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Interview

Ulrike Guérot: „Ja,


ich möchte mit
Christian Drosten
über Freiheit
diskutieren“

Foto: WOZ/Judith Affolter


Ist der Lockdown
Ulrike Guérot
übertrieben? Sind die
Kollateralschäden zu groß?
Die Politikwissenschaftlerin
Ulrike Guérot sagt: Sicherheit
dürfe nicht über Freiheit
stehen.

Tomasz Kurianowicz, 21.2.2021 - 06:30 Uhr

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Berlin - Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin


und gilt als linke Verfechterin der europäischen
Idee. In der Vergangenheit hat sie sich für eine Konto
europäische Verfassung starkgemacht. Seit
Ausbruch der Pandemie
Politik & Gesellschaft plädiert
Mensch & Metropole sie für
Wirtschaft & eine
Verantwortung Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen

Wahrung der Grundrechte und eine nuancierte,


sozial verträgliche Bekämpfung des
Infektionsgeschehens, die die Kollateralschäden
eines langen Lockdowns in den Blick nimmt. Wir
erreichen Ulrike Guérot per Telefon.

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Interview

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Datenschutz?

Frau Guérot, momentan gibt es mehrere


Vorschläge, wie man die Covid-19-Krise
bewältigen könnte. Langsam beginnt die
Diskussion darüber, inwiefern man den
Infektionsschutz und den Schutz der Grundrechte
in Einklang bringen kann. Wäre eine
Volksbefragung richtig?

Prinzipiell bin ich für Volksbefragungen, aber


zurzeit empfände ich so eine Entscheidung als
symbolpolitisches Ablenkungsmanöver. Ich
stimme zu, dass wir eine Zäsur im Diskurs
erleben. Wir wollen langsam andere Argumente
hören als virologische. Wir wollen eine
gesamtgesellschaftliche Bestandsaufnahme, was
in der Krise passiert. Ich mahne schon seit
mindestens einem Jahr an, dass man die gesamte
Gesellschaft im Blick behalten muss.
Konto
Wie müsste man die Diskussion umsteuern?
Politik & Gesellschaft Mensch & Metropole Wirtschaft & Verantwortung Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen

Ich habe momentan viel mit der Presse zu tun. Es


ist nicht meine Rolle, den Finger zu erheben. Aber
man kann inzwischen objektiviert sagen, dass sich
die Leitmedien, zumindest zu Beginn der Krise,
verlaufen haben. Kritische Argumente wurden
aussortiert. Es war eine sehr homogene und
geschlossene Meinungsdecke. Wenn man diese
Decke durchbrechen könnte, dann hätten wir eine
indirekte Volksbefragung ohne großen Aufwand.

Was kritisieren Sie genau?

Die kritischen Argumente sind während der


Pandemie in eine Art Gegenö entlichkeit
abgewandert. Dabei sollten wir verstehen, dass die
Grundlage der Demokratie immer auf der
Überzeugung basiert, dass der argumentative
Gegner grundsätzlich recht haben kann. Aus dem
richtigen Mund kann das Falsche kommen und
aus dem falschen das Richtige. Trump ist als
Person beanstandenswert, aber trotzdem kann er
manchmal das Richtige sagen. Nur weil es von
Trump kommt, muss es nicht automatisch
Blödsinn sein. Und das Gleiche würde ich für die
„Querdenker“ ins Feld führen. Die Grundlage der
Demokratie ist die Trennung von Sprecher und
Argument. Und das haben wir in dieser Krise
übersehen, weil wir das andere Argument nicht
diskutieren wollten. Stattdessen haben wir die
Gegenö entlichkeit als „Querdenker“
diskreditiert.

Interview
Heribert Prantl: „Ich ho e, dass die
Gesellschaft aufwacht“

Konto
Wenn Sie in die Ö entlichkeit treten und Kritik
üben an der Bundesregierung, bekommen Sie
Politik & Gesellschaft Mensch & Metropole Wirtschaft & Verantwortung Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen
sofort aufgebrachte Reaktionen zu spüren?
Es gibt immer ein Faktum und verschiedene
Perspektiven auf das Faktum. Ich teile das Faktum
Corona. Ich teile aber nicht unbedingt die
Einschätzung der Gravität der Krise. Und ich teile
damit nicht die absolut gesetzten Maßnahmen,
die aus dieser Einschätzung entspringen. Wenn
ich mich kritisch äußere und die Corona-
Schutzmaßnahmen in ihrer
gesamtgesellschaftlichen Härte kritisch
beleuchte, dann spüre ich harten Gegenwind.
Auch im Bekanntenkreis.

Ulrike Guérot
Prof. Dr. Ulrike Guérot ist
Leiterin des Departments
für Europapolitik und
Demokratieforschung an
WOZ/Judith Affolter der Donau-Universität
Krems und Gründerin des
European Democracy
Labs in Berlin. 

Was ist denn Ihre Position?

Ich bin überhaupt keine Covid-19-Leugnerin. In


meinem Bekanntenkreis gab es viele Covid-19-
Fälle. Die Argumente, die ich mache, sind
folgende: Eine Regierung muss alle Bürgerinnen
und Bürger im Blick haben. Man kann nicht über
ein Jahr hinweg, geschweige denn länger, nur über
das Infektionsgeschehen diskutieren und vor
allem an drei Prozent der Bevölkerung denken, Konto
also an diejenigen, die potenziell mit schweren
Fällen in Krankenhäusern
Mensch & Metropolelanden.
Politik & Gesellschaft 97 Verantwortung
Wirtschaft & Prozent Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen

nehmen sie dadurch in Geiselhaft. Mein Argument


ist, dass der Staat diese Arbitrage nicht leisten
kann. Ja, der Staat muss alles tun, um ein
Infektionsgeschehen zu bekämpfen, unter der
Prämisse des Menschenmöglichen. Aber er darf
dies nicht um jeden Preis tun.

Jeder Tote ist zu viel. Sehen Sie das nicht so?

Doch. Aber wir dürfen die Entgrenzung des


Maßnahmenstaates trotzdem nicht undiskutiert
lassen. Sie können einer Gesellschaft alles
zumuten, um das Infektionsgeschehen
herunterzukriegen. Ich kann Einschränkungen
tolerieren, das ist nicht mein Problem. Aber ich
finde es falsch, wenn man einige Bürger schädigt,
um andere Bürger zu retten. Diese Grenze ist
längst überschritten. Wir wissen ja datenbasiert,
dass wir weite Teile der Bevölkerung – die Kinder,
die Frauen, die Obdachlosen – mit den
Maßnahmen de facto schädigen. Und jemanden zu
schädigen, ist etwas anderes, als jemanden
einzuschränken. Maskentragen im ö entlichen
Raum? Okay. Auf Kino verzichten? Meinetwegen.
Aber Existenzen zu vernichten, Kinder zu
gefährden, da steht die Menschenwürde infrage.
Deshalb wird die Corona-Politik auch
verfassungsrechtlich grenzwertig.

Die Gesellschaft steht vor einer unlösbaren


Aufgabe. Corona ist wie russisches Roulette.
Neunmal drückt man ab und es geht irgendwie
gut. Beim zehnten Mal definitiv nicht. Wie geht
man mit einem solchen Risiko um?

Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich möchte Konto


nicht Politikerin sein und darüber entscheiden.
Meine Rolle ist Mensch &
Politik & Gesellschaft die politikwissenschaftliche
Metropole Wirtschaft & Verantwortung Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen

Analyse und die ist ganz klar: Ein großer Teil der
Gesellschaft wird für den Schutz eines kleineren
Teils in Gefahr gebracht. Ich habe gerade einen
Obdachlosen auf meinem Sofa. Der ist aus seiner
Wohnung geflogen, obwohl es laut Berliner Senat
nicht hätte passieren dürfen. Der Mann auf dem
Sofa hat Schulden. Was erzähle ich dem, wenn
Herr Lauterbach sagt, dass Covid-19
Langzeitfolgen verursacht? Ich weiß es nicht. Ich
will das eine gegen das andere nicht ausspielen.
Ich will einfach nur, dass die anderen Schäden
ebenso berücksichtigt werden.

Interview mit Peter Sloterdijk


„Im Ausnahmezustand streift der
Staat seine Samthandschuhe ab“

Ihre Einwände provozieren Protest. Ist Ihnen das


bewusst?

Klar, ich kenne die Risiken. Jetzt heißt es: „Die


Frau Guérot ist jetzt ‚rechts‘ geworden.“ Oder
man sagt, ich sei zynisch. Aber das bin ich nicht.
Ich rücke nur die Menschenwürde ins Blickfeld.
Und die steht über allem. Der Staat könnte de facto
jedes Leben nur dann retten, wenn er strukturell
repressiv wird. Wir stellen Sicherheit über die
Freiheit. Das halte ich für problematisch.
Inzwischen macht fast jeder Bürger geltend, dass
er ein verabsolutiertes Sicherheitsbedürfnis
gegenüber dem Staat hat. Ich finde das in dieser
Absolutheit falsch und verteidige die freiheitliche
Gesellschaft.

Die Frage, die wir uns stellen müssten, ist simpel.


Die Antworten sind aber kompliziert. Fakt ist: Wir
Konto
haben einen kleineren Teil der Gesellschaft, der
bedroht ist von Corona. Die kritische Frage hierzu
Politik & Gesellschaft Mensch & Metropole Wirtschaft & Verantwortung Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen
lautet: Sind wir insgesamt als Gesellschaft dazu
bereit, uns in unserem Alltagsleben
einzuschränken? Und da gibt es unterschiedliche,
sehr komplizierte Antworten. Die ethische
Dimension wird derzeit als alternativlos
dargestellt. Dabei hat auch die Ethik, also etwa wie
wir mit Todesrisiken umgehen, eine historische
Dimension.

Richtig. Eigentlich ist es das Grundgeheimnis der


Demokratie, eine Güterabwägung durchzuführen.
Davon haben wir uns abgewandt. Wenn Trump
sich hinstellt und sagt: „Fürchtet euch nicht.“
Dann sage ich: Richtiger Satz aus dem falschen
Mund! Wenn Papst Franziskus das gesagt hätte,
hätte der Satz vielleicht Trost gespendet. Der
historische Franziskus hat Leprakranke umarmt.
Stattdessen erlauben wir nicht, Verwandte zu
bestatten. Bei Antigone war das ein großer Frevel.
Momentan lassen wir uns ausschließlich von der
Wissenschaft leiten.

Interview
Slavoj Zizek: „Die Pandemie ist nur
eine Probe für die wirkliche Krise“

Ich bin ein absoluter und bedingungsloser


Unterstützer des Lockdowns. Allerdings lebe ich in
einem Angestelltenverhältnis. All die Argumente,
die Sie nennen, erreichen mich. Mein Problem ist,
dass die Diskussion vor allem aus Beamten- und
Angestelltenperspektive geführt wird, von
Menschen, die unter dem Lockdown nicht so stark
leiden. Ich denke da an Kinder, sozial Schwache,
Arme. In der Subway in New York ist eine
Gewaltwelle ausgebrochen durch die Pandemie Konto
und den Verlust der Ö entlichkeit. Das bringt
mich zum Nachdenken.
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Ja. Oder nehmen wir Lateinamerika: Dort steigt


die Gewalt gegen Frauen, also die Femizide, rasant
an. Es gibt keine Polizei, keinen staatlichen
Einblick in die familiären Strukturen. Ich lobe mir
den Entwicklungsminister der CSU. Er traut sich
zu sagen, dass wir viele Leben außerhalb Europas
außer Acht lassen, um unsere eigenen Leben zu
retten. Wenn es schon darum geht, Leben zu
retten, dann darf der globale Maßstab nicht
fehlen.

Was denken Sie? Haben wir das Schlimmste der


Krise überstanden?

Ich bin nicht überzeugt, dass die Krise bald vorbei


ist. Wir müssen im Herbst mit einer
psychosozialen und wirtschaftlichen Krise
rechnen. Und ich garantiere Ihnen, dass die
Mittel, die wir jetzt für den Gesundheitsschutz
ausgeben, dann nicht mehr da sein werden. Die
Reichen haben ihr Geld längst im Ausland geparkt.
Okay, wir haben den gesundheitlichen
Darwinismus nicht zugelassen. Aber was heißt das
jetzt? Nehmen wir dafür jetzt einen sozialen
Darwinismus in Kauf? Ich sehe jetzt schon, wie
Christian Lindner zu den geschädigten
Unternehmern sagt: „Sorry, ihr seid einfach nicht
ideenreich durch die Krise gekommen. Selbst
schuld.“

Aktuell kursiert ein europäischer Plan der


Virologin Melanie Brinkmann, die Krise
paneuropäisch zu bewältigen. Er heißt der No-
Covid-Plan und es geht um die Idee, Europa in
Zonen aufzuteilen, um die Kontrolle über das Konto
Infektionsgeschehen wiederzugewinnen. Dann
dürfte man in stark
Politik & Gesellschaftinfektiöse
Mensch & Metropole Zonen Verantwortung
Wirtschaft & nicht mehr Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen

reisen. Wie finden Sie diese Idee?

Erlebnisse vor
Gericht – 
Anwältin: „Es ist
unglaublich, was
wir da erleben“

Frau Brinkmann ist Virologin und ich bin


Politikwissenschaftlerin. Wir schauen auf zwei
Gefäße. Aber es wäre wichtig, dass sich der Blick
mal kreuzt. Wenn es Corona-Cluster gibt, muss
unmittelbar gehandelt werden. Das ist mir völlig
klar. Aber die Einschränkungen, die Frau
Brinkmann vorschlägt, finde ich nicht in Ordnung.
Ich wäre für den schwedischen Weg, also für
Selbstverantwortung und Selbsttests, Filter und
Spucktests in den Schulen. Warum passiert das
alles nicht? Ich meine das wirklich nicht zynisch,
sondern lösungsorientiert. Vielleicht müssen wir
uns auch von der Idee verabschieden, dass eine
Gesellschaft eine mathematische Simulation ist
und wir alles im Gri haben. Es fehlt mir eine
gewisse Demut vor der Unverfügbarkeit des
Schicksals. Die verabsolutierte Annahme, dass wir
einen Krieg gegen das Virus bis zum letzten
Gefecht führen können, scheint mir nicht sinnvoll
zu sein.

Würden Sie mit Frau Brinkmann oder Herrn


Drosten Ihre Einwände diskutieren? Würden Sie
sich einer Debatte stellen? Die Berliner Zeitung
böte auch die Bühne.

Aber so was von! Ja! Nehmen Sie das bitte als Konto
letzten Satz: Ich würde mich sofort mit Herrn
Dorsten und Frau
Politik & Gesellschaft Brinkmann
Mensch & Metropole an einen
Wirtschaft & Tisch
Verantwortung Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen

setzen und diskutieren.

Das Gespräch führte Tomasz Kurianowicz.


Anm. d. Red.: Die Berliner Zeitung möchte
weiterhin die Debatte über den richtigen Weg aus
der Covid-19-Krise führen und Menschen aus
verschiedenen Disziplinen und Erfahrungswelten
zusammenbringen. Zuschriften
an: tomasz.kurianowicz@berlinerverlag.com

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19.02.2021
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Politik & Gesellschaft Mensch & Metropole Wirtschaft & Verantwortung Sport & Leidenschaft Kultur & Vergnügen
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19.02.2021
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