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Spannung

Ein Begriff fr Groß und Klein

Marco Brusotti

In Ecce homo schreibt Nietzsche, man kçnne an ihm „keinen Zug von
Spannung“ wahrnehmen, er habe berhaupt „keine Nerven“ und „kenne
keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel“; er sieht
darin ein „Anzeichen“ seiner Grçße (EH, KSA 6, 297). In anderen Texten
wiederum erscheint „der große Mensch“ gerade als „der Bogen mit der
großen Spannung“ (NF, KSA 11, 515); „die Vielfachheit der Elemente und
die Spannung der Gegenstze“ sind demnach „die Vorbedingung fr die
Grçße des Menschen“ (NF, KSA 12, 520). Gibt es also keine Grçße ohne
Spannung? Oder zeigt sich jene gerade in der Freiheit von dieser?
Die zitierten ußerungen mssen einander nicht unbedingt wider-
sprechen. Vielmehr geben sie Anlass, bei Nietzsche unterschiedliche Figuren
von Spannung zu unterscheiden. Nun ist das Begriffsfeld mit seinen vielen
Komposita (Spannkraft, Spannweite), Synonymen und Antonymen (Span-
nung, Entspannung und berspannung) eigentlich zu weit, um es in einem
Aufsatz zu kartographieren. „Spannung“ (altgr. t|mor, vgl. auch t\nir) ist ein
alter philosophischer Begriff,1 aber auch hier herrscht eine gewisse Poly-
phonie. In den Naturwissenschaften steht „Spannung“, abgesehen von
diachronischen Unterschieden, fr unterschiedliche physikalische Grçßen,
z. B. fr mechanische Spannung oder fr elektrische; es handelt sich um
streng umgrenzte Begriffe, aber eben um jeweils andere.2 Die Varietten
mechanischer Spannung (Schub-, Druck- oder Zugspannung) – an elasti-
schen Kçrpern (Saiten und Bogensehnen), bei Flssigkeiten (der Druck
aufgestauter Wassermassen) oder bei Gasen (das „Expansionsvermçgen“

1 Vgl. Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder
(Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff., Bd. 9,
Sp. 1284 – 1290.
2 Zum Spannungsbegriff in der Geschichte der Wissenschaften sowie zum Begriff
,Spannkraft vgl. Tobias Trappe, Spannung I, in: Joachim Ritter, Karlfried
Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart
1971 ff., Bd. 9, Sp. 1282 – 1284, hier: Sp. 1283.

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von Dmpfen) – aber auch elektrische Spannung (u. a. der Blitz als plçtzliche
Entladung einer elektrisch aufgeladenen Wolke) kçnnen abwechselnd, aber
auch einander berlagernd und durchkreuzend, Metaphern liefern, etwa fr
Psychophysisches beim Menschen. In der Physiologie des neunzehnten
Jahrhunderts wird „Nervenspannung“ als physische, messbare Grçße ver-
standen. Sie dient als Bild fr „psychische Spannung“, worunter wiederum
Heterogenes zu verstehen ist: „Stress“ natrlich, aber auch „gespannte“
Erwartung oder Aufmerksamkeit (z. B. in der sthetik). Die Vieldeutigkeit
und die unhintergehbare Metaphorik macht die Semantik von „Spannung“
ußerst unbersichtlich, nicht erst heute, nicht nur alltagssprachlich und
auch nicht ausschließlich bei Philosophen und Schriftstellern.
Um Ordnung in das Dickicht zu bringen, muss ich ußerst selektiv
verfahren, kann also keineswegs alle auffindbaren Stellen anfhren.3 Um
dem metaphorischen Aspekt des Begriffs gerecht zu werden, werden hier
drei Bilder erlutert, die zugleich kognitive Modelle fr die „Statik“ und
„Dynamik“ von Spannung darstellen: Bogen, Gewitter und Sprengstoff.
Dabei soll nicht nur die Bedeutung von „Spannung“ in Nietzsches
Philosophie deutlich werden, sondern auch die enge Verbindung zum Be-
griff der „Grçße“. Spannung spielt nmlich eine zentrale Rolle in der
Darstellung der Großen und ihrer Grçße; die Schwierigkeiten der Großen,
im Umgang mit den Kleinen die eigene Spannung zu bewahren, werden
wortreich beschrieben; und die Kleinen verraten sich je nachdem durch zu
viel oder zu wenig Spannung. „Der Mensch“ selbst kommt Nietzsche einmal
als „eine kleine berspannte Thierart“ vor (NF, KSA 13, 488).

Der Bogen des Lebens

„Denn zuletzt, lieber Herr,“ – schreibt Nietzsche 1881 an Ferdinand Laban –


sind wir Beide doch wohl Einer Meinung, ber diesen Einen Punkt: daß sich
auch jetzt noch der Bogen des Lebens so straff spannen lasse, daß die Sehne
der Begierde singt und pfeift? daß wir auch jetzt noch so stolz und darber-
hinsehend leben kçnnen, wie jener herrliche rçmische Kaiser, in dessen

3 So kçnnen hier eine Reihe von Themen nur kursorisch oder gar nicht behandelt
werden: Dazu gehçren die sthetik der Tragçdie und im allgemeinen die Zeit vor
Menschliches, Allzumenschliches, die Auffassung des Willens zur Macht als „dy-
namische Quanta, in einem Spannungsverhltniß zu allen anderen dynamischen
Quanten“ (NF, KSA 13, 259) oder die „Fhigkeit zum großen Stil“ als „Spann-
kraft“ des Willens, an der die „Grçße eines Musikers“ (NF, KSA 13, 502) zu
messen ist. Noch selektiver wird die Quellenlage dargestellt.

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Verehrung wir Beide einmthig sind (lesen Sie doch zum Beweise dafr
meine jngst erschienene ,Morgenrçthe […]). (An Ferdinand Laban, KGB
III/1, Bf. 130)

Jener „herrliche rçmische Kaiser“ ist der Stoiker Marc Aurel, und
„Spannung“ wird erst bei den Stoikern zu einem philosophischen Begriff.
Aber der „Bogen des Lebens“, von dem hier die Rede ist, ist der bos/bis
des Heraklit, und das Gleichnis des Bogens geht auf den locus classicus
zurck, auf den sich die antike Reflexion ber Spannung immer wieder
bezieht: Heraklits Fragment ber die „pak_mtomor "qlom_g djyspeq t|nou
ja· k}qgr“, d. h., ber die „rckgespannte Fgung wie die des Bogens und
der Leier“,4 die Nietzsche als spannungsvolle Harmonie widerstrebender
Gegenstze interpretiert. „Fr den contuitiven Gott […] luft alles Wi-
derstrebende in eine Harmonie zusammen, unsichtbar zwar fr das ge-
wçhnliche Menschenauge, doch dem verstndlich, der, wie Heraklit, dem
beschaulichen Gotte hnlich ist.“ (PHG, KSA 1, 830) Die Heraklit-Para-
phrase der Philosophie im tragischen Zeitalter verwendet das Wort
„Spannung“ nicht und nimmt auch Heraklits „apollinische“ Bilder, Bogen
und Leier, nicht auf. Aber dem Bogen als Hauptgleichnis fr Spannung
begegnet man bei Nietzsche immer wieder.
Mit diesem Topos preist Nietzsche den stoischen Kaiser und indirekt
sich selbst: Wer noch heute so „stolz und darber-hinsehend“ wie Marc
Aurel leben kann, spannt den Bogen seines Lebens und bringt die „Sehne
der Begierde“ zum Pfeifen und – wie die Saite einer Leier – sogar zum
Singen. Dass gerade ein Stoiker fr die weiter bestehende Mçglichkeit
zeugt, die „Sehne der Begierde“ zum ußersten zu spannen, klingt
merkwrdig: nicht wegen der Spannung, sondern wegen der „Begierde“.
Das Wort ist hier aber nicht ohne Absicht gewhlt. Es kommt schon in der
Stelle der Morgenrçthe vor, auf die Nietzsche Laban hinweist.5 Nietzsche
nimmt stoische Denkfiguren zwar immer wieder auf, interpretiert sie çfter
jedoch um und kehrt sie manchmal geradezu in ihr Gegenteil: So geht die
Spannung, zu der er sich in seinem Brief bekennt, auf eine extreme Lei-
denschaft zurck, und jene „Begierde“ ist seine passio nova, die Leiden-
schaft der Erkenntnis.

4 Nach Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder
(Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff., Bd. 9,
Sp. 1284.
5 Vgl. M, KSA 3, 273 und dazu Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis.
Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis
Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 225.

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Das Bild des Bogens suggeriert, dass der normale, gesunde, ja, ideale
Zustand ein hohes Maß an Gespanntheit, Tonizitt beinhaltet. Man darf
den Bogen weder ab- noch berspannen: Er wre dann funktionsunfhig;
und im letzteren Fall kçnnte er sogar brechen.6 Den Stoikern zufolge kann
der Geist dank der ihm eigenen Spannung dem Leiden widerstehen und die
Leidenschaften bezwingen. Spannung steht aber auch in der Antike nicht
immer fr seelische Strke. Erstens unterscheidet der Stoiker Epiktet
zwischen gesunden, eingebten Spannungen und krankhaften, verrckten.
Zweitens prgt gespannte Wachsamkeit zwar das Selbstbild der Stoiker,
Entspannung aber dasjenige der Epikureer, und diese kritisieren die
stoische Haltung als eine berspannte.7 Dass auch bei Nietzsche unter-
schiedliche Verwendungen von „Spannung“ und mit ihnen unterschiedli-
che Wertungen anzutreffen sind – und zwar ebenso in seinen Urteilen ber
die Stoiker wie ohne Bezug auf sie –, wird also nicht berraschen. Immer
wieder ist ihm Spannung eine Kraft oder ein Zeichen derselben. So sieht er
in der Spannung der Seele, die dem Leiden widersteht, ein Anzeichen von
Grçße – nicht zuletzt an sich selbst.8 Er nimmt aber nicht nur die
Gleichnisse wieder auf, mit denen die Stoiker Spannung und Seelenstrke
fr sich beanspruchen, sondern auch die Argumente, mit denen gerade
diese stoische Haltung als eine berspannte zurckgewiesen wird. Und,
wie heute und auch zu Nietzsches Zeit blich, fllt bei ihm „Spannung“,

6 Elisabeth Nietzsche befrchtet, dass bei ihrem Bruder „der Bogen leicht einmal
berspannt sein kçnnte“ (Elisabeth an Franziska Nietzsche, 8. Oktober 1884, NF,
KSA 15, 142). Anders als in den klassischen Quellen wird das Gleichnis des
Bogens alltagsprachlich eher fr berspannung verwendet.
7 Zu beiden Punkten vgl. Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter,
Karlfried Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/
Stuttgart 1971 ff., Bd. 9, Sp. 1285. – Nicht Marc Aurel allein ist bei Nietzsche ein
Vorbild von Spannung: Morgenrçthe bewundert beim „Epiktetische[n] Men-
sch[en]“ „[d]ie stete Spannung seines Wesens“, die zu den „Merkmale[n] der
strengsten Tapferkeit“ (M, KSA 3, 316) zhlt. Zu Nietzsches Kritik der stoischen
Wrde als berspannt siehe weiter unten.
8 „Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens“, hat „alle Erhçhungen des Men-
schen bisher geschaffen“; Geschenke „des grossen Leidens“ sind die „Grçsse“
und die „Spannung der Seele im Unglck, welche ihr die Strke anzchtet“ (JGB,
KSA 5, 161). In dieser „Spannung“ in und nach dem Kampf gegen das Leiden sieht
Nietzsche die eigene Grçße: Gerade nach viel Not und Entbehrung steht er da,
wie er „geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem,
Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Noth immer nur noch straffer anzieht“;
aber gerade „die Verkleinerung und Ausgleichung des europischen Menschen“
stellt seine „grçsste Gefahr“ dar; „denn dieser Anblick macht mde…“ (GM,
KSA 5, 278)

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insbesondere sichtbare oder gar zur Schau getragene Spannung, sehr oft
keineswegs mit „Spannkraft“ zusammen, sondern weist eher auf eine
Unzulnglichkeit derselben hin.

„In der Nachbarschaft des Wahnsinns“

Wenn Menschliches, Allzumenschliches „[s]ehr spannkrftige Mnner, wie


zum Beispiel Goethe“ (MA, KSA 2, 224) preist, ist Spannkraft ein Zeichen
von Grçße. Die Skizze einer Vorrede fr ein geplantes „Reisebuch un-
terwegs zu lesen“ gibt als wnschenswerte Wirkung „eine gewisse allge-
meine Umstimmung der Ansichten“ an – „und mit ihr jenes allgemeine
Gefhl der geistigen Erholung, als ob der Bogen wieder mit neuer Sehne
bespannt und strker als je angezogen sei.“ (NF, KSA 8, 474) Damals wird
bei Nietzsche diagnostiziert, er leide an „einer hochgradigen berreizung
seines Nervensystems“,9 und er befrchtet, dass die durch die moderne
Erziehung bedingte gesteigerte „Gehirnthtigkeit“ als Resultat „eine
nervçs berreizte, ja verrckte Nachkommenschaft“ haben kçnnte, „eine
Nachwelt von Verrckten und berspannten“, die „in das Irrsinnige
hineinspielen“ (NF, KSA 8, 459).
So stellt die „Spannung des Gefhls“ in einem Aphorismus von
Menschliches, Allzumenschliches – der bezeichnende Titel ist „In der
Nachbarschaft des Wahnsinns“ – ein gefhrliches Syndrom dar. Die „all-
gemeine Gefahr“ sei „eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkrfte“,
und um diese Gefahr abzuwenden, msse man die „Spannung des Gefhls“
vermindern; denn „die ganze Last der Cultur“ erdrcke „die cultivirten
Classen der europischen Lnder“, sie seien „durchweg neurotisch“ und
gerieten immer wieder in die „Nachbarschaft des Wahnsinns“: „Nun
kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der
Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefhls, jener
niederdrckenden Cultur-Last vonnçthen, welche, wenn sie selbst mit
schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen
Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt.“ (MA, KSA 2, 204)
Die „Verminderung jener Spannung des Gefhls“ geht also doch „mit

9 „Nach dem gleichzeitigen Gutachten Massinis zur Entlassung Ns vom Pdago-


gium leidet N an ,einer hochgradigen berreizung seines Nervensystems.“ (NF,
KSA 15, 80) Rudolf Massini (1845 – 1902) war Professor fr Pathologie und
Therapie in Basel (vgl. Pia D. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine
medizinisch-biographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 317).

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schweren Einbussen“ einher; so ambivalent die Folgen, so eindeutig die


Prioritten: berreizung ist die Hauptgefahr. Der „Geist der Wissen-
schaft“ soll uns deshalb „etwas klter und skeptischer“ machen; er muss
jene „Spannung des Gefhls“ senken, fr die das Christentum entschei-
dend mit verantwortlich ist; denn auch diesem verdankt man die „Ueb-
erflle tief erregter Empfindungen“, die uns nicht „berwuchern“ (MA,
KSA 2, 204) drfen, und „den Gluthstrom des Glaubens an letzte end-
gltige Wahrheiten“, den der Geist der Wissenschaft nun abkhlen soll.
Entspannung, Entlastung, Abkhlung sind also die Aufgaben. Dies ent-
spricht der Haltung des ganzen Buches: Es strebt eine Lebensform an, die
gleichsam ber sublimierten Leidenschaften schwebt.

Nietzsches Selbstvergleich mit Pascal

Nach dem Zyklus von Menschliches, Allzumenschliches ndern sich die


Prioritten schnell: berreizung bleibt eine echte Gefahr, das Nachlassen
von Spannung scheint aber nicht minder bedenklich. Gemß dem del-
phischen Gebot „,Nicht zu sehr!“ (lgd³m %cam) wird auch in Morgenrçthe
vor einer „allerhçchsten Anspannung“ der eigenen Krfte eindringlich
gewarnt: Sie ist eigentlich „zu viel Spannung“.10 Der Mensch darf also
keinen unerfllbaren Idealen und unerreichbaren Zielen nachgehen, selbst
wenn er nur durch diese seine Leistungsgrenzen erreichen mag. Diese
Mahnung, ein bermaß an Spannung zu vermeiden, koexistiert jedoch mit
anderen Desiderata: Morgenrçthe kndigt eine neue und unbekannte
Leidenschaft an, die Leidenschaft der Erkenntnis, die zur Passion gewor-
den sei oder gesteigert werden solle. Um Abkhlung geht es insofern nicht
mehr. Zwar muss Wissenschaft rauschhafte illusorische Machtgefhle
bekmpfen und hat insofern eine hnliche Aufgabe wie in Menschliches,
Allzumenschliches, sie muss aber zugleich dazu beitragen, eine neue
Spannung aufzubauen.

10 „,Nicht zu sehr! – Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen,
das er nicht erreichen kann und das ber seine Krfte geht, um so wenigstens Das
zu erreichen, was seine Krfte bei der allerhçchsten Anspannung leisten kçnnen!
Ist diess aber wirklich so wnschenswerth? Bekommen nicht nothwendig die
besten Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas
bertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist? Und
verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von Erfolglosigkeit dadurch ber die
Welt, dass man immer kmpfende Athleten, ungeheure Gebrden und nirgends
einen bekrnzten und siegesgemuthen Sieger sieht?“ (M, KSA 3, 325 f.)

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Diese Umorientierung hngt auch mit einem neuen Blick auf die
christliche „Spannung des Gefhls“ zusammen.11 In seiner Denkwerkstatt,
den Notizheften jener Zeit, versucht Nietzsche nmlich, seine neue Lei-
denschaft in Auseinandersetzung mit historischen Vorbildern fr Span-
nung schrfer zu konturieren – und insbesondere mit Pascals „unerhçr-
testen Spannungen“ (NF, KSA 9, 372). Er sieht nun in der christlichen
Spannung zwar weiterhin ein pathologisches Syndrom, zugleich aber auch
einen „der grçßten Kraftversuche der Menschheit“ und damit etwas, was er
sogar bei den geliebten Griechen zu vermissen scheint:
Die Spannung zwischen dem immer reiner und ferner gedachten Gott und
dem immer sndiger gedachten Menschen – einer der grçßten Kraftversuche
der Menschheit. Die Liebe Gottes zum Snder ist wundervoll. Warum haben
die Griechen nicht eine solche Spannung von gçttlicher Schçnheit und
menschlicher Hßlichkeit gehabt? Oder gçttlicher Erkenntniß und
menschlicher Unwissenheit? […]. (NF, KSA 9; 287 f.)

Diese Fragen werden an anderer Stelle beantwortet. Auch die Griechen


weisen eine extreme Spannung auf, jedoch nicht dieselbe: „Der Christ lebt
zwischen der grçßten Spannung von Selbstverachtung u. Stolz – der
Grieche zwischen der grçßten Spannung von Neid u. Freundschaft
(Achill).“ (KGW, V 3, 76) „Spannung“ beinhaltet hier wie dort (auch) ein
Moment wirklicher Kraft und Energie: „Die Energie der Spannung
(zwischen Liebe und Haß) nie grçßer als bei Chr<isten> ihr Haß odium
generis humani mehr als alles M<itleid>.“ (NF, KSA 9, 205)
Gerade wegen dieser „Energie“ muss Nietzsche zur Zeit der Mor-
genrçthe den Gegensatz zwischen freiem Geist (sich selbst) und Chris-
tentum neu formulieren; dabei muss er die eigene berlegenheit in Frage
stellen. „Unsere Maaßstbe nach dem Christenthum: nach jenem uner-
hçrten Sich-ausspannen aller Muskeln und Krfte unter dem hçchsten
Stolze sind wir alle verurtheilt, die Schwcheren Geschwchteren darzu-
stellen.“ (NF, KSA 9, 375) Auf die eigene Schwche schließt Nietzsche hier
vor allem deshalb, weil er sich mit Pascal vergleicht: „Freilich: ein Ideal, die
Menschen der Welt und sich selber entreißen, macht die unerhçrtesten
Spannungen, ist ein fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten, ein seliges
Ausruhen ber sich, in der Verachtung alles dessen, was ,ich heißt.“ (NF,
KSA 9, 372) Nietzsche sieht die Quelle von Pascals Kraft in dem (imagi-
nren) Verhltnis zwischen hassenswrdigem Ich (moi hassable) und

11 Dieser Abschnitt beruht auf Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philoso-
phie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also
sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, insbes. S. 201 ff.

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liebenswertem Gott. Nietzsche, der etwa die Erfahrung einer Vereinigung


mit Gott als berhçhtes Selbstwertgefhl auffasst, deutet die Spannung
von „menschlicher Hsslichkeit“ und „gçttlicher Schçnheit“ (NF, KSA 9,
288) als „Spannung von Selbstverachtung und Stolz“ (M, KSA 3, 68). So ist
auch Pascals Spannung zwischen „der Verachtung alles dessen, was ,ich
heißt“, und dem seligen „Ausruhen ber sich“ (NF, KSA 9, 372) eine
zwischen Selbstverachtung und „dem hçchsten Stolze“ (NF, KSA 9, 375).12
Zumeist allerdings deutet Nietzsche 1880 den bergang vom „Snden-
und Verworfenheitsgefhl“ zur „Wiederherstellung eines ungeheuren
Hochmuthes“ nicht als Spannung, sondern als „Sprung von der Tiefe in die
Hçhe“ (NF, KSA 9, 143) mit einem unweigerlichen Rckfall von der Hçhe
rein illusorischer, rauschhafter Machtgefhle in ein noch tieferes Gefhl
der Ohnmacht: Der spte Nietzsche sieht hier ohne Umschweife „eine

12 Nietzsches Beschreibung der Pascalschen Spannung entspricht der Gliederung


der Gedanken in der von ihm benutzten Ausgabe, die Elend und Seligkeit des
Menschen jeweils einen Teil widmet: „Elend des Menschen ohne Gott oder daß
die Natur durch die Natur selbst verderbt ist“ und „Seligkeit des Menschen mit
Gott oder dass es eine Erlçsung durch die Schrift gibt“ (Blaise Pascal, Gedanken,
Fragmente und Briefe nach der Ausgabe P. Faug re
s. Deutsch von Dr. C. F.
Schwartz, 2. Aufl., 2 Bde., Leipzig 1865 (BN), Bd. 2, S. 23, 93). Zur Grçße heißt es
hier etwa: „Es bedarf Gedanken der Niedrigkeit, nicht der natrlichen, sondern
einer solchen, welche aus der Reue stammt, um von ihnen zur Grçße berzu-
gehen.“ (Blaise Pascal, Gedanken, Fragmente und Briefe nach der Ausgabe P.
Faug re
s. Deutsch von Dr. C. F. Schwartz, 2. Aufl., 2 Bde., Leipzig 1865 (BN),
Bd. 2, S. 76). Nietzsche liest Pascal, bei dem die „Widersprche“, „die zwei Na-
turen in uns“, Grçße und Elend des Menschen wirklich ein zentrales Thema sind,
gegen den Strich. Pascal warnt vor Hochmut und Verzweiflung. Er spielt sie ge-
geneinander aus: Die (stoischen) Philosophen, die nur an die eigene Hçhe denken
und sich selbst berschtzen, will er an das Elend des Menschen erinnern, die
libertins, die nur das Niedrige sehen, an die ,Grçße des Menschen. Mit dem
Hochmut fllt bei Pascal nur die philosophische Gotteserkenntnis zusammen, die
das Elend des Menschen ausblendet, nicht die christliche, der die menschliche
Unzulnglichkeit klar bewusst ist. Anders als Nietzsche strebt der franzçsische
Denker hier keine Spannungssteigerung an, sondern will auf eine richtige Mitte
hinweisen und auf die Mçglichkeit, beiden Extremen zu entgehen: Christus ist der
Vermittler, im Verhltnis zu dem der Mensch weder hochmtig sein darf noch
verzweifeln muss. (Nach den „vermittelnden Brcken zwischen zwei solchen
Klften“ fragt brigens der Schluss des zitierten Notats (NF, KSA 9, 288)). „La
connaissance de Dieu sans celle de sa mis re fait l orgueil. La connaissance de sa
mis re sans celle de Dieu fait le dsespoir. La connaissance de Jsus-Christ fait le
milieu, parce que nous y trouvons et Dieu et notre mis re.“ (Blaise Pascal, Pens es,
Texte tabli par Lon Brunschvicg, Paris 1976, S. 192 f.) „Jsus-Christ est un Dieu
dont on s approche sans orgueil et sous lequel on s abaisse sans dsespoir.“ (Blaise
Pascal, Pens es, Texte tabli par Lon Brunschvicg, Paris 1976, S. 193)

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folie circulaire zwischen Busskrampf und Erlçsungs-Hysterie!“ (EH, KSA


6, 374; vgl. AC, KSA 6, 230 ff.; NF, KSA 13, 365). Anders als hier scheint
das Verhltnis von Selbstverachtung und Stolz, wenn es wie Pascals
„fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten“ unter den Spannungsbegriff
subsumiert wird, auch ein Moment echter Kraft, Energie, vor allem
Selbstbeherrschung zu beinhalten.
„Vergleich mit Pascal: haben wir nicht auch unsere Strke in der
Selbstbezwingung, wie er? Er zu Gunsten Gottes, wir zu Gunsten der
Redlichkeit?“ (NF, KSA 9, 372) In diesem Vergleich will Nietzsche seine
Leidenschaft der Redlichkeit mit Pascals Passion messen und im Allge-
meinen mit dem christlichen Ideal. Alles dreht sich um das Problem der
Selbstbeherrschung, weil hier zwei passions dominantes im Sinne Stendhals
(aber schon der franzçsischen Moralistik und noch Taines) verglichen
werden sollen. Der Vergleich soll entscheiden, ob auch Nietzsches neue
Leidenschaft, die Redlichkeit, wirklich im selben Grad ber die anderen
Affekte herrscht wie Pascals Passion fr Gott. Nun, eine herrschende
Leidenschaft – Strke und Selbstbezwingung – schreibt er auch sich selbst
zu, aber er muss eingestehen: „[U]nsere Kraft auf einmal ist geringer“ (NF,
KSA 9, 372). Allerdings soll dies durch Nietzsches „Kraft der Dauer“ (NF,
KSA 9, 372) ausgeglichen werden. Pascals Passion, meint Nietzsche, tritt
momentan in hçchster Intensitt auf und verbraucht sich schnell, das
Machtgefhl ist hier auch illusorisch, die Strkung durch die christliche
Religion auch ein „Phantasie-Effekt“ (NF, KSA 9, 376). Der Vergleich fllt
also alles in allem nicht unbedingt zu Gunsten Pascals aus.
Es scheint Nietzsche nicht unmçglich, den Vergleich mit dem Chris-
tentum durch „etwas berbietendes […] eine Entsagung und Strenge“
(NF, KSA 9, 376) fr sich, fr seine neue und unbekannte Leidenschaft zu
entscheiden. Die „nachchristlichen“ Generationen sind ihm zufolge dazu
verurtheilt, die Schwcheren Geschwchteren darzustellen: es sei denn, daß
wir eine unerhçrte Art von Mnnlichkeit gewinnen, welche diesen Zustand
der menschlichen Erniedrigung noch stolzer als das Christenthum zu tragen
wßte. Kann hierzu uns nicht die Wissenschaft dienen? Wir mssen dem
Phantasie-Effekt des Christenthums fr die edelmthigen Naturen etwas
berbietendes entgegenstellen – eine Entsagung und Strenge! (NF, KSA 9,
376)

Worin soll also die erhoffte neue Spannung bestehen? Die Polaritt ist
nicht neu, es geht weiterhin um Selbstverachtung und Stolz. Die Wissen-
schaft fgt dem Menschen die bekannten „narzisstischen Krnkungen“ zu.
Die Frage ist also vor allem, ob sie dem Menschen ein neues Selbstwert-
gefhl vermitteln kann, damit wir diesen „Zustand der menschlichen Er-

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niedrigung“ „stolzer“ tragen kçnnen. Schon in seinem „Evangelium“ von


1875 sah Nietzsche in der Synthese von Selbstverachtung und Selbstliebe
nicht nur Christus Lebensform, sondern auch ein mçgliches zeitgemßes
skulares Ideal.13 Der Vergleich mit Pascal Anfang der 80er Jahre, der also
eher eine Auseinandersetzung mit dem eigenen frheren Ideal und dessen
Abwandlung ist als eine vertiefte Pascal-Exegese, dreht sich weiterhin um
dieses Verhltnis von Selbstherabsetzung und Stolz – sowohl im histori-
schen Christentum als auch in der knftigen Wissenschaft. Nietzsche, und
das unterscheidet diese Reflexionen von dem „Evangelium“, versteht je-
nes Verhltnis nun aber nicht mehr schopenhauerianisch, sondern als
energetische Spannung.
So dreht sich hier die Auseinandersetzung mit Pascal im besonderen
und mit dem Christentum im allgemeinen um die Frage nach der Kraft,
nach der Spannung der Seele. Der Kraftvergleich wird hier erstmals zen-
tral, eine Entscheidung ist offenbar noch nicht gefallen, und von der ei-
genen berlegenheit kann Nietzsche nun nicht mehr ausgehen. Der Ver-
gleich mit Pascal ist nicht nur ein persçnlicher, es geht um ein allgemeines
historisches Ereignis: Wollen die „nachchristlichen“ Generationen nicht
„die Schwcheren Geschwchteren“ darstellen, mssen sie reagieren, d. h.,
ihre Kraft steigern. hnliches wird dann auch Die frçhliche Wissenschaft
verknden und hier insbesondere der ,tolle Mensch: Diese Vorarbeiten zu
Morgenrçthe bilden den ursprnglichen Kern und enthalten bereits die
Absicht von dessen Botschaft „Gott ist tot“.14

Die Kunst, den Bogen abzuspannen

Noch einige Jahre spter beruft sich Nietzsche auf Pascal, in dem er wei-
terhin „das herrliche Anzeichen“ einer „furchtbaren Spannung“ (NF, KSA
11, 475) sieht.

13 Vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Le-
bensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/
New York 1997, insbes. S. 3 ff. und Marco Brusotti, Kern und Schale. Wissenschaft
und Untergang der Religion bei Nietzsche, in: Carlo Gentili / Cathrin Nielsen, Der
Tod Gottes und die Wissenschaft. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Berlin/New
York 2010, S. 67 – 81.
14 Vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Le-
bensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/
New York 1997, S. 385 ff.

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Als Noth empfand ihn [den Geist; MB] zum Beispiel Pascal: aus seiner
furchtbaren Spannung heraus erfand dieser tiefste Mensch der neueren Zeit
sich jene mçrderische Art von Lachen, mit welcher er die Jesuiten von damals
todt lachte. Vielleicht fehlte ihm nichts als Gesundheit und ein Jahrzehend
von Leben mehr […] um sein Christenthum selbst todtzulachen. (NF, KSA 14,
346)

Pascal wre, htte er lnger und ,sdlicher gelebt, gleichsam zu Nietzsche


geworden! Aus seiner furchtbaren Spannung heraus htte auch er gelernt,
ber sich selbst und ber das Christentum im Ganzen zu lachen, nicht nur
ber die Jesuiten.
Mit diesem Hinweis auf Pascal schließt noch in dem Druckmanuskript
die Vorrede zu Jenseits von Gut und Bçse. Diesen Schluss hat Nietzsche
jedoch spter gestrichen. Die endgltige Fassung weist weiterhin auf
Pascals Gegner, auf die Jesuiten, hin, erwhnt Pascal jedoch nicht.
Nietzsche selbst tritt nun an seine Stelle.
[…] Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verstndlicher und fr s ,Volk
zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtau-
senden […] hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen,
wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann
man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europische
Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei Mal
im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den
Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische Aufklrung: Aber
wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug
sind, wir guten Europer und freien, sehr freien Geister – wir haben sie noch,
die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und
vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel….. (JGB, KSA 5,
12 f.)

In der frheren Fassung sieht Nietzsche in sich selbst den Erben Pascals,
des Denkers, der fr ihn die hçchste Spannung verkçrpert. Hier dagegen
beansprucht er fr sich und seine freien Geister ein anderes Erbe: nicht
Pascals Spannung, sondern diejenige, die aus dem Kampf gegen das
Christentum hervorgegangen ist. Aber Pascals Kampf gegen die Jesuiten,
auf den die Vorrede noch im Druckmanuskript hinauslief, ist – immer unter
dem Vorzeichen der Spannung – weiterhin das Vorbild. Wie Pascal die
„Jesuiten von damals“ will Nietzsche nun den zeitgençssischen gelehrten
„Jesuitismus der Mittelmssigkeit“ angreifen,
welcher an der Vernichtung des ungewçhnlichen Menschen instinktiv ar-
beitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber! – abzu-
spannen sucht. Abspannen nmlich, mit Rcksicht, mit schonender Hand
natrlich –, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche

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62 Marco Brusotti

Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des
Mitleidens einzufhren. – (JGB, KSA 5, 134)15

Der Jesuitismus, in wçrtlichem und in bertragenem Sinn, steht also fr die
„versuchten Entspannungen“ (NF, KSA 11, 475), fr die Versuche, „jeden
gespannten Bogen […] abzuspannen“, d. h. den großen Menschen zu
verhindern oder um seine Grçße zu bringen.

Die „hçchste Spannung der Vielheit von Gegenstzen“:


das Schçne und das Erhabene

„Das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die
Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer
kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur hnlichkeit.“
(GD, KSA 6, 136 ff.)16 Im Pathos der Distanz, dem leidenschaftlichen
Zustand einer „starken Zeit“, bewltigt die „Spannkraft“ die „Spann-
weite“ zwischen weit auseinander liegenden Extremen. Heute aber neh-
men Spannkraft und Spannung/Spannweite synchron ab. Ist diese allge-
meine Abspannung die Gefahr? Oder eher, dass die Spannungen die
Spannkraft berfordern, also berspannung? Wesentlich ist fr Nietzsche,
dass die „Spannkraft“ abnimmt. Dem Missverhltnis zwischen Spannkraft
und Spannungen soll nun weniger durch den Abbau von Spannungen als
vielmehr durch Erhçhung der Spannkraft abgeholfen werden; die Span-
nungen der Gegenstze, die diese Spannkraft dann „zur Einheit“ fhren
soll, nehmen dabei eher zu.
Zur Zeit der Morgenrçthe hatte sich Nietzsche jeweils auf einzelne
kulturell vorgegebene Gegenstze konzentriert: vor allem auf die Span-
nung zwischen Selbstverachtung und Stolz im Christentum, aber auch auf
diejenige zwischen Neid und Freundschaft in der griechischen Antike.
Eher als um derlei einfache Polaritten geht es ab dem „Zarathustra“-
Nachlass um Spannung im Plural: „Das Wesentliche ist: die Grçßten haben
vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegenstze.
Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegenstze, und aus deren
Gefhle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung,
entsteht.“ (NF, KSA 11, 515) So ist „die Spannung der Gegenstze“ „die

15 Zur „Spannung der Seele“ vgl. JGB, KSA 5, 160 f.; vgl. auch NF, KSA 12, 1, 50.
16 Ein Notat hatte wiederum festgestellt: „[D]ie kritische Spannung: die Extreme
kommen zum Vorschein und bergewicht.“ (NF, KSA 12, 410)

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Spannung 63

Vorbedingung fr die Grçße des Menschen“: Die Großen kçnnen die
„Vielfachheit der Elemente“ und die wachsende „Spannung der Gegen-
stze“ aushalten, an der die „gewçhnlichen Menschen“ „zu Grunde“ gehen
(NF, KSA 12, 520). Nicht zuletzt Nietzsches Eingestndnis des eigenen
Scheiterns kann man entnehmen, dass nur derjenige, der dieser Spannung
Herr wird, die ewige Wiederkehr bejahen kann: „Ich will keinen Tag von
den 3 letzten Jahren zum zweiten Male durchleben, Spannung und Ge-
genstze waren zu groß!“17 Spannkraft, Spannung und Gegenstze nehmen
nicht nur in der „Zarathustra“-Zeit die Zge des Extremen, ber-
menschlichen an. Nietzsches ambitioniertes „Ziel“ ist, „die hçchste
Spannung der Vielheit von Gegenstzen zur Einheit zu bringen“ (NF, KSA
10, 547).18 Da die Spannweite zwischen den Gegenstzen extrem sein muss,
reicht es nicht, zwischen Ab- und berspannung ein richtiges Maß zu
finden. Wenn es ein richtiges Maß an Spannung gibt, dann nur fr sehr
spannkrftige Menschen, weil die gewçhnlichen, und nur sie, entweder
keine Spannweite zwischen den Gegenstzen aufweisen oder an den Ge-
genstzen zerbrechen. Ist aber die Spannung, die große Menschen aus-
halten, nur insofern eine extreme, als sie die gewçhnlichen berfordern
wrde? Whrend die Großen keine fr sie extreme Spannung auszutragen
haben? Sollen ihre Kraft zwar „in Spannung“ gehalten,19 ihre Grenzen

17 Nietzsche an Franz Overbeck, Anfang Dezember 1885 (KGB III/3, Bf. 649).
18 „Spannung der Gegenstze ist fr die Entstehung jeder strkeren Empfindung
nçthig.“ (NF, KSA 8, 143) In diesem Exzerpt vom Sommer 1875 aus dem Werth
des Lebens geht es wie bei Dhring v. a. um den bergang von einem Gefhl zum
anderen, denn „[e]s wird wesentlich nur die Vernderung empfunden“, und „[n]ach
den Vernderungen trachtet die Lust am Leben“ (NF, KSA 8, 143). Dhrings
Bekenntnis zur „gegenstzlichen Spannung“ als Vorbedingung „jeder strkeren
Erregung“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Be-
trachtung, Breslau 1865, S. 30) hat zuletzt eine antipessimistische, antischopen-
hauersche Valenz: Die „Differenz“ ist „das Grundgesetz jeder Bewußtseinsstei-
gerung“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische
Betrachtung, Breslau 1865, S. 30), und es geht um die „Vernderungen […], die das
Bewusstsein zu jener hçhern Energie steigern, nach welcher die Lust am Leben
trachtet.“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrach-
tung, Breslau 1865, S. 28) Nietzsche beschrnkt sich beim Abschreiben des Satzes
im wesentlichen auf eine stilistische Korrektur, aber er bekennt sich damals noch
zu Schopenhauer, und die Spannung der Gegenstze wird bei ihm erst spter zu
einem Hauptthema. – Zu den Gegenstzen bei Nietzsche vgl. Wolfgang Mller-
Lauters klassische Monographie, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegenstze und
die Gegenstze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971.
19 „Alle großen Menschen waren durch die Strke ihrer Affekte groß. […] Große
Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung.“ (NF, KSA 9, 469)

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64 Marco Brusotti

jedoch nicht wirklich ausgetestet werden? Gesetzt, „die hçchste Spannung


der Vielheit von Gegenstzen“ wird endlich „zur Einheit“ (NF, KSA 10,
547) gebracht, wie viel Spannung darf dann letztere kennzeichnen? Zeigt
noch diese „Einheit“ „die hçchste Spannung“? Nietzsches sthetik ver-
langt eher, dass die Spannung dann so weit berwunden bzw. gebndigt ist,
dass sie aus der Sichtbarkeit verschwindet.
„Schçnheit“ ist deshalb fr den Knstler etwas außer aller Rangordnung,
weil in der Schçnheit Gegenstze gebndigt sind, das hçchste Zeichen von
Macht, nmlich ber Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: – daß
keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum
Gehorsam die liebenswrdigste Miene macht – das ergçtzt den Machtwillen
des Knstlers. (NF, KSA 12, 258)

Nietzsche knpft an die traditionelle Verbindung des Erhabenen mit


Spannung und des Schçnen mit Entspannung an. Sichtbare Spannung
kennzeichnet das Erhabene im Unterschied zum Schçnen und die Wrde
im Unterschied zur Anmut. (Die „Schçnheit“ trgt in der zitierten Auf-
zeichnung Zge der „Anmut“.) Nietzsche trennt Ethik und sthetik nicht:
Dieselben Argumente sollen das Erhabene als sthetische Kategorie und
die Ethik der „Erhabenen“ treffen. Wie erlutert, nimmt Nietzsche die
Argumente wieder auf, mit denen in der Antike die stoische Haltung als
eine berspannte zurckgewiesen wird. Whrend er in der Beschreibung
der Großen antike, etwa stoische Bilder z. T. bersteigert, variiert seine
Darstellung der nicht so Großen, etwa der „hçheren Menschen“, oft die
klassische Kritik stoischer berspanntheit. Getroffen werden unter-
schiedliche, auch entgegengesetzte Typen: wrdevolle Weise und tragische
Helden, stoische Selbstbeherrschung und romantische Schwrmerei. Die
„Erhabenen“, die „gespannten Seelen“, die Zarathustra nicht mag, sind
wiederum eher die „Bsser des Geistes“, deren Zge nicht zuletzt an den
Nietzsche der „mittleren Periode“ erinnern.
Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich mag diese
gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen Zurck-
gezognen. […] Mit lssigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das
ist das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen! […] Diess nmlich ist das
Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der Held verlassen hat, naht ihr, im
Traume, – der ber-Held. (Za, KSA 4, 150 ff.)

Diesen berspannten, beranstrengten „Erhabenen“ fehlt also die F-


higkeit, „[m]it lssigen Muskeln [zu] stehen“, die gçttliche Leichtigkeit und
Gelassenheit. So verstanden ist schon hier wie dann in Ecce homo gerade
die Freiheit von Spannung, das Fehlen jeder Nervenanspannung, das
Spielerische, ein Anzeichen von Grçße. Wie in Morgenrçthe der Apho-

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Spannung 65

rismus „Nicht zu sehr!“ dem souvernen Sieger gegenber dem (noch)


kmpfenden Athleten den Vorzug gibt, so Zarathustra dem „ber-Hel-
d[en]“ (dem Gott) gegenber dem „Helden“, dem Schçnen gegenber
dem Erhabenen und dem Komischen (der Parodie) gegenber dem Tra-
gischen.

Explosive Spannungen

Mit dem Bild des Bogens ist eine zweifache Metaphorik verbunden: Neben
den Zustand – der Bogen kann abgespannt, straff, berspannt sein – tritt
die Verwendung; mit einem straffen Bogen kann man „nach den fernsten
Zielen“ schießen (JGB, KSA 5, 13). Da der „letzte Mensch“, der auch der
kleinste ist, ein endgltig abgespannter Bogen ist, warnt Zarathustra vor
der „Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht ber den
Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu
schwirren!“ (Za, KSA 4, 19). Der Schtze spannt zuerst den Bogen, baut
also eine Spannung auf, und entldt sie dann auf ein Ziel hin. An sich wrde
sich das Schießen dadurch von eher richtungslosen Ereignissen wie „Ge-
witter“ und „Explosion“ unterscheiden, aber Nietzsche ist weit davon
entfernt, die Richtungslosigkeit letzterer immer zu betonen (vgl. etwa AC,
KSA 6, 169), vor allem wenn es um die Großen geht. Auch „Gewitter“ und
„Explosion“ sind Gleichnisse fr die Entladung von Spannung, fr die
„Auslçsung“ von Krften, wie es bei Nietzsche heißt. Vor dem Sturm steigt
die Spannung, die Natur verfinstert sich (d. h., man wird verstimmt,
missmutig, melancholisch), bis endlich das erlçsende Gewitter kommt,
d. h., bis endlich die gestauten Krfte „in Blitzen und Thaten explodieren“
(NF, KSA 13, 20).20 Ihr Explodieren zeigt, dass das Gewitter- eine Variante
des Explosions-Modells ist, mit dem Nietzsche es vielfach kombiniert. In
beiden wird Spannung auf akkumulierte Krfte zurckgefhrt: Sie harren
gleichsam einer Entladung, einer manchmal explosiven „Auslçsung“ durch
einen oft zuflligen Reiz, der im Vergleich zu der von ihm „,ausgelçsten“
Wirkung verschwindend klein sein kann.
So werden auch kulturelle Phnomene gedeutet: Dem spten Nietz-
sche kommt es darauf an, wie durch seine vorbereitenden Schriften „eine

20 „Zu gross war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelchtern der Blitze will
ich Hagelschauer in die Tiefe werfen.“ (Za, KSA 4, 107; vgl. NF, KSA 10, 415 f.)
„Meine Weisheit sammlet sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und
dunkler. So thut jede Weisheit, welche einst Blitze gebren soll. –“ (Za, KSA 4,
360)

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66 Marco Brusotti

wirkliche Spannung geschaffen“ (An Constantin Georg Naumann, KGB


III/5, Bf. 1139) werden kann, und er beschreibt Modernitt, Nihilismus,
Gefhl der Sinnlosigkeit als einen Spannungszustand, fr den es noch
keine absehbare Entladung zu geben scheint (vgl. AC, KSA 6, 169).
Jede Lehre ist berflssig, fr die nicht Alles schon bereit liegt an aufge-
huften Krften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwerthung von Werthen wird
nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedrfnissen, von Neu-Be-
drftigen da ist, welche an der alten Werthung leiden, ohne zum Bewusstsein
zu kommen, – – –. (NF, KSA 12, 375 f.)

Auf diese Spannung wirkt die neue Lehre wie ein auslçsender Reiz: „Aus
dem Druck der Flle, aus der Spannung von Krften, die bestndig in uns
wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen“, „die bis zur Qual zu-
sammengedrngt und gestaut“ sind, befreit eine Lehre, die „Kraft auslçst“,
eine Lehre, durch die „den aufgehuften Krften ein Weg, ein Wohin
gezeigt wird“, „so daß sie in Blitzen und Thaten explodieren“ (NF, KSA 13,
20). Wenn diese Spannung zu einer Umwertung aller Werte wirklich nçtig
ist, ist die Lehre selbst dann nicht bloß ein unbedeutender, zuflliger
Auslçser? Und mit ihr der entsprechende Philosoph, also Nietzsche selbst?
Das Auslçsungstheorem scheint diese unwillkommene Folgerung zu
enthalten. 1881, als Nietzsche sich fr Julius Robert Mayers Auslçsungs-
Modell zu interessieren beginnt, benutzt er die Idee eines Missverhlt-
nisses zwischen (geringfgigem) Reiz und (gewaltiger) Reaktion auch, um
vermeintliche Grçße zu entlarven. „Religionsstifter“ etwa kçnnen „un-
bedeutende […] Menschen“ gewesen sein; aber „die Kraft war angesam-
melt und lag zur Explosion bereit!“ Unter dieser Bedingung musste es auch
bei einem unbedeutenden, zuflligen Reiz notwendig zu „großen Kraft-
Auslçsungen“ kommen (NF, KSA 9, 492; Vgl. etwa auch NF, KSA 11,
121 ff.). Der Religionsstifter selbst muss also nicht unbedingt eine unge-
heure Kraft besessen haben, er war gleichsam der zufllige auslçsende
Reiz, er setzte aufgestaute Krfte frei, die irgendwann irgendwie explo-
dieren mussten. Wenn man ihn einen großen Menschen nennt oder ihm
ungeheure Krfte attestiert, verwechselt man das Streichholz mit dem
Pulverfass. Nietzsche macht die (boshafte und ungerechte) Nutzanwen-
dung auf Mayer selbst, den Dhring als den Galilei des neunzehnten
Jahrhunderts gefeiert hatte. Mayers „Entdeckung“ sei wie „vorbereitet“
gewesen, und sein „Talent“ sei „zufllig“ gerade an jenem Punkte „thtig“

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Spannung 67

geworden: Dass er „zu ungemeinen Resultaten“ gekommen sei, sei also


„noch kein Beweis fr ungemeine Kraft“ (NF, KSA 9, 492).21
Der einzelne, auch wenn er große Wirkungen hervorbringt, setzt le-
diglich Krfte frei, die in seiner Umgebung, in seiner Zeit bereitliegen;
weder muss er besondere Krfte haben noch sich der prgenden Einwir-
kung seiner Zeit entziehen oder widersetzen. (Wiederum bleibt mçgli-
cherweise gerade „der Große“ wirkungslos, weil er mit „den vorhandenen
zur Explosion bereiten Elementen“ nicht zeitlich zusammentrifft und so
„auf die Zeit keinen ,Reiz ben“ kann (NF, KSA 9, 542).) Damit gert das
Argument, mit dem Nietzsche 1881 vermeintliche Grçße hinterfragen
mçchte, in gefhrliche Nhe zu einer Theorie, die er 1888 als „eine wahre
Neurotiker-Theorie“ strikt zurckweist, und zwar zu der im franzçsischen
Naturalismus hçchst populren „Theorie vom milieu“, die im Individuum
bzw. im Kunstwerk das Resultat seiner historischen, kulturellen und so-
zialen Umgebung erblickt.
In einem Aphorismus der Gçtzendmmerung setzt Nietzsche jedoch
das Auslçsungsmodell gerade gegen diese Theorie ein: Auch hier geht es
darum, die ungeheure welthistorische Wirkung eines einzelnen zu erkl-
ren. 1881 kam es aber gerade darauf an, dass ein an sich nicht besonders

21 Zum „großen Erkennenden“ gehçre anderes, etwa „das Beherrschen“ und „das
Unificiren“ „großer Massen“ von Wissen sowie „das mit neuem Auge Ansehn des
Alten“ (Za, KSA 4, 360). Mit der Bemerkung, Mayer sei „ein grosser Spezialist –
und nicht mehr“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 213), distanziert sich
Nietzsche von Dhring, aber auch von Kçselitz, der bei einem negativen Urteil
ber Dhrings Buch sich zu Mayers Schriften sehr positiv ußert (vgl. KGB, III/2,
Bf. 57), und von seiner eigenen frheren Stellungnahme. Gerade in der Wrdi-
gung von Mayers Werk hatten vielleicht zum ersten Mal die Ausdrcke ,frçhlich
und ,wissenschaftlich zueinander gefunden: In diesem „herrlichen schlichten und
frçhlichen“ Buch gebe es „eine Harmonie der Sphren zu hçren: eine Musik, die
nur fr den wissenschaftlichen Menschen bereitet ist“ (An Heinrich Kçselitz,
KGB III/1, Bf. 103). – In Mayers „ber Auslçsung“ kommt der Spannungsbegriff
nicht vor. Dhring verwendet ihn, wenn er von Mayers Einlieferung in ver-
schiedene psychiatrische Heilanstalten berichtet und in diesem Zusammenhang
das Ressentiment als krankhafte Auslçsung deutet (vgl. Eugen Dhring, Robert
Mayer, der Galilei des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Einfhrung in seine
Leistungen und Schicksale, Chemnitz 1880). – Nietzsche verwendet den Auslç-
sungsbegriff bereits vor der Mayer-Lektre (vgl. dazu Brusotti, Die Leidenschaft
der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von
Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 56 ff. und zu
einer Bibliographie, Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und
sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Za-
rathustra, Berlin/New York 1997, Anm. 56.).

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68 Marco Brusotti

bedeutender Mensch, der zufllig im richtigen Augenblick am richtigen


Ort war, mit einem großen Menschen verwechselt wurde. Im Aphorismus
„Mein Begriff vom Genie“ will Nietzsche dagegen das umgekehrte Miss-
verstndnis abwehren: Es geht hier nmlich um den echten Grossen, und
dieser muss mehr sein als lediglich ein Auslçser, als ein gleichsam zuflliger
Reiz.
Gegen die Theorie des Milieus muss das Auslçsungsmodell anders
angewendet werden. Der Unterschied zu den Betrachtungen von 1881
besteht in einer scheinbar kuriosen Idee: Der große Mensch ist nicht le-
diglich das Streichholz, sondern der Sprengstoff selbst. Die ungeheure
Kraft, die er zum Explodieren bringt, liegt nicht irgendwie herum, in seiner
Umgebung oder in seiner Zeit, sondern ist in ihm selbst „aufgehuft“.
Mein Begriff vom Genie. – Grosse Mnner sind wie grosse Zeiten Explosiv-
Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehuft ist; ihre Voraussetzung ist
immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, ge-
huft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand.
Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so gengt der zuflligste
Reiz, das „Genie“, die „That“, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was
liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist“, an „çffentlicher
Meinung“! […]. (GD, KSA 145)

Race, milieu und moment sind die drei Faktoren, durch die Taine histori-
sche Tatsachen und Persçnlichkeiten wissenschaftlich erklren will. Bei
Taine bilden sie den ußeren Druck, gegen den die innere Veranlagung
Widerstand leisten muss: Historische Individuen sind gleichsam die Re-
sultante dieser zwei entgegengesetzen Krfte, der „pression du dehors“
und des „ressort du dedans“. Allerdings tendiert die Bedeutung des letz-
teren fr Taine gegen Null, und Individuen scheinen letzten Endes eher
mechanische Aggregate jener drei zusammenwirkenden Faktoren. Poin-
tiert kann man sagen, dass der Aphorismus „Mein Begriff vom Genie“ das
„Erbgut“ des großen Menschen, insbesondere des von Taine erforschten
Napoleon, gegen seine soziale „Umgebung“ und gegen den aktuellen
„Zeitgeist“ ausspielt. Von Taines drei determinierenden Faktoren werden
also vor allem zwei – die „Umgebung“ und der „Zeitgeist“ – als externe
verstanden und in ihrer Bedeutung gegenber der „internen Kraft“ des
genialen Individuums relativiert. Nietzsche fhrt das Individuelle, Eigen-
artige am Großen (Individuum oder Zeit) v. a. auf das zurck, was ihm
„historisch und physiologisch“ vererbt wird bzw. er sich von innen her

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Spannung 69

angeeignet hat und so als in ihm aufgehufte ungeheure Kraft verstanden


werden kann.22
Nietzsches Aphorismus setzt sich stillschweigend mit Taine ausein-
ander, auf den die Theorie des Milieu letztlich zurckgeht, aber nicht nur
mit ihm, sondern auch mit anderen, in Henri Jolys Psychologie des grands
hommes dargestellten Positionen.23 Im 5. Kapitel „Le grand homme et le
milieu contemporain“ betont Joly die „aide puissante que le grand homme
sait trouver dans son milieu“,24 die „coopration constante qui unit les
efforts du grand homme ceux de ses contemporaines“, kurz ihre lang-
oder mittelfristige bereinstimmung („accord“).25 Nietzsche will nicht erst
seit den Unzeitgemssen gerade auf das Gegenteil hinaus.
Joly zieht hier als Kontrastfolie, auf der er seine eigene Position pro-
filiert, zwei „thories dterministes“26 heran, die er gleichermaßen ablehnt:
Francis Galtons Nietzsche auch anderweitig bekannte Theorie des here-

22 Nietzsche richtet gegen diese „dcadence-Theorie“ (NF, KSA 13, 468), „heute die
Pariser Theorie par excellence“ (NF, KSA 13, 468), ein lamarckistisch klingendes
Argument: Ihm kommt es darauf an, gegenber den „ußeren Ursachen“ (NF,
KSA 12, 154) „die innere Kraft“ aufzuwerten: „Vieles, was wie Einfluß von Außen
aussieht, ist nur ihre Anpassung von Innen her.“ (NF, KSA 12, 154) „Gegen die
Theorie vom ,milieu. Die Rasse unsglich wichtiger. Das milieu ergiebt nur
,Anpassung; innerhalb derselben spielt die ganze aufgespeicherte Kraft.“ (NF,
KSA 12, 306) In diesem Notat wird der erste von Taines drei Faktoren, die race,
gegen das milieu ausgespielt. Taine, der Metaphern aus den verschiedensten
Naturwissenschaften bereinanderlagert, verwendet alle drei Ausdrcke (race,
milieu, moment) ziemlich eigensinnig; und die damalige Rezeption hlt sich oft
nicht an die Bedeutung, die er ihnen gibt. Bei Nietzsche steht Taines race fr „die
ganze aufgespeicherte Kraft“ (ebd). Diese „ungeheure Kraft“ (GD, KSA 6, 145)
wird dann im publizierten Aphorismus Taines weiteren zwei Faktoren gegen-
bergestellt: dem milieu und dem als „Zeitalter“, „Zeitgeist“ gedeuteten moment.
Die biologisch-historisch-kulturelle Vergangenheit (wie bei Taines race gibt es bei
Nietzsche zwischen biologischem und historischem keine feste Grenzlinie) wird
als den ußeren Faktoren entgegenwirkende innere Kraft gedeutet.
23 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN). Zu Joly als Quelle
einiger Fragmente Nietzsches aus dem Herbst 1887 vgl. NF, KSA 14, 741, sowie
Giuliano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, Paris 2001, S. 32 f.
Campioni macht auch darauf aufmerksam, dass Joly ber James und Galton
berichtet. Zu Nietzsches direkter Galton-Lektre vgl. Marie-Luise Haase,
Friedrich Nietzsche liest Francis Galton, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 633 –
658.
24 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 113.
25 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 114.
26 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 105.

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70 Marco Brusotti

ditary genius und interessanterweise William James darwinistisch inspi-


rierte Theorie der Auslese des Genies durch das Milieu.
Zu den impliziten Zielscheiben von Nietzsches Aphorismus gehçrt
also eine Reihe von Theorien: Das Genie ist durch das Milieu determiniert
(Taine), wird durch dieses selektiert (James) oder harmoniert mit ihm
(Joly). William James denkt die kulturelle Selektion in Analogie zu Dar-
wins natrlicher Auslese spontaner, individueller Variationen. Das große
Individuum stellt eine zufllige Variation dar, deren Schicksal vom Milieu
abhngt: „Le milieu l adopte ou le rejette, le prserve ou le dtruit, en un
mot le s lige.“27 Das Milieu selektiert, d. h., es kann den Großen entweder
akzeptieren (und sich ndern) oder ihn ablehnen. In der Gçtzendmme-
rung ist der Große, das Genie, dagegen weit strker als sein Milieu. James
Theorie drfte also kaum Nietzsches Zustimmung gefunden haben. James
zufolge sind die großen Menschen zufllige Variationen, die Selektion
durch das Milieu dagegen ein Gesetz, also eine harte Notwendigkeit.
Nietzsche kehrt James Position in ihr Gegenteil um: „Die grossen Men-
schen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufllig.“ (GD,
KSA 6, 145)
Damit nhert sich Nietzsche der anderen von Joly abgelehnten Option:
der Gegnerschaft zwischen dem strkeren hereditary genius und seinem
schwcheren Milieu. In Jolys Referat gilt fr Galton, „le milieu est indif-
ferent“; „le grand homme“ „fait[] violence aux circonstances“, er „ver-
gewaltigt“ (violente) seine Epoche.28 Der hereditary genius „est forc, […]
de se manifester au dehors […]: il clate donc au milieu des vnements
contemporains avec cette imp tuosit et ce m pris des conditions ordinaires
du succ s, que lui attribuaient gnralement les croyants de la Providence
ou les partisans de la fatalit.“29 Auch bei Nietzsche „explodiert“ („clate“)
das Genie, und die Zge des Ungestmen, Gewaltsamen, Unwiderstehli-
chen teilt es mit Galtons hereditary genius. Das im 5. Kapitel der Psy-
chologie des grands hommes vorgestellte Theorien-Spektrum – berein-
stimmung (Joly), Selektion (James) und Gegnerschaft (Galton) – bildet
den Hintergrund: Die Gegnerschaft zwischen dem Genie und seiner Zeit
steht bei Nietzsche schon lange fest, und so nimmt seine Theorie den Platz
derjenigen Galtons ein. Selbst wenn die Anklnge unberhçrbar sind, darf
die inhaltliche bereinstimmung jedoch nicht berschtzt werden: Eher

27 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 109.
28 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 110.
29 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 106; von Nietz-
sche an- und unterstrichen.

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Spannung 71

als die Familiengeschichte betont Nietzsche – diesmal mit Joly und gegen
Galton – die Erbschaft einer ganzen „Civilisation“, und gerade dieser
Aphorismus bleibt zwischen physiologischer Vererbung und kulturellem
Erbe auffallend zweideutig.
Die hier erzhlte Geschichte klingt irgendwie bekannt: Man hat
„lange“ „gesammelt, gehuft, gespart“ – Krfte natrlich –, nun kommt der
große Mensch, das Genie, und bringt alles mhsam Zusammengesparte
zum Explodieren: Er „ist nothwendig ein Verschwender“. Also: Sparen –
Spannung – Explosion. Nietzsche findet, es gebe zu wenig Verstndnis fr
diese „grosse[] konomie“ – z. B. bei seinem Gewhrsmann, dem ko-
nomen Emanuel Herrmann.30
Nietzsche hatte seine Auseinandersetzung mit Herrmann mit der
berlegung begonnen, der „Kampf gegen die großen Menschen“ sei „aus
çkonomischen Grnden gerechtfertigt“, weil sie „gefhrlich“ seien,
gleichsam „Unwetter“; „Grundinstinkt der civilisirten Gesellschaft“ sei
deshalb, „[d]as Explosive nicht nur unschdlich zu entladen, sondern
womçglich seiner Entstehung vorbeugen“ (NF, KSA 12, 413). Nietzsche
will jedoch letzten Endes darauf hinaus, dass in einem spten Zustand,
„wenn Kraft genug vorhanden ist“, eine „Cultur der Ausnahme“ doch ihre
Berechtigung hat, weil „nunmehr selbst die Verschwendung çkonomisch“
wird (NF, KSA 13, 484 f.).
Die Starken verschwenden sich, weil bei ihnen „die bertriebene
Spannung“ zu „Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit“ fhrt; da-
durch will Nietzsche erklren, „[w]arum die Schwachen siegen“ (NF, KSA
13, 365). Den Zusammenhang zwischen Spannung und Erschçpfung glaubt
er Charles Frs ,psychomechanischem Modell entnehmen zu kçnnen:
Wenn sich eine bermßige Spannung bildet, ergibt sich eine Entladung,
die zuletzt jedoch zu physischer und nervçser Erschçpfung fhrt.31 Nicht

30 Emanuel Herrmann, Cultur und Natur. Studien im Gebiete der Wirtschaft,


2. Auflage, Berlin 1887 (BN). Zu Nietzsches Herrmann-Lektre vgl. Wolfgang
Mller-Lauter, ber Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/
New York 1999, S. 173 ff.; zu NF, KSA 13, 365 vgl. Wolfgang Mller-Lauter, ber
Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/New York 1999, S. 209 ff.
Zu Nietzsches Idee, dass „nunmehr selbst die Verschwendung çkonomisch“
werden kann, vgl. Wolfgang Mller-Lauter, ber Freiheit und Chaos. Nietzsche-
Interpretationen II, Berlin/New York 1999, S. 210, S. 218 ff.
31 „[L]orsque la tension de l nergie potentielle est devenue excessive, il se produit
une dcharge […] dterminant un puisement“ (Charles Fr, Sensation et
mouvement, Paris 1887, S. 130). Fr konstatiert eine Kurve der Anspannung:
„[L]e premier effet de toutes ces excitations sensorielles tait une exagration
gnralise de la motilit“, sie fhrt dann aber zur Erschçpfung bis zum hypno-

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72 Marco Brusotti

nur Frs Patienten sind betroffen, die „Haushaltsprobleme“ sind weit


allgemeiner. So auch fr den spten Nietzsche: Bei den Schwachen und bei
den Starken mag die tiologie entgegengesetzt sein, aber die Wirkung ist
hnlich: Die „bertriebene Spannung“ der Starken hat als Ergebnis „die
geistige Stçrung“; „alle großen Zeiten werden bezahlt…“ (NF, KSA 13,
370).
Um ein solches „Problem der konomie“ (NF, KSA 13, 370), um den
çkonomischen Sinn der Verschwendung, geht es zuletzt auch in „Mein
Begriff vom Genie“.
Die Gefahr, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausserordentlich;
die Erschçpfung jeder Art, die Sterilitt folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse
Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein
Ende. Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: dass
es sich ausgiebt, ist seine Grçsse …. (GD, KSA 6, 145 f.)32

Der Aphorismus fhrt neben der Renaissance ein einziges Beispiel an, ein
Genie „in That“, Napoleon, aber es geht auch um das Genie „in Werk“; und
Nietzsche sieht in sich selbst ein derartiges unzeitgemßes Genie, das die
eigenen Krfte – sich selbst – ausgibt und verschwendet. Auch der Philo-
soph ist ein „Explosionsstoff“ (EH, KSA 6, 320): „Unser Fatum – das war
die Flle, die Spannung, die Stauung der Krfte.“ (AC, KSA 6, 169) Diese
Spannung gestauter Krfte wartete auf eine Entladung, deren Zeit jetzt –
so gibt das erste Kapitel des Antichrist zu verstehen – mit der Umwertung
aller Werte auch gekommen ist.

tischen Schlaf (dazu und zur tension vgl. Charles Fr, Sensation et mouvement,
Paris 1887, S. 144). Zu Nietzsches Exzerpten (z. B. NF, KSA 13, 218) vgl. Hans
Erich Lampl, Ex oblivione: das F r -Palimpsest. Noten zur Beziehung Friedrich
Nietzsche – Charles F r (1857 – 1907), in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 225 –
264; Bettina Wahrig-Schmidt, ,Irgendwie, jedenfalls physiologisch. Friedrich
Nietzsche, Alexandre Herzen (fils) und Charles Fr 1888, in: Nietzsche-Studien
17 (1988), S. 434 – 464. Auf den Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der
Fr- und denjenigen der Herrmann-Lektre weisen weder Lampl und Wahrig-
Schmidt noch Mller-Lauter hin.
32 Der Aphorismus will ein weiteres Missverstndnis bekmpfen: Wer die „Auf-
opferung“, den „Heroismus“ des Grossen rhmt, bersieht die Unfreiwilligkeit
des Geschehens. – Im Nachlass wird der Spannungsbegriff in die Kritik der
Willensfreiheit immer wieder einbezogen. Vgl. etwa NF, KSA 10, 268 f.; NF, KSA
13, 54.

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Spannung 73

Schluß

Im spten Briefwechsel beklagt Nietzsche immer wieder „eine unertrg-


liche Spannung und Verletzbarkeit“ (An Malwida von Meysenburg, KGB
III/5, Bf. 1078); „die schmerzhafte Spannung und Melancholie“ (An Franz
Overbeck, KGB III/5, Bf. 998); er fhlt sich „in einem Zustande eines bis
zum Springen gespannten Bogens“ (An Franz Overbeck, KGB III/5,
Bf. 984). Dieser Befund widerspricht der Selbstdarstellung in Ecce homo,
der zufolge er „keinen Zug von Spannung“ aufweist (EH, KSA 6, 297),
aber den kontrren Diagnosen liegt derselbe Spannungsbegriff zugrunde,
ein negativer, pathologischer. Die Spannung jenes „bis zum Springen ge-
spannten Bogens“ erinnert an den Zustand, vor dem bereits Menschliches,
Allzumenschliches gewarnt hatte. „In der Nachbarschaft des Wahnsinns“
hatte Nietzsche eine bedrohliche allgemeine berreizung konstatiert und
einen Spannungsabbau fr nçtig befunden, bei dem schwere Einbussen
wohl unvermeidlich waren. Der Spannungsabbau schien also ein ambi-
valenter Prozess, die Prioritten waren jedoch eindeutig. Nach Menschli-
ches, Allzumenschliches ndern sie sich: Die allgemeine berspanntheit
bleibt eine echte Gefahr, das Nachlassen von Spannung scheint nun aber
nicht minder bedenklich. Die zwei in Menschliches, Allzumenschliches
gegenbergestellten Tendenzen – berreizung und Spannungsabbau –
scheinen in den spteren Schriften zusammenzuwirken: eine berreizte
Zeit, in der Spannung merklich nachgelassen hat. So wird die Erkenntnis
nun zwar weiterhin mit Spannungsreduktion im Sinn von Menschliches,
Allzumenschliches betraut, aber zugleich soll eine neue Spannung befr-
wortet und aufgebaut werden. Daher wird es nçtig, unterschiedliche Fi-
guren von Spannung zu unterscheiden. Die Idee einer neuen Spannung
zeigt immer wieder die Zge des Extremen, bersteigerten, und jene Fi-
guren werden oft holzschnittartig entweder den Großen/Starken oder den
Kleinen/Schwachen zugeschrieben, werden gepriesen oder angeprangert,
gefçrdert oder bekmpft. Nietzsches Denkweg nach Menschliches, All-
zumenschliches besteht in immer neuen Anlufen, die entsprechenden
Mçglichkeiten zu ergrnden. Der vorliegende Beitrag ist diesen Versu-
chen, ihren Anregungen und Aporien, aber auch ihren Brechungen
nachgegangen.

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