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Europäische Musikgeschichte

Teil I: Musik bis 1750

Sitzung 06: 15. Jahrhundert


„Motette“
Julian Caskel
Folkwang Universität der Künste
ZUSAMMEN-
FASSUNG I
LEHRINHALTE VON SITZUNG 05
Sozialhistorische und kompositionstechnische Neuerungen
beim Übergang vom „Mittelalter“ zur „Renaissance“
Schwierigkeiten der Epochenbezeichnung
(Gibt es überhaupt eine musikalische Renaissance?)
Gattungsbezeichnungen
(Gibt es überhaupt ein einheitliches Konzept für die „Motette“)

Kennenlernen einer „neuen Subjektivität“ der Musiksprache für den


„berühmtesten“ Komponisten der Jahrzehnte nach 1400: Guillaume Dufay
Wann?
Eine wiederkehrende Forderung:
Die moralische Erneuerung der Musik
Johannes Tinctoris schreibt gegen Ende des 15. Jahrhunderts:
„... nisi citra annos quadraginta extat quod
auditu dignum ab eruditis existimetur’

Freie Übersetzung: Erst seit ca. 40 Jahren gibt es Musik,


die es wert ist, von Experten angehört zu werden

Kulturhistorische Entwicklungen in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts:

A. Pestepidemie (um 1350) verstärkt Bewusstsein einer „Zeitenwende“


B. „Schisma“ (mehrere gleichzeitige Päpste) als geistig-kulturelles Krisensymptom
C. „Hundertjähriger Krieg“ belastet die Handelsbeziehungen (Kompass, Kreditwesen, Kontore)
Das religiöse Schisma: Rom-Avignon

Beendigung durch das Konzil von


Konstanz (1414-1418)

Konflikte religiöser Glaubenslehren und


Konflikt um weltliche Herrschaft
(Verbrennung von Jan Hus)

„Kulturprogramm“ des Konzils ermöglicht


das Kennenlernen von Musikformen
(u.a. der junge Guillaume Dufay als
Teilnehmer nachgewiesen)

Quellen verweisen darauf, dass die


Teilnehmenden beeindruckt waren von
dargebotener englischer Musik
(als „contenance anglaise“)

Aus Dtv Atlas Weltgeschichte


Der zentrale englische Komponist des 15. Jahrhunderts

John Dunstable, geboren um 1390, gestorben 1453 (laut Grabinschrift: Fürst der Musik, Mathematiker, Astronom;
tätig sowohl in England wie auf dem Kontinent)
Wie?
„Schöner Klang“ als Neuheit
Aus: Kühn, Kompositionsgeschichte in Beispielen
Satztechnische Neuerungen im 15. Jahrhundert
► Lockerung:
Terzen und Sexten werden im Satzbild wichtiger
(Aufwertung „imperfekter Konsonanzen“)

► Erweiterung:
Auflösung und Vorbereitung der Dissonanzen
(Höhere Anzahl Akzidenzien)

► Disziplinierung:
Verbot von Parallelen perfekter Konsonanzen

= Alle drei Techniken verweisen auf eine allmähliche Erweiterung der


Stimmenanzahl und „Gleichberechtigung“ der Stimmen
Eine berühmte neue Technik: Der Fauxbourdon

f - e- d- e- f

c- h- a- h- c

a- g- d- a

Dufay, Missa Sancti Jacobi, Postcommunio (letzter Satz)


Merkmale der Fauxbourdon-Technik

► Fauxbourdon als Improvisationstechnik:


Die Stimme muss nicht notiert werden, kann vom Sänger aus einer anderen, notierten
Stimme abgeleitet werden

► Sextakkord-Ketten als (homophones) klangliches Resultat verweisen auf möglichen


volkstümlichen Hintergrund (erneut: Einfluss englischer Musik auf dem Kontinent)

► Alternative Bezeichnung als „canon sine pausis“ verweist auf Konflikt zwischen
automatisierter und verbleibender artifizieller Gestaltung (die ergänzte Stimme zu
den Quartparallelen kann Sexten und Oktaven über der Grundstimme bilden)

► Wörtliche Bezeichnung als falscher Bordun (Bass) verweist auf den Konflikt, dass die
Quarte im Gerüstsatz (in Relation zur tiefsten Stimme) als dissonant, im vollständigen
Satz (ohne Relation zur Hauptstimme) hingegen als konsonant gilt
Wann?
Gibt es eine musikalische Renaissance ?
CONTRA
► Antiker Einfluss zur falschen Zeit: „Renaissance“ erst um
1600 mit der Erfindung der Oper (sowie antiken Sujets)
► Antiker Einfluss zu wenig vorhanden: Einstimmige Musiké
von Prinzipien mehrstimmiger Musik fundamental geschieden
► Antiker Einfluss zu stark vorhanden: Einfluss der antiken
Musiktheorie gilt auch für das gesamte Mittelalter
PRO
► Bezug auf Antike ist für den Begriff nicht mehr wie im 19. Jahrhundert entscheidend
(Parallelen zu Entwicklungen in Baukunst / Malerei / Literatur sind wichtiger)
► Neue Formen musikalischer Subjektivität (Autorenbegriff / Sozialprestige)
► Abwehr veralteter Alternativkonzepte:
Epoche der „Niederländer“ (stattdessen: „frankoflämisch“)
„Signaturtechniken“ als Hinweise auf musikalische Subjektivität
BEISPIEL I
Johannes Ciconia als zentraler Komponist eines „Übergangs aus dem dunklen Zeitalter“ bezieht sich in mehreren
Motetten auf sein eigenes Musizieren und bezeichnet sich in seinem Theorietraktat „De proportionibus“ als „musicus
famosissimus“

BEISPIEL II
Guillaume Dufay integriert den eigenen Namenszug durch Zahlensymbole, Schlüsselung, Solmisationssilben in
einzelne seiner Kompositionen und regelt in seinem Testament, welche seiner eigenen Kompositionen bei seinem
Begräbnis mit welchen situationsbedingten Änderungen gesungen werden soll
A. Auftragsvergabe für Lesen (Singen) einer heiligen Messe als übliches Mittel zur Sündenvergabe (nach dem Tod)

B. Quantitative Aufrechnung der Sünden (bzw. der barmherzigen Gegenleistung) als „theologische Buchführung“

C. Gegenreaktion durch Bettelorden, Laienbruderschaften, städtisch-säkulare Kollektive (Gilden, Zünfte)

Abb. aus Boris Voigt, Memoria, Macht, Musik. Eine politische Ökonomie in vormodernen Gesellschaften
Wer?
Guillaume Du Fay (1397-1474)
► Geburtsdatum vermutet am 5. August 1397
(Ableitung aus Priesterweihe und Dedikationen,
Vermutung „illegitimer“ Geburt)
► Cambrai als Hauptwirkungsstätte (Ausbildung als
Chorknabe und Berufstätigkeit bis ins hohe Alter)

► Teilnehmer am Konzil in Konstanz, später verzeichnet


als Mitglied der päpstlichen Kapelle

► Haupteinnahmen durch kirchliche Ämter („Pfründe“)

Typische Werkliste:
- Messen (unter 10 überliefert) und Motetten
(oftmals zu bedeutenden, besonderen Anlässen)
- Chansons (über 80 überliefert)
Dufay, Vasilissa ergo gaude (Anfangsteil, oben links und „Hauptteil“, unten rechts)
Was?
Gestaltungsformen und Verwendungsformen der Motette im 15. Jahrhundert
(und darüber hinaus)
A. Cantus-Firmus-Motette: Rationale Durchkonstruktion verschiedener Formteile durch ein vorgegebenes Modell

B. Liedmotette: Übernahme von Gestaltungsmitteln weltlicher Gattungen mit stärker „melodiezentriertem“ Satzbild

C. Staatsmotette: Anlassbezogene Komposition mit Einarbeitung entsprechender Bezüge


(entweder durch Textassoziationen, oder musikalische Proportionierung)

- Motette als unscharfer Gattungsbegriff, der in verschiedenen Epochen musikalische Verschiebungen erfährt

- Einfachste Ableitung aus dem französischen „mot“ (Wort), also Verwendung auch von neuen Textvorlagen

„Die mittelalterliche Motette war eine Gattung mit festgelegter Besetzung und Ausführung, dreistimmig, mehrtextig, mit zwei
bewegten vokalen Oberstimmen und einem in der Regel instrumental ausgeführten Tenor in langen Notenwerten. In der
Renaissance-Motette dagegen sind alle Stimmen vokalisiert, der drei- bis achtstimmige Satz unter Einbeziehung der Bassregion
ist strukturell homogener und strebt nach musikalischem Wohlklang. Alle Stimmen singen den gleichen, fast immer geistlichen
Text in lateinischer Sprache. Jede geistliche Textvorlage (mit Ausnahme des Mess-Ordinariums) wird verwendet.“
(Keil, Musikgeschichte im Überblick, S.88)
Wo?
Das überlieferte Notenbild und das
überlieferte Bild der Aufführung
Ockeghem, Deo Gratia, Kanon für 36 Stimmen
Warum?
Wo gibt es überall Musik?

Aus: Bowles, Musikleben im 15. Jahrhundert


Eine hierarchische Gattungslehre der Musik

Johannes Tinctoris:
Terminorum musicae diffinitorum (1496)
Messe Cantus magnus - Latein
- Geistliche Verwendung

Motette Cantus mediocris - Mischung der Kriterien

Cantilena Cantus parvus - Landessprachen


- Weltliche Verwendung

► Zentrale ästhetische Distinktion: Varietas


(Forderung nach einem hohen kompositorischen Anspruch,
der aber rationale Ordnung bewahren soll)
ZUSAMMEN-
FASSUNG II
LERNINHALTE VON SITZUNG 05
Verständnis dafür dass Musikgeschichte immer Entscheidungen der Musikgeschichtsschreibung verlangt
Also eben:
Was genau ist musikalische Renaissance?
Was genau ist eine Motette im 15. Jahrhundert?

Kenntnisse der wichtigsten stilistischen Entwicklungen


(„Fauxbourdon“-Technik; Aufwertung von Terz- und Sextklängen;
Selbstzitate als weitere Form des Komponierens mit „schon vorhandener“ Musik)

Verständnis für Grundkonflikt zwischen einem weiterhin theologischen, auf das Jenseits
gerichteten Lebensverständnis und einem „Aufblühen“ weltlicher Musikformen

Ergänzung durch Sitzung der nächsten Woche:


Zyklische Vertonung des Mess-Ordinariums als „historisch wichtigste“ Gattung des 15. und 16. Jahrhunderts

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