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Daseinsanalyse 1990;7:157-166
Die Begrenztheit des Themas lässt nicht ahnen, welchen Rang die
Schriften des Freiherrn von Gebsattel in der Vielfalt wissenschaftlicher
Abhandlungen zur Psychiatrie einnehmen; doch vermittelt schon ein Blick
in die monographischen Sammelwerke die Anschauung eines Œuvre, in
dem nahezu alle grossen Themen der Psychiatrie im Horizont der phäno
menologischen Anthropologie abgehandelt werden: die zeitliche Interpre
tation der Grundstörung der endogenen Melancholie und der Schwermut
im Sinne der Zeitphänomenologien Blaise Pascals [7, p. 82; 8, Fragment
172] und Max Schelers [10]; die Anthropologie der Angst; die fundamen
talen Aspekte des Todes; die unterschiedlichen Formen des Leibseins; die
Wesenswirklichkeiten von Zwang und Depersonalisation; die Suchtgestal
ten der sexuellen Perversionen: Alle diese Schriften sind Klarsichten in den
Dämmerungen unserer Theorien - wahre Leuchtfeuer in den Nächten
unserer psychiatrischen Ignoranz. Alle diese Themen sind, mehr oder
weniger ausdrücklich, im Interpretationshorizont des Person-Denkens be
handelt. So ist nun zu fragen: Wie handelt von Gebsattel von der Per
son?
Einen Einstieg in die Seinsweise der Person gewährt die Studie «Über
den personalen Faktor des Heilungsprozesses» [2, a]. Wenn schon rein
physische Leiden durch ihren Widerhall in der emotionalen Sphäre oft
mals auch zu psychischen Leiden werden und deshalb nach der äquilibrie-
renden Persönlichkeit des Arztes verlangen: um wieviel mehr ist dies von
den Neurosen zu erwarten, die das Selbstgefühl und die Produktivität, die
Lebenszuversicht und Persönlichkeitsgestaltung beeinträchtigen! Von die
sen Störungen sieht sich von Gebsattel zu einer umgreifenden Therapie
herausgefordert, deren entscheidende Wirksamkeit er in der Einwirkung
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der ärztlichen Person auf die Person des Kranken erkennt. Diese Wirkung
von Person zu Person gilt für ihn als das «neurosentherapeutische Urphä-
nomen», in welchem alle Erfahrung, Sachkunde und Fachkenntnis, alle
Beherrschung der Kunstregeln und Technik des Vorgehens ihren tragen
den Grund haben. Wie sieht von Gebsattel die «Person des Leidenden»,
auf die er als ärztliche Person einwirkt? Die therapeutische Intention gilt
jener «Schicht des personalen Lebens, in der sich das Werden, das Wach
sen und die Gestaltung dieses Lebens entscheidet» [2, a, p. 270], In dieser
ursprünglichen Tiefe vollzieht sich die «Selbstsetzung» der Person. Sie
birgt die basalen Entfaltungskräfte, mit denen die Person Entscheidungen
trifft und verantwortet - auch während der Therapie. Deshalb ist es
anthropologisch auch ganz konsequent, wenn der Arzt den Leidenden in
seinem schweigenden Abwarten immer wieder an diese seine Entschei
dungsinstanz verweist, denn er zeigt ihm damit, dass man mit sich selbst
allein bleiben muss, wenn man Entscheidungen treffen soll.
Wie sieht die therapeutische Einwirkung auf die Person des Leiden
den aus? «Es gehört zum Wesen personalen Wirkens», so von Gebsattel,
«zugleich Anziehung und Abstossung zu sein... Beide Dynamismen be
stimmen die Einwirkung des Arztes auf den Kranken und damit den per
sonalen Faktor des Heilungsprozesses» [2, a, p. 271]. Was ist in der Person
des Arztes für den Neurotiker anziehend? Das lange entbehrte Interesse
und Verständnis; dass er so sein darf, wie er ist, ohne Ablehnung zu
befürchten; das wissende und allzeit geduldige Zuhören des Arztes, der die
Tilgung seiner Not zur eigenen Angelegenheit macht. Das sind ärztliche
Verhaltensweisen, die überwiegend aus dem emotionalen Bereich der Per
son stammen. Diese Akzeptanz seiner Person weckt langsam im Kranken
Haltungen des Glaubens und des Vertrauens in die Person des Arztes -
Haltungen, die von zentraler therapeutischer Dignität sind. Das Glauben
gilt dem Arzt als jenem Typus, der eine Elementarform hilfreichen
Menschseins darstellt, dem Sachwalter einer «im psychotherapeutischen
Wissensschatz begründeten ärztlichen Kunst» [2, a, p. 274]. Glauben lernt
der Kranke aber auch an seine eigene Heilung. Sein Vertrauen gilt mehr
dem Arzt als dem Charismatiker, vor dem sogar die Schamschranken sei
ner Intimsphäre fallen, auf dessen Verständnis er hoffen darf, auch dann,
wenn ihm die Wirksamkeit der ärztlichen Massnahmen nicht ohne weite
res einleuchtet. Als abstossend wird in der Person des Arztes empfunden:
das Festbegrenzte, Unbestechliche, die Wahrung der Distanz, sein in der
Vernunftgesetzlichkeit des Lebens begründetes Verhalten. Beides, das An
ziehende wie das Abstossende, ist gemeint, wenn von Gebsattel von der
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Von Gebsattel und das Problem der Person in der Psychotherapie 159
Verzicht auf eine analytische Therapie bewog. Es machte dem jungen von
Gebsattel zweifellos den tiefsten Eindruck, was der ihm befreundete Rilke
[9] ihm schrieb: «Können Sie verstehen, mein Lieber, dass ich befurchte,
mit jeder Art noch so erleichternder Einteilung und Übersicht eine um
vieles höhere Ordnung zu stören, der ich nach allem, was geschehen ist,
Recht geben müsste, selbst wenn sie mich zugrunde richtet?» (Brief vom
14. Januar 1912). Und wenig später: «Soviel, wie ich mich kenne, scheint
mir sicher, dass, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen
Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe - und -
fühlen Sie - gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen»
(Brief vom 24. Januar 1912). Demgegenüber ist von Gebsattels Einschät
zung von Freuds elementaren protagonistischen Entdeckungen absolut
positiv. Über welche Mittel - so fragt von Gebsattel - verfügt die Analyse
zu ihrem therapeutischen Ansatz? Zunächst über jene Form von Sugge
stion, die in der Übertragung verankert ist. Darin erblickt er einen ent
scheidenden Faktor der Heilwirkung, der zwischen «Aneignung» und
«Répudiation» des Therapeuten pendelnden Selbstgestaltungsprozesse des
Neurotikers. Diese «Aneignung» des Arztes in der positiven Übertragung
ist ein personaler Faktor von «eminenter Bedeutung»; und so konstatierte
er: «Ohne diesen personalen Faktor und seine suggestive Kraft überhaupt
keine Analyse» [2, b, p. 282]. von Gebsattel sieht dann freilich den Augen
blick kommen, wo das «Ruhen» des Patienten im Arzt abgebaut werden
muss, weil es zu einer Mittelpunktfindung im Arzt führt statt im Selbst.
Neben dieser basalen Wirkung der Suggestion als Übertragung sind es nun
aber drei Heilfaktoren, die nach von Gebsattel das Prozedere der Analyse
massgeblich bestimmen: die Aussprache, das Abreagieren und das Be
wusstmachen unbewusster Vorgänge. Er kennzeichnet als das Ziel der Aus
sprache die adäquate Selbstmitteilung, als das Ziel des Abreagierens das
adäquate Erleben und Wiedererleben, als das Ziel der Bewusstmachung die
adäquate Selbsterkenntnis. Das erste Ziel: Die adäquate Selbstmitteilung
in ihrem Phasenwechsel von Hemmung und Durchbruch des Bekennens,
in den Phasen von Passivität im freien Assoziieren und der Hergabe freier
Einfälle und aktiver Reflexion imponiert von Gebsattel als psychologi
scher Fund von ganz ungewöhnlichem Tiefgang. Das Staunenswerte an
diesem Vorgang besteht darin, dass etwas mitgeteilt werden soll, das noch
gar nicht mitteilbar ist, d.h. «dass der Inhalt der Mitteilung erst durch die
Mitteilung gefunden und erarbeitet werden soll» [2, b, p. 284], Nach Freud
bedeutet das ein Aufgeben der narzisstischen Einstellung; von Gebsattel
sieht darin eine Überwindung der isolierenden Verschlossenheit, die von
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Kierkegaards [5] Phänomenologie der Angst her ein Ausdruck der «Angst
vor dem Guten» ist - will sagen: Ausdruck einer Gestalt des Dämonischen.
Die Energie der Verschlossenheit, d.h. der Widerstand des Kranken gegen
die Mitteilung, kann als Grad eines geheimen Einverständnisses des
Patienten mit seiner Erkrankung gesehen werden. Als eine nachgerade in
adäquate Selbstmitteilung gilt die Einfärbung durch ein masochistisches
Element. Darin erkennt man eine Form von Selbstgenuss, eine «Erniedri
gungswollust», oder aber ein Attentat auf die Anteilnahme des Arztes - auf
jeden Fall ein unehrliches Spiel. Dagegen ist in der adäquaten Selbstmit
teilung «das Opfer des neurotischen Ich vorgebildet» [2, b, p. 286], Eine
völlig neue und besondere Leistung der Psychoanalyse, «ihren wichtigsten
Beitrag zur Personenlehre der Zukunft», erblickt von Gebsattel in der Ent
deckung, das zwar gelebte, aber noch nie erlebte Seeleninhalte in die aktu
elle Erlebnissphäre aufrücken und jene höchste Vergegenwärtigung erfah
ren können, die im Begriff des Abreagierens gemeint ist. Dabei geschieht
es, dass die Persönlichkeit sich «in verborgenen Schichten ihrer Gegenwart
und Vergangenheit... offenbar» [2, b, p. 287] wird und dazu Stellung neh
men kann. Das ist Umwandlung von Lebensvorgängen in Erlebnistatsa
chen. Zuvor war das Gelebte, z.B. affektive Einstellungen in Liebe und
Hass, von denen wir einfach nichts mehr wissen, «im Dunkel der Unge-
wusstheit schlafende Vergangenheit» [2, b, p. 288]. Die adäquate Selbster
kenntnis endlich bedeutet Überwindung der im adäquaten Erleben als neu
rotisch erkannten Haltungen, Einstellungen, Automatismen. Das kann aus
der Retrospektion unter anderem zu berechtigten sinnvollen Schuldgefüh
len treiben, die sich auf das Zurückbleiben des Neurotikers hinter seinen
Möglichkeiten beziehen. Indessen sind es aber diese Schuldgefühle, die
den Neurotiker allererst in den verlorenen Mittelpunkt hineintreiben. Und
so hat denn auch Martin Buber [1] in seinem Washington-Vortrag 1957
davor gewarnt, diese Schuldgefühle für einen Ausdruck der Neurose zu
nehmen statt als echte Einsichten in vergangene Schuldtatsachen des
Daseins.
Nach diesem positiven Anerkennen der basal-handwerklichen Funde
Freuds kommt es über zwei Dezennien später zu einer Konfrontation der
personalen Psychotherapie von Gebsattels mit den Konzeptionen von
C.G. Jung. Das geschieht 1950 in der Studie «Die Person und die Grenzen
des tiefenpsychologischen Verfahrens» [2, c]. Als sachgerechten Austra
gungsort für die Differenzierung der beiden Therapien wählt von Gebsattel
das Umfeld des Begriffs «Selbstverwirklichung», den man natürlich von
allen neuzeitlichen Plattheiten freihalten muss. In den inneren Raum der
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Von Gebsattel und das Problem der Person in der Psychotherapie 163
auf der ersten der drei Stufen Mitmensch als Teilhaber an der Not des
Patienten, auf der zweiten technischer Vollstrecker der Notbekämpfung,
auf der dritten personaler Partner. Auf der «Entfremdungsstufe» bedarf es
der Distanz - ohne aber für den Anruf der Not taub zu sein. Der Kampf
mit der Not «hat die Gestalt der wissenschaftlich und technisch geschulten
Hilfsaktion» [2, d, p. 373]. Der Kranke wird Objekt. «Immer bleibt beste
hen, dass Arzt und Kranker auf der Sinnstufe der Sonderung sich gegen
überstehen wie Subjekt und Objekt» [2, d, p. 374], «Auf der Ebene des
Personseins ist eine andere Weise der Kommunikation gefordert... Erst in
einem Wirken, das die Person des Mitmenschen in ihren Logos miteinbe-
zieht, ereignet sich ‘seelsorgerisch’-ärztliche Vollhandlung» [2, d, p. 375].
«Der Andere selbst... ruft den Arzt in die gleiche Not hinein» [2, d, p.
377], Dieser Akt eines existentiellen Gewissens begründet zutiefst die per
sonale Partnerschaft des Arztes. In ihr findet das Problem der Person in
der Psychotherapie von Gebsattels seine ursprüngliche Lösung.
Literatur