird heute bewundert, nicht belächelt (der Artikel erschien am 2./3. Mai 2015).
Und wir?
Haben diese Entwicklung nur aus der Ferne beobachtet. Uns ist nun auch dieses Land
ein bisschen fremd geworden.
Meine Mutter hat noch immer 50 Eier im Gepäck, jedes Mal, wenn sie in Polen war.
Ein Ei ist dort mittlerweile genauso teuer wie hier.
Meine Schwester hat einen Deutschen geheiratet und heißt jetzt anders.
Mich kostet es noch immer Überwindung, polnisch über den Spielplatz zu rufen.
Sprachlich sei er irgendwie heimatlos geworden, sagt mein Vater. Er spricht jetzt
seine Muttersprache mit deutschem Akzent (alle Protagonisten im Schlussbild: „irgendwie
heimatlos“).

Wir danken Emilia Smechowski, Eléonore Roedel (Illustration) und der taz. am wochen-
ende für das kostenfreie Überlassen der Rechte.
medium magazin #02/2016 | iW | 28

2. Die Analyse
Kommentar
Marie Lampert über den roten Faden im Essay der Familiengeschichte.
Der Reiz der Story: Der Handlungsstrang
Drei Ebenen Fokussieren auf ein Beispiel des Textes beginnt mit der Flucht der
Der Essay beginnt wie ein Roadmovie: „Wir Am Beispiel ihrer Familie macht Emilia Familie aus Polen, führt über die Ankunft
hauten einfach ab.“ Die Geschichte des Smechowski die großen Themen Aussied- zur Integration in Deutschland und endet
Abhauens und Ankommens einer Familie ler, Einwandern, Integration und Identität, bei der Suche der Autorin nach ihren
bildet den Handlungsstrang, den roten deutsch-polnische Geschichte fühlbar und polnischen Wurzeln.
Faden. „70.000 Polen kamen im Jahr 2013 anschaulich. Sie lässt konsequent weg, was Das organische Gewebe aus Handlung,
nach Deutschland.“ Eine zweite Ebene nicht mit ihrer Familiengeschichte zusam- Fakten und Reflexionen lässt im Kopf der
besteht aus Zahlen, historischen Fakten menhängt. Leser neue Fragen entstehen. Ihre Fragen.
und Hintergründen. Und dann gibt es,
drittens, Reflexionen und Deutungen. „Wir Ich bin, wir sind – exemplarisch Marie Lampert
sind quasi gar nicht mehr da, so gut An mehreren Stellen im Text unterstreicht
gliedern wir uns ein.“ sie, dass sie ihre persönliche Erfahrung für
Die Zeichnung von Brigitte Seibold zeigt verallgemeinerbar hält. „Wer Strebermi­
den Parcours, den die Autorin vorgibt. Die granten studieren will, der kann uns als
Ebenen sind organisch miteinander Musterfamilie nehmen.“ Sie findet, ihre
verwoben. Im Fluss von Handlung, Fakten Landsleute „wirkten fast deutscher als die
und Gedanken entstehen Fragen im Kopf Deutschen“. Sie sagt, und das scheint keine
der Leser. Sind es wirklich so viele Polen? angenehme Erkenntnis zu sein: „Ich war
Hab ich das gewusst? Wen kenne ich? Was wie sie.“ Eine sehr eindrückliche Form,
ist überhaupt deutsch? dieses Typisch-Sein auszudrücken, steht
ILLUSTRATION: BRIGITTE SEIBOLD
Idee 6 | Wie gutes Storytelling entsteht

Check it exakt in der Mitte des Essays. Das „wir“,


Emilia und ihre Familie, wird ganz beiläufig
zu „wir“, die Polen.
einen „polnischen Abgang“ und warum?
Wer ist „ich?“ Geht sie gut aus, diese
Geschichte einer Flucht? Wird das Wörter-
„Wir bekamen das Zimmer. Einfach so. buch die Flüchtigen verraten?
Meine Eltern lernten Deutsch.
Wann das „Ich“ die beste Wahl ist: Wir gingen bei Aldi einkaufen. Sprechende Details
n Ich habe mich intensiv mit dem Ich spielte mit alten Stücken aus Pappe. In Deutschland bekommt man in der Kirche
Thema beschäftigt, gedanklich und Wir waren glücklich. „die Hostie in die Hand statt in den Mund
emotional. Wir wurden immer mehr. gelegt“. Das Detail „Hostie“ erinnert daran,
In den 80er-Jahren kam eine Million dass Polen in der Regel katholisch sind.
n Ich habe gründlich recherchiert. Einwanderer …“ Dass sie in die Kirche gehen, so selbstver-
n Ich habe Abstand zum Thema und Warum sie ihren Text aus der Ich-Perspek- ständlich, wie sie Schokolade essen und
kann meine Erfahrungen einordnen. tive geschrieben hat, erläutert Emilia Lebensmittel kaufen. Spezifische Details
Smechowski im „Making-of“. rufen spezifische Assoziationen hervor und
n Ich stehe exemplarisch für einige schaffen Bilder im Kopf der Leser: die
oder sogar für viele Menschen mit Die Protagonisten Kaffee-Päckchen für den armen Osten, der
vergleichbaren Erlebnissen. Burda-Katalog mit den Schnittmustern, die
Zwei unsichtbare Einwanderer, Vater und
n Mit der Schilderung meiner Erfahrun- Mutter der Ich-Erzählerin, erklären ihr Whiskey-Flasche für den Pförtner des
gen erreiche ich maximale Authenti- Verhalten, ihre Motive. Die Autorin lässt die Hauses für Aussiedlerfamilien.
zität. Unsichtbaren meist in indirekter Rede
sprechen. Stilmittel
n Meine Erfahrungen sind nicht „Strebermigranten“ und „Turbodeutsche“
Zwei Expertinnen und ein Experte kom-
inszeniert, sondern mir per Schicksal sind herrlich anschauliche Wortschöpfun-
mentieren mit je einem wörtlichen Zitat die
oder biografisch zugewachsen. gen. Ein Vergleich: Wo keine Schlaglöcher
Aspekte Identität, Assimilation und
Reassimilation und bestätigen, was das in der Straße sind, ist es, „als hätte jemand
Beispiel der Familie Smechowski erzählt. Butter auf den Asphalt geschmiert“. Oder:
„Meine Mutter wiederholte es wie das
Mitfühlen Vaterunser: Du musst dich mehr anstren-
Emilia Smechowski erzählt lakonisch, gen als die deutschen Kinder.“
sachlich, knapp. Das Reporter-Forum Bei den polnischen Mädchen mit den super
würdigt ihre „feine Ironie“. Da ist aber auch Schulnoten alliteriert es: „Wir sind die
tiefes Mitgefühl für den Preis der Anpas- Champs. Wie Chamäleons haben wir
sung. Assimilation heißt hier: sich verste- gelernt, uns in der deutschen Gesellschaft

Linktipps cken, nicht gesehen werden, nicht gefragt zu verstecken.“


werden. Sich schämen. Der Historiker sagt:
„Assimilation … führt ins Nichts.“ Die Motive doppeln und durchspielen
Autorin: „Manchmal steht, wer glaubt, sich Zweimal ist Weihnachten. In der Mitte des
entscheiden zu müssen, am Ende verloren Textes feiert Familie Smechowski mit
da.“ Im letzten Absatz beschreibt die Plastikbaum und Lametta. Gegen Ende
Weitere überzeugende Ich-Erzählungen: feiert die Tochter mit ihrer Gruppe „Zwi-
Autorin, wie die alte Heimat den Assimilier-
ten fremd und fremder wird. Vater und schen den Polen“ und erinnert sich an
Mutter, die Schwester und sie selbst sind polnische Weihnachtsfeiern. Aus Emilka
„Wie ich einmal Deutscher wurde“ von Smiechowska, so steht es im zweiten
Dietmar Telser in der „Rhein-Zeitung“ auf dem Schlussbild. Der Vater spricht aus,
Drittel des Textes, wird Emilia Smechowski,
vom 27. Juli 2013 (Ein Südtiroler erwirbt was jeder auf seine Weise und für sich
„einen größeren Schnitt hätten wir nicht
die deutsche Staatsbürgerschaft und tut allein erlebt: Er ist „irgendwie heimatlos“.
machen können“. Am Ende kommt das
sich selbst als Muttersprachler nicht leicht Motiv wieder: „Meine Schwester hat einen
mit der Einbürgerung.) Woher kommt die Spannung?
Deutschen geheiratet und heißt jetzt
Der Lead provoziert. Er unterstellt den
www.abzv.de/storytelling Folge 28 anders.“ Piroggen, die gefüllten Teigta-
Lesern, dass sie etwas nicht bemerkt
schen, werden dreimal erwähnt. Und die
haben, nämlich, wer die größte Gruppe von
Begriffe „Freiheit“ und „Autos“ und
Einwanderern in Deutschland ist. Er macht
„Alles unter Kontrolle“ von Julia Pennigs- „Angst“ und „Scham“ kommen vielfach
neugierig mit der Behauptung, dass diese
dorf in der „Hannoverschen Allgemeinen wieder. Je mehr solche Bezüge ein Text
Gruppe sich unsichtbar macht und deswe-
Zeitung“ vom 25. Mai 2013 (Die Autorin verwebt, umso dichter wirkt er.
gen unbemerkt bleibt. Er verspricht Diskurs
setzt sich mit ihrem erhöhten Brustkrebs- und Reflexion, weil die Autorin das „Un-
risiko auseinander und informiert dabei sichtbar-Machen“ für einen Fehler hält. Er
über die tumorgenetische Beratungsstelle verspricht außerdem Authentizität, denn
der Universitätsklinik in Hannover.) die Autorin „ist eine von ihnen“.
www.abzv.de/storytelling Folge 21 Und dann geht der Text los mit einem leicht
verrätselten Roadmovie. Wer macht hier
medium magazin #02/2016 | iW | 30

3. Das Making-of

DIE ANGST WAR DER MOTOR


Wie aus Unbehagen ein preisgekrönter Text entstand: Marie Lampert
im Gespräch mit Emilia Smechowski.

Glückwunsch zum Reporterpreis für den Es gab sogar zwei. Der journalistische: Warum haben Sie sich für die Ich-Perspek-
besten Essay 2015! Wie entstand aus Ihrem Zu der Zeit kam die Pegida-Bewegung auf, tive entschieden?
privaten Thema der ausgezeichnete Text? die von Islamisierung schwafelte. Ich habe Bei vielen Journalisten sind ja Ich-Ge-
Emilia Smechowski: Es war anfangs nicht mich gefragt, warum es eigentlich immer schichten verpönt. Ich finde, man muss
nur privat, es war auch gar kein Thema, Türken und Araber sind, die die Deutschen unterscheiden, wann ein Ich hilft und wann
sondern nur ein Unbehagen. Alle spra- auf dem Kieker haben. Polen und Vietna- nicht. Wenn man selbst der bestmögliche
chen immer wieder von den Migranten in mesen zum Beispiel gelten nicht als Pro­ Protagonist ist und sich auch traut, ehrlich
Deutschland, und ich wusste, ich war auch blemmigranten. Ich fand, das war ein gu- über sich selbst zu schreiben und nicht eitel,
eine, aber ich fühlte mich nicht so. Es folg- ter Moment, um zu gucken, wer sich wie dann sollte man das tun. Ich lese das immer
ten Jahre, in denen ich immer wieder Polen integriert in Deutschland. Und ob sich die gern bei anderen. In dem Fall hätte es auch
traf, denen es genauso ging, Kolleginnen, vermeintlich Bestintegrierten nicht eher keinen Sinn gemacht, sich einen anderen
die fast dieselbe Familienbiografie hatten verstecken? Und dann gab es noch einen Protagonisten zu suchen. Ich war bei un-
wie ich. Irgendwann kam der Impuls: Du privaten Grund: Ich kam frisch aus der El- serer Flucht selbst dabei und habe die Jahre
schreibst das jetzt mal auf. Und da hat es ternzeit und mir juckte es in den Fingern. danach miterlebt. So genau hätte ich das
sehr geholfen, dass ich mich gedanklich Die Recherche, die Gespräche mit meinen von keinem Protagonisten erfragen können.
und gefühlsmäßig schon lang damit be- Eltern, all das war da schon abgeschlossen. Lustigerweise haben mir aber etliche Polen
schäftigt hatte. Ich konnte mit Baby nicht tagelang bei Pe- nach Erscheinen der Geschichte geschrie-
gida mitlaufen. Aber ich konnte mit dieser ben, ich hätte ihr Leben erzählt (lacht).
Gab es einen Grund dafür, genau zu diesem Geschichte mal einen anderen Blick auf die
Zeitpunkt zu schreiben? Integrationsdebatte werfen. Wie haben Sie bei so einem weiten Thema
die Recherche strukturiert?
Zu wenig! Ich hab immer mal wieder
recherchiert, dann wieder aufgehört, weil
das Baby kam. Am Ende hatte ich Tonnen
Material und null Struktur. Wenn es heißt,
du hast für die Reportage drei Wochen Zeit,
recherchiert man viel strukturierter. Aber
in dem Fall schwamm ich in einem Meer
von Schnipseln, Gedanken und Interviews.
Ich hatte mich zum Beispiel mit der Mig-

Emilia Smechowski, 1983 in Polen geboren,


studierte Operngesang und Sprachen in Berlin
und Rom, bis sie im Journalismus landete. Sie
volontierte bei der taz in Hamburg und war
jahrelang Redakteurin der sonntaz und später
FOTO: KAMILA KÖLLING

taz. am wochenende. Gewinnerin des


Deutschen Reporterpreises und des Konrad-
Duden-Journalistenpreises. Heute lebt sie als
freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt unter
anderem für die taz, „Stern“, „Brand eins“,
„Cicero“, die „Zeit“ und „Nido“.
Idee 6 | Wie gutes Storytelling entsteht

rationswissenschaft viel mehr beschäftigt, wenn eine Geschichte für ein bestimmtes andere dafür gezahlt haben, das ist etwas,
als sie in dem Text jetzt vorkommt. Ich Phänomen steht, dann sollte man auch womit ich mich auseinandersetzen muss.
wollte wissen, inwiefern der Weg meiner darauf vertrauen und sie einfach erzählen.
Familie den Theorien entspricht. Migra- Sie steigen ein in die Geschichte mit dem
tionsforschung in den USA ist ja viel, viel Haben Sie Ihren Protagonisten klar gesagt, Überschreiten einer Schwelle, einem Wen-
weiter, die Deutschen fangen gerade erst was Sie vorhaben und wie sehr Sie sie ex- depunkt im Leben Ihrer Eltern. Mit der
damit an. ponieren? Flucht. Wieso hier?
Meine Eltern wussten, dass ich einen Als meine Mutter mir diese Geschichte
Im Text kommen gerade noch drei pol- Text über sie schreibe, klar. Ich habe ihnen mit dem Wörterbuch erzählt hat, das sie
nischstämmige Experten mit ihren State- aber auch gesagt: Das wird meine Sicht der auf dem Bügelbrett liegen gelassen hatte,
ments vor. Wieso nur dieser Bruchteil Ih- Dinge, meine persönliche Meinung. Mein war ziemlich schnell klar, dass das der Ein-
rer Recherche? Vater wollte die Zitate vorher lesen, die stieg werden muss. Das Entscheidende in
Am Ende hatte ich mich dafür ent- habe ich ihm geschickt wie jedem anderen der Geschichte ist ja das Motiv der Angst.
schieden, sehr nah an meiner Familien- Gesprächspartner auch. Ich bin meinen Die Angst war der Motor, der alles ins Rol-
geschichte zu bleiben, an unserem Weg Eltern sehr dankbar, dass sie mir so zu len brachte, auch, dass sie sich als Polen in
der Assimilation in Deutschland. Ich mag ­schreiben erlaubt haben. Schließlich gaben Deutschland wegduckten. Als ich wusste,
es auch als Leserin lieber, wenn ich eine sie ihr Leben ein bisschen aus der Hand. mit welchem Gefühl die Geschichte begin-
tolle Geschichte lese und ganz nah an den nen muss, war klar, dass ich chronologisch
Protagonisten bin. Da muss nicht ständig Ihre Haltung gegenüber Ihren Eltern finde erzähle und ungefähr da ende, wo ich er-
jemand von außen kommentieren, wo- ich beeindruckend. Da ist keine Spur von wachsen bin, ein Kind habe und mich selber
für das jetzt steht und wie er dies und das Vorwurf. frage, wie es weitergeht.
einordnet. Ich werfe ihnen nicht vor, dass und wie
sie sich assimiliert haben. Es ist leicht für Sie beschreiben einige Szenen der Flucht,
Hätte es Ihre polnischen Wissenschaftler die zweite Generation, zu sagen: Ihr habt obwohl Sie sich selbst nur an die Szene er-
also gar nicht gebraucht? es falsch gemacht, ich würde das heu- innern, als Sie Ihren Spielfreund Tomek
Im Nachhinein betrachtet: wahrschein- te soundso machen. Ich bin ja durch die suchten, um sich zu verabschieden. Die
lich nicht. Zumindest nicht als kurze Zitat- Anstrengungen meiner Eltern sehr privi- anderen Szenen reinszenieren Sie mit Hilfe
geber, sie wären auf andere Weise interes- legiert aufgewachsen. Meine Eltern aber der Erfahrungen Ihrer Eltern. Wieso lassen
sant. Wahrscheinlich hatte ich Angst, dass hatten ihr Leben komplett umgeschmis- Sie Ihre Eltern nicht selbst erzählen?
die Geschichte sonst nicht genug Relevanz sen und ein neues begonnen. Sie haben es Hätte ich auch machen können. Aber für
hat, das ist ja ein Wort, das sehr oft fällt gemacht, wie sie es gemacht haben. Dass mich wirkte die Flucht-Erzählung irgendwie
in Zeitungen. Sicher auch zu Recht. Aber ich es traurig finde, welchen Preis sie und stärker, wenn ich sie szenisch beschreibe.

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medium magazin #02/2016 | iW | 32

Ich habe meine Eltern getrennt voneinander es lächerlich. Inzwischen habe ich besser ich mich entschieden, nur polnisch mit ihr
befragt, sie sind mittlerweile geschieden, verstanden, warum ihnen das so wichtig zu reden, mein Freund spricht deutsch mit
und trotzdem war die Geschichte, die sie mir war: Sie wollten für ihre Töchter eine bes- ihr. Ob sie das annimmt oder nicht, sehen
erzählten, die Erinnerungen, die sie hatten, sere Zukunft. Das ist ja ein Gedanke, der wir dann. Und beruflich interessiert mich
fast exakt die gleichen. Das hat mir Sicher- wirklich alle Flüchtlinge eint, die Kinder Polen auch immer mehr. Gerade jetzt, wo
heit und Vertrauen gegeben, etwas freier und haben. Ich glaube, es gibt keine stärkere es nach dem schnellen Aufschwung erste
szenischer zu schreiben. Motivation für Eltern, über Grenzen zu ge- Dämpfer gibt, die auch im Ausland wahr-
hen, als diese. genommen werden. Je mehr ich über Polen
Ihre Tonalität changiert zwischen Sprach- lerne, desto faszinierter bin ich. Weil mich
witz und auch einer Traurigkeit. Wie ent- Wenn man von der Geschichte Ihrer Inte­ mit diesem Land so viel verbindet, ich aber
wickeln Sie den Ton für einen solchen Text? gration spricht, meint das auch die Integra- dennoch eine gewisse Distanz habe. Ich bin
Wenn ich das wüsste! Es ist ein ewiges tion Ihrer Herkunft in Ihre Identität. irgendwie dazwischen.
Rumprobieren, zum Heulen manchmal. Auf jeden Fall. Und ich finde das echt
Beim Schreiben dieses Textes haben sich eh interessant, dass sich das ganz viele Polen
ab und an Pfützen in meinen Augen gebildet. jetzt zurückholen. Man könnte ja fragen,
Ich weiß, man muss Herr seiner Geschichte brauchen wir das heute noch? Wir leben in
bleiben, aber das fiel mir in dem Fall schwer. Deutschland, wir haben einen deutschen
Mir hilft es oft, Musik zu hören, um in eine Pass, wir reisen, sind sogenannte Kosmo-
Emotion zu kommen. Nur wenn ich denken politen, haben ständig Kontakt mit anderen
muss und analysieren, brauche ich Ruhe. Kulturen. Wieso muss ich mich da noch
Beim Szenenschreiben höre ich Musik, wenn zum Polnisch-Sein bekennen?
ich merke, es hakt. Mal Klassik, mal House,
auch mit Text, egal. Reportagen und Musik Wieso also?
haben für mich viel gemeinsam: Rhythmus Weil es schon einen Unterschied gibt. Das
und Melodie sind extrem wichtig. hat sich bei mir gezeigt, als meine Tochter
kam. Welche Fremdsprache sie später ler-
MARIE LAMPERT
Haben Sie beim Schreiben selbst noch neue nen will, soll sie entscheiden. Aber polnisch ist freie Journalistin und Trainerin, leitet den
Erkenntnisse gewonnen? ist die Muttersprache ihrer Mutter, ihrer ABZV-Onlinedienst storytelling.abzv.de.
Ja. Ich habe jetzt mehr Verständnis für Tanten, ihrer Großeltern. An Weihnachten Sie hat Psychologie (Diplom) und Germanistik
meine Eltern. In der Pubertät habe ich viel gibt es Barszcz und Piroggen, Danzig ist studiert.

mit ihnen gestritten. Dieses Schauen auf noch immer eine Art Zuhause für uns. Soll info@marielampert.de
Noten, gute Rechtschreibung etc. – ich fand sie gar nichts davon mitkriegen? Also habe

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