APRIL 2024

Archäologie in Israel Schreikranich

Neue Mosaike aus Nordamerikas
dem 5. Jahrhundert Riese fliegt wieder

BEST OF
T H E WOR L D
2024
Die Reise-Tipps
der NatGeo-
Redaktion

BENELUX � 8,20 l FRANKREICH, ITALIEN, SPANIEN, PORTUGAL (CONT.) � 9,50 l GRIECHENLAND � 10,20
DEUTSCHLAND � 6,90 l ÖSTERREICH � 7,60 l SCHWEIZ CHF 11,00

Die wundersame Welt der

PILZE
SIE SIND IN UNS, AUF UNS, UM UNS – UND SO WICHTIG
F Ü R D I E G E S U N D H E I T VO N M E N S C H U N D N AT U R
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P I L Z E U N D B A K T E R I E N S T E H E N I N E I N E M S C H L E C H T E N RU F . Lebe deinen
Traum!
Der Mensch fürchtet sie, da er sie mit Verfall verbindet.
Das ist nur teils gerechtfertigt. Erinnert sei an Penicillin.
Es wurde aus einem Schimmelpilz gewonnen und be­-
wahrte viele Menschen vor dem Infektionstod. Biologisch
handelt es sich bei Pilzen um ein eigenständiges Reich. weitere Erlebnisreisen in mehr als 90 Länder:
Neben dem Tier- und dem Pflanzenreich haben wir ein
Indonesien 22 Tage ab 2.499 €
Pilzreich. Und auch wenn wir davon oft nur die bizarren
Fruchtkörper sehen (ab S. 30), sind die Funga überall. In Kuba 23 Tage ab 2.699 €
der Luft, die wir atmen, der Nahrung, die wir essen. Viele
leben in den Wurzeln der Pflanzen, wo sie mit Zucker ver-
Marokko 15 Tage ab 1.699 €
sorgt werden und den Wirten Mineralien, Stickstoff und Georgien 15 Tage ab 1.999 €
Wasser liefern. Eine ertragreiche Landwirtschaft ist ohne
Pilze nicht denkbar. Für Forscher bieten sie eine Welt der Island 12 Tage ab 3.299 €
Entdeckungen. Man hofft, etwa ihr Wurzelgeflecht für Namibia & 21 Tage ab 3.499 €
Textilien zu nutzen. Das Psychodelikum Psilocybin, u. a. in
Botswana
Kahlkopf-Pilzen, entfachte gar einen Hype. Es vermochte
Depression zu heilen – bisher leider nur in Einzelfällen. Alle Preise inkl. Flug, Rundreise, Eintrittsgeldern,
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APRIL SEITE.5 2024

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JG. 26 NATIONAL GEOGRAPHIC NR. 4

INHALT

5 EDITORIAL | 8 IM FOKUS

UNSERE THEMEN

30
WUNDERSAME PILZE
Flora, Fauna – Funga.
Sollte man die Welt der
Pilze gesondert von
Tieren und Pflanzen
betrachten? Ihre Eigen-
heiten versetzen For-
scher immer wieder in
Erstaunen. Ihren Nutz-
wert entdecken wir erst.

62
BEST OF THE WORLD
NatGeo-Mitarbeiter aus
der ganzen Welt haben
ihre besten Reisetipps
eingeschickt. 24 Emp-
fehlungen – von der
Reitsafari in Kenia bis
zur autarken Schweizer
1 1 4 Detail aus einem Mosaik in Huqoq, Galiläa Berghütte.

80
16 20 PROOF
BESSER LEBEN KALEIDOSKOP Der Fotograf Xavi Bou
Neues aus Umwelt, Menschliche Haare sind zeigt Insektenflüge als
Natur und Gesundheit ein wertvoller Rohstoff. faszinierende Muster.

18 24 86
GENIAL GEDACHT PERSPEKTIVE AUS DEM ARCHIV
Ein Start-up sorgt bei NatGeo machte aus Dinosaurier haben sich
Naturkatastrophen für Tara Conklin eine verändert – wie unsere
sauberes Wasser. Geschichtenerzählerin. Galerie zeigt.

1 4 0 N AT G E O - W E LT | 14 4 I M P R E S SUM | 14 6 VO RS C H AU

U N S E R C OV E R Der Glänzende Schleimschirmling (Limacella illinita) wächst bevorzugt an

grasigen Stellen in Nadelwäldern. Er ist nicht giftig, aber unangenehm im Geschmack.
Foto AG O R A ST O S PA PAT SA N I S

APRIL SEITE.6
 6 2 Reisetipp für Abenteurer: Reitsafari in Kenia

88 114 134
REISE DER KRANICHE BIBLISCHE SZENEN TIERLEBEN
Die Erhaltung der Unter dem Geröll auf Bei Winterende
Schreikraniche zählt einem Hügel in Galiläa verlassen die ersten
zu den größten Natur- fanden Archäologen Bienen ihren Stock. Sie
schutzerfolgen der USA. die Überreste einer suchen Weidenblüten,
Unsere Reporterin Rene Synagoge aus der Zeit um die Larven mit
Ebersole konnte das der römischen Besat- dem proteinreichen
junge Weibchen 15J zung. Die Szenen in den Pollen zu versorgen.
auf seiner ersten gut erhaltenen Mosai-
Wanderung Richtung ken geben Einblick ins
Süden begleiten. damalige Leben.

110 132
VOR ORT SPUR DER GESCHICHTE
Das Yerkes-Observa­ Welche Rolle ein
torium besuchte schon Geschirrtuch beim Ende
Einstein. Heute ist es des amerikanischen
ein Besuchermagnet. Bürgerkriegs spielte.

FOTOS (V. L. N. R.): MARK THIESSEN; NICHOLE SOBECKI; BRIAN MCCLATCHY TITELTHEMEN SIND GELB MARKIERT.

SEITE.7 2024
 IM FOKUS

NEU EINGETROFFEN VON UNSEREN FOTOGRAFEN

WISSEN

„Meine Solo-Expedition ‚Finding Darwin‘ gab

mir ein tiefes VERSTÄNDNIS dafür, wie Darwin
dachte und welches wissenschaftliche Vermächtnis
er in Patagonien hinterlassen hat.“
M A R C I O P I M E N T A , Fotograf und NATIONAL-GEOGRAPHIC-Explorer

Pimentas Expeditionstour durch Patagonien wurde von der National Geographic

Society unterstützt. In der Stadt Trelew, Sitz des paläontologischen Museums Egidio
Feruglio, stieß er auf diese lebensgroße Nachbildung eines Patagotitan-Sauriers.

APRIL SEITE.8 2024

Der neue Tiguan
Für alles, was das Leben bringt
Der schönste Antrieb, Neues zu entdecken: Der neue Tiguan zieht mit seinem eleganten und
dynamischen Design die Blicke auf sich und überzeugt mit seiner innovativen Ausstattung.
Dazu bietet er eine Vielzahl hocheffizienter Antriebsaggregate. Und dank seines großzügigen
Platzangebots sind sowohl Passagiere als auch ihr Gepäck komfortabel unterwegs.

Tiguan 2.0 TDI SCR 4MOTION, 142 kW (193 PS), 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe

DSG, Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert 6,7–6,1; CO₂-Emission in g/km:
kombiniert 177–160. Für das Fahrzeug liegen nur noch Verbrauchs- und Emissions-
werte nach WLTP und nicht nach NEFZ vor. Angaben zu Verbrauch und CO₂-Emissionen
bei Spannbreiten in Abhängigkeit von den gewählten Ausstattungen des Fahrzeugs.
Fahrzeugabbildung zeigt Sonderausstattungen. volkswagen.de
 OZEANE

„Die getaktete Eleganz, mit der Tausende

Korallen neues Leben erschaffen, FESSELT MICH
immer wieder. Es ist ein einzigartiger
ästhetischer Eindruck – als würde man einen farbigen
Schneesturm unter Wasser betrachten.“

T O M S H L E S I N G E R , Fotograf

Im Roten Meer schleudern Korallen ihre Ei- und Spermienbündel ins

Wasser, wo sie miteinander verschmelzen. Dieses Massenlaichen findet nur
einmal jährlich nachts binnen weniger Minuten statt.

APRIL SEITE.10 2024

APRIL SEITE.12
 IM FOKUS

U M W E LT

„Das Einzugsgebiet
der Everglades kann
ein überwältigender
Ort sein – schon wegen
seiner Weite, aber auch
wegen der heutigen
Herausforderungen.
Ich habe die Motive vor
weißem Hintergrund
isoliert, um so
KOMPLEXE THEMEN
visuell zu verdichten.“
MAC STONE,
Fotograf und NATIONAL-
GEOGRAPHIC-Explorer

In dichten Trauben kleben dunkel­

rosafarbene Eier der nicht heimi-
schen Apfelschnecke an Hechtkraut
und Totora-Schilf. Zahlenmäßig
übertreffen sie die blassrosafarbe-
nen Eier der einheimischen Apfel-
schnecke (Komposit aus zehn Fotos).

SEITE.13 2024
 IM FOKUS

PAGE.14

KU LT U R

„Ich hatte von einer Gruppe von Frauen gehört,

die die ÄGYPTISCHE GÖTTIN ISIS anbeten. Ihre
Verehrung für das Wasser des Nils und für seine
Geschichte versinnbildlicht die Bedeutung des Nils
für die Ägypter und die ganze Welt.“
M A T T M O Y E R , Fotograf und NATIONAL-GEOGRAPHIC-Explorer

Vera Novitskaya empfängt eine Opfergabe im Philae-Tempel bei Assuan. Das

Foto entstand während Moyers Arbeit an einem von der National Geographic
Society finanzierten Projekt über die drohende Wasserkrise in Ägypten.

APRIL SEITE.14 2024

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Bilder von Sternenstaub
und sensationelle Blicke in
die Atmosphären fremder
Planeten: ein Weltraum-
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BIONIK

KLEBER AUS DEM MEER

WINDENERGIE

Fledermaus-
Sperrgebiet
Um die Klima-
ziele zu erreichen,
boomt in Deutsch-
land der Ausbau
der Windener-
gie. Einer Studie
des Leibniz-Insti-
tuts für Zoo- und
Wildtierforschung
zufolge hat dies
jedoch große Aus-
wirkungen auf
Fledermäuse. So
sank die Aktivität
der Tiere in einem
Umkreis von 80 bis
450 Metern um die
Anlagen um fast
80 Prozent, wenn
die Turbinen bei
hohen Windge-
schwindigkeiten
in Betrieb waren.
Vermutlich fühlen
sich die Fleder-
tiere vom Lärm der
MIESMUSCHELN SIND REEDERN ein Dorn im Auge, denn Rotorblätter und
den Luftverwirbe-
sie haften hartnäckig am Schiffsrumpf und lassen sich nur
lungen, die diese
schwer entfernen. Ein Forscherteam von drei Fraunhofer- erzeugen, gestört.
Instituten hat sich diese Superhafteigenschaft zunutze Damit der Lebens-
gemacht und einen Gewebekleber für Gelenkprothesen ent- raum der Tiere
nicht noch weiter
wickelt. Implantate aus Titan lockern sich nämlich früher beschnitten wird,
oder später, da sich der Knochen mit der Zeit zurückbildet. sollten die An­­ TEXTE: SIMONE EINZMANN. FOTOS: ALAMY (2), SHUTTERSTOCK, ISTOCK

Der neu entwickelte Miesmuschel-inspirierte Kleber ist lagen bevorzugt

in fledermaus­
antimikrobiell, lässt sich sogar auf unebene Flächen aufdru- armen Wirtschafts-
cken und kann problemlos mit Proteinen, Signalmolekülen wäldern aufgestellt
und sogenannten Apatitpartikeln gemischt werden. Apatit werden, so die
Forscher.
ist eine Substanz, die in Knochen und Zähnen zu finden
ist. Der Kleber fördert das Knochenwachstum und stärkt
die Verbindung zwischen Knochen und Implantat. Selbst
offene Wunden lassen sich mit dem Material verschließen.
In Zukunft wollen die Chemiker den Stoff so verändern,
dass sich seine Klebrigkeit an- und ausschalten lässt. „Hat
der Chirurg den medizinischen Klebstoff beispielsweise
geringfügig falsch platziert, muss er diesen Fehler schnell
korrigieren und die klebende Wirkung deaktivieren kön-
nen“, erklärt der Chemiker Wolfdietrich Meyer.

APRIL SEITE.16
 neues aus u m w e l t, t e c h n i k und gesundheit

KLIMAWANDEL

ANPASSUNGSFÄHIGE RÄUBER
Spinnen lassen sich vom Klimawandel nicht
aus der Ruhe bringen – sie ändern einfach
ihre Jagdstrategie. Das ergab eine Nature-
Studie unter Beteiligung der Universität
Leipzig. Erhöhten die Wissenschaftler in
einer Versuchsanlage die Temperatur um
0,6 Grad Celcius, verringerten größere Spin-
nen kurzerhand die Abstände zwischen
den Fäden in ihrem Netz um rund 44 Pro-
zent, während kleine Spinnen die Abstände
um fast 80 Prozent vergrößerten. Da sich
bei höheren Temperaturen die Größe und
Art der Beutetiere ändert, passten die
Spinnen einfach ihr Netzdesign an. Raub-
tiere sind überraschend flexibel: Sie kön-
nen ganz offensichtlich ihre Jagdstra­tegien
RECYCLING
sehr schnell variieren, wenn sich die Umwelt­

SECONDHAND-NATION
6 8 P R O Z E N T D E R D E U T S C H E N kaufen oder
bedingungen verändern.

verkaufen gebrauchte Produkte oder bekom-

men solche geschenkt. Das ist das Ergebnis
einer repräsentativen Haushaltsumfrage,
durchgeführt vom Öko-Institut im Auftrag
des Umweltbundesamtes. Damit haben in
nur einem Jahr drei Millionen Tonnen Pro-
dukte (36 Kilo pro Kopf) ein neues Zuhause
gefunden. Fast die Hälfte der Befragten kaufte
die Waren in Secondhandläden oder auf dem
Flohmarkt, 25 Prozent bekamen sie geschenkt,
und ebenso viele erwarben sie auf Onlin­e ­-
plattformen. Hauptsächlich handelte es sich
um Kleidung, gefolgt von Elektrogeräten.

MEERE

370
Millionen Tonnen CO2 gehen jährlich auf das Konto der Schleppnetzfischerei,
so das Ergebnis einer von National Geographic Pristine Seas geförderten Studie.
Die Schleppnetze zerstören den Meeresboden und lassen offensichtlich auch das
dort gespeicherte Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre entweichen.

SEITE.17 2024
 GENIAL GEDACHTE PROJEKTE (118)

WAS SER-RET TER

Naturkatastrophen nehmen zu, auch begünstigt durch den
Klimawandel. Ein Leipziger Start-up bietet besonders robuste Wasser-
aufbereitungsanlagen zur schnellen Versorgung der Menschen vor Ort.

Text S I N A H O R S T H E M K E Foto I N G M A R B J Ö R N N O L T I N G

I M K ATA S T R O P H E N F A L L zählt die Ver-
sorgung der betroffenen Menschen mit
sauberem Wasser zu den wichtigsten Hilfs-
maßnahmen. Disaster Relief Systems, ein
Start-up aus Leipzig, hat Wasseraufberei-
tungsanlagen konstruiert, die im Fall von
Erdbeben-, Sturm-, Überschwemmungs-
oder sonstigen Katastrophen besser geeig-
net sind als bisherige Anlagen.
Auf die Idee, seine Leidenschaften zum
Beruf zu machen, brachte den Gründer
John-Henning Peper eine Katastrophe, die
im Jahr 2016 mehr als 1000 Menschenle-
ben kostete: Hurrikan Matthew, der mit bis
zu 230 Kilometern pro Stunde über Haiti,
Kuba und die Bahamas fegte. „Ich verfolgte
die Berichterstattung und wunderte mich,
dass der internationale Katastrophenschutz
technisch so veraltet war“, erzählt Peper. Der
angehende Ingenieur kontaktierte Hilfs-
organisationen und fragte: „Wenn Sie sich
Maschinen wünschen könnten, was müss-
ten die können?“
Die befragten Rettungskräfte waren sich
einig: Für Hilfseinsätze wäre ein einfach zu
bedienendes Baukastensystem ohne Spe-
zialteile ideal. Das Gerät müsste auf Euro­­-
paletten und im Frachtraum von Flugzeu-
gen Platz finden, leicht genug zu tragen
sein, wenn keine Straßen mehr existieren,
und sich mit Werkzeugen und Ersatzteilen
reparieren lassen, die auf der ganzen Welt
zur Standardausstattung gehören.
„Hightechmaschinen bringen gar nichts,
wenn mitten im Katastrophengebiet ein
Bauteil ausfällt und niemand die Maschine
in Gang bringen kann“, erklärt Peper. Ein
von ihm gebautes Gerät sollte so robust sein,
dass es sogar einen Flugzeugabwurf mit Fall-
schirm übersteht.
„In Haiti lief die Hilfe zum Großteil erst
nach sieben Tagen an, weil die Flughäfen
beschädigt waren“, sagt der 31-Jährige. Kün-
digt sich in den ersten 24 Stunden keine
Hilfe an, fliehen Menschen, was die huma-
nitäre Katastrophe noch vergrößern kann.
Eine mobile Trinkwasseraufbereitungs-
anlage zu konstruieren, war daher Pepers
erstes Ziel. Aus dem Prototypen ist ein Gerät
entstanden, das wahlweise Sediment aus
dem Wasser filtert, Algen, Chemikalien,
Krankheitserreger oder alles zusammen.
Sie tötet mittels UV-Licht sogar Viren. „Je
nach Bedarf lässt sie sich in 45 Sekunden
umrüsten“, erklärt Peper. Die Anlage schafft
im Schnitt 2500 Liter pro Stunde und kann
pro Tag rund 5000 Menschen versorgen.
Peper plant nun, das Gerät um ein Komu-
nikationssystem zu erweitern, das auch
funktioniert, wenn der Strom ausfällt.

APRIL SEITE.18 2024

NATIONAL GEOGRAPHIC

WA S S E R M A R S C H
Hafen in Leipzig
Ingenieur John-Hen-
ning Peper demonstriert
seine mobile Trinkwasser­
aufbereitungsanlage, die
in Katastrophengebieten
zum Einsatz kommt.
 KALEIDOSKOP

Vom Nutzen der

HAARE

4800 Tonnen fallen jedes Jahr in Deutschland

an – als Müll. Dabei können Haare als Pullover,
Dünger oder bei Ölunfällen Verwendung finden.

Text J U L I A G R A V E N

2
DÜNGER
In jedem der 80 000 Friseur-
salons in Deutschland fallen im
Schnitt jährlich 60 Kilogramm
Haare an – und landen im Müll.

1
Dabei können abgeschnittene
Strähnen nützlich sein. Die NGO
Matter of Trust aus Kalifornien
stellt aus Haarspenden von

M Ä RC H E N H A F T
Das Kopfhaar, das uns vor
schädlicher Sonnenstrah-
lung schützt, besteht aus bis
zu 150 000 einzelnen Haaren.
Monatlich wachsen sie um etwa
einen Zentimeter. Im Lauf eines
Lebens kommen so mehrere
Meter zusammen. Allerdings
lebt das einzelne Haar nur etwa
sechs Jahre, bis es ausfällt und
ein neues Haar nachwächst. Eine
Rapunzel-Länge gehört also
ins Reich der Märchen.
3
Mensch und Tier Filzmatten her.
Tests in einem Nationalpark
in San Francisco zeigen, dass
diese Matten gut als Mulch die-
nen. Sie halten Feuchtigkeit im
Boden und wirken als Dünger.
D RO G E N N AC H W E I S
Weil viele Substanzen aus dem
Blut in den Haaren konserviert
sind, verrät eine Haaranalyse
einiges über unser Leben. Eine
zwölf Zentimeter lange Strähne
kann über den Drogenkonsum
eines ganzen Jahres Auskunft
geben. Berühmtes Beispiel: die
Haarprobe von Fußballtrainer
FOTO: ALAMY

Christoph Daum, die ihn im Jahr

2000 des Drogenkonsums über-
führte. Anabolika im Haar sind
länger nachweisbar als im Urin.

APRIL SEITE.20
 N AT I O N A L G E O G R A P H I C

4
KLEIDSAM
Das Start-up Human Material
Loop aus den Niederlanden
nutzt Garn aus Menschenhaar
Dünn, aber oho: für eine kreislauffähige Textil­
Haare sind dehn- industrie. Gründerin Zsofia
bar und sehr reiß- Kollar beschreibt die Vorteile:
fest. 500 bis 1000 Es sei plastikfrei, ohne Tier-
Hornfäden können leid hergestellt und biologisch
das Gewicht eines abbaubar. Die britische Spinne-
Menschen tragen. rei The Natural Fibre Company
hat 2022 testweise ein Garn her-
gestellt, das zu 40 Prozent aus
Haarspenden und zu 60 Prozent
aus Wolle besteht.

5
Ö LU N FÄ L L E
Wer sich ein paar Tage den
Kopf nicht gewaschen hat, weiß:
Die Haare werden fettig, da sie
Sekret aus den Talgdrüsen
aufnehmen. Die französische
Organisation Coiffeurs Justes
nutzt diese Adsorptionsfähig-
keit: Sie steckt menschliche
Haarreste in gebrauchte Kom-
pressionsstrümpfe, um ausge-
laufenes Öl aus Gewässern zu
holen. Die Haarfilter können bis
zum Achtfachen ihres Eigen­
gewichts an Öl aufsaugen.

2024
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Entdecken Sie mit Silversea Expeditions eine andere Welt
Oben: Rund zwölf Millionen Pinguine
leben in der Antarktis – darunter
Adelie-, Zügel- und Eselspinguine.
Südgeorgien ist hingegen die Heimat
der Königspinguine
Unten: Gemeinsam ein einmaliges
Abenteuer erleben – wo, wenn nicht
bei einer Expedition in der Antarktis?
W enn die Sonne über dem
Antarctic-Sund aufgeht,
weicht das Blutrot nach und nach
dem Blau des Himmels und die
riesigen Kolonien von Adeliepin-
guinen schütteln sich wach. Das
Eis knistert und knarzt, während
Weddellrobben sich auf der rein-
weißen Decke aus jungfräulichem
Schnee herumwälzen. Wenn Sie
sich etwas weiter ins Landesinnere
vorwagen, werden Sie feststel-
len, dass die Antarktis weitaus
mehr als nur Eis und Kälte zu
bieten hat. Zerklüftete, graue
Berge ragen über Fjorden empor,
in denen Sie eine Tierwelt und
einen Artenreichtum vorfi nden,
die einmalig sind. Tatsächlich
nennen 235 Meerestierarten und
17 Landtierarten die Antarktis
ihr Zuhause. Darunter See-Ele-
fanten, Seebären und verschie-
denste Pinguinarten. Sie in freier
Wildbahn erleben zu dürfen, ist
pures Glück. Silversea heißt Sie in
der Antarktis willkommen, dem
letzten in weiten Teilen noch un-
erforschten Kontinent der Erde.
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Expeditionsexperten
Eine Reise in eine so abgelege-
ne und selten besuchte Region
wie die Antarktis ist eine echte
Expedition: ein spannendes, wildes
und unvorhersehbares Abenteuer.
Deshalb brauchen Sie die richtigen
Reiseführer, um diesen faszinie-
renden Kontinent hier zu entde-
cken. Silversea hat ein erstklassiges
Expertenteam zusammengestellt,
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Geheimnisse der Antarktis zu
erkunden – von der beeindru-
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weißen Kontinents hautnah
Unten: Die Gletscher als Panorama –
wer hier zu einer Kajak-Tour aufbricht,
erlebt ein einmaliges Abenteuer
logen, Ornithologen, Geologen,
Fotografen und anderen Fachleute
sorgen dafür, dass jedes Ihrer Er-
lebnisse außergewöhnlich ist. Auf
Gruppen-Wanderungen, aktiven
Kajak-Touren und Zodiac-Ausflü-
gen erleben Sie die atemberaubenden
Landschaften und die Tierwelt der
Antarktis gemeinsam mit diesen
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Und das Beste: Alle Exkursionen
und Erlebnisse mit den Mitgliedern
des Expeditionsteams sind im
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Das Abenteuer beginnt in Chile,
genauer gesagt in Puerto
Williams. Hier gehen Sie an Bord
der Silver Cloud und durchqueren
nach einer zweitägigen Reise
durch die Drake-Passage das
48 Kilometer lange Gewässer des
Antarctic-Sunds. Lassen Sie sich
von der Magie fesseln, die Sie beim
Erreichen des weißen Kontinents
sofort spüren. Tagsüber erwarten
Sie Tundra-Wanderungen und
Zodiac-Touren, während Sie am
Abend bei Cocktails und spannenden
Expeditionsvorträgen das Er-
lebte Revue passieren lassen können.
Natürlich gehört hier auch eine
Pinguin-Beobachtung auf den
südlichen Shetland-Inseln dazu.
Nach 10 Tagen geht es durch die
Drake-Passage wieder zurück nach
Puerto Williams. Ereignisreicher
könnten die Weihnachtsfeiertage
nicht sein!
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Von privaten Transfers und inter-
nationalen Flügen über Speisen
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Expeditionsausrüstung – mit Silversea
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Wesentliche konzentrieren: die
Magie Ihres Reiseziels in vollen
Zügen zu erkunden und Ihre Zeit an
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 PERSPEKTIVE

DAS LEBEN
stets neu SUCHEN

Für die Autorin bot NATIONAL GEOGRAPHIC

in der Kindheit ein Tor zu den unendlichen
Weiten der Welt. Es lieferte auch
eine Inspiration für ihr neues Buch.

Text
TARA CONKLIN

Illustration
DADU SHIN

B E VO R E R A N D I E U N I G I N G , arbeitete mein das Bild einer tibetanischen Hirtin, deren

Vater auf einem Frachtschiff, das ihn in die
Sowjetunion, nach Dänemark, Finnland,
Großbritannien und Frankreich brachte.
Als kleines Kind saß ich oft neben ihm auf
dem Sofa, einen Bildband oder NATIONAL
GEOGRAPHIC auf dem Schoß, betrachtete
die Fotos von fernen Orten und Menschen
und hörte ihm zu, wenn er von seinen eige-
nen Reisen erzählte. Am besten gefielen
mir Bilder, die Geschichten erzählten, wie
leuchtend farbige Kleidung sich von einem
kahlen Hintergrund abhebt; Harriet Tub-
mans grimmiger Blick in einem Artikel über
die Underground Railroad; oder Dorothea
Langes ikonisches Bild einer Migrant
Mo­­ther. Jedes dieser Bilder deutete eine
gewisse Intimität an, einen Einblick in das
einzigartige, geheimnisvolle Innenleben
eines anderen Menschen. In meiner Erin-
nerung vermischen sich die Fotos und die

APRIL SEITE.24
PAGE.25 2024
 PERSPEKTIVE
Geschichten meines Vaters. Habe ich ein
Bild von der Hängebrücke über den Sambesi
gesehen, oder hat mir mein Vater erzählt,
wie er sie überquert hat? Hat mein Vater
einen Japanmakaken gesehen, oder haben
wir ein Foto dieses außergewöhnlichen Tie-
res mit den traurigen Augen angeschaut?
Geschichten zu erzählen, sollte zu mei-
nem Lebensinhalt werden. Die Bilder gaben
mir das Gefühl, Teil einer größeren Gemein-
schaft zu sein. Wir sind alle miteinander
verbunden, dachte ich. Wir sind alle auf der
Suche nach den gleichen wesentlichen Din-
gen: Liebe, Geborgenheit, Familie, Glück.
30 Jahre, nachdem ich das Foto von Har-
riet Tubman gesehen hatte, schrieb ich
meinen ersten Roman „The House Girl“, der
von der Underground Railroad handelte und
ein Überraschungserfolg wurde. Mitten im
Corona-Lockdown begann ich „Community
Board“, meinen dritten Roman. Er handelt
von einer jungen Frau, die sich in ihr Eltern-
haus im winterlichen Neuengland zurück-
zieht, wo sie einen unerwarteten Verlust
verarbeitet und ihren Weg zurück ins Leben
findet. Als ich meine Figur Darcy erschuf,
dachte ich an die längst vergangenen Nach-
mittage zu Hause auf dem Sofa.
ICH WUCHS IN EINER Kleinstadt im Westen
von Massachusetts auf, wo der Schnee
meterhoch lag und wir im Sommer Him-
beeren vom Strauch aßen. Es war ein wun-
derschöner, friedlicher Ort.
Aber die Geschichten meines Vaters
hatten in mir den Samen des Fernwehs
gepflanzt, der schnell und stark wuchs. In
der Pubertät wurden mir meine Familie
und die Stadt zu eng und zu klein. Wenn
das Wetter es zuließ, kletterte ich aus mei-
nem Zimmerfenster auf das steile Dach
und schob mich empor zu einem flacheren
Stück, von dem aus ich die Sterne sehen
konnte. Ich fragte mich: Wohin werde ich
gehen? Wen werde ich kennenlernen? Wer
möchte ich sein? Ich verließ Massachusetts
APRIL SEITE.26
so schnell wie möglich. Ich reiste, studierte
und arbeitete in Costa Rica, Neuseeland,
Moskau, London und an vielen Orten in
Europa. Ich liebte das Nomadenleben, die
Begegnungen mit neuen Menschen und
die verschiedenen Jobs in unterschiedli-
chen Städten. Aber schließlich sehnte ich
mich nach einem Zuhause und dauerhaf-
ten Beziehungen. Vor 15 Jahren ließ ich
mich mit meiner Familie in Seattle nieder.
Dort wuchsen meine Kinder zu Teenagern
heran, und meine Karriere als Schriftstel-
lerin begann.
Als ich 2020 mit „Community Board“
anfing, hatte die Welt sich plötzlich und
unwiderruflich verändert. Ich machte
mir Sorgen – wie alle. Um unsere Kinder,
unser Auskommen, die Sicherheit von Ver-
wandten, älteren Menschen und anderen
gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Das
Buch spielt in einer Zeit vor der Pandemie,
aber ich stellte meiner Protagonistin die
gleichen Fragen, die ich mir damals selbst
stellte: Wie finden wir Inspiration, wenn
wir allein und bedrückt sind? Wie bauen
wir Verbindungen auf, wenn die Angst uns
lähmt? Wie lassen wir uns auf eine Welt
ein, die grausam und gefährlich erscheint?
Als aus den ersten Tagen des Lockdowns
Wochen, schließlich Monate wurden,
geschah Unerwartetes in meiner Nachbar-
schaft. Es fing klein an: Nachbarn schwenk-
ten Wunderkerzen entlang unserer Straße,
um den Geburtstag eines Fünfjährigen zu
feiern. Dann wurde es immer größer: Wir
brachten uns gegenseitig Lebensmittel,
sahen nacheinander, es gab improvisierte
Freiluftkonzerte, Weinflaschen auf der Tür-
schwelle und stundenlange Telefongesprä-
che. Kleine Akte der Freundlichkeit und
Barmherzigkeit überall, zwischen Freun-
den, Nachbarn und Fremden.
Das Gefühl, Teil einer größeren Gemein-
schaft zu sein, erinnerte mich daran, wie
ich mich als Kind zu Hause auf dem Sofa
gefühlt hatte. Wir sitzen alle im selben Boot
 NATIONAL GEOGRAPHIC
– auf der anderen Straßenseite, der anderen
Seite der Stadt oder der anderen Seite der
Welt. Das war die Botschaft, die ich mit der
Geschichte vermitteln wollte.
Als ich mir Darcys Elternhaus vorstellte,
sah ich vor meinem inneren Auge Stapel von
NATIONAL-GEOGRAPHIC-Heften. In ihrer
selbst auferlegten Isolation während eines
langen, kalten Winters liest Darcy sie alle.
Sie liest von Wikingerschiffen und Forschern
vor der Küste Chiles, von Pablo Neruda und
dem leuchtenden Quetzal-Vogel. In diesen
Geschichten findet sie neue Orientierung
und Verbindung zur Außenwelt.
Eine der letzten Geschichten, die sie
liest, handelt von Djenné, einer Stadt in
Mali. Deren Bewohner kommen jedes
Jahr vor der Regenzeit zusammen, um die
Große Moschee, die um 1200 aus sonnen-
getrockneten Lehmziegeln erbaut wurde,
neu zu verputzen und zu reparieren, wohl
wissend, dass sie das im nächsten Jahr wie-
der tun müssen. Es ist ein Akt der Erneue-
rung, eine Aufgabe, die von Einzelnen zum
Wohl der Gemeinschaft übernommen wird.
„Architektur ist sowohl ein Verb als auch
ein Substantiv“ in Djenné, heißt es in der
Bildunterschrift. Dasselbe gilt für Begriffe
wie Zusammenleben, Verbinden, Erleben
und Lieben.
DA R C Y WAG T S I C H aus dem Haus, um ihre
Trauer zu überwinden und wieder mit Men-
schen zusammenzukommen. Sie begegnet
einer rüstigen Witwe, die nicht mehr im
Altersheim bleiben will, einem Vater von
drei Söhnen, der in seinem Garten einen
Spielplatz für die Nachbarschaft bauen will,
einem jungen Polizisten, der die Besitze-
rin einer Drohne aufspürt, die ständig über
Darcys Haus kreist. Einer seltsamer und
wunderbarer als der andere. Im Lauf des
Buches wird Darcy klar, dass sie nicht allein
ihre Trauer überwinden und zu sich selbst
finden kann – sie braucht die Verbindung
zu den Menschen um sie herum.
SEITE.27
Ich kletterte aus
meinem Fenster
auf das steile Dach
und SCHOB MICH
EMPOR zu einem
flacheren Stück,
wo ich die Sterne
sehen konnte. Ich
fragte mich: Wohin
werde ich gehen?
Wen werde ich
kennenlernen? Wer
möchte ich sein?
Unser Zuhause bleibt immer ein Teil von
uns. Egal, wie lange wir anderswo gelebt
haben oder seit wann wir das Haus, den
Ort oder die Stadt das letzte Mal betreten
haben. Ich klettere nicht mehr auf das
Dach, um die Sterne zu sehen. Aber ich
stelle mir immer noch Fragen über mich
selbst und meinen Platz in der Welt. Die
nie endende, frustrierende, aber auch
schöne Suche nach uns selbst und unse-
rem Platz in der Welt ist der Grund, warum
ich schreibe. Wer sich eine Vorstellung
vom Leben anderer macht, kann sich so
auch für sich selbst ein reicheres und
erfüllteres Leben ausmalen. j
Die Autorin Tara Conklin lebt in Seattle. Auf
Deutsch ist ihr Roman „Die letzten Romanti-
ker“ erschienen (Harper Collins, 22 Euro).
2024
 REISEN JENSEITS
I H R E R KÜ H N ST E N T RÄUM E

R E I S E N M I T N AT I O N A L G E O G R A P H I C
Jede National Geographic Expeditions Reise beruht auf dem Erbe unserer
Forschungen, dem Versprechen authentischer Reiseerlebnisse und dem Streben,
der Welt etwas zurückzugeben. Mit einzigartigen Abenteuern, die Menschen
dazu inspirieren sollen, unseren Planeten zu schützen, sowie exklusivem Zugang
zu aktiven Forschungsstätten von National Geographic können Reisende ihr
Wissen über die Welt vertiefen und erweitern.

© 2024 Nation al Geographic Partners, LLC. National Geographic EXPEDITIONS und das Gelbe Portal sind Marken
der National Geographic Society, die unter Lizenzen verwendet werden.
 REP ORTAGEN im APRIL

30 WUNDERSAME PILZE
62 BESTE REISEZIELE
88 ZUG DER SCHREIKRANICHE
114 MOSAIKFUND IN ISRAEL

TAUCHEN MIT
GIGANTEN
Von März bis Juli können
Taucher die Walhaie
am Ningaloo-Riff
in Westaustralien
FOTO: KILIII YÜYAN

beobachten. Seite 70

APRIL SEITE.29 2024

 Die
wunder-
same
Welt der
Pilze
SIE SIEDELN IN
U N S E R E M KÖ R P E R ,
R E I S E N U M D I E W E LT
U N D S I N D E I N W E I T­
H I N U N T E R S C H ÄT Z T E R
R O H S T O F F. Z E I T, DA S S
WIR UNSERE PILZIGEN
L E B E N S G E FÄ H RT E N
BESSER KENNENLERNEN
U N D U N S I H R E FÄ H I G ­
KEITEN NUTZBAR
M AC H E N .
FOTO: AGORASTOS PAPATSANIS

30
 H E R I C I UM C L AT H RO I D E S
Der Ästige Stachelbart kann
ungemein dekorativ wirken. Hier
schmücken seine kaskadenförmigen
Fruchtkörper einen Baum auf der
griechischen Halbinsel Chalkidiki.
FOTO: AGORASTOS PAPATSANIS
 M AC RO L E P I O TA
P RO C E R A
Riesenschirmpilze –
hier in einem abendlich
beleuchteten Kiefern-
wald – sind essbar.
Gleichwohl ist bei der
Pilzsuche Vorsicht
geboten, denn die Art
ist leicht mit ähnlich
aussehenden Arten wie
dem giftigen Grünen
Knollenblätterpilz zu
verwechseln.
 CALOSCYPHA FULGENS
Leuchtende Prachtbecher,
wie diese orangefarbenen
FOTO: AGORASTOS PAPATSANIS

Pilze treffend genannt

werden, wachsen auf
dem Boden oder im Moos
unter Nadelbäumen. Die
Aufnahme entstand am
Olymp in Griechenland.
Fulgens ist lateinisch für
„glänzend, strahlend“.
FLORA. FAUNA. FUNGA.
LANGE ZEIT FRISTETEN PILZE ein Schatten-
dasein, ehe Botaniker sie als eigenständi-
ges, drittes großes Reich der mehrzelligen
Organismen neben der Tier- und der Pflan-
zenwelt anerkannten. Ihre Würdigung war
mehr als angemessen: Ohne Pilze würde
auf der Erde ein Großteil des Lebens, wie
wir es kennen, nicht existieren.
Fossilienfunde deuten darauf hin, dass
Pilze schon vor gut 400 Millionen Jahren,
als Pflanzen begannen, das Land zu besie-
deln, dabei behilflich waren, die benötig-
ten Nährstoffe aus dem Boden zu lösen.
Noch heute gehen bis zu 90 Prozent aller
Landpflanzen eine „Lebensgemeinschaft“
mit Mykorrhizapilzen ein. Die Symbiose ist
für beide Seiten von Vorteil: Der Pilz lebt
im feinen Wurzelsystem, erhält einen Teil
des Zuckers, den die Pflanze durch Foto-
synthese herstellt, und versorgt seinerseits
die Pflanze mit Mineralien, Stickstoff- und
Phosphorverbindungen sowie Wasser.
Überhaupt spielen Pilze eine heraus-
ragende Rolle im Stoffkreislauf der Natur.
Von der Hefe über den Schimmelpilz bis
zum Champignon – ihre bemerkenswerte
Vielfalt übertrifft die der Pflanzen und
Wirbeltiere bei Weitem. Experten schät-
zen, dass rund fünf Millionen verschie-
dene Pilzarten existieren, von denen aber
90 Prozent oder sogar mehr bisher noch
gar nicht erfasst worden sind.
Pilze sind überall, in der Erde, in der
Luft, in unserem Körper. Ihr Leben führen
sie weitgehend im Verborgenen. Warum sie
so wichtig sind, um Ökosysteme im Gleich-
gewicht zu halten, und wie genau sie das
anstellen, darüber können Wissenschaftler
bisher nur vage Vermutungen anstellen.
„Pilze führen uns vor, dass Leben auch
dann beginnt, wenn ein anderes endet“,
sagt Giuliana Furci, National Geographic
Explorer und Mykologin an der Har-
vard University, über einen besonders
35
faszinierenden Beitrag der Pilze im Zy­
klus des Lebens. Eine wachsende Zahl von
Mykologen fordert dementsprechend, die
Gesamtheit aller Pilze eines Gebietes offi-
ziell als „Funga“ zu bezeichnen – analog
zu „Flora“ und „Fauna“ – und ihr den glei-
chen Schutz und die gleichen Forschungs-
mittel angedeihen zu lassen. Die National
Geographic Society hat den Terminus
unlängst in ihre Definition von wildlife
aufgenommen, auch mit dem Ziel, mehr
Möglichkeiten für Explorer und ihre For-
schungsprojekte zu schaffen.
Als Gründerin der Forschungsorgani-
sation Fungi Foundation setzt sich Furci
außerdem dafür ein, Pilze künftig stärker
in politische Entscheidungen zum Natur-
schutz einzubeziehen. Die ersten Ent-
scheidungsträger auf nationaler Ebene
ebnen dafür bereits den Weg, darunter das
mexikanische Sekretariat für Umwelt und
Natürliche Ressourcen, die Nationale Bio-
bank Thailands und das italienische Insti-
tut für Umweltschutz und Forschung. Sie
folgen damit den Forderungen der Welt-
naturschutzunion IUCN.
Es tut sich also einiges. Zur wachsenden
Wertschätzung trägt sicher auch bei, dass
Pilz-Koryphäen wie Paul Stamets, der am
erfolgreichen Dokumentarfilm „Fantasti-
sche Pilze“ (2019) mitwirkte, und Merlin
Sheldrake, Autor des Bestsellers „Verwobe-
nes Leben“ (2020), es verstehen, selbst Laien
für diese geheimnisvolle Welt zu begeistern.
Mit unserem Titelthema schenken auch
wir Pilzen mehr Beachtung. Von invasi-
ven Arten, die Wege aufzeigen, wie man
in einer sich wandelnden Welt zurecht-
kommt, über das „Mykobiom“ im mensch-
lichen Körper, das Forschern Aufschluss
über die Ausbreitung von Krebs geben
könnte, bis zur Einsatzfähigkeit des faden-
förmigen Mycelgeflechts für Textilien:
„Funga“ gehört die Zukunft. —NICK MARTIN
 L AC C A R I A
A M E T H YST I N A
Der faszinierend
gefärbte Hut des
Violetten Lack-
trichterlings lenkt
davon ab, dass diese
Schönheit dazu
neigt, große Men-
gen giftiges Arsen
anzureichern.

36
 Erstes
Kapitel

Der
blinde
Passagier
E I N G E S C H L E P P T E P I L Z E E RW E I S E N
S I C H A L S E N O R M A N PA S S U N G S ­
FÄ H I G . W E LC H E F O LG E N
H AT I H R E V E R B R E I T U N G F Ü R
DA S N E U E Ö KO SYS T E M ?

Text
SARAH GIBBENS

Fotos
AGORASTOS PAPATSANIS

37
 A
gerade Pilze auf
A N N E P R I N G L E I N S P I Z I E RT E
einem Feld nördlich von San Francisco, als
sie sich in einer misslichen Lage wiederfand.
Sie stand mitten in einem Meer von einem der
giftigsten Pilze der Welt: Amanita phalloides,
dem Grünen Knollenblätterpilz, der vielsa-
gend auch „Grüner Mörder“ genannt wird.
„Ich konnte keinen Schritt tun, ohne drauf-
zutreten“, sagt Pringle, „ein Tal des Todes.“
Das ist 20 Jahren her. Damals forschte OUDEMANSIELLA
Pringle, heute Mykologin an der University of MU C I DA

Wisconsin-Madison, in Berkeley. Es kursierte Buchen-Schleim­

das Gerücht, dass der Giftpilz trotz seiner
weiten Verbreitung nicht von der kaliforni-
schen Goldküste stammte. Sechs Jahre und
etliche DNA-Sequenzierungen später gelang
Pringle der Nachweis, dass der Grüne Knollen-
blätterpilz tatsächlich ein Eindringling war –
eine Pilzart, die ursprünglich wohl in Europa
beheimatet war.
Grüne Knollenblätterpilze sind weltweit für
die meisten Pilzvergiftungen verantwortlich.
Der Wulstling, durchschnittlich zwölf Zen-
timeter hoch mit einem zumeist blass gelb-
grünen Hut, kann leicht mit einer essbaren
Art verwechselt werden. Seine starken Toxine
greifen den menschlichen Körper bereits
sechs Stunden nach dem Verzehr an und ver-
ursachen zunächst heftige Brechdurchfälle,
ehe die Phase der schweren Leberschädigung
beginnt. Immer wieder sterben Menschen
nach dem Verzehr auch nur von Teilen der
Fruchtkörper, zuletzt traf es im August 2023
drei Menschen in Australien.
Grüne Knollenblätterpilze sind Mykorrhiza-
pilze, aus dem Griechischen mykes für Pilz und
rhiza für Wurzel. Verborgen in der Erde bilden
rüblinge wie die hier
abgebildeten, die
eine Buche auf dem
Olymp „überragen“,
werden zwischen
zweieinhalb und acht
Zentimeter groß.
sie ein Gewebe aus feinsten Zellfäden, den
Hyphen, die den Boden durchdringen sowie
die Wurzeln zahlreicher Bäume umwach-
sen und miteinander verknüpfen. Zwischen
den Fäden fließen elektrische Impulse, und
die Symbiosepartner verständigen sich über
chemische Botenstoffe.
Das äußerst komplexe Netzwerk, das Mycel,
fasziniert und beunruhigt Wissenschaftler
gleichermaßen. Wir wüssten noch viel zu
wenig über das Pilzreich, das alle Kontinente
durchzieht, sagt Pringle, und darüber, was
genau vonstatten geht, wenn die Netzwerke
neue Synapsen bilden. Seit unsere Welt sich
zunehmend vernetzt, verbreiten sich auch

38
vermehrt Pilze rund um den Globus. Meist
werden sie mit importierten Pflanzen einge-
schleppt und ihr Sporenpulver über Hunderte
Kilometer mit dem Wind davongetragen. Als
Folge des Klimawandels keimen sie nun auch
in Ökosystemen aus, die früher zu kalt und zu
trocken waren.
PILZE SIND EINE verborgene
P Dimension unserer Welt,
die wir gerade erst verste-
hen lernen. Auf den ersten
Blick gedeihen Pilze so wie
Pflanzen im Boden und
bilden ihre Fruchtkörper auf Wiesen und im
39
Wald. Andere Merkmale sind wiederum gar
nicht pflanzenähnlich. Während die Zell-
wände von Pflanzen überwiegend aus Zellu-
lose bestehen, enthalten Pilzzellwände Chitin,
einen Stoff, der auch im Exoskelett von Insek-
ten und Krebstieren vorkommt.
Pilze sind zudem heterotroph, das heißt,
sie nutzen ebenso wie Tiere fremde Biomasse
als Nahrungsquelle. Entweder zersetzen sie
zum Beispiel Holz und abgestorbene Pflan-
zenreste, um Energie zu gewinnen, oder sie
hängen sich an eine Pflanze, ein Tier oder
einen anderen Pilz als Parasit oder als Sym-
biont. Ohne Pilze würden sich tote Pflanzen,
Pilzfruchtkörper und Tierkadaver häufen,
und die meisten Bäume hätten es schwer,
an essenzielle Nährstoffe zu kommen. Nach
heutiger Kenntnis sind die Pilze näher mit
den Tieren als mit den Pflanzen verwandt,
bilden aber eine Gruppe für sich.
Seit einer Milliarde Jahren haben sich Pilze
entwickelt, um in bestimmten Umgebungen
zu leben, zuweilen in Partnerschaft mit nur
einer anderen Art. Dutzende oder gar Tau-
sende Kilometer weit von ihrem ursprüng-
lichen Verbreitungsgebiet entfernt, können
diese komplexen Beziehungen jedoch völlig
aus dem Ruder laufen. „Bei Pilzpathogenen
kann das verheerende Folgen haben“, sagt
Stephen Parnell, Epidemiologe an der Uni-
versity of Warwick, der die Ausbreitung von
Pflanzenkrankheiten modelliert.
Vielfältige Vermehrungsstrategien helfen
Pilzen beim Überleben. Sporen verschiedener
Arten, die durch die Luft transportiert wer-
den, können sich in einem neuen Lebensraum
vermischen; die Fäden, die ihre unterirdi-
schen Netzwerke bilden, können miteinander
verwachsen. Einige Pilze können sich auch
ungeschlechtlich fortpflanzen.
In einer Zeit, in der sich Klima und Natur
in Rekordgeschwindigkeit verändern, so
Parnell, machen diese Fortpflanzungseigen-
schaften die Pilze einzigartig – und beun-
ruhigend anpassungsfähig. Unaufhaltsam
können sich fremde Pilze in neuen Umge-
bungen ausbreiten und die Topografie der
Umgebung dramatisch verändern.
Amerikanische Edelkastanien waren einst
die dominanten Giganten in den Appalachen.
Anfang des 20. Jahrhunderts landete jedoch
der in Ostasien beheimatete Cryphonectria
parasitica auf amerikanischem Boden. Der
Pilz verursacht Kastanienrindenkrebs und
hat innerhalb von 100 Jahren um die vier
Milliarden Bäume vernichtet. Ein anderer
Pilz, als Chytridpilz bekannt, rafft weltweit
Frösche und andere Amphibien dahin. Man
nimmt an, dass die Pilzlinie auf der Koreani-
schen Halbinsel entstanden ist. Durch den
Handel mit Amphibien hat er sich im Lauf
der letzten 150 Jahre rund um den Globus
verbreitet und steht mit dem Rückgang von
40
mindestens 500 Amphibienarten in Verbin-
dung. „Wir bewegen biologisches Material
binnen weniger Stunden über Kontinente
hinweg, die Jahrmillionen getrennt waren“,
sagt Ben Scheele, Ökologe an der Australian
National University. „Wir haben ein dysfunk-
tionales neues Pangäa erschaffen.“
I M V E RGA N G E N E N H E R B ST
I
sammelte Pringle mehrere
Hundert Grüne Knollen-
blätterpilze in Großbritan-
nien, Ungarn, Frankreich
und Polen. Die Proben
könnten den Wissenschaftlern helfen zu ver-
stehen, warum die Pilze in bestimmten Öko-
systemen besonders gut gedeihen. Andere
Forscher suchen nach einem Fressfeind oder
Pathogen, den sie replizieren können – man
nennt die Methode biologische Kontrolle.
Das wirksamste Mittel ist die Vorbeugung:
die Überwachung der Einfuhr fremder Arten
und die Untersuchung von Importen auf
Pilze. Die Bekämpfung eingeschleppter Arten
kann nämlich höchst aufwendig werden. Um
die Amerikanische Kastanie zu retten, arbei-
ten Wissenschaftler an Zuchtprojekten, die
auch umstrittene Genmanipulationen be­­
inhalten. Und während einzelne Frösche
geheilt werden können, ist es praktisch
unmöglich, einen einmal eingeschleppten
Pilz wieder auszurotten.
Immerhin haben neue Erkenntnisse da­­
rüber, wie der Grüne Knollenblätterpilz sein
Gift produziert, den Weg für ein mögliches
Gegenmittel geebnet. Einige Start-ups und
gemeinnützige Organisationen entwickeln
aktuell Lösungen, um Pilzen zu helfen, uns zu
helfen. Simmons zufolge gilt es, den Wettlauf
gegen die Zeit zu gewinnen – für Mensch und
Pilz gleichermaßen. „Wir sind dabei, Entde-
ckungen zu machen, die uns in vielerlei Hin-
sicht nützlich sein könnten, zum Beispiel bei
der Herstellung von Biokraftstoffen oder in
der Medizin“, sagt Simmons. Was heute unter
Schutz gestellt werde, könne eines Tages zur
Lösung ungeahnter, vom Menschen verur-
sachter Probleme beitragen.
 Von Helfern
und Saboteuren
S E I T 4 0 0 M I L L I O N E N Jahren
unterstützen Mykorrhizapilze
das Leben an Land. Im Kampf
gegen den Klimawandel und
seine Folgen könnte ihr Bei-
trag so wichtig werden wie
lange nicht.
Mykorrhizapilze helfen,
mehr Kohlenstoff im Boden
einzulagern, und machen
Pflanzen widerstandsfähi-
ger gegen Dürre und andere
Ex­trembedingungen. Wie
wichtig diese Wurzelpilze
als Kohlenstoffspeicher sind,
hat ein internationales For-
scherteam unlängst in der
Fachzeitschrift Current Bio-
logy berechnet. Demnach
gelangen durch die Pflan-
zen-Pilz-Partnerschaft jährlich
gewaltige 13 Milliarden Ton-
nen Kohlenstoff in den Boden
– das ist mehr als ein Drittel
der jährlichen Treibhausgas-
Emissionen, die der Mensch
durch fossile Brennstoffe
verursacht.
Das Autorenteam wies in
dem Zusammenhang auch
auf die Bedeutung dieser
Wurzelpilze für die Land-
wirtschaft hin. Überweidung,
Abholzung und intensive
Landwirtschaft setzen den
Böden weltweit zu. Die Welt-
ernährungsorganisation
warnt, dass bis zum Jahr 2050
rund 90 Prozent der landwirt-
schaftlich nutzbaren Böden
degradiert sein könnten.
Gerade auf trockenen
Flächen könnte Mykorrhiza­
pilzen künftig eine Schlüs-
selrolle zufallen: Mit ihrem
Mycel durchdringen sie
den Boden bis in den letz-
ten Winkel, verhindern so
WÄ H R E N D M Y KO R R H I Z A-
PILZE ZUM KLIMASCHUTZ
BEITRAGEN, SCHAFFEN
S C H A D P I L Z E Z U S ÄT Z L I C H E
PROBLEME FÜR DIE
L A N D W I R T S C H A F T.
eine fortschreitende Erosion
und verbessern die Boden-
struktur. Vor allem sorgen
sie dafür, dass ihrer Part-
nerpflanze noch das letzte
Tröpfchen Feuchtigkeit zur
Verfügung steht.
Während Mykorrhizapilze
also einen Beitrag zum Klima-
schutz leisten, stellen Pilz-
schädlinge eine zusätzliche
Bedrohung für die Landwirt-
schaft dar.
Pilze wachsen gut, wenn
es feucht und warm ist, auch
auf Nutzpflanzen. Unter zu­-
künftigen Klimabedingungen
dürfte dies problematisch
werden. Schon heute vernich-
ten Schadpilze weltweit Nah-
rungspflanzen, die bis zu vier
Milliarden Menschen ernäh-
ren könnten. Betroffen sind
alle wichtigen Nutzpflanzen,
von Reis, Weizen und Mais bis
zu Soja und Kartoffeln, wobei
die parasitären Pilze gerade
in Monokulturen ideale Brut-
stätten finden. Der Trend
wird sich durch die Klima­
erwärmung weiter verschär-
fen – auch in Mitteleuropa. So
wurden in Irland und England
Infektionen mit dem Weizen-
stängelrost beobachtet, die
sonst typischerweise in den
Tropen auftreten.
Den Landwirten bleibt oft
nur noch der Griff zu chemi-
schen Bekämpfungsmitteln.
Doch die meist unspezifi­
schen Breitbandfungizide
vernichten auch die nützli­-
chen Pilze, während die
Schaderreger gleichzeitig
Resistenzen entwickeln. Eine
hohe Stickstoffdüngung
drängt die Mykorrhizapilze
zusätzlich zurück.
Dabei müsste man umge-
kehrt gerade die Mykorrhiza
viel stärker schützen und
sich beim Ackerbau zunutze
machen. „Wir kennen heute
einige Maßnahmen, wie man
Mykorrhizapilze einsetzen
kann, um Erträge zu steigern
und Pflanzen widerstandsfä-
higer zu machen“, sagt Meike
Piepenbring, Professorin für
Mykologie an der Goethe-
Universität Frankfurt am
Main. „Dazu gehören neue
Anbaumethoden, die das
Netz der Hyphen der Mykor-
rhizapilze im Boden nicht
zerreißen, wie es beim Pflü-
gen der Fall ist.“ Für manche
Nutzpflanzen würden die
Pilze auch schon gezielt für
eine Stärkung der Pflanzen
in den Boden eingebracht.
In diese Richtung ging im
vergangenen Jahr einer der
ersten groß angelegten Feld­-
versuche von Schweizer For-
schern. Durch die Beimpfung
von 54 Maisfeldern mit My­­
kor­­rhizapilzen konnten die
Erträge ohne zusätzliche
Düngung und Pflanzenschutz­-
mittel gehalten oder sogar
gesteigert werden – auf
ei­nem Viertel der Felder
sorgten die Pilze für einen bis
zu 40 Prozent höheren Mais­
ertrag. Die Impfung hatte
dann gut funktioniert, wenn
viele pilzliche Krankheits-
erreger im Boden lagerten.
EILEEN STILLER
 P LU T E U S C E RV I N U S
Das Sporenpulver
eines Rehbraunen
Dach­pilzes tanzt unter
seinen Lamellen in
der Luft und läutet
die nächste Genera-
tion und den nächsten
Wachstumszyklus ein.
Die Aufnahme entstand
in Griechenland auf
dem Olymp.
 b

c d

Zweites Kapitel

Verborgenes Reich
a. Xylaria polymorpha; b. Termitomyces reticulatus; c. Armillaria mellea;
d. Cantharellus cibarius; e. Leucoagaricus americanus;
f. Cordyceps militaris; g. Auricularia auricula-judae; h. Morchella esculenta

44
 e

g h

Pilze sind mit den Tieren – damit auch mit uns Menschen –
enger verwandt als mit den Pflanzen. Im Stammbaum
des Lebens bilden sie ein eigenes Reich. Trotzdem weiß
die Wissenschaft erst wenig über sie.
Grafik J A S O N T R E A T
Illustrationen K A T Y W I E D E M A N N

45
Chitin als gemeinsamer Nenner
Das Reich der Pilze umfasst scheinbar unendlich viele
Formen, doch eines haben nahezu alle Arten gemein:
Ihre Zellwände sind mit Chitin verstärkt. Dieser bieg-
same und zugleich feste Naturstoff befindet sich auch
im Exoskelett vieler Insekten, Krebstiere und Spinnen.

Massospora cicadina
befällt den Körper von
Singzikaden und regt
deren Paarungstrieb an, Ustilago maydis, der Erreger
was die Ausbreitung des Maisbeulenbrands, zer-
des pathogenen Pilzes stört Teile von Maispflanzen.
beschleunigt. Die durch den Befall ausge-
lösten Wucherungen gelten
in Mexiko als Delikatesse.

Rhizophagus irregularis
gehört zur Gruppe der ar­­
buskulären Mykorrhizapilze,
die beim Landgang der
Pflanzen vor Jahrmillionen
eine wichtige Rolle spielten.

En
tor

Batrachochytrium dendrobatidis,
rhi

zu Deutsch Chytridpilz, ist ein

zo

aquatischer Pilz, der die Haut von

my

Fröschen befällt und für den Rück-

co

gang von über 500 Amphibienar-

ta

ten verantwortlich gemacht wird. MUCOROMYCOTA

Manche Organismen
haben sich mit Pflanzen
Ol

entwickelt und helfen

pi

bei der Aufnahme von

di
ale

Wasser und Nährstoffen.

s

Die Aphelidea
sind eine Gruppe ZOOPAGOMYCOTA
von einzelligen Meist parasitär an
Parasitoiden, die CHYTRIDIOMYCOTA oder in anderen Pil-
Algen befallen. Die uralten, vor- zen oder Bodentieren
wiegend im Wasser lebend, haben diese
vorkommenden Töpf- Pilze die begeißelten
chen- oder Flagel- Sporen verloren.
latenpilze bilden
M
Bl

on

Sporen aus, die von

as

ob
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Cr

A einer Geißel gescho-

le
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DIE ERSTEN PILZE

yp

Ro ph
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ben werden.
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to eli Die meisten frühen Pilzarten

io

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sind aquatisch. Sie wachsen und

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er vermehren sich mittels einzelner,

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a bisweilen begeißelter Zellen

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a
M

oder fadenartiger Vegetations-

ic
ro

Genetische organe. Als Einzeller sind sie

sp

Verwandtschaft anfällig für Verletzungen.

or
id
ia

Weniger
Entwicklungslinien, die sich weiter oben
auf der Kurve verzweigen, sind jünger,
und miteinander verbundene Gruppen sind
genetisch nahe miteinander verwandt.
 Amanita phalloides, der Grüne
Knollenblätterpilz, ist einer der gif-
tigsten bekannten Pilze und kann
nach dem Verzehr zum Tod führen.
Im Volksmund wird er deshalb bis-
weilen auch „Grüner Mörder“, im
Cantharellus cibarius, die Echten englischen Sprachgebrauch Death
Pfifferlinge, im Volksmund auch Cap („Todeshut“) genannt.
Eierschwämmchen oder Reherl
genannt, leben in Symbiose mit
Bäumen und gehören zu den
beliebtesten Speisepilzen. Phallus impudicus, die Gewöhn-
liche Stinkmorchel, verdankt
Cryptococcus neoformans ihren Namen dem phallusför-
ist ein Krankheitserreger, migen Fruchtkörper und ihrem
der für Menschen mit ge­- Geruch nach Aas. Er lockt Flie-
Puccinia graminis, auch gen an, die Sporen verbreiten.
Getreideschwarzrost schwächtem Immunsystem
genannt, befällt Weizen tödlich sein kann.
und andere Getreide­
arten und kann ganze
Felder zerstören.

Mehrheit der Pilze

BASIDIOMYCOTA Zur Klasse Agarico­
Auch als Ständerpilze mycetes gehören viele
bekannt, bilden viele von der heute bekanntes-
ihnen auffällige Frucht­- ten Ständerpilze.
körper mit keulenförmigen
Zellen, an deren Oberfläche
RYA
sich Sporen entwickeln. DIKA
VIELFALT DER MODERNEN PILZE
Die Pilze der Unterreichs Dikarya
besitzen Hyphen mit Querwänden in
regelmäßigen Abständen. Kleine Öff-
nungen darin werden verschlossen,
wenn die Nachbarzelle beschädigt
wurde. Ein großer Teil der Arten bil-
det Fruchtkörper, die Sporen zur Ver-
mehrung und Ausbreitung freisetzen.

Der Stammbaum der Pilze

Mal nützlich, mal giftig: Pilze sind seit einer Milliarde Jahren
unverzichtbar für das Leben auf der Erde. Sie befinden sich in
der Nahrung, die wir essen, in der Luft, die wir atmen. Mehr
als 90 Prozent aller Landpflanzen sind bei der Aufnahme von
Wasser und Nährstoffen auf ihre Hilfe angewiesen. Gleichzeitig
wissen wir kaum etwas über ihr riesiges Reich: Von den schät-
zungsweise mehr als fünf Millionen Pilzarten, die es auf der Erde
gibt, haben Mykologen bisher nur etwa 150 000 klassifiziert.
Saccharomyces cerevisiae,
die Kulturhefe, wird für
Gärungen eingesetzt, für
Hefebrot, mit Milchsäure-
bakterien für Sauerteigbrot
sowie zur Bierherstellung.

Morchella esculenta, die Rund-

morchel, ist ein beliebter Spei-
sepilz, der in Wäldern oder auf
offenen Flächen wächst und
Penicillium ist eine Schimmelpilz-
von Köchen geschätzt wird.
gattung, die organische Stoffe
zersetzt, gegen bakterielle Infek-
tionen eingesetzt werden kann
und Käsen Geschmack verleiht.

Mehrzahl der Flechten

Lecanoromycetes sind
die größte Klasse der
Flechten – Pilze, die in
Symbiose mit Bakte-
rien bzw. Algen leben.
ASCOMYCOTA
Schlauchpilze, so der deutsche
Name, bilden Sporen in schlauch-
förmigen Säcken und vermehren
sich oft ungeschlechtlich. Die Spo-
ren verbreiten sich mithilfe von
Wind und Wasser.

Prototaxites-„Bäume“,
heute ausgestorbene
Organismen, die ver-
mutlich Pilze oder Flech-
ten waren, bildeten einst
große Strukturen mit bis
zu einem Meter Durchmes-
ser und acht Meter Höhe.
Damit waren sie vor etwa
400 Millionen Jahren die
größten landlebenden
Organismen ihrer Zeit.
Entfernte Verwandte
Von der Biologie her sind Pilze näher mit
Tieren verwandt als mit Pflanzen. Beide
gewinnen Energie, indem sie gelöste Mole-
küle absorbieren oder anderweitig aufneh-
men. Ein entscheidender Unterschied: Tiere,
darunter der Mensch, verdauen die Nahrung
im Körperinneren, während Pilze Enzyme
abgeben, um Nährstoffe außerhalb ihres
eigenen Körpers aufzuspalten.
PFLANZEN PILZE
TIE
RE

Letzter Evolutionäre Verwandtschaft

gemeinsamer von Pflanzen, Pilzen
Vorfahre und Tieren
Genetische Vielfalt Genetische Divergenz von Index-Arten
nach durchschnittlicher Proteinähnlichkeit
Die Vielfalt der Pilze ist enorm. So unter- Menschen Mäuse Vögel Fische
scheidet sich beispielsweise Aspergillus
nidulans (produziert Penicilline), von Penicil- 100% 90 80 70 60
lium roqueforti (lässt Blauschimmelkäse rei-
fen) genetisch so stark wie der Mensch vom Aspergillus nidulans Aspergillus Penicillium
Fisch. Und jedes Jahr werden rund 2000 produziert Penicillin terreus roqueforti
produziert wird zur
neue Arten klassifiziert.
cholesterin- Reifung von
senkende Blauschimmel-
Statine käse ver-
Letharia vulpina, die Wolfs- wendet
flechte, diente früher als
Gift gegen Wölfe. Derzeit
wird sie auf ihr medizini-
sches Potenzial untersucht.

Xylaria polymorpha,
Volksname Vielgestal-
tige Holzkeule, ist ein
Schlauchpilz, der Totholz
abbaut. Im Englischen
Chlorociboria, der Grünspan- wird er wegen seiner
becherling, verfärbt Holz blau- schwarzen, fingerarti-
grün; seit Jahrhunderten als gen Fruchtkörper Dead
Farbstoff verwendet, wird er Man’s Fingers genannt.
inzwischen auch auf Heilkräfte
zur Behandlung von Krankhei-
ten wie Osteoporose getestet.

Ambrosiella roeperi geht

eine Symbiose mit dem
Ambrosiakäfer ein. Der Pilz
ernährt den Käfer, der sei-
nerseits den Pilz verbreitet.

Cordyceps ist eine Gattung von

Schlauchpilzen, die parasitisch
von Insekten leben. Sie befallen
Insekten und fressen diese von
innen heraus auf. Manche Arten
werden seit 2000 Jahren in der
chinesischen Medizin verwendet.

Abfallverwerter
Viele Arten in der Klasse der Sor-
dariomycetes gedeihen auf totem
organischem Material (lat. sordes,
Schmutz) wie totem Holz oder Kot.
RECHERCHE: BRANDON SHYPKOWSKI
QUELLEN: TIMOTHY JAMES, UNIVERSITY OF MICHIGAN; ANTONIS ROKAS, VANDERBILT
UNIVERSITY; JASON STAJICH, UNIVERSITY OF CALIFORNIA, RIVERSIDE
P S I L O C Y B E C YA N E S C E N S
Diese kunstvoll ineinan-
der verschlungenen
Pilzfruchtkörper wurden
in einem Studio foto­
grafiert. Der Blauende
Kahlkopf, so der deut-
FOTO: PHYLLIS MA

sche Trivialname, gehört

zu den psychoaktiv
wirkenden Pilzen.
 Drittes
Kapitel

Pilze in
unserem
Korper
WIE DIE MEDIZIN PILZE
ALS HELFER GEGEN
KREBS ENTDECKT UND
DA B E I A U F A LT E S H E I L ­
W I S S E N Z U R Ü C KG R E I F T.

Text
LANGDON COOK

51

V
entdeckten Medizinfor-
VO R Z W E I JA H R E N
scher, dass Krebszellen unerwartete Beglei-
ter hatten: Pilze. Wie es scheint, haften
sich manche Pilze bevorzugt an bestimmte
Tumorarten, wobei sich außerdem ein
Zusammenhang mit der Krankheitsprog-
nose ergab. Fanden die Forscher beispiels-
weise Candida-Hefen bei Dickdarmkrebs, war
eine Metastasierung wahrscheinlicher. Bei
Magentumoren deutete Candida eine höhere
Sterblichkeit der Erkrankten an.
Wie genau dies zusammenhängt, ob also
Pilze die Entstehung von Krebszellen anregen
oder ob Tumoren wiederum die Ansiedlung
von Pilzen begünstigen, erfordert weitere
Forschung. Aber die Erkenntnisse könnten
die Diagnostik von Krebserkrankungen vo­
ranbringen und möglicherweise auch bei
der Therapie helfen. „Anfangs waren wir
verblüfft“, sagt Iliyan Iliev. Der Immunologe
am Forschungszentrum Weill Cornell Medi-
cine in New York ist einer der Forscher, die
die Verbindung zwischen Pilzen und Krebs
herstellten. Neben Candida entdeckte sein
Team mehrere weitere Pilzarten, die mit
Krebs assoziiert werden, etwa Blastomyces
bei Lungen- und Malassezia bei Brustkrebs.
Abgesehen von Pilzinfektionen bringen
viele Menschen Pilze auf andere Weise mit
der Gesundheit in Verbindung. Weltweit
werden sogenannte Heilpilze in unterschied-
lichster Form angeboten, von Tinkturen und
Kapseln bis hin zu Pulvern und Tees – ein
wachsendes Milliardengeschäft. Gleichzeitig
steht die Forschung noch ganz am Anfang.
52
2022 veröffentlichten Wissenschaftler aus
Indien und Belgien eine Übersicht über die
durch Fachleute geprüfte Literatur zum
Thema. Demnach sind mindestens 32 Arten
vielversprechend, aber nur etwa ein Dutzend
wurde bisher klinisch auf ihre potenziellen
therapeutischen Eigenschaften getestet.
Es ist das große Paradoxon der Pilze: Sie
bilden ein geheimnisvolles Reich, das uns
nützen, aber auch schaden kann. Den Unter-
schied herauszufinden und unser Wissen best-
möglich zu nutzen, ist weiterhin eine große
Herausforderung für die Wissenschaftler.
FÜR DEN MENSCHLICHEN
F
Körper sind Pilze, ob gut
oder schlecht, keine Un­­
bekannten. Die Hefen im
Magen, die die Verdauung
regulieren? Sicherlich gut
und nützlich. Fußpilz hingegen? Eher weni-
ger. Zu den Billionen winzig kleiner Mikroben,
die auf und in jedem von uns leben, gehören
Bakterien, Viren und einzellige Protozoen –
allesamt Teil unseres sogenannten Mikro­
bioms. Auch Pilze gehören dazu, aber weil
diese Organismen ganz anders funktionieren,
haben Forscher ihnen kürzlich einen eigenen
Namen gegeben: Mykobiom.
Siew Ng, Direktorin des Microbiota I-Cen-
ter der Chinesischen Universität in Hong-
kong, nennt die Pilzgemeinschaft in unserem
Körper einen „kleinen, aber entscheidenden
Bestandteil“ insbesondere des Magen-Darm-
Mikrobioms. Doch wenngleich Darmpilze wie
Candida und Saccharomyces ausschlaggebend
für unsere Gesundheit sind, werden sie auch
mit Krankheiten in Verbindung gebracht.
Candida beispielsweise kann sich übermäßig
vermehren und Dysbiose verursachen, eine
Störung, die mit vielen Gesundheitsproble-
men, darunter Darmkrebs, assoziiert wird.
Mit anderen Worten: „Gute“ Pilze können allzu
erfolgreich werden, Amok laufen und sich in
„schlechte“ Pilze verwandeln.
Warum besiedeln manche Pilze Tumoren?
Die Forschungsgruppe von Deepak Saxena,
 Mikrobiologe an der New York University, war
die erste, die Pilze bei Bauchspeicheldrüsen-
krebs identifizierte. 2019 stellte sie fest, dass
ein Malassezia-Hefepilz vom Dünndarm in
die Bauchspeicheldrüse wandern und dort
Krebszellen besiedeln kann. Saxena vermu-
tet, dass das Vorhandensein des Pilzes in
der Bauchspeicheldrüse entweder auf eine
Angewandte
Immunsuppression oder eine andere Art von Pilzwissen-
veränderter Umgebung zurückzuführen sein
könnte, die Tumoren mitverursachen. In schaft
Laborversuchen mit Mäusen konnte Saxena
beobachten, dass antimykotische Behandlun-
gen das Tumorwachstum aufhalten.
Laut der Mikrobiologin Ng besitzen tradi-
tionelle Pilzarten wie Reishi und Schmetter-
lingstramete (Trametes versicolor) immun­-
stimulierende Eigenschaften, die die Wirk-
samkeit einer Chemotherapie nachweislich
verstärken. Studien deuten zudem darauf
hin, dass viele Pilzarten pharmakologisch
wirksame Inhaltsstoffe und krebshemmende
Substanzen enthalten, darunter Terpene,
die antientzündlich wirken. Besonders der
Wirkstoff Cordycepin aus dem chinesischen
Raupenpilz (Cordyceps sinensis) kann Tumor-
zellen abtöten – zumindest im Reagenzglas.
Gleichwohl bleibt die Frage, welche Dosie-
rung wirksam ist. Ob, und wenn ja, welche
der Substanzen für eine alleinige Behand-
OPHELIA CHONG aus Los Ange-
lung ausreicht. Wirkungen isolierter Stoffe les ist Künstlerin, Fotografin
im Reagenzglas und bei Versuchstieren lassen und Aktivistin für die Lega-
sich nicht einfach auf den Menschen übertra- lisierung von Psilocybin.
Diese aus Pilzen gewon-
gen. Bislang sind keine pilzbasierten Krebs- nene, halluzinogen wir-
medikamente oder Immunstimulantien in kende Substanz könnte
Deutschland als Arzneimittel zugelassen. Was bei mehreren psychischen
im Umkehrschluss bedeutet, dass jedes frei Leiden einsetzbar sein, ent-
sprechende Forschungen
verkäufliche Mittel auf Pilzbasis auf eigene laufen. Chong züchtet Pilze
Gefahr eingenommen wird. für Kunstprojekte sowie
den medizinischen und kuli-
FOTO: MICHAEL CHRISTOPHER BROWN

narischen Eigengebrauch.
AN EINEM REGNERISCHEN
Dafür spritzt sie Pilzgewebe

A
Tag stapfte Robert Rogers in eine Flüssigkultur aus mit
durch ein schattiges Wald- Honig oder Malzextrakt
vermischtem Wasser (o.).
gebiet in der Nähe von
Port Angeles, Washington.
Begleitet wurde er von
einem Dutzend Pilzsammler, die sich zu

53
 C A N D I DA A L B I C A N S
In dieser rasterelektronen-
mikroskopischen Aufnahme
erkennt man den Soorpilz
(blau-orange gefärbt) und
seine durch Sprossung ent-
standenen Blastokonidien
(gelb). Der Hefepilz besie-
delt häufig den Magen-
Darm-Trakt des Menschen.
Wenn er sich übermäßig
vermehrt, kann er eine
Candidose verursachen.

seiner Führung im Rahmen des jährlichen
Olympic Peninsula Fungi Festival angemeldet
hatten. Rogers zeigte auf einen fächerförmi-
gen, weißfleischigen Pilz auf einem verrotten-
Die meisten gängigen Speisepilze, selbst
die allgegenwärtigen Champignons aus dem
Supermarkt, enthalten Phytonährstoffe, die
sich positiv auf unsere Gesundheit auswir-
SWISS NANOSCIENCE INSTITUTE AN DER UNIVERSITÄT BASEL
FOTO: MARTIN OEGGERLI, UNIVERSITÄTSSPITAL BASEL UND

den Stamm. Die Musterung und der leichte
Schimmer erinnerten an Schmetterlingsflügel.
So sehe eine Schmetterlingstramete in freier
Natur aus, erklärte er der Gruppe.
Rogers ist kein Mediziner, sondern ein
selbst ernannter „klinischer Kräuterkundler“,
der Forschungsergebnisse darüber zusam-
menträgt, wie Pilze in die tägliche Gesund-
heitsvorsorge integriert werden können,
nicht zuletzt als Autor eines Bestimmungs-
buchs für Pilze und Flechten mit mutmaßlich
heilender Wirkung.
ken. Dabei gehen Heilpilze wie die Schmetter-
lingstramete beispielsweise Krebszellen nicht
direkt an, betont Rogers. Vielmehr „stimulie-
ren die Inhaltsstoffe das Immunsystem, die
Aufgabe selbst zu übernehmen.“
Konkret, erklärt Ng, habe sich gezeigt, dass
die Schmetterlingstramete die Produktion
von Zytokinen steigere, die die Zellreaktionen
des Körpers bei der Bekämpfung von Krank-
heitserregern oder Tumoren unterstützen.
Ein chemischer Bestandteil des Pilzes, der
seit Jahrhunderten in der traditionellen

54
Medizin verwendet wird, wurde bisher in
rund 50 klinischen Studien untersucht.
Was den Zusammenhang zwischen Pilzen
und Krebszellen betrifft, räumt Immunologe
Iliev ein, dass er ihn anfangs für „biologisch
unwahrscheinlich“ gehalten habe. Inzwischen
sei er „vorsichtig optimistisch“, dass wir dem
Mykobiom weitere Geheimnisse entlocken.
In einer aktuellen Studie haben Forscher
der New York University, zu denen auch
Mikrobiologe Saxena gehört, herausgefun-
den, dass es 20 verschiedene Pilzarten gibt,
die eines Tages nützlich sein könnten, um
zwischen Menschen mit und ohne Krebs-
erkrankung zu unterscheiden. Damit rückt
die Vorstellung in den Bereich des Möglichen,
55
dass eine frühzeitige Untersuchung auf
Pilze den Weg zu einer besseren Diagnose
und Behandlung ebnen könnte. Bis dahin
setzen einzelne Mediziner Pilze ergänzend
zur schulmedizinischen Therapie ein, zum
Beispiel, wenn Krebspatienten eine Chemo-
therapie schlecht vertragen.
Vergleichen wir die möglichen Fortschritte
mit der Entwicklung des Penicillins: Das bahn-
brechende pilzbasierte Antibiotikum wurde
vor knapp hundert Jahren rein zufällig ent-
deckt, nachdem ein Arzt in einer Petrischale
mit Staphylococcus-Bakterien Schimmelpilze
wachsen sah. Wer weiß, welche weiteren
Zusammenhänge wir finden werden, jetzt,
wo wir angefangen haben zu suchen?
 GA N O D E R M A S E S S I L E
Diese Lackporling-Art
haftet im Nordosten der
USA auf Eichen, Ahorn-
bäumen und Buchen.
Die Makroaufnahme von
in Kultur gewachsenen
Pilzstrukturen entstand
im Fotostudio.
 Viertes
Kapitel

Myko-
Mode ist die
Zukunft
E I N B L I C K E I N D I E W E LT
DER MODE, IN DER MIT
N A C H H A LT I G P R O D U Z I E RT E N
T E X T I L I E N E I N K U LT U R ­
WA N D E L A U F K E I M T.

Text
GIRI NATHAN

Fotos
PHYLLIS MA

57

I
IN RUMÄNIEN ÜBT EINE immer kleiner werdende
Zahl von Kunsthandwerkern ein vermutlich
jahrhundertealtes Gewerbe aus: Sie suchen
im Wald nach Zunderschwämmen, die an
Laubbäumen wachsen und mehrere Zenti-
meter dicke konsolenförmige Fruchtkörper
ausbilden. Die Sammler lösen den Pilz vom
Stamm und schneiden ihn der Länge nach
in dünne Scheiben. Die hell- bis rostbraunen
Scheiben werden dann zu breiten, filzähn-
lichen Platten gehämmert und gedehnt, aus
denen sich Hüte, Taschen, Schmuck und
Ornamente fertigen lassen.
Diese Produkte sind schön und umwelt-
freundlich, auch wenn das Material umständ-
lich zu beschaffen ist und die Herstellung
mühsam. Ähnlich stellten schon um 1900
Tlingit-Handwerker im heutigen US-Bun-
desstaat Alaska Beutel aus einem robusten,
mattenartigen Material her. Laut einer Stu-
die, die 2021 in der Fachzeitschrift Mycolo-
gia erschien, wurden diese „Matten“ aus
Lärchenschwamm hergestellt, einem wider-
standsfähigen Baumpilz, der in den Wäl-
dern des pazifischen Nordwestens heimisch
ist. Auch hier sammelte man den Rohstoff
in freier Natur, es gab keine Kultur für eine
Massenproduktion.
Heute leistet das Biotechnologieunterneh-
men MycoWorks in einer 12 600 Quadratmeter
großen Anlage in Union, South Carolina, Pio-
nierarbeit für einen gezielteren und skalier-
baren Ansatz. Unter schummrig rotem Licht,
58
das an die Beleuchtung einer Dunkelkammer
erinnert, stapeln sich Metallbleche zu hohen
Säulen. Roboterarme fahren umher und ent-
nehmen einzelne Exemplare, die dann von
einem kleinen Team von Technikern in steri-
len Anzügen genau inspiziert werden.
Auf jedem Blech wird Mycel gezüchtet,
ein Geflecht aus feinen Fäden, etwa dem
Wurzelsystem einer Pflanze entsprechend.
Das Mycel ist ein strukturelles Wunderwerk
– weich, elastisch, dicht und fest zugleich –
und damit ein hervorragender Lederersatz.
Jüngste Fortschritte in der Biotechnologie
haben eine kleine Industrie für Mykotextilien
entstehen lassen.
Die ersten Ergebnisse scheinen ethisch
vertretbarer, ökologisch nachhaltiger und
effizienter zu sein als die milliardenschwere
traditionelle Tierlederindustrie. MycoWorks
ist dabei eines von vielen innovativen Unter-
nehmen, die darauf setzen, dass das wach-
sende Wissen über Mycel die Grenzen von
Mode und Design neu definieren kann.
Mitgründer von
P H I L RO S S ,
P MycoWorks, experimen-
tiert seit mehr als 30 Jahren
mit Ganoderma (Trivial-
name: Lackporling), einer
Pilzgattung, die in freier
Natur ähnlich wie Zunderschwamm wächst.
In seiner Wohnung in San Francisco lernte der
damalige Künstler, den Pilz in alle möglichen
Formen zu bringen: 2009 baute er ein „Tee-
haus“ aus Ziegeln, die einzeln entnommen und
zu Tee aufgebrüht werden konnten.
Anfangs dachte Ross an die Produktion
pilzbasierter Baumaterialien, doch die
Anfrage eines Schuhherstellers bewog ihn
und seine Mitgründerin Sophia Wang, sich
auf Mode zu konzentrieren. Das Material, das
MycoWorks heute herstellt, heißt Reishi, in
Anlehnung an das japanische Wort für Gano-
derma, und aus den Produkten von Myco-
Works werden seit einigen Jahren luxuriöse
Designertaschen für Hermès und hochwer-
tige Kissen für Ligne Roset gefertigt.
 Am Anfang des relativ einfachen und
energiesparenden Prozesses stehen land-
und forstwirtschaftliche Nebenprodukte
wie Sägemehl und Kleie, die erhitzt werden,
um jedwedes eventuell noch vorhandene mi­­-
kro­bielle Leben, das dem Pilz Konkurrenz
machen könnte, abzutöten. Nach der Ste-
rilisation kommt das Substrat in verschie-
dene Formen. Dann erfolgt die Zugabe von
Ganoderma, der die Biomasse verdaut und
durchwächst.
In einigen Fällen wird ein Gewebe hin-
zugefügt, das dem Mycel als Gerüst dient,
wodurch ein Verbundmaterial entsteht.
Zuletzt wird die Mycelschicht vom Säge-
mehlblock abgezogen, das Wachstum kommt
zum Stillstand. Schließlich kann das Material
„gegerbt“ werden.
OBWOHL MYCEL IN größerem
O Maßstab maschinell ge-
züchtet werden kann, ver-
wendet Aniela Hoitink,
Gründerin des niederlän-
dischen Modeunterneh-
mens Neffa (kurz für New Fashion Factory),
ein Flüssigkulturverfahren, um daraus später
Die
Kunst der
Pilzledermacher
FOTO: JESSE GREEN
59
Taschen und sogar Lampenschirme herzu-
stellen. Neffa verwendet Bioreaktortanks – im
Grunde ein Gärsystem, das dem in einer Brau-
erei ähnelt –, um eine Mycelaufschlämmung
zu gewinnen. Der Pilzbrei wird nach dem
Abseihen in eine Form gegossen und lässt sich
bei der Trocknung in nahezu jede gewünschte
Kontur bringen.
„Man kann direkt vom Produkt ausgehend
entwerfen und nicht so sehr vom Material“,
erklärt Aniela Hoitink, während sie das glän-
zend schwarze Material einer kleinen Handta-
sche biegt und zieht. Optisch liegt es irgendwo
zwischen Plastik und Leder und erinnert fast
ein wenig an Lakritze.
Das einfache Verfahren ermöglicht Neffa
eine große Vielseitigkeit bei minimalem Auf-
wand. Am wichtigsten, so Hoitink, sei es, dass
das Flüssigkulturverfahren die Freiheit biete,
mit hochspekulativen Ideen zu experimen-
tieren. „Da es sich um eine Aufschlämmung
handelt, kann man Zutaten relativ einfach
hinzufügen“, sagt sie. Als nächsten Schritt für
ihr Unternehmen plant sie, den Materialien
Duftstoffe beizumischen oder auch Pflege-
substanzen, die gegen Hauterkrankungen wie
Schuppenflechte helfen.
F Ü R D A S PAT E N T I E R T E lederartige
Material, das MycoWorks aus Gano-
derma züchtet, werden die wurzel-
ähnlichen Mycelfäden des Pilzes zur
Ausbreitung angeregt. In der Natur
vermehrt sich ein Mycel, wenn es das
Ende seiner Nahrungsquelle erreicht.
Durch ein Zusammenspiel von Tem-
peratur, Licht und Luftfeuchtigkeit
lässt sich das Wachstum des Mycels
so steuern, dass die gewünschte
Form, Größe und Textur entsteht.
 Doch das ist nur einer der Punkte, in denen
sich Pilzprodukte von herkömmlichem Leder
unterscheiden. Die meisten Unternehmen
achten auch auf den ökologischen Fußabdruck
und den gesamten Lebenszyklus ihrer Pro-
dukte. So ist beispielsweise das Reishi-Leder
von MycoWorks vollständig biologisch abbau-
bar, sodass ein altes Paar Schuhe in Zukunft
vielleicht einfach kompostiert werden kann.
WÄ H R E N D G R O S S E Unter-
W nehmen darauf hoffen,
mithilfe von Pilzen völlig
neue umweltfreundliche
Materialien in großem Stil
herstellen zu können, loten
unabhängige Designer Möglichkeiten aus, die
bereits vorhandenen Berge von Altkleidern
abzubauen beziehungsweise umzuarbeiten.
Die New Yorker Designerin Helena Elston
studierte Mode in London, als sie eine zeit-
gemäße Antwort auf den weltweit wachsen-
den Textilmüll fand. Sie nimmt heute ein
ausrangiertes Kleidungsstück oder näht aus
Stoffresten ein neues, sterilisiert es und gibt
60
dann Mycel darauf. In den folgenden Mona-
ten bahnt sich das Mycel seinen Weg durch
den Stoff. Manchmal frisst es selektiv an den
Naturfasern und ignoriert die synthetischen
Fasern. Manchmal verändert es einen Farb-
stoff auf verblüffende Weise. „Die schönsten
Stücke entstanden, als ich mich völlig raus-
hielt“, erzählt Elston.
Maggie Paxton aus New York, die beim
Sammeln von Pilzen gleich auch immer
nach neuartigen Pigmenten sucht, färbt für
das Modehaus Coach Seidenkleider mit Pilz-
farbstoffen. Kürzlich stellte sie erstaunt fest,
dass der Farbstoff, der beim Kochen von Kar-
toffelboviste entsteht, ihrer Seide das „ent-
zückendste Blütenrosa“ verlieh.
Viele Designer erstaunt das Verhalten
der Pilze offenbar immer noch derart, dass
sie darüber sprechen, als hätten sie es mit
außerirdischen Wesen zu tun. „Das Ganze ist
so aufregend“, sagt Paxton. „Wir haben keine
Ahnung, welche Überraschungen uns noch
durch die Pilze erwarten.“ Das gilt es immer
wieder aufs Neue herauszufinden. j
Aus dem Englischen von Dr. Eva Dempewolf
 T O LY P O C L A D I UM
PA R A D OXUM
Der parasitär
lebende Pilz kommt
in China, Japan und
Korea vor. Dieses im
Studio aufgenom-
mene Exemplar hat
sich in eine Zikade
hineingefressen.

LINKE SEITE OBEN

GA N O D E R M A S E S S I L E
Der rötlich-braune
pathogene Pilz
ernährt sich von den
Wurzeln sommer-
grüner Hartholz-
bäume oder wächst
auf verrottendem
Totholz. Das abge-
bildete Exemplar
entstammt einer
Züchtung.
 NORDPOLAR-
MEER

ALASKA
(USA)
Katmai-
Nationalpark
N O R D -
KANADA
Tofino Wilderness Resort,
British Columbia Niagarafälle
A M E R I K A Hudson Valley,
New York
Albuquerque, USA
Gauley River undRivers,
and New New River,
New Mexico West Virginia
ATLANTISC HE R

Ruta de OZE AN
la Caldera

PANAMA Río Magdalena

Magdalena
P A Z I F I S C H E R River
KOLUMBIEN
SÜD-
BRASILIEN
O Z E A N AMERIKA

E
I L
Museu de Arte
de São Paulo
C H

Nationalpark
Laguna San Rafael

POLARMEE
SÜD R

BEST OF THE
AUS GABE
April 2024

VON DER PFERDESAFARI IN KENIA BIS ZU RAFTING IN WEST

VIRGINIA – UNSERE BEST-OF-LISTE BIETET BESONDERE
REISE­E RLEBNISSE. KURATIERT VON NATGEO-EXPLORERS,
UNSEREN FOTOGRAFEN UND REDAKTEUREN.
62
 DPOLARMEER
NO R

Royal
Scotsman
G.B. Wattenmeer
Olympischer
Marathon E A
Eifel
E O P
Paris E UU RR O P A S
FR. Bad Ischl
SP. Zermatt I JAPAN
Menorca Swanetien GEORGIEN
Musik-

E
szene
ALGERIEN Kyoto

N
Nationalpark
Tassili n’Ajjer
Tassili
Nationaln’Ajjer
Park
P A ZP
I FAI C
SCIH
FEIR
C
A F R I K A
Region Isaan
Isaan region
THAILAND
OO
Z ECAENA N
Pekoe
SRI LANKA Trail
Borana Conservancy

KENIA
ATLAN-
I N DI S C HE R
T I S C HE R
O Z E A N Ningaloo-Riff
OZEAN
AUSTRALIEN

POLARMEE
SÜD R

WORLD 2024
Ungewiss. Aus dem Alltag herauszutreten, einer
M AC H T R E I S E N K LÜ G E R?
neuen Umgebung und unbekannten Menschen zu begegnen, bietet jeden-

M falls die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln und daraus zu lernen. Unsere

„Best of the World“-Liste ist eine Einladung, bemerkenswerte Orte kennen-
zulernen, für ein Wochenende oder eine lange Abenteuerreise. NATIONAL
GEOGRAPHIC erscheint weltweit. Wir haben unsere Mitarbeiter gebeten, von
solchen Orten zu erzählen – von wilder Natur bis zu Empfehlungen für Kunst- und Kulturlieb-
haber. Wir erweitern unsere Auswahl digital und bieten weitere Tipps zu Hotels, Restaurants,
Kulturstätten und Wellness-Retreats, außerdem Ausstattung, die unterwegs nützlich sein
kann. Mit dem QR-Code am Ende des Beitrags erhalten Sie direkten Zugang.

63
 Naturnah:
Safari zu
Pferd
WO
Kenia

NUMMER WA N N

01 JULI–SEPT

Die Safari ist ein Klassiker unter

den Reiseabenteuern und bedeu-
tet heute meist, im Geländewagen
von Camp zu Camp zu rumpeln.
Eleganter und naturnäher ist die
Safari zu Pferd. Kenia bietet diese
Variante bereits seit den 1970er-
Jahren – inzwischen entspricht
sie dem Wunsch vieler Reisender,
Natur und Tieren unmittelbar zu
begegnen. Auf dem 13 000 Hektar
großen Gelände der Naturschutz-
organisation Borana Conservancy
bieten zwei Reitställe Touren für
Reiter jedes Niveaus, mit oder ohne
Übernachtung (borana.co.ke/riding-
wild). Da Wildtiere die Pferde als
Teil der Natur wahrnehmen, wird
die Erkundung der Landschaft zum
intimen Erlebnis. „Eine Reise auf
dem Pferderücken bedeutet, die
Mauern einzureißen, die uns vor
der Natur schützen – und uns von
ihr trennen“, sagt Nichole Sobecki.
Die NatGeo-Fotografin war bereits
zu Pferd in Borana unterwegs.
„Das Pferd übersetzt die Natur. Es
reagiert auf das Grollen eines Löwen
FOTO: NICHOLE SOBECKI

und wittert die Elefantenherde.“

Erfahrene Tourguides deuten die
Signale der Pferde und führen die
Reiter auf sicheren Routen.

64
 WILDE TIERE
ERLEBEN
In Borana gibt es
Zebras, Leopar-
den, Impalas und
eine Population
von 200 Nashör-
nern — Verwandte
des Pferdes.

65
 GESCHICHTE
NUMMER WA N N Die Strecke des

02
olympischen Mara-
Laufen wie 10.08.24 thons ist inspiriert
vom Marsch der
Olympioniken Frauen auf Versailles
WO Paris, Frankreich 1789 – ein Schlüssel-
moment der Franzö-
sischen Revolution.

Bei den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris werden erst-

mals Zuschauer zu Mitläufern – eine der Initiativen, die die Spiele
offener gestalten sollen. Der „Marathon Pour Tous“ („für alle“)
FOTO: CIRIL JAZBEC

findet am Abend zwischen den offiziellen Läufen der Männer

und Frauen statt und bringt 20 024 Wettbewerbsgewinner auf die
42,2 Kilometer lange Strecke zwischen Paris und Versailles.
Weitere Informationen und Streckeninfos: paris2024.org

66
 Bärenmahl
NUMMER WO WA N N

04 Katmai N.P.,
Alaska, USA JUNI–SEPT

Im Katmai-Nationalpark lebt eine große Population an

Braunbären. Interessanter als der Blick von einer der
überfüllten Aussichtsplattformen des Besucherzentrums
Brooks Camp ist die geführte Tour entlang der Katmai-
Küste (Veranstalter u. a. AK Adventures). Die Küste bietet
den Bären eine große Futtervielfalt, von diversen Gräsern
und Muscheln bis zum Lachs. „Einen einzelnen Braunbä-
ren in freier Wildbahn zu sehen, bedeutet mir viel“, sagt
Acacia Johnson, Fotografin aus Alaska. „Es zeigt, dass die
Landschaft gesund genug ist, um ihn zu ernähren.“

NUMMER

05
Big
in
WO
Kyoto, Japan

Japan .. WA N N

GANZJAHRIG

Lange dienten Skier als Kyoto mit seinen stillen Tempeln

Gipfel- winterliches Fortbewe-
gungsmittel zur Erkun-
Tour dung und zur Jagd.
per Ski Diese Tradition ist in den
Bergen Georgiens noch
immer lebendig. Ver-
NUMMER anstalter wie Svaneti Ski
03 und Georgia Ski Touring
bieten Touren in eini-
gen der besten Skige-
WO biete des Landes an. In
Georgien Swanetien geht es u. a.
über den Gvibari-Pass
(o.) oder zu den Usch-
WA N N
guli-Dörfern, die zu den
DEZ–APR höchsten kontinuier-
lich bewohnten Dörfern
Europas gehören.
und meditativen Gärten wird oft
als eine Art Zeitkapsel beschrie-
ben. Doch abends offenbart
die einstige kaiserliche Haupt-
stadt Japans eine sehr lebendige,
unkonventionelle Musikszene.
In Lokalen wie Jittoku und Field
erklingt Rock, Swing und Irish
Folk bis tief in die Nacht. Auch
Jazz- oder Punk-Verehrer finden
eine kreative Community. „Das“,
sagt der Stadtführer Van Milton,
„ist Japan, wenn die Maske fällt.“

67
 NUMMER

07
Roadtrip
nach
WO

New Mexico, USA

Westen WA N N

SEPT–NOV

Seit fast einem Jahrhundert führen durch Albuquerque

Auf alten zieht die Route 66 Reisende – der längste zusammenhän-
Wasser- aus aller Welt an. Die Fahrt gende urbane Abschnitt der
entlang der „Mother Road“ Route in den USA. Die auf-
wegen durch New Mexico führt an wendig restaurierten alten
den legendären skurrilen Neon-Reklameschilder ent-
Motels und Kuriositätenläden lang der Central Avenue
der Stadt Tucumcari vorbei machen ihn sehenswert. In
NUMMER und zu den Felszeichnungen Albuquerque liegt außer-
06 im Schutzgebiet des Petrog-
lyph National Monument.
dem das neue West Central
Route 66 Visitor Center mit
Im Westen New Mexicos einem Museum und Open-
liegt Gallup, bereits 1946 Air-Amphitheater. Hier fin-
WO von Nat King Cole in seinem den Veranstaltungen wie
Kolumbien Hit „Route 66“ ausdrücklich Lowrider-Autoshows, Auto-
empfohlen („Get your kino und Kunsthandwerks-
kicks …“). Etwa 30 Kilome- ausstellungen statt. wccdg.
ter des berühmten Highways org/route-66-visitors-center
WA N N
..
DEZ–MARZ
COLORADO
OKLA-
HOMA
Etwa 80 Prozent der
Bevölkerung Kolum- l
25
biens leben im Ein-
zugsgebiet des Río Petroglyph Santa Fe
Gallup
Magdalena, der etwa National
1600 Kilometer von
l
40 Monument Tucumcari
den Anden bis zur 66
Albuquerque
Karibik fließt. Acht­
TEXAS

tägige Flusskreuzfahr-
ARIZO NA

ten des Veranstalters N E W M E X I C O

Ama Waterways füh-
ren von der Hafen-
stadt Cartagena über
die Goldschmiedestadt
l
25
Mompós nach Barran-
quilla. Besichtigungen
historischer Städte,
Konzerte mit landesty- l
10
pischer Musik und der
Besuch eines Stelzen- TEXAS
dorfs zeigen die Kultur MEXIKO 50 km
entlang der mäch­tigen
Wasserstraße.

68
 P R O F I -T I P P
NUMMER WA N N Besucher mit mehr
Zeit sollten Tassili
Felskunst in 08 OKT–NOV mit einem Besuch
der ungewöhnlichen
der Wüste Berge des Ahaggar-
WO Algerien Nationalparks ver-
binden, ein weiteres
geologisches Wun-
der der algerischen
In der Sahara im Südwesten Algeriens liegt die Gebirgskette Tassili Sahara.
n’Ajjer, heute Teil des gleichnamigen Nationalparks und UNESCO-
Welterbestätte. Die Sandsteinformationen (Foto: bei Adrit) mit ihren
Türmen, Bögen und Nadeln bilden eine Art geologisches Wunder-
land und bergen eine der bedeutendsten Felskunstsammlungen der
Erde. Neolithische Hirten, Jäger und Sammler schnitzten hier um die
15 000 Petroglyphen, darunter Elefanten, Giraffen und Nashörner.
Die Tiere verortet man eher in Afrika südlich der Sahara – ein Hin-
FOTO: MATJAZ KRIVIC

weis, dass die trockene Wildnis einst von Wasserwegen durchzogenes

Grasland war. Mehrtägige Touren führen zu den spektakulärsten
Kunstwerken, darunter die „Schreienden Kühe“, die vor 7000 Jahren
in den Sockel einer Steinzinne geritzt wurden. fancyalgeria.com

69
 NUMMER
.. WA N N
Tauchen 09 MARZ–JULI
mit Riesen WO Coral Coast, Australien
WILDTIERE
SEHEN
An der Coral
Coast können-
Besucher in der
Das Ningaloo-Riff ist das Highlight unter den Naturschönheiten der Shark Bay mit
mehr als 1100 Kilometer langen Coral Coast nördlich von Perth in Dugongs kom-
Westaus­tralien. Hier kann man mit Giganten tauchen: Etwa 300 bis munizieren oder
in der Coral Bay
500 Walhaie, eine der größten Ansammlungen der Erde, kommen
mit Mantarochen
jedes Jahr zwischen März und Juli entlang des Riffs zusammen schwimmen.
(Foto). Noch mehr Meeresriesen sind von Juli bis Oktober zu sehen,
wenn etwa 40 000 Buckelwale die australische Küste entlangziehen.

FOTO: KILIII YÜYAN

 Vulkanwandern
NUMMER WO WA N N

10 Panama DE.–APR

Als Vorreiter der Nachhaltig- Antón (venalvalle.com/

keit startete Panama kürzlich
das Projekt „1000 Kilometer
Wanderwege“, um Erholung
in der Natur zu fördern und
umweltfreundlichen Touris-
mus in kleine Gemeinden
und Schutzgebiete zu leiten.
Den Anfang macht die Ruta
de la Caldera, ein Netz von
fünf Wanderwegen um den
erloschenen Vulkan Valle de
directorio/listado/ruta-
de-la-caldera). Die Touren
führen durch Landschaf-
ten voller Wasserfälle, sagt
die Fotografin Rose Marie
Gletscher
Cromwell, die fünf Tage
lang Abschnitte erwandert
durch-
hat. „Spektakuläre Blicke
auf den Krater – interes-
steigen
sante, von Grün bedeckte
Landformationen!“
NUMMER

12
WO
Chile
Die Niagarafälle bieten

Das Anfang April das seltene

Erlebnis einer totalen Son-
..
WA N N

Dunkel nenfinsternis – die nächste

wird es am 12. August 2026
schauen geben (zu sehen u. a. in
Spanien). Ab 15.18 Uhr
wird sich der Himmel über
dem tosenden Katarakt
etwa dreieinhalb Minuten
lang verdunkeln, wenn
der Mond vor die Sonne
NUMMER
wandert. Auf der US-ame-
11
rikanischen Seite der
Fälle sind Terrapin Point,
Prospect Point und der
WO Observation Tower die bes-
Niagarafälle, ten Aussichtspunkte, auf
USA/Kanada
der kanadischen der Table
Rock. Bonus für Roman­
WA N N
tiker: Der Regenbogen, der
08.04.24 an sonnigen Tagen über
den Wasserfällen schwebt,
soll sich rosa färben.
NOV–MARZ
Im Nationalpark Laguna
San Rafael in Patagonien
wandern Besucher auf
dem Exploradores-
Gletscher vor dem
Panorama der blass-
blauen Eismassive.
Noch bedecken etwa
17 300 Gletscher die
Eisfelder Patagoniens,
doch die steigenden
Temperaturen lassen sie
schnell schmelzen. Laut
Klimawissen­schaftlern
hilft nach­haltiger Tou-
rismus, z. B. Touren mit
Anbietern wie Turismo
Valle Leones (valleleo-
nes.cl), lokalen Gemein-
den und lässt Gäste
mehr über den Schutz
der Gletscher lernen.

71
FOTO: SEBASTIÁN ITURRALDE
 Auf
Zeitreise
N AT U R N A H
Der Naturpark
S’Albufera des Grau

gehen
mit seinen Dünen,
Sümpfen, Tamaris-
ken und Olivenhai-
nen um eine Lagune
herum bietet einige
WO der besten Wande-
Menorca, Spanien rungen und Vogel-
beobachtungsorte
auf Menorca.
NUMMER WA N N

13 APR–SEPT

„Balearen“ zu sagen und an den Strand-

rummel Ibizas und Mallorcas zu denken, ist
eins. Dabei hat das ruhige, touristisch weni-
ger entwickelte Menor­ca eine echte Perle zu
bieten: eine der höchten Konzentrationen
archäologischer Fundstätten weltweit,
heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.
Auf nur 700 Quadratkilometern liegen
hier mehr als 1500 Stätten, von den Grund-
mauern kleiner Häuser bis zu gut erhalte-
nen Dorfzentren, die lange vor dem Aufstieg
des Römischen Reichs existierten. Am
auffälligsten sind Navetas, megalithische
Bauten aus der Bronzezeit, die als Woh-
nungen oder Grabstätten genutzt wurden,
sowie kegelförmige Talayots, mörtellos aus
Kalksteinbrocken zusammengefügt, die
womöglich als Wachtürme dienten. Taulas,
Schreine, die es nur auf Menorca gibt, erin-
nern an Stonehenge. Die Landstraße Me-1
führt an einer ganzen Reihe der besterhal-
tenen Stätten vorbei, darunter die Siedlung
Talatí de Dalt, Naveta des Tudons (Foto) und
Taula de Torretrencada.
Zur Rückkehr in die Kultur der Gegenwart
empfiehlt sich der Besuch der neuen Galerie
Hauser & Wirth in der Inselhauptstadt
Mahón. In einem renovierten Krankenhaus-
gebäude aus dem 18. Jahrhundert ist hier
moderne Kunst mit Werken von u. a. Louise
Bourgeois und Joan Miró zu sehen.

73
 Schottland auf
Schienen
NUMMER
14 Highlands, Schottland
Um die wilde Landschaft
der Highlands zu erkunden,
braucht man kein Auto. Der
Luxuszug „Royal Scotsman“
trägt Reisende stilvoll an
Seen und dramatischen Gip-
feln vorbei. Die neuen Sui-
ten (ab Mai) sind mit dunklen
Hölzern, Wolltweeds und
gemusterten Tartans der
schottischen Marke Araminta
Campbell eingerichtet und
inspiriert von den schotti-
schen Landschaften. Nach
einer Wanderung zu Wasser-
fällen oder einer Runde Golf
Route des „Royal Scotsman“
30 km
The
Minch
Kyle of
Lochalsh
Mallaig
S C H O T T L A N D
Oban
ATLAN-
TISCHER
OZEAN
Glasgow
WO WA N N
APR–OKT
(ein urschottischer Sport)
entspannen Gäste bei einer
Massage im Spa an Bord
des Zuges. Von Edinburghs
Waverly Station aus füh­ren Echten
die drei- bis achttägigen
Reisen durch das Herz der Geschmack
Highlands, von Perth­shire finden
über Inverness bis zur rauen
Westküste. Unterwegs kann
man Schlösser besichtigen,
im Cairngorms-National­- NUMMER
park Sterne beobachten,
reichlich Whisky verkosten
und auf Wunsch sogar in
15
einem Loch baden.
WO
Isaan,
Thailand
WA N N
DEZ–FEB
h Die Region Isaan ist für
Firt
ray ihre typische Küche
Mo mit Einflüssen aus den
Inverness angrenzenden Ländern
Laos und Kambodscha
G H L A N D S
H I bekannt. „Isaan ist ein
verstecktes Juwel Thai-
CAIRNGORMS- Aberdeen
NATIONALPARK lands“, sagt Weerawat
„Num“ Triyasenawat,
Küchenchef des vom
Guide Michelin empfoh-
Nord- lenen Samuay & Sons in
Perth see der Stadt Udon Thani
in Isaan. Eine Haupt­
Forth zutat der köstlichen
h of
Firt lokalen Speisen ist pla
Edinburgh ra, ein fermentiertes
Kilmarnock Fischgewürz, das den
ENGLAND Umami-Geschmack ver-
G. B. stärkt. Empfehlenswert:
Laab, ein Salat aus fein
gehacktem Fleisch.
74
 FPO

GESCHICHTE
Sri Lanka zählt zu
NUMMER
..
WA N N
den weltweit größ-
Wandeln im 16 JAN–MARZ ten Teeproduzen-
ten. Eingeführt
Teegarten WO Sri Lanka
wurde der Tee im
19. Jahrhundert
von den britischen
Kolonialherren.

Unter dem einstigen Namen Ceylon ist Sri Lanka jedem Teegenie-
ßer ein Begriff. Besucher können auf dem neuen, etwa 320 Kilo-
meter langen Pekoe Trail (Foto) den Spuren der historischen
Teepflan­zer folgen. Von Kandy aus führt der erste Fernwanderweg
FOTO: TOM SIGLER

des Inselstaats über Pfade aus dem 19. Jahrhundert, auf denen
man einst die frisch gepflückten Blätter transportierte. In den
Gebirgsstädten und auf Teeplantagen werden Kochkurse angebo-
ten – und natürlich bester Ceylontee. thepekoetrailsrilanka.com

75
 Rund
um
Kunst

NUMMER

17
WO
São Paulo,
Brasilien

WA N N

SEPT–NOV

São Paulo ist mit seinen

Galerien, Ausstellun-
gen und Straßenkunst-
werken ein Paradies für
Kunstfreunde. Highlight
ist das Museu de Arte de
São Paulo (MASP). Mit
einer Erweiterung sollen
noch mehr Werke der
mehr als 11 000 Stücke
umfassenden Sammlung
zugänglich gemacht
werden – Gemälde aus
dem Mittelalter bis zu
zeitgenössischen Skulp-
turen­. Damit Besucher Stromschnellen NUMMER WA N N
die Werke aus allen
Blickwinkeln betrachten raften 18 APR–OKT
können, hängt das MASP
einige Bilder an durch-
sichtigen Tafeln auf. WO West Virginia, USA

Der Name lügt – tatsächlich ist der New River in West Vir-
ginia mit einem Alter von 360 Millionen Jahren einer der
ältesten Flüsse der Erde. Auf einer Strecke von 80 Kilometern
fällt er 229 Meter zwischen Sandsteinklippen in die Tiefe
FOTO: JAY YOUNG

und vereinigt sich mit dem Gauley River (Foto). Anbieter wie
ACE Adventure Resort bieten Wildwasser-Rafting-Touren in
der längsten und tiefsten Flussschlucht der Appalachen.

76
 Tal der Künstler
NUMMER WO
19 Hudson Valley,
New York, USA
Das idyllische Hudson Valley
boomt dank des Zustroms
von Einwohnern aus New
York City während der Pan-
demie. Ein Mekka für Künstler
ist es schon länger: Die Land-
schaften inspirierten die Hud-
son River School, Amerikas
erste Künstlervereinigung.
Antiquitätensammler finden
heute Hunderte von Bouti­
quen, Kunsthandwerksläden
Auf
Wasser
schlafen
NUMMER
20
WO
Tofino, British
Columbia, Kanada
WA N N
MAI–OKT
S A M M L E R -T I P P
Für Vintage-Funde
sind das Antique
..
WA N N
GANZJAHRIG
Warehouse in Hudson,
Sister Salvage in
Catskill und Opera
House Co. in Athens ein
paar Besuche wert.
und Flohmärkten, die alles
von Kolonialmöbeln über sel-
tene Bücher bis hin zu Deko
aus der Mitte des 20. Jahr-
hunderts anbieten. „Es gibt
hier eine Gemeinsamkeit:
charmante historische Dör-
fer“, sagt Sarah Gray Miller,
Inhaberin des Antiquitäten-
ladens UnQuiet in Coxsackie.
Die Orte hier eine ein „starkes
Engagement fürs Bewahren“.
Das wiedereröffnete Tofino
Wilderness Resort an der
Westküste von Vancouver
Island gehört der Ahousaht
First Nation und liegt im
zerklüfteten Küstengebiet
Clayo­quot Sound. Bei der
Renovierung der luxuriös
ausgestatteten schwim-
menden Lodge wurde das
Holz umgestürzter Bäume
aus den umliegenden Wäl- MEHR
dern eingesetzt. Die Ahou-
saht-Gemeinschaft ist in
ENTDECKEN
Per Scan geht es zur
der Region seit Tausenden Liste unserer „Best-of“-
von Jahren ansässig. Sie Reiseziele. Außerdem:
zahlreiche weitere
bietet u. a. Whale-Wat- Reisetipps
ching-Touren und teilt
mit Besuchern ihre Philo-
sophie hishuk ish tsawalk Texte von Karen Carmichael.
(„alles ist eins“), mit der Berichte von Robert Draper,
Acacia Johnson, Nichole
sie die Verbundenheit von
Sobecki, Daniel Stables, Eva
Mensch und Natur in dem van den Berg und Henry
Land zelebriert. Wismayer
77
 Salzkultur feiern
NUMMER WO WA N N

21 Bad Ischl, Österreich 2024

In diesem Jahr bietet sich der Weiwei. Im 200. Geburts-

Besuch des Salzkammerguts
besonders an. Neben Tartu
(Estland) und Bodø (Norwe-
gen) trägt die Region um Bad
Ischl – als erste inneralpine
Region – den Titel Kultur-
hauptstadt Europas. Auf dem
Programm: Regionales, inter-
nationale Themen und aktu-
elle Diskurse, etwa in einem
Projekt des Künstlers Ai
jahr An­ton Bruckners spielt
außerdem Musik eine wich-
tige Rolle. Die Konzerte
finden mitunter an außer­
Den
gewöhnlichen Orten statt:
Das Bruckner-Orchester
Vögeln
spielt in einer Saline, die
Band Attwenger auf dem
nach
fast 3000 Meter hohen
Gipfel des Dachsteins.
salzkammergut-2024.at
NUMMER

23
WO
Niedersachsen,
Wie entsteht Wildnis? Das Deutschland

Wo können Besucher aktuell

in einer Ausstellung zum WA N N

Wildnis 20-jährigen Jubiläum des

Nationalparks Eifel sehen
wächst – oder direkt im National-
park bei individuellen oder
von Rangern geführten
Wanderungen erleben.
Hier setzen sich Misch-
wälder durch, erobern
sich Pflanzen, Tiere und
NUMMER
Bäche ihren Platz zurück.
22
Interessant ist ein Besuch
auch bei Nacht. Im inter-
national anerkannten
WO Sternenpark ist der Nacht-
Nationalpark
Eifel, Deutschland
himmel in ungewohnter
Intensität zu erleben – von
Sternen-Guides geführt
WA N N
im Nationalpark oder auf
JAN–DEZ eigene Faust von Beobach-
tungspunkten außerhalb.
nationalpark-eifel.de
OKTOBER
Rund 10 000 Tier- und
Pflanzenarten leben im
Wattenmeer, das drei
Nationalparks umfasst.
Jeden Herbst kommen
Millionen von Zugvö-
geln dazu, die hier auf
ihrer Reise in den Süden
einen Zwischenstopp
zur Rast und Futtersu-
che einlegen. Anlässlich
dieses Naturschauspiels
veranstaltet der Natio-
nalpark Niedersächsi-
sches Wattenmeer im
Oktober die Vogelzug-
tage, eine neuntägige
Veranstaltungsreihe mit
Führungen, Vorträgen
und weiteren Events.
nationalpark-
wattenmeer.de

78
 P R O F I -T I P P
NUMMER WA N N Die Monte-Rosa-
Hütte dient als
Berghütte der 24 JUNI–SEPT Stütz­­punkt für
Touren, etwa auf die
Zukunft Dufourspitze, den
WO Zermatt, Schweiz höchsten Berg der
Schweiz. Das Matter-
horn (Foto) lässt sich
von hier nur aus der
Der Bergkristall, wie die Monte-Rosa-Hütte genannt wird, ist nicht Ferne betrachten.
leicht zu erreichen. Der Panoramaweg gilt als einfachster Zustieg
und führt in etwa vier Stunden von der Gondelstation Rotboden zur
Hütte, durch hochalpines Gelände und über Eis. Die lokalen Berg-
TEXTE: FRANZISKA HAACK; FOTO: ALAMY

führer kennen den besten Weg, denn der verändert sich mit den
Gletschern von Jahr zu Jahr. Interessant ist die 2009 neu eröffnete
Hütte auch für Architekturbegeisterte: Mit der ETH Zürich wurde sie
als autarke „Berghütte der Zukunft“ geplant, mit Fotovoltaik­anlagen,
Wärmerückgewinnung und Wasserkreislauf. So versorgt sich das
Schutzhaus auf 2883 Metern zu 90 Prozent selbst mit Energie. Die
rasch schmelzenden Gletscher um die Hütte veranschaulichen,
warum nachhaltiges Bauen und Wirtschaften so wichtig ist.

79
 PROOF

S CHWIRREN
in der

LUF T

Eine innovative Technik

macht die akrobatischen Flugbahnen
von Insekten sichtbar.

Fotos
X AV I B O U

S I E S I N D W I N Z I G und bewegen sich blitzschnell:

Insekten im Flug zu verfolgen, ist eine Herausfor-
derung. Nachdem der spanische Fotograf Xavi Bou
sich zehn Jahre lang auf den Vogelflug konzentriert
hatte, verlegte er sich nun auf Insekten. Sein neues
Projekt basiert auf Hochgeschwindigkeitsvideos, die
Adrian Smith, Entomologe an der North Carolina State
University, zur Dokumentation von Insektenflugbah-
nen aufgenommen hatte. Für seine „Entomografien“
wählt Bou Einzelaufnahmen aus einem Video aus und
fügt sie zu einem Bild zusammen, das die schnellen
Bewegungen eines oder mehrerer Tiere darstellt. Mit
Smiths Hilfe hat Bou die Luftakrobatik von Wespen,
die Sprünge von Heuschrecken und das Flattern von
Schmetterlingen in verblüffender Detailtreue kar-
tiert. Er hofft, die Aufmerksamkeit für den weltweiten
Rückgang der Insektenpopulationen zu schärfen. „Es
geschieht vor unseren Augen, und wir schenken dem
keine Beachtung“, sagt Bou. —A . R OT H

Z E B R A FA LT E R
Der Schmetterling kommt in vielen Teilen Nord-
und Südamerikas vor. Mit nur wenigen Schlägen seiner
langen Flügel kann er in große Höhen aufsteigen.

SEITE.81
 Im Uhrzeigersinn von oben

A S I AT I S C H E R
MARIENKÄFER
Die Art ist in vielen Regio-
nen weltweit verbreitet.
Am Boden bewegen sich
die Tiere langsam, können
aber im Flug Geschwindig-
keiten von bis zu 60 km/h
erreichen.

BLUTZIKADE
Die auffallend schwarz-
rot gezeichneten Insek-
ten kommen im Osten der
USA vor und gelten wegen
ihrer Vorliebe für Rasen
als Schädlinge. Mit den
gefederten Hinterbeinen
können die Tiere raketen­
artig in die Luft schnellen.

C I S S E P S F U LV I C O L L I S
Sieht aus wie ein Glühwürm-
chen, ist eine Motte. Anders
als die meisten Motten ist
die nordamerikanische Art
mit ihren blauschwarzen
Flügeln tagsüber zu sehen.

APRIL SEITE.82
SEITE.83 2024
 PROOF

GESPINSTMOTTE
AILANTHUS
Diese tropischen Nacht-
falter haben ihr Verbrei-
tungsgebiet in den USA
nach Norden ausgedehnt.
Sie wandern mit dem Wirt
ihrer Larven, dem invasiven
Götterbaum, und gehören
zu den häufigsten in Gärten
vorkommenden Motten.

SEITE.85
 1919
Der Anfang
Illustrator Charles
Knight studierte 1942
Dinosaurier-Fossi- Königskampf
lien, bevor er diesen Neuen Erkennt-
grimmigen, leguan- nissen folgend,
ähnlichen Alberto- zeigte Knight zwei
saurus entwarf. kämpfende T. rex
mit „zweischneidi-
gen, dolchartigen
Zähnen“.

1978
Schwergewicht
Der T. rex zierte
die NatGeo-Titel-
seite im August
1978 (Illustration:
Roy Andersen). Er
ist massiver als frü-
here Darstellungen.

1999 2003
Federflaum Kleiner Imbiss
Eine Entdeckung Forschungen leg-
brachte fleischfres- ten nahe, dass der
sende Dinosaurier Theropode Auca-
mit den heutigen saurus die Nester
Vögeln in Verbin- größerer Sauro-
dung. So wurde poden ausraubte.
der junge T. rex in Dies trug zur Auf-
der Illustration mit klärung von Nah-
Flaum dargestellt. rungsketten bei.

ILLUSTRATIONEN: CHARLES R. KNIGHT, 1919, 1942; ROY ANDERSEN, 1978; MICHAEL W. SKREPNICK, 1999;
JOHN SIBBICK, 2003 (ALLE BILDER AUS DER NATIONAL GEOGRAPHIC IMAGE COLLECTION)
 AUS DEM ARCHIV

URTIERE
IM WANDEL

Unser Blick auf die Dinosaurier hat sich mit den

wissenschaftlichen Erkenntnissen geändert.

Text
DANIEL STONE

D I E G E S C H I C H T E G E H T W E I T E R . Die Ankündigung des

vierten „Jurassic World“-Films (Kinostart 3. Juli 2025) zeigt
die ungebrochene Faszination für Dinos, insbesondere den
Superstar Tyrannosaurus rex. Seitdem vor mehr als einem
Jahrhundert erstmals Relikte der Urzeitriesen ausgegraben
wurden, berichtet NatGeo über sie – immer auf Basis aktu-
eller Forschung. Ein Beitrag aus dem Jahr 1919 zeigte einen
Albertosaurus als „mächtigen Fleischfresser“, der „fähig war,
jeden seiner pflanzenfressenden Verwandten zu vernichten“.
23 Jahre später zeigten wir kämpfende T. rex, „etwa zwei
Meter hoch“. In einem Beitrag aus dem Jahr 1978 waren sie
bereits auf 15 Meter angewachsen.
Bis in die späten 1990er-Jahre wurden die Dinos mit
Schuppen dargestellt. In China gefundene Theropoden-
Skelette ließen vermuten, dass junge T. rex Federn hatten,
was weitreichende Schlüsse zuließ: „Wir können jetzt sagen,
dass Vögel Theropoden sind“ – und Saurier ihre Vorfahren.
Tatsächlich waren Theropoden wohl nicht die blutrünsti-
gen Killer, die die menschliche Fantasie aus ihnen machte.
Entdeckungen im Jahr 2003 zeigten, dass sie Aggression
wohl ebenso selektiv einsetzten wie heutige Raubtiere. Im
Jahr 2020 berichteten wir, dass die Paläontologie mitten in
einer „weiteren Revolution steckte, ausgelöst durch eine
Fülle neuer Fossilien und innovativer Forschungstechni-
ken“. Was das heißt? Auch die neuesten Erkenntnisse wer-
den kaum endgültig sein. Doch sie tragen zu einem immer
schärferen Bild dieser Wunder der Evolution bei. j

SEITE.87 2024
DAS
WEITE
SUCHEN
 D E R E R H A LT D E R S E LT E N E N S C H R E I K R A N I C H E I S T E I N E R D E R G R Ö S S T E N
N AT U R S C H U T Z E R F O L G E D E R U S A . U N S E R T E A M B E G L E I T E T E D E N J U N G VO G E L 1 5 J
AU F S E I N E R G E FA H RVO L L E N E R S T E N H E R B S T WA N D E RU N G I N D E N S Ü D E N .

89
Ein junger Schreikra-
nich (M.) und seine
Eltern stelzen durch
die Feuchtgebiete des
Wood-Buffalo-Natio-
nalparks in Kanada.

Vorige Doppelseite
Schreikraniche
landen in einem
Feuchtgebiet im
Rainwater Basin,
Nebraska, um
dort die Nacht
zu verbringen.

MIT GENEHMIGUNG DER PARKS

CANADA AGENCY. IM WOOD-
BUFFALO-NATIONALPARK
AUFGENOMMEN.
 Text R E N E E B E R S O L E
Fotos M I C H A E L F O R S B E R G

250 METER
HOCH IN DER
LUFT
FLIEGEN WIR
MIT
einem internationalen Forscherteam über die ausgedehnten
ILLUSTRATION: NG. QUELLE: INTERNATIONAL CRANE FOUNDATION

borealen Wälder des Wood-Buffalo-Nationalparks in Kanada.

Plötzlich ein Ruf: „Vogel auf neun Uhr!“ Pilot Paul Spring dreht
eine Linksschleife und neigt den Hubschrauber, um eine bes-
sere Sicht auf einen der zahllosen Wassertümpel zu erhalten,
die sich bis zum Horizont erstrecken.
1,5 m
„Da ist ein Küken“, ruft John Conkin, Wildtierbiologe am
kanadischen Umweltministerium ECCC. Er richtet sein Fern- 2,3 m

glas auf einen rostbraunen Vogel, der durch das Sumpfland

stelzt. Spring setzt zur Landung an. Hastig drängen Conkin,
sein Kollege Mark Bidwell, gleichfalls Biologe am ECCC, und
die anderen Kranichfänger aus dem Helikopter – Biologe Dave
Beeindruckende Riesen
Brandt vom U.S. Geological Survey und die kanadische Wild- Schreikraniche sind die größ-
tierärztin Sandie Black. ten Vögel Nordamerikas.

92
 In geschützten
Gebieten Nord-
kanadas verwen-
den Schreikraniche
Pflanzenmaterial
aus ihrer Umge-
bung zum Nest-
bau. Kranichmütter
legen meistens zwei
Eier; für gewöhnlich
überlebt nur eines
der Küken.

Ihnen bleiben nur zwölf Minuten, um das
scheue Zielobjekt aufzuspüren: ein wildes
Schreikranichküken, wie geschaffen für das
Durchqueren von tiefem Schlamm, Dornen-
gestrüpp und Riedgräserdickicht. Dauerte es
länger, würde das Team die Jagd abblasen
müssen, um den Vogel keinem übermäßigen
Stress auszusetzen.
Während die Forscher im Gestrüpp ver-
schwinden, heben Spring und ich mit dem
Hubschrauber wieder ab, um das Team aus
der Luft zu unterstützen. Als die Kranich-
eltern die sich nähernden Menschen wahr-
nehmen, schlagen sie ein paar Mal mit ihren
riesigen Flügeln und verschwinden. Den
flugunfähigen Nachwuchs lassen sie zurück,
wenn auch sicher widerstrebend. „Ich habe
das Junge im Blick“, teilt Spring der Gruppe
auf dem Boden per Sprechfunk mit. „Es ist
direkt unter dem Helikopter. Bewegt euch in
unsere Richtung.“
Die Wissenschaftler preschen durchs
Dickicht und versuchen, schneller voranzu-
kommen, als das sumpfige Terrain eigentlich
erlaubt. Routiniert nähert sich John Conkin
dem jungen Kranich, bekommt Schnabel,
Kopf und Beine zu fassen und klemmt ihn
sich vorsichtig unter den Arm.

93
Sechs Minuten, 36 Sekunden: Vogel ge­-
schnappt. Es folgt der technische Teil. Ver-
schwitzt und außer Atem packt das Team
seine Ausrüstung aus. Der erfahrene Biologe
Brandt, der in seinem Berufsleben schon min-
destens 150 wilde Schreikraniche beringt hat,
hält den Jungvogel auf seinem Schoß und
überwacht Conkin beim Anbringen eines
Senders an einem Bein sowie farbiger Ringe
(blau, gelb und grün) am anderen.
In der Zwischenzeit untersucht Tierärztin
Black den Vogel. Sie kontrolliert die Augen
und nimmt Proben von Blut, Federn, Speichel
und Kot. So kann sie später im Labor heraus-
finden, ob das Tier schädlichen Chemikalien
ausgesetzt war oder an einer Krankheit wie
dem hochpathogenen aviären Influenzavirus
(HPAIV) leidet.
Sie sprechen leise miteinander. Als sie fer-
tig sind, klemmt sich Brandt den Jungvogel
wie einen Football unter den Arm und trägt
ihn zum Rand des Feuchtgebiets, wo er ihn
behutsam absetzt und sich rasch entfernt.
Der Jungvogel – in wissenschaftlichen Auf-
zeichnungen nun als 15J bekannt – flüchtet
in die entgegengesetzte Richtung, hält kurz
inne, plustert sein Federkleid auf, schüttelt
das Bein mit dem neuen Schmuck und zieht
sich in den Schutz des Marschlands zurück,
um sich wieder zu seinen Eltern zu gesellen.
Das Bemühen um die Schreikraniche zählt
zu den größten Erfolgsgeschichten des Natur-
schutzes in Nordamerika. Trotzdem sind sie
noch immer die seltenste unter den weltweit
15 Kranicharten und gelten nach wie vor als
stark gefährdet.
Schätzungen zufolge lebten vor mehr als
200 Jahren noch rund 10 000 Schreikrani-
che auf dem nordamerikanischen Kontinent.
Dem fortschreitenden Verlust ihres Lebens-
raums waren sie allerdings nicht gewachsen
– ebenso wenig den Jägern, die sie in den
1900er-Jahren als Nahrung, zum Zeitver-
treib und wegen ihrer Federn töteten, um
das damals florierende Hutmachergewerbe
zu versorgen. Bis 1941 hatte sich ihre Zahl auf
nur noch 16 Individuen verringert.
94
Im Lauf der vergangenen 70 Jahre hat sich
die Population dank zahlreicher Schutzmaß-
nahmen, neuer Gesetze und einer Aufzucht
in Gefangenschaft langsam erholt. Heute sind
wieder mehr als 800 Schreikraniche in Nord-
amerika heimisch; über 530 gehören der über
den Zentalamerikanischen Zugweg (Central
Flyway) migrierenden Gruppe an, der Rest
verteilt sich nahezu gleichmäßig auf Pro-
gramme zur Aufzucht in Gefangenschaft und
Auswilderungen in Louisiana und Wisconsin.
Dennoch ist es zu früh, die Vögel von der Liste
der stark gefährdeten Tierarten zu streichen.
Um ökologische und genetische Stabilität zu
erreichen, sieht ein im Rahmen des Endan-
gered Species Act erarbeiteter Rettungsplan
drei wesentliche Strategien vor: Erstens soll
die über den zentralen Zugweg migrierende
Population vergrößert werden, um etwa auch
einen Ausbruch von tödlicher Vogelgrippe
überstehen zu können. Zweitens möchte man
eine Population in Gefangenschaft als zusätz-
liche Absicherung erhalten. Als dritte Strate-
gie sollen zwei weitere, sich selbst erhaltende
Wildpopulationen etabliert werden.
Schaut man sich das derzeitige Wachstum
der Populationen an, könnten laut Schätzun-
gen frühestens 2050 erste Erfolge gefeiert
werden. „Der über den Central Flyway zie-
hende Schwarm hat seine Zielgröße gerade
zur Hälfte erreicht“, sagt George Archibald,
Mitbegründer der International Crane Foun-
dation. „Und keine der in Gefangenschaft auf-
gezogenen Populationen kann sich derzeit
selbst erhalten.“
Nur rund ein Drittel der Jungvögel überlebt
bis zu einem Alter von vier bis fünf Jahren,
wenn sie geschlechtsreif werden. Sie fallen
Rotluchsen und Kojoten zum Opfer oder ster-
ben während ihres Zuges vor Erschöpfung und
Hunger. Hinzu kommen menschengemachte
Gefahren: schadstoffbelastete Feuchtgebiete,
Wilderei und Stromfreileitungen, an denen
jährlich Millionen von Vögeln verenden.
Schreikraniche sind die Eisbären der Vogel-
welt. Wenn sie aussterben, werden wir uns
selbst vorwerfen müssen, beim Schutz einer
der wunderbarsten Tierarten unseres Plane-
ten versagt zu haben. Schreikraniche sind
ein Symbol der Hoffnung und Botschafter
für den Erhalt einer schwindenden Wildnis.
Mein Besuch im Wood-Buffalo-Nationalpark
ist der Startschuss einer mehrmonatigen
Reise, auf der ich den gefahrvollen Flug von
15J verfolgen darf.
S
Jahrhun-
E L B S T N AC H M E H R A L S E I N E M
dert Forschung zählt der Vogelzug zu
den größten Mysterien der Natur. Wie
navigieren die Tiere auf diesen langen
Strecken? Ist ihre Zugroute genetisch
festgelegt oder erlernt? Und können sie
ihr Zugverhalten an die Bedrohungen
der heutigen Zeit anpassen, um etwa Strom-
leitungen, Windparks oder dem immer ex­­
tremeren Wetter zu entgehen?
Technologische Fortschritte bei Satelli-
tentelemetrie und Langzeitbeobachtungen
helfen Forschern, einige dieser Geheimnisse
zu lüften. Seit 2009 sind 178 Schreikraniche
aus der über den Zentralamerikanischen
Zugweg migrierenden Population mit solar-
betriebenen Sendern ausgestattet worden,
die ihre Positionsdaten sammeln. So erhalte
ich regelmäßig Informationen über die ak­-
tuellen Aufenthaltsorte von 15J und der
Kohorte aus 17 weiteren im August 2022 be­-
senderten „J-Vögeln“.
Die ersten Positionsdaten erreichen mich
ein paar Wochen später an einem Oktober-
tag zur Mittagszeit. Während ich in New York
an meinem Schreibtisch sitze und einen
Teller Suppe löffle, befindet sich das junge
Kranichweibchen 15J in der Luft und segelt
nach Süden über die Grenzen des Wood-
Buffalo-Nationalparks hinaus – ein Gebiet,
größer als die Schweiz, ohne Mobilfunknetz.
Die sinkenden Temperaturen und hohen
Nordwestwinde haben das Tier und seine
Eltern höchstwahrscheinlich zum Abflug
veranlasst. Am folgenden Abend kommen sie
in einer mehr als 800 Kilometer entfernten
Region in Saskatchewan an.
95
Wie viele andere Schreikraniche aus dem
Nationalpark legen auch 15J und seine Eltern
dort einen längeren Zwischenstopp ein, um
sich in den Prairie Potholes im Norden der
Great Plains auszuruhen. Die seichten Feucht-
gebiete entstanden vor etwa 10 000 Jahren
durch das Abschmelzen von Gletschern. Mil-
lionen Zugvögel, die in diesem Gebiet rasten,
sind hier zunehmend durch den Eintrag von
Agrarchemikalien wie Dünger und Pflanzen-
schutzmittel gefährdet. Im Frühherbst finden
sie aber auch ein üppiges Büfett aus Ernte-
resten auf den Stoppelfeldern sowie Insek-
ten und Amphibien in den Feuchtgebieten. In
diesem lebenswichtigen Rastgebiet verweilen
die Kraniche gewöhnlich mehrere Wochen.
Am 3. November überquert 15J die US-
Grenze nach North Dakota und fliegt weiter
gen Süden. Drei Tage und weitere 500 Kilo-
meter später fängt ein Funkmast in South
Dakota das Signal des Weibchens auf. Etappe
für Etappe arbeiten sich die Vögel auf ihrer
Flugroute voran. An manchen Orten verwei-
len sie tagelang; andere verlassen sie schon
nach kurzem Aufenthalt wieder.
Am 14. November, fast 500 Kilometer und
einen Bundesstaat weiter südlich, landen
sie für eine Nacht am Platte River in Nebras­-
ka. Die Kraniche haben dort auf flachen
SIE VERBRACHTEN EINE
N AC H T A M P L AT T E R I V E R ,
NEBRASKA. AN DEN
Ü B E R F Ü L LT E N R A S T P L ÄT Z E N
B E ST E H T D I E G E FA H R , DA S S
EINE SEUCHE DIE POPULATION
DEZIMIERT.
Während des Früh-
jahrszuges mischen
sich Schreikraniche
am Platte River
in Nebraska mit
Hunderttausenden
von migrierenden
Kanadakranichen.
Der Fluss und
andere Feuchtge-
biete in den Great
Plains sind lebens-
wichtige Rastplätze
für Zugvögel.
 EINE 8000 KILOMETER
Sandbänken in der Flussmitte ihre Schlaf-
plätze. In den verzweigten Seitenarmen, auf
landwirtschaftlichen Feldern und Feuchtwie-
sen gehen sie auf Nahrungssuche.
Michael Forsberg, der als Naturfotograf seit
vier Jahren das Leben der Kraniche dokumen-
tiert, entdeckt 15J im blassen Licht eines frü-
hen Morgens, als der Jungvogel zusammen
LANGE REISE
Jeden Herbst unternehmen Schreikrani-
mit seinen Eltern und einem einsamen Kana- che einen beschwerlichen Flug von den
subarktischen borealen Wäldern Kanadas
dakranich entlang des Platte River nach Futter
bis zur Golfküste von Texas. Sechs Monate
sucht. Er schickt mir eine Nachricht: „Habe später kehren sie wieder zurück. Die Land-
gerade zwei Stunden mit 15J am Platte ver- schaft bietet den Vögeln heute wegen der
bracht. Kann es kaum glauben. Sie sind gerade wachsenden Erschließung durch den Men-
weitergeflogen, um wärmere Gegenden anzu- schen weniger Rastplätze. Auf dieser Karte
steuern. Hier ist es kalt. Der Fluss friert zu. Es ist die Flugroute von Kranichweibchen 15J
beginnt zu schneien.“ verzeichnet, als es im Herbst 2022 südwärts
und im Frühjahr 2023 wieder nordwärts zog.
Solche Zwischenstopps mit vielen Vögeln
bergen ein Risiko. Ein Jahr zuvor hatten Bio- Konzentration von Feuchtgebieten
logen bei einer Vogelzählung am Platte River
Weniger Mehr
eine Gruppe von mehr als 46 Schreikranichen
200 km
gesichtet. Wenn sich ein derart großer Anteil
einer Population dicht gedrängt an einem Ort
aufhält, besteht die Gefahr, dass sie durch ein Dem Aussterben entkommen 536
Extremwetterereignis oder einen Seuchen- Nachdem es 1941 nur noch 16 Schreikraniche 2022

ausbruch wieder drastisch dezimiert werden. gab, hat sich die Population wieder erholt und
umfasst heute mehr als 500 Tiere. Wiederan-
Erst kürzlich fielen in 81 Ländern Millionen siedlungen neuer Populationen waren unter-
500

von Vögeln der Vogelgrippe zum Opfer. Um
ihre in Gefangenschaft gehaltenen Krani-
che vor einem Kontakt mit infizierten Wild­­-
vögeln zu schützen, hat die International
Crane Foundation in ihrer Aufzuchteinrich-
tung in Wisconsin daher Biosicherheitsmaß-
nahmen eingeführt.
schiedlich erfolgreich. Nach wie vor sind sie
auf die Freilassung von in Gefangenschaft auf-
gezogenen Jungtieren angewiesen.
BESTAND DER SCHREIKRANICH-POPULATIONEN 400
(migrierende und sesshafte)
Verbesserte Erfassungstechniken seit 2015 führten
zu genaueren Populationsschätzungen.

300 300

W
WÄHREND 15J DIE Reise fortsetzt, stei-
Migrierende Population
­ e ich in ein Flugzeug nach Loui­
g Aransas-Wood Buffalo
siana, um mitanzusehen, wie der
200 200
Schreikranich-Jahrgang 2022 am
Freeport-McMoRan Audubon Spe- „Endangered Species Migrierende
östliche
cies Survival Center in New Orleans Act“ tritt in Kraft.
Population
1973
seine „Abschlussprüfung“ absol- 107
100 82
viert. Die sechseinhalb Monate alten Vögel Florida
87 2023
Wilde sesshafte
waren nun flugfähig und konnten bedenken- 18 Louisiana-Population (sesshaft) 80
1938 (ausgestorben) Louisiana
los in die freie Wildbahn entlassen werden. 33 (sesshaft)
Der Bundesstaat überwacht die Vögel 5
2022
11
sorgfältig, oft unterstützt von kooperativen 0
1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020
Grays Lake (Wiederansiedlung
gescheitert)
KARTE: SOREN WALLJASPER, NG
QUELLEN: MARK BIDWELL, ENVIRONMENT AND CLIMATE CHANGE CANADA;
ANDY CAVEN UND HILLARY THOMPSON, INTERNATIONAL CRANE FOUNDATION;
CANADA CENTRE FOR REMOTE SENSING; U.S. GEOLOGICAL SURVEY
 Großer Sklavensee
NORTHW ES T T ERRI T O RI ES
N U N AV U T H u d s o n
Brutgebiet Großer Sklavensee
START DES ZUGS NACH SÜDENN U N AV U T
NORTH WES T T 12.EOkt.
R R2022
I T O RI ES HB ua dy s o n
RÜCKKEHR ZUM Brutgebiet Wood-Buffalo-
BRUTGEBIET START DES ZUGS NACH SÜDEN B a y
25. April 2023 Ri v er Nationalpark
12. Okt. 2022
ce
RÜCKKEHRaZUM Wood-Buffalo-
BRUTGEBIET Nationalpark
Pe

Schreikraniche müssen die25. 24.–25.

April 2023 i er
April
Ölsand- eR v
abbau-Region überqueren, wo eine ac SASKATCHEWAN
Pe

Landung gefährlich sein kann. ÖLSAND-

Schreikraniche müssen die Ölsand- 24.–25. April
abbau-Region überqueren, wo eine ABBAU-
REGION SASKATCHEWAN MANITOBA
Landung gefährlich sein kann. ÖLSAND-
BRITISH COLUMBIA
ABBAU- 23.–24. April
AL B ER TA MANITOBA
REGION Winnipeg-
BRITISH COLUMBIA
12.–13. Okt. Halbtagesflug see O N TA R IO
R

Edmonton 23.–24. April

ALBERTA
Zwischenstopp für 21 NächteWinnipeg-
13. Okt.–3. Nov. see Die Kraniche neigenOzuNlängeren
TA R IO
OR

12.–13. Okt. Halbtagesflug

Edmonton Stopps auf der nördlichen
Zwischenstopp für 21 Nächte Streckenhälfte, wo es ergiebigere
640-Kilometer-Flug
CO

Calgary Zwischenstopp 13. Okt.–3. Nov.

in 9 Stunden Die Kranichegibt.
Feuchtgebiete neigen zu längeren
für 5 Nächte Stopps auf der nördlichen
18.–23. April 3. Nov.
Streckenhälfte, wo es ergiebigere
KC

640-Kilometer-Flug
Calgary Zwischenstopp Feuchtgebiete gibt.Oberer
G

für 5 Nächte in 9 Stunden See

18.–23. April 3. Nov.
KANADA
YK

RG

Zwischenstopp für 3 Nächte Oberer

USA See
17.–18. April 3.–6. Nov.
KANADA
Y

ER

NORTH
Zwischenstopp
DAKOTA für 3 Nächte
MINNESOTA
USA
3.–6. Nov.
AE

17.–18. April
M O N TA N A NORTH WISCONSIN
DAKOTA Zwischenstopp
MINNESOTA M
M

iss
TA

für 7 Nächte
M O N TA N A S. DAKOTA 6.–13. Nov. International
WISCONSIN
Zwischenstopp für 7 Nächte Crane Foundation

iss
Zwischenstopp
Einstündiger Flug
M

M
O

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10.–17. April iss
T

beifür 7 Nächte
Sonnenuntergang
Auf Korridore beschränkt S. DAKOTA 6.–13. Nov. International

i is
Zwischenstoppfür
Zwischenstopp für73Nächte
Nächte 13.–14. Nov. Crane Foundation
Schreikraniche zogen einst über M Einstündiger Flug Chicago

sip
7.–10. April
U
O

weite Teile Nordamerikas hinweg. W YO M I N G 10.–17. April isbei Sonnenuntergang

I O WA

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Heute fliegen sie entlang enger Zwischenstopp für 3 Nächte
so

13.–14. Nov.
NEBR A S KApril
A M Chicago
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7.–10.
U

Migrationskorridore und verbrin-

N

W YO M I N G latte isOmaha I O W A
gen die meiste Zeit ihres Lebens 6.–7. April iver ILLINOIS
R P

so

NEBRASKA
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in Schutzgebieten.
uri
NT

l tte Omaha
14.–15.aNov.
Kansas
6.–7. April iver St. Louis
ILLINOIS
R P

City
LP

Nordpol
TA

14.–15. Nov.
Denver MISSOURI
Kansas
City St. Louis
ALASKA
AL

Nordpol Kleinere Feuchtgebiete

KANSAS
AI

(USA) Historische CO L ORADO 5.–6. April existieren noch in den

Verbreitung Denver MISSOURI
Wichita zentralen und südlichen
ALASKA
AI

Kleinere
Great Plains.Feuchtgebiete
K A N SNov.
AS ArkApril existieren noch in den
N

(USA)
I

Zugkorridor Historische C OL ORADO 15.–16. 5.–6.

Verbreitung ans
Aransas–Wood KANADA a zentralen
Wichita iver
und südlichen
4.–5. April s RGreat Plains.
N
I

Buffalo
Ark
N

15.–16. Nov. Oklahoma ARKANSAS

S

Zugkorridor ans
Aransas–Wood KANADA City a iver
4.–5. April s R
NS

Buffalo OKLAHOMA ARKANSAS

Oklahoma
S

USA Östlicher Nutzung einer ähnlichen

NORD- Route nach Norden City ed Ri v er
Zugkorridor R
OKLAHOMA
S

Sesshafte Nutzung einer ähnlichen Fort Worth

AMERIKA
NORD- USA Östlicher
Florida-
Zugkorridor Route nach Norden Ri v er
Redan See
Stopp
Population bei Fort Worth
3.–4. April
Sesshafte Fort Worth
16.–17. Nov.
AMERIKA MEXIKO Florida- T E X A S Stopp an See
LOUISIANA
Sesshafte Population bei Fort WorthNew Orleans
Louisiana- U 3.–4. April
Population ME SA Austin Houston
16.–17. Nov. LOUISIANA
MEXIKO Sesshafte XI T E X A S NewLake
Orleans
17.–18. Nov. White
Louisiana- U San Antonio
KO

Population ME SA Austin Houston

XI Überwinterungsgebiet
17.–18. Nov. White Lake
SanNORDEN
Antonio Aransas National
KO

START DES ZUGS NACH

3. April 2023 Wildlife Refuge
Überwinterungsgebiet
Überwinterung
START DES ZUGS NACH NORDEN Aransas
18. Nov. National
2022–
3. April 2023 Wildlife
3. April 2023Refuge
Überwinterung
G 18.
o l Nov.
f v2022–
on
3. April 2023
Mexiko
Golf von
Mexiko
 3 Red River nahe Burkburnett, Texas,
entlang der Grenze zu Oklahoma

KRANICH-
PERSPEK- 2 Intracoastal Waterway,
Aransas National Wildlife Refuge

TIVE FOTO: CHRISTOPHE R BOYER

ARANSAS NATIONAL
WILDLIFE REFUGE , 1 2 3
TEXAS

Während eines Fluges mit einer

1957-Cessna vom Aransas National Wild-
life Refuge in Texas zum Wood-Buffalo-
Nationalpark in Kanada fingen der Pilot
Christopher Boyer und der Fotograf
Michael Forsberg (o.) im Frühjahr 2022
die Landschaft aus der Perspektive mi­
grierender Schreikraniche ein. Die Vögel
sind auf ihrer rund 4000 Kilometer langen
transkontinentalen Zugroute oft starken
Winden und Schneestürmen ausgesetzt
und müssen sorgfältig abwägen, wo sie
1 Die Salzmarschen im Aransas
sich zum Rasten niederlassen. Sie haben National Wildlife Refuge, Texas, sind
dabei mit schlechtem Wetter, Dürren und das Hauptüberwinterungsgebiet der
Fressfeinden zu kämpfen sowie mit einer Kraniche. Das 47 000 Hektar große
Reihe menschengemachter Gefahren: Schutzgebiet für Zugvögel an der
Golfküste wurde 1937 eingerichtet.
Stromfreileitungen, schadstoffbelastete
Feuchtgebiete, Wilderei und Städtebau.
Der jährliche Zug der Schreikraniche –
insgesamt 8000 Kilometer – ist so strapa-
ziös, dass nur etwa ein Drittel der Vögel
das fortpflanzungsfähige Alter erreicht.
 9 Middle Loup River Valley
nahe Arcadia, Nebraska

5 Im Salt Plains National Wildlife Refuge,

Oklahoma, nahe der Grenze zu Kansas, bie-
ten die Salztonebenen am Rand des Great
Salt Plains Lake einen guten Rastplatz.

10 Kreisförmige Bewässerungsmuster auf

einem Raster aus landwirtschaftlichen Feldern
nahe Atkinson, Nebraska

4 5 6 7&8 9 10 11 USA

6 Windpark nahe Campbell, Nebraska

7 Die breiten und

flachen verfloch-
tenen Seitenarme
des Platte River
nahe Gibbon,
Ne­braska, bieten
eine Fülle an siche-
ren, nicht zu dicht
beieinanderliegen-
den Schlafplätzen.
4 Bauernhof nahe Alfalfa, Oklahoma

8 Für die Frühjahrsaussaat vorbereitetes Getrei-

defeld am Platte River nahe Gibbon, Nebraska
 12 Das Oberflächenwasser in diesem Prairie-
Pothole-Feuchtgebiet nahe Watrous, Saskat-
chewan, ist eine wichtige Oase für die Vögel.

14 Ölsand-Tagebaubetrieb nahe Fort

MacKay, Alberta

WOOD -BUFFALO -
USA K A N A DA 12 13 14 15 NATIONALPARK ,
KANADA

11 Straßenkurve in einer verschneiten

Gegend nahe Kenel, Standing Rock Indian
Reservation, South Dakota

15 Die im Sonnenlicht glitzernden

borealen Feuchtgebiete des Wood-
Buffalo-Nationalparks, Northwest
Territories, sind für die Kraniche ein
sicherer Ort, um Nester zu bauen,
Küken aufzuziehen und sich auf den
Herbstzug nach Texas vorzubereiten.

13 Güterzug nahe Allan, Saskatchewan

Zwei ausgewachsene Schreikraniche und ein Jungvogel – erkennbar an seinen rostfarbenen
Federn – ziehen im Spätherbst über die Central Great Plains gen Süden. Auf ihrer Reise
zeigen die Eltern ihrem Nachwuchs die bewährten Rastplätze entlang der Zugroute.

103
Landbesitzern, die es tolerieren, dass die Kra-
niche in ihren Reisfeldern und Krebsteichen
nach Nahrung suchen. Louisianas Schreikra-
nichpopulation umfasst derzeit etwa 80 Tiere.
Ziel ist es, eine sich selbst erhaltende Popula-
tion von rund 120 Individuen zu etablieren,
da­runter auch 30 fortpflanzungsfähige Paare.
Noch vor Sonnenaufgang bin ich vor Ort,
um den Tag der Auswilderung mitzuerleben,
an dem die Kraniche zunächst in ihren gras-
bewachsenen Gehegen zusammengetrieben
werden, um sie dann per Transporter zum
White Lake zu befördern und in das Marsch-
land zu entlassen. Am White Lake begrüßt
uns Eva Szyszkoski, Wildtierbiologin am Loui-
siana Department of Wildlife and Fisheries,
die das Beringen und Besendern der Vögel
beaufsichtigt. Dann werden die Kraniche in
Kisten auf ein Flachbodenboot geladen und
über einen Wasserarm zu einem von Netzen
umschlossenen Stück Marschland befördert.
Eine Kranichattrappe heißt dort die Jung­-
vögel willkommen.
Am nächsten Morgen findet Szyszkoski
die Tiere hektisch umherlaufend vor – sie
wollen endlich losfliegen. Leider ist es nicht
ungewöhnlich, dass viele der ausgewilderten
Vögel im ersten Jahr nach ihrer Freilassung
sterben. Zum Teil liegt es daran, dass in Gefan-
genschaft aufgezogene Kraniche noch keine
Erfahrungen in freier Wildbahn gesammelt
haben – sie sind naiv, erklärt Szyszkoski. Das
Leben in unmittelbarer Nähe des Menschen
bringe Risiken mit sich, etwa Kollisionen des Landes zu senken, wirkt sich der Ausbau
mit Stromleitungen oder Zäunen. Mehr als der erneuerbaren Energien nicht unbedingt
ein Dutzend Schreikraniche wurden zudem positiv auf die Zugvögel aus. Laut einer neuen
seit Beginn des Projekts abgeschossen oder Studie meiden die Tiere Windparks, sodass sie
anderweitig getötet. wichtige Rastgebiete nicht mehr aufsuchen.
Etwa 2600 Kilometer entfernt fliegt 15J Mindestens 5500 Windkraftanlagen wurden
durch das Herzland der Vereinigten Staaten. bereits auf ihrer Zugroute errichtet, mehr als
Am 15. November hat sich der Sender des 18 000 weitere sind geplant. Obwohl noch kein
Jungvogels mit einem Funkmast in Okla- Schreikranich an einem Windrad zu Tode
homa verbunden. In dem Bundesstaat war gekommen ist, plädieren Naturschutzorga-
kurz zuvor einer der größten Windparks der nisationen für eine umsichtigere Standort-
USA ans Netz gegangen. Während politische wahl. Zudem sollten Stromleitungen durch
Entscheidungsträger und die Energieindustrie reflektierende Markierungen stärker sichtbar
sich darum bemühen, den CO2-Fußabdruck gemacht werden.

104

Einen Tag später und 420 Kilometer wei-
ter kommt 15J in der Nähe von Fort Worth
in Texas an. An Thanksgiving fällt das Sig-
nal komplett aus. Offenbar hat das Kranich-
weibchen das 47 000 Hektar große Aransas
National Wildlife Refuge erreicht, das 1937
als Zufluchtsort für migrierende Wasservögel
und andere Wildtiere eingerichtet wurde. Dort
befinde es sich wahrscheinlich außerhalb der
Reichweite eines Funkmasts, vermutet der
Biologe Dave Brandt. Wenn er recht hat, wäre
15Js erster Herbstzug erfolgreich gewesen – in
rund vier Wochen hätte das Kranichweibchen
mehr als 4000 Kilometer zurückgelegt und
105
Im Herbst 2023
bekannten sich
vier Männer schul-
dig, Ende 2021 in
Oklahoma vier
Schreikraniche
abgeschossen zu
haben. Am Schau-
platz der Straftat
war der Boden
übersät mit Federn
der toten Vögel.
konnte sich nun einen ganzen Winter lang an
der texanischen Golfküste ausruhen.
Das malerische Panorama aus Küstenlinie,
Salzmarschen und Gezeitentümpeln bildet
die Winterbühne, auf der die Schreikraniche
mit ihren Partnern kunstvolle Balztänze auf-
führen: Sie drehen Pirouetten, hüpfen und
flattern, wippen mit den rotbemützten Köpfen
und stoßen die trompetenartigen Schreie aus,
denen sie ihren Namen verdanken.
Doch sogar in diesem Winterquartier
lauern Gefahren, etwa die Küstenerschlie-
ßung und der Anstieg des Meeresspiegels.
Bis 2100 könnte sich mehr als die Hälfte der
Oben Mit einer Puppe ahmt Biologin Eva Szyszkoski das Verhalten erwachsener Kraniche
nach. Sie interagiert so mit in Gefangenschaft aufgezogenen, ausgewilderten Vögeln.
Unten Biologe Dave Brandt (l.) vom U.S. Geological Survey und Tierarzt Barry Hartup von
der International Crane Foundation kümmern sich um einen verletzten Schreikranich.

106
Süßwasserfeuchtgebiete an der texanischen
Golfküste in offenes Meer verwandelt haben,
prognostizieren manche Forscher. Anhaltende
Dürren und durstige Städte wie das stromauf-
wärts gelegene San Antonio sorgen für einen
immer geringeren Süßwassereintrag. In den
Ästuarien stellen Salzgehaltsänderungen ein
Problem für Blaukrabben und „Wolfberry“-
Pflanzen dar, die Hauptnahrungsquellen der
Schreikraniche. Ohne einen besseren Schutz
dieses großräumigen Ökosystems könnten die
Kraniche ihr einziges Überwinterungsgebiet
noch vor Ende des Jahrhunderts verlieren,
warnen Naturschützer.
Im Dezember 2022 treffe ich mich mit
Brandt in Texas, um 15J und weitere J-Vögel
in ihrem Winterquartier aufzuspüren. Wir
überblicken ein Salzmarschgebiet, das sich
über eine Länge von mindestens eineinhalb
Kilometern erstreckt. Obwohl die Fläche riesig
wirkt, ist sie nur ein Bruchteil des einstigen
Marschlandes, das sich die Landerschließung
in den vergangenen Jahrzehnten einverleibt
hat. Plötzlich fliegen zwei Schreikraniche hin-
ter einer grasbewachsenen Düne auf, ihre wei-
ßen Federn strahlen im Sonnenlicht. „Sie sind
hier, weil es so etwas an dieser Küste nicht
noch einmal gibt“, bemerkt Brandt angesichts
des ökologisch wertvollen Habitats. „Rund
40 Prozent der Population überwintern auf
diesem Teil der Halbinsel.“
Am nächsten Morgen besteigen wir kurz
nach Sonnenaufgang ein Fischerboot und
suchen acht Stunden lang nach 15J. Vergeb-
lich. Wir entdecken stattdessen einige andere
Schreikranichfamilien, unter ihnen auch
das Kranichmännchen 11J, das ebenfalls im
August 2022 beringt und besendert worden
war. 11J stolziert über die Salzmarsch und bet-
telt seine Eltern an, Blaukrabben und Früchte
mit ihm zu teilen.
Auf meinem Heimweg nach New York am
folgenden Abend erhalte ich eine Nachricht
von Brandt: 15Js Transmitter habe „ein­-
gecheckt“ und den Aufenthaltsort preis­ge­-
geben – nur eineinhalb Kilometer entfernt von
unserer Fahrstrecke entlang der Küste.
107
WENN DIE SE S ÖKOSYSTEM
NICHT BESSER GESCHÜTZT
W I R D, KÖ N N T E N D I E
KRANICHE IHR EINZIGES
ÜBERWINTERUNGSGEBIET
VOR ENDE DES JAHRHUNDERTS
VERLIEREN.
Mittlerweile haben die Schreikraniche
einen weiteren Zyklus aus Frühjahrs- und
Herbstzug vollendet. 15J bleibt der schwerst-
lokalisierbare Vogel der J-Schar. Während ich
von anderen beinahe täglich aktuelle Posi-
tionsdaten erhalte, habe ich nur ein paar Mal
etwas von dem Kranichweibchen gehört. Bei
jeder längeren Nachrichtenpause mache ich
mir Sorgen: Ist es in eine Stromleitung geflo-
gen oder von einem Kojoten gefressen wor-
den? Hat ein Jäger es abgeschossen, oder war
es womöglich an einer Krankheit verendet?
Geht alles gut, wird 15J zu den 536 erfass-
ten Schreikranichen gehören, die in diesem
Frühjahr Texas verlassen – sobald ihr Instinkt
ihnen sagt, dass es an der Zeit ist, nordwärts
zu ziehen. Binnen vier Wochen werden sie die
mehr als 4000 Kilometer bis zum Wood-Buf-
falo-Nationalpark zurücklegen, wo zahlreiche
erwachsene Tiere ihre Nester bauen und Eier
legen werden. Mit etwas Glück wird 15J selbst
in ein paar Jahren seiner einst bis an den Rand
der Ausrottung getriebenen Art dabei helfen,
ihre frühere Stärke zurückzugewinnen. j
Aus dem Englischen von Dr. Katja Mellenthin
Die preisgekrönte Journalistin Rene Ebersole
ist für NatGeo selbst an entlegensten Orten im
Einsatz. Der Fotograf und bekennende Kranich-
liebhaber Michael Forsberg hat sich auf Natur-
schutzthemen spezialisiert.
Im Aransas Natio-
nal Wildlife Refuge
in Texas stolzie-
ren Schreikraniche
bei Sonnenaufgang
neben einer Schar
Nashornpelikane.
Für ihr Wohlergehen
benötigen die gro-
ßen Vögel offene
Landschaften wie
diesen Tümpel in
der Salzmarsch.
 VOR ORT

AUGE ins ALL

Rechtzeitig zur Sonnenfinsternis hat das Yerkes-

Observatorium bei Chicago mit dem weltgrößten
Linsenteleskop wieder für Besucher geöffnet.

Text B I L L N E W C O T T

Fotos C H R I S T I E H E M M K L O K

U N T E R D E R K U P P E L des Yerkes-Observa- ein Mitarbeiter einen Schalter, und der

toriums, am Ufer des Lake Geneva in Wil-
liams Bay, Wisconsin, herrscht noch immer
das Jahr 1897. Der liebevoll polierte Große
Refraktor dominiert die bewegliche Halb-
kugel aus Metall – ein 18 Meter langes,
sechs Tonnen schweres Linsenfernrohr,
dessen Objektiv aus zwei Linsen mit einem
Durchmesser von 102 Zentimentern be­-
steht. Das Gerät wirkt auf fast lächerliche
Weise fantastisch. Will ein Astronom oder
Besucher durch das Okular blicken, bedient
kreisförmige Boden des Baus – mit 23 Me­-
ter Durchmesser einer der größten Aufzüge
der Welt – hebt sich um sieben Meter. Dann
verschiebt der Betrachter in einem Manö-
ver, das jedem Hobbyastronomen bekannt
vorkommen wird, das massive, tadellos
ausbalancierte Teleskop mit beiden Hän-
den in die gewünschte Richtung.
Ironischerweise sind die Wartungskos-
ten für diese Lowtech-Mechanik astro-
nomisch hoch. Aus dem Grund wäre das

APRIL SEITE.110

Rechts oben
Bei seiner USA-Reise 1921
besuchte Albert Einstein
(Siebter von rechts) das
FOTO (R. O.): YERKES OBSERVATORY
Yerkes-Observatorium
(großes Foto links).
Unten
Das Foto der Milchstraße
aus dem Archiv stammt vom
Astronomen E. E. Barnard,
der Staubwolken in unserer
Heimatgalaxie entdeckt hat.
SEITE.111
Observatorium beinahe der Abrissbirne
zum Opfer gefallen, nachdem dessen
Betreiber, die University of Chicago, es im
Jahr 2018 geschlossen hatte.
Yerkes gilt als Geburtsstätte der moder-
nen Astrophysik. Doch als ich die Anlage vor
etwa zwei Jahren besuchte, sah sie bemit-
leidenswert aus. Das Teleskop war in dicke,
undurchsichtige Plastikfolien ge­hüllt. Ein
demütigender Zustand für ein Präzisions­
gerät, das einst die Elite der As­­tro­physiker
und theoretischen Astronomen angezogen
2024
 VOR ORT

Die 15 Millionen Dollar teure Renovierung umfasste auch die drei Kuppeln. Die
größte hat einen Durchmesser von 27,5 Metern und dreht sich auf 36 Rädern.

hatte, darunter Albert Einstein, Edwin
Hubble, Gerard Kuiper und Carl Sagan.
Die Rettung kam, als eine gemeinnüt-
zige Organisation das Gebäude im Jahr
2020 übernahm, Spenden sammelte und
es innen wie außen für 15 Millionen Dol-
lar renovierte. Nun ist das Observatorium
– einschließlich des 20 Hektar großen
Geländes – erstmals seit 100 Jahren für
tägliche Führungen geöffnet. Am 8. April,
dem Tag der totalen Sonnenfinsternis über
Nordamerika, erwarten die Yerkes-Mitar-
beiter gar einen der geschäftigsten Tage
seiner Geschichte. In Williams Bay wird
die Abdeckung der Sonne 90,2 Prozent
betragen. Und es gibt keinen Ort im wei-
ten Umkreis, der sich besser eignen würde,
dem Phänomen beizuwohnen, als an dieser
geschichtsträchtigen Kuppel.
Auch das Gebäude selbst ist einen Be­-
such wert. Es ist gespickt mit Steinmetz-
arbeiten aus viktorianischer Zeit, roma-
nischen Bögen und Terrakotta-Figuren.
Geplant und gebaut wurde das Observato-
rium von George Ellery Hale und Charles
Tyson Yerkes – zwei Männern, die sehr
unterschiedliche Ziele verfolgten. Hale,
ein Astrophysiker, hatte die damals revo-
lutionäre Idee, eine Einrichtung zu schaf-
fen, die sowohl Observatorium als auch
aka­demische Einrichtung war. Ein Ort, an
dem Physiker und Chemiker ihre Entde-
ckungen überprüfen und neue Theorien
aufstellen konnten.
Yerkes hingegen, der die finanziellen
Mittel zur Verfügung stellte, war einer von
Chicagos meistgehassten Geschäftsleu-
ten. Er wollte das Projekt nutzen, um mit
seinem Geld seinen Ruf aufzupolieren.
Dies scheiterte jedoch. Er zog schließlich
nach New York. Das Gesicht des Mäzens
ist an einer der Außensäulen des Observa-
toriums verewigt – mit finsterem Lächeln
und Teufelshörnern. „Die Künstler hatten
ihren Spaß daran“, meint Dennis Kois,
geschäftsführender Direktor der Stiftung

APRIL SEITE.112
 NATIONAL GEOGRAPHIC
Die Terrakotta-Globen mit den Tierkreis­
zeichen wurden restauriert und wieder über
den Eingängen von Yerkes angebracht.
Yerkes Future, die das Observatorium von
der Universität übernommen hat. „Nie-
mand mochte Yerkes.“
Die beiden mehr als 200 Kilogramm
schweren Linsen des Teleskops – gegos-
sen in Frankreich, geschliffen in Mas-
sachusetts – stellen die bis heute größte
Version eines handgeführten Zwei-Lin-
sen-Teleskops dar, wie es auch Galileo
im Jahr 1609 verwendet hatte. Da Yerkes
eines der ersten großen Teleskope war, mit
deren Hilfe Fotos möglich waren, musste
sich der Tubus mit absoluter Präzision
REISETIPPS
WISCONSIN
Yerkes-Observatorium
USA
KARTE: NG
SEITE.113
bewegen, um der Erdbewegung zu folgen.
Auch nachdem Astronomen immer mehr
auf lichtstärkere Spiegelteleskope setzten,
veröffentlichten die Yerkes-Mitarbeiter wei-
terhin einflussreiche Arbeiten. Im Archiv
des Observatoriums stehen Tausende von
Forschungsberichten – darunter die Ori-
ginal-Doktorarbeit von Edwin Hubble aus
dem Jahr 1920.
Im Jahr 2018 beendete die University of
Chicago ihren Yerkes-Betrieb. Zwar nutzen
Astronomen noch heute die Fotoplatten
des Archivs, um die aktuellen Positionen
der Sterne mit denen von vor einem Jahr-
hundert zu vergleichen. Doch in den Hallen
wurde es still.
Als der Aufruf erging, die Renovierung
zu unterstützen, liefen viele Spenden von
Astronomie- und Architektur-Fans aus
allen Teilen der USA ein – darunter viele
aus der Nachbarstadt Lake Geneva, die fast
200 Jahre lang ein Tummelplatz der Rei-
chen aus Chicago gewesen war.
„Die Leute wollten schon immer hierher
kommen“, sagt Kois. Diese fast schon mys-
tische Anziehungskraft besteht auch heute
noch, egal, ob die Besucher nun Astrono-
mie-Fans sind oder nicht. „Es hat etwas,
direkt in Licht zu schauen, das Millionen
von Jahren unterwegs war.“ j
GUT ZU WISSEN ÜBERNACHTEN
Yerkes liegt in der Das 1968 eröffnete
Nähe von Chicago. Grand Geneva Resort
Täglich gibt es eine & Spa ist vom Archi-
geführte 1,5-stün­- tekten Frank Lloyd
dige Tour „Space & Wright inspiriert.
Spaces“ (Eintritt 43
Dollar/Erwachsener), ESSEN
außerdem Konzerte Einer der besten
und Lesungen. Pro- traditionellen Supper
gramm, Termine und Clubs befindet sich
Kartenkauf: yerkes im Mars Resort am
observatory.org nahen Lake Como.
2024
Die Synagoge von Huqoq
in Galiläa wurde im 5. Jahr­
hundert erbaut. Zwei
Mo­saike zeigen das Gesicht
einer Frau und eine hebrä­
ische Inschrift (u.) sowie
eine Szene, die möglicher­
weise ein Zusammentreffen
von Alexander dem Großen
und dem Hohepriester von
Jerusalem darstellt (r.).
FOTO: MARK THIESSEN

114
 A R C H Ä O L O G E N E N T D E C K T E N I N G A L I L Ä A
U N T E R D E N T R Ü M M E R N E I N E R S Y N A G O G E
K U N S T VO L L E M O S A I K E . D I E D A R S T E L LU N G E N
W E R F E N E I N N E U E S L I C H T AU F D A S L E B E N
D E R J U D E N U N T E R R Ö M I S C H E R H E R R S C H A F T.

.. STEINBILDER
JUDISCHEN LEBENS
 PA AS LIBANON
EURO IE
N Von Syrien
beanspruchte
KARTEN- Grenze
AUSSCHNITT GOLAN-
AF Archäolo- HÖHEN
RIKA gische
Stätte SYRIEN
Huqoq
See
Genezareth
WEST-
Mittelmeer JORDAN-
LAND

Jerusalem
GAZA- Totes
STREIFEN Meer

I S R A E L
EN
ÄGY

I
DAN
PTEN

JOR

30 km

Golf von
Akaba KARTE: NGM

T E X T A N N R . W I L L I A M S
F O T O S PA O L O V E R Z O N E

Die Studentin Anna Lafleur

fegt eine freigelegte Mauer
wusste nicht, was sie
D I E A RC H ÄO L O GI N JO D I M AGN E S S ab. Sie lebt in Kanada, wurde
aber hier in Galiläa geboren.
erwartete, als sie im Sommer 2010 den Hügel mit Blick „Als sich die Gelegenheit
über den See Genezareth erklomm. Hier, im Nordosten zu Ausgrabungen bot,
Israels, hatte einst das jüdische Dorf Huqoq gelegen. wusste ich, dass ich dabei
sein wollte“, sagt die ehren­
Dessen oberirdisch erkennbare Reste bestanden aus
amtliche Helferin.
jahrhundertealten Bausteinen, Schutt und wildem Senf.
Magness, National Geographic Explorer und Pro-
fessorin für Frühes Judentum an der University of
North Carolina in Chapel Hill, hatte schon viele Aus-
grabungen in Israel geleitet. Dass diese Hügelkuppe

116
eine Erkundung wert war, ahnte sie.
Im folgenden Sommer stieß sie mit
ihrem Team etwa zwei Meter unter
der Erdoberfläche auf eine Stein-
mauer. Mehrere Indizien – darunter
ein nach Jerusalem ausgerichtetes
Hauptportal – deuteten darauf hin,
dass es sich dabei um die Umfriedung
einer Synagoge handelte, die im frü-
hen 5. Jahrhundert errichtet worden
war. Ähnliche Gebäude aus der Zeit hatten einen mit
Steinplatten gepflasterten Boden – doch hier stieß das
Team beim Weitergraben auf immer mehr Mosaikstein-
chen oder Tesserae. Ein Hinweis darauf, dass sich an
diesem Ort etwas Besonderes befinden könnte.
An einem heißen Tag im Juni 2012 entfernte Bryan
Bozung, frischgebackener Absolvent der Brigham
Young University, vorsichtig die Erde von seinem
Grabungsplatz. Plötzlich stieß er auf etwas Hartes.
Jodi Magness, die er alarmierte, fegte selbst den
117
Restaurator Christian de Brer
entfernt vorsichtig Schmutz
und Mörtel von der Mähne
eines Löwen. Der Mosaik­
künstler, der diese Tafel
einst schuf, hatte wahr­
scheinlich nie eine solche
Kreatur gesehen, sondern
reproduzierte ein beliebtes
dekoratives Muster.
In der Morgendämmerung
arbeiten die Archäologen
bereits unter den Zelten, die
die Ausgrabung schützen.
„Dies ist wirklich das Land,
in dem Milch und Honig
fließen“, findet die Leiterin
Jodi Magness – sie meint die
nahe gelegenen Hügel mit
ihren Obstgärten, Viehher­
den und Bienenstöcken.
 3

8
2

6
7

1
 JONA
UND.. DIE
STURMISCHE
SEE
In der biblischen Geschichte weigert
9 sich der Prophet Jona, auf Gottes Befehl
gegen die sündige Stadt Ninive zu pre­
digen. Als er auf ein Schiff flieht, schickt
Gott einen Sturm, der das Schiff zu zer­
stören droht. Als Jona der Mannschaft
gesteht, dass der Sturm seine Schuld sei,
werfen sie ihn über Bord, um ihr Schiff zu
retten. Ein großer Fisch (oft als Wal darge­
stellt) verschluckt Jona. Die Interpretation
in Huqoq ist die früheste bekannte Dar­
stellung der Geschichte in einem antiken
jüdischen Kontext. Sie zeigt ein Detail,
das spätere jüdische und islamische
Schriftquellen übernehmen: Jona wird
von drei aufeinanderfolgenden Fischen
verschluckt (1).

Die Tafel befindet sich im Schiff der Sy­­

10 nagoge und enthält weitere interessante
Details: Ein bärtiger Mann, der ein Seil
mit Schlaufen ins Meer baumeln lässt (2),
könnte der Kapitän sein. Sein graues Haar
weist darauf hin, dass er älter und erfahre­
ner ist als der Rest der Mannschaft.
Ein Matrose im Ausguck deutet auf drei
Harpyien oder Sirenen auf einer Wolke
(3), Verkörperungen der stürmischen
Winde. Die vogelgestaltigen Mischwesen
mit Frauenköpfen tanzen und musizieren
mit Leier und Flöte.
Zu den Meerestieren gehören eine See­
schlange, die sich um einen Fisch schlingt
(4), ein Oktopus (5), ein Delfin (6) und
Fische, die man als Red Snapper (7) und
Seebarsch (8) identifiziert.
Ein Fischer, der von einem kleinen Boot
FOTO: ODED BALILTY

aus ein Netz auswirft (9), und ein Mann,

der mit einem anderen ein Fischernetz
auswringt (10) (nur teilweise erhalten),
stellen Aufgaben aus dem täglichen
Leben eines Seefahrers dar.
verbliebenen Schmutz fort. Plötzlich blickte den beiden
eine Frau entgegen: Ihr Gesicht, fein in Mosaikstein-
chen gezeichnet, war der erste Teil des Mosaiks, das
nach und nach zum Vorschein kommen sollte.
In den folgenden zehn Jahren kehrte Magness jeden
Juni mit einem internationalen Team von Experten und
Studenten nach Huqoq zurück. Ihr ursprüngliches Pro-
jekt, die Ausgrabung, erweiterte sich um den Erhalt der
Überreste des Mosaikfußbodens. Was davon in den fol-
genden Jahren freigelegt wurde, erwies sich als außer-
gewöhnlicher Fund. Wie sich herausstellte, betrug der
Umriss der Synagoge etwa 20 Meter Länge und 15 Meter
Breite. Die ganze Fußbodenfläche war einst mit fach-
männisch ausgeführten Mosaiken bedeckt, wobei nur
etwa die Hälfte des ursprünglichen Fußbodens intakt
geblieben war.
„In einer gewöhnlichen Kirche oder Synagoge werden
normalerweise eine, zwei oder drei Szenen dargestellt.
Hier gibt es viel mehr“, sagt Gideon Avni, Chefarchäo-
loge der Israelischen Altertumsbehörde. „Es ist wahr-
scheinlich die beste und vielfältigste Konzentration von
Mosaiken im ganzen Land.“
Viele der erhaltenen Mosaike stellen Geschichten
aus dem Tanach dar, der hebräischen Bibel: Tierpaare,
darunter Kamele, Esel, Elefanten und Löwen, die Noahs
Arche zustreben. Das Rote Meer, das die ägyptische
Armee verschlingt. Zimmerleute und Maurer beim Bau
des Turms von Babel. Samson, der die Stadttore von
Gaza auf seinen Schultern trägt.
„In den Mosaiken findet viel Gewalt und Blutvergie-
ßen statt“, sagt Magness. „Doch es gibt auch Humor.“
Zu den grausamsten Szenen gehört eine Darstellung
aus dem Buch der Richter, in der die Keniterin Jaël dem
kanaanitischen Feldherrn Sisera einen Zeltpflock durch
den Kopf hämmert. Im Gegensatz dazu steht die Dar-
stellung einer skurrilen Variante der Jona-Geschichte, Fritz Clingroth (r.) vom
in der der unglückliche Prophet von drei immer größe- College of Wooster in Ohio
ren Fischen verschlungen wird. Daneben greifen die und die Restauratorin Linda
Roundhill untersuchen ein
Mosaike bekannte Motive der klassischen Kunst auf, Mosaik, das einen Hasen
etwa Amoretten, Theatermasken und den griechischen und einen Fuchs zeigt, die
Sonnengott Helios in seinem Wagen, umgeben von den an Trauben knabbern. Wahr­
scheinlich soll die Szene
Symbolen des Tierkreises.
Überfluss symbolisieren.
Huqoq mag ein ländliches Dorf gewesen sein. Isoliert
war es nicht, sagt Dennis Mizzi, stellvertretender Gra-
bungsleiter und Dozent für Hebräisch und Altes Juden-
tum an der Universität Malta. „Es stand in Verbindung
mit dem erweiterten Mittelmeerraum. Das heißt, dass

124
die Gemeinschaft ein breites Spek­­-
trum an Traditionen kannte und sich
mit Ideen von außerhalb ihres eige-
nen Umfelds anfreunden konnte.“
Einige Details zur Entstehungs-
geschichte der Synagoge sind noch
offen, aber die Entdeckung der Über-
reste erweitert schon jetzt unser Ver-
ständnis davon, wie Juden einst unter
Fremdherrschaft lebten. Die Römer
eroberten im 1. Jahrhundert v. Chr. die Region östlich
des Mittelmeers, einschließlich Galiläa. Sie erkannten
das Judentum zunächst als angestammte Religion an;
Juden durften nach ihren eigenen Gesetzen leben und
genossen Ausnahmeregelungen. Sie mussten beispiels-
weise nicht den Kaiser anbeten. „Dies ändert sich, als
das Christentum zur legalen und dann zur offiziellen
Religion im Römischen Reich wird“, sagt Magness. „Ab
dem 4. Jahrhundert wird die Gesetzgebung gegenüber
dem Judentum immer restriktiver.“
125
Das Buch Genesis erzählt
vom Bau des Turms zu Babel,
der den Himmel erreichen
sollte. Unter den Mosaiken
in Huqoq befindet sich diese
lebendige Szene: Arbeiter
und Maurer schlagen Steine,
bearbeiten und heben sie
mittels eines komplexen
Flaschenzugsystems hoch.
Zimmerer bearbeiten Holz
mit Sägen, Hobeln und Dech­
seln. Gott bestrafte die Men­
schen schließlich für ihren
Stolz, indem er ihre Spra­
chen verwirrte. Die daraus
resultierende Uneinigkeit
wird im Streit zwischen
zwei Arbeitern (Mitte links)
vorausgenommen.
FOTO: ODED BALILTY
 Neue Gesetze konnten den Bau von Synagogen ver-
bieten. „Geht man nur davon aus, würde man denken,
dass die Juden verfolgt und unterdrückt wurden“, sagt
Magness. Die Existenz einer großen, mit kühnen künst-
lerischen Ausdrucksformen geschmückten Synagoge ist
jedoch ein Beweis dafür, dass das Leben in Galiläa trotz
der Spannungen nicht ganz düster gewesen sein kann.
U N T E R D E N M O S A I K E N sticht eine Tafel hervor, die
feiner gearbeitet ist als der übrige Boden. Die Dar­-
128
stellungen sind in drei horizontale
Register unterteilt: Im unteren Be­-
reich sterben besiegte Soldaten, ein
Kriegselefant und ein Stier mit blu-
tenden Speerwunden. In der Mitte
rahmen steinerne Bögen in Tuniken
gekleidete Männer. Oben treffen zwei
Anführer mit ihrem jeweiligen Ge­fol­-
ge aufeinander, einer in Tunika, der
andere in einer Rüstung.

Mit vereinten Kräften ziehen
die Mitglieder des Archäo­
logenteams einen schweren
Stein von einem auszuheben­
den Bereich. Die Bausteine
der eingestürzten Synagoge
lagen auf dem gesamten
Gelände verstreut, ehe hier
die Arbeiten begannen.
Jodi Magness glaubt, dass der Mann in der Rüstung
Alexander den Großen darstellt. Sein Gefolge besteht
aus Soldaten mit Kriegselefanten. Er ist zwar nicht
durch eine Inschrift zu identifizieren, trägt aber das
Diadem und den Purpurmantel eines Königs.
„In der Antike gab es nur einen griechischen König,
der so bedeutend war, dass er keine Bezeichnung
brauchte“, sagt Magness. Das Mosaik könnte eine Begeg-
nung zwischen dem Hohepriester von Jerusalem und
Alexander während dessen Feldzug gegen die Perser
im 4. Jahrhundert v. Chr. darstellen. Die Geschichte –
wahrscheinlich eher Legende als Wahrheit – kursierte
jahrhundertelang in jüdischen Gemeinden.
„Die Legende soll zeigen, dass sogar Alexander der
Große, der größte der griechischen Könige, die Größe
des Gottes Israels anerkannte“, meint Magness. Wahr-
scheinlich wurde das exquisite Kunstwerk ebenso wie
die anderen Mosaike von Spezialisten einer örtlichen
Familienwerkstatt verlegt. Eine Namensinschrift neben
dem Haupteingang nennt mehrere Personen, die man
als Handwerker identifiziert, darunter vielleicht die-
jenigen, die den Boden geschaffen haben.
„Es scheint sich um Brüder innerhalb einer Familie
zu handeln, vielleicht auch um ein paar weitere Per-
sonen“, sagt der auf jüdische Geschichte spezialisierte
Historiker Ra’anan Boustan von der Princeton Uni­-
versity. Wahrscheinlich hat ein erfahrener Künstler
den Fußboden entworfen und die Figuren in jeder Ta­-
fel vorgezeichnet.
Die Handwerker verarbeiteten Steine aus der Region,
die vor Ort in lange Stangen geschnitten und dann in
winzige Würfel zerteilt wurden. Die Qualität eines
Mosaiks hängt von der Größe seiner Steine ab: Je klei-
ner sie geschnitten sind, desto mehr Details ergeben
sie. Mosaikspezialisten messen die Anzahl der Stein-
chen pro Quadratdezimeter (100 Quadratzentimeter).
In Huqoq beträgt die Anzahl an einigen Stellen nur etwa
175, an anderen 230 Steinchen. Das mysteriöse dreitei-
lige Mosaik kommt auf etwa 500 Steinchen. „Die Mess-
werte für die Dichte in diesem Bereich entsprechen in
etwa dem, was man in den kaiserlichen Mosaiken in
Konstantinopel finden würde“, sagt Karen Britt, Mosaik-
spezialistin an der Northwest Missouri State University.
Den gleichfalls freigelegten farbigen Flecken im Putz
nach zu urteilen, könnten Teile des Innenraums bunt
bemalt gewesen sein (was die Ausgräber zur Bezeich-
nung „Disco-Synagoge“ inspirierte). Das Farbschema
129
im Innenraum – rot, weiß, rosa und gelb – könnte sich
auf das Äußere des Gebäudes erstreckt haben.
Unter Berücksichtigung weiterer Funde in der Region
glaubt Magness, dass Huqoqs verschwenderische Ge­-
staltung ein Hinweis auf einen Wettbewerb unter der
jüdischen Bevölkerung sein könnte. „Alle Dörfer in
der Gegend bauten Synagogen, und sie sind alle ziem-
lich spektakulär“, sagt sie. „Aber hier haben die Men-
schen wohl beschlossen, die ‚Mutter aller Synagogen‘
zu errichten. Wahrscheinlich war sie zwei Stockwerke
hoch und stand an einem hohen Punkt des Dorfes, war
also weithin sichtbar.“
war nicht billig. Viel-
E I N S O P R AC H T VO L L E S B AU W E R K
leicht übernahmen wohlhabende Gönner die Kosten;
wahrscheinlicher ist, dass auch die weniger begüterten
Dorfbewohner in der Lage waren, zu einem Baufonds
beizutragen. Wenigstens im 5. Jahrhundert scheint es
den Juden in diesem Teil des Reiches gut gegangen zu
sein. Vielleicht hatten sie Sorge, ob ihre Religionsfrei-
heit andauern würde. Vielleicht finden diese Sorgen in
der Gestaltung des Bodens ihren Ausdruck.
„Ich glaube, dass sie sich mit der Tatsache aus­
einandersetzten, dass sie in einer zunehmend christ-
lichen Welt lebten“, sagt Mosaikspezialistin Britt. „Eine
Möglichkeit war, zu sagen: Seht her, das ist gar nicht
so anders als in früheren Zeiten, als die Israeliten mit
anderen fremden Mächten zu tun hatten, seien es die
Philister, die Kanaaniter, die Babylonier, die Griechen,
die Römer und jetzt die christlichen Römer.“
Auch der Historiker Boustan findet, „dass das Thema
der göttlichen Erlösung durch menschliche Krieger im
Angesicht der Fremdherrschaft stark herüberkommt“.
Und doch wurde die Synagoge ein paar Generationen
nach ihrer Errichtung verlassen. Angesichts der langen
Geschichte katastrophaler seismischer Aktivitäten in
der Region liegt der Gedanke nahe, dass ein Erdbe-
ben die Synagoge so stark beschädigt hatte, dass sie
als unsicher galt. Schließlich stürzten Mauern ein und
zerstörten Teile der Mosaike. Ein weiteres Beben könnte
dem Bauwerk den Todesstoß versetzt haben. „Es wurde
nicht verbrannt. Es wurde nicht abgerissen“, sagt Martin
Wells, Architekturspezialist am Austin College in Texas,
der das Projekt betreut. „Ich tippe auf ein Erdbeben.“
Etwa 800 Jahre nach dem Bau der Synagoge be­-
herrschte die in Ägypten ansässige muslimische Mam-
luken-Dynastie die Region. Eine ihrer Straßen, Teil
130
In einer biblischen Szene aus
dem Buch der Richter tötet
der starke Samson einen
Philister-Soldaten, der hier
zusammengebrochen mit
seinem Schild dargestellt ist.
Auch zwei weitere Szenen fei­
ern den legendären Anführer.
eines Verbindungsnetzes zwischen
Kairo und Damaskus, führte am Dorf
vorbei und brachte einen Strom von
Händlern und Pilgern. Als die Gegend
wieder aufblühte, reparierten und
erweiterten die verbliebenen Juden
die verfallene Synagoge. Sie ergänz­-
ten einen dicken, betonähnlichen
Sockel, der glücklicherweise die Mo­-
saike schützte.
Ab dem 15. Jahrhundert erlahmte
der Handelsverkehr in der Gegend.
Die Synagoge scheint wieder verlas-
sen worden zu sein und verfiel erneut.
Magness und ihr Team beendeten
ihre Arbeit im Sommer 2023. Zum
Schutz der Mosaike wurde die Stätte
verfüllt und der Israelischen Alter-
tumsbehörde (IAA) sowie dem Jüdi-
schen Nationalfonds übergeben. Der
IAA-Archäologe Avni glaubt, dass die-
ses „Juwel in der Krone“ des israeli-
schen Kulturerbes eine der größten
Attraktionen des Landes werden wird.
Auch wenn die Ausgrabungen abge-
schlossen sind – in Jerusalem lagern
zahlreiche Materialien und Funde,
die auf Analyse warten. Es sind noch
viele Rätsel zu lösen, sagt Jodi Mag-
ness. „Mein Team und ich, wir werden
noch jahrelang zurückkommen.“ j
Aus dem Englischen von Anne Sander
Ann R. Williams ist Spezialistin für die
Kulturen der Antike und Co-Autorin
von „5000 Jahre Ägypten. Vermächt­
nis einer Hochkultur“ (National Geo­
graphic, 400 Seiten, 49,99 Euro).
 SPUR DER GESCHICHTE

A M 9. A P R I L 1 8 6 5 , als eben etwas Passendes

die Unionstruppen die D as suchen.“
konföderierte Armee in
Virginia umzingelt hat­ WEIS SE In diesem Fall er­­
möglichte die weiße
ten, sah der Südstaa­ GES CHIRRT UCH Flag g e ein Treffen
ten-General Robert E. zwischen den Generä­
Lee die Zeit für Kapitu­ len Lee und Grant in
lationsgespräche ge­- Wie ein unscheinbares dem Ort Appomattox
kommen. Er schickte Stück Stoff dazu beitrug, den Court House, wo Lee
einen Stabsoffizier über Amerikanischen Bürgerkrieg und die Reste seiner
die feindlichen Linien, zu beenden. Armee offiziell kapi­
der um Waffenruhe bit­ tulierten. Es war der
Text
ten sollte, bis Lee sich Moment, den viele als
SARAH KUTA
mit Ulysses S. Grant, das faktische Ende des
dem Oberkomman­ Bürgerkriegs ansehen.
dierenden der Unions­ Die Tragödie ging
streitkräfte, treffen trotzdem weiter. Fünf
konnte. Als Schutzzei­ Tage später erschoss
chen trug Oberst Ro­- John Wilkes B ooth
bert Moorman Sims ein den US-Präsidenten
weißes Geschirrtuch Abraham Lincoln. Die
mit Fransen und drei Kämpfe zwischen den
dünnen roten Streifen Nord- und Südstaaten
am Rand. Eine Hälfte dauerten weitere ein­

JOHN DOMAN, ST. PAUL PIONEER PRESS, GETTY IMAGES; VIRGINIA HISTORICAL SOCIETY, BRIDGEMAN IMAGES
dieses Geschirrtuchs, das als Waffenstill­ einhalb Jahre, bis Lincolns Nachfolger

FOTOS (V. O. L. IM UHRZEIGERSINN): RICHARD W. STRAUSS, NATIONAL MUSEUM OF AMERICAN HISTORY;

standsfahne der Konföderierten bekannt
wurde, liegt heute in Washington, D. C., in
einer Glasvitrine des National Museum
of American History der Smithsonian
Institution. Das vergilbte, unscheinbare
Artefakt spielte eine Schlüsselrolle in einem
der wichtigsten Momente in der Ge­schich­-
te der USA.
WA R U M E I N G E S C H I R RT U C H ? Im Laufe der
Geschichte stammte die weiße Flagge (oder
Parlamentärflagge) häufig aus dem Alltags­
gebrauch, war also ein zweckentfremdetes
Handtuch oder Bettlaken.
„Keine Armee der Welt hat so eine Flag­-
ge, weil sie kontraproduktiv für die Moral
ist“, sagt der Flaggenexperte James Ferri­
gan. „Wenn die Dinge nicht so laufen, wie
man es sich wünscht, und man mit denen
reden muss, die die besseren Waffen und
mehr Männer haben, dann muss man sich
Andrew Johnson im August 1866 den Kon­
flikt offiziell für beendet erklärte.
Zum Leidwesen von Oberst Sims fiel die
weiße Flagge in die Hände der Nordstaaten.
„Oberstleutnant Whitaker fragte mich, ob
ich ihm das Tuch, das ich als Fahne benutzt
hatte, zur Aufbewahrung geben würde. Ich
antwortete: ‚Nur über meine Leiche. Es ist
erniedrigend genug, dass ich die Flagge zei­
gen musste, und ich werde nicht zulassen,
dass Sie sie als Wahrzeichen unserer Nie­
derlage behalten‘“, schrieb Sims in einem
Brief vom Mai 1886, in dem er seine Rolle
bei der Kapitulation beschrieb.
Nach Kriegsende schenkte General Phi­
lip Sheridan die Flagge Elizabeth Custer
„in Anerkennung der treuen Dienste ihres
Mannes“, des Generals George Custer.
Irgendwann wurde das Geschirrtuch in
zwei Hälften geteilt; der Verbleib des feh­
lenden Stücks ist bis heute ein Rätsel.

APRIL SEITE.132
 NATIONAL GEOGRAPHIC
A U C H W E N N D I E K A P I T U L AT I O N fast
160 Jahre zurückliegt, hat sich die Sym­
bolik des Geschirrtuchs im Lauf der Jahre
gewandelt. „Das Erstaunliche an Objekten
ist, dass sie sowohl physisch als auch meta­
phorisch die Emotionen und die Bedeutung
eines Moments transportieren. Deswegen
bewahren wir sie auf“, sagt Kuratorin Lisa
Kathleen Graddy von der Smithsonian
Institution. „Aber die Interpretation hängt
vom Auge des Betrachters ab: Es könnte als
Moment der Bitterkeit oder als Siegesmo­
ment gesehen werden.“
Ähnlich ist es bei einer bekannteren
Hin­terlassenschaft des Bürgerkriegs: der
Flagge der Konföderierten. Sie wurde zu
einem dauerhaften – und allgegenwärti­
gen – Symbol des Rassismus. Die Künst­
lerin Sonya Clark, Professorin für Kunst
und Kunstgeschichte am Amherst Col­
lege in Massachusetts, beschäftigte sich
in einer Ausstellung, die 2019 im Fabric
Workshop and Museum in Philadelphia
zu sehen war, mit dem widersprüchlichen
Erbe der Flaggen. Die Schau forderte die
SEITE.133
Betrachter auf, sich eine Welt vorzustellen,
in der die friedensstiftende Waffenstill­
standsflagge anstelle der spalterischen
Kriegsflagge der Konföderierten die ame­
rikanische Geschichte dominiert. Fünf
Jahre nach der Ausstellung haben der Tod
von George Floyd und vielen anderen in
den Vereinigten Staaten eine anhaltende
Auseinandersetzung über Rassismus aus­
gelöst. Präsident Biden warnte, dass White
Supremacy mit ihren rassistischen Ideo­
logien und Strukturen zur „gefährlichs­
ten terroristischen Bedrohung im Inland“
geworden sei. Sonya Clarks Gefühle bezüg­
lich der Bedeutung der Flagge sind noch
gemischter geworden. „Welche Fortschritte
haben wir gemacht?“, fragt sie. „Wovor
wurde wirklich kapituliert?“ j
Die Kapitulation von Süd-
staaten-General Robert E.
Lee vor dem Oberbefehls-
haber des US-Heeres Ulys-
ses S. Grant im April 1865 war
Thema in Zeitungsartikeln
(Bild oben) und Gemälden
wie „Let Us Have Peace“ von
Jean Leon Gerome Ferris.
2024
APRIL SEITE.134
 TIERLEBEN

AUSFLUG
unter

GEFAHR
Die mutigsten Bienen verlassen
am Winterende als Erste den Stock.
Um Pollen für die Larven zu
sammeln, riskieren sie ihr Leben.

Text D E N N I S W E L L S
Fotos B R I A N M C C L A T C H Y

E N D E F E B R U A R oder Anfang März, wenn

die Sonne an Kraft gewinnt und der Schnee
schmilzt, kommt für die Bienen ein großer
Moment: der erste Ausflug des Jahres nach
Monaten des Ausharrens im Bienenstock.
Die Honigreserven gehen zur Neige, und
um neuen produzieren zu können, müssen
die Bienen auf Nahrungssuche gehen. Es
fliegen allerdings nicht die ersten, frisch
geschlüpften Bienen des Jahres aus, son-
dern nur die erfahrenen „Winterbienen“,
die den Winter im Stock überlebt haben.
Dieser erste Frühjahrsausflug ist ein
lebensgefährliches Unterfangen für die
Tiere. Im Gegensatz zu Säugetieren und
Vögeln sind Bienen wechselwarme Tiere
– ihre Körpertemperatur entspricht annä-
hernd der Umgebungstemperatur. Nur

Die Blüten einer Mohnblume bieten

Bienen zwar keinen Nektar, dafür aber,
ebenso wichtig, reichhaltigen Pollen.

SEITE.135 2024
 TIERLEBEN

durch Muskelaktivität können sie ihre Kör-
per kurzfristig erwärmen. Sinkt die Außen-
und damit ihre Körpertemperatur, wird es
kritisch: Bei weniger als zehn Grad können
Bienen nicht mehr fliegen, ja nicht einmal
mehr atmen; ihre Flug- und ihre Atem-
muskulatur versagen. Das bedeutet, dass
loszufliegen – hinaus in eine scheinbar
trostlose, noch immer winterliche Land-
schaft. Dabei kommt zum Tragen, dass
Bienen unterschiedliche Charaktereigen-
schaften haben.
WER MACHT DEN ANFANG?

eine Biene auf Nahrungssuche dem Tod

geweiht ist, wenn sie sich in einen schat-
tigen Wald verirrt oder die Sonne nur ein
paar Minuten zu lange hinter den Wolken
verschwindet.
Unter den 10 000 oder 15 000 Bienen des
Volkes gibt es immer eine oder ein paar
wenige, die mutiger sind als alle ande-
ren. An einem Tag, der gerade eben warm
genug erscheint, entschließen sie sich,
Während die meisten Bienen im Stock
finden, dass es noch zu kalt und damit zu
riskant für einen Ausflug ist, sind einige
wenige ihrer „neugierigen“ Schwestern
der Ansicht, dass die Temperatur an einem
sonnigen Mittag für einen Ausflug gerade
hoch genug ist.
Durch das Vorhandensein solch un-
terschiedlicher Persönlichkeiten im

APRIL SEITE.136
 NATIONAL GEOGRAPHIC
Links
Honigbienen teilen den
Honig unter allen Mitglie­
dern eines Bienenvolkes auf.
Kein Mitglied wird bevor­
zugt, keines vernachlässigt.
Hier herrscht Demokratie.
Rechts
Bienen haben eigentlich
vier Flügel. Diese verhaken
sich ineinander und bilden
im Flug zwei große Flügel.
FOTO: RUDOLF DIESEL
Bienenstock verteilt sich das Risiko für das
gesamte Volk evolutionär gesehen auf eine
sinnvolle Art: Hätten sämtliche Bienen die
gleiche Risikoschwelle, würden sie womög-
lich alle am selben Tag ausfliegen. Falls
sie sich getäuscht hätten und der betref-
fende Tag doch noch sehr kalt wäre, dann
würden nicht viele von ihnen lebend von
diesem ersten Ausflug zurückkehren. Das
wäre ein herber Rückschlag für das Bienen-
volk und würde seine Überlebenschancen
drastisch senken.
Eine erste, mutige Biene fliegt nun in
eine kalte, karge Welt und macht sich auf
die Suche nach etwas Essbarem, um ihr
Volk zu ernähren. Sie sucht nach Blüten in
einer Welt, in der in unseren Augen noch
nichts blüht – fast nichts.
In unseren Breitengraden ist es immer
eine bestimmte Pflanze, die für die Bienen
die erste Nahrungsquelle des Jahres ist
und deren Blüten weithin sichtbar in den
Wipfeln der Bäume leuchten: die Weide.
Der Pollen der Weide zählt zu den protein­
reichsten, die die Natur anzubieten hat.
Diese Proteine sind allerdings nicht für
die Winterbienen bestimmt. Wenn Bienen
SEITE.137
einmal durch die Metamorphose gegan-
gen sind, wachsen sie nicht mehr. Insek-
ten bleiben ihr ganzes Leben gleich groß
– genauer: Sie bleiben während der Lebens-
zeit, die sie nicht als Larve verbringen,
gleich groß, denn das Wachstum fin­-det im
Larvenstadium statt. Und in dieser frühen
Lebensphase können die Bienen nicht von
Honig allein leben, denn dieser enthält nur
Kohlenhydrate.
Larven benötigen Eiweiß, nur damit
können Muskeln aufgebaut werden. Der
Eiweißlieferant für alle Bienenarten – nicht
nur Honigbienen – ist Blütenpollen. Daher
macht es nichts, dass Weidenblüten kaum
Nektar bieten. Es geht den Bienen um den
eiweißhaltigen Pollen, mit dem sie im Nest
die Larven ernähren müssen, schon bald
viele Tausende. Der Pollen, den die Win-
terbienen bei ihren Ausflügen sammeln,
dient als Nahrung für die frisch geschlüpf-
ten Sommerbienen.
S C H W E R STA R B E I T D E R SA M M L E R I N N E N
Der Begriff „Pollenhöschen“ für die Struk-
turen am hinteren Beinpaar der Bienen ist
2024
 TIERLEBEN
Die Pollen der Weide zählen
zu den proteinreichsten,
die die Natur zu bieten hat.
Sie dienen früh im Jahr als
Nahrung für die Bienen­
larven, die zum Wachstum
vor allem Eiweiß benötigen.
irreführend, denn tatsächlich handelt
es sich um Kämme. Dank der Zeitlupen-
studien, die die Dreharbeiten für den
Film ermöglichten, konnten wir immer
wieder beobachten, wie die Bienen sich
geschickt im Flug den Pollen aus dem
Fell strichen und ihn an den Kämmen
an ihren Hinterbeinen abstreiften.
Immer wieder pressten sie noch mehr
Pollen an ihre Beine, um möglichst viel
transportieren zu können. Studien bele-
gen, dass Bienen sogar – wie erfahrene
Piloten – ihre Nutzlast abzüglich des
„Treibstoffs“ berechnen. Das heißt: Bei
Aus dem Leben
der Honigbienen
Text und Bilder
sind dem Buch zum
gleichnamigen Film
von Dennis Wells
entnommen:
„Tagebuch einer
Biene“, Dennis
Wells, Jürgen Tautz
(Vorwort), Freder-
king & Thaler, 192
Seiten, 29,99 Euro
APRIL
den ersten Erkundungsflügen nehmen
sie vorher möglichst viel Honig auf, der
ihnen – aufbewahrt in ihrem Honigma-
gen – als Energiequelle dient. Sobald
ihnen die Distanz zu den Blüten, die sie
ansteuern, bekannt ist, nehmen sie vor
dem Verlassen des Bienenstocks ledig-
lich so viel Honig auf, wie sie für den
Hinweg benötigen. Vor Ort versorgen
sie sich wiederum nur mit so viel Nektar,
wie sie als Energievorrat für den Rück-
weg brauchen. So maximieren Bienen die
Menge an Pollen, die sie zurück in den
Stock transportieren können.
Bienen sind wahre Schwertranspor­ter
– sie sind in der Lage, mehr als die Hälfte
ihres Körpergewichts von 0,1 Gramm als
„Zuladung“ durch die Luft zu befördern.
Zum Vergleich: Unsere modernsten
Transportflugzeuge können nur eine Last
von bis zu einem Drittel ihres Gesamtge-
wichts transportieren. Und obwohl das
Fliegen mit zusätzlicher Last für die klei-
nen Insekten eine äußerst kraftraubende
Tätigkeit ist, schrecken sie nicht davor
zurück: Eine einzige Biene kann bis zu
2000 Blüten besuchen – Tag für Tag. j
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DOKUMENTATION Ute Wiemer (f)
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Schlaflose Nächte, stinkende Gehege und
bei 40 Grad im Schatten rotzfrechen Affen
hinterherjagen? Das klingt nicht gerade nach
den perfekten Flitterwochen! Und doch
begleitet Marc seine frischgebackene Frau
Michi nach ihrer Hochzeit ans andere Ende der
Welt und tauscht das vertraute All-Inclusive-
Hotel mit Cocktailbar und Pool gegen
Lehmhütten, Affenkacke und Macheten ein.

264 Seiten, ca. 30 Bilder

ISBN 978-3-95889-476-1
€(D) 16,99

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Elena Probst