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M alcolm P ender (Universität Strathclyde)

Grenzen in den Romanen von Dorothee Elmiger

Zu den verschiedenen Varianten des Begriffs »Grenze«, die die Veröffentlichungen


der Schriftstellerin Dorothee Elmiger thematisieren, gehört wohl an bedeutendster
Stelle die Grenze zwischen Wirklichkeit und Literatur. In einem Aufsatz Wirklichkeit
und nicht Wirklichkeit (2010)1 entwirft Elmiger ein gewinnendes Bild von sich selbst,
die am Schreibtisch sitzt und sich »regelmässig mit eben jenem Rumpelstilz ›Wirk-
lichkeit‹ in unangenehmen Raufereien« (78) wiederfindet. Im Märchen begab sich die
Müllerstochter, um ihr Problem zu lösen, in ein Abhängigkeitsverhältnis Rumpelstilz
gegenüber und einer solchen Gefahr — auch für sich selbst — ist sich die Schrift-
stellerin sehr bewusst: sie befürchtet, die Wirklichkeit könne den Text »behindern,
wenn dieser sich ihre Abbildung zur Aufgabe macht und […] diese Wirklichkeit nur
fortschreibt, fort und immerfort« (79). Aber statt wie die Müllerstochter auf eine
Befreiung von der Abhängigkeit durch einen glücklichen Zufall zu warten, entschei-
det sich die Schriftstellerin für eine offene Konfrontation mit Rumpelstilz, mit der
ständig lauernden Gefahr nämlich, dass die Wirklichkeit den Text
als Vehikul benutzt, […] wenn ich nicht auf der Hut bin mit dem Stift in
der Hand, den Stilz genau beäuge und befrage, ihn beim Namen nenne
und dann mit einem grossen Schritt weitergehe in die behauptete Wirk-
lichkeit, die Wirklichkeit der Behauptung, die das Mögliche entwirft. (80)
Und hier stößt man endgültig an die Grenze der Parallele mit der Müllerstochter.
Denn sie, nachdem Rumpelstilz sich selbst zerstört hatte, konnte als Prinzessin dem
traditionellen »happy end« entgegensehen, weil die Gefahr ein für allemal verbannt
worden war. Dagegen muss die Schriftstellerin ständig »auf der Hut« bleiben, dass
die Grenze zwischen den zwei Bereichen respektiert wird. Die so erkämpfte Unab-
hängigkeit mache es für den Text möglich, dass er »auf genaueste Weise tief in sie
[die Wirklichkeit] hineinschaut, sie auf ausführlichste Weise festhält. So nur würden
sichtbar, denke ich mir, die Fehler, die Mängel, die Schönheiten auch« (80). Und der
Freiheit im eigenen literarischen Bereich, die die klare Grenze zwischen Literatur und
Wirklichkeit schafft, wird eine entsprechende Pflicht dem anderen Bereich gegenüber

1 Dorothee Elmiger: Wirklichkeit und nicht Wirklichkeit. In: Bella Triste, 28 (2010), S. 77–85; im Text
beziehen sich die Zahlen in Klammern auf die Seiten dieses Aufsatzes.

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V. Kondrič Horvat (Hrsg.), Transkulturalität der Deutschschweizer
Literatur, DOI 10.1007/978-3-658-18076-8_12
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auferlegt: Es liege »an den Texten, […] eine Beschäftigung mit der Welt, der Wirklich-
keit und den Menschen sich als Aufgabe zu setzen« (80). Unter diesen Voraussetzun-
gen hat Dorothee Elmiger bis jetzt zwei Romane, Einladung an die Waghalsigen (2010)
und Schlafgänger (2012), vorgelegt und die folgenden Überlegungen zu diesen Texten
beziehen sich in losem Zusammenhang auf den besprochenen Aufsatz.
Von der Entwicklung von Strategien angesichts einer Gefahr handelt auch Elmi-
gers erster Roman. In einem durch einen Zechenbrand verwüsteten Kohlenrevier ver-
suchen zwei Schwestern, Margarete und Fritzi Stein, sich zu orientieren — Margarete
lesend und schreibend, Fritzi die Landschaft erkundend —, denn ihr gemeinsames
Erbe nach der Katastrophe ist »ein verlassenes Gebiet« (E 10).2 Sie sind überzeugt,
dass sie von der gesellschaftlichen Kontinuität willentlich ausgeschlossen worden sei-
en: »Jeder Zusammenhang zwischen den Vorfahren, allfälligen früheren Ereignissen
und uns, der anwesenden Jugend, [wurde] verhindert« (E 11). Für die Schwestern
besteht die Gefahr, dass keine Selbstbestimmung möglich sein wird. Als Hilfe »in die-
sem Schlamassel« (E 11) wollen sie gegen das, »was gemeinhin als Geschichte aner-
kannt wird« (E 11), einen eigenen Diskurs — »Versuche einer Chronik« — aufstellen,
denn die verlogene Chronologie der bestehenden Ordnung bedeutet
eine dreiste Vereinfachung der Dinge [...], zusätzlich eine Relativierung
und den grundsätzlichen Verzicht auf Widerspruch, auf die Bildung von
nichtverwandtschaftlichen Banden und Bündnissen. Auf den unvermittel-
ten Auftritt der Möglichkeiten im Raum. (E 11)
Ohne einen angemessenen Bezug zur Vergangenheit gibt es keine ergiebige Zu-
kunft und die Schwestern versuchen, »sich in eine Vorgeschichte zu graben, die ein
Weiter erst ermöglichen würde«.3 Ihr Vorhaben beschreibt Margarete im ersten kur-
zen Abschnitt des Romans, der mit einem Hinweis an den Leser schließt: »An der
ganzen Geschichte ist nichts Geheimnisvolles, wenngleich sie stellenweise für Verwir-
rung sorgen und deshalb schreckhafte Gemüter beunruhigen mag, wie es das Leben
auch oft tut. Das kann leider nicht verhindert werden« (E 13). Das ironische Spiel mit
Lesererwartungen bereitet auf die Erzählweise des restlichen Romans vor.
Margarete und Fritzi leben noch über der Polizeiwache, wo ihr Vater als örtlicher
Polizeikommandant fungiert und sich stellvertretend für den herrschenden Konfor-
mismus einsetzt. Von seinen Töchtern erwartet er, dass sie sich mit den bestehenden
Verhältnissen abfinden. Sie befinden sich in einer Lage, in der sie »vermeintlich gut
eingerichtet« (E 33) sind, in der man ihnen »eine Freiheit vortäuscht, sie »in einer

2 E und Seitenzahl beziehen sich auf Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen. Köln 2010.
3 Ulrich Rüdenauer: Die Apokalypse ganz tief unten. In: Die Zeit online, 18. August 2010; Zugriff am
7. Juli 2015.
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Sicherheit« wiegt und mit deren Verlust man droht (47), und in der schließlich »alle
möglichen Bestrebungen zum Besseren für ungültig erklärt« (E 42) werden. »Es
bedeutete Warten auf keine Veränderung« (E 52), wenn die Schwestern nichts aus
eigenem Antrieb unternehmen würden. Doch gibt es Vorbilder, die zum Handeln
ermuntern. An erster Stelle steht ihre Mutter, die mit gutem Beispiel vorangegangen
ist. Rosa Stein — sie besitzt den gleichen Vornamen wie die Schwester des spani-
schen Revolutionärs Buenaventura Durruti (E 31), sie ist im Text mit Butch Cassidy
und dem Schriftsteller Ernest Hemingway assoziiert, und sie wird unter anderem als
»ukrainische Diplomatin« (E 73) und als »junge Schottin auf einem Piratenschiff« (E
89) charakterisiert — ist eines Tages in ihrem Auto weggefahren. »Wir könnten es ihr
gleichtun« (E 50), schreibt Margarete, weil die Töchter das Weggehen »als Weigerung
und nicht als Kapitulation«4 verstehen. Zweitens stößt Margarete bei ihren Recher-
chen auf »einige nützliche Nachrichten in den Regalen« (E 43), nämlich auf Belege
über einen Bergarbeiterstreik im Jahre 1902 und ferner ist die Rede von einem ande-
ren Streik von mehreren tausend Arbeitern (E 127) — es sind alle »Unruhestifter«,
die von der Polizei »aus den Akten« (E 98) gestrichen worden sind. Und schließlich
schöpft man Ermunterung aus der Literatur: Joseph Conrad schreibt über die Weiten
des Meeres (E 12), Anna Seghers über einen Fischeraufstand (E 57), es wird aus dem
Schweizerischen Robinson zitiert (E 30) und in seinem Theaterstück Krankheit der Jugend
zeigt Ferdinand Bruckner die Gefahren, denen eine fremdbestimmte Jugend ausge-
setzt ist (E 82).
Ziel einer eventuellen Reise für die Schwestern stellt der mythische Fluss Bu-
enaventura dar. Angeblich 1776 entdeckt, ist er auf einer von Margarete gefunde-
nen Karte aus dem Jahr 1823 verzeichnet und daneben steht der Vermerk »UNER-
FORSCHTES LAND« (E 18). Obwohl die Existenz des Flusses 1844 ausgeschlossen
wurde, beschließen die Schwestern: »Wir müssen ihn suchen« (E 19) und Margarete
notiert: »Grund dieser Schreiben, Wortergreifungen und Aussprüche […] ist die Su-
che nach dem fehlenden Fluss« (E 33). Als es sich herausstellt, dass ein Teil der Rei-
se dorthin in der Überquerung einer großen Wüste besteht, wird die Überwindung
dieser Herausforderung zum Maß von Margaretes Entschlossenheit: »Ich fühlte kein
anderes Verlangen, als die vor mir liegende Wüste zu durchqueren bis zu den Ufern
des Buenaventura« (E 53). Begleitet werden die Schwestern von dem Pferd Bataille
aus Zolas Germinal: »Ein Pferd hat ein untrüglichstes Gespür für Wasser« (E 106).
Der zu den Schwestern gestoßene junge Tankwart Ernst Thal macht sie auf den
Wald aufmerksam, der »die Grenze zum Leergebiet« darstellt, »die Demarkationsli-
nie« (E 77) zwischen dem Jetzigen und dem Möglichen. Selbstverständlich kommen

4 Dorothee Elmiger. In: Kaspar Surber: Meine Fragen sind: Wer ist noch da, wo sind sie und mit wem
kann ich mich verbünden? WoZ, 30. September 2010; Zugriff am 7. Juli 2015.
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Margarete Zweifel, ob das Unterfangen überhaupt einen Sinn hat: »Ich bin womög-
lich Don Quijote« (E 75) und auch wenn diese Bedenken ausgeräumt werden, ist die
Anstrengung groß: »Der Weg war weiter, als wir dachten« (E 81). Aber sie werden
von der eigenen Willensstärke getragen: »Wir dürfen nicht glauben, dass die Dinge
unumstößlich sind! […] Vor allem müssen wir von dem Fluss sprechen, dem Fluss
Buenaventura, bis wir ihn finden. So weit wird’s noch kommen!« (E 97). Es ist eine
Kampfansage, die viele andere anziehen wird, wie die breitgefächerte Einladungsliste
für »das große Fest zur erneuten Entdeckung des Flusses Buenaventura« (E 142)
zeigen wird und die Einladungen werden von der Grenze verschickt, jenseits von der
sich »das gesperrte Gebiet« (E 143) erstreckt.
Der Roman verzichtet auf eine traditionelle, sich kontinuierlich entwickelnde Er-
zählung. Stattdessen besteht der Text aus einer Collage von Bemerkungen, Aussagen,
Einblicken und Zitaten, die durch Leerstellen auf den Seiten unterbrochen sind und
die sich im Kopf des Lesers kaleidoskopartig zu einem Bild um den Themenkreis
Aufbruch zusammensetzen, in dem die Erfahrung der zwei Schwestern stellvertre-
tend für historische und gesellschaftliche Konnotationen steht — es ist das Tagebuch
eines sich entwickelnden Vorhabens. Die Titel von vier der fünf Abschnitte des Ro-
mans weisen auf das räumlich Weite und besitzen auch eine zusätzliche assoziative
Funktion: Die Achse des Romans ist der dritte längste Abschnitt, »Grand Erg du
Bilma«, die schwierigste, weil beinahe pistenlose, Sandwüste der Sahara; der zwei-
te »Florida« und der vierte »Las Vegas«, beide gleich lang, evozieren Üppigkeit und
Glücksspiel; und schließlich — beide gleich kurz — der erste, bezeichnenderweise
ohne Titel als Einführung in die verwüstete Landschaft um das Kohlenrevier, und
der fünfte, »China«, als Schluss und gleichzeitig als Aufbruch in die Größe des Mögli-
chen, in die literarische »Wirklichkeit der Behauptung, die das Mögliche entwirft«. In
diesem fünften Abschnitt, in den letzten Sätzen des Romans, steht Fritzis Mahnung
an ihre Schwester: »Margarete, du vergisst doch nicht, dass du eine erwachsene Frau
bist« (E 143). Innerhalb einer Struktur, die »keine ordentliche Bestätigung des altbe-
kannten Gegenwärtigen« (E 33) enthält und die ausschließlich literarisch ist, stellen
diese Worte eine hochpolitische Mahnung an die Mündigkeit dar, die jeder in der
wirklichen Welt besitzt.
In Elmigers zweitem Roman Schlafgänger diskutieren und tauschen persönliche
Erfahrungen miteinander aus etwa zehn Gestalten, von denen die Mehrzahl keine
Namen sondern Berufsbezeichnungen trägt. Der Raum, in dem diese Gespräche
stattfinden und der in Basel sein könnte, wird nie beschrieben aber es gibt Angaben
zum Benehmen der dort Anwesenden:5 Ob sie am Tisch sitzen oder stehen, wann

5 Die Anwesenden ist der Titel einer Vorform des Romans: Dorothee Elmiger: Die Anwesenden. Das ist
ein Protokoll aus der Zukunft. NZZ Folio, 6. September 2010, Nr. 9, S. 44.
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sie den Raum betreten und verlassen, wie sie an Gesprächen teilnehmen, usw. Diese
Hinweise wiederholen sich mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms, das ein Stück
Musik begleitet, so dass der Leser sich im Rhythmus des Textes immer wieder einen
Raum vorstellt, für den der Text keinen Bezug zur Wirklichkeit anbietet. Zu den
Gestalten fehlen auch persönliche Angaben, so dass der Leser, wie der Zuschauer im
Theater, erst aus dem, was gesagt wird, Auskunft über sie erfährt und insofern kann
man den Roman als ein »Prosa-Sprechtheater«6 bezeichnen. Das Bild des Theaters
hat aber weitere Konnotationen, denn die Gestalten machen mit dem Gesprochenen
persönliche Auftritte, nicht nur vor dem Leser auf der Bühne des Romans, sondern
vor einander wie wir alle sie auf der Bühne der Wirklichkeit machen. Die in diesen
Auftritten zur Sprache gebrachten persönlichen Erfahrungen beinhalten »Gedächt-
nisbilder, die an die Stelle eines Erzählkontinuums treten«.7
Mit dem dramatischen Auseinanderfallen des Berner Münsterturms in einem
Traum begann 1977 E.Y. Meyers Roman Die Rückfahrt, eine Bestandaufnahme der
damaligen Schweiz. 35 Jahre später hat sich das Ausmaß der Katastrophe stark er-
weitert: Schlafgänger, als »eine Art Bestandaufnahme unserer Zeit«8 charakterisiert,
beginnt mit der Behauptung der Übersetzerin, sie habe im Schlaf »einmal das ganze
europäische Gebirge zusammenbrechen« (Sch 7)9 sehen. Dieser spektakulären Zer-
schlagung des Bestehenden folgen die persönlichen Berichte der Anwesenden — ihre
»Gedächtnisbilder« — und allgemeine Diskussionen, deren Bestandteile wie in einem
Puzzlespiel sich zu einem komplexen, düsteren Bild der zeitgenössischen Migration
im Kopf des Lesers zusammenstellen. Das Phänomen der Migration, so alt wie die
Geschichte der Menschheit, wird heutzutage weitgehend anders wahrgenommen,
denn »in der jüngeren Geschichte ist verschiedentlich die Vorstellung aufgekommen,
nunmehr sei die Zeit der Migration zu Ende und das Leben der Menschen sei sta-
tionär geworden«.10 Diese Vorstellung findet implizit ein Echo in den im Roman
zitierten Aussagen der Medien, die sich visuell durch ein anderes Schriftbild und auch
im Ton von dem übrigen Text unterscheiden: »Das tastende und suchende Gespräch
ihrer [Elmigers] Figuren wird konterkariert von Schlagzeilenfetzen im kalten Duktus
der Nachrichten«.11 Und der Verlauf dieses Gesprächs der Gestalten, »Träger […]

6 Ulrich Rüdenauer: Verfremdung der Schweiz Gespenstisch: Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger.
In: Süddeutsche Zeitung, 12. März 2014.
7 Britta Caspers: Literatur als Form des Widerstands? Dorothee Elmigers zweiter Roman Schlafgänger
lotet Möglichkeiten gegenwartsbezogenen literarischen Schreibens aus. In: literaturkritik.de; [10. Juli
2015].
8 Anon: Berichte, von allem und nichts. Appenzeller Volksfreund, 10. Juli 2014.
9 Sch mit Seitenzahl in Klammern bezieht sich auf Dorothee Elmiger: Schlafgänger. Köln 2014.
10 Herfried Münkler: Über Migration und Migranten. In: Neue Zürcher Zeitung, 5. September 2015.
11 Claudia Kramatschek: Schlafgänger — Auslotung der porösen Gegenwart. Transkript der Radiosen-
dung im Deutschlandfunk vom 28. Mai 2014; Zugriff am 10. Juli 2015.
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verschiedener Positionen und unterschiedlicher Annäherungsweisen an die Wirklich-


keit«,12 hinterfragt das Bestehende.
Die Grenze als Trennlinie zwischen Ländern kennzeichnet die Stadt Basel, die
darüber hinaus auch dem Roman die geographische Achse bietet. An einem Ort
liegend, wo die Staatsgrenzen der Schweiz, Frankreichs und Deutschlands zusam-
menkommen, weist Basel auf die Schranken hin, die die Nationen zwischen einander
errichten. Basel ist auch der einzige Ort der Schweiz, der mit seinen Rhein-Häfen
eine Verbindung zum Meer besitzt — und gerade in diesen Anlagen arbeitet im »See-
fracht-Import« (Sch 13) der Logistiker, dessen Wohnung in der Stadt auch »grenznah«
(Sch 23) liegt. Seine Tätigkeit sorgt dafür, dass Waren leicht über Grenzen kommen:
»Vor ein paar Wochen standen die Container noch in den USA, Australien, Shanghai,
und heute stehen sie hier« (Sch 17). Bei Personen wird allerdings das Überqueren
der Staatsgrenzen komplizierter, ja diskriminierender. Auf der einen Seite kann man
in einem Zeitalter, in dem das Reisen so selbstverständlich geworden ist, dass »das
Fernweh« (Sch 120) nicht mehr existiert, leicht Grenzen passieren, »solange man ein
Billett und einen gültigen Reisepass mit sich trägt« (Sch 47). So müssen mehrere der
Romangestalten als »professionelle Grenzüberschreiter«13 gereist sein, vor allem in
die USA, denn sie scheinen sich an der amerikanischen Westküste gut auszukennen.
Auf der anderen Seite kann das Passieren einer Grenze für Personen schwerwiegende
Folgen haben: Zwar würden Amerikaner und Amerikanerinnen, wenn sie die Grenze
zu Mexiko passieren, unverändert bleiben aber
Mexikaner oder Mexikanerin zu sein, bedeutete hingegen, die Grenze zu
überqueren und dabei verändert zu werden oder aber an der Passage ge-
hindert zu werden und aus diesem Grund eine Veränderung zu erfahren.
(Sch 133)
Eine Gestalt, A.L. Erika, stellt sich vor, wie der Mexikaner, den sie in Kalifor-
nien kennenlernte, sich »über die Grenze bewegte, klandestin und gefährdet, als
Schatten, als Schemen auf dem Wärmebildgerät« (Sch 37). Dass diejenigen, die
ohne »ein Billett und einen gültigen Pass« reisen, alles Erdenkliche unternehmen,
um Grenzen zu überqueren, zeigen zwei Männer, die »ihre Körper in Teppiche
einrollen« (Sch 66) lassen und so über die Grenze gelangen. Noch radikaler ist
die Negierung der persönlichen Identität, die vorkommt, wenn Flüchtlinge, um
nicht identifiziert werden zu können, ihre Fingerkuppen abschleifen –— hier han-
delt es sich »um den Versuch, den Körper, sich selbst also, zum Verschwinden zu

12 Wiebke Porombka: Unser Leid zu schreiben ist ausbeuterisch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.
August 2014.
13 Tobias Becker: Migrations-Roman Schlafgänger: Helvetische Halluzinationen. In: Spiegel online, 19.
März 2014; Zugriff am 10. Juli 2015.
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bringen, vorübergehend zumindest, um die Grenze zu überqueren« (Sch 16). Die


Schriftstellerin, die Grenzen legal überqueren darf und die in der Gesprächsrunde
betont, »dass die Zeit, in der gesprochen werde, doch die Gegenwart sei« (Sch 70),
ist ihrer Pflicht der Zeitgenossenschaft gegenüber nachgekommen, indem sie über
»die Grenzen, die stets demütigend, wenn nicht tödlich sind« (Sch 129) geschrie-
ben hat.
Wenn das Überqueren von Staatsgrenzen Folgen für den Menschen haben kann,
kann die Migration im weitesten Sinne auch mit dem menschlichen Körper und »der
ihm eigenen Gesetzmäßigkeit«14 in Konflikt geraten. Beispielhaft für diese Störung ist
das während der europäischen Industrialisierung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts entstandene Phänomen des Schlafgängers: Junge Männer, durch wirtschaftliche
Not angetrieben, migrierten vom Lande in die Städte, um zu arbeiten; dort mieteten
sie die Betten anderer, um während der Abwesenheit der Besitzer flüchtig schlafen
zu können, »um dann wiederum als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stehen« (Sch 67).
Diese historischen Figuren stehen »in einem Zusammenhang mit den Schlafgängern
dieser Zeit« (Sch 86), d.h. mit den heutigen Flüchtlingen — auch sie »schlafen nicht,
sie sind im Gegenteil immerzu wach, finden zumindest kaum Schlaf« (Sch 86).15 Der
Schlaf, »nicht ganz erklärt und nach wie vor unabwendbar« (Sch 88), ist »eine anthro­
pologische Konstante« (Sch 11) bei allen Menschen in allen Zeiten, ist sozusagen
demokratisch — darauf weist der Student: »Wir sind ganz gleich, wenn wir schla-
fen«, das besage »das Gedicht des Dichters aus New York« (Sch 87). Gemeint ist The
Sleepers des amerikanischen Dichters Walt Whitman (Erstveröffentlichung 1855), aus
dem von dem Studenten in englischer Sprache und in deutscher Übersetzung zitiert
wird (Sch 35, 11) und in dem ein zentrales Bedürfnis des menschlichen Körpers dich-
terisch festgehalten wird. Dass Gruppen von Menschen die Möglichkeit entzogen
wird, dieses Bedürfnis erfüllen zu können, ist »ein tiefer Eingriff in die Rechte und
eine elementare Ungerechtigkeit in den Verhältnissen«.16 Der Titel des Romans weist
auf eine Konstante der Migration hin.
Aber Rechte sind im Staatskörper keineswegs fest verankert. Auf die ursprüng-
lichen Schlafgänger war »stets das Augenmerk der Polizei gerichtet« (Sch 67) und
die Ordnungsmächte schrecken nie davor zurück, mit körperlicher Gewalt vorzuge-
hen, wenn sie den Verdacht schöpfen, dass eine Rechtsverletztung vorliegen könnte:
Die gezwungene Anwendung eines lebensgefährlichen Brechmittels, um zu bewei-
sen, dass ein Flüchtling im Magen Drogen trägt, führt zu dessen Tod (Sch 17); ein

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15 Eine Befragung von acht Flüchtlingen in Deutschland im Jahre 2015, die die Wochenzeitung Die Zeit
durchgeführt hat, trägt den Titel: Warum wir nicht schlafen können. Die Zeit., 1. Oktober 2015.
16 Nico Bleutge: Einer fällt aus der Welt. In: Neue Zürcher Zeitung, 15. April 2014.
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Nigerianer stirbt bei der Ausschaffung aus der Schweiz (Sch 73); in St Gallen wird
ein Festgenommener übermäßig traktiert (Sch 135); und der berüchtigte, auf Video
festgehaltene Fall der Mißhandlung von Rodney King durch die Polizei im Jahre
1991 in Los Angeles wird 2012 vom Opfer selbst mit dem Vermerk kommentiert,
die weltbekannten Videoaufnahmen seien rein zufällig von einem »Einwanderer aus
Argentinien« (Sch 93) gemacht worden. Die Ordnungsmacht versucht, dem Sicher-
heitswunsch des Bürgers nachzukommen, sei es durch Gewalt oder Ausgrenzung. In
einer Schweizer Stadt hat einer den Auftrag bekommen, ein »Gelände einzuzäunen
zur Sicherheit aller — Innen am Zaun werden die Fremden wohnen, draußen die Be-
wohner des angrenzenden Quartiers« (Sch 139).17 Im Kontext der Schweiz denkt der
Leser unwillkürlich an die berühmten Zeilen aus Hallers Die Alpen (1729), in denen
der Dichter das Schweizer Volk anredet:
Sie [die Natur] warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen
Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind.18
Auch die Ausgrenzung als Manifestation eines Sicherheitsbedürfnisses hat eine
Kontinuität. Doch hat der natürliche Zaun — die Alpen — auch Schweizer nicht da-
von abhalten können, auswandern zu wollen. Fortunat erzählt von seinen Vorfahren,
die »die einmal die Fahrt über den Atlantik« (Sch 99) wagten, als »Auswanderung als
Mittel zur Verhinderung der Armut in der Schweiz« (Sch 99) galt.19
Der bekannteste Migrant aller Zeiten, Ikaros, der »bei der Flucht von der Insel
Kreta« (Sch 135) wegen einer überheblichen Übereinschätzung seines Könnens
ins Meer gefallen ist, kennzeichnet die durch das Fallen symbolisierte Ohnmacht
des Menschen. Von einem Sturz auf einer winterlichen Straße, der nicht tödlich
ausgeht, der aber alle typischen Merkmale der überraschten Hilflosigkeit beim
Fallen trägt, erzählt Fortunats Mutter: danach habe sie, so entsetzlich war die
Erfahrung ihrer zwar vorübergehenden doch totalen Handlungsunfähigkeit, sich
selbst »vor ihrem inneren Auge immer wieder fallen sehen« (Sch 83). Aus der
persönlichen Anekdote zieht der Student eine allgemeine Schlussfolgerung: Bei ei-
nem Fall verliere eine Person »die Herrschaft über sich und wird zu einem Objekt«

17 Johanna Miki-Leitner (Innenministerin von Österreich): »Wir müssen Österreich und Europa zu einer
Festung ausbauen«. In: Kronen-Zeitung, 21. März 2016; am Anfang des Zeitungsberichts steht ein
Foto von Migranten auf einem großen Schlauchboot im Mittelmeer, das eine verblüffende Ähnlich-
keit mit Géricaults Gemälde Le radeau da la Méduse (Sch 107) aufweist.
18 Albrecht von Haller: Die Alpen. In: ders.: Versuch schweizerischer Gedichte. Bern 1969, S. 24–56, hier
S. 28; Elmiger ist der Meinung: Die Alpen werden zu einer seltsamen Idylle verklärt. In: Surber: Meine
Fragen sind.
19 Eveline Haslers Roman Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen (1985) schildert eindrücklich das Scheitern
einer Gruppe ausgewanderter SchweizerInnen in Südamerika im 19. Jahrhundert.
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(Sch 83),20 eine Aussage, die der Leser auch auf die Behandlung von Flüchtlingen
an den Grenzen in Verbindung bringt. Dass das Fallen auch durch ein bewusstes
Loslassen verursacht werden kann, zeigt das Werk des 1975 im Atlantik verschol-
lenen holländischen Performance-Künstlers Bas Jan Ader, der wie kein anderer
das Fallen thematisierte und dessen Gestalt als Strang durch die Diskussionen
zieht. Die Übersetzerin habe eine Ausstellung von Ader in Basel besucht (Sch
20),21 habe auf der dortigen Wettsteinbrücke, als ein Radfahrer plötzlich stürzte,
den Logistiker, der später vom Dach seines Hauses gefallen sein soll, kennen-
gelernt (Sch 21, 102); ferner habe sie an der Übersetzung eines Aufsatzes der
Schriftstellerin gearbeitet, der die Dimensionen des Begriffs erweiterte, indem er
»sich mit dem im Fallen begriffenen Körper, mit der Verwandtschaft des Fallens
mit dem Sterben« (Sch 39) befasste. In Glendale, Kalifornien, wurde über Bas Jan
Ader vorgetragen (Sch 35), in Dortmund fand eine mit Werken von Bas Jan Ader
versehene Ausstellung statt. Das Thema des Fallens im Roman kann man auf
der einen Seite als die Bereitschaft des Menschen, sich einer Gefahr auszusetzen,
betrachten, auf der anderen Seite weist es auf die Unfähigkeit des Menschen, sein
Schicksal zu bestimmen.
Zum Entstehen des Bildes der Migration tragen alle Romangestalten bei, aber
zwei von ihnen, der Logistiker und die Schriftstellerin, spielen dabei eine Sonder-
rolle. Der Basler Logistiker, »die wohl zentrale Figur des Textes«,22 ist die einzige
Gestalt, von der der Leser den Wohnsitz weiß –— sogar die genaue Adresse an der
»Liegenschaft Elsässerstraße 257« (Sch 75). In seinem ersten Auftritt auf der Bühne
des Romans berichtet der Logistiker von einer dissoziativen Störung in seinem Ver-
hältnis zur Wirklichkeit, wobei das Vergangenheitstempus seines Berichts allerdings
vermuten lässt, er spreche von einem schon behobenen Problem. Es wurden ihm
»die Dinge. […] fremd« und als Folge schlief er »kaum mehr« (Sch 8); die Gleich-
zeitigkeit aller Ereignisse wurde ihm bewusst, »als wäre alles Mögliche tatsächlich
und vor meinen eigenen Augen geschehen« (Sch 11); alles drang auf ihn ein: »Das
Geschehen allein dieses Landes, der Schweiz« sei unüberschaubar gewesen und »al-
les kam so daher aus der Welt, ging mir in einem Schwindel durch den Kopf« (Sch
11). Er sei ganz außer sich geraten, »als öffne ihm der Schlafentzug die Augen für
das, was immer da ist, was er im Vollbesitz seiner Abwehrkräfte jedoch verdrängt«.23
»Über ganze Kontinente« (Sch 12) habe er aus einem Solidaritätsgefühl Flüchtlinge
20 Genau diesen Verlust schildert Franz Hohler in seiner virtuosen, in Basel stattfindenden, aus einem
Satz bestehenden Kurzgeschichte »Ein Fall«. In: ders.: Das Ende eines ganz normalen Tages. Mün-
chen 2008, S. 5-6.
21 Im Frühjahr 2007 fand eine Ausstellung von Bas Jan Ader unter dem Titel Fall in der Kunsthalle in
Basel statt.
22 Caspers, Literatur als Form des Widerstands?
23 Becker: Migrations-Roman Schlafgänger.
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begleitet. Inzwischen »verschlechterte sich zusehends« (Sch 84) seine Verfassung und
er schlief immer noch nicht. In seiner Wohnung stellte er sich die Gegenwart von
Flüchtlingen vor;. So ging er »vorbei an den Schlafenden, sie ruhten sich aus, hatten
zuvor einige Meerengen und Flussarme überquert, eine Tiefebene durchschritten«
(Sch 85). Er zieht den Schluss: »Meine Unruhe [stand] doch in einem Zusammenhang
mit ihrer Anwesenheit, mit meiner Beschäftigung als Logistiker« (Sch 86). »In jenen
Tagen« fehlte ihm »der Zusammenhang zwischen den Ereignissen, den Dingen« (Sch
104). Die Berichte des Logistikers begleitet für den Leser eine Aussage von Fortunat:
Wenn man älter werde, verliere man »eine gewisse Empfindlichkeit, Empfindsamkeit,
die einen früher umgetrieben hat« (Sch 45). Dieser Schutzmechanismus scheint bei
dem 29 Jahre alten Logistiker (Sch 75) noch nicht eingetreten zu sein: »Alles nahm
ich nur zur Kenntnis« (Sch 27), berichtet er in Bezug auf die in verschiedenen Teilen
der Welt geschehenden Begebenheiten und unterstreicht damit seine Unfähigkeit,
in das Geschehen einzugreifen — er könnte mit Max Frischs Stiller klagen: »Wenn
es mit Wissen getan wäre!«.24 Am Schluss des Romans greift er die schon zweimal
von Fortunat erwähnte Zeitungsnotiz (Sch 38, 75) auf und erzählt von seinem Fall
vom Dach (Sch 141) und der Leser versteht jetzt besser das Vergangenheitstempus
seiner Aussagen — er konnte dem Druck seines Wissens um das zeitgenössische
Weltgeschehen nicht mehr standhalten. Die Empfindlichkeit des Logistikers weist
ironischerweise auf »die Notwendigkeit der Abgrenzung«25 und seine Wahrnehmung:
»Wir stehen alle in einem so oder so gearteten Zusammenhang, wenn auch nicht in
einem offensichtlichen« (Sch 96) wirkt in seinem Fall existenzgefährdend.
Die Rolle im Roman der Schriftstellerin, die »skrupulöseste«26 unter den Gestalten,
kann man unter drei Aspekten betrachten. Erstens beteiligt sie sich an den verschie-
denen, im Raum geführten Gesprächen. Sie bestätigt zum Beispiel, dass der Logis-
tiker an dem Elend der verzweifelten Flüchtlinge, die versuchten, in allerlei Fracht-
fahrzeugen Grenzen zu überqueren, gelitten habe (Sch 119). Zweitens legt sie, mit
ihren Aufsätzen zum Thema Grenze und ihren anderen Schriften, Zeugnis ihrer Zeit
ab. Historische Beispiele künstlerischer Übermittlungstätigkeit werden von anderen
Gestalten angeführt: Ein sizilianischer Geschichtsschreiber hat den Fall von Ikaros
geschildert (Sch 107); der französische Maler Géricault hat die Folgen eines 1816
während der Kolonialzeit passierten Schiffsunglücks in seinem Gemälde Le radeau de
La Méduse dargestellt (Sch 107); und seine Beteiligung an der Bergung der Opfer des
1836 an der nordamerikanischen Ostküste gekenterten Immigrantenschiffes Mexico27

24 Max Frisch: Stiller. In: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, hg. von Hans Mayer. Frankfurt
a.M. 1976, Bd III 2, S. 767.
25 Judith von Sternburg: Grenzerfahrung. In: Frankfurter Rundschau, 24. März 2014.
26 Porombka: Unser Leid zu schreiben ist ausbeuterisch.
27 Im Volksmund hießen diese Schiffe coffin ships (Sargschiffe).
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hat der Dichter Walt Whitman in The Sleepers beschrieben (Sch 103), dem Gedicht, aus
dem schon in Bezug auf das Thema Schlaf zitiert wurde (Sch 11, 22, 34). Drittens
verkörpert die Schriftstellerin die Probleme und die Schwierigkeiten des Schreibens
und des beruflichen Schriftstellertums. Sie schwankt sehr in Bezug auf die Ausübung
ihres Berufes. Auch Margarete in Einladung an die Waghalsigen störten Zweifel: »Es ist
offensichtlich vermessen zu schreiben, ich bin viel zu jung. Gleichzeitig: Später ist
es zu spät« (E 41). In Schlafgänger schreibt die Schriftstellerin über das Problem der
Grenzen, ein Phänomen der Zeit, gleichzeitig aber hegt sie schwerste Bedenken über
die Ethik ihres Handelns. So schämt sie sich, »dass die missliche Lage an ebendieser
Grenze ihr schriftstellerisches Kapital darstelle« und zwar so stark, dass sie ihren
Schreibstift niedergelegt und sich die Frage gestellt habe, »ob das Nichtschreiben in
diesem Moment nicht ebenso ein schriftstellerischer Akt sei« (Sch 58). Und wenn
für sie der Wunsch von jedem, der schreibt, veröffentlicht zu werden, in Erfüllung
geht, kommen ihr wieder Bedenken: Als sie vor zwanzig vom Verlag geschickten
Exemplaren ihres Werkes stand — alle mit derselben Schilderung ihrer Reisen »an die
Grenzen, die stets demütigend, wenn nicht tödlich sind« (Sch 129) —, entschloss sie
sich noch einmal, nichts mehr zu schreiben, diesmal aber wegen der offensichtlichen
»Wirkungslosigkeit« (Sch 129) ihrer Arbeit. Noch dazu berichten Zeugen von selbst-
bewussten Aussagen in der Öffentlichkeit über ihr Schreiben (Sch 58, 239), die im
Widerspruch zu ihren Zweifeln stehen. Angesichts der Ambivalenz der Schriftstel-
lerin könnte es den Anschein haben, »als machte Elmiger sie zum Sprachrohr ihrer
eigenen Zweifel an der Legitimität des politischen Schreibens«.28
Die Widersprüchlichkeit der Schriftstelleringestalt kann man innerhalb der
Struktur des Romans auch als Pendant zur Widersprüchlichkeit der Logistikerge-
stalt betrachten. Die Missstände der Zeit registriert der Logistiker mit zunehmen-
der Empfindlichkeit, die letzten Endes entmachtet und alles Handeln vereitelt. Die
Schriftstellerin schreibt von diesen Missständen, die sie verurteilen will, riskiert aber
dadurch, einfach die Wahrnehmung der Missstände zu befestigen ohne sie zu än-
dern.29 Bezeichnenderweise vereinen die letzten zwei Sätze des Romans die beiden
Hauptgestalten. Der Logistiker hat gerade die Geschichte seines Falles vom Dach
zu Ende erzählt: »Der Logistiker schwieg. Fahren Sie fort, sagte die Schriftstellerin«
(Sch 141). Derjenige, der »akribisch jede Reaktion auf die illegale Zuwanderung«30
aufnimmt, soll weitererzählen in der Anwesenheit von derjenigen, die das zeitgenös-
sische Bewusstsein protokolliert — im literarischen Schluss besteht die in den beiden
Gestalten enthaltene Widersprüchlichkeit noch ungelöst fort.

28 Porombka: Über Leid zu schreiben.


29 In Bezug auf Einladung an die Waghalsigen sagt Elmiger: Der Text ist keine konkrete Handlungsan­
leitung für eine Veränderung, die kann ich nicht geben. In: Surber: Meine Fragen sind.
30 Das graue Sofa, 18. April 2014; [7. Juli 2015].
152 Grenzen in den Romanen von Dorothee Elmiger

In Schlafgänger tritt der Begriff Grenze verschiedentlich auf: Staatsgrenzen wirken


identitätsstiftend aber auch abweisend, sogar tödlich; eine Grenze zwischen Vergan-
genheit und Gegenwart überschreiten in der Aktualisierung ihrer persönlichen Erleb-
nisse die Anwesenden im Raum; von dem Grenzgebiet zwischen Schlafen und Wa-
chen, in dem die Schlafgänger von gestern und heute sich befinden, ist die Rede; die
sehr enge Grenze zwischen Gleichgewicht und Fall, die sogar zu einer Überschrei-
tung der Grenze zwischen Leben und Tod führen kann, wird mehrmals erwähnt; die
Grenzen einer funktionierenden Persönlichkeit werden in der Gestalt des Logistikers
erforscht, von dem es heißt: »Er gerät außer sich. Er verlässt seine Grenzen«.31 Auch
für den Leser besteht eine »Grenzerfahrung, die beim Lesen ästhetisch zu machen
ist«.32 Eine Grenze ist nicht nur eine Trennungslinie zwischen Staaten sondern auch
eine gedachte Trennungslinie auf einer Skala, die zwei gegensätzliche Bereiche un-
zertrennlich verbindet. Die im Roman thematisierte Widersprüchlichkeit menschli-
cher Angelegenheiten, die auch in den zwei Hauptgestalten des Logistikers und der
Schriftstellerin verkörpert wird, kann man allgemein fassen: Im Roman Schlafgänger
schaffe Elmiger »ein Panoptikum, in dem das Unbehagen, das Versagen und die Läh-
mung ebenso Platz haben wie die Hoffnung auf ein besseres Zusammenleben«.33
In ihren Ausführungen zur Literatur hat Dorothee Elmiger für Räume plädiert,
»in denen ernsthaft gesprochen werden kann, Räume, die sich nicht vereinnahmen
lassen, freundschaftliche Räume«.34 Freilich wird das im metaphorischen Sinne ge-
meint aber in ihren zwei Romanen hat Elmiger auch ganz spezifisch zwei solche
Räume zur Verfügung gestellt. In Einladung an die Waghalsigen findet in der Küche
über der Polizeiwache »die Eroberung und Aneignung der Welt, das Entwenden der
vorenthaltenen Bildungsgüter, das Herstellen einer eigenen Überlieferung«35 statt
und dadurch werden die Schwestern zum Aufbruch ermutigt und auch sozusagen
geistig ausgestattet. In Schlafgänger, in dem nicht näher definierten Raum, findet »ein
fragendes Sprechen«36 statt, das in der Art einer »Selbsthilfegruppe«37 tastend nach
Hinweisen zu möglichen Verhaltensweisen sucht. Die Überlegungen in beiden Räu-
men werden ausgeführt, »ohne sich der Realitätssimulation zu verpflichten«;38 statt-
dessen wird eine klare Grenze zwischen der Realität der Welt und der Realität des
Textes gezogen, wobei die literarische Realität ein eigenes Verhältnis zur Wirklichkeit

31 Becker: Migrations-Roman Schlafgänger.


32 Felix Schneider: Gespenster in der Küche. In: WoZ, 13. März 2014.
33 Linus Schöpfer: Reindürfen und Rausmüssen. Der neue Roman von Dorothee Elmiger. In: Tages-An-
zeiger, 11. März 2014.
34 Elmiger: Wirklichkeit und nicht Wirklichkeit, S. 85.
35 Rolf Bosshart: Das Land neu ausrufen. WoZ. 12. August 2010.
36 Elmiger: Die Anwesenden.
37 Von Sternburg: Grenzerfahrung.
38 Elmiger: Wirklichkeit und nicht Wirklichkeit, S. 84.
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schafft, in dem Angelegenheiten der Wirklichkeit aus einer anderen Perspektive ohne
eine »Verkürzung der Welt auf eine lineare Handlung«39 betrachtet werden. In dem
ersten Roman werden die Kosten und Risiken einer Selbstbestimmung tagebuchartig
registriert, in dem zweiten werden durch Gespräche die Möglichkeiten persönlichen
Verhaltens in einer Welt durchgespielt, in der konträre Strömungen bestehen: Gren-
zen, die nicht nur für Kultur und Wissenschaft sondern auch für Wirtschaftsbezie-
hungen und Finanzmärkte immer poröser werden, befestigen sich immer mehr gegen
Flüchtlinge und Terroristen, und diese Entwicklungen finden bei einer »zunehmen-
den Einschränkung nationalstaatlicher Gestaltungsspielräume«40 statt. In dieser Situ-
ation setze sich Elmiger, so wird behauptet, »mit der Frage auseinander, ob Literatur
überhaupt ein geeignetes Mittel des Widerstandes gegen die globale politisch-öko-
nomische Entwicklung darstellt«.41 Sicher auf jeden Fall ist, dass Elmiger in ihren
literarischen Räumen, wo sie »die Wirklichkeit der Behauptung, die das Mögliche
entwirft«, inszeniert, die Grenzen der Vorstellungswelt des Lesers dafür offenhält,
»dass die Verhältnisse nicht so sein müssen«.42

39 Elmiger in Surber: Meine Fragen sind.


40 Frank Schulze-Engeler: Transnationale Kultur als Herausforderung für die Literaturwissenschaft. In:
Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, 50 (2002), S. 65-79, hier S. 66.
41 Caspers: Literatur als Form des Widerstands?
42 Elmiger in Surber: Meine Fragen sind.

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