Public History: Entwicklung und Positionierung – Zitate und Literatur zur ersten
Einheit
Das Problem der Öffentlichkeit als historische Skizze und Gegenwartsproblem
- Gegen den Vorstand des „patriarchalischen Haushaltes“ und insbesondere gegen den Monarchen des „allerhöchsten Hauses“ sowie die sich allmählich herausbildende Staatsadministration begehren soziale Schichte und Milieus auf, die nach Mit- und Eigenbestimmung verlangen und dabei die aus der Sicht der bisherigen Autoritäten „eingebetteten Sphären“ der „Wirtschaft und Gesellschaft befreien“. - Das Gegensatzpaar „privat“ und „öffentlich“, „private“ und „public“, nahm laut Richard Sennet ab dem 17. Jahrhundert den heute üblichen Sinn an. Ersteres verwies solcherart auf einen abgeschirmten Lebensbereich, speziell durch die Gegenwart von Freunden und Familie gekennzeichnet, während Zweiteres vor allem auch bedeutete, dass es neben dem Gemeinwohl einer Gesellschaft um alles das ging, was „dem prüfenden Blick von jedermann zugänglich“ ist. Diese nicht zuletzt mit der Ausbildung einer Stadtöffentlichkeit verbundene Entwicklung bezeichnet „daher nicht nur einen Gesellschaftssektor neben dem Feld der Familie und der engen Freundschaften, es besagte vielmehr auch, daß dieser aus Bekannten und Fremden gebildete öffentliche Bereich eine relativ große Vielfalt an Menschen umschloß.“ [Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. 14. Aufl. Frankfurt am Main 2004, 31f.] - Im Modernisierungsprozess veränderten sich die Beziehungen zwischen den sozialen Sphären. Sennett dazu: „Auch heute ist das öffentliche Leben zu einer Pflicht- und Formsache geworden. Ihren Umgang mit dem Staat betreiben die meisten Bürger im Geiste ergebener Zurückhaltung, aber die Entkräftung der öffentlichen Sphäre geht weit über das eigentlich Politische hinaus. […] Sich selbst kennenzulernen ist zu einem Zweck geworden, ist nicht länger ein Mittel, die Welt kennenzulernen.“ Inmitten „von Selbstversunkenheit“ kann „keiner mehr sagen, was `innen` ist. Das hat zu einer Verwirrung zwischen dem öffentlichen und dem intimen Leben geführt; auf der Basis von Gefühlsregungen betreiben die Menschen öffentliche Angelegenheiten, mit denen angemessen nur auf der Grundlage von nichtpersonalen Bedeutungen umgegangen werden kann. […] Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde.“ [Sennett, 15-19] - Richard Sennett ist auch nach dem Erscheinen seiner diesbezüglichen Analysen während der 1970er und 1980er Jahre in aller Munde. In elektronischen ebenso wie in Print-Medien wird an ihn erinnert, wenn das Privatleben von Politikern im Übermaß thematisiert und zum elementaren Bestandteil von Wahlkampf-, Machtergreifungs- und -erhaltungs-Strategien wird. Internet-Services, die auf der freiwilligen Preisgabe privater Informationen beruhen, weisen Sennett als geradezu hellseherischen Gelehrten aus. Lange vor der „digitalen Revolution“ schien er die Zukunft vorauszusehen. Unter Verweis auf seine Arbeiten, hieß es dazu in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Es gab Zeiten, in denen Menschen ihre Privatsphären sehr bedeckt hielten. Heute wird sie hinausgeschrien“. Angesichts der verbreiteten Angst vor dem „totalen Überwachungsstaat“ erscheint solcherart die „Angst vor dem totalen Offenbarungstrieb“ mindestens ebenso berechtigt. [Schmid, Wilhelm: Tyrannei der Intimität. In: Neue Zürcher Zeitung v. 7.5.2006]
Habermas und Co.
- Die Konzentration auf tiefgreifende Veränderungen der „public spheres“ ist eng mit den Studien von Jürgen Habermas und Hannah Arendt verbunden. Gerade Letztere hat den Horizont erweitert und das Verständnis von „Öffentlichkeit“ am Beispiel der antiken griechischen Polis abgehandelt. Hier stand der Debatte aller wichtigen politischen Themen vor Publikum die Welt des Privaten gegenüber, das „Leben hinter der Haustür“, der „Haushalt und das Familienleben“. Eine klare Grenze scheint beide Sphären zu trennen, anders als in der „modernen Gesellschaft“. Arendt hebt die Anonymität der Großstadt einerseits und - Sennett nicht unähnlich - ein „Heraustragen von Privatem in den gemeinschaftlichen Raum“ der „Massengesellschaft“ andererseits hervor. [Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik. München 1993] - Ein genauerer Blick auf die Antike zwingt jedoch zu vorsichtigeren Einschätzungen. Speziell die hellenische Poleiswelt ist zu heterogen, um als einheitliches Muster zu bestehen. Die Mitsprache bleibt zudem auf männliche Vollbürger und einen überschaubaren Zuständigkeitsbereich beschränkt. [Vorländer, Hans: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien. 2. Aufl. München 2010, 21 und 34f.] - Die strikte Unterscheidung von privatem oikos und öffentlicher polis gibt es nach der Antike nicht, meint Habermas. Die „Wiedergeburt“ dieser Trennung in der Renaissance ereignet sich vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen Monarchie und privater Autonomie des Beherrschten. Die „bürgerliche Öffentlichkeit“ bildet sich, basierend auf Privateigentum, freien Warenverkehr, neue Kommunikationsforen und veränderter Medienrealität, letztlich idealerweise auf herrschaftsfreien Dialogen aus der Grundlage der Gleichheit und des „besseren Argumentes“. - Dieses Konzept zerbricht vielfach an der sozialen Wirklichkeit. Zudem vermische der Industrie- und Sozialstaat Privates und Öffentliches, die Arbeitswelt nehme eine Zwischenposition ein, die bürgerliche Familie verliere an Bedeutung, Kultur-, Medien- und Freizeitangebot erzeugten Scheinöffentlichkeiten, eine bloße Inszenierung bringe mit Hilfe der Public Relations eine „Refeudalisierung“, eine „Rückkehr der monarchischen Repräsentation“ mit sich. [Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuauflage Frankfurt am Main 1991] Allerdings geht es für Habermas keineswegs um die Rücknahme industrieller und vor allem sozialstaatlicher Entwicklungen, sondern um deren konsequente Umsetzung. Menschen- bzw. Bürgerrechte, soziale Teilhabe und politische Partizipation generierten dadurch erst umfassend „Öffentlichkeit“. - Weiters unterscheidet Habermas zwischen einer medial inszenierten, auf das politische Zentrum ausgerichteten „vermachteten Öffentlichkeit“ und einer „autochthonen“ beziehungsweise „nicht-vermachteten Öffentlichkeit“ der Zivilgesellschaft. Hilfreich scheint zudem sein Hinweis auf weitere Öffentlichkeitstypen, etwa die „episodische Straßen- und Kneipenöffentlichkeit“, die „veranstaltete Präsenzöffentlichkeit von Theateraufführungen oder Parteiversammlungen“, die „abstrakte Medienöffentlichkeit“ oder die „innere Öffentlichkeit“, die nicht auf die ganze Gesellschaft, sondern auf ihre einzelnen Teile – Milieus, Schichten, Organisationen, Institutionen, etc. – bezogen sind. - Wichtig ist es, abschließend hervorzuheben: Die Existenz von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen stellt eine historische Konstante dar, sie ist aber mit unterschiedlichen Zwecken verbunden. Es geht daher um den Struktur- und Funktionswandel von Öffentlichkeiten, etwa um Partizipationsmöglichkeiten einerseits und (Herrschafts-)Inszenierungen andererseits. [Vgl. Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins. München 2010; Arendes, Cord: What Do We Mean by „Public“, in: Public History Weekly, September 12 2019] - Darüber hinaus spielt die Frage der Medialisierung eine entscheidende Rolle. „Public History“ befasst sich deshalb etwa aktuell mit der Wirkung von Videospielen auf das gegenwärtige Gesellschafts- und Geschichtsverständnis, mit digitalen Lernformen und insbesondere „distance learning“ vor dem Hintergrund der “Corona-Pandemie“, mit dem Stellenwert des „klassischen Geschichts(schul)buchs“ und dem Einfluss historischer Filmdokumentationen. [Wojdon, Joanna: Public Historians and their Professional Identity, in: Public History Weekly April 2 2020; Demantowsky, Marko/Lauer, Gerhard: Teaching between Pre- and Post-Corona. An Essay, in: Public History Weekly April 30 2020; Kühberger, Christoph: History Textbooks – what and whom are they for? in: Public History Weekly, July 12 2018; Hanke, Barbara: Last Exit Present? “Waldheim´s Waltz”, in: Public History Weekly, February 7 2019; Walach, Thomas: Historical Identity and Migration, in: Public History Weekly, January 31 2019] - Außerdem tendiert auch „Public History“ zu einer Neubewertung des Begriffs der „Masse“ beziehungsweise der „Massen“. Die bislang negativen Konnotationen treten dabei vor allem dort in den Hintergrund, wo „Menschen mit Wahlrecht, mit einer freien Medienlandschaft, einer wachen Öffentlichkeit, mit Zugang zum Internet und zu sozialen Netzwerken ausgestattet sind“. [Gebauer, Gunter/Rücker, Sven: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. München 2019, 21] - Zugleich wirkt die „neue Öffentlichkeit“ aber fragmentiert. Das führt zur Vorselektion und „Verengung der Meinungsbildung“, zur „Abschottung des Interesses“, zu „Informationsblasen“ und „Echokammern“. Die damit verbundene „Fragmentierung der Öffentlichkeit“ verweist andererseits auf Langzeitperspektiven und wirft neue Fragen auf: Gab es denn jemals die eine Öffentlichkeit? Bringen neue Medien qualitative Veränderungen der sozialen Bindungen bzw. Strukturen mit sich? Und wenn ja, wodurch und woran werden die Transformationen erkennbar?