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Soufflé

Ein Soufflé ist, wie man der durchweg allgemein gebildeten Leserschaft
dieser Kolumne nicht erklären muss, aber zwecks Einleitung erwähnen
darf, ein zum alsbaldigen Verzehr bestimmtes Werk der Kochkunst mit
luftiger Höhe, sprich: viel überbackener Schaum, wenig Kerngehalt.

In der soeben verflossenen Woche hat Josep Borrell, bekannt als


»Chefdiplomat« (etwas genauer: Außenbeauftragter) der Europäischen
Union, in Brüssel beim dortigen Treffen der EU-Außenminister gesagt, die
Lieferung von Waffen durch den Staat China an den Staat Russland wäre,
wenn sie denn stattfände, das Überschreiten einer »roten Linie«.

Unter dem metallischen Klang dieses Zitats zuckte der nördliche Teil der
Welt (einmal mehr) zusammen. Alle von mir genutzten Medien
berichteten über die vom Beauftragten erwähnte »red line«. Allerdings
sagten sie – obwohl man dies als Rezipient einer meinungsgefluteten
Berichterstattung gewiss erwarten durfte – kein einziges Wort darüber, was
sich jenseits der genannten Linie ereignen könne, müsse oder werde.

Man könnte das Ganze also vielleicht deuten als: erstens einen der
strategisch üblichen Wetterballons, zweitens als eine der
Standardfeigheiten der medialen Wetterforscher, oder drittens als Beitrag
zum Aschermittwochs-Peinlichkeitswettbewerb.

Früher, also zum Beispiel in Münster (1648), Wien (1814), Versailles (1919)
oder Moskau (1990), gab es bei Erklärungen von Chefdiplomaten
professionelle Grenzen der Unverständlichkeit. Sie rührten nicht aus
Menschenfreundlichkeit, sondern aus sozialer Exklusivität der Beteiligten.
Die derzeit zwischen ungefähr 25 und 45 Jahre alte Generation politischer
Wundertäter hält die Erinnerung an dergleichen aber für überflüssig, da
Geschichte sowieso überschätzt werde und spätestens in der 11. Klasse
abzuwählen war.

Vielleicht deshalb, vielleicht auch aus purer Angst fragten weder die zur
Führung entschlossene deutsche feministische Außenpolitik noch die
jeden Tag zum Äußersten entschlossenen deutschen Leitmedien den
Außenbeauftragten laut, deutlich und notfalls unter Fristsetzung, was
»red line« bedeute, sondern freuten sich tagelang darüber, ihm
applaudieren und uns von seinen rätselhaften Worten berichten zu dürfen.

Das erscheint mir, mit Verlaub, außerordentlich dumm gestellt oder


hasenfüßig. Wenn der legitimierte Sprecher der Europäischen Union
weltöffentlich bekundet, es gelte ab jetzt eine militärisch definierte rote
Linie gegenüber einem bevölkerungsreichen, ökonomisch wichtigen, zur
nuklearen Vernichtung fähigen Staat wie China, sollte man doch von der
Regierung des eigenen Moralstaats erwarten dürfen, dass sie erklärt, was
damit gemeint, also jenseits der roten Linie zu erwarten ist.

Sind »wir« dann beleidigt, essen keine Frühlingsrollen mehr oder erklären
China den Krieg? Oder ist das Ganze nur Wortschaum mit luftiger Höhe?

Grenzen

Die »rote Linie« kennen wir aus vielen bedeutenden wie unbedeutenden
Reden, Schriften und Träumen. Sie muss nicht stets diesen Namen tragen,
sondern läuft auch unter anderen, allerdings nicht ganz synonymen
Bezeichnungen von »Geduld erschöpft« bis »jetzt reicht’s«.

Wobei die rote Linie (viele kennen sie auch aus dem Coronaschnelltest)
sich mehr oder weniger und überdies je nach Bedarf dadurch auszeichnet,
dass sie in ihrem Namen trägt, was dem Rechtsgenossen besonders am
Herzen liegt: die Bestimmtheit. Rote Linie ist Grenze; Grenze ist der
gedachte Abstand zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Mein und
Dein.

Eine naheliegende Quelle der Erkenntnis ist auch hier das deutsche
Grundgesetz. Art. 103 Abs. 2 der deutschen Verfassung lautet:

»Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich
bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.«

Man nennt diese Regel »Gesetzlichkeitsprinzip« oder


»Tatbestandsgarantie«. Juristen mit Latinum kennen ihre Langform als
»nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, praevia, certa et stricta«.
Übersetzt: Kein Verbrechen (existiert), keine Strafe (darf verhängt werden)
ohne geschriebenes (formelles), (zur Tatzeit schon) bestehendes,
abschließend bestimmtes Gesetz.

Das ist keine Spielerei von weltfremden Juristen. Sondern das Ergebnis
einer viele Jahrhunderte langen, mit Leiden und Mut erkämpften
Emanzipation der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit als sozial
wirksame, also geltende Begriffe.
Auch Worte sind Grenzziehungen: Ob ein Ding »Brot« oder »Reis« heißt,
ist kein Zufall. Dasselbe gilt für den Frieden, den Krieg, die Freiheit, die
Selbstbestimmung.

Rote Linie, ich und du

Im zwischenmenschlichen Bereich ist die rote Linie gespeichert im Ordner


»Wenn Du das noch einmal machst …«, sowie unter zahllosen
sinnentsprechenden Varianten, mal mehr, mal weniger überlegt,
dramatisch und ernst gemeint: von Mutters und Vaters erzieherischen
Ultimaten bis zu vom letzthin Verlassenen gestammelten Ankündigungen
der Selbstentleibung ist jedermann auch biografisch verbunden mit den
roten Linien in sich und anderen.

Sozial wirksame und individuell bedeutsame rote Linien müssen


unterschieden werden. Alles andere führt in kindische Auflösung. Das
Entscheidende an jeglicher roten Linie ist, dass es einen Bereich vor
(unterhalb) und einen Bereich hinter (oberhalb) gibt.

Die Linie, von welcher wir sprechen, verläuft nicht gerade oder als Kurve,
in einem natürlich gegebenen Koordinatensystem, um den Menschen eine
analoge Vorstellung von den Verhältnissen der Welt zu vermitteln.
Sondern sie markiert eine menschlich willentlich – also machtvoll –
gesetzte Grenze. Diese verläuft, beispielhaft, zwischen Gut und Böse,
Erlaubt und Verboten, Belohnung und Bestrafung. Wer sich in der
Literaturgattung der Märchen auskennt, weiß von vielen derartigen
Grenzen: als Kreidestrich, als Dornenhecke, als Zaun.

Es gibt »Grenzen des Entgegenkommens«, »Grenzen der Toleranz«,


»Grenzen der Geduld«, also rote Linien, die vom Einzelnen subjektiv und
mit einem weiten Willkürspielraum gesetzt werden. Sind sie zu eng oder
zu weit für die tatsächlichen Verhältnisse, die sie regeln sollen, leidet
zunächst der Grenzzieher darunter. Den anderen kann das so lange
gleichgültig sein, als nicht die inadäquaten Grenzziehungen ihrerseits
Grenzen nach oben oder unten überschreiten.

Im Übrigen gibt es zahllose rote Linien im Bereich des sozialen Verhaltens,


von A wie »Grenzen des Anstands« bis Z wie »Grenzen der Zumutbarkeit«.
Sie sind zumeist informell, überdies sozial hochgradig differenziert. Die
angeblich »allgemeine Meinung« über solche Grenzen, die sich in
klassischen Medien (Fernsehen, Radio, Zeitungen) niederschlägt, ist eine
Fiktion; sie postuliert die Vorstellungen einer gesellschaftlichen
Minderheit als allgemeinmenschliche Standards.

Dass dies nicht die Wahrheit ist, ist eine alte Erkenntnis der Soziologie.
Sozial wichtig und mächtig ist sie, seit das Internet die Möglichkeit einer
beliebig subjektivierbaren, dem Anschein nach gleichberechtigten
Kommunikation bietet. Das Internet hat – unter anderem – die
jahrhundertealte Kommunikationsarchitektur der roten Linien nicht nur
geändert, sondern zerstört.
Rote Linien – Identität

Die aktuelle soziale Kommunikation in den von »uns« bewohnten Teilen


der Welt steht unter dem Vorzeichen der Identität. Über den Rest der Welt
wollen wir hier nichts Spekulatives sagen: Sie ist dem durchschnittlichen
deutschen Kenia-Urlauber oder Bedrohte-Völker-Romantiker so fremd wie
der Mond.

Gerade eben hat eine Auswertung der Medienrückblicke der vergangenen


Jahre enthüllt, dass 75 Prozent aller hiesigen Medienmeldungen sich auf
Ereignisse oder Themen des sogenannten Globalen Nordens beziehen
(Deutschlandfunk, 22.02.2023). In der angeblich »globalisierten Welt«
kommt bei den Reichen (»uns«) die Mehrheit des Globus bestenfalls am
Rande vor.

Beispiel eins: Zahl der Todesopfer des Ukrainekriegs – vielleicht 150.000.


Zahl der Todesopfer des Kriegs in Äthiopien – vermutlich 500.000. Tun Sie
sich, verehrte Leser, den Gefallen und schreiben Sie kurz auf einen Zettel,
welche Fakten Ihnen spontan zum Krieg in Äthiopien einfallen.
Beschreiben Sie sodann kurz die feministische Außenpolitik Deutschlands
im Äthiopienkrieg. Sodann verwenden Sie bitte zwei oder drei Stunden
Ihrer Lebenszeit auf eine Ihren Standards entsprechende Recherche.

Ich erwähne dies wirklich nicht, um dem üblichen


Relativierungsgeschwätz Anlass zum Krähen zu geben. Es gibt im Sinne
dieses Vorwurfs nichts zu relativieren. Ich bitte Sie nur, einmal kurz
darüber nachzudenken.
Beispiel zwei: Auf demselben oben genannten Sender durfte man,
ebenfalls am 22. Februar, eine furchterregende Reportage über die schöne
Tätigkeit des »Sensitivity-Reading« anhören
(Deutschlandfunk-»Büchermarkt«, 22.02.2023). Anlass war natürlich die
etwa zwei Tage lang wichtige Nachricht, dass die Bücher des im Jahr 1996
verstorbenen britischen Schriftstellers Roald Dahl kürzlich mittels
»Sensitivity-Reading« überarbeitet wurden, um der Jugend von heute das
Vernichtungstrauma der Erkenntnis zu ersparen, dass es außer den
Existenzformen der Gegenwart und der Virtuality auch noch den Zustand
der Vergangenheit gibt.

Eine Frage am Rande, verehrte Leser: Was ist eigentlich für Sie das
Gegenteil von Identität, und wie fühlt sich das an?

Ich frage das, weil eine tiefe Erfahrung meines Lebens – und, nebenbei
bemerkt, auch Inhalt von 44 Semestern universitärer Lehrtätigkeit – ist,
dass sich Meinung nicht in der Zustimmung, sondern im Widerspruch
und in Bezug auf den jeweils anderen bildet: Man muss den Widerspruch
formulieren, um die Position des Gegenübers verstehen zu lernen. Das
Ergebnis ist allemal offen.

Frozen River

Zurück zum Anfang. Diese Kolumne muss zu Ende gebracht werden, ohne
den Außenbeauftragten der Europäischen Union oder seine
Beifallstruppen zu beleidigen. Unsereins, Strafjurist qua Ausbildung und
Rechtsstaatsfreund qua Erkenntnis und Erfahrung, assoziiert mit der
»roten Linie« zunächst die Frage nach dem Wie, Warum und Wo-steht-
das?

Das ist, allen Alltagsphilosophen sei es zugegeben, eine typisch juristische


Frage. Aber dies ist nicht von Übel, sondern gut so: Hätten wir das Recht
und den Kampf ums Recht nicht, wären wir in jeder Hinsicht wirklich arm
dran. Recht aber bedeutet: Grenze, rote Linie.

Jedermann steht es selbstverständlich frei zu sagen: Das Hinzufügen von


weiterem Senf zu dieser Bratwurst würde eine rote Linie überschreiten. Es
ist aber ohne Bedeutung. Es ist auch gänzlich belanglos, ob und wann Sie
das Fahrverhalten Ihrer Straßenverkehrspartner unerträglich finden. Ihre
sogenannte Identität spielt in 90 Prozent Ihres Lebensverlaufs überhaupt
keine Rolle. Das ist bitter, aber wahr.

Umso wichtiger ist es, darüber halbwegs informiert zu bleiben und sich
nicht in ein Reich der Fantasie zu begeben, in dem die Wirklichkeit nach
Maßgabe ungeklärter Begriffe bestimmt wird. Das ist keine »theoretische«
Frage. Im Zweifel müssten Sie sterben, bloß weil Sie nicht gefragt haben,
was »rote Linie« bedeutet.

Da lobe ich mir, mit aller kritischen Distanz, dann doch das Strafrecht mit
seinen formellen Orientierungen: Da steht die rote Linie im Grundgesetz.
Genau aus diesen Gründen ist es so wichtig, sie einzuhalten.

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