LEXIKON
Gesunkenes Kulturgut
Wenn sich Wissenschaftler mit einer be-
stimmten Materie beschäftigen, dann wer-
den hierzu jede Menge Fragen aufgewor-
fen, so auch bei den Volkskundlern. Im Be-
reich der Folklore unterscheidet man bei
der Frage nach der Entstehung eines be-
stimmten Phänomens zwischen Produk-
tionstheorie – der Entstehung von Folklore
im Volk selbst – und Reproduktions-
theorie – der Ausformung von Folklore
?
als gesunkenes Kulturgut.
Den Begriff vom gesunkenen Kul-
turgut führte in der Volkskunde
Hans Naumann (1886-1951) mit sei-
nem Werk Primitive Gemein-
schaftskultur (1921) ein. Der Pro-
fessor für Ältere Germanistik und
Volkskunde in Frankfurt (1921-
1931) und Bonn (1932-1945) erlang-
te enorme Berühmtheit durch seine
stark umstrittene volkskundliche Theo-
rie, dass die unteren Schichten die Kul-
tur der oberen Schichten kopieren. Nau-
mann – überzeugter Nationalsozialist und
u.a. gefragter Festredner und Agitator bei
der Bücherverbrennung 1933 – hielt an sei-
ner These vom gesunkenen Kulturgut auch
im Dritten Reich fest, obwohl sie gegenläufig
zur Weltanschauung der Nationalsozialisten
war. Während Naumanns Unterscheidung in
die drei Bevölkerungsschichten 1) primitive
Stufe der Naturvölker, 2) bäuerliche Unter-
schicht und 3) heroische Oberschicht sowie
der Allgemein- und Alleingültigkeitsanspruch
seiner Methode von der Fachwelt längst ad
acta gelegt wurde, wird der Terminus gesun-
kenes Kulturgut weiter verwendet.
Nach wie vor versteht man darunter das
Ergebnis eines Prozesses, wenn ein be-
stimmtes Phänomen aus einer sozialen
Oberschicht in untere soziale Schichten ab-
Sänger & Musikanten 53/3, 2010
sinkt, also von dieser Schicht auf- und ange-
nommen wird. Bei diesem Entwicklungs-
gang entstehen meist veränderte Denk-
und Glaubensvorstellungen, Moden, Bräu-
che, Schmuckformen, Möbel, Trachten u. ä.
Gerade auch in der Musik gibt es viele
leicht nachvollziehbare Belege, wenn zum
Beispiel Opern-Melodien zu Gassenhau-
ern werden oder die Française auf den
ländlichen Tanzböden getanzt wird.
Der Prozess des gesunkenen
Kulturgutes verläuft natürlich auch
in umgekehrter Richtung – man
spricht analog vom aufsteigen-
den Kulturgut. So erreichen soge-
nannte Volksweisheiten auch ge-
bildete Schichten oder zahlrei-
che, ursprünglich populäre Stoffe
und Motive erreichen die Haute
Couture. Ein viel beredetes Bei-
spiel ist auch die Jeans, die sich von
der Arbeitshose amerikanischer
Baumwollpflücker zur Freizeithose mau-
serte und schließlich auch vom Bundesmi-
nister bei der Plenarsitzung im Bundestag
getragen wird.
Als interessantes Beispiel aus der Musik
könnte etwa das Menuett aufgeführt wer-
den, schaffte der alte französische Volks-
tanz im mäßigen 3/4-Takt doch im 17. Jahr-
hundert als Hof- und Gesellschaftstanz den
Sprung an die Fürstenhöfe und wurde zu
dem Tanz des Adels. Bei den Komponisten
des Barock und der Klassik erlangte das Me-
nuett schließlich seinen Höhepunkt.
Und wenn ein Mozart oder Haydn einen
Ländler schreibt, dann ist das auch ein Be-
leg für den kulturellen Austausch zwischen
den Gesellschaftsschichten – mal rauf und
mal runter.
Roland Pongratz
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