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Harald Welzer

Das
kommunikative
Gedächtnis
Harald Welzer

Das
kommunikative
Gedächtnis

Eine
Theorie
der
Erinnerung

Verlag C.H. Beck


FÜR NICHOLAS

Mit 25 Abbildungen im Text

Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme


Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis : eine Theorie der Erinnerung /
Harald Welzer. – München : Beck, 2002. isbn 3-406-49336-x

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2002


Umschlaggestaltung: Thomas Mayfried, München
Umschlagabbildung: Erwin Blumenfeld: Portrait (ohne Titel),
New York, ca. 1942 · © Henri & Kathleen Blumenfeld, Gif-sur-Yvette
Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
Druck und Bindung: Friedrich Pustet KG, Regensburg
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier
(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)
Printed in Germany
isbn 3 406 49336 x

www.beck.de
Inhalt

I. Das kommunikative Gedächtnis 7


II. Das Gedächtnis ist erfinderisch. Befunde aus der
Neurowissenschaft und der kognitiven
Psychologie 19
III. Lernen, sich zu erinnern – die Entstehung des
kommunikativen Gedächtnisses 46
1. Erfahrungsabhängige Gehirnentwicklung 46
IV. Zusammensein mit anderen. Die Bildung des
kommunikativen Gedächtnisses 70
1. Die protonarrative Sequenz 76
2. «Sleep ’cause». Die Entstehung der Sprache beim
Sprechen 83
3. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses 91
V. Die Macht der Gefühle.
Über emotionale Erinnerung 111
VI. Fräulein Smillas Gespür für die Gefühle der anderen.
Über kulturelle Rahmen und Schemata 138
1. Das kommunikative Gedächtnis der Familie 149
VII. Der Stoff, aus dem die Lebensgeschichten sind 171
VIII. Versionen eines autobiographischen Gedächtnisses 193
IX. Mein Gedächtnis weiß mehr als ich selbst, oder:
Das kommunikative Unbewußte 208
X. Danksagung 224
XI. Anhang 225
Anmerkungen 227
Bibliographie 236
Personen- und Sachregister 243
I. Das kommunikative Gedächtnis

In den letzten zehn Jahren hat die Neurowissenschaft,


so behauptet jedenfalls Antonio Damasio, einer ihrer promi-
nentesten Vertreter, mehr über das Gehirn und den Geist her-
ausgefunden, als in der gesamten Geschichte der Psychologie
zuvor entdeckt worden ist. Wohlgemerkt, nicht nur über das
Gehirn, sondern auch über den menschlichen Geist, und
diese Behauptung ist durchaus geeignet, die Geistes- und
Kulturwissenschaften bis ins Mark zu erschüttern. Damasio,
der neben Medizin auch Philosophie studiert hat, erhebt, wie
andere Neurowissenschaftler auch, den nicht gerade beschei-
denen Anspruch, die Entstehung des Bewußtseins mit Hilfe
einer immer subtileren Beobachtung und Durchdringung je-
nes im Durchschnitt drei Pfund schweren Organs von milchi-
ger Farbe und weicher Masse aufklären zu können, das unter
unserer Schädeldecke Dienst tut und gewiß das komplexeste
organische System darstellt, das die Evolution hervorgebracht
hat.
Ganz zweifellos sind in den vergangenen Jahren – insbeson-
dere mit Hilfe der sogenannten bildgebenden Verfahren, die
Gehirnaktivität und damit womöglich auch Denkvorgänge
sichtbar machen können – beeindruckende Befunde gewon-
nen worden. Man weiß inzwischen, daß in jedem unserer
Köpfe drei- bis vierhundert Milliarden Nervenzellen, «Neu-
ronen», arbeiten – 150 000 Neuronen je Quadratmillimeter
Hirnrinde –, die zu neuronalen Netzwerken verknüpft sind,
so daß jedes Neuron theoretisch mit bis zu 10 000 anderen in
Verbindung stehen kann. Die Zahl der Verbindungsstellen,
der «Synapsen», beläuft sich auf unvorstellbare 100 Billionen,
vielleicht sind es im Einzelfall ein paar mehr oder weniger.
Die faserigen Verbindungen, über die die Neuronen kommu-
nizieren, würden aneinandergelegt eine Strecke von 500 000
Kilometern ergeben; heruntergerechnet auf jeden Kubikmil-

7
limeter Hirnrinde sind das immer noch einige Kilometer.
Dieses Dickicht steuert nicht nur unsere Körperfunktionen,
-aktionen und -reaktionen von der Wahrnehmung über die
Handlung bis zur Erfahrung, sondern es ist auch für die merk-
würdige menschliche Fähigkeit verantwortlich, daß wir über
uns selbst und eben auch über unser Gehirn nachdenken
können. Und das wirft eine wichtige Frage auf: was denn die
Substanz ist, die über all die endlosen Kilometer labyrinthi-
scher Netzwerke geschickt wird und uns selbst und damit un-
ser Bewußtsein ausmacht, was also der Stoff ist, den die Mil-
lionen und Abermillionen Neuronen so emsig und kreativ
verarbeiten. Sowenig dieser Stoff materiell sein kann, so we-
nig genügt sich doch das Gehirn selbst – denn Gedanken sind
etwas anderes als synaptische Verschaltungen, und das «En-
gramm», das neuronale Verschaltungsmuster, das etwa einen
Vers aus dem «Faust» repräsentiert, ist nicht identisch mit dem
Sinn, den wir diesem Vers beimessen.
Wir wissen inzwischen, daß der neuronale Apparat unter-
schiedliche Systeme für die Verarbeitung von Kognitionen
und Emotionen vorsieht, daß das Gedächtnis, das unser Selbst
ausmacht, sich auf eine Reihe mittels biochemischer und
elektrophysiologischer Prozesse kommunizierender Hirnor-
gane stützt, von deren Funktion man vor gar nicht allzu langer
Zeit noch nichts wußte. Wir wissen, daß unser Gehirn unter-
schiedliche Systeme für die Kurzzeit- und die Langzeitverar-
beitung von Gedächtnisinhalten in Anspruch nimmt und daß
es unterschiedliche Gedächtnissysteme für selbstbezogene,
für wissensbasierte, für körperliche und für implizite Wahr-
nehmungen und Erfahrungen gibt. Damit wissen wir eine
Menge über die Verarbeitung, aber so gut wie nichts über das
Verarbeitete.
Nach dem Studium der neurowissenschaftlichen Standardli-
teratur fühlt man sich ein bißchen wie der Besucher einer gi-
gantischen neuen Fabrikanlage, in der sich freundliche Inge-
nieure alle Mühe geben, einem die sinnreichen Funktionen
jeder einzelnen Maschine en detail näherzubringen, während
einen die ganze Zeit die Frage beschäftigt, ob denn das alles

8
wohl zur Herstellung von Panzern oder von Margarine dient.
Im Grunde ist man so irritiert, daß man sich nicht einmal
mehr sicher ist, ob man den Hinweis über dem Fabriktor,
welchem Zweck das Wunderwerk dient, nur übersehen hat
oder ob es ihn überhaupt gab.
Wechseln wir das Szenario: Auf der Erde leben gegenwärtig
etwa sechs Milliarden Menschen, die sich in unterschiedlicher
Anzahl auf fünf Kontinente verteilen, mehr als fünftausend
verschiedene Sprachen sprechen, auf einige tausend Jahre je
eigene Geschichte und Kultur zurückblicken, Nahrungsmit-
tel, Sitzmöbel und, je nachdem, Raumschiffe produzieren
und sich mit Hilfe einer Unzahl einzigartiger Kommunikati-
onsmittel verständigen: Sprache, Schrift, Musik, Malerei,
Tanz, Film usw. Wir wissen von Bruce Chatwin, daß es in
Australien Menschen gibt, die die Topographie ihrer Welt
durch jeweils besondere Gesänge markieren, daß andere Men-
schen, je nach ihrer Lebensumwelt, vierzig verschiedene For-
men von Schnee, Eis oder Sand unterscheiden können, und
wir alle kennen das doch eigentlich sehr überraschende Phä-
nomen, daß wir uns über ungeheuer komplexe Sachverhalte
mit einem kurzen Blick in die Augen des anderen verständi-
gen können, mit einem Blick, wie Chris Marker gesagt hat,
von der Dauer einer zweiunddreißigstel Sekunde, so kurz wie
ein Bild in einem Film.
Und auch wenn wir als Angehörige einer bestimmten Gruppe
mit einer besonderen Geschichte, Kultur und Sprache nur das
wenigste von dem verstehen, was die anderen tun und warum
sie es tun, so wissen wir doch, daß die entscheidenden Bedin-
gungen menschlichen Lebens – jene, die uns von Tieren un-
terscheiden – Bewußtsein und autobiographisches Gedächtnis
sind, und die bilden sich in Kommunikation. Es ist doch
ziemlich erstaunlich, daß wir über alle Differenzen, über alle
kulturellen, regionalen, sprachlichen Unterschiede hinweg
prinzipiell zur Verständigung in der Lage sind, ja daß sogar die
soziale Vernetzung all der Milliarden Menschen offenbar so
eng ist, daß es im Durchschnitt nur sechs Personen braucht,
um eine Nachricht im Medium der mündlichen Weitergabe

9
an eíne willkürlich ausgewählte Person auf einem beliebigen
Kontinent in einem beliebigen Kulturkreis weiterzugeben.
Mit anderen Worten: Was die Welt im Innersten zusammen-
hält, ist Kommunikation, genauer gesagt das unerschöpfliche
und spezifisch menschliche Potential, Netzwerke direkter
und indirekter, enger und loser, naher und ferner Verbindun-
gen herzustellen.
Ich nehme an, und das werde ich in den folgenden Kapiteln
zu zeigen versuchen, daß das Phänomen des menschlichen
Zusammenlebens wahrscheinlich nicht minder komplex ist
als die unüberschaubar komplizierte Architektur des mensch-
lichen Gehirns, daß wir letztere aber nicht wirklich verstehen

erstellt von ciando


können, wenn wir davon absehen, daß die Inhalte, die dieses
Wunderorgan verarbeitet, vor allem sozialer Natur sind. In
den Neurowissenschaften wird irrigerweise weit überwie-
gend der Begriff der «Information» verwendet, wenn davon
gesprochen wird, was das Gehirn ver- und bearbeitet. Aber
das Gehirn hat es nur selten mit einfach gegebenen Reizen,
Daten oder Werten zu tun, sondern meist mit «Informatio-
nen», die Bedeutung haben, und Bedeutungen entstehen
nicht neuronal und individuell, sondern durch Kommunika-
tion. Aus Sicht des Neurowissenschaftlers Wolf Singer hängt
die Entstehung von Bewußtsein davon ab, daß Gehirne in
einen Dialog miteinander eintreten können. Nach seiner
Auffassung «kann ein Gehirn erst dann, wenn es zu einem sol-
chen Dialog in der Lage ist, jene Erfahrungen machen, die
wir mit dem Bewußtsein für das eigene Ich und die eigenen
Gefühle in Verbindung bringen, und nur dann kann sich die
Erfahrung der Ichwahrnehmung und der Subjektivität ent-
wickeln.»1 Mit anderen Worten: Die Entstehung von Be-
wußtsein ist jenseits von Kommunikation mit anderen nicht
möglich, sie liegt im Dialog «zwischen mehreren Gehirnen»
begründet und ist damit aus Singers Sicht rein neurobiologi-
schen Erklärungsversuchen nicht zugänglich.
Lange bevor im Kleinkindalter, mit drei oder vier Jahren, un-
ser reflexives, selbstbezogenes Bewußtsein erwacht, hat uns
das Zusammensein mit anderen mit einer Unzahl von Bedeu-

10
tungen über die Dinge des Lebens vertraut gemacht. Wir ha-
ben sie in der Praxis des Zusammenseins erfahren, sie werden
nicht «erlernt» oder «verinnerlicht», sondern im genauen
Wortsinn erlebt. Da sich sowohl die organische Reifung des
Gehirns als auch die Entstehung neuer Nervenzellen sowie
die Etablierung ihrer Netzwerkstrukturen noch über lange
Zeiträume nach der Geburt erstrecken und in Teilen lebens-
lang in Entwicklung begriffen sind, können wir davon spre-
chen, daß sich das Gehirn selbst in Abhängigkeit von sozialer
Erfahrung entwickelt, formt und strukturiert.
Dieses Buch beschäftigt sich zunächst mit dem Gedächtnis,
wie es aus Sicht der Neurowissenschaften und der kognitiven
Psychologie verstanden wird. Derjenige Teil der neuronalen
Entwicklung, der nicht genetisch festgelegt ist – und das ist
ein beträchtlicher Teil –, wird, wie ich im dritten und vierten
Kapitel zu zeigen versuche, durch vielfältige Modi des Zu-
sammenseins mit anderen gebildet, das heißt durch nicht-
sprachliche und sprachliche Kommunikation. In den Neuro-
wissenschaften wird dieser Umstand als «erfahrungsabhängige
Gehirnentwicklung» bezeichnet, und hier scheint mir der
Schlüssel dafür zu liegen, daß wir uns ein wirklichkeitsange-
messeneres Produkt vorstellen können, das in der wundersa-
men Fabrik unter unserer Schädeldecke be- und verarbeitet
wird: Es sind nämlich genausowenig «Informationen», die
durch die neuronalen Schaltkreise rauschen, wie ein Telefon-
gespräch aus den digitalen Impulsen besteht, die durch das
Glasfaserkabel jagen. Es sind sozial gebildete bedeutungsvolle
Erfahrungen und Verständigungen, die unser Gehirn unter
Vollbeschäftigung halten und sowohl unser Gedächtnis wie
unser Bewußtsein entwickeln und aufrechterhalten.
Die entscheidenden Operatoren bei der Bewertung von Erfah-
rung und Zuweisung von Bedeutung sind Emotionen – damit
beschäftigt sich das fünfte Kapitel. Ausfälle und Störungen im
emotionalen Verarbeitungssystem führen bei den Betroffenen
zum Verlust der Fähigkeit, die Botschaften ihrer Gesprächs-
partner jenseits des manifesten Inhalts zu entschlüsseln, mehr
noch, sie führen oft auch zum Totalausfall von Entschei-

11
dungsfähigkeit: Ohne das Potential, Vorgänge emotional zu
bewerten, kann man nicht intuitiv handeln, und wenn man
das nicht kann, ist eine mögliche Entscheidung so gut oder
schlecht wie jede andere. Es gibt dann einfach keinen Grund,
die eine der anderen vorzuziehen (was Damasio ironisch als
die Grenze der reinen Vernunft bezeichnet).
All dies diskutiere ich vor dem Hintergrund der zentralen
Frage, wie sich unser Gedächtnis bildet, wie es arbeitet und
was es verarbeitet – zunächst, wie die Neurowissenschaften,
vor allem mit Blick auf das Individuum. In den Kapiteln
sechs und sieben wird diese Optik erweitert. Es geht dann
nämlich um die sozialen Prozesse der Erfahrungs- und Ver-
gangenheitsbildung: Hier wird die Rolle sozialer und kultu-
reller Schemata für die Entwicklung unseres Gedächtnisses
diskutiert, und es werden anhand von Interview- und Ge-
sprächsbeispielen soziale Prozesse der Erinnerungs- und Ver-
gangenheitsbildung vorgestellt. Dabei zeigt sich, daß unsere
lebensgeschichtlichen Erinnerungen, also das, was wir für die
ureigensten Kernbestandteile unserer Autobiographie halten,
gar nicht zwingend auf eigene Erlebnisse zurückgehen müs-
sen, sondern oft aus ganz anderen Quellen, aus Büchern, Fil-
men und Erzählungen etwa, in die eigene Lebensgeschichte
importiert werden. Das achte Kapitel schließlich kehrt zum
individuellen autobiographischen Gedächtnis zurück und
beschäftigt sich damit, wie sich die lebensgeschichtliche Er-
innerung über die Zeit hinweg verändert. Es handelt sich da-
bei um den Vergleich zweier biographischer Interviews mit
einer Person, die ich im Abstand von elf Jahren über ihr Le-
ben befragt habe.
In allen Kapiteln zeigt sich, soviel vorweg, auf unterschiedli-
che Weise, daß unser Gedächtnis, und damit unser Selbst, ein
durch und durch kommunikatives Gedächtnis ist, auch wenn
vor allem Angehörige des westlichen Kulturkreises zutiefst
der Auffassung sind, Individuen zu sein, die autonom gegen-
über und getrennt von anderen existieren. «Die Selbstbesin-
nung des Individuums ist nur ein Flackern im Stromkreis des
geschichtlichen Lebens», hat Hans-Georg Gadamer etwas

12
streng geschrieben, und darauf werde ich im Schlußkapitel
zurückkommen, das auch einige Gedanken dazu vorträgt, daß
unser Gedächtnis mehr weiß, als wir selbst wissen, und daß
auch unser Zusammenleben und unsere Fähigkeit zur gelin-
genden Kommunikation auf einer Fülle von Regeln und
Kompetenzen basiert, die wir mit traumhafter Sicherheit be-
herrschen, ohne sie zu kennen. Das Buch endet also mit eini-
gen Gedanken über ein «kommunikatives Unbewußtes», und
ich sage vorsichtshalber gleich, daß man sich darunter nichts
Psychoanalytisches vorzustellen hat: Dieses Unbewußte hat
nichts mit den dunklen und ominösen Tiefenschichten unse-
rer Seele zu tun, sondern bildet ganz im Gegenteil die Grun-
dierung für unsere bewußten Wahrnehmungen und Refle-
xionen, ist also etwas ganz und gar Alltägliches, ja eigentlich
das, was Alltag, Routine, Gewohnheit überhaupt erst ermög-
licht.
Bevor ich aber mit all dem beginne, sind noch ein paar Worte
zum «kommunikativen Gedächtnis» selbst nötig, damit ver-
ständlich wird, aus welchem Entstehungszusammenhang und
in welche geistige Urheberschaft diese Begriffsverbindung
gehört. Wir verdanken den Arbeiten von Aleida und Jan Ass-
mann eine recht genaue kulturwissenschaftliche Bestimmung
von Gedächtnisformen, die eine dringend notwendige Diffe-
renzierung des so eindrucksvollen und faszinierenden, nichts-
destoweniger aber ziemlich unklaren Konzepts vom «kollekti-
ven Gedächtnis» von Maurice Halbwachs geliefert haben. Jan
Assmann hat das «kulturelle Gedächtnis» zunächst definiert als
«Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interak-
tionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert
und von Generation zu Generation zur wiederholten Ein-
übung und Einweisung ansteht».2 Diesen Sammelbegriff
setzt Assmann ab vom «kommunikativen Gedächtnis» einer-
seits und von «Wissenschaft» als einer hochspezialisierten
Form von Gedächtnisbildung andererseits.
Das «kommunikative Gedächtnis» ist Assmann zufolge ge-
kennzeichnet «durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit,
Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unor-

13
ganisiertheit»3 – es lebt in interaktiver Praxis im Spannungsfeld
der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen
und Gruppen. Das «kommunikative Gedächtnis» ist im Ver-
gleich zum «kulturellen» beinahe so etwas wie das Kurzzeitge-
dächtnis der Gesellschaft – es ist an die Existenz der lebendigen
Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden und
umfaßt etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen. Der
Zeithorizont des «kommunikativen Gedächtnisses» wandert
entsprechend «mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt
mit. Das kommunikative Gedächtnis kennt keine Fixpunkte,
die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart immer
weiter ausdehnende Vergangenheit binden würden.»4 Eine
dauerhaftere Fixierung der Inhalte dieses Gedächtnisses ist
nur durch «kulturelle Formung» zu erreichen, d. h. durch or-
ganisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die
Vergangenheit. Während das «kommunikative Gedächtnis»
durch Alltagsnähe gekennzeichnet ist, zeichnet sich das «kul-
turelle Gedächtnis» durch Alltagsferne aus. Es stützt sich auf
Fixpunkte, die gerade nicht mit der Gegenwart mitwandern,
sondern als schicksalhaft und bedeutsam markiert werden und
durch «kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und
institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung,
Betrachtung) wachgehalten» werden.5 Merkmale des «kultu-
rellen Gedächtnisses» sind erstens Identitätskonkretheit – d. h.,
es ist bezogen auf den Wissensvorrat und die konstitutive Be-
deutung dieses Vorrats für die Identität einer Wir-Gruppe –
und zweitens Rekonstruktivität: Dieses Wissen der Wir-Gruppe
bezieht sich auf die Gegenwart. «Es ist zwar fixiert auf unver-
rückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede
Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinanderset-
zende, bewahrende und verändernde Beziehung.»6
Assmann zufolge existiert das «kulturelle Gedächtnis» in zwei
Modi, nämlich in der Potentialität des in Archiven, Bildern
und Handlungsmustern gespeicherten Wissens und als Ak-
tualität, also in dem, was aus diesem unermeßlichen Bestand
nach Maßgabe von Gegenwartsinteressen verwendet wird.
Als weitere Merkmale des «kulturellen Gedächtnisses» nennt

14
Assmann seine Geformtheit – etwa durch Schrift, Bilder und
Riten –, seine Organisiertheit – durch Zeremonialisierung
oder durch Spezialisierung von Erinnerungsexperten – und
schließlich seine Verbindlichkeit, d. h., es ist durch einen nor-
mativen Anspruch gekennzeichnet, der den «kulturellen Wis-
sensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert».7
Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen kommt Assmann
zu jenem Begriff des «kulturellen Gedächtnisses», wie er seit-
her in der Fachdiskussion verwendet wird: der «jeder Gesell-
schaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiederge-
brauchs-Texten, -Bildern und -Riten [. . .], in deren ‹Pflege›
sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv ge-
teiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über
die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von
Einheit und Eigenart stützt».8
Soweit die mittlerweile klassische Definition. Das «kommuni-
kative Gedächtnis» bezeichnet demgegenüber die eigensin-
nige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie
für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der Groß-
erzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie
dieser beilegen. «Kulturelles» und «kommunikatives Gedächt-
nis» sind also nur analytisch zu trennen; in der Erinnerungs-
praxis der Individuen und sozialen Gruppen hängen ihre For-
men und Praktiken miteinander zusammen, weshalb sich die
Gestalt des «kulturellen Gedächtnisses» auch – zumindest
über längere Zeitabschnitte hinweg – wandelt, indem be-
stimmte Aspekte ab- und andere aufgewertet und wieder an-
dere neu hinzugefügt werden.
Die Definition Assmanns ist deutlich auf die kommunikative
Praxis von Gruppen und Gesellschaften bezogen und klam-
mert vor diesem Hintergrund mit Recht die Frage aus, wie
das kommunikative Gedächtnis auf der Ebene des Individu-
ums beschaffen ist. Genau diese Frage versuche ich im ersten
Teil dieses Buches zu klären, in dem es um die Entstehung,
die Funktionsweise und die emotionalen Qualitäten des Ge-
dächtnisses geht. Besonders die Entwicklungspsychologie hat
in den vergangenen Jahren eindrucksvolle Untersuchungen

15
dazu vorgelegt, daß für die Herausbildung eines autobiogra-
phischen Gedächtnisses die soziale Praxis eines «memory talk»
notwendig ist, die das Thematisieren vergangener Ereignisse,
Erlebnisse und Handlungen im Rahmen familialer Interak-
tion einübt9 – eine Art unbewußter Praxis der Herausbildung
unterschiedener Zonen von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, die Menschen zu «geschichtlichen Wesen» macht.
Dieser Prozeß findet als gemeinsame Verfertigung erlebter
Vergangenheiten («conversational remembering»10) eine le-
benslange Fortsetzung, wobei nicht unbedingt ausdrücklich
über Vergangenheit gesprochen werden muß, wenn Vergan-
genes vermittelt wird. Man kann sich das einfach daran klar-
machen, daß z. B. bei Familientreffen über das Erzählen per-
sönlicher Erlebnisse, etwa, wie sich die Großmutter und der
Großvater kennengelernt haben, im Hintergrund der erzähl-
ten Geschichte zugleich so etwas wie ein historischer Asso-
ziationsraum der Umstände, des Zeitkolorits, des Habitus der
historischen Akteure etc. vermittelt wird. Ein großer Teil der
Praxis des kommunikativen Gedächtnisses transportiert Ver-
gangenheit und Geschichte en passant, von den Sprechern
unbemerkt, beiläufig, absichtslos.
Und damit sind wir wiederum bei dem, was ich das kommuni-
kative Unbewußte nenne. Im Grunde bin ich der Auffassung,
daß wir den Kern des kommunikativen Gedächtnisses, nämlich
den, der in seiner Praxis selbst besteht, wissenschaftlich immer
nur unzureichend und unvollständig erfassen können – ästhe-
tische Zugänge wie literarische Autobiographien (wie etwa
«Erinnerung, sprich!» von Vladimir Nabokov), Filme (wie
Chris Markers «Sans Soleil») etc. kommen wegen ihrer Frei-
heit, ihre Überlegungen nicht belegen zu müssen, dem Phäno-
men des kommunikativen Gedächtnisses oft näher, als es mit
den sperrigen Instrumenten der wissenschaftlichen Argumen-
tation möglich ist.
Das gilt besonders dann, wenn man sich in das Feld der unbe-
wußten Wahrnehmungs- und Gedächtnisbildungsvorgänge
hineinwagt, die sich nur sehr eingeschränkt in wissenschaft-
liche Begründungszusammenhänge einfügen lassen. Nehmen

16
Abb.1: «Papa!» (Privatarchiv des Autors)

wir zum Beispiel die Überlegung, die der Entwicklungspsy-


chologe Colwyn Trevarthen angestellt hat, der glaubt, daß
sich bereits im Säuglingsalter beim Kind Repräsentationen
seiner Bezugspersonen herausbilden, die die Art und Weise
der Bewegungen, der Körperhaltung, der Gesten dieser Per-
sonen umfassen. Wie sollte man solch eine durchaus plausible
Annahme verifizieren? Man würde damit größte Schwierig-
keiten haben, denn wir wissen ja nicht, was das Baby weiß,
sondern können das nur über Umwege und in vorsichtiger
Annäherung erschließen. Und deshalb möchte ich diese einlei-
tenden Überlegungen mit einer kurzen Geschichte beschlie-
ßen, die mich fasziniert, seit sie geschehen ist. Vielleicht, aber
da fängt mein Gedächtnis schon an, die Vergangenheit zu er-
finden, vielleicht liegt in dieser Geschichte auch der erste An-
stoß, dieses Buch zu schreiben.
Sie geht einfach so, daß ich mit meinem Sohn Nicholas, als er
vielleicht zweieinhalb Jahre alt war, Fotoalben durchblätterte.
Als das oben abgebildete Foto kam, drückte er spontan seinen
Zeigefinger auf die linke Person und sagte «Papa!». Diese
Identifizierung war richtig, nur daß «Papa» auf diesem Foto

17
zwanzig Jahre jünger ist, ziemlich anders aussieht als heute
und obendrein nur von hinten zu sehen ist. Was also hat das
Kind dazu veranlaßt, auf diesem Foto erstens überhaupt etwas
Signifikantes zu entdecken und dieses Signifikante dann auch
noch sicher von der zweiten Person auf dem Foto zu unter-
scheiden? Ich habe ihm das Bild später noch mehrmals ge-
zeigt, das Ergebnis war jedesmal dasselbe. Kann es sein, daß
das Gedächtnis des kleinen Jungen eine Repräsentation der
Gesamtgestalt seines Papas gebildet hatte, die deutlich mehr
als das äußere Erscheinungsbild umfaßte und die gerade
darum in jenem zwei Jahrzehnte alten Rückenporträt wie-
dererkennbar war? Sei es, wie es sei. Jedenfalls weiß unser Ge-
dächtnis viel mehr, als wir selbst wissen, und einige Gründe
dafür, warum das so ist, finden Sie in den folgenden Kapiteln.
II. Das Gedächtnis ist erfinderisch.
Befunde aus der Neurowissenschaft und
der kognitiven Psychologie

«Eine meiner ältesten Erinnerungen würde, wenn sie


wahr wäre, in mein 2. Lebensjahr hineinreichen. Ich sehe
noch jetzt mit größter visueller Genauigkeit folgende Szene,
an die ich noch bis zu meinem 15. Lebensjahr geglaubt habe:
Ich saß in meinem Kinderwagen, der von einer Amme auf
den Champs-Élysées (nahe beim Grand Palais) geschoben
wurde, als ein Kerl mich entführen wollte. Der gestraffte Le-
derriemen über meiner Hüfte hielt mich zurück, während
sich die Amme dem Mann mutig widersetzte (dabei erhielt
sie einige Kratzwunden im Gesicht, deren Spuren ich noch
heute vage sehen kann). Es gab einen Auflauf, ein Polizist mit
kleiner Pelerine und weißem Stab kam heran, worauf der Kerl
die Flucht ergriff. Ich sehe heute noch die ganze Szene, wie
sie sich in der Nähe der Metro-Station abspielte.
Doch als ich 15 Jahre alt war, erhielten meine Eltern einen
Brief jener Amme, in dem sie ihren Eintritt in die Heilsarmee
mitteilte und ihren Wunsch ausdrückte, ihre früheren Verfeh-
lungen zu bekennen, besonders aber die Uhr zurückzugeben,
die sie als Belohnung für diese – einschließlich der sich selbst
zugefügten Kratzspuren – völlig erfundene Geschichte be-
kommen hatte. Ich mußte also als Kind diese Geschichte
gehört haben, an die meine Eltern glaubten. In der Form
einer visuellen Erinnerung habe ich sie in die Vergangenheit
projiziert. So ist die Geschichte also eine Erinnerung an eine
Erinnerung, allerdings an eine falsche. Viele echte Erinnerun-
gen sind zweifellos von derselben Art.»
Diese kleine Geschichte stammt von dem berühmten Ent-
wicklungspsychologen Jean Piaget11, und besonders seine
Schlußfolgerung ist überraschend. Gewiß kommt es gele-

19
gentlich vor, daß wir feststellen, irgend etwas «falsch» erinnert
zu haben, aber daß «echte» Erinnerungen oft mit etwas zu tun
haben sollen, das wir gar nicht selbst erlebt haben, daß wir
unsere Lebensgeschichte sozusagen mit Erinnerungen aus
zweiter Hand ausstatten, mutet zunächst doch etwas be-
fremdlich an. Ein Blick auf den aktuellen Stand der Gedächt-
nisforschung mag vielleicht Aufschluß darüber geben, wie-
weit wir Piaget in seiner Überlegung folgen können.
Bekanntlich hat die lange Zeit gängige Vorstellung, Erleb-
nisse und Ereignisse würden im Gehirn wie in einem Com-
puter gespeichert und wären – vorausgesetzt, man verfügt
über die richtigen Passwords und Aufrufbefehle – aus diesem
Speicher wieder abrufbar, mit der Funktionsweise des Ge-
dächtnisses, soweit sie bis heute entschlüsselt ist, nicht allzu
viel zu tun. Wie die falsche Erinnerung Piagets schon nahe-
legt, kann man eher davon ausgehen, daß das Gedächtnis ein
konstruktives System ist, das Realität nicht einfach abbildet,
sondern auf unterschiedlichsten Wegen und nach unter-
schiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert. Das Ge-
dächtnis als «constructive memory framework»12 operiert mit
unterschiedlichen Systemen des Einspeicherns, Aufbewah-
rens und Abrufens, die ihrerseits wieder, je nach Art und
Funktion verschiedener Lern- und Repräsentationsebenen,
auf unterschiedliche Subsysteme des Gedächtnisses zugrei-
fen. Mentale Repräsentationen von Erfahrungen werden
mithin als multimodale Muster der unterschiedlichen Aspek-
te und Facetten der jeweiligen Erfahrungssituation verstan-
den.
Die Erinnerungsspuren oder Engramme, die die Erfahrungen
im Gehirn repräsentieren, sind nun nicht – wie man lange
Zeit annahm – an bestimmten Stellen des Gehirns zu finden,
sondern als Muster neuronaler Verbindungen über verschie-
dene Bereiche des Gehirns verteilt und als solche, verändert
oder unverändert, abrufbar. «Dabei wird zunächst ein Teil der
Komponenten, die eine bestimmte Erfahrung konstituieren,
reaktiviert, woraufhin sich dann die Aktivierung auf die übri-
gen konstituierenden Komponenten der Erfahrung auswei-

20
tet.»13 Sich zu erinnern bedeutet mithin, assoziativ Muster zu
aktivieren, und bei diesem komplexen Vorgang kann einiges
mit dem Erinnerungsinhalt geschehen. Schon intuitiv leuch-
tet ein, daß dieser Prozeß der Muster-Vervollständigung so
vielfältigen internen und externen Einflüssen unterliegt, daß
von einer authentischen Erinnerung an die Situation und
das Geschehen, die sich bei jemandem als eine Erfahrung
niedergeschlagen haben, nur im seltenen Grenzfall auszuge-
hen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und
eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung, sagen wir: an-
wendungsbezogen modelliert.
Allgemein, so resümiert Daniel Schacter seinen umfangrei-
chen Überblick über die Befunde der neurowissenschaftli-
chen Gedächtnisforschung, ließe sich denn auch festhalten,
daß unsere Gedächtnisse einigermaßen ordentliche Arbeit im
Aufbewahren der allgemeinen Konturen unserer Vergangen-
heit und im Festhalten vieler Ereignismerkmale leisten,14 daß
die Präzision dieser Erinnerungsarbeit aber aus vielerlei
Gründen doch arg begrenzt ist.
Denn zunächst einmal ist ganz generell davon auszugehen, daß
Erinnerungen mit der Zeit verblassen oder ganz verschwinden,
insbesondere dann, wenn sie selten oder nie abgerufen werden,
weil die neuronalen Verbindungen, die die Erinnerungen im
Gehirn repräsentieren, im Fall ihrer Nichtinanspruchnahme
offenbar schwächer werden und sich schließlich auflösen. Dies
ist übrigens nicht zuletzt ein Grund dafür, daß sich Erinnern
nicht getrennt von Vergessen diskutieren läßt. Während etwa
alltägliche und routinehafte Verrichtungen von äußerst gerin-
ger Erinnerungsrelevanz sind, werden Ereignisse, die aufgrund
ihrer emotionalen Bedeutung einen besonderen Aufmerksam-
keitswert haben, offensichtlich gerade deswegen erinnert, weil
man sie sich oft wieder «ins Gedächtnis ruft», und auch, weil
man häufig über sie spricht.
Dies wirft aber sofort die Frage auf, ob eigentlich Erinnern
und Vergessen so klar zu scheidende Aktivitäten sind oder ob
nicht das Gedächtnis prinzipiell als ein Wandlungskontinuum
aufzufassen ist, auf dem weniger relevante Wahrnehmungen

21
Abb. 2: Schematische Darstellung der Beziehung zwischen
Dauer von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis (Abszisse) und
der Tiefe der Informationsverarbeitung (Ordinate). Gestri-
chelt ist noch ein «intermediäres Gedächtnis» als weitere
mögliche Form zeitbezogenen Gedächtnisses dargestellt
(Markowitsch 2002, S. 86).

und Erfahrungen sukzessive dem Verblassen und Vergessen


anheimfallen, während biographisch bedeutsame aufbewahrt,
vertieft, refiguriert, neu bewertet, kurz: verändert werden.
Daneben ist zu bedenken, daß es nicht nur einen einzigen
Typ von Erinnerung gibt, sondern eine ganze Reihe verschie-
dener, die nach unterschiedlichen Logiken operieren und die
unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zunächst kann Ge-
dächtnis auf einer zeitlichen Ebene differenziert werden, in
Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Während
das Ultrakurzzeitgedächtnis im Bereich von Millisekunden
operiert und sich vorwiegend auf die neuronalen Vorgänge
etwa des Wahrnehmungssystems bezieht, bleibt das Kurzzeit-
gedächtnis über einige Sekunden bis wenige Minuten aktiv –
so lange etwa, wie Sie benötigen, eine nachgeschlagene Tele-
fonnummer in die Tastatur einzugeben. Die durchschnittliche
Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses liegt etwa bei sieben In-
formationseinheiten, die «online» präsent gehalten werden

22
können. Das Kurzzeitgedächtnis ist weitgehend deckungs-
gleich mit dem in der neueren Literatur häufig anzutreffenden
«Arbeitsgedächtnis», dem zu einem bestimmten Zeitpunkt ak-
tiven Teil des Gedächtnisses.15 Alle zeitlich darüber hinausge-
henden Gedächtnisfunktionen werden als Langzeitgedächtnis
bezeichnet.
Daneben lassen sich auf einer funktionalen Ebene unter-
schiedliche Gedächtnissysteme mit je verschiedenen Einspei-
cherungs- und Abrufmodalitäten bestimmen. «Das zerebrale
System, mit dem ich lernte, einen Baseball zu treffen, ist ein
anderes als jenes, mit dessen Hilfe ich mich erinnere, wie ich
den Ball zu treffen versuchte und ihn verfehlte, und dieses
unterscheidet sich wiederum von dem System, das mich an-
gespannt und nervös sein ließ, als ich am Schlagmal Aufstel-
lung nahm, nachdem ich den Ball beim letzten Mal voll an
den Kopf gekriegt hatte. Es geht in allen Fällen um eine Form
von Langzeitgedächtnis [. . .], die aber jeweils von einem an-
deren neuralen Zentrum vermittelt wird.»16
Wie der Neuropsychologe Joseph LeDoux hier andeutet, un-
terscheidet die neuere neurowissenschaftliche Gedächtnisfor-
schung Typen von Gedächtnissystemen, und zwar im wesent-
lichen vier, die untereinander jeweils noch differenzierbar
sind (s. Abb. 3).
Da die Erforschung jedes dieser vier Gedächtnissysteme, die
natürlich – wie das Beispiel von LeDoux schon andeutet – in-
terdependent sind, Ergebnisse hervorgebracht hat, die für das
Verstehen des kommunikativen Gedächtnisses wichtig sind,
hierzu ein paar Erläuterungen.
Es ist eine sehr einfache Erfahrungstatsache, daß es Erinne-
rungen gibt, die man in vollem Bewußtsein absichtsvoll wie-
der «hervorholen» und möglichst detailliert zu erinnern ver-
suchen kann – biographische Wendepunkte, abenteuerliche
Erlebnisse, einschneidende Geschehnisse, aber auch Anekdo-
ten. Die Modi dieses «Vor-Augen-Führens» können sehr un-
terschiedlich sein: indem man intensiv an die entsprechenden
Begebenheiten denkt, indem man sie jemandem erzählt, in-
dem sie innerhalb einer Gruppe, die diese Erinnerung teilt,

23
Abb. 3: Unterteilung des Langzeitgedächtnisses in vier Grund-
formen (Markowitsch 1996, S. 55).17

ausgetauscht wird,18 indem Erinnerungsgemeinschaften wie


die Familie aus ganz persönlichen Anlässen – Hochzeitstage,
Geburtstage, Jubiläen etc. – gemeinsam Ereignisse aus der
Vergangenheit rekonstruieren usw. Die Gesamtheit dieser ex-
pliziten, intentionalen Akte des Erinnerns, bei denen man
sich auch bewußt ist, daß man sich erinnert, bildet das episo-
dische Gedächtnis. Es bildet die Basis dafür, daß einzelne Zu-
sammenhänge aus unserer Vergangenheit und unserem bio-
graphischen Erleben als lebensgeschichtliche Episoden, als
«meine» Vergangenheit konturiert werden können. Die In-
halte des semantischen Gedächtnisses, das neuerdings etwas
zutreffender auch als «Weltwissen» oder «Wissenssystem»
bezeichnet wird, sind ebenfalls grundsätzlich bewußt verfüg-
bar, sind aber kontextfrei und beziehen sich auf Wissensin-
halte, wie man sie in der Schule gelernt hat oder wie sie in
den beliebten Quizsendungen im Fernsehen abgefragt wer-
den. Es gibt aber eine vermutlich weit größere Fülle von Er-
innerungen, die aktiviert werden, ohne daß man sich bewußt
wäre, daß man sich gerade erinnert: das Sprechen einer Spra-
che, das Einhalten grammatischer Regeln, die Fähigkeit, eine
Unzahl von Zeichensystemen dechiffrieren zu können, Tisch-

24
sitten einhalten zu können usw. – all dies sind Erinnerungen,
die die Grundsemantik unserer Alltagsorientierung bilden,
ohne daß wir sie, wenn wir sie einmal gelernt haben, uns be-
wußt vergegenwärtigen müßten. Dieser Komplex wird als
prozedurales Gedächtnis bezeichnet; er bildet ein Subsystem
des impliziten, nicht-deklarativen Gedächtnisses, weil seine
Inhalte allenfalls dann bewußt erinnerbar sind, wenn das Ge-
dächtnis nicht perfekt funktioniert: wenn man also Schwie-
rigkeiten mit den unregelmäßigen Verben in einer Fremd-
sprache hat, wenn man bei einem Festbankett Rotwein ins
Wasserglas schüttet etc.
Schon hier sieht man, daß die Grenzen fließend sind, denn
man kann sich ja bewußt daran erinnern, wie schwer es einem
ursprünglich gefallen ist, das Spielen eines Instrumentes zu
erlernen, das man jetzt jederzeit und ohne bewußte Erinne-
rung an einzelne Techniken beherrscht. Prozedurales, seman-
tisches und episodisches Gedächtnis hängen also eng mitein-
ander zusammen, und in einer hierarchischen Perspektive ließe
sich gewiß formulieren, daß es ohne semantisches Gedächtnis
ein episodisches nicht geben könnte: Ohne die Möglichkeit,
Erfahrungen in ein konventionelles, d. h. sozial geteiltes Sy-
stem von Regeln und Rahmen einbetten zu können, nähme
ein Erlebnis keine Gestalt im Bewußtsein an und würde nicht
zu einer Erfahrung, die bewußt zu erinnern wäre. In diesem
Sinne ist davon auszugehen, daß zwar auch Säugetiere (zum
Beispiel Primaten) durchaus über ein semantisches Gedächt-
nis verfügen, d. h. auf einen Komplex erlernten Wissens
zurückgreifen können, aber nicht in der Lage sind, sich dieses
Wissen bewußt zu vergegenwärtigen. Sie erinnern sich, in-
dem sie in erlernter Weise situativ reagieren, sie erinnern sich
aber nicht daran, daß sie sich erinnern.
Das episodische Gedächtnis scheint mithin ein menschliches
Spezifikum zu sein, was mit dem neuroanatomischen Befund
in Einklang zu stehen scheint, daß seine Aktivität an eine
evolutionär jüngere Region des Gehirns gebunden ist, an die
Region des rechten Frontallappens nämlich.19 Die neurowis-
senschaftliche Unterscheidung zwischen semantischem und

25
episodischem Gedächtnissystem liefert eine wichtige Schnitt-
stelle zu sozialwissenschaftlichen und im engeren Sinne so-
zialpsychologischen Fragestellungen: Denn wenn man davon
ausgeht, daß einerseits der Inhalt des semantischen Gedächt-
nisses, das «Weltwissen», gelerntes Wissen ist, also in Prozes-
sen sozialer Interaktion erworbenes Wissen, und daß ande-
rerseits nur dasjenige Inhalt episodischer Erinnerung sein
kann, was prinzipiell kommunizierbar ist, also eine soziale
Formbestimmung erfahren hat, dann leuchtet einmal mehr
ein, warum wir es hier mit einem Spezifikum der menschli-
chen Gattung zu tun haben: weil eben nur Menschen in ein
sozial dimensioniertes Universum hineinwachsen.
Nimmt man jetzt die beiden Systeme des non-deklarativen
Gedächtnisses hinzu, nämlich das prozedurale Gedächtnis
und das unübersetzbare «Priming», wird die Spezifität
menschlicher Bildungsprozesse noch einmal deutlicher. Als
nicht-deklaratives oder implizites Gedächtnis wird allgemein
die Gesamtheit der Erinnerungen bezeichnet, die einen
Menschen in der Gegenwart beeinflussen, ohne daß er sich
dieses Einflusses bewußt wäre.20 Effekte von impliziten Erin-
nerungen spielen eine Rolle in Urheberrechtsprozessen, in
denen es z. B. darum geht, ob jemand eine Schlagermelodie
wissentlich oder unabsichtlich plagiiert hat, genauso wie in
Routinehandlungen wie etwa Autofahren, dessen Beherr-
schung gerade darin besteht, daß man sich über die komple-
xen Handlungsvollzüge und das Regelwissen, das man für
eine erfolgreiche Autofahrt braucht, keine Rechenschaft ab-
legt. Daniel Schacter berichtet von einem hirngeschädigten
Patienten, dem nahezu vollständig die Fähigkeit abhanden
gekommen ist, sich an etwas zu erinnern, der nach wie vor
aber ein glänzender Golfspieler ist, der mit Selbstverständ-
lichkeit nicht nur über die Technik und das Körperwissen,
sondern auch über die zugehörigen Fachausdrücke verfügt –
jeweils während des aktuellen Spiels, danach nicht mehr.
Dieser Patient greift auf das Vollzugswissen zurück, das im
prozeduralen Gedächtnissystem aufgehoben ist – und zwar,
ohne daß ihm das in irgendeiner Weise bewußt würde.

26
Kurz gesagt, beinhaltet das prozedurale Gedächtnis alle routi-
nisierten körperlichen Fähigkeiten wie Radfahren, Klavier-
spielen, Schreiben usw. Alle diese Fähigkeiten werden zwar
gelernt, ereichen aber im Unterschied zum semantischen
Wissen nicht das Potential symbolischer Vermittlung. Rad-
fahren etwa lernt man dadurch, daß einem die Füße auf die
Pedale gestellt und die Hände an den Lenker geführt werden,
daß man von einer Hand geschoben und im Gleichgewicht
gehalten wird und sukzessive sein Balancegefühl und seine
muskulären und motorischen Möglichkeiten mit dem Ob-
jekt, das einen zunächst (durch Mamas oder Papas Hand) be-
wegt, so perfekt synchronisiert, daß man es schließlich selbst
bewegt. Was man nun allerdings tatsächlich für komplexe
Operationen vollzieht, wenn man etwa «lenkt», wird man
sich nie vergegenwärtigen und es demzufolge auch nicht
kommunizieren können – das bleibt nicht-symbolische Pra-
xis, prozedurales Wissen, das funktional ist und Reflexion al-
lenfalls dann erfordert, wenn man auf die Nase fällt.
Das Phänomen des «Priming» zeigt ebenfalls kein Symbo-
lisierungspotential und damit auch keine reflexive Zugäng-
lichkeit; es bezeichnet das verblüffende Phänomen, daß unser
Gehirn offensichtlich auch dann permanent Reizwahrneh-
mungen verarbeitet, wenn wir das überhaupt nicht bemer-
ken: also in den Randbereichen unserer Aufmerksamkeit,
aber auch in Zuständen von Bewußtlosigkeit, also im Schlaf
oder in der Narkose. Mit Hilfe einfacher Worterinnerungs-
tests läßt sich zeigen, daß die Erinnerungsleistungen der
Testpersonen regelmäßig dann besser ausfallen, wenn sie in
irgendeinem Zusammenhang zuvor schon einmal den ent-
sprechenden Begriffen begegnet sind – und zwar ganz unab-
hängig davon, ob diese Begegnung überhaupt die Schwelle
der bewußten Wahrnehmung erreicht hatte. Berühmt ge-
worden ist in diesem Zusammenhang die Kampagne von
Coca-Cola aus den fünfziger Jahren, die darin bestanden
hatte, bewußt nicht wahrnehmbare Filmschnipsel mit dem
Firmensignet in Spielfilme zu schneiden, was in den Kinobe-
suchern ein unstillbares Bedürfnis nach ebendiesem Getränk

27
hervorrief; weniger bekannt ist der Effekt, daß sich die Ge-
nesungschancen von postoperativen Patienten meßbar ver-
bessern, wenn ihnen während der Narkose erzählt wird, daß
ihre Operation glänzend verlaufe und sie bald wieder gesund
seien. Bei narkotisierten Patienten läßt sich auch der Pri-
ming-Effekt nachweisen, wenn sie später Erinnerungstests
unterzogen werden.21
Daß wissenschaftliche Erkenntnisse gelegentlich auch prak-
tische Funktionen erfüllen können, zeigt ein privates Expe-
riment, das ich an dem kleinen Sohn von Freunden vorge-
nommen habe, der im Alter von vier Jahren eine der nicht
seltenen Marotten entwickelt hatte, die auf Angst vor Kon-
trollverlust zurückgehen: In diesem Fall war es die Manie,
zwanzigmal an einem Vormittag zur Toilette zu rennen, aus
Angst, er könne sich in die Hosen machen. Solche Ängste ha-
ben die unangenehme Eigenschaft, sich zu erweitern, etwa
um die Angst, daß die anderen Kinder im Kindergarten sich
lustig machen werden, wenn sie (zwangsläufig) bemerken,
wie oft man die Toilette aufsucht usw., woraus eine veritable
Spirale sich generalisierender Ängste und damit verbundener
Zwangshandlungen entstehen kann. Ich habe dieses Problem
eingedenk des Priming-Effektes dadurch zu lösen versucht,
daß ich ihm, während er schlief, erzählt habe, daß das Pro-
blem mit dem Pipi-Machen viel schneller vorbeigegangen
sei, als man gedacht hätte, und man nun überhaupt keine
Angst mehr zu haben brauche, daß es wieder aufträte usw.
Schon am Tag nach dem ersten «Besprechen» zeigte sich eine
Verringerung der Pipi-Frequenz, und nach etwa einer Woche
war das Problem nicht mehr existent (jedenfalls auf der Ebene
des manifesten Verhaltens).
Die Untersuchungen zum impliziten Gedächtnis sind deswe-
gen aufschlußreich, weil man unbewußte Erinnerungen nicht
selbst korrigieren kann, sie aber in unserer sozialen Praxis wirk-
sam sind – was folgenreich z. B. für die Tradierung von Stereo-
typen und Vorurteilen ist. Bereits auf einer vorsymbolischen
Ebene lernen Kinder ja, wie man sich gegenüber anderen ver-
hält – wie man mit anderen Menschen umgeht, welche Form

28
von Kontakt man vermeidet, wo man sich zurückhält usw. Ras-
sistische Einstellungen zum Beispiel basieren vor diesem Hin-
tergrund nicht nur auf (falschen) Kognitionen, sondern können
ein Ergebnis der ganz selbstverständlichen sozialen Praxis der
Personen sein, mit denen das Kind aufwächst. Auf dieser Basis
wird auch ohne weiteres verständlich, wieso Menschen auf
einer kognitiven Ebene sich als vollkommen antirassistisch und
vorurteilsfrei verstehen können, aber von Unbehagen befallen
werden, wenn ein Mensch anderer Hautfarbe neben ihnen in
der Straßenbahn steht. Auch das Phänomen idiosynkratischer
Empfindungen – daß man an einer Person etwas nicht ausste-
hen kann, aber gar nicht weiß, was das genau ist – findet hier
einen Erklärungsansatz.
Daniel Schacter weist zu Recht ausdrücklich darauf hin, daß
wir es hier mit einer unbewußten Dimension der Erinnerung
zu tun haben, die dem psychoanalytischen Konzept vom Un-
bewußten insofern geradezu entgegengesetzt ist, als es hier
nicht um unsere tiefsten Erfahrungsschichten und Konflikte
geht, sondern ganz im Gegenteil um oberflächliche, alltägli-
che Wahrnehmungs-, Verstehens- und Handlungsprozesse.
Implizite Erinnerung hat viel mehr mit routinisierten und
habitualisierten Handlungs- und Verhaltensweisen zu tun,
und gerade die sind es ja, die von frühkindlichen Entwick-
lungsphasen an prägend für die Weltwahrnehmung sind. Ge-
nau deswegen dürften die Überlegungen zum impliziten
Gedächtnis auch hilfreich für eine präzisere Vorstellung vom
kommunikativen Gedächtnis sein, denn die implizite Erin-
nerung ist die am stärksten sozial präformierte Art von Erin-
nerung, weil sie nicht-symbolisch operiert, also nicht reflexiv,
und deshalb jeder subjektiven Steuerung entzogen ist. Sie ist
das Produkt einer Praxis, die unterhalb der Bewußtseins-
schwelle verläuft.
Widerfahrnisse und Erlebnisse nehmen, wie später noch ein-
gehender dargestellt wird, erst mit dem Spracherwerb im Be-
wußtsein Gestalt an als Erfahrung und Erinnerung, werden
also in symbolvermittelter Interaktion geformt und werden
selbst in sozialer Kommunikation wieder mitteilbar.

29
Soziale und individuelle Erinnerung sind in diesem Sinne ge-
nauso untrennbar voneinander wie Erinnern und Vergessen.
Ein Erlebnis wird erst zur Erfahrung, wenn es reflektiert wird,
und reflektieren bedeutet, der Erfahrung eine Form zu geben.
Diese Form kann nur sozial vermittelt sein; anders steht sie
dem Individuum nicht zur Verfügung und wäre im übrigen
auch nicht kommunizierbar. Es ist einleuchtend, daß die Ni-
veaus und die Operationen der vier hier nur in allergröbster
Vereinfachung dargestellten Gedächtnissysteme jeweils auch
unterschiedliche Modi des Behaltens und Vergessens impli-
zieren: Prozedurale Gedächtnisinhalte, das zeigen insbeson-
dere Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten, sind of-
fenbar ausgesprochen resistent gegen Verluste – schwimmen
verlernt man nicht. Dagegen sind semantische, in noch viel
stärkerem Maße aber episodische Gedächtnisinhalte höchst
verletzlich gegenüber physischen Schädigungen, aber auch
gegenüber altersbedingten und psychogenen Störungen:
Schon Unterbrechungen kleinster Verbindungen zwischen
neuronalen Netzen können zu Totalausfällen episodischer Er-
innerung führen, während das semantische und erst recht das
prozedurale Gedächtnis erhalten bleiben.
Das Gefühl, über ein identisches und kohärentes Selbst zu
verfügen, gründet im wesentlichen auf expliziten, episodi-
schen Erinnerungen an Elemente der eigenen Lebensge-
schichte, während die Elemente der Persönlichkeit selbst viel
stärker an implizite Erinnerungen gebunden sind.22 Dies wie-
derum ist – wie auch im weiteren noch deutlich werden wird
– folgenreich für die Verknüpfung zwischen emotionaler Er-
innerung und erinnertem Ereignis – denn gerade hier kann
das Gedächtnis konstruktive Verknüpfungen herstellen, die
mit tatsächlichen Ereignissen nichts oder nur wenig zu tun
haben. Als Beispiel sei hier nur genannt, daß auch Opfer von
Extremtraumatisierungen nicht notwendigerweise das erin-
nern, was ihnen faktisch widerfahren ist, sondern manchmal
das, wovor sie sich am meisten gefürchtet haben («greatest fear
vision»).23
Das widerspricht allerdings der oft geäußerten Vermutung, ge-

30
rade traumatische Erlebnisse hätten eine ausgesprochen große
Prägnanz und Präzision in der Erinnerung. Daniel Schacter
geht zwar von der Möglichkeit aus, daß Erinnerungen an
traumatisierende Erlebnisse gelegentlich exakter sein können
als Erinnerungen an Alltagsereignisse – allerdings sind sie sei-
ner Ansicht nach genauso anfällig für Veränderungen und
Umgestaltungen.24 Er verweist in diesem Zusammenhang auf
die Untersuchung von Lenore Terr, die die Erinnerung von
23 entführten und 16 Stunden festgehaltenen Schulkindern
an dieses traumatisierende Ereignis untersucht hat. Terr ist der
Auffassung, daß die überraschende Quote von falschen Erin-
nerungen der vier bis fünf Jahre nach dem Ereignis befragten
Kinder auf eine verzerrte oder extrem eingeschränkte Wahr-
nehmung während des Ereignisses selbst zurückgeht – aller-
dings erinnerten sich auch jene sieben Kinder, die sich unmit-
telbar nach dem Verbrechen exakt an die Umstände erinnert
hatten, zum späteren Untersuchungszeitpunkt genauso kreativ
wie die übrigen.25
Im Fall eines Amoklaufs in einer amerikanischen Schule, bei
dem ein Kind getötet wurde, «erinnerten» sich sogar Kinder,
die an jenem Tag gar nicht in der Schule waren, daran,
Schüsse gehört und jemanden am Boden liegen gesehen zu
haben.26 Die Einflüsse auf die Erinnerung sind hier natürlich
vielfältig – in beiden Fällen wird eine Rolle gespielt haben,
daß die Ereignisse immer wieder ausgetauscht und erzählt
wurden und eine soziale Standardisierung erreichen konnten,
die es möglich machte, daß die Schüler, insbesondere im letz-
ten Fall, ihre «eigenen» Erinnerungen nicht mehr von denen
der anderen Mitglieder ihrer sozialen Bezugsgruppe unter-
scheiden konnten (wobei es ja im Rahmen eines spekta-
kulären Ereignisses auch schmählich ist, nicht dabeigewesen
und statt dessen mit Halsschmerzen im Bett gelegen zu ha-
ben).
Allgemein sind übrigens die Erinnerungen von Kindern an-
fälliger für das Verwechseln der Umstände von Geschehnissen
und der Quellen von Ereignissen, übrigens auch für kryp-
tomnestische Erinnerungen, also Erinnerungen an Ereignisse,

31
die überhaupt nicht stattgefunden haben. Dieser Befund ist
durch eine Reihe von Experimenten mit Personen unter-
mauert worden, denen in Gesprächen Erlebnisse suggeriert
wurden, an die sie sich später detailliert erinnern zu können
glaubten, obwohl sie sie faktisch nie gehabt hatten.27 Am be-
kanntesten ist inzwischen das «lost in the shopping mall»-
Experiment,28 in dem den Versuchspersonen eine Reihe von
Kindheitserlebnissen vorgelegt wurde, die zuvor von engen
Verwandten berichtet worden waren. Eine der jeweils vorge-
legten Episoden war allerdings frei erfunden – eine Ge-
schichte, die davon handelte, daß die Versuchsperson als Kind
in einem Supermarkt verlorengegangen war. Im ersten
Durchlauf des Experiments «erinnerten» sich immerhin 29 %
der Teilnehmer an dieses Erlebnis, das sie freilich nie gehabt
hatten. Besonders interessant an diesem Befund ist, daß das
konstruierte Erlebnis in weiteren Versuchsdurchläufen immer
detaillierter erinnert wurde – es war also zum Bestandteil der
eigenen Lebensgeschichte der Probanden geworden. Ihre
falschen Erinnerungen fühlten sich für sie offensichtlich ge-
nauso an wie ihre echten. Analoge Ergebnisse fand man in
Experimenten, in denen es um (erfundene) Ereignisse in
einer nächtlichen Notaufnahme im Krankenhaus oder das
peinliche Erlebnis ging, bei einer Hochzeitsfeier den Braut-
eltern Punsch über die festliche Kleidung geschüttet zu
haben.29
Elisabeth Loftus, die eine wichtige Rolle in der «false me-
mory debate» in den Vereinigten Staaten spielt, in der es im
Kern um Beurteilungsmöglichkeiten für wahre und falsche
Erinnerungen im Zusammenhang spät entdeckter («reco-
vered») Kindesmißbrauchsfälle geht, führt das Eigenleben
falscher Erinnerungen unter anderem darauf zurück, daß ein
fiktives Erlebnis bei intensiver und wiederholter Vorstellung
immer vertrauter wird und diese Vertrautheit dazu führt, die
falsche Erinnerung mit «echten» Kindheitserlebnissen in Ver-
bindung zu bringen – so daß die falsche Erinnerung gleich-
sam in das Ensemble der wahren Erinnerungen importiert
und ununterscheidbar von dieser wird. Aber hier kommen

32
wir schon auf ziemlich dünnes Eis, denn wer sagt uns außer-
halb von experimentellen Situationen schon, welche unserer
Erinnerungen «wahr» oder «falsch» sind? Taugt eine solche
kategoriale Unterscheidung überhaupt etwas, wenn wir es
mit lebensgeschichtlichen Erinnerungen zu tun haben?
Erinnern Sie sich an den Fall Wilkomirski/Dössekker, der vor
einigen Jahren beträchtlichen Wirbel in den Feuilletons ange-
richtet hat? Hier ging es um die Autobiographie einer Person,
die als Kind den Holocaust überlebt hatte und diese Kindheit
in einem eindrucksvollen Buch aus der Perspektive des Er-
wachsenen erinnerte. «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 –
1948» war denn auch der authentizitätsverheißende Titel,
und der Autor Binjamin Wilkomirski, der in Wahrheit Bruno
Dössekker heißt, berief sich nicht zufällig auf die Wahrheit
der visuellen Repräsentation des Erlebten, wenn er schrieb:
«Meine frühen Kindheitserinnerungen gründen in erster Li-
nie auf den exakten Bildern meines fotografischen Gedächt-
nisses und den dazu bewahrten Gefühlen – auch denen des
Körpers. Dann kommt die Erinnerung des Gehörs und an
Gehörtes, auch an Gedachtes und erst zuletzt die Erinnerung
an Selbstgesagtes.»30
Der durchschlagende Erfolg von Wilkomirskis erfundener
Autobiographie war wohl in hohem Maße darauf zurückzu-
führen, daß das Buch mit dem Import medialer Vorlagen ar-
beitete, die dem Leser vertraut vorkommen mußten und
gerade darum die Authentizität von Wilkomirskis Schilderun-
gen zu verbürgen schienen. Daniel Goldhagen etwa betonte
in seinem Klappentext zu den «Bruchstücken»: «Dieses fes-
selnde Buch belehrt auch jene, die mit der Literatur über den
Holocaust vertraut sind.» So echt also diese autobiographi-
schen Bruchstücke daherzukommen schienen – in Wahrheit
war Bruno Dössekker 1939 noch gar nicht auf der Welt gewe-
sen, und er war auch kein Holocaust-Überlebender, sondern
ein Kind, das bei Schweizer Adoptiveltern aufgewachsen war
und später, unter anderem im Rahmen verschiedener Psy-
chotherapien und seiner obsessiven Beschäftigung mit der
Holocaust-Literatur und Überlebendenerinnerungen, eine

33
Art Opferidentität entwickelte, offenbar in einem Maße, daß
er selbst nicht mehr unterscheiden konnte, ob die «Bruch-
stücke», die er so identitätsnah erinnerte, nun zu seiner eige-
nen Lebensgeschichte gehörten oder nicht.
In der Wirklichkeit des Buchmarktes gelten freilich noch im-
mer bestimmte Redlichkeitskriterien, die Wilkomirski/Dös-
sekker deutlich überschritten hatte; das Buch wurde vom
Markt genommen, und viele seiner euphorisierten Laudatoren
fühlten sich peinlich berührt. Jedenfalls zeigt dieser Fall nicht
nur das persönliche Problem eines Autors mit massiven Iden-
titätsproblemen, sondern allgemeiner, daß der Übergang von
wahren zu falschen autobiographischen Erinnerungen durch-
aus fließend ist. Wolfgang Hell hat die Befunde der Untersu-
chungen zu falschen Erinnerungen in folgender Weise prä-
gnant zusammengefaßt: «Das Gedächtnis ist im Laborversuch
durch Zusatzinformationen, Fragestellung oder Ausnutzen
von Zusatzwissen systematisch beeinflußbar. In der Realität
kann die Täuschung noch viel stärker sein. Eine emotionale
Voreingenommenheit in eine Richtung, wiederholtes Abfra-
gen, Suggestionen und vieles andere kann eine falsche Erin-
nerung auslösen, die für die Betroffenen so real wie eine rich-
tige Erinnerung ist und die für die Zuhörer dieser Erinnerung
durch die Lebendigkeit der Schilderung absolut glaubwürdig
wirkt. Bei Kindern ist dieser Effekt noch stärker als bei Er-
wachsenen.»31
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der im Zusammen-
hang falscher Erinnerungen erwähnenswert ist: daß es für die
«Wahrheit» des Erinnerten auf einer bestimmten Ebene uner-
heblich sein kann, ob die einzelnen Details der Erinnerung
stimmen oder nicht. In einer klassischen Arbeit hat Ulrich
Neisser am Beispiel einer Zeugenaussage zum Watergate-
Skandal dargelegt, daß die überzeugend detaillierten und mit
exakten Zeit- und Ortsangaben versehenen Erinnerungen
des Zeugen John Dean sich allesamt als falsch erwiesen, nach-
dem sie mit den später veröffentlichten Tonbandmitschnitten
der entsprechenden Gespräche verglichen worden waren. In-
teressanterweise waren aber trotz der faktischen Fehlerinne-

34
rungen Neisser zufolge Deans allgemeine Schlußfolgerun-
gen und Situationsinterpretationen weitgehend realistisch:
«Es gibt immer eine tiefere Ebene, auf der er recht hat. Er hat
eine akkurate Skizze der wirklichen Situation, der handeln-
den Personen und der Beziehungen der Leute geliefert, mit
denen er zu tun hatte, und auch der Ereignisse, die hinter den
Gesprächen lagen, an die er sich zu erinnern versuchte.»32
Ähnlich ist in traumatheoretischer und psychoanalytischer
Perspektive der Versuch gemacht worden, hinter einer objek-
tiv in einem zentralen Aspekt falschen Zeugenaussage eine
historische Wahrheit zu erblicken, da der Gesamtzusammen-
hang richtig erfaßt worden war.33
Offenbar spielt die emotionale Einbettung einer erlebten Si-
tuation eine größere Rolle für das, was erinnert wird, als was
in dieser Situation «wirklich» geschehen ist. Beispiele hierfür
sind die sogenannten Flashbacks, die insbesondere von Viet-
namveteranen als das Gefühl beschrieben werden, unmittel-
bar und ungeheuer plastisch in eine Situation größter Gefahr
und Angst «zurück»-versetzt zu sein; das Phänomen des Flash-
back wird allerdings klinisch erst verzeichnet, seit es in den
Beschreibungen von LSD-Konsumenten eine gewisse Verbrei-
tung gefunden hat.34 Fred Frankel vermutet, daß die Bezie-
hung von Flashbacks zu Träumen – an die man sich ja übrigens
auch erinnern kann – enger ist als zu wirklichen Gescheh-
nissen.35 Im übrigen unterliegen Erinnerungen an trauma-
tisierende Ereignisse denselben alters- und aufbewahrungs-
spezifischen Einschränkungen wie solche an gewöhnliche
Ereignisse: Daten, Situationsmerkmale, Personen, Umstände
werden vertauscht, verzerrt oder ganz einfach vergessen.36
Der generelle Befund, daß Erinnerungen eben keine abgeru-
fenen Speicherinhalte sind, gilt auch für traumatische Erinne-
rungen – wie könnte es auch anders sein?
Etwas anderes ist aber in diesem Zusammenhang interessant:
der Umstand nämlich, daß die emotionale Tönung eines Er-
lebnisses und der Situation seiner Erinnerung wichtig für
die Reichhaltigkeit und Präzision des Erinnerten ist – diese
«affektive Kongruenz» zeichnet etwa das Phänomen aus, das

35
depressive Menschen «zeitweilig nur zu verdrießlichen Erin-
nerungen fähig zu sein scheinen. Die Tatsache, daß der Inhalt
von Erinnerungen durch emotionale Zustände beeinflußt
wird, wird durch die Existenz getrennter Systeme für die
Speicherung von impliziten emotionalen Erinnerungen und
von expliziten Erinnerungen an Emotionen erklärbar. [. . .]
Eines der Elemente einer expliziten Erinnerung an ein frühe-
res emotionales Erlebnis sind die emotionalen Implikationen
des Erlebnisses. Die Gegenwart von Hinweisen, welche die-
ses Element aktivieren, erleichtert die Aktivierung des asso-
ziativen Netzes. Relevant sind in diesem Fall die Hinweise aus
Gehirn und Körper, die signalisieren, daß Sie sich in demsel-
ben emotionalen Zustand befinden wie während des Ler-
nens. Diese Hinweise treten auf, weil die Reize, die auf das
explizite System einwirken, auch auf das implizite emotionale
Gedächtnissystem einwirken und dafür sorgen, daß der emo-
tionale Zustand wiederkehrt, in dem Sie sich befanden, als das
explizite Gedächtnissystem seine Lernaufgabe erledigte. Die
Übereinstimmung zwischen dem gegenwärtigen emotiona-
len Zustand und dem als Teil der expliziten Erinnerung ge-
speicherten emotionalen Zustand erleichtert die Aktivierung
der expliziten Erinnerung.»37
Das macht einige Beobachtungen erklärlich, die im Zusam-
menhang mit der Erinnerung an traumatisierende Gescheh-
nisse gemacht wurden. Neben dem Auftreten von heftigen
Erregungszuständen etwa beim Erzählen des Erlebnisses, das
die Emotion samt ihren physiologischen Begleiterscheinun-
gen reaktiviert, sind hier etwa Phänomene wie das «weapon
focussing» zu nennen, das die Aufmerksamkeitszentrierung
um den höchsten und deutlichsten Punkt der Gefahr be-
zeichnet. Allgemein läßt sich sagen, daß der Grad der Angst
in einer Situation das Maß der Verengung der Aufmerksam-
keit auf einzelne Situationsmerkmale bestimmt.38 Ein anderes
Erinnerungsphänomen, das besonders bei depressiven Patien-
ten beobachtet wurde, ist die Übergeneralisierung des emo-
tionalen Aspektes des Erlebten, demgegenüber die Details
der Situation stark zurücktreten – was, wie Schacter vermu-

36
tet, schon darauf zurückzuführen ist, daß Depressive ihre Auf-
merksamkeit auf jene Phänomene konzentrieren, die ihren
negativen Erwartungen entsprechen. Das Wahrnehmungs-
material und entsprechend seine Einspeicherung passiert also
gewissermaßen einen Polarisationsfilter, der alles grau in grau
erscheinen läßt.
Was sich hier im Extrem zeigt, gilt in milderer Form aller-
dings auch für nicht-depressive Menschen: Wenn man mieser
Laune ist, begegnen einem deutlich mehr widrige Umstände,
als wenn man glänzend aufgelegt ist – und die Erinnerung an
derlei «schwarze» Tage ist denn auch in der Regel ziemlich
eindimensional. Solche befindensabhängige Erinnerung zeigt
sich bemerkenswerterweise auch im Zusammenhang mit be-
wußtseinseinschränkenden Befindlichkeiten: Wenn man etwa
Alkohol trinkt oder andere Drogen konsumiert, erinnert man
sich im nüchternen Zustand schlecht an das, was in den ent-
sprechenden Zuständen passiert ist – experimentell ist aber
nachgewiesen worden, daß die Erinnerung präziser wird,
wenn der sich Erinnernde wieder auf demselben Pegel ist!
Dieses Phänomen des «state dependent retrieval»39 scheint
mir vor allem deshalb interessant, weil es den Schluß nahe-
legt, daß auch von einer Kongruenz zwischen sozialen Um-
ständen des Einspeicherns und Abrufens auszugehen ist –
weshalb etwa auf Kameradschaftsabenden oder Heimattreffen
eine größere Reichhaltigkeit von Erinnerungen aus dem
Krieg vorfindlich ist, als wenn im Rahmen von Forschungs-
interviews lebensgeschichtliche Erinnerungen abgefragt wer-
den. Dieses Phänomen verweist auf die Rolle, die Erinne-
rungsgemeinschaften für das Wachhalten und Fortschreiben
von emotional wichtigen Ausschnitten aus der Geschichte
spielen.
Neben dem Phänomen der affektiven Kongruenz des Erin-
nerns sind noch weitere Aspekte bedeutsam für meine Über-
legungen: Mittlerweile gibt es gute Belege dafür, daß Streß
und die damit verbundenen biochemischen Prozesse die
Funktionen des Hippocampus, des zentralen Verarbeitungs-
organs für die langfristige Speicherung von Gedächtnisinhal-

37
ten, empfindlich stören können – woraus durchaus ein Un-
vermögen resultieren kann, sich an das verursachende Trauma
überhaupt erinnern zu können. «Bei Menschen, die ein
Trauma hinter sich haben, zum Beispiel Opfern von wieder-
holtem Kindesmißbrauch oder Vietnamveteranen mit post-
traumatischer Belastungsstörung, ist der Hippocampus ge-
schrumpft», schreibt LeDoux (nach meinem Eindruck etwas
übergeneralisierend). «Auch ist die Merkfähigkeit einge-
schränkt, ohne daß der IQ oder andere kognitive Funktionen
betroffen wären. Belastende Erlebnisse können den mensch-
lichen Hippocampus und seine Gedächtnisfunktionen ver-
ändern.»40
Häufiger scheint freilich der Fall zu sein, daß das traumatisie-
rende Ereignis hinreichend Streß dafür ausgelöst hat, daß die
Erinnerung an dieses Ereignis fragmentarischer ist als gewöhn-
lich. Gleichwohl können Aspekte des Ereignisses bewußt re-
konstruiert werden, wobei bei dieser Art von Erinnerung nun
aber zwangsläufig Lücken aufgefüllt werden müssen, «und die
Zuverlässigkeit der Erinnerung wird davon abhängen, wieviel
aufgefüllt wurde und wie wichtig die aufgefüllten Teile für den
Inhalt der Erinnerung waren».41
Die konstruktive Funktionsweise des Gedächtnisses kommt
in solchen Fällen also verstärkt zum Tragen: Offensichtlich
neigen wir dazu, Erinnerungslücken sofort zu schließen, in-
dem wir Material einfügen, das anderen Erlebnissen (oder
auch gänzlich anderen Quellen, die mit unserem eigenen Le-
ben nichts zu tun haben) entstammt. Das episodische Ge-
dächtnis, so könnte man schlußfolgern, scheint wesentlich
einem Montageprinzip zu folgen, das bedeutungshaltige
Bruchstücke nach ihrem sinnstiftenden und selbstbezogenen
Wert zusammenfügt. Bei traumatischen Erinnerungen zeigt
sich dieses Prinzip womöglich deutlicher als im Normalfall;
jedenfalls sind Schacter und LeDoux gleichermaßen skeptisch
gegenüber der Annahme, Erinnerungen an traumatisierende
Ereignisse seien präziser, gar authentischer als in gewöhnli-
chen Fällen – es läßt sich im Gegenteil eher Beweismaterial
dafür zusammenbringen, daß diese Erinnerungen hinsichtlich

38
ihrer Authentizität größeren Beschränkungen unterliegen als
Erinnerungen an weniger belastende Ereignisse. Sollte die-
ser Befund zutreffen, würde das bedeuten, daß Erinnerungen
gerade an gefahrvolle, schreckliche und emotional belasten-
de Situationen deutlich mehr konstruierte und montierte
Bestandteile aufweisen als emotional gleichgültigere Erinne-
rungen.
Daneben sei noch auf die Bedeutsamkeit der visuellen Reprä-
sentanz von Erinnerungen hingewiesen: Gerade das, was
einem «noch genau vor Augen steht», wovon man noch jedes
einzelne Detail buchstäblich zu sehen glaubt, stattet den sich
Erinnernden mit der festen Überzeugung aus, daß das, woran
er sich erinnert, auch tatsächlich geschehen ist. Erstaunlicher-
weise und subjektiv äußerst schwer nachvollziehbar liegt das
aber nicht unbedingt daran, daß sich das Geschehen erst auf
der Netzhaut und dann im Gehirn nachgerade eingebrannt
hat, sondern daran, daß die neuronalen Verarbeitungssysteme
für visuelle Perzeptionen und für phantasierte Inhalte sich
überlappen, so daß auch rein imaginäre Geschehnisse mit vi-
sueller Prägnanz «vor den Augen» des sich Erinnernden ste-
hen können.42 Gerade hier ist die Diskrepanz zwischen der
subjektiven Überzeugung, sich genauestens zu erinnern, und
dem Artefaktischen der Erinnerung am größten.
So hat unlängst ein wissenschaftlicher Vortrag in Dresden für
einen Eklat gesorgt: Viele alte Dresdener, die sich die Aus-
führungen des Historikers Helmut Schnatz zum verheerenden
Angriff auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 anzuhören
gekommen waren, empörten sich über dessen Darlegung,
daß ein wichtiger Aspekt ihrer Erinnerungen der historischen
Wirklichkeit einfach nicht entsprechen konnte. Hier ging es
um den Mythos, daß am 14. und 15. Februar, nach dem ersten
Angriff, Tiefflieger in den Straßen Dresdens Jagd auf Men-
schen gemacht hätten. Der Umstand, daß der durch den
Bombenangriff erzeugte Feuersturm es britischen Tiefflie-
gern unmöglich gemacht hätte, in die brennende Innenstadt
zu fliegen, überzeugte die Zuhörer so wenig wie die akribische
Analyse von Flugeinsatzplänen und Logbüchern, die keinerlei

39
Beleg für die Richtigkeit der Dresdener Erinnerungen liefer-
ten. Das nun wurde von den versammelten Zeitzeugen als An-
griff auf ihre persönliche Erinnerung an «silbrigschimmernde
Mustangjäger» und verzweifelt fliehende Menschen verstan-
den und löste beträchtliche Empörung aus.43
Mittlerweile findet sich einige Evidenz dafür, daß zum Bei-
spiel Spielfilmszenen in autobiographische Erinnerungen
montiert werden, ohne daß den Erzählern diese Adaptierun-
gen bewußt wären.44 Insgesamt muß man wohl zusammen-
fassen, daß die scheinbar unmittelbare Erinnerung an bio-
graphische Erlebnisse und Ereignisse als Produkte subtiler
Interaktionen all jener Prozesse zu verstehen ist, die am
Werke sind, wenn unser Gehirn Erinnerungsarbeit leistet:
Interaktionen also zwischen den Erinnerungsspuren an Er-
eignisse, dem Wiedererwecken von Emotionen, dem Im-
port «fremder» Erinnerungen, affektiven Kongruenzen und
ganz generell den sozialen Umständen der Situationen, in
denen über Vergangenes erzählt wird.45
Oben ist ja bereits die Frage aufgeworfen worden, was emo-
tional bedeutsame Erinnerungen hervorruft: das Ereignis
selbst oder die Emotion, die mit ihm verbunden ist? Daß es
auch in diesem Sinne wohl eher Erinnerungen an die Emo-
tionen sind, die aufbewahrt und weitergegeben werden, ma-
chen einige Untersuchungen deutlich, die sich mit dem Erin-
nern dramatischer Ereignisse – wie etwa an das Attentat auf
John F. Kennedy – beschäftigen und die zu dem Schluß kom-
men, daß eine bemerkenswert geringe Korrelation zwischen
der Akkuratheit einer Erinnerung und der Überzeugung be-
steht, sich an jede Einzelheit präzise erinnern zu können – ein
Befund, den leidvoll geprüfte Kriminalisten ohne weiteres
bestätigen können.46
In einer schwedischen Untersuchung wurden junge Erwach-
sene nach ihrer Erinnerung an die Umstände des Attentats auf
Olof Palme sechs Wochen nach dem Ereignis und dann ein
weiteres Mal nach einem Jahr befragt – mit dem Ergebnis,
daß die Präzision der Erinnerung in diesem Zeitraum erheb-
lich nachgelassen hatte.47 In einem Selbstversuch zum selben

40
Erinnerungsgegenstand hat der dänische Psychologe Steen
Larsen die Umstände des Ereignisses wie auch die Situation,
in der er selbst von ihm erfahren hatte, akribisch aufgezeich-
net. Einige Monate später konnte sich Larsen zwar noch gut
an die meisten Einzelheiten des Attentats selbst erinnern und
auch daran, daß er die Nachricht über das Radio beim Früh-
stück in der Küche gehört hatte, im Gegensatz zu seiner ur-
sprünglichen Aufzeichnung war er nunmehr allerdings davon
überzeugt, nicht allein in der Küche gesessen zu haben, son-
dern zusammen mit seiner Frau von dem Attentat erfahren zu
haben! Hier handelt es sich um einen Effekt, der offenbar auf
signifikante Interaktionen zurückgeht, die später im Zusam-
menhang mit dem emotional bedeutsamen Ereignis stattge-
funden haben und die nachträglich in das erinnerte Szenario
montiert werden. Auch Larsens Erinnerungen daran, was er
unmittelbar nach dem Hören der Nachrichten getan hatte,
waren unzutreffend.48
Ganz ähnlich haben Neisser & Harsch49 festgestellt, daß Stu-
denten, die sie 24 Stunden nach dem Challenger-Unglück
interviewten, zweieinhalb Jahre später ziemlich abweichende
Erinnerungen an das Ereignis und die Umstände seiner Kennt-
nisnahme hatten, indessen aber der festen Überzeugung wa-
ren, daß ihre falschen Erinnerungen absolut richtig waren.
Dies hat, wie Schacter zusammenfaßt, wesentlich damit zu
tun, daß gerade die emotionale Bedeutsamkeit des Ereignisses
die Überzeugung sichert, man würde sich genau erinnern, und
diese Überzeugung wird eben dadurch unterfüttert, daß es sich
hierbei um Ereignisse handelt, über die man oft – und unter
anderem natürlich in den Befragungen selbst – gesprochen
hat.50
Derlei Ergebnisse werfen einiges Licht auf den Umstand, daß
Zeitzeugen etwa des Zweiten Weltkriegs mit fester Überzeu-
gung die Authentizität von berichteten Erlebnissen und Ereig-
nissen behaupten können – «das weiß ich noch wie heute!» –,
einfach deshalb, weil es sich hierbei um immer wieder erinnerte
und erzählte Episoden handelt, die zudem in einen Kanon von
kursierenden Geschichten eingebettet sind, die den gleichen

41
sozial abgestützten Erzählmustern folgen. Hinsichtlich der
Kommunikation von Erinnerungen ist das besonders deswegen
interessant, weil ja nicht nur eine Geschichte – falsch oder rich-
tig – erzählt wird, sondern sich über den Duktus des Erzählens
die emotionale Tönung des Erlebten auch dem Zuhörer mitteilt
und wiederum das Hören der Geschichte zu einem emotiona-
len Ereignis macht, das jenseits des inhaltlich Mitgeteilten Be-
deutung hat.
Hinsichtlich der Authentizität bzw. vorsichtiger gesagt: der
Realitätshaltigkeit von Erinnertem ist weiterhin einschrän-
kend einerseits zu sagen, daß es lebensalter- und entwick-
lungsspezifisch unterschiedliche Dichten von Erinnerung
gibt. Schacter spricht in diesem Zusammenhang von einem
«reminiscence bump», der insbesondere in der entwicklungs-
bedeutsamen Phase zwischen Adoleszenz und jungem Er-
wachsenenalter auftritt.51 Ich würde vermuten, daß solche
«bumps» in der autobiographischen Erinnerungsdichte all-
gemein im Zusammenhang von biographischen Transitio-
nen, Statuspassagen und kritischen Lebensereignissen zu
verzeichnen sind.52 Daneben muß man von unterschiedlich
gelagerten Rahmen ausgehen, durch die autobiographische
Erinnerungen kontextualisiert werden, die als Hierarchie von
a) bedeutsamen Lebensabschnitten («als ich in Amerika gelebt
habe»), b) allgemeinen Ereignissen («als ich damals Urlaub an
der Ostküste gemacht habe») und c) spezifischen Einzelereig-
nissen («als ich mit dem Segelboot gekentert bin») beschrie-
ben werden.53 Wenn biographisch erzählt wird, fließen diese
Ebenen ineinander und können, wiederum abhängig von der
emotionalen Bedeutsamkeit des Erinnerten, zur Refiguration
des berichteten Ereigniszusammenhangs führen. Dies ver-
weist auf das Problem der sogenannten «Quellenamnesie»,
womit das verbreitete Phänomen bezeichnet wird, daß ein
Ereigniszusammenhang zwar korrekt erzählt wird, der Er-
zähler sich aber in der Quelle vertan hat, aus der er die Erin-
nerung geschöpft hat – die darauf zurückgehenden Ehestrei-
tigkeiten sind Legion. Ein berühmtes Beispiel für Quellen-
amnesie hat Ronald Reagan geliefert, als er mit Tränen in den

42
Augen die dramatische Geschichte aus seiner Kriegsvergan-
genheit erzählte, in der ein Bomberpilot seine Besatzung zum
Abspringen auffordert, nachdem die Maschine getroffen
wurde. Allerdings war dabei ein junger Schütze so schwer ver-
wundet worden, daß er die Maschine nicht verlassen konnte,
worauf der heldenhafte Pilot sagte: «Macht nichts. Dann
bringen wir die Kiste zusammen runter.» Einigen Journalisten
fiel auf, daß Reagan sich hier keineswegs an eine «authenti-
sche» Geschichte erinnerte, sondern an eine Szene aus dem
1944 gedrehten Film «A Wing and a Prayer».54
Ein der Quellenamnesie verwandtes Phänomen ist das der
Konfabulation, also des Nachdichtens und Ausschmückens
von Geschichten im Zuge ihres wiederholten Erzählens, was
mit keinerlei bewußter Absicht des Erzählers verbunden sein
muß. Im Gegenteil: Gerade die «falsch» konfigurierte, aus
unterschiedlichen Zusammenhängen kombinierte und aus
Gründen des Unterhaltungswertes aufgepeppte, aber durch
Wiederholung und erfolgreiche Kommunikation stabilisierte
Geschichte kann für den Erzähler die ganz unbezweifelbare
subjektive Gewißheit besitzen, eine Erinnerung zu sein, die
ihm «noch genau vor Augen steht». Gerade die visuelle Re-
präsentanz von nur scheinbaren Geschehnissen sichert die
Überzeugung, hier über ein Stück des eigenen Lebens zu
sprechen.
Ausgehend von solchen Überlegungen, wird nicht nur ein-
sichtig, wieso die besonders in Geschichtssendungen neuer-
dings sehr beliebten «Zeitzeugen» meist kunstvolle Montagen
aus Landsergeschichten, Filmausschnitten und biographi-
schen Versatzstücken zum besten geben und nicht historische
Wirklichkeiten,55 sondern auch, wieso es regelmäßig zu
empörten Reaktionen von Zeitzeugen kommt, wenn sie –
wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der Wehrmachts-
ausstellung – mit historischen Befunden konfrontiert werden,
die mit ihrer Erinnerung subjektiv nichts zu tun haben. Ein
prominentes Beispiel hierfür liefert etwa der Alt-Bundes-
kanzler Helmut Schmidt, wenn er in einer Expertenrunde
den anwesenden Historikern empört entgegenhält: «Sie müs-

43
sen anerkennen, wenn Sie hier im Ernst Gespräche führen,
daß andere Leute anderes erlebt haben, als was Sie aus Ihren
Dokumenten generell herauslesen. Sonst muß ich aufstehen
und den Raum verlassen, wenn Sie mich für einen Lügner
halten!»56 Wichtig scheint mir an solchen Phänomenen zu
sein, daß die erzählte Erinnerung gerade in der unmittelbaren
sozialen Interaktion emotional wirksam wird und Sichtwei-
sen auf die Geschichte erzeugt, gegen die eine auch noch
so fundierte historische Faktendarstellung wenig ausrichten
kann, weil diese emotional nicht in vergleichbarer Weise be-
setzt sein kann.
Individuelle wie kollektive Vergangenheit, so kann man zu-
sammenfassen, werden in sozialer Kommunikation beständig
neu gebildet. Eine verblüffende strukturelle Entsprechung zu
diesem sozialen Prozeß findet sich in einer Beschreibung des
Erinnerungsprozesses auf neuronaler Ebene: Wenn man die
ungeheure Komplexität der assoziativen Verbindungen im
Gehirn in Rechnung stellt, schreibt der Neurologe Marek-
Marsel Mesulam, scheint es völlig unrealistisch, davon auszu-
gehen, daß Erinnerung ein Prozeß sei, der Dinge wirklich-
keitsgetreu reproduziert: «Die Erinnerung einer Erfahrung
geht auf die Aktivierung temporaler und räumlicher Muster
zurück, die sich über viele Gruppen von Neuronen er-
strecken. Jedes Neuron kann zu einer großen Anzahl solcher
Gruppen zählen und entsprechend durch eine große Anzahl
neuer Erfahrungen aktiviert werden. Jede neue Erfahrung
wird auf der Grundlage der bestehenden Erfahrungen einge-
schrieben. Das heißt, jede neue Erinnerung kann durch voran-
gegangene Erinnerungen beeinflußt werden und bestehende
Erinnerungen verändern. Das distributive Speicherverfahren
des Gedächtnisses sorgt dafür, daß ein- und dieselbe Erfahrung
in sehr unterschiedlichen Kombinationen mit anderen Erfah-
rungen erinnert werden kann und jedesmal als Ergebnis vieler
verschiedener assoziativer Verknüpfungen betrachtet werden
kann.»57
Das Gedächtnis ist also seiner neuronalen Struktur und Funk-
tionsweise nach selbst kommunikativ. Im folgenden Kapitel

44
werde ich zu zeigen versuchen, wie sich seine Organisations-
struktur in Prozessen sozialer Interaktion heranbildet und
weshalb wir es auch auf der Ebene der Entwicklung des Ge-
dächtnisses wesentlich mit einem kommunikativen Vorgang
zu tun haben.
III. Lernen, sich zu erinnern –
die Entstehung des kommunikativen
Gedächtnisses

1. Erfahrungsabhängige Gehirnentwicklung

Haben Sie jemals das irritierende und fast bedrohliche


Gefühl gehabt, etwas zu tun, was Sie gar nicht tun wollten?
Stellen Sie sich vor, wie Sie sich auf einen Konflikt mit Ihrem
Ex-Partner oder Ihrer geschiedenen Frau vorbereiten: Sie
wissen schon lange, daß Ihre gemeinsamen Streitigkeiten zu
nichts führen als zu weiteren, tieferen Verletzungen. Sie wis-
sen, daß bestimmte Reizthemen, gewisse Worte, eine Hand-
bewegung oder ein abschätziger Gesichtsausdruck schon
genügen, um eine Eskalation in Gang zu setzen, wie sie sich
schon hundertmal abgespielt hat: Eine angespannte, gereizte,
aber offenbar noch kontrollierte Situation schlägt aufgrund
eines scheinbar nebensächlichen Anlasses, eines «falschen
Wortes» in offene Aggression um: «Geht das schon wieder
los?», «Warum tust Du das?» usw.
Nein, diesmal wollen Sie es anders machen. Sie wissen, daß
diese Art des Streitens unter Ihrer beider Niveau ist, daß es
nervenaufreibend und unwürdig ist und daß es nichts bringt.
Dieses Mal werden Sie ruhig bleiben, ruhig und gelassen. Sie
wissen, was kommt, und Sie werden auf keine Provokation in
der Weise reagieren, wie Ihr Partner es von Ihnen erwartet.
Sie werden souverän sein, auf Vorwürfe eingehen, sie abwä-
gen und freundlich und ausgleichend sein.
Sie fahren in die ehemals gemeinsame Wohnung, weil Sie
noch ein paar Bücher abholen wollen, die beim Umzug lie-
gengeblieben sind. Sie arbeiten gerade an einem Text über
Erinnerung, und Sie wollen noch mal bei Nabokov dieses
wunderbare Zitat nachschlagen, das Sie dem Text als Motto

46
voranstellen wollten. Die Atmosphäre ist überraschend locker,
Sie trinken einen Kaffee mit Ihrem Partner, der sich bemüht,
freundlich zu sein. Nach zehn Minuten sagt er: «Du, ich muß
gleich weg, such Dir schon mal die Bücher raus.» Sie gehen ins
Wohnzimmer (sieht ein bißchen fremd aus ohne die Möbel,
die Sie mitgenommen haben), gehen die Reihen im Bücher-
regal durch. Ach, da ist ja noch der Musil, den brauch ich
auch. Und die «Entdeckung der Langsamkeit», das ist auch
meins. Wo ist denn bloß der Nabokov? Sie finden zwei Ro-
mane, die brauchen Sie nicht, wo ist denn dieses verflixte
«Erinnerung, sprich»? Ihr Ex-Partner kommt herein: «Bist Du
soweit? Ich muß los!» – «Gleich. Weißt Du, wo der Nabokov
ist? Die Autobiographie?» – «Keine Ahnung.» Sie suchen wei-
ter. Nach weiteren fünf Minuten wird Ihr Ex-Partner unge-
duldig. «Ich muß los. Kannst Du den nicht ein anderes Mal
mitnehmen?» – «Nein, kann ich nicht. Ich brauch ihn jetzt.
Kleinen Augenblick noch.» Der Augenblick zieht sich. Die
Atmosphäre wird ein wenig angespannt. «Wo ist denn das
Ding, verdammt?» Sie fragen noch mal: «Weißt Du nicht, wo
es ist?» Und Ihr Ex-Partner, jetzt schon mit dem Schlüsselbund
in der Hand, sagt nervös: «Keine Ahnung. Weiß nicht, viel-
leicht hab ich es ja auch verliehen. Oder Du hast es selbst.»
Sie drehen sich um: «Du hast es verliehen? Mein Buch?» –
«Was weiß ich. Hättst Du es halt gleich mitgenommen. Ich
muß jetzt los!» Da ist sie wieder, diese Nonchalance, die Sie
schon immer zur Weißglut getrieben hat. «Hör mal, das ist
mein Buch, und ich brauch es jetzt!» Eine halbe Stunde,
nachdem Sie mit Ihren guten Vorsätzen an der Wohnungstür
gestanden haben, werden Sie unfreundlich. Und laut. «Jetzt
reicht es!» sagt Ihr Partner. Als Sie im Treppenhaus sind,
schreien Sie sich schon an. Es geht um Pedanterie und Klein-
kariertheit, um Ignoranz, Leichtfertigkeit und Arroganz.
«Schrei mich nicht an!» brüllt Ihr Ex-Partner. «Ich schreie
nicht, ich argumentiere!» brüllen Sie.
Und da sind Sie beide mal wieder. Wie eingespielte Tanzpart-
ner bewegen Sie sich im lange eingeübten Rhythmus des
Streits. Ein Wort gibt das andere, eine Erregung steigert die

47
andere, Sie gestikulieren, drohen, fühlen sich bedroht. Ja, Sie
wollten «die Bälle flachhalten», hatten sich als souveränen
Gesprächspartner imaginiert, Sie wollten nett sein, und jetzt
erleben Sie sich, wie Sie mit hochrotem Kopf mit diesem
didaktischen Zeigefinger, den Sie selbst unerträglich finden,
Beleidigungen ausstoßen, die – zumal im Treppenhaus – we-
nig von der Würde erkennen lassen, mit der Sie vor 30 Minu-
ten angetreten sind. Die Worte kommen «wie von selbst», sie
erleben sich als Opfer ganz und gar ungerechter Anwürfe,
und Ihr zugleich aggressives und gekränktes Benehmen treibt
Ihren Partner zur Raserei.
Mir geht es hier weniger um die Frage, wie es zu dieser ritua-
lisierten Konfliktkommunikation, zum perfekt choreogra-
phierten Streit kommt – das ist das Thema habitualisierter
sozialer Interaktion, in der die Partner die Reaktionen ihres
Gegenüber schon vorwegnehmen, bevor sie sich artikulieren
können, und sie gerade darum so treffsicher und zielgenau
auslösen. Mir geht es um Ihr Verhalten und Ihr Gefühl in die-
ser Situation – daß Sie sich beinahe wie von außen wahrneh-
men, während Sie das exakte Gegenteil von dem praktizie-
ren, was Sie sich vorgenommen hatten. Ja, es kann in diesem
Augenblick sogar vorkommen, daß Sie ganz genau «wissen»,
daß es völlig falsch und unfair ist, was Sie sagen – Sie sagen es
aber trotzdem. Vielleicht verschafft Ihnen dieses Gefühl, sich
«trotzdem» so zu verhalten, eine milde Form masochistischer
Befriedigung, vielleicht macht es Ihnen selbst angst. Einerlei:
Sie erleben Ihr eigenes Handeln als irgendwie fremd, nicht zu
Ihnen gehörig, deplaziert. Was ist passiert?
Eine einfache Erklärung, die im Alltag schnell bei der Hand
ist, lautet, daß Sie unbeherrscht sind, konfliktunfähig, leicht
kränkbar, hypersensibel. Solche Erklärungen sind tautolo-
gisch: Sie begründen Ihre Reaktionen mit Eigenschaften Ihrer
Person. Sie verhalten sich so, weil Sie so sind. Aber wie sind
diese Eigenschaften entstanden, wie sind Sie so geworden?
Oder, weil es – wie im oben angeführten Beispiel – meist
komplizierter ist, wieso verhalten Sie sich ganz anders, als Sie
Ihrer Meinung nach sind?

48
Weil Ihre Verhaltensmuster der Unbeherrschtheit oder des
Gekränktseins ein Ergebnis sozialer Erfahrungen sind, die Sie
irgendwann zuvor in Ihrem Leben gemacht haben. Vielleicht
mit dieser besonderen Person, mit der Sie gerade so unerfreu-
lich streiten, vielleicht aber schon viel früher und mit Perso-
nen, die mit der augenblicklichen Situation im Treppenhaus
nicht im entferntesten etwas zu tun zu haben scheinen. Viel-
leicht haben Sie die Erfahrung gemacht, daß Sie einem tief-
empfundenen Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht am
besten damit begegnen, daß Sie Ihr Gegenüber hilflos und
ohnmächtig machen. Wenn Sie damit (aus Ihrer Sicht) wie-
derholt erfolgreich waren, könnte sich dieses Verhalten in
Ihrer Persönlichkeitsstruktur als Muster etabliert haben, das
auch in Situationen aktiviert wird, in denen es in diesem Aus-
maß gar nicht erforderlich, geschweige denn angebracht ist.
Sie flippen beim geringsten Anlaß aus. Ihr Verhaltensmuster
hat sich auf merkwürdige Weise generalisiert. Zufällig treffen
Sie ausgerechnet immer auf Partner, die Sie mühelos zum
Ausflippen bringen können.
Kommen wir nochmal auf das Gefühl der Entfremdung zu-
rück, das Sie befällt, wenn Sie ausflippen: Sie wenden das er-
lernte Verhaltensmuster an, ohne es zu wollen, ja ohne zu
wissen, daß es existiert und worauf es zurückgeht (zumal es,
wie Sie mit Schrecken registriert haben, gar nicht zu Ihrer
Person gehört: «Sonst bin ich ja gar nicht so – er bringt mich
immer dazu!»). Wir sollten zunächst klären, was sich hinter
der Begriffsverbindung «erlerntes Verhaltensmuster» verbirgt
– denn das Beispiel hat ja schon gezeigt, daß es hier um etwas
anderes Erlerntes geht als um Wissen, das wir uns irgendwann
einmal angeeignet haben. Im Gegenteil: Hier geht es um et-
was Erlerntes, das wir «wider besseren Wissens» anwenden,
und wir können uns kaum erklären, wo es herkommt, dieses
Verhalten, das wir selbst als etwas Fremdes empfinden. In die-
sem Gefühl von Verunsicherung zeigt sich aber schon, daß
uns ein Teil dieses «Erlernten» gar nicht bewußt ist – es kann
sein, daß wir keine Ursache, keinen Ausgangspunkt dafür fin-
den können, daß sich das Muster in der Situation aber so un-

49
willkürlich und präzise ausbreitet, als würde es sich um einen
automatischen Ablauf handeln.
Vergleichen wir diesen Automatismus des Verhaltens einmal
mit anderen, viel harmloseren und erfreulicheren Handlungs-
abläufen wie Autofahren oder Klavierspielen. So komplex die
Abläufe sind, die Sie in die Lage versetzen, ein Auto durch
eine Großstadt zu bewegen oder die Goldberg-Variationen zu
spielen – sie setzen eine Routinisierung voraus. Routine-
mäßige Abläufe haben etwas mit Erfahrung, Lernen und
Erinnern zu tun – aber eben so, daß es gar nicht notwendig
ist, sich an das Erlernte zu erinnern, um es anzuwenden. Ge-
naugenommen erinnern Sie sich im Tun gar nicht daran, daß
Sie sich erinnern. Die Gedächtnisforschung hat, wie schon
erwähnt, hierfür den Begriff «implizites Gedächtnis» geprägt
und bezeichnet damit all jene Aspekte unseres «prozeduralen»
Wissens, unserer erlernten Fähigkeiten, deren Ausführung
uns so selbstverständlich geworden ist, daß uns gar nicht mehr
bewußt ist, wie die entsprechende Handlung abzulaufen hat
und welche komplizierten Abstimmungen und mühsamen
Übungen dafür nötig waren, den nun selbstverständlichen
Ablauf sicher beherrschen zu lernen. Mehr noch: Bei vielen
Vorgängen, die mit implizitem Erinnern zu tun haben (wie
zum Beispiel beim Autofahren), wäre es höchst unpraktisch,
sich bei der Ausführung zu vergegenwärtigen, was man als er-
stes, zweites, drittes zu tun hat – daran erkennt man den An-
fänger, der sich konzentriert dessen bewußt ist, daß er bei
einer Steigung vom dritten in den zweiten Gang zurückschal-
ten muß, was er nach 15 000 Kilometern Fahrpraxis längst
vergessen hat. Er macht es jetzt ganz einfach, wie automa-
tisch.
Das implizite Gedächtnis ist also auf eine merkwürdige Art
vergeßlich. Oft können wir uns gar nicht mehr vorstellen,
wie mühselig und kompliziert ein bestimmter Handlungsab-
lauf zu erlernen war, den wir ohne jedes Nachdenken, mit
schlafwandlerischer Sicherheit, beherrschen. Wir haben es
hier mit erlernten Mustern zu tun, von denen wir vergessen
haben, daß wir sie erlernt haben. Was sich beim Autofahren

50
und Klavierspielen als ganz gut erweist, kann beim Streiten,
beim Austragen von Konflikten überhaupt, ziemlich fatal
sein: Sie kommen aus Ihrem Verhaltensmuster nicht heraus.
Sie können sich darüber hinaus gar nicht erklären, warum
(aufgrund welchen Lernprozesses) Sie sich gerade so unmög-
lich verhalten.
An dieser Stelle können wir einen ersten vorsichtigen Blick
darauf werfen, was denn Erlerntes in diesem unbewußten
bzw. unbewußt gewordenen Sinn eigentlich ist. Neurowis-
senschaftler würden sagen, es handle sich um ein etabliertes
neuronales Verschaltungsmuster, das bei bestimmten Wahr-
nehmungsreizen aktiviert wird. Aber um zu klären, was das
bedeutet, müssen wir ganz früh in unserer Entwicklung an-
fangen, vor unserer Geburt.
Ein Aspekt der fötalen Entwicklung ist – neben der sukzessi-
ven Entwicklung unserer anderen Organe – natürlich die
Entwicklung des Gehirns, und zwar auf der Ebene der orga-
nischen Heranreifung wie auf der Ebene der Entwicklung
einer neuronalen Verschaltungsarchitektur. Neuronen sind
Nervenzellen, denen die höchst komplizierte Aufgabe zu-
kommt, die unterschiedlichsten – körperinternen und kör-
perexternen – Wahrnehmungsreize weiterzuverarbeiten. Sie
verbinden sich – vermittelt über sehr vielfältige biochemische
Ausschüttungen in ihrem Inneren – mit anderen Neuronen
zu Netzwerken. An deren Verknüpfungsstellen werden elek-
trische Impulse «gefeuert» und so zu einer Vielzahl anderer
Neuronen weiterverbreitet.
Jedes Neuron hat einen Zellkörper, von dem eine Reihe fa-
serartiger Verzweigungen, die Dendriten, und eine lange Fa-
ser, das Axon, abgehen. Die Dendriten sind die Empfänger
der elektrischen und biochemischen Signale anderer Neuro-
nen; über das Axon werden die eintreffenden Signale an an-
dere Nervenzellen weitergeleitet.
Eine zentrale Rolle bei diesem Übermittlungsvorgang spielen
die Synapsen, die Kontaktstellen der Neuronen zueinander,
die erstaunlicherweise eigentlich Lücken sind. Wenn ein
Neuron ein Signal empfängt, sendet es über das Axon elektri-

51
sche Impulse über die Lücke hinweg zum nächsten Neuron.
Dieser Vorgang ist selektiv; die Signalübertragung wird über
spezielle Neurotransmitter gewährleistet. Ein Signal wird nur
von solchen Neuronen empfangen, die über die entsprechen-
den Rezeptormoleküle für die abgeschickten Neurotransmit-
ter verfügen. Wenn das der Fall ist, wird der Neurotransmitter
«in die Lücke – den synaptischen Spalt – ausgeschüttet [. . .];
er diffundiert dann schnell durch die Lücke zu der benachbar-
ten, postsynaptischen Zelle und bindet an spezielle Rezeptor-
moleküle, die dort in die synaptische Membran eingelagert
sind. Durch diese Bindung verändern sich die Eigenschaften
der Rezeptormoleküle in mehrfacher Hinsicht, und das führt
im postsynaptischen Neuron zur elektrischen und biochemi-
schen Aktivierung.»58
Im Vorgang der Bindung des Neurotransmitters (z. B. Norad-
renalin, Glutamat, Gamma-Aminobuttersäure und schät-
zungsweise mehr als 50 weitere)59 liegt das eigentliche «Ge-

Abb. 4: Schema-
zeichnung einer
Nervenzelle mit
Bezeichnung wich-
tiger Teilstrukturen.
Der Zellkörper mit
dem Zellkern dient
vor allem den Stoff-
wechselprozessen
der Nervenzelle, die
Dendriten stellen
den signalaufneh-
menden Teil des
Neurons dar. Das
Axon leitet Infor-
mationen zu den
Synapsen weiter
(vereinfacht nach
Markowitsch 2002,
S. 77).

52
Abb. 5: Synapse (vereinfacht nach Kolb & Whishaw 1996,
S. 80, 99f.).

dächtnis» des neuronalen Systems: Die spezifischen synapti-


schen Verbindungen, die über diese Transmitter hergestellt
werden, bilden Muster – «Engramme» –, die beim Wiederauf-
treten desselben Reizes erneut aktiviert werden.
Eine neuronale Verschaltungsstruktur ist also ein Netzwerk,
innerhalb dessen Informationen weitergegeben und in einem
komplexen Muster abgelegt werden, das bei einem erneuten
gleichartigen Wahrnehmungsreiz wieder aktiviert wird. So-
fern wir es mit Verschaltungsstrukturen zu tun haben, die
nicht genetisch voreingestellt sind, sondern mit solchen, die
sich durch eine Wahrnehmung, deren Einspeicherung und
Konsolidierung gebildet haben, haben wir es mit Erinnerung
zu tun. Die spezielle Verschaltungsstruktur, die zum Beispiel
die Erfahrung Ihres ersten Kusses gebildet hat, bildet ein
neuronales Korrelat, ein «Engramm» dieser Ihrer Erfahrung,
auf die Sie zurückgreifen können – indem Sie sich lediglich

53
daran erinnern oder indem Sie ein weiteres Mal küssen. Die
Komplexität der auf diese Weise entstehenden Systeme ist un-
ermeßlich. Man geht davon aus, daß auf jedes der einhundert
Milliarden Neuronen im Gehirn «einige tausend bis 100 000
Synapsen einwirken», was bedeutet, daß jedes Neuron die In-
formationen einer Unzahl anderer empfangen kann. Das Ge-
hirn enthält somit schätzungsweise bis zu 100 Billionen Syn-
apsen.60
Soviel in aller Kürze. Man kann sich vorstellen, welcher Vari-
antenreichtum und welche Flexibilität der Verarbeitung von
Reizen gegeben ist, wenn, sagen wir, einige hundert Neuro-
nen miteinander vernetzt sind. Wenn man nun berücksichtigt,
daß sich während der vorgeburtlichen Entwicklung im Gehirn
des Embryos pro Minute ca. 250 000 Neuronen bilden, die
umgehend ihre Tätigkeit aufnehmen, kann man sich vorstel-
len, mit welch ungeheuer komplexen Struktur zur Verarbei-
tung von Informationen Babys auf die Welt kommen. Da ein
Fötus aber bereits im Mutterleib – je nach Entwicklungsstand
seiner Sinnesorgane – in beträchtlichem Maße Außenwahr-
nehmungen, z. B. akustischer Art, macht, ist dieses bei der Ge-
burt auf einhundert Milliarden Neuronen angewachsene Ner-
venbündel keineswegs unorganisiert, sondern bereits durch
Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse strukturiert. Neh-
men wir ein Beispiel: Das Gehör des Embryos ist bereits am
Ende des vierten Schwangerschaftsmonats entwickelt61 – der
Fötus kann Töne und Klänge wahrnehmen, die aus seiner un-
mittelbaren körperlichen Umgebung (Herzschlag, Atem, Ver-
dauungsgeräusche), aber auch aus der Außenwelt kommen:
laute Geräusche, Stimmen, Musik etc. Natürlich kann er auch
die Stimme der Mutter wahrnehmen, und zwar auf einzig-
artige Weise: von innen. Die Frequenz und Anmutung dieser
körperlichen Stimme hinterläßt schon im Fötus eine be-
stimmte Erinnerungsspur – was sich zum Beispiel daran zeigt,
daß Neugeborene in der Lage sind, die Stimme ihrer Mutter
von der anderer Menschen ohne weiteres zu unterscheiden.
Und nicht nur das – sie ziehen den Klang der mütterlichen
Stimme auch allen anderen Stimmen vor.

54
Dieser faszinierende Befund bedeutet in neurowissenschaftli-
cher Sicht, daß sich in den Monaten der Schwangerschaft im
Zuge des Hörens bestimmter Innen- und Außengeräusche,
im Laufe des Wahrnehmens, Einspeicherns und Verarbeitens
solcher Reize, eine ganz bestimmte Organisationsstruktur
von Neuronen im auditiven System herausgebildet hat, die
gewährleistet, daß das Baby eine ganz bestimmte Stimmlage,
eine ganz bestimmte Melodie, eine ganz bestimmte Tonhöhe
als verschieden von anderen wahrnehmen kann. Das bedeu-
tet, daß sich bereits im fötalen Gehirn eine neuronale Reprä-
sentation des Klangmusters der Stimme der Mutter gebildet
hat, die beim wiederholten Hören aktiviert wird und mit an-
deren Klangmustern verglichen werden kann, die in einer an-
deren neuronalen Struktur repräsentiert sind oder werden.
Mit anderen Worten: Schon der Fötus verfügt über etablierte
und sich etablierende Netzwerkstrukturen, die Erfahrungen
repräsentieren, die er im Mutterleib gemacht hat.
Er kommt also, wie ich im nächsten Kapitel noch genauer
ausführen werde, mit einer Reihe von aktiven Wahrneh-
mungs- und Differenzierungsfertigkeiten auf die Welt. Ein
Neugeborenes ist weder das passive Bedürfnisbündel, als das
es die klassische Entwicklungspsychologie und besonders die
Psychoanalyse betrachtet hat, noch das Ensemble unbedingter
und konditionierter Reflexe, die der Behaviorismus in ihm
sehen wollte. Schon das Neugeborene ist ein aktiver Interak-
tionspartner für die Menschen seiner Umgebung, und es
bringt schon bei der Geburt einiges mit, was es ihm ermög-
licht, sich die Welt anzueignen. Natürlich gehen diese Fähig-
keiten nicht ausschließlich auf pränatale Erfahrungen zurück:
Denn seine genetische Entwicklungsbasis stellt auch eine
ganze Reihe von grundlegenden Verschaltungsstrukturen be-
reit, die nichts mit Erfahrung zu tun haben, sondern aus
Gründen des Überlebens gewissermaßen voreingestellt sind.
Es sind dies z. B. die grundlegenden Fähigkeiten, die früher
als «unbedingte Reflexe» bezeichnet wurden – der Greifre-
flex, mit dem die Hand des Neugeborenen den gebotenen
Finger umschließt, der Saugreflex usw. Daß das Neugeborene

55
atmen, sehen, hören, fühlen, Nahrung aufnehmen, Schmerz
empfinden kann – alles dies ist nicht das Ergebnis von Erfah-
rung, die es im geschützten Raum des Mutterleibs gemacht
hat, sondern das Ergebnis genetischer Determinierung.
Zum Universum genetischer Determinierung grundlegender
Verschaltungsstrukturen gehört aber auch die Möglichkeit,
daß sich überhaupt Verschaltungsstrukturen bilden können,
die nicht festgelegt, sondern erfahrungsoffen sind. «Bereits die
genetisch determinierten Verschaltungen», schreibt der Göt-
tinger Neuropsychologe Gerald Huether, «prädisponieren das
sich entwickelnde Gehirn für ganz bestimmte sensorische
Wahrnehmungen, für eine bestimmte assoziative Verarbei-
tung dieser Eindrücke und für die Aktivierung ganz be-
stimmter Verhaltens- und (Gefühls-)reaktionen.»62
Wenn hier von «assoziativer Verarbeitung» die Rede ist, be-
deutet das natürlich nicht, daß der Fötus bewußt Assoziatio-
nen eines Erlebnisses mit einem anderen herstellt, sondern
daß das neuronale Netzwerk selbst assoziativ organisiert ist:
Die Muster der neuronalen Repräsentationen von Erfahrun-
gen und Erinnerungen bestehen ja nicht nur aus ungeheuer
vielen, sondern zum Teil auch aus weit auseinanderliegen-
den Verknüpfungspunkten, die sämtlich beim Abruf dieser
speziellen Repräsentation aktiviert werden. Eine Abrufsitua-
tion (also das Sich-Erinnern) ist aber immer eine neue Situa-
tion, die dem vorhandenen Engramm eine neue Verknüp-
fung hinzufügt – was nichts anderes heißt, als daß Neuronen
bzw. neuronale Verknüpfungen während des Abrufs und
Einspeicherns aktiviert bzw. gebildet werden, die bislang
noch nicht zu diesem speziellen Engramm gehörten. Sie as-
soziieren sich dazu. Das menschliche Gedächtnis funktio-
niert genau in diesem Sinne als «Assoziationsspeicher»: Durch
neue Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse werden
Neuronen oder «Gruppen von Neuronen in immer neuen
Konstellationen zusammengebunden, deren gemeinsame
Aktivierung dann die Repräsentation für den jeweiligen Ge-
dächtnisinhalt darstellt. Die gleichen Nervenzellen betei-
ligen sich also an der Repräsentation sehr viel verschiedener

56
Inhalte, was sich ändert, ist lediglich die Konstellation, in der
sie aktiv werden.»63
Genau dieses Potential des assoziativen Wahrnehmens, Ein-
speicherns und Abrufens ist in diesem Ausmaß zum einen das
Ergebnis einer spezifisch menschlichen genetischen Disposi-
tion, zum anderen aber auch der Ausgangspunkt dafür, daß
menschliche Entwicklungsprozesse genetische Vorprogram-
mierungen mühelos überschreiten können: Ein großer Teil
der Verschaltungsarchitektur des menschlichen Gehirns bildet
sich aufgrund von Erfahrung aus – eine bestimmte Lautfolge
bildet ein bestimmtes Engramm, eine Erinnerungsrepräsenta-
tion im Gehirn. Die Möglichkeit, daß und wie dieses En-
gramm gebildet werden kann, ist genetisch determiniert, nicht
aber die Gestalt des Engramms selbst, die von der Klanggestalt
der Stimme der Mutter abhängt.
Ein Säugling wird – wie jedes andere Lebewesen – mit einer
genetischen Prädisposition für die Entwicklungs- und Ver-
knüpfungsmöglichkeiten seiner neuronalen Architektur ge-
boren, aber die Gestalt, die diese Architektur annimmt, hängt
sowohl von den Genen wie von Erfahrung ab: «Die Gene lie-
fern die Information für die Organisation des Gehirns und
seiner Systeme, aber die Erfahrung bestimmt, welche Gene
wann und auf welche Weise wirksam werden.»64 Diese Sicht
der Dinge führt direkt aus der Sackgasse der endlosen und un-
fruchtbaren Anlage-Umwelt-Debatte heraus (und macht es
im übrigen überflüssig, nach den Genen weiterzusuchen, die
für Alkoholismus oder Homosexualität zuständig sein sollen).
Die Fähigkeit, mit Bezugspersonen zu kommunizieren, ist
angeboren, d. h. genetisch bedingt, sie produziert aber inter-
personelle Erfahrungen, deren neuronale Korrelate die gene-
tische Determination sofort überschreiten.
Menschliche Entwicklung ist mithin schon pränatal eine
Kombination aus genetischer Prädisposition und – im weite-
sten Sinne – sozialer Umwelterfahrung. Das menschliche Ge-
hirn ist einzigartig plastisch – seine Entwicklung, Reifung und
Formung hängt, im Vergleich zu anderen Säugetieren, in
großem Ausmaß von Einflüssen aus der Umwelt des sich ent-

57
wickelnden Menschenwesens ab. Dieser Umstand ist schon
vor einem halben Jahrhundert von dem Zoologen Adolf Port-
mann erkannt worden. Er hat das erste Entwicklungsjahr des
Säuglings als «extrauterines Frühjahr» bezeichnet und damit
gemeint, daß Menschen – im Unterschied wiederum zu ande-
ren Säugetieren – in dem Sinne zu früh geboren werden, als
ihr Entwicklungsstand noch keineswegs ausreicht, um aus ei-
gener Kraft zu überleben. Säuglinge sind, das ist trivial, nicht
in der Lage, sich Nahrung zu beschaffen, sich zu verteidigen,
davonzulaufen – sie bedürfen über einen vergleichsweise sehr
langen Entwicklungszeitraum hinweg des Schutzes und der
von außen kommenden Sicherstellung ihrer elementaren Le-
bensnotwendigkeiten. Und zwar so lange, bis ihre organische
Reifung so weit fortgeschritten ist, daß sie – theoretisch – al-
lein überleben könnten (wobei, wenn Sie kurz bei diesem
Gedanken verweilen, deutlich wird, wie groß auch hier der
Einfluß der sozialen Umwelt ist: Gewiß gibt es beträchtliche
Unterschiede in den erforderlichen Überlebenstechniken, je
nachdem, ob die Anforderungen solche des Dschungels, der
Savanne oder der Großstadt sind).
Der Umstand, daß Menschen organisch zu früh, also unfertig,
auf die Welt kommen, bedeutet nichts anderes, als daß in ihrer
Entwicklung genetisch angelegte Ausreifungsprozesse mit so-
zialen Ausformungsprozessen zusammenfallen: Die organische
und die soziale Entwicklung laufen gemeinsam ab – wie wir
gesehen haben, schon vorgeburtlich, deutlicher aber postna-
tal. Und genau darauf ist die menschliche Gehirnentwicklung
ausgelegt: Kein anderes Lebewesen verfügt über eine ver-
gleichbare Neuroplastizität, kein Gehirn ist bei der Geburt so
unfertig wie das des Menschen, keines besitzt ein vergleichbar
großes Entwicklungspotential für die Adaptierung an ver-
schiedene und sich verändernde Umweltbedingungen.
Ein menschliches Gehirn wiegt bei der Geburt nur rund ein
Viertel des Gehirns eines Erwachsenen. Beim Schimpansen,
dem genetisch nächsten Verwandten, sind es immerhin 60 %.
Das Anwachsen der neuronalen Verschaltungen läuft aus-
schließlich beim Menschen noch nach der Geburt in fötaler

58
Geschwindigkeit und Größenordnung weiter. In jeder Sekun-
de entstehen unter jedem Quadratzentimeter der Gehirnober-
fläche ca. 30 000 Synapsen65 – und zwar bis etwa zum sechsten
Lebensjahr. Aber dann ist noch lange nicht Schluß. Einzelne
Gehirnareale und -organe kommen erst mit der Pubertät zur
endgültigen Ausreifung (wie das Stirnhirn), andere (wie die
Temporallappen) erst mit Abschluß der Adoleszenz.66 Gerade
diese so erstaunlich spät abgeschlossenen Entwicklungspro-
zesse sind offenbar notwendig für die Persönlichkeitsentwick-
lung, die Ausformung sicherer Selbst- und Fremddifferenzie-
rungen und für die Entwicklung eines autobiographischen
Gedächtnisses. Im übrigen finden sich zunehmend (allerdings
umstrittene) Belege dafür, daß sich Neuronen lebenslang neu
bilden – eine Erkenntnis, die bis vor kurzem für unmöglich
gehalten wurde.67 Kurz: Wir haben es beim menschlichen
Gehirn mit einem außergewöhnlich lange außergewöhnlich
unfertigen Organ zu tun. Was Menschen lange schon vor der
endgültigen Ausreifung zu tun in der Lage sind, ja was sie
schon vom Tag der Geburt an können, verdeutlicht einmal
mehr die Vollkommenheit dieses Organs, des geschmeidig-
sten und entwicklungsfähigsten Wandlungskontinuums, das
die Evolution hervorgebracht hat.
In seinem Entwicklungspotential und seiner Offenheit für die
formenden Einflüsse natürlicher und sozialer Umwelten liegt
der Grund für den Überlebensvorteil der menschlichen Spe-
zies: Kein anderes Lebewesen kann sich unterschiedlichen
und sich verändernden Umweltbedingungen so gut anpassen
wie der Mensch. Gattungsgeschichtlich ist das ein Kennzei-
chen äußerster Robustheit, aber bezogen auf das Individuum
gibt es kein Lebewesen, das weniger robust und überlebens-
unfähiger wäre als ein kleiner Mensch. Der Umstand, daß bei
der menschlichen Spezies biologische und soziale Entwick-
lung zusammenfallen, sorgt nicht nur für seine einzigartige
Entwicklungsfähigkeit, sondern auch für eine einzigartige
Verletzlichkeit und Störbarkeit seiner Entwicklung. Und da-
mit kommen wir zurück zur Entwicklung der neuronalen
Verschaltungsarchitektur.

59
Neuronen verändern sich in der Reaktion auf äußere Reize,
und die Netzwerke, in denen sie assoziiert sind, tun dies un-
weigerlich auch. Die neuronalen Repräsentationen einzelner
Elemente der Erfahrung der äußeren Welt sind desto stabiler,
je häufiger sie aktiviert werden. Durch Wiederholung des
spezifischen Aktivierungsmusters entsteht so etwas wie eine
sensibilisierte neuronale Reaktion: «Einmal sensibilisiert,
kann die gleiche neurale Aktivierung auch durch zunehmend
weniger intensive äußere Stimuli ausgelöst werden.»68 Des-
halb kann der eigentümliche Effekt entstehen, von dem ein-
gangs – am Beispiel des Streits im Treppenhaus – die Rede
war: Eine Reaktionsweise, ein erlerntes Verhaltensmuster
kann auch dann aktiviert werden, wenn ein vergleichsweise
geringfügiger, aber genügend ähnlicher Auslöser vorliegt. In
dem skizzierten Streit brauchten die Kontrahenten gar nicht
demselben Gefühl von Kränkung oder Bedrohung ausgesetzt
zu sein, das irgendwann in ihrer Lebensgeschichte ihr beson-
deres Reaktionsmuster darauf ausgebildet hatte – es genügt
nun ein Signal, daß hier eine Kränkung oder Bedrohung vor-
liegen oder entstehen könnte, um das Verhaltensmuster zu
aktivieren, gleichgültig, wie angemessen oder unangebracht
es für die gegebene Situation ist. Weil es sich bei dem Trep-
penhausbeispiel um etwas vergleichsweise Harmloses und
Alltägliches handelt – ein Vorgang im Rahmen nur leicht ver-
schobener sozialer Konvention und Kontrolle –, kann auch
das erwähnte Gefühl der Entfremdung dem eigenen Verhal-
ten gegenüber empfunden werden: Man kann sich über sich
selbst, d. h. über das eigene Verhalten, ärgern. Das aber be-
deutet, daß noch weitere Maßstäbe zur Bewertung und Rela-
tivierung des eigenen Verhaltens verfügbar sind; die Person ist
nicht vollständig in ihrem Verhaltensmuster befangen.
Ganz anders sieht das aus, wenn Menschen – und besonders
Kinder – Erfahrungen gemacht haben, die deutlich außerhalb
der Bandbreite sozial und psychisch konventioneller Erleb-
nisse liegen, das heißt von Erlebnissen, die erwartbar und zu
bewältigen sind: Mißbrauchserfahrungen, Erfahrungen von
körperlicher Gewalt und Mißhandlung, von Situationen ex-

60
tremer und unausweichlicher Hilflosigkeit etc. Solche trau-
matisierenden, also im Wortsinn verletzenden Erfahrungen
hinterlassen deutliche Spuren im weiteren Leben der Betrof-
fenen. Besonders an den psychischen Problemen zurückge-
kehrter Vietnam-Veteranen ist das Phänomen der sogenannten
posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD = post-trauma-
tic stress disorder) deutlich geworden: Die Patienten litten an
den Erfahrungen, die ihnen Situationen extremer Gewalt und
Grausamkeit im Krieg vermittelt hatten, noch lange nachdem
der Krieg beendet war. Sie litten – und leiden – an Schlaflo-
sigkeit, Angstzuständen und besonders an Flashbacks, akuten
Panikzuständen, die durch einen Auslösereiz aktiviert wer-
den, der einem Reiz in der ursprünglich traumatisierenden
Situation ähnlich ist oder entspricht. Zum Beispiel kann die
Fehlzündung eines vorbeifahrenden Motorrads, die dem Ge-
räusch eines Schusses ähnelt, oder das Zerbersten einer Glas-
scheibe, das einem Geräuschausschnitt aus einer erlebten
Kampfsituation gleicht, genau die Angst wieder auslösen, die
der Betroffene in der Situation des Krieges erlebt hat. Die
Reaktion erfolgt, obwohl sie angesichts des gegenwärtigen
Auslösers ganz und gar unangemessen ist: Der Betroffene
wirft sich zum Beispiel sofort zu Boden, um Deckung zu
suchen, und durchlebt für einen Moment (oder für eine gan-
ze Weile) genau jene Angst aufs neue, die er seinerzeit erlebt
hat. Auch hier hat die traumatisierende Erfahrung eine Sen-
sibilisierung des Aktivierungsmusters erzeugt, gegen die der
Betroffene sich durch bloßes Nachdenken nicht wehren
kann. Er leidet an dem erlebten Trauma und den mit ihm ver-
bundenen Reaktionen, oft lebenslänglich.
Ich komme auf dieses Phänomen im Kapitel über emotionale
Erinnerung noch einmal genauer zu sprechen. Im Augenblick
geht es um das Phänomen, daß in ein entwickeltes, reifes Ge-
hirn eine Erinnerung an einen Zustand eingebaut worden ist,
der von extremer Angst gekennzeichnet ist – eine nachhaltig
wirksame Erinnerung. Es hat eine «gebrauchsabhängige In-
ternalisierung der Angstreaktion» stattgefunden, wie der Kin-
derpsychiater Bruce D. Perry formuliert hat. Auch das reife

61
Gehirn ist offen für die Etablierung neuer neuronaler Muster,
die hinzukommende Erfahrungen repräsentieren. Im Fall des
Traumas wird eine lebensbedrohliche Situation und die dar-
auf antwortende Reaktion repräsentiert, die für das Überle-
ben wahrscheinlich funktional war. Nun kann das Besondere
von traumatischen Erfahrungen darin liegen, daß sie sich be-
wußter Erinnerung und intentionaler Beeinflussung deswe-
gen entziehen, weil sie im Moment ihrer Entstehung gar
nicht erst in den für die Speicherung deklarativer Gedächtnis-
inhalte zuständigen Teil des Gedächtnissystems gelangen.
Gleichzeitig sind sie aber präsent und verhaltensbestimmend,
wenn auch auf eine dem Betroffenen nicht zugängliche
Weise. Daß traumatische Erfahrungen in unser Gehirn «ein-
graviert» werden, ist ein besonders einprägsames Bild für die-
sen Sachverhalt.69
Der größte Unterschied zwischen anderen impliziten Erinne-
rungen und solchen, die auf eine Traumatisierung zurückge-
hen, liegt in dem Umstand, das letztere nachweisbare und
dauerhafte körperliche Veränderungen bei den Betroffenen
hervorrufen. «The Body Keeps the Score»70 heißt folgerichtig
der Titel einer einschlägigen Untersuchung. So sind bei Per-
sonen, die unter PTSD leiden, dauerhaft erhöhte Hormon-
ausschüttungen, erhöhte Eiweißkonzentration im Urin, aber
auch auffällige Schwächungen des Immunsystems festgestellt
worden. Solche körperlichen Auswirkungen können bis zur
irreversiblen Schädigung des Hippocampus, einem zentralen
Hirnorgan für die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten,
gehen.71
Die Sensibilisierung des durch eine traumatisierende Erfah-
rung entstandenen Aktivierungsmusters sorgt dafür, daß es
auch dann aktiv wird, wenn de facto gar keine Gefahr vor-
liegt. Das macht das Problem des Patienten aus: Die Reaktion
auf die traumatisierende Erfahrung, die ursprünglich, zum
Zeitpunkt ihres Entstehens, eine adaptive Reaktion war, die
sein Überleben sicherte (wie das Sich-zu-Boden-Werfen), ist
nun alles andere als funktional, findet aber dennoch statt. Die-
ser dramatische Effekt kann durch eine (wiederholte oder

62
einmalige) Traumatisierung im Erwachsenenalter hervorge-
rufen werden: Die lebenslange Plastizität des Gehirns, seine
Offenheit für neue Erfahrungen, reicht dafür aus, ein solches
erfahrungsabhängiges, die Schädigung wiederholendes Akti-
vierungsmuster zu etablieren.
Wenn das bei Erwachsenen der Fall ist, kann man sich ohne
weiteres vorstellen, wie verheerend traumatisierende Ein-
flüsse auf Kinder wirken: Denn hier trifft das traumatisierende
Ereignis auf eine Struktur, die erst im Entstehen ist. Es wird
nicht bloß eine Angstreaktion internalisiert und im Falle der
Wiederholung sensibilisiert, sondern die erlebte Angst und
die eigene Reaktion darauf beeinflußt die Organisationsstruk-
tur des sich entwickelnden neuronalen Netzes selbst, ja sogar
die Entwicklung der einzelnen Hirnorgane (wie des Hippo-
campus). Perry beschreibt das so: «Im heranreifenden Gehirn
sind die undifferenzierten neuronalen Systeme entscheidend
von umwelt- und mikroumweltbedingten Hinweisen (zum
Beispiel Neurotransmittern, zellularen Adhäsionsmolekülen,
Neurohormonen, Aminosäuren, Ionen) abhängig, um ihre
noch undifferenzierten, unreifen Formen angemessen organi-
sieren zu können.»72 Wenn im Prozeß des Heranreifens durch
traumatisierende Einwirkungen die Ausschüttung des jewei-
ligen Hormons blockiert oder unterbrochen wird, kann das
eine Beeinträchtigung der betroffenen Systeme insgesamt zur
Folge haben: Wenn es während kritischer Entwicklungspha-
sen zur Störung der neurochemischen Signale kommt, die in-
nerhalb des sich bildenden Netzwerks von Neuron zu Neu-
ron weitergegeben werden, können erhebliche und zum Teil
irreversible «Anomalitäten oder Defizite der Neuroentwick-
lung die Folge» sein. Solche Anomalitäten können «(1) auf
einem Mangel an sensorischem Erleben während kritischer
Phasen beruhen oder – der häufigere Fall – (2) auf atypischen
oder anomalen neuronalen Aktivierungsmustern infolge ex-
tremer Erfahrungen (zum Beispiel Kindesmißhandlung)»
zurückgehen.73
Natürlich kann das sich in der Entwicklung, d. h. sich in der
langen Phase der Organisation seiner eigenen Struktur be-

63
findliche Gehirn des Kindes durch solche gravierenden Erfah-
rungen leichter geformt werden als das entwickelte, reife Ge-
hirn eines Erwachsenen. «Erfahrung kann das Gehirn eines
Erwachsenen verändern, für einen Säugling und ein Kind
aber stellt sie in einem ganz konkreten Sinn den Organisati-
onsrahmen dar. Da das Gehirn in der frühen Kindheit unge-
heuer plastisch (Umwelteinflüssen gegenüber offen) ist, rea-
giert das Kind auf Veränderungen seines Erlebens in dieser
Zeit sehr empfindlich.»74
Perry zieht daraus den Schluß, daß dies der destruktivste und
zugleich am wenigsten verstandene Effekt von Kindes-
mißhandlung ist – die traumatisierende Erfahrung erzeugt
neuronale Aktivierungsmuster, die die Organisation und Ak-
tivität wichtiger sozialer Funktionen im heranwachsenden
Kind selbst verändern, zum Beispiel die Regulation seiner
Affekte, seine Fähigkeit zur Bindung, die Entwicklung von
Empathie usw. Technokratisch gesprochen, finden durch die
vielfältigen biochemischen Reaktionen, die eine extreme
Streßsituation hervorruft (beispielsweise die gesteigerte Aus-
schüttung von Noradrenalin, um den Körper fluchtbereit zu
machen), «Fehlanpassungen» statt: Eine Art Übererregung der
zentralen Funktionen des Nervensystems, die in der Situation
der drohenden Verletzung eine adäquate körperliche Reak-
tion zur Abwendung der Gefahr darstellen, generalisiert sich
bei wiederholter oder fortgesetzter Traumatisierung zu einem
permanenten Angstzustand. Auch das Gegenteil kann der Fall
sein: Man kann einer Gefahr auch durch eine Starrereaktion
begegnen und die Mißhandlung scheinbar unbeteiligt über
sich ergehen lassen. Die psychische Folge dieser «Ergebungs-
reaktion» besteht in Dissoziation: Das Kind distanziert sich
von dem, was ihm «von außen» geschieht, und konzentriert
sich auf seine Innenwelt. Auch diese Reaktionsweise kann
generalisiert werden, so daß ganz alltägliche, eigentlich harm-
lose Stressoren extreme Reaktionen der Hypererregung oder
der dissoziativen Starre hervorrufen können.75
Perry formuliert diese bedrückenden Befunde auf der Grund-
lage seiner Untersuchungen mit schwer traumatisierten Klein-

64
kindern und Säuglingen, wobei zu betonen ist, daß einmalige
Traumatisierungen (durch einen Unfall zum Beispiel) keines-
wegs zu den beschriebenen Folgen führen müssen. Das Über-
wiegen anders gelagerter Erfahrungen kann die traumatische
Erfahrung relativieren, überdecken oder verschwinden lassen.
Die Wiederholung der traumatisierenden Situation, die Er-
zeugung wiederkehrenden extremen Stresses allerdings er-
zeugt die beschriebene Sensibilisierung und die verheerenden
Folgen in der psychischen Organisation des Kindes und in der
neuronalen Organisation seines Gehirns, die sich im schlimm-
sten Fall nicht mehr heilen lassen.
Übrigens geht man in der Entwicklungspsychologie davon
aus, daß es leichter Streß ist, der Entwicklung in einem kon-
struktiven Sinn ermöglicht: Die Anforderung, die durch eine
neue Erfahrung, eine unbekannte Aufgabe an das Kind ge-
stellt wird, wird dann zur Entwicklung neuer Fähigkeiten
und Kompetenzen führen, wenn sie – vom Kind allein oder
mit Hilfe anderer Personen – zu bewältigen ist. Die Anforde-
rung, die durch extremen Streß erlebt wird, führt zwar zu
einer Bewältigungsreaktion, nicht aber zur Bewältigung.
Gleichwohl werden die Folgen der Bewältigungsreaktion
entwicklungsbedeutsam.
Vor dem Hintergrund der Reaktionen auf extreme Erfahrun-
gen können wir allgemein die Bedeutung einschätzen, die in
der Erfahrungsabhängigkeit der Gehirnentwicklung liegt: Es
ist das Zusammenspiel organischer, bio- und neurochemi-
scher Vorgänge mit Faktoren aus der sozialen Umwelt des
Kindes, die diese Entwicklung steuert. Dieses subtile Zusam-
menspiel kann man etwa daran verdeutlichen, daß Perry Fälle
beschreibt, in denen sehr kleine Kinder ein traumatisierendes
Ereignis sehr gut verarbeitet hatten. In manchen dieser Fälle
waren aber, wie bei einem Autounfall, die primären Bezugs-
personen des Kindes durch dasselbe Ereignis traumatisiert –
und erzeugten durch ihre eigene Angst und Übererregung in
ihren Kindern eine erneute oder – wie Perry sagt – «spie-
gelnde» Angstreaktion. Vor dem Hintergrund solcher Fälle
kann man einerseits ermessen, was es heißt, wenn – wie in

65
vielen Fällen von Kindesmißbrauch – eine unmittelbare Be-
zugsperson der Verursacher des (wiederholten) Traumas ist. Es
entsteht eine Kumulation der angstauslösenden und desorien-
tierenden Reize, die im sozialen Umfeld des Kindes gerade
nicht moderiert oder gar aufgefangen, sondern verstärkt
werden. Andererseits zeigen solche Fälle ganz allgemein die
zentrale Rolle, die die (gelingende oder mißlingende) soziale
Interaktion für die Entwicklung der neuronalen Verschal-
tungsarchitektur des kindlichen Gehirns spielt: d. h. für die
Entwicklung seiner Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen
und diese Wahrnehmungen angemessen zu interpretieren, zu
verarbeiten und auf der Grundlage dieser Erfahrungen neue
Wahrnehmungen und Deutungen zu machen und neue An-
forderungen zu bewältigen. Entwicklung ist in diesem Sinne
sequentiell und hierarchisch: Was an Mustern angelegt wird,
bildet den Rahmen für die Etablierung neuer, darauf aufbau-
ender Muster.
Diese Muster entstehen – im Verlauf der Entwicklung immer
ausgeprägter – in der Interaktion zwischen den genetisch prä-
disponierten biochemischen und neurophysiologischen Ent-
wicklungsprozessen und den Signalen und Informationen,
die aus der Umwelt und besonders aus der Mikroumwelt des
Kindes kommen. Ein wesentlicher Teil davon besteht – da das
Kind unweigerlich in eine soziale Welt hineinwächst – aus in-
terpersonellem Austausch und, später, aus intersubjektiver
Erfahrung. Dieser Umstand hat den Psychiater Daniel Siegel
zu der prägnanten Formulierung veranlaßt, daß menschliche
Verknüpfungen neuronale Verknüpfungen formen.76
Fassen wir zusammen: Das Gehirn ist ein auf erstaunliche
Weise erfahrungsabhängiges Organ. Während das neuronale
Netzwerk im Erwachsenenalter beständigen Veränderungen
unterliegt, die aus der Verarbeitung von körperinternen und
-externen Informationen hervorgehen, liefern Signale aus der
Umwelt beim Säugling, Kleinkind, Heranwachsenden und
noch beim jungen Erwachsenen Modifikationsanlässe für
neuronale Systeme, die in Entwicklung begriffen sind. Sie
wirken damit direkt auf die sich entwickelnde Organisations-

66
Abb. 6: Schema der Erfahrungsabhängigkeit der Gehirnent-
wicklung.

struktur des Gehirns ein und somit auf die Möglichkeiten der
sich entwickelnden Persönlichkeit zur Problembewältigung
und Weltaneignung.
Ganz unabhängig davon, ob wir es mit gelingenden oder
mißlingenden Interaktionsprozessen zu tun haben, können
wir vor dem skizzierten Hintergrund ein einfaches Schema
zur Darstellung erfahrungsabhängiger Gehirnentwicklung
skizzieren (siehe Abb. 6).
Bisher war viel mehr vom Individuum und seinem Gehirn,
seinem Gedächtnis und seiner Persönlichkeit die Rede als von
der sozialen Situation, in der es sich befindet. Diese Schlag-
seite in der Perspektive kennzeichnet den weit überwiegen-
den Teil der neurowissenschaftlichen Literatur, die sich mit
der Entwicklung des Gehirns, des Gedächtnisses und der Per-
sönlichkeit beschäftigt. Das ist kein Wunder, denn schon die
Vorgänge, mit denen man es bei der Gehirnentwicklung eines
einzelnen Menschen zu tun hat, überschreiten in ihrer Kom-
plexität schnell unser Vorstellungsvermögen – und schneller
noch die Möglichkeiten, die diesbezüglichen Annahmen,
Vorstellungen und Modelle empirisch zu prüfen. Der Einfluß
einer besonderen Interaktionssituation zwischen Mutter und
Kind auf die Strukturierung eines bestimmten Engramms im
Gehirn des Kindes (oder der Mutter) läßt sich nicht abbilden,
nur erschließen. Der schon zitierte Neurobiologe Gerald
Huether hat den gegenwärtigen Entwicklungsstand unseres

67
Wissens um diese Einflüsse denn auch etwas melancholisch
beschrieben. Er spricht von bio-psycho-sozial gebahnten neu-
ronalen Verschaltungen, betont aber, daß die bildgebenden
Verfahren, mit denen man Gehirnaktivität in unterschied-
lichen Arealen und Organen des Gehirns messen kann, noch
weit entfernt davon seien, «diese Bahnungsprozesse darstellen
zu können. Was wir mit diesen Techniken gegenwärtig errei-
chen können, ist bestenfalls vergleichbar mit dem, was Luft-
bildaufnahmen einer Großstadt im Nebel über das Leben der
Menschen in dieser Stadt aussagen. Wir können die Lage und
Größe einzelner Stadtteile und die bereits besonders befah-
renen Verbindungsstraßen vermessen. Mit Hilfe funktioneller
Verfahren läßt sich erkennen, in welchen Regionen norma-
lerweise mehr Betriebsamkeit herrscht und wie sich die Ver-
hältnisse verändern, wenn mehr oder weniger gezielt in das
alltägliche Getriebe eingegriffen wird. Mit Hilfe von PET-
und SPECT-Verfahren läßt sich die Verteilung spezifischer
(wie wir hoffen, besonders wichtiger) Komponenten aus dem
Nebel hervorheben und kartieren, vielleicht auch beschrei-
ben, wie sich dieses Verteilungsmuster nach bestimmten
Manipulationen ändert. Ob die betreffende Stadt aber gut
oder schlecht organisiert ist, von wem und wohin die Haus-
haltsmittel gelenkt werden und was die Menschen bewegt,
ihre Stadt so und nicht anders zu gestalten, darüber geben
die bildgebenden Verfahren nur sehr verschwommen Aus-
kunft.»77
Dieser Befund ist, so melancholisch er daherkommt, gewiß
richtig. Wenn es aber zutreffend ist, daß das Gehirn ein er-
fahrungsabhängiges Wandlungskontinuum ist, kommen wir
vielleicht auch nicht sehr viel weiter, solange wir nur es selbst
betrachten und nicht die Art und Weise, wie die Erfahrungen
an es herangetragen werden. Für eine bessere Durchdringung
des Luftbildes von der «Stadt im Nebel» könnte es hilfreich
sein, genauer zu betrachten, was denn die Faktoren und Pro-
zesse sind, die jene Erfahrungen ausbilden, deren Korrelate
die neuronalen Repräsentationen sind, die das sich ent-
wickelnde Gehirn strukturieren und prägen. Diese Faktoren

68
sind andere Menschen, und die Prozesse bestehen in der Be-
wältigung der Anforderungen, die das Zusammensein mit an-
deren an das Kind stellt. Der Nebel über der Stadt wird sich
nur lichten lassen, wenn wir nicht nur die Ergebnisse von In-
teraktionserfahrungen betrachten (oder zu betrachten versu-
chen), sondern die Interaktionen selbst, die die Erfahrungen
hervorbringen. Dafür allerdings muß das Individuum als Teil
einer sozialen Figuration betrachtet werden, in der es eine
aktive Rolle einnimmt und in subtiler Abstimmung mit den
Handlungen seiner Bezugspersonen eine innere Welt auf-
baut, indem es mit einer äußeren interagiert. Das bedeutet,
das Kind (und sein sich entwickelndes Gehirn) nicht als etwas
zu betrachten, das «Informationen verinnerlicht», die von
außen hereinströmen, sondern daß es selbst immer schon Teil
dessen ist, was es erfährt, weil es Erfahrungen immer nur in
der Relation seiner selbst zu anderen machen kann.
Weil diese anderen Mitglieder einer Kultur sind und weil ihr
Wissen und ihr Handeln eine Geschichte haben, gehen Kin-
der nicht mit «Informationen» im Sinne von Reizen und Si-
gnalen um, sondern mit Handlungen, die für sie Bedeutung
haben. Die Repräsentation dieser Handlungserfahrungen
kommen nicht von außen, sondern entstehen im Inneren des
Kindes als – wie der Entwicklungspsychologe Daniel Stern
sagt – Repräsentation der Erfahrung des beginnenden Selbst,
mit jemandem zusammenzusein. «In die Innenwelt wird
nichts hineingenommen. Selbst wenn der Säugling jemanden
nachahmt und in diesem Moment wie der andere handelt
und fühlt, wird er eine Repräsentation davon aufzubauen be-
ginnen, wie er selbst sich, in seinem eigenen Inneren, fühlt,
während er auf diese bestimmte Weise mit dem anderen zu-
sammen ist.»78
IV. Zusammensein mit anderen.
Die Bildung des kommunikativen
Gedächtnisses

In der Tat haben entwicklungspsychologische Studien


in den letzten drei Jahrzehnten gezeigt, daß sich bereits in den
ersten beiden Lebensmonaten des Säuglings Interaktionen
zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen beobachten
lassen – in dem Sinne, daß die Babys ihre Bewegungen und
wahrscheinlich auch ihre Gefühle in Abstimmung mit den
Bewegungen, Handlungen und Gefühlen derjenigen regulie-
ren, mit denen sie zusammen sind.79 Die Erkenntnisse, die ins-
besondere mit Einführung der Videotechnik im Bereich der
frühen Entwicklung gewonnen worden sind, haben das Bild
vom Säugling gegenüber zuvor vorherrschenden Positionen
radikal verändert: Offenbar schon von Anfang an besitzt der
Säugling die Fähigkeit, genau sequenziert Blicke und auch
Laute mit der Mutter auszutauschen. Solche frühen Interak-
tionsprozesse stabilisieren und erweitern sich in wechselsei-
tiger, höchst subtiler Abstimmung schnell zu Mustern. Die
genaue Protokollierung von Mikrosequenzen früher Interak-
tionen in extremer Zeitlupe haben gezeigt, daß schon sehr
kleine Kinder nicht als passive Reaktionsbündel aufzufassen
sind, auf die lediglich «von außen» etwas einströmt, sondern
als aktive Wesen, die ihrerseits Aktionen und Reaktionen der
Mutter durch das Suchen oder Abwenden des Blickkontakts
initiieren und beeinflussen können. Selbst kleinste Kinder
sind keineswegs passive Objekte in einem amorphen Univer-
sum undifferenzierter Eindrücke (in «blooming buzzing con-
fusion», wie William James Ende des 19. Jahrhunderts gemeint
hat), sondern erstaunlich kompetente Akteure, deren Interak-
tionserfahrungen zunehmend ihre innere und äußere Wahr-
nehmung im Zusammensein mit anderen strukturieren.

70
Es geht hier nicht um bewußte oder intentionale Vorgänge,
sondern um Aktionspotentiale, die zur basalen Ausstattung des
Kindes gehören, aber wiederum durch soziale Austauschpro-
zesse, d. h. durch Erfahrung, organisiert werden. Man wird
hier, im Unterschied zu dem auf diesem Feld führenden Ent-
wicklungspsychologen Colwyn Trevarthen, nicht schon von
einer «primären Intersubjektivität» sprechen können80 – denn
die würde eine zumindest rudimentäre Übernahme der Per-
spektive des Gegenübers durch das Baby voraussetzen. Aber ge-
wiß wird man Trevarthen vor dem Hintergrund der Befunde,
die ich gleich darstellen werde, darin zustimmen können, daß
bereits Neugeborene mit einer «readyness for communication»
auf die Welt kommen, die sie in die Lage versetzt, aktiv mit ihrer
sozialen Umwelt zu kommunizieren.
Schon das Neugeborene zeigt im Vergleich klare Präferenzen
für menschliche gegenüber nicht-menschlichen Reizen, und
zwar in unterschiedlichen Modalitäten seiner Wahrnehmung.
Reddy et al. nennen hier die Bevorzugung von Gesichtern
gegenüber unbelebten oder zufälligen Mustern, des Klangs
der menschlichen Stimme gegenüber anderen Tonfolgen
(auch wenn diese dieselbe Tonhöhe und Intensität haben),
von Muttermilch gegenüber Kuhmilch und vieles anderes
mehr. Darüber hinaus werden schon in den ersten Tagen
Merkmale (wie Stimme, Gesicht, Geruch) der Personen, die
mit dem Kind unmittelbar zu tun hatten, den Merkmalen an-
derer, unbekannter Personen vorgezogen81 – was, wie schon
erwähnt, z.T. auf pränatal entstandene Aktivierungsmuster
zurückgeht (wie im Fall der Präferenz für die Stimme der
Mutter). Aber Neugeborene sind nicht nur erpicht auf
menschliche Reize, sie scheinen auch ohne weiteres dazu
bereit zu sein, bestimmte dieser Reize zu imitieren. In mehr
als zwanzig Studien aus verschiedenen Ländern ist belegt
worden, daß frisch geborene Babys eine Reihe von Handlun-
gen zu imitieren in der Lage (und willens) sind. Hier geht es
um das Herausstrecken der Zunge, das Formen eines O-för-
migen Mundes und das Hervorbringen eines A-Lautes.82
Wohlgemerkt: Die untersuchten Neugeborenen reagierten

71
weder reflexartig und unwillkürlich noch zufällig und will-
kürlich auf die gebotenen Reize, sondern jeweils in genauer
Abstimmung mit dem Experimentator (sie streckten also
nicht die Zunge heraus, nachdem dieser ein «O» vorgemacht
oder «A» gesagt hatte). Die jüngste Versuchsperson war 42 Mi-
nuten alt, die älteste 72 Stunden. Wie Meltzoff & Moore re-
sümieren, kann man die Antwort eines Menschen auf einen
anderen nicht viel weiter zurückverfolgen: «This is the initial
state.»83
Meltzoff & Moore merken an, daß es sich bei diesen frühen
Imitationen um Aktivitäten des Kindes handelt, die es selbst
steuert. Das zeigt sich unter anderem daran, daß selbst dann,
wenn das Kind durch Verabreichung eines Schnullers nicht
unmittelbar mit dem Herausstrecken der Zunge oder dem
Zeigen des «O»-Mundes reagieren kann, es in dem Augen-
blick, in dem der Schnuller entfernt wird, die Imitation zeigt,
auch wenn der Experimentator dann schon wieder ein neu-
trales Gesicht macht. Meltzoff & Moore konnten sogar
nachweisen, daß Neugeborene die Imitation wiederholten,
wenn sie den Experimentator am nächsten Tag wiedersahen
– ohne daß dieser das «O»-Gesicht machte oder die Zunge
herausstreckte.84 Trevarthen nimmt an, daß solche Fähigkei-
ten voraussetzen, daß Personen bereits auf irgendeine Weise
zerebral repräsentiert sind – in Form eines «motorischen Bil-
des» der Bewegungen des anderen.85
Katherine Nelson weist darauf hin, daß eine Imitation etwas
anderes ist als eine bloße Kopie einer Eigenschaft oder eines
Musters: Es ist die Aktivierung einer Funktion, um ein Ver-
halten hervorzubringen, das von einer anderen Person gezeigt
worden ist.86 Diese Aktivierung findet nicht willkürlich, son-
dern in Bezogenheit auf ebendiese andere Person statt – und
diese Bezogenheit ist Teil der imitatorischen Anstrengung.
Die dargestellten Befunde lassen jedenfalls mit einiger Sicher-
heit darauf schließen, daß schon extrem frühe Erfahrungen
im Gehirn des Neugeborenen Repräsentationen bilden – Re-
präsentationen, die, wie Daniel Stern betonen würde, nicht
nur den vom Experimentator gegebenen Reiz beinhalten,

72
sondern zugleich auch die Reaktion, die das Baby darauf ge-
zeigt hat. Ich selbst war auf sehr anrührende Weise mit der
Repräsentation einer Erinnerung eines Neugeborenen kon-
frontiert, als mein Sohn Nicholas einige Stunden nach seiner
Geburt, die zu Hause stattfand, auf meiner Brust schlief. Da-
bei träumte er offenbar. Was, weiß ich nicht, aber seine Atem-
frequenz und sein ganzer Körpertonus änderte sich beständig
in nicht ganz rhythmischen, aber stets wiederkehrenden Wel-
len, und dies eine ganze Weile. Ich schlief dann auch ein und
berichtete am nächsten Tag der Hebamme von diesem an-
rührenden Erlebnis. «Ja, das machen sie alle», sagte diese we-
nig beeindruckt, «das merkt nur keiner, weil das auf den
Säuglingsstationen niemand mitkriegt.»
Im Schlaf hatte das Neugeborene offenbar die stärkste Erfah-
rung des jungen Lebens wiederholt: die sequenzierten An-
strengungswellen seiner eigenen Geburt. Da ich zu diesem
Zeitpunkt keinerlei Kenntnis von den Befunden der neueren
Entwicklungspsychologie hatte, war ich so gerührt wie irri-
tiert. Zwar handelt es sich bei diesem Beispiel um den Grenz-
fall einer Repräsentation des Zusammenseins mit anderen –
eher ist es eine Repräsentation (und wohl die zentrale) der
Trennung vom anderen. Auf jeden Fall ist es aber eine Reprä-
sentation, und es mag lohnend sein, einen kurzen Überblick
zu geben, was, woran und wie sich Säuglinge nach dem ge-
genwärtigen Stand der Forschung «erinnern» können.
Daniel Stern weist darauf hin, daß die Entwicklung des klei-
nen Kindes keineswegs kontinuierlich verläuft, sondern in
kritischen, diskontinuierlichen Entwicklungssprüngen, denen
sich jeweils Phasen anschließen, die offenbar der Stabilisie-
rung neu erworbener Fähigkeiten dienen. Die zentralen Auf-
gaben in den ersten zwei bis zweieinhalb Monaten des Lebens
betreffen die «Regulation der Trink-, Schlaf-, Wachheits- und
Aktivitätszyklen».87 Die Interaktionen zwischen Mutter und
Kind – das Lächeln, der Blickkontakt, das Sprechen der Mut-
ter mit dem Baby – begleiten diese Aktivitäten und sind zu-
gleich ein Teil von ihnen.
Diese frühen, noch überwiegend von der Bezugsperson88

73
regulierten Interaktionserfahrungen stabilisieren sich im Lauf
des ersten halben Lebensjahres so weitgehend, daß das Kind
eine immer aktivere Rolle in den wechselseitigen Abstim-
mungsspielen einzunehmen beginnt. Durch Lächeln, Blicke
und Bewegungen versucht es, analoge antwortende Reaktio-
nen des Gegenübers hervorzurufen, und die Kinder zeigen
deutlichen Unwillen, wenn auf ihre Interaktionsangebote
nicht eingegangen wird. Die Erwartung einer Reaktion ihres
Gegenübers verlangsamt bei zwei Monate alten Säuglingen
den Herzschlag, Imitation beschleunigt ihn.89 Trevarthen be-
tont, daß die Fähigkeit zur wechselseitig abgestimmten Inter-
aktion ausgebildet ist, noch bevor das Kind in der Lage ist, mit
Objekten in einer intentionalen Weise umzugehen. Er nennt
diese Fähigkeit zur Interaktion «protokonversationell» – eine
vororganisierende Form des Sprechens mit gestischen, vokali-
sierenden und expressiven Mitteln. Die sichere Herausbil-
dung solcher protokonversationeller Kompetenz ist natürlich
abhängig davon, daß das Kind in einer Entwicklungsumge-
bung aufwächst, in der seine Aktivitäten und Aufforderungen
angemessen beantwortet werden – Studien mit depressiven
Müttern etwa haben gezeigt, wie sensibel Kinder auf die
Nichtbeantwortung ihrer Initiativen reagieren und welche
negativen Folgen mißlingende Interaktionserfahrungen für
ihre weitere Entwicklung haben.
Wenn die Entwicklung aber weitgehend harmonisch verläuft,
gewinnen Kinder in den folgenden sechs Monaten ihres Le-
bens zunehmend die Fähigkeit, sich gemeinsam mit ihren
unmittelbaren Bezugspersonen auf etwas Drittes – ein Ob-
jekt, ein Ereignis, eine Person – zu beziehen. Es findet hier
also ein Übergang von «Person-Person-Spielen» zu «Person-
Person-Objekt-Spielen» statt.90 Hierbei handelt es sich inso-
fern um ein neues, äußerst wichtiges Entwicklungsstadium,
als die Fähigkeit, sich zusammen mit einer anderen Person mit
etwas Drittem zu beschäftigen oder, anders gesagt, eine ge-
meinsame Aufmerksamkeit auf etwas Drittes zu entwickeln,
eine Form der Perspektivenübernahme voraussetzt: Die In-
teraktionspartner richten ihr gemeinsames Interesse auf ein

74
Objekt und die Absicht, etwas mit ihm zu tun. Dies ist der
Beginn von Intersubjektivität, denn es setzt die Fähigkeit vor-
aus, die Absichten des anderen zu entschlüsseln. Ablesbar ist
der Eintritt in diese Phase der Entwicklung an solchen ge-
meinsamen Bezugnahmen auf etwas Drittes («social referenc-
ing») und einer gemeinsamen Affektabstimmung.91 Beson-
ders instruktiv ist die Veränderung des gemeinsamen Spielens
in der Übergangsphase um die Mitte des ersten Lebensjahres:
Während in der spielerischen Interaktion, die sich zunächst –
wie beim Kitzeln und Necken – auf den Körper des Babys
bezog, mittels körperlicher Abfolgen und Routinen und be-
gleitender Vokalisierungen «geschichtenähnliche Abläufe»
ausgebildet haben, wechselt die Aktivität nunmehr auf die
«Verwendung von Spielzeugen in ‹Person-Person-Objekt›-
Spielen, in denen affektive Gesten und Töne mit ‹ernsthaften›
Versuchen einhergehen, gegenstandsbezogene Anforderun-
gen zu meistern. Spiele mit Dingen, durch die das Baby zum
regulierten Austausch von Absichten und Gefühlen bewegt
wird, stellen allmählich die Bereitschaft zu gemeinsamer Auf-
merksamkeit und kooperativen Zielsetzungen her – und zur
gemeinsamen Aushandlung solcher Zielsetzungen.»92
Während sich in der Wir-Gruppe der Familie im Kind ein
Bewußtsein vom «Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen»
herausbildet, erregen fremde Personen in ihm Gefühle von
Angst, Unsicherheit und Mißtrauen – das Phänomen der be-
kannten «Achtmonats-Angst». Deutlich wird hier, daß die
Entwicklung zunehmender intersubjektiver Kompetenzen
nicht losgelöst von den sich zugleich weiterentwickelnden
Emotionen betrachtet werden kann – und Emotionen kön-
nen wir vor diesem Hintergrund als «Regulative von inter-
personellen Kontakten und Beziehungen» auffassen.93 Ich
werde im Kapitel über emotionale Erinnerung noch genauer
ausführen, daß Emotionen körperbasierte Evaluationen sind,
die die Repräsentationen von Erlebnissen und Erfahrungen
mit positiven oder negativen Werten versehen (weshalb man
überhaupt aus Erfahrung klug werden kann). An dieser Stel-
le ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß primäre Emotionen,

75
die – wie Angst, Freude, Zorn, Ekel, Trauer – basal und uni-
versell, mithin in ihren Grundformen genetisch determiniert
sind, im Prozeß der voranschreitenden interpersonellen Er-
fahrung Form gewinnen – und so die Gestalt jener sozialen
Regulative annehmen, die Trevarthen in ihnen sieht. Wenn
es zutreffend ist, daß Emotionen Evaluationen von Erfahrun-
gen sind, die gebraucht werden, um aus diesen Erfahrungen
in vielerlei Hinsicht zu lernen, dann heißt das in entwick-
lungsbezogener Perspektive, daß die Kriterien für diese Eva-
luationen sozial geformt werden – im organisierten und orga-
nisierenden Prozeß des interpersonellen Austauschs. Dies
wird zum Beispiel auch daran sichtbar, daß die Mutter im
Spiel mit dem Kind immer auch deutlich macht, welche
emotionalen Äußerungen des Kindes «sie als legitim und als
gemeinsam teilbar betrachtet und entsprechend behandelt
und welche nicht.»94
Bislang befinden wir uns in einer vorsprachlichen Entwick-
lungsphase, in der aber zum einen von einer Seite (der der
Mutter) unablässig gesprochen wird, zum anderen Ereignis-
sequenzen und Handlungsabläufe erfahrbar werden, die pro-
tosprachlich organisiert sind: Sie haben einen Anfang, einen
Mittelteil und einen Schluß, und sie sind in einer Art gram-
matischer, jedenfalls wiedererkennbarer und regelhaft ablau-
fender Struktur organisiert. Bevor wir auf die Ebene der
Sprachentwicklung kommen, ist es sinnvoll, genauer zu be-
trachten, was eigentlich in den interpersonellen Vorgängen
steckt, die Trevarthen «protokonversationell» und Stern
«protonarrativ» nennt.

1. Die protonarrative Sequenz

Die Aufmerksamkeit auf die protosprachlichen As-


pekte der interpersonellen Entwicklungsprozesse beruht auf
der Überlegung, daß jede Interaktionsform die Grundlage
schafft, auf der jede folgende Interaktionsform aufbaut. «Das
erfolgreiche Spiel von Mutter und Kind mit einem unbeleb-

76
ten Gegenstand etwa beruht in hohem Maße auf ständigen
Umgestaltungen und Einordnungen im Rahmen intensiver
Face-to-face-Interaktionen. Und später beruht die intersub-
jektive Bezogenheit in hohem Maße auf der gemeinsamen
Basis, die durch das gemeinsame Spiel mit unbelebten Ge-
genständen geschaffen wird.»95
Auf diese Weise entwickeln sich aufeinander aufbauend Inter-
aktionsweisen, die in irgendeiner Weise im Gedächtnis des
Kindes repräsentiert werden. Während auf der einen Ebene,
der neurowissenschaftlichen, Modelle davon entwickelt wer-
den können, wie sich Verschaltungsstrukturen etablieren, die
durch Erfahrung organisiert sind, können auf einer anderen
Ebene, der entwicklungspsychologischen, Modelle davon kon-
zipiert werden, was diese Verschaltungsstrukturen als Reprä-
sentationen beinhalten – und ein solches Modell hat Daniel
Stern unter dem Begriff der «protonarrativen Hülle» vorgelegt,
einen Begriff, den ich wenig einleuchtend und ziemlich
mißverständlich finde, weshalb ich im folgenden von einer
«protonarrativen Sequenz» sprechen werde.
Der Begriff des «Narrativen» sollte übrigens nicht dazu verlei-
ten, sich diese Form der Repräsentation in irgendeiner Form
als sprachlich organisiert vorzustellen. Es geht hier vielmehr
um Repräsentationen von nonverbalen Abläufen, deren
Struktur die Basis für die spätere Herausbildung der Möglich-
keit des Spracherwerbs bildet. Als Repräsentation von geleb-
ter und erfahrener sozialer Praxis wird sie nicht nur die Erfah-
rung eines anderen oder eines Objekts beinhalten, sondern
vielmehr die Erfahrung, die das sich entwickelnde Selbst im
Zusammensein mit einem anderen macht. Eine solche Re-
präsentation ist zuallererst die Repräsentation eines Schemas
des Zusammenseins.
In Form des Modells der «protonarrativen Sequenz» (Abb. 7)
versucht Stern ein solches Schema zu skizzieren: Er wählt das
simple Beispiel eines hungrigen Babys, das weint und darauf
wartet, daß es gestillt wird. Das Modell umfaßt einen Zeit-
raum, der mit dem Auftauchen der Mutter beginnt und mit
dem Ergebnis des Stillens, also dem Nachlassen des Hunger-

77
Abb. 7: Protonarrative Sequenz (vereinfacht nach Stern
1998, S. 110).

gefühls, endet. Die zeitliche Struktur des Auftretens der mit


dieser Sequenz verbundenen Gefühle des Babys sieht sche-
matisch etwa so aus wie in Abb. 7, wobei (–) das subjektive
Hungerempfinden bezeichnet, (- - -) den negativen Affekt,
der durch den Hunger hervorgerufen wird, (– – –) die visu-
elle Wahrnehmung der Mutter, (- . . -) den taktilen Kontakt
mit der Mutter, (. . . .) die Arm- und Beinbewegungen des
Babys. Deutlich wird hier zum einen die zeitliche Sequen-
zierung des gemeinsamen Handlungsablaufs, die mit einer
Reihe sinnlicher (visueller, taktiler, auditiver, olfaktorischer
usw.) Reize und emotionaler Zustände einhergeht. Es ge-
schehen also eine ganze Reihe von Dingen auf ganz unter-
schiedlichen Ebenen des Erlebens, die als organisierte Ein-
heit verschiedener perzeptueller und emotionaler Modi im
Zusammensein mit dem anderen repräsentiert werden – ins-
besondere dann, wenn es sich wie im skizzierten Beispiel
nicht um einen einmaligen, sondern um einen wiederholten
Vorgang handelt, der mehr oder minder immer dieselben
Phasen durchläuft. Entscheidend ist hierbei, daß der Vorgang

78
selber und jeder seiner einzelnen Bestandteile im Ergebnis
«Bedeutung» für das Baby hat: Jedes der interaktiven Hand-
lungsmomente erzeugt ein bestimmtes Ergebnis, das auf je-
der der beteiligten Ebenen mit einem Gefühl einhergeht.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen entwirft Stern
ein allgemeines Modell des Schemas des Zusammenseins mit
anderen, die als Erfahrung im Gedächtnis des Kindes reprä-
sentiert wird (s. Abb. 8).
Der «emergente Moment» ist das Moment der Praxis selbst, in
dem das Kind sich in irgendeiner sozialen Anforderungs-
situation befindet und die mit ihr verbundenen Sensationen,
Affekte usw. mit Hilfe der bereits etablierten Schemata (Ge-
fühlsgestalten, protonarrativen Sequenzen usw.) wahrnimmt.
Die Aktionen, die aus dieser Wahrnehmung resultieren, liefern
im selben Moment das Erfahrungsmaterial, mit dem die vor-
handenen Schemata bestätigt, ergänzt und weiterentwickelt
werden. In die Repräsentation der Erfahrung geht also jedes-
mal, nach jeder gelebten Erfahrung, etwas Neues ein; das
Schema des Zusammenseins mit anderen erweitert sich be-

Abb. 8: Schema der Erfahrungsrepräsentation (vereinfacht


nach Stern 1998, S. 124).

79
ständig, wobei sich hinsichtlich der Repräsentation von Er-
innerungsinhalten zunehmend unterschiedliche Bereiche aus-
differenzieren: Phantasie, bestimmte Erinnerungen an ein-
zelne Ereignisse und autobiographische, d. h. selbstbezogene
Erinnerungen. Dieses Modell ist überkomplex, weil es impli-
zit eine Entwicklungszeitspanne von etwa sechs Jahren bein-
haltet, die sich deswegen nicht als Prozeß abbilden läßt, weil
sich innerhalb des Schemas beständig alles verändert.
Sterns Modell ähnelt auf verblüffende Weise viel älteren ent-
wicklungspsychologischen Konzeptionen. Bereits Wygotski
hat programmatisch formuliert, daß alles, was das Kind
macht, erfährt und verarbeitet, sozialer Natur sei: «Der Weg
vom Objekt zum Kind und vom Kind zum Objekt verläuft
über eine andere Person.»96 Noch einige Jahrzehnte früher
hatte George Herbert Mead eine interaktionistische Ent-
wicklungstheorie formuliert, die auf derselben Annahme ba-
sierte: Aus rein theoretischer Perspektive hatte Mead ein
«Selbst» entworfen, in dem ein «me» als Sediment der sozialen
Erfahrungen und ein «I» als Aktivierungspotential interagie-
ren. Dieses «I» ist, wenn man will, ein Bewegtes und Bewe-
gendes zugleich, sein Aktionsfeld entspricht dem emergenten
Moment Sterns.97 Man könnte Sterns Modell vor diesem
Hintergrund in der folgenden Weise modifizieren:

I emergenter Moment gelebte Erfahrung/Handlung


Me Schemata repräsentierte Erfahrung
Self selbstbezogene Erinnungen autobiographisches Ich

Auch aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es eine ganz ähn-


liche Überlegung: Antonio Damasio beschreibt die neuronale
Grundlage des Selbst als beständige Reaktivierung zweier
Formen von Repräsentationen: Die erste Form umfaßt jene
Fakten, die die eigene Person definieren, wozu Damasio Vor-
lieben, Gewohnheiten, Routinen genauso rechnet wie spezi-
fische Erfahrungen, Fertigkeiten und Beziehungen sowie

80
Pläne und imaginäre Ereignisse. All das wird beständig reakti-
viert und in genauer Abstimmung mit neuen Erfahrungen re-
figuriert und würde sich mit dem «me» als Inventar der ge-
machten Erfahrungen durchaus decken. Die zweite Form von
Repräsentationen, die mit diesem «Teil des Selbstzustands»,
wie Damasio das nennt, interagiert, sind Repräsentationen
von Veränderungen des Körperzustands, wie sie durch Aktio-
nen erzeugt werden. Damasio geht davon aus, «daß Subjekti-
vität weitgehend von den Veränderungen abhängt, die
während und nach der Verarbeitung von Objekt X im Kör-
perzustand stattfinden. [. . .] Frühe Körpersignale – in der
Evolution wie in der individuellen Entwicklung – trugen zu
einem ‹Grundbegriff› des Selbst bei. Dieser Grundbegriff lie-
ferte das fundamentale Bezugssystem für alles, was dem Orga-
nismus zustieß, einschließlich der aktuellen Körperzustände,
die fortlaufend in den Selbstbegriff eingegliedert wurden und
daraufhin sogleich zu vergangenen Zuständen wurden. [. . .]
Was uns jetzt zustößt, stößt tatsächlich einem Selbstbegriff zu,
der auf der Vergangenheit beruht, auch jener Vergangenheit,
die noch einen Augenblick zuvor Aktualität war. Jeden Au-
genblick wird der Selbstzustand wieder von Grund auf neu
konstruiert. Er ist ein infinitesimaler Bezugspunkt, der so
kontinuierlich und gleichbleibend rekonstruiert wird, daß
sein Besitzer von diesem Wiederherstellungsprozeß nie etwas
erfährt, es sei denn, die Erneuerung klappt irgendwann nicht
mehr.»98
In der Vorstellung von Damasio ist die jeweilige Aktivität im-
mer körperlich kontextualisiert – eine bestimmte Empfin-
dung löst einen bestimmten Handlungsimpuls aus, der sei-
nerseits zu einer Fülle somatischer Reaktionen führt. Hier
fungieren die Körper- und Gefühlszustände als bewertende
Marker, die die Handlungen evaluieren und regulieren. Ge-
nau deshalb ist Damasio der Auffassung, daß in der Interak-
tion der beiden skizzierten Repräsentationsformen die Wur-
zel von Subjektivität, also auch von Bewußtsein liegt – und
an dieser Stelle sind sich die disziplinär und zeitlich so ent-
fernten Positionen des sozialen Behavioristen Mead, des The-

81
rapeuten Stern und des Neurologen Damasio erstaunlich
ähnlich. Es geht jeweils um die Frage, wie in gemeinsamer
Praxis im Kind zunehmend die Fähigkeit entwickelt wird,
Bedeutungen zuzumessen und zu erschließen. Die Antwort
scheint darin zu liegen, daß die Interaktionen des Kindes mit
seiner Umgebung selbst immer schon «Bedeutungsakte»
(Jerome Bruner) sind: «Die Grundidee ist die, daß bestimmte
interaktive Vorgänge direkt wahrgenommen und unmittelbar
im Hinblick auf – seien es noch so primitive – Bedeutungen
erfaßt werden. Diese Bedeutungen müssen nicht erst aus ver-
schiedenen Bruchstücken konstruiert werden, sondern tau-
chen aus einer globalen intuitiven Einteilung der Erfahrung
auf.»99
Wenn man sich also für die Frage interessiert, was die Bedin-
gung für die Entstehung von Bedeutungszuweisung und
Sinnbildung ist, d. h. des Vermögens, Handlungen anderer zu
interpretieren, wird man die Antwort in den Mikroeinheiten
früher sozialer Interaktionsprozesse suchen müssen: Bedeu-
tung (und ihre Repräsentation) entsteht im gemeinsamen
Handeln, und zwar lange bevor sie sprachlich repräsentiert
werden kann. Stern geht (wie Trevarthen und Bruner) davon
aus, daß hier die Wurzel für intentionales Handeln liegt und
zugleich die Basis dafür geschaffen wird, daß die Absichten
anderer Personen und etwas später die diesen Absichten zu-
grundeliegenden Motive und Gefühle erschlossen werden
können. Um einer späteren Diskussion ein wenig vorzugrei-
fen, könnte man sogar sagen, daß hier Bewußtsein entsteht,
im Zusammenspiel sozialer und neurologischer Vorgänge im
Gehirn des sich entwickelnden Säuglings. Die neuronalen
Repräsentationen des Selbst-im-Zusammensein-mit-ande-
ren sind nichts anderes als Korrelate des erwachenden Be-
wußtseins.

82
2. «Sleep ’cause». Die Entstehung der Sprache beim
Sprechen

Fassen wir zusammen: Strukturierte und sequenzierte


gemeinsame Handlungsabläufe, die multimodal erlebt wer-
den, etablieren im sich entwickelnden Gehirn des Säuglings
Repräsentationen, die deswegen «Bedeutung» erzeugen, weil
die Handlungen zu Ergebnissen führen, die das Baby auf
irgendeine Weise fühlt. Die verschiedenen Gefühlsgestalten,
die in jeder Sequenz und in jedem Modus des Handlungsab-
laufs erlebt werden, machen deutlich, daß Emotionen die ei-
gentlichen Generatoren von Bedeutung und Sinn, später von
Bewußtsein sind. Erst das ermöglicht Intersubjektivität, die
Fähigkeit, die Perspektive des anderen zu übernehmen und
vor diesem Hintergrund gemeinsam zu handeln. Die Basis für
die später einsetzende Sprachentwicklung wird durch diesen
komplexen Prozeß der zwar nicht sprachlichen, aber struktu-
rierten Kommunikation gelegt, und die für die Sprachent-
wicklung notwendige Fähigkeit zur Sinnbildung wird in der
Praxis dieser Form von Kommunikation erzeugt.
Mit der genauen Aufschlüsselung des Vorgangs der Sprach-
entwicklung und seiner Funktion für die Entstehung eines
autobiographischen Gedächtnisses hat sich, wie schon im
zweiten Kapitel erwähnt, Katherine Nelson in intensiven
Studien auseinandergesetzt. Bleiben wir einen Augenblick
bei den sozialen Austauschprozessen, die den Vorgang der
Sprachentwicklung ermöglichen: Nelson geht davon aus, daß
wiederkehrende Handlungsabläufe (wie in der protonarrati-
ven Sequenz) Repräsentationen davon erzeugen, wie Ereig-
nisse allgemein ablaufen («general event representations»).
Das Kind beginnt, über eine Art von «scripts» zu verfügen, die
es ihm erlauben, Phasen in Geschehensabläufen vorherzuse-
hen, zu wissen, was «als nächstes» geschehen wird, und sich
antizipierend dazu zu verhalten. Eine Reihe von Studien mit
Kindern, die sich in der Phase des Spracherwerbs befanden,

83
hat Nelson zufolge gezeigt, daß Dreijährige viel eher solche
generalisierten Scripts berichten als Erinnerungen an spezifi-
sche Ereignisse, wenn sie über Vergangenes befragt werden.100
Nelson zufolge weisen solche Befunde zum einen darauf hin,
daß schon die frühesten Ereignisrepräsentationen ihrem Cha-
rakter nach sozial sind, zum anderen darauf, daß die Kinder
Teil sozialer Handlungsabläufe sind, ohne in einem kogniti-
ven Sinn ganz zu verstehen, was da eigentlich abläuft und
worum es im einzelnen geht. Durch diese Teilhabe lernen sie
aber ihre Rollen und gewinnen damit Wissen darüber, was
die Struktur ihrer sozialen Mikroumwelt ist.101
Das Kind partizipiert also an sozialen Handlungsabläufen, die
gemessen an seinen Verstehensmöglichkeiten einen großen
Überschuß an Informationen beinhalten – «warum» bei-
spielsweise etwas zuerst gemacht wird und etwas danach, ist
ihm nicht zugänglich, wohl aber, daß eben das eine zuerst
und das andere danach gemacht wird. Kinder sind gewisser-
maßen Positivisten in einem sozialen Universum von Hand-
lungen. In diesem Universum spielt Sprache eine wichtige
Rolle – als etwas, das die Handlungsabläufe unablässig beglei-
tet, ohne daß das Kind «versteht», was oder warum etwas ge-
sagt wird. Gleichwohl ist es selbstverständlicher Bestandteil
des Scripts, daß gesprochen wird. Nelson betont, daß die
Funktion der Sprache in dieser gemeinsamen Praxis darin
liegt, daß bestimmte Aspekte der Vorgänge als bedeutungsvoll
markiert werden («So, jetzt ist es wieder gut . . .» usw.), und
zwar in einem praktischen, noch nicht in einem repräsenta-
tionalen Sinn.102 Das Wort «Bad» etwa wird in dieser Sicht
viel eher einen Ablauf markieren, der mit dem Betreten des
Raumes, dem Aufdrehen des Wasserhahns, der Wärme des
Wassers, dem Kitzeln beim Waschen, dem Brennen der Seife
in den Augen zu tun hat als mit dem mit Toilette, Wasch-
becken, Dusche, Wanne und Spiegel ausgestatteten Funkti-
onsraum, den Erwachsene als «Bad» bezeichnen. In diesem
Sinn ist die Sprache für das Kind zunächst nicht repräsentatio-
nal, sondern praktisch und selbstbezogen. Wenn sich auf diese
Weise eine repräsentationale Verwendung von Begriffen vor-

84
bereitet oder «gebahnt» wird, heißt das, daß sich episodische
und semantische Gedächtnissysteme und -inhalte nicht ge-
trennt voneinander oder gar nacheinander entwickeln, son-
dern lediglich zwei Ergebnisse desselben Prozesses sind.
Erst im Alter zwischen drei und sechs Jahren beginnt sich
Nelson zufolge die repräsentationale Funktion und Ge-
brauchsweise von Sprache zu entwickeln: «Während frühere
Formen der Sprache jene Bestandteile der Erfahrung markie-
ren, die in der sozialen und kulturellen Welt des Kindes Be-
deutung haben, beinhaltet die wachsende [Sprach-]Fähigkeit
im Vorschulalter die Möglichkeit, ganze Systeme zu konstru-
ieren, die nicht in einer erfahrenen Wirklichkeit existieren,
sondern in der sozialen Welt durch Sprache vorgestellt und
repräsentiert werden.»103
Diese konzeptuelle Weiterentwicklung legt mit anderen
Worten den Grundstein für die Fähigkeit, Geschichten er-
zählen und kategorial und theoretisch denken zu können. Für
all das muß Sprache repräsentational beherrscht werden.
Nelson geht davon aus, daß erst auf der repräsentationalen
Ebene des Sprachvermögens Kultur vermittelt wird,104 womit
sie, wie ich meine, die kulturelle Durchformung von Gesten,
Lauten, Spielen, Liedern, Bildern usw. unterschätzt, die vor-
sprachlich bereits das Universum der «general event represen-
tations» ausgebildet haben (man denke nur einen Augenblick
daran, daß das Wort «Bad» und die Abläufe, die es markieren,
kulturell höchst spezifisch sind). Es gibt keine akulturelle Re-
präsentation.
Aber lassen wir diesen Aspekt zunächst auf sich beruhen und
verweilen noch einen Moment bei der Praxis des Spracher-
werbs. In ihrer Studie «Narratives from the crib»105 hat Nelson
die Dialoge und Monologe analysiert, die ein kleines Mädchen
namens Emily vor dem Einschlafen produziert. Hier findet
sich ein faszinierendes Beispiel dafür, in welcher Form Kinder
Sprache verwenden und wie diese Verwendung sich sukzessive
verändert. Emilys Äußerungen wurden aufgezeichnet, als sie
zwischen 21 und 36 Monate alt war, und es geht hier um das
Wort «because», eine Konjunktion, die kausale und intentio-

85
nale Beziehungen bezeichnet. Es herrscht allgemein die Auf-
fassung, daß Konjunktionen dieser Art zwar relativ früh im
Vorschulalter gebraucht werden, die damit verbundenen logi-
schen Voraussetzungen aber noch nicht verstanden werden.106
Emily (E) verwendet das Wort «because» schon in den ersten
Aufzeichnungen, also im Alter von 21 Monaten – zum Bei-
spiel im Rahmen des folgenden Dialogs mit ihrem Vater (V):
V: everyone’s asleep
you know Tanta’s asleep and Mormor’s asleep
everyone is going to sleep because you know what happens
in the night-time? people go to sleep at night-time . . .
E: Carl mommy sleeping
V: yeah, Carl’s mommy’s sleeping too
do you think Chris is sleeping?
how about Chris? hmmm?
and Annie and Jeannie?
everybody’s asleep ’cause it’s . . . [E interrupts]
. . . sleep because he’s a little baby.107
In dieser Sequenz verwendet Emilys Vater dreimal die Ver-
bindung von «sleep» und «because». In Emilys Monologen
vor dem Einschlafen taucht diese Verbindung in der folgen-
den Weise wieder auf:
E: Emmy went to sleep ’cause M Mor
Emmy didn’t go to sleep ’cause in bed

Bemerkenswert ist hier, daß Emily die Konjunktion gerade


nicht in der logischen Funktion gebraucht, in der ihr Vater sie
verwendet hatte, sondern einfach die Verbindung reprodu-
ziert, die in seinen Äußerungen wiederholt aufgetaucht ist
und darin ein Strukturelement gebildet hat. Emily nun ver-
wendet dieses Strukturelement nicht in einem semantischen
Sinn, sondern als Muster zusammengehöriger Äußerungen,
die irgend etwas mit Schlafen, Bett und den damit verbunden
Ereignisfolgen zu tun haben. «Sleep ’cause» scheint also ein-
fach ein Bestandteil des Rituals des Zubettgehens zu sein; der
logische Operator «because» wird hier «falsch» gebraucht. In-
teressanterweise zeigt Nelsons Analyse, daß die Rate des

86
semantisch falschen Gebrauchs in den folgenden Monaten
deutlich absinkt: Verwendet Emily das Wort zunächst in mehr
als zwei Dritteln aller Fälle falsch, sinkt die Quote in der
Mitte des Aufzeichnungszeitraums auf 47 %, gegen Ende auf
19 %.
Im mittleren Untersuchungszeitraum wurde «’cause» von
Emily zum Beispiel in der folgenden Weise verwendet:
E: my won’t go to sleep
but I later
’cause my hava cold

Auch diese neue Verknüpfung läßt sich auf eine Verbindung


zurückführen, die Emilys Vater in den allabendlichen Ein-
schlafverhandlungen verwendet hat:
(Emily will ein Spielzeug)
V: Okay you get it
but be quick about it
because we have to go to sleep
E: Daddy (rock) me for a couple min . . .
but this is the last night
because then . . .

«Aber» und «weil» fungieren hier, Nelson zufolge, als Ele-


mente eines Aushandlungsprozesses: «Aber» steht für eine Al-
ternative zum strikten Verbot und «weil» für eine Form der
Begründung – und rückt damit in die Nähe seines vollen lo-
gischen Sinns: Es beginnt eine Beziehung zwischen einer
Handlung und einem Urteil über diese Handlung zu reprä-
sentieren. Am Ende des Beobachtungszeitraums verwendet
Emily «because» fast immer richtig, oft in Verbindung mit an-
deren logischen Operatoren:
E: actually it’s Stephen’s koala bear . . .
’cause it’s really Stephen’s
as a matter of fact it’s Stephen’s

Fast erweckt es den Anschein, als würde Emily ausprobieren,


welcher logische Operator die Beziehung zwischen Stephen

87
und seinem Koala-Bär am besten bezeichnet. Dieses Beispiel
zeigt eindrucksvoll, wie sich in der Entwicklung vom zweiten
zum dritten Lebensjahr der Gebrauch der Sprache von der si-
tuationsgebundenen Wiederholung eines Musters von Äuße-
rungen hin zu einer semantisch vollen, repräsentationalen
Verwendung des Wortes verändert. Faszinierend scheint mir
dabei vor allem die Funktion des Überschusses an verbalem
Material zu sein, das anfänglich die Ausstattung für das For-
men scheinbar sinnloser Sätze und Wortverbindungen liefert.
Um es ganz schlicht zu formulieren: Wenn der Vater nichts
sagen würde, während er Emily ins Bett bringt, würde auch
das Material nicht existieren, das Emily anfangs falsch, darauf
aufbauend aber immer zutreffender verwenden kann. Das
unablässige Sprechen in der sozialen Umwelt des Kindes lie-
fert, obwohl es über weite Strecken nicht verstanden wird,
ein Überschußmaterial, das zu gegebener Zeit verwendet
werden kann. Der soziale Prozeß des Selbst-im-Zusammen-
sein-mit-anderen stellt grundsätzlich mehr bereit, als das Kind
kognitiv und operativ bewältigen kann. Das wirkt aber nicht
als Überforderung und damit entwicklungshemmend, son-
dern äußerst produktiv: Wie das Beispiel «sleep ’cause» zeigt,
eignet sich das Kind das seine Sprachkompetenz überfor-
dernde Material an, indem es die Wortverbindung einfach
trotzdem gebraucht. Sie spielt eine Rolle in seinem sozialen
Universum, und als solches ist sie wirksam im Prozeß von
Emilys Weltaneignung. Anders gesagt: selbst wenn Emily
«’cause» falsch verwendet, hat das Wort praktischen «Sinn» für
sie, und dieser Sinn erweitert sich im weiteren Fortgang des
sozialen Interaktionsprozesses, bis dahin, daß er sich mit je-
nem logischen Gebrauch des Wortes synchronisiert, den die
anderen von ihm machen.
Man sollte übrigens nicht nur den funktionalen, sondern auch
den emotionalen und ästhetischen Wert des Überschusses an
sprachlicher Information sehen. Es gibt in bestimmten Ent-
wicklungsphasen offenbar wenig Faszinierenderes, als dem
dunklen Sinn von Worten und Wortverbindungen nachzu-
sinnen, die man nicht versteht, die aber Assoziationen und

88
Bedeutungen mitzuführen scheinen, die fesselnd erscheinen.
Vielleicht liegt das Faszinierende auch darin, daß solche Wor-
te oder Wortverbindungen (furchterregende oder lustvolle)
Emotionen mitschwingen lassen, ohne daß ihr semantischer
Gehalt sich erschließen würde. Derlei «Sprachmagie» bezog
sich in meinem persönlichen Fall auf das in der Radiower-
bung gehörte, zugegebenermaßen unspektakuläre «Kloß der
Frau Melissengeist», das mir höchst interessant erschien, ob-
wohl oder weil ich nicht herausbringen konnte, was damit
gemeint sein sollte. Mein Freund Harry Walter, Künstler und
Philosoph, berichtet über die Verbindung der Worte «Eich-
mann», «Fleischmann», «Neckermann», die sich für ihn im
Alter von sieben Jahren dadurch ergab, daß er Adolf Eich-
mann auf dem Bildschirm jener Neckermann-Fernsehtruhe
sah, die zu Weihnachten zugleich als Gabentisch u. a. für die
dort plazierte Fleischmann-Modelleisenbahn fungierte. «Eich-
mann – Fleischmann – Neckermann» ergab nach seiner Schil-
derung eine gleichermaßen unheimliche wie unerschlossene
Trilogie eines – dem Gefühl nach – prinzipiell erschließbaren
Zusammenhangs.
Auf solche Weise wird eine emotional kodierte und seman-
tisch unerschlossene Bedeutung erzeugt, die ihre emotionale
Qualität auch dann noch beizubehalten scheint, wenn sich
später der zugehörige semantische Gehalt erschlossen hat.
Deshalb bleibt ein Aspekt des Unheimlichen und Bedrohli-
chen an solchen Bezeichnungen auch dann erhalten, wenn
das Bezeichnete kognitiv längst bewältigt ist. Insofern bewe-
gen wir uns als Erwachsene in einer memorialen Landschaft
von emotional konnotierten Bestandteilen einer Welt, die
sich kognitiv erst nachträglich erschlossen hat. Solche Über-
legungen bewegen sich natürlich weit im spekulativen Be-
reich. Die Auseinandersetzung mit den Beobachtungsdaten
der Säuglings- und Kleinkindforschung, mit den Befunden
aus Mutter-Kind-Therapien und aus der Neurologie der
erfahrungsabhängigen Gehirnentwicklung liefern zunächst
nicht mehr als Modelle darüber, wie die sozialen Bildungs-
prozesse vor sich gehen könnten – «von einschlägigen Bewei-

89
sen sind wir», wie Daniel Stern zu Recht sagt, «noch weit ent-
fernt.»108
Jedenfalls scheint der Umstand, daß erwachsene Bezugsperso-
nen das Baby oder das Kleinkind praktisch als kompetenter be-
handeln, als es in Wirklichkeit ist, ein zentraler Motor seiner
Entwicklung zu sein: Das Überschießende fungiert als Anre-
gungspotential, das erst später seiner eigentlichen Bestimmung
zugeführt wird. Zuvor aber etabliert es, wie die protonarrative
Sequenz, Struktur, Zeitlichkeit, Regelhaftigkeit, Konstanz und
damit überhaupt die Ereignisrepräsentationen, die das wach-
sende Weltaneignungsvermögen des Kindes hervorbringen.
Auch hier zeigt sich der Vorgang der Form- und Inhaltsbestim-
mung der mentalen Repräsentation (und ihres neuronalen
Korrelats) als durch und durch sozial. Was das Kind im Kopf
hat, worauf es zurückgreift, wenn es nach Scripts handelt, mit
sich selbst oder anderen «spricht», mit der Sprache spielt, ist ein
Produkt von Kommunikation.
Wichtig ist dabei, das Kind als aktiven Teil des kommunikati-
ven Zusammenhangs zu betrachten: Indem es interagiert und
– wie Emily – aus diesen Interaktionen das Material für nach-
spielende Monologe mit verteilten Rollen bezieht, fügt es je-
weils eigene Teile in das ihm dargebotene Material ein. Die-
ser Vorgang funktioniert nach dem Prinzip der Montage: Die
Elemente seiner Mikroumwelt, die das Kind multimodal er-
fährt, werden durch die aktive Hinzufügung von Beiträgen
zusammengeschlossen, die dafür sorgen, daß das Kind aus
dem Ganzen «Sinn machen» kann. Dieser Vorgang ist in der
vorsprachlichen Entwicklungsphase weder zu beobachten
noch zu messen, sondern nur zu erschließen – es wird aber an
späterer Stelle anhand von Interviewmaterialien gezeigt wer-
den, daß Kommunikation darin besteht, daß die Beteiligten
an jeder Stelle der sich vollziehenden Interaktion eigenen
Sinn hinzufügen, so daß (wie in der Interaktion zwischen
Mutter und Kind) ein gemeinsames Ergebnis erzielt wird, das
in den Beteiligten unterschiedliche Repräsentationen hinter-
läßt. Deshalb wird die Erinnerung an gemeinsam erlebte Si-
tuationen bei den Beteiligten immer unterschiedlich ausfal-

90
len: Das liegt einmal an den verschiedenen Perspektiven, die
in die Situation hineingetragen werden, zum anderen aber an
dem Umstand, daß die beteiligten Sprecher die Schnittstellen
der gemeinsamen Kommunikation mit je eigenem Sinn ver-
sehen. Und nicht zuletzt sind es die nuanciert oder prägnant
unterschiedlichen Gefühlsgestalten, in denen die Sequenzen
und Turns des gemeinsamen Gesprächs erlebt werden, die
dafür sorgen, daß in der Erinnerung divergierende Gestalten
des gemeinsamen Erlebnisses repräsentiert werden. Bezogen
auf die Interaktionen, die in der vorsprachlichen Entwicklung
zwischen Mutter und Kind stattfinden, ist das viel augenfälli-
ger als in der Kommunikation zwischen Erwachsenen, denn
hier ist es ja ganz offensichtlich, daß die gemeinsame Situa-
tion ganz unterschiedliche Repräsentationen bei den Betei-
ligten erzeugt.

3. Die Entwicklung des autobiographischen


Gedächtnisses

Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß nicht


nur die Gedächtnisinhalte kommunikativ gebildet werden,
sondern auch die Struktur, in der diese Inhalte bearbeitet
werden. Bisher haben wir uns primär mit Entwicklung in der
vorsprachlichen Phase beschäftigt. Es wurde schon erwähnt,
daß Kleinkinder dazu neigen, auf Nachfrage weniger ein-
zelne Ereignisse zu berichten, an die sie sich erinnern, als
generalisierte Abläufe wiederzugeben, von denen sie wissen,
daß sie für gewöhnlich so und so ablaufen. Dieser Befund
deutet an, daß die Kinder auf dieser Entwicklungsstufe noch
keine selbstbezogenen Erinnerungen ausgebildet haben; sie
können das Erlebte noch nicht in eine reflexive Beziehung zu
sich selbst setzen. Ein solches Selbst ist in einem autobiogra-
phischen Sinn noch nicht vorhanden – das Kind kann nicht
auf eine eigene, distinkte und kohärente Lebensgeschichte
zurückblicken. Es verhält sich, wie gesagt, als Positivist in
einer Welt, die so ist, wie sie eben ist.

91
Die Entwicklung eines autobiographischen Gedächtnisses
setzt offenbar genau jenes Beherrschen der repräsentationalen
Dimension von Sprache voraus, die notwendig ist, um Mo-
tive, Absichten und Zusammenhänge in der Welt und im
Handeln der Bezugspersonen jenseits der jeweils vorliegen-
den konkreten Situation deuten und verstehen zu können.
Jenseits der konkreten Situation, das heißt auch: jenseits der
Gegenwart. Um eine Vergangenheit und eine Zukunft in
einem autobiographischen Sinn konstruieren bzw. antizipie-
ren zu können, muß das Kind sich aus der Befangenheit der
konkreten Gegenwart und ihrer unmittelbaren Anforderungen
herauslösen – und die Bedingungen dafür werden wiederum
in Prozessen sozialer Interaktion hergestellt: im «memory talk»,
wie Katherine Nelson das nennt. Die Grundbedingung für
die Erweiterung der Gegenwart um eine Vergangenheit und
eine Zukunft ist die Fähigkeit, sich erinnern zu können. Das
klingt trivial. Aber auch das Erinnerungsvermögen entwickelt
sich sukzessive, und bevor wir uns der eigentlichen Entwick-
lung des autobiographischen Gedächtnisses zuwenden kön-
nen, müssen die Phasen der Entwicklung des Erinnerungs-
vermögens wenigstens grob skizziert werden.
Natürlich sind die Repräsentationen, die Kinder im Zusam-
mensein mit anderen gebildet haben, Erinnerungen, die sie
benötigen, um ihre wachsenden Fähigkeiten der Weltan-
eignung (Was ist geschehen? Was geschieht jetzt? Was wird
als nächstes geschehen?) zu stabilisieren und weiterzuentwik-
keln. Bei den sich hier etablierenden Scripts und Routinen
der täglichen Abläufe handelt es sich um Formen prozedura-
ler Erinnerung, über die man verfügt, ohne sich bewußt zu
erinnern. Die Fähigkeit, die für explizite Erinnerungen not-
wendig ist – nämlich vergangene Erlebnisse mental nachzuer-
leben und mentale «Zeitreisen» (Endel Tulving) zu unterneh-
men –, ist auf der vorsprachlichen Ebene wahrscheinlich noch
nicht ausgebildet. Kinder verfügen vorsprachlich noch nicht
über ein episodisches Gedächtnis; ein solches beginnt sich erst
im Prozeß des Spracherwerbs zu entwickeln. Gerade die Ori-
entierung auf das strikte Durchlaufen von Scripts bzw. das

92
Wissen um die «richtige» Reihenfolge von Abläufen macht
deutlich, daß Kinder in den frühen Phasen des Spracherwerbs
auf das Abspulen der Ereignisse in einer Welt geeicht sind, die
so zu sein hat, wie sie immer ist. Wer aus eigener leidvoller
Erfahrung weiß, mit welcher Rigidität kleine Kinder darauf
bestehen, daß Abfolge und Wortlaut einer Bildergeschichte
immer wieder exakt eingehalten werden müssen, wird nach-
vollziehen können, daß es hier noch keineswegs um selbstbe-
zogene, flexible und reflexive Formen des Erinnerns geht,
sondern um «objektive» Formen des Erinnerns: Das So-Sein
der Welt bestätigt sich darin, daß sie immer wieder so ist.
Mit beginnender Sprachfähigkeit zeigt sich vorerst noch der-
selbe Befund. Die frühen Bezugnahmen auf Vergangenes,
wie sie etwa Eineinhalbjährige leisten, beziehen sich meist auf
Scripts und Routinen. Im Alter von etwa zwei Jahren beginnt
sich dieses Universum des So-Seins drastisch zu verändern –
indem Kinder zunehmend an verbalen Vergegenwärtigungs-
prozessen in ihrer sozialen Umwelt teilzuhaben beginnen.
Katherine Nelson unterscheidet, abweichend von der neuro-
wissenschaftlichen Nomenklatur der Gedächtnissysteme, drei
deklarative Gedächtnisformen. Sie differenziert zwischen ge-
neric event memory («so ist es immer»; «es gibt solche Tage»
etc.), episodic memory («heute habe ich eine Puppe ge-
schenkt bekommen») und autobiographical memory («das ist
mir schon mal passiert»). Das Problem ist nun, daß man bei
kleinen Kindern, wie gesagt, ohne weiteres vom frühen Vor-
handensein generalisierter und etwas später von episodischen
Erinnerungen ausgehen kann, daß aber autobiographische
Erinnerung erst recht spät einsetzt, in aller Regel nicht vor
dem dritten Lebensjahr, meist später, womit übrigens das
Phänomen der sogenannten kindlichen Amnesie zusammen-
hängt. Nelson bemerkt mit Recht, dieser Begriff lege nahe,
daß schon einmal etwas im Gedächtnis gewesen sei, was dann
wieder vergessen wurde – was in etwa der Freudschen An-
nahme entspricht, daß frühkindliche Erfahrungen zwar vor-
handen, aber durch psychodynamische Kräfte in ein Unbe-
wußtes verdrängt worden sind, wo sie nunmehr unterirdische

93
Wirkung zu entfalten beginnen. Nelson entwickelt demge-
genüber eine Vorstellung, die von einer kritischen Stufe der
Gedächtnisentwicklung ausgeht, die eine neue Organisati-
onsform für das Erfahrene bzw. zu Erfahrende etabliert – ein
neues Gedächtnissystem, das die Gesamtheit der Erfahrungen
und Erinnerungen auf ein sich zunehmend integrierendes
und hierarchisierendes Selbst zu beziehen beginnt: das auto-
biographische Gedächtnis. Die vorgängigen Erinnerungen
fallen mithin nicht einer retrograden Amnesie zum Opfer,
sondern finden keine Artikulation im Rahmen des nunmehr
dominierenden Schemas. «Autobiographische Erinnerung ist
spezifisch, lang anhaltend und (normalerweise) von Bedeu-
tung für das Selbstsystem. Auf einer phänomenalen Ebene
formt sie die eigene Lebensgeschichte. Vor der Entwicklung
dieses Systems werden Erinnerungen nicht zum Bestandteil
einer subjektiven Lebensgeschichte, obwohl sie natürlich auf
andere Weise wichtig für das eigene Leben sein können. Und
man kann eine starke Vorstellung von seiner eigenen frühen
Lebensgeschichte deshalb haben, weil man von anderen et-
was darüber erzählt bekommen hat.»109
Das grundsätzliche Problem in der Rekonstruktion des kind-
lichen Gedächtnisses hat seine Ursache vermutlich genau
dort, wo die Reorganisation der Vergangenheit unter einem
neuen Schema beginnt: Erwachsene können nämlich genau
deswegen nicht so denken wie Kinder, weil deren Erfahrun-
gen und Erinnerungen nicht selbstbezogen verarbeitet wer-
den. Bemerkenswerte Unterschiede zwischen den frühkind-
lichen Formen des Erinnerns und der autobiographischen
Erinnerung bestehen etwa darin, daß sich Kinder oft verblüf-
fend detailliert an zurückliegende Episoden erinnern können,
und zwar insbesondere an Einzelheiten, die man selbst gar
nicht wahrgenommen hatte. Daneben nehmen die allgemei-
nen, eher routinisiert erscheinenden Ereignisse eine relativ
viel größere Rolle in ihren Berichten ein als die uns besonders
hervorhebenswert scheinenden Ereignisse. Kinder sind eher
an Erinnerungsbeständen interessiert, die für Erwachsene ge-
rade unwichtig sind, wobei natürlich die noch unvollendete

94
Sprachkompetenz und das lückenhafte Basiswissen das Ihre
dazutun, um die Schilderungen von Zweieinhalbjährigen
darüber, was sie vormittags erlebt haben, vielleicht niedlich,
aber insgesamt als völlig unwichtig erscheinen zu lassen. Der
wichtigste Faktor dieser unterschiedlichen Bedeutungszu-
messung liegt aber darin, daß die Bezugssysteme für die Ver-
arbeitung von Ereignissen und Erlebnissen unterschiedlich
sind: im einen Fall ein autobiographisches Ich, das die Erfah-
rungen in eine selbstbezogene Matrix einordnet – in das au-
tobiographische Gedächtnis nämlich. Im anderen Fall handelt
es sich um ein weniger organisiertes, flexibleres Selbstsystem,
in dem Erfahrungen zunächst zusammenhangloser, wenn
man will: in ein soziales Gedächtnis eingeordnet werden.
Der Übergang von episodischen zu autobiographischen Erin-
nerungen ist nämlich – so zeigt eine Reihe neuerer Untersu-
chungen – eingebettet in eine Interaktionsstruktur, in der die
erwachsenen Bezugspersonen auf vielfältige, aber genaue
Weise die kindlichen Berichte darüber, «was geschehen ist»,
und vor allem, was davon berichtenswert ist, formen und be-
stätigen.
Der entscheidende Punkt hierbei scheint in der narrativen
Strukturierung der berichteten Ereignisse zu liegen: Kinder
lernen im Gespräch über zurückliegende Geschehnisse nicht
nur, daß die Vergangenheit im Sprechen mit anderen eine
wichtige Rolle spielt, sondern auch, daß sie ihre eigenen Er-
innerungen in einer genau festgelegten narrativen Struktur
wiedergeben müssen: «Das Modell sozialer Interaktion [. . .]
impliziert, daß Kinder lernen, wie sie ihre Erinnerungen zu
formulieren haben und auf diese Weise in eine abrufbare
Form bringen können.»110
Hierzu ein Beispiel aus einem Dialog zwischen einem zwei-
jährigen Mädchen und ihrer Mutter:
M: Hat Dir die Ferienwohnung am Strand gefallen?
K: Ja. Und im, im, im Wasser hat es mir gefallen.
M: Im Wasser hat es Dir gefallen?
K: Ja. Ich bin zum Meer gekommen.
M: Zum Meer bist Du gegangen?

95
K: Ja.
M: Hast Du im Wasser gespielt?
K: Und meine Sandalen ausgezogen.
M: Deine Sandalen hast Du ausgezogen?
K: Und meinen Schlafanzug ausgezogen.
M: Und Deinen Schlafanzug ausgezogen. Und was hast Du
am Strand angehabt?
K: Mein Heißer-Kakao-T-Shirt.
M: Ah, Dein Kakao-T-Shirt, ah ja. Und Deinen Badeanzug.
K: Ja. Und mein Kakao-T-Shirt.
M: Sind wir zu Fuß zum Strand gegangen?
K: Ja.111
Sequenzen wie diese zeigen deutlich, wie bestimmte Mo-
mente aus der Vergangenheit im Dialog als wichtig gekenn-
zeichnet werden, wie diese Markierungen emotionale Be-
wertungen bekommen («im Wasser hat es mir gefallen») und
wie die Mutter immer weitere Details im Verlauf des kleinen
«memory talks» hervorlockt. «Memory talk» ist eine verblüf-
fend häufige Form des Dialogs mit Kindern, die gerade spre-
chen lernen.
Wie das zitierte Beispiel zeigt, bilden die Äußerungen der
Mutter eine Art Gerüst für die Erinnerungsarbeit des Kindes,
indem sie einzelne Erinnerungen durch Wiederholung be-
stärken und als wichtig markieren («Zum Wasser bist Du ge-
gangen?») und indem die Mutter Fragen stellt, die weitere
Details des Erinnerten einfordern («Hast Du im Wasser ge-
spielt?»). Wie Nelson & Fivush schreiben, sieht «memory talk»
in der frühesten Phase so aus, daß Bezugspersonen etwas er-
zählen, was mit einem Erlebnis des Kindes zu tun hat, und
daß das Kind diese Erzählung bestätigt oder wiederholt. Un-
gefähr im Alter von zwei Jahren wie im obigen Beispiel be-
ginnen die Kinder aber auch, eigene Details zu den erinner-
ten Geschichten beizutragen und exakter auf Fragen nach
Einzelheiten zu antworten. Im Alter von drei Jahren können
Kinder oft schon relativ zusammenhängende Geschichten aus
ihrer Vergangenheit erzählen und «memory talk» selbst initi-
ieren – was darauf hindeutet, daß sie nunmehr gelernt haben,
daß dem Sprechen über vergangene Ereignisse in ihrer sozia-

96
len Welt eine wichtige Rolle zukommt. Wiederum lernen die
Kinder die Struktur und Funktion solcher Erinnerungsdia-
loge, indem sie aktiv an sozialen Situationen des Vergegen-
wärtigens von Vergangenem teilhaben. Patricia Miller weist
unter Bezug auf Wygotski darauf hin, daß solche sozialen Si-
tuationen als eine Art «verteilten» Gedächtnisses zu verstehen
sind112 – und das Kind wächst in eine Welt hinein, in der
«conversational remembering»113 ein essentieller Bestandteil
der sozialen Praxis ist.
Wie stark die Form und der Stil des «memory talks» die Erinne-
rungsweise der Kinder formt, ist durch eine Reihe von Studien
gezeigt worden. Fivush & Nelson unterscheiden verschie-
dene Grade von «Elaboriertheit» von Müttern im Sprechen
über Vergangenes. Die Mütter fragen unterschiedlich intensiv
nach Detaillierungen oder zentrieren die Aufmerksamkeit auf
die evaluativen, also emotionalen Aspekte des Erlebten.114
Hier geht es darum, was die handelnden Personen wohl ge-
dacht oder gefühlt haben, als sie das oder jenes erlebt haben –
was nicht nur eine fördernde Funktion für die intersubjektive
Kompetenz der Kinder hat, sondern auch eine Form des Ver-
gegenwärtigens etabliert, in der emotionale und selbstbezo-
gene Bewertungen des Erlebten eine wichtige Rolle spielen.
Genau diese Aspekte der Elaboriertheit des «memory talk»
sind entscheidend dafür, was Kinder tatsächlich erinnern, und
mehr noch, wie sich ihre Erinnerungsfähigkeit ausbildet. So
hat zum Beispiel eine Langzeitstudie zeigen können, daß der
Stil des «memory talk» mit etwa dreieinhalbjährigen Kindern
offenbar verantwortlich dafür war, an welche Episoden sich
dieselben Kinder mit 5, 6 und 8 Jahren erinnern konnten.
«Solche Daten zeigen klar, daß hochelaborierte Mütter sehr
früh in der kindlichen Entwicklung die Fähigkeit ihrer Kin-
der fördern, vergangene Erfahrungen in detaillierter episodi-
scher Form zu erinnern.»115
Zugleich zeigen solche Geschichten, daß nicht nur der
Reichtum der erinnerten Inhalte durch «elaborierte» Mütter
gefördert wird, sondern daß deren Augenmerk auf die emo-
tionalen Aspekte der berichteten Geschehnisse die Form der

97
Erinnerungsberichte (und vermutlich der Erinnerungen
selbst) prägt. Die emotionalen Aspekte der Vergangenheitser-
zählung sind vor allem deshalb entscheidend für die Entwick-
lung des autobiographischen Gedächtnisses, weil sie die Form
der Erinnerung von dem (positiven) Bericht über das, was
passiert ist, zu der (reflexiven) Erzählung über das, wie es
einem selbst dabei ergangen ist, erweitern. «Es sind die Emo-
tionen, die vergangene Ereignisse mit dem Selbst-Konzept
verknüpfen und zu einem Teil der Autobiographie ma-
chen.»116
Andere Studien zeigen, daß es vor allem der soziale Kontext
ist, der die Erinnerung an vergangene Ereignisse wahr-
scheinlicher oder unwahrscheinlicher macht. Tessler &
Nelson117 haben anhand von Ausstellungsbesuchen mit Müt-
tern und Kindern zeigen können, daß die Kinder sich später
nur an die Teile der Ausstellung erinnern konnten, über die
gemeinsam gesprochen worden war. Derselbe Befund zeigte
sich im Rahmen einer Fotoexkursion. Gespräche über das,
was zu sehen ist, scheinen also direkt die Organisation dessen
zu beeinflussen, was aus der Menge des Wahrgenommenen
eingespeichert wird und später abrufbar ist. Durch das ge-
meinsame Sprechen bekommt das Wahrgenommene eine
strukturierte und kohärente Form118 – und diese Form scheint
auch den Abruf der Erinnerung zu erleichtern. Vor dem
Hintergrund neurowissenschaftlicher Befunde läßt sich hier
ergänzen, daß es nicht nur die strukturierende Kraft der
Sprache ist, die die Erinnerung an einzelne Ereignisse för-
dert, sondern auch ein Phänomen, das als affektive Kongru-
enz von Einspeicherungs- und Abrufsituation beschrieben
wird – man erinnert sich an Ereignisse besser und detaillier-
ter, wenn die soziale Situation des Abrufs der der Einspei-
cherung entspricht. Bezogen auf die erwähnten Studien mit
den Kindern, würde das den Schluß nahelegen, daß in der
sozialen Situation des Sprechens darüber, was damals beim
Museumsbesuch oder auf der Fotosafari geschehen ist, die
soziale Situation abgerufen wird, in der damals über dieses
oder jenes Objekt gesprochen wurde. Mithin wäre es nicht

98
so sehr die Sprache selbst, die den Abruf der Erinnerung de-
terminiert, sondern die Kongruenz von Einspeicherungs-
und Abrufsituation.
Natürlich spielt die Sprachkompetenz eine bedeutende Rolle
dafür, wie reich der Austausch von Eindrücken in der jeweili-
gen sozialen Situation sein kann. Aber die Mischung der Ein-
flußfaktoren – sozialer Kontext, «Elaboriertheit» der Mutter
etc. – entfaltet unterschiedliche Wirkung, je nachdem, wie alt
die Kinder sind und wie gut sie sprechen können. In einer
Studie, die diesem Phänomen genauer auf die Spur kommen
wollte, wurden die Erinnerungen von kleinen Kindern an
Unfälle untersucht, die immerhin so gravierend waren, daß
sie auf Notfallstationen in Krankenhäusern behandelt wur-
den. Kinder im Alter von unter 20 Monaten konnten zu
diesem Zeitpunkt nicht verbal darüber kommunizieren, was
geschehen war, und zeigten zwei Jahre später keinerlei Erin-
nerung an das Ereignis. Im Alter zwischen 20 und 26 Mona-
ten differierte dieser Befund je nach Sprachkompetenz zum
Zeitpunkt des Unfalls. Diejenigen, die zum Zeitpunkt des
Geschehens älter als 26 Monate waren, konnten sich als Vier-
jährige recht detailliert daran erinnern. In einer vergleichba-
ren Untersuchung mit Vorschulkindern, die einen Feueralarm
erlebten, zeigt sich derselbe Befund: Nur denjenigen, die zum
Zeitpunkt des Alarms eine kohärente Geschichte darüber er-
zählen konnten, waren sieben Jahre später in der Lage, sich
daran zu erinnern.119
Auch hier wird man die gewiß zentrale Rolle der Sprache als
Generator von Erinnerung aus Sicht der Neurowissenschaft
um eine Nuance relativieren können. Auch bei Erwachsenen
gilt als gesichert, daß Erlebnisse und Ereignisse, über die man
mit anderen gesprochen hat, besser erinnert werden als sol-
che, über die man sich nicht ausgetauscht hat – und dieser
Befund zeigt sich desto deutlicher, je öfter ein- und dasselbe
Ereignis kommuniziert worden ist (wobei es sich, wie wir
wissen, im Lauf der Zeit durchaus verändert). Dem Erzähler
scheint es gerade dann in allen Details «noch vor Augen» zu
stehen. Auch hier ist es die soziale Kommunikation eher als

99
der sprachliche Reichtum, was die Erinnerung immer weiter
konsolidiert. Die Rolle der Sprache für die Entwicklung der
kindlichen Gedächtnisorganisation dürfte deshalb alles in al-
lem als Ko-Faktor bei der Konsolidierung von Erinnerungen
zu betrachten sein, der überhaupt ihre Wiedergabe in kom-
munizierbarer Form ermöglicht.
Wirklich entscheidend wird Sprache in ihrer Funktion für
die Ausbildung autobiographischer Erinnerungen: Denn die
Möglichkeit, etwas Erlebtes auf ein Selbst zu beziehen, dem
zuvor ähnliches oder ganz anderes widerfahren ist und dem in
Zukunft so etwas nie mehr oder immer wieder passieren
wird, setzt ein kohärentes Ich-Gefühl voraus – und dies wird
offenbar erst dann entwickelt, wenn das sprachliche Vermö-
gen es dem Kind gestattet, sich aus der Sphäre der Konkret-
heit und Objektivität des So-Seins in eine Sphäre der zuneh-
menden Abstraktion und Subjektivität zu bewegen. Genau
dafür liefert die Sprache als repräsentationales Medium, das es
erlaubt, Vorstellungen, Simulationen, Gefühle zu vergegen-
wärtigen, die Grundlage. In diesem Sinne ist die Entwicklung
des autobiographischen Gedächtnisses ohne das Erreichen
einer Stufe repräsentationaler Sprachkompetenz nicht denk-
bar.
Man kann zusammenfassen, daß zunehmende Sprachkom-
petenz und die Entwicklung des autobiographischen Ge-
dächtnisses eng zusammenhängen und gemeinsam auf der
Synchronisierung von drei Entwicklungsvoraussetzungen be-
ruhen:
◆ auf hirnorganischen Reifungsprozessen, insbesondere auf
der Entwicklung der Wernicke- und der Broca-Regionen
(die semantisches Sprachverstehen und sprachlichen Aus-
druck ermöglichen),
◆ auf dem Vorliegen einer psychischen Organisationsstufe,
die Scripts und protokonversationelle Abläufe bereits sicher
integriert hat und deshalb Sprache als regelhaftes repräsen-
tationales Medium anzueignen erlaubt,

100
◆ auf einem sozialen Entwicklungskontext, der die Bezug-
nahme auf soziale und persönliche Vergangenheiten als es-
sentiell markiert und in dem die kommunikativen und lin-
guistischen Modelle für die Konstruktion einer individuellen
Lebensgeschichte vermittelt werden. Sprach-, Bewußtseins-
und Gedächtnisentwicklung finden Katherine Nelson zu-
folge also im Rahmen eines bio-sozio-kulturellen Systems
statt.
Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses scheint
übrigens zu den langwierigsten Entwicklungsaufgaben des her-
anwachsenden Menschen zu gehören: Die Kompetenz, auto-
biographisch zu erzählen, wird nicht vor dem Ende der Adoles-
zenz erreicht.120 Die Kriterien für eine solche Kohärenz sind
wiederum sozial definiert: In unserem Kulturkreis muß eine le-
bensgeschichtliche Erzählung zum Beispiel persönliche Be-
deutsamkeit, Widerspruchsfreiheit und Plausibilität aufweisen
und in ihrer linearen Struktur selbst eine Bildungsgeschichte
sein, um als autobiographisch akzeptiert zu werden.
Wie man sieht, ist also auch Erinnerung eine erlernte Fähig-
keit – sie ist eine nicht nur alters- und entwicklungsabhän-
gige, sondern erfahrungsabhängige und damit kulturell spezi-
fische Kompetenz. So haben interkulturell vergleichende
Studien gezeigt, daß bei Befragten aus westlichen Gesell-
schaften die Erinnerung lebensgeschichtlich länger zurück-
reicht als bei Mitgliedern östlicher Gesellschaften: Hier datie-
ren die frühesten Erinnerungen auf das 5. und 6. Lebensjahr
zurück121 – was gewiß auf unterschiedliche Vorstellungen und
Relationen von Kollektivität und Individualität in den vergli-
chenen Gesellschaften zurückzuführen ist. Wenig verwun-
derlich erscheint es da, wenn deutliche Unterschiede in der
Form der dyadischen Kommunikation zwischen amerikani-
schen und ostasiatischen Müttern beobachtet werden – daß
die amerikanischen Mütter zum Beispiel im Schnitt dreimal
häufiger mit ihren Kindern über vergangene Dinge sprechen
als ostasiatische.122 Was immer man von solchen Befunden
und ihren Interpretationen halten mag, sie zeigen in jedem
Fall die Kulturabhängigkeit der Praxis des Lernens, wie und

101
woran man sich erinnert, und damit die kulturelle Determi-
nation des Erinnerns selbst.
Sowohl in der entwicklungspsychologischen wie in der eth-
nographischen Literatur ist schon früh auf die Rolle hinge-
wiesen worden, die kulturelle Schemata oder Modelle für die
Organisation der Entwicklungsprozesse spielen. Ein ziemlich
augenfälliges Beispiel ist z. B. der interkulturelle Vergleich
von Schlafgewohnheiten: Während in den westlichen Gesell-
schaften das Kind in der Regel nicht im Bett der Eltern und
nach Möglichkeit in einem eigenen Raum schläft, weil sehr
früh Wert darauf gelegt wird, daß das Kind «durchschläft» und
nachts nicht dauernd «kommt», legen japanische Eltern Wert
darauf, daß das Kind ein Gefühl von Interdependenz ent-
wickelt, weshalb es besser zusammen mit ihnen in einem Bett
schläft. Kenianische Mütter tragen ihre Babys nach Möglich-
keit ständig, also auch bei der Arbeit, mit sich herum, womit
sich ein Konzept fester Wach- und Schlafzeiten von selbst
verbietet und entsprechend kein Wert auf so etwas wie
«Durchschlafen» gelegt wird. All dies zeigt eine extrem starke
kulturelle Differenzierung bei einer für völlig selbstverständ-
lich gehaltenen Alltagsroutine – und gewiß halten sowohl die
japanischen wie die kenianischen oder die amerikanischen
oder deutschen Mütter ihre Routinen für die einzig «natürli-
chen». Ähnliche Unterschiede zeigen sich bei gleichermaßen
basalen Routinen wie Interaktionskonventionen und Blick-
kontakten, bei der Auflösung bzw. Aufrechterhaltung von
Abhängigkeit usw.123 Insgesamt wird dabei unmittelbar ein-
sichtig, daß kulturelle Modelle eine außerordentliche Be-
deutung für die Praxis der Entwicklung des Kindes-im-Zu-
sammensein-mit-anderen und entsprechend nachhaltige
Wirkung auf die Herausbildung der Gestalt seines autobio-
graphischen Gedächtnisses haben. Ganz allgemein kann man
also davon ausgehen, daß das autobiographische Gedächtnis
besonders hinsichtlich seines Wir-Gruppen-Bezugs höchst
kulturspezifisch ausgeprägt ist.
Daneben muß darauf hingewiesen werden, daß kulturelle
Modelle nicht als vorgestanzte Matrizen die Selbstkonzepte

102
der Menschen und ihre Auffassungen von richtigem und
falschem Leben und Verhalten prägen – sie müssen im Rah-
men konkreter, oft widersprüchlicher Aneignungen indivi-
dualisiert werden. Eigentlich kann man nur in einer eher
sozio- oder ethnologischen Perspektive von kulturellen Sche-
mata und Modellen sprechen; psychologisch handelt es sich
immer um individualisierte kulturelle Schemata, die die
Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen der einzel-
nen Gesellschaftsmitglieder prägen. Bradd Shore, ein Ethno-
loge, der sich in kulturvergleichender Perspektive um eine
Theorie der ökologischen Gehirnentwicklung bemüht hat,
die die Interdependenz biologischer und kultureller Faktoren
in Rechnung stellt, nennt als Beispiel für die Transformation
eines kulturellen Modells in ein individualisiertes, daß in
Thailand die soziale Erwartung vorherrscht, junge Männer
sollten ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Prostituierten
machen. Für einen jungen Mann, der homosexuelle Neigun-
gen verspürt, kann es eine beträchtliche Schwierigkeit dar-
stellen, diesem kulturellen Modell zu folgen.124 Gleichwohl
wird die Lösung eines solchen Konflikts Spuren in seiner au-
tobiographischen Entwicklung hinterlassen – auch eine kon-
flikthafte Individualisierung eines kulturellen Modells hinter-
läßt die spezifische Spur eines solchen Modells.
Ich werde später noch am Beispiel der klassischen Gedächtnis-
experimente von Frederic Bartlett zeigen, wie sehr kulturelle
Schemata die Erinnerung an Gehörtes oder Erlebtes prägen –
an dieser Stelle mag es genügen, darauf hinzuweisen, daß die
Prozesse der Organisation von Erinnerung interkulturell recht
stark variieren und daß die jeweiligen kulturellen Schemata
nicht einfach als Prägestempel zu betrachten sind, die die For-
men der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsweisen
der Individuen direkt bestimmen, sondern jeweils Prozesse
sozialer und individueller Aneignung durchlaufen müssen,
um zur selbstverständlichen Ausstattung des autobiographi-
schen Selbst zu werden.
Kulturelle Schemata und Modelle bilden aber nicht nur das
Material für selbstbezogene Aneignungsprozesse und werden

103
auf diese Weise Raum und Inventar des autobiographischen
Gedächtnisses zugleich. Sie bilden in anderer Hinsicht auch
einen großen Teil des semantischen Gedächtnisses oder des
«Weltwissens», denn Kinder wachsen, wie gesagt, zunächst in
eine Welt hinein, die so ist, wie sie ist: Ihre Bestandteile – wie
man wohnt, was man tut, wie es draußen auf der Straße aus-
sieht, wer zur Familie gehört usw. – sind als Produkte ge-
meinsam gelebter Praxis ja auch selbstverständliches Wissen
darüber, woraus die Welt zusammengesetzt ist, in die man
hineingeboren worden ist. Das praktisch entwickelte Wissen
über die Welt (Herdplatten können heiß sein!) ergänzt sich
im Verlauf der Entwicklung um eine Fülle von kognitiven
Wissensbeständen, die – wie das Wissen um Rechtschreib-,
Additions- und Subtraktionsregeln – zunehmend abstrakter
und theoretischer werden, also keineswegs immer einen
Selbstbezug aufweisen. Einfach gesagt: Man kann wissen, daß
Washington die Hauptstadt der USA ist, ohne je dort gewesen
zu sein oder auch ohne jemals jemanden getroffen zu haben,
der selbst dort war.
Der Zusammenhang zwischen episodischen und semanti-
schen Gedächtnisinhalten kann sehr komplex sein: Zum Bei-
spiel kann es eine wichtige selbstbezogene Erinnerung sein,
jemanden zu kennen, der aus Washington stammt – und die
Repräsentation dieser selbstrelevanten Erinnerung wird eine
Kombination aus kognitiven und emotionalen Komponenten
darstellen. Wie hier semantische Wissensbestände um emotio-
nale, d. h. selbstbezogene und episodische Aspekte angerei-
chert werden, so bildet das semantische Gedächtnis vielleicht
überhaupt die Basis für episodische Erinnerungen: Ohne die
Möglichkeit, selbstbezogene Erfahrungen in ein sozial geteil-
tes System von Regeln und Rahmen einzubetten, nähme ein
Erlebnis keine Gestalt im Bewußtsein an und würde nicht zu
einer Erfahrung, die zu erinnern wäre. Sie bliebe allenfalls ein
Reiz, der automatisch Verarbeitungsprozesse nach sich zöge.
Aus diesem Grund ist aus neurowissenschaftlicher Perspektive
formuliert worden, daß das semantische und das episodische
Gedächtnis in einem hierarchischen Verhältnis zueinander

104
stehen: Endel Tulving und Hans Markowitsch haben in die-
sem Sinne ein Modell der seriellen Einspeicherung von se-
mantischer und episodischer Information entwickelt (siehe
Abb. 9).
Im Prozeß der Einspeicherung durchläuft die episodische,
selbstbezogene Information das semantische Gedächtnissy-
stem; die Gedächtnisinhalte können aber unabhängig von-
einander aus den Systemen abgerufen werden. Tulving und
Markowitsch begründen dieses Modell zum einen vor dem
Hintergrund von Fallstudien mit Patienten, bei denen Funk-

Abb. 9: Beziehungen zwischen Wissenssystem und episodi-


schem Gedächtnis. Information kann unabhängig vom epi-
sodischen Gedächtnis in das semantische Gedächtnis einge-
speichert werden, muß aber durch das semantische Gedächt-
nis hindurch, um in das episodische gelangen zu können.
Eingespeicherte und abgelagerte Information ist potentiell
aus beiden Systemen abrufbar (aus: Tulving & Markowitsch
1998, S. 200).

105
tionsausfälle des episodischen Gedächtnissystems zu beobach-
ten waren, während das semantische völlig intakt schien (wo-
bei eine Schädigung des Hippocampus die entscheidende
Rolle spielt). Zum anderen argumentieren sie entwicklungs-
theoretisch: «Kleine Kinder erwerben eine große Menge
Wissen über ihre Welt, bevor sie sich wie Erwachsene episo-
disch erinnern können.»125
Wenn sich Tulving & Markowitsch das hierarchische Ver-
hältnis, in dem semantisches und episodisches Gedächtnis
zueinander stehen, damit zu erklären versuchen, daß in ent-
wicklungspsychologischer Perspektive die Fähigkeit zur Selbst-
reflexion (als Funktion des episodischen Gedächtnisses) dem
Erwerb fundamentalen Wissens chronologisch und hierar-
chisch nachgeordnet ist, dann verfehlen sie aus meiner Sicht
gerade eine Erklärungsmöglichkeit für die Genese der spezi-
fisch menschlichen Möglichkeit zu einem episodischen Ge-
dächtnis. Denn in der sozialisatorischen Interaktion sind die
Typen des erinnerten Wissens und der gewußten Erinnerung
ja gerade nicht getrennt, da die Vermittlung von Wissen
darum, wie die Welt ist und was zu ihr gehört, einerseits prak-
tisch darüber verläuft, daß die Mutter etwas mit dem Kind tut
(und dieses mit ihr), daß dies aber eben nicht ein allein kör-
perlicher Interaktionsprozeß ist, sondern fast immer auch von
verbalen und nicht-verbalen Vokalisierungen begleitet ist.
Damit will ich keineswegs sagen, daß schon der Säugling sich
auf einer Stufe symbolischen Interagierens bewegt, sondern
daß in seine Erfahrung immer schon eingeht, daß er selbst Teil
einer sozialen Praxis von Geben und Nehmen ist und daß
diese Praxis immer eingebettet ist in symbolische und pro-
tosymbolische Ausdrucksformen wie die Artikulation von
Freude durch Lächeln und Lachen, mithin auch durch proto-
sprachliche Ausdrucksformen, d. h. Vokalisierungen bzw., wie
Mead das genannt hat, Lautgebärden. Anders gesagt: Weil die
menschliche Mutter im Gegensatz etwa zu einer Elefantin
permanent auch einen reflexiven Anteil in ihre Interaktion
mit dem Kind einbringt, erfährt dieses ganz einfach, daß die-
ser Anteil mit zur Welt gehört – und das tut das Elefantenbaby

106
eben nicht. Daß dieses Potential an Erfahrung einer beglei-
tenden Vokalisierung wiederum eine physiologische Ausstat-
tung voraussetzt, die das Elefantengehirn im Unterschied zum
menschlichen eben nicht aufweist, sollte die vorangegange-
nen Überlegungen noch unterstreichen: Denn mit der Mög-
lichkeit, ein episodisches Gedächtnis zu bilden, liegt eben
auch die Möglichkeit für eine soziale Formbestimmung des
Erlebens vor, und mit dieser geht in jedes Erlebnis, in jede Er-
fahrung des Kindes schon immer ein reflexiver Anteil ein:
nicht nur, daß etwas so ist, sondern eben auch, daß es so gut,
schlecht oder was auch immer ist.
Wenn man sich nun die im zweiten Kapitel skizzierten vier
unterschiedlichen Gedächtnissysteme hinsichtlich ihrer Form-
bestimmung in der sozialisatorischen Interaktion vorstellt, ist
es viel einleuchtender, sie als gleichzeitig emergierende
Funktionen denn als sich hierarchisch und chronologisch ge-
trennt voneinander entwickelnde Systeme zu konzipieren.
Denn in der sozialisatorischen Interaktion sind ja alle vier
Modalitäten gleichzeitig anwesend: Die Interaktion produ-
ziert eine Fülle von Randerscheinungen, die nicht im Zen-
trum der geteilten Aufmerksamkeit stehen, aber gleichwohl
perzipiert werden («Priming»), zweitens wird prozedurales
Wissen – wie etwa die wechselseitige Abstimmung beim Stil-
len und beim Anblicken auf einen Gleichklang hin – vom er-
sten Lebensmoment an vermittelt und angeeignet, drittens
wird mittels der Aneignung der Regeln sozialer Interaktion
bereits prototypisches semantisches Wissen vermittelt, und
viertens praktiziert die Mutter die Interaktionen mit ihrem
Kind nach Maßgabe der kontrafaktischen Annahme, dieses
könnte mit ihren die Handlungen begleitenden Erklärungen
und Kommentaren etwas anfangen: «So, jetzt fühlt sich mein
kleines Baby aber wieder wohl!»
Das Kind erlebt diese unterschiedlichen Aspekte einer Ge-
samtgestalt von Interaktion natürlich nicht als getrennte,
sondern multimodal – und gerade diese Multimodalität
macht, wie schon das vorangegangene Kapitel gezeigt hat,
jene einzigartige Verbindung von Sozialität und Individualität

107
Abb. 10: Grundschema der Entwicklung des autobiographi-
schen Gedächtnisses (Welzer & Markowitsch 2001, S. 211).

aus, die eben nur den Menschen eigen ist. Unter der An-
nahme, die Gedächtnissysteme entwickelten sich in einer
chronologischen Stufenfolge, müßte man erklären, wieso
irgendwann das episodische Gedächtnissystem zum semanti-
schen hinzutritt – und ein solcher Schritt käme ja in der Per-
spektive des Kindes auf so etwas wie einen hyperkritischen
Tag der Erleuchtung heraus, ab dem es sich als reflexives Sub-
jekt mit einer Geschichte wahrnimmt.126 Insofern wäre es
sinnvoll, ein Modell der Gedächtnisentwicklung zu konzipie-
ren, in dem dem autobiographischen Gedächtnis die Aufgabe
zukommt, die in den unterschiedlichen Gedächtnissystemen
bearbeiteten Gedächtnisfunktionen zu synthetisieren und be-
ständig auf das Selbst zurückzubeziehen. Hierarchisch ent-
wickelte Niveaus könnten innerhalb eines binnendifferen-
zierten autobiographischen Gedächtnissystems identifizierbar
sein – womit einmal mehr eine Schnittstelle zwischen Neu-
rowissenschaft und sozialwissenschaftlich orientierter Psycho-
logie markiert wäre.
Bevor im nächsten Kapitel auf den prägenden Einfluß der
Kultur auf das kommunikative Gedächtnis genauer eingegan-
gen wird, sollen die Ergebnisse der vorangegangenen Diskus-
sion in zwei Übersichten dargestellt werden, die die bio-psy-

108
Abb. 11: Noch unvollständiges interdisziplinäres Entwick-
lungsmodell des autobiographischen Gedächtnisses (Welzer
& Markowitsch 2001, S. 211).

109
cho-soziale Entwicklung des Gedächtnisses schematisch und
nach Altersstufen skizzieren. Abb. 10 zeigt das Grundschema
der bio-psycho-sozialen Entwicklung des autobiographi-
schen Gedächtnisses, während Abb. 11 (noch unvollständig)
die Interaktion der Entwicklungs- und Reifungsschritte auf
der Ebene der sozialen Umwelt, der individuellen Entwick-
lung und der Hirnreifung darstellt.
V. Die Macht der Gefühle.
Über emotionale Erinnerung

«Es geschah, als er Tingsryd passiert hatte und auf die


Straße nach Ronneby eingebogen war. Plötzlich tauchte ein
Elch vor ihm auf. Im bleichen Licht der Dunkelheit hatte er
ihn nicht gesehen. Es war viel zu spät, er hatte nicht rechtzei-
tig reagiert, das begriff er in einem kurzen verzweifelten Au-
genblick, als das Kreischen der Bremsen ihm in den Ohren
gellte. Er würde frontal mit dem riesigen Elchbullen zusam-
menstoßen und hatte nicht einmal den Sicherheitsgurt ange-
legt. Plötzlich jedoch drehte das Tier ab, und ehe er sich’s
versah, war Wallander an ihm vorbei, ohne es auch nur zu
streifen.
Er fuhr rechts ran und blieb ganz ruhig sitzen. Das Herz
schlug wie wild in seiner Brust, er keuchte und fühlte sich
schlecht. Als er sich beruhigt hatte, stieg er aus. Wieder ein-
mal um Haaresbreite am Tod vorbei, dachte er.»
Diese kurze Passage entstammt dem Kriminalroman «Die
weiße Löwin» von Henning Mankell. Mankells Beschreibung
des Beinahe-Unglücks seines leidgeprüften Kommissars Kurt
Wallander enthält einige Elemente, die uns im Verlauf dieses
Kapitels beschäftigen werden: eine lebensbedrohliche Situa-
tion, ein automatisch ablaufendes Reaktionsmuster, mehrere
Dimensionen von Gefühlen, körperliche Veränderungen, se-
lektive Wahrnehmungen, kognitive Einordnungen.
Was ist hier geschehen? Wallander verliert die Kontrolle über die
Situation, als plötzlich ein Elch auf der Straße auftaucht. Damit
hat er nicht gerechnet, und weil er damit nicht gerechnet hat,
bedeutet der Elch eine plötzliche Lebensgefahr. Wallander ver-
sucht zu reagieren, er bremst, aber er weiß, daß es zu spät ist. Ge-
danken schießen ihm durch den Kopf: Der Bremsweg wird
nicht ausreichen, er hat sich nicht einmal angeschnallt, er wird
den Elch frontal erwischen. Nachdem der Elch es sich wunder-

111
samerweise anders überlegt hat, muß Wallander sich erstmal
wieder erholen. Sein Körper ist noch ganz bei der Sache: Sein
Herzschlag rast, seine Atmung ist belastet, er fühlt sich elend.
Erst nachdem sich alles beruhigt hat, Wallander und sein Körper,
beginnt er, eine Bewertung vorzunehmen: «Wieder einmal um
Haaresbreite am Tod vorbei.» Wallander realisiert, was (nicht)
geschehen ist, und ordnet es anderen Ereignissen in seinem Le-
ben, seiner Biographie zu.
Wie läßt sich das Ganze abstrakter beschreiben? Eine Person
nimmt einen höchst bedrohlichen Auslösereiz (Elch auf der
Straße) wahr, erlebt unmittelbar darauf eine Emotion (Furcht)
in Verbindung mit einer Reihe physiologischer Begleiter-
scheinungen (Erhöhung der Herzfrequenz, Übelkeit etc.)
und reagiert darauf mit einer Reihe von Abwehrhandlungen
(Bremsen, Lenken). Als alles vorüber ist, ordnet er das Ge-
schehen kognitiv ein (Bewertung). So sieht es aus, in Wallan-
ders Augen oder besser: in Mankells Augen und sicher auch in
unseren. Aber ist das tatsächlich der Ablauf, wie er sich in
Wirklichkeit vollzieht?
Vor mehr als hundert Jahren hat William James dasselbe Phä-
nomen anhand einer einfacheren Situation (die heute aber
selten anzutreffen ist) diskutiert: Laufen wir vor einem Bären
weg, weil wir uns fürchten? Oder fürchten wir uns, weil wir
vor dem Bären weglaufen? James’ Antwort fiel eindeutig zu-
gunsten der zweiten Alternative aus: Seiner Auffassung nach
erfolgt zuerst die Reaktion (Laufen) auf den Reiz (Bär), bevor
die Emotion (Furcht) einsetzt. Seine Begründung sah etwa so
aus, daß die Fluchtreaktion mit einer Reihe körperlicher Pro-
zesse einhergeht (Beschleunigung des Herzschlags, Muskel-
anspannung, Transpiration etc.), die gefühlt werden können,
also eine Empfindung hervorrufen, die im nachhinein als
«Furcht» charakterisiert werden kann. Die Wahrnehmung
der körperlichen Reaktion auf den Reiz und die damit ver-
bundene Aktion fungiert also als ein Feedback, das die Reak-
tion auf den auslösenden Reiz fühl- und bewertbar macht. In
den Worten von Joseph LeDoux: «Die physiologischen Re-
aktionen werden jeweils in Gestalt körperlicher Empfindun-

112
gen ans Gehirn zurückgemeldet, und die spezifische Beschaf-
fenheit der sensorischen Rückmeldung verleiht der jewei-
ligen Emotion ihre spezifische Qualität. [. . .] Der mentale
Aspekt der Emotion, das Gefühl, ist ein Sklave ihrer Physio-
logie, nicht umgekehrt: Wir zittern nicht, weil wir uns fürch-
ten, und wir weinen nicht, weil wir traurig sind; wir fürchten
uns, weil wir zittern, und wir sind traurig, weil wir wei-
nen.»127
Dieser Befund widerspricht unserer Intuition – aber vielleicht
versuchen Sie einfach mal, ihre Gesichtsmuskulatur zu einem
Lächeln zu bewegen oder, umgekehrt, Ihrem Gesicht einen
Ausdruck tiefer Trauer oder heftigen Zorns zu verleihen, und
achten Sie darauf, was Sie dabei fühlen. Sicher werden Sie
nicht in ausgelassene Heiterkeit, abgrundtiefe Verzweifelung
oder heilige Wut verfallen, aber die mit der physiognomi-
schen Manipulation einhergehenden Gefühle werden Ihnen
wenigstens eine leise Tendenz der Emotion vermitteln, die
mit dem jeweiligen Mienenspiel verbunden ist.
Die kaum bestreitbare Tatsache, daß Emotionen immer einen
körperlichen Index haben, hat Antonio Damasio dazu veran-
laßt, weitreichende Überlegungen zum Verhältnis von Körper,
Emotion und Kognition anzustellen – so weitreichende, daß er
eine Theorie der Entstehung des Bewußtseins aus diesem Ver-
hältnis entwickeln zu können glaubt. Ich möchte zunächst Da-
masios Überlegungen in groben Zügen nachzeichnen, um
anschließend die Frage zu diskutieren, was emotionale Erinne-
rung ist. Auf dieser Basis können dann einige sozialpsychologi-
sche Betrachtungen darüber angestellt werden, was Emotionen
wahrscheinlich sind und welche Rolle sie für unser Gedächtnis
und die Regulation unseres Verhältnisses zu uns selbst und zu
anderen spielen.
Es gibt eine Reihe von Emotionen, die offensichtlich – samt
ihrer physiologischen Ursachen und physiognomischen Be-
gleiterscheinungen – in allen Kulturen und zu allen Zeiten
vorkommen: Es sind dies die «primären Emotionen», die of-
fensichtlich schon genetisch präorganisiert und keineswegs
auf die menschliche Spezies beschränkt sind. Ein Küken zum

113
Beispiel duckt sich automatisch, wenn der Schatten von etwas
Großem mit ausgebreiteten Flügeln auf es fällt. Die Furchtre-
aktion erfolgt unmittelbar, und natürlich hat das Küken nicht
die geringste Vorstellung davon, was ein Bussard ist, und es ist
ihm auch nicht beigebracht worden, was in einem solchen
Fall zu tun ist. Auch bei Menschen lassen sich unwillkürliche
körperliche Reaktionsmuster beobachten, wenn etwas Ge-
fährliches zu geschehen droht – im Zusammenhang mit trau-
matischen Erfahrungen in der frühen Kindheit war ja bereits
von einer Starrereaktion die Rede, die automatisch ausgelöst
wird, um die Gefahr zu reduzieren, von einem Angreifer ent-
deckt zu werden.128 Die automatische Furchtreaktion, die zur
Starre oder zum Sich-Ducken führt, wird ausgelöst, ohne daß
die dazugehörige Gefahr kognitiv identifizierbar wäre – es
genügt, daß bestimmte Merkmale des Objekts vom Gehirn
(in diesem Fall von den frühen sensorischen Rindenfeldern)
verarbeitet werden und bestimmte Rückmeldungen auf diese
Signale hin gegeben werden, die dann die entsprechenden
biochemischen und organischen Vorgänge auslösen, die zur
emotionalen Reaktion führen.
Primäre Emotionen sind zunächst also nicht mehr als die Be-
gleitumstände von Situationen, in denen der Organismus, ob
man will oder nicht, auf bestimmte Auslösereize reagiert –
wobei sich bei Menschen (und wahrscheinlich auch bei
vielen höheren Säugetieren) in Verbindung mit den dabei
auftretenden körperlichen Vorgängen auch eine bestimmte
Gefühlslage einstellt, wie bewußt diese auch immer sein mag.
Diese Gefühlslage fungiert als Feedback für den Organismus,
als Marker dafür, daß etwas Bestimmtes geschehen ist. Zu den
primären Emotionen zählen nach verbreiteter Auffassung
Furcht, Glück, Zorn, Ekel und Trauer, oft wird auch Überra-
schung dazu gerechnet – womit die Schwierigkeiten schon
anfangen, denn die Bandbreite und interindividuelle Varianz
des Überraschtseins läßt es doch als sehr unwahrscheinlich
erscheinen, daß es sich hierbei um eine überkulturelle und
überhistorische Emotion handeln könnte. Überraschung
dürfte deshalb eher zu den sekundären Emotionen zu rech-

114
nen sein, das heißt zu den erfahrungsabhängigen emotionalen
Reaktionen, zu denen beispielsweise unterschiedliche Grade
von Ärger, Verliebtsein etc. gehören. Alle Emotionen treten
in Verbindung mit körperlichen Prozessen auf, die für das be-
troffene Individuum eine Situation der Gefahr, der Lust, des
Verlustes usw. anzeigen, aber das ist noch nicht alles. Im Un-
terschied zu dem Küken, das sich vor dem Bussard duckt,
bleibt es bei Menschen ja nicht bei dem bloßen Zusammen-
spiel von Auslösereiz, autonomer Reaktion und emotionaler
Erregung, sondern es kommt noch hinzu, daß die Emotionen
empfunden werden können. Mehr noch, es wird, wie Da-
masio sagt, die Verknüpfung zwischen dem Objekt, das die
Reaktion auslöst, und dem dadurch regulierten gefühlsbe-
dingten Körperzustand wahrgenommen. Das heißt, es exi-
stiert ein Bewußtsein darüber, was man fühlt.
Wofür, könnte man nun fragen, soll das eigentlich gut sein?
Damasios Antwort ist einfach: Eine Emotion, die nicht nur
Teil eines autonom ablaufenden Reaktionsmusters ist, son-
dern zugleich die Daten für die Bewertung eines Körperzu-
stands liefert, läßt für die nach der unmittelbaren Reaktion
möglichen Handlungen eine größere Variationsbreite zu. Ne-
ben die angeborene, präorganisierte Reaktionsweise tritt eine
erworbene, erfahrungsabhängige Reaktion, die geeignet ist,
einen Unterschied zwischen den Umrissen und Bewegungen
eines wirklichen Adlers und der nahezu identischen Silhou-
ette eines Kinderdrachens wahrzunehmen und entsprechend
zu reagieren. Daneben kann die Fähigkeit, die emotionale
Reaktion zu empfinden, auch dazu dienen, Kategorien dar-
über zu bilden, welche Erscheinungsform des Auslösereizes
als gefährlich bzw. als ungefährlich einzuschätzen ist. Mit an-
deren Worten: Das Empfinden einer emotionalen Reaktion
bietet gegenüber ihrem bloßen unbewußten Vorhandensein
einen handlungsökonomischen Gewinn und einen Überle-
bensvorteil – die eigene Reaktion kann bewertet werden, und
aus dieser Bewertung können wiederum Schlüsse darüber ge-
zogen werden, welches Handeln zukünftig in einer analogen
Situation angebracht ist. In Damasios Worten: Wenn Sie Ihre

115
Emotion empfinden können, «gewinnen Sie damit eine Fle-
xibilität der Reaktionsfähigkeit, die auf der besonderen Ge-
schichte Ihrer Interaktionen mit der Umwelt beruht».129
Die primären Gefühle erzeugen in Ihnen etwas, gegen das
Sie sich nicht wehren können und das vor aller Erfahrung
schon da war; die Empfindung dieses Etwas aber stellt eine
Verknüpfung zwischen einer angeborenen Reaktionsweise
und einer Erfahrung mit dieser Reaktionsweise her – und
diese Verknüpfung erlaubt es, das Reaktionsmuster von Fall
zu Fall zu variieren. Nun wird aber die präorganisierte, auto-
nome Reaktion durch die Etablierung erfahrungsabhängiger
Reaktionsmuster nicht abgelöst, wie wir alle beim Er-
schrecken über ein Objekt merken, das gerade über uns im
Fallen begriffen ist. Wir springen sofort zur Seite, um dem
Ding zu entgehen – auch wenn sich gleich darauf heraus-
stellt, daß es sich nicht um einen Stein oder einen Blumen-
topf, sondern um einen völlig ungefährlichen trockenen
Schwamm oder sogar nur um einen Schatten gehandelt hat.
Das präorganisierte Reaktionsmuster ist also durchaus noch
in Kraft – und an Ihrem Herzklopfen merken Sie, daß Sie
sich für einen kurzen Augenblick tatsächlich in Gefahr ge-
fühlt haben. Wozu, könnte man nun fragen, dient die Beibe-
haltung des unflexiblen, voreingestellten Reaktionsmusters
auf bestimmte Auslösereize, wenn wir doch über eine sou-
veräne, erfahrungsbasierte Bewertungsmöglichkeit der Si-
tuation verfügen? Weil es wiederum einen Überlebensvorteil
darstellt, wenn man sich zwar gelegentlich völlig überflüssi-
gerweise zu Tode erschreckt, zur Seite springt oder sich
duckt, einem dafür aber im Fall der Fälle der Blumentopf
nicht auf den Kopf fällt.
Joseph LeDoux hat auf der Basis von umfangreichen Tierver-
suchen herausgefunden, wieso es möglich ist, daß beide,
primäre und sekundäre Reaktionsweisen in Gang gesetzt
werden, und ist zu den folgenden Befunden gekommen: Bei
der Verarbeitung emotionaler Reize spielt die Amygdala, ein
mandelgroßes Organ in zentraler Position des Gehirns, eine
zentrale Rolle.

116
Abb. 12: Für die Verarbeitung von emotionalen Gedächtnis-
inhalten wichtige Hirnregionen (modifiziert nach Squire &
Kandel 1999, S. 181).

Sie gilt als wichtige Schaltstelle «für die emotionale Färbung


von Wahrgenommenem und für die Verarbeitung von emo-
tionalen Gedächtnisinhalten» (s. Abb. 13).130
Die Amygdala steuert die Abwehrreaktionen des Körpers in
gefahrvollen oder auch in nur scheinbar gefahrvollen Situa-
tionen. Durch ihre Aktivierung kommt es zur Ausschüttung
von Hormonen. Werden Streßhormone ausgeschüttet, wer-
den unter anderem die Muskelanspannung und die Herzfre-
quenz gesteigert; die Ausschüttung hemmender Hormone
sorgt dafür, daß zum Beispiel eine Starrereaktion eintritt. Die
Amygdala empfängt Signale vom Thalamus, einer zentralen
Instanz für die Weiterverarbeitung von Reizen, die von den
Sinnesorganen kommen. LeDoux hat herausgefunden, daß
der Thalamus seine Signale nicht nur auf direktem Weg an die
Amygdala weitergibt, sondern sie zugleich auf einer Art Um-
leitung auch in den sensorischen Kortex schickt, in dem die
höheren Gehirnfunktionen ablaufen und Vorgänge des be-

117
Abb. 13: Die Amygdala als zentrales Organ für die Verarbei-
tung von emotionalen Reizen (vereinfacht nach LeDoux
1996, S. 174).

wußten Wahrnehmens, des Abrufs von Erinnerungen etc.


stattfinden. Vom sensorischen Kortex aus wird das vom Tha-
lamus empfangene Signal dann wiederum an die Amygdala
weitergegeben, die auf diese Weise – mit einer kurzen zeitli-
chen Verzögerung – nach dem ersten direkten Alarmsignal
ein zweites, sozusagen schon geprüftes Signal über denselben
Auslösereiz erhält. LeDoux nennt den schnellen, direkten
Weg vom Thalamus zur Amygdala den niederen und den
langsameren, indirekten Weg über den Kortex den hohen
Weg (s. Abb. 14).
Die Funktion dieser Parallelaktion der einbezogenen Organe
beschreibt LeDoux so: «Die direkte Bahn vom Thalamus zur
Amygdala ist ein kürzerer und deshalb schnellerer Übertra-
gungsweg als die Bahn vom Thalamus über die Rinde [den
Kortex, H.W.] zur Amygdala. Sie kann aber, da sie die Rinde
ausläßt, nicht von der kortikalen Verarbeitung profitieren.
Deshalb kann sie der Amygdala nur eine grobe Repräsenta-
tion des Reizes liefern. Sie ist daher eine schnelle und unge-
naue Verarbeitungsbahn. Dank der direkten Bahn können
wir auf potentiell gefährliche Reize schon reagieren, bevor
wir uns über den Reiz ein vollständiges Bild gemacht haben.
In gefährlichen Situationen kann das sehr nützlich sein. Der

118
Nutzen hängt jedoch davon ab, daß die kortikale Bahn die di-
rekte Bahn korrigieren kann.»131 Der Zeitunterschied in der
Signalverarbeitung zwischen niederem und hohem Weg liegt
bei Ratten bei etwa 12 Millisekunden, bei Menschen vermut-
lich doppelt so hoch – was in einer gefährlichen Situation
schon ein entscheidender Moment sein kann. Der Preis für
diesen Gewinn an Reaktionszeit ist eben, daß man sich gele-
gentlich ganz umsonst erschreckt.
Die Amygdala spielt also eine zentrale Rolle bei der Verarbei-
tung emotionaler Reize, aber sie erhält Informationen nicht
nur vom Thalamus und vom sensorischen Kortex, sondern
auch vom Hippocampus, einem für die langfristige Speiche-
rung und Konsolidierung von expliziten Gedächtnisinhalten
wichtigen Gehirnorgan. Von hier aus werden der Amygdala
Informationen gegeben, die nicht unmittelbar mit dem gege-
benen sensorischen Reiz zu tun haben, sondern so etwas wie
allgemeines Wissen über den Kontext der Situation, ihre Be-
deutung (Gefahr/keine Gefahr) usw. enthalten. Daneben be-
kommt die Amygdala auch Inputs von der rhinalen oder

Abb. 14: «Niederer Weg» und «hoher Weg» bei der Verarbei-
tung von emotionalen Reizen (LeDoux 1996, S. 175).

119
Übergangsrinde, die ebenfalls an der Speicherung und am
Abruf von Erinnerungen beteiligt ist, und von der präfronta-
len Rinde, die wahrscheinlich am Prozeß der Löschung von
Informationen beteiligt ist, die für den Reaktionsbildungs-
prozeß nicht funktional sind.
Die Amygdala ist also offensichtlich das Zentralorgan für die
Verarbeitung emotionaler Reize und der mit ihnen zusam-
menhängenden Merkmale und Kontexte der auslösenden Si-
tuation. «Es ist im Grunde die Amygdala, die die emotionale
Bedeutung bewertet. Wenn auslösende Reize etwas auslösen,
dann hier.»132
Fassen wir kurz zusammen: Das Auftreten emotionaler Reak-
tionen ist unmittelbar gekoppelt an Auslösereize, auf die der
Organismus, genauer, das für die Reizverarbeitung zustän-
dige Gehirnsystem autonom reagiert, indem es die für die
angemessene Antwort notwendigen biochemischen und elek-
trophysiologischen Vorgänge auslöst. Diese autonomen Ab-
wehrreaktionen sind evolutionär sehr alt und werden bei Tie-
ren wie bei Menschen ausgelöst. Das Vorhandensein kortika-
ler Verarbeitungssysteme läßt neben autonomen Reaktionen
gleichzeitig erfahrungsabhängige Reaktionsweisen zu; wenn
sie so weitreichend und differenziert wie beim Menschen
sind, kann nicht nur eine emotionale Reaktion erfolgen, son-
dern diese kann bewußt wahrgenommen werden – deshalb
können wir Furcht, Ekel, Freude usw. bewußt empfinden
und als wahrnehmbaren Teil unserer Befindlichkeit in das Be-
wußtsein unseres Selbst inkorporieren. Emotionale Empfin-
dungen sind erfahrungsabhängig und variabel – der Umgang
mit gefährdenden oder verlockenden Auslösereizen bleibt
nicht auf die autonome Reaktion beschränkt, sondern ist of-
fen für individuelle, soziale und kulturelle Formung, weshalb
vielleicht die Furchtreaktion an sich transkulturell und über-
historisch identisch sein mag, nicht aber die damit verbun-
dene Empfindung, ihr Ausdruck und ihre Verarbeitung.
Bei aller sozialer und kultureller Beeinflussung der emotiona-
len Empfindung und der daraus folgenden Verarbeitungen und
Handlungen bleibt aber ein ganz zentraler Aspekt festzuhalten:

120
daß auch bewußte emotionale Empfindungen grundsätzlich
und immer einen körperlichen Bezug haben. Es gibt keine
emotionale Empfindung, die rein geistig und körperlos wäre.
Wenn nun Emotionen den Status haben, die Bedeutung von Er-
eignissen zu bewerten, heißt das, daß unsere Einschätzungen
von Situationen, in denen wir uns befinden, und die Abschät-
zungen der Handlungsfolgen, die daraus resultieren, keineswegs
rein kognitive Vorgänge sind, sondern daß sie immer auch einen
emotionalen Index haben. Wir handeln, um eine beliebte Me-
tapher aus der Ökoszene zu verwenden, tatsächlich immer zu
einem gewissen Teil «aus dem Bauch», auch wenn wir glauben,
kühle und rational abgewogene Entscheidungen zu treffen, die
scheinbar auf der rein intellektuellen Abwägung gegebener Tat-
sachen beruhen.
Diese Überlegungen werden durch Befunde an Patienten be-
stätigt, bei denen die Amygdala beschädigt ist. Wie anhand
zahlreicher Fallbeschreibungen nachgewiesen worden ist,
sind solche Patienten nach wie vor in der Lage, kognitive
Operationen durchzuführen; ihre Intelligenz ist, jedenfalls
nach den gängigen Testkriterien, unbeeinträchtigt, genauso
wie ihre anterograden und retrograden Gedächtnisleistungen.
Nur eines können diese Patienten nicht mehr so gut wie ge-
sunde Personen: Emotionen empfinden. Die damit einherge-
henden Einschränkungen beziehen sich aber nicht nur auf so
vergleichsweise harmlose Folgen wie bei jenem Patienten,
der aufgehört hat, sich den «Playboy» zu kaufen, weil er beim
Betrachten der nackten Mädchen nichts Besonderes mehr
empfindet,133 sie beziehen sich auch auf eine graduell unter-
schiedliche Einschränkung bei der richtigen Zuordnung von
Gesichtsausdrücken anderer Personen – die Patienten können
nicht mehr zuverlässig bewerten, ob ihr Gegenüber Freude
oder Zorn, Mißtrauen oder Zufriedenheit zum Ausdruck
bringt. Der Ausfall einer zuverlässigen Bewertungsinstanz für
soziale Reize führt auch dazu, daß so etwas wie eine spontane
Risikoabschätzung unmöglich ist – ein unter einer Amygda-
laschädigung leidender Patient wird also am Gebaren eines
Gebrauchtwagenverkäufers nicht ablesen können, ob er es

121
mit einem guten Geschäft zu tun hat oder mit einem, von
dem man besser die Finger läßt. Daß diese Beschränkung aber
insgesamt gravierendere Folgen für das eigene soziale und
kommunikative Verhalten nach sich zieht als einen ärgerli-
chen Fehlgriff beim Autokauf, dürfte nicht überraschen: Die
Patienten werden denn auch, bei aller Normalität ihrer Fähig-
keiten und Umgangsformen, als merkwürdig neutral im Aus-
druck und im kommunikativen Verhalten beschrieben, und
erstaunlicherweise können solche Patienten auf einer Art le-
xikalischen Ebene «wissen», wie Freude und Trauer aussehen,
aber sie können sie weder selbst empfinden noch anderen si-
cher zuschreiben.
Wie bereits erwähnt, steht die Amygdala in beständiger
Wechselwirkung mit anderen Gehirnorganen, unter anderem
mit dem präfrontalen Kortex. Ein auf den ersten Blick eher
harmloser Funktionsausfall an einer Stelle des emotionserzeu-
genden und -verarbeitenden Systems kann, wie der folgende
Fall eines Patienten mit präfrontaler Schädigung zeigt, ver-
heerende Folgen haben: Denn wenn man weder die emotio-
nalen Signale der anderen interpretieren noch sich selbst
einen Reim darauf machen kann, der eine eigene Empfin-
dung auslöst, muß das Verhalten erstens in einem sehr kon-
kreten Sinn asozial erscheinen (und sein), und zweitens geht
darüber hinaus, und das ist vielleicht noch überraschender,
die Fähigkeit verloren, Entscheidungen selbst über vergleichs-
weise simple Alltagsprobleme zu fällen. Ein von Damasio be-
schriebener Fall illustriert das paradoxe Zusammenspiel von
kognitiv erhaltener Alltagskompetenz und emotional schwer
eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit eindrücklich. Hier
geht es um einen Patienten, der an einem eisglatten Wintertag
Damasios Institut mit dem Auto ansteuerte. Heil angekom-
men, berichtete er auf Damasios besorgte Frage, wie die Fahrt
gewesen sei, «völlig unbeteiligt», daß er seine Fahrweise eben
der spiegelglatten Straße angepaßt habe, daß vor ihm aber
eine Frau mit ihrem Wagen ins Schleudern geraten und im
Graben gelandet sei. Der Patient ließ sich davon nicht aus der
Ruhe bringen und steuerte sein Fahrzeug gelassen an der Un-

122
fallstelle vorbei zum Institut. Am nächsten Tag wurden mit
demselben Patienten Terminabsprachen getroffen; dabei stan-
den zwei Termine zur Auswahl, die nur wenige Tage ausein-
anderlagen. Vor die Wahl gestellt, zählte der Patient «fast eine
halbe Stunde lang» unter Zuhilfenahme seines Terminkalen-
ders das Für und Wider der jeweiligen Termine auf: «Vorange-
hende Verabredungen, die zeitliche Nähe anderer Verabre-
dungen, mögliche Wetterverhältnisse: praktisch alles, was man
bei einer so simplen Frage berücksichtigen kann. Mit der
gleichen Ruhe, die er auf dem Glatteis und bei der Erzählung
von diesem Vorfall bewiesen hatte, zwang er uns, nun einer
ermüdenden Kosten-Nutzen-Analyse zu folgen, einer endlo-
sen Aufzählung und einem überflüssigen Vergleich von Op-
tionen und möglichen Konsequenzen. Wir mußten uns sehr
beherrschen, um uns all das anzuhören, ohne mit der Faust
auf den Tisch zu schlagen und ihm zu sagen, er solle nun end-
lich zu einem Entschluß kommen. Schließlich teilten wir ihm
ganz ruhig mit, daß er zum zweiten der beiden vorgeschla-
genen Termine zu erscheinen habe. Seine Reaktion war
ebenso ruhig wie prompt. Er sagte einfach: ‹In Ordnung.› Mit
diesen Worten steckte er den Terminkalender in die Tasche
und war fort.»134
Damasio merkt ironisch an, daß ein Beispiel wie dieses deut-
lich die Grenzen der reinen Vernunft zeige. In der Tat scheint
diesem Patienten ja ein Kriterium zu fehlen, das ihm im Uni-
versum der guten Gründe, die für diese oder jene Entschei-
dung sprechen, irgendwo einen Halt finden ließe. Dabei
scheint das, was ihn in der beschriebenen Glatteis-Situation,
die in jedem von uns eine emotionale Reaktion ausgelöst
hätte (die vielleicht dazu geführt hätte, daß wir hinter dem
schleudernden Wagen auf die Bremse getreten hätten und
ebenfalls im Straßengraben gelandet wären), ganz kaltblütig
und gelassen hat reagieren lassen, im Fall einer simplen All-
tagsentscheidung enorm zu behindern: der fehlende Selbst-
bezug in seinen Wahrnehmungen, Interpretationen und
Handlungen, der offenbar ohne Emotionen nicht herstellbar
ist.

123
Offensichtlich scheint es selbst bei so scheinbar einfachen
Operationen wie einer Terminabsprache prinzipiell so viele
Optionen zu geben, daß es eine beträchtliche Zeit dauert, bis
man begründet eine davon auswählen kann – falls überhaupt
jemals. Die Folge ist eine weitgehende Handlungsunfähig-
keit, wenn keine Intervention von außen erfolgt. Was dem
Patienten fehlt, ist offenbar ein intuitives Kriterium für seine
Entscheidung – was nämlich den einen Termin für ihn besser
macht als den anderen. Die reine Vernunft hilft vielleicht bei
abstrakten logischen Operationen, zu einem Schluß zu kom-
men, nicht aber in der von vielen kontingenten Faktoren ab-
hängigen, eher unlogischen Alltagspraxis.
Das, was dem beschriebenen Patienten aufgrund seiner Ge-
hirnschädigung fehlt, nennt Damasio einen «somatischen
Marker» – und das ist zunächst einmal nicht mehr als eine
mehr oder minder bewußtseinsfähige körperliche Reaktion,
wenn wir mit einem Reiz konfrontiert sind, der eine Re-
aktion erfordert. Damasio zufolge übernehmen somatische
Marker eine entscheidende, wenn auch weitgehend unbe-
merkte Rolle in unserem Alltagshandeln: Wie wir uns verhal-
ten, wenn wir einen entfernten Bekannten auf der Straße
treffen, zu welcher Entscheidung wir in einer Konfliktsitua-
tion mit einer Politesse kommen, wie wir uns dafür entschei-
den, welches Produkt wir kaufen, hängt im Kern vom Signal
des somatischen Markers ab. Das heißt nicht, daß unser Ver-
halten von ihm determiniert wäre – schließlich kann man sich
auch «gegen sein Gefühl» entscheiden (was meist die Ent-
scheidungen sind, die man hinterher bereut) –, es heißt nur,
daß wir in der Regel keine rein kognitiven Operationen vor-
nehmen, daß also unser Geist keine Entscheidung fällt, ohne
eine körperliche Information dabei berücksichtigt zu haben.
Damasios Begründungen dafür sind einigermaßen komplex,
und ich werde mich bemühen, sie trotzdem einfach und kurz
darzustellen. Sein Ausgangspunkt besteht in der plausiblen An-
nahme, daß die meisten Entscheidungen, die Menschen in
ihrem Leben zu fällen haben, aufgrund der Komplexität und
Interdependenz des sozialen Lebens eine solche Fülle von in-

124
tervenierenden Faktoren beinhalten, daß man unendlich viel
Zeit dafür benötigen würde, um diese Faktoren aufzulisten, sie
gegeneinander abzuwägen, diese oder jene hypothetische
Handlungsfolge zu antizipieren, solche Folgeabschätzungen
auf die zuvor aufgestellten Alternativen zurückzubeziehen usw.
– kurz, man würde (wie der Patient mit seinem Terminkalen-
der) nie zu Potte kommen. Nun ist die Praxis der unendlichen
Abwägung (außer in Universitätsgremien) zum Glück auch
wenig verbreitet, und das liegt offenbar daran, daß etwas ge-
schieht, noch bevor die tendenziell unendliche Kette der Er-
wägungen in Gang gesetzt wird. Bevor nämlich der Abwä-
gungsprozeß startet, so Damasio, verfügen wir bereits über ein
Vorstellungsbild135 vom möglichen Ergebnis, und dieses Vor-
stellungsbild erzeugt einen somatischen Zustand – eben das,
was Damasio als «Marker» bezeichnet. Dieser Marker lenkt die
Aufmerksamkeit, je nachdem, auf die möglichen positiven
oder negativen Handlungsfolgen, wirkt also entweder als
Alarm- oder Startsignal. Das heißt, der somatische Marker lie-
fert eine Information dafür, in welche Richtung der Entschei-
dungsprozeß laufen sollte, und zwar ganz unabhängig davon,
ob er dann eine Reihe logischer Erwägungen nach sich zieht
oder direkt zu einer spontanen Entscheidung führt.
Somatische Marker wirken in Damasios Worten als «Tendenz-
apparate», die eine Art Vorhersage von Handlungsfolgen er-
möglichen, bevor ein Vorgang der genauen Einzelprüfung er-
folgt. Somatische Marker erleichtern also den Prozeß der
Durchmusterung möglicher Szenarien, «weil sie automatisch
jene Elemente der Szenarien kennzeichnen, die mit einer ge-
wissen Wahrscheinlichkeit relevant sind. Es dürfte deutlich
geworden sein, daß zwischen den sogenannten kognitiven
Prozessen und den Prozessen, die gemeinhin als ‹emotional›
bezeichnet werden, eine enge Partnerschaft besteht.»136
Somatische Marker ermöglichen Vorsortierungen von Hand-
lungsmöglichkeiten nach körperlichen Indizes. Damasio führt
diese faszinierende (und einstweilen hypothetische) Funktion
auf den Umstand zurück, daß in dem neuronalen Mechanis-
mus, der die primären Emotionen hervorbringt, Situationen

125
mit adaptiven somatischen Reaktionen verknüpft sind. Im Fall
der sekundären Emotionen liegt darüber hinaus ein Vorgang
der Verknüpfung von Reizen und somatischen Zuständen vor,
in dem Erfahrungen, die durch soziales Lernen etabliert wor-
den sind, eine moderierende Rolle spielen – weshalb hier sozial
und kulturell geformte emotionale Reaktionen in Verbindung
mit somatischen Zuständen auftreten, die als solche wiederum
in das Ensemble der gemachten Erfahrungen, das heißt: in das
Selbst eingehen.
In diesem Sinn werden somatische Marker in einem gewissen
Grad durch Erfahrung erworben. «Dabei sind sie der Kon-
trolle eines internen Referenzsystems unterworfen und dem
Einfluß äußerer Umstände ausgesetzt, wozu nicht nur Ob-
jekte und Ereignisse gehören, mit denen der Organismus in-
teragieren muß, sondern auch soziale Konventionen und Re-
geln.»137 Und die wiederum werden in jenen Prozessen der
sozialisatorischen Interaktion erworben, die ich im vorigen
Kapitel beschrieben habe. Auch aus dieser Perspektive be-
trachtet, haben wir es also mit einem Bildungsprozeß zu tun,
in dem die Organisation organischer Vorgänge unter dem
Einfluß sozialer Praxis verläuft – die Wechselwirkung zwi-
schen dem internen Reaktionssystem und äußeren Ein-
flußfaktoren erweitert sukzessive «das Repertoire der Reize,
die automatisch markiert werden».138 Somatische Marker sind
also bio-psycho-soziale Erzeugnisse, und das bedeutet, daß sie
nicht statisch sind, sondern sich wahrscheinlich lebenslang
entwickeln. Das wichtigste neuronale System für die Etablie-
rung der somatischen Marker ist Damasio zufolge der prä-
frontale Kortex, der erstens Signale über die sensorischen
Areale des Kortex von den Sinnesorganen empfängt und
zweitens Signale, die von den wichtigsten bioregulatorischen
Formationen des Gehirns kommen, unter anderem von der
Amygdala und vom Hypothalamus. Der präfrontale Kortex
wird auf diese Weise zum zentralen Bewertungssystem für die
Abstimmung zwischen dem Organismus und seiner Umwelt
und als solcher zum Bestandteil von Denken und Entschei-
den, letztlich also von Bewußtsein.139

126
Soweit, wie gesagt in grober Vereinfachung, die Hypothese
der somatischen Marker, die Damasio weit ausführlicher und
auf der Basis zahlreicher neurologischer Befunde entwickelt.
Diese Hypothese liefert einen nachvollziehbaren Erklärungs-
ansatz für das uns allen bekannte Phänomen des intuitiven
Handelns, das uns das Gefühl einer selbstverständlichen
Richtigkeit von Entscheidungen gibt, ohne daß wir genauer
begründen könnten, weshalb wir diese Entscheidungen für
richtig halten. Wieso ein solcher bio-psycho-sozialer Wun-
derapparat aber nicht nur das Leben erleichtert, sondern zu-
gleich den Kern für die Erklärung der Bewußtseinsentstehung
enthält, hat Damasio in einem zweiten Schritt dargelegt, in
einem Buch, das programmatisch den Untertitel «Body and
emotion in the making of consciousness» trägt.140
Auch hier geht Damasio davon aus, daß Emotionen
grundsätzlich drei Dimensionen haben: daß sie als Reaktions-
muster vorhanden sind, daß dieses Muster gefühlt werden
kann und daß die Empfindung dieses Gefühls bewußt sein
kann. Was bedeutet es aber, daß die Emotion gefühlt werden
kann, wenn der betreffende Organismus kein Bewußtsein
hat? Eine grundlegende Voraussetzung besteht in einer Fähig-
keit, die nur Gehirnzellen haben: Während Zellen anderer
Organe ihre Arbeit tun, können Gehirnzellen bzw. die asso-
ziativen Netze, die sie bilden, repräsentieren, was die anderen
Zellen machen und in welchem Zustand sich die Organe be-
finden, zu denen sie gehören. Nach Damasios Auffassung
heißt das, daß das Gehirn prinzipiell als eine Art Überwa-
chungssystem operiert, das permanent Rückmeldungen von
den Sinnesorganen und aus dem Körperinneren über den Zu-
stand des Organismus erhält und auf der Grundlage dieser
Dauerüberwachung jene adaptiven Prozesse einleitet, die für
die Aufrechterhaltung eines optimalen Körperzustands erfor-
derlich sind. Das Funktionieren dieser Überwachung setzt
voraus, daß das Gehirn über eine Repräsentation des Körpers
verfügen muß, daß es also die unterschiedlichen Einzelpro-
zesse, Subsysteme, Funktionsabläufe des Organismus, die es
überwacht und von denen es selbst ein Teil ist, auf eine En-

127
tität beziehen kann, die klare Innen- und Außengrenzen auf-
weist – in gewisser Weise also auf so etwas wie ein Körper-
Selbst, das in bezug auf die und in Abgrenzung von der Um-
welt operiert.
Eine solche Repräsentation erzeugt natürlich noch kein Be-
wußtsein, und die Funktion des Generalbevollmächtigten für
den Zustand des Organismus können auch weit primitivere
Gehirne als die des Menschen wahrnehmen. Aber Damasio
ist der Auffassung, daß das Gehirn seine Aufgabe der Aufrecht-
erhaltung der überlebensnotwendigen Funktionen des Or-
ganismus in der Adaptierung an eine sich verändernde Um-
welt nur leisten kann, wenn ebendieser Organismus in ihm
selbst repräsentiert ist – und diese Repräsentation nennt er
Kern-Bewußtsein (core-consciousness). Die weit höheren
Funktionen, die etwas mit dem Empfinden einer Emotion
beziehungsweise mit dem Wissen zu tun haben, daß man et-
was Bestimmtes empfindet, nennt er erweitertes Bewußtsein
(extended consciousness).
Und wieder muß darauf hingewiesen werden, daß die eine
Form des Bewußtseins die andere nicht ablöst: Das Kern-Be-
wußtsein bleibt auch dann erhalten, wenn die Organisations-
stufe und Ausstattung des Gehirns erweitertes Bewußtsein
zuläßt. Letzteres wäre auch überhaupt nicht imstande, all die
Steuerungs- und Überwachungsfunktionen wahrzuneh-
men, die das neuronale System ja in einer solchen Komple-
xität abspult, daß es wahrscheinlich noch einige Jahrzehnte
dauern wird, bis wir ansatzweise überhaupt nur verstehen,
was da alles vor sich geht. Nein, die Vorgänge, die sich auf
das Kern-Bewußtsein beziehen, laufen autonom ab und
können – ähnlich wie das Funktionieren primärer Emotio-
nen – nicht gewußt werden. Das erweiterte Bewußtsein
freilich ist ein Produkt der sekundären, erfahrungsabhängi-
gen Formung des Reagierens auf innere und äußere Reize –
hier werden, wie gesagt, Situationen mit adaptiven Reaktio-
nen des Körpers zusammengebracht, die erfahrungsabhängig,
also sozial und kulturell geformt, sind. Sekundäre Emotionen
unterliegen in dreifacher Hinsicht sozialen und kulturellen

128
Einflüssen: Erstens sind die Auslöser der Gefühle bei den
meisten Entscheidungen, die man zu treffen hat, sozialer
Natur, zweitens ist der jeweilige Ausdruck einer sekundären
Emotion – wie Sie ein Gefühl von Unsicherheit, Dissonanz
oder Befriedigung empfinden und zum Ausdruck bringen –
sozial und kulturell variabel (was sich deutlich an den vielfäl-
tigen Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation
zeigt), und drittens schließlich unterliegt sowohl die kogni-
tive Einschätzung, mit welchem Handlungsproblem man es
zu tun hat, wie auch die Handlung, die man aufgrund dieser
Einschätzung vollzieht, Normen, Konventionen, Habituali-
sierungen, Regeln – kurz: kulturellen Prägungen, die oft so
selbstverständlich sind, daß ihre Existenz gar nicht wahrge-
nommen wird. Die Inkorporierung von sozial und kulturell
geformten Erfahrungen in das Reaktionssystem des Orga-
nismus ist freilich noch keine hinreichende Bedingung für
das Vorliegen von Bewußtsein: Hierfür ist die Fähigkeit not-
wendig, Informationen selbstbezogen zu verarbeiten – und
dies wiederum wird ermöglicht durch das Zusammenspiel
von Kernbewußtsein und erweitertem Bewußtsein. Wäh-
rend das Kern-Bewußtsein die unmittelbare Repräsentation
des Organismus im Akt der Handlung liefert – analog dem
emergenten Moment von Daniel Stern oder dem «I» von
George Herbert Mead –, enthält das entwickelte Bewußtsein
schon ein Erfahrungsensemble von Situationen und adapti-
ven Reaktionen des Organismus (Schemata im Sinne Sterns
bzw. «me» im Sinne Meads). Wenn in der Entwicklung des
Individuums die Phase des Spracherwerbs einsetzt, können
solche Erfahrungen in den Stand einer bewußten und kom-
munizierbaren Repräsentation gehoben werden. Dann ha-
ben wir es nicht mehr mit einem Organismus zu tun, dem
dieses und jenes widerfährt, was in ihm repräsentiert wird,
sondern mit einem emergenten Selbst, das Schmerzen und
Lust empfindet, die ihm zugefügt werden. Erst die Interak-
tion von überwachtem Körperzustand und erfahrungsba-
sierter Reaktionsbildung auf Reize erzeugt die Möglichkeit
für die Entwicklung eines autobiographischen Selbst – ein

129
Abb. 15: Schema der Funktionssysteme des autobiographi-
schen Gedächtnisses.

Ich mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, das auf der
Basis eines physiopsychologischen Kern-Bewußtseins han-
delt, das ihm beständig übermittelt, was ihm guttut.
Soweit Damasios Konzeption, die – mag sie nun eine viel-
versprechende Theorie der Bewußtseinsentstehung liefern
oder nicht – für unseren Zusammenhang wichtig ist, weil sie
die Bedeutung von (permanent übermittelten) körperlichen
Zustandsbildern und von Emotionen für das Handeln des
Selbst hervorhebt. Das autobiographische Gedächtnis dieses
Selbst ist damit immer auch ein körperliches und emotiona-
les Gedächtnis. Wenn wir diesen Befund auf die Nomenkla-
tur der Gedächtnissysteme zurückbeziehen, die im zweiten
Kapitel dargestellt wurde, wird noch einmal deutlich, daß
wir ein autobiographisches Gedächtnissystem nicht als Spe-
zialfall des episodischen Gedächtnisses verstehen können,
sondern es als ein übergeordnetes System betrachten müssen,
das sich im Wechselspiel von episodischen, semantischen,
prozeduralen und priming-Gedächtnisfunktionen heraus-
bildet und erhält. Mein Vorschlag geht also dahin, das im
zweiten Kapitel vorgestellte neurowissenschaftliche Modell
der vier Gedächtnissysteme durch ein Modell von unter-
scheidbaren, wechselwirkenden Funktionssystemen des Ge-
dächtnisses zu ersetzen, die durch das autobiographische Ge-
dächtnis organisiert werden (s. Abb. 15).

130
Dieser Vorschlag ist erstens mit Damasios Idee kongruent, daß
wir – ob bewußt oder unbewußt – immer vor dem Hinter-
grund eines Kern-Bewußtseins handeln, das unseren Körper-
zustand repräsentiert, und stimmt zweitens mit den entwick-
lungspsychologischen Befunden aus dem vorangegangenen
Kapitel überein, das von einem multimodalen Entwicklungs-
modell der Gedächtnisbildung ausging und nicht von einer
hierarchischen Struktur sich aufschichtender Gedächtnis-
systeme – multimodal deshalb, weil die Erfahrungen und
Reize, mit denen das emergente Selbst sich auseinandersetzt,
ihrerseits multimodal sind und als solche verarbeitet werden.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Rolle, die Emo-
tionen für das Gedächtnis spielen. Wir hatten gesehen, daß
Emotionen die zentralen Bewertungsoperatoren für unsere
Erfahrungen sind – sie sagen uns, was gut oder schlecht für
uns ist bzw. sein wird, und deshalb sind sie für unser Alltags-
handeln so unverzichtbar wie für den Aufbau und die Auf-
rechterhaltung von Freundschafts-, Liebes- und natürlich
Verwandtschaftsbeziehungen. Da sie im Kern das Selbst aus-
machen, sind sie auch für das Vermögen unverzichtbar, die
Vergangenheit zu interpretieren (und dabei das Unwichtige
vom Wichtigen zu trennen) und Orientierungen für die Zu-
kunft zu entwickeln. Wir können aber noch etwas genauer
aufschlüsseln, was unter emotionaler Erinnerung zu verste-
hen ist.
Ein klassischer Fall zu diesem Thema stammt aus der Zeit der
Jahrhundertwende. Es geht hier um eine Patientin des franzö-
sischen Arztes Eduard Claparéde, die keinerlei Fähigkeit
mehr besaß, neue Erinnerungen zu bilden, und beispielsweise
ihren Arzt schon dann nicht mehr wiedererkannte, wenn die-
ser zwischenzeitlich nur für ein paar Minuten ihr Zimmer
verlassen hatte. Claparéde kam auf die Idee, der Patientin zur
Begrüßung nicht wie üblich die bloße Hand hinzustrecken,
sondern eine, in der eine Heftzwecke verborgen war, an der
die Patientin sich beim Händedruck denn auch heftig stach.
Zwar konnte sie sich auch bei Claparédes nächstem Besuch in
keiner Weise daran erinnern, wer dieser Herr war und was er

131
von ihr wollte, aber sie weigerte sich, seine Hand zu schüt-
teln. Einen Grund dafür wußte sie nicht anzugeben. Le-
Doux, der diese Episode beschreibt, schließt daraus, daß die
Patientin eine unbewußte Erinnerung mit einer emotiona-
len Bedeutung gebildet hatte: Sie «konnte sich zwar nicht
bewußt an die Situation erinnern, doch unbewußt hatte sie
gelernt, daß es ihr weh tun konnte, wenn sie Claparédes
Hand schüttelte, und ihr Gehirn benutzte diese gespeicherte
Information, um einer Wiederholung des unangenehmen Er-
lebnisses auszuweichen».141
Die Patientin hatte zwar keine explizite Erinnerung an den
Schmerz gebildet, konnte sich aber auf der Ebene des implizi-
ten Gedächtnissystems an die vergangene Situation und ihre
Reaktion erinnern. Mit anderen Worten: Sie hatte ein Gefühl,
das auf irgendeine Weise mit Claparéde verbunden war, aber
dieses Gefühl konnte sie nicht empfinden. Die implizite Erin-
nerung ist direkt mit der Furcht verbunden, verletzt zu wer-
den, wenn das Ereignis ein weiteres Mal eintritt. Das heißt,
die Patientin verfügt über eine emotionale Erinnerung, ohne
daß sie sich dieser bewußt wäre. LeDoux leitet aus seinen
Überlegungen zu diesen und ähnlichen Fällen eine termino-
logische Unterscheidung ab: Implizite Erinnerung, sofern sie
emotional gefärbt ist, bezeichnet er als «emotionale Erinne-
rung», die explizite Erinnerung an ein emotional aufwühlen-
des Erlebnis dagegen als «Erinnerung an eine Emotion». Auch
hier ist von einer Interdependenz zwischen diesen unter-
schiedlichen Modi des Erinnerns und unterschiedlichen sy-
stemischen Eingebundenheiten auszugehen.
LeDoux definiert Emotion und Kognition «als getrennte,
aber miteinander wechselwirkende Funktionen, die durch
getrennte, miteinander wechselwirkende Hirnsysteme ver-
mittelt werden».142 Diese Definition resultiert aus den Unter-
schieden zwischen emotionalen und kognitiven Systemen der
Reizverarbeitung: Erstens lassen sich, wie beschrieben, Pati-
enten mit Hirnschädigungen beobachten, bei denen die
Systeme zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen in-
takt sind, aber die Fähigkeit verloren ist, diese Reize emotio-

132
nal zu bewerten. Zweitens wird (bei gesunden Personen) die
emotionale Bedeutung eines Objekts bewertet, «bevor die
Wahrnehmungssysteme den Reiz vollständig verarbeitet ha-
ben. Es kommt sogar vor, daß Ihr Gehirn weiß, ob etwas gut
oder schlecht ist, ehe es genau weiß, was dieses Etwas ist.»143
(Wir hatten bereits gesehen, daß äußere Reize auf zwei We-
gen zur Amygdala gelangen – auf einer direkten Bahn vom
Thalamus (sog. niederer Weg) und auf einer indirekten Bahn
vom Thalamus zur Hirnrinde und erst von dort zur Amygdala
(sog. hoher Weg)). Drittens unterscheiden sich die Systeme,
mit deren Hilfe Reize verarbeitet werden, je nachdem, ob es
um die emotionale Bedeutung von Reizen oder um kognitive
Erinnerungen an dieselben Reize geht. Werden die Systeme
der emotionalen Reizverarbeitung geschädigt, «so vermag ein
Reiz mit einer gelernten emotionalen Bedeutung keine emo-
tionale Reaktion mehr in uns hervorzurufen, während eine
Beschädigung [kognitiver Reizverarbeitungssysteme] unsere
Fähigkeit beeinträchtigt, uns zu erinnern, wo wir den Reiz
gesehen haben, warum wir dort waren und mit wem wir zu-
sammen waren.»144
Daneben lassen sich noch Unterschiede in der jeweiligen
Verbindung zu reaktionssteuernden Systemen identifizieren,
die im Fall der Emotionen direkt, im Fall der Kognitionen
indirekt sind – die kognitive Verarbeitung bietet mithin
mehr Flexibilität, wenn man will: mehr Entscheidungsspiel-
raum als die emotionale. Allerdings ist hierbei im Auge zu
behalten, daß emotionale Bewertungen von körperlichen
Empfindungen begleitet sind, «und wenn diese auftreten,
sind sie Bestandteil des bewußten Erlebens von Emotio-
nen».145 Ob dagegen körperliche Empfindungen im Zusam-
menhang mit reinen Kognitionen auftreten können, scheint
mehr als fraglich.
Diese grundlegenden Unterscheidungen zwischen kogniti-
ven und emotiven Systemen der Reizverarbeitung sind für
Fragen des kommunikativen Gedächtnisses wichtig, weil sich
offenbar neuroanatomisch belegen läßt, was man aus sozial-
psychologischer Sicht vermuten kann, wenn man es etwa mit

133
dem «Lernen aus der Vergangenheit» o. ä. zu tun hat: daß
Emotionen und Kognitionen auf unterschiedlichen Ebenen
des Bewußtseins wirksam sind und auf unterschiedliche
Weise handlungsleitend werden.146 LeDoux illustriert diesen
Befund mit dem Beispiel eines schweren Autounfalls, bei
dem die Hupe des Unfallautos nicht mehr zu hupen aufge-
hört hat. Wenn man als verletzter Insasse nach seiner glück-
lichen Wiederherstellung später einen ähnlich klingenden
Hupton hört, werden sowohl explizite als auch implizite Ge-
dächtnissysteme aktiviert: Der Hupton geht einerseits zur
Amygdala und löst dort die körperlichen Reaktionen aus, die
mit Gefahrensituationen verbunden sind: Muskelanspan-
nung, veränderten Blutdruck, beschleunigte Herzfrequenz,
erhöhte Transpiration usw. Sekundenbruchteile später wird
auch die explizite, episodische Erinnerung an den Unfall akti-
viert, und man erinnert sich an seine Umstände und daran, daß
der Unfall wirklich schrecklich war. Der Umstand aber, daß
der Unfall schrecklich war, ist keine emotionale Erinnerung,
sondern eine episodische Erinnerung an ein emotionales Er-
lebnis. Sie selbst hat nicht notwendig emotionale Konsequen-
zen.147
Im Arbeitsgedächtnis allerdings treffen explizite Erinnerun-
gen an emotionale Erlebnisse und implizite emotionale Erin-
nerungen zusammen: «Der Hupton öffnet über das implizite
emotionale Gedächtnissystem die Schleusen der emotionalen
Erregung und schaltet all die körperlichen Reaktionen ein,
die mit Furcht und Abwehr zusammenhängen.»148 Daraus re-
sultiert, daß die Tatsache, daß man erregt ist, selbst zum Be-
standteil des aktuellen Erlebens wird – d. h., der Prozeß des
Erinnerns selbst wird emotional getönt. Die Erinnerung an
die Emotion und die Erregung beim Erinnern «verschmelzen
nahtlos zum einheitlichen bewußten Erlebnis des Augen-
blicks»149 – was man sich übrigens auch an erfreulicheren Erin-
nerungen verdeutlichen kann: Beim Gefühl starker Verliebt-
heit etwa zeigt sich ja ein analoger Vorgang. Dieses Phänomen
ist äußerst bedeutsam für eine Theorie des kommunikativen
Gedächtnisses, denn es entstehen auf diese Weise immer neue

134
Erinnerungen an frühere Erinnerungen, die jeweils wieder
auf dieselbe oder auf eine modifizierte Weise emotional ge-
tönt sein können.
Erinnerung, so könnte man vor diesem Hintergrund formu-
lieren, ist immer das Geschehnis plus die Erinnerungen an
seine Erinnerung. Das gilt allerdings wiederum nur für die
selbstbezogenen, das heißt die emotional bewerteten Erinne-
rungen. Demgegenüber finden etwa bei rein kognitivem
Aufrufen von Wissensinhalten keine solchen Kumulierungen
statt.
Daneben fällt auch die Stabilität der Aufbewahrung emotiona-
ler Erinnerungen und Erinnerungen an emotionale Ereignisse
unterschiedlich aus. So können etwa die Details, die mit dem
besagten Autounfall zusammenhingen, verschwimmen, verän-
dert oder auch völlig vergessen werden, während der Hupton
nach wie vor in der Lage ist, eine – dann scheinbar unerklärli-
che – emotionale Reaktion auszulösen. Das emotionale Ge-
dächtnissystem ist als implizites Gedächtnissystem – wie oben
schon gesagt – weniger anfällig für Beschädigungen und Ent-
stellungen durch äußere Einflüsse oder durch das Altern des
sich Erinnernden; es ist, mit anderen Worten, weniger ver-
geßlich als das explizite Gedächtnissystem. Im Gegenteil kön-
nen Furchtreaktionen und Ängste, die mit traumatisierenden
Erfahrungen zusammenhängen, nicht nur weniger schnell
verblassen, sondern mit der Zeit sogar anwachsen – ein Phä-
nomen, das als «Inkubation der Furcht» bezeichnet wird.150
Wohlgemerkt: Die mit dem Ausgangsereignis verbundene
Reaktion wird stabil oder sogar übersteigert erinnert, nicht
aber die Konturen des Ereignisses selber, die vielfältige Über-
zeichnungen, Abweichungen oder völlige Neukonstruktio-
nen erfahren können. Dies alles legt den Schluß nahe, daß das
autobiographische Gedächtnis nicht nur ein «ungleichzeiti-
ges» Gedächtnis ist, in dem sich Erfahrungen aus ganz unter-
schiedlichen Lebensabschnitten überlagern und gemeinsam
aktivierbar sind, sondern auch, daß Inhalte aus der Vergan-
genheit emotional bedeutsam sind, ohne daß sie explizit ge-
wußt werden! Da die wesentlichen Phasen der ontogeneti-

135
schen Entwicklung von Menschen erfahrungsabhängig, das
heißt in Kommunikation mit anderen, ablaufen, muß diese
Kommunikation selbst emotional markiert sein, und sie ent-
hält auch dann noch eine emotionale (und damit somatische)
Spur, wenn die Ebene der Sprachkompetenz und repräsenta-
tionalen Erinnerung erreicht ist. Das kommunikative Ge-
dächtnis ist mithin ein emotionales Gedächtnis. Es bildet sich
in sozialen Austauschprozessen, die aus multimodalen Dialo-
gen bestehen.
Fassen wir zusammen: Emotionen sind die zentralen Opera-
toren, mit deren Hilfe wir Erfahrungen als gut, schlecht, neu-
tral usw. bewerten und entsprechend in unserem Gedächtnis
abspeichern. Autobiographische Gedächtnisinhalte können
nur selbstbezogene Inhalte sein, und diese sind ohne ein emo-
tionales Register nicht denkbar. Emotionen, Erinnerungen
an Emotionen und emotionale Erinnerungen haben immer
eine körperliche Signatur – insofern ist das autobiographische
Gedächtnis immer auch ein Gedächtnis, das auf unser Körper-
Selbst bezogen ist. Man könnte in diesem Sinne sagen, daß das
autobiographische Gedächtnis das bewußte Äquivalent zu je-
ner beständigen Überwachung des Körperzustands ist, die
Damasio als Kern-Bewußtsein bezeichnet. Und bemerkens-
werterweise werden in der Literatur zu Gedächtnisstörungen
immer wieder Fälle mit fast vollständigen Amnesien beschrie-
ben, bei denen das Gefühl, über ein autobiographisches Ich
zu verfügen, durchaus noch vorhanden zu sein scheint. Man
muß sich das vorstellen: Wenn keinerlei Vermögen mehr vor-
handen ist, Erlebnisse und Erfahrungen abzuspeichern und
erneut abzurufen, entsteht eine eigentümliche Situation von
Zeitlosigkeit, jeden Augenblick beginnt gewissermaßen das
Leben neu, alle Personen, die zur Tür hereinkommen, sieht
man zum ersten Mal, der Tag hat immer gerade erst begon-
nen. Und in diesem zeitenthobenen, orientierungslosen Raum
von Befindlichkeit gibt es doch eine Entität, auf die die un-
ablässige Erfahrung des immer Neuen bezogen wird, ein Ich,
das fühlt, daß ihm das alles widerfährt.
Ein Patient Schacters, der trotz seiner nahezu vollständigen

136
anterograden Amnesie nach wie vor ein guter Golfspieler ist,
kann sich schon kurz nach einem Spiel nicht mehr daran erin-
nern, was im einzelnen auf dem Parcours geschehen war, ja
oft nicht einmal daran, daß er wenige Minuten zuvor mit sei-
nem Arzt Golf gespielt hatte. Wenn Schacter ihn bei einem
Drink nach dem Spiel fragt, was er noch darüber weiß, ant-
wortet der Patient höchst allgemein: «Ich habe ein paar
Schläge ziemlich verhauen» oder «Ich hatte heute wirklich
Probleme beim Putten.»151 Aber auch wenn die gerade ge-
schehenen Ereignisse bereits in den Nebel des Vergessens ge-
sunken sind, ist es doch ein Ich, das hier spricht, und sogar ein
Ich, daß in seinen allgemein gehaltenen Formulierungen eine
beträchtliche Unsicherheit darüber zu erkennen gibt, daß es
sich eigentlich erinnern müßte, sich aber nicht erinnern
kann.
Ein 43jähriger deutscher amnestischer Patient notiert in sei-
nen Terminkalender «Diese Woche arbeite ich noch!»,152 und
das Tagebuch eines britischen Pianisten mit anterograder
Amnesie besteht aus einer endlosen, nahezu ununterbroche-
nen Aneinanderreihung der Feststellung «I am awake now!»
So erschütternd derlei Dokumente sind, so deutlich zeigen
sie auch, daß da jeweils noch ein autobiographisches Ich die
Zeilen füllt oder sich um Erinnerung bemüht. Selbstbezo-
genheit und Emotionalität bleiben bestehen, selbst wenn das
episodische Gedächtnis nicht oder nur mehr höchst rudi-
mentär existiert – was einmal mehr die Annahme untermau-
ert, daß das episodische Gedächtnis (ebenso wie die anderen
Gedächtnissysteme) eine Funktion des autobiographischen
Gedächtnisses ist.
VI. Fräulein Smillas Gespür für die
Gefühle der anderen. Über kulturelle
Rahmen und Schemata

«Er wirft mir ein schiefes Lächeln zu. Ich lächele zu-
rück. Wir sitzen da, trinken Kaffee und lächeln uns an. Wir
wissen, daß ich weiß, daß er lügt.
Ich erzähle ihm von Elsa Lübing. Von der Kryolithgesellschaft
Dänemark. Von dem Bericht, der in einer Plastiktüte vor uns
auf dem Tisch liegt.
Ich erzähle von Ravn. Der nicht genau dort arbeitet, wo er
arbeitet, sondern woanders.
Er starrt vor sich hin, während ich spreche. Mit hochgezoge-
nen Schultern, unbeweglich.
Es ist verborgen. Es liegt an der Außengrenze des Bewußt-
seins. Aber wir spüren beide, daß wir einen Tauschhandel
eingehen. Daß wir in tiefem, gegenseitigem Mißtrauen die
Informationen austauschen, die wir hergeben müssen, um et-
was dafür zu bekommen.»

Dieser kleine Ausschnitt aus Peter Høegs Roman «Fräulein


Smillas Gespür für Schnee» deutet an, wie viele Dialoge
gleichzeitig in jedem Augenblick eines Gesprächs ablaufen:
verbale Dialoge, die einen Inhalts- und einen Beziehungs-
aspekt, also eine kognitive und eine emotionale Dimension,
haben, körperliche Dialoge («Er starrt vor sich hin, während
ich spreche»), unausgesprochene Dialoge («Wir wissen, daß
ich weiß . . .») und – wie der Fortgang der Geschichte zeigt, in
der sich Smilla und «Er» ineinander verlieben – Dialoge auf
einer tieferen Schicht des unbewußten Austausches. Jedem
dieser Dialoge liegt selbst ein komplexes soziales Universum
zugrunde. «Wir wissen, daß ich weiß, daß er lügt» ist eine
Metareflexion über die Gestalt der Kommunikation selbst.

138
Mindestens einer der beiden Gesprächspartner lügt und weiß,
daß der andere weiß, daß er lügt. Auf genau dieser Basis wird
das Gespräch fortgesetzt – auf der Basis von Unausgesproche-
nem. Die wechselseitigen Beobachtungen des körperlichen
Ausdrucksverhaltens gehen als Daten in die Entscheidung für
die nächste Handlung ein. Was nicht gesagt wird, ist fühlbar,
«an der Außengrenze des Bewußtseins». Es existiert eine
emotionale Grundbefindlichkeit – Mißtrauen –, die die je-
weiligen Handlungsorientierungen bestimmt.
Wir haben hier, in einem literarischen Stückchen, all das
versammelt, was Damasio als Aspekte von Bewußtsein ge-
kennzeichnet hat: sekundäre Emotionen, körperliche Hinter-
grundempfindungen, kognitive Interpretationen, Ich-Bewußt-
sein, Erinnerungen, Informationen. Dieser multidimensionale
Raum ist es, in dem wir kommunizieren und Erfahrungen ma-
chen, die in das Gedächtnis eingehen, das unser Selbst bildet.
Vor diesem Hintergrund wird einmal mehr deutlich, was es
bedeutet, wenn, durch präfrontale Schädigungen oder Verlet-
zungen der Amygdala, keine emotionale Bewertung dessen, was
vor sich geht, erfolgen kann. Der Raum der Kommunikation
schrumpft auf die kognitiven Aspekte der Situation zusammen,
und es kann nicht mehr spontan, situationsflexibel und intuitiv
bewertet werden, was warum augenblicklich geschieht.
Nun haben wir es in Kommunikationen nie mit stillgestellten
Situationen zu tun, sondern mit sich permanent verändern-
den: Jeder der Beteiligten handelt auf seine Weise, nach Maß-
gabe der Interpretationen und Deutungen, die er in jedem
Augenblick vornimmt. Unablässig produzieren wir Sätze oder
Satzteile, deren erwartete Interpretation durch unser Gegen-
über schon Bestandteil ihrer Erzeugung ist (wie Umberto
Eco scharfsinnig bemerkt hat).153 Genau darin liegt, daß wir
selbst immer schon Teil der Handlungen unseres Gegenübers
sind und umgekehrt. Kommunikationstheoretische Modelle,
die Interaktionen nach Sender und Empfänger aufschlüsseln,
gehen an diesem grundlegend sozialen Charakter von Kom-
munikation vorbei: Das, was der eine Sprecher sagt, ist so sehr
ein gemeinsames soziales Produkt wie das, was der andere

139
sagt. Im Ergebnis ziehen beide Beteiligte unterschiedliche
Schlüsse aus dem gemeinsam hergestellten Geschehen, und
beide werden eine andere Erinnerung an die gemeinsame Si-
tuation haben – das liegt in den unterschiedlichen Standorten
begründet, von denen aus die beiden miteinander sprechen.
Dieser Perspektivenunterschied kann durch verschiedene
Interessen bestärkt werden; das Gespräch selbst kann für
beide Beteiligte einen ganz unterschiedlichen Stellenwert
haben. Wie verschieden aber die Individualisierung des ge-
meinsam Erlebten auch immer ausfällt: Das Verhalten des
einen Sprechers läßt sich nicht jenseits des Verhaltens des an-
deren verstehen, kommunikativ stellen sie eine Einheit her.
Dies ist der Ansatz der Figurationsanalyse, die der Soziologe
Norbert Elias entwickelt hat und an zahlreichen Beispielen
von Macht- und Ohnmachtsverhältnissen, Etablierten- und
Außenseiterbeziehungen dargestellt hat, und es ist auch der
Ansatz systemischer Therapien, die Patienten und ihre Pro-
bleme nicht losgelöst von den Personen betrachten, die in
ihrem Leben und ihren Problemkonstellationen eine Rolle
spielen.
Ich möchte zunächst an einem kleinen Beispiel zeigen, wie
das Interdependenzverhältnis, in dem wir uns als soziale We-
sen immer befinden, wenn wir kommunizieren, in einer auf
den ersten Blick harmlosen und wenig bemerkenswerten In-
teraktionssequenz wirksam wird. Das Beispiel entstammt
einem Forschungsprojekt, in dem von 1989 ab ehemalige
Bürger der DDR, die noch vor dem Mauerfall in den Westen
geflohen waren, darüber befragt wurden, wie sie sich an
ihrem Arbeitsplatz und in ihrem sozialen Umfeld in West-
deutschland zurechtfanden.154 Die Teilnehmer an dieser Stu-
die wurden insgesamt dreimal in einem Zeitraum von einein-
halb Jahren befragt; der folgende Ausschnitt entstammt dem
zweiten Gespräch, das Anfang 1990 stattfand. Wie gesagt, es
ging in diesem Projekt wesentlich um die Frage der sozialen
Integration, und der 19jährige Befragte, nennen wir ihn Ste-
phan Komor, erzählt seinem etwa zehn Jahre älteren west-
deutschen Interviewer, daß er in seiner neuen Umgebung

140
noch nicht so richtig Fuß gefaßt hat. Dabei erzählt er über
seine frühere Lebenssituation in der (zu diesem Zeitpunkt
noch existierenden) DDR und über seinen dortigen Freun-
deskreis, der ihm nun völlig fehlt: «Und der Freundeskreis»,
erzählt Stephan, «den ich da drüben hatte, das ist also bei wei-
tem. . ja also. . ’n Minimum davon, also das ist . . .» Die dama-
lige Stituation unterscheidet sich von der gegenwärtigen so
stark, daß Stephan regelrecht die Worte dafür fehlen, den Un-
terschied zu beschreiben. Wenn er die neue Situation als «Mi-
nimum davon» bezeichnet, charakterisiert er sie, so könnte
man sagen, als absolute Untergrenze von Sozialbeziehungen
überhaupt. Nach einer Pause fährt er fort:
S. K.: «Und die Gegend kenn’ ich drüben locker. Immer
noch, immer noch. Das, ach, das zehnfache Leute, was ich
hier kenne. Auch vom Sehen schon alleine. Gut, es ist auch,
hat sich in neunzehn Jahren aufgebaut, aber ich dachte ei-
gentlich nach einem Jahr, daß man bißchen mehr integriert
ist, sich selbst integriert hat hier. Aber irgendwie, weiß ich
auch nicht, ich mein, ich geh auch selten irgendwie, daß
ich nun, daß ich sage, ich bin Stammgast irgendwo. Daß ich
zehnmal in dieselbe Kneipe laufe, das ist auch nicht so.
Vielleicht liegt’s auch ’n bißchen an dadrinnen selbst, daß
wir uns, nicht so richtig da reinkommen, aber es steht auch
keiner so da [breitet die Arme aus] [Lachen]. Also, so ist das.»
Diese Passage ist durch Vergleichen, durch das Schwanken
zwischen Vergangenheit und Gegenwart geprägt. Stephan
erzählt, daß er sich «drüben» «immer noch, immer noch»
auskennt – wobei die damit verdeutlichte soziale und emo-
tionale Eingebundenheit durch die Betonung des Zeitraums
seiner Abwesenheit noch unterstrichen wird. Wider sein Er-
warten also zentrieren sich seine Sozialkontakte um das
«drüben» und nicht um das «hier». Aber, überlegt er, schließ-
lich habe sich das soziale Umfeld dort auch in «neunzehn
Jahren aufgebaut». Nach einer Pause des Überlegens wech-
selt er wieder in die Gegenwart und kommt auf die Zeitdi-
mension zurück: «nach einem Jahr», hätte er erwartet, «daß
man bißchen mehr integriert ist, sich selbst integriert hat

141
hier». Mit diesem Satz bringt Stephan nicht nur einen zeitli-
chen Erwartungshorizont zum Ausdruck, sondern auch die
Interdependenz des Integrationsprozesses: Man wird inte-
griert, man integriert sich. Beide Seiten der Medaille sehen
aus Stephans Perspektive nicht gut aus, wobei er sich selbst
ein wenig Schuld zuschreibt. «Zehnmal in dieselbe Kneipe»
gehe er nicht, aber so sei man eben, da wo er herkommt
(«daß wir uns»). Stephan gehört also zu einer Wir-Gruppe,
in der jeder so ähnlich handeln würde wie er – und dazu
kontrastiert er nun das Verhalten der «Gegengruppe», die
durch mangelnde Aufnahmebereitschaft charakterisiert ist:
Mit offenen Armen jedenfalls stehe «keiner» da: «So ist das.»
Damit bringt er einerseits zum Ausdruck, daß er wenig
Hoffnung auf eine Veränderung seiner Situation hat – ande-
rerseits liegt hierin auch eine Botschaft an den Interviewer,
denn der ist ja ein Mitglied der Gegengruppe und steht
gleichsam mit verschränkten Armen da. Dessen Reaktion ist
denn auch bezeichnend:
I.: «Jaja. Nee, aber was meinste denn, woran’s tatsächlich
liegt, also meinste, daß hier die Kontakte sowieso nicht so
dicke sind oder daß es äh. . anders irgendwie abläuft als bei
Euch früher? Oder ist es allgemein so etwas kühler, distan-
zierter. . ?»

Der Interviewer stimmt Stephan also zunächst zu («Jaja»),


verweist seine Überlegungen aber gleich darauf in den Be-
reich des Irrealen («woran’s tatsächlich liegt») – was offen-
sichtlich in einer Anknüpfung an Stephans Scherz mit den
ausgebreiteten Armen möglich ist, ohne daß die Kommuni-
kation völlig gestört wird. Dies hat für den Interviewer ganz
offenbar die Funktion, den ihm zugewiesenen Anteil an Ste-
phans scheiternden Integrationsbemühungen zurückzuwei-
sen: Er transformiert Stephans Problem in ein allgemeines:
«daß hier die Kontakte sowieso nicht so dicke sind». Entlar-
vend ist dann aber, daß er Stephans Konstruktion von Wir-
Gruppe und Gegengruppe voll übernimmt, indem er «bei
Euch früher» sagt, womit er Stephan nicht nur einer Gegen-

142
gruppe zuordnet, sondern ihm zugleich die Legitimation ab-
spricht, sich heute noch als Vertreter dieser Gruppe zu verste-
hen! Das heißt, daß er Stephan kommunikativ zugleich von
seinem früheren Sozialzusammenhang abschneidet und ihn
in einen neuen, nämlich seinen eigenen, nicht hineinläßt – er
selbst positioniert ihn also in einem sozialen Niemandsland
(womit er nun zweifellos bestätigt, daß hier «keiner so
da[steht]» – nämlich mit ausgebreiteten Armen). Stephans
Antwort darauf «Ja, also, ich glaube schon, hier macht jeder
sein eigenes Ding so’n bißchen» liest sich wie eine präzise Be-
schreibung der Interviewsituation!
Auf der Ebene der sozialen Situation des Gesprächs vollzieht
sich also exakt das, wonach das Forschungsprojekt gefragt
hatte – ein schwieriger und schmerzhafter Prozeß der sozia-
len Integration, in der es auf der einen Seite (in Norbert Elias’
Begriffen) Etablierte und auf der anderen Seite Außenseiter
gibt.155 Das Verhalten des einen läßt sich nicht verstehen,
wenn es ohne Berücksichtigung des Verhaltens des anderen
betrachtet wird.
Wir haben es in diesem Beispiel mit einer Reihe situativer
Überlagerungen von sozialen Positionen zu tun oder, um
mit Erving Goffman zu sprechen, mit unterschiedlichen
«Rahmen» der Situation: Erstens handelt es sich um ein
Forschungsinterview, das Daten darüber erbringen soll, wie
eine Person einen biographischen Übergang mit all seinen
Schwierigkeiten erlebt. Wie man am Verhalten des Intervie-
wers sieht, interferiert dieser Rahmen mit einem sozialen
Aushandlungsprozeß zwischen einem Einheimischen und
einem Fremden; dieser informelle, nicht definierte und bei-
den Gesprächspartnern unbewußte Rahmen bestimmt die
Interaktion deutlich mehr als der formelle Rahmen, der ur-
sprünglich die Definition der Situation vorgab. Ein dritter
Rahmen besteht in der sozialen Beziehung zwischen den
Gesprächspartnern und basiert wiederum auf eher bewußten
Situationsdefinitionen: Man möchte den anderen nicht
kränken, ihn schon gar nicht ausgrenzen, ihm sympathisch
sein. Die beiden Sprecher sind sich nämlich sympathisch

143
(was ich deshalb mit wenigstens fünfzigprozentiger Sicher-
heit sagen kann, weil ich das Interview damals selbst durch-
geführt habe), insofern gehen hier in die wechselseitigen
Beobachtungen und Interpretationen Motive ein, die an
der Aufrechterhaltung der sich entwickelnden persönlichen
Beziehung interessiert sind. Diese drei Rahmen (und ver-
mutlich noch eine ganze Reihe weiterer) überlagern sich
situativ, wobei der soziokulturelle Rahmen, der die Etablier-
ten-Außenseiter-Beziehung bildet, den stärksten Einfluß auf
die Entwicklung der Situation hat – wohlgemerkt, ohne daß
die Sprecher das bemerken würden; dieser Rahmen zeigt
sich erst in der Interpretation des schriftlich festgehaltenen
Gesprächs. Deutlich spielen hier soziale und kulturelle Hin-
tergrundannahmen eine Rolle, die in der Gesprächssituation
unwillkürlich aktiviert werden. Die beiden Sprecher agieren
hier nicht autonom, sondern auch vor dem Hintergrund
ihrer Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe, also zu einer viel
größeren Interaktionsgemeinschaft. Kurz: Wir haben es in
dieser Situation mit der Aktivierung kultureller Schemata zu
tun, die sich unterhalb der Bewußtseinsschwelle bzw., in Pe-
ter Høegs Worten, an der Außengrenze des Bewußtseins ab-
spielen.
Die Bedeutung von kulturellen Schemata für die Wahrneh-
mung und Aneignung von Situationen ist zum erstenmal in
einer Reihe von Experimenten dargelegt worden, die der
Psychologe Frederic Bartlett, ein Urvater der sozialpsycho-
logischen Erinnerungsforschung, in den zwanziger Jahren
durchgeführt hat. Im bekanntesten dieser Experimente wurde
Versuchspersonen, britischen Studenten von Bartlett, eine für
sie exotische Geschichte vorgelegt, die sie lesen und an-
schließend nacherzählen sollten. Dabei kamen zwei experi-
mentelle Settings zur Anwendung: In dem einen wurde die
Versuchsperson aufgefordert, die Geschichte jemand anderem
weiterzuerzählen, dieser hatte sie dann einem Dritten zu er-
zählen usw. – eine Variante des Kindergeburtstagsspiels «Stille
Post», allerdings mit einem komplexeren Inhalt. Dieses Ver-
fahren bezeichnete Bartlett als «serielle Reproduktion». In

144
einem zweiten Setting wurde jeweils dieselbe Versuchsperson
in Zeitabständen darum gebeten, die Geschichte erneut zu
erzählen («wiederholte Reproduktion»). Die Geschichte
selbst trug den Titel «The War of the Ghosts» und entstammte
dem Untersuchungsmaterial des Anthropologen Franz Boas.
Sie war eine Art Märchen, das in einem nordamerikanischen
Indianerstamm erzählt wurde, und der Geschehensverlauf
dieses Märchens wich deutlich von Märchen ab, wie sie in der
abendländischen Tradition erzählt werden. Die vorkommen-
den Namen (wie «Egulac»), Objekte (wie Kanus), Akteure
(wie Geister) waren den Lesern so fremd wie der Plot der Ge-
schichte, die also, wie gesagt, den Versuchspersonen einiger-
maßen «strange» vorkommen mußte.156
Bartlett zeichnete die Variationen akribisch auf und notierte im
Fall der wiederholten Reproduktion schon bei der zweiten
Wiedergabe nach etwa 20 Stunden signifikante Abweichungen
von der Originalgeschichte: Erstens wurde die Geschichte
kürzer, zweitens wurde ihr narrativer Stil «moderner», drittens
bekam sie eine – aus Sicht der westlichen Kultur – logischere
und kohärentere Struktur.157 Diese Veränderungen behielten
dieselbe Richtung bei, wenn die Versuchspersonen, zum Teil
nach Jahren, erneut gebeten wurden, «The War of the
Ghosts» nachzuerzählen. Zusammengefaßt ergab die Unter-
suchung eine deutliche Neigung der sich erinnernden Perso-
nen, die Geschichte mit einem eigenen Sinn auszustatten –
was Bartlett «Rationalisierung» nannte: Über den Zeitverlauf
hinweg zeigte sich eine immer größere Verdichtung des Er-
zählmaterials, die einem Prinzip des «Sinnmachens» («effort of
meaning») folgte – woraus Bartlett den Schluß zog, daß vor-
handene kulturelle Schemata die Wahrnehmung und dem-
entsprechend die Erinnerung in so hohem Maße prägen, daß
Fremdes auf subtile und vom sich Erinnernden unbemerkte
Weise zu Eigenem wird. Das heißt, die Geschichte wurde al-
ler überraschender, merkwürdiger und unlogischer Aspekte
entkleidet, zugleich wurden Merkmale (Namen, Objekte) in
die Geschichte importiert, die den kulturellen Schemata der
Erzähler entsprachen.158 Aus Kanus wurden Boote, Namen

145
entfielen oder wurden in weniger ungewöhnliche verwan-
delt, selbst das Wetter, das die Stimmung der Geschichte un-
terlegte, wurde britischer. Erst wenn die Nacherzählung
eine stereotype Form erreicht hatte, veränderte sie sich im
weiteren Verlauf kaum noch. Kurz: Die sich erinnernden
Personen nivellierten die Geschichte auf eine Art Standard-
format und machten sie damit von einer fremden zu einer
eigenen. Bartletts allgemeine Schlußfolgerung lautete, daß
diese Tendenz zum Heimisch-Machen, das zweifellos einem
kulturellen Muster folgt, ein machtvoller Faktor in allen
Wahrnehmungs- und Wiedergabevorgängen sei159 und daß
– noch allgemeiner – die exakte Wiedergabe von Wahrge-
nommenem, Gehörtem, Gesehenem die Ausnahme und
nicht die Regel sei.160
Im Verfahren der seriellen Reproduktion zeigten sich ähnli-
che Effekte: Auch hier wurde verkürzt, verdichtet, importiert,
rationalisiert. Bartletts Befunde verweisen nicht nur darauf,
daß die Wahrnehmung, die Einspeicherung und der Abruf
von Erinnerungen kulturellen Schemata folgt (was bedeutet,
daß der Erinnerungsvorgang selbst kulturell organisiert ist),
sondern zugleich darauf, daß Erinnerung in hohem Maße
konstruktiv ist, indem sie den jeweiligen selbstbezogenen und
kulturellen Sinnbedürfnissen der sich erinnernden Personen
folgt.
Besonders interessant an Bartletts Befunden ist der Vorgang
des «Importierens» von Merkmalen, die dem Leser aus seiner
eigenen Kultur bekannt sind, in seine Erinnerung des «frem-
den» Textes. Umberto Eco hat aus literaturwissenschaftlicher
Sicht darauf hingewiesen, daß Texte grundsätzlich unvoll-
ständig sind und die Mitarbeit des Lesers (oder Zuhörers) vor-
aussetzen: Der Leser, so Eco, entnimmt nämlich dem Text
nicht nur, was er sagt, sondern auch das, was er nicht sagt, und
seine Mitarbeit besteht darin, die Leerräume des Textes aufzu-
füllen. Das ist der Grund dafür, daß eine Übersetzung gerade
nicht wortgetreu sein darf, wenn sie den Sinn eines Textes an-
gemessen wiedergeben will – denn sie muß die vielfältigen
Konnotationen der jeweiligen Sprachen und das zugrunde-

146
liegende Universum des Nicht-Gesagten in Rechnung stel-
len, wenn sie dem Original dem Sinn nach angemessen sein
will.161 Was Bartletts Studenten mit dem indianischen Mär-
chen gemacht haben, folgt also allgemeinen Prinzipien des
Verstehens von Texten und Erzählungen; ein Text ist, um
Hans-Georg Gadamer zu zitieren, kein gegebener Gegen-
stand, «sondern eine Phase im Vollzug eines Verständigungs-
geschehens»162 – in diesem Fall in einem interkulturellen Ver-
ständigungsgeschehen.
Wir werden gleich sehen, daß die Realisierung von Sinnbe-
dürfnissen, die an Texte herangetragen werden, anders als in
Bartletts Experimenten nicht immer der Erzeugung von
Stringenz und dem Import von Logik folgt – hier ist aber erst
einmal festzuhalten, daß wir, wenn wir kommunizieren und
dabei Erfahrungen machen, an die wir uns später erinnern
können, immer vor dem Hintergrund von Erinnerungsge-
meinschaften agieren, deren soziale und kulturelle Schemata
sowohl die aktuelle Wahrnehmungs- und Handlungssituation
wie die spätere Reproduktion in äußerst hohem Maße prägen
– und zwar ohne daß uns das normalerweise bewußt würde
(und die prägendsten und unausweichlichsten Schemata sind
wohl solche, die noch nicht einmal bewußtseinsfähig sind).
Die Prägekraft sozialer und kultureller Schemata war es denn
wohl auch, die den Etablierten-Außenseiter-Rahmen in der
Gesprächssequenz zwischen Stephan und mir bereitstellte
und vor dessen Hintergrund wir beide, bei aller Sympathie
und Gutwilligkeit, so sprachen, daß deutliche Grenzen zwi-
schen uns gezogen und befestigt wurden. Wahrscheinlich
wäre mir das Gespräch auch als harmonisch, konfliktfrei und
erfreulich in Erinnerung geblieben, hätte die hermeneutische
Analyse des zum Text gewordenen Gesprächs nicht noch
einen ganz anderen, eher unfreundlichen Rahmen zutage
treten lassen. Mit welchem Gefühl Stephan seinerzeit aus
dem Gespräch herausgegangen ist, weiß ich nicht; da wir uns
aber später noch zu weiteren Gesprächen verabredet haben,
nehme ich an, daß er keine grundlegend unangenehme Erin-
nerung daran hatte.

147
Wie auch immer: Vor dem Hintergrund solcher Überlegun-
gen mag es nun interessant sein, sich einige Beispiele aus der
kommunikativen Praxis von Erinnerungsgemeinschaften ge-
nauer anzuschauen, um Aufschluß darüber zu gewinnen,
woraus sie denn eigentlich gemacht sind, die Schemata, und
wie sie kommunikativ erzeugt werden. Im Kern geht es dabei
um die Frage, wie das Verhältnis zwischen individuellem und
kollektivem Gedächtnis beschaffen ist, und um diese große
Frage wenigstens annähernd verfolgen zu können, wird es
sinnvoll sein, kleine Erinnerungsgemeinschaften und ihre
Praxis zu untersuchen. Schon auf dieser Ebene sind die
Wechselbeziehungen zwischen individuellen und kollektiven
Sinnbedürfnissen und -vorgaben und situativen Faktoren so
vielfältig, daß man nur einen näherungsweisen Eindruck da-
von gewinnen kann, was vor sich geht. Das Verhältnis zwi-
schen großräumigeren gesellschaftlichen Deutungsmustern
und dem individuellen Gedächtnis ist so komplex, daß jede
Analyse sich in heillose Spekulationen verstricken muß. Und
noch etwas: In den folgenden Skizzen wird die neurowissen-
schaftliche Perspektive kaum noch eine Rolle spielen, weil
wir keine neuronalen Korrelate sozialer Austauschprozesse
finden und abbilden können. Uns fehlt jede Möglichkeit, in
die Gehirne der Beteiligten hineinzuschauen, um festzustel-
len, welche Aktivitäten an welcher Stelle ihres neuronalen
Apparates vonstatten gehen, wenn sie dieses oder jenes den-
ken, fühlen oder sagen – jedenfalls nicht, während sie dies in
einer sozialen Situation tun. In den nächsten Abschnitten
wird es daher um die Ebene der Kommunikation selbst gehen
und auch hier nur um einen Ausschnitt, den verbalen Teil der
Kommunikation. Die anderen dialogischen Aspekte, wie sie
Fräulein Smilla und ihren Gesprächspartner in Atem halten,
bleiben aus einem sehr einfachen Grund ausgeklammert: Sie
sind nur jenem emotionalen, empathischen und ästhetischen
Vermögen zugänglich, das Peter Høeg verwendet: der Phan-
tasie. Und die ist leider ein ziemlich unwissenschaftliches Er-
kenntnismittel.

148
1. Das kommunikative Gedächtnis der Familie

In einer kommunikationswissenschaftlichen Studie zu


«Tischgesprächen», die Angela Keppler durchgeführt hat, fin-
det sich der folgende Ausschnitt aus einem Familienge-
spräch.163 Die Familie Braun hat gerade einen Skatabend be-
endet. Der Vater resümiert:
Vater: ’n schönes Spiel.
Mutter: Wenn man’s nicht zu bierernst nimmt.
Vater: Reizvolles Spiel.
Sohn: Und Du hast es trotz Casablanca offenbar nich’ über-
gekriegt.
Vater: Wie bitte?
Sohn: Du hast es trotz Casablanca nicht übergekriegt?
Vater: Ich hab’ in der ganzen Gefangenschaft kein Skat
mehr gespielt.164
Angela Keppler verwendet diesen Gesprächsausschnitt als
Beispiel für eine Vergangenheitsrekonstruktion en passant: In
einer alltäglichen, in keiner Weise auf das Erzählen von Erin-
nerungen bezogenen sozialen Situation wird plötzlich ein
Aspekt der Lebensgeschichte eines Beteiligten angesprochen
– in diesem Fall die Kriegsgefangenschaft des Vaters, die die-
ser in Casablanca zugebracht hat. Interessanterweise wird die-
ses Thema nicht vom Vater selbst angesprochen – ganz im
Gegenteil scheint er mit der Bemerkung seines Sohnes zu-
nächst gar nichts anfangen zu können. Dessen Erinnerung an
eine frühere Erzählung des Vaters ist überdies ungenau, denn
wie sich zeigt, hat der Vater in der Kriegsgefangenschaft über-
haupt nicht Karten gespielt. Nichtsdestotrotz führt die Be-
merkung des Sohnes, wie Keppler schreibt, im Anschluß zu
einer eineinhalb Stunden langen Erzählung des Vaters über
die Zeit seiner Kriegsgefangenschaft.
Diese Passage vereint einige zentrale Aspekte, die typisch für
das «Familiengedächtnis» sind. Der wichtigste Aspekt liegt
darin, daß das «Familiengedächtnis» kein umgrenztes und

149
abrufbares Inventar von Geschichten darstellt, sondern in
der kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden be-
steht, die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen
und über die sie gemeinsam sprechen. Solche Vergegenwär-
tigungen der Vergangenheit finden in der Regel beiläufig
und absichtslos statt – Familien halten keine Geschichtsstun-
den ab, sondern thematisieren Vergangenes zu unterschied-
lichsten Anlässen, wie hier beim Kartenspiel, bei Familien-
feiern, beim Fernsehen, bei Diaabenden, wo auch immer.
Die Praxis konversationellen Erinnerns ist in Familien etwas
völlig Selbstverständliches – sie bedarf keines Vorsatzes, kei-
ner der Sprecher muß dabei eine Absicht verfolgen, sie hat
kein festgelegtes Ziel, es braucht nichts «ausdiskutiert» zu
werden, das Thema kann beliebig gewechselt oder abgebro-
chen werden.
Weiter ist wichtig, daß das jeweilige Erlebnis nicht vom da-
maligen Akteur ins Gespräch gebracht werden muß – ganz im
Gegenteil kommt es häufig vor, daß ein anderer die jeweilige
Geschichte anspricht. Damit ergeht eine auf den ersten Blick
paradoxe Aufforderung an den historischen Akteur: Er möge
doch erzählen, was seine Zuhörer schon kennen. Auch im
Fall der Familie Braun hat der Vater ganz offensichtlich schon
zuvor Episoden aus seiner Kriegsgefangenschaft erzählt – an-
dernfalls könnte sein Sohn ihn ja gar nicht darauf ansprechen.
Daß dessen Erinnerung an die Erinnerungen des Vaters zum
Thema «Kartenspielen während der Kriegsgefangenschaft»
falsch ist, stellt weder ein Erzählhindernis dar, noch ist es
überhaupt untypisch für Geschichten, die einem von den El-
tern oder Großeltern erzählt worden sind.
Beim «falschen Erinnern» an die Erinnerungen anderer han-
delt es sich nicht um ein Problem des unaufmerksamen
Zuhörens, sondern um das Ergebnis jenes «effort of mean-
ing», von dem Bartlett gesprochen hatte. Der Umstand, daß
sich Kinder und Enkel ihren ganz eigenen Reim auf die Ge-
schichten machen, die sie von ihren Eltern und Großeltern
gehört haben, daß sie diese nicht nur auf ihre Weise interpre-
tieren, sondern oft völlig neu gestalten, ergänzen oder entstel-

150
len, wird uns noch beschäftigen – hier ist zunächst einmal
wichtig, daß Geschichten in der Familie gerade deswegen er-
zählt werden, weil jeder sie schon kennt: Denn die kommuni-
kative Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie
ist kein bloßer Vorgang der Weitergabe von Erlebnissen und
Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame Praxis,
die die Familie als eine Gruppe definiert, die eine besondere
Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder teilhaben
und die sich nicht zu verändern scheint. Familien zelebrieren
im «conversational remembering», im gemeinsamen Spre-
chen über Vergangenes, ihre Geschichte als Interaktionsge-
meinschaft, und dabei geht es um die Bestätigung der sozialen
Identität der Wir-Gruppe.165
Das Beispiel des von einer falschen Annahme ausgehenden
Sohnes der Familie Braun deutet schon an, daß die einzelnen
Familienmitglieder durchaus verschiedene Versionen der Fa-
miliengeschichte im Gedächtnis haben können – das «Famili-
engedächtnis» bildet aber einen Rahmen, der sicherstellt, daß
sich alle Beteiligten an dasselbe auf dieselbe Weise zu erinnern
glauben. Das Familiengedächtnis hat, wie sich im folgenden
zeigen wird, eine synthetisierende Funktion, die die
Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemein-
schaft Familie gerade dadurch sicherstellt, daß alle Beteiligten
von der Fiktion ausgehen, sie würden über dasselbe sprechen
und sich an dasselbe erinnern.
So ein geheimer Fiktionsvertrag liegt übrigens auch anderen,
weniger dauerhaften und intimen Erinnerungsgemeinschaf-
ten zugrunde – für Familienmitglieder ist aber die prinzipielle
Anforderung kennzeichnend, Kohärenz sichern, Identität be-
wahren und Loyalitätsverpflichtungen nachkommen zu müs-
sen, und das Medium par excellence für die Erfüllung dieser
Anforderung sind gemeinsame kommunikative Akte des Er-
innerns. Angela Keppler ist denn auch der Auffassung, daß die
Einheit einer Familiengeschichte «nicht in einer einheitlichen
Geschichte, sondern in der Kontinuität der Gelegenheiten
und Akte des gemeinsamen Sich-Erinnerns» besteht.166
Dabei müssen die kommunizierten Geschichten keineswegs

151
vollständig, konsistent und linear sein – sie bestehen im Ge-
genteil häufig eher aus ziemlich widersprüchlichen Fragmen-
ten und bieten gerade deshalb Anknüpfungspunkte für unter-
stützende, unterbrechende und korrigierende Kommentare
und Ergänzungen. Und ebensowenig, wie das Gros der in der
Familie kursierenden Geschichten aus geschlossenen Narrati-
ven besteht, existiert auch keine Familiengeschichte «aus
einem Stück». Sie ist eine kunstvolle Montage, zu der im Lauf
der Jahre immer etwas hinzugefügt und aus der etwas anderes
entfernt wird. Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der
Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf
der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erin-
nerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familienge-
schichte. Ihre synthetisierende Funktion wird immer aufs
neue realisiert, allerdings nur so lange, wie es gutgeht: Denn
bekanntlich funktionieren Familien keineswegs immer als
Kommunikations- und Erinnerungsgemeinschaften, und häu-
fig zerbrechen sie ja auch, mit der Folge, daß die Vergegen-
wärtigung einer gemeinsam geteilten Vergangenheit unmög-
lich wird.
Die Familie Meier167 repräsentiert den Grenzfall eines Famili-
engedächtnisses, das zu zerbrechen droht, ohne daß sich die
soziale Zusammensetzung der Erinnerungsgemeinschaft
selbst verändert. Hier wird das in der Familie präsente und ge-
pflegte Bild von einem Urgroß- bzw. Großvater nach dessen
Tod völlig in Frage gestellt. Dieser Mann nämlich hat eine
«Chronik» verfaßt, die den Familienmitgliedern erst nach sei-
nem Tod bekannt wird. In dieser «Chronik» entpuppt er sich
zur Überraschung der Familie als überzeugter Nationalso-
zialist, der offenbar auch an Verbrechen beteiligt war. Seine
Enkelin Viola König (Jg. 1947) sagt dazu:
V. K.: «Als ich seine Chronik in die Finger kriegte, da war er
schon gestorben, und ich weiß noch genau, daß ich völlig
geschockt war, weil das hätte ich ihm nicht zugetraut. Ich
kannte ihn als meinen Opa, ich kannte ihn anders. Ich hatte
ihn völlig anders erlebt. Das hätte ich ihm nicht zugetraut,
aber es stand da, es stimmte. Und das war schon was, wodran

152
ich auch noch so zu knapsen hatte. Weil das war nicht so, das
stimmte nicht mit dem Bild überein, was ich von meinem
Opa hatte. Das war eine sehr, sehr große Diskrepanz. Und
ich kann mich noch erinnern, da haben wir lange drüber ge-
sprochen, meine Schwester und ich. Daß wir beide da völlig
von den Socken waren. Das hatten wir nicht vermutet.»

Deutlich wird hier die Härte des Bruches zwischen dem Bild
vom Großvater, das Viola König über ihre Kindheit und Ju-
gend hinweg entwickelt hatte, und der ganz anderen Persön-
lichkeit, die sich in der Chronik offenbarte. Das Bild vom
Leben des Großvaters wird durch seinen Bericht posthum in
Frage gestellt, und Viola König fiel es offensichtlich auch sehr
schwer, sich überhaupt mit dieser Infragestellung zu konfron-
tieren. Ihre Tochter Sandra hat es da leichter. Als der Intervie-
wer sie fragt, ob die Chronik ihre Sichtweise auf den Ur-
großvater «irgendwie verändert» habe, antwortet sie:

S. K.: «Ja, sie hat sich verändert, aber es ist nicht meine
Sichtweise, glaube ich. Also ich habe meinen Uropa erlebt,
bis ich zehn war, dann ist er gestorben. Und er war ein
wirklich lieber Uropa, toll, hat sich immer gekümmert, ich
mochte den wirklich sehr gerne, und ich wußte auch, daß
seine Enkelinnen, also meine Mutter, meine Tante und
Cousinen von meiner Mutter, ihn auch über alles liebten,
und dann kam diese Chronik auf den Tisch. [. . .] Und die
waren alle geschockt. Meine Mutter, meine Tante, meine
Cousine, die Cousinen von meiner Mutter, die waren ge-
schockt. [. . .] Deren Bild wurde nämlich plötzlich total
zerrüttet von dem Opa. Und da war ich natürlich auch ge-
schockt. Obwohl das überhaupt nicht hinhauen kann, das
stimmt nicht, weil ich hab von meinem Opa ein ganz ande-
res, ich habe ihn wirklich erlebt, da war ich noch sehr klein,
und da habe ich mich um nichts in der Richtung geküm-
mert, und da hat mich auch das Thema Nationalsozialismus
noch überhaupt nicht interessiert, da wußte ich vielleicht
gerade mal, daß es das gegeben hat. Damit hatte ich mich
noch nie mit beschäftigt gehabt, und von daher kann das
mein Bild von meinem Uropa überhaupt nicht, da kann’s
überhaupt nicht dran gewackelt haben.»

153
Für die beim Tod des Urgroßvaters zehnjährige Sandra liegt
die Frage, ob ihr Uropa in einer fernen Vergangenheit eine
fragwürdige Rolle gespielt hatte, außerhalb ihres Horizonts.
Deshalb wird ihr Bild vom Uropa durch das, was nach seinem
Tod über ihn bekannt wird, nicht gebrochen, wohl aber
durch die erschütterte Reaktion ihrer Mutter und der Ver-
wandten irritiert. Erst als sie selbst Wissen über die Geschichte
erwirbt, beginnt sich für sie zu klären, was vorgefallen war
und was die Erschütterung der Verwandten hervorgerufen
hatte. Es ist noch immer nicht ihr Bild, das erschüttert wird,
aber retrospektiv erschließt sich ihr die «Diskrepanz», von der
ihre Mutter im Einzelinterview gesprochen hatte: die Diskre-
panz zwischen dem Bild, das die Familie von ihrem Urgroßva-
ter hatte, und dem, was er in der Vergangenheit war. Dieses
neue Bild überformt nun aber nicht die Vorstellung aller Betei-
ligten. Sandra erzählt weiter:
S. K.: «Meine Oma sieht das auch wieder anders. Also sie
war überhaupt nicht erschüttert. Weil sie sich da eigentlich
gar nicht drüber gewundert hat, sie hatte ihn ja auch so erlebt
und wußte ja auch viele Sachen und hat auch viele Sachen so
mitgekriegt und war eher erstaunt darüber, daß Viola und
Monika und alle ihn immer so als völlig anderen Menschen
wahrgenommen haben. Und eigentlich dann ganz doll ent-
täuscht über ihn gewesen sind.»
In dieser Darstellung wird deutlich, daß das Familiengedächt-
nis sich über durchaus diskrepante Auffassungen von der Ge-
schichte und von den Handlungen der Akteure hinwegsetzt:
Die Angehörigen der drei Nachfolgegenerationen blicken aus
je unterschiedlicher Perspektive auf die Vergangenheit des
Vorfahren. Sandras Großmutter zeigt sich nicht überrascht
über das, was mit der Chronik zutage tritt. Ihre mit ihrem Va-
ter gemeinsam erlebte Zeit hat einen anderen historischen
Kern als die, die ihre Tochter mit ihm erlebt hat, und die hat
wiederum einen anderen historischen Kern als die Zeit, die
Sandra mit ihrem Uropa verbracht hat. Das Familiengedächt-
nis der Meiers hatte diese Zeiten, Erfahrungen und Bilder
synchronisiert; in dem Augenblick, in dem mit der Chronik

154
eine andere historische Realität sichtbar wird, als sie das Fami-
liengedächtnis synthetisiert hatte, bricht insbesondere für die
mittlere Generation, die den Großvater nur als eindrucksvolle
Gestalt aus der Nachkriegszeit kannte, eine Welt zusammen
und mit ihr das Bild vom Großvater. Diese Generation hat ein
Bild vom Großvater entwickelt, das ihn in vorteilhaftem
Licht auch in der imaginierten nationalsozialistischen Zeit
gezeigt hatte. Für Sandras Großmutter sieht das anders aus:
Die nämlich wußte mehr über das Verhältnis von Biographie
und Geschichte dieses Mannes, während die anderen Famili-
enmitglieder nur etwas über ihn als Person und nichts über
seine vorausgegangene Biographie wußten.
Diese Interviewpassagen sind Schlüsselsequenzen für das Ver-
stehen der Rolle, die das Familiengedächtnis für das individu-
elle Gedächtnis spielt: Sie spiegeln die generationsspezifisch
differierende Wahrnehmung des Verhältnisses von Persönlich-
keit, Lebensgeschichte und historischer Zeit, und sie zeigen
auch, daß Familien offenbar eine starke Tendenz entwickeln,
diese drei Aspekte zu harmonisieren, die generationsspezifi-
schen Perspektiven, wenn man will, auf denselben Punkt hin
zu bündeln. Die Chronik paßt nicht in das Familienalbum der
Meiers; sie bricht die Möglichkeit einer einstimmig erzählten
und zu erzählenden Familiengeschichte auf. Gerade in dieser
negativen Form der Zerstörung des von allen Beteiligten auf
je eigene Weise hergestellten gemeinsamen Gedächtnisses
zeigt sich, welche Funktion das Familiengedächtnis als Syn-
these der unterschiedlichen Zeit- und Generationserfahrungen
hat: Es stellt den transgenerationellen und überhistorischen
Zusammenhang der Wir-Gruppe her, und für die Herstellung
dieses Zusammenhangs sind von allen Beteiligten jene kleinen
oder großen Zurichtungen des Erlebten, Erinnerten und Wei-
tergegebenen notwendig, die sich aus ihrem eigenen Sinnbe-
dürfnis, dem «effort of meaning», ergeben.
Der Fall der Familie Meier macht also deutlich, daß das Fami-
liengedächtnis als eine Funktion zu verstehen ist, die jenseits
der individuellen Erinnerungen und Vergangenheitsauffas-
sungen der einzelnen Familienmitglieder die Fiktion einer

155
gemeinsamen Erinnerung und Geschichte sicherstellt. Die
einzelnen Generationenangehörigen einer Familie nehmen
ihre Vorfahren und deren Geschichten mithin jeweils von
einer anderen Zeitstelle aus wahr, was aber im Rahmen des
Familiengedächtnisses so lange nicht zur Geltung kommt, bis
etwas zutage tritt, was das sorgsam kultivierte fiktive Bild vom
Vorfahren radikal in Frage stellt – und zwar für jeden Beteilig-
ten auf eigene Weise.
Damit komme ich auf die ursprüngliche Konzeption des Fami-
liengedächtnisses zu sprechen, wie sie von dem französischen
Soziologen Maurice Halbwachs entwickelt worden ist. In sei-
ner klassischen phänomenologischen Untersuchung betonte
er, daß das «kollektive Gedächtnis» zwar «auf einer Gesamtheit
von Menschen beruht», daß es aber natürlich Individuen sind,
die sich erinnern. «In dieser Masse gemeinsamer, sich aufein-
ander stützender Erinnerungen sind es nicht dieselben, die je-
dem von ihnen am deutlichsten erscheinen. Wir würden sa-
gen, jedes individuelle Gedächtnis ist ein ‹Ausblickspunkt› auf
das kollektive Gedächtnis; dieser Ausblickspunkt wechselt je
nach der Stelle, die wir darin einnehmen.»168
Wie jede soziale Gruppe hat auch die Familie ein «kollektives
Gedächtnis», das die Erinnerungen der einzelnen Mitglieder
mit kulturellen, sozialen und historischen Rahmen versieht –
weshalb Erinnerungen immer individuell und kollektiv zu-
gleich sind. Die Erinnerungen des einzelnen entstehen
«durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer
Gruppen», wie Jan Assmann unter Bezugnahme auf Maurice
Halbwachs und Erving Goffman formuliert hat: «Subjekt von
Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne
Mensch, aber in Abhängigkeit von den ‹Rahmen›, die seine
Erinnerung organisieren.»169 Erinnerungsgeschichten, die in
Familien erzählt werden, stellen nicht nur individuelle Ver-
gangenheitsbilder dar, sondern zugleich Modelle für die all-
gemeine Haltung der Wir-Gruppe: «Sie reproduzieren nicht
nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesens-
art, ihre Eigenschaften und ihre Schwächen. Wenn man sagt:
‹In unserer Familie wird man alt› oder ‹. . . ist man stolz› oder

156
‹. . . bereichert man sich nicht›, so spricht man von einer [. . .]
moralischen Eigenschaft, von der man annimmt, daß sie der
Gruppe eigen sei [. . .]. Auf jeden Fall stellt das Familienge-
dächtnis aus verschiedenen aus der Vergangenheit behaltenen
Elementen solcher Art einen Rahmen her, den es intakt zu
halten sucht.»170
Wenn sich ein Familienmitglied also an ein Ereignis aus der
Familiengeschichte erinnert, wird es unweigerlich auf diesen
Rahmen zurückgreifen und den Selbstentwurf seiner Familie
in jeder seiner Erinnerungserzählungen mitthematisieren und
fortschreiben: «Nehmen wir nun an, wir riefen uns ein Ereig-
nis unseres Familienlebens in die Erinnerung zurück [. . .].
Versuchen wir, diese traditionellen Ideen und Urteile, die den
Familiengeist bestimmen, davon zu trennen. Was bleibt übrig?
Ist es überhaupt möglich, eine solche Trennung durchzuführen
und in der Erinnerung an das Ereignis zu unterscheiden zwi-
schen dem Bild von dem, was nun einmal stattgefunden hat
[. . .], und den Vorstellungen, in denen sich gewöhnlich unsere
Erfahrung von der Handlungsweise und den Verhältnissen un-
serer Verwandten ausdrückt?»171
Halbwachs’ Antwort lautet «Nein». Jede explizite Erinnerung
an ein Ereignis aus der Familienvergangenheit ist untrennbar
mit einem Modell über diese Familie verbunden – wenn man
will, kann man hier in Analogie zu Damasios «somatischen
Markern» von «sozialen Markern» sprechen. In diesem Sinne
wird das Bild, das sich von dieser «moralischen Wesensart» des
Vorfahren an jener Zeitstelle hergestellt hat, von der aus man
ihn kennt, auch auf jene vorausliegenden Abschnitte seiner
Lebensgeschichte hin ausgedehnt, die man aus eigener Erfah-
rung und Anschauung nicht kennt, weil man zu dieser Zeit
noch gar nicht auf der Welt war. Aber nicht nur das: Eine Ei-
genschaft des individuellen Gedächtnisses wäre vor diesem
Hintergrund, daß jede Vergangenheit, die in den generatio-
nellen Kommunikationszusammenhang der eigenen Familie
hereinragt, von «sozialen Markern» indexiert ist – das heißt,
neben dem Schulwissen und den Informationen aus den Me-
dien existiert ein Bild von der Vergangenheit, das aus der

157
direkten, persönlichen Kommunikation resultiert, und dieses
Bild ist vor dem Hintergrund seiner sozialen Entstehungs-
geschichte ein emotionales Bild, nicht Wissen, sondern Ge-
wißheit.
In diesem Sinne lassen sich die Schwierigkeiten von deut-
schen Angehörigen der Enkelgeneration verstehen, ihre
«guten» Großeltern in einen Geschichtszusammenhang ein-
zufügen, der eindeutig als «böse» markiert ist – wie es eine
Enkelin treffend formuliert hat, geht es da um die Diskrepanz
zwischen «dieser großen Geschichte und meinem kleinen
Opa». Halbwachs betont, daß die Familie eine im Vergleich
zu anderen sozialen Gruppen unauflösliche Einheit bildet172 –
selbst wenn die Familienbeziehungen aufgrund von Tod,
Scheidung etc. zerreißen, bleiben Väter Väter und Söhne
Söhne: In keiner anderen sozialen Gruppe, so Halbwachs, be-
deutet «die Persönlichkeit jedes Menschen mehr [. . .], wo
man sich in seinen Urteilen über seine Nächsten am wenig-
sten durch die Regeln und Meinungen der Gesellschaft be-
herrschen und leiten läßt, wo man sie nach ihren eigenen
individuellen Noten und nicht als Mitglieder einer religiösen,
politischen oder wirtschaftlichen Gruppe bewertet, wo man
vor allem und fast ausschließlich ihre persönlichen Qualitäten
in Betracht zieht und nicht das, was sie für die anderen Grup-
pen, die die Familie umgeben [. . .] sind oder sein könnten.
Wenn wir so an unsere Verwandten denken, haben wir zu-
gleich die Vorstellung einer Verwandtschaftsbeziehung und
das Bild einer Person in unserem Sinn.»173
Auch wenn man aus heutiger Sicht sagen muß, daß Halb-
wachs seinen Überlegungen gewiß eine idealisierte Vorstel-
lung von Familie zugrunde legt, die Familienkonflikte und
-brüche deutlich unterbewertet und auch die Dynamiken in-
nerhalb der familialen Kommunikation unbeachtet läßt, kann
seine Konzeption des Familiengedächtnisses als idealtypische
Analyse der Gedächtnisbildung in intimen Erinnerungs-
gemeinschaften durchaus noch Geltung beanspruchen. Be-
trachten wir nun ein Beispiel dafür, wie «Bilder einer Person
in unserem Sinn» kommunikativ wirksam werden:

158
Im gemeinsamen Gespräch mit der Familie Beck geht es an
einer Stelle um den verstorbenen Mann von Mathilde Beck,
der, wie sie berichtet, wenig über seine Erlebnisse im Krieg
erzählt habe. Die Interviewerin fragt:
«Und was meinen Sie, warum? Wie kommt das, daß er nicht
so viel erzählt hat? Also ist es einfach so, weil er sich ungern
erinnert an . . .»

Frau Beck unterbricht:


Mathilde Beck: «Einmal, weil er sich ungern erinnerte, und
dann hat er ja auch ganz selten überhaupt mal vom Krieg er-
zählt. Daß es auch viele grauenhafte Erinnerungen waren,
die er dann nicht zum besten, die er vergessen wollte.»

Hier nun hakt die Tochter Anna ein:


Anna Dietrichsen: «Obwohl, also es gab dann mal Situationen,
naja, wenn er mal ’n bißchen mehr getrunken hatte. Nur
eine Sache, die mit dem Kind.»

Wenn Alkohol im Spiel war, sich also die normalerweise einge-


haltenen Grenzen verschoben, hat Herr Beck auch schon mal
vom Krieg erzählt, allerdings nur eine Sache: «die mit dem
Kind». Hier deutet sich wiederum an, daß es sich bei dieser
«Sache» um eine Geschichte handelt, die den Familienmitglie-
dern schon bekannt ist. «Die Sache mit dem Kind» könnte nun
in der Tat auch die Überschrift für die Geschichte lauten, die
im folgenden gemeinsam verfertigt wird. Mathilde Beck be-
ginnt:
Mathilde Beck: «Kinder waren das, die waren da aneinan-
dergekettet.»
Anna Dietrichsen: «Ja, und erschlagen.»
Mathilde Beck: «Und denn erschlagen. Ja, und die standen
dabei und konnten nichts machen.»
Anna Dietrichsen: «Ja.»
Kinder wurden zunächst aneinandergekettet und dann er-
schlagen – wobei nicht gesagt wird, um was für Kinder es sich
handelte und wer sie ermordet hatte. Auch wer «die» waren,

159
die dabeistanden und «nichts machen» konnten, bleibt offen –
nur daß Mathilde Becks Mann zu diesen Personen zählte,
kann man annehmen. Im Unterschied zu den meisten im
Alltag erzählten Geschichten fehlt hier mit den Orts- und
Zeitangaben und der Nicht-Benennung der handelnden Per-
sonen der Orientierungsteil; jemand, der die Geschichte
nicht kennt (wie die Interviewerin), wird über den Rahmen
der Geschichte völlig im unklaren gelassen. Sie weiß nicht,
wo und wann die Geschichte spielt, weshalb die Kinder ange-
kettet sind, wer sie erschlägt usw. Im Zentrum steht eine
schreckliche Tat. Allerdings treten hier noch keine Täter auf,
nur ohnmächtige Zuschauer. Die Interviewerin versucht
nun, sich zu orientieren:
Interviewerin: «Was waren das für Kinder?»
Anna Dietrichsen: «Das waren, das müssen ja russische Kin-
der . . . »
Mathilde Beck: «Müssen russische Kinder gewesen sein.
Nein, nein, das waren doch, das, das sind in
Schlesien, da, wo sie gefangengenommen
worden sind.»
Weder Mathilde Beck noch ihre Tochter wissen offenbar
Genaues. Statt jedoch zu sagen, daß sie über die genauen
Umstände nichts wissen, beginnen sie, aus Fragmenten eine
halbwegs kohärente Geschichte zusammenzubauen. Anna
Dietrichsen entscheidet dann:
Anna Dietrichsen: «Es sind aber ausländische Kinder gewesen,
denn die Deutschen, dieser Deutsche hat diese Kinder ja ge-
quält. Einer auch, ’n deutscher Offizier.»

Hier nun schaltet sich ein verwirrter Enkel ein:


Lars Dietrichsen: «Er als Gefangener? Nee.»

worauf Anna Dietrichsen wiederholt:


Anna Dietrichsen: «Nein, dieser deutsche Offizier.»
Lars Dietrichsen: «Ach so, vor, ach so, als sie noch im Vor-
marsch waren . . .»

160
Anna Dietrichsen: «. . . hat diese, diese ausländischen Kinder
gequält, sogar totgeschlagen eins.»
Hier zeigt sich einmal mehr, daß jeder der Beteiligten be-
strebt ist, den fehlenden Orientierungsteil durch eigene Ver-
mutungen und Ergänzungen zu ersetzen: Lars Dietrichsen
hatte – auf den Hinweis seiner Großmutter hin – die Ge-
schichte zunächst in die Kriegsgefangenschaft verlegt, vermu-
tet nun aber, daß sie sich in einer eher frühen Kriegsphase,
nämlich während des «Vormarsches» der deutschen Truppen,
abgespielt habe. Anna Dietrichsen erzählt die Geschichte nun
weiter:
Anna Dietrichsen: «Und da hat Opa eben diesen deutschen
Offizier erschossen. Das war ja sein, sein, ja, war’s ’n Vorge-
setzter vielleicht sogar? Oder einer, er war mittlerweile auch
schon Hauptmann oder so. Jedenfalls hat er diesen deutschen
Offizier erschossen, und wie sie ihn, wie sie das dann ver-
tuscht haben, wie auch immer, ob das nun, ob da schon An-
griffe waren oder so.»

In dieser Schilderung wechseln sich Fragmente des histori-


schen Geschehens und Schlußfolgerungen beständig ab. Ihr
Vater hat den «deutschen Offizier» erschossen, das weiß
Anna Dietrichsen. Daß dieser Offizier sein Vorgesetzter war
– was die Tat aus ihrer Perspektive noch dramatischer ma-
chen würde –, vermutet sie, daß die Sache «vertuscht»
wurde, weiß sie wiederum (zumal die Tat für den Vater ja
offenbar keine Folgen hatte) – wie diese «Vertuschung» aller-
dings möglich war, darüber kann sie nur spekulieren. Ihre
Vermutung, «da hat Opa eben diesen deutschen Offizier er-
schossen», richtet sich direkt an ihren Sohn Lars. In einem
solchen Moment ist die Erinnerungsgemeinschaft selbst an-
gesprochen: Anna Dietrichsen sagt hier wohl nicht von
ungefähr nicht «er» oder «mein Vater», sondern wählt die
Bezeichnung «Opa», die auch den Enkel in die Erinnerungs-
gemeinschaft einschließt.
Insgesamt bleibt dabei die Geschichte, die Anna Dietrichsen
erzählt, kurz und ziemlich unklar: Ein deutscher Offizier

161
quält Kinder, erschlägt eins davon. Ihr Vater erschießt darauf-
hin den Offizier, was aber folgenlos bleibt. Die Schlußfolge-
rungen, Ergänzungen und Deutungen werden von Anna
Dietrichsen, aber auch von den Zuhörern gleichsam nach
Bedarf hinzugefügt; sie sind aber auch aus der Situation her-
aus notwendig geworden, denn schließlich hatte die Intervie-
werin nach der Herkunft der Kinder gefragt, und Lars hatte
Verständnisschwierigkeiten gezeigt, diese allerdings mit einer
eigenen situativen Zuordnung beseitigt («ach so, als sie noch
im Vormarsch waren»).
Nun geht es um die Nachgeschichte:
Anna Dietrichsen: «Jedenfalls hat ihn das ungeheuer belastet,
weil er diese Tat nun erstmal begangen hat. Auf der anderen
Seite war’s für ihn ja auch eine Rechtfertigung, weil dieser
Mann ja nun diese Kinder gequält hat und sogar eins erschla-
gen hatte. [. . .] Also das ist so die einzige Geschichte, die er
dann so mal erzählt hat. Aber, wie gesagt, es war dann auch
schon zu vorgerückter Stunde, und er sagte dann immer das:
‹Ich hab’ ihn erschossen, ich hab’ ihn erschossen!› Und dann
hab’ ich immer nur gesagt: ‹Du, das ist, für dieses Kind ist es
’ne Rechtfertigung. Du hattest in dem Moment keine andere
Möglichkeit.› Und dies Kind ist in dem Fall eben, ja, es ist ’ne
Rechtfertigung gewesen.»
Mathilde Beck: «Ja, und vor allem, die anderen Kinder kamen
ja frei dadurch.»

Eine «Tat begehen» klingt deutlich nach ein «Verbrechen be-


gehen». Was auch immer an unausgesprochenen Vermutun-
gen oder Zweifeln am entwickelten Hergang der Geschichte
hier zum Ausdruck kommt – den Vater jedenfalls hat seine
«Tat», Anna Dietrichsen zufolge, «ungeheuer belastet». Dies
wäre vor dem Hintergrund von soldatischem Korpsgeist nach-
vollziehbar, aber aus heutiger Sicht eher unverständlich, denn
das Handeln des Vaters scheint ja moralisch gerechtfertigt,
mehr noch, es wäre eine glatte Heldentat gewesen, die der
Vater mit Stolz hätte berichten können, ein durch und durch
gerechtfertigtes Aufbegehren gegen Unmenschlichkeit. Die

162
Geschichte offenbart hier ihre ganze Ambivalenz. Der Aus-
gangspunkt ist die Geschichte, die der Vater nur unter Alko-
hol und wahrscheinlich höchst bruchstückhaft erzählt hat, und
der Reim, den sich die Mitglieder der Familie auf diese Ge-
schichte machen, dem eine eindeutige Interpretationsrich-
tung zugrunde liegt: daß der Vater sich nicht nur nicht schul-
dig gemacht hat, sondern sogar gegen die Unmenschlichkeit
vorgegangen ist. Daß die Geschichte für ihn ganz folgenlos
geblieben ist, irritiert die Familie bei der Vergegenwärtigung
der Vergangenheit genausowenig wie alle anderen Inkonsi-
stenzen und logischen Widersprüche der Geschichte – die
fehlenden Orts-, Zeit- und Personenangaben, das Fehlen je-
des kausalen Zusammenhangs, das eigentümliche Schuldge-
fühl des Vaters. Die ganze Geschichte ist von einer Art Nebel
umgeben; das macht sie nicht nur interessant und irritierend,
sondern in höchstem Maße deutungsoffen. Eigentlich lebt
die Geschichte von den Leerstellen, die beliebig aufgefüllt
werden können – ob ein Kind erschlagen wurde, wie Anna
Dietrichsen meint, oder mehrere, wie Mathilde Beck sagt, ist
genauso offen wie die Nationalität der Kinder, der Ort des
Geschehens, die Funktion der wenigen handelnden Perso-
nen. Frau Beck wundert sich schließlich selbst darüber:
Mathilde Beck: «Aber wie das nun so genau gewesen ist und
wieso, wo das gewesen ist . . .»

Auch wenn es zunächst ganz anders aussieht: Genau damit


formuliert Frau Beck die «Leseanweisung» für diese Ge-
schichte: Macht damit, was ihr wollt! «Die Sache mit den
Kindern» findet ihren zentralen Platz im Familiengedächtnis
genau deswegen, weil sie völlig nebulös und deutungsoffen
ist – jeder der Zuhörer kann genau die Bestandteile einfügen,
die für ihn die höchste Plausibilität dafür besitzen, die Moral
der Geschichte zu sichern, die Frau Beck schließlich selbst
ausgesprochen hatte: daß durch das heldenhafte Vorgehen des
Vaters «die anderen Kinder [. . .] ja frei[kamen]!» Vielleicht ist
sogar die Gebrochenheit dieses Heldentums – daß der Vater
unter seiner Tat leidet und Alkohol braucht, um sie zu er-

163
zählen – selbst noch ein Beleg für die Stimmigkeit des
Ganzen. Ein protzender Held erscheint viel unglaubwürdiger
als ein gebrochener, und am Ende ist es die Nebelhaftigkeit
der Geschichte selbst, die sie für die Familienmitglieder je-
weils mit subjektiver Überzeugungskraft ausstattet.
Und bei genauerem Hinsehen werden ganz verschiedene
Geschichten erzählt: In der Version von Anna Dietrichsen
werden die Kinder gequält, und eines wird erschlagen, in der
Version von Mathilde Beck waren die Kinder «aneinanderge-
kettet und dann erschlagen». Für sie war der Vater zunächst
sogar ganz passiv: «Ja, und die standen dabei und konnten
nichts machen.» Daß sie vor dem Hintergrund der Nachge-
schichte, die die Tochter erzählt («Ich hab’ ihn erschossen, ich
hab’ ihn erschossen!») innerhalb weniger Dialogsequenzen
ihre Geschichte völlig umbaut und den Vater zum Befreier
der Kinder macht, zeigt, wie eine Geschichte aus völlig dispa-
raten und widersprüchlichen Elementen zusammengefügt
wird und ihre Plausibilität aus dem Ergebnis bezieht: daß der
Vater nämlich heldenhaft gehandelt hat.
Wie die Geschichte sich in der historischen Wirklichkeit zu-
getragen haben mag, läßt sich nicht beantworten. Zweifellos
hat sie, objektiv betrachtet, keine Plausibilität: Daß Wehr-
machtsangehörige ihre Vorgesetzten aus moralischen Erwä-
gungen heraus erschießen, mag gerade noch im Rahmen von
Landsergeschichten vom Typ «Steiner. Das eiserne Kreuz»
oder «08/15» kolportierbar sein; historische Quellen weisen
solche Fälle nicht aus. Aber das Familiengedächtnis trennt
nicht so fein zwischen Fiktion und Wirklichkeit wie das der
Wissenschaft. In den Einzelinterviews mit den Familienmit-
gliedern taucht die Geschichte nur mehr rudimentär auf. Der
Enkel erwähnt auf die Frage, was er von den Geschichten des
Großvaters behalten habe: «Dies eine da mit den Kindern und
dem Hauptmann, den er erschossen hat.» Die Tochter ant-
wortet im Einzelinterview auf die Frage nach den prägnante-
sten Geschichten, die sie von ihren Eltern kennt, mit einer
Zusammenfassung der im Familiengespräch entwickelten
Geschichte:

164
Anna Dietrichsen: «Bei unserem Vater in erster Linie die Sache
mit den Kindern. Als er da seinen Offizier da erschossen hat,
um diese Kinder da eben zu retten bzw. um die zu rächen,
die der andere da schon umgebracht hatte.»
Beiden Erzählern geht es nunmehr um «die Sache mit den
Kindern», nicht mehr, wie zu Beginn im Familiengespräch,
um «die Sache mit dem Kind». Im Unterschied zum Enkel er-
wähnt die Tochter die Motive ihres Vaters – das schon im Fa-
miliengespräch vorhandene Motiv, die Kinder zu retten, wird
dabei um ein weiteres ergänzt: Rache für die bereits getöteten
Kinder. Beide Erzähler verleihen aber dem «Erschossenen»
konkretere Gestalt: Beim Enkel handelt es sich um einen
«Hauptmann», bei der Tochter um «seinen Offizier». Die Ge-
schichte wird in den Einzelgesprächen mithin eindeutiger
und konkreter als im Familiengespräch.
Und wie erzählt Frau Beck die Geschichte im Einzelinter-
view? Gar nicht. Darauf angesprochen, was ihr Mann erzählt
habe, sagt sie:
Mathilde Beck: «Mein Gott, ich war ja auch da im Kriegs-
dienst in und an der Flak gewesen also, und da gab es auch
Dinge, die man eben doch gerne vergessen wollte. Und
wenn jemand nun wenig erzählt, und sicher habe ich gefragt,
aber wenn ich merkte, daß er es nicht gerne erzählen wollte,
dann bin ich nicht weiter drauf eingegangen.»

Verlassen wir damit die Geschichte von der «Sache mit dem
Kind». Frau Beck scheint wenig Bedürfnis zu verspüren,
nochmals auf diese Geschichte einzugehen. Sei es, daß sie der
Auffassung ist, im Familiengespräch sei genug gesagt worden,
sei es, daß ihr die Geschichte im nachhinein unbehaglich ist,
sei es, daß sie selbst sie unwichtig findet – ihre Tochter und ihr
Enkel jedenfalls haben ihre eigene Lesart entwickelt, die sie
weitergeben können, und dem Familiengedächtnis bleibt sie
gewiß erhalten, nicht trotz, sondern wegen des Nebels, der
«die Sache mit dem Kind» umgibt.
Denn das Interessante an Geschichten dieser Art ist ja, daß sie
unvollständig, widersprüchlich, lückenhaft, historisch dispa-

165
rat und gerade deshalb für das Gedächtnis einer Erinnerungs-
gemeinschaft wirksam sind: Jeder der Zuhörer kann jede
Bruchstelle, jeden Widerspruch dafür nutzen, seinen eigenen
Sinn in die Geschichte hineinzutragen – wie die Versuchsper-
sonen Bartletts, die sich die fremde Geschichte durch «Impor-
tieren» von eigenen kulturellen Deutungsmustern und sinn-
haften Versatzstücken aus dem persönlichen Erfahrungsbe-
reich zu eigen machten. Auch hier verläuft die Aneignung
von Episoden des Familiengedächtnisses nach dem Prinzip
des Lücken-Auffüllens und Montierens; die Richtung solcher
sinnmachenden Operationen freilich erfolgt nach Maßgabe
des von allen Familienmitgliedern geteilten «sozialen Mar-
kers»: daß der Großvater ein guter Kerl war, der sein Leben
für Kinder eingesetzt hat.
Vielleicht halten Sie an dieser Stelle kurz inne und überlegen,
welche Geschichten Ihnen aus Ihrer Familienvergangenheit
einfallen, die ähnlich lückenhaft und nebulös sind, deren
Merkmale changierend und austauschbar, deren Botschaft
aber ganz eindeutig ist. In diesem Zusammenhang möchte
ich Sie auf einen weiteren irritierenden Aspekt aufmerksam
machen. Wir haben uns nämlich noch nicht mit der Frage be-
schäftigt, woher eigentlich das Erzählmaterial stammt, mit
dem Familien wie die Becks ihre Vergangenheit ausstatten,
sondern waren stillschweigend davon ausgegangen, daß die
«Geschichte mit dem Kind» zwar einigermaßen nebulös er-
zählt wurde, aber wohl doch ein wie immer geartetes histori-
sches Korrelat aufweisen würde – etwas, was wenigstens im
Ansatz «wirklich» passiert ist.
Natürlich haben wir keinerlei Möglichkeit, herauszufinden,
was an den Erinnerungen der Familienmitglieder an die Erin-
nerung des Großvaters irgendeiner historischen Wirklichkeit
entspricht oder nicht. Es könnte aber sein, daß die Familien-
mitglieder nicht erst dort als Sinnimporteure tätig werden,
wo es in der Geschichte zu Brüchen und Widersprüchen
kommt, sondern daß wesentliche Teile der «Geschichte mit
dem Kind» selbst schon ein Import aus einem ganz anderen
Zusammenhang sind, zum Beispiel aus dem Spielfilm «Die

166
Mörder sind unter uns» von Wolfgang Staudte. Verblüffen-
derweise finden sich nämlich in diesem Film von 1946 sowohl
handelnde Personen als auch Erzählelemente, die mit der Ge-
schichte der Familie Beck auf das genaueste übereinstimmen.
«Die Mörder sind unter uns» handelt, in aller Kürze, von
einem aus dem Krieg zurückgekehrten jungen Arzt, Dr. Mer-
tens, der, melancholisch und zynisch geworden, dem Trunk
verfällt, wobei die Grundmotive für diese Haltung zunächst
unklar bleiben. Nach einem Zusammenbruch liegt der junge
Mann delirierend auf der Couch in einer Arztpraxis und
schreit, wie in einem Fiebertraum, mit weit aufgerissenen
Augen: «Die Kinder! Laßt doch die Kinder!», was von dem
behandelnden Arzt abgeklärt kommentiert wird: «Offenbar
ein Kriegserlebnis.» In der Tat: Wie sich in einer Rückblende
erschließt, war Mertens als junger Unteroffizier – Orte und
Zeiten bleiben auch hier ungenannt – damit beauftragt, einen
Weihnachtsstern für den Tannenbaum zu besorgen, der das
Zentrum einer Weihnachtsfeier der Wehrmachtssoldaten bil-
den sollte. Zuvor allerdings, so erfährt Mertens, sollten noch
die Einwohner des Dorfes liquidiert werden, das die Einheit
gerade besetzt hatte, und zwar inklusive der Kinder. Mertens
erfährt davon und versucht vergeblich, seinen Hauptmann
von diesem Entschluß abzubringen. Die Kinder werden er-
schossen, die Weihnachtsfeier findet statt. Nach dem Krieg
wird der Hauptmann Brückner Fabrikant und preßt aus
Stahlhelmen Kochtöpfe; als Mertens, der ihn für tot gehalten
hatte, ihn findet und Brückner in aller Saturiertheit und
Selbstzufriedenheit antrifft, beschließt er, ihn zu töten, und
zwar, gewissermaßen nachholend, auf einer Weihnachtsfeier,
die Brückner für seine Arbeiter ausrichtet. Bevor Mertens
allerdings zum Mörder werden kann, hält ihn eine junge
Frau, die sich in ihn verliebt hat, davon ab, die Tat auszu-
führen.
Soweit in aller Kürze die wesentlichen Züge jenes ersten
Nachkriegsfilms, in dem zumindest rudimentär verbrecheri-
sche Handlungen von Wehrmachtssoldaten thematisiert wer-
den – wohlgemerkt, ohne örtliche und zeitliche Angaben,

167
Abb. 16: «Offenbar ein Kriegserlebnis» (aus dem Film «Die
Mörder sind unter uns», Wolfgang Staudte, Deutschland
1946).

auch ohne Hinweise darauf, welche Dorfbewohner umge-


bracht werden, genau wie in der Geschichte der Becks. Auch
die delirierende Verzweiflung des zusammengebrochenen Dr.
Mertens erinnert an den betrunkenen Großvater und seine
Verzweifelung («Ich hab ihn erschossen, ich hab ihn erschos-
sen!»), und in beiden Geschichten stehen (von anderen) er-
mordete Kinder im Zentrum der erzählten Geschichte.
Kann es sein, daß Anna Dietrichsen und Mathilde Beck ir-
gendeine Erzählung, irgendein angedeutetes Erlebnis des
Großvaters mit Erzählelementen aus diesem Film angerei-
chert, situative Merkmale und Personen in ein vielleicht ganz
unklares, dunkles Vergangenheitselement aus der Lebensge-
schichte von Herrn Beck importiert haben und sich nicht
mehr erinnern, daß diese Importe aus einer anderen Quelle
als aus der Familiengeschichte stammen? Das im zweiten Ka-
pitel erwähnte Phänomen der Quellenamnesie, das den Um-
stand bezeichnet, daß ein Ereignis korrekt erinnert wird, aber

168
Abb. 17: «Die Kinder! Laßt doch die Kinder!» (aus dem Film
«Die Mörder sind unter uns», Wolfgang Staudte, Deutsch-
land 1946).

hinsichtlich seiner ursprünglichen Quelle falsch zugeordnet


wird, würde zumindest nicht dagegen sprechen – es ist im
Gegenteil sogar ziemlich wahrscheinlich, daß wir alle unseren
eigenen Lebensgeschichten Elemente und Episoden beige-
fügt haben, die andere – fiktive oder reale – Personen erlebt
haben und nicht wir selbst. Auch die Befunde über die viel-
fältigen «false memories», die mühelos einen Platz in unserem
autobiographischen Gedächtnis finden, würden nicht dage-
gen sprechen, daß «fremde» Erlebnisse in die Familienge-
schichte aufgenommen werden – zumal es sich beim Famili-
engedächtnis um ein «verteiltes» Gedächtnis handelt, dessen
Inhalte sich in der Vergegenwärtigungs- und Verfertigungssi-
tuation stark verändern oder sogar erst bilden. Natürlich gibt
es keine Möglichkeit, positiv zu entscheiden, daß die Becks
bei ihrer Vergegenwärtigung der Vergangenheit in Wahrheit
auf den Film «Die Mörder sind unter uns» zurückgreifen, und
die neuerdings vielfach behauptete Möglichkeit, erfundene

169
von wirklichen Erlebnissen auf der neuronalen Ebene diffe-
renzieren zu können, würde im Fall distributiver Gedächtnis-
formen fehlgreifen: Denn für die nachfolgenden Familien-
mitglieder sind ja ihre Erinnerungen an die Erinnerungen der
Großeltern «wahre» Erinnerungen, nämlich an das eigene Er-
lebnis der Verfertigung der Vergangenheit im Gespräch.
VII. Der Stoff, aus dem die
Lebensgeschichten sind

«Abenteuer erlebt nur der, der sie zu erzählen weiß.»


Henry James

«Das Ereignis ist nicht das, was passiert.


Das Ereignis ist das, was erzählt werden kann.»
Allen Feldman

Ein ehemaliger deutscher Soldat des Zweiten Welt-


kriegs erzählt in einem Interview von seiner Verschiffung in
die Kriegsgefangenschaft: «Unten, nicht, am Kap, diese riesi-
gen Stürme, ne – ich hatte mich festgebunden am Mast – das
war ein tolles Erlebnis, ne. Sie können sich das vorstellen,
haushohe Wellen, nicht, und dann die Albatrosse, die da im-
mer, das war schon, nicht? Und dann nachts noch das Kreuz
des Südens, nicht? Also, das ist so in meiner Erinnerung,
nicht, ne tolle Geschichte, nicht?» Das Erzählmodell für diese
Geschichte ist, man erkennt es unschwer, die Odyssee – der
ehemalige Kriegsgefangene erinnert seine Verschiffung nach
der Vorlage des homerischen Epos.174
Man sieht also, daß es nicht zwingend visuelle Vorlagen sein
müssen, die in das autobiographische Gedächtnis importiert
werden, es können – zumal, wenn der Erzähler über einen
gewissen Hintergrund an Bildung verfügt – auch Erzählseg-
mente sein, die aus der klassischen Literatur stammen und in
die eigene Lebensgeschichte montiert werden. Neben dem
Direktimport von Erzählsegmenten und Geschichten dürfte
insgesamt – wie in Bartletts Experimenten – aber von größe-
rer Bedeutung sein, daß unsere autobiographischen Erzäh-
lungen Organisationsprinzipien folgen, die sozial gebildet
sind – wir alle haben im Prozeß des «memory talk», in der ge-

171
meinsamen Praxis des konversationellen Erinnerns, durch je-
des gelesene Buch und jeden gesehenen Film gelernt, daß
eine richtige Geschichte einen Anfang, einen Mittelteil und
einen Schluß hat und daß sie bestimmten Grundmustern zu
folgen hat, um kommunizierbar zu sein. Diese Grundmuster
sind, Hayden White zufolge, die Komödie, die Tragödie, die
Satire und die Romanze.175 Natürlich fallen die Ausprägun-
gen solcher narrativen Grundmuster kulturspezifisch unter-
schiedlich aus, weil der «Sinn», den die Geschichten transpor-
tieren bzw. dem Leser oder Hörer eröffnen, nur ein kulturell
geprägter Sinn sein kann. Dazu gehört essentiell die Unter-
scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, de-
ren Verhältnis zueinander interkulturell durchaus verschieden
– etwa linear oder zyklisch – ausfallen kann. Zu den Elemen-
ten, die eine Geschichte zu einer gelungenen, das heißt zu
einer sozial geteilten und akzeptierten Geschichte machen,
gehören Kenneth Gergen zufolge ein «werthaltiger End-
punkt» (wie der, daß Großvater Beck ein «guter Kerl» war)
und die Strukturierung der einzelnen Erzählelemente auf
diesen Endpunkt hin. In diesem Sinn vertritt auch Gergen die
Auffassung, daß das Gedächtnis ein «diskursives Artefakt» ist
und daß Erzählen selbst immer auch Erinnern ist: «Das be-
deutet, daß wir unter gewissen Bedingungen bestimmte
Handlungen insgesamt als ‹sich erinnern› betrachten. [. . .] In-
dem man das Gedächtnis bzw. die Erinnerung für eine diskur-
sive Leistung hält, schlägt man auch vor, ‹ein Gedächtnis› zu
haben hieße, an einer kulturellen Tradition teilzuhaben. Von
einer Vergangenheit zu sprechen bedeutet, sich in eine Tradi-
tion der Sprache zu stellen, für die die Regeln für das Er-
zählen wohlgeformter Geschichten angemessen sind.»176
Man kann das präzisieren, indem man, wie etwa der Sozialpsy-
chologe Erving Goffman,177 darauf hinweist, daß nicht erst die
Weitergabe von Erlebtem solchen Mustern und Regeln folgt,
sondern schon die Wahrnehmung und Interpretation des Ge-
schehens in dem Augenblick, in dem es passiert. Kulturelle
Rahmen sind bereits im individuellen Bewußtsein als Struktu-
rierungsmatrizen für die Verarbeitung von Informationen

172
wirksam – und das bedeutet, daß wir es bei dem Phänomen des
Imports vorgestanzter Erlebnisse in die eigene Lebensge-
schichte mit einem zirkulären Vorgang zu tun haben: Denn
wenn sich zum Beispiel Sequenzen aus Spielfilmen als passend
für die Konstruktion von «selbsterlebten» Kriegsgeschichten er-
weisen, dann auch deswegen, weil sie vielleicht umgekehrt eine
Art gemeinsame Summe von Erlebnis- und Erfahrungsfrag-
menten bilden, die vielen ehemaligen Soldaten so oder ähnlich,
vollständig oder in Teilen, tatsächlich begegnet sind. Denn
zweifellos beziehen ja auch die filmischen Vorlagen ihre Erzähl-
struktur und ihre Ausstattungsmerkmale aus Narrationen, die
ihnen vorausliegen: Die Bewährungsgeschichte des einfachen
Soldaten im Krieg, die narrative Struktur der Abenteuerge-
schichte, die Dramaturgie der Tragödie sind ihrerseits Vorlagen,
die von den filmischen Medien adaptiert werden, und das ge-
samte Verhältnis von Erzählvorlagen, Erlebnissen, Weitergaben
von Erlebnisberichten und Bebilderungen mit vorhandenem
visuellen Material ist unentwirrbar komplex. Besonders seit es
Fernsehen gibt, wissen Soldaten schon vor der ersten Feind-
berührung, wie es aussieht, wenn ein feindlicher Soldat fällt und
stirbt – oder auch nicht, wie der 22jährige Offizier Gary McKay
etwas enttäuscht aus dem Vietnamkrieg berichtet: «Es ist gar
nicht so, wie man es normalerweise aus dem Kino oder dem
Fernsehen kennt: kein fürchterliches Schreien der Verwunde-
ten, nur ein Grunzen, und dann fällt er völlig unkontrolliert zu
Boden.» Andere Berichte fallen eher erwartungsgemäß aus –
etwa, wenn ein U-Boot genauso untergeht wie in einem Hol-
lywood-Film oder ein Flugzeug «genau wie im Kino» explo-
diert. Diese und zahlreiche ähnliche Beispiele finden sich bei
Joanna Bourke,178 die ihre Auswertung von Kriegsromanen,
Tagebüchern und Interviews so zusammenfaßt: «Jede Interpre-
tation der Tagebücher, Briefe und Autobiographien von Kriegs-
teilnehmern zeigt das Ausmaß, in dem literarische und filmische
Bilder von Männern und Frauen übernommen (und umge-
schrieben) werden, und zwar bevor der Krieg beginnt.»179
Dies gilt im übrigen auch dann, wenn die entsprechenden
Personen gar nicht unmittelbar in Kampfhandlungen invol-

173
viert, sondern etwa in Versorgungs- oder Nachrichteneinhei-
ten eingesetzt waren. Kriege scheinen regelmäßig so etwas
wie einen «Ich war dabei»-Mythos hervorzurufen, der auch
denjenigen gefahrvolle Erlebnisse abverlangt, die allenfalls
von ferne oder aus zweiter Hand etwas von Kampfhandlun-
gen mitbekommen haben. Bourke zitiert einen Vietnamve-
teranen, der sich darüber aufregt, im Krankenhaus Soldaten
getroffen zu haben, die über Flashbacks180 klagten, ohne je in
Kampfhandlungen verwickelt gewesen zu sein: «Diese Typen
hatten schwere Flashbacks. [. . .] Ich hab das nicht verstanden.
Ich hab gesagt: ‹Worüber redet ihr eigentlich? Ihr wart in der
Artillerie. Im Basislager. Ihr habt aus fünf Meilen Entfernung
geschossen und redet über Flashbacks?›»181
Ein universales narratives Modell im Zusammenhang von
Kriegsgeschichten ist das vom Gerade-noch-davongekom-
men-Sein: Würde man all jene Personen zusammenzählen,
die mit dem «letzten Flugzeug» aus Stalingrad oder mit dem
«letzten Hubschrauber» aus Saigon entkamen, hätte es sich
dabei um Fluggeräte von der Größe von Jumbo-Jets handeln
müssen. Es soll, wie man mir erzählt hat, auf einem Vetera-
nentreffen tatsächlich zu einem Zusammentreffen zweier
«authentischer» Insassen des letzten Stalingrad-Flugzeugs ge-
kommen sein, die sich natürlich nicht kannten und wechsel-
seitig behaupteten, daß der jeweils andere ein Lügner sei. Ob
überhaupt einer der beiden im Flugzeug gewesen war, blieb
ungeklärt. Klar war aber, daß sie beide subjektiv völlig davon
überzeugt waren, die Wahrheit zu sagen.
Wodurch auch immer die lebensgeschichtlichen Berichte vom
Krieg gespeist werden, festzuhalten bleibt, daß schon die Wahr-
nehmung des Geschehens, von dem dann später berichtet wird,
durch mediale Vorlagen strukturiert wird. Die biographische
Erzählung von Zeitzeugen ist sowohl in der Erlebnis- wie in der
Berichtssituation nach verfügbaren Modellen geformt, die die
Erfahrung dann lediglich mit einem so oder so nuancierten In-
halt variiert, um sie für den Erzähler selbst wie für den Zuhörer
zu einer «wahren», d. h. selbst erlebten und authentisch berich-
teten Geschichte zu machen. In diesem Sinne erfinden wohl

174
mehr Geschichten ihre Erzähler als Erzähler ihre Geschichten.
So ist es wenig verwunderlich, daß sich in Interviewmaterial,
wie es in der «oral history», im Fernseh-Feature oder aber
in Zeitzeugenarchiven verwendet wird, ziemlich deutliche
Spuren der Wirksamkeit der medialen Bilderflut auf die in-
dividuellen Vergangenheitsbilder finden, und zwar in unter-
schiedlicher Wirkungsrichtung: Werden bildhafte Versatz-
stücke und Spielfilmszenen einerseits ununterscheidbar mit
autobiographischen Erlebnisschilderungen verwoben, dienen
andererseits gerade filmische Vermittlungen und insbesondere
die des Spielfilms in der Wahrnehmung der Befragten als hi-
storische Belege dafür, wie die Vergangenheit wirklich war.
Dadurch, daß die Bilder zu Nationalsozialismus und Holo-
caust in den vergangenen zwei Jahrzehnten im deutschen
Fernsehen immer präsenter geworden sind und das Kino
schon von Beginn an gerade das Genre des Kriegsfilms pflegt,
schiebt sich ein riesiges Inventar von Bildmaterial vor die
Deutungen jener Geschichten, die Kinder und Enkel von
ihren Eltern und Großeltern erzählt bekommen. Gerade weil
die mündlich weitergegebenen Geschichten vom Krieg und
von der «schlechten Zeit», von Verfolgung und Vertreibung,
oftmals einen eigentümlich fragmentarischen und nebulösen
Charakter haben, gleichwohl aber das Bedürfnis besteht, eine
Familiengeschichte als konsistent und sinnhaft erleben zu
können, dienen die medialen Produkte als Füllmaterial für
die Leerstellen in den Erzählungen, als Erklärungen für Wi-
dersprüche und als Lichtzeichen im Nebel der erzählten Ver-
gangenheit. Dies gilt übrigens nicht nur für die Nachfolge-
generationen, sondern auch für die Zeitzeugen selbst, deren
Erlebnisse und Erfahrungen mit jenen Filmen und Bildern
überblendet werden, die sie in der Nachkriegszeit gesehen
haben. Die Stimmigkeit und Plausibilität von Erzählungen
wird dabei zunehmend daran gemessen, inwieweit sie mit
dem Bildinventar in Übereinstimmung zu bringen sind, das
die Medien bereitgestellt haben. Dieser Wahrnehmungsme-
chanismus funktioniert auch umgekehrt: «Für wirklich hält
der Filmbetrachter vor allem das, was den Eindruck von

175
Wirklichkeit macht; für wenig eindrucksvoll wird dagegen
gehalten, was diesem Illusionscharakter des Mediums nicht
entspricht, sondern ihn irritiert.»182
Wir haben die Richtigkeit dieser Beobachtung beim Vorführen
eines filmischen Zusammenschnitts, den wir Familien zu Be-
ginn des gemeinsamen Gesprächs vorführten, in aller Deut-
lichkeit bestätigt gefunden. Die Überlegung, ein möglichst
deutungsoffenes Material einsetzen zu müssen, das gleichwohl
geeignet wäre, das Familiengespräch auf den assoziativen
Raum des «Dritten Reiches» zu fokussieren, führte zur Wahl
von Amateurfilmmaterial, das in einem etwa 10minütigen Zu-
sammenschnitt mehr oder minder zufällig und dilettantisch
entstandene Aufnahmen von Hochzeitsfeiern bis zu Deporta-
tionen zeigte. Dieses unbekannte Filmmaterial, das zudem
nicht nachträglich vertont, sondern stumm vorgeführt wurde,
führte zu beträchtlichen Irritationen bei den Betrachtern, und
zwar deshalb, weil es offenbar so etwas wie einen gesellschaft-
lich standardisierten, bebilderten Assoziationsraum der NS-
Vergangenheit gibt, und dieser Raum scheint mit einem klar
begrenzten und bekannten Inventar von Bildern und Tönen
ausgestattet zu sein. Wird etwas gezeigt, was diesem Inventar
nicht entspricht, wozu übrigens meist schon die Verwendung
farbigen Materials ausreicht, entsteht beim Betrachter Unbe-
hagen, zumindest das Bedürfnis, dieses Material hinsichtlich
seiner Herkunft und seiner Entstehung zu problematisieren:
So hatte eine Dame (Jg. 1953) eine interessante Assoziation zu
einem farbigen Segment im verwendeten Grundreiz: «Eben,
wie da plötzlich Farbe drin war, da hab’ ich also gedacht, ach,
hier fängt ’ne schönere Zeit an, ein bißchen Farbe. Weil dieses
Schwarzweiß, das ist ja zu dem Thema selber auch noch so er-
drückend. So dunkel eben alles.»
In diesem Zusammenhang steht auch die befremdliche Beob-
achtung, daß die Zuschauer gelegentlich das, was inszeniert
ist, für realistischer halten als das, was tatsächlich filmisches
Quellenmaterial ist. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch
nennt hier ein «russisches» Dorf, das in Ungarn für Film-
zwecke erbaut und zerstört worden ist – eine Filmsequenz,

176
die ganz ungeachtet ihrer Entstehungsgeschichte zumindest
in Ungarn «mittlerweile Generationen die Schrecksekunden
der Historie ins Gedächtnis brennt».183 Mir ist es einmal bei
einem Pauschalurlaub in der Türkei passiert, daß ein Urlaubs-
bekannter, der viel in der Gegend des Hotels unterwegs war,
eines Abends beim Essen berichtete, endlich ein typisches
und noch dazu hübsches türkisches Städtchen entdeckt zu ha-
ben, das vom Tourismus kaum verschandelt sei. Bei einem
gemeinsamen Besuch an einem der nächsten Tage stellte sich
zu seiner Ernüchterung heraus, daß dieses prächtig erhaltene
Städtchen nichts als die aufwendige Kulisse für eine deutsche
Fernsehserie war – er hatte sie zuvor ausgerechnet an einem
drehfreien Tag gesehen.
Auch auf solche Weise bestätigt sich wieder, wie sehr ästheti-
sche Produkte und eben insbesondere Filme zu Wahrneh-
mungs- und Deutungsrahmen für Erlebnisse werden. Als mir
ein über neunzigjähriger Mann, ein glänzender Erzähler, über
seine Arbeitssuche in den frühen dreißiger Jahren berichtete,
konnte ich mir sein Leben und seine Abenteuer trotz der An-
schaulichkeit seiner Schilderungen und aller Anstrengungen
meiner Phantasie nicht in Farbe vorstellen, sondern nur in
einem Schwarzweiß, das eine merkwürdige bräunliche Patina
hatte. Die Protagonisten seiner Geschichten, die Chefs, Abtei-
lungsleiter und Vorzimmerdamen, sahen aus wie in Heinz-
Rühmann-Filmen und benahmen sich auch so. Sie saßen in
denselben Büros und Buchhaltungen und sprachen sogar mit
einer Art Grundrauschen.
In der erwähnten Mehrgenerationenstudie hat ein Befragter
aus der Kindergeneration, Paul Boesch, selbst das Ineinander-
fließen von medialen Vorlagen, Erzählungen seiner Eltern
und eigenen Wahrnehmungen beschrieben:
Paul Boesch: «Ich hab’ nur noch die Geschichten, die haben
sich irgendwie fast wie Bilder eingeprägt. Ich hab’ mir dann
als Kind irgendwas vorgestellt und fand das auch irgendwie ja
unfaßbar.»
Interviewerin: «Mhm. Was hast Du Dir da vorgestellt, also sol-
che Bilder, wie kann man die beschreiben?»

177
Paul Boesch: «Naja, ich mein’, das ist dann sicher ’ne Mi-
schung aus Filmmaterial und so ’nen Sachen, denke ich.
Also, so SS-Männer mit Totenkopf und Stahlhelm und Ma-
schinengewehren und langen Mänteln und großen Stiefeln
und irgendwie arme Schweine, die mit geschorenen Haaren
und abgemagert, ja, Opfer, Täter, hab’ ich mir da ausgemalt
und dazu das dann projiziert, sicher mit Bildern aus dem
Fernsehen hauptsächlich. Und dazu kombiniert natürlich mit
diesem Umfeld da, dieses Haus, die Straße und so. Ich hab’
auch überlegt, wer hat, wer wohnt da, wessen Haus ist das
und so, wo waren diese Leute und so.»
Eine solche Einschätzung, daß das eigene Geschichtsbild als
Komposition aus medialen Vorlagen, Erzählungen des Vaters
und eigenen Wahrnehmungen betrachtet wird, ist eher un-
gewöhnlich. Viel häufiger findet sich nämlich eine ganz selbst-
verständliche, unabsichtliche und vielleicht auch unbewußte
Inanspruchnahme vorliegender Geschichten literarischer oder
filmischer Herkunft. Dabei besteht das Problem der Analyse
von Interviewmaterial, das medialen Scripts zu folgen scheint,
darin, daß die Erzähler die Vorlagen nur höchst selten eins zu
eins adaptieren, sondern sie mit eigenem Sinn versehen. Wie bei
der Familie Beck im vorangegangenen Kapitel werden bei der
gemeinsamen Verfertigung der Vergangenheit im Gespräch die
jeweiligen Versatzstücke und Fragmente aus anderen Geschich-
ten in die eigene Lebensgeschichte integriert, indem sie ange-
eignet, d. h. den biographischen, situationsspezifischen und nar-
rativen Erfordernissen entsprechend umgeschrieben werden.
Gerade um den Anforderungen einer gelungenen Geschichte
entsprechen zu können, müssen sie umgetextet, der eigenen
Lebens- oder Familiengeschichte eingeschrieben werden.
Dieser Vorgang macht es nun allerdings schwierig, den Nach-
weis zu führen, diese oder jene «Lebens»-Geschichte entstamme
in Wahrheit diesem oder jenem Film oder Buch. Man kann die-
ses Problem am Beispiel eines Befragten illustrieren, dessen
Erzählungen außerordentlich detailliert und ungewöhnlich er-
eignisreich und spannend sind: Herr Wieck präsentiert seinem
Interviewer eine Sammlung von Vorkriegs- und Kriegserzäh-
lungen, die ein nahezu vollständiges Inventar von Widerstands-

178
handlungen gegen SA-Männer und Feldwebel, von Erzählun-
gen über Kameradschaft, Loyalität, Abenteurertum, über Ver-
wundungen und Auszeichnungen, über Heldentum und abge-
klärten Zynismus beinhaltet. Herr Wieck, so könnte man seine
Geschichten zusammenfassen, repräsentiert das überlieferte Er-
scheinungsbild des deutschen Landsers, tapfer, ehrlich, abge-
klärt, von seiner Führung betrogen, aber moralisch unbefleckt.
Genau damit folgt Herr Wieck einer «Verwegenheitsromantik
des Kriegshelden», wie sie in der Nachkriegszeit durch eine Un-
zahl von Illustriertengeschichten mit den entsprechenden Fo-
tos, durch Romane und Filme (wie etwa Hans Helmut Kirsts
«08/15») ausgebildet worden ist.184 Dem Zuhörer von Herrn
Wiecks Geschichten drängt sich entsprechend während vieler
Passagen der Erzählung unwillkürlich der Eindruck auf, man
habe die Geschichten schon einmal gehört oder gesehen; sie
muten keineswegs fremd an, sondern auf merkwürdige Weise
vertraut. Der Versuch, den eigenen Assoziationen nachzuge-
hen, erweist sich allerdings als erfolglos, weil man Herrn Wiecks
Geschichten in den Vorlagen nicht findet, jedenfalls nicht im
Abbildungsverhältnis eins zu eins.
Nehmen wir die folgende Erzählung als Beispiel:
Herr Wieck: «Eine Episode hab’ ich noch. Bei einem Großan-
griff, da war folgendes. Wir mußten ja etwas zurück, und
dann ging’s mal wieder vorwärts, und es war’n aber Granat-
trichter da, die drei, vier Meter tief waren und mit Schnee
und alles. Und bei dem Angriff, da bist natürlich immer in
Deckung gegangen, und da bin ich in einen Granattrichter
reingesprungen, und da war aber ’n Russe drin. Der war
höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt, hat auch keinen
Helm, nichts aufgehabt, nur ’n Gewehr. Und ich sprang da-
drin, und ich als Sanitäter, ich hatt’ ja nur meine große Klei-
derschere im rechten Stiefel gehabt und meine 08 im linken
Stiefel und Riesensäcke mit Verbandsmaterial. Jetzt war ich
auch so schockiert, im Moment, daß ich gar keine Antwort
also mit dem gefunden hab’. Und der guckt mich kreide-
bleich an, hat sein Gewehr. Und die Granaten da links und
rechts rein, wir sind natürlich auch in Deckung gegangen.
Hab’ halt gedacht: ‹Was machste denn bloß?› Und dann hab’

179
ich erstmal oben reingegriffen, und da hab’ ich tatsächlich
noch drei Zigaretten dadrin gehabt, die hab’ ich dann raus
und hab’ ihm ’ne Zigarette gegeben und hab’ ihm Feuer ge-
geben, und der guckt mich ganz entgeistert an, und dann ha-
ben wir die Zigarette geraucht, und dann hab’ ich ihm nur
gesagt: ‹Hau ab!› Also, bei ’ner Gelegenheit ist er rausge-
sprungen. Was sollt’ ich ihn erschießen?»

Herr Wieck erzählt eine Geschichte, die er offensichtlich


schon oft zum besten gegeben hat: «Eine Episode hab’ ich
noch», beginnt er und berichtet dann von seiner Begegnung
mit dem feindlichen Soldaten im Granattrichter. Diese Be-
gegnung liegt als mediales Script in vielfacher Weise vor: Das
bekannteste Modell entstammt der Verfilmung von Erich
Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues», freilich
mit dem Unterschied, daß der junge deutsche Soldat Paul hier
nicht auf einen Russen, sondern auf einen Franzosen trifft
und mit diesem keine Zigarette teilt, sondern ihn ganz im
Gegenteil tödlich mit dem Messer verletzt. In der erzählten
Zeit des Films dauert es dann die ganze Nacht, bis der Fran-
zose stirbt, getröstet und umsorgt von dem verzweifelten
deutschen Soldaten. Die Happy-End-Variante, die Herr
Wieck erzählt, scheint hingegen eher dem ästhetischen Mo-
dell des Landserheftchens bzw. des Illustriertenromans der
fünfziger Jahre185 nachgebildet zu sein – ganz besonders die
ikonische Landsergeste: «hab’ ihm ’ne Zigarette gegeben und
hab’ ihm Feuer gegeben [. . .] und dann haben wir die Ziga-
rette geraucht.» In dieses ästhetische Modell fließt, übrigens
genauso wie in Remarques Vorlage, die sich ja auf den Ersten
Weltkrieg bezieht, alles zusammen, was den Mythos des ein-
fachen Soldaten ausmacht: nämlich Opfer eines ungewollten
Geschehens zu sein, in dem man sich gleichwohl bewährt,
gegen Menschen kämpfen zu müssen, die unter anderen Um-
ständen die besten Freunde sein könnten, die der eigenen
sozialen Herkunft, dem eigenen Ethos entsprechen und mit
denen man sich in einer eigentümlichen Auszeit des Krieges
für einen Augenblick verbündet – «universal soldiers» im Jen-
seits eines Krieges, der sie innerlich gar nichts angeht. «Nicht

180
Abb. 18: Herr Wieck: «Was sollt’ ich ihn erschießen?» (Sze-
nenfoto aus «Im Westen nichts Neues», Lewis Milestone,
USA 1930).

der Landser», schreibt Habbo Knoch, «war für den Krieg ver-
antwortlich – der Krieg und seine Verantwortlichen, zu de-
nen er nicht zählte, schufen den Landser.»186
Nach diesem Modell bildet Herr Wieck eine Geschichte, die
ihre Wirkung besonders durch die Details der situativen
Schilderung zu beziehen scheint: «ich hatt’ ja nur meine
große Kleiderschere im rechten Stiefel gehabt und meine 08
im linken Stiefel» usw. Herr Wieck erzählt eine gelungene
Geschichte, die sich offenbar schon in vielen vorangegange-
nen Gesprächen bewährt hat. Auch hier hört der Interviewer
gespannt zu, ohne nachzufragen oder zu unterbrechen – und
Herr Wieck liefert eine Erzählung, die ihn dem jungen, er-
schrockenen, russischen Soldaten gegenüber als deutlich
überlegen erscheinen läßt und seine gerade deshalb humane,
fast väterlich-souveräne Bewältigung der Situation plausibel
macht: «Was sollt’ ich ihn erschießen?»
Ununterscheidbar fließen hier Fragmente des zeitgenössi-
schen Erlebens und vorliegende ästhetische Modelle von der
unerwarteten Begegnung im Schlagschatten des Krieges zu-

181
sammen: Hier findet die biographische «Episode», die so oder
anders oder gar nicht geschehen sein mag, eine Form, die sie
zu einer gelungenen Geschichte macht, mit gleich mehreren
«werthaltigen Endpunkten». Auch im Krieg, so lautet die
Moral dieser Geschichte, kann man Mensch bleiben, tötet
man nicht, wenn man die Wahl hat. Plastizität und Nachvoll-
ziehbarkeit gewinnt diese Geschichte wohl vor allem deswe-
gen, weil man sie zu kennen meint und gerade darum spontan
glaubhaft und interessant findet: Selbst der jüngere Zuhörer,
der über keinerlei unmittelbare Erfahrung mit Krieg und
Schlachtgetümmel verfügt, kann vor dem Hintergrund seiner
eigenen Erinnerungen an filmische Darstellungen vom Typ
«Im Westen nichts Neues», «Stalingrad» oder «08/15» im iden-
tifizierenden Mitvollzug den Eindruck gewinnen: So wird’s
gewesen sein, schön und schrecklich zugleich.
Das Gespräch mit Herrn Wieck ist voll von Beispielen einer
kunstvollen Kombinatorik von biographischen Erlebnissen
und vorliegenden narrativen Modellen. Das folgende Beispiel
gewinnt seine scheinbare Authentizität durch die situative
Detailliertheit der Schilderung und wird durch die Rhetorik
der wörtlichen Rede mit der Aura des eigenen Erlebnisses
versehen: Herr Wieck trifft kurz nach dem Krieg in einer
Kneipe einen alten Bekannten, der ihn auf die zahlreichen
Orden anspricht, die Herr Wieck bei dieser Gelegenheit (aus
nicht näher erläuterten Gründen) trägt:
Herr Wieck: «‹Mensch, Maxe, das hab’ ich ja gar nicht erwartet,
daß Du so ausgezeichnet bist. Du bist ja ’n Held!› Sag’ ich: ‹Wie
bitte, was bin ich?› Sagt er: ‹Bist ja ’n Held!› Sag’ ich: ‹Komm
her, ich sag’ Dir, was ich bin.› – ‹Ja, was bist Du denn?› - ‹Ein rie-
sengroßes Arschloch!› Da sagt er: ‹Das kannst Du doch nicht sa-
gen bei den Orden da.› Da sag’ ich: ‹Ja, glaubst Du, daß ich mir
das erkämpft hab?› Sag’ ich: ‹Helden gibt’s nicht, die sind alle
tot!› Sag’ ich: ‹Ich hab’ ’n Schutzengel gehabt, daß ich die ganze
Zeit durchgekommen bin! Und dann haben sie eben für die
Nahkämpfe eins nach dem anderen gesammelt! Und am Schluß
haben sie Dir das Blech da hingeheftet! Und dann haste das
noch gekriegt!› Sag’ ich: ‹Das ist alles!› Sag’ ich: ‹Aber sprich

182
bloß nicht von Heldentum!› Sag’ ich: ‹Ich hab’ noch nie im Le-
ben so viel Angst gehabt, als wenn’s ’n Angriff war, daß es mich
erwischt!›»
Auch diese Szene hat eine Vorlage: In «Im Westen nichts
Neues» steht Paul auf Heimaturlaub vor der Schulklasse seines
früheren Lehrers Kantorek, der ein glühender Patriot ist und
der zunächst einmal einen Vortrag über den heldenhaften
Kampf seines ehemaligen Schülers gegen die Franzosen hält,
bevor er diesen dann selbst bittet, zu den Schülern zu sprechen.
Dessen Vortrag fällt nun aber ganz anders aus, als Kantorek sich
das vorgestellt hatte, denn Paul zerstört das in der Heimat ge-
pflegte Bild vom heldenhaften Kampf, indem er den schmutzi-
gen Alltag im Schützengraben und im Unterstand schildert, das
Sterben der Kameraden beschreibt und betont, daß das einzige,
was das Überleben sichere, eben Glück sei und nicht etwa
Heldentum. Dieses Modell und seine Rhetorik beinhaltet
gleich mehrere Strukturelemente: zunächst nämlich, daß das
Bild, daß man sich in der Heimat vom Krieg und vom Solda-
ten macht («Mensch, Maxe, [. . .] Du bist ja ’n Held!») mit der
Wirklichkeit des Krieges nichts zu tun hat, daß der Soldat also
mehr und anderes weiß als die Daheimgebliebenen, was ihm
schließlich auch das Recht gibt, abgeklärt und zynisch («Hel-
den gibt’s nicht, die sind alle tot!») zu sein. Der kleine Soldat
führt seinen Krieg jenseits von Romantik und Verklärung und
weiß, wovon er spricht. Diese Rhetorik hat im Fall von Herrn
Wieck natürlich nicht nur die Funktion, seinen vorgestellten
Gesprächspartner in der Kneipe zugleich zu desillusionieren
und zu beeindrucken, sondern auch seinen jungen Gesprächs-
partner in der Situation des Interviews von einer Dialektik des
Krieges zu überzeugen, die nur der Landser kennt: nämlich
Sinnlosigkeit und Bewährung in einem zu sein.
Man kann also zumindest vermuten, daß viele Elemente der
biographischen Erzählungen von Herrn Wieck ihre Quelle
ganz woanders haben als aus seiner Lebensgeschichte, und
Herr Wieck ist damit beileibe kein Einzelfall, sondern nur ein
besonders virtuoser (oder belesener) Konstrukteur seiner sol-
datischen Vergangenheit.

183
Abb. 19: Herr Wieck: «Helden gibt’s nicht, die sind alle tot!»
(Szenenfoto aus dem Film «Im Westen nichts Neues», Lewis
Milestone, USA 1930).

Manchmal verweisen die Erzähler ihre Zuhörer aber auch di-


rekt auf Filme, um ihnen so etwas wie einen assoziativen Hin-
weisreiz zu geben, wie sie sich das Ganze vorzustellen haben:
Herr Semper: «Denn wir haben ja praktisch das gleiche erlebt
wie in dem Film ‹Die Brücke›. Daß auf der anderen Seite der
Bahnschienen nachts der Amerikaner mit Megaphonen rü-
berrief: ‹Wir wissen, wer da drüben liegt, Ihr seid NAPOLA-
Schüler, die und die Kompanie.› Wir war’n ja nur NAPOLA-
Schüler, wir sollten ja die ganze Front da noch aufhalten, und
es wurde gesagt, wir sollten nachts also überlaufen, und wir
hätten also noch zwei Tage Zeit und wenn nicht, dann könn-
ten sie also auf uns – und sie wüßten, daß wir erst 17 war’n –
Kanonenfeuer nehmen. Was sollten wir machen? Wir haben
geschossen. Diese Angst, die entwickelte sich erst, als man
praktisch so’m Panzer ’n Meter gegenüberstand. Aber auch da
war bei den meisten war das doch wie Pfadfinderspielen: ‹Wir
wollen mal sehen, daß wir das Ding treffen.›»

Hier scheint das gesamte Szenario durch den Film geformt:


Die Ausgangsszene mit dem amerikanischen Soldaten, der die

184
Abb. 20: Herr Semper: «Wir wollen mal sehen, daß wir das
Ding treffen» (Szenenfoto aus dem Film «Die Brücke», Bern-
hard Wicki, Deutschland 1959).

Schüler zum Aufhören auffordert (im Film: «We don’t fight


Kids! Kindergarten! Stop shooting!») bis zur dargestellten
Nähe zu den Panzern – eine der eindringlichsten Szenen aus
«Die Brücke» – bis hin zum Abschuß des ersten Panzers, der
im Film erst die eigentliche Katastrophe auslöst. «Die Brücke»
bietet sich als Script für die Erzählung der eigenen Geschichte
wohl vor allem deswegen an, weil die jungen Soldaten völlig
«sinnlos» sterben, denn die Brücke, die sie verteidigen zu
müssen glauben, soll ohnehin gesprengt werden. Darüber
hinaus befindet sich die Mehrheit der anderen Soldaten, in-
klusive eines Ritterkreuzträgers, bereits auf wilder Flucht vor
den Amerikanern; der Heroismus der Schüler entspringt mit-
hin einem Glauben an Führer, Volk und Vaterland, den die
anderen längst verloren haben – wozu auch gehört, daß der
Sohn des Ortsgruppenleiters auf der Brücke kämpft, während
sein Vater sich bereits unter Mitnahme aller Wertgegenstände
und seiner Geliebten abgesetzt hat. Schließlich ist es der To-
pos der «verlorenen Jugend», der den Film «Die Brücke» und
seine Protagonisten zum idealen Erzählmodell für die An-

185
Abb. 21: «Kindergarten! Stop shooting!» (aus dem Film «Die
Brücke», Bernhard Wicki, Deutschland 1959).

gehörigen der Flakhelfergeneration macht: Eingeführt wer-


den die späteren Opfer als fröhliche, zum Teil kindlich-naive,
übermütige junge Männer, die erste Liebesversuche unter-
nehmen und mit ihren Pubertätsproblemen zu kämpfen ha-
ben, die dann aber gleichsam im Zeitraffer innerhalb von
zwei Tagen zunächst zu Soldaten werden und schließlich, mit
einer einzigen Ausnahme, allesamt sterben.
Es müssen übrigens nicht unbedingt Kriegsfilme oder -ro-
mane sein, die den Erzählern die Modelle für ihre Geschich-
ten liefern: In unseren Interviews reicht die Bandbreite der
offensichtlich verwendeten Quellen von Max und Moritz,
die der Witwe Bolte die Hühnerbeine vom Herd angeln
(transformiert in eine Geschichte, in der «dem Russen» der
Tabak vom Tisch geangelt wird), über Karl May und Grimms
Märchen und vielfältig verwendete Kriegsfilmsequenzen bis
eben hin zur Odyssee. Und das kann bei näherer Betrachtung
auch gar nicht verwunderlich erscheinen, handelt es sich bei
all dem doch um vielfach erprobte Modelle für erwiesener-
maßen gelungene Erzählungen, mit denen man seine Zuhö-
rer fesseln und begeistern kann. Ihr Import in die eigene Le-

186
bensgeschichte macht diese selbst spannend und interessant;
man wird zu jemandem, der ganz zweifelsohne «etwas erlebt»
hat, und da jede Lebensgeschichte gemäß sozialer Konvention
Höhen und Tiefen, Schreckliches und Schönes zu beinhalten
hat, kann es nicht verwundern, daß die Erzähler sich ganz un-
terschiedlicher Genres und Plots bedienen, um ihre eigene, zu
eigen gewordene Geschichte zu verfertigen.
Übrigens ist es wichtig zu betonen, daß die von den Erzählern
adoptierten Geschichten, die wir in unserem Interviewmaterial
filmischen oder literarischen Quellen zuordnen konnten, reine
Zufallsfunde sind. Es gibt kein systematisches Verfahren, mit
dem man Erzählelemente mit dem Gesamtbestand kursierender
Narrative abgleichen könnte, um die Quelle zu finden, aus der
der Erzähler geschöpft hat. Der Umstand aber, daß einem vieles
doch bekannt vorkommt und manches sehr dicht zuzuordnen
ist, ist selbst ein Beleg für die Kommunikativität des Gedächtnis-
ses: Denn es ist ja eine gemeinsame Erinnerung, die wir mit
Herrn Semper teilen, wenn er seine Vergangenheit im Narrativ
von «Die Brücke» gestaltet, und gemeinsam mit Herrn Wieck
teilen wir die Erinnerung an «Im Westen nichts Neues» und an
«08/15». Und deshalb wäre auch die Vorstellung falsch, die Er-
zähler würden ausschließlich nachträglich Versatzstücke aus
interessanten Geschichten in ihre eigene importieren, sie in Er-
zählsituationen sukzessive weiterentwickeln, ausbauen, erpro-
ben und perfektionieren. All dies ist zweifellos oft der Fall, aber
schon die Geschichten, deren Elemente ausgeborgt werden,
sind ja Teil eines sozialen, kulturellen und historischen intertex-
tuellen Gewebes, eines verteilten Gedächtnisses, und so wie den
literarischen und filmischen Vorlagen, die die Erzähler verwen-
den, ihrerseits bereits typisierte Erzählmuster zugrunde liegen,
die älteren Medien wie der mündlich weitergegebenen Ge-
schichte, dem Märchen etc. entstammen, so können sie selbst
wieder nur als treffende Formulierung von Generationserfah-
rungen (und damit erfolgreich) werden, wenn sie ein Narrativ
erzeugen, das auf eine gemeinsame Erfahrungs- und Kommu-
nikationsebene der Leser oder Betrachter trifft. Insofern ist das
Importieren fremder Geschichten in das Leben keine Ein-

187
bahnstraße; der Vorgang ist in sich zirkulär oder eben: kommu-
nikativ.
Die Produktion von historischer Wirklichkeit findet gerade
auch im Spielfilm statt: Besonders, weil hier Geschichten er-
zählt und nicht analysiert und bewertet werden, vermittelt
sich in ganz besonderer Weise die Suggestion, es hier mit hi-
storischen Situationen zu tun zu haben, die zwar nachgestellt
sind, nichtsdestotrotz aber der vergangenen Wirklichkeit ent-
sprechen. Nicht zufällig legen Regisseure von Historienfilmen
größten Wert auf die Authentizität der Drehorte und der Aus-
stattung; «Schindlers Liste» ist das bekannteste Beispiel dafür.
Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, daß be-
sonders Spielfilmen oder Fernsehserien die Rolle zukommt,
als Belege für historische Wirklichkeit zu fungieren. Zudem
helfen Spielfilme, Fernsehdokumentationen, Romane, Sach-
bücher etc., die Erzählungen der Eltern oder Großeltern zu
bebildern. Nehmen wir zur Illustration das Beispiel eines An-
gehörigen der Kindergeneration (Jg. 1949), dessen Vater Ma-
rinesoldat bei der U-Boot-Flotte war. Hintergrund seiner
Erzählung ist der Film «Das Boot» von Wolfgang Petersen, der
sowohl in einer Kinofassung als auch in einer vierteiligen
Fernsehfassung mehrfach im deutschen Fernsehen zu sehen
war:
Herr Schmitt: «Und da hat mein Vater gesagt: ‹Also das war
noch alles harmlos dargestellt›, die Ängste an Bord waren noch
viel schlimmer, die haben sich dann teilweise in die Hosen
gemacht bei Angriffen, ne. Auch bei Alarm. Das war ja so eng
alles, und das hatte man eigentlich auch so’n bißchen gezeigt
in dem ‹Boot›, wenn se aufgetaucht sind, und da war ein Boot
in der Nähe, und die mußten schnell wieder runter, und dann
geht’s drunter und drüber, ne. Konserven fallen da durchein-
ander, irgendwelche Bretter oder so, alles rennt, man stößt
sich gegenseitig an. Und da hat er gesagt: ‹Wirklich, das wird
ganz gut dargestellt, aber teilweise war’s noch schlimmer.
Diese Angst, die jeder da hatte, das kann man gar nicht so
wiedergegeben, ne.› Und der Gestank oft auch im Zimmer.
Äh, nich’ im Zimmer, im Boot, ach, die schlechte Luft und

188
wie die dann so hausten. Und bei dieser Gelegenheit fällt mir
also noch ein Erlebnis ein: Als sie unter Wasser war’n, nur
noch für, weiß ich nich’, 18 Stunden sag’ ich jetzt mal, Sauer-
stoff hatten und nich’ wieder hochkamen. Die Maschinen
setzten aus, und die kamen nich’ hoch. Das war also in dem
Boot auch einmal, ne. Und so ein junger Techniker oder In-
genieur, der hat’s dann halt gepackt noch, als es nur noch ’n
paar Stunden Sauerstoff war’n, die Maschinen wieder in
Gang zu kriegen, ne. Und diese Stunden auch, diese Angst
immer, wenn das Boot dalag, und dann passierte da nichts, da
haben die also auch hier Lebensangst gehabt, ne. Alle Mann.
Das sagt er auch, das kann man nich’ beschreiben, was da für
eine Anspannung war. Manche bibberten und beteten schon,
und alles nur so junge Kerle, ne, von 18 bis 22.»
Deutlich ist hier zu sehen, daß sich die Erzählungen des Vaters
und die Bilder des Films in einem wechselseitigen Verwei-
sungszusammenhang befinden: Herr Schmitt erzählt die von
seinem Vater berichteten Erlebnisse so plastisch – etwa, wenn
er von der Angst der Männer spricht –, als hätte er sie selbst er-
lebt. Eine solche Erzählweise ist in Interviews gewöhnlich nur
dann anzutreffen, wenn eigene Erlebnisse berichtet werden
oder Quellen zur Bebilderung des von anderen Berichteten
existieren. Normalerweise werden überlieferte Geschichten
eher fragmentarisch und unter Hinzufügung eigener Lesarten
und Variationen erzählt, so daß sie eine sinnhafte Perspektive
aus der Sicht des Weitererzählers gewinnen; wenn aber fi-
xierte und komplett bebilderte Modelle zur Illustration der
entsprechenden Erlebnisgeschichten vorliegen, werden sie
deckungsgleich mit den Vorstellungen, die der Zuhörer von
den Geschehnissen hat: Die ängstlichen Gesichter und die
schwitzenden Körper im manövrierunfähigen U-Boot sind
dann eben die der Schauspieler Jürgen Prochnow oder Her-
bert Grönemeyer; das erzählte Erlebnis bleibt nicht vorstel-
lungsoffen und assoziativ, sondern erscheint detailliert und
alternativlos bebildert.
Der ehemalige Marinesoldat Schmitt freilich charakterisiert
die filmische Darstellung seinem Sohn zufolge als «harmlos»;
die Wirklichkeit sei noch viel schlimmer gewesen. Sein Sohn

189
Abb. 22: Herr Schmitt: «Diese Angst, die jeder da hatte . . .»
(Szenenfoto aus dem Film «Das Boot», Wolfgang Petersen,
BRD 1981).

fügt diese Information und die illustrierenden Beschreibun-


gen («die haben sich [. . .] in die Hosen gemacht»; «und der
Gestank») an die Bilder und situativen Elemente, die er aus
dem Film kennt: Der Film gewinnt hier eine doppelte
Funktion als Illustration und als Beleg für eine vergangene
Wirklichkeit. Dieser zirkuläre Charakter der Wahrnehmung
und Deutung von Filmen beschränkt sich nun keineswegs auf
Aussagen, die man in Interviews findet, sondern scheint viel
allgemeiner darauf zu verweisen, daß mediale Produkte und
eben insbesondere Spielfilme die Interpretation historischer
Ereignisse zugleich vorgeben und bestätigen. Ein gutes Bei-
spiel dafür liefert eine Besprechung des auf den originalen
Filmaufnahmen des Eichmann-Prozesses basierenden Films
«Der Spezialist» von Eyal Sivan. Der Rezensent charakte-
risiert den Generalstaatsanwalt Hausner sowie das Gericht,
daß hier ja überhaupt nicht aus Schauspielern besteht, die
nach einem Drehbuch agieren, in der folgenden Weise:
«Man kennt den Typus des übereifrigen Anklägers aus dem
Kino und auch die drei weisen Richter: den gestrengen Vor-

190
Abb. 23: Herr Schmitt: «. . . nur noch für 18 Stunden Sauer-
stoff» (Szenenfoto aus dem Film «Das Boot», Wolfgang Pe-
tersen, BRD 1981).

sitzenden, den scharfsinnigen und den melancholischen Bei-


sitzer.»187
Filme wie «Schindlers Liste» erweisen sich aufgrund ihres
scheinbaren Realismus als besonders geeignet, Geschichtsbil-
der zu fundieren bzw. zu bestätigen. Aber sie werden eben
auch jeweils in einen eigenen Sinnzusammenhang, in einen
spezifischen Deutungsrahmen eingeordnet. In der Sicht eines
jungen Mannes (Jg. 1974) zeigt «Schindlers Liste»,
Torsten Stein: «daß es eben auch Leute gab, die das nicht toll
fanden, die eben der NSDAP beigetreten sind und da nur so
mitschwammen und sich da nicht eingesetzt haben großartig
dafür, sondern eben nur aus finanziellen oder wirtschaftli-
chen Gründen den eigenen Vorteil gesehen haben. Und da
dann deswegen nur in die Parteien, in die NSDAP zum Bei-
spiel, eingetreten sind.»
Dieselbe Quelle und auch dieselbe Unterstellung von histori-
scher Realitätsangemessenheit läßt bei einem anderen jungen
Zuschauer eine ganz andere Lesart zu:

191
Bernd Franck: «Im Grunde genommen ist auch für mich klar-
geworden, daß diese Raffgier des Menschen da hervorgekom-
men ist, denn der Schindler hat das ja, so wurde es jedenfalls
für mich im Film dargestellt, auch nur gemacht, damit er sein
Portemonnaie füllen konnte und daß er sein Geschäft dadurch
gemacht hat.»

Einen anderen Enkel hingegen hat der Film so «beeindruckt


und mitgerissen», daß er und seine Freundin «in Jerusalem so-
gar über die Mauer geklettert sind und da ’nen Stein auf sein
Grab gelegt haben». Hier handelt es sich um eine direkte Um-
setzung des filmischen Epilogs von «Schindlers Liste», in dem
die Überlebenden zusammen mit den Schauspielern, die ihre
historischen Rollen im Film darstellen, jeweils einen Stein auf
das Grab Oskar Schindlers legen. Und wie Spielbergs Film mit
diesem Epilog eine Schnittstelle zwischen Filmerzählung und
Wirklichkeit etabliert, so verlängert der Befragte zusammen
mit seiner Freundin an dieser Schnittstelle den Film in sein ei-
genes Leben, indem er einer Handlungsvorlage folgt, die der
Film geliefert hat. An dieser Schnittstelle fallen narrative Wirk-
lichkeit des Films und die Handlungswirklichkeit des Betrach-
ters, Medium und Erinnerung in eins.
All dies gibt jedoch nicht nur Hinweise auf die kommunikative
Funktionsweise des autobiographischen Gedächtnisses, das ge-
schmeidig jene vorfindlichen Wirklichkeitselemente aufzu-
nehmen vermag, die aus der jeweiligen Gegenwart heraus für
die eigene Vergangenheit als «passend» erscheinen. Es verweist
zugleich auf den assoziativen Charakter des Gedächtnisses, von
dem schon im Kapitel zur neurowissenschaftlichen Gedächt-
nisforschung die Rede war. Wie das Gedächtnis des Individu-
ums auf assoziative Weise Muster vervollständigt, die es dann
als seine «Erinnerung» begreift, so werden auf der kollektiven
Ebene kommunikativ Assoziationsketten hergestellt, die zu je-
nen Mustern kollektiver Vergangenheiten vervollständigt wer-
den, die wir «Geschichte» nennen.
VIII. Versionen eines autobiographischen
Gedächtnisses

In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns mit


den sozialen Aspekten des Gedächtnisses beschäftigt, mit sei-
ner kommunikativen Verfertigung und seiner montagehaften
Gestalt, in der Erinnerungen an Erinnerungen, Erinnerungen
an Selbsterlebtes, Erinnerungen an Gesehenes und Mitgeteil-
tes ununterscheidbar zusammenfließen. Zum Schluß möchte
ich noch auf das individuelle autobiographische Gedächtnis
zu sprechen kommen, jene Instanz unserer Persönlichkeit, die
uns hilft, uns über alle lebensgeschichtlichen Brüche und Ver-
änderungen hinweg als ein kontinuierliches Ich zu erleben.
Das folgende Beispiel zeigt, wie sich die Erinnerung an das ei-
gene Leben und, vor allem, die Form des Sich-Erinnerns an
das eigene Leben im Lauf der Zeit verändern.
März 1990. Ich sitze dem 23jährigen Mark Abel gegenüber,
der ein halbes Jahr zuvor aus der damals noch existierenden
DDR als einer der sogenannten Herbstübersiedler über die
ungarisch-österreichische Grenze geflohen ist. Das war zu
dieser Zeit keine einfache Entscheidung, es war eine Flucht
ins Ungewisse. Seine Entscheidung war zum damaligen Zeit-
punkt irreversibel; Mark Abel galt im September 1989 als Re-
publikflüchtling, seine Verwandten hätte er auf unabsehbar
lange Zeit nicht mehr wiedersehen können, seine Heimat in
der Nähe von Berlin voraussichtlich nie mehr besuchen dür-
fen. Ich frage ihn, was der Grund für seine Flucht gewesen ist:
Mark Abel: «Tja, der zentrale Grund war irgendwo meine
Lebensgefährtin. Also, ick wollt eijentlich nie so. Weil ick
immer der Meinung war, irgendwann änder’ ich hier noch
wat. Aber die wollte nu partout und, naja, wo die Liebe hin-
fällt. Und wenn ick mich, naja, zum Schluß hab ick denn
mich ooch jefragt: Wat soll’n det? Jesehen ha’ck allet, wat ick
konnte, und mitjenommen ha’ck allet, wat ick konnte. Da is

193
nichts mehr jewesen, wat ick hätte erreichen können. Zum
Studium hatt ick denn auch partout keene Lust mehr nach
drei Jahren. So ’ne Scheiße da.»
Elf Jahre später sitzen wir uns wieder gegenüber. Mark Abel
hat zunächst fünf Jahre in einem Industriebetrieb in Nord-
deutschland gearbeitet, dann drei Jahre lang sein Abitur nach-
geholt. Nun steht er schon kurz vor dem Abschluß seines
Geschichtsstudiums. Er erzählt von der Zeit unmittelbar vor
seiner Flucht:
Mark Abel: «Und ich hatte natürlich später andere Angebote
bekommen, hätte Landmaschinenbau studieren können,
fernab der Heimat, aber durch meinen Militärdienst hab ich
begriffen, durchschaut und erkennen müssen, welch men-
schenverachtendes System doch herrschte.»

Ich habe Mark ein weiteres Mal aufgesucht, weil ich mich
dafür interessierte, ob und, wenn ja, in welcher Weise sich
seine Erinnerung an das zurückliegende, tiefgreifende Le-
bensereignis der Flucht und des Neuanfangs über die ver-
gangene Zeit verändert hätte. Beide Passagen stammen je-
weils aus den Anfangspassagen der Interviews, und vor allen
inhaltlichen Differenzen fällt sofort eines ins Auge: Marks
Sprache, die fast alles Berlinerische verloren hat, deren Satz-
bau deutlich komplexer geworden ist und die insgesamt
einen sehr reflexiven Duktus hat. Das war zunächst das Au-
genfälligste im Vergleich der beiden Gespräche. Hier nun
saß mir jemand gegenüber, dessen Erinnerungen nicht nur
von den gemachten Erfahrungen in den elf Jahren seit seiner
Flucht überschrieben worden waren, sondern der in dieser
Zeit insgesamt einen ganz anderen Interpretationsrahmen
für seine Erfahrungen entwickelt hatte. Die erinnerten Er-
eignisse selbst, von denen Mark im aktuellen Interview er-
zählte, wichen gar nicht so sehr von denen ab, die er 1990
berichtet hatte, jedenfalls nicht in dem Maße, wie es die
«false-memory»-Forschung erwarten lassen würde. Mark er-
innert sich an die Daten und Stationen seiner Flucht recht
genau, einzelne Geschehnisse gibt er auch heute noch sehr

194
ähnlich wieder wie zum ersten Befragungszeitpunkt, die Er-
innerung im ganzen stimmt weitgehend mit dem damals be-
richteten Ereigniszusammenhang überein (ein bißchen wie
im zweiten Kapitel erwähnten Fall von John Deans Erinne-
rung, über die Ulrich Neisser geschrieben hatte, daß sie im
Detail ungenau, dem allgemeinen Sinn nach aber durchaus
zutreffend war).188
Wenn Mark nun Vokabeln wie «menschenverachtend» ver-
wendet, bekommt man schnell den Eindruck, daß die Erin-
nerungsdiskurse der Gesellschaft, in der er seit mehr als einem
Jahrzehnt lebt, Spuren im Interpretationsrahmen für seine ei-
gene Vergangenheit hinterlassen haben, aber das ist nur die
halbe Wahrheit, denn auch heute noch berichtet Mark – eher
intensiver als im Erstinterview – über die schönen Seiten sei-
ner Jugend in der DDR und differenziert die systemoffiziel-
len Gängeleien und Zwänge sehr stark von den individuellen
Freiheitsspielräumen, die er und seine Freunde in der Jugend
genossen und bis an die Grenzen, wie er sagt, ausgekostet ha-
ben. Man könnte sagen, daß sich über den Abstand hinweg
die diskrepanten Erfahrungen seiner Jugend und seines jun-
gen Erwachsenenalters weiter polarisiert haben; seine Schil-
derungen über das wilde Zelten, das Mopedfahren und ro-
mantische Badeferien haben sich genauso intensiviert wie die
negativen Berichte über seine Militärzeit, «die schwarzen
Jahre», wie er sie nun nennt. Dabei muß man natürlich
berücksichtigen, daß hier nunmehr ein Erwachsener auf eine
abgeschlossene Zeitspanne zurückblickt, eine Zeitspanne,
die ihren Erfahrungs- und Erinnerungsreichtum auch dem
für dieses Alter typischen «reminiscence bump» verdankt,
der für das junge Erwachsenenalter typischen Erinnerungs-
verdichtung.189 All diese Erfahrungen werden jetzt im
Rückblick neu sortiert und gerahmt und aus der Gegenwart
heraus bewertet.
Freilich berichtet Mark nun aber auch über Elemente seines
Fluchterlebnisses, die im Erstinterview überhaupt noch nicht
vorgekommen waren. Damals hieß es lapidar:

195
Mark Abel: «Gleich in Österreich hinter der Grenze konnte
man essen und mitnehmen und wat, unentgeltlich und so
[. . .]. Irgendwelche Berge und wat weiß ich, brauchten bloß
wat zu essen, mehr nich.»
Heute erzählt Mark die folgende Geschichte:
Mark Abel: «Und in Ungarn, kein Problem, wie gesagt, am
Balaton ’n paar Tage Urlaub gemacht und im Fernsehen ir-
gendwie gesehen, was da läuft, wie se denn alle rüberkonn-
ten, und ’n paar Tage später sind wir denn auch anne Grenze
ran, zack, rübergefahren, alles klar. Geld gekriegt, nach Wien
auf’n Prater gefahren dann, mußte ja was Tolles sein, find’ ich
nich’, daß das was Tolles is’, aber gut. [. . .] Jaja, wir hatten ja
Sprit genug mit, hatte ja, ja zwanzig Liter, zwanzig Liter Ka-
nister mit, und man hat an der Grenze hundertfünfzig, ne,
fünfhundert Schilling oder so, ick glaube, so hundert, hun-
dertfünfzig Mark waren das damals, bekommen und, da für
Sprit, und da wir ja Sprit hatten, ham wa das denn auf’n Wie-
ner Prater verbraten wollen, aber so doll war’s eben nicht, da
ham wir dann auch nur ’n paar wenije Schilling da verbraten,
und dann sind wir gleich weiter nach Passau.»

Nun wird man schwer entscheiden können, ob die Prater-Ge-


schichte, von der im Erstinterview keine Rede war, nachträg-
lich in Marks autobiographische Erinnerungen importiert
worden ist oder ob er sie damals nur nicht erzählt hatte – etwa
deshalb, weil er sich damals einem westdeutschen Interviewer
gegenüber nicht als hedonistisch, leichtsinnig oder naiv dar-
stellen wollte. Einerlei: Jedenfalls hält er die Prater-Geschichte
heute für erzählenswert im Zusammenhang seiner Flucht; in
der reflexiven Rückschau scheint diese Episode vielleicht
auch geeignet, um ein Rahmenthema für die lebensgeschicht-
liche Erzählung zu etablieren, und dieses Thema handelt von
den ersten Schritten eines Übersiedlers im neuen Land, im
neuen System. Es gibt viele Passagen im aktuellen Interview,
die sich diesem Thema zuordnen lassen, in denen sich Mark
als ehemals «naiven» Ossi beschreibt, der zunächst die Regeln
und Gebräuche seiner neuen Umgebung lernen mußte.
Eine solche Episode, die Mark in beiden Interviews erzählt,

196
dreht sich darum um sein Auto, das nach dem Grenzübertritt
in der Nähe von Frankfurt streikte und bei einer Werkstatt
abgestellt werden mußte. Seine Freundin und er fahren dann
mit der Bahn nach Norddeutschland weiter; Mark beschließt,
den Wagen später abzuholen:
Mark Abel: «Na, ick hab aber immer gedacht: Mensch, dat
Auto, dat hol ick mir oder so. Ick dachte, det jeht so einfach. Ir-
gendwie ranhängen, mit’m Verwandten runterfahren, ranhän-
gen, hochfahren. Drüben wär det ’n normalet Ding jewesen,
ooch wenn et 500 Kilometer sind oder so. Oder zumindest
uff’n Hänger denn oder so, aber daß da gar nichts passieren
kann. Ja, also nee! Also, ick hab mir so uff’n Arsch gesetzt.
Hänger zwee Stunden: 40 Mark! Und und allet kostet Jeld und
nich wenig, wa. Det is natürlich janz schön happig. Aber is ja ’n
klaret Ding, irgendwo hab ick da nischt jejen. Aber ’n bißchen
ne Umstellung is et, wa. Naja, und dann irgendwann hatt ick
mich dann durchjerungen, dat Ding verschrotten zu lassen.»
Die Geschichte in der Version 2001 lautet dann:
Mark Abel: «Mein Gott, ich war denn ja froh, so weit gekom-
men zu sein. Schöner wär’s gewesen, bis hierher zu kom-
men, aber das war uns nich’ gegeben, und ’n Verwandter hat
sich denn auch geweigert, das Auto hoch zu holen. War ja
mein Gesellenstück, ich hab’ da wirklich aus Schrott ’n
neues Auto gemacht, und, naja, hier haben die Leute dazu
kein Verhältnis, ich hab gesagt: ‹Mensch, wollen wir nich’ma
mit ’nem Auto da runter fahren, mit ’m Trailer, is’ doch kein
Problem.› [mit verstellter Stimme:] ‹Ääh so’n Schrott,
Schrott!› Und dann, da begegnete ich da so’n bißchen der
arroganten Art. Die nich’ alle, aber die viele, gerade Prole-
tarier, haben. Und, naja denn hab ich den da noch vierzehn
Tage stehen gelassen in der Hoffnung, daß ich den irgend-
wann holen könnte, aber war nix, zweihundert Mark hab’
ich dann noch bezahlt, als Standgebühren [atmet tief ein],
und denn war das Ding erledigt.»

Hier bleibt das Ereignis in seinem Ablauf in der Erinnerung


weitgehend gleichlautend erhalten, die Deutung des Ereig-
nisses aber hat sich erheblich verändert. War es damals der Um-

197
stand, daß die Miete für den Hänger zu teuer war, ist es nun-
mehr der Verwandte, der sich abfällig über Marks Auto äußert
(«So’n Schrott») und dessen arrogante Hilfeverweigerung
schließlich die Ursache dafür ist, daß Mark sein Auto nicht
wiederbekommt. Diese Geschichte erzählt von der Mißach-
tung dessen, was Mark mit in die Bundesrepublik gebracht
hatte («ich hab da wirklich aus Schrott ’n Auto gemacht»), und
von der Arroganz, die ihm begegnet ist. In gewisser Weise ist
das aktuelle Interview insgesamt eine Bildungs- und Erfah-
rungsgeschichte, die aus der Position desjenigen erzählt wird,
der damals noch nicht wußte, was er heute weiß. In einem er-
sten zusammenfassenden Schritt kann man also sagen, daß
Mark Abel die einzelnen Details seiner Übersiedlungsge-
schichte erstaunlich gut erinnert, sie aber nunmehr aus der
Sicht desjenigen neu sortiert, der seine Integration in ein
neues Lebensumfeld erfolgreich abgeschlossen hat. Die
Flucht ist genauso Vergangenheit wie die erste Zeit in der
Bundesrepublik, und zwar eine erfolgreich abgeschlossene
Vergangenheit. Aus der Gegenwart haben viele ihrer Ele-
mente einen neuen Stellenwert bekommen. Dasselbe gilt für
die Wohnung, die Mark unmittelbar nach der Übersiedlung
bei seiner Tante in Norddeutschland bezog («Des reicht mir
ooch, jefällt mir. Zahl ick nich ville Miete, und hab Garage
und allet»). Im Gespräch aus dem Jahr 2001 hat auch diese
Geschichte einen neuen Rahmen bekommen.
Mark Abel: «Das war bei meiner Tante im Anbau hinten, ne.
So’ne Butze ohne Bad und so, naja, aber gut, war’n wa ja
froh, überhaupt irgendwo untergekommen zu sein, aber ich
hab im Osten schon besser gelebt. Da hatt ich schon ‹warm
Wasser aus Wand› [lacht], also, naja, die Zentralheizung, was
früher nie ’n Problem gewesen wär, hat sie auch erst nach
mir eingebaut. Auch neue Auslegeware kam erst rein, als se
das dann Studenten wieder vermietet hatte. Also, das ist ’ne
Geschichte für sich.»
Marks autobiographische Erzählung zentriert sich um die Er-
fahrung des Novizen, für den zunächst alles neu und nicht
recht entschlüsselbar ist, der aber aus heutiger Sicht die da-

198
maligen Erfahrungen aus der Perspektive desjenigen zuord-
nen kann, der Bescheid weiß. An einer Stelle des Interviews
sagt er: «Ich muß das mal aus heutiger Sicht reflektieren, weil
ich eben das Pendant kenne, weil ich ja weiß, wie es hier ist»,
und das ist das Leitthema des ganzen Gesprächs. An dieser
Stelle wird natürlich klar, welche Definition dem Interview
aus Marks Sicht zugrunde liegt: Ihm sitzt ein Interviewer ge-
genüber, der von ihm etwas über seine Übersiedlung und
seinen Weg in einen neuen Abschnitt seines Lebens wissen
möchte, und vor dem Hintergrund dieser Definition tritt
Mark gewissermaßen als Experte für sein Leben als Über-
siedler auf, in diesem Sinn gar nicht so sehr als Autobiograph.
Aber was besagt eine solche Feststellung? Die Autobiogra-
phie als situationsunabhängige, asoziale, «wirklich» gelebte
Lebensgeschichte ist ja nichts als eine Fiktion; in der autobio-
graphischen Praxis selbst realisiert sie sich nur als jeweils
zuhörerorientierte Version, als aktuell angemessene Montage
lebensgeschichtlicher Erinnerung. Auch deswegen bleibt
gerade in diesem Gespräch mit mir, der ein ähnliches Inter-
view schon früher, elf Jahre zuvor, gemacht hat, der Ver-
gleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart dominant.
Wiederkehrende Themen sind dabei Konflikte mit neuen
Nachbarn oder Arbeitskollegen; immer wieder erfahren die
entsprechenden Geschichten Überschreibungen nach Maß-
gabe der abgeschlossenen Bildungsgeschichte, jedesmal ha-
ben die Geschichten eine Moral, die einen Lernerfolg für
Mark beinhaltet: An einer Stelle im Erstinterview erzählt er
von einem alten Auto, das er sich kurz nach der Übersied-
lung für 500 DM gekauft hatte. An einem Wochenende hatte
er sich ein Sandstrahlgerät gemietet, um die Karosserie zu
entrosten.
Mark Abel: «Naja, und da kam denn eben die eene Nachba-
rin, bloß eene im Prinzip, die kam, uff’n Sonnabend, [. . .]
und: ‹Ausmachen!› [. . .] Naja, ha’ck ihr Mittagsschläfchen
jejönnt und hab dann um viere weiterjemacht, uff’n Sonn-
abend, wat eijentlich ooch nie jestattet is.»

199
Die Geschichte heute:
Mark Abel: «Hier is’ es gesetzlich geregelt, daß der Sonntag ’n
Ruhetag is’. Da is’ den ganzen Tag Ruhe, und meine Kon-
frontation damit liegt jetzt auch schon über zehn Jahre zu-
rück, ich hatte ’n Auto gebaut und wunderte mich, daß ich
’n Sandstrahlgerät übers Wochenende für wenig Geld be-
kam. Im nachhinein wußt ich, warum. Ich konnt das ja gar
nicht anmachen, das war’n himmellauter Motor, sowas trifft
man heutzutage auf Baustellen an, das machte ’n Heiden-
lärm, naja und die Nachbarn, es dauerte nich lange, traten
hier auf’n Plan und hielten mir ’n Zettel vor’s Gesicht, auf
dem zu lesen stand : Sonnabends ab eins ist Ruhe, und Sonn-
tags is ’n ganzen Tach Ruhe, und unter der Woche is eben
von eins bis drei ’ne Mittagspause einzuhalten.»
I.: «Schriftlich?»
Mark Abel: «Jaja, die hab’n da so’n Artikel ausgeschnitten ir-
gendwo, was weiß ich, die ham mir wirklich im wahrsten
Sinne ’n Zettel unter die Nase gehalten, naja. Hatt ich ’n
bißchen geschluckt und gut.»

Auch hier wird die Episode nach dem Novizen-Schema er-


zählt, das zentrale Thema wird sogar ausgesprochen: «Im
nachhinein wußte ich, warum.» Interessant ist hier auch die
doch recht deutliche Überschreibung der Erinnerung selbst:
Aus der rigiden Aufforderung der Nachbarin, das Sandstrahl-
gerät auszumachen, wird elf Jahre später die Präsentation
eines Zeitungsartikels, in dem die Ruhezeiten benannt sind,
durch ein Nachbarpaar – eine Verdichtung, in der die neuen
Regeln als festgeschriebene dem Novizen zur Kenntnis ge-
geben werden, eingebaut wiederum in das Narrativ über den
«naiven Ossi», der erst hinterher die Ursache für den über-
raschend günstigen Wochenendtarif versteht. Das Novizen-
Schema hat sich hier regelrecht von der zugrundeliegenden
Geschichte emanzipiert; man könnte sagen, daß die einzel-
nen Episoden im aktuellen Interview nur mehr als Träger für
die Moral der Bildungsgeschichte fungieren, die Mark ins
Zentrum seiner autobiographischen Erzählung stellt.
Nehmen wir ein letztes Beispiel: Im Zusammenhang der ur-

200
sprünglichen Fluchterzählung, die – im Vergleich zu anderen
Befragten – sehr knapp ausgefallen war, hatte Mark im Erstin-
terview im wesentlichen nur die Stationen genannt, die er in
Österreich und in der Bundesrepublik auf seinem Weg zur
Tante in Norddeutschland passiert hatte. Das war zunächst ein
Zeltlager in Österreich:
Mark Abel: «Naja, war’n wa unten. Von Passau da wurden wa
in det eene Lager jeschickt. Sind wa bloß anjekommen, det
war’n Schwimmbad, sehr schön. Ha’ck, naja, haben wa ’n
bißchen jebadet, bißchen jejessen. Und denn wurden da
bloß ’n paar Karten ausjefüllt. Und die haben uns nach Gra-
fenau geschickt, dat is 30 Kilometer weit weg da jewesen.
Und haben ooch Tankgutschein und sowat allet jekriegt,
konnten wa tanken. Denn nach Grafenau jefahren, naja, und
da mußten wa schlafen und ’n nächsten Tag uns anmelden, in
Deggendorf wa dat.»
Heute erzählt Mark die folgende Geschichte über sein erstes
Erlebnis nach dem Grenzübertritt nach Österreich:
Mark Abel: «Jaja, gleich hinter der Grenze, gleich nach Über-
treten der Grenze [. . .] war da ’n großes Zelt vom DRK, [. . .]
und in dem Zelt hatten se kistenweise Bananen. Und in dem
Zelt saßen die Ossis, und da saß ein Ossi, weiß nich’, hatte der
’ne Staude oder hatte der ’n Haufen Bananen vor sich liegen
und hier ’n Berg Bananenschalen. [. . .] Wir waren insgesamt
vielleicht ’ne Stunde in dem Zelt. Ich glaube, da hatten se das
mit dem Geld abgewickelt oder so, das war auch abends, die
ganze Zeit, die wir da waren, saß der an dem Tisch und hat
eine Banane nach der andern gegessen. Wir ham nich’ eine
gegessen, des war uns völlig schnurz, darauf kam’s nich’ an.»
Hier nun scheint es sich in der Tat um eine importierte Erin-
nerung zu handeln: Das Klischee vom bananenessenden Ost-
deutschen ist zu plakativ, als daß die Geschichte sich in der
geschilderten Weise zugetragen haben kann, zumal sie im
Erstinterview nicht einmal in Spurenelementen auftauchte.
Hier dient sie wiederum einem kontrastiven Vergleich zwi-
schen Mark (und seiner Freundin) und dem «Ossi» an sich,
der sich in der unmittelbaren Übersiedlungssituation peinlich

201
benimmt und offensichtlich mit seiner Flucht etwas ganz an-
deres verbindet als Mark: Geht es dort um Bananen (als Sym-
bol für Konsumwünsche), geht es hier um biographische
Chancen: «darauf kam’s nicht an», sagt Mark und bezeichnet
damit das Gravitationszentrum seiner autobiographischen Er-
zählung. Und es ist ja aus der Gegenwart heraus eindeutig,
worauf es ankam: die Gelegenheit, einen «starting point» für
einen neuen, ganz anderen biographischen Abschnitt zu nut-
zen. Die Geschichte der Übersiedlung wird heute insgesamt
aus der Perspektive einer abgeschlossenen Bildungsgeschichte
erzählt, während das 1990er Interview eher aus einer Anein-
anderreihung noch ganz frischer Erlebnisse bestand, die dem
westdeutschen Interviewer im Gestus einer tastenden Unsi-
cherheit berichtet wurden. In das geschlossene Narrativ der
Bildungsgeschichte fließen sowohl kulturell standardisierte
Deutungsmuster (wie in der Bananengeschichte) als auch in-
dividualisierte Leitthemen (wie das Novizen-Thema) ein, die
die vergangenen Ereignisse in neuem Licht erscheinen lassen
und die Erzählelemente in diesem Licht sortieren.
Was die Gestalt dieser autobiographischen Erzählung aber am
stärksten bestimmen dürfte, ist die hochspezifische Kommu-
nikation, in der sie entwickelt wird: der Umstand, daß es hier
um lebensgeschichtliche Erfahrung in einem neuen sozialen
Umfeld geht, gibt die Definition der Situation vor, und es ist
vor diesem Hintergrund kein Wunder, daß das Novizen-
Schema und der beständige Vergleich von Gegenwart und
Vergangenheit die leitmotivischen Themen des Gesprächs
bilden. Hinzu kommt, daß ich schon mehrmals als derjenige
aufgetreten bin, der sich nicht nur für Marks Leben, sondern
für das Leben von Mark-dem-Übersiedler interessiert – und
von daher ist es kaum verwunderlich, daß ich eine Bildungs-
geschichte erzählt bekomme.
Aber gerade wenn man diese Bestimmungsfaktoren für die
Gestalt der autobiographischen Erzählung berücksichtigt,
wird zum einen klar, daß jede Geschichte, die man über sein
Leben erzählt, unterschiedlich ausfallen und möglicherweise
sogar unterschiedliche Daseinsthematiken in den Vorder-

202
grund stellen wird – je nachdem, welche Erwartungen man
seinem Zuhörer unterstellt. Marks (neue) Lebensgefährtin,
die selbst aus der ehemaligen DDR stammt, würde von ihm
gewiß eine Lebensgeschichte hören, die sich um andere
Thematiken zentriert, seine künftigen Schüler wiederum
eine andere und seine Kommilitonen abermals eine andere.
Wichtig ist das nicht nur deshalb, weil auf diese Weise unter
Umständen sogar sich widersprechende autobiographische
Variationen friedlich koexistieren können, sondern weil das
autobiographische Gedächtnis, ganz ähnlich wie das Famili-
engedächtnis, im Grunde eine Fiktion ist – in dem Sinne,
daß es nicht als Einheit existiert, sondern wiederum als eine
synthetisierende Funktionseinheit, die sich in jeder kommu-
nikativen Situation auf jeweils neue Weise realisiert. Die Ein-
heit des erzählenden Ich stellt sich gerade darüber her, daß es
in all den unterschiedlichen Situationen als Autobiograph, als
Besitzer einer Lebensgeschichte, als Experte für das eigene
Leben auftreten kann, und die Kohärenz dieses Ich erweist
sich gerade darin, daß es die verschiedenen Varianten der Au-
tobiographie situationsangemessen und -spezifisch entwickeln
kann.
«Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt.» Diese iro-
nische Wendung des Identitätsthemas von Gertrude Stein
trägt ein Moment von Wahrheit in sich: Denn das Ich des au-
tobiographischen Erzählers besteht im Kern in der interakti-
ven Bestätigung, daß das erzählte Ich sozial akzeptiert und
deshalb als autobiographisches Ich erkannt wird: «Du bist Du,
weil Du mir eine glaubhafte und selbstbezogene Geschichte
erzählst.» Die einzelnen Erzählelemente variieren dabei je
nach dem Zuhörer (und in der klassischen literarischen Auto-
biographie nach der imaginierten Leserschaft) ebenso wie die
ausgewählten Plots. Wenn es zutrifft, daß jede erneute Ab-
speicherung einer abgerufenen (und erzählten) Erinnerung
mit einer Neu-Einschreibung einhergeht, die den neuen
Kontext mitenthält, dann schreibt auch jede autobiographi-
sche Version, jede um eine Nuance veränderte Detailerzäh-
lung ihrerseits an einem beständig sich wandelnden Ich,

203
204
Abb. 24: Zeitleiste der wichtigsten Ereignisse im Leben von Mark Abel.
wenn man will an einem distributiven Ich, dessen autobio-
graphische Gestalt genau aus jenen zahllosen Interaktionser-
fahrungen besteht, in denen irgendeine Form von Identität
thematisiert wird. Das können im extremsten und künstlich-
sten Fall autobiographische Interviews sein, das können bio-
graphische Auskünfte in einer ärztlichen Sprechstunde sein,
das können anrührende Episoden aus dem Leben im «love-
talk» sein, was auch immer.
Das autobiographische Gedächtnis ist insofern kommunikativ,
als es sich in Form eines Wandlungskontinuums über ver-
schiedenste Ich-konkrete Interaktionssituationen herstellt
und seine (fiktive) Einheit sich darüber realisiert, daß der Ich-
Erzähler von allen Interaktionspartnern als authentischer und
legitimer Ich-Erzähler, als Autobiograph, akzeptiert und be-
stätigt wird. Dieser sich unablässig fortschreibende Vorgang
liefert den Grund für das von David Rubin beschriebene
Phänomen, daß die Bedeutung des autobiographischen Ge-
dächtnisses nicht in der Wahrheit der erinnerten Erlebnisse
und Ereignisse liegt, sondern in der subjektiven Überzeu-
gung, daß sie wahr seien, also zu «mir» und meinem Selbst
gehören. Daß das Ich des Erzählers über die verschiedensten
Situationen und Lebenszeiten hinweg als das immergleiche
Ich realisiert wird, stiftet die Einheit des autobiographischen
Gedächtnisses, nicht etwa die Einheit der Erlebnisse und Ge-
schehnisse, aus denen sich die autobiographische Erzählung
zusammensetzt. In dieser Funktion gleicht das autobiographi-
sche Gedächtnis dem Familiengedächtnis, und es verwundert
nicht, daß es zu ganz ähnlichen Montagen und Erlebnisim-
porten in der Lage ist.
Ein Beleg für diese Annahme ist übrigens auch in einer Gra-
phik zu sehen, die Mark über seine Lebensgeschichte nach
unserem Interview angefertigt hat (s. Abb. 24).
Ich hatte Mark gebeten, auf einer Zeitleiste die wichtigsten
Ereignisse seines Lebens einzutragen; er hatte daraufhin nach-
gefragt, ob es um «Zäsuren» ginge, und solche dann auch auf-
gelistet. Auffällig an der Liste ist vor allem, daß der Raum, den
er dem Hauptgegenstand des autobiographischen Interviews

205
nun in der Graphik gibt, nicht mehr Platz auf der Lebenslinie
beansprucht als etwa die Zeitspanne zwischen 18 und 21, die
sogar mit mehr Ereignissen und Bestimmungen versehen wird
(«eigene Wohnung, Auto fahren (besitzen), die schwarzen
Jahre (Militär)»). Die Zeitspanne, von der ich angenommen
hatte, daß sie nach wie vor eine bedeutsame Rolle in seiner
autobiographischen Rückschau einnehmen würde, reduziert
sich demgegenüber auf zwei eher lapidare Einträge («Flucht in
BRD» und «VW-Arbeiter»).
Insgesamt ist auffällig, daß Mark andere Lebensereignisse in
seiner Graphik viel deutlicher hervorhebt, zum Beispiel die
«Intellektuellenkarriere» und besonders die «erfüllte Liebe» –
beides Dinge, von denen im Interview kaum die Rede war,
aus dem einfachen Grund, daß ich nicht danach gefragt hatte
und daß dem Interview insgesamt ein anderer Definitionsrah-
men zugrunde lag. Mit anderen Worten: Das Interview zeigt
einen extrem schmalen Aspekt aus Marks Lebensgeschichte,
einen, der als abgeschlossener Prozeß und erfolgreich bewäl-
tigter Lebensabschnitt nur noch in besonderen kommunikati-
ven Situationen von Belang ist – und zwar insbesondere in
jener kommunikativen Situation, wie sie durch die wiederhol-
ten Interviews hergestellt worden war. Schließlich basiert die
Bekanntschaft zwischen Mark und mir nur und ausschließlich
auf der Gesprächsbeziehung, die aus Anlaß der Flucht zustan-
de gekommen war, einen anderen sozialen und persönlichen
Erfahrungsraum teilen wir nicht. Die dann fast ausschließlich
auf diesen Erfahrungsbereich bezogene autobiographische
Darstellung verdeutlicht zum einen die extreme Selektivität,
die biographische Interviews erzeugen, zum anderen die
grundsätzliche Adressatenbezogenheit lebensgeschichtlicher
Erzählungen und schließlich die Virtuosität in der Auswahl
der Abschnitte des eigenen Lebens nach Maßgabe dessen, was
man dem Zuhörer als hauptsächliches Interesse unterstellt.
Kurz: Was wann wem erzählt wird, hängt in ausgeprägtem
Maß von vorausgegangenen Definitionen und gemeinsam
verbrachten Vergangenheiten ab, und in diesem Sinn ist die
kommunikativ repräsentierte Autobiographie ein durchaus

206
gemeinsames Produkt von Erzähler und Zuhörer. Es wäre
völlig verfehlt, das, was Mark autobiographisch erzählt hat,
für sein Leben zu halten, und verfehlt wäre es auch, dem Be-
richteten eine besondere subjektive Bedeutung für den Er-
zähler zu unterstellen. Bedeutsam sind, wie seine Graphik
zeigt, für ihn mittlerweile wohl ganz andere Aspekte als die,
die er hier erzählt hat, mir zuliebe.
IX. Mein Gedächtnis weiß mehr als ich
selbst, oder:
Das kommunikative Unbewußte

Am Ende hat der Weg dieses Buches – von der neuro-


wissenschaftlichen Beschreibung des Gedächtnisses über die
soziale Erfahrung, die seine neuronalen Verschaltungen formt,
über die Emotionen und die somatischen Marker, die die Be-
findlichkeit unseres Selbst überwachen und steuern, bis hin zu
den kommunikativen Vergegenwärtigungen unserer gemein-
samen Vergangenheiten und schließlich auch der ureigensten,
der autobiographischen Erinnerung – zu einem Ziel geführt,
das mir zu Beginn des Schreibens noch nicht sichtbar war: zu
der überraschenden Dimension unseres autobiographischen
Gedächtnisses, mehr zu wissen, als wir selbst wissen. Ich habe
versucht, dieses Gedächtnis, das mehr als alles andere unser
Ich bestimmt, bezeichnet und gewährleistet, als eines zu be-
schreiben, das sich in sozialen Austauschprozessen heranbil-
det, und zwar nicht nur, was seine Inhalte angeht, sondern das
in seiner Struktur, die diese Inhalte organisiert, selbst schon –
zumindest in wesentlichen Aspekten – sozialer Formung un-
terliegt.
Dabei hat sich gezeigt, daß dieses Gedächtnis, das wir für den
Kernbestand unseres Selbst halten, viele Aspekte aufweist, die
sich im Zusammensein mit anderen nicht nur gebildet haben,
sondern auch nur dort lebendig werden. Und es hat sich auch
gezeigt, daß wesentliche Aspekte unseres Selbst und unserer
Entscheidungen an Intuitionen und Assoziationen gebunden
sind, die wir nicht immer – vielleicht sogar eher selten – be-
wußt steuern, sondern durch die unser Handeln angeleitet
und – vielleicht gar nicht so selten – gesteuert wird. Dieser ei-
gentümliche Zusammenhang zwischen einer relativen indi-
viduellen Autonomie und Selbstbewußtheit auf der einen
Seite und einer ausgeprägten Sozialitäts- und Körperabhän-

208
gigkeit auf der anderen Seite bestimmt unsere Existenz, und
das autobiographische Gedächtnis übernimmt dabei die Auf-
gabe, diesen Zusammenhang zu synthetisieren und eine Kon-
tinuität zwischen den beiden Seiten herzustellen, die uns gar
nicht bewußt ist, so daß wir uns beständig eines scheinbar
gleichbleibenden Ich – über alle Zeiten, über alle Situationen
hinweg – versichern können. Dieses Ich (und alles, was wir
als unsere Identität bezeichnen, die wir aus unserer Lebensge-
schichte und der Vergangenheit der Erinnerungsgemeinschaft
schöpfen, zu der wir gehören) ist in gewisser Weise ein Selbst-
mißverständnis, allerdings ein notwendiges und sinnreiches.
Hans-Georg Gadamer hat genau das gemeint, als er davon
gesprochen hat, daß die Autobiographie die Geschichte
«reprivatisiere»: «In Wahrheit gehört die Geschichte nicht
uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der
Rückbesinnung selbst verstehen, verstehen wir uns auf selbst-
verständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in de-
nen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspie-
gel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern
im Stromkreis des geschichtlichen Lebens.»190
Immerhin zeigt ein Zerrspiegel auch etwas von dem Objekt, das
sich in ihm spiegelt, und deshalb muß Gadamers Überlegung
nicht so kränkend für unser autobiographisches Selbstgefühl
sein, wie es sich zunächst anhört. Wenn wir bemerken, wie sehr
unser Selbst in Wahrheit in geschichtlicher und sozialer Bezo-
genheit herangebildet wird und lebt, erscheint es vielleicht
weniger unabhängig, als uns lieb ist, aber nichtsdestoweniger
doch immer noch als etwas ganz und gar Einzigartiges. Und in
der Tat besteht seine Einzigartigkeit für jeden einzelnen der
Milliarden Menschen im Zusammentreffen all jener geneti-
schen, historischen, kulturellen, sozialen und kommunikati-
ven Bedingungen, die so, in dieser Summe und Gestalt, nur er
allein erfährt. Diese Reihung gibt zugleich ein Kontinuum der
Persönlichkeitsentwicklung an, dessen einer Pol Festgelegtheit
und dessen anderer Varianz ist, und dieses Kontinuum macht
deutlich, das die Geschichte unserer kommunikativen Erfah-
rungen das Moment ist, das unser Gedächtnis und unser Selbst

209
am stärksten individualisiert. Insofern sind Sozialität und Indi-
vidualität keine Gegensätze, sondern bedingen einander.
Faszinierend bei all dem ist aber, daß wir in unser Wahrneh-
men, Deuten und Handeln offenbar immer viel mehr Fakto-
ren einbeziehen, als uns bewußt zugänglich sind. Gewiß
wäre es unrealistisch zu glauben, Mark Abel und ich hätten
die spezifische und höchst begrenzte Gestalt seiner autobio-
graphischen Erzählung irgendwie absichtsvoll und bewußt
hervorgebracht, und genauso gewiß haben die Mitglieder
der Familie Beck nicht bewußt an jenem Bild vom guten
Großvater gezeichnet, das schließlich aus ihrer gemeinsamen
Verfertigung der Vergangenheit hervorgegangen war. Und
weiter: Ganz sicher hat weder Emilys Vater in seinen wieder-
holten Sätzen beim Einschlafritual mit seinem Kleinkind
irgend etwas davon geahnt, welche Funktion die Wiederho-
lung bestimmter Wortfolgen für das erwachende Selbstbe-
wußtsein seiner Tochter und für ihre wachsende Fähigkeit
gehabt hat, ihre Welt im Medium einer grammatischen Struk-
tur, einer Sprache, zu erschließen. Und ebensowenig verbin-
den Eltern auch nur die geringste bewußte Absicht damit,
mittels «memory talk» ihre Kinder über die unterscheidbare
Existenz von etwas aufzuklären, was wir alle irgendwann als
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bezeichnen ge-
lernt haben. Wahrscheinlich wollen sie sich einfach nur mit
ihnen unterhalten.
Aber all dies wird trotzdem beständig praktiziert – ohne daß
sich jemand darüber Rechenschaft ablegen würde. Der Psy-
chologe Mark Freeman hat in einem ganz ähnlichen Zu-
sammenhang geschrieben, daß Autobiographie vor diesem
Hintergrund «nicht mehr eine Frage – oder nicht mehr aus-
schließlich eine Frage – der Repräsentation eines Lebens,
von der Geburt bis zum Tod» sei. «Statt dessen ist sie die
Frage nach der möglichst sorgfältigen Unterscheidung der
vielfältigen Quellen, die das Selbst hervorbringen. [. . .] Das
Projekt, um das es geht – ob es bewußt stattfindet, wie beim
Schreiben einer Autobiographie, oder unbewußt, wie im
Laufe des Lebens –, ist eines der poiesis, der Modellierung

210
einer Identität innerhalb dieser und mit diesen vielfältigen
Quellen.»191
Das Verbindende, so würde ich ergänzen, zwischen diesen
Quellen ist soziale Praxis, und die besteht in kommunikativen
Prozessen. Es ist ein «kommunikatives Unbewußtes», das diese
Quellen verbindet und grundsätzlich auf mehr «Wissen» ba-
siert, als jedem einzelnen Handelnden und auch allen zusam-
men bewußt verfügbar ist. Wir haben schon im Zusammen-
hang von prozeduralem Gedächtnis und Priming gesehen, daß
wesentliche Bestandteile unseres Selbstgefühls, unserer Hand-
lungsorientierungen und unseres Gedächtnisses auf unbe-
wußten Ebenen operieren – nicht in dem Sinne, daß es hier
um «Verdrängtes» oder «Abgespaltenes» ginge, sondern im
Sinne eines funktionalen Unbewußten, das aus operativen
Gründen jenseits der Bewußtseinsschwelle angesiedelt ist.
Wir fahren einfach besser Fahrrad, wenn wir nicht unablässig
darüber nachdenken müssen, welche komplizierten motori-
schen und kognitiven Operationen permanent dazu nötig
sind, nicht zu stürzen. Die Linguisten George Lakoff und
Mark Johnson sprechen sogar von einem «cognitive uncon-
sciousness», also von etwas, was man weiß und zugleich nicht
weiß. Sie illustrieren diese Überlegung anhand der Wahrneh-
mungsvorgänge, die in jedem Augenblick aktiv sind, den wir
an einem Gespräch teilnehmen.
Sie nennen dabei die folgenden Vorgänge (wobei sie aus-
drücklich betonen, daß diese nur einen kleinen Ausschnitt
der Wahrnehmungen beschreiben, die in einer Kommunika-
tion vorhanden und aktiv sind): Jemand, der in ein Gespräch
verwickelt ist, ist in der Lage,
◆ in der ablaufenden Folge von Geräuschen und Tönen eine
Sprache zu identifizieren, die grammatische Struktur des
Gesagten zu entschlüsseln etc.,
◆ logische Verknüpfungen zu verstehen,

◆ der Gesamtheit der gesprochenen Worte und Sätze seman-


tischen und pragmatischen Sinn abzugewinnen,

211
◆ dem Gesagten selbst einen Rahmen zu verleihen, der der
vor sich gehenden Kommunikation angemessen ist,
◆ Einwände und Einwürfe zu machen, die für die verhandel-
ten Themen bedeutsam sind,
◆ Vorstellungsbilder über das Verhandelte zu entwickeln und
zu prüfen,
◆ Lücken des Nichtgesagten aufzufüllen,

◆ den weiteren Verlauf des Gesprächs zu antizipieren,

◆ die nächste Antwort vorzubereiten usw. usf., und nicht zu-


letzt zieht er Erinnerungen zu dem heran, was gerade ver-
handelt wird.192
All diese Kognitionen nehmen wir mit einer solchen Flexibi-
lität und Geschwindigkeit vor, daß sie uns gar nicht zu Be-
wußtsein kommen. Allenfalls dann, wenn Mißverständnisse
entstehen oder Widersprüche zwischen der Körpersprache
des Gegenübers und dem verbal Mitgeteilten sichtbar wer-
den, wird uns auch intentional bewußt, was auf der Ebene
unseres kommunikativen Unbewußten unser Verhalten in der
Situation anleitet: ein permanenter höchst sensitiver und ge-
nauer Wahrnehmungs- und Interpretationsvorgang, der zwi-
schen Zentrum und Peripherie der kommunikativen Situa-
tion, ihrem lebendigen Prozeß und ihrem Kontext und den
vielen simultan ablaufenden Dialogen auf allen Ebenen der
Sinneswahrnehmung mühelos unterscheiden kann. Wollte
man alle Ebenen der emotionalen und kognitiven Prozesse
entschlüsseln, die in jedem beliebigen Augenblick jedes belie-
bigen Gesprächs ablaufen, würde man sich im Dickicht der
Simultaneität schnell verstricken – was selbst schon ein guter
Beleg dafür ist, daß wir ständig viel mehr «wissen», als uns be-
wußt ist. Wäre das anders, wäre man einfach handlungsun-
fähig.
Gleichwohl wird es lohnend sein, die sozialen Voraussetzun-
gen noch etwas genauer zu betrachten, mit denen wir in ein
Gespräch hineingehen – wie wir das Verhalten unseres Ge-

212
genübers für unser eigenes Verhalten in Rechnung stellen.
Niemand anderer hat dies genauer herausgearbeitet als Erving
Goffman, der den überwiegenden Teil seines Werkes der
Frage gewidmet hat, wie Menschen mit anderen Menschen
im Alltag kommunizieren. Das Täuschen hat ihn dabei be-
sonders interessiert, aber gerade in diesem Zusammenhang ist
er auf eine zentrale Voraussetzung von kommunikativem
Handeln eingegangen, auf Vertrauen. «Normfreie Interak-
tion», schreibt Goffman, sei zwar leicht vorstellbar, aber in der
sozialen Wirklichkeit schwer zu finden und nicht zu erzwin-
gen. Wenn sich zwei Personen «auf eine für beide vorteilhafte
Interaktion einigen, dann muß im allgemeinen aus rein phy-
sischen Gründen der eine vor dem anderen etwas liefern, also
Vertrauen haben».193
Wäre das nicht so, wäre Handeln nicht möglich, weil die Ak-
teure sich gegenseitig blockieren würden – und es könnte,
wie Goffman zutreffend bemerkt, «kaum irgendwelche so-
ziale Organisation geben, wenn die Menschen nicht auf die
bloßen Worte anderer etwas geben könnten; die Abstimmung
der Tätigkeiten nach Zeit und Ort würde sehr schwierig, und
alle Situationsdefinitionen würden instabil.»194 Menschen
handeln also auf der Grundlage von Vertrauensvorschüssen,
auch wenn sie wissen, daß sie jederzeit belogen werden kön-
nen – was sie übrigens deshalb so gut wissen, weil sie selbst
über diese Kompetenz verfügen, aber davon ausgehen kön-
nen, daß andere Menschen ihnen ebenfalls grundsätzlich mit
Vertrauen begegnen. Das klingt paradox, offenbart aber viel-
leicht nicht mehr als die Vielschichtigkeit alltäglicher Wahr-
nehmungen, Deutungen und Handlungen.
Goffman sieht ein Grundprinzip sozialen Austausches darin,
daß man dabei etwas gewinnen oder verlieren kann, und da
das Interesse der Handelnden naturgemäß darauf gerichtet ist,
etwas zu gewinnen, läßt sich die Grundsituation sozialer In-
teraktion wie folgt charakterisieren: «In jeder sozialen Situa-
tion ist in irgendeinem Sinne ein Beteiligter Beobachter, der
etwas zu gewinnen hat, indem er Ausdrucksverhalten beur-
teilt, und ein anderer ist Beobachteter, der etwas zu gewinnen

213
hat, wenn er es manipuliert.»195 Goffman geht hier von meh-
reren Grundannahmen aus, die er nicht näher ausführt: er-
stens von dem interaktionistischen Grundgesetz, daß man so
spricht, wie man erwartet, daß der andere erwartet, daß man
sprechen wird. Die Geltung dieses Axioms ist übrigens desto
deutlicher, je mehr die Absichten der Sprecher davon abwei-
chen, einfach nur offen und ehrlich zu sein. Zweitens setzt
Goffman ein grundlegendes Prinzip sozialen Handelns vor-
aus: wechselseitige Beobachtung. Jeder der Sprecher ist nicht
nur Subjekt seines Handelns, sondern zugleich Objekt der
Beobachtung des jeweils anderen – das ist die Bedingung für
die Möglichkeit der Perspektivenübernahme, die wiederum
die Bedingung für die Voraussetzung ist, daß man so spricht,
wie man erwartet usw. Zugleich beinhaltet dieses Prinzip
drittens, daß man in Gegenwart anderer Personen stets kom-
muniziert, was übrigens kein ganz unwichtiger Hinweis dar-
auf ist, daß Kommunikativität eine basale menschliche Fähig-
keit ist.
Viertens ist es wichtig zu betonen, daß die Beobachtungen
am jeweils anderen keineswegs nur darauf gerichtet sind, was
dieser verbal zum Ausdruck bringt, sondern auf alle wahr-
nehmbaren Merkmale seines Handelns in der Situation: Ge-
stik, Mimik, körperliche Reaktionen wie Rotwerden oder
Pupillenerweiterungen, Aufgeregtheit etc. – alles das gehört
Goffman zufolge zum Ausdrucksverhalten, das im komplexen
Wechselspiel sozialer Interaktion permanent in Rechnung
gestellt wird. Dabei wiederum ist zu beachten, daß das Aus-
drucksverhalten (in begrenztem Maß) selbst Gegenstand der
bewußten Kontrolle oder Manipulation sein und dem Zweck
dienen kann, das Gegenüber hinters Licht zu führen – die
Operation des gewieften Pokerspielers, die auf der Annahme
basiert, daß das Gegenüber eben grundsätzlich dazu neigen
wird, sich zunutze zu machen, was das Ausdrucksverhalten
des anderen ihm eröffnet. Daraus leitet sich das Interesse des
Beobachteten ab, «das Sichzunutzemachen seines Verhaltens
durch den Beobachter sich zunutze zu machen, ehe das noch
der Beobachter selbst tun kann» – also Eindrucksmanipula-

214
tion zu treiben, wie Goffman das nennt, etwas vorzutäuschen,
was nicht der Fall ist. Dieses Modell läßt sich noch um eine
Windung weiterschrauben, nämlich bis zu dem Rekursions-
problem, daß die Einschätzung, die der eine zu durchschauen
versucht, nämlich die, zu der der andere wahrscheinlich
kommt, selbst schon in Rechnung stellen muß, daß sein Ver-
such, sie zu durchschauen, in der Einschätzung schon enthal-
ten ist – wofür es wiederum kein eindrücklicheres Beispiel
gibt als die sich wechselseitig taxierenden Pokerspieler, die
nach Möglichkeit das Gegenteil von dem zu signalisieren ver-
suchen, was sie glauben, was ihr Kontrahent über ihr Verhal-
ten glaubt.196
So kompliziert sich das auch anhört – als sozialisierte Indivi-
duen beherrschen wir solche «Koordinationsspiele» (Thomas
C. Schelling) mit schlafwandlerischer Sicherheit, denn es
handelt sich hier um so etwas wie ein implizites Regelwissen
um die Grundvoraussetzungen sozialer Interaktion, die wir
vom Säuglingsalter an im Zusammensein mit anderen gelernt
haben – denken Sie einfach daran, welche Rolle das spieleri-
sche Hinters-Licht-Führen, das Necken und Kitzeln, das
Kommentieren von Aktionen und Reaktionen etc. von den
ersten Tagen der Kommunikation mit einem Kind an spielen.
Wir kommen mit einer «readyness for communication» auf
die Welt, die dann je nach den historischen, kulturellen und
sozialen Voraussetzungen geformt wird – der weitaus größte
Teil dieser Voraussetzungen wird aber nie auf die Stufe des
Bewußtseins gehoben, sondern lebt in der Praxis selbst, an der
wir ganz selbstverständlich immer schon teilhaben.
Im Kapitel über Emotionen und über die Theorie Damasios
hat sich gezeigt, daß die Entstehung von Bewußtsein offen-
sichtlich an ein beständiges Wechselspiel von körperlichen Zu-
ständen, die durch Emotionen angezeigt werden, den daran
orientierten Antworten und Handlungen und den wiederum
daraus resultierenden Erfahrungen gebunden ist. Damasio
hatte in diesem Zusammenhang die Möglichkeit für intuitives
Handeln mit dem Wirken von «somatischen Markern» erklärt,
die eine Art körperlichen Index für das Treffen von Entschei-

215
dungen liefern. Im gleichen Sinn sind solche Entscheidungen,
wie ich glaube, durch «soziale Marker» bestimmt, also an kul-
turelle, historische und soziale Indizes gebunden. Da wir uns
nur im seltenen Grenzfall darüber Rechenschaft ablegen, wel-
che Gründe und Motive zu welchen unserer Entscheidungen
geführt haben, ja oft noch nicht einmal bemerken, daß wir ge-
rade eine Entscheidung getroffen und damit andere Möglich-
keiten ausgeschlossen haben (zum Beispiel beim Formulieren
von Sätzen), spielt sich ein wesentlicher Teil unseres Handelns
nicht reflexiv, sondern intuitiv ab – auf der Basis von in uns und
zwischen uns ablaufenden komplexen Prozessen, die unser wa-
ches Bewußtsein nicht weiter behelligen. Das trifft nicht nur
auf individuelles Handeln zu, sondern gerade auch auf soziales,
denn die vielfältigen Koordinationsspiele, mit denen sich Er-
ving Goffman (und viele andere) so intensiv beschäftigt haben,
sind ja Spiele, deren Regeln wir nicht kennen müssen, um sie
mit traumhafter Sicherheit zu beherrschen. Genau deshalb
funktioniert Kommunikation in der Regel; sie funktioniert ge-
rade dann nicht, wenn unterschiedliche Sprachspiele aufeinan-
dertreffen (das unerschöpfliche Thema interkultureller Kon-
flikte, Geschlechterkonflikte usw.) oder wenn Personen mit
bestimmten Hirnschädigungen Störungen in ihrem emotiona-
len Verarbeitungssystem haben und deshalb die sozialen Koor-
dinationsspiele nicht mehr beherrschen.
Ein Teil der Praxis dieser Koordinationsspiele besteht darin,
daß jeder der Beteiligten «Sinn» in die kommunikativen Si-
tuationen hineinträgt: Man erschließt das, was das Gegenüber
beabsichtigt und tun wird, noch bevor dessen Handlung ab-
geschlossen ist – was sich wiederum an der Beobachtung von
Spielzügen, z. B. Doppelpässen beim Fußball, ablesen läßt
oder etwa dann, wenn Sie jemandem beim Telefonieren
zuhören und automatisch zu ergänzen versuchen, was die
Person am anderen, unhörbaren Ende der Leitung sagt. In all
unseren sozialen Handlungen und im Sprechen sowieso ist
also der andere immer schon enthalten. Das heißt: Unsere
kommunikative Praxis besteht eigentlich in einem unablässi-
gen Vorgang der Montage.

216
Wenn diese kommunikative Praxis Vergangenheit und Ge-
schichte zum Gegenstand hat, geht es keineswegs nur um
die Weitergabe von narrativen und inhaltlichen Versatz-
stücken, die so und so kombiniert werden können und wer-
den, sondern immer auch um die Organisationsstruktur die-
ser Kombinationen, die vorab schon festlegt, in welchen
Rollen welche Akteure überhaupt auftreten können und
wie zu bewerten ist, was sie erlebt haben. Deshalb ist es oft
so, daß es eher die emotionale Dimension, die atmosphäri-
sche Tönung des Berichts ist, die weitergegeben wird und
die Vorstellung und Deutung der Vergangenheit bestimmt,
während die inhaltlichen Zusammenhänge – situative Um-
stände, Kausalitäten, Abläufe etc. – frei verändert werden,
so, wie es für die Zuhörer und Weitererzähler am meisten
«Sinn macht».
All dies erinnert nicht zufällig an die fotografischen Medien,
die ihre Wirkungskraft nicht nur daraus beziehen, daß sie et-
was projizieren, sondern auch daraus, daß im selben Maß auf
sie projiziert werden kann: «Der Reichtum der Photogra-
phie», hat Edgar Morin geschrieben, «ist tatsächlich alles das,
was nicht in ihr enthalten ist, was wir vielmehr in sie hinein-
projizieren oder mit ihr verbinden.»197 Im Film kommt dieses
Prinzip noch mehr zur Geltung. Als G.A. Smith im Jahr 1899
die Bilder eines küssenden Paares und eines in einen Tunnel
einfahrenden Eisenbahnzuges aneinandergeschnitten und da-
mit die erste Montage der Filmgeschichte vorgenommen hat,
ist eine narrative Struktur visualisiert worden, die darauf baut,
daß der Betrachter immer das ergänzt, was in der Filmerzäh-
lung nicht gezeigt wird – nämlich den «Kuß im Tunnel» (so
auch der Titel des Films). Erst in den Schnitten entsteht die
Geschichte, d. h. in der aktiven Hinzufügung und Ergänzung
durch den Betrachter, genauso wie in der erzählten und
gehörten Geschichte.
Überhaupt nimmt unser Gehirn pausenlos Ergänzungen vor,
die Welten konstruieren, die in der «Wirklichkeit» gar nicht
existieren. Nehmen Sie etwa die «Dreieckstäuschung» in der
folgenden Abbildung:

217
Abb. 25:
Kanizsa-Dreieck.

Obwohl die Umrisse des Dreieckes nicht vollständig vorhan-


den sind, fügt unser visuelles Verarbeitungssystem die fehlende
Kontur hinzu. Der Schlüssel für die sichere Hinzufügung von
Fehlendem liegt darin, daß wir uns Informationen zunutze
machen, die der Kontext des fehlenden Elements liefert – wir
füllen mit Hilfe kontextueller Informationen die gegebenen
Lücken auf.198 Nichts anderes geschieht beim Hören, Tasten,
Riechen und Schmecken. Die Schnittechnik des Films nimmt
also lediglich Verfahrensweisen unserer Wahrnehmung und
des konstruktiven Vermögens unseres Gehirns in Anspruch,
die unser Weltverständnis ganz grundsätzlich ausmachen. Aus
neurowissenschaftlicher Perspektive würde hier darüber hin-
aus argumentiert werden, daß die menschlichen Sinnessy-
steme überhaupt nur einen schmalen Ausschnitt von Signalen
aus der Umwelt aufnehmen und daraus dann ein kohärentes
Bild einer Wirklichkeit konstruieren, «und unsere Primär-
wahrnehmung läßt uns glauben, das sei alles, was da ist. Wir
nehmen nicht wahr, wofür wir keine Sensoren haben, und er-
gänzen die Lücken durch Konstruktionen».199 Und Wolf Singer
fügt hinzu, daß es erst die Verwendung «künstlicher Sensoren»
sei, die darauf hinweist, «daß es da viel mehr wahrzunehmen
gibt».
Die Montagetechnik des Gehirns hat, wie wir an vielen Bei-

218
spielen gesehen haben, ein Korrelat in den sozialen Prozessen
der Vergangenheitsbildung, und damit können wir auf den Be-
fund zurückkommen, daß das Gedächtnis sowohl von Erinne-
rungsgemeinschaften als auch von Einzelpersonen nicht auf ein
begrenztes und fixiertes Inventar von Erinnerungsstücken baut,
sondern daß dieses Inventar einer permanenten Ergänzung und
Überschreibung unterliegt, die eben in seiner Aktualisierung
im Prozeß sozialer Kommunikation geschieht.
Das Gedächtnis ist an die Akte des Sich-Erinnerns gebunden,
und die fiktive Einheit dieses Gedächtnisses besteht in der Kon-
tinuität der Aktualisierung von Geschichten aus der Vergan-
genheit, in der sozialen Praxis gemeinsamen Sich-Erinnerns.
Was Paul Ricoeur für die individuelle Erinnerung festgehalten
hat, gilt auch für die soziale Praxis der Vergegenwärtigung des
Vergangenen: daß diese Praxis völlig unzureichend beschrie-
ben wäre, wenn man darin eine Aneinanderreihung von Epi-
soden sehen würde. Jede Erinnerungssituation hat nämlich
eine «konfigurative Dimension», in der die kommunikativen
Akte – Erzählungen, Ergänzungen, Kommentare, Fragen –
nach Maßgabe von Erzählkonventionen, Plausibilitäts- und
Kausalitätserwartungen etc. so geordnet werden, daß eine für
alle Beteiligte sinnhafte Geschichte entsteht (die bei genauerer
Betrachtung in ebenso viele Versionen zerfällt, wie Sprecher
und Zuhörer beteiligt sind).
Der soziale Verfertigungsprozeß von Vergangenheit bewegt
sich in drei Zeitgestalten – in der Vergangenheit, über die er-
zählt wird, in der Gegenwart, in der die Wir-Gruppe ihre
Vergangenheit begeht, und in der Zukunft, auf die die
Kohärenz der Gruppe gerichtet ist: So wird sie auch über
diese und weitere Situationen hinweg bestehen, oder anders-
herum, sie wird in Zukunft so sein, weil sie jetzt so ist und
immer schon so war. Keine Vergegenwärtigungssituation ist
wie eine vorangegangene: Inzwischen ist Zeit vergangen,
vielleicht ist jemand in der Zwischenzeit verstorben, viel-
leicht jemand dazugekommen, vielleicht sind aus gesell-
schaftlich dominanten Vergangenheitsdiskursen neue Aspekte
in die Vergegenwärtigungssituation eingewandert – in jedem

219
Fall gehen alle Beteiligten von einer anderen Stelle aus in das
gemeinsame Gespräch.
Damit verändert sich notwendig auch die Vergangenheit, wie
sie verfertigt wird, denn sie erscheint nunmehr im Rahmen
einer neuen Figuration. Und wieder muß betont werden, daß
für eine Erinnerungsgemeinschaft Analoges gilt wie für das
sich erinnernde Individuum: Erinnern geht immer einher mit
Neu-Einschreiben (Wolf Singer). Was in der Erinnerung blei-
ben soll, bedarf der Konsolidierung durch wiederholtes
Durchdenken und Durchfühlen desselben Ereignisses. Wenn
diese Konsolidierung ausfällt, abgebrochen oder modifiziert
wird, verändert sich das Engramm, die neuronale Gedächt-
nisspur. Das bedeutet, «daß Engramme nach wiederholtem
Erinnern gar nicht mehr identisch sind mit jenen, die vom er-
sten Lernprozeß hinterlassen wurden. Es sind die neuen Spu-
ren, die [. . .] beim Erinnern neu geschrieben werden.»200
Das aber hat, wie Singer ausführt, weitreichende Konsequen-
zen für die Beurteilung der Authentizität von Erinnerungen.
Denn bei einem erneuten Konsolidierungsprozeß wird auch
der Kontext, in dem das Erinnern stattfindet, «mitgeschrieben
und der neuen Erinnerung beigefügt. Es ist dann nicht auszu-
schließen, daß die alte Erinnerung dabei in neue Zusammen-
hänge eingebettet und damit aktiv verändert wird.»201 Und
damit erklärt sich die permanente Veränderung nicht nur der
individuellen, sondern auch der kollektiven Erinnerung
ebenso wie die kontinuierliche Feinabstimmung des gemein-
samen Gedächtnisses, die notwendig auch die Erinnerung der
einzelnen Mitglieder nuanciert verändert. Niemand geht in
diesem Sinne mit der gleichen Fiktion vom gemeinsamen
Gedächtnis aus der Situation heraus, mit der hineingegangen
ist – aber gerade das stellt die Funktion sicher, daß das Ge-
dächtnis der Gruppe kohärent und damit die Gruppe als
Gruppe bestehenbleibt.
Und an dieser Stelle ist es notwendig, auf den Kontext der
Gesprächssituation hinzuweisen, in dem Erinnerungen ak-
tualisiert werden. Lebensgeschichtliche Ereignisse zu er-
zählen ist selbst ein lebensgeschichtliches Ereignis: Es findet

220
zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort
unter Beteiligung bestimmter Personen statt – und das alles
kann zu einem späteren Zeitpunkt wiederum erinnert und
erzählt werden. Wenn es zutrifft, daß Erinnerung immer das
Ereignis plus die Erinnerung an seine Erinnerung ist, dann
sind Kommunikationen (und auch die Interviews und Famili-
engespräche, wie ich sie in diesem Buch verwendet habe)
selbst Teil einer interaktiven Geschichte. In diesem Sinn be-
steht das kommunikative Gedächtnis immer in Formen der
Verlebendigung von Vergangenem, das in diesem Prozeß nie
bleibt, was es war. Man kann das alles auch einfacher sagen,
zum Beispiel so, wie Martin Walser zu Beginn seines Romans
«Ein springender Brunnen»: «Solange etwas ist, ist es nicht
das, was es gewesen sein wird.»
Das nun unterscheidet das kommunikative vom kulturellen
Gedächtnis, das sich Aleida und Jan Assmann zufolge dann zu
etablieren beginnt, wenn kein Erzähler mehr existiert, der das
in Rede stehende historische Geschehen noch miterlebt hat.
An diesem Punkt wird die Vergangenheit in kommemorative
Formen gegossen, die deutlich mehr mit Geschichts-, Ver-
gangenheits- und Erinnerungspolitik zu tun haben, mit poli-
tisch und moralisch definierten Formen der Angemessenheit,
als das kommunikative Gedächtnis. Mit anderen Worten: Das
kulturelle Gedächtnis ist in gewisser Weise ein geronnener
Aggregatzustand des kommunikativen Gedächtnisses, dessen
zentrale Eigenschaft in seiner Flüssigkeit besteht. Diese For-
mulierung sollte nicht zu wörtlich genommen werden, denn
wie unser Bewußtsein und unser Handeln positiv oder nega-
tiv auch an das kulturelle Gedächtnis gebunden ist, so wird
dieses durch kommunikatives Handeln an Stellen selbst wie-
der verflüssigt und verändert – was man sich am besten an den
Gestaltwandlungen klarmachen kann, die der Holocaust in
den letzten Jahrzehnten im kulturellen Gedächtnis erfahren
hat.
Das kommunikative Gedächtnis beinhaltet als lebendiges Ge-
dächtnis ebenjene Dialektik von Individualität und Sozialität,
von Geschichte und Privatisierung von Geschichte, die zu-

221
gleich die Suggestion von Ich- und Wir-Identität wie ihre
permanente Veränderung erzeugt. Das Medium für die Er-
zeugung des Gefühls von Kontinuität und Stabilität, die wir
unserem Selbst zuschreiben, ist gerade die lebenslange nuan-
cierte Veränderung ebendieses Selbst in der kommunikativen
Feinabstimmung in jeder neuen Situation, in der wir uns be-
finden. Dem autobiographischen Gedächtnis kommt dabei die
Aufgabe zu, all unsere Vergangenheiten so umzuschreiben und
anzuordnen, daß sie dem Aktualzustand des sich erinnernden
Ich paßgenau entsprechen. Diese Paßgenauigkeit wird durch
alle unsere sozialen Kommunikationen beglaubigt, die uns
ganz praktisch versichern, daß wir uns selbst gleichgeblieben
sind. Auf diese Weise gelingt es uns, zugleich ein individuelles
Selbst zu haben und Teil einer historischen Figuration und
sozialen Praxis zu sein, die weit über unsere eigene Existenz –
über unsere Handlungsräume und unsere eigene Lebenszeit –
hinausreicht.
Und am Ende paßt alles wieder zusammen, die Individualität
unseres Gedächtnisses und unseres Selbst und seine Gebun-
denheit an und Eingebundenheit in das Zusammensein mit
anderen, und zwar nicht nur mit anderen, die wir kennen und
die unsere Gegenwart teilen, sondern auch mit anderen, die
über historische Zeiten und kulturelle Differenzen hinweg
mit uns in Verbindung stehen. Gewiß war es kein Zufall, daß
Vladimir Nabokov seine eigene Autobiographie mit dem fol-
genden Bild von seinem kleinen Kind beendet hat, das am
Strand Scherben und Steine aufsammelt: «Sie wurden Dir
oder mir zur Ansicht gebracht, und wenn sie indigoblaue
Zickzackleisten hatten oder Streifen von Blockornamenten
oder andere lustige Embleme und für wertvoll gehalten wur-
den, so fielen sie mit einem Klappern in den Spielzeugeimer;
wenn nicht, dann bezeichneten ein kurzes Aufleuchten und
ein Plumpsen ihre Rückkehr ins Meer. Ich bezweifle nicht,
daß unter diesen ein wenig ausgehöhlten Majolikascherben,
die unser Kind fand, auch diejenige war, deren schnörkelver-
zierter Rand genau in das Muster des Stückes paßte und es
fortsetzte, das ich 1903 an der gleichen Küste gefunden hatte,

222
und daß die beiden mit einem dritten übereinstimmten, das
meine Mutter 1882 an jenem Strand von Menton gefunden
hatte, und mit einem vierten Stück des gleichen Gefäßes, vor
hundert Jahren von ihrer Mutter aufgelesen – und so weiter,
bis diese Sammlung der einzelnen Scherben, wären sie alle
aufgehoben worden, zusammengesetzt werden könnte, um
die vollständige, die ganz und gar vollständige Schale zu bil-
den, die irgendein italienisches Kind Gott weiß wann und wo
zerbrochen hatte.»
X. Danksagung

Dieses Buch wäre ohne Hilfe und Unterstützung von


verschiedenen Seiten nicht zustande gekommen. Zunächst
gilt mein Dank der Volkswagenstiftung und hier insbesondere
Herrn PD Dr. Axel Horstmann, Frau Dr. Szoelloesi-Brenig
und Herrn Dr. Wolfgang Levermann. Meine Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter Silke Arnold, Olaf Jensen, Dr. Anja
Lemke und Anna Schwab haben Teile des Manuskripts ge-
lesen und mir vielfältige Anregungen und Hilfestellungen ge-
geben. Torsten Koch war und ist stets zur Unterstützung be-
reit; Céline Puls war mir eine große Hilfe bei der Arbeit an
den Interviews. Mein Kollege und Mitstreiter Prof. Dr. Hans
J. Markowitsch hat mich auf viele Ideen gebracht, die in die-
sem Buch eine Formulierung gefunden haben und darüber
hinaus großzügig eine Reihe von Abbildungen zur Verfügung
gestellt. Ihnen allen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.

Harald Welzer, im Mai 2002


XI. Anhang
Anmerkungen

1 Singer (1998), S. 328.


2 J. Assmann (1988), S. 9.
3 Ebenda, S. 10.
4 Ebenda, S. 11.
5 Ebenda, S. 12.
6 Ebenda, S. 13.
7 Ebenda, S. 15.
8 Ebenda.
9 Nelson (1996).
10 Middleton & Edwards (1990).
11 Piaget (1969), S. 240
12 Schacter et al. (1998).
13 Piefke (1999), S. 7.
14 Schacter (1996), S. 308.
15 Markowitsch (2002), S. 79.
16 LeDoux (1998), S. 193.
17 Vgl. ausführlich Welzer & Markowitsch (2001), S. 206.
18 Keppler (1994); Echebarria & Castro (1995).
19 Beide Gedächtnissysteme, semantisches wie episodisches, sind an

intakte Strukturen der Temporallappen und des sog. Diencepha-


lon gebunden, aber Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren
haben erhöhte Durchblutungen (als Indikator für Aktivität) in
Regionen des rechten Frontallappens gezeigt, wenn Versuchsper-
sonen mit der Lösung von Aufgaben befaßt waren, für die Opera-
tionen des episodischen Gedächtnisses in Anspruch genommen
werden mußten (Tulving & Markowitsch 1998, S. 202).
20 Schacter (1996), S. 161.
21 Ebenda, S. 172.
22 Ebenda, S. 233.
23 Ebenda, S. 207.
24 Ebenda, S. 205.
25 Terr (1994).
26 Pynoos & Nader (1989).
27 Loftus & Pickrell (1995); Loftus et al. (1995); Hyman et al. (1995).
28 Loftus & Pickrell (1995).

227
29 Hyman et al. (1995).
30 Wilkomirski (1995), S. 7.
31 Hell (1998), S. 274.
32 Neisser (1981), S. 4, Übersetzung H.W.
33 Laub (1992); vgl. auch A. Assmann (1992), S. 274ff.
34 Schacter (1996), S. 207.
35 Frankel (1994).
36 Schacter (1996), S. 208.
37 LeDoux (1998), S. 227ff.
38 Schacter (1996), S. 210.
39 Ebenda, S. 62.
40 LeDoux (1998), S. 262.
41 Ebenda, S. 263.
42 Mit Hilfe von neuropsychologischen Techniken, bei denen man

aufgrund der Blutsauerstoffzufuhr Gehirnaktivität messen kann,


konnten Kosslyn et al. (1995) nachweisen, daß sowohl beim Se-
hen als auch beim Imaginieren von Bildern, Objekten oder Sze-
nen die gleichen sensorischen Felder im visuellen Kortex aktiviert
werden (Kosslyn et al. 1995; Kosslyn et al. 2001).
43 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.2000, S. 2.
44 Vgl. Kapitel 7; Welzer et al. (2002); Knoch (2001).
45 Vgl. Schacter (1996), S. 132.
46 Neisser & Harsch (1992).
47 Christianson (1989).
48 Schacter (1996), S. 200ff.
49 Neisser & Harsch (1992).
50 Schacter (1996), S. 201.
51 Ebenda, S. 298.
52 Vgl. Welzer (1993), S. 37.
53 Conway & Rubin (1993).
54 Schacter (1996), S. 287.
55 Welzer et al. (1997), S. 204ff.; Welzer et al. (2002).
56 ZEIT-Punkte 3 (1995), S. 84.
57 Mesulam (1995), S. 382, Übersetzung H.W.
58 Robbins (1998), S. 57. «Die Neuronen müssen ihre Neurotrans-

mitter aus Vorläufersubstanzen (die häufig aus der Nahrung stam-


men) synthetisieren, in ihrem Inneren speichern, im geeigneten
Augenblick ausschütten, damit sie an die Rezeptoren der post-
synaptischen Zelle binden können [. . .]. Wenn Neurotransmitter
an ihre Rezeptoren binden, wirken sie unter anderem dadurch,

228
daß sie in den Rezeptormolekülen für eine Änderung der Kon-
formation sorgen, so daß sich die Kanäle für die Passage von Io-
nen wie Kalium, Natrium und Calcium öffnen. Das beeinflußt
die elektrische Spannung an der Zellmembran des Neurons und
damit auch seine Fähigkeit, Aktionspotentiale weiterzuleiten.
Teilweise in Abhängigkeit von den Ionen, denen sie den Eintritt
in die Zelle ermöglichen, steigern manche Neurotransmitter die
Wahrscheinlichkeit, daß Aktionspotentiale weitergeleitet wer-
den, und damit wirken sie exzitatorisch (erregend). Andere ver-
mindern diese Wahrscheinlichkeit und wirken daher inhibito-
risch (hemmend). Andererseits kann der Neurotransmitter aber
auch über Rezeptoren wirken, die in der postsynaptischen Zelle
sekundäre und sogar tertiäre chemische Botenstoffe beeinflus-
sen», Robbins (1998), S. 59ff.
59 Parnavelas (1998), S. 59.
60 Ebenda, S. 39.
61 Maiello (1999), S. 140.
62 Huether et al. (1999), S. 9.
63 Singer, FAZ 28.9.2000, S. 10.
64 Siegel (1999), S. 14.
65 Rose (1998), S. 17.
66 Welzer & Markowitsch (2001). Zu den neuronalen Ausreifungs-

prozessen in der frühkindlichen Entwicklung zählen auf mor-


phologischer Ebene axonale Myelinisierung und axonale und
dendritische Aussprossungs- und Pruning-Vorgänge (Bourgeois,
Goldman-Rakic & Rakic 2000; Rakic 2000), auf biochemischer
Ebene hormonale Schübe (die in den ersten Lebensjahren und
dann wieder in der Pubertät auftreten), die einen Großteil der als
sexueller Dimorphismus bezeichneten Mann-Frau-Unterschiede
auf Hirnebene bedingen und die entscheidend die im späteren
Lebensalter manifesten kognitiven Präferenzen und Unterschiede
zwischen den Geschlechtern ausmachen. In der nachfolgenden
kindlichen Entwicklung spielen Ausmaß und Variabilität in der
Vernetzung eines Neurons mit anderen eine wesentliche Rolle.
Dies insbesondere dann, wenn es gilt, den lebenslangen Erfah-
rungszuwachs mit morphologischen Anpassungsvorgängen im
Gehirn in einen Zusammenhang zu bringen (Neville & Bavelier
2000). Gehirne von Jungen und Mädchen reifen unterschiedlich
schnell und die steroid-induzierten Verhaltensweisen kommen zu
unterschiedlichen Zeitpunkten während der Ontogenese zum

229
Tragen. Deshalb ist sowohl eine Unterscheidung von vorgeburt-
licher Anlage und späterer Ausdifferenzierung als auch eine min-
destens zehn bis zwölf Jahre dauernde unterschiedliche Entwick-
lung der beiden Geschlechter in Rechnung zu stellen. Während
dieser Zeit werden bestimmte Verhaltensweisen, z. B. kognitive
Strategien, erworben, die in ihrem zellulären Substrat mit unter-
schiedlichen morphologischen Vorgaben interagieren, d. h. die
Plastizität des Gehirns unterschiedlich nutzen. Als Beispiel mö-
gen hier geschlechtsspezifische Unterschiede in den Gedächtnis-
inhalten aus der frühen Kindheit dienen, wo Mädchen eher emo-
tionale und Jungen eher handlungsbetonte Erinnerungen haben
(vgl. Pritzel & Markowitsch 1997). Insbesondere präfrontale
Areale reifen dabei über die gesamte Kindheit und Jugend weiter,
wobei sie dies wesentlich in Interaktion mit Einflüssen aus der
Umwelt tun. Hierbei kommt – wie inzwischen eine Vielfalt me-
thodisch unterschiedlicher Untersuchungen zeigen – der rechten
Stirnhirnhälfte eine besondere Bedeutung für die Ausbildung und
Kontrolle des Selbst zu (Keenan et al. 2000; Levine et al. 1998;
Markowitsch 1999a, b). Darüber hinaus kann angenommen wer-
den, daß wesentliche Bereiche des höheren Emotionalverhaltens
über limbische und präfrontale Regionen der rechten Hemi-
sphäre gesteuert werden und sich durch soziale und kulturspezi-
fische Einflüsse weiterentwickeln.
67 Shors et al. (2001).
68 Perry et al. (1998), S. 282.
69 Caruth (1995); vgl. auch van der Kolk & van der Hart (1991).
70 Van der Kolk (1994).
71 LeDoux (1998), S. 262.
72 Perry et al. (1998), S. 283.
73 Ebenda, S. 284.
74 Ebenda.
75 Ebenda, S. 288.
76 Siegel (1999), S. 2.
77 Huether et al. (1999), S. 14.
78 Stern (1998), S. 104.
79 Reddy et al. (1997), S. 248.
80 Vgl. Braten (1998), S. 7.
81 Zusammenfassend Reddy et al. (1997), S. 248.
82 Kugiumutzakis (1998).
83 Meltzoff & Moore (1998), S. 56.

230
84 Ebenda, S. 56.
85 Trevarthen (1998), S. 29.
86 Ebenda, S. 63.
87 Stern (1998), S. 91.
88 Auch wenn sich in den letzten drei Jahrzehnten das geschlechtsspe-

zifische Verhalten insbesondere in bezug auf die Säuglingspflege


durchaus verändert haben mag und zahlreiche Vater-Kind-Inter-
aktionen auch schon im frühen Säuglingsalter stattfinden, werde
ich der Einfachheit halber und vor allem, weil dies immer noch
dem Sprachgebrauch der referierten Literatur entspricht, auf den
folgenden Seiten meist von Mutter-Kind-Interaktionen sprechen.
89 Trevarthen (1998), S. 30.
90 Ebenda, S. 18.
91 Vgl. Stern (1998), S. 95ff.
92 Trevarthen (1998), S. 18, Übersetzung H.W.
93 Ebenda, S. 18.
94 Stern (1998), S. 96.
95 Ebenda, S. 98.
96 Wygotski (1978), S. 30.
97 «Das I», sagt Mead, «ist die Antwort des Organismus auf die Hal-

tungen der anderen, die man in sich hineinnimmt. Die Haltun-


gen der anderen konstituieren das organisierte me, und dann rea-
giert man darauf als ein I», Mead (1959), S. 159; Übersetzung
H.W.
98 Damasio (1997), S. 318ff.
99 Stern (1998), S. 114.
100 Nelson (1986); (1998), S. 17.
101 Ebenda, S. 19.
102 Ebenda. S. 91.
103 Ebenda, S. 118, Übersetzung H.W.
104 Ebenda. S. 119.
105 Ebenda.
106 Ebenda, S. 140ff.
107 Ebenda, S. 141.
108 Stern (1998), S. 115.
109 Nelson (1993), S. 2, Übersetzung H.W.
110 Ebenda, S. 4, Übersetzung H.W.
111 Hudson (1990), zit. nach Miller (1993), S. 345.
112 Miller (1993), S. 344.
113 Middleton & Edwards (1990).

231
114 Zusammenfassend Fivush & Nelson (2000), S. 286ff.
115 Fivush & Nelson (2000), S. 286, Übersetzung H.W.
116 Ebenda, S. 287, Übersetzung H.W.
117 Tessler & Nelson (1994).
118 Fivush & Nelson (2000), S. 289.
119 Ebenda, S. 289.
120 T. Habermas (2000).
121 Mullen (1994).
122 Zusammenfassend Fivush & Nelson (2000), S. 288.
123 Vgl. zusammenfassend Miller (1993), S. 367ff.
124 Shore (1996), S. 49.
125 Tulving & Markowitsch (1998), S. 202, Übersetzung H.W.
126 Das Phänomen der kindlichen Amnesie vor dem vierten oder

fünften Lebensjahr läßt sich aus meiner Sicht besser mit der bis
dahin noch nicht vollständig symbolisierten Form der Erfah-
rungsrepräsentation erklären als mit der ontogenetisch nachge-
ordneten Entstehung des episodischen Gedächtnissystems; auch
das Vorhandensein des neuroanatomischen Potentials in Gestalt
des rechten Frontallappens läßt die hierarchische Erklärungsvari-
ante gerade nicht plausibel erscheinen.
127 LeDoux (1998), S. 50.
128 Vgl. S. 64.
129 Damasio (1997), S. 186.
130 Markowitsch (1996), S. 58. Allgemein geht Markowitsch davon

aus, daß die Amygdala zusammen mit dem mediodorsalen Thala-


mus und dem basalen Vorderhirn für die Einspeicherung emotio-
naler Erinnerungen zuständig ist (während die hippocampale
Formation, der anteriore Thalamus und die Mammillarkörper
kognitive Inhalte verarbeiten), (Markowitsch (1996), S. 58).
131 LeDoux (1998), S. 175.
132 Ebenda, S. 181.
133 Sarter & Markowitsch (1985).
134 Damasio (1997), S. 263ff.
135 Was Damasio genau unter einem «Vorstellungsbild» versteht,

bleibt einigermaßen unklar. Vielleicht sollte man sich hier kein


vollständig imaginiertes Handlungsergebnis vorstellen, eher so
etwas wie einen mehr oder minder deutlich bewußten Ziel-
punkt, der mit der Handlung erreicht werden soll.
136 Damasio (1997), S. 239.
137 Ebenda, S. 245.

232
138 Ebenda.
139 Ebenda, S. 248.
140 Damasio (1999).
141 LeDoux (1998), S. 194.
142 Ebenda, S. 75.
143 Ebenda, S. 76.
144 Ebenda.
145 Ebenda, S. 77.
146 Siehe hierzu Kapitel 6 und 7.
147 LeDoux (1998), S. 217.
148 Ebenda, S. 217.
149 Ebenda, S. 218.
150 Ebenda, S. 219.
151 Schacter (1996), S. 136ff.
152 Focus 45, (2001), S. 176.
153 Eco (1990), S. 65.
154 Welzer (1993).
155 Elias et al. (1990).
156 Die Originalgeschichte «The war of the ghosts»: One night two

young men from Egulac went down to the river to hunt seals, and
while they were there it became foggy and calm. Then they heard
war-cries, and they thought: «Maybe this is a war-party.» They
escaped to the shore, and hid behind a log. Now canoes came up,
and they heard the noise of paddles, and saw one canoe coming
up them. There were five men in the canoe, and they said: «What
do you think? We wish to take you along. We are going up the ri-
ver to make war on the people.» One of the young men said: «I
have no arrows.» «Arrows are in the canoe», they said. «I will not
go along. I might be killed. My relatives do not know where I
have gone. But you», he said, turning to the other, «may go with
them.» So one of the young men went, but the other returned
home. And the warriors went on up the river to a town on the
other side of Kalama. The people came down to the water, and
they began to fight, and many were killed. But presently the
young man heard one of the warriors say: «Quick, let us go home:
that Indian has been hit.» Now he thought: «Oh, they are ghosts.»
He did not feel sick, but they said he had been shot. So the canoes
went back to Egulac, and the young man went ashore to his
house, and made a fire. And he told everybody and said: «Behold
I accompanied the ghosts, and we went to fight. Many of our

233
fellows were killed, and many of those who attacked us were
killed. They said I was hit, and I did not feel sick.» He told it all,
and then he became quiet. When the sun rose he fell down.
Something black came out of his mouth. His face became con-
torted. The people jumped up and cried. He was dead. (Bartlett
1997 (1932), S. 65).
157 Bartlett (1997 (1932)), S. 66.
158 Ebenda, S. 86ff.
159 Ebenda, S. 89.
160 Ebenda, S. 61, S. 93.
161 Eco (1990).
162 Gadamer (1983), S. 345.
163 Angela Keppler (1994). Der Ausschnitt ist hier verkürzt und nach

anderen Transkriptionsregeln als im Original wiedergegeben.


164 Nach Keppler (1994), S. 173.
165 Vgl. Ebenda, S. 206.
166 Ebenda, S. 207.
167 Die folgenden Textbeispiele entstammen dem Forschungsprojekt

«Tradierung von Geschichtsbewußtsein», in dessen Rahmen die


Weitergabe von Vergangenheitsbildern zwischen den Genera-
tionen auf der Basis von Interviews und Familiengesprächen mit
40 Familien untersucht wurde. Das Projekt wurde von der Volks-
wagenstiftung gefördert; die Ergebnisse sind im Fischer-Taschen-
buchverlag veröffentlicht worden, der die freundliche Geneh-
migung zum Abdruck der hier verwendeten Beispiele und
Kommentare gegeben hat (Welzer et al. 2002).
168 Halbwachs (1985a), S. 31.
169 Assmann (1992), S. 36.
170 Halbwachs (1985b), S. 209.
171 Ebenda, S. 210.
172 Ebenda, S. 224.
173 Ebenda.
174 Wierling (2000), S. 47ff.
175 White (1991).
176 Gergen (1998), S. 191.
177 Goffman (1981).
178 Bourke (1999), S. 16ff.
179 Ebenda, S. 16, Übersetzung H.W.
180 Vgl. S. 35.
181 Bourke (1999), S. 9, Übersetzung H.W.

234
182 Koch (1997), S. 534.
183 Ebenda, S. 544.
184 Vgl. hierzu ausführlich Knoch (2001), S. 448ff.
185 Vgl. Schornstheimer (1989); Knoch (2001).
186 Knoch (2001), S. 455.
187 FAZ vom 11.11.1999, S. 49.
188 Neisser (1981).
189 Vgl. S. 42.
190 Gadamer (1986), S. 281.
191 Freeman (2001), S. 40.
192 Lakoff & Johnson (1999), S. 10ff.
193 Goffman (1981), S. 112.
194 Ebenda, S. 117.
195 Ebenda, S. 73.
196 Ebenda, S. 88.
197 Morin (1958), S. 28.
198 Vgl. Rubner (1999), S. 32ff.
199 Singer (2000), 10.
200 Ebenda.
201 Ebenda.
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Personen- und Sachregister

Achtmonats-Angst 75 «conversational remembering»


Adoleszenz 59 16, 97, 151
Affektabstimmung 75 «core-consciousness» 128
Aktionspotentiale 71
Aktivierungsmuster 60 Damasio, Antonio 7, 12, 80 ff.,
Amnesie 113, 115, 122 – 125, 127 f.,
kindliche 93 130 f., 136, 139, 157, 215
retrograde 94 Dean, John 34, 195
Amygdala 116 – 120, 122, 126, Dendriten 51 f.
133 f., 139 Diencephalon 224
Angstreaktion 63 Dissoziation 64
Assmann, Aleida 13, 221
Assmann, Jan 13, 14, 156, 221 Eco, Umberto 139, 146
Assoziationsspeicher 56 Elias, Norbert 140, 143
Autobiographie 12 Emotionen 11
Axon 51 f. primäre 75, 113 f., 125, 128
sekundäre 114, 126, 128, 139
Bartlett, Frederic 103, 144 – 147, Engramm 8, 53, 56 f.
150, 166, 171 Entwicklungspsychologie 15
Bedeutungsakt 82 Erfahrung, soziale 11
Behaviorismus 55 Ergebungsreaktion 64
Belastungsstörung, posttrau- Erinnerung
matische 38 autobiographische 93
Bewältigungsreaktion 65 emotionale 30, 75, 113, 132
Bewußtsein, erweitertes 128 episodische 30
Boas, Franz 145 implizite 29 f.
Bourke, Joanna 173 kryptomnestische 31
Broca-Region 100 prozedurale 92
Bruner, Jerome 82 «extended consciousness» 128
Extremtraumatisierung 30
Chatwin, Bruce 9
Claparéde, Eduard 131 f. «false-memory» 194
«cognitive unconsciousness» 211 «false-memory-debate» 32
«constructive memory Feldman, Allen 171
frameworks» 20 Figurationsanalyse 140

243
Flashbacks 35, 61, 174 Høeg, Peter 138, 144, 148
Freeman, Mark 210 Huether, Gerald 56, 67
Freud, Sigmund 93 Hypothalamus 126
Frühjahr, extrauterines 58
Ichwahrnehmung 10
Gadamer, Hans Georg 147, 209 Identitätskonkretheit 14
Gedächtnis Information 10
autobiographisches 9, 12, 16, Interaktion, symbolvermittelte
59, 94 f., 98, 100 ff., 130, 136 f., 29
192 f., 203 f., 208, 222 Intersubjektivität 75, 83
episodisches 24 f., 38, 92, 104, primäre 71
106 f., 137
implizites 28 f., 50 James, Henry 171
kollektives 13 James, William 70, 112
kulturelles 13 ff. Johnson, Mark 211
non-deklaratives 26
prozedurales 25 ff., 30, 211 Kennedy, John F. 40
semantisches 24 f., 30, 104 Keppler, Angela 149, 151
soziales 95 Kern-Bewußtsein 128 – 131,
Arbeits- 23 136
Kurzzeit- 22 Kirst, Hans Helmut 179
Langzeit- 22 f. Knoch, Habbo 181
Ultrakurzzeit- 22 Kommunikation,
Gedächtnissystem 8, 23 zeremonialisierte 14
autobiographisches 108 f. Kongruenz, affektive 35, 37, 40,
episodisches 26 98
semantisches 25 f. Kortex 117
Gehirnentwicklung, präfrontaler 122, 126
erfahrungsabhängige 11
«general event representations» 83 Lakoff, George 211
Gergen, Kenneth 172 Larsen, Steen 41
Goffman, Erving 143, 156, 172, Lebensereignisse,
213 – 216 kritische 42
Goldhagen, Daniel 33 Lebensgeschichte 12
«greatest fear vision» 30 LeDoux, Joseph 23, 38, 112,
Grönemeyer, Herbert 189 116 – 119, 132, 134
Loftus, Elisabeth 32
Halbwachs, Maurice 156 ff.
Hippocampus 37 f., 62, 106, Mankell, Henning 111 f.
117, 119 Marker, Chris 9, 16

244
Marker «proto-narrativ» 76
somatischer 124 – 127, 157, 215 Psychoanalyse 55
sozialer 157, 166, 216
Markowitsch, Hans 22, 24, Quellenamnesie 42, 168
105 f., 108 f., 110
Mead, George Herbert 80 f., 129 Reagan, Ronald 42 f.
Membran, synaptische 52 «readyness for communication»
«memory» 71, 215
«episodic» 93 Rekonstruktivität 14
«generic event» 93 «reminiscence bump» 42, 195
«memory talk» 16, 92, 96 f., 171, Rezeptormolekül 52
210 Ricoeur, Paul 219
Mesulam, Marek-Marsel 44 Rinde, präfontale 120
Milestone, Lewis 181, 184 Rubin, David 205
Miller, Patricia 97
Morin, Edgar 217 Schacter, Daniel 21, 26, 29, 31,
Musil, Robert 47 38, 41 f., 136 f.
Muster-Vervollständigung 21 Schelling, Thomas C. 215
Schemata 12, 129
Nabokov, Vladimir 16, 46 f., 222 kulturelle 103, 144, 147
Neisser, Ulrich 34, 41, 195 Schindler, Oskar 192
Nelson, Katherine 72, 83 ff., Schmidt, Helmut 43
92 ff., 96 ff. Scripts 83 f., 92 f., 100
Netzwerkstrukturen 11 Selbst, autobiographisches 128
Neuroplastizität 58 Sensorische Rinde 119
Neurotransmitter 52 Sensorischer Thalamus 119
Noradrenalin 64 Shore, Bradd 103
Siegel, Daniel 66
Palme, Olof 40 Signalübertragung 52
Perry, Bruce D. 61, 63 ff. Singer, Wolf 10, 218, 220
Perspektivenübernahme 74 Sivan, Eyal 190
Petersen, Wolfgang 188, 190 f. Smilla 138, 148
Piaget, Jean 19 Smith, G.A. 217
Plastizität 63 «social referencing» 75
«post-traumatic stress disorder» Spalt, synaptischer 52
(PTSD) 61 f. Spielberg, Steven 192
«Priming» 26 f., 106, 211 Sprachentwicklung 83
«priming-effect» 28 Spracherwerb 29, 77, 92 f., 128
Prochnow, Jürgen 189 Starrereaktion 64
«protokonversationell» 74, 76 «state dependent retrieval» 37

245
Statuspassagen 42 Vergangenheitsbildung
Staudte, Wolfgang 167 ff. 12
Stein, Gertrude 203 Vernetzung, soziale 9
Stern, Daniel 69, 72 f., 76 f., 80,
82, 90, 129 Wallander, Kurt 111 f.
Stirnhirn 59 Walser, Martin 221
Subjektivität 10 Walter, Harry 89
Synapse 51 «weapon focussing» 36
Weltwissen 24, 26, 104
Temporallappen 59, 117, 224 Welzer, Harald 108, 110
Terr, Lenore 31 Wernicke-Region 100
Thalamus 117 f., 132 White, Hayden 172
Tradierung 28 Wicki, Bernhard 185 f.
Transitionen 42 Wilkomirski, Binjamin
Trauma 38, 62, 66 33 f.
Trevarthen, Colwyn 17, 71 f., Wissen
74, 76, 82 prozedurales 50, 107
Tulving, Endel 92, 105 f. semantisches 107
Wissenssystem 24
Übergangs-Rinde 120
Übergeneralisierung 36 Zelle, postsynaptische 52
Unbewußtes, kommunikatives Zellkern 52
13 Zellkörper 52
Aus dem Verlagsprogramm

Aleida Assmann
Erinnerungsräume
Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses
1999. 424 Seiten mit 15 Abbildungen. Leinen
(C.H. Beck Kulturwissenschaft)

Jan Assmann
Religion und kulturelles Gedächtnis
Zehn Studien
2000. 256 Seiten. Paperback (Beck’sche Reihe Band 1375)

Holk Cruse/Jeffrey Dean/Helge Ritter


Die Entdeckung der Intelligenz oder
Können Ameisen denken?
Intelligenz bei Tieren und Menschen
1998. 278 Seiten mit 71 Abbildungen. Gebunden

Peter Düweke
Kleine Geschichte der Hirnforschung
Von Descartes bis Eccles
2001. 182 Seiten mit 13 Abbildungen
Paperback. (Beck’sche Reihe Band 1405)

Gerald M. Edelman/Giulio Tononi


Gehirn und Geist
Wie aus Materie Bewußtsein entsteht
Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg
2002. 368 Seiten mit 40 Abbildungen. Gebunden

Marc D. Hauser
Wilde Intelligenz
Was Tiere wirklich denken
Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg
2001. 379 Seiten mit 15 Illustrationen von Ted Dewan
Gebunden

Verlag C.H. Beck München


Aus dem Verlagsprogramm

Detlef Linke
Einsteins Doppelgänger
Das Gehirn und sein Ich
2000. 160 Seiten mit 3 Abbildungen. Klappenbroschur

Detlef Linke
Das Gehirn
3. Aufl. 2002. 101 Seiten mit 12 Abbildungen. Paperback
(C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe Band 2121)

Colin McGinn
Wie kommt der Geist in die Materie?
Das Rätsel des Bewußtseins
Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg
2001. 267 Seiten. Broschiert

Lee Smolin
Warum gibt es die Welt?
Die Evolution des Kosmos
Aus dem Englischen von Thomas Filk
1999. 428 Seiten mit 4 Abbildungen. Gebunden

Reinhard Werth
Hirnwelten
Berichte vom Rande des Bewußtseins
1998. 231 Seiten mit 11 Abbildungen. Gebunden

Richard Wollheim
Emotionen
Eine Philosophie der Gefühle
Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer
2001. 296 Seiten. Gebunden

Verlag C.H. Beck München

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