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DOI 10.

1515/fabula-2015-0016 | Fabula 2015; 56(3/4): 248–262

Siegfried Becker
Andersens Kleine Meerjungfrau und ihre
Vorbilder
Zusammenfassung: Gezeigt werden soll, wie Hans Christian Andersens Kunst-
märchen Die kleine Meerjungfrau und das Grimm-Märchen Die Nixe im Teich
vermutlich aus den gleichen Quellen geschöpft werden konnten, aus demselben
Stoff geformt wurden und doch gänzlich andere Ergebnisse brachten, weil die
Verfasser – Andersen und Wilhelm Grimm – völlig andere Vorstellungen von
Autorschaft hatten.

Abstract: The purpose of this article is to show that Hans Christian Andersen’s
tale The Little Mermaid and Grimms’ tale The Nix of the Mill-pond are probably
derived from the same source, have been created out of the same material. How-
ever, the results of the creative process are completely different because the
writers – Andersen and Wilhelm Grimm – had quite divergent conceptions of
authorship.

Résumé : Cet article se propose de montrer que les deux contes La petite sirène de
Hans Christian Andersen et L’ondine dans son étang des frères Grimm ont proba-
blement été puisés de la même source, créés à partir de la même matière. Cepen-
dant, les résultats de ces procédés créatifs sont tout à fait différents à cause des
conceptions divergeantes qu’avaient les deux écrivains, Andersen et Wilhelm
Grimm.

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Prof. Dr. Siegfried Becker: Philipps-Universität Marburg, Institut für Europäische Ethnologie/
Kulturwissenschaft, email: becker4@mailer.uni-marburg.de

Es soll hier nicht um Leben und Werk Hans Christian Andersens (1805–75) gehen;
dazu sind anläßlich seines 200. Geburtstages nicht nur eine neue Werkausgabe,
sondern auch mehrere Biographien erschienen, auf die verwiesen werden kann1.

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1 Andersen, Hans Christian: Samlede vaerker 1–3. Udgivet af det Danske sprog- og litteratur-
selskab under red. af Klas P. Mortensen. København 2003; zu Leben und Werk vgl. Andersen,
Jens: Hans Christian Andersen. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2005; Mönninghoff, Wolf-
gang: Das große Hans-Christian-Andersen-Buch. Düsseldorf 2005; Perlet, Gisela: Hans Christian
Andersen. Frankfurt am Main 2005; Nielsen, Erling: Hans Christian Andersen. Mit Selbstzeugnis-
sen und Bilddokumenten dargestellt. Übers. Thyra Dohrenburg, dokumentar. Anh. bearb. von
Paul Raabe, neubearb. Bibliographie von Wolfgang Beck. Hamburg 41995.
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Vielmehr wird der Blick gelenkt auf die Bedeutung von Rezeptionsprozessen, auf
Bilder und wissenschaftliche Texte, aus denen die literarischen Texte schöpften,
und damit auf frühe Beispiele eines Rücklaufs akademischer Diskurse in die Ent-
stehung von Kunst- und Volksmärchen. Die Frage, wie alt unsere Märchen sind,
ist in der Geschichte der Märchenforschung schon oft gestellt2 – und nie wirklich
zufriedenstellend beantwortet – worden. Denn die Märchen sind keine Artefakte,
die einmal hergestellt und dann unter günstigen Umständen sehr lange in ihrer
Form erhalten bleiben, ja auch wieder aufgefunden werden können in einer früh-
neuzeitlichen Baugrube, einem bronzezeitlichen oder gar steinzeitlichen Grab.
Märchen müssen erzählt und gehört, geschrieben und gelesen, verstanden und
mißverstanden, gedeutet oder umgedeutet werden. Die Frage nach der Rezeption
und ihren gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen, literari-
schen und ideologischen Kontexten in den jeweils faßbaren Schritten der Aneig-
nung und Wiedergabe ist daher viel spannender als die Frage nach dem Alter,
und sie ist nicht selten erfolgreicher und damit zufriedenstellender zu beantwor-
ten. Wir finden dabei immer wieder die Erkenntnis bestätigt, die Lutz Röhrich
und Erika Lindig mit dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Volksdich-
tung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verdeutlichen wollten3: daß zum
Überlieferungsprozeß des Märchens nicht nur das Erzählen, sondern die Literari-
sierung und die Reoralisierung gehören und damit der Antagonismus zwischen
Kunstmärchen und Volksmärchen Konstruktion bleiben muß. Was aber trägt zu
dieser Konstruktion bei, wann und wie wird eine Erzählung zum Kunstmärchen,
wann und wie zum Volksmärchen? Darum ging es auf der Tagung der Märchen-
stiftung Walter Kahn 2014, und ich habe dazu einen Aspekt eingebracht4, der die
Kunst- wie die Volksmärchen als Ergebnis von Rezeptionsprozessen erkennen

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2 Dazu v.a. Oberfeld, Charlotte (Hg.): Wie alt sind unsere Märchen? (Veröffentlichungen der
Europäischen Märchengesellschaft 14). Regensburg 1990; Jason, Heda/Kempinski, Aharon: How
Old Are Folktales? In: Fabula 22 (1981) 1–27; Moser, Dietz-Rüdiger: Altersbestimmung des Mär-
chens. In: Enzyklopädie des Märchens 1. Hgg. Kurt Ranke u.a. Berlin/New York 1977, 407–419.
3 Röhrich, Lutz/Lindig, Erika (Hgg.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
(ScriptOralia 9). Tübingen 1989.
4 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag zur Tagung „Volksmärchen/Kunstmärchen: Unterschie-
de, Gemeinsamkeiten, Schnittstellen“ der Märchenstiftung Walter Kahn in Münsterschwarzach
(24.–26.9.2014); darin greife ich in Teilen auf meinen Aufsatz in einem stadtgeschichtlichen
Sammelband zur Bedeutung des Flusses zurück (Becker, Siegfried: Die dämonische Lahn. In:
Hussong, Ulrich/Murk, Karl [Hgg.]: Eine Stadt und ihr Fluss. Marburg an der Lahn [Marburger
Beiträge zur hessischen Geschichte 21]. Marburg 2011, 65–104).
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läßt – ich will also die Frage nach den Vorbildern stellen, der etwa Hans-Jörg
Uther und vor ihm Albert Wesselski eindrucksvoll nachgegangen sind5.
Eines der berühmtesten Kunstmärchen, das Ausdruck in einem alljährlich
vieltausendfach fotografierten und damit weltweit bekannten Artefakt gefunden
hat, ja mit der medialen Verbreitung der Adaptionen in Kinos und Kinderstuben
nicht nur nationales Symbol blieb, sondern längst zum internationalen Icon einer
unerfüllten Sehnsucht wurde, ist Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau6.
Wer kennt dieses Märchen nicht – ich kann mich daher auf eine ganz knappe
Inhaltsangabe beschränken. Nur die ersten Absätze will ich, zur Einstimmung in
den Erzählstil Andersens und um die Bilder in Erinnerung zu rufen, in der Über-
setzung Gisela Perlets voranstellen:

„Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie die Blüte der herrlichsten Kornblume
und so klar wie das reinste Glas. Aber es ist sehr tief, tiefer als irgendein Ankertau reicht;
viele Kirchtürme muß man übereinanderstellen, um vom Grund bis über die Oberfläche zu
gelangen. ... An der allertiefsten Stelle ist das Schloß des Meerkönigs zu finden. Seine
Mauern sind aus Korallen, die langen, spitzen Fenster aus dem allerklarsten Bernstein, und
als Dach dienen Muschelschalen, die sich, je nach der Strömung, öffnen und schließen. Das
sieht ganz wunderbar aus, denn in jeder Muschel liegen schimmernde Perlen, von denen
eine einzige eine Zierde für die Krone einer Königin wäre. Der Meerkönig war seit vielen
Jahren verwitwet, und seine alte Mutter führte ihm den Haushalt. Sie war eine kluge Frau,
jedoch stolz auf ihren Adel, weshalb sie auf dem Schwanz zwölf Austern trug, während die
anderen Vornehmen lediglich sechs tragen durften. – Ansonsten verdiente sie jedoch viel
Lob, vor allem weil sie den kleinen Meerprinzessinnen, ihren Enkeltöchtern, von Herzen
zugetan war. Das waren sechs prächtige Kinder, und am schönsten von ihnen war die
Jüngste. Ihre Haut war zart und rein wie ein Rosenblatt, ihre Augen leuchteten so blau wie
die tiefste See, doch weil ihr Körper in einem Fischschwanz endete, fehlten ihr wie allen
anderen die Füße.“7

Sobald sie fünfzehn Jahre alt waren, durften die Schwestern, eine nach der
andern, Jahr für Jahr, hinaufsteigen und aufs Land blicken, um die Welt der Men-
schen zu sehen. Im dritten Jahr kam die Reihe an die mutigste der Schwestern,

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5 Uther, Hans-Jörg (Hg.) Märchen vor Grimm (MdW). München 1990; Wesselski, Albert: Mär-
chen des Mittelalters. Berlin 1925; ders.: Deutsche Märchen vor Grimm 1–2. Brünn u.a. 1938.
6 Zur Bedeutung des Märchens im Werk Andersens vgl. Holbek, Bengt: Andersen, Hans Chri-
stian. In: Enzyklopädie des Märchens 1 (wie Anm. 2) 490–493; Mylius, Johan de: Der Preis der
Verwandlung. Hans Christian Andersen und seine Märchen. Würzburg 2010; Shojaei Kawan,
Christine: The Princess on the Pea. Andersen, Grimm and the Orient. In: Fabula 46 (2005) 89–
115 (deutsche Kurzfassung in: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung
und Märchenpflege 26,2 [2015] 3–17).
7 Andersen, Hans Christian: Märchen und Geschichten 1 (MdW). Hg./Übers. Gisela Perlet. Mün-
chen 1996, 68–95, hier 68f.
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die hinaufstieg und einen breiten Fluß aufwärts schwamm, dort auf badende
Menschenkinder traf, die im Wasser schwimmen konnten, obwohl sie keinen
Fischschwanz hatten. Als schließlich die Jüngste fünfzehn Jahre alt wurde und
ihre unendliche Sehnsucht stillen durfte, begegnete sie einem Schiff mit einem
schönen Prinzen, den sie nach einem Schiffbruch vor dem Ertrinken rettete und
sich in ihn verliebte. Von der Meerhexe bekam sie nun einen Zaubertrank, der
ihren Schweif schrumpfen ließ, wofür sie Beine und Füße erhielt, die jedoch bei
jedem ihrer schwebenden Tanzschritte schmerzten. Nie mehr würde sie zurück-
kehren können zu ihren Schwestern im Meer, und wenn der Prinz eine andere
heiraten sollte, würde ihr das Herz brechen und sie zu Schaum werden auf den
Wellen. – Wir ahnen oder erinnern uns, wie die Erzählung weitergeht.
Der Literaturhistoriker Andreas Kraß hat die literarischen Vorbilder, ohne die
Andersens Kleine Meerjungfrau gar nicht denkbar wäre, bereits sorgfältig heraus-
gearbeitet8, hat aufgezeigt, wie sich Andersen in seiner Autobiographie Das
Märchen meines Lebens ohne Dichtung (1846) an die Theateraufführung von Karl
Friedrich Henslers Donauweibchen durch eine deutsche Wandertruppe in Odense
erinnerte und wie Friedrich de la Motte Fouqués Undine in den Bildern der
Kleinen Meerjungfrau wiederzufinden ist. Und ich darf sein Buch weiterempfeh-
len zum Nachlesen und Nachvollziehen der breiten literarischen Rezeption, die
Andersens Kunstmärchen seinerseits erfahren hat: in Bertha Pappenheims Die
Weihernixe, in Oscar Wildes Der Fischer und seine Seele, in Jaroslav Kvapils Rusal-
ka, in Edward Sheldons Der Garten des Paradieses, in Thomas Manns Doktor
Faustus und – last but not least – in Walt Disneys Arielle die Meerjungfrau. Auch
Diskurse zur biographischen Textlektüre um den Niederschlag homoerotischer
Botschaften, die sich in dieser Geschichte einer unmöglichen Liebe als Spiege-
lung der Homosexualität Andersens finden sollen – von Michel Foucault und
Roland Barthes dekonstruiert, aber in den 1990er Jahren wieder aufgegriffen –,
reflektiert Kraß mit kritischer Distanz, dezidiert noch einmal in seiner Betrach-
tung von Oscar Wildes Erzählung Der Fischer und seine Seele aufgreifend. Doch
bleiben wir bei der Schilderung der Meerwesen, denn hier ergeben sich die inte-
ressantesten Verbindungen zwischen Kunst- und Volksmärchen, Volksbuch und
Sage.
Andersen scheint nicht nur vom Donauweibchen Henslers und der Undine
de la Motte Fouqués inspiriert worden zu sein, sondern auch neue Bilder kompo-
niert zu haben: Kraß jedenfalls wundert sich darüber, daß Andersen zwar im
„Bann der romantischen Stofftradition“ gestanden habe, in seinem Märchen aber

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8 Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt am Main
2010.
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einen völlig neuen Typus des Meermädchens schuf, weil er diesem einen Fisch-
schwanz gab und als weiteres Novum die Familienverhältnisse im Reich des
Meeres ausführlich geschildert habe. Kraß hat als ausgezeichneter Kenner der
älteren deutschen Literatur zuvor die antike und mittelalterliche literarische
Überlieferung der Sirenen, Nixen und Najaden profund ausgebreitet, den Melusi-
nestoff des Thüring von Ringoltingen, die Nymphen des Paracelsus und deren
jüngere Variationen bei Tieck, Goethe, Heyse und Fontane, bei Vulpius, Grillpar-
zer, Brentano, Geibel und anderen eingehend behandelt und damit auch den
Schlangenleib der Melusine berücksichtigt, weshalb ihm der Fischschwanz bei
Andersens Kleiner Meerjungfrau natürlich auffallen mußte. Aber er bleibt im lite-
raturgeschichtlichen Fokus befangen und damit begrenzt, weil er die Texte bril-
lant und konzis analysiert, aber nicht kontextualisiert, sie nicht in die sakrale
Bildüberlieferung und dämonologischen Diskurse des Spätmittelalters und der
frühen Neuzeit eingeordnet hat. Denn wie die Romantiker richtete Andersen im
Bestreben, Neues zu schaffen, den Blick zurück, nicht nur auf die Dichtung, son-
dern vor allem in die Geschichte und deren wissenschaftliche Beschreibung und
Überlieferung – vor der Kanonisierung der akademischen Historiographie finden
wir dazu eine reichhaltige und umfängliche Literatur in der Chronistik, die ja
auch von den Brüdern Grimm fleißig genutzt und exzerpiert wurde. Gerade bei
Wilhelm Grimm finden sich solche Spuren in die Chronikliteratur, die auch nach
Dänemark führten und deutlich machen, daß das Europa der frühen Neuzeit, ja
noch das Europa der Romantik und damit der Zeit der Nationalstaatsbildung
keineswegs nur einem kollektiven Narzißmus frönte, sondern weite Perspektiven
und Kontakte ermöglichte. Die Hinwendung Wilhelm Grimms zu den dänischen
Balladen und Märchen9, die einen beginnenden „Traum vom Norden“ markiert
und die deutsche Romantik bis hin zu ihrer Rezeption im Nationalsozialismus
kennzeichnete10, hat Ina-Maria Greverus schon früh in einem kritischen Aufsatz
behandelt11. Darin verweist sie auf die Widerlegung der von Grimm und Grundt-
vig entwickelten Vorstellung vom Ursprung der dänischen Balladen aus der alt-
nordischen und germanischen Heldendichtung und zeigt ihre Rezeption aus der
spätmittelalterlichen Sagatradition des 14. und 15. Jahrhunderts auf12.
Eine dieser Spuren der Rezeption führt von Kopenhagen auch nach Marburg
zurück, und ich will an diesem Beispiel aufzeigen, wie das Kunstmärchen bei

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9 Grimm, Wilhelm: Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen. Heidelberg 1811.
10 Klausnitzer, Ralf: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literari-
schen Romantik im Dritten Reich. Paderborn u.a. 1999.
11 Greverus, Ina-Maria: Wege zu Wilhelm Grimms „Altdänischen Heldenliedern“. In: Hessische
Blätter für Volkskunde 54 (1963) 469–488.
12 Vgl. auch Dal, Erik: Nordisk folkeviseforskning siden 1800. Kopenhagen 1956.
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Andersen und das Volksmärchen bei Grimm vermutlich aus den gleichen Quellen
geschöpft werden konnten, aus demselben Stoff geformt wurden und doch gänz-
lich andere Ergebnisse brachten, weil die Autoren – Hans Christian Andersen
und Wilhelm Grimm – völlig andere Vorstellungen von Autorschaft hatten.
Andersen hat gewiß ein Werk gekannt und für die Erschaffung seiner Kleinen
Meerjungfrau herangezogen, ohne das die dänische Geschichtsschreibung des
18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht auskam: die Monumenta Danica, also die
von Ole Worm (oder Olaus Wormius, wie er sich in der akademischen Welt
nannte) verantworteten, 1643 in Hafnia (also Kopenhagen) erschienenen
Danicorum Monumentorum libri sex. Ole Worm, 1588 in Aarhus in Dänemark
geboren, hatte sich 1605 an der Universität Marburg immatrikuliert, doch war er
als Lutheraner schon bald wegen der mauritianischen Verbesserungspunkte (der
vom Landgrafen oktroyierten zweiten – calvinistischen – Reformation13) aus reli-
giösen Gründen an die Universität Gießen gegangen, dann nach Straßburg, Basel
und Padua. 1610 kehrte er nach einem Aufenthalt in Kopenhagen nach Marburg
zurück, wechselte aber wegen der Pest wieder nach Basel14, wo er 1611 promoviert
wurde. Ab 1613 war er wieder in Kopenhagen, erhielt dort zunächst eine Professur
für Griechisch, später für Physik und schließlich für Medizin und stieg zum Leib-
arzt des dänischen Königs Christian IV. auf15.
In den Danicorum Monumentorum libri sex griff Worm die älteren Berichte
und Bilder der dänischen Überlieferung auf, wie sie in der Bilderwelt der Kirchen
noch erhalten waren: etwa in dem um 1500 entstandenen Fresko im Helligånds-
kloster zu Aalborg – in dieser Darstellung eines Meermädchens finden wir auch
den Fischschwanz, der bei Andersen vielleicht einen völlig neuen Typus in der
Literatur markieren mag, aber keineswegs eine Neuschöpfung ist, sondern Vor-
bilder in der sakralen Ikonographie hatte. Worm entwarf auch ein – streng

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13 Zum konfessionsgeschichtlichen Kontext vgl. Schilling, Heinz (Hg.): Die reformierte Konfes-
sionalisierung in Deutschland. Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins
für Reformationsgeschichte 195). Gütersloh 1986; Menk, Gerhard: Absolutistisches Wollen und
verfremdete Wirklichkeit. Der calvinistische Sonderweg Hessen-Kassels. In: Schaab, Meinrad
(Hg.): Territorialstaat und Calvinismus. Stuttgart 1993, 164–183; Menk, Gerhard (Hg.): Landgraf
Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft (Beiträge zur hessischen
Geschichte 15). Marburg 2000.
14 Zur Pest in Marburg 1611, die 1152 Menschenleben forderte und zur Verlegung der fürstlichen
Regierung und der Universität nach Frankenberg zwang, vgl. Ernestus, Christopher: Tagelöhner,
Zunftmeister, Stadtschreiber. Städtisches Leben im 16. und 17. Jahrhundert im Spiegel einer
Marburger Bürgerfamilie (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 81). Marburg
2005, 253f.
15 Vgl. Hovesen, Ejnar: Laegen Ole Worm (1588–1654). En medicinhistorisk undersøgelse og
vurdering. Aarhus 1987.
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wissenschaftlich ambitioniertes – System der Verwandtschaftsbeziehungen von


Nöcken und Nixen, das wir durchaus als Anregung für die literarische Ausformu-
lierung bei Andersen verstehen dürfen: das Novum einer Schilderung der Fami-
lienverhältnisse im Reich des Meeres, das Kraß dem Märchen Andersens beschei-
nigte, mag darin unmittelbar oder mittelbar Vorbilder gefunden haben. Und
schließlich hob Worm ausdrücklich hervor, daß die Meerwesen, die Nöcken, die
bei den Dänen Nicken genannt würden, nicht allein im Meer, sondern auch in
den Flüssen vorkämen (wir erinnern uns an die mutige dritte Schwester in der
Schilderung Andersens, die den Fluß hinaufschwamm und dort auf Menschen
traf). Worm beließ es keineswegs bei einer Behauptung, sondern führte einen
Beleg dafür an – er verwies auf einen Bericht über die Sichtung einer Nixe in Mar-
burg 1615:

„An ejus generis extiterit illud spectrum quod anno 1615. à die 13. Octobr. ad 17. visum est
Marpurgi prope molendinum S. Elisabethae supra Lanum fluvium, W a s s e r - N i c h t s illis
appellatum, aliis considerandu relinquo. De eo editum carmen Marpurgi ex officina Hutvel-
keriana, quodvide in Cista medica Joan: Hornungi p.191. Hoc novi, ibidem literis operam
dum navarem, singulis annis ad minimum unum aquis eodem ferme in loco suffocatum
fuisse.“16

Worm kann, da er sich zu dieser Zeit nicht mehr in Marburg aufhielt, die Erschei-
nung in der Lahn 1615 nicht selbst erlebt haben. Immerhin könnte ihm ein zeitge-
nössischer Prodigienbericht zugesandt worden sein, also der Einblattdruck einer
illustrierten Nachricht über ein Wunderzeichen, wie sie am Vorabend des Drei-
ßigjährigen Krieges recht häufig waren und ‚erschröckliche‘ Ereignisse und Kata-
strophen voraussagten17. Allerdings gibt der lebhafte Briefwechsel, den er auch
nach Marburg unterhielt, darüber keine Aufschlüsse18. Seine Quelle aber ist uns
bekannt, denn er berief sich, sogar mit Seitennachweis 191, auf Johann Hornung,

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16 Worm, Ole: Danicorum Monumentorum Libri Sex. Kopenhagen [Hafnia] 1643, 17f.
17 Schenda, Rudolf: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. In:
Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963) 637–710; ders.: Die französische Prodigienlitera-
tur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Münchner Romanistische Arbeiten 16). München
1961; Wäscher, Hermann: Das deutsche illustrierte Flugblatt. 1: Von den Anfängen bis zu den
Befreiungskriegen. Dresden 1955. Zum Kontext der Wissenskompilationen und der Ereignisdar-
stellung vgl. Meierhofer, Christian: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen
Neuzeit und die Entstehung der Nachricht (Epistemata Literaturwissenschaft 702). Würzburg
2010.
18 Breve fra og til Ole Worm 1–3. Oversat af Henrik D. Schepelern. Under medvirkung af Holger
Friis Johannsen. Kopenhagen 1965–68, 8f. (Brief an Niels Christensen Foss in Marburg 26.2.1616),
9 (Briefe an Jacob Fincke in Gießen 26.2.1616 und Christian Claccius in Kassel 26.2.1616), 149
(Brief an Christian Claccius in Marburg 19.5.1628).
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der 1626 seine Cista medica herausgegeben und darin den zeitgenössischen, als
Einblattdruck der Marburger Offizin Rudolf Hutwelckers erschienenen, exakt
datierten und an der Elisabethmühle19 lokalisierten Bericht (Conspecta primum
fuit Anno Christi 1615. Die 13. Octob[ris] feria 6 prope Molendinum Elisabethanum.
Marpu[r]gi Cattorum, Ex officina Typographia Rodolphi Hutwelckeri. 1615) voll-
ständig abgedruckt hatte20. Hornungs Cista medica war auch Wilhelm Grimm
bekannt, der daraus Exzerpte für die Nixensagen zog – hier finden wir also eine
Klammer der Rezeption, auf die ich nachher noch eingehen werde.
Hutwelcker hatte 1604 eine Druckerei in Marburg eröffnet und war vom
Landgrafen, protegiert durch Rudolf Goclenius d.Ä. (1547–1628), 1607 von den
bürgerlichen Lasten befreit worden, doch gelang es ihm nicht, neben der privile-
gierten Offizin Paul Egenolffs Universitätsdrucker zu werden; er mußte sich bis
auf wenige Ausnahmen mit Werken begnügen, die von Egenolff abgelehnt wor-
den waren und nur geringen Ertrag abwarfen. Erst nachdem Egenolff von der
Universität nicht mehr besoldet wurde, druckte Hutwelcker einige offizielle aka-
demische Schriften, doch blieb die Bezahlung auf das jeweilige Projekt be-
schränkt21. Dazu paßt der Versuch, mit dem Nixenbericht am zeitgenössisch
hochaktuellen Diskurs um die paracelsischen Deutungen von Naturerscheinun-
gen zu profitieren. In dem von Hutwelcker gedruckten lateinischen Bericht Nym-
pha Marpurgensis Lanicola, die Marpurger Wassernix wird die Wassererschei-
nung eindeutig als Nymphe, Nais, Nixe bezeichnet und ihr damit dämonisches
Wesen zugeschrieben; es liegt nahe, darin die Rezeption des Liber de nymphis

||
19 Zur Elisabethmühle am Weg nach Wehrda, der bis zur Aufhebung des Deutschen Ordens
1809 zum Haus Marburg gehörenden Mühle, vgl. den Beitrag von Werner Mascos in: Marburger
Almanach 1983, 86–89.
20 Hornung, Johann (Hg.): Cista medica, qua in epistolae clarissimorum Germaniae medico-
rum, familiares, & in Re Medica, tam quoad Hermetica & Chymica, quam etiam Galenica prin-
cipa, lectu jucundae & utiles, cum diu reconditis Experimentis asservantut. Potissimum ex
posthuma Clarissimi quondam Philosophi & Medicina Doctoris, Dn. Sigismundi Schnitzeri […]
bibliotheca […]. Nürnberg 1625. Das Marburger Exemplar ist leider verschollen, so daß eventuelle
frühe Glossierungen oder Anstreichungen nicht mehr erschließbar sind. Falk Eisermann datiert
das Werk in der vorläufigen Beschreibung des Katalogs der mittelalterlichen Handschriften der
Forschungsbibliothek Gotha (http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/projekt_gotha.htm,
zu Chart. B 174 Macer floridus) mit Verweis auf C.G. Jöcher in: Allgemeines Gelehrten-Lexicon
[…] 2. Leipzig 1750, 167f., auf 1626.
21 Könnecke, Gustav: Hessisches Buchdruckerbuch enthaltend Nachweis aller bisher bekannt
gewordenen Buchdruckereien des jetzigen Regierungsbezirks Cassel und des Kreises Bieden-
kopf. Marburg 1894, 235f.; danach Huber, Hans: Buchdrucker in Marburg. Rudolph Hutwelcker.
In: Marburger Almanach 1983, 100–105; Reske, Christoph: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahr-
hunderts im deutschen Sprachgebiet auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef
Benzing (Beiträge zur Buch- und Bibliothekswesen 51). Wiesbaden 2007, 606.
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von Paracelsus und damit den Einfluß seines Mentors, des Philosophen Gocle-
nius, zu vermuten, der sich nicht nur als Hexentheoretiker profiliert hatte22. Jakob
Freudenthal bemerkte ausdrücklich, „die Existenz von guten und bösen Geistern,
von Teufeln und Hexen, ja selbst von Faunen und Satyrn leugnet er nicht (Phys.
compl. specul. p. 17 sqq.; Angelologia Marp. 1609; Disquis. magicae Marp.
1602)“23, und die heftigen Angriffe, denen er in den zeitgenössischen Diskursen
ausgesetzt war, könnten der Kontext für die Bedencken über dem Gesicht bey
Marburg/ bey S. Elisabethen Mühl auff der Lahn/ Anno 1615 im Octobri und die
darin geäußerten Vorwürfe gegen die „Paracelsisten vnd wunderlichen Discur-
sen der Paracelsischen Brüderschaft“ gewesen sein, die bei Hornung auf den Ab-
druck des Nixenberichts folgten. Schon die Bezeichnung der Erscheinung als
Wassernixe, die ja menschliche Gestalt der Nymphen und Najaden impliziert,
wird in Frage gestellt:

„Daß aber das Marburgische Gesicht soll Frawen gestalt gehabt haben/ meldet die beschrei-
bung nicht sondern sagt/ es hab einen dünnen subtilen Leib/ lang wie ein schnur/ oder
schlang/ welcher Leib leichtlich zerfahren sey vnd wider zusammen gangen. Item sey stets
auß dem wasser wider ernewet/ oder continuirt vnd alimentirt worden/ vnnd also wie ein
dampff wider vom folgenden ersetzt/ hab kein Menschliche gestalt gehabt/ in welcher wol
die Najades erscheinen/ mit den Nymphen vnd Syrenen/ sondern wie gesagt/ einen dünnen
schlangen gefarbten Leib/ wie dann die wasserdämpff blawlecht erscheinen. Ob es ein
angezündet/ brennends oder scheinendes wesen gehabt/ stehet in dem Latein nicht eygent-
lich/ wiewol es andere sagen.“

So wird denn auch die Erscheinung gedeutet als Folge von Ausgasungen aus dem
Boden – es müsse „im Wasser ein fetter bituminischer fauler letten seyn/ der auch
dämpffet“. Ausführlich werden natürliche Ursachen erörtert: „der resolvirte
halitus, von vnten immer wider zugenommen vnd ersezt erfolgt/ ist ein Natürlich
wesen. Man hat in glaubwürdiger erfahrung/ dass bey warmen Bädern vnd
Schwefelgängen oder wassern/ solche dämpff sich finden, vnnd offt mit dem
wasser herfür gehen.“ Und auch für die mitgeteilten Erinnerungen von Zeitzeu-
gen, daß demjenigen die Hände erstarrt seien, der nach der Erscheinung habe
greifen wollen, ließen sich Erklärungen finden: es sei die Wirkung von Stickstoff-

||
22 Kremer, Diana: „Von erkundigung und Prob der Zauberinnen durchs kalte Wasser“. Wilhelm
Adolph Scribonius aus Marburg und Rudolf Goclenius aus Korbach zur Rechtmäßigkeit der
„Wasserprobe“ im Rahmen der Hexenverfolgung. In: Geschichtsblätter für Waldeck 84 (1996)
141–168.
23 Freudenthal, Jakob: Goclenius, Rudolph. In: Allgemeine Deutsche Biographie 9. Hg. Histori-
sche Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 1879, 308–312.
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oder Quecksilberdämpfen gewesen. In einem angehängten Pamphlet Ein kurtz-


weilige deutung vnd vergleichung der Wassernix mit der Rosencreutzerischen
Brüderschafft, welche die ganze Welt reformieren und „auf Paracelsisch anrich-
ten“ wolle, wird schließlich direkt auf paracelsische Deutungen Bezug genom-
men und ihre Rezeption in der Universitätsstadt mit süffisantem Fazit als modi-
scher Unsinn entlarvt – die vermeintliche Nixe streiche ja „den Strom auf nach
Marburg zu/ da man ohne das etwas vom Paracelso vnd Magischen Künsten
findet“. Aber hatte das scharfe Verdikt Erfolg, und auf welche Tendenzen der
frühneuzeitlichen Wissenschaftssysteme wurde hier eingegangen?
Die Renaissance hatte die antiken Deutungen der Nymphen und Najaden,
der Skylla und der schaumgeborenen Aphrodite wieder in Erinnerung gerufen,
und zudem hatte es die humanistische Wissenschaft seit dem Liber de nymphis
des Paracelsus24, seit Johannes Trithemius25 und Agrippa von Nettesheim verstan-
den, die Dämonologie und die Magie in ein naturwissenschaftliches System zu
integrieren. Die neuplatonische Dämonologie wurde im Barock in naturwissen-
schaftlichen Diskursen rezipiert, unangezweifelt die Existenz von Dämonen
voraussetzend wie in Athanasius Kirchers Magiae naturalis centuriae (1659) oder
in Gaspar Schotts Physica curiosa (1662)26, und auch Ole Worms Deutung zeigt ja
die intensive Beschäftigung mit der magia naturalis, mit der Körperlichkeit von
Geistwesen, wie sie in der Spektrologie zu einer eigenen Disziplin entwickelt wur-
de und in der Traktatliteratur Verbreitung fand. Wie ernst diese Diskurse geführt
wurden, ist noch an der langen Nachwirkung abzulesen, die die kritischen Posi-
tionen dazu fanden. In den Kollektaneen und Exzerpten zur Geschichte Marburgs
von Conrad Wilhelm List (1750–1828), der wohl zwischen 1780 und 1798 etliche
Notizen zu den „fließenden Wassern, dem Lahnstrohm und der Marbach“ auf-
zeichnete, ist auch der Bericht von der Nixe auf der Lahn 1615 vermerkt. Er berief

||
24 Vgl. Peuckert, Will-Erich (Hg.): Paracelsus’ Werke 3. Darmstadt 1967. Zur Bedeutung des
„Liber de nymphis“ für die Neuakzentuierung einer Bedürftigkeit und Sehnsucht der Wasserwe-
sen vgl. Lundt, Bea: Melusine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher
Existenz im Beziehungs-Diskurs der Geschlechter. München 1991, 165–173; dies.: Wassergeister.
In: Enzyklopädie des Märchens 14. Hgg. Rolf Wilhelm Brednich u.a. Berlin/Boston 2014, 519–
526, hier 523.
25 Dazu Arnold, Klaus: Johannes Trithemius (1462–1516). Würzburg 1971; Brann, Noel L.: Tri-
themius and Magical Theology. A Chapter in the Controversy over Occult Studies in Early Modern
Europe. Albany, New York 1999.
26 Vgl. Daxelmüller, Christoph: Barockdissertationen und Polyhistorismus. Die Curiositas der
Ethnica und Magica im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. Würzburg 1979.
258 | Siegfried Becker

sich nicht direkt auf Hornung oder Worm, sondern auf Justin Gerhard Duising27,
der 1753 eine Sammlung gelehrter Abhandlungen de salubritate aeris Marburgen-
sis vorgelegt hatte. Darin wurde Johannes Wagners Dissertatio physica qua de
Lani fluvii salubritate abgedruckt, die den Bericht über die Wassernixe von 1615
enthielt und auch den im Druck der Offizin Hutwelckers erwähnten Namen der
Nymphe Lanicola angab:

㤠CCXXX. Dubium adhuc superest, a me solvendum, ratione Lane salubritatis. Est illud
nympha ista Marburgensis Lanicola, die Marburger Wassernix, quae die XIII. Octobris
A.R.S. cloloc XV. visa est prope moletrinam Elisabetanam super Lanum fluvium. Tempus
erat Vindemiale calidum et siccum usque ad XVIItimum. Aliquando mane caligines et
nebulae errant, praesertim VIItimo et VIIIvo Octobris. Per medium amnem discurrebat ista
nais motu vagabundo, quasi saltaret. Corpore fuit tenui ac debili, ex aqua instar funiculi vel
gracilis serpentis. Corpus facile resolvebatur in partes tenues, et mox coalescebat in ean-
dem molem. Ferebatur contra amnem, colore colubrino sparsa nais. Faciem humanam non
habebat, sicut naiades finguntur. – § CCXXXI. Longa es de hac re fabula apud IOAN.
HORNVNGVM p. 191–200. cistae medicae. Immo OLAVS WORM, medicus ille Danus, in
Danicorum monumentorum libris sex p. 17. sq. “ferunt, ait, submersos, ex aqua sublatos,
naribus fuisse rubentibus inventos, tanquam aliquis compresso ore sanguinem exsuxisset.
An eius generis extiterit illud spectrum, quod a. 1615. a die 13. Oct. ad 17. visum est Marburgi
prope molendinum S. Elisabetae supra Lanum fluvium, wasser=nichts illis appellatum,
aliis considerandum reliquo ... Hoc novi, ibidem litteris operam dum navarem, singulis
annis ad minimum unum aquis eodem ferme in loco suffocatum fuisse“. – § CCXXXII. Ratio
huius phaenomeni haec fuit. Dantur vapores aquei, & hi sulphurei, qui uniti coeunt in
corpus viscidum, quod inflammationi particulatum sulphurearum resistit, nisi ob particu-
las igneas ex halantes e terra et his vaporibus viscidis unitas, vel ob motum per aerem, sive
ascendendo versus locum frigidiorem, sive descendendo, ob gravitatem una cum magnitu-
dine auctam accendantur, ill. HAMBERGER l.c. § 609., 10. IAC. SCHEVCHZER P. II. Physices
cap. 5. § 8.“28

Auch Wagner wies also die Rezeptionsgeschichte nach – er muß Hornungs Cista
medica, sicherlich nach dem in Marburg vorhandenen Exemplar29, exzerpiert und
darin vom Erstdruck 1615 Kenntnis erhalten haben, denn er zitierte nicht bloß

||
27 Justin Gerhard Duising (1705–1761), Professor der Medizin und Physik an der Universität
Marburg; vgl. Bock, Ulrich: Leben und Werk des Justin Gerhard Duising. Diss. med. Marburg
1978.
28 Ivstini Gerhardi Dvisingii Medicinae Doctoris eivsdemqve ac Physices Professoris P.O.
commentatio physica de salvbritate aeris Marbvrgensis: Variis observationibvs tvm historicis,
tvm oeconomicis, tvm ovae ad politiam facivnt illvstrata. Marburg 1753, darin §§ 230–232: Ioan-
nes Wagner, Felsberga-Hassvs, Dissertatio physica XIII. qva de Lani flvvii salvbritate, qvam
adfert Marbvrgo disqviritvr.
29 Allerdings ist dieses im Bestandskatalog noch nachgewiesene Exemplar, wie oben Anm. 20
bereits erwähnt, schon seit längerem verschollen.
Andersens Kleine Meerjungfrau und ihre Vorbilder | 259

nach Worm, sondern gab auch die Seitenzahlen an. Weiter verwies er auf Ham-
berger, also auf die zwischen 1735 und 1761 in mehreren Ausgaben erschienenen
Elementa physices Georg Erhard Hambergers (1697–1755), und auf die Physica
sacra des Zürcher Arztes Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733). Es handelt sich
also durchaus um eine ernsthafte Recherche und Diskussion der literarischen
Überlieferung. Doch die Zweifel wuchsen, und die Aufklärung suchte nun gründ-
lich aufzuräumen mit den Geister- und Spukgeschichten. Wagner betonte ja auch
ausdrücklich, sich auf die kritische Diskussion in Hornungs Cista medica bezie-
hend: „Faciem humanam non habebat, sicut naiades finguntur“, und ging mit
der Rezeption der rationalistischen Erklärungen (die sich ja schon zeitgenössisch
in der Auffassung von schwefligen Dämpfen fanden) auf Distanz zur dämonolo-
gischen Deutung, auch wenn durchaus ein Interesse an dem Faszinosum der
Wundererscheinung zu spüren ist.
Weder der Prodigienbericht in Hutwelckers Einblattdruck noch sein Nach-
druck in Hornungs Cista medica führten jedoch zu einer breiten, über diese enge-
ren, lateinisch geführten dogmatischen Diskurse hinausweisenden Popularisie-
rung des Stoffes. Es bedurfte der Adelung durch die Erwähnung in Ole Worms
Monumenta, um die Deutung der lokalisier- und datierbaren Erscheinung als
‚eine Wassernix‘ in die Chronistik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu setzen.
Worm jedenfalls wies der Marburger Erscheinung nicht nur dämonisches Wesen
als Wassergeist, sondern auch weibliches Geschlecht zu – er stellte sie den Meer-
mädchen der dänischen Überlieferung zur Seite, und diese Rezeption in der
gelehrten Mythologie und Dämonologie Dänemarks wurde wiederum in der früh-
neuzeitlichen Chronistik Hessens aufgenommen und tradiert. 1697 teilte Johann
Just Winkelmann in seiner Beschreibung der Fürstentümer Hessen und Hersfeld
mit,

„was sich im Jahr 1615 vom 15. bis 17. Octobr. zu Marpurg in der Löhn vor ein Wunderthier
(so D. Olaus Worm vermeinet/ es seye eine Wassernix gewesen) habe sehen lassen/ darvon
besiehe seine monumenta Danica fol. 17. & 18. auch hat man aus langer Erfahrung/ daß die
Löhn gemeiniglich alle Jahr jemanden zu sich raffet“30.

||
30 Winkelmann, Johann Just: Gründliche und warhafte Beschreibung Der Fürstenthümer Hes-
sen und Hersfeld/ Samt deren einverleibten Graf- und Herrschaften mit den benachbarten Land-
schaften [...] 1. Bremen 1697, Kap. 8, 56. Zur Etymologie der alten Schreibung ‚Löhn‘ vgl.
Friedemann, Friedrich Traugott: Die urkundlichen Formen des Flußnamens Lahn. In: Archiv für
hessische Geschichte und Altertumskunde 6 (1851) 419–448. Zur Chronikliteratur der hessischen
Territorien vgl. Menk, Gerhard (Hg.): Hessische Chroniken zur Landes- und Stadtgeschichte (Bei-
träge zur hessischen Geschichte 17). Marburg 2003.
260 | Siegfried Becker

Seine Quelle gab Winkelmann mit dem Verweis auf Ole Worms Monumenta an –
obwohl ja der zeitgenössische Einblattdruck erschließbar war, zog er es vor, Ole
Worm als wissenschaftliche Kapazität des frühneuzeitlichen Europa zu zitieren,
einen Gelehrten, den er schätzte und dem er mit seiner Beschreibung Hessens
nacheiferte. Und mit Winkelmanns Beschreibung war dann der Bericht für die
Sagenanthologien des 19. Jahrhunderts bereitgestellt31. Hermann von Pfister teil-
te sie 1885 in seiner Sammlung hessischer Sagen in freier Ausschmückung mit:

„Bei Marburg ward 1615 in der Lahn bei der Elisabethen-Mühle eine Erscheinung wahr-
genommen, und erkannte man eine Nickse. Sie hub sich aus dem Wasser mit dünnem,
farbigem, schlangichtem Unterkörper, schadete Niemandem; senkte sich zwischen durch
wieder in die Tiefe, wann sie Gefahr wähnte. Anderes Males betraf ein Mann an der Strasse
nach Wehrda ein Seeweibchen; das lag ganz erschöpfet im Staube. Sie flehete ihn inbrün-
stiglich an, sie doch ans Ufer des Flusses zu geleiten: was er sich wünsche, solle ihm erfüllet
werden. Der Mann willfahrte ihrer Bitte, und es gieng ihm fürder nach Wunsche sein Leben
lang.“32

Auch die Brüder Grimm nutzten Winkelmann, zogen aber auch die Cista medica
Hornungs heran; in den Anmerkungen zu DS 56: Nixenbrunnen wird mit der Sei-
tenangabe 191 das Marburger Gesicht als Vorlage angegeben, aber auch auf
Worms Monumenta Danica verwiesen. Für die Kompilation von KHM 181: Die Nixe
im Teich verwendete Wilhelm Grimm, als er die Erzählung 1843 (recht spät also!)
in die Kinder- und Hausmärchen aufnahm, eine von dem Philologen Moriz Haupt
in dessen Zeitschrift für deutsches Altertum 1841 veröffentlichte Fassung aus der
Oberlausitz, doch ergänzte er sie um einige Beschreibungen der Natur und des
Wasserwesens33, in die möglicherweise auch Anregungen aus Hornungs Cista

||
31 Seeliger, Matthias: Hessische Sagensammler im Gefolge der Brüder Grimm. In: Brednich, Rolf
Wilhelm (Hg.): Die Brüder Grimm in Göttingen 1829–1837 (Schriftenreihe der Volkskundlichen
Kommission für Niedersachsen e.V. 1). Göttingen 1986, 27–31; vgl. auch Schenda, Rudolf: Volks-
erzählung und nationale Identität. Deutsche Sagen im Vormärz (1830–1848). In: Fabula 25 (1984)
296–303.
32 Pfister, Hermann von: Sagen u. Aberglaube aus Hessen u. Nassau. Marburg 1885, VI 2; ganz
ähnlich auch bei Heßler, Carl: Hessischer Sagenkranz. Sagen aus Kurhessen. Kassel 41928, 110,
Nr. 97 (die 1. Aufl. erschien 1889 unter dem Titel „Sagenkranz aus Hessen-Nassau und der Wart-
burg-Gegend“). Heßler machte in seiner mythomanen Sagenanthologie, die er ganz der
Rekonstruktion eines chattisch-germanischen Mythensystems um Wotan (Gudensberg, Oden-
berg) verschrieb, die Nixen zu „liebliche[n] Wassergöttinnen mit menschlicher Gestalt. Zuweilen
steigen sie mit dem Oberkörper aus den Fluten empor, und man kann dann sehen, daß ihr
Unterkörper fisch- oder schlangenartig gebildet ist“ (Einleitung, 7).
33 Uther, Hans Jörg: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm.
Enstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin/New York 2008, 373–375, weist wie Bolte/Polívka
auf die von Haupt mitgeteilte Erzählung sowie auf ältere Fassungen des Nixenmärchens hin, das
Andersens Kleine Meerjungfrau und ihre Vorbilder | 261

medica einflossen. Zudem erinnert Grimms Nixe in der hohen Zeit einer roman-
tischen Inszenierung des Rheins als Nationalstrom gewiß nicht zufällig an die
Lorelei. Seit Clemens Brentanos Godwi-Roman (1801) und dem Lied der Violetta
Zu Bacharach am Rheine34 hatte die Lorelei die Gemüter der Romantik bewegt;
Heinrich Heine schrieb um 1825 die wirkmächtigen, von Friedrich Silcher verton-
ten Strophen, und Carl Joseph Begas schuf 1835 jenes Bildnis, das für Jahrzehnte
die Vorstellungen von der verführerischen, schönen und tödlichen Sirene beein-
flussen sollte35. Moritz von Schwind, der Mythenmaler der Hochromantik, gab
dann den Rheintöchtern geheimnisvolle Gestalt, ja entwarf mit dem Gemälde Der
Mittag das Bild einer Nixe, das später Otto Ubbelohde inspiriert haben dürfte36,
meinen wir doch die Bildidee in der Märchenillustration Ubbelohdes wiederzuer-
kennen. Von Grimm bis Ubbelohde spannt sich also auch ein Bogen, der die
Lahnnixe mit der Rheinsirene verbindet, so wie ja auch in einer Routenempfeh-
lung des Oberhessischen Touristenvereins 1901 die Lahn als „Braut des Rheins“
gefeiert wurde37, ganz dem Rheinpathos der Deutschen38 zur Jahrhundertwende
verpflichtet.
Um nun die Frage nach den Gemeinsamkeiten von Kunstmärchen und Volks-
märchen im Titel der Münsterschwarzacher Tagung am konkreten Beispiel aufzu-
greifen, läßt sich darin eine solche Gemeinsamkeit (auch in der engen Fokussie-
rung auf eine historische Quelle) ausmachen – bei Andersen vermutet, bei Grimm
und Pfister belegt, ist im Kunstmärchen, im ‚Volksmärchen‘ und in der Sage

||
sich schon im frühen 16. Jahrhundert bei Giovanni Francesco Straparola findet, von Johann Karl
August Musäus wieder entdeckt und 1783 in seiner Erzählung „Die Nymphe des Brunnens“
verarbeitet wurde, 1793 dann auch bei Johann Christoph Matthias Reinecke unter dem Titel „Der
Nixen Eingebinde“ erscheint. Zur internationalen Überlieferung vgl. Köhler-Zülch, Ines: Nixe im
Teich (AaTh 316). In: Enzyklopädie des Märchens 10 (2002) 42-48. Wenig erforscht sind die
Nixenromane von Vulpius, vgl. dies.: Vulpius, Christian August. ebd., Bd. 14 (2014) 381–386,
hier 382.
34 Kramp, Mario: „Ein Märchen aus alten Zeiten“. Brentano und die Erfindung des Mythos. In:
Kramp, Mario/Schmandt, Matthias (Hgg.): Die Loreley. Ein Fels im Rhein. Ein deutscher Traum.
Mainz 2004, 57–65.
35 Müllejans-Dickmann, Rita: „und kämmt ihr goldenes Haar“. Anatomie eines Frauenbildes.
Ebd., 83–91.
36 Moritz von Schwind: Der Mittag (um 1860), Bayerische Staatsgemäldesammlungen Mün-
chen. Daß Ubbelohde die Werke Schwinds gekannt und den Künstler geschätzt hat, geht auch
aus seiner Rezeption von Schwinds Elisabeth-Zyklus auf der Wartburg hervor.
37 Eine achttägige Reise durch das Lahnthal. In: Touristische Mittheilungen aus beiden Hessen
10 (1901–02) 133–135.
38 Dazu Gassen, Richard W./Holeczek, Bernhard (Hgg.): Mythos Rhein. Ein Fluß – Bild und
Bedeutung. Ludwigshafen am Rhein 1992; vgl. auch Bolz, Norbert (Hg.): Das Pathos der Deut-
schen (Weimarer Editionen). München 1996.
262 | Siegfried Becker

dieselbe literarische Quelle genutzt worden, ein datierbarer Einblattdruck von


1615, und doch ist gänzlich Unterschiedliches dabei herausgekommen –

1. das opulent ausfabulierte, ganz aus der Freude des Autors an den
Milieuschilderungen, den Empfindungen seiner Figuren, seiner Leserin-
nen und Leser erschaffene Märchen Andersens, das er selbst verantwor-
tete und damit die Dichtung als Ergebnis seines künstlerischen Schaf-
fens kennzeichnete,

2. die prononciert knapp formulierte, den Grimmschen Projektionen eines


‚Volkstons‘ angepaßte Kompilation aus Chronikliteratur und Hand-
lungssträngen älterer Erzählungen, die als alte mündliche Überlieferung
und damit als Ergebnis eines kollektiven Schaffens erscheinen und wir-
ken sollte,

3. die fast karge, ganz eng an der Chronik Winkelmanns angelehnte Erzäh-
lung aus dem späten 19. Jahrhundert mit dem Anspruch, ‚historische
Sage‘ zu sein, die daher über das Quellenzitat hinaus noch um eine be-
wußt sentimentale, in Diktion und Orthographie historisierende Schilde-
rung ergänzt wurde.

Wir können, obwohl wir ja ein ganz konkretes Datum – 1615 – notiert finden, das
‚Alter‘ der Erzählungen nicht bestimmen: es dürfte deutlich geworden sein, daß
nicht nur Andersen und Grimm zahlreiche weitere Anregungen, Exzerpte,
Sprachbilder und -formeln eingearbeitet haben, sondern auch die Erscheinung
1615 selbst, das ‚Gesicht‘, in einem weiten Kontext der spätmittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Diskurse stand und nur durch diese überhaupt wahrgenom-
men, festgehalten und überliefert werden konnte (man sah, was man sehen
wollte). Und entscheidend ist letztlich die Frage nach den Kontexten und Inten-
tionen der konkreten Ausführung: es ist eine Frage des Stils, den die Autoren in
ihrer literarischen Gestaltung jeweils verwendet haben, der selbstverantworteten
Autorschaft dort und der intendierten Zuschreibung einer schöpferischen Volks-
seele hier, die Andersens Geschichte zum Kunstmärchen, die Nixe im Teich der
Brüder Grimm aber zum Volksmärchen werden ließen – sie entsprechen damit
den genrespezifischen Konzeptionen (und Konstruktionen), die im 19. Jahrhun-
dert für Volks- und Kunstmärchen gefunden wurden. Wie das Volksmärchen und
das Kunstmärchen aber bleiben sie in ihrer Herkunft dennoch Schwestern: die
Nixe an der Marburger Elisabethmühle und die Kleine Meerjungfrau in Kopen-
hagen.
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