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Inhaltsverzeichnis
Einführung 7
Die windigen Brauseflaschen Peter Abraham 13
Antonelia und ihr Weihnachtsmann Barbara Augustin 20
Der Dackel Oskar Edith Bergner 26
Der Star im Apfelbaum Edith Bergner 32
Die erste Jagd Witali Bianki 36
Die drei Cäcilien Günther Feustel 39
Der Wald der drei Cäcilien 39
Wie die drei Cäcilien eine Frühlingswäsche machten 39
Was die drei Cäcilien mit dem Igel Alexander erlebten 41
Wie die drei Cäcilien die schönsten Eier der Welt suchten 43
Bibi Ingeborg Feustel 46
Ein Wald und Schweinchen Jo Ingeborg Feustel 50
Das Entlein Ingeborg Feustel 53
Krawitter, Krawatter, das Stinchen, das Minchen Herbert Friedrich 54
Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte Franz Fühmann 60
D a sangen die Gänse Anne Geelhaar 76
Vom Mäuschen, der Katze und dem Hahn 76
Gekocht oder gebraten 76
Von der geschwätzigen Schildkröte 77
Vom Zicklein mit der Glocke 77
Von der hundertsten Kunst 78
Filip und die Schäfermaxi Anne Geelhaar 80
Hans Fröhlich und das Vogelhaus Anne Geelhaar 88
Der Riese Archibald Helmuth Gerber 92
Die Polizeituba Helmuth Gerber 97
Vater ist mein bester Freund Günter Görlich 101
Vom dummen Iwanuschka Maxim Gorki 109
Der kleine häßliche Vogel Werner Heiduczek 113
Jana und der kleine Stern Werner Heiduczek 117
Vom Hahn, der auszog, Hofmarschall zu werden Werner Heiduczek 120
Bohrmeister Benno Günter Hesse 126
Hasenjunge Dreiläufer Gerhard Holtz-Baumert 129
Vier Pferde gehen fort Gerhard Holtz-Baumert 134
Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt Hannes Hüttner 140
Das Huhn Emma ist verschwunden Hannes Hüttner 145
Familie Siebenzahl zieht um Hannes Hüttner 149
Taps und Tine Hannes Hüttner 154
Troddel, Taps und Tine Hannes Hüttner 157
Judiths wunderbarer Ball Wera und Claus Küchenmeister 160

5
m - -u -

Der Räuberhase Alfred Könner 164


Drei kleine Bären Alfred Könner 166
Ein Riese namens Emil Hiltrud Lind 168
Pünktchen Werner Lindemann \1A
Bärtig und gestreift Samuil Marschak 180
Vom klugen Mäuschen Samuil Marschak 184
Drei kleine Ferkel Sergej Michalkow 188
Wie die Vögel das Zicklein retteten Sergej Michalkow 195
Die große Reise des kleinen Jonas Katrin Pieper 199
Schuleule Paula Katrin Pieper 205
Heiner und seine Hähnchen Benno Pludra 211
Vom Bären, der nicht mehr schlafen konnte Benno Pludra 215
Das Entenliesel Fred Rodrian 219
Das Wolkenschaf Fred Rodrian 221
Die Rakete von Bummelsburg Fred Rodrian 227
Die Schwalbenchristine Fred Rodrian 235
Hirsch Heinrich Fred Rodrian 241
Wir gehen mal zu Fridolin Fred Rodrian 246
Die Schildkröte hat Geburtstag Elizabeth Shaw 252
Kuno, der fliegende Elefant Waldemar Spender 254
Die Vogelinsel Wolfgang Spillner 260
Kleine Ente namenlos holde Stark 264
Brüderchen Vierbein Eva Strittmatter 267
Der Igel Eva Strittmatter 270
Wer sagt denn da Miau? Wladimir Sutejew 273
Kleine Geschichten Lew N. Tolstoi 276
Mauzel, Elster und die Bären Jewgeni Tscharuschin 277
Der kleine Mauzel TU
Warum Mauzel keine Vögel fängt 278
Die Elster 279
Die beiden Petze 281
Wie das Pferdchen die Tiere spazierenfuhrJewgeni Tscharuschin 284
Tomka Jewgeni Tscharuschin 287
Wie Tomka schwimmen lernte Jewgeni Tscharuschin 288
Tomka ist nicht dumm Jewgeni Tscharuschin 289
Hähnchen Schreihals Ukrainisches Volksmärchen 290
Ticki Mumm Martin Viertel 292
Vaters liebes gutes Bein Ruth Werner 299
Das Osterhasenfell Friedrich Wolf 306
Quellennachweis — Literaturhinweise 313

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Einführung

Die vorliegende Anthologie ist für die Hand der Erzieherinnen in den Vor­
schuleinrichtungen und der Studentinnen an pädagogischen Schulen für Kin­
dergärtnerinnen bestimmt. Sie enthält fünfundsechzig Erzählungen, die alle
schon als Texte von Bilderbüchern erschienen sind.
Wir danken dem Kinderbuchverlag Berlin, dem Alfred-Holz-Verlag und dem
Altberliner Verlag, daß sie es uns ermöglichten, die schönsten Erzählungen,
die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, zu vereinen und sie somit auf
neue Weise für die Bildung und Erziehung zu erschließen.
Verlag und Herausgeber verstehen die Sammlung als ein Vorlese- und Lese­
buch, das das Bedürfnis der Kinder nach Literaturerlebnissen befriedigen
hilft. Die Erzählungen sollten für die Kinder zu einer Quelle schöner und
nachhaltiger Erlebnisse werden, ihr Denken und Fühlen beeinflussen und ih­
nen Vergnügen bereiten; denn sie bieten viele Anregungen, sich mit der
Welt und mit sich selbst auseinanderzusetzen. So können sie zur Unterstüt­
zung der pädagogischen Arbeit beitragen.
Die Kindergärtnerin erhält mit dieser Sammlung einen guten Überblick über
Erzählungen, die Autoren unseres Landes und sowjetische Schriftsteller für
die Jüngsten geschaffen haben. Die Erzählungen sind eng mit dem Leben der
Kinder verbunden und von der Lebensweise in unserer sozialistischen Ge­
sellschaft, von unseren Wertvorstellungen geprägt. Sie lassen ein tiefes Ver­
ständnis für die psychischen Besonderheiten des Kindes erkennen.
Die Anthologie weist eine Vielfalt von Themen auf, die mit unterschiedli­
chen literarischen Mitteln meisterhaft gestaltet worden sind. Die Spannbreite
reicht von der realistischen Erzählung über das Kunstmärchen und die phan­
tastischen Erzählungen bis zur Fabel. Dank den verwendeten inhaltlichen
und gestalterischen Elementen bieten sich für die Erzieherin verschiedenar­
tige Möglichkeiten, die Herausbildung sittlicher und geistiger Haltungen bei
den Kindern zu fördern. Die dargestellten Handlungen, Personen und Um­
stände werden nicht in erster Linie danach beurteilt werden können, ob sie
so, wie in den Erzählungen geschildert, im Leben vorgefunden werden, son­
dern vor allem danach, welche Aussagen über das Leben sie vermitteln. So ge­
hen von den Erzählungen Impulse aus, die dem Kind helfen, sein eigenes Le­
ben zu begreifen, es aktiv und schöpferisch zu gestalten und sich Menschen
und Erscheinungen gegenüber angemessen zu verhalten.
Die vorliegende Sammlung unterstützt das Anliegen des „Programms für die
Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten“. Die Kindergärtnerin fin­
det Erzählungen vor, in denen bedeutsame Probleme unserer gesellschaftli­
chen Entwicklung aufgegriffen und literarisch gestaltet wurden. In einzelnen
Erzählungen treten die Merkmale der sozialistischen Gesellschaft deutlich
hervor, wie in „Wir gehen mal zu Fridolin“, „Judiths wunderbarer Ball“ und

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„Vier Pferde gehen fort“, in anderen sind sie weniger ausgeprägt, wie in „Bei
der Feuerwehr wird der Kaffee kalt“.
Werke dieser Art sind besonders geeignet, die Kinder mit dem gesellschaftli­
chen Leben vertraut zu machen. Sie tragen dazu bei, die Vorstellungen der
Kinder über den Sinn des Lebens unter sozialistischen Bedingungen zu prä­
gen, und sie widerspiegeln das Leben der Kinder in seiner Einheit mit dem
Leben der Erwachsenen. Sie ermöglichen dem Kind die Auseinandersetzung
mit der gesellschaftlichen Umwelt und mit sich selbst.
Die Erzieherin wird interessiert jene Erzählungen aufnehmen, die ihr helfen,
die sittlich-moralische Erziehung der Vorschulkinder mit literarischen Mit­
teln zu unterstützen. Dazu gehören Erzählungen mit Themen über die sozia­
len Veränderungen auf dem Lande („Vier Pferde gehen fort“), über die
Gleichberechtigung der Frau („Die Schäfermaxi“), über die Verteidigung der
Heimat („Vater ist mein bester Freund“). Einige Erzählungen befassen sich
mit Themen wie der Freundschaft zur Sowjetunion („Pünktchen“, „Die große
Reise des kleinen Jonas“, „Wir gehen mal zu Fridolin“) und der Freundschaft
zwischen Kindern und Arbeitern („Die Schwalbenchristine“, „Bohrmeister
Benno", „Ein Riese namens Emil“). Auch Fragen des Lernens und der Vorbe­
reitung auf die Schule („Schuleule Paula“) werden literarisch gestaltet.
In einigen Erzählungen werden geschichtliche Ereignisse dargestellt. Helmut
Gerbers Erzählung „Die Polizeituba“ macht die Kinder mit Erlebnissen eines
älteren Arbeiters bekannt. Ein erster Vorstoß, auch die Jüngsten an das Ver­
ständnis historischer Ereignisse heranzuführen.
Verschiedene Erzählungen mit Themen aus dem Erlebnisbereich des Vor­
schulkindes beleuchten sehr gut, was Kinder in diesem Alter fühlen und den­
ken. Sie sind manchmal mit der Absicht verbunden, den Erwachsenen die
Wünsche und Sehnsüchte der Kinder zu vermitteln, sie zur Überprüfung ei­
gener Standpunkte zu veranlassen („Die Rakete von Bummelsburg“). Immer
wieder geht es in den Erzählungen um die Widerspiegelung der gesellschaft­
lichen Praxis unseres Lebens und der damit für das Kind verbundenen Anfor­
derungen („Familie Siebenzahl zieht um").
Phantastisch-märchenhafte Erzählungen, die sich der Verfremdung in der
Darstellung bedienen, sind von großer erzieherischer und künstlerischer Wir­
kung, wie z. B. die von Werner Heiduczek („Der kleine häßliche Vogel“,
„Vom Hahn, der auszog, Hofmarschall zu werden“) und von Herbert Fried­
rich („Krawitter, Krawatter, das Stinchen und das Minchen“). In märchenhaf­
ter Form werden ethisch-soziale Fragen behandelt, wie z. B. die Folgen des
Vorurteils und der Überschätzung des Äußeren eines Menschen, die Bedeu­
tung von Ehrlichkeit und Bescheidenheit, das Verhältnis von Glückserwar­
tung und eigener Aktivität.

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Einige Erzählungen bedienen sich des künstlerischen Mittels der Vermensch­
lichung, z. B. in „Hasenjunge Dreiläufer“. An die Stelle menschlicher Hand­
lungsträger werden bevorzugt Tiere oder Naturerscheinungen gesetzt. Da­
durch können reiche Beziehungen zu bestimmten Erscheinungen geschaffen
und dargestellt werden, die dem Kind ferner stehen und ihm so Zugang,
Wertung und Auseinandersetzung mit ihnen ermöglichen. Es geht dabei
nicht um das Tier und sein Verhalten in seinem Lebensbereich. Tiere als lite­
rarische Figuren stellen menschliches Handeln dar. Humor und Spaß zeich­
nen viele dieser Erzählungen aus. Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt
wird dadurch vergnüglicher. Treffende Beispiele dafür sind die Erzählungen
„Der Star im Apfelbaum“ von Edith Bergner, „Die windigen Brauseflaschen“
von Peter Abraham sowie die beiden Erzählungen „Bibi“ und „Ein Wald und
Schweinchen Jo “ von Ingeborg Feustel.
Erzählungen mit einer vermenschlichenden Gestaltung tragen dazu bei, daß
sich das Kind mit Fragen seiner eigenen Entwicklung erlebnisreich und
gründlich auseinandersetzen kann, und sie vermitteln ihm unsere Wertungen
des Lebens. In der Erzählung „Hasenjunge Dreiläufer“ z. B. stellt Gerhard
Holtz-Baumert die Frage nach dem Individuellen und nach der Rolle des ein­
zelnen im Kollektiv. Der Hasenjunge Dreiläufer hat durch die Ausbildung
persönlicher Neigungen ganz ungewöhnliche Eigenschaften entwickelt, wo­
durch er aber im Augenblick der Gefahr die Tiere des Waldes retten kann.
Die Erzählung warnt auch vor Gleichmacherei in der Erziehung.
Es sind ferner einige Tiererzählungen in diesem Band enthalten, z. B. von
W. Bianki, S. Marschak, W. Sutejew, W. Spillner, L. Tolstoj, J. Tscharuschin.
Diese geben den Kindern einen Einblick in das Leben der Tiere und in das
Verhältnis von Mensch und Tier.
Erzieherinnen und Eltern, die aus dieser Sammlung vorlesen, sollten sich be­
mühen, den Kindern den ganzen inhaltlichen Reichtum dieser Literatur zu
erschließen. Das Literaturerlebnis kann für Vorschulkinder zu einer Quelle
der Selbsterkenntnis werden, ihnen helfen, ihre Lebenskenntnisse zu erwei­
tern, bestimmte Situationen, in die sie selbst nicht kommen können, gedank­
lich zu erleben und nachzuempfinden. So werden ihre Herzen empfänglicher
für Freude und Leid ihrer Mitmenschen.
Nicht in jedem Text sind solche Potenzen enthalten. Vom Erwachsenen müs­
sen der unverwechselbare und eigenständige Charakter jeder Erzählung be­
stimmt, der Ideengehalt erkannt und die besonderen Wirkungsmöglichkeiten
eingeschätzt werden, um dann in geeigneter, Weise das Werk den Kindern
nahezubringen.
In der Praxis der Vorschulerziehung hat es sich bewährt, daß sich die Kinder
eine Erzählung in mehreren Beschäftigungen aneignen.

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Eine literarisch wertvolle Erzählung bietet meist mehrere Ebenen an, die er­
schlossen werden können. Im Prozeß der vertiefenden Rezeption bemüht
sich die Erzieherin, das Werk nach vielen Seiten hin auszuschöpfen, den Kin­
dern Handlungsablauf, handelnde Personen, deren Motive und Eigenschaf­
ten verständlicher zu machen. Das geschieht durch wiederholtes Vorlesen
und anschließende Gespräche über ausgewählte Textstellen. Dabei werden
von den Kindern bestimmte Seiten des Inhalts genauer erfaßt, tiefer empfun­
den und intensiver nacherlebt. Auch das Nacherzählen durch die Kinder, das
Dramatisieren oder Malen von Teilhandlungen geben die Möglichkeit, eine
Erzählung tiefer zu erschließen.
Neue Erzählweisen erfordern auch eine neue Art und Weise der Rezeption.
In Hannes Hüttners Erzählung „Das Huhn Emma ist verschwunden“ bleibt
z. B. der Schluß offen, es werden nur Lösungsvarianten für das Verschwinden
des Huhns angeboten. Die schöpferisch-ästhetische Aneignung dieser Erzäh­
lung durch die Kinder ist unumgänglich.
Die Entwicklung der Rezeptionsfähigkeit in den einzelnen Altersgruppen
spielt bei der Aneignung dieser Literatur eine wichtige Rolle. Wir haben
keine Bestimmung des Lesealters für die verschiedenen Erzählungen vorge­
nommen, weil das Verständnis für diese oder jene Erzählung in erster Linie
von den Erlebnissen der Kinder, dem Grad ihrer Rezeptionsfähigkeit abhängt
und auch vom methodischen Geschick der Erzieherin, die sie damit bekannt
macht. Je mehr Tiefe eine Erzählung hat, um so größer ist die Möglichkeit,
mit ihr nachhaltige Wirkungen zu erzielen, sie zum Gegenstand schöpferi­
scher Auseinandersetzung zu machen.
Im Prozeß der literarisch-ästhetischen Bildung und Erziehung wird es natür­
lich nicht immer gelingen, allen Kindern die Fragestellung einer Erzählung in
ihrer ganzen Bedeutung bewußtzumachen. Wir sollten uns aber bemühen,
daß die Kinder allmählich von der vordergründigen Handlung zu ihrer Be­
deutung und zu ihrem tieferen Gehalt Vordringen.
Welche Wirkung ein literarisches Werk tatsächlich erreicht, das hängt auch
von den inneren und äußeren Bedingungen seiner Aufnahme durch das Kind
ab. Ein Kind, das sich unter Anleitung der Erzieherin eine Erzählung aneig­
net, entwickelt zunehmend innere und äußere Aktivität. Aus diesem Grunde
ist es so wichtig, die emotionale und die rationale Seite der Aneignung von
Literatur gebührend zu berücksichtigen. Das Kind muß seine individuellen
Erfahrungen in die Auseinandersetzung mit der Erzählung einbringen kön­
nen, wir müssen es lehren, über eine Erzählung zu sprechen, Gefühle zu äu­
ßern, Assoziationen zu entwickeln.
Wir gehen davon aus, daß bei der Literaturrezeption - wie im Prozeß jeder
Wahrnehmung - die ganze Persönlichkeit beteiligt ist. Deshalb reicht es

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nicht aus, den Kindern den Inhalt der Erzählung zu erschließen, sondern es
kommt darauf an, die Aneignung des Inhalts als ästhetisches Erlebnis zu ge­
stalten. Literatur wirkt immer zusammen mit anderen erzieherischen Einflüs­
sen auf die Kinder. Wir freuen uns, wenn die Kinder Schlußfolgerungen für
ihr eigenes Leben aus einem Literaturerlebnis ableiten. Manche Kinder äu­
ßern sich aber gar nicht oder nicht sofort sprachlich über ihre Empfindungen,
Gedanken oder Fragen, die sie bei einem Literaturerlebnis bewegen. Litera­
tur erzielt Wirkungen auf eine Weise, die anderen Formen der Einflußnahme
auf den Menschen nicht gegeben ist. Sie löst ästhetische Empfindungen und
Gefühle, Wahrnehmungen aus, fordert zu Parteinahme und zu Urteilen her­
aus. Daher sind auch die reichen und individuell vielseitigen seelisch-geisti­
gen Prozesse von großer Bedeutung, die sich bei jedem Rezeptionsprozeß
vollziehen.
Wir hoffen, daß die vorliegende Sammlung und die Anregungen dieses Vor­
wortes Erzieherinnen und Eltern bei der literarisch-ästhetischen Erziehung
der Kinder helfen, und vor allem, daß die Erzählungen den Kindern Freude
bereiten.
Hans-Otto Tiede

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Die windigen Brauseflaschen

In der Schule sind jetzt Sommerferien.


Karline und ich, wir verbringen einen Teil unserer Ferien immer im Häuschen
von Ambrosius Tankgabel, der unser richtiger Onkel ist.
Vom Bahnhof Gabun, der mitten im Ort liegt, ist es noch ein ganzes Stück­
chen bis zum Leuchtturm zu laufen. Schon von weitem freuen wir uns über
den schönen roten Turm. Wenn oben aus den Turmluken Rauch aufsteigt,
dann sitzt der Onkel oben und raucht seinen Knaster. Dabei putzt er das
Leuchtfeuer oder liest die Zeitung „Mitteilungen für Leuchtturmwärter“ .
Kein Mensch, außer Karline und mir, weiß, woher Onkel Tankgabel sein
Wissen über den Wind hat. — Ambrosius Tankgabel steht mit dem Wind
auf „du“ . Wenn der Wind sehr stark ist und am Strand der schwarze Sturm­
ball aufgezogen wird, damit keiner mehr hinausschwimmt, dann tritt Onkel
Ambrosius vor seinen Leuchtturm und droht mit dem Finger. „He, Rasmus,
du alter Schlingel“ , sagt er, „sei schön vernünftig.“
Rasmus — so heißt der Wind.
Karline und ich, wir lachen den Onkel aus. „D er Wind wird gerade auf dich
hören“ , meint Karline in ihrer frechen Art. „Warum soll der Wind nicht auf
mich hören“ , brummt Onkel Ambrosius ärgerlich.
Da kommt eine Welle angesaust, donnert so an den Leuchtturm, daß wir
noch ein paar Spritzer abbekommen.
„Der Wind ist stärker als der stärkste Mann“ , sage ich.
„Aber der Wind ist dumm“ , meint Onkel Ambrosius und spuckt ins Wasser.
Das hätte er nicht tun sollen, denn jetzt fängt der Wind erst richtig zu heulen
an.
„H ast du den Wind schon einmal gesehen?“ fragt Karline, um den Onkel
zu ärgern.
„D a “ , sagte der Onkel und deutet auf eine Welle, die angerollt kommt.
Karline faßt mich plötzlich an der Hand. Sie hat Angst. Tatsächlich, die
Welle hat ein Gesicht und brüllt mit aufgerissenem Mund: „He, Ambrosius!“
Dann zerschellt die Welle am Fuße des Turmes.
Der Onkel lacht uns beiden zu.
„Rasmus, alter Schlingel“ , ruft er, „wenn du wirklich so stark bist, dann
puste uns doch weg!“
Der Sturm heult wütend auf. Wir aber bleiben stehen und fliegen nicht. Alle
drei lachen wir den Sturm aus. D a taucht Rasmus wieder aus den Wellen
auf und «sagt eigensinnig: „Ich bin aber schneller als ihr!“
„D as ist wahr“ , sage ich, obwohl es mich sehr, sehr ärgert. Aber mein Onkel
Ambrosius macht „pst“ und legt den Finger auf den Mund. Dann ruft er
in den Sturm: „Rasmus, alter Schlingel, wir sind schneller! Ich will drei Tage
keine Bratkartoffeln mehr essen, wenn’s nicht stimmt.“

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„D as hättest du nicht sagen sollen, Onkel Ambrosius“ , sagt Karline, die so
gerne Bratkartoffeln ißt.
„Wenn du schneller bist“ , lacht der Sturm, „dann will ich mich für drei Tage
in ein Mauseloch verkriechen!“
„Die armen Mäuse“ , sagt Karline. Onkel Ambrosius schreit: „D ie Wette
gilt! Wer zuerst im Dorf alle Pflaumen vom Baum neben der Feuerwehr
geschüttelt hat, ist Sieger.“
Der Sturm taucht nun als Wolke auf, die sich vor Lachen schüttelt.
„Zähle bis drei“ , sagt Ambrosius Tankgabel zu mir, „dann geht es los.“
Ich zähle: „Eins, zwei, und die letzte Zahl heißt drei!“
Da saust der Sturm los und ruft dabei: „Ich sause, ich eile, ich rase schneller
als der schnellste Hase!“
Hui, und er ist schon nicht mehr zu sehen.
Der Onkel murmelt: „Wenn er doch wenigstens gut reimen könnte! Auf
,sause“ paßt so wunderbar .Brause“ und auf ,eile“ —, .Keile“!“ „Onkel Am­
brosius“ , rufen Karline und ich zusammen, „die Wette ist verloren, wenn
wir nicht losrennen!“
Ambrosius Tankgabel tippt sich an die Mütze und sagt: „Mit den Füßen ist
das sowieso nicht zu schaffen! D a muß man schon eine Idee haben.“
Er nimmt uns an der Hand und führt uns in den Leuchtturm. „ D a “ ,
sagt er und zeigt aufs Telefon. Dann wählt er. „Ist da die Feuerwehr?“
fragt er. „Ja, hier ist die Feuerwehr!“ sagt der Feuerwehrhauptmann im
Dorf.
„Hier ist Ambrosius.“
„Brennt es bei dir, Ambrosius?“
„Nein“ , sagt der Onkel.
„Dann habe ich keine Zeit, mit dir zu reden“ , sagt der Feuerwehrhaupt­
mann.
„D u “ , sagt Ambrosius, „schüttelt doch schnell mal den Pflaumenbaum!“
„Für so einen Blödsinn haben wir keine Zeit, gleich kommt Sturm.“
„Darum geht es ja“ , brüllt Onkel Ambrosius ungeduldig.
„Wenn ihr den Pflaumenbaum schüttelt, dann ist es mit dem Sturm aus.“
„H ast du vielleicht Schnaps getrunken?“ fragt der Feuerwehrhauptmann,
„du redest nämlich Quatsch!“
„Ich will drei Tage keine Bratkartoffeln essen, wenn ich Quatsch rede“ ,
jammert Ambrosius.
„A u“ , meint Karline, „das sind schon sechs Tage, an denen wir keine Brat­
kartoffeln kriegen.“
„Also gut“ , sagt der Feuerwehrhauptmann, „wenn du es so wichtig
nimmst.“

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Ambrosius legt den Hörer auf, und wir springen alle drei wie verrückt vor
Freude herum. Tatsächlich, nach kurzer Zeit wird der Wind immer schwä­
cher. Die letzte Welle leckt sanft am Turmsockel.
„So, Kinder“ , sagt Onkel Ambrosius. „Jetzt machen wir uns erst einmal
Bratkartoffeln
Drei Tage weht kein Wind, und wir essen mittags und abends die guten
Bratkartoffeln von Onkel Ambrosius. Der Wettermann im Fernsehen sagt,
rätselhafterweise wäre der Wind abhanden gekommen. Wir lachen uns ins
Fäustchen. Ganz in der Nähe des Leuchtturmes ist ein Hügel, und darin ist
ein Loch — ein Mauseloch. Onkel Ambrosius, Karline und ich, wir gehen
jeden Tag dorthin, legen unsere Ohren an die Erde und lauschen, wie Rasmus,
der Schlingel, darin heult.
Am vierten Tage ist er wieder da, und am fünften Tag heult wieder der
Sturm. Onkel Ambrosius ist müde. Er hat die ganze Nacht auf dem Turm
gesessen. Jetzt legt er sich ins Bett und fängt gleich an zu schnarchen.
Die Sommergäste am Strand haben sich Pullover angezogen, denn der Wind
ist sehr kalt. Die Wellen werfen Schaum, Kork, Holz und bunte Quallen an
Land.
„Weißt du was“ , sagt Karline, „wir gehen zum Hafen.“
Alle Sportboote und auch die ganze Fischfangflotte von Gabun sind da. Die
Fischer sitzen auf den Steinen, rauchen und lesen die Zeitung. Einige
hantieren auch mit den Netzen.
„Wenn der Sturm nicht aufhört, dann können wir nicht rausfahren“ , sagt
einer.
„Und was soll ich den Leuten verkaufen?“ fragt der Verkäufer von der
Fischhalle. „Gerade heute am Freitag, wo doch alle Leute Fisch essen
wollen.“
„Karline“ , sage ich, „langweilst du dich auch so sehr?“ —
„ Ja “ , sagt Karline. „Wir sehen mal nach, ob der Onkel schon wach ist.“
Als wir wieder an Ambrosius Tankgabels Haus ankommen, packt mich
Karline am Arm. „D a, sieh mal“ , ruft sie laut, „Feuerwerk!“
Auf der See steigt eine rote Kugel auf.
„Vielleicht ist es aber kein Feuerwerk“ , sage ich. „Wir wecken Onkel
Ambrosius“ , sagt Karline und rennt schon ins Haus.
„Eine rote Kugel?“ fragt der Onkel Tankgabel und rennt im Schlafanzug
und in Latschen zum Leuchtturm. Als wir oben sind, steigt wieder eine rote
Kugel auf. Der Onkel blickt durch das Fernglas. „D a wurde rot geschossen“ ,
sagt Onkel Ambrosius. „ E r braucht Hilfe.“ Er rennt zum Telefon, um den
Rettungsdienst anzurufen. Karline und ich sehen abwechselnd durch das
Fernglas. Manchmal taucht zwischen den Wellen ein Boot auf. Der Mast ist

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gebrochen. E s treibt hilflos auf den Wellen. Bald sehen wir, wie der Rettungs­
kreuzer zu dem Boot fährt und es in den Hafen schleppt. „Sieh mal“ , sagt
Karline, „da war auch ein kleiner Junge auf dem Boot.“
„E s ist ja nichts Schlimmes passiert“ , sagt der Onkel.
„Aber wer weiß, was geschehen wäre, wenn ihr die Leuchtkugel nicht ge­
sehen hättet.“
Karl’ne und ich, wir sind nun ganz stolz.
Der Sturm tobt schon drei Tage.
„Onkel“ , sage ich zu Ambrosius Tankgabel. „D u mußt endlich etwas gegen
den Sturm unternehmen!“
„ Ja “ , stimmt Karline mit ein. „D u bist der einzige, der etwas gegen Rasmus
machen kann.“
„So?“ meint Onkel Ambrosius und schmunzelt. „Dann kommt mal mit.“
Wir gehen neben dem Onkel her. Wohin will er eigentlich? Am Strand, wo
der Konsum-Limonaden-Kiosk ist, macht er halt.
„Drei Kästen Brause, Christin“ , sagt er zu der Verkäuferin.
„Drei Kästen auf einmal?“ fragt Christin und schüttelt verwundert den
Kopf. Der Onkel bezahlt.
„So“ , sagt er, „jetzt trinken wir die Brause aus.“
„Alle drei Kästen?“ frage ich. Er nickt.
„Prima“ , ruft Karline begeistert. Aber als sie die dritte Flasche halb aus­
getrunken hat, hält sie sich vor Schmerzen den Bauch.
„Wir schaffen es nicht“ , sage ich, denn mir ist auch schon übel.
„Wir müssen!“ sagt Onkel Ambrosius erschöpft, „sonst kommen wir dem
Sturm nicht bei.“
„Wir können Hilfe holen“ , meint Karline.
„D as ist ein guter Gedanke“ , lobt Onkel Ambrosius.
Karline und ich rennen den ganzen Strand entlang und holen alle Kinder zum
Brausetrinken herbei. Das ist ein Jubel! Im Nu sind die Flaschen aus allen
drei Kästen leer. Onkel Ambrosius packt sich zwei Kästen mit leeren
Flaschen auf die Schulter; Karline und ich nehmen den dritten Kasten
zusammen. Die Flaschen sind schwer, auch wenn sie leer sind. Verschwitzt
erreichen wir den Leuchtturm.
„D as wäre geschafft“ , meint Onkel Ambrosius Tankgabel. „Und nun?“
fragen Karline und ich.
„Also“ , sagt Ambrosius, „Rasmus ist ein verspielter Schlingel. Überall wo
ein Torweg, ein Tunnel, ein Schornstein ist, da will er unbedingt durchgehen
und ein bißchen heulen. Wenn irgendwo ein Fenster und eine Tür auf ist,
da saust er auf der einen Seite hinein, bringt alles in Unordnung, und dann
fegt er an der anderen Seite wieder hinaus.“

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„D as ist wahr“ , ruft Karline, „bei uns zu Hause hat er schon mal das
Tischtuch mit der Blumenvase auf den Fußboden geweht.“ „Wir stellen ihm
eine Falle“ , rufe ich, weil ich errate, was der Onkel vorhat.
„ Ja “ , jauchzt Onkel Ambrosius. „Wir machen oben im Leuchtturm die
Luken auf und unten die Tür. Wenn der Sturm dort hineingefahren ist,
machen wir gleichzeitig oben und unten zu. Dann haben wir ihn!“
„Also ich gehe nach oben an die Luken“ , rufe ich.
„Ich übernehme die Tür unten“ , beeilte sich Karline.
„D a fällt mir etwas ein — woher wissen wir eigentlich, wann die Tür und die
Luken zugemacht werden müssen?“
„Hier habe ich mein Signalhorn“ , sagt Ambrosius Tankgabel und bläst
einmal kräftig hinein. „Wenn ich blase, dann heißt das: Türen und Luken
dicht!“
Ich renne sofort die Treppen zur obersten Plattform empor und mache die
Luken auf. Der Sturm reißt sie mir beinahe aus der Hand und saust heulend
in den Turm. Dort stürzt er sich auf das Regal, reißt die Zeitung „M it­
teilungen für Leuchtturmwächter“ heraus, wirbelt sie heulend umher und
stürzt die Treppe hinunter. In diesem Augenblick ertönt das Signalhorn von
Onkel Ambrosius. Ich schlage die Luken von innen zu. Von unten höre ich,
wie Karline die Tür knallt. Dann ist nur noch das Heulen des Sturmes zu
hören.
Unten finde ich Karline und Onkel Ambrosius, die furchtbar lachen. Aberdas
kann ich nur sehen. Zu hören ist nur Ambrosius Tankgabels Horn. Obwohl er
es schon wieder an den Wandnagel gehängt hat. Offenbar tobt sich der Sturm
darin aus. Dann hört der Sturm auf zu tuten und spricht mit weinerlicher
Stimme:
„Ich raste auf dem Wasser und zu Lande.
Versenkte Schiffe mit Mann und Maus,
entriß die Dächer von Stall und Haus,
streckte Eichenbäume nieder,
sang in Straßen Schauerlieder.
Und nun, ich trag sie nicht, die große Schande! —
Ihr lockt mich in diesen Turm;
ich armer, eingesperrter Sturm.“
Der Onkel Ambrosius nickt im Takt zu den Worten des Sturms. „Rasmus,
alter Schlingel“ , sagt er dann, „hast du nicht auch, manchmal etwas Ver­
nünftiges gemacht?“
Der Sturm spricht:
„Den Samen vieler Blumen trug ich in die Welt.
Und hab damit die Wiesen bunt und reich bestellt.

2 17
Manche Mühle trieb ich an,
trug bei Hitze kühle Luft heran,
Mutter half ich Windeln trocken kriegen.
Ließ im Herbst die Riesendrachen fliegen.“
„D u, Onkel“ , sagt Karline, „vielleicht sollten wir Rasmus, den Schlingel, doch
freilassen. Denn gerade in diesem Jahr wollen wir einen ganz wunderbaren
Drachen bauen.“
Obwohl es mir wegen des Drachens leid tut, sage ich: „Aber Karline, denk"
doch an die Schiffe und an die Dächer.“
„Wir lassen ihn wieder raus“ , entscheidet Onkel Ambrosius, „aber immer
nur in kleinen Brisen und so, wie wir ihn benötigen.“
„Aha“ , sage ich, „du willst ihn in Brauseflaschen abfüllen!“
„Wenn der Sturm nun aber nicht in die Flaschen geht?“ meint Karline.
„He, Rasmus, alter Schlingel, wenn du nicht sofort in die Brauseflaschen
kriechst, dann kommst du hier niemals mehr heraus!“ ruft Onkel Ambro­
sius.
Der Sturm murmelt:
„Verstopft sind alle Ritzen.
Es gibt hier kein Entfliehn.
Soll ich nun ewig sitzen?
Soll’n ohne mich die Wolken ziehn?
Lieber mach ich mich ganz klein —
Zieh in diese Flaschen ein.“
„Kinder“ , ruft der Onkel, „jetzt macht die Flaschen gut zu!“ Als wir die
Flaschen alle verschlossen haben, gehen wir hinaus. Die See ist ganz ruhig.
Wir hören Motorengeknatter. Dann sehen wir, wie die Fischereiflotte von
Gabun zum Fang ausläuft. E s ist heiß. Kein Windchen weht. Wir haben ihn
ja in Brauseflaschen eingesperrt. Onkel Ambrosius, Karline und ich, wir
sitzen im kühlen Turm. D a kommt jemand. Es ist der Feuerwehrhauptmann
von Gabun. Er sieht nach, ob niemand im Wäldchen raucht, denn bei der
Hitze brennt es besonders schnell. „Tag, Ambrosius!“ sagt er. „E s ist heiß
heute.“ E r wischt sich mit einem großen Taschentuch die Stirn.
„T ag“ , sagen wir alle zusammen.
Der Feuerwehrhauptmann staunt: „Wozu habt ihr denn gleich drei Kästen
Brause hier?“
„N ur so“ , sagt der Onkel.
„Ein Fläschchen wirst du mir doch spendieren?“ sagt der Feuerwehrhaupt­
mann. Karline macht den Mund auf, um etwas zu sagen. Der Feuerwehr­
hauptmann meint: „Prost!“ Er läßt die Flasche aufspringen. Da — vor
Schreck läßt er sich auf den Stuhl plumpsen. Ein bißchen Sturm saust aus

18
der Flasche, verwuschelt uns allen die Haare, jagt zur Tür hinaus und wirft
ein paar Strandkörbe um. Die Badegäste am Strand rufen alle: „ A h ..
„Dachte ich es mir doch“ , sagt der Feuerwehrhauptmann zu Ambrosius. „D u
hast den Sturm eingesperrt.“
„Ist das verboten?“ fragt Ambrosius Tankgabel.
„Nein“ , sagt der Feuerwehrhauptmann. „Jetzt weiß ich wenigstens, an wen
ich mich wenden muß, wenn mal Wind gebraucht wird.“
Er gibt uns allen dreien die Hand und geht fröhlich pfeifend davon.
Das mit dem eingesperrten Sturm spricht sich schnell herum. Von der Zeitung
Kommen Reporter und fotografieren die Kästen mit den Brauseflaschen. Am
nächsten Tag wissen alle Leute Bescheid. Das Telefon im Leuchtturm
klingelt ununterbrochen. Karline, ich und Onkel Ambrosius gehen ab­
wechselnd an den Apparat. Alle fragen nach dem Wind. Irgendwo soll die
Wäsche trocknen. Wir öffnen eine Flasche. Dann soll eine Wettfahrt der
Segelboote stattfinden. — Wieder müssen wir eine Flasche öffnen. In einer
Stadt ist es den Leuten zu heiß. Sie brauchen auch Wind.
Jeden Tag werden es weniger Brauseflaschen, in denen noch etwas drin ist
— leider ist nun auch die schöne Ferienzeit um. Am Tag unserer Abreise ist
nur noch eine Flasche mit Wind da. Onkel Ambrosius Tankgabel sagt: „Die
wird für ganz dringende Fälle aufgehoben.“ Wir verabschieden uns vom
Onkel und gehen zum Bahnhof. Alle paar Schritte drehen wir uns zum
Leuchtturm um. Onkel Ambrosius sitzt oben und raucht seinen Knaster.
„Schade, daß die Flaschen so schnell leer geworden sind“ , sagt Karline
traurig.
„Ach“ , sage ich, „im nächsten Sommer fangen wir Rasmus wieder ein!“
„ Ja “ , ruft Karline und springt plötzlich vor Freude, „wir werden den Wind
einfangen, die Wolken und den Sonnenschein. Dann bestimmen wir im
voraus, wie das Wetter wird.“
Und Ambrosius Tankgabel, der unser richtiger Onkel ist, wird uns dabei
helfen.
Peter Abraham

2* 19
Antonella und ihr Weihnachtsmann

Die Geschichte, die ihr jetzt lesen werdet, hat sich in einer kleinen Stadt am
Gebirge neben dem Meer zugetragen. Das Meer, das Gebirge und die kleine
Stadt gehören zu dem Land Italien.
In Italien ist der Sommer heißer und länger als anderswo, aber einen richtigen
Winter mit Schnee und Kälte gibt es dort auch, wie bei euch.
Die Kinder gehen in die Schule, wie überall und wie ihr. Nur haben die
italienischen Kinder andere Namen als ihr. Sie heißen Lucia, Brighella, Paolo
oder Antonio. Noch etwas ist anders, als ihr es kennt. Eine Frau nennt man
in Italien Signora, ein Fräulein Signorina und einen Mann Signore.
Jetzt kennt ihr euch gleich besser aus in der kleinen Stadt, in der Antonella
zu Hause ist.

Der Dezembermonat war nicht mehr weit, und Antonella hatte einen
Wunschzettel gezeichnet. •Ein Paar rote Rollschuhe stand auf dem weißen
Zeichenblatt. Antonella ging in die erste Klasse und konnte noch nicht alles
schreiben, was sie gerne wollte. Sie stellte den Wunschzettel auf ihr Fen­
sterbrett und wartete — vergebens. Morgen für Morgen stand der Wunsch­
zettel unberührt auf seinem Platz.
Antonella wurde traurig.
Eines Tages bemerkte das auch ihre Lehrerin, Signorina Meregalli. „Was hast
du, Antonella?“ fragte sie.
„Der Weihnachtsmann hat meinen Wunschzettel noch immer nicht, ab­
geholt.“
Bevor Antonella noch etwas erklären und ehe Signorina Meregalli antworten
konnte, lachte die ganze Klasse.
„E s gibt ja gar keinen Weihnachtsmann!“ riefen alle durcheinander und
hörten nicht auf zu lachen.
„E s gibt doch einen“ , verteidigte sich Antonella.
Der Lärm legte sich erst, als die Signorina energisch sagte: „Ich will nicht
wieder hören, daß über Antonella gelacht wird. Schluß mit dem Lärm !“
Antonella hatte es in der folgenden Zeit sehr schwer. Ihre Mitschüler ließen
keinen Tag vergehen, ohne sie zu necken und zu ärgern: „Seht Klein-
Antonella an, glaubt noch an den Weihnachtsmann!“
„N a, Antonella, wie geht es deinem Weihnachtsmann?“
Antonella mußte sehr gegen ihre Tränen kämpfen. Nein, sie ging gar nicht
mehr gern in die Schule.
Auch zu Hause verließ der Kummer sie nicht. Warum holte der Weihnachts­
mann ihren Wunschzettel nicht ab? Hatte er sie vergessen? Sie, Antonella,
die noch nie über ihn gelacht hatte? Wenn es nun wirklich keinen gab? Bei
so vielen Fragen konnte nur noch Gino helfen.

20
Gino ist schon zehn Jahre alt und trotzdem Antonelias bester Freund. Gino
weiß alles. „Gino, gibt es einen Weihnachtsmann oder nicht?“
Da machte Gino ein ernstes Gesicht. Er sah beinahe erwachsen aus. Gino
dachte lange nach. Endlich sagteer: „Hm, ja, das ist so, Antonelia. Natürlich
gibt es einen Weihnachtsmann.“
Antonelia strahlte.
„Aber — weil es so viele Kinder gibt, müssen die Eltern ihm einen Zuschuß
zahlen, verstehst du?“
Antonella weinte. Unaufhörlich rollten dicke Tränen über die Wangen und
tropften den ganzen Kragen naß.
Gino sah erschrocken zu. Wenn Antonella weinte, wurde er ratlos und mußte
aufpassen, daß er nicht mitweinen mußte, so leid tat ihm seine Freundin.
„Hör doch bitte wieder auf, Antonella.“
Erst nach einer ganzen Weile flössen die Tränenbächlein langsamer, und
Antonella konnte unter Schluchzen reden.
„Ich bekomme gar nichts zu Weihnachten. Meine Eltern haben große Sorgen
und können dem Weihnachtsmann keinen Zuschuß geben.“ Wieder liefen die
Tränen heftig — bis Gino eine Idee hatte. „D u mußt dem Weihnachtsmann
einen Brief schreiben und ihm alles erklären!“
D a war die Traurigkeit vorbei, und Antonella umarmte ihren großen
Freund.
„Komm, Gino, hilfst du mir?“
„Ehrensache, Antonella.“
Gemeinsam hatten sie den Brief bald geschrieben. Darin stand zu lesen:
„Lieber Weihnachtsmann!
Zwei Wochen lang hast Du meinen Wunschzettel nicht abgeholt. Vielleicht
warst Du noch nicht bei uns? Aber wahrscheinlich wartest Du auf den
Zuschuß. Ich muß Dir leider schreiben, daß meine Eltern keinen geben
können. Sie haben Sorgen. Der Winter ist so früh gekommen, der Sturm hat
die Netze zerrissen, und wir können keine Fische verkaufen.
Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir aber trotzdem so sehr ein Paar
Rollschuhe. Nichts weiter.
Wenn Du allerdings noch ein paar Stoffreste hast, könnte ich eine Hose für
meinen Affen Angelo gebrauchen. Er ist nur 30 Zentimeter groß. Mama sagt,
Affen Brauchen keine Hosen, aber er friert, lieber Weihnachtsmann. Denk
bitte auch an Gino. Er hat mir beim Brief schreiben geholfen. Lieber Weih­
nachtsmann, vergiß mich bitte, bitte nicht. Deine Antonella“
Sie schrieb selbst die Adresse auf den Umschlag: An den Weihnachtsmann.
„Gleich bring ich den Brief zur Post, Gino.“

21
Antonelia konnte kaum über den hohen Schaltertisch im Postamt sehen. Sie
stellte sich auf die Zehenspitzen und sagte besonders laut und deutlich:
„Guten Tag, Signorina, ich möchte einen Brief abgeben.“
Signorina Lucia von der Post beugte sich zu Antonella herunter und nahm
ihr den Brief ab. An den Weihnachtsmann, las sie.
„Wo wohnt denn der Signore Weihnachtsmann?“
„E s ist doch der Weihnachtsmann.“
D a lachte Lucia, denn sie glaubte, die Kinder hätten sich einen Spaß mit
ihr erlaubt.
„In Zukunft läßt du dich aber nicht wieder zu solchem Unsinn anstiften,
ein nettes kleines Mädchen wie du.“
Weggewischt war die Freude von Antonellas Gesicht, und Tränen standen
in den Augen. D a merkte Lucia, daß es kein Spaß war. Aber wie sollte sie
helfen?
„Ich weiß leider nicht, wo er wohnt, leider.“
Unglücklicher als je, verließ Antonella mit ihrem Brief das Postamt.
„Frag Luftballon-Pinore einmal!“ rief Lucia ihr nach.
Signore Pinore verkaufte im Sommer Eis und im Winter Tee und heiße
geröstete Kastanien. Aber zu jeder Jahreszeit hingen viele bunte Luftballons
an seinem Karren für die Kinder. Darum nannten alle Leute in der kleinen
Stadt Signore Pinore den Luftballon-Pinore.
Als er Antonella so traurig sah, rief er ihr zu: „He, Antonella, laß den Kopf
nicht hängen. Komm, trink einen Tee mit mir.“
Antonella nahm den Becher mit Tee und setzte sich still zu ihm auf den
Marktbrunnenrand. Antonellas Schweigen dauerte Signore Pinore zu
lange.
„Was ist passiert, erzähle, Antonella.“
D a reichte sie ihm den Brief an den Weihnachtsmann.
„Weißt du vielleicht, wo er wohnt?“
Nein, das wußte Signore Pinore nicht.
„O b er hinter dem großen Berg wohnt?“ überlegte Antonella. „Oder auf
der anderen Seite des Meeres? Vielleicht über den Wolken?“
„A uf der Erde wohnt er bestimmt, aber wo?“ sagte Luftballon-Pinore.
Als er so nachdachte und den Himmel und die Berge anschaute, tanzten die
Luftballons vor seinen Augen, und Luftballon-Pionore wußte, was zu tun
war.
„Wir werden einen Luftballon auf die Reise schicken. Er wird den Weg zum
Weihnachtsmann schon finden.“
Antonella konnte wieder fröhlich sein. Sie wickelten den Brief in eine re­
gendichte Hülle, verschnürten ihn fest und banden ihn an den schönsten roten

22
Luftballon. Signore Pinore hob Antonella auf seine Schulter, damit der
Ballon einen besonders guten Start hatte.
„Komm gut an“ , flüsterte Antonella.
„Grüß den Weihnachtsmann von mir“ , murmelte Luftballon-Pinore.
Sie sahen beide lange dem roten Punkt hinterher, der tanzend höher und
immer höher schwebte und bald hinter einer grauen Schneewolke ver­
schwand.
Vielen Schnee- und Regenwolken begegnete der rote Luftballon. Frost und
Nebel mußte er überstehen. Vom Nordwind gezaust, vom Südwind gerüttelt,
vom Westwind geschoben, vom Ostwind zurückgepustet, segelte er über
Gebirge und Meer, über Städte und Dörfer, ohne Pause.
Doch der Winter ist keine gute Jahreszeit zum Reisen für einen Luftballon.
Er wurde bald müde und strebte immer schneller der Erde entgegen. Direkt
auf einen Schulhof in der Stadt Budapest in Ungarn steuerte er zu. Janos
sah ihn zuerst.
„D a kommt was!“ rief er mitten in der Unterrichtsstunde.
„Ein Sputnik!“
„Ein Meteorit!“
„Achtung!“
„Ein Stückchen Sonne!“
Alle riefen und rieten durcheinander und sahen gespannt auf das rote Pünkt­
chen, das immer näher kam. Beinahe waren sie enttäuscht, als sie es er­
kannten.
„N ur ein Luftballon.“ .
„Aber mit einer Botschaft daran!“
Die Klasse stürmte auf den Schulhof. Ihr Lehrer stürmte mit. Aber niemand
konnte die Adresse entziffern, denn in Ungarn reden die Menschen eben
ungarisch.
Wie stolz war da die Klasse 8a, als ihr Lehrer sagte: „D as ist ja Italienisch,
gebt mal her, ich übersetze es euch.
Lieber Weihnachtsmann. . . “
Alle lachten über die merkwürdige Anrede. Als sie den Brief bis zum Ende
gehört hatten, waren die großen Jungen sehr still.
„N a, ganz einfach. Wir schicken Antonella ein Paket“ , schlug Janos vor,
„und einen Brief.“
Am Nachmittag kauften sie von ihrem Taschengeld für Antonella Weih­
nachtsgeschenke ein. Natürlich waren die Rollschuhe dabei und eine lange
Hose für den Affen Angelo. Auch Schokolade und bunte Bonbons fehlten
nicht. Sorgfältig wurde alles eingepackt.
Der freundliche Lehrer schrieb einen Weihnachtsmannbrief in Italienisch.

23
Mit der Eilpost schickten sie noch am gleichen Tag Paket und Brief auf die
Reise in die kleine italienische Stadt.
Antonelia ging wieder gern in die Schule. Ihre Mitschüler neckten sie nicht
mehr, denn was sie sich auch ausdachten, Antonella antwortete immer
fröhlich: „Ihr werdet schon sehen!“
Nur manchmal lief sie zu Luftballon-Pinore und fragte: „O b er wirklich
angekommen ist?“
„Ganz bestimmt“ , antwortete Signore Pinore jedesmal. Aber wenn
Antonella ging, schaute er besorgt in die Richtung, in die der rote Ballon
davongeflogen war, und wiegte bedenklich den Kopf.
Die Ferien waren da. Nun konnte es nicht mehr allzulange dauern bis
Weihnachten. Doch die Zeit scheint stillzustehen, wenn ein bedeutsames
Ereignis erwartet wird. Endlich stand der Weihnachtstag auf dem Kalender­
blatt.
An diesem Tag kam der Abend, auf den alle Kinder so sehr warteten, viel
langsamer heran als sonst. Die Kinder spielten auf dem Marktplatz, stritten
ein bißchen und waren schon sehr aufgeregt.
D a brummte der Roller von der Post heran. Signorina Lucia hielt neben
Luftballori-Pinore und rief Antonella. Alle anderen kamen mit und bestaun­
ten das große Paket auf dem Roller.
„D as ist für dich, Antonella“ , sagte Lucia, „und der Brief auch.“
„Mach mal auf!“
„Von wem ist er?“
„Lies mal vor!“ plapperten alle durcheinander.
„Ihr werdet staunen! Soll ich vorlesen, Antonella?“ sagte Lucia.
Antonella faßte Signore Pinore bei der Hand und nickte Lucia zu. Sprechen
konnte sie nicht vor Aufregung.
,, Liebe A ntonella!
Dein Brief ist gut angekommen mit dem roten Luftballon. Ich hoffe, es ist
in dem Paket alles, wie Du es Dir gewünscht hast. Ich brauche keinen
Zuschuß von Deinen Eltern, nicht in diesem Jahr und nicht in den kom­
menden Jahren. Aber sei bitte so nett und schick Deinen Wunschzettel im
nächsten Jahr gleich an die richtige Adresse: Sie lautet: Weihnachtsmann.
10. Schule Budapest. Ungarn. Schreib mir doch einmal, ob die Rollschuhe
passen und ob Angelo nicht mehr friert.
Grüß bitte Deine Eltern und Gino von mir. Auch alle Deine Freunde. Ich
grüße Dich herzlich bis zum nächsten Jahr. Dein Weihnachtsmann“
Antonella hatte einen richtigen Weihnachtsmann! Alle hatten es gehört. Von
nun an lachte niemand wieder über Antonella und ihren Weihnachtsmann.

24
Glücklich sahen sich Antonella und Signore Pinore und Gino immer wieder
an. Alle Kinder jubelten: „Antonelias Weihnachtsmann soll leben, hoch!“
Luftballon-Pinore schickte dazu einen roten, einen grünen und einen blauen
Luftballon in den Winterhimmel.
Antonella hielt den Brief von ihrem Weihnachtsmann ganz fest und bewahrte
ihn gut auf.
Barbara Augustin

25
Der Dackel Oskar

Durch die weiße Stadt Wolkenturm geht ein blauer Sommertag. Es ist ihr
erster Sommer, so jung ist sie. Der Stadtbaumeister Klotz hat sie entworfen;
die Straßen mit den breiten Brücken sind eben erst erbaut.
Der Dackel Oskar spaziert an einer grünen Leine durch die Straßen der
neuen Stadt. Neben ihm laufen zwei rote Gummistiefel. Über den roten
Gummistiefeln erspäht Oskar eine karierte Jacke und über der karierten
Jacke das runde Gesicht des kleinen Bertelmann.
Oskar und der kleine Bertelmann sind Freunde. Sie wohnen zusammen in
der weißen Stadt Wolken türm. Jeden Nachmittag schlendern sie an dem
hohen Häuserblock entlang, am Springbrunnen vorbei.
Auf der Fensterbank hinter dem Rosenbeet sonnt sich die Schildkröte Ru-
salka. Auf dem Rand des Springbrunnens sitzt die Schwalbe Brigitte und
tschilpt: „Quiwitt, ich komme ein Stück mit euch mit.“
Dann schwippt sie über den Rasen, an Oskar vorbei, bis zum Dach des gelben
Briefkastens hin, jeden Nachmittag.
Zwischen Oskar und dem kleinen Bertelmann baumelt ein Netz, darin steckt
eine Tüte mit Pfannkuchen. Der kleine Bertelmann hat sie eben erst in der
Kaufhalle gekauft; zwei kugelrunde, watteweiche, duftende Pfannkuchen,
einen für Oskar und einen für den kleinen Bertelmann.
Oskar läßt die roten Gummistiefel nicht aus den Augen. Wenn sie rechts
um die Ecke biegen, dackelt er nach rechts. Wenn sie links um die Ecke
biegen, dackelt er nach links. Wenn sie stehenbleiben und der kleine Bertel­
mann in seinen Jackentaschen nach dem Hausschlüssel sucht, dann weiß
Oskar: nun sind es noch sieben Treppen und auf den sieben Treppen sieben­
mal sieben Stufen — dann sind wir zu Hause. Dann öffnet der kleine
Bertelmann die Tüte mit den Pfannkuchen. Gleich ist es soweit.
„Komm, wir laufen noch ein Stück“ , sagt da der kleine Bertelmann. Oskar
ist enttäuscht. Die erwartungsvolle Falte über seiner Nase verschwindet
augenblicklich. Verdrießlich trottet er neben den roten Stiefeln her. Der
kleine Bertelmann läuft und läuft, läuft bis zum Rand der Stadt, wo noch
die steilen Kranarme den Bauplatz säumen und wo die weißen Wohnblöcke
mit dem Wald Verstecken spielen. Dort löst er die grüne Leine von Oskars
Halsband.
Oskars Nase aber stupst noch immer gegen das Netz mit den Pfannkuchen.
Er jault und quengelt.
Plötzlich huscht aus einem Steinhaufen dicht neben ihnen ein grauweißes
Wildkaninchen und hoppelt quer über den Bauplatz zum Wald hinüber.
Oskar hat noch nie ein Kaninchen gesehen; kein wildes, kein grauweißes, kein
Feld-, kein Hauskaninchen; keins. In seinen krummen Beinen beginnt es
plötzlich zu zucken. Er weiß nichts von der Lust, Kaninchen zu jagen; der

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wilden Jagdlust, die er von seinem Urgroßvater ererbt hat. E r hieß Waldemar
und wohnte in einer Försterei mitten im Wald.
Oskar jagt hinter dem Kaninchen her, immer schneller. Er flitzt, stiebt übers
Feld, stolpert, strauchelt, hastet weiter. E r ist nicht mehr der Dackel Oskar,
der in der weißen Stadt Wolkenturm wohnt und abends in einem Rohr­
körbchen auf dem abgetragenen Pullover des kleinen Bertelmann schläft. Er
ist der Urenkel vom Urgroßvater Waldemar. Die Hallalli-, die Hallallo-, die
Jagdlust treibt ihn vorwärts. Das grauweiße Wildkaninchen hat sie auf­
geweckt.
Der kleine Bertelmann pfeift. Er ruft. Er schwenkt das Netz mit den Pfann­
kuchen. D a ist nur noch die Staubwolke zu sehen, die durch Oskars Pfoten
aufgewirbelt wurde. Und auch sie vergeht. Oskar kommt nicht zurück.
Er setzt über Gräben und pirscht durchs Dickicht dem flüchtenden Kanin­
chen nach. Er jault vor Lust. Hallalli, hallallo — es ist eine unvergleichliche
Jagd! Plötzlich ist das Kaninchen verschwunden; fort, als sei es niedagewesen.
Oskar stutzt. Er hält die Nase gegen den Wind und wittert.
Kein Knacken im Geäst. Nichts.
Dem Urgroßvater Waldemar wäre eine solche Blamage nicht passiert. Er
wäre dem Kaninchen auf der Fährte geblieben, stundenlang. Büsche und
Hecken hätte er durchstöbert; hätte gescharrt und geschaufelt und das
Kaninchen aus seinem Bau herausgeholt.
Oskar aber kriecht japsend aus dem Dickicht und niest den Staub aus der
Nase. Er ist müde vom ungewohnten Jagen und allein im düsteren Wald.
Die Erinnerung an zwei rote Gummistiefel kehrt zurück, die Erinnerung an
den D uft von Pfannkuchen.
Weit ist der Weg. Über den Bauplatz greift schon die Dämmerung. Die weiße
Stadt Wolkenturm zieht den Nachtmantel an.
Erschöpft, mit hängender Zunge kehrt Oskar zurück. E s ist das erste Mal,
daß er seinen Weg finden muß ohne die roten Stiefel an seiner Seite. Oskars
Nase spürt und wittert, und Oskars Beine laufen unbeirrt — immer der Nase
nach.
Kaum hat er die Stadt erreicht, schon schnüffelt er die Straße mit dem
Rosenbeet neben dem Gehweg. Der hohe Wohnblock, der Hauseingang, die
sieben Treppen, siebenmal sieben Stufen — alles liegt vor ihm, wie er es
kennt.
Er ist zu'Hause. Erwartungsvoll scharrt er an der Wohnungstür und tappelt.
Gleich werden die roten Stiefel ihm entgegenkommen. Die Tür öffnet sich.
Zwei seegrüne Filzpantoffeln stehen vor ihm. Zwei weiche Arme nehmen ihn
auf. E s sind die Arme von Frieda Sonnenschein. Oskar zappelt, er will fort.
Das ist nicht die Wohnung vom kleinen Bertelmann!

27
Doch Frieda Sonnenschein läßt ihn nicht aus ihren Armen. Solch ein Hünd­
chen, versichert sie, hat sie sich immer gewünscht. Tagsüber arbeitet sie als
Telefonistin im Fernmeldeamt. Sie ruft: „Hallo Moskau!“ und „Hallo
Warschau!“ und „Hallo Helsinki!“ Aus Moskau, aus Warschau, aus Helsinki
kommt die Antwort zurück: „Hallo, Frieda Sonnenschein!“ Am Abend aber
vermißt sie die vielen Stimmen. Dann ist es ihr zu eintönig in ihrer Wohnung.
Deshalb ist sie froh, daß Oskar an ihrer Tür scharrte. Sie wird ihn hätscheln
und tätscheln. „Mein Hündchen“ , flüstert sie, „nun laß ich dich nicht wieder
fort. Ich stricke dir ein Deckeli, du sollst dich wohl fühlen.“
Oskar sträubt sich. Er ist kein Hündchen. Er will auch kein Deckeli. Er will
nach Hause zum kleinen Bertelmann. Frieda Sonnenschein nimmt ihn auf
ihren Schoß. Auf ihrem Schoß liegt er warm. Wenn er nur nicht so müde
wäre!
Während er das feine Klingen der Stricknadeln hört, schläft er ein. Am
Morgen, als Frieda Sonnenschein sich anschickt, ihrer Arbeit nachzugehen,
bleibt er allein zurück. Er leckt nicht die Milch, er schleckt nicht den Brei,
den sie für ihn bereitstellte. Ihm ist elend vor Sehnsucht nach dem kleinen
Bertelmann. Am Abend, als Frieda Sonnenschein die Wohnungstür auf­
schließt, entwischt er zwischen ihren Beinen und flitzt die Treppe hinunter.
Das Deckeli trägt er auf dem Rücken. Unter dem Bauch ist es mit einer
Schleife zusammengebunden.
Die Straße liegt menschenleer. Nur der Mond steht am blaudunklen
Himmel.
Oskar irrt suchend die Häuserreihen entlang; und er entdeckt was er nie
zuvor bemerkt hat: ein jedes Haus sieht genauso aus wie das, in dem der
kleine Bertelmann wohnt.
In seiner Ratlosigkeit fällt ihm die Schildkröte Rusalka ein, die auf der
Fensterbank saß und sich sonnte, nah dem Haus vom kleinen Bertelmann.
„Mond“ , bittet er, „hilf mir, daß ich die Schildkröte Rusalka wiederfinde.“
Der Mond kann ihm nicht helfen. Schildkröten sonnen sich nicht im
Mondenschein. Wenn wenigstens die Schwalbe Brigitte in der Nähe wäre!
Doch Schwalben schlafen, wenn es dunkel ist.
Verzagt tappelt Oskar weiter.
Eine Tür steht einen Spalt breit offen, er zwängt sich hindurch. Diesmal irrt
er sich nicht. Das Treppengeländer, die Flurfenster — es gibt keinen Zweifel:
er hat das Haus gefunden, in dem der kleine Bertelmann wohnt.
Ungestüm kratzt er an der Tür. Schon glaubt er die eiligen Schritte des
kleinen Bertelmann zu hören.
D a steht Eddie Spirelli vor ihm, ein dünnbeiniger, bärtiger Mann. Seine Füße
stecken in schwarzen Lackschuhen mit weißen Spitzen, putzblank. Eddie

28
Spirelli schließt Oskar nicht in die Arme wie Frieda Sonnenschein, er läßt
ihn auch nicht entwischen, sondern packt ihn so flink und behend am Genick,
daß Oskar vor Schreck vergißt, zu zappeln und sich zu wehren. Eddie Spirelli
arbeitet beim Zirkus Sardelli. Jeden Tag steht er dort im Zelt hinter dem
roten Vorhang. Er drückt auf einen Knopf; der Vorhang öffnet sich, und
die Vorstellung beginnt. In die Manege aber treten immer nur die anderen,
die Clowns, die Kunstreiter, die Dompteure. Nie Eddie Spirelli, Einmal
möchte auch er hinter dem Vorhang hervortreten, möchte im Licht der
Scheinwerfer stehen. Das wünscht er sich so sehr. Als er Oskar vor sich sieht,
steigt eine Hoffnung in ihm auf, ein erregender Gedanke.
Er trägt Oskar ins Zimmer. „Laß sehen, was du kannst“ , sagt er. Oskar
kann nichts; jedenfalls nichts von dem, was Eddie Spirelli von ihm erwartet.
Statt auf vier Beinen soll er auf zwei Beinen durchs Zimmer laufen und im
Sprung einen Wurstzipfel schnappen. „Vielleicht“ , sagt Eddie Spirelli ver­
heißungsvoll, „vielleicht mache ich einen Zirkushund aus dir. Ich nenne dich
Filippo. Eines Tages treten wir beide in die Manege: Eddie und Filippo!“
Oskars Augen flehen. Er will kein Zirkushund werden, er will nicht Filippo
heißen.
Immer höher muß er springen. „Hopp, Filippo! Und — hopp!“ Den
Wurstzipfel erreicht er nie.
Eddie Spirelli bindet Oskar ein derberes Halsband um, damit er ihn besser
halten und stützen kann. „Wir werden es schaffen“ , versichert er, „morgen,
morgen abend üben wir weiter.“
Soweit läßt Oskar es nicht kommen. Diese Hopserei macht er nicht noch
einmal mit!
Als Eddie Spirelli am nächsten Abend aus dem Zirkus Sardelli zurückkehrt,
jagt Oskar an ihm vorbei die sieben Treppen hinunter. Kein Wildkaninchen
vermag schneller zu flüchten.
Wieder irrt er durch die Straßen. Wieder scharrt er an einer Tür und hofft,
daß der kleine Bertelmann sie öffnet.
Niemand öffnet. Im Treppenhaus bleibt es dunkel. Keine Schritte hinter der
Tür, keine eiligen, keine schlurfenden. Vielleicht sitzen die Leute in ihrem
Zimmer vor dem Fernseher. Vielleicht vermögen ihre Ohren nicht zu hören,
wenn draußen jemand an der Wohnungstür scharrt. Der kleine Bertelmann
hätte es gehört. Oskar ist erschöpft vor Kummer und Sehnsucht.
„Ich hab£ mich zum dritten Mal verlaufen“ , sagt er zum Mond, der durch
das Flurfenster auf Oskar heruntersieht. Oskar hockt winselnd auf dem
kalten Steinfußboden.
Und auch der Mond sitzt betrübt auf dem Hochhausdach und seufzt: „Ach,
ein Haus sieht wie das andre aus. Kein Dackel findet da nach Haus.“ Er

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beschließt, gleich morgen abend mit dem Stadtbaumeister Klotz darüber zu
sprechen, damit er Oskars Kummer berücksichtigt, wenn er das nächste Mal
eine Stadt entwirft. Um Mitternacht klappt unten im Treppenhaus eine Tür.
Oskar schreckt auf. Doch er rührt sich nicht. E r friert. Und hundemüde ist
er. Schritte kommen näher, Stufe um Stufe, feste, gleichmäßige Schritte.
Oskar blinzelt in das blendende Treppenhauslicht. Dann steht Meister
Möckel vor ihm in Helm und Lederjoppe, in hohen Stiefeln, die Tasche unter
den Arm geklemmt. E r kommt von der Nachtschicht. Das Motorrad hat er
auf der Straße neben dem Rosenbeet abgestellt.
Meister Möckel ist Meister in einer Reparaturbrigade. Er hat einen Blick für
alles, was ausgebessert, geflickt und wieder in Ordnung gebracht werden
muß. Er hat auch einen Blick für Dackel, die sich verlaufen haben und nicht
mehr nach Hause finden. Er nimmt Oskar vom kalten Fußboden auf und
steckt ihn unter seine Lederjoppe. Sie riecht nach Benzin, und sie bringt
Wärme in Oskars steife Beine.
Noch siebenmal sieben Stufen und höher stapft Meister Möckel mit Oskar
die Treppen hinauf. Dann setzt er ihn oben in seiner Wohnung auf einen
Läufer aus weichem Reisstroh geflochten. Oskar bekommt einen Napf mit
Milch. Meister Möckel trinkt eine Flasche Bier.
Es könnte nun doch noch eine gute Nacht für Oskar werden. Die warme
Milch, die weiche Matte — was braucht er mehr? Von Zeit zu Zeit läuft
Oskar zur Tür hin. Er scharrt. Er winselt. Dann liegt er wieder still auf der
Matte. Meister Möckel versteht Oskars Unruhe und seine Sehnsucht auch.
„Laß man“ , sagt er, „das kriegen wir hin.“
Am nächsten Morgen fährt er mit Oskar zum Polizeirevier. Dort hängt seit
drei Tagen ein Foto an der Wand. Darunter steht in großen Buchstaben:
„Suche meinen Dackel Oskar.“ Unterschrift: Der kleine Bertelmann.
Der Wachhabende des Polizeireviers begrüßt Oskar. D a er so rasch zu klären
weiß, wohin Oskar gehört, steckt. Meister Möckel ihn ein zweites Mal unter
seine Lederjoppe und fährt mit ihm durch den frühen Morgen geradenwegs
zum Haus des kleinen Bertelmann. Er klingelt an der Haustür. Dann setzt
er Oskar auf die unterste der sieben Treppen.
Auf der obersten der sieben Treppen erscheint der kleine Bertelmann, barfuß
und im Schlafanzug. Die ganze Familie Bertelmann steht neben ihm, voll
Erwartung, Oskar zu empfangen. Eine unbändige Freude vertreibt Oskars
Müdigkeit.
Springen und Jaulen und Jubel und Lachen!
Drinnen in der Wohnung nimmt der kleine Bertelmann Oskar das breite
derbe Halsband ab, das Eddie Spirelli ihm umband. Er nimmt Oskar das
Deckeli ab, das Frieda Sonnenschein für ihn strickte.

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Er ist wieder Oskar, der Dackel Oskar, der Freund vom kleinen Bertelmann.
Kein Hündchen und kein Filippo mehr.
Der kleine Bertelmann holt eine Tüte mit Pfannkuchen, kugelrunde, watte­
weiche, duftende Pfannkuchen. Einen Pfannkuchen bekommt Oskar, und
einen ißt der kleine Bertelmann. Dann setzt er sich auf die Bettkante und
wartet, bis Oskar eingeschlafen ist. Oskar liegt wohlig zusammengcrollt., Er
schnieft zufrieden und behaglich.
Nur manchmal zucken seine Pfoten.
Dann träumt er, er jagt einem grauweißen Wildkaninchen nach, weit drau­
ßen in den Wäldern am Rand der Stadt.
Edith Bergner

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Der Star im Apfelbaum

Es war ein nieseliger Tag im März, feucht und trübe. Doch im Rasen blühten
schon die Gänseblumen. Der Großvater spazierte mit Babett durch den
Garten und sagte zum Nachbar hinterm Gartenzaun: „Bald ist der Frühling
da.“
Der Nachbar antwortete verdrießlich: „Hatschi!“ Er hatte kalte Füße und
den Schnupfen dazu. Weiß der Kuckuck, wo der Frühling in diesem Jahr so
lange steckte! Doch der Kuckuck konnte es auch nicht wissen, er kam erst
im April.
Da flog ein Star auf den Gartenzaun und flötete: „Züp, züp, zie-züp, züp,
zie, ich habe eine Nachricht für Sie! Der Frühling schläft im Apfelbaum.“
„Was du nicht sagst!“ antwortete der Großvater. Und gleich kam es ihm so
vor, als sei der Tag schon weniger trübe. Dem Nachbar fiel ein Regentropfen
auf die Nase. D a grollte er, der Frühling käme in diesem Jahr überhaupt nicht
mehr.
Der Apfelbaum aber stand vor Babetts Fenster. Am nächsten Morgen, als
Babett die Fensterläden öffnete, am Mittag, als Babett aus der Schule kam,
selbst noch am Abend, immer saß da der Star vor ihrem Fenster und flötete
und schnerrte und schwätzte vom schlafenden Frühling im Apfelbaum.
„Züp, züp, zie-züp, züp, zie . . . “ E r schwätzte von morgens bis abends das
gleiche. Doch der Frühling schlief und schlief und wollte nicht aufwachen.
Nachdem genau sieben Tage und sieben Stunden vergangen waren, wurde
Babett ungeduldig und fragte: „Kannst du nicht einmal etwas anderes
singen? Vielleicht wacht der Frühling dann eher auf.“ Der Star erschrak. Er
hatte von jeher mit seinem Lied den Frühling verkündet. Und keinem Vogel,
der auf sich hält, fällt es ein, sein Lied zu wechseln wie ein Federkleid, sei
es im Winter in Afrika oder im März bei uns auf dem Apfelbaum.
„Versuch’s doch mal“ , bat Babett. Und weil sie so inständig bat und weil
der Star es nicht übers Herz brachte, Babett die Bitte abzuschlagen, flog er
schließlich davon, um sich nach einem anderen Lied umzuhören.
Er flog über Wiese und Wald. Unterwegs erinnerte er sich der Wildente am
See. Sie war eine seiner Reisebekanntschaften; er hatte sie im Flug über Kairo
kennengelernt. Um die Mittagszeit erreichte er den See. Die Wildente ruhte
im Schilf. Alles war still. Kein Laut, kein Lied rundum.
Der Star hüpfte durchs Ried, schwang sich auf ein Schilfrohr dicht vor dem
Nest der Wildente und schwätzte sogleich munter drauflos: „Züp, züp,
zie-züp, züp, zie, ich habe eine Nachricht für Sie! Der Frühling schläft im
Apfelbaum. Züp, züp, witt, witt, wir wollen ihn wecken. Kommen Sie
mit?“
Die Wildente hob erfreut ihren Kopf und lauschte. Vermutlich hatte sie eben
selbst grad vom Frühling geträumt. Es sah jedenfalls ganz so aus, als sei sie

32
bereit, die Einladung anzunehmen. Sie öffnete schon den Schnabel. Da plötz­
lich flüsterte — ganz unerwartet — jemand zu ihren Füßen: „Sü, sü, es ist
noch zu früh.“
Auf einem Binsenstengel wiegte sich die zierlichste der Libellen, die „verlobte
Seejungfer“ ; genauer gesagt: sie war noch gar keine Libelle. Als der Star zu
ihr hinunteräugte, sah er nichts als eine kleine, braune Larve. Sü, sü, für sie
war es tatsächlich noch zu früh.
Da zögerte auch die Wildente. Bedauernd hob sie die Flügel und gakte:
„Waak, waak. Wir warten bis zum Donnerstag.“ Und dabei blieb sie.
Der Star flog ein Stück abseits ins Schilf, wo niemand ihn beobachten konnte,
und versuchte heimlich, die Lieder zu proben, die er gehört hatte: „Sü, sü,
es ist noch zu früh. Waak, waak. Wir warten bis zum Donnerstag.“
Nach dem dritten Versuch entdeckte der Star etwas, was er bis dahin nicht
gewußt hatte: er konnte fremde Lieder nachahmen. Vermutlich hatte er das
von seinem Großvater geerbt und der Großvater wiederum von seinem
Urgroßvater und so fort.
Babett stand schon am offenen Fenster, als der Star sich in der Abendstunde
auf dem Apfelbaum niederließ und sogleich mit seinem Vortrag begann. Die
Lieder klangen fast genauso, als sängen Wildente und Seejungfer selbst vor
Babetts Fenster.
Babett lachte, und der Star plusterte vor Vergnügen sein Gefieder.
Kaum graute der nächste Morgen, schon flog der Star wieder davon, um sich
nach einem neuen Lied für Babett umzusehen. Diesmal führte ihn sein Flug
in den nahen Wald zum Uhu im Eulengrund. Der Uhu hockte in einer
Baumhöhle. Seine gelben Augen leuchteten. Er knackte grimmig mit dem
Schnabel, als ihm der Star keck und munter vom Frühling sang.
„Bu-hu, laß mich in Ruh!“ fauchte der Uhu. Schauerlich hallte sein Kreischen
wider im Eulengrund.
„Bu-hu, laß mich in Ruh!“ heulte der Star bald darauf im Apfelbaum vor
Babetts Fenster. Der Nachbar hinterm Gartenzaun glaubte tatsächlich den
Uhu zu hören und behauptete, es sei ein schlimmes Zeichen, wenn sich ein
Nachtvogel am hellen Tag in die Gärten wage.
Babett aber lachte, und der Star freute sich, weil Babett sich freute. Den
größten Spaß hatte Babett, als der Star mit dem Lied der Lachtaube heim­
kehrte. Er war ihr auf einem Wickenfeld begegnet. Ihr Lied hatte die Kunst
des Stars auf eine harte Probe gestellt; es war das schwierigste, das er je
gehört hatte. Die Lachtaube kam nämlich aus einer Gegend Afrikas, in der
man nur französisch singt.
„Gri, gri, ci, ci, cheri!“ hatte sie girrend gekichert. Das heißt soviel wie: Aber
ja, aber gern, mein Lieber! Dazu hatte sie bereitwillig mit ihren roten Äuglein

3 33
gezwinkert. E s war dem Star nicht schwergefallen, sie zu verstehen, obwohl
er selbst nicht französisch sprach.
Den größten Spaß also hatte Babett an dem Lied der Lachtaube.
Der Star aber, als er das Lied gesungen hatte, hockte auf seinem Ast und
ließ die Flügel hängen. Er wußte selbst nicht, warum. Vielleicht gefiel es ihm
nicht mehr, immer nur fremde Lieder für Babett zu singen; vielleicht hatte
er auf einmal Sehnsucht nach seinem eigenen Lied.
Babett erschrak, als sie sah, wie traurig er war. Sie mußte daran denken, wie
munter er sein Lied gezwitschert hatte, als er zum ersten Mal vor ihrem
Fenster saß. Je länger sie daran dachte, um so mehr wünschte auch sie sich
sein Lied zurück. ,,Sing wieder so, wie du immer gesungen hast“ , sagte sie,
„dein eigenes Lied war das schönste.“
Der Star hob den Kopf, er öffnete den Schnabel. Dann flüsterte er zaghaft:
„Sü, sü . . . “
„Aber nein“ , antwortete Babett, „das ist das Lied der Libelle.“ Der Star
überlegte einen Augenblick. „Waak, w a a k . . .“
„Aber nein“ , antwortete Babett wiederum, „das ist das Lied der Wild­
ente.“
„Bu-hu . . . “ , schluchzte der Star. Babett wurde ungeduldig. „D as ist doch
das Lied des Uhus!“
D a blieb nur noch ein Letztes: „G ri, gri . . . “ Aber das war ja das Lied der
Lachtaube.
Der Star schwieg. Er schwieg und hörte tief in sich hinein, ob er nicht
wenigstens einen Rest von seinem eigenen Lied vernähme, und hörte —
nichts. Kein „Züp-züp“ , kein „Witt-witt“ , nicht das leiseste. Niemand würde
mehr erfahren, daß der Frühling im Apfelbaum schlief. Der Frühling würde
schlafen, schlafen. Natürlich würde er schließlich aufwachen. Aber ohne das
Lied des Stars — sagt selbst —, was wäre das für ein Frühling! Die Leute
würden stehen und lauschen und traurig weitergehen.
Babett aber war schuld daran. Sie hatte den Star nach fremden Liedern
ausgeschickt und ihn dazu verleitet, daß er sein eigenes vergaß.
Still war es nun im Apfelbaum. Der Star hockte eine Weile noch auf seinem
A st; dann hatte er einen Einfall, einen einzigen, letzten. Er flog in Nachbars
Garten und suchte die Starin. Vielleicht wußte sie einen Rat.
Babett aber lief über die Wiese, durch den Wald. Sie lief zur Wildente am
See. Sie lief zur Seejungfer im Schilf, zum Uhu im Eulengrund und zur
Lachtaube auf dem Wickenfeld. „H elft“ , bat Babett, „daß der Star sein Lied
Iviederfindet.“
Die Wildente und die Seejungfer, der Uhu und die Lachtaube sahen Babett
ratlos an. Sie wußten wohl, wie man in Baumhöhlen nistet und gründelnd im

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Sumpf nach Würmern sucht. Doch wie man ein verlorenes Lied wiederfindet,
wußten sie nicht.
Babett lief zum Großvater. E r hatte eben auf den Beeten im Garten die
ersten Radieschen gesät. Bei den Radieschenbeeten gestand Babett, was
geschehen war. Der Großvater setzte sich auf die Gartenbank, zündete seine
Pfeife an und dachte lange nach. Plötzlich hörte Babett ein leises Lachen.
E s mußte ein heiterer Gedanke sein, den der Großvater gedacht hatte. Er
lief zum Schuppen am Ende des Gartens. Als er wieder herauskam, trug er
in der Hand eine Leiter und in der anderen Hand einen Starkasten, den
hängte er mitten in den Apfelbaum.
Kaum hatte er das getan, da rischelte, raschelte es in der Fliederhecke. Da
kam eine Starin dahergeflogen und ließ sich auf dem Apfelbaum nieder. Sie
hüpfte von Ast zu Ast, nickte mit dem Kopf, schlug mit den Flügeln, wippte
mit dem Schwanz und badete sich in einem Meer voll Fröhlichkeit.
Das Meer voll Fröhlichkeit reichte bis zum Gartenzaun hin, auf dem der Star
saß. Er schwippte — und flog hin zur Starin in den Apfelbaum.
Nun schwippten sie beide, schnäbelten miteinander, huschten in den Star­
kasten, und dort — fand der Star wiedeF, was er aus seinen Gedanken verloren
hatte: das Lied vom Frühling im Apfelbaum. Auf den höchsten Ast des
Apfelbaums flogen Star und Starin. Sie zwitscherten und schwätzten: „Züp,
züp, zie-züp, züp, zie! Wir haben eine Nachricht für Sie. . . “ Niemand aber war
so vergnügt wie Babett. Sie saß neben dem Großvater auf der Gartenbank
und baumelte mit den Beinen.
Plötzlich setzte sich ein Sonnenstrahl neben sie; und über die Radieschenbeete
flog der erste Schmetterling. Jetzt, in diesem Augenblick, war der Frühling
aufgewacht!
Bald würde der Apfelbaum blühen. Im Starkasten würden die Jungen
zwitschern. Und der Nachbar hinterm Gartenzaun würde endlich seinen
Schnupfen verlieren.
Der Frühling lief nun durch das ganze Land. E r schwamm mit der Wildente
im See — waak, waak, es war gerade Donnerstag. Er wiegte sich mit der
verlobten Seejungfer im Ried — sü, sü, sie fand es nicht mehr zu früh. Er
jagte durch den dunklen Eulengrund und spielte mit der Lachttaube im
Wickenfeld. Überall, wohin er kam, tönte es: „Sü, sü, waak, waak, bu-hu,
gri, gri!“ das gab einen vielstimmigen Chor.
„Züp, züp, witt, witt!“ Und alle sangen mit.
Edith Bergner

3* 35
Die erste Jagd

Hündchen hatte schreckliche Langeweile. Den ganzen Tag war es den


Hühnern auf dem Hofe nachgejagt. Nun lag es in der Ecke und dachte: Ich
möchte doch gern einmal Jagd auf wilde Tiere machen. Gedacht — getan.
Flink huschte es aus dem Tor ins Freie und sprang durch die Wiesen. Da
erblickten es die Vögel, die Insekten und die anderen Tiere.
Die Rohrdommel sagte: „Ich will es an der Nase herumführen!“ Der
Wiedehopf antwortete: „Ich will es in Erstaunen versetzen!“ Und der
Wendehals zischte: „Ich will ihm einen ordentlichen Schreck einjagen!“
Die Eidechse überlegte: „Ich werde ihm schnell entwischen!“ Raupen,
Schmetterlinge und Grashüpfer riefen: „Wir werden uns einfach vor ihm
verstecken!“
„Und ich werde es fortjagen!“ brummte ein dicker Käfer.
„Wir werden uns schon vor ihm schützen können!“ riefen alle zusammen.
Indessen ist unser Hündchen bis zum See hinuntergelaufen. D a erblickt es eine
Rohrdommel. Sie steht am Schilf auf einem Bein im Wasser. Die will ich mir
gleich fangen! denkt Hündchen und will ihr mit einem Satz auf den Rücken
springen. Doch die Rohrdommel blickt es kurz an und stolziert gemächlich ins
Schilf. Übers Wasser streicht ein sanfter Wind. Das Schilf flüstert und ra­
schelt, es wiegt sich hin und her und hin und her...
Hündchen guckt und guckt . .. Doch es sieht nur gelbe und braune Streifen
dicht vor seinen Augen, sie schaukeln hin und her und hin und her...
Und die Rohrdommel steht im Schilf, hat sich lang ausgestreckt und ist ganz
versteckt in den gelben und braunen Streifen. Sie steht da und wiegt sich
auch immer hin und her und hin und her . .. Hündchen späht und sucht, doch
die Rohrdommel sieht es nicht. Nun, dann hat mich der dumme Vogel
betrogen! denkt es. Ich werde doch nicht ins leere Schilf springen! Ich kann
ja auch einen andern Vogel jagen.
Es klettert auf einen kleinen Hügel. Als es oben angelangt ist, schaut es sich
um und erblickt etwas tiefer einen Wiedehopf. Er ist gerade mit seinem
bunten Kopfputz beschäftigt. Er spreizt ihn auseinander, legt ihn zusammen,
klappt ihn wieder auseinander und legt ihn wieder zusammen. Ich springe am
besten gleich von hier oben auf ihn los! denkt sich unser kleiner Hund.
Doch der Wiedehopf schmiegt sich auf einmal ganz dicht an die Erde, er
breitet seine Flügel aus, öffnet den Schwanz und hebt den Schnabel.
Hündchen ist sprachlos.
Plötzlich ist der Vogel verschwunden, und statt dessen liegt auf der Erde
ein buntes Tuch, aus dem eine krumme Nadel herausragt.
Es wundert sich: Wo ist denn nur der Wiedehopf geblieben? Habe ich
wirklich dieses bunte Tuch für einen Wiedehopf gehalten? Na, jetzt wird es
aber Zeit, daß ich mir wenigstens einen kleinen Vogel fange!

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Auf einem Baumstumpf sieht es einen kleinen Wendehals sit2en. E s schleicht
sich näher, doch der Kleine ist schon in die Baumhöhle gehuscht.
Paß nur auf, denkt unser Hündchen, gleich hab ich dich! Es stellt sich auf
die Hinterpfötchen, lugt in die Höhle . .. doch — o weh! Drinnen windet sich
eine kleine schwarze Schlange und zischt ganz fürchterlich!
Hündchen ist starr vor Schreck. Ihm sträubt sich das Fell, und voller Ent­
setzen nimmt es Reißaus. Da ertönt schon wieder das böse Zischen. Der
Wendehals steckt den Kopf aus seiner Höhle und schimpft. Dabei verdreht
er seinen Hals so, daß sich auf seinem Rücken ein dicker Streifen schwarzer
Federn entlangschlängelt.
„U ff, hat der mir aber einen Schreck eingejagt! Kaum, daß mich meine Beine
noch wegtragen konnten! Nein, auf Vögel mache ich keine Jagd mehr, ich
will lieber eine Eidechse fangen.“
Die Eidechse liegt auf einem Stein und sonnt sich. Die Augen hat sie ge­
schlossen. Vorsichtig pirscht sich unser Hündchen heran. Ein Satz! — Da
hat es sie am Schwanz gepackt. Doch die Eidechse windet sich hin und her,
und plötzlich — husch! ist sie unter einem Stein verschwunden! Nur ihren
Schwanz hält Hündchen noch in seinen Pfoten.
Wütend beginnt es zu knurren. E s wirft den Schwanz fort und will ihr
nachjagen.
Doch wo ist sie geblieben? Unter dem großen Stein sitzt sie, und ihr neuer
Schwanz beginnt schon zu wachsen.
„Wenn die Eidechse mir ausreißt, fange ich eben Schmetterlinge!“ Hündchen
blickt sich um.
D a krabbeln Käfer auf der Erde, im Grase springen die Grashüpfer, an den
Zweigen kriechen Raupen, und in der Luft flattern Schmetterlinge.
Hündchen macht einen Satz und will sie greifen. — Doch da ist auf einmal
alles verschwunden, wie auf einem Zauberbild.
Alles ist da und ist doch nicht zu sehen:
Alle Tiere haben sich flink versteckt.
Die grünen Grashüpfer haben sich ins Gras geduckt.
Die Raupen haben sich auf den Ästen aufgereckt und stehen da wie tot. Man
kann sie von den Ästen gar nicht mehr unterscheiden.
Die Schmetterlinge haben sich auf den Bäumen niedergelassen und ihre
Flügel zusammengeklappt. E s ist überhaupt nicht zu erkennen, was Borke
ist, was*Blätter und was Schmetterlinge sind.
Nur ein kleiner, dicker Käfer spaziert ruhig auf dem Wege entlang und
versteckt sich nicht.
Hündchen schleicht sich an ihn heran und will ihn packen. D a bleibt der
Käfer stehen, und plötzlich spritzt unserem Kleinen ein scharfer, beißender

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Strahl mitten auf die Nase! Hündchen winselt laut auf, zieht den Schwanz
ein und dreht sich um. Und dann geht es heidi! erst über die Wiesen und dann
durch das Tor . . . Erst als es wieder in seiner Hütte sitzt, fühlt es sich sicher.
Ganz tief verkriecht es sich und fürchtet sich sogar, die Nase hinauszustek-
ken. Und die Vögel und Insekten und all die anderen Tiere gehen nun wieder
ihrem Tagewerk nach.
Witali Bianki

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Die drei Cäcilien

Der Wald der drei Cäcilien


Gleich hinter dem Bullerberg liegt der Bullersee faul in der Sonne.
Gleich hinter dem Bullersee blüht die Wiese.
Gleich hinter der Wiese steht ein kleines Haus.
In dem Haus wohnen der Großvater und die Großmutter und drei kleine
Mädchen, die alle Cäcilie heißen. Eigentlich heißen sie Anka, Beate und
Cäcilie. Aber das haben beinahe alle Leute vergessen. Denn die drei kleinen
Mädchen sehen einander so ähnlich wie drei rotbäckige Weihnachtsäpfel.
Eines Tages, als die drei Cäcilien Geburtstag hatten — und sie haben natür­
lich immer am gleichen Tag Geburtstag —, schenkte ihnen Großvater einen
Wald. Der Wald der drei Cäcilien wächst gleich hinter dem Hühnerstall, ganz
nahe am Bullerberg. Drei winzige Birkenbäumchen stehen darin und ein
alter, pumperdicker Walnußbaum und ein knorriger Holunderbusch.
So — jetzt kennt jedermann das kleine Haus hinter der Wiese und die drei
Cäcilien und den Drei-Cäcilien-Wald.

Wie die drei Cäcilien eine Frühlingswäsche machten


Die Frühlingssonne kitzelt Großvater in der Nase. „Hatschiii!“ niest Groß­
vater und lacht. Er hebt die drei Cäcilien zusammen auf das Schaukelbrett.
Zwischen den drei Cäcilien sitzt die Puppe Karoline.
Immer höher schaukeln die Cäcilien — bis zu den weißen Blütentellern im
Holunderbusch.
„Ich kann gleich die Wolken greifen!“ ruft die erste Cäcilie. D a fällt Karoline
von der Schaukel und in eine Pfütze.
Die drei Cäcilien springen erschrocken vom Schaukelbrett, Karolines blauer
Mantel ist ganz und gar schmutzig und das Kleid und die weißen Woll­
strümpfe auch.
„E s ist wieder Zeit für eine Puppenwäsche!“ ruft die erste Cäcilie.
Die drei Cäcilien gehen in das Haus. Sie holen das kleine Waschfaß und das
Rubbelbrett und Großmutters dicke Waschseife. Sie ziehen Karoline aus.
Die erste Cäcilie schrubbelt den blauen Puppenmantel.
Die zweite Cäcilie rubbelt das rote Kleidchen.
Die dritte Cäcilie wäscht die weißen Puppenstrümpfchen.
„Jetzt ist wieder alles sauber!“ rufen die Cäcilien und hängen die Puppen­
wäsche in den Holunderbusch zum Trocknen.
Aber der» Frühling ist im Wettermachen noch ganz und gar unsicher. Plötzlich
donnert es, und dicke Regentropfen fallen vom Himmel. „Gewitter!“ ruft die
dritte Cäcilie. „ E s ist Gewitter!“
Die drei Cäcilien laufen schnell zu Großmutter in die Küche. Die Re­
gentropfen trommeln gegen die Fensterscheiben und zerspringen.

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Aber so ein Frühlingsgewitter hat nie Zeit. Bums — kommt es, bums — geht
es, und schon ist es vorbei. Die Sonne scheint wieder. Die drei Cäcilien laufen
vor das Haus. Sie spritzen und patschen in den Pfützen herum. Sie falten
kleine Boote aus Großvaters Zeitung und lassen sie schwimmen.
Und dann ist es schon Zeit zum Schlafengehen.
Am nächsten Morgen findet Großmutter die Puppe Karoline unter dem
Holunderbusch — ganz und gar nackt. Die drei Cäcilien schämen sich und
suchen gleich nach der Puppenwäsche. Sie suchen unter dem Holunderbusch,
sie suchen unter jedem Baum im Drei-Cäcilien-Wald, aber sie finden nicht
einmal ein Puppenstrümpfchen.
Die Puppe Karoline sitzt traurig auf der Fußbank. Nun schauen die Cäcilien
in die Himbeersträucher am Zaun hinein. Wie erschrickt die Amsel, als die
Cäcilien in ihr Nest sehen. Und wie staunen die drei Cäcilien, als sie im
Amselnest unter zwei grünblauen Eiern Karolines Puppenstrümpfchen ent­
decken.
Die Cäcilien stehen vor dem Himbeerstrauch und denken nach. „E s ist halb
so schlimm“ , sagt die erste Cäcilie, „im Frühling braucht man Strümpfe nicht
so nötig!“
„Aber ein Kleidchen!“ sagt die zweite Cäcilie, und sie suchen weiter auf der
Wiese hinter dem Zaun und am Bullersee.
Auf der alten Weide hat der Storch sein Nest gebaut. Am Nestrand leuchtet
es rot.
„D as sieht beinahe aus wie Karolines Puppenkleidchen!“ flüstert die erste
Cäcilie.
„E s ist Karolines Puppenkleidchen!“ ruft die zweite Cäcilie.
„Storch, Storch, du Puppenkleiderdieb!“ ruft die dritte Cäcilie und droht
dem Storch.
Der Storch klappert mit dem Schnabel und hebt die Flügel. Die drei Cäcilien
laufen erschreckt davon. Sie verstecken sich in Großvaters Holzschuppen.
Sie hocken hinter der Tür und gucken durch die Ritzen.
Da mauzt es leise hinter ihnen. Und als die drei Cäcilien genau hinsehen, liegt
in der dunklen Ecke Karolines blauer Puppenmantel und bewegt sich.
Die erste Cäcilie hebt den Mantel hoch. Unter dem Puppenmantel schlafen
vier winzige, gefleckte Katzenkinder. Die zweite Cäcilie streichelt die
Katzenkinder zärtlich mit einem Finger. „Wir müssen sie zudecken, damit sie
keinen Schnupfen bekommen!“ sagt die dritte Cäcilie.
Behutsam legen die Cäcilien Karolines blauen Puppenmantel wieder über die
Katzenkinder. Sie nehmen die nackte Karoline und gehen zur Großmutter.
„Großmutter, alle Tiere bauen Nester und bekommen Kinder“ , sagt die erste
Cäcilie.

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„Und dazu brauchen sie ausgerechnet Karolines Puppenkleider!“ seufzt die
dritte Cäcilie.
„Ja, ja, ja“ , Großmutter lacht, „im Frühling darf man eben nichts liegen­
lassen!“ Sie geht in das Haus und holt ihren Nähkorb.
Großmutter und die drei Cäcilien sitzen unter dem alten, pumperdicken
Walnußbaum im Drei-Cäcilien-Wald und schneidern für Karoline ein grünes
Puppenkleidchen mit weißen Punkten.
D a kommt der freche Drosselmann und stiehlt aus Großmutters Korb einen
langen roten Wollfaden.
„Nun ist es aber genug!“ ruft die erste Cäcilie.
Großmutter lacht und hängt einen blauen Wollfaden in die Walnußzweige.
„Vogelkinder sind auch Kinder. Und Kinder haben es gern bunt!“

Was die drei Cäcilien mit dem Igel Alexander erlebten


Die Maisonne scheint warm auf das kleine Haus zwischen der Wiese und dem
Bullerberg.
„E s ist Maikäferwetter!“ rufen die Cäcilien.
Sie holen Großmutters alte Fliegenglocke aus dem Keller und stellen sie in
den Drei-Cäcilien-Wald.
Im Holunderbusch brummein drei Maikäfer durcheinander. Jede Cäcilie
fängt einen davon. Sie sperren die Maikäfer unter Großmutters
Fliegenglocke. ^
„Vertragt euch gut!“ sagt die zweite Cäcilie. „Wir fangen noch mehr
Maikäfer!“
Die drei Cäcilien suchen überall. Aber wie sie es auch anstellen — die
Maikäfer sind immer gerade da, wo die Cäcilien nicht sind.
Müde gehen die Cäcilien zum Drei-Cäcilien-Wald zurück. Wie sind sie da
erschrocken! Nur noch ein einziger Maikäfer brummelt unter der
Fliegenglocke herum. Die Cäcilien setzen sich traurig in das Gras und sehen
dem einzigen Maikäfer zu.
„E s war bestimmt ein Maikäferdieb!“ sagt die erste Cäcilie. Die anderen
Cäcilien nicken.
Da raschelt es zwischen den Johannisbeerbüschen. Die drei Cäcilien sitzen
ganz still. Zuerst schiebt sich eine winzig kleine Rüsselschnauze aus dem Gras
hervor und dann eine Stachelkugel. Sie trippelt zur Fliegenglocke.
Die kleftie Rüsselschnauze schnüffelt begierig hin und her. Sie schiebt sich
unter die Fliegenglocke und schmatzt den letzten Maikäfer auf.
„D u Dieb!“ rufen die Cäcilien. „D u Maikäferdieb!“
D a rollt sich der Igel zu einer Stachelkugel zusammen. „Wir bringen den Dieb
zu Großvater!“ sagt die erste Cäcilie. Aber die Igelkugel hat rundherum

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spitze Stacheln. Sie läßt sich nicht anfassen. Die Cäcilien holen den Hand­
feger und die Müllschippe und fegen den Igel auf.
„So macht man es mit Maikäferdieben!“ rufen sie.
Die drei Cäcilien lassen die Igelkugel auf den Gartentisch rollen. Auf der
anderen Tischseite steht Großvaters Abendmilchsuppe.
Die Igelkugel grunzt und schnieft leise. Die Stacheln zittern. Und plötzlich
trippelt der Igel quer über den Tisch und schmatzt Großvaters Abend­
milchsuppe auf.
„Was bist du nur für ein Vielfraß!“ Die erste Cäcilie lacht. Der Igel klappt
erschrocken die Stacheln über sein Gesicht und schmatzt weiter. D a lachen
auch die anderen Cäcilien.
Großvater kommt. „Aber Alexander, man darf doch nicht naschen!“ ruft er.
„D u kennst ihn, Großvater?“ fragen die drei Cäcilien erstaunt.
Großvater nickt.
Der Igel trippelt auf Großvater zu und schnuppert an seiner Hand herum.
Wie staunen da die Cäcilien! Und sie beschließen, auch mit dem Igel Alex­
ander befreundet zu sein.
Jeden Abend bringen die Cäcilien ein Schälchen Milch zu den Johannisbeer­
büschen. Und jeden Abend kommt der Igel Alexander und schnieft und
grunzt und schmatzt die Milch auf. Dann schnüffelt er an den Händen der
drei Cäcilien herum. Und man merkt es gleich, daß der Igel Alexander und
die Cäcilien miteinander befreundet sind.
Aber am Donnerstag nach Pfingsten kommt Alexander nicht zu den Jo­
hannisbeerbüschen — und am Freitag und am Sonnabend auch nicht.
Die drei Cäcilien suchen Alexander überall im Garten. Sie fragen Großvater,
aber Großvater hat den Igel auch nicht gesehen. Da werden die Cäcilien
traurig.
„Vielleicht haben wir Alexander geärgert?“ sagt die zweite Cäcilie.
„Vielleicht ist er auch verreist!“ sagt die dritte Cäcilie.
Aber Großvater weiß, daß Igel niemals verreisen.
Und es vergeht eine Woche und noch eine Woche und dann noch eine Woche.
Die drei Cäcilien sitzen zwischen den Johannisbeersträuchern und flechten
einen Kranz aus gelben Butterblumen.
Plötzlich raschelt es. Dann schnieft es laut und grunzt dazu.
„Großvater — Alexander ist wieder da!“ rufen die Cäcilien froh. Durch das
Gras trippelt der Igel heran und sucht nach dem Milchschälchen. Hinter ihm
aber trippeln fünf kleine winzige Igelkinder.
Die Cäcilien klatschen vor Freude in die Hände. Sie wollen die Igelkinder
streicheln. Aber die Igelmutter faucht und zischt böse und trippelt aufgeregt
hin und her. Sie will die Cäcilien beißen.

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„Dummer Alexander!“ rufen die Cäcilien empört.
Großvater aber lacht. „Wenn man es recht bedenkt, dann ist unser Alex­
ander eigentlich eine Alexandrine!“
D a müssen auch die drei Cäcilien lachen. Sie holen Milch für die ganze
Igelfamilie.
Tag um Tag werden die kleinen Igel größer und ihre Stacheln spitzer. Und
bald gehen sie ihre eigenen Wege. Nur die Igelmutter kommt noch jeden
Abend zu den Johannisbeerbüschen.
Und keine der drei Cäcilien kann einschlafen, bevor nicht Alexandrine ihre
Abendmilch aufgeschmatzt hat.
Eines Abends, als der Novemberregen große Pfützen auf den Gartenweg
gelegt hat, warten die drei Cäcilien auf Alexandrine. A" er sie kommt nicht.
„Vielleicht hat sie der Fuchs gefangen“ , ruft die dritte Cäcilie erschrocken.
„Aber nein — sie wird wieder Igelkinder bekommen haben“ , sagt die zweite
Cäcilie.
Da nimmt Großvater die Cäcilien an die Hand und geht mit ihnen zu dem
hohen Laubhaufen am Zaun. Behutsam schiebt er die Blätter auseinander.
Die drei Cäcilien stehen ganz still. Ein leises Schnarchen ist zu hören.
„Wer schnarcht denn da?“ flüstert eine Cäcilie.
Großvater schiebt wieder behutsam die Blätter zusammen. „E s ist unsere
Alexandrine. Sie schläft den ganzen Winter.“
„Den ganzen Winter?“ staunen die Cäcilien.
Großvater nickt.
Da gehen die drei Cäcilien auf Zehenspitzen in das Haus zurück.
„Wie gut ist es doch eingerichtet, daß wir den Winter nicht verschlafen
müssen“ , sagt die erste Cäcilie. „Dann könnten wir niemals rodeln gehen!“

Wie die drei Cäcilien die schönsten Eier der Welt suchten
Es ist ein sonnenheller Morgen.
Großvater, Großmutter und die drei Cäcilien sitzen unter dem pumperdicken
Walnußbaum im Drei-Cäcilien-Wald und frühstücken.
„Wo bleibt denn unser weißes Hühnchen?“ fragt die erste Cäcilie.
„Putt-putt-putt-putt!“ ruft die zweite Cäcilie.
Großmutter streicht Pflaumenmus auf die Brötchen. „Vielleicht hat das
weiße Hühnchen heute gerade keine Lust zum Frühstücken.“
„Aber —* es kann doch auch krank sein!“ Die dritte Cäcilie springt er­
schrocken auf.
Die Cäcilien rennen zum Hühnerstall. Alle Hühner gackern durcheinander,
nur das weiße Hühnchen sitzt in der dunkelsten Ecke. „Gluck-gluck-gluck-
gluck!“ ruft es böse.

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„O b es vielleicht mit uns verzankt ist?“ Die erste Cäcilie will das weiße
Hühnchen streicheln. „Gluck-gluck-gluck!“ Das weiße Hühnchen breitet die
Flügel aus und trippelt aufgeregt hin und her.
„Ich habe es ja gleich gewußt — das weiße Hühnchen ist krank!“ sagt die
dritte Cäcilie traurig.
Großvater kommt und hebt das weiße Hühnchen hoch. „ E s will brüten und
kleine Küken haben“ , sagt er.
Die drei Cäcilien erschrecken.
„Aber — wir haben doch die Eier vom weißen Hühnchen immer zum Früh­
stück gegessen“ , sagt die dritte Cäcilie.
„Vielleicht ist das weiße Hühnchen deshalb mit uns böse.“ Die erste Cäcilie
sieht die anderen Cäcilien streng an. „Und deshalb müssen wir dem weißen
Hühnchen neue Eier suchen. E s soll die schönsten Eier der Welt haben!“
Die drei Cäcilien gehen über die Wiese bis zu dem kleinen Bullersee am
Bullerberg. Zwischen den Weidenbüschen am Ufer hat die Wildente ihr Nest
gebaut. Viele, viele blaugrüne Eier mit schwarzen Punkten liegen in dem
Nest.
„Ich glaube, das sind die schönsten Eier der Welt!“ ruft die erste Cäcilie.
Sie nimmt ein Ei aus dem Entennest und steckt es in ihre Schürzentasche.
„Wer so viele Eier hat, der kann dem weißen Hühnchen wohl ein Ei ab­
geben!“ sagt die zweite Cäcilie. Sie nimmt auch ein Ei aus dem Entennest
und steckt es in ihre Schürzentasche. D a nimmt auch die dritte Cäcilie
vorsichtig ein blaugrünes Ei in beide Hände und bringt es dem weißen
Hühnchen.
Das gluckt freundlich und setzt sich gleich auf die drei blaugrünen Enteneier.
Die erste Cäcilie legt den Finger auf den Mund. „Wir wollen es niemandem
verraten!“
Das Geheimnis der Cäcilien dauert lange — es dauert bis zum übernächsten
Sonntagmorgen. Großvater, Großmutter und die drei Cäcilien sitzen gerade
am Frühstückstisch unter dem pumperdicken Walnußbaum im Drei-Cäci-
lien-Wald.
„Naknaknaknak!“ schnattert es unter Großvaters Stuhl. Erschrocken
springt Großvater auf.
„Naknaknaknak!“ schnattert es jetzt hinter der Gießkanne. Großmutter
schiebt die Gießkanne zur Seite. Drei kleine, plustrige, bunte Entenküken
watscheln unter den Tisch. „Dockdockdock!“ Das weiße Hühnchen kommt
aus dem Holunderbusch geflattert. Wie staunen da Großvater und Groß­
mutter. Das weiße Hühnchen pickt die Brotkrumen unter dem Tisch auf.
Die drei kleinen, plustrigen, bunten Entenküken aber hüpfen in die Re­
gentonne und planschen darin herum.

44
Das weiße Hühnchen fliegt aufgeregt hin und her. „Gluck-gluck-gluck-
gluck!“ lockt es. Die Entenküken aber kümmern sich nicht um das weiße
Hühnchen, sie tauchen und planschen und schnattern.
Da fliegt das weiße Hühnchen mitten in die Regentonne hinein. Und es wäre
sicherlich ertrunken, hätte es Großvater nicht gerettet.
„Ich glaube, aus den schönsten Eiern der Welt schlüpfen nicht immer gerade
die artigsten Kinder“ , sagt die erste Cäcilie.
Großvater sieht die drei Cäcilien vorwurfsvoll an. „Entenkinder gehören zu
Entenmüttern. Nur Hühnerküken sind für das weiße Hühnchen richtig!“
Da senken die Cäcilien ihre Köpfe und schämen sich.
„Wer sich so eine Suppe einbrockt, der muß sie auch auslöffeln“ , sagt
Großmutter. Sie geht mit den Cäcilien in die Küche und zeigt ihnen, wie man
ein Frühstück für kleine Enten macht.
Die drei Cäcilien und das weiße Hühnchen haben noch viel Mühe, bis aus
den drei kleinen bunten Entenküken drei große, prächtige Bullersee-Enten
geworden sind.
Eines Tages im Herbst, als die saftigen Butterbirnen in das Gras plumpsen,
fliegt ein Schwarm Wildenten über den pumperdicken Walnußbaum. Die drei
Cäcilien-Enten liegen faul in der Sonne. Plötzlich recken sie ihre Hälse.
„Rätsch-rätsch-rätsch!“ schreien sie aufgeregt. Dann fliegen sie ungeschickt
den Wildenten nach.
Das weiße Hühnchen flattert verzweifelt hin und her.
Die drei Cäcilien aber stehen stumm vor Schreck. Doch dann laufen sie über
die Wiese zum Bullersee.
Auf dem Bullersee schwimmen viele, viele Enten. „Rätsch-rätsch-rätsch!“
schnattern sie, schlagen mit ihren Flügeln und fliegen schließlich über den
Bullerberg davon.
Die drei Cäcilien stehen am Bullersee und winken den Enten nach.

Günther Feustel

45
Bibi

Irgendwo gibt es eine Stadt. Und irgendwo in der Stadt steht eine An­
schlagsäule. In der Anschlagsäule wohnen das kleine Mädchen Bibi und das
himmelblaue Schweinchen Jo.
Die Sonne scheint und scheint. Am Himmel segelt ein einziges pfann­
kuchenkleines weißes Plusterwölkchen.
Bibi guckt aus dem Fenster. „D u kannst sagen, was du willst, Schweinchen
Jo — heute würde meine Großmutter Wäsche waschen!“ Schweinchen Jo
seufzt. „Ich habe den Verdacht, deine Großmutter ist nur eine Ausrede. Du
machst doch immer gerade das, was du willst!“
Bibi lacht. „Was bist du nur für ein kluges Schweinchen, Jo! Ich habe or­
dentlich Angst, du wirst noch einmal berühmt.“
Bibi holt den kleinen Waschtrog aus dem Keller. Sie stellt den Trog vor die
Anschlagsäule.
Die Sonne scheint und scheint. Bibi nimmt den kleinen roten Eimer und holt
Wasser. Schweinchen Jo sitzt vor der Anschlagsäule und guckt angestrengt
zum Himmel hinauf. E s zählt die einzige pfannkuchenkleine weiße Pluster­
wolke.
„Bibi, wenn es nun aber regnet!“ sagt Schweinchen Jo ernst.
„Faules Schweinchen!“ schimpft Bibi. „Wer heute keine Wäsche wäscht,
bekommt auch keinen süßen Kakao!“
Schweinchen Jo steht schnell auf und seufzt noch einmal.
„Wenn es nun aber doch regnet! Ich jedenfalls habe dich vor der Wäsche
gewarnt!“ Schweinchen Jo nimmt den kleinen grünen Eimer und holt auch
Wasser.
Die Sonne scheint und scheint. Der kleine Waschtrog ist beinahe voll.
„Noch zwei Eimer, und dann fängt der Waschspaß an!“ ruft Bibi.
Bibi und Schweinchen Jo kommen mit einem roten Eimer voller Wasser und
einem grünen Eimer viertel voll Wasser um die Ecke. Am Waschtrog steht ein
Pferd und trinkt und trinkt. Der kleine Waschtrog ist ganz leer getrun­
ken.
Bibi schimpft: „Ist mein Waschtrog vielleicht eine Tankstelle für Pferde?“
Das Pferd sieht Bibi durstig an. E s leckt die letzten Tropfen aus dem
Waschtrog.
„N a ja, wer Durst hat, der muß trinken. Das muß man schließlich
einsehen!“
Bibi und Schweinchen Jo gießen Wasser aus dem roten und dem grünen
Eimer in den Waschtrog. Das Pferd trinkt alles aus. Dann trottet es weiter.
Die Sonne scheint und scheint.
„Ich habe keine Lust mehr!“ quengelt Schweinchen Jo. „Und außerdem ist
es heiß!“

46
Bibi sieht Schweinchen Jo streng an. „Punktum — es wird heute ge­
waschen!“
Bibi und Schweinchen Jo holen wieder Wasser. Der kleine Waschtrog ist
beinahe bis zum Rand gefüllt. Bibi und Schweinchen Jo kommen mit einem
roten Eimer ganz voller Wasser und einem grünen Eimer viertel voll Wasser
um die Ecke.
Schweinchen Jo läßt erschrocken seinen Eimer fallen. Links vom Waschtrog
sitzen hundert Spatzen und trinken, und hundert andere Spatzen baden und
waschen sich ihre Federn. Und rechts vom Waschtrog stehen sieben Hunde
und ein Dackel dazu und trinken.
„D as ist unser Wasser! Wir wollen gerade waschen!“ ruft Bibi empört.
Aber es kommen immer mehr Spatzen und Hunde zu Bibis Waschtrog, und
alle baden und schlappen im Wasser herum.
„D as kommt davon, wenn man an einem heißen Tag waschen will!“ jammert
Schweinchen Jo. „Ich habe dich gewarnt!“
„D as wird sich gleich ändern!“ Bibi zieht den Stöpsel aus dem Waschtrog.
Das Wasser fließt in den Rinnstein. Die Spatzen baden im Rinnstein weiter.
Bibi gießt das Wasser aus dem roten Eimer hinterher. „Zum Nachspülen!“
ruft sie.
Die Spatzen fliegen auf die Bäume und schütteln sich die Tropfen aus den
Federn. Die Hunde setzen sich vor den Waschtrog und warten.
Die Sonne scheint und scheint.
Bibi holt den kleinen Handwagen. Sie ladet den Waschtrog und die beiden
Eimer und eine lange Wäscheleine auf. Schweinchen Jo legt sich in den
Waschtrog.
„Ich kann nicht laufen, es ist so heiß!“ Schweinchen Jo stöhnt. Bibi fährt
mit dem Handwagen zum Park. Hinter dem großen Holunderbusch hält sie
an.
„Jetzt stört uns niemand mehr!“
Bibi stellt den Waschtrog auf. Sie nimmt die Eimer und holt Wasser vom
Brunnen. Schweinchen Jo trottet müde hinterher.
Die Sonne scheint und scheint und scheint.
Bibi bleibt erschrocken neben der großen Sonnenblume stehen. Die Blätter
der Sonnenblume welken.
Jo geht um die Sonnenblume herum. „Au weia — hier braucht schon wieder
jemand unser Waschwasser. Wenn ich Durst habe, lasse ich auch mein
Ringelschwänzchen hängen!“
Bibi und Schweinchen Jo gießen Wasser auf die Sonnenblume.
Die Sonnenblume hebt wieder ihre Blätter und streckt ihren Blütenkopf der
Sonne entgegen.

47
Bibi und Schweinchen Jo holen Wasser für alle Blumen im Park, die die
Blätter hängenlassen.
Es ist Nachmittag. Bibi und Schweinchen Jo kommen zu dem kleinen
Waschtrog am Holunderbusch zurück.
„Jetzt geht die große Wäscherei endlich los 1“ ruft Bibi.
„Gerade das glaube ich nicht“ , sagt Schweinchen Jo und starrt in den
Waschtrog.
Im Waschtrog schwimmt eine Entenmutter mit fünf, sechs, sieben kleinen
buttergelben Entenkindern.
„D as geht nun aber doch zu weit!“ schimpft Bibi. „Einmal muß ich doch
schließlich waschen!“
„Ich habe dich ja gleich gewarnt!“ Schweinchen Jo seufzt. Bibi sammelt die
Entenmutter und die sieben kleinen buttergelben Entenküken in ihre Schürze
und trägt sie zu dem kleinen Parkteich zurück.
Der Parkteich ist ausgetrocknet. Nur in der Mitte glänzt noch eine schlam­
mige Pfütze. Alle Goldfische wühlen im Schlamm herum.
„D as ist ja schlimm!“ flüstert Bibi erschrocken.
„D as ist ja sehr schlimm. Jo, das ist beinahe eine Katastrophe.“ Bibi trägt
die Entenmutter und die sieben kleinen buttergelben Entenkinder zum
Waschtrog zurück. Sie nimmt den roten Eimer und rettet die Goldfische aus
der Schlammpfütze.
„Drängelt nicht so! Jeder wird gerettet!“ ruft Bibi.
Bibi und Schweinchen Jo laufen hin und her, bis alle Goldfische im Wasch­
trog schwimmen.
Bibi setzt sich neben den Waschtrog und zählt die Goldfische. „Ich glaube,
es sind neun oder dreizehn, aber ganz bestimmt nicht mehr als zweiund­
zwanzig!“
Schweinchen Jo sitzt neben Bibi und denkt nach. Hinter seinen Ohren
wachsen tiefe Falten, so sehr denkt Schweinchen Jo nach. „Bibi, ich habe
eben etwas sehr Wichtiges entdeckt.
Im Sommer ist Wasser für alle Welt wichtiger als Streuselkuchen und süßer
Kakao! Und ich habe immer geglaubt, Streuselkuchen und süßer Kakao sind
das Allerwichtigste auf der Welt!“
Bibi lacht und klopft Jo auf die hellblauen Schinken.
„D u bist schon beinahe so klug wie meine Großmutter!“
Schweinchen Jo lacht geschmeichelt. „Bibi, jetzt ist mir doch schon wieder
etwas eingefallen. Wir können nicht waschen. Der Waschtrog ist ein En­
tenteich!“
Bibi lacht. „Nein, mein Waschtrog ist ein Goldfischteich. Und einen Gold­
fischteich hat nicht ein jeder!“

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Hinter den Parkbäumen kommt der große gelbe Mond angeschwommen. Bibi
winkt dem Mond zu. „Meine Großmutter hat immer gesagt, wenn der Mond
scheint, soll man keine Wäsche waschen. Dann soll man ins Bett gehen.“
Bibi nimmt den Handwagen und ladet Schweinchen Jo und die beiden Eimer
und die Wäscheleine auf. „Bibi, jetzt könnte ich deiner Großmutter einen
Kuß geben!“ Schweinchen Jo gähnt und schläft ein.
Bibi fährt mit dem Handwagen zur Anschlagsäule zurück. Und schon nach
drei Augenblicken steigen kleine weiße Ringelwolken aus dem Schornstein.
Der gelbe Mond wundert sich.
Was kocht Bibi mitten in der Nacht?
Ingeborg Feustel

4 49
Ein Wald und Schweinchen Jo

Die Sonne scheint auf die Anschlagsäule. Bibi nimmt den großen Besen und
fegt das Pflaster. Schweinchen Jo geht in die Küche und nascht heimlich.
Schweinchen Jo nascht heimlich Honig aus dem Honigglas.
Schweinchen Jo nascht heimlich Pfefferkuchen aus der bunten Pfefferkuchen­
kiste. Schweinchen Jo nascht heimlich Rosinen und süße Mandeln und Kirsch­
marmelade aus dem Küchenschrank.
„Jo !“ ruft Bibi. „Jetzt gibt es Mittagessen!“
Schweinchen Jo sitzt am Tisch und ißt langsam seine Eicheln.
„Jetzt bin ich aber nudelsatt!“ grunzt Schweinchen Jo. Auf dem Teller liegt
noch eine einzige Eichel.
„Man muß immer alles aufessen“ , sagt Bibi streng und klopft mit dem Finger
auf den Tisch. Schweinchen Jo geht zum Spiegel. E s dreht sich zuerst
rechtsherum und dann linksherum. „Jeder kann es sehen, ich bin rundherum
nudeldick und satt!“
Bibi kommt und fühlt Schweinchens Bauch. „Eine Eichel hat noch Platz.
Wer heute nicht aufißt, bekommt keinen süßen Kakao!“
Schweinchen Jo setzt sich schnell wieder vor den Teller und guckt die Eichel
an. Bibi nimmt die große Milchkanne und geht einkaufen.
Schweinchen Jo spielt mit der Eichel „Quer über den Tisch kullern“ . Die
Eichel fällt vom Tisch und rollt unter den Kohlenkasten. Schweinchen Jo
freut sich. E s setzt sich auf den Kohlenkasten und läßt die Beine baumeln.
„Mein Teller ist leer. E s gibt süßen Kakao!“ singt Schweinchen Jo fröhlich.
Bibi kommt zurück. „Wir wollen die Küche ausfegen!“ sagt sie. Schweinchen
Jo zittern vor Schreck die Ohren. E s nimmt schnell die Eichel und trägt sie
heimlich vor die Anschlagsäule. Neben dem Papierkorb ist ein ganz kleines
Loch zwischen den Pflastersteinen. Schweinchen Jo stopft die Eichel in das
Loch und hüpft in die Anschlagsäule zurück.
„Hüpft, ihr Beinchen, hüpft, ihr Beinchen, es gibt Kakao für kleine
Schweinchen!“ singt Jo und fegt die Küche aus.
Schweinchen Jo nascht heimlich jeden Vormittag, wenn Bibi einkaufen geht.
Es fängt mit dem Honig an und hört mit der Kirschmarmelade auf.
Zum Mittag gibt es für Schweinchen Jo braune Kastanien. „D u mußt alles
aufessen, Jo !“ sagt Bibi streng. „Kastanien sind sehr gesund für kleine
Schweine!“
Schweinchen Jo kaut eine Kastanie rechtsherum und dann linksherum und
noch einmal rechtsherum und dann wieder linksherum. Auf dem Teller liegen
noch drei Kastanien.
Schweinchen Jo steckt die Kastanien heimlich in die Schürzentasche. „A uf­
gegessen!“ ruft es und läuft auf die Straße. Schweinchen Jo stopft die drei
Kastanien in die Pflasterritzen.

50
Am Sonnabend bekommt Schweinchen Jo Bucheckern zum Mittagessen. Und
gerade am Sonnabend ist Schweinchen Jo besonders satt genascht. E s stopft
heimlich fast alle Bucheckern zwischen die Pflastersteine und in jede kleine
Ritze rund um die Anschlagsäule. In der nächsten Woche gibt es für
Schweinchen Jo wieder Eicheln und Kastanien und Bucheckern und am
Mittwoch sogar Sonnenblumenkerne zum Mittagessen.
Aber Schweinchen Jo stopft heimlich die Eicheln und die Kastanien und die
Bucheckern und auch die Sonnenblumenkerne in alle Pflasterritzen und in
jedes kleine Loch rund um die Anschlagsäule.
Die Sonne scheint, und der Regen fällt. Und der Regen fällt wieder, und die
Sonne scheint immer noch. Da bringt der Briefträger einen dicken Brief für
Bibi. Großmutter ladet Bibi und Schweinchen Jo zum Geburtstag ein. Bibi
und Schweinchen Jo freuen sich sehr.
Es ist der wunderschönste Großmuttergeburtstag, den Bibi und Schweinchen
Jo je gefeiert haben. E s gibt Streuselkuchen und Himbeerpudding und
Schokoladeneis und Kirschlimonade und Heringsalat. Vier Tage müssen
Großmutter, Bibi und Schweinchen Jo feiern, bis alles aufgegessen ist.
„Och, och, och — ich wußte bis jetzt noch nicht, daß Geburtstagfeiern so
anstrengend ist“ , seufzt Schweinchen Jo und rekelt sich wohlig und faul auf
dem Rasen.
„Nun wirst du auch verstehen, warum man Geburtstag nur einmal im Jahr
feiern kann“ , sagt Bibi und schaukelt im Großmuttergarten beinahe bis zu
den Wolken.
Bibi und Schweinchen Jo ruhen sich noch 2, 3, 4 Wochen vom Großmut­
tergeburtstag im Großmuttergarten aus.
Dann reisen Bibi und Schweinchen Jo zur Anschlagsäule zurück.
„Och, och, och!“ Schweinchen Jo staunt. „Ich kenne eine Zeit, wo es hier
ganz anders ausgesehen hat!“
Aus allen Pflasterritzen und aus allen kleinen Löchern rund um die An­
schlagsäule wachsen kleine Bäumchen — Kastanienbäumchen und Eichen­
bäumchen und Buchenbäumchen. Und hier und dort wächst auch eine
Sonnenblume.
„Jo !“ ruft Bibi erstaunt. „Kannst du es mir erklären, warum vor unserer
Anschlagsäule beinahe ein Wald wächst?“
Schweinchen Jo zwinkert vor Verlegenheit mit den Augen. „Woher soll ich
das so gfcnau wissen?“
Bibi sieht Schweinchen Jo streng an. „Eichenbäume wachsen aus Eicheln und
Kastanienbäume aus Kastanien und Buchenbäume aus Bucheckern!“
Schweinchen Jo trippelt beschämt hin und her. „Und Sonnenblumen wachsen
aus Sonnenblumenkernen — nicht wahr, Bibi?“

4* 51
„D as kommt noch hinzu!“ sagt Bibi. „Und gerade das alles gab es vor dem
Großmuttergeburtstag für dich zum Mittagessen!“
Die Leute, die an der Anschlagsäule Vorbeigehen, schimpfen. Sie müssen
einen großen Bogen machen und können nicht mehr die Plakate lesen. Auch
der Eiswaffelverkäufer muß einen Umweg machen.
„D aß muß sich ändern!“ sagt Bibi entschlossen. Sie holt den kleinen Hand­
wagen und eine Schippe.
Bibi und Schweinchen Jo graben behutsam alle Eichenbäumchen und K a­
stanienbäumchen und Buchenbäumchen und auch die Sonnenblumen aus.
Schweinchen Jo stöhnt und schwitzt.
Bibi und Schweinchen Jo fahren alle kleinen Bäumchen zum Park. Sie
pflanzen sie hinter den Goldfischteich, wo der Park noch eine Glatze hat.
„So — es ist der Schweinchen-Jo-Wald“ , sagt Bibi feierlich und klopft sich
den Sand von der Schürze.
„Warum heißt denn der Wald genauso wie ich?“ fragt Schweinchen Jo und
staunt.
„Weil er aus deinen versteckten Heimlichkeiten gewachsen ist“ , sagt Bibi
streng. „Und nun wirst du deinen Wald jeden Tag gießen!“
„Alle Bäume?“ ruft Schweinchen Jo erschrocken.
Bibi nickt. „Auch die Sonnenblumen!“
Bibi und Schweinchen Jo fahren zur Anschlagsäule zurück.
„Ich nasche nie wieder“ , flüstert Schweinchen Jo, „sonst muß ich noch alle
Welt begießen und kann nicht mehr Hopse spielen!“
Bibi lacht und streicht Schweinchen Jo über die himmelblauen Ohren.

Ingeborg Feustel

52
Das Entlein
Am Bach gab es ein Entennest. Aus allen Eiern waren plustrige Entenkücken
geschlüpft. Nun schwammen sie mit der Entenmutter bachabwärts. Hatten
sie denn das letzte E i vergessen?
„Knack!“ machte das leise, und heraus kam das winzigste Entenkücken, das
man sich denken konnte.
Schaute der Maulwurf über den Nestrand. „Viel zu klein“ , brummte er.
„Und wie bist du groß und stark geworden?“ piepste das Entlein. „Man muß
mit den Pfoten buddeln, buddeln, buddeln“ , sagte der Maulwurf. D a ver­
suchte das Entenkücken mit seinen Watschelbeinen zu buddeln, stolperte
dabei nach rechts und nach links und stieß sich seinen Bürzel. „Buddeln kann
ich nicht!“ piepste es.
Guckte der Hase um den Busch. „Wie wird man groß und stark?“ fragte
das Entlein.
Der Hase überlegte. „Man muß hüpfen und Haken schlagen!“ Gleich hüpfte
das Entenkücken und versuchte Haken zu schlagen. Es stolperte über einen
Grashalm und wäre beinahe in ein Mauseloch gekullert.
Klagte das Entlein dem Eichhorn: „Kann nicht buddeln, kann nicht Haken
schlagen, will aber groß und stark werden. Was soll ich nur tun?“
„D u mußt klettern und Nüsse knacken“ , sagte das Eichhorn. D a nahm das
Entlein Anlauf und wollte die Weide hinauflaufen. Es stieß sich seinen Kopf
und blieb rücklings zwischen den Wurzeln liegen.
Klapperte der Storch: „D u mußt viele Frösche fangen, das macht groß und
stark.“
Gleich rappelte sich das Entenkücken auf und stellte sich mutig dem Gras­
frosch in den Weg. „Ich will dich fangen!“ rief es.
„Q uaaak!“ lachte der Grasfrosch und blies sich auf. D a kippte das Entlein
vor Schreck um. „Ich kann nichts, bin eben zu klein“ , seufzte es und kullerte
in den Bach. Plötzlich paddelten seine Watschelbeine wie von selbst.
„Man darf nur nicht den Mut verlieren“ , schnatterte die alte Gans. „Irgend­
was kann jeder.“
Das Entenkücken aber paddelte zu seinen Geschwistern, schnabbelte Würm­
chen und Grütze — und wurde gleich um zwei Gramm schwerer.

Ingeborg Feustel

53
Krawitter, Krawatter, das Stinchen, das Minchen

Das ist die Geschichte von dem Hahn Krawitter und den Mäusen Stinchen
und Minchen. Sie lebten einst in dem Lande Muck gleich hinter dem großen
Wald.
Jeden Morgen krähte der Hahn die Sonne herbei, und da wurde es Tag.
Und die Blumen öffneten sich.
Und die Vögel begannen zu singen.
Jeden Mittag kochte er einen großen Topf Essen, briet und buk er für sich
und die Mäuse, immer etwas anderes. Und es hat jedesmal herrlich ge­
schmeckt.
Jeden Abend setzte er sich auf einen Stein und sagte das Wetter voraus,
woher der Wind kommt und wann es regnet.
Eines Tages gab es Kirschen zum Frühstück. D a huschten die Mäuse
herbei.
„Kirschen!“ rief das Minchen.
„Kirschen . . . “ , lobte das Stinchen.
Ihre Augen glänzten, und sie aßen die Schüssel leer und schnippten die Kerne
auf den Boden. Saftig waren die Kirschen und süß. Und die Mäuse rieben
sich die Bäuche.
„Wir hätten gern mehr.“
„Krawitter, Krawatter“ , sagte der Hahn. „Mehr Kirschen sind nicht im
Haus.“
„Dann holen wir sie!“ piepste das Stinchen.
„Dann pflücken wir sie!“ piepste das Minchen. Und sie purzelten von den
Stühlen und bestürmten den Hahn.
Aber er sagte: „E s ist viel zu weit.“
Es ist viel zu weit bis zum großen Kirschenbaum. Denn er steht hinter dem
Wald, hinter dem Berg, jenseits des Flusses. Aber er steht prächtig mit
tausend schwarzroten süßen Kirschen. Und wer sie ißt, hat Kraft den ganzen
Winter.
„Wir durchdringen den Wald“ , sagte Minchen, die Maus.
„Wir erklettern den steilsten Berg“ , sagte Stinchen, die Maus.
„Wir durchschwimmen den Fluß“ , sagten sie beide.
„Krawitter, Krawatter“ , krähte der Hahn. „D a können wir ja gehen. Wir
pflücken die Kirschen und haben für den Winter einen Vorrat.“
Im Nu standen die Mäuse an der Tür und wollten spornstracks hinaus in
den Wald. Aber da rief der Hahn: „H alt! Erst holt ihr den Wagen aus dem
Schuppen.“
„Den Wagen? Was wollen wir denn mit dem Wagen?“
„Wir legen auf ihn das Brot. D a brauchen wir’s nicht zu tragen.“
„Was wollen wir denn mit dem Brot?“

54
„Essen. Der Weg ist lang. Durch den Wald kommt ihr. Den Berg ersteigt
ihr. Aber hinter dem Fluß bekommt ihr Hunger. Und wollt ihr keine
Kirschen vom Baum mit zurückbringen? Auch dazu brauchen wir den
Wagen.“
Die Mäuse verzogen die Mäulchen und murrten ein Weilchen. Dann zerrten
sie den Wagen aus dem Schuppen. Der Hahn dagegen nahm ein Brot, das
war gesprenkelt von feinen Rosinen. Mit einem Messer maß er drei Teile ab,
die er durch Kerben unterschied: ein Teil für Stinchen, ein Teil für Minchen
und einer schließlich für den Hahn Krawitter, der auch Hunger bekommen
würde auf dieser langen Wanderung. Endlich wickelte er das Brot in ein
blaues Tuch, knüpfte die vier Enden zusammen und trug es zum Wagen. Die
Mäuse riefen: „Nun aber los!“
„Halt! Wir müssen den Wagen ziehen.“
„Wir?“ fragte Stinchen. „Wir wollten nichts mitnehmen.“
Der Hahn sagte streng: „Wer nicht zieht, bekommt keine Kirschen.“ Keine
Kirschen für das Minchen, für das Stinchen? Sie spannten sich vor den
Wagen. Holterdiepolter ging es in den Wald. Zwischen Farn und Kraut saßen
die Hasen. Zwischen Dickicht und Tann kamen die Rehe an. Und alle
staunten, wie schnell der Wagen durch den Wald rollte.
Am Wegweiser erst hielten sie. Hier sagte der Hahn: „Jetzt laßt mich ziehen.
Jetzt geht es den Berg hinauf. Ich bin stärker als ihr.“
„G ut, lieber Krawitter.“ Minchen und Stinchen streckten sich in den
Schatten. Sie atmeten tief und schnupperten nach dem Wagen.
„N a, wollt ihr umkehren?“ fragte Krawitter.
„Nein, nein! Wir möchten gern essen.“
„Hoho!“ rief da der Hahn Krawitter. „Wer wollte denn das Brot zu Hause
lassen?“ Wenn man es einmal mit hat, dann kann man es auch essen. So
sagten die Mäuse. Für das Stinchen, für das Minchen nur ein Krümchen, ein
Rosinchen. Krawitter, Krawatter, das war dem Hahn nicht recht. Wenn
gegessen wird, dann hinter dem Fluß. Weg und Tag waren noch lang, und
am Kirschenbaum wartete die Arbeit.
„Aber“ , sagten die Mäuse, „wenn wir jetzt das Brot aufessen, das hilft doch
auch dir, lieber Krawitter. Dann hast du nur noch den leeren Karren zu
ziehen.“
Doch der Hahn lief schon weiter, mit dem Wagen, mit dem Brot. Die Sonne
brannte herab, da sie nun den Wald verließen und der Berg vor ihnen lag.
Die Mäuse rannten, damit ihnen der Hahn nicht aus den Augen geriet.
Flink war der Hahn Krawitter und stark. Schnell stieg er den Berg hinan,
dem Zickzack der Straße nach. War er an der einen Kurve, rannten die Mäuse
erst drei Kurven weiter unten. Und der Duft des Brotes stieg ihnen in die

55
Nase und lockte sie. Und sie sputeten sich, was sie konnten. Da erreichten
sie den Hahn kurz vorm Gipfel.
„Wir helfen dir schieben, lieber Hahn Krawitter!“
Und sie lagen schon halb auf dem Wagen und stemmten sich dagegen, so daß
er vorwärts rollte und dem Hahn mehr Luft ließ. Da krähte er fröhlich.
Und als sie so schoben, lag das Brot vor ihrer Nase. Und es duftete so
wunderbar...
D a zupften sie an dem Tuch, in dem das Brot eingewickelt war. Sie zogen
und zerrten daran, und es löste sich ein Zipfel, dort oben auf dem Gipfel
des Berges. Minchen begann hurtig zu knabbern.
„Mir auch ein Rosinchen!“ schrie das Stinchen.
Da drehte sich der Hahn Krawitter um und sah die Bescherung. Er sprang
auf den Wagen, hieb mit dem Schnabel nach den Mäusen und rettete das Tuch
mit dem Brot. Ehe er aber das Tuch richtig knüpfen konnte, setzte sich der
Wagen in Bewegung und rollte den Hang hinab, über Stock und Stein,
geradewegs zum Fluß.
Minchen und Stinchen lagen im Wagen, gerüttelt, geschüttelt. An Busch und
Baum vorbei ging die rasende Fahrt, an Fels und Fuchs, hopplahopp! Wenn
der Wagen zerbricht, wenn er umstürzt! Die Mäuse klammerten sich an die
Bretter. „Hilf, lieber Hahn! Wir knabbern nie mehr am Brot.“
Längst saß der Hahn auf der Deichsel und lenkte. So rollte der Wagen auf
eine große Wiese, dort blühten zweitausend Gänseblümchen. Stinchen sah
das Minchen an. Minchen sah den Wagen an, der sich nicht mehr bewegte.
Dann sah es den Fluß. „Hurra! Wir sind schon am Fluß!“ Und irgendwo
da drüben stand doch der Kirschenbaum!
Sie purzelten vom Wagen, schrien, tanzten vor Freude, sprangen an dem
Hahn vorbei zum Wasser. Sie steckten einen Fuß in den Fluß, tauchten ein
Bein hinein. „Der Fluß ist zu tief!“ Minchen hielt Stinchen, doch wie sie sich
reckte, wie sie sich streckte, sie konnte den Grund des Flusses nicht einmal
mit ihrem Schwänzchen erreichen.
Krawitter indes hatte das Tuch mit dem Brot auf einen Stein gelegt. Er hatte
den Wagen an den Fluß gefahren und ins Wasser geschoben. D a war dieser
klimperkleine Wagen das schönste Boot, das man sich denken kann.
Kaum entdeckten es die Mäuse, so schrien sie: „Krawitter, der Hahn, schenkt
uns einen Kahn!“ Sie liefen herbei und sprangen mit einem solchen Satz in
das Boot, daß es heftig zu schaukeln begann. D a stieg auch der Hahn ein.
Minchen rief: „Jetzt können wir ablegen!“ Und Stinchen löste den Strick von
der Weide, der das Boot festhielt.
„D as Brot muß auch noch mit“ , erinnerte der Hahn.
Wie hatten sie das Brot vergessen können! Den Duft! Die Rosinen!

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„Heb es herüber, lieber Hahn Krawitter!“
Der Hahn, der doch schon im Boot stand, packte das Tuch mit dem Brot
und hob es vom Stein. Und als er es hob — Hilfe! — sank das Boot immer
tiefer ins Wasser ein. Es fehlte weniger als ein Mäuseohr, da wäre der Fluß
ringsum hereingeschwappt.
Blaß waren die Mäuse. Vorsichtig setzte der Hahn Krawitter das Brotbündel
wieder an Land. Sogleich stieg das Boot aus dem Wasser empor.
„E s hilft alles nichts“ , sagte der Hahn, „wir können das Boot nicht über­
laden. Zwei Mäuse, ein Hahn und ein Brot, das ist zuviel. Einer muß Z u ­
rückbleiben.“
Wer konnte denn Zurückbleiben? So kurz vorm süßen Kirschenbaum? Eine
Maus gar, ein Minchen, ein Stinchen?
„Versuch es noch einmal, Hahn Krawitter. Wir machen uns auch ganz
leicht.“
Wieder hob der Hahn das Brotbündel vom Stein. Platsch, kam das Wasser
an, schwappte ins Boot. Rasch setzte der Hahn die Last auf dem Lande ab.
„Was machen wir nun?“ fragten die Mäuse.
„Wir fahren mehrmals“ , sagte da der Hahn Krawitter.
Sogleich erbot sich das Stinchen, mit dem Brot zurückzubleiben und es zu
bewachen. „Ich versteck es so, daß kein Räuber es findet.“
„Krawitter, Krawatter, du versteckst es im Magen!“ -
„Also laß mich hier“ , sagte das Minchen. „Ich beiß nach jedem, der an das
Brot will.“
„Krawitter, Krawatter, du beißt nach jeder Rosine!“
Nein, nein. Der Hahn stellte sich auf die Spitze des Kahnes und dachte so
angestrengt nach, als habe er das Wetter vorherzusagen.
Schließlich riet er: „Wir fahren so: der Hahn, das Brot, eine Maus. Und der
Hahn steigt drüben mit dem Brot aus.“
„Und die Maus . . . ? “
„Holt dann die andere Maus.“
O Himmel! Das Minchen schüttelte sich. „E tw a ich? Wie soll ich denn so
ein Riesenboot allein lenken?“
„Ich könnte es auch nicht“ , sagte das Stinchen.
„Krawitter, Krawatter!“ rief da der Hahn. „Dann schlagt etwas anderes
(<
vor.
„G ern!« Die Mäuse sprangen mit einem Satz ans Ufer, packten das Brot,
zerrten daran und rissen es auseinander, ehe der Hahn Krawitter eingreifen
konnte. Er hieb dazwischen, aber ihm blieb nur das blaue Tuch. Die Mäuse
saßen stumm da und sahen ihn treuherzig an. Jede hatte die Hälfte des Brotes
vor sich. Und sie schauten, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Der Hahn

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wetterte und krähte. Aber die Mäuse sagten: „Warum schimpfst du, lieber
Hahn Krawitter? Wir haben doch nur alles genau geteilt. Nun kannst du
uns hinüberfahren. Jedesmal eine Maus und ein halbes Brot, jedesmal aufs
Lot genau die gleiche L ast.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, packte das Minchen seine Hälfte und sprang
wieder ins Boot. E s kippte, es schaukelte. „Halte es, Hahn!“ Es glitt unter
der Weide weg. Es trieb ab, hinaus in den Fluß. Wer rettet das Mäuschen?
Wer rettet das Boot? Der Hahn Krawitter kam nicht dazu, dem Stinchen
auf dem großen grauen Stein die andere Brothälfte wegzunehmen. Er flog
los, flog über das Wasser, erreichte endlich das Boot. Der Maus darin wurde
es wohler.
Schon waren sie am anderen Ufer. Eine Maus, ein halbes Brot stiegen aus.
Zurück stakte der Hahn.
„Stinchen, ißt du auch nicht?“
„Nein, nein, nein, nein!“
„Minchen, ißt du auch nicht?“
„Nie, nie, nie, nie!“
„Stinchen . . . ! “
„Mck, mck, mck, mck.“
„Minchen . . . ! “
„Hmpf, hmpf, hmpf, hmpf.“
Zurück war der Hahn, da saß das Stinchen auf dem großen grauen Stein
neben dem blauen Tuch, das leer war, und würgte am letzten Bissen.
„Krawitter, Krawatter!“ krähte der Hahn, traurig, daß das Brot gegessen
war und sein Teil mit. Und die Maus kroch ins Boot und konnte sich kaum
rühren.
Krawatter stieß das Boot zurück in das tiefe Wasser. Hinüber zum Minchen!
Aber sosehr er auch schaute: Nicht ein Mäuseohr von Minchen gewahrte er.
„Minchen, warum versteckst du dich?“
„Ich bin schon da, hmpf, hmpf, lieber Hahn . . . “ Und das Minchen kam
hinter einer Distel hervor, ächzend, mit einem kugelrunden Bäuchlein und
einem Brotkrümel an der Schnauze.
Da wußte der Hahn, daß auch die andere Brothälfte verloren war und sein
Teil mit. Und er krähte laut, daß es über den Fluß schallte und die Leute
in den Dörfern ihre Uhren stellten, weil sie glaubten, es sei der Mittags­
schrei.
„Krawitter, Krawatter!“ Er stieg aus dem Boot aus und flog davon, ohne
nach den Mäusen zu schauen.
„Warte doch, lieber Hahn!“ Nein, er wartete nicht. Viel zu schnell war er
für jemand, der so viel gegessen hatte. Und der Hahn hielt erst an, als er

58
beim Kirschenbaum angekommen war. Hier begann er zu ernten. Hier
begann er zu pflücken. Hier begann er endlich auch zu essen, wunderschöne
schwarzrote Kirschen. Und er hatte großen Hunger nach dieser Wanderung.
Und die Mäuse lagen da am Stamme des Kirschbaums und sahen ihn essen.
Und sie waren doch wegen der Kirschen hierher gezogen! Und jetzt konnten
sie keine Kirsche anrühren. Viel zuviel Rosinenbrot hatten sie in sich hin­
eingestopft. Sie blinzelten nur manchmal zu den süßen Früchten und schlos­
sen schnell wieder die Augen. Oh!
Und der Hahn Krawitter schnippte ihnen je einen Kirschkern auf die
Schnäuzchen und dachte darüber nach, wie sie am besten die Winterkirschen
über den Fluß bringen, über den Berg, durch den Wald, hin zu ihrem
Häuslein.
Herbert Friedrich

59
Vom Morit2, der kein Schmutzkind mehr sein wollte

Es war einmal ein Kinderheim, das war außen gelb und innen violett, und
dort wohnten auch Moritz, Bärbel und Claus.
Sie waren gute Freunde, sie spielten gern zusammen und saßen immer Nase
an Nase, wenn Frau Pipermann Märchen erzählte. Frau Pipermann war die
Leiterin des Kinderheimes. Niemand konnte so gut Märchen erzählen wie
sie.
Im Kinderheim lebte es sich gut, aber Bärbel und Claus hatten eine große
Sorge: Ihr Freund Moritz war ein Schmutzkind. Er tatschte morgens einmal
mit der nassen Hand gegen jede Backe, das nannte er Sich-Waschen; dann
nahm er einen Schluck Wasser in den Mund, um ihn gleich wieder aus­
zuspucken, und das nannte er Zähneputzen; dann fuhr er einmal mit den
Fingern durch seine Haarzotteln, das nannte er Sich-Kämmen. Und wenn
Frau Pipermann mit dem großen Schwamm kam, oder wenn Moritz gar unter
die Dusche sollte, dann schlug er mit Händen und Füßen um sich und brüllte
wie ein Riese, der Zahnweh hat.
Seine Schuhe putzte er nicht, sondern rieb sie am Hosenbein ab, und wenn
er sein Hemd beim Essen bekleckerte, schmierte er den Klecks mit den
Fingern breit und wischte sich dann am Tischtuch ab. So einer war Moritz.
Frau Pipermann, Bärbel und Claus gaben sich schreckliche Mühe, Moritz zu
bessern. Aber alles half nichts. Dabei war Moritz ein freundlicher, lustiger
und hilfsbereiter Junge. E s war zum Verzweifeln.
Eines Tages war Moritz gerade Pionier vom Dienst, da schellte es an der
Türe. Moritz lief zur Tür und öffnete sie.
Kinder, wer stand da vor der Tür?
Ein richtiger König mit einer goldenen Krone auf dem Kopf und mit einem
goldenen Gewand und mit goldenen Schuhen.
Als Moritz den König sah, setzte er sich vor Staunen hin. Der goldene König
brummte und fragte mit tiefer Stimme: „Was sind denn das für Faxen?
Empfängt man so einen König?“
Moritz sprang auf, raste ins Spielzimmer und schrie: „Kinder, Kinder, kommt
schnell, ein richtiger König steht draußen vor der Tür!“
Nun hättet ihr sehn sollen, wie die Kinder flitzten! Im Nu waren sie an der
Tür, drängten sich um den König, faßten sein goldenes Gewand an und
lachten und kicherten.
Der König wurde böse. „Potzhimmeldonnerwetter!“ sagte er. „H abt ihr denn
noch nie einen König gesehen?“
„Nein!“ riefen die Kinder.
„N anu?“ fragte der König. „Fährt euer König denn nicht in seiner goldenen
Kutsche durch die Stadt und zeigt sich seinen treuen Untertanen?“
„Aber wir haben ja gar keinen König!“ riefen die Kinder.

60
„Schreckliche Zeiten“ , brummte der König, aber da war auch schon Frau
Pipermann und fragte den König, was er hier wolle.
„Eine böse Hexe hat mein einziges Kind, die Prinzessin Rosenblatt, ver­
wünscht“ , sagte der König. „D ie Prinzessin schläft einen tiefen Schlaf, und
sie kann nur erweckt werden, wenn sich ein Kind findet, das drei schwere
Aufgaben löst!“
„Bist du etwa der Vati vom Dornröschen, Herr König?“ fragte Bärbel. Sie
fragte immer zuerst, weil sie eine Stupsnase hatte. „N ein!“ rief der König
und machte böse Augen. „Mit dem Dornröschenkönig habe ich mich ver­
kracht. Mit dem führe ich Krieg!“
„Pfui! Pfui! Pfui!“ schrien alle Kinder.
„Aber wir werfen uns nur mit Pfeffernüssen“ , sagte der König.
„Ach so —“ , sagten die Kinder.
„Aber das ist auch nicht gut“ , sagte Claus. „M it Pfeffernüssen wirft man
nicht, die gibt man lieber den Kindern zu essen!“
„Aber das sind ja gar keine richtigen Pfeffernüsse, wir werfen uns mit
Pfeffernüssen aus Papier“ , sagte der König.
„Ach so —“ , sagten die Kinder.
„Aber dann ist es ja auch gar kein richtiger Krieg“ , meinte Moritz. „Und
außerdem gibt es ja gar keine Hexen“ , fügte er hinzu.
„Aber im Märchenland gibt es eben welche“ , entgegnete der König, und zu
Frau Pipermann sagte er tadelnd: „D as sind aber sehr freche Kinder!“
„Ach nein“ , sagte Frau Pipermann. Sie hatte die Arme in die Hüften ge­
stemmt und sah sich im Kreise um. „N a, wie ist es, Kinder, wollen wir dem
König helfen?“ fragte sie. „ J a !“ schrien alle Kinder begeistert.
„Und wer will die Prinzessin erlösen?“ fragte Frau Pipermann.
„Ich, ich, ich!“ riefen die Kinder und streckten ihre Hände in die Höhe.
Moritz hob gleich beide Hände hoch. „Ich habe den König zuerst gesehen!“
rief er. „Und ich bin heute Pionier vom Dienst, darum darf ich als erster
die Prinzessin erlösen!“
„D u bist zu schmuddelig, Moritz!“ sagte Frau Pipermann. „D ie Prinzessin
bekommt einen Schreck, wenn sie dich sieht!“
„Ooooch“ , machte Moritz, zog einen Flunsch und heulte los. Moritz konnte
schrecklich heulen. Alle hielten sich die Ohren zu.
„D ie Bärbel darf gehen“ , sagte Frau Pipermann, „der Claus und —“
„Bitte, bftte, bitte, bitte ich auch!“ bat Moritz. Er bat so rührend, daß der
König sich die Tränen aus den Augen wischte.
„Lassen Sie ihn doch mitgehen, gute Frau“ , sagte der König und schluchzte.
Bärbel und Claus baten auch für Moritz. „E r wird sich jetzt sicher bessern!“
sagte Claus.

61
„N a gut“ , sagte Frau Pipermann, „aber vorher: waschen, Nase schnauben,
Rock bürsten und kämmen!“
Moritz machte ein langes Gesicht, aber er ließ alles über sich ergehen, ohne
zu quietschen. „D as ist ein großer Fortschritt“ , sagte Frau Pipermann. Dann
wandte sie sich an den König.
„So, es kann losgehen, Herr König!“
„Ich versichere euch meiner Huld und Gnade!“ sagte der König zu den
dreien. „Macht’s gut!“
„ Ja kommst du denn nicht mit, Herr König?“ fragte Bärbel.
„Unmöglich!“ sagte der König und schnaufte. „Unmöglich! Eine Viertel­
stunde habe ich bis zu euch gebraucht, und eine Viertelstunde habe ich mit
euch zu sprechen geruht, das macht zusammen eine halbe Stunde, und mehr
als eine halbe Stunde am Tage dürfen Könige nicht arbeiten, sonst werden
sie nervös und verlieren den Überblick über die Staatsgeschäfte.“
Die Kinder stießen einander an und kicherten.
„Was machen wir denn da, Herr König?“ fragte Frau Pipermann.
„Jetzt muß ich mich ausruhen“ , sagte der König. „Man führe mich ins
Schlafgemach und lege mich ins Himmelbett!“
„Himmelbetten haben wir nicht“ , sagte Frau Pipermann. „Wir haben nur
Kinderbetten, und die werden Euch zu klein sein, Herr König!“
„Dann will ich zu Mittag speisen!“ sagte der König. „Man führe mich in
den Speisesaal und schicke mir den Koch mit der Speisekarte!“
„D er redet aber ulkig“ , flüsterte Bärbel dem Claus zu.
„Könige reden immer so ulkig“ , flüsterte Claus zurück.
„E s gibt grüne Bohnen mit Räucherfleisch“ , sagte Frau Pipermann.
„Hurra, das ist mein Leibgericht!“ rief der König. „Vorwärts, gehen wir!“
Und schon stürmte er davon, aber Claus packte den König gerade noch am
goldenen Kragen.
„Aber wo sollen wir denn die verzauberte Prinzessin finden?“ fragte er.
„Ach so“ , sagte der König und wackelte bedächtig mit dem Kopfe. „Paßt
auf“ , sagte er dann. „Zuerst geht ihr immer der Nase nach, bis ihr zu einer
Frau kommt, die zwei Beine hat, dann dreht ihr euch einmal herum und geht
wieder der Nase nach, bis ihr zu einem Mann kommt, der die Nase mitten
im Gesicht hat, und dann —“
„D u lieber Kuckuck!“ sagte Bärbel. „D er ist aber dumm!“ Die Kinder
lachten aus vollem Halse, und auch Frau Pipermann mußte lachen.
„Ruhe!“ schrie der König und zog eine papierene Pfeffernuß aus der Tasche
und warf sie Bärbel an den Kopf.
„Puh — Puh — Puh!“ schrien die Kinder, und die, die pfeifen konnten,
pfiffen, daß es gellte.

62
„Ruhe!“ rief Frau Pipermann. „Ruhe, sonst wird die arme Prinzessin heute
ja nie mehr erlöst!“ Sie holte eine große Landkarte, auf der das Märchenland
eingezeichnet war, und erklärte den dreien den Weg ins Märchenland. Sie gab
jedem ein Paar Stullen, eine Rolle Pfefferminzdrops und einen Apfel mit und
wünschte den Kindern eine glückliche Reise und guten Erfolg, und dann zog
alles los: der König, Frau Pipermann und die Kinder in den Speisesaal und
Bärbel, Claus und Moritz ins Märchenland, die Prinzessin zu erlösen.
Welchen Weg die Kinder zogen, das weiß ich nicht. Ihr müßt schon Frau
Pipermann selbst fragen, wenn ihr es wissen wollt.
Unsere drei Helden waren ein schönes Stück Wegs gegangen, da kamen sie
zu einer riesigen alten Eiche, die hatte einen himmelblauen Stamm und
feuerrote Blätter; ihre Früchte waren gelbe Bananen. In orangenen Nestern
saßen lila Vögel und sangen, und ein grasgrünes Eichhörnchen hüpfte von
Ast zu Ast und winkte den Kindern mit seinem buschigen Schweif das
Willkommen zu.
Bei dieser Eiche, so hatte Frau Pipermann gesagt, beginne das Märchenland.
Weiter hatte Frau Pipermann aber den Weg auch nicht gewußt, und das war
schlecht, denn von der Eiche aus führten drei Wege ins Innere des Märchen­
landes. Welchen Weg sollten die Kinder da gehen?
„Ich gehe linksrum“ , sagte Bärbel, „da wachsen so wunderbare Blumen!“
„Ich gehe rechtsrum“ , sagte Claus, „da glitzern so wunderbare Steine.“
„Und ich geh geradeaus“ , sagte Moritz und klatschte in die Hände, „da gibt
es so wunderbare Pfützen!“
Die Kinder gaben einander das große Ehrenwort, nach vollbrachter T at hier
an der Eiche aufeinander zu warten und nur gemeinsam zurückzukehren.
Dann ging jeder seines Wegs: Bärbel nach links, Claus nach rechts und Moritz
geradeaus, weil da so schöne Pfützen waren.
Es> waren wirklich Pfützen, wie man sie nur im Märchenland finden kann:
voll tiefschwarzer Eierpampe, die bis zu den Wipfeln der Bäume spritzte,
wenn mail hineinsprang. Man konnte Bälle und Schmutzmänner aus ihr
kneten, und wenn man mit beiden Beinen in der Pampe rührte, dann
schmatzte und quatschte und schnalzte und patschte es wie herrliche
Märchenmusik. Auch kam ein flotter Wind auf und zerzauste Moritz’ ge­
kämmtes Haar.
Von den Bäumen tropfte schweres goldenes Harz, das herrlich klebte, und
bald sah«Moritz aus, als ob er sein Leben lang noch nie gewaschen worden
wäre.
Moritz hätte wohl bis zum Abend so weitergespielt, wenn ihm nicht das
grasgrüne Eichhörnchen zugerufen hätte: „Willst du nicht endlich die Prin­
zessin erlösen gehen, du Nichtsnutz?“

63
„Richtig!“ sagte Moritz. „D a ist ja auch die Prinzessin!“ Er schlurfte mit
Mühe aus der Pfütze heraus, wischte sich die Hände am Hemd ab und lief,
so schnell ihn die Beine trugen, bis er zu einer silbernen Schranke kam, neben
der ein silbernes Pförtnerhaus stand.
„Ihren Ausweis bitte!“ sagte das silberne Pförtnerhaus. Eigentlich sagte dies
der Mann, der im Pförtnerhaus saß und der nun heraustrat. Es war ein
freundlicher alter Mann mit wallendem silbernem Haar. Er hatte einen
silbernen Rock an und silberne Hosen und silberne Schuhe, und in der Hand
hielt er eine silberne Pfeife, aus der silberner Rauch kräuselnd aufstieg.
„Ihren Ausweis!“ wiederholte er.
„Aber ich bin doch ein Kind, und Kinder haben noch keinen Ausweis!“ sagte
Moritz.
„D as ist richtig und auch nicht“ , sagte der silberne Pförtner und zog an seiner
Pfeife. „D ie Kinder haben keinen Ausweis aus Papier, aber sie haben einen
Ausweis aus Fleisch und Blut!“
„D as kapier’ ich nicht“ , sagte Moritz, und er dachte bei sich: Der ist ja
genauso dumm wie der König!
„Ich bin nicht dumm, Moritz“ , sagte der silberne Pförtner ruhig, und Moritz
bekam vor Schreck den Schluckauf. „D ie Kinder sind ihr eigener Ausweis“ ,
sagte der Pförtner und betrachtete Moritz lang und ernst. Dabei rauchte er
seine silberne Pfeife.
„D u hast ehrliche Augen, mein Junge“ , sagte der silberne Pförtner. „In
deiner Brust schlägt ein braves Herz, dein Mund ist kein Lügenmund, und
deine Hände sind hilfsbereit. Aber warum bist du so entsetzlich schmutzig?“
„Ich heiße Moritz“ , sagte Moritz schnell. „Ich bin fünf Jahre alt, komme aus
dem Kinderheim und will die verwunschene Prinzessin Rosenblatt erlösen.
Laß mich weitergehn, silberner Pförtner!“
„D as ist gut, daß du die Prinzessin erlösen willst, Moritz“ , sagte der silberne
Pförtner. „Aber komm zuerst in mein silbernes Pförtnerhaus, drin kannst
du dich waschen und kämmen, die Schuhe putzen und die Kleider aus­
bürsten!“
„Ach nein, danke“ , sagte Moritz, „es könnte zu lange dauern!“
„Moritz“ , sagte der Pförtner, „die Prinzessin wird vor dir erschrecken!“
„I wo“ , sagte Moritz.
„D u mußt drei Aufgaben lösen, Moritz“ , sagte der silberne Pförtner, „da
ist es viel besser für dich, wenn du sauber bist, glaube es mir!“
„Ooooch“ , machte Moritz und fing an zu heulen.
„Ich muß aber sofort zur Prinzessin. Laß mich endlich ins Märchenland!“
„Sag mal, Moritz“ , fragte der silberne Pförtner ernst, „bist du etwa ein
Schmutzkind?“

64
Moritz heulte, so laut er konnte.
„Sei ruhig, ich laß dich schon durch“ , sagte der silberne Pförtner und hielt
sich die Ohren zu. „Frau Pipermann hat nämlich hier angerufen und gesagt,
ich sollte alle Kinder durchlassen, die aus ihrem Kinderheim kämen!“ Der
silberne Pförtner hob seufzend die silberne Schranke hoch und ließ Moritz
durch.
„D u wirst es aber bereuen, mein Junge!“ sagte er nochmals. Moritz schüttelte
stumm seinen Wuschelkopf.
„D u gehst jetzt geradeaus weiter, bis du an die wunderbunte Wiese kommst“ ,
sagte der silberne Pförtner. „D ort sitzt der lachende Hase. Er wird dir deine
erste Aufgabe erklären. Leb wohl!“
„Danke, lieber silberner Pförtner!“ rief Moritz froh und wollte dem Pförtner
einen Kuß geben. Der aber lief schnell in sein silbernes Pförtnerhaus und
schlug die Tür hinter sich zu, so daß das Pförtnerhaus ganz silbern klang.
Moritz lief Galopp. Im Nu war er bei der wunderbunten Wiese angelangt,
und richtig, da saß auch der Hase und lachte übers ganze Gesicht. Kinder,
war die Wiese schön: Hunderttausend Blumen blühten da in allen Farben
der Welt, und es waren Farben darunter, wie sie es nur bei den Indianern
gibt oder im Elefantenwald! Noch nie hatte Moritz solche Farben gesehen
und noch nie solche süßen, würzigen und milden Düfte geatmet! So schön
war die Wiese, daß Moritz zögerte, sie mit seinen schmutzigen Schuhen zu
betreten.
Da sagte der lachende Hase: „Komm nur herauf, Moritz!“
Moritz betrat die Wiese, da wichen die Blumen und Gräser vor seinem Fuß
zur Seite, so daß Moritz immer auf die nackte Erde trat und kein Hälmchen
berührte.
„Hier mußt du deine erste Aufgabe lösen“ , sagte der Hase und lachte. „D u
mußt einen Strauß Blumen für die Prinzessin pflücken!“
„N a, das ist aber leicht!“ sagte Moritz und bückte sich schnell, um die
schönsten Blumen für die Prinzessin zu brechen. Aber die Blumen wichen
seinen Fingern aus, und Moritz war es, als flüsterten sie: „Wir lassen uns
von einem solchen Schmutzkind nicht pflücken.“ Sosehr sich Moritz auch
mühte, er konnte kein einziges Blümchen packen.
Schließlich standen ihm die hellen Tränen in den Augen. „Aber die doofen
Blumen lassen sich ja gar nicht pflücken!“ rief er verzweifelt dem lachenden
Hasen zu? „Siehst du, es ist doch nicht so leicht!“ sagte der lachende Hase.
„Warum hast du dich auch nicht gewaschen. Schnell, lauf ins Pförtnerhaus
und wasche dich!“
„Ich bin heute schon zweimal gewaschen worden, ich kann mich unmöglich
noch einmal waschen!“ sagte Moritz trotzig. Er hockte sich neben dem

65
5
lachenden Hasen nieder und fragte leise: „Kann ich nicht eine andere
Aufgabe bekommen?“
„Nein“ , sagte der lachende Hase, „du mußt diese Aufgabe lösen!“
„Und wenn ich es nicht schaffe?“ fragte Moritz.
„Dann hast du verloren und kannst die Prinzessin nicht erlösen!“ sagte der
lachende Hase.
„Werde ich dann auch verzaubert?“ fragte Moritz entsetzt.
„Nein“ , sagte der lachende Hase, „du wirst nicht verzaubert, wenn du nicht
willst, aber alle Waldtiere kommen und lachen dich aus.“
„D as ist schrecklich genug!“ stöhnte Moritz.
Er stand auf und dachte nach. Endlich hatte er einen Einfall. Er sah nämlich
unter den wunderbunten Blumen auch Disteln stehen und Dornsträucher
und Brennesseln. Diese Blumen werden sich vielleicht von mir pflücken
lassen, dachte er.
Er hatte richtig gedacht: Kaum streckte er seine Hand nach ihnen aus, so
flogen sie ihm schon entgegen und preßten sich in seine Hand, und Moritz
war es, als ob sie dabei zischelten: „Endlich kommt ein Schmutzkind, uns
zu pflücken — endlich kommt ein Schmutzkind, uns zu pflücken!“
Das pikte und brannte, kann ich euch sagen! Moritz schrie laut: „A ua!“
„So nimm doch dein Taschentuch“ , sagte der lachende Hase.
„Aber ich hab ja kein Taschentuch, ich putz mir ja nie die Nase“ , sagte
Moritz kläglich.
„Pfui!“ sagte der lachende Hase streng.
„Pfui!“ säuselten die wunderschönen Blumen, und „aua!“ jammerte Moritz
wieder. Doch er pflückte tapfer weiter, bis er einen Strauß zusammen
hatte.
„D u hast deine erste Aufgabe gelöst, Moritz“ , sagte der lachende Hase.
„Nun geh weiter geradeaus, bis du zur himmelhohen Fichte kommst. Dort
wartet der hämmernde Buntspecht auf dich, der wird dir deine zweite
Aufgabe erklären.“
„Vielen Dank auch, lachender Hase!“ rief Moritz und lief, seinen Brenn-
nesseldornendistelstrauch vorsichtig mit den Fingerspitzen haltend, weiter.
Bald kam er zur himmelhohen Fichte. Sie war so hoch, daß man ihren Wipfel
nicht sehen konnte. Alle ihre Nadeln waren aus grünem Edelstein, und um
ihren Stamm lief der Specht und hämmerte.
„Guten Tag, Moritz!“ sagte der hämmernde Specht. „Hier ist deine zweite
Aufgabe: Du mußt jetzt das Schloß der verzauberten Prinzessin finden!“
„Wo liegt denn das Schloß?“ fragte Moritz.
„D u mußt es suchen!“ sagte der hämmernde Specht. „Klettere hier die Fichte
hoch, bis du das Schloß siehst. Du kannst es leicht erkennen, denn es hat

66
eine Kuppel von blankem Gold. Wie hoch du aber klettern mußt, das weiß
ich nicht: Je ungezogener die Kinder gewesen sind, um so schwerer läßt sich
das Schloß von ihnen sehen und um so höher müssen sie klettern, und sehr
bösen Kindern zeigt sich das Schloß überhaupt nicht.“
„Klettern kann ich gut“ , sagte Moritz und spuckte sich in die Hände.
„Ich will dir einen guten Rat mit auf den Weg geben“ , sagte der hämmernde
Specht. „Kämm dich vorher!“
„Hab keinen Kamm und keine Zeit!“ sagte Moritz, nahm Anlauf, sprang
am Stamm hoch und schwang sich ins Geäst. Kaum aber hatte er die ersten
Nadeläste erreicht, da war es Moritz, als ob die Nadeln knisternd miteinander
sprächen: „Ein Strubbelkind kommt — jetzt haben unsere Kämme endlich
einmal Arbeit — ein Strubbelkind kommt, wir wollen es kämmen!“
Und die Äste und Zweige und Zweiglein begannen sein verfilztes Haar zu
kämmen.
Moritz stöhnte und seufzte und knirschte mit den Zähnen, und schließlich
rief er: „Halt, ich kann nicht mehr!“
Sofort hörten die Nadeln auf, ihn zu kämmen.
„Kannst du denn das Schloß schon sehen?“ fragte der hämmernde Specht.
Moritz schluckte. Dann log er und sagte: „ Ja !“
„Was siehst du auf der goldenen Kuppel?“ fragte der hämmernde Specht.
„Eine Fahne“ , sagte Moritz.
„Du lügst ja!“ schrie der Specht und hämmerte so zornig an den Fich­
tenstamm, daß Moritz fast hinuntergefallen wäre. „A uf der goldenen
Schloßkuppel ist nämlich keine Fahne, sondern ein Wetterhahn!“ sagte der
hämmernde Specht.
„O weia!“ seufzte Moritz.
„Nun mußt du noch ein Stück höher klettern, als es dir anfangs bestimmt
war“ , sagte der Specht, „denn du hast gelogen. Oder gibst du etwa auf?“
„Nein!“ sagte Moritz. Er biß die Zähne zusammen, und, während die
Nadelkämme ihn schniegelten und striegelten, kletterte er weiter, bis er
endlich die goldene Kuppel sah.
„Was ist auf der Kuppel?“ fragte der hämmernde Specht.
„Ein Wetterhahn!“ sagte Moritz.
„Was hat der Wetterhahn für Augen?“ fragte der Specht.
„Rote“ , sagte Moritz, „sie leuchten und glühen!“
„Richtig“ , sagte der Specht, „komm herunter, du hast die zweite Aufgabe
gelöst.“
Moritz rutschte zur Erde.
„Wie schön du gekämmt bist!“ sagte der hämmernde Specht. „D u siehst viel
schöner aus, wenn du gekämmt bist!“

5* 67
„Ooooch“ , machte Moritz und rümpfte die Nase.
„Geh jetzt geradeaus weiter, bis du zum Schloßgraben kommst, dort wartet
der glitzernde Biber auf dich“ , sagte der hämmernde Specht.
„Vielen Dank auch, hämmernder Specht!“ rief Moritz und lief, bis er zum
glitzernden Biber kam.
Der glitzernde Biber saß auf einem Baumstamm und kaute Holz. „Ach, das
schmeckt!“ sagte der glitzernde Biber zu Moritz.
„Willst du kosten?“
„Danke, nein, ich habe Stullen von Frau Pipermann mit“ , sagte Moritz. Er
sah sich um.
Vor ihm lag ein breiter Graben, der war mit klarem blauem Wasser gefüllt.
Hinter ihm wuchsen Rosen über Rosen, und oben, aus dem Rund der roten
Rosenknospen, schimmerte die goldene Kuppel des Schlosses im Son­
nenglanz.
„Ach, ist das schön!“ sagte Moritz staunend.
Der glitzernde Biber kaute sein Holzkotelett herunter, strich sich mit einer
Pfote über den Bauch, machte „hmmhm“ und sagte dann unvermittelt zu
Moritz: „Zieh dich aus!“
„Aber warum denn?“ fragte Moritz baff.
„D u mußt durch den Graben schwimmen, das Schloß betreten, die
schlafende Prinzessin finden und ihr einen Kuß auf die Stirn geben, das ist
deine dritte Aufgabe“ , sagte der glitzernde Biber.
„Aber ich kann doch nicht schwimmen!“ rief Moritz entsetzt.
„D as macht nichts“ , sagte der glitzernde Biber. „Ich helfe dir: Du hältst
dich an meinem breiten Schwanz fest, und ich ziehe dich sicher durchs
Wasser!“
„Nein, das kann ich nicht machen“ , sagte Moritz.
„Dann hast du verloren, und ich muß die Tiere des Waldes rufen, daß sie
dich auslachen“ , sagte der glitzernde Biber.
„Nein, nein, warte —“ , rief Moritz schnell und dachte verzweifelt nach. Er
hatte aber gar keinen guten Einfall.
Da zog er einen Schuh und einen Strumpf aus und tunkte vorsichtig den
kleinen Zeh ins Wasser. Schnell zuckte der Zeh zurück. „Aber das Wasser
ist ja eiskalt!“ rief Moritz.
Der glitzernde Biber holte ein Thermometer aus dem Wasser und sah nach.
„Einundzwanzig Grad, gerade richtiges Badewasser“ , sagte er.
Moritz begann zu heulen, er versprach dem glitzernden Biber zwölf Murmeln,
wenn er eine andere Aufgabe bekäme.
„Was, du willst Schmu machen?“ sagte der glitzernde Biber böse, stellte sich
auf die Hinterpfoten, holte ein glitzerndes Pfeifchen aus einer Backentasche

68
und pfiff. Da kamen alle Tiere des Waldes herbei: der lachende Hase, der
hämmernde Specht, der mürrische Dachs, das zierliche Reh, der schnaubende
Hirsch, das grunzende Wildschwein, der fröhliche Schmetterling, die freche
Libelle, das grasgrüne Eichhorn, der schnuppernde Fuchs, der geschmeidige
Marder, die fleißige Ameise und der stolze Hirschkäfer, und alle Tiere
sahen auf Moritz und lachten, daß es durch den ganzen Wald schallte, und
auch das Moos und die Gräser, die Blumen und das Farnkraut, die Bäume,
das Gestein und der Sand, das klare blaue Wasser, die Wolken, der Himmel
und die Sonne lachten mit. Moritz ballte die Fäuste und schrie: „Hört auf,
hört auf!“ , und er stampfte trotzig mit den Füßen. Doch das Lachen dauerte
an.
„D u mußt mitlachen, dann ist alles gut!“ flüsterte der glitzernde Biber.
Moritz’ Augen aber blitzten böse auf, und er schrie: „Wartet nur, bis ich groß
bin und eine Bombe habe, dann werf ich das ganze Wunderland kaputt!“
Mit einem Schlag hörte das fröhliche Lachen auf; die Tiere und die Pflanzen,
die Erde, das Wasser und der Himmel, sie wurden traurig und stumm, und
der glitzernde Biber wisperte: „Jetzt warst du wirklich sehr böse, Moritz!“
Da ertönte plötzlich ein Grunzen und Schlurfen hinter Moritz’ Rücken, und
eine schaurige Stimme sagte: „Nein, das ist ein gutes Kind, ein sehr gutes
Kind!“
Moritz fuhr herum, er sah eine grauenvolle Hexe vor sich stehen. Die Haare
der Hexe waren zischende kleine Schlangen, ihre Augen waren klein wie
Stecknadelköpfe, und ihr Kleid war ein alter stinkender Sack.
„D ie Schmutzhexe — die Schmutzhexe — die Schmutzhexe“ , so raunte es
durch den Wald. Die Tiere flohen, die Pflanzen preßten sich eng an die Erde,
die Sonne verhüllte schnell ihr Gesicht mit einer grauen Wolke, und der
glitzernde Biber glitt seufzend ins Wasser und verschwand.
„D u bist ein gutes Kind!“ kreischte die Schmutzhexe. „Ach, wie schön
schmutzig du bist, wie wunderbar schmutzig du bist!“
Moritz graute es vor der Hexe, aber als sie so freundlich zu ihm sprach und
ihn so lobte, freute er sich und lachte.
„Willst du mit mir ins Schmutzland ziehen?“ fragte die Hexe. „D ort wird
es dir sicher gefallen!“
„D ort muß ich mich nicht waschen?“ fragte Moritz.
„Und nicht kämmen und nicht Zähne bürsten und nicht Nase putzen, und
du kannlt in alle Pfützen patschen und alles in den Mund stecken, was du
willst!“ sagte die Hexe.
„Hurra!“ schrie Moritz. „Wir wollen ins Schmutzland gehen!“ D a lachte die
Schmutzhexe schaurig auf, rannte dreimal um Moritz herum und sagte einen
Zauberspruch. „So, jetzt gehörst du mir!“ zischte sie.

69
So gingen sie also ins Schmutzland, und je weiter sie kamen, um so trostloser
wurden Landschaft und Weg. Sie stapften durch Sümpfe und Moraste;
Fledermäuse flogen durch die neblige Luft, und Kröten und Unken plärr­
ten.
Die Schmutzhexe zeigte Moritz die schönsten Pfützen; aber Moritz hatte gar
keine Lust mehr, in die Pfützen zu treten. Er war müde, und seine Schuhe
hingen vor Schmutz schwer wie Blei an seinen Beinen.
Endlich sagte die Schmutzhexe: „H alt!“ , und da stand, mitten im Morast,
ein Haus aus Schlamm. „Hier wohnen wir“ , sagte die Schmutzhexe.
Moritz fragte entsetzt: „Aber wo soll ich schlafen?“
„Im Schlamm natürlich“ , sagte die Schmutzhexe, „da ist es herrlich weich,
und die gute Kröte quakt uns ein Schlummerlied.“
„Und mit wem soll ich hier spielen?“ fragte Moritz.
„Spielgefährten genug!“ sagte die Schmutzhexe, „Eidechsen, Spinnen und
Kakerlaken.“
„Nein“ , sagte Moritz, „hier will ich nicht schlafen und nicht essen und nicht
spielen! Ich will zurück zu Mutti und Vati und zu Frau Pipermann.“
„Ach, du dummer Moritz“ , lachte die Hexe, „du kannst nicht wieder zurück.
Du bist freiwillig mit mir gegangen!“
„Ich hab aber nicht gewußt, wie schrecklich es hier ist!“ schrie Moritz, und
da war es ihm, als ob ferne, ferne sein Name gerufen würde.
„Hier bin ich, hier!“ brüllte Moritz, so laut er konnte. „Hierher, zu Hilfe,
zu Hilfe!“
„Still!“ zischte die Schmutzhexe und hob die Hand. Moritz schwieg und
wagte vor Angst sich nicht zu rühren.
„D u wirst dich schon eingewöhnen, Schmutzkind“ , murmelte die Schmutz­
hexe. „D u wirst dich schon eingewöhnen, Schmutzkind, wenn dein Herz so
richtig schmutzig ist!“
„Mein Herz?“ fragte Moritz und preßte die Hände vor die Brust, um sein
Herz zu schützen.
„Ja, ja, dein Herz!“ sagte die Schmutzhexe und tippte mit ihrem Finger auf
Moritz’ Handrücken.
„Aber ein Herz kann doch nicht schmutzig werden“ , flüsterte Moritz.
„Doch“ , sagte die Schmutzhexe, „durch ganz böse Taten werden die Herzen
schmutzig. Kinder erschrecken; faulenzen; Schwache schlagen; Armen alles
wegnehmen; eine Bombe ins Wunderland werfen, das sind alles sehr böse
Taten. Davon wird das Herz ganz schmutzig. Und wenn dein Herz so
schmutzig geworden ist, dann wird es dir auch bei mir gefallen!“
„Nein, ich will kein böser Mensch werden!“ sagte Moritz. Seine Stimme war
leise, aber fest. Da hörte er schon viel näher die Rufe: „Moritz — Moritz —

70
wo bist du — und er hörte ganz deutlich die Stimmen von Bärbel und Claus
und Frau Pipermann heraus. Die Hexe faßte ihn an der Hand. „Schnell,
komm, wir müssen in den Sumpf hinunter“ , zischte sie, „sonst finden uns
die Kinder, das sind saubere Kinder, über die habe ich keine Macht!“ Sie
zerrte Moritz zum offenen Sumpf hin.
Moritz nahm alle Kraft zusammen; mit einem Ruck riß er sich von der
Schmutzhexe los und rief: „Hier bin ich, Kinder, Frau Pipermann, hierher,
hierher!“ Die Hexe plumpste zu Boden. Moritz aber sprang schnell auf das
Dach des Schmutzhauses und schrie wieder: „Hierher, Kinder, hierher“ , und
da sah er schon die Kinder durch den Morast heranstapfen, und voran stapfte
Frau Pipermann.
Gerettet! Gerettet! dachte Moritz glücklich. Aber die Schmutzhexe hatte
sich vom Boden aufgerappelt, humpelte zum Schmutzhaus und murmelte
dabei vor sich hin: „Noch bist du mein, noch bist du mein!“ Sie streckte die
Hand nach dem Dach aus und sagte einen Zauberspruch. Plötzlich begann
das Dach des Schmutzhauses nachzugeben, und Moritz sank langsam
herab.
„Helft mir, Kinder, helft mir!“ schrie Moritz. Die Kinder waren nah, aber
sie waren noch zu weit entfernt, um in der nächsten Minute Moritz beistehen
zu können. Da, in der höchsten Not, fiel Moritz der rettende Gedanke ein.
„Ich bin nicht böse, und ich will kein Schmutzkind mehr sein!“ schrie er die
Hexe an. Er meinte das nicht als List. E s kam ihm aus dem Herzen. Er wollte
wirklich kein Schmutzkind mehr sein.
„Verloren!“ murmelte die Schmutzhexe. Sie rannte zum Sumpf und sprang
wie eine Kröte ins Wasser.
Hinter sich hörte Moritz ein brausendes Hurra. Das ganze Kinderheim
umringte ihn, und Frau Pipermann hob Moritz hoch, schloß ihn in ihre Arme,
küßte ihn auf die Stirn und sagte: „D u bist ja ein Held, mein Junge!“
„Danke schön, daß ihr mir geholfen habt!“ sagte Moritz.
„N a, das war doch selbstverständlich“ , sagte Bärbel.
„Was hältst du denn von uns?“ fragte Claus.
„Los, vorwärts!“ sagte Moritz und hob seine Hände hoch. „Ich muß mir erst
mal den Schmutz von den Händen waschen!“
Da hörten sie von ferne eine dünne Stimme wispern: „Kinder, Kinder, wo
bleibt ihr denn? E s wird schon Abend. Ich fürchte mich!“
„D as ist*sicher die Prinzessin Rosenblatt“ , sagte Frau Pipermann.
„H abt ihr sie denn erlöst?“ fragte Moritz.
„Wir hoffen“ , sagten Bärbel und Claus gleichzeitig. „D ie Aufgabe des la­
chenden Hasen hatten wir gelöst“ , sagte Bärbel. „Und die Aufgabe des
hämmernden Spechtes auch“ , setzte Claus fort.

71
„Und der glitzernde Biber?“ fragte Moritz schnell.
„D er glitzernde Biber gab uns die Aufgabe, dich aus dem Schmutzland zu
erretten“ , sagten Bärbel und Claus.
„So eine Gemeinheit!“ schrie Moritz. „Und mir hat er als Aufgabe gegeben,
durch den Wassergraben zu schwimmen!“
„Ach, Moritz, was meinst du, wie gerne wir durch den Wassergraben ge­
schwommen wären!“ sagte Bärbel.
„Und was meinst du, wie wir uns gefürchtet haben, ins Schmutzland zu
gehen“ , sagte Claus.
„Schau nur an, wie fürchterlich wir aussehen!“ sagte Bärbel.
„Und das alles, um dir zu helfen!“ sagte Claus.
„Bärbel und Claus wären auch nie allein durch das Schmutzland gekommen“ ,
sagte Frau Pipermann, „deshalb ist der lachende Hase in das Kinderheim
gelaufen und hat uns Bescheid gesagt. Der hämmernde Specht ist hoch in
die Wolken geflogen und hat uns den Weg ausgekundschaftet, und der
glitzernde Biber ist unter den Sumpf gekrochen und hat gehört, wie tapfer
du mit der Schmutzhexe geredet hast. Immer, wenn du der Schmutzhexe
widerstanden hast, hat uns das der glitzernde Biber mitgeteilt, und das hat
uns Mut gemacht, weiter in das entsetzliche Schmutzland vorzudringen!“
„Jetzt verstehe ich!“ sagte Moritz. Dann fragte er: „Und der olle faule König,
was macht der?“ „D er ist im Kinderheim geblieben und macht Pionier vom
Dienst, weil sonst keiner da ist“ , sagte Frau Pipermann.
D a hörten sie wieder die zirpende Stimme: „Kinder, Kinder, kommt schnell,
es wird Nacht!“
„L o s!“ rief Moritz.
„A uf zur Prinzessin!“ , und die Kinder stapften durch den Morast zurück.
Der Mond leuchtete ihnen. Endlich waren sie aus dem Schmutzland heraus
und standen am Wassergraben. Der glitzernde Biber hatte Laternen und
Lampions angesteckt. Am Rande des Wassergrabens aber saß ein
wunderschönes, wunderzartes Kind, das war die Prinzessin Rosenblatt. Sie
schlenkerte mit den schneeweißen Beinen im glasblauen Wasser und blies auf
einem goldenen Kamm. Als sie die Kinder sah, sprang sie erschrocken auf.
— Die Kinder und Frau Pipermann sahen ja wirklich zum Fürchten aus. Da
tauchte der glitzernde Biber aus dem Wasser. „Hab keine Angst, Prinzessin,
das sind deine Befreier“ , flüsterte er ihr zu.
„Diese scheußlichen Schmutzfinken sollen meine Befreier sein?“ schrie die
Prinzessin. „D a will ich lieber wieder in den ewigen Schlaf versinken!“ , und
sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte bitterlich.
„Aber die Kinder mußten sich doch so schmutzig machen, um dich zu erlösen,
Prinzessin!“ rief Frau Pipermann.

72
Die Prinzessin schluchzte. „D u bist dumm, Prinzessin“ , sagte der glitzernde
Biber, „man muß sich manchmal schmutzig machen, beim Spielen oder bei
der Arbeit oder auch bei Heldentaten!“
„D as versteh ich nicht“ , schluchzte die Prinzessin.
„D ie Kinder verstehn das“ , sagte Frau Pipermann.
„ Ja “ , sagte Claus, „mein Vati ist Bergmann, der kommt schwarz wie ein
Mohr aus der Grube, aber wenn er nicht wäre, dann gäbe es kein Feuer und
kein Licht und keine warme Stube und kein Elektrisch!“
„Und mein Vati“ , sagte Bärbel, „ist Buchdrucker, der ist jeden Abend
schwarz von Druckerschwärze, aber wenn er seine Arbeit nicht machte, gäbe
es keine Bücher und keine Märchen und keine Bastelbogen und keine
Bummis!“
„D as versteh ich alles nicht, ich bin eine Prinzessin und brauch das nicht
zu verstehen“ , sagte die Prinzessin, „ich will aber keinen Schmutz!“
„Wir auch nicht!“ sagte Frau Pipermann. „Jetzt werden wir nämlich einmal
gründlich baden!“
„Hurra!“ riefen die Kinder, und am lautesten rief Moritz. Frau Pipermann
watete durch den Graben. „E r ist flach, ihr könnt alle hereinkommen“ , sagte
sie.
Die Kinder zogen sich aus und sprangen ins Wasser, und sie plantschten,
wuschen und schrubbten und scheuerten sich und wrangen und rubbelten alle
ihre Sachen im klaren Wasser. Am eifrigsten scheuerte sich Moritz, und als
das letzte Restchen Schmutz von seinem Körper gespült war, da sagte er:
„Ach, wie fühl ich mich wohl!“
Dann stiegen die Kinder aus dem Wasser. Der hämmernde Specht rief sämt­
lich Vögel zusammen, die nahmen die nassen Kleidungsstücke der Kinder in
ihre Schnäbel und flogen pfeilschnell damit durch die Luft, so daß die Kleider
rasch trockneten.
Die Kinder zogen sich an, dann schlossen sie leise einen Kreis um die Prinzes­
sin, die noch immer schluchzend dasaß, und als die Kinder um die Prinzessin
versammelt waren, huschte der glitzernde Biber der Prinzessin auf den Schoß
und kitzelte sie unter der Nase. Die Prinzessin mußte niesen und schlug dabei
ihre Augen auf.
„Ach, wo kommen denn diese schönen sauberen Kinder her?“ rief sie. „Diese
Kinder, die gefallen mir!“
„D as sind deine Befreier“ , sagte der Biber. Die Prinzessin lachte.
Da trat ein wunderschöner sauberer Junge vor sie hin und sagte:
„Prinzessin, komm mit uns ins Kinderheim!“
„Gerne“ , sagte die Prinzessin. „Wie heißt du denn?“
„Ich bin Moritz“ , sagte der wunderhübsche Junge.

73
„D u gefällst mir, Moritz“ , sagte die Prinzessin.
Da ertönte ein lautes Schnaufen im Märchenreich, und der silberne Pförtner
sprang aus dem Wald heraus und rief mit silberner Stimme: „Achtung, der
König kommt!“ Und richtig, da kam schon der König gelaufen, so schnell,
daß seine goldene Krone wackelte. Kaum, daß sie den König erblickte, sprang
die Prinzessin auf und flog ihm um den Hals. „Pappi, Pappi, ich will auch
ins Kinderheim!“ rief sie stürmisch.
„Ich hätte gerade noch einen Platz für die Prinzessin frei“ , sagte Frau Pi­
permann, und die Kinder riefen: „Ja, die Prinzessin soll mit uns kommen!“
„D as geht doch nicht“ , sagte der König, „Prinzessinnen gehören ins Mär­
chenschloß und nicht in ein Kinderheim!“
„Ich will aber nicht in dem langweiligen Schloß bleiben!“ rief die Prinzessin
aufgeregt.
„Ich will zu meinen lieben Kindern! Bitte, bitte, lieber Pappi König, laß mich
ins Kinderheim!“
Frau Pipermann sah auf die Uhr. „Kinder!“ rief sie erschrocken. „E s ist
gleich acht Uhr, in einer Viertelstunde muß alles in den Betten liegen. Wir
müssen zurück!“
„Und die Prinzessin?“ fragte Moritz.
„Ich gehe mit euch!“ sagte die Prinzessin und faßte Moritz an der Hand.
„Aber was soll denn nun mit meinem Schloß und mit meinem Märchenland
werden?“ fragte der König traurig.
„Ich weiß was“ , sagte die Prinzessin, „in das Schloß und in den Märchenwald
werden die Kinder immer spielen und toben kommen!“
„Au ja!“ riefen die Kinder. „D as wird fein!“
„N a gut“ , sagte der König. „Soll es denn so sein!“ Dann gähnte er. „Ich bin
müde“ , sagte er, „ich bin heute schon eine Viertelstunde gelaufen, und ich
habe schon eine Viertelstunde geredet, das macht zusammen eine halbe
Stunde, und länger als eine halbe Stunde dürfen Könige nicht arbeiten, sonst
<<
„— Werden sie nervös und verlieren den Überblick über die Staatsgeschäfte“ ,
riefen die Kinder im Sprechchor.
„Freche Bande“ , murmelte der König, und dann schlief er auch schon im
Stehen ein.
Der glitzernde Biber nahm ihn auf den Rücken und schwamm mit ihm zum
Schloß. „Kommt bald wieder, Kinder!“ rief er den Kindern zu.
„Leb wohl, glitzernder Biber!“ riefen die Kinder.
Der König schnarchte laut.
„Nun aber nach Hause, Kinder“ , sagte Frau Pipermann, und die Kinder
machten sich auf den Heimweg.

74
Sie hatten noch keine drei Schritte zurückgelegt, da waren sie schon in ihrem
Kinderheim, das außen gelb und innen violett war. Der hämmernde Specht
hatte ihnen nämlich einen Zauberwind geschickt, der trug die Kinder mit
Blitzesschnelle dahin.
Wie staunten sie aber, als sie in den Speisesaal kamen und dort ein warmes
duftendes Essen auf dem Tisch stand. Es war eine Suppe aus Pilzen und
Rüben, die hatte der lachende Hase gekocht. Sie schmeckte wunderbar. Die
Kinder aßen.
Dann gingen sie ins Bett. „D as war einmal ein Abenteuer“ , sagte Bärbel.
„D a werde ich aber nächsten Sonnabend meiner Mutti und meinem Vati was
zu erzählen haben“ , sagte Claus.
„Vati und Mutti werden staunen, wie sauber ich bin“ , sagte Moritz.
„Ach“ , sagte die Prinzessin in ihrem Bettchen, „hier schläft es sich hundert-
tausendmal schöner als im Schloß!“
Dann schliefen alle ein.
Jetzt klappen auch wir den Buchdeckel zu —
und wenn das Kind lieb ist, dann spielt es noch ein Weilchen, und dann geht
es schlafen und schläft so tief und fest wie die Kinder im Kinderheim, das
außen gelb und innen violett ist.
Franz Fühmann

75
Da sangen die Gänse

Hans trieb die Gänse heim. Auf dem Weg zwischen See und Waldrand blieb
er stehen. „Wartet hier, Gänse. Ich schneide nur ein paar Stöcke“ , sprach
er und lief zum Wasser.
„Schon wieder. Ist er nun Stöckeschneider oder Hirt?“ zischelten die Gänse
ärgerlich.
Das hörte der Fuchs. Eins, zwei, drei, vier, fünf Braten auf einmal, dachte
er und befahl: „Stillgestanden und nicht aus der Reihe getanzt — damit ich
euch schön nacheinander verspeisen kann.“
Die armen Gänse sahen, was ihnen die Stunde geschlagen hatte. „Herr
Fuchs, wir wissen, du frißt uns. Doch bedenke: Jedem Verurteilten ist ein
letzter Wunsch erlaubt“ , sprach eine für alle bescheiden.
„Hm. Und was wünscht ihr euch?“
„Wir möchten gern jede noch eine Geschichte singen.“
„Singen. Soso. Dann beeilt euch. Denn wenn ich euch so anseh, läuft mir
das Wasser im Mund zusammen.“
Geschwind hob das erste Gänslein den Schnabel und sang:

„ Vom Mäuschen, der Katze und dem Hahn


Ein Mäuschen ging spazieren. Als es zu seiner Mutter zurückkehrte, erzählte
es: ,Ich bin zwei Tieren begegnet. Das eine war böse, das andere lieb und
gut.“
Die Mäusemutter fragte: ,Wie sahen die Tiere denn aus?“
Das Mäuschen antwortete: ,Das böse hatte einen feuerroten Schopf. Seine
Nase war ein Haken. Und seine Augen schauten nicht vorwärts, sondern
nach links und nach rechts. Als ich an ihm vorüberlief, hob es ein Bein, riß
den Rachen auf und begann so laut zu schreien, daß ich vor Angst nicht
wußte, wohin ich flüchten sollte.“
,Es war der Hahn. Vor ihm brauchst du dich nicht zu fürchten. Er tut keinem
Mäuschen Böses“, sagte die alte Maus. ,Nun, und das zweite Tier?“
,Das lag in der Sonne und wärmte sich. Es hatte einen schneeweißen Hals
und seidenweiche Füße. Es leckte sich die grausamtene Brust, bewegte leise
den Schwanz und sah mich freundlich an.“
.Dummchen. Das war doch die Katze“, sagte die Mäusemutter erschrok-
ken.“
„Nicht übel. Weiter“ , meinte der Fuchs.
Und die zweite Gans sang:

,,Gekocht oder gebraten


Zwei Brüder sahen eine Wildgans fliegen. ,Wir werden sie kochen“, sagte der
ältere, während er einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens legte.

76
,Nein. Besser, wir braten sie1, widersprach der jüngere.
,Kochen.' — .Braten.' — .Kochen.' — .Braten', stritten sie, und weil sie nicht
einig wurden, gingen sie zur Mutter, um sie um Rat zu fragen.
.Meinetwegen kocht eine Hälfte und bratet die andere', schlug sie vor.
,Ja!‘ riefen die Brüder und rannten, die Wildgans zu schießen. Doch wo war
sie geblieben?“
„H aha!“ lachte der Fuchs und forderte die dritte Gans auf, zu beginnen. Die
sang:

„Von der geschwätzigen Schildkröte


Bei einem Brunnen wohnten zwei Vögel und eine Schildkröte. Im Sommer
versiegte der Brunnen, und die Vögel beschlossen, sich an einen Ort zu
begeben, dem es an Wasser nicht mangelte. Sie gingen zur Schildkröte, um
sich von ihr zu verabschieden.
,Und mich Arme, die ohne Wasser nicht leben kann, wollt ihr hier lassen?'
sagte die Schildkröte traurig. ,Du kannst nicht fliegen', meinten die Vögel und
überlegten, wie sie ihr helfen könnten. Endlich nickten sie.
.Schildkröte, wir nehmen dich mit. Du mußt uns nur versprechen, kein Wort
zu reden, während wir dich durch die Luft führen.'
.Nichts fällt mir leichter als das', versicherte die Schildkröte. Die Vögel gaben
ihr ein Stöckchen in den Mund. Das faßte der erste bei dem einen, der zweite
bei dem anderen Ende an. Und so stieg die Schildkröte mit ihnen auf. Sie
waren aber noch nicht weit geflogen, da gewahrten zwei Schildkröten­
schwestern ihren Auszug.
.Nicht möglich! Eine fliegende Schildkröte!' schrien sie verwundert.
Jawohl. Ich fliege', rief unsere Schildkröte stolz, verlor das Stöckchen und
— fiel auf die Erde hinab.“
„Was es für Dummköpfe gibt! Doch weiter. Mein Magen knurrt schon“ ,
sagte der Fuchs. Und die vierte Gans sang:

„ Vom Zicklein mit der Glocke


Auf einer Weide graste eine Ziege mit ihrem Zicklein. Sie zeigte dem Kleinen
das zarte Gras, und als sie keins mehr fanden, hängte sie ihm eine kupferne
Glocke um den Hals.
,Ich geh und suche einen neuen Weideplatz. Warte hier auf mich. Wenn dir
einer etWhs tun will, läute! Dann komme ich und helfe dir', sprach sie zu
ihm.
,Ja‘, sagte das Zicklein, und die Ziege lief. Sie hatte aber kaum ein paar
Sprünge getan, als sie die Schelle klingen hörte. Wie sie erschrak, kehrtmachte
und rannte!

77
,Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?1 fragte sie ganz außer Atem.
,Eine Fliege hat sich auf mein Bein gesetzt. Ich bitte dich, jage sie weg*,
antwortete das Zicklein.
,Und ich fürchtete schon, die Wölfe kämen. Daß du mir nicht noch einmal
läutest, wenn du nicht in Gefahr bist“, schalt die Ziege und machte sich
wieder auf den Weg. Sie war jedoch kaum in der ersten Schlucht ver­
schwunden, als sie die Schelle aufs neue vernahm. Wieder erschrak sie und
rannte zurück.
,Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?“ Das Zicklein blinzelte. ,Mir ist ein
Staubkorn ins Auge geflogen. Ich bitte dich, hole es heraus.“
,Und ich fürchtete, die Wölfe kämen. Daß du mir nicht noch einmal läutest,
wenn du nicht wirklich in Gefahr bist“, schalt die Ziege, wischte das Auge
des Zickleins aus und machte sich wieder auf den Weg. Sie hatte den nächsten
Hügel noch nicht erreicht, als sie die Schelle wieder vernahm. Kehre ich um
oder nicht? fragte sich die Ziege und lief zu dem Zicklein.
,Was ist, wer bedroht dich, mein Kind?“
,Das trockene Gras hat sich an meinen Pelz gehängt. Ich bitte dich, schüttele
es ab“, sagte das Zicklein.
.Schüttele es selber ab und laß dir nicht einfallen, mich wegen solcher
Dummheit noch einmal in Angst und Schrecken zu versetzen!“ Die Ziege
rannte davon. Wanderte über Berg und Tal. Wurde müde und legte sich
nieder, um auszuruhn. Sie wollte gerade die Augen schließen, als sie das
Zicklein zum viertenmal läuten hörte.
.Schon wieder der Unfug“, sagte sie schläfrig.
Als sie erwachte, entdeckte sie grünendes Gras, und sie brach auf, um das
Zicklein zu holen. Aber sie fand es nicht mehr. ,Ach, du mein armes dummes
Zicklein“, weinte die Ziege und hob mit den Hörnern das Glöckchen auf, das
in dem braunen Steppengras lag.“
„Um euch wird auch bald einer weinen“ , bullerte ungeduldig der Fuchs. Und
schnell sang die fünfte Gans:

„Von der hundertsten Kunst


Ein Kranich stelzte über die Wiese und suchte Würmer für seine Jungen.
Der Fuchs sah ihn kommen, schlich um den Busch und packte den Kranich.
,Ach, lieber Fuchs, laß mir mein Leben“, bat der Kranich. ,Ich will dich eine
gute Kunst lehren.“
.Eine?“ antwortete der Fuchs geringschätzig. ,Ich verstehe mich auf neun­
undneunzig Künste. Was frage ich nach einer.“
,Du bist ein großer Meister, Fuchs. Aber kannst du auch fliegen?“ Der Fuchs
fühlte sich geschmeichelt. Keine schlechte Sache, das Fliegen, dachte er, und

78
wenn ich damit auch die Vögel beherrsche. Der Fuchs erlaubte dem Kranich,
ihn die hundertste Kunst zu lehren. ,Setz dich auf meinen Rücken', sprach
der Kranich, breitete seine Flügel aus und erhob sich mit dem Fuchs in
die Lüfte.
Sie segelten über die Wiese dahin.
,Ein Vergnügen, so zu fliegen, Wald und Wiese unten liegen ...', sang der
Fuchs und vergaß, daß er noch auf des Kranichs Rücken saß. ,So, Meister,
nun versuch es selbst einmal', sagte der Kranich und ließ den Fuchs von
seinem Rücken gleiten.
Der Fuchs überschlug sich, daß Schwanz und Schnauze abwechselnd nach
oben kamen.
.Schräg, schräg', schrie der Kranich ihm zu. Aber der Fuchs purzelte pfeil­
gerade nach unten, bis er in einen Heuhaufen fiel, den die Bauern auf der
Wiese zusammengerecht hatten.
,Na, Meister, kannst du nun fliegen?' fragte der Kranich.
.Fliegen schon', meinte der Fuchs großspurig, ,nur das Landen will nicht
recht glücken.'
.Dann versuch es noch einmal', sprach der Kranich, nahm den Fuchs wieder
auf seinen Rücken und erhob sich mit ihm in die Lüfte.
,Ein Vergnügen, so zu fliegen, Wald und Wiese unten liegen ...', fing der
Fuchs abermals an zu prahlen, als ob er nicht auf des Kranichs Rücken
säße.
Der Kranich flog höher und höher. Bald befanden sie sich mitten über dem
See. Der Fuchs sah den blanken Spiegel des Wassers nur noch wie ein
glänzendes Teilerchen unter sich liegen. Er wollte gerade wieder singen: ,Ein
Vergnügen, so zu fliegen ...', da warf der Kranich den stolzen Reiter ab und
flog zu seinen Kindern zurück.
Der Fuchs aber fiel, kopfüber, kopfunter, und plumpste endlich in den See.
Lange mußte er schwimmen und im Wasser umherirren, bis er das Ufer und
seinen Wald wiederfand, wo er sich schleunigst verkroch.“
„D as könnte euch so passen, ihr dreimal dämlichen Gänse“ , schimpfte
wütend der Fuchs und setzte zum Sprung an.
„He, dir will ich Beine machen!“ Wie der Wind kam Hans gerannt und schlug
mit wer weiß wieviel Stöcken nach dem Räuber, daß der ohne Mahlzeit
Reißaus nahm.
„D as war*der Fuchs. Vor dem seht euch vor. Der ist ganz verrückt auf euch“ ,
erklärte Hans seinen Gänsen.
Die aber zischelten: „Ach, du, was weißt denn du . . . ? “ und liefen beleidigt
dem Hirten voraus.
Anne Geelhaar

79
Filip und die Schäfermaxi

Filip geht es gut. Papa und Mama haben ihn lieb. Aber Filip hat trotzdem
Kummer. In seinem Herzen sitzt ein Klumpen Traurigkeit. Denn Filip ist
klein und dick. „Rollmops“ rufen ihn die Kinder. Und das gefällt ihm nicht.
Filip schenkt den Kindern die Bonbons, die Mama ihm gibt. Doch die Kinder
hören nicht auf, ihn Rollmops zu nennen.
„Warum bin ich nicht lang und dünn wie Felix?“ fragt Filip.
„Weil du zuviel Bonbons ißt!“ sagt Papa.
„Ich esse ja gar keine Bonbons!“
Filip guckt Papa enttäuscht an. Nein. Papa kann ihm nicht helfen. Papa weiß
auch nicht, warum Filip klein und dick ist. Wenn Filip schlafen geht, träumt
er von einem mächtigen Zauberer, der kleine Dicke groß und dünn macht.
Und wenn er morgens beim Kämmen in den Spiegel sieht, seufzt er: „Schade.
Zauberer gibt’s nur im Märchen. Ich muß klein und dick bleiben.“
Filip mag nicht hüpfen, und Filip mag nicht springen, nicht klettern und
nicht schaukeln und auch nicht Roller fahren. Filip hat Kummer, großen
Kummer. Und eines Tages kommt noch ein neuer, viel größerer hinzu: Papa
und Mama verreisen. Weit fort. Bis nach Afrika fliegen sie. Und Filip kann
nicht mit.
„E s ist eine Dienstreise“ , erklärt Papa, und Mama tröstet: „D u darfst aber
auch verreisen. Nach Schönheide. Zu Großmutter Maxi. Sie ist deine Ur­
großmutter, Filip. Was glaubst du, wie sie sich auf dich freut!“
Filip möchte lieber nach Afrika. Eine Urgroßmutter! Die ist uralt! „Was soll
ich mit der spielen?“ sagt er. Und heimlich hofft er: Vielleicht kommt etwas
dazwischen. Vielleicht fahren Papa und Mama nicht nach Afrika!
Der Zug rollt. Papa und Mama auf dem Bahnsteig werden immer kleiner.
Dann sind sie ganz verschwunden, und Filip kämpft mit den Tränen, die
kommen wollen. Denn der Klumpen Traurigkeit in seinem Herzen drückt
wie ein schwerer Stein.
Endlich hält der Zug in der kleinen Stadt, wo Großmutter Maxi auf Filip
wartet. „Tag, Filip!“ ruft sie.
Soll das die Großmutter sein? Filip staunt. Wie schön groß sie ist! Wie silbrig
ihre Haare leuchten! Was sie für lustige Augen hat! Und Auto fahren kann
sie auch? „Ist das dein Trabant?“ fragt Filip die Großmutter, die sich ans
Steuer setzt.
„Hm. Gefällt er dir?“
„Und wie! Der ist ja gelb wie eine Zitrone!“
Tätä-tata rollen sie durchs Städtchen. Vorbei an dem kleinen roten Rathaus
und dem Marktplatz, wo Autos und Busse sich drängeln. Zu dem dicken alten
Steintor hinaus. Durch die Apfel- und die Kirschenstraße und die lange, lange
Birkenallee.

80
„Oh, ein See! Da, bei den krausen Bäumen!“ Filip zeigt auf die Weiden am
Ufer.
„D ie gehören schon zum Dorf. Siehst du das Schild am Straßenrand? Da
steht ,Schönheide‘ drauf.“
Filip kann es noch nicht lesen. Aber er nickt den Häusern zu, die zu beiden
Seiten der Straße auf marschieren.
„D ie schönen hellen Häuser, der Konsum und der Kindergarten, das sind
die neuen! Das Gasthaus und die Kirche, der Gutshof und die kleinen grauen
Häuser, das sind die alten!“ sagt Großmutter Maxi.
„Und wo wohnst du?“
„Hier.“
Vor dem letzten Häuschen des Dorfes hält der Trabant.
Filip schnuppert. „Wie riecht’s denn hier?“
„Nach Land“ , meint Großmutter Maxi.
„Und wie riecht Land?“
„Im Sommer nach Heu, frischer Milch und — M ist!“
„M ist!“ Filip lacht. Großmutter Maxi und ihr Häuschen gefallen ihm. Sie
hat überall Blumen in den Fenstern. Und Beeren im Garten, die locken reif
und süß.
Filip begrüßt die gestreifte Katze, die weißen Hühner und den prächtigen
bunten Hahn. „Und was für Tiere hast du noch?“ fragt er.
„Schafe.“
„Wo?“
Mit Großmutter Maxi wandert Filip zu den Hügeln am Birkenhain hinauf,
wo die Schafe weiden. Wie eine riesige wollige Wolke wirbeln sie ihnen
entgegen.
„Oooooh! So viele! Gehören sie alle dir?“
„Nicht mir allein. Unserem Dorf. Ich bin die Schäfermeisterin.“ Bewundernd
guckt Filip von seiner Urgroßmutter zu der weißen Herde.
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf“ ,
beginnt er. Aber es gelingt ihm nicht, die Schafe zu zählen.
„Genau dreihundert sind es!“ sagt Großmutter Maxi.
„Und sie laufen nicht davon?“
„D as würde Roland nicht erlauben. Er ist ein guter Schäferhund. Er duldet
keine Ausreißer. Roland, hol rum!“ ruft Großmutter Maxi. Und Filip sieht
zu, wie Roland die Herde sammelt und nach Hause treibt. Durch den
Birkenhain. Über den Bach und die Straße und in den Stall. Filip und
Großmutter Maxi brauchen nur hinterherzulaufen.
Am Abend singt die Amsel im Garten ein Schlaflied. Und am Morgen weckt
Filip das Quietschen des Pumpenschwengels.

6 81
„Guten Morgen, Großmutter Maxi! Wasser hol ich!“ Filip läuft hinaus.
Weil es schön warm ist, darf er sich unter der Pumpe waschen, spritzen und
plantschen, soviel er mag.
„D as mache ich jetzt jeden T ag!“ sagt er und trägt sieben kleine Eimer voll
Wasser in die Küche.
Großmutter Maxi freut sich. „Tüchtig bist du! Wie Papa!“ lobt sie. Filip
läßt sich Milch und Honigsemmeln schmecken.
„Sind unsere Schafe auch schon beim Frühstück?“ fragt er.
„Noch nicht. Sie dürfen erst später auf die Weide. Wenn der Tau von den
Gräsern ist.“
„Warum?“
„Weil sie krank werden, wenn sie die Würmchen fressen, die in den Tau­
tropfen sind.“
Filip kennt nasses und trockenes Gras. Von Würmern, die in Tautropfen
wohnen, hat er noch nie etwas gehört. Was Großmutter Maxi alles weiß!
„Wann ist denn der Tau von den Gräsern?“ fragt er.
„Bald. Wir gehen inzwischen zur Genossenschaft.“
Filip macht es Spaß, mit Großmutter Maxi durchs Dorf zu spazieren.
„Morgen, M axi!“ rufen die Kirschenpflücker am Straßenrand.
„Hallo, M axi!“ winkt der Traktorist, der mit dem Mähdrescher vorüber­
rattert.
„Tag, Maxi! Hast wohl Besuch?“ sagt der Wirt vom Gasthaus zur Linde.
Alle grüßen die Großmutter freundlich und Filip natürlich auch. „O b es in
Afrika auch so schön ist wie in Schönheide?“
„Kann sein. Ich weiß es nicht. Ich war ja noch nicht dort. Weiter als bis zur
Kreisstadt bin ich noch nicht gefahren!“ sagt Großmutter Maxi.
„Und du warst nie verreist?“
„Nein. Dazu hab ich keine Zeit.“
Müssen Urgroßmütter viel zu tun haben! Filip wundert sich. Unter den alten
Kastanien vor dem Wirtschaftshof der Genossenschaft spielt Ute mit ihrer
Puppe.
„Tag, Ute! Das ist Filip!“ sagt Großmutter Maxi und geht ins Haus. Filip
bleibt stehn und guckt Ute an. Schön dünn ist sie, und Haare hat sie, beinahe
so hell wie Großmutter Maxi!
„H abt ihr auch Tiere?“ fragt er.
Ute nickte. „Komm mit!“ sagt sie und zeigt ihm: schwarzweiße Kühe und
rosafarbene Schweine, Hühner, die in hohen Häusern mit mehreren Stock­
werken wohnen!
Und Kälber! Kälber, braun, weiß, gelb, schwarz und gefleckt! Jedes hat sein
eigenes Ställchen und ein Gärtchen davor zum Laufen und Spielen.

82
Warum gucken alle aus dem Fenster?
„Sie kennen mich. Weil ich meiner Mama beim Füttern helfe. Sie ist Vieh­
pflegerin“ , erklärt Ute.
Filip möchte auch Kälber füttern. „Was geben wir ihnen?“ fragt er.
„Jetzt? G ar nichts. Sie bekommen nur nach dem Tagesplan. Guck, hier wird
ausgerechnet, was alles drin sein muß! Und hier wird das Futter gemischt!“
Ute führt Filip ins Laboratorium und in die Küche. Viele geheimnisvolle
Röhrchen und Gläser, viele blitzende Kessel, Eimer und Kannen sieht er da
stehn.
Was diese Kälber alles brauchen! Vorsichtig streckt Filip die Hand nach einem
mondhellen kleinen Tolpatsch aus. „E s tut dir nichts. Du darfst es strei­
cheln!“ ermuntert ihn Utes Vater, der einen Rundgang durch die Ställe
macht.
„Ist er auch Viehpfleger?“ flüstert Filip.
„Nein, Vorsitzender der Genossenschaft“ , sagt Ute. Und Filip grüßt:
„Guten Tag, Herr Vorsitzender!“
„Guten Tag, Filip. Gefällt dir unser Kindergarten? Die Kälber aus allen
Dörfern ringsum sind darin.“
„Wirklich? Was machen sie hier?“
„Wir pflegen sie besonders. Damit sie schnell groß und kräftig werden!
Unsere Kälber sind berühmt.“
„Großmutter Maxis Schafe aber auch. Sie müssen wissen, es sind drei­
hundert!“
„Nächstes Jahr werden es vierhundert sein. Was Großmutter Maxi sich
vornimmt, das schafft sie!“ meint der Vorsitzende.
„Und was sie alles zu tun hat! Nicht mal verreisen kann sie!“ erzählt Filip.
Der Vorsitzende macht große Augen. „So was! Daß daran noch keiner
gedacht hat! Großmutter Maxi fährt niemals fort. D a muß erst so ein kleiner
Rollmops kommen“ , murmelt er.
„Rollmops! Wie ulkig!“ Ute kichert.
Filip erschrickt. Rollmops! So werden jetzt auch die Kinder in Schönheide
rufen! Auf einmal ist er wieder da, der große Klumpen Traurigkeit, und
nichts bleibt übrig außer ihm.
Nicht einmal auf Wiedersehen sagt Filip. Durch die Höfe der Genossenschaft
rennt er hinaus auf die Straße. Um die Ecke und aufs Geratewohl einen
Feldweg entlang. D a steht er plötzlich am See. Grün spiegeln sich die Büsche
und Bäume im Wasser. Filip erkennt die Straße, über die er mit Großmutter
Maxi gefahren ist im zitronengelben Trabanten. „Großmutter Maxi! Ich will
zu Großmutter M axi!“ schluchzt er.
Da klappern hinter ihm Sandalen.

6* 83
„Hier bist du, und ich suche dich!“ schmollt Ute. „Ich weiß, wie man
Schiffchen baut. Wolln wir welche schwimmen lassen?“
„Nein.“
„Wolln wir angeln? Oder lieber Steinchen werfen?“
„Nein!“
„Dann komm baden!“ bittet Ute. „Oder kannst du noch nicht schwimmen,
du kleiner Rollmops, du?“
Da wird unser Filip ganz böse und wild. Er stampft mit dem Fuß auf: „Klar
kann ich! Ich kann alles! Aber ich will nicht!“ schwindelt er und stolpert
und rennt. Über Stock und Stein. Über Blumen und Gras. Zu den Hügeln
hinauf, wo die Schafe weiden.
Großmutter Maxi hat eine Flöte geschnitzt. „Tü-tü-tü-ü“ ..., bläst sie und
fragt: „Wer zwitschert so?“
Filip zuckt die Schultern. „Ich weiß es nicht.“
„Kuckuck-kuckuck ... und wer ruft so?“
„Ich weiß es nicht.“
„Nun sag mal, bist du krank?“ Großmutter Maxi setzt Filip neben sich ins
Gras. Der seufzt ganz tief und flüstert dann: „Was würdest du machen,
Großmutter Maxi, wenn alle zu dir Rollmops sagten?“
„Rollmops? Ich? Hm — ich würde nicht zeigen, daß ich mich darüber är­
gere.“
„D as sagen Papa und Mama auch immer. Aber ändern — ich meine, du weißt
wohl auch nicht, wie kleine Dicke groß und dünn werden?“
„Von einem Tag zum anderen? Das ist eine schwierige Sache. Ich muß es
mir überlegen.“
„Wenn ich wenigstens schwimmen könnte! Wie Ute!“ seufzt Filip wieder.
„Wenn es weiter nichts ist! Das lernen wir!“
„Von wem?“
„Von mir!“ sagt Großmutter Maxi vergnügt.
Filip staunt. „Schwimmen kannst du auch? Wo zeigst du’s mir?“
„Im Schönheider See.“
„E s darf aber niemand sehn!“
„Dann machen wir es heimlich.“
„Heimlich? Ja, das ist gut.“ Weil Filip etwas Wichtiges zu tun hat, vergißt
er seinen Kummer. Und weil er sich wieder freut, hört er nun auch, wie die
Vögel zwitschern und singen.
Jeden Morgen in der Frühe, wenn die Sonne aus dem Walde hüpft, wenn der
Nebel von den Wiesen flieht und das Milchauto zur Kreisstadt klappert,
wenn irgendwo in der Ferne noch die Mähdrescher der Nachtschicht tuckern,
schleichen Filip und Großmutter Maxi zum See.

84
Und niemand als die krummen krausen Weiden, die Enten und die Vögel im
Schilf sehen zu, wie Filip sich müht.
Das Schwimmenlernen ist gar nicht so einfach! Vielleicht ist das Wasser sehr
tief? Und wenn ich darin versinke, was dann? Trotz allem. Filip übt. Tapfer
und unermüdlich. Und Großmutter Maxi hilft ihm.
„Filip! Ich weiß etwas, was du nicht weißt!“ neckt der Vorsitzende, als er
eines Abends zu Besuch kommt.
Ob er uns beim Schwimmen beobachtet hat? Neugierig lauscht Filip im
Garten, was Großmutter Maxi und Utes Vater in der Stube miteinander
reden.
„Ein Ferienscheck? Für wen?“
„Für dich und Filip.“
„Wieso?“
„Weil du verreisen sollst!“
„Unmöglich!“
„Warum? Jetzt, wo dein Urenkel hier ist, paßt es besonders gut.“
„Und meine Schafe? Nie hab ich sie allein gelassen.“
„Stimmt. Du warst nie verreist. Aber jetzt fährst du an die Ostsee.“
„Und wenn das nicht klappt?“
„Sonja war auf der Meisterschule. Sie vertritt dich, und ich helfe ihr.“
„Ich weiß nicht — Filip! Wo bist du?“ ruft Großmutter Maxi.
„Hier!“ Filip wirbelt herein.
„H ast du’s gehört? Verreisen soll ich. Mit dir. An die Ostsee!“ stößt Groß­
mutter Maxi hervor, als handle es sich um ein Unglück.
„Fein! Wir beide!“ Filip strahlt.
„N a, Großmutter Maxi, was nun?“
„Tja, wenn er sich so freut! Wenn er so gern mit seiner Urgroßmutter ver­
reisen möchte . .. Vorsitzender, wir fahren!“ sagt Großmutter Maxi.
„N a also. Bist du nun mit mir zufrieden?“ Der Vorsitzende stupst Filip
freundschaftlich auf die Nase.
„Wenn Sie nicht mehr Rollmops zu mir sagen!“
Der Vorsitzende verspricht es.
Am nächsten Morgen regnet es. Die Schafe können nicht auf die Weide. Aber
Großmutter Maxi läuft umher. Stall und Speicher blitzen vor Sauberkeit.
Sie ordnet und räumt, redet mit Sonja und dem Vorsitzenden. Und als Filip
gefrühstückt hat, holt sie den gelben Trabanten und sagt: „Steig ein! Jetzt
fahren wir einkaufen.“
„M it dem Auto? Fein! Bloß — wann übe ich schwimmen?“
„Unterwegs. Wir kommen am See vorbei. Wenn es im Regen nicht zu kalt

85
„Mir nicht! Du kannst ja im Auto bleiben! Ich schwimme heute allein!“
verkündet Filip kühn.
„Wie dunkel das Wasser ist!“ ruft er, als er am Ufer steht. Doch mutig geht
er hinein, breitet die Arme aus und schwimmt. „Ich kann’s! Ich kann’s!
Großmutter Maxi! Ich kann’s!“ prustet er.
„Wie schnell du es gelernt hast!“
Großmutter Maxi läßt den Trabanten sausen.
„Ich kann schwimmen!“ flüstert Filip den Regenschleiern zu, die das Auto
umwehen.
„Ich kann schwimmen!“ sagt er zu den Blumen im Korn. Zu dem Wind, der
Berge und Täler ins Weizenfeld baut. Zu den Telegrafendrähten, die durch
die Luft dahinziehen, von Schönheide in die weite Welt.
In der kleinen Stadt wohnen mehr Leute als im Dorf Schönheide. Hier
kennen nicht alle Großmutter Maxi.
„Bitte schön, was soll’s denn sein?“ fragt die Verkäuferin, als sie in das große
Kaufhaus kommen.
„Alles für die Reise! An die Ostsee!“ antworten Filip und Großmutter Maxi.
Und die Verkäuferin holt Kleider und Schuhe, Mäntel und Hosen für den
Strand.
Filip läuft mit der Großmutter vor den Spiegel. D a stehen beide und staunen.
Großmutter Maxi, weil sie so schön im neuen Kleid aussieht. Und Filip, weil
er sich nicht wiedererkennt.
Wie verzaubert starrt er auf sein Bild.
„D u, Großmutter, bin ich das wirklich?“
„Natürlich. Wer denn sonst?“
„Aber Großmutter! Großmutter! Guck doch mal! Ich bin ja gar nicht mehr
dick!“
Ganz nah heran geht Filip. Immer wieder betrachtet er den schlanken braun­
gebrannten Jungen im Spiegel.
Und er hüpft und jubelt: „Großmutter Maxi, ich bin kein Rollmops mehr!
Heut ist mein allerschönster T ag!“
„Ich glaube, meiner auch!“ Fröhlich nickt Großmutter Maxi.
„Und jetzt müssen wir konditern gehn!“ sagt Filip.
„Und was bestellen wir?“
„E is mit Früchten!“
In winzig kleinen Häppchen löffelt Großmutter Maxi das Eis. G ut ist es.
Filip weiß, was schmeckt! denkt sie und fängt an zu erzählen: „A ls ich so
klein war wie du, träumte ich nur von süßen Sachen und schönen Kleidern
und ledernen Schuhen und prächtigen Kutschen ... die kleine dumme
Schäfermaxi war ich, die nur im Winter zur Schule gehen durfte. Die

86
Schäfermaxi bin ich geblieben. Aber sonst . .. sonst ist alles gan 2 anders
geworden
„Ja, du bist Schafermeisterin! Und du hast ein Auto! Das saust schneller als
alle Kutschen von früher. Ein Glück, daß ich nicht nach Afrika gefahren
bin!“
„Warum?“ fragt Großmutter Maxi.
„Weil es bei dir am schönsten ist! Weil du zaubern kannst! Weil du aus dem
dicken einen dünnen Filip gemacht hast!“
„Unsinn! Das warst du ganz allein! Weil du fleißig schwimmen geübt
hast!“
„Trotzdem. Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich immer noch klein
und dick. Papa und Mama werden staunen. Nicht zu Hause und nicht in
Schönheide und nirgendwo in der ganzen Welt kann jetzt noch einer Rollmops
zu mir sagen!“
Als sie zum Städtchen hinaus und wieder durch die Felder fahren, hat es zu
regnen aufgehört. Die Sonne blinzelt durch die Wolken. Tropfen glitzern an
Gräsern und Zweigen. Und in den Pfützen baden die Vögel.
Wie es wohl aussehen mag, das große weite Meer! denkt Großmutter Maxi
und pfeift ein Lied.
„D a, unser See!“ ruft Filip, als die krummen krausen Weiden am Wege
auftauchen. Und weil er Ute am Ufer erblickt, bittet er: „Großmutter, warte
mal!“ und schlüpft aus den Kleidern und springt ins Wasser und
schwimmt.
Anne Geelhaar

87
Hans Fröhlich und das Vogelhaus

Es war einmal eine Vogelscheuche, die sah traurig in die Welt. Ringsum
wurde es Frühling. Das Feld war frisch und grün, und die Wiese stand voller
Blumen. Nur der Kirschbaum blühte nicht. Seine Knospen waren in einer
kalten Nacht erfroren. Keine Blüte konnte sich öffnen. Keine Kirsche konnte
wachsen. Niemand besuchte die Vogelscheuche, niemand kehrte bei ihr ein.
Die Bienen summten eilig weiter; und auch Isabell, die Katze, guckte ge­
langweilt zum Kirschbaum hinüber. Denn es war kein Vogel in der Nähe.
Die Vogelscheuche war einsam.
Auf einmal erblickte sie die Stare, die von ihrer Winterreise zurückkehrten.
Sie ließen sich auf der Telegrafenstange nieder und schauten sich um.
„Hier ist es schön! Hier wollen wir bleiben!“ zwitscherten sie. Da entdeckten
sie die Vogelscheuche.
„ O --------- di — di —“ , piepte einer ängstlich. Und gleich rückten alle
zusammen und pfiffen: „Schon wieder eine böse, eine gefährliche Vogelscheu­
che! Ein Ungeheuer!“
„Dlüü, dlüu! Vielleicht ist sie nicht gefährlich!“ schmetterte keck ein junger
Star, der Hans Fröhlich hieß.
Aber die anderen schlugen mit den Flügeln und kreischten: „Alle Vogelscheu­
chen sind gefährlich und böse! Sie lassen uns nicht an die Kirschen!“
Lärmend erhoben sie sich.
„Bleibt hier! Ich jage euch nicht fort!“ rief die Vogelscheuche. „In meinem
Baum wachsen keine Kirschen.“
Doch die Stare flogen davon.
Traurig ließ die Vogelscheuche den Kopf hängen. Der Hut rutschte ihr ins
Gesicht, und sie konnte nichts mehr sehen.
Hans Fröhlich, der kecke junge Star, war zurückgeblieben. „Warte hier. Ich
gucke mich ein wenig um“ , sagte er zu seiner Starenfrau und hüpfte davon.
Nichts geschah.
Die Vogelscheuche rührte sich nicht.
Der Star blickte zu ihr hinüber.
Sieht sie mich nicht? dachte er und plusterte sich auf. Sein schöner dunkler
Frack schillerte grün und purpurfarben.
„Dlüo-dlü-dlüo“ , flötete er.
Da bewegte sich der große Hut der Vogelscheuche — ruck — ein wenig nach
oben.
Hans Fröhlich lief zurück. Er guckte, wiegte den Kopf hin und her und —
hüpfte wieder vorwärts.
Wer wird denn so ängstlich sein, dachte er und schnalzte: „Zirrü-zirrü —
Die Vogelscheuche hob — ruck — den Kopf noch höher.
Ihr Hut saß jetzt kerzengerade.

88
Aufgeregt schlug der Star mit den Flügeln und wollte Reißaus nehmen.
Da rief die Vogelscheuche: „Sing doch weiter! Dein Lied gefällt mir!“
Der Star schwang sich kühn in den untersten Zweig des Baumes. „Dlüo-
dlü-dlüo — begann er, und dann zwitscherte er und sang.
„D as war schön“ , sagte die Vogelscheuche. „Ich danke dir. Ich bin eine
Vogelscheuche, aber ich heiße Auguste.“
„Dlüu. Ich bin Hans Fröhlich.“
Der Star fand Gefallen an der Vogelscheuche. Er betrachtete sie von allen
Seiten, hüpfte immer näher und sagte zutraulich: „Weißt du nicht, wo eine
Wohnung frei ist?“
Auguste nickte. Sie zeigte ihm die Tasche an ihrer Schürze. „Hier wäre doch
ein schönes Vogelhaus!“
Hans Fröhlich sah in die Tasche.
„Dlüu. Die Wohnung gefällt mir. Soll ich die Starenfrau holen?“
„Ihr könnt gleich einziehen!“
Augustes Hut tanzte lustig in der Luft. So freute sie sich. Die Stare
schlüpften in die Tasche.
„Hier werden wir es gut haben!“ zwitscherten sie und trugen Polstergras,
Blütenblätter und Federn herbei. Erst als die Sonne schlafen ging, ruhten
sie von der Arbeit aus.
Ein Tag folgte dem andern.
Bald lagen sechs blanke, lichtblaue Eierchen im Nest.
„Sie müssen warm bleiben“ , sagte die Starin und setzte sich darauf. Ab­
wechselnd behüteten die Stare die Eier. Und eines Morgens piepsten sechs
winzige Vogelkinder. Sie hatten die Eierschalen durchstoßen und streckten
schreiend ihre Schnäbel in die Luft. Auguste freute sich mit den Staren. Sie
schaute in ihre Tasche und stand ganz still. Kein Stoß sollte das Vogelhaus
erschüttern. Die Katze lsabel! strich jetzt öfter um den Kirschbaum, grüßte
freundlich und sah zu der Starenfamilie hinauf. Hans Fröhlich und seine Frau
flogen aus und ein.
Unermüdlich schleppten sie die fettesten Würmchen herbei, und die Vo­
gelkinder schlangen alles hinunter, schrien immer lauter: „Hunger! Hun-
ger!
I <‘

Sie wuchsen und gediehen.


Die Kecksten guckten schon aus dem Nest.
Stolz flog Hans Fröhlich über das Feld bis zu dem Haus, wo die Spatzen
wohnten. E s war um die Mittagszeit.
Die Spatzen lärmten mit den Hühnern um die Wette, und die Katze lsabel!
sonnte sich.
Hans Fröhlich setzte sich auf die Spitze der Pumpe.

89
„Dlüo, dlüu! Hört alle zu!“
„Tschiep, tschiep! Was gibt es Neues?“
Der Star erzählte. Von seinen Kindern und dem Vogelhaus.
„Tschiep, tschiep! Ist das auch ein sicheres N est?“ schilpten die Spatzen.
„Aber ja“ , sagte Hans Fröhlich.
Da stand die Katze auf und streckte sich. Sie bewegte leise den rotgefleckten
Schwanz.
Ihre grünen Augen funkelten.
Hans Fröhlich wurde unruhig. Er blickte zum Himmel.
Schwarze Wolken zogen auf.
„Ich muß nach Hause. Es gibt ein Gewitter.“
Schnell flog er davon.
Die Katze Isabell sah ihm nach.
Sie leckte sich den Bart.
Die ersten dicken Tropfen fielen, und schon prasselte der Regen herab. Die
Vogelscheuche hatte sich weit nach vorn gebeugt. Ihr Hut stand jetzt wie
ein großes Dach über dem Vogelhaus; und während draußen der Regen
strömte, saßen die Stare im Trocknen.
Vergnügt schauten sie hinaus.
So plötzlich wie es begonnen, hörte es auf zu regnen.
Der Wind vertrieb die Wolken. Die Sonne guckte wieder auf die Erde, und
die letzten Regentropfen hingen wie Perlen an Gräsern und Zweigen.
„Jetzt fliegen wir spazieren!“ pfiff Hans Fröhlich.
Ringsum war alles sauber und frisch.
Die Stare naschten an den zarten Halmen im Feld, verspeisten ein Würmchen
am Weg und tranken von dem Regenwasser, das sich in einer Wagenspur
gesammelt hatte.
Da schlich die Katze zum Kirschbaum.
Sie setzte sich unter das Vogelhaus und blinzelte hinauf.
„Miau, miau! Ihr armen Kleinen hungert wohl?“ fragte sie mit süßer
Stimme.
Die Starenkinder piepsten ängstlich.
„Ich habe euch etwas mitgebracht.“
Isabell tat sanft und besorgt. Aber ihre Augen funkelten wild. Leise, ganz
leise bewegte sie den rotgefleckten Schwanz und hob ihre sammetweiche
Pfote.
Die Starenkinder schrien.
Die Katze sprang den Stamm hinauf.
Da riß sich Auguste den Hut vom Kopf und warf ihn auf die Katze.
Wie Isabell erschrak! Wie sie rannte!

90
„Miau, miau!“ jammerte sie und lief und lief.
Hans Fröhlich ließ das Futter fallen, das er im Schnabel hielt. „Dlüu, dlüi!
Sieh nur, sieh! Der Wind entführt Augustes Hut!“
„Dlüu! Der Hut hat Beine, Beine wie Isabell!“ wunderte sich die Starin.
Aber die Amsel, die auf dem Feld spazierenging, rief ihr zu: „Dudusalladell!
Es ist Isabell!“
Auguste schaute zufrieden auf ihre Schützlinge.
Stolz erzählte sie, wie alles geschehen war.
„Dlüu, dlüo! Wie bin ich froh!“ zwitscherte Hans Fröhlich dankbar; und die
Vogelscheuche strahlte vor Freude. Nun hatte sie wieder Freunde, denen sie
helfen durfte.
Sorglos breitete ein Starenkind nach dem anderen die Flügel aus; und Hans
Fröhlich flog voran und pfiff sich eins.
Anne Geelhaar

• 91
Der Riese Archibald

Bums! macht es so laut, daß weithin im Wald die Vögel aufflattern und die
Hasen entsetzt ins Unterholz flüchten. Selbst der große Felsen, den sonst nie
etwas aus der Ruhe bringt, erzittert durch und durch.
In der Höhle, die weit oben und ganz versteckt hinter Bäumen und Sträu-
chern liegt, schlägt der Riese Archibald erschrocken die Augen auf. Er
blinzelt verschlafen. E s ist dunkel in seiner Höhle, denn vor den Eingang
hat der Riese einen Stein gewälzt, groß wie ein Pferdewagen. Das war vor
langer, langer Zeit, als er sich schlafen legte. Seitdem ist sein Bart bis hinunter
zum Gürtel gewachsen. Ein paar Mäuse haben sich darin kuschelige Nester
gebaut. In den Hosentaschen krabbeln Ameisen umher, und die Stiefel des
Riesen sind längst mit Moos bewachsen.
Archibald brummelt ärgerlich vor sich hin. Was für ein Donnerbums hat ihn
da aus dem Schlaf gerissen? Er tritt mit seinem Stiefel gegen den Stein
am Eingang. Der mächtige Brocken poltert hinunter ins Tal.
Grelles Sonnenlicht fällt in die Hphle. E s kitzelt Archibalds Nase. Der Riese
muß heftig niesen, und eine dichte Staubwolke wirbelt aus der Höhle. Die
Mäuse huschen aus dem Bart, und die Ameisen versuchen, aus den Ho­
sentaschen zu entkommen.
Archibald steckt seinen struppigen Zottelkopf ins Freie. Woher kam der
Bums? Der Riese traut seinen Augen nicht. Wie verändert ist sein Wald
unten am Berg! Bäume sind abgeschlagen, und allerlei sonderbares Gerät
steht herum. Von seinem Felsen fehlt eine große Ecke. Als der Riese seinen
Kopf weiter hinausreckt, um genauer sehen zu können, zuckt unten plötzlich
ein Blitz auf. Gleichzeitig gibt es einen lauten Knall. Sand und Steine werden
hochgeschleudert, und wieder erbebt der ganze Berg.
Archibald erschrickt vom Zottelhaar bis in die Stiefelspitzen. Ehe er sich
besinnen kann, rutscht er über Bäume und Sträucher hinweg ins Tal. Unten
angekommen, will er sofort aufstehen. Doch das ist nicht so einfach. Er sitzt
mitten in einem weichen, schmierigen Brei. Ein wenig ängstlich, erstaunt und
auch ein wenig neugierig patscht er darin herum und beschmiert sich dabei
mehr und mehr.
Die Straßenbauarbeiter starren entgeistert auf den Riesen. Sie legen ihr
Werkzeug aus den Händen und halten die Maschinen an. Karl steigt aus
seinem Kranauto und vergißt, die Tür zu schließen, was ihm sonst nie
passiert. Fritz hört auf, an seiner Tabakspfeife zu ziehen. Sogar der Brigadier
Paul ist völlig verblüfft.
Archibald versucht, seine Hände abzuwischen. Er fragt: „Was habt ihr hier
für einen kleistrigen Pitschpatsch?“ Der Riese spricht freundlich und ruhig,
aber seine Stimme ist so poltrig laut, daß Karl sich den Hut über die Ohren
zieht.

92
Brigadier Paul legt die Hände wie einen Trichter an den Mund und ruft mit
kräftiger Stimme: „D er Pitschpatsch heißt Beton. Damit bauen wir eine
Straße. Aber wer bist du?“
Archibald nennt seinen Namen und erklärt, daß er der stärkste Riese weit
und breit ist, daß er viele, viele Jahre geschlafen habe und daß er gern wüßte,
warum es an seinem Berg geblitzt und gebumst hat.
Paul antwortet: „Wir mußten von dem Berg eine Ecke absprengen, sie war
unserer Straße im Wege.“
Archibald stellt sich auf die Füße und betrachtet verwundert das abgeplatzte
Felsgeröll.
„Ein wirklicher Riese!“ staunt Fritz. „Wenn wir ihm etwas ins Ohr flüstern
wollten, müßten wir uns Übereinanderstellen wie Zirkuskünstler.“
Archibald reibt an seinem verschmierten Hosenboden herum und macht
einen Schritt beiseite. Er will aus dem Beton heraus. Dabei tritt er auf die
neue Straßenböschung. Die lockere Erde beginnt unter seinem Gewicht zu
rutschen. Um nicht hinunterzukullern, stützt sich der Riese auf einen höl­
zernen Leitungsmast.
„Ich werde den Knüppel als Krückstock behalten“ , sagt er und zieht den
Mast aus dem Erdboden. Das Elektrokabel daran stört ihn. Er will es
abreißen. „Hör auf, Archibald“ , ruft Paul, „das ist gefährlich!“
Aber es ist schon zu spät. Archibald wirft Mast und Kabel erschrocken von
sich.
„Teufelszeug!“ stammelt er. E r hat einen elektrischen Schlag bekommen.
„Zum Glück ist ihm nichts weiter passiert.“ Fritz atmet auf und zündet seine
Pfeife wieder an.
Gespannt warten die Arbeiter ab, was der Rifse weiter tun wird.
Archibald schaut sich um. Er sucht etwas. Dann geht er mit einem Schritt
zur Baubaracke und setzt sich auf das Dach, als wäre es eine Parkbank.
Mit ein paar Sätzen ist Brigadier Paul zur Stelle und fuchtelt aufgeregt mit
den Armen. „D u wirst unsere Baracke zerdrücken, Archibald. Rühr dich
bloß nicht, sonst bricht alles zusammen!“ Besorgt schaut Paul auf die
knirschenden und knackenden Bretterwände. Dann wandern seine Augen
über die Baustelle. Die Maschinen stehen still, die Arbeit ruht. Immer noch
stehen alle da und starren auf den Riesen. Nur Karl besinnt sich, rückt seinen
Hut zurecht, steigt in den Autokran und läßt den Motor an.
„Was machen wir bloß mit dem Riesen?“ fragt Paul besorgt. „Unsere Straße
muß rechtzeitig fertig werden.“
„Wir haben ihn geweckt, und nun ist er da“ , meint Fritz gutmütig. „Wie
soll er sich auf unserer Baustelle zurechtfinden, wenn er so viele Jahre ver­
schlafen hat?“

93
Karl ist mit seinem Autokran an die Baracken herangefahren. Was hat er
vor? D a senkt sich schon der schwere Kranhaken langsam herab und hakt
sich in dem Gürtel des Riesen fest. Karl legt einen Hebel um. Der Motor
brummt tief. Archibald wird in die Höhe gehoben und beiseite geschwenkt,
weg vom Dach. Die Barackenbretter knarren erleichtert. Archibald baumelt
nun in der Luft. Ein Pferd mit einem Reiter darauf könnte unter ihm hin­
durchlaufen.
So eine ungeheure K raft hat Archibald noch nie gespürt. Gibt es jemand,
der stärker ist als er? Hat er nicht damals dem Müller geholfen und die Flügel
seiner Mühle gedreht, als kein Wind blies? Unter seinem starken G riff waren
sogar ein paar Bretter zerbrochen. Archibald schlenkert hilflos mit den
riesenlangen Armen und Beinen. Sein Bart weht wie eine Fahne im Wind.
Fritz tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen und nimmt die Pfeife
aus dem Mund: „Dem Archibald wird es da oben nicht gefallen. Vielleicht
wird ihm schwindlig, oder er holt sich einen Schnupfen.“
Brigadier Paul steigt auf das Dach des Kranautos. Archibald soll ihn gut
hören können. „Möchtest du uns helfen bei der Arbeit?“ fragt er den
Riesen.
Archibald möchte hinunter auf die Erde und zurück in seine Höhle. Wenn
er nur schnell von diesem Haken loskommt, will er gern bei der Arbeit helfen.
Früher hat er den Menschen auch manchmal geholfen. Einmal war ein Dorf
eingeschneit. Archibald schaufelte es frei. Und dabei passierte gar nicht viel:
Nur drei Fenster hatte er versehentlich eingedrückt und eine kleine Holz­
brücke zertreten. Wie der Ledergürtel jetzt in seinen Bauch drückt!
Karl läßt den Riesen hinunter auf die Erde. Eigentlich möchte er ihm sagen:
Entschuldige, daß ich dich in die Luft heben mußte. Aber er redet nicht gern
soviel und legt deshalb nur lächelnd zwei Finger an den Hut.
Archibald rückt den Gürtel zurecht und streicht seinen Bart glatt. Er will
sofort mit der Arbeit beginnen. Dort, den Baum wird er aus dem Boden
reißen. Aber Paul stellt sich ihm in den Weg: „Laß doch die schöne Tanne
weiterwachsen, Archibald! Für die Straße ist schon genügend Platz da.“
Karl, Fritz und alle anderen gehen wieder an ihre Arbeit. Paul zeigt auf die
abgesprengten Felsbrocken. Archibald soll sie beiseite räumen, damit der
Bagger schon an einer anderen Stelle arbeiten kann. Archibald packt einen
Stein — groß wie ein Kleiderschrank — und wirft ihn einfach ein Stück hinter
sich. Das Felsstück landet dicht vor der Baracke, genau auf den Kübeln mit
dem Mittagessen für die Arbeiter. E s beginnt nach Bratwurst und Kohl zu
duften; die schöne braune Soße versickert im Sand.
Die Arbeiter in der Nähe haben hinter Geräten und Erdhaufen Schutz
gesucht. Womöglich wirft Archibald noch weiter mit solchen Brocken.

94
Erschrocken und etwas verlegen meint Paul: „Nun ja, ich hätte ihm die
Arbeit erklären müssen.“ Er zeigt dem Riesen, wohin er die Steine tragen
soll. Bald liegt dort ein hoch aufgestapelter Haufen. In seinem Eifer hat
Archibald auch zwei Benzinfässer mit eingebaut. Trotzdem lobt ihn Paul:
„Ist er nicht ein fleißiger Lehrling?“
Einige Arbeiter stimmen lachend zu: „Und der größte und stärkste, den wir
jemals kannten.“
Inzwischen hat sich Karl mit seinem Kranauto im weichen Waldboden fest­
gefahren. Es bewegt sich weder vorwärts noch rückwärts. „Kannst du mir
helfen, Archibald?“
Sicher kann Archibald das. Er hat früher schon einmal eine Holzfuhre aus
dem Wald geschleppt, weil die Pferde es nicht schafften. Er geht an das Auto
heran, ohne dabei den Kranhaken aus den Augen zu lassen. Der soll ihn nicht
noch einmal packen.
Karl gibt Gas, der Motor heult. Archibald möchte sich die Ohren zuhalten,
aber er braucht die Hände zum Schieben. Schon rollt das Auto alleine weiter.
Karl winkt erfreut aus dem Fahrerhaus, nur hat Archibald ein Rücklicht
völlig zerdrückt.
Trotzdem wirft Karl dem Riesen als Dank für die Hilfe einen goldgelben
Apfel zu. Der verschwindet in Archibalds Mund, als wäre es ein Krümel vom
Streuselkuchen. Paul reicht Archibald aus seiner Frühstückstasche zwei
kräftige Bauarbeiter-Leberwurstschnitten hinauf. Einmal: Haps! und noch
einmal: Haps!, und verschwunden ist das Brot. Fritz kommt mit seiner vollen
Kaffeeflasche. „Bitte, Archibald!“ Ohne abzusetzen, läßt der Riese den
Kaffee hinuntergluckern.
Dankbar blickt er in die Runde: „Ich habe auch etwas für euch.“ Er kramt
aus seinen Hosentaschen eine Riesen-Handvoll Nüsse hervor. Darauf krab­
beln noch ein paar Ameisen, aber die Arbeiter nehmen das Geschenk
schmunzelnd an. Nun mahnt Paul zum Weiterarbeiten.
Archibald blickt verstohlen hinauf zu seiner Höhle. Aber da ist noch ein
Hänger mit Zementsäcken zu entladen. Auch das wird Archibald schnell
erledigen. Die letzten Säcke nimmt er auf einmal. Er packt fest zu. Die Säcke
zerreißen, und im Nu sind der Riese und alle Umstehenden in eine dichte,
graue Zementwolke gehüllt.
. Archibald reibt sich pustend und schnaufend die Augen, sein Bart ist über und
über grau »eingestäubt. Fritz muß husten, und dabei plumpst seine Pfeife in
einen Wassereimer.
Paul sagt zu dem Riesen: „D u mußt nicht nur mit deiner Kraft, sondern auch
mit deinem Kopf arbeiten.“
Mit dem Kopf? Archibald legt sich einen aufgerissenen Sack auf den Kopf.

95
„Nein, Archibald, mit dem Kopf sollst du nachdenken, damit die Hände das
Richtige tun.“ Aber viel nachgedacht hat Archibald noch nie. Er ist doch
immer der Stärkste gewesen, und das hat genügt. Nur hier bei den Bau­
arbeitern stimmt das nicht mehr. Sie haben mühelos Felswände zertrümmert.
Das hätte Archibald nicht geschafft. Er sieht eine Planierraupe, die einen
riesigen Berg Erde vor sich her schiebt. Wenn Archibald auch soviel Kraft
hätte, so wären doch seine Hände nicht groß genug. Und wie sollte er es
fertigbringen, die Erde so tischglatt einzuebnen! Dort lädt Karl mit seinem
Kran ohne Schwierigkeiten schwere Betonteile von einem Lastauto. Und
dieser Kran hat sogar so viel Kraft gehabt, ihn, den Riesen Archibald, hoch
in die Luft zu heben.
Ohne es recht zu merken, denkt Archibald nun doch ein wenig nach. Er denkt
daran, daß die Menschen ihn mit seiner Kraft wohl gar nicht gebrauchen
können. Vielleicht bauen sie ihre Straße sogar schneller ohne ihn?
Er winkt den Arbeitern zu und steigt hinauf in seine Höhle. Alle winken
freundlich zurück. Karl ruft: „Angenehme Ruhe!“ Obwohl er sonst nicht
gern soviel spricht.
Bevor die Mäuse in der Höhle gemerkt haben, daß Archibald wieder da ist,
sind ihm die Augen schon zugefallen. Als Karl ihm einen großen Essenkorb
bringt, weil Paul gesagt hat: „Wer fleißig arbeitet, muß auch gut essen“ , ist
der Riese schon nicht mehr wach zu kriegen.
„Nun, mag er essen, wenn er wieder munter wird“ , sagt Fritz und bläst
gemütlich Rauchkringel aus seiner Tabakspfeife. Er hat sie längst aus dem
Wassereimer gefischt und an der Sonne getrocknet.
Einige Zeit später ist die Straße fertig. Eilig rollen die Autos auf ihr entlang.
Mancher Autofahrer wundert sich, warum da am Straßenrand ein Ver­
kehrszeichen steht mit einer durchgestrichenen Trompete. Das bedeutet:
Hier ist das Hupen verboten. Wer es genau wissen will, fährt auf den
Parkplatz direkt am Fuße des hohen felsigen Berges. Dort kann er auf einer
Tafel lesen: „In diesem Berg schläft in seiner Höhle der Riese Archibald. Er
hat beim Bau der Straße geholfen. Haltet Ruhe und stört ihn nicht!“
Und wer es ganz genau wissen will, der steigt hinauf bis zu dem Stein vor
dem Höhleneingang. Wenn er Glück hat, hört er von drinnen Archibalds
zufriedenes Schnarchen.
Warum aber auf der Straße ein Stück Betonfahrbahn ausgebessert werden
mußte — man sieht das ganz deutlich —, das wissen nur Paul, Fritz, Karl
und die anderen Straßenbauarbeiter.
Helmut Gerber

96
Die Polizeituba
Großvater kommt mit einer Fahne ins Zimmer.
„D arf ich sie hinaushängen?“ fragt Heiko.
Großvater antwortet: „D as ist für dich zu gefährlich.“
Da hat der Großvater schon recht, aber Heiko hätte gern etwas für den
1. Mai getan. Die ganze Straße ist sauber und geschmückt. Nur für ihn hat
es keine Arbeit gegeben. Vielleicht braucht die Mutter ihn in der Küche beim
Kuchenteigrühren. Aber sie sagt: „D u würdest die Schüssel herunterreißen.
Und was wäre das für ein Feiertag, ohne Kuchen?“ Das stimmt. Zum
Feiertag gehört Kuchen. Kann er denn nirgends helfen?
Der Vater kommt nach Hause. Er bringt aus dem Betrieb seine Tuba mit.
Sie ist groß und schwer. Wenn Vater sie in den Arm nimmt und hineinbläst,
fängt sie an zu singen. Laut oder leise, tief und brummend oder sehr zart,
so wie Vater es will. Als er einmal kr~nk war, konnte die Blaskapelle nicht
spielen. So wichtig ist die Tuba.
Vater sagt: „Ich muß noch einmal fort zum Festplatz. Das Instrument putze
ich morgen früh. Die Tuba stelle ich über Nacht ins Kinderzimmer.“
Großvater kommt vom Balkon. Draußen flattert die Fahne. Aus der Back­
röhre beginnt es nach Kuchen zu duften. Und da hüpft Heiko durch den Flur
und bläst und singt: „Tata, die Tuba, die ist da, tutu, ich weiß ja auch,
wozu. . . “
Der Vater wird staunen. So schnell wie heute abend ist Heiko noch nie in
seinem Zimmer verschwunden. Als die Mutter noch einmal vorsichtig nach
ihm sieht, schläft er noch nicht, aber er liegt ganz still. Genauso still wie die
dicke Tuba, die reglos in der Schrankecke lehnt.
Im Flur verlischt das Licht. Heiko schaltet seine Nachttischlampe ein. Unter
dem Bett hat er einen Lappen und ein Fläschchen mit einem Putzmittel
versteckt.
Zuerst muß die schwere Tuba auf den Fußboden gelegt werden. Langsam,
schön langsam, denkt Heiko, gleich habe ich es geschafft, und . .. Au! hätte
er am liebsten laut gerufen. Der Rand des breiten Trichters liegt auf seiner
nackten großen Zehe und zwickt sie wie ein Riesenkrebs. E r zieht den Fuß
weg, und das Blechinstrument scheppert auf den Fußboden.
Haben Mutter oder Großvater das gehört? Heiko lauscht zum Flur hin.
Nichts.
Hoffentlich hat sich die Tuba nicht weh getan!
O ja! D^ ist eine Wunde, so groß wie ein Suppenteller. Heiko fährt er­
schrocken mit den Fingern darüber. Und da merkt er, daß die zerknitterte
Stelle schon alt ist. Heiko freut sich. Er ist so erleichtert, daß die große Zehe
überhaupt nicht mehr schmerzt. Nun kann es ja losgehen mit dem Putzen!
Heiko schraubt das Fläschchen auf und versucht, ein paar Tropfen von dem

7 97
weißgrauen Putzmittel auf das Blech der Tuba zu träufeln. Es kommt aber
viel zuviel, läuft an dem dicken Rohr herunter und tropft auf den Fußboden.
Hastig beginnt Heiko, mit dem Lappen an dem Instrument zu reiben. Aber
es wird nicht blank, sondern grau, schwarz und schmutzig. Mehr Putzmittel
her! Auf dem Fußboden entsteht wieder eine Pfütze.
Heiko reibt und scheuert, er schwitzt. Als er wieder nach dem Flästhchen
greift, kommen nur noch zwei Tröpfchen, es ist leer. Und die Tuba sieht über
und über verschmiert aus. Kein Rohr hat Heiko ausgelassen, kein dickes, kein
dünnes, kein krummes und kein gerades. Er will in der Küche nachsehen,
ob noch so ein Fläschchen zu finden ist. Auf dem Flur läuft er fast gegen
den Großvater.
„D as riecht ja so nach . . . “ Er geht ins Kinderzimmer.
„D acht’ ich mir’s doch!“
Heiko flüstert: „Ich möchte Vater eine Freude machen und auch etwas für
den Festtag tun. Warum soll er morgen früh noch die Arbeit haben! Bloß,
die Putze reicht nicht.“
„D ie reicht.“ Der Großvater nimmt den Lappen und beginnt, die Tuba zu
polieren. Und nun fängt sie wirklich an zu funkeln, erst eine kleine Stelle,
dann immer mehr.
„Woher kannst du das, Großvater?“
„D as kann ich schon länger als vierzig Jahre.“
Heiko staunt: „Vierzig Jahre! Warst du da schon ein richtiger Mann?“
„E rst einmal ins Bett mit dir!“
Heiko zieht die Decke bis unter die Nase, und Großvater wienert weiter.
„Ja, diese Tuba ist schon sehr alt. Als ich ein junger Mann war, habe ich
sie geblasen. Damals hatte ich nur ein Paar Schuhe, und manchmal gab es
nicht genug zu essen. Ich hatte kein Geld, um eine schöne Reise zu machen,
und wenn ich mir ein Buch kaufen wollte, mußte ich erst sparen.
Wir Arbeiter bekamen in der Fabrik nur sehr wenig Lohn. E s war dieselbe
Fabrik, in der dein Vater heute arbeitet, aber damals gehörte sie einem
einzigen reichen Mann. Der gab uns für unsere schwere Arbeit so wenig Geld,
weil er immer reicher werden wollte. Deshalb nahmen wir Arbeiter uns vor,
am 1. Mai durch die Straßen zu marschieren und mehr Lohn zu verlangen.
Unsere Arbeiterblaskapelle war natürlich dabei. Was denkst du, wie das
schallte, als wir spielten und sangen: ,Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!'“
Großvater singt ein Stückchen vor, die Melodie gefällt Heiko.
„D a machten die Leute ihre Fenster auf, und viele kamen zu uns und sangen
und marschierten mit. Zuletzt konnte keiner mehr sehen, wie lang unser
Umzug eigentlich war. Das brachte den Fabrikbesitzer in Wut. Er rief
Polizisten, die uns vertreiben sollten. Weil wir nicht gleich auseinanderliefen,

98
prügelten sie mit Gummiknüppeln. Auch uns in der Kapelle ließen sie nicht
aus. Mir wollte einer einen Schlag auf den Kopf geben. Aber ich drehte mich
schnell weg, und da sauste der Gummiknüppel auf die Tuba nieder.“
„A uf die T uba?“ fragt Heiko.
Großvater zeigt auf die große Knitternarbe. „Hier war es. Dein Vater könnte
schon längst ein neues Instrument haben. Der Betrieb würde es sofort kaufen.
Aber er möchte keine andere als diese Tuba, die Polizeituba.“
„Ich würde auch keine andere nehmen“ , sagt Heiko.
Der Großvater stellt die Tuba in die Ecke und wischt die Flecke vom
Fußboden. Daß Heikos Hände noch sehr schmutzig sind, hat der Großvater
wohl vergessen, denn er schaltet das Licht aus und sagt: „G ute Nacht!“
„Wo ist bloß die Putzflasche geblieben?“ fragt jemand. Heiko wird wach
davon. Es ist Morgen. Das war doch Vater. Er kommt ins Kinderzimmer,
um die Tuba zu holen.
„Ja, was ist denn das!“ ruft er erstaunt. „Haben wir hier fleißige Hein­
zelmännchen?“
Großvater antwortet vom Flur her: „N a ja, eines haben wir, das liegt da
im Bett.“
„Und das andere ist Großvater“ , erklärt Heiko.
„Ihr beide habt die Polizeituba geputzt?“
Der Vater blinzelt zuerst dem Großvater zu, dann schwenkt er Heiko durch
die Luft, und zuletzt bläst er ein schmetterndes Tatatataah! auf derTuba.
Die Mutter kommt erschrocken ins Zimmer: „D as ganze Haus wird ja
wach!“
Vater lacht: „Soll es! Heute ist der 1. Mai, und den darf keiner verschla­
fen!“
Wohnen in der Stadt wirklich so viele Menschen?
Die Gehwege sind verstopft. Sogar auf der Straße stehen Leute. Sie stellen
sich auf für den großen Festumzug. Straßenbahn, Autos und Motorräder
müssen warten, bis die Volkspolizei die Straße wieder freigibt.
Die Erwachsenen haben ihre Sonntagskleider angezogen, die großen Jungen
und Mädchen tragen blaue Blusen. Auch Junge Pioniere sind überall zu sehen.
Einige tanzen zu der fröhlichen Musik aus dem Lautsprecher. Sie springen
und hüpfen so lustig wie die bunten Fahnen.
„H ast du all die roten Nelken verkauft?“ will Heiko vom Großvater wis­
sen.
Nein, der Großvater hat nur welche für die alten Leute in seiner Straße
gehabt und eine für Heikos Mütze.
Die beiden stehen in dem Gedränge in der ersten Reihe. Sie werden auf der
Straße alles gut sehen können. Neben ihnen steht ein Volkspolizist, ein

7* 99
Stückchen weiter noch einer, dann noch einer. Der eine spricht lachend mit
den Leuten, die hinter ihm stehen. Heiko denkt an Großvaters Erzählung.
Der Umzug beginnt. Vaters Blaskapelle marschiert an der Spitze, denn sie
gehört zum größten Betrieb in der Stadt.
Trompeten und Trommeln sind zu hören. Die Leute werden neugierig, recken
die Hälse, und auf einmal kann Heiko nichts mehr sehen. Andere stehen vor
ihm am Straßenrand.
„Ich will Vater sehen und die Polizeituba!“ schimpft er.
Der Volkspolizist dreht sich zu ihm um: „Komm zu mir und zeige mir deinen
Vater!“ Heiko darf vor dem Volkspolizisten stehen.
„D ort in der Kapelle ist er, der mit der Tuba. Großvater und ich haben sie
geputzt!“ Das Instrument glänzt in der Sonne.
„D u mußt sie weiterspielen lassen!“ bittet Heiko den Volkspolizisten.
Der blickt verwundert. „N a sicher lasse ich sie weiterspielen. Die Musik
gefällt mir genauso wie dir.“
Als der Großvater hinter ihnen mitzusingen beginnt: „Brüder, zur Sonne,
zur Freiheit!“ , fragt Heiko den Polizisten: „Warum marschierst du nicht
mit?“
„E s geht nicht, ich muß hier helfen, die Straßen frei zu halten“ , erklärt der
Polizist, „was wäre das für ein Umzug, wenn alle durcheinanderliefen?“
„Und was wäre das für ein Umzug, wenn die dicke, alte Polizeituba nicht
geputzt wäre?“ antwortet Heiko und freut sich über die blitzblanke Tuba.

Helmuth Gerber

100
Vater ist mein bester Freund

Der Freitag ist für Andreas ein schöner Tag. Am Vormittag besucht er den
Kindergarten. Er zählt schon bis zehn, ganz genau: 1 — 2 — 3 — 4 — 5 —
6 — 7 — 8 — 9 — 10. Am Nachmittag geht er in die Schwimmhalle, die zur
neuen Schule gehört. In diese Schule wird Andreas bald jeden Tag gehen.
Doch erst muß der Frühling kommen und der Sommer vorbei sein.
Unser Freitag aber liegt im zeitigen Frühjahr. Schneereste verstecken sich
noch in manchem Winkel. Die Sonne hat es noch nicht geschafft, in alle
Ecken hineinzuleuchten und die grauen Schneefetzen zu schmelzen.
Und nach dem Freitag kommt der Sonnabend. Morgen wird Papa frei haben,
richtig frei, den ganzen Tag. Das ist schon sehr lange nicht mehr vor­
gekommen.
Meistens ist es so: D a passiert was auf Papas Baustelle. Der Kran läuft nicht,
dieser Riese, der ganz leicht schwere Betonteile durch die Luft schweben läßt.
Der Kran hat seine Mucken. Und Papa muß auch am Sonnabend hin und
die Sache in Ordnung bringen. Papa baut mit seinen Leuten ein sehr hohes
Haus. Es ist so hoch, daß Andreas den Kopf weit ins Genick legen muß,
um die oberen Fenster zu erkennen und dort seinen Vater, der aus der Höhe
herunterwinkt. Aber morgen hat Papa frei. Kein Ingenieur wird kommen und
von ihm wissen wollen, wie das Bauen schneller geht. Papa hat gesagt:
„Morgen fahren wird endlich zum Tierpark, Andreas.“ An unserem Frei­
tagnachmittag treffen sich Andreas und sein Vater vor dem Haus, in dem
sie wohnen.
„N a, wie war heute das Schwimmen, Andreas?“ fragt Vater.
„Hab Kopfsprung gemacht“ , sagt Andreas.
„G u t gegangen?“
„Bin auf den Bauch geklatscht.“
„H at’s weh getan?“
„Ach wo“ , sagt Andreas.
Es hat aber weh getan, doch ein richtiger Schwimmer kann das nicht
zugeben.
Auf der Treppe fragt Andreas: „Papa, fahren wir morgen zum Tierpark?“
„Ja, Andreas. Morgen fahren wir“ , sagt der Vater.
„Gucken wir zu, wie die Löwen gefüttert werden?“
„Natürlich sehen wir uns an, wie die Löwen gefüttert werden und die Tiger
und die Leoparden und die Panther und die Bären. Vorher brüllen die viel­
leicht. Is*t das ein Konzert, ich sage dir, Andreas. Wir hören uns das an, und
wir schauen zu. Wir haben ja Zeit.“
„Werfen wir auch Geld in den Springbrunnen?“
„Können wir auch machen.“
„Warum werfen die Leute immer Geld in den Springbrunnen?“

101
„D as macht den Leuten Spaß. Der Direktor fischt das Geld heraus und
kauft davon neue Tiere.“
„Neue Löwen? Oder Elefanten? Schlangen vielleicht?“
„Kann schon sein, Andreas. Können ja mal fragen im Tierpark!“
„Den Direktor fragen wir, ja?“
„Wenn er da ist morgen, fragen wir den Herrn Direktor“ , sagt der Vater.
Nun springt Andreas vor seinem Vater die Treppe hoch, klingelt stürmisch.
Mutter öffnet die Tür.
„Morgen gehen wir in den Tierpark“ , ruft Andreas, „die Löwen, die Tiger,
alle Tiere werden gefüttert. Wir werfen Geld in den Springbrunnen.
Juchhe!“
„D u hast es vielleicht gut“ , sagt Mutter, „ich muß in mein Ge­
müsegeschäft.“
Andreas schreckt hoch. Hat er geträumt? Ein riesiger Löwe frißt ein riesiges
Stück Fleisch. Dann schrillt plötzlich eine Klingel ... Aber die Klingel hat
wirklich geschrillt, sehr lange und laut. Das ist die Wohnungsklingel.
Andreas setzt sich im Bett auf. Er weiß gleich: Heute ist Sonnabend. Aber
vor dem Fenster ist es dunkel, die Sterne blinken. Wer läutet da bloß in der
Nacht? Andreas reckt sich, gähnt, tappt dann in den Flur. Im Wohnzimmer
sieht er Licht. In der Küche summt der Wasserkessel. Andreas steht an der
Wohnzimmertür. Mit einem Schlag ist er ganz wach. Vater zieht sich an.
Gerade steigt er in die graue Uniformhose, die mit den vielen Taschen, die
zu seinem Kampfanzug gehört. Vater ist in der Kampfgruppe.
Mutter reicht Vater einen dicken Pullover.
„Zieh ihn doch an. Auf dem Lastwagen pfeift der Wind durch die Plane.
Ihr kriecht doch auf dem Erdboden herum. Der Frost steckt noch drin.“
Vater streift den Pullover über, dabei sieht er seinen Jungen an der Tür und
sagt: „Ach, Andreas . . . “
„Was machst du denn?“ fragt Andreas. Er hat so eine schlimme Ahnung.
„Alarm ist“ , sagt Vater, „die Kampfgruppe hat Alarm. Ich muß fort.“
„Wir wollen doch heute in den Tierpark gehen“ , sagt Andreas, „ich will
sehen, wie die Löwen gefüttert werden.“
Mutter ist in die Küche gegangen, Tee aufbrühen.
Vater zieht sich die Jacke vom Kampfanzug an.
„Wenn Alarm ist, Andreas, muß ich fort.“
„Warum ist Alarm, Papa?“
„Ich weiß das noch nicht. Aber bald werde ich es wissen. Vielleicht ist es
eine Übung. Wir nehmen unsere Gewehre und Maschinenpistolen, klettern
auf Lastwagen und fahren aus der Stadt hinaus. Im Wald üben wir dann
Anschleichen, Deckungslöcher graben, schießen.“

102
„Sag doch, du willst an einem anderen Tag üben.“
„D as kann ich nicht, Andreas. Vielleicht ist es gar keine Übung. Vielleicht
sind Feinde in unserem Land oder in unserer Stadt und wollen uns Böses
tun.“
„Was wollen sie denn Böses tun?“ fragt Andreas aufgeregt.
„Eine Eisenbahnbrücke sprengen. Über die fahren viele Züge. Oder unser
Haus zerstören, das wir gerade bauen. Ein sehr schönes Haus ist das. Unseren
großen Kran kaputtmachen. Ohne den Kran können wir nicht arbeiten. Das
haben unsere Feinde schon im Sinn, Andreas.“ Vater legt den Ledergürtel
um, zieht die Jacke glatt. Andreas sieht ein Abzeichen auf dem Ärmel. Eine
Fahne und ein Gewehr.
„H ast du ein richtiges Gewehr, Papa?“
„Ich hab eine Maschinenpistole.“
„Kannst du gut schießen?“
„Ja .“
Mutter bringt Tee und einen Teller mit Broten.
„Andreas, du mußt noch schlafen“ , sagt die Mutter.
„Ich kann nicht mehr schlafen“ , sagt Andreas.
Vater trinkt in kleinen Schlucken den heißen Tee, schaut dabei auf seine
Uhr.
„Kann ich mitkommen zu deiner Kampfgruppe?“ fragt Andreas.
Vater blickt auf. „D as geht nicht. Du bist noch zu klein.“
„Ich kann schon schwimmen. Wenn der Sommer vorbei ist, geh ich zur
Schule.“
„Stimmt alles, Andreas. Stimmt alles. Aber zur Kampfgruppe kann ich dich
nicht mitnehmen. Auch nicht jeder, der schon groß ist, kann in der Kampf­
gruppe mitmachen. Er muß gesund sein. Der Dienst strengt sehr an. Ich bin
schon lange in der Kampfgruppe. Ich habe sehr viel üben müssen, bis ich alles
konnte. Bei so einem Alarm muß alles klappen, da darf nichts schiefgehen.
Der Feind darf nichts merken.“
„D u, ich versteck mich gut. Ich kann das. Mich sehen die Bösen nicht. Ich
nehm auch mein Gewehr mit. D a brauch ich von euch keins“ , sagt Andreas
eifrig.
Vater streicht Andreas über den Kopf. „E s geht wirklich nicht.“
Andreas sagt traurig: „Mitkommen darf ich nicht. In den Tierpark gehen
wir auch'nicht.“
Vater sagt: „D u mußt das einsehen, Andreas. Ich möchte auch lieber mit
dir Spazierengehen. Aber wenn Kampfgruppenalarm ist, darf ich das nicht
tun. Doch in den Tierpark gehen wir, mein Ehrenwort. Und wenn ich heute
oder morgen nach Hause komme von der Kampfgruppe, erzähle ich dir alles,

103
was ich erlebt habe. Dann bist du auch dabeigewesen. Ich laß nichts aus.
Einverstanden? Und wir spielen auch mal Kampfgruppe. In der Wohnstube
auf dem Teppich. Ist das was, Andreas?“
Andreas nickt. Aber fröhlich ist ihm gar nicht zumute.
Vater küßt die Mutter und küßt Andreas. Er setzt sich die Mütze auf, zieht
noch einmal den Ledergürtel fest.
„Tschüs“ , sagt Vater, „sei nicht traurig, Andreas.“
Mutter sagt: „D u kommst wieder mit mir in den Laden, Andreas. Kannst
Kisten stapeln. Machst du doch gern.“
Hinter der Verkaufsstelle stapeln sich viele Kisten. Bunte Schilder sind
aufgeklebt. Die Kisten kommen aus der ganzen weiten Welt. Mutter verkauft
in einem Obst- und Gemüsegeschäft Äpfel, Rotkohl, Apfelsinen, Büchsen,
Saftflaschen, Gläser mit Weißkohl, Gurken und manches andere. Andreas
trägt am langen Vormittag leere Kisten in den Keller. Dabei denkt er an
seinen Vater, der mit seiner Kampfgruppe unterwegs ist und die Feinde jagt.
Andreas möchte gern dabeisein. Warum darf er das nicht? Manchmal denkt
er auch an den Tierpark. So ist das schönste Kistenstapeln nicht schön, auch
wenn es zur Belohnung eine große Flasche Apfelmost gibt. Am Mittag
verschwindet die Sonne hinter dicken Wolken. Wind braust durch die Stra­
ßen. Papierfetzen wirbeln. Schräg peitschen Regenschauer auf die Stadt. Am
Mittag schließt Mutter das Geschäft. Sie sagt zu Andreas: „Bloß gut, daß
du die Kisten in den Keller gebracht hast. Der Sturm hätte sie auseinan­
dergerissen.“ D a ist Andreas ein bißchen stolz.
Auf dem Weg nach Hause stemmen sie sich gegen die wütenden Sturmböen.
„Was wird Papa machen bei dem Wind“ , sagt Andreas.
„Ich möchte jetzt nicht draußen im Wald sein. Bloß gut, daß er den Pullover
übergezogen hat“ , sagt Mutter.
Am Nachmittag kramt Andreas aus seiner großen Spielzeugkiste die Sol­
daten, Trapper und Indianer hervor. Er spielt Kampfgruppe. Einer der
Soldaten ist der Vater. Andreas baut seinen Kran auf, den er zu Weihnachten
bekommen hat. Die Feinde schleichen sich heran. Aber die Kampfgruppe
paßt auf. An den Kran kommt kein Feind heran. Andreas spielt eine Weile.
Aber er müßte noch mehr wissen, was die Kampfgruppe alles macht.
„Wann kommt Papa?“ fragt er seine Mutter.
„Ich weiß nicht, Andreas.“
Vater kommt am Abend. Andreas will gerade ins Bett gehen.
Papas Uniform ist naß und schmutzig. Er hebt Andreas hoch.
„Bin ich müde“ , sagt er.
Andreas fragt: „Habt ihr die Bösen fortgejagt?“
Vater zieht die nasse Uniform aus.

104
Mutter sagt zu Andreas: „Papa ist sehr müde. Du mußt ihn schon in Ruhe
lassen. Und dir fallen ja auch bald die Augen zu.“
„Ich bin aber nicht müde“ , sagt Andreas. „Papa hat versprochen, er erzählt
mir alles.“
„ Ja “ , sagt der Vater, „das hab ich versprochen. Leg dich ins Bett, ich mach
mich nur frisch, dann komme ich und erzähle dir alles.“
Im Bett ist es mollig und warm. Andreas fallen fast die Augen zu. Aber er
hält sich wach, reißt die Augen auf.
Vater kommt leise, setzt sich ans Bett.
„Ich bin aber gespannt“ , sagt Andreas.
Und Vater erzählt: „Ich kam pünktlich zu unserem Treffpunkt. Unser
Kommandeur ließ uns antreten. Er war sehr zufrieden, von uns fehlte
keiner.
Der Kommandeur sagte: ,Stillgestanden!1 Dann las er den Befehl vor: ,Vor
der Stadt sind feindliche Fallschirmspringer abgesprungen. Sie wollen sich
an das große Werk heranschleichen, in dem die Betonteile für unsere neuen
Häuser hergestellt werden. Sie sollen die Mischtrommeln zerstören, die
Zementlagerhallen. Wenn den feindlichen Fallschirmspringern das gelingt,
können wir Bauarbeiter nicht mehr weiterbauen, die Hochhäuser werden
nicht fertig, die Fabriken können keine neuen Werkhallen bekommen.
Die Kampfgruppenkompanie fährt den Feinden entgegen. In einem dichten
Wald vor der Stadt wird sie Gräben ziehen und Schützenlöcher ausheben.
Die feindlichen Fallschirmspringer dürfen nicht an das Betonwerk her­
ankommen. Sie müssen gefangengenommen werden.
,Wir dürfen keine Zeit verlieren, Genossen“, sagte unser Kommandeur.
Schnell holten wir unsere Stahlhelme, Karabiner und Maschinenpistolen.
Waren sie gut eingefettet und geölt? Schon rollten die Lastkraftwagen heran.
Wir kletterten hinauf. Der Kommandeur schaute auf die Uhr und rief
ungeduldig: .Beeilt euch, Genossen! Wir haben keine Zeit mehr.“ Die Last­
autos fuhren schnell durch die leeren Straßen. Langsam wurde es hell, die
Sonne kam hoch. Die war ganz rot. Und wir waren müde. Wir schliefen wohl
alle ein. Ich wachte auf, als ich hin und her geschüttelt wurde. Wir fuhren
nicht mehr auf der glatten Straße, die Lastkraftwagen holperten über Wald-
und Feldwege. Im Wald lag noch viel Schnee, unsere schweren Autos fuhren
sich fest. Wir mußten absteigen und schieben. Hau ruck! Hau ruck!
Dann rollten wir auf eine große Waldwiese. Unser Kommandeur war schon
dort, war mit seinem schnellen Geländeauto vorgefahren. Er stand mitten
auf der Wiese und besah sich eine Landkarte. Er zeigte in den Wald hinein.
Wir schlichen leise durch dichtes Gebüsch, Zweige knackten.
.Vorsicht, leiser“, sagte der Kommandeur.

105
Neben einem hohen Kiefernbaum mußte ich mein Schützenloch graben. Ich
hatte aber nur meinen kleinen Feldspaten. Die Erde war noch ganz schön
gefroren, war hart wie Stein. Ich habe beim Buddeln vielleicht geschwitzt.
Die ausgebuddelte Erde habe ich schön verteilt und Kiefernzweige darüber
gelegt. Die Feinde durften nicht merken, wo mein Schützenloch war. Dann
hockte ich mich ins Loch, schob meine Maschinenpistole zwischen die Zweige
und wartete.
Die ganze Kompanie lauerte im Wald. Aber wärst du durchgegangen, du
hättest nichts von uns gesehen, so gut hatten wir uns versteckt. Wir mußten
auf den Feind warten. Warten ist schlimm, wenn du nicht weißt, wie lange
das dauern wird. Ganz still mußt du sein, darfst nicht herumzappeln. Und
über dir rauscht der Wind in den Bäumen, Regen fällt, alles ist kalt und
naß.“
Vater schweigt. Andreas liegt im warmen Bett. Kein Regen peitscht, kein
Sturm heult.
Da sagt Vater: „Ich bin jetzt sehr müde, Andreas. Ich erzähle morgen weiter.
Der Wind hat nachgelassen. Wenn das Wetter so bleibt, gehen wir in den
Tierpark. Und auf dem Weg dorthin erzähle ich dir die Geschichte zu Ende.
Einverstanden ?“
Andreas nickt. Auch ihm fallen jetzt fast die Augen zu. Und Papa ist auch
so müde.
Morgen wird dann ein sehr schöner Tag sein.
Vater küßt Andreas auf die Stirn. „Schlaf gut!“
Der Sturm hat sich aber in der Nacht nur ausgeruht. Am Sonntagmorgen
wütet er los mit neuer Kraft. Die Fensterscheiben klirren. Vater läuft un­
ruhig im Zimmer auf und ab. Das Frühstück steht auf dem Tisch.
„Nun setz dich schon“ , sagt Mutter, „der Kaffee wird noch kalt.“
„Ich hab keine Ruhe. Hörst du den Sturm?“
„Ja. Er ist noch stärker geworden.“
„Unser Kran“ , sagt der Vater.
„Was ist mit dem Kran?“ fragt Mutter.
Da fragt Andreas: „Kann er bei dem Wind Umfallen?“
Vater steht am Fenster: „Ich muß auf die Baustelle. Ich finde keine Ruhe.“
„Dann trink schnell eine Tasse heißen Kaffee“ , sagt Mutter, „nimm eine
Taxe. Fahr nicht mit dem Motorrad bei dem Sturm. D a hab ich sonst keine
ruhige Minute. Ich mach dir ein paar Stullen zurecht. Warum muß aus­
gerechnet heute so ein Sturm sein.“
„So einen Sturm haben wir schon lange nicht erlebt“ , sagt der Vater. „Mit
dem Tierparkbesuch wird’s heute nun leider wieder nichts“ , meint Mutter.
Da sagt Andreas: „Ist der Wind jetzt der Feind, Papa?“

106
„So ist es“ , sagt der Vater, „der Sturm ist für uns Bauleute ein gefährlicher
Feind. Wir müssen alles dicht machen. Vielleicht ist in unserem Bau ein
Fenster nicht geschlossen. Der Wind drückt es ein, reißt Türen raus. Viel­
leicht ist ein Betonmischer nicht fest aufgestellt. Er wird vom Sturm um­
gerissen, ist kaputt. Das kostet so viel Geld. Und morgen können wir nicht
arbeiten.“
Andreas sagt: „Geh lieber ganz schnell auf deine Baustelle, Papa.“
Der Vater lächelt. „D as ist ein guter Rat, Andreas. Und weißt du, du
kommst mit. Du hast scharfe Augen. Du siehst, wo was offensteht, und
zeigst es mir.“
Mutter sagt: „D a muß ich noch ein Stullenpaket zurechtmachen. Ach, ihr
beiden
Der Sturm wütet über der Baustelle. Es heult und pfeift in der Luft. Dem
Hochhaus aber kann er nichts anhaben. Der Vater hält Andreas fest an der
Hand. Sonst würde der fortgeblasen werden, so fest er auch seine Füße auf
die Erde stemmt. Vater erschrickt. Der Kran! Ein Stahlseil pendelt wild in
den Windstößen, daran baumelt ein schwerer Haken, an dem sonst schwere
Betonteile hängen. Das Seil hat sich losgerissen, der Haken schlägt hin und
her, streift dicht am Glasfenster des Kranführerhäuschens vorbei, kann das
Fenster zerschlagen, die Kabel zerfetzen.
Vater sagt aufgeregt: „D a hast du die Bescherung. Ich muß rauf.“
„Wo bleibe ich?“ fragt Andreas etwas ängstlich.
„Hier an der Bretterbude ist der Wind nicht so stark, hier bist du sicher.
Du wartest auf mich.“
Vater will gehen. Aber da kommen zwei junge Männer heran.
„He, Rolf! He, Martin!“ ruft Vater.
„Wir wollten nachsehen, ob unser Kran noch steht, Meister“ , sagt Rolf.
„Ich werde doch gleich mal hochklettern“ , sagt Martin, der noch einmal so
groß ist wie Andreas, „das Seil werde ich mal einfangen.“
Vater lacht und sagt: „D u bist der Jüngere. Steig auf den Kran. Aber
Vorsicht.“
Sie sehen, wie Martin hochsteigt, das Seil heranzieht und festmacht.
Vater sagt: „D as hätten wir geschafft. Bin ich froh.“
Vater nimmt Andreas an der Hand. Sie gehen über die Baustelle. Rolf ist
in das Hochhaus gegangen. Schlägt oben nicht ein Fenster? Er wird es
schließen, er wird dem wütenden Sturm den Weg versperren. Vater steht mit
Andreas im Schutz der Bretterbude.
„Gute Jungs, die beiden“ , sagt Vater, „die besten aus meiner Brigade. Die
haben zu Hause auch keine Ruhe gefunden. Gestern waren sie auch bei der
Kampfgruppe.“

107
Andreas drängt sich eng an den Vater heran, er friert ein bißchen. Vater
schaut aufmerksam über die Baustelle hinweg. Dann springt er aus dem
Schutz der Baubude heraus. Der Sturm hat eine Plane hochgerissen. Dar­
unter liegen Zementsäcke. Wenn die vom Regen naß werden, sind sie ver­
dorben. Vater zieht die große Plane fest. Er müht sich sehr, der Sturm hebt
sie immer wieder hoch. Andreas läuft zum Vater, zieht mit an der Plane,
stellt sich drauf. Vater kann sie jetzt befestigen.
„D u hilfst ja prima!“ ruft Vater.
Sie stehen wieder im Schutz der Baubude.
Da sagt Vater: „Ich will dir die Geschichte von der Kampfgruppe zu Ende
erzählen.“
Andreas sagt: „H ast du versprochen.“
Vater nickt. „D as war gestern eine Übung. Wir lauerten lange im Wald.
Unsere Ausdauer wurde auf eine harte Probe gestellt. Dann aber marschier­
ten wir durch den Wald über sumpfige Wiesen. Wir kamen nur schwer
vorwärts. Wir marschierten bis zum Schießplatz. Dort schossen wir. Der
Beste von unserer Kompanie war Martin, der jetzt dort oben auf unserem
Kran herumklettert. Martin ist ein ganz toller Bursche, Andreas. Als ich ihn
gestern lobte, hat er gelacht. ,Siehst du, Meister', hat er zu mir gesagt, ,bei
uns kommt keiner durch, da kann sein, was will.' Er ist ein guter Kranführer,
unser Martin.“ Andreas tritt ein bißchen aus dem Schutz der Bretterbude
heraus. Er schaut zum Kran hoch. In den Eisenverstrebungen heult der
Sturm. Er kann aber nichts mehr anrichten. Martin, Vater, Rolf und auch
Andreas sind hier, passen gut auf, daß der Sturm nichts anrichten kann.
Vater holt eine Tüte Hustenbonbons aus der Tasche. „Willst du?“ Andreas
ißt Hustenbonbons für sein Leben gern.
Vater sagt: „Wir gehen heute noch in den Tierpark, Andreas. D a kann
kommen, was will. Und unsere Mama nehmen wir mit. Wir trinken Kaffee
und du süßen Kakao. Und einen großen Berg Kuchen essen wir. Das haben
wir uns verdient.“
„Steht der Kran jetzt ganz fest?“ fragt Andreas.
„Der steht fest. Den wirft nichts um. Wir sind ja da und passen auf.“

Günter Görlich

108
Vom dummen Iwanuschka

Es war einmal ein dummer Iwanuschka, ein hübscher Bursch, doch was er
auch tat, es ging ihm daneben, gar nicht wie bei anderen Leuten.
Ein Bauer nahm ihn als Knecht, und als der Bauer mit seiner Frau in die
Stadt wollte, sprach die Frau zu Iwanuschka: „D u bleibst jetzt mit den
Kindern allein, paß auf sie auf und gib ihnen zu essen.“
„Was denn?“ fragte Iwanuschka.
„Nimm Wasser, Mehl und Kartoffeln, die schneidest du klein und kochst
Suppe daraus.“
Der Bauer aber befahl ihm: „H ab’ die Tür im Auge, daß die Kinder nicht
in den Wald laufen!“
Der Bauer fuhr mit seiner Frau davon, Iwanuschka aber stieg zum Schlaf­
boden hinauf, weckte die Kinder, holte sie herunter, setzte sich hinter sie und
sprach: „So, jetzt paß ich auf euch auf.“ Eine Zeitlang saßen die Kinder auf
dem Fußboden, dann verlangten sie was zu essen.
Iwanuschka schleppte einen Kübel Wasser ins Haus, schüttete einen halben
Sack Mehl und einen Eimer Kartoffeln hinein, rührte mit dem Tragholz um
und überlegte laut: „Wen sollte ich doch kleinschneiden?“
Die Kinder hörten es und erschraken.
„Vielleicht will er uns kleinschneiden?“
Und sie schlüpften aus dem Haus.
Iwanuschka guckte ihnen hinterher, kratzte sich den Nacken und sagte
nachdenklich: „Wie soll ich jetzt auf sie aufpassen? Außerdem muß ich die
Tür im Auge haben, damit sie nicht wegläuft.“ Er guckte in den Kübel und
sprach: „D u koche nur, Suppe, ich geh inzwischen auf die Kinder aufpas­
sen.“
Er hob die Tür aus den Angeln, nahm sie auf die Schultern und ging in den
Wald.
Plötzlich kam ihm der Bär entgegen, er brummte verwundert: „He, du,
warum schleppst du Holz in den Wald?“
Iwanuschka erzählte ihm, was geschehen war. Der Bär setzte sich auf die
Hintertatzen und lachte schallend.
„Was bist du doch für ein Dummkopf! Dafür freß ich dich jetzt!“
Iwanuschka aber sprach: „Friß lieber die Kinder, damit sie das nächste Mal
auf die Eltern hören und nicht in den Wald laufen.“ D a lachte der Bär noch
lauter, ja, er kullerte vor Lachen über die Erde.
„So was*von Dummbart hab ich noch nie gesehen! Komm mit, ich will dich
meiner Frau zeigen.“
Er führte Iwanuschka zu seiner Höhle. Iwanuschka ging mit, und die Tür
stieß gegen die Kiefernbäume.
„So wirf sie doch weg!“ sagte der Bär.

109
„Nein, ich muß Wort halten, ich hab doch versprochen, sie im Auge zu haben,
und das tu ich auch.“
Sie kamen in die Höhle. Der Bär sagte zu seiner Frau: „Sieh mal, Mascha,
was für einen Tölpel ich mitbringe! Zum Totlachen ist der!“
Iwanuschka aber fragte die Bärenfrau: „Tante, hast du die Kinderchen nicht
gesehen?“
„Ja, meine, die sind zu Hause und schlafen.“
„Zeig sie mir doch mal. Vielleicht sind es meine?“
Die Bärin zeigte ihm ihre drei Jungen.
„Nein, das sind sie nicht“ , sagte er. „Ich hatte nur zwei.“
Da sah auch die Bärenfrau, wie einfältig er war, und sie lachte.
„Aber du hattest doch Menschenkinder!“
„D as schon“ , sprach Iwanuschka, „aber halte das mal auseinander, wenn sie
noch so klein sind.“
„D u bist ja ein Spaßvogel!“ rief die Bärin verwundert, dann sagte sie zu
ihrem Mann: „Michailo Potapytsch, wir werden ihn nicht fressen, soll er
lieber als Knecht bei uns bleiben.“
„N a schön“ , willigte der Bär ein, „er ist zwar ein Mensch, aber doch recht
harmlos.“
Da gab die Bärenfrau Iwanuschka ein Bastkörbchen und befahl ihm: „Los,
geh Waldhimbeeren sammeln. Wenn meine Kinderchen aufwachen, will ich
ihnen was Leckeres zu futtern geben.“
„G ut, das kann ich machen!“ sagte Iwanuschka. „Aber ihr müßt auf die Tür
aufpassen.“
Iwanuschka ging zu einem Himbeergestrüpp im Wald, sammelte das
Körbchen voll Beeren, aß sich selber satt, kehrte dann zu den Bären zurück
und sang aus vollem Halse: „Ach, sind sie tölpisch, die Herrgottspferdchen!
Dagegen ganz hurtig — Eidechs und Emschen!“
Er kam in die Höhle und rief: „D a sind sie, die Himbeeren!“
Die kleinen Bären eilten zu dem Körbchen, brummten, stießen einander,
schlugen Purzelbäume, so sehr freuten sie sich!
Iwanuschka aber schaute sie an und sprach: „Ach je, wie schade, daß ich
kein Bär bin, dann hätte ich jetzt Kinder!“
Der Bär und seine Frau lachten.
„E i du liebe Güte!“ brummte der Bär. „M it ihm kann man nicht leben, da
stirbt man ja vor Lachen!“
„Hört zu“ , sagte Iwanuschka, „paßt ihr hier auf die Tür auf, und ich gehe
die Kinderchen suchen, sonst krieg ich’s mit dem Bauern zu tun!'“
Da bat die Bärin ihren Mann: „Mischa, hilf ihm doch!“
„Mach ich“ , willigte der Bär ein, „er ist zu ulkig!“

110
Der Bär und Iwanuschka gingen die Waldwege endang und unterhielten sich
wie gute Freunde.
„Nein, was bist du doch dumm!“ sagte der Bär verwundert.
Iwanuschka aber fragte ihn: „Und du, bist du klug?“
„Ich?“
„ Ja doch!“
„Ich weiß nicht.“
„Ich weiß auch nicht. Bist du böse?“
„Nein, warum?“
„Ich meine, wer böse ist, der ist auch dumm. Ich, siehst du, bin auch nicht
böse. Also sind wir beide nicht dumm, du und ich!“ „Sieh einer an, wie du
das hingekriegt hast!“ wunderte sich der Bär. Plötzlich sahen sie unter einem
Busch zwei Kinder sitzen und schlafen.
„D as sind wohl deine?“ fragte der Bär.
„Ich weiß nicht“ , sprach Iwanuschka, „ich muß sie fragen. Meine, die hatten
Hunger.“
Er weckte die Kinder und fragte: „H abt ihr Hunger?“
„Schon lange!“ riefen sie.
„N a bitte“ , sagte Iwanuschka, „also sind es meine! Ich führe sie jetzt ins
Dorf, und du, Onkel, bring bitte die Tür hin, denn ich hab keine Zeit, ich
muß noch Suppe kochen.“
„N a schön“ , sagte der Bär. „Ich bring sie dir hin.“
Iwanuschka ging hinfer den Kindern her, paßte auf sie auf, wie ihm befohlen
war, und sang dazu:
„Ach, ich wag es kaum zu sagen:
Käfer tun jetzt Hasen jagen,
unterm Busch dort sitzt ein Fuchs,
staunt nur über diesen Jux.“
Er kam in die Hütte, da war seine Herrschaft schon aus der Stadt zurück.
Mitten in der Stube der Kübel, bis obenhin voll Wasser, Kartoffeln und Mehl
hineingeschüttet, die Kinder nicht da, die Tür verschwunden.
Der Bauer und seine Frau saßen auf der Bank und weinten bitterlich.
„Warum weint ihr denn?“ fragte Iwanuschka.
Da erblickten sie ihre Kinder, sie freuten sich sehr und umarmten sie, dann
zeigten sie auf die Kocherei im Kübel und fragten Iwanuschka: „Was hast
du da gAnacht?“
„Suppe!“
„Aber doch nicht so!“
„Woher soll ich wissen, wie man’s macht?“
„Und wo ist die Tür geblieben?“

111
„D ie wird gleich gebracht. Da ist sie schon!“
Der Bauer und seine Frau schauten zum Fenster hinaus. D a kam der Bär
die Straße entlang und schleppte die Tür. Die Leute liefen vor ihm nach allen
Seiten auseinander, kletterten auf Dächer und Bäume, die Hunde erschraken
und blieben vor Angst in Flechtzäunen und Hoftoren stecken, nur ein rot­
bunter Hahn stand mutig mitten auf der Straße und krähte den Bären an:
„Pick-dich-ins-Kniieee!“
Maxim Gorki

112
Der kleine häßliche Vogel

Es war einmal ein kleiner Vogel. Er war häßlich. Noch häßlicher als
schmutziger Schnee. Er saß allein auf einem Baum. Der war alt und hatte
keine Blätter mehr. In den schönen grünen Baumkronen saßen die anderen
Vögel. Und wenn der kleine Vogel zu ihnen wollte, da gab es großes Geschrei.
Er war wirklich ein häßlicher Vogel. Selbst die Hunde liefen fort, wenn sie
ihn sahen. So saß er allein auf seinem Baum, und manchmal weinte er und
sagte: „Ach, wäre ich doch ein schöner Vogel. Wenn man häßlich ist, ist das
Leben häßlich. Und wenn man schön ist, ist das Leben schön. Ach, ich armer,
häßlicher kleiner Vogel.“
Aber er sagte es ganz leise. Denn niemand sollte ihn hören. Nur nachts, wenn
die anderen Vögel schliefen, machte er den Schnabel auf und sang ganz leise,
damit er die anderen in ihren Nestern nicht weckte. Und das klang so schön,
daß die Gräser unter dem alten Baum sich im Schlaf hin und her wiegten
und daß die Sterne die Wolken fortschoben und zu ihm hinabschauten.
Der Mond aber jammerte und sagte: „Ach, was für ein Unglück. Warum
bin ich gerade jetzt nur halb. Einen so schönen Vogel habe ich noch nie
gehört.“ Und er blieb stehen und wollte gar nicht weiter über den Himmel
gehen und sagte immerfort: „Was muß das nur für ein schöner Vogel sein,
wenn der so schön singt. Nein, so ein schöner Vogel.“
Es war ein alter Mond. Und deswegen sagte er immer dasselbe. Aber der
kleine Vogel hörte es gern. Und weil soviel Freude in ihm war, sang er noch
schöner. Die beiden verstanden sich ganz gut. Der Mond und der Vogel. Ich
glaube, sie liebten sich. Wenn der Mond fortging, wurde der kleine Vogel ganz
stumm. So eine Sehnsucht hatte er.
So kam es, daß die Sonne den kleinen Vogel nie hören konnte. Und sie hätte
ihn so gern gehört. Denn wenn der Mond ihr für kurze Zeit begegnete,
erzählte er, was für einen schönen Vogel er doch gehört hätte. Er erzählte
jeden Tag dasselbe. Er war wirklich ein alter Mond.
Die Sonne aber wurde von Tag zu Tag trauriger. „Ach, wäre ich doch keine
Sonne“ , sagte sie. „Ein Mond hat es viel besser.“ Und wenn sie sich für den
Tag schön machte, sah sie in den Spiegel und sagte: „Was nützt mir all die
Schönheit, wenn ich das Lied nicht hören kann. Ich werde sterben und habe
den kleinen Vogel nicht gehört.“
Und weil die Sonne traurig war, war auch der Tag traurig. Er wickelte sich
in nassen Nebel und nieselte vor sich hin. Und weil der Tag traurig war,
waren auch die Bäume traurig und die Häuser und die Vögel und die Drähte
und die Antennen. Es war überhaupt eine traurige Welt. So konnte es nicht
weitergehen.
„Flieg durch die Wolken“ , sagten die Vögel zum Habicht, „und frag die
Sonne, was los ist. Schließlich ist Sommer. Und wenn Sommer ist, ist Sommer.

8 113
Und da hat sie sich daran zu halten. Wie sollen unsere Jungen fliegen lernen,
wenn sie solche verrückten Sachen macht. Nein, so was. Was die sich nur
denkt?“
Und der Habicht flog durch die Wolken und fragte die Sonne: „Was ist mit
dir los? Schließlich ist Sommer. Und wenn Sommer ist, ist Sommer. Wie sollen
unsere Jungen fliegen lernen, wenn du solche verrückten Sachen machst?“
„Ach“ , sagte die Sonne. „Ich habe ein krankes Herz und werde sterben.“
„Ja, ja“ , sagte der Habicht und machte ein trauriges Gesicht. Denn er war
ein kluger Habicht und dachte, wenn die Sonne jammert, muß ich mit­
jammern, das schmeichelt ihr, denn sie ist eine schöne Sonne.
„Wenn ich sterbe, müßt ihr auch sterben“ , sagte die Sonne.
„Ja, ja“ , sagte der Habicht. Und sein Gesicht war noch trauriger.
Was für ein dummer Habicht, dachte die Sonne. Dem macht das Sterben
nichts aus. „Aber ich will nicht sterben“ , sagte sie.
„Ich auch nicht“ , sagte der Habicht, „meine Jungen können noch nicht
fliegen.“
„Was redest du dann so dummes Zeug“ , sagte die Sonne.
Und der Habicht sagte: „Ja, ja. Was rede ich nur für dummes Zeug. Ent­
schuldige, ich bin ein dummer Habicht. Lassen wir also das Sterben, und
machen wir wieder unsere Arbeit. Mach du den Tag schön, und wir wollen
unsere Jungen fliegen lehren.“
„D as kann ich nicht“ , sagte die Sonne. „Mein Herz ist krank und meine
Sehnsucht zu groß. Ich muß den kleinen Vogel singen hören. Dann kann ich
wieder den Tag schön machen.“
„Wenn’s weiter nichts ist“ , sagte der Habicht.
„Ach, wie willst du es wohl besorgen?“ sagte die Sonne. „D u kannst ja selbst
nicht einmal singen. Alle Mäuse laufen in ihre Löcher, wenn sie dich schreien
hören. Wie willst du das wohl besorgen?“
„Laß mich nur machen“ , sagte der Habicht, „wenn die Erde sich einmal
gedreht hat, hörst du den kleinen Vogel singen.“ Und er flog durch die
Wolken zurück und rief alle Vögel, und sie machten eine Versammlung. Auch
der kleine Vogel kam. Denn er dachte: E s muß wohl eine wichtige Versamm­
lung sein, wenn sie von überallher kommen, vom Wald und vom Fluß, von
den Bergen und vom Meer, vom Feld und vom Sumpfgras. D a darf ich nicht
fehlen, bei einer so wichtigen Versammlung. Und er kam und sagte: „Guten
T ag.“ Aber keiner hörte ihn. Nur der Pfau spreizte seine Federn und schrie:
„Was willst du denn hier, du häßliches Ding? Man wird ja, nein, man wird ja,
ganz melancholisch wird man.“
„Nun laßt ihn schon“ , sagte der Habicht, „schließlich ist er ja auch ein
Vogel.“ Und da der Habicht zur Sonne geflogen war und Rat wußte, wie

114
sie wieder zum Leuchten gebracht werden sollte, hörte man auf ihn. Und der
kleine Vogel blieb da. Er setzte sich ganz nach hinten unter eine Distel und
bedeckte mit den kurzen Flügeln seine Beine, denn er fror auf der kalten
Erde.
Der Habicht aber fing an.
„Vögel“ , rief er, und es wurde ganz still. Man hörte, wie die Blätter an­
einander rieben, so still war es. Das gefiel dem Habicht, und er rief gleich
noch einmal: „Vögel!“ Aber es konnte nicht mehr stiller werden. Den
Blättern war es gleich, was er rief. „D ie Sonne hat ein krankes Herz“ , rief
der Habicht, „und ihre Sehnsucht ist zu groß. Sie kann erst dann den Tag
wieder schön machen, wenn sie den kleinen Vogel hat singen hören.“
„Welchen kleinen Vogel?“ fragte die Lerche. „E s gibt so viele kleine
Vögel.“
„Ich weiß es auch nicht“ , antwortete der Habicht. „Wir müssen eben jeden
singen lassen.“
Und alle kleinen Vögel mußten vortreten und ihr Lied singen. Die Meise sang
und der Fink und das Rotkehlchen und der Zaunkönig. Selbst der Spatz
mußte vortreten. Aber all diese Lieder kannte die Sonne Schon. Ihre Sehn­
sucht blieb und so auch ihre Traurigkeit. Und der Tag nieselte weiter vor
sich hin. E s war wirklich ein trauriger Tag. Nichts wollte helfen. Und die
Vögel fingen an, den Habicht zu beschimpfen, weil sie glaubten, er hätte sie
betrogen. Ja, der Adler war so zornig, daß er zum Habicht hinflog, ihn packte
und ihn töten wollte.
„Töte mich nicht“ , bat der Habicht. „E s ist alles so, wie ich es gesagt habe.
Wenn du mich tötest, ist alles verloren.“
Aber der Adler hörte nicht auf das, was der Habicht sagte. Er flog mit ihm
auf einen hohen Felsen und wollte den Habicht in das Meer stürzen.
Der Habicht hatte große Angst. „G ib mir die Stunde Zeit bis zum Abend“ ,
bat er. „Wenn ich bis dann den kleinen Vogel nicht gefunden habe, magst
du mich töten.“
„G u t“ , sagte der Adler. „Ich gebe dir eine Stunde. Hast du bis dahin den
Vogel nicht gefunden, stürze ich dich ins Meer.“ Und er brachte den Habicht
wieder zurück zu den anderen Vögeln.
Der Habicht setzte sich auf einen Stein und dachte nach. Aber sosehr er auch
nachdachte, es fiel ihm nichts ein. Seine scharfen Augen gingen noch einmal
über alle Vögel hin. Alle hatten sie gesungen, und doch war die Sonne fort­
geblieben. Er sah auch den häßlichen kleinen Vogel unter der Distel. Der
hatte nicht gesungen. Der kann mir auch nicht helfen, dachte der Habicht,
ein Spatz singt schöner als der. Es blieb nur noch wenig Zeit. Der Habicht
ließ seine Flügel fallen, senkte den Kopf und wartete auf seinen Tod.

8* 115
Der kleine Vogel sah, wie der Habicht dasaß, und es wollte ihm das Herz
abdrücken.
Der Schmerz des Habichts bereitete auch ihm Schmerz. Er flog unter seiner
Distel hervor und setzte sich zum Habicht auf den Stein. „Sei nicht traurig“ ,
sagte er.
„Wie soll ich nicht traurig sein“ , sagte der Habicht. „Ich habe den kleinen
Vogel nicht gefunden, der die Sonne zum Leuchten bringt. Und in wenigen
Minuten wird mich der Adler ins Meer stürzen.“
„Wie kann ich dir helfen?“ fragte der kleine Vogel.
„E s kann mir keiner mehr helfen“ , antwortete der Habicht. „Alle Vögel
haben schon gesungen, und ich weiß keinen Ausweg mehr.“
„Ich habe noch nicht gesungen“ , sagte der kleine Vogel.
„Ach du“ , sagte der Habicht. „Was willst du schon singen?
Du bist so häßlich, wie kannst du da die Sonne zum Leuchten bringen?“
„Laß es mich versuchen“ , sagte der kleine Vogel.
Ich muß so und so sterben, dachte der Habicht. Also soll er singen.
Und der kleine Vogel saß auf dem Stein neben dem Habicht und sang. So
schön sang er, daß sich die Wolken zerteilten und die Sonne auf die Welt
schien. Das Gras hörte auf, sich zu wiegen, und die Blätter hörten auf, sich
aneinander zu reiben.
Alle Vögel saßen da und hielten den Kopf zur Seite.
Der Habicht mußte weinen. So glücklich war er, und er schämte sich wohl
auch. Noch glücklicher aber war der kleine, häßliche Vogel. Er war wirklich
ein häßlicher Vogel.
Werner Heiduczek

116
Jana und der kleine Stern
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Jana. Und es war einmal ein
kleiner Stern, der hatte keinen Namen. Jeden Abend, wenn das Mädchen
schlafen ging, blickte er durch ihr Fenster. Und sie sagte: „G ute Nacht,
kleiner Stern.“ Und er zwinkerte ihr mit den Augen zu.
Einmal aber, als alles schlief, wurde Jana wach, und der kleine Stern saß auf
ihrem Bett.
„Was machst du hier, kleiner Stern?“ fragte sie.
„O h“ , sagte er, „ich habe mich zu weit aus meinem Fenster gelehnt, um dich
sehen zu können, und da bin ich hinuntergefallen, geradewegs in dein
Zimmer.“
„D as ist fein“ , sagte das kleine Mädchen, „jetzt bleibst du immer bei mir.“
Und sie wollte ihn nehmen und unter ihre Bettdecke legen, denn er zitterte
gar schrecklich.
„Nein, nein“ , rief da der kleine Stern, „heute nacht noch muß ich wieder
hinauf, denn wenn der Tag kommt und ich bin noch hier, werde ich blind.“
Es half nicht, daß das kleine Mädchen traurig wurde. Der kleine Stern setzte
sich aufs Fensterbrett und sprang ein Stückchen in die Höh, denn er wollte
zurück an den dunklen Himmel fallen. Aber sosehr er auch all seine Kräfte
anstrengte, er fiel immer wieder auf das Fensterbrett zurück. Und schließlich
war er so schwach und müde, daß er da kauern blieb und zu weinen begann.
„Weine nicht, kleiner Stern“ , rief da Jana und sprang aus ihrem Bett.
Sie nahm den kleinen Stern in beide Hände. „Ich werde dich jetzt hoch­
werfen“ , sagte sie. „Paß auf.“
Und sie warf ihn hoch, so hoch sie nur konnte.
„Jetzt fliegst du“ , rief sie. „Fall nicht wieder herunter, kleiner Stern.“
Aber schon saß er wieder auf dem Fensterbrett.
„Noch einmal“ , sagte Jana.
„Ja, noch einmal“ , sagte der kleine Stern.
Und das kleine Mädchen versuchte es ein zweites Mal, und wieder und
wieder, bis auch sie sich erschöpft auf ihr Bett setzte. So sehr weinte der
kleine Stern, daß die Tränen ihn ganz blaß machten.
„Laß uns nachdenken“ , sagte Jana. Und sie dachte nach.
„Ich hab’s“ , rief sie. „Wir laufen zur Meise.“ Sie nahm den kleinen Stern
unter ihren Arm und lief mit ihm zur Meise im Garten.
„Meise“ , rief sie.
„Warum weckst du mich, Jan a?“ sagte die Meise.
„Hier ist der kleine Stern“ , sagte Jana. „E r hat sich zu weit aus seinem
Fenster gebeugt, um mich zu sehen, und da ist er zu mir heruntergefallen,
geradewegs in mein Zimmer. Und nun muß er wieder hinauf, denn er wird
blind, wenn der Tag kommt und er ist noch hier. Flieg mit ihm hinauf.“

117
„D as kann ich nicht“ , sagte die Meise. „Ich bin zu schwach. Geh zur Lerche
auf dem Feld.“
Und Jana nahm den kleinen Stern unter ihren Arm und lief mit ihm zur
Lerche auf dem Feld.
„Lerche“ , rief sie.
„Warum weckst du mich, Jan a?“ sagte die Lerche.
„Hier ist der kleine Stern“ , sagte Jana. „E r hat sich zu weit aus seinem
Fenster gebeugt, um mich zu sehen, und da ist er zu mir heruntergefallen,
geradewegs in mein Zimmer. Und nun muß er wieder wieder hinauf, denn
er wird blind, wenn der Tag kommt und er ist noch hier. Flieg mit ihm
hinauf.“
„D as kann ich nicht“ , sagte die Lerche. „Ich bin zu schwach. Geh zum Adler
auf dem Fels.“
Und Jana nahm den kleinen Stern unter ihren Arm und lief mit ihm zum
Adler auf dem Fels.
„Adlet“ , rief sie.
„Warum weckst du mich, Jana?“ sagte der Adler.
„Hier ist der kleine Stern“ , sagte Jana. „E r hat sich zu weit aus seinem
Fenster gebeugt, um mich zu sehen, und da ist er zu mir heruntergefallen,
geradewegs in mein Zimmer. Und nun muß er wieder hinauf, denn er wird
blind, wenn der Tag kommt und er ist noch hier. Flieg mit ihm hinauf.“
„D as kann ich nicht“ , sagte der Adler. „Ich bin zu schwach. Geh zum Flieger
vor der Stadt.“
„Ich bin müde“ , sagte Jana zum kleinen Stern, „und die Füße tun mir weh.
Laß uns ein wenig ausruhen.“
„Nein“ , bat der kleine Stern, „laß uns eilen, der Tag wird gleich aus dem
Wasser steigen; und wenn er kommt, werde ich blind.“
Und Jana nahm den kleinen Stern wieder unter ihren Arm.
„Setzt euch auf meinen Rücken“ , sagte der Adler. „Ich werde euch zum
Flieger vor der Stadt bringen.“
Jana und der kleine Stern taten, wie ihnen geheißen, und hielten sich an den
Federn des Adlers fest, um während des Fluges nicht hinunterzufallen.
„Hier ist es“ , sagte der Adler und ließ sich auf die Erde nieder.
„Flieger“ , rief Jana.
„Warum weckst du mich, Jan a?“ sagte der Flieger.
„Hier ist der kleine Stern“ , sagte Jana. „E r hat sich zu weit aus seinem
Fenster gebeugt, um mich zu sehen, und da ist er zu mir heruntergefallen,
geradewegs in mein Zimmer. Und nun muß er wieder hinauf, denn er wird
blind, wenn der Tag kommt und er ist noch hier. Flieg mit ihm hinauf.“
„D as kann ich nicht“ , sagte der Flieger. „Aber mein Bruder, der Kosmonaut,

118
der hinter der Stadt wohnt und hinterm Feld und hinterm Wald, er kann
den kleinen Stern wieder an den dunklen Himmel bringen. Setzt euch in mein
Flugzeug. Ich fliege mit euch zu meinem Bruder.“
Jana nahm den kleinen Stern und setzte sich mit ihm neben den Flieger.
„Hab Dank, Adler“ , rief sie.
Und der Flieger flog mit Jana und dem kleinen Stern hinter die Stadt und
hinter das Feld und hinter den Wald zu seinem Bruder, dem Kosmonauten.
„Hier ist es“ , sagte der Flieger und ließ das Flugzeug auf die Erde nieder.
„Kosmonaut“ , rief Jana.
„Warum weckst du mich, Jan a?“ sagte der Kosmonaut.
„Hier ist der kleine Stern“ , sagte Jana. „E r hat sich zu weit aus seinem
Fenster gebeugt, um mich zu sehen, und da ist er zu mir heruntergefallen,
geradewegs in mein Zimmer. Und nun muß er wieder hinauf, denn er wird
blind, wenn der Tag kommt und er ist noch hier. Flieg mit ihm hinauf.“
„Leg dich zu mir in die Rakete, kleiner Stern“ , sagte der Kosmonaut. „Ich
werde dich zurück an den dunklen Himmel bringen.“ — Und der kleine Stern
legte sich neben den Kosmonauten in die Rakete.
„A uf Wiedersehen, Jana“ , sagte der kleine Stern. „Hab Dank. Und grüß die
Meise und die Lerche und den Adler. Auf Wiedersehen, Flieger“ , rief er.
„A uf Wiedersehen, kleiner Stern“ , rief der Flieger. „G ib acht, daß du nicht
wieder herunterfällst.“
Und die Rakete flog hoch an den dunklen Himmel.
Als der Tag schon lange aus dem Wasser gestiegen war und die Sonne Janas
Bett wärmte, kam die Mutter ins Zimmer und sagte:
„D u willst heute wohl gar nicht wach werden, Jana.“
„Laß mich noch ein wenig schlafen“ , sagte Jana. „D er kleine Stern war heute
nacht in meinem Zimmer. Ich habe ihn zur Meise getragen und zur Lerche
und zum Adler. Der Adler hat uns zum Flieger gebracht und der Flieger zu
seinem Bruder, dem Kosmonauten. Denn der kleine Stern wird blind, wenn
der Tag kommt und er ist noch hier.“
Die Mutter lachte, nahm Jana auf ihre Arme und hob sie aus dem Bett.
„D u hast geträumt“ , sagte sie.
„Ich habe nicht geträumt“ , sagte Jana. „Warte, wenn der Abend kommt.“
Und als der Abend kam und die Mutter sie zu Bett brachte, zeigte Jana hoch
zum Himmel und sagte: „Siehst du den kleinen Stern? D a ist er wieder. Der
Kosmonaut hat ihn mit der Rakete zurückgebracht. — Gute Nacht, kleiner
Stern“ , sagte sie.
Und der kleine Stern zwinkerte Jana mit den Augen zu.

'Werner Heiduczek

119
Vom Hahn, der auszog, Hofmarschall zu werden

E s war einmal ein Hahn, und er lebte in Spanien.


Jeden Morgen, bevor die Sonne aufging, stieg er von seiner Leiter, reckte den
Hals zum grauen Himmel und krähte. Der Hund kroch aus seiner Hütte,
der Bauer stieg aus dem Bett, und die Kühe brüllten, denn sie wollten
gemolken sein. So begann der Tag, und alle waren zufrieden.
Es war ein schöner Hahn. Die Federn seines Schwanzes waren lang und bunt.
Und wenn die Sonne auf seinen Kamm schien, leuchtete dieser wie Gold. So
freute sich ein jeder über das schöne Tier. Das Huhn, dem er zugehörte,
brütete ihm viele Küken aus, und der Hahn scharrte den ganzen Tag nach
Körnern, um die Seinen satt zu machen.
Nun geschah es, daß nach einer langen trockenen Zeit ein starker Regen fiel.
Das Wasser überschwemmte den Hof. Der Hahn saß auf seiner Leiter und
wartete auf die Sonne, daß sie die Erde trockne. Und als es soweit war, daß
die Sonne auf das Wasser schien, leuchtete der Tag in vielen Farben, und
alles auf dem Hof lebte im Spiegel des Wassers zweimal.
Der Hahn sah von seiner Leiter, erblickte sein Spiegelbild und sagte zum
Huhn: „Was für einen schönen Hahn hat uns der Regen gebracht.“ Und er
neigte seinen Kopf und grüßte sein Ebenbild. Und da dieses ein Gleiches tat,
sagte der Hahn: „Was für ein höflicher Hahn.“ Und er reckte ihm seinen
Hals zu und grüßte ihn mit lautem Krähen.
„Mein lieber Mann“ , sagte das Huhn, „was du dort siehst, bist du selbst.
In ganz Spanien gibt es keinen schöneren Hahn als dich.“
Als der Hahn das hörte, schaute er immer und immer wieder auf den Spiegel
des Wassers und konnte sich nicht satt sehen an seiner Schönheit.
Zuletzt stieg er auf die oberste Sprosse der Leiter, denn er meinte, einen so
schönen Hahn müßten alle sehen.
Und da saß er den ganzen Tag und die ganze Nacht bis zum Morgen. Da
er aber den Schlaf versäumt hatte, versäumte er auch das Krähen, und das
ganze Dorf schlief bis in den hellen Tag. Die Kühe brüllten vor Schmerz;
denn ihre Milch drückte. Der Bäcker hatte sein Brot nicht gebacken und der
Bauer seine Pferde nicht gefüttert.
Der Bauer war zornig über den Hahn. D a er ihn aber so müde auf der Leiter
sitzen sah, meinte er, das Tier sei krank, holte es in seine Küche und gab
ihm die besten Körner, die sich fanden, und das klarste Wasser.
Der Hahn glaubte nicht anders, als der Bauer erwiese ihm damit seine
Hochachtung, fraß die Körner, trank das Wasser und begab sich wieder auf
den Hof. Alsgleich flog er dort auf den Brunnen und suchte im Wasser sein
Bild. Und als es ihm entgegensah, verneigte er sich und ergötzte sich an seiner
Schönheit. Das Huhn aber scharrte unentwegt den ganzen Tag, um seine
Küken satt zu machen. Und wenn es bat: „Ach, lieber Hahn, so hilf mir doch!“ ,

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so hörte er es nicht. So ging es eine Zeit. Eines Tages rief der Bauer seine Frau
und sagte: „Ich bin es leid. Der Hahn ist zu nichts nutze, so wollen wir
ihn schlachten und eine Suppe kochen.“
Die Frau aber dauerte das schöne Tier, und sie antwortete: „Lieber Mann,
der Hahn hat uns treu gedient, und hat ihn eine böse Krankheit befallen,
so wollen wir ihn dafür nicht auch noch strafen. Mag er seine Tage auf
unserem Hof verbringen. Reicht’s für uns, so reicht es auch für ihn.“
So lebte der Hahn dahin, saß auf dem Brunnenrand und schaute unentwegt
in das Wasser, das ihm sein Bild zurückwarf. Und da er sich wenig rührte,
wurde er steif und fett. Seine Federn verloren ihren Glanz, und sein Kamm
ward gelb und welk.
Niemand beachtete das närrische Tier weiter, nur dem Huhn wollte es das
Herz brechen; denn es liebte den Hahn, ob er nun schön war oder stumpf
und grau. Was es an Würmern und Körnern fand, gab es seinen Küken, und
was die nicht fraßen, brachte sie dem Hahn, der es nahm ohne den geringsten
Dank.
Nun hatte der König von Spanien seinen Hof marschall in den Kerker ge­
worfen, da ihm dieser einige Säcke Gold durchgebracht hatte. Und er schickte
Boten ins Land, um ausrufen zu lassen, wer klug sei und stark und zudem
schön, der möge an den Hof kommen. Gefiele er dem König, wolle er ihn
zum Hofmarschall machen.
Das hörte der Hahn, und er sprach zum Huhn: „Was der König fordert,
erfülle ich in hohem Maße. Wenn ich des Morgens krähe, steigt der Bauer
aus dem Bett, der Bäcker bäckt Brot, und der Müller mahlt Mehl. Also bin
ich stark, denn sie gehorchen mir. Klug bin ich nicht minder. Du scharrst
den ganzen Tag nach Körnern, die Pferde schleppen den Pflug, und die
Rinder ziehen den Karren des Bauern. Ich jedoch sitze im Schatten des
Brunnens und habe nicht weniger zu leben als ihr, die ihr euch schindet.
Niemand aber ist schöner in Spanien als ich. Ich werde zum König gehen
und sein Hofmarschall werden.
„Ach, lieber Hahn“ , sagte das Huhn, „du krähst nicht mehr, und trotzdem
bäckt der Bäcker das Brot, der Bauer steigt aus dem Bett, und der Müller
mahlt das Korn.
Was du ißt, verdienen andere, und deine Augen sind trübe geworden; denn
wären sie klar, würdest du im Wasser sehen, daß dein Kamm welk ist und
dein Kleid stumpf. Geh nicht an den Hof des Königs, es wird dir ein Übel
geschehen.“
Aber sosehr das Huhn auch bat und klagte, der Hahn schalt es ein dummes
Huhn und machte sich auf den Weg nach Madrid. D a weinte das Huhn einen
Tag lang und mit ihm die Küken. Das aber brachte den Hahn nicht zurück

121
und bewahrte ihn nicht vor der Gefahr, der er so töricht entgegenlief. So ging
das Huhn zum Huhn auf den Nachbarhof und sagte: „Mein Hahn ist aus­
gezogen, um Hofmarschall zu werden. Nimm, ich bitte dich, meine Küken
in deine Obhut, denn ich will ihm nachziehen, um ihn vor Schlimmem zu
schützen.“
Und das Huhn umarmte das Huhn, nahm die Küken in seine Obhut und
wünschte der Tapferen einen guten Weg.
Sie wanderte auf steinigen Wegen, durch hartes Gras und über kahle Berge.
Ihre Füße wurden bald wund und schmerzten. Aber das Huhn gönnte sich
keine Ruhe, fürchtete es doch, dem Hahn könnte indessen ein Leid geschehen.
Es nahm sich keine Zeit, nach Futter zu scharren, und trank während des
Laufens den Tau von den Blättern. D a erblickte das Huhn einen
wunderschönen roten Schmetterling, der in der Sonne auf einer Blume schlief.
Und da es hungrig war, packte es ihn mit dem Schnabel und wollte ihn
verschlingen.
„Liebes Huhn“ , bat da der Schmetterling, „es ist ein so schöner Tag. Die
Sonne gibt den Blumen ihre Wärme, und ich soll sterben, ich bitte dich, laß
mich leben, und ich will dir immer dankbar sein. Kommst du in Not, so will
ich dir helfen.“ „Ach“ , sagte das Huhn, „wie willst du armes Ding mir
helfen.“ Aber da der Schmetterling so innig bat und das Leben sosehr liebte,
setzte das Huhn ihn wieder auf seine Blume und zog hungrig weiter.
So kam es nach Toledo.
Die Geschäfte waren geschlossen und die Häuser leer wie die Straßen. Das
Huhn wunderte sich, wo wohl die Menschen dieser Stadt geblieben waren,
und es fragte ein Maultier, das an einen Pfahl gebunden war und traurig
dreinblickte, was das wohl zu bedeuten hätte.
„Mein Herr hat mich hier schon seit Stunden angebunden, um mit den
anderen aus der Stadt in die Arena zu gehen. Dort findet ein gar seltsamer
Kampf statt. Ein Hahn ist von weit her gekommen und hat verkündet, er
sei auf dem Weg nach Madrid, um Hofmarschall zu werden, aber zuvor wolle
er den wildesten Stier von Toledo im Kampf bezwingen. Und niemand will
sich dieses Schauspiel entgehen lassen.“ So sprach das Maultier.
„Ach, mein armer Hahn“ , klagte da das Huhn, „jetzt bist du des Todes.“
So schnell es seine Flügel trugen, flatterte es in die Arena, in der sich die
Menschen drängten. Sie lachten und schrien; denn soeben schritt der Hahn
auf den Kampfplatz, neigte sich zum Gruß nach allen Seiten, reckte dann
seinen Hals und krähte ein schwaches Krähen, zum Zeichen, daß er bereit
sei, den Stier zu empfangen.
Alsbald öffnete sich ein Tor, und mit wilden Sprüngen raste ein riesiger Stier
in das Rondell, schlug mit den Hörnern gegen die Bretterwand und

122
schleuderte den Sand hoch auf in die Menge. Als der Hahn den Stier erblickte,
verließ ihn der Mut und die Prahlsucht. Ach, dachte er, wäre ich doch auf
dem Hof bei meinem Huhn und könnte nach Körnern scharren, ich wollt’s
zufrieden sein.
Aber der Stier erfaßte ihn mit seinen Hörnern und schleuderte ihn so heftig
gegen die Holzumrandung, daß es wohl das Ende des Hahns gewesen wäre,
hätte er nicht vor Angst seine Flügel ausgebreitet, die dem Stoß seine Gewalt
nahmen.
Das Huhn, das alles mit ansehen mußte, rief in seiner Verzweiflung ein ums
andere Mal: „Ach, Schmetterling auf deiner Blume, wüßtest du, was meinem
Hahn geschieht, es würde dir das Herz brechen, wie mir.“
Und wie es das dreimal gerufen hatte, senkte sich ein großes rotes Tuch vom
Himmel, geradewegs vor die Augen des Stieres, und lockte ihn hierhin und
lockte ihn dahin und entwich, wenn er wild danach stieß. Es waren wohl
tausend rote Schmetterlinge und noch mehr, und sie umflatterten den Stier
so lange, bis er erschöpft zusammenbrach.
Der Hahn aber, als er das mächtige Tier in der Mitte des Kampfplatzes liegen
sah, flog auf eines seiner Hörner, um sich als Sieger ausrufen zu lassen.
Sein Kamm war zerrissen und einer seiner Flügel lahm. Aber er achtete nicht
darauf. „Ich habe den wildesten Stier von Toledo besiegt“ , rief er, „und
nichts soll mich jetzt hindern, Hofmarschall zu werden.“ Zur gleichen Stunde
machte er sich auf und hinkte nach Madrid.
Das Huhn stellte sich ihm in den Weg und bat: „Ach, lieber Hahn, besinne
dich. Du bist einmal mit dem Leben davongekommen, ein zweites Mal könnte
es weniger gut ausgehen. Die Küken warten zu Haus, und es wird Freude
in unserem Dorf sein, wenn du wieder jeden Morgen den Tag ankündigst.“
„Scher dich aus dem Weg“ , erwiderte der Hahn, „niemand hat dich geheißen,
mir zu folgen.“ Und er würdigte das Huhn weiter keines Blickes.
Dieses aber ließ nicht ab, dem Hahn zu folgen. Nachts jedoch verlor es seine
Spur und zog des Tags traurig weiter auf Madrid zu.
So kam es an das Ufer eines Flusses, ruhte eine Weile und trank das kühle
Wasser, denn die Sonne hatte es durstig gemacht. Dabei geriet ihm ein kleines
Fischlein in den Schnabel, und das Huhn wollte es verschlingen, denn es hatte
Hunger.
„Liebes Jduhn“ , sprach da das Fischlein, „es ist ein so schöner Tag, die Sonne
spielt im Wasser, und ich soll sterben. Ich bitte dich, laß mich leben, und
ich will dir immer dankbar sein. Kommst du in Not, so will ich dir helfen.“
„Ach“ , sagte das Huhn, „wie willst du kleines Ding mir helfen?“ Aber das
Fischlein bat so innig, daß das Huhn nicht vermochte, es zu töten. So ließ
es das Fischlein ins Wasser gleiten und ging hungrig weiter.

123
Indes hatte der Hahn Madrid erreicht und begab sich geradenwegs auf das
Schloß. Als die Wachen ihm den Zutritt verwehrten, rief er: „Ich habe den
wildesten Stier von Toledo besiegt, bin klug, wie es der König verlangt, und
schön wie kein zweiter in Spanien. Also führt mich zu ihm, damit er mich
zum Hofmarschall macht.“ Als die Wachen den Hahn solches sprechen
hörten, wollten sie ihn den Katzen zum Fraß werfen, meinten dann aber,
es könne nicht schaden, ihrem Herrn einen Spaß zu bereiten, gaben sich
ehrerbietig und geleiteten den Hahn vor den Thron des Königs.
„Dieser Hahn, o König“ , sagten die Soldaten, „gibt vor, der Stärkste,
Klügste und Schönste in ganz Spanien zu sein. Und er ist gekommen, wie
du hast ausrufen lassen, um Hofmarschall zu werden.“
Der König blickte auf das arg gerupfte und schmutzige Tier und sprach:
„Herr Hahn, ich zweifle nicht, daß Ihr nicht minder klug seid als schön. Wollt
Ihr mir noch Eure Stärke beweisen, dann sollt Ihr mein Hofmarschall
sein.“
„Mein Herr König“ , erwiderte der Hahn, „ich habe den wildesten Stier von
Toledo besiegt, aber wenn Ihr für meine Stärke einen weiteren Beweis ver­
langt, so gebietet, allen Hähnen in Spanien für diese Nacht die Schnäbel zu
stopfen. Ich werde des Morgens mit einem Ruf das ganze Land zur Arbeit
rufen.“
Der Vorschlag gefiel dem König, und er befahl, allen Hähnen in Spanien den
Schnabel zu stopfen.
Der Hahn aber stieg auf den höchsten Turm des Schlosses und brachte dort
die Nacht zu. Als sich diese dem Tag zuneigte, reckte der Hahn seinen Hals
und krähte, so laut es seine Kraft hergab. Aber da er all die Wochen und
Monate faul auf seinem Brunnen gesessen hatte, war seine Stimme so
schwach, daß ihn nicht einmal der Küchenjunge im Schloß hörte, der den
Koch zu wecken hatte. E s schliefen die Hunde in ihren Hütten, die Wächter
an ihren Toren, die Bauern in ihren Katen und die Bürger in ihren Häusern.
Ganz Spanien schlief drei Tage und drei Nächte, und wenn nicht ein ge­
waltiger Regen gekommen wäre mit Blitzen und Donner, so schliefe es noch
heute.
Der König war über den großsprecherischen Hahn so zornig, daß er befahl,
ihn im Fluß zu ertränken.
Also packten die Soldaten den Hahn und warfen ihn in den Fluß. Das Huhn
aber lief am Ufer auf und ab, sah den Hahn im Wasser versinken und rief
in seiner Verzweiflung, da es sonst niemand wußte, der ihm helfen konnte:
„Ach, Fischlein im fernen Fluß, wüßtest du, was meinem Hahn geschieht,
es würde dir das Herz brechen, wie mir.“ Und kaum hatte es das gerufen,
da bewegte sich das Wasser, als jagte es der Wind, und es schien, als wollte

124
es aus seinem Bett steigen. Hervor aber tauchte der Hahn und lief auf dem
Rücken von tausend kleinen Fischlein und noch mehr ans Ufer, wo er vor
Kälte zitterte und vor Angst in die Knie sank.
Das Huhn breitete seine Flügel aus, wärmte ihn und strich ihm die zerzausten
Federn glatt.
Sieben Wochen liefen beide von Madrid über Toledo in ihr Dorf zurück. Jedes
große Korn und jeden fetten Wurm, den der Hahn fand, gab er seinem Huhn.
Und jeden Morgen weckte er es mit seiner Stimme, die von Tag zu Tag
kräftiger wurde. Und als sie das Dorf erreichten, war es, als hätte der Hahn
nie seine Schönheit verloren.
Jeden Morgen, bevor die Sonne aufging, stieg er wieder von seiner Leiter,
reckte den Hals und kündigte den Tag an. Das Huhn brütete ihm viele
Küken aus, und der Hahn scharrte den ganzen Tag nach Körnern, um die
Seinen satt zu machen. Und ein jeder, der ihn sah, freute sich über das schöne
Tier.
Werner Heiduczek

125
Bohrmeister Benno

Benno wohnt in einem sehr großen Haus, in einer sehr großen Stadt. Gleich
neben dem Haus ist die Schule, und Benno geht schon in die erste Klasse.
Eines Tages kam ein Trecker mit einem grünen Wagen dran. Der grüne
Wagen hatte kleine Fenster, und hinter den Fenstern waren Gardinen mit
großen bunten Blumen zu sehen.
Vier Männer begannen einen Anhänger zu entladen. Benno schaute sich
genau an, was sie taten. Als alles aufgerichtet und miteinander verbunden
war, begann ein Motor zu tuckern. Einer der Männer legte einen langen Hebel
um. Am liebsten hätte es Benno getan.
Die große eiserne Röhre sauste herab. Sie blieb in der Erde stecken.
Die Männer sagten: „Alles in Ordnung!“
Und auch Benno sagte ganz leise: „Alles in Ordnung!“
Die Männer gaben sich die Hand und fuhren mit dem Trecker davon.
Einer blieb jedoch bei dem grünen Wagen. Dieser Mann war Max.
Er trug ein schwarzes Turnhemd und auf dem Kopf einen weißen Helm.
Wenn er frühstückte, nahm er den Helm ab, setzte sich auf die Stufen des
grünen Wagens und spießte dicke Wurststücke auf ein großes Taschenmesser.
Zum Schluß trank er eine ganze Flasche Milch auf einen Zug aus. Benno
stand ein paar Schritte entfernt und schaute zu.
Am nächsten Tag ging er dichter heran. „Ich bin Benno“ , sagte er.
„M ax“ , sagte der Mann und bot dem Jungen auf der Messerspitze eine
Wurstscheibe an.
„Arbeitest du hier allein?“ fragte Benno.
„D as schafft auch einer“ , sagte Max.
„Was arbeitest du denn?“ wollte Benno wissen.
„Ich bohre nach Wasser.“
Benno lachte. „D as brauchst du nicht. Wir haben Wasser in der Wohnung.
Soll ich dir welches holen?“
Max setzte die Milchflasche wieder hin, aus der er gerade trinken wollte.
„Und was machst du, wenn ein Rohrbruch ist und kein Wasser mehr
fließt?“
„Dann trinke ich Brause, und waschen muß ich mich auch nicht.“
„N a ja“ , sagte Benno, und er rieb sich das Ohrläppchen, was er immer tat,
wenn er nachdachte.
Max legte wieder den Hebel um. Das Rohr sauste herab. Wenn er es mit
straffem Seil wieder herauswinden ließ und drehte, fiel feuchter Sand heraus.
Bald war das Rohr in der Erde verschwunden.
Eine alte Frau kam von der Kaufhalle über den Bauplatz mit dem feuchten
Sand. Sie hatte einen zweirädrigen Karren mit einer dickgefüllten Tasche und
trug noch einen Korb. Die Räder blieben im Sand stecken.

126
Benno sagte: „D as würde ich verbieten. Betreten der Baustelle verboten!“
Max sagte nichts. Er ging der Frau entgegen, nahm den Karren mit der vollen
Tasche, als ob er ganz leicht wäre, und trug ihn auf die Platten am Gehweg.
Die Frau bedankte sich. Max winkte mit den Händen ab und rollte mit
lachendem Gesicht den Karren hin und her.
Die Frau sagte: „E s ist besser, wenn ich nicht den kürzeren Weg nehme.“
An einem anderen Tag war Benno mit seinem Fahrrad gekommen.
Max fragte: „Warum fährst du nicht?“
„Ach, das olle Ding“ , sagte Benno. „Immer springt die Kette herunter.“
In der Pause sagte Max: „Zeig mal her, das Rad.“ E r schaute sich alles genau
an. „D as Hinterrad sitzt lose“ , sagte er. „Spann es fest ein.“
„D u mußt mir helfen“ , bat Benno.
„Ehrensache“ , sagte Max.
Nach einigen Tagen war mehr Wasser in der Röhre als Sand. Aber als Benno
zu Max gelaufen kam, mit ganz rotem Gesicht, da wollte er von der Röhre
und der Maschine mit dem Hebel nichts wissen.
„M ax!“ rief er. „E s gibt eine Überschwemmung. Ich kann den Wasserhahn
in der Küche nicht schließen. Das Wasser läuft, ohne aufzuhören.“
Max sagte: „So“ und stellte den Motor der Seilwinde ab. „Sind denn deine
Eltern nicht zu Hause?“
„D ie müssen doch arbeiten, Papa in der Schule und Mutti in der Fabrik.“
„Ich schau mal nach“ , sagte Max. Er nahm Werkzeug aus seinem grünen
Wagen und ging bedächtig hinter Benno her, der sich ständig umdrehte.
Max drehte im Keller den Haupthahn zu und reparierte in der Küche die
Dichtung.
„So“ , sagte er wieder. Er drehte den Haupthahn auf und wischte die Hände
an der Hose ab. „Siehst du, da haben wir es. Wenn man das Wasser sperrt,
ist es gut, wenn man einen Brunnen oder eine Pumpe hat.“
„D u kannst wohl alles, M ax?“ bewunderte ihn Benno.
„Keiner kann alles“ , sagte Max.
„Was kannst du denn nicht?“
„Kühe melken.“
„Warum denn nicht?“ wollte Benno wissen.
„Was man nicht erlernt, kann man nicht“ , sagte Max.
„Doch. Essen und trinken!“ triumphierte Benno.
„Alles muß man lernen. Frag deine Mutter“ , sagte Max.
Auch die Arbeit mit der dicken Röhre war beendet, und nun begann Max,
lange dünne Rohre in das Bohrloch zu versenken und miteinander zu ver­
binden. Zum Schluß guckte eines ein wenig aus der Erde hervor. Max rieb sich
die Hände, nahm den weißen Helm ab und sagte: „D as hätten wir.“

127
Am Abend kam Bennos Vater mit einer Flasche Bier zu Max und sagte:
„Schönen Dank für die Hilfe, Benno hat’s erzählt.“
„Macht nichts“ , sagte Max. „Prost!“
Als Benno am nächsten Tag zum grünen Wagen lief, waren auch die anderen
Männer wieder da. Sie hatten eine Pumpe mit einem Schwengel gebracht und
waren gerade dabei, gemeinsam alles miteinander zu verbinden. Am Abend
war es geschafft. Der jüngste von den Arbeitern sagte zu Benno: „Dam it
ihr Wasser habt, wenn ihr mal kein Wasser habt.“
Er lachte sehr über diesen Satz, und die anderen lachten mit. Max winkte
Benno zu sich.
„D arfst sie einweihen, die Pumpe.“
Benno drückte auf den Schwengel, und klares, kaltes Wasser lief auf den
Boden und machte im Nu eine riesige Pfütze.
„Willst auch Bohrmeister werden?“ fragte Max.
Benno wurde es ganz heiß im Gesicht.
„D as weiß ich doch noch nicht“ , sagte Benno, und während er einen Fuß
in der Pfütze kreisen ließ, murmelte er: „Aber so wie du werde ich be­
stimmt.“
Max nahm Bennos Hand. Benno wußte, daß das der Abschied war. Er
machte sich los und rannte einfach davon. Erst als er allein in seinem Bett
lag, heulte er.
Am nächsten Morgen war der Wohnwagen verschwunden. Wer weiß, wo er
jetzt steht. Der Wagen ist grün. Er hat eine hölzerne Treppe, und an den
kleinen Fenstern hängen Gardinen, die wie Blumen leuchten.
Günter Hesse

128
Hasenjunge Dreiläufer

Die Hasenkinder waren ganz klein, eben geboren. Mutter Häsin fuhr er­
schrocken zurück.
„Was ist?“ fragte Hasenvater.
„Ein Junges hat geknurrt!“
„Unsinn, Mama, junge Hasen knurren nicht.“
Er beugte sich übers Nest, Mutter Häsin zu beruhigen. Aber auch ihn knurrte
ein Hasenjunges an.
„Teufel denn“ , sagte Hasenvater, „das ist mir neu.“
Die Krähe, ein alter Waldarzt, untersuchte das knurrende Hasenjunge.
„Gesund wie ein Kieselstein“ , krächzte sie, „ich versteh das nicht.“
„Und ich sage Ihnen, das nimmt ein schlechtes Ende mit dem Kind!“ rief
das Eichhörnchen vom Baum.
„Quatsch“ , erwiderte Hasenvater, „ein Hasenkind wie alle anderen, es
knurrt nur ein wenig. Nennen wir es Dreiläufer.“
Alle Hasenjungen werden nämlich von den Jägern so genannt.
Die anderen Kinder der Hasenfamilie wurden brave kleine Hasen. Nur der
knurrende Dreiläufer nicht. Der ärgerte seine Geschwister, zwickte sie in die
Ohren und spielte lieber mit den Spatzen. Mutter Häsin sah es nicht gern,
denn die Spatzen waren frech und wuschen sich nicht.
Einmal jagte er Hasenvater einen großen Schreck ein, als er, hinter einem
Strauch sitzend, wie der starke Dorfhund Hassan knurrte. Hasenvater hielt
seine Ohren starr wie zwei Arme in die Höhe.
„Teufel denn“ , stammelte Hasenvater, als Dreiläufer kichernd hervorkam.
„Was sind das für Sachen! Du bist aber ein zu seltsamer Hase!“
Und während die anderen Hasenkinder nur in der Nähe des Nestes spielten,
begann Dreiläufer durch Feld und Wald zu stromern...
„Dich wird eines Tages der Habicht holen“ , sagten die Geschwister, „bleib
lieber zu Hause!“ Doch der Habicht hatte die Hasenfamilie schon aus­
gespäht, wie ein dunkler Pfeil stürzte er herab. Bestimmt hätte er ein
Hasenjunges erwischt, wenn nicht Dreiläufer vor Schreck und Zorn geschrien
hätte, hell wie eine Trompete. Der entsetzte Habicht biß sich ins eigene
Bein.
Hasenvater beschloß, niemandem etwas davon zu sagen. Ein Hasenjunges,
das knurrt und so hell schreit, daß der Habicht erschrickt, dies glaubt im gan­
zen Wald keiner. Mutter Häsin sorgte sich sehr um den seltsamen Sohn und lief
noch einfhal zum Doktor.
„Soso, immer noch zu wild? Ich werde ihm Mohrrüben verschreiben. Mohr­
rüben machen zahm und brav.“
„Aber Frau Krähe, wir essen doch jeden Tag Mohrrüben, auch Dreiläu­
fer.“

9 129
Die Krähe konnte nicht helfen.
Inzwischen war Dreiläufer längst an den See gelaufen. Er hielt eine Pfote
ins Wasser. Wie frisch und kühl! Dreiläufer sprang hinein und schwamm.
Bald konnte er so gut schwimmen und tauchen wie der alte Fischotter.
Mein Lebtag hab ich so was nicht gesehen, sinnierte der Reiher, der von einem
Baum aufs Wasser sah, taucht und schwimmt, ein Hasenjunges, unglaub­
lich!
Dreiläufer machte es besonderen Spaß, leise an die Karpfen heranzuschwim­
men, die im flachen Wasser träumten. Dann stupste er sie an, daß sie auf­
schrien und davonschossen.
„Ein sehr unbekanntes Ungeheuer!“ flüsterten sie sich zu, wenn sie im tiefen
Schilf hockten, „ein wahres Untier, wir armen, armen Karpfen.“
„Wenn er in die Schule kommt, wird’s besser werden, Mama“ , beruhigte
Hasenvater die Mutter Häsin. „D u wirst sehen.“
„Wenn’s nur stimmt, Papa“ , sagte Mutter Häsin.
Dreiläufer kam schließlich in die Schule. Die Möwe Emma war seine Lehrerin.
Dreiläufer lernte nicht schlecht. In Futterkunde hatte er immer eine 28, eine
gute Zensur bei Hasen.
In Verstecken, einem Hauptfach, bekam er sogar eine 92, die höchste Note.
Und doch kam eines Tages Möwe Emma zu den Haseneltern geflogen, sich
zu beschweren.
„Ihr Sohn Dreiläufer ... So geht es nicht weiter!“
„Was macht er denn?“ fragte Hasenvater bedrückt.
„Was er macht? Keine Ordnung, kein Betragen! Er lacht oft und ohne
Grund. Er rauft sich, bitte schön, ein Hasenjunges, das sich dauernd rauft.
Sogar mit der Obrigkeit, gestern in der großen Pause mit dem Kater, der
den. Schulhof sauberhält. Ich habe sonst eine nette Hasenklasse, und meine
Mäuseklasse ist beim Unterricht so leise, daß ich die Sonnenstäubchen höre.
Aber Ihr Dreiläufer!“
„Versuchen Sie es noch einmal mit ihm“ , bat Mutter Häsin, und als Möwe
Emma weggeflogen war, sagte sie: „Ich weiß nicht, Papa, von wem er das hat,
von mir jedenfalls nicht.“
Ein paar Tage saß Dreiläufer still und machte artig sein Männchen. Doch
bald wurde er wieder das seltsame Hasenjunge, und was er dann tat, schlug,
wie die Igel sagten, dem Baum die Krone aus.
Zuerst das mit dem Fuchs. Dreiläufer, der durch den Wald streunte, erblickte
den Fuchs. Als richtiger Hase hätte er ausreißen müssen, so schnell er nur
konnte. Aber Dreiläufer schlich, sich tief ins Gras bückend, näher. Der Fuchs
lag ganz still und schaute starr nach vorn. Dreiläufer hob den Kopf und sah
seinen Vetter, das Kaninchen. Den Fuchs hatte das Kaninchen nicht bemerkt

130
und schlenderte ahnungslos näher. Vor Gier zuckte der Fuchs mit der knall­
roten Schwanzspitze.
Teufel denn! dachte Dreiläufer, gleich geht es dem Vetter an den Kragen.
Er überlegte nicht lange, hoppelte leise heran und biß mit seinen gelben
scharfen Zähnen dem Fuchs in die knallrote Schwanzspitze.
„Hilfe!“ schrie der Fuchs, denn seine Schwanzspitze ist empfindlich wie ein
rohes Ei, und er rannte wimmernd weg.
Das Kaninchen erzählte davon im Wald, so erfuhr es auch der beleidigte
Fuchs, der zum Richter, dem alten Schwan, lief.
„Euer Ehren“ , sagte der Fuchs zum Schwan, „ich bin beleidigt und verletzt
— wie soll es werden, wenn ein Hasenjunges, statt fleißig zu lernen und brav
zu sein, mir in die Schwanzspitze beißt? Gerechtigkeit und Ordnung, Euer
Ehren!“
Und dann dies: Einige Tage später kam ein Auto mit Menschen in den Wald
gefahren. Sie knatterten durch die Heidestille, stiegen schreiend aus und zer­
traten Gras und Blumen, stießen die schönsten Pilze um, weil sie alle für giftig
hielten, und warfen Kekspapier und leere Flaschen umher.
„Igitt, wie schlimm“ , flüsterten die Rehe und sprangen in hohen Sprüngen
davon.
Dreiläufer, der im Ginster saß, ärgerte sich sehr über die Menschen, er
begann ganz tief zu knurren, und sein graues Fell sträubte sich kampflustig.
Er stürzte hervor und lief schimpfend auf die Menschen zu.
„Raus aus dem Wald! Raus! Raus!“
Die Menschen sahen ein böses Tier, ein zornfunkelndes Tier in einer Staub­
wolke heranjagen und rissen aus.
„O je“ , schrien sie, „ein Wildschwein!“
Eine stinkende Benzinwolke erinnerte noch lange an die Menschen, und
Dreiläufer knurrte ebenso lange.
Das Wildschwein lief zum alten Schwan, dem Richter.
„Euer Ehren, das geht aber nicht. Die Menschen sollen vor mir Angst
haben“ , grunzte das Wildschwein, „vor mir und nicht vor einem kleinen
Hasen. Er muß bestraft werden. Unbedingt.“
Die Tiere machten eine Versammlung.
„Ein klarer Fall“ , muffelten die Maulwürfe und wühlten einen großen
Haufen Erde auf.
„Unglaublich, ich sah ihn die Karpfen erschrecken“ , kreischte der Reiher.
„Und daß er schwimmt wie ich, das darf nicht sein“ , sagte der Fischotter
und verschwand wütend in den Wellen.
„Wir haben immer gesagt, ein richtiger Hase tut das alles nicht“ , petzten
die anderen Hasenkinder.

9* 131
Der starke Dorfhund Hassan, dessen Knurren Dreiläufer einmal nach­
gemacht hatte, bellte: „Hart! Harte Strafe!“
Der alte Habicht dachte an sein Bein und zischte: „D as Fell abziehen,
unbedingt!“
„E r ist doch sonst ein guter Junge“ , schluchzte Mutter Häsin.
Das Eichhörnchen sauste dreimal um den Baumstamm und rief dann von
oben herunter: „E s nimmt ein schlechtes Ende, ich wußte es schon immer.“
Die Möwe Emma meldete sich, und der Schwan gab ihr das Wort. „Ich muß
leider sagen, auch in der Schule ist Dreiläufer . . . “ Sie wollte noch viel reden,
aber unter den Tieren brach große Unruhe aus. „Ich bitte um Ruhe! Still­
gesessen!“ rief Möwe Emma, doch niemand hörte zu.
Die Tiere schnupperten und rochen entsetzt — Rauch. Im Wald brannte es!
Keine schlimmere Nachricht gibt es für die Tiere.
Einer schrie: „Wir sind verloren!“ Und alle heulten es nach. „Rette sich, wer
kann!“ Aber wohin? Sie rannten hierhin und dorthin. Wohin sie auch kamen,
züngelte schon das Feuer.
Irgendeines, vielleicht das Eichhörnchen, vielleicht das Wildschwein, viel­
leicht auch ein Hase, rief: „Zum Wasser! Alle zum See!“
Aber auch auf dem Weg zum See züngelten schon die hellroten Flammen.
D a besann sich Dreiläufer. Hatte er nicht oft am Sumpfgraben gespielt, wo
er eigentlich nie spielen sollte? „Mir nach! Zum Sumpfgraben! Links! Alle
links!“ schrie Dreiläufer.
Anfangs hörte niemand auf ihn. Bis Mutter Häsin jammernd ihre übrigen
Kinder packte und Dreiläufer folgte. Dann der Igel und der Maulwurf. Die
Rehe rannten nach. Die Mäuse. Der Hund Hassan, und auch der Schwan
patschte breitfüßig hinterher. Ganz vorn stapfte Dreiläufer durch hohes Gras
und warmes Wasser, hinunter zum See.
Als die Tiere schwarz und naß dort ankamen und der Schwan wie ein Rabe
aussah, lachte Dreiläufer.
„Wie kannst du jetzt lachen?“ nieste und muffelte wütend der Maulwurf.
„D as Feuer kommt ja immer näher!“
„A b ans andere Ufer, dahin kommt das Feuer nie!“ brummte das Wild­
schwein.
Wer fliegen konnte, flog fort über den See. Und wer schwimmen konnte,
schwamm.
„Wir können nicht schwimmen!“ schluchzten die Mäuse. „Ich überhaupt
nicht“ , muffelte der Maulwurf. „Und ich erst recht nicht“ , sagte beleidigt
das Eichhörnchen. Die Hasen weinten nur leise vor sich hin.
Dreiläufer aber packte entschlossen seine Geschwister an den Ohren und
schwamm mit ihnen los.

132
Mit zugekniffenen Augen und sich die Nase zuhaltend, sprang Mutter Häsin
ins Wasser — und siehe, es ging ganz gut mit dem Schwimmen.
„In der Not frißt der Adler Fliegen“ , brummte Hasenvater und kraulte
hinterher.
Dreiläufer kehrte zurück und ließ Mäuse und Maulwurf auf sich reiten und
schwamm mit ihnen ans rettende Ufer. Dann holte er das Eichhörnchen. Der
Fischotter tauchte mit dem Kopf aus den Wellen, nickte und sagte:
„Donnerwetter! Donnerwetter!“
Die Tiere waren alle gerettet, keines hatte Schaden erlitten.
„Weiter Versammlung!“ kreischte der Reiher, der es liebte, wenn es Ärger
und Streit gab.
„Laßt Dreiläufer, wie er ist, ich persönlich hab nichts gegen ihn“ , sagte das
Wildschwein, wälzte sich im Schlamm und trollte sich fort.
„D ie Versammlung ist geschlossen“ , sagte würdig der Schwan.
Unterwegs, als sie nach Hause hoppelten, fragte Mutter Häsin ärgerlich ihren
Sohn Dreiläufer: „Also hast du doch am Sumpfgraben gespielt? Das war
verboten! Nein, Sorgen hat man mit diesem Kind!“
„Aber Mama“ , erinnerte sie Hasenvater, „fang nicht schon wieder an.“
Dreiläufer leckte an seinen vorstehenden Zähnen. Ihm fiel ein, daß er schon
lange nicht mehr am See gewesen und die Karpfen geneckt hatte.
Ich werd’s nachholen, nahm er sich vor, gleich morgen werd ich die dicken
Karpfen erschrecken. D a kicherte er schon los. Aber diesmal sagte Mutter
Häsin kein Wort dazu.
Gerhard Holtz-Baumert

133
Vier Pferde gehen fort

Dort, wo morgens die Sonne aus den schwarzen Wäldern schwimmt, liegt
ein Dorf. Am besten kennt sich der alte Willem in diesem Dorf aus. Er kennt
den Wiesenbach und den Steinpilzwald und jedes Krümchen vom schweren
braunen Ackerboden. Im Dorf gibt es vier Pferde. Der alte Willem kenntauch
die Pferde am besten. Er trägt immer hartes Brot in den Taschen seiner grünen
Joppe. Die Pferde wissen das und schnappen nach der Tasche. Die vier Pferde
heißen Ferdinand, Bella, Zilli und Benno.
Ferdinand ist ein brauner Wallach, er hat ausgefranste Ohren, einen Stum­
melschwanz und Hinterbacken, so rund wie die Biertonnen aus der Konsum­
gaststätte. Bella ist eine zierliche, schwarze Stute. Wenn sie mit ihren kleinen
Hufen über die Pflastersteine trappelt, klingt es, als ob Hämmerchen auf die
Steine klopfen — kling — klang — kling.
Zilli ist ein schönes Pferd, ihr weiches Fell blitzt silbergrau. Doch manchmal
legt sie unversehens die Ohren an und schnappt nach dem Kutscher oder nach
ihrem Nachbarn an der Deichsel. Benno, der vierte, ist ein Schimmelhengst.
Seine Rippen stehen hervor wie die Huckel auf Mutters Waschbrett. Die
Hufe sind groß wie Suppenteller.
Wenn der alte Willem abends in den Stall geht und aus seinen Taschen die
Brotstücken fischt, krault er den vier Pferden der Reihe nach die Stirn und
sagt für sich: Schmucke Pferde sind es, allens wat recht is!
Und fleißig sind die vier Pferde. Sie ziehen Pflug und Wagen, Egge und Mäh­
maschine, Heuwender und Kartoffelroder.
Eines Tages spannte der alte Willem Bella und Zilli vor den Kutschwagen.
Er fuhr in die Kreisstadt, mit ihm waren der Bürgermeister und der Vor­
sitzende. Als sie abends wieder ins Dorf zurückfuhren, sagte der Vorsitzende:
„Nun ist es geschafft. Jetzt werden wir bald Traktoren haben.“
„ Ja !“ antwortete der Bürgermeister nach einer Weile und schaute in den
blassen Himmel, „Maschinen sind sicherlich viel besser.“
„Allens wat recht is!“ sagte der alte Willem langsam, „die großen Felder
von der Genossenschaft schaffen wir mit den Pferden nicht mehr, da müssen
Maschinen ran!“
Und wieder nach einer Weile, als sie schon aus dem Wald heraus waren, sagte
der alte Willem noch: „Was wird aber mit unseren vier Pferden?“
Der Vorsitzende schmauchte aus seiner Pfeife eine dicke hellblaue Wolke und
schwieg.
„Und was sagst du dazu, Bürgermeister?“ fragte der alte Willem. Der
Bürgermeister schwieg auch.
„N a, dann das letzte Stück . .. hü!“ rief der alte Willem leise und streichelte
mit der Peitsche Bellas Rücken. Die silbergraue Zilli aber schlug nach hinten
aus und preschte los.

134
Da standen sie wieder nebeneinander in ihrem Stall, die vier Pferde.
Sie klirrten mit den Ketten, stampften und schnoben, daß das Futter aus
der Krippe aufflog. Der Schimmelhengst Benno zerriß seine Kette. Er hob
den mageren Kopf und wieherte. D a wurden die anderen noch unruhiger,
und endlich hatten sich alle freigerissen.
Ferdinand, der dicke Wallach, schlug mit den Hinterbeinen gegen die Stall­
tür, bis sie aufsprang. Die silbergraue Zilli trat zuerst auf den Hof hinaus.
Das Tor war verschlossen.
Zilli galoppierte auf den Zaun zu. Sie sprang — es blitzte wie ein silberner
Strahl über Strauch und Zaun — und stand auf der Straße. Die anderen
folgten, als letzter Ferdinand, der beim Sprung mit seinen Säulenbeinen den
Zaun umriß.
Dann trabten die Pferde durch das Dorf. Ihre Hufe schlugen aus den
Pflastersteinen Funken, die wie Sternenschnuppen aufglühten und gleich im
Nachtdunkel erloschen. Das Dorf schlief. Nur der alte Willem wälzte sich
in seinem rotkarierten Federbett. Ich träume bloß, dachte er, und drehte sich
auf die andere Seite. Wie sollte er wissen, daß die vier Pferde weggegangen
waren? Sie galoppierten in die Welt hinaus. Sie wollten ein anderes Dorf
finden, in dem man keine Traktoren hat, aber vier Pferde, vier fleißige Pferde
braucht.
Zwei Augen glimmten aus dem Dunkel. Die gehörten Ajax, dem Schäfer­
hund.
Willst du mit, Ajax?
Ajax knurrte nur verächtlich.
Wie sollte er einfach in die Welt ziehen, wo es doch so viel Arbeit für ihn
gab. Auf den Wiesen schnupperten und knupperten die 324 Schafe der
Genossenschaft. Ajax war ihre Aufsicht. Die Kühe auf der Weide erhoben
sich schwerfällig. Sie schauten mit ihren dunklen Augen zum Weg hinüber.
Wollt ihr mit, Kühe?
Die Kühe ließen sich schwerfällig wieder hinab. Wie sollten sie einfach in
die Welt ziehen! Das Futter schmeckt ihnen immer von neuem, das Melken
mit den blitzenden Maschinen ging schnell, und die Milch spritzte, bis die
Kannen überliefen. Weit vor dem Dorf liegt die Hühnerfarm.
Der Hahn riß die Augen auf. Und weil er sonst nie um diese Zeit wach wird,
glaubte er, es sei schon Morgen.
Da setzte der Hahn zu seinem gewaltigen Kikeriki an. Nach dem K ik ...
blieb ihm das ... riki im Halse stecken. Es ist ja mitten in der Nacht!
Willst du mit, Hahn?
Der Hahn schaute zu seinen Hennen, die auf den Stangen saßen und
schliefen. Die soll er verlassen? Die weißen und die bunten? Der Hahn

135
klappte die Augen wieder zu, plusterte seine bunten Federn und vergrub
darin seinen Kopf mit dem riesig roten Kamm.
Die Eule im Wald staunte. Sie staunt sonst über nichts.
Die Eule ist alt, weise und schläft am Tage. Aber vier Pferde in der Nacht
und ohne Kutscher hatte sie noch nie gesehen. Sie flog ein bißchen neben
den Pferden her.
Eule, willst du mit?
Die Eule ist viel zu alt und zu weise und weiß, wo es Mäuse gibt. Auf dem
Kornboden im Dorf nämlich. Sie lachte: ,,Juhu, macht nur zu!“ Die vier
Pferde, eines hinter dem anderen, trabten durch den Wald, dem bleichen
Mond nach.
Als der Morgen dämmerte, wurde die offene Stalltür entdeckt, die zerrissene
Kette und der umgestürzte Zaun auch. Der alte Willem rannte aufgeregt
durchs Dorf. Der Bürgermeister kam und der Vorsitzende. Der Lehrer wurde
gerufen, die Feldbaubrigade rannte herbei, kurz, das ganze Dorf kam. Auch
der Genosse Dorfpolizist. Er legte sich auf die Erde, prüft die Spuren von
den Hufen und besah sich genau die zerrissenen Ketten.
Dann schob er die Dienstmütze ins Genick. Der Vorsitzende stieß Rauch
aus seiner Piep, wie aus einem Schornstein so dick.
„Sind die Pferde gestohlen?“ fragte der alte Willem.
Der Genosse Dorfpolizist schüttelte den Kopf.
„Was denn?“ fragte der Bürgermeister.
Der Genosse Polizist zuckte mit den Schultern. Wer sollte das wissen? Nicht
einmal die Polizei. Der Schäferhund Ajax wedelte mit dem Schwanz. Aber
niemand verstand ihn.
Der alte Willem ging nach Hause, nahm seinen Bleistift und schrieb einen
Bericht an die Zeitung: Daß vier Pferde weggekommen sind und wer davon
etwas weiß, soll es sagen. Und wer sie findet, soll sie ja zurückbringen.
Die Kinder in der Schule waren sehr traurig, der Lehrer auch. Schließlich
mußte er die Schule zuschließen. Die Kinder gingen überall hin, die Pferde
zu suchen.
Als die Kinder suchten, waren die Pferde schon weit. Sie kamen an ein
Kornfeld. Das reichte von hier bis dort. Ein goldenes Meer. Hier wollten die
Pferde bleiben und arbeiten. Aber im Kornfeld, wie ein Schiff durch die
Wellen, fuhr ein Mähdrescher. Sein gefräßiges Klappermaul riß breite
Streifen Korn nieder und schluckte alles ein.
Die Pferde standen stocksteif. Mit einem solchen riesigen Mähdrescher-Kerl
ging die Arbeit schnell. Um ein Pferdehaar hätte der Mähdrescher der
schwarzen Bella den Schwanz abgeschnitten. So dicht war er schon, als die
Pferde sich drehten und schnell davonpreschten.

136
Am nächsten Tag kamen die vier Pferde an einen großen freien Platz. Ein
Eisenwerk wird hier gebaut, da wollten die Pferde eben hier bleiben und
arbeiten.
Aber sie kamen nicht dazu. Große Bagger wühlten sich fauchend in den
Sand. Traktoren mit gewaltigen Schildern an der Stirn rissen Bäume und
Sträucher aus. Ja, ein hoher Kran klappte sein eisenzahniges Maul auf und
biß nach dem dicken Ferdinand. Die Pferde machten, daß sie fortkamen.
Wo die Menschen mit solchen großen Maschinen arbeiten, bleibt für Pferde
nichts mehr zu tun.
Am nächsten Tag kamen sie an einen endlos langen Erdwall. Hier wird eine
Eisenbahnstrecke gebaut. Lokomotiven zogen schwerbeladenen Wagen. Eine
schwarze Dampfwalze walzte. Der Maschinist auf der Dampfwalze ließ vor
Schreck die Signalpfeife Schrein, als er vier Pferde vor sich sah.
„Träum ich oder schlaf ich“ , rief er. „D as sind ja die vier Pferde aus der
Zeitung!“ Und der Priem fiel ihm aus dem Mund, gerade vor die Dampf­
walze, die unbarmherzig weiterbollerte. Die Pferde aber stellten die
Schwänze hoch und jagten aufgeregt davon.
So zogen die vier Pferde durch unser Land. Wo sie auch hinkamen, arbeiteten
starke Maschinen. Aber keine Pferde. Denn wie können Pferde die Arbeiten
der Mähdrescher, der Kräne, der Bagger und Kipper, der Traktoren und
Lastautos, der Dampfwalzen verrichten?
Nein, das können sie nicht.
Ein Glück nur, daß überall Gras wächst, sonst wären die vier Pferde noch
verhungert. Nur der gefräßige Schimmelhengst Benno bekam nie genug. Er
fraß sogar die Blätter von den Bäumen.
Und eines Tages zogen die Pferde zu ihrem Dorf zurück. Sie ließen die Köpfe
in den grauen Staub hinabhängen und schlurften mit den Hufen müde durch
den Sand. Die Pferde sehnten sich nach ihrem Stall, sie wollten zum alten
Willem, zu den Kindern ihres Dorfes.
Dann sahen sie das Dorf. Und weil keines vorangehen wollte, versteckten
sich die vier Pferde im Gebüsch und warteten. Draußen vor dem Dorf
arbeitete ein neuer grün-roter Traktor. Der alte Willem stapfte den Weg
hinauf. Seit die Pferde verschwunden waren, ging er jeden Tag diesen Weg
in den Wald. Er nahm immer die Glocke mit, mit der er sonst die Meldungen
des Bürgermeisters ausrief.
Die Finken flogen aus dem Gebüsch. Der alte Willem kniff die Augen
zusammen. Ein Lächeln glänzte auf seinem faltigen Gesicht. Die vier Pferde
sind wieder da! Sie hatten sich versteckt. Aber ihre Beine, die dünn und dick,
klobig und zierlich zwischen den Stämmen standen, verrieten sie. Sechzehn
Pferdebeine sind doch nicht zu übersehen!

137
Der alte Willem lachte sich eins. Er schwang fröhlich die Glocke — Pling
— Pling —.
„Ihr Racker, ihr Biester, kommt nur raus, es geht alles in Ordnung, allens
wat recht is.“
Der magere Hengst Benno riß noch ein saftiges Blatt vom Baum und trat
vor. Die anderen folgten. So gingen sie ins Dorf, voran der alte Willem mit
der Glocke.
Die Eule schlug mit großer Mühe ihr linkes Auge auf. Sie schlief ja am Tage.
Sie war alt und weise und hatte gleich gewußt, daß es mit Ausreißen nicht
gehen würde.
Der Hahn in der Hühnerfarm sah ungeheuer hochmütig drein.
Die Kühe lagen auf der Weide, sie kauten ihr Futter wieder einmal und
nickten beiläufig, als sie den Zug sahen.
Ajax, der kluge Hund des Schäfers, zwickte noch drei, vier Schafen ins Bein,
daß sie bei der Herde blieben, und lief jappend näher. Er knurrte. Aber das
muß bei Ajax nichts Böses bedeuten. Als der alte Willem nun ins Dorf einzog,
liefen die Bauern von allen Seiten herbei.
Der Lehrer mußte, so schwer es ihm fiel, noch einmal die Schule schließen,
und die Kinder sprangen zur Schultür hinaus.
Der Bürgermeister telefonierte gerade, als die Pferde zurückkamen. E r ließ
den Hörer fallen und lief fort.
Der Vorsitzende stieß eine gewaltige blaue Pfeifenwolke aus, daß er husten
mußte, bis die Tränen aus den Augen sprangen. Der Genosse Dorfpolizist
band sich für alle Fälle seine Revolvertasche um.
Vor dem Kulturhaus versammelten sich alle und redeten durcheinander, bis
der alte Willem die Glocke erklingen ließ. „Jetzt mal Ruhe!“ Der alte Willem
sah die Pferde an.
„Was habt ihr euch bloß gedacht? Wie haben wir uns gesorgt um euch! Gut,
daß ihr wieder da seid. Und was werden wird, wird euch der Vorsitzende
sagen!“
Der Vorsitzende nahm die Pfeife aus dem Mund, wies damit über das Dorf,
und alle folgten mit dem Kopf, auch die Pferde. Und alle sahen, wie viele
Maschinen ins Dorf gekommen waren: Traktoren, Lastautos,-Dunglader,
Mähdrescher, Kipper, Kartoffelerntemaschinen, Maismähmaschinen ...
„D as ist wahr, die Maschinen schaffen mehr als ihr Pferde.“
Die Pferde ließen die Köpfe tiefer hängen, der alte Willem schnaubte laut
in sein großes Taschentuch. Und die Schulkinder wurden stiller, stiller noch
als in der Schule.
„Aber da ihr Pferde uns immer so fleißig geholfen habt und noch so viel zu
tun für euch bleibt, haben wir auf der Versammlung beschlossen . . .“

138
Der Vorsitzende wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er liebte keine
langen Reden.
„D er alte weiße Benno soll im Dorf bleiben und die Schulkinder durch den
Wald zur Zentralschule fahren. Wir bekommen nämlich eine neue Schule,
und durch den Wald fährt kein Omnibus.“
Da schrien die Schulkinder durcheinander, und der Lehrer gab sich gar keine
Mühe, sie zur Ruhe zu bringen.
„Zilli ist gut zu reiten. Auf ihr sollen die Jungen und Mädchen reiten lernen.
Trab und Galopp und Springen. Sie wird einen Sattel tragen und blitzendes
Zaumzeug.“
Die Lehrlinge der Genossenschaft zogen Zilli beiseite und streichelten ihr
silbernes, verstaubtes Fell.
„Für Bella haben wir auch etwas Schönes herausgefunden. Sie soll zum
Zirkus.“
„A h!“ sagten alle.
Ein fremder Mann, der einen struppigen Rotbart unter der Nase trug, aber
sonst freundlich aussah, drängte sich zu Bella. „Sie soll bei uns im Zirkus
Aeros Kunststücke lernen“ , rief der Mann. Er besah Bellas Beine, prüfte ihre
Zähne, kroch unter ihrem Bauch durch.
„D a ist was dran“ , sagte er zuletzt zum Vorsitzenden, „sie kommt zum
Zirkus.“
„Moment“ , sagte der Vorsitzende. „Ferdinand soll in den Tierpark. Dort
wird er den Wagen mit Futter für Löwen und Bären ziehen und sonntags
die bunte Kutsche mit den Kindern. Alle einverstanden?“
Das Dorf schaute auf die Pferde. Die hatten die Ohren hoch gespitzt und
schlugen mit den Schwänzen.
Der alte Willem schwang noch einmal seine Glocke und rief: „Also soll es
sein . .. allens wat recht is.“
Der alte Willem blieb an diesem Abend lange bei den Pferden. „Was habt
ihr euch bloß gedacht“ , brummte er. „Wir werden doch die Pferde nicht
einfach wegjagen. Ihr lieben Racker.“
Gerhard. Holtz-Baumert

139
Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt

Es ist Kaffeepause bei der Feuerwehr.


„Wachtmeister Meier!“ sagt Löschmeister Wasserhose.
„Hier!“ ruft der kleine Wachtmeister Meier.
„Ist der Kaffee warm?“
„Jawohl!“ , sagt der kleine Meier.
„Dann wollen wir uns setzen, Jungs!“ sagt Löschmeister Wasserhose, und
alle Feuerwehrleute setzen sich um den großen Holztisch. „H at jeder einen
Becher?“ fragt Löschmeister Wasserhose. „Alle mal hochhalten! Eins, zwei,
drei, vier, fünf, sechs, sieben! In Ordnung! Wachtmeister Meier, schenken
Sie bitte ein!“ Und während der kleine Wachtmeister Meier einschenkt, freuen
sich alle auf die Kaffeepause. Die Feuerwehr hat sie verdient. Die Feuer­
wehrleute haben heute Wasser aus einem Keller gepumpt, in einem Kuhstall
Feuer gelöscht, und eben haben sie einem gestürzten Pferd auf die Beine
geholfen.
„N a, Jungs, hat jeder seine Stulle?“ fragt Löschmeister Wasserhose. „Dann
haltet sie alle mal hoch! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs . .. Meier, wo ist
Ihre Stulle?“
„Ich hab sie aufgegessen!“ sagt der kleine Wachtmeister Meier, der immer
großen Hunger hat.
„Hm, hm“ , sagt der Löschmeister. „Und was nun? Na, nehmen Sie eine von
mir. Meine Frau hat mir zwei eingepackt! Also, dann: Guten Appetit!“
„Guten A ppe. . . “ , erwidern die Feuerwehrleute — plötzlich aber schrillt das
Telefon: Brimmbrimmbrrimm!
Löschmeister Wasserhose nimmt den Hörer ab.
„Hier ist die Feuerwehr“ , sagt er. „Was, wo? Bei Oma Eierschecke in der
Kaffeestraße? In Ordnung! Alarm, Jungs!“ Und er springt auf und rennt
zur Rutschstange. Sst — ist er unten.
Die anderen Feuerwehrmänner rutschen hinterher.
Sssst, ssst, sst!
Unten steht das Löschauto. Schnell greift jeder seinen Helm, seine Gasmaske,
sein Koppel und setzt sich auf seinen Platz. Ab saust die Feuerwehr. Lösch­
meister Wasserhose steuert. Sie fahren so schnell, daß es aussieht, als ob die
Häuser schief stünden. Das Martinshorn ruft: Tatü, tata! — die Feuerwehr
ist da!
Schon sind sie in der Kaffeestraße. Im Haus Nr. 13 qualmt es aus einem
Fenster im dritten Stock. Vorm Haus stehen aufgeregte Leute. Jeder Feuer­
wehrmann weiß, was er zu tun hat. Zwei laufen mit dem Füllschlauch zum
nächsten Hydranten. Die Feuerwehrspritze pumpt das Wasser in den Lösch­
schlauch. An der Pumpe steht der Löschmeister. Der kleine Meier und ein
zweiter Feuerwehrmann rennen mit dem Schlauch die Treppen hoch.

140
Schschscht — spritzen sie das Wasser durch die Tür in die Wohnung. Dick
und schwarz wird der Qualm. Das Feuer wehrt sich. Aber sie ersäufen es.
Schließlich ist das Feuer gelöscht. Der kleine Wachtmeister Meier hat eine
rußige Nase bekommen. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn.
„Wo ist denn die Oma Eierschecke?“ fragt der Löschmeister.
Oma Eierschecke steht ganz verstört auf der Treppe.
„Ich weiß nicht, wie das passiert ist“ , sagt sie. „Ich bin in den Keller ge­
gangen, und als ich wiederkam, brannte die ganze Stube!“
„Hm, Oma Eierschecke“ , sagt der Löschmeister, „vielleicht hast du die
Ofentür offengelassen. . . “
„Aber nein“ , beteuert Oma Eierschecke.
„D as sehen wir uns an“ , sagt Löschmeister Wasserhose und steigt mit ihr
in den dritten Stock. Es stinkt scheußlich nach Rauch. Und da sieht man
es: Oma Eierschecke hatte doch die Ofentür offengelassen, und es war ein
bißchen Glut herausgefallen. Vor der Ofentür aber war kein Ofenblech, und
so hat erst der Teppich gebrannt, dann die Dielen und das Sofa und dann
die Gardinen und dann ...
„Meine schöne gute Stube“ , jammert die Großmutter. „Oh, oh, oh.“ Aber
dann sagt sie: „Wie gut, daß ihr noch gekommen seid. Sonst wäre vielleicht
das ganze Haus abgebrannt! Weißt du, in der Küche habe ich noch ein
bißchen Kuchen. Ich pack es euch ein. Mir ist der Appetit vergangen!“
„Danke schön“ , sagt Wasserhose, „aber behalte deinen Kuchen nur — wir
helfen gerne! Jungs, alles fertig? Aufsitzen!“ Und ab rollt die Feuerwehr,
zurück in die Wache.
„Und jetzt“ , sagt Löschmeister Wasserhose, „jetzt machen wir aber K af­
feepause!“
Und der kleine Meier, der sich gerade seine rußige Nase gewaschen hat,
nimmt die Kaffeekanne vom Ofen, und alle setzen sich an den langen
Holztisch.
„So, Jungs“ , sagt Wasserhose, „hat jeder einen Becher? Alle mal hochhalten!
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben! In Ordnung! Hat jeder seine Stulle
mit? Alle mal hochhalten! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. .. Halt! Meier!
Was haben Sie da in der Hand?“
„D as, das, das ist Quarkkuchen!“ sagt Meier.
„Wo haben Sie den Kuchen her?“
„Den, den, den muß mir Oma Eierschecke in die Tasche gesteckt haben!“
„Und wo ist die Stulle, die ich Ihnen vorhin geschenkt habe?“
„Hab ich schon aufgegessen, Löschmeister Wasserhose!“
Wasserhose blickt kopfschüttelnd den verfressenen Meier an. Wie kann einer
denn immer hungrig sein?

141
„N a, guten Appetit, Jungs!“ sagt er schließlich.
„Guten Appetit“ , sagen alle und wollen gerade abbeißen . .. D a bimmelt das
Feuerwehrtelefon.
Löschmeister Wasserhose nimmt den Hörer ab.
„Wie, was“ , fragt er. „Ein kleiner Junge? Gut, wir kommen! Alarm!“
D a legen alle ihre Stullen auf den Tisch und rennen zur Rutschstange.
Ssst, sst, sst sind sie unten.
Der Löschmeister gibt ordentlich Gas. Alle Autos halten an, um den roten
Wagen vorbeizulassen. Und die Leute fragen sich auf der Straße: „Was wird
denn nun wieder passiert sein?“
Ja — was war passiert? Der kleine Emil Zahnlücke war zum Schwanenteich
gelaufen. Der Schwanenteich hatte eine Eishaut bekommen. Und Emil
Zahnlücke dachte: ich werde auf dem Eis schlittern! Wie werden die Kinder
über meine Schlitterbahn staunen! Am Ufer hielt das Eis auch. Emil Zahn­
lücke ging einen Schritt und dann noch einen, und dann nahm er Anlauf und
schlitterte über das Eis. Aber mit einemmal machte es ping!, und quer durch
die Eisdecke lief ein Riß. Emil Zahnlücke erschrak. E r wollte sich umdrehen
und zurücklaufen. D a machte es noch einmal pling und pleng und klirr, und
er lag im Wasser. Jetzt hält sich Emil Zahnlücke am Rand des Eisloches fest
und schreit. Die Arme sind ihm schon lahm; manchmal bricht unter seinen
Fingern ein Stück Eis ab, dann taucht Emil Zahnlücke mit dem Kopf unter
und schluckt eisiges Wasser und fuchtelt mit den Armen und versucht, den
Rand des Eisloches wieder zu fassen. Was meint ihr, welche Angst der kleine
Emil hat!
Am Ufer stehen Menschen und wollen helfen. Aber sie kommen nicht an
Emil Zahnlücke heran, sie sind schwerer als er und brechen schon am Ufer
durch die Eisdecke! Alle atmen auf, als sie das Tatü-tata der Feuerwehr hören.
Löschmeister Wasserhose prüft das Eis.
„Wachmeister Meier!“ ruft er. „Sie sind der Leichteste von uns. Nehmen
Sie sich zwei Steckleitern und arbeiten Sie sich an den Jungen heran!“
Wachtmeister Meier holt aus dem Auto zwei kurze Leitern. Er schiebt sie aufs
Eis. Dann legt er sich vorsichtig auf eine Leiter, schiebt die andere vorwärts
und kriecht dann darauf. Am Koppel hat er eine Leine mitgenommen. Bald ist
er bei Emil Zahnlücke angelangt.
Gerade läßt der kleine Emil den Eisrand los. Aber Wachtmeister Meier
erwischt ihn am Mantelkragen und zieht ihn auf die Leiter. Das ist eine
schwere Arbeit, denn Emil ist tropfnaß. Schließlich hakt der kleine Meier
die Leine vom Koppel und bindet sie an die Leitern. Die Feuerwehrleute am
Ufer ziehen. Wie ein Schlitten rutscht die Leiter über das Eis. So werden der
kleine Meier und Emil ans Ufer geholt.

142
Emil klappert mit den Zähnen. Er wird in eine dicke Feuerwehrdecke ge­
wickelt. Dann fahren sie mit Tatü-tata ins Krankenhaus. Wer so lange in
eiskaltem Wasser gelegen hat, dem muß der Arzt helfen.
„So, Jungs!“ sagt Löschmeister Wasserhose, als sie alle wieder in der warmen,
gemütlichen Feuerwache sitzen. „Der Emil Zahnlücke ist versorgt — jetzt
trinken wir aber endlich unseren Kaffee, Donnerunddorothee!“
„Jawohl!“ rufen die Feuerwehrleute und setzen sich an den langen Holztisch.
Der kleine Meier holt die Kanne vom Ofen.
„H at jeder einen Becher? Alle mal hochhalten!“ sagt der Löschmeister.
„Eins, zwei, drei, vier fünf, sechs, sieben — in Ordnung! Und hat jeder eine
Stulle? Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs . .. Meier, wieso haben Sie jetzt
wieder, eine Stulle? Vorhin hatten Sie doch ein Stück Quarkkuchen?“
„Den Quarkkuchen?“ sagt der kleine Meier. „Den Quarkkuchen? Den
werde ich wohl aufgegessen haben. Und die Stulle, die hat meine Mutter hier
abgegeben.“
„Und wieviel essen Sie jeden T ag?“ fragt Wasserhose.
„Nie mehr als zwölf!“ sagt der kleine Meier.
„D as ist mir im Leben noch nicht vorgekommen“ , meint der Löschmeister
und schüttelt den Kopf. „N a, guten Appetit!“ Und er beißt in seine Stulle
und nimmt einen Schluck Kaffee dazu und da ... D a bimmelt das Tele­
fon ...
„Mhmmhmm“ , meldet sich Löschmeister Wasserhose und schluckt schnell
hinunter. „Hier ist die Feuerwehr! Wie bitte? Ein Baum? Wer schreit? Die
Elefanten? Wir kommen sofort!“ Zu den Feuerwehrmännern sagt er: „Auf,
Jungs! Wir nehmen den Kranwagen mit!“
Unten in der Halle steht neben dem Feuerlöschwagen ein Kranauto. Sssst,
sst, sst kommen die Feuerwehrmänner die Rutschstange herunter und steigen
in den Spritzenwagen. Wachtmeister Meier aber fährt mit dem Kranwagen
hinterdrein.
Dunkel und stürmisch ist es geworden. Sie fahren zum Tierpark. Dort stand
direkt neben dem Futterhaus eine große Linde. Keiner hatte ihr angesehen,
daß sie inn^n morsch war. Aber die Linde hatte sich schon fünf Jahre lang
überlegt: Fall ich heute um? Oder fall ich morgen? Vor drei Stunden nun,
als der Wind stärker wurde, da knackte und knirschte es in ihrem Holz.
Nun liegt die dicke Linde direkt vorm Eingang zum Futterhaus. Dort lagern
das Heu für die Elefanten, die Kartoffeln für die Hängebauchschweine, die
Regenwürmer für die Frösche und die Fleischstücke für die Tiger. Der
Futterkoch steht mit seiner weißen Mütze vorm Futterhaus und kann nicht
in die Futterküche. Die Tiere aber im Tierpark werden unruhig. Sie wollen
ihr Abendbrot haben.

143
„Tetereteh“ — trompeten die Elefanten.
„Uak, uak, uak“ — quaken die Frösche.
„Nuk, nuk, nuk“ — grunzen die Hängebauchschweine.
„Haaaaauuuuu“ — brüllen die Tiger.
Die Arbeiter des Tierparks versuchen die Linde fortzuräumen. Aber sie
kommen nur langsam voran. Da hat der Direktor die Feuerwehr angeru­
fen.
Der kleine Wachtmeister Meier fährt den Kranwagen heran. Mühelos hebt
er mit seinem Kran den starken Baum beiseite.
Der Futterkoch kann in seine Küche.
Aber er steht noch in der Tür und sagt: „Ach, du meine Güte! Unser guter
Jakob!“
Da sehen es alle: Dort, wo die Linde mit der Krone aufgeschlagen ist, liegt
ein zerdrückter Drahtkäfig. Darin hat Jakob gewohnt. Aber wo ist Jakob?
Im Käfig ist er nicht. Ist er davongeflogen ?
„Jungs“ , sagt Löschmeister Wasserhose. „H at einer von euch einen Raben
gesehen?“
„ Ja !“ ruft Wachtmeister Meier. „E r sitzt bei mir im Fahrerhaus!“
„Bringen Sie ihn bitte her!“ sagt der Löschmeister.
Und tatsächlich — der kleine Wachtmeister Meier kommt mit dem Raben
Jakob an!
„Wie ist das bloß zugegangen?“ fragt der Löschmeister.
„Ich habe eine Stulle gegessen“ , sagt der kleine Meier. „D a kam dieser Rabe
und sah mich hungrig an. Ich habe meine Stulle mit ihm geteilt.“
„D as ist doch nicht zu glauben!“ sagt der Löschmeister.
Der Tierparkdirektor bedankt sich bei der Feuerwehr.
„Gerne geschehen“ , sagt der Löschmeister und ruft: „Aufsitzen, Jungs!“
Dann geht der Koch in die Futterküche, der Rabe Jakob bekommt einen
neuen Käfig, die Feuerwehr fährt zurück in die Feuerwache, die Männer
schnallen die Koppel ab, der kleine Meier nimmt die große, dicke Kaffeekanne
vom Ofen, alle setzen sich an den langen Holztisch und nehmen die Schnitten
in die H and...
Und da . . .
D a ist unsere Geschichte zu Ende.
Denn sonst bimmelt wieder das Telefon!
Hannes Hüttner

144
Das Huhn Emma ist verschwunden

Auf der Bank vorm Haus sitzen zwei: Nele und Opa. Nele kuschelt sich in
Opas alte Jacke. Ich glaube, sie gruselt sich ein bißchen. Es ist ja auch kein
Wunder!
Vorhin war Nele aus dem Haus gehüpft. In ihrer Tasche hatte das Pup­
pengeschirr gescheppert. Sie wollte zum alten Eichbaum. Sie mußte für
sieben Puppen Mittag kochen.
Opa hatte an der Einfahrt zur Tenne gestanden und mit spitzem Mund
gelockt: „Tuk, tuk, tuk!“
„Was machst du, O pa?“ hatte Nele gefragt.
„Denk dir nur“ , hatte Opa geklagt, „heute früh laß’ ich die Hühner aus dem
Stall — da ist Emma nicht dabei!“
Emma ist ein kastanienbraunes Huhn. Opa nennt alle seine Hühner beim
Namen.
„Vielleicht sitzt sie auf einem N est?“ hatte Nele gemeint. Hühner verstecken
manchmal ihre Eier. Sie setzen sich drauf und wollen Küken ausbrüten.
„Ich hoff’ es auch“ , hatte Opa genickt.
Nele aber war durch die Tenne hinaus auf die Koppel gewitscht. Dort steht
ein alter Eichbaum. Seine Äste reichen bis auf die Erde. Das ist Neles
Spielhaus. Hier wollte sie heute kochen. Aber was war das?
Unter dem Eichbaum lag etwas. Nele war näher gegangen.
Da lagen Federn, viele Federn, im Kreis verstreut! Kastanienbraune Fe­
dern!
Nele hatte ihre Tasche fallen lassen und war zurückgerannt. „O pa“ , hatte
sie gerufen, „O pa!“
Opa hatte noch in der Scheune herumgesucht.
„Unterm Eichbaum liegen Hühnerfedern!“ hatte Nele berichtet. Dann hatte
Opa sich die Bescherung angesehen. Im Sand war eine Spur eingedrückt. Sie
zeigte fünf Dellen mit vier spitzen Nägeln.
„O je“ , hatte Opa gesagt, „das war Reinke, der Fuchs.“
Und seitdem sitzen sie beide auf der Bank und denken nach.
„Meinst du, der Fuchs hat sie geholt?“ fragt Nele.
„D as muß wohl so gewesen sein!“ erwidert Opa.
„Aber hast du sie nicht in den Stall gesperrt?“
„D ie Stalltür hab’ ich wohl zugemacht“ , besinnt sich Opa. „Aber vielleicht
war Emma noch nicht drin? Sie war nämlich ein Trödelhuhn, mußt du
wissen. S a b es Körner, dann trödelte Emma so lange, bis die anderen alles
aufgepickt hatten. Gab es zu trinken, dann war der Napf längst leer, bevor
Emma kam.
Sie guckte, wo gar nichts zu gucken war. Die anderen suchten sich Würmer
und Käfer. Aber Emma saß im Sand und besah sich eine Glasscherbe.

10 145
Und wenn die anderen, abends sich ihr Plätzchen im Stall suchten, dann
rannte Emma noch draußen umher und suchte etwas zu fressen, weil sie
hungrig war.
So wird es wohl gewesen sein: Ich habe den Stall zugemacht, ohne zu merken,
daß Emma noch nicht eingeschlüpft war. Sicher hat sie noch nach einem
Regenwurm zum Abendbrot gescharrt, weil sie nicht rechtzeitig satt ge­
worden ist. Das war schon zu der Zeit, da Reinke auf leisen Sohlen durchs
Revier schnürte.
Als es dann dunkel wurde, hat es Emma mit der Angst bekommen und ist
zum Stall gelaufen. Vielleicht hat sie noch gerufen: ,Tuk tuuk — macht
auf!1 Aber wie sollten die Hühner den Stall aufmachen? Und da wird der
Fuchs schon nahebei gewesen sein und ist herangeschlichen. . . “
,,Oh, oh, oh“ , seufzt Nele.
Und sie sitzen beide auf der Bank und denken nach.
„Aber wenn sie nun doch im Stall war?“ fragt Nele.
„D as kann schon möglich sein“ , bedenkt sich Opa. „Dann war sie also drin,
als ich zugeriegelt habe. Sie muß sich durchs Klappfenster gezwängt
haben. . . “
„Und warum?“ fragt Nele.
„Warum?“ brummt Opa. „Sie wird nachmittags ihre Bekannte, die Wild­
ente, getroffen haben. Sie haben sich natürlich die letzten Neuigkeiten
erzählt. ,Hast du schon gehört?' hat die Ente geschnattert. ,Heute abend
feiern wir Hochzeit im Schilf! Es wird Tauwürmer und Gründlinge geben.
Zu schade, daß du da in deinem albernen Stall sitzen mußt!'
Und Emma war ja so neugierig. Wenn sie bloß eine Hupe gehört hat, schon
kam sie gerannt, um nachzusehen, wer da wohl gefahren käme. Einmal hätte
man sie beinahe überrollt! Gestern abend nun wird sie auf der Hühnerstange
gesessen haben. Immer muß ich zu Hause bleiben, hat sie gedacht. Ich möchte
auch mal zum Ententanz!“
„Sie kann ja nicht schwimmen!“ sagt Nele.
„Glaubst du, das hat sie sich überlegt?“ fragt Opa. „Sie hat das Schnattern
im Schilf gehört und gedacht: Ach, was soll schon passieren? — Ich bin
eingeladen, ich gehe hin. D a hat sie sich durch das Klappfenster gezwängt
und ist losgelaufen. Hinterm Eichbaum aber hat der Fuchs gesessen. Dem
lief das Wasser im Mund zusammen, als er das Geschrei im Schilf gehört hat.
Oh, wie würde mir jetzt eine junge Ente gut schmecken, hat er gedacht. Und
da hörte er Schritte: tip — tip — tip. Das war Emma. Da duckte sich der
Fuchs, und dann machte er einen S a tz .. . “
„Ach, ach, ach“ , seufzt Nele. Und dann sitzen sie schweigend auf der Bank
und überlegen sich die Sache.

146
„Aber vielleicht kommt sie doch zurück?“ sagt Nele schließlich. „Vielleicht
hat sie der Fuchs gar nicht gefressen?“
Opa kratzt sich am Kopf.
„Möglich ist alles!“ meint er. „Und wenn ich es bedenke — dumm war sie
ja nicht, die Emma. Getrödelt hat sie, und neugierig war sie auch, aber sie
hatte ihren Hühnerverstand. Vielleicht hat sie nur ein paar Federn lassen
müssen und schläft jetzt den Schrecken aus!“
„Und wie ist das zugegangen?“ fragt Nele.
„Ja, wie ist das zugegangen“ , sagt Opa.
„Emma wird durch die Wiese gelaufen sein. Plötzlich hat sie Schritte gehört.
Sie war voller Angst und wollte losrennen — da hat der Fuchs sie schon in
den Zähnen gehabt. .Halt!“ hat Emma geschrien. .Halt, lieber Fuchs! Ich
muß dir etwas ausrichten!“
.Beeil dich!“ hat der Fuchs erwidert und sich die Lippen geleckt. ,Ich habe
nämlich großen Appetit auf dich!“
.Lieber Fuchs“, hat Emma gesagt, .mich haben die Hühner mit einer Bot­
schaft zu dir geschickt. Wir sind mit unserem Hahn nicht mehr zufrieden.
Er ist eingebildet und dumm, wir aber wollen einen gescheiten Herrn auf
dem Hühnerhof, einen, der so klug ist wie du, lieber Fuchs! Du hast auch
einen schöneren Schwanz als unser Hahn. Außerdem besitzt du vier Beine
und unser Hahn nur zwei. Kurzum, wir Hühner wollen, daß du unser König
bist!“
,Soso“, hat der Fuchs gesagt und bei sich gedacht: Das wäre nicht übel, alter
Freund, da könntest du dir jeden Tag in Ruhe einen fetten Braten aus­
suchen.
.Alle Hühner haben sich schon versammelt“, hat Emma weiter erzählt. ,Sie
warten auf der Insel im Teich auf dich. Auch die Enten sind geladen. Hörst
du nicht das Geschrei? Sie feiern schon, weil sie sich freuen, daß du unser
neuer König wirst!“
Der eitle Fuchs hat bei sich gedacht: deshalb der Lärm! Jetzt verstehe ich!
Das wird heute noch Entenbraten geben! Und er hat gesagt: ,Nun gut, ich
will künftig euer König sein. Jetzt wollen wir aber das Fest besuchen!“
.Komm nur mit!“ hat Emma gesagt und ist zum Schilf hinuntergegangen.
,He“, hat der Fuchs gerufen, ,ich kann aber unmöglich bis zur Insel schwim­
men. Das ist mir zu weit!“
,Laß mich nur machen“, hat Emma erwidert. Am Schilf hat sie sich mit den
Enten besprochen.
,Sie bauen dir ein Floß!“ hat Emma dem Fuchs erklärt. Und tatsächlich —
da kamen die Wildenten schon mit einem Floß aus Schilfhalmen geschwom­
men. Der Fuchs sprang darauf, Emma aber blieb am Ufer zurück.

10* 147
Als die Enten den Fuchs mitsamt dem Floß auf den Teich hinausgezogen
hatten, machten sie kehrt und schwammen ans Ufer zurück.
.Warum laßt ihr mich allein?“ hat der Fuchs gerufen. Unsere Emma aber hat
ihm vom Ufer aus geantwortet: ,Du bist so klug, lieber Fuchs, viel klüger
als jedes Huhn. Du wirst schon wissen, wie du wieder an Land kommst. Du
hast einen so schönen Schwanz, damit kannst du steuern. Und du hast ja vier
Beine, nicht nur zwei, wie wir Hühner, damit kannst du rudern!“
Dann hat sie sich ein Versteck gesucht und ist schlafen gegangen. Der Fuchs
aber ist die ganze Nacht auf dem Teich umhergepaddelt, und wenn er nicht
gelandet ist, dann schwimmt er heute noch draußen!“
Nele ist froh.
„Wenn Emma ausgeschlafen hat“ , sagt sie, „dann kommt sie zurück, nicht
wahr?“
„Wenn sich alles so zugetragen hat“ , meint Opa, „dann kommt Emma gewiß
zurück.“
Hannes Hüttner

148
Familie Siebenzahl zieht um

Die Familie Sieben2ahl hat bisher in zwei Räumen gewohnt — Mama und
Papa Siebenzahl, Oliver, August, Heinrich und die Zwillinge Markus und
Ilsebilse Siebenzahl.
Nun ziehen sie in eine Wohnung mit fünf Zimmern.
Alles ist eingepackt.
Auch die Möbelträger sind da.
„Wer viele Kinder hat, braucht große Schränke!“ sagt der starke Möbelträger
Fred und betrachtet den schweren Kleiderschrank.
„G u t angefaßt ist halb getragen!“ sagt der dicke Möbelträger Pitt.
„Ohne Futter bleibt das beste Pferd stehen!“ sagt der kleine Möbelträger
Paul und ißt einen Keks.
„Nun, Jungs“ , sagt der große Fred und blickt in die Runde. „H abt ihr noch
Saft und K raft?“
Die Möbelträger beugen die Arme und zeigen ihre Muskelmäuse.
„Wir spucken in die Hände!“ kommandiert Fred.
Die Möbelmänner spucken in die Hände und singen ein Lied:
„Wir heben und schleppen
über Flure und Treppen
mit Listen die Kasten,
die Kisten und Lasten.
Und wird ein Schrank uns zu schwer und zu groß —
ganz einfach, dann lassen wir —
los, faßt an,
ran, alle Mann,
Milch und Quark
machen uns stark!“
Sie schlingen ihre Gurte um den mächtigen Kleiderschrank und — hau ruck!
— haben sie ihn hochgehoben.
„Was aus Eichenholz ist, soll man sich nicht auf den Fuß fallen lassen!“ meint
Paul.
„E s ist nicht nur der Kummer, der ächzen macht“ , sagt Fred.
„Übrigens klappert etwas im Schrank.“
Sie tragen den großen schweren Schrank die Treppe hinab, Stufe um Stufe.
Zwischendurch setzen sie ab und wischen sich den Schweiß von der Stirn.
Als sie im dritten Stock sind, kommen die Kinder die Treppe herunter­
gesprungen und schreien: „Haaalt! Wir können nicht umziehen, Oliver
kommt nicht mit!“
Sie rennen wieder nach oben und rufen: „Mama! Papa! Wir müssen hier­
bleiben, Oliver kommt nicht mit!“
Oben in der Wohnung sitzt Oliver. Er ist blaß.

149
„Mir ist eben eingefallen, daß ich in eine andere Schule gehen muß“ , sagt
er. „In eine andere Klasse, wo ich keine Freunde habe!“
„E r hat recht“ , sagt August. „Ich bleibe auch hier!“
„Dann bleiben wir alle hier!“ sagt Papa Siebenzahl. „Eine Familie gehört
zusammen. Holt die Möbelträger zurück!“
„Wer flink arbeitet, hat früh Feierabend!“ sagen die Möbelträger und setzen
schnaufend den dicken, schweren Schrank ab.
Die kleine Ilsebilse fragt: „Können wir nicht die Schule mitnehmen?“
„D as Besehen hat man umsonst!“ sagen die Möbelträger. Sie gehen alle
hinunter zur Schule. In den Klassenzimmern sitzen die Kinder und lernen.
Der Hausmeister steht im Eingang. Er blickt mißtrauisch.
„Ein Mann verspricht wenig, aber hält viel“ , sagt der große Fred. Er faßt
die Schule und hebt sie probeweise hoch.
„He, he“ , schreit der Hausmeister.
„Wir werden die Schule mitnehmen!“ antwortet Fred.
„Ich weiß von nichts!“ sagt der Hausmeister.
Der Direktor kommt angerannt. Hinter ihm stürzen fünfzehn Lehrer und
sechzehn Schulklassen herbei. Vom Hochheben sind die Tische und Bänke
verrutscht.
„Worum handelt es sich?“ fragt der Direktor.
„Ich“ , stottert Oliver, „ich wollte fragen, ob wir die Schule mit in den
Dahlienweg nehmen können.“
„Im Dahlienweg gibt es schon eine Schule“ , sagt der Direktor. „Aber wenn
du willst, darfst du in dieser Schule bleiben. Du mußt freilich eine halbe
Stunde früher aufstehen!“
„Danke schön!“ sagt Oliver.
„Ich komme auch“ , sagt August.
Sie kehren in die Wohnung zurück.
„Habt ihr noch Saft und Kraft, Jungs?“ fragt der große Fred seine Män­
ner.
„Moment!“ sagt der kleine Paul. Er ißt einen Keks. Dann zeigt er wie die
anderen seine Muskeln vor.
„In Ordnung!“ meint Fred. „Wir spucken jetzt in die Hände!“
Die Möbelmänner spucken in die Hände und singen:
„Wir bücken, dann drücken
wir gerade den Rücken.
Wir schleppen die Schränke,
Tisch’, Stühle und Bänke.
Und wird uns etwas zu schwer und zu groß,
ganz einfach, dann lassen wir —

150
los, faßt an,
ran alle Mann,
Milch und Quark
machen uns stark.“
Sie heben den mächtigen Schrank an und steigen Stufe um Stufe hinab, vom
vierten in den dritten und in den zweiten Stock. „Fleiß macht heiß!“ ächzt
Pitt und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
„Starke Hände machen bald ein Ende!“ sagt Fred. „Übrigens: im Schrank
poltert etwas!“
D a kommen zehn fremde Kinder die Treppe heraufgestürzt und schreien:
„Haaalt! Sie können nicht umziehen! Heinrich muß hierbleiben!“
Sie rennen die Treppen hinauf und rufen:
„Herr Siebenzahl! Frau Siebenzahl!
Heinrich muß hierbleiben! Er ist unser Torwart! Er hält isogar Elfmeter!“
„Wenn Heinrich hierbleibt, werden wir alle bleiben“ , sagt Herr Siebenzahl.
„Wo ist er denn?“
„E r ist zum Sportplatz gegangen“ , sagt Ilsebilse.
Auf dem Sportplatz trägt Heinrich gerade das Fußballtor beiseite. Dann hebt
er das Spielfeld an einer Seite an und beginnt es einzurollen.
„Nein“ , schreien die Kinder aus Heinrichs Fußballmannschaft. „D er Sport­
platz muß hierbleiben!“
„Ich wollte ihn bei uns im Dahlienweg auslegen!“ sagt Heinrich.
„D ort können wir auch spielen.“
Da mischt sich Fred ein. „Wer nur nach seinem Sinn verfährt, der ist auch
keiner Freunde wert! Willst du nicht den Sportplatz dalassen? Du kannst
ja hierherkommen, um zu spielen!“ Heinrich ist einverstanden. Die Mö­
belmänner rollen den Sportplatz auseinander. Sie achten darauf, daß der
Rasen keine Falten wirft. Sie treten die Soden fest und kehren in die
Wohnung zurück.
„Habt ihr noch Saft und Kraft, Jungs?“ fragt der große Fred. Die Mö­
belmänner spannen die Arme, daß die Muskelmäuse springen.
„Bei dir“ , sagt Fred und meint Paul, „da wackelt der Muskel wie Pud­
ding!“
„Ich hab vergessen, meinen Keks zu essen!“ sagt Paul.
„Wir spucken alle in die Hände!“ kommandiert Fred.
Die Möbelmänner spucken in die Hände und singen:
„D ie Teller und Tassen,
die dürfen nicht klirren;
mit Glas und Geschirren,
da ist nicht zu spaßen.

151
Und wird uns ’ne Kiste zu schwer und zu groß,
ganz einfach, dann lassen wir —
los, faßt an,
ran, alle Mann,
Milch und Quark
machen uns stark.“
Fred, Paul und Pitt schlüpfen in ihre Gurtschlingen und heben ächzend den
großen Kleiderschrank hoch.
„Kommen jetzt alle mit in den Dahlienweg?“ fragt Fred.
„Ich will es nur wissen, weil wir heute noch einen zweiten Umzug haben!“
„Ja, ja“ , rufen die Siebenzahl-Kinder. „Wir kommen alle mit!“
Die Möbelträger schleppen den gewaltigen Schrank vorsichtig die Treppen
hinab. Am Möbelauto setzen sie ihn ab. Pitt fragt: „H abt ihr jemals einen
so schweren Schrank getragen?“
„Nein“ , erwidert Paul. „D as war der schwerste Schrank meines Lebens!“
„E s ist ein sehr geheimnisvoller Schrank“ , meint Fred. „Vielleicht sind
Gespenster drin, denn ich höre etwas kichern!“
Da kommt eine Frau. Sie sagt: „Guten Tag, ich bin Frau Kluckmehl, die
Kindergärtnerin. Wohnen hier Markus und Ilsebilse Siebenzahl?“
„ Ja “ , sagt Fred. „Aber die kommen heute nicht. Sie ziehen um.“
„Was soll ich nur machen?“ fragt Frau Kluckmehl. „D ie ganze älteste
Gruppe ist heute nicht erschienen!“
„Hier sind die Kinder nicht!“ sagt Fred. D a hört er es wieder kichern.
„Mancher sucht die Brille und hat sie auf der Nase!“ sagt Fred. Er schließt
die Schranktür auf. Achtzehn Kinder krabbeln aus den Fächern hervor.
„Wir wollten mit Markus und Ilsebilse umziehen!“ sagt ein Mädchen.
„Ich hätte ja nichts dagegen“ , meint Frau Kluckmehl. „Doch was soll ich
heute abend euren Eltern sagen?“
Die Kinder stellen sich zu zweien auf, fassen einander bei den Händen und
laufen in den Kindergarten. Frau Kluckmehl läuft hinterdrein.
Sie winkt den Möbelträgern, ehe sie um die Ecke biegt. Auch die Kinder
winken.
Nun holen Fred, Pitt und Paul, was noch zu holen ist: Tisch und Stühle,
Kisten und Kasten, Betten und Bettzeug. Die Siebenzahls werfen einen
letzten Blick in die alte Wohnung, in der sie viele Jahre gelebt haben. Dann
steigen sie in den Möbelwagen und fahren in den neuen Stadtteil.
Als alle Möbel aufgestellt sind, freuen sich die Siebenzahls. So eine große
Wohnung haben sie sich schon lange gewünscht.
„Habt ihr denn noch Saft und Kraft, Jungs?“ fragt der große Fred.
„Wir haben heute einen zweiten Umzug!“

152
Da spucken alle Möbelträger in die Hände, greifen zu den Milchgläsern, die
Frau Siebenzahl gebracht hat, und singen:
„E s fehlen: der Spiegel,
drei Töpfe, ein Tiegel,
und vom Hund fehlt der Schwanz,
sonst blieb alles ganz.
Nun ist uns nichts mehr zu groß und zu schwer,
wir nehmen uns die Milchgläser —
her, alle Mann,
stoßt mit an,
Milch und Quark
machen uns stark.“
Dann steigen sie in ihr Möbelauto und fahren davon.
Ende gut, alles gut!
Hannes Hüttner

153
T a p s u n d T in e

In einem Zimmer schlafen zwei Kinder: Taps und Tine. Es ist früh am
Morgen.
Ganz, ganz leise kriecht durch den Vorhang ein Sonnenstrahl. Er springt mit
einem Husch durchs Zimmer und landet auf Tapsens Ohr. „Killer, killer“ ,
macht er. Aber Taps brummt und dreht sich auf die Seite.
Der Sonnenstrahl klettert am Bettpfosten hoch. Direkt über Tapsens Bett
schläft Tine. Er krabbelt ihr mit dünnen Beinchen übers Gesicht. Als er
gerade auf die Nase gestiegen ist, macht Tine „Pschi!“ und wacht auf. Sie
steigt die Leiter herab. D a wacht Taps auch auf. Er singt: „L a, la, la“ ; Taps
freut sich, daß es Morgen ist.
Der Sonnenstrahl aber saust zurück zur dicken gelben Sonne und meldet:
„Taps und Tine haben ausgeschlafen.“ Da lacht die dicke gelbe Sonne.
Etwas geht über den Flur. „Patt, patt, patt!“ Die Tür zum Schlafzimmer
knarrt auf. Tine steht auf der Schwelle und ruft: „Papa, wir woll’n auf-
steeehen!“ Papa blinzelt zum Wecker. Als der Wecker sieht, daß Papa schon
wach ist, hüpft er hoch und macht „Kw arrr!“ „Husch!“ sagt Papa zu Tine,
„ziehst du wohl gleich die Pantoffeln an!“ Tine blickt auf ihre Füßchen. Die
Zehen haben sich zusammengeduckt und frieren. Da rennt Tine und schlüpft
in die Pantoffeln.
Mama wäscht die Tine. In der Hand hat sie den dicken Waschfleck. Der
Waschfleck ist naß und kalt. Tine mag den Waschfleck nicht. Mama fragt:
„Welche Hand nehmen wir zuerst?“
Tine überlegt: Die rechte oder die linke? „D ie rechte“ , sagt sie und streckt
die linke vor. Und da saust der Waschfleck auch schon über die Arme, das
Gesicht und den Bauch. Hinterher ist Tine ganz blank.
Dann wäscht sich Mama, und Tine zieht sich unterdes an. Ganz allein tut
sie das und macht auch die Knöpfe selber zu. „Eins — drei — zwei“ , zählt
sie dabei.
Nun ist Taps an der Reihe. Taps steht in der Badewanne und will das Wasser
festhalten, das aus dem Hahn fließt. Das Wasser aber witscht durch die
Finger und läuft davon. Davon wird Taps wütend. „Mmmmmhmm“ ,
brummelt er.
Da kommt Papa mit einem Waschfleck. Taps freut sich. Wenn der Papa sein
Gesicht wäscht, streckt er die Zunge weit heraus und schluckt den Seifen­
schaum. „Pfui, Taps“ , sagt Papa. Taps ist betrübt. Er zieht ein Gesicht und
sieht den Papa an. Papa pikt mit dem Finger auf seinen Bauch. Taps lacht.
Mama und Tine sind in der Küche. Auf dem Herd steht ein blauer Topf und
summt. In seinem Bauch wird das Wasser für den Tee heiß. Tine trägt ins
Wohnzimmer, was Mama hinstellt: die Frühstücksbrötchen, die Butter, die
Marmelade. Einmal ist Tine im Wohnzimmer geblieben. Sie hat sich auf ihren

154
Stuhl gesetzt und die Marmelade mit den Fingern gegessen. Da waren Papa
und Mama sehr traurig, und Tine war es auch, weil sie zuviel Marmelade
gegessen hatte und ihr Bauch weh tat.
Am liebsten teilt Tine die Eierbecher aus. Sie sind grün und gelb und rot,
und zu jedem Becher gehört ein Löffel in der gleichen Farbe. Manchmal paßt
Mama nicht auf und gibt ihr einen roten Löffel für einen grünen Becher. Den
tauscht dann Tine wieder um.
Nun sind alle vier fertig, und es wird gefrühstückt. Danach macht Mama
noch die Stullen für Tine. Tine darf sich aussuchen, was sie darauf haben
will.
Dann gehen Taps, Tine, Mama und Papa aus dem Haus.
Vor dem Haus steht eine große Kastanie. Darunter liegen viele, viele Sta­
cheligel, aus denen glänzende, braune Kastanien schimmern. Alle warten auf
Tine. ,,E i“ , ruft sie und stürzt darauf los. Alle Taschen stopft sie damit voll,
und als sie nichts mehr unterbringen kann, wirft sie die Kullern in Tapsens
Wagen.
Taps strahlt. Er nimmt sie und wirft sie wieder hinaus.
Papa sagt: „Jetzt ist es genug, Tine. Wir kommen sonst zu spät!“ An der
Ecke steht ein Auto. Taps ruft: „A tu, A tu!“ Das heißt Auto. Er steht im
Wagen und brummt. Jetzt ist er selbst ein Auto. Das Auto ist weiß und dick
und duftet wie frische Semmeln. An der Rückseite ist eine Tür, die steht
offen. Durch die Tür sieht man viele, viele Brote. Nicht einmal die Kinder
im Kindergarten könnten alle diese Brote aufessen. Es ist nicht das Auto,
es sind die Brote, die so warm und frisch duften — hmmmmm —, denn sie
waren eben noch im heißen Backofen. Ein Mann mit einer weißen Schürze
bringt die Brote in den großen Bäckerladen an der Ecke.
Da bimmelt eine Glocke: „Bim, bim — der Zug kimmt.“ Eine Schranke
streckt den Arm aus. „Horch“ , sagt der Papa. Taps und Tine horchen. Von
ferne kommt es näher. „Ratterratter . . . “ Dann pfeift die Lokomotive:
„Piiiiiiffff“ , und der Zug donnert vorbei: „Tschschsch — T attattat.“ In dem
Zug sitzen Leute. Taps und Tine winken. Auch die Leute im Zug winken.
Der Schrankenwärter dreht sich um. Er sieht Tine. Er nimmt die Tabaks­
pfeife aus dem Mund. „Und du?“ sagt er zu Tine. „Was meinst du, wo du
bleibst, wenn ich jetzt die Schranke hochdrehe?“ Er wackelt bekümmert mit
dem Kopf. Tine springt von der Schranke. Sie ist erschrocken.
Mama, ta p a , Tine und Taps gehen weiter. Taps steht im Wagen und sieht
aufgeregt nach vorn. Vorn läuft ein Hund. Er kommt immer näher. Es ist
ein großer gelber Hund, so groß wie der Kinderwagen. „Wa, wa!“ macht
Taps. „Wau, wau“ , sagt der Hund. „Wawawa!“ schreit Taps. „Wauwau­
wauwauwau“ , bellt der Hund. Er bellt viel lauter als Taps.

155
„Wawawawawa“ , heult Taps den Hund an. D a läuft der Hund weg. Taps
aber sitzt im Wagen und singt: „Wawawawawa.“
D a ist auch schon die Kinderkrippe. Papa hebt Taps aus dem Wagen. Da
steht Tante Irmchen und sagt: „Guten Morgen, Taps.“ Und Taps freut
sich, als er Tante Irmchen sieht. Papa, Mama und Tine winken. Auch Taps
winkt noch einmal.
Nun muß noch Tine in den Kindergarten gebracht werden.
„Tine“ , sagt Mama, „morgen zünden wir dem Taps ein Lichtlein an und
stellen Blumen auf den Tisch. Morgen hat Taps Geburtstag.“
„Fein“ , sagt Tine.
„Was wollen wir ihm denn schenken?“ fragt Mama.
„N a, Bonbons“ , meint Tine.
„Nein“ , sagt Papa. „Bonbons ißt man auf, und dann hat man nichts mehr,
worüber man sich freuen kann. Aber ich weiß was: Heute abend bleibt Tine
noch ein bißchen auf, und wir bauen Taps ein Pferd aus den Kastanien.“
„ Ja “ , ruft Tine, „ein Pferd mit einem langen Schwanz und einem großen
Kopf.“
Tine läuft die Treppen hoch, die zum Kindergarten führen. Heute hat sie
im Kindergarten etwas zu erzählen.
Papa und Mama aber gehen zur Arbeit.
Hannes Hüttner

156
T r o d d e l, T a p s u n d T in e

Es ist Sonntagvormittag. Der Wind weht. Er zaust die Wolken und treibt
sie über den Himmel. Es ist ein Drachenwind.
Taps und Tine haben einen Drachen. Er ist groß, größer als Taps. Mit Mama
haben sie alles für den Drachen eingekauft. Papier, Leim, Holzleisten und
Bindfaden. Papa hat ihn gebaut. Aber Taps und Tine haben dem Drachen
ein Gesicht geklebt!
Nun soll er in die Luft steigen.
„Ach“ , sagt Papa, „beinahe hätte ich vergessen: Ein Drachen muß auch
einen Namen haben.“
Das ist wahr. Alles hat einen Namen. Der Drachen lacht über sein Bunt­
papiergesicht.
Links und rechts trägt er zwei Troddeln von dem alten Sofa auf dem Boden.
Das Sofa war traurig, als ihm seine Troddeln abgeschnitten wurden. Aber
Tine hat gesagt:
„Liebes Sofa, ich bringe dir die Troddeln zurück. Die erzählen dir dann, was
sie alles gesehen haben!“
„Ääächz“ , hat das Sofa gemacht, „knarr, knarr!“
Das hieß: na gut.
Tine erklärte: „Ich weiß, wie der Drachen heißt. E s ist der Troddel-Dra­
chen.“
„Schön“ , sagt Papa, „er muß auch einen Vornamen haben. Wir nennen ihn
Otto Troddel.“
Damit sind alle einverstanden.
Und nun gehen sie los. Vornweg geht Taps. Taps wollte so gern den Drachen
tragen, aber Taps war zu klein. Beinahe wäre er ins Papier getreten. Aber
Taps trägt die Werkzeugtasche!
Die Werkzeugtasche ist eigentlich Tines Frühstücksmappe für den Kin­
dergarten. Aber heute sind ein Taschenmesser, eine Rolle Drachenpflaster
und eine Tube Leim darin. Vielleicht passiert dem Drachen etwas? Dann
geht Tine. Tine trägt den Drachen mitsamt dem langen Schwanz. Sie hat
tüchtig zu tun.
„Knirr, Ijnirr“ , ruft der Drachen Otto Troddel, als er den Wind spürt, und
will gleich davon. Tine muß ihn festhalten.
Hinterdrein geht Papa. Papa sucht die richtige Stelle, wo der Drachen in die
Luft gelassen wird.
„Vielleioht hier?“
Ja, hier ist Platz. E s ist ein Stoppelfeld. Es gibt keine Telegrafendrähte in
der Nähe, die dem Drachen ein Bein stellen können. Und Häuser auch nicht,
die dann mit ihrem Schornstein nach dem Drachen greifen.
Papa wickelt den Bindfaden ab.

157
„Paß auf, Tine!“ sagt er. „Wenn ich rufe ,los‘, mußt du den Drachen los­
lassen.“
So wird’s gemacht. „L o s“ , ruft Papa. Der Wind nimmt den Drachen auf
seinen Rücken. Der Drachen Otto Troddel steigt hoch und wedelt mit dem
Schwanz. Tine hüpft noch einmal und will den Schwanz fassen. Aber „sssst“
saust er vor ihrem Gesicht in die Höhe. Jetzt ist der Drachen schon so
hoch...
„Wie die Luft“ , sagt Tine. Sie rennt zu Papa. Papa gibt ihr die Rolle mit
dem Bindfaden. Der Drachen zieht und ruckelt. Es gefällt ihm da oben. Er
will noch höher, er will alles sehen: die Stadt mit den hohen Schornsteinen
und die Felder an ihrem Rand; die Landstraßen, die in alle Richtungen
führen, und die Autos, die darauf fahren.
„Surr, surr“ , sagt der Bindfaden. „Wickelt mich ab, der Drachen Otto
Troddel will höher hinaus!“
Tine muß sich ordentlich gegen die Erde stemmen, so zieht der Drachen am
Bindfaden.
„Jetzt schicken wir ihm eine Postkarte“ , sagt Papa. Er nimmt einen Streifen
Papier, hängt ihn über die Drachenschnur und knifft die Enden zusammen.
Der Wind bläst „ffft-ffft“ , und die Postkarte rutscht die Schnur hinauf. Sie
wird kleiner und kleiner...
„E r wackelt, er wackelt!“ ruft Tine. „Nicht, Papa, jetzt hat der Drachen
einen schönen Gruß gekriegt!?“
„Jawohl“ , sagt Papa.
Und Taps?
Der Taps steht da, mit der Werkzeugtasche um den Hals, und schluckt und
schluckt...
Soviel Tränen kann ein kleiner Junge gar nicht hinunterschlucken.
„Uäääh“ , schreit Taps, „will auch Drachen haben!“ Papa und Tine sehen
sich an. Kann man einem so kleinen Jungen einen so großen Drachen zum
Halten geben?
„Weißt du, Papa“ , meint Tine, „er darf mit anfassen!“
Taps faßt mit an.
„Komm“ , sagt Tine, „wir wickeln noch ein bißchen Bindfaden ab!“ Der
Taps soll ruhig etwas lernen, wenn er schon mit anfassen darf. Sie wickeln
ab, so schnell es geht.
Der Drachen schlägt vor Freude einen Purzelbaum. Und noch einen. Und
mit einem Mal — ratsch — stürzt er auf die Erde!
Alle rennen zum Drachen. Otto Troddel läßt die Ohren hängen. Er hat sich
eine Leiste gebrochen.
„K aputt!“ sagt Taps traurig.

158
Aber Papa macht den Drachen wieder ganz, mit einem Stück Holz und
Drachenpflaster. Otto Troddel lacht wieder.
Noch einmal klettert der Drachen in die Luft.
Taps schielt zu Papa hoch und sagt leise: „Allein anfassen!“
Taps darf allein anfassen. Der Drachen rüttelt und ruckelt.
Tine ist ein bißchen beleidigt. Jetzt darf sogar der Taps den Drachen halten!
Heute früh aber hat Papa gesagt: „Den Drachen darf nur halten, wer schon
über die Tischplatte gucken kann!“ Sie sieht zu, wie die Drachenschnur singt
und surrt „burr-burr.“ Und sie sagt: „Nicht, Papa, wenn der Wind ganz toll
geht, dann zieht der Drachen den Taps in die Luft. Der Taps ist ja noch
so klein!“
„Hm“ , sagt der Papa und überlegt, ob so ein Drachen einen kleinen Jungen
wie Taps wirklich in die Höhe ziehen kann.
Aber der Taps wartet nicht ab, bis der Papa zu Ende überlegt hat. Er ist
sehr erschrocken. Er will nicht über die Felder fliegen. Er will lieber nach
Hause und Kompott essen!
Und da läßt er den Drachen Otto Troddel einfach los. Er macht die Hand
auf, und der Stock mit dem Bindfaden rollt über die Erde, hüpft in großen
Sprüngen davon und weg ist er.
„Papa“ , schreit Tine. Aber der Drache Otto Troddel nickt und dreht sich
und wackelt mit dem Schwanz: niemand hält ihn mehr fest. So fliegt er dahin
und verschwindet hinter den Häuserdächern am Stadtrand, und niemand
Weiß bis heute, wohin er geflogen ist. Und da gehen die drei nach Hause
zurück: vorneweg der Taps mit der Werkzeugtasche. Dann die Tine ohne
Drachen. Sie ist sehr betrübt. Was soll sie dem alten Sofa auf dem Boden
sagen, wo seine Troddeln geblieben sind? Und dann geht der Papa und
überlegt: Sie werden jetzt einen neuen Drachen bauen und der muß dann
den Otto Troddel suchen helfen.
Hannes Hüttner

159
Judiths wunderbarer Ball

Seht den allerschönsten Kindergarten!


Seht den Park, mit Bäumen so hoch, daß sie beinahe an die Wolken stoßen.
Seht den Teich mit Enten darauf; und den Traktor seht, mit dem das
Entenfutter herangefahren wird. Seht die Wiese euch an: da das Sputnik­
karussell, dort die Raketen rutsch bahn. Hui, die kann man hinuntersausen!
Alles, was ihr euch denken könnt, das gibt’s in diesem allerschönsten
Kindergarten. Und noch mehr . .. Aber während die Kinder Enten füttern
und Vogelhäuschen an den Birken befestigen und auf der riesigen Weltkugel
den Nordpol erklettern, sitzt drinnen in dem hellen Haus mit den großen
Fenstern das Mädchen Judith.
Das hält einen Pinsel in der Hand und summt.
Vor ihm auf dem weißen Zeichenkarton leuchtet ein Ball: Bunt wie der Hahn
im Bilderbuch. Diesen Ball hat Judith gemalt, ganz allein.
Kaum aber hat Judith das Bild an die schwarze Wandtafel geheftet — kaum
hat sie vor Freude in die Hände geklatscht — kaum ist sie hinausgesprungen
in den Park, um den anderen zuzurufen: „Ich habe einen Ball gemalt! Ich
habe einen Ball gemalt!“ — und kaum, daß die ersten neugierig herandrängen
— da — enttäuscht begucken die Kinder die Tafel. Die Größte deutet sogar
mit dem Finger darauf und sagt: „D a ist kein Ball. Da ist ein Loch!“
„Mein Ball, mein Ball . . . “ , stammelt Judith. Und Tränen steigen ihr in die
Augen.
Mit einem Male zeigt Daniel, der Kleinste, unter den Tisch: „D a! Ein
Ball!“
Judith glaubt zu träumen. „D as ist mein Ball“ , flüstert sie.
Wahrhaftig: Er ist herausgesprungen, der Ball, damit alle ihre Freude daran
haben können!
Zögernd, mit beiden Händen, ergreift sie den Ball. Die anderen bewundern
ihn: Ein schöner Ball! Judith ist sehr glücklich jetzt. Und sie jubelt: „Kommt,
wir wollen spielen mit dem Ball!“ Begeistert stimmen alle ein.
Draußen vor dem Haus hält Judith den Ball hoch über ihren Kopf. „Hier!“
ruft sie.
Und die um das Mädchen herumstehen, rufen im Chor: „Hier!“
Da verlassen die Kinder die bunten Enten — und die Raketenrutschbahn.
Verlassen steht der Traktor. Alle, alle spielen sie mit dem schönen Ball. Zur
Wiese geht’s, am Ententeich vorüber, am Traktor vorbei...
Jeder will ihn fangen, jeder ihn werfen. Steil steigt er zur Sonne auf. Und
er glänzt, der Ball, wie die Augen der Kinder glänzen. Wie glücklich alle sind
beim gemeinsamen Spiel!
Aber wo ist Judith, die den schönen Ball gemalt hat? Abseits steht sie. Sie
freut sich nicht mehr mit den anderen. Sie lacht nicht mehr: Sie zieht die

160
Stirn in Falten. Und plötzlich ruft sie: „D as ist mein Ball, ich hab ihn
gemalt!“
Niemand hört Judith. „Rrrrrrrrrrrr . . . “ Ein Hubschrauber über dem
Kindergarten! So tief fliegt er, daß man die Piloten in der gläsernen Kanzel
sehen kann. Jetzt winken sie. Und da winken auch die Kinder, recken sich,
strecken die Arme aus, als wollten sie den Hubschrauber mit den Händen
greifen.
Währenddessen rollt der Ball den Abhang hinunter. Geradewegs Judith vor
die Füße. Sie drückt den Ball fest an sich. „D u bist mein Ball. Ich hab’ dich
gemalt!“
Und schnell — so schnell, daß man es nicht sehen kann — versteckt Judith
den Ball im dichtesten Gesträuch. Dann stakt sie schnurstracks auf die
Weltkugel zu und klettert auf den Nordpol. Der Hubschrauber ist hinter den
hohen Bäumen verschwunden.
Die Kinder wollen wieder mit dem Ball spielen. Doch wo ist er? Ratlos
schauen alle in die Runde. Niemand kann ihn entdecken. Judith aber ruft
ihnen von der Weltkugel zu: „Wo ist mein Ball geblieben?“ Und mit den
Beinen schlenkernd, befiehlt sie: „Ihr müßt ihn suchen. Sucht meinen Ball!“
Sogleich beginnen die Kinder zu suchen:
Zwischen den Ringelblumen — unter den Birken — in der Raketenrutschbahn
— nirgends wird der Ball gefunden.
Schließlich stehen die Kinder traurig vor Judith. „Wir können ihn nicht
finden!“
Judith blickt von oben, vom Nordpol, auf die anderen herab. „Ihr seid
böse.“
Und als die anderen Kinder bitten: „Male uns einen neuen B a ll. . . “ , da sagt
sie nichts als: „Nein.“
Alle Kinder denken: Wie traurig ist Judith über ihren verlorenen Ball. Und
alle wollen trösten: „Möchtest du die Enten füttern?“ fragen sie.
„Möchtest du die Blumen gießen?“
„Möchtest du auf dem Traktor fahren?“
„Nein. Nein. Nein.“
D a drängt sich Daniel, der Kleinste, zu Judith durch. Sein liebstes Spielzeug
kramt er aus der Hosentasche: einen abgegriffenen Tennisball. Freundlich
bittet er: „Nimm den.“
Doch Judith springt von der Weltkugel und antwortet: „Den will ich
nicht!“
Dann stolziert sie zu dem dichtesten Gesträuch, zieht den Ball heraus und
zeigt ihn triumphierend. „Mein Ball ist viel schöner. Er gehört hur mir. Ihr
dürft nicht mehr mit ihm spielen.“

11 161
Die Kinder starren das Mädchen an. Daniel, der Kleinste, blickt betrübt auf
seinen guten, alten Tennisball. Judith aber hüpft mit dem schönen Ball
davon, quer über die große Wiese. Langsam, eines nach dem anderen, wen­
den sich die Kinder wieder ihren Beschäftigungen zu: Sie füttern die Enten,
sie gießen die Blumen, sie sausen die Raketenrutschbahn hinunter...
Und Judith? Was tut sie? Fernab von allen spielt sie mit ihrem Ball. Aber
nun klatscht sie nicht mehr in die Hände zwischen Fangen und Werfen —
nein, allein macht das Spielen keinen Spaß! Schließlich setzt sich Judith auf
den Ball. Ach, sie sieht gar nicht mehr glücklich aus.
Plötzlich — was ist geschehen? Judith rutscht ins Gras! Und der Ball rollt
— in das Haus zurück! In das helle Haus mit den großen Fenstern. Angstvoll
klagt sie: „Mein Ball ist weg!“
Aber wer soll ihr noch glauben? Und niemand hört das Rufen. D a läuft
Judith dem Ball nach, ins Haus. Ja, der Ball ist wieder ins Blatt gekrochen:
soviel Judith an dem Papier kratzt, soviel sie auch bettelt: „Bitte, bitte,
komm doch heraus!“ — der Ball bleibt auf dem Papier.
Plötzlich steht die Kindergärtnerin vor der weinenden Judith. „D as ist nun
so“ , sagt sie. „D u hast einen schönen Ball gemalt. Der ist sogar aus dem
Papier gesprungen, damit alle ihre Freude daran haben können. So schön war
er. Und was hast du getan?“
„Ich will es nie wieder tun“ , sagt Judith.
„Kommt er dann auch heraus?“
Darauf antwortet die Kindergärtnerin: „Geh zu den anderen. Geh nur.“
Aber alle wenden sich von Judith ab, wo sie auch bittet: „D arf ich euch
helfen?“
Am Ententeich — am Blumenbeet — an der Birke.
Nun hockt Judith im Gras. Dicke Tränen kollern über ihr Gesicht. „Nie­
mand spielt mit mir!“ schluchzt sie.
Wie Judith noch so traurig ist und sehr einsam, kommt Daniel, der Kleinste.
Derselbe, dessen Tennisball sie verschmäht hat. Noch einmal streckt er ihr
den guten, alten Tennisball hin. „Komm spielen!“
Denn: alle wollen fröhlich sein und einander gute Freunde in diesem aller­
schönsten Kindergarten!
D a sind die Tränen bald getrocknet, vergessen ist die Einsamkeit. Und Judith
denkt froh: Wie gut das ist, das Zusammensein! Immer vergnügter wird sie,
und Daniel, der Kleinste, wird immer übermütiger. Jetzt schleudert er den
Tennisball so weit, daß — seht ihr ihn noch?
Zu weit flog der gute, alte Tennisball: Der Kleinste schreit auf: „N ein!“
Über den Zaun, hinaus aus dem Kindergarten! Einem Spatzen hüpft er über
den Kopf — platz, in die Pfütze hinein! Auf dem Fahrdamm malt er eine

162
schmale Spur . .. Judith und Daniel spähen durch den Zaun, lachen hell auf
über die Späße des guten, alten Tennisballs. Bemerken sie denn nicht — das
gelbe Postauto summt heran . .. Da! „Peng!“ knallt es.
Aber alles Jammern nützt nichts: In zwei graue, unansehnliche Hälften
zerfallen, bleibt der Tennisball auf dem Pflaster zurück .. . Das Postauto
summt schon um die nächste Ecke. Nun weint der Kleinste bitterlich. Hilflos
sieht Judith von Daniel zu den Resten des Balls — von den Resten des Balls
wieder zu Daniel. Und sie sinnt angestrengt: Wie könnte ich ihn nur trö­
sten?
Da fällt ihr etwas ein ... So schnell sie ihre Beine tragen wollen, rennt Judith
durch den Park — vorbei am Sputnikkarussell, zwischen den Birken durch,
am Teich vorbei. Geradewegs in das helle Haus läuft sie. Und wieder steht
Judith vor der schwarzen Tafel. Geschäftig löst sie das Bild vom Holz,
betrachtet noch einmal den bunten Ball. Dann aber, ohne zu zögern, trägt
sie das Bild hinaus. Und zurück geht’s — am Teich vorbei, zwischen den
Birken durch, vorbei am Sputnikkarussell ... Zurück zum Kleinsten läuft
sie, das Bild sorglich in den Händen haltend.
D a steht Daniel noch immer, den Kopf gegen den Zaun gelehnt. Im ersten
Augenblick weiß Judith nicht, wie sie beginnen soll. Endlich sagt sie: „Nimm
das. Wenn es auch bloß gemalt ist . . . “ und hält ihm das Blatt hin.
Wie Daniel den Kopf hebt, erkennt er durch seine Tränen das schöne
Geschenk. Noch wagt er nicht, das Bild zu berühren. Aber als er es dann
doch ergreifen will — springt der Ball, schön und bunt wie er ist, heraus!
Vor die Füße des Kleinsten. „Unser Ball ist wieder da!“ jauchzt er.
Sofort stürmt Daniel zu den anderen Kindern, den Ball fest unter den Arm
geklemmt.
Judith hat noch immer das leere Papier in den Händen. „D er Ball ist wieder
da“ , flüstert sie so leise, als würde das erste laute Wort alles zunichte machen.
Die Wangen glühen ihr, und das Herz klopft stürmisch. Ja, das ist auch eine
Freude. Von der Wiese her schallt fröhliches Rufen: „Unser Ball ist wieder
da! Unser schöner Ball!“
Verlassen ist das Sputnikkarussell — verlassen die Raketenrutschbahn —
verlassen steht der Traktor. Überglücklich stürmt Judith nun zu den
Spielenden. Und mit den anderen freut sie sich: Wie der Ball in der blauen
Luft leuchtet! Wird er nicht schöner mit jedem Wurf? Ja, so wie die Augen
der Kinder glänzen, so glänzt dieser Ball.
Da singen auch die Vögel in den hohen Bäumen ihr schönstes Lied.
Die Sonne strahlt vom Himmel, und der Wind hält den Atem a n ...
Habt ihr die Geschichte verstanden?
Dann erzählt sie weiter. Wera und Claus Küchenmeister

11* 163
Der Räuberhase

Lange vor dem Morgenkaffee wachte Wendelin auf. Er sprang aus dem Bett
und öffnete das Fenster. Sein Blick fiel auf das weiße Margeritenbeet.
Und von den Margeriten sah er auf die feuerroten Heckenrosen. Und von
den Heckenrosen auf die Glockenblumen hinter dem Zaun. Und von den
Glockenblumen auf den Gänseblümchenberg.
Und von dem Gänseblümchenberg auf — nein, das werdet ihr nicht raten,
worauf: Mitten auf dem Hügel saß ein Hase, der hatte Ohren, so lang wie
Kohlblätter sind.
Und das Wunderbare war: Zwischen seinen Ohren ging die Sonne auf: groß
und rund und honiggelb.
„D er Hase hält die Sonne fest“ , rief der Junge aufgeregt, rannte zu seinem
Vater und schüttelte ihn aus dem Schlaf.
„Ist denn das die Möglichkeit“ , murmelte der Vater und schlief wieder ein.
„Ohne die Sonne wird es nicht T ag“ , schrie Wendelin dem Vater ins Ohr.
„Und Mittag wird es nicht, und Mittagessen gibt es dann auch nicht und
kein Kompott.“
Der Vater blinzelte, und seine linke Augenbraue zuckte. Schließlich rappelte
er sich aus dem Bett und schaute hinaus. Der Hase stand noch immer auf
dem Hügel und hielt die Sonne fest.
Der Vater brummte vergnügt: „D u brauchst keine Angst um die Sonne zu
haben. Es sieht nur so aus, als hielte er sie fest. In Wirklichkeit steht der
Hase auf dem Hügel, und die Sonne steigt hinter ihm am Himmel empor.“
„Stimmt das auch?“ fragte Wendelin und zog die Stirne kraus. Da füllte der
Vater ein Glas mit Wasser und stellte es aufs Fensterbrett. „Schau mal ins
Wasser!“ sagte er.
Wendelin blickte hin. Die Sonne blitzte in dem Wasser wie ein schöner
Edelstein.
„Hier ist die Sonne sicher“ , lachte der Vater. „D a kann auch ein Räuberhase
nicht ran. Du brauchst jetzt nicht mehr aus dem Fenster zu sehn!“
Wendelin hüpfte in die Kissen und starrte von dort die Sonne in dem
Wasserglas an. Das wäre geschafft, dachte der Vater erleichtert und zog
zufrieden das Kissen bis zur Nase hinauf. Kurze Zeit danach schob sich eine
kleine Wolke vor die Sonne, und das Glitzern in dem Wasserglas erlosch.
„D ie Sonne ist weg“ , rief Wendelin und riß seinem Vater das Kissen vom
Bauch.
Der Vater seufzte schwer und kroch ein neues Mal aus dem Bett. Dann
blickten beide zum Himmel empor. Die Wolke war davongeschwebt. Der
Hase saß noch immer auf dem Hügel, grinste fröhlich und tat wie einer, der
darauf wartet, daß der Himmel auf die Erde fällt. Und über seinem Kopf
hing nach wie vor die Sonne: groß und rund und honiggelb.

164
„Jetzt müssen wir sie retten“ , schrie Wendelin. „Wir steigen auf den Berg
und scheuchen den Hasen weg.“
Und schon marschierte er los — in seinem Nachthemd und barfuß. Ein kleiner
Spaziergang kann nicht schaden, dachte der Vater und marschierte mit.
Sie stiegen auf den Gänseblümchenberg — leiser, als ein Spinnfaden fällt.
Unter der Hügelspitze legten sie sich wie Indianer hinter einen Busch.
Wendelin klaubte einen Brocken Erde auf und warf ihn auf den Hasen. Der
Brocken traf den Hasen dort, wo er am kitzligsten war: unter dem linken
Vorderbein. D a fing er laut zu lachen an.
Seine Ohren wackelten auch. Um ein Haar wäre ihm die Sonne entschlüpft.
Aber dann hörte er plötzlich auf, stand wieder fest wie ein Baum und schaute
weiter in die Welt.
Da sagte der Vater mit grimmiger Stimme: „Jetzt erschrecken wir ihn, egal,
was passiert. Ich zähle bis drei, und dann rennen wir los. Ich wette, daß er
lange Beine machen wird.“
Da hörten sie, wie jemand sang. E s war Karlinchen, die kleine Schwester,
die den beiden heimlich nachgeschlichen war. Sie hatte unterwegs Blumen
gepflückt: Margeriten, Heckenrosen, Glockenblumen und Gänseblümchen
und hielt den ganzen Sommer im Arm. Karlinchen sang:
„Sonne, Sonne, bleib mal stehen,
will in deine Augen sehen.
Hast du gelbe oder schwarze,
weiße oder graue, grüne oder rote
oder etwa himmelblaue?“
Der Hase über ihr spitzte erst das linke Ohr und dann das rechte. Karlinchen
sang so schön, daß er bei der ersten Zeile seinen linken Löffel senkte, um
besser hören zu können. Und bei der letzten Zeile klappte er sogar den rechten
Löffel ein.
D a war die Sonne frei. Sie schwebte über ihnen: groß und rund und honig­
gelb. Und als das Lied zu Ende war, hoppelte der Hase gemütlich davon.
„D as wäre geschafft“ , sagte der Vater erleichtert. „Jetzt können wir endlich
frühstücken gehn.“
Wendelin aber kletterte auf den Hügel und streckte seine kleinen Hände zur
Sonne empor. „D u hast recht“ , sagte er. „D ie Sonne ist für den Hasen ein
bißchen zu hoch.“
„Und ahch für Knirpse wie dich“ , rief Karlinchen und winkte der Sonne zu,
die weit im Weltenraum flog. Die Sonne lachte über die Hasenjäger und weil
man mit einem Lied im Ohr überhaupt nicht traurig sein kann.

Alfred Könner

165
Drei kleine Bären

Drei kleine Bären saßen im Gehege eines Tierparks und schauten sich die
Besucher an.
„D er sieht ja niedlich aus“ , sagte der erste kleine Bär und zeigte auf einen
jungen Mann mit einem mächtigen Bart. Dann kamen zwei junge Mädchen,
die dauernd kicherten.
„Schrecklich“ , sagte der zweite kleine Bär, „nicht einmal brummen können
• H
sie.
„O h“ , rief da der dritte Bär und zeigte auf ein kleines Kind, das auf der Wiese
zu einer Blume kroch. „Endlich mal ein Menschlein, das auf allen vieren
laufen kann.“
In diesem Augenblick knarrte die Tür, und Paule, der Tierwärterjunge, kam
in das Gehege. Er wollte Maikäfer für die Hühner sammeln und schüttelte
den jungen Kastanienbaum, der mitten im Gehege stand. Doch das Bäum­
chen rührte sich nicht.
„D a sind wir dabei“ , brummte der erste kleine Bär und tapste zu dem Baum.
Er schüttelte ihn und bog den Stamm zu sich herab. Auch der zweite kleine
Bär wackelte herbei, faßte den ersten um den Bauch und zog nach Leibes­
kräften mit. Und auch der dritte kleine Bär rackerte sich ab.
Immer tiefer senkte sich der Wipfel. Die Maikäfer plumpsten auf die Erde.
Plötzlich rissen die drei kleinen Bären das Bäumchen aus dem Boden her­
aus.
„Ist was?“ fragte der erste kleine Bär.
„Nichts. Nur der Baum ist draußen“ , sagte Paule erschrocken. Er sammelte
die Käfer auf. Dann holte er einen Spaten und grub das Bäumchen schnell
wieder ein.
„Wir sind eben zu stark“ , brummten die drei kleinen Bären und schlugen
sich mit ihren Tatzen auf die Schenkel.
Dann stieg Paule auf eine Eiche, um einen starken Ast abzusägen, der zu
tief gewachsen war.
„D a sind wir dabei“ , rief wieder der erste kleine Bär, kletterte auf die Eiche
und setzte sich auf den Ast. Doch der Ast bewegte sich nicht.
Und schon war der zweite kleine Bär unterwegs, kletterte auf den A st und
setzte sich daneben. D a wackelte der Ast. Auch der dritte Bär kam, kletterte
hinauf und setzte sich.
Es knackte gefährlich, doch der Ast brach nicht ab.
„Soll ich helfen?“ fragte eine Mücke.
„D aß wir nicht lachen“ , riefen die drei kleinen Bären und wippten auf dem
Ast.
Aber die winzige Mücke schwirrte herbei und setzte sich weit außen auf den
Ast. D a krachte es, und die drei kleinen Bären purzelten ins Gras.

166
„Schlappe Kerle seid ihr“ , rief die Mücke. „Ich hab es ganz allein ge­
schafft.“
„Nicht zu glauben“ , brummten die drei kleinen Bären und kratzten sich
hinter den Ohren.
Nicht lange danach piepste es in ihrer Nähe. Ein kleiner Spatz war aus dem
Nest gefallen und flatterte hilflos am Boden. Die Eltern schossen aufgeregt
um das Junge herum.
„Helft uns“ , schrie die Spatzenmama.
„D a sind wir dabei“ , rief der erste kleine Bär, ging leise zu dem Vögelchen,
damit es nicht erschrak, leiser, als ein Spinnfaden fällt, und hob es vorsichtig
mit den Spitzen seiner Tatzen auf. Aber er reichte nicht bis zum Nest hin­
auf.
Da trippelte der zweite kleine Bär herbei, und der erste kleine Bär stieg auf
dessen Rücken. Doch auch jetzt kam er mit seiner Tatze noch nicht bis zum
Nest.
D a wackelte der dritte kleine Bär herbei und stieg dem zweiten auf den
Rücken.
Jetzt endlich erreichte der erste kleine Bär den A st und legte den jungen
Spatzen in das Nest.
„Wie schön, daß wir so viele sind“ , sagten die drei kleinen Bären zufrieden
und legten sich ins Gras, um ein Schläfchen zu tun. Die Spatzen waren außer
sich vor Freude und lärmten, daß es durch die neunundneunzig Bäume des
Tierparks zu hören war.
Alfred Könner

167
Ein Riese namens Emil

Abends nach dem Schlafengehen stellt der kleine Arne sich vor, daß er ein
D-Zug ist. Einer, der laut pfeifen und zischen kann. Wenn er über die
Straßen und Brücken donnert, bleiben alle Leute stehen und staunen: Seht
nur, was Arne für ein prachtvoller D-Zug ist! Aber am Tage — ach! Am
Tage ist Arne kein D-Zug. Auch kein schneller Personenzug.
Nicht mal eine kleine bimmelnde Bummelbahn.
Tagsüber ist Arne schüchtern und still und leider ziemlich langsam. Noch
langsamer als die kleine, erbärmlich bummelnde Bimmelbahn. Und darüber
ist er manchmal traurig. Dabei ist Arne ein lieber Junge, der seiner Mutti
gern Freude macht. E s kommt vor, daß die Mutter verkündet: „Heute
kochen wir Spinat mit E i.“ Sofort sagt Arne mit seiner lieben leisen Stim­
me: „Dann geh ich für dich einkaufen, Mutti.“
Obwohl er viel lieber Grießbrei mit Kompott mag als Spinat. Einkäufen geht
Arne gern. Besonders bei Frau Hildebrand. Sie sieht aus wie ein Schneemann
mit Brille, findet er. Weil sie so mollig ist und in einem blitzweißen Kittel
steckt. Auch ihr Häubchen ist blitzweiß. Frau Hildebrand verkauft Zucker
und Milch, Mehl, Eier und Salz. Im Konsum gleich um die Ecke. Arne nimmt
den kleinen Henkelkorb und hängt seine kirschrote Schaffnertasche um. Die
Mutter legt eingewickeltes Geld hinein und einen Zettel. Darauf steht: sechs
Eier.
„Wirst du auch nicht trödeln?“ fragt sie.
„Diesmal nicht, Mutti!“ verspricht Arne. Und wirklich geht er ganz ordent­
lich, ohne längere Pausen, die Treppe hinunter. Draußen vor der Haustür
sitzt Meiers Katze und sonnt sich. „N a, Katze?“ Arne hockt neben der
Grauen nieder und streichelt ihren buschigen Kopf, bis sie behaglich zu
schnurren beginnt. E s hört sich fast so an, als ob Meiers Katze einen kleinen
Motor im Leibe hat. Wie ein Aufziehauto. Darüber muß Arne lange nach-
denken. E r überlegt: Jetzt weiß ich, warum die Katze so flitzen kann.
Endlich sagt er: „Katze, ich hab gar keine Zeit. Du wirst dich aber wundern,
was ich einkaufe. Eier, hörst du, Eier!“
Arne ist stolz, daß er so schwierige und zerbrechliche Sachen einholen darf.
Die Katze streckt die Beine aus, wird immer länger, und dann gähnt sie,
gähnt, daß ihre spitzen Zähne und die rosa Zunge zu sehen sind.
Ist das alles? Arne ärgert sich. Deshalb tadelt er: „Man hält die Hand vor
den Mund, wenn man gähnt!“
Und dann läßt er Meiers motorisierte Katze einfach sitzen. Er trabt mit
seinem Henkelkorb und der Schaffnertasche drei Häuser weit.
Vor dem vierten Haus hockt der lange Fredi und putzt sein Motorrad. Der
rote Lack ist schon spiegelblank. Fredis Motorrad könnte mit jedem kan­
dierten Apfel weitteifern und würde glatt gewinnen.

168
Als Arne eine Weile zugesehen hat, wie Fredi putzt und poliert und sich plagt,
fragt er schüchtern: „D arf ich wohl mal mitfahren?“
„Später“ , antwortet Fredi väterlich, „wenn du groß bist.“
Arne reckt sich, sosehr er kann. „Eier holen darf ich schon“ , erklärt er —
und bekommt einen Schreck. Die Eier!
„Ich muß mich beeilen. Wiedersehen, Fredi“ , ruft er.
Jetzt kommt Arne schnell vorwärts. Er ist nämlich ein rotes Motorrad, das
wundervoll knattern und hupen kann. Mit hundert Sachen geht es in die
Kurve und prescht dann schnurstracks in den Konsum. Dort wird es wieder
ein kleiner Junge mit blaßblauen Augen und hellem Strubbelhaar.
Frau Hildebrand freut sich, als sie ihn sieht. Sie packt die Eier besonders
sorgsam ein, legt sie in Arnes Körbchen und sagt: „Geh aber gleich nach
Hause, hörst du?“
Sie kennt ihren Freund. Arne sagt „ja “ und „auf Wiedersehen“ und geht ganz
brav um die Ecke in seine Straße. Leer und still liegt sie in der Sonne. Kein
Fredi — kein Motorrad — keine Katze. Arne geht ein Schrittchen. Dann noch
eins. Er guckt ein bißchen nach rechts, ein bißchen nach links. Er steigt auf
das Vorgartenmäuerchen. D a wird aus ihm ein mutiger Held, der ein tiefes,
brausendes Wasser überquert. Auf einer ganz schmalen Brücke. Ohne
Geländer! Als er aber mitten auf der Brücke ist — oje, da kommt Onkel
Heide und wettert: „Willst du mal gleich da runter, du Lauser!“
Onkel Heide hält die Gärten und Häuser in Ordnung. Er ist sehr fleißig und
streng. Natürlich kann er nicht wissen, daß das Mäuerchen für Arne eine
Brücke ist.
Arne hüpft rasch hinunter. Vor Schreck läuft er sogar ein Stück, bis zur
Baustelle. Seit die beiden Bagger fort sind, ist dort ein gewaltiges Loch. Es
ist leer und langweilig — wenn man mit Alltagsaugen hineinguckt. Arne sieht
aber in der braunen Grube Tische, Stühlchen und allerlei Spielzeug. Denn
er weiß, daß hier ein Hochhaus gebaut wird, mit einem nagelneuen Kin­
dergarten drin.
Aber jetzt — Himmel, was ist da für ein Riese an der Baustelle! Breitbeinig
steht er da und reckt sich hinauf zu den Wolken. Einen Arm hat er in die
Seite gestemmt. Den anderen streckt er weit aus. Oben an seine stählerne
Mütze hat er sich rote Lampen gesteckt. Das sieht ganz verwegen aus. Nun
entdeckt Arne das Herz des Riesen. Darin sitzt ein Mann in blauem Anzug.
Gespannt sieht Arne, wie der Riese seinen langen Arm zur Seite schwenkt.
Eine richtige Wand mit zwei Fenstern hängt daran, wie ein Fisch an der
Angel. Ein Chor von Bauarbeitern ruft: „Fertig, Em il!“ Ein dumpfes
Schnarren ertönt. Und am Arm des Riesen segelt die Wand über Dächer und
Schornsteine. Endlich läßt sie der Riese am Neubau landen. Ganz vorsichtig.

169
So, als wäre es keine Wand aus Beton, sondern ein Körbchen mit Eiern. Ein
Riese namens Emil! Arne macht einen Hopser vor Freude. Ihm fällt ein, daß
er auch mal ein bißchen Riese sein könnte. Gleich streckt er seinen Arm mit
dem Eierkörbchen aus und dreht sich wie ein Karussell. Karussellfahren
macht Spaß. Nur Eier haben es nicht besonders gern. Vor allem, wenn das
Karussell versehentlich an eine Laterne stößt. D a werden die Eier ärgerlich.
Sie sagen leise: Kracks! Und aus dem Henkelkorb beginnt es zu tropfen.
Weh und ach! Arne legt den Kopf auf die Schulter und guckt betrübt zu
Boden. Seine Augen fangen ebenfalls an zu tropfen. Nicht lange, und ein
gewaltiger Zeigefinger schiebt sich unter sein Kinn. Ganz sacht wird sein
Gesicht emporgehoben. Arne sieht, der Zeigefinger gehört zu dem blaugeklei­
deten Mann, der vorhin oben in der Herzkammer des Riesen saß. Der Mann
ist kurz und kräftig und hat einen ganz abenteuerlichen Hut auf. Unter dem
zerfransten Rand gucken lustige Augen hervor. Der Arbeiter brummt mit­
leidig: „Wo tut’s denn weh, Sperling?“
Schmunzelnd betrachtet er den kleinen Jungen, der ihm ein tropfendes
Körbchen entgegenhält und kläglich sagt: „Ich heiße Arne.“
„Freut mich. Freut mich außerordentlich!“ Der Mann im Arbeitsanzug
nimmt seinen Hut ab, unter dem graue Stoppelhaare zum Vorschein kommen.
„Und ich heiße Emil“ , sagt er.
„So heißt der Riese auch!“ ruft Arne und hört auf zu weinen.
„D er Riese? Aha, du meinst unseren Turmdrehkran. Ja, das ist Emil der
Große.“
Arne guckt jetzt ganz entsetzt an Emil dem Großen hinauf. „E r bewegt sich
nicht mehr“ , flüstert er.
„Alleine kann der Riese sich auch nicht bewegen, so groß er ist. Er braucht
einen Kranführer, und dem gehorcht er aufs Wort.“
Arne wundert sich sehr. Verglichen mit dem himmelhohen Turmdrehkran,
ist der Mann, der Emil heißt, doch eigentlich selbst ein Sperling, wenn auch
ein stattlicher Sperling. Trotzdem muß ihm ein Koloß wie Emil der Große
gehorchen. Ja — ist da nicht Emil der Kleine der wirkliche Riese?
„Wann kletterst du wieder rauf und läßt den Emil arbeiten?“ fragt Arne.
„Gleich nach der Frühstückspause. Wir wollen doch rasch mit dem Hochhaus
fertig werden, damit du in den neuen Kindergarten gehen kannst.“
„Danke. Das ist sehr nett von euch“ , sagt Arne — doch dann legt er seinen
Kopf auf die Schulter, guckt betrübt vor sich hin und sagt leise: „Wenn ich
mich doch auch ein bißchen beeilen könnte! Ich bin nämlich ein Arne
Langsam. Meistens.“
Dabei fällt ihm ein, was er seiner Mutti versprochen hat, und daß sie traurig
werden könnte, wenn sie die Bescherung im Körbchen sieht. Er fängt wieder

170
an zu schluchzen. Kranführer Emil wischt ihm behutsam die Tränen ab. Mit
einem großen, grünen, richtigen Riesentaschentuch. „D u lernst das Beeilen
ja noch, Sperling“ , tröstet er und beguckt sich den Schaden.
Ein E i hat einen Sprung bekommen; es kann noch ein beachtliches Spiegelei
werden. Aber eins ist hoffnungslos entzwei und nicht mehr zu retten.
„N a “ , macht Emil. „Den Fall müssen wir erst mal begießen.“
Arne ist neugierig, was das ist: den Fall begießen. Ist vielleicht irgendwo eine
Gießkanne versteckt? Der Kranführer nimmt ihn bei der Hand. Sie gehen
in den Konsum und bestellen zwei Flaschen Milch. Eine davon bekommt
Arne.
„Prost, Sperling!“ ruft Emil. Und dann stoßen sie mit den Milchflaschen an
und begießen den Fall. Beiden schmeckt es sehr gut.
„Nun brauchen wir noch ein feines, weißes, heiles E i“ , erklärt Kranführer
Emil und zwinkert Frau Hildebrand zu. Sofort wandert ein neues Ei in Arnes
Körbchen. Nun ist alles wieder in Ordnung. Arne strahlt. Er darf auf den
Schultern seines neuen Freundes nach Hause reiten und hält sich am Hut
fest. Unterwegs begegnet ihnen Onkel Heide. Er schimpft sehr, weil zwei
kleine Bengel auf einer Gartentür Bergsteiger spielen. Arne ist froh, daß er
seinen Freund bei sich hat. „D u bist viel, viel lieber als Onkel Heide!“
flüstert er ihm ins Ohr.
„Weißt du, Sperling“ , erklärt Kranführer Emil, „der Onkel Heide hat nur
etwas sehr Wichtiges vergessen. Nämlich, daß er selbst mal ein kleiner Junge
war. E s ist allerdings auch schon ziemlich lange her.“ Und dann sind sie vor
Arnes Haustür angekommen. Der Sperling wird auf die Erde gesetzt. Er
schüttelt dem Kranführer freundschaftlich die Hand und sagt: „Vielen
Dank!“ Von nun an eilt Arne jeden Tag gleich nach dem Aufstehen ans
Fenster.
Er staunt, wie rasch das Hochhaus wächst.
„ Ja “ , sagt die Mutter und gibt ihrem Jungen mit dem Zeigefinger einen
kleinen Stups auf die Nasenspitze. „Wie gut, daß dein Freund Emil nie
trödelt.“
Arne beschließt im stillen, sich zu bessern. Doch als er wieder einmal mit
Henkelkorb und Schaffnertasche unterwegs ist, kommt er überhaupt nicht
mehr nach Hause. E r steht und steht — mitten in einer Pfütze — und sieht
dem Riesen zu. Hätte Kranführer Emil doch nur Frühstückspause gehabt!
Bei der Arbeit kann er nicht auf kleine Jungen in Pfützen achten.
Als die Mutter ihren Arne nach Hause holt, sieht sie ihn sehr ernst an. Sie
zieht ihm die nassen Schuhe und Strümpfe aus. Seine Füße sind eiskalt. Stirn
und Backen glühen wie öfchen. Arne hat Fieber, muß sofort ins Bett und
bekommt Lindenblütentee.

171
Wenn das mein neuer Freund wüßte, denkt er und schämt sich. Endlich
schläft er traurig ein. Mitten in der Nacht hört er etwas Sonderbares. „He,
Sperling!“ brummt es leise. Als Arne die Augen aufmacht, steht der Riese
vor dem Fenster und guckt ins Zimmer. Aber wie sieht er aus! Er ist feuerrot
von oben bis unten. Auch seine beiden Lampen hat er angezündet. Sonst
könnte sich im Dunkeln ein Flugzeug an seiner Stahlmütze stoßen. Er sagt
mit tiefer Stimme: „Nun, willst du mitfahren?“
„Au ja!“ antwortet Arne. Er hat sich schon immer gewünscht, einmal über
die Dächer zu gondeln.
„Einsteigen, bitte!“ ruft Emil der Große. Und schon sitzt Arne in einem
großen runden Henkelkorb, der am Arm des Riesen baumelt. Oben in der
Herzkammer liegt sein Freund, der Kranführer Emil, und schläft. Er ist gut
zugedeckt. „Wir wollen ihn nicht stören“ , flüstert der Riese. „E r hat sich
seinen Schlaf redlich verdient. Außerdem will ich endlich mal machen, was
ich will.“
„Ja, geht denn das — ohne Kranführer?“ fragt Arne.
„Mittwochs nachts geht alles!“ behauptet der Turmdrehkran. Er sieht plötz­
lich von oben bis unten grün aus. Wie ein. Laubfrosch. Aber wie ein frisch
gewaschener Laubfrosch. Und dann beginnt für Arne ein traumschöner Flug.
Es ist herrlich, schöner als im schönsten Karussell. Alle Schornsteine hissen
weiße Rauchfähnchen. Oben am kohlschwarzen Himmel rollt wie ein kugel­
rundes Fäßchen der Mond umher und verspritzt Millionen glitzernde Trop­
fen. Ganz unten auf der Straße aber hopst Onkel Heide. Er hat kurze Hosen
an und singt fröhlich: „Ich bin ein kleiner Junge, hurra!“
Ja — und dann balanciert Onkel Heide wahrhaftig auf dem Vorgarten-
mäuerchen. Das ist in dieser wunderlichen Nacht das größte Wunder. Arne
ist glücklich in seinem schaukelnden Henkelkorb. Bis er auf einmal etwas
hört. Etwas Garstiges.
„Arne Langsam — Arne Langsam“ , maunzt es. Natürlich ist es niemand
anders als Meiers Katze, die auf dem Dach sitzt und miaut. „Schweig still,
Mäuseschreck!“ knurrt Emil der Große, der jetzt zitronengelb wird, viel­
leicht, weil er sich über die Katze ärgert. „Hör zu, Bartputzer! Arne und
ich haben ein Geheimnis. Wir wollen niemals trödeln, damit wir uns vor
unserem Freund, dem Kranführer Emil, nicht zu schämen brauchen.
Stimmt’s, Sperling?“
„ Ja “ , sagt Arne. Und dann schläft er lächelnd ein. Er merkt gar nicht, wie
er in sein Bettchen kommt. Am Morgen ist er wieder kerngesund.
Wenn euch irgendwo ein kleiner Junge mit blaßblauen Augen und hellem
Strubbelhaar begegnet, wenn er ein Henkelkörbchen und eine Schaff­
nertasche bei sich hat, wenn er dasteht und den Himmel oder die Bäume oder

172
eine Katze anguckt, als sähe er lauter Märchen und Wunder, dann erinnert
ihn doch, bitte, an Emil, den Kranführer, der seinen Kindergarten gebaut
hat. Ihr werdet sehen, sofort wird der kleine Junge so schnell wie ein D-Zug.
Sogar mitten am Tage.
Hiltrud Lind

173
Pünktchen

Pünktchen wohnt in der Mitte des Dorfes, direkt an der Straßenkreuzung.


Die eine Straße kommt aus der Stadt und führt zur Autobahn. Die andere
schlängelt sich aus dem Nachbarort heran und zerläuft zwischen Kiefern und
Heidekrautbüschen im weißen Sand auf dem Übungsplatz der sowjetischen
Armee.
Das Dorf ist heute heiß wie ein Backofen: die Sonnenfinger streicheln
unermüdlich die Köpfe der Pflastersteine. Über den Schindeldächern flim­
mert die Luft.
Pünktchen hat ein Schwitzegesicht, rot wie ein Weihnachtsapfel. Er bummelt
barfuß auf der Schattenseite der Straße entlang. Der Junge hat die Le­
dersandalen und das Hemd ausgezogen. Die Sandalen baumeln am Schul­
ranzen. Das Hemd hat Pünktchen unter den Arm geklemmt.
Der Junge kommt aus dem Hort und läßt sich Zeit. Die Uhr hat gerade vier
geschlagen. Jetzt müßte die Mutter aus dem Genossenschaftsbüro treten.
Aber an Erntetagen ist sie selten pünktlich zu Hause. Na, und der Vater
steigt nie vor zehn Uhr abends von seinem Mähdrescher, wenn der Roggen
gelb gereift ist.
Pünktchen hat die Straßenkreuzung erreicht. D a sieht er im Schatten der
Linde neben dem steinernen Treppenaufgang einen sowjetischen Soldaten
stehn. Der Soldat trägt einen Stahlhelm mit einem weißen Ring und einem
roten Stern auf der Stirnseite. Auch Koppel und Pistolentasche sind weiß.
Der lange Soldat hat eine rote Binde mit einem gelben P am Arm. Dieses
P ist aber kein P, es ist das russische R und bedeutet: Regulierer. Das weiß
Pünktchen von seinem Vater. Dieser Regulierer regelt den Verkehr für
Armeefahrzeuge. Dazu hat er einen zebragemusterten Stab in der Hand.
Pünktchen geht um den Reguliersoldaten herum, betrachtet alles an ihm
genau und sagt dann: „Guten T ag!“ Der Soldat lächelt und antwortet:
„Sdrastwuitje!“ Das heißt auch „Guten T ag“ .
Pünktchen springt die steinernen Stufen hinauf, huscht durch die Haustür,
legt in der Stube den Ranzen auf den Schularbeitstisch und barfüßelt dann
in die Küche, wo er schnell ein Glas Limonade trinkt. Das tut gut bei dieser
Hitze!
Nun sitzt Pünktchen auf der Treppe vor dem Hauseingang und äugelt zur
Kreuzung hinüber. Dort steht der Soldat. Mit ausgebreiteten Armen steht
er da. Vor und hinter ihm halten die Armeefahrzeuge, die von der Autobahn
kommen und die zur Autobahn wollen. An ihm vorbei brummen Lastkraft­
wagen mit angekoppelten Geschützen. Diese Geschütze heißen „Haubit­
zen“ , sie haben kurze Rohre. Die Lastkraftwagen kommen, in eine sandgraue
Staubwolke gehüllt, von der Heide her. A uf ihnen hocken Soldaten. Der
Junge winkt ihnen zu. Die Soldaten winken zurück.

174
Die Kolonne ist vorbei. Der Zebrastabsoldat macht eine Kehrtwendung,
marschiert schnurstracks von der Kreuzung auf den Hauseinang zu und stellt
sich wieder unter das kühle Lindenblätterdach. Dort schnallt er den Stahl­
helm vom Kopfe, reibt mit dem Taschentuch über die Stirn und stöhnt:
„Warm heute!“
Pünktchen nickt und betrachtet den Regulierstab und denkt: Der ist ja viel
dicker als der, mit dem Jungen aus der achten Klasse morgens vor der Schule
stehn. Und eine Lampe hat er auch oben dran. Ob ich den mal in die Hand
nehmen darf? Den aus der Schule haben mir die aus der Achten nicht ge­
geben.
„Bist zu klein!“ haben sie gesagt. Zu klein! Als ob ich solch einen Stab nicht
halten könnte. E s muß schön sein, damit herumschwenken zu können.
Der Soldat lächelt Pünktchen an und fragt: „Wie heißt du?“ Der Junge
antwortet: „Till! Aber alle sagen Pünktchen zu mir, weil ich so klein bin.“
Der Mann mit dem P auf dem Arme wiederholt: „Pünktchen“ und lacht.
Dann streift er den Lederriemen des Zebrastabes über die Hand und sagt
zu Pünktchen: „Bitte, probiere!“
Pünktchen strahlt und stellt sich erwartungsvoll vor dem Soldaten hin. Der
Soldat zeigt ihm zuerst die Grundstellung: Strammstehen und den Zebrastab
senkrecht nach unten halten.
Dann folgt das Achtungszeichen. Pünktchen muß den Stab nach oben
schwenken und am langen Arm senkrecht in die Luft halten. Jetzt wissen
die Autofahrer, daß sie nur langsam an die Kreuzung heranfahren dürfen
und auf das nächste Zeichen des Regulierpostens warten müssen.
Aus dem Achtungszeichen entsteht nun das Zeichen: Fahrt frei in beiden
Richtungen. Pünktchen streckt beide Arme nach rechts und nach links aus.
Das bedeutet: Alle Fahrzeuge von rechts und von links dürfen vor und hinter
dem Verkehrsposten vorbeifahren.
Pünktchen lernt das Regulieren schnell. Immer wieder hebt er den Zebrastab
nach oben, gibt das Achtungszeichen, dreht sich nach links, dreht sich nach
rechts, gibt freie Fahrt in beiden Richtungen und läßt in Gedanken endlose
Autokolonnen an sich vorüberfahren.
Der Soldat tippt Pünktchen auf die Schulter und zeigt mit dem Finger zum
Ortseingang. Dort schiebt sich ganz langsam eine Tankwagenkolonne in das
Dorf.
„Schadef“ ruft Pünktchen, weil er seine Übung unterbrechen muß. Der Junge
hält dem Soldaten den Zebrastab hin. Er fährt mit der Hand über Pünkt­
chens Igelkopf und sagt: „Bist ein guter Reguliersoldat.“
Dann blickt er zur Autokolonne. Die ersten Fahrzeuge sind schon im Dorf.
Der Soldat stiefelt los, auf die Kreuzung zu. Nach drei Schritten bleibt er

175
stehn und winkt Pünktchen zu sich. Der Junge springt an seine Seite. Der
Soldat stülpt den Riemen des Regulierstabes über Pünktchens Handgelenk
und sagt: „Komm!“
Pünktchen hört zum ersten Male sein Herz schlagen. Bis zum Halse hämmert
es. Der Junge steht vor dem Soldaten und guckt voller Erwartung auf die
heranrollenden Tankfahrzeuge.
Nun sind sie kurz vor der Kreuzung. Der Soldat stößt den Jungen an und
nickt ihm zu. Pünktchen hebt den Regulierstab und gibt das Achtungszei­
chen. Der Junge steht quer zur Straße, die von der Autobahn zur Stadt führt.
Pünktchen schwitzt; Schweißkugeln perlen über sein Gesicht. Die Hand mit
dem Stab wird feucht. Der Junge hat noch nie auf der Kreuzung gestanden.
Vater und Mutter haben es verboten wegen der vielen Fahrzeuge, die Tag
und Nacht durch das Dorf rollen.
Pünktchen steht da wie ein Zaunpfahl. Der Junge weiß nicht mehr, was er
machen soll. Vor ihm Autos, hinter ihm Autos, an der Seite die Tankwagen.
Alle kommen auf ihn zu. Pünktchen dreht sich und schwenkt hilflos den Stab
hin und her. In den Fahrzeugen gehen die Scheiben herunter; lachende
Gesichter gucken heraus. Pünktchen ist zumute, als falle er. D a spürt der
Junge die Hände des Soldaten unter seinen Armen. Pünktchen atmet auf,
dreht sich um und hält dem Mann mit dem P auf dem Arm den Stab hin:
„Moment!“
Der Junge zieht das Hemd aus der Hose, wischt sich damit das nasse Gesicht
ab, nimmt dann den Regulierstab wieder in die Hand und stellt sich mit
ausgebreiteten Armen quer zur Straße, die von der Autobahn kommt. Nun
haben die Tankwagen freie Fahrt. Ganz langsam gleiten sie an Pünktchen
vorüber. Die Fahrer winken, aber der Junge rührt sich nicht, bis alle Fahr­
zeuge über die Kreuzung sind.
Nun ist Pünktchen wieder in der Küche und trinkt. Dabei blickt er zum
Fenster hinaus. Der Soldat steht schon wieder auf den heißen Pflastersteinen
und reguliert zwei kleine Geländewagen über die Kreuzung; sein Gesicht
glänzt in der Sonne wie eine braune Speckschwarte. Der hat bestimmt auch
Durst, denkt Pünktchen. Ich bringe ihm ein Glas Limonade.
Der Junge sieht in die Speisekammer. Alle Flaschen leer. Was nun? D a steht
ein Eimer. Pünktchen holt eine Henkeltasse aus dem Schrank und tunkt sie
in das klare Wasser. Doch dann überlegt er einen Augenblick, schüttet das
Wasser wieder in den Eimer zurück und flüstert: „Geht nicht! Mutter hat
verboten, Wasser zu trinken, solange die Wasserleitung noch nicht an­
geschlossen ist und das Wasser aus dem Brunnen kommt.“
Pünktchen sieht, wie der Soldat die trocknen Lippen leckt. Was mache ich
nur! Da sieht er sein Sparschwein auf dem Küchenschrank, eine Por­

176
zellanschildkröte. Der Junge nimmt sie in die Hände und schüttelt. Im Bauch
der Schildkröte klappern Geldstücke. Pünktchen hat sie für eine Taschen­
lampe gespart. E r betrachtet die Schildkröte. Sie ist schön, sie ist neu.
Pünktchen denkt: Was wird Vater sagen, wenn ich sie zerschlagen habe?
Nein, schimpfen wird er nicht.
Pünktchen kramt den Hammer aus dem Schrankkasten und schlägt zu. Die
Schildkröte sagt: „Kleckl“ Scherben und Geldstücke purzeln auf den Tisch.
Der Junge fingert zwei Markstücke und dreizehn Groschen aus dem Scher­
benhaufen. Die Münzen läßt Pünktchen in die Hosentasche klimpern, die
Scherben schiebt er in den Mülleimer. Dann geht der Junge durch die
Hintertür des Hauses, läuft über den Hof und steht auf der Straße, die zum
Konsum führt.
„N a, Pünktchen, was willst du denn?“ fragt die Verkäuferin.
„Limonade“ , sagt der Junge.
„Eben alle geworden“ , antwortet die Verkäuferin. „D as Bierauto kommt
erst.“
„Schade“ , erwidert Pünktchen und fragt: „Was gibt es denn noch zu trin­
ken?“
„M ost.“
Pünktchen schüttelt die Geldstücke zwischen den zusammengelegten
Händen, überlegt einen Moment und sagt dann: „Nehme ich Most.“
Die Verkäuferin holt eine Flasche vom oberen Regal und stellt sie auf den
Ladentisch. Der Junge läßt sein Geld neben die Flasche klappern. Die
Verkäuferin nimmt zwei Markstücke und acht Groschen weg.
Pünktchen steckt die übrigen fünf Groschen wieder in die Hosentasche,
nimmt die Flasche beim Hals und trottet aus dem Laden.
Auf der Straße bleibt er stehn, betrachtet die Flasche und liest: Erdbeermost.
Dann denkt er: Warum die aber auch keine Limonade haben?
Als Pünktchen zur Kreuzung kommt, ist der Soldat mit dem Zebrastab
verschwunden. Alle Autokolonnen sind durch, und der Geländewagen mit
dem Verkehrsposten ist bereits abgefahren.
D a nimmt Pünktchen die Flasche und läuft zur Straße, die zum Übungsplatz
führt. Am Dorfausgang sieht der Junge eine Autoschlange stehn. Dort wird
der Soldat sein, denkt Pünktchen. Dann rennt er auf die Autos zu.
Der Junge kommt an der Feldküche vorbei. Ihr Schornstein qualmt. E s riecht
nach Kräutsuppe. Der eine Koch rührt mit einem riesigen Holzlöffel im
Kessel herum, der andere schiebt einen Arm voll Holzscheite auf den
Feuerrost.
Nun geht Pünktchen an Zugmaschinen mit angehängten Geschützen ent­
lang, Panzerabwehrkanonen, wie er von seinen Freunden weiß. Solche

12 177
Geschütze sind schon oft durch das Dorf gerollt. Sie sind an den langen
Rohren erkennbar.
Pünktchen sieht jedem Soldaten ins Gesicht. Der mit dem weißen Regu-
liererstahlhelm ist nicht unter ihnen. Auch am Funkwagen mit der Peitschen­
antenne steht der Reguliersoldat nicht. Das letzte Auto ist ein kleiner Ge­
ländewagen. Dort stehn drei Offiziere. Pünktchen stellt sich daneben.
Einer der Offiziere, ein Hauptmann, dreht sich zur Seite und entdeckt
Pünktchen. Beide blinzeln sich einen Augenblick an. Dann geht der Haupt­
mann auf den Jungen zu und fragt: „N a, kleiner Mann, wohin mit der großen
Flasche?“
Der Junge hält dem Hauptmann die Mostflasche entgegen und stammelt:
„Hier . .. für den Soldaten. . . “
Der Hauptmann weist die Flasche zurück und sagt: „Trink du!“
Pünktchen schüttelt heftig den Kopf und ruft: „Nein, ich habe sie doch für
den Soldaten von der Kreuzung gekauft.“ Dabei zeigt der Junge mit dem
Daumen über die Schulter hinweg zum Dorf.
Der Hauptmann nimmt die Flasche, dreht sie in der Hand und fragt: „D ie
hast du für den Soldaten an der Kreuzung gekauft?“
„Ja, für den Reguliersoldaten“ , erwidert Pünktchen und fragt: „Wo ist er
jetzt?“
Der Hauptmann winkt die anderen beiden Offiziere heran und spricht mit
ihnen in russischer Sprache. Die Offiziere gucken den Jungen an und
schmunzeln. Dann springt einer von ihnen in den Geländewagen und brum-
melt los, in den Kiefernwald hinein. Der Hauptmann beugt sich zu Pünkt­
chen hinunter und fragt: „Gehst du denn schon zur Schule?“
„N a klar, zweite Klasse“ , antwortet der Junge. E r schummelt ein bißchen,
denn er wird erst nach den großen Ferien in die zweite Klasse gehn.
„Und wo hast du das viele Geld für den Most her?“ will der Hauptmann
wissen.
„Aus meinem Sparschwein“ , sagt Pünktchen. „Ich habe es zerschlagen, weil
keine Limonade mehr da war und weil wir beim Regulieren so geschwitzt
haben, der Reguliersoldat und ich.“
Von der Heide her nähert sich eine kleine Staubwolke. Vor ihr her springt
der Geländewagen von Sandloch zu Sandloch. Im Auto der Offizier und der
Zebrastabsoldat von der Kreuzung. Der springt vom Auto, zieht die Uni­
formbluse glatt und meldet sich beim Hauptmann. Der Hauptmann nimmt
Pünktchen zur Seite, gibt ihm die Mostflasche zurück und sagt: „D a ist der
Soldat von der Kreuzung.“
Der Junge geht auf den Soldaten zu und überreicht ihm das Geschenk. Der
Soldat wird bis an den Hals rot. „Spaasibo — danke schön!“ Dann spricht

178
er einige Worte mit dem Hauptmann. Der nickt, zieht ein Taschenmesser
aus der Hosentasche und gibt es dem Reguliersoldaten. Der hebelt den
Verschluß von der Flasche und hält sie dem Hauptmann hin. Der zeigt auf
Pünktchen und sagt: „Zuerst unser kleiner Mann!“
Pünktchen trinkt einen Schluck, aber nur einen kleinen. Schließlich hat er
den Most ja für seinen Freund, den Reguliersoldaten, gekauft. Dann geht
die Flasche von Hand zu Hand, von Mund zu Mund.
Pünktchen und der Zebrasoldat stehn mitten auf dem Weg. Die Offiziere
sind in den Geländewagen gestiegen. Der Hauptmann blickt nach hinten auf
die Fahrzeuge und befiehlt: „Batterie marsch!“
In dem Augenblick hebt Pünktchen die Arme und gibt der Kolonne das
Zeichen zum Anfahren. Zuerst brummt der Geländewagen vorbei. Die
Offiziere grüßen den kleinen Regulierposten.
Jetzt donnern die Zugmaschinen heran. Staub wirbelt auf. Pünktchen kann
kaum noch etwas sehn. Die Augen brennen. Der Zebrastab will den Arm
nach unten ziehn. Aber der Junge bleibt stehn, bis der letzte Wagen mit der
Feldküche vorbeigerollt ist. Dieser Wagen rollt unter einen Lindenbaum und
hält an. Der Reguliersoldat und Pünktchen blinzeln sich zu. Der Soldat
drückt Pünktchen die Hand und sagt: „Doswidanija!“
Der Junge erwidert den Gruß: „A u f Wiedersehn!“
Werner Lindemann

12* 179
B ä r t i g u n d g e s t r e if t

Es war mal ein Mädchen, das war noch sehr klein.


In welchem Lande? Wo konnte das sein?
Wie hieß das Mädchen? Wer kann mir das sagen ...?
Das beste ist’s, mal die Mutter zu fragen.

Wie alt war das Mädchen? — Nun, das ist klar:


vier Sommer, vier Winter . .. Das macht wieviel Jahr’ ?
Zählt gut zusammen! Acht Jahre ...? Nein!
Vier Jahre alt kann’s nur gewesen sein!

Das Mädchen hatte . . . Was glaubt ihr, was?


Nun, einen Freund . . . Und wer war das?
Gestreift, schwarzgrau und weiß behaart,
mit einem langen Borstenbart.
Ein Ziegenbock? Nein ...! Fragt euren Vater!
Ein Kätzchen ...? Auch nicht.
E s war ein Kater.

Eines Abends nahm das Mädchen


ihren Kater auf den Arm.
„D u bist müde, komm ins Bettchen!
Schlafen sollst du weich und warm.
Leg den Kopf aufs Kissen fein,
zieh die spitzen Krallen ein!
Sollst das Bäuchlein und den Rücken,
Schwanz und Ohren dir nicht drücken!
Recke dich und strecke dich,
schnurre, kleiner Schnurrbart, du.
Und nun schlaf! Ich decke dich
mit der Daunendecke zu.

Träume süß! Ich muß indessen


schnell mein Abendbrot noch essen.
Lieg schön still, sei brav!
Schlaf, mein Kleiner, schlaf!“

Aber gleich zurück zum Bettchen


kam besorgt noch mal das Mädchen.
Oh! Was mußte es da sehn!
Weggestrampelt mit den Füßen

180
war die Decke. Auf dem Kissen
lag der Schwanz! Das war nicht schön!

„Kater, nein, das ist nicht nett!“


— rief es. „Liegt man so im Bett?
Kater, ach, was bist du dumm!“
Und sie drehte ihn herum:
Schwanz und Füße umgekehrt
und den Kopf, wie sich’s gehört,
deckte ihn von neuem zu
und befahl: „Schlaf, Racker, du!“

Bei der Rückkehr war im Zimmer


die Verwüstung noch viel schlimmer.
Daunendecke, Laken, Kissen
auf den Boden hingeschmissen.
Und der bärtige Rüpel schlief
unterm Bett, verrenkt und schief,
eingerollt, den Buckel krumm.

Kater, ach, was bist du dumm!

Eines Tages wollt’ das Mädchen


ihren kleinen Kater baden.
Schmutzig schienen ihr die Pfötchen.
Seife, dacht’ es, kann nicht schaden.
Einen großen Wasserkübel
holt’ es, um ihn einzutauchen.

Doch das nahm der Racker übel.

Strampelnd fing er an zu fauchen,


sprang davon mit schnellem Sprunge,
warf den ganzen Kübel um,
wusch sich selbst dann mit der Zunge —
«
Ach, der Kater war zu dumm!

Sprechen wollt’ das Kind ihn lehren.


„Kater, höre, sag mal ,Pferd“!“

181
Doch er ließ sich gar nicht stören,
tat, als hätt’ er nichts gehört,
spielte weiter mit dem Bällchen —

„Kater, sag mal: ,wauwau“!“

Nun, da zeigte er die Krällchen,


doch er sagte nur „miau“ ,
und sein Buckel bog sich krumm.
Ja, der Kater war zu dumm.

Füttern wollte ihn das Mädchen,


brachte süßen Haferbrei.
Doch er schüttelte die Pfötchen,
drückte sich am Napf vorbei.
Von den rosigen Radieschen
kostete er auch kein bißchen.
Gab das Kind ihm aber Speck,
fraß er alles weg vom Fleck,
schaute nur nach mehr sich um.

Ja, der Kater war zu dumm.

Mäuse waren nicht im Haus.


Aber wie mit einer Maus,
konnte sich der Kater tummeln
mit des Vaters Bleistiftstummeln;
jagte von dem Schreibtisch munter
manchen Bleistift blitzschnell runter
auf den Teppich. Kreuz und quer
sauste er ihm hinterher.

Lief der Stift dann untern Schrank,


könnt’ der Kater ihn nicht kriegen,
weil sein Pfötchen nicht so lang,
blieb er auf der Lauer liegen.
Reglos, als erwarte er,
daß der Stummel käm daher,
starrt’ er auf die Ritze stumm.
Ja, der Kater war zu dumm.

182
Ging das Mädchen mal spazieren,
nahm es auch den Kater mit.
Wollt’ ihn an der Leine führen,
doch er folgte keinen Schritt.
Nur im Arm ließ er sich tragen,
mit dem Kopftuch zugedeckt.
Stehn blieb jeder, um zu fragen:
„Kind, wen hast du da versteckt?“
Stolz erwiderte das Mädchen:
„Seht ihr’s nicht, das ist mein Sohn!“
„Sohn? Mit solchen grauen Pfötchen?
Auch ein Bärtchen hat er schon?“
„Ja, er hat sich seit .acht Tagen
nicht gewaschen und rasiert!“
„Oh, dann nimm ihn schnell beim Kragen,
seif ihn ab, wie sich’s gebührt!“
Schwupp! D a sprang der kleine Sohn
aus dem Tuch und lief davon.

Alle lachten ringsherum.


Ja, der Kater war zu dumm!

Aber dann, ein paar Jahr’ später,


sprang er nicht mehr so herum.
Und das Mädchen staunte: Peter?
Ach, du bist ja gar nicht dumm!
Denn sie wurde selbst gescheiter,
geht zur Schule Nummer vier.
Lernt sie dort so fleißig weiter,
ist sie klüger bald als ihr!
Samuil Marschak
Nachdichtung Martin Remane

183
V o m k lu g e n M ä u sc h e n

„Laß mich! Weg mit deiner Tatze!“


— piept die Maus — „ich muß nach Haus!“
„Spiel mit mir!“ — miaut die Katze —
„nur ein Stündchen Katz und Maus!“

„Ach, ich darf nicht mit dir spielen,


die Mama verbot es mir,
mich mit dir im Schmutz zu sielen!
Nein, ich spiele nicht mit dir!“

„Spielst du, laß ich dich gleich laufen!


Dann versteckst du dich im G ras!“ —
„Grobian, du willst nur raufen!
Doch das macht mir keinen Spaß!

Um mit dir so rumzutollen,


bin ich doch noch viel zu klein!
Wenn wir beide spielen sollen,
dann muß ich die Katze sein!“

„Krümel du! Daß ich nicht lache!


Weißt du nicht mehr, wie du heißt?
Immerhin, ’ne lust’ge Sache
wär’s, wenn du die Katze beißt!“

„Abgemacht! Ich bin die Katze,


und wir spielen Blindekuh.
Hasche mich, doch mit der Tatze
binde dir die Augen zu!“

Wie geschickt die Katze spielte!


Mäuschen rannte wie der Blitz —
Doch ein Katzenauge schielte
listig durch der Binde Schlitz.

Schnapp! Und wieder griff die Tatze


nach der armen kleinen Maus.
„G ilt nicht! Spiel noch einmal, Katze!“
— piept sie — „Vorher ruhn wir aus!“

184
Kätzchen schnurrt nur: „Meinetwegen!
Hier gibt’s doch für dich kein Loch!
Werd’ mich ruhig schlafen legen.
Hab’ ich Lust, freß’ ich dich doch!“

Mäuschen, ist’s um dich geschehen?


Schau im Zaun die Ritze dort!
Eh’s die Katze sich versehen,
ist das kluge Mäuschen fort.

„Mäuschen! Wo bist du geblieben?


Ist das schöne Spiel schon aus?“ —
„Ich bin hier, und du bist drüben!
Spiel alleine Katz und Maus!“

Und davon mit Blitzesschnelle


lief das Mäuschen und verkroch
sich in einer kleinen Höhle.
Unbewohnt erschien das Loch.

Doch der Iltis, der drin hauste,


war berüchtigt überall.
Allen Hühnern vor ihm grauste,
weil er ihre Küken stahl.

Fürchterlich! Grad vom Stibitzen


kommt nach Haus das grimme Tier,
sieht die Maus im Loche sitzen,
knurrt: „D u Knirps, was willst du hier?“
Spielst du hier mit mir Verstecken?“ —
„Nein, viel lieber Blindekuh!“ —
„Willst du einen Iltis necken?
Sag, wer bist, du Krümel du?“

„Wenn du es nicht weißt, dann zähle:


Eins ist Iltis, zwei ist Maus,
drei ist dumm, und vier ist helle,
und wer helle ist, rennt raus!“

185
Schrie der Iltis! „Hiergeblieben!“
Jagte hinterm Mäuschen her,
sah’s im Wald von dannen stieben,
und dann sah er gar nichts mehr.

Doch ein Eichkätzchen entdeckte,


wie das Mäuschen mäuschenstill
hinterm Baumstumpf sich versteckte,
lud das Mäuschen ein zum Spiel.

Mäuschen aber sagte: „Danke!


Hab genug gespielt bereits,
spüre noch die Katzenpranke
in den Beinen und im Kreuz!“

Da kam aus dem Walde plötzlich


ein noch schlimmres Tier heraus,
hatte Stacheln, ganz entsetzlich,
sah wie eine Bürste aus.

Und von rückwärts, unausweichbar,


wie mit Nadeln vollgespickt,
einer Schneiderin vergleichbar,
kam ein gleiches angerückt.

Schrie der Igel: „Komm, spiel Haschen,


Maus, mit meiner Frau sofort!
Doch zwei Igel überraschen
wirst du niemals! Auf mein Wort!

Kannst dich auch im Bocksprung messen


mal mit mir! Na, komm heraus!“ —
„Hab auf Stacheln nie gesessen!
Danke bestens!“ piept die Maus.

Und davon auf leisen Füßen


schlich das kleine Mäuschen schlau.
Mocht der Igel Böcke schießen
schön allein mit seiner Frau.

186
Hinterm Walde war am Weiher
Froschkonzert im Gange grad.
„Hilfe! Unheil!“ — schrien die Schreier —
„Quak, quak, quak! Die Eule naht!“

Unsichtbar mit einem Satze


ist die Maus. Was sie erblickt,
schien kein Vogel, keine Katze,
doch so schlimm, daß man erschrickt:

Hakenschnabel, ungeheuer,
wild gesträubt das Flügelpaar,
Räuberaugen, gelb wie Feuer,
Riesenkrallen, schauderbar!

Immer näher kam die Eule.


Durch das finstre Waldrevier
hallt ihr Rufen wie Geheule:
„Maus! Komm raus und spiel mit mir!“ —

„Ja, ich spiel mit dir Verstecken!“


piept das Mäuschen und verschwand
tief im Gras und unter Hecken,
wo die Eule nichts mehr fand.

Suchend flog sie immer wieder


bis zum Morgen auf und ab.
Ließ sich auf dem A st dann nieder,
und die Augen machten „klapp“ .

Ruhig putzte sich das Mäuschen


ohne Kamm und Seife blank
und stolzierte heim ins Häuschen,
wo man es vermißt so lang.

Vater, Mutter lachten wieder,


gaben einen Freudenschmaus,
und die Schwestern und die Brüder
spielten mit ihm Maus und Maus. Samuil Marschak
Nachdichtung Martin Remane

187
Drei kleine Ferkel

Es waren einmal drei Ferkel — drei Brüder. Sie waren alle gleich groß, gleich
kugelrund und rosig und hatten das gleiche lustige Ringelschwänzchen.
Sogar ihre Namen ähnelten sich. Sie hießen Niff-Niff, Nuff-Nuff und
N aff-N aff.
Den ganzen Sommer lang tollten sie im grünen Gras umher, ließen sich von
der Sonne bescheinen und aalten sich in den Pfützen.
Doch dann kam der Herbst.
Die Sonne brannte nicht mehr so heiß, und graue Wolken zogen über den
vergilbten Wald.
„E s ist Zeit, an den Winter zu denken“ , sagte N aff-N aff eines Morgens zu
seinen Brüdern. „Ich zittre schon vor Kälte. Wir holen uns gar noch einen
Schnupfen. Laßt uns ein Haus bauen und alle zusammen unter demselben
warmen Dach den Winter verbringen.“
Aber seine Brüder Niff-Niff und Nuff-Nuff hatten keine Lust zu arbeiten.
Sie fanden es weitaus lustiger, in den letzten warmen Tagen herumzutollen
und über die Wiese zu hoppeln, anstatt die Erde aufzuwühlen und Steine zu
schleppen.
„D as eilt nicht! Bis zum Winter ist es lang hin. Wir wollen noch ein Weilchen
spielen“ , sagte Niff-Niff und schoß einen Purzelbaum.
„Wenn es not tut, bau’ ich mir ein eigenes Haus“ , meinte Nuff-N uff und
wälzte sich in einer Pfütze.
„Ich auch!“ fügte Niff-Niff hinzu.
„N a, wie ihr wollt“ , antwortete N aff-N aff. „Dann werde ich ein Haus
bauen, ohne auf eure Hilfe zu warten.“
Tag für Tag wurde es kälter, aber Niff-Niff und Nuff-Nuff ließen sich Zeit.
Sie hatten keine Lust zu arbeiten und faulenzten vom Morgen bis zum
Abend. Sie spielten, wie es die Ferkel tun, hoppelten umher und schossen
Purzelbäume.
„Heute tollen wir noch herum“ , sagten sie, „aber morgen früh beginnen wir
mit der Arbeit.“
Doch am nächsten Tage sagten sie wieder: „Morgen früh beginnen wir mit
der Arbeit.“
Erst als die große Straßenpfütze morgens mit einer dünnen Eisschicht
überzogen war, machten sich die faulen Brüder endlich ans Werk.
Niff-Niff beschloß, sich ein Haus aus Stroh zu errichten, weil das am ein­
fachsten und schnellsten ging. Und das machte er auch, ohne sich mit
N aff-N aff und Nuff-Nuff zu beraten. Schon am Abend war seine Hütte
fertig.
Nachdem er das letzte Strohhälmchen aufs Dach gelegt und sein Werk
bewundert hatte, sang er vergnügt:

188
„A uf der ganzen weiten Welt,
weiten, weiten Welt,
kein Haus besser mir gefällt,
mir gefällt, mir gefällt!“
Anschließend ging er zu Nuff-Nuff.
Der hatte sich in der Nähe ebenfalls ein Haus gebaut.
Zuerst wollte er sich auch ein Haus aus Stroh errichten. Aber dann beschloß
er, sich aus Zweigen und dünnen Gerten ein festeres und wärmeres Haus
zu bauen.
Und das tat er auch.
Er rammte Pfähle in den Boden, umflocht sie mit Gerten und häufte trok-
kenes Laub auf das Dach. Am Abend war auch sein Haus fertig.
„Hab ich doch ein schönes Haus,
neues Haus, festes Haus,
dem macht Regen gar nichts aus,
gar nichts aus, gar nichts aus!“
Kaum war sein Lied verklungen, da tauchte Niff-Niff aus dem dichten
Gebüsch auf.
„Dein Haus ist ja auch schon fertig!“ sagte er. „Ich hab’ doch gewußt, daß
wir diese Arbeit schnell erledigen würden. Jetzt haben wir Zeit und können
alles tun, was uns Spaß macht.“
„Komm, wir gehen zu N aff-N aff und sehen uns sein Haus an“ , schlug
Nuff-Nuff vor. „Wir waren so lange nicht mehr bei ihm.“
„G u t!“ stimmt Niff-Niff zu.
Und höchst befriedigt, daß sie die Sorge für den Winter los waren, machten
sich beide Brüder auf den Weg.
N aff-N aff war schon seit mehreren Tagen bei der Arbeit. Er hatte Steine
herbeigeschleppt, Lehm gemischt und baute sich nun ein festes, sicheres
Haus. Hier würde er vor Regen, Wind und klirrender Kälte geschützt sein.
In dieses Haus setzte er eine schwere Eichentür mit einem Riegel. Nun konnte
der Wolf nicht eindringen. Niff-Niff und Nuff-Nuff trafen ihn noch bei der
Arbeit an.
„Was baust du d a?“ riefen sie. „D as ist doch kein Haus für kleine Ferkel.
Das ist doch ein festes Steinhaus. Muß ein Haus für Ferkel so fest gebaut
werden oder eine Festung werden?“
N aff-N aff ließ sich nicht stören. „D as Haus eines Ferkels muß fest sein!“
erwiderte er gelassen.
„H ast du etwa die Absicht, mit jemandem Krieg zu führen?“ grunzte
Niff-Niff ausgelassen und zwinkerte Nuff-Nuff zu. Beide Brüder mußten
dermaßen lachen, daß ihr Gegrunze und Gequieke über die Waldwiese

189
schallte. N aff-N aff hingegen mauerte unbeirrt weiter an den steinernen
Wänden seines Hauses und summte dabei das Lied vor sich hin:
„Ich bin ja das klügste Schwein,
klügste Schwein, klügste Schwein,
baue mir ein Haus aus Stein,
Haus aus Stein, Haus aus Stein!

Auf der Welt gibt es kein Tier,


listig Tier, schrecklich Tier,
das könnt’ öffnen diese Tür,
diese Tür, diese Tür!“
„Was für ein Tier meint er?“ fragte Niff-Niff.
„Was für ein Tier meinst du?“ erkundigte sich Nuff-Nuff bei Naff-Naff.
„Den Wolf!“ erwiderte Naff-Naff.
„Sieh einer an, der fürchtet sich vorm Wolf!“ rief Niff-Niff.
„E r hat Angst, daß der ihn frißt!“ quiekte Nuff-Nuff. Und die Brüder
lachten noch lauter.
„Was für Wölfe sollte es wohl hier geben?“ grunzte Niff-Niff.
„Hier gibt’s gar keine Wölfe. N aff-N aff ist bloß feige!“ verkündete Nuff-
Nuff.
Und beide tanzten und sangen dazu:
„Fürchten nicht den grauen Wolf,
grauen Wolf, grauen Wolf,
he, wo bist du, dummer Wolf,
alter Wolf, schlimmer Wolf?“
Sie wollten N aff-N aff mit dem Lied hänseln, aber der würdigte sie keines
Blickes.
„Komm doch, Nuff-N uff“ , sagte Niff-Niff. „Wir haben hier nichts mehr
verloren.“
Und die beiden Brüder wanderten fort. Unterwegs sangen und tanzten sie
weiter. Als sie in den Wald kamen, machten sie einen derartigen Lärm, daß
sie den Wolf weckten. Er hatte schlafend unter einer Fichte gelegen.
„Was ist das für ein Krach?“ brummte der böse, hungrige Wolf mißmutig
und trabte dorthin, woher das Gequieke und Gegrunze der beiden dummen
kleinen Ferkel kam.
„N a, was sollte es hier wohl für Wölfe geben!“ rief gerade Niff-Niff. Er
kannte die Wölfe bisher nur von Bildern.
„Den Wolf würden wir bei der Nase packen, daß er einen Denkzettel kriegt!“
ergänzte Nuff-Nuff. Auch er hatte noch nie einen lebendigen Wolf ge­
sehen.

190
Und wieder sangen die Brüder fröhlich:
„Fürchten nicht den grauen Wolf,
grauen Wolf, grauen Wolf,
he, wo bist du, dummer Wolf,
alter Wolf, schlimmer Wolf?“
Und da erblickten sie plötzlich einen richtigen, lebendigen Wolf!
Er stand hinter einem dicken Baum und sah furch teinflößend aus mit seinen
bösen Augen und den großen Zähnen. Niff-Niff und Nuff-Nuff lief ein
kalter Schauer über den Rücken. Ihre dünnen Ringelschwänzchen zitterten,
und vor Angst konnten sie kein Glied regen.
Als aber der Wolf zähnefletschend zum Sprung ansetzte und mit dem rechten
Auge zwinkerte, kamen die Ferkel wieder zur Besinnung. Laut quiekend
nahmen sie Reißaus.
Noch niemals waren sie so schnell gerannt! Sie stürzten davon, in Staub­
wolken gehüllt, jedes zu seinem Haus.
Niff-Niff erreichte seine Strohbude als erster und konnte dem Wolf gerade
noch im letzten Augenblick die Tür vor der Nase zuschlagen.
„Mach sofort auf!“ heulte der Wolf. „Sonst breche ich dir die Tür ein!“
„Nein!“ grunzte Niff-Niff. „Ich mach nicht auf.“
Von drinnen konnte er die Atemzüge des schrecklichen Raubtieres hören.
„Öffne sofort die Tür!“ heulte der Wolf wieder. „Sonst puste ich dein ganzes
Haus weg.“
Die Angst verschlug Niff-Niff die Sprache. D a begann der Wolf zu pusten:
„F-f-f-u-u-uh!“
Da flogen die Strohhalme vom Dach, und die Wände wackelten. Der Wolf
holte tief Luft und pustete zum zweitenmal: „F-f-f-u-u-uh!“
Er pustete zum drittenmal, da fiel das Haus auseinander, als wäre es in einen
Sturm geraten, und Niff-Niff hatte die gefletschten Zähne des Raubtiers
unmittelbar vor dem Rüssel. Dennoch gelang ihm die Flucht. Er stürzte
davon und erreichte wenig später das Haus von Nuff-Nuff.
Kaum aber hatten die Brüder die Tür hinter sich geschlossen, da hörten sie
den Wolf schon heulen: „N a, jetzt freß’ ich euch beide!“
Entsetzt sahen sich Niff-Niff und Nuff-Nuff an. Doch da der Wolf sehr
müde geworden war, beschloß er, zu einer List zu greifen.
„Ich habe es mir anders überlegt“ , sagte er so laut, daß man ihn im Haus
versteheh konnte. „Ich will diese dürren Ferkel nicht fressen. Lieber geh ich
nach Haus.“
„H ast du gehört?“ fragte Niff-Niff seinen Bruder Nuff-Nuff. „E r sagt, daß
er uns nicht fressen will. Wir sind zu dürr!“
„Ausgezeichnet!“ antwortete Nuff-Nuff und hörte sogleich auf zu zittern.

191
Die Brüder waren so erleichtert, daß sie sofort unbekümmert sangen:
„Fürchten nicht den grauen Wolf,
grauen Wolf, grauen Wolf,
he, wo bist du, dummer Wolf,
alter Wolf, schlimmer Wolf?“
Indessen ging der Wolf nur ein paar Schritte weg und versteckte sich. Er fand
die ganze Sache sehr komisch und mußte sich mühsam beherrschen, um nicht
laut zu lachen. Wie geschickt er die beiden dummen kleinen Ferkel doch
hinters Licht geführt hatte!
Nachdem ihn die Brüder fast vergessen hatten, nahm der Wolf ein Schafsfell
und schlich vorsichtig auf das Haus zu. An der Tür zog er sich das Fell über
und klopfte leise.
Niff-Niff und Nuff-Nuff erschraken entsetzlich. „Wer ist d a?“ fragten sie,
und wieder zitterten ihnen die Ringelschwänzchen.
„Ich bin es, ein armes, kleines Schäfchen!“ piepste der Wolf mit verstellter,
hoher Stimme. „Gewährt mir ein Obdach für die Nacht. Ich bin von meiner
Herde abgekommen und sehr müde.“
„Soll ich es einlassen?“ fragte der gutmütige Niff-Niff seinen Bruder. „Ein
Schäfchen ist kein Wolf.“
Doch als sie die Tür einen Spalt breit öffneten, erblickten sie kein Schäfchen,
sondern ihren zähnefletschenden Feind. Schleunigst schlugen sie die Tür zu
und stemmten sich mit aller Kraft dagegen, damit das schreckliche Raubtier
nicht hinein konnte.
Der Wolf ärgerte sich mächtig. Er warf das Schafsfell ab und brüllte:
„Wartet nur, von diesem Haus wird nichts übrigbleiben!“
Und er begann zu pusten. D a wurden die Hauswände schief. Er pustete ein
zweites, ein drittes und schließlich ein viertes Mal.
Da flogen die Blätter vom Dach, und die Wände wankten, doch das Haus
blieb noch stehen. Erst als der Wolf zum fünften Mal pustete, wackelte das
Haus und brach auseinander. Nur die Tür hielt sich noch eine kurze Weile
mitten in den Trümmern aufrecht.
Entsetzt stürzten die Ferkel davon. Vor Angst versagten ihnen die Füße fast
den Dienst, ihre sämtlichen Borsten zitterten, und die Rüssel wurden ihnen
trocken, während sie dem Haus von N aff-N aff zustrebten.
Der Wolf jagte ihnen in gewaltigen Sätzen nach. Einmal hätte er Niff-Niff
um Haaresbreite am Hinterbein gepackt, doch der Kleine riß es im letzten
Augenblick weg und rannte noch schneller.
Aber der Wolf war überzeugt, daß ihm die Ferkel diesmal nicht entrinnen
würden.
Aber er hatte wieder Pech.

192
Als die beiden Ferkel an einem hohen Apfelbaum vorbeirasten, ohne ihn zu
streifen, konnte der Wolf nicht mehr rechtzeitig abbiegen und prallte dage­
gen. Die Äpfel prasselten ihm auf den Kopf. Ein besonders großer traf ihn
zwischen den Augen, so daß er eine dicke Beule bekam.
Im selben Augenblick erreichten Niff-Niff und Nuff-Nuff das Haus von
Naff-Naff. Sie waren mehr tot als lebendig.
Ihr Bruder ließ sie sofort ein. Sie waren so erschrocken, daß sie kein einziges
Wort hervorbringen konnten. Sie verkrochen sich wortlos unter das Bett.
Doch N aff-N aff erkannte auf den ersten Blick, daß sie vom Wolf verfolgt
wurden. Er verriegelte flink die Tür, setzte sich auf einen Schemel und sang
laut:
„A uf der Welt gibt es kein Tier,
listig Tier, schrecklich Tier,
das könnt’ öffnen diese Tür,
diese Tür, diese Tür!“
Da klopfte es an die Tür.
„Wer. ist d a?“ fragte N aff-N aff ruhig.
„Red nicht lange! ö ffn e !“ heulte der Wolf von draußen.
„D as fehlte noch! Ich denk nicht dran!“ antwortete N aff-N aff fest.
„Ach, steht’s so? Dann macht euch drauf gefaßt, daß ich euch alle drei
fressen werde!“
„Versuch es doch!“ erwiderte N aff-N aff von drinnen, ohne von seinem
Schemel aufzustehen. Er wußte, daß er und seine Brüder in dem festen
steinernen Haus nichts zu fürchten hatten.
Da holte der Wolf tief Luft und pustete, so kräftig er konnte. Doch trotz
aller Anstrengung rührte sich selbst der kleinste Stein nicht vom Fleck.
Der Wolf lief vor lauter Gepuste blau an.
Doch das Haus stand wie eine Festung da. Er rüttelte an der Tür. Aber auch
die gab nicht nach.
D a kratzte der Wolf vor Wut mit den Krallen an den Hausmauern und biß
in die Steine, doch er brach sich nur die Krallen und Zähne ab. Und es blieb
ihm nichts anderes übrig, als hungrig und böse abzuziehen.
Als er dann aber den Kopf hob, entdeckte er auf dem Dach einen großen,
breiten Schornstein.
Aha! durch diesen Schornstein könnte ich ins Haus eindringen! dachte er
erfreut.
Vorsichtig kletterte er auf das Dach und lauschte. Im Hause war es ganz
still. Trotz alledem werde ich heute frisches Ferkelfleisch fressen! dachte der
Wolf, leckte sich das Maul, kroch in den Schornstein und rutschte darin
hinab.

13 193
Aber die Ferkel hörten das Geraschel. Und als der Ruß auf den Topfdeckel
rieselte, erkannte der kluge N aff-N aff sofort, was da vor sich ging.
Flink sprang er zum Topf, in dem das Wasser gerade kochte, und riß den
Deckel ab.
„Herzlich willkommen!“ sagte er und zwinkerte seinen Brüdern zu. Die
Ferkel brauchten nicht lange zu warten. Schwarz wie ein Schornsteinfeger
plumpste der Wolf genau in das kochende Wasser.
Noch niemals hatte er derartige Schmerzen ausgestanden!
Die Augen traten ihm aus den Höhlen, sein ganzes Fell sträubte sich.
Unter rasendem Geheul sauste der verbrühte Wolf durch den Schornstein
aufs Dach zurück. Er rollte zu Boden, überschlug sich dabei viermal, rutschte
auf dem Schwanz an der verschlossenen Tür vorbei und rannte in den Wald.
Die drei Brüder aber, die drei kleinen Ferkel, schauten ihm nach und freuten
sich, daß sie dem bösen Räuber einen Denkzettel verpaßt hatten.
Und dann stimmten sie ihr fröhliches Liedchen an:
„A uf der ganzen weiten Welt,
weiten Welt, weiten Welt,
kein Haus besser mir gefällt,
mir gefällt!

Auf der Welt gibt es kein Tier,


listig Tier, schrecklich Tier,
das könnt öffnen diese Tür,
diese Tür, diese Tür!

Aus dem Wald kommt niemals mehr,


niemals mehr, niemals mehr,
je ein böser Wolf hierher,
je hierher, je hierher!“
Seit dieser Zeit lebten die Brüder alle zusammen unter demselben Dach.
Das ist alles, was wir von den drei kleinen Ferkeln wissen — von Niff-Niff,
Nuff-Nuff und Naff-Naff.
Sergej Michalkow

194
Wie die Vögel das Zicklein retteten

Es war einmal ein Zicklein, klein, aber bockig, wie Zicklein eben sind. Alles
sollte nach seinem Kopf gehen. Eines Tages kam ihm in den Sinn, einen
langen Spaziergang zu machen.
„L auf nicht so weit fort“ , warnte die Mutter. „Wolken ziehen herauf, es gibt
ein Gewitter.“
„E s gibt kein Gewitter“ , widersprach das Zicklein und sprang den Pfad
entlang bis in den fernen Wald.
Im Wald war es dunkel und wurde bald stockdunkel. Heftiger Wind
schüttelte die Wipfel der hohen Kiefern. Eine große schwarze Wolke hing
drohend über dem Wald. Plötzlich zuckte ein blendender Blitz auf, und
ohrenbetäubend dröhnte der Donner. Halbtot vor Angst hetzte das Zicklein
davon. Es glaubte, Blitz und Donner jagten ihm nach — so blitzte und
krachte es hinter ihm.
Endlich zerriß die große schwarze Wolke und goß einen fürchterlichen Regen
herab. Kaltes Wasser rann in Strömen auf das Zicklein nieder, und das
machte, daß es fortkam. Den Wald hatte es verlassen und sprang schon über
eine Wiese. Kein trockenes Härchen war mehr an ihm, und es regnete und
regnete.
Als die Wolke all ihr Wasser ausgegossen hatte und der Himmel wieder hell
wurde, stand Zicklein auf einer kleinen Insel mitten in einem See. Ringsum
nichts als Wasser. Nur hier und da guckten ein paar Sträucherspitzen heraus.
Bis zum Ufer war es weit.
Zicklein konnte nicht schwimmen. E s mußte auf Rettung warten, was blieb
ihm weiter übrig? Zitternd vor Kälte kauerte es sich nieder und wartete.
Nicht lange, da ruderte, wer weiß woher, das Schwein in einem Boot vor­
bei.
„Rette mich, Grunzpeter“ , flehte Zicklein. „Nimm mich mit!“
„H ab’ selber wenig Platz“ , grunzte das Schwein und schaukelte auf den
Wellen an der Insel vorbei.
„Solltest dich schämen. Hatschi!“ nieste Zicklein hinterdrein, denn es hatte
sich in seinem nassen Fell schon erkältet.
Das Schwein fuhr davon, und Zicklein war wieder allein.
Da tauchten am Ufer unerwartet zwei weitbekannte gierige Räuber auf: der
Wolf und die Wölfin.
Der Wind hatte den Geruch des nassen Ziegenfells zu ihrer Höhle getragen,
und sie waren ihm bis zum Waldrand nachgegangen. Als erstes erblickten
sie dort einen neuen See, mitten im See eine kleine Insel und auf der Insel
das Zicklein.
„Schon lange haben wir kein frisches Ziegenfleisch genascht“ , sagte der alte
Wolf.

13* 195
„Ein appetitlicher Happen“ , fand die Wölfin und leckte sich die Schnauze.
„Wie aber kommen wir da heran?“ wollte der Wolf wissen. „Wir könnten
hinschwimmen, doch ich bade nicht gern vor dem Mittagessen.“
„Komm, wir laufen flink zur Höhle und beraten uns mit den Brüdern!“
schlug die Wölfin vor.
„D as Zicklein entwischt uns nicht, das Wasser fließt so schnell nicht ab.“
Die Räuber überlegten nicht lange und verschwanden im Gebüsch.
Das Zicklein aber ahnte nichts Böses und blieb auf seiner Insel sitzen. Soll
ich wirklich hier sterben? dachte es und schaute sich besorgt nach allen Seiten
um. Bald ist es Nacht, und niemand kommt und rettet mich.
Kraak, kraak! erscholl es plötzlich über ihm. Zicklein hob den Kopf und sah
die Wildente Schnatterliese.
„Kraak! Was machst du hier?“ fragte Schnatterliese und zog über der Insel
einen Kreis.
„Siehst du das etwa nicht?“ entgegnete Zicklein kläglich. „Ich sitze und
warte auf Hilfe. Schwimmen kann ich nicht, fliegen kann ich nicht, und bis
zum Ufer ist es weit.“
„G u t“ , sagte Schnatterliese, ,,hab’ nur Geduld und warte, wir werden dir
schon helfen.“ Damit schwang sie sich in die Höhe und war schnell ver­
schwunden.
Das Zicklein ist in Not geraten! Wie der Wind eilte die Kunde durch die
Wälder, über die Felder und Sümpfe ringsum. Keine Stunde war vergangen,
und schon hatten sich alle gute Tiere auf einer grünen Waldwiese ver­
sammelt. Die Hasen kamen angehüpft, die Biber zottelten heran, die
Kraniche flogen herbei. Großvater Reiher brachte zwei Pelikane mit, die bei
ihm zu Besuch waren, bevor sie nach dem Süden weiterreisten.
Die Wildente Schnatterliese erzählte allen, wie sie bei ihrem Flug über die
Wiese, die jetzt ein See war, das verlassene Zicklein entdeckt hatte. „Wir
müssen ihm helfen“ , sagte sie zum Schluß.
„Wir müssen ihm helfen“ , sagten die Hasen im Chor.
„Wir retten es“ , sagten die Kraniche.
„Wir helfen“ , sagte der Reiher und schaute die Pelikane an. Die nickten ohne
ein Wort.
„Aber wie?“ fragte ein Storch, der eben erst herbeigeflogen war.
„Wir zimmern ein Floß und holen damit das Zicklein von der Insel“ , schlugen
die Biber vor. Sie waren Baumeister und immer schnell bereit, etwas zu
zimmern.
Sogleich machten sich alle an die Arbeit. Die Biber nagten im Handumdrehn
einen großen Baum durch. Ein zweiter fiel um, danach ein dritter. Die Hasen
rupften säuberlich Zweige und Ästchen von den Stämmen, die Kraniche

196
schleppten die Stämme ans Ufer und banden dort einen an den anderen. Jeder
hatte etwas zu tun.
Die Arbeit war in vollem Gange, da kam unverhofft ein Sperling angeflogen.
„Eben habe ich das Zicklein gesehen“ , schilpte er atemlos. „E s weint. Es
ist hungrig. Vom frühen Morgen an hat es nichts gefressen.“
„Wir müssen ihm Futter bringen“ , sagten die Hasen wie immer im Chor.
„Futter müssen wir ihm bringen“ , stimmten die Kraniche ein.
„Und genug Futter!“ riefen die Biber, ohne von der Arbeit aufzusehen.
„Aber wie?“ fragte der Storch.
Der Reiher sagte nichts, er blickte seine Freunde, die Pelikane, nur sehr
vielsagend an. Sie verstanden ihn und sperrten ohne ein Wort die großen
Schnäbel auf. Jeder von ihnen verwahrte im Kehlsack eine tüchtige Portion
Fisch. Darum hatten sie auch die ganze Zeit über geschwiegen!
„Kraak! Zicklein fressen keinen Fisch!“ rief die Wildente Schnatterliese.
„Wißt ihr das etwa nicht?“
Die Pelikane sahen einander an, schluckten den Fisch herunter und machten
schnell ihre Kehlsäcke leer. Zwei flinke Hasen verschwanden und kamen
gleich zurück mit frischen Mohrrüben und Kohlköpfen.
Die Pelikane sperrten wieder ihre Schnäbel auf, füllten die leeren Kehlsäcke
mit Gemüse, nahmen Anlauf und rauschten in die Luft — immer dem
Sperling nach. Schon wenig später fiel das Futter dem Zicklein vor die Füße.
Wie es sich da freute! Die Pelikane aber kehrten zum Ufer zurück, wo mit un­
glaublicher Geschwindigkeit das Floß gebaut wurde.
Aber auch in der Räuberhöhle war man nicht faul. Hier wurden die Messer
gewetzt, und das Wasser kochte schon in den Kesseln.
Und drei der tollkühnsten Wagehälse, drei junge Wölfe, hatten sich drei dicke
Baumstämme geschnappt und steuerten auf die Insel zu, wo das dumme
Zicklein kläglich meckerte.
Wie gut, daß die Bachstelze vorbeiflog und die Räuber bemerkte. Noch
rechtzeitig erreichte sie den Ort, wo die Tiere das Floß zimmerten.
„Schneller, Freunde, schneller!“ zwitscherte sie und kreiste über den Bibern.
„D aß ihr es ja noch schafft! Die Räuber sind schon unterwegs!“
Das Floß war fast fertig und wurde ins Wasser geschoben. Ein Augenblick
noch, und es schaukelte auf den Wellen, trieb vom Ufer fort. Die Hasen­
mannschaft setzte das Segel. Stummelschwänzchen, der tapferste Hase,
führte'das Kommando.
Zur selben Zeit erhob sich alles, was Flügel hatte, in die Luft. Zuerst flogen
die Kraniche hoch, danach die Wildente Schnatterliese, der Storch und der
Reiher. Sie verteilten sich über den Wald, ordneten sich zu einem Dreieck
und nahmen Kurs auf die Insel mitten im See.

197
Die räuberischen Wölfe ruderten mit aller Kraft und redeten leise mitein­
ander.
„E s ist nicht mehr weit“ , sagte der eine. „E s ist gar nicht mehr weit.“
„D as Zicklein wird uns nicht entkommen“ , sagte der andere. „E s entkommt
uns nicht.“
„Gleich werden wir es packen“ , knurrte der dritte Räuber. „Gleich haben
wir es.“
Aber es kam anders. Ehe sich die Räuber versahen, fiel die Vogelschar über
sie her. Scharfe Schnäbel hackten in die Wolfspelze. Nach dem Kranich kam
der Storch, nach dem Storch der Reiher. Die Räuber wußten nicht wohin,
da flogen auch noch die Pelikane herbei. Sie flogen langsam, denn diesmal
hatten sie Steine geladen. Die ganze schwere Last luden sie über den Wölfen
ab. Das hielten die Räuber nun doch nicht aus. Sie zogen die Köpfe ein,
heulten vor Schmerz, verloren die Ruder und fielen ins Wasser. Gern wären
sie ans Ufer geschwommen, um ihre Haut zu retten, aber die langschnäbligen
Vögel kreisten über ihnen und gaben nicht eher Ruhe, als bis der letzte Räuber
für immer unterm Wasser verschwunden war.
Das Floß aber legte bei der Insel an. Zicklein war außer sich vor Freude,
gab Stummelschwänzchen einen Kuß und umarmte herzlich jedes Häschen.
Sie machten ein Feuer, damit Zicklein sein Fell trocknen und sich wärmen
konnte.
Wie Zicklein nach Haus zu den Eltern kam, soll hier nicht erzählt werden.
Wir wollen nur verraten, daß es zwei Tage lang nicht auf seinem Schwänz­
chen sitzen konnte. Na, das war ja zu erwarten!
Am dritten Tag luden die Ziege und der Ziegenbock alle ein, die mitgeholfen
hatten, Zicklein zu retten. Keiner wurde vergessen. Auch für den Spatz war
gedeckt und für die Bachstelze. Auf dem Ehrenplatz saß die Wildente
Schnatterliese, denn sie war dem kleinen Dickkopf als erste zu Hilfe ge­
kommen.
Da erschien plötzlich das Schwein.
„Und wo ist mein Platz?“ grunzte es schon an der Schwelle.
Vater Ziegenbock aber antwortete streng: „Hier ist nur Platz für Tiere, die
einander helfen. Sie, Nachbar, haben sich schlecht benommen!“
So mußte Grunzpeter davonziehen.
Im Haus von Vater Ziegenbock und Mutter Ziege jedoch ging es bis in die
späte Nacht hinein lustig zu, die Gläser klangen und die Kohlstrünke
knackten.
Hier fand die Geschichte ein gutes Ende — eine Geschichte, die beinahe sehr
traurig ausgegangen wäre.
Sergej Micbalkow

198
Die große Reise des kleinen Jonas

Die Geschichte vom Jonas fängt mit einem kleinen Flugzeug an und hört
mit einem großen Flugzeug auf. Das kleine Flugzeug zum Aufziehen, das
steckt in der linken Hosentasche vom Jonas. Das große aber sehen Jonas und
die Kindergartenkinder immer, wenn sie mit Tante Ulla Spazierengehen.
Es brummt fröhlich am blauen Himmel dahin und wackelt vergnügt mit den
Flügeln. Alle Kindergartenkinder bleiben dann stehen und rufen: „Unser
Flugzeug ist wieder da!“
Jonas aber läuft mit ihm ein Stückchen mit und sagt: „Guten Tag, Flugzeug,
guten T ag!“
„E s fliegt nach Moskau“ , erzählt er seinem Freund Heiner. „Moskau ist eine
große, große Stadt und weit weit weg von hier. Und ich wünsche mir, einmal
mit dem Flugzeug nach Moskau zu fliegen. Ich hab’s der Mutti schon ge-
,u
sagt.
Jonas hat bald Gebürtstag. E r kann die Tage bis dahin an den Fingern
abzählen. Jeder Finger bedeutet einen Tag. Wenn kein Finger mehr übrig­
bleibt — dann ist Geburtstag.
Jonas kommt vom Kindergarten nach Hause und stolpert mit einem
Schwuppdich über einen funkelnagelneuen Koffer. Ein neuer Koffer! Jonas
springt auf wie ein Sausewind, stürmt zur Mutti und fragt: „Mutti? Ver­
reisen wir?“
D a packt ihn die Mutti und wirbelt den Jonas durchs Zimmer, immer rund­
herum. Dann setzt sie ihn auf einen Stuhl und sagt: „Ja! Wir fliegen! Morgen
an deinem Geburtstag fliegen wir mit deinem großen Flugzeug nach
Moskau!“
Endlich ist es Morgen, endlich geht es los. Mutti, Jonas und der
funkelnagelneue Koffer gehen auf die Reise.
D a steht das Flugzeug. Groß ist es, riesengroß. Aber es schläft noch. Jonas
geht ganz dicht heran und sagt: „Guten Morgen, Flugzeug! Verschlaf nur
nicht. Wir wollen doch heute nach Moskau fliegen!“
Und kaum sitzen Jonas und die Mutti auf den Plätzen, da beginnt das
Flugzeug zu dröhnen und zu zittern. Dann rollt es los. Es steigt schnell höher,
immer höher; über die Dächer hinweg, durch die Wolken in den blauen
Himmel hinein. Jonas zieht sein kleines Flugzeug aus der Tasche und sagt zu
ihm: „Siehst du, so sieht es in einem richtigen großen Flugzeug aus.“
Klein ist die Erde da unten, spielzeugklein. Die Häuschen und Bäumchen
hätten Platz auf einer Hand gefunden. Sie sind nicht größer als das Flugzeug
zum Aufziehen. Jonas steckt es wieder in die Tasche. So fliegen eigentlich
zwei Flugzeuge mit dem Jonas nach Moskau. Und die Reise geht schnell.
Hoppla — da steht der Jonas auf dem Moskauer Flugplatz. Ringsum starten
und landen blanke, glänzende Flugzeuge.

199
Vergnügt spaziert Jonas hinter der Mutti her, geradewegs auf eine Taxe zu.
Der Fahrer öffnet die Tür und sagt: „Sdrastwui!“
„Waaaas, was sagt er?“ fragt Jonas. „Ich kann gar nichts verstehen.“
„E r sagt dir guten Tag, aber er spricht russisch. Wenn du ihm auch guten
Tag sagen willst, mußt du sdrastwui sagen.“
Das macht Spaß, aber es ist schwer, dieses Wort auszusprechen. Jonas spricht
ganz langsam: „Sdrast-wuitje“ .
Der Fahrer lacht und nickt ihm zu.
Er sagt: „Poshaluista“ , und lädt zum Einsteigen ein.
„Was hat er jetzt gesagt, M utti?“
„Bitte, er meint, wir sollen ins Auto einsteigen.“
„Und was muß ich jetzt sagen?“
„Sag danke, das heißt: spaßibo.“
Das ist ein leichteres Wort. Jonas kann es gleich ganz schnell sprechen. Dann
springt er ins Auto und fährt in die große, bunte, fremde Stadt.
Am nächsten Tag gehen Jonas und Mutti Moskau guten Tag sagen. Sie
fahren mit der U-Bahn, die hier Metro heißt. Eine lange Rolltreppe trägt
sie aus dem Bahnhof, hinauf auf die glitzernde Straße. So viele Autos! Jonas
zählt sie: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 — ach, es sind viel mehr Autos, aber Jonas
kann nur bis 10 zählen.
„Dann zählst du eben die Verkehrspolizisten“ , rät ihm die Mutti. Plötzlich
stehen Mutti und Jonas auf einem großen, ganz roten Platz. Jonas bekommt
kugelrunde Augen, so sehr muß er gucken. Wie im Märchen stehen da rote
Türme mit goldenen Spitzen und rund herum eine große rote Mauer.
„D as ist der Kreml!“ sagt die Mutti, „und der Platz heißt der Rote Platz.“
Kreml ist ein lustiger Name. Und der Platz heißt Roter Platz, weil er ganz
und gar aus roten Steinen gebaut ist.
„M utti“ , ruft Jonas plötzlich, er hat einen Eisstand entdeckt. „Mutti, bitte
ein Eis! Kauf mir ein E is!“
Aber die sagt nein und kauft ihm keins. Oh, was der Jonas jetzt brummig
ist. Langsam geht er zum Eisstand hinüber.
Wie Eis wohl auf russisch heißt? Ganz dicht stellt er sich neben die Eis­
verkäuferin und guckt ihr zu. Erwachsene Leute kommen und Kinder auch.
Sie legen alle ihr Geld auf den Tisch und bekommen ein Eis. Eis heißt:
moroshenoje.
Da fällt dem Jonas etwas ein, etwas Frecnes, etwas, worüber Mutti sicher
schimpfen würde: Wenn er nun einfach die Verkäuferin um ein Eis bittet?
Zu Hause hat er schon mal ein Eis von der Verkäuferin geschenkt bekommen.
Jonas guckt die Tante ganz lieb an und tagt dann leise: „Poshaluista mo­
roshenoje“ .

200
Die Verkäuferin lacht ihn lustig an und denkt: So ein Schlingel! Aber dann
sucht sie ihm das schönste und dickste Eis heraus und reicht es ihm über den
Tisch.
Jonas macht eine tiefe Verbeugung und sagt: „Spaßibo!“
„Poshaluista!“ , erwidert die Verkäuferin und zwinkert ihm zu.
Mutti und Jonas gehen nun in das große Kaufhaus am Roten Platz. Es heißt
Gum und ist voller Menschen, die sich drängeln. Wenn ich bloß nicht mein
Flugzeug verliere, denkt Jonas. Er läßt Muttis Hand los und faßt in die
Hosentasche. Das Flugzeug ist da. Aber auf einmal ist die Mutti weg.
Erschrocken bleibt Jonas stehen. „M utti!“ brüllt er, und noch einmal:
„Mu-u-u-utti!“
Die Menschen bleiben stehen und drehen sich nach ihm um. Aber Jonas rennt
quer durch das ganze Kaufhaus, vorbei an den Verkaufstischen, an den
Verkäuferinnen . .. Aber die Mutti ist nicht zu sehen.
Müde und traurig setzt sich Jonas auf den Hocker dicht neben der Aus­
gangstür des Kaufhauses. Wenn sie hier herauskommt, wird sie mich sicher
finden, denkt er. D a stupst ihn etwas. Unter dem Hocker lugt eine schwarze
kleine Hundeschnauze hervor, dazu gehören ein Paar lustige schwarze Augen
und ein schwarzes, lockiges Fellchen. Ein Pudel!
„Wie kommst denn du hierher?“ fragt ihn Jonas. „Beißt du vielleicht?“
Aber der Pudel denkt gar nicht daran. Er leckt sich sein Schnäuzchen, kratzt
sich hinter dem Ohr und springt laut bellend am Jonas hoch. Jonas nimmt
ihn bei den Pfötchen und tanzt mit ihm einen kleinen Ringelreihen. Dann
setzt er sich auf den Hocker. Der Pudel — hast du nicht gesehen - springt
ihm auf den Schoß. Jonas lacht und streichelt ihm sein lockiges Fellchen.
„Wie heißt du eigentlich? Ich werde dich Fellchen nennen.“
Der Pudel ist zufrieden. „So, jetzt mußt du aber runter. Ich muß die Mutti
suchen“ , sagt Jonas und setzt Fellchen vorsichtig auf die Erde. Der aber blafft
und winselt, springt und zerrt an der Leine. „Soll ich dich einfach losbinden
und mitnehmen?“ fragt Jonas.
Fellchen steht mucksmäuschenstill, nur sein Stummelschwänzchen bewegt
sich manchmal.
„Ich kann dich doch nicht allein lassen“ , flüstert Jonas; und dabei bindet
er schon den Pudel los.
Aber er hat ein sehr schlechtes Gewissen. Denn eigentlich darf er den Hund
nicht losmachen. Und ins Kaufhaus darf er mit ihm schon gar nicht. Dabei
müßte er doch die Mutti suchen gehen. Was macht der Jonas bloß?
Fellchen schüttelt sich und zieht und zieht. Er zieht den Jonas einfach in
einen Park hinein. D a sehen sie plötzlich Kinder. Eine ganze Gruppe von
Kindern. Die gehen spazieren. Fellchen und Jonas traben hinter ihnen her.

201
„D as ist sicher ein Kindergarten“ , erklärt Jonas dem Pudel.
„Sie gehen genauso spazieren wie wir zu Hause mit Tante Ulla.“
Die Kinder machen vor einem großen weißen Haus mit einem dunkelroten
Ziegeldach halt und gehen hinein. Fellchen und Jonas schlüpfen mit durch
die Tür. Aber da werden sie von den Kindern entdeckt.
Verwundert stehen alle um Jonas und Fellchen herum. Ein Mädchen holt
sogar die Kindergärtnerin. Am liebsten möchte Jonas weglaufen. Doch das
geht nicht. Mutti sagt, man muß immer höflich guten Tag sagen.
„D u auch“ , bestimmt Jonas und zieht den Pudel an der Leine hinter sich
her. So sagt Jonas zur Kindergärtnerin: „Sdrastwuitje.“ Da freuen sich alle,
und Jonas blickt sich im Zimmer um. Ist das ein schöner Kindergarten. An
den Wänden stehen Spielschränke mit Spielsachen, Bilderbücher liegen in den
Regalen, Kasperpuppen gibt es und ein Schaukelpferd mit einer dicken roten
Mähne. Mit einem Satz schwingt sich Jonas hinauf und schaukelt mutig
darauflos. Die Kinder kommen näher und zeigen dem Jonas ihre Spielsachen.
Ein Junge hat ein rotes Feuerwehrauto, ein Mädchen eine große Puppe und
ein anderes trägt einen kleinen Stoffhund auf dem Arm. Sie zeigt ihn dem
Jonas und guckt dabei auf Fellchen.
„D er sieht ja aus wie mein Fellchen“ , lacht Jonas.
Das kleine Mädchen sieht ihn an und sagt: „Ssobaka.“
„Nein, das ist ein Hund“ , sagt Jonas.
Wieder schüttelt das Mädchen den Kopf und sagt: „Ssobaka.“
Da versteht Jonas. Hund heißt auf russisch ssobaka. Er zeigt auf Fellchen
und fragt: „Ssobaka?“
Das Mädchen nickt, dann sagt es: „Hund?“
Jonas nickt. D a kommen auch die anderen Kinder und zeigen auf das Pferd.
Sie sagen: „Loschad“ , und Jonas sagt: „Pferd.“
Die Kinder weisen auf den Tisch und sagen: „Stol.“
Jonas sagt: „Tisch.“
Die Kinder sagen: „Stul“ , und Jonas sagt: „Stuhl.“
Die Kinder sagen: „Okno“ , und Jonas sagt: „Fenster.“
Das ist ein lustiges Spiel. Jedes Ding hat zwei Namen, aber manchmal
sprechen sie sich schwer aus. Die russischen Kinder lernen die deutschen und
der Jonas die russischen Namen. Nur Fellchen versteht nichts. Er läuft quer
durch das ganze Zimmer und begreift nicht, weshalb Jonas nicht wieder in
den Park geht. So, jetzt haben sie alle Gegenstände im Zimmer durch. Was
nun? D a zeigt Jonas auf sich und sägt seinen Namen: „Jonas!“ Dann hebt
er Fellchen hoch und sagt: „Fellchen.“ Die Kinder lachen, und dann sagen sie,
wie sie heißen. Ein Mädchen heißt Marussja, ein Junge Serjosha und zwei
Mädchen haben sogar den gleichen Namen: sie heißen beide Tanja.

202
Die Kinder nehmen den Jonas in die Mitte, setzen sich hin, und Serjosha holt
zwei Hölzchen. Eines davon hat zwei spitze Enden. Auf ein spitzes Ende
muß man mit dem anderen Hölzchen schlagen, und dann fliegt es im hohen
Bogen durch die Luft. Oooooch, der Jonas staunt. Er möchte es auch
probieren. Jonas schlägt und schlägt, aber das Hölzchen rührt sich nicht vom
Fleck.
Plötzlich tritt ein Polizist ins Zimmer. Er guckt auf Jonas und fragt ihn:
„Bist du Jonas?“
„D u sprichst ja gar nicht russisch“ , sagt Jonas.
„E rst will ich wissen, ob du es bist!“
„Ja, ich bin Jonas, und das ist Fellchen.“
Der Polizist lacht. „N a, dann kann ich dich ja deiner Mutti wiederbrin­
gen.“
Im Auto zählt Jonas dem Polizisten die vielen russischen Worte auf, die er
nun schon kann. Jonas ist sehr stolz darauf. „D as hab’ ich alles bei den
Kindern gelernt.“ D a hält das Auto, und Jonas fällt der Mutti in die Arme.
„Mutti“ , ruft er, „es war so schön bei den Kindern, und der Polizist spricht
auch deutsch. . . “
Da erst merkt er, wie traurig die Mutti ist. „Ich habe solche Angst um dich
gehabt“ , sagt sie leise.
„D as nächste Mal paß’ ich besser auf“ , verspricht Jonas ehrlich.
„Wer ist denn das!“ Die Mutti guckt den Pudel an.
„D as ist Fellchen, den hab’ ich vom Kaufhaus mitgenommen. Er ist sehr lieb,
Mutti, und wir nehmen ihn mit nach Hause.“
„Hör mal zu, Jonas“ , sagt die Mutti, „du hast den Hund gestohlen und wirst
ihn jetzt zur Polizei bringen.“
Der Jonas fängt an zu weinen. Dicke Tränen tropfen auf Fellchen. Aber es
hilft nichts. Er bringt ihn dem freundlichen Polizisten hin.
„Und wenn ihn keiner abholt?“ schluchzt Jonas.
„Dann bekommst du ihn“ , verspricht ihm der Polizist.
Die Tage in Moskau sind wunderschön und vergehen zu schnell, und am Ende
müssen Mutti und Jonas die Koffer packen. D a hinein werden auch die
Geschenke getan, die sie gekauft haben. Die Kindergartenkinder bekommen
eine ,melon‘, eine Melone, innen ganz rot und zuckersüß. Und einen großen
bunten ,mjatsch‘, einen Ball. Jonas weiß sehr genau, wie die Geschenke auf
russisch* heißen.
Tante Ulla aber bekommt ein warmes weiches ,platok‘, ein Tuch. Jemand
klopft an die Tür. Jonas öffnet und etwas Schwarzes, Wollenes saust laut
bellend auf ihn zu. Eine feuchte Hundenase stupst gegen die vom Jonas.
Fellchen! Fellchen ist wieder da. Glücklich streichelt Jonas sein schwarzes

203
lockiges Fell, und Fellchen läuft vor Freude auf zwei Beinen durchs ganze
Zimmer. „D u darfst ihn mitnehmen, Jonas“ , sagt der Polizist von damals
und bindet Fellchen ein rotes Lackhalsband um. „D as schenk’ ich euch
beiden“ , sagt er. „Und paß schön auf ihn auf!“
Vergnügt winkt Jonas dem Polizisten hinterher.
Wieder fliegt das große Flugzeug mit Jonas und Mutti und Fellchen in den
blitzeblauen Himmel hinein. Das kleine Flugzeug steckt jetzt in der rechten
Hosentasche vom Jonas, weil Fellchen an der linken Seite sitzt.
„Ich möcht so gern mal den Flieger sehen“ , flüstert Jonas Fellchen ins Ohr.
Fellchen nickt und Jonas steht auf, um zum Flieger hinzulaufen. Aber da
hält ihn jemand fest, und eine freundliche junge Frau fragt: „Wo willst du
denn hin?“
„Ich bin Jonas und möchte dem Flieger guten Tag sagen.“
„D as geht jetzt aber nicht. Wenn wir zu Hause sind, werde ich es dem Flieger
sagen.“
Die Häuser und Bäume auf der Erde sind wieder ganz groß. Das Flugzeug
steht schon ruhig auf dem Flugplatz, da kann Jonas dem Flieger guten Tag
sagen. Er erzählt ihm, wie sehr er und die Kindergartenkinder jeden Morgen
auf das Flugzeug warten und, daß er immer ein Stückchen mit dem Flugzeug
mitläuft, um ihm guten Tag zu sagen. Und weil der Flieger ein bißchen
deutsch kann, versteht er auch, was der Jonas ihm da erzählt.
„Jonas“ , sagt der Flieger, „wenn du morgen wieder spazierengehst, dann
sieh einmal genau zum Flugzeug hinauf.“
Am nächsten Tag erwarten die Kindergartenkinder den Jonas schon vor der
Tür. Sie freuen sich über die Geschenke und lachen über Fellchen, der ihnen
all seine Kunststückchen vorführt. Dann gehen sie spazieren. Jonas hat von
dem Flieger erzählt. Die Kinder warten auf das Flugzeug. Zwanzig Kinder
stecken ihre Nasen hoch in die Luft. Bei jedem Rinnstein muß Tante Ulla
laut rufen, sonst wären alle zwanzig Mann auf die Nase gefallen.
D a hören sie es brummen. Dicht über die Dächer hinweg fliegt langsam das
Flugzeug. Jonas hopst, schreit und winkt und mit ihm die Kinder; Fellchen
bellt und springt auf den Hinterpfötchen. Vom Flugzeug fliegt ein kleiner
Fallschirm herunter, langsam senkt er sich zur Erde nieder. Und als er näher
und immer näher kommt, sehen die Kinder ein kleines Flugzeug daran hängen
und ein flatterndes weißes Zettelchen, auf dem steht: Guten Morgen, Jonas!

Katrin Pieper

204
Schuleule Paula

Großmutter sagt, wenn der erste Zahn heraus ist, dann kommt das Kind
zur Schule, nicht früher und nicht später.
Bei Tom ist das anders. Kein Zahn ist heraus, keiner ist wackelig, und in
acht Wochen kommt der Junge zur Schule.
,,In acht Wochen“ , sagt die Großmutter, „da ist mancher schon wackelig
geworden.“
„Bei mir nicht“ , sagt Tom, „du wirst es sehen. Vielleicht krieg’ ich gar keine
neuen, die alten sind doch noch gut.“
Großmutter und Toms ältere Schwester Nico lächeln sich zu. Beide wissen
es besser. „D er ist dumm“ , sagt Nico, „und so was will zur Schule.“
„G ar nicht dumm bin ich“ , sagt Tom laut und gleich etwas böse, „in der
Vorschule war ich auch nicht dumm!“
Nun möchte die Großmutter etwas sagen. Sie sieht Nicos Augen blitzen und
kennt Toms kräftige Fäuste. Die Großmutter fürchtet Tränen und Unruhe.
Doch da springt die Schwester schon auf, läuft zur Tür, dreht sich noch
einmal um und sagt lachend: „Vorschule — Babyschule. Hab erst mal richtig
Schule, da wirst du dich noch wundern, na!“
Tom blickt ihr nach, blickt zur Großmutter hin, die am Tisch hinter vielen
Büchern sitzt. Großmutter ist eine kluge Frau. Nicht nur weil sie viele
Bücher liest, sondern weil sie auch Kummer lesen kann. Und den liest sie
jetzt in Tom.
„D as meint sie nicht so“ , sagt sie. „Ich glaube nicht, daß du vor der Schule
Angst zu haben brauchst. Weißt du noch, wie gut alles in der Vorschule
geklappt hat?“
Tom nickt, aber sein Herz ist mutlos.
„Weißt du noch, wie du in einer einzigen Stunde ein ganzes Gedicht gelernt
hast?“ fragt die Großmutter.
„Und ich kann es heute noch“ , antwortet Tom schnell.
„Weißt du noch, wie fix du der Lehrerin sagen konntest, ob fünf oder acht
Hühnerchen im Häuschen saßen?“ fragt die Großmutter.
„Und das Lied“ , schreit Tom nun froh, „das Lied von den drei Hühnerchen,
das haben wir dann gelernt!“ Und dann singen die Großmutter und Tom
das Lied von den drei Hühnerchen, die sich zankten, bald aber einander
wieder liebhatten.
„Ich könnte mir denken, daß die Schule sehr schön wird“ , sagt die Groß­
mutter. *
„D as wird sie“ , sagt Tom, „jetzt gleich könnte ich hingehen, solche Lust hab’
ich.“
Der Tag ist schön. Die Worte der Schwester wollten ihn traurig werden
lassen, aber nun ist der Tag wieder schön.

205
In der Küche auf dem Tisch steht die Tasche mit den leeren Milchflaschen.
Daneben liegt das Geld. Tom geht zum Konsum Milch holen. Der Weg ist
nicht weit, und Tom geht ihn immer gern. Er weiß, in welchem Garten die
schönsten Tulpen blühen, auf welchem Baum das erste Vogelnest gebaut
wird. Er trifft den ersten Star des Sommers und die Katze Mohrle, wenn
sie die Katzenkinder ausführt. Vor drei Tagen hat Tom pfeifen gelernt. Und
nun pfeift er laut vor sich hin.
Frau Griese, die Verkäuferin, sortiert Schokoladenautos in die Regale. Ein
feiner Duft weht um Toms Nase. Er stellt sich neben Frau Griese und sieht
ihr ein Weilchen zu.
„Riecht gut, was?“ fragt sie. „War’ etwas für die Schultüte.“
Tom nickt. „D ie Autos könnte ich jetzt schon gebrauchen. Dann würd’ ich
ein Schokoladenautorennen machen. Die Verlierer eß’ ich einfach auf.“
„Junge, Junge“ , staunt Frau Griese, „da gehst du aber ganz schön ran. Am
Ende nimmst du gar kein einzelnes Auto, wenn ich es dir schenke?“
„Aber ja“ , sagt Tom, „ich muß doch üben. D a fang’ ich am besten mit einem
erst mal an.“ Tom guckt Frau Griese an und Frau Griese den Tom, und dann
lachen sie beide los, daß die Milchflaschen nur so scheppern.
„D u bist mir vielleicht einer“ , sagt Frau Griese. Sie reicht ihm die Milch­
flaschen rüber, kassiert das Milchgeld und schenkt dem Tom ein rotes
Schokoladenau to.
„Aber lach man jetzt noch“ , sagt Frau Griese. „Geht erst die Schule los,
das gibt noch Tränen genug.“ Und sie geht wieder Schokoladenautos sta­
peln.
Tom bringt die Milchflaschen nach Hause und ißt das Schokoladenauto.
Doch etwas ist geschehen. Die freundliche Frau Griese hat die Worte der
Schwester vom Morgen zurückgeholt. Tom sitzt im Garten und muß nach-
denken. Er will eine Antwort auf seine Frage finden: Ist die Schule schlimm
oder schön?
Der Marienkäfer auf Toms Finger probiert seine Flügel; er macht sich zum
Start bereit und fliegt davon. D a weiß auch Tom, was er tun wird. In die
Schule wird er gehen. Jetzt, gleich, wo sie gar nicht auf ihn wartet. Er wird
Herrn Blinse fragen, seinen Lehrer aus der Vorschule, ob er sich fürchten
muß oder freuen soll. Herr Blinse, mit dem roten Bart und den blauen Augen,
wird es ihm sagen, und dann weiß Tom es genau.
Die Schule liegt behäbig im Schatten der großen Linden. Kein neues Haus
— kein altes Haus, es trägt ein Ziegeldach aus roten, braunen und grauen
Ziegeln.
Tom stemmt sich gegen die schwere braune Schultür. Sie öffnet sich leise
knarrend. Sonnenstrahlen fallen in den dunklen, kühlen Schulflur und lassen

206
die metallenen Kleiderhaken an den Wänden aufblitzen. Im Herbst und im
Winter hängen hier die Mäntel der Kinder. Jetzt hängt dort nur eine hutzelige
braune Stullentasche und ganz hinten eine kleine schwarze Turnhose.
Hinter den Klassentüren mit den weißen Schildern hört Tom die Stimmen
der Kinder und der Lehrer, mal laut, mal leise.
Tom steigt die Holztreppe hinauf. Er geht auf eine schwarze, kleine Holztür
am Ende des Flures zu. Sie trägt kein weißes Schild, dafür einen schnörke­
ligen Holzrahmen, in den hungrige Holzwürmer lauter kleine Löcher hin­
einfraßen.
In der letzten Vorschulstunde hatte Herr Blinse den Kindern die Tür ge­
zeigt, geheimnisvolle Augen gemacht und gesagt: „D as ist unser Zauber­
zimmer.“
„Zauber gibt’s nicht“ , hatten die Kinder gerufen.
„Kein Märchenzauber“ , hatte Herr Blinse geantwortet. „Unser Zauberzim­
mer ist etwas ganz anderes. Verraten wird’s am ersten September.“
Nun steht Tom vor dem Zauberzimmer und denkt an die Worte des Leh­
rers. Vorsichtig klopft der Junge an. Langsam drückt er die Klinke herunter
und öffnet die Tür einen Spalt breit. Dann steckt er den Kopf hindurch, und
vor Schreck bleibt ihm das Herz stehen: Vor Tom auf dem Tisch sitzt eine
Eule und guckt ihm ruhig mit großen runden Augen entgegen.
Mit einem einzigen Sprung ist Tom von der Tür weg. Knallend fliegt sie ins
Schloß. Der Flur dröhnt. Tom wartet, Angst in der Kehle. Nichts geschieht.
Keiner kommt, keiner guckt. Der Türknall ist davongeflogen. Tom hört die
Kinder in den Klassen singen und lachen. Er hört die Stimmen der Lehrer.
D a geht er zur Tür zurück und öffnet sie wieder.
Die Eule sitzt immer noch da. Tom steckt den Arm durch die Tür, wedelt
mit der Hand und macht „ksch, ksch“ . Aber eine Eule ist kein Huhn, das
man wegscheuchen kann. Tom überlegt: Bienen stechen, Hunde beißen,
Katzen kratzen, aber Eulen? Tom weiß nichts über Eulen. E r geht zurück
ins Zimmer. Schritt für Schritt geht er auf die Eule zu. Sie hüpft nicht, sie
zuckt nicht, kein Federchen an ihr bewegt sich. Starr guckt sie zur Tür. D a
weiß Tom: er ist vor einer ausgestopften Eule davongelaufen. Ach, was ist
er für ein Dummkopf! Er läuft um die Eule herum. Sie sitzt reglos auf einem
Holzbrett. E r streicht ihr über das braune Gefieder. E s ist weich wie Samt.
An den Beinen hat sie große Krallen, und die Augen in dem dicken, runden
Kopf sihd aus Glas.
„D as wär was gewesen“ , sagt Tom zur Eule. „Weglaufen vor dir, wo du bloß
Holzwolle im Bauch hast wie mein Teddy.“
Jetzt erst sieht sich Tom im Raum um und möchte beinahe glauben, er sei
im Tierpark.

207
Um ihn herum sitzen: ein Eichhörnchen, ein Hase, eine Gans, ein Huhn, ein
Spatz und ein Rabe. In großen Glaskästen liegen Schmetterlinge und
glitzernde Steine.
Neugierig, neugierig läuft der Junge im Zimmer umher. Vergessen ist die
Angst vor der Eule, vergessen auch die Frage an Herrn Blinse. Das hier ist
wirklich ein Zauberzimmer, denkt Tom. Er streicht dem Eichhörnchen über
den buschigen Schwanz, und es springt nicht davon. Er faßt dem Hasen ans
linke große Ohr und fühlt sein weiches Fell. Tom tippt dem Raben auf den
schwarzen Schnabel, und er fliegt nicht weg. Alle die Tiere sitzen brav,
sitzen still, flattern nicht, gackern nicht, lassen sich angucken.
Tom bewundert die farbigen Flügel der Schmetterlinge und das Funkeln der
Steine im Sonnenlicht.
Dann erst sieht er den Maulwurf. Blauschwarz und samtig das Fell, spitz
die Schnauze und an den Vorderbeinen richtige Grabhände, mit denen er die
Maulwurfshügel im Garten des Großvaters aufwirft. Vorsichtig faßt Tom
ihn an, hebt ihn hoch und pustet in das Fellchen. Eine kleine Staubwolke
steigt hoch und Tom in die Nase. Den müßte man mal waschen, denkt der
Junge.
Gleich neben der Tür ist ein kleines Waschbecken, und aus dem Wasserhahn
tropft Wasser, jede kleine Minute ein Tropfen. Tom dreht den Hahn auf und
hält unter den dünnen Wasserstrahl den Maulwurf. Das Wasser läuft über
das Fell, läßt es klebrig und stumpf werden. Der Maulwurf gleicht ehereiner
nassen Maus. Klein und verkrumpelt liegt er in der Hand des Jungen, der
ihn verwundert betrachtet. Er hat ihn nicht gerubbelt, nicht gedrückt — und
dennoch ist aus dem Maulwurf ein kleines klebriges Mäuschen geworden.
Angst wird wach.
Tom versucht nachzudenken. „Trocknen muß ich ihn“ , sagt er laut zu den
Tieren, die ihn aus ihren Glasaugen gleichmütig ansehen. Tom stellt sich vor
die Eule. „Also trocknen. Aber wie?“
Er bläst mit vollen Wangen auf das Fell des Maulwurfs. Davon bewegen
sich nur die Federchen der Eule, doch das Fell des Maulwurfs wird von Staub
und Wasser zusammengedrückt.
Tom läuft zum Fenster, um den Maulwurf in die Sonne und den warmen
Sommerwind zu legen. Doch die Fensterriegel sind hoch, und Tom ist klein.
D a ertönt die Schulklingel. E s ist Pause. Reglos steht der Junge, den tropf­
nassen Maulwurf in der Hand. Er hört das Klappen der Klassentüren, hört
Schritte. Schnell steckt er mit klopfendem Herzen den Maulwurf in die
Hosentasche.
Mit einem Ruck öffnet sich die Tür. Andreas steht im Zimmer. Tom kennt
Andreas, er wohnt mit ihm in einer Straße.

208
Überrascht sieht Andreas zum Tom. „Was machst du denn hier?“ fragt er.
Tom schweigt. Was soll er sagen so schnell, und so erschrocken wie er ist.
Andreas aber hat keine Zeit. E s ist nur eine kleine Pause, und Andreas ist
Pionier vom Dienst. Er muß für den Heimatkundeunterricht die Eule holen.
Andreas wird ungeduldig.
„Hier darf überhaupt niemand hinein“ , sagt er. „Ich hol’ auch bloß Paula.“
„D ie Eule heißt Paula?“ fragt Tom. „Und die anderen Tiere?“
„N ur die Eule hat einen Namen, die anderen heißen gar nicht.“
Andreas und die Eule Paula in seinem Arm blicken nachdenklich zu Tom
hin. Der sieht die Frage kommen, deshalb sagt er schnell: „Ich wollte eigent­
lich zu Herrn Blinse. Ich wollte wissen, ob die Schule schlimm oder schön
sein wird. Ich muß es wissen vor dem Schulanfang.“
Andreas nickt und sagt: „D as versteh’ ich.“
Endlich, denkt Tom, endlich einer, der es versteht! Er vergißt den nassen
Maulwurf in der Hosentasche und fragt: „N a, und — wie ist die Schule?“
Andreas guckt ihn an, zupft am Zipfel des Pioniertuches, pustet in Paulas
Gefieder, schließlich sagt er: „D ie Schule ist wie ein Klettergerüst auf dem
Spielplatz. Du darfst keine Angst haben vor den großen Sprossen, und du
mußt Lust haben und etwas tun, dann ist eigentlich alles gut.“
„Lust hab’ ich“ , sagt Tom, „große sogar.“
„Dann wart’ doch auf den ersten September“ , lacht Andreas, „dann wirst
du sehen. Manchmal ist es schwer, aber schlimm ist es nie.“
„Aber da ist noch etwas“ , sagt Tom hastig, weil er sieht, daß Andreas zur
Tür geht. „Bei mir ist noch kein Zahn wackelig. Vielleicht denken dann alle,
daß ich zu dumm für die Schule bin?“
„Kein Zahn wackelig“ , staunt Andreas.
Tom nickt stumm. Doch da sagt Andreas schon: „Ich glaub’ nicht, daß du
zu dumm bist für die Schule. Wärst du sonst fragen gekommen?“
Jetzt öffnet sich die Tür zum zweiten Male. Herr Blinse mit den blauen
Augen und dem roten Bart tritt ins Zimmer.
„Was ist los, Andreas?“ fragt Herr Blinse. „Wir dachten schon, du bist mit
der Eule auf und davon geflogen?“
Andreas bekommt einen roten Kopf, und Toms Ohren leuchten ebenso rot.
Er sieht Herrn Blinse an und spürt nun den Maulwurf in der durchnäßten
Hosentasche.
Steif steTit Tom vor Herrn Blinse, der ratlos auf die Jungen sieht.
„H abt ihr was?“ fragt Herr Blinse und setzt sich auf einen kleinen Holz­
hocker.
„E r hat was“ , sagt Andreas und weist auf Tom. „ E r wollte fragen, ob die
Schule schön oder schlimm ist.“

14 209
Herr Blinse streicht sich seinen Bart und sagt: „D as kann ich verstehen. Da
war’ ich auch gelaufen. Aber nun, wie weit sind wir mit dem Problem?“
Er guckt auf Tom, der stumm dasteht und an den Maulwurf in der Tasche
denkt, der schon seine Nässe spürt und darauf wartet, daß auch Herr Blinse
den Wasserfleck auf seiner Hose sieht.
„Kannst gar nicht reden, wie?“ fragt Herr Blinse.
Andreas lacht. „Bis eben konnte er noch“ , sagt Andreas. D a gibt sich Tom
einen Ruck. Er faßt in die Hosentasche, zieht den Maulwurf heraus und hält
ihn Herrn Blinse hin.
Herr Blinse und Andreas staunen mit runden Augen.
„Junge“ , sagt schließlich Herr Blinse. „Ist der aber eingelaufen.“
„Ich wollte ihn saubermachen“ , sagt Tom. „Ich hab’ nicht gerubbelt, nicht
gedrückt. Gar nichts hab’ ich gemacht, nur Wasser hab’ ich darüber laufen
lassen.“ Und die Tränen sitzen ihm in der Nase, wie vorher der Staub vom
Maulwurfsfell.
„N a, na“ , sagt Herr Blinse und klopft Tom freundlich auf die Schulter, „der
wird vielleicht noch trocken zu kriegen sein?“ Er nimmt den Maulwurf aus
der Hand des Jungen und betrachtet beide — Tom und den Maulwurf — mit
Nachdenklichkeit.
„Andreas“ , sagt er dann, „geh mal zur Hausmeisterin und bitte sie um einen
Fön. Sag ihr, wir haben dem Maulwurf die Haare gewaschen.“
Andreas stellt Paula auf den Tisch, und Toms Herz tut einen Freuden­
sprung.
Herr Blinse wird den Maulwurf trocknen, und das Zauberzimmer hat wieder
all seine Tiere. Tom guckt mit den freundlichsten Augen auf Herrn Blinses
roten Bart und in seine blauen Augen. Ebenso freundlich guckt Herr Blinse
zurück.
„Was glaubst du“ , fragt er den Jungen, „wird die Schule schön oder
schlimm?“
„Sie wird schön“ , sagt Tom. „Andreas hat recht. Schlimm kann sie über­
haupt nicht werden. Und wenn, dann komme ich ganz einfach zu Ihnen!“
„Einverstanden“ , sagt Herr Blinse, „sollst mal sehen, was das für ein
September wird.“
D a kommt Andreas mit dem Fön von der Hausmeisterin. Herr Blinse stellt
ihn an und pustet beide trocken: den Maulwurf und den Tom.

Katrin Pieper

210
Heiner und seine Hähnchen

Heiner hat drei Hähnchen. Die sind so klein, daß sie noch keinen richtigen
Kamm haben. Doch ihre Federn werden schon bunt. Die Hähnchen wohnen
in einem grünen Häuschen. Es steht auf vier Pfählen hinter dem Stall im
alten Garten, wo Apfel- und Kirschbäume ihre Äste breiten.
Drinnen im Häuschen liegt feiner weißer Sand. Der Sand muß immer sauber
sein, und Heiner hat den Hähnchen versprochen, sooft sie es wünschen, für
sauberen Sand zu sorgen. Heiner ist vier Jahre alt. Man sagt von ihm, er sei
so klein wie seine Hähnchen. Das stimmt aber nicht. Heiner ist viel größer,
mindestens fünfmal größer als die Hähnchen. Rund um seinen Kopf wächst
weizengelbes Igelhaar.
Eines Morgens sagen die Hähnchen: „Heiner, wir brauchen frischen
Sand.“
D a nimmt Heiner seinen roten Eimer und Mutters kleine Gartenschaufel und
■ läuft hinunter ans Meer. Denn das Meer hat den schönsten Sand, weiß und
weich, wie ihn die Hähnchen lieben. Doch als Heiner ans Meer kommt, sieht
er dort einen Regenpfeifer. Auf hohen Beinchen, die so dünn sind wie
Streichhölzer, huscht der Regenpfeifer den Strand auf und ab. Und Heiner
schaut ihm zu und vergißt seine Hähnchen. Dann ruft er: „Was machst du
d a?“
„Ich trinke Sonnentropfen“ , erwidert der Regenpfeifer.
„D as will ich auch!“ ruft Heiner. Er wirft Eimer und Schaufel fort und rennt
zum Regenpfeifer und rennt neben ihm her, emsig und flink den Strand auf
und ab. Aber wie flink sich Heiner auch bewegt, der Regenpfeifer ist viel,
viel schneller und hat zehn Sonnentropfen getrunken, noch ehe Heiner den
ersten überhaupt gefunden hat. Da verliert er den Spaß an diesem Spiel, und
so denkt er wieder an seine Hähnchen und sagt zum Regenpfeifer: „D u hast
es gut, du kannst den lieben langen Tag am Strand umherlaufen. Ich muß
jetzt weiter, Sand besorgen für die Hähnchen.“ Doch kaum ist Heiner mit
Eimer und Schaufel hundert Schritte gelaufen, da sieht er auf dem Wasser
eine Möwe. Leicht und heiter, den Schnabel erhoben, gleitet die Möwe von
Welle zu Welle. Und Heiner schaut ihr zu und vergißt seine Hähnchen
abermals. Dann ruft er: „He, Möwe! Was machst du d a?“
„Ich schwimme ein wenig vor mich hin“ , erwidert die Möwe.
„D as will ich auch!“ ruft Heiner.
Eimer und Schaufel und Heiners Hemd und Heiners Hose bleiben am Strand
zurück.
Heiner rennt ins Wasser.
Er streckt die Arme und streckt die Beine.
Er macht sich lang und will schwimmen wie die Möwe, leicht und heiter von
Welle zu Welle. Aber das Wasser schlägt über Heiners Kopf zusammen. Da

14* 211
wird er böse und ruft der Möwe nach: „D u hast es gut, schwimmst den lieben
langen Tag nur vor dich hin. Aber ich muß Sand besorgen für die Hähn­
chen.“
So läuft er denn weiter mit Eimer und Schaufel und sieht nach hundert
Schritten einen Schmetterling. Der Schmetterling leuchtet zitronengelb. Er
gaukelt vor Heiners Nase, hierhin und dorthin, wie im Spiel mit dem Wind,
und Heiner vergißt seine Hähnchen zum drittenmal.
Er eilt dem Schmetterling nach. Er will ihn fangen. Der Schmetterling flieht
in die Heide. Er steigt auf und nieder, sucht Schutz bei den Blüten und ver­
birgt sich im wilden Brombeerstrauch.
Doch überall findet ihn Heiner, stöbert ihn auf, und weiter geht die lustige
Jagd. Heiners Haarschopf wird immer kleiner und ist am Ende so klein wie
das gelbe Blütenköpfchen einer Hundeblume.
Zu Hause aber, im alten Garten mit den Kirsch- und Apfelbäumen, gehn
die Hähnchen ihrer Beschäftigung nach.
Sie picken Körner, scharren im lockeren Erdreich nach Würmern oder trinken
aus dem Entenbottich, indem sie nach jedem Schluck den Schnabel steil in
den Himmel recken.
Und weil sie drei mutige Hähnchen sind, kämpfen sie auch manchmal gegen­
einander oder stürzen sich auf die dicken, schillernden Fliegen, die träge an
der sonnenwarmen Stallmauer kleben. So vergeht der Tag.
Die Sonne wird müde. Sie blickt rot übers Meer und sagt den Hähnchen und
allen Tieren des Tages: Es wird Schlafenszeit für euch. D a rennen die
Hähnchen zu ihrem Häuschen.
Aber was müssen sie sehn? E s ist kein frischer Sand gestreut, und es fehlt
jede Spur von Heiner. Die Hähnchen stehn bestürzt vor ihrem Häuschen.
Sie blicken sich an. Sie legen die Köpfchen schief und denken nach:
Warum ist kein frischer Sand gestreut?
Warum ist Heiner noch nicht zurück?
„Vielleicht hat er sich verlaufen“ , sagt das erste Hähnchen.
„Vielleicht sucht er auch besonders schönen Sand“ , sagt das zweite.
Das dritte Hähnchen bleibt stumm. Endlich sagt es zaghaft: „Und wenn ihn
der große, böse Hühnervögel fortgetragen hat?“
Der große, böse Hühnervögel ist der Feind der Hähnchen. Sie fürchten ihn,
und sobald sie nur von ihm reden, möchten sie lieber unter dem schützenden
Dach ihres Häuschens sein. Aber jetzt besiegen alle drei Hähnchen ihre
Furcht. Sie sagen: „Wir müssen Heiner suchen!“
Sie schütteln ihr Gefieder und strecken die Brust vor. Sie zeigen der Welt,
daß sie mutige Hähnchen sind. Dann marschieren sie los. Bis hinunter ans
Meer.

212
Dort sehn sie den Regenpfeifer und fragen ihn nach Heiner. Doch der
Regenpfeifer kann nur erwidern: „Heiner, der ist schon längst weiter. Wohin,
das weiß ich nicht.“
Und als die Hähnchen ratlos und bekümmert dreinschaun, sagt der Regen­
pfeifer: „Ich komme mit. Ich helfe euch suchen. Ich kenne hier Stein und
Strauch.“
So wandern sie weiter zu viert und sehen bald darauf die Möwe und fragen
sie nach Heiner. Aber auch die Möwe erwidert: „Heiner, der ist schon längst
weiter. Wohin, das weiß ich nicht.“
Nach diesen Worten schwingt sie sich in die Luft und ruft: „Ich komme mit.
Ich helfe euch suchen. Aus der Höhe sehe ich weiter als ihr.“
So sind sie also nun zu fünft.
Hoch im Himmel kreist die Möwe. Dicht überm Strandhafer schwirrt der
Regenpfeifer. Ganz unten marschieren die Hähnchen, und wohl hundertmal
fragen sie die anderen: „Seht ihr noch nichts?“
Doch jedesmal müssen Möwe und Regenpfeifer zur Antwort geben: „Alles
ist kahl und leer. Kein Heiner, kein Eimer, keine Schaufel.“
So suchen sie ohne Rast und Ruh, und die Hähnchen fühlen ihre Füße
schmerzen. Die rote Sonne geht unter. Ein kühler Wind springt auf. Blau
zieht der Abend über Meer und Land. Da wollen die Tiere verzagen.
Die Hähnchen bleiben stehn, dicht beieinander, mit traurig eingezogenen
Köpfchen. Die Möwe segelt nieder und landet auf einem Stein.
Der Regenpfeifer schmiegt sich in ein Erdloch. Und alle denken: Was soll
nun werden? Und alle sind stumm. Aber seht: In diesem Augenblick kommt
aus der Heide pfeilschnell ein rotbeiniger Kiebitz daher, zieht einen Kreis und
ruft: „Sucht ihr den Heiner? Ich hab’ ihn getroffen. Ich kann euch führen.“
Da schlagen die Hähnchen ihre kurzen Flügel. Der Regenpfeifer schwirrt aus
seinem Erdloch. Die Möwe steigt kühn in den Abend. Alle folgen dem
Kiebitz. Und nicht lange, da erblicken sie vor sich, mitten im Blütenmeer
der Heide, eine große, flache, sandige Mulde. Der Sand in der Mulde ist
samtweich und fein. Nie haben die Hähnchen feineren Sand gesehn.
Am Rande der Mulde aber liegt Heiner. Er liegt wie ein kleines Kaninchen
im Nest, neben sich das rote Eimerchen und Mutters Gartenschaufel.
Heiner schläft. Auf seiner Nasenspitze sitzt zitronengelb der Schmetterling
und schläft auch. Die Hähnchen betrachten lange den schlafenden Heiner.
Dann sagt das erste: „E r ist zu weit gelaufen und müde geworden.“
Und das zweite: „E r hat uns den schönsten Sand gesucht.“
Und das dritte: „Welch ein Glück, daß wir ihn gefunden haben.“
Und mit den Hähnchen freun sich Regenpfeifer, Möwe und Kiebitz. Das
erste Hähnchen pickt nun ganz sacht gegen Heiners Hand. Einmal, und noch

213
einmal, und noch einmal. Davon erwacht der Schmetterling und flattert in
die dämmergraue Heide. Heiner aber schläft noch immer. „E r muß sehr müde
sein“ , sagen die Hähnchen. Sie betrachten ihn still. Am liebsten möchten sie
ihn gar nicht wecken. Aber bald wird es Nacht sein. Sie müssen nach Hause,
und sie haben noch einen weiten Weg.
Diesmal pickt das zweite Hähnchen gegen Heiners Hand. Und als er wieder
nur tief atmet, pickt auch noch das dritte, so daß Heiner plötzlich mit einem
Ruck aus dem Schlaf fährt. Er sitzt aufrecht und reibt sich die Augen. Er
kann nicht glauben, was er sieht. Wie kommen die Hähnchen hierher? Und
die Möwe? Und der Kiebitz? Und der Regenpfeifer? Und alle schaun sie ihn
freundlich an. Warum schaun sie mich so freundlich an? denkt Heiner. Da
sagt das erste Hähnchen: „Wir freun uns, daß wir dich gefunden haben.“
Und das zweite: „D u bist so weit gelaufen und hast uns diesen wunderschö­
nen Sand gesucht.“
Und das dritte sagt: „D afür danken wir dir recht herzlich.“
Sie scharren im Sand und machen jedes einen Kratzefuß. Heiner aber sitzt still
und steif. Er schämt sich vor den Hähnchen. Er hat keinen Sand gebracht. Er
hat die Hähnchen den lieben langen Tag warten lassen. Er hatte sie vergessen.
Nun sind sie hier, schaun ihn freundlich an und loben ihn. Ach, ihr lieben
Hähnchen, denkt Heiner.
Doch die Hähnchen merken von seinem Kummer nichts. Sie preisen dem
Kiebitz und der Möwe und dem Regenpfeifer den Sand. „So fein und weich“ ,
sagt das erste.
„So sauber und weiß“ , sagt das zweite.
Und das dritte sagt: „Welch eine Freude, daß Heiner uns diesen Sand gesucht
hat. Er ist der beste Junge weit und breit.“
Als Heiner das hört, denkt er wieder: Ach, ihr lieben Hähnchen. Und
schweigt und weiß kein Wort zu sagen. Und nimmt sein rotes Eimerchen und
füllt es mit dem wunderschönen Sand. Dann mahnt der Kiebitz zum Auf­
bruchs „Ihr Freunde zusammen, es wird Zeit, daß wir nach Hause gehn.“
Der Kiebitz zieht einen Abschiedskreis. Die Möwe steigt auf und segelt dem
Meere zu. Der Regenpfeifer schwirrt aus seiner Mulde. Heiner und die
Hähnchen sind wieder allein. Sie machen sich auf den weiten Weg nach
Hause. Heiner trägt das rote Eimerchen und Mutters Gartenschaufel. Er
ist sehr müde. Wie müde mögen erst die Hähnchen sein? Sie sind soviel
kleiner, mindestens fünfmal kleiner als Heiner.
Ihr lieben guten Hähnchen, denkt Heiner. Ich will euch jetzt immer Sand
aus dieser Mulde holen. Wenn es auch hundertmal weiter ist.

Benno Pludra

214
Vom Bären, der nicht mehr schlafen konnte

E s lebte ein Bär in dem schönen fernen Land Sibirien.


Er war groß und stark, aber sehr gutmütig, und die Tiere der Taiga liebten
ihn.
Jeden Morgen, wenn das Sonnenlicht grün und golden durch die Baumwipfel
brach, wanderte der Bär hinunter an den Fluß. Dort saß er still auf einem
Uferstein, spähte in die Tiefe und haschte blitzschnell nach den Fischen, die
arglos vorüberschwammen. Hatte er genug gefangen und gefressen, streckte
der Bär seine Pfoten aus, schniefte wohlig und schlief ein.
So lebte er glücklich und zufrieden viele Jahre.
Eines Morgens aber, als der Bär zum Fluß hinunterkam, lugte von seinem
Uferstein nur noch ein winziges Häubchen hervor, kaum größer als die eigene
Tatze. Der Bär stand reglos und ratlos. Er brummte laut und schnüffelte über
den Fluß.
Wie sollte er nun zu seinen Fischen kommen?
Das Wasser fragte nicht danach.
Es stieg und stieg. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Und der Bär verlor nicht
nur den Uferstein. Er verlor auch den Strauch mit den süßesten Beeren, den
Busch mit den schönsten Ebereschen und schließlich die Honigkammer in
der alten Birke.
Das Wasser drang unerbittlich vor, und der Bär wurde zornig und traurig.
Es begegnete ihm der Hirsch Maral.
„Sag mir“ , rief der Bär, „was tut der Fluß? Das Wasser steigt und steigt.
Ich finde nirgendwo ein sicheres Fleckchen mehr.“
Maral, von weit her gekommen, sprach: „D as Wasser wird noch lange
steigen. Denn die Menschen haben einen Damm gebaut, quer durch den
Fluß.“
„Einen Damm“ , rief der Bär, „quer durch den Fluß? Was soll das bedeuten?
Ich habe keinen Uferstein mehr, dazu die süßesten Beeren verloren, dazu den
herrlichsten Honig.“
Und plötzlich brüllte der Bär: „Ich werde den Damm besiegen!“
Der Hirsch Maral aber sprach: „E s ist weit bis dorthin, hundertmal weiter,
als du an einem Tag laufen kannst. Und kämst du auch hin, der Damm ist
hart wie ein Felsen, hoch wie ein Berg, und man rühmt seine Wunderkraft:
Der Damm gibt den Menschen Licht und Wärme.“
„Wer soll dir das glauben?“ rief der Bär, schüttelte seinen Pelz und trabte
los. «
Dem Lauf des Flusses folgend, trabte er durch die Taiga, trabte und trabte
neben dem steigenden Wasser einher.
Der Sommer verging, mit nächtlichen Nebeln kam der Herbst, der Bär trabte
immer noch durch die Taiga.

215
E r traf den Rehbock, braun und sanft, und traf den Vielfraß, der auf weichen
Sohlen seines Weges zog.
Er sah das Wiesel, flink von Busch zu Busch, und sah den Zobel, flink von
Baum zu Baum, und sah den Auerhahm im Schmuck seiner Federn. Und alle
fragten: „Wohin, lieber Mischka, wohin? Komm, sei unser Gefährte.“
Der Bär aber grollte: „Ich habe keinen Uferstein mehr, dazu die süßesten
Beeren verloren, dazu den herrlichsten Honig. Ich kann nicht euer Gefährte
sein, ich muß den Damm besiegen. Folgt mir!“
Die Tiere folgten dem Bären nicht.
Sie zogen tiefer in die Taiga: Rehbock und Vielfraß, Wiesel, Zobel, Auerhahn
— die Tiere des Waldes, ob groß oder klein, suchten sich Höhlen und bauten
sich Nester, ferner und ferner dem Damm.
Der Bär blieb allein. Der Winter war nah, und als der erste Schnee fiel, sah
der Bär die letzte Haselmaus.
„Wohin, lieber Mischka?“ piepste die Haselmaus.
„D u begibst dich in Gefahr! Die Menschen haben einen Damm gebaut,
Häuser gebaut, Straßen gebaut. Eine neue Stadt steht mitten im Wald.
Autos fahren, Kinder spielen, und nachts sind die Straßen hell wie am
Tage.“
„Ich fürchte mich nicht“ , erwiderte der Bär. „Ich werde den Damm be­
siegen!“
„Den Damm besiegen?“ piepste die Haselmaus. Und stumm vor Schreck
äugte sie dem Bären nach.
Der Schnee fiel sacht und weich, die Taiga wurde weiß, und die Sträucher
mit ihren Früchten schlummerten tief verborgen unter einer dicken Decke.
Der Bär fand keine Nahrung mehr. Hunger begann ihn zu quälen, die Füße
wurden ihm schwer. Er war müde, so müde, und dachte nicht mehr an den
Damm, suchte sich eine Höhle, steckte den Kopf zwischen die Tatzen und
schlief ein. Das Wasser aber stieg weiter. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Es
erreichte die Höhle und leckte dem Bären über die Tatzen, leckte ihm über die
Nase, und der Bär mußte niesen und wurde wach.
Nicht weit entfernt lag eine zweite Höhle, warm und geborgen, unter einem
Felsen. Der Bär kroch hinein, rollte sich rund und schlief drei Tage. Am
vierten Tag war das Wasser auch hier, und der Bär mußte abermals weichen,
geplagt von seiner Müdigkeit und böse auf die ganze Welt.
Einsam irrte er durch den Wald, fand keine Höhle mehr und keinen Unter­
schlupf, fand nur das Dach eines umgestürzten Baumes. Hier schlief er ein,
zu Tode matt, schlief und schlief — wie lange?
Donnergetöse riß ihn hoch. Ein Motor dröhnte, Ketten klirrten. Ein Raupen­
schlepper zog den Baumstamm fort.

216
Der Bär lag wie erstarrt. Und die Arbeiter neben dem Raupenschlepper, dick
vermummt in Wattejacken, selber tapsig wie Bären, die Arbeiter schrien
einander zu: „Ein Mischka, ein Mischka! Ist er tot?“
Der Bär sprang auf, den Arbeitern durch die Beine, warf sie mit ihren
Wattejacken in den Schnee, rannte davon und kugelte sich, braun der Pelz
im stiebenden Schnee.
Weit durch den Wald war er gerannt, da klaffte verborgen ein schwarzer
Spalt. Der Bär fiel hinein und sauste bergab, rutschte und sauste die Schlucht
hinab, bis an den Rand einer Straße aus Schotter. Hier saß der Bär er­
schrocken still. An seiner Nase vorbei rollten die riesigen Reifen schwerer
Kipper, und jenseits der Straße schäumte sein Fluß. Doch der Bär erkannte
den Fluß nicht wieder, so weiß und wild und tosend.
Vorsichtig lugte er endlich ins Freie. Einmal nach links, den Fluß hinunter,
und einmal nach rechts, den Fluß hinauf.
Nach links, den Fluß hinunter, wurde das Wasser wieder ruhig. Nach rechts
aber stand der Damm: hart wie ein Felsen, hoch wie ein Berg, grau, glatt,
mächtig.
Zu Füßen des Dammes kochte die Wasserflut, zu seinen Häupten schwieg
der Himmel, und der Bär, hierhergekommen, den Damm zu besiegen, fühlte
sich klein und schwach gegen seine Größe.
Er suchte einen Weg zurück, stieg über rotes Steingeröll bergauf, stieg weiter
durch weichen Schnee, der blau im Schatten des Abends lag, und kam nach
vielen Stunden zu der neuen Stadt. E s war Nacht und sehr still, und die Stadt
sah feierlich aus im Licht ihrer weißen Laternen.
Am Rande der Taiga stand der Bär. Die nächtliche Stadt hatte ihn ver­
zaubert.
Er streifte stumm durch ihre Straßen, zwischen den hohen Häusern, unter
den weißen Laternen, stumm und ganz für sich, weil ringsum die Menschen
schliefen.
Auch die Autos schliefen und die blauen Telefonhäuschen und die roten
Kioske, an denen tagsüber heißer Tee verkauft wurde.
Die Laternen nur, leuchtend wie kleine Monde, wachten über den Schlaf der
Stadt.
Der Bär lief hierhin und dorthin, betatzte die Autos, die Telefonhäuschen
und schnupperte rund um die Teebudenplätze, verlockt von dem D uft nach
Süßigkeit.
Je länger der Bär aber lief, fremd in der Stadt, in den stillen Straßen, desto
häufiger dachte er an die Taiga.
Dachte an Rehbock und Vielfraß, Wiesel, Zobel, Auerhahn, an den Hirsch
Maral und die kleine ängstliche Haselmaus.

217
Dachte an Bäume und Sträucher, an die süßen Beeren des Sommers und die
warmen Höhlen des Winters.
Die Sehnsucht des Bären wuchs grenzenlos.
Nichts hielt ihn mehr in der S tad t...
In der Frühe des nächsten Morgens, als alle Laternen längst erloschen waren,
fanden Kinder seine Spuen.
Den Bären selber sahen sie nicht.
Er war weitergezogen zu den Tieren, Tage und Nächte durch die Taiga, zu
den warmen Höhlen des Winters, in denen er Ruhe fand und Schlaf.

Benno Pludra

218
Das Entenliesel

Erntezeit ist es. E s summt und klingt auf den weiten Feldern und im Dorf.
Am Anfang des Dorfes stehen sieben bunte Bauernhäuser.
Liesel wohnt im bunten Bauernhaus am kleinen Teich. Dort stehen drei
Weiden und die Hütte des Hundes Lux. Aber Lux liegt nicht an der Kette.
Er ist ein kluger Hund. Er beißt keine kleinen Kinder und läßt auch den
Briefträger in Ruhe. Liesel balgt sich gern mit ihm.
Es ist frühe Mittagszeit. Liesel sitzt auf der grünen Bank vor dem Haus.
Sie gibt ihrer Puppe aus dem Milchfläschchen zu trinken. „Nun trink schön,
damit du groß und stark wirst“ , sagt Liesel.
Da kommt die Mutter aus der Tür gelaufen und sagt: „Hör zu! Die bunte
Kuh bekommt ein Kälbchen. Ich will zum großen Stall. Helfen.“
Ein Kälbchen, denkt Liesel. Und sie fragt: „Kann ich mitkommen?“
„Nein, Lieselchen“ , sagt die Mutter. „D u paßt bitte auf die kleinen Entlein
auf. Der Stößer fliegt über den Weiden. Das ist ein Räubervogel. Der will
die Entlein holen. Paß gut auf!“
„ Ja “ , sagt Liesel. Und die Mutter huscht weg wie ein Wirbelwind.
Liesel aber ist ganz allein mit Lux. Des Nachbars Fritz ist in der Schule.
Die Bäuerinnen und Bauern arbeiten auf dem Feld. Und Liesels Bruder Hein
auch. Er brummt mit dem großen Mähdrescher über den Acker.
So steht Liesel am Teich mit einem kleinen Stöckchen in der Hand und sagt:
„Hule, hule, alle meine Entlein.“
Ab und zu guckt sie über die Weidenbäume nach dem Stößer. Auch Lux
sieht nach dem Stößer. Er sieht auch auf die Entlein. Lux paßt scharf auf.
Liesel aber wippt mit ihrem Stöckchen und ruft: „Hule, hule, alle meine
Entlein.“
Als ein halbes Stündchen vergangen ist und der Stößer nichts tut, wird es
ihr langweilig. Sie guckt ein bißchen trantütig durch den Zaun.
Da kommt die Landstraße entlang ein großes, ratterndes, freundliches
Ungetüm: der Mähdrescher.
Das ist eine mächtige, hohe, gelbfarbene Maschine auf Rädern. Sie hilft den
Bauern. Sie besorgt die Arbeit von hundert Menschen.
Eine richtige Zaubermaschine ist das. Sie mäht das Getreide, drischt es, füllt
das Korn in Säcke und bündelt das Stroh. D a braucht der Müller nur noch
das Korn zu mahlen. Dann kann duftendes Brot gebacken werden.
Liesel weiß das, und sie winkt ihrem großen Bruder Hein mit beiden Händen.
Hein leifkt den Mähdrescher. Er paßt gut auf, daß er keine Gänse überfährt.
Liesel winkt und lacht.
Plötzlich hört sie lautes Bellen und aufgeregtes Schnattern. Sie dreht sich um
und bekommt einen großen Schreck: Nach allen Seiten sind die Entlein
auseinander gewatschelt. Der Lux aber steht am Teich und bellt und bellt.

219
Und der Stößer fliegt flüchtend über die Weiden. Er wollte die Entlein
rauben.
Lux hat den bösen Stößer verjagt. I
Liesel springt schnell zum Teich. Hastig und angstvoll treibt sie ihre Entlein
zusammen. Aber der Stößer ist nicht mehr zu sehen.
Lux steht groß vor seiner Hütte.
Nun zählt Liesel ihre Entlein. Sie zählt mit den Fingern mit: „1, 2, 3, 4, 5,
6. “
Ja, sechs Entlein. Ein Entlein fehlt.
D a ist sie wütend über ihre Unachtsamkeit, zornig auf den Stößer und voll
Trauer um das kleine Entlein.
Zwei dicke Tränen hat Liesel in den Augen.
Sie geht ganz langsam zu Lux und sagt: „Guter Lux.“
Aber Lux, der Gute und Freundliche, knurrt.
„Was hast du?“ fragt Liesel. „Bist du böse?“
Sie hört ein schüchternes, verstecktes Entenschnattern. Ganz leise ist es und
kommt von Lux her.
„Ja, Lux!“ ruft Liesel erschrocken. „H ast du das Entlein gefressen?“
D a ist der Lux beleidigt. Er geht steifbeinig zur Seite. Und Liesel? Liesel
sieht im Stroh der Hundehütte das kleine piepsige Entlein, das siebente. Lux
hatte es bewacht.
„Ach, du guter Lu x!“ sagt Liesel noch mal. Sie schämt sich ein bißchen vor
dem Hund. Dann trägt sie das siebente Entlein behutsam zum Teich.
Im Teich schwimmen die sechs anderen Entlein und stecken fröhlich den
Steert in die Höhe. Liesel ist wieder glücklich und bewacht die Entenkinder.
Bald darauf kommt die Mutter mit anderen Bäuerinnen und Bauern vom
großen Stall herüber. Auch der Hein ist dabei. Und Fritz mit der Schul­
mappe.
„N a, du Entenliesel!“ ruft Hein. Und die Mutter fragt: „H ast du brav
aufgepaßt?“
Liesel sagt mit ganz kleiner Stimme: „Ich nicht. Aber der Lux.“
D a lachen die anderen, und die Mutter sagt: „D ie Bunte hat ein Kälbchen
bekommen. Ein buntes Kälbchen mit langen Staksbeinen. Du darfst es dir
morgen ansehen.“
Fred Rodrian

220
Das Wolkenschaf
Christine ist ein kleines Mädchen mit blauen Augen und langen, blonden
Haaren. Sie wohnt mit ihren Eltern am Rande der Stadt. In der Blu­
menstraße wohnt sie, wo der Goldfischteich ist. Darin schwimmt nur ein
einziger Goldfisch. Der ist sehr schön und glänzt in der Sonne und sagt kein
Wort.
Christine ist ein lustiges Mädchen mit vielen Wünschen.
So wünscht sie sich seit langem: allein zweistimmig singen zu können. Aber
das geht nicht. Selbst dann nicht, wenn man sich beim Singen einen Spiegel
vorhält. Oder sie wünscht sich: die Sprache der Tiere zu verstehen.
Manchmal träumt sie davon.
Träumwünsche sind etwas Schönes.
Wenn Christine zu lange träumt, kommt der Hugo und kneift sie leise ins
Bein. Träum nicht! heißt das. Spiele jetzt!
Hugo ist ein brauner Dackel mit kurzen, krummen Tolpatschbeinen und ganz
seidenweichen Ohren. Er gehört zur Familie. Christines Eltern haben Hugo
von einer guten alten Großtante gekauft, die den armen Hund unaufhörlich
mit Sauerkohl fütterte. Weil das so gesund ist. Wenn Hugo das Wort Sauer­
kohl nur hört, wächst auf seinem Rücken eine Bürste und er knurrt.
Christine hat noch einen kleinen Wellensittich, welcher Tirlitü heißt und
etwas deutsch spricht. Manchmal piepst auch er: Sauerkohl, Sauerkohl.
Aber das überhört Hugo. Er läßt sich nur von Menschen ärgern.
Christine geht auch schon zur Schule, und zwar gern. Aber das tut nichts
zur Sache, denn jetzt sind Ferien.
An einem schönen Morgen wurde Christine schon sehr früh wach. Ein
goldener Sonnenfinger kitzelte sie an der Nase, als wollte die Sonne sagen:
Steh auf! Wer früh aufsteht, hat mehr vom Tag. Christine knurrte ein biß­
chen. Das hatte sie von Hugo gelernt. Dann stand sie auf und plantschte
im Waschbecken.
E s war ein sehr schöner Morgen. Wirklich!
Der Himmel war blaßblau, und kleine Schäfchenwolken segelten über den
Tannen.
Christine blinzelte aus dem Fenster, und Hugo blinzelte mit.
„Hör zu, Hugo“ , sagte Christine. „Wir gehen zur Waldwiese“ .
Hugo wackelte mit dem Schwanz und freute sich.
Zur Waldwiese geht Christine gern und Hugo noch lieber. Das ist eine ganz
kleine grüne Wiese zwischen Kiefern und Tannen, und es stehen zwei junge
Birken da.
Auf den zwei Birken bei der Waldwiese spielen in der Morgensonne die
Eichkätzchen und jagen wie rote Flämmchen um die weißstämmigen Bäume.
Manchmal, wenn es ganz früh ist, steht bei den Birken ein Reh.

221
D a wollte Christine hin: zur Waldwiese mit den Birken, den Eichkätzchen
und dem Reh.
„Sei leise, Hugo“ , sagte Christine im Flüsterton. Dann tappelten sie beide
aus dem Haus.
„Sauerkohl, Sauerkohl!“ schrie der Wellensittich mit schriller Stimme.
Aber Hugo hörte nicht darauf.
Da standen sie nun an der Wiese. Plötzlich knurrte Hugo und bekam eine
Rückenbürste. Was war los?
Christine schaute zu den Birken. Auf einem Ast saßen sieben Eichkätzchen,
ließen die Buscheischwänze hängen und guckten ratlos nach unten:
Unten stand kein Reh, da stand ein Schaf! Hell, flockig, wollig, leise — ein
Schaf.
„Platz, Hugo!“ sagte Christine mit fester Stimme. Und ging zu dem Schaf.
Hugo machte eine jammervolle Miene. Er mußte am Waldrand sitzen blei­
ben. „Ich bin ein armer Hund“ , sagte er leise. Christine sah es gleich: das
war das schönste Schaf der Welt. Aber traurig sah es aus. Unsagbar traurig.
Christine kniete sich nieder zu dem Schäfchen und streichelte die weiche
Wolle. Und da sagte das Schäfchen mit feiner Stimme: „Ich bin hier ganz
falsch. Ich hab mich verirrt. Ich bin ein Wolkenschaf und bin beim Spielen
vom Himmel gefallen.“
Es schaute traurig hoch zu den Schäfchenwolken und sagte ängstlich: „Mäh!
Ich möchte bitte gern zu meinen Spielkameraden. Zirri heiße ich, wenn
jemand nach mir fragen sollte.“
„Aber es wird wohl niemand fragen“ , setzte es zaghaft hinzu.
Die Eichkätzchen nickten verständnisvoll, das Schäfchen schaute bittend auf
Christine, und Christine dachte nach. Der Wind wurde stiller, der Specht
hörte auf zu klopfen, Hugo fiepte von fern: alle schauten auf Christine.
Sie merkte es und sagte mit einemmal ganz schnell und mit ganz hoher
Stimme: „Komm mit. Wir gehen zu meiner Mutter.“
Zirri aber schüttelte den Kopf und guckte in den Himmel. D a legte das
Mädchen dem Schäfchen sacht die grüne Hundeleine um den Hals und führte
es nach Hause.
Der Hugo aber, der ein gehorsamer Hund war, blieb auf seinem Platz. Hatte
Christine ihn vergessen? Er fiepte jämmerlich und knurrte. Doch niemand
hörte es.
Am Goldfischteich blieb das Schäfchen Zirri stehen, schaute auf den schönen
Goldfisch, und der Goldfisch schaute auf das Schäfchen Zirri. Aber beide
sagten nichts.
Christines Mutter stand an der Gartentür. Sie wollte gerade zur Arbeit
gehen.

222
„N a, du Rumtreiber!“ rief sie. „Was bringst du denn für Besuch?“
„Ein Schäfchen“ , sagte Christine leise. „Ein Wolkenschäfchen. E s heißt Zirri
und hat sich verirrt.“
Aber die Mutter war in Eile.
„Bring es zum alten Schäfer Arge“ , sagte sie, küßte das Mädchen, streichelte
das Schäfchen und ging.
Die Mutter wollte pünktlich sein.
Christine gab dem Schäfchen zu essen. Aber es aß nicht. Sie gab dem Schäf­
chen zu trinken. Aber es trank nicht. Sie wollte mit dem Schäfchen spielen.
Aber es spielte nicht.
Es war nur traurig und weiß und flockig und wollig und still. Es wollte zu
seinen Spielkameraden, und es hatte große, runde Angstaugen.
„Bist du krank?“ , fragte Christine.
„Nein“ , sagte das Schäfchen, „ich bin allein. Das ist schlimmer als krank.“
Und das Schäfchen Zirri erzählte:
„Wir Wölkchen spielen und tanzen und machen den Himmel schön. Wenn
wir uns zusammendrängen, und wenn es oben bei uns ein wenig kühler wird,
dann kommen wir als Regentropfen zur Erde. D a trinken uns die Halme und
die Bäume und die Blumen, denn sie brauchen uns. Die Sonne aber holt uns
immer wieder in den blauen Himmel.
Nur allein bin ich nicht fröhlich und nicht nützlich“ , setzte das Wolkenschäf­
chen hinzu.
Es schaute lange sehnsüchtig in den Himmel und sagte leise: „Vielleicht muß
ich sterben.“
„D u darfst nicht sterben, Zirri“ , sagte Christine erschrocken. „D u darfst auf
gar keinen Fall sterben. Du mußt fröhlich sein und nützlich, und ich will
dir dabei helfen. Allerdings“ , sagte sie noch bekümmert, „weiß ich bis jetzt
nicht, wie ich dir helfen soll.“
Sie gab Zirri einen kleinen Stups: „Geh zur Waldwiese. Hugo wird auf dich
aufpassen. Und die Eichkätzchen. Ich muß nachdenken.“
Christine setzte sich auf einen umgekippten Eimer und dachte nach. Wer
konnte helfen?
Der Doktor? Vielleicht der Doktor.
Der Polizist? Vielleicht der Polizist.
Der Schäfer Arge? Vielleicht auch der Schäfer Arge.
Der LeKrer? Vielleicht der Lehrer.
Ja, bestimmt der Lehrer! Aber gleich fiel ihr ein: es sind ja Ferien. Der Lehrer
ist nicht da. Trotzdem: das Wolkenschäfchen Zirri mußte wieder zu den
Schäfchenwolken. Und zwar schnell. Christine rannte los. Durch die Blu­
menstraße — vorbei am Goldfischteich — zur Hauptstraße.

223
Christine rannte schrecklich schnell. Plötzlich rief einer: „Hoppla!“ und ein
anderer zog Christine an den Haaren. Das waren Bobby und Dieter, zwei
fixe Jungen aus dem Kindergarten, Freunde von Christine. „Geht aus dem
Weg“ , rief das Mädchen, und hatte vor Zorn ganz rote Ohren.
Dann stutzte sie, kniff die Augen zusammen und sagte energisch: „Nein. Ihr
müßt mir helfen. Wir alle müssen Zirri helfen!“ Und sie erzählte den Jungen
vom Wolkenschaf und gab jedem einen Auftrag.
„Bobby geht zum Doktor“ , sagte sie.
„Dieter geht zum Schäfer Arge“ , sagte sie.
Und lief eilig weiter.
Bobby knöpfte sich das Hemd zu, suchte nach dem weißen, ernsten Dok­
torschild, stiefelte mutig die Treppen empor und drückte auf den Klin­
gelknopf. Weil er so ein ängstliches Gesicht machte, und weil er kein Wort
herausbrachte, legte eine freundliche Frau ihre Hand auf seine Schulter,
schob ihn durch eine Tür und setzte ihn auf einen sonderbaren Stuhl.
Dann kam ein freundlicher Mann in weißem Kittel. Er guckte in Bobbys
Mund und sagte: „D u mußt dir die Zähne putzen, mein Sohn. Komm morgen
wieder.“ Sogar eine Zahnbürste schenkte ihm der freundliche Weißkittel­
mann, und Bobby schämte sich fürchterlich. E r war aus Versehen zu einem
Zahnarzt gegangen.
Mit saurem Gesicht schlich er zur Waldwiese.
Dieter war inzwischen zum Stadtrandschäfer Arge gegangen. Der hörte sich
die Geschichte an, stopfte sich die Pfeife und sagte: „H m !“
Sonst sagte er nichts.
Christine aber stand an der Straßenkreuzung und guckte auf den Polizisten.
Er stand auf einem kleinen Türmchen und sagte den vielen Autos, wann sie
weiterfahren dürfen.
Er sagt es mit einem Stab und einer Trillerpfeife, und alle richten sich
danach.
Ja! dachte Christine. Der wird helfen können. Und als der Polizist seinen Stab
hob, ging sie zum Türmchen.
Sie sagte: „Guten Morgen!“ und erzählte dem Polizisten ihre Geschichte von
Zirri, dem Wolkenschaf.
Der Polizist kratzte sich den Kopf und sagte nichts. Auch die Trillerpfeife
und der Stab sagten nichts.
D a blieben alle Autos stehen und sagten auch nichts. Nur ein Bäckerjunge
klingelte mit seiner Fahrradklingel. Und es kamen immer mehr Autos und
Lastwagen und Pferdefuhrwerke und Motorräder und immer mehr Om­
nibusse und Milchwagen und Mörtelautos, Motorroller, Hilfsmotorfahr­
räder, und sogar ein Ochsengespann, eine Brautkutsche, ein gelbes Post­

224
auto, ein Zirkuswagen und Männer mit Handkarren. Und natürlich Fuß­
gänger.
Blieben an der Kreuzung stehen, weil der Polizist darüber nachdachte, wie
dem Wolkenschaf zu helfen sei.
Plötzlich waren aus der Ferne grelle Töne zu hören:
Tatü-Tata, Tatü-Tata.
Der Polizist guckte auf seine Uhr und wußte: Das ist die Feuerwehr. Sie fährt
zur Übung.
Und der Polizist lächelte und hob den Stab und wußte mit einemmal, wie
dem Wolkenschaf zu helfen sei. Mit der Feuerwehr natürlich. Mit der langen
Feuerwehrleiter. Er winkte mit seinem Stab. D a fuhren die Autos weiter,
und die Milchwagen und die Omnibusse und die Bäckerjungen und die
Brautkutsche und alle anderen Autos. Die Straße war frei für die Feuer­
wehr.
Sie kam, und der Polizist trillerte mit seiner Trillerpfeife. Das Feuerwehrauto
bremste quietschend, und Christine und der Polizist erzählten zweistimmig
die Geschichte vom Wolkenschaf. „So !“ sagte der Feuerwehrkommandant,
zog seinen Kinnriemen fester und setzte Christine neben sich. Gleich darauf
brauste die Feuerwehr mit Tatü-Tata durch die Straßen, und die Menschen
blieben stehen und fragten besorgt, ob etwas Schlimmes passiert sei. Aber
es war gar nichts Schlimmes passiert.
Die Feuerwehr fuhr zur Waldwiese.
Auf der Waldwiese stand Zirri, das Wolkenschäfchen, und war stumm und
traurig.
Hugo ging mit kurzen steifen Schritten um Zirri herum. Und die Eichkätz­
chen hockten wachsam auf dem Birkenast.
Nicht weit davon stand der Schäfer Ärge, hielt eine scharfe Schafsschur­
schere in der Hand und guckte auf das Wolkenschaf. „H m !“ sagte er heftig
und zog an seiner Pfeife. Er konnte nach der Schafsschur kein ungeschorenes
Schaf sehen. Hinter ihm stand seine kahlgeschorene Herde und mittendrin
der Schäferhund.
Es waren aber auch noch andere Leute auf der Wiese, die von dem Wol­
kenschaf gehört hatten. Zum Beispiel ein Herr von der Wetterwarte. Bobby
und Dieter saßen im Gras, kauten Sauerampfer und warteten auf Chri­
stine.
Tatü-Tata!
Da kam sie schon. Die Feuerwehr nämlich. Mit Getute und Geklingel bog
sie von der Waldrandstraße ab und bremste auf der Wiese. Christine sprang
von ihrem Sitz und beugte sich zu Zirri nieder. Hugo bellte vor Freude, und
der Schäfer Ärge steckte grämlich seine Schere ein.

15 225
Die Feuerwehrleute sprangen von ihren Sitzen und machten sehr beschäftigte
Gesichter. In Windeseile kurbelten sie die lange Leiter hoch.
„Hau-ruck! Hau-ruck!“ kommandierte der Feuerwehrkommandant. Dann
nahm er ganz behutsam und zart das Wolkenschäfchen auf seine Arme und
stieg die Feuerwehrleiter empor.
Er wurde immer kleiner.
Christine winkte und winkte und weinte auch ein bißchen. Den Hugo hielt
sie fest an sich gepreßt.
Bobby und Dieter hatten sich Feuerwehrhelme aufgesetzt, und der Schäfer
trieb seine kahle Herde weg. Der Herr von der Wetterwarte schüttelte den
Kopf und ging, und alle anderen Leute winkten und hatten offene Münder.
Der Feuerwehrkommandant aber stieg immer höher. Er reckte sich weit nach
oben und übergab mit einem sanften Schwung das Wolkenschäfchen den
Schäfchenwolken, den Spielkameraden, die am blauen Sommerhimmel
tanzten.
Langsam, ein bißchen traurig und ein bißchen glücklich, ging Christine nach
Hause. Der Hugo ging sehr artig mit.
Am Goldfischteich blieb Christine ein kleines Weilchen stehen und guckte
auf den Goldfisch. Der schwamm näher und steckte den Kopf aus dem
Wasser. Und da war es, als spräche der Goldfisch. Es hörte sich an wie:
Danke!
Fred Rodrian

226
Die Rakete von Bummelsburg

Schokoladenpuddingshausen ist eine hübsche kleine Stadt. Dort stand früher


nur ein alter Burgturm mit einer fürchterlichen Kanone.
Der Burgturm mit der Kanone, die jetzt voller Grünspan ist, steht auch heute
noch. Aber drum herum sind lauter neue Häuser und eine Schokoladen­
puddingfabrik. Und darum heißt die kleine Stadt eben: Schokoladenpud­
dingshausen.
Aber unsere Geschichte spielt fast gar nicht in Schokoladenpuddingshausen.
Sie spielt in Bummelsburg.
Wo liegt Bummelsburg?
Wenn du auf dem alten Burgturm mit der fürchterlichen Kanone stehst und
mit einem Fernrohr über sieben Hügel guckst: D a liegt Bummelsburg.
Bummelsburg ist ein kleines Dorf mit fleißigen Bauern und Bäuerinnen und
vielen Kindern. Darum gibt es in Bummelsburg auch ein Kinderheim. Darin
wohnen natürlich Bummelsburger Kinder. Aber auch Kinder aus der Stadt.
Weil es auf dem Lande so schön ist.
Und wer von den Kindern schon schreiben kann, schreibt jeden Tag einen
Brief in die Stadt.
Onkel Posthorn, der gute, alte Briefträger, fährt auf seinem Fahrrad die
Briefe hin und her. Alle Kinder haben ihn lieb. Auch die, die noch nicht
schreiben können.
Ottokar kann noch nicht schreiben.
Er sitzt am Fenster und ärgert sich.
Draußen auf den Feldern rattern und knattern die Erntewagen und rasseln
die Traktoren.
Ottokar aber muß gleich seinen Mittagsschlaf halten: Traktorfahren ist für
Kinder verboten.
Drüben auf dem Berg steht eine ungewöhnliche, eine große, eine silberne
Zigarre. Eine Rakete ist es in Wirklichkeit.
Ringsumher laufen aufgeregte Leute mit Papiermützen auf dem Kopf. Sie
wollen eine Wochenendraketenfahrt zum Mond machen.
Es sind keine Kinder dabei: Raketenfliegen ist für Kinder verboten. Und
darüber ärgert sich Ottokar auch.
Er sagt zu Frau Hurtig: „Was dürfen Kinder eigentlich?“
Frau Hurtig sagt: „Artig sein, Hände waschen, Zähne putzen, Roller fahren,
Unkraut jäten, Schokoladenpudding essen und mittags schlafen! Es ist
Zeit!“ '
„O ch!“ sagt Ottokar, und die anderen Kinder sagen: „O ch!“
Aber bald schlafen sie. Ottokar schläft nicht.
Er flitzt ganz leise aus dem Schlafsaal, springt über die winzige Hecke und
tigert übers Stoppelfeld.

15* 227
Ottokar will zum Raketenberg.
An der breiten Straße muß er stehenbleiben.
Ein Auto nach dem anderen zwitschert vorbei. Die Autos sehen aus wie
kleine Raketen. Die Leute drinnen lesen Zeitung oder rasieren sich: Die
Autos lenken sich selber.
Ganz hinten, auf dem breiten Fußweg neben der Autostraße, kommt ein
Mann mit einem Fahrrad. E s ist Onkel Posthorn, der Briefträger.
Zweimal am Tage fährt er Briefe und Päckchen von der Stadt ins Dorf und
umgekehrt. Und wenn er ins Dorf kommt, dann gibt er mit seinem Horn
ein Signal: „Taritara — die Post ist da!“
Er ist schon recht alt, der Onkel Posthorn. Das Radfahren über die Berge
wird ihm sauer. Und der Weg, auf dem er kommt, ist ohne Baum und Strauch
und hat kein bißchen Schatten. Ottokar sagt manchmal: „D u hast es tüchtig
schwer, Onkel Posthorn.“
Aber Onkel Posthorn brummt: „Schnickschnack! Ein richtiger Briefträger
kommt mit dem Rad bei Regen und Sonne und bläst auf dem Horn. So und
nicht anders!“
„Guten Tag, Onkel Posthorn“ , sagt Ottokar.
„Guten Tag, Ottokar“ , sagt Onkel Posthorn.
Plötzlich dröhnt eine laute Lautsprecherstimme vom Raketenberg her: „10,
9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 - los!“
Und da hebt ein mächtiges Brausen an. Die Rakete springt hoch. Richtung
Mond.
„D ie zählen ja verkehrt rum!“ schreit Ottokar.
Onkel Posthorn sagt: „Neumodischer Kram!“
Da ist die Rakete schon weg.
Ottokar sagt: „D ie Autos lenken sich selber;
die Kühe werden elektrisch gemolken;
die Erwachsenen fliegen mit Raketen —
bloß du, Onkel Posthorn, fährst noch Fahrrad. Das machen doch bloß
Sportler.“
„ Ja “ , brummt Onkel Posthorn. „D ie Sportler und ich. So und nicht anders!“
Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, tippt an den Mützenschirm und
fährt weiter. Bald klingt es aus dem Dorf: „Taritara — die Post ist da!“
Ottokar geht zu einem Gestell. Aus einem Fach nimmt er sich einen
Fallschirm, legt ihn an und stellt sich auf eine Platte. Dann drückt er auf
einen Knopf. Es gibt einen kleinen Bums, und sicher fliegt Ottokar über die
breite gefährliche Straße. Sanft landet er am Fallschirm auf der anderen
Seite. Und weil Ottokar ein netter Junge ist, legt er den Fallschirm wieder
fein säuberlich zusammen. Er hat die Fallschirmbrücke benutzt.

228
Nun schleicht er wie ein Jäger zum Raketenberg.
Als Ottokar die Nase aus dem Gebüsch steckt, steht er vor einem großen
Schild: Raketenflugplatz
Zutritt für Kinder verboten.
Aber Ottokar kann ja noch nicht richtig lesen.
Er schleicht weiter.
Vorsichtig.
Eine Minute später hat ihn der Wächter Wilhelm am Kragen.
Wächter Wilhelm knurrt: „Wo willst du hin?“
„Zum Raketenflugplatz!“ sagt Ottokar.
„D as ist verboten für Kinder!“ sagt der Wächter Wilhelm ernst. „Kannst
du nicht lesen?“
„Noch nicht richtig“ , flüstert Ottokar. Er dreht sich traurig um und geht
zurück.
Zur Fallschirmbrücke.
Zum Kinderheim.
Zum Mittagsschlaf.
Schnell schlüpft er ins Bett. Niemand hat ihn gesehen. Fast niemand. Denn:
ein Auge schmulte über die Bettdecke.
Ein graublaues Auge.
Von Rosie.
Am nächsten Tag stiefelt Ottokar wieder los. Er möchte sehr gern eine
Rakete ganz nahe sehen. Ottokar weiß jetzt schon, was er werden will:
Raketen flieger!
An der Straße mit der Fallschirmbrücke und den Autos, die sich selber
lenken, muß Ottokar wieder warten. Onkel Posthorn ist noch nicht zu sehen.
Sicher hat er wieder schwer zu tragen. Aber er will es so. So und nicht
anders!
Dabei ist Onkel Posthorn ein richtiger lieber Opa, denkt Ottokar. Plötzlich
steht ein kleiner Geist vor ihm: Rosie!
„D u liegst doch im Bett!“ sagt Ottokar.
„Nein, ich bin hier!“ sagt Rosie. „Ich habe dich gestern beobachtet. Und ich
komme mit.“
Sie guckt sehr lieb und lächelt den Ottokar an.
So kommt Rosie eben mit.
Beide schweben mit Fallschirmen auf die andere Seite der Straße. Als der
Wächter Wilhelm gerade eine Pfeife ansteckt, schmuggeln sich Ottokar u-nd
Rosie hinter seinem Rücken durch. Sie sind auf dem Raketenflugplatz. Sie
sehen die Mondrakete ganz nah.
„Weißt du, wie sie funktioniert?“ fragt Ottokar.

229
„N ein!“ sagt Rosie bekümmert.
D a hält Ottokar eine kleine Rede. Er sagt: „D ie Rakete sieht aus wie eine
silberne Zigarre, rund und lang und spitz. Wenn sie Ecken und Winkel hätte
und kleine Türmchen, würde sich die Luft darin verfangen. Die Luft hätte
einen Widerstand. Die Rakete könnte nicht schnell genug vorwärtskommen,
und außerdem würde es sehr putzig aussehen. Hast du verstanden?“
„Ich weiß nicht!“ sagt Rosie.
Aber jetzt fliegt sie los.
Es gibt einen gewaltigen Krach und Qualm und Flammen.
Die Rakete hebt sich sehr langsam und saust mit einem Mal ganz schnell in
die Höhe.
„Weiter, Ottokar!“ sagt Rosie. „Bitte.“
„Kleine Raketen“ , sagt Ottokar, „kann sich jeder selber machen. Sogar mit
einem Luftballon. Er wird richtig dick aufgepustet und ein bißchen hoch­
geworfen. Dabei will die Luft heraus aus dem Ballon. Sie pfeift und preßt
durch den engen Ballonschniepel und stößt den Ballon nach oben. Aber leider
nicht bis zum Mond. Sondern meist nur bis zur Lampe oder auf den
Kleiderschrank. Richtige Raketen sind natürlich nicht mit Luft geladen. In
ihrem Bauch ist nicht nur Platz für Reisende, sondern auch ein gewaltiger
Brennstoff. Der wird entzündet, das Feuer will heraus, preßt sich durch
Löcher am Ende der Rakete und stößt sie nach oben. Und da fliegt sie
nun.“
Ottokar zeigt nach oben. Die Rakete ist weit, weit weg. Sie sieht aus wie
ein Feuerpünktchen.
E s war wirklich sehr erstaunlich, was Ottokar alles wußte, aber erstens hat
er einen großen Bruder und zweitens will er sowieso Raketenflieger werden.
Ottokar nimmt eine Luftballonhülle aus der Hosentasche und bläst sie schön
prall auf.
„Guck her!“ sagt er. „Jetzt preßt sich gleich die Luft durch den Ballon­
schniepel und treibt die Ballonrakete an.“
Ottokar wirft den roten Ballon in die Luft. Der Ballon zickzackt zischend
in die Gegend, weil ihn keiner lenkt.
Und Ottokar erklärt: „Siehst du, bei der richtigen Rakete kommt eben hinten
Feuer heraus! Deshalb ist es so gefährlich.“
„Sehr richtig!“ sagt auf einmal der Wächter Wilhelm. „Und jetzt kommt ihr
erst mal mit, ihr Früchtchen! Ich verhafte euch!“
Der Wächter Wilhelm hatte den roten Ballon gesehen und dabei Ottokar und
Rosie entdeckt.
„Verhaftet!“ Ottokar ist zum ersten Mal verhaftet und Rosie auch. Sie haben
ziemliche Angst.

230
Wächter Wilhelm nimmt die Kinder an die Hand und marschiert mit ihnen
zum Raketenbüro. Und wer die drei von weitem sieht, der könnte denken:
Ein Opa macht mit seinen Enkelchen einen gemütlichen Spaziergang.
Aber Ottokar und Rosie ist es gar nicht gemütlich.
Wächter Wilhelm öffnet die Tür, faßt an die Mütze und meldet: „Ich habe
diese Leute hier auf verbotenem Gelände gefaßt. Den Knaben zum zweiten
Male!“
Im Büro sitzen drei Herren mit großen Brillen und weißen Kitteln. Sie sehen
aus wie freundliche Zahnärzte. Dabei sind es Raketenmänner.
Und alle drei sagen: „T ja!“
Einen Augenblick lang ist es sehr still.
Dann schnauft es ein bißchen, Schritte kommen näher, und eine liebe
Opastimme fragt: „Was ist denn mit euch beiden los?“
Ottokar und Rosie sagen nichts, und der Wächter Wilhelm brummt: „Sie
sind verhaftet!“
„Kennen Sie die Kinder?“ fragt ein Raketenmann.
„Ich will man bloß die Post bringen!“ sagt Onkel Posthorn, noch immer
schnaufend. „Und die Kinder kenne ich. Sie sind sehr nett.“
„Sie haben etwas Verbotenes gemacht!“ ruft der Wächter Wilhelm. Und da
muß der Ottokar einfach reden. Er will mal so richtig alles sagen. So sagt
er: „Was dürfen wir Kinder eigentlich? Hände waschen und artig sein und
Mittagsschlaf halten. Ja. Aber wir dürfen nicht allein Auto fahren und nicht
mit der Rakete fliegen. Alles Sachen, die schön sind. Die Erwachsenen fliegen
dauernd zum Mond. Ich will selber ein Raketenmann werden. Ich will auch
zum Mond fliegen.
Vor allem: Ich will eine kleine Rakete bauen. Vielleicht für Onkel Posthorn.
Damit er nicht so schnaufen muß mit den Postsachen.“
Doch Onkel Posthorn sagt: „Schnickschnack! Ich fahre mit dem Rad.
Raketen sind neumodischer Kram. So und nicht anders.“
Damit bläst er in sein Horn. Und geht.
Der Wächter Wilhelm indessen steht still wie ein Zinnsoldat.
Da kommt Onkel Posthorn noch mal zurück und stößt den Wächter Wilhelm
an:
„Wirklich, es sind sehr nette Kinder!“
Dann geht er. Ottokar und Rosie sehen auf ihre Schuhspitzen, die Raketen­
männer de/iken nach, und Wächter Wilhelm guckt sich Ottokar und Rosie
richtig an.
Dann sagt der Raketenmann mit der dicksten Brille: „Geht ihr mal in das
Kinderheim zurück, ihr Raketenflieger. Und Sie, Wächter Wilhelm, bleiben
bitte hier. Wir müssen etwas beraten!“

231
Als Ottokar und Rosie mit gesenkten Köpfen, wortlos, zum Kinderheim
gehen, kommen ihnen Kinder entgegen. Ottokar und Rosie werden schon
gesucht. Frau Hurtig fragt streng: „Wo wart ihr?“
Da erzählen sie alles. Von den Raketen, von Wächter Wilhelm, von den
Raketenmännern und von Onkel Posthorn. Alles.
Am nächsten Tage ist große Aufregung im Kinderheim. Die Raketenmänner
mit den dicken Hornbrillen sind gekommen und auch der Wächter Wil­
helm.
„Ihr kommt sicher ins Gefängnis!“ sagt der dicke Lothar zu Ottokar und
Rosie.
Aber es kommt ganz anders.
Der Raketenmann mit der dicksten Hornbrille fragt: „Wer möchte gern mit
der Rakete fliegen?“
Alle melden sich. Nur der dicke Lothar verdrückt sich.
„Schön!“ sagt der Raketenmann. „Aber es geht nicht. Leider. Es ist zu
anstrengend für Kinder. Doch ihr könnt kleine Raketen fliegen lassen.
Postraketen zum Beispiel. Der Ottokar hat uns auf diesen Gedanken ge­
bracht. Und der Wächter Wilhelm wird euch dabei helfen. Aber: Großes
Geheimnis! Nichts Onkel Posthorn verraten!“
Das ist eine Überraschung.
Rosie sagt: „Manchmal sind die Erwachsenen richtig nett.“
Acht Tage danach bauen die Kinder in der Raketenwerkstatt mit Hilfe des
Wächters Wilhelm zwei kleine Raketen. Allerdings macht der Wächter
Wilhelm die schwierigste Arbeit selber. Auch Ottokars großer Bruder bastelt
mit, und ab und zu die Raketenmänner mit den Hornbrillen. Und natürlich
Frau Hurtig.
Alle arbeiten sehr emsig, und es ist eine interessante Arbeit: Zwei kleine
Raketen entstehen. Postraketen. Sie sollen Briefe und Päckchen aus der Stadt
ins Dorf tragen und umgekehrt.
Onkel Posthorn weiß von nichts.
Wenn die Leute ihn sehen, lachen sie und nicken sich geheimnisvoll zu.
Was die Leute bloß haben? denkt Onkel Posthorn. Und dann ist es soweit.
Als Onkel Posthorn eines Tages mit Taritara — die Post ist da! ins Dorf
Bummelsburg kommt, sieht es auf dem Dorfplatz recht festlich aus.
Der Raketenmann mit der dicksten Hornbrille hält eine sehr, sehr lange Rede,
und Ottokar darf auf einen Knopf drücken. Vom Knopf fährt eine Leitung
zur Rakete und entzündet den Raketentreibstoff. Es zischt und knallt. Und
dann fliegt die erste Bummelsburger Postrakete nach Schokoladenpud­
dingshausen und landet nach drei Sekunden in einer Hängematte neben der
Grünspankanone.

232
Alle Leute klatschen und gucken durch Ferngläser. Abwechselnd. Onkel
Posthorn aber sagt: „Und was soll ich machen?“
„In Schokoladenpuddingshausen auf den Knopf drücken!“ sagt der Raketen­
mann.
„Und wer läßt die Bummelsburger Rakete immer losfliegen?“ fragt Onkel
Posthorn.
„Ich!“ sagt Ottokar.
„Ich!“ sagt Rosie.
„Ich!“ sagt der Wächter Wilhelm.
„Wir!“ sagen alle Kinder und: „Wir!“ sagen auch die Raketenmänner. Dann
setzen sich alle Leute aus dem Dorf mit allen Kindern und den Raketen­
männern in sieben Hubschrauber und fliegen zum alten Burgturm in der
Stadt Schokoladenpuddingshausen mit der fürchterlichen Kanone.
Nun ist der Turm sehr voll. Die Schokoladenpuddingshausener winken mit
Blumensträußen, und auch die Grünspankanone ist mit Blumen geschmückt.
Zum ersten Mal in ihrem Leben.
Aber alle müssen ein bißchen warten. Denn Onkel Posthorn ist doch mit
dem Fahrrad gefahren.
Zum letzten Mal mit der Briefträgertasche.
Plötzlich sagt der eine Raketenmann: „Aber wir brauchen doch für die
Postrakete einen Startplatz!“
Alle denken nach.
Da ruft Rosie: „Nehmen wir doch die Kanone. Dann hat sie was Vernünf­
tiges zu tun.“
Der Raketenmann mit der dicksten Hornbrille sagt nach einigem Nach­
denken: „Hervorragend!“
Er steckt die zweite Postrakete in das Kanonenmaul. Onkel Posthorn setzt
sein Horn an die Lippen und bläst einen silbernen Ton übers Land, der von
allen Hügeln widerhallt.
Erst dann drückt er feierlich und etwas zaghaft auf den Knopf. Nach drei
Sekunden liegt die Postrakete in einer Hängematte neben dem Kinderheim
in Bummelsburg und schaukelt etwas.
In der Stadt aber feiern die Schokoladenpuddingshausener mit den Bum­
melsburger Bauern ein kleines Fest, und aus einem Springbrunnen kommt
zwei Stunden lang Vanillesauce und Himbeerwasser. Schließlich fliegen die
Bummelsburger wieder ab.
Ottokar und Rosie auch. Obgleich sie noch ein wenig bleiben wollen. Aber
Frau Hurtig ist eben streng.
Onkel Posthorn und der Wächter Wilhelm sitzen noch lange auf dem Turm
und gucken über das dämmernde Land.

233
„Ihr seid alle sehr gut. Doch ich werde jetzt schrecklich viel Zeit haben!“
seufzt Onkel Posthorn.
„Ich auch! Auf wen soll ich aufpassen, wenn die Kinder vernünftig sind?“
klagt der Wächter Wilhelm.
„D as kann ein langweiliges Leben werden?“ sagen beide. „Was kann man
tun?“ Sie denken lange nach.
Am nächsten Morgen, nachdem die Vormittagsrakete losgeflogen ist, radeln
Onkel Posthorn und der Wächter Wilhelm aus der bunten Stadt. Auf den
Gepäckständern haben sie Kirschbaumsetzlinge, kleine Spaten und eine
Gießkanne. Was machen der Briefträger Onkel Posthorn und der Wächter
Wilhelm mit jungen Kirschbäumen? Die pflanzen sie entlang des Fußweges.
Weil sie Zeit haben. Sie pflanzen einen Kirschbaumweg von Schokoladen­
puddingshausen nach Bummelsburg. Wenn die Kirschbäumchen etwas
größer geworden sind, können Ottokar und Rosie und die anderen Kinder
frische rote Kirschen essen, und die alten Leute werden auch davon kosten
und haben zugleich ein wenig Schatten.
Und manchmal treffen sie sich jetzt beim Gießen: Ottokar und Rosie mit
kleinen Gießkannen, Onkel Posthorn und der Wächter Wilhelm mit gro­
ßen.
Fred Rodrian

234
Die Schwalbenchristine
Es war ein heller, heißer Sommertag. Kleine Schäfchenwolken spielten in der
Sonne, und dann und wann brummte ein Flugzeug durch den blauen Himmel.
Nahe bei den kleinen Gärten am Rande der Stadt setzten Bauarbeiter mit
großen Kränen nagelneue Häuser zusammen. Die Kinder spielten Ball und
Hopse, und Schwalben segelten sanft um die schwarze Ruinenwand neben
dem Spielplatz.
Christine saß an ihrem kleinen Arbeitstisch. Sie guckte in den Spiegel, steckte
sich die Zunge raus und sagte: „Bäh.“
Christine war wütend, und sie schämte sich. Denn die Lehrerin hatte in das
Schreibheft geschrieben: Christine war schwatzhaft. Sie wird fünf Reihen L
schreiben. Und so schrieb sie nun fünf Reihen L.
Dabei war es draußen so schön.
Christine sah und hörte nichts. Sie schrieb.

Und draußen passierte etwas!


Da kamen Arbeiter mit flachen steifen Mützen und sperrten mit Seilen den
Platz rings um die schwarze Ruine ab. Sie legten lange Kabel aus und riefen:
„Hoppla!“ und: „Vorsicht!“
Die Kinder warfen den Ball in die Buddelkiste und guckten zu. Der dünne
Dieter rief: „Was macht ihr denn d a?“
Ein junger Arbeiter sagte: „Wir sprengen die häßliche Ruine in die Luft.
Bums!“
Doch gleich rief er: „Hoppla!“ und: „Vorsicht!“
„Au fein!“ sagten die Kinder, und Dieter sagte: „Mächtig interessant!“
Aber der kleine Bobby schrie plötzlich laut: „D as dürft ihr nicht tun! Ihr
dürft es nicht!“
Die Arbeiter stützten die Hände in die Seiten, guckten sich an, und der
Meister fragte: „Und warum nicht, du Knirps?“
Bobby sagte: „E s wohnen doch junge Schwalben in der Ruinenwand. Wenn
ihr sie sprengt, müssen sie sterben. Sie können noch nicht fliegen, die Jun-
(<
gen.
Alle waren still.
Nur die Schwalben flogen zwitschernd um die Ruine und brachten den
Schwälbchen Futter. Und wer sehr, sehr genau hinsah, konnte die kleinen,
spitzen, hungrigen Schnäbel sehen.
„Wir wollen nicht, daß die Schwalben sterben. Aber wir müssen die Ruine
sprengen“ , sagte der junge Arbeiter. „Was kann man da tun?“
Die Arbeiter und die Kinder setzten sich auf den Lastwagen und hielten eine
Beratung ab.
„ Ja “ , sagte der Meister, „wer schlägt was vor?“

235
Der dünne Dieter wollte an der Ruinenmauer hochklettern und die Schwal­
ben retten. Ein kleiner Junge fragte, ob es nicht mit einem Lasso ginge. —
Doch so viele Vorschläge auch kamen, keiner war richtig. D a waren die
Kinder traurig, die Arbeiter waren traurig, und der Meister guckte auf die
Uhr: „In zwei Stunden muß die Ruinenwand gesprengt sein.“
Ach, da schrien alle so laut durcheinander, daß die Schwalben ein bißchen
höher flogen. Christine aber riß das Fenster auf und rief: „Ruhe da draußen!
Ich muß fünf Reihen L schreiben.“
„Christine!“ rief der Bobby. „Weißt du nicht, was wir tun können?“
„Fünf Reihen L schreiben“ , sagte Christine bitterböse. Und wollte das
Fenster zumachen. Aber schnell rannte Bobby zu ihr hin und erzählte sehr
hastig von den Schwalben, von der Ruine, von den Sprengarbeitern.
Christine schrieb die vier Reihen L fertig, dann zog sie die Stirn kraus und
sagte schließlich: „D a kann nur die Feuerwehr helfen. Die Feuerwehr mit
der langen Leiter.“
Sie klappte das Heft zu, kletterte aus dem Fenster und rannte mit Bobby
zum Lastwagen.
„H m !“ sagte der Meister, als er hörte, was Christine vorschlug.
„Versucht es mal. Ich versuche was anderes.“ „Aber“ , der Meister schaute auf
die Uhr, „die Sprenglöcher werden schon gebohrt! Die Ruine muß weg. Wir
brauchen Platz für neue Häuser.“
Dann ging er.
Christine und Bobby und Dieter, das ganze Trüpplein zog los zur Feuer­
wache. Sie waren fröhlich und lachten. Doch als sie an die Rosenstraße
kamen, da bimmelte und tutete es. Eine Feuerwehr brauste vorüber.
Nun gingen die Kinder ein wenig schneller.
Und als sie an die Tulpenstraße kamen, da machte es tüt ta tüt ta tüt!
Eine zweite Feuerwehr brauste vorüber.
Nun gingen die Kinder schon sehr schnell.
Aber als sie an die Lilienstraße kamen, da machte es tüt ta tüt ta tüt und
kling kling kling.
Eine dritte Feuerwehr brauste vorüber.
Jetzt rannten die Kinder zur Feuerwache.
Christine drückte auf den Klingelknopf. Ein Fenster öffnete sich, und der
Feuerwehrwachhabende fragte: „Wo brennt’s denn?“
„Nirgends!“ sagte Christine.
„Dann ist’s gut!“ brummte der Feuerwehrwachhabende und klappte das
Fenster wieder zu.
„N a so was!“ sagte Christine, klingelte wieder und erzählte schnell die
Geschichte von den Schwalben.

236
„ Ja “ , sagte der Feuerwehrwachhabende. „Ja, ja. Das ist so: Die Feuerwehr
Nummer 1 muß einen Brand löschen. Und warum? Weil die Renate Hu­
schelkopf aus der Veilchenstraße am Ofen gekokelt hat. Jetzt brennt die
ganze Wohnung. Die Feuerwehr Nummer 2 muß auch einen Brand löschen.
Und warum? Weil der Peter Flatterbein aus der Pilzstraße Dummheiten mit
einem Brennglas gemacht hat. Jetzt brennt das ganze Stockwerk. Die Feuer­
wehr Nummer 3 muß gleichfalls einen Brand löschen. Und warum? Weil der
Hans Dümmel aus der Petersilienstraße mit Streichhölzern gespielt hat. Jetzt
brennt das ganze Haus.“
„Und nun?“ fragte Christine mit sehr viel Angst in der Stimme.
„Und nun, liebe Kinder“ , sagte der Feuerwehrwachhabende, „sind alle
Feuerwehren unterwegs. Und warum? Weil es solche Huschelköpfe, Flat­
terbeine und Dümmels gibt. Deswegen kann die Feuerwehr auch leider nicht
eure Schwalben retten! Deswegen!“
Damit schloß der Feuerwehrwachhabende traurig das Fenster, und die
Kinder standen traurig da.
Aber nach einem kleinen Augenblick klopfte Christine noch einmal — recht
zaghaft — gegen die Scheibe und sagte: „Vielleicht dauert es doch nicht so
lange? E s sind doch Kinderbrände.“
Der Wachhabende sagte sehr ernst: „D as sind die schlimmsten.“ Und schloß
sein Fenster wieder.
Langsam gingen sie zurück, langsam und mutlos. Christine aber sagte: „Wir
wollen uns beeilen. E s muß eben etwas anderes gefunden werden.“
Dieter grummelte grämlich: „Wenn nicht mal die Feuerwehr helfen kann.“
„Wir schaffen es schon“ , sagte Christine.
Und der Bobby begann zu erzählen: „Schwalben sind wunderschöne Vögel.
Sie fliegen ganz, ganz schnell. Viel schneller als ein Auto fährt. Im Frühjahr
kommen sie aus dem Süden, bauen ihre Nester an Wänden und Türmen und
brüten die Jungen aus. Für ihre Jungen fangen sie den ganzen Tag Fliegen
und Mücken. Sie sind schön und nützlich, und das alles hat mir mein Opa
erzählt.“
„N a schön“ , sagte Dieter.
Da hörten sie schon ein Rattern und Knattern. Die Arbeiter bohrten die
Sprenglöcher in die schwarzen Wände.
Der Meister sah lächelnd auf das traurige Trüppchen und sagte: „N a, was
macht die Feuerwehr?“
„Sie muß dumme Brände löschen, statt hier zu helfen“ , erwiderte Chri­
stine.
„Guckt mal nach oben!“ rief der Meister.
Ein riesiger roter Eisenarm kam durch den Sommerhimmel gefahren.

237
„D er Kran!“ riefen alle Kinder. „D er Kran! Sicher wird er helfen.“
„ Ja “ , sagte der Meister schmunzelnd. „Ich habe dem Kranführer Bescheid
gesagt.“
Der Kranführer sah ganz klein aus in seiner Kabine. Er rief von oben her:
„Ich will es versuchen. Und nun geht mal ein paar Schritte zurück.“
Mit seinem Kranfernseher konnte der Kranführer genau sehen, was das
Kranmaul machte. So sah er ein Stück der Ruine, ein Stück Schwalbennest
und zwei, drei kleine Piepschnäbel. Er sah sie ganz nah.
Langsam senkte sich das Kranmaul tiefer und tiefer. Die Schwalbeneltern
flogen aufgeregt umher und schrien ängstlich ihr dwilitt, dwilitt!
Jetzt war das Kranmaul nahe, sehr nahe beim Schwalbennest. Unten standen
die Arbeiter und die Kinder und waren still und guckten und hofften. Und
es guckten auch die Neugierigen, die überall stehenblieben.
Noch ein bißchen tiefer ging das Kranmaul herunter. Es schloß sich ein wenig
— aber dann schwenkte der Kranarm hoch und weg, und der Kranführer rief
bekümmert: „Ich schaff es nicht, ich schaff es nicht. Mein Kranmaul ist zu
grob. Das können nur Hände schaffen. Entschuldigt bitte.“
So fuhr der Kranarm wieder durch den blauen Himmel und setzte nagelneue
Häuser zusammen. Das konnte er.
„Nun weiß ich auch nichts mehr“ , sagte der Meister. Er guckte mit besorgten
Augen auf die Uhr: „Und in einer Stunde muß die Ruine gesprengt sein.“
Da gingen die Neugierigen, und auch einige Kinder gingen. Zuerst der dünne
Dieter, dann die anderen. Und die Arbeiter gingen an die Arbeit, um die
Ruinenwand zu sprengen. Sie waren gar nicht fröhlich.
Die Schwalben aber flogen pfeilschnell umher und wußten nichts.
Und Christine und Bobby saßen auf dem Buddelkastenrand und sagten
nichts.
Endlich sagte Bobby: „Ich geh zu meinem Großvater. Der versteht was von
Schwalben. Sei nicht traurig, Christine.“
Damit huschte er weg.
Christine saß auf dem Buddelkastenrand und dachte nach und guckte in die
Luft.
Es sind fünf kleine hungrige Schwälbchen, dachte sie. Wenn die Ruinenwand
gesprengt wird, dann sind sie tot. Sie sind nicht einmal geflogen. Aber wir
haben doch alles versucht: Feuerwehr, Kran.
Plötzlich dröhnten und knatterten wieder die Bohrer der Arbeiter. Sie
knatterten und dröhnten und brummten — und mit einemmal sprang
Christine auf, rannte zur Absperrleine und rief: „Halt! Ich weiß, wer helfen
kann: ein Flugzeug, ein Hubschrauber. Bis zum Flugplatz ist es gar nicht
weit.“

238
Da hörten die Bohrer auf zu knattern. Erst einer, dann der andere, dann alle.
Es war still.
„ Ja “ , sagte der Meister. „Wenn das geht?“
„N a, ich glaube es nicht“ , sagte ein anderer.
Die Schwalben kamen tief herunter, als ob sie zuhören wollten.
Der junge Arbeiter rief: „Probieren wir es.“
Der Meister war einverstanden, aber er guckte auf die Uhr: „In einer halben
Stunde muß die Ruine gesprengt sein.“
Der junge Arbeiter sagte zu Christine: „Ich heiße Willi. Und nun setz dich
mal in meinen Beiwagen.“
„Ich heiße Christine“ , sagte Christine, „und schönen Dank auch.“
Dann fuhr der Willi los.
Brumm brumm machte das Motorrad. Doch bald rief Christine: „Bitte halt,
Willi. D a kommt der Bobby mit seinem Opa.“
Willi hielt und sagte: „Aufsteigen und einsteigen bitte!“
Dann setzte sich der Opa auf den Soziussitz, und Bobby kletterte zu
Christine in den Beiwagen, und weiter ging die Fahrt zum Flugplatz.
Unterwegs erklärte Christine alles.
Brumm brumm machte das Motorrad. Der Willi fuhr wunderbar. Er fuhr
auf den Flugplatz, und zwar gleich bis zum Hubschrauberflieger. Der stand
vor seinem kleinen Flugzeug und putzte die Scheiben.
Zisch brumm machte das Motorrad und hielt.
Christine und Willi und Opa und Bobby erzählten dem Flieger von der
Feuerwehr, vom Sprengen, vom Kran und von den Schwalben.
„Kleine Schwalben?“ sagte der Flieger. „Und sie können noch nicht fliegen?“
Dann sagte er: „Kommt, wir gehen zum Kommandanten.“
Der Kommandant hörte sich die Geschichte an, sagte: „Hm —“ und sagte:
„N a, versucht es mal.“
Da gab ihm Christine einen Kuß auf die Stirn, und der Bobby gab ihm einen
Kuß auf die Nase.
Dann setzten sich alle Fliegerb rillen auf und stiegen in das Flugzeug: der
Flieger, Christine, Bobby und auch der Opa. Der Willi leider nicht. Der
mußte Bescheid sagen, daß ein Flieger kommt.
Fliegen ist herrlich. Der Hubschrauber schwebte leicht und sicher durch den
Sonnenschein. Die Schäfchenwolken flogen lustig auf das Flugzeug zu, aber
Christine erkannte keins. Sie erkannte den Willi, der unten mit seinem
Motorrad fuhr. Du lieber Himmel, war der klein.
Und nun waren sie schon über der schwarzen Ruinenwand. Die Arbeiter
guckten hoch, und ein paar Leute blieben stehen. Was sahen sie: Sie sahen,
wie eine Strickleiter aus dem Flugzeug gelassen wurde. Die reichte bis zum

239
Schwalbennest und noch ein bißchen weiter. An der Strickleiter kletterte mit
vorsichtigen Schritten — einen Strick um den Leib und einen Fallschirm auf
dem Rücken — der Opa herab. Immer tiefer kletterte er. Und der Hub­
schrauber stand ganz still in der Luft. Hubschrauber können das nämlich.
Jetzt war der Opa bei den Schwalben. Die Menschen auf dem Spielplatz — es
waren inzwischen sehr viele geworden — sagten kein Wort! Christine und
Bobby im Flugzeug sagten auch kein Wort. Alle sahen auf den Opa.
Der nahm mit seinen guten großen Großvaterhänden das Nest mit den fünf
Jungen, steckte es vorsichtig in seine Einholetasche und kletterte wieder nach
oben.
Die Schwalbeneltern flogen aufgeregt umher und schrien ihr angstvolles
dwilitt, dwilitt. Sie wußten nicht, daß der Opa und das Flugzeug und der
Flieger und Christine und der Bobby und auch der Willi, der Meister, der
Kranführer und schließlich auch der Kommandant und die Arbeiter, und ein
bißchen auch der Dieter und die anderen Kinder, die jungen Schwalben nur
retten wollten.
Der Flieger aber setzte seinen Hubschrauber ganz vorsichtig neben dem
Buddelkasten auf. Die Besatzung stieg aus, und alle Leute riefen: „Sie leben
hoch!“
Dann trugen die Arbeiter den stolzen Opa auf ihren Schultern zum Mo­
torrad, und der Willi fuhr den Opa und den Bobby und die jungen Schwalben
in der Einholetasche zu den Vogeldoktoren im kleinen Stadttierpark.
Der Flieger aber flog schnell nach Hause und meldete dem Kommandanten:
„Fünf Schwalben gerettet!“
Die Arbeiter riefen indessen schon wieder: „Hoppla!“ und: „Vorsicht!“ und
der Meister blies auf seinem Horn einen ganz gefährlichen Ton.
Da gingen alle Leute weg.
Bald darauf gab es einen furchtbaren Bums. Eine Staubwolke flog auf. Als
sie sich verzogen hatte, war die häßliche schwarze Ruinenwand weg.
„Geschafft!“ sagte der Meister, tutete in sein Horn, und die Arbeiter freuten
sich.
Christine aber setzte sich an ihren kleinen Arbeitstisch. Sie mußte noch eine
Reihe L schreiben.
Und damit ist die ganze Geschichte zu Ende.
Doch wenn die Christine jetzt einmal den kleinen Feldweg zur Wiese mit den
Birken und dem Reh entlanggeht, dann fliegen Schwalben dicht um sie herum
und gleiten und zwitschern, und was das heißen kann, das wißt ihr viel­
leicht.
Seitdem aber heißt Christine auch: die Schwalbenchristine.
Fred Rodrian

240
Hirsch Heinrich

Ein Hirsch fährt nicht gern mit der Eisenbahn.


Er reist auch nicht gern mit dem Schiff.
Ein Hirsch ist am liebsten im Wald. Hirsch Heinrich war wochenlang mit
der Eisenbahn gefahren. Er hatte eine lange Schiffsreise gemacht. Er war
von einem dichten Wald in China bis zum großen Tierpark geschickt worden.
Und da wohnte er jetzt.
Es ist nicht einfach für einen Hirsch, so ohne Wald. Ganz glücklich war
Hirsch Heinrich nicht. Dabei waren alle Leute gut zu ihm. Auch der Tier­
parkdirektor, ein sehr vielbeschäftigter Mann. Aber selbst der Tierpark­
direktor konnte keinen richtigen chinesischen Wald herzaubern.
Am meisten Spaß hatte Heinrich an den Kindern. Sie standen wie in dichten
Trauben vor seinem Gatter, waren bunt gekleidet und freuten sich. Und nur
wenn es der Tierparkpfleger Erich erlaubte, warfen sie ihm eine Mohrrübe
zu.
Erwachsene Leute gingen gelegentlich mit wichtigen Gesichtern am Gatter
vorbei und sagten etwa: „Ein Hirsch mit zehn Zacken am Geweih. Ein
Zehnender. Donnerwetter!“
Sie sagten es wie Jäger, und Jäger konnte Heinrich nicht leiden, obgleich er
ein höflicher Hirsch war. Die Kinder aber lachten, riefen: „Hirsch Heinrich!“
und hatten ihn lieb. Nur der Paul warf mit Kienäpfeln, aber das störte
Heinrich nicht. Er hatte Kinder gern. Darum hatte er auch bald den Tierpark
gern. Denn es kamen viele Kinder in den Tierpark. D a war Hirsch Heinrich
glücklich.
Als jedoch der Sommer verging, als der Herbst kam, als es gar winterte,
kamen immer weniger Kinder in den Tierpark. Das Wetter war naß, war kalt
— und es mußten Weihnachtsgeschenke gebastelt werden.
Hirsch Heinrich wußte das nicht. Er stand am Gatter und wartete auf
Kinder.
Am 21. Dezember kamen vierzehn Kinder, recht kleine Kinder,-mit einem
ganz langen Lehrer. Die Kinder winkten Heinrich zu, und der Lehrer sagte:
„Sieht er nicht prächtig aus? Er kommt aus China, heißt Heinrich und ißt
sogar Gurken.“
Es war ein netter Lehrer.
Am 22. Dezember kamen zwei Mädchen mit blonden Zöpfen. Sie waren sehr
klein und sehr freundlich und lachten hübsch. Sonst kam niemand.
Am 23.*Dezember wartete Heinrich lange. Erst spät, am Nachmittag, kam
ein Junge. Er trug Ohrenklappen, hatte eine rotgefrorene Nase und warf
Heinrich mit Erlaubnis des Tierpflegers eine Mohrrübe zu. Dann entschul­
digte er sich, weil er im Sommer mit Kienäpfeln geworfen hatte.
Es war Paul.

16 241
Ganz liebevoll fraß Heinrich die Mohrrübe.
Aber am 24. Dezember, am Weihnachtsabend, war es sehr traurig. Niemand
hatte Zeit für Heinrich. Alle Kinder dachten nur an Weihnachtsgeschenke.
Es kam niemand. Nicht mal ein Erwachsener. Heinrich wartete bis zum
späten Abend. Der Tierpfleger Erich war an diesem Tag besonders freund­
lich. Heinrich aber wartete auf die lustigen, netten Kinder, auf irgendein
Kind. Aber es kamen weder Paul mit der rotgefrorenen Nase noch die Mädchen
mit den blonden Zöpfchen, es kam niemand. Bis zum ganz späten Abend
nicht.
D a nahm Hirsch Heinrich einen Anlauf und sprang über das Gatter. Alle
Tiere waren sehr erstaunt.
Heinrich aber verabschiedete sich vom Eisbären, vom Löwen, vom Elefanten
und vom Kamel. Dann trabte er in die Winternacht.
Sachte fiel der Schnee.
Hinter den Fenstern der Häuser standen Tannenbäume mit Kerzen. Die
Menschen hatten sich den Wald in die Wohnung geholt. Sie schenkten sich
gegenseitig Schokolade und Spielzeug und Filzpantoffeln. Die Kinder ritten
auf ihren neuen Schaukelpferden, und manche Leute sangen sehr alte traurige
Lieder.
Die meisten Menschen aber waren fröhlich und aßen Gänsebraten. In dem
neuen Altersheim am Rande der Stadt tanzten die lieben alten Omas und
Opas einen Schunkelwalzer.
Hirsch Heinrich trabte in den Wald. Er wollte nach China zurück. In seinen
heimatlichen Wald. Und er trabte fröhlich dahin. Heinrich schlug mit den
Hinterläufen aus wie ein kleines Pferd.
Sonst war es eine stille Nacht.
Weit ist der Weg nach China. Heinrich trabte und trabte. E s war hübsch
anzusehen, wie Heinrich durch den nächtlichen Wald kam. Allerdings wußte
er nicht, wie hübsch das aussah. Er hatte ganz andere Sorgen. Der Weg nahm
nämlich kein Ende, und Heinrich hatte Hunger. Vorbei ging es an Kiefern
und Eichen und Birken.
Heinrich war ganz allein.
War denn gar kein Tier in diesem Wald? Doch: auf einem Eichenast saß eine
Eule und machte große Augen. Tief unter ihr, zwischen den Wurzeln, hielten
zwei Igel ihren Winterschlaf. Sie sahen und hörten nichts.
Einmal sauste ein später Hase in wilden Haken über den Schnee. Der Fuchs
war hinter ihm her. Der Fuchs mit dem langen Schwanz und dem listigen
Gesicht.
Ganz von weitem sah Heinrich ein großes und ein kleines Reh. Schnell wie
der Wind flüchteten sie davon.

242
So verging die Nacht, und vom Osten her graute der Morgen in den Wald.
Hirsch Heinrich war einsam und hungrig.
D a machte er sich auf, in die Nähe der Menschen zu kommen; denn da ist
Futter.
So kam er an ein kleines verschlafenes Dorf, das aussah wie zugedeckt vom
Schnee. Nur einen alten Kohlstrunk fand er dort. Und als er ihn fressen
wollte, bimmelte es gerade vom alten Türmchen, was das Zeug hielt. Hirsch
Heinrich galoppierte weg. Er mochte keinen Lärm. Auch nicht von Glok-
ken.
Bald kam er an das nächste Dorf. Das sah recht stattlich aus und nicht so
sehr verschlafen. Dort fand er eine Rübe, die gar nicht übel war. Als er sich
mit großem Appetit daran machte, hörte er heftiges Kläffen von großen
Hunden, und dann sah er sieben Jäger mit Flinten und einem Bratspieß aus
dem Dorf marschieren.
Gleich war Hirsch Heinrich auf und davon!
Die Jäger wischten sich über die Augen. So einen Hirsch hatten sie noch nie
gesehen.
„Kreuzschockschwerenot!“ riefen sie, stellten sich im Kreise auf und tranken
jeder einen Korn.
Hirsch Heinrich aber kam zum dritten Dorf. Und das sah sehr, sehr prächtig
aus. E s hatte neue, bunte Häuser und einen Turm mit einem Windmotor.
Dort fand Heinrich einen so prächtigen Kohlkopf, daß ihm das Wasser im
Maul zusammenlief. Er knabberte ein zartes Stückchen ab. D a sah er eine
Kindergruppe aus dem Dorf spazieren. Ein langer Erwachsener war dabei.
Und leider auch ein Hund. Voll Kummer ließ Heinrich seinen Kohlkopf
fahren und flüchtete zum Wald. Er wartete im Tannendickicht und guckte
aus seinen großen Augen.
Bald kamen die Kinder näher. Sie sangen das kleine Winterlied:
„Sachte, sachte fällt der Schnee.
Wir Kinder, wir haben zu essen.
Im Wald hungert ein kleines Reh.
Das wollen wir nicht vergessen.
Leise, leise geht’s in den Wald.
Wir kommen mit kleinen Gaben.
Den Tieren im Walde ist bitterkalt.
D a gebfen wir, was wir haben.
Tippei tappel, es kommt heran
und schmaust den Tierweihnachtsbraten.
D a glänzt die Fichte, da schmückt sich die Tann:
Wir helfen mit guten Taten.“

16* 243
Es waren genau vierzehn Kinder, und der Erwachsene war ein lustiger
Lehrer. Das waren die Kinder, die den Hirsch Heinrich im Tierpark besucht
hatten. Sie trugen mit sich ein Tannenbäumchen. Warum trugen die Kinder
ein Tannenbäumchen in den Wald? Am Bäumchen hingen Rüben und
Kohlstücke, Maiskerne und Heubüschel — auch ein Schälchen Salz war dabei
und andere Leckereien. Das war für die Tiere des Waldes der Weihnachts­
baum. Die Kinder steckten ihn fest in die Erde.
Der Lehrer machte eine Verbeugung zum Walde und sagte: „Wir wünschen
allen Tieren, daß es schmeckt. Und gute Feiertage!“
Die Kinder lachten und sangen noch ein Lied. Dann zog das Trüpplein wieder
zum Dorf, der lange Lehrer hinterher. Der Hund bellte in den Wintermorgen,
und das war das einzige, was Hirsch Heinrich störte.
Bald kamen die Tiere und hielten ihre Weihnachtsmahlzeit. Drei Hasen
kamen, die zwei Rehe sprangen herbei, und ein Schneehuhn pickte Mais­
kerne.
Hirsch Heinrich trat aus seinem Tannendickicht und futterteeine Rübe. Nur
der Fuchs machte einen großen Bogen um die friedlichen Tiere.
Bald aber machten sich Hasen und Rehe und Schneehuhn auf den Weg.
Hirsch Heinrich war wieder allein. Und er konnte nicht ins bunte Dorf, denn
dort waren leider Hunde. Ganz allein stand er vor dem kahlgefressenen
Tierweihnachtsbaum der guten Kinder. Er war satt, aber nicht zufrieden.
Hirsch Heinrich hatte ein bißchen Sehnsucht nach dem Tierpark. Vor allem:
nach den Kindern. Und er dachte an den netten Paul. So senkte er sein
Geweih dankend vor dem bunten Dorf und trabte nach Hause. Natürlich
nicht nach China, sondern zum Tierpark. Das war auch viel näher.
Nun kommt es jedoch nicht häufig vor, daß ein Hirsch an einem schönen
blaßblauen Wintertag über Waldwege und Landstraßen trabt. Die Leute
waren sehr erschrocken. Einige riefen sogar ganz eilig beim nächsten Ober­
förster an. Der schüttelte den Kopf und setzte sich sofort aufs Fahrrad.
Hirsch Heinrich war indessen längst in der Stadt.
„Guck mal, Papi, ein Hirsch!“ sagte ein kleiner Junge zu seinem dicken
Vater.
Der sagte: „Ganz recht. Ein Zehnender.“
Dann ging er weiter.
Heinrich hielt sein Geweih hoch erhoben. Alles sah blank aus in der Stadt.
Die Menschen hatten gute Anzüge an, und der Schnee war ganz frisch und
weiß.
Plötzlich lachten alle Leute auf der Straße. Doch sie lachten nicht über
Hirsch Heinrich. Sie lachten über einen Weihnachtsmann. Der stand an der
Ecke und baute einen Schneemann.

244
Eigentlich lacht man nicht über einen Weihnachtsmann. Aber dieser Weih­
nachtsmann war sehr klein. Ehrlich gesagt: es war Paul. Er hatte sich nur
einen Bart umgebunden.
Als Paul den Heinrich sah, stieß er vor Schreck seinen Schneemann um und
rief laut: „Mensch, Hirsch Heinrich!“
Der aber hörte nicht. Heinrich hatte es eilig. Schnell verschwand er um die
Ecke.
Ebenso schnell wollte der Paul hinterher. D a quietschte eine Fahrradbremse,
und der Oberförster hielt Paul am Kragen.
„H ast du einen Hirsch gesehen?“ fragte der Oberförster mit tiefer Stimme.
Paul setzte sich schnell auf den Gepäckständer und rief: „Rechts um die Ecke
bitte. D a muß er sein.“
Inzwischen war Heinrich am Tierparkeingang angelangt. D a stand der
Tierparkdirektor, grüßte freundlich und machte einen Strich auf seiner
Liste.
Hirsch Heinrich trabte schnell zu seinem Gatter.
Ganz traurig stand dort der Tierpfleger Erich mit einer Schüssel voll bestem
Feiertagsessen.
Vor dem Gatter standen ebenso traurig viele Kinder, waren sehr hübsch
angezogen und hatten ihre Weihnachtsgeschenke bei sich. „Wo nur Hirsch
Heinrich ist?“ wisperten sie. „Wo er nur bleiben mag?“ Schnell sprang Hirsch
Heinrich in sein Gatter.
„N a endlich!“ rief der Tierpfleger Erich. Und die Kinder lachten und freuten
sich und hielten ihre Trompeten und Spielzeugeisenbahnlokomotiven hoch.
Sie gaben auch beim Tierpfleger Erich fein eingewickelte Mohrrüben für
Heinrich ab.
Und ein kleines Mädchen begann zu singen, und dann sangen alle:
„Sachte, sachte fällt der Schnee.
Wir Kinder, wir haben zu essen. . . “
Alle drei Strophen hintereinander.
Es war sehr hübsch.
Plötzlich quietschte die Oberförsterfahrradbremse. Und der Oberförster rief:
„Ach, das ist ja Hirsch Heinrich!“
Doch Paul auf dem Gepäckständer sagte: „D as hab’ ich längst gewußt!“
Dann sangen sie beide einfach mit. Paul mit seiner hellen Stimme, der
Oberförster mit seiner tiefen Stimme.
Hirsch Heinrich aber stand in seinem Gatter und freute sich und fraß sich
richtig satt.
Fred Rodrian

245
Wir gehen mal zu Fridolin

Wir gehen mal zu Fridolin. Er wohnt im Dorf Schönermark, gleich hinterm


großen dunklen Wald. Im Wald, so heißt es, haben früher die Riesen gehaust.
Wenn abends, im Herbst, der Wind überm Wald heult, dann denkt Fridolin:
Vielleicht sind es doch die Riesen, die da ächzen und stöhnen. Aber der Vater
sagt, das ist der Wind in den Bäumen. Im Wald wohnt auch das Wildschwein,
und Fridolin hat Angst davor, obgleich er es nie gesehen hat. Vor dem
Wildschwein fürchtet er sich mehr noch als vor dem ollen Ganter von Bauer
Krause oder vor Krügers kläffendem Hund.
Am liebsten spielt Fridolin mit Indianern, mit dem Häuptling Adlerauge,
mit dem Indianermädchen Wilde Blume. Er baut sich für seine Indianer
kleine Zelte, kleine Landschaften und rettet mit dem Häuptling das Mädchen
Wilde Blume aus den Händen der Weißen, die es geraubt hatten.
Aber in das Spiel kommt die Mutter und sagt: „Fridolin, der Vater arbeitet
mit dem Traktor auf dem Acker an der Waldecke. Es ist heiß und staubig.
Bring ihm eine Kanne Tee!“
Fridolin mault.
Dabei ahnt er gar nicht, was der Tag noch alles für ihn bereithält. Daß es
der aufregendste Tag seines Lebens werden wird.
„Nun geh schon, du Fliegenpilz“ , sagt die Mutter. Sie lacht, sie lacht das
Maulen weg, und Fridolin lacht auch. Er nimmt die Teekanne und geht. Den
Indianerhäuptling Adlerauge steckt er in die Hosentasche.
Fridolin muß durchs ganze Dorf.
Am Konsum vorbei, wo die freundliche Frau Betty die beste Wurst der Welt
verkauft —
Leider auch vorbei an Krügers Hund, der hochaufgerichtet am Zaun steht
und kläffend sein grimmiges Gebiß zeigt und wie verrückt an seiner Kette
zerrt —
Vorbei am Bürgermeisterhaus, wo der Bürgermeister sitzt und nachdenkt —
Vorbei am alten Kirchlein und schließlich auch an Krauses ollem Ganter.
Fridolin nimmt sich einen Stock und will mutig am Ganter vorbei. Aber der
wedelt wild mit den Flügeln und hat den Schnabel aufgerissen, als wollte er
Fridolin verschlucken.
Ach, Fridolins Mut ist winzig klein geworden. Er macht einen weiten Bogen,
und der Ganter zischt und faucht ihm verächtlich nach. Fridolin dreht sich
um und schreit: „D u altes Biest, du!“ Der Ganter aber hört nicht darauf,
und Fridolins Mut wird durch sein Geschrei nicht größer.
Inzwischen sind Wolken aufgekommen, graue Wolken, und die Welt ist etwas
dunkler geworden.
Der Wald steht schwarz, und Fridolin muß ein Stück durch den schwarzen
Wald. Wind weht durch die Zweige. Es knistert und seufzt und raschelt. War

246
da das Wildschwein? Fridolin bleibt ängstlich stehen und horcht. Er hört nur
den Wind — und tuckernden Motorenlärm. Das ist der Vater mit dem
Traktor. Nun hat Fridolin wieder einen Riesenmut.
Er rennt zum Waldrand und ruft: „Vater!“ Und ruft: „Hallo! Ich bringe
Tee.“
Der Vater winkt und hält an. Der kleine Fridolin steht neben dem großen
Traktor und hält dem Vater die Kanne hin. Aber der springt herunter, setzt
den Sohn Fridolin auf den Traktorsitz und nimmt einen tiefen Schluck Tee.
Dann wischt er sich mit dem Handrücken übern Mund und sagt: „D as war
gut, mein Sohn. Ich danke dir.“
Er setzt den Fridolin auf den zweiten Sitz und fährt mit ihm eine kleine
Ehrenrunde.
„Bitte noch eine Runde“ , ruft Fridolin.
Aber der Vater sagt: „Leider nicht, mein Herr!“
Der Vater will wieder arbeiten.
Fridolin schlendert zum Feldrand und guckt dem Vater eine Weile zu. Der
Vater lenkt seinen brüllenden Traktor, winkt noch mal und hat die Augen
auf die Arbeit gerichtet.
Fridolin aber sitzt am Feldrand und träumt. E r guckt in die dunklen Wolken.
Die eine Wolke sieht aus wie ein Krokodil. Fridolin überlegt: Wenn das nun
ein richtiges Krokodil wäre, und es würde mich angreifen? Er nimmt Häupt­
ling Adlerauge aus der Hosentasche und fragt ihn: „Was würden wir da
tun?“
Aber Häuptling Adlerauge ist stumm. Und als Fridolin zum Himmel guckt,
sieht das Krokodil wie ein Eierkuchen aus. Plötzlich aber dröhnt und brummt
es laut, schrecklich laut. Ein silbergraues Flugzeug fliegt tief, ganz tief vom
Dorf her übers Feld, streift die Baumspitzen, fliegt zu tief, verschwindet
hinter der Waldecke. E s kracht böse und schlimm. Kein Laut mehr vom
Flugzeug. Nur Vaters Traktor tuckert. Der Vater hat bei der Arbeit nichts
gesehen und nichts gehört.
Fridolin guckt mit aufgerissenen Augen auf den Wald. Eine Sekunde nur.
Schon springt er auf, schreit und rennt zum Vater.
Der Vater hält. Er sieht auf seinen sehr erschrockenen Jungen und sagt:
„Aber Fridolin, mein Junge, was ist passiert?“
Und Fridolin erzählt, was er eben gesehen hat.
„Wirklich wahr?“ fragt der Vater.
„Wirklich wahr!“ sagt Fridolin.
Da springt der Vater vom Traktor, kuppelt den Pflug ab, setzt seinen Jungen
auf den zweiten Sitz und fährt, so schnell der Traktor fahren kann, zur
Lichtung hinterm Wald.

247
D a liegt das kleine silbergraue Flugzeug. Der Pilot hat eine Notlandung
gemacht. Er hätte auch mit dem Fallschirm abspringen können. Das Flug­
zeug wäre dann auf das Dorf gestürzt. Der Pilot wollte das Dorf bewahren.
Deshalb blieb er in seiner Maschine. Und da liegt sie nun auf der Lichtung.
Nichts rührt sich darin.
„E r muß verletzt sein“ , sagt der Vater hastig. „Sonst wäre er ausgestiegen.
Eine notgelandete Maschine gerät schnell in Brand.“ Er guckt Fridolin an:
„Jünge, du rennst ins Dorf. Lauf so schnell du kannst. Lauf zum Bürger­
meister. Er soll die Feuerwehr alarmieren und einen Krankenwagen. E s geht
um Leben und Tod. Sag ihm das!“
Mit einem Male schlägt Fridolin das Herz ganz schnell. Er fragt: „Ja, und
du?“
„Ich pürsch mich mit meinem guten alten Traktor an das Flugzeug heran“ ,
sagt der Vater. „Ich versuche, den Piloten aus der Maschine zu kriegen.“
„Nein!“ schreit der Fridolin. „D as Flugzeug kann doch explodieren! Warte
doch auf die Feuerwehr!“
„G eh!“ sagt der Vater heftig. „Man läßt keinen Freund in der Not. Wir
dürfen keine Zeit verlieren.“
Er springt auf den Traktor und fährt gradenwegs auf das notgelandete
Flugzeug zu.
Fridolin guckt sich noch mal um. Dann rennt er durch den Wald. Es hängt
jetzt viel von ihm ab. Wieder raschelt und knistert es im Wald, und vielleicht
ist es wirklich das Wildschwein. Fridolin denkt: Du knister man und raschel
man. Ich muß so schnell sein wie noch nie. Er rennt mit ganzer Kraft. Es
geht um Vater.
Gleich fällt ihm ein: Es geht genauso um den Piloten. Es ist ein sowjetischer
Pilot. Das Flugzeug hatte einen roten Stern am Leitwerk. Ich kenne ihn
nicht, denkt Fridolin. Ich hole Hilfe für einen, den ich nicht kenne. Für einen
sowjetischen Piloten. Und für Vater. Für beide.
Und die Bäume wischen an ihm vorbei. So schnell läuft Fridolin. Er atmet
hastig. Sein Hemd ist naß von Schweiß, die Rippen tun ihm weh. Aber er
läßt nicht nach. D a ist schon das Dorf: bunte Häuser, weiß, gelb und blau,
mit Strohdächern, die Schule aus roten Ziegeln mit einem Ziegeldach, das
Kirchlein mit dem schiefen Wetterhahn. Und alles heil und nichts kaputt und
keiner zu Schaden gekommen im Dorf. Weil der sowjetische Pilot bis zum
letzten Augenblick in seiner Maschine blieb, weil er sein Leben einsetzte.
Es ist Nachmittagsstille im Dorf. Bloß da: da kommt Krauses grimmiger
Ganter mit gefährlich flatternden Flügeln.
„Aus dem Weg, du oller Ganter!“ ruft Fridolin. Er rennt gradenwegs auf
den Ganter zu. Der macht einen Satz zur Seite, vergißt vor Schreck sein böses

248
Zischen und watschelt verdrossen weg. Fridolin aber stürmt zum Bürger­
meister, erzählt — heftig atmend —, was geschehen ist, und fordert Feuer­
wehr und Krankenwagen.
Der Bürgermeister ist ein kleiner dicker Mann, rund und nett. Immer eine
Mütze auf dem Kopf, immer gemütlich.
Jetzt ist er wie ein guter General, entschlossen und umsichtig. Er drückt auf
einen Knopf, und die Sirene ertönt: Signal für die Freiwillige Feuerwehr!
Er ruft bei der Stadtfeuerwehr an, meldet, was geschehen ist, und befiehlt:
„Bringen Sie gleich einen Krankenwagen mit und einen Arzt!“
Der Bürgermeister wischt Fridolin mit einem Handtuch den schweißnassen
Kopf trocken, damit er sich nicht erkältet. „So, Fridolin“ , brummt er. „Jetzt
sagen wir den Genossen der Freiwilligen Feuerwehr Bescheid und weisen sie
ein.“
Er guckt Fridolin aus seinen kleinen blauen Augen sehr aufmerksam an:
„Hältst du noch durch?“
„Bestimmt“ , sagt Fridolin.
„Dann komm!“ sagt der Bürgermeister.
Die beiden rennen aus dem Haus. Rauf auf das Motorrad des Bürgermeisters,
hin zum Feuerwehrschuppen. Da stehen schon die Feuerwehrleute und
machen ihr kleines Feuerwehrauto klar.
„Ein Flugzeug ist notgelandet“ , erklärt der Bürgermeister. „A uf der Lich­
tung hinter der Waldecke.“
„Und mein Vater ist da“ , sagt Fridolin.
„L o s!“ ruft der Feuerwehrhauptmann.
D a saust die kleine Dorffeuerwehr feuerwehrschnell davon über die Dorf­
straße, über die Chaussee. An der Kreuzung treffen sie die große Stadt­
feuerwehr und den Krankenwagen. Nun fahren sie zum Feldweg, in den
Wald, vorbei am Acker, den Fridolins Vater gepflügt hat, weiter durch den
Wald, hin zur Lichtung: die kleine Feuerwehr, die große Feuerwehr, der
Krankenwagen und vorneweg auf dem Motorrad der Bürgermeister mit dem
Fridolin. Sie sind schnell wie der Wind, und die Bäume wundern sich, und
der Wald ist voll Gedröhn.
Was aber ist mit dem Piloten, mit dem Vater, mit dem Flugzeug? Was ist
auf der Waldlichtung geschehen?
Der Vater ist inzwischen mit seinem Traktor nah an das notgelandete so­
wjetische Flugzeug herangefahren. Undeutlich kann er den Piloten erkennen.
Er bewegt sich nicht. Der Vater reißt Hammer und Zange aus dem Werk­
zeugkasten. Mit ein paar Schritten ist er am Flugzeug. E r spürt den starken
Benzingeruch. Nur einen Augenblick lang zögert der Vater. Dann klettert
er auf die Tragfläche und zerrt an der Glaskanzel. Sie ist festgeklemmt. Er

249
sieht sich um. Noch ist keine Hilfe zu sehen. Ganz allein ist er mit dem
ohnmächtigen Piloten. Und jeden Augenblick können die Flammen her­
vorschlagen.
Mit dem schweren Hammer zerschlägt der Vater ein Glasfenster, drückt mit
seiner ganzen Kraft die Glaskanzel zurück und zieht den Piloten ins Freie.
Das ist übermenschlich schwer. Aber der Vater ist stark, er schafft es. Er
lädt sich den Ohnmächtigen auf die Schulter, er schleppt ihn zum Traktor,
er fährt mit ihm aus der gefährlichen Nähe des Flugzeuges zum Waldrand.
Dort legt er den geretteten Piloten vorsichtig auf die Erde und nimmt ihm
die Fliegerkappe ab. Er sieht ein junges Gesicht, es ist blaß, der Atem geht
schwach. Der Vater öffnet den Kragen des Piloten. Als er sich umdreht, sieht
er: aus dem notgelandeten Flugzeug schlagen Flammen.
Doch dann ist schon Motorengedröhn um ihn. Die zwei Feuerwehren fahren
quer übers Feld zur brennenden Maschine. Der Bürgermeister springt mit
Fridolin vom Motorrad. Der Arzt vom Krankenwagen untersucht den jungen
Flieger.
„D u “ , sagt der Bürgermeister zum Vater, „du bist schon ein doller Kerl! Und
der Fridolin auch. Helden seid ihr. Alle beide!“
„Pssssst!“ sagt der Vater. Und er legt den Finger auf den Mund. Er zeigt
auf den Arzt. Der untersucht den Piloten. Er fühlt und horcht und guckt
und sagt schließlich: „Keine Lebensgefahr.“
Nun sind alle froh. Und Fridolin ist ganz warm ums Herz, und er ist stolz
auf den Vater.
Inzwischen hatten die Feuerwehrleute mit dem Schaumlöscher den Brand
gelöscht. Das kleine Flugzeug sieht aus wie eingeschneit.
„Alles in Ordnung!“ meldet der Feuerwehrhauptmann der kleinen Dorf­
feuerwehr. „Wir lassen eine Wache zurück.“
„Alles in Ordnung!“ meldet der Feuerwehrhauptmann der großen Stadt­
feuerwehr. „Wir lassen auch eine Wache zurück.“
Die Feuerwehrleute steigen auf ihre Autos. Dem Krankenwagen mit dem
jungen Piloten lassen sie aber die Vorfahrt. Der Arzt ruft aus dem Kranken­
wagenfenster: „E r kann euch nächste Woche schon besuchen, unser Flie-
<<
ger.
Zurück bleiben der Vater, der Bürgermeister und Fridolin.
„ Ja “ , sagt der Vater. „Dann wollen wir mal wieder. Der Acker wartet
nicht.“
Und er nimmt seinen kleinen Sohn Fridolin hoch und drückt und knuddelt
ihn so richtig.
Dann steigt er auf den Traktor und ruft: „Grüße die Mutter! Und Bratwurst
hätte ich heute abend gern.“

250
Fridolin lacht und winkt und fährt mit dem Bürgermeister davon.
Es ist später Abend geworden. Viele Leute waren zum Gratulieren ge­
kommen. Auch der sowjetische Major, der Kommandeur des jungen Piloten.
Er hat sich bedankt für die Rettung.
Er hat den Vater umarmt und dem glücklichen Fridolin Moskauer Konfekt
geschenkt und mit einem Male ernst gesagt: „D as ist das Wichtigste: Inter­
nationale-Solidari-tät. ‘ ‘
„D as Wort kenn’ ich noch nicht“ , hat Fridolin gesagt.
„D as macht nichts“ , antwortete der Major. „D u wirst es immer wieder
hören. E s heißt: Freunde helfen sich!“
Dann haben sie alle miteinander wunderbare knusprige, würzige Bratwurst
gegessen und auch einen großen Wodka getrunken. Bloß Fridolin nicht. Er
bekam Malzbier.
Jetzt liegt Fridolin in seinem Bett. Es ist alles ganz still. Der kleine Häuptling
Adlerauge liegt auf dem Kopfkissen und schläft so tief wie Fridolin. Der
schläft und träumt. Er sitzt mit dem Vater und dem jungen sowjetischen
Piloten und dem Major auf einem großen Traktor, und sie fahren weit und
immer schneller, und mit einem Male fliegen sie, fliegen über den Wild­
schwein-Wald, und Fridolin ruft: „D u knister und raschel man, olles Wild­
schwein. Ich habe keine Angst!“
Fred. Rodrian

251
D ie S c h ild k r ö te h a t G e b u r t s t a g

Die Schildkröte hatte Geburtstag.


Als sie im klaren Morgenlicht aufwachte, dachte sie: Heute habe ich Ge­
burtstag: Ob ich Geschenke bekomme? Am liebsten möchte ich einen großen,
grünen, saftigen Salatkopf haben! Hoffentlich denkt einer daran!
Zuerst kam der Löwe.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ rief er. „Ich habe dir etwas
Schönes mitgebracht! Ein großes Stück Fleisch!“
Die Schildkröte freute sich, daß der Löwe an ihren Geburtstag gedacht hatte.
Sie war auch eine höfliche Schildkröte.
„Vielen Dank, lieber Löwe“ , sagte sie, „es ist nett von dir zu kommen. Aber
ich esse nicht gern Fleisch. Ich esse am liebsten grünen Salat. Iß es selbst
auf, und wir plaudern ein bißchen dabei.“
„D u weißt wirklich nicht, was gut schmeckt“ , sagte der Löwe und verspeiste
das Fleisch mit großem Appetit. Bevor er ging, erzählte er noch von seinen
mutigen Abenteuern.
Der nächste Besuch war der Elefant.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ sagte er. „Ich habe dir einen
Eimer Wasser zum Plantschen mitgebracht!“
„D as ist sehr liebenswürdig von dir“ , sagte die Schildkröte, „aber Wasser
habe ich nicht gern — nur vielleicht ein paar Tropfen Tau auf einem grünen
Salatblatt.“
„D u kannst dich mit dem Rüssel duschen!“ sagte der Elefant. „E s macht
großen Spaß!“
„Dann dusch du dich doch bitte“ , sagte die Schildkröte, und der Elefant
duschte sich tüchtig, bis das Wasser alle war. Dann sagte er: auf Wiedersehen!
und ging.
Nach ihm kam der Pelikan.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ sagte er. „Ich habe eine Über­
raschung für dich! Guck mal in meinen Schnabel hinein!“
Darin lag ein großer Fisch.
„Vielen Dank“ , sagte die Schildkröte, „aber Fisch esse ich nicht. Iß du ihn
selbst auf und erzähle mir, wie du ihn gefangen hast.“
Der Pelikan verschluckte den Fisch und erzählte, wie ihm ein Blauwal um
Haaresbreite entkommen war. Dann flog er nach Hause.
Nach einer Weile kam das Nashorn.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ schnaufte es. „Ich habe dir ein
Schlammbad mitgebracht!“
„Vielen Dank“ , sagte die Schildkröte, „aber Schlamm habe ich nicht gern
— nur wenn ein junger Salatkopf darin wächst. Willst du nicht selbst ein Bad
zur Erfrischung nehmen?“

252
Das Nashorn kletterte fröhlich hinein.
„E s wäre sonst schade darum“ , sagte es und rollte sich darin, bis es ganz
dreckig war.
„D as war sehr beruhigend“ , sagte es, „aber jetzt muß ich nach Hause! Es
ist schon spät.“
Die Sonne ging langsam unter, und die Schildkröte wurde ein bißchen traurig.
Mein Geburtstag ist fast vorbei, dachte sie. Es war nett von meinen
Freunden, mich zu besuchen und so viele Geschenke zu bringen. Aber ich
hätte so gerne nur einen ganz kleinen Salatkopf bekommen. Vielleicht im
nächsten Jahr!
Eine Träne rollte ihre Wange herunter.
Plötzlich hörte sie eine kleine Stimme.
„Schildkröte! Bist du noch wach?“ Es war die Maus mit einem großen Paket.
„Einen fröhlichen Geburtstag!“ piepste sie. „Ich komme leider sehr spät,
aber das Paket war so schwer zu schleppen.“
„Was kann nur darin sein!“ rief die Schildkröte.
Sie machte es auf. Darin lag ein Salatkopf. Groß. Grün. Saftig. Mit ein paar
Tropfen Tau auf den inneren Blättern.
„Liebe Maus!“ rief die Schildkröte. „Genau das, was ich mir wünschte!
Woher hast du es nur gewußt? Bitte setz dich! Ich werde dir ein Lied Vor­
singen, weil ich so glücklich bin.“
Sie sang:
„Groß ist der Elefant,
der Löwe hat Mut,
geschickt ist der Pelikan,
das Nashorn meint’s gut.
Aber nur die kleine Maus
hat wirklich nachgedacht.
Darum hat sie das gefunden,
was mir viel Freude macht!“
„D u bist meine allerbeste Freundin, weil du mich verstehst“ , sagte die
Schildkröte und gab der Maus einen Kuß.
Die Maus ging dann nach Hause, und die Schildkröte aß den ganzen Salat­
kopf auf. Er schmeckte ihr großartig.
„D as war ein wunderbarer Geburtstag“ , sagte sie zum aufgehenden Mond.
Dann zog sie ihren Kopf in den Panzer zurück — und schlief glücklich ein.

Elizabeth Shaw

253
D ie S c h ild k r ö te h a t G e b u r t s t a g

Die Schildkröte hatte Geburtstag.


Als sie im klaren Morgenlicht aufwachte, dachte sie: Heute habe ich Ge­
burtstag: Ob ich Geschenke bekomme? Am liebsten möchte ich einen großen,
grünen, saftigen Salatkopf haben! Hoffentlich denkt einer daran!
Zuerst kam der Löwe.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ rief er. „Ich habe dir etwas
Schönes mitgebracht! Ein großes Stück Fleisch!“
Die Schildkröte freute sich, daß der Löwe an ihren Geburtstag gedacht hatte.
Sie war auch eine höfliche Schildkröte.
„Vielen Dank, lieber Löwe“ , sagte sie, „es ist nett von dir zu kommen. Aber
ich esse nicht gern Fleisch. Ich esse am liebsten grünen Salat. Iß es selbst
auf, und wir plaudern ein bißchen dabei.“
„D u weißt wirklich nicht, was gut schmeckt“ , sagte der Löwe und verspeiste
das Fleisch mit großem Appetit. Bevor er ging, erzählte er noch von seinen
mutigen Abenteuern.
Der nächste Besuch war der Elefant.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ sagte er. „Ich habe dir einen
Eimer Wasser zum Plantschen mitgebracht!“
„D as ist sehr liebenswürdig von dir“ , sagte die Schildkröte, „aber Wasser
habe ich nicht gern — nur vielleicht ein paar Tropfen Tau auf einem grünen
Salatblatt.“
„D u kannst dich mit dem Rüssel duschen!“ sagte der Elefant. „E s macht
großen Spaß!“
„Dann dusch du dich doch bitte“ , sagte die Schildkröte, und der Elefant
duschte sich tüchtig, bis das Wasser alle war. Dann sagte er: auf Wiedersehen!
und ging.
Nach ihm kam der Pelikan.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ sagte er. „Ich habe eine Über­
raschung für dich! Guck mal in meinen Schnabel hinein!“
Darin lag ein großer Fisch.
„Vielen Dank“ , sagte die Schildkröte, „aber Fisch esse ich nicht. Iß du ihn
selbst auf und erzähle mir, wie du ihn gefangen hast.“
Der Pelikan verschluckte den Fisch und erzählte, wie ihm ein Blauwal um
Haaresbreite entkommen war. Dann flog er nach Hause.
Nach einer Weile kam das Nashorn.
„Einen fröhlichen Geburtstag, Schildkröte!“ schnaufte es. „Ich habe dir ein
Schlammbad mitgebracht!“
„Vielen Dank“ , sagte die Schildkröte, „aber Schlamm habe ich nicht gern
— nur wenn ein junger Salatkopf darin wächst. Willst du nicht selbst ein Bad
zur Erfrischung nehmen?“

252
Das Nashorn kletterte fröhlich hinein.
„E s wäre sonst schade darum“ , sagte es und rollte sich darin, bis es ganz
dreckig war.
„D as war sehr beruhigend“ , sagte es, „aber jetzt muß ich nach Hause! Es
ist schon spät.“
Die Sonne ging langsam unter, und die Schildkröte wurde ein bißchen traurig.
Mein Geburtstag ist fast vorbei, dachte sie. Es war nett von meinen
Freunden, mich zu besuchen und so viele Geschenke zu bringen. Aber ich
hätte so gerne nur einen ganz kleinen Salatkopf bekommen. Vielleicht im
nächsten Jahr!
Eine Träne rollte ihre Wange herunter.
Plötzlich hörte sie eine kleine Stimme.
„Schildkröte! Bist du noch wach?“ Es war die Maus mit einem großen Paket.
„Einen fröhlichen Geburtstag!“ piepste sie. „Ich komme leider sehr spät,
aber das Paket war so schwer zu schleppen.“
„Was kann nur darin sein!“ rief die Schildkröte.
Sie machte es auf. Darin lag ein Salatkopf. Groß. Grün. Saftig. Mit ein paar
Tropfen Tau auf den inneren Blättern.
„Liebe Maus!“ rief die Schildkröte. „Genau das, was ich mir wünschte!
Woher hast du es nur gewußt? Bitte setz dich! Ich werde dir ein Lied Vor­
singen, weil ich so glücklich bin.“
Sie sang:
„Groß ist der Elefant,
der Löwe hat Mut,
geschickt ist der Pelikan,
das Nashorn meint’s gut.
Aber nur die kleine Maus
hat wirklich nachgedacht.
Darum hat sie das gefunden,
was mir viel Freude macht!“
„D u bist meine allerbeste Freundin, weil du mich verstehst“ , sagte die
Schildkröte und gab der Maus einen Kuß.
Die Maus ging dann nach Hause, und die Schildkröte aß den ganzen Salat­
kopf auf. Er schmeckte ihr großartig.
„D as war ein wunderbarer Geburtstag“ , sagte sie zum aufgehenden Mond.
Dann zog sie ihren Kopf in den Panzer zurück — und schlief glücklich ein.

Elizabeth Shaw

253
Kuno, der fliegende Elefant

Im Zoo lebt eine Elefantenmuttei, die hat einen Elefantensohn, der heißt
Kuno.
Eines Tages sagte der kleine Kuno: „Mutti, ich friere. Warum friere ich?“
„Weil Winter ist. Und im Winter ist es kalt“ , sagte die Mutter. „Geh also
ins geheizte Haus, oder renne noch ein bißchen rum, das macht warm!“
Kuno rannte, was er konnte, aber richtig warm wurde ihm nicht. Als es
Frühling war und nicht mehr so kalt, kam ein Schwalbenschwarm in die Stadt
und landete im Zoo. Eine der Schwalben setzte sich auf den Rand von Kunos
Auslauf.
„Wo kommst du her?“ fragte Kuno die Schwalbe.
„Ich bin nur auf der Durchreise und will nach Schwerin-Mueß“ , sagte sie.
„Wenn du es aber genau wissen willst: ich komme aus Afrika.“
„Ach“ , sagte Kuno, „Afrika? Wo ist denn Afrika?“
„Im Süden“ , sagte die Schwalbe, „weit, weit im Süden.“
„Ist es da warm?“
„Sehr warm“ , sagte die Schwalbe.
„Und gibt es da auch Elefanten?“
„ Ja “ , sagte der Vogel, „ich habe welche gesehen.“
„Ich friere nämlich immer“ , sagte Kuno. „Frieren die Elefanten in Afrika
auch?“
„Ich glaube nicht“ , sagte die Schwalbe.
„Und wie kommt man nach Afrika?“ fragte Kuno.
„Man fliegt eben hin“ , sagte die Schwalbe. „Aber jetzt muß ich weiter. Auf
Wiedersehen, Kuno!“ Sie hob ihre Flügel in den Wind und flog nach
Norden.
Kuno blieb ganz still stehen, um nachzudenken.
Zum Mittagessen aß Kuno ein Brot und trank einen Spielzeugeimer Wasser
aus. Dabei sagte er: „Mukki, isch m oschte...“
„Mit vollem Munde spricht man nicht“ , sagte Kunos Mutter.
Kuno schluckte schnell das Essen hinunter. „Mutti,ich will fliegen“ , sagteer.
„W as? Fliegen?“ sagte seine Mutter erstaunt. „Ein Elefant kann nicht
fliegen!“
„Aber ein Vogel kann fliegen“ , sagte Kuno, „warum kann ein Vogel flie­
gen?“
„Weil er einen Schnabel und Flügel hat“ , sagte die Elefantenmutter. „Wir
haben nur einen Rüssel.“
„Fliegen haben auch einen Rüssel und können trotzdem fliegen“ , sagte Kuno.
„Und Windräder haben Flügel und können nicht fliegen.“
„Mir schwirrt der Kopf“ , sagte die Mutter. „D as wichtigste sind Flügel. Und
damit basta!“

254
„Ich will aber fliegen. Nach Afrika will ich fliegen“ , sagte Kuno. Nach Hause
möchte der Kleine, dachte seine Mutter gerührt und träumte vor sich hin.
Dann aber faßte sie sich. „E s ist gegen alle Vernunft. Wir können nun mal
nicht fliegen“ , sagte sie. „Wir sind zu schwer.“
„Und ich werde doch nach Afrika fliegen“ , murmelte Kuno trotzig. Dann
trollte er sich.
Wenn ich schon keine Flügel habe, dachte Kuno, so habe ich doch große
Ohren. Ich werde so lange üben, bis ich fliegen kann. Und er begann sofort
mit den Ohren zu flattern. Aber er blieb fest auf der Erde stehen, wie vorher
auch.
Kuno flatterte noch toller mit den Ohren und stellte sich auf die Hinterbeine.
Trotzdem konnte er sich nicht in die Luft erheben.
„E s liegt nur an der Übung“ , sagte Kuno tapfer.
Viele Tage flatterte er morgens, mittags und abends eine Stunde mit den
Ohren. Aber es half alles nichts. Er konnte nur Wind machen. Fliegen konnte
er nicht.
Am Himmel zog ein großes Flugzeug vorbei. Kuno schaute ihm sehnsüchtig
nach. Dann ließ er den Kopf hängen.
Die Mutter kam, um ihn zu trösten. „D u siehst ja“ , sagte sie, „es geht
nicht!“
„Aber das Flugzeug, Mutti“ , sagte Kuno, „das Flugzeug ist größer und
schwerer als du. Trotzdem fliegt es hoch oben durch die L u ft!“
„E s hat eben Flügel und einen starken Propeller“ , sagte die Mutter. „Auch
muß es mit seinen Rädern einen langen Anlauf nehmen.“
Wenn ich an den Beinen Räder hätte, dachte Kuno, und einen langen Anlauf
nehmen könnte! Aber vielleicht geht es, wenn ich meinen Schwanz wie einen
Propeller drehe! Kuno begann erneut zu üben. Als er seinen Schwanz her­
umwirbeln konnte, wie einen Propeller, nahm er einen Anlauf, so lang, wie
ihn das Gehege erlaubte, und wedelte mit den Ohren. Aber genau dort, wo
er starten wollte, fiel er auf die Nase. Wenn es mit dem Anlauf nicht geht,
vielleicht klappt es, wenn ich von unserem Elefantenberg runterhopse, dachte
Kuno. Als er das versuchte, fiel er auf den Kopf und holte sich eine Beule,
die sehr weh tat. Kuno trampelte mit den Beinen wie ein unartiges Kind und
heulte vor Wut.
„Ich will fliegen“ , schluchzte er, „ich will fliegen!“
„E s reicht eben nur zum Hinfliegen“ , sagte seine Mutter.
Aber Kuno gab nicht auf. Mittags aß er nun schon drei Brote und trank einen
großen Eimer Wasser dazu.
Er war etwas gewachsen, konnte inzwischen ganz sicher auf einem Bein
stehen, prima mit den Ohren flattern und den Schwanz so schnell drehen,

255
daß nur noch ein Kreis zu sehen war. Ja, er verstand es sogar, mit dem Rüssel
das Summen einer Fliege oder das Geräusch eines Flugzeugs nachzuma­
chen!
Die Mutter sah ihm zu und sagte nichts mehr. Und die alten und weisen
Elefanten aus dem Gehege schüttelten den Kopf.
Eines Tages, als Kuno gerade wieder beim Üben war, kam der Direktor vom
volkseigenen Zirkus HATIPA, Herr Hans-Titus Pannemann, durch den
Zoo. Er war auf der Suche nach Talenten für seine große Tierschau. Als er
zum Elefantenzwinger kam, sah er Kuno, der gerade Startversuche machte.
Mit flatternden Ohren und wirbelndem Schwanz rannte er direkt auf Herrn
Pannemann zu, daß der unwillkürlich zwei Schritte zurückwich. Kurz vor
dem großen Graben, der die Elefanten von den Zuschauern trennt, versuchte
Kuno, sich in die Luft zu erheben. Aber es wurde nur ein klägliches Hüpfen,
wie wenn ein Gummiball hüpft, ehe er still auf der Erde liegenbleibt. Kuno
lief zurück, um den Anlauf zu wiederholen.
Herr Pannemann suchte sich den Elefantenpfleger. „Was ist denn mit dem
Kleinen da los?“ fragte er.
„T ja“ , sagte der Pfleger, „Kuno — das ist ein Sonderling! Leider verstehe
ich die Elefantensprache kaum, aber wenn ich nicht irre, will Kuno flie­
gen.“
„D as ist doch nicht möglich!“
„Eben“ , sagte der Elefantenpfleger, „deswegen haben wir ja auch unseren
Tierarzt zu Rate gezogen. Aber der kann nur feststellen, daß Kuno kern­
gesund ist. Bei ihm wird es wohl hier oben nicht stimmen“ , sagte der Mann
und tippte sich an die Stirn. „O ft kommen Besucher zu uns gelaufen, weil
sie Angst haben, Kuno könne in den großen Graben fallen oder gar ’rü-
berspringen und einem Zuschauer auf den Fuß treten!“
„D as ist ja interessant“ , sagte Herr Hans-Titus Pannemann.
„Wenn ich Sie recht verstehe, liegt Ihnen nicht allzuviel daran, Kuno im Zoo
zu behalten? Da muß ich doch gleich mal mit dem Direktor reden!“
Er blickte noch einmal auf Kuno. Dann drehte er sich um und ging stracks
zur Direktion.
So kam der junge Elefant Kuno im Tausch gegen zwei Löwenbabys und eine
mittlere Hyäne in den Zirkus HATIPA.
Das scheint recht billig; für einen Elefanten von Kunos Größe muß man
sonst fünf mittlere Löwen und eine ausgewachsene Hyäne hergeben.
Dennoch wurde Kuno eine Sensation! E r brauchte nicht angelernt zu werden;
er konnte schon alles, was für seinen Auftritt nötig war. Direktor Pannemann
meinte: „Wer Kuno nicht gesehen hat, weiß nichts von neuzeitlicher Tier­
dressur“ , und er ließ neue Plakate drucken.

256
Das mit der Dressur war natürlich eine Übertreibung, und fliegen konnte
Kuno auch nicht; aber die Leute strömten in Massen zum Zirkus HATIPA,
um den fliegenden Elefanten zu sehen. Erwachsene und Kinder lachten und
klatschten begeistert, wenn Kuno allabendlich seine Start- und Landeversu­
che machte. Niemand war enttäuscht, wenn er den Zirkus verließ.
Zu Anfang fühlte sich Kuno sehr geehrt. Aber nach ein paar Monaten regten
sich Zweifel in ihm. E s kam ihm recht dumm vor, immer nur im Kreise
herumzurennen und mit den Ohren zu flattern. Kuno ließ den Kopf hängen
und dachte: Was klatschen die Leute nur und lachen, wo ich doch gar nicht
richtig fliegen kann. Ich glaube, sie machen sich über mich lustig.
Die Zirkusarbeit, die ihm erst so interessant erschienen war, machte ihm
keinen rechten Spaß mehr. Wie er so eines Abends überlegte und traurig in
seiner Box stand, sprach ihn sein Nachbar, der Elefantenopa Robert, an:
„Kuno, du bist eine Perle, wenn ich das so sagen darf. Für einen Elefanten
kannst du sehr, sehr viel. Nur, glaub mir, dem erfahrenen Zirkuselefanten:
Du wirst nie fliegen können! Wenn du aber darüber die Ohren hängenläßt,
bist du auch kein richtiger Artist. Im nächsten Jahr geht unser Zirkus auf
Auslandstournee. Wenn du schlechter wirst, nimmt dich Herr Pannemann
nicht mit. Darum faß Mut und lerne, Junge!“
„Faß Mut und lerne, Junge!“ machte Kuno den Opa nach. „Immer dasselbe.
Kann ich fliegen, wenn ich lerne? Und überhaupt, Opa: Was kannst denn
du? Hinterbeinhandstand und Vorderbeinhandstand, Rolle vorwärts und
Rolle rückwärts, mit aufgeschnalltem Federputz im Kreise herumrennen und
schön tun.“
„Und Rolle seitwärts kann ich!“ ergänzte der Opa beleidigt.
„Schön“ , sagte Kuno, „aber mehr hast du nicht gelernt. Was ist das
schon?“
„E s ist alles, was mir möglich war!“ sagte Opa Robert.
„Sogar einer Mücke ist es möglich, zu fliegen“ , sagte Kuno.
„Man kann aus einem Elefanten keine Mücke machen“ , brummte der Opa
und drehte den Kopf weg.
Kuno stieß bockig mit dem Fuß auf und weinte vier Elefanten tränen.
Danach trank er zwei große Eimer Wasser, ohne etwas zu essen. Er war noch
sehr lange wach.
Erst drei Tage später sagte Kuno zu Opa Robert: „O pa ..., entschuldige
bitte ..., du hattest recht. Es stimmt, ich kann zwar nicht fliegen, aber
trotzdem muß ich lernen. Ich will mir wieder Mühe geben. Vielleicht darf
ich dann mit ins Ausland fahren; es ist zwar nicht Afrika, aber immerhin
... Es wäre fein, wenn du mir raten könntest, was ich jetzt lernen und üben
kann.“

17 257
„So ist die Jugend“ , brummelte Opa Robert, dann neigte er seinen Kopf zu
Kuno hin, und die beiden tuschelten noch eine ganze Weile miteinander.
Ein Jahr war noch nicht vergangen, da konnte Kuno bis zehn zählen. Er
konnte an einem Tisch sitzen und mit dem Löffel essen. Nach angestrengtem
Training gelang es ihm, auf dem Schwanz einen Luftballon zu balancieren!
Ja, er vermochte sogar, auf dem Rüssel den Schlager „Wunderland bei
Nacht“ zu blasen. Die Auslandsreise des Zirkus HATIPA wurde ein voller
Erfolg. Und Kunos Anteil daran war nicht gering!
In Moskau wurde Kuno sehr gefeiert. Weil er trotzdem jämmerlich fror, ließ
ihm Herr Pannemann eine warme, maßgeschneiderte Fliegerkombination
anfertigen. Sie war warm, und Kuno war besonders stolz darauf.
Mit dem Zirkus kam Kuno nach Budapest und ans Schwarze Meer; dort
gefiel es ihm besonders gut, denn es war recht warm. Kuno sah die goldenen
Türme der Stadt Prag, und in einem anderen Sommer war er sogar in
Helsinki, wohin man ihn mit dem Schiff brachte. Überall führte er seine
Flugversuche vor, aß mit dem Löffel und blies „Wunderland bei Nacht“ .
Er wurde vom Publikum geschätzt, und die Kinder liebten ihn.
Nur manchmal, wenn er eine Schwalbe sah, wurde ihm traurig zumute. Aber
er schluckte seine Traurigkeit tapfer hinunter, lernte und fand viel Freude
in seiner Zirkusarbeit.
Ein Elefant kann eben nicht fliegen, sagte er sich.
Und dann kam ein ganz gewöhnlicher Vormittag, da legte Direktor Panne­
mann ihm das große rote Halsband an und sagte: „Komm, Kuno, wir wollen
ein wenig Spazierengehen!“
Herr Pannemann ging mit Kuno immer dann spazieren, wenn er sich sehr
über ihn gefreut hatte. Und er hatte oft Grund dazu.
Auch Kuno ging gern mit dem Direktor die große Hauptstraße entlang, aber
diesmal wunderte er sich sehr. Überall am Rand der Straße standen Kinder.
Sie winkten mit bunten Fähnchen, ließen Luftballons steigen und riefen:
„Unser Kuno soll leben!“ oder „Hoch, hoch, hoch!“
Kuno wußte nicht, was los war, aber stolz war er doch!
Direktor Pannemann ging unbeirrt mit Kuno weiter, bis an den Rand der
Stadt. Und immer noch standen Kinder da, freuten sich, winkten und riefen
nach Kuno. Dann bogen die beiden auf einen ganz großen, freien Platz ein,
das war der Flugplatz. Und darauf stand ein riesiges Flugzeug, eine Düsen­
transportmaschine. Davor standen wieder viele Kinder und erwachsene
Leute auch und ein Blasorchester. Herr Hans-Titus Pannemann führte Kuno
durch eine Gasse bis vor das Flugzeug. Dann ließ er Kunos Halsband los
und kletterte auf eine Rednertribüne. Dort hob er die Hand, und alle Kinder
waren sofort still.

258
„Lieber Kuno“ , sagte Herr Pannemann, „wir alle wissen, daß es von Jugend
an dein Wunsch war, fliegen zu können. Elefanten können nicht fliegen; das
weiß jedes Kind. Aber Elefanten können lernen und fleißig arbeiten — das
hast du bewiesen. Deshalb darfst du nach Afrika reisen und dich vier Wochen
in dem Land tummeln, das du so gern einmal sehen wolltest. Was dich aber
besonders freuen wird — du darfst fliegen! E s begleiten dich die guten
Wünsche von deiner Mutter, von Opa Robert, von allen Zirkuskollegen und,
wie du siehst, von allen Kindern.“
Dann holte Direktor Pannemann tief Luft und rief: „Hoch lebe unser Kuno,
der fliegende Elefant!“
„Hoch, hoch, hoch“ , jubelten die Kinder so laut, daß Kuno vor Freude und
vor Scham rot wurde. Direktor Pannemann aber setzte seinen Zylinderhut
auf und griff nach Kunos Halsband., Und während die Blaskapelle den
Schlager „Wunderland bei Nacht“ spielte, betraten die beiden das Trans­
portflugzeug. Bald heulten die Düsenaggregate auf, das Flugzeug rollte zum
Start und erhob sich in Richtung auf die Sonne zu, nach Süden.

Waldemar Spender

17* 259
Die Vogelinsel

Rot wie eine Apfelsine steigt die Sonne aus dem Meer.
Canus, der Möwenmann, grüßt sie als erster. Er steht auf einem hohen Pfahl
und weckt mit seinem hellen Schrei alle anderen Möwen, die mit ihm auf
der Insel leben.
Die Insel heißt Rungenwerder. Sie liegt in der Ostsee, und von hoch oben
sieht sie wie ein kleiner Ball aus, der in einen riesengroßen See gefallen ist.
Sogleich sind alle Möwen wach. Von ihrem Nest antwortet Cana, die Mö­
wenfrau. Vetter Cano beginnt laut und vernehmlich zu schreien. Die zierliche
Nichte Cani lüftet ihre hellen Flügel und läßt das rote Morgensonnenlicht
auf die drei wolligen Möwenkinder fallen.
So beginnt der Tag auf Rungenwerder.
Am Strand trägt der schwarzweiße Vogel Aufi eine dunkle Muschel aus dem
Meer. Sein roter Schnabel leuchtet im Sonnenlicht wie glühende Kohle. Er
lockt seine Frau herbei. Die brütet in einer Sandmulde vier große, lehm-
farbene Eier aus. Die Aufis lieben frisches Muschelfleisch. Geschickt können
sie angespülte Miesmuscheln öffnen und im Wasser auswaschen.
Das können die Möwen nicht. Deshalb nennen sie den Aufi den „klugen
Vogel Aufi“ .
Der Vogel Aufi ist nicht nur klug. Er ist auch sehr wachsam. Wenn sich ein
Boot der Insel nähert, fliegt er sofort zu dem winzigen Haus am Inselrand
und lärmt. Dann kommt Buddelwilli heraus und sieht durch sein großes
Fernrohr. Er weiß gleich, ob da ein Fischerboot fährt oder ob jemand vom
Festland Möweneier stehlen will.
Buddelwilli ist der einzige Mensch, der auf Rungenwerder wohnen darf. Er
ist der Freund der Vögel. Die Leute nennen ihn Buddelwilli, weil er alle
Flaschen am Inselrand sammelt. Das Meer treibt viele heran. Und Flaschen
heißen an der Küste „Buddeln“ . Rungenwerder ist eine richtige Vogelinsel,
ein Naturschutzgebiet. Buddelwilli wacht darüber, daß alle Vögel ungestört
ihre Jungen ausbrüten können. Wenn diese dann groß genug sind, fliegen sie
mit ihren Eltern an den Strand gegenüber der Insel. D a freuen sich die
Urlauber über die vielen Möwen und Seeschwalben, die Brasen, Küsen und
Zwersen. Sie hören den klugen Vogel Aufi und lauschen dem Flötentriller
des Vogels Kolüt.
Buddelwilli ist ein fleißiger Mann. Für die wilden Enten stellt er Körbe auf,
unter denen sie brüten können. Den bunten Brandgänsen gräbt er tiefe
Höhlen in die Erde. Sie bauen unterirdisch Nester. Alle Vögel kennen
Buddelwilli und haben keine Angst vor ihm. Canus und Cana haben ihr Nest
sogar gleich neben seiner Haustür. Vögel, die neu auf die Insel kommen,
werden schnell seine Freunde. So auch die beiden Möwen Melanie und
Melanus mit ihren pechschwarzen Köpfen und roten Schnäbeln. Sie stammen

260
von einem fernen Meer. Es ist das Schwarze Meer, und Möwen von dort
kommen nur ganz selten an die Ostsee.
Melanie und Melanus gefällt es sehr auf Rungenwerder. Erst wenn der
Sommer zu Ende ist, fliegen sie mit ihren herangewachsenen Kindern nach
dem Süden, wo es nicht so kalt wird wie bei uns.
Als Canus an diesem Morgen die anderen Möwen weckt, flattert der Vogel
Kolüt aufgeregt über seine Wiese. Er hat ein spitzes rotes Gesicht im Strand­
hafer gesehen. Sofort versammeln sich die Möwen. Sie spektakeln: „Ein
Fuchs ist auf der Insel!“
Schon kommt der Vogel Aufi angeflogen. Oh, ist er aufgeregt! „Schnell zu
Buddelwilli“ , schreit er.
Canus und Cana begleiten ihn und noch hundert andere Möwen. Sie wirbeln
wie große Schneeflocken um das Hüttendach. Buddelwilli steht schon an
seinem Fernrohr. Er hat den Spektakel gehört und den Fuchs bereits ent­
deckt.
Er ist in großer Sorge!
Allein kann er den Fuchs nicht fangen oder vertreiben. Er muß Hilfe holen.
Buddelwilli rudert schnell zur Küste. Vom Dorf aus telefoniert er in die
Stadt. Dort kennt er erfahrene Jäger. Sie versprechen, rasch zu kommen.
Dann fährt er zurück.
Über der Insel flattern die Möwen und Seeschwalben. Sie geben dem Fuchs
keine Ruhe. E r verkriecht sich im dichten Strandhafer und traut sich nicht
hervor.
Zwei Stunden später stehen die Jäger schon am Strand und winken zur Insel
herüber. Buddelwilli holt sie mit dem blauen Boot. Es sind sechs Jäger. Sie
haben kaum Platz im Boot.
Einer ist sehr dick und kurz. Zwei sind nicht dick und nicht dünn. Einer
ist sehr lang und sehr dünn. Der fünfte hat eine rote Nase und ebensolche
Ohren. Und der sechste ist ein alter Jäger mit weißen Haaren, ohne Bart,
mit einer Schirmmütze. Alle haben grüne Jacken an. Jeder trägt ein Gewehr.
Patronen stecken in kleinen Ledertaschen an ihren Gürteln. Der alte Jäger
ist etwas traurig. Er liebt es nicht, Sommerfüchse zu jagen. Er jagt Füchse
nur im Winter. Dann haben sie ein schönes Fell. Er ist als der beste und
klügste Fuchsjäger bekannt. Sein Name ist Bruno.
„Bruno“ , sagt Buddelwilli, „Bruno, du bist der beste Fuchsjäger weit und
breit! Tch bitte dich und deine Jägerfreunde, den Vögeln zu helfen. Weil auf
der Insel keine Mäuse leben, wird der Fuchs junge Vögel fressen, die noch
nicht fliegen können. Das müssen wir verhindern!“
„Ja, das werden wir“ , sagen die sechs Jäger. Sie nehmen ihre Gewehre aus
den Futteralen und knöpfen die Patronentaschen auf. Canus, der Möwen­

261
mann, hat die Jäger sofort gesehen. Er steht wieder auf seinem hohen Pfahl
und verkündet seine Entdeckung. Cano, sein Vetter, gibt die Meldung gleich
weiter. Schnell deckt die Nichte Cani die wolligen Küken im Nest mit ihren
Flügeln zu. Alle Möwen auf der Insel sind schrecklich aufgeregt. Sie schreien
laut. So haben sie noch nie geschrien. Dem Fuchs wird unheimlich zumute.
Er schiebt die Schnauze aus seinem Versteck in der Düne hervor und
schnuppert. Plötzlich bekommt er einen furchtbaren Schreck: Er riecht die
Jäger und die Gewehre!
Die Jäger stehen mit Buddelwilli an der Hütte und spähen durch ihre Fern­
gläser. Sie sehen, wie der Vogel Aufi hastig hin und her rennt. D a fliegt er
auch schon hoch, seine Frau hinterher. Beide kreisen über einer Mulde auf
der Düne. Dort steht der blaue Strandhafer ganz dicht. Buddelwilli stellt
sein großes Fernrohr genau auf diese Stelle ein. Zwischen den Halmen be­
merkt er das spitze Fuchsgesicht. Über dem Fuchs flattern die Canus-
möwen.
„D a ist er“ , ruft Buddelwilli, „da oben auf der Düne!“
Die Jäger laden ihre Gewehre. Dann gehen sie los, Buddelwilli und der alte
Jäger Bruno in der Mitte. Die Seeschwalben begrüßen sie mit hellen Schreien.
Sie schießen wie winzige Silberflugzeuge über ihnen hin. Die Möwen schreien
immer wilder. Der Fuchs beginnt zu zittern. Plötzlich stürzt er los, wie ein
roter Blitz flitzt er über die Insel.
Unter einem dichten Holunderstrauch am Strand verkriecht er sich.
„Jetzt kann er uns nicht entwischen“ , sagt der kurze, sehr dicke Jäger laut.
Als hätten die Möwen das verstanden, sammeln sie sich über dem Busch.
Sie stoßen im Sturzflug herunter. Sie wollen den Fuchs aus dem Busch
treiben. Die Jäger kommen langsam in weitem Halbkreis heran. Ihre Ge­
wehre sind schußbereit.
Über ihnen zetern die Möwen. Canus, Cana und Cano und die Nichte Cani
sind darunter. Der Vogel Aufi und seine Frau fliegen immerzu im Kreis
trillernd um die Möwenwolke und den Holunderbusch herum.
Auf einmal schreien die Möwen gellend auf. Ein Höllenlärm! Der Jäger mit
der roten Nase hält sich die roten Ohren zu.
Bruno, der alte Jäger, schüttelt bedenklich den Kopf. Was mag passiert
sein?
Nun sind die Möwen schon über dem Wasser!
Die Jäger machen ratlose Gesichter. Fragend sehen sie Buddelwilli an.
Der Busch ist ziemlich breit und sehr dicht.
Dahinter beginnt das Wasser. —
Im Wasser schwimmt der Fuchs! Nur ein schmaler Streifen von seinem
Rücken ist zu sehen, seine Ohren wie Dreiecke und die weiße Schwanzspitze.

262
Er schwimmt sehr schnell. Ehe sich die Jäger besonnen haben, ist er schon
weit weg.
Der dicke Jäger will noch schießen. Aber Buddelwilli hält ihn zurück. Er
könnte leicht eine Möwe oder eine Brase oder sogar die Möwe Melanie vom
Schwarzen Meer treffen! Denn: All die vielen Vögel flattern dicht bei dicht
über dem fliehenden Fuchs. Canus hackt auf den Feind im Wasser ein, die
Schwarzkopfmöwe Melanie zwickt ihn ins linke Spitzohr. Die schnellen
Seeschwalben setzen ihm im Sturzflug weiße Kleckse auf die schwarze
Nasenspitze!
Der Fuchs schüttelt sich voll Abscheu. Auf diese Insel kommt er nie wieder!
Die Jäger lachen laut. Jäger Bruno hat ein glückliches Gesicht, weil er nicht
auf den Fuchs zu schießen brauchte. Und Buddelwilli ist sehr froh. Jetzt
können die Vögel ruhig leben und ungestört brüten.
Die Jäger entladen ihre Gewehre und stecken die Patronen wieder in die
Ledertaschen am Gürtel. Jäger Bruno setzt die Schirmmütze ab und wischt
sich den Schweiß von der Stirn.
Die Vögel kommen vom Wasser zurück — die Familie Canus, die Brasen,
die Zwersen und Küsen und die Möwe Melanie mit ihrem Mann Melanus.
Vornweg fliegt der Vogel Aufi mit seinem leuchtendroten Schnabel.
Die Vögel rufen fröhlich.
Plötzlich zappelt ein Fisch in Brunos Mütze. Er ist fingerlang und glänzt
silbern. Er ist einer Brase aus dem Schnabel gefallen.
„D ie Vögel danken den Jägern.“ Buddelwilli schmunzelt. Und der Vogel
Kolüt mit dem langen Bogenschnabel läßt einen klangvollen Triller über der
Vogelinsel ertönen.
Wolfgang Spillner

263
Kleine Ente namenlos

Auf einer Wiese an einem Bach lag einmal ein Entenei. Weiß der Kuckuck,
wie es dahin kam und wer es ausgebrütet hatte. Vielleicht war es die Sonne,
denn es war fast Sommer und schon sehr heiß. Jedenfalls kroch eines Tages
ein Entenküken aus dem Ei, schüttelte sich und lief gleich zum Bach, um
sich zu baden.
D a erblickte es sein Spiegelbild im Wasser und sagte sich: „Aha, so sehe ich
also aus.“
Das Entenküken wuchs heran, und es beobachtete sich im spiegelnden
Wasser: Erst wuchsen aus seiner nackten Haut kleine, flaumige Federn,
später dann große, kräftige. Da überlegte sich die kleine Ente: „Ich weiß
genau, wie ich aussehe. Trotzdem weiß ich nicht, wer ich bin.“ Sie beschloß,
jemanden zu suchen, der die Antwort wußte.
Auf dem Grunde des Baches schwammen viele kleine Fische. Schnell steckte
die Ente ihren Kopf unter das Wasser. Doch sie kam nicht zum Fragen —
die Fische waren schon davongeflitzt.
Also tauchte die kleine Ente wieder auf, holte Luft, schüttelte das Wasser
vom Gefieder und ließ sich vom Bach weitertreiben.
Nach kurzer Zeit kam sie an einer großen Trauerweide vorbei. „Kannst du
mir bitte sagen, wer ich bin?“
Müde schaute die Trauerweide sie an. „D u bist irgend so ein Tier. Tiere gibt
es ja so viele. Nun laß mich in Ruhe, ich möchte schlafen.“
„Entschuldigung!“ Die Ente war enttäuscht, denn sie war eigentlich genauso
schlau wie vorher.
„Ich muß halt jemand anderes fragen.“
Suchend schaute sie sich um. Rechts stieg das Ufer steil an — nur Sand. Vor
sich eine kleine Holzbrücke, und links reichte die Wiese mit ihren Butter­
blumen bis ins Wasser hinein — es war kein Tier zu sehen. Die kleine Ente
blickte zurück auf den Stein im Wasser. Gerade war er noch leer, jetzt hockte
ein Frosch darauf. Er hatte die Augen geschlossen und streckte seinen Kopf
der Sonne entgegen.
Erfreut drehte die Ente sich zu ihm hin und räusperte sich. Der Frosch
blinzelte, bekam aber sofort erschrockene Augen und war mit einem riesigen
Satz im Wasser verschwunden.
Vorsichtig tauchte er weit hinten unter herunterhängenden Blättern auf.
„Ich habe Angst vor dir, du willst mich bestimmt fressen.“
„Aber ich will dich doch nur etwas fragen“ , sagte die Ente.
Der Frosch äugte mißtrauisch, zog die Zweige vor seiner Nase zusammen
und war nicht mehr zu sehen.
Die kleine Ente wunderte sich über den Frosch, wartete noch ein Weilchen.
Nichts rührte sich mehr, und so schwamm sie den Bach weiter hinunter.

264
Da sah sie am Ufer einen Storch. „Weißt du, wer ich bin?“
„N a sicher“ , sagte der Storch, „du bist ein Wasservogel.“
„Ich bin dir sehr dankbar für deine Auskunft!“
„Keine Ursache, das weiß doch jeder Storch.“
„Ich bin ein Wasservogel, ich bin ein Wasservogel“ , freute sich die Ente und
platschte mit den Flügeln bachabwärts.
Da sagte es auf einmal neben ihr: „Quatsch nicht, du bist ein fetter Braten.“
Erschrocken sah sich die Ente um und blickte einem Fuchs ins Gesicht, der
sich schon gierig das Maul leckte.
„Aber ich weiß ganz genau, wer ich bin. Ich bin ein Wasservogel!“
„D as ist mir ganz egal, für mich bist du ein fetter Braten. Und jetzt mach,
daß du aus dem Wasser kommst, damit ich dich fressen kann!“
Die Ente bekam es mit der Angst zu tun und schwamm eilig weiter. „Ver­
dammt!“ hörte sie noch den Fuchs sagen.
Sie war ganz verwirrt. Wer hatte denn nun die Wahrheit gesagt — der Storch
oder der Fuchs?
„N a, ich werde es noch einmal versuchen“ , nahm sich die Ente vor. Da
machte der Bach einen Bogen und floß durch einen Bauernhof. Sie stieg aus
dem Wasser und lief auf einen großen Vogel zu, der bald so aussah wie sie
selbst, nur größer und mit längerem Hals — es war eine Gans.
„Guten T ag“ , sagte die kleine Ente zur Gans, „soll ich dir verraten, wer ich
bin? Ich bin ein fetter Braten!“
„Pü“ , erwiderte die Gans schnippisch, „da könnte ja jeder kommen und so
etwas von sich behaupten. Du bist viel zu mager dafür. Sieh mich an, ich
bin ein fetter Braten!“
Dabei reckte sie stolz ihren Hals und watschelte einen kleinen Kreis, um sich
von allen Seiten betrachten zu lassen.
„ Ja wenn das so ist“ , meinte die Ente, „bin ich lieber ein Wasservogel!“ und
dachte dabei, daß also der Storch die Wahrheit gesagt hatte.
„E s wird ja immer schöner“ , zischte die Gans jetzt böse, „ich bin auch ein
Wasservogel. Nun will ich dir mal sagen, wer du bist: Du bist eine Ente,
und zwar eine magere und freche. Und jetzt verschwinde!“
Die kleine Ente lief schnell zum Bach und schwamm weiter. Sie wußte nicht
so recht, ob sie lachen oder weinen sollte. Die Gans war ja sehr unhöflich
zu ihr gewesen. Dafür kannte sie sich wohl am besten aus. Die kleine Ente
entschloß sich, froh zu sein, weil sie nun ganz bestimmt wußte, wer sie war
— eine Ente.
Und während sie darüber nachdachte, mündete der Bach in einen See. Als
sie aufblickte, sah sie lauter Vögel, die wirklich ganz genauso aussahen wie
sie selbst.

265
„Ich bin eine Ente“ , schrie sie ihnen glücklich entgegen.
„Sei nicht so vorlaut, das sehen wir nämlich. Außerdem sind wir ja selber
Enten.“
„Aber wer bin ich dann, wenn ihr auch Enten seid?“ rief die kleine Ente
ganz verzweifelt. Doch keine der anderen Enten gab ihr eine Antwort. Sie
waren alle schon wieder mit sich selbst beschäftigt.
Da kamen der kleinen Ente die Tränen, und sie schwamm ins Schilf. Als
sie so allein vor sich hin weinte, teilte sich das Schilf, und ein junger Enterich
schaute ihr ins Gesicht.
„D arf ich dir Gesellschaft leisten?“ — Die kleine Ente schwieg und ließ den
Kopf hängen — sie sah ihr Spiegelbild im Wasser. „Warum weinst du?“ fragte
sie der Enterich. D a erzählte sie ihm alles, was sie auf ihrer Suche erlebt
hatte.
„Ich sehe schon, das alles kommt daher, weil du keinen Namen hast“ , sagte
der Enterich. „Komm, ich zeige dir den See, und vielleicht fällt uns dabei
ein Name für dich ein.“
Die kleine Ente war einverstanden. „Übrigens“ , setzte der Enterich noch
hinzu, „Name hin, Name her, dich gibt es ja doch nur einmal auf der ganzen
Welt.“
„Wirklich?“ fragte die kleine Ente ungläubig.
„Wirklich!“ bekräftigte er.
Isolde Stark

266
Brüderchen Vierbein

Es lebte einmal ein kleines Mädchen mit seiner Mutter in einer Hütte, das
hatte nicht Bruder noch Schwester, und weil seine Mutter tagsüber ihrer
Arbeit nachging, war das kleine Mädchen oft allein.
Tagaus, tagein spielte es mit einem Kloben Holz, wickelte ihn in bunte
Lappen und nannte ihn sein hölzernes Söhnchen. Eine alte Kiste und ein
wenig Heu nahm es zum Bett für den Kloben.
Das war sein ein und alles.
Weil der Kloben aber so steif und stumm war, sang das Mädchen, wenn es
ihn wiegte, oft:
Hölzernes Söhnchen mein,
hätt ich ein Lebelein,
Zweigebein, Viergebein,
sollt es mein Bruder sein.
Eines Tages, als das Mädchen mit dem Kloben ausging, fand es einen Kater,
dem der Jäger den Pelz mit Schrotkörnern zerlöchert hatte. Das Mädchen
redete freundlich mit dem Kater und streichelte ihn.
Da lief der Kater dem Mädchen nach, lief durch Straßen und Gassen bis
zum Hüttchen, in dem das Mädchen wohnte.
Das Mädchen bekam vor Freude rote Bäckchen und fragte den Kater:
„Viergebein, willst du mein Bruder sein?“
Der Kater maunzte. D a verband das Mädchen dem Kater die Wunden, so
gut es konnte, gab ihm zu essen und zu trinken, setzte ihn zum Kloben in
die Kiste und nannte ihn Brüderchen Vierbein. Als die Mutter von der Arbeit
heimkam, schalt sie: „Haben wir nicht Sorgen zuviel und Essen und Trinken
zuwenig? Was soll uns ein Kater?“
Als sie aber sah, wie lieb das Mädchen den Kater hatte, und als sie hörte,
daß es den Kater Brüderchen Vierbein nannte, tat der Mutter das einsame
Kind leid. Sie ließ den Kater in ihrer Hütte wohnen und gab ihm von ihrem
kargen Brot zu essen.
Über eine Weile pochte eine dicke Frau ans Tor der Hütte und rief: „Ihr habt
meinen Kater gestohlen! Gebt ihn heraus!“
Der Kater fauchte zornig, als er die Stimme seiner Herrin hörte. Das kleine
Mädchen öffnete die Tür und sagte: „Ich hab’ ihn gehegt, ich hab’ ihn gepflegt,
der Kater ist mir ein Bruder.“
Und der Kater schmiegte sich an das Mädchen.
Die dicke Frau aber hörte nicht darauf. Sie packte den Kater, doch der Kater
zerkrallte ihr die Hand. D a steckte ihn die Frau in einen Sack und nahm
ihn mit.
Das Mädchen war wieder mit dem Kloben allein, und wenn es ihn wiegte,
sang es:

267
Hölzernes Söhnchen mein,
hätt ich ein Lebelein,
Zweigebein, Viergebein,
sollt es mein Bruder sein.
Eines Tages, als das Mädchen mit dem Kloben ausging, fand es einen großen
Hund, der hatte seine Pfote in einen Torspalt geklemmt. Das Mädchen
machte den Hund frei und streichelte ihn. D a lief der Hund dem Mädchen
nach, lief durch Straßen und Gassen bis zur Hütte.
Das Mädchen bekam vor Freude rote Bäckchen und fragte den Hund:
„Viergebein, willst du mein Bruder sein?“
Der Hund bellte. D a gab das Mädchen dem Hund zu essen und zu trinken
und nannte ihn Brüderchen Vierbein.
Als die Mutter heimkam, schalt sie: „Haben wir nicht Sorgen zuviel und
Essen und Trinken zuwenig? Was soll uns ein Hund?“ Als sie aber sah, wie
lieb das Mädchen den Hund hatte, und als sie hörte, daß es den Hund
Brüderchen Vierbein nannte, tat ihr das einsame Kind leid. Sie ließ den Hund
in ihrer Hütte wohnen und von ihrem kargen Brot essen.
Über eine Weile pochte ein reicher Mann ans Tor und rief: „Ihr habt meinen
Hund gestohlen! Gebt ihn heraus!“
Der Hund bellte böse, als er die Stimme seines Herrn hörte. Das kleine
Mädchen öffnete die Tür und sagte: „Ich hab’ ihn gehegt, ich hab’ ihn gepflegt.
Der Hund ist mir ein Bruder.“
Und der Hund schmiegte sich an das Mädchen.
Doch der reiche Mann hörte nicht darauf und packte den Hund. Da zerbiß
der Hund seinem Herrn die Hand. Der Herr aber schlang dem Hund eine
Schnur um den Hals und zog ihn mit sich fort.
Das Mädchen war wieder mit dem Kloben allein, und wenn es ihn wiegte,
sang es:
Hölzernes Söhnchen mein,
hätt ich ein Lebelein,
Zweigebein, Viergebein,
sollt es mein Bruder sein.
Eines Tages ging das Mädchen wieder mit dem Kloben aus, da traf es ein
kleines weißes Pferd. Das Pferd war seinem Herrn fortgelaufen, weil er es
alle Tage schlug.
Das Mädchen hatte ein einziges Zuckerstück, das gab es dem kleinen weißen
Pferd. D a lief das Pferd dem Mädchen nach durch Straßen und Gassen bis zum
Hüttchen.
Das Mädchen bekam vor Freude rote Bäckchen und fragte das Pferd:
„Viergebein, willst du mein Bruder sein?“

268
Das Pferd wieherte. Da nahm das Mädchen das kleine Pferd mit in die
Hütte, gab ihm zu essen und zu trinken und nannte es Brüderchen Vier­
bein.
Als die Mutter heimkam, schalt sie: „Haben wir nicht Sorgen zuviel und
Essen und Trinken zuwenig? Was soll uns ein Pferd?“
Als sie aber sah, wie lieb das Mädchen das kleine Pferd hatte, und als sie
hörte, daß es das Pferd Brüderchen Vierbein nannte, tat ihr das einsame Kind
leid. Sie ließ das Pferd in ihrer Hütte wohnen und von ihrem kargen Brot
essen.
Eines Tages aber pochte der böse Mann ans Tor, dem das weiße Pferd
gehörte, und rief: „Ihr habt mein Pferd gestohlen! Gebt es heraus!“
Das Pferd schnob zornig, als es die Stimme seines Herrn hörte. Das kleine
Mädchen öffnete die Tür und sagte: „Ich hab es gehegt, ich hab es gepflegt.
Das Pferd ist mein Bruder.“ Und das weiße Pferd wieherte freundlich
dazu.
Doch der böse Mann wollte nichts hören. Er packte das Pferd. D a schlug
das Pferd seinen Herrn. Der Herr aber nahm die Peitsche und trieb das Pferd
fort.
D a war das kleine Mädchen bitter traurig. E s weinte und weinte, die Augen
taten ihm weh. Es wiegte sein hölzernes Söhnchen und sang: „Drei Vierbein
warn mein, bin wieder allein.“
Wie aber das Mädchen so sang, fielen seine Tränen, eine um die andre, auf
das hölzerne Söhnchen herab. Und wie es immer heftiger weinte, begann sich
das hölzerne Söhnchen zu regen. E s reckte und streckte sich, und im Nu
wurde aus dem Kloben ein Knabe. Er sprang vom Arm des Mädchens herab
und rief: „Zweigebein, Viergebein, ich will dein Bruder sein.“
Das Mädchen bekam vor Freude Bäckchen wie Weihnachtsäpfel so rot, es
nahm das Brüderchen bei der Hand und lief mit ihm zur Mutter. Wie die
Mutter den Knaben nur ansah, hatte sie ihn lieb. Sie sagte zu ihm „mein
Söhnchen“ , und von Stund an war das kleine Mädchen nie mehr allein.

Eva Strittmatter

269
Der Igel

Der Hund hat am Bach einen Igel gefangen. Der Igel trank im Mondlicht
drei Tropfen, da packte ihn der Hund. Der Igel rollte sich ein, der Hund
zerstach sich die Nase. E r heulte, doch er schleppte den Igel über die Wiese
vors Haus. D a bellte er. Die Leute kamen heraus. Sie schalten: Was soll das
Gelärm? Ist wo ein Fuchs, oder ist Feuer? Der Hund schwänzelte stolz: Seht
doch das Ungeheuer zu meinen Füßen!
Der Igel ist klein, ein Igelkind, und wie Kinder sind — neugierig und dreist.
Vergessen hat er den Hund und daß der Hund beißt. Er trippelt auf der
Treppe umher, äugt über den Stufenrand. An Vaters Schuhband nagt er,
dann wagt er, auf den Schuh zu klettern. Am Hosensaum beginnt er zu kauen.
Der Vater krault den Hund und lacht. „Einen Faxenclown hast du uns
gebracht!“ Er nimmt das Igelkind mit ins Haus. Der Hund bellt beleidigt
den Mond aus.
Der Igel kriegt einen Kasten mit Heu. Er soll sich gewöhnen. Das Haus ist
ihm neu, und die Menschen sind’s auch.
Die Leute gehn schlafen. Im Kasten rumort es, raschelt und kratzt. Wo ist
der Bach, wo ist die Wiese? Dann schmatzt es. Der Igel schlürft Milch, die
Milch schmeckt.
„Vater, der Igel ist still!“
„H at sich müde geleckt.“
Am Morgen ist der Igel fort. Kasten umgekippt, Milchnapf zerbrochen —
wo ist der Faxenclown hingekrochen? Die Kinder sehen in alle Ecken. Kann
sich ein Igel im Mausloch verstecken? Drei Tage vergehn. Raschelt die Katze,
rischelt die Maus, knispelt Papier, heißt’s: „D er Igel ist hier!“
Am Abend — die Suppe ist aufgetan — fängt’s in der Küche zu spuken an.
Die Ringe klappern, es scharrt im Herd, wie wenn der Essenkehrer mit dem
Besen dreinfährt. Der Hund heult und kratzt an den Kacheln. Die Kinder
erschrecken. Der Vater klopft an den Tiegel: „Den freß ich, ist das nicht dei'
Igel!“
Die Kinder jammern: „Igel, komm raus! Kriegst Milch, Brot und Butter,
feinfeines Futter!“
Im Schornstein klirrt ein Ziegel.
„Der Igel!“ „Der Wind war’s, Kind.“
Am Morgen führt eine rußige Spur über den Küchenflur. Winzige Tapfen
wie Puppenfußtupfen: Der Igel war aus, hat das Haus durchschnuffelt und
von Hunds Brotbrei gemuffelt. Er hat die Wiese gesucht und den Mond, wo
er wohnt. Ins Wandfach ist er geklettert, in den Zeitungen hat er geblättert.
Am Strickstrumpf hat er sich die Beine besäubert, aus dem Korb hat er einen
Apfel geräubert. Den Apfel hat er angebissen und beim Naschen den Milch­
krug umgerissen. Den Mond hat er nicht gefunden. Wie’s Tag wurde, ist er

270
im Herd verschwunden. Die Feuerlochtür am Backofen steht auf. D a hinauf
führt die rußflockige Spur. Die Kinder leuchten in den Herd hinein. Wie’s
Streichholz aufblitzt, flitzt was davon. Die Kinder sind still wie die Hasen,
da kommt aus dem Zugloch am Schornstein eine Nasenspitze und schnup­
pert, dann lugen Knopfaugen ums Eck, sehn was und — weg.
Drei Wochen vergehn, sie kriegen keine Stachel zu sehn.
Die Kinder jammern: „Mach kein Feuer im Herd, Mutter, der Igel erstickt
uns im Rauch! E r hält Winterschlaf, wird es draußen erst warm, merkt es
der Igel auch.“
Die Mutter sagt: „Wo koch ich das Essen? Solltet den Igel endlich ver­
gessen!“
Die Kinder schütteln sich: „Nein!“ und Schrein ins Feuerloch: „Wer drin ist,
zeige sich doch!“
Da sehn sie: Im Fach liegt ein Hügelchen Ruß, ein Pfad führt hindurch. Nur
der Igel kann’s sein, der den Herd auskehrt, wenn er mit dem Stachelkamm
durch die Züge fährt.
Am Abend löschen die Leute das Licht, sie warten und wispern: „Kommt
er heut, kommt er nicht?“ Die Kinder sind klein, schlafen ein. Das jüngste
fällt von der Bank, schlägt sich am Schrank. Im Herd bleibt es still. Fang
den Igel, wer will! In der Früh ist der Vater zugange, lange vor Tag. Er
schöpft Wasser und hört: es scharrt. Er kratzt seinen Bart, schaut sich um,
doch im dummsigen Morgenlicht sieht man Katz und Mäuse nicht. D a stößt
ihn was an den bloßen Fuß, der Vater faßt zu, hat die Hände voll Ruß, und
gefangen hat er Clown Igel.
Nun kriegt der Igel zwischen Schrank und Bank in der dunklen Ecke ein
Versteck. Die Herdtüren schließt fest, tut ihm Heu in sein Nest, roll dich
ein, Igel, und schlaf!
Der Winter ist lang, der Igel hält aus. Nur manchmal kommt er aus seinem
Haus, streift nachts umher, nascht vom Hundebrei, steigt ins Wandfach und
schleppt mancherlei fort, ins Versteck um die Eck. Papier schleift er mit und
die Kelle, eine Elle Zwirn und zwei Birnen. Mit Papier und Kelle und der
Elle Zwirn polstert Clown Igel sein Lager. Die Birnen nagt er säuberlich ab,
den Rest heftet er fest auf die Stacheln. Dann schnüffelt und schnieft er,
schläft weiter.
Der Frühling fährt ein, die Katzen schrein, die Hähne versuchen zu singen.
Clown Igel kann den Schlaf nicht bezwingen. Die Kinder lassen ihn Sonne
lecken. Sie erschrecken: so leicht ist der Igel. Sie rollen die Kugel hin und
her, als wäre die Stachelhülle leer, starr und steif ist der Igel. D a kommt der
Hund und bellt. Die Kugel schnellt auseinander. Igel Faxenclown schlupft
durch den Zaun, in den Dornrosenstrauch.

271
Und suchen sie auch, sie finden ihn nicht. Der Dornstrauch ist dicht. Der
Igel raschelt im Grase. „Seine Nase!“ Ach nein, nicht Nase noch Bein.
Aber lange noch heißt es: „Der Igel!“ , tanzt auf dem Herde der Tiegel.
Groß werden die Kinder, aber manchmal fragt eines: „Wißt ihr noch, jenen
Winter? Da hat bei uns der Igel gewohnt. Der kam zu uns, da schien der
Mond. Und lief von uns zum Sonnenlicht. Wißt ihr es noch? Ihr wißt es
nicht?“
Eva Strittmatter

272
Wer sagt denn da Miau?

Kulli lag auf der Matte vor dem Sofa und schlief.
Auf einmal hörte er, wie jemand „M iau“ sagte.
Er hob den Kopf, schaute sich um, schnüffelte ein bißchen und legte sich
wieder hin.
Ich habe sicher nur geträumt, dachte Kulli und kuschelte sich gemütlich auf
der weichen Matte zusammen.
Doch da sagte wieder jemand laut und vernehmbar: „M iau!“
„Nanu, wer ist denn das?“
Kulli lief durchs Zimmer, lugte unters Bett, unter den Tisch. Doch es war
niemand da.
Kulli sprang aufs Fensterbrett. Und was sah er! Spaziert doch auf dem Hof
ein schöner stolzer Hahn einher.
Freilich, der Hahn hat mich geweckt, dachte Kulli und lief rasch auf den
Hof.
„H ast du Miau gesagt?“ fragte Kulli den Hahn.
„Nein, ich sag’ nur . . . “ Der Hahn schlug mit den Flügeln und krähte lustig:
„Kikeriki!“
„Und kannst du sonst nichts?“ erkundigte sich Kulli.
„Nein, das ist alles“ , erwiderte würdig der Hahn.
Kulli kraulte sich mit der Hinterpfote am Genick und trottete ins Haus
zurück.
Doch vor der Haustür, bei den Stufen, sagte wieder jemand laut und deutlich:
„M iau!“
„Jetzt hab’ ich dich!“ rief Kulli und begann geschwind mit allen vieren im
Sand zu scharren.
Als er schon ein großes Loch gescharrt hatte, kam ein winziges graues
Mäuslein hervorgesprungen.
„H ast du Miau gesagt?“ fragte Kulli grimmig.
„Nein — nein — nein — nein“ , fiepte das Mäuslein angstvoll.
„Sollte hier jemand so was gesagt haben?“
„Jawohl, hier hat jemand Miau gesagt.“
„War es sehr nah?“ fragte das Mäuslein erschrocken.
„Ja, ganz nah“ , versicherte Kulli.
„Ich hab’ so Angst“ , wisperte das Mäuslein, und schon war es unter die
Treppe gehuscht.
Kulli stand ein Weilchen da und überlegte.
Plötzlich sagte jemand hinter der Hundehütte: „M iau!“
Dreimal lief Kulli um die Hundehütte. Er fand niemand. Doch nun rührte
sich drinnen etw as...
Du entgehst mir nicht, dachte Kulli und pirschte sich näher heran.

18 273
Kettenrasselnd kam ein riesiger zotteliger Köter hervor.
„R-r-r-r-r“ , knurrte der Köter.
„Entschuldigen Sie bitte . .. ich wollte n u r...“
„R-r-r-r-r“ , knurrte der Köter noch böser.
„Haben Sie nicht zufällig Miau gesagt?“ stotterte Kulli und kniff den
Schwanz ein.
„Ich?! Du willst mich wohl zum Narren halten, du Milchbart!“ schrie der
Köter.
Der erschrockene Kulli rannte in den Garten, so schnell ihn seine Pfoten
trugen, und versteckte sich unter einem Strauch. Aber dicht an seinem Ohr
hörte er es wieder leise sagen: „M iau!“
Kulli schaute unterm Strauch hervor. Eine dicke, mollige Biene saß vor ihm
auf einer Blume.
Sicher hat sie Miau gesagt, dachte Kulli und schnappte nach ihr.
„Sum-sum-sum“ , machte die Biene beleidigt und stach den armen Kulli
mitten auf die Nase.
Der quietschte, so weh tat es, und machte sich davon.
Aber die Biene flog hinter ihm her und summte immerzu: „Sum-sum, ich
s-s-s-steche dich. Ich s-s-s-steche dich.“
Kulli rannte und rannte, und vor lauter Angst rannte er in den Teich. Als
er prustend wieder hochkam, war die Biene verschwunden.
Doch da sagte abermals jemand: „M iau!“
„H ast du Miau gesagt?“ fragte der nasse Kulli einen Fisch, der vorüber­
schwamm.
Aber der Fisch glotzte ihn nur an, schwenkte seinen schönen Fächerschweif
und schwamm davon.
Auf dem tellerflachen Blatt einer Wasserrose saß ein Frosch.
Er lachte: „Quak-quak-quak. Weißt du denn nicht, daß die Fische stumm
sind?“
„Aha, dann hast du sicher Miau gesagt“ , entgegnete Kulli dem grünen
Kerlchen.
Aber der Frosch lachte nur „Quak-quak-quak. Du bist aber dumm. Frösche
können doch nur quaken.“
Und er hüpfte ins Wasser, daß es pantschte.
So trottete Kulli seinem Hause zu, pudelnaß, mit geschwollener Nase.
Traurig legte er sich auf die Matte vor dem Sofa.
Und da hörte er wieder: „M iau!“
Mit einem Satz war er auf. Und was sah er? Vom Fensterbrett schaute eine
schöne Katze zu ihm herab, sie hatte ein weiches gestreiftes Fell.
„M iau!“ sagte die Katze.

274
„Wau-wau!“ bellte Kulli. Doch dann fiel ihm ein, wie schön der zottelige
Köter geknurrt hatte, und er knurrte auch: „R-r-r-r-r.“
Die Katze machte einen hohen Buckel und fauchte: „Sch-sch-sch-sch!“ zog
den Kulli beim Ohr und sprang schwups aus dem Fenster.
Kulli legte sich wieder hin. Er wußte jetzt, wer Miau gesagt hatte, und
konnte ruhig schlafen.
'Wladimir Sutejew

18* 275
Kleine Geschichten

Die Hündin Roska hatte Junge bekommen. Sie lagen auf dem Heu in einer
Hofecke. Einmal ging Roska vom Lager weg.
D a kamen die Kinder und trugen die jungen Hunde auf den Ofenplatz.
Als Roska zurückkam und das Lager leer fand, suchte sie ihre Jungen und
heulte und jammerte.
Nach einiger Zeit entdeckte sie die Hündchen und stand nun jammernd vor
dem Ofen, weil sie ihre Kleinen nicht selbst herunterholen konnte.
D a nahmen die Kinder die Hündchen und gaben sie der Hundemutter.
Vorsichtig packte sie Roska mit der Schnauze am Fell und trug eines nach
dem anderen auf das Heulager zurück.

Katja ging eines Morgens sehr früh in den Wald, um Pilze zu suchen. Sie
nahm Mascha mit. Mascha war aber noch klein. Auf ihrem Wege mußten
sie durch einen Bach gehen.
D a zog sich Katja Schuh und Strümpfe aus, nahm Mascha huckepack und
trug sie durch das Wasser.
Sie sagte dabei zu Mascha: „Sitz ruhig, Mascha, und drück mir nicht mit
deinen Ärmchen den Hals zu sehr. Ich bekomme ja sonst keine Lu ft.“
So kamen Katja und Mascha über den Bach.

Warja besaß einen Zeisig. Sie hatte den Vogel in einen Käfig gesperrt, aber
der Vogel sang kein einziges Mal. D a fragte Warja den Zeisig: „Warum singst
du nicht?“ Das Vögelchen antwortete: „Laß mich hinaus ins Freie, dann erst
werde ich wieder singen, den ganzen T ag.“
Lew N. Tolstoi

276
Mauzel, Elster und die Bären

Der kleine Mauzel


Wenn Mauzel sich sehr wundert oder wenn er etwas Fremdes und Inter­
essantes sieht, bewegt er die Lippen und mauzt. Darum heißt er Mauzel.
Wenn das Gras im Winde zittert, wenn ein Vögelchen vorbeifliegt oder ein
Schmetterling dahingaukelt, legt sich Mauzel auf den Bauch, schleicht näher
heran und mauzt: „Mauz-mauz, ich fang dich, ich pack dich, ich erwisch dich,
ich spiel mit dir!“
Mauzel hört es leise pfeifen.
Mitten im dicksten Stachelbeerdickicht sieht er flinke graue Vögelchen nach
Würmern und Käfern suchen.
Mauzel kriecht näher. Wie er sich duckt, wie er sich versteckt! Keinen Laut
gibt er von sich, um die Vögelchen nicht zu verscheuchen. Ganz nah kriecht
er heran, und dann — hüpf! — und zugepackt. Doch er hat nichts erwischt.
Mauzel versteht noch nicht, Vögel zu fangen.
Er ist noch zu ungeschickt.
Heute hat Mauzel einen derben Klaps bekommen, von seiner Mama Ne-
punka. Sie mag jetzt nichts von ihm wissen.
Nepunka wartet und wartet, ob sie wohl bald neue Katzenkinder haben
wird.
Sie hat sich auch schon ein Plätzchen ausgesucht, den Korb, darin wird sie
ihre Kinderchen säugen und ihnen Lieder Vorsingen. Mauzel hat jetzt Angst
vor ihr. E r wagt sich nicht in ihre Nähe. Niemand handelt sich gern eine
Ohrfeige ein.
So halten es nun mal die Katzen: Die Kleinen füttern sie, die Großen ver­
jagen sie. Aber der Nepunka hat man ihre neuen Kinderchen fortgenom­
men.
Nepunka streicht umher, sucht ihre Kätzchen, ruft nach ihnen. Sie hat viel
Milch, aber für wen nur?
Sie sucht und sucht, und plötzlich erblickt sie Mauzel. Er hat sich eine
Zeitlang vor ihr versteckt, aus Furcht vor Schlägen. D a beschließt Nepunka,
daß Mauzel nicht mehr Mauzel sein soll, sondern ihre neues kleines K at­
zenkind, das sich verirrt hat. Nepunka freut sich und miaut und lockt ihr
Kleines und möchte es säugen und liebhaben.
Mauzel aber ist gewitzt, er geht nicht zu nahe heran.
Erst gestern hat er eine Liebkosung empfangen, das weiß er noch ganz gut!
Nepunka schmeichelt: „Komm her, ich geb’ dir zu trinken!“ und sie legt sich
auf die Seite.
Schöne warme Milch hat Nepunka. Herrlich schmeckt die! Mauzel leckt sich
die Lippen. Schon längst hat er gelernt, selbst zu essen, aber an die Milch
erinnert er sich noch.

277
Die Mutter hat ihn überredet. Er trinkt sich satt an der herrlichen Milch
und schläft ein.
Nun erlebt er eine neue Überraschung.
Mauzel ist schließlich schon groß. Für Nepunka aber ist er noch klein. Sie
dreht und wendet ihn und leckt ihn sauber. Mauzel wacht auf und wundert
sich: Was soll das? Das kann er doch selbstl
Er will weg, aber Nepunka redet ihm zu: „Bleib liegen, bist doch noch klein,
wirst stolpern und dich verirren!“
So singt sie ihr Liedchen und schläft selber dabei ein. Mauzel klettert aus
dem Korb und geht seinen eigenen Geschäften nach. Er hat Verschiedenes
zu erledigen. Schmetterlinge muß er haschen. Und einem Spatz auflauern.
Nepunka wacht auf. Nanu, wo ist denn ihr Mauzelchen?
Sie läuft in den Hof und ruft.
Ihr Mauzel aber ist aufs Dach geklettert und jagt ein Vögelchen.
Sofort ist Nepunka bei ihm auf dem Dach.
„Paß auf! Fall nicht runter!“
Aber Mauzel hört nicht auf sie.
Da packt Nepunka ihren Mauzel am Kragen und trägt ihn vom Dach
herunter wie ein kleines Katzenkind. Mauzel strampelt und wehrt sich, er
will oben bleiben.
Nepunka will nicht verstehen, daß ihr Mauzel kein kleines Kätzchen mehr
ist.

Warum Mauzel keine Vögel fängt


Mauzel guckt — ganz in der Nähe hockt ein Spatz und schilpt und zwitschert:
„Schilp-schilp, schilp-schilp!“
„Mauz-mauz“ , sagt Mauzel. „Ich fang dich! Ich pack dich! Ich erwisch dich!
Ich spiel mit dir!“ Und er kriecht auf den Spatz zu.
Aber der Spatz hat ihn sofort entdeckt und schreit in der Spatzensprache
los: „Schilp-schilp! Ein Räuber in Sicht! Dort hat er sich versteckt! Dort
ist er!“
Und plötzlich kommen von allen Seiten Spatzen angeflogen. Sie setzen sich
überall in die Sträucher, und manche setzen sich sogar vor Mauzel mitten
auf den Weg.
Und sie erheben gegen Mauzel ein fürchterliches Geschrei: „Schilp-schilp,
schilp-schilp!“
Sie schilpen und spektakeln und krakeelen, daß es nicht zum Aushalten ist.
Mauzel erschrickt und nimmt schleunigst Reißaus, denn solches Geschrei hat
er noch nie gehört.
Noch lange zetern die Spatzen hinter ihm her.

278
Bestimmt erzählen sie sich untereinander, wie Mauzel angekrochen kam, wie
er sich versteckte, wie er sie fangen und verspeisen wollte. Und wie tapfer
sie, die Spatzen, Mauzel in die Flucht geschlagen haben.
Niemand läßt sich von Mauzel fangen. Niemand schlüpft ihm in die Pfoten.
Mauzel klettert auf einen kleinen Baum, versteckt sich in den Zweigen und
guckt umher.
Aber noch hat der Jäger die Beute nicht erspäht, als die Beute schon den
Jäger entdeckt hat.
Plötzlich sieht Mauzel, er ist nicht allein. Zwei Vögel sitzen da und sehen
ihn an, keine winzigen Zwitscherlinge, keine Spatzenschreihälse, sondern
größere, beinah so groß wie Mauzel selbst. Drosseln sind es. Sie haben sich
wohl gerade ein Plätzchen gesucht, um ihr Nest zu bauen, und dabei ein
unbekanntes Tier entdeckt — den Mauzel.
Mauzel freut sich.
„D as ist ja interessant! Mauz-mauz-mauz! Wer ist denn das? Mauz-mauz-
mauz! Ich fang’ euch! Mauz-mauz! Ich pack’ euch! Mauz-mauz! Ich erwisch’
euch! Ich spiel’ mit euch!“
Leider weiß Mauzel nicht, welche er zuerst fangen soll.
Die eine Drossel sitzt hinter ihm, die andere vor ihm. Da, ganz nah. Mauzel
dreht sich hin und her, mauzt und schaut bald die eine, bald die andere
Drossel an.
Als er sich wieder umdreht, saust plötzlich eine Drossel auf ihn los und pickt
ihn mit dem Schnabel!
Sofort hört Mauzel auf zu mauzen.
Das begreift er nicht!
Man hat ihn beleidigt! Gepickt!
Mit einem Satz springt Mauzel in die Sträucher hinunter und dann — hast-
dunichtgesehen — ins nächste Versteck.
Und wenn Mauzel jetzt einen Vogel sieht, guckt er ihn überhaupt nicht an.
Darum also fängt Mauzel keine Vögel.

Die Elster
Kaum hat die Elster etwas entdeckt, schon zetert sie los. Ist etwas nicht gut
versteckt, gleich ist sie zur Stelle. Wenn sie ein Vogelnest findet, hackt sie
die Eier auf und verspeist sie.
So manches Tier hat Ärger mit der Elster, denn sie verrät den Feinden sein
Versteck. Allen erzählt sie, wer sich wo verborgen hält.
„Ich seh’ dich! Ich seh’ dich! D a bist du“ , kreischt sie.
Will sich ein Tier vor der Elster verstecken, sie folgt ihm, wohin es auch
flieht. Läuft es übers Feld, fliegt die Elster über ihm und zetert: „Ich seh’

279
dich! Ich seh’ dich! Lauf nicht weg, ’s hat keinen Zweck! Findest du Futter,
nehm ich’s weg!“
So eine ist sie, die Elster!
Auf einer kleinen Lichtung geht eine Birkhenne spazieren und behütet ihre
Kücken.
Die Kücken tummeln sich und suchen nach Futter. Fliegen haben sie noch
nicht gelernt, sie sind noch klein.
Jeder, der größer ist als sie, kann ihnen etwas zuleide tun.
Schon hat die diebische Elster die Beute erspäht. Sie duckt sich, hüpft näher,
immer näher.
Sie hat Appetit auf eine gute Mahlzeit.
„Gock, gock!“ schreit die Birkhenne. „D er Feind ist nah!“
Die Elster guckt hierhin, dahin — kein Kücken zu sehen. Kein einziges.
Nichts mehr zum Gucken! Nichts zum Verschlucken! Sie ärgert sich.
„Wie ka-ka-kann das sein! Wie ka-ka-kann das passieren!“
D a kommt auch schon die Birkhenne angeflogen und jagt die Elster weg.
Die Elster ergreift die Flucht.
Die Birkhenne kehrt zurück und ruft: „Kräh, kräh! Kein Feind in der
Näh!“
D a kommen sie alle wieder hervorgeschlüpft, ein jedes aus seinem Versteck.
Hinter Zapfen und Ästen, in Löchern und hinter Erdhuckeln haben sie sich
in Sicherheit gebracht. Und eine ganze Gesellschaft hat hinter einem
Baumstumpf gehockt. Die Elster fliegt von der Birkhenne weg und putzt
sich das Gefieder. Wieder guckt sie und horcht. Kommt nicht wer? G ibt’s
nicht wo was zu futtern? Kann sie nicht wem was mausen?
Böse brummt die Bärenmutter. Die Kinder wollen nicht auf sie hören. Sie
tollen herum. Das eine patscht mit den Tatzen in eine Pfütze. Das Spritzen
macht ihm Spaß, dem kleinen Petz. Das andere ist auf einen
Schneeballstrauch geklettert und schaukelt sich wie auf einer Schaukel.
Schon ist die Elster da und schreit: „Ich seh’s! Ich seh’s! Was macht ihr
da?“
Gleich ist die Bärenmutter still.
D a kriegen die Bärenkinder einen Schreck. Sie sind noch dumm, aber sie
wissen — solange die Mutter brummt und knurrt, ist kein Feind in der Nähe,
und man kann herumtollen. Wenn sie aber still ist, muß man sich ver­
stecken. Der eine kleine Petz kommt aus der Pfütze, der andere vom Schnee­
ballstrauch, und beide hoppeln ins dickste Dickicht, bis die geschwätzige
Elster sie aus den Augen verloren hat.
Die Wölfin hat ihren Jungen Futter gebracht. Die Kleinen balgen sich um
den besten Bissen. Sie murren und knurren.

280
Schon ist die Elster über ihnen und zetert los: „Ich sehe alles! G ebt’s her!
Ich seh euch!“
Nach allen Seiten stieben die kleinen Wölfe auseinander.
Die Wolfsmutter aber versteckt sich nicht vor der Elster. Die Elster zetert,
und es will ihr nicht in den Sinn, daß sich die Wölfin nicht verbirgt. Sie lockt
die Elster fort von ihren Jungen. Die Jungen sind unterdes zurückgekehrt
und haben ihr Futter verspeist. Der Elster haben sie nichts übriggelassen.
Ein Luchs schleicht sich an ein Volk Rebhühner heran. Die Rebhühner aber
picken und merken nichts.
Schon kommt die Elster angeflogen. Sie möchte herauskriegen, was die
Rebhühner picken. Da raschelt es im Gesträuch. Die Elster fliegt auf eine
Tanne und sieht das Raubtier zu den Rebhühnern schleichen.
„Ich seh’ ihn! Ich seh’ ihn! Da ist er!“
Die Rebhühner hören’s und streichen ab. Der Luchs macht einen Satz und
bekommt doch nichts zu packen.
Ein Hund schnuppert einer Ziegenfährte nach. E r möchte die Ziegen auf­
spüren und einfangen.
Schon ist die Elster da und zetert: „D a ist er! D a ist er!“
Die Wildziegen hören die Elster und ergreifen die Flucht. Der Hund jagt
ihnen hinterher und kann sie doch nicht einholen. Wieder horcht die Elster
und hält Ausschau — gibt’s nicht wo was zu erbeuten?

Die beiden Petze


Die Jäger brachten zwei Bärenkinder aus dem Wald. Sie trugen sie in einer
Ohrenklappenmütze, denn die Petze waren noch so klein wie neugeborene
Hündchen.
Sie brachten die Bärchen zu der Iwanowna, ihr Mann hatte die Höhle nämlich
entdeckt.
Die beiden Petze wurden ins Haus getragen und unter der Bank auf einen
Schafpelz gelegt. Dort hatten sie es schön warm, und es zog auch nicht.
Iwanowna machte ihnen Nuckelflaschen zurecht. Sie füllte zwei Flaschen mit
warmer Milch und stopfte sie mit Stoffläppchen zu. D a lagen nun die kleinen
Bären mit ihren Flaschen, schliefen und nuckelten ab und zu schmatzend an
den Saugläppchen. Allmählich wurden sie ein bißchen größer.
Anfangs lagen sie immer nur auf dem Schafpelz, aber dann fingen sie an,
in der Stube umherzukrabbeln, sich zu kullern und Purzelbäume zu schlagen,
immer ein Stückchen weiter von dem Schafpelz weg.
Wohlbehalten wuchsen die kleinen Petze heran.
Nur einmal wäre ein Bärchen beinah vor Schreck gestorben — als die Hühner
ins Haus gebracht wurden. Draußen herrschte so bitterer Frost, daß die

281
Krähen im Fluge erfroren, darum sollten die Hühner vor der Kälte im Haus
Schutz finden. D a krabbelte der eine Petz unter der Bank hervor, um sich
die Hühner anzugucken. Plötzlich sprang ihm der Hahn auf den Rücken und
zauste ihn. Und wie er ihn zauste! Mit Schnabel und Sporen bearbeitete er
den kleinen Petz. Das Bärchen brummte ängstlich und wußte nicht, wie es
sich retten sollte. Wie ein Mensch hielt es sich die Tatzen vor die Augen und
schrie. Nur mit Mühe konnte man es von dem Hahn befreien. Iwanowna
nahm ihn auf den Arm, da sprang der Hahn an ihr hoch wie ein Hund und
wollte den Petz weiter zausen. Drei Tage lang rührte sich Petz nicht von dem
Schafpelz. Man glaubte schon, er sei vor Angst gestorben. Doch nein, er
erholte sich wieder.
Bis zum Frühling wurden die beiden Bärchen größer und kräftiger. Und im
Sommer waren sie schon größer als eine Katze, so groß wie ein kleiner Hund.
Und frech waren sie! Mal kippten sie Blumentöpfe um, mal versteckten sie
die Ofeugabel, mal schüttelten sie die Federn aus dem Kissen. Und dauernd
purzelten sie der Hausfrau vor den Füßen herum und störten sie bei der
Arbeit.
D a jagte sie die beiden aus dem Haus.
„Spielt draußen, da könnt ihr herumtollen, soviel ihr wollt. Schlimmes Unheil
könnt ihr da nicht anrichten, und wenn ein Hund kommt, verscheucht ihn
mit den Tatzen oder verkriecht euch irgendwo!“ Seitdem spielten die beiden
Petze den ganzen Tag im Freien. Sie dachten gar nicht daran, in den Wald
zu laufen.
Iwanowna war jetzt ihre Bärenmutter und das Haus ihre Höhle. T at ihnen
wer was zuleide oder jagte ihnen wer einen Schreck ein, so flüchteten sie gleich
ins Haus, auf den Schafpelz unter der Bank.
Dann fragte die Hausfrau: „N a, was habt ihr Frechlinge da wieder ange­
stellt?“
Sie schwiegen, denn sie konnten ja nichts sagen, sie versteckten sich bloß einer
hinter dem andern, und ihre braunen Äuglein blickten pfiffig.
D a gab ihnen Iwanowna eins übers Fell, denn sie wußte schon — die beiden
hatten was angestellt.
Und richtig.
E s war noch keine Stunde vergangen, da klopften schon die Nachbarn ans
Fenster und beklagten sich: „Iwanowna, deine Bären haben mir alle Hühner
verjagt, jetzt muß ich sie im ganzen Dorf wieder zusammensuchen.“
„Meine Braune gibt gar keine Milch mehr. Deine frechen Biester haben sie
erschreckt.“
„Meine Schafe gehen nicht in den Stall, sie haben Angst.“
Und noch andere Beschwerden gab es.

282
Die Hausfrau jammerte: „Wenn sie mir doch bloß jemand abnehmen wollte!
E s ist ja nicht auszuhalten!“
Um zu jagen, kam ich in dieses Dorf. Man erzählte mir von den beiden
Petzen. Ich ging hin, um sie mir anzuschauen.
„Wo sind denn deine Petze?“ fragte ich Iwanowna.
„Draußen“ , sagte sie. „Sie tollen herum.“
Ich trat auf den Hof und suchte alle Winkel ab — nichts.
Und plötzlich — ei verflixt — fiel dicht vor meiner Nase — krach! — ein
Ziegelstein zu Boden. Er kam vom Dach.
Ich sprang zurück und guckte nach oben. Aha! D a steckten sie! D a saßen
die beiden Petze und waren eifrig beschäftigt, den Schornstein auseinan­
derzunehmen. Die Ziegelsteine ließen sie über das schräge Bretterdach her­
unterschliddern. Scheppernd rutschten die Ziegel herab. Die beiden Petze
aber neigten den Kopf zur Seite und lauschten dem Scheppern. E s machte
ihnen Spaß. Der eine Petz streckte sogar die Zunge heraus vor Vergnügen.
Iwanowna jagte sie vom Dach herunter und gerbte ihnen tüchtig das Fell.
Am selben Abend kamen wieder Nachbarn zu ihr und beschwerten sich. Die
beiden Petze hatten auf drei Häusern den Schornstein zerlegt und sogar den
Rauchabzug mit Ziegelsteinen verstopft. Als die Hausfrauen die Öfen heiz­
ten, fand der Qualm keinen Ausweg, sondern wälzte sich zurück in die
Stube.
Solche Tunichtgute sind sie, die beiden Petze.
]ewgeni Tscharuschin

283
Wie das Pferdchen die Tiere spazierenfuhr

Nikita bekam ein Holzpferdchen geschenkt.


Es war ein Apfelschimmel, Er hatte Glasaugen, Mähne und Schweif aber
waren aus richtigen Pferdehaaren.
Dann bekam Nikita noch einen Wagen. Es war ein prächtiger Wagen!
Die Räder rot, die Deichsel golden, der Sitz weich gepolstert.
Nikita spannte das Pferdchen ein.
Er stellte es in die Gabeldeichsel und band ihm das Krummholz mit dem
Glöckchen und den Schellen an. Kaum hatte er es eingespannt, da stampfte
es mit den Hufen, riß sich aus Nikitas Händen los und trabte über den
Fußboden. Zuerst lief es unter den Tisch, dann unter den Stuhl und unter
das Sofa, und schließlich sprengte es unterm Sofa hervor und ab in den
dunklen Korridor. Nachdem es den hinter sich gebracht hatte, sauste es die
Treppe hinunter. E s sprang von Stufe zu Stufe, und der Wagen sprang
hinterher.
Mit klingelnden Schellen lief das Pferdchen hinaus auf die Straße. Die Leute
wunderten sich und riefen: „Seht doch nur! Ein Holzpferdchen läuft über
die Straße und zieht einen Wagen!“
Bellend liefen Hunde herbei. Spatzen stoben zur Seite, Katzen hüpften auf
den Zaun vor Schreck.
So trabte das Pferdchen durch die ganze Stadt bis dahin, wo die Gärten
und Felder anfingen. E s trabte über die Felder und wedelte mit dem Schweif.
D a sah es in einem Garten Hasen am Kohl knabbern und dabei die langen
Ohren bewegen.
Das Pferdchen ging zu ihnen und fragte: „Wollt ihr ein bißchen spazieren­
fahren, ihr Häschen?“
„Ja, wir wollen“ , sagten die Hasen.
Hüpf, hüpf, schon saßen sie im Wagen.
Das Pferdchen wedelte mit dem Schweif, schüttelte die Mähne, und los
ging’s, einen Feldweg entlang.
E s lief und lief, dann fragte es: „N a, ihr Häschen, macht es euch Spaß?“
Niemand antwortete.
Das Pferdchen drehte sich um — der Wagen war leer.
Wo waren die Hasen? Wo waren sie geblieben?
Sie spielten auf einer kleinen Lichtung, hüpften übereinander hinweg.
„E s ist langweilig, in deinem Wagen zu sitzen!“ riefen sie. „E s macht uns
mehr Spaß, über Baumstümpfe und Erdhuckel zu springen.“
Das Pferdchen lief den Weg entlang und zog den leeren Wagen hinter sich
her. Plötzlich hörte es im Gebüsch jemand schnaufen und fauchen.
„He, wer schnauft da so?“ fragte das Pferdchen. „Komm 'raus, ich fahr’ dich
spazieren!“

284
„Warte, ich komm’ gleich ’raus“ , antwortete es.
Und schon kam ein Igel aus dem Gebüsch gekrochen, kugelrund und ganz
voller stachliger Nadeln.
Er schnaufte und fauchte, dann kletterte er in den Wagen und rollte sich
zusammen.
Das Pferdchen freute sich, es hatte wieder einen Fahrgast. E s lief und lief
und bog bald nach rechts, bald nach links ab, und der Igel im Wagen flog
von einer Ecke in die andere.
Eine gute Weile fuhr er mit, dann rollte er sich aus dem Wagen auf den
Weg.
Das Pferdchen sah sich um. Nanu? E s hatte den Igel verloren. Wieder zog
es den leeren Wagen hinter sich her.
Da sah es neben dem Weg einen Bären, der sich im Gesträuch an Himbeeren
gütlich tat. Dick und fett war der Bär.
„N a, Meister Petz, ein bißchen spazierenfahren?“ fragte das Pferdchen.
„Meinetwegen“ , antwortete der Bär. „Ich will nur noch diesen Strauch
abessen, dann können wir fahren.“
Schmatzend und sich die Pfoten leckend, stieg der Bär in den Wagen, und
der Wagen ächzte unter ihm. Das Pferdchen mußte sich recht anstrengen,
es brachte den Wagen kaum von der Stelle. E s zog aus Leibeskräften und
keuchte.
Es zog den Bären einen Hügel hinauf, abwärts ging es dann schon von selbst.
Die Räder hüpften über die Steine, und der Bär im Wagen wurde weidlich
geschüttelt und gerüttelt.
Bei einem besonders heftigen Stoß purzelte er aus dem Wagen.
Da saß er nun auf dem Weg und rieb sich mit den Tatzen die Nase.
„Ich will nicht mehr spazieren fahren“ , brüllte er. „Ich geh’ lieber auf meinen
eigenen vier Pfoten.“
Und trollte sich in den Wald.
Dem Pferdchen war es langweilig, daß niemand mehr spazierenfahren wollte.
Darum ging es zurück nach Hause. Als es vor dem Hause ankam, sah es
Nikita auf der untersten Stufe der Vortreppe sitzen. E r band eine Schnur
an einem Stock fest, machte sich eine Peitsche:
Nikita entdeckte das Pferdchen und rief: „Wo bleibst du denn? Ich will
spazierenfahren!“
Das Pferdchen freute sich.
„Steig ein, Nikita, steig ein“ , sagte es, „aber schlag mich nicht so sehr mit
der Peitsche.“
Nikita stieg in den Wagen, zog die Zügel an und schrie: „Hü! Fahren wir!“
Hei, wie das Pferdchen da lostrabte!

285
Wenn Nikita rechts am Zügel zog, lief es nach rechts, zog er aber links, so
bog es nach links ab.
Sie fuhren vorbei an den Gärten, wo sie die Hasen erschreckten, vorbei an
den Büschen, wo der Igel versteckt lag, und quer durch den Wald, in den
sich der Bär getrollt hatte.
Als sie an einem klaren Bach vorbeikamen, trank Nikita Wasser.
Als sie übers Feld fuhren, fing Nikita einen Käfer.
Als sie durch den Wald fuhren, pflückte Nikita Walderdbeeren. So fuhren
sie und fuhren, dann kehrten sie nach Hause zurück.
An der Vortreppe hielten sie an.
„Brrr! Wir sind da!“
Nikita stellte das Pferdchen wieder in die Ecke unterm Bett, wo es zuvor
gestanden hatte, und bereitete ihm eine Streu aus Papierschnipseln.
„Iß“ , sagte er, „du bist heute viel herumgelaufen, mein Pferdchen!“
In Wirklichkeit aber war das Pferdchen gar nicht herumgelaufen, Nikita und
ich hatten das bloß so gespielt.
jewgeni Tscbaruschin

286
Tomka

Bei einem Jäger sah ich einen Hund: lange Ohren, kurzes Schwänzchen. Der
Jäger erzählte, wie anstellig der Hund sei, wie er bei der Jagd helfe, welch
kluges Köpfchen er habe und daß er stubenrein sei.
Dieser Hund, so sagte der Jäger, habe geworfen. „Kommen Sie doch mit und
schauen Sie sich die Welpen an.“ Wir gingen zu ihm. DieWelpen waren noch
klein, sie hatten gerade erst gehen gelernt.
Welcher von ihnen könnte mir am ehesten ein Helfer bei der Jagd sein? dachte
ich. Wie soll ich herausfinden, welcher anstellig ist und welcher nichts
taugt?
Einer der Welpen dachte nur ans Fressen und ans Schlafen. Ein Faulpelz.
Ein anderer war böse. Er knurrte und war nur aufs Raufen versessen. Den
nahm ich auch nicht, ich mag keine bösen Hunde.
Der dritte war schlimmer, er machte sich an die übrigen heran, nicht um zu
raufen, sondern um zu lecken. So einer ließ sich glatt das Wild wegnehmen.
Wenn Welpen in diesem Alter sind, jucken ihnen die Zähne, und sie brauchen
etwas zum Knabbern. Einer der Welpen nagte an einem Hölzchen. Ich nahm
ihm das Hölzchen weg und versteckte es. Würde er es wittern oder nicht?
Der Welpe begann zu suchen. Zuerst beschnupperte er seine Geschwister,
ob sie das Hölzchen hätten. Nein, da war es nicht. Der Faulpelz schlief, der
Böse knurrte, der Schmeichler leckte den Bösen, damit er ihm nicht zürnte.
Der Welpe schnupperte und schnupperte und fand endlich das Versteck. Er
hatte das Hölzchen gewittert.
Ich freute mich. Sehr schön, dachte ich, das ist ein Jäger. Der bleibt dem
Wild auf der Fährte.
Ich taufte ihn Tomka. Und ging daran, ihn zu meinem Gehilfen auszubil­
den.
]ewgeni Tscharuschin

287
Wie Tomka schwimmen lernte

Wir gingen spazieren und nahmen Tomka mit.


Wir trugen ihn in einer Schultasche, damit er nicht müde wurde. Wir kamen
an einen See, setzten uns ans Ufer und warfen um die Wette Steine ins
Wasser. Die Schultasche mit Tomka lag im Gras. Er kam herausgeschlüpft,
sah die Steine plumpsen und lief zum Ufer.
Tolpatschig, ungeschickt lief er durch den Sand, in dem seine Pfoten beinahe
steckenblieben. Nun war er am Wasser, setzte die Pfoten hinein und drehte
sich nach uns um.
„Lauf, Tomka, lauf ruhig hinein, hab’ keine Angst, du gehst nicht unter!“
D a lief Tomka ins Wasser. Zuerst bis ans Bäuchlein, dann bis an den Hals,
dann tauchte er ganz ein, nur sein Stummelschwänzchen ragte heraus. Unter
Wasser strampelte er herum, dann plötzlich kam er herausgesprungen — und
nieste, hustete, prustete. Er hatte wohl unter Wasser zu atmen versucht, und
das Wasser war ihm in Schnauze und Nase geraten. Er brachte auch keinen
Stein an Land. D a warfen wir seinen kleinen Gummiball ins Wasser.
Tomka spielte sehr gern mit dem Ball, der war sein Lieblingsspielzeug. Der
Ball plumpste ins Wasser, drehte sich und blieb dann still auf dem Wasser
liegen wie auf einem Fußboden. Tomka erkannte sein Lieblingsspielzeug, da
hielt er es nicht aus und lief winselnd ins Wasser.
Diesmal aber ließ er die Nase draußen.
Immer weiter ging er hinein, dann schwamm er. Er schwamm bis zu dem
Ball, schnappte ihn mit den Zähnen und kam zu uns zurück. So lernte Tomka
schwimmen.
Jewgeni Tscharuschin

288
Tomka ist nicht dumm
Tomka mag es nicht, wenn man ihn auslacht, dann wendet er sich beleidigt
ab. Er hat aber schon gelernt, so zu tun, als ob nicht er, sondern jemand
anders ausgelacht wird.
Einmal entdeckte Tomka eine Henne mit Kücken. Er ging näher heran, um
zu schnuppern.
Da kakelte die Henne los und sprang Tomka mit einem Satz auf den Rücken.
Sie saß auf ihm, hackte ihn und schrie.
Man hörte sie geradezu schimpfen: „Ach, du verdammter Kerl, du un­
gezogener Bengel! Dich will ich lehren! D a hast du! Wage dich nicht an meine
Kücken heran!“
Tomka war beleidigt, aber er mochte nicht lächerlich erscheinen und tat, als
würde er nicht gehackt und gescholten. Da sprang die Henne von ihm
herunter und kehrte zu ihren Kücken zurück.
Jewgerti Tscharuschin

19 289
Hähnchen Schreihals

Es waren einmal zwei Mäuschen, Singeschön und Springeschön, und der


Hahn Schreihals. Die Mäuschen sangen und tanzten, drehten und wendeten
sich von morgens bis abends. Der Hahn aber weckte alle mit seinem Lied,
kaum daßder Morgen graute, und machte sich dann an die Arbeit. Einmal
fegte der Hahn den Hof und sah eine Weizenähre liegen. „Singeschön und
Springeschön“ , rief er, „seht, was ich gefunden hab’ !“
Die Mäuschen liefen herbei und sagten: „Sie muß gedroschen werden.“
„Wer soll sie dreschen?“ fragte der Hahn.
„Ich nicht!“ rief das eine Mäuschen.
„Ich auch nicht!“ das andere.
„Schon gut“ , entgegnete der Hahn, „ich werde sie dreschen.“ Und er ging
an die Arbeit.
Die Mäuschen indessen spielten Ball.
Als der Hahn fertig war, rief er: „He, Singeschön, he, Springeschön, seht
nur, wieviel Korn ich gedroschen habe!“
Die Mäuschen kamen angelaufen und piepsten: „Jetzt muß das Korn zur
Mühle geschafft und Mehl daraus gemahlen werden.“
„Wer soll es zur Mühle schaffen?“ fragte der Hahn.
„Ich nicht!“ rief Singeschön.
„Ich auch nicht!“ rief Springeschön.
„Schon gut“ , sagte der Hahn, „ich schaffe es selber fort.“ Er lud sich den
Sack auf den Rücken und ging los.
Die Mäuschen indessen vergnügten sich beim Bockspringen.
Von der Mühle zurückgekehrt, rief der Hahn wiederum die Mäuschen:
„Kommt her, Singeschön und Springeschön, ich habe Mehl gebracht.“
Die Mäuschen hüpften herbei, schauten und konnten ihn nicht genug loben:
„E i, das ist ein Hahn! Ei, so ein Prachtkerl! Jetzt muß Teig eingerührt und
Kuchen gebacken werden.“
„Wer soll den Kuchen backen?“ fragte der Hahn.
„Ich nicht!“ piepste Singeschön.
„Ich auch nicht!“ piepste Springeschön.
Der Hahn dachte lange nach und sagte: „Dann muß ich es wohl machen.“
Er rührte den Kuchenteig ein, schleppte Holz heran und heizte den Ofen.
Und als der Ofen heiß genug war, schob er den Teig hinein. Die Mäuschen
indessen waren nicht müßig. Sie sangen und tanzten. Als der Kuchen braun
war, stellte der Hahn ihn auf den Tisch — und schon waren die Mäuschen
da, man brauchte sie nicht erst zu rufen.
„Ach, wie bin ich hungrig!“ piepste Singeschön.
„Ach, wie knurrt mir der Magen!“ piepste Springeschön.
Flink setzten sie sich an den Tisch zum Essen.

290
Der Hahn aber hielt sie zurück. „Langsam, langsam! Sagt mir zuerst: Wer
hat die Ähre gefunden?“
„D u “ , riefen die Mäuschen laut.
„Und wer hat sie gedroschen?“ fragte der Hahn weiter.
„D u “ , klang es schon leiser.
„Und wer hat das Korn zur Mühle geschafft?“
„Auch du“ , antworteten Singeschön und Springeschön ganz leise.
„Und wer hat Kuchenteig eingerührt, Holz geschleppt, den Ofen geheizt?“
„Alles hast du gemacht, alles du“ , piepsten die Mäuschen kaum hörbar.
„Und was habt ihr gemacht?“
Was gab es da schon zu antworten? Singeschön und Springeschön krochen
vom Tisch, und der Hahn ließ sie gehen. Wer wird auch solche Faulpelze
und Liederjane obendrein noch mit Kuchen bewirten.

Ukrainisches Volksmärchen

19* 291
Ticki Mumm

Auf den Tag genau vor vielen Jahren lebte der seltsame Räuber Kassa
Rabiatas. Er lebte im Land Allewelt und räuberte, was das Zeug hielt. Er
schmiedete kein Eisen und bohrte keine Brunnen. Er pflückte keine Ha­
gebutten und hütete keine Schafe. Und dennoch, in seiner Räuberhöhle
stapelten sich Kisten und Kästen, Sack und Pack, Gold und Silber. Von den
Diamanten und dem Kautabak gar nicht zu reden.
Auf einem Raubzug fiel Kassa Rabiatas auch ein goldener Vogelkäfig in die
Hände. Im Käfig lag ein sterbender Kuckuck. „Setz mich auf die alte
Knorpeleiche, großer Räuber“ , bat der Vogel mit schwacher Stimme. „D u
wirst es nicht bereuen.“
„Wenn du weiter nichts verlangst“ , antwortete Kassa Rabiatas, und er setzte
den Kuckuck auf die alte Knorpeleiche vor seiner Räuberhöhle.
Am nächsten Tag schon flatterte der Kuckuck fröhlich und gesund in den
Zweigen und schrie sein „Kuckuck“ lauthals in die Welt. Von dieser Stunde
an besaß Kassa Rabiatas eine wundersame, zwingende Kraft. Solange der
Kuckuck „Kuckuck“ rief, solange konnte Kassa Rabiatas Mensch und Tier
nach seinem Willen verzaubern. Schwieg der Kuckuck, erlosch auch die
Zauberkraft. Kassa Rabiatas raubte ungeschoren weiter. Eines Tages
schließlich betrachtete er seine Schätze und sagte: „Donner und Doria! Jetzt
wird es höchste Zeit, daß ich mir einen zuverlässigen Wachposten an­
schaffe.“
Kassa Rabiatas hatte gut reden. Er brauchte sich nur vor seine Höhle zu
setzen und auf den Kuckucksruf zu warten.
Wie er also saß, bemerkte er ein junges Wildkaninchen. Unbekümmert
schnupperte es im Gras herum, und als es zwischen seinen Beinen hindurch­
schlüpfen wollte, packte Kassa Rabiatas es geschickt am Fell. Er hob es wie
einen Flederwisch leicht in die Höhe. Kassa Rabiatas und das Kaninchen
sahen einander in die Augen.
„He, du junger Laputz!“ sagte der Räuber. „Bist ganz schön frech!“
„He, du alter Knöterich!“ sagte das Kaninchen. „Bist ganz schön dreist!“
Kassa Rabiatas prustete vergnügt. Solch ein unverfrorener, schnippischer
Kerl war ihm noch nicht über den Räuberstrich gelaufen. Nach einem Hieb
seines Säbels hätte das Kaninchen die kürzesten Ohren aller Kaninchen
besessen. Und weil das Kaninchen merkte, was mit ihm geschehen konnte,
bekam es zwei Ängste auf einmal. Die kleine Angst verbarg es unter dem
Fell. Die große hingegen verwandelte sich sogleich in Empörung und füllte
sein ganzes Kaninchenherz aus.
„Ich bin der Wohltäter Kassa Rabiatas!“ sagte der Räuber aus Übermut.
„Ich bin der Drache Ticki Mumm!“ sagte das Kaninchen, um den Räuber
zu erschrecken.

292
Diesmal lachte Kassa Rabiatas nicht. Er wendete das Kaninchen nach allen
Seiten, besah es sich von oben und unten, und setzte es behutsam auf die
Erde zurück. Kassa Rabiatas überlegte und überlegte. Hatte das Kaninchen
Ticki Mumm die Wahrheit gesprochen, oder wollte es nur angeben und damit
sein Fell retten?
„Ho, ho, ein Drache!“ sagte Kassa Rabiatas und stieß seinen Säbel haargenau
vor Tickis Nase in den Sand.
Ticki Mumm zuckte entsetzt zusammen und schüttelte eine ganze lange Weile
seine Ohren. „A u wei, au wei“ , sagte es endlich. „So genau wie du trifft
wahrhaftig kein zweiter Wohltäter im Land.“
„Deine Antwort gefällt mir.“ Kassa Rabiatas blickte immer noch miß­
trauisch und prüfend auf Ticki Mumm hinab. „Und wenn du tatsächlich ein
Drache bist, biete ich dir ein sehr bequemes Leben in meinem Dienst.“
Wenn er das ehrlich meint, dachte Ticki Mumm geschwind, sollte ich mich
nicht zieren und seinen Vorschlag annehmen. Wer weiß, was sonst noch mit
mir geschieht.
„Was verlangst du von mir?“ fragte Ticki Mumm.
„D u brauchst nur meine Schätze zu bewachen, so wie es einem wirklichen
Drachen zukommt.“
„Bin ich denn noch keiner?“ Ticki Mumm stellte seine Ohren steil und steif
in die Höhe. Er reckte und streckte sich, daß sein Fell zu platzen drohte.
Doch gefährlich sah das beileibe nicht aus.
Als in diesem Augenblick der Kuckuck zu rufen begann, zog Kassa Rabiatas
rasch seinen Säbel aus dem Sand und zeigte in die Mitte des breiten Stroms.
„Siehst du das ungeheure Flußpferd schwimmen? Solch eine Schnauze fehlt
dir.“ Ticki Mumm dachte daran, wie lange er sich mit einer einzigen Mohrrübe
herumplagen mußte. Leichtfertig rief er aus: „O ja, gib mir die Schnauze
und die vierzig Zähne des Flußpferdes!“
Kaum hatte Ticki diesen Satz gesprochen, saß der mächtige Flußpferdkopf
auf seinem Hals. Der Kopf war dreizehnmal größer und dreizehnmal
schwerer als sein Kaninchenleib. Ticki Mumm schlug mit Vergnügen die
Zähne aufeinander, und dieweil es in seiner Flußpferdschnauze knarrte und
knirschte, zitterte sein Kaninchenschwänzchen vor lauter Stolz.
„So kannst du natürlich nicht herumlaufen“ , belehrte ihn Kassa Rabiatas.
„Siehst du die Giraffe in der Steppe? Solch einen Hals brauchst du.“
Ticki erinnerte sich, daß es bei seinen Ausflügen nie über das hohe Wiesengras
und Krautblätter hinwegsehen konnte.
„O ja“ , rief Ticki Mumm verblendet aus. „G ib mir den langen Hals der
Giraffe!“
Ticki Mumm sprach den Satz und schon besaß es den Giraffenhals.

293
„Fürwahr recht ordentlich“ , bestätigte Kassa Rabiatas. Und weil der
Kuckuck immer noch sein „Kuckuck“ schrie, sagte er schnell: „Sieh hinüber
an das Ufer. Erkennst du das gepanzerte Krokodil im Schilf?“
„O ja“ , antwortete Ticki aufrichtig, denn es konnte nun ohne weiteres über
Baum und Strauch hinwegsehen.
Kassa Rabiatas drängte. E r schwatzte Ticki zu dem Leib des Krokodils noch
den Schwanz einer Rieseneidechse auf, die Beine eines Nashorns und die
Krallen eines Tigers.
Und das Wildkaninchen Ticki Mumm verliebte sich in den Gedanken, ein
wirklicher Drache zu sein. Es fühlte sich wohl in seiner Haut. Stampfte es
mit seinen Nashornbeinen auf, dröhnte die Erde unter ihm. Wedelte es mit
dem Rieseneidechsenschwanz, fegte ein Sturmwind durch das Land. Was
sollte es jetzt noch fürchten müssen?
Der Kuckuck schwieg, und Kassa Rabiatas betrachtete ausgiebig seinen
Wächter, den er sich geschaffen hatte. E r benötigte fast eine halbe Stunde,
bis er einmal um Ticki Mumm herumgelaufen war.
„Nun denn“ , sagte Kassa Rabiatas voller Erwartung, dann spucke auch
Feuer!“
„Warum denn gleich Feuer?“ Ticki Mumm erschauerte bei dem Gedanken.
Sollte es sich unbedingt die Schnauze verbrennen?
„Sei nicht zimperlich!“ befahl Kassa Rabiatas. „Eine Stichflamme muß
knattern, wenn sie hervorschießt. Stößt du sie kräftig genug aus, bleibt dir
auch nichts im Hals stecken.“
Ticki blies vorsichtig seinen Atem aus, doch nicht einmal ein zittriges Flämm-
chen glimmte auf.
„Donner und Doria!“ fluchte Kassa Rabiatas. „Dann gib dir wenigstens
Mühe, so laut wie möglich durch deine Nüstern zu schnaufen.“
Das gefiel Ticki weitaus besser. E s stieß mit der ganzen Kraft seines Bauches
die Luft aus sich heraus.
Doch Ticki brachte keinen Schnaufer zustande, der zu seiner Drachengestalt
gepaßt hätte.
Was fehlt ihm nur, was fehlt ihm nur? grübelte Kassa Rabiatas vor sich hin.
Warum spuckt es kein Feuer, warum schnauft es nicht? Warum ist es nicht
solch ein Drache geworden, wie ich ihn mir vorgestellt habe?
Drei Tage und drei Nächte überlegte Kassa Rabiatas. Er fand keine Lösung.
Und weil er so lange nachgedacht hatte und in dieser Zeit nicht stehlen
konnte, fühlte er sich schrecklich elend.
An diesem dritten Tag verspürte Ticki einen übermächtigen Hunger. „He,
du, Kassa Rabiatas, mein Wohltäter, wo finde ich mein Fressen? Wann
schaffst du mir saftige Mohrrüben herbei?“

294
„Bist du von allen bösen Geistern verlassen? Friß Kälber, Ponys, Ferkel! Du
bist groß und stark, also friß das, was dir zukommt!“
Ticki Mumm schluckte mehrmals. Noch nie hatte es solch einen grausamen
Gedanken gehört.
„Ich will keine Kälber, Ponys und Ferkel fressen!“ sagte Ticki Mumm. „Ich
will saftige, rote Mohrrüben von dir!“
In diesem Augenblick begriff Kassa Rabiatas, weshalb ihm sein Drache nicht
gelungen war. In Tickis Brust schlug noch immer das Kaninchenherz. Ticki
Mumm besaß noch alle Gefühle und alle Sehnsüchte, die ein Kaninchen in
seinem Herzen empfinden kann. Und solange Ticki noch sein Kaninchenherz
besaß, solange würde es nie wie ein wirklicher Drache fühlen, nie Appetit
auf Kälber bekommen, nie Feuer spucken, nie schnaufen können.
Und Ticki Mumm würde Kassa Rabiatas weder gehorchen noch sein Wächter
werden.
Kassa Rabiatas versuchte, Ticki Mumm zu beruhigen und versprach ihm
alles, was es sich wünschte. Wenn nur erst der Kuckuck wieder schreit, dachte
Kassa Rabiatas, dann bringe ich diesen Ticki ganz in meine Gewalt. Und
Kassa Rabiatas wartete und wartete, Stunden und Tage. Doch der Kuckuck
rief nicht. Und Ticki Mumm gebärdete sich immer trotziger und verlangte
nach Mohrrüben.
„Noch einen Tag mußt du warten“ , sagte Kassa Rabiatas. Doch er ahnte
schon, daß der Kuckuck auf und davon geflogen, weit nach dem Süden
gezogen war, und erst im nächsten Jahr wieder zurückkehren würde.
„Siehst du den Löwen dort im Gebüsch?“ sagte Kassa Rabiatas und gab
seiner Stimme einen freundlichen Klang. „Was besitzt doch ein Löwe für ein
prächtiges Herz! Solch ein Herz fehlt dir. Wünsch es dir, mein lieber Ticki,
mit solch einem Löwenherz wirst du ein vollkommener Drache sein!“
Weil der Kuckuck nicht schrie, fehlte Kassa Rabiatas die Zauberkraft. So
sehr er sich auch abmühte, alle seine Worte waren in den Wind gesprochen.
Ticki Mumm dachte nicht daran, sich ein Löwenherz zu wünschen.
„A uf der Stelle“ , verlangte Ticki trotzig und hartnäckig, „auf der Stelle wirst
du mir Mohrrüben herbeischaffen!“
„Wünsch dir das heiße Löwenherz, und du bekommst so viele Mohrrüben,
wie du verlangst.“
„Ich verspüre Hunger“ , beharrte Ticki.
„Wünsch dir das Löwenherz!“
„Morgen vielleicht!“
Da kam über Kassa Rabiatas ein wilder Zorn. Er zog seinen Säbel blank.
Und wie er auf Ticki Mumm losstürzte, schlug Ticki mit seinem
Rieseneidechsenschwanz dumpf auf die Erde. Jählings fuhr ein Windstoß in

295
Kassa Rabiatas Räuberjackett. Er überschlug sich und bohrte sich den Säbel
in das eigene Knie.
„Donner und Doria!“ schrie er verzweifelt aus und begriff seine ganze
Ohnmacht. Er hatte sich eine Drachengestalt geschaffen, ihr zu Kraft und
Stärke verholfen, doch sie gehorchte ihm nicht. Keine Drohung konnte Ticki
Mumm einschüchtern, keine List ihn verführen.
„Dein verfluchtes Kaninchenherz!“ geiferte Kassa Rabiatas. E r preßte die
Hände gegen sein Knie und begann abermals zu winseln und zu klagen. „Wo
soll ich Mohrrüben auftreiben?“
„Kaufe sie!“ forderte Ticki.
„Willst du mich verspotten? Gold soll ich für Mohrrüben hingeben?“ Kassa
Rabiatas beschwor Ticki inständig: „Wie tief soll ich sinken? Ich kann doch
meine Schätze nicht verschleudern?“
Ticki Mumm stampfte mit den Vorderbeinen auf und knallte mit seinem
Schwanz abermals furchterregend auf die Erde. Gold und Silber stürzten
durcheinander, und zahllose Edelsteine sprangen und kullerten aus der Höhle.
Kassa Rabiatas wurde von wildem Entsetzen gepackt.
Gierig raffte er die Steine in ein Säckchen und humpelte davon. „Sei friedlich,
Ticki, bitte! Ich bringe dir ganz gewiß alle Mohrrüben, die ich auftreiben
kann.“
Von dieser Stunde an war Kassa Rabiatas dazu verurteilt, Futter für Ticki
heranzuschleppen. Und Ticki verlangte zu jeder Mahlzeit sieben Säcke.
Am Tage lag Ticki Mumm vor der Höhle und wartete auf den Abend. Kehrte
Kassa Rabiatas zurück, schüttete er die Mohrrüben vor Ticki aus, legte sich
in seine Räuberhöhle und schlief auf der Stelle ein. Ticki schnurpste an seinem
Abendbrot und wartete dann auf die Nacht und auf den nächsten Tag.
Was ist nur mit mir geschehen? fragte sich Ticki Mumm traurig. Kassa
Rabiatas hat mir ein bequemes Leben versprochen, aber ich langweile mich
noch zu Tode.
Ticki Mumm versuchte manchmal zu hüpfen, zu springen oder sich auf die
Hinterbeine zu setzen. Doch was er auch anstellte, nichts gelang ihm. Er
fühlte sich einsam und überflüssig. In einer stockschwarzen Neumondnacht
hörte Ticki ganz in seiner Nähe ein klagendes Raunen, ein tiefes Stöhnen,
ein Wiehern und Weinen.
„He da“ , rief Ticki in die Nacht hinein. „Wer seid ihr?“
„Ich bin das Flußpferd. Ich besitze deinen und du besitzt meinen Kopf. Soll
ich denn ewig mit einem Kaninchenkopf herumlaufen?“
„Ich bin die Giraffe. Ich besitze deinen und du besitzt meinen Hals. Soll ich
denn ewig mit einem Kaninchenhals herumlaufen?“
„Ich bin das Krokodil. . . “

296
„Ich weiß, ich weiß!“ unterbrach Ticki ärgerlich. „D ie Rieseneidechse und
das Nashorn und der Tiger sind auch gekommen.“
„ Ja freilich“ , riefen die Rieseneidechse, das Nashorn und der Tiger. „Wann
gibst du uns den Schwanz und die Beine und die Krallen zurück? Sind wir
denn jemals deine Feinde gewesen?“
„Gewiß nicht“ , antwortete Ticki rasch.
„Warum hast du dir dann meinen Kopf gewünscht?“ fragte das Flußpferd.
„Und meinen Hals?“ fragte die Giraffe.
„Und meinen Schwanz?“ fragte die Rieseneidechse.
„Und meine Beine?“ fragte das Nashorn.
„Und meine Krallen?“ fragte der Tiger.
Ticki schämte sich wie noch nie zuvor in seinem Leben. Seinen Hunger hatte
es wohl verspürt, seine Sehnsucht nach dem freien Kaninchenleben auch und
vor allem die Lust, sich mit Kassa Rabiatas zu raufen. Warum aber empfand
Ticki Mumm nie den Kummer, den das Flußpferd, die Giraffe, das Krokodil,
das Nashorn, die Rieseneidechse und der Tiger erleiden mußten?
„Ihr braucht unbedingt Hilfe!“ sagte Ticki Mumm leise. Plötzlich jedoch rief
er aus: „Ich muß euch doch retten können!“
„E rst wenn Kassa Rabiatas alle seine Schätze verloren hat und der Kuckuck
noch nicht aus dem Süden zurückgekehrt ist, besitzen wir Gewalt über ihn“ ,
antworteten die Tiere.
„Und meine Gewalt?“ fragte Ticki Mumm gekränkt. „Vertraut ihr nicht
auch auf meine Kraft und auf meine Stärke?“
Die Tiere antworteten nicht. Sie raunten und stöhnten, wieherten und
wimmerten und verschwanden.
Am nächsten Tag forderte Ticki die doppelte Zahl Mohrrübensäcke, am
übernächsten die dreifache. Kassa Rabiatas magerte zusehends ab. Sobald
er jedoch zu flehen anfing, hob Ticki Mumm seinen Schwanz, und schon
erfaßten Kassa Rabiatas tausend Ängste. Als Kassa Rabiatas das letzte Geld
und die letzten Edelsteine für Mohrrüben versetzt hatte, kam ihm in der
leeren Höhle sein ganzer Jammer an.
„Wie habe ich mich abgerackert und Jahr für Jahr geklaut wie kein anderer
Räuber, und jetzt soll alles verloren sein? Wer weiß, wie lange der Kuckuck
noch auf sich warten läßt. Ich muß jetzt zuschlagen. In dieser Stunde noch
soll mir Ticki mit Blut und Leben büßen!“
Kassa Rabiatas schlich sich lautlos zu Ticki Mumm. Der hatte alle vier Beine
von sich gestreckt und stellte sich schlafend. Kassa Rabiatas sprang leicht­
füßig auf Tickis Giraffenhals und setzte seinen Säbel an Tickis Gurgel.
„Keine Bewegung!“ brüllte Kassa Rabiatas. „Keine Bewegung, oder ich
steche erbarmungslos zu!“

297
„Au weia“ , sagte Ticki. „Jetzt hast du dir aber wieder was ausgedacht.“
„D u bist verloren, Ticki! Der Kuckuck ist zurückgekehrt, gleich wird er
rufen. Wünsche dir das Löwenherz!“
„Sofort?“ fragte Ticki.
„Donner und Doria! Jetzt und sofort!“
„Vielleicht doch lieber morgen?“ sagte Ticki verschmitzt.
Kassa Rabiatas hob seinen Säbel und holte zum Schlag aus. Der Kuckuck
öffnete seinen Schnabel und setzte zum Schrei an.
„D as Löwenherz!“ schrie Kassa Rabiatas verzweifelt.
Ticki Mumm bäumte sich in seiner ganzen Größe auf. Er schüttelte seinen
Krokodilleib, schlug mit dem Rieseneidechsenschwanz, knirschte mit seinen
Flußpferdzähnen, stampfte mit seinen Nashornbeinen und scharrte mit
seinen Tigerkrallen. Ein gräßliches Geschrei brach los. Das war kein Raunen
und Stöhnen, kein Wiehern und Wimmern. Das war ein höllischer Lärm, so
stark und laut, daß Kassa Rabiatas der erhobene Säbel aus den Händen fiel.
Hals über Kopf flüchtete er in seine Höhle und verkroch sich in die äußerste
Ecke.
Ein Erdbeben erschütterte den Berg. Der Fluß schwappte über die Ufer. Der
Berg stürzte zusammen und begrub Kassa Rabiatas für immer und für alle
Zeiten.
Als der Morgen graute, saßen die Tiere auf dem Drachenberg, jedes mit
seinem Kopf, mit' seinem Hals, mit seinem Körper, mit seinem Schwanz,
seinen Beinen und Krallen. Und auch Ticki Mumm besaß wieder all das, was
zu einem Wildkaninchen gehört. E s beschnupperte und beleckte sich und rief
ein ums andere Mal: „N a, so ein Glück! Na, so ein Wunder! Ich bin kein
Drache geworden!“
Martin Viertel

298
Vaters liebes gutes Bein

Ein Hund lief bellend die Straße entlang. Lutz hatte Angst vor ihm und
klammerte sich an Vaters Bein. Der Hund lief fort.
„Guten T ag“ , sagte ein Mann zum Vater, „wie geht’s dir denn? Das ist wohl
dein kleiner Sohn?“
Der Vater nickte.
Der Mann streckte die Hand aus, aber Lutz schaute fort.
„Sag’ dem Onkel guten T ag“ , mahnte der Vater.
Lutz versteckte sich hinter Vaters Bein und blieb stumm. Er schmiegte sein
Gesicht in die Kordhose vor ihm. Das war beinahe so bequem wie zu Hause
das Kopfkissen im Bett.
Lutz erriet aus dem Gespräch der beiden, der Mann war, wie Vater, ein
Geograph.
Vater zeichnete die ganze Welt auf ein Stück Papier. Wo eine große Stadt
lag, setzte er einen roten Punkt, die blauen Linien waren die Flüsse, die
grünen Flächen Wiesen,, die braunen Spitzen Berge.
Einmal hatte Vater ihm einen weißen Gummiball gekauft und gesagt: „D ie
Erde, auf der. wir leben, ist rund wie dieser Ball. Jetzt wollen wir alle Länder
darauf malen.“
Kaum war der Vater damit fertig, nahm Lutz die Erde unter den Arm und
ließ sie durchs Zimmer kullern. Vater kniete sich neben Lutz. Sie sahen nach,
welches Land gegen den Bücherschrank gebumst war.
Nun fand Lutz sich schon gut zurecht auf der Welt. Sangen sie im .Kin­
dergarten ein Lied von Chile, wußte er, wo das Land lag, wie es aussah und
was dort geschah.
Schade, daß er den Erde-Ball jetzt nicht zum Spielen hatte. Vater und der
Mann sprachen noch immer miteinander, und Lutz langweilte sich.
Plötzlich gingen die Lichter an. Lutz kniff Vater ins Bein, er wußte, in diesem
Augenblick dachten sie dasselbe. Sie dachten das Wort: Mutti! Denn die
Mutter hatte damit zu tun, daß die Lampen leuchteten, wenn es dunkel
wurde. Sie arbeitet in einem Elektrizitätswerk. Sie schaltet die Hebel und
drückt die Knöpfe für den elektrischen Strom. Und weil die Stadt Tag und
Nacht den Strom brauchte, mußte Mutter in Schicht arbeiten, einmal am
Tage, einmal des Nachts. Daher holte der Vater Lutz oft vom Kindergarten
ab. Gerade in diesen Tagen mußte Vater alles für ihn tun. Mutter war für
zwei Wochen zu einem Kursus gefahren. Sie fehlte ihm. Manchmal wünschte
sich Lutz, es gäbe keine Elektrizität auf der Welt .. . Er wünschte, kein
Mensch wäre so klug gewesen, herauszubekommen, wie man sie erzeugt.
Allerdings gäbe es dann auch kein Sandmännchen, weil es ohne Strom kein
Fernsehen gäbe. Vater und sein Bekannter standen noch immer unter einer
von Muttis Laternen. Lutz war ein bißchen ärgerlich, ein bißchen müde, und

299
ihm war kalt. E r kniff den Vater kräftig in die Wade; das hieß in der
„Beinsprache“ : Ich bin auch noch da.
Endlich ging der Vater mit ihm weiter. Im Hausflur trafen sie ihre Nachbarin
— Oma Kohl. Die sah immer gleich alles. Sie war nämlich Pförtnerin bei der
Kriminalpolizei. Diese Polizei war dazu da, Diebe zu entdecken und sie
bestrafen zu lassen.
Oma Kohl sah Lutz nur eine Sekunde an und sagte dann: „Welche Laus ist
dir denn über die Leber gelaufen, junger Mann?“
„Wie können Läuse denn an meine Leber rankommen“ , erwiderte Lutz
verächtlich. Dabei wußte er ganz gut, daß dies nur eine Redensart für
schlechte Laune war.
„E r ist müde“ , verteidigte ihn der Vater.
„Sie verwöhnen ihn“ , erwiderte Oma Kohl.
„Zieh dir den Mantel aus und wasch dir die Hände!“ , sagte der Vater,
nachdem sie die Wohnung betreten hatten.
„Ich bin zu müde“ , erwiderte Lutz.
D a zog ihm der gute Vater den Mantel aus und wusch ihm die Hände. „Willst
du Spiegelei?“
„Nein!“
„Gekochtes E i?“
„Nein.“
„Was willst du denn?“
„Fisch mit Schlagsahne.“
„Kein Mensch ißt Fisch mit Schlagsahne.“
„Ich will’s aber.“
Jetzt langte es dem Vater, er sagte: „Zwei Butterbrote bekommst du und
damit Schluß.“
Als Lutz endlich im Bett lag, war er gar nicht mehr müde.
„Vati, hol den Globus“ , bettelte er. „Wohin reisen wir heute abend?“
Der Vater holte seinen Globus. Darauf war die runde Erde mit allen Ländern
noch viel besser zu erkennen als auf dem Gummiball. Lutz schloß die Augen,
hob den Zeigefinger und summte „su rr. . . “ Der Finger kreiste durch die Luft
und landete irgendwo auf dem Globus.
Der Vater schaute nach und sagte: „D a hast du ja was Schönes angerichtet,
bist mitten ins Meer geraten. Glücklicherweise gibt es gerade an dieser Stelle
ein paar winzige Inseln im Ozean, sonst wärst du mit dem Flugzeug unter­
gegangen. Sie heißen die Kokosinseln. Ein weißer Mann aus England herrscht
dort als König über die Menschen mit dunkler Haut. Sie sind seine Sklaven.
Sie dürfen nicht lesen und schreiben lernen und bekommen kein Geld in die
Hand.“

300
Der Vater erzählte —. Vor Lutz entstand das Bild der Insel: Korallenriffe
an der Küste, Kokospalmen und üppige Blumen auf dem Land. Ärmliche
Hütten für Sklaven, ein reicher Palast für den König John.
„Genug für heute, dir fallen schon die Augen zu.“ Viel zu früh beendete
der Vater seine Erzählung.
Kaum hatte er Lutz gute Nacht gesagt, heuerte sich Kapitän Lutz ein Schiff,
stach mit einer Besatzung von 12 Mann in See, steuerte geschickt um die
Riffe, landete in der Dunkelheit der Nacht auf der Insel, nahm den König
gefangen und befreite das Volk. Nach dieser großen T at war er müde. Und
was tat Kapitän Lutz? Er steckte zum Einschlafen den Daumen in den
Mund. Und was waren seine letzten wachen Gedanken? Er dachte: hof­
fentlich treffen wir morgen auf dem Weg zum Kindergarten nicht wieder den
Hund, ich habe solche Angst vor ihm.
Am nächsten Abend sagte Vater: „Ich muß noch einmal fort.“ Lutz pro­
testierte und heulte. Dabei war Oma Kohl in ihrer Wohnung, und er konnte
sie anrufen. Jawohl anrufen! Vater hatte zwei kleine hellblaue Telefone
gekauft, eins neben das Bett von Lutz und eins bei Oma Kohl aufgestellt.
Mutter hatte sie miteinander verbunden.
Zuerst rief Lutz dauernd bei Oma Kohl an und störte sie. Da bestimmten
die Eltern: Das Telefon ist ein Notdienst für dringende Fälle.
Lutz begann ein paar Nöte zu erfinden.
„Oma, ich glaube, es tropft durch die Zimmerdecke . . . Oma, es hat draußen
geklingelt.“
So ging das, bis Oma Kohl ihm folgende Geschichte erzählte: „Ein Mann
lebte in einer einsamen kalten Gegend in Rußland, wo es im Winter Wölfe
gab. Der Mann war ein Angsthase. Hatte er abends im Dunkeln auf der
Dorfstraße zu tun, fürchtete er sich und rief: ,Hilfe, die Wölfe kommen!*
Die Leute eilten mit Äxten und Gewehren in den Händen hinaus.
Kein einziger Wolf war zu sehen.
An vier verschiedenen Abenden rief der Mann: ,Die Wölfe kommen*, und
jedesmal rannten die Dorfbewohner bewaffnet auf die Straße. Dann hatten
sie genug von seinem Geschrei. Als er das fünfte Mal um Hilfe rief, blieben
die Leute in ihren Häusern und sagten: ,Der Angsthase macht wieder Theater,
wir lassen uns nicht noch einmal anführen.* Doch diesmal waren die Wölfe
wirklich gekommen. Der Mann schrie vergeblich — niemand eilte ihm zu
Hilfe.“
„Was passierte weiter“ , fragte Lutz gespannt.
„E r konnte sich gerade noch über den Zaun retten, ein Wolf hat ihm die Hose
zerrissen. — Und wenn du mich so oft rufst, dann werde ich auch nicht mehr
glauben, d aß . . . “

301
„Quatsch“ , fiel Lutz Oma Kohl böse ins Wort, „die Wölfe fraßen den Mann
auf. Der eine Wolf biß ihm den Kopf ab, der andere fraß die Arme, die Wölfe
waren hungrig und aßen ihn zum Abendbrot auf, nicht mal sein Haar und
seine Nägel ließen sie übrig. Aber du willst mir das nicht erzählen, weil Mutti
gesagt hat: .Grausame Geschichten sind nicht für Kinder“.“
„D u machst mich sprachlos“ , sagte Oma Kohl.
„Warum hat der Mann nicht wenigstens einen Wolf erschossen“ , fragte Lutz,
„dann wären die anderen weggerannt. Wenn ich die Wölfe getroffen hätte,
ich wäre nicht über’n Zaun geklettert.“
Oma Kohl sah ihn ein Weilchen an und sagte dann: „Wölfe sind ja auch viel
harmloser als kleine Hunde.“
D a wurde Lutz rot und fand keine Antwort.
Am Morgen war Lutz wieder mal bockig. Er wollte durchaus nicht zum
Kindergarten laufen, sondern die eine Station mit dem Autobus fahren. Vater
gab nach. Sie standen lange an der Haltestelle, sie quetschten sich in den
überfüllten Bus und quetschten sich an der nächsten Haltestelle wieder
heraus.
„H at sich das gelohnt?“ fragte Vater.
Lutz schwieg.
Der Nachmittag kam heran, die Kinder gingen nach Hause. Doch der Vater
von Lutz erschien nicht, und Lutz blieb als letzter von der Gruppe zurück.
Er war den Tränen nahe.
Schließlich brachte ihn Frau Schmehler aus dem Kindergarten nach Hause.
„Ich kann bestimmt bei Oma Kohl bleiben, die hat mich gern“ , sagte Lutz.
Sie wollten gerade ins Haus gehen, da hielt ein Krankenwagen vor dem Tor
und eine Trage wurde ausgeladen. Lutz konnte sich vor Schreck nicht mehr
bewegen. Auf der Trage lag sein Vater.
Endlich gelang es ihm, hinzulaufen, er griff nach Vaters Bein und stieß auf
etwas Hartes. Das Bein war in Gips gelegt.
Der Vater öffnete die Augen, er sah Lutz an und sagte: „E s ist nicht so
schlimm.“
Vater konnte sprechen und lächeln! Lutz war erleichtert.
Die beiden Männer hängten die Gurte um die Griffe der Trage und gingen
die Treppe hinauf. Im Zimmer angekommen, hoben sie den langen schweren
Vater in sein Bett, kaum lag er da, verabschiedeten sie sich.
„Was nun?“ fragte der Vater.
„D ie Hauptsache, du bist lebendig“ , sagte Lutz.
Vater lachte: „Zu dumm“ , sagte er, „ein einziges Ahornblatt hat das fertig­
gebracht. Ich gehe mit meinen zusammengerollten Landkarten, fünf unter
jedem Arm, über den Hof. Sie waren ziemlich schwer. Es hat mal wieder

302
geregnet. Da rutsche ich auf diesem einen Blatt aus. Ich will nicht, daß meine
Landkarten in den Dreck fallen, balanciere herum und stürze so unglücklich,
daß mein Bein gebrochen ist.“
Vater-bewegte sich und stöhnte.
„Tut das Bein so weh?“ , fragte Lutz erschrocken.
„Nein, der Arm tut viel mehr weh als das Bein. Ich bin auf den Ellenbogen
gefallen.“
Lutz sah erst jetzt, daß der Arm verbunden war.
„Ich hol’ Oma Kohl“ , sagte er.
Als Lutz die Wohnungstür öffnete, standen mindestens fünf Nachbarn davor
und unterhielten sich flüsternd. Kaum sahen sie Lutz, legten sie auch gleich
los: „Was ist passiert? Wie geht es deinem Vater? Können wir helfen? Sollen
wir deine Mutter holen lassen?“
Lutz war im Mittelpunkt. Bei anderen Gelegenheiten hätte ihm das gefallen.
Ganz genau hätte er alles erzählt. Nun, vielleicht nicht so genau, denn auf
einem einzigen Ahornblatt ausrutschen, war zu kläglich. Vielleicht so: Vater
stand auf einer ganz hohen Leiter, er hatte hundert Landkarten unterm
A rm ...
Statt dessen sagte Lutz nur kurz: „Ich gehe Oma Kohl holen.“ Sie war zu
Hause und kam gleich mit. Alle Nachbarn blieben auf dem Flur, Lutz wußte
warum. Sie hofften, wenn Oma Kohl zurückkam, würde sie ihnen alles bis
ins Kleinste erzählen. Die Dummen, als ob sie Oma Kohl nicht kannten! Eine
Pförtnerin bei der Kriminalpolizei quatscht nicht herum, die hält den Mund.
Oma Kohl besah sich den Schaden und sagte: „Ein Mann mit gebrochenem
Bein gehört nicht allein in die Wohnung, der muß ins Krankenhaus.“
„Ich bin nicht allein“ , erwiderte der Vater, „wir sind zwei Männer, das
schaffen wir schon.“
Er sah Lutz an. Der stand, die Hände in den Hosentaschen, breitbeinig
mitten im Zimmer, und erwiderte: „Klar, wir machen das schon.“
„Ich denke, jeder im Haus wird mal helfen“ , sagte Oma Kohl, „warten Sie
auf mich, ich bin bald zurück.“
„Abendbrotzeit“ , seufzte der Vater, „bist du auch so hungrig?“
„Ich hab’ keinen Hunger, weil ich mich so erschrocken hab’ “ , antwortete
Lutz.
„Wir brauchen nicht unbedingt zu essen“ , sagte der Vater wehmütig.
„Ich bin gleich wieder da“ , sprach Lutz, verschwand in der Küche und
öffnete den Kühlschrank.
Käse, Wurst, Tomaten. Er stellte alles auf’s Tablett. Den Apfelsaft und das
Brot auch. Lutz öffnete die Tür der Küche und nahm das Tablett in beide
Hände. Er wollte die Tür mit der einen Hand schließen und drückte das

303
Tablett mit der anderen Hand an sich. Da kippte der Apfelsaft um, ergoß
sich über Brot, Butter und Käse und floß über den Filzteppich, der im Flur
lag.
Lutz wollte zum Vater laufen, sich an sein Bein klammern und heulen vor
Ärger. Er hatte schon die Klinke in der Hand, da fiel ihm ein, das Bein war
hart wie Stein. Na, dann das andere; es war besser als gar keines, ein Bein
brauchte er unbedingt. Die Tränen kullerten bereits. Er drückte die Klinke
zum Schlafzimmer herunter...
Was hatte Vater gesagt? Wir zwei Männer schaffen das schon! Lutz ließ die
Klinke los, wischte sich die Tränen vom Gesicht und trug das Tablett zurück
in die Küche. Er trocknete den Boden auf upd schnitt neue Scheiben vom
Brot. Wurst und Käse waren naß vom Saft. Das ließ sich nicht ändern.
Diesmal stellte er die Flasche nicht auf’s Tablett, obwohl sie neu und ver­
schlossen war.
„Unser Abendbrot, Vati“ , verkündete Lutz im Schlafzimmer. Er schob den
kleinen Tisch ans Bett und holte Messer, Gabeln und Teller.
„Schmeckt’s?“ , erkundigte er sich während des Essens.
„Ausgezeichnet“ , sagte der Vater, „dieser Käse hat so einen interessanten
Beigeschmack.“
„ ’ne neue Sorte“ , sagte Lutz, „sie heißt ,Apfelsaftkäse1.“
„Hm“ sagte der Vater.
„Soll ich morgen hier bleiben, dich pflegen?“ fragte Lutz.
„Nicht nötig, du stellst mir Kaltverpflegung hin.“
„Ich geh’ allein in den Kindergarten, und auf dem Rückweg kauf’ ich ein, und
dann mach’ ich Abendessen und wasch’ auf und wasch’ dich und . . . “
E s klingelte an der Tür.
Oma Kohl kam zurück. In der Hand hielt sie eine Liste.
„Alles bestens“ , sagte sie, „jede Familie kocht einmal die Woche für sie mit
und Frau Hähnel guckt ab und zu mal rein. Sie ist sowieso wegen ihres
Säuglings zu Hause. Und vor allem wird Ihnen Lutz helfen, der ist ja tüch­
tig.“
„K lar“ , sagte Lutz, „kein Problem.“
An diesem Abend schaute sich Lutz Vaters Bein an. Selbst der Fuß war in
Gips.
„Dein Bein sieht wie Italien aus“ , stellte er fest.
Der Vater setzte sich auf und betrachtete es: „Tatsächlich, du hast recht,
hol mal ’nen Blei.“
Lutz brachte den Bleistift und Vater fängt an, Seen, Flüsse, Städte und Berge
auf den Gips zu zeichnen. „Morgen tuschen wir es an.“ Er beschrieb die
wunderbaren Landschaften Italiens, die Schätze aus alten Zeiten, die dort

304
noch vorhanden sind, und er sprach von den vielen Kommunisten, die es in
Italien gibt; so viele, daß den Kapitalisten Angst und Bange wurde.
Lutz hörte begeistert zu und sagte: „Bis dein Bein gesund ist, weiß ich alles
über Italien.“
Am nächsten Morgen steht Lutz früh auf, zieht sich an, bereitet das Früh­
stück und versorgt Vater mit allem, was er braucht. Dann macht er sich allein
auf den Weg zum Kindergarten. Die erste Kreuzung, die zweite; er wartet,
bis das grüne Licht scheint, alles macht er richtig. Der Kindergarten ist nicht
mehr weit. D a kommt der Hund wieder an, wie vor drei Tagen. Er läuft
direkt auf Lutz zu. Der erschrickt sehr. Er will fortrennen und schreien:
„Vati, Vati, wo bist du, ich brauche dein Bein!“
Doch er schreit nicht und läuft nicht davon: Wir Männer schaffen das
schon...!
Der Hund ist nahe. Er hechelt. Lutz blickt ihm fest in die Augen, so groß
ist der Hund eigentlich gar nicht. Lutz sagt mit lauter Stimme: „Mach, daß
du fortkommst!“
Der Hund sieht ihn an, dreht sich um und läuft davon.
Lutz ist sehr glücklich, er möchte singen und hopsen vor Freude.

Ruth Werner

20 305
Das Osterhasenfell
Der Frühling war über die Erde gekommen, ein leuchtender, sonniger, bunter
Frühling. Die Kinder erwarteten das Osterfest. Für die Osterhasen begannen
harte Arbeitstage. Man mußte Ostereier sammeln, sie färben und in den
Büschen für die Kinder verstecken. In der Familie des Osterhasen Weißfell
herrschte große Aufregung. Ein Teil der Familie war während des April­
regens am Schnupfen erkrankt. Der alte Vater Weißfell litt an Rheuma, und
das ist für einen Hasen eine besonders peinliche Sache. Mutter Weißfell
mußte dem Alten mit Huflattichblättern Kompressen machen. So blieb die
ganze Arbeit, die Ostereier zu beschaffen, an dem Jüngsten der Familie
Weißfell hängen, an dem Häschen Purzel. Die Mutter Weißfell war anfangs
dagegen, daß Purzel allein die Sache ausführen sollte; denn das Ganze war
nicht ungefährlich. Man mußte sich nachts in den Hof des Großbauern
Schluckebier schleichen, dort trotz des Hundes die Eier aus dem Nest der
Hennen nehmen, sie zum Hasenbau zurückbringen, färben und dann wieder
als Ostereier ganz früh am Ostermorgen für die Kinder in einem Garten
verstecken.
Der alte Weißfell krümmte sich auf seinem Lager und stöhnte, daß es einen
Stein erweichen konnte. Die jungen Hasen husteten, krächzten und niesten,
daß abends die Sterne am Himmel zu wackeln begannen. Auch dem Häschen
Purzel kratzte es furchtbar im Halse. Aber es haßte die Krankheit. Es wollte
einfach nicht krank sein. Und gerade weil die Sache schwierig war, wollte
es sie machen . .. auch ganz allein. Es wollte ins Freie, unter den Sternen­
himmel, in die Sonne, zu den Blumen, zu den Farben. Das gefiel ihm sehr.
Und was ihm so sehr gefiel, das wollte es auch tun. Das war doch ganz
einfach.
So hopste denn das Häschen Purzel zwei Nächte vor Ostern zu dem Hof
des Großbauern Schluckebier. Vor dem Stall lag an einer langen Eisenkette
der Wolfshund Lux. Kaum war Purzel im Hof, so fing Lux furchtbar an
zu knurren. In diesem Moment trat gerade der Mond aus den Wolken hervor.
Purzel stand vor dem riesigen Wolfshund.
„Solch eine Frechheit habe ich in meinem langen, zehnjährigen Leben noch
nicht gesehen!“ knurrte Lux grimmig. „D a rollt so ein winziges weißes
Fellknäuel nachts in meinen Hof! Hoho, auf dich habe ich grade gewartet
als Dessert zu meinem Abendessen. Für dich ist grade noch Platz in meinem
rechten hohlen Backenzahn!“ Dabei drehte der mächtige Wolfshund seine
Augen im Kreise herum wie zwei Mühlräder und sperrte sein Maul auf wie
ein Scheunentor, in dem die Zähne wie scharfe Sensen blitzten.
„Sprich schnell dein letztes Gebet, und dann laß dich fressen!“
„D arf ich wenigstens vorher Ihren werten Namen erfahren, mein Herr?“
sagte Purzel, um Zeit zu gewinnen, während sein Herzchen zum Zerspringen

306
schlug. „Ich stamme nämlich aus guter Familie und möchte doch wissen, von
wem ich die Ehre habe, gefressen zu werden.“
„Mein Name ist Lux, von Beruf Kettenhund! Und nun genug!“
„Mein Name ist Weißfell, Purzel Weißfell. Mein Beruf besteht in meinen
Fähigkeiten: Ich kann hopsen, einen Haken schlagen, Männchen machen, im
Mondschein tanzen, Klee fressen, von den Blumen farbigen Tau trinken und
vor allem in der Sonne liegen.“
„Hohoho! Hauhauhau!“ heulte der alte Wolfshund da auf. „Hohoho, in der
Sonne liegen und farbigen Tau trinken, tanzen und Männchen machen, das
ist wohl auch ein Beruf! Wo hast du denn das gelernt?“
„Gelernt?“ fragte Purzel erstaunt. „Gelernt? Ich kann es einfach.“
„Kannst du auch knurren und bellen?“
„Vielleicht. Aber ich will es nicht. Wenn ich es wollte, würde ich es auch
können.“
„Hohoho! Hauhauhau!“ krümmte sich da Lux vor Vergnügen. „D u kleiner
Gernegroß, du weißer Schneeball, du Tröpfchen Mondspucke willst bellen
können?!“
„Sie bedienen sich unfeiner Worte, Herr Lux“ , tadelte Purzel den großen
Wolfshund. „Solche Worte bin ich von zu Hause nicht gewohnt! Zudem, wie
sitzen Sie denn da! Die Zunge herausgehängt wie ein wildes Untier, die
Pfoten vorgestreckt, als gäbe es nur Sie allein auf der Welt, und den Rücken
gekrümmt, als seien Sie ein uralter Hund von zwanzig Jahren!“
Kaum hatte Lux die letzten Worte gehört, so schloß er sein Maul, zog seine
mächtigen Pfoten an seinen Leib und legte sich kerzengerade hin; denn uralt
wollte er keinesfalls erscheinen.
„Sie lagen die ganzen letzten Jahre an der Kette“ , fuhr Purzel jetzt fort.
„Man merkt es an Ihren Manieren! Sie kennen nur Ihren Hof und Ihren
Wachdienst! Aber Sie wissen nicht, was das Leben und die Welt bedeuten,
wie man sich außerhalb der Mauern Ihres Hofes gut und leicht bewegen kann.
Wollen Sie bitte einen Augenblick herschauen, Herr Lux!“
Und Purzel, das Häschen, hatte schon während der letzten Worte begonnen,
sich in den zierlichsten Sprüngen zu bewegen, es hopste in schwungvollen
Bögen nach rechts und nach links, es machte die komischsten „Männchen“
auf seinen Hinterpfoten, dann sprang es plötzlich hoch in die Luft und schoß
einen Freudensprung, einen Salto mortale, einen „Purzelbaum“ — wobei es
exakt wieder auf sein Stummelschwänzchen zu sitzen kam —, einen ganz
wunderbaren Purzelbaum! Denn gerade wegen dieser Fähigkeit hieß es ja
„Purzel“ . Das Ganze sah aus wie ein wilder und doch spielend leichter
akrobatischer Tanz, so als wäre eine Silberkugel rasend geworden und tollte
da im Mondlicht umher.

20* 307
Lux, der Wolfshund, war von diesem tollen Spiel und Tanz völlig berauscht.
Er schloß ein paarmal die Augen, als traue er sich nicht länger hinzusehen;
dabei brummte er leise: „Aber jetzt mußt du hier vom Hofe Weggehen,
sonst..
„Ich muß gar nichts, Herr Lux“ , flüsterte Purzel in sein Ohr. „Ich tue stets
das, was mir gefällt und was mir und vielleicht auch den anderen Freude
macht! Das ist das heilige Gesetz des Osterhasen, verstehst du mich?“
Aber der riesige Wolfshund verstand schon gar nichts mehr. E r antwortete
nicht, er hatte den Kopf auf seine Pfoten gelegt und schnarchte leise. Seine
Oberlippe war hochgezogen, so daß man seine mächtigen weißen Fänge im
Maul blinken sah: Dennoch schien das nicht schrecklich, vielmehr als ob er
im Traum lächle.
Purzel hatte in seinem Säckchen fünfzehn blendend weiße Eier nach Hause
gebracht. Der alte Weißfell und die ganze Familie besahen voller Bewun­
derung die Beute. Doch noch war eine große Arbeit zu tun. Die Eier mußten
gefärbt und für die Kinder am Ostermorgen versteckt werden. Auch das
hatte Purzel allein auszuführen. Die andern fürchteten nämlich, daß der
Großbauer Schluckebier und der Wolfshund sich bald auf die Suche nach
den geraubten Eiern machen würden. Deshalb drängten sie Purzel, daß es
sich schleunigst mit den Eiern aus dem Bau entferne. Purzel nahm sein
Säckchen mit den Eiern auf den Rücken und zog wieder allein seines Wegs. Er
schlug jetzt eine dem Hof des Großbauern entgegengesetzte Richtung ein.
Es stieg den Berg hinan zum Holzfäller Feuerriegel, der fünf kleine Kinder,
aber wenig Geld und Nahrung besaß. Die Familie Feuerriegel wohnte hoch
oben am Rande einer Schlucht, am „Höllsteig“ . Dort standen dunkelgrüne
Tannen, dort wuchsen Wacholdersträucher und Heidekrautbüsche. Dort
wollte Purzel die Eier für die Kinder des Holzfällers verstecken.
Zuvor aber mußten sie gefärbt werden. Woher nur die Farbe nehmen? Denn
das stand für Purzel fest: Toll bunt mußten die Eier werden — blau, rot,
gelb und grün, richtige Ostereier! So wollte es Purzel. Und was Purzel wollte,
das mußte geschehen! Das war sein Osterhasengesetz!
Purzel hopste über die Wiesen. Es war noch früh am Morgen. Das Oster­
häschen setzte sich auf sein Stummelschwänzchen und dachte nach.
„Was hast du, Purzel?“ fragte vor ihm eine große blaue Glockenblume. „Bist
du traurig?“
„Ich brauche für meine Ostereier solch blaue Farbe wie das Blau deiner
Blüten“ , antwortete Purzel.
„Weil du’s bist, Purzel“ , nickte die Glockenblume. „Trinke meinen Tau, aber
küsse mich dabei recht fest, so wirst du im Tau die Farbe meiner Blüte
haben.“

308
Purzel nahm die Glockenblume recht zart zwischen seine Pfötchen und küßte
sie lange. Da ward der Tau in dem Blütenkelch der Glocke tiefblau, und
Purzel bemalte mit ihm drei seiner Ostereier.
„Dank dir, liebe Glockenblume!“ sagte Purzel. „Aber woher nehme ich jetzt
die rote Farbe?“
„Komm zu mir! Komm zu mir!“ rief es von einem Feld her. D a stand in
der Sonne ein erster junger Mohn. „Schau mich mit deinen Augen an, recht
fest und recht lange! In deinen Augen strahlt die Sonne doppelt stark wider,
und ich liebe so die Sonne!“
Purzel richtete seine Augen auf den jungen Mohn, ganz nahe senkte es seine
Augen auf ihn. D a begann es aus dem Mohn wie rotes Blut zu tropfen. Und
Purzel färbte fünf seiner Ostereier blutrot.
Am Bachrand standen die goldgelben, fetten Dotterblumen. Sie quollen über
vor Saft. Purzel brauchte sie bloß an sich zu drücken, und sie ließen so viel
goldgelbe Farbe, daß es noch fünf Ostereier in Goldgelb tauchen konnte. Die
letzten zwei Eier aber färbte Purzel grün, indem es Huflattichblätter kaute
und sie mit seiner grünen Zunge beleckte.
Nun war aber unbemerkt folgendes geschehen: Das Häschen Purzel hatte
jedesmal, wenn es mit roter, blauer oder gelber Farbe die Eier bestrich, sich
die farbigen Pfötchen an seinem Fell abgewischt und zuletzt — als es das
Unheil bemerkte — versucht, mit der Zunge die Farben von seinem Fell
abzulecken. Aber da seine Zunge von dem Huflattichkauen noch ganz grün
war, so kamen zu den roten, blauen und gelben Flecken nun auch noch grüne
Flecken auf das ehedem so blendend weiße Fell. Das Häschen Purzel sah
jetzt selbst wie ein großes, bunt bemaltes Osterei aus. Einen Augenblick lang
war Purzel, als es sich im spiegelnden Bachwasser anschaute, sehr bestürzt
über sein Osterhasenfell.
Doch was war zu tun? Man mußte schnell die farbigen Ostereier zu der
Feuerriegelfamilie hoch oben an die Schlucht bringen und sie für morgen
verstecken.
Purzel machte sich auf den Weg. Wieder ging es durch blumige Wiesen. Sie
standen voller blauer Glockenblumen, auch der rote Mohn war dazwischen­
gesprenkelt, die weißen Margeriten strahlten aus den grünen Wiesen, die
gelben Dotterblumen, die violetten Krokusse und das rosa Wiesenschaum­
kraut mischten sich darein. Bunt stand die Wiese, bunt war die Welt, und
das Häschen Purzel mit seinem Osterhasenfell und dem Sack mit den Oster­
eiern auf dem Rücken hopste durch diesen bunten Frühlingstag.
Hoch oben an dem „Höllsteig“ bei dem Feuerriegelhaus schlich Purzel
vorsichtig zwischen den Wacholdersträuchern einher und begann die bunten
Ostereier zu verstecken: drei unter den Heidekrautbüschen, eines in das

309
blecherne Maul der Regentraufe, zwei bei den Bienenstöcken, eines in einen
Puppenkinderwagen, den die kleine Liesel an der Tür hatte stehenlassen, zwei
legte es leise auf das Fensterbrett, indem es sich auf den Hackklotz stellte,
für drei andere scharrte es eine niedliche „Burg“ aus dem Sand und legte sie
hinein, nachdem es ringsherum aus abgebissenen Blumen sichtbare „Fähn­
chen“ gesteckt hatte, damit auch die kleinsten Geschwister sie fänden. Die
letzten bunten Eier aber klemmte es zwischen die mächtigen, bemoosten
Wurzeln der riesigen Tannen.
Purzel hatte so angestrengt gearbeitet, daß es die wütenden Rufe des Groß­
bauern Schluckebier und das Gebell des Wolfshundes Lux erst hörte, als diese
schon fast auf der Höhe des „Höllsteigs“ waren. Purzel sprang dem Abgrund
zu; aber die Schlucht war zu breit, und drunten gähnte die schwarze, furcht­
bare Tiefe. Purzel rannte den Rand der Schlucht entlang, ob sie nicht doch
irgendwo schmäler wurde. Jetzt hatten Schluckebier und Lux das Häschen
bemerkt. Eine wilde Jagd begann.
Der große Wolfshund konnte Purzel nicht fassen, weil das Häschen im
letzten Moment stets einen „Haken“ schlug, so daß Lux viele Meter an ihm
vorbeischoß, während Purzel bereits in entgegengesetzter Richtung lief.
Dabei verfolgte es die Taktik, immer mehr rückwärts nach dem
Wiesengelände und dem Bach zu gelangen. Nach einer halben Stunde wilden
Jagens und Fliehens hatte Purzel sein Ziel erreicht, sprang über den kleinen
Bach in großem Bogen hinüber, stieg gleich am anderen Ufer in das flache
Wasser und lief — unter den breiten Huflattichblättern geduckt — im Wasser
weiter, einige hundert Meter weiter, bis es das Wiesengelände mit dem hohen
Gras und den vielen bunten Blumen erreichte.
Dort hopste es ein Stück weit quer hinein in die Wiesen und legte sich mitten
unter die blauen Glockenblumen, den roten Mohn und die goldgelben
Dotterblumen. Fern klang das zornige Gebell des Wolfshundes Lux, der
vergeblich die Spur von Purzel suchte, die sich im Wasser des Baches verloren
hatte. Bald hörte man auch das wütende Schimpfen des Großbauern
Schluckebier; und nun begann der Wolfshund kläglich zu heulen, offenbar,
weil sein Herr ihn furchtbar prügelte wegen seiner Unfähigkeit, den kleinen
Osterhasen Purzel zu fangen.
Purzel richtete sich vorsichtig zwischen den Blumen und dem Gras auf. Es
konnte bemerken, wie der Großbauer mit einem langen Fernglas die Wiesen
und Felder absuchte. Schnell duckte sich Purzel. Aber dann richtete es sich
wieder hoch, nachdem es einen Blick auf sein Fell und die blumigen Wiesen
geworfen hatte. Sein buntes Osterhasenfell sah ja genau aus wie ein Teil der
Wiese selbst. Auch mit dem schärfsten Fernglas konnte man das bunte Fell
des Häschens Purzel nicht von der farbigen Frühlingswiese unterscheiden.

310
Purzel knabberte ein bißchen an dem saftigen Gras, dann legte es sich
zwischen die bunten Blumen nieder. Und immer wieder hörte es das klägliche
Heulen des Wolfshundes Lux, den sein Herr prügelte, weil er das Häschen
nicht hatte packen können.
Purzel spürte einen Augenblick das Heulen des Lux in seinem Herzen, so,
als sausten die Schläge auf sein eigenes buntes Fell nieder. Der Wolfshund
hatte vor zwei Tagen in der schönen Mondnacht doch seinen Sprüngen,
Künsten und Tänzen so nett zugeschaut; er hatte es sich gefallen lassen, daß
Purzel ihm seine Osterhasenweisheit ins Ohr flüsterte, er war darüber ein­
geschlafen, hatte sogar im Schlaf gelächelt und es — Purzel — in den
Hühnerstall zu den Eiern gelassen, ohne sich groß als Wachhund auf­
zuspielen. Offenbar hatte Lux inzwischen alles wieder vergessen, die schöne
Mondnacht, die Tänze von Purzel und seine doch so nette Osterhasen­
weisheit. Sonst hätte er sich nicht von dem rohen Großbauern Schluckebier
auf das kleine Häschen Purzel hetzen lassen, um es zu packen, damit
Schluckebier es totschlüge. Nein, Lux war und ist ein Kettenhund! Nun muß
er die Folgen tragen und sich von seinem Herrn prügeln lassen! Und doch
ist Lux — der riesige Wolfshund — eigentlich viel stärker als sein Herr. Er
könnte Schluckebier mit einem Sprung niederwerfen und in Stücke reißen!
Und dann frei sein! Und dann würde Purzel ihm öfters vortanzen und seine
netten Geschichten und Weisheiten aus der Osterhasenwelt erzählen, aus der
Welt, die voll ist von Blumen und Farben, von Sonne und Sprüngen in die
freie Landschaft, in Wiesen, in stille Wälder mit Sauerklee und Anemonen,
in endlose, dunkelblaue Sternennächte, wo man durch das schweigende Land
streifen kann nach Herzenslust.
Friedrich Wolf

311
Quellennachweis
Wir danken den Autoren und den Verlagen für die freundliche Genehmigung
zum Abdruck der Texte aus nachstehend aufgeführten Bilderbüchern und
Sammlungen:

Der Kinderbuchverlag, Berlin:


Abraham, Peter: Die windigen Brauseflaschen.
Illustrationen von Eberhard Binder, 1974.
Augustin, Barbara: Antonella und ihr Weihnachtsmann.
Illustrationen von Gerhard Lahr, 1969.
Bergner, Edith: Der Dackel Oskar.
Illustrationen von Gertrud Zucker, 1976.
Bergner, Edith: Der Star im Apfelbaum.
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1972.
Bianki, Witali: Die erste Jagd. Übersetzt aus dem Russischen von Inge Langer,
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1965.
Feustel, Günther: Die drei Cäcilien.
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1968.
Feustel, Ingeborg: Bibi.
Illustrationen von Eberhard Binder-Stassfurt, 1969.
Feustel, Ingeborg: Ein Wald und Schweinchen Jo.
Illustrationen von Eberhard Binder-Staßfurt, 1969.
Friedrich, Flerbert: Krawitter, Krawatter, das Stinchen, das Minchen.
Illustrationen von Gerhard Lahr, 1973.
Fühmann, Franz: Vom Moritz, der kein Schmutzfink mehr sein wollte.
Illustrationen von Ingeborg Friebel, 1959.
Geelhaar, Anne: Da sangen die Gänse.
Illustrationen von Ingeborg Friebel, 1975.
Geelhaar, Anne: Filip und die Schäfermaxi.
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1966.
Geelhaar, Anne: Hans Fröhlich und das Vogelhaus.
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1961.
Gerber, Flelmuth: Der Riese Archibald.
Illustrationen von Erika Klein, 1975.
Gerber, Flelmuth: Die Polizeituba.
Illustrationen von Regine Grube-Heinecke, 1972.
Görlich, Günter: Vater ist mein bester Freund.
Illustrationen von Konrad Golz, 1972.
Gorki, Maxim: Vom dummen Iwanuschka.
Übersetzt aus dem Russischen von Thomas Reschke,
Illustrationen von Bernhard Nast, 1971.

313
Hähnchen Schreihals: Ukrainisches Volksmärchen.
Übersetzt aus dem Russischen von Vera Albrecht,
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1961.
Heiduczek, Werner: Der kleine häßliche Vogel.
Illustrationen von Wolfgang Würfel, 1973.
Heiduczek, Werner: Jana und der kleine Stern.
Illustrationen von Karl-Heinz Appelmann, 1968.
Heiduczek, Werner: Vom Hahn, der auszog, Hofmarschall zu werden.
Illustrationen von Wolfgang Würfel, 1975.
Hesse, Günter: Bohrmeister Benno.
Illustrationen von Konrad Golz, 1976.
Holtz-Baumert, Gerhard: Hasenjunge Dreiläufer.
Illustrationen von Manfred Bofinger, 1976.
Holtz-Baumert, Gerhard: Vier Pferde gehen fort.
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1961.
Hüttner, Hannes: Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt.
Illustrationen von Gerhard Lahr, 1969.
Hüttner, Hannes: Das Huhn Emma ist verschwunden.
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1967.
Hüttner, Hannes: Familie Siebenzahl zieht um.
Illustrationen von Eberhard Binder-Staßfurt, 1977.
Hüttner, Hannes: Taps und Tine.
Illustrationen von Gertrud Zucker, 1963.
Hüttner, Hannes: Troddel, Taps und Tine.
Illustrationen von Gertrud Zucker, 1968.
Küchenmeister, Wera und Claus: Judiths wunderbarer Ball.
Illustrationen von Bert Heller, 1961.
Lind, Hiltrud: Ein Riese namens Emil.
Illustrationen von Gerhard Lahr, 1968.
Lindemann, Werner: Pünktchen.
Illustrationen von Erika Klein, 1973.
Marschak, Samuil: Bärtig und gestreift.
Nachdichtung aus dem Russischen von Martin Remane,
Illustrationen von Lauretta Rix, 1967.
Marschak, Samuil: Vom klugen Mäuschen.
Nachdichtung aus dem Russischen von Martin Remane,
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1959.
Michalkow, Serge]: Drei kleine Ferkel.
Übersetzt aus dem Russischen von Lieselotte Remane,
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1965.

314
Michalkow, Serge]: Wie die Vögel das Zicklein retteten.
Übersetzt aus dem Russischen von Vera Albrecht,
Illustrationen von Bernhard Nast, 1965.
Pieper, Katrin: Die große Reise des kleinen Jonas.
Illustrationen von Ingeborg Friebel, 1962.
Pieper, Katrin: Schuleule Paula.
Illustrationen von Konrad Golz, 1973.
Pludra, Benno: Heiner und seine Hähnchen.
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1962.
Pludra, Benno: Vom Bären, der nicht mehr schlafen konnte.
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1967.
Rodrian, Fred: Das Entenliesel.
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1960.
Rodrian, Fred: Das Wolkenschaf.
Illustrationen von Werner Klemke, 1958.
Rodrian, Fred: Die Rakete von Bummelsburg.
Illustrationen von Werner Klemke, 1962.
Rodrian, Fred: Die Schwalbenchristine.
Illustrationen von Werner Klemke, 1962.
Rodrian, Fred: Hirsch Heinrich.
Illustrationen von Werner Klemke, 1960.
Rodrian, Fred: Wir gehen mal zu Fridolin.
Illustrationen von Gertrud Zucker, 1971.
Shaw, Elizabeth: Die Schildkröte hat Geburtstag.
Illustrationen von Elizabeth Shaw, 1966.
Spender, Waldemar: Kuno, der fliegende Elefant.
Illustrationen von Thomas Schleusing, 1972.
Spillner, Wolfgang: Die Vogelinsel.
Illustrationen von Wolfgang Würfel, 1976.
Stark, Isolde: Kleine Ente namenlos.
Illustrationen von Steffi Bluhm, 1976.
Strittmatter, E va: Brüderchen Vierbein.
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1972.
Strittmatter, E va: Der Igel.
Illustrationen von Paul Schultz-Liebisch, 1978.
Tolstoi, Lew N .: Warja und der Zeisig.
Aus: „Kleine Geschichten“ .
Übersetzt aus dem Russischen von Lotte Grünberg,
Illustrationen von Erika Klein, 1966.

315
Tscharuschin, Jewgeni: Mauzel, Elster und die Bären.
Übersetzt aus dem Russischen
von Thomas Reschke, Illustrationen von Erika Klein, 1974.
Tscharuschin, Jewgeni: Wie das Pferdchen die Tiere spazieren fuhr.
Tscharuschin, Jewgeni: Tomka.
Tscharuschin, Jewgeni: Tomka ist nicht dumm.
Tscharuschin, Jewgeni: Wie Tomka schwimmen lernte.
Aus: „Wie Nikita dem Spatzen das Fliegen beibrachte“ .
Übersetzt aus dem Russischen von Thomas Reschke, 1974.
Viertel, Martin: Ticki Mumm.
Illustrationen von Manfred Bofinger, 1978.
Werner, Ruth: Vaters liebes, gutes Bein.
Illustrationen von Wolfgang Würfel, 1977.

Altberliner Verlag Lucie Groszer, Berlin:


Könner, Alfred: Der Räuberhase.
Illustrationen von Werner Klemke, 1969.
Könner, Alfred: Drei kleine Bären.
Illustrationen von Ingeborg Meyer-Rey, 1976.
Sutejew, Wladimir: Wer sagt denn da Miau?
Aus: „Miezekatz und Dotterküken“ .
Illustrationen von Wladimir Sutejew, 1959.

Aufbau-Verlag, Berlin:
Wolf, Friedrich: Das Osterhasenfell.
Illustrationen von Erich Gürtzig, 1971.

Verlag Junge Welt, Berlin:


Feustel, Ingeborg: Das Entlein. Aus: „Die ABC-Zeitung“, April-Heft 1975.

316
Literaturhinweise

Arndt, Niarga: Das Bilderbuch als künsderisches Mittel der sozialistischen Er­
ziehung. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1964.
Autorenkollektiv: Erziehung in Krippe und Kindergarten in der Sowjetunion.
Übersetzung aus dem Russischen. Volk und Wissen Volkseigener Verlag,
Berlin 1979.
Autorenkollektiv unter Leitung von G. -M. Brumme: Muttersprache im Kindergar­
ten. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1984.
Brumme, Gertrud-Marie: Literaturerlebnisse und muttersprachliche Bildung.
Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1973.
Cybulska, Jadwiga; Dudzinska, Irena; Lipina, Stanislawa; Lipska, Ewa: Stegreif­
spiel im Kindergarten nach literarischen Vorlagen. Volk und Wissen Volksei­
gener Verlag, Berlin 1978.
Kuhnert, Heinz: Das Bilderbuch in der Kinderliteratur der DDR seit 1945. Stu­
dien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Heft 10. Der
Kinderbuchverlag, Berlin 1976.
Reisekutsche. Reime, Gedichte, Rätsel, Märchen, Erzählungen, Spiele und Lie­
der aus sozialistischen Ländern. Hrsg, von Waltraut Singer und Marga Arndt.
Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1984.
Sieben Blumensträuße. Reime und Gedichte für den Kindergarten. Hrsg, von
Hans-Otto Tiede. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1985.
Wassiljewa-Gangnus, Ludmila: Hört zu - spielt mit. Anregungen zum Basteln
und Spielen nach Märchen für Vorschulkinder. Volk und Wissen Volkseige­
ner Verlag, Berlin 1981.
Wetlugina, N. A.: Ästhetische Erziehung im Kindergarten. Volk und Wissen
Volkseigener Verlag, Berlin 1975.

317
Erzählungen für Vorschulkinder/
hrsg. von Annemarie Lesser. - 7. Aufl. -
Berlin : Volk u. Wissen, 1989, - 317 S. : 111.
NE: Hrsg.

ISBN 3-06-262005-6
7. Auflage
© Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1979
Lizenz-Nr. 203 • 1000/89 (UN 262005-7)
Printed in the German Democratic Republic
Schrift: 10/11 p Garamond, Linotron
Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Redaktion: Waltraut Singer
Einband, Vorsatz und Vignetten: Sybille Storch
Typographische Gestaltung: Atelier vwv, Frank Schneider
Redaktionsschluß: 25. August 1988
LSV 0635
Bestell-Nr.: 709 669 5

00750
Kurzwort: 262005 Erzaehl.f.Vorschul.
ISBN 3-06-262005-6

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