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Islam
Autorenportrait
Lawrence von Arabien
Karlheinz Weißmann
Islam als Modell
Ellen Kositza
Kopftuchmädchen
Harald Seubert
Orient und Okzident
Niko Colmer
Dschihad-Freizeitpark
40
Februar 2011
10 EURO
ISSN 1611– 5910 61
www.sezession.de
Inhalt | Sezession 40 · Februar 2011
Sezession 1 Editorial
Herausgegeben vom Thema
Institut für Staatspolitik (IfS)
2 Autorenportrait
Unter Mitarbeit von Wolfgang Lawrence von Arabien
Dvorak-Stocker, Ellen Kositza, Martin Lichtmesz
Götz Kubitschek (verantwortlich),
Erik Lehnert und Karlheinz 6 Islam als politisches Modell
Weißmann. Karlheinz Weißmann
Alle Rechte für sämtliche Artikel 33 … und ein paar Fragen dazu
im Heft vorbehalten. Für Anzeigen- Gespräch mit Manfred Kleine-Hartlage
kunden gilt die Preisliste Nr. 8
vom März 2008. 34 Der Islam, die Religionsfreiheit …
Erik Lehnert
Manuskripte sind stets willkom-
men und sollten für einen Kurzbei- 35 … und ein paar Fragen dazu
trag 8.500, für einen Grundlagen- Gespräch mit K. A. Schachtschneider
beitrag 14.500 Zeichen (inkl. Leer-
zeichen) umfassen. 36 Setzen Sie auf die Frauen!
Ein Gespräch mit Karima Dahab
Satz & Layout:
satz@sezession.de 38 Die Welt der Konvertiten
Undine Rathenow
Sezession
Rittergut Schnellroda 40 Christenverfolgung
06268 Albersroda Redaktion
Tel / Fax: (03 46 32) 9 09 42
Dienste
redaktion@sezession.de
vertrieb@sezession.de 42 Rezensionen
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52 Vermischtes
Postbank Leipzig
BLZ 860 100 90
Kto 913 644 908 Der Bildinnenteil zeigt das Hisbollah-Frei-
lichtmuseum in Mleetea/Libanon.
ISSN 1611-5910 Fotos: © bei Niko Colmer.
Editorial
von Karlheinz Weißmann
Editorial 1
Thema | Sezession 40 · Februar 2011
Autorenportrait
Lawrence von Arabien
von Martin Lichtmesz
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, eine Generation nach dem Fall des letz-
ten maurischen Stützpunkts in Spanien, kam es erneut zu einem direkten
Zusammenstoß zwischen islamischer und abendländischer Welt. Das os-
manische Reich hatte nach der Eroberung Konstantinopels begonnen, den
südosteuropäischen Raum zu unterwerfen. 1526 siegten seine Truppen in
der Schlacht bei Mohacs und stießen weiter nach Österreich vor. Sie mar-
schierten auf Preßburg, wandten sich dann aber gegen Wien, das sie 1529
erreichten und belagerten. In dieser Situation forderte Karl V. die Reichs-
stände zur Unterstützung auf. Die evangelischen zögerten wegen der Un-
terdrückungsmaßnahmen, denen sie in der Vergangenheit durch ihr ka-
tholisches Haupt ausgesetzt gewesen waren.
Angesichts dieser Lage forderte Luther seine Anhänger auf, dem Kai-
ser den »Türkenpfennig« als Kriegssteuer zu zahlen und Truppen zu stel-
len. In der Stunde der Gefahr, so Luthers Argumentation, habe der Glau-
bensstreit zu schweigen, müßten alle Kräfte zur Verteidigung gebündelt
werden. Er lehnte zwar den vom Papst geforderten Kreuzzug ab, billigte
aber ausdrücklich eine militärische Aktion unter dem Kommando des Kai-
sers als weltlicher Obrigkeit.
In vielem folgte Luther der mittelalterlichen Theologie im Hinblick auf
seine Argumentation gegen den Islam. Er hielt ihn auch für die »Zuchtrute
Gottes«, für eine endzeitliche Prüfung, sogar für eine Teufelslehre gleich Paul Althaus: Luthers
der des Papstes. Ungewöhnlich war aber die Deutung als politisches Mu- Theologie, zuletzt
Gütersloh 1994.
ster. In seiner Abhandlung Vom Kriege wider die Türken hieß es: »… der
Türke ist der Mann, der dich lernen wird, was du itzt für gute Zeit hast,
und wie jämmerlich, undankbarlich, böslich du sie wider Gott, seine Die-
ner und deinen Nähisten zubracht, versäumet und missebraucht hast. Der
Türke weiss den Adel zu mustern und zu demüthigen, die Bürger zu züch-
tigen und gehorsam zu machen, die Baurn zu zähmen und den Muthwillen
zu büssen. Darumb denke und sei frumm, und bitte Gott, dass der Türke
nicht dein Schulmeister werde: das rath ich dir, er hats vor Wien allzu greu-
lich beweiset, wie ein wüster, unsauber Zuchtmeister er sei.«
war der Islam aber noch kein Faktor von Gewicht. Die meisten Beobach-
ter in Europa und Nordamerika glaubten sicher, daß Säkularisierung ein
globales Entwicklungsgesetz sei und die Religion auch in den von Mos-
lems bewohnten Gebieten allmählich an Bedeutung verlieren werde – eine
Auffassung, die nur ganz allmählich und auf Grund von drei Ereignis-
sen korrigiert wurde: dem Sturz des Schah und der »islamischen Revo-
lution« im Iran, der Abwendung Gaddafis vom arabischen hin zu einem
»grünen« (also islamischen) Nationalismus, dem Sieg der Mudschahedin
über die sowjetischen Invasoren in Afghanistan. Alle diese Vorgänge wi-
dersprachen der Progressionserwartung im Westen, aber auch in den in-
tellektuellen Schichten der »Dritten Welt«. Plötzlich wurde klar, daß es
keineswegs immer um »nationale Befreiung« oder »soziale Revolution« in
einem marxistischen oder nichtmarxistischen Verständnis ging, sondern Christine Schirrmacher:
um die Wirkmächtigkeit des Faktors Religion, den man allgemein für er- Wenn Religion zur Politik
wird, Holzgerlingen 2010.
ledigt gehalten hatte. Als Samuel Huntington diesen Tatbestand zur Spra-
che brachte, war er längst offenkundig, skandalös wirkte seine These vom
clash of civilizations nur, weil die Anhänger des alten Paradigmas immer
noch über die Interpretationsmacht verfügten.
Die Wahrnehmung des Islam als Gefahr, als eine Größe, die sich –
nicht nur in ihrer »fundamentalistischen« Spielart, sondern auch wegen
der Geburtenraten in islamischen Bevölkerungen – destabilisierend aus-
wirken könnte auf die »neue Weltordnung«, ist aber seit Anfang des Jahr-
zehnts konsensfähig. Das wiederum muß ihn attraktiv machen für jede
Kraft, die an einer Destabilisierung dieser Weltordnung interessiert ist,
ganz gleich ob sie von links oder rechts kommt. Bisher geht es aber nur
um Gedankenspiele. Noch gibt es im Westen keine nennenswerte politi-
sche Gruppierung, die sich dem radikalen Islam als Verbündeter anbieten
kann, weder in den ethnischen Brückenköpfen noch unter einheimischen
Systemfeinden. Die Zahl der Konvertiten bleibt klein, die Motive zum
Übertritt sind disparat, meistens individueller Natur, der Bevölkerungs-
mehrheit erscheint der Islam nirgends als echte Alternative.
Diese Feststellung ist aber nicht entwarnend gemeint. Vorausgesetzt,
daß die entscheidenden politischen Konflikte in Zukunft an Identitäts-
fragen orientiert sein werden, kann das Angebot einer »Elite-Identität«
(Christine Schirrmacher), das der Islamismus macht, durchaus Attrakti-
vität gewinnen und das nicht nur unter islamischen Zuwanderern oder
deren Nachkommen. Die USA haben während der sechziger und siebzi-
ger Jahre eine entsprechende Erfahrung mit der Nation of Islam gemacht,
einer Bewegung, der man trotz ihres Sektierertums, der Fremdartigkeit
ihrer Ideologie und Fragwürdigkeit ihrer Führergestalten sogar zutraute,
einen großen Teil der schwarzen Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Ge-
rade die Strenge, der Puritanismus und der Auserwähltheitsglaube übten
unter den Bedingungen krisenhafter Entwicklung eine große Anziehungs-
kraft aus. Daß die Nation of Islam heute wie eine mehr oder weniger
beliebige Bürgerrechtsbewegung oder ein Teil des religiösen Supermarkts
wirkt, ist dabei ohne Belang. Die Mäßigung war kein immanenter Prozeß,
sondern Disziplinierung durch den american way of life. Sollte der diese
Wirksamkeit in Zukunft einbüßen, könnte man es durchaus mit einem
Prototypen der weiteren Entwicklung zu tun haben.
Die Ausgangslage ist mit einem Satz beschrieben: Für Kirche und Christen-
heit ist der Islam historisch wie sachlich eine religiös-politische Fremdge-
stalt. Er wird als das weltkirchengeschichtliche Rätsel zu gelten haben, das
sich einer eigentlich theologischen Beurteilung noch immer entzieht. Die
bisher entwickelten Einordnungskriterien – der Islam sei eine christliche
Heterodoxie, Paganismus oder eine autonome Weltreligion – sind theo- Hans Jansen: Mohammed,
logisch nicht ohne weiteres ineinander zu vermitteln. Dem Wunschbilde München 2008.
weltweiter Religions- und Menschenrechtskompatibilität entspricht es frei-
lich, die theologischen Fragen ganz fallen zu lassen und den Islam einfach
als die »andere« Religion Europas hinzunehmen. So wird der Islam mehr
oder weniger autochthonisiert, als sei er da, wo er heute steht, schon immer
gewesen; er wird zugleich temporalisiert, in seiner Existenz von den Kreuz-
zügen und der spanischen Reconquista her begriffen und damit überwie-
gend als Opfer hingestellt. Es kommt aber darauf an, den Islam aus seinem
ursprünglichen Expansionswillen zu begreifen und seinen Anspruch, Voll-
endung des Gottesglaubens zu sein, theologisch ernstzunehmen. Die bei-
spiellosen Eroberungen gerade des frühen Islam gelten ihm selbst ja als der
große Gcschichtsbeweis für seine Überlegenheit; sie und der Koran bilden
das göttliche Doppelwunder, mit dem die islamische Weltzeit angebrochen
und zugleich durch eine neue Zeitrechnung dokumentiert sei.
Damit tritt der Islam dem Christentum in ausdrücklicher Rivali-
tät gegenüber; er beansprucht, mit dem Christlichen auch Jesus Christus
selbst überboten zu haben. Hier zum »Dialog« aufzurufen bleibt schwie-
rig. Es dürfte sinnvoller sein, statt eine dialogische Situation zu unterstel-
len, von Begegnung und Konfrontation zu sprechen und auch deren Schei-
tern einzurechnen: Es gibt keine christliche Begegnung mit dem Islam, ge-
schweige einen Dialog, ohne daß die Notwendigkeit christlicher Selbster-
haltung klargestellt und der absolute Geltungsanspruch des Christentums
deutlich gemacht würde.
Die allgemeine geistige Leere bezüglich des religiösen Wissens in der
heutigen Generation Deutschlands ist in der Geschichte ohne Beispiel. So
sind die beiden letzten Generationen in Deutschland, besonders in der
»Es ist vollbracht«! und warum wurde ihm gestattet, die Menschen zu
täuschen, daß sie nicht länger in ihrer Schuld blieben?
Und schließlich glauben Muslime, daß Jesus wiederkommen werde.
Sure 43,61 stellt fest: »Und Jesus ist ein Erkennungszeichen der Stunde des
Gerichts. Seid deshalb ja nicht im Zweifel über sie und folgt mir. Das ist
ein gerader Weg.« Der Hauptgrund für die Wiederkunft Jesu sei die Vor- Tilman Nagel:
bereitung des Weges der weltweiten Annahme des Islam und dadurch die Mohammed. Leben und
Legende, München 2008.
Schaffung des Friedens auf Erden. Obwohl muslimische Theologen hier
unterschiedlicher Meinung sind, so glauben doch viele, daß der Vers, der
sagt: »Die Leute der Schrift müssen an ihn vor seinem Tod glauben«, die
Tatsache erklärt, daß die Christen bei Christi Wiederkunft zu dem einen
wahren Weg des Islam zurückkehren werden. Andere Traditionen erwäh-
nen, daß Jesus zur Erde zurückkehren, andere über den Koran und die
Hadithe (Mitteilungen über Aussprüche und Handlungen Mohammeds)
belehren, die Leute im Gebet anführen, Frieden und Wohlstand bringen,
den Verzehr von unreinen Tieren beenden und abgöttische Bilder ein-
schließlich der Kreuze entfernen werde.
Christen müssen angesichts solcher Schilderungen ihre Überzeugung
über die Person und das Werk Christi am Kreuz sowie die Wiederkunft
Christi bekennen. Christus ist der Wiederkommende – »Von dort wird er
kommen, zu richten die Lebenden und die Toten« – und wird sein Reich
errichten. Vielleicht haben es viele Christen vergessen, aber es stimmt
wohl, was der englische Erweckungsprediger Charles Haddon Spurgeon
(1834–1892) einmal geschrieben hat: »Wir müssen die Wiederkehr des
Herrn predigen und das mehr, als wir es getan haben. Zu viele (Pastoren)
haben diese Wahrheit zurückgehalten und damit dem Evangelium das
Rückgrat entnommen. Es ist zerbrochen worden. Die Lehre vom kom-
menden Gericht ist die Kraft, durch welche die Menschen wieder aufge-
rüttelt werden müssen. Es gibt ein anderes Leben; der Herr wird wieder-
kommen; es wird ein Gericht geben, und der Zorn Gottes wird sich of-
fenbaren. Wo man das nicht predigt – und ich bin so kühn das zu sagen
– da wird das Evangelium nicht gepredigt«.
3. Der Orient ist für Europa seit jeher beides gewesen: Faszination –
und Schreckbild. Die griechische Polis, vor allem Athen, bedeutet deshalb
einen »Neubeginn der Weltgeschichte« (Christian Meier), weil sie die Idee
eines auf wechselseitige Rechenschaft und Vernünftigkeit bezogenen po-
litischen Gemeinwesens etabliert. Die griechische Tragödie, Darstellung
menschlicher Existenz zwischen Göttern und Schicksal (Moira) ist da-
bei ein wesentlicher Leitfaden dieser Einsicht gewesen. In Unterschei-
dung von den vorderasiatischen Großreichen formt sich weiter die Dif-
ferenzierung zwischen Mythos und begründungspflichtigem Logos aus.
Auch wenn die reale Polisdemokratie kaum Stabilität zeigte, so wahrte
doch der innere Staat der Philosophen dieses gegen den Osten gerich-
tete Ideal. Sokrates und Platon zeigen überdies, daß jene Rechenschafts-
fähigkeit nicht, wie bei den Sophisten, zu einer Auflösung von Tugenden
und Verbindlichkeiten führen muß. Sie können gegenüber der Hybris des
Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei, die Frage nach
4. Nur auf eine spätere Figuration des einen großen Themas kann
noch hingewiesen werden: Was Europa sein konnte, leitete sich im 19.
Jahrhundert weitgehend aus der Orientalischen Frage ab, deren Frontli-
nien wie ein Palimpsest nach 1989 wieder sichtbar werden sollten. Auch
der Balkankonflikt verlief erneut auf der Haarlinie zwischen West- und
Ostrom. Die Orientalische Frage bezeichnet dabei das komplexe Geflecht
zwischen Rußland, das, verbunden mit Expansionstendenzen in den We-
sten, den Anspruch erhebt, Drittes Rom, und damit: Erbe von Byzanz, so-
Harald Seubert: Polis und wie Schutzmacht der universalen Christenheit zu sein. Dies implizierte die
Nomos. Untersuchungen Auflösung des Osmanischen Reiches als politische Zielsetzung.
zu Platons Rechtslehre,
Berlin 2005. Die Eckdaten jener Orientalischen Frage werden einerseits markiert
durch das Jahr 1774 mit den Gebietsverlusten des Osmanischen Reiches,
das im Frieden von Kütchük Karnaiijdcha erstmals muslimisch besiedeltes
Territorium am Schwarzen Meer preisgeben mußte, und andrerseits durch
das Jahr 1923 mit dem Frieden von Lausanne, der in der Beendigung des
türkisch-griechischen Kriegs das Nationalitätenprinzip durchsetzte.
Seit dem osmanisch-russischen Krieg 1768/69, aber auch mit dem
»Griechischen Projekt« von Katharina der Großen, dem Versuch der Wie-
derherstellung Griechenlands mit der Hauptstadt Konstantinopel, war die
Dieter Groh: Rußland russisch-osmanische Konfrontation unumkehrbar geworden. Dies bedeu-
im Blick Europas. tete einen zweiten Orient-Okzident-Konflikt, ausgelöst durch die zuneh-
300 Jahre historische
Perspektive, zuletzt mende Entfremdung Rußlands vom Westen. Nikolai Danilewski hat in
Frankfurt a.M. 1988. seiner Schrift Rußland und Europa (1869) unter dem Eindruck des Krim-
kriegs dieser anti-westlichen Tendenz ein fulminantes Manifest gewid-
met. Rußland verliere sich selbst, so die These, wenn es länger Legitimi-
tätsgarant der Wiener Ordnung bleibe. Dostojewski stimmt wortmächtig
ein: zwischen dem lateinischen Katholizismus und der Französischen Re-
5. Der andersartige Osten bleibt für das westliche Europa der Zwi-
schenkriegszeit ein Spiegel eigener Identität. Daß das Sowjetreich sich mit
dem Erbe des Zarenreiches und den Herrschaftsformen orientalischer
Despotie verband, faszinierte westliche Linksintellektuelle wie Heinrich
Mann oder André Gide. Letzterer pilgerte selbst im Jahr der Säuberungen
1936 nach Moskau, er verfaßte danach allerdings einen vorsichtig kriti-
schen Reisebericht.
Daß der Begriff des Abendlandes noch einmal, bis in die fünfziger
Jahre hinein, eine Leuchtkraft gewann, auch als christliches Ordnungs- Hanno Kesting:
prinzip, daß die nach Carl Schmitt einzig legitime Form, christlich Ge- Geschichtsphilosophie
und Weltbürgerkrieg.
schichte zu denken, das Modell des Katechonten, in diesen Zusammen- Deutungen der Geschichte
hang eintrat, hatte indes mit dem Topos von der »asiatischen Despotie« zu von der Französischen
Revolution bis zum
tun, die unter dem Roten Stern strahlte. Ost-West-Konflikt,
Hanno Kesting, der ähnlich wie Mr. X – der amerikanische Diplomat Heidelberg 1959.
George F. Kennan – früh durch die Vordergrundansichten hindurchblickte,
konstatierte klarsichtig manche Parallelen zwischen dem expandierenden,
Welt beglückenden System des Ostens und dem amerikanischen Kapitalis-
mus. Hatten sie nicht beide eine Tendenz zur Kreierung eines neuen Men-
schen, zur Einlösung des Eschatons in die Diesseitigkeit? Der »Weltstaatsbe-
griff«, wie ihn Ernst Jünger in dieser Zeit formulierte, nahm diese Unifizie-
rung auf und fokussierte das große Anihilement, das eine wirkliche geistes-
politische Differenz zwischen Westen und Osten nicht mehr erkennen ließ.
Seit den Kreuzzügen und den Türkenkriegen wurden die Anhänger des
Islam in Deutschland als Feinde angesehen. Jeder Feind erfährt gezwun-
genermaßen eine gespaltene, ja sogar paradoxe Charakterisierung bei sei-
nem Gegner. Einerseits wird er dem Spott preisgegeben, andererseits wird
er in seiner Kampfkraft und seiner Virilität aufgewertet, damit die eige-
nen Siege um so glorreicher erscheinen. Ich nenne dieses Phänomen das
Paradox des Feindbildes. Wie sich zeigen wird, trifft es nicht nur im mili-
tärischen Kontext zu, sondern auch im ästhetischen, wo es allerdings auch
eine problematische Negation des Politischen darstellen kann.
Im Ästhetischen entspricht dem politischen Paradox des Feindbil-
des die Darstellung des Türken als Aggressor mit sowohl lachhaften wie
grausamen Zügen. Am deutlichsten zeigt sich der Spalt zwischen Ab-
und Aufwertung in einem Werk, das gerade zum Abschluß der langen
Epoche der militärischen Auseinandersetzung mit dem Islam entstand,
nämlich Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail aus dem Jahr
1782. Erzählt wird der Fluchtversuch von vier Spaniern, von denen drei
in türkische Sklaverei verkauft worden waren und die nun von dem Ge-
liebten einer der beiden Frauen befreit werden sollen. Ihre Gegenspie-
ler sind der Haremswächter Osmin und der türkische Herrscher Selim
Bascha. Diese beiden Figuren sind nichts weiter als die Aufspaltung des
Paradoxes des Feindbildes. Osmin wird die Rolle des dumpf-lüsternen
Hassers des Westens zugewiesen. Er ist gleichzeitig grausam (»Erst ge-
köpft, dann gehangen / dann gespießt auf lange Stangen«), tyrannisch
(»Wir sind in der Türkei! Ich dein Herr, du meine Sklavin«) und tölpel- Carl Schmitt: Der
haft. Letztlich ist er eine Spottfigur. Die Wertschätzung des türkischen Begriff des Politischen,
7. Aufl., Berlin 2002.
Feindes kommt Selim Bascha zugute. Auch er ist brutal, droht er doch
seiner sich ihm verweigernden Sklavin »Martern aller Arten« an. Aber
letztlich erweist er sich als großmütig, indem er seine Gefangenen frei-
läßt, um so seine Feinde zu beschämen. Mag der Türke auch despotisch,
mitunter dumm, und allemal grausam sein, er ist dennoch ein ernstzu-
nehmender militärischer Gegner.
Wir
und die anderen
128 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
19,80 Euro, ISBN 978-3-929886-32-0
ISBN ISBN
978-3-929886-33-7 978-3-929886-28-3
Kopftuchmädchen
von Ellen Kositza
Es ist rund 50 Jahre her, daß über ein Stückchen Stoff ähnlich heiß debat-
tiert wurde wie derzeit über das Kopftuch. 1962 tauchte im ersten James-
Bond Film (»Dr. No«) mit einer dem Meer entstiegenen Ursula Andress
der – schon Jahrzehnte vorher wohl von einem Deutschen »erfundene« –
Bikini auf. Die Rede von verführerischen, spärlich gekleideten Frauen als
»Sexbomben« wurde seinerzeit populär. Bemerkenswerterweise hatte der
französische Modeschöpfer des Zweiteilers seine Kreation nach dem Bi-
kini-Atoll benannt, wo die US -Armee ihre berüchtigten Atombombentests
durchgeführt hatte. Ein ebenfalls in Paris wirkender Konkurrent hatte
zeitgleich an zweiteiligen Badedessous gearbeitet, die er unter dem Namen
L ’Atome auf den Markt bringen wollte: Die explosive, im Vergleich zur
Atombombe aber doch verlockend handhabbar erscheinende Wirkung des
Textilteils ist überdeutlich, und der damals beliebte»Atombusen« tauchte
erst jüngst auf einer Roten Liste vom Aussterben bedrohter Wörter auf.
Noch 1968 verfügten einige deutsche Schwimmbäder ein Verbot für »das
Tragen sogenannter Bikini-Badeanzüge«, die man als »weder anständige
noch sportgerechte Badekleidung« empfand.
Dies, Kopftuch- versus überkommener Bikinidebatte, wäre ein unzu-
lässiger Vergleich? Weil das Kopftuch eben keine Modeerscheinung sei,
sondern daran ein ganzer Komplex an kulturellen und moralischen Ver-
wicklungen hänge? Wie kern-abendländisch ist eigentlich die umfassende
Entschleierung?
In der Tat ist die Sachlage verzwickt, und je genauer wir hinschauen,
desto vielfältiger werden die Verästelungen. Es herrscht kein Mangel an
Büchern, die sich in aller Gründlichkeit mit einer befürchteten Islamisie-
rung (»Verkopftuchung«) Deutschlands und den damit einhergehenden
Verwerfungen auseinandersetzen. Nicht einmal den linksliberalen, über
Jahrzehnte multikulturell inspirierten Leitmedien hierzulande wird man
vorwerfen können, diesen umfassenden Themenkomplex totzuschweigen.
Die kritische Berichterstattung über Ehrenmorde, über muslimische Schul-
versager und Zivilisationsverweigerer der zweiten und dritten Einwande-
rergeneration sowie über deren »frauenverachtendes« Gebaren waren be-
22 Kositza – Kopftuchmädchen
reits vor Sarrazin keine Tabuthemen, schon gar nicht die Debatte über die
mutmaßliche Bedrohungslage, die vom Kopftuch ausgehe. Der größere Teil
der Bundesländer verbietet das Kopftuch im öffentlichen Dienst. Nein, »ge-
hätschelt« werden unsere (?) Kopftuchmädchen und -frauen gewiß nicht.
Man braucht sich gar nicht durch die Archive reich frequentierter, ein-
schlägiger Netzportale- und Seiten zu wühlen, um einen Hauch der kalten
Verachtung, ja des Abscheus zu spüren, die hier keinesfalls von einem halb-
alphabetisierten Mob, sondern von anscheinend mindestens durchschnitt-
lich gebildeten Bürgern artikuliert wird. Selbst in den Kommentaren zu
Internetausgaben großer Zeitungen und Zeitschriften aus der politischen
Mitte schafft sich das Unbehagen an Kopftuchträgerinnen (vulgo »Pingu-
ine«, »wandelnde Einzelzellen«, »Minarette«, Särge« etc.) breiten Raum.
Ich stieß auf eine Netzsseite, die eine Sammlung an Witzen über Kopf-
tuchfrauen bereithielt. Was für eine Häme, wieviel Schläge unter die Gür-
tellinie! Am Ende des bösartigen Ergusses dann der Aberwitz, das »Ande-
rerseits«: »Hierbei handelt es sich ausschließlich um ›alte‹ Witze, bei de-
nen das Objekt ›Blondine‹ durch ›Kopftuchfrau‹ ausgetauscht worden ist.« Repräsentative Studie
Gut: Blondinen sind keine Minderheit. Sind es aber die zwei Mil- Muslimisches Leben
in Deutschland des
lionen Frauen aus dem islamischen Kulturkreis, die in Deutschland le- Bundesamtes für Migration
ben? Oder nur die vielleicht 500 000 unter ihnen, die ein Kopftuch tragen? und Flüchtlinge, vorgestellt
am 25.06.2009
Ausgrenzungsgefühle zählen unter den negativen Emotionen zu den po-
pulärsten. Warum sollten Gefühlsmoden Halt machen vor muslimischen
Frauen, zumal vor den soweit westlich angepaßten, daß sie dieses Unbe-
hagen artikulieren können?
Feindselige Blicke, ein abfälliger Spruch, kopfschüttelnde Passanten, Eva Schwingenheuer:
ein sich hervorragend verkaufendes Büchlein mit hämischen »Zeltfrauen«– Burka, Frankfurt 2009.
Zeichnungen – wie haben wir das zu werten? Von tätlichen Übergriffen
auf Kopftuchfrauen (aus der autochthonen Bevölkerung heraus!) lesen wir
wenig. Da geht es diesen »Diskriminierten« ähnlich wie unzähligen ande-
ren Gruppen von Normabweichlern, die mangelnde gesellschaftliche Ak-
zeptanz beklagen: den Vollzeitvätern, den kinderlosen Frauen, den Großfa-
milien, den Gesichtsgepiercten und den knutschenden Homosexuellen. Ob
das öffentliche Naserümpfen und die anonyme Netzpöbelei gegen all jene
ein instinktives Reflexverhalten, ressentimentgeladene Spießigkeit oder gar
»gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« ist, sei dahingestellt.
Woher aber der Spott und der Unwillen, der dem Auftritt einer kopf-
tuchtragenden Hayrünissa Güls nicht als migrantische Integrationsverwei-
gerin, sondern als Gattin des türkischen Staatspräsidenten entgegenschlug?
Die Masse derer, die höhnisch an der Freiwilligkeit solcher Verschleierung Christiane Hoffmann:
zweifelt, stellt nicht in Frage, ob eine 14jährige in Hotpants und bauchna- Hinter den Schleiern
Irans. Einblicke
belfreiem Oberteil oder die Wasserstoffblonde mit den operativ vergrößer- in ein verborgenes
ten Brüsten wirklich nur ihren ureigenen Schönheitsimperativen folgen. Auf Land, Köln 2008.
den geharnischten Frauenprotest, der im Iran auf die gesetzlich erzwungene
Entschleierung durch den Schah folgte, sei nur am Rande hingewiesen.
Grob umrissen, stehen vier Haltungen zum Kopftuch zur Disposition:
Erstens: Kopftuchgegner, die mit jeglicher Verschleierung auch der Ein-
wanderung generell skeptisch gegenüberstehen. Rechte Parteien und Lob-
bys sowie vielgestaltige Stimmen »aus dem Volk« stehen für diese (von den
etablierten Medien gemiedene) Haltung, für die das Kopftuch eine Speer-
spitze der »muslimischen Landnahme« darstellt. Integrationskonzepte wer-
den abgelehnt, allenfalls eine völlige Assimilierung würde akzeptiert.
Zweitens: Die, in deren Kulturkreis es gebräuchlich ist, sind jederzeit
willkommen, jedoch ohne Kopftuch, weil dies als Symbol der Frauenunter- Alice Schwarzer: Die
drückung und damit der Mißachtung universaler Menschenrechte gilt. In große Verschleierung.
Für Integration, gegen
Frankreich, wo der Laizismus seit über einem Jahrhundert offizielle Staats- Islamismus, Köln 2010.
doktrin ist, nähert man sich dieser Haltung in vollendeter Konsequenz an:
Im Schulunterricht und in Universitäten ist das Kopftuch verboten, maß-
gebliche feministische Institutionen sowie große Teile der Regierung streben
an, das Kopftuchverbot auf den gesamten öffentlichen Raum auszudehnen.
Drittens: Diejenigen, denen das Kopftuch im öffentlichen Raum als
Zeichen einer vollendeten Globalisierung gilt (etwa in Großbritannien,
wo auch Lehrerinnen und Polizistinnen ihren Beruf mit Kopftuch aus-
üben dürfen) oder die es im Rahmen eines Toleranzgebots und der Religi-
onsfreiheit dulden (beispielsweise in Österreich.) Zahlreiche (linke) Femi-
nistinnen jenseits der Emma-Linie befürworten diese unterschiedlich nu-
ancierte Haltung: Sie gehen davon aus, daß muslimische Frauen öfter als
Kositza – Kopftuchmädchen 23
Kein Kopf ohne Tuch –
Évariste Luminais: Die
Witwe (oder Die Familie
des Fischers), Öl 1856
24 Kositza – Kopftuchmädchen
Kopftuch quer durch alle
Schichten – Alfred Stevens:
Was man Landstreicherei
nennt, Öl 1855
demnach auf Wiba, das Verhüllte zurückführen, und bezeichne die Kopf-
bedeckung der verheirateten germanischen Frau. Auch im antiken Grie-
chenland gingen die Frauen der Oberschicht verhüllt, Schleierverbot habe Christina von Braun/
nur für Prostituierte geherrscht. Bettina Mathes:
Verschleierte Wirklichkeit.
Die christliche Bildkunst zeigt uns nicht nur Maria verschleiert. Auch Die Frau, der Islam und
im späteren Verlauf der europäischen Geschichte sehen wir keinesfalls der Westen, Berlin 2007.
nur Mägde und Unterworfene unter dem Kopftuch – die heute gängige
Gleichsetzung von Entblößung mit Freiheit ist eine zeitgeistige Hypothese.
Unsere Großmütter trugen Kopftuch inmitten der Trümmerhaufen ihres
Landes, unsere Mütter trugen es, weil es Grace Kelly so gut stand – wieso
wäre ausgerechnet das Kopftuch Ausweis der Fremdheit?
Die schwarzäugige Kopftuchträgerin an der Supermarktkasse be-
fremdet mich weniger als ihre wildgefärbte, kaugummikauende Kollegin
mit all den Ringlein in Lippe und Augenbrauen. Ebenso wähnte ich meine
Kinder bei einer Ferestha Ludin als Englischlehrerin besser betreut als
bei einem franseligen Sozialkundepädagogen, der zugleich für Die Linke
im Kreistag sitzt und in seinen Klassenarbeiten Aufgaben stellt, deren
Musterlösungen hanebüchen sind. Innerhalb einer starken Gesellschaft
(»selbstbewußte Nation«), die sich solche Offenheit erlauben kann, sind
alle vier gut auszuhalten – besser, im Konjunktiv zu reden: sie wären es.
In Gesellschaften mit einem ausgefransten Rahmen für Normen und
Werte irritiert die individuelle Abweichung viel weniger als ein kollektives
Symbol. Das Kopftuch der muslimischen Frau ist Teil ihrer gesamten Klei-
dung, die bestimmten Vorschriften unterliegt. Kleidungsvorschriften gibt
es im Islam sowohl für den Mann als auch für die Frau. Sie dienen dazu,
die Würde und Achtung vor einander zu schützen.
Entsprechende Absätze aus Koransuren oder mohammedanischen www.koptuch.info/
Ahadith, die sich mit Kleidungs- und Verhaltensregeln für Frauen befassen frauimislam/vergleich.html
und für das heutige Verständnis vielfach barbarisch anmuten, werden von
Islamkritikern und -feinden gerne zitiert, um die Unvereinbarkeit dieser Re- Colin Goldner:
ligion mit dem aufgeklärten Westen zu verdeutlichen. Der im Januar ver- Dalai Lama: Fall
eines Gottkönigs,
storbene Hadayatullah (einst: Paul) Hübsch, Alt-68er, vor über 40 Jahren Aschaffenburg 2008.
zum Islam konvertierte und in der Frankfurter Ahmadiyya-Gemeinde Frei-
tagsprediger, hat eine Synopsis aus einer Vielzahl biblischer und muslimi- Bruno Waldvogel-Frei: Das
scher Texte zum jeweiligen Frauenbild zusammengestellt. Und siehe: Nicht Lächeln des Dalai Lama
… und was dahintersteckt,
nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament finden sich Stellen, die in Witten 2010.
punkto Geschlechterdifferenz und Ungleichheit sehr nach Koran klingen:
»Was ist der Mensch, daß er rein wäre, der Weibgeborene!« (Hi
15,14); (Wenn Unzucht erwiesen ist) »soll man das Mädchen hinausfüh-
ren (…) Dann sollen die Männer ihrer Stadt sie steinigen, und sie soll ster- »Männerbünde und
ben.« (Dtn 21:21) »Daß eine Frau lehrt, erlaube ich nicht(…), sie soll sich Evangelikale. Die
unheilige Allianz der
still verhalten« (1. Tim 2, 11.12); oder: »Wenn eine Frau kein Kopftuch Anti-Feministen« Emma
trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden. Ist es aber für eine Winter 2011, S. 54
Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden zu lassen, dann soll sie
sich verhüllen« (1. Kor 11, 5–6) oder: »Der Mann ist das Haupt der Frau.
Kositza – Kopftuchmädchen 25
(…) Die Frauen sollen sich den Männern in allem unterordnen.
(Eph 5,23–24).
Aus Sicht des universalen Feminismus und Genderismus ist
eine strikt antireligiöse Haltung deshalb konsequent. Anders als
der egalitäre Feminismus , der die Kategorie Geschlecht ablehnt,
geht jegliche traditionale Sichtweise von einem grundlegenden Un-
terschied zwischen Mann und Frau aus. Wir finden die rigorose
Trennung eines weiblichen und männlichen Lebensprinzips in bei
den (Differenz-) Feministinnen neuheidnischer Kultgemeinschaf-
ten, wir finden im Hinduismus eine Abwertung der Frau, die sich
drastisch in Witwenverbrennungen und massiven Abtreibungs-
zahlen weiblicher Föten ausdrückt. Die Neo-Sannyasins der Bhag-
wan-Sekte, die in den Siebzigern gerade von deutschen Femini-
stinnen regen Zulauf erhielt, drückte Frauen in die Prostitution,
Frauenbeglücker und Kultfigur Osho nannte die Frauenbewegung
und ihr Streben nach Gleichberechtigung »häßlich«. In den tan-
trischen Praktiken des Buddhismus werden Mädchen ab acht, be-
vorzugt mit zwölf zum Sexualverkehr herangezogen und das tibe-
tische Wort für Frau bedeutet zugleich »Niedriggeborene«.
Wilhelm Leibl, Bauernmädchen Alice Schwarzer als einer der prominentesten Kopftuchgegne-
mit weißem Kopftuch, 1876 rinnen geht es darum, »Glaubensfragen« jeglicher Couleur aus der
Politik herauszuhalten, deshalb setzt sie die Kopftuchfrage aus-
drücklich mit dem von hier ebenfalls seit je vehement kritisierten
Abtreibungsverbot gleich. Weil »die Politik« »nicht nur in Gottes-
staaten, sondern auch in Demokratien« sich gegen die Lebensrea-
lität von Frauen und zugunsten von Kirchenvertretern entscheide,
spreche sie sich gegen Abtreibung aus – genau wie die Vertreter
Mohammeds für das Kopftuch: eine schlagende Analogie!
Auch die Koedukation (erst seit wenigen Jahrzehnten in
Deutschland üblich und heute von zehn Prozent der muslimi-
schen Eltern allein für den Schwimmunterricht abgelehnt) sei
»unverzichtbar für jede geschlechtergerechte Erziehung«.
Wäre das Christentum hierzulande potenter, hätte Schwar-
zer – für die ethnische Zugehörigkeiten an sich keine Rolle spielen
– wenig Anlaß, ausgerechnet gegen »den Islamismus« zu trompe-
ten. In der Tat wird mit ähnlichen Argumentationsmustern in der
aktuellen Emma auch Familienministerin Kristina Schröder ver-
dächtigt, eventuell eine »erzkonservative Christin oder gar Fun-
damentalistin«(!) zu sein.
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Mainstream-Fe-
minismus hier bewegt. Einerseits bezieht man seit Jahrzehnten
scharf Position gegen jegliche Pornographie, Prostitution und ge-
Trümmerfrau in Berlin 1946 gen kranke Körperbilder junger Mädchen und fokussiert gesell-
schaftlich verursachte Eßstörungen, andererseits zeigt sich gerade
an solchen Symptomen, wie fragil das Selbstbild der aus jegli-
chem traditionalem Rahmen freigelassenen Frau ist. So fügt es
sich, daß wir in der Emma ein Hohelied ausgerechnet auf die Bar-
biepuppe finden. Barbie wird als viel emanzipierteres Rollenmo-
dell angesehen als die bekopftuchte Fulla, ihr Gegenbild, das in
der islamischen Welt reißenden Absatz findet.
Zum 50. Geburtstag der dünnen, alterslosen Plastikpuppe
2009 war folgendes Bekenntnis in der Emma (und zwar im re-
daktionellen Teil und nicht auf der Leserbriefseite) zu lesen:
»Meine letzte Barbie-Puppe habe ich vor zwei Jahren gekauft,
da war ich 43 Jahre alt. (…) Ich war längst erwachsen, als ich
im Spielzeuggeschäft stand, unter den rosa Schachteln nach ei-
nem Geschenk suchte und mir plötzlich bewusst wurde: ›Hey du
darfst. Du kannst. Du bist erwachsen.‹ Seither kaufe ich mir im-
mer wieder mal eine neue Puppe, ein Set Kleider, ein paar Glitzer-
spangen (…). Die Welt größer und glitzernder denken, die eigenen
Grenzen sprengen. Dafür gibt es viele Methoden, viele Namen.
Ich sage: Dazu braucht man Barbie.«
Welch trauriges Ringen um Ausdruck, Identität, Selbstbild!
Fulla-Barbie 2010 Gäbe es das Kopftuch auf Rezept (Indikation etwa: Wiederer-
langung von Würde, Geborgenheit und Seinsgewißheit): Hier
möchte man es verordnen.
26 Kositza – Kopftuchmädchen
Sezession 40 · Februar 2011 | Autoren
Prof. Dr. Kai Hammermeister, 1967, ist Professor für Deutsche Sprache und
Literatur an der Ohio State University in Columbus/ USA.
Jacques Lacan (Beck Reihe Denker), München 2008
Prof. Dr. Karl-Heinz Kuhlmann, 1934, war evangelischer Pastor und später
Professor an der Evangelischen Theologischen Fakultät in Löwen/Belgien. Bis
heute Gastprofessuren im Ausland.
Dr. Erik Lehnert, 1975, studierte Philosophie, Geschichte sowie Ur- und
Frühgeschichte, promoviert in Philosophie.
Schlüsselwerke, Band 2 des Staatspolitischen Handbuchs, hrsg. gemeinsam mit
Karlheinz Weißmann, Schnellroda 2010
Prof. Dr. Albrecht Schachtscheider, 1940, ist Staatsrechtslehrer und hatte bis
2006 den Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg
inne. Er ist (Mit)-Autor mehrerer Verfassungsbeschwerden gegen unterschiedliche
Stufen der Europäischen Integration und die damit verbundenen Aufgabe
nationaler Souveränitätsrechte. Über die Verfassungsbeschwerde gegen das
Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz, das die deutschen Hilfszahlungen bei
der Bekämpfung der griechischen Finanzkrise von 2009/2010 regelte, steht ein
endgültiges Urteil noch aus.
Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam, Berlin 2010
Prof. Dr. Harald Seubert, 1967, Studium der Philosophie, Neueren Geschichte,
Literaturwissenschaft, Sozialwissenschaften und Evangelischen Theologie,
Habilitation über Platons Rechtslehre an der Martin-Luther-Universität in Halle.
Seit 2006 Professor für Kulturphilosophie und Ideengeschichte an der Universität
Posen. Lehrbeauftragter an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Religion. Eine philosophische Einführung, München 2009
Autorenverzeichnis 27
Thema | Sezession 40 · Februar 2011
28 Colmer – Mleeta
Die Architektur der
»Großen Erzählung«
Colmer – Mleeta 29
Jahr nach ihrer Gründung griffen Hisbollah-Selbstmordattentäter die US -
Botschaft in Beirut (16 Tote) und Monate später des Hauptquartier der
US -Marines am Flughafen an – hierbei kamen 241 Amerikaner um. Daß
sie einen »islamischen Gottesstaat nach dem Vorbild Teherans« errich-
ten wolle, schreiben heute nur noch Journalisten in den USA und Westeu
ropa. Im Libanon sprechen selbst politische Gegner voller Respekt über
die Hisbollah. Ein Grund hierfür ist der sogenannte »Sommerkrieg« im
Jahr 2006.
Das Thema »Sommerkrieg«, der im Libanon als »Harb Tammuz«,
als Juli-Krieg bekannt ist, ist nach wie vor dominierend in der Erinnerung
und für das Selbstbewußtsein der Menschen vor allem im Südlibanon. Mit
einer Mischung aus Abscheu vor den Zerstörungen durch die israelischen
Luftangriffe und Stolz über den für die ganze Welt überraschenden Erfolg
der Hisbollah-Milizen im Kampf gegen die bis dahin für unbezwingbar
gehaltene israelische Armee erzählen alte Frauen, junge Mädchen, kleine
Jungs und adrette Anzugträger von den Kampftagen des Sommers 2006.
Vor allem die Hisbollah konnte enorm profitieren. 34 Tage lang organi-
sierten hauptsächlich ihre Milizen den militärischen Widerstand, die liba-
nesische Armee selbst verhielt sich weitestgehend passiv und beschränkte
sich auf die Luftabwehr. Die Hisbollah ging aus diesem Konflikt als Sieger
hervor. Das war auch nicht schwer. Ein israelischer Sieg hätte nur durch
eine vollständige Auslöschung der Hisbollah erreicht werden können. Dies
war bereits zu jenem Zeitpunkt ein Ding der Unmöglichkeit.
Dieser Konflikt war für die Hisbollah ein Meilenstein der eigenen Ent-
wicklung: Von einer schiitischen Partei und Miliz wandelte sie sich zu ei-
ner national-libanesischen Widerstandsorganisation, der gelungen war,
was alle anderen arabischen Armeen vor ihr nicht geschafft hatten: Israel
auf dem Schlachtfeld empfindliche Schläge beizubringen. Die Geschichte
des Sommerkrieges wird immer wieder aufs Neue erzählt – auch in Mleeta.
Die Rede ist von einsamen Guerillagruppen, die tagelang auf Berggipfeln
verharren, um den einen richtigen Moment abzupassen, in dem israelische
Einheiten in die Falle tappen und beschossen werden können. Es ist die
Rede von schiitischen Märtyrern, die, bis zur letzten Patrone kämpfend,
südlibanesische Dörfer gegen israelische Eindringlinge verteidigen. Das ist
der Stoff, aus dem die neuen nationalen Mythen geschaffen sind.
Das Milizsystem der Hisbollah gehört zu den bestgehüteten Geheim-
nissen der Organisation. Die Hisbollah ist derzeit die einzige Gruppierung
im Libanon, die noch eine eigene bewaffnete Miliz unterhält – offiziell zu-
mindest. Gemäß der UN -Resolution 1701 sollte sie eigentlich längst ihre
Waffen abgegeben haben. Hisbollah-Chef Nasrallah: »Solange es militä-
rische Operationen Israels gibt, solange die Israelis im Feld attackieren
und solange israelische Soldaten Teile unseres Landes besetzt halten, ist
es unser natürliches Recht, gegen sie vorzugehen, sie zu bekämpfen und
die Heimat, unsere Häuser, uns selbst zu verteidigen.« Nasrallah kann im
Libanon aus einer Position der Überlegenheit heraus argumentieren: Fast
die Hälfte der 70 000 Soldaten der regulären libanesischen Armee sind
Schiiten. Im August 2006 lehnten 84 Prozent der libanesischen Schiiten
die Entwaffnung der Hisbollah ab. Der damalige Chef der libanesischen
Streitkräfte und heutige Präsident, der christliche General Michel Sulei-
man, machte aus seiner Sympathie für Nasrallah nie ein Hehl. Nur die
»andauernde gute Zusammenarbeit« von Hisbollah und Armee, erklärte
er im Juli 2006, könne die Einheit des Landes sichern. Im Jahresbericht
2005 der libanesischen Armee war zu lesen, daß die Unterstützung der
Hisbollah eine »nationale und moralische Verpflichtung« sei.
Niemand weiß genau, wieviele Kämpfer der Miliz bei Bedarf zur
Verfügung stehen. Das militärische Kommando wird von zwölf religiösen
Gelehrten geführt. 300 bis 400 aktive Kämpfer und etwa 3 000 »Reser-
visten« werden unterhalten. Andere Quellen sprechen von ca. 3 500 bis
5 000 aktiven Kämpfern oder gar von 20 000 Kämpfern sowie einigen
tausend Reservisten. Die Hisbollah ist die einzige von den USA als »ter-
roristische Gruppe« bezeichnete Organisation, die schwere konventio-
nelle Waffen besitzt, wie zum Beispiel Katjuscha-Raketen, Fadschr-5-Ra-
keten, Schützenpanzer und Kurzstreckenraketen. Die Schlagkraft dieser
Spezialistentruppe wird von israelischen Soldaten, die am Sommerkrieg
2006 teilgenommen haben, bestätigt. Die Kämpfer der Hisbollah seien
»trainiert und organisiert wie eine reguläre Armee«, so ein Zeuge in der
30 Colmer – Mleeta
Nico Colmer, Jahrgang 1966, ist ein Kenner der politischen
Szene im Nahen Osten und schreibt für eine Tageszeitung
im Nahen Osten. Man kann seine Arbeitsweise mit der Peter
Scholl-Latours vergleichen: Colmer schreibt seine Reportagen
nicht von der Hotellobby oder vom heimischen Schreibtisch
aus, er verläßt sich nicht aufs Hörensagen oder auf amtliche
Berichte. Vielmehr hat Colmer auf seinen Reisen in den
Libanon und nach Syrien zahlreiche Gespräche mit führenden
Repräsentanten dortiger Parteien, Gruppierungen und als
terroristisch eingestuften Bewegungen führen können. Er hat
Orte besucht, die es eigentlich gar nicht gibt und Versammlungen
beigewohnt, über die andere Reporter wie über Fantasialand
berichten müssen, weil sie keinen Zugang gefunden haben.
Colmer – Mleeta 31
Thema | Sezession 40 · Februar 2011
Das Dschihad-System …
von Martin Lichtmesz
Die Netzseite »Manfreds politische Korrekthei- Trennung von weltlichem und geistlichem Be-
ten« (www.korrektheiten.com) ist zur Zeit ei- reich kennt. Der Islam ist nicht einfach eine Re-
nes der scharfsinnigsten Blogs der konservativen ligion, die man via Konfession »hat«, sondern
Netz-Aktivität. Besonderes Augenmerk legt des- vor allem ein bis in die kleinsten Details des All-
sen Betreiber, der 1966 geborene Sozialwissen- tags wirkendes »soziales System«. Die daraus
schaftler Manfred Kleine-Hartlage, auf islam- erwachsenden sozialen und kulturellen Formen
und liberalismuskritische Beiträge. Dieses dop- können zwar mannigfaltig sein, teilen jedoch
pelte Augenmerk hebt den Autor weit über das allesamt das »Gedankensystem Islam« als eine
kurzsichtige Gepolter von »Islamkritikern« à la Art gemeinsame geistige »DNA«. Daraus folgt,
Politically Incorrect hinaus: Denn wer vor einer daß der Prozeß der »Islamisierung« und der
expandierenden islamischen Welt warnen will, schleichenden Landnahme keineswegs bloß die
darf von der strukturellen, systemimmanenten Sache von »Extremisten« oder »Islamisten« ist,
Schwäche des zurückweichenden liberalen We- sondern aus der sozialen Struktur islamischer
stens nicht schweigen. Gesellschaften selbst erfolgt.
Ihren besonderen Schliff erhalten Kleine- Kleine-Hartlage zeigt auch, wie abweichende
Hartlages Analysen durch den Umstand, daß theologische Auffassungen erhebliche Folgen ha-
der Verfasser ein bekehrter Linksliberaler ist, der ben können für die Entwicklung »kultureller
die entsprechenden frommen Denkungsarten bis Selbstverständlichkeiten«. Die Abwesenheit des
in ihre feinsten Winkelzüge hinein kennt, und christlichen Gedankens der Erbsünde und des
in der Lage ist, sich wasserdicht gegen voraus- Gebotes der ständigen Selbstprüfung etwa hat
zusehende Einwände abzusichern. Kleine-Hart- eine Mentalität im Islam gefördert, die zur kras-
lage legt nun in seinem Buch Das Dschihad-Sy- sen Selbstgerechtigkeit neigt und zur Selbstkri-
stem (Wie der Islam funktioniert, Gräfelfing: tik weitgehend unfähig ist. Damit ist ein im Ge-
Resch 2010. 292 S., 19.90 €) nicht nur überzeu- gensatz zum christlichen oder post-christlichen
gend dar, daß sich das Denken und die Mentali- Menschen »unterkomplexer« Typus entstanden,
tät der islamischen Welt von der des post-christ- der sich heute als wesentlich durchsetzungsfähi-
lichen Westens fundamental unterscheiden, son- ger erweist. Kleine-Hartlages akribische Koran-
dern er versucht auch zu skizzieren, warum letz- Analyse weist zudem nach, daß der Islam die
terer nicht imstande ist, diese Unterschiede über- Anwendung und Androhung von Gewalt zum
haupt wahrzunehmen und richtig einzuordnen. Zwecke seiner Ausbreitung durchaus doktri-
Denn es ist ironischerweise gerade die scheinbar när befürwortet, und daß sein Anspruch zwar
für den Anderen »offene Gesellschaft«, die, be- universal ist, nicht jedoch seine Ethik, die nur
fangen in ihrer Ich-Bezogenheit, unfähig ist, zu innerhalb der Gruppe der Gläubigen verbind-
erkennen, daß dieser Andere tatsächlich anders liche Gültigkeit hat. Im Vergleich zum Juden-
ist, und womöglich die eigenen Prämissen in kei- tum und Christentum ist die Theologie des Is-
ner Weise teilt. In dieser Perspektive ist der Libe- lams simpel gestrickt und primitiv; sie hat in der
ralismus nichts anders als ein stark säkularisier- Tat kaum eine Verbindung zu den Werten des-
tes und infantilisiertes Christentum, in dem eine sen, was man einst das »christliche Abendland«
altruisierende Ideologie vorherrscht, die grund- nannte. Hier wird ein völlig anderer Gott ge-
legende Politika wie Gruppenselbstbehauptung glaubt und eine völlig andere Ethik gelehrt. Die
und -identität zum Tabu verschwefelt hat, womit Lektüre dieses augenöffnenden Buches sei da-
man auch nicht mehr imstande ist, sich vorzu- her auch jenen verblendeten Konservativen ans
stellen, daß man aus den Sicht seiner Feinde »un- Herz gelegt, die immer noch glauben, der Islam
ter Umständen wie eine fette Beute aussieht.« wäre eine irgendwie »konservative« Macht, die
Einer der fatalsten Fehlschlüsse ist dabei, den verlorengegangen Nomos des Christentums
anzunehmen, daß der Islam als Religion analog adäquat ersetzen oder gar in irgendeiner Weise
wie das Christentum funktioniere, das etwa die fortführen könne.
32 Lichtmesz – Dschihad-System
Sezession 40 · Februar 2011 | Thema
Sezession: Herr Kleine-Hartlage, wird in Deutsch- Sezession: Damit meinen Sie die Aggressivität,
land angemessen über die Themen Überfrem- die in der missionarischen Aufladung des Politi-
dung und Islam diskutiert? schen liegt und zu Heiligem Krieg und Terroris-
Kleine-Hartlage: Leider bleibt die mus führen kann und geführt hat?
grundsätzliche Kritik an der Politik der for- Kleine-Hartlage: Das meine ich zwar
cierten Masseneinwanderung, unabhängig vom auch, aber ich halte es für falsch, Islamkritik auf
Thema »Islam«, noch immer ohne entscheidende die Themen »Islamismus« und »Terrorismus«
Resonanz, vor allem in den bedeutenden Me- einzugrenzen. Islamisten, erst recht Terroristen,
dien. Zwar gewinnt die Islamkritik auch dort sind radikale Minderheiten innerhalb der islami-
allmählich an Boden, aber von einer qualifizier- schen Gemeinschaft. Es gäbe diese Minderheiten
ten Debatte, die ja zugleich eine Debatte über die aber nicht, wenn sie nicht in der islamischen Ge-
Grundlagen unserer eigenen Kultur sein müßte, sellschaft über einen mächtigen Resonanzkörper
ist man noch weit entfernt. Solche kritischen Po- verfügten. Die Idee, daß der Islam eine allumfas-
sitionen werden nur dort vertreten, wo auch die sende Lebensordnung ist, die auch in der Politik,
Akzeptanz der Islamkritik am weitesten fortge- im Recht, im Familienleben unmittelbar zu ver-
schritten ist, also in der Sphäre einer rechtsalter- wirklichen ist, wurde von den Islamisten weder
nativen Gegenöffentlichkeit, zu der ich neben der erfunden noch zurechtgebogen, sondern gehört
Jungen Freiheit Ihre Zeitschrift und vor allem di- zu den Grundlagen des Islam.
verse Netzforen zähle.
Sezession: Sind diese Grundlagen nach zwanzig
Sezession: In Ihrem Buch Das Dschihad-System Jahren in Köln oder Berlin nicht verwässert?
thematisieren Sie die Verklammerung von Ein- Kleine-Hartlage: Man macht sich im
wanderungs- und Islamisierungsdebatte. Sind Allgemeinen zu wenig klar, wie grundlegend
Sie da ein Vordenker? sich das islamische Wertesystem vom abendlän-
Kleine-Hartlage: Die Diskussion über dischen unterscheidet: Der Islam ächtet nicht
das angemessene Verhältnis von Immigrations- die Gewalt, er regelt sie. Er geht nicht von der
und Islamkritik steckt noch in den Anfängen, Gleichheit aller Menschen vor Gott aus, sondern
verspricht allerdings spannend zu werden: Ideal- von der Minderwertigkeit der Ungläubigen. Er
typisch sind die beiden Extrempositionen die der erkennt keine Gegenseitigkeit von Rechten und
liberalen Islamkritik auf der einen Seite – Mas- Pflichten im Verhältnis zwischen Muslimen und
seneinwanderung sei unproblematisch, solange Nichtmuslimen an – die »Ungläubigen« sind von
keine Muslime einwandern – und die der Nur- vornherein im Unrecht. Entsprechend definiert
Immigrationskritik auf der anderen, die die Isla- er die islamische Gemeinschaft als primären Be-
misierung gar nicht als eigenständiges Problem zugspunkt sozialer Solidarität – unter Abgren-
sieht, sondern, wenn überhaupt, als vernachlässi- zung von den Ungläubigen. Und er macht die
genswerten Unterpunkt einer allgemeinen Über- Konsolidierung und Ausbreitung des Islam als ei-
fremdungsproblematik. nes Gesellschaftssystems zum Letztmaßstab für
Ich halte beide Positionen für gleicherma- Gut und Böse. Wer ein solches Wertesystem von
ßen naiv: Es stimmt schon, daß Masseneinwan- Kindesbeinen an verinnerlicht hat, braucht nicht
derung, auch wenn sie nicht muslimisch ist, auf einmal besonders fromm zu sein, um sich so zu
die Dauer die kulturellen Grundlagen der Ge- verhalten, wie dieses System es fordert. Integra-
sellschaft auflöst – das muß man der liberalen tion im Sinne von Assimilation wird ihm wenig
Islamkritik entgegenhalten. Es ist aber – und das attraktiv erscheinen: Gerade weil Muslime aus
geht an die Adresse der Nur-Immigrationskriti- Gemeinschaften kommen, die auf hohe kollek-
ker – ein großer Unterschied, ob man etwas in tive Durchsetzungsfähigkeit angelegt sind, haben
Wasser auflöst oder in Salzsäure. Der Islam ist sie ein feines Gespür für die Auflösungs- und De-
die Salzsäure. generationserscheinungen unserer Gesellschaft.
Gespräch – Kleine-Hartlage 33
Thema | Sezession 40 · Februar 2011
Daß sich der Islam in Deutschland in den be- Umweg erlaubt sein, daß man es als Religions-
kannten Ausmaßen festsetzen konnte, hat vor ausübung praktiziere. Verbote, die sich auf den
allem mit der Situation zu tun, die er hier vorfin- Minarettbau, den Ruf des Muezzins oder be-
det. Der deutsche Sozialstaat macht den Nach- stimmte Kleidungsstücke beziehen, stellten dem-
zug von Familienangehörigen attraktiv; der deut- nach keinen Eingriff in die Religionsfreiheit dar,
sche Schuldstolz verhindert das Einfordern von weil das Bekenntnis davon unberührt bleibe.
Anpassungsleistungen, die normalerweise von Den Grund für die falsche Auslegung der
Einwanderern erwartet werden; Illusionen über Religionsfreiheit sieht Schachtschneider in ei-
die multikulturelle Gesellschaft verschleiern den nem liberalistischen Freiheitsbegriff, der Frei-
Blick auf die Realität. heit als »Recht zur freien Willkür« mißverstehe.
In seiner neuen Studie Grenzen der Religi- Dabei sei unter Freiheit immer Sittlichkeit und
onsfreiheit am Beispiel des Islam (Berlin: Dunc- praktische Vernunft als innere Freiheit zu verste-
ker & Humblot 2010. 140 S., 18 Euro) fügt Karl hen, die Moralität und damit Selbstzwang vor-
Albrecht Schachtschneider, der vor allem mit aussetze. Doch statt Moralität herrsche ein Mo-
seinen Verfassungsklagen in Bezug auf den Euro ralismus, der »besondere Interessen« verbindlich
Bekanntheit erlangte, noch einen weiteren Punkt zu machen versuche. Diese »sanfte Despotie«
hinzu. Das Bundesverfassungsgericht kommt wolle auch »das deutsche Volk zu einer volklo-
demnach dem Islam in unzulässiger Weise ent- sen Bevölkerung« machen und der Ideologie des
gegen, indem es den Begriff der Religionsfrei- Moralismus unterwerfen.
heit zu weit ausdehnt. Die Ursache dafür sieht Eine wichtige Frage bleibt dabei unbeant-
Schachtschneider in der mangelnden Neutralität wortet: Wie kann es gelingen, die Sittlichkeit
des Staates: »Ein einstmals kirchenfreundlich ge- gegen diese Verfallserscheinungen zu bewahren
meinter weiter religiöser Grundrechtsschutz, der und zu tradieren? Schachtschneider weiß zwar
keine tragfähige Grundlage im Grundgesetz hat, um die Herkunft des Kategorischen Impera-
schadet dem Gemeinwesen, weil er die Gemein- tivs (und damit der gültigen Formulierung des
wohlverwirklichung behindert.« Selbstzwangs) aus dem christlichen Liebesge-
Im Gegensatz zu vielen anderen Konservati- bot, betont aber zugleich: »Sittlichkeit und Mo-
ven, die mit einer Stärkung des christlichen Ein- ralität hängen nicht vom Glauben an einen Gott
flusses auf die Politik den Staat gegen den Islam ab.« Hinzuzufügen wäre, daß dieser Glaube
immun machen wollen, sieht Schachtschneider weder die Sittlichkeit verhindern muß, noch
im Christentum vor allem ein kulturelles Mo- daß Ungläubige sittlicher wären als Gläubige.
ment, das es zwar zu bewahren gelte, ohne Schachtschneider weiß, daß der freie Diskurs
daß daraus ein normativer Anspruch abzulei- keine außerrationalen Argumente und Letztbe-
ten wäre. Der religiös und weltanschaulich neu- gründungen verträgt, denn dann wäre er zu-
trale Staat habe Vorrang vor jeder Religion. Eine ende. Deshalb steht für ihn fest, daß nur eine
Bevorzugung der Religion widerspreche dem »hinreichende aufklärerische Homogenität« der
Gleichheitsgrundsatz, da eine solche Sonderbe- Bevölkerung die Freiheit garantieren könne. Ob
handlung zu Privilegien führe, die es im säkula- es diese Homogenität jemals gab? In jedem Fall
ren Staat nicht geben dürfe. hat der Fundamentalismus erst wieder durch den
Schachtschneider kritisiert die Rechtspre- Islam ein Gesicht und eine Stimme bekommen.
chung des Bundesverfassungsgerichts scharf, weil Der Verfall der Sittlichkeit ist ihm jedoch nicht
es die Religionsfreiheit als grundgesetzlich ge- anzulasten, auch wenn der Islam gerade davon
schützte Religionsausübung interpretiere. Das profitiert. Schachtschneiders Gutachten zeigt uns
jedoch, so Schachtschneider, gebe das Grundge- daher vor allem, wie unsicher die eigenen Fun-
setz nicht her. Geschützt sei darin lediglich die damente geworden sind, wenn noch nicht ein-
Freiheit des Bekenntnisses und nicht die Aus- mal die Rechtsprechung willens ist, dem Islam
übung. Gesetzwidriges könne nicht über den Grenzen zu setzen.
34 Lehnert – Religionsfreiheit
Sezession 40 · Februar 2011 | Thema
Sezession: Sehr geehrter Herr Professor Schacht- von Allah herabgesandt. Der Koran und die ko-
schneider, in Ihrer Schrift Grenzen der Religi- ranische Tradition sind mit einer freiheitlichen
onsfreiheit am Beispiel des Islam kommen Sie demokratischen Ordnung, dem Kern unserer
zu dem Schluß, daß der Islam keine grundge- Verfassung, schlechterdings unvereinbar. Gottes
setzlich geschützte Religion sei. Welche grund- Gesetze stehen nicht zur Disposition der Politik.
sätzlichen Unterschiede gibt es zwischen Chri- Die Machthaber haben die Willen Gottes, was
stentum und Islam? immer das sei, zu verwirklichen. Dafür ist jeder
Schachtschneider: Ich habe dargelegt, Muslim verantwortlich. Darum ist er zum Dschi-
daß der Islam nicht durch Art. 4 Abs. 2 GG, die had verpflichtet. Der Islam wird von der Umma,
Gewährleistung der ungestörten Religionsaus- der weltweiten Gemeinschaft aller Muslime, ver-
übung geschützt ist. Die Muslime können sich antwortet. Es gibt immer wieder vorsichtige Sä-
auf die Freiheit des Glaubens und die des Be- kularisierungsansätze, gerade von Muslimen bei
kenntnisses berufen. Diese Grundrechte des Art. uns in der westlichen Welt. Aber diese Versuche
4 Abs. 1 GG geben aber keine Rechte zum äu- sind gegenüber den machtvollen Verteidigern
ßeren Handeln, sondern nur Rechte zu inneren und Förderern des Islam chancenlos.
Vorstellungen. Die Grundrechte müssen genau
unterschieden werden. Der Islam ist eine politi- Sezession: Die Türkei arbeitet auf einen EU-Bei-
sche Religion, die ihre religiöse Rechtsordnung, tritt hin und müßte dazu eigene Institutionen,
die Scharia, durchsetzen will. Das Christentum die bislang den Laizismus garantieren, demo-
ist demgegenüber nachhaltig säkularisiert. Es kratisieren, etwa den Nationalen Sicherheitsrat.
trennt das Religiöse vom Politischen, das Jen- Was wäre die Folge?
seits vom Diesseits, die Kirche vom Staat. Nur Schachtschneider: Das würde die Isla-
eine solche Religion kann den Schutz durch das misierung der Türkei wesentlich fördern. Im Sep-
Grundgesetz beanspruchen. Das ist die Logik des tember des vorigen Jahres ist durch ein Verfas-
Religionspluralismus. Die Säkularisation ist die sungsreferendum bereits die Unabhängigkeit des
größte Kulturleistung Europas. Kein Bürger darf Verfassungsgerichts von der AKP, der islamisch
in einer Republik, die demokratisch sein muß, orientierten Regierungspartei, durch ein neues
das Wort Gottes über die Gesetzgebung und Besetzungsverfahren erheblich geschwächt wor-
die Gesetze stellen, und keiner darf versuchen, den. Dieses Gericht war eine weitere Stütze des
durch Mehrheitsentscheidung das Gemeinwesen Laizismus.
zu einem Gottesstaat zu machen. Das mißachtet
die Grenzen der Religionsgrundrechte. Es kann Sezession: Das Grundgesetz gibt, wie Sie sagen,
kein Widerstandsrecht aller Deutschen gegen je- jedem Deutschen das Recht zum Widerstand ge-
den, der unsere Verfassungsordnung zu beseiti- gen diejenigen, welche die freiheitlich demokra-
gen trachtet, und zugleich ein Grundrecht geben, tische Grundordnung beseitigen wollen. Ist der
dies zu unternehmen. Der Islam würde sein We- Bundespräsident ein Verfassungsfeind, wenn er
sen als Lebens- und Rechtsordnung aufgeben, den Islam als Teil Deutschlands bezeichnet?
wenn er sich säkularisieren wollte oder sollte. Schachtschneider: So weit würde ich
nicht gehen. Aber er verkennt die Rechtslage
Sezession: Sind die westlichen Demokratisie- gründlich, sicher, weil er über diese, obwohl
rungsversuche im Irak oder Afghanistan zum selbst Jurist, schlecht unterrichtet ist. Er hat
Scheitern verurteilt, weil eine muslimische Mehr- sich damit als ungeeignet für sein Amt erwie-
heitsbevölkerung besteht? sen; denn er ist verpflichtet, das Grundgesetz zu
Schachtschneider: Ja, der Islam ist sei- wahren und zu verteidigen. Nur weil viele Mus-
nem Wesen nach nicht demokratiefähig. Die isla- lime in Deutschland leben, gehört deren Religion
mische Religion ist eine Ordnung, die alles Han- nicht schon zu Deutschland, zumal diese unserer
deln bestimmt. Deren uralten Gesetze gelten als Verfassungsordnung widerspricht.
Gespräch – Schachtschneider 35
Thema | Sezession 40 · Februar 2011
Sezession: Frau Dahab, Sie sind in Deutschland tung orientiere ich mich nicht an marokkanischen
geboren, Ihre Eltern stammen aus Marokko. Traditionen, auch nicht an der islamischen Reli-
Sie selbst sind sechsundzwanzig und studieren gion, sondern an deutschen Normen und Werten.
in Augsburg. Was machen Ihre Geschwister? Ist Diese entnehme ich unserem Grundgesetz, dem
Ihre Familie ganz und gar in Deutschland ange- Christentum, der Geschichte, der Philosophie, der
kommen? Literatur, und ich finde sie auch bei vorbildlichen
Karima Dahab: Ich zähle mal auf: Meine deutschen Menschen in meinem Umfeld.
älteste Schwester heiratete, nachdem sie ihr Ma- Aber, noch einmal grundsätzlich: Was heißt
thematik-Studium abbrach und eine Lehre zur »in Deutschland ankommen«? Woran wird das
Schneiderin machte, einen Verwandten aus Ma- gemessen und wer mißt? Es besteht in jedem
rokko, aus dieser Ehe sind bisher zwei Kinder Falle eine Erwartung zur Anpassung seitens der
hervorgegangen. Sie ist nun Hausfrau und Mut- Deutschen, und bei Ihnen, den Rechten, fordert
ter. Eine andere Schwester studiert Medizin in man sogar Assimilation, nicht wahr? Da bleibt
München. Die dritte Schwester besucht die Ober- mir nur zu sagen: Ganz egal, wie sehr ich ver-
stufe. Mein ältester Bruder brach sein BWL -Stu- suche und willens bin, mich deutschen Normen
dium ab, machte eine Lehre als Kaufmann und und Werten identisch zu machen: eine Differenz
heiratete eine Marokkanerin. Die beiden ha- wird immer bestehen bleiben.
ben drei Kinder. Der zweite Bruder machte eine
Lehre zum Automechaniker, ist verheiratet und Sezession: Auch Assimilation läßt Raum für ei-
hat noch keine Kinder. Der dritte Bruder be- nen spezifischen Rest, auch das deutsche Volk
sucht die Oberstufe. ist schillernd in seiner Unterschiedlichkeit. Aber
Ich bin nicht der Meinung, daß meine Fami- weiter: Sie sagen im Prinzip, daß gläubige Mos-
lie in Deutschland angekommen ist. Meine El- lems nicht assimilationsfähig seien. Ist das so?
tern lehnen jede Form der Integration, die über Karima Dahab: Sie können bei den Mus-
die simple Einhaltung der deutschen Gesetzge- limen in Deutschland die Laien von den Gemä-
bung hinausgeht, ab. Zudem spricht nur mein ßigten und diese wiederum von den fundamen-
Vater ein recht gutes Deutsch, während meine talen Muslimen unterscheiden. Die Assimilation
Mutter kaum Deutsch spricht, auch nicht nach eines fundamentalen Islams in ein Staatensy-
über dreißig Jahren. Sie ist zudem Analphabetin, stem, das dem auf Koran und Sunnah gründen-
was die Sache zusätzlich erschwert. den Gottesstaat widerspricht, ist vollkommen
Bei den Schwestern, die eine akademische ausgeschlossen. Des Weiteren dürfen Muslime
Laufbahn anstreben, scheint es, als seien sie in nach islamischer Gesetzgebung nicht in einem
Deutschland angekommen, doch das islamische von Ungläubigen regierten Staat leben. Es gel-
Weltbild nimmt immer noch eine entscheidende ten dabei nur zwei Ausnahmen; entweder man
Bedeutung in ihrer Lebensgestaltung ein, auch befindet sich aus beruflichen Gründen auf ei-
wenn sie keinen Schleier tragen und nach außen ner Art der Durchreise, oder aber man verfolgt
hin angepaßt erscheinen. Meine Brüder teilen missionarische Zwecke. Daraus schließe ich: Je
die Religiosität und das politische Weltbild mei- gläubiger ein Moslem ist, desto weniger assimi-
nes Vaters, welches sich gegen alle westlichen lationswillig ist er, und je assimilationswilliger
Systeme, einschließlich Deutschland, richtet und ein Moslem ist, desto weniger gläubig ist er. Im
geprägt ist von einem starken Antisemitismus. zweiten Falle sprächen wir nämlich von einem
Moslem, der bereit wäre, seinen Glauben und
Sezession: Und Sie selbst? Sind Sie auch in der damit Gott in Frage zu stellen und letztlich ein
Schwebe? Ungläubiger zu werden. Denn: »Jede Verände-
Karima Dahab: Was mich betrifft, so bin rung führt in die Irre und jeder Irrweg führt in
ich der Meinung, daß ich ganz und gar in Deutsch- die Hölle«, heißt es in einem Hadith des Prophe-
land angekommen bin. Bei meiner Lebensgestal- ten und Gesandten Mohammed.
Wer als mündiger Bürger die Absicht hat, zum Masse: Kommen auch Sie zur am schnellsten
Christentum überzutreten, wird – zusätzlich zu wachsenden Religion der Welt! Die »Alternavite
bürokratischen Notwendigkeiten – im Fall der Nachrichten«-Seite (Rechtschreibung wie bei
evangelischen Kirche mindestens ein Taufge- Vogel im Original) www.souleye.de.tl. verkün-
spräch führen. Bei der katholischen wie der or- det: »Schon sehr viele Menschen haben erkannt,
thodoxen Kirche ist eine längere Zeit des Kate- daß der Islam die Wahrheit ist. Jedes Jahr Kon-
chumenats vorgesehen: Die Aufnahme des Kon- vertieren 40 000 Deutsche zum Islam, Tendenz
vertiten oder Täuflings erfolgt durch sakramen- steigend.« Belastbare Statistiken zu Übertritten
tale Handlung vor der Gemeinde. Das Juden- zum Islam gibt es aber nicht, seriöse Schätzun-
tum, grundsätzlich keine Mission vorsehend, gen (etwa des 1927 gegründeten Zentralinsti-
macht es Konversionswilligen schwerer. Warte- tut Islam-Archiv in Soest) gehen allerdings da-
zeiten und Prüfungen über Jahre sind keine Sel- von aus, daß die Zahl der Konversionen inner-
tenheit, mancher wird trotz eindringlich bekun- halb Deutschlands seit einigen Jahren ansteigt.
deter Verbundenheit mit dem Volk Israels und Bis etwa 2004 seien es jährlich weniger als 1000
der mosaischen Religion vom Rabbi abgewiesen. gewesen, heute über 10 000. Nach einer Befra-
Die Konversion zum Islam hingegen ist in gung von 2005 hatten rund eine Million Mus-
jeder Hinsicht einfach. Wer Unterstützung be- lime den deutschem Paß, nur 15 000 waren
nötigt, findet sie auf der grellen, im Stil einer deutschstämmig. Der häufigste Grund für eine
Media-Markt-Werbung dekorierten Seite des Konversion ist die Heirat mit einem Moslem
deutsch-islamischen Fundamentalisten Pierre oder einer Muslima.
Vogel, www.pierrevogel.co: »Sie brauchen bloß Ob Übertritte zum Islam aus dem Christen-
folgende Worte mit der Absicht aussprechen, den tum oder einer zuvor bestehenden religiösen In-
Islam annehmen zu wollen: Aschhadu en lah il- differenz heraus stattfinden, läßt sich schwer
laha il-Allah Wa Aschhadu anna Muhammadan feststellen. Für die Konvertitin Kristiane Bac-
Rasulu Allah.« Heißt: «Ich bezeuge, daß kein ker, die ab 1989 zum »deutschen Gesicht« des
Gott da ist außer Allah! Und ich bezeuge, daß Musiksenders MTV avancierte, später Bravo
Muhammad sein Prophet ist.« Per Handy ist TV moderierte und 1995 zum Islam übertrat –
Pierre oder jemand aus seinem »Team« laufend mittlerweile ist sie von ihrem marokkanischen
erreichbar. Dem Konversionswilligen kann dann Ehemann geschieden – spricht der Islam deut-
bei der Aussprache der arabischen Worte gehol- lich »die Sprache des Christentums«, ergänze sie
fen werden. Der Übertritt wird auf einem seiten- aber (Der Islam als Weg des Herzens: Warum
internen Videokanal dokumentiert (25.1.2011): ich Muslima bin, München: Ullstein 2010. 432
»Maria nimmt den Islam an!« wurde binnen S., 9.95 €). Backer, die ihr »Kopftuch nur vor
zweier Tage rund 3000 Mal angeklickt. dem Herzen« trägt, sagt, Klarheit und Logik des
Das Beispiel des ehemaligen Meisterbo- Islam sowie die Ästhetik der islamischen Kul-
xers Vogel, der vor 10 Jahren neben dem Islam tur hätten sie überzeugt. Sie betont freiheitliche
auch den Slang der Kanakspraak angenommen Aspekte des Koran mit entwaffnender Naivität:
hat und Kontakte zur terroristischer Umtriebe Der Islam habe als einzige Religion für die Ab-
verdächtigten »Sauerlandgruppe« hatte, läßt schaffung der Sklaverei plädiert und den Frauen
viele Außenstehende glauben, daß bei deut- bereits im 7. Jahrhundert die Gleichberechtigung
schen Islamkonvertiten die Sehnsucht nach ei- gebracht, anders als im Christentum werde Se-
ner männlich-strengen, kämpferischen Welt- xualität zwischen Gatten auch ohne Zeugungs-
anschauung und einer »gelebten Ordnung« im absichten als segensreich angesehen. Wie alle
Vordergrund stehe. Konvertiten beharrt Backer darauf, daß Unter-
Der charismatische 32jährige Marktplatz- drückung und Terrorismus kein Element des is-
Missionar Vogel und viele islamische Netz- lamischen Glaubens seien, sondern auf kulturel-
seiten werben dagegen mit dem Argument der len Bedingtheiten gründeten.
38 Rathenow – Konvertiten
Feindbild als Spiegelbild.
Viele Personen und Bewegungen, die das Feind- Ein mutiges, notwendiges und politisch in jeder
bild Muslim eint, übersehen in ihrem Zorn, daß Weise unkorrektes Buch, das die vielfältigen Ein-
es sich bei näherer Betrachtung um ein häßliches zelprobleme in ihrer Verflechtung differenziert,
Spiegelbild handelt. Aus ihm blickt uns die eige- gedankenscharf und urteilssicher auslotet.
ne Schwäche entgegen – die Tatsache, daß die
westlichen Demokratien demographisch, demo- André F. Lichtschlag:
kratisch, kulturell, moralisch und ökonomisch Feindbild Muslim.
von der Vergangenheit zehren und auf Kosten Schauplätze verfehlter Einwanderungs- und
der Zukunft leben. Wer an die Wurzel der tat- Sozialpolitik.
sächlichen Probleme greifen will, muß sich wie 64 Seiten, 10,3 x 15,3 cm, Leinen.
der Autor mit dem hausgemachten Sozialismus, ISBN 978-3-937801-61-2 e 7,80
einem gescheiterten Wohlfahrtsstaat und falscher
Einwanderungspolitik beschäftigen, statt sich
an religiösen Symbolen zu vergreifen und damit
nebenbei noch die letzten eigenen Werte preis-
zugeben.
www.manuscriptum.de
Thema | Sezession 40 · Februar 2011
Christenverfolgung
von Felix Menzel
Wie viele Christen weltweit verfolgt werden, und ausländischen Christen häufig eine Arbeits-
kann man nur schätzen. Am größten sind die und Aufenthaltsgenehmigung verweigert.
Einschränkungen der Religionsfreiheit in islami- Das Christentum ist mit rund 2,2 Milli-
schen Ländern. Dramatisch ist die Lage im Na- arden Gläubigen die weltweit größte Religi-
hen Osten, vor allem im Irak: Dort lebten un- onsgemeinschaft (Moslems: rund 1,4 Milliar-
ter dem zwar diktatorischen, jedoch konsequent den) und gleichzeitig die am stärksten verfolgte
säkularen Regime Saddam Husseins rund 1,2 Gruppe. Der Umgang der Hilfsorganisationen
Millionen Christen. Ihre Zahl ist aufgrund eines mit der Tatsache ist in zweifacher Hinsicht er-
beispiellosen Exodus auf derzeit rund 300 000 staunlich: Während etwa Amnesty International
gesunken. nach dem jüngsten Anschlag auf koptische Chri-
Open Doors, ein Hilfswerk für verfolgte sten in Ägypten davor warnte, die Christenver-
Christen (www.opendoors-de.org), erstellt Jahr folgung als Phänomen überzubewerten, bemüht
für Jahr einen Weltverfolgungsindex. Für 2011 sich Open Doors in geradezu panischer Vorsicht
stehen auf den ersten zehn Plätzen acht Staaten, darum, nicht islamkritisch zu wirken. So wurde
in denen der Islam die Religion der Mehrheits- die Bitte unserer Zeitschrift um Abdruckgeneh-
bevölkerung ist. Die Beeinträchtigungen reichen migung für eine Graphik abgelehnt. Die Pres-
vom Verbot, eine Bibel zu besitzen, über Festnah- sestelle von Open Doors begründete dies in ei-
men und Todesstrafen für Konvertiten bis hin zu nem Telefongespräch damit, daß man für die
systematischen Folterungen und Morden. Auf Attentäter beten und keinesfalls im Islam den
Platz eins des Index steht jedoch das nichtislami- Hintergrund für Christenverfolgungen suchen
sche, sondern atheistisch-kommunistische Nord- wolle, und zwar auch dann nicht, wenn der ei-
korea. Es folgen der Iran, Afghanistan, Saudi- gene Weltverfolgungsindex diesen Zusammen-
Arabien und Somalia. Ebenfalls auf der Liste der hang mehr als nahelege. Vielmehr gehe es um
50 gefährlichsten Länder für Christen taucht die den Dialog und eine entwaffnende Friedfertig-
Türkei auf (Platz 30). Ihr wird vorgeworfen, daß keit. Man könne sich beim Blick auf die Sezes-
sie christlichen Kirchen keine Rechtsgeschäfte, sion nicht sicher sein, daß auch dort diese Linie
etwa den Erwerb neuer Grundstücke, erlaubt vertreten würde.
40 Menzel – Christenverfolgung
Südens Nigerias. Regelmäßig kommt es hier zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Hun-
derten Toten. Bereits im Januar 2010 und No-
vember 2008 hatte es größere Gewaltwellen ge-
geben. Gegenüber der Tagesschau erklärte Co-
rinne Dufka von der Menschenrechtsorganisa-
tion Human Rights Watch zu diesen Massakern:
»Nicht ein einziger, der damals getötet oder Ge-
walttaten verübt hat, wurde zur Verantwortung
gezogen. Wir sind der festen Überzeugung, daß
die Straflosigkeit diesen Teufelskreis der Gewalt
hervorbringt.«
Menzel – Christenverfolgung 41
Rezensionen | Sezession 40 · Februar 2011
Sarrazin lesen setzte sich an die Spitze eines nauen »Prüfung von rechts«,
Kampfes um die Meinungsfrei- erteilt einem nationalen Sozia-
Sarrazin. Eine deutsche De- heit: »Der Journalismus ist lismus ohne Leistungsgrundie-
batte, München: Piper 2010. nicht dafür da, an den Ruf- rung eine Absage und kommt
240 S., 10 € mord grenzende Prozesse zu zu dem Schluß, daß die Rechte
Sarrazin lesen. Sonderheft munitionieren …«. Was für »sarrazinistischer« werden
Sezession, Schnellroda 2010. eine Volte! müsse. Dieser Analyse gegen-
52 S., 10 € Der besprochene Band doku- über bleibt der sozialistische
hier&jetzt, Ausgabe 16, Dres- mentiert auch die Beiträge Nationalist Jürgen Schwab
den 2010. 114 S., 7.50 € Berthold Kohlers zur Debatte. geradezu langweilig, der – wie
Zur Sache Sarrazin, Berlin: Im Gegensatz zu seinem Her- immer – den Arbeitsmarkt
LIT 2010. 220 S., 19.90 € ausgeber-Kollegen Schirrma- abschaffen will und Sarrazin
cher trat er von Anfang an mit als »Oberschichtenpatrioten«
Vor fünf Monaten hat Thilo eindeutigen Stellungnahmen markiert.
Sarrazin mit seinem Bestseller an die Seite Sarrazins. Empfehlenswert ist dann noch
Deutschland schafft sich ab Dieser Kampf um die Deu- Zur Sache Sarrazin, das wis-
eine Debatte über die Zukunft tungshoheit im Innern der senschaftliche Beiträge ver-
unseres Landes und – auf einer FAZ ist ein Thema des Bei- sammelt. Hingewiesen sei auf
grundsätzlichen Ebene – über trags »Öffentliche, veröffent- die Analyse des Mainzer Kom-
die Meinungsfreiheit ausgelöst. lichte, quasiöffentliche Mei- munikationswissenschaftlers
Diese Doppeldiskussion ver- nung«, den Karlheinz Weiß- Hans Mathias Kepplinger, der
hilft seither rechtskonservati- mann für das Sonderheft Sar- die Skandalisierung Sarrazins
ven Wirklichkeitsbeschreibun- razin lesen unserer Zeitschrift und ihr Scheitern beispielhaft
gen (Deutschenfeindlichkeit, verfaßt hat. Es erschien im aufschlüsselt und das Zusam-
Inkompatibilität bestimmter Oktober vergangenen Jahres menspiel von Politik und Me-
Ausländergruppen, Ungleich- als erste ernstzunehmende Se- dien nicht nur als eine Art Ge-
heit der Menschen usf.) zu öf- kundärliteratur zu Sarrazins setzmäßigkeit darstellt, son-
fentlicher Wahrnehmung. Buch und dokumentiert unter dern zu einer Gefahr für die
Sarrazin hätte aber auch unter anderem in einer ausführlichen Meinungsfreiheit erklärt. Eine
die Räder kommen können. Chronik, auf welche Weise wie stets materialistische Ana-
Wer den Meinungskampf in höchstrangige Politiker zu- lyse der Unattraktivität
den Medien nachvollziehen nächst an der Verhinderung Deutschlands im globalen An-
will, kann zu der Artikel- der Debatten um Sarrazin ar- werbewettbewerb akademi-
sammlung Sarrazin. Eine beiteten. scher Spitzenkräfte stammt
deutsche Debatte greifen und Mit ihrer Dezember-Ausgabe aus der Feder Gunnar Hein-
darin – neben vielen unwichti- hat die Zeitschrift hier&jetzt sohns und ist ebenso deprimie-
gen Texten – die beiden FAZ- auf gutem Niveau nachgezo- rend wie der grundsätzliche
Beiträge von Frank Schirrma- gen. Die intellektuellen Natio- Abschied vom Abendland, den
cher studieren. Sie lehren den nalisten um den NPD -Land- Walter Laqueur in Anlehnung
Opportunismus mächtiger tagsabgeordneten Arne Schim- an sein Buch über Die letzten
Journalisten und die Kunst des mer weisen auf einen interes- Tage von Europa noch einmal
Sprunges ans rettende Ufer. santen Berührungspunkt hin: ausspricht.
Denn als Sarrazin nach seiner Sarrazin hat beim Thema Ver- Interessant an Zur Sache Sar-
Äußerung über das »Juden- erbung und IQ -Entwicklung razin ist nicht zuletzt der Her-
Gen« kurz vor dem Abschuß Argumente und Untersuchun- ausgeber Jürgen Bellers. Er
stand, wollte Schirrmacher gen des Intelligenzforschers hat zeitgleich ein schmales
staatstragend vollstrecken. Er Volkmar Weiss zitiert. Weiss Bändchen mit dem schlichten
faßte alles Denunziatorische in wiederum referierte auf Vor- Titel Konservativ! zusammen-
einem vernichtenden Beitrag schlag der NPD im sächsischen gestellt: Heft 1 der Schriften
zusammen – und mußte da- Landtag als Sachverständiger des Faches Internationale
nach feststellen, daß er aufs zum Thema »Deutsche Zu- Politik an der Universität Sie-
falsche Pferd gesetzt hatte: kunft oder Volkstod« (Juli gen. Diese neue Reihe möchte
Wissenschaftler, jüdische Intel- 2005). Dieser Text ist in »aufzeigen, daß das, was als
lektuelle, Leserbriefschreiber hier&jetzt dokumentiert sowie sozial-liberale Kultur-Hege-
und zigtausende Buchkäufer durch ein Gespräch mit Weiss monie gilt, nicht das einzige
sprangen Sarrazin zur Seite, ergänzt. Klug und recht scho- sein kann und auch längst
bestätigten seine Fakten und nungslos im Blick auf die nicht mehr ist«, und beschäf-
trugen die Entrüstung über Volksromantik der eigenen tigt sich folgerichtig auch mit
den Umgang mit ihm ins Inter- Partei ist außerdem der Beitrag der Sezession – zwar ein biß-
net. Schirrmacher reagierte von Thorsten Thomsen. Er chen ängstlich noch, aber
knapp drei Wochen später, unterzieht die Thesen und Vor- doch gründlich.
griff Merkel direkt an und schläge Sarrazins einer ge- Götz Kubitschek
42 Rezensionen
Politische Theologie drücklich als politische Frage mistischen Urorganisation, der
behandelt, sich dazu unmittel- Muslimbruderschaft. Diese
Christine Schirrmacher: bar auf das Vorbild Moham- Gruppe entstand in den zwan-
Islamismus. Wenn Religion meds und den Koran beruft ziger Jahren zuerst in Ägypten
zur Politik wird, Holzgerlin- und spätere Traditionsbildun- aus unscheinbaren Anfängen.
gen: Hänssler 2010 (Hänssler gen oder Lehrsätze als Verfäl- Gegen die konservative Herr-
kurz und bündig). 96 S., 7.95 € schungen zurückweist. Auf- schaftsstruktur des Landes wie
fallend ist, daß sich unter den die mächtige Tendenz eines sä-
Christine Schirrmacher ist der Stiftern und Führern des Isla- kularen Nationalismus schien
kleinen Gruppe deutscher Is- mismus sehr wenige Theolo- sie keine Chance auf Durch-
lamwissenschaftler zuzurech- gen befinden. Regelmäßig han- setzung ihrer Ziele zu haben.
nen, die Zugang zu den Me- delt es sich um Laien, die da- Aber die Bruderschaft über-
dien hat, aber nicht zu den re- von ausgehen, daß sie in der stand Unterdrückung und Ver-
gelmäßig Gefragten, in Talk- Lektüre des Koran unmittelba- folgung, gewann zunehmend
shows Präsenten, auf allen ren Zugang zu Wort und Ab- an Einfluß und erreichte nach
Podien Mitwirkenden gehört. sicht Allahs haben. Es macht dem Zweiten Weltkrieg die
Das hat seinen Grund, und dieser »protestantische« Zug weitgehende Islamisierung der
der liegt in der besonderen Art im Islamismus viel von seiner ägyptischen Staatsordnung,
und Weise, in der sie Fachkom- Anziehungskraft aus, die ge- die sich heute – anders als in
petenz und Stellungnahme ver- rade nicht auf die der europäisch ge-
knüpft. Die Deutlichkeit ihrer verarmten, ungebil- prägten ersten Phase
Voten hat mehrfach dazu ge- deten Massen Afri- der Unabhängigkeit
führt, daß islamische Vertreter kas und des Nahen – an der Scharia ori-
ihre Beteiligung verhinderten; Ostens beschränkt entiert und gleich-
das gilt auch für die »Islam- ist, sondern auch die zeitig eine islamische
Konferenz« des Innenministe- Mittelklasse erfaßt, Durchsetzung des
riums. Da man ihr schwerlich die sich von dem er- Apparates wie der
Ahnungslosigkeit nachsagen starrten Lehrgebäu- administrativen Pra-
konnte, verwies man stets auf den des traditionel- xis duldet.
ihre deutlich christliche Posi- len Islam kaum an- Daß all das ohne ei-
tion – Christine Schirrmacher gesprochen fühlt, nen Umsturz zu er-
hat einen Lehrstuhl an der und jene Kinder der reichen war und der
Evangelischen Theologischen ersten Einwanderergeneration Islamismus auch in jenen Län-
Fakultät der Universität Leu- in Europa, die nach etwas su- dern auf dem Vormarsch ist,
ven (Belgien) – und ihre Tätig- chen, das ihre Entwurzelung die weit entfernt bleiben von
keit als Leiterin des »Instituts heilen könnte. einer »Islamischen Revolu-
für Islamfragen« der Evangeli- Wenn Christine Schirrmacher tion« nach iranischem Vorbild,
schen Allianz, einer Organisa- deshalb betont, daß der Isla- hält Christine Schirrmacher
tion evangelikaler Ausrichtung mismus seine Ziele vielfach für das eigentliche Menetekel.
mit erkennbarer Distanz zum nicht durch Terrorismus oder Und die Unterschätzung der
kirchlichen mainstream. Partisanenkampf, sondern mit- dahinterstehenden Gefahr er-
Es hat diese Form partieller tels Lobbyarbeit und äußerli- scheint ihr als Bedrohung Eu-
Ausgrenzung Christine Schirr- cher Anpassung an die Gege- ropas, denn es gehe nicht um
macher bisher nicht dazu ge- benheiten der modernen Zi- einzelne Anschläge, auch nicht
bracht, zurückzuweichen, was vilisation zu erreichen sucht, um Fragen des Moscheebaus
auch an ihrer letzten Veröf- so bleibt doch der Sachverhalt oder der Vereinbarkeit islami-
fentlichung zum Thema »Is- unbestritten, daß sein »fun- scher Normen mit westlichen
lamismus« zu erkennen ist. damentalistischer« Zug fast »Werten«, sondern um eine be-
Wer aufgrund des beschränk- zwangsläufig dahin führt, die stimmte Form grundsätzlicher
ten Umfangs und des Verspre- Anwendung von Gewalt zu le- »Erkenntnisverweigerung« an-
chens, man sei in zwei Stunden gitimieren: »Mit der Berufung gesichts der Zunahme und der
hinreichend informiert, Vor- auf das Vorbild Muhammads Entwicklung des muslimischen
behalte haben sollte, sieht sich und dessen Nachahmung in Bevölkerungsanteils.
angenehm enttäuscht. Man religiöser, gesellschaftlicher Die Deutlichkeit, mit der sie
wird ausgesprochen umfassend und politischer Hinsicht be- diese Problematik herausstellt,
und kompetent unterrichtet. reitet der Islamismus der Ge- steht in einem gewissen Ge-
Frau Schirrmacher versteht un- waltausübung ideologisch den gensatz zu dem vorsichtigen
ter Islamismus ausdrücklich Boden, da diese ganzheitliche Optimismus im Hinblick auf
nicht nur den »Jihadismus«, Nachahmung auch die korani- deren Lösbarkeit. Dieser Teil
also eine Lehre, die die kriege- schen Berichte über die Kriegs- ihrer Ausführungen ist nicht
rische Ausbreitung des Islam züge Muhammads gegen seine der stärkste. Allerdings gehö-
verlangt, sondern jede Rich- Feinde mit einschließt.« ren politische Konzepte, die
tung des Islam, die den Islam Das charakteristische Neben- hier gefordert sind, auch nicht
als alternativlose religiöse und einander von Tarnung und in den Aufgabenbereich einer
politische Ordnung betrach- Militanz zeigt Frau Schirrma- Wissenschaftlerin.
tet, das heißt die religiöse aus- cher beispielhaft an der isla- Karlheinz Weißmann
Rezensionen 43
Dem Islam die Leviten teten sich radikale Richtun- Christentums. Die Antwor-
gelesen gen (namentlich durch Mus- ten werden reichen von »rück-
limbrüder und Wahabiten) wärtsgewandt« bis »zeitgeistig
Hamed Abdel-Samad: Der in der gesamten islamischen okkupiert«, einige werden sa-
Untergang der islamischen Welt aus. Die oft gehörte Be- gen, christliche Funktionäre
Welt, München: Droemer schwichtigungsformel, »den säßen noch immer an gesell-
2010. 240 S., 18 € Islam« gebe es doch gar nicht, schaftlich relevanten Stell-
hält der Politikwissenschaft- schrauben, andere, daß diese
Der Titel des Buches ist kein ler für ein wohlfeiles Scheinar- Religion an Wert und Bedeu-
Zufall. In der Tat hat sich der gument der »chronisch belei- tung längst verloren hat. Von
gebürtige Ägypter Hamed Ab- digten« Islam-Lobby, die mit den glaubens- und mentalitäts-
del-Samad von Spenglers Un- »verkrampften« linken Intel- mäßigen Unterschieden zwi-
tergang des Abendlandes in- lektuellen alles daransetze, im schen Katholiken, Protestan-
spirieren lassen. Als junger Westen eine Opferrolle gleich ten, Freikirchlern und Ortho-
Student, der deutschen Spra- den Juden zugestanden zu be- doxen ganz zu schweigen!
che noch nicht wirklich mäch- kommen. Abdel-Samad spricht Das vorliegende Buch, das ent-
tig, hat er sich erstmalig durch von »Holocaustneid« und hält gegen dem Titel kein »Portrait«
Spenglers düstere Schrift ge- die jüdische Parallele insofern sondern eine Vielzahl an Por-
quält. Damals habe er eine für fruchtbar, daß der Islam traits islamischer Gruppen be-
diffuse Verachtung für sein von der jüdischen Aufklärung reithält, reagiert auf zwei gän-
Gastland gehegt und sich an lernen könne, wie eine iso- gige Haltungen gegenüber den
der deutschen »Selbstzerflei- lierte gesellschaftliche Rolle in Europa lebenden Muslimen:
schung« gelabt. Die Spengler- zu überwinden und eine Ver- »Der Islam« als homogene Re-
Lektüre, gerade weil sie ihm bürgerlichung zu erreichen ligion ist nämlich ebensowenig
die Augen öffnete für ähnliche sei. Ein solcher Weg sei für faßbar, wie der entgegengesetz-
Zustände in der islamischen den Islam jedoch kaum gang- ten Tendenz innerhalb der Wis-
Welt, habe ihn in seiner Ab- bar. Der größte Teil der isla- senschaft zugestimmt werden
scheu vor der deutschen noch mischen Staaten sei unfähig, kann, die einen umfassenden
bestärkt. Zehn Jahre später, politische und wirtschaftliche Trend zur Säkularisierung und
nach gründlichem Studium Probleme aus eigener Kraft zu Individualisierung der Migran-
all jener »Schandflecken des lösen, auch zu den Sphären der ten behauptet. Insofern stellt
Westens« – wie Abdel-Samad Kunst und der Wissenschaft das Buch eine gute, in großen
heute mit selbstironischer Di- habe der zeitgenössische Islam Teilen strikt sachlich-objektive,
stanz schreibt – las er Speng- nichts beizutragen, dem inner keinesfalls aber grundsätzlich
ler erneut »und versuchte da- islamischen akademischen »islamkritische« Handreichung
bei Spenglers Rat zu folgen, Dialog stellt Abdel-Hamad gar für interessierte Laien, Fach-
dem Untergang der eigenen ein »katastrophales Zeugnis« leute und Journalisten dar, die
Kultur ›gefaßt in die Augen zu aus. Auch die jüngsten Alpha- sich über die unterschiedlichen,
schauen‹«. Der Islam sei am betisierungsschübe trügen we- teils widerstreitenden muslimi-
Ende, konstatiert der 39jäh- nig aus, sie hätten zu einer ge- schen Glaubensrichtungen und
rige. Was andere als Erstarken fährlichen Halbbildung und Lobbys informieren wollen.
der muslimischen Welt anse- dadurch verstärkten Destabili- Rund 15 Millionen Muslime
hen, sind für ihn Rückzugsge- sierung geführt. Aus dem Un- leben in Europa, im Schnitt
fechte. Er vergleicht das Auf- tergang der islamischen Welt, machen sie 3 Prozent der je-
bäumen orthodoxer und radi- so die finstere Prognose des weiligen Bevölkerung aus, in
kaler Muslime mit dem Ver- Mitglieds der deutschen Islam- Deutschland sind es – exakte
such, ein Haus anzustreichen, konferenz, werde keine geistige Angaben fehlen für die meisten
das kurz vor dem Zusammen- Erneuerung hervorgehen, son- Länder – annähernd 5 Prozent.
bruch stehe. Außer Zweifel dern eine gewaltige Völker- Der erste Teil des Buches be-
steht dabei, daß der Zusam- wanderung, die schwere Kon- faßt sich in drei Beiträgen mit
menbruch eines Hauses große flikte nach Europa tragen wird. den missionarischen Reformbe-
Gefahren berge – und nicht Ellen Kositza wegungen Tablighi Jama’at (ge-
nur für seine Bewohner. Die gründet in den zwanziger Jah-
explosive Zusammensetzung ren in Indien, europäische Zen-
der untergehenden islamischen Euro-Islam tralen vor allem in Großbritan-
Welt entstehe durch ein er- nien, Frankreich und Spanien,
starrtes religiöses Denken ei- Dietrich Reetz: Islam in hierzulande in Friedrichsdorf/
nerseits und eine Jahr für Jahr Europa: Religiöses Leben NRW), den aus studentischen
stärker werdende Konsum- heute. Ein Portrait ausgewähl- Milieus sich rekrutierenden
mentalität andererseits. An- ter islamischer Gruppen und Neo-Fundamentalisten der
ders als dem – humanistisch Institutionen, Münster: Wax- Da’wat-e Islami (1981 in Ka-
gebildeten, aufgeklärten – We- mann 2010. 248 S., 27.90 € ratschi gegründet, verbreitet in
sten stünden dem Islam kei- Großbritannien und Griechen-
nerlei gesunde Verteidigungs- Man frage ein Dutzend Mit- land) und den beiden Zwei-
mechanismen gegen letzteres bürger nach Ausrichtung und gen der Ahmadiyya (vor rund
zur Verfügung, daher brei- Rolle des zeitgenössischen 100 Jahren gegründet), die von
44 Rezensionen
großen Teilen der islamischen aber nicht, in welchem Ort sie walt ritualisieren und verbrä-
Welt nicht anerkannt werden, liegt. Der qualitativ beschei- men, eröffnen sie ihr ein Betä-
seit 1922 in Deutschland an- dene Bildteil in der Buchmitte tigungsfeld und hegen sie zu-
sässig sind, theologischen Kon- weist »Leister« als Standort gleich ein. Die Religion ist also
servativismus mit politischer der ultramodernen Bildungs- nicht die Ursache der Gewalt,
Liberalität verbinden und hier- stätte aus – gemeint ist vermut- sondern ihre Folge.
zulande rund 300 000 Anhän- lich Leicester. Unbefriedigend Das Christentum unternimmt
ger haben. Bis in die siebziger ist auch, wenn als Quellenan- einen entschiedenen Paradig-
Jahre dienten die Ahmadiyya gabe zu statistischem Mate- menwechsel. In der Bibel er-
mit ihrem offensiven Integra- rial schlicht ausgewiesen wird, scheint die Tötung des Opfers
tionswillen als offizielle An- daß die Zahlen aus »einschlä- nicht mehr als religiös gerecht-
sprechpartner für BRD -Instan- giger Literatur« entnommen fertigt, sondern als Erfüllung
zen. Ein weiteres Kapitel ist der wurden – mangelhaft ist das der Mordlust, von der der
umstrittenen Islamischen Ge- vor allem dort, wo Mob ergriffen ist.
meinschaft Milli Görüs gewid- die dazu bereitliegen- Der Akzent wird auf
met, die als türkische Institu- den Statistiken ganz die völlige Unschuld
tion sowohl gegen den Laizis- erheblich schwan- des Opfers gelegt.
mus in ihrer Heimat als auch ken. Zuletzt wäre Es sei eine moderne
gegen »westliche Dekadenz« eine (hier fehlende) westliche Qualität,
antritt und die hier (mit Zen- Kurzvita der einzel- sich der Unschuld
trale in Kerpen) etwa 300 000 nen Beiträger – wie des Opfers bewußt
Gemeindemitglieder vertritt, es bei Sammelbänden zu sein und zu versu-
die sich zunächst aus einer ur- üblich ist – hilfreich chen, es zu vermei-
banen Unterschicht rekrutier- gewesen. Schließlich den. Zumindest in
ten. Milli Görüs, obgleich seit würde auch die Ein- der Theorie. Die Ge-
1993 vom Verfassungsschutz schätzung eines Bu- walt findet im We-
beobachtet und im Heimatland ches über christliche sten ihre Rechtfer-
mit einem Presseorgan (Milli Gruppierungen da- tigungen außerhalb
Gazete) assoziiert, das seit ei- von beeinflußt, ob die Autoren der Religion – etwa in Ideolo-
nigen Jahren wegen antisemi- Piusbrüder, Neukonvertiten gien –, ohne von ihr gezähmt
tischer Schmähungen hierzu- oder Atheisten sind, ob sie als zu werden. Der Islam befindet
lande verboten ist, nimmt in- Laienkundler oder als staatlich sich innerhalb dieses Modells
nerhalb Deutschlands vor al- bestallte Professoren forschen. im archaischen Stadium. Und
lem durch seine alerte Rechts- Immerhin erfahren wir, daß die islamistische Gewalt? Ist sie
abteilung enormen Einfluß. das Buch bundesministeriell religiös, ideologisch, politisch
Konstatiert wird hier eine zu- gefördert wurde – was freilich oder zu verstehen? Haben wir
nehmende »Verzivilgesellschaf- nicht allzuviel bedeutet. es mit einer neuartigen Syn-
tung« der Organisation. Undine Rathenow these zu tun? Der hochbetagte
Stets mit einem Anhang – Girard gibt nicht vor, auf alles
Selbstdarstellung, Kerndaten, eine Antwort parat zu haben.
Literatur und Netzadressen Archaischer Islam Seine Gedanken legt er in ei-
beinhaltend – werden zudem nem kurzen Aufsatz und zwei
der von vielen Seiten als zwie- René Girard: Gewalt und Re- Gesprächen mit dem Wiener
lichtig empfundenen Union des ligion. Ursache oder Wirkung? Theologen Wolfgang Palaver
Organisations Islamiques de Hrsg. von Wolfgang Palaver, dar, der für das Buch auch ein
France sowie diversen islami- Berlin: Matthes & Seitz 2010. zusammenfassendes Nachwort
schen Bildungsstätten in Eu 103 S., 12.80 € geschrieben hat.
ropa Kapitel gewidmet. Insge- Thorsten Hinz
samt fallen neben dem Groß- Der Name des französischen
teil der wissenschaftlich red- Literaturwissenschaftlers und
lich verfaßten, hervorragend Religionsphilosophen René Christliche Basis?
lesbaren Einzelkapitel einige Girard wurde einem größe-
Mängel auf: Auf schiitische ren Publikum in Deutschland Andreas Püttmann: Gesell-
Gruppierungen – keineswegs durch Botho Strauß bekannt, schaft ohne Gott. Risiken und
marginal! – wird überhaupt der sich im Anschwellenden Nebenwirkungen der Ent-
nicht eingegangen, zudem wir- Bocksgesang auf ihn bezog, in christlichung Deutschlands,
ken zwei der insgesamt acht den Passagen über die Funk- München: Gerth Medien 2010.
Beiträge zerfahren (zu isla- tion des Sündenbocks in der 288 S., 17.95 €
mischen Bildungseinrichtun- Gesellschaft. Deren Zusam-
gen in Europa) oder mangel- menhalt wird durch mimeti- Findet derzeit eine »Renais-
haft fundiert (zu islamischen sche Energien gewährleistet, sance der Religion« statt oder
Schulen in Europa). Wir erfah- die sich ganz wesentlich um ist der Boom insbesondere
ren etwa Erstaunliches über das Opfer zentrieren. Archa- des Papstwahljahres 2005 als
die luxuriöse Madani High ische Religionen sind frühe ein feuilletonistisches Stroh-
School in England mit einer Systeme aus Verboten und feuer einzustufen? Diese Frage
Warteliste von 1000 Plätzen, Opferriten. Indem sie die Ge- ist aufgrund ihrer Allgemein-
Rezensionen 45
heit schwer zu bejahen oder Dennoch ist die Studie eine kritisiert im übrigen die Fokus-
zu verneinen. Angesichts einer unverzichtbare Hilfe, die »Ri- sierung der demographischen
solchen diffusen Gegenwarts- siken und Nebenwirkungen Debatte auf Arbeitsmarktsef-
situation ist es erfreulich, daß der Entchristlichung Deutsch- fekte – soziale und kulturelle
mit Andreas Püttmann ein lands« zu verstehen. Implikationen kämen regelmä-
ausgewiesener Kenner der Re- Felix Dirsch ßig zu kurz. Bedeutsam ist, daß
ligionssoziologie eine Veröf- aus datenrechtlichen Gründen
fentlichung vorlegt, die Licht schon heute in Statistiken – al-
ins Dunkel bringt. Er kann Ersatzvolk lein diesbezüglich ist der auf
zeigen, daß sich die schon vor hohem akademischem Niveau
Jahrzehnten beschriebenen Ulrich Heilemann (Hrsg.): argumentierende Band eine
Grundtendenzen in den letzten Demographischer Wandel in Fundgrube! – nicht mehr zwi-
fünf Jahren unvermindert fort- Deutschland. Befunde und schen Deutschen mit oder ohne
gesetzt haben. Die Flucht von Reaktionen, Berlin: Duncker Migrationshintergrund unter-
den Sakramenten ist ebenso & Humblot 2010. 186 S., 58 € schieden wird. Allen Auslän-
nachweisbar wie die Erosion derquoten, die kursieren, müs-
des einst erheblichen christ- Seit einigen Jahren erst sind sen also »Paßdeutsche«, wel-
lichen Einflusses in den ver- Fragen der Demographie aus cher Geburt auch immer, ge-
schiedenen Bereichen der Kul- dem rein akademischen Dis- genübergestellt werden. Einzig
tur. Selbst Gemeindemitglieder kurs herausgetreten. Fest steht: für Hans Dietrich von Loeffel-
mit fester Kirchenbindung un- Da die niedrige Geburten- holz, leitender Wissenschaftler
terliegen dem »Zwang zur Hä- zahl in Deutschland schon seit beim Bundesamt für Migra-
resie« (Peter L. Berger). Jahrzehnten unter der not- tion und Flüchtlinge, stellt die
Man kann die von Püttmann wendigen Reproduktionsquote absehbare Bevölkerungsent-
präsentierte Fülle an stati- von 2,1 Kindern pro Frau liegt wicklung weniger ein Problem
stischem Material als Expli- und damit allein die Zahl po- denn eine »Herausforderung«
kation der berühmten Bök- tentieller Eltern schon rapide dar. Bekanntlich »schrumpft«
kenförde-Doktrin lesen, die abgenommen hat, wird unser es vornehmlich in den öst-
gleichfalls den Nut- Volk zwangsläufig lichen Bundesländern. Dort
zen von Glauben und schrumpfen. Daran, werden 2050 statt heute 16,6
christlicher Ethik für daß sich die heu- Millionen »potentieller Er-
das Gemeinwesen tige Anzahl der in werbspersonen« nur noch 4,5
verdeutlichen will. Deutschland leben- Millionen leben. Die (Er)Lö-
Der CDU -nahe Publi- den 43jährigen im sung könnte in »kompensato-
zist unterstreicht, wie Jahre 2050 halbiert rischer Migrationssteuerung«
praktizierende Chri- haben wird, ist be- liegen. Seit 1998 sind hierhin
sten deutlich stär- reits jetzt nicht mehr nur 938 000 Ausländer gewan-
ker als der Durch- zu rütteln! Massen- dert, drei Fünftel davon übri-
schnitt der Bevölke- medien und breite gens nach Sachsen oder Berlin.
rung Betrugsdelikte, Öffentlichkeit be- Davon wiederum ist die Hälfte
Steuerhinterziehung, gründen das a) mit bereits nach Westdeutschland
Schwarzfahrten und fehlenden Krippen- umgezogen – oder hat ihren
ähnliches ablehnen. Kinder zu plätzen (und daher zurück- Status als Ausländer aufgege-
haben, ist für Gläubige in der gestelltem Kinderwunsch), b) ben. Für realistisch und wün-
Regel selbstverständlicher als mit der patriarchalen Vergan- schenswert hält Loeffelholz
für die, die sich nicht dazu zäh- genheit kinderarmer Länder das mittelfristige Ziel, die
len. Bildung erwerben, in Not oder negieren c) die Problema- Zahl der »potentiell erwerbstä-
geratenen Menschen helfen, tik im Sinne von »Weniger ist tigen« Ausländer in den östli-
sich für die Familie einsetzen mehr« (Ted Honderich). Wie chen Ländern zu verdoppeln.
und noch vieles mehr an so- hilfreich, da jenseits von Mei- Ellen Kositza
zialen Tugenden ist für Men- nungsumfragen und politi-
schen mit Glaubensüberzeu- schen Wünschbarkeiten ein-
gungen wichtiger als für andere mal die Wissenschaft zu Wort Pandoras verführerische
Bevölkerungsgruppen. kommen zu lassen! Vorliegen- Dämonen
Püttmann will sich vom ka- der Band beinhaltet Vorträge
tholischen Establishment, das einer von der Wüstenrot-Stif- Peter-André Alt: Ästhetik des
er an wenigen Stellen deutlich tung mitorganisierten Tagung, Bösen, München: C.H. Beck
kritisiert, nicht allzu weit ent- die 2009 in Leipzig stattfand 2010. 714 S., 34 €
fernen. Das belegt seine un- und zugleich den 70jährigen
kritische Sichtweise der soge- Doyen der Bevölkerungsöko- Der 1960 geborene Literatur-
nannten »Homo-Ehe«, aber nomik, Adolf Wagner ehrte. wissenschaftler Peter-André
auch seine Distanzierung vom Der zitiert hier eine Befürch- Alt, seit 2010 Präsident der
»Arbeitskreis engagierter Ka- tung aus Swifts Gullivers Rei- Freien Universität Berlin, trat
tholiken« innerhalb der CDU, sen – gemeint ist »der Nach- zuletzt mit einer zweibändi-
der dem Linkstrend unter teil, als Fremder in seinem Va- gen Schiller-Biographie hervor.
Merkel entgegenwirken will. terlande zu leben.« Wagner Nach der Welt des klassischen
46 Rezensionen
Ideals, in der das Wahre, Gute genannt »Holocaust«. All dies weiterführende Buch des 2009
und Schöne im theoretischen und vieles mehr ist Gegenstand verstorbenen Hallenser Philo-
Einklang stehen, widmet sich der literarisch-philosophischen sophen Manfred Riedel (Ge-
Alt in Ästhetik des Bösen nun Untersuchung von Peter-An- heimes Deutschland. Stefan
den entgegengesetzten geisti- dré Alt, der sich offenbar vor- George und die Brüder Stauf-
gen Strömungen, wie sie unge- genommen hat, alles, aber fenberg, 2006) verdient ge-
fähr seit der Zäsur von 1789 in auch wirklich alles zu die- habt. Denn es befreit den je-
die europäische Kunst einge- sem schier unausschöpflichen dem Einsichtigen und Wohl-
brochen sind wie die Thema zusammen- meinenden offen zutage liegen-
Dämonen aus Pan- zutragen. Der Bo- den Zusammenhang zwischen
doras Büchse. Der gen spannt sich von Georges »Geheimem Deutsch-
Aufstieg von Aufklä- Sade, Kleist, Blake, land« und dem 20. Juli 1944
rung und Moderne Baudelaire, Lau- endlich von dem Ruch, ledig-
schaffte zwar die tréamont, Poe über lich eine »legenda aurea«
alten, abgegrenzten Jünger, Malaparte, (Raulff) zu sein. Der vorlie-
Höllen der Religion Kafka, Genet bis zu gende Band nun versammelt
ab, öffnete aber die Baudrillard und Bret Beiträge einer Tagung, die
Tore zu bisher kaum Easton Ellis. Für die- durch Riedels Buch veranlaßt
geahnten, chaotisch ses Unterfangen sind wurde und zu der er selbst
ausufernden Ab- materialreiche 700 zwei Beiträge beisteuerte.
gründen im mensch- Seiten und das For- Die 16 Aufsätze sind keine
lichen Herzen selbst. Infolge mat eines Ziegelsteins gerade »Buchbindersynthese«, son-
dieses epochalen »Verlusts der ausreichend genug. Alt ist ein dern repräsentieren ineinander
Mitte« konnten seit der Ro- würdiger Nachfolger von Ma- greifende Themenkreise: Inter-
mantik nun auch das Satani- rio Praz’ Klassiker Liebe, Tod pretationen von Georges Dich-
sche, das Grausame, Morbide, und Teufel (1930) gelungen – tung; die geistesgeschichtlichen
Schreckliche und Perverse im im Gegensatz zu Praz ist er al- Bezüge, in denen diese steht,
Glanz des Verführerischen und lerdings ein durch und durch insbesondere Goethe,
Erhabenen gezeichnet werden. apollinischer Geist, der seinen Mallarmé, Nietzsche; kon-
In der radikalen Grenzüber- Stoff mit nüchterner, zuweilen krete Personen, die dem
schreitung wurden oft auch ermüdender Wohlüberlegtheit »Kreis« angehörten sowie Re-
jene sakralen Schauer gesucht, ausbreitet. zeptionen Georges (Heidegger,
die der entzauberte Himmel Martin Lichtmesz Gadamer) bzw. »Antirezeptio-
des Christentums nicht mehr nen« (Karlauf). Voran steht ein
zu bieten vermochte. Hier informativer Einführungsbei-
wurde der Künstler selbst mit- Wider die Antirezeption trag der Herausgeber, der die
unter zum Medium für proble- Georges Wege des Geheimen Deutsch-
matische Mächte. Für Gómez land auch über Georges Tod
Dávila war etwa Goya noch Bruno Pieger, Bertram Sche- hinaus verfolgt und zentrale
Zeuge der Dämonen, Picasso fold (Hrsg.): Stefan George. Personen in den Blick nimmt
aber bereits ihr Komplize. An- Dichtung – Ethos – Staat. (Wolfskehl, A. v. Stauffenberg
dererseits forderte eine aus den Denkbilder für ein geheimes und sein Epos Der Tod des
Fugen geratene Welt (und in europäisches Deutschland, Meisters). Wichtig ist, daß alle
ihr ein ebenso aus den Fugen Berlin: Verlag für Berlin-Bran- Aussagen stets von der Dich-
geratener Mensch) zwangsläu- denburg 2010. 504 S., 34.90 € tung her und auf sie hin ge-
fig eine Ästhetik heraus, die troffen werden. Diese enge
fähig war, ihre Extreme und In dichter Folge sind im ver- Bindung an das von George
Abgründe auszuhalten und wi- gangenen Jahrzehnt wichtige selbst Gesagte und dessen um-
derzuspiegeln, vielleicht sogar Sammelbände und Monogra- sichtige und kontextualisie-
zu exorzieren und zu kanali- phien erschienen, die das wie- rende Deutung zieht sich durch
sieren. Dabei kann die Litera- der auflebende Interesse an alle Beiträge und hebt den
tur im Gegensatz zur Philoso- einer Auseinandersetzung mit Band wohltuend ab von man-
phie die Dimensionen des Bö- Stefan George, seinem Werk chen Einseitigkeiten und Ver-
sen in einem inneren »Theater und dem durch ihn hervorge- zerrungen mit der Absicht zu
der Emotionen« (Alt) erfahrbar rufenen Wirkungs- und Ein- dekonstruieren oder zu decou-
machen, und damit auch un- flußkreis bezeugen. Größere vrieren wie etwa bei Karlauf
sere eigenen Gewißheiten über mediale Aufmerksamkeit er- und Raulff. Nicht vordergrün-
Gut und Böse erschüttern. Da- fuhren Thomas Karlaufs pro- dig Biographisches, sondern
mit verschieben sich auch stetig blematische Biographie (2007) allein das im Dichterwort Er-
die Grenzen dessen, was unter sowie jüngst Ulrich Raulffs fahrbare birgt den Schlüssel,
moralischen Gesichtspunkten Rezeptionsgeschichte (2010), um das Phänomen George für
als literaturwürdig akzeptiert brillant recherchiert und prä- unser Verständnis zu öffnen.
wird; zuletzt drängten etwa Jo- sentiert, doch ebenfalls zum Besonders erhellend ist diese
nathan Littells Wohlgesinnte Widerspruch nötigend. Stär- Werknähe in den Beiträgen
gegen die Tabuzonen des zeit- kere öffentliche Wirkung hätte von Manfred Riedel (Zum
genössischen Grand Guignol, demgegenüber das gedanklich Gedicht Goethes letzte Nacht
Rezensionen 47
in Italien), Christophe Fricker punkt an entwickelte sich eine nig Ottmann ist eines der um-
(glänzende Deutung von Ge- rege Korrespondenz, die 1964 fangreichsten gegenwärtigen
heimes Deutschland) und endete. Unternehmungen auf dem
Wolfgang Christian Schneider Zu Beginn des Briefwechsels Gebiet der Geistes- und Sozi-
(subtile Analyse der antiken, überwiegt der Eindruck, die alwissenschaften aus der Fe-
platonischen Fundierung des Gelehrten seien sich weitge- der eines einzelnen. Die Reihe
Georgeschen Denkens vor al- hend einig. Voegelin wie auch reicht vom antiken Mythos bis
lem im Stern des Bundes). Strauss lehnten als »Neoklassi- in die unmittelbare Gegenwart
Hervorzuheben ist auch die ker« Relativismus, Modernis- und informiert chronologisch
bei aller philologischen mus, Historismus und webe- über den Stand der Forschung
Strenge durchgän- rianische Wertfreiheit aller wichtigen Abschnitte der
gig antihistoristi- ab. Letztere war für politischen Philosophie. Das
sche Methodik. Strauss so verwerflich, herkulische Unterfangen im-
Jeder Beitrag de- daß er sie in die Nähe poniert nicht nur deshalb,
monstriert überzeu- der Rechtfertigung weil derartige Stoffmassen
gend: Sich der Dich- von Konzentrationsla- heute in der Regel nur noch
tung Georges – wie gern rückte. Ange- im Teamwork bewältigt wer-
dem Schönen über- sichts der Sympathien den können. Das Musterbei-
haupt – zuzuwen- für Platon verwundert spiel stupender Gelehrsamkeit
den, bedeutet nicht es nicht, daß Voegelin übertrifft vergleichbare Pro-
nur die wissen- in einem seiner Briefe jekte, die in den vergangenen
schaftliche Erfas- die Einwände Poppers Jahrzehnten in dieser Wissen-
sung eines toten gegen den angeblichen schaftsdisziplin fertiggestellt
Geistes zur Ablage im Archiv Vater der »geschlossenen Ge- wurde, an Stringenz, Lesbar-
der Vergangenheit, sondern die sellschaft« in schroffer Weise keit und Materialreichtum,
persönliche Begegnung mit der zurückweist. etwa das fünfbändige Hand-
Unbegreiflichkeit eines »Gebil- Im Laufe des Briefwechsels buch der politischen Ideen
des«, das Verwandlung, inne- treten indes die Unterschiede (Piper-Verlag) oder das in zehn
res Wachstum, Bildung fordert. mehr und mehr hervor. Wäh- Teilbänden ins Deutsche über-
Michael Stahl rend Strauss die Spannung setzte Hauptwerk Eric Voege-
zwischen Religion und Philo- lins Ordnung und Geschichte.
sophie hervorhebt, kann Voe- Mittlerweile ist Ottmann
Kritik der Moderne gelin die religiösen Implikatio- beim achten Band angelangt.
nen der von ihm hervorgeho- Er thematisiert das äußerst
Eric Voegelin/Leo Strauss: benen mystisch-spirituellen vielfältige politische Denken
Glaube und Wissen. Der Brief- Erfahrungen vom »Seins- in der ersten Hälfte des 20.
wechsel zwischen Eric Voegelin grund« nicht verbergen. Jahrhunderts. Der Münchner
und Leo Strauss von 1934 bis In Anbetracht der neuen Ak- Politikwissenschaftler stellt
1964, München: Verlag W. tualität, die beide Wissen- am Anfang die Dystopien dar,
Fink 2010. 208 S., 29.90 € schaftler besonders im letzten die eine düstere Zukunft per-
Jahrzehnt gewannen, ist die horreszieren. Gleichfalls wer-
Eric Voegelin und Leo Strauss neueste Edition des Voegelin- den die Ansätze exzeptioneller
werden der sogenannten nor- Zentrums für Politik, Kultur einzelner Gelehrter dargestellt,
mativ-ontologischen Richtung und Religion an der Ludwig- etwa diejenigen Max Webers
der politischen Theorie zuge- Maximilians-Universität Mün- und Carl Schmitts. Des wei-
rechnet. Bei genauerem Hinse- chen ein Muß für all jene, die teren würdigt der Verfasser
hen wird auch in diesem Fall den Lebensweg der zu Welt- das Denken vor, während und
deutlich, daß eine solche Ein- ruhm gelangten Geistesgrößen nach der russischen Revolu-
ordnung mittels weit ausholen- verfolgen wollen. tion 1917/18 sowie das kaum
der Begrifflichkeit wenig hilf- Felix Dirsch überschaubare Ideenkonglo-
reich ist. Wenn es dazu eines merat der sogenannten »Kon-
Beweises bedurft hätte, dann servativen Revolution«. De-
lieferte ihn der kürzlich edierte Politische Theorie- tailliert behandelt er die The-
Briefwechsel zwischen beiden. geschichte menkomplexe »Faschismus
Die Modernekritiker verbin- und Nationalsozialismus«,
det, daß sie sich als Emigran- Henning Ottmann: Geschichte das politische Denken vor,
ten im angloamerikanischen des politischen Denkens, Bd während und nach der chine-
Bereich orientieren mußten. 4: Das 20. Jahrhundert, Teil- sischen Revolution von 1949
Voegelin suchte nach Publika- band 1: Der Totalitarismus und abschließend die Leistun-
tionsmöglichkeiten, um im und seine Überwindung, Stutt- gen und Grenzen der neoklas-
amerikanischen Universitätsle- gart/Weimar: Metzler Verlag sischen Philosophen (Voege-
ben Fuß fassen zu können und 2010. 540 S., 19.95 € lin, Strauss, Arendt). Voraus-
wendete sich daher 1942 an sichtlich im Herbst 2012 wird
Strauss, einen der Mitheraus- Die auf insgesamt neun Bände das Meisterwerk abgeschlos-
geber der Zeitschrift Social angelegte Geschichte des po- sen sein und der »Ottmann«
Research. Von diesem Zeit- litischen Denkens von Hen- einen kanonisierten Rang un-
48 Rezensionen
ter den Standarddarstellun- lichen Teil auf die Partei be- schrieben, in dem er sich den
gen der politischen Theoriege- schränkt und daß immer noch Entwicklungen des deutschen
schichte erhalten. eine gewisse Schicht in der Be- Films nach 1945 widmet. Sein
Felix Dirsch völkerung vorhanden ist, die Fokus liegt auf dem nationa-
nicht das geringste Verständ- len Selbstverständnis, das sich
nis dafür aufbringt.« Speer zu- hinter den relevanten Strei-
Empirie gegen folge erzeugte diese Meldung fen mit historischer und ge-
Kollektivschuld im engsten Kreise des Führers sellschaftskritischer Thematik
»Verlegenheit. Hitler rührte verbirgt. Er erläutert dabei den
Konrad Löw: Deutsche Schuld stumm in seiner Suppe.« Kunstcharakter der Filme, die
1933–1945? Die ignorierten Offensichtlich ist dieses Buch stets weit mehr über das Emp-
Antworten der Zeitzeugen, nicht ohne emotionale Beteili- finden ihrer Entstehungszeit
München: Olzog 2011. gung geschrieben: Angesichts als über die gezeigte Historie
464 S., 39.90 € eines auch die Geschichtswis- offenbarten. Anhand der film-
senschaft korrumpierenden technischen Mittel erkenne
Mit seinem neuen Buch hat Gesinnungsmoralismus, der man stets eine »Projektions-
Konrad Löw sich offen zum das Prinzip der Unschuldsver- fläche des ›Zeitgeistes‹«. Da
Ziel gesetzt, den mythischen mutung notorisch zugunsten das Medium Film aufgrund
Bann der deutschen Kollektiv- einer Kollektivbeschuldigung des hohen Kostenfaktors auf
schuld zu brechen. Aber frei- außer Kraft setzt, sobald »die die Einbettung in ein gesell-
lich mahnt der revisionistisch Deutschen« unter Anklage schaftliches Klima angewiesen
gescholtene Autor nur fällige stehen, übernimmt der Jurist ist, spiegeln sich in ihm politi-
und wissenschaftlich belast- Löw selbstbewußt die Rolle sche Machtverhältnisse. Licht-
bare Revisionen an. Dem chro- des Verteidigers und legt akri- mesz’ kundige Reise durch die
nifizierten antideutschen Vor- bisch recherchiertes und über- Jahrzehnte führt von alliierten
urteil setzt Löw eine empirisch raschend reichhaltiges Entla- Erziehungsfilmen über frühe
gesättigte Untersuchung über stungsmaterial vor. Für eine deutsche Versuche der Trau-
die Einstellung der damaligen wissenschaftliche Revision des maverarbeitung, bis zum Hei-
Deutschen zum staatsoffiziel- bislang vor allem geschichts- mat- und Landserfilm der 50er
len Antisemitismus des Dritten politisch geführten Prozesses und 60er Jahre. Die Nazi-Fi-
Reiches entgegen. plädieren in ihren Geleitwor- gur im amerikanischen Kino
Bereits die zu diesem Thema ten auch Klaus von Dohnanyi kommt ebenso zur Sprache
vorliegenden Arbeiten von und Alfred Grosser. wie der forcierte Schuldkult
Broszat, Bankier, Longerich Siegfried Gerlich seit den 70er Jahren. Aktuel-
u.a. boten ein zunehmend dif- len Banalisierungen und Rela-
ferenziertes Bild, obgleich tivierungen deutschen Leidens
das verwendete Quellenmate- Der deutsche Film als stellt Lichtmesz ein Plädoyer
rial nicht immer erschöpfend besetztes Gelände zu mehr künstlerischem Mut
und ergebnisoffen ausgewer- im Umgang mit der nationalen
tet wurde. Löw hingegen hat Martin Lichtmesz: Besetz- Geschichte entgegen.
sämtliche zugänglichen Quel- tes Gelände. Deutschland im Claus-M. Wolfschlag
len und Dokumente von Zeit- Film nach ’45, (Kaplaken 22)
zeugen gesichtet und pointiert Schnellroda: Edition Antaios
zusammengestellt. Insbeson- 2010. 96 S., 8.50 € Wo Zumutungen
dere die deutschen Juden, die abprallen
in der bisherigen Forschung Im Januar 2010 war es zu ei-
zumeist nur als stumme Opfer- ner filmtheoretischen Kontro- Steffen Dietzsch: Wandel der
statisten auftraten, läßt Löw verse zwischen Martin Licht- Welt. Gedankenexperimente,
zu Wort kommen – und deren mesz und Stefan Hug, Autor Heidelberg: Manutius 2010.
Urteil über die Deutschen fällt des Buches Hollywood greift 335 S., 22 €.
insgesamt weit positiver aus, an!, gekommen. Hug hatte
als zu erwarten stand. sich für die Verarbeitung deut- Aufsatzsammlungen bergen
Daß die rassenantisemitische scher Geschichtsmythen im die Gefahr, daß etwas zwi-
Staatspolitik vom größten Teil heimischen Unterhaltungs- schen Buchdeckel gepreßt
des deutschen Volkes nicht be- kino ausgesprochen. Epische wird, lediglich, weil die Texte
fürwortet, sondern selbst von Monumentalfilme sollten den vom selben Autor stammen.
einigen Nationalsozialisten ab- antideutschen Klischees bei Die Gefahr ist auch bei Steffen
gelehnt wurde, geht im übri- Spielberg und Co. entgegenge- Dietzsch, der als Philosoph in
gen nicht nur aus zahlreichen setzt werden. Lichtmesz wie- Berlin und Leipzig lehrt, nicht
Berichten jüdischer Zeitzeu- derum hatte Hug vorgewor- von der Hand zu weisen, weil
gen, sondern auch aus internen fen, zu wenig zwischen der die Gegenstände der Aufsätze
NS -Stimmungsberichten her- Funktion von Film als Propa- recht unterschiedlich sind: Es
vor. 1938 ließ Goebbels ver- gandainstrument und als Form geht nicht nur um den Deut-
melden, »daß der Antisemitis- künstlerischen Ausdrucks zu schen Idealismus und seine
mus sich heute in Deutschland differenzieren. Nun hat Licht- Entdeckung, um Nietzsches
immer noch zu einem wesent- mesz einen eigenen Band ge- Philosophie oder die Gebrü-
Rezensionen 49
der Jünger, sondern auch um Geldflucht abzuwägen zwingt. der Ökologismus ein trojani-
die Notwendigkeit des Verges- Hält Schulte Immobilien, das sches Pferd des Faschismus
sens und die organische Ver- »Betongold«, hinsichtlich der dar? Fakt ist, daß die ökologi-
logenheit des Kommunismus. Rendite für ineffektiv, so ho- sche Bewegung von ihrem An-
Doch Dietzschs Aufsätze sind len Aktien immer erst gegen beginn an von Personen und
keine Abhandlungen, die Phi- Ende einer Inflation gegen- Standpunkten geprägt gewesen
losophiegeschichte um ihrer über den Edelmetallen auf. ist, die als konservativ bis ra-
selbst willen betreiben, son- Zugleich muß mit Zwangs- dikal rechts eingestuft werden
dern Texte, die sich für die zugriffen des Staates gerech- mögen, von der kaiserzeitli-
Gegenwart interessieren und net werden. Schulte erwähnt chen Lebensreform-Bewegung
gleichsam vergessene Genea- die staatlichen Eingriffe in den über die ersten »Grünen« (wie
logien herausarbeiten wollen. Immobilienmarkt in Folge der Herbert Gruhl) bis zur heuti-
Neben dieser Gegenwärtigkeit deutschen Hyperinflation von gen NPD, die ihren Standpunkt
bildet die im guten Sinne auf- 1922/23. Häuserpreise stürzten in die Formel »Umweltschutz
klärerische Grundhaltung von ein, Mietsteigerungen wurden ist Heimatschutz« gegossen
Dietzsch eine zweite Klammer gesetzlich verboten, es folg- hat. Die unverhohlen national-
um die Texte. Aufklärung be- ten Hauszinssteuer und Hypo- sozialistische Philosophin Savi-
deutet eben auch, heutige Be- thekengewinnabgabe. Ähnlich tri Devi (1905–1982) fügt sich
schränkungen zu benennen das amerikanische Goldver- ebenfalls in diesen ideologi-
und diese mit Hilfe des hi- bot von Roosevelt. schen Strauß. Zahl-
storischen Materials sichtbar US-Bürgern wurde reiche ihrer Bücher
zu machen. Die Einsicht in von 1933 bis 1974 enthalten neben Pas-
diese Zusammenhänge führt der Besitz von Gold sagen, die Adolf Hit-
nicht notwendig dazu, daß der unter Strafe gestellt. lers historische Sen-
Mensch sie ändern kann. Er Diese Probleme erge- dung in affirmativ-
kann dem »Wandel der Welt« ben sich bei Silberan- ster Weise preisen,
lediglich mit einer heiteren Ge- lagen kaum, da das Kapitel, die dem Na-
lassenheit gegenüberstehen, an Edelmetall etwa für tur- und Umwelt-
der alle Zumutungen abpral- die wachsenden Indu- schutz sowie dem
len. Die Suche nach Zeugen für strien der Schwellen- Vegetarismus gewid-
diese Haltung bildet die dritte länder benötigt wird. met sind. In ihrem
Klammer für Dietzschs Texte. Man findet Silber in Buch Impeachment
Daß er sie nicht nur bei Ernst Kleidung, Bestecken, of Man (1946 ver-
Jünger findet, sondern auch Spiegeln, Batterien und Bild- faßt, aber erst 1959 erschienen)
bei Kant oder dem vergessenen schirmen. Die Ressourcen sind hat Savitri Devi ihre biozentri-
Oscar Levy, macht Dietzschs begrenzt, Silber ist gegenüber sche Weltanschauung als philo-
Buch obendrein zu einer kurz- Gold zudem stark unterbewer- sophisches Traktat formuliert.
weiligen Lektüre. tet. Die Krise wird, so Schulte, Die nun auf deutsch erschie-
Erik Lehnert viele Vermögen vernichten, nene Streitschrift diskutiert die
böte aber auch Chancen. Vor Entgegnungen von »Fleisch-
allem markiere sie ein Ende fressern« auf die Argumente
Silberblick rein materialistischen Denkens der Verfasserin durch. Aus-
und die Wiedergeburt konser- gangspunkt ist ihre Dichotomie
Thorsten Schulte: Silber – das vativer Werte. Anthropozentrismus versus
bessere Gold, Rottenburg: Claus-M. Wolfschlag Biozentrismus, also: Mensch
Kopp 2010. 249 S., 19.95 € kontra Leben. Die Aufdec-
kung, in welcher Weise sich der
Der langjährig im Invest- Biozentrische Utopie Mensch in den Mittelpunkt
mentbanking tätige Thorsten der Welt rückt, wie er My-
Schulte ist bekennender An- Savitri Devi: Angeklagt: Der thos und Religion egoistisch
hänger der Anlageform Silber. Mensch. Anthropozentrische auf sich selbst ausrichtet, frap-
Die Liebe zum weißen Edelme- versus biozentrische Weltsicht, piert den Leser, und die be-
tall basiert indes nicht auf Ver- Preetz: Regin Verlag 2010. zwingende Logik der deontolo-
narrtheit, Schulte belegt Pro- 224 S., 18.95 € gischen Argumentation nötigt
gnosen zum »kommenden Sil- Respekt ab. Thema des Bu-
berboom« in seinem aktuellen Nicholas Goodrick-Clarke, der ches sind letztlich nicht primär
Buch mit vielen Tabellen und Verfasser der Okkulten Wur- Tierrechte oder Vegetarismus,
historischen Verweisen. Er er- zeln des Nationalsozialismus, sondern die Stellung des Men-
läutert die Geschichte des Gel- läßt seine Savitri-Devi-Biogra- schen im Kosmos. Das somit
des und detailliert die Krise des phie Hitler’s Priestess in der auch politische Buch klingt in
gegenwärtigen Finanzsystems. Warnung enden, die ökologi- einer utopischen Schilderung
Der Zusammenbruch der Pa- sche Bewegung mit ihrem bio- einer »idealen Welt« aus, bei
piergeldwährungen dürfte mit zentrischen Faible sei ein Ein- der wohl selbst hartgesottene
einer galoppierenden Infla- fallstor für antiliberales und Tierschützer einen – veganen –
tion einhergehen, was unter- irrationales Gedankengut der Kloß herunterwürgen müssen.
schiedliche Möglichkeiten der extremen Rechten. Stellt also Sebastian Maaß
50 Rezensionen
POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
ISBN 978-3-902475-80-0
Niko Colmer
TERRORISMUS
Reale und fiktive Bedrohungen
im Nahen Osten
184 Seiten, zahlr. Abbildungen,
Hardcover
€ 19,90
Islam und NS
Als das Buch A Mosque in Munich des Pulit- die Aids-Problematik, für scharfen Antifeminis-
zer-Preisträgers Ian Johnson im vergangenen mus sowieso. Berührungsängste jedwelcher Art
Jahr erschien, wurde es hierzulande als »hoch- jedenfalls kennen die »Ketzer« nicht. Die jüng-
relevante historische Studie« gerühmt. Nun ist ste Ausgabe 164 eröffnet Hoevels mit einer Per-
mit die Die vierte Moschee. Nazis, CIA und der spektive auf einen womöglich in Mode kom-
islamische Fundamentalismus (Stuttgart 2011, menden Antiislamismus. Sowohl die »schlapp
350 S., 22.95 €) das Buch zu einem vorgezoge- gewordenen Christen«, der »sauaggressive Is-
nen Termin auf deutsch erschienen – vom Ver- lam« als auch die Bundeszentrale für politische
lag als »Faktenthriller« angeboten. Johnson war Bildung (»die wohl widerlichste Propagandain-
in einem Buchladen radikaler Islamisten auf eine stitution zumindest der Alten Welt«) bekom-
Weltkarte gestoßen, die in ihren Ecken die vier
wichtigsten Moscheen des Islam zeigte: Mekka,
Jerusalem, Istanbul und – eine Moschee in Mün-
chen. Bei seinen Recherchen stieß der Journalist
auf Dokumente, die auf Bemühungen der Na-
tionalsozialisten hinweisen, Muslime aus den
Randzonen der Sowjetunion als Überläufer
zu gewinnen und für den Feldzug gegen Mos-
kau einzuspannen. Von den 250 000 Muslimen,
die in nationalsozialistischen Diensten kämpf-
ten, blieben tausend nach Kriegsende in West-
deutschland zurück. Sie waren in München –
dem Mekka aller antibolschewistischen Bewe-
gungen – besonders präsent. Johnson schreibt,
daß 1957 das Vertriebenenministerium einen men hier ihr Fett ab. Des weiteren wird (»Wie
Usbeken mit dem Vorsitz der »Moscheebau- man einen Pappkameraden baut«) noch einmal
Kommission« betraute, der im Krieg als Imam die Causa Sarrazin beleuchtet: Um zu vermei-
eines muslimischen SS -Verbandes gedient hatte. den, daß das Wahlvolk »wie zu den Anfangszei-
Auch die CIA und andere Geheimdienste halfen, ten der Republikaner gegenüber den Kartellpar-
die Münchner Moschee als Bollwerk gegen den teien illoyal wird und damit wenigstens ein biß-
Kommunismus aufzubauen – mit Unterstützung chen mutiger und intelligenter, setzt man ihm ei-
der Muslimbruderschaft. In der »vierten Mo- nen Fake-Schönhuber vor: eben ›Sarrazin‹«. Äu-
schee«, so Johnson, sei der Westen letztlich zum ßerst lesenswert sind Hoevels’ Anmerkungen zu
Paten des 11. September 2001 geworden. den jährlichen Opern-Aufführungen in Wels, wo
ein »noch nicht helotisiertes Publikum« regelmä-
Ketzerbriefe ßig in den Genuß von Wagner-Opern komme,
Das Bemühen, die politischen Kategorien links die nicht dem »gleichschaltungsbedingten Ver-
und rechts aufheben zu wollen, ist im Normal- hunzungszwang« zum Opfer gefallen seien. Von
fall doch im genuin »rechten« Milieu beheimatet, einiger Aussagekraft mag auch der Hinweis im
bei Traditionalisten und diversen Parteiungen Impressum der Zeitschrift sein, daß Bestellun-
des sogenannten gesunden Menschenverstands. gen innerhalb einer Woche beantwortet würden:
Die seit Mitte der achtziger Jahre erscheinenden »Nichtantwort beweist Nato-Postzensur. In die-
Ketzerbriefe – Flaschenpost für unangepaßte sem Fall Bestellung per Einschreiben wiederho-
Gedanken bilden insofern eine Ausnahme, da len – Lektion für fdGO - und Zufallsgläubige, ein
Fritz Erik Hoevels, der geistige Vater des sechs- Nachhilfeunterricht zur Staatsbürgerkunde.«
mal jährlich erscheinenden Heftes ein »alter Lin- Ein Einzelheft kostet 4.50 € zuzüglich Versand,
ker« ist. Das ehemalige SDS -Mitglied war Initia- ein Zyklus von sechs Ausgaben 30.50 € inklusive
tor der Marxistisch-Reichistischen Initiative, die Versandkosten. Bestellungen über www.ahri-
zwischendurch als Rotes Forum firmierte und man.com oder 0761/50 23 03.
sich heute Bund gegen Anpassung nennt. Im Na-
men einer »Radikalaufklärung« setzt man sich Wie war das noch mal mit
mit Vorliebe zwischen sämtliche bereitgestellten Martin Hohmann?
Stühle. Von ihrer vehementen Kirchen- und Re- Zehn Gremien haben sich mit der am 3. Oktober
ligionskritik haben die Ketzerbriefe nie abgelas- 2003 gehaltenen, angeblichen »Tätervolk«-Rede
sen. Daneben ist man – in schneidendem Ton und des damaligen CDU -Bundestagsabgeordneten
mittels furioser Satzkaskaden – für zahlreiche Martin Hohmann befaßt. Heute ist der »Fall
Überraschungen gut, für Polemiken gegen das Hohmann« und damit eines der schwärzesten
Verbot öffentlichen Zeigens von Hakenkreuzen Kapitel der CDU -Geschichte nahezu vergessen.
etwa, für eine unkonventionelle Sichtweise auf Der mittlerweile verstorbene ehemalige ZDF-
52 Vermischtes
Redakteur Fritz Schenk, der damals mit großem nigend und befreiend wirke, weil sie sich »dem
Einsatz Hohmanns Rehabilitierung anstrebte, Übermaß an Heillosigkeit und williger Unter-
hat gemeinsam mit dem Juristen Friedrich Wil- werfung unter die agnostische Zivilgesellschaft«
helm Siebeke den Medien- und Rechtsskandal entgegenstelle, die wir nach dem II. Vatikani-
um Hohmann dokumentiert. In der nun bereits schen Konzil »aus den Mündern der sichtbaren
dritten, abermals ergänzten Auflage des Buches Kirche« hätten hören müssen.
(Der Fall Hohmann: Ein deutscher Dreyfus,
München: Universitas Verlag 2010. 320 S., 22 €) 125. Geburtstag Baron von
wird akribisch der gesamte »Tathergang« vom Ungern-Sternberg
Originaltext der Hohmann-Rede – die erst Wo- Er pries die Lehren Buddhas, seine Erkennungs-
chen später skandalisiert wurde – bis zum end- zeichen hingegen waren ein großes St.Georgs-
gültigen Beschluß des Bundesgerichtshofs, der Kreuz und ein Siegelring mit Hakenkreuz. Der
2007 eine Revision gegen den Parteiausschluß Deutschbalte Nikolai Robert Maximilian Ba-
Hohmanns für unzulässig erklärte, dargelegt. ron von Ungern-Sternberg wurde am 22. Ja-
Der Inhalt der umfänglichen Akten mag allein nuar 1886 in Graz geboren und wuchs in Re-
für Juristen von Interesse sein. Inwiefern sei- val auf. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er auf rus-
nerzeit auch sogenannte Qualitätsmedien und sischer Seite, ab 1916 unter General Wrangel.
»öffentliches Personal« gegen den braven CDU - Der nannte den »schmutzigen, nachlässig ge-
Mann Stimmung machten, liest sich im kompri- kleideten« Offizier, der mit seinen Kosaken auf
mierten Rückblick erschreckend. dem Fußboden zu schlafen pflegte, einen »kan-
tigen, durchdringenden Geist« – es hieß, Un-
Segnungsteams uvm. gern könne Gedanken lesen –, tadelte gleichzei-
Seit 2008 veröffentlicht Lorenz Jäger, eine der tig aber dessen enge Weltsicht und ungezügel-
dezidiert konservativen Federn des FAZ-Feuille- tes Naturell. Die Zarenherrschaft repräsentierte
tons, seine »Exerzitien« in der Frankfurter All- für Ungern die »natürliche Ordnung«. Ab 1920
gemeinen Sonntagszeitung. Diese philosophisch kämpften Ungern und seine Mannen in Eigen-
inspirierten Miniaturen über das Christentum regie – außerhalb der Weißen Armee – und mit
in Kirche und Welt hat der fe-Medienverlag nun Unterstützung Japans im Osten Rußlands gegen
in einem Band zusammengefaßt (Hauptsachen. die Bolschewiki. 1921 gelang es ihm, Urga (das
Gedanken und Einsichten über den Glauben heutige Ulan Bator) einzunehmen und die Chi-
und die Kirche, Kißlegg 2010. 272 S., 9.95 €). nesen von dort zu vertreiben. Mitte 1921 wurde
Mit milder, dennoch messerscharfer Polemik Ungern den Mongolen zunehmend lästig, da
blickt Jäger auf die populäre »Kultur der Acht-
samkeit« (Margot Käßmann), kirchliche »Seg-
nungsteams« und jene geistige Ödnis, die zeit-
genössische Geistliche bei »Entspannungstrai-
nings« an »Lindenblütentee-Nachmittagen« nur
notdürftig kaschieren. Aufs Ganze gesehen sind
aber nicht Hohn und Häme die Energien, aus
denen Jäger seine Betrachtungen speist. Wir le-
sen ernsthafte Überlegungen zu wohlwollenden,
aber wenig zielführenden »christlich-jüdischen
Dialogen«, vom Unterschied zwischen dem (ka-
tholisch geprägten) Schmerzensmann mit ge-
beugtem Haupt und dem gloriosen Weltherr-
scher der orthodoxen Kirche; von Sphärenklän- James Palmer: Der
gen und gottloser Musik (zu Schostakowitsch: blutige weiße Baron.
Die Geschichte eines
»wo seine Musik innig wird, ist er depressiv, wo Adligen, der zum
er begeistert, ist er manisch«), vom »Rauschen letzten Khan der
Mongolei wurde,
der Sprache« und dem tieferen Sinn formelhafter Frankfurt: Eichborn
Rede, von der »Unvernunft« der Opfergabe und 2010. 379 S., 32 €
darüber, warum es ganz in Ordnung geht, wenn
die Tochter sich vom katholischen Religionsun- er nun in großem Maße die Beschlagnahmung
terricht abmeldet: »Religiöse Erziehung ist zu von Gütern und Haustieren der einheimischen
wichtig, um sie den Pädagogen zu überlassen«. Bevölkerung befahl. Seine Untergebenen – ob-
Womöglich spricht Ex-Maoist Jäger vor dem gleich das mongolische Volk Ungern bis heute
Hintergrund seiner eigenen Entwicklung, wenn als »Kriegsgott« verehrt – verschworen sich ge-
er festhält: »Bastelreligionen mögen für man- gen ihn, die Rote Armee nahm ihn fest, und am
che lebensgeschichtliche Übergangsphase unver- 15. September 1921 wurde Ungern hingerichtet.
meidlich sein, aber irgendwann begehrt auch der Der mehrfach ausgezeichnete Reisejournalist
postmodernste Mensch einmal Schwarzbrot und James Palmer hat eine Biographie über den »fas-
nicht nur die dünnen, vielleicht gar moralisie- zinierenden Psychopathen« verfaßt, die nun in
renden Suppen der Zivilreligion.« Martin Mo- deutscher Übersetzung vorliegt. In (teils unmä-
sebach, der ein Vorwort beigetragen hat, nennt ßig) flott zu lesender angelsächsischer Manier
Jägers Einlassungen »eine Stimme von außer- breitet der junge Publizist das Wirken des blut-
halb des katholischen Betriebs«, die deshalb rei- rünstigen, antisemitischen Konterrevolutionärs
Vermischtes 53
aus. Die Greueltaten des Mannes, der Friedrich Betrachtung, um von dort ausgehend die wich-
den Großen verehrte, sich mit Wölfen umgab, tigsten Internetseiten und Medien des »antifa-
die Gründung eines streng asketischen buddhi- schistischen Milieus«, die bekanntesten Schrei-
stischen Ordens plante, und, wenn er nicht auf ber und deren Verbindung zum etablierten Polit-
seiner Schimmelstute ritt, in »mystischer Ver- und Medienbetrieb kurz vorzustellen. Besondere
zückung« in seine Schlachten hüpfte, waren Aufmerksamkeit wird der Bundeszentrale für
keineswegs Erfindungen der Roten. Der Autor politische Bildung entgegengebracht, deren Prä-
nennt Ungerns »formalisierten Sadismus« zwar sident Thomas Krüger, einst SPD -Politiker, of-
»unentschuldbar, aber erklärbar«: Zum einen fenbar parteiisch waltet und damit den eigenen
waren seine unmenschlichen Strafen gegen die Auftrag zur politischen Ausgewogenheit sträf-
eigenen Männer selbst bei geringen Vergehen lich verletzt.
nur eine Fortführung der in der russischen Ar- Mehr kann die sorgfältig recherchierte Bro-
mee gängigen Disziplinarstrafen, zum ande- schüre gar nicht leisten. Die Reaktionen zeigen
ren stammten zahlreiche Folter- und Tötungs- das Potential des Themas und schreien regel-
methoden (Zerreißenlassen von wilden Tieren, recht nach systematischen Arbeiten, die Kraut-
Verbrennen bei lebendigem Leib) direkt aus den krämers lesenswerte Darlegungen vertiefen.
»Höllenschriftenrollen« buddhistischer Klöster.
Ein wenig kurz kommt bei Palmer der geistige Islam und FAZ
Hintergrund des spirituellen Eklektikers. Nicht Ist das Meinungspluralismus oder grenzenloser
nur die Vernichtung der Sowjetmacht, sondern Relativismus? Jedenfalls zählt es zu den Merk-
ein übergeordneter Kampf gegen die aus den würdigkeiten des deutschen Großfeuilletons, na-
Ideen der Französischen Revolution geborene mentlich der FAZ, daß dezidierte Islamkritik und
Welt war Ungerns Ziel. Um die Errichtung ei- eine ebenso scharfe Kritik derselben gleicherma-
ner theokratischen Ordnung zu erreichen, un- ßen zur Linie des Blattes gehören. Da wird den
terhielt Ungern auch Beziehungen zu traditio- Stimmen einer Alice Schwarzer, einer Necla Kelek
nalen islamischen Kräften. Sowohl Julius Evola und einer Ayaan Hirsi Ali regelmäßig breiter
als auch Oswald Spengler galt Ungern als eine Raum gewährt, umgekehrt werden an gleichem
exemplarische Figur, der die Idee eines eurasi- Ort genau diese Stellungnahmen als »Fundamen-
schen Reiches verkörperte. Spengler äußerte, talismus der Aufklärung« gegeißelt. So berührt
sein »Beispiel zeige, mit wie geringen Mitteln es eigentümlich, daß FAZ-Feuilletonchef Patrick
Asien in einer Form mobilzumachen« sei, »ge- Bahners jene Publizisten, denen er im Blatt immer
gen die es keinen Widerstand gibt.« wieder ein Forum gewährt, nun – Ende Februar –
per Buchtitel als Die Panikmacher (Die deutsche
Links stinkt’s Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift, Mün-
Wenn bei einer kleinen Broschüre bereits Teile chen: C.H. Beck 2011. 192 S., 18 €) tituliert. Bah-
der linken Internet-Szene ins Räsonieren geraten, ners spricht von den obengenannten (inklusive
ist das ein Hinweis darauf, näher hinzuschauen. Sarrazin und Henryk M. Broder) als den »laute-
Felix Krautkrämers in der »Edition JF« erschie- sten Beschwörern einer angeblichen Bedrohung«.
nene Arbeit zum »linken Netz« betritt kein sti- Diese argumentierten »mit einem geschlossenen
listisches Neuland. Oberflächlich betrachtet System von Vorurteilen, das die Verachtung gan-
scheinen die Netzwerkdarstellungen zu etablier- zer gesellschaftlicher Gruppen salonfähig macht
ter und radikaler Linker den Agitationsmustern und Lösungen souffliert, die in Wahrheit praxis-
mancher Antifa-Broschüren abgeschaut. Dies fern und menschenrechtswidrig sind.«
Abgründige Ausstellung
Unter dem schönen Titel »Ernst Jünger. Arbeiter
am Abgrund« ist noch bis zum 27. März 2011
im Deutschen Literaturarchiv Marbach eine
Ausstellung zu sehen, die Abfallprodukte der
literarischen Produktion Jüngers versammelt.
Felix Krautkrämer:
Das linke Netz. Das Dazu ist ein umfangreicher Katalog (Marbach
Zusammenspiel zwischen am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2010.
der Wochenzeitung »Die
Zeit«, dem »Netz gegen 283 S., 26 €) erschienen, in dem zahlreiche der
Nazis«, der Bundeszentrale ausgestellten Exponate versammelt sind. Neben
für politische Bildung und
der linksextremen Szene, Tagebüchern, Kalendern und Notizheften aus
Berlin 2010. 72 S., 5 € allen Jahren und Gelegenheiten (mit Zeichnun-
gen, eingeklebten Pflanzen etc.) sind auch einige
täuscht indes, denn die Existenz eines solchen Utensilien dabei, die für Jünger typisch sind:
»linken Netzwerks« wird von Akteuren des fi- Erinnerungsstücke aus dem Ersten Weltkrieg
nanziell wohlgenährten BRD -»Antifaschismus« (der berühmte durchschossene Stahlhelm), Zet-
selber bestätigt. »Netz gegen Nazis« heißt telkästen, Käferkästen und Sanduhren. Hinzu
schließlich eines der wichtigen Internetportale, kommt noch (eher aus dem Rahmen fallend) der
auf dem sich die Geldgeber von oben, die ein- Inhalt von Jüngers Nachttischschublade (mit
schlägig bekannten Autoren von unten und die Nagelscheren und Bonbons) sowie sein Rasier-
Gruppen von linksaußen die Hand reichen. Die wasser (Marke Nightflight). Zum Geleit stellt
Broschüre setzt dieses Portal in den Fokus der Ulrich Raulff die Behauptung auf, daß Jünger
54 Vermischtes
Staatspolitisches Handbuch
Herausgegeben von Erik Lehnert und Karlheinz Weißmann
BAND 1: LEITBEGRIFFE
176 Seiten, gebunden, 15.00 €
BAND 2: SCHLÜSSELWERKE
264 Seiten, gebunden, 15.00 €
Das Allerletzte
Ein rundum unverschämtes Kartenspiel ha-
ben die Macher der weithin unbekannten mit-
teldeutschen Satirezeitschrift Das Magazin un-
ters Volk gebracht. Das »Minderheitenquar-
tett« (das wenig mit einem ordinär-langweiligen
Quartett zu tun hat) erweckt allein durch die
»in seinem Rang als Jahrhundertautor« nie um- Sprache seiner Spielanleitung leise Assoziatio-
stritten gewesen sei (was Jünger gar nicht gefal- nen zum »MAD«-Spiel aus den achtziger Jahren
len hätte). Ein umfangreicher Aufsatz von Ste- – nur wird hier der Anspruch, ein »politisch se-
phan Schlak, der auch die Idee zur Ausstellung mikorrekter Kartenspaß« zu sein, tatsächlich er-
hatte, durchschreitet Jüngers Werk beispielhaft füllt. Ein ausgefeiltes Regelwerk liegt dem Spiel
an sechs Stationen (im Hinblick auf das Archiv), zugrunde. Ergänzt durch sogenannte »AGB«-
und Detlev Schöttker untersucht Jüngers Prä- Karten (bringt man etwa die Karte »Zivilcou-
senz in der Öffentlichkeit nach 1945. Den Ab- rage« ins Spiel, kann man unter Umständen eine
schluß bilden zwei interessante Interviews mit Minderheit vor den Ansprüchen einer anderen
Helmut Lethen und Karl Heinz Bohrer, die retten) geht es darum, die einzelnen 24 Minder-
beide Meilensteine zur Jüngerforschung beige- heiten möglichst geschickt gegeneinander auszu-
tragen haben. Warum allerdings der »Arbeiter spielen. Hervorragende Chancen hat der Spieler,
am Abgrund« stehen soll, erschließt sich nicht. der den Juden, den Schwulen oder die Femini-
stin auf der Hand hat. Jene Minderheiten weisen
Islam als Nabel der Welt nämlich in den meisten Kategorien (wie »Wohl-
Sarrazin würde pauschalisieren, heißt es. Und stand« und »gesellschaftliche Akzeptanz«) hohe
was macht die Bundeszentrale für politische Bil-
dung, wenn sie formuliert: »Für Thilo Sarrazin
sind Muslime nur Gemüsehändler oder Döner-
verkäufer«? Jedenfalls hat die Zentrale nun mit
einiger Dringlichkeit (im Originalverlag ist es
erst Monate vorher erschienen) ein Buch in ihr
aktuelles Programm aufgenommen, das uns die
Weltgeschichte aus islamischer Sicht erschließen
soll. Tamim Ansary (Die unbekannte Mitte der
Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht,
Bonn 2010. 368 S., 7 € bei Bestellung über die Bezug zu 10 € zzgl.
BpB) will vermitteln, was Muslime über Jahr- Versandkosten über:
rappel GbR, Zeitschrift
hunderte hinweg motiviert hat, wie heldenhaft – Das Magazin, Karl-
gerade die Frühgeschichte des Islam zu lesen sei Heine-Straße 22,
04229 Leipzig bzw.
und inwiefern islamische Reiche zu Horten der unter www.zeitschrift-
Freiheit und Toleranz wurden. Islamozentrik ge- dasmagazin.de.
gen Eurozentrik: Wenn’s schön macht.
Punkte auf. Zu den unterprivilegierten Minder-
Todestag Karin Struck heiten zählen hingegen Kinder und Wachkoma-
Erinnert sei an die Schriftstellerin Karin Struck, patienten, die anders als etwa die Pädophilen
die vor fünf Jahren, am 6. Februar 2006, in Mün- nicht mal mit »Schamgefühl« punkten können.
chen einem Krebsleiden erlag. Daß Privates und Die ärmsten Schweine sind die »Nazis«. Jene al-
Politik untrennbar seien, hatte die Struck aus ih- lerdings vermögen trotz erbärmlicher Ausgangs-
rer linken Vergangenheit mitgebracht. Wie vehe- lage Juden und Neger zu schlagen. Ob hier nicht
ment sich die 1947 in Greifswald Geborene wei- eindeutig die Grenzen des guten Geschmacks
gerte, die Sphären zu trennen, wurde deutlich, überschritten würden? Der Pressesprecher ant-
als sie 1992 in einer TV-Diskussion über Abtrei- wortet mit einem fröhlichen »Hoffentlich ja!«
bung mit Angela Merkel (die von »Stückzahlen« Mit »Applaus von der falschen Seite« habe man
sprach) buchstäblich explodierte und Mikro so- kein Problem: »Applaus finden wir grundsätz-
wie Wasserglas ins Publikum warf, bevor sie aus lich super.« Rechtsradikale auf diversen Netz-
dem Studio stürmte. Mit einer Erschütterung, in foren halten übrigens nichts von dem hübschen
der höchste Zustimmung und Abwehr eng bei- Spielchen. Weil es halt »den Juden« wieder be-
einander lagen, las man ihre vielfach ausgezeich- sonders toll darstelle.
56 Vermischtes
Sezession Überblick 2011, 9. Jahrgang
Se zession
Programm
und Redaktion Autorenportrait
Martin Walser
Felix Menzel
No-Go Meck-Pomm
tiert wird.
Heft 40 / Februar / 10 € Heft 43 / August / 10 €
Sezession bündelt Gedanken, Argu- Themenheft »Islam« offenes Heft
mente und Lösungsansätze sechsmal 60 Seiten, Beiträge u.a.: 60 Seiten, Beiträge u.a.:
im Jahr auf jeweils 60 Seiten – dreimal
Autorenportrait Autorenportrait
thematisch gebunden, dreimal in einem Lawrence von Arabien Martin Walser
offenen Heft.
Ellen Kositza Felix Menzel
Sezession wird vom Institut für Staats- Kopftuchmädchen No-Go Meck-Pomm
politik herausgegeben, unter Mitarbeit
Harald Seubert Michael Paulwitz
von Wolfgang Dvorak-Stocker, Ellen
Orient und Okzident Ein Jahr nach Sarrazin
Kositza, Götz Kubitschek (ViSdP), Erik
Lehnert und Karlheinz Weißmann. Karlhein Weißmann Frank Lisson
Islam als Modell Kultureller Selbsthaß
Se zession
Presse über uns Konservative
Revolution
} eine »kluge Zeitschrift« (Die Welt) Karlheinz Weißmann
KR als Epochenphänomen
Sebastian Maaß
Intelligenz« (Tagesspiegel)
Die Jungkonservativen
Kleines Lexikon
der KR-Köpfe
(Ladenpreis 12 €).
Martin Lichtmesz
Amerikanische Freiheit
Siegfried Gerlich
Linke und Nation
Ellen Kositza
Hallo, Prof.!
45
Dezember 2011
10 EURO
ISSN 1611– 5910 61
www.sezession.de