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Kultur

Zum Glück aber hält sich System, mit „einer Mischung


L I T E R AT U R
Juli Zeh, die schon in Büchern aus Furcht und unsinniger

Hexe im wie „Adler und Engel“ (2001)


und „Schilf“ (2007) mit zu-
packender Direktheit aufge-
Freude“, nachdem sich ihr
Bruder im Gefängnis umge-
bracht hat. Der junge Mann

Tiefkühlfach trumpft hatte, nicht lange


mit der detailvernarrten Aus-
stand im dringenden Ver-
dacht, ein Mädchen ermordet

HORST GALUSCHKA / FOTEX


schmückung ihres Überwa- zu haben, der DNA-Beweis
Juli Zehs Science-Fiction- chungsstaats auf. Stattdessen sprach eindeutig gegen ihn –
skizziert sie einen Kriminal- und doch war er nicht der
Roman „Corpus Delicti“ stoff – und konfrontiert die Täter.
schildert eine Rebellin wider Leser geschickt und ziemlich Die Auflösung dieses Rät-
den Gesundheitswahn. spannend mit dem philoso- sels schildert Zeh als Gerichts-
phischen Für und Wider ihrer Schriftstellerin Zeh drama. Ursprünglich hat die

K
rankheiten sind nicht zum Sterben aller Metaphysik beraubten „Tempel und Altar“ Schriftstellerin und Juristin
da, wie jeder Hypochonder weiß; Beinahe-Idealgesellschaft. Statt „Corpus Delicti“ als Theater-
in vielen Fällen geben sie dem Da- um das Seelenheil dreht sich alles um das stück geschrieben, im September 2007
sein erst die rechte Würze: Ein „Stimulans physische Wohlergehen, „der Körper ist kam es bei der Ruhrtriennale in Essen
des Lebens“ sei das Kranksein, sofern man uns Tempel und Altar, Götze und Opfer, heraus und brachte ihr viele lobende Kri-
nicht daran zugrunde gehe, hat Robert heilig gesprochen und versklavt“. tiken ein – und ein paar hämische, die über
Musil einst geschrieben. Juli Zeh, 34, ist eine olympische Erzäh- „Leitartikel von Schillerschem Pathos“
Genau bei diesem Gedanken setzt der lerin, die von sehr hoch oben auf ihre lästerten.
neue Roman von Juli Zeh an. Die gilt als Figuren hinabblickt; gern nimmt sie diese Juli Zehs Erzählkonzept geht tatsäch-
besonders kluge, gradlinige, disziplinier- mit einem auktorialen „Wir“ an der Hand. lich in der Romanform überzeugender auf
te deutsche Schriftstellerin und verehrt In diesem Fall führt sie die Biologin Mia als in der Bühnenfassung. Die Kunst dieser
verblüffenderweise ausgerechnet den von Holl ins Rampenlicht, eine Frau Mitte Autorin besteht gerade im scharfsinnigen
Gefühlsregungen oft heillos faszinierten, dreißig. „Ihren Körper hat Mia nie geach- Gedanken-Pingpong ihrer Versuchsanord-
mäandernden, berüchtigt unzuverlässigen tet oder gar geliebt“, heißt es einmal. Das nungen, in einem heiter-diskursiven Furor,
Dichter Musil. ist ihr eigentliches Verbrechen. wie man ihn sonst nur (hölzerner) von
Zehs Buch heißt „Corpus Delicti“ und Die bislang brave Mia entschließt sich Bernhard Schlink kennt und wie ihn früher
spielt so um das Jahr 2050 herum in einer zu einem Aufstand gegen das herrschende Friedrich Dürrenmatt beherrschte.
Gesundheitsdiktatur, in der es Wie diese Schriftsteller auch,
keine Erkältungen und prak- so gerät Juli Zeh manchmal ins
tisch keinen Krebs mehr gibt**. Schlingern, wenn sie lyrische
Ein ausgeklügeltes staatliches Pirouetten dreht. Etwa wenn
Überwachungssystem kontrol- sie ein halb imaginäres, halb ro-
liert, dass die Menschen sich boterartiges Kuschelwesen na-
gut ernähren, sich körperlich mens „Die ideale Geliebte“
ertüchtigen, keinen Schmutz entwirft, mit dem ihre Heldin
anfassen und sich nicht etwa munter plaudert. Oder wenn
zur Begrüßung nutzlos küssen, sie behauptet, ihre Mia stecke
weil dies hygienisch bekannt- „in der eigenen Haut wie in
lich eine große Sauerei ist. Sex einem Fangnetz“.
und Fortpflanzung sind nur Brillant ist dieser Roman als
zwischen immunologisch ein- Kritik der hygienischen Ver-
wandfrei zueinander passenden nunft: wenn seine Helden über
Partnern erlaubt, bei Zuwider- die gentechnische Optimierung
handlungen setzt es üble Stra- der Körper streiten, über das
fen: Schon wer eine Zigarette Versprechen globaler Sicher-
raucht, kriegt gern mal zwei heit, über das „Recht auf
Jahre Knast auf Bewährung. Krankheit“. Mia Holl wird in
„Wir haben eine Methode einem Schauprozess schließlich
entwickelt, die darauf abzielt, als Märtyrerin bejubelt und als
jedem Einzelnen ein möglichst Terroristin geächtet, zur Strafe
langes, störungsfreies, das heißt landet sie nicht wie einst die
gesundes und glückliches Le- Hexen auf dem Scheiterhaufen,
ben zu garantieren, frei von sondern wird auf unbestimmte
Schmerz und Leid“, beschreibt Zeit in einem Tiefkühlfach ein-
einer der Helden des Romans gefroren. Das Mittelalter sei
die schöne neue Welt dieses kein historischer Zeitabschnitt,
Buchs, die naturgemäß an die sondern „der Name der
BIRGIT HUPFELD / RUHRTRIENNALE

Zukunftsentwürfe von Aldous menschlichen Natur“, sagt die


Huxley und Karin Boye, Ray junge Delinquentin.
Bradbury und George Orwell Für sich selbst aber macht
erinnert. sie jenen Satz wahr, den ihr
toter Bruder ihr hinterlassen
* Bei der Ruhrtriennale 2007 in Essen. hat: „Leben ist ein Angebot,
** Juli Zeh: „Corpus Delicti. Ein Prozess“.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am das man auch ablehnen kann.“
Main; 264 Seiten; 19,90 Euro. Szene aus „Corpus Delicti“*: Kritik der hygienischen Vernunft Wolfgang Höbel

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