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“Lass das Material sprechen.” – Malte


Herwig über “Faking Hitler”.
Fake it till you make it: Journalist Malte Herwig hat mit seinem Podcast über einen
der größten Presseskandale Deutschlands selbst Pressegeschichte geschrieben.
Faking Hitler erzählt anhand von Original-Tonaufnahmen, wie der “stern” 1983 auf
die gefälschten Hitler-Tagebücher hereingefallen ist. Im Interview von Eva Casper
erzählt Herwig, wie der Podcast entstanden ist und erklärt, dass der Erfolg ihn
selbst überrascht hat. Außerdem erklärt er, warum er es besser findet, ein Anfänger
zu sein als ein Profi. Seine Tipps für einen guten Storytelling-Podcast:
Mikrofontechnik lernen, sich als Interviewer zurücknehmen und Stille aushalten,
“auch wenn es peinlich wird”.

 
Malte Herwig, du hast gemeinsam mit dem “stern” den Podcast Faking Hitler
produziert, der den wohl größten Skandal des Magazins erzählt. Wie kam es
zu der Zusammenarbeit? Der “stern” hat ja 30 Jahre den Mantel des
Schweigens um die Hitler-Tagebücher gehüllt…

Malte Herwig: Als der “stern” 2018 sein 70. Jubiläum feierte, war ich dort als Autor
angestellt und habe mir gedacht: Wenn du schon an der Quelle sitzt, kannst du dir
doch mal diese berühmten Hitler-Tagebücher anschauen. Die haben dann im Verlag
tatsächlich den Schlüssel zu einem Schranksafe im Keller wiedergefunden, in dem
die Tagebücher seit 30 Jahren unter Verschluss lagen. Ich wollte eigentlich nur
einen Artikel für das stern-Jubiläumsheft schreiben. Aber dann habe ich im Keller
des ehemaligen stern-Reporters Gerd Heidemann mehrere hundert Audio-
Kassetten entdeckt, auf denen er alle seine Telefonate mit dem Fälscher Konrad
Kujau aufgezeichnet hat. Das Material war großartig. Ich konnte live mithören, wie
der größte Presseskandal der deutschen Geschichte entstand. Da war sofort klar:
Das darf kein Artikel bleiben, das muss ein Podcast werden!

Hunderte Audio-Kassetten – wie bist du vorgegangen, um aus diesen alten


Tonaufnahmen einen Podcast zu machen?

Ich habe die allerletzte Kassette zuerst gehört. Da ist der Skandal gerade
aufgeflogen und der völlig konsternierte Heidemann ruft Kujau ein letztes Mal an:
“Conny, was ist los?” – und Kujau seufzt einfach nur auf seine bräsig-hinterlistige
Art. Da war mir sofort klar: Bumm, das wird der Einstieg. Wir beginnen mit dem
großen Knall. Dann haben wir in der Redaktion alle Kassetten mit Hilfe von zwei
chinesischen Walkman-Clones digitalisiert und katalogisiert. Gerd Heidemann hatte
die Aufnahmen in den 1980ern schon im Knast transkribiert, was eine
Orientierungshilfe war. Wir wollten den Podcast, der ja ein unglaublich heikles
Thema für den “stern” war, sparsam aber wirkungsvoll inszenieren, und haben uns
mit Pool Artists und Nilz Bokelberg die Kompetenz für Produktion und Drehbuch
ins Haus geholt.

Mit “Faking Hitler” warst du in Deutschland Pionier auf dem Gebiet der
Storytelling-Podcasts. Hattest du ein Vorbild?

Ganz ehrlich, weil “Faking Hitler” oft damit verglichen wird: Ich bin bei Serial nicht
über die ersten zehn Minuten hinausgekommen. Aber ich fand S-Town großartig,
der von den gleichen Leuten produziert wurde.

Du kommst ja selbst aus dem Print-Bereich. War die Podcast-Produktion eine


Umstellung für dich?

Ich bin ein großer Anhänger dieser Idee der Zen-Buddhisten, dass man immer ein
Anfänger sein sollte. Als Anfänger hast du einen offenen Blick für Neues und hörst
nie auf zu lernen; als alter Meister weißt du eh schon alles. Dieses abgezockte
Profitum ist unter uns Journalisten (ich lasse hier mal die männliche Bezeichnung so
stehen) ein bisschen zu verbreitet für meinen Geschmack. Ich war richtig
überrascht, wie optimistisch, wagemutig und kooperativ die Podcast-Branche ist. Ich
habe 15 Jahre lang als Print-Journalist beim “Spiegel”, dem “SZ-Magazin” und dem
“stern” gearbeitet, den Auflagen beim Sinken und den Verlagsleitungen beim
Sparen zugeschaut. Persönlich war das eine tolle Zeit in tollen Redaktionen, aber
irgendwann gehen einem das ständige Print-Krisengerede und die räudigen
Content-Verwurstungsmaschen auf die Nerven. Mir hätte gar nichts Besseres
passieren können, als durch den Zufallsfund der Kassetten zum Podcasten zu
kommen. Schreiben ist etwas sehr Zerebrales – Podcasten geht in die Eingeweide,
ohne dabei an Gehalt zu verlieren.

Ab wann war dir klar, dass du mit dem Podcast über die Hitler-Tagebücher
selbst auch Pressegeschichte schreiben wirst?

Als wir “Faking Hitler” gemacht haben, habe ich erwartet, dass diese Geschichte so
ein Ding für Medieninsider wird. Als der Podcast dann auf die Nummer 1 in den
Apple-Charts kletterte und plötzlich über eine Millionen Hörer hatte, waren wir alle
baff. Die Print-Ausgaben von klassischen Magazinen wie “stern” und “Spiegel”
werden vor allem von Männern Ende 50 gelesen, die man vielleicht noch mit Abo-
Prämien wie Thermoskannen und Akkuschraubern hinterm Ofen hervorlocken kann.
Über den Podcast “Faking Hitler” kamen zum ersten Mal Leute unter 30 mit dieser
eigentlich tollen, wuchtigen Marke “stern” in Kontakt. Das ist eine Riesenchance für
Verlage, wenn sie Podcasts nicht nur als billige Drittverwertungsmöglichkeit sehen.
Wenn ich von Verlagen hören, dass sie für Audio-Eigenproduktionen kaum Budget
haben und aufwändig recherchierte Podcast-Series nur in Kooperation mit
Streaming-Plattformen machen, dann denke ich mir: Put your money where your
mouth is! Vertraut doch auf die Stärke Eurer journalistischen Marke und produziert
auf allen Kanälen maßgeschneiderten, exklusiven Content – egal ob Print, Online
oder eben Podcast first.

Was hast du aus dem Projekt gelernt?

Stille aushalten, auch wenn es peinlich wird. Als Interviewer hast du kein
mächtigeres Tool als das Schweigen. Irgendwann wird die Stille so unerträglich,
dass etwas aus deinem Gegenüber herausplatzt. Das Tolle am Podcast: Du spürst
diese Stille und die Spannung zwischen den Worten. Was ich noch gelernt habe:
Podcasts müssen nicht aufwändig sein, aber die Basics müssen stimmen. Also:
Mikrofontechnik lernen. Draußen nur mit Windschutz aufnehmen. Auf
Nebengeräusche achten. Eine verrumpelte, übersteuerte Aufnahme kannst du auch
im besten Studio nicht mehr retten. Das sind die Basics. Dann vertrau auf die
Geschichte und lass das Material sprechen. Das Allerwichtigste aber ist: Nimm dich
selbst zurück und denk immer zuerst an dein Publikum. Das möchte unterhalten
werden. In einem hat der alte Henri Nannen recht gehabt: Erst die Kirche
vollmachen, dann predigen!

Gibt es bestimmte Tools, die dir helfen, ein Storytelling zu entwerfen?


 
Ich habe mit Programmen wie Scrivener und anderen experimentiert. Am Ende bin
ich wieder da gelandet, wo ich angefangen habe: Ein simples Word-Dokument. Das
beginnt mit einem Staffelbogen, in dem ich jede Episode erst in ein, zwei Sätzen
skizziere. Daraus entsteht dann im gleichen Dokument das ausgeschriebene
Drehbuch. Und wenn ich mal feststecke, dann hilft immer, wirklich immer: ein
Spaziergang.

Es gibt immer mehr Storytelling-Podcasts, im Vergleich zu Laber-Podcasts


aber noch recht wenige. Warum eigentlich?
 
Weil Laber-Podcasts einfach zu produzieren sind und vor allem von der
Persönlichkeit der Hosts leben. Wenn die gut drauf sind, ist der Podcast in Echtzeit
im Kasten. Sabine Rückert hat mal gesagt, dass sie drei Episoden von “Zeit
Verbrechen” an einem Nachmittag produzieren kann. Hut ab, das könnte ich nie.
Exklusive Storytelling-Podcasts sind viel aufwändiger in der Recherche und
Produktion, wobei Aufwand relativ ist: Selbst die opulenteste Podcast-Miniserie wird
nur den Bruchteil einer vergleichbaren TV- oder Streaming-Serie kosten.
Gleichzeitig kann nicht jeder einfach mal so eine große Recherche hinlegen und
Material aufspüren und Leute zum Reden bringen. Deshalb glaube ich auch, dass
investigative Storytelling-Podcasts die Zukunft des digitalen Journalismus sind.
Auch, wenn das kitschig klingt, aber in Sachen Storytelling-Podcasts gehen wir
Medienleute goldenen Zeiten entgegen.

Du hast für den NDR einen Podcast über den Frauenmörder Jack Unterweger
produziert. Worum geht es da?

Jack Unterweger war ein österreichischer Frauenmörder, der im Gefängnis zum


gefeierten Schriftsteller und 1990 als vermeintlich rehabilitiert entlassen wurde.
Dann ermordete er innerhalb eines Jahres mindestens neun Frauen. Lustigerweise
fand ausgerechnet der Norddeutsche Rundfunk diesen österreichischen Serienkiller
so interessant, dass wir gemeinsam den Podcast Jack. Gier frißt Schönheiten
gemacht haben. Darin hat mich die Frage beschäftigt, wie Unterweger so lange
unentdeckt morden konnte – schließlich stand er nach seiner Freilassung im
Rampenlicht der Öffentlichkeit. Als in Wien mehrere Sexarbeiterinnen ermordet
wurden, schickte der ORF ihn sogar als Reporter auf den Straßenstrich, um über
die Angst im Rotlichtmilieu zu berichten.

Du bist dabei auch wieder auf alte Tondokumente gestoßen.

Ich habe mir die Kassetten von damals angehört und mir an den Kopf gefasst: Er
fragt eine Sexarbeiterin, ob sie Angst vor dem Mörder hat und stottert bei dem Wort
“M..M..Mörder” dreimal. Oder die Kassette, die wir intern “The Black Tape” nannten.
Auf der hat er seine Interviews mit Sexarbeiterinnen und Drogensüchtigen in Los
Angeles aufgenommen, wo er innerhalb weniger Wochen ebenfalls drei Frauen
ermordete. Da hört man, wie unfassbar schlecht sein Englisch ist, aber wie er es
durch seine Psychopathen-Art trotzdem schafft, das Vertrauen der Menschen zu
gewinnen. Ich will mit dem Podcast zeigen, wie Unterweger mit diesem Wahnsinn
durchkommen konnte. Dafür musste ich über seine Stimme so nah an ihn kommen,
dass der Wahnsinn spürbar wird.

Worin liegt für dich die Faszination solcher Aufnahmen und ist es schwierig,
sie technisch zu verwerten?

Eine Geschichte für die Ohren zu erzählen, ist viel intimer und authentischer, als sie
einfach nur aufzuschreiben. Deshalb arbeite ich so gern mit unbekannten
Originalaufnahmen: Das ist wie eine Geisterbeschwörung, wenn ich auf einmal die
Toten sprechen lassen kann. Wenn die Originalaufnahme OK ist, dann ist die
digitale Weiterverwertung kein Problem. Ich habe ein kleines Studio, in dem ich
VHS-Videos, Tonbänder und Musikkassetten in hoher Qualität digitalisieren kann.

Welche Projekte hast du noch in Planung?

Ich bin gerade auf der Suche nach einem Kooperations-Partner für meinen
nächsten Podcast über “Das Böse in uns”. Darin spreche ich nicht bloß über Täter,
sondern mit den Tätern selbst: Serienmördern, Kriegsverbrechern, Mitläufern,
Verrätern oder dem freundlichen Mörder von nebenan. Mal sehen, wer sich traut.
Mich interessiert die Frage, wieviel Böses in jedem von uns steckt und unter
welchen Umständen es hervorkommt. Ich will das klassische True-Crime-Genre aus
der Schmuddelecke holen, wo Gut und Böse klar verteilt sind und der Auftritt des
Mörders mit reißerischer Musik angekündigt wird. Ich halte das Publikum, das in
diesem Genre zu über 80 % aus Frauen besteht, einfach für zu smart, um sich mit
psychologischer Schwarzweißmalerei zufrieden zu geben.

 
Weitere Beiträge, Interview, Podcasts und Profi-Tipps
findest Du in den turi2 Podcast-Wochen.
 
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