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Band II

Atlantis-Neustadt

Ein utopischer Roman

von

Armin Kapp

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Mebungos Einreise

Als Mebungo das Einwanderungslager von


Atlantis erreichte, war er sechzehn Jahre
alt. Den langen Weg vom Kongo nach
Nordwesten hatte er gemeinsam mit
anderen Flüchtlingen angetreten. Die
meisten derjenigen, die er kennengelernt
hatte, waren unterwegs zurückgeblieben,
er selbst hielt durch und hatte nur ein Ziel
vor Augen: Atlantis. Das
Einwanderungslager lag weit außerhalb
der Stadt, im Südosten, wo der felsige und
steinige Untergrund am wenigsten für
irgendeine Art von Bewirtschaftung
geeignet war. Am Eingangstor wehten die
Flaggen der EU, die das Lager finanziert
hatte und auch unterhielt. Das
Sicherheitspersonal jedoch stammte aus
Atlantis, zu dem das Lager offiziell auch
gehörte.
Als Mebungo ankam, wurde er erst einmal
mit Wasser versorgt. Dann wurde er auf
Rauschgift und auf Waffen untersucht,
dazu musste er sich nackt ausziehen. Seine
Kleider oder vielmehr das, was davon
übrig geblieben war, verschwanden in
einem Container. Er bekam eine
mönchsartige Kutte übergezogen, nachdem
er im Freien durch eine
Desinfektionsdusche hatte gehen müssen.

Überall standen die schwer bewaffneten


Sicherheitsleute, deshalb ließ Mebungo

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alles mit sich geschehen. Es hatte schon
viele Angriffe von den verschiedensten
Gruppen gegeben, die unter Vorgabe von
politischen Gründen das Lager
ausplündern wollten. Deshalb wurden
Gruppen gar nicht mehr durchgelassen,
sondern die Personen sofort nach der
Ankunft vereinzelt. Die Wachtürme weit
außerhalb des Lagers und Hubschrauber
überwachten die Ankunft von Personen
und Gruppen. Auch die Gruppe von
Mebungo, die zuletzt noch aus fünfzig
Personen bestand, wurde gestoppt und die
Flüchtlinge wurden einzeln, im Abstand
von einer Minute, auf den Weg geschickt.

Von der Desinfektionsdusche aus führte


ein genau festgelegter Weg zur
Sanitätsstation. Dort wurde ihm die
Nummer 38BD11E auf die Haut durch eine
Schablone aufgesprüht. Seine Kutte bekam
dieselbe Nummer angenietet. Er hatte
keine Papiere bei sich, wurde aber auch
nicht danach gefragt und musste dann
alleine in einem kleinen Raum warten. Es
dauerte bis zum Nachmittag, bis endlich
eine Frau in einem weißen Kittel zu ihm
hereinkam. Er erschrak, er wusste zwar,
dass es in Atlantis Weiße gab, aber noch
nie war eine weiße Frau so nahe an ihn
herangetreten. Er kauerte sich in eine Ecke
und sah sie von unten herauf an. Die Frau
hatte ihren Kittel bis zwischen ihre Brüste
aufgeknöpft und Mebungo konnte ihre

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flachen Brüste erahnen. Sie wartete, bis er
sie abgecheckt hatte, dann deutete sie ihm,
die Kutte auszuziehen. Er verstand nicht
und so zog sie an seinen Ärmeln. Mebungo
ließ alles mit sich geschehen und wehrte
sich nicht. Als er nackt vor ihr stand, senkte
er den Kopf. Jetzt begann sie zu sprechen.
Er verstand sie nicht und als er den Kopf
hob, sah er, dass sie nicht zu ihm, sondern
in ein kleines Gerät hineinsprach. Sie
betrachtete seine Haut und seinen
Körperbau. Er sah bis auf eine vernarbte
tiefe Schnittwunde am Unterarm normal
aus, er mochte fünfundsechzig Kilogramm
wiegen und war etwa 1,70 Meter groß. Jetzt
sprach sie zu ihm und versuchte ihm zu
erklären, dass sie ihm jetzt Blut abnehmen
musste. Sie zeigte auf eine noch neu
verpackte leere Spritze und auf die
Innenseite seines Ellenbogens. Einige
Sekunden wartete sie, dann packte sie die
Spritze aus. Nochmals zeigte sie auf die
geplante Einstichstelle und wartete seine
Reaktion ab. Sie nickte fragend mit dem
Kopf. Er machte es ihr nach. Sie begriff es
als Einverständnis und zog sich
durchsichtige Plastikhandschuhe an. Mit
einem Tupfer desinfizierte sie die
Einstichstelle. Er hielt still, aber als sie sich
mit der Spritze näherte, packte er ihre
Hand und versuchte, ihr die Spritze
wegzunehmen. Aber ihre sanften Worte,
obwohl er sie nicht verstehen konnte,
beruhigten ihn und er ließ es jetzt

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geschehen. Er hatte schon oft Blut gesehen
und der Schmerz des Einstichs machte ihm
nichts aus. Aber als sich die Spritze mit
seinem Blut füllte, wurde er erneut
unruhig. Sie beeilte sich und zog die
Spritze ab, während sie den Tupfer auf die
Einstichstelle hielt. Sie deutete ihm, die
Kutte wieder anzuziehen, und verließ den
Raum.
Kurz danach kam wieder ein Weißkittel
herein, diesmal ein Mann schwarzer
Hautfarbe, und er fasste sofort Vertrauen.
Der Mann deutete ihm, ihm zu folgen.
Mebungo stand auf und ging hinterher. Es
ging wieder ins Freie, vorbei an den schwer
bewaffneten Wachen. Er wunderte sich,
dass es keine Weißen gab unter den
Wachen. Der Weißkittel wies ihn an, sich in
einen Jeep hinter dem Fahrer
niederzusetzen. Er folgte bereitwillig,
obwohl ihm jetzt nicht mehr besonders
wohl war. Er war es nicht gewohnt, von
anderen so intensiv kontrolliert zu werden.
Ging es in ein Gefängnis? Sollte er wieder
unter Drogen gesetzt werden wie im
Kongo? Er hatte von Atlantis aber nur
Gutes gehört und so versuchte er, seine
Zweifel zu unterdrücken.
Nach einer fünf Kilometer langen Fahrt,
vorbei an Wachposten und Stacheldraht,
kamen sie am Quarantänelager an. Er
wurde von einem mit Maschinengewehr
bewaffneten Soldaten aufgefordert, das
Fahrzeug zu verlassen. Seltsamerweise

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versuchte niemand, mit ihm zu sprechen,
die Soldaten hatten wohl schon zu viel
schlechte Erfahrungen gemacht. Mebungo
stand vor einem dreihundert Meter langen
Holzhaus. Er musste durch das
Eingangstor, wo er von weiteren
Bewaffneten empfangen wurde. Sie ließen
ihn nochmals sich nackt ausziehen und er
wurde wieder durch eine Desinfektions-
dusche geschickt, dahinter bekam er seine
Kutte wieder. Durch einen langen Gang
mit zahllosen Türen wurde er gelotst, bis
der Bewaffnete eine Tür aufschloss. Dort
musste Mebungo hinein, hinter ihm wurde
die Tür verriegelt. Später bekam er durch
die kleine Öffnung in der Tür Getränk und
Brot. Es gab in der Kammer nur einen
schmalen Holztisch, eine Pritsche mit
Matratze, eine Toilette und ein
Waschbecken. Als es dunkel wurde, konnte
er keinen Lichtschalter finden. Nach dem
ersten Tag in Atlantis konnte er nicht
einschlafen, zu viel ging in seinem Kopf
vor. Was würde ihm die Zukunft bringen?
Würde er seine Heimat, seine Familie, sein
Dorf jemals wiedersehen?

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Calvins Einreise

Um diese Zeit reiste auch Roger Calvin


über den Zentralflughafen ein, er kam von
London Heathrow und hatte in seiner
Heimat in England alles hinter sich
gelassen, weil er von den guten
Verdienstmöglichkeiten in Atlantis gehört
hatte. Gleich am Flughafen gab er bei der
Einwanderungsbehörde seinen noch in
England ausgefertigten Gesundheitspass
zur Prüfung ab. Auch er musste eine halbe
Stunde in einem kleinen Raum warten, bis
er abgeholt wurde. Im Gegensatz zu vielen
afrikanischen und asiatischen
Herkunftsländern wurde sein Gesundheits-
pass von den Behörden von Atlantis
anerkannt. Trotzdem musste er zur
Kontrolle eine Blutprobe abgeben.
Schon Monate vor seiner Einreise hatte er
den Fragebogen im Internet ausgefüllt,
seinen Wunschberuf angegeben und ein
Wohngrundstück beantragt, das er dann
auch zugewiesen bekam. Atlantis machte
Experten wie ihm geradezu den Hof, denn
die Stadt konkurrierte hart mit Kanada,
USA und der EU um die gut ausgebildeten
Ingenieure und Fachkräfte.
Er wurde vom leitenden Kommissar der
Einwanderungsbehörde in seiner
Heimatsprache mit einem herzlichen
Willkommensgruß empfangen. Sie saßen in
seinem Büro an einem kleinen
Besprechungstisch. „Was stellen Sie sich

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genau vor bei Ihrem Aufenthalt in
Atlantis?“, fragte der Kommissar. Diese
Frage hatte Calvin erwartet und sagte,
obwohl er sich selbst seiner Wünsche und
Vorstellungen nicht sicher war: „Ich
möchte hier alt werden und bis dahin
würde ich gerne als Software-Entwickler
arbeiten, vorzugsweise für die
Steuerungstechnik an Solaranlagen.“
Obwohl der leitende Kommissar Calvins
Internetbewerbung wörtlich kannte, fragte
er weiter: „Wo haben Sie zuletzt
gearbeitet?“
„Bei der Spielesoft in London.“
„Hier ist Ihr Vertrag für die Übernahme
des Wohngrundstücks. Sie können sich das
Grundstück und Ihr neues Domizil gerne
ansehen, bevor Sie endgültig
unterschreiben.“
„Danke, nicht nötig“, erwiderte Calvin
süffisant. Er hatte es über das Internet
mehrfach von allen Seiten begutachtet,
man konnte sogar dreidimensional in das
Innere des Wohngebäudes sehen und seine
Lage in der Stadt beliebig zoomen. Er hatte
auch schon die zwanzigprozentige
Anzahlung im Voraus überwiesen. Calvin
unterschrieb den Vertrag.
„Wo wohnen Sie eigentlich?“, erkundigte
er sich jetzt in freundlicherem Ton bei dem
Kommissar.
„Siebte Süd und Dreiundzwanzigste West,
circa drei Kilometer von Ihrem Grundstück
entfernt.“

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„Dann können wir uns ja mal treffen.“
„Ja, dann könnte ich direkt noch was von
Ihnen lernen.“ Der Kommissar wusste,
dass Calvin als Software-Experte fast das
Doppelte von ihm verdienen würde.
Calvin grinste: „Na dann, bis bald.“

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Mebungo

Der Bus fuhr eine gute Stunde lang in das


Innere der Stadt, die Zweite entlang in
westlicher Richtung. Mebungo starrte
fasziniert zum Fenster hinaus. Es ging
vorbei an hundert Meter hohen
Windkraftanlagen, die wie ein Wald
standen. Die Rotorflügel drehten sich im
starken Westwind mit atemberaubender
Geschwindigkeit. Dazwischen immer
wieder Solaranlagen, die sich alle wie eine
geheimnisvoll gesteuerte Armee zur Sonne
hin ausgerichtet hatten. Er konnte Männer
und Frauen sehen, die mit Besen und
Lappen die Anlagen reinigten. Einzelne
Solaranlagen standen senkrecht und an
manchen arbeiteten Serviceleute.
Je näher sie zur Stadt kamen, desto grüner
wurde es. Es gab zunächst einzelne Bäume,
zumeist Palmen, in den Gebieten längs der
Zweiten, später auch ganze Gruppen von
Bäumen. Immer wieder waren Menschen
zu sehen, die sich an den Bäumen und
Sträuchern zu schaffen machten. Es sah
aus, als würden sie etwas ernten. Mebungo
träumte von seinem eigenen Feld, auf dem
er Hühner und Kamele züchten wollte oder
auch Ziegen. Nur einmal, ganz kurz in der
Ferne, meinte er, Kamele erkennen zu
können, aber eine Baumgruppe, die der
Bus passierte, versperrte ihm gleich wieder
die Sicht.
Jetzt tauchten am Horizont links und rechts

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der Zweiten je ein See auf. Der Bus war
nicht einmal halb voll, so setzte sich
Mebungo auf einen freien Fensterplatz auf
der linken Seite. Der See kam näher und
die anderen bemerkten, warum Mebungo
sich umgesetzt hatte. Sie sprangen alle auf
die freien Fensterplätze. Die jüngeren
Kinder schrieen und zeigten aufgeregt
nach draußen. Es waren zwei gewaltige
Seen und die Zweite führte mitten
hindurch. Mebungo hatte noch nie so viel
Wasser gesehen, auch er konnte sein
fassungsloses Staunen nicht mehr unter-
drücken. Man konnte einzelne Boote auf
den Seen erkennen. Die Zweite führte in
zweihundert Meter Entfernung an den
Ufern entlang und begleitete diese auf
einer Länge von zwei Kilometern. Die
Kinder waren außer sich, das hatte noch
keines von ihnen erlebt und gesehen. Die
beiden Wachleute wurden langsam nervös,
griffen aber nicht ein, denn auch sie hatten
vor einigen Jahren das Gleiche erlebt. Dann
entfernten sich langsam die Ufer der
beiden Seen, der eine nach Norden, der
andere nach Süden. Sie waren jeder wie ein
Viertelkreis zwischen der Ersten und der
Zweiten angelegt und waren auf ihrer
ganzen Länge im Viertelkreisbogen überall
drei Kilometer breit. Mebungo konnte noch
einen Fährhafen sehen, daneben eine
größere Anzahl von Schiffen und Booten,
wobei ihm nicht klar war, wozu diese gut
waren.

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Vor lauter Staunen hatte er lange nicht
mehr rechts aus dem Fenster geschaut.
Dort konnte man jetzt am Horizont einen
Turm auftauchen sehen. Mebungo
wechselte wieder auf die rechte Seite im
Bus und schaute auf die Straße hinab. Die
Fahrzeuge bewegten sich alle mit
gleichmäßiger Geschwindigkeit
nebeneinander und hintereinander her. Es
passierte dabei nichts Aufregendes. Nur
manchmal wechselte der Bus die Spur nach
rechts oder links, um an einem Lkw
vorbeizufahren.
Der Turm kam langsam näher und
Mebungo begann zu begreifen, dass es ein
mächtiger Turm sein musste. Die ersten
Steingebäude mit Glasfenstern tauchten auf
und wurden immer größer, je weiter der
Bus stadteinwärts fuhr. Die Gebäude
begannen schon, den Blick auf den Turm
zu versperren. Der Turm, so viel konnte
man schon erkennen, hatte eine dünne
Spitze und kurz unter ihr einen dicken,
kugelförmigen Ausbau.
Regierungsgebäude, die direkt an der
Zweiten standen, versperrten jetzt total den
Blick auf den Turm. Der Bus bog in den
Kreisverkehr ein, der um das Zentrum mit
dem Turm herumführte. Mebungo
vermutete, dass der Turm jetzt passiert
wurde und dass er am ehesten noch aus
dem Rückfenster einen Blick erhaschen
könnte. Als der Bus den Kreisverkehr
verließ und der Zweiten weiter ostwärts

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folgte, sprang er nach hinten und sah aus
dem Rückfenster. Ein kalter Schauer lief
ihm über den Rücken, als er wieder den
mächtigen, 780 Meter hohen Turm zu
sehen bekam. Diesmal meinte er, er müsse
nur die Hand ausstrecken, um ihn
berühren zu können. Als der Bus sich
weiter entfernt hatte, konnte er weiter
hinaufsehen und glaubte, Menschen auf
der Aussichtsplattform erkennen zu
können. Unter und über der Kugel war der
Turm gespickt mit Schüsseln und
Antennen, Leuchten und Gittern. Er kam
aus dem Staunen nicht heraus. Erst als der
Bus einige Kilometer vom Zentrum
entfernt war, beruhigte er sich wieder. Er
hatte sich an das Leben und an die Schule
im Einwanderungslager schon gewöhnt
gehabt, jetzt aber hatte er das Gefühl, noch
einmal neu nach Atlantis eingewandert zu
sein.

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Die Verhandlung

Der Sprecher der Führungscrew stand


alleine in einem der fünf Aufzüge, die von
einem Linearmotor nach oben geschleudert
wurden. Die Sicherheitsleute hatten ihn bis
zum Aufzug begleitet und verhindert, dass
Touristen oder andere Leute seinen Aufzug
betraten. Oben wurde er wieder von zehn
bewaffneten Sicherheitsleuten empfangen
und in den fünften Stock der Kugel
begleitet.
Der Sprecher der Führungscrew war zehn
Minuten zu früh dran, aber einer der
Sicherheitsleute flüsterte ihm ins Ohr: „Der
EU-Außenminister ist schon da.“ Der
Sprecher der Führungscrew schüttelte den
Kopf, ohne es zu kommentieren. Er wollte
doch auf jeden Fall vor ihm da sein. Kurz
hielt er inne und dachte nochmals nach. Es
würde auf jeden Fall um Geld gehen,
dessen war er sich sicher. Die
Sicherheitsleute brachten ihn an den Tisch,
an dem der EU-Außenminister saß und
bereits ein Wasser vor sich stehen hatte.
Als er den Sprecher der Führungscrew
kommen sah, stand er auf. Sie begrüßten
sich förmlich und die Sicherheitsleute
zogen sich zurück. Die fünfte Ebene war
komplett abgeriegelt, solange das Gespräch
stattfand. Man wollte kein Risiko eingehen,
denn es hatte schon einmal einen Anschlag
auf den Turm gegeben und nur aufgrund
seiner soliden Bauweise hatte der Turm der

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Explosion standgehalten und konnte bald
wieder für die Besucher freigegeben
werden.
Sie setzten sich. „Sind Sie gut
angekommen?“, fragte der Sprecher der
Führungscrew. „Ja, danke, Sie hatten
offensichtlich alles bestens organisiert.“
Der Sprecher der Führungscrew
schmunzelte: „Vielleicht zu gut, als Gast-
geber wollte ich eigentlich vor Ihnen da
sein.“ Jetzt lächelte der EU-Außenminister:
„Ich bin sehr froh, Ihr Gast sein zu dürfen.“
Er machte eine kurze Pause und der
Sprecher der Führungscrew ließ ihm das
Wort. „Hier würde ich gerne mal Urlaub
machen“, sagte er schließlich. „Das freut
mich sehr.“
„Aber zuerst müssen wir über die Kosten
für das Einwanderungslager und über die
Energiepreise reden“, wurde der Minister
konkret. „Das soll mir recht sein“, der
Sprecher der Führungscrew hatte gewusst,
dass diese Diskussion aufkommen würde.
Atlantis wurde ähnlich der Rechtsform
einer deutschen AG geführt. Die Führungs-
crew war sozusagen der Vorstand, die
Geldgeber der Aufsichtsrat und der EU-
Außenminister war der
Aufsichtsratsvorsitzende. Deshalb
begegnete ihm der Sprecher der
Führungscrew mit dem entsprechenden
Respekt, aber auch mit der sicheren Hand
des Vorstandsvorsitzenden eines
Weltkonzerns.

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„Wo wollen Sie denn genau Urlaub
machen?“, lenkte er erst einmal ab.
„Am liebsten in einem Strandhotel am
nördlichen Ufer des Süd-West-Sees.
Könnten Sie da mal was für mich
arrangieren?“
„Gerne, wenn Sie uns nachweisen, dass Sie
alles privat bezahlen.“
Der EU-Außenminister wand sich sichtlich
und verzog den Mund: „Jetzt hatte ich
gedacht, dass Atlantis mich mit einem
besonderen Angebot einlädt.“ „Das können
wir ja gerne machen“, stimmte der
Sprecher der Führungscrew zu, „und ich
bin sicher, dass Sie kein Angebot haben
wollen, das über die normalen besonderen
Angebote wie für jeden anderen Touristen
hinausgeht.“ „Na gut“, entgegnete der jetzt
sichtlich verstimmte Minister, „dann lassen
Sie uns jetzt über die Kosten für das
Einwanderungslager sprechen.“ „Ganz wie
Sie wollen“, der Sprecher der
Führungscrew blieb gelassen, obwohl sein
Herz jetzt schneller schlug.
„Das Einwanderungslager existiert nun
schon seit 2009 ...“
„… und genauso lange weht auch schon
die Flagge der EU davor“, unterbrach ihn
sofort der Sprecher der Führungscrew. Der
EU-Außenminister stockte: „Ja, das tut sie.
Und jetzt ist die EU der Ansicht, dass die
Flagge der EU dort nicht mehr wehen
muss, weil die ursprünglich geplante
Einwanderung gut ausgebildeter

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Fachkräfte von Atlantis in die EU ja nur in
Ausnahmefällen stattgefunden hat und
weil Atlantis diese Leute alle selbst braucht
beziehungsweise die Einreisequote dieser
Spezialisten nach Kanada oder in die USA
höher ist als die in die EU.“ „Das liegt nicht
an Atlantis, die EU muss diesen Leuten
einfach mehr bieten!“
„Sei’s drum“, sagte der EU-Außenminister,
„Sie sehen schon, worauf ich hinauswill:
Die Fördermittel der EU für das
Einwanderungslager sollen ab sofort
gestoppt werden und Sie können dann
auch von mir aus die Flaggen der EU
einrollen.“ Der Sprecher der Führungscrew
atmete enttäuscht durch, sagte aber
zunächst nichts. Nach einem Moment aber
begann er: „Werter Herr Außenminister
der EU, wissen Sie noch, was 2008 zur
Gründung von Atlantis geführt hat?,“ er
machte eine akademische Pause, „erinnern
Sie sich noch an die Tausenden toter
Flüchtlinge auf ihrem Weg von Afrika
übers Meer nach Lampedusa, Malta,
Sizilien oder gar raus über den Atlantik auf
die Kanaren? Wenn Sie schon von Kosten
reden, erinnern Sie sich noch an die Kosten
für die Einwanderer, die die EU tatsächlich
erreicht haben? Bei der Gründung von
Atlantis hat die EU gesagt, diese Kosten
können wir genauso gut Jahr für Jahr in
Atlantis investieren, um damit die
Erstversorgung und Unterbringung der
Flüchtlinge und weiter deren Einbindung

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in die Gesellschaft sowie deren Ausbildung
gleichzeitig Atlantis zu überlassen und um
so zwei Fliegen mit einer Klappe zu
schlagen, wissen Sie das noch? Wissen Sie
das noch?“ Der EU-Außenminister
erwiderte schlagfertig: „Jetzt haben wir
eine neue Situation. Die Flüchtlingsströme
sind seit Jahrzehnten abgerissen.“ „Aber
nur, weil es Atlantis gibt!“, rief der jetzt
langsam in Stimmung kommende Sprecher
der Führungscrew, „wenn es Atlantis nicht
gäbe, hätten Sie einen Großteil der
Bevölkerung von 48 Millionen an den
Pforten der EU stehen und Sie hätten die
Aufgabe, diese Menschen zu integrieren.“
„Das würden wir heute rückblickend gerne
gemacht haben!“, rief der Minister
dazwischen. Der Sprecher der
Führungscrew war jetzt in seinem Element:
„Ja, aber zu welchen Kosten? Zu welchen
Kosten hätten Sie diese Menschen
integriert und wer konkret hätte es
gemacht? Italien? Deutschland? Spanien?
England? Sie wissen genau, dass damals
keiner davon die Flüchtlinge haben wollte.
Genau deshalb ist ja Atlantis gegründet
worden, eben mit der Aufgabe, diese
Flüchtlingsströme nicht nur aufzunehmen,
sondern aus jedem Einzelnen etwas zu
machen, aus jedem Einzelnen ein
wertvolles Mitglied für die Gesellschaft der
gesamten Welt zu machen. Und, denken
Sie bitte nicht zuletzt an den damals
vorherrschenden Terrorismus durch die

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vielen Terrorgruppen weltweit, die sogar
von einzelnen Staaten, auch in Afrika,
unterstützt wurden. Die Leute, die in
Atlantis ihr Heil und ihr Wohl gefunden
haben, haben keinen Grund mehr, mit
Gewalt gegen irgendwas oder irgendwen
vorzugehen. Und jetzt wollen Sie diese
Entwicklung wieder umkehren?“
Der EU-Außenminister schob seinen Kaffee
von sich weg und war sichtlich verärgert.
„Sie wissen, dass ich in zwei Funktionen
vor Ihnen sitze. Meine erste Priorität ist die
EU und meine zweite Priorität ist der
Aufsichtsratsvorsitz von Atlantis. In
meiner ersten Priorität muss ich Ihnen
sagen: Es gibt definitiv keine Mittel mehr
von der EU, weil diese von Ihnen
geschilderte Situation nicht mehr existiert.
Ich gebe sogar zu, weil Atlantis uns dieses
Problem abgenommen hat. Aber die Welt
dreht sich eben weiter und die EU-Mittel
sind knapp. In meiner zweiten Priorität bin
ich ja bei Ihnen. Aber wenn Sie Ihren
Posten behalten wollen, akzeptieren Sie,
dass ab jetzt das Einwanderungslager
komplett von Atlantis getragen wird und
damit hat sich’s.“ Der Minister stützte sich
auf die Ellenbogen und sah dem Sprecher
der Führungscrew direkt ins Gesicht. Der
wich zurück und lehnte sich in seinen
Stuhl. Vermeintlich unterwarf er sich und
schwieg eine Minute. Dann kämpfte er sich
wieder bis zu seinem Kaffee vor, trank
einen Schluck, setzte die Tasse hörbar ab

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und sagte: „Gut, dann gibts halt keine
Mittel mehr für das Einwanderungslager.“
„Sehr schön, dass Sie das akzeptieren, dann
können wir ja zu Punkt zwei übergehen,
den Energiepreisen.“ Selbstsicher trank der
EU-Außenminister einen Schluck Kaffee, in
der Annahme, den Sprecher der
Führungscrew jetzt weichgekocht zu
haben. Dieser verhielt sich nach außen hin
völlig defensiv, er wusste genau, dass er
das höhere Ass in der Hand hatte.
„Kurz gesagt“, nahm der Minister das
Gespräch wieder auf, „stellen wir uns vor,
den Einkaufspreis pro Kilowattstunde um
zwei EURO-Cent zu senken.“ Der Sprecher
der Führungscrew lachte, ohne einen Ton
von sich zu geben und ohne eine Miene zu
verziehen. Die Nachbarstaaten um Atlantis
hatten dringend um eine höhere
Belieferung mit Strom gebeten und die
Übertragungskosten von Strom nach
Europa machten mehr als die Hälfte des
Strompreises aus.
„Gut“, sagte er dann mit eisiger Miene,
„dann können wir endlich den Strom den
Nachbarstaaten liefern und die
Lieferungen in die EU entsprechend
reduzieren.“ Der EU-Außenminister bekam
einen roten Kopf. „Sie sind am längsten
Sprecher der Führungscrew gewesen! Das
garantiere ich Ihnen!“, stieß er mit
gefährlich leisem Ton hervor. Der Sprecher
der Führungscrew war sich seiner Sache
sicher, denn die anderen

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Aufsichtsratsmitglieder waren finanzstarke
Investoren, die seinen Weg bedingungslos
unterstützten. „Sie wissen, Sie haben eine
Lieferverpflichtung“, fuhr der EU-
Außenminister fort, „und die werden Sie
einhalten!“
„Und Sie kennen die
Marktpreisentwicklung, ab sofort kostet
jede Kilowattstunde zwei Cent mehr.“
Der Minister stand mit einer
Geschwindigkeit auf, dass sein Stuhl nach
hinten umfiel. Er stützte sich auf die Hände
und schrie seinem Gegenüber von oben
herab ins Gesicht: „Was glauben Sie, wer
Sie sind und mit wem Sie es zu tun haben!“
Einige der Sicherheitsleute kamen jetzt
näher, griffen aber nicht ein. „Wenn es die
EU nicht gäbe, dann gäbe es Atlantis nicht!
Und außerdem sind wir Ihr Hauptkunde
und Ihr zuverlässigster Zahler! Also,
überlegen Sie sich gut, was Sie sagen und
tun!“ Der Sprecher der Führungscrew
stand jetzt ebenfalls auf, machte aber eine
beruhigende Geste. „Ist ja richtig, Sie haben
ja recht, Sie sind unser Triple-A-/Key-
Account-Kunde und wir können ja noch
verhandeln. Wenn Sie jetzt zustimmen,
erhalten Sie einen geringeren Zuschlag als
alle anderen Kunden, wir werden den Preis
für die Kilowattstunde für die EU nur um
1,8 Cent anheben, während alle anderen
Kunden 2,5 Cent mehr bezahlen müssen.“
Der EU-Außenminister hob seinen Stuhl
auf, setzte sich wieder und schüttelte

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wütend, schweigend und fassungslos den
Kopf. Dann versuchte er es mit der
kumpelhaften Methode: „Sie können sich
denken, dass ich hierhergeschickt worden
bin, um die Vorgaben des EU-Parlaments
umzusetzen, und ich muss für meinen
persönlichen politischen Erfolg die
Umsetzung der Vorgaben vermelden
können. Und Sie schicken mich jetzt zurück
mit dem Gegenteil dessen, was ich
durchzusetzen hatte?“
„Sie haben doch Erfolg auf der ganzen
Linie“, half ihm der Sprecher der
Führungscrew, der sich ebenfalls wieder
gesetzt hatte. „Sie haben den Stopp der
Mittel für das Einwanderungslager
durchgesetzt und Sie bekommen
bevorzugte Energiepreise!“ Der Minister
hatte sich etwas beruhigt und rieb sich
nachdenklich das Kinn. „Wie soll ich das
denn dem Parlament klarmachen?“, fragte
er jetzt leiser.
„Genau so, wie ich es Ihnen dargestellt
habe: erstens, Stopp der Mittel für das
Einwanderungslager, zweitens, bevorzugte
Energiepreise im Vergleich zu allen
anderen Abnehmern. Dass dabei die
Weltmarktpreise zufällig gleichzeitig
angezogen haben, dafür können Sie nichts
und das kann auch niemand direkt
beeinflussen. Und denken Sie dabei nicht
zuletzt daran, dass Ihre Kollegen im
Aufsichtsrat dann an Ihrer Seite stehen!“
Der EU-Außenminister trank seinen Kaffee

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aus und schwenkte seinen Stuhl zum
Fenster hin. Man konnte die Lichter der
Schiffe auf dem Süd-West-See erkennen.

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Ein Tag Ruhe

Der Sprecher der Führungscrew saß mit


seiner Frau in einem Ausflugsboot auf dem
Südwest-See. Das Boot fuhr die ganze
Küste ab und legte alle paar Kilometer an
den zentralen Tourismusorten an. Jeder
Fahrgast konnte eine komplette
Seerundfahrt machen, egal, wo er einstieg,
weil die Schiffe mehrmals täglich den See
umrundeten.
Seine Sicherheitsleute hatte er angewiesen,
am Parkplatz an der Nordküste des Sees zu
warten. Sie hatten heftig mit ihm diskutiert,
weil sie der Ansicht waren, dass mindes-
tens zwei der Sicherheitsleute mitfahren
müssten, aber der Sprecher der
Führungscrew wollte das nicht. Er
vertraute wie immer seinen Mitmenschen
und würde im Notfall seine Frau selbst
beschützen und das sogar ohne
mitgeführte Waffe.
Sie saßen auf einer Bank an der Seite des
Bootes, es ging ein leichter Wind von Osten
her, der aber vom See so abgekühlt wurde,
dass seine Frau sogar leicht fröstelte.
Der Kapitän machte Witze, spann
Seemannsgarn über die schiffseigene
Lautsprecheranlage und der Sprecher der
Führungscrew grinste gut gelaunt dazu.
„Hast du das gerade gesehen?“, rief seine
Frau.
„Was denn?“
„Da ist ein großer Fisch direkt neben dem

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Boot hergeschwommen!“
Ihr Mann sah über die Reling ins Wasser.
„Nein, der muss jetzt auf der anderen Seite
des Bootes sein!“
„Wie groß war er denn?“
„Vielleicht so groß wie ein Delfin?“, rief sie
immer noch euphorisch.
„Dann sollten wir vielleicht angeln gehen“,
erwiderte er ironisch.
„Du willst mich mal wieder verkohlen!“,
Ihre Stimme klang beleidigt.
„Nein, mein Schatz, ich glaube dir!“ Er
legte den rechten Arm um sie und sie
lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
„Gehts dir gut so weit?“ Er zeigte auf ihren
Bauch.
Sie fühlte kurz in sich hinein, dann nickte
sie, während sie sich weiter an seiner
Schulter anlehnte und die Küste
betrachtete: „Das möchte ich malen!“
„Was?“
„Dieses Ufer.“
„Ja, schön, nicht?“ Der Sprecher der
Führungscrew ließ eine Pause verstreichen.
„Sollen wir da vorn aussteigen und uns
eine Stunde an den Strand setzen?“
Sie reagierte zunächst nicht. Dann hob sie
den Kopf und sah nach vorn zu dem Steg
mit dem daneben liegenden Strand. „Ja, da
gefällts mir.“
Ihr Mann stand auf und ging an die Reling.
Er stützte sich darauf und starrte in das
erstaunlich klare Wasser. Nicht nur die
Temperatur des Wassers wurde

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kontrolliert, der See wurde wie ein riesiges
Aquarium reguliert und der Sauerstoff-
sowie der pH-Wert geregelt. Das größte
Problem war der ständige Sandeintrag. Mit
einem intelligenten Baggerschiff wurde die
Geometrie des Sees ständig überwacht,
gegebenenfalls wurde Material abgetragen.
Den Feinsand filterte man mit großen
Filteranlagen, die mehrfach um den See
verteilt waren, aus.
Er nahm deshalb mit Zufriedenheit wahr,
dass offensichtlich alles funktionierte, und
setzte sich wieder zu seiner Frau.
„Das Schiff legt gleich an, komm, wir
packen schon mal unsere Sachen
zusammen.“
Sie griff zu ihrer Tasche und zog sich ihre
leichte Jacke über. Noch war es relativ
kühl, aber mit jeder Minute spürte man die
Kraft der Sonne mehr und mehr.
Der Sprecher der Führungscrew hatte
geplant, dass sie spätestens zur Mittagszeit
wieder zurück waren, um sich nicht der
harten Mittagssonne auszusetzen.
Sie standen auf und gingen zum achtern
liegenden Ausgang des Bootes. Das Boot
legte an. Er hielt seine Frau fest, um einen
eventuellen Stoß beim Anlegen des Bootes
abfangen zu können. Dann gingen sie den
Steg hinunter. Sie winkten dem Kapitän
zum Abschied noch kurz zu und der
verabschiedete sie mit einem „bis gleich“
übers Mikrofon. Er schien nicht zu wissen,
mit wem er es zu tun hatte,

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beziehungsweise, wenn er es wusste,
ignorierte er es.
Der Sprecher der Führungscrew legte den
Arm um die Taille seiner Frau und
geleitete sie in Richtung des Sandstrandes.
Sie legte den Arm auch um ihn. So gingen
sie vom Steg weg auf den Strand und
ließen sich auf einer Bank nieder. Es waren
nur wenige Menschen da. Ein paar Kinder
ausländischer Touristen planschten schon
lautstark im Wasser. In Erwartung seines
eigenen Kindes nahm der Sprecher der
Führungscrew das gelassen hin, seine Frau
schien seine Gedanken erraten zu haben,
denn sie sinnierte: „Wie wird unser Kind
einmal sein?“ Sie lehnte den Kopf wieder
an ihn und schwelgte in ihren Gedanken.
„Wie, unser Kind, weißt du noch nicht, ob
es eine Tochter oder ein Sohn wird?“
Sie kicherte nur kurz und meinte: „Das
kann man jetzt doch noch nicht sagen. Und
außerdem sagst du doch selbst immer, es
kommt, wie es kommt.“
Er lächelte und drückte sie noch stärker an
sich.
„Au!“, rief sie vorwurfsvoll und er ließ
wieder nach, behielt aber den Arm um sie
gelegt und sie lehnte sich wieder an seine
Schulter zurück.
„Sollen wir schwimmen gehen?“, schlug er
vor.
„Lass uns doch erst ein Stück in der Sonne
am Strand entlanggehen.“
Eine Weile blieben sie noch sitzen, erst als

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sie aufstand, fragte er: „Gehen wir?“
„Ja!“
Er erhob sich ebenfalls.
Die beiden schlenderten am Strand
entlang, weg vom Steg. Sie zog ihre Schuhe
und Strümpfe aus und watete durchs
Wasser, bis es ihr bis an die Waden reichte.
Mehrfach blieben sie stehen und blickten
wortlos auf den See hinaus, wo sich immer
noch Fischerboote tummelten und ihre
Reusen einholten.
Mehr und mehr kamen ihnen Leute
entgegen, Urlauber, Jogger,
zurückkehrende Angler. Nach einigen
Hundert Metern blieb er stehen. „Wollen
wir uns mal eine Zeit lang hinsetzen und
die Sonne genießen?“
Sie nickte: „Wo, hier?“
„Ja, hier ist es doch schön!“
Sie holte ihre Strandmatte heraus, legte ein
Handtuch darüber und zog sich bis auf den
Bikini aus. Dann ließ sie sich am Seeufer
nieder, sodass ihre Beine noch ins Wasser
reichten. Es gab nur kleine, schwache
Wellen, die der leichte Wind vor sich
hertrieb.
„Denkst du wieder an Politik?“, unterbrach
sie das Schweigen.
„Diesmal nicht.“
„Woran dann?“
„Ich denke an unser Kind.“
„Du kannst es nicht erwarten, stimmts?“
„Stimmt!“ Er hielt ihre Hand.
Nach einer Weile sagte sie zu ihm: „Ich

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habe Angst.“
Er drehte den Kopf zu ihr hin. „Angst?
Wovor?“
„Ich habe noch nie ein Kind bekommen.“
Er drückte sie wieder fester an sich,
diesmal ließ sie es geschehen, und
streichelte ihr über das Haar.
Beide sahen genießend auf den See hinaus.
Er legte sich flacher hin, um ein bisschen
mehr Sonne tanken zu können. Wenn er
könnte, überlegte er, würde er ihr aus
purer Dankbarkeit über welche Wege auch
immer Geld zukommen lassen, nur seine
strikte Haltung gegen Korruption ließ ihn
diesen Gedanken sofort wieder vergessen.
Denn das Geschäft lief sehr gut, trotz des
mehr und mehr aufkommenden
Wettbewerbs, und er war eigentlich der
Ansicht, dass sie und er mehr davon
verdient hätten.

Auch in Amerika, in der Wüste von


Arizona, baute man zurzeit eine ähnlich
große Anlage auf. Aber das tangierte ihn
nicht, weil die Übertragungskosten von
Strom aus Atlantis nach Amerika trotz des
momentan noch erzielbaren hohen Preises
unwirtschaftlich hoch waren.
„Und du denkst doch an Politik!“, stupste
sie ihn vorwurfsvoll.
„Hast recht“, er wandte ihr den Kopf
wieder zu. „Möchtest du schwimmen
gehen?“
„Darf ich das denn?“

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„Weiß nicht, wieso denn nicht?“
„Vielleicht hole ich mir irgendeine
Infektion?“
„Das glaube ich nicht, du hast doch dein
Leben in den letzten zwei Monaten auch
nicht eingeschränkt.“
Sie überlegte. „Stimmt, dann lass uns
reingehen.“ Sie stand demonstrativ auf.
Der Sprecher der Führungscrew sah sich
um, welche Leute in der Nähe waren. Dann
beschloss er, dass er von den Anwesenden
nichts zu befürchten hatte, denn die waren
weit weg und schienen sich nur um sich
selbst zu kümmern. So stand auch er auf.
Langsam gingen sie ins Wasser. Es war
angenehm kühl. Er blieb jedoch aufmerk-
sam und beobachtete immer wieder, ob
sich ihnen oder ihren Sachen jemand
näherte.
„Jetzt entspann dich doch auch mal“,
meinte sie und ging noch tiefer ins Wasser.
Sie stand nun bereits bis zum Bauch darin.
„Na gut!“ Er sprang vollends ins Wasser
und sie kreischte kurz auf, weil sie von
dem wegspritzenden Wasser auf ihrer noch
heißen Haut getroffen wurde. Sie kühlte
sich ab, indem sie sich überall mit Wasser
benetzte. Dann tauchte auch sie ganz ins
Wasser hinein. Ihr Mann hatte schon die
ersten Schwimmzüge gemacht, behielt aber
einen kurzen Abstand zu ihr.
„Komm, wir schwimmen ein Stück“, rief er
ihr zu. Sie machte einige
Schwimmbewegungen in Richtung See-

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mitte, dann drehte sie aber sofort wieder
um, bis sie wieder festen Boden unter den
Füßen hatte.
„Ich geh wieder raus.“
„Schon?“, fragte er, folgte ihr aber.
Sie legten sich am Strand auf die Matten
und ließen die Sonne ihre Haut trocknen.
„Da vorn kommt schon das nächste Schiff,
sollen wir das nehmen?“, wollte er wissen.
„Ich möchte aber noch den nassen Bikini
wechseln.“
„Dann geh unter die Decke, es beobachtet
uns zwar keiner, aber ich möchte nicht
erpresst werden.“
„Du denkst immer nur an deine Politik“,
beschwerte sie sich jetzt ernsthaft
vorwurfsvoll.
„Schatz, es ist doch nur zu deiner eigenen
Sicherheit.“
Sie zog sich widerspruchslos unter der
Decke um, dann packten sie ihre Sachen
wieder in die Taschen und gingen zurück
zum Steg. Der Sprecher der Führungscrew
meinte, aus den Augenwinkeln einen
Sicherheitsmann erkannt zu haben, der an
einem Boot am Strand lehnte. Das nahm er
respektierend zur Kenntnis.
Sie beendeten die Rundfahrt und waren
pünktlich zum Höchststand der Sonne
wieder zu Hause.

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