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Originalarbeiten

Daseinsanalyse 1990;7:157-166

V.E. von Gebsattel und das Problem der Person


in der Psychotherapie
Hubertus Tellenbach

Die Begrenztheit des Themas lässt nicht ahnen, welchen Rang die
Schriften des Freiherrn von Gebsattel in der Vielfalt wissenschaftlicher
Abhandlungen zur Psychiatrie einnehmen; doch vermittelt schon ein Blick
in die monographischen Sammelwerke die Anschauung eines Œuvre, in
dem nahezu alle grossen Themen der Psychiatrie im Horizont der phäno­
menologischen Anthropologie abgehandelt werden: die zeitliche Interpre­
tation der Grundstörung der endogenen Melancholie und der Schwermut
im Sinne der Zeitphänomenologien Blaise Pascals [7, p. 82; 8, Fragment
172] und Max Schelers [10]; die Anthropologie der Angst; die fundamen­
talen Aspekte des Todes; die unterschiedlichen Formen des Leibseins; die
Wesenswirklichkeiten von Zwang und Depersonalisation; die Suchtgestal­
ten der sexuellen Perversionen: Alle diese Schriften sind Klarsichten in den
Dämmerungen unserer Theorien - wahre Leuchtfeuer in den Nächten
unserer psychiatrischen Ignoranz. Alle diese Themen sind, mehr oder
weniger ausdrücklich, im Interpretationshorizont des Person-Denkens be­
handelt. So ist nun zu fragen: Wie handelt von Gebsattel von der Per­
son?
Einen Einstieg in die Seinsweise der Person gewährt die Studie «Über
den personalen Faktor des Heilungsprozesses» [2, a]. Wenn schon rein
physische Leiden durch ihren Widerhall in der emotionalen Sphäre oft­
mals auch zu psychischen Leiden werden und deshalb nach der äquilibrie-
renden Persönlichkeit des Arztes verlangen: um wieviel mehr ist dies von
den Neurosen zu erwarten, die das Selbstgefühl und die Produktivität, die
Lebenszuversicht und Persönlichkeitsgestaltung beeinträchtigen! Von die­
sen Störungen sieht sich von Gebsattel zu einer umgreifenden Therapie
herausgefordert, deren entscheidende Wirksamkeit er in der Einwirkung
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der ärztlichen Person auf die Person des Kranken erkennt. Diese Wirkung
von Person zu Person gilt für ihn als das «neurosentherapeutische Urphä-
nomen», in welchem alle Erfahrung, Sachkunde und Fachkenntnis, alle
Beherrschung der Kunstregeln und Technik des Vorgehens ihren tragen­
den Grund haben. Wie sieht von Gebsattel die «Person des Leidenden»,
auf die er als ärztliche Person einwirkt? Die therapeutische Intention gilt
jener «Schicht des personalen Lebens, in der sich das Werden, das Wach­
sen und die Gestaltung dieses Lebens entscheidet» [2, a, p. 270], In dieser
ursprünglichen Tiefe vollzieht sich die «Selbstsetzung» der Person. Sie
birgt die basalen Entfaltungskräfte, mit denen die Person Entscheidungen
trifft und verantwortet - auch während der Therapie. Deshalb ist es
anthropologisch auch ganz konsequent, wenn der Arzt den Leidenden in
seinem schweigenden Abwarten immer wieder an diese seine Entschei­
dungsinstanz verweist, denn er zeigt ihm damit, dass man mit sich selbst
allein bleiben muss, wenn man Entscheidungen treffen soll.
Wie sieht die therapeutische Einwirkung auf die Person des Leiden­
den aus? «Es gehört zum Wesen personalen Wirkens», so von Gebsattel,
«zugleich Anziehung und Abstossung zu sein... Beide Dynamismen be­
stimmen die Einwirkung des Arztes auf den Kranken und damit den per­
sonalen Faktor des Heilungsprozesses» [2, a, p. 271]. Was ist in der Person
des Arztes für den Neurotiker anziehend? Das lange entbehrte Interesse
und Verständnis; dass er so sein darf, wie er ist, ohne Ablehnung zu
befürchten; das wissende und allzeit geduldige Zuhören des Arztes, der die
Tilgung seiner Not zur eigenen Angelegenheit macht. Das sind ärztliche
Verhaltensweisen, die überwiegend aus dem emotionalen Bereich der Per­
son stammen. Diese Akzeptanz seiner Person weckt langsam im Kranken
Haltungen des Glaubens und des Vertrauens in die Person des Arztes -
Haltungen, die von zentraler therapeutischer Dignität sind. Das Glauben
gilt dem Arzt als jenem Typus, der eine Elementarform hilfreichen
Menschseins darstellt, dem Sachwalter einer «im psychotherapeutischen
Wissensschatz begründeten ärztlichen Kunst» [2, a, p. 274]. Glauben lernt
der Kranke aber auch an seine eigene Heilung. Sein Vertrauen gilt mehr
dem Arzt als dem Charismatiker, vor dem sogar die Schamschranken sei­
ner Intimsphäre fallen, auf dessen Verständnis er hoffen darf, auch dann,
wenn ihm die Wirksamkeit der ärztlichen Massnahmen nicht ohne weite­
res einleuchtet. Als abstossend wird in der Person des Arztes empfunden:
das Festbegrenzte, Unbestechliche, die Wahrung der Distanz, sein in der
Vernunftgesetzlichkeit des Lebens begründetes Verhalten. Beides, das An­
ziehende wie das Abstossende, ist gemeint, wenn von Gebsattel von der
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«gestaltzeugenden Macht» der ärztlichen Person spricht, die dem neuroti­


schen Gestaltzerfall, der Mittelpunktlosigkeit, entgegenwirke; oder wenn er
von der Wirksamkeit des Bildes spricht, das von der Person des Arztes in
die Seele des Kranken fällt. Bild und Gestalt: das sind Gesamtaspekte der
Person, die in einer für solche Rezeptionen empfänglichen Seele abgebildet
werden können. Gewiss - das Bild des Arztes in der Person des Neuroti­
kers ist mehr oder minder stark determiniert von labilisierenden illusionä­
ren Bereitschaften. Was aber über den Heilerfolg letzlich entscheidet, das
ist das Bildwerden der Person des Arztes in der Seele des Patienten. Diese
Einsenkung der Person bewirkt, dass der Kranke sich selbst mit den Augen
des Arztes viel wirklichkeitsgerechter sehen und verstehen lernt. Er hat
gelernt, Abstand zu sich selber einzunehmen.
Nun sieht von Gebsattel den personalen Heilfaktor aber auch ganz
entscheidend von einer Haltung des Glaubens auf seiten des Arztes begrün­
det, der vom Glauben an die Heilbarkeit des Kranken durchdrungen ist.
Dieses «Glauben» identifiziert die Heilbarkeit mit der dem Kranken
immanenten Norm. Der Arzt hat in sich ein Sensorium dafür entwickelt, in
welcher Weise der Kranke hinter seiner Norm Zurückbleiben kann, und
seiner therapeutischen Intuition zeigen sich die Wege, die zur Identität des
Patienten mit seiner personalen Norm führen. Den Arzt beflügelt der Vor­
wärtsschwung eines Optimismus, wie er den ja nur konstatierten Fakten
der Psychologie niemals entfliessen kann. Eine solche Zuversicht der
potentiellen Heilbarkeit kann in psychologischen Reflexionen nicht be­
gründet sein, weil keine Psychologie - so von Gebsattel - «a priori die
Erneuerungsmöglichkeiten einer neurotischen Persönlichkeit zu errechnen
vermag» [2, a, p. 276]. Vielmehr gründet der therapeutische Optimismus
in der Zuversicht des Arztes, dass im Prozess der Identifizierung des
Patienten mit der eigenen Norm die Heilung erreicht werden kann. Es ist
dieser Optimismus, der dem Arzt «seine Geduld, sein Eingehen, seine
Zuversicht, sein Abwarten, sein Durchhalten» allererst möglich macht.
Das sind Handlungen und Haltungen, die von seiner Person geleistet wer­
den, von psychologischen Reflexionen aber naturgemäss nicht geleistet
werden können. Dieser Personalismus schliesst eine radikale Bejahung der
Person ein. Das spürt der Patient; und dieses Spüren ist für ihn ein Halt in
Zeiten des Verzagens, wie sie die begründeten Forderungen der Therapie
oftmals mit sich bringen.
Angesichts der Dimension dieses Sichbergens im Zutrauen zur Person
des Arztes kann erst in zweiter Linie entschieden werden, was dem Kran­
ken an psychologischen Einsichten in seine neurotischen Verformungen
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mitgeteilt werden darf. Das kann freilich absolut notwendig werden. So


beispielsweise, wenn der Kranke konstant in einen therapeutisch widersin­
nigen Weg drängt. Dann können auch ganz ausdrückliche Wertungen des
Therapeuten indiziert sein, und von Gebsattel führt einen ganzen Katalog
von Konstellationen auf, die Wertungen herausfordern. Doch sollte der
Therapeut vor solchen wertenden verbalen Einflussnahmen zunächst ent­
scheiden, ob solchen destruktiven Fehlhaltungen mit einer Erweckung von
Kräften und Möglichkeiten zu begegnen sei, die verdrängt worden sind -
was ja nicht nur mit Triebregungen geschieht, sondern auch mit höheren
Funktionen des Seelenlebens: ästhetischen, ethischen und religiösen. «Nir­
gends zeigt sich dann der personale Faktor des Heilungsprozesses in einer
positiveren Gestalt», so urteilt von Gebsattel, «als wenn es gelingt, dem
Kranken Zutrauen zu diesen tragenden Gewalten seines persönlichen
Lebens einzuflössen» [2, a, p. 277], Wo aber die Verschüttung geistiger
Welten nachgerade als die Ursache der Erkrankung erkannt wird, da ist die
Entwicklung und Stärkung von Ansätzen zu einem geistigen Existieren
«nicht nur gestattet, sondern Voraussetzung der Heilung» [2, a, p. 278],
Am Ende lässt sich der Sinngehalt dieser ersten Person-Studie so resü­
mieren: Der Psychotherapeut hat sich seiner Aufgabe nicht nur in seinem
medizinisch-psychologischen Können, sondern auch mit seinem ganzen
Sein anzugleichen. Somit ist in seinem Therapieren das Nichterlernbare
das Wichtigste: dieses «Aufnehmen des Anderen in den eigenen Lebens­
kreis» [2, a, p. 279]. Das ist die existentielle Antwort einer Person auf die
andere. Es liegt dieser therapeutischen Haltung «eine Unmittelbarkeit des
Sichverhaltens von einer Person zur anderen... zugrunde, die niemand
sich erarbeiten kann, die das Leben schenkt oder verweigert». Der Patient
findet gleichsam in der Person des Arztes Aufnahme als in einem Medium,
in dem er sich bewegen kann. Statt «Objekt» ärztlicher Einwirkung zu
sein, wird er «zum Empfänger unmittelbarer Lebenseinflüsse und persona­
ler Gestaltungsimpulse». Erst in dieser, wie von Gebsattel sagt, «dem
Erkennen schwer zugänglichen Form zwischenmenschlicher Beziehungen»
entfaltet der personale Faktor des Heilungsprozesses seine eigentliche
Bedeutung.
Es kann nicht ausbleiben, dass der Leser dieser personzentrierten Stu­
die sich die Frage vorlegt, wie denn von Gebsattel zu dem steht, was er
zuvor den «psychotherapeutischen Wissensschatz» nannte, worin er die
ärztliche Kunst begründet sah? Das verdeutlicht er in der Studie «Was
wirkt bei der Psychoanalyse therapeutisch» [2, b]. Man muss diese Frage
vor dem Hintergrund dessen sehen, was Rilke befürchtete und was ihn zum
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Verzicht auf eine analytische Therapie bewog. Es machte dem jungen von
Gebsattel zweifellos den tiefsten Eindruck, was der ihm befreundete Rilke
[9] ihm schrieb: «Können Sie verstehen, mein Lieber, dass ich befurchte,
mit jeder Art noch so erleichternder Einteilung und Übersicht eine um
vieles höhere Ordnung zu stören, der ich nach allem, was geschehen ist,
Recht geben müsste, selbst wenn sie mich zugrunde richtet?» (Brief vom
14. Januar 1912). Und wenig später: «Soviel, wie ich mich kenne, scheint
mir sicher, dass, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen
Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe - und -
fühlen Sie - gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen»
(Brief vom 24. Januar 1912). Demgegenüber ist von Gebsattels Einschät­
zung von Freuds elementaren protagonistischen Entdeckungen absolut
positiv. Über welche Mittel - so fragt von Gebsattel - verfügt die Analyse
zu ihrem therapeutischen Ansatz? Zunächst über jene Form von Sugge­
stion, die in der Übertragung verankert ist. Darin erblickt er einen ent­
scheidenden Faktor der Heilwirkung, der zwischen «Aneignung» und
«Répudiation» des Therapeuten pendelnden Selbstgestaltungsprozesse des
Neurotikers. Diese «Aneignung» des Arztes in der positiven Übertragung
ist ein personaler Faktor von «eminenter Bedeutung»; und so konstatierte
er: «Ohne diesen personalen Faktor und seine suggestive Kraft überhaupt
keine Analyse» [2, b, p. 282]. von Gebsattel sieht dann freilich den Augen­
blick kommen, wo das «Ruhen» des Patienten im Arzt abgebaut werden
muss, weil es zu einer Mittelpunktfindung im Arzt führt statt im Selbst.
Neben dieser basalen Wirkung der Suggestion als Übertragung sind es nun
aber drei Heilfaktoren, die nach von Gebsattel das Prozedere der Analyse
massgeblich bestimmen: die Aussprache, das Abreagieren und das Be­
wusstmachen unbewusster Vorgänge. Er kennzeichnet als das Ziel der Aus­
sprache die adäquate Selbstmitteilung, als das Ziel des Abreagierens das
adäquate Erleben und Wiedererleben, als das Ziel der Bewusstmachung die
adäquate Selbsterkenntnis. Das erste Ziel: Die adäquate Selbstmitteilung
in ihrem Phasenwechsel von Hemmung und Durchbruch des Bekennens,
in den Phasen von Passivität im freien Assoziieren und der Hergabe freier
Einfälle und aktiver Reflexion imponiert von Gebsattel als psychologi­
scher Fund von ganz ungewöhnlichem Tiefgang. Das Staunenswerte an
diesem Vorgang besteht darin, dass etwas mitgeteilt werden soll, das noch
gar nicht mitteilbar ist, d.h. «dass der Inhalt der Mitteilung erst durch die
Mitteilung gefunden und erarbeitet werden soll» [2, b, p. 284], Nach Freud
bedeutet das ein Aufgeben der narzisstischen Einstellung; von Gebsattel
sieht darin eine Überwindung der isolierenden Verschlossenheit, die von
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Kierkegaards [5] Phänomenologie der Angst her ein Ausdruck der «Angst
vor dem Guten» ist - will sagen: Ausdruck einer Gestalt des Dämonischen.
Die Energie der Verschlossenheit, d.h. der Widerstand des Kranken gegen
die Mitteilung, kann als Grad eines geheimen Einverständnisses des
Patienten mit seiner Erkrankung gesehen werden. Als eine nachgerade in­
adäquate Selbstmitteilung gilt die Einfärbung durch ein masochistisches
Element. Darin erkennt man eine Form von Selbstgenuss, eine «Erniedri­
gungswollust», oder aber ein Attentat auf die Anteilnahme des Arztes - auf
jeden Fall ein unehrliches Spiel. Dagegen ist in der adäquaten Selbstmit­
teilung «das Opfer des neurotischen Ich vorgebildet» [2, b, p. 286], Eine
völlig neue und besondere Leistung der Psychoanalyse, «ihren wichtigsten
Beitrag zur Personenlehre der Zukunft», erblickt von Gebsattel in der Ent­
deckung, das zwar gelebte, aber noch nie erlebte Seeleninhalte in die aktu­
elle Erlebnissphäre aufrücken und jene höchste Vergegenwärtigung erfah­
ren können, die im Begriff des Abreagierens gemeint ist. Dabei geschieht
es, dass die Persönlichkeit sich «in verborgenen Schichten ihrer Gegenwart
und Vergangenheit... offenbar» [2, b, p. 287] wird und dazu Stellung neh­
men kann. Das ist Umwandlung von Lebensvorgängen in Erlebnistatsa­
chen. Zuvor war das Gelebte, z.B. affektive Einstellungen in Liebe und
Hass, von denen wir einfach nichts mehr wissen, «im Dunkel der Unge-
wusstheit schlafende Vergangenheit» [2, b, p. 288]. Die adäquate Selbster­
kenntnis endlich bedeutet Überwindung der im adäquaten Erleben als neu­
rotisch erkannten Haltungen, Einstellungen, Automatismen. Das kann aus
der Retrospektion unter anderem zu berechtigten sinnvollen Schuldgefüh­
len treiben, die sich auf das Zurückbleiben des Neurotikers hinter seinen
Möglichkeiten beziehen. Indessen sind es aber diese Schuldgefühle, die
den Neurotiker allererst in den verlorenen Mittelpunkt hineintreiben. Und
so hat denn auch Martin Buber [1] in seinem Washington-Vortrag 1957
davor gewarnt, diese Schuldgefühle für einen Ausdruck der Neurose zu
nehmen statt als echte Einsichten in vergangene Schuldtatsachen des
Daseins.
Nach diesem positiven Anerkennen der basal-handwerklichen Funde
Freuds kommt es über zwei Dezennien später zu einer Konfrontation der
personalen Psychotherapie von Gebsattels mit den Konzeptionen von
C.G. Jung. Das geschieht 1950 in der Studie «Die Person und die Grenzen
des tiefenpsychologischen Verfahrens» [2, c]. Als sachgerechten Austra­
gungsort für die Differenzierung der beiden Therapien wählt von Gebsattel
das Umfeld des Begriffs «Selbstverwirklichung», den man natürlich von
allen neuzeitlichen Plattheiten freihalten muss. In den inneren Raum der
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Selbstverwirklichung gehört eine Grundbestimmung des Menschen: seine


Möglichkeit, sich zu sich selbst zu verhalten, als Werdender zu seinem
Werden, als Person zu seiner personalen Existenz, aber auch zu seinem
eigenen Leib - bis hinein ins Kranksein. Während Pflanze und Tier sich
entwickeln - vom Keim bis zur Reife ein Geschehen -, ist beim Menschen
das Werden nur zum Teil ein Geschehen, darüber hinaus aber ein Sein-
Können, zu dem er sich in Freiheit verhalten kann. Dergestalt kann sich
der Mensch - wie von Gebsattel sagt - «in der Zeit selbst vollenden, aber
auch sich versäumen und verfehlen» [2, c, p. 331], Nach dieser Selbstver­
wirklichung fragend, steht man mit einem Fuss in Biologie und Psycholo­
gie - Jung spricht von «Entwicklung», «Geschehen», «Individuationspro­
zess» -, mit dem anderen Fuss im Ethischen und Religiösen. Die Katego­
rien der personalen Selbstverwirklichung lauten: «Sinnfrage des Daseins,
personale Entscheidung, Freiheit, Verantwortung, Orientierung an Norm-
und Richtbildern des Menschseins». Danach hat die Selbstverwirklichung
eine personale und eine apersonale Seite. Beide Sichten - sie sind beide im
Recht - sind aufeinander abzustimmen. Störungen der personalen Selbst­
verwirklichung bezeichnet von Gebsattel als «existentielle Neurosen», die
er gelegentlich durch bio- oder psychologisch fassbare Symptome larviert
sieht. Für Jung besteht die Selbstverwirklichung in der Aneignung von
Seelenbereichen, die im Anlageganzen der Persönlichkeit präformiert sind.
Das Ziel dieses Prozesses ist die Individuation. Das Selbst, um dessen Ver­
wirklichung gekämpft wird, erreicht nicht die überbiologische und über­
psychologische Personstufe. Dagegen wird - wie von Gebsattel in seiner
späteren Studie «Über die Anwendung anthropologischer Gesichtspunkte
im Gebiet der Psychotherapie» [3, p. 13] erklärt - «der Mensch als Objekt
der Wissenschaften erst durch das Wesensbild des ‘homme-personne’
bestimmt» - und nicht durch die Summe der menschlichen Eigenschaften,
wie sie sich am «homme-individu» zeigen. Die eigentliche Seinsnatur des
Menschen bleibt unausgedrückt, bleibt apersonal. Wenn man aber zu Ein­
sichten in die Probleme der Selbstverwirklichung gelangen will, die von
den existentiellen Neurosen aufgeworfen werden, so muss man in ein Jen­
seits zu allen rein szientifischen Methoden vorstossen: nämlich in die
Region der Person. Es ist aber für von Gebsattels positiv aneignende Hal-
tung charakteristisch, zu sagen, dass «die apersonale Sicht der Tiefenpsy­
chologie und die personale der höheren Seelenführung aufeinander abzu­
stimmen» [2, c, p. 335] sind. Bei den existentiellen Neurosen fällt «eine
Konfliktspannung auf zwischen der Jungschen Persona-Stufe des Daseins
und dem Gebot des Person-Seins [2, c, p. 335], Persona-Sein heisst sicheres
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Fussfassen und Handeln im Ordnungsgefüge der bürgerlichen Welt - heisst


so aber auch, vorbeileben am Wesentlichen und Eigentlichen, verwandt
dem, was Heidegger [4] als das «alltägliche Selbstsein», als das «man» mit
dem Gewicht eines Existenzials versehen hat. Sich damit zu begnügen,
bedeutet eine schwere Gefährdung für den Vollzug des Personseins. Ein
dialektisches Verhältnis zwischen Persona und Person herstellen heisst:
zuerst muss der Mensch auf der soziologisch normhaften Persona-Stufe
Fuss gefasst haben, bevor er das Personsein verwirklichen kann. Das
bedeutet Einordnung in das «Kollektiv». Der «homme-personne» ist frei­
lich nicht zu verwirklichen durch jene Bilder, die aus dem kollektiven
Unbewussten aufsteigen, «sondern nur durch Akte ..., die das Werden und
die Inkarnation des homme-personne begründen» [3, p. 14], Wenn der
Kontakt zwischen Persona und Person krisenhaft verlorengeht, kann es zu
einer existentiellen Neurose kommen, in der die Herrschaft von Person­
elementen sogar zu einem katatoniformen Bild führen kann. «Weil der
Himmel, der einen verpflichtet, nicht auf die Erde herabkommt, darf man
sozusagen keinen Schritt weiter tun in die Alltagswelt» [2, c, p. 341]. Das
kann zu einem Stillstand der inneren Lebensbewegung führen. Hier kann
die Tiefenpsychologie absolut wirkungslos sein, weil eine Entthronung der
Person, d.h. des Herrschafts- und Führungszentrums im Menschen, vor­
liegt. Das kann zwar so aussehen, als handle es sich primär um eine Ent-
mächtigung der desintegrierten Vitalsphäre. Das aber darf «den Blick
nicht trüben für die Eigengesetzlichkeit der personalen Dimension im
Menschen» [2, c, p. 343], Die oberste Herrschaft der Person ist der Seelen­
führung vom Religiösen her eingestiftet worden: erstmals in der Ge­
schichte dem Moses von der Stimme aus dem brennenden Dornbusch:
«Ich bin, der ich bin». Das ist - so von Gebsattel - für den gottesebenbild­
lichen Menschen ein Sporn, diese Forderung zu verwirklichen. Indessen ist
es ein grundlegender Irrtum, zu glauben, dass es nur psychologische oder
nur biologische Mechanismen seien, welche die Entthronung der Person
herbeiführen, obwohl Störungen in der Entwicklung des «Individuations­
prozesses» die personale Selbstverwirklichung effektiv verhindern kön­
nen. Es kann freilich anderseits aber auch «der Verlust der personalen
Mitte» - wie von Gebsattel sagt - «in einer Art Fernwirkung einstrahlen in
die apersonalen Funktionssysteme der Psyche und des Bios und schwere
Störungen in diesen Gebieten » [2, c, p. 345] bewirken. Wenn z.B. ein
«unbewusster Nihilismus der Persönlichkeit» vorliegt, die sich dem Auf­
ruf zur personalen Existenz entzieht, so wird dieser «Wille der Person zu
ihrer Selbstaufhebung meist nur in seiner apersonalen ‘Vorgestalt’ in bio­
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logischen und psychologischen Störungsmechanismen» [2, c, p. 346] fass­


bar. Diese können sich in tausend Masken verkleiden. Mit der Existenz
dieser apersonalen Vorgestalt, die sich im personalen Bereich als Selbst­
entthronung der Persönlichkeit auswirkt, ist die Berechtigung, ja die Not­
wendigkeit tiefenpsychologischen Verfahrens begründet, denn die Störun­
gen im apersonalen Bereich müssen auf der Ebene ihres Bestehens ange­
gangen werden - ob sie auch letzten Endes auf dem oft nur sehr schwer
erkennbaren «nihilistischen Grundzug der Person» [2, c, p. 347] be­
ruhen.
1953 fasst von Gebsattel die Form der Reziprozität von Psychothera­
pie und Person noch einmal in der Studie «Zur Sinnstruktur der ärztlichen
Handlung» [2, d] zu schönster Durchsichtigkeit zusammen. Das Eigentli­
che einer Krankheit macht für den Menschen die «existentielle Weise sei­
nes Krankseins» [2, d, p. 362] aus. Entscheidend ist, dass der Kranke sei­
nem Leiden gegenüberstehen kann, «darin zeigt sich erst das eigentlich
humane Element der Krankheit an» [2, d, p. 365] -, wohingegen für die
Tiefenpsychologie die kranke Psyche zum Organ wurde, dessen Funktio­
nieren und Dysfunktion im Sinne des Logos der Naturwissenschaften zu
erklären war. Das Revolutionierende der Tiefenpsychologie sieht von Geb­
sattel darin, dass «eine Richtung eingeschlagen worden war, in der sich ...
das ärztliche Denken auf neuen Wegen, ... auf ein Ziel zubewegte, das wirk­
sam war, ohne noch erkannt zu sein: dieses Ziel war der Mensch» [2, d, p.
366]. Demgegenüber kennzeichnet von Gebsattel wohl seinen eigenen
Weg, wenn er - im Hinblick auf die existentiellen Neurosen - sagt, dass
sich «Schritt für Schritt im Gefüge der Heilkunde eine Angleichung an die
grosse Tradition des Abendlandes anbahnte... Und es ergab sich das
Erstaunliche, dass diese Vorstellungen gar nichts anderes waren, als die
säkularisierten Grundbegriffe der alten christlichen personalistischen See­
lenlehre vom Menschen und seiner Bestimmung» [2, d, p. 367], In einer
ergreifend-grossartigen Bewegung des Andenkens an die einzigartige cha­
rismatische Persönlichkeit von Gebsattels ist Kisker 1976 diese «Wege zur
Person» [6] nachgegangen.
Die drei Sinnstufen der ärztlichen Handlung stellen sich von Gebsattel
so dar: 1. Die elementar-sympathetische Sinnstufe des Angerufenseins
durch die Not eines Begegnenden: die Unmittelbarkeitsstufe des Verhält­
nisses. 2. Die Stufe des eigentlich ärztlichen Überlegens, Planens, Han­
delns: die diagnostisch-therapeutische Stufe der Entfremdung. 3. Eine die
vorhergehenden Weisen der Begegnung übergreifende Sinnstufe, die Stufe
der Partnerschaft von Arzt und Krankem: die personale Stufe. Der Arzt ist
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auf der ersten der drei Stufen Mitmensch als Teilhaber an der Not des
Patienten, auf der zweiten technischer Vollstrecker der Notbekämpfung,
auf der dritten personaler Partner. Auf der «Entfremdungsstufe» bedarf es
der Distanz - ohne aber für den Anruf der Not taub zu sein. Der Kampf
mit der Not «hat die Gestalt der wissenschaftlich und technisch geschulten
Hilfsaktion» [2, d, p. 373]. Der Kranke wird Objekt. «Immer bleibt beste­
hen, dass Arzt und Kranker auf der Sinnstufe der Sonderung sich gegen­
überstehen wie Subjekt und Objekt» [2, d, p. 374], «Auf der Ebene des
Personseins ist eine andere Weise der Kommunikation gefordert... Erst in
einem Wirken, das die Person des Mitmenschen in ihren Logos miteinbe-
zieht, ereignet sich ‘seelsorgerisch’-ärztliche Vollhandlung» [2, d, p. 375].
«Der Andere selbst... ruft den Arzt in die gleiche Not hinein» [2, d, p.
377], Dieser Akt eines existentiellen Gewissens begründet zutiefst die per­
sonale Partnerschaft des Arztes. In ihr findet das Problem der Person in
der Psychotherapie von Gebsattels seine ursprüngliche Lösung.

Literatur

1 Buber, M.: Schuld und Schuldgefühle (Schneider, Heidelberg 1958).


2 Gebsattel, V.E. von: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, a) Uber den
personalen Faktor des Heilungsprozesses ( 1925). b Was wirkt bei der Psychoanalyse
therapeutisch? (1928). c) Die Person und die Grenzen des tiefenpsychologischen
Verfahrens (1950). d) Zur Sinnstruktur der ärztlichen Handlung (1953). (Springer,
Berlin 1954).
3 Gebsattel, V.E. von: Über die Anwendung anthropologischer Gesichtspunkte im
Gebiet der Psychotherapie; in Imago Hominis. Beiträge zu einer personalen Anthro­
pologie (Neues Forum, Schweinfurt 1964).
4 Heidegger, M.: Sein und Zeit; 12. Aufl. (Tübingen, Niemeyer 1953).
5 Kierkegaard, S.: Der Begriff Angst (Diederich, Düsseldorf 1952).
6 Kisker, K.P.: Gottähnliches Herz. Viktor von Gebsattels Wege zur Person. Z. klin.
Psychol. Psychother. 24: 292-304 (1976).
7 Pascal, B.: Gedanken. Übertragen v. W. Rüttenauer. Edition Strowski (Schibli-
Doppler, Birsfelden-Basel).
8 Pascal, B.: Le coeur et ses raisons. Logik des Herzens. Pensées (zweisprachig); 3. Aufl.
(Langewiesche-Brandt, München 1966).
9 Rilke, R.M.: Briefe (Insel, Wiesbaden 1950).
10 Scheler, M.: Idealismus - Realismus. Späte Schriften. Gesammelte Schriften, voi. 9
(Franke, Bern 1976).

Hubertus Tellenbach, Psychiatrische Klinik, Universität Heidelberg,


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