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Ein Soufflé ist, wie man der durchweg allgemein gebildeten Leserschaft
dieser Kolumne nicht erklären muss, aber zwecks Einleitung erwähnen
darf, ein zum alsbaldigen Verzehr bestimmtes Werk der Kochkunst mit
luftiger Höhe, sprich: viel überbackener Schaum, wenig Kerngehalt.
Unter dem metallischen Klang dieses Zitats zuckte der nördliche Teil der
Welt (einmal mehr) zusammen. Alle von mir genutzten Medien
berichteten über die vom Beauftragten erwähnte »red line«. Allerdings
sagten sie – obwohl man dies als Rezipient einer meinungsgefluteten
Berichterstattung gewiss erwarten durfte – kein einziges Wort darüber, was
sich jenseits der genannten Linie ereignen könne, müsse oder werde.
Man könnte das Ganze also vielleicht deuten als: erstens einen der
strategisch üblichen Wetterballons, zweitens als eine der
Standardfeigheiten der medialen Wetterforscher, oder drittens als Beitrag
zum Aschermittwochs-Peinlichkeitswettbewerb.
Früher, also zum Beispiel in Münster (1648), Wien (1814), Versailles (1919)
oder Moskau (1990), gab es bei Erklärungen von Chefdiplomaten
professionelle Grenzen der Unverständlichkeit. Sie rührten nicht aus
Menschenfreundlichkeit, sondern aus sozialer Exklusivität der Beteiligten.
Die derzeit zwischen ungefähr 25 und 45 Jahre alte Generation politischer
Wundertäter hält die Erinnerung an dergleichen aber für überflüssig, da
Geschichte sowieso überschätzt werde und spätestens in der 11. Klasse
abzuwählen war.
Vielleicht deshalb, vielleicht auch aus purer Angst fragten weder die zur
Führung entschlossene deutsche feministische Außenpolitik noch die
jeden Tag zum Äußersten entschlossenen deutschen Leitmedien den
Außenbeauftragten laut, deutlich und notfalls unter Fristsetzung, was
»red line« bedeute, sondern freuten sich tagelang darüber, ihm
applaudieren und uns von seinen rätselhaften Worten berichten zu dürfen.
Sind »wir« dann beleidigt, essen keine Frühlingsrollen mehr oder erklären
China den Krieg? Oder ist das Ganze nur Wortschaum mit luftiger Höhe?
Grenzen
Die »rote Linie« kennen wir aus vielen bedeutenden wie unbedeutenden
Reden, Schriften und Träumen. Sie muss nicht stets diesen Namen tragen,
sondern läuft auch unter anderen, allerdings nicht ganz synonymen
Bezeichnungen von »Geduld erschöpft« bis »jetzt reicht’s«.
Wobei die rote Linie (viele kennen sie auch aus dem Coronaschnelltest)
sich mehr oder weniger und überdies je nach Bedarf dadurch auszeichnet,
dass sie in ihrem Namen trägt, was dem Rechtsgenossen besonders am
Herzen liegt: die Bestimmtheit. Rote Linie ist Grenze; Grenze ist der
gedachte Abstand zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Mein und
Dein.
Eine naheliegende Quelle der Erkenntnis ist auch hier das deutsche
Grundgesetz. Art. 103 Abs. 2 der deutschen Verfassung lautet:
»Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich
bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.«
Das ist keine Spielerei von weltfremden Juristen. Sondern das Ergebnis
einer viele Jahrhunderte langen, mit Leiden und Mut erkämpften
Emanzipation der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit als sozial
wirksame, also geltende Begriffe.
Auch Worte sind Grenzziehungen: Ob ein Ding »Brot« oder »Reis« heißt,
ist kein Zufall. Dasselbe gilt für den Frieden, den Krieg, die Freiheit, die
Selbstbestimmung.
Die Linie, von welcher wir sprechen, verläuft nicht gerade oder als Kurve,
in einem natürlich gegebenen Koordinatensystem, um den Menschen eine
analoge Vorstellung von den Verhältnissen der Welt zu vermitteln.
Sondern sie markiert eine menschlich willentlich – also machtvoll –
gesetzte Grenze. Diese verläuft, beispielhaft, zwischen Gut und Böse,
Erlaubt und Verboten, Belohnung und Bestrafung. Wer sich in der
Literaturgattung der Märchen auskennt, weiß von vielen derartigen
Grenzen: als Kreidestrich, als Dornenhecke, als Zaun.
Dass dies nicht die Wahrheit ist, ist eine alte Erkenntnis der Soziologie.
Sozial wichtig und mächtig ist sie, seit das Internet die Möglichkeit einer
beliebig subjektivierbaren, dem Anschein nach gleichberechtigten
Kommunikation bietet. Das Internet hat – unter anderem – die
jahrhundertealte Kommunikationsarchitektur der roten Linien nicht nur
geändert, sondern zerstört.
Rote Linien – Identität
Eine Frage am Rande, verehrte Leser: Was ist eigentlich für Sie das
Gegenteil von Identität, und wie fühlt sich das an?
Ich frage das, weil eine tiefe Erfahrung meines Lebens – und, nebenbei
bemerkt, auch Inhalt von 44 Semestern universitärer Lehrtätigkeit – ist,
dass sich Meinung nicht in der Zustimmung, sondern im Widerspruch
und in Bezug auf den jeweils anderen bildet: Man muss den Widerspruch
formulieren, um die Position des Gegenübers verstehen zu lernen. Das
Ergebnis ist allemal offen.
Frozen River
Zurück zum Anfang. Diese Kolumne muss zu Ende gebracht werden, ohne
den Außenbeauftragten der Europäischen Union oder seine
Beifallstruppen zu beleidigen. Unsereins, Strafjurist qua Ausbildung und
Rechtsstaatsfreund qua Erkenntnis und Erfahrung, assoziiert mit der
»roten Linie« zunächst die Frage nach dem Wie, Warum und Wo-steht-
das?
Umso wichtiger ist es, darüber halbwegs informiert zu bleiben und sich
nicht in ein Reich der Fantasie zu begeben, in dem die Wirklichkeit nach
Maßgabe ungeklärter Begriffe bestimmt wird. Das ist keine »theoretische«
Frage. Im Zweifel müssten Sie sterben, bloß weil Sie nicht gefragt haben,
was »rote Linie« bedeutet.
Da lobe ich mir, mit aller kritischen Distanz, dann doch das Strafrecht mit
seinen formellen Orientierungen: Da steht die rote Linie im Grundgesetz.
Genau aus diesen Gründen ist es so wichtig, sie einzuhalten.