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Veröffentlichungen des

Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika

Band 3

„Gracias, Dios, por el fútbol”


Diskurse über den Fußball in Lateiname-
rika

Herausgegeben von Wolfgang Muno und Roland Spiller


©bei den Autoren und Herausgebern

2007

ISBN 3-927581-21-6

Druck des Textes: Hausdruckerei der Johannes Gutenberg Universität Mainz


Umschlag, Verarbeitung: Buchbinderei Schulz GmbH, Am Heckerspfad 12,
55128 Mainz
Inhaltsverzeichnis

Anstoß...…………………………………………………………………..….3

Wolfgang Muno:
Fußball und Politik in Lateinamerika..........................................................6

Christoph Wagner:
Erinnerungsorte, Mythen und die identitätsstiftende
Funktion des Fußballs: Ausgewählte Beispiele aus
Uruguay, Argentinien und Brasilien…………………………………….27

Yvette Sánchez:
Ballkontakt. Die hispanische Fussballliteratur
zwischen Verklärung und kritischer Distanz……………………….…...42

Roland Spiller:
„Cuando lees ganas siempre“ oder gelungene Fehlpässe:
Literatur und Fußball in Lateinamerika.…….………………………......57

Marcelo Berrini:
Los cantos de los hinchas en Argentina…….…………….........…….….77

Autoren…………...…………………..…………………………………….91
Anstoß
Fußball ist ein Spiel, das Millionen Menschen fasziniert. Fans und Philoso-
phen preisen es als Kunstgenuss. Gleichzeitig ist es ein Kampfspiel, das Leiden-
schaften und Emotionen schürt wie kein zweites und mitunter zu Gewalt, natio-
nalen Ausbrüchen und sogar Krieg führen kann.
Der Weltsport ist auch in Lateinamerika mehr als nur Sport. Er ist nationales
Identifikationsmoment, Ersatzreligion, Lebensinhalt von Millionen Lateinameri-
kanern. Eine Vielzahl von literarischen Zeugnissen, angefangen bei Eduardo
Galeano bis jüngst Martín Kohan oder Sergio Olguín belegen die Bedeutung des
Fußballs als gesellschaftliches und kulturelles, aber auch politisches und wirt-
schaftliches Phänomen.
Der Studientag 2006 des Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika an
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz griff mit dem Fußball ein Thema
auf, das im Kontext des Sommers 2006 in der Luft lag, aber nicht nur aktuell für
Lateinamerika eine große Relevanz hatte.
Mit Mexiko, Costa Rica, Ecuador, Brasilien, Paraguay und Argentinien ka-
men sechs der an der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland beteiligten
Teams aus Lateinamerika. Mit den USA und Trinidad & Tobago waren auch
Nordamerika und die Karibik als die kulturell anderen Regionen des amerikani-
schen Doppelkontinents vertreten. Diese acht Mannschaften stellten ein Viertel
der teilnehmenden Nationen. An den beiden Endspielen der im Turnier verblie-
benen letzten vier Mannschaften ist von ihnen keine mehr beteiligt. Doch lande-
ten Argentinien und Brasilien, die Weltmeister früherer Jahre, immerhin auf
Platz 5 bis 8, Mexiko und Ecuador auf Platz 9 bis 16. Die anderen vier, Costa
Rica, Paraguay, Trinidad & Tobago und die USA, gehören zu den in der Vor-
runde ausgeschiedenen 16 Teams, die – so könnte man laienhaft sagen – derzeit
die Zweite Liga des Weltfußballs bilden.
Zwischen der Welt des Fußballs und der Welt der Kirchen und Religionen
gibt es vielfältige Verbindungen. Lassen Sie mich aber diesen Zusammenhang
hier zumindest andeuten, indem ich die Überschriften einiger Zeitungsartikel aus
vergangenen Tagen zitiere, etwa: „Religion auf dem Rasen“, „Kreuzzeichen und
Kniefälle: Fußballspieler zeigen fromme Gefühle“. Wie viele Stoß-, Bitt- oder
Dankgebete die Spieler der Fußballweltmeisterschaft gesprochen haben, ließe
sich wohl nur in persönlichen Interviews ermitteln; zu vermuten ist, dass es viele
waren. So konnte man beobachten, dass Spieler, wenn sie auf den Platz liefen
oder eingewechselt wurden, zuerst den Boden berührten und sich wie beim Be-
treten einer Kirche bekreuzigten. Miroslav Klose und andere Akteure schlugen
das Kreuzzeichen, wenn sie ein Tor erzielt hatten. Auch Gesten innigen Betens
waren immer wieder zu sehen. Und Trainer Luiz Felipe Scolari nahm eine Sta-
tue Unserer Lieben Frau von Fátima mit in die Umkleidekabinen der portugiesi-

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schen Mannschaft. Die Fußballweltmeisterschaft hat der Religionswissenschaft
reichliche Anschauung geliefert.
Ich möchte auch eine kleine persönliche Erfahrung erzählen. Im letzten Jahr
hat mein Freund Jesús García uns während einer Exkursion unserer Fakultät ein
Zusammentreffen mit der Kommission für Sozialpastoral der Mexikanischen
Bischofskonferenz und mit dem im Chiapas-Konflikt als Vermittler bekannt
gewordenen Bischof Samuel Ruiz ermöglicht. Neben all seinen wissenschaftli-
chen und gesellschaftlichen Aktivitäten ist Jesús auch Seelsorger der Spieler von
„Cruz Azul“, einem Klub der Ersten Liga Mexikos. Nun hatte der VfB Stuttgart
zwei mexikanische Nationalspieler angeworben und engagiert. Einer war Ricar-
do Osorio von „Cruz Azul“. Und Jesús García hatte mich und andere Freunde in
Deutschland gebeten, den Spieler beim Einleben in unserem Land zu unterstüt-
zen.
Noch ein letztes: Der Arbeitskreis „Solidarität mit brasilianischen Gewerk-
schaften“ im DGB, Region Rhein-Neckar, in Mannheim hat in seiner Publikati-
on „Brasilien aktuell“ zum 1. Mai 2006 einen Artikel veröffentlicht: „Fehlpass
am Zuckerhut. Warum Brasilien nicht Weltmeister werden kann“. Darin werden
die Erfolge und Misserfolge des brasilianischen Fußballs seit 1950 geistvoll im
Zusammenhang sozialen Fortschritts oder Rückschritts des Landes in der jewei-
ligen zeitgeschichtlichen Situation interpretiert. Am Schluss steht eine Prognose,
die sich inzwischen bestätigt hat. Ich zitiere:
„2002. Die Bewegungen in Brasilien hatten einen neuen Frühling erlebt.
Sie kämpften, zeigten sich sehr geschlossen, machten alles richtig, nur konn-
ten sie nicht mehr recht daran glauben, dass ihr alternder Spielgestalter es je-
mals noch schaffen könnte. Trotzdem, die Linke verschaffte sich eine gute
Ausgangsposition und Lula behielt den Überblick, wie der alternde Pelé in
der Vorbereitung der WM 1970. Und genauso souverän wie jener damals die
Mannschaft zum Titelgewinn geführt hatte, ging Lula als vom Volk getrage-
ner Sieger durch das Ziel. Das erfrischende Offensivspiel der Gesellschaft
hatte sich nahtlos auf die Spielwiese der Seleção übertragen. Der Sieg stand
bereits vor dem Anpfiff des Eröffnungsspiels fest.
Alles deutete darauf hin, dass Lula mit solch einer breiten Bewegung im
Rücken den langen Pass für die WM 2006 spielen würde. Aber er verstolperte
schon im ersten Jahr seiner Amtszeit seine historischen Möglichkeiten. Er
spielte Pässe auf die Landlosen, die diese ins Abseits laufen ließen, die Frei-
gabe des genmanipulierten Sojas ist nichts anderes als unerlaubtes Doping.
Die PT benimmt sich heute an der Macht wie ein vom Sponsor bestochener
Trainer, der seinen Spielgestalter Lula immer prächtig in Szene setzen möchte
und dafür auf exzellente Spieler aus den Sozialen Bewegungen verzichtet.
Manchmal mit Tricks, die einem Foulspiel gegen die eigene Mannschaft glei-
chen.
Trotz exzellenter Spieler und einem trickreich aufspielenden Mannschafts-
kapitän wird Brasilien mit solch einer Taktik die WM 2006 nicht gewinnen.

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Nach dem Frankfurter Viertelfinalspiel am 1. Juli wird die Seleção ihre Kof-
fer packen müssen. Auf diese traurige Wahrheit muss sich Brasilien vorberei-
ten, um nicht erneut ein nationales Trauma erleiden zu müssen. Es sei denn,
Lula ändert noch im letzten Moment die Mannschaftsaufstellung und findet
zurück zum erfrischenden gesellschaftlichen Offensivspiel.“

Die folgenden Beiträge behandeln ganz unterschiedliche Facetten des Fuß-


balls in Lateinamerika. Wolfgang Muno behandelt historische und politische
Aspekte, Christoph Wagner politisch-kulturelle Fragen der Identität und der I-
dentitätskonstruktion. Beide sind Politikwissenschaftler an der Universität
Mainz. Yvette Sánchez und Roland Spiller, Romanisten aus St. Gallen und
Frankfurt, gehen dem Fußball in der hispanischen Literatur nach. Marcelo Ber-
rini schließlich, als Musiker, Musikwissenschaftler, Komponist, Filmemacher,
Autor und Lehrer ein argentinisches Multitalent aus Rosario, gibt einen Einblick
in argentinische Fangesänge.

Johannes Meier
(Ergänzungen von Wolfgang Muno und Roland Spiller)

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Wolfgang Muno

Fußball und Politik in Lateinamerika


„Es wird so viel geschrieben
und hochsterilisiert“
Bruno Labbadia

1. Warum Fußball?
Fußball ist eine der großen kulturellen Institutionen der Menschheit. Die FI-
FA begrüßte 2005 die Verbände Nummer 206 und 207, Osttimor und die Komo-
ren, und ist damit die größte Internationale Organisation der Welt. Bemerkens-
wert angesichts der Tatsache, dass es nur ca. 193 souveräne Staaten gibt und die
UNO nur 191 Mitglieder hat! Bei der großen Zählung, dem „big count“ im Jahr
2000 kam die FIFA auf über 242 Millionen aktive Spielerinnen und Spieler. Es
gibt wohl kein bewohntes Fleckchen Erde auf der Welt, wo nicht zumindest ver-
sucht wird, gegen den Ball zu treten, sei es in Grönland, wo es zwar keinen Ra-
senplatz gibt, dafür Fußballer, für die eigens das Reglement der FIFA geändert
werden soll, damit auch sie auf Kunstrasen reguläre Spiele austragen dürfen, sei
es in Bhutan oder Tibet, wo selbst in schwindelerregenden Höhen der Ball rollt.
Tibet hat gar eine Nationalmannschaft im indischen Exil, die hin und wieder
spielen darf, obwohl sie nicht von der FIFA anerkannt ist. Den bisherigen Höhe-
punkt medialer Begeisterung erreichte Fußball bei der Weltmeisterschaft in
Deutschland, wo über 3 Millionen Zuschauer in den Stadien zusahen, insgesamt
über 40 Milliarden Menschen alle Spiele am Fernseher sahen und das Endspiel
mit geschätzten 1,6 Milliarden Zuschauern wahrscheinlich das bedeutendste Er-
eignis der Mediengeschichte war.
Die Faszination des Spiels liegt vielleicht in der „glücklichen Kombination
von Freude, Spaß, Spannung und Begeisterung bei Spielern und Zuschauern“,
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wie der Mainzer Theologe Jörg Lauster schrieb (Lauster 2004: 70). Religiöse,
soziale, politische, kulturelle Erklärungen wurden aufgeführt, um die Faszinati-
on des Phänomens Fußball zu deuten. Der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich
Bette und der Soziologe Uwe Schimank geben acht Gründe an, „warum wir von
den vielen Sport-Spektakeln gar nicht genug kriegen können“ (Bette/Schimank
1996). Die Suche nach Spannung, die Körperbetonung, eine quasireligöse Hel-
denverehrung, die Emotionalität, das Gemeinschaftserlebnis, ein alle Schichten
übergreifendes Thema geselliger Konversation und die Möglichkeit der Selbst-
verortung in Zeiten biographische Brüche – im und mit dem Sport können wir
Bedürfnisse Ausleben, die in der modernen Gesellschaft ansonsten eher an den
Rand gedrängt sind. So bedeutet ein Sport-Spektakel eine „Auszeit vom Alltag,
ein Freistoß für die Seele“.
Dieser modernistische Ansatz vermag zwar plausibel die heutige Begeiste-
rung in modernen Gesellschaften für Sport erklären, aber warum sich schon im-
mer und gerade auch in noch nicht modernen (nennen wir sie unterentwickelten)
Gesellschaften Menschen für Sport und Spiel begeisterten und begeistern, dazu
können Bette und Schimank wenig sagen. Vielleicht ist es so, wie Dirk Schümer
in seinem Buch „Gott ist rund“ schreibt:
„Fußball ist schön...Fußball gehorcht...denselben ästhetischen Gesetzen wie
ein gelungenes Bauwerk oder stilvolle Kleidung: Funktionalität und Schönheit
müssen zusammenfallen...Hier steht der gelungene Moment...im Verhältnis zu
den unzähligen Momenten des Nichtgelingens...Das macht den Fußball zu ei-
nem Ereignis der Demut. Uns wird vorgeführt, daß nicht das Gelingen die Regel
ist...Die Qualität des Unvorhersehbaren eignet dem Fußball wesenhaft...Der
Fußball spiegelt seinen Anhängen also keine Zelebration des Harmonischen vor,
sondern lebt von dem Kitzel, die Differenz zwischen dem zu erwartenden Schei-
tern und dem wahrscheinlichen Gelingen immer wieder auszuhalten...Eigentlich
kann ein Fußballspiel nicht gelingen, aber oft gelingt es doch. Das ist schön und
tröstlich zugleich...Wäre das alles, dann wäre es schon viel. Es kommt aber bei
diesem Spiel noch etwas entscheidendes hinzu, das uns aus dem eigenen Leben
vertraut ist,...daß überhaupt irgendetwas geschieht. Beim Fußball machen wir
die Erfahrung, daß das stimmt. Diese Erfahrung läßt uns die Existenz einiger-
maßen erträglich werden. Damit rührt der Fußball an die tiefsten Geheimnisse
des Lebens...Insofern ist Fußball, so kommerziell und verlogen, so reich an Ent-
täuschungen und Leerlauf er sein mag, doch schön“ (Schümer 1996: 248ff.).
Vielleicht ist der Mensch aber auch einfach nur von Natur aus ein spielendes
Wesen, ein homo ludens, wie ihn Johan Huizinga nannte in seinem Versuch, das
Wesen des Menschen genauer zu erfassen. Zumindest behauptet selbst die mo-
derne Soziologie und Pädagogik, gestützt auf vergleichende Tests und Untersu-
chungen, dass sich durch Spiele kognitive, sensorisch-motorische und emotiona-
le Fähigkeiten des Menschen entwickeln bzw. verbessern und deshalb dazu bei-
tragen, bessere, humanere Menschen zu entwickeln.

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2. Eine kleine Geschichte des Fußballs
Schon immer, so versichern uns die Experten, wurde Ball gespielt. In seiner
fast enzyklopädischen Analyse des Phänomens Fußball lässt Christoph Bausen-
wein die Fußballgeschichte um 1500 v.Chr. mit den Olmeken beginnen (vgl.
Bausenwein 2006). Auch bei den Chinesen, den Griechen und Römern finden
sich Berichte und Zeugnisse über Ballspiele. Die mittelamerikanische Tradition
wird noch heute bewahrt in Form der aztekischen Variante Pok-ta-Pok, bei der
zwei Mannschaften einen massiven Latexball in der Luft halten oder in eine be-
stimmte Öffnung schießen müssen. Gespielt wurde der Ball in der Regel mit
dem Ellbogen, dem Knie oder dem Gesäß. Bausenwein zitiert einen spanischen
Augenzeugen aus der Zeit der Conquista, Diego Durán, der plastisch ein solches
Spiel schildert:
„Wenn der Ball von oben kam, fingen sie ihn in dem Augenblick, ehe er zu
Boden kam, so flink mit dem Knie oder mit dem Gesäß ab, dass er mit einer er-
staunlichen Schnelligkeit zurückflog. Bei diesen Sprüngen erlitten sie schwerste
Schäden an den Knien und an den Oberschenkeln, die Hüften wurden zer-
quetscht; manche von ihnen wurden tot vom Platz getragen, weil der Ball sie in
der Magen- oder in der Herzgrube getroffen hatte, es ihnen den Atem versetzte
und sie umfielen und starben...Der Mann, der den Ball durch den Steinring traf,
wurde von allen umringt. Sie beglückwünschten ihn, sangen Lobeslieder auf ihn
und tanzten mit ihm. Es wurde ihm ein sehr spezieller Preis überreicht, Federn
oder Umhänge und Hosenkleider, einiges von sehr großem Wert. Aber was er
am meisten lobte, war die damit einhergehende Ehre: Das war sein größter
Wohlstand.“ (zitiert nach Bausenwein 2006: 527ff.).
Einige Autoren gehen davon aus, dass der oder die Verlierer geopfert wurden,
eine Tradition, der sich die modernen Pok-ta-Pok-Spieler aber nicht mehr ver-
pflichtet fühlen.
Die traditionellen Ballspiele waren längst alle ausgestorben, als in England
der moderne Fußball beginnt. Auch hier gibt es mit dem „folk football“ einen
Vorläufer, der sich bis ins 10. Jahrhundert zurückdatieren lässt. Man treibt einen
Ball durch Straßen und Gassen, über Felder und Wiesen. Die Anzahl der Mit-
spieler ist ebenso wenig limitiert wie die Spielzeit, oft treten zwei ganze Dörfer
gegeneinander an, gespielt wird bis zum Einbruch der Dunkelheit, Regeln gibt
es kaum. Es wird gehauen und gestochen, getreten und geprügelt. Der Puritaner
Philip Stubbes schreibt 1583 in seiner „Anatomie englischer Mißstände“:
„Das Fußballspiel ist eher eine blutige, mörderische Beschäftigung als ein
Spiel oder Zeitvertreib. Wartet nicht jeder darauf, seinen Gegner zu Fall zu brin-
gen – auch auf steinigem Boden? Und wer dies am besten kann, ist der Angese-
henste. Mal wird das Genick gebrochen, mal der Rücken oder Arme oder Beine.
Aus den Nasen schießt das Blut, und die Augen quellen hervor. Doch auch die
Besten kommen nicht ohne Schaden davon, sondern werden so verletzt und ge-
quetscht, dass sie daran sterben oder nur knapp dem Tod entgehen. Kein Wun-

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der! Zwei nehmen einen dritten in ihre Mitte, rammen ihm die Ellbogen ins
Herz, schlagen ihm die Fäuste unter die kurze Rippe...Daraus erwachsen Neid,
Bosheit, Hass – und manchmal Mord und Totschlag.“ (zit. nach Bausenwein
2006: 217).
Die Veranstaltung hat den Charakter eines Volksfestes, ein Spektakel, das
zwei Dörfer oder Kirchengemeinden zur allgemeinen Belustigung an Feiertagen
aufführen. Die bekanntesten Gemeinden, die regelmäßig gegeneinander antre-
ten, sind All Saints und St. Peter’s in Derby. Ihr Match prägte den Begriff „Der-
by“. Zwischen 500 und 1000 Spieler nehmen an stundenlangen Prügeleien um
einen Ball teil. Die Obrigkeit sieht diese Art der Volksbelustigung nur ungern.
Zum einen bietet sie jungen Männern eine Gelegenheit zur Zusammenrottung,
zum anderen ist sie durch ihre Verletzungsanfälligkeit der Wehrtüchtigkeit ab-
träglich. Das erste Mal verbietet 1313 Edward II. das Spiel, Dietrich Schulze-
Marmeling zählt allein für das 14. und 15. Jahrhundert zehn weitere königliche
Verbote (vgl. Schulze-Marmeling 2000: 14). Der Popularität des Spiels tut dies
freilich kein Abbruch, wie schon die Zahl der wirkungslosen Verbote zeigt.
Mehr machen dann allerdings Industrialisierung und Landflucht dem ländlich-
bäuerlichen Spielvergnügen zu schaffen. Im 18. und 19. Jahrhundert gerät der
Volksfußball mehr und mehr in Vergessenheit. Retter des Fußballs werden die
Public Schools, Privatschulen für die Söhne solventer Bürger. Der Fußball wird
dabei geordneter, geregelter, zivilisierter, wie es sich eben für angehende Gent-
lemen geziemt. 1846 legt die Schule in Rugby erstmals ein schriftliches Regel-
werk vor: „The Law of Football as Played in Rugby School“. Die Regeln schaf-
fen die ausufernde Brutalität ab, an deren Stelle tritt ein fairer, sportlicher Wett-
kampf. Allerdings erlaubt Rugby das Handspiel, was zu regen Diskussion im
Laufe des 19. Jahrhundert führt. Die Public School in Eton veröffentlicht 1849
ihr eigenes Regelwerk, das Handspiel explizit verbietet. 1863 kommt es zur
Trennung der beiden Spielweisen, da die in London gegründete Football Asso-
ciation (FA), der weltweit erste nationale Fußballverband, sich für die Eton-
Variante entscheidet.
Englische Gentlemen bringen den Sport in die Welt und so ist Fußball zu-
nächst ein Gentlemen-Sport, ein Zeitvertreib für Gebildete und Betuchte. Der
brutalen Volksbelustigung ist der Zahn gezogen worden. Oftmals schreiben
Vereinsstatuten ein gewisses Bildungsniveau vor. In England sind die Old Eto-
nians, die in den ersten Jahren den Fußball dominieren, alles Absolventen der
renommierten Schule, in Deutschland z.B. verlangt auch der FC Bayern Mün-
chen lange den Abschluss der Mittelschule von seinen Spielern. Herausragend
sind die legendären englischen Corinthians, eine Auswahlmannschaft von Aka-
demikern, die als echte Sportsmen nur zum Spaß spielen. Dietrich Schulze-
Marmeling schreibt über sie:
„Als England 1894 und 1895 gegen Wales spielte, liefen ausschließlich Co-
rinthians auf. Die Männer in den berühmten weißen Shirts schrieben Fair Play
und Selbstlosigkeit auf ihre Fahnen und wurden zum Stolz der Amateure im Sü-

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den. In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Legalisierung des Professiona-
lismus verbuchten sie einige spektakuläre Siege gegen prominente Profi-Teams.
1884 wurde der frisch gebackene FA-Cup-Sieger Blackburn Rovers mit 8:1 ge-
schlagen. 1903 wurde ein weiterer FA-Cup-Sieger gedemütigt. Bury hatte das
Finale gegen Derby mit 6:0 gewonnen, was der höchste Sieg in der Geschichte
des Cups war. Doch die Corinthians schlugen Bury mit 10:3. Zweifellos hätten
sie den Cup einige Male selbst holen können. Doch ihre Philosophie verbot den
Corinthians, an Wettbewerben teilzunehmen, bei denen es um Pokale und ande-
re Preise ging.“ (Schulze-Marmeling 2000: 114).
Bei einer Gastreise beeindrucken die Corinthians die Brasilianer derart, dass
sich der berühmte Verein Corinthians Saõ Paulo nach ihnen nennt. Rasch entde-
cken auch die englischen Arbeiter den Fußball für sich. Ende des 19. Jahrhun-
derts entstehen erste Arbeitermannschaften. Ein wichtiges Element sind Werks-
mannschaften, die von sozialreformerischen Unternehmern zur Verbesserung
des Gemeinschaftssinnes benutzt werden (heute würde man von „Corporate I-
dentity“ sprechen). Manchester United ist zunächst ein Eisenbahnersportverein,
West Ham United, ehemals Thames Ironworks FC, kommt aus der Stahlindust-
rie, die „Gunners“ von Arsenal London haben sich ihren Namen redlich ver-
dient, da sie ursprünglich die Werksmannschaft einer Munitionsfabrik waren.
In Deutschland ist es der Erste Weltkrieg, der zur Popularisierung des Fuß-
balls in der Arbeiterschaft beiträgt. Vorher ist der deutsche Sport fest in der
Hand der konservativen, deutschnationalen Turner, die den Ausländersport als
„Fußlümmelei“ ablehnen. Dann aber entdeckt das kaiserliche Militär den Fuß-
ball. Wesentlich besser als das stupide, auf Kadavergehorsam ausgerichtete Tur-
nen bereitet das Fußballspiel auf die Erfordernisse moderner Kriegsführung vor.
Die Historikern Christiane Eisenberg schreibt:
„Das Persönlichkeitsbild eines idealen Fußballspielers entsprach dem des
modernen Soldaten, das sich vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung in
der Waffentechnik, insbesondere der Verbreitung des Maschinengewehrs, mit
einiger Verzögerung und durchaus nicht unwidersprochen auch im Militär her-
ausbildete. ‚Die Erziehung des Mannes zu selbstständigem Denken und Han-
deln’, im Fußball stets eine Selbstverständlichkeit, sprach im Jahr 1908 auch die
Felddienstordnung aus: ‚Selbständigkeit und Pflichtreue’ würden den Soldaten
‚auch dann seine Schuldigkeit tun lassen, wenn das Auge des Führers nicht über
ihn wacht’...Ebenfalls seit 1908 spielten die Besatzung der Hochseeflotte, die
Schiffsartillerieschule sowie die Schiffsjungen-, Torpedo- und Werftdivision um
die Meisterschaft der Geschwader und den von Prinz Heinrich gestifteten
‚Deutschlandschild’; 1910 verankerte schließlich ein Militär-Turnerlaß das Fuß-
ballspiel in den Ausbildungsplänen der Armee.“ (Eisenberg 1997a: 102).
Fußball dient im Ersten Weltkrieg nicht nur der Wehrertüchtigung, sondern
auch der Hebung der Kampfmoral. Eisenberg zitiert Johannes Runge, den 2.
Vorsitzenden des Norddeutschen Fußballverbandes:

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„Wie oft haben wir es erlebt, daß unsere Frontkämpfer, nachdem sie sich or-
dentlich ausgeschlafen hatten, auf der erstbesten Wiese mit dem Fußball sich
fröhlich tummelten. Immer lauter erscholl der Ruf von der Front in die Heimat:
Schickt uns Fußbälle, schickt uns Sportgeräte aller Art!“ (zitiert nach Eisenberg
1997a: 103).
In den Jahrzehnten nach seiner Neuschöpfung tritt der englische Fußball sei-
nen Siegeszug um die Welt an (vgl. Eisenberg 1997, 2004). Überall, wo es Eng-
länder oder Anglophile gibt (und das ist Ende des 19. Jahrhunderts fast die gan-
ze Welt), findet sich früher oder später ein Ball, gegen den getreten wird. Matro-
sen, Diplomaten, Händler oder Absolventen englischer Schulen machen den
Fußball zur beliebtesten Sportart der Welt und bringen ihn auch nach Südameri-
ka (vgl. Schulze-Marmeling 2000, Taylor 1998).

3. Fußball in Südamerika
1867 gründete der Brite Thomas Hogg mit seinem Bruder James sowie Willi-
am Herald den ersten Fußballklub Südamerikas, den Buenos Aires FC. Entstan-
den aus dem Buenos Aires Cricket Club, wandten sich die Spieler aber rasch
dem Rugby zu. 1887 wurde von britischen Eisenbahnarbeitern der Quilmes FC
gegründet, 1889 Rosario Central FC, 1901 River Plate Buenos Aires, 1905 der
Club Atlético Boca Juniors de Buenos Aires. Bereits 1893 wurde der erste ar-
gentinische Fußballverband gegründet, dessen Amtssprache bis 1906 Englisch
war! Anfangs des 20. Jahrhunderts entstehen dann etliche argentinische Arbei-
terclubs, die den Klassenkampf nicht nur symbolisch verstehen. Maradonas ers-
ter Club, die Argentinos Juniors, heißen zunächst Mártires de Chicago, Märtyrer
von Chicago, in Erinnerung an ermordete US-amerikanische Genossen. Auch
Boca und River stammen beide ursprünglich aus dem Hafenviertel Boca, River
aber hat das Arbeiterviertel schon lange verlassen und residiert in einem wohl-
habenderen Viertel in seinem Stadion „Monumental“. Der Verein erwirbt sich
die Sympathien der Mittelschicht und der Bürgerlichen, 1932 gibt River mehr
als 100.000 Pesos für Spieler aus und trägt seitdem den Spitznamen „Millionari-
os“. Boca dagegen ist der Arbeiterschaft treu geblieben. Den Spitznamen, „Xe-
neizes“, hat der Verein von armen Genueser Einwanderern, die im Hafenviertel
strandeten, die Vereinsfarben Blau-Gelb haben die mythischen Gründer per Zu-
fallsprinzip ausgewählt, weil sie sich nicht einigen konnten und bestimmten: die
Flagge des ersten Schiffes, das in den Hafen einläuft, entscheidet über die Far-
ben. Es war ein schwedisches Schiff! Boca ist auch heute noch ein ärmliches
Arbeiterviertel. Inmitten heruntergekommener, einfacher Häuser erhebt sich das
Sinnbild des Stolzes der Zerlumpten und Hemdlosen, der Descamisados: die
Bonbonera, Pralinenschachtel, ein imposanter, ungefähr 60 Meter hoher Beton-
kasten, der sich über zwei komplette Häuserblocks erstreckt. An Spieltagen
strömen die Fans und aus dem Stadion wird ein Hexenkessel leidenschaftlich
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engagierter Arbeiter, die zum zwölften Spieler der Boca Juniors werden und den
Gegner verhöhnen und lächerlich machen. Am engagiertesten, wenn der Gegner
River heißt. Dieses Aufeinandertreffen, Super-Clásico genannt, ist von besonde-
rer Brisanz. Arbeit gegen Kapital, Malocher gegen Millionarios – ein Sieg ist
dabei das Höchste. Das ganze Land fiebert vor, während und nach dem Derby.
Der ehemalige Boca-Weltklassespieler Antonio Ubaldo Rattin berichtet, dass er
Anrufe von Leuten aus dem Ausland erhielt, die ihn aufforderten: verliert dieses
Spiel nicht! (vgl. Taylor 1998: 41). Jeder Argentinier ist entweder Boca oder
River. Die Boca-Fans glauben sich dabei in der Mehrheit, „La mitad más uno“,
die Hälfte (der Bevölkerung) plus einer. Geht der Super-clásico verloren, so re-
agieren sie nicht zimperlich, aus dem sublimierten, symbolischen Klassenkampf
wird blutiger Ernst. 1993 verliert Boca in der Bonbonera 0:2 gegen River. Am
Ausgang des Stadions fallen zwei River-Fans, von Schüssen tödlich getroffen.
Ein jugendlicher Boca-Fan, den das Fernsehen interviewt, kommentiert: „Wir
haben 2:2 ausgeglichen“ (vgl. Galeano 2000: 208).
Nördlich des Río de la Plata gründete William Poole, ein Lehrer der English
High School von Montevideo, 1891 den Albion Cricket Club, der schon bald
eine Fußballabteilung hatte. Im selben Jahr gründete die anglo-uruguayische Ei-
senbahngesellschaft den Central Uruguay Railways Cricket Club, dessen Fuß-
ballabteilung sich 1913 Peñarol nennt. 1899 wurde Nacional gegründet. Die bei-
den Vereine streiten schon um die Ehre, der älteste Fußballverein Uruguays zu
sein, da Nacional den Peñarol-Vorläufer CURC nicht anerkennt. Zweifellos sind
sie aber die beiden erfolgreichsten. Sie sind gewissermaßen der uruguayische
Fußball. Zwischen 1900 und 1994 wird nur fünfzehnmal ein anderer Verein
Meister, zwischen 1932 und 1975 wechseln sich die beiden exklusiv ab, Peñarol
wird 23mal, Nacional 20mal Meister, letzterer bleibt außerdem zwischen 1934
und 1939 ungeschlagen. Je dreimal werden sie Weltpokalsieger und stehen auf
Platz zwei und drei der Siegerliste der Copa Libertadores, des südamerikani-
schen Vereinspokals. Die beiden Vereine verkörpern dabei auch eine uruguayi-
sche Version symbolischen Klassenkampfes. Chris Taylor schreibt:
„Nacional hat seine Wurzeln unter Collegestudenten, im Gegensatz zu dem
eher proletarischen Ursprung Peñarols. Nacionals Anhänger waren bekannt als
cuelludos, abgeleitet vom Stehkragen, den die jungen Gentlemen der damaligen
Zeit trugen. Ihren Gegnern verpaßten sie einen ordinären und gleichzeitig Klas-
senbewußtsein ausstrahlenden Namen: Mangias. Ein Ausdruck, den ein Nacio-
nal-Spieler italienischer Abstammung namens Scarone in Anlehnung an das ita-
lienische mangia-merda (die, die Scheiße fressen) geprägt hatte.“ (Taylor 1998:
22).
Der Gegensatz spaltet, wie in Argentinien, das ganze Land. Man ist entweder
Nacional- oder Peñarol-Anhänger. Laut dem urugayischen Schriftsteller Eduar-
do Galeano hat der Wahnsinn Methode:
„Normalerweise gehören wir Uruguayer entweder zu ‚Nacional’ oder zu ‚Pe-
ñarol’ vom Tage unserer Geburt an. So sagt man zum Beispiel: ‚Ich bin bei Na-

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cional’, nicht etwa: ‚Ich bin für Nacional’. So geschieht es schon seit Anfang
des Jahrhunderts. Zeitgenössischen Berichten zufolge lockten Liebesdienerinnen
der Bordelle von Montevideo ihre Kunden, indem sie sich mit nichts weiter be-
kleidet als einem Trikot von ‚Peñarol’ oder ‚Nacional’ in die Türen setzten.“
(vgl. Galeano 2000).
Selbst die Politik ist erfasst. Die zwei großen Traditionsparteien Uruguays,
Partido Nacional (!) und Partido Colorado, Blancos und Colorados, haben ihre
Sympathien klar verteilt, Blancos für Nacional, Colorados für Peñarol. Nur
wenn die Nationalmannschaft spielt ist man sich vorübergehend einig. Beson-
ders, wenn der Gegner Argentinien heißt.
1889 wurde das erste Ländespiel in Uruguay ausgetragen. Es spielten Englän-
der aus Buenos Aires gegen Engländer aus Montevideo, unter einem riesigen
Portrait von Queen Victoria. Ein Portrait der Königin sah auch das erste brasili-
anische Fußballspiel 1895, bei dem Engländer der „Gas Company“, der „São
Paulo Railway“ und der „London and Brazilian Bank“ spielten.
Der 1875 in São Paulo geborene Engländer Charles Miller gilt als Brasiliens
Fußballpionier. Im Alter von 20 Jahren organisierte er das Match in seinem
Sportverein, dem São Paulo Athletic Club. Um 1900 wurden die ersten brasilia-
nischen Fußballklubs gegründet: der Klub Athlético Payssandu in Rio de Janei-
ro, der Klub Germânia in Pinheiros von Deutschen. In den folgenden Jahren ent-
standen die heute noch bekannten und wichtigen Vereine in Rio und São Paulo:
die bereits erwähnten Corinthians São Paulo, von Arbeitern 1910 gegründet,
Fluminense, der erste offizielle Fußballverein Rios, 1902 von Mitgliedern der
Oberschicht gegründet, Flamengo, 1895 als eleganter Ruder- und Segelverein
entstanden und damit der erste Sportverein Brasiliens, bekam 1911 eine Fuß-
ballabteilung, nachdem sich einige Spieler von Fluminense abspalteten. Fla und
Flu repräsentieren für Brasilien das soziale cleavage zwischen reich und arm.
Als Schimpfwort benutzt, bedeutet Flamenguista soviel wie Slumbewohner, die
Fluminense-Fans halten sich auch heute noch für etwas besseres (vgl. zum Fuß-
ball in Brasilien Caldas 1997, Bellos 2005). Im Vergleich zu Argentinien und
Uruguay ein Spätzünder in Sachen Fußball, hat Brasilien heute mit fünf Welt-
meistertiteln doch deutlich aufgeholt. Fußball gehört heute zur brasilianischen
Identität. Die Brasilianer eigneten sich nicht nur den von den Engländern einge-
führten Sport an, sie interpretierten ihn neu, gestalteten ihn schöpferisch, luden
ihn, wie Gilberto Freyre behauptete, „dionysisch“ auf:
„Der brasilianische Mestize von Bahia oder Rio, der untersetzte Mulatte von
der Küste, sie huldigen einem Fußball, der längst nicht mehr dem apollinischen
Spiel der Briten gleicht, sondern einem dionysischen Tanz. Im Fußball wie in
der Politik ist Schmiegsamkeit das Kennzeichen des brasilianischen Mulatten,
Überraschung und Verschnörkelung, immer aber sind da unterbewusst die Tanz-
schritte und die wilden Wälder“ (zitiert nach Bausenwein 2006: 375).

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Der Fußball bekam so seine typisch brasilianische Art, die als Kern der Brasi-
lianität angesehen wird. (vgl. Fatheuer 1995, Murad 2006). Der Soziologe
Fatheuer zitiert den bekannten brasilianischen Anthopologen Roberto Da Matta:
„Wenn tatsächlich Karneval, Volksreligiosität und Fußball in Brasilien – im
Unterschied zu den Länden in Europa und Nordamerika – grundlegend sind,
dann sind die Quellen unserer sozialen Identität nicht zentrale Institutionen der
sozialen Ordnung, wie Gesetze, Verfassung, das Universitätssystem, die finan-
zielle Ordnung...Vielmehr sind es dann Musik, das Verhältnis zu den Heiligen,
die Gastfreundschaft, die Freundschaft, die Kameradschaft und natürlich Karne-
val und Fußball, die es den Brasilianern erlauben, in einen permanenten Kontakt
mit seiner sozialen Welt einzutreten“ (zitiert nach Fatheuer 2006).
Fußball ist in Brasilien zwar ein besonders wichtiger Bestandteil der Identität,
aber auch in den anderen Ländern Lateinamerikas spielt er eine Rolle, als ge-
meinsame Sprache quer über den Kontinent. Taylor berichtet, wie zwei junge
Männer aus Argentinien den Fußball gleichsam als Empfehlungsschreiben auf
ihren Reisen mit dem Motorrad durch Südamerika benutzten, um mit den Leuten
in Kontakt zu kommen:
„In Chile bekamen sie zu essen, Unterkunft und eine Fahrt nach Iquique als
Gegenleistung dafür, daß sie eine Straßenarbeitermannschaft vor einem wichti-
gen Spiel trainierten. In Peru spielten sie zwischen den Ruinen von Macchu Pic-
chu, in einer Leprastation bei einer Partie von Kranken und Gesunden. Auf ih-
rem Trip in Kolumbien trafen sie ihren legendären Landsmann Alfredo Di
Stéfano, und in Leticia im kolumbianischen Amazonas schlugen sie die Warte-
zeit auf ihr Flugzeug mit Training und Spielen für die dortige Mannschaft tot
(war diese Mannschaft zuvor ein wirklich mieses Team, schaffte sie es mit den
beiden in einem Turnier bis ins Finale und verlor dort erst nach Elfmeterschie-
ßen).“ (Taylor 1998: 9).
Einer der beiden Reisenden hieß Alberto Granados, der andere war ein asth-
makranker Torhüter namens Ernesto, später bekannt als Che Guevara!
„Wenig passiert in Lateinamerika, dass nicht direkt oder indirekt etwas mit
Fußball zu tun hat“, so schreibt Galeano, „ob er etwas ist, dass wir zusammen
feiern oder uns wie in untergehendes Schiff alle nach unten zieht, Fußball gilt
etwas in Lateinamerika, manchmal mehr als alles andere, selbst wenn er igno-
riert wird von Ideologen, die Humanität lieben, aber Menschen nicht ausstehen
können“ (Galeano 2004).

4. Sport und Politik


„Das ganze Leben kann Politik sein. Viele machen aus einfachen Sachen auch
Politik...“ (zitiert nach Bausenwein 2006: 410). Das Zitat von Ivica Osim, dem
letzten Trainer einer gesamtjugoslawischen Nationalmannschaft, lässt ein gewis-
ses Maß an Frustration durchblicken. Die Jugoslawen, mühelos für die Europa-
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meisterschaft 1992 qualifiziert und als ein Geheimfavorit gehandelt, wurden
aufgrund des Bürgerkrieges disqualifiziert, die nachnominierten Dänen gewan-
nen dann überraschend die Europameisterschaft, im Endspiel besiegten sie die
deutsche Mannschaft. Auf der anderen Seite stellt Christian Graf von Krockow
die Frage, „ob der Sport selbst seinem Wesen nach nicht doch unpolitisch ist. Es
gibt keinen ‚kapitalistischen’ oder ‚sozialistischen’ Weitsprung, und der Jahr-
hundertsprung des Bob Beamon bei den Olympischen Spielen von Mexiko zeugt
weder für noch gegen die Vereinigten Staaten, er besagt auch nichts über die
Diskriminierung oder Gleichberechtigung der Farbigen in Amerika“ (Krockow
1980: 114, Hervorhebung Krockow).
Dass Sport (und vor allem die weltweit beliebteste Sportart Fußball) etwas
mit Politik zu tun hat, glauben auch die Landeszentrale für Politische Bildung in
Baden-Württemberg, die eine Ausgabe ihrer Zeitschrift „Bürger im Staat“ dem
Thema „Fußball und Politik“ widmet oder die Bundeszentrale für Politische Bil-
dung, die eines ihrer Hefte „Informationen zur politischen Bildung“ zum Thema
„Fußball – mehr als nur ein Spiel“ gemacht hat (vgl. LpBBW 2006, BpB 2006).
Doch jenseits allgemeiner Floskeln findet sich darin keine überzeugende Analy-
se des Verhältnisses von Fußball und Politik.
Für die Politikwissenschaft versucht Peter Lösche eine Annäherung. Er geht
davon aus, dass es „den unpolitischen Sport – eigentlich – nicht gibt...Kein
Zweifel: Sport und Politik haben etwas miteinander zu tun, sie sind aufeinander
bezogen, auch wenn im Zentrum der Politikwissenschaft nicht der Sport, im
Zentrum der Sportwissenschaft nicht die Politik steht. Wer hätte nicht schon von
de Instrumentalisierung des Sports durch die Politik, von den Defiziten der
Sportpolitik oder von Fußballhooligans gesprochen, unter denen sich angeblich
besonders viele Rechtsextremisten befinden“ (Lösche 2001: 45). Für Deutsch-
land versucht er das Verhältnis von Spot und Politik aufzuschlüsseln, in dem er,
die klassische Dreiteilung von Politik in polity, politics und policy aufgreifend,
die institutionellen Rahmenbedingungen von Sportpolitik sowie die Organisati-
on des Sports in Verbänden, Entscheidungsprozesse sowie Inhalte und Ziele der
Sportpolitik. Eine solche Vorgehensweise bietet eine empirische Analysemög-
lichkeit des Verhältnisses von Sport und Politik, Lösche schränkt aber ein:
„Folgt man diesem Strukturierungsversuch, dann bleibt ein Desiderat bzw. ein
Problembereich, ...der über Jahrzehnte im Mittelpunkt politikwissenschaftlicher
Untersuchungen des Sports gestanden hat. Gemeint ist die politische Instrumen-
talisierung des Sports, das alte Erklärungsmuster, durch das das Verhältnis von
Sport, Politik und Gesellschaft interpretiert worden ist“ (Lösche 2001: 61).
Bereits Krockow hat im Kontext des Ost-West-Konflikts auf die Bedeutung
des Sports hingewiesen. Gerade „weil es keinen ‚kapitalistischen’ und keinen
‚sozialistischen Weitsprung gibt, sondern nur einen sportlichen, weil der Sport
‚unpolitisch’ ist, darum wird er im Wettkampf der Systeme...interessant“ (Ko-
ckow 1980: 135, Hervorhebung Krockow). Sport wird dann als symbolische Po-
litik gebraucht, weil die direkte Konfrontation in Zeiten des atomaren Patts auf

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dem Schlachtfeld undenkbar, weil ungewinnbar geworden ist, wird auf den
Sportfeldern der Wettkampf der Systeme öffentlich und publikumswirksam aus-
getragen, manchmal auch öffentlich verweigert, um den Gegner komplett zu de-
savouieren, wie etwa bei den Olympiaboykotts von Moskau 1980 und Los An-
geles 1984 geschehen. Eine solche Propagandafunktion hatten die Nationalsozi-
alisten 1936 für die Olympischen Spiele in Garmisch-Partenkichen und Mün-
chen klar erkannt und genutzt. Zum ersten Mal hatte aber das faschistische Ita-
lien Sport für politische Propaganda missbraucht. Mussolini hatte einen Vertrau-
ten, General Vaccaro, als eine Art Polit-Kommissar in den italienischen Fuß-
ballverband entsandt, der die Fußball-Weltmeisterschaft 1934 entsprechend aus-
richten sollte. Vaccaro verkündete nach dem Turnier: „Der höchste Zweck des
Turniers war es, zu zeigen, dass der faschistische Sport durch das Verantwor-
tungsgefühl seiner Führer und die Reife seine Zuschauermengen die Ideale in
höchster Qualität verkörpert.“ Der Verbandsanwalt Mauro, der die Bewerbung
Italiens bei der FIFA vertreten hatte, erklärte öffentlich, jeder Gast habe „die
maskulinen Energien einer hervorbrechenden Vitalität im Italien unseres Musso-
lini empfunden“. Auch ausländischen Besuchern fiel der schwülstige Charme
des Faschismus auf. Die Italiener behaupteten, alles entspringe, „einer einzigar-
tigen Inspiration, dem Duce...Das Bildnis des Duce selbst war überall, einmal
auf den offiziellen Broschüren unter dem Stahlhelm brütend, dann schmunzelnd
mit einer weißen Yacht-Mütze auf der Ehrentribüne im römischen Stadion“ (alle
Zitate nach Gloede 1980: 286f.). Italien gewann mit tatkräftiger Unterstützung
eingebürgerter Spitzenspieler aus Argentinien und Uruguay die Weltmeister-
schaften 1934 und 1938, die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Ber-
lin und war damit das dominierende Fußballland seiner Zeit. Aber auch die Er-
folge seiner Radfahrer Binda und Bartali, die die Weltmeisterschaft und die
Tour de France gewannen sowie des Boxers Primo Carnera, der 1933 Weltmeis-
ter wurde, gaben Stoff für politische Propaganda.
„Die Vermutung liegt nahe“, schieb Krockow, „daß der Sport immer dann po-
litisch ge- und mißbraucht wird, wenn Regime von Unterdrückung ablenken und
Unsicherheit kompensieren müssen“ (Krockow 1980: 114). Eine solche Vermu-
tung liegt zwar in der Tat nahe, greift aber zu kurz. Vor dem Hintergrund, dass
gerade autoritäre Regime, sei es das nationalsozialistische Deutschland oder das
faschistische Italien, die DDR, die Sowjetunion oder Kuba, dem Sport eine über-
ragende Bedeutung zukommen ließen, ist die Vermutung nachvollziehbar, aber
warum legen auch Demokratien soviel Wert auf sportliche Erfolge? Warum ist
den USA das Abschneiden bei den Olympischen Spielen wichtig? Warum tum-
meln sich Politiker aller Couleur, von Angela Merkel und Horst Köhler bis hin
zu Carlos Menem und Hugo Chávez bei Sportereignissen herum? Schließlich ist
auch der politische Erfolg Berlusconis im heute demokratischen Italien zu einem
gewissen Maße auch auf sein Engagement beim AC Mailand zurückzuführen.
Ein allgemeinerer Erklärungsansatz sollte Sport generell als Machtressource
ansehen. Politik ist, ganz im Sinne Max Webers, untrennbar mit Macht verbun-

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den. Politik ist das Treffen allgemeinverbindlicher Entscheidungen für eine be-
stimmte soziale Gruppe, eine Kommune, ein Stamm, ein Land. Das Treffen all-
gemeinverbindlicher Entscheidungen erfordert Macht. Macht bedeutet, inner-
halb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben
durchzusetzen (vgl. Weber 2005: 38). Die Ausübung solcher Macht, d.h., die
Chance, für einen Befehl Fügsamkeit zu finden, ist Herrschaft. Herrschaft beruht
letztlich auf Gewalt. „Alle politischen Gebilde sind Gewaltgebilde“, schreibt
Weber (Weber 1973: 80). Dies zeichnet politische Gebilde aus. Bestand und
Geltung einer Ordnung werden durch Anwendung und Androhung physischen
Zwangs garantiert. Eine Herrschaftsordnung, die aber nur auf Gewalt basiert, ist
letztendlich relativ labil. „Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also:
Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herr-
schaftsverhältnis“ (Weber 2005: 157). Um ein solches „Gehorchenwollen“ zu
erreichen, versuchen Herrschende Rechtsgründe für ihre Herrschaft zu finden,
„jede [Herrschaft] sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität’ zu erwecken
und zu pflegen“ (Weber 2005: 157). Weber nennt nun die Quellen der Legitima-
tion, die reine Typen legitimer Herrschaft:
Legale Herrschaft kraft Satzung, d.h. verfassungsmäßig-bürokratische Ord-
nung;
traditionelle Herrschaft kraft des Glauben an die Heiligkeit der Ordnung;
charismatische Herrschaft.
Charismatische Herrschaft beruht auf der affektuellen Hingabe der Beherrsch-
ten an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben, insbesondere wären das ma-
gische Fähigkeiten, Heldentum, die Macht des Geistes oder der Rede, also ir-
gendwie geartete, die Masse der Beherrschten überragende, außergewöhnliche
Fähigkeiten. Als Beispiele für charismatische Herrschaft nennt Max Weber den
Propheten oder den Kriegsführer. Deren außergewöhnliche Fähigkeiten, deren
Charisma bildet also die zentrale Ressource für ihre Macht. Und hier kommt der
Sport wieder ins Spiel. Sportler sind die Helden unserer Zeit. Sporthelden stillen
das Bedürfnis nach Helden, bei Bette/Schimank einer der Gründe für die Sport-
begeisterung:
„Sportliche Helden entstehen in jenen seltenen Momenten, in denen Athleten
übe sich selbst hinauswachsen – wenn etwa ein Sprinter einen Fabel-Weltrekord
läuft. Aber auch eine Fußballmannschaft, die als Außenseiter einen eigentlich
uneinholbaren Rückstand aufholt, erarbeitet sich für ihre Fans ebenso wie für die
neidisch bewundernden Anhänger der gegnerischen Mannschaft einen Helden-
status. Dabei kann Heldenverehrung graduell erheblich variieren: von Leistun-
gen, die noch Jahrzehnte später als Mythos erinnert und beschworen werden,
wie beispielsweise die Weltmeisterschaft der deutschen Fußballnationalmann-
schaft im Jahre 1954, bis hin zu relativ kurzlebigen Rekorden. In solch außerall-
täglichen Augenblicken...erlangen die betreffenden Sportler charismatische
Qualität für ihr Publikum“ (Bette/Schimank 1996).

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Durch die Nähe zum Sport und zu den Sportlern versuchen Politiker, ein
Quäntchen vom Charisma der Helden abzubekommen, ein Stück der Machtres-
source für sich nutzen. Einige Beispiele aus Lateinamerika sollen dies veran-
schaulichen.

5. Fußball und Politik in Lateinamerika


Ein bekanntes Beispiel für die Verquickung von Fußball und Politik in La-
teinamerika, gleichzeitig ein Paradebeispiel für die Instrumentalisierung des
Spiels durch autoritäre Regime zu Rechtfertigungszwecken ist der so genannte
Fußballkrieg. 1969 wird ein Fußballspiel Auslöser für einen Krieg zwischen El
Salvador und Honduras.
Genau genommen sind es zwei Spiele, die Qualifikationsspiele für die WM
1970 in Mexiko. Das erste Spiel findet am 8. Juni 1969 in Tegucigalpa, der hon-
duranischen Hauptstadt statt. Am Abend zuvor trifft die salvadorianische Mann-
schaft ein. Sie macht die ganze Nacht kein Auge zu, denn die Honduraner bela-
gern das Mannschaftshotel. Die Fans werfen die Scheiben ein, trommeln auf lee-
ren Fässern, immer wieder krachen Böllerschüsse, Autos hupen, es wird ge-
schrieen, gejohlt, geheult, gelärmt, was das Zeug hergibt. Die unausgeschlafene,
entnervte und übermüdete Mannschaft von El Salvador verliert das Spiel 0:1. In
der letzten Minute schießt Honduras das Siegtor. Amelia Bolaños, eine Salvado-
rianerin, kann die „nationale Schmach“ nicht ertragen, springt vom Fernseher
auf und erschießt sich. „Ein junges Mädchen, das es nicht verwinden konnte,
dass sein Vaterland in die Knie gezwungen wurde“, schreibt anderntags die sal-
vadorianische Tageszeitung El Nacional (zitiert nach Kapuscinski 1992: 252).
Das Begräbnis wird zu einem Politikum. Das Fernsehen überträgt, an der Spitze
des Trauerzuges kommt vorweg eine Ehrengarde der Armee mit der Fahne.
Dann der Sarg, in die Nationalflagge gehüllt. Gefolgt vom Präsidenten und dem
Kabinett sowie dem Fußballteam El Salvadors, das sofort nach dem Spiel Hon-
duras verlassen hat. Das ganze Land nimmt Anteil.
Eine Woche später findet das Rückspiel statt. San Salvador ist von Hass er-
füllt, es liegt Lynchstimmung in der Luft. Der polnische Journalist Ryszard Ka-
puscinski, Augenzeuge des Fußballkriegs, schildert die Situation trefflich:
„Diesmal verbrachten die Spieler von Honduras eine schlaflose Nacht: Die
heulende Menge der Fans schmiss alle Hotelfenster ein und bombardierte das
Hotel mit Tonnen von faulen Eiern, toten Ratten und stinkenden Fetzen. Die
Spieler wurden mit Panzerwagen der 1. Motorisierten Division von Salvador ins
Stadion gebracht, um sie vor der rachsüchtigen Menge der Zuschauer zu schüt-
zen, die ihren Weg säumten und Bilder der Nationalheldin Amelia Bolaños
hochhielten. Das Stadion war vom Militär hermetisch abgeriegelt. Um das Spiel-
feld hatten Soldaten einer Sondertruppe der Guardia Nacional mit schussberei-
ten Maschinenpistolen einen Kordon gezogen. Als die Nationalhymne von Hon-
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duras gespielt wurde, johlte und pfiff das ganze Stadion. Dann zogen die Gast-
geber statt der Nationalflagge von Honduras, die vor den Augen der begeisterten
Fans verbrannt wurde, einen schmutzigen, löchrigen Fetzen am Fahnenmast
hoch. Verständlich, dass die Spieler aus Tegucigalpa unter diesen Bedingungen
nicht recht bei der Sache waren. Sie dachten nur daran, wie sie hier je wieder
lebendig herauskommen würden. ‚Ein Glück, dass wir dieses Match verloren’,
sagte der Trainer der Gäste, Mario Griffin, erleichtert“ (Kapuscinski 1992: 253).
Salvador gewinnt 3:0. Dennoch lässt der Mob im Stadion seinem Hass freien
Lauf. Die honduranische Mannschaft wird mit Panzerwagen direkt vom Spiel-
feld zum Flugplatz gebracht, die anwesenden Honduraner haben nicht soviel
Glück. Zwei Personen kommen bei den Ausschreitungen ums Leben, ein paar
Dutzend werden ins Krankenhaus eingeliefert, die honduranischen Fans unter
einem Hagel von Schlägen über die Grenze gejagt. Die beiden Länder brechen
ihre diplomatischen Beziehungen ab, am 14. Juli 1969 beginnt der Krieg. Er
dauert genau einhundert Stunden. Sechstausend Menschen sterben, es gibt etwa
15 000 Verwundete, ungefähr 50 000 Flüchtlinge und Vertriebene, zahlreiche
Dörfer werden zerstört.
Natürlich ist der Fußball nicht die Ursache des Krieges. Die wahren Gründe
sind politischer und ökonomischer Natur (vgl. Cable 1969, Durham 1979, Ei-
senbürger 2006, Muno 2004). Zunächst gab es seit der Unabhängigkeit Grenz-
streitigkeiten. Des weiteren gab es im Rahmen des 1960 gegründeten Mittelame-
rikanischen Gemeinsamen Marktes (MCCA) ökonomische Probleme. Der
MCCA war in erster Linie eine Freihandelszone, die äußerst unterschiedliche
Auswirkungen auf die Mitgliedsstaaten hatte und letztlich daran zerbrach. Wäh-
rend El Salvador dank schneller Expansion im Industriesektor eine vorteilhafte
Handelsbilanz hatte (neben Guatemala das einzige Land, das vom MCCA profi-
tierte, für Costa Rica war die Bilanz in etwa ausgeglichen), kämpfte Honduras
(wie auch Nicaragua) mit großen Problemen und hatte eine permanent defizitäre
Handelsbilanz. 1969 lag das Defizit im Handel mit den anderen MCCA-
Mitgliedsländern bei 20,7 Millionen US-Dollar. Am deutlichsten trat das Han-
delsungleichgewicht mit El Salvador zu Tage. Während sich El Salvadors Ex-
porte nach Honduras zwischen 1960 und 1968 verfünffachten, wuchsen die
Verkäufe in umgekehrter Richtung nur um das Doppelte. 1969 lag das Handels-
defizit allein gegenüber El Salvador bei 5 Millionen US- Dollar.
Neben diesen ökonomischen Differenzen war das Hauptproblem aber ein an-
deres. El Salvador ist ein kleines Land, das kleinste Mittelamerikas, zugleich
aber am dichtesten besiedelt. Auf einer Fläche von knapp 21.000 qkm lebten
1960 etwa 3,3 Millionen Menschen in El Salvador, das entspricht ca. 160 Men-
schen pro qkm. Dagegen ist Honduras mit 112.000 qkm sechsmal so groß, hatte
aber nur halb so viele Einwohner und wurde nur von etwa 22 Menschen pro
qkm bewohnt. Der größte Teil des Landes ist in den Händen der Großgrundbe-
sitzer, es heißt, El Salvador wird von vierzehn Familien der Oligarchie kontrol-
liert. Zwei Drittel der Landbevölkerung sind landlose Campesinos. Die Landver-

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teilungsfrage war spätestens 1932 zum zentralen Problem El Salvadors gewor-
den, als der Verfall der Kaffeepreise im Zuge der Weltwirtschaftskrise zu Mas-
senentlassungen salvdorianischer Tagelöhner führte. Unter Führung von Fara-
bundo Marti kam es zu einem Aufstand gegen die Oligarchie, der brutal unter-
drückt wurde. In wenigen Tagen wurden mindestens 10.000 Salvadorianer mas-
sakriert (vgl. Eisenbüger 2006: 50f.) . Zehntausende Flüchtlinge flohen nach
Honduras, wo sie sich unbesiedeltes Land aneigneten und als Kleinbauen lebten.
In den folgenden Jahrzehnten migrierten rund 300 000 Salvadorianer nach Hon-
duras und stellten Ende de 60er Jahre fast 20 Prozent der Bevölkerung. Aber
auch in Honduras zeichneten sich soziale Konflikte ab. Der Großteil des Land-
besitzes gehörte der Oligarchie oder der United Fruit Company, die im Zuge von
Rationalisierungsmaßnahmen viele Landabeite entlies. 1968/69 kommt es zu
einer wachsenden Zahl von Streiks, Landbesetzungen und sozialen Unruhen, die
sich zu einer allgemeinen Herrschaftskrise auszuweiten drohen. Landlose hon-
duranische Bauern, aber auch die Großgrundbesitzer fordern eine Landreform.
Die Großgrundbesitzer machen mit ihrem 1966 gegründeten Verband, die Nati-
onal Federation of Agriculturalists and Cattle Ranchers of Honduras (FE-
NAGH), Druck. Der Verband sendet einen ständigen Strom an Petitionen an die
Regierung, etwas gegen „las invasiones“ zu tun und fordert die Zurückgabe des
Landes und ein garantiertes Eigentumsecht (vgl. Durham 1979: 161). Da erin-
nert sich die Regierung an die illegalen Salvadorianer, die zum Teil seit Jahr-
zehnten unbehelligt im Land leben. Weder die Latifundien der Oligarchie noch
die Ländereien des US-amerikanischen Bananen-Multis United Fruit Company
werden angetastet, dafür sollen die Salvadorianer enteignet und vertrieben wer-
den. Die herrschende Oligarchie in El Salvador sieht nun wiederum ihre prekäre
soziale Friedhofsruhe gefährdet und weigert sich, 300 000 Flüchtlinge aufzu-
nehmen. Es geht hin und her, Beschuldigungen wegen gewaltsamer Vertreibun-
gen werden in El Salvador erhoben, bis hin zum Vorwurf des Völkermords.
Beide Seiten ermutigen ihre rechtsextrimistischen paramilitärischen Verbände
ORDEN (El Salvador) und Mancha Brava (Honduras) zu Übergriffen. Seit je-
her, so Eduardo Galeano, hat jedes der beiden Länder immer als Erklärung für
die Probleme des anderen herhalten müssen: „Die Honduraner hatten keine Ar-
beit? Weil die Salvadoreaner sie ihnen wegnahmen. Die Salvadoreaner litten
Hunger? Weil die Honduraner sie schlecht behandelten“ (Galeano 2000: 165).
Als Honduras im Juni 1969 einhunderttausend Salvadorianer ausweist, eskaliert
die Situation. Kapuscinski schreibt:
„Auf beiden Seiten der Grenze entfesselten die Zeitungen eine Hass-, Ver-
leumdungs- und Beleidigungskampagne. Sie beschimpften einander als Hitle-
risten, Gartenzwerge, Säufer, Sadisten, Kasper, Aggressoren, Diebe usw. Es gab
Pogrome, und Läden wurden in Brand gesteckt...Der Fußball trug noch dazu bei,
die chauvinistischen Emotionen und die hurrapatriotische Hysterie anzuheizen,
deren es bedurfte, um einen Krieg auszulösen...“ (Kapuscinski 1992: 287).

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Nach vier Tagen de Kriegshandlungen schaltete sich die OAS ein, zwang die
salvadorianischen Truppen, die etwa 25 Kilometer in honduranisches Gebiet
vorgedrungen waren, zum Rückzug und organisierte einen Waffenstillstand.
1980 wurde auf Druck der USA ein Friedensvertrag unterzeichnet. Beide Länder
sollten gemeinsam gegen linke Rebellen und die Sandinisten in Nicaragua vor-
gehen, da konnte Washington die alten Streitigkeiten nicht gebrauchen. El Sal-
vador qualifizierte sich übrigens im Entscheidungsspiel in Mexiko mit 3:2 gegen
Honduras, nahm an der WM teil, verlor dort jedes Spiel und schoß nicht ein ein-
ziges Tor.
Das Beispiel zeigt paradigmatisch, wie autoritäre Regime in Lateinamerika
den Fußball als Machtressource benutzen, als Mittel, um ihre Bevölkerung zu
mobilisieren, wie Fußballbegeisterung, ganz im Sinne Krockows, „politisch ge-
und mißbraucht wird, wenn Regime von Unterdrückung ablenken und Unsi-
cherheit kompensieren müssen“ (Krockow 1980: 114). Es ist kein Einzelfall, die
Generäle der Diktaturen haben des öfteren die Nähe zum Fußball gesucht. „Der
Fußball ist das Volk, der Fußball ist Macht“, kommentierte Galeano dieses Phä-
nomen, „’Ich bin das Volk’, sagten diese Militärdiktaturen“ (Galeano 2000:
174). Der bolivianische General García Meza machte sich nicht nur zum Dikta-
tor Boliviens, sondern auch zum Präsidenten von Wilsterman, einem der belieb-
testen Clubs von Bolivien, Pinochet ernannte sich zum Präsidenten von Colo
Colo, bis heute der beliebteste Fußballclub Chiles, der brasilianische Juntachef
Médici sonnte sich im Weltmeisterschaftsgewinn 1970. Er kommentierte den
Sieg mit den Worten:
„Ich fühle tiefe Freude, das Glück unseres Volkes in dieser höchsten Form
des Patriotismus zu sehen. Ich identifiziere diesen Sieg, gewonnen in der Bru-
derschaft echter Sportsmänner, im Einklang mit der Zunahme des Glaubens an
unseren Kampf für nationale Entwicklung“ (zitiert nach Lever 1998: 93).
Als die nun dreimaligen Weltmeister aus Mexiko zurückkamen, empfing sie
Médici in Brasilia und erklärte den Tag zum Feiertag (vgl. Lever 1988). Er öff-
nete die Tore des Präsidentenpalastes zum ersten und einzigen Mal während der
Diktatur für die erstaunte Öffentlichkeit, gab den Spielen einen steuerfreien Bo-
nus von 18.000 US-Dollar und ließ sich mit den Spielern und dem Jules-Rimet-
Pokal fotografieren. Die Bilder wurden in allen Zeitungen Brasiliens veröffent-
licht. Auch nach diesem Tag versuchte Médici, den fußballerischen Erfolg wei-
terhin für sich zu nutzen. Der Marsch, der für die Mannschaft komponiert wur-
de, „Pra frente Brasil“ („Vorwärts Brasilien“), wurde zur offiziellen Hymne der
Junta und bei allen möglichen öffentlichen Ereignissen gespielt. „Ninguem se-
gura mais o Brasil“ („Niemand wird Brasilien mehr aufhalten“), ein nationalisti-
scher Slogan der Diktatur, wurde mit Bilden von Pelé illustriert und landauf,
landab auf Plakaten ausgehängt und als Werbespot im Fernsehen gezeigt. In Ar-
gentinien erklärte Junta-Chef Videla die Fußball-Weltmeisterschaft von 1978
per Gesetz zur „Sache von nationalem Interesse“ und versuchte, ähnlich wie
Médici, sich den Erfolg auf die eigenen Fahnen zu schreiben: in Fernsehspots,

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die Werbung für die Junta machten, war der argentinische WM-Held Mario
Kempes zu sehen. Die WM sollte der Welt das wahre Argentinien zeigen und
von unangenehmen Berichten über Menschenrechtsverletzungen ablenken. Vi-
dela sagte in seiner Eröffnungsansprache: „Willkommen in diesem Land des
Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit!“ (zitiert nach Dunkhost 2006: 87).
Legendär ist auch die Weigerung des als links geltenden Trainers der argentini-
schen Nationalmannschaft Argentiniens, Césa Luis Menotti, sich instrumentali-
sieren zu lassen. „Wir spielen nicht für die Ehrentribüne voller Militärs, wir
spielen für die Leute. Wir verteidigen nicht die Diktatur, sondern die Freiheit...“,
soll er seinen Spielern vor dem Endspiel gesagt haben, und nach dem Triumph
verweigerte er vor Millionen Fernsehzuschauern Videla den Handschlag. In In-
terviews ließ er dann, als Fußballheld quasi unangreifbar, verlauten, ein diktato-
risches System sei zwar im Fußball gut, aber Millionen von Menschen dürfe
man nicht unterdrücken (vgl. Dunkhorst 2006).
Das letzte Beispiel verdeutlicht, dass es nicht nur die Diktatoren sind, die den
Fußball im Sinne Krockows missbrauchen, auch Menotti nutzte sein Charisma
als Fußballheld, um Politik zu machen, diesmal allerdings, um Diktatur zu kriti-
sieren und für Demokratie zu werben. Ein weiterer Fall für eine solche Nutz-
barmachung des Fußballs bietet die Geschichte von Sócrates und der corinthia-
nischen Demokratie, keine antike Tragödie, wie man leicht vermuten könnte,
sondern gewissermaßen das brasilianische Gegenbeispiel zu Médici.
Die Hauptakteure sind der bereits erwähnte Fußballklub Corinthians São Pau-
lo und Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Olivera, 1954 geboren,
Kinderarzt, legendärer Mittelfeldspieler in den 80er Jahren, für Bar-On „the
most elegant midfielder of his era“ (Bar-On 1997: 13). Der Hintergrund wird
von der einsetzenden Liberalisierung unter Figueiredo Ende der 70er gestellt.
Figueiredo, nach Médici und Geisel Juntachef der Diktatur, lässt Oppositionelle
amnestieren und erlaubt wieder die Gründung politischer Parteien. Dieser Wind
der Freiheit erfasst auch den Fußball. Ende 1981 kandidieren der Universitätsso-
ziologe Adilson Monteiro Alves als Fußballdirektor und Waldemar Pires als
Präsident bei den vereinsinternen Wahlen der Corinthians. Ihre Wahlprogramm
verspricht Demokratie. Überraschend gewinnen sie gegen die alten Bosse und
setzen tatsächlich ihr Programm um, tatkräftig unterstützt von den Spielern (vgl.
Shirts 1988). Wortführer sind Sócrates, Walter Casagrande und Vladimir. Zu-
nächst ist die corinthianische Demokratie nur Vereinsintern, aber auch dort
schon revolutionär. Taktik, Mannschaftsaufstellung, Speise- und Trainingsplan,
alles wird per Abstimmung von den Spielern entschieden. Sportlich erweist sich
die Demokratie als überaus erfolgreich und gewinnt auf Anhieb zweimal die
Meisterschaft. Doch das ist den Spielern nicht genug. Sie fordern nicht nur eine
Demokratisierung des brasilianischen Fußballverbands, sie engagieren sich auch
allgemein für die Demokratie. Für den 15. November 1982 erlaubt Figueiredo
direkte Kongress-, Gouverneurs- und Kommunalwahlen. Die Mannschaft wirbt
für die Teilnahme bei den Wahlen, in dem sie mit der Aufschrift „Dia 15 vote“

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(am 15. Wahltag) auf den Trikots aufläuft. Sócrates wird Mitglied der prode-
mokratischen Oppositionspartei PMDB (Partido do Movimento Democrático
Brasileiro), Vladimir und Casagrande gehen in die linke Arbeiterpartei PT (Par-
tido dos Trabalhadores) und unterstützen den Gewerkschaftsführer Luis Inácio
da Silva, genannt Lula, bei seiner (vergeblichen) Kandidatur für das Gouver-
neursamt von São Paulo. Sócrates bekannte: „Ich kämpfe für Freiheit, für die
Wahrung der Menschenechte, für Gleichheit, für freie, ungehinderte Diskussion,
für eine professionelle Demokratisierung ohne Grenze, und all das als Fußball-
spieler, die spielerische, freudige, wohlgefällige Natur dieser Aktivität bewah-
rend“ (zitiert nach Shirts 1988: 100). Casagrande bringt es etwas prosaischer auf
den Punkt: „Wir wollten nicht einfach nur den Fußball verändern, wir wollten
etwas wichtiges für das Land tun“ (zitiert nach Caiman.de 2005). Die corinthia-
nische Demokratie wird schließlich Teil einer landesweiten Demokratiebewe-
gung. 1984 plant Figueiredo Präsidentschaftswahlen, wobei der neue Präsident
vom Kongress gewählt werden soll. Die Demokratiebewegung fordert Direkt-
wahlen. „Diretas ja“, Direktwahlen jetzt, heißt das Motto der Bewegung. Die
Corinthians laufen mit der Aufschrift „diretas ja“ auf den Trikots auf, werben
auf Transparenten und Fahnen: „Gewinnen oder verlieren – immer für die De-
mokratie“. Auf einer Kundgebung der Demokratiebewegung in São Paulo betei-
ligt sich Sócrates, spontan ergreift er das Wort und verspricht, wenn das Parla-
ment Direktwahlen ermöglicht, würde er ein Angebot aus Italien ablehnen und
in Brasilien bleiben. Vergeblich, das Wahlrecht wird nicht geändert. Tancredo
Neves wird vom Kongress zum Präsidenten gewählt, stirbt aber, bevor er das
Amt antreten kann, sein konservativ-liberaler Vizepräsident José Sarney wird
Präsident. Erst 1990 kommt es zu direkten Präsidentschaftswahlen. Sócrates
nimt das Angebot aus Italien an und wechselt zu Fiorentina. Mit seinem Weg-
gang endet praktisch die corinthianische Demokratie. Auch Casagrande verlässt
den Verein, 1985 verliert Monteiro Alves die club-internen Wahlen. Die Ära der
„Democracia Corinthiana“ endet, letztlich politisch gescheitert, etwas ähnliches
hat es bis dato im Fußball nicht wieder gegeben. Das Beispiel zeigt aber deut-
lich, dass Fußball allgemein als Ressource in der Politik gesehen werden sollte,
nicht nur als Versuch der Legitimation diktatorischer Regime. Es ist offensicht-
lich, wie die Spieler ihr Charisma als Fußballhelden nutzten, um für ihre politi-
sche Anliegen zu werben.
Solche allgemeinen Versuche der Nutzbarmachung sind in Zeiten der Demo-
kratie häufiger anzutreffen. Während vor 30 Jahren außer Venezuela und Costa
Rica alle anderen lateinamerikanischen Länder autoritär regiert wurden, gibt es
heute nur noch in Kuba keine frei gewählte Regierung. So gibt es denn auch
kaum noch Versuche, diktatorisch den Fußball zu instrumentalisieren. Aber
auch die demokratischen Politiker suchen die Nähe zum Fußball, um ein Stück
weit vom Glanz der Fußballhelden zu profitieren, um ein wenig Charisma abzu-
bekommen. Ein Phänomen, das sich selbstverständlich nicht auf Lateinamerika
beschränkt, wie bereits durch das Beispiel Berlusconi verdeutlicht. Auch Ger-

23
hard Schröder, Angela Merkel oder Horst Köhler tummelten sich bei Fußball-
weltmeisterschaften im Umfeld der deutschen Mannschaft. In Argentinien trat
Präsident Menem im Trikot Argentiniens zu einem öffentlichkeitswirksamen
Trainingskick mit der Nationalmannschaft an, ansonsten war er bekennender
River-Fan. Sein Kontrahent und Nachfolger im Amt, De la Rúa, zeigte sich als
Boca-Fan. Selbst im beschaulichen Uruguay halten politische Beobachter die
Nachricht für erwähnenswert, dass Präsident Tabaré Vázquez Präsident eines
kleineren Fußballvereins ist. Und auch in Brasilien suchte Präsident Lula Kapi-
tal aus der Beliebtheit des Fußballs zu schlagen. Im Auftrag der Vereinten Nati-
onen entsandte Brasilien im Jahr 2004 Blauhelmtruppen nach Haiti, um bei der
Befriedung des bürgerkriegsgeschädigten Landes zu helfen. Um die angespannte
Lage etwas zu entschärfen, bat Lula den brasilianischen Fußballverband um ein
Freundschaftsspiel gegen die haitianische Nationalmannschaft. Der Verband
stimmte zu und sandte Ronaldo, Ronaldinho und die anderen Stars nach Port-au-
Prince. Unbeschreiblicher Jubel herrschte in der Stadt trotz einer deftigen Nie-
derlage, doch die brasilianischen Soldaten wurden seitdem mit ausgesuchter
Freundlichkeit behandelt.

6. Fazit
Das Verhältnis von Fußball und Politik ist nicht so eindimensional, wie es
sich Krockow vorstellte. Fußball wird nicht nur von autoritären Regimen zu
Manipulationszwecken missbraucht. Er ist, wie Sport allgemein, eine potenzielle
Machtressource im politischen Spiel. Für Soziologen gilt Fußball oft als eine
Folie, als ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und Sehnsüchte. Das ist
natürlich Unsinn. Fußball ist mehr als nur eine Folie oder ein Spiegel. Fußball
ist auch mehr als nur ein Spiel. Um abschließend den legendären Liverpooler
Trainer Bill Shankly zu zitieren (zitiert nach Schulze-Marmeling 2000: 8): „Ei-
nige Leute behaupten, Fußball sei eine Sache auf Leben und Tod. Ich mag diese
Haltung nicht. Ich kann denen versichern, dass es viel ernster ist als das.“

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26
Christoph Wagner

Erinnerungsorte, Mythen und die


identitätsstiftende Funktion des Fußballs:
Ausgewählte Beispiele aus Uruguay,
Argentinien und Brasilien1
1. Einleitung und konzeptionelle Vorbemerkungen
Die Phänomene im Kontext des sog. Wunders von Bern, als Deutschland bei
der Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz gegen die „Übermannschaft“
aus Ungarn völlig überraschend den Titel gewann, werden gerne mit der Formel
„Wir sind wieder wer!“ zusammengefasst. Von Publizisten und Politikern, aber
auch von Politikwissenschaftlern und Historikern wird dies immer wieder als die
wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik, als die eigentliche Staatsgründung
oder auch als die Wiedergeburt einer Nation bezeichnet. Zum Teil wird diese
Sichtweise durchaus als nachträgliche Überinterpretation bewertet; ohne Zweifel
handelt es sich hier aber um ein Sportereignis, das mehr bedeutet hat, als dass 22
Männer in kurzen Hosen einem Ball hinterher rennen.
Für die Politikwissenschaft bzw. die politische Kulturforschung sind kollekti-
ve „nationale“ Erfahrungen und Ereignisse besonders deshalb interessant, weil
es hier um Fragen geht, die etwas mit nationaler Identitätsbildung zu tun haben.
Solche Fragen spielten auch im Rahmen entwicklungstheoretischer Überlegun-
gen bereits in den 50er und 60er Jahren eine wichtige Rolle. Ein inhaltlicher
Schwerpunkt der damals die entwicklungstheoretische Debatte dominierenden
Modernisierungstheorien waren die Prozesse des nation-building, die auch iden-
titäts- und legitimitätsstiftende Wirkungen von bestimmten Ereignissen, Riten
und Symbolen umfassten. Zwar wurde damals und wird heute in politikwissen-
schaftlichen Analysen kaum die Relevanz des Sports im Allgemeinen bzw. des
Fußballs im Besonderen berücksichtigt, unbestritten ist aber, dass sportliche

1
Der vorliegende Beitrag basiert teilweise auf Wagner 2004.
27
(Groß-)Ereignisse und gerade auch der Fußball weltweit immer wieder Millio-
nen von Menschen mobilisieren und in ihren Bann ziehen. Dabei kommt dem
Fußball durchaus auch politisch-kulturell eine gewisse Bedeutung zu, oder wie
Dietrich Schulze Marmeling es sehr deutlich auf den Punkt gebracht hat:
„Fußball zählt zu den großen kulturellen Institutionen, die rund um den Globus nationa-
le Identitäten formten und zementierten. Fußball besitzt die Kapazität und bietet eine
Bühne, um die kulturelle Identität und Mentalität eines Dorfes, einer Stadt, einer Regi-
on, eines Landes oder sogar eines Kontinents zu definieren und zu zelebrieren.“ (Schul-
ze-Marmeling 2000: 9f.)

Es ist heute in der Politikwissenschaft weitgehend unbestritten, dass politi-


sche Systeme, insbesondere wenn sie demokratisch organisiert sind, bei den
Bürgern auf ein Gefühl der Zugehörigkeit angewiesen sind. Damit wird genau
das bezeichnet, was in einem der Klassiker der Entwicklungstheorie 1971 von
Lucian W. Pye als nationale Identität definiert wurde, nämlich „the feelings of a
people that they are bound together in common association“ (Pye 1971: 110). Es
soll und kann im vorliegenden Beitrag nicht darum gehen, einen empirisch fun-
dierten, wissenschaftlich einwandfreien Nachweis zu erbringen, wie sich der
Fußball – womöglich sogar monokausal – auf nation-buildung-Prozesse aus-
wirkt oder in welchem Ausmaß Fußball unmittelbar zur Bildung oder Stärkung
nationaler Identität beiträgt. Aber es ist bekannt, dass sich besonders internatio-
nale Sportereignisse immer wieder gerne auch nationaler Symbolik bedienen.
Besonders eindrucksvoll konnte das während dem – in Anlehnung an den Film
von Sönke Wortmann – deutschen Sommermärchen 2006 erlebt werden. Bei der
Fußballweltmeisterschaft 2006 wurden Nationalflaggen geschwenkt, National-
hymnen gesungen und Nationalfarben auf Gesichter und andere Körperteile ge-
malt, in einem Ausmaß wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Aber es geht im Folgenden nicht um diese nationalen Symbole.
Ich komme noch einmal zurück auf das „Wunder von Bern“, welches den
Ausgangspunkt dieser Überlegungen darstellte. Warum wird diesem „Wunder
von Bern“ aus heutiger Perspektive eine solche Bedeutung zugemessen? Dies
hängt sicher damit zusammen, dass nationale Identität nicht naturgegeben ist
und nicht von selbst entsteht (vgl. Pfister 2002: 52). Nationale Identität gründet
sich auf bestimmte Symbole und Riten. Nationale Identität bedarf aber immer
auch gewisser Erinnerungsorte, also Orte und Ereignisse, die als kognitive,
aber mehr noch als emotionale Stütze für das kollektive Gedächtnis fungieren.
Und gerade hier kann der Fußball durchaus als Vehikel zur Produktion kollekti-
ver Identitäten dienen; der Fußball kann als Erinnerungsort dienen, der individu-
elle Erfahrungen und Erlebnisse in einem gesamtgesellschaftlichen und gemein-
schaftlichen Kontext verankert und somit hilft, ein Gefühl nationaler Identität in
einer „imagined community“ (Scheuble/Wehner 2006: 26) zu schaffen bzw. zu
stärken. Die emotionale Seite nationaler Identität wird auch als „public mood“
bezeichnet, „definiert als diffuser affektiver Zustand, der sich aus der Zugehö-

28
rigkeit zu einer bestimmten politischen Gemeinschaft ergibt“ (Holtz-Bacha
2006: 7). Diese „public mood“ kann durch Erfolge (bzw. Misserfolge) der Fuß-
ballnationalmannschaft beeinflusst werden, wobei diese Effekte besonders bei
internationalen Fußballturnieren auftreten (vgl. Holtz-Bacha 2006: 7). Manch-
mal – so auch bei dem „Wunder von Bern“ 1954 – wird dies begleitet durch
das Entstehen von Legenden und die Bildung von Mythen, die sich um be-
stimmte Ereignisse und Personen ranken und damit helfen, eine „gefühlte“ Ein-
heit herzustellen und nationale Identität zu stiften. Es geht auch darum, dass der
Fußball Helden produziert, die sich sogar in Fußballgötter verwandeln können,
an denen sich manchmal ganze Nationen aufzurichten scheinen, oder die
manchmal auch zu tragischen Helden werden.
Inwiefern vor diesem Hintergrund dem Fußball bzw. internationalen Fußball-
turnieren ein integrativer, identitätsstiftender, vielleicht sogar legitimitätsför-
dernder Charakter zukommen und inwiefern der Fußball als Erinnerungsort fun-
gieren kann, soll im folgenden am Beispiel der drei großen Fußballnationen
Südamerikas, Argentinien, Brasilien und Uruguay, illustriert werden, also am
Beispiel der einzigen drei Länder Lateinamerikas, die bislang den Titel eines
Fußballweltmeisters haben erringen können. Da der Fußball nicht nur als Erin-
nerungsort, sondern auch „als ein privilegierter ‚Spiegel’ der ganzen Gesell-
schaft (die bekanntlich noch national organisiert ist)“ (Pornschlegel 2002: 109)
fungieren kann, soll es dabei auch darum gehen, gewisse Analogien herzustel-
len, Analogien – vielleicht zufällige, vielleicht auch nicht zufällige – zwischen
Fußballereignissen und politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Ich werde
mich dabei im Wesentlichen auf die Fragestellung konzentrieren, welche Bedeu-
tung einzelnen, ausgewählten Fußballweltmeisterschaften für die genannten
Länder hinsichtlich ihrer nationalen Identität aus heutiger Perspektive zukommt.
Je nach Land und je nach den konkreten zeithistorischen Umständen wird dabei
der Blickwinkel auf die Thematik variiert, um möglichst unterschiedliche As-
pekte, die bei der Fragestellung eine Rolle spielen, berücksichtigen zu können.
Konkret soll im Folgenden in einem ersten Schritt die Bedeutung der beiden
Fußballweltmeisterschaften 1930 und 1950 für Uruguay, aus denen das kleine
Land am Río de la Plata jeweils als Titelgewinner hervorging, erörtert werden.
Es wird einerseits darum gehen, vermeintliche oder tatsächliche Parallelen bzw.
Analogien zur politisch-gesellschaftlichen Entwicklung festzustellen, und ander-
seits darum, den Mythos von den uruguayischen Tugenden zu konkretisieren. Im
Falle Argentiniens wird in einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung der
bislang ebenfalls zwei Titelgewinne zunächst untersucht, inwiefern der Fußball
bei der Weltmeisterschaft 1978 als Quelle der Legitimitätszufuhr für das autori-
täre Regime instrumentalisiert wurde, um dann im Kontext der Weltmeister-
schaft 1986 auf den Mythos, der mit der Person des Diego Armando Maradona
verbunden ist, einzugehen. In einem dritten Schritt wird das Fallbeispiel Brasi-
lien lediglich im Rahmen eines Exkurses berücksichtigt. Exkurs nicht nur des-
halb, weil ein Eingehen auf die fünf bisherigen WM-Titel Brasiliens (1958,

29
1962, 1970, 1994 und 2002) den Umfang dieses Beitrages sprengen würde, son-
dern auch, weil gerade im Falle des im Fußball relativ erfolgsverwöhnten Brasi-
liens ein Negativerlebnis eine besondere Art der kollektiven Erfahrung in Form
eines nationalen Traumas darstellt, womit der hier behandelten Thematik eine
weitere Facette hinzugefügt wird.

2. Fallbeispiel Uruguay
2.1 Fußball als „Spiegel“ politisch-gesellschaftlicher Entwicklung:
(zufällige?) Analogien
Die Bedeutung des Fußballs in Uruguay wird durch folgenden Ausspruch
deutlich: „Andere Länder haben ihre Geschichte, Uruguay hat seinen Fußball“
(so zitiert in: Havekost / Stahl 2005: 10). Wie kommt es zu dieser Feststellung?
Uruguay gilt als die erste große Fußballnation Lateinamerikas, als die erste
„Fußballmacht“ des Subkontinents. Die erste Fußballweltmeisterschaft wurde so
– zum Unmut einiger europäischer Nationen – auch 1930 in Uruguay ausgetra-
gen. Dieses Ereignis stellte für Uruguay quasi den Gipfel einer bis dahin er-
staunlich erfolgreichen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Ent-
wicklung dar. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das Land noch geprägt
von Chaos, Anarchie und Bürgerkrieg. Aber schon 1908 stand bewundernd in
Meyers Konversationslexikon: „Montevideo hat breite Straßen, Gasbeleuchtung,
Kanalisation und Wasserleitung“ (so zitiert in: Havekost / Stahl 2005: 11). Wäh-
rend im 19. Jahrhundert Uruguay noch geprägt war durch Bürgerkriege, Chaos
und anarchische Zustände, schlug das Land Anfang des 20. Jahrhunderts einen
erfolgreichen Entwicklungsweg ein. Unter den beiden Präsidentschaften von
José Batlle y Ordóñez (1903-1907 und 1911-1915) wurden umfassende Refor-
men durchgeführt und damit die Grundlagen geschaffen für demokratische Sta-
bilität, ökonomische Prosperität und sozialen Fortschritt. Zwar stellte die Welt-
wirtschaftskrise von 1929 auch für die agrarexportorientierte Wirtschaft Urugu-
ays einen Einschnitt dar, die Lebensbedingungen waren im WM-Jahr 1930 aber
immer noch deutlich besser als in manchen europäischen Ländern. Vor diesem
Hintergrund erklärte sich Uruguay sogar bereit, europäischen Nationalmann-
schaften die teure Schiffsreise über den Atlantik nach Montevideo zu finanzie-
ren.
Anlässlich der WM wurde in der Hauptstadt Montevideo das damals größte
und modernste Stadion der Welt gebaut. Benannt wurde das Estadio Centenario
nach dem 100. Jahrestag der Unterzeichnung der ersten Verfassung Uruguays
nach der Unabhängigkeit. In diesem Stadion wurde Uruguay, das bereits 1924
und 1928 Olympiasieger geworden war, Weltmeister. Im Endspiel wurde ausge-
rechnet das Nachbarland Argentinien mit 4:2 besiegt. Welche Bedeutung hatte
dieser Sieg, dieser erste Weltmeistertitel für Uruguay, außer dass der Tag des
Endspiels zum Nationalfeiertag erklärt wurde? Eine Konsequenz war, dass Ar-

30
gentinien die diplomatischen Beziehungen zu Uruguay abbrach (vgl. Thimmel
2006: 198). Dies nahm man allerdings in Montevideo relativ gelassen hin. Was
der Titelgewinn für Uruguay bedeutete, für die nationale Identität, für die Stim-
mung im Land selbst, hat ein zeitgenössischer Beobachter, kein geringerer als
der damalige FIFA-Präsident Jules Rimet, folgendermaßen zusammengefasst:
„Nie zuvor habe ich solche Beispiele von emotioneller Leidenschaft, Enthusiasmus und
Begeisterung erlebt. Als die Fahne Uruguays am Siegesmast hochstieg, die Spieler des
Weltmeisters weinend dem Fahnentuch nachschauten, schien sich das ganze Volk des
Weltmeisters im Stolz auf diesen Erfolg zu verbinden“ (so zitiert in: Umminger 2000:
298).

Für Uruguay war damit ein Erinnerungsort kreiert, der bis heute als Symbol
für die „gute alte Zeit“ gilt. Für die nationale Identität Uruguays hatte dieser
sportliche Erfolg aber noch eine andere Bedeutung: Für Uruguay stellte die WM
1930 die Möglichkeit dar, sich auf der internationalen Bühne zu präsentieren,
was fast einem Akt internationaler Emanzipation insofern gleich kam, als man
endlich ein Zeichen setzen konnte, um überhaupt als eigenständiger Staat wahr-
genommen zu werden. Man wurde jetzt nicht mehr ganz so häufig mit Paraguay
verwechselt oder, was man als noch sehr viel schlimmer empfand, als argentini-
sche Provinz wahrgenommen. Wenn es 1954 mit Blick auf Deutschland gehei-
ßen hat „Wir sind wieder wer“, so müsste der Satz mit Blick auf Uruguay 1930
umformuliert werden in „Wir sind endlich wer!“ Die Ausrichtung der WM 1930
bot für Uruguay also durchaus die Möglichkeit, internationale Anerkennung zu
erlangen. Die Krönung stellte dann der WM-Titel dar. Und es gab auch einen
nationalen Helden, der diesen Erfolg verkörperte: José Leandro Andrade, der
schon bei den olympischen Spielen 1924 und 1928 in Europa für Furore gesorgt
hatte, entwickelte sich zum ersten internationalen Fußballidol (vgl. Galeano
1997: 65).
Der zweite WM-Sieg Uruguays 1950 stand unter gänzlich anderen Vorzei-
chen als derjenige 20 Jahre zuvor. Ein Unterschied bestand darin, dass Uruguay
diesmal den anderen der beiden großen Nachbarn besiegte. Ein weiterer Unter-
schied bestand darin, dass dies nicht daheim in Uruguay, sondern auswärts im
Nachbarland Brasilien gelang. Der wesentliche Unterschied bestand allerdings
darin, dass Uruguay den Erfolg im entscheidenden Spiel der Endrunde gegen
Brasilien völlig überraschend und als krasser Außenseiter feiern konnte. Anders
war auch, dass Uruguay in der Zwischenzeit, seit 1930, einen langsamen wirt-
schaftlichen und politischen Niedergang erlebt hatte. Die Jahre nach dem Zwei-
ten Weltkrieg und der Korea-Krieg 1950-53 hatten jedoch vorübergehend noch
einmal für ein für die uruguayische Agrarexportwirtschaft sehr günstiges inter-
nationales Wirtschaftsklima gesorgt. Diese ökonomischen Erfolge fanden erneut
eine Entsprechung in einem Erfolg bei der Weltmeisterschaft, und dies sogar
gegen die Heimmannschaft und den haushohen Favoriten Brasilien, der schon
vor dem Spiel als Sieger gefeiert worden war (siehe dazu auch Kapitel 4). Wäh-

31
rend also die Bedeutung des Erfolges 1930 für die nationale Identität Uruguays
in einem selbstbewussten und stolzen „Wir sind endlich wer!“ auf den Punkt
gebracht werden kann, steht der Erfolg 1950 eher unter dem etwas trotzig anmu-
tenden Motto „Wir sind immer noch wer!“.

2.2 Der Mythos von den „uruguayischen Tugenden“

Dieser Überraschungserfolg 1950, dieses trotzige „Wir sind immer noch


wer!“ steht auch für einen Mythos, der Bestandteil der nationalen Identität Uru-
guays geworden ist, nämlich für die sog. garra charrúa (übersetzt die Charrúa-
Klaue). In einem Diskussionsforum im Internet wird die garra charrúa folgen-
dermaßen erklärt: „to have Garra Charrúa: means to be resourceful, daring, and
not to give up“ (http://forum.wordreference.com/showthread.php?t=110903 vom
7.3.2006, Zugriff 1.10.2006). Was verbirgt sich nun genauer hinter dieser Be-
grifflichkeit? Die Charrúa bildeten die Kerngruppe der auf dem späteren Staats-
gebiet Uruguays lebenden Ureinwohner. Der Mythos, der sich mit den Charrúa
verbindet, gründet sich vermutlich nicht zuletzt auch auf der Tatsache, dass die-
se sich gegenüber den spanischen Eroberern anders verhielten als die indigene
Bevölkerung in anderen Regionen des Subkontinents. Juan Díaz de Solís, der
auf Geheiß des spanischen Königs einen Seeweg zwischen dem atlantischen O-
zean und dem damaligen „Meer des Südens“ (Pazifik) finden sollte, wurde von
der indianischen Bevölkerung bei seiner Ankunft am Ufer des heutigen Río de la
Plata im Jahr 1516 nicht ehrfurchtsvoll als göttliches Wesen empfangen, son-
dern stattdessen als unerwünschter Eindringling heftig bekämpft und schließlich
getötet. Obwohl über die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ausgerotteten
Charrúa2 heute nur wenige gesicherte Kenntnisse vorliegen, werden sie als an-
griffslustig und kriegerisch charakterisiert: „Ihre militärische Taktik war sehr
einfach, sie basierte auf der Überrumpelung des Gegners; ausserdem kannten sie
die Technik des Hinterhalts, fingierte Attacken und vorgetäuschte Fluchtbewe-
gungen“ (Medina Pintado 1988: 17).
Ähnlich, wie im deutschen Fußball besonders seit dem Sieg 1954 in Bern
immer wieder gerne von den deutschen Tugenden gesprochen wird, haben die
Uruguayer in Anlehnung an die indianische Urbevölkerung ihre garra charrúa
(vgl. dazu auch San Roman 2005). Diese garra charrúa steht für die spielerische
Hitzigkeit der uruguayischen Fußballer, allerdings nicht verstanden in dem Sin-
ne, wie Uruguay durch rüde Spielweise und unfaire Attacken vor allem bei den
Weltmeisterschaften 1966 und 1986 auf sich aufmerksam gemacht hat, sondern
verstanden als „ein anderer Name für Mut und Kühnheit“ (Galeano 1985). Dies

2
Der letzte Häuptling der Charrúa war zusammen mit drei weiteren Stammesmitgliedern
1833 nach Frankreich verschleppt und dort als Zirkusattraktionen ausgestellt worden. Sein
Skelett wurde im Juli 2002 mit Ehrenbezeugungen wie für einen Nationalhelden von Paris
nach Montevideo überführt.
32
waren auch die Eigenschaften, die erforderlich waren, um 1950 Brasilien uner-
schrocken den Titel aus den Händen zu reißen.
„Während die Erfolge der Nationalmannschaft in den 20er und 30er Jahren das Ergeb-
nis eines dynamisch südamerikanisch geprägten Fußballs waren, auf den die Alte Welt
keine Antwort hatte, war für die Uruguayos ihr Sieg bei der WM 1950 Ausdruck und
Ergebnis der garra charrúa. […] Dem heißen Favoriten Brasilien im eigenen Stadion
den Titel wegzuschnappen, das erforderte ein Meisterstück an Zähigkeit und Köpfchen“
(Taylor 1998: 28f.).

Was bleibt aus heutiger Perspektive festzuhalten? Die Titelgewinne von 1930
und 1950 dienen Uruguay immer noch als Projektionsfläche für die längst ver-
gangene, gute alte Zeit, als Erinnerungsorte für Ereignisse, die das kollektive
Gedächtnis bis heute stützen. Dabei spielt der Mythos der garra charrúa, als
Ausdruck typisch uruguayischer Eigenschaften und Bestandteil der nationalen
Identität, eine besondere Rolle. Und wenn heute die uruguayische Fußballnatio-
nalmannschaft verliert – oder auch, als man sich bei der WM-Qualifikation 2006
nicht gegen Australien hat durchsetzen können –, wird dies in den einheimi-
schen Medien gerne auf das Fehlen gerade eben dieser garra charrúa zurückge-
führt.

3. Fallbeispiel Argentinien
3.1 Fußball als Quelle der Legitimitätszufuhr für autoritäre Regime
Argentinien, wo seit 1865 Fußball gespielt wird, ist nach Großbritannien die
zweitälteste Fußballnation der Welt und der Fußball hat auch hier, auf der ande-
ren Seite des Rió de la Plata, eine ganz besondere Bedeutung: „Wenn die Natio-
nalmannschaft bei einer Weltmeisterschaft antritt, geht es um mehr als die sport-
liche Performance. Auf dem Spiel steht das Selbstwertgefühl eines ganzen Lan-
des“ (Ceballos Betancur 2006: 25). Und dies gilt umso mehr, wenn die Welt-
meisterschaft im eigenen Land stattfindet, so wie 1978. Zudem bot dieses sport-
liche Großereignis Argentinien als Veranstalterland ähnlich wie Uruguay 1930
die Möglichkeit, etwas für das internationale Ansehen zu tun und internationale
Reputation zu erhalten. Allerdings war die politische Konstellation 1978 in Ar-
gentinien eine völlig andere als 48 Jahre zuvor in Uruguay. In Argentinien hat-
ten sich 1976 die Militärs wieder einmal an die Macht geputscht und eine men-
schenverachtende Militärdiktatur eingerichtet. In Abwandlung des WM-Mottos
2006 „Die Welt zu Gast bei Freunden“ hätte es 1978 heißen müssen „Die Welt
zu Gast bei Diktatoren“. Es gelang den autoritären Machthabern aber, ein ande-
res Bild zu vermitteln. Die WM bot die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass
die Diktatur ja eigentlich gar nicht so schlimm ist.
Zwar hatte bereits 1970 die Militärdiktatur in Brasilien den Gewinn der Fuß-
ballweltmeisterschaft für sich auszuschlachten versucht, aber als WM-
Ausrichter bot sich Argentinien 1978 zunächst einmal unabhängig vom späteren
33
sportlichen Erfolg eine besondere Gelegenheit, das angekratzte Image internati-
onal aufzupolieren. Es wurden Millionen investiert, um der Weltöffentlichkeit
ein Land zu präsentieren, in dem Ruhe und Ordnung herrschten. Dass dies eine
Friedhofsruhe war und die „Ordnung“ auf Staatsterror in Form von massiver
Unterdrückung und systematischer Gewalt basierte, stand auf einem anderen
Blatt. Die Propagandamaschinerie jedenfalls lief auf Hochtouren und war auch
erfolgreich: Henry Kissinger, Ehrengast bei der WM, prophezeite Argentinien
eine große Zukunft auf allen Ebenen; der damalige FIFA-Präsident Havelange
äußerte vor laufenden Kameras, dass die Welt endlich das wahre Argentinien
kennen lernen könne (vgl. Galeano 1997: 193). Die Generäle freuten sich über
solche Äußerungen, denn Havelange meinte nicht das Argentinien, in dem zahl-
lose Menschen einfach verschwunden und nie wieder aufgetaucht sind; er mein-
te auch nicht das Argentinien, in dem Oppositionelle grausam gefoltert und er-
mordet worden waren. Berti Vogts, damals als deutscher Nationalspieler vor
Ort, berichtete, Argentinien sei ein Land, in dem Ordnung herrsche; er habe kei-
nen einzigen politischen Gefangenen gesehen. In einem Kicker-Interview zollte
er „Herrn General Videla (s)einen Respekt für seine unschätzbaren Verdienste,
die er sich um den Fußball und um Argentinien erworben hat“ (so zitiert in: Ka-
leck 2006: 175). Berti Vogts hatte möglicherweise die Eröffnungsrede von Ge-
neral Videla zur WM gehört, in der dieser in völliger Pervertierung der gegebe-
nen Umstände meinte: „Willkommen in diesem Land des Friedens, der Freiheit
und Gerechtigkeit!“ (so zitiert in: Dunkhorst 2006: 87).
Es gab während der WM auch Signale gegen die Diktatur. So wurde z. B.
durchaus registriert, dass der argentinische Nationaltrainer César Luis Menotti
nach dem Endspielsieg Videla demonstrativ nicht die Hand gegeben hat (vgl.
Bausenwein 2006: 414). Außerdem soll er seinen Spielern vor dem WM-Finale
gesagt haben „Wir spielen nicht für die Ehrentribüne voller Militärs, wir spielen
für die Leute. Wir verteidigen nicht die Diktatur, sondern die Freiheit“ (so zitiert
in: Dunkhorst 2006: 87). Insgesamt aber ging die Rechnung der Militärs zu-
nächst auf, und zwar in zweierlei Hinsicht: Die WM brachte Argentinien inter-
national ein aufpoliertes Image und neues Ansehen, in Argentinien selbst über-
lagerte die WM die politischen Realitäten der Militärdiktatur. „Nie war die Zu-
stimmung zur Junta höher als während der WM“ (Mysorekar 2006: 235). Die
für ihre verschwundenen Kinder regelmäßig vor dem Sitz der Regierung in
Buenos Aires demonstrierenden Madres de Plaza del Mayo wurden von jubeln-
den Fans verdrängt. Und spätestens mit dem Einzug ins WM-Finale erlebte das
Land eine Welle des nationalen Überschwangs. 3

3
Unabhängig davon wird von manchen Beobachtern, vor allem auch aus Brasilien, bis heute
in Zweifel gezogen, ob auf dem Weg zum Titelgewinn sportlich alles mit rechten Dingen
zugegangen war. Denn um ins Finale zu kommen, musste Argentinien nicht nur einfach
gegen Peru gewinnen; Argentinien musste mit mindestens vier Toren Differenz gewinnen,
um selbst anstelle Brasiliens ins Finale einzuziehen. Argentinien gewann mit 6:0 und es
gab massive Gerüchte, Peru habe nicht nur einen 50-Millionen-Dollar-Kredit der argentini-
34
Die WM 1978 stellt eines von vielen Beispielen für Versuche des Miss-
brauchs, der Instrumentalisierung des Sports durch autoritäre Machthaber dar.
Der Fußball diente im damaligen Argentinien als Quelle der Legitimitätszufuhr
für das autoritäre Regime, die autoritären Machthaber hatten ein propagandisti-
sches Meisterwerk vollbracht. Sie konnten sich den Fußball – in Abwandlung
des deutschen „Wir sind wieder wer!“ von 1954 – nach dem Motto „Wir sind
doch gar nicht so schlimm…“ nicht nur für den Erwerb internationaler Reputati-
on nutzbar machen, sondern auch auf nationaler Ebene im Sinne einer identitäts-
und legitimitätsstiftenden Funktion instrumentalisieren. Dass davon aber wirk-
lich dauerhaft herrschaftsstabilisierende Effekte ausgegangen sind, muss be-
zweifelt werden; diese waren bestenfalls vorübergehender Natur, wie die weitere
politische Entwicklung Argentiniens gezeigt hat. Beim zweiten Titelgewinn Ar-
gentiniens acht Jahre später, 1986 in Mexiko, war die argentinische Militärdikta-
tur bereits wieder Geschichte. Im Oktober 1983 war Raúl Alfonsín in freien und
demokratischen Wahlen zum Präsidenten Argentiniens gewählt worden. Zuvor
hatte die argentinische Diktatur nicht nur wirtschaftlich und politisch versagt,
sondern sich wegen der Menschenrechtsverletzungen auch moralisch komplett
diskreditiert. Zudem hatten die Militärs eine entscheidende Niederlage auf „ei-
genem Feld“ erlitten. Bei der Suche nach neuen Quellen der Legitimitätszufuhr
hatten sich die Streitkräfte dazu entschlossen, im April 1982 die seit 1833 von
Großbritannien besetzten und von Argentinien beanspruchten Falkland / Malvi-
nas-Inseln zurück zu erobern. Allerdings hatten die Generäle die Rechnung ohne
die Eiserne Lady aus dem Fußball-Mutterland England, Maggie Thatcher, ge-
macht, die britische Kriegsschiffe über den Atlantik schickte. Das militärische
Potential Argentiniens auf dem Schlachtfeld korrespondierte 1982 nicht annä-
hernd mit den spielerischen Fähigkeiten 1978 auf dem Fußballfeld, so dass man
sich schnell der Übermacht aus Großbritannien geschlagen geben musste. Diese
Niederlage und das komplette Scheitern selbst auf militärischem Gebiet mar-
kierten den Anfang vom unwiderruflichen Ende der argentinischen Militärjunta.
Die nächste WM 1986 stand nicht mehr im Zeichen der Diktatoren, sondern im
Zeichen des legendären Fußballspielers Diego Armando Maradona.

3.2 Der Mythos Maradona (und der Mythos eines Tores)


Als Mythos wird im Allgemeinen ein zur Legende gewordenes bedeutendes
Geschehen oder eine zur Legende gewordene Person bezeichnet. Für Argenti-
nien gibt es eine Person, die im fußballerischen Bereich eine solche Legende
wie kein zweiter verkörpert. Es gibt viele argentinische Fußballstars und Idole,
aber nur die eine Lichtgestalt namens Maradona. Maradona wurde viermal zu
Argentiniens Fußballer des Jahres gewählt (1979, 1980, 1981 und 1986). Beim
ersten Mal, 1979, war er mit 18 Jahren der bis dahin jüngste Spieler aller Zeiten,

schen Zentralbank, sondern auch über 30.000 Tonnen Getreide und einiges an Waffen ge-
liefert bekommen.
35
dem dieser Titel verliehen wurde. 27 Jahre später, im Jahr 2006, gewann Mara-
dona eine von der FIFA initiierte Abstimmung im Internet als bester Fußball-
spieler des 20. Jahrhunderts.4
Spätestens mit der WM 1986 in Mexiko und dem Titelgewinn für Argentinien
ist Maradona zu einem nationalen Helden, zu einem Mythos geworden. Er ver-
körpert nicht nur die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, der sich durch den Fußball
ergeben kann, sondern stellt auch eine nationale Integrationsfigur dar und wird
in Argentinien verehrt, wie sonst kein zweiter. Und tatsächlich hat die Vereh-
rung von Maradona manchmal fast schon religiösen Charakter. In Argentinien
heißt es nicht umsonst: Die Deutschen haben den Papst, wir Argentinier haben
Diego, wir haben Gott. Die Verehrung Maradonas scheint kaum Grenzen zu
kennen. So wurde z. B. in der argentinischen Stadt Rosario eine eigene Kirche
zu seiner Verehrung gegründet, die „Iglesia Maradoniana – La Mano de Dios“
(Kirche Maradonas – Die Hand Gottes), mit – die Angaben hierzu sind unter-
schiedlich – weltweit 20.000 bis mehr als 60.000 Anhängern.5 Bei der Vereh-
rung Maradonas zeigen sich seine „Gläubigen“ sehr kreativ: Der Fußballstar
wird als „D10S“ bezeichnet (in Anlehnung an „Dios“ als spanisches Wort für
Gott, allerdings als D+10+S geschrieben, wobei 10 für die Rückennummer steht,
die Maradona jahrelang getragen hat). Es gibt eine neue Zeitrechnung, die mit
dem Geburtsjahr Maradonas beginnt und nach der wir uns 2007 im Jahr 47 d. D.
(für „de Diego“, nach Diego; alternativ auch PM für „Post Maradona“) befin-
den. Weihnachten wird am 20. Oktober, dem Geburtstag Maradonas, gefeiert.
Es gibt ein eigenes Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote wurden neu for-
muliert (z. B. lautet das Dritte Gebot: Erkläre deine bedingungslose Liebe zu
Diego und gutem Fußball). Als Heilige Schrift, aus der auch bei Zusammen-
künften vorgelesen wird, dient die Autobiographie Maradonas; der Rosenkranz
besteht aus 33 Miniaturfußbällen und einem Fußballschuh anstelle des Kreuzes,
womit man auf die Zahl 34 kommt, die der Anzahl der Tore entspricht, die Ma-
radona in der argentinischen Nationalmannschaft erzielt hat.
Neben dem Mythos Maradona, der durchaus einen eigenen Beitrag zu einer
„gefühlten“ nationalen Einheit zu liefern vermag, stellt der zweite WM-Erfolg
1986 einen positiven Erinnerungsort für das kollektive, nationale Gedächtnis
Argentiniens dar. Für die nationale Identität Argentiniens war allerdings das
gewonnene Viertelfinalspiel vielleicht fast noch wichtiger als der eigentliche
Titelgewinn im Endspiel gegen Deutschland. Zuvor war es schon eine besondere
Genugtuung für Argentinien, dass man im Achtelfinale gegen den alten Rivalen

4
Allerdings war dieses Ergebnis wohl nicht im Sinne der FIFA. Jedenfalls setzte die FIFA
zusätzlich noch eine Kommission ein, deren Wahl dann politisch korrekt auf den sehr viel
weniger skandalträchtigen Pelé fiel. Der Titel "Weltfußballer des Jahrhunderts" wurde also
- zum Unmut von Maradona und seinen Anhängern - zweimal vergeben.
5 Vgl. dazu und zum Folgenden u. a. Isphording/Noé 2006, Mysorekar 2006, Chiaretti 2006:
128, Ceballos Betancur 2006 sowie Bundeszentrale für politische Bildung 2006.

36
Uruguay gewonnen hatte und so sein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem klei-
nen Nachbarn bestätigt fand. Die Steigerung sollte dann aber im Viertelfinale
folgen, in dem man auf England traf und das Team von der Insel aus dem Tur-
nier kickte, also ausgerechnet die Nationalelf des Landes besiegte, gegen das
man vier Jahre zuvor im Falkland/Malvinas-Krieg noch verloren hatte. Auf dem
Fußballplatz war jetzt die eindrucksvolle Revanche für diese Kriegsniederlage
gelungen. Eine besondere Bedeutung erhielt diese Revanche noch durch die Art
und Weise, wie die 2:1-Niederlage Englands zustande kam. Denn Maradona
sorgte nicht nur mit zwei Toren fast im Alleingang für die Wiederherstellung
des immer noch lädierten Nationalstolzes, sondern beide Tore stellten auch eine
Besonderheit dar: Das zweite Tor Maradonas, bei dem er aus der eigenen Hälfte
heraus die gesamte englische Abwehr düpierte, wurde später von der FIFA als
„Tor des Jahrhunderts“ ausgezeichnet. Für sehr viel mehr Aufsehen – und auf
argentinischer Seite für eine besondere Art der Genugtuung – sorgte allerdings
das erste Tor, welches Maradona irregulär mit der Hand erzielte. Alle Proteste
der Engländer nutzten nichts. Und der Mythos Maradona nahm wegen dieser
Unsportlichkeit in Argentinien auch keinen Schaden. Im Gegenteil: Es war ge-
lungen, die Engländer auszutricksen, und für Maradona selbst war es eben die
„Hand Gottes“, die hier im Spiel war. Der Mythos Maradona wird also noch zu-
sätzlich verstärkt durch den Mythos dieses besonderen Tores. Nur wenige Jahre
nach dem verlorenen Falkland/Malvinas-Krieg und dem Ende der Militärdikta-
tur konnten die Argentinier nun stolz feststellen: „Wir sind wieder wer! Und vor
allem haben wir es den Engländern gezeigt!“

4. Exkurs Brasilien: Die Niederlage als nationales Trauma


Der WM-Fußball scheint für Brasilien in den letzten Jahrzehnten die Erfolgs-
konstante schlechthin gewesen zu sein. Als bislang einzige Nation konnte Brasi-
lien fünfmal den Titel eines Fußballweltmeisters erringen (1958, 1962, 1970,
1994 und 2002). Brasilien wurde darüber hinaus zweimal Zweiter (1950 und
1998) und zweimal Dritter (1938 und 1978). Als einziges Land hat Brasilien an
allen Weltmeisterschaften teilgenommen. Was für Argentinien der „Mythos Ma-
radona“ ist, ist für Brasilien der „Mythos Pelé“. Der unter diesem Namen be-
kannt gewordene Fußballer Edson Arantes do Nascimento, der 1957 im Alter
von nur 16 Jahren sein Debüt in der brasilianischen Nationalmannschaft gege-
ben und in seiner Karriere fast 1.300 Tore geschossen hat, wurde 1999 vom In-
ternationalen Olympischen Komitee zum Sportler des Jahrhunderts gekürt.
Schon lange zuvor hatte sich Pelé für Brasilien zu einer nationalen Integrations-
figur entwickelt und war bereits in jungen Jahren vom brasilianischen Kongress
sogar zum „nationalen Kulturgut“ erklärt worden, um so seinen „Export“ ins
Ausland zu verhindern (vgl. u. a. Eichler 2003: 111). Eine emotional noch stär-
kere Bindung hatte sich in Brasilien allerdings zu einem anderen Fußballer ent-
wickelt, nämlich zu Garrincha. So schreibt auch der chilenische Schriftsteller
37
Omar Saavedra Santis, dass Garrincha im Herz der brasilianischen Fans den
größeren Platz als Pelé einnimmt:
„Pelé ist "der König"; Garrincha war "die Freude des Volkes". Pelé wird in Brasilien
bewundert, Garrincha wird einfach geliebt. Ja, es ist die tragische Figur des Manoel da
Silva dos Santos, alias Garrincha, die im brasilianischen Fußballvolk am ehesten Identi-
tätsgefühle weckt. Vielleicht, weil er, anders als Pelé, einer der Seinigen war und blieb.
Großzügig, naiv, glücklos“ (Saavedra Santis 1999).

Unabhängig von Pelé und Garrincha gelten in Brasilien der Fußball und die
Nationalmannschaft als so etwas wie der Kitt, der die Gesellschaft zusammen-
hält. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir es im Falle Brasiliens mit einer
strukturell äußerst heterogenen Gesellschaft zu tun haben, mit einem Land, das
allein wegen seiner Größe und seinen geographischen Gegebenheiten als Einheit
nur schwer fassbar ist. In diesem Kontext spielt der Fußball, noch mehr als in
Argentinien und Uruguay, eine besondere Rolle hinsichtlich der nationalen Iden-
tität. So war z. B. in der Juni-Ausgabe 2006 der entwicklungspolitischen Zeit-
schrift ‚E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit’ – die bezeichnenderweise einen
Fußballschwerpunkt mit dem Titel ‚Möglichkeiten der Identifikation’ präsentier-
te – diesbezüglich zu lesen:
„Laut Soziologen bilden Fußballvereine und die Nationalmannschaft für die brasiliani-
sche Gesellschaft die zentralen Identifikationspunkte. Die Parteien sind kurzlebig, Poli-
tik und Polizei korrupt und Religion taugt auch nicht für alle Lebenslagen. Aber Fußball
ist demokratisch und leistungsbezogen. Hier kann jeder etwas werden, unabhängig von
Herkunft und Hautfarbe. Obendrein macht Fußball Spaß – wenn auch leider nicht im-
mer“ (Mysorekar 2006: 234).

Dass Fußball nicht immer Spaß macht, musste Brasilien nicht nur bei der WM
2006 in Deutschland erleben, als der Top-Favorit bereits frühzeitig ausschied.
Sehr viel einschneidender und schwerwiegender war vielmehr ein Ereignis 56
Jahre zuvor, also ein Ereignis, das noch länger zurück liegt als das „Wunder von
Bern“, in Brasilien allerdings immer noch mindestens (!) genau so präsent ist
wie in Deutschland der WM-Sieg von 1954. Der überraschende Erfolg Urugu-
ays gegen Brasilien 1950 im Maracaná-Stadion wurde bereits in Kapitel 2.1
thematisiert. Doch wie sieht die brasilianische Perspektive aus, wie also erlebte
Brasilien, das vor dem Spiel bereits als absolut sicherer Sieger gehandelt worden
war, diese Niederlage im eigenen Land? Die Antwort ist eindeutig: Brasilien
erlebte dieses 1:2 geradezu als nationale Tragödie, als Tragödie, die damals fast
ein ganzes Volk in eine wahre Sinnkrise zu stürzen schien. Was war geschehen?
Eduardo Galeano schilderte die damalige Situation folgendermaßen:
„Die brasilianischen Spieler, die alle ihre Gegner haushoch deklassiert hatten, bekamen
am Vorabend des Spiels jeder eine goldene Uhr, auf deren Rückseite die Worte Den
Weltmeistern eingraviert waren. Die ersten Seiten der Tageszeitungen waren schon im
voraus gedruckt, der riesige Karnevalswagen, der den Festzug anführen sollte, war fer-
tiggestellt, man hatte eine halbe Million T-Shirts verkauft, die in großen Buchstaben
38
den unausweichlichen Sieg feierten. Als der Brasilianer Friaça das erste Tor schoss, er-
schütterten ein Schrei aus zweihunderttausend Kehlen und zahllos abgefeuerte Raketen
das riesige Stadion. Doch dann erzielte Schiaffino den Ausgleich, und ein diagonaler
Schuss von Ghiggia brachte Uruguay in Führung, das schließlich mit 2 zu 1 den Titel
gewann. Beim Tor von Ghiggia brach im Stadion von Maracaná Schweigen aus, das to-
sendste Schweigen in der Geschichte des Fußballs“ (Galeano 1997: 111f.).

Diese Niederlage der Nationalmannschaft Brasiliens stellt ein Paradebeispiel


dafür dar, wie ein sportlicher Misserfolg zu einem negativen Erinnerungsort
werden kann, wie sich ein sportlicher Misserfolg zu einem nationalen Trauma
auswachsen kann. Es gibt diesbezüglich eine Vielzahl von Erfahrungsberichten
und Zitaten, die das Ausmaß dieses nationalen Traumas umschreiben. Exempla-
risch sollen hier nur zwei Erwähnung finden. Der brasilianische Schriftsteller
Nelson Rodrigues formulierte es besonders drastisch: „Überall gibt es eine un-
heilbare nationale Katastrophe, etwas wie Hiroshima. Unsere Katastrophe, unser
Hiroshima, war die Niederlage gegen Uruguay im Jahre 1950“ (so zitiert in:
Knieriem/Voigt 2003: 11). Und der brasilianische Anthropologe Roberto da
Matta bezeichnete das verlorene Spiel „als die vielleicht größte Tragödie der
zeitgenössischen brasilianischen Geschichte“ (so zitiert in: Knieriem/Voigt
2003: 11). Knieriem/Voigt versuchen in ihrem Buch zur WM 1950 zu erklären,
warum dieses Fußballspiel in Brasilien so extrem wahrgenommen wurde:
„Die merkwürdige Faszination, die mit diesem historischen Ereignis verbunden ist und
weitaus schwerer wiegt als die späteren WM-Erfolge, lässt sich aus europäischer Sicht
nur schwer nachvollziehen. Brasilien befand sich damals im Aufbruch von der Diktatur
zur Demokratie, die die neue Verfassung von 1946 bringen sollte. Neue Hoffnung, die
sozialen Unzulänglichkeiten überwinden zu können, machte sich breit. Der Weltmeis-
tertitel wäre zugleich so etwas wie die Geburtsstunde einer neuen Nation gewesen. Die
Niederlage gegen Uruguay machte all das zunichte. Die kommenden Wahlen gewann
der alte Diktator Vargas und in den folgenden vier Jahrzehnten konnte sich Brasilien
kaum mehr von der Fessel der Militär- und Fremdherrschaft befreien. Die Niederlage
vom 16. Juli 1950 steht gleichnishaft für alle Niederlagen, die Brasilien in seiner jünge-
ren Geschichte zu verwinden hatte“ (Knieriem/Voigt 2003: 11).

Wie schmerzhaft die Niederlage tatsächlich war, äußerte sich u. a. auch da-
durch, dass es danach fast zwei Jahre kein Länderspiel Brasiliens mehr gab, Bra-
silien nach 1950 nicht mehr in den weißen Trikots des Endspiels antrat und im
Maracaná-Stadion erst im März 1954 wieder ein Länderspiel stattfand. Maraca-
ná 1950 steht wie kaum ein anderer Ort dafür, wie auch ein negatives sportliches
Ereignis einen Erinnerungsort darstellen kann, der die nationale Identität und
das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation beeinflusst. Generell lässt sich
hierzu festhalten: Genauso wie beim Jubel um einen Weltmeistertitel zählt auch
bei der Trauer um eine Niederlage im Finale oder bei der Trauer um vorzeitiges
Ausscheiden nicht, ob man arm oder reich, schwarz oder weiß ist. Unabhängig
vom sozialen Status oder der Hautfarbe ist man nicht nur im Jubel, sondern auch
in der Trauer vereint. So konnte man auch nach dem vorzeitigen Ausscheiden

39
Brasiliens bei der WM 2006 lesen: „Das unerwartete WM-Aus hat das Land, das
sonst unbeschwerte Fröhlichkeit als Markenzeichen hat, tief getroffen. […]
Wildfremde Menschen aller Rassen und Klassen waren sich beim Abpfiff heu-
lend in die Arme gefallen“ (Mainzer Allgemeine Zeitung vom 03.07.2006).
Auch hier trifft die anfangs erwähnte Definition nationaler Identität von Lucian
Pye als „the feelings of a people that they are bound together in common associ-
ation“ (Pye 1971: 110) zu, wenngleich in einer negativen Ausprägung.

5. Kurze Schlussbemerkung
Um zu politikwissenschaftlich verlässlichen Ergebnissen und verallgemeiner-
baren Aussagen bezüglich der hier behandelten Thematik zu kommen, wäre es
sicher notwendig, den Einfluss des Fußballs auf die Bildung nationaler Identität
durch Umfragedaten o. ä. empirisch fundierter zu untersuchen. Leider liegen
nach meiner Kenntnis solche Daten bislang nicht vor. Insofern konnte hier auch
nur durch einige wenige ausgewählte Beispiele illustriert werden, dass der Fuß-
ball in unterschiedlichen Facetten durchaus eine identitätsstiftende Funktion ha-
ben kann. Weitere Beispiele auch aus anderen Regionen, die dies belegen, ließen
sich problemlos anführen. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist dies si-
cher interessant; dieses Phänomen allein macht jedoch wohl kaum die Faszinati-
on aus, die beinahe weltweit vom Fußball ausgeht und die – je nach Ergebnis –
Begeisterung oder Bestürzung auslöst. Diese Faszination zu ergründen war je-
doch auch nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Jenseits wissenschaftli-
cher Überlegungen, welcher Art auch immer, stellt der Fußball ein Event dar,
das immer noch dann am schönsten, packendsten und euphorisierndsten ist,
wenn in einem Spiel möglichst viele Tore fallen und dabei die „eigene“ Mann-
schaft als Sieger vom Platz geht.

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41
Yvette Sánchez

Ballkontakt. Die hispanische


Fussballliteratur zwischen Verklärung
und kritischer Distanz
In letzter Zeit habe ich mich vermehrt mit der Dialektik von Erfolg und Miss-
erfolg, mit dem 'Lob des Scheiterns' in der hispanischen und in der Weltliteratur
beschäftigt. Beim hier für den Fussball gewählten Thema geht es ebenso nicht
nur um die Verklärung des Siegens, sondern auch diejenige des Verlierens. Die
Fernseh-Grossaufnahmen der Fussballer nach Spielende führen uns jeweils die
Aura von Gewinnern und Verlierern über ihre emotionsgeladene Körpersprache
plastisch vor Augen. Die Tränen der Ausgeschiedenen und die Gesten des Tri-
umphs faszinieren die Zuschauer gleichermassen.
Der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht verwendet den theologischen Begriff
der Verklärung in seinem Buch Lob des Sports und kultiviert ihn in seinem Dis-
kurs auch gleich selber, da er für einmal nicht literatur-, sondern sportkritisch
arbeitet und vorwiegend seine eigene, persönliche Beziehung zum Sport vor-
führt (Gumbrecht 2005: 9).

Nie werde ich die tiefe Traurigkeit vergessen, die ich empfand, als ich die
Spieler meiner Lieblingsmannschaft im College Football [...] nach der höchsten
Heimniederlage [...] aus dem Stadion kommen sah. Der Rhythmus ihrer Schritte
schien seltsam getragen, ihre Blicke waren auf einen unerreichbar fernen Hori-
zont gerichtet, und ihre Haare waren von Schweiss und Staub grau verklebt. Ei-
ner meiner Stars [...] sah aus wie ein König, der sein Land verlassen und den
schweren Weg ins Exil antreten muss.

Der Intellektuelle zelebriert die Faszination für den Sport mit einer gehörigen
Portion Pathos. Gleich mehrere Verklärungs-Impulse lassen sich in der Passage
ausmachen: Schweiss und Tränen, schwere Blicke und Schritte, Schicksalserge-
benheit, die existentielle Tiefe, Würde und Aura der Verliererpose.
42
Indem der Mexikaner Juan Villoro sich als Fussball-Fan jegliche Besonnen-
heit abspricht, legt auch er sich die Basis zur Verherrlichung des Königsports. In
seinem geistreichen Essays "El balón y la cabeza" behauptet er, Welt, Ball und
Geist verschmelzen bei ihm zu ein und der selben Sache und er gebe sich der
Lächerlichkeit preis (Villoro 2002:1).
Seit den 90er-Jahren wurde eine Bekenntnisliteratur möglich, in der Schrift-
steller offen zu ihrer Fussballleidenschaft stehen können. Gleich reihenweise
überwinden sie ihre bildungsbürgerlichen Vorurteile und beichten uns grosszü-
gig ihre persönlichen Bezüge zum Fussball. "Wenn Sie bereit sind zuzugeben,
dass [...]" spricht der sportbegeisterte Gumbrecht seine Leser ganz am Anfang
seines bereits zitierten Buches an und sucht in ihnen Verbündete. Inzwischen
gibt es gar Publikationen, zum Beispiel Los Nobel del fútbol, welche die Nobili-
tierung des Fussballs durch Autoren von weltliterarischem Rang unterstreichen,
die irgendwann ihre Liebe zum Königsport deklariert haben.6 Gabriel García
Márquez spricht von der "sonntäglichen" Religion und der "heiligen Herman-
dad" der Fans, Mario Benedetti vom Nimbus und der "einzigartigen Leucht-
kraft", die den Torhüter umgeben, und Ernesto Sábato von der Leidenschaft, die
er für die "komplexe Angelegenheit" Fussball verspürt (Pérez 2006: 28, 29, 94
und 172).7
Die Literaten bevorzugen kurze, mehrheitlich dokumentarische Textsorten in
allerlei hybriden Ausformungen, die vor allem anekdotenreich Fakten mit
Fiktion vermischen: Essays, Zeitungsartikel, halb-fiktive Kolumnen, autobio-
graphische Erinnerungsprosa, Chroniken, Reportagen und Kurzgeschichten. Auf
der Skala zwischen Erfundenem und Vorgefundenem bewegt sich die neue
Fussball-Literatur vorzugsweise im Bereich der lebensweltlichen Tatsachen, und
das Fussballspiel seinerseits weist einen fiktionalen Charakter auf, der die "Rea-
lität vorübergehend ausser Kraft setzt" (Fresán 2006: 44).
Die Kluft zwischen Fussball und Literatur hat sich verkleinert. Der Kö-
nigsport selber hat sich weg bewegt vom Zeitvertreib für die Unterschichten
bzw. dem säkularisierten Opium der Massen. Dazu haben die Faktoren Mediati-
sierung und Merkantilisierung das Ihre beigetragen8, ebenso wie ein massenme-
dial verbreiterter Starkult, oder die Digitalisierung. Die gegenwärtigen spektaku-
lären Formen des Fussballs haben das Publikum neu aufgemischt und erweitert.

6
Aus der hispanoamerikanischen Welt finden sich da etwa Gabriel García Márquez, Mario
Vargas Llosa, Ernesto Sábato, Jorge Amado, Eduardo Galeano, Augusto Roa Bastos, Ma-
rio Benedetti oder Osvaldo Soriano und Juan Villoro.
7
Sämtliche deutsch zitierten spanischen Originaltexte wurden, wenn nicht anders angezeigt,
von der Verfasserin übersetzt.
8
Die Fussballindustrie arbeitet mit volkswirtschaftlich relevanten horrenden Transfersum-
men, was zum Ausverkauf lateinamerikanischer Spieler nach Europa führt: "Dieses Land
[Argentinien], das einst Rindfleisch exportierte und heute Fussballerfleisch", meint dazu
Rodrigo Fresán (2006: 44). Über 6000 brasilianische Profifussballer spielen heute in über
66 Ländern der Welt (Dario Azzellini/Stefan Thimmel: 14). Die von Stararchitekten erbau-
ten Stadien sind zum glamourösen VIP-Treffpunkt geworden.
43
Zunehmend pilgern auch Frauen in die Stadien und entsprechend melden sich
zunehmend Schriftstellerinnen zu Wort.
Angesichts der zahlreichen Affinitäten auf der Ebene der Inszenierung er-
scheint der literarische Ballkontakt nicht weiter überraschend, zumal sich Spiel,
Illusion, Simulation, Theater oder Schauspielerei in beiden Sparten wiederfin-
den. Doch die doppelte Fiktionalisierung, die verschachtelte Illusion einer In-
szenierung zweiten Grades, eines parallelen Spiels, welche die Fussball-
Belletristik automatisch mit sich bringt, führen leicht zu einer narrativen Über-
dosis, wo doch von der Fiktion und internen Dramaturgie des realen Fussball-
spiels schon eine autonome, poetische Kraft ausgeht.9
Der Sport organisiert sich sein Zeichensystem selber, man braucht es nur mit-
zulesen und am besten laut zu rezitieren. Fussball ist vorzugsweise eine orale
Erzählung. Geräusche und Klänge geben die Zwanglosigkeit und Zerstreuung
besser wieder; es braucht ihre Sinnlichkeit. In verschriftlichten Fussballspielen
erkaltet der Ausdruck. Die mündliche Narrativierung könnte man schon fast o-
nomatopoetisch nennen. Hier beziehe ich mich natürlich auch auf Fernseh-, vor
allem Radiokommentatoren in der hispanischen Welt. Eines der Tore von Mara-
dona, das damals von einem Sprecher kommentiert wurde, ist schlicht unüber-
tragbar ins Schriftliche. Radioreportagen über Fussballspiele waren besonders
wenn Tore fielen eine emotional aufgeladene Kunstform10, die nur schwer in
einen literarischen Text übertragbar ist.
Der Uruguayer Mario Benedetti hat damit experimentiert in seiner Erzählung
"El césped", in welcher die starke Emotionalität und die daraus resultierende
Verklärung der Radiosprecher eine zentrale Funktion einnehmen.
Die orale Auslegung kann das Spielgeschehen auch tansformieren und verfäl-
schen und dadurch eine gewisse Distanz zum Publikum schaffen. In der argenti-
nischen Kurzgeschichte von Inés Fernández Moreno ist der Ich-Erzähler mit
Sprecher-Talent gesegnet und mit einem Walkman ausgestattet, der es ihm er-
möglicht bei Stromausfall die Fussballübertragung mündlich an eine Gruppe
Leute weiterzugeben. So erspart er ihnen die Niederlage der eigenen Mannschaft
und phantasiert für sein Publikum, theatralisch und karnevalesk, die Illusion ei-
nes Sieges herbei. (Fernández Moreno 2003: 67-73).
Mario Benedetti versucht, das atemberaubende Tempo zu reproduzieren, in-
dem er keinerlei Pausen oder Unterbrechungen im Diskurs zulässt, die Worte
nahtlos ineinander übergehen lässt, ohne auch nur Raum für den geringsten
Zweifel zu lassen. Jede mögliche Lücke muss ausgefüllt werden. Der Triumph
des Tors für die eigene Mannschaft wird derart in die Länge gezogen, dass der

9
Und auch die Ventilfunktion ist nicht zu unterschätzen: Im Fussball kann ich die Fassung
verlieren, aus der Rolle fallen. Ich fühle mich frei, arbiträr zu sein, unbekümmert fanatisch,
und einem ordinären Kollektiv anzugehören, Furcht und Schrecken, aber auch Glücksge-
fühle im Spiel gemeinschaftlich zu erleben, beschwören und offen und lauthals zu äussern.
10
Juan Villoro (1995: 153-172) setzt einem berühmten mexikanischen Sprecher, Ángel Fer-
nández, ein Denkmal.
44
Sprecher erst "beim "l" von "goooooooool" anlangt, nachdem schon lange wei-
ter gespielt wird (Pérez 2006: 79). Auch Mario Benedetti analysiert die Rhetorik
des pausen- und atemlosen Sprechens der aneinander gefädelten Worte, der
starken, verklärenden Emotionalität (zitiert in Pérez 2006: 79 und 80).
Vielleicht kommt die literarische Gattung des Hörspiels, mit seiner Oralität,
der Dramatik und Dynamik des Fussballspiels noch am nächsten.11 Generell
vermisst man bei den audiovisuellen Gattungen des Theaters und des Spielfilms
bisher die Fussball-Meisterwerke genauso wie beim Roman. Vinzenz Hediger,
Filmwissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum meint, der Film, dessen Dau-
er (90 Minuten) übrigens der eines Fussballmatches entspricht, versage künstle-
risch, weil er sich nur mit aussergewöhnlichen Sportlerleistungen im entschei-
denden Moment beschäftige und dem Versagen zuwenig Platz einräume (Hedi-
ger 2006: 63). Fehlende Verklärung des schicksalhaften Verlierers.
Das Fussballspiel ist unter Einbezug des Unvermögens, der transzendenten
Dimension der Vorsehung, eines (zuweilen erdrückenden) Determinismus, aber
auch des Zufalls, der Prophezeiungen immer unvorhersehbar. Martin Seel
bringt es auf den Punkt: der ästhetische Genuss und der Kitzel beim Sport liege
in der erlebten Differenz zwischen Gelingen und Misslingen (Seel 1992: 253).
Fussball verlangt von seinen Anhängern das Exerzitium der Niederlage, des
Misserfolgs mit möglicher kathartischer Wirkung. Auch Wolfgang Welsch
(2004: 65-81) spricht in diesem Zusammenhang von der "Kontingenz" des Fuß-
balls. In jedem Moment steht alles auf der Kippe, und das Blatt kann sich au-
genblicklich wenden. Ob ein 50 Meter-Traumpass wirklich ankommt, kann von
winzigen Details abhängen, einschließlich der Witterung. Das Unberechenbare
ist das Entscheidende und darf auch völlig unglaubhaft wirken, wohingegen die
Literatur zuweilen der Regel der Wahrscheinlichkeit, der Plausibilität unterwor-
fen ist.
Fussball ist eine schwer verbalisierbare Kollektiverfahrung auf Zuschauer-
und Spielerseite, die sich nur vereinfachend und von aussen, von einer individu-
alisierten Randposition aus (nach)erzählen lässt. Dagegen eignet sich der Box-
kampf vielleicht deshalb besser als literarischer Stoff, da der Sportler alleine, als
Individuum und als inbegrifflicher Agonistes antritt. Die gemeinschaftlich erfah-
renen und übertragenen, komplexen Emotionen, die heroischen Leidenschaften

11
In Deutschland beweisen dies Ror Wolfs neu auf CD aufgelegte Produktionen aus den
70er-Jahren, in denen er kunstvoll O-Ton-Schnipsel aus Radio und Fernsehen mit eigenen
Balladen und Stanzen zu einem Sprach- besser Klangkunstwerk collagierte. Und in eine
ganz ähnliche Richtung zielt Marc Beckers Theaterstück Wir im Finale, das ich mir am
Theater Basel ansehen bzw. hören konnte und das nun in einer spanischen Übersetzung bis
nach Mexiko exportiert wird. Es dürfte ein nicht ganz einfaches Unterfangen sein, diese
sprachspielerisch elaborierte Fest aus Phrasen von Sportreportern, besserwissenden Exper-
ten, aus Kabinenpredigten des Trainers, dem Grölen der Fan-Kurve oder dem Anfeuern aus
dem Wohnzimmersessel ins Spanische zu übertragen.
45
und Mechanismen der Ent- und Reindividualisierung im Fussball folgt ihrer ei-
genen Dramaturgie und Sprache.12
Hans Ulrich Gumbrecht (2005: 17, 52) versichert uns, dass der Sport die lite-
rarische "Aufwertung" nicht braucht, denn er biete selbständig "elementare exis-
tentielle Momente". Juan Villoro (2006b: 21-22) zeigt sich nicht weiter über-
rascht über das Fehlen eines grossen Fussballwerks, denn der Königsport ent-
wickle seine eigene Epik, habe Parallelplots nicht nötig und lasse dem Schrift-
steller wenig Raum zur Entfaltung seiner Erfindungsgabe.
Die Fussball-Literatur floriert zwar, hingegen hat ein gutes Jahrhundert nicht
ausgereicht, nicht einmal im hispanischen Kulturraum, um die erst zaghafte,
mittlerweile entschiedene, unverkrampfte Kontaktaufnahme der Schriftsteller
mit dem Fussball mit einem belletristischen Wurf, einem vitalen, spielerischen
und zugleich komplexen, einem literarisch packenden, gar experimentellen Ro-
man, einem Geniestreich zu küren.13
Ein paar wenige Literaten entziehen sich dem Fussball ganz, haben ihm nie
etwas abgewinnen können, verachten ihn gar: Jorge Luis Borges und Guillermo
Cabrera Infante oder Anthony Burgess. Borges schrieb wohl nur dank seinem
Freund Adolfo Bioy Casares, der selber sogar als Mittelstürmer im Einsatz war,
eine Fussballerzählung, eine der Chroniken von Bustos Domecq mit dem Titel
"Esse est percipi", der auf des Philosophen George Berkley berühmtes Zitat über
Sein und Wahrnehmung anspielt. Sein und Schein, das heisst die Abrechnung
mit der Korruption rund um den Fussball steht denn auch im Zentrum dieses
Textes, der gekaufte Sieg, das von Machtpositionen aus manipulierte Resultat.
Die eindeutig kritische Distanznahme zeigt sich am deutlichsten in den Berei-
chen der politisch-ideologischen und kommerziellen Instrumentalisierung.14

12
Über diesen Sport "kann man nicht schreiben. Fussball ist selbst Literatur.", behauptet auch
Dirk Schümer, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Schümer 1998: 242).
13
Allenfalls eine Handvoll Schriftsteller nahm sich im 20. Jahrhundert des sportlichen Stoffes
an: Quiroga, Benedetti, Ribeyro; in Spanien Alberti, Cela und Delibes; in Brasilien Viníci-
us de Moraes (mit seinem Gedicht über Garrincha, "O anjo das pernas tortas", in: García
Candau 1996: 326); des weiteren Carlos Drummond de Andrade, Graciliano Ramos, João
Cabral de Melo Neto, Oswald de Andrade, José Lins do Rego, Nelson Rodrigues, und heu-
te João Ubaldo Ribeiro. Vor allem vier Nationen schrieben Fussball-Geschichte(n): Uru-
guay, Argentinien, Brasilien und Mexiko.
Weitere einschlägige Fussball-Autoren aus dem hispanischen Kulturraum: Osvaldo Soriano,
Javier Marías, Manuel Vázquez Montalbán, Eduardo Galeano, Alfredo Bryce Echenique
oder Augusto Roa Bastos. Im anglophonen Bereich spielte Nick Hornby mit seiner Fan-
Geschichte eine Pionier- und Schlüsselrolle, während es in der Hispania der argentinische
Fussballer und Trainer von Real Madrid, Jorge Valdano war, der schriftstellerische Ambi-
tionen zeigte und in einer zweibändigen Anthologie, Cuentos de fútbol (1995/98) 47 Er-
zählungen aus Spanien und Hispanoamerika zusammentragen liess; Roberto Fontanarrosas
Anthologie Cuentos de fútbol argentino (2003) hat 18 Kurzgeschichten vereinigt.
14
Bedrohlich bleibt die Vereinnahmung mit übertriebenem Nationalismus, Xenophobie und
teils widersprüchlichem Rassismus, mit der blinden Gewalt der Hooligans, dem Rechtsex-
tremismus.
46
Hier gehören zu den einschlägigen Themen die Bestechung von Spielern und
Schiedsrichtern, die Karrieristen (in Mario Vargas Llosas klassischer Erzählung
"Los cachorros" benützt Pichulita Cuéllar den Fussball, um sich in die Elite von
Miraflores zu hieven) oder die Homophobie auf dem Fussballplatz, das heisst
die starke Tabuisierung der Homosexualität in den Männerbünden auf dem
Feld.15 Wie sonst wäre es möglich, dass sich bis heute kein einziger der berühm-
ten Spieler auf der ganzen Welt zu seiner Homosexualität bekannt hat, obwohl
in der westlichen Gesellschaft die Gays längst von der Subkultur in den
Mainstream übergetreten sind? Der Uruguayer Wilson Oliver stand erst mit 38
Jahren, am Karriereende, zu seiner gleichgeschlechtlichen Veranlagung; ein
englischer Spieler, Justin Fashanu, hat drei Jahre nach seinem Outing Selbst-
mord begangen.
Einer, der seit Jahren anschreibt gegen die Homophobie auf dem Fussball-
platz, ist Eduardo Mendicutti. Er schuf bereits 1988 den rein fiktionalen Trans-
vestiten La Susi für seine berühmten, engagierten, fussballkritischen und -
verherrlichenden Kolumnen mit Kultstatus in der spanischen Tageszeitung El
Mundo. La Susi hat in Spanien schon längst Kultstatus erlang und hält sich ger-
ne in der Nähe von Fussballergarderoben auf, natürlich am allerliebsten derjeni-
gen ihres Heimclubs, Real Madrid. Doch wie arrangiert sie sich mit den Stars im
Estadio Bernabeu? Indem sie sie unter ihre Fittiche nimmt und ihnen beibringt,
ihre weibliche Seite besser sichtbar zu machen, mit einem androgynisierenden,
metrosexuellen Beckham-Effekt.
Generell erhält der Fussballsport von den Literaten aber deutlich mehr Lob als
Tadel. Wir haben uns im belletristischen Fundus vorderhand mit Kurzgeschich-
ten zu begnügen und möchten diese nun auf ihre Verklärungsmechanismen un-
tersuchen, auf die Verwandlung, das messianische Erstrahlen der Fussballspieler
im Heiligenschein, auch tragisch gescheiterter Helden, ihre Aura, Anziehungs-
kraft, ihr Charisma, die Euphorie auslösen, ein fussballverrücktes Sichmitreis-
senlassen, Schwelgen.
Dabei gilt es zu bedenken, dass auch Vieles was uns in den Bann zieht, (zum
Teil karnavaleske) Pose ist: Das 'Flagge zeigen' an der diesjährigen WM etwa
hat mehr mit indviduellem, massenkommunikativem Lifestyle, als mit verklä-
rendem Patriotismus zu tun.
Welche Impulse und Effekte mystischer Überhöhung interessieren die Fuss-
ball-Belletristik? Ihre auf eine Handvoll Stoffe und Motive beschränkte The-

Und trotz Internationalisierung, Globalisierung im Welt-Clubfussball, halten sich regionale


und nationale Zugehörigkeiten und Stereotypen standhaft, die Clubtreue ist dauerhaft.
Javier Marías verteidigt seinen Club Real Madrid vor Vorwürfen des Franquismus und der
Rechtslastigkeit. César Luis Menotti theoretisierte sportpolitisch über den 'linken Fussball'
(Jan Dunkhorst: 86-94).
15
Nur vereinzelt wird gegen die Perpetuierung des Tabus angespielt, nämlich in rein homose-
xuellen Fussballmannschaften, wie sie etwa in der spanischen oder mexikanischen (aller-
dings nicht obersten) Liga erfolgreich im Einsatz sind.
47
menpalette zielt immer wieder auf besagte Wirkung: der sentimentale Blick zu-
rück in die Kindheit, die Penalty-Situation, der Karriere-Ein- oder Abbruch und,
wenn auch mittlerweile etwas ausgereizt, die Fan-Geschichten.
Der Einstieg in einen Fussballtext erfolgt meist über retrospektive, nostalgi-
sche Formeln sportlicher Schwellenerlebnisse und Initiationsriten aus Kindheit
und Adoleszenz: "En mi ya remota adolescencia […]" (Vázquez-Rial 2005: 4
und Krogerus 2006: 5). Jeden Sonntag wird man in die Jugend zurückversetzt
und gewinnt eine Portion der kindlichen Begeisterung zurück. Die verklärende
Distanz äussert sich etwa darin, dass Hans Ulrich Gumbrecht (2005: 14) von
sich in der dritten Person spricht: "der Drittklässler war fasziniert". In der Fuss-
ball-Belletristik treten Kinder-Protagonisten entsprechend häufig auf.
Auch der Topos des verhinderten Fussballers taucht immer wieder auf unter
den Literaten. Julio Llamazares' Knieverletzung mit neunzehn oder Eduardo Ga-
leanos fehlendes Talent liessen sie zu Zuschauern von gutem Sport werden.
Auch Eduardo Chillida wurde erst Bildhauer, nachdem er als hoch kotierter
Fussballer den Sport verletzungsbedingt aufgeben musste (Pérez 2006: 210). 16
Fast alle heute schreibenden Autoren rufen sich das eigene Spiel mit beschei-
denster Infrastruktur und Materialmängeln ins sentimentale Gedächtnis: man
hörte angespannt Radio, man spielte auf zu trockenem oder zu schlammigem
Grund und mit einem Stoffball anstelle eines Lederballs, oder gar mit lebenden
Kröten (sapos), deren Sprungkraft mit eingeplant werden konnte, bis sie, unge-
fähr alle zehn Minuten, ersetzt werden mussten; zu (unappetitlichen) Kopfbällen
kam es eher selten. Diese Kinderfussball-Erinnerung ist nachzulesen in der ar-
gentinischen Kurzgeschichte "Tía Lila" von Daniel Moyano (1998: 239-245),
dem Autor der in seinen Texten die Gewalt der Städter im Landesinnern, in der
idyllischen Provinz anzuklagen pflegte, hier in der Ausformung kindlicher Bru-
talität. Die kleinen Fussballer kultivieren die Tierquälerei exzessiv, indem sie
beispielsweise mit der Steinschleuder Distelfinken jagen und ihnen die Augen
ausstechen. Auffällig, wie auch im folgenden Text die kindlich naive, un-
schuldige Sprache, mit der die Grausamkeit in Schockbildern kontrastreich dar-
gestellt wird. Gewalt und Idylle schaffen bekanntlich auch Ambivalenz im Er-
wachsenen-Fussball.
Ein kleiner, geistig etwas behinderter Maradona-Fan tritt in Juan Pablo Fein-
manns Kurzgeschichte "Dieguito" auf. Es ist die Real-Groteske des 'Melodramas
Maradona', die den argentinischen Schriftsteller zu einer auf makabrem Sprach-

16
Nur wenige Autoren haben nach ihrer Jugend selber aktiv gespielt, weshalb auch immer
wieder die gleichen beiden Torhüter für die sportlich-schriftstellerische Verknüpfung her-
halten müssen: Albert Camus und Vladimir Nabokov. Der junge Pasolini oder Osvaldo So-
riano kickten ebenfalls passioniert, auch Péter Esterházy: "Ich war zuerst Fussballer und
erst danach Schriftsteller." (Pethes 2006: 74). Esterházys Bruder war gar ungarischer Nati-
onalspieler. Miguel Delibes blickt in einem Kapitel seiner Memoiren La vida al aire libre
(1989) auf eine 'lange Fussballerkarriere' als Torwart zurück (Pérez 2006: 71).

48
witz aufbauenden Fiktion inspiriert. Darin stösst Dieguito zufällig auf sein im
Auto verunfalltes, schwer verletztes Idol, zerrt es in seine Spielkammer unter
dem Dach und versucht obsessiv das zu tun, was ihm der zweite Vorname des
Verletzen gebietet: Maradona wieder zusammenzusetzen (spanisch armar im
Gerundium) "Diego armando Maradona" (Feinmann 1997: 59-64) ihm, dem
inzwischen wohl toten, geopferten Fussballstar unter anderem die 'Hand Gottes'
wieder anzunähen. Dieser buñueleske image choque der kindlichen Leichen-
fledderei wird mit dem unerträglichen Geruch verspritzten Blutes gnadenlos
dargestellt.
Neben Feinmanns schrecklicher Humoreske um subversive Kinder, die sich
mit naiver Brutalität ihren autoritären Erziehungspersonen widersetzen (Fein-
mann 1997) nimmt sich der Jugendkrimi seines argentinischen Kollegen Sergio
Olguín geradezu erholsam aus. Ein Vierzehnjähriger muss für den Vater seiner
Freundin ein Kultobjekt, den wertvollen, von einer gefährlichen Bande gestoh-
lenen ersten Fussball Maradonas zurückerobern, den der Star dem gelähmten
Freund damals geschenkt hatte.
In beiden Kurzgeschichten spielt Maradona nur eine Nebenrolle. Er bot in
seinem Fussballerleben wohl ein Zuviel an Spektakel und Kult. Romane braucht
es dazu keine. Und doch kommen die hispanoamerikanischen Schriftsteller (un-
ter anderen, Galeano, Soriano, Benedetti, Villoro und Vargas Llosa) essayistisch
nicht an ihm vorbei, können von seinem weltweit unerreichten Verklärungsfak-
tor und seinem grotesken Karriere-Nachspiel nicht lassen. Der schwierige Um-
gang mit Erfolg, der tiefe Fall, das nervöse Knäuel aus Narzissmus, Exhibitio-
nismus, kindlicher Naivität, massloser Impulsivität, rebellischer Emphase und
neureicher Protzerei, aber auch Maradonas (metonymisch übertragenes) göttli-
ches linkes Füsschen und rechtes Händchen scheinen besonders stimulierend zu
wirken.
Vargas Llosa will vor lauter Anbetung des Idols Maradona Fussballsterne
seien vergänglich, verglühen schnell dessen Virtuosität, Agilität, Schnellig-
keit, Kraft und Einfallsreichtum nicht vergessen, die man bewundern könne
"wie reine Poesie oder abstrakte Kunst" (Pérez 2006: 181-183).

Die Völker brauchen Helden der Gegenwart, Wesen, die sie vergöttern können. Es gibt
kein, Land, das diese Regel nicht befolgen würde. [...] die ganze Gesellschaft verspürt diesen
irrationalen Drang, Idole aus Fleisch und Blut zu inthronisieren und beweihräuchern.

Die hymnische Verklärung Maradonas, die Mythologisierung aber auch seine


persönlichen Ausrutscher haben etwas Künstlich-Hybrides zu offensichtlich
auch das Motiv des gescheiterten Helden, um die Überführung in die fiktive
Dimension zu goutieren.
Die inbrünstige Idolatrie, der hagiographische Kult um einen Fussballer war
im Falle Maradonas massiv. Vereinzelt wurde er, wie in Neapel, gar zum Messi-

49
as und Märtyrer hochstilisiert, wobei er bisher überlebt hat, im Gegensatz zu
Horacio Quirogas Juan Poltí.
In der Belletristik taucht die extreme Aufopferung der Spieler (neben derjeni-
gen der Fans) immer wieder einmal auf. Die erste Fussballerzählung der hispa-
nischen Welt überhaupt (1918) lässt in Anlehnung an eine wahre Begebenheit
den schnellen Ruhm eines Spielers und die totale Identifikation mit seinem
Club tödlich enden, mit einem märtyrerhaften Selbstmord. Zuerst wirkt der Er-
folg "wie starker Alkohol", verleiht Juan Poltí einen "Heiligenschein"; dann ge-
rät er in den Strudel, das Delirium der pathetischen Erschiessung mitten auf dem
Fussballfeld seines Vereins, nachdem seine Erfolgskurve nach unten gezeigt hat-
te: "Die Leiche einer vom Ruhm niedergeschmetterten Kreatur" (Quiroga 1996:
1066-1067).
Ein weiteres Opfer, wohl dem genialen Garrincha nachempfunden, kreiert
Augusto Roa Bastos in seiner Erzählung "El crack" (Roa Bastos 1995: 291). Der
kränkliche, kleinwüchsige und krummbeinige Fussballer mit magnetischem
Blick, grosser Spielintelligenz und Poesie opfert sein Leben dem Fussball; er
stirbt, nachdem sein Kopf an einen Torpfosten knallt, genauso wie der tragische
Torhüter Lolo aus Orihuela in Miguel Hernández' "Elegía al guardameta"
(1931).
Der Crack wird als "Phänomen" idealisiert, hochstilisiert: er "war kein reiner
Mathematiker, aber verfügte über den Instinkt sehr exakter Schnelligkeit, Win-
kelberechnung und Präzision, die sein Körper memorisierte und seine Bewegun-
gen bestimmten" (Roa Bastos 1995: 297)
Mit vielen Vergleichen trägt der Erzähler auf der Diskursebene zur Verklä-
rung des tragisch endenden Helden bei. Der Crack verteilte das Spiel wie ein
Modeschöpfer der Haute Couture (Roa Bastos 1995: 303). Einmal ist der Ball
das Ei, das er ins Nest legt, dann wieder die Pflanze, die er im gegnerischen Gar-
ten anpflanzt und schliesslich das Kleinkind, das er in die weisse Wiege des Pe-
naltypunktes legt.
Mit der wichtigen rhetorischen Figur der Personifizierung und damit magi-
schen Aufladung des Kultobjekts übernimmt der Ball in der (streckenweise me-
taphysischen) Symbiose mit dem Spieler einen aktiven Part. Eduardo Galeano
(1995: 21-22) lässt in seinen Fussball-Chroniken den Ball in der Luft lachen
(stolz, gar eingebildet), ihn den Fuss suchen, sich auf dem Rist wie in der Hän-
gematte ausruhen, während ihn der Spieler seinerseits einschläfert, ihm den Hof
macht, ihn zum Tanzen bringt. In diesem Liebesspiel muss natürlich das Tor der
Orgasmus sein (Galeano 1995: 5-6 und 9). Und Jorge Amado weiss in seiner
Kurzgeschichte "Der Ball und der Torwart" von einem (auf Brasilanisch weibli-
chen) "brillanten, leichten und kecken" Fussball, der oder die sich derart in einen
schlechten Torwart mit Übernamen "Sieb" verliebt, dass dieser fortan jeden
Schuss hält, weil ihm der vor Liebe blinde Ball immer unweigerlich in die Arme
fällt (Pérez 2006: 150-154).

50
Die Affinitäten zwischen Ritual, Performance, Spiel und Theater sind offen-
sichtlich. In ihrer metaphorischen oder metonymischen Zeichenhaftigkeit17 sind
alle drei narrativen Bereiche ähnlich kodiert und dekodierbar, auf Körperlichkeit
und Bewegungsparameter zentriert und etwa über Huizingas Spieltheorie (aus
den 30er-Jahren) miteinander verwandt. Der Homo ludens kompensiert die
Entritualisierung unseres Lebens. Die Bretter und der Rasen, die die Welt be-
deuten, bieten beide Raum für Sublimierung und Ersatz, ein zyklisches Übungs-
feld für existentielle Konflikte und Angstzustände (und deren Abbau und Zer-
streuung). Grenzsituationen menschlicher Existenz werden in 90 Minuten sub-
limiert metaphernreich direkt auf den Rasen übertragen im Welterklärungsmo-
dell Fussball.
Magisches Analogiedenken bestimmte bereits die vorkolumbischen Ballspiele
in Mesoamerika, die ein Fruchtbarkeitsritual inszenierten: die virtuelle Befruch-
tung der Erde durch die vom Ball symbolisierte Sonne.
Almudena Grandes' Fan-Geschichte "Demostración de la existencia de Dios"
stellt den theodizeehaften Zusammenhang zwischen der Existenz Gottes, dem
tragischen Schicksal eines Jungen und einem Fussballderby zwischen ihrem
Club Atlético und Real Madrid her (Grandes 2005: 11-37). Ein Fünfzehnjähri-
ger, dessen Bruder und überzeugter Atleti-Fan an Leukämie verstorben ist, führt
angesichts des desaströsen Spielverlaufs gegen den Stadtrivalen Real Madrid
ein zweifelndes und verzweifeltes Zwiegespräch mit Gott. Und ähnlich wird in
der Kurzgeschichte "Evasión" von Julieta Pinto (1982: 60-63) aus Costa Rica
ein Junge in eine Klinik eingeliefert, nachdem er die alkoholisierte, blinde Ge-
walttätigkeit seines Vaters ertragen musste und sich dabei jeweils aus seiner de-
solaten Wirklichkeit der brutalen Schläge flüchtete, indem er sich Erfolge als
Torhüter beim Fussballspiel mit Freunden herbeifantasierte.
Rituelle Handlungen der Fans im individuell privaten Raum wie im kol-
lektiv öffentlichen Stadion laden die Spiele mit zusätzlicher Ausstrahlung und
"atmosphärischer Dichte" (Gumbrecht 2005: 51) auf. Der brasilianische Schrift-
steller João Ubaldo Ribeiro (2006: 18-19) erzählt die Anekdote über Rituale im
familiären Umfeld, die ganz privat praktiziert werden und mittels derer die eige-
ne Mannschaft von zu Hause aus unterstützt werden soll:

Mein Vater beispielsweise trug damals, als wir Weltmeisterschaften noch am


Radio verfolgten, bei jedem Spiel dieselbe Kleidung, trank immer denselben
Whisky, die Flasche und der Eimer mussten stets exakt an derselben Stelle ste-
hen. Wenn die Nationalhymne ertönte, stand er stramm, und jedes Mal, wenn
unsere Mannschaft in die Offensive ging, zwang er mich, die Toilettenspülung
zu betätigen. Denn einmal, 1958, hatte Brasilien im ersten Spiel gegen Öster-
reich ein Tor geschossen, als ich gerade zufällig auf der Toilette gespült hatte.

17
Sport konstituiert ein 'Feld' (via Bourdieu), ein 'Subsystem' (via Luhmann), ein 'Kulturseg-
ment" (via Lotmann), eine 'symbolische Form' (via Cassirer)." (Hietzge 1997: 345)
51
Seitdem war er der Meinung, wir hätten damit entscheidend zum Sieg beigetra-
gen nicht nur 1958, sondern auch 1962.

Daneben praktiziert man den kollektiven, weltlichen Fussball-Kult in den


Stadien; in Trance versetzende Gesänge und Hymnen werden angestimmt. Auf
dem Spielfeld geizen auch die Spieler nicht mit magischen Handlungen: sie be-
kreuzigen sich oder fallen in Demut auf die Knie. Juan Villoro (2002) spottet
über das "unappetitliche Mantra" des Spuckens und vergleicht es mit dem be-
schwörenden Liebkosen der Saiten des Tennisschlägers. Ein (manchmal archa-
isch anmutender) sakraler Charakter ist ebenfalls in den zahllosen Formen rituel-
ler Jubeltechniken nachweisbar. Im Mainzer Dom gleich neben dem Tagungsort
fand übrigens zur selben Zeit (jeden Samstag während der ganzen WM) unter
dem Titel Dom am Ball eine musikalisch umrahmte Gebetsstunde statt.

Nach der Konzentration auf literarische Stoffe und Motive möchte ich im
letzten Teil dieses Aufsatzes vermehrt auf die Transfiguration auf Diskursebene
zu sprechen kommen, besonders auf narratologische Kriterien, wie Erzählper-
spektive und Zeit- und Raumgestaltung.
Selten geben sich Erzähler in der Fussball-Literatur allwissend. Die Ich-
Perspektive, mit interner Fokalisierung dominiert das Feld vor omniszienten Er-
zählern wenn, vor allem bei Fan-Geschichten, das Kollektiv in den Vorder-
grund rückt, kann es auch einmal die 1. Person Plural sein (Grandes 2003: 143-
151). Die Allwissenheit wäre bei der notorischen Unberechenbarkeit eines
Spielausgangs fast schon a priori deplaziert.
Aus der bereits erwähnten Elfmeter-Situation wird ersichtlich, dass die
Schriftsteller einen chronopoetischen Schwerpunkt setzen, während die Kon-
struktion des Raums etwas zu kurz kommt.
Rhythmuseffekte und -schwankungen ergeben sich zwischen erzählter Ge-
schichte und Geschehen auf dem Rasen. Der in einem Fussballmatch zentrale
Faktor Zeit inspiriert die Literaten zu einer parallelen Zeitgestaltung, eingesetzt
als Spannungserzeuger. Wird ein Spiel geschildert, so schaltet sich der Erzähler
selten vor den letzten Spielminuten ins Geschehen ein. Der Hektik der einen
entsprechen die Zeit schindenden Verlangsamungsstrategien der anderen Mann-
schaft: mit der erzählten Zeit konvergieren die Zeitlupe bzw. der Zeitraffer der
Erzählzeit. Die subjektive Wahrnehmung von Zeit wird heute wohl zusätzlich
durch die Mediatisierung bzw. Digitalisierung des Fussballs (multi-angle-slow
motion der Kameras) und die einhergehende Temposteigerung des Spiels beein-
flusst.
Die Zeitgestaltung ist in der Elfmeter-Situation offenkundig.
Wir kennen zwar den spannungsgeladenen Moment und sehen die Gesichts-
mimik des Elfmeter-Schützen, aber der Schriftsteller liest dessen Gedanken und
schreibt sie auf. Die Penalty-Situation schildert dramatische Sekundenbruchteile

52
der Echtzeit retardiert und als Loop, zum Beispiel in mentalen Abläufen eines
Schützen18, während er sich den Ball zurechtlegt und schiesst.19
In Julio Llamazares' Kurzgeschichte "Tanta pasión para nada" (Llamazares
1995: 217-228) öffnet sich die Schere zwischen erzählter und Erzählzeit beson-
ders weit. Das Mittel der Digression in erlebter Rede über Gedanken zur Bio-
graphie des Fussballers Miroslav Djukic, der bei Deportivo La Coruña spielte,
werden sehr offensichtlich zur Spannungssteigerung eingesetzt und verlangsa-
men die Erzählung über diese kurzen, retardierenden Momente höchster An-
spannung und Einsamkeit des auf sich selbst zurückgeworfenen Protagonisten.
Die Handlung setzt in dem Moment ein, als der Spieler den Ball aufhebt, um ihn
auf den Punkt zu legen, von wo aus er seinen Lebenspenalty zu schiessen hat,
und endet mit seinem Scheitern, mit dem so genannten "desastre del '94", das
den ersten Ligapokal von Depor verhinderte. Also vielleicht eine Minute
selbstverständlich die allerletzte Spielminute auf zwölf Seiten, und zugleich
eine Minute, die die Erinnerungen an ein ganzes Fussballerleben verdichtet.20
Während Llamazares sich über Djukics reale Lebensdaten kundig gemacht
und sie spannungsgeladen und komprimiert fiktionalisiert hat, erfand Javier Ma-
rías (1995: 231-244) das ruhmlose Ende seines ungarischen Fussballspielers in
"En el tiempo indeciso". Der Titel spielt mit der Spannung, die ein Stürmer her-
vorruft, der alleine vor dem Tor steht und den Ball nicht gleich reinhaut, sondern
ihn, Zentimeter vor der Torlinie, einen Moment zurückhält, wodurch eine Art
Schwebezustand, ein zeitlicher Stillstand entsteht, eine beklemmende Stille im
Stadion mit allen Reportern, die ihren Schrei vorübergehend ersticken müssen.
Marías beschreibt dieses kapriziöse Innehalten, diese tausendfache Aposiopese
eines Massenpublikums kunstvoll auf zwei Seiten.
Der fussballfanatische Osvaldo Soriano plaziert in seiner bekannten Kurzge-
schichte "El penal más largo del mundo", die 2005 in Spanien verfilmt wurde,
einen zeitlich rekordverdächtig in die Länge gezogenen Elfmeter in einer unte-
ren argentinischen Liga. Bis er tatsächlich ausgeführt werden kann, vergeht eine
ganze Woche, verzögert durch eine Schlägerei auf dem Platz, die Verbannung
der Zuschauer aus dem Stadion und einen epileptischen Anfall des Schiedsrich-
ters. Schliesslich wird der Strafstoss vom Torhüter im menschenleeren Stadion
heldenhaft gehalten. Die erzählte Zeit des Elfmeters überrundet hier die Erzähl-
zeit bei weitem, im Gegensatz zur erlebten Rede über die Innenwelt des Schüt-
zen in Llamazares' Geschichte.

18
Peter Handkes 'Angst des Torwarts vor dem Elfmeter' zeugt nicht von besonderem Sach-
verständnis, denn der Torwart kann in dieser Situation eigentlich nur gewinnen. Tatsäch-
lich unter Angst leidet vielmehr der Schütze (Vgl. Dirk Schümer 1998: 229).
19
Die Situation ist durchaus vergleichbar mit dem Topos des Lebensfilms, der vor den Augen
eines Sterbenden abläuft.
20
Der wohl berühmteste Fall des ruhmlosen Endes einer Fussballerlegende ist Garrincha (in
Kontrast zu Pelé.)
53
Soriano nahm wohl Bezug auf reale Präzedenzfälle einer kuriosen Folge der
politischen, ideologischen Vereinnahmung des Sports, wie beispielsweise an der
WM '78 im Argentinien der Militärdiktatur, oder 1973 anlässlich des legendären
Geisterspiels in Chile, als sich die damalige Sowjetunion weigerte, in dem Sta-
dion zu spielen, das von den Militärs als Konzentrationslager missbraucht wor-
den war, worauf die chilenische Elf im Trikot von der Mittellinie in die gegneri-
sche Hälfte laufen und ein Tor schiessen musste, um sich für die letzte WM in
Deutschland zu qualifizieren.

In den hispanischen Fussballtexten wurde bisher das Potential der Territoriali-


sierung, so eminent wichtig sie im Sport wäre, erstaunlich wenig ausgeschöpft.
Der augenfällige Mangel an Raumgestaltung könnte etwa in Anlehnung an
Klaus Theweleits Digitalisierungsthese vorzüglich kompensiert werden. Der
symbolische Raum des Fussballfelds, die 'Tiefe des Raums', die Territorialität
des Spiels werden durch digitale Codes beeinflusst (Theweleit 2004: 143). Kör-
per, Nervensystem und Gehirn und damit Zeit- und Raumwahrnehmung auf dem
Feld verändern sich durch das computersimulierte, digital abgebildete Fussball-
spiel an der Konsole, mit dem auch die Spieler von heute gross geworden sind.
Die relationale Netzstruktur des Kombinationsspiels hat sich beschleunigt, "digi-
talisiert": schnelle Ballstafetten, Gedankenarbeit, Abläufe, genaue Pässe sind
vom Bildschirm zuhause sattsam bekannt und im Gehirn abgespeichert.
Theweleits Studie Das Tor zur Welt über digitale Muster auf dem Fussball-
feld, kann auch direkt mit Baudrillards Simulationstheorie rückgekoppelt wer-
den: der 'écran total' bestimmt unsere Wahrnehmung – für Spieler wie für Zu-
schauer. Dieser streckenweise genialen räumlichen Übersicht und Gestaltung
Vázquez Montalbán (2005: 171) nannte sie die "geopolitische Intelligenz" , mit
der die Spieler das Territorium besetzen, ihre Netze verdichtend über den Rasen
spannen, könnte als Inspirationsquelle eines Fussballtextes dienen, eines Ro-
mans mit intensiviertem Zeit- und Raumgefühl.
In solchen topologischen Netzkonturen eröffnen die Passkombinationen und
Spielkonstellationen den Übergang, die Passage ins Unendliche. Die heftige
Grenzziehung der weissen Linien auf dem Feld aktiviert transgressive Mecha-
nismen und unterstreicht die Spiritualität des Spiels im Schwellenerlebnis der
Transfiguration.

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54
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55
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56
Roland Spiller

„Cuando lees ganas siempre“ oder


gelungene Fehlpässe:

Literatur und Fußball in Lateinamerika.


„Fußballer“, Jean-Paul Sartre, auf die Fra-
ge, was er statt Philosoph gern gewor-
den wäre.

El fútbol es un sistema de signos, por lo


tanto es un lenguaje. Hay momentos
que son puramente poéticos: se trata de
los momentos de gol. Cada gol es
siempre una invención, es siempre una
subversión del código: es una
ineluctabilidad, fulguración, estupor,
irreversibilidad. Igual que la palabra
poética. El goleador de un campeonato
es siempre el mejor poeta del año.
Pier Paolo Pasolini

Einleitung
Die Beziehung zwischen Fußball und Literatur in Lateinamerika wurde lange
Zeit als mesalliance definiert, ein unschickliches Verhältnis zwischen dem Er-
habenen der Literatur und dem Niedrigen eines Sports, der es erlaubt Kampfin-
stinkte auszuleben und damit als gesellschaftlicher Anpassungsmechanismus
fungiert: Fußball als Verlängerung des Krieges mit anderen Mitteln und als Re-
ligionsersatz. Literatur mit Fußball zu verbinden, galt lange Zeit als Fehlpass.
Betrachtet man jedoch die weitreichenden Veränderungen im Verhältnis von
Populär- und Hochkultur in Lateinamerika im 20. Jahrhundert, ist diese Ein-
57
schätzung zu hinterfragen. Viele innovative Impulse und maßgebliche kulturelle
Entwicklungen gingen mit der Einbeziehung der in den Massenmedien verbrei-
teten Volkskultur einher. Das bahnbrechende Beispiel des argentinischen Autors
Manuel Puig zeigt, dass es dabei um eine Integration aller Register und Medien
und deren Auswirkungen auf die Imagination und die innere Entwicklung der
Menschen geht. Angesichts dieses weit reichenden, medial bedingten Umbruchs
ist das unschickliche Verhältnis von Fußball und Literatur neu zu definieren.
Die Übertragung des Fehlpasses von der Übergabe und Annahme des Balles
auf das Verhältnis von Fußball und Kunst ist eine kühne metaphorische Trans-
aktion. Um die Kriterien der Übertragbarkeit zu klären, ist zunächst die Funkti-
onen von Fehlpässen bestimmen. Wie wäre ein Spiel ohne Fehlpässe? Wer ge-
wänne eine solche Begegnung? Wäre sie überhaupt noch spannend? Diese Fra-
gen zeigen eine Bedeutung des Fehlpasses: Der Fehler der anderen kommt der
eigenen Mannschaft zugute; seine Extremform ist das Eigentor. Insofern erfüllt
der Fehlpass eine spielentscheidende Funktion, ohne die das Spiel seinen Reiz
verlöre. Abspielfehler, misslungene Ballannahmen und Eigentore tragen - eben-
so wie das Foul – zur Faszination des Spiels bei. Warum scheitert der Ballvirtu-
ose, dem in unglaublich schwierigen Situationen die kühnsten Tricks gelingen,
bisweilen an der einfachsten Ballabgabe? Die Liste der Gründe dafür - Konzent-
rationsschwäche, Nervosität, überhöhte Erwartungen, Anspannung, usw. - ließe
sich endlos fortsetzen, entscheidend ist, dass es sich um innere Gründe handelt.
Der Fehlpass ist Ausdruck des Spiels gegen diese und alle möglichen anderen
inneren Gegner, die das Gelingen einer technisch in der Regel anspruchslosen
Ballabgabe verhindern. (vgl. Gallwey 1990)
Ein Fehlpass bestimmt, wie die Peripetie in der klassischen Tragödie, den
Ausgang des Spiels. Die Akteure betreten auf dem Rasen die Sphäre der Schuld.
Ein Fehlpass ist kein Verbrechen, es sei denn Bestechung ist im Spiel, er zieht
jedoch Schuldzuweisungen nach sich. Ein Fehlpass in der Literatur ist auf den
verschiedenen Ebenen der literarischen Kommunikation denkbar, vereinfachend
kann man die textexterne und die textimmanente Welt unterscheiden:

Der textexterne Bereich umfasst die Produktion und die Rezeption; etwa das
zurückgewiesene Manuskript oder der Verriss im Feuilleton.
Der textinterne Bereich umfasst sowohl die inhaltliche Entwicklung der
Handlung als auch deren erzählerischen Vermittlungsweise; etwa die Metalepse,
als fehlerhafte Abgabe der Erzählposition an eine Instanz oder Figur der fiktio-
nalen Welt.
Darüber hinaus sind beide Bereiche aus einer umfassenderen kulturgeschicht-
lichen Perspektive zu vergleichen, die jeweils spezifische Parallelen und Unter-
schiede von Fußball und Literatur genauer bestimmt.

Bezüglich des dritten Punktes ist zu bemerken, dass sich hierbei nicht nur äs-
thetische Konzeptionen vergleichen lassen, sondern auch marktstrategische Ge-

58
sichtspunkte. Lateinamerika hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
zu einer Weltmacht entwickelt, die das globale Fußballgeschäft dominiert und
deren Literatur einen Siegeszug um den Globus angetreten ist. Fußballspieler
aus Lateinamerika wurden zum Exportgut: Zehn von elf Spielern der argentini-
schen Nationalmannschaft spielen in europäischen Vereinen. Ein Unterschied
zwischen Fußball und Literatur als Phänomene der Globalisierung besteht darin,
dass heute von einer „futbolización del mundo“ oder gar „del universo” gespro-
chen wird. Das Vordringen von Metaphern, sprachlichen Wendungen und Beg-
riffen des Fußballs in andere Bereiche des öffentlichen Lebens, vor allem der
Politik und der Zeitungssprache verdeutlicht die Wirkungsmacht von Denkbil-
dern und Sprache. Die „futbolización del mundo“ beinhaltet auch die Vorstel-
lung des Fußballs als Katalysator der Globalisierung; spräche man demgegen-
über von einer „literarización del mundo“ wäre diese ganz anders zu definieren.
Ein Grund dafür ist, dass im multinationalen Geschäft des Fußballs Lateiname-
rika die USA weit abgeschlagen hinter sich lässt. Von der Globalisierung als
„futbolización“ zu sprechen, heißt die Rollen zu tauschen: Lateinamerika als
Gewinner, die USA als Verlierer; nach dem Ausscheiden der us-amerikanischen
Mannschaft in der ersten Runde und dem Sieg der Ghanaer bei der WM 2006,
ist nicht auszuschließen, dass sich auch einige afrikanische Staaten dieser These
anschließen. Die Umkehrung der Machtverhältnisse enthält ein karnevaleskes
Element: die Aufhebung der bestehenden Ordnung als befreiendes Fest. Das
frühe Ausscheiden der USA und die Favoritenrolle lateinamerikanischer Mann-
schaften erlauben wiederum einige Rückschlüsse auf die kulturellen Kontexte
des Gewinnens und Verlierens. Das nationale Selbstverständnis der USA beruht
auf einer optimistischen und rauen Philosophie des Aufsteigens und Gewinnens.
Deren Basis ist eine Verherrlichung des Wettkampfgedankens, die mit dem
hoffnungsspendenden Motto „vom Tellerwäscher zum Millionär“ dazu beitrug,
die enormen kulturellen und sozialen Unterschiede eines Einwandererlandes
einzuebnen. Zur Apotheose des Erfolgs kommt hinzu, dass die nordamerikani-
sche Spielkultur stärker auf einer Regelgläubigkeit beruht, die eine Steigerung
der Gewalt gestattet; als Beispiel hierfür ist die Dominanz des American Foot-
ball anzuführen (Gebauer: 17f.) In Ländern, in denen dagegen der Fußball do-
miniert, „in Europa, Südamerika und Afrika,“ so Gunter Gebauer, „wird den
Regeln kein vergleichbarer hoher kultureller Wert beigemessen. Die Regeln ha-
ben hier keinen idealen Status. Sie werden nicht als feststehend, sondern als in-
terpretierbar angesehen.“ Maradonas legendäres erstes Tor gegen England bei
der WM 86 liefert ein Beispiel für das trickreiche Umgehen von Regeln, in die-
sem Fall mit der Grundregel des Fußballs, dem Handverbot. Ein mit der Hand
erzieltes Tor auf eine über allem stehende göttliche Instanz zurückzuführen, ist
eine schelmische Legitimation von Regelverstößen. Den kulturgeschichtlichen
Vergleich fortsetzend, wäre die elementare Funktion des Handverbots beim
Fußball sozialgeschichtlich mit dem Inszestverbot auf eine Stufe zu stellen. Ma-
radonas Erklärung „la mano de Dios“, die zu seinem Markenzeichen und Namen

59
wurde, beruht auf einer rhetorischen Substitutionskette: an die Stelle des Ver-
stoßes gegen die Grundregel tritt der Eingriff Gottes, eine hyperbolische Um-
kehrung ins Gegenteil, die sodann metonymisch die Person bezeichnet.
Hinsichtlich der Weltmachtposition ist einzuschränken, dass sich der Erfolg
des lateinamerikanischen Fußballs keineswegs institutionell niederschlägt. Edu-
ardo Galeano weist in El fútbol a sol y sombra darauf hin, dass die FIFA im In-
neren ein europäischer Club ist: der Anteil außereuropäischer Mannschaften
nahm wohl über die Jahre zu, doch die Vorherrschaft europäischer Mannschaf-
ten ist nach wie vor ein ungeschriebenes Gesetz. Auch im postkolonialen Zeital-
ter herrschen in der Fußballwelt koloniale Machtverhältnisse.
Der Fehlpass als Metapher ermöglicht noch weitere Interpretationen des viel-
schichtigen Verhältnisses von Fußball und Literatur; vier Bereiche lassen sich
diesbezüglich unterscheiden:

Diskurse rund um den Fußball


Schreibende Fußballer und literarischer Fußball
Fußballliteratur
Der ästhetische Spielraum zwischen Fußball und Literatur

1. Diskurse rund um den Fußball


Während Fußball und Literatur aus Lateinamerika sich mit großem Erfolg um
den Globus ausbreiteten, betrachtete man ihr Zusammenspiel lange Zeit als ge-
scheitert. Auf der einen Seite haben sich Fußballer selten als Wortkünstler oder
Leser hervorgetan, auf der anderen Seite äußerten sich Schriftsteller und Intel-
lektuelle meist kritisch über den Sport im Allgemeinen und den Fußball im Be-
sonderen.
Der argentinische Soziologe Juan José Sebreli hat mit Fútbol y masas (1981)
und La era del fútbol (1998) zwei einschlägige Titel publiziert, die eine grund-
legende Skepsis zum Ausdruck bringen:
[...] el acto de patear una pelota es ya de por sí esencialmente agresivo y crea
un sentimiento de poder, amén de que la picardía de vencer al adversario basada
en la trampa, la mentira, el disimulo, la zancadilla, tan alabada por todos los
apologistas del fútbol como una forma de inteligencia natural y espontánea, no
es sino una característica de la personalidad autoritaria.

Nicht zuletzt der Hinweis auf den autoritären Charakter legt eine Lektüre der
Kritischen Theorie nahe. In der Tat finden sich bei Theodor W. Adorno zahlrei-
che kritische Anmerkungen gegenüber dem Fußball und dem modernen Sport.
In „Das Schema der Massenkultur“ (in: Dialektik der Aufklärung) schreibt er:
Die sportlichen Vorgänge, denen das Schema der Massenkultur Züge entleiht,
und die es mit Vorliebe zum Gegenstand macht, haben alles Bedeuten von sich
60
abgeworfen. Sie sind nichts als was sie sind. So hat Sportifizierung am Zergehen
des ästhetischen Scheines teil. Sport ist der bilderlose Gegensatz zum prakti-
schen Leben, und die ästhetischen Bilder partizipieren an solcher Bilderlosig-
keit, je mehr sie selber zum Sport werden. […]
Schon der Sport ist kein Spiel, sondern ein Ritual. Unterworfene feiern die ei-
gene Unterwerfung. Sie parodieren Freiheit durch die Freiwilligkeit des Diens-
tes, den das Individuum dem eigenen Körper noch einmal abzwingt. In der Frei-
heit über diesen bestätigt es sich dadurch, daß es das Unrecht, das ihm selber
vom gesellschaftlichen Zwange widerfuhr, an den Sklaven Körper weitergibt.
Die Leidenschaft für den Sport, in der die Herren der Massenkultur die eigentli-
che Massenbasis ihrer Diktatur wittern, gründet darin. Man kann sich als Herr
aufspielen, indem man den alten Schmerz symbolisch, in zwangshafter Wieder-
holung sich selber und andern noch einmal bereitet.

Diese Worte wirken wie eine Warnung, als hätte Adorno die mediale Verein-
nahmung des Sports vorausgeahnt. Sie warnen vehement vor der Faszination des
Sports, der mit größtem Nachdruck aus der Sphäre des Ästhetischen ausge-
schlossen werden soll. Erhält der Sport den Status eines Rituals, so nur um die-
sem eine extreme, negative gesellschaftliche Funktion zuzuweisen: die der Un-
terwerfung des Sklaven unter den Herrn. In einer letzten argumentativen Pirou-
ette soll diese paradoxe Unterwerfung als verinnerlichte Unterdrückung, die sich
in zwanghafter Wiederholung manifestiert mit psychoanalytischer Begrifflich-
keit vollends demaskiert werden. In der Ästhetischen Theorie unterstreicht A-
dorno diese Abgrenzung der Kunst vom Sport:
Aber Kunst kann, als wesentlich Geistiges, gar nicht rein anschaulich sein.
Sie muß immer auch gedacht werden: sie denkt selber. Die jeglicher Erfahrung
von den Kunstwerken widersprechende Prävalenz der Anschauungslehre ist ein
Reflex auf die gesellschaftliche Verdinglichung. […]
Das Kunstwerk ist Prozeß und Augenblick in eins. Seine Objektivation, Be-
dingung ästhetischer Autonomie, ist auch Erstarrung. Je mehr die im Kunstwerk
steckende gesellschaftliche Arbeit sich vergegenständlicht, durchorganisiert
wird, desto vernehmlicher klappert es leer und sich selbst fremd.
Die Emanzipation vom Harmoniebegriff enthüllt sich als Aufstand gegen den
Schein: Konstruktion wohnt der Expression tautologisch inne, der sie polar ent-
gegen ist. Gegen den Schein wird aber nicht, wie Benjamin denken mochte, zu-
gunsten des Spiels rebelliert, obwohl der Spielcharakter etwa von Permutationen
anstelle fiktiver Entwicklungen nicht sich verkennen läßt. Insgesamt dürfte die
Krise des Scheins das Spiel in sich hineinreißen: was der Harmonie recht ist, die
der Schein stiftet, ist der Harmlosigkeit des Spiels billig. Kunst, die im Spiel ihre
Rettung vorm Schein sucht, läuft über zum Sport. (meine Hervorhebung)

In dieser Bestimmung der Kunst benutzt Adorno den Sport als negative Ab-
grenzungsfläche: Die Scheinwelt des Sports konstituiert die Grenzlinie zur wah-

61
ren Kunst, wo das ihnen gemeinsame Element des Spiels überhand gewinnt, de-
generiert Kunst zu Sport. Die Argumentation, die den Sport in die Welt des
Scheins verdammt, entzieht ihm seinen Realitätsgehalt, sie lässt bestenfalls eine
Kritik der von den Medien verbreiteten Realität dieser Scheinwelt ohne realen
Gehalt zu.
Mit dieser Einschätzung pointierte Adorno die Grundlagen einer allgemeinen
Sportkritik. Aus einer solchen Perspektive erscheint die Beziehung zwischen
Fußball und Kunst nicht nur mehr als Fehlpass, sondern als Foulspiel, das gegen
die Grundregeln der abendländischen Kultur verstößt.
Eine gemäßigtere kritische Position vertritt Norbert Elias in der Aufsatz-
sammlung: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation, (2003). Der Sozio-
loge des Zivilisationsprozesses betrachtet den Aufstieg des Sports als zuneh-
mende Bändigung des Körpers, eine Domestizierung wilder Energien, die den
westlichen Kulturkreis maßgeblich geprägt hat. Sport als Zivilisationsprodukt
verbinde Körperbeherrschung mit dem Ausleben verpönter Regungen wie offe-
ner Aggression; zudem erlaube Sport extreme Erfahrungen, die im Alltag ge-
fährlich, bedrohlich oder verboten sind. Im Hinblick auf die auch literarisch re-
levante Frage der Mimesis gestatte der Sport die „zivilisierte“ Nachahmung von
heftigen Emotionen, Erregungen und Affekten, diese bewirke eine kathartische
Wirkung, auch beim Zuschauer, der eigene Phantasien frei ausleben könne.
Sport ist für Elias ein wichtiges Regulativ von Gewalt.
Unter den sozialwissenschaftlichen und historischen Diskursen rund um den
Fußball finden sich wenige, die sich von dieser lange Zeit vorherrschenden Be-
trachtungsweise des Sports als Ausdruck gesellschaftlicher, meist höchst be-
denklicher Funktionen lossagen. Sport treiben galt ganz auf der Linie Adornos
als Züchtigung des Körpers wider seine eigene Natur, im Dienste des Funktio-
nierens im Arbeitsprozess; im Zeitalter der Massenmedien wird der Zuschauer
nahtlos in diese doppelseitige Kritik einbezogen: „Verlierer im Alltag identifi-
zieren sich gerne mit den Siegern im Stadion“ heißt es oder das Singen, Trom-
meln und Tanzen im Stadion diene dem Ablassen von Frustrationen und Ag-
gression.
Für den französischen Anthropologe Roger Caillois gehört der Sport als Spiel
zur Sphäre des Heiligen.21 Seine These von der religiösen Funktion des Sports
findet breiten Anklang. Die Gemeinsamkeit zwischen den Manifestationen des
Heiligen und dem menschlichen Spiel bestünde demnach im Abstand zum All-
tag, im Herausgehobensein aus dem Gewöhnlichen. Möglicherweise ist Papst
Benedikt XVI ein Caillois-Leser, denn vom ihm kursiert folgendes Fußballzitat:
„Fußball ist das Heraustreten aus dem versklavten Ernst des Alltags in den frei-
en Ernst dessen, was nicht sein muss und deshalb so schön ist.“ Unter den litera-
rischen Fußballfans machte sich der spanische Autor Manuel Vázquez Montal-

21
Caillois Roger, Les jeux et les hommes, Paris : Gallimard, 1958. [Die Spiele und die Men-
schen. Maske und Rausch, Frankfurt/Main u.a. 1982].
62
bán diese These mit großem Erfolg in El fútbol. Una religión sin dios, (2005),
zu eigen.
Dass man das Verhältnis von Kunst und (Fußball-)Sport inzwischen anders
beurteilt, ist auf die zunehmende Verbreitung kulturwissenschaftlicher Ansätze
zurückzuführen. Insbesondere der interdisziplinär in Sprachphilosophie, Lingu-
istik, Theaterwissenschaft, Rezeptionsästhetik, Ethnologie und Medienwissen-
schaften um sich greifende Begriff der Performanz kann sich auf das „ernsthafte
Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralischen
oder rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im Akt
des Schreibens oder auf die Konstitution von Imagination im Akt des Lesens
beziehen.“22 Kehrt man die in den Sprach- und Kulturwissenschaften vollzogene
Untersuchung körperlicher Aspekte von Sprechakten um gelangt man zur kom-
munikativen Analyse von Bewegungen. Der Aspekt des Aufführungscharakters
kann von Formeln, Zeremonien und Ritualen ohne weiteres auf den Sport über-
tragen werden. Dadurch dass Fußballspiele vor einem Publikum in einem be-
stimmten Rahmen regelmäßig wiederholt und in einem komplexen medialen
System weiter vermittelt werden, entstehen zusätzliche Kontexte, die ebenfalls
einer kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich sind. Fußball als Performanz
ist wie eine Ballettaufführung oder Eiskunstlauf durchaus ästhetisch im Hinblick
auf sein Gelingen zu bestimmen. Dies umso mehr, als sich in den letzten Jahren
die athletische Spielkultur zur Akrobatik verfeinerte (Vgl. hierzu Tilman Allers:
2006). Ein gutes Fußballspiel kann, auch wenn es verloren wird, in das kollekti-
ve Gedächtnis einer Gesellschaft eingehen oder, anders gesagt, auch ein verlore-
nes Spiel kann ein gutes Spiel sein.

2. Schreibende Fußballer und literarischer Fußball


Auch wenn man wie Adorno den Fußball nicht zur Kunst zählen mag, ist er
doch Gegenstand von Kunst. Am leichtesten sind „schreibende Fußballer“ zu
präsentieren. Welcher Fußballer ist schon als Schriftsteller in Erscheinung getre-
ten? Die Fragestellung ist signifikant, denn sie beinhaltet die Spielerperspektive
als praktische Erfahrung. Dagegen gibt es sehr viele Autoren, die sich wie Jean-
Paul Sartre, Osvaldo Soriano und Klaus Theweleit als – gescheiterte – Spieler
definieren.
Die meisten Texte gehören zur biographischen Gattung. Insbesondere die
Stars bringen ihre Memoiren in Umlauf. Über herausragende Spieler wie Mara-
dona existiert zusätzlich zur Autobiographie eine umfangreiche biographische
Literatur.23
22
Uwe Wirth, http://user.uni-frankfurt.de/~wirth/texte/WirthPerformanz.htm.
23
Maradona, Diego, Mi vida en fotos. Buenos Aires: Planeta 2001; Arcucci/ Bialo/
Maradona: El Diego. Mein Leben. München 2002.
63
Erweitert man das Kriterium und sucht nach Spielern und Trainern, die auch
als Intellektuelle agieren, öffnet sich das Spektrum. Die Argentinier Jorge Val-
dano und César Luis Menotti sind die bekanntesten Namen. Valdano kam mit
neunzehn Jahren nach Spanien. Der gefürchtete Torjäger spielte bei Deportivo
Alaves, Real Zaragoza und schließlich Real Madrid, wo er zwei Meisterschaften
und zwei UEFA-Pokale gewann. 1986 wurde er mit der argentinischen Natio-
nalmannschaft Weltmeister. Neben seiner Tätigkeit im Vorstand von Real Mad-
rid schrieb er mehrere Bücher zum Thema Sport und Fußball (Über Fußball,
München 2006; Sp. Titel?: Sueños de fútbol, Buenos Aires 1994.) und gab eine
mehrbändige Anthologie von Fußballerzählungen heraus (Cuentos de fútbol, 1-
3, Madrid 1998). Der Spieler, Trainer, Unternehmer, Journalist und Intellektuel-
le Valdano verbindet Sport und Fußball mit einer utopischen Sichtweise: Der
Sportler lebt von der Hoffnung, sein Bestes zu geben. Seine Antriebskraft ist
weniger die Erfüllung, als die Fähigkeit „weiter träumen zu können“. Damit be-
gründet er den Fußball durch die inneren Antriebskräfte, die auch einen großen
Teil der Literatur antreiben.
Der von Valdano bewunderte Menotti entwarf eine politische Fußballtheorie,
die das Spiel auf dem Rasen als Spiegelbild der globalen Entwicklung betrach-
tet:
Die Welt der Utopien ist gestorben. Wir sind in einer Nützlichkeitsgesell-
schaft, und da ist der Fußball zur Welt der großen Geschäfte verdammt. In der
Dritten Welt nimmt man den Menschen das Brot, in den Industrienationen
stiehlt man ihnen die Träume. (zit. nach Azzellini: 2006, S. 89)

Menottis Unterscheidung eines rechten und eines linken Fußballs machte Fu-
rore unter den europäischen Intellektuellen. Während der rechte Fußball auf ei-
ner „Blut, Schweiß und Tränen“-Konzeption beruhe, die letztlich die gesell-
schaftlichen Machtverhältnisse festschreibe, sei der linke Fußball ein Fest der
Lebensfreude, der Intelligenz und der Fantasie. Ohne zu zögern, vergleicht Me-
notti den Fußball mit künstlerischen Praktiken: „So gesehen erfüllt der Fußball
dieselbe Funktion wie andere Ausdrucksformen der Kunst – wie ein guter Film,
ein gutes Lied, ein gutes Gedicht, ein gutes Bild. Anders gesagt, bereitet er uns
vor auf ein besseres, ein gerechteres und menschliches Leben“. (Azzellini: 90)
Diese Nobilitierung des Fußballs zur Kunst geht im Gegensatz zu Adorno da-
von aus, dass auch Kunst ein Spiel ist und gleichzeitig mehr als das. Menottis
Unterscheidung von System und Ordnung verbindet gesellschaftliche und ästhe-
tische Gesichtspunkte, die in dieser Klarheit selten zusammengeführt wurden.
Der rigide und starre Systemfußball sei vergleichbar mit einem Orchester, des-
sen ebenso fehler- wie einfallslose Spielweise Langeweile erzeuge. Das System
fördere und kaschiere gleichzeitig die Mittelmäßigkeit, vor allem zur Festigung
der Machtposition des Trainers. Die Ordnung sei im Gegensatz dazu kreativ,
offen und dynamisch. Sie diene der Entfaltung der spielerischen Fähigkeiten des
Einzelnen und der Mannschaft. Menottis Konzeption des aus der Tiefe des Vol-

64
kes kommenden Fußballs als Fest beinhaltet die Merkmale einer Ästhetik, die
ihm die Grundlage für die Definition der Fußballkunst liefert. Deren Haupt-
merkmale - ein leidenschaftliches, riskantes, ideen-, tempo- und torreiches Spiel
mit virtuosen Kombinationen und Angriffen – stehen in klarer Opposition zum
defensiven Ballsichern im Mittelfeld, das den passiven und einfallslosen Sys-
temfußball der Rechten auszeichne.
Eine auf solchen Gegensätzen aufbauende Auffassung funktioniert nur in ei-
nem binären Weltbild, in dem sich links und rechts bipolar gegenüber stehen.
Menottis Traum vom befreiten und befreienden Fußball, der sich nicht dem
Kommerz unterordnet, ist Ausdruck einer untergegangenen Ära.
Doch auch viele ehemals Aktive huldigen der Zweckfreiheit des Spiels und
der Kraft des Imaginären. Die nicht-utilitaristische Freude am Spiel, das Spiel
um des Spieles willen, ist das bevorzugte Kriterium vieler Intellektueller. Edu-
ardo Galeano ist der bekannteste lateinamerikanische Vertreter dieser Position.
In Deutschland vertritt sie Theweleit und auch die deutsche Romanistik hat mit
Hans Ulrich Gumbrecht einen renommierten Fürsprecher gefunden.24 Diese
Auffassung stützt sich auf Spontaneität und Spielwitz, Unberechenbarkeit und
Freiheit. Bei Galeano heißt es:

Ley del mercado, ley del éxito. Hay cada vez menos espacio para la
improvisación y la espontaneidad creadora. Importa el resultado, cada vez más,
y cada vez menos el arte, y el resultado es enemigo del riesgo y la aventura. Se
juega para ganar, o para no perder, y no para gozar la alegría de dar alegría. Año
tras año, el fútbol se va enfriando; y el agua en las venas garantiza la eficacia. La
pasión de jugar por jugar, la libertad de divertirse y divertir, la diablura inútil y
genial, se van convirtiendo en temas de evocación nostalgiosa. El fútbol
sudamericano, el que más comete todavía estos pecados de leso eficiencia,
parece condenado por las reglas universales del cálculo económico. Ley del
mercado, ley del más fuerte. En la organización desigual del mundo, el fútbol
sudamericano es una industria de exportación produce para otros. Nuestra región
cumple funciones de sirvienta del mercado internacional. [En el fútbol, como en
todo lo demás, nuestros países han perdido el derecho de desarrollarse hacia
adentro. No hay más que ver los seleccionados de Argentina, Brasil y Uruguay
en este mundial del 90. Los jugadores se conocen en el avión. Solamente un
tercio juega en el propio país; los dos tercios restantes han emigrado y
pertenecen, casi todos, a los equipos europeos]. El Sur no sólo vende brazos,
sino también piernas, piernas de oro, a los grandes centros extranjeros de la
sociedad de consumo; y al fin y al cabo, los buenos jugadores son los únicos
inmigrantes que Europa acoge sin tormentos burocráticos ni fobias racistas.

24
Vgl. die Titel in der Bibliographie.
65
Galeano verknüpft seine Sichtweise des schönen Fußballs mit einer Kritik
von Kommerzialisierung und Entmenschlichung in einem neokolonialen Sys-
tem, das die Spieler zur Ware degradiert. Nichtsdestotrotz skizziert er im ersten
Abschnitt eine Ästhetik des Fußballs. Fußball ist Kunst.25 So betrachtet, wird der
Fehlpass zum Doppelpass. Als ästhetische Erfahrung ist das Spiel mit dem Ball
wie das mit den Worten Kunst. Ist aber die Freude am schönen Spielzug stark
genug, um über eine Niederlage hinwegzutrösten? Das ist die zentrale Frage ei-
ner vergleichenden fußball-literarischen Ästhetik. Das Lob des schönen und kre-
ativen Fußballs beinhaltet eine Kritik des auf das Weiterkommen im Turnier o-
der der Liga ausgerichteten Zweckfußballs. Erfordert die Ästhetik des Fußballs
eine Ethik, die den unbedingten Siegeswillen kritisieren muss? Oder ist doch nur
das gewonnene und nicht das schöne Spiel das gute Spiel? Galeanos Ideal ist die
Integration von beidem: ein schönes Spiel mit vielen Toren. Doch das ist
Traumfußball. Mit Sigmund Freud, der beim Genießen von Kunst zwischen äs-
thetischer Vorfreude und Genuss unterscheidet, wäre das Tor der zweiten Stufe
zuordnen. Der Genuss ist für Freud kathartisch, ein affektiver Vorgang, der die
Seele reinigt, kein durch stete Bildung verfeinertes Genießen des Kenners. Dem
Genuss entspräche Galeanos Auffassung vom Tor als Orgasmus des Fußballs:

El gol
El gol es el orgasmo del fútbol. Como el orgasmo, el gol es cada vez menos
frecuente en la vida moderna. Hace medio siglo, era raro que un partido
terminara sin goles: 0 a 0, dos bocas abiertas, dos bostezos. Ahora, los once
jugadores se pasan todo el partido colgados del travesaño, dedicados a evitar los
goles y sin tiempo para hacerlos. El entusiasmo que se desata cada vez que la
bala blanca sacude la red puede parecer misterio o locura, pero hay que tener en
cuenta que el milagro se da poco. El gol, aunque sea un golecito, resulta siempre
gooooooooooooooooooooooool en la garganta de los relatores de radio, un do de
pecho capaz de dejar a Caruso mudo para siempre, y la multitud delira y el
estadio se olvida de que es de cemento y se desprende de la tierra y se va al aire.

In der Literaturwissenschaft unterscheidet Roland Barthes in Freudscher Tra-


dition den plaisir du texte von der jouissance. Die Begriffe plaisir und jouissan-
ce müssen sich wie bei Roland Barthes auch in einer Fußballpoetik keineswegs
ausschließen, wie Pier Paolo Pasolinis Konzeption noch zeigen wird.26
Im Gegenzug vertraten Autoren wie der Argentinier Jorge Luis Borges eine
uneingeschränkte Abwertung des Fußballs, die jegliche ästhetische Umsetzung
von vorneherin kategorisch ausschließt. Borges abwertende Haltung stellt eine
25
Bei der Begegnung Argentinien gegen die Elfenbeinküste in der Eröffnungsrunde der WM
2006 kommentierte Reinhold Beckmann in der ARD das Spiel der Afrikaner mit den Wor-
ten: „Das ist wahre Fußballkunst“. Damit bestätigt er Galeanos Auffassung.
26
Barthes, Roland, Plaisir du texte, Paris 1973.
66
markante Position in der Geschichte der Einschätzung des Fußballs in Kunst und
Literatur in Lateinamerika dar: „[…] una cosa estúpida de ingleses... Un deporte
estéticamente feo: once jugadores contra once corriendo detrás de una pelota no
son especialmente hermosos.“ („eine englische Dummheit... Ein ästhetischer
hässlicher Sport: elf Spieler, die gegen elf Spieler hinter einen Ball rennen, sind
nicht besonders hübsch.“) Bedenkt man jedoch, dass Borges sich intensiv und
leidenschaftlich mit Phänomenen der Populärkultur wie dem Tango, den Vor-
städten und dem Detektivroman beschäftigte und diese konstitutiv in sein Werk
integrierte, erscheint diese pauschale Verurteilung mehr als fragwürdig.

3. Fußballliteratur: Definitionen, Großgattungen und genres


mineurs
„Fußballliteratur“ ist nicht allein inhaltlich zu definieren. Das Vorkommen
von Themen und Motiven aus der Welt des Fußballs ist ein Aspekt, zu dem noch
weitere hinzukommen. Besondere Beachtung verdient die Gattungszugehörig-
keit. Außerdem ist die kulturspezifische Dimension zu berücksichtigen. Es ist zu
vermuten, dass Fußballliteratur vor allem in Kulturräumen entsteht, die durch
eine sozio-historisch signifikante Spielkultur geprägt sind. In Lateinamerika fällt
in thematischer und gattungsgeschichtlicher Hinsicht zunächst die Dominanz
des Cono Surs auf, wobei der Río de la Plata-Raum am stärksten in Erscheinung
tritt. Die Entwicklung einer „Fußballliteratur“ in Brasilien verdiente gesonderte
Betrachtung.27 Die von Borges auferlegte Zensur scheint geradezu als Anreiz zu
Auseinandersetzung und Widerspruch gedient zu haben. Martín Caparrós erklärt
den zeitgeschichtlichen Zusammenhang:
[...] el anatema de Borges está relacionado con esa idea de los años setenta de
que el fútbol es el opio de los pueblos, que engaña a millones de estúpidos a los
que les pone, por delante de la lucha de clases, la lucha de cuadros.

Im Hinblick auf die Gattungen ist eine kulturübergreifende Tendenz zu erzäh-


lenden Texten festzustellen. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eröff-
net Pablo Neruda eine lyrische Phase. Er veröffentlicht 1923 das Gedicht „Los
jugadores“ (in: Crepusculario) und 12 Jahre später „Colección nocturna“, (in:
Residencia en la tierra). Ebenfalls aus dieser Zeit stammt das Gedicht „Penúlti-
mo poema del fútbol“ des Peruaners Juan Parra und des Argentiniers Bernardo
Canal Feijóo. Der Spanier Rafael Alberti schrieb in klassischer Tradition eine
dem legendären ungarischen Torhüter des FC Barcelona gewidmete „Oda a
Platko“.

27
Zur Anregung sei empfohlen die von Flávio Moreira da Costa herausgegebene Anthologie:
Anpfiff aus Brasilien. Elf auf dem Platz, Fankfurt/M.: TFM 2006.
67
Die beliebteste Gattungen ist die Erzählung. In jüngster Zeit kamen auch
Fußballromane hinzu, die verdeutlichen, dass die lateinamerikanische Literatur
sich nicht mit der Darstellung sportlicher Triumphe oder Niederlagen begnügt.
Das Fußballspielen ist als sportliche Aktivität zwar eine vitale Antriebskraft der
Protagonisten, doch diese wird meist verbunden mit einer akuten Krisensituatio-
nen und eingeordnet in einen übergeordneten Zusammenhang des Lebens, das
durchaus als Lebenskampf erscheinen kann. Die Fußballkunst findet damit mehr
als (Lebens-)Metapher denn als Motiv Eingang in die Wortkunst. Welche Texte
Bestand haben, wird sich, so auch Sergio Olguín, noch zeigen:
Es posible que se trate de una moda relativa, pero la buena literatura no
depende del tema que uno elija sino de una buena prosa, la construcción de
personajes y una trama. La literatura futbolera es un gran negocio y alimenta al
mercado pero seguramente pasará de moda.

Der weltweit meistzitierte (Fußball-)Schriftsteller ist Albert Camus. Als Fan


und Spieler ist seine Sichtweise der von Borges diametral entgegengesetzt: „der
Ball kommt nicht aus der Richtung, aus der man ihn erwartet. Das hat mir im
Leben viel geholfen... Alles, was ich über Moral und Solidarität bei Menschen
gelernt habe, verdanke ich dem Fußball“, schrieb er Anfang der 30er Jahre. Die-
se pädagogisch-philosophische Auffassung, die das Spiel mit dem Ball metapho-
risch als Schule des Lebens versteht, bezieht sich, wie Galeano anmerkt, sicher
nicht auf den Profifußball. Doch möglicherweise hatte der bei „Racing Universi-
taire Alger“ das Tor hütende, spätere Literaturnobelpreisträger dabei bereits an
fehlende Moral und mangelnde Solidarität gedacht.

3.1. Pasolinis Fußballpoetik

Der italienische Dichter und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini war ein leiden-
schaftlicher Spieler und Denker des Fußballs. Meist vehement als Linksaußen
agierend wurde er von Mit- und Gegenspielern respektvoll „Stukas“ genannt
(Hirdt: 2005, S. 16). Für Pasolini war Fußball ein Ritual, ein religiöses Schau-
spiel, das im 20. Jahrhundert an die Stelle des Theaters getreten ist. Allerdings
leitet der in der Kommunistischen Partei engagierte Verfasser der Raggazi di
vita daraus keine Unterdrückungs- oder Unterwerfungsmechanismen ab. Im Ge-
genteil, Pasolini ist der Vordenker einer Ästhetik, die den Fußball als literari-
schen Diskurs betrachtet. Am 3. Januar 1971 legte er in Il Giorno eine Rhetorik
des Spiels vor:

Fußball ist ein Symbolssystem und daher eine Sprache. Es gibt rein poetische
Momente: der Moment des Tors. Jedes Tor ist immer eine Erfindung, eine Sub-
version des Codes: unumgänglich, überwältigend, entsetzlich, nicht umkehrbar.

68
Wie das poetische Wort. Der Torjäger einer Meisterschaft ist immer der beste
Dichter des Jahres.

Pasolini unterteilte das Zeichensystem des Fußballs in die Großgattungen Pro-


sa und Lyrik, wobei das Tor als poetischer Höhepunkt in beiden Formen vorkommt.
Wie Menotti, Galeano und andere Fußballintellektuelle ist er ein Apologet des fanta-
siebetonten Kreativfußballs, der ein gelungenes Dribbling genießt wie reine Poesie.
Der Inbegriff dieses offenen, tororienterten Offensivspiels war für ihn die brasiliani-
sche Nationalelf. Spätestens nach der WM von 2006 hätte Pasolini die gelobte brasi-
lianische Fußballlyrik wohl der Phase der Dekadenz zugeordnet.
Bei dem Versuch poetischen und prosaischen Fußball rhetorisch und gattungs-
theoretisch zu unterscheiden, ist der spezifische Charakter des Fußballs in Abgren-
zung von anderen (Ball-) Sportarten, speziell Hand-, Volley- oder Basketball zu be-
denken. Im Gegensatz zu diesen torreichen Varianten verfügt Fußball über einen
abwechslungsreicheren Rhythmus und ein breiteres Spektrum des Spannungsauf-
baus und der Ausdrucksmöglichkeiten. Die ästhetische Betrachtung des Fußballs
als literarischen Diskurs beruht auf den anthropologischen Gemeinsamkeiten mit
dem Spiel und seiner rituellen Funktionen. In diesem Zusammenhang sind die
Bewegungsabläufe eines Spiels zu betrachten. Die Sprache der Bewegung ist
Gegenstand kultur- und sportwissenschaftlicher Untersuchungen (Fikus, Schür-
mann: 2004). Die Sportwissenschaftler Gerhardt und Lämmert formulieren dies
folgendermaßen: „Wer im Sport nur einen Vollzug körperlicher Bewegungen
sieht, der wird nie verstehen, worum es in Spiel und Wettkampf eigentlich geht“
(1993:1). Um nun die mit den physischen Bewegungsabläufen verbundenen und
über sie hinausgehenden Bedeutungen eines Fußballspiels zu analysieren, ist die
jeweilige Bewegungskultur einzubeziehen. Körperliche Bewegungen sind wie
sprachliche Äußerungen Teil übergeordneter Zeichensysteme. Bei der Analyse
der Einbindung in diese Systeme kann man analog zur Sprachwissenschaft zwi-
schen Sprache und Sprechen, langue und parole, System und Vollzug oder mit
Chomsky Kompetenz und Performanz unterscheiden. Die Analyse des Fußball-
spiels ist dementsprechend die eines Zeichensystems in einer bestimmten histo-
rischen, gesellschaftlichen und politischen Bewegungskultur, die kulturelle I-
dentitäten ebenso bestimmt wie andere sportliche, berufliche oder freizeitliche
Bewegungskulturen einer Gesellschaft.28

28
Diesbezüglich werden häufig anthropologische Großthesen aufgestellt, die feststellen, dass
Mensch schon immer gespielt habe und sich immer spielerisch oder wettkämpferisch be-
wegen und messen müsse. Diese Banalität wird fatal, wenn dem jeweiligen Sport ein eige-
nes Wesen, mit festgeschriebenen Bewegungsabläufen und Bedeutungen unterstellt wird.
Selbst in der abendländischen Geschichte bildet die agonale, leistungsorientierte Ausrich-
tung von Ballspielen keineswegs eine ahistorische Konstante. Nicht nur in Europa, auch in
Lateinamerika hat sich das Leistungsgefüge seit der Eroberung des Subkontinents grundle-
gend verändert. An dieser Stelle könnte eine weiterführende Untersuchung der Diversität
der lateinamerikanischen Bewegungskulturen ansetzen, die neben den aktuellen Tendenzen
von Tribalisierung und Globalisierung auch makrohistorische präkolombinische und kolo-
nial vermittelte afrikanische Spuren mit einbezieht.
69
3.2. Poetologische Spurensuche rund um die Fußballlyrik

Pasolinis Fußballpoetik soll im Folgenden als Grundlage einer Analyse von


weiteren literarischen Aspekten des Fußballs im imaginären Spielraum der Be-
ziehung zwischen Spieler, Autor, Text und Leser dienen. Schwerpunkt hierfür
ist der gesamte textexterne Referenzbereich „Fußball“: Das jeweilige Umfeld
von Spieler, Spiel und Zuschauer. Ein erstes grundlegendes Merkmal aus der
Fußballwelt ist die Namensgebung. Die brasilianische Nationalmannschaft heißt
seleção, Fans kennen mit Sicherheit auch die heimische Bezeichnung Os cana-
rinhos, die Kanarienvögel. Diese besiegten am 18. Juni die Socceroos, die Fuß-
ballkängurus aus Australien. Das Bestiarium der Mannschafts- und Clubnamen
ist ein bedeutender Teil des Namenspektrums, zu dem neben England mit den
„Three lions“ vor allem afrikanische Mannschaften tendieren: Angola entsendet
die „schwarzen Antilopen“, Togo die „Sperber“, während Tunesien „Die Adler
von Karthago“ fliegen lässt, marschieren die „Elefanten“ für die Elfenbeinküste
ins Gefecht, Ghana dagegen lässt das Oxymoron der „Schwarzen Sterne“ auf-
leuchten, womit wir zu den Farben als symbolische Namenspender kommen.
Unbestrittener Spitzenreiter ist das auch literarisch favorisierte Blau. Bei der
WM 2006 traten nicht weniger als fünf Blaue gegeneinander an, darunter drei
Favoriten: „Les bleus“ aus Frankreich, die italienische „squadra azzurra“ und
die argentinischen „Albicelestes“, im gestreiften Weiß mit Himmelblau. Zieht
man die Bezeichnungen der Clubmannschaften hinzu, weitet sich das Spektrum
der Bedeutungszuschreibungen noch mehr. Die Poesie der Clubnamen ist ein
elementarer Bestandteil fast aller Fußballessays. Auch im Fußball wohnt den
Namen ein Zauber inne, der in den verschiedenen Sprachen höchst kulturspezi-
fisch geprägt ist, als Phänomen an sich jedoch kulturübergreifend auftritt.
Die Faszination der Namensgebung wird nur übertroffen von der des Balles
und der des Spieles selbst. Neben der Markierung nationaler, regionaler und lo-
kaler Identitäten erfüllen die Namen eine wichtige affektive Funktion. Sie brin-
gen mit den Konnotationen von Tieren und Farben nicht nur Wertschätzung,
Bewunderung und Zuneigung zum Ausdruck, sondern auch tiefer liegende
Wünsche und Sehnsüchte. Kaum eine Mannschaft der WM 2006 trat wie Japan,
die USA und der Gastgeber ohne Namen an. Bezieht man die menschlichen Ak-
teure mit ein, ergeben sich zusätzliche, oft auch ironische Bedeutungsmöglich-
keiten durch Namensgebung. Douglas Sequeira, der auffallend schlanke Mittel-
feldspieler Costa Ricas, wird „el esqueleto“ genannt, während Menotti schlicht
„el flaco“ heißt, ein in Argentinien weit verbreiteter Spitzname, mit kollektivem
Identifikationspotenzial. Wenig schmeichelhaft ist der Kosename des englischen
Nationaltorhüters David James; aufgrund so mancher Fehlgriffe bei seinem Club

70
Manchester United nennt man ihn in Anspielung auf Calamity Jane „Calamity
James“. Ein Sonderfall ist Mohammad Al-Anbar. Der Stürmer der saudi-
arabischen Mannschaft wird im Scheichtum liebevoll Ronaldinho genannt. Zu
einer Begegnung mit dem namenspendenden Original im Achtelfinale kam es
aufgrund des Ausscheidens der Saudis jedoch nicht. Roberto Rojas, Torwart der
chilenischen Nationalmannschaft, wurde von den Fans ehrfürchtig „El Condor“
genannt. Galeano berichtet, dass er beim Ausscheidungsspiel zur WM 1990 eine
Verletzung simulierte, indem er sich die Stirn aufschnitt. Nachdem er ertappt
und bestraft wurde, betrachteten die chilenischen Fans ihn als verachtenswerten
Feigling, weniger aus moralischen Gründen, sondern vielmehr weil ihm der
Trick misslungen war. Ein metonymischer Sonderfall, der die besondere Bezie-
hung des Trainers (Pekerman) zu seinen Spielern ausdrückt, ist die Bezeichnung
Pekerboys für die Mannschaft Argentiniens.
Weiterhin ist die poetische Qualität der Fußballsprache zu erwähnen. Hier ist
Spieler-, Trainer-, Fan- und Kommentatorensprache zu unterscheiden. Im Zuge
der „futbolización del mundo“ führen die zunehmenden Sprachkontakte zu einer
Bereichung der ohnehin bereits stark ausgeprägten Stilblütenliteratur. Zusam-
men mit den oft von unfreiwilliger Komik gespeisten Formen makkaronischer
Unsinnsdichtung, ein Produkt der Internationalisierung des Fußballgeschäfts,
existiert eine umfangreiche seriöse Tradition des Aphorismus. Der hohe Affekt-
gehalt ist ein zentrales Element der Kommentatorensprache, das die poetische
Qualitäten von Fußballreportagen dokumentiert. Insbesondere die Live-
Reportage enthält neben dem prägnanten performativen Aspekt Indikatoren ei-
nes lyrischen Sprachgebrauchs: Repetitionen, Steigerungen, der Klimax des
Torkommentars, onomatopoetische Ausdrücke, Exklamationen, viele Register
der Expressivität finden sich hier wieder. Eine komparatistische Analyse fände
hier reichhaltiges Material. Angelegt als Kulturvergleich böten sich hier an der
deutsche Kommentar beim Endspiel der WM 1954 in Bern und der spanische
beim Europapokal der Landesmeister beim Finale 1960 (Real Madrid gegen
Eintracht Frankfurt, 7:2). Das wohl berühmteste Beispiel stammt hingegen aus
Argentinien, von Víctor Hugo, einem aus Uruguay stammenden Kommentator:

... ahí la tiene Maradona. Le marcan dos. Pisa la pelota Maradona. Arranca
por la derecha el genio del fútbol mundial. Puede tocar para Burruchaga
...siempre Maradona... ¡Genio, genio, genio! ...ta ta ta ta ta... ¡Gooooooooooool!
- ¡Goooooooooool! ¡Quiero llorar! Dios Santo, ¡viva el fútbol!
¡Golaaaaaazoooooo! ¡Diegoooooool! Maradona..... es para llorar, perdónenme....
Maradona, en recorrida memorable, en la jugada de todos los tiempos...
....barrilete cósmico... ¿De qué planeta viniste para dejar en el camino a tanto
inglés... para que el país sea un puño apretado, gritando por Argentina...
Argentina 2, Inglaterra 0... ¡Diegol, Diegol! ...Gracias, Dios, por el fútbol, por
Maradona, por estas lágrimas, por este Argentina 2, Inglaterra 0.

71
...und nun hat Maradona ihn. Maradona gegen zwei. Maradona tritt schnell
mit dem Ball an. Das größte Genie des Weltfußballs marschiert über rechts. Er
könnte zu Burruchaga abgeben... immer noch Maradona... Genial, genial,
genial!... ta ta ta ta ta... Toooooooor! Tooooooor! Weinen möchte ich! Gott im
Himmel, es lebe der Fußball! Suuuuupertooooor! Diegotooooor! Maradona....
Ich könnte weinen vor Glück, verzeihen Sie mir...Maradona, ein unvergesslicher
Antritt, der beste Spielzug aller Zeiten... kosmisches Flugobjekt...Von welchem
Planeten bis Du zu uns gekommen, dass Du so viele Engländer einfach stehen
lässt?... Dass das ganze Land wie eine einzige geballte Faust „Argentinien!“
schreit?... Argentinien 2, England 0. Diegotor!, Diegotor! ...Ich danke Dir, Gott,
für den Fußball, für Maradona, für diese Tränen, für dieses Argentinien 2, Eng-
land 0.29

Untersuchte man diesen höchst sprachkreativen Kommentar zum Tor des


Jahrhunderts im Hinblick auf Phonetik, Lautlichkeit, Klang, Wort- und Satz-
strukturen, würde sich zeigen, dass sämtliche Elemente der poetischen Sprache
einer ästhetischen Überformung ausgesetzt sind, die sowohl die Ausdrucks- als
auch die Appellfunktion an ihre Grenzen führt. Galeanos Definition des Tors als
Orgasmus ist hier auf allen Ebenen des Textes umgesetzt, wobei es Víctor Hugo
die Aufgabe des Kommentators erfüllend, dennoch gelingt, diesen in Worte und
Sprachbilder zu fassen und zu verbalisieren. Allein das Bild des „barrilete
cósmico“, das dem Kinderspiel des Drachensteigen-Lassens eine kosmische Ü-
berhöhung verleiht verdiente einer ausführlichere Analyse, die hier nicht geleis-
tet werden kann. Daher mag es genügen, auf seine Einbindung in die in histori-
scher Hinsicht mit höchster Spannung aufgeladene Beziehung zu England im
nationalen Diskurs Argentiniens zu verweisen. Eine letzter überraschender As-
pekt besteht in der Tatsache, dass der Sprecher selbst kein Argentinier ist, son-
dern aus Uruguay stammt.
Während also der Kommentator aus Uruguay mit dem literarischen Namen
Víctor Hugo eine poetologisch dichte Sprachperformanz kreierte, die eine tiefere
Textanalyse verdient hätte als sie hier möglich ist, kann auch umgekehrt aus
dem fehlerhaften Gebrauch der Sprache Fußballpoetik entstehen. Der meist zi-
tierte Fußballpoet im deutschen Sprachraum ist der italienische Trainer Giovan-
ni Trappatoni,: „Struunz! Was erlauben Struuunz. Ich bin müde jetzt Vater diese
Spiele, eh, verteidige immer diese Spieler! Ich habe immer die Schulde über die-
se Spieler. Ich habe fertig.“ Man mag diese Fehlerpoesie ästhetisch disqualifizie-
ren oder als unfreiwilliges Zufallsprodukt abtun, von ihrer intensiven Wirkung
auf Sprache und Medien können selbst erfolgreiche Schriftsteller nur träumen.

29
Ich danke Herrn Martín Diz-Vidal für die Übersetzung ins Deutsche.
72
3.3. Zwei argentinische Fußballromane

Im engeren Bereich der Fußballliteratur gewinnt die Gattung des Romans zu-
nehmend an Umfang und Qualität. Sergio Olguíns El equipo de sueño ist nach
Martín Kohans, Dos veces junio ein Beispiel für die oben angeführte Metaphori-
sierung, wobei sein als Jugendliteratur konzipierter Text eine lebensrettende
Funktion des Spiels modelliert, die ironisch gebrochen und durch den Bezug
zum strategischen Aufbau von Computerspielen intermedial bereichert wird.
Martín Kohan, (geb. 1967), war zu Beginn der Militärdiktatur neun Jahre alt. Er
selbst blieb von Gefängnis und Folter verschont, erinnerte sich jedoch genau an
die Atmosphäre der Weltmeisterschaften in Buenos Aires. Sein Roman beginnt
nach der Niederlage gegen Italien in der Vorrunde im Jahr 1978 als Argentinien
Weltmeister wurde. Thema sind die in Haft geboren Kinder und die tatsächlich
dokumentierte Überlegung der Militärs, ab welchem Alter diese gefoltert wer-
den könnten, um die Mütter zum Sprechen zu bringen. Der zweite Teil handelt
vier Jahre später, 1982 während der WM in Spanien. Es ist wieder Juni - daher
der Titel des Buches, wieder verliert die argentinische Nationalmannschaft, die-
ses Mal auch den Titel, hinzu kommt die Niederlage im Falklandkrieg gegen
England.30

4. Der ästhetische Spielraum zwischen Fußball und Literatur


Begreift man das Verhältnis von Fußball und Literatur als ästhetischen Zwi-
schenraum sind zwar Fehlpässe keineswegs ausgeschlossen, sie können und dür-
fen sich sogar ereignen, müssen es aber nicht. Am leichtesten ist dies auf der
Ebene des Inhalts: Sport als Thematisierung von Konflikt. Hier kann mit der ar-
gentinischen Schriftstellerin Liliana Heker erstmals eine Frau zitiert werden:
No hay un desdén de la literatura hacia el fútbol, no se puede generalizar;
Borges no deja de ser Borges incluso cuando desdeña al fútbol. Pero muchos
escritores son hinchas apasionados, no hay un rechazo particular en el gremio.
Yo tengo una relación apasionada desde muy chica. Para la literatura es un
campo interminable, ya que el deporte pone en juego conflictos muy
interesantes.

Die Literatur verachtet den Fußball nicht, man darf nicht verallgemeinern;
Borges hört nicht auf Borges zu sein, auch nicht wenn er den Fußball gering
schätzt. Aber viele Schriftsteller sind begeisterte Fans und es gibt keine beson-
dere Abneigung. Ich habe seit der Kindheit ein leidenschaftliches Verhältnis
[zum Fußball]. Er ist ein unendliches Feld für die Literatur, denn der Sport setzt
interessante Konflikte in Gang.

30
Vgl. hierzu Vf., „Therapie des Vergessens? Die literarische Konstruktion der Erinnerung in
der Krise“, in: Argentinien in der Krise, hrsg. vom Interdisziplinären Arbeitskreis Latein-
amerika, Mainz 2005, S. 80-102.
73
Eine solche Betrachtungsweise schließt die Kluft zwischen der schweißtrei-
benden Athletik des Sports und der sublimen Ästhetik der Literatur. Auch die
Sportverächter kommen inzwischen auf ihre Kosten. Der argentinische Schrift-
steller Pablo Ramos präzisiert diese allgemeine, durch den persönlichen Bezug
zum Fußball vertiefte Freiheit der Literatur:
En literatura no debería haber nada más que lo que el escritor cree que
debería. La mayoría de los cuentos sobre fútbol que se escriben se acercan a lo
tanguero, a lo humorístico y reflejan una parte muy romántica del deporte. La
otra, el negocio, la trampa, la decadencia del deporte cuando se hace profesional,
es poco común. La literatura debe incluirlo todo, porque cada cosa contiene su
propia literatura.

Dem ist entgegenzuhalten, dass insbesondere die essayistische Literatur die


Kommerzialisierung des Sports sehr wohl thematisiert. Galeanos Text signali-
siert bereits vom Titel her die Auseinandersetzung mit den Sonnen- und den
Schattenseiten.
Vor dem Hintergrund semiotischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze tritt
jedoch darüber hinausgehend das Verhältnis zwischen beiden Sphären als ei-
gentliches Thema in den Vordergrund. Dieses Verhältnis wiederum ist Teil des
kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft. Drei Gruppen, die sich über-
schneiden, sind hierbei zu unterscheiden: auf der Seite der Spieler die Erinne-
rung an Initiation in Kindheit und Jugend; auf der Seite der Zuschauer die Erin-
nerung an unvergessliche Augenblicke und Spiele, und schließlich diejenigen,
die sich nicht für Fußball interessieren, sich aber dennoch an bedeutende Spiele
erinnern. Martín Kohan stellt mit der WM 78 und dem Falklandkrieg zwei My-
then des kollektiven Gedächtnisses als kollektive Verdrängungsmechanismen
dar. Derartige literarische Blicke in die Fußballgeschichte tragen zum Entwurf
von Zukunftsperspektiven bei. Die Beziehung von Literatur und Fußball entwi-
ckelt sich nicht nur im kollektiven Gedächtnis, sondern sie gestaltet dieses auch.
Der uneinholbare Vorsprung der Literatur besteht darin, dass der Leser immer
gewinnt. In diesem Sinne lautete eine Initiative des argentinischen Ministeriums
für Erziehung, Wissenschaft und Technologie im Jahr 2006: „Cuando lees ganás
siempre“.

Literatur

1. Primärtexte

Alberti, Rafael, „Oda a Platko“. In: Poesías Completas. Buenos Aires: Losada 1961.
Arlt, Roberto, „Ayer vi ganar a los argentinos“. In: Nuevas aguafuertes porteñas (1933).
Buenos Aires: Losada 1958.
74
Benedetti, Mario, „El césped“ (1990). In: Despistes y franqueza. Madrid: Visor 2002.
Benedetti, Mario, „Puntero izquierdo”. In: Cuentos completos. Madrid: Alianza 1986.
Canal Feijoo, Bernardo, Penúltimo poema de fútbol. Santiago del Estero 1924.
Casa, Fabián, „Cancha rayada“. In: http://www.fogwill.com.ar/casas.html
Constantini, Humberto, „Inside izquierdo“
Cucurto, Washington, „Entre hombres“ (Gedicht) In: http://www.myblog.de/timolin
Dolina, Alejandro, „Apuntes de fútbol en Flores“. In: Crónicas del ángel gris, Booket 2003.
Feinmann, Juan Pablo, „Dieguito“. In: Cuentos de fútbol argentino. Madrid: Alfaguara 1997.
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75
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Theweleit, Klaus: Tor zur Welt: Fußball als Realitätsmodell. Köln 2004.

76
Marcelo Berrini

Los cantos de los hinchas en Argentina


La palabra inglesa “Fan“, generaliza muy diversos tipos de adhesión a
fenómenos culturales o divisas deportivas. Dicho término es utilizado en
muchos países del mundo, pero pierde peso en Latinoamérica. En Brasil, el
vocablo popular es „torcedor“, y en Argentina y Uruguay, “hincha“.

Orígen del término „Hincha“:


Es casi imposible establecer co exactitud el momento de aparición de lo que
se conoce como “hinchada“. Casi todos los fenómenos culturales populares han
sido detectados -en toda su intensidad- con posterioridad al momento de
formación. Pese a ello, las ediciones de diarios y revistas, bibliotecas de clubes,
colecciones privadas que ofician de museos privados, y aún historias populares
transmitidas oralmente de generación en generación, contienen datos que
permiten entrever las huellas del proceso de formación del hecho popular del
que me encargo en este escrito.
Ricardo Soca31 nos dice que el „primer hincha“ de la historia del fútbol
rioplatense vivió en Montevideo, capital de la República Oriental del Uruguay, a
comienzos del siglo XX y trabajaba en el Club Nacional: uno, entre los más
populares clubes de fútbol uruguayo. Su apellido era Reyes, de profesión
talabartero. Reyes se encargaba de inflar (hinchar , del latín inflare, soplar) los
balones del Parque Central, la sede del Nacional. Reyes era un partidario
fanático del club montevideano y sus gritos estentóreos -"¡arriba Nacional!"-
eran famosos a principios del siglo pasado en las canchas donde jugaba su club.

1
Soca, Ricardo. „La fascinante historia de las palabras“.
www.elcastellano.org

77
Y es fácil imaginar cómo resonarían los gritos del talabartero si consideramos
que las pelotas las inflaba apenas con la fuerza de sus pulmones.
Durante los partidos, otros aficionados solían comentar -ante las ruidosas
demostraciones de Reyes- "Mirá cómo grita el hincha". Poco a poco la palabra
se fue aplicando a los partidarios del Nacional que más gritaban durante los
partidos; más tarde se extendió a toda la grey de ese equipo, y finalmente a los
partidarios de los otros clubes.

Pero, ¿qué es un hincha, y qué es la hinchada?. He aquí un primer problema.


No es nada facil precisar quienes están incluídos en la categoría de hincha. En
realidad esta palabra diferentes tipos de perfiles de aficionados al fútbol. En
general, fuera del estadio, el término hincha comprende desde un simple
simpatizante hasta un fanático. Hinchar es la acción que el hincha realiza,
cantando canciones o consignas en favor de su equipo, o en contra de los rivales
–clásicos o circunstanciales- del mismo, apoyando a su club favorito de
diferentes maneras, difundiendo sus colores, sus historias, etc.

En “Crónicas del Aguante“, Pablo Alabarces32 propone la siguiente


conformación de los grupos de hinchas, y de las hinchadas en general:

Espectadores Barra(Brava) Espectadores


Hinchas militantes (hinchada)

En este cuadro, en la parte central se ubican los hinchas militantes y las barras
bravas, que son los grupos que tienen una mayor participación o vehemencia en
la tareas de apoyo a su equipo. También son los que aparecen como signados
por la violencia. A menudo se conectan estos grupos con lo que en Europa se
denomina Hulligans. De ninguna manera debe suponerse que se está frente a un
fenómeno del mismo orden. El abordaje de las características de conformación y
diferencias entre las hinchadas y barras bravas, y los Hulligans, supera en mucho
las posibilidades de este escrito. La ecuación es más compleja que:
Hooligans=Violencia / Barras bravas=violencia / ergo: hooligans=barras
bravas.
Proporcionalmente, las barras bravas y las hinchadas militantes son grupos
pequeños, si se los compara con los otros ocupantes de las tribunas; en el
cuadro: los espectadores. Muchas veces los espectadores son llamados
simpatizante, o plateísta, y también hincha.
En Alabarces la palabra espectador denota una cierta neutralidad o pasividad
ante la violencia, ausente casi por completo entre quienes concurren a ver fútbol
32
Permítaseme recomendar la lectura de todo lo estudiado y editado por Pablo Alabarces y su
equipo de investigación. Considero fundamental esos materiales para una comprensión
global del fenómeno de las hinchadas en Argentina, y las relaciones entre fútbol, violencia,
y política.
78
en Argentina. Esto aparece aparece también entre los llamados espectadores y
merece un análisis más amplio, aunque se presenta mucho más esporádicamente,
o bajo otras formas.
La ubicación en los estadios y canchas de fútbol de los grupos antes
descriptos, en la mayoría de los casos, es la que muestra el siguiente cuadro.

............................................... espectadores/plateas

espectadores espectadores

Barra brava ....................... Barra brava

Hinchada
militante ................... ................. Hinchada militante

espectadores espectadores

............... espectadores/plateas

Puede afirmarse que los espectadores-plateístas se ubican en los mejores


sitios de observación; ven el partido desde el punto de vista de la/s cámara/s
central-lateral/es de la televisión. Esos lugares permiten una mejor balance
visual de las dos partes en que se divide el campo.
Desde el lugar que suelen ocupar las barras bravas y las hinchadas militantes,
llamadas cabeceras, se ve mejor el despliegue táctico del equipo y de las
jugadas. La perspectiva que ofrecen las cabeceras dan profundidad a las
acciones que se desarrollan durante el juego. Aunque sólo son más claros los
detalles de lo que sucede en la mitad más próxima.33 Esa distribución es
históricamente una marca de status social. Los mejores sitios, los laterales del
campo de juego, fueron sitios siempre reservados para aquellos que podían
pagar por una mejor vista y/o una platea34.

Los cantos : Historia-Fuentes


Ya se dijo que determinar una fecha exacta, o un momento preciso de
gestación de un fenómeno de la cultura popular, es siempre dificultoso. A pesar
de ello, los cantos de las hinchadas se constituyen en archivos de la memoria

33
Cabe recordar que durante el Campeonato Mundial de Futbol 2006 en Alemania, el en ese
entonces entrenador del Mainz, Jürgen Klopp, eventualmente periodista de televisión por
esos días, mayormente hacía sus comentarios y observaciones utilizando ese posición de
cámara como refencia visual, para explicar los despliegues tácticos.
34
Platea=asiento. En Argentina, aún hoy, en 2007, no es obligatorio que todos los
espectadores posean un asiento en los estadios de fútbol.
79
popular, ya que seleccionan, difunden, y conservan materiales sonoros de
diferentes vertientes en sus repertorios. Muchas canciones o jingles hubieran
desaparecido sin la contribución de los hinchas de fútbol. Las hinchadas hacen
las veces de museos vivos y móviles. En sus cantos, el sentido de los textos
originales se ha diluído; pero el mero uso de aquellos cánticos es un pasadizo
secreto para quien quiera investigar y recuperar estos objetos sonoros populares
y sus fuentes.
Podemos ficcionar el génesis de las hinchadas; podemos suponer que las
voces de aliento fueron individuales, como los gritos del talabartero uruguayo
Reyes; luego se sumaron algunas voces paralelas constituyendo el primer
aliento grupal; después muchas más hasta el aliento masivo.
Posteriormente, se coreaban los nombres de los equipos, separando,
entrecortando, y acentuando cada una de las sílaba para imprimir mayor fuerza a
la expresión: Bo-ca, Bo-ca...! o Ri-ver, Ri-ver...!
Aún hoy se utiliza este recurso, aunque los cánticos y expresiones de aliento
han tenido un vasto desarrollo.
Alrededor de los años 40, comenzaron a constituirse los repertorios. El
seguimiento de estos repertorios permite establecer 3 tipos de fuentes y ciertas
constantes que se repiten en la elección de los motivos musicales.
Marchas políticas, pertenecientes a partidos o movimientos políticos del siglo
XX, fuertes en popularidad y poder en la República Argentina.
Contribuciones del folklore, del Rock, y la música pop, en sus diferentes
etapas; minoritariamente participa el tango.
Jinles y músicas de las propagandas comerciales y políticas de radio y
televisión.
En el caso del grupo 1, en las marchas de los partidos radical y peronista se
conserva el valor de representación popular o masiva de las melodías. Pero, al
cambiarse las letras, las marchas son inmediatamente desprovistas de su sentido
político partidario, para poder ser utilizadas por todas las hinchadas y todos los
colectivos sociales que intervienen en el fútbol. Así, hay radicales que entonan
cantos futbolísticos sustentados en la marcha peronista y peronistas que pueden
usar la música de la marcha radical.
En el caso de la Marcha Radical, se entona la música de las estrofas mientras
que letra original, “Adelante radicales adelante sin cesar, viva Hipólito Irigoyen
y el partido Radical“, es substituída por: “Adelante Rojinegro, vamos vamos a
ganar, que esta barra quilombera no te deja de alentar“.35
En el caso de la marcha peronista, casi siempre se canta la música del
estribillo, cuya letra, „Perón, Perón / Que grande sos / Perón, Perón / cuanto
valés/ Perón Perón / Gran conductor / sos el primer trabajador“, es trocada

35
Para este ejemplo y para los siguientes, hago la salvedad de que puede haber variaciones o
cambios. El fenómeno del arte de las tribunas futboleras posee una gran movilidad.
80
simplemente por: „Dale Campeón / dale campeón / dale campeón / dale
campeón / etc “.
Excepción a la regla: la hinchada de Racing Club de Avellaneda, canta
también los versos de la estrofa. En este caso, la vinculación histórico-política es
clara: Juan Domingo Perón era hincha de Racing. El Club Atlético
Independiente, clásico rival de Racing, suele contestar con una canción
montada, también, sobre la melodía de la estrofa de la marcha peronista; aunque
parecería un intento por devolver el fuego contra Racing, dado que no pueden
ufanarse de la pertenencia de aquel lider popular al colectivo de Independiente.
Con respecto a esta marcha y ya fuera de Argentina, se presenta un caso
curioso: el Caracas Fútbol Club de Venezuela canta, con la música y parte de los
textos de la estrofa de la Marcha Peronista, lo siguiente (compárense los
términos de las estrofas):
Marcha Peronista Caracas FC
Los muchachos peronistas Los muchachos de la barra
todos unidos triunfaremos todos unidos estaremos
y como siempre daremos y como siempre daremos
un grito de corazón un grito de corazón
viva Perón, viva Perón dale campeón, dale campeón

Solamente se alteran algunas palabras de los versos originales. En Argentina


la asociación con el contenido político sería inevitable, si se canta casi
textualmente la letra original, con la música original. Por ejemplo, el verso: Los
muchachos de la Boca, todos unidos estaremos...etc, denotaría, inmdiatamente,
adhesión al partido peronista.

En el caso de la melodías de los géneros populares, grupo 2, mayormente las


canciones elejidas gozan de un reconocimiento masivo a través de la difusión
radial y televisiva. Aunque esto no sea condición excluyente. Esta fuente fue
utilizada en forma creciente a partir de los años 50 y 60, en la República
Argentina, por el auge del folklore en los 50 y de la música pop en todos sus
estilos y formas a partir de los 60. Chico Novarro cantaba "el camaleón, mamá
el camaleón; cambia de colores según la ocasión" y las hinchadas, sobre esa
base gritaban "tu corazón, nena, tu corazón; tiene los colores de Boca
campeón". Francis Smith, (1971) decía: “ movete chiquita movete, subite a mi
ritmo feroz, que estoy hecho un demonio, y la culpable sos vos“. Esa fue la base
de "movete leproso, movete, movete dejá de joder,que esta hinchada está loca,
hoy no podernos perder". Los ejemplos del rock y la canción popular se
suceden sin solución de continuidad hasta el día de hoy. Y posiblemente sea esta
la vertiente más utilizada en este momento.

Los jingles comerciales y políticos han sido también una fuente de recursos
cantables para los hincha. Un jingle que saturó las pantallas televisivas durante
el mandato de Isabel Perón en los años 70´, decía, con la entonación de una voz
81
infantil: “Contagiate mi alegría, y reíte como yo; que hoy es tiempo de
esperanza, de buscar en la unidad la paz que nos dará el amor". La gente lo
transformó en: „Mire mire que locura, mire mire que emoción, ese es el famoso
River que se fue a la boca y le metiréron dos“. Otro jingle que aún hoy usan las
hinchadas, fue uno que a fines de la década de los 70´ era parte de una campaña
de prevención de los accidentes de tránsito; desde entonces y hasta hoy se canta:
"Newell´s, mi buen amigo, esta campaña volveremos a estar contigo, te
alentaremos de corazón porque esta hinchada se merece ser campeón, no me
importa lo que digan, lo que digan los demás, yo te sigo a todas partes, cada vez
te quiero más".

El procedimiento
La intertextualidad juega un papel importante en la conformación de los
repertorios de los hinchas. Las hinchadas se apropian de temas musicales que
han quedado inscriptos ya, de una u otra forma, en la memoria colectiva como
fenómenos sonoros o musicales populares, o de temas poco conocidos y
melodías que, por sus características, pueden incorporarse con eficiencia al
repertorio. El acto de apropiación es muy importante. Resulta inútil intentar
crear un motivo o una canción con el objetivo de que las hinchadas lo canten. La
elección de un tema nunca se produce por inyección o presión externa; por el
contrario, las hinchadas seleccionan independientemente sus materiales; toman
„por asalto“ el botín cantable y lo eyectan, lo devuelven transformado,
reelaborado.
En general, no se cantan los himnos y canciones oficiales de los clubes. Pese
a ser símbolos, a veces históricos, de clubes y asociaciones atléticas, son
elementos pre-establecidos y no han sido legitimados por el proceso de
selección popular señalado con anterioridad. Un caso infrecuente es el de la
marcha oficial del Club Rosario Central, que opera como canción de tribuna
para su hinchada.
El procedimiento continúa con el borrado de el texto original, o su
fragmentación, y por último la costrucción de un nuevo texto
Musicalmente, a veces pueden apreciarse algunas modificaciones melódicas o
rítmicas. Estos cambios no son inopinados o faltos de criterio, sino que cumplen
funciones. Por ejemplo: evitar melodías o modulaciones armónicas que
propongan dificultades al coro futbolero. A eso se debe la escasa incidencia de
melodías del tango en los cantos de los hinchas. El tango es un género muy
complejo; ya desde los años 20, y paralelamente a la popularización del fútbol
en Argentina, el tango tuvo un desarrollo superlativo de su estructura y sus
elementos musicales; las posibilidades de una rápida utilización se hicieron cada
vez más difíciles.

82
Por lo general, el material utilizado por las hinchadas ofrece formalmente una
suerte de Loop, un sin fin, o cinta de Moebius. Es decir, una ciclo melódico,
rítmico y armónico que se regenere sobre sí mismo y pueda ser repetido al
infinito sin perder fuerza. Esa característica es muy importante. Dicho ciclo debe
merecer ser repetido una y otra vez, y en esa reiteración ganar emotividad y
potencia, y tender a la expansión. Los cantos de las hinchadas son herramientas
funcionales a las necesidades de expresión de esos grupos y a las circunstancias
y momentos de cada partido.

Los textos
De aquel coreo silábico acentuado del nombre de un equipo hasta el día de
hoy, han pasado muchas cosas; ha habido muchos cambios en lo que se canta en
las tribunas del futbol.
Durante los años 1910 al 1920´, excepcionalemente, un jugador tuvo su canto
propio. Ese jugador era Américo Tesorieri, guardameta de Boca Juniors, por
aquel entonces. de las tribunas bajaba el siguiente estribillo:
“Tenemos un arquero, que es una maravilla; ataja los penales sentado en
una silla". Mezcla de reconocimiento al talento, y humor propio de las murgas
que acompañaban las carrozas y desfiles de carnaval. Yo recuerdo este canto; ya
en los años 60, durante mi niñez, lo reproducíamos para alentar a algún arquero
de los equipos de la escuela.

Esa débil tendencia de los 20´ se hizo más fuerte en los años 40 y 50.
La hinchada expresa las virtudes de los equipos y las cualidades de los
jugadores de aquellos tiempos. Los de Independiente cantaban: “La gente se
mata, por ver a De la Mata“. Dela Mata, naturalmente, era un jugador de ese
equipo. Y los de Boca respondían: “Yo te daré, te daré niña hermosa, te daré una
cosa, una coca que empieza con B: Boyé!“. Boyé, por supuesto, jugador de los
boquenses. Se trataba de destacar las capacidades de individuos y formaciones.
El duelo de hinchadas tenía por armas a los jugadores virtuosos que desplegaban
su habilidades en el campo de juego.

Hacia los 60´el enfrentamiento con el rival de turno se endurece, el lenguaje


se hace mas crudo, ofensivo e insultante. A modo de ejemplo: "vaya, vaya con el
campeón; a todas partes vaya con el campeón; si sos de Boca (o de River o de
Racing), hacé el favor; andá a la puta que te parió". O : “vea, vea, vea; que
manga de boludos; ahora las banderas se las meten en el culo".

De todas formas, todavía el insulto no llegaba a ser amenaza. Las hinchadas


oficiaban de espectadores. Rol muy diferente al de decadas posteriores. Pero los
83
cantos incorporaban y relataban fenómenos de enorme trascendencia social. En
aquellos días se produce la irrupción de la televisión como difusora de fútbol.
Aparecen estribillos como el siguiente: “oi, oi, oi, oi, qué papelón; están
bailando para la televisión". La hinchada de Newell´s, llamados también
“leprosos“ cantaba: “Aiello, Aiello, decilo por TV. Contale a los porteños de la
lepra y su ballet“.36
Después de la última dictadura militar, 1976-83, y desde entonces hasta
nuestros días, aunque perdure el reconocimiento del talento de jugadores y
equipos, aunque se canten estribillos no insultantes, las expresiones de los
coreutas-expectadores se han hecho mucho más agresivas. Durante los últimos
20 años, se ha modificado una parte del repertorio; su contenido se ha tornado
mucho más violento y amenazante. Las hinchdas comienzan a ser personajes de
sus propios cantos e historias, y compiten por lugares de poder en la estructura
general del fútbol argentino. Desde los 90 y hasta la actualidad, se emite un
programa televisivo llamado “El Aguante“, cuyo objeto son los hinchas y las
hinchadas.
„A partir de los 80, las hinchadas empiezan a ser protagonistas de sus
propios estribillos. Los equipos son urgidos a ganar y a ser campeones y porque
la hinchada se ha asumido como parte integrante del espectáculo y del negocio
del fútbol. (...) Y se lo hacen saber a todo el mundo“37:
"Ponga huevos San Lorenzo, ponga huevo y corazón; que esta hinchada, se
merece, se merece ser campeón".
Y a medida que las hinchadas -militantes y barras bravas- se asumen como
protagonistas del fútbol, asumen también las relaciones con la droga, y la
violencia:
"Vamos River, vamos nosotros te queremos, te alentamos vamo a salir
campeón con el Bambino y vamo a festejar con mucha droga y mucho vino"; o
en el siguiente ejemplo del clásico rival de River: "Yo soy de Boca, vago y
atorrante, me gustan los Rollin38 y los estimulantes".
Y es a principios de la década de 1980 cuando aparece la palabra que titula el
programa sobre los hinchas: aguante.
„El aguante es un término aparecido en la cultura futbolística argentina
hacia comienzos de los ’80. Etimológicamente, la explicación es simple:
aguantar remite a ser soporte , a apoyar, a ser solidario . De allí que aparezca
inicialmente como hacer el aguante : esa expresión denominaba el apoyo que
grupos periféricos o hinchadas amigas brindaban en enfrentamientos
específicos. Y así, en la cultura futbolística de los últimos diez años comienza a

36
Aiello era un comentarista deportivo de una emisora de televisión de la ciudad de Buenos
Aires. Porteño, es el apodo general que se da al habitante de la ciudad de Bs. AS.
37
Guiñazú, Daniel. 1994
8 Se refiere al grupo musical The Rolling Stones.
84
cargarse de significados muy duros, decididamente vinculados con la puesta en
acción del cuerpo. Aguantar es poner el cuerpo“.39
„Pero en las definiciones de los hinchas, la violencia física –no la violencia
simbólica que consiste en anunciarle al otro la amenaza de violencia– es el
sentido dominante del aguante.
Entonces el aguante es demostrarle al otro que vos tenés huevos y que te la
bancás , que sos macho . Vos venís con tu bandera y uno te la quiere robar para
tener un trofeo de guerra, y es como que te arranquen un pedazo de vida, de
cuerpo . Entonces te agarrás a piñas o a tiros, a piedras, a lo que sea para que
eso que te pertenece siga perteneciéndote. Y lo mismo cuando es a la inversa,
cuando ves a alguien con algo de otro equipo y vos se lo querés robar, y el
aguante está en defender lo tuyo (testimonio).
El testimonio sostiene la visión de la violencia como una práctica que no sólo
no puede ser rechazada, sino que, por el contrario, es legítima, tiene mucho que
ver con el honor, y es hasta obligatoria. Porque organiza el colectivo hinchada:
porque la hinchada no puede dejar de tener aguante“40.
En los cantos de los hinchas en Argentina, se cifran indeleblemente hechos
culturales, políticos, y sociales de los últimos 100 años. Son enormes archivos
de la memoria colectiva. A través de más de diez décadas, desde aquel
talabartero de apellido Reyes y hasta nuestros días, se canta a la virtud y a la
gracia del juego; hay en esos cánticos, la pulsación de la sangre y la reinvención
de la vida. Paralelamente y con creciente intensidad desde hace unos
veinticinco años, la amenaza y la violencia sobre todo aquello que sea „otro“
aparece como una perversa constante que, cada vez más frecuentemente, pasa
del nivel simbólico al acto. Creación y destrucción luchan en el escenario del
fútbol, y enmascaran fuerzas que se mueven por debajo del nivel de la cancha.
Mientras tanto, dentro y fuera del estadio, la sociedad argentina se acostumbra a
los rumores del Tánatos.

Apéndice 1

Los relatos radiales del fútbol:

Los relatores y comentaristas de fútbol de radio son los encargados de


describir y transmitirlo que sucede en le campo de juego y en el estadio. Este rol
ha producido una suerte de género oral que, por momentos, mucho tiene que ver
con el teatro, con la literatura, y con la música. Sus principales atributos son el
timbre de voz, el ritmo y la forma de su prosa, y la capacidad para improvisar

39
Alabarces, Pablo. 2005
40
Alabarces, Pablo.2005
85
veloz y certeramente la descripción de las situaciones. En algún sentido, el
relator interpreta al hincha, durante el grito de gol. Grito prolongado que se hace
canto41 y se junta con el grito de la tribuna. Grito-canto imparcial, ya que celebra
las conquistas de cualquiera de los ocasionales rivales.
En no pocos casos la imaginación de los relatores se torna literaria. Presentaré
a modo de ejemplo la explicación inmediata posterior a un gol de Independiente
de Avellaneda, contra su clásico rival, Racing Club, durante uno de los últimos
enfrentamientos de estas escuadras. Es una pieza teatral fantástica, donde un
jugador virtuoso, dialoga con el espíritu de otro, durante la jugada42. Los actores
de esta escena son:
Sergio Agüero: atacante de Independiente. Autor de esta gran jugada
individual y del gol.
Bocchini o “El Bocha“: mítico jugador de Independiente y de la Selección
Nacional Argentina, ya retirado. En ese momento Bocchini estaba presente en el
estadio.
Crosa: defensor de Racing Club.
Frutos: Autor de los otros tres goles de Independiente durante ese match.
„Agüero, Agüero, el pibe Agüero hizo una jugada fenomenal. Eso es potrero,
eso es futbol, eso es picardía. Agüero, entro al area. No le quedó grande el
clásico ni la camiseta número 10 de
Bocchini, y atrás parecía que iba el bocha,empujándolo guiándole los pasos:
- Ahora pisá - le dice el Bocha.
-Ahora tenela un poquitito, ahora acomodala para la
derecha,ahora podés hacerle otro quiebre de cintura.
¡¡Sí dale animate que se desparrama!!-
- ¿Te parece Bocha?
-Pero hacelo para la izquierda.
- Pero me va a quedar para la zurda
-Vos dale!
Y Agüero la acomodó para la zurda y Crosa se caía
para un lado, se desparramaba para el otro, y no sabía qué hacer, y al
final Agüero, de zurda, la tiró abajo contra el palo izquierdo del
arquero Campagnolo.
-¿Viste pibe? - Le dice el Bocha -¿Viste pibe?
- Gracias maestro. En tu día, gracias maestro - le
dice Agüero. - Gracias por la idea, gracias por el
fútbol de antes-.
Y el Bocha le dice:

41
En Argentina sele llama “cantar“ un gol, a la acción que realiza el relator en el momento de
la anotación de un tanto
42
El relato fue extraído de www.infiernorojo.com . Aunque no hay datos acerca del relator,
creo reconocer la voz de Victor Hugo Morales. En laactualidad, el video y la grabación han
desaparecido de esa página web.
86
- No pibe; gracias a vos por el fútbol de ahora-.
Agüero pone el cuarto gol. 38 minutos y tremenda,
verdadera caldera del diablo, la cancha de Independiente; y no
es para menos. Un gol para cerrar el partido, un gol para irse
de la cancha, sencillamente; un gol para no ver fútbol por un buen
tiempo.
Agüero pone el cuarto gol. Paliza, goleada, y encima
este broche de oro del pibe Agüero, después de una jugada enorme,
monumental, “bocchinesca“, para poner Independiente 4
Racing 0.
Un domingo inolvidable en la cancha de Independiente;
por los tres de Frutos, por la maravilla de Agüero, por esta
victoria que los jugadores de Independiente le regalan a su público,
que le dice:
Muchachos, gracias por el juego.“

Apéndice 2

…de Reyes, o del molestar en la cultura.

Apendicitis del artículo de Marcelo Berrini por Carlos Capella.43

Cuando mi papá, por los `60, me decía… “No seas hincha, Carlitos!”,
“No la hinchés!” o “No hinches!” no tenía en mente a las hinchadas del
fútbol rioplatense.…
En un tono tan dulce de rezongo, que más me alentaba a insistir con lo
mío, que a dejarlo seguir leyendo el diario en paz, se refería a que me
dejase de hinchar las pelotas44, que no lo molestara con mis juegos.
Reyes no hincha, realmente, en el momento en que ejerce su oficio de
mantener bien templados los balones para el match, sino cuando molesta
a los insiders, a los Socios de Club de clase media para arriba, gritando su
“Arriba, Nacionál” durante el partido, con ese órgano suyo de compresor
de gomería.
Aunque Reyes no lo haga por jorobar45, sino por ese entusiasmo
inaudito que ya entonces sabe provocar el fútbol.

43
Carlos Capella es un poeta argentino, oriundo de la ciudad de Rosario, que reside
actualmente en Berlín, Alemania.
44
Hincharle a alguien las pelotas: jemanden auf der Kekse gehen. Nerven.
Ser un hincha: Eine Nervensäge sein.
45
Jorobar: eufemismo de joder, molestar.
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Hoy, cuando un “Barra” declara: “Nos vamo’ a hinchar para River” no
piensa tanto en que va a ir a alentar a su equipo, como coreuta, para que
éste pueda desempe~nar su juego en el campo más seguro de sí mismo.
Piensa que va a ejercer una presión.
Hinchar es hacer fuerza para que las cosas sucedan como uno las
desea.
Aquí no sólo hay fantasías infantiles de omnipotencia, sino el
reconocimiento de una chance real de incidencia en el desenvolvimiento
de los hechos.
Durante el juego: forzar un resultado en foma “psicológica”, a fuerza de
escandir textos desmoralizantes para el contrario o los árbitros, o de
aliento para los própios, junto a amenazas creibles de violéncia para los
tres y, luego, fuera del estadio, escribir con su letra las páginas policiales.

Porque aunque el hincha intente dar aliento, su aliento ya apesta desde


siempre. La lengua materna no perdona; el que hincha molesta.
El hecho de que el punto de partida de esa molestia, el objeto de su
molestar siga siendo la hinchada contraria, incluso sus ricas banderas, que
después se exhiben como trofeos, demuestra que el hincha todavía, algo,
simboliza.

Recorriendo el filoso puente de cánticos que Berrini traza en su artículo,


desde Reyes hasta los perdedores asesinos de hoy, a uno no le queda más
que comprender, por qué los colegas psicoanalistas pasan tan rápido de
una molestia al “malestar en la cultura”. Y evocar con ambigua ignorancia,
aquellos tiempos en que el último infeliz del Club era capaz de darle su
nombre, o al menos su apodo, a un feómeno social centenario, a la vez
de vengarse de la estúpida perfidia del “Socio” al apodarlo “hincha”,
equivalente al “lustra” del lustrabotas, a él, que era talabartero de
profesión y no sólo debía inflar sino también emparchar, coser y engrasar
las pelotas. Hincha!
Apodo que le dieron, acaso, mucho antes de que despertara su pasión
por el club para el que trabajaba, y se pusiese a aturdir durante los
partidos.
Motejándolo tan sólo por burlarse de su simple oficio, aprovechando el
craso doble sentido del término “hinchar las pelotas”. Algo me dice en la
intuición que la expresión “no hinches” es anterior a Reyes y a su trabajo,
y que ésta se usaba ya en tiempos de las colonias.
Así, la frase “Mirá como grita el hincha!” no es inocente sino chiste
clasista y podría leerse: “Cómo hincha ese gritón!” . Algo me dice que si
Reyes hubiera ejercido su verdadera profesión, confeccionando cabestros
y sillas de montar, la consabida frase del mítico “Socio” hubiese resultado:
“Mirá cómo hincha el “tala”!”.
Y hoy la hinchada, igual se llamaría hinchada. Ya que lo que hacía
Reyes era molestar, hinchaba.
Sea como fuere, en aquel entonces, mientras la tribuna iba poblándose
de Reyes, éstos todavía podían vengarse del estado de las cosas, apenas

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con el órgano sublimatorio de sus gargantas y, poco a poco, gracias al la
“chispa” de las letras que inventaban. Y así, molenstando, apoderarse
para siempre del fútbol para el populacho.
Esa suerte no la tienen, hoy en día, los “Barra”. Gritar, ya hace rato que
no alcanza, no llega.
En los comienzos, como vemos, fue la voz, el verbo; hoy, los “Barra”,
que a menudo saben comportarse como verdaderos reyes del estadio
gracias a la agudeza y behemencia de sus cánticos estruendosos, hablan
de que el inexorable destino del “aguante”, es “poner el cuerpo”.
El verbo se ha hecho carne...
¡Cómo es ésto! ¿Abandonamos el estadio? ¿Estamos en la iglesia o
rompiéndole los dientes a un cabeza de tortuga46, poniéndole zapán47 a las
balas gomas? ¿Hacemos teología ? ¿Biblia y calefón? Nos encontramos en
el divan…
Cuando el verbo se hace carne, dirá el psicoanalista, tenemos un
síntoma somático. En nuestro caso, en el cuerpo social. Pero el dogma
cristiano nos habla de otra cosa…
Cómo no preguntarse entonces, de qué pecado nos estarán lavando los
“Barra“, matándose entre ellos y haciendo correr tanta pascua de vino y
falopa48. ¿Redimiéndonos de qué infierno sus bendiciónes de miedo?
¿Pudriéndose en qué cruz, que ya no dice Rey de Reyes y, sobre todo, una
cruz hecha por quiénes?.

Bibliografía
-Alabarces, Pablo. “Crónicas del Aguante”. CI.Buenos Aires, 2005.
-Archetti, Eduardo. “El potrero, la pista, el ring; las patrias del deporte argentino”. Fondo de
Cultura Económica. Buenos Aires, 2001.
-García Candau, Julián. “Èpica y lírica del fútbol”. Alianza. Madrid, 1996.

Páginas web consultadas


http://www.lazer.eefd.ufrj.br/espsoc/
http://www.elhistoriador.com.ar/index.php
http://www.terra.es/personal/xeneizes/Interface.html
http://www.racingclub.com
http://www.nob.com.ar/principal/
http://www.sanlorenzo.com.ar/downloads.php
http://www.sentimientorojo.com/
www.pasionrojinegra.com
http://www.newellsoldboys.com.ar/
http://www.canewellsoldboys.com.ar/

46
Cabeza de tortuga: Policía con casco.
47
Zapán: panza, barriga
48
Falopa: Droga.
89
http://www.barra-bravas.com.ar
www.infiernorojo.com

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Autoren
Marcelo Berrini, Musiker, Lehrer und Autor (Radio/Film), geboren in Rosari-
on (Argentinien), Studium der Musikwissenschaft und Querflöte am Instituto
Nacional de Musica, arbeitete als Komponist und Querflötist sowie als Dozent
an der Theaterhochschule und der Interamerikanischen Universität Rosario,
komponierte Theater- und Filmmusiken und beschäftigt sich intensiv mit dem
Tango Argentino, seit 1999 in Deutschland

Wolfgang Muno, Dr. Phil. M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut


für Politikwissenschaft der Universität Mainz, beschäftigt sich mit internationa-
ler und vergleichender Politik in Lateinamerika

Yvette Sánchez, Prof. Dr., Professorin für Spanische Sprache und Literatur an
der Universität St. Gallen, geboren in Maracaibo/Venezuela (trotzdem Fußball-
fan seit 35 Jahren), Studium, Promotion und Habilitation (über Sammeln und
Literatur) an der Universität Basel, seit 2005 in St. Gallen

Roland Spiller, Prof. Dr., Professor für Romanische Philologie am Institut für
Romanische Sprachen und Literaturen in Frankfurt/M., Studium der Hispanistik
und Islamwissenschaften in Erlangen und Granada, Habilitation über Tahar Ben
Jelloun.

Christoph Wagner, Dr. phil., Akademischer Direktor und Wissenschaftlicher


Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz, beschäf-
tigt sich schwerpunktmäßig mit Problemen der Demokratisierung (Regional-
schwerpunkt Lateinamerika)

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Veröffentlichungen des
Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika

Band 1:
Bolivien: Fehlentwicklungen und Fehleinschätzungen, Mainz
2005

Band 2:
Argentinien in der Krise, Mainz 2006

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