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Volker Kronenberg
Hedwig Pompe Hrsg.
Fluchtpunkt
Integration
Panorama eines Problemfeldes
Fluchtpunkt Integration
Manuel Becker · Volker Kronenberg
Hedwig Pompe
(Hrsg.)
Fluchtpunkt Integration
Panorama eines Problemfeldes
Herausgeber
Manuel Becker Hedwig Pompe
Bonn, Deutschland Bonn, Deutschland
Volker Kronenberg
Bonn, Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018
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Hedwig Pompe
Einleitung: Komplexe Verhältnisse und die Spielräume von
Wissenschaft ............................................................................................. 7
Clemens Albrecht
Was sollten wir schaffen? Die sozioökonomische Integration der
Flüchtlinge in die Gesellschaft der Bundesrepublik ........................ 63
Volker Kronenberg
Integration vor Ort: Flucht und Migration als
Herausforderung für die Kommunen – Bilanz und Perspektiven .. 81
Ludger Kühnhardt
Die Europäische Union und das Weltflüchtlingsproblem .............. 101
Marco Jelić
Anwerbung, Abschottung, Akzeptanz – Zeithistorische
Erfahrungen deutscher Integrationspolitik .................................... 149
6 Inhalt
Rupert Conrad
Flucht und Trauma – Psychische Implikationen der
Heimatlosigkeit ................................................................................... 171
Céline Kaiser
Darstellung des Traumas. Szenarien der Vermittlung und
der Parteinahme.................................................................................. 191
Andrea Schütte
Ein Text flüchtet. Flucht und Migration in Dorothee Elmigers
Roman Schlafgänger .............................................................................. 209
Reinhard Schmidt-Rost
Flüchtlingskrise und Kirchenasyl – die christlich-theologische
Perspektive .......................................................................................... 269
Christian Hillgruber
Kirchenasyl – die Perspektive des staatlichen Rechts ..................... 283
Claus-C. Wiegandt
Wohnorte von Flüchtlingen in Deutschland – eine Balance
zwischen freier Wahl und Zuweisung .............................................. 299
Benjamin Etzold
Arbeit trotz Asyl? Erlebte Chancen und Hürden von
Geflüchteten beim Zugang zu Arbeit ................................................ 319
Ein Text flüchtet. Flucht und Migration in
Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger
Andrea Schütte
„[D]ie Schriftstellerin gab zu Protokoll, ihre Texte handelten von allem
und von nichts“.1 Diese Aussage der Schriftstellerin, einer der zahlrei‐
chen Figuren in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger, lässt sich um‐
standslos auf den Roman selbst beziehen: Er handelt scheinbar von allem
und von nichts. Es treten diverse Figuren auf, die nicht eingeführt wer‐
den und deren Identität unklar bleibt. Einige haben Namen, andere nur
Berufsbezeichnungen. Im Verlauf des Romans gelingt es dem Leser,
manche Figuren mit Namen oder Berufsbezeichnungen zu identifizieren,
aber auch diese Zuordnungen sind vage. Die Figuren bleiben schablo‐
nenhaft‐schematisch, was nicht nur an ihrer ihnen einmal zugewiesenen
kommunikativen Rolle, hier vor allem ihren teilweise stereotypen Äuße‐
rungen, liegt. Sie bilden keine stabile Figurenkonstellation, sondern er‐
scheinen als eine kontingente Gruppe, deren Mitglieder wenig Bezug
aufeinander nehmen. Diese Figuren tauchen aus dem Nirgendwo auf,
sprechen unvermittelt an unterschiedlichen Orten, scheinbar bezuglos,
und wählen diverse Themen, deren Zusammenhang allenfalls mit Mühe
herzustellen ist. Als Leser imaginiert man einen Raum, eine Wohnung, in
der sie auftauchen und von ihren Erlebnissen der nahen Vergangenheit
(mit verschwörungstheoretischen Anklängen werden diese Erlebnisse als
„Veränderung[en]“2 bezeichnet) berichten, manchmal sogar raunen.
Auch die Figuren versuchen mitunter ihre unterschiedlichen Beobach‐
tungen zu bündeln und werfen unvermittelt Themenvorschläge für ihr
Reden ein:
1 Dorothee Elmiger: Schlafgänger, Köln 2014, S. 29, vgl. auch S. 68. Alle weiteren Zitate
aus diesem Buch werden im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl im Text belegt.
2 Ebd., S. 26, 52 et passim.
Das Thema, sagte der Journalist, sei der Wert des Körpers. Vielmehr, sagte
Winnie, gehe es um den Sturz des Körpers. Ob denn überhaupt von einem
Thema gesprochen werden könne, warf der Logistiker ein. Um ein wenig
konkreter zu werden, so Herr Boll: Er sei in einem Gespräch mit seiner Frau
am Vorabend zu dem Schluss gekommen, das Thema seien die Bürger‐ und
Menschenrechte. (113f.)
Ein anderes Mal gibt eine dem Leser unbekannte Frau einen Themenvor‐
schlag: „Das Thema sind vielleicht die Gespenster, warf eine Frau ein, die
in der Tür zum Speisesaal stand.“ (22) Gespenstisch ist vielleicht, dass es
kein eindeutig zu identifizierendes Thema gibt, nicht nur für die Reden‐
den im Roman, sondern auch für die Leser des Romans. Gemeinsam
scheint den Figuren hier allenfalls die Suche nach einem Thema zu sein,
eine Suche, die der Rezipient verdoppelt.
Gerade weil sich der Roman auf innerliterarischer wie rezeptions‐
ästhetischer Ebene einer Festlegung ostentativ entzieht, stellt sich die
Frage, ob sich der Text tatsächlich in einer umfassenden Unverbindlich‐
keit einrichtet, oder ob nicht das Gegenteil der Fall ist: Spricht aus dem
ausdrücklichen Nicht‐Thema‐Werden eine Radikalität der thematischen
Überlegung? Die Hervorhebung des Nicht‐benannt‐werden‐Könnens
deutet zumindest darauf hin und stellt damit das Thema des Nicht‐
Thema‐Werdens in aller Dringlichkeit. Rekurriert man auf den griechi‐
schen Ursprung des Wortes ‚Thema’ als ‚das Gesetzte’ (θεμα, τιθημι), so
wird deutlich, dass sich der Roman dagegen widersetzt, dass irgendet‐
was festgesetzt werden kann. Stattdessen kreist er um diverse Themen,
Motive, Stoffe, Äußerungen und hält sie so in Bewegung. Der Text wirkt
insgesamt somnambul, die Figuren wirken tatsächlich wie „Schlafgän‐
ger“, und der Leser, der sich auf den sperrigen Text einlässt, kann nur
mitwandeln. Nur eines lässt sich offensichtlich festhalten und auch
schriftlich fixieren:
Dass diese Erzählungen die Gegenwart betreffen, sagte der Journalist, müs‐
se dringend schriftlich festgehalten werden, es handle sich dabei um einen
zentralen Punkt. (72)
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 211
Auch diese Äußerung lässt sich poetologisch lesen. Angesichts der be‐
harrlichen Flüchtigkeit des Textes, an dem so schwer etwas festzumachen
ist und der eben aufgrund seiner somnambulen Wirkung einer Veranke‐
rung in einer ‚Wirklichkeit’ schnell zu entgleiten droht, ist eben dezidiert
‚festzuhalten’, dass er die Gegenwart als allernächste Realitätsebene be‐
trifft. Wie wird Unverbindlichkeit dringend, drängend?
1. Grenze, Flucht, Migration
Wenn die obigen Reflexionen in Betracht gezogen haben, dass es kein
Thema gibt, dann gilt das nur im Sinne eines einheitlichen, unmittelbar
auszumachenden Schwerpunkts, um das sich das innerliterarische Ge‐
spräch oder die Romanlektüre zentriert. Betrachtet man – ganz statistisch
– die Häufigkeit der unterschiedlichen Aspekte, die ventiliert werden
und zu diversen Themen gerinnen, so lassen sich sechs Hauptcluster
ausmachen: Grenze, Flucht, Schlaf, Fallen/Tod, Identität/Orientierung,
Gespenster. Zumindest für die Cluster ‚Grenze’ und ‚Flucht’ gilt, dass ihr
Gegenwartsbezug heute, wenige Jahre nach Publikation des Buches,
nicht betont werden muss. Damit legt der Roman seine Verbindung zum
gesellschaftspolitischen Geschehen, genauer: zur europäischen Flücht‐
lingssituation, nahe, ohne sich thematisch oder gar politisch tendenziös
festzulegen. Internet‐Suchmaschinen finden den Roman, weil Rezensio‐
nen schreiben, dass es unter anderem um Flüchtlinge geht, aber es ist
kein Roman, der in irgendeiner Form tatsächliche oder fiktive Flücht‐
lingsschicksale narrativiert und damit zur Kommentierung oder Emotio‐
nalisierung freigibt. Es ist ein Roman, der über die gegenwärtige Flücht‐
lingssituation spricht, ohne sie zum alleinigen Thema zu machen. Erst
der Rezipient macht diesen offenen Text zum tagespolitischen, und gera‐
de weil die tagespolitische Situation dringlich ist, ist es auch der sich
entziehende Roman. Das ist ein Weg, einen Text über die Flucht von
Menschen gerade durch seine Flüchtigkeit hindurch verbindlich, dring‐
lich zu machen. Inhalt und Darstellungsart werden hier deckungsgleich
und nehmen die Gegenwart mitsamt dem politisch interessierten Leser
212 Andrea Schütte
noch mit in ihren Verbund hinein. Wenn man sich auf den flüchtigen
Text einlässt, gibt er durch die scheinbare Unverbindlichkeit auf der
Oberfläche eindeutige Stimmen frei.
Die meisten auftretenden Figuren verbinden Erlebnisse mit der
Grenze und mit Grenzübertritten. In der Regel sind es solche geogra‐
phisch‐politischer Art. Der Logistiker wohnt in der Nähe der schweize‐
risch‐französischen Grenze, geht nachts – weil er unter Schlaflosigkeit
leidet – dorthin, beobachtet die Überquerungen oder verfolgt das Ge‐
schehen in medialer Vermittlung: „[Ü]ber die Grenze kamen und gingen
die Leute zu dieser Zeit, zu jeder Zeit“ (9). Die Überquerungen werden
zum Normalfall, und auch dann, wenn der Logistiker nachts nicht zur
Grenze geht, sondern in die entgegengesetzte Richtung, verlässt sie ihn
nicht:
Ich ging vorbei an der Endhaltestelle der Straßenbahn Richtung Stadt, und
wie ich mich von der Grenze entfernte und stadteinwärts ging, tauchten an
meiner Seite plötzlich Personen auf, sie gingen scheinbar mit mir auf Wan‐
derung, ein Mann mit einer Decke über den Schultern, Frauen mit Gepäck,
dazwischen ein Kind, das fragte: Was tun? (12)
Es scheint sich um diejenigen Menschen zu handeln, über die kurz zuvor
gesagt wurde, „die warmen Körper der Flüchtlinge wurden im Wald
entdeckt“ (ebd.). Mit ihnen geht der Logistiker „über Hügel, über ganze
Kontinente“ (ebd.). Das Thema der Grenze und ihrer Überquerung holt
alle Subjekte ein. Der Logistiker trifft nicht nur auf Flüchtlinge, sondern
er wandert sogar mit ihnen. Man erkennt die Steigerung der Mithinein‐
nahme in die Migrationsbewegung: vom Wohnort („Rue de la Frontière“,
24) über den Aufenthaltsort (nachts an der Grenze) zur Begegnung mit
Flüchtlingen bis zu ihrer Begleitung und gemeinsamen Wanderung. Die
Steigerung wird weitergeführt:
[W]ir gingen immer weiter, aber vor Einbruch der Nacht gelangten wir wie
von Geisterhand von Mulhouse her wieder über die Grenze nach Basel, in
der Elsässerstraße war kein Mensch zu sehen, der Grenzübergang lag ver‐
lassen da, nur am Fenster der Wohnung stand ich selbst mit weit geöffneten
Augen und stumm, als sei mir das letzte Wort im Mund noch vergangen.
(ebd.)
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 213
Die Grenzüberquerung erreicht die personale Ebene: Der Logistiker sieht
sich in seiner Wohnung, während er mit den Flüchtlingen in Bewegung
ist. Sein Körper scheint über ihn hinausgegangen zu sein und sich ver‐
doppelt zu haben. Diese Doppelsicht3 ließe sich erklären als Bewusst‐
seinstrübung aufgrund seiner Schlaflosigkeit. Doch als Klimax der Hin‐
einnahme der Überquerungsbewegung ist dieses Hinausgehen über die
Grenze der eigenen Person durchaus so radikal zu verstehen. Damit
rückt das ‚Thema’ der ‚Grenze’ so nah wie möglich an ihn als Einheimi‐
schen4 heran. Zugleich hier und an einem anderen Ort zu sein, mag wohl
eine basale Erfahrung aller Flüchtenden sein, die an dieser Stelle von
einem Nicht‐Flüchtenden auf andere Weise nachempfunden wird.
Doch diese Mithineinnahme bezieht sich nur auf die Struktur der
Bewegung und ist keineswegs im Sinne einer emotionalen Identifikation
mit den Flüchtenden zu verstehen. Das gilt sowohl innerliterarisch wie
rezeptionsästhetisch: Bevor das Bild der entdeckten und nun ratlosen
Flüchtlinge beim Rezipienten Mitleid erregen könnte, stößt der Flücht‐
ling, der Mann mit der Decke über den Schultern, eine andere Konnotati‐
on an: Der Logistiker findet ihn in seiner eigenen Küche wieder, wo er
einen Zeitungsartikel liest, in dem es um die Kriminalität von Grenz‐
überquerenden geht:
[I]ch sah die Schlagzeilen, eine Frau schmuggelt Kokain im Intimbereich,
Frau mit 152 Gramm Kokain in Vagina von Grenzwächtern geschnappt, 152
Gramm! Frau (20) schmuggelt Kokain in Vagina, Schmuggel‐Trick: Kokain
in der Vagina, eine Nigerianerin trug den Stoff zwischen ihren Beinen [...].
(13)
3 Eine weitere bezeichnende Textstelle sei hier genannt: „Nach Tagen ohne Schlaf ver‐
ließ ich dann das Haus, ich trat auf die Straße, das helle Licht schoss mir gewaltig in
die Augen, und als ich zurückblickte, sah ich eine Person in meiner Wohnung am
Fenster stehen, es schien mir für einen Augenblick, als sähe ich mich selbst im Schlaf,
als stünde der eine schlafend am Fenster oder als ginge der andere schlafwandelnd
aus dem Haus, aber ich schlief nicht, nein, war wach“ (10).
4 Auch wenn die Nationalität des Logistikers nicht genannt wird, ist davon auszugehen,
dass er Schweizer Bürger ist. Wenn hier die Bezeichnung „Einheimischer“ und später
auch „Inländer“ gewählt wird, so ist das im unemphatischen Sinne gemeint.
214 Andrea Schütte
Damit ist die dunkle Seite der Migration benannt – und zwar durch die
Häufung mehr als deutlich –, die zugleich alle Ängste mitzitiert, die Ein‐
heimische angesichts von Einwanderung befällt.5 Der Grenzübertritt
wird in dieser Logik gleichgesetzt mit Gesetzesübertritt. Zwar wird spä‐
ter eine Lebens‐ oder eher Sterbensgeschichte erzählt, in der ein Afrika‐
ner von Schleppern zum Schmuggel gezwungen wird – bei dessen be‐
hördlicher Aufdeckung er durch Einwirkung der Polizei stirbt (vgl. 17f.).
Das zwingt die insinuierte Verbindung von Migration und Kriminalität
zu differenzierterer Betrachtung. Dennoch bleibt an dieser Stelle, die den
Zeitungsartikel zum Schmuggel in der Vagina zitiert, der Konnex un‐
kommentiert. Die Textstelle öffnet sich damit für gegensätzliche politi‐
sche Haltungen und Bewertungen: Man mag den Zusammenhang affir‐
mieren oder sich empören über die hier nahe gelegte Verbindung. Oder
man nimmt zusammen mit den Romanfiguren zur Kenntnis, dass es so‐
wohl illegale Übergriffe auf Flüchtende als auch Migranten, die illegal
handeln, schlichtweg gibt, ohne daraus politische Ableitungen zu formu‐
lieren. Mit einem Stoizismus scheint der Text die Binsenwahrheit der
Globalisierung hinzunehmen, nämlich dass die Öffnung der Grenzen
gekoppelt ist an deren Überschreiten in umgekehrter Richtung.6 Und er
scheint hinzunehmen, dass die Grenzüberquerenden eventuell auch die
Gesetze übertreten.7 Der Roman nennt immer beide Möglichkeiten der
Realisierung, ohne sich auf eine Lesart festzulegen. Alle stabilen Deter‐
5 Vgl. auch ebd., S. 50: „Reporter: Hier laufen die Asylanten jeweils hin und her? Bürger:
Richtig, das ist eins von diesen Sträßchen, also Gemeindestraßen, wo sich alles kanali‐
siert. Der Reporter wirft einen Blick über seine Schulter, Bürger: Das einzige Trak‐
tandum, das wir eigentlich haben, ist die Frage: Brauchen wir eine Bürgerwehr, oder
sind die verantwortlichen Personen und Stellen in der Lage, fähig und willens, geord‐
nete Verhältnisse zu schaffen?“ und S. 54: „[D]ie Politikerin sagte, sie verwende zur Il‐
lustration ihrer Ausführungen über die Flüchtlinge nun einen Begriff aus der Jagd,
dabei waren ihre Lippen immer schmaler geworden“. Es gibt noch weitere Textstellen,
die Stimmen zitieren, welche einer solchen Argumentation bzw. Bewertung folgen.
6 Vgl. auch Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von
Migranten und Touristen, Köln 2006.
7 Auch für die Illegalität gibt es gute Gründe: Der Roman zitiert die Witwe eines Wider‐
ständlers im NS‐Regime: „[F]ür ihn, so zitierte Johanna Ader‐Appels ihren Mann, sei
die einzig legale Lebensweise unter diesem Regime die illegale gewesen“ (127).
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 215
minierungen sind nicht nur in diesem Text fehl am Platz, das weiß auch
die Übersetzerin:
Diese Art von Erzählung, sagte die Übersetzerin, läuft Gefahr, die erwähn‐
ten Schlafgänger erneut auf einen Platz zu verweisen, der sich irgendwo,
aber keinesfalls hier befindet, du hast nur ein neues Wort gefunden für die
Flüchtlinge, aber im Schlaf haben diese, so scheint es, keine Stimmen und
keinen klaren Verstand. (86)
Diese Textstelle ist recht erratisch, aber ablesbar wird hier, dass die Art
der Erzählung über Flüchtlinge nicht auf einen festen Platz verwiesen
werden darf. Das gilt für das Erzählte wie für die Erzählung selbst. Hier
zeigt sich, warum der Roman es vorzieht, sich einer eindeutigen Themen‐
festlegung zu entziehen, um stattdessen immer ein Bündel an Themen,
diverse Lesarten, mehrere Möglichkeiten der Bewertung aufzufächern.
Alle Eindeutigkeit, auch die literarische, wird der Flüchtlingssituation
nicht gerecht.
Ähnliches spiegelt sich in der Figur der Schriftstellerin wider. Auch
sie nimmt eine widersprüchlich scheinende Haltung zum Thema der
Grenze ein. Zunächst scheint sie gedanklich derart damit beschäftigt zu
sein, dass sie auf einer Konferenz im Grenzgebiet von Kalifornien und
Mexiko über nichts anderes spricht:
Ich begegnete der Schriftstellerin im April, sagte A.L. Erika mit einem Sei‐
tenblick [...]. Sie nahm, so fuhr sie fort, an einem Gespräch teil, das sich mit
dem Akt des Fallens in der Literatur beschäftigte. Während die weiteren
Teilnehmer, die alle als ausgewiesene Koryphäen auf ihrem jeweiligen Ge‐
biet vorgestellt wurden, sich in ihren Wortmeldungen hauptsächlich auf
das vorgegebene Thema bezogen, sprach die Schriftstellerin ohne ersichtli‐
chen Zusammenhang mehrmals und mit lauter Stimme über die Grenze,
ein lästiges Hemmnis, eine Hinderung, wie sie sagte, die sie studiert habe,
und sie spreche von der tatsächlichen Grenze, wie man sie auch hier sehen
könne, wenn man nur hundertvierzig Meilen südlich fahre bis zu der Stelle,
wo der Zaun im pazifischen Ozean ende, el fin de la línea fronteriza, rief sie
aus, und als der Moderator des Gesprächs, ein Doktorand der Universität,
ihr endlich verlegen ins Wort fiel, sagte sie, sie bitte um Verzeihung, aber
sie sei nun bereits fünfzig Jahre alt und müsse dringend sprechen, bevor sie
ihr letzter Atem in Form einer Biene verlasse, die dann, immerhin, die er‐
wähnte Grenzlinie unbeschwert überqueren könne. (30f.)
216 Andrea Schütte
Themen stellen sich den Menschen, treten an sie heran, und nicht umge‐
kehrt. Das Thema der Grenze zumindest ist keines, das arrondiert (eben:
begrenzt) werden und Gegenstand eines wissenschaftlichen Gesprächs
sein könnte. Es drängt sich auf und bestimmt Denken und Reden, nimmt
den Menschen vollständig ein. Die Verhältnisse werden umgekehrt:
Nicht die Redende sucht sich einen Gegenstand aus, über den sie in freier
Wahl sprechen möchte, sondern dieser drängt sich der Redenden derart
auf, dass sie es nicht vermeiden oder umgehen kann. Das Gesetzte
(griech. thema) setzt. Das Sujet, Objekt der Rede, wird hier zum Subjekt,
zur beherrschenden Instanz der Rede.
Die Schriftstellerin stellt allerdings fest, dass sie – bei aller Dringlich‐
keit des Redens über diesen Aspekt – über die Grenze nicht schreiben
kann:
In einem Brief schrieb die Schriftstellerin, sie habe nach dem Gang durch
den Wald ihre Arbeit an dem Text, der die Grenze behandle, verworfen, sie
sei Schriftstellerin, schrieb die Schriftstellerin, und der Umstand, dass die
missliche Lage an ebendieser Grenze ihr schriftstellerisches Kapital darstel‐
le, sei unerträglich, es sei schon äußerst dreist von ihr gewesen, überhaupt
eine Reise in diese Gebiete zu unternehmen, sie habe, sagte die Schriftstelle‐
rin, ihren Schreibstift beiseitegelegt. (58)
Hier erscheint zwar deutlich eine ethische Komponente, doch die Ver‐
lässlichkeit dieser ethisch motivierten Grundsatzentscheidung, über die
Grenze nicht schreiben zu können, weil sie es sich selbst nicht erlaubt,
wird später unterhöhlt: Die Schriftstellerin hat doch ein Buch über ihre
Reise an die Grenzen geschrieben, „die stets demütigend, wenn nicht
tödlich sind“ (129). 20 Belegexemplare dieser Grenzgeschichten erhält sie
an ihrem Geburtstag vom Verleger, der ihr schriftlich zum Geburtstag
und zur Veröffentlichung des Buches gratuliert. Empört über die „Takt‐
losigkeit des Verlegers“ und bestürzt über die darin „offensichtliche
Wirkungslosigkeit“ ihres Buches (ebd.) beschließt sie auch hier, mit dem
Schreiben ganz aufzuhören. Die folgenden Äußerungen der anderen
Figuren decouvrieren die moralische Haltung der Schriftstellerin aber als
inszeniert. Sie habe ein rauschendes Geburtstagsfest gefeiert und berich‐
tet, sie hätte nun „erstmals das Gefühl, als Schriftstellerin ernst genom‐
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 217
men zu werden“ (130). Die Schriftstellerin scheint mehrere Rollen einzu‐
nehmen, von der Mahnerin, deren Redeanliegen existentiell sind, zur
Moralistin, die humanitäre Aspekte über alle anderen stellt, bis zur
Schauspielerin, die sich inszeniert. Darum ist die Frage, ob sie lügt oder
nicht (sie sagt, „sie sei keine Lügnerin, auch nie eine gewesen“ [18], „zu‐
weilen lüge ich wie gedruckt“ [58]), auch keine echte Entscheidungsfra‐
ge. Sie nimmt unterschiedliche Rollen ein, deren Haltungen alle die Frage
nach dem Modus des Redens und Schreibens über die Grenze in den
Blick nehmen. Dass die unterschiedlichen Haltungen alle in einer Person
verbunden und nicht auf unterschiedliche Figuren verteilt sind, radikali‐
siert die Auseinandersetzung mit ihnen nur noch, verdichtet sie wort‐
wörtlich. Die Schriftstellerin redet nur noch von der Grenze, entschieden
gar nicht mehr oder vergisst sie. So radikal, wie sie ihre Positionen ver‐
tritt, ließen sich die drei Rollen noch radikalisieren zum Paradox, dass sie
alles zugleich macht. Wenn oben festgestellt wurde, dass die Art von
Erzählung über die Flüchtlinge nicht auf einen festen Platz verweisen
und verwiesen werden dürfe, so gilt das hier auch in Bezug auf die
Grenze: Auch die Erzählung darüber muss sich derart auffächern, dass
keine Festlegung möglich ist.
Eingelöst wird das auch durch die verschiedenen, auf die anderen
Figuren verteilten Berichte, die teilweise nur angerissen werden und
deren Kommunikationsabsicht oder Zusammenhang oft nicht deutlich
wird. So wird eine Verbindung zwischen dem Beruf des Logistikers und
dem Grenzgeschehen gesehen: „Wer nämlich, hob der Student zu einer
Erklärung an, eine Grenze unbesehen überqueren will oder muss, ver‐
sucht nicht selten den Güterverkehr zu nutzen“ (119). Allerdings wird
über die Arbeit des Logistikers nichts gesagt; seine Grenzerfahrungen
beruhen allein auf seinen schlafwandlerischen Gängen. Die Flüchtlinge,
die in Güterfahrzeugen über die Grenze gelangen, werden im Dunkeln
mit Wärmebildkameras zu entdecken versucht. Manchmal verwechselt
man sie mit Wildschweinen. A.L. Erika reist nach Kalifornien, um eine
Reportage über das Grenzgebiet zu Mexiko zu schreiben. Aber sie schafft
es nicht, diesen Text zu schreiben. Sie trifft in Los Angeles einen Mann
aus der mexikanischen Grenzstadt Mexicali, den sie dafür befragen
218 Andrea Schütte
müsste, aber sie sagt kein Wort (vgl. 37). Stattdessen imaginiert sie seinen
klandestinen Grenzübertritt und bemerkt anschließend, dass diese Vor‐
stellung auch schon Züge von Gewalt in sich trage:
[I]ch hatte mir mit meiner Vermutung seinen Körper unterworfen, als ich
abends in meinem ruhigen Zimmer saß, ohne, dass er es ahnte, hatte ich ihn
gewaltsam in diesen Zusammenhang gestellt, den ich selbst nicht aus erster
Hand kannte, es hatte mich gereizt, auf diese Weise über seinen Körper zu
verfügen [...]. (37f.)
[I]ch fragte mich, ob es dieselben Körper waren, von denen ich hörte, dass
sie nachts durch dunkle Flüsse schwammen, dass sie sich durch Wüsten
schafften, auch jetzt, in diesem Moment, in dem wir da saßen, dass sie in ih‐
ren Taschen zweihundert Tabletten trügen, caja con 200 tabletas, gegen den
schmerzenden Körper auf der endlosen Wanderung, DOLOR, dass sie sich
stillschweigend in einen Transporter legten, um so die Grenze zu überque‐
ren vom südlichen ins nördliche Amerika. (34f.)
Und dann ist da noch die Familie Boll. Herr Boll berichtet die immerglei‐
che Geschichte von einer Flucht durch einen nächtlichen Wald, von ei‐
nem Mann ohne Landkarte, ohne Sicht, die Arme von sich gestreckt, „um
die Bäume noch zu ertasten, die nach wie vor einen europäischen Ein‐
druck machen“ (42). Sein Sohn Fortunat berichtet von der Emigration
seiner Vorfahren nach Texas, von seiner Reise in das kalifornisch‐
mexikanische Grenzgebiet, und seine Familie zitiert historische und my‐
thologische Fluchtzeugnisse aus Literatur und Bildender Kunst. Neben
einem Studenten, der Schwester des Logistikers und deren Mann nimmt
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 219
ein Journalist, der mit dem Logistiker in Verbindung steht, einen wichti‐
gen Platz ein. Er ruft den Logistiker an und berichtet von seinen Beobach‐
tungen und Erfahrungen, vor allem auch in Bezug auf die Grenz‐ und
Flüchtlingssituation. Insgesamt zeigt sich: Unzählige Grenz‐ und Grenz‐
überquerungsgeschichten entlässt der Roman aus sich, die aber eben
nicht „zu einer einzigen langen Rede zusammengefügt“ (128) werden
können, sondern bewusst so traumähnlich, bruchstückhaft und unzu‐
sammenhängend, gleichwohl sich teilweise wiederholend, aneinander
montiert sind, dass keine Orientierung und Ausrichtung des Textes statt‐
finden kann. Nicht nur der Leser, auch der Text irrt scheinbar umher und
praktiziert damit das, was einen seiner ‚Gegenstände’, die Flüchtlinge,
charakterisiert: Migration. Der Text flüchtet.8
2. Orientierung, Identität
Für den Leser ist es schwer, sich in diesem flüchtenden Text zu orientie‐
ren. Die Stimmen erzählen von diversen Orten, an denen sie anwesend
waren oder sind. Teilweise entsteht der Eindruck, die Figuren seien an
mehreren Orten zugleich. Es gibt kein einheitliches Raumkonzept, das
der Roman bedient. Der Leser kann sich nicht an festen Raum‐ und Zeit‐
koordinaten festhalten. Wenn der Logistiker sagt, dass er mit Flüchtlin‐
gen „über ganze Kontinente“ (12) gegangen sei, wenn Stimmen von Mi‐
grationsverhältnissen in Nord‐ und Südamerika berichten, dann ist der
Raumaufriss gemacht: Es geht nicht nur um die Schweiz und deren (Im‐)
Migrationsprobleme, sondern um Migration als weltgesellschaftliches
Phänomen. Umso schneller die Stimmen allerdings von einem Brenn‐
8 Ähnlich liest es Wiebke Porombka in ihrer Rezension des Romans: Dem Text wider‐
fahre „doch etwas Ähnliches wie den Menschen, die er zum Gegenstand hat: Er wird
in einem Maße seiner Körperlichkeit, seiner natürlichen Sinnlichkeit beraubt, dass er
sich vor dem Leser aufzulösen droht“. Wiebke Porombka: Über das Leid zu schreiben
ist ausbeuterisch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.08.2014,
http://www.buecher.de/shop/schweiz/schlafgaenger/elmiger‐
dorothee/products_products/ detail/prod_id/40018473/.
220 Andrea Schütte
punkt der Migration zum anderen springen und der Roman keine raum‐
zeitliche Vermittlung anbietet, umso weniger findet Orientierung statt.
Das gilt nicht nur für den Leser, sondern auch die Figuren finden
sich nicht mehr zurecht: A.L. Erika geht zu Fuß durch L.A., folgt dabei
stundenlang einer einzigen Straße und bemerkt beim anschließenden
Blick in den Stadtplan, dass sie sich „doch kaum von der Stelle bewegt
hatte“ (29). Auch der Logistiker, der Wege und Verkehr bestens kennen
sollte, ist desorientiert: „[I]ch erinnerte mich plötzlich weder an die geo‐
graphische Lage der Wohnung noch an meinen Weg dahin, ich hatte den
Eindruck, das Haus befände sich an einem unbekannten Rand der Stadt“
(52). Personen begegnen nicht nur dem Logistiker innerhalb kürzester
Zeit an weit entfernten Orten wieder (vgl. 54). Die Koordinaten und Be‐
zugssysteme, die den Alltag organisieren, sind für den Logistiker aufge‐
hoben. Ihm werden mitunter „die Dinge mit zunehmender Entfernung
fremd, ich sah nicht mehr die Gabel, das Glas und so weiter als Gabel
und als Glas, sondern sah nur etwas vor mir liegen, ein so und so ge‐
formtes Objekt, das stand in keinerlei Beziehung zu mir selbst“ (8). Sei‐
nen Grund hatte diese beziehungslose Wahrnehmung natürlich in sei‐
nem Schlafentzug. Sieht man aber diesen Schlafentzug als Ausdruck der
allgemeinen Rastlosigkeit der im Roman dargestellten Situation, der hin
und her migrierenden Menschen, dann gibt die Bezugslosigkeit natürlich
zu denken. Dann ist Migration nicht nur mit dem Verlassen eines stabilen
Bezugssystems und der Einfügung in ein neues Bezugssystem verbun‐
den, sondern sie stellt diverse Bezugssysteme radikal in Frage, auch die
der Einheimischen, die auf ihre Weise genauso desorientiert wandern
wie der Logistiker, der ja eigentlich Ströme von Gütern, Informationen
und Personen kompetent planen, steuern, optimieren und durchführen
können müsste.
Die Desorientierung betrifft auch die Körper der Anwesenden. So
empfindet der Student seinen eigenen Körper als einen „ungenügen‐
de[n]“, der sich ihm „ständig entzieht“ (89). Er versucht ihn „unter Ver‐
schluss zu halten“, unterzieht ihn aber selbst einer ständigen Beobach‐
tung, die ihn nur noch mehr beunruhigt. Das Fremde seines eigenen
Körpers schockiert ihn, was der Journalist in einen größeren Zusammen‐
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 221
hang stellt: Das Fremde beginne „also an dieser Stelle des eigenen Kör‐
pers“ (91).
Damit sind zentrale Fragen nach der eigenen Identität gestellt. Per‐
sonale Identität ist nicht ohne den Einschluss von Alterität zu denken –
dieser Allgemeinplatz der Xenologie ließe sich hier anschließen, ebenso
die Umkehrung, dass sich das Eigene im Fremden wiederfinden lässt.
Dieser Chiasmus wird oft aufgerufen, wenn es darum geht, die Konfron‐
tation von Eigenem und Fremden, wenn sie sauber auf Individuen ver‐
teilt sind (Einheimische versus Ausländer), abzumildern. Hier jedoch
wird die chiastische Verschränkung weiter radikalisiert: Das Fremde ist
nicht nur als fest umrissene Größe in das Eigene eingeschlossen, sondern
es ist derart in das Eigene eingewoben, dass letzteres vollständig perfo‐
riert wird. Identität und Alterität werden tendenziell ununterscheidbar.
Anschaulich wurde das bereits an der Figur des Logistikers – seiner Ich‐
Verdoppelung einerseits, seiner Einreihung in die Flüchtenden anderer‐
seits. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese radikale Infragestellung
der personalen Identität der Inländer das Projekt des Romans ist. Zwei der
Ebenen, auf denen der Roman dies vorführt, sollen hier vorgestellt wer‐
den: Die Auflösung der personalen Identitätsform a) durch Einführung
eines sozialen Rollen‐ und Programmkonzepts, das literarisch umgesetzt
wird, und b) durch Einführung eines fiktionalen Prinzips, das das Rollen‐
und Programmkonzept nochmals radikalisiert. Da beide Formen die
Stabilitätsgarantien, die mit einem klassischen Begriff von personaler
Identität verbunden sind, desavouieren, werden sie hier als Beunruhi‐
gung I und Beunruhigung II bezeichnet:
a) Beunruhigung I
Wie radikal sich die Flüchtlinge dem Nachweis ihrer Identität aus politi‐
schen Gründen entziehen können, wie opferbereit sie ihre Identität auf‐
zugeben bereit sind, stellt der Journalist dar: Er beschreibt, wie Flüchtlin‐
ge ihre Fingerkuppen abschleifen (vgl. 15). Dennoch gilt diese Maßnah‐
me nur der Verhinderung erkennungsdienstlicher Verwaltung von Iden‐
tität. Wenn der Journalist meint, dass die Flüchtlinge ihren Körper und
damit sich selbst dadurch zum Verschwinden bringen, so gilt das nur mit
222 Andrea Schütte
9 Jürgen Straub arbeitet das mit Hilfe von Reinhard Kreckels Untersuchungen zur Iden‐
titätsfrage heraus: „‚Nur Individuen können Identität ausbilden. Gruppen können dies
nicht. Auch Gesellschaften (oder Nationen) haben keine eigene Identität.’ Kollektive
jedweder Art, von der informellen Kleingruppe über Institutionen und Nationen bis
hin zu Gesellschaften, können ‚zwar als kollektive Akteure auftreten und sogar – als
Rechtspersonen – mit natürlichen Personen in Rechtsbeziehungen eintreten. Aber sie
verfügen über keine eigene Kollektivpersönlichkeit oder Gruppenseele. Wann immer
also einer Nation eine eigene Identität beigemessen werden soll, haben wir es mit ei‐
nem ideologisierenden Sprachgebrauch zu tun’“. Jürgen Straub: Personale und kollek‐
tive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann/Heidrun
Friese (Hrsg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt am Main
1998, S. 73‐104, S. 99; Straub zitiert hier: Reinhard Kreckel: Soziale Integration und na‐
tionale Identität, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (1994), S. 13‐20.
10 „Den ‚Sozialkörper’ gibt es nicht im Sinne sichtbarer, greifbarer Wirklichkeit. Er ist
eine Metapher, eine imaginäre Größe, ein soziales Konstrukt. Als solches aber gehört
er durchaus der Wirklichkeit an“. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Er‐
innerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 132, zi‐
tiert in Straub: Personale und kollektive Identität, S. 98. Das stellt nicht in Abrede, dass
die Konstruktion einer von gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen getragenen
Identität im Sinne eines – für einen vorläufigen Diskussionszusammenhang nur ge‐
dachten – Integrals psychologisch notwendig ist, um Orientierung zu geben. Aller‐
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 223
Grenzgänger nur als Stimmen auftauchen, sie aber keine feste Gruppe
bilden, die an einer Gemeinsamkeit festzumachen und zu vereinheitli‐
chen wäre. Gemeinsam ist ihnen allenfalls das Gesprächsthema der
Grenze, aber auch hier hat sich ja gezeigt, dass die Erfahrungen damit
ganz unterschiedlich sind und es ein wirkliches Gespräch im Sinne einer
sich entwickelnden Kommunikation mit sich aufeinander beziehenden
Beiträgen nicht gibt. Der Text versucht mit der Pluralität der Stimmen
maximal mögliche Kontingenz zu erreichen und schon formal jede Inte‐
grationsleistung auf ein Minimum zu reduzieren. Ein einheimisches,
inländisches ‚Wir‘ existiert nicht.11
Warum wird zusätzlich zur kollektiven Identität noch die personale
Identität problematisiert? Bereits ab den 1970er‐Jahren ist der Identitäts‐
begriff dekonstruiert worden: Vorstellungen von einer Sich‐
Selbstgleichheit, Kohärenz, Stabilität und Autonomie des Subjekts, die
vormals den Identitätsbegriff ausmachten, sind obsolet geworden. Statt‐
dessen gehört es zum Selbstbild und mithin zur Identität, sich im Ab‐
gleich mit einer instabileren Welt und angesichts der Erfahrung von un‐
zuverlässigem Wissen je neu zu bestimmen. Identität wird entscheidbar,
vorläufiger, verhandelbar; sie wird als wandelbare „diskursive[.] Forma‐
tion[.]“12 gesehen.
Auf dieses perforierte Identitätsverständnis rekurriert der Roman,
wenn er die brüchig gewordene personale Identität mit den Identitäts‐
formen ‚Rolle’ und ‚Programm’ ergänzt.13 Die Identitätsform der ‚Rolle’
reagiert darauf, a) dass eine Person in unterschiedlichen Rollen agieren
kann, die sich auch diametral gegenüberstehen oder gar widersprechen
dings ist ihre Konstruiertheit und Bedingtheit immer mitzubedenken, damit diese
‚Identität’ flexibel und offen bleibt.
11 Vgl. auch Hans‐Georg Soeffner: Identität – Gemeinschaft – Volk. Zur Illusionsseman‐
tik einer pluralen Gesellschaft (Beitrag in diesem Band), der die strukturell plurale Ge‐
sellschaft des demokratischen Verfassungsstaates betont, die kein einheitliches, homo‐
genes ‚Wir’ formuliert.
12 Aleida Assmann und Heidrun Friese: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Identitäten, S. 11‐23,
S. 12.
13 Ich folge hier Luhmanns Beschreibung des Identitätsbegriffs, vgl. Niklas Luhmann:
Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984, S. 426‐436.
224 Andrea Schütte
der Dokumentaristin und ist doch keine. Indem der Logistiker nur mit
seiner Berufsbezeichnung benannt wird, erzeugt das ein Rollenbild, das
er keinesfalls erfüllt.15 Auch er bleibt anonymisiert und übernimmt im
Roman die Funktion des Schlafgängers, der eigentlich ein somnambuler
Schlaflosgänger ist. Seine Rolle auf der Ebene der Erzählung ist zudem,
Adressat des Journalisten zu sein, der ihn ständig anruft und sich zur
Flüchtlingssituation äußert. Aber auch diese Adressierung ist unpersön‐
lich, nicht gedeckt durch die Integrität einer individuellen, mit sich
identischen Person.
Mit der Darstellung der Figuren, die anstelle einer integren persona‐
len Identität diverse Rollen einnehmen, transportiert und integriert der
Roman eine Erfahrung der Flüchtenden in das Selbstbild der Inländer.
Gerade im Fall fliehender Familien ist offensichtlich, dass sich während
der Flucht Rollenzuschreibungen ändern. Der Text zitiert mit dem fikti‐
ven Tagebuch einer Passagierin von Bebi Suso den Rollentausch zwischen
der jungen Ich‐Erzählerin und ihrem Vater. Sie übernimmt die Rolle der
Führenden, er geht in die Rolle des folgenden Kindes: „[W]ir waren auf
dieser Reise aus unseren Rollen gefallen, ich war augenscheinlich keine
Tochter mehr, und dieser Mann war etwas anderes als mein Vater ge‐
worden“.16 Dieser durch die Umstände erzwungene Rollenwechsel wird
als Basalerfahrung der Flucht – denn dieser Bericht ist einer der beiden
im Roman aus der Perspektive einer Fliehenden – nun in den Erfah‐
15 Er ist zuständig für den Gütertransport im Bereich Seefracht‐Import (13), aber aus
dieser Rolle ist er schon länger (zu vermuten ist: aufgrund seiner Schlaflosigkeit) aus‐
gestiegen (24).
16 „[M]ein Vater ging stets ein paar Schritte hinter mir, als übertrage er mir die Aufgabe,
uns anzuführen, auf dieser Reise schlief ich stets im selben Raum wie mein Vater, und
nachdem ich mich an sein lautes Schnaufen gewöhnt hatte, das nachts in unregelmä‐
ßigen Intervallen lauter und wieder leiser wurde, bemerkte ich in einer Nacht mir
großer Angst, dass dieses kratzende Schnaufen nicht mehr zu hören war, ich konnte
den Körper meines Vaters in der Dunkelheit kaum erkennen, es herrschte völlige Stille
im Raum, mein Vater hatte mir den Rücken zugewandt und ich konnte keine Regung
des Körpers erkennen, so sodass ich davon ausgehen musste, mein Vater liege tot ne‐
ben mir, ich wagte in diesem Moment nicht, ihn zu berühren, wir waren auf dieser
Reise aus unseren Rollen gefallen, ich war augenscheinlich keine Tochter mehr, und
dieser Mann war etwas anderes als mein Vater geworden [...].“ (88).
226 Andrea Schütte
rungsbereich der Immigrationsgesellschaft transponiert. Und ähnlich wie
auch die Fliehenden scheinen die einheimischen Schlaf‐ und Grenzgän‐
ger, heute hier, morgen dort, den Rollenwechsel als unbequem, aber
notwendig hinzunehmen.
Eine Steigerung erfährt dies noch durch die Identitätsform des ‚Pro‐
gramms’, das von der Person noch weiter abstrahiert, wenn es um die
Ordnung von Verhalten und Verhaltenserwartung geht. Während die
Rolle noch personal gebunden ist, orientiert sich das Programm nur noch
am Ablauf bestimmter Verhaltenssegmente. Auch das lässt sich am Ro‐
man deutlich ablesen: Die stereotypen Äußerungen diverser Figuren
lassen sich so erklären. Erinnerungen wirken oft, als seien sie mechanisch
abgespult. Unelegante Übergänge, unzusammenhängende Sätze oder
ganze Redebeiträge, unmarkierte Sprecherwechsel u. Ä. lassen die Text‐
präsentation als ein Zapping durch unterschiedliche Programme wirken.
Oft wiederholen sich Redebeiträge auch, als hätte man eine Rewind‐Taste
bedient.17 Tatsächlich kommen auch immer wieder unterschiedliche me‐
diale Kanäle zum Einsatz, die das ‚Gespräch’ verdoppeln. So läuft bei‐
spielsweise der Fernseher im Hintergrund, während der Journalist oder
Esther mit dem Logistiker telefonieren, oder das Radio läuft. Immer wer‐
den dann durch diese mediale Verdopplung der Stimmen weitere Grenz‐
und Flüchtlingsgeschichten miteingespeist, deren Sprecher anonym blei‐
ben. Ihre Beiträge sind personal überhaupt nicht mehr zurechenbar. Es
sind undefinierbare mediale Stimmen, die sich hier einweben.
Es bleibt die Frage, warum Dorothee Elmiger auf so deutliche Weise
auf der Rollen‐ und Programmebene arbeitet. Es bieten sich eine soziolo‐
gische und eine poetologische Erklärung an. Soziologisch gesehen basie‐
ren gegenwärtige Immigrationsgesellschaften auf funktionaler Ausdiffe‐
renzierung in Rollen und Programmen. Sie sind die Grundvoraussetzung
von Globalisierung. Insofern die (Im‐)Migration die Gegenrichtung der
Globalisierung darstellt, trifft die Auflösung stabiler personaler Identitä‐
ten auf Seiten der Migranten natürlich auch auf die Identitätskonstrukti‐
onen der Immigrationsgesellschaft zu. Will ein Text entschieden mit der
Gegenwart zu tun haben – das ist für die Figur des Journalisten ebenso
17 Vgl. die Verdoppelung des Redebeitrags von A.L. Erika von S. 7 auf S. 43.
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 227
wichtig wie für die Autorin Elmiger –, dann muss er die Identitätskon‐
struktionen dieser Gegenwart auch ernst nehmen, vor allem wenn sie an
den tagespolitischen Diskussionen zur Flüchtlingssituation in mehrfacher
Hinsicht virulent werden. Darum macht es Sinn, ein zeitgemäßes Ver‐
ständnis von Identität im Roman zu realisieren. Dazu gehört die Spiege‐
lung der Identitätsdekonstruktionen der Migranten in die Identitätskon‐
struktionen der Inländer.
Die oben zitierte soziologische Definition der Rolle führt auf den po‐
etologischen Zugewinn: Je mehr von einer Integrität garantierenden per‐
sonalen Identität abgewichen wird, um stattdessen personenunabhängi‐
ge Module anzubieten, die immer wieder re‐arrangierbar sind, umso
mehr Gestaltungsspielraum wird geschaffen. Wenn von der Rolle gesagt
wurde, sie „öffne[.] den Begriff für das Spiel und die Fiktion“, dann liegt
in dieser Umstrukturierung eine Fiktionalisierungskraft. Die Beunruhi‐
gung führt zur Öffnung des poetischen Möglichkeitsraums.
Anschaulich wird dies in dem poetischen Verfahren, das Erfahrun‐
gen der Fliehenden als Bild in die Erfahrung der Inländischen hineinko‐
piert. Der Logistiker erinnert sich an eine Szene, die er geographisch
nicht mehr zuordnen kann. Genannt werden irgend „eine Großstadt“,
„Berlin“, „karge Wüste“, „neapolitanische[.] Straßen“ (26f.). Er be‐
schreibt, wie er in einer U‐Bahn sitzt, neben ihm ein Passagier stirbt, wie
er mit dem Toten weiterfährt, wie er seinen Rucksack eng an seine Brust
drückt, wie ein nackter Körper neben ihm ist. Herr Boll, der selbst an
einem Wald wohnt (vgl. 44), beschreibt immer wieder eine Szene, in der
jemand nachts durch den Wald irrt, im Boden einzusacken droht, die
Arme von sich streckt, „um die Bäume noch zu ertasten, die nach wie vor
einen europäischen Eindruck machen“ (42). Ostinat betont Herr Boll,
dass er nicht diese Person sei, was diese Aussage allerdings verdächtig
macht und in ihr Gegenteil kippen lässt. In jedem Fall findet ein seltsa‐
mes Übereinanderlegen zweier Szenen statt.
Das Erratische dieser beiden Textstellen löst sich auf, wenn man in
der Beschreibung die aus den Medien bekannten Bilder von Fluchtsitua‐
tionen wiedererkennt: Im ersten Fall drängt sich anstelle der überfüllten
U‐Bahn mit einem Toten neben sich das überfüllte, in Seenot befindliche
228 Andrea Schütte
Flüchtlingsboot auf, auf dem auch Tote sind. Dieses Bild, in das mediale
Gedächtnis als Inbegriff der Flucht über das Mittelmeer eingegangen und
mit der Chiffre ‚Lampedusa’ versehen, wird in die Erfahrungswelt des
Logistikers kopiert. Daraus wird für ihn eine Situation der Desorientie‐
rung in einer U‐Bahn, in der ein Mensch neben ihm stirbt. Im zweiten
Beispiel drängt sich das Bild von Flüchtlingen auf, die nachts eine Land‐
grenze zu Europa klandestin überqueren wollen und sich desorientiert
und tastend vorwärtsbewegen. Dieses Bild wird in das Erleben von
Herrn Boll hineinkopiert. Auch wenn er stets betont, dass er diese Person
nicht sei, rückt die Häufigkeit des Bildzitats und die daraus resultieren
Dringlichkeit die Szene existentiell nah an sein Erleben heran.
Dieses Copy&Paste‐Verfahren, mit dem mediale Fluchtbilder, ob
Lampedusa, Idomeni oder andere, in den Erfahrungsbereich der Inländer
hineingetragen werden, ist möglich, gerade weil die Darstellung die Ebe‐
ne der personalen Zurechenbarkeit verlassen hat. Die Inländer zitieren
keine fremden Fluchterfahrungen, die sie selbst nicht gemacht haben,
sondern deren Fluchterlebnisse immergieren in die eigenen Erfahrungen.
Fremde und eigene Erfahrungen werden tendenziell ununterscheidbar.
Es ließe sich noch weiter gehen: Die dargestellten Figuren werden in
gewisser Weise zu Medien der Flucht: Aus ihren Stimmen – und gerade
weil sie nur noch Stimmen sind – spricht die Erfahrung der Flucht, der
Migration, des Schiffbruchs.18 Um das zu unterstreichen, zitiert der Text
oft unvermittelt die oben erwähnten Radio‐ und Fernsehstimmen. Sie
sind zwar durch eine andere Schriftart typografisch markiert, aber es ist
bezeichnend, dass der typografische Unterschied nicht groß ist. Die tech‐
nischen Medienstimmen werden in die Medienstimmen der Figuren ein‐
getragen, die wiederum Medien für die Fliehenden sind. In welches Pro‐
18 Vgl. Claudia Kramatscheks Besprechung des Romans im Deutschlandfunk: Elmiger
zeige die Bilder, die sie übersetzen will, nicht, sondern rufe sie mit Hilfe anderer Be‐
schreibungsverfahren auf: „Ob die Videoarbeiten eines Jan Bas Ader, Walt Whitmans
Langgedicht ‚The Sleepers’ über den Untergang der ‚Mexico’ oder Géricaults ‚Floß der
Medusaʹ – gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie zeigen: Der Betrachter der Kata‐
strophe ist immer schon mit im Bild“. Claudia Kramatschek: „Schlafgänger“ – Auslo‐
tung der porösen Gegenwart, http://www.deutschlandfunk.de/migration‐
schlafgaenger‐auslotung‐der‐poroesen‐gegenwart.700.de.html?dram:article_id=28714.
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 229
gramm man auch zappt, man bekommt immer eine Flucht‐ oder Grenz‐
geschichte geboten. Man kommt auch als Rezipient nicht an den Ge‐
schichten vorbei.19
b) Beunruhigung II
Mit der Programmebene, ob sie nun auf die Identitätskonstruktion der
Figuren bezogen wird oder auf die technischen Medien, installiert der
Roman die Stimmen als poetisches Prinzip. Zunächst sind es die Stim‐
men, die entweder noch den Figuren oder den technischen Apparaten
(Radio‐ und Fernsehstimmen) zuzuordnen sind. Doch der Diskurs öffnet
sich für weitere Stimmen. Sie sind noch radikaler depersonalisiert, als es
bei den beschriebenen Figuren aus darstellerischen Gründen überhaupt
möglich wäre: Es sind die Gespenster. Wie und warum tauchen sie auf?
Manche Begegnungen, die im Roman beschrieben werden, sind ge‐
spenstisch. Eine unbekannte Person betritt ein dunkles Zimmer und legt
sich neben die Übersetzerin (vgl. 8). Der Logistiker trifft auf ihm unbe‐
kannte Personen in seiner Wohnung, die „undurchsichtig und schattig“
sind (14). Es brennt Licht in seiner Wohnung, das er nicht angemacht hat
(vgl. 16). Als der Logistiker mit seiner Schwester telefoniert, hört er
„Stimmen am Telefon“, die er nicht einordnen kann: „aber mit Gewiss‐
heit konnte ich nicht mehr feststellen, aus welchen Ländern, aus welchen
Städten und Bezirken sie zu mir sprachen“ (105). Immer wieder wird ein
„Who’s there?“ eingeflochten. Der Logistiker entdeckt, dass es sich bei
dieser Frage um ein prominentes Zitat aus Shakespeares Hamlet handelt.
Es ist die Frage, die ein Wächter im Dunkeln der nahenden Wachablö‐
19 Die Frage nach der Angemessenheit der Darstellung von Migration beschäftigt
Dorothee Elmiger genauso sehr wie die Frage, wie die medialen Flucht‐ und Migra‐
tionserfahrungen rezipiert werden: „Natürlich haben mich diese Fragen beim Schrei‐
ben sehr stark beschäftigt: Wer schaut zu und wie? Und dann auch jetzt auf die Medi‐
en bezogen, auch die Fiktionalität: Also was sehen wir eigentlich, was wird uns ge‐
zeigt, wie können wir feststellen, was Fiktion ist oder was behaupten diese Bilder?
Und wie involvieren sie uns?“ Claudia Kramatschek zitiert Elmiger hier in ihrer Buch‐
besprechung und kommentiert zusammenfassend: „Sprich: es gibt keinen unschuldi‐
gen Standort mehr angesichts des Schiffbruches der sogenannten Anderen.“ Kra‐
matschek: „Schlafgänger“.
230 Andrea Schütte
sung stellt. Im Drama ist es Mitternacht, und der Geist des ermordeten
dänischen Königs erscheint zu dieser Zeit, insofern adressiert die Frage
zugleich ein Gespenst („Ghost“, „dreaded sight“, „apparition“, „some‐
thing more than fantasy“, „extravagant and erring spirit“).20
Der Ausspruch „Who’s there?“, der im Roman häufig vorkommt,
lässt die Situation immer gespenstisch erscheinen. Es sind Gestalten da,
aber nicht nur ihre Identität, sondern ihr Person‐Sein schlechthin ist un‐
klar. Sie sind da, obwohl sie nicht da sein dürften. Sie sind halb da.
Who’s there?, rief Fortunat, den Tauschsieder in der Hand. Who’s there?,
murmelte die Schriftstellerin im Halbschlaf am Tischende. Der Logistiker:
Erst als ich das Buch aufschlug, sah ich also, dass es sich bei dieser Frage
um die erste Zeile aus Shakespeares Hamlet handelte, da der eine Wächter
im Dunkel zum anderen spricht, bei der Wachablösung.
Das Thema sind vielleicht die Gespenster, warf eine Frau ein, die in der Tür
zum Speisesaal stand. [...] Who’s there?, wiederholte die Schriftstellerin am
Tischende. [...] Da lag ich, sagte der Logistiker, mitten in der Nacht mit weit
offenen Augen in dieser Wohnung, die in der Welt stand, aber scheinbar
abseitig, grenznah. Es ging mir alles fieberhaft im Kopf herum. [...] [K]aum
ein Auto passierte den Grenzübergang, da lag ich, als wären mir im Schlaf
die Lider wie schwere Blumen aufgegangen und ich hätte es selbst nicht
gemerkt, als sähe ich ein Gespenst in weiter Ferne gehen. Ich hörte die
Stimme des Radiosprechers in der Küche, [...] die Grenzwächter lösten sich
ab [...]. (21‐23)
Von der mitternächtlichen Wachablösung bei Shakespeare zur mitter‐
nächtlichen Wachablösung in der Welt des Logistikers, von Hamlets Ge‐
spenst zu den Gespenstern, die die Figuren des Romans heimsuchen. Das
Gespenst ist am Ort des Übergangs: von einem Tag zum anderen, zwi‐
schen Wachen und Schlafen, am Grenzübergang. Auch das Gespenst ist
ein Phänomen des Übergangs, zwischen Fiktion und Realität verhaftet.
Es taucht einerseits im Konjunktiv auf („als sähe ich ein Gespenst“), was
sein Vorkommen in der Tatsächlichkeit abwegig macht, andererseits
wird der Konjunktiv ebenso für das Nicht‐vorhanden‐Sein von Gespens‐
tern benutzt:
20 William Shakespeare: Hamlet, in: The Norton Shakespeare based on the Oxford edi‐
tion, hrsg. von Stephen Greenblatt, New York, NY 1997, I, 1 (alle Zitate).
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 231
Ich blickte um mich, und es fiel mir nichts Außergewöhnliches auf, alles
war ruhig: als gingen keine Gespenster um in dieser Zeit. (25)
Während einerseits in Frage gestellt wird, dass es Gespenster gibt (Irrea‐
lis der Existenz), wird andererseits in Frage gestellt, dass es sie nicht gibt
(Irrealis der Nicht‐Existenz). Elmiger markiert deutlich, dass das Ge‐
spenst seinen Platz eben weder in Präsenz noch in der Absenz hat, son‐
dern genau genommen im Übergang, auf der Grenze. Es erscheint auf
der Schwelle bzw. in Schwellensituationen und dementiert damit die
Realität der Ordnungen diesseits und jenseits der Grenze. Jacques Derri‐
da hat das in seiner Hantologie, seinen Ausführungen zum Gespenst,21
beschrieben: Das Gespenst stellt die gegenwärtige Ordnung durch sein
Erscheinen infrage und ist insofern als ein „respectable subject of en‐
quiry“22 zu verstehen. Im dekonstruktivistischen Sinne zeigt Derrida an
der Figur des Gespenstes, dass eine strukturalistische Gegenüberstellung
zweier Ordnungen und deren anschließende und abschließende Vermitt‐
lung unangemessen ist, und votiert für eine Öffnung der Struktur im
Hinblick auf die Uneinholbarkeit von Dingen, Sachverhalten und Subjek‐
ten, die in ständiger Bewegung zu denken sind.
Das Gespenst bringt Unruhe und zeigt die unterschwellige Unord‐
nung der Ordnung auf. Shakespeare lässt in seinem Drama Horatio for‐
mulieren: „This bodes some strange eruption to our state“.23 Es gärt et‐
was im Staate, in der gegenwärtigen Ordnung. In Elmigers Roman ist das
durch die frequente Andeutung der Erdbeben allgegenwärtig. Der Ro‐
man beginnt mit der Beschreibung eines Erdbebens, das „das ganze eu‐
21 Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die
neue Internationale, Frankfurt am Main 2004.
22 Colin Davis: État présent. Hauntology, Spectres and Phantoms, in: French Studies 59
(3/2005), S. 373‐379, S. 376 (zitiert in Christian Sternad: Das Gespenst und seine Spek‐
tralität. Die hermeneutische Funktion des Gespensts, oder: eine phänomenologische
Hantologie, in: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 3 (2013), S. 27‐41, S. 27).
23 „In what particular thought to work I know not; But in the gross and scope of my
opinion, This bodes some strange eruption to our state“. Shakespeare: Hamlet, I,1, V
67‐69; von A.W. Schlegel treffend übersetzt mit „Wie dies bestimmt zu deuten, weiß
ich nicht; Allein so viel ich insgesamt erachte, Verkündet’s unserm Staat besondre Gä‐
rung“.
232 Andrea Schütte
ropäische Gebirge“ (7) zusammenstürzen lässt. Der Student aus Glendale
bemerkt, dass sich unter Los Angeles zahlreiche Gräben befinden: „un‐
zählige kleine Erschütterungen finden Tag und Nacht statt“ (77). Die
kalifornische Landschaft ist darum „unsicher[.]“ (ebd.). Der Ort, an dem
sich Esther, die Schwester des Logistikers, gerade befindet, ist ebenso
unsicher: „etwas stimmte nicht, womöglich war etwas mit der Statik des
Gebäudes nicht in Ordnung“ (108), und später erwähnt sie: „Ohne erklär‐
lichen Grund hätten sich an diesem Tag Teile der Küchendecke gelöst
und seien auf den Fußboden gefallen, zuvor habe sie bereits Risse im
Putz entdeckt“ (131). Was Shakespeares Horatio angesichts des Erschei‐
nen des Gespenstes sagt, wird im Roman wörtlich genommen: „this bo‐
des some strange eruption to our state“ – Wo Gespenster auftauchen,
finden Erdbeben statt. Die Gegenwart bebt, wenn auch nur unterschwel‐
lig, während sich das Gesprächsprogramm noch fortsetzt. Die „Verände‐
rung[en]“ (26 et passim) geschehen, während Gespenster auftauchen.
Wofür steht das Gespenst im Roman? Es liegt nahe, die Gespenster
als Chiffre für die Flüchtenden zu lesen. Das leuchtet ein, wenn man letz‐
tere als solche bezeichnet, die „aufgrund der Illegalität in die Unsichtbar‐
keit gedrängt sind“.24 Sie sind da und doch nicht da. Sie bringen Aufruhr
in die staatliche Ordnung und sind doch von ihr ausgeschlossen. Auf‐
grund der Rollen‐ und Programmdarstellung ließen sich auch die Inlän‐
der als Gespenster bezeichnen, die als Stimmen auftauchen. Auch sie
sind da und nicht da (und unvermittelt woanders und hier und dort zu‐
gleich). Nahegelegt wird diese Identifikation, wenn an einer Stelle die
Schriftstellerin das „Who’s there?“ formuliert, woraufhin der Student
24 Kramatschek deutet die Gespenster als Flüchtlinge: „Schon 2010 veröffentlichte sie
[Dorothee Elmiger, A.S.] unter dem Titel Die Abwesenden einen Text über jene Men‐
schen, die in der Schweiz leben, aber aufgrund der Illegalität in die Unsichtbarkeit ge‐
drängt sind. Wie Gespenster besiedeln diese Menschen nun auch den neuen Roman –
und das darf man wortwörtlich verstehen. Denn die Grenzgänger selbst, von denen er
handelt, sind in diesem Roman bewusst eine Leerstelle.“ Dorothee Elmiger antwortet
darauf: „Eigentlich hätte das Buch natürlich ausschließlich diese Stimme sein sollen,
die jetzt fehlt. Aber ich kann diese Stimme nicht sein. Und ich habe sehr, sehr damit
gerungen und hatte auch oft das Gefühl, dass ich das Buch deswegen nicht schreiben
kann, weil ... diese Stimme in diesem Text fehlen muss, wie ich finde, weil ich das an‐
maßend gefunden hätte, die zu schreiben“. Claudia Kramatschek: „Schlafgänger“.
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 233
unvermittelt antwortet „Das Ehepaar Boll“ und dabei „zum leeren Fens‐
ter“ zeigt (23). Aber diese Identifizierung wird nicht bestätigt und bleibt
in der Schwebe. Wer oder was genau als Gespenst gesehen wird, bleibt
offen. Die beiden Motti, die dem Roman vorangestellt sind, unterstrei‐
chen das: „Il y avait quelqu’un, et, un instant plus tard, il n’y a person‐
ne“, formuliert Simone Weil, und diese Aussage wird pointiert von ei‐
nem Zitat Rolf Dieter Brinkmanns: „und sogar die Luft erscheint mir wie
Gespensterluft“. Es ist alles voller Gespenster.
Wenn das Gespenstische auf unterschiedlichen Ebenen auftaucht
und selbst die Luft miteinschließt, dann scheint es etwas Überphänome‐
nales zu sein, etwas, das jegliche Ordnung, jede Festlegung beunruhigt.
Es deutet sich immer etwas – eine Identifizierung, eine Setzung – an, um
sogleich wieder zu verschwinden. Das Gespenstische ist nicht nur als
Figur der Depersonalisierung zu sehen, sondern als ein strukturelles
Phänomen, das mediale Zwischenräume infiltriert und selbst auf die
Ebene der Textorganisation bezogen werden kann. Das Auftreten der
Gespenster macht nicht nur das Dargestellte gespenstisch, sondern auch
die Darstellung selbst: Der Text erscheint ebenso gespenstisch, indem er
Stimmen auftauchen und verschwinden lässt, montiert und zerstückelt,
alles, was sich zusammenfügen will, (auf‐)bricht. Auch hier ließe sich von
einem „Beben der Darstellung“25 – wenn auch in anderem Sinne – spre‐
chen. Bezeichnend ist, dass hier zwar das Aufbrechen von Ordnungen
umkreist, aber keine neue Ordnung anvisiert wird.26 Die Gespenster zei‐
gen etwas auf, aber keine Lösung. So wenig sich innerhalb des Erzählten
etwas entwickelt oder die Erzählung auf ein auflösendes Ende zustrebt,
so wenig wird angedeutet, wie – über den Roman hinaus – eine andere
25 Ich zitiere hier den Titel des bekannten Aufsatzes von Werner Hamacher zu Kleists
‚Erdbeben in Chili‘; Werner Hamacher: Das Beben der Darstellung, in: David Wellbery
(Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von
Heinrich von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili’, 5. Auflage München 2007, S. 149‐173.
26 Das entspricht Jacques Derridas Überlegungen zur Spektralität des Gespenstes: Das
Gespenstische am Gespenst (frz. spectre) ist, dass es keine neue Ordnung ankündigt,
sondern im Aufbrechen der alten Ordnung stehen bleibt. Es erscheint in allen seinen
Lichtbrechungen, seiner Spektralität. Der Ort des Gespenstes ist das Zwielicht, die
Uneindeutigkeit. Vgl. Derrida: Marx’ Gespenster.
234 Andrea Schütte
27 Die Rekurrierbarkeit auf Nationalstaaten formuliert auch Ulrich Rüdenauer in seiner
Rezension: „Die junge Schweizer Autorin [...] [Dorothee Elmiger, A.S.] schreibt nicht
zuletzt über die Enge ihres Landes und – auf poetisch verfremdete Weise – über die
dort erbittert geführte Zuwanderungsdebatte der letzten Jahre, die in den umstritte‐
nen Referendumsentscheid vom Februar mündete“. Ulrich Rüdenauer: Verfremdung
der Schweiz. Gespenstisch: Dorothee Elmigers Roman ‚Schlafgänger’, in: Süddeutsche
Zeitung, 12.03.2014, http://www.buecher.de/shop/schweiz/schlafgaenger/elmiger‐
dorothee/products_products/detail/prod_id/40018473/.
Flucht und Migration in Dorothee Elmigers Roman Schlafgänger 235
Wenn die Rolle des Gespenstes – nach Shakespeare – diejenige ist, darauf
hinzuweisen, dass im Rahmen von staatlicher Ordnung etwas nicht funk‐
tioniert; wenn das Gespenst – nach Derrida – dasjenige Ich ist, das von
weiteren Stimmen heimgesucht wird, die zumindest eine andere Position
in das Ich hineintragen; dann sind es – nach Elmiger – die Stimmen der
rastlosen, flüchtenden, extravaganten28 in‐ und ausländischen Menschen,
die aufgrund ihres Potentials, mehrere Rollen anzunehmen und nicht im
Bestehenden verhaftet zu sein, zur Reflexionsebene einer staatlichen
Ordnung unbedingt dazugehören. Mit ihnen, so seltsam und kauzig29 sie
alle sind, befindet man sich „in guter Gesellschaft“ (141). Und schließlich
sind es solche Romane wie dieser, die durch gesellschaftliche Beschrei‐
bung, soziologisch bestätigt und fiktional radikalisiert, sich ebenso zur
Reflexion gegenwärtiger Ordnungen anbieten.30
28 Shakespeare bezeichnet den Geist als „extravagant [...] spirit“.
29 Dieses Adjektiv bietet sich an, weil an einigen Stellen etwas apokalyptisch anmutend
vom Kauz die Rede ist, der durch die Luft fliegt (141 et passim).
30 Eine kurze literaturwissenschaftliche Pointierung sei an dieser Stelle erlaubt: Indem
der Roman vorführt, wie über die Einführung eines Irrealis die Realität noch konse‐
quenter und radikaler hinterfragt werden kann, stellt er sich quer zu den Etikettierun‐
gen, welche die Literaturwissenschaft zur Zeit zur Beschreibung und Kategorisierung
von Gegenwartsliteratur bereithält. Er gehört weder einhellig zum sog. ‚Neuen Rea‐
lismus’ (zum Begriff des Neuen Realismus in der Literaturwissenschaft vgl. Søren R.
Fauth/Rolf Parr (Hrsg.): Neue Realismen in der Gegenwartsliteratur, München 2016),
noch proliferiert er eine ‚postfaktische’ Haltung (dieser problematische Mode‐Begriff
sei hier nur als prägnanter Gegenbegriff zum Realismus gebraucht), die sich im Irrea‐
lis bewegt und die ‚Realität’ transzendiert. Der Roman realisiert vielmehr das, was Ka‐
thrin Röggla als „Zwischengeschichte“ bezeichnet, als Text, der sich zwischen Doku‐
ment und Fiktion einrichtet, ein „Maulwurfstext mit unterschiedlichen Gängen“ (noch
unveröffentlichter Vortrag von Kathrin Röggla an der Universität Bonn am
15.02.2017).