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Die Nacht war kalt und klar.

Der Mond zur Sichel geformt und ein leiser Wind übertönte das Geräusch der
Schritte. Es war die perfekte Nacht zum Jagen. Morwen hatte ihr pechschwarzes Haar, das von manch
roten Strähnen durchzogen wurde, in einem Zopf zusammengebunden, der ihr bis hin zur Hüfte reichte.
Ihre Augen waren geschlossen und sie horchte den seichten Stimmen der Arkanstrukturen. Wurzeln der
alten Welt und der Macht, die sich um alles schlangen und einen Teil des Damaligen, der anderen Tage,
noch immer erhielten. Kaum einer war heutzutage noch in der Lage ihre Präsenz, geschweige denn ihre
Verästelung mit dem bloßen Auge wahrzunehmen. Doch in Morwens Adern floss Blut, dass die Weisen
des Arkanen nicht vergaß, sondern vermochte damit zu spielen, und die alten Fäden zu etwas Neuem zu
weben. Es hielt sie wach in solchen Nächten. Pumpte durch den ganzen Körper und rauschte ihr in den
Ohren. Es konnte bei Weilen einem tosenden Wasserfall gleichkommen, wenn sie sich an einer
Schnittstelle mehrere dieser Adern befand. An solchen Orten waren die Strukturen noch besonders
ausgeprägt.
Diese alten Wirrungen befanden sich in Bewegung. Manchmal ganz plötzlich, zu anderen Zeiten ruhig und
gemächlich, als hätten sie mit den Jahren, wie jeder Organismus, an Kraft verloren. Seit Morwen sich
erinnern konnte waren es aber nur eine Handvoll Nächte, dass es eine so rapide und kraftvolle Windung
in den arkanen Gefügen gab, dass es sie förmlich aus dem Schlafe riss und die Welt sich mit ihnen zu
bewegen schien. Scheinbar ziellos zogen sich diese Strukturen durch die Erde und bahnten sich neue
Wege. Keinem einzelnen Individuum ist es bis heute gelungen die Bewegungen einer Intention
unterzuordnen. Und die, die in den alten Tagen, die Geschichten des Arkanen erzählten, gab es nicht
mehr. Oder waren ihre Geschichten nur vergessen?
In einer solchen Nacht befand sich also Morwen, geweckt aus einem unruhigen Schlaf. Mit
schweißnassem Haar schreckte sie in ihrer Hütte, abseits des völkischen Treibens, inmitten des Waldes,
hoch und fühlte, wie die Welt sich um sie drehte. Zuerst dachte sie, es sei ein Fieber, dass mit ihren
Sinnen spielte, doch hörte sie wieder die Laute des Arkanen, die in undeutbaren Chiffren riefen. Bald
darauf erkannte sie auch die feinen Linien, die sich durch die Erde zu ihren Füßen, das Holz ihrer Hütte
und durch ihren Körper zogen. Sie leuchteten in einem silbrig fahlen Blau, als seien sie vom Monde
beschienen. Gehetzt von der Vielzahl an Eindrücken packte sie einen Rucksack, der neben ein Paar
Kräutermischungen und Krügen zur Aufbewahrung auch Seil und Schlafsack beinhaltete. Sie wurde
angezogen von den Rufen, wollte wissen was sie ihr verraten wollen. Sie musste hinaus. Etwas in ihr
verstand, dass der nächste Ausflug kein kurzes Ende nehmen würde. Sie schnallte sich also Reiseutensil
und den Vulkanglasdolch ihrer Meisterin um und verließ mit bebendem Körper die Sicherheit ihres
Hauses. Sie folgte den Linien, wie Motten dem Licht. Immer weiter zog es sie in den Wald hinein.
Obwohl der Mond schon lange am Himmel hing, schien der Wald keineswegs zu schlafen. Nervös
huschten wilde Tiere von links nach rechts. Manche flüchteten beim Anblick Morwens, andere beäugten
sie nur interessiert. Ein jeder schien von Unruhe getrieben und konnte kein Auge mehr schließen. Je
weiter Morwen in den Wald vordrang, desto mehr häuften sich die neugierigen Beobachter. Wenn sie in
die fragenden Gesichter der Tiere schaute, hatte sie fast das Gefühl, als erwarteten sie eine Antwort, was
denn vor sich gehe.
Die Bäume wurden lichter, doch das Unterholz dichter und das Voranschreiten immer schwieriger.
Morwen kam mittlerweile in einem Bereich des Waldes an, indem sie noch nie zuvor gewesen ist, der
auch immer befremdlicher wirkte. Die schwüle Sommernachtsluft und die Anstrengungen lies den
Schweiß aus jeder Pore kommen und sie in ein angestrengtes Keuchen übergehen. Doch die Anziehungen,
der großen Energie, die sich vor ihr erschließt, ließ sie unnachgiebig weiter machen. In fanatischem Eifer
schlug sie sich durch jedes Gestrüpp, das sich ihr in den Weg stellte und bestieg den immer steiler
werdenden Pfad, der ihr beleuchtet wurde.
Als sie endlich den Hügel erklomm, fing sie an entfernte Laute zu vernehmen. Es klang nicht nach dem Ruf
eines der Tiere des Waldes. Doch von Menschen konnte es auch nicht stammen. Es hatte etwas
bestialisches in sich. Ein schrilles Kreischen auf das ein gurgelndes Grunzen folgte. Ganz aus der Richtung
in der sich die arkanen Linien einen würden. Es trieb sie an, der Quelle der Geräusche nachzugehen. Die
kurze Welle der Furcht war vergessen, was solle im Wald schon leben, mit dem sie nicht fertig werden
könnte. Der volle Mond schien die Kuhle inmitten des Hügels, auf dem sie sich nun befand ,aus und sie
huschte von Nadelbaum zu Nadelbaum. Immer näher kam sie den Geräuschen. Immer lauter wurde das
Rauschen der Linien in ihren Ohren und immer greller ihr Licht. Fast jeder Baum war nun durchzogen von
den silbrig blauen Strängen und der gesamte Boden war verwurzelt. Ihr Herz schlug immer schneller. Der
Strom an Eindrücken überkam sie und es wurde ihr fast schwarz vor Augen. Sie musste sich kurz zur Ruhe
setzen und lehnte sich an einen der massiven Baumstämme. Als ihre Augen trüb durch die Gegend
wirrten und ihr der Kopf auf die Knie fiel, merkte sie, dass sie sogar in den kleinen Insekten im Untergrund
feinste Fäden des Arkanen erkennen konnte.
Das Rauschen vermischte sich mit den monströsen Klängen, die sie schon zuvor wahrgenommen hatte.
Diese verfielen mittlerweile in einen Singsang und stimmten zu düsteren Melodien an. Dem grausigen
Kreischen zu entkommen, hielt sich Morwen die Ohren zu und schloss die Augen, um nur für einen
Moment Ruhe zu bekommen. Sie versuchte sich auf ihren Atem zu konzentrieren, versuchte ihren
Rhythmus wieder zu beruhigen, da spürte sie eine warme Flüssigkeit auf ihre Schulter tropfen. Sie roch
nach fauligem Aas und ihr wurde schlecht. Als sie nach Oben guckte, um herauszufinden, woher das
widerliche Sekret stammte, sah sie über sich in den Ästen des Baumes eine Tierähnliche Fratze mit gelben
Augen und gebleckten Reißzähnen, die sie gierig anschauten. Die Gestalt von der kaum mehr als ein
Schatten zu sehen war, fing an zu gackern und ließ sich auf sie fallen. Gerade noch gelang es Morwen sich
ihrer Lage bewusst zu werden und zur Seite zu rollen. Sie sprang sofort auf, zückte ihren Dolch und
wandte sich in Richtung des Geschöpfes. Ihr Rücken schmerzte an der Stelle, der sie über ihre eigene
Tasche gerollt war, doch stellten die hungrigen Blicke vor ihr eine größere Bedrohung dar. Die Flut an
Eindrücken verhinderte, dass sie mehr als Schemen einer humanoiden Form in knappen eineinhalb
Metern vor sich sehen konnte. Es zogen sich keinerlei Fäden durch ihren Gegner und so hob er sich stark
von der Umwelt ab. Unentschlossen wartete sie ab, dass die Kreatur sich noch einmal auf sie stürzen
würde. Das Wesen gab einen Laut von sich, das man primitiv wohl als Lachen verstehen könnte und
schoss erneut auf Morwen zu. Den Rumpf wie ein Pfeil nach vorne gelenkt, kam es mit
besorgniserregender Geschwindigkeit voran, sodass ihr nicht viel übrigblieb als die scharfen Pranken mit
ihrem Arm abzufangen. Morwen schrie auf, Hitze wallte durch ihren Körper und ihr Herz klopfte immer
schneller. Mit ihrem Dolch stach sie nach dem Bauch der Kreatur, welcher viel zu spät bewusstwurde, in
was für eine verletzliche Lage sie sich gebracht hat. Ohne Widerstand fraß sich das Vulkanglas durch
Fleisch und Sehnen. Ein Wimmern entfleuchte der Kreatur als sie versuchte zurückzufallen. Quiekend fiel
sie zu Boden und kroch auf allen Vieren von Morwen davon. Als sie hinterher setzen wollte, vernahm sie
weitere dunkle Flecke, die sich vor die linienvollzogenen Bäume bewegten. Drei Stück kamen langsam in
ihre Richtung und jedes von ihnen gab das Gackern von sich, dass sie davor wahrgenommen hatte. Sie
trugen Waffen mit sich, primitive Keulen oder gespitzte Holzstäbe würde Morwen vermuten. Sie hatte
wenig Interesse es mit dem eigenen Leibe herauszufinden. Sie wusste nicht wie schnell die Biester waren,
doch konnte sie, wenn sie wollte, es für kurze Zeit mit einem Reh aufnehmen. Sie war bereit sich dem
Wettstreit zu stellen und drehte sich um und rannte.
Kaum war sie am ersten Baum angelangt, schlug ihr etwas hartes direkt gegen den Kopf. Sie taumelte und
fiel benommen zu Boden. Ihr Kopf pochte und die Welt überschlug sich. Der Gestank des Bestiensekrets
kam ihr in den Sinn und ihr Mageninneres bahnte sich einen Weg nach draußen. Ihren Peiniger schien es
zu amüsieren, lachte er doch schadenfroh auf. Wutentbrannt stürzte sie sich auf den Ursprung des
Geräusches und bearbeitete ihn mit blinden Hieben ihres Dolches. Völlig überrascht brachte dieser nicht
mehr als ein Kreischen heraus, als er mit ihr zu Boden ging und seinem Schicksal erlag. Sie spürte warme
Flüssigkeit an ihren Händen und schmeckte Eisen in ihrem Mund, als sie von der Kreatur abließ und sich
auf wackligen Beinen emporhob. Hinter ihr war das wütende Kreischen seiner Kameraden nicht zu
überhören. Zum Rennen war sie nicht mehr in der Lage und so machte sie sich ein weiteres Mal bereit,
ihren Gegnern in die Augen zu schauen. Sie versuchte auszuholen, doch durch das Blut an den Händen
und ihrem Schwindelanfall, rutschte ihr der Dolch aus den Händen und verlor sich in den Tiefen der Äste.
Über mehr als ein Staunen kam sie nicht hinaus, da waren die drei doch schon direkt bei ihr und einer von
ihnen bohrte seinen Speer direkt in ihre rechte Brust. Der Atem stockte ihr kurz und sie viel auf die Knie.
Mit einem letzten Blick schaute sie nach unten. Es war ein primitiver angespitzter Holzspeer, der das Blut
aus ihrem Körper fließen ließ. Morwen wurde schwarz vor Augen und sie viel bewusstlos zu Boden.

Mit stechenden Kopfschmerzen wachte sie auf. Der Schmerz in der Brust erinnerte sie schnell an die
unheilvolle Lage, in der sie sich befand. Sie traute sich kaum, sich zu bewegen. Langsam öffnete sie die
Augen. Es war noch immer dunkel. Das erste, was sie sehen konnte, waren die Gesichtszüge eines
Mannes, der von Mond und einem Feuer in der Nähe angeleuchtet wurde. Er starrte sie mit müdem
Lächeln an. Er schien bis auf eine kurze, enge Hose nichts am Leibe zu tragen. Auch er schien einige
Spuren von Verletzungen aufzuweisen. Sie stütze sich auf die Arme, um sich umzusehen. Bei diesem
Versuch wurde ihr schmerzlich bewusst, dass ihr rechter Arm von der Kreatur aufgerissen wurde. Er
schien aber leicht verbunden zu sein, sodass kein frisches Blut floss.
„Haben dich ja ordentlich zugerichtet, dachte ich helf‘ dir mal aus und decke die Wunden ab.“ Hörte sie
den Fremden in rauer Stimme sprechen. Und tatsächlich, als sie runter auf ihre Brust blickte, erkannte sie,
dass er den Stoff ihres Oberteils zerrissen und sie als Bandagen benutzt hat.
„Hätte ja meine eigenen genommen, aber die haben die Biester mir direkt vom Leibe gerissen.“ Sagte er
entschuldigend, wobei sein Blick für nur einen kurzen Moment nach unten schielte. Er fing sich schnell
und schaute ganz unschuldig drein. Sie schaute ihn mit ausdrucksloser Miene an und wand den Kopf zur
Seite in Richtung des Feuers. Die Arkanen Strukturen schienen verblassen zu sein und Morwen konnte im
Schein zum ersten Mal wirklich erkennen, was sie vorhin angegriffen hat.
Haarige Gestalten mit einem Gesicht, das eine Mischung zwischen Raubbestie und Menschen formte in
Rotbraunen bis grau oder schwarzen Farben. Ihre Arme waren unverhältnismäßig lang und ihre Augen
schienen aufgeregt, aber aufmerksam in alle Richtungen zu huschen. Der Anblick der Fremdlinge brachte
ihr den Gestank und die Abneigung wieder in den Sinn und sie konnte einen Würgereiz nicht
unterdrücken.
„Scheinen dich heftig am Kopf erwischt zu haben. Aber ich gebe zu, beim ersten Mal kam auch mir das
Kotzen“. Morwen beachtete ihn gar nicht und schaute weiter gebannt auf das Treiben der Wilden. Die Art
wie sie ums Feuer tanzten und sich in ihrer schrillen Sprache unterhielten zog sie, trotz des immer wieder
kommenden Abscheus, an. Und so blickte sie weiter auf das Geschehen bis
ein Brennen in ihrer Brust sie zurück in ihr Bewusstsein holte. Etwas an der Art des Notdürftigen
Verbandes fühlte sich nicht gut an.
„Nicht abnehmen, das drunter kann ganz schön verstörend aussehen. Hat mir selbst ‘nen Schrecken
eingejagt. Außerdem tut das der Wunde bestimmt auch nicht gut!“ Kam der besorgter Ruf von gegenüber.
Unbekümmert löste sie den Knoten und zog den Stoff mitsamt getrocknetem Blut unter Schmerzen von
ihrem Körper. Aus der Wunde quoll erneut tiefrotes Blut und sammelte sich um ihren Bauch. Nach kurzer
Betrachtung erkannte sie, dass die Hilfe des Fremden zwar dafür sorgte, dass das Blut anfing zu gerinnen,
aber sonst nur mehr Schaden angerichtet hat. Mehrere Steinchen und Erdreste klebten in Ihr und es
schien, als habe er durch schiere Grobheit beim Anlegen die Ursprüngliche Verletzung weiter aufgerissen.
Sie entließ ein lautes Grunzen und schaute sich den Verband ihres Armes an. Auch er stellte keine präzise
Arbeit dar und so zog sie auch ihn ab und machte sich daran die Reste, die sie erkennen konnte, unter
zusammengebissenen Zähnen aus ihrer Haut zu pulen. Der Fremde schaute ihr aufmerksam zu, traute sich
aber nicht, noch einen weiteren Kommentar abzugeben.
Als Morwen fertig war, fing sie an ihren Kopf abzutasten. Sie vernahm kleinere Schnitte, doch es klafften
keine Wunden. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Dachte an die Momente mit ihrer Meisterin
zurück, an die Worte und die Konzepte ihrer Gedanken. Dachte an Kräutersalben auf den Wunden der
Tiere und Menschen, die sie behandelten. Sah die Konturen ihrer eigenen Verletzungen und wie sie
wieder zusammenwuchsen. Sie fühlte einen Moment tief in ihr Innerstes. Suchte eine Präsenz, die mit ihr
kommunizierte. Die auf ihre Rufe Antwort gab und als sie es hörte leitete sie sie an. Morwen ließ die
Energie der Präsenz durch den Körper strömen. An die Stellen ihrer Wunden und dachte noch einmal an
die Bilder der sich schließenden Wunden. Sie spürte, wie Gedanken Realität wurden. Wie Geflochtenes
wahrhaftig ist und die Schmerzen sich legten.
Ihre Augen zu öffnen wollte sie nicht mehr. Viel zu müde war sie. Ganz schläfrig und ausgelaugt. Und ihr
Körper fiel schlaff zu Boden und ließ den fremden Mann mit seinen aufgerissenen Augen und vielen
Fragen allein zurück.

Ein weiters Mal erwachte sie aus der Schwärze. Die Augen wollte sie noch nicht öffnen, lieber wäre sie
einfach liegengeblieben. Ein erregtes Kreischen in ihrer Nähe riss sie aber völlig aus der leichten Trance.
Sie öffnete die Augen und starrte auf das Feuer, welches nun deutlich größer brannte als zuvor. Vor
diesem standen die Kreaturen nun und gaben erquickte Geräusche von sich. Gleich rechts davon stand
der größte von ihnen und schien einen Sprechgesang zum Besten zu geben. Beim zweiten Blick wurde
Morwen klar, dass er nicht körperlich kräftiger war als die anderen, sondern lediglich eine Maske aus
Knochen sein Gesicht verbarg und noch weit über seinen Kopf ragte.
Hinter ihm schienen zwei der Kreaturen mit etwas zu ringen. Es stellte sich ein mit Blut und Dreck
verschmierter, nackter Mann raus, den sie mit größten Mühen in Richtung Feuer schleppten. Übles
ahnend blickte Morwen links von sich, doch der Mann saß noch immer neben ihr und schaute mit großen
Augen dem Geschehen zu. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen und starrte weiter geradeaus. Als sie
den Blick wieder zurück in Richtung Feuer richtete, sah sie den maskierten gerade zu dem gefesselten
Mann sprechen, der sich noch immer panisch aus den Griffen seiner Feinde zu befreien versuchte. Seine
Bemühungen schienen aussichtslos und er wurde nun direkt vor das Feuer gedrückt. Seine Fersen
erreichten das Feuer und er fing an laut und schrill zu schreien. Das Wesen mit Knochenmaske schien
unbeirrt weiter auf ihn einzureden, während die zwei Anderen den Mann an Ort und Stelle festhielten
und gleichzeitig so weit wie möglich, Abstand zum Feuer zu halten. Die angsterfüllten Schreie des Mannes
übertönten mittlerweile alles um ihn herum. Doch wie ein Wunder schien, die Stimme des maskierten in
ein Grollen überzugehen, dass Morwen das Beben der Erde spüren konnte. Eindringlich sprach der
Maskierte zum Mann am Feuer in seiner Bestien Sprache, als er auf Einmal aufhörte, sich nach unten
bückte und Messer und Schale aus Knochen vom Boden vor ihn aufhob. Im gleichen Moment formten sich
aus den flammenden Zungen etwas, das an Arme und Hände erinnerte und griffen nach dem Mann. Die
zwei Kreaturen sprangen zur Seite und überließen ihn dem Feuer. Panik und Tränen standen nun in
seinem Gesicht und er schlug verzweifelt um sich. Erfolglos. Weitere Arme Griffen nach ihm und
stemmten ihn zu Boden und ein Gesicht trat in den Flammen hervor. Es nahm keine deutliche Form an
und ließ nur Augen und ein Maul erkennen. Noch einmal sprach der Maskierte in seiner Sprache und
schnitt dem Gequältem die Kehle auf und erlöste ihn von seinen Qualen. Es wurde beängstigend ruhig, als
das Blut in die Schüssel floss, und nur noch ein röchelndes Lachen aus dem Feuer war zu hören.
Die Schüssel färbte sich bis zum Rande mit Rot und als er sie vom Hals abnahm, schoss das Maul aus
Flammen hervor und machte sie über den Toten her. Der Geruch von verbranntem Fleisch, Eisen und
Schwefel erfüllte die Luft und Ekel machte sich ein weiteres Mal in Morwen breit.
Die Flammen des Feuers stiegen auf. Formten Gliedmaßen zu einem Körper. Die flammende Gestalt
bäumte sich auf und sprach in tief- knurrendem Ton. Zu Morwens großer Überraschung konnte sie
vernehmen was die Laute für eine Bedeutung mit sich trugen.
„Eure Gaben sind gut, doch dürstet es mich nach mehr. Nicht mehr lange und ich werde vor euch stehen
als Herrscher.“
Die Wesen fingen an vor der beeindruckenden Gestalt im Feuer zu knieen und antworteten in ihrer
Sprache.
„Eure Mühen sind nicht vergeblich. Ich werde euch geben, für das was ihr mir brachtet. Sodass ihr euch
erinnert, dass ich wohlgesinnt denen bin, die mich nicht bezweifeln und mir ergeben sind. Steigt meine
Macht, so wird es auch die eurige.“
Die Monster brachten ihre Köpfe ehrergiebig gen Boden und summten gemeinsam im Chor ihrer Sprache.
Die Flammen lösten sich auf und einigten sich zu einem Strahl, der in die blutgefüllte Schüssel flog. Die
Knochenmaske stand auf, nahm die Schüssel in die Hand und bewegte sich in Richtung des
nächstliegenden Wesens. Es sprach zu ihr und fing an den Inhalt der Schüssel auf ihren Kopf zu tropfen.
Sie hob den Kopf und öffnete das Maul, die Raubtierzähne entblößend. Die Prozedur wiederholte sich im
Kreis der Wesen, bis es zuletzt seine Maske löste und sich selbst im Blut ergoss.
Noch wie in Trance ihrem Chor verfallen, bewegten sie sich gemeinsam in das Feuer vor ihnen. Keines von
ihnen zuckte, als sie in die Flammen stiegen und dort mit Gesang verharrten. Nach kurzer Zeit fing ihr Fell
an zu brennen und es zeichneten sich rote Linien durch ihren Körper, die Morwen an die blau- silbrigen
Linien der Arkanen Strukturen erinnerten. Plötzlich schienen ihre Körper an den Linien aufzubrechen und
Blut aus ihnen heraus zu quellen. Sie waren noch immer in einem Chor versunken und hielten die Augen
geschlossen. Die Linien an ihren Körpern bewegten sich unrhythmisch und immer öfter schien ihre Haut
aufzubrechen. Es schien als würden sie sich wie Schlange häuten und ihr Altes abwerfen. Aus manchen
Öffnungen stachen Knochen hervor und drückten den Rest des Körpers in alle Richtungen. Ihre Beine
wurden länger, ganz gleich den Armen, die immer kräftiger wurden. Ihr Schädel schien sich zu Formen und
das animalische zu verlieren. Die leichten Lederschürzen, die sie um ihre Körper trugen, rissen und es
formten sich markante Geschlechtsteile, die zuvor verdeckt wurden. Der abscheuliche Anblick dieser
Transmutation zog sich über mehrere Minuten und ließ Morwen und den Mann neben ihr gebannt auf
das Szenario starren, welches sich vor ihnen abspielte.
Nach einer Weile ließen die Bewegungen in den Körpern nach und der Gesang stoppte. Das Feuer stieß
mit einem verachtenden Lachen noch einmal empor und erlosch gänzlich.
Völlige Dunkelheit umgab sie. Der Mond schien nicht mehr kraftvoll genug zu sein, um sich durch die
Blätter des Waldes zu kämpfen.
Neben sich vernahm sie nur ein unruhiges Keuchen, doch konnte sie es ihm kaum verübeln. Was sie
gerade gesehen hatte, überstieg jedes Ritual, dem sie in ihrem Leben beigewohnt hatte. Es war nicht
unüblich zu einem mächtigen Geist zu sprechen, doch waren Menschenopfer und die Mischung ihrer
Essenz etwas das als unwürdig und lebensgefährlich galt. Es ist dem Wahnsinn gleichzusetzen.
Sie ließ sich zu Boden fallen und spürte den Mann neben sich rücken und flüstern:
„Was ist da gerade passiert? Was war das für eine kranke Scheisse? Du hast auch sowas unnatürliches
abgezogen. Wie deine ganzen Wunden geheilt sind! Ich dachte das sind verdammte Märchen, die sich
irgendwelche Penner in der Stadt erzählen, um Eindruck zu schinden. Sollte mich aber auch nicht
wundern, dass ich auf so ‘ne verrückte Kacke stoße, irgendwo in ’nem verkacktem Wald, indem Tiere sich
verwandeln und mit Feuer sprechen. Aber zum Glück bist du ja jetzt gekommen, um mich zu retten, hast
dir schon überlegt was du Großartiges machst, damit wir hier rauskommen?“
Der letzte Satz irritierte Morwen. Sie drehte den Mund in die Richtung, in welcher sie sein Ohr vermutete:
„Was lässt dich denken, dass ich gekommen bin, um dich zu befreien. Ich habe keine Ahnung wer du bist.“
Der Mann schien ein brummendes Lachen von sich zu geben. „Also mein Name ist Mateo, damit ist der
erste Schritt getan. Zu der anderen Sache… Das ist immer so, irgendwer kommt und hilft mir
rauszukommen. Das Schicksal meint es wohl gut mit mir. Bin vielleicht ein Liebling der Göttin. Ich muss in
der Regel nur Geduld haben. Die Möglichkeiten kommen dann von ganz allein, nur ein paar Worte hier,
oder einen kleinen Schups in die richtige Richtung und es wird schon.“
Verblendeter Idiot waren die ersten Worte das Morwen in den Kopf kamen. „Muss toll sein die ganze Zeit
zu warten und sich auf andere zu verlassen.“ War das was sie sagte.
Die trotzige Antwort Mateos wurde von Lauten in der Dunkelheit unterbrochen. Die Gestalten schienen
sich wohl wieder in Bewegung gesetzt zu haben. Sie waren lauter als zuvor und brachen in ein
Triumphgebrüll aus. Es war wie das Kreischen eines Hahnes, der es nicht mehr abwarten konnte, dass die
Sonne aufging. Sie schienen sich im Lager rumzutreiben und man hörte wildes Scharren. Darauffolgend
laute Rufe, gepaart mit erschrecktem Menschenschreien. Ein erregtes Hecheln mischte sich unter die
Laute und Schreck wandelte sich in Weinen und Schmerz.
„Scheisse was machen die denn? Kommen die zu uns rüber und ziehen noch einmal denselben Mist ab?
Das war widerlich!“ Sie ließ die Frage unbeantwortet und versuchte sich auf den Lärm zu konzentrieren,
um ihre Positionen zu erahnen. Erfolglos. Die Kakophonie aus Lust und Leid schien aus jeder Richtung zu
kommen und wurde von den Bäumen in alle Richtungen zurückgeschallt. Morwen brauchte Licht, doch
noch immer verbarg sich der Mond. Sie atmete tief durch, schloss die Augen und dachte an Katzen, wie
sie selbst eine zuhause hatte. Fokussierte sich auf ihre Augen und ließ das Bild ihrer Pupillen in ihrem
Inneren erscheinen. Noch einmal griff sie nach der Kraft in ihr und als sie ihre Augen wieder öffnete,
konnte sie das perverse Treiben erkennen, das sich vor ihnen abspielte. Die Gier in den roten Augen der
Mutanten machte ihr Angst. Sie schienen sich Männer und Frauen in Käfigen zu halten, genau wie ihrer
und machten sich daran zu schaffen ihre neue Macht auszuprobieren. In ekelhafter Brutalität drückten sie
ihre Opfer auf den Boden und drangen in sie ein. Eine weibliche Form der Mutanten schwang sich
hemmungslos auf dem Becken eines nackten Mannes hoch und runter, welcher vor Schmerzen schrie, als
seine Knochen brachen. Ein anderer Mann wurde gewaltsam gegen einen Baum gedrückt und die Pranken
des Monsters schlitzen ihm den Rücken auf, während neben ihm eine Frau zu Tode gewürgt wurde.
Morwen konnte sich nicht mehr ansehen, was gerade vor sich ging und wandte sich ab, nur um in die
blutunterlaufenden Augen eines der Monster zu blicken, welches durch die großen Löcher ihres hölzernen
Käfigs griff und ihre Schulter packte. Sie wandte sich aus seinem Griff, was ihre frisch verheilte Haut
mitsamt dem übrig gebliebenen Rest ihres Oberteils aufriss. Nun packte sie den ausgestreckten Arm des
Monsters und zog es zu sich. Völlig überrascht von dem Ruck und ihrer Kraft stolperte es nach vorne und
viel mit dem Kopf durch eines der Löcher im Käfig. Morwen trat drei Mal dagegen und hörte es knacken.
Der Körper hing schlaff unter ihr.
„Was zur Hölle passiert hier, ich kann nichts sehen!“ Rief es von der anderen Seite des Käfigs.
„Ich glaube hier kommt eins von diesen abartigen Dingern auf mich zu!“ Und tatsächlich schien eine
weibliche Erscheinung der Mutanten gerade den Käfig zu öffnen und nach Mateo zu greifen, welcher wild
um sich schlug und versuchte dem tödlichen Griff zu entkommen. Seine Versuche erwiesen sich als
wirkungslos, als der Arm ihn packte. Es war ein so großes von Muskeln durchzogenes Exemplar, das nach
seinen Armen griff, die im Verhältnis wie kleine Stöcke wirkten und einen von ihnen schlichtweg zerbrach.
Er schrie vor Schmerz und gab seine Verteidigung auf. Morwen nutze den Moment in dem das Monster
abgelenkt zu sein schien und versetzte ihr einen heftigen Tritt gegen das Knie, das jedem normalen
Menschen die Gelenke verdreht hätte. Doch als ihr Fuß auf das Ziel traf, fühlte es sich an als hätte sie
versucht einen großen Felsen zu treten. Ein Schmerz durchzuckte ihr gesamtes Bein und sie bekam die
wütende Pranke der Mutantin ins Gesicht, welche sie in die Ecke des Käfigs beförderte. Kurz benommen
schüttelte sie den Kopf und sah, dass die haarige Bestie sich weiter versuchte über Mateo her zu machen.
Noch einmal schloss Morwen die Augen und tastete nach der schlummernden Kraft, wie es ihr die
Meisterin gezeigt hatte. Es war nicht mehr viel da und was nun kommen sollte, würde wohl den Rest
aufbrauchen. Doch sie konzentrierte sich auf den Boden. Dachte an die große Eiche, vor der sie schon so
viele Male als Kind stand und an die mächtigen Wurzeln, die sie in den Boden gegraben hatte. Folgte den
Wurzeln in die kalte Erde und sah ihre Windungen und Formen, wie sie sich bewegten als würden sie
einen Tanz vollführen. Als sie ihre Augen öffnete, fing der Boden unter ihr an zu beben und das Grass vor
Mateo riss auf. Kräftige Wurzeln schlängelten sich an den Beinen seiner Peinigerin hinauf und
umschlungen den gesamten Körper. Ein wütendes Fauchen war das letzte was von der Mutantin zu hören
war als eine Wurzel so breit wie ihr Kopf unter ihr aus dem Boden schoss und ihren Leib in Zwei teilte. Das
Blut spritzte auf Mateo, welcher stumm dasaß, als das über zwei Meter große Monster in zwei Hälften zu
Boden sank.
„Das werde ich nicht noch einmal machen können. Wir sollten jetzt verschwinden.“ Morwen packte
seinen heilen Arm und zog ihn auf die Beine.
„Ist das Blut? Was ist gerade passiert? Wo ist das Vieh hin?“ Sie hatte vergessen, dass er noch immer
nichts im Dunklen erkennen konnte.
„Folg mir einfach und sei still!“ sagte sie und zog ihn hinter sich her, als sie sich aus dem Käfig begab und
umschaute, in welche Richtung sie rennen sollten.
Das brutale Treiben hat sich mittlerweile in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet. Überall lagen
verstümmelte Körper und ihre einzelnen Gliedmaßen auf dem Boden. Manche schienen noch am Leben
zu sein und starrten voll Verzweiflung und Schmerz unfähig ihrem Schicksal zu entkommen. Der
Eisengeruch in der Luft wurde immer stärker und die Schreie lauter.
Morwen machte eine Lücke hinter dem Käfig aus, zwischen zwei Kreaturen, welche sich über die schlaffen
Körper ihrer Opfer knieten und an ihnen labten. Sie hatten ihr den Rücken zugewandt und schienen
vertieft in ihre Obsession zu sein. Sie zog an Mateos Hand und führte ihn um den Käfig herum. „Mach dich
bereit zu rennen.“ Flüsterte sie ihm zu und ging in schnellem Schritte auf die dichten Bäume zu, von
denen sie sich Zuflucht erhoffte. Wie ein großes Tor wirkten die zwei Kreaturen, das von wilden Hunden
bewacht wird, denen man ein Stück Fleisch vorgeworfen hat.
Morwen konnte Mateos Puls in ihren Händen spüren und als sie sich kurz zu ihm umdrehte, sah sie, wie er
noch immer leicht panisch den Kopf in alle Richtungen wandte und bei jedem neuen Laut aufschreckte. Er
erinnerte sie an ein Rehjunges, welches sie letzten Sommer im Wald aufgelesen hatte. Es hatte sich die
Hufe verletzt und konnte, allein gelassen ohne Eltern, kaum vom Fleck kommen. Als Morwen
näherkommen wollte, zuckte es ängstlich zusammen. Selbst nachdem sie sich der Hufe angenommen
hatte, schien jeder Vogel in den Ästen und jede Maus im Unterholz das Kitz aufschrecken zu lassen.
Er tat ihr fast schon leid.
Sie hatten das Lager nun fast gänzlich hinter sich und waren in etwa auf gleicher Höhe mit den hungrigen
Bestien, welcher noch immer kein Bewusstsein für ihre Umgebung zu haben schienen. Die
Schlinggeräusche links und rechts waren nun deutlich zu hören. Das eklige Schmatzen ließ ihnen die Haare
im Nacken zu Berge stehen. Ihre Körper waren heiß und verschwitzt und der Wunsch sich zu übergeben
wurde immer stärker.
Es galt nun aber die letzten Schritte zu machen und weder den Bedürfnissen nach Kotzen oder einem
panisch lauten Schrei nachzugehen. Sie zwangen sich dazu leise weiter zu schleichen, bedächtig nicht über
eine der am Boden verteilten Leichen zu stolpern. Morwen führte Mateo an einer auf dem Boden
liegenden Frau vorbei, deren rechter Arm und Bein in einem unnatürlichen Winkel von ihrem Körper
abstand. Es waren nur noch drei große Schritte bis zum Ende der Lichtung und sie hatte das Gefühl,
vereinzelte Strahlen schwach pulsierenden Mondlichtes zwischen den prächtigen Nadeln der Tannen
ausmachen zu können.
Plötzlich packte sie etwas am Knöchel ihres Fußes. Es war nass und warm. Als sie nach unten guckte
schaute sie in das verzweifelte Gesicht der Frau, die sie für tot gehalten hatte. „Bitte!“ Flehte sie, in ein
Schluchzen fallend. „Lass mich nicht zurück.“ Tränen vermischten sich mit dem Blut, welches ihr Gesicht
bedeckte. „Lass mich nicht sterben.“ Ein hysterischer Hilferuf, der nur zu hören ist von denen, die wissen,
dass sie gleich sterben werden. Der schrille Schrei blieb nicht ungehört und die zwei Torwächter horchten
auf und drehten ihre Gesichter in ihre Richtung. Sie sahen die Flüchtlinge und bleckten die gierigen, mit
roter Schlicke gefärbten Raubtierzähne.
Morwen fluchte und versuchte ihren Fuß aus dem glitschigen Handgelenk zu befreien. „Renn!“ rief sie
Mateo zu, der noch immer orientierungslos neben ihr stand und versuchte Schritt zu halten.
Mit Blick nach vorne hörte sie es neben sich aufheulen. Der Fuß, mit dem sie versucht hatte, Mateo vom
Übergriff zu befreien, beklagte sich über die spontane Belastung und die Erinnerung über das Ergebnis
ihres physischen Angriffes, machte ihr nicht gerade Mut.
Sorgen denen sie gerade keine Beachtung schenken konnte. Sie spürte Mateos Gewicht hinter sich, der
Mühe hatte im Dunkeln ihr Tempo aufrecht zu erhalten. Als sie die ersten Bäume hinter sich gelassen
hatte, schien er immer besser mit seinem Körpergleichgewicht zu rechtzukommen und sie merkte, wie die
Umgebung langsam immer greller wurde.
Hinter sich vernahm sie dumpfe Schläge gegen Holz und das Kratzen von Krallen an der Rinde der Tannen.
Die Geräusche ihrer Verfolger kamen immer näher. Man konnte ihr rohes, lüsternes Atmen durch den
Wald hören. Dahinter ein Knurren wie von einem ungeduldigen Jäger, dem es frustrierte, dass seine Beute
vor ihm wegrennt. Ein Jäger der nicht mehr spielen, sondern Fressen will.
Ihre Hoffnung zu fliehen, sank mit jedem Schritt. Mateo schien ähnliches zu denken, denn auch er wurde
immer langsamer. Vielleicht waren es aber auch nur die Schmerzen. Bei Schmerzen fiel ihr wieder der Fuß
ein und auch sie spürte wenig Enthusiasmus weiter zu rennen und verlangsamte ihre Schritte. „Meinst du
wir könnten uns vor den Scheißern verstecken?“ Fragte Mateo mit leiser Stimme und ganz außer Atem.
Sein Gesicht war ein Bild von Schmerz. Der Kiefer angespannt und die Haut um die Augen und auf der
Stirn in tiefe Falten zusammengezogen. Wahrscheinlich sah sie gerade genauso aus. „Ich bin mir nicht
sicher, wie lange ich noch rennen kann.“
„Sobald sie uns finden, kommen wir nicht mehr weg.“ Auch ihr fiel es schwer Luft für Worte zu holen.
„Ich weiß nicht, ob du damit umgehen kannst, aber ich glaube jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zu
erwähnen, dass ich kurz bevor du kamst, einem der Viecher eine merkwürdige Klinge abgeluchst habe.
Mein Arm ist ziemlich hinüber“ Sie blieb stehen und starrte ihn an. Er wäre fast in sie hineingelaufen.
„Und davon erzählst du mir jetzt?“ Für einen genervteren Ton, hatte sie keinen Atem mehr.
„Es ist echt viel Scheiß um uns herum passiert!“ Gab Mateo entschuldigend von sich und fummelte unter
seinen Klamotten herum. Er zog Morwens Dolch aus einer Lederschnall unter seiner Hose und überreichte
ihn. Grunzend nahm sie ihn entgegen. Er war leicht, passte aber perfekt in ihre Hand.
Das Knurren kam bedrohlich nahe.
„Scheiße, lass uns schnell was suchen!“ rief Mateo ihr zu, doch Morwen war schon im Lauf, weg von ihren
Verfolgern.
Verzweifelt hielten sie nach links und rechts Ausschau. Je weiter sie liefen desto besser konnte Mateo den
Weg vor sich erkennen. Erst jetzt viel ihm auf wie gut Morwen ihn durch die Bäume geführt haben
musste. Er war zwar schon öfter im Wald gewesen, doch dieser hier war deutlich dichter und
verwachsener. Überall gab es kleinere Hügel und Erdlöcher, die es zu umrunden galt und mit den Armen
drückte er das Gestrüpp von sich, welches ihm davor entgegengepeitschte.
Hinter ihnen hörten sie das Zerbersten von Holz. Als sie sich umdrehten, sahen sie wie einer der Jäger
zwischen einer zersplitterten Tanne hervorpreschte. Sein rechter Arm war von blutigen Holzsplittern
übersäht, doch er rannte unbeirrt weiter auf sie zu. In großen Sätzen überwand er die kleinen Kulen und
brach die Äste des Unterholzes. Sein Partner war ihm dicht auf den Fersen. Feuer brannte in seinen
Augen. Unlöschbar brannte es sich bis in das innerste seiner Seele hindurch. Er wollte mehr, wollte
niemals aufhören. Die Gier trieb ihn an. Machte ihn stark, machte ihn ignorant. In einem großen Sprung
griff er an. Durchbrach mitten in der Luft mit seinem Körper einen fünfzehn Centimeter dicken Ast und
landete mit voller Wucht kurz vor Morwen und Matteo, welche gerade noch wach genug waren panisch
zur Seite zu springen. Das Wesen richtete sich sofort auf und warf sich auf Morwen. Sie winkelte Beine
und Arme vor sich an, um Abstand zwischen sich beiden zu bringen. Der Dolch stach durch die linke Flanke
der Bestie und ließ dampfendes Blut hervorquellen. Morwen schaute dem Feind nun direkt in die Augen.
„Hunger!“ Dröhnte etwas aus dem Maul. Der Kiefer öffnete sich und schnappte nach dem Kopf des
Opfers. Morwen wand sich unter ihm zur Seite und die Zähne schmeckten Graß und Erde anstelle des
erhofften süßen Fleisches. In ihrer neuen Position viel es Morwen immer schwerer zu atmen. Ihr Körper
drohte unter der Kraft des Monsters nachzugeben und zu brechen. Sie spürte den heißen Atem und roch
den Gestank von Blut. Es war still. Alles was sie vernahm war das Rauschen eines Baches hinter ihr,
welches vom Stapfen ihres zweiten Verfolgers durchbrochen wurde. Von Matteo fehlte jede Spur. „Gib
sie mir!“ Hörte sie aus der Kehle des anderen kommen. „Meine Beute!“ erwiderte das Wesen über ihr in
einem aggressiven Knurren.
„Nein, Meins!“ und mit einem Jaulen sprang er den anderen an. Morwen Last fiel auf einmal völlig von ihr
ab und sie konnte tief einatmen. Links von ihr rollten sich die zwei Fellbestien im Dreck und rissen sich die
Haut auf. Sie zwang ihre Knochen sich zu bewegen und richtete sich auf. Schnell rannte sie in Richtung des
Wassers, welches sie vorhin gehört hatte und ließ die zwei Streitenden hinter sich. Sie brauchte nur ein
paar Meter, um das Wasser zu erreichen. Es stellte sich als ein drei Schritt langer Bach heraus, dessen
Wasser teile des Mondlichtes spiegelten. Er schien tief zu sein und am Ufer steil abwärtszusteigen. Es
hatten sich hier und da, Büschel von Pflanzen angesetzt, die Morwen von Bächen in der Nähe ihrer Hütte
kannte. Andere Pflanzen waren, zu ihrer Verwunderung, völlig fremd. Weiter abwärts des Baches
vernahm sie leichtes Platschen. Eilig lief sie flussabwärts, um auszumachen, was die Ursache des
Geräusches war. Sie hatte keine Ahnung wo Mateo geblieben ist, aber hatte ihn auch nicht schreien
hören. Es ging steiler abwärts als sie erwartet hätte und Büsche sowie lange Gräser versperrten ihr Sicht
und Weg. Raschelnd drückte sie das Gestrüpp zur Seite. Das Brüllen und Kreischen der zurückgelassenen
Monster verlor sich immer mehr zwischen den Ästen der Nadelbäume und ihrem Kleide. Morwen bahnte
sich einen Weg zum Bach, an der Stelle, an der sie die Geräusche vermutete, doch als sie nun direkt vorm
Wasser stand sah sie nichts außer den dunklen Strom vor sich, welcher unaufhörlich weiter floss.
Auf einmal fühlte sie sich verloren. Sie hatte keinen Orientierungspunkt und kannte diesen Wald nicht. Sie
war es zwar gewohnt allein zu sein, wusste aber doch immer, wo sie hinwill und wo sie sich gerade
befand. Zu wissen, dass wahnsinnige Gestalten diesen Wald beherbergten, ließ das Gefühl nur hässlicher
werden. Sie betrachtete weiter das Rauschen des Baches. Das Fließen hatte einen hypnotischen Ausdruck
und ließ sie nicht los. Das Geräusch beruhigte sie, ließ sie nachdenklich und schläfrig werden. Ihre Hand
streckte sich gen Nasses und tauchte in die tiefe Kühle ein. Die andere umklammerte noch immer den
Dolch, sich Sicherheit und Kontrolle versprechend. So saß sie für kurze Zeit, völlig still und regungslos.
Wünschte sich einfach hineinzufallen und treiben zu lassen. Für eine Weile unterzutauchen und
irgendwann wieder hochzukommen. Immer näher kam ihr nackter Oberkörper dem fließenden Wasser.
Immer tiefer sank ihr rechter Arm. Ein dumpfes Zischen gelangte an ihr Ohr, wie eine verheißungsvolle
Schlange, welche ihr ein Geheimnis erzählen wollte. Sie verlocken wollte. Mit süßem Klang
umschmeichelte sie sie mit ihren Lauten, doch Morwen wollte sich nicht verlocken lassen. Nur das Wasser
vermochte ihr Sehnen zu erfüllen. Noch einmal hisste die Schlange in ihr Ohr. Jetzt lauter, bissiger.
Morwen vermochte es nicht zu deuten. Das Hissen wurde zu einem Fauchen. Die Schmeicheleien
verschwanden und Sorge trat anstatt ihrer auf. Die Schlange neben ihrem Ohr verschwand und auf der
anderen Seite des Ufers sprach das Fauchen eines Schakals, eine Warnung. Noch einmal das Fauchen,
jetzt deutlicher und klarer. „Was machst du da? Komm jetzt hier her!“ Das Fauchen wurde befehlend, der
Schakal fast wütend. „Wir müssen hier weg, bevor noch mehr kommen!“
Noch mehr? Und da erinnerte Morwen sich. An das Fell der bösen Kreaturen. An den hölzernen Speer der
sich durch ihr Fleisch fraß. An Matteo und das Ritual den brennenden Dämonen im Feuer und an ihre
Flucht durch den mit Leichen bedecktem Boden.
Sie blinzelte und schaute auf. Der Schakal auf der anderen Seite war weg und anstatt seiner saß ein nasser
Matteo, der seine Hand in ihre Richtung streckte und wild mit ihr gestikulierte. Sein Blick schien irritiert,
doch fiel Erleichterung über seine Züge, als er realisierte, dass Morwen ihn wieder zu verstehen
vermochte. Sie trat ein paar Schritte vom Ufer zurück und drückte das Graß auseinander. Matteos Züge
verdüsterten sich wieder. „Willst du da wieder zurück? Bist du des Wahnsinns? Da wirst du niemanden
mehr retten!“
Morwen blickte ihm in die Augen und gab ihm zu verstehen, zur Seite zu gehen, während sie Anlauf nahm.
Matteo war noch immer völlig perplex, als sie neben ihm zurück auf ihre Füße kam. Einen solchen Sprung
hätte er höchstens den Zirkusakrobaten zugetraut, die sich zu mancher Jahreszeit in der Stadt rumtreiben
und ihre Darbietung zum Besten geben. „Scheisse, nicht schlecht.“ Meinte er mit einem leichten Lachen,
während er seinen Kopf schüttelte. Morwen erwiderte ein müdes Lächeln und sagte: „Lass uns noch
etwas weiter gehen. So ein Bach wird sie wohl kaum aufhalten nach uns zu suchen. Wie hast du es
eigentlich geschafft zu fliehen? Ich habe gar nicht gemerkt, dass du verschwunden bist.“
„Ich habe das gepflegte Verschwinden nahezu perfektioniert. In meiner Stadt bin ich der Beste.“ Prahlte
Matteo mit einem Schmunzeln. „Ich bin in den Bach abgetaucht und von da an schien das Ding mich nicht
mehr zu verfolgen. Ich traute mich nicht, aus dem Wasser zu gucken, aber als ich nicht mehr konnte und
nach Luft rang, war nichts mehr in meiner Umgebung.“ Es schien Matteo zu gefallen, darüber zu reden
und seine Brust schien für einen Moment bedeutend erhabener zu sein als zuvor.
„Es hat sie wohl nicht davon abgehalten, dich zuvor einzufangen.“ Erinnerte ihn Morwen.
Mutlos fiel Matteos Brust. „Jeder hat mal einen schlechten Tag. Außerdem konnten die Dinger mich
riechen oder so! Ich bin jetzt schon ein paar Male durch die Wälder unserer Stadt gestriffen, aber noch nie
sind mir so garstige Fellbestien vors Auge gekommen.“
„Das heißt du weißt, wo wir sind?“
„Na ich werde doch wohl wissen, in welchem Wald ich entführt wurde!“ Morwen kam nicht umher, über
den Witz des Fremden zu lachen. Es war trocken, aber ehrlich. Er schien überraschend unberührt zu sein,
trotzdem er nur knapp dem Tode entweichen konnte.
„Ich gehe immer westlich von Retos in die Wälder. Da sind die Pfade noch nicht so aufgewühlt von den
ganzen durchfahrenden Händlern. Der Bach hier könnte ein Ausläufer des Firuns sein, wenn wir ihm
Richtung Osten folgen, stoßen wir vielleicht auf Firun. Er fließt direkt durch unsere Stadt. Jetzt müssen wir
natürlich nur noch herausfinden, wo Osten sein mag. Lass mich überlegen…“ Und Matteo suchte auf dem
Boden und um sich herum nach Hinweisen.
Morwen schaute ihn mit hochgezogener Braue an und zeigte in Richtung Flussaufwärts „Das was du als
Osten verstehst, sollte in dieser Richtung liegen.“
„Wie kannst du dir so sicher sein?“ fragte Matteo und schaute sie aus seiner knieenden Haltung fragend
an.
„Was meinst du? Man spürt doch die vier Kräfte, die die Welt auseinanderziehen. Und das was du Osten
nennst zieht von dort drüben.“ Und Morwen schritt an Matteo vorbei, den kleinen Hügel wieder aufwärts,
den sie gerade noch heruntergeirrt kam.
Die Antwort schien Matteo nur weiter zu verwirren. „Was meinst du mit Kräften? Und was soll ich
spüren? Ist das einer deiner magischen Spielchen? Was oder wer bist du denn nun überhaupt?“
„Nun gib erstmal Ruhe und lass uns sicher gehen, dass wir hier fortkommen. Ich habe wenig Lust noch
einmal auf diese Monster zu stoßen.“
Die Idee schien Matteo einleuchtend. Das Gefühl beschlich ihn seltenst, aber für diese Nacht hatte er sein
Glück schon weit genug herausgefordert und eine bessere Pfadfinderin wird er nicht bekommen. Mit
Zuversicht stapfte er also seiner Retterin hinterher, den Hügel des Sees herauf.
Sorgsam nicht viele Geräusche von sich gegeben, erklommen sie die Anhöhe, welche sich als nur eine der
ersten Etappen eines Hügelhaines herausstellte. Das Mondlicht fraß sich spärlich durch Wolkendecke und
Nadelbäume. Ihre ganze Umgebung wurde in ein silbriges Grau getaucht, die sich in den Strömen des
Wassers widerspiegelte. Eine gewisse Feuchte hing in der Luft und ließ den Boden unter ihren Füßen
schlammig werden. Mit der Hilfe von moosbewachsenen Steinen und festen Grashalmen schafften sie den
Anstieg. Um sie herum schien nichts auf einen genauen Pfad zu weisen und das Flussufer war gesäumt mit
dornigem Gestrüpp. Also kämpften sie sich weiter schweigend flussaufwärts.
Das Fehlen von Stoff auf ihrem Oberkörper bekam Morwen immer deutlicher zu spüren, trotz etwaiger
Versuche durch kleine Umwege eine passablere Möglichkeit zu finden, sich durch das Unterholz zu
winden. Matteo schien es noch schwieriger zu haben. Trotz des fahlen Mondlichtes schien er noch immer
Probleme zu haben sich zurecht zu finden. Sein Arm sah übel aus und war ihm mehr Hindernis als Hilfe
beim Emporsteigen der Hügel. Er rutschte immer mal wieder weg und seine Haut und Klamotten waren
geschminkt im roten Purpur seines Blutes und dem braunen Schlamm des Bodens.
Da Morwen schon länger keine Geräusche außer dem Rauschen des Baches und dem Stöhnen Mattheos
gehört hatte, blieb sie stehen und wartete bis er bei ihr war.
„Ich glaube es ist sinnvoller, wenn ich dir helfe und wir etwas langsamer machen. Am Ende bringst du dich
noch selber um.“
Mit einem gequältem Lächeln schaute er zu ihr und meinte „Sehe wohl nicht so grazil aus, wie ich hier
rumstakse. Ich glaube die Viecher sind sowieso weg. Habe nichts mehr von denen gehört. Und von dem
was ich mitbekommen habe ist Heimlichkeit nicht gerade ihre Stärke“
„Darauf will ich mich nicht verlassen. Ich weiß zwar nicht genau was für ein Ritual abgehalten wurde, aber
sie schienen in der Lage die menschliche Sprache zu sprechen. Warum sollten sie nicht wissen, wie man
sich an Beute pirscht?“ Antwortete Morwen, spürte im gleichen Moment aber einen Schwung
Erleichterung, dass bis jetzt tatsächlich keine weiteren Geräusche zu vernehmen waren.
„Die menschliche Sprache?“ rief Matteo ungläubig aus. „Das war ganz sicher keine mir bekannte!“
Morwen blickte überrascht zu ihm. „Du meinst, du konntest nicht verstehen was sie zu dem Mann im
Feuer sprachen?“
„Ganz genau. Ich weiß nicht, wo du das gelernt hast, oder wieso dir nicht einmal auffällt, dass sie eine
vollkommen andere Sprache sprechen, aber du scheinst ja generell etwas mysteriös zu sein.“
Mehr als ein Brummen war von Morwen nicht zu vernehmen. Nachdenklich blickte sie in Richtung des
Mondes, der auf sie hinablächelte und verbrachte ein paar Momente mit ihren Gedanken.
„Nun gut.“ Durchbrach Matteo kurz darauf die Stille: „Dann meine Dame, führet mich doch bitte durch
dieses dornige Gestrüpp, welches meine Wege so peinigt.“
Verdutzt schaute ihn Morwen an, packte seinen am Rücken und schob ihn sanft in die richtige Richtung,
an den Wurzeln einer großen Tanne entlang und hoch an einem Felsen. Sie half ihm Balance zu bewahren,
bis sie oben angelangten und führte ihn weiter die Erdhügel hinauf zwischen den Ästen und Blättern den
Waldes.
Die Anzahl an Rutschern, sowie Dornen und Ästen die Matteo gegen den Körper schlugen nahmen
deutlich ab, aber auch ihre Geschwindigkeit.
Als sie die Hügelsammlung erreichten wurde ihr Weg deutlich einfacher. Es stellten sich zwischen Hügeln
und Steinmassen zwar immer mal Lücken auf, doch gab es meist einen ungefährlichen Übergang vom
einen zum anderen. Matteo gingen noch einige Fragen durch den Kopf, doch war er so außer Atem, dass
er gar nicht Luft holen konnte, um einen Satz zu beginnen. Trotz der Stütze die Morwen ihm bot, verließ
ihn immer mehr die Kraft und der Schmerz in seinem Arm nahm zu. Das restliche Adrenalin in seinem
Körper war aufgebraucht und es kostete ihn alles an Willenskraft weiter zu wandern. Morwen
währenddessen schien leicht in Gedanken verloren zu sein. Anfangs war sie noch auf der Hut und horchte
in jede Richtung, aus der ein Geräusch kam und sei es nur das Säuseln des Windes. Mittlerweile guckte sie
sich nur schnell in die Richtung des raschelnden Laubes, hielt kurz inne und führte sie dann weiter des
Weges. Sie schien zielsicher, obwohl sie nicht wusste, wo genau das Dorf lag. Es war wahrscheinlich das
Selbstvertrauen, das in jedem ihrer Schritte lag. Sie wusste genau wohin sie zu treten hatte, machte keine
Bewegung zu viel und schien doch immer den idealen Weg durch Geäst und Stein zu finden. Sie war
wirklich ein Kind des Waldes dachte Matteo.
Sie schafften es noch einiges an Weg hinter sich zu bringen als Matteo schlussendlich aufgab und seufzend
stehenblieb. „Ich glaube noch einen Schritt schaffe ich nicht mehr. Ich breche gleich zusammen.“ Brachte
er zwischen zusammengeknirschten Zähnen hervor.
Morwen musterte ihn und meinte dann: „Der Wald scheint sich zu lichten, wir gehen wohl in die richtige
Richtung. Ich werde schauen, dass wir bei der nächsten Gelegenheit, bei der wir einen Platz zum Liegen
haben stoppen. Aber hier wirst du keinen Schlaf finden“
Er schaute sich um. Tatsächlich waren sie noch immer von Gestrüpp und Stein umgeben, dass nicht
gerade mit Gemütlichkeit und einem Platz zum Nächtigen lockte. Stöhnend brachte Matteo noch einmal
alle Kraft auf und ging weiter.
Es dauerte zehn Minuten und mehrmaliges Grunzen seinerseits, bis Morwen Halt machte und einen Platz
fand, der sich eignete. Sie sammelte Laub und Moos, um ihnen zumindest ein gewisses Polster zu geben
und breitete es unter ihnen aus.
Matteo ließ sich fallen, viel zu erschöpft, um sich an dem harten Boden zu stören. Morwen ließ sich neben
ihn auf die Knie und schaute sich seinen verletzten Arm an. Sie tastete ihn noch einmal ab, drückte ihn
sanft in verschiedene Richtungen, was ein schmerzverzerrtes Gesicht Matteos zur Folge hatte.
„Wenn ich wieder zu Kräften komme, schaue ich was ich tun kann. So kompliziertes Gewebe, wie bei
einem Mensch oder Tier zu regenerieren und formen kostet Zeit, Kraft und eine Menge Übung. Vor allem,
da ich ihn nicht direkt behandeln konnte. Ich kenne manche der Pflanzen in diesem Walde nicht und
brauche das Licht der Sonne um sicher zu sein, das richtige zu finden. Ich kann dir nicht versprechen, wie
gut ich ihn wieder hinbekomme. Versuch erstmal etwas Schlaf zu finden“ meinte Morwen und lies den
Arm los.
„Immerhin lebe ich überhaupt noch, das ist doch ein guter Anfang.“ Er versuchte munter zu klingen, doch
der Gedanke, dass er seinen Arm nicht mehr benutzen könne, bereitete ihn mehr Kummer als ihm lieb
war. Er dachte an die Kletterpartien auf den Dächern der Stadt Retos mitten in der Nacht. An die kleinen
Kartentricks in der Taverne, um doch noch an das Silberstück der Runde zu kommen. Und seine sonstigen
kleinen Taschentricks um die Aufmerksamkeit und Gunst der hübschen Damen um ihn herum zu
ergattern.
Unsicher blickte er in Morwens Richtung. Doch sie hatte sich ihm schon abgewandt. Mit geradem Rücken
saß sie direkt neben ihm. Ihre Augen schienen geschlossen und die Spitzen ihrer Brust hoben sich im Takt
zu ihrem langsamen und tiefen Atemzügen. Er fühlte sich machtlos gegen die hypnotische Wirkung ihrer
entblößten Haut und folgte dem von Mondschein konturierten Kurven ihres Körpers.
Die Situation schien ihn auf einmal surreal und er vergaß sich für eine kurze Zeit völlig. Er wurde kurz aus
seiner Träumerei herausgerissen, als er spürte wie sich zu ihm legte und sich fest mit ihrem Körper an
seinen presste. Ein Lächeln formte sich um seine Lippen und er fühlte überraschend Wärme in seinem
Körper aufsteigen. Kurz darauf verfiel er in einen fantasievollen Schlaf, der ihn Schmerz und Sorgen
vergessen ließen.
Morwen hatte wenig Interesse gänzlich dem Schlaf zu verfallen. Sie dachte an das überwältigende Gefühl,
dass sie mitten in der Nacht weckte und sie wie in einem Fiebertraum fortlockte. An das bösartig
anmutende Feuerritual und das Gefühl, fern von ihrem Heim, aber doch nicht verloren zu sein. Fast als
hätte sie jemand gerufen hier zu her zu kommen. In diesen Wald. Sie war sich unsicher was genau
passieren würde. Noch nie hatte sie den weiten Teil des Waldes um ihre Hütte verlassen. Vereinzelt
besuchte sie das Dorf Loa in ihrer Nähe, um den Bewohnern mit Krankheiten und Verletzungen zu helfen,
oder sich Kräuter aus ferneren Gebieten zu besorgen, wenn mal ein Händler durchs Dorfe kam, doch
immer hatte sie klar gewusst, wo sie gerade war. Nun könnte sie nicht einmal sagen in welcher Richtung
ihre Hütte liegt. Die Erinnerungen wurden schwammig in ihrem Geist. Es fühlte sich an, als sei eine
Ewigkeit vergangen, seit sie die Hütte verlassen hatte. Aber nichts zog sie zurück. Es war viel mehr eine
Macht, welche sie nach vorne stieß. Weiter den Fluss entlang. Weiter ins Dorf und dann noch immer
weiter.
Langsam verfiel Morwen in eine Trance. Es fühlte sich an, als würde sie als Beobachter neben ihrem
Körper stehen, während er ruhte. Ihr Geist lief um sie herum und horchte aufmerksam, nach verdächtigen
Bewegungen in der Dunkelheit, die sie umhüllte. So wachte sie über das kleine Paar, inmitten des grünen
Meer der Natur, bis die Sonne ihre Haut kitzelte und sie zum Aufwachen bewegte.

Matteo träumte von einer der großen Feiern, die sein Vater veranstaltete, um den Leuten seine neuen
Errungenschaften und Exponate, die er von fernen Schiffsreisen ergatterte, zu präsentieren. Er war einer
der größten Händler innerhalb der Stadt, mit sehr guter Verbindung nach oben. Retos war durch einen
seltenen, aber delikaten Fisch, der nur an ihrer Küste lebte und den häufigen Vorkommnissen an Silber
und seltenen Pflanzen die zur Herstellung teurer Farben benötigt waren, zu nicht unbedeutendem
Wohlstand gekommen. Trotz des Reichtums und der günstigen Handelsposition, war das Privileg,
unbekannte Länder und ihre Schätze zu sehen, kaum jemandem zuteil. Der größte Teil des Profits ging an
die Krone und vereinzelten Händler Familien, die damit beauftragt wurden, den Wohlstand weiter zu
maximieren und denen dabei auch alle Mittel zur Verfügung standen. Es gab keine Regulationen und die
Symbiose der Parteien schien sich wunderbar zu ergänzen. Mehr Geld vom Handel hieß mehr Geld für
Alle, die sich daran beteiligten. Die Seeleute, die mit auf die Schiffe durften, wurden abhängig des Profites
vergünstigt und sollten so Diebstahl und Meuterei vorbeugen. Doch wenn man nicht einem der Leute
angehörst, die fernab auf See fahren, oder nur zu kleinsten Teilen an der Produktion oder einem anderen
Teil der Wirtschaft in Retos angehörtest, sah man nahezu nichts von Alledem. Diese Konstellation sorgte
für eine Gruppenbildung in den Docks, Bars und Bordellen der Stadt, die sich in ihrem Unglück
zusammentrommeln und immer mal wieder kleine Proteste und Aggressionen gegenüber denen
starteten, die sie für ihre Situation verantwortlich machten.
Die Seltenheit der verschiedensten Mitbringsel ebneten den Boden für Matteos Vaters Prestige und er
ließ sich keine Möglichkeit nehmen das seinen Mitbürgern zu zeigen.
Wie üblich zu solchen Festen war ein Teil des hoheitlichen Stabes eingeladen und ein Großteil der
Familienmitglieder seiner Konkurrenten. Es wäre ja wertlos, seine Schätze zu zeigen, wenn es keine
Anderen gab, die darum neideten.
In Matteos Traum, präsentierte sein Vater seinen Gästen ein unbekanntes Tier, das an eine große Katze
erinnerte. Nur hatte diese Katze deutlich größere Zähne, die ihr förmlich aus dem Maule hingen und eine
Fellmusterung, die den farbenfrohen Kleidern der Gäste in nichts nachstand. Bei jedem Schritt, den das
majestätische Tier in ihrem Käfig machte, schien sich die Musterung zu bewegen und zu verändern. Als
hätte sie einen eigenen Willen und würde auf ihre Umgebung reagieren.
Matteos Vater erzählte großspurig von der Entdeckung und Jagd auf das mysteriöse Wesen und ließ alle
wissen, mit wie viel Aufwand es verbunden war.
Am Ende seiner Rede, drehte er sich noch einmal zu Matteo selbst um und stellte ihn allen als sein Stolz
und Erbe vor. Jemand, der das aufgebaute Handelsimperium übernehmen werde und Großes erreichen
wird. Sein Vater fantasierte noch weiter über unentdeckte Länder und die glorreiche Zukunft seines
Sohnes, als mit einem Klirren eines der großen teuren Fenster zersprang.
Die Masse lenkte ihre Blicke von Matteo in Richtung der Scherben, was ihm nur ganz recht war. Er hasste
dieses ganze Getue.
Das zerbrochene Fenster lies kalten Wind durch den Saal ziehen und zerrte an den Flammen der Kerzen.
Aus der Nacht blickten sie rote Augen, wie Schlitze, an und man hörte Grunzen und Gackern. Ein weiteres
Klirren ertönte und immer mehr Scheiben fanden sich in Splittern auf dem Boden wieder. Düstere
Schwaden krochen langsam durch die offenen Simse und verschlangen Stück für Stück das Licht. Panik war
den Menschen ins Gesicht geschrieben, doch keiner schien sich zu rühren. Alle schauten sie gebannt auf
die Schatten, die sich wie Tentakel eines Kraken einen Weg in ihre Richtung bahnten. Als sie bei dem
ersten Gast ankamen, umspielten sie seine Figur und schlangen sich um seine Extremitäten. Mit einem
letzten Verzweifelten Blick, wurde er in die Finsternis gezogen. Nicht einmal ein Schrei konnte er von sich
geben.
Immer weiter krochen die Schatten an den Gästen entlang und verschlangen jeden einzelnen.
Matteo schaute zu seinem Vater. Auch er schien wie angewurzelt zu sein und rührte sich nicht. Kaum ein
Zittern konnte man an seinem Körper erkennen. Er starrte Matteo direkt in die Augen und in seinem Blick
lag Schuld und Reue.
Spitzen der Schatten, wie Flammen, zogen sich über sein Gesicht und spielten mit seinen Zügen. Matteo
wollte nach seinem Vater greifen, wollte rufen, doch nichts kam aus ihm heraus. Leere Worte die sein
Mund formte. Kaum verließen sie ihn, waren sie verstummt. Noch einmal blickte er in die braunen Augen
seines Vaters, dann verschwanden auch diese völlig in der Dunkelheit.
Ein Flüstern kroch sich von hinten in sein Ohr:
„Matteo, komm zu mir!“
Er drehte sich in die Richtung und erblickte die fremde Katze, die nun außerhalb des Käfigs stand.
Gemächlich ging sie auf ihn zu. Beäugte ihn, wie Beute und leckte sich die Lechzen. Das Muster ihres Fells
bildete Formen, die an Menschengesichter erinnerten und zu ihm riefen: „Hör zu!“
Die Katze stand nun vor ihm, deutlich größer, als er sie eingeschätzt hatte, stand sie mit ihrer Fratze genau
vor seinem Gesicht. Sie öffnete ihr Maul und ein Grollen ertönte in Matteos Ohren.
„Ich kann dir vieles geben. Mehr als dein Vater. All das Glitzer gibt dir nichts. Ich habe Antworten auf
Fragen, die du dir noch nicht wagtest zu stellen!“
Das Muster der Katze wandelte sich und die Gesichter wurden zu Flammen, die wild auf dem Fell tanzten.
„Schau nach mir. Erkenne mich. Lass dich von mir leiten.“
Und noch ehe Matteo etwas erwidern konnte, wurde alles um ihn herum Schwarz.
Als er erwachte hingen ihm die Bilder des Traumes noch immer im Kopf und vermischten sich mit den
Erfahrungen der letzten Nacht. Als letztes fielen seine Gedanken in Richtung der Dame, die sich als
Morwen vorgestellt hatte. Er öffnete die Augen, doch sie war nicht mehr neben ihm. Er setze sich auf und
schaute sich um. Ein paar Schritt von ihm entfernt hockte sie neben einem kleinen Feuer, den nackten
Rücken in seine Richtung. Ruckartig drehte sie ihren Kopf in seine Richtung und blickte ihn eindringlich mit
ihren grünen Augen an. Er fühlte sich völlig nackt und an die Wand gestellt. Sie hielt den Kopf schräg und
runzelte die Stirn.
„Du hast eine irritierende Präsenz.“
Überrascht und überfordert guckte er sie verdutzt an.
„Sie ist so ungefestigt, ohne Erdung. Wie die eines Kindes… aber du bist kein Kind.“
Noch immer ahnungslos wovon sie redete, versuchte er es mit einem zaghaften „guten Morgen?“
Er wollte sich erheben, doch da erinnerte sein Körper an die Umstände der letzten Nacht. Es pochte in
seinem Kopf und sein Arm schmerzte fürchterlich. Matteo zog scharf die Luft ein, als die Fülle seiner
Verletzung ihn schnell wach werden ließ.
„Ich bin etwas zu Kräften gekommen, lass mich mal kurz sehen.“ Meinte Morwen und kam auf Matteo zu.
Sie griff nach seinem Arm und Strich mit ihrer Hand bis zu seiner Schulter. Ihre Augen schienen
geschlossen und ihr Mund zu einem dünnen Strich geformt. Morwen wiederholte die Bewegung, ging
immer wieder Matteos Arm auf und ab.
Nachdem ein paar Momente so verstrichen, räusperte sich Matteo, um zu einer Frage anzusetzen.
Morwen öffnete die Augen und schaute ihn vorwurfsvoll an.“ Gib Ruhe und halt still, wenn du willst, dass
ich den Knochen zusammen bekomme. Ein Tier versteht das!“
Er setzte eine schmollende Miene auf, doch Morwen hatte bereits wieder ihre Augen geschlossen.
So verharrten die Beiden in Stille. Er wusste nicht, ob Stunden vergingen oder Minuten. Er spürte nur den
Schmerz in seinem Arm, der sich durch seinen gesamten Körper zog und von dem er sich nicht ablenken
konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit breitete sich in seinem Arm ein Kribbeln aus, an der Stelle an der
Morwens Hand gerade entlangfuhr. Endlich etwas anderes dachte er sich. Das Kribbeln kämpfte gegen
den Schmerz und Matteo musste seinen Impuls den Arm wegzuziehen unterdrücken. Das Kribbeln wurde
immer intensiver und zog sich tief in seinen Knochen, zumindest fühlte es sich so an. Er wagte es nicht,
sich zu bewegen, oder zu fragen was gerade geschieht. Es schien ihm, als würde ihm die letzte Kontrolle
über seinen Arm genommen werden. Er spürte keinen Schmerz mehr, auch das Kribbeln hatte ihn
mittlerweile verlassen und ließ ihn mit einem Gefühl zurück, dass er nicht imstande war zu beschreiben.
Sein Arm fühlte sich nicht mehr an wie sein Arm, aber dennoch zugehörig. Es erinnerte ihn an einen
Abend als er einen Schluck Skoma zu viel getrunken hatte. Der Pflanzensaft, den seine Freunde mit seinem
Geld besorgt haben, hatte eine wunderbar betäubende Wirkung und sorgte bei rauen Mengen sogar zu
Halluzinationen. Nach dem letzten Schluck am Abend, hatte er das Gefühl, dass er mit seinem Geist den
Körper verlassen hatte und nur noch Geschehnisse von außen betrachtete. Ähnlich fühlte er sich nun mit
seinem Arm. Er wusste, dass es sein Arm war. Er sah, dass er zu ihm gehörte, aber es fühlte sich einfach
nicht wie sein Arm an.
Schlussendlich verebbte das Gefühl und eine Mischung aus Schmerzen und Kribbeln machte sich wieder
breit. Auf einer Merkwürdigen Weise genoss er den Schmerz. Er gehörte zu ihm.
Morwen öffnete wieder ihre Augen und ließ von ihm ab.
„Das hat erstaunlich besser funktioniert als ich erwartet habe. Dein Geist ist wahrlich flexibel. Das
vereinfacht den Heilungsprozess. Trotzdem solltest du nichts anstrengendes unternehmen, bis er sich
regenerieren konnte.“ Erklärte sie ihm.
Er nickte ihr nur stirnrunzelnd zu und versuchte dahinterzukommen, was sie ihm gerade über seinen
flexiblen Geist erzählte.
„Und wenn du von einem flexiblen Geist sprichst, der bei der Heilung hilft, dann meinst du was?“ Fragte
er dann schlussendlich.
Sie dachte kurz nach und meinte dann: „Die Strukturen deines Körpers sind verhärtet, damit sie
funktionieren können, wie sie sollen. Stell dir vor ich breche sie auf und arrangiere sie erneut. Je härter
und komplexer die Struktur, desto schwieriger. Je älter ein Organismus wird, desto härter seine Struktur.
Normalerweise sind Organismen in deinem Alter, schon klar erhärtet und beugen sich nur widerwillig
meinem Willen.“
„Mit anderen Worten: Sie sind stur?“ Warf Matteo ein, um einen Witz zu machen.
„Ist der Geist starr, dann auch der Körper.“ Erklärte Morwen trocken. Der Witz kam wohl nicht ganz an.
„Und was du gestern mit der Wurzel gemacht hast und wie du dem Vieh das Genick gebrochen hast, war
das auch so eine Veränderung der Struktur?“ Matteo ließ nicht locker.
Morwen seufzte: „Ja so ähnlich.“ Antwortete sie kurz, stand auf und schaute sich um.
Matteo dachte an den Weg zurück nach Retos. Wahrscheinlich waren sie noch einen guten Tagesmarsch
von der Stadt entfernt.
„Du weißt noch immer, wo Osten ist, nehme ich an?“ Fragte er sie. Morwen zeigte stumm in eine
Richtung. Erst jetzt im Sonnenlicht, welches durch die kleine Lichtung fiel, in der sie sich zu Ruhe gelegt
haben, bemerkte er den völlig unbefleckten Oberkörper Morwens. Im Gegensatz zu ihm, hatte sie keinen
einzigen Kratzer. Gestern war er zu erschöpft gewesen, um auf so etwas zu achten, aber anscheinend
schienen die Heilkräfte bei ihr gute Wirkung zu zeigen. Er blickte auf seinen Arm und traute sich ihn
langsam in eine Richtung zu bewegen. Die seichten Bewegungen funktionierten erstaunlich gut, aber er
wollte seine Grenzen nicht weiter austesten. Heute zumindest noch nicht.
Er stand auf und gesellte sich zu Morwen, die wohl gedankenverloren in die Gegend schaute. Ganz so
sicher war er sich bei dieser Frau aber nicht.
„Jetzt erklär mir doch einmal, was oder wer du eigentlich bist und was es mit deiner Magie auf sich hat.“
Sagte Matteo, während sie ihren Marsch in Richtung Stadt fortsetzten.
Sie schaute ihn an, mit einem Blick, der ihn unsicher werden ließ, ob sie ganz bei ihm war. Nach einem
längeren Moment der Stille, Matteo war schon wieder kurz davor anzufangen zu reden, sprach sie: „Ich
habe, soweit ich mich erinnern kann in einer Hütte im Walde nächst zu einem Dorf gewohnt, dass sich
selbst Flusslauf (hehehe) nannte. Ich glaube die Bewohner haben mich als einen Beschützer des Waldes
gesehen, zumindest gaben sie mir immer etwas mit, wenn ich ihnen half eine Krankheit oder Verletzung
zu heilen. Sie waren zwar dankbar, wenn ich kam, aber die meisten trauten sich nicht wirklich in die Nähe
meiner Hütte.“
„Und da hast du ganz alleine gelebt? Es muss dich doch irgendwer großgezogen haben. Was haben deine
Eltern gemacht?“
Morwen schwieg und schien nachzudenken. Sie versuchte an ihre jüngsten Jahre zu denken, in denen sie
mit ihrer Meisterin durch den Wald stapfte und alles Mögliche über die Natur und ihre Beschaffenheiten
erfuhr. All das Wissen war ihr noch ganz klar im Kopf, aber die Umstände drum herum? Es schien als
würde das Gesicht ihrer Meisterin immer weiter verschwimmen je mehr sie versuchte sich darauf zu
konzentrieren.
„Meine Meisterin hat mich großgezogen. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht wer sie war. Sie hat mir alles
beigebracht, ist dann aber eines Tages verschwunden.“ Es schien für sie fast surreal an vergangene Zeiten
zu denken. Wie ein Traum, waren ihre Erinnerungen nur Fetzen von Situationen oder reine Gefühle, die
sie empfand. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie eigentlich nie über ihre Vergangenheit nachgedacht hatte. Sie
war damals überrascht, als ihre Meisterin verschwand, aber der Alltag ging für sie einfach weiter und sie
hat aufgehört darüber nachzudenken. Noch einmal versuchte sie in ihrem Kopf das frakturierte Bild ihres
Lebens zu einem Mosaik zusammen zu formen. Aber sie wusste einfach, nicht wo sie anfangen sollte. Ihr
fehlten sämtliche zeitlichen Relationen und Zusammenhänge. Morwen versank völlig in den
verschiedenen Bildern ihrer Gedanken, bis sie Matteo mit einer weiteren Frage herausriss.
„Aber hast du dich nicht einsam gefühlt, ohne jemanden um dir?“ Ich schaffe es ja kaum eine Nacht
alleine zu sein, sprach er in seinen Gedanken hinterher.
Morwen schaute ihn nur irritiert an. „Man ist ja nie alleine. Die Welt ist doch überall um dir. Wie kann
man dann einsam sein?“
Matteo schaute sie überrascht an. Er war sich nicht ganz sicher, was er dazu sagen sollte. Ein Teil von ihm
konnte erahnen was sie meinte. Er wanderte selber gerne in den Wäldern, wenn ihm die
Menschenüberfüllten Gassen und Plätze der Stadt zu viel waren und er etwas Ruhe brauchte. Aber nach
ein paar Tagen, fühlte er sich ausgegrenzt. Als gehöre er nicht mehr dazu und die Welt würde ohne ihn
weitergehen. Mit einem Seufzen richtete er seinen Blick nach vorne.
„Also wird es das erste Mal sein, dass du eine richtige Stadt siehst? Die meisten Leute sind von einem
solchen Anblick überwältigt.“
„Mhmm“ brummte Morwen vor sich hin. Jetzt war sich Matteo sicher, dass sie nicht mehr bei ihm war
und ihre Augen viel weiter vor sich in die Ferne blickten.
Sie stapften durch den trockenen Wald, der bei Sonnenschein sichtlich an Bedrohlichkeit verlor. Seit sie in
einen stummen Trott verfallen sind, wirkte die gestrige Nacht noch surrealer als sie es sowieso schon war.
Während ihnen die Schauer noch in den Gliedern hingen, schien der Tag alles an Düsterheit verloren zu
haben. Nicht einmal den Baumkronen gelang es das Licht von ihnen fernzuhalten. Ein unnatürlich guter
Moment. Als würde die Natur versuchen den Fehler von Gestern, mit einem lauten Lachen auszugleichen.
Sie legten viel Strecke hinter sich und die erste Pause nahmen sie erst, als die Sonne seit einiger Zeit im
Zenit stand und es unangenehm warm wurde. Matteo kühlte seine müden Füße im Bach, während
Morwen sich etwas umschauen wollte. Wie er da so saß, überkam ihn eine Müdigkeit. Er schaute sich um
und lauschte der Natur. Ein Vogelgesang verschiedener Arten schallte manchmal leise, manchmal laut
durch den Wald. Seine Sicht wurde schummrig und sein Kinn sank langsam auf seine Brust. Das Rauschen
des Baches hatte eine hypnotische Wirkung und zog ihn immer weiter aus seinem Bewusstsein. Seine
Augen schlossen sich und er nahm nur noch mit seinen Ohren war. Er horchte dem Gesang. Jeder einzelne
Vogel hatte seinen eigenes Lied und doch sangen sie miteinander. Er hörte das Streifen der Nadeln, wenn
sie sanft vom Wind aneinander gerieben wurden. Jeder Stein, der vom Wasser umspielt wurde, klang in
seinen Ohren. Und dann war da noch etwas im Wasser. Etwas, das er nicht erklären konnte. Als würde es
dort nicht hingehören. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn und kroch in den Rest seines Körpers. Schnell riss
er die Augen auf und zog seine Füße aus dem Wasser. Als er in die Richtung blickte, aus der er das
Geräusch gehört hatte, sah er nur eine leichte Wellengbildung im seichten Strom des Baches. Das Wasser
war klar, aber mehr als Stein und Erde konnte er in ihm nicht erkennen. Vorsichtig stand er auf und fing an
sich von der Stelle zu entfernen, auf der er gerade so angenehm geruht hatte. Etwas in ihm wagte nicht
dem Wasser den Rücken zuzukehren und so setzte er Schritt für Schritt einen Rückwärtsgang an. Sein Fuß
stieß gegen etwas hartes und brachte ihn ins Wanken. Mit rudernden Armen fing er sich mit einer halben
Drehung und starrte auf eine in Erde gehüllte Morwen, die ein paar Beeren und Wurzeln in ihrer Hand
hielt und an ihm vorbei in Richtung des Baches blickte.
Morwen war kurz zuvor durch den Wald gewandert, um etwas Essbares für die Beiden zu finden. Bei ein
paar Pflanzen war sie sich zwar unsicher, aber ihre Intuition sprach ihr Mut zu, mit dem Gefundenen
etwas anfangen zu können. Während sie sich gebückt einen Beerenbusch anschaute, tauchte der Kopf
eines kleinen Rehes neben ihr auf. Mit nasser Schnauze beschnupperte und stupste es Morwens Arm.
Morwen lächelte und hielt dem Tier ihre andere Hand hin. Nachdem es diese mit einem Schnüffler
erkannte, ließ es sich zaghaft streicheln. Es drückte sein Gesicht tief in ihre Hand und gab ein zufriedenes
Fiepen von sich. Morwen setzte sich neben den Busch und begann leise zu Summen, während ihre Hand
mit dem jungen Rehkitz spielte. Sitzend blickte Morwen zwischen die kräftigen Tannen des Waldes,
welcher zunehmend mit Laubbäumen besprenkelt wurde. Das saftige Grün der Blätter und Nadeln
breitete sich vor ihren Augen aus und der Sommer ließ das Unterholz mit den Überresten des Winters
verweben. Die Metamorphose des Frühlings war vorbei und eine Wärme breitete sich aus. Die unsicheren
Beine, gerade des Winterschlafes entkommen, wankten nicht mehr, sondern fanden sanfte Federung von
Moos und Laub und huschten geübt über die Erde. Alles blühte, eine Einladung betrachtet zu werden, Teil
dieses Wachsens zu werden. Morwen nahm diese Einladung an. Ihr Verstand entsann sich nach der Natur
und dem Geiste des Waldes. Das Gefühl heimisch zu sein umschlang sie. Es war, als ob der Klang des
Waldes, das Rauschen der Blätter und das Singen der Vögel, Alle, ihren Namen riefen. Tiefer verloren sich
ihre Gedanken in den Pfaden, die Tier und Pflanzen entlangwanderten und spürte die frische Erde unter
ihrem Körper. Während die Umgebung Morwen langsam in ihre wohligen Arme nahm, schloss sie die
Augen und ließ sich in die Umarmung fallen. Im Geiste verfolgte sie die Schritte des Rehes. Spürte die
Hufen über Blätter huschen und roch Erde und Natur. Ihre Augen erblickten Familie und ihr Herz
überschlug sich vor Freude. Sie verließ das Leben des Rehs und tauchte tiefer in die Baumkronen um sie
herum. Spürte das Wasser durch ihren Körper rauschen und schwamm durch ihre Adern zurück in die
Erde. Ruhig lag sie da, tief versunken, aber angekommen. Hörte das Getrappel von Mäusen und das
Kriechen der Würmer. Spürte die Wurzeln jeder Pflanze um sie herum. Wie sie sich langsam im Erdreich
zur Ruhe setzen und ihre durstigen Fasern ausstrecken, um Nährstoffe aufzunehmen. Der ganze Wald war
im Einklang mit ihr und sie wurde ein Teil von ihm. Ihr Körper löste sich auf. Stück für Stück wurde auch er
zur Erde dieser Natur. Morwen entspannte sich in dieser Vollkommenheit und nahm auf, was der Wald ihr
geben wollte.
Doch dann wurde ihre Ruhe jäh unterbrochen und ein Ziehen, wie eine Verspannung machte sich in ihrem
Kopf breit und erinnerte sie, an ihre physische Entität. Irgendetwas stimmte nicht. Und etwas unheiliges
durchschnitt das Gefüge. Es bewegte sich wie sie, durch die Fasern der Arkanen Strukturen. Konnte sie
sehen, fühlen und weben. Eine ominöse Präsenz, die sich ausbreitete. Langsam voran schritt, wie eine
Katze auf der Jagd. Morwen suchte nach dem Ort, an dem das Unreine umhertrieb, doch ihr fehlten
jegliche Relationen. Alles war Teil des Waldes und je weiter sie sich von ihrem Körper entfernte, desto
unklarer wurde es. Da nahm sie Matteos Geist wahr. Er war zwar nicht Teil des Waldes, doch sie konnte
spüren, wie sich seine Form mit der des Flusses verband und die Strukturen zaghaft mit den seinigen zu
spielen scheinen. Morwen riss die Augen auf und setzte sich aufwärts. Schnell hastete sie zurück zu der
Stelle, an der sie Matteo das letzte Mal gesehen hatte. Es war kein langer Weg und so fand sie ihn vor sich,
wie er gerade rückwärts Abstand von dem Bach nahm. Sie schaute ihm kaum in die Augen und fixierte
sich weiter auf den Bach. Ihr Körper war erregt und ihr Herz schlug schnell. Langsam entfernten sich die
Beiden von der Stelle des Baches und wechselten in einen zügigeren Schritt. Sie konnten zwar nichts
sehen, aber das Gefühl einer Präsenz hallte noch weiter in ihrem Körper.
Je weiter sie sich von dem Bach entfernten, desto schwächer wurde das ungesunde Grauen, dass im
Geiste des Waldes ruhte, bis es schließlich ganz abebbte. Matteo konnte zwar nichts dergleichen
wahrnehmen, war aber geschult darin, die kleinsten Gefühlsregungen seines Gegenübers zu erspüren und
achtete auf jeden subtilen Hinweis, den der verräterische Körper von sich gibt. Eine Fähigkeit die ziemlich
nützlich war in seinem Umfeld. Nun war es aber nicht schwer Morwens Körperregungen zu deuten. Sie
machte keine Anstalten irgendetwas zu verbergen. Generell erschien es ihm, als ob sie nicht das Interesse
verspüren würde irgendetwas zu verheimlichen. Und während er kurz darüber nachdachte, fiel ihm auf,
dass er noch nie einen so natürlichen Menschen getroffen hatte, der keine Sorgen oder Ängste zurückhielt
und seine bösen und gierigen Gedanken versuchte zu kaschieren. Die Fasern seines Körpers entspannten
sich in dem Moment, als auch Morwens Körpersprache das Verschwinden der Gefahr signalisierte. Ihr
Blick war zwar noch immer aufmerksam in die Umgebung gerichtet und ihn wie Luft erscheinen, aber die
Anspannung sackte langsam und ließ ihn mit seinen Gedanken alleine. Der Versuch über das eben
geschehene zu reden und es zu erklären, wurde geschwiegen. Sie schien nicht ansprechbar zu sein.
Morwen verbrachte noch eine lange Zeit ihres Weges in einem Zustand, den sie am ehesten als Mischung
aus ihrem wachen Bewusstsein und den verlorenen Träumen ihrer Vergangenheit beschreiben würde. Sie
versuchte wieder in den Wald einzutauchen und seine Sinne zu ihren werden zu lassen, doch der schnelle
Schritt und der Gedanke des Lauerndem machten es ihr unmöglich, sich aus ihrem Körper fallen zu lassen.
So wandelte sie halb im Geiste, halb in ihrer Umgebung und führte sie parallel zum Bach weiter.
Sie gelangten an einen zweiten Strom, der sich wohl mit dem ersten verband. Er war schmal und seicht
und so konnten sie ihn mit ein paar vorsichtigen Tritten über vereinzelt liegende Steine überqueren. Auf
ihrem Weg kamen sie noch ein paar Male an Bächen vorbei, mal breiter, mal kleiner, die sich alle in den
immer größer werdenden Bach verloren. Dieser Stürmte immer weiter das Tal hinunter, und die beiden
folgten ihm. Das seichte Gefälle wurde immer passierlicher. Der wilde Dornenwuchs nahm ab und die
Dichte der Bäume verblasste. Die jetzt durchscheinende Sonne ermöglichte es etwaigen Pflanzen aus der
Erde zu stoßen und ihre Farbenpracht zu offenbaren. Was davor noch dunkles grünes Moos, sitzend auf
kaltem grauen Stein, oder ein schlammig brauner Boden war, entwickelte sich zu einem bunten Spektakel
aus Rot, Blau, Geld und Lila. Der blumige Duft lag schwer in der Luft und Insekten ergötzten sich an seiner
Süße. Die Wärme der Nachmittagssonne grub sich gemütlich in ihre erschöpften Körper und ließ sie vor
sich her trotten. Morwen fühlte sich nun völlig der Trance hingegeben und fing an zu kichern. Auch
Matteo, der sich nicht mehr darauf konzentrieren musste wohin der tritt, überfiel eine Leichtigkeit, als
hätte er schon eine Flasche Met geleert. Schnell fiel er in das unschuldige Gelächter Morwens ein und sie
verloren sich in den Bäumen, die langsam einem Kornfeld wichen. Vergessen war das Übel und das
einladende Gefühl, dass Morwen zuvor verspürt hatte, kam wieder. Spielerisch tollten sie sich auf einem
eingetretenem Pfad. Auf Matteos Frage erzählte ihm Morwen von den Blüten und ihren Namen und was
man alles mit ihnen anfangen konnte. Ein paar der Namen erkannte er wieder, andere hingegen hatte er
noch nie gehört. Außerdem war es die längste Zeit, die er Morwen am Stück hatte reden hören. Er dachte,
dass in einer so großen Stadt wie seiner Unmengen an Wissen angehäuft wurde. Doch wenn er verglich,
was Morwen über die Anwendung der Pflanzen erzählte, hatte er das Gefühl, die Mediziner und
Gelehrten haben kaum Begriffen was hinter der Natur wirklich steckt.
Alsbald ebnete sich der Boden zu einem geraden Felde und im Horizont sah man die Sonne, wie sie sich
müde von der Arbeit entgegen ihrem Bett sehnte. Das Bett war ein Blau gefülltes Becken voller salzigem
Wasser, das von Ruhe nichts wissen wollte. Es strömte mit seinen Wogen gegen Strand und Kliffen.
Inmitten dieses wilden Tuns brach eine Stadt aus dem Boden, die sich zwischen die Beiden und dem
Gewässer drückte. Mit ihren hohen Türmen griff sie nach der Wärme der Sonne und wollte sie mitsamt
ihrer Strahlen in die Erde ziehen. Mit den letzten Stunden ihrer Aufmerksamkeit versetzte die Sonne die
Stadt und das umliegende Wasser in ein warmes Orange. Das schäumende Wasser glitzerte noch einmal
auf. Einladend, als wolle es der Sonne sagen: „Komm zu uns und leg dich hin.“
Alsbald kamen die beiden aus den Wiesen von Blumen hervor und stoßen mit dem Ende der Sonne vor
die Tore der Stadt. Auf ihrem Weg kamen sie an ein Paar Höfen vorbei, die inmitten der Felder lagen. Um
sie herum waren Heuballen gehäuft und in den letzten Dämmerungsstunden ruhten Gruppen im
Gespräch vor den Türen von Scheunen und Gutshöfen. Einige Ältere rauchten Pfeife aus simplem Holz
geschnitzt und die Brise des salzigen Meeres mischte sich mit den süß hölzernem Geruch des glühendem
Krautes in der Pfeife. Morwen kannte das Kraut nicht, doch was sie roch machte sie neugierig. Während
sie weiter auf die Tore zu schritten fragte sie Matteo, ob er das Kraut kenne, welches in der Luft hänge.
Dieser war noch damit beschäftigt den Menschen an den Höfen zuzuwinken und ihnen einen
wunderbaren Abend zu wünschen. „Das meine Liebe, ist eine der wunderbarsten Entdeckungen in der
Natur. Die Leute nennen es Sumpfkraut und der Geschmack ist unvergleichlich. Manche benutzen es zum
Würzen, aber sein volles Potenzial erreicht es erst wenn man es anzündet. Glaub mir du wirst fasziniert
sein.“ In seinem Gesicht lag eine Mischung aus schelmischem Grinsen und süßem Traum. Sumpfkraut…
was ein furchtbarer Name für etwas, das so schön fruchtig klebrig roch, dachte Morwen.
Neben den Toren sammelten sich Gestalten, die Waffen und Rüstung trugen. Ihr Stoff wurde aus bunten
Farben genäht und wies aufwendige Stickereien auf. Brust und Kopf wurden von einer metallenen Form
bedeckt, deutlich schlichter als das drum herum. Ihre Blicke waren abwechselnd trist und grimmig.
Gelangweilt gähnten ein paar, als zwei aus der Gruppe hervorkamen und sich in den Weg stellten.
„Matteo!“ rief der linke. Sein Gesicht war braun von der Sonne und das Alter hatte ihm Falten in die Haut
gezogen. Während sein Körper die Strenge einer langen militärischen Ausbildung ausstrahlte, lag in den
braunen Augen dieselbe Weiche, die nun auch die letzten Sonnenstrahlen verströmten, bevor sie sich für
diesen Tag verabschiedeten. „Gerade noch rechtzeitig. Wir wollten die Tore schließen.“ Sein Blick wandte
sich zu Morwen. In seinen Augen mischte sich Überraschung mit Sorge. „Wo hast du denn das arme
Mädchen aufgegabelt? Und bei den Göttern, sie ist ja völlig nackt!“ Und da fiel Matteo wieder ein, wieso
er aus der Stadt raus und in den Wald gegangen ist. Er hatte sich noch nicht viel Gedanken dazu gemacht,
wie er mit der Situation umgehen sollte und was er wem erzählt. Mit einem Seufzer meinte er lächelnd
„Guten Abend Farne. Du würdest es mir doch sowieso nicht glauben. So wie sonst auch. Nun sei doch ein
Mann von Ehre und lass ihr ein Hemd bringen.“ Der Mann namens Farne schien, nach dem kurzen
Kommentar einen leicht zerknirschtes Gesicht zu machen, fing sich aber schnell und schickte einen seiner
Leute aus, um Kleidung zu holen. Danach widmete er sich wieder Matteo. „Ich muss wissen wen wir in die
Stadt lassen, fürs Protokoll. Wo hast du sie denn getroffen?“
„Ich komme aus Flusslauf.“ Sagte Morwen noch bevor Matteo eine Antwort geben konnte. „Wir sind uns
in den Wäldern vor eurer Stadt begegnet.
Mit gesenkter Stimme trat Farne noch einmal näher heran: „Dein Vater hat sich nach dir erkundigt und
wollte wissen, ob wir dich gesehen haben. Wir sagten ihm, dass du nicht durchs Tor gegangen bist, und
das schien ihn nicht gerade zu freuen. Er glaubt du bist wieder irgendwo in den Docks untergetaucht.
Erzähl ihm doch wenigstens was du machst, oder gib mir Bescheid. Dann musst du dir auch nicht noch
mehr von ihm anhören.“
Eine zornige Falte legte sich für einen kurzen Moment in Matteos Gesicht. Seine Züge glätteten sich, aber
Morwen entgingen nicht die unruhigen Augen, die seine Gedanken versuchten einzufangen. Er schien
deutlich aufgeregter zu sein als in dem Moment, indem sie ihn in dem Käfig gefunden hatte. Es stand ihm
nicht.
Matteo beendete das Gespräch wie er es begonnen hatte. Mit einem Seufzer. „Ja du hast ja recht. Ich
werde schauen, dass ich dir in Zukunft Bescheid geben werde. Ich danke dir Farne.“ Mit einem ehrlichen
Lächeln verabschiedete er sich und schritt mit Morwen, die nun ein ihr viel zu großes Hemd über ihrem
Körper trug weiter in Richtung Stadtmitte.
„Ich habe dir noch nicht so viel von meinem Vater erzählt, aber er ist einer der einflussreichsten Männer
dieser Stadt. Er hat viele Verbindungen hier, natürlich auch mit der Stadtwache. Die beiden kannten sich
aber schon seit Kindestagen und Farne hat immer ein Auge auf mich geworfen. Er ist ein wahrlich lieber
Kerl, steckt aber seine Nase zu gerne in anderer Leute Angelegenheiten. Wenn Vater nicht viel Zeit hatte,
hat er Farne geschickt, um auf mich aufzupassen. Er hat mich dann oft in die Garnison mitgenommen und
gezeigt, wie es bei der Stadtwache zugeht und vom großen Militär geschwärmt. Zu seinem Missfallen
habe ich nicht so viel von den ganzen Regelungen und Autoritäten gehalten und mir die Kenntnisse über
Wachen und ihre Planung anders zunutze gemacht.“ Das schelmische Grinsen machte sich wieder in
seinem braun gebrannten Gesicht breit und leichte Grübchen bildeten sich um seine schmalen Lippen. Die
grünen Augen funkelten, als er an vergangene Spielerein mit dem Gesetz dachte. Heiterkeit versetzten
seinen Zügen eine Leichtigkeit, als würde ein Hase vor Vergnügen zu einer fallen gelassenen Karotte
hoppen und schlich sich in seinen Gang.
Morwen verstand recht wenig von dem, was er ihr gerade versucht hatte zu erzählen. Sie verglich die
Situation mit dem Verhältnis zu ihrer Meisterin. Sie spürte, wie sich ein Gefühl von tiefem Respekt in ihr
anbahnte, als sie versuchte daran zu denken. Schon wieder gelang es ihr nicht eine genaue Situation fest
zu machen, oder das Bild ihrer Meisterin hervorzurufen. Nur noch eine Gewissheit über ihre Weisheit und
ein Gefühl des Vertrauens.
Matteo spazierte mit Morwen durch die Straßen der neuen Stadt. Es war ein merkwürdiges Gefühl für sie.
Die großen Hütten der Menschen wirkten bedrohlich und eng aneinandergepresst. Morwen sah viele
Gestalten durch verwinkelte Gassen huschen, doch kamen ihr die Art mit denen die Menschen
umherstreiften so merkwürdig vor. Noch nie hatte sie so viele Verschiedene Menschen gesehen, aber es
schien kaum einer die Präsenz des anderen wahrzunehmen. Sie dachte an eine Zeit in der sie für ein paar
Wochen mit einem Wolfsrudel umherstreifte. Es lag so viel Argwohn in den Blicken der Leute, als hätten
sie etwas zu verstecken. Das, was Morwen aber am meisten aufstieß, war der Gestank. In der ganzen
Stadt lag ein Geruch von Fäulnis. Es kroch durch jede Ecke und haftete an den vorbeiziehenden
Menschen. Erst dachte sie, dass es der Geruch toten Fisches sei, doch darunter verbarg sich noch mehr.
Sie war sich nicht sicher was es war, aber es jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie konnte
verstehen, warum es Matteo hinaus in den Wald zog. Es war, als ob die Stadt krank sei und man sich
ansteckte, wenn man sich zu lange in ihr aufhielt.
Matteo schien, wenn er es denn bemerkte, nichts davon preiszugeben. Mit schweifenden Blicken erzählte
er von allen möglichen Erfahrungen, die er in dieser Stadt gemacht habe. Morwen fühlte sich zunehmend
unwohler. Matteos Stimme klang immer gedämpfter und verebbte Schluss Ends völlig. Der pestilente
Geruch lag schwer in ihrer Lunge und mit einfallender Dunkelheit schien es für sie, als verliere sie die
Orientierung. Hinter den unbekannten Ecken saßen finstere Gestalten, gehüllt in ihren Geheimnissen, die
nur darauf warteten, sich auf sie zu stürzen. Wie in einem Fiebertraum stolperte sie über den harten
Stein, der den Boden pflasterte. Fühlte sich gezogen, gedrängt, noch einen Schritt mehr zu gehen. Immer
tiefer in die Schlechtigkeit hervorzudringen. Ihre Gedanken waren zäh und klebrig und ließen sie kaum
mehr sich selbst, in der Maße an Dunkelheit erkennen. Stur stapfte sie als wabernde Menge durch den
schwarzen Schlamm. Sie konnte sich nicht erklären was vor sich ging. Es war nicht gleich der Erfahrung mit
den Arkanstrukturen, glichen sie doch einer Ekstase und vollständigen Erfüllung, als ob ihr Körper
durchdrungen war. Hier schien es als würde ihr Körper versuchen sich gegen sie zu stemmen. Er wollte
sich losreißen und seine Pein beenden. Weiter schleppte sie sich durch die Kuriositäten, die diese Stadt
Morwen bot, als ihr Anfall ein abruptes Ende nahm. Auf einmal nahm sie ihren Körper wahr. Ganz leicht,
aber sichtlich ein Teil von ihr. Ihre Füße standen auf einem weichen Grass, welches sich wohlig um sie
schmiegte. Mit glasigen Augen und geschwitztem Körper blieb sie stehen und blickte sich um. Es herrschte
Dunkelheit, die nur vom schwachen Schein des Mondes konkurriert wurde. Mehr als graue Umrisse
konnte sie nicht wahrnehmen, trotzdem war sie sich sicher, dass sich vor ihr etwas aus der Erde hob. Sie
blieb weiter stehen und starrte in die Dunkelheit. Nach kurzer Zeit entdeckte sie zwischen der großen
Silhouette feinere Konturen, die sich links und rechts von der Kontur abspreizten. Morwen wollte in sich
gehen, doch da trat ein Mann aus einer Gasse und rief mit Matteos Stimme:“ Was treibst du denn da
hinten? Starr das Ding Morgen an, da sieht es eh viel schöner aus. Und jetzt komm, wir sind so gut wie
da.“
Und Morwen wandte sich mit einem letzten Blick von der Silhouette ab und folgte Matteo in die Gasse.
Das unangenehme, wabernde Gefühl war verschwunden und nur noch der gebliebene Gestank nach
Schlechtigkeit und Verwesung erinnerte sie daran, dass es keine Einbildung war. Die
Gasse, in die sie trat, wurde noch von einer flackernden Fackel erleuchtet, die sich hell in Morwens Augen
brannte. Matteo stand vor einer Hecke, die von einer kleinen Steinmauer auf einen Meter über dem
Boden angehoben war.
„Ich habe gerade wenig Interesse meinem Vater oder seinen Wachleuten zu erzählen, wo wir
herkommen, also lass uns das auf morgen verschieben. Genialer weise, ist das nicht das erste Mal, und es
gibt einen leichten Weg das zu umgehen.“ Mit diesen Worten fischte Matteo einen Schlüssel aus seinen
Taschen und ließ das Schloss mit einem sanftem Klicken aufspringen.
„Ich bitte sie einzutreten werteste Dame.“ Sagte Matteo in derselben nasalen Stimme, die Morwen auch
schon im Wald überraschte. Beide schlüpften durch das Tor und fanden sich in einem Hintergarten
wieder, der mit einem Weg aus Kies durchsetzt war. Der Weg führte zu einem zweiten metallenem Tor,
welches von Hecken und Steinen umringt war. Das Tor gab Sicht auf ein großes Herrenhaus frei, das von
tanzenden Feuern in Schalen beleuchtet wurde, die außerhalb des Hauses und auf den Terrassen und
Balkonen platziert waren.
„Die Betten sind im ersten Geschoss und mit etwas Geschick kann man einen der Balkone erreichen, wir
müssen nur erstmal an den Eisenmännern vorbei.“ Flüsterte Matteo und schritt lautlos und ohne weitere
Erklärung auf das Tor zu. Durch die Metallstangen des Tores konnte man einen Teil der beleuchteten
Hausfassade erkennen. Vor ihr schimmerten die Eisenrüstung und Waffen der Wachen im Licht der
Flammen. Matteo schlich zum Tor, welches von eng aneinander gereihten Büschen und Pflanzen umringt
war, die selbst noch höher als das Tor wuchsen. In gebückter Haltung folgte er der natürlichen Mauer so
leise wie möglich. An einem Punkt hielt er auf einmal inne und fing an in den Büschen vor ihm zu wühlen.
Als Morwen zu ihm trat, sah sie, wie eine kleine Öffnung zwischen den Pflanzen freigelegt wurde, durch
die wieder etwas Licht schien. Mit einem Wink des Kopfes, wies er sie an, ihm durch das Loch in der Hecke
zu folgen. Beide krochen nacheinander durch die Lücke und fanden sich auf einem angenehm weichen
Graß wieder, das Morwen an eine Weide in der Nähe ihres alten Waldes erinnerte. Für eine kurze Zeit ließ
sie ihre Gedanken frei fliegen und Bilder des Vergangenem erschienen vor ihrem inneren Auge. Sie folgte
der Weide und ihren grasenden Pferden bis in den kühlen Wald. Sie sah sich wieder mit ihrer Meisterin
durchs Unterholz schreiten, während sie sie, über ihre spezielle Verbindung zur Natur aufklärte. Doch in
ihrem Kopf waren keine klaren Stimmen, keine Worte, die sie hörte. Es war ein Wissen. Eine
Selbstverständlichkeit über das Leben, an dem es keine Zweifel gibt, da ohne es, die Welt nicht mehr
funktionieren würde. In dieser Selbstverständlichkeit badeten alle ihre Erinnerungen. Die Hütte, in der sie
lebte und die Tiere, denen sie täglich begegnete. Das Wissen über die Pflanzen als auch der Umgang mit
den Arkanen Strukturen und das Weben dieser. Morwen wusste, dass ihre Meisterin ihr dieses Wissen
beigebracht hatte. Doch wieder einmal viel ihr auf, dass das Bild unklar war. Keine Laute, kein Dialog und
auch kein Gesicht zu der Szene. Alles war bizarr verschwommen und eine Lebensdauer weit weg.
Ihre Gedanken nahmen ein jähes Ende, als sie einen Druck auf ihrer Haut verspürte. Morwen beendete
ihre gedankliche Zeitreise und sah sich von Dunkelheit umrundet. Links von ihr brannten die Feuer in den
Schalen, doch ihr Licht drang nicht bis zu ihr vor. Vor ihr spürte sie die Präsenz Matteos und auf ihrer
Schulter seine Hand. Sie wusste, dass er sie besorgt anstarrte und drückte ihrem Körper leicht in seine
Richtung. Sie schloss ihre Augen und ließ den Gedanken einer Katze in ihrem Geist aufkommen. Sie
konzentrierte sich auf die Fäden, die ihren Körper definierten und versuchte nach ihnen zu greifen, da
merkte sie wie schwach die Präsenz ihrer Umgebung abgebildet war. Es waren nur wenige Fäden um sie
herum und sie alle waren starr und ließen sich nur mit allergrößter Mühe bewegen. Sie konzentrierte sich
wieder auf sich selbst und webte die Linien ihrer Augen zu den Formen der Katze, die sie in ihrem Kopf
hatte.
Als sie die Augen wieder öffnete, erkannte sie in grauen Nuancen Matteos Gesicht, direkt vor ihrem. Er
wirkte tatsächlich besorgt, schien aber nun, da sie sich wieder in Bewegung setzte erleichtert. Er ließ von
ihrer Schulter ab und suchte nach ihrer Hand, um sie entlang der Hecke um das Haus zu führen. Sie
schlichen über den Rasen an einer Hauswand entlang, die mit großen Fenstern ausgestattet war, in denen
sich die Flammen widerspiegelten. Sichtlich gewandt und erfahren bewegte er sich in kürzester Zeit hinter
die Ecke des Hauses, ohne, dass einer der Wachen auf ihn aufmerksam wurde.
Die Hinterseite des Hauses wurde von nur einer einzelnen Feuerschale beleuchtet, die gerade nah genug
an der Fassade stand, um die farbigen Schnörkel und schönen Verzierungen zu bescheinen, die sich um
Tür und Fenster wanden, bis hin zum Dach. In der Mitte war ein ausgiebiger Balkon, der mit Marmor und
Holz verziert war. Unter dem Balkon saß ein dösender Wachmann auf einem Stuhl, der gelangweilt in die
Dunkelheit starrte. Neben ihm standen eine Kisten in denen sich Holz und Fackeln befand und ein großes
Fass, auf dem eine Flasche und eine Schüssel mit Essen stand. Matteo führte Morwen weiter rechts an der
Hecke entlang, an der Wache vorbei, die sie aus der Distanz noch immer nicht erblicken konnte und
schlich sich näher an sie heran um hinter dekorativen Blumen und Büschen, welche eine Steinstatue eines
muskulösen Mannes der nackt einen Löwen bezwang, umringten, in Deckung. Sie waren jetzt im Schein
des Feuers und Matteo konnte Morwen klar erkennen. Er deutete auf die Steine, welche unter der Statue
ausgelegt waren und machte eine Wurfbewegung. Dann zeigte er auf ihn und auf den Balkon. Morwen
nickte und packte sich einen der Steine. Beide warfen den Stein in Richtung Hecke, weit weg von ihrer
Richtung. Der dumpfe Aufprall und das laute Rascheln der Hecke, ließen den Wachmann hochschrecken
und das Metall gegen die Fassade kratzen. Er packte eine der Fackeln, entzündete sie und machte sich mit
gezogener Waffe in Richtung des Geräusches. Nach kurzer Zeit hörten sie Rufe der anderen Wachen und
eine kurze Diskussion. Matteo und Morwen nutzten die lauten Stimmen und schlichen sich in Richtung
des Balkons. Matteo stieg auf das Fass und sprang mit ausgestreckten Armen an die Balustrade und
versuchte sich hochzuziehen. Kurz darauf steig auch Morwen auf das Fass und sprang katzenartig auf das
Geländer des Balkons und kam neben Matteo an. Der zog überrascht, aber anerkennend die Augen hoch
und schmunzelte. Kopfschüttelnd lief er zu der Tür des Balkons und zückte ein weiteres Mal seinen
Schlüssel und öffnete die Tür. Das Zimmer war dunkel und still, als er die Tür hinter sich zuzog. Ein leichtes
Hallen ging von Matteos Schuhen aus, als er sich durch den Raum bewegte.
Mit einem Flüstern wandte er sich an Morwen: „Hier ist das Bett, es ist frisch hergerichtet. Fühl dich
einfach wie zuhause. Wenn dich irgendwer fragt, wer du bist, sag einfach ich hätte dich nachts in einer
Schanke aufgegabelt.“
Mit diesen Worten zog er sich die Schuhe und Klamotten aus und fiel ins Bett.
So stand Morwen im Dunklen des fremden Zimmers und blickte ins leere Schwarz. Sie ließ sich von den
ruhigen Atemzügen Matteos zum Bett leiten und setzte sich hin. Ihre Gedanken schweiften über die
Umstände, die sie an diesen Ort gebracht haben. Wie etwas in ihr, in der Nacht als sie aufgebrochen ist,
wusste, dass sie weggehen würde, um nicht wieder zu kommen. Noch einmal tauchte sie in die
Vergangenheit ihrer Tage ein. Jede Erinnerung, wie ein Traum. Ein halbwaches Torkeln durch den Wald.
Sie hörte das Rauschen der Blätter und den Ruf der Tiere. Hörte Wasser fließen und dumpfe
Stimmenfetzten der Menschen des Dorfes denen sie begegnete. Der Schatten ihrer Meisterin, ein Symbol
ihres Wissens, folgte ihr. Es fühlte sich für Morwen an, als würde nicht sie diese Erinnerung leben,
sondern ihr von außen zusehen und wenn sich in ihrer Erinnerung nach dem Schatten umdrehen sah,
dann war er verschwunden. Sie konnte nicht greifen, wonach sie suchte und je mehr sie sich anstrengte,
desto stärker verblassten auch die Erlebnisse. Sie wusste wie Graß roch und wie die Beeren schmeckten,
die sie fand. Es war aber nur das: Ein Wissen und kein spüren. Was präsent in ihrem Körper war, waren
die Ereignisse der letzten zwei Tage. Der Moment, in dem sie aus ihrer fieberhaften Reise in dem fremden
Wald erwachte, getrieben von einer Macht des Arkanen die sie mit Worten nicht beschreiben konnte. Das
Geräusch der quiekenden Bestien und ihres Gelächters hallte in ihren Ohren. Sie fasste an die Stelle, an
der ihr eines der Wesen den Holzspeer in die Brust gerammt hat. Das Gefühl war für sie so klar, als wäre
es gerade eben passiert. Der Geruch von Blut und Feuer hing in der Luft. Sie schmeckte das Eisen auf ihrer
Zunge und fühlte, wie ihr Körper heiß wurde und sich ein prickelndes Gefühl in ihr anbahnte, das sich
durch ihren Rücken bis hin zum Nacken zog.
Wieder hörte sie den Dämonen aus dem Feuer sprechen und sah die Verwandlung der haarigen Monster
vor sich. Vernahm das Knacken der Knochen, die barsten und das Schreien der Menschen die sich
verzweifelt ihrem Schicksal ergaben. Sie dachte an den Pfad, auf dem sie Matteo entlang des Baches
führte, und an das Gefühl der bösen Eminenz, der sie im Wald beim Reh begegnete. Das Gefühl von
Falschheit und Fäulnis, das der Gesundheit des Waldes zusetzte, ihn krank zu machen schien und sich auf
seine Bewohner stürzte, wenn diese nicht wachsam waren.
Morwen atmete tief durch. Langsam trennte sie sich von den Erinnerungen und Gefühlen und in ihrem
Inneren trat Ruhe ein. Sie hörte metallenes Klappern von draußen und das Atmen Matteos neben ihr.
Stück für Stück tauchte sie in ihre Meditation ein und betrachtete sich und ihre Umgebung von Oben
herab.

3
Matteo sah ein Feld aus Rot, gepresst, gegen ein unnatürlich dunkles Blau des Himmels. Er erkannte
das Feld, durch das er mit Morwen gelaufen ist und den angrenzenden Wald, der es umringte. Nur
wurde dieses Mal das goldene Weizen mit blutroten Blüten ersetzt. Er schaute sich um, doch auch
Morwen war nicht zu sehen. Ein Gefühl von Einsamkeit schlich sich durch seine Adern. Er blickte an
sich herunter, erkannte, dass er völlig nackt inmitten des tiefen Rot stand. Langsam traute er sich
einen Schritt nach vorne zu machen. Seine Beine drückten, ohne das Gefühl von Widerstand, die
Stängel der Blüten um sich herum zur Seite, die sich aber sofort wieder an seinen Körper schmiegen.
Zögerlich streckte er eine Hand in Richtung einer der Blüten, die ihn bis zur Hüfte reichten. Die Blätter
der Blüte waren weich und warm. Sie schienen sich sanft in seine Hand zu schmiegen und teilten ihre
Wärme mit Matteo. Er vernahm ein leichtes Beben in der Blume, gleich einem Herzschlag. Kurz
darauf spürte er etwas Nasses in seiner Hand. Als er seine Hand hob und sie betrachtete, sah er, wie
Blut, warm und feucht, an seinem Handgelenk herunterlief. Erschrocken schaute er sich um. Sein
Herz fing an schneller zu schlagen und sein Körper überfiel eine Hitze. Das Meer aus Rot umringte
ihn und nur mit Mühe konnte er die Stadt, in der er aufgewachsen ist in der Ferne erkennen. Sie
stach, erhellt durch orangene Feuer an den Mauern, aus dem blauen Horizont heraus und überragte
das Rot des Feldes. Matteo atmete noch einmal tief durch, versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu
bringen. Auf einmal vernahm er ein Flüstern. Hinter ihm, neben ihm, von allen Seiten. Er sah rote
Augen aus zwischen den Bäumen zu seinen Seiten hungernd auf ihn starren. Spürte den gierigen
Blick in seinem Nacken. Das Flüstern wurde immer lauter, als er auf einmal die klare Stimme der
fremden Katze vernahm, die seinen Namen sprach. Das Pochen seines Herzens hallte in seinen
Ohren. Er rannte los, geradeaus auf die Stadt zu. Rannte, ohne sich umzudrehen. Alles was er sah war
das endlose rote Meer aus Blumen und die Stadt, die immer größer wurde, als er auf sie zu rannte. Er
spürte wie seine Beine klebrig feucht wurden, doch er dachte nicht daran nach unten zu schauen.
Noch immer spürte er wie Augen von allen Seiten auf seinen Körper blickten. Noch immer vernahm
er das Flüstern und die Stimme der Katze, die nach ihm rief. Seine Sicht verschwamm, wurde trüb. In
seinem Mund schmeckte er Eisen. Sein Körper brannte, die Fasern in seinen Muskeln schrien. Die
Stimme hinter ihm wurde immer lauter. Matteo blickte zur Stadt. Er konnte das Flackern der Fackeln
auf den Mauern sehen, er musste ganz nah sein. Das Tor stand offen, doch er konnte niemanden der
Stadtwache sehen. Das Rot um ihn herum wurde stärker, drängte sich ihm auf. Es nahm sein ganzes
Sichtfeld ein und drückte sich in seine Augen. Er spürte eine warme Flüssigkeit an seinen Wangen
herunterfließen. Das Orange des Feuers wurde roter. Der Himmel über ihm purpurn. Matteo drehte
langsam seinen Kopf nach hinten in Erwartung seine Verfolger zu sehen, als dunkles Rot ihn
überschwemmte.
Mit klopfendem Herz und geschwitztem Körper wurde er wach. Er richtete sich auf und schaute sich
in seinem Zimmer um. Es war leer. Das Gefühl, welches er schon in seinem Traum hatte, stach noch
einmal durch seinen Körper. Er stand auf und schüttelte seine Gliedmaßen. Die Bilder seines Traumes
rauschten ihm durch den Kopf und das beißende Gefühl wollte nicht von ihm ablassen. Sein Mund
war trocken, doch der Geschmack von Blut war noch immer präsent.
Langsam machte sich Matteo in Richtung Tür auf und stolperte mehr schlecht als recht aus seinem
Zimmer. Er fand sich in dem Treppenhaus wieder, durch das er schon so viele Male gelaufen ist.
Während die Wände die gleiche Musterung beibehielten, änderte sich die die Dekoration um sie
herum, mit jeder Reise die Matteos Vater unternahm. Neben aufwendigen Kunstwerken, fremden
Artefakten und Holzschnitzereien lief Matteo auf die riesige, um sich selbst windende Steintreppe zu,
die alle Stockwerke miteinander verband. Von unten kam ihm eine bekannte Stimme entgegen. Die
tiefe, monotone Stimme seines Vaters. Matteo hielt auf der ersten Stufe still. Beim Versuch zu
schlucken wurde ihm wieder Trockenheit seines Mundes gewahr, doch hatte er überhaupt kein
Interesse sich jetzt einer Unterhaltung mit seinem Vater zu ergeben. Er schritt wieder von der Treppe
weg, da hörte er eine zweite vertraute Stimme. Morwen schien mit seinem Vater zu sprechen.
Matteos Übelkeit wurde zunehmend stärker, als er sich dem unausweichlichem Schicksal stellte und
die Treppe herunterstieg.
Er kam unten an und blickte in das sommerliche Speisezimmer, welches eine offene Terrasse zum
Garten besaß. Inmitten dieser Terrasse, die mit Pflanzentöpfen und sich um Holz ringendem Efeu
bedeckt war saß Morwen barfuß in einem frischen Hemd und einer Hose, die nicht mehr zerschlissen
und mit Dreck bedeckt war. Neben ihr saß sein Vater ruhig auf einem Stuhl, in seiner schlichten, aber
sehr fein und teuren Kombination aus Seide und Lein. Sein Antlitz war überraschend lebendig.
Matteo war sich unsicher was er aus dem Blick seines Vaters schließen sollte. Für gewöhnlich war
sein Vater durchaus unterkühlt zu jeglichen Bekanntschaften die Matteo nach Hause brachte. Er hielt
es für schlechten Umgang und der Familie unwürdig. Ein Gefühl, welches er nicht versuchte zu
verbergen. So war er zwar nicht unhöflich und brach kein Gebot der Höflichkeit, aber noch einmal
wollte niemand mehr zu Besuch kommen. Waren Matteo und sein Vater dann alleine, verkrampfte
sich der gerade Strich den der Mund seines Vaters darstellte weiter, während er Matteo noch einmal
klar machte, welche Pflichten auf ihn zukommen werden. Das er Morwen in neuen Klamotten
wiederfand, die ihr sein Vater gegeben haben musste, war fast erschreckend. Matteo ging weiter auf
die Beiden zu und verschränkte seine Arme als er sprach:
„Wie ich sehe hast du Morwen schon getroffen.“
„Guten Morgen Sohn. In der Tat, das habe ich. Ich habe nicht schlecht gestaunt, als eine fremde
Person in einem solchen Aufzug hier draußen stand und meinen Garten betrachtete.“ Ein gewisser
Biss lag in seinem Ton, der Matteo unmissverständlich an alle vorrangegangenen Spielereien erinnern
sollte.
„Aber es gab noch mehr Überraschungen. Sie hat mir von einer Geschichte im Wald erzählt, indem
du dich offensichtlich für mehrere Tage rumgetrieben hast.“ In der Stimme seines Vaters lag neben
Ärger auch ernsthafte Sorge. Über all die Jahre seiner Arbeit hatte er mit genug Lügen und Menschen
zu tun, um zu wissen, wenn jemand nicht die Wahrheit sagte, doch als er Morwen zuhörte, konnte er
nichts dergleichen erkennen. Nicht nur das, er hatte sogar das Gefühl, dass eine Reinheit von ihr
ausgehe, welche er noch nie zuvor in einem Menschen gespürt hatte und sein Interesse weckte. Die
Geschichte, die sie ihm diesen Morgen erzählte, ähnelte Weissagungen und Legenden, die er auf
seinen Reisen von den dort Ansässigen hörte, die noch tief in Wäldern und Dschungeln lebten,
entfernt von großen Zivilisationen. Er hielt vieles für Erzählungen, die von Generationen
weitergegeben wurden und immer mystischer und unerklärlicher wurden. Trotz allem kam er einige
Male in Situationen, die er auch nur als Eingriff von unbekannten und mächtigeren Wesen verstehen
konnte. Die Sorge über die Wahrheit der Geschichte, wandelte sich zu Angst.
„Was treibst du dich in diesen Wäldern umher? Ohne jemandem Bescheid zu geben, ohne irgendeine
Begleitung. Wäre es nicht um sie gewesen, wärst du nun nicht mehr!“ Die letzten Worte verhärteten
sich und hinterließen ein wundes Loch, welches sich in den Mägen der Beiden ausbreitete und bis hin
zu ihrer Kehle alles um sich herum einzuziehen schien. Sein Vater starrte Matteo weiter an, als
wünsche er sich, dass Matteo die Geschichte als schlechten Scherz, oder Unwahrheit entlarvte, doch
er blieb stumm. Die Beiden starrten sich eine Zeit lang an, unfähig zu sprechen. Morwen blickte vom
Gesicht des einen zum anderen. Trotz brannte in ihren Augen und während sich die Muskulatur ihres
Kiefers verspannte, schlich sich die gleiche Falte zwischen grüne und braune Augen.
„Wenn der Wolf alt genug ist zu jagen und sich fortzupflanzen, verlässt er das Gebiet seiner Eltern
und sucht dort nach Partner und neuem Territorium.“
Die Zwei starrten verblüfft in Morwens Richtung, unsicher wie sie damit umgehen sollten. Nach
kurzem Stirnrunzeln, dass die strenge Falte zwischen den Augen Matteos Vater verformte, ergriff er
das Wort: „Ich verbiete dir, dich außerhalb dieser Mauern rumzutreiben, ohne, dass einer von
unseren Wachen dich begleitet. Es ist über alle Maße unvernünftig, wenn Gefahren solcher Art vor
unseren Toren warten. Ich werde es dem Stadtrat melden und wir werden ihr auf den Grund gehen.
Sollte ich erfahren, dass du dich ein weiteres Mal meinem Wunsch widersetzt, dann werde ich dir
jegliche finanziellen Mittel streichen. Ganz richtig, du wirst selber Jagen gehen müssen.“
Matteos Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Der Trotz des Kindes, wandelte sich zur Wut eines
Mannes. Er fühlte eine Hitze durch seinen Körper wallen und sein Blick schweifte Richtung Morwen.
„Lass uns doch nach Draußen gehen und ich zeig dir was von der Stadt bei Tage.“ Brachte er unter
leicht knirschenden Zähnen hervor.
Morwen zog die Braue ihrer grasgrünen Augen hoch, doch bevor sie etwas sagen konnte, fiel
Matteos Vater Matteo an.
„Hast du mir überhaupt zugehört, Junge? Du kannst nicht einfach überall hin spazieren, weil es dir
passt. Es gibt Verantwortungen, die du zu übernehmen hast! “
Matteo schaute seinen Vater nicht mehr an und lief auf Morwen zu. Er packte sie beim Arm und sie
ließ sich in Richtung des Hauptausgangs ziehen. Ohne sich umzublicken rief er durch das Haus:
„Wir bleiben innerhalb der Mauern.“
Damit verließen sie das Haus in dem Matteo aufwuchs und traten in ein von Wolken gedämmtes
Sonnenlicht.
Sie liefen den mit weißen Steinen ausgelegten Weg durch einen gut gepflegten Rasen, an dem sie
nachts noch vorbeigeschlichen sind. Als sie durch das metallene Tor mit weißem Lack liefen, schlich
in Morwen wieder das unangenehme Gefühl, dass sie schon gestern in der Dunkelheit überkam. Es
hatte viel von seiner überfüllenden Reizung verloren, sorgte aber noch immer dafür, dass sich ihre
Nackenhaare aufrichteten. Diese Stadt war befallen, wie eine Pflanze von einem Pilz, der sie langsam
absterben ließ. Morwen schaute sich um und sah in die Gesichter der vorbeiziehenden Menschen.
Sie blickte in zerfallene Fratzen. Unsicher und gehetzt eilten sie an ihr vorbei und beäugten sie mit
Argwohn, sich an Beutel und Habgut klammernd, welches sie bei sich trugen. Je mehr Gesichter sie
sah, desto schwammiger wurde ihre Sicht. Das Gefühl der Schlechtigkeit kroch immer stärker in ihr
hoch und wütete in ihrem Körper. Ihre Gedanken wurden von der schwarzen Schlacke, durch die sie
sich durchwühlen musste überschwemmt und es fiel ihr wieder immer schwerer sich weiter zu
bewegen. Die Bilder in ihrem Kopf formten sich zu denselben der gestrigen Nacht und nahmen
düstere Formen an. Sie drang tiefer in den Teer der Schlechtigkeit ein und verlor sich in der
Erfahrung. Sie ging noch einmal die dunklen Straßen entlang und schleppte sich durch finstere
Gassen. Das Atmen fiel ihr schwer und ihr Körper fing an zu schwitzen, da kam sie zu dem Punkt der
gestrigen Nacht, an dem sie auf weichem Rasen stand und schattige Umrisse in der Dunkelheit sah.
Der Moment, indem sie wieder klar denken konnte. Das erlösende Gefühl kam noch einmal in ihr auf
und befreite sie aus dem Morast des Üblen. Sie schaute zu Matteo und fragte:
„Gestern stand ich vor etwas, das sich anders anfühlte als diese Stadt. Lass uns das im Tageslicht
betrachten.“ Erst nachdem sie ihren Satz gesprochen hatte, begriff sie, dass sie Matteo ins Wort
gefallen schien, der sie stutzig mit offenem Mund anstarrte.
„Manchmal habe ich das Gefühl du bist nicht in dieser Welt. Es ist schlimmer als hätte jemand
Sumpfgras geraucht. Aber ja, wir können gerne noch einmal dahin zurück.“
Nach kurzem Warten griff Matteo das Gespräch erneut auf, dass er zuvor mehrmals schon versuchte,
doch hatte Morwen ihm nie geantwortet.
„Du schienst dich erstaunlich gut mit meinem Vater zu verstehen. Das ist unüblich, für jemanden der
keinen Nutzen für sein Geschäft hat und den er gerade erst kennengelernt. Besonders, wenn es
jemand ist, den ich mitbringe, ganz ohne Titel und Namen. Was hast du ihm erzählt?“
„Ich verstehe nicht, was du damit sagen möchtest. Ich habe ihm von unserer Begegnung erzählt und
wie wir zurückgekommen sind. Er hat sehr aufmerksam zugehört. Saß ruhig da und als ich fertig war,
wollte er mich durch euren Garten führen. Ihr besitzt Pflanzen, die ich noch nie zuvor gesehen habe.“
Ein träumerischer Blick lag in Morwens Augen.
Matteo dachte kurz nach und erwiderte dann:
„Er bringt Gewächs aus seinen Reisen zurück und bewirtet es in unseren Gärten. Die, die überleben,
ziehen viele Blicke auf sich. Schön sind sie anzusehen, das ist wahr.“
„Dein Vater scheint viel Interesse an dir zu haben. Er erwähnte dich oft, als er sprach.“
Matteo schnaufte verächtlich und antwortete in trockenem Ton:
„Sein Interesse besteht darin mich mit seinen Geschäfte einzusperren. Verzweifelt tut er alles, dass
ich seinen geradlinigem Weg folge.“
Morwen wunderte sich über die Bitterkeit in Matteos Gesicht.
„Als dein Vater von dir sprach war er weich. Er suchte nach etwas. Du lässt es so klingen, als wolle er
jemandem verletzen.“
Die Worte Morwens schienen ihn zu verärgern, denn Matteos Schultern verspannten sich und er
sprach mit erregter Stimme:
„Weich?“ Und Matteo verzog sein Gesicht. „Dieser Mann ist nicht weich. Wenn du gesehen hast, was
du wolltest, werden wir zu den Docks gehen. Die sind sowieso in dieser Richtung, dann siehst du
welches Interesse er an dem Wohlergehen anderer hat!“
Seine Schritte wurden schneller und er hastete über die mit Kopfstein gepflasterte Straße. Morwen
war noch immer verwundert über den Zorn in Matteos Stimme.
„Warum gehst du nicht, wenn du unzufrieden bist?“ Fragte Morwen.
Matteo schwieg. Alle Antworten auf die Frage waren ihm nicht vergönnt. Er wusste nicht, ob es in
den Wäldern oder der Stadt einsamer war.
„Ich weiß noch nicht wohin.“ Brummte er schlussendlich.
Morwen dachte über seine Worte nach. Diese Frage hatte sich ihr noch nie gestellt. Ihre Aufgabe war
es immer gewesen in ihrem Wald zu sein. Sie war Teil des Waldes. Wuchs mit ihm, lebte mit ihm.
Doch ihr Wald war nicht mehr da. Sie wusste nicht wo er war und sie spürte auch keinen Drang
dorthin zurückzukehren. Dafür war es nicht die Zeit.
Ein weiteres Mal wurde Morwen aus ihren Gedanken gerissen, als sie das weiche Gras unter ihren
Füßen spürte. Sie befanden sich in der Mitte einer großen Wiese, die umringt von den Straßen und
Häusern der Stadt war. Alles mit einem respektvollen Abstand, geformt in einem Kreis. Langsam
richtete sich Morwens Blick von ihrer Umgebung zum Mittelpunkt. Die Präsenz die sie spürte, die sie
gestern schon überkam in ihrer Klarheit und sie von dem Übel reinigte, war ein massiver Baum, der
inmitten des Grases wuchs. Aus der frischen Wiese ragte ein robuster Stamm in die Höhe. Er war
umhüllt von einer braunroten Rinde, die ihre alten Furchen in verspieltem Muster um den Baum
wrang. Aus dem Stamm entsprangen an allen Stellen um den Baum herum Äste, die ein noch
frischeres Rot aufwiesen. An jedem Ast hingen kleinere Zweige, die nicht hart und fest, sondern jung
und farbig waren. Das Rot lief in sie über, zog sich wie Fäden durch das braune Grün der Zweige und
entfaltete sich wie flüssige Farbe in einem Becken. Neben den rot geäderten Zweigen hingen Früchte
in einer purpurnen Schale, die mit gelben Streifen durchzogen waren.
Morwen ging auf den großen Baum zu. Er war mindestens fünf Mal so hoch wie sie selbst und zog sie
unter seine Äste. In der Kühle des Schattens stand sie vor ihm und ließ seine Präsenz auf sie wirken.
Eine Ruhe durchfuhr sie, die sie in dieser unbekannten Umgebung noch nicht verspürt hatte. Sie
streckte ihren Arm in Richtung knorriger Rinde, berührte das alte Holz mit ihrer Hand. Der Rausch
seiner Lebenszeit durchfuhr sie. Morwen vernahm die Präsenz eines winzigen Kerns, tief in der Erde
und in ihrem inneren Auge sah sie aus dem Kern ein Spross schießen, der sich immer weiter Richtung
Sonne drängte. Aus dem Spross wurde ein zarter Schössling, der immer höher aus der Erde trieb. Im
Wachstum des jungen Baumes sah sie Wesen um den Baum herumwuseln. Erst vier Beine, dann zwei
Beine. Sie vernahm die Erschütterung ihrer Körper in der Erde, immer mehr wurden es. Morwen sah
Gesichter und hörte Stimmen. Der Gesichtern wurden es mehr, die Stimmen wurden lauter. Sie sah
Haare ergrauen und Züge verhärten. Falten formten sich in Rinde und Haut und irgendwann erlosch
die erste Stimme und wurde von einer neuen und frischen ersetzt. Mittlerweile war der Baum zur
Hälfte seiner heutigen Größe herangewachsen und hatte viele Stimmen hinter sich gelassen. Morwen
spürte die Kraft, die nun im Baume saß, die Energie, die ihn durchströmte und nach Draußen wollte.
Als sei es ihr Körper folgte Morwen dem Strom durch ihre Adern. Vom Stamm über in die Äste und
von den Ästen in die Zweige. In den Zweigen ballte sich die Energie, bis es keinen Weg mehr gab sie
zu halten. Es strömte aus den Adern, stoß Löcher in die Zweige und füllte sich in den ersten Früchten
des Baumes. Morwen fühlte das Glück des Baumes in ihr. Sie erfuhr Lebendigkeit, Stolz und eine
schier endlose Kraft. All das sammelte sich in ihren Früchten und wuchs heran und der Baum kehrte
zu einer Ruhe und Sanftmütigkeit.
Dann vernahm Morwen wieder Stimmen und sah in die Gesichter. Wieder waren viele neu und
unbekannt, während alte gegangen sind. Sie zogen an den Früchten und griffen nach ihrem Stolz.
Doch in den Früchten war nur rohe Energie. Chaotisch und unvollendet. Die Gesichter wussten nicht
mit der reinen Macht umzugehen, als sie von den Früchten aßen und es in ihre Adern überfloss.
Ohnmächtig brachen sie zusammen und erlagen dem wüsten Chaos in ihren Körpern. Die Gesichter
wichen zurück und führten ihre Körper zum Boden. Ihre Stimmen wurden sanfter und gingen in
Gesänge über und Morwen wusste, dass sie zum Baum sangen. Nun spürte Morwen, dass die
Energie, die sich in den Früchten sammelte, beruhigt hatte. Für einen kurzen Augenblick nur, kehrte
dieselbe Ruhe in die Früchte ein, die auch den gesamten Baum umgab, doch die Stimmen griffen nun
nicht mehr. So verkamen die Früchte und vielen schlaff zu Boden. Morwen spürte den Zyklus des
Baumes und seiner Sprossen viele Male folgte den Adern durch ihren Körper, bis sie zu den Wurzeln
ankam. Die Wurzeln waren mittlerweile ähnlich breit und stark wie der Baum selbst. Tief drückten sie
sich in die Erde und vernetzten sich im Boden. Morwen folgte ihren silbrigen Flüssen, die verzweigt
durchs Erdreich wuchsen. Eine nahezu ewige Reise, brachte sie bis ans Ende dieser Wurzeln und um
sie herum hörte sie das laute Trampeln der Gesichter. Sie vernahm ihre Bewegungen und hörte ganz
schwach und gedämpft ihre Stimmen. An den Ecken der Wurzelgeflechte angekommen spürte
Morwen eine weitere Präsenz. Es war die Schlechtigkeit, die an den Spitzen der Wurzeln rupfte. Die
selbige, die schon im Wald nach ihnen stellte und sich nun über der Erde in den Stimmen der
Gesichter breit machte. Stück für Stück drang die Schlechtigkeit weiter. Erst in dem Grass und dann
weiter in die Erde, bis die Wurzeln sich nicht mehr erwehren konnte. Die Präsenz kam auf Morwen zu
und gierte nach ihr. Hastig ließ sich Morwen zurück zum Stamm treiben, um dem gefräßigen Übel zu
entkommen. Sie spürte es noch immer, wie es näherkam, doch so nah zum Stamm traute es sich
noch nicht. Morwen schaute tief in sich, betrachtete den Kern, mit dem alles anfing, fernab des
Bedrohlichem. Sie erfasste seinen Ursprung und die Entwicklung, bis sie im Jetzt ankam. Morwen
nahm die Gesamtheit seiner Existenz in sich auf bis in die letzte Spitze und spürte nun eine
vollendete Einigkeit.
Sie öffnete die Augen und erwachte aus ihrer Trance. Der Tagtraum war vorbei, doch das Gefühl
noch genauso existent. Die Ruhe des Baumes und seine Erfahrung, doch auch das ankommende Übel
in seinen Wurzeln. Sie spürte einen der Äste ganz nah an ihrem Gesicht, als seien sie
nähergekommen und hielten ihr die Früchte hin, die sie trugen. Mit ihrer Hand umfasste sie die glatte
Schale in ihrer rotgelben Pracht, vernahm die Ruhe, aber auch die Kraft, die in ihr schlummerte. Die
Frucht fiel in ihre Hand und der Ast löste sich von ihr, zurück an seine ursprüngliche Position.
„Die würde ich nicht essen.“ Meinte Matteo. „Sehen sehr schön aus, aber hoch giftig. Die Leute
kippen massenhaft um, wenn sie die zu sich nehmen.“ Die Anspannung in seinem Gesicht war
mittlerweile einem lockeren Grinsen, welches sich an der rechten Seite seines Mundwinkels entlang
zog gewichen. Morwens Verträumtheit vor dem Baum hatte ihm zum Lachen gebracht, vor allem, als
sie nicht mehr auf seine Rufe reagierte und, wie er es schon im Wald erfuhr, ganz in ihrer eigenen
Welt war.
„Es ist nicht das Gift, sondern eure Unwissenheit, die euch umbringt. Man muss wissen, wann man
sie erntet.“ Meinte Morwen und verstaute die Frucht in einer der ausladenden Taschen ihrer neuen
Hose.
„Ich meine es ernst, das ist gnadenlos. Niemand hat einen Bissen überlebt.“ Sagte Matteo und das
Lächeln auf seinen Lippen wich einer nachdenklichen Miene. Wenn er so darüber nachdachte, hat er
es nie erlebt, sondern nur die Geschichten gehört. Aber wieso sollte jemand darüber lügen.
Morwen schaute Matteo an und schüttelte sanft den Kopf. „Es gibt eine Menge Potenzial, dass ihr
nicht sehen könnt.“ Für Morwen war es schwer zu verstehen, wie all die Menschen ihr Leben neben
diesem Baum verbracht haben, mit dem Baum gewachsen sind und über so wenig Wissen verfügten.
Matteo hingegen zuckte nun die Schultern. Morwen hatte ihm in den kurzen Tagen gezeigt, dass sie
über ein Verständnis der Natur verfügte, mit dem kein Gelehrter der Stadt mithalten konnte.
Außerdem fand er die Gehlehrten sowieso furchtbar unerträglich, wie sie auf den Feiern seines
Vaters mit Wissen prahlten und neuen Entdeckungen, während um sie herum das Leid weiter
siechte.
Sie verließen die große Wiese, die die Mitte der Stadt ausmachte und liefen auf der großen
Hauptstraße der Stadt hinein, in einen belebteren Teil. Die Straßen waren breit genug, sodass zwei
Kutschen nebeneinander Platz fanden, ohne sich in die Quere zu kommen. Lediglich die Fußgänger,
die dann noch versuchten weiterzukommen waren genötigt sich in die Seiten zu den Häusern zu
quetschen und durch den Unrat zu Stapfen, der sich am Straßenrand ansammelte. Der Gestank nach
Verdammnis machte sich wieder in Morwens Nase breit. Es war für sie immer noch schwer zu
ertragen, überwältigte sie aber nicht im selben Maße wie zuvor. Die beiden liefen auf ein riesiges
Gebäude zu, dass alle anderen der Stadt zu überragen schien. In den spitzen Türmen hingen Glocken
und der größte Turm wurde von einer riesigen Scheibe bestickt, die mit angehefteten Zeigern auf
Symbole wies. Schaurig wachte der Glockenturm über die vorbeistreifende Bevölkerung und warf
seinen langen Schatten über die Straße. Noch immer vernahm Morwen die argwöhnischen Blicke der
Leute um sie herum, doch alsbald sie in die Schatten des Turmes traten, schienen sie eine andere
Miene aufzusetzen. Eine starre Zurückhaltung, die wohl Freundlichkeit und Herzlichkeit gefallen
sollen, formten die Gesichtszüge der Menschen.
Den kalten Stein umgab eine gnadenlose Aura der Unterwerfung und Morwen wurde unwohl, als sie
sah welche Macht ein solches Monument über die Bewohner hatte.
Matteo und Morwen ließen die in die Himmel stoßenden Türme hinter sich und er führte sie in einen
immer übler riechenden Teil der Stadt den er als die Docks vorstellte. Hier tummelten sich immer
mehr Menschen in immer schäbigeren Klamotten durch die viel zu engen Gassen. Der Geruch von
Schweiß, Fisch und Unrat erreichte jede noch so kleine Ecke dieser Umgebung und bohrte sich durch
jede Pore in Morwens Körper. Es wurde stetig lauter, man vernahm menschliche Rufe und noch
bevor sie es sehen konnte, konnte sie Wasser hören. Als sie die labyrinthartigen Gänge zwischen den
morschen Bauten verließen standen sie an einer noch breiteren Straße welche direkt an das Meer
grenzte. Die Häuser wirkten weniger schäbig, wenngleich sie nicht ansatzweise an die prunkvollen
Häuser herankamen, die die Umgebung um Matteos Haus schmückten. Matteo hielt vor einem
breiten und mehrere Stockwerke hohen Gebäude an, vor dem ein großes Schild mit einem Fisch
darauf, welcher über der Tür hing. Durch satiniertes Glas sah man die Silhouetten einiger Leute und
das Dröhnen von Stimmen drang an ihre Ohren.
„Das sind die Leute um die sich nicht gesorgt wird, und das sind die Leute auf deren Rücken der
Wohlstand meines Vaters und dieser gesamten Stadt wächst.“ Rief Matteo mit erhobener Stimme
um dem Geräsucheschwall um sie herum zu übertönen. Er schaute sie eindringlich an, als hoffe er auf
eine Reaktion, doch Morwen wüsste nicht was sie ihm sagen sollte. Sie dachte nur an die brüchigen
Holzbauten, an denen sie vorbei gegangen waren und vernahm das Krabbeln und Kriechen von
Käfern und Mäusen auf den Straßen, Hütten und schwach gestützten Barracken.
Als sie ihm keine Antwort gab, drückte er mit einem „Nunja“ die hölzerne Tür auf und das dumpfe
Dröhnen der Stimmen wurde zu einem lauten und klarem Schall einer Masse von Menschen, die an
Tischen saßen und aus Holz- und Tonkrügen tranken.
Die Blicke richteten sich auf die zwei Neuankömmlinge. Nur ein paar wenige Gestalten blieben hinter
ernsten Mienen vertieft in ihrem Gespräch oder Glücksspiel. Als sie an den Tischen vorbei in den
Raum liefen, nickten einige der muskulösen Männer Matteo zu, oder ließen ein kurzes wenn auch
meist müdes Lächeln über ihre Lippen spielen. Vereinzelt machte Morwen auch missmutige Blicke
aus, die mit einem Argwohn, den sie nur zu gut aus den Visagen der Bewohner der Stadt kannte, auf
Matteo blickten und düstere Grimassen zogen. Matteo führte sie weiter an dem Tresen des Hauses
vorbei und nickte einem der Ausschenkenden zu und drückte eine Tür auf, die in ein Hinterzimmer
führte. Hinter dieser Tür erschloss sich eine weitere kleinere Kammer mit ähnlichem Mobiliar und
weiteren Menschen, die sich um Tische reihten. Matteo hielt vor einer Rotte aus entstellten
Gesichtern an, die an einem Ecktisch hinter der Bar saßen. Die kleinste aus der Gruppe legte ihren
kahlrasierten Kopf schief während nach kurzer Zeit der Hüne neben ihm ein mit Lücken gefülltes
Grinsen zeigte. Der Rest der Gruppe, bestehend aus einem Mann mit langen braunen Haaren und
zernarbtem Oberkörper, welcher bewusst kaum von seinem weißen Leinenhemd bedeckt wird und
einer Frau, die in ähnlich spärlicher Bekleidung vom Teller der anderen isst, starrten die beiden in
völliger Stille an. So verging ein kurzer Moment im gasthäuslichem Getöse, bis Matteo seufzte und in
einem nachgiebigen Tonfall sagte: „Die nächste Runde geht auf mich!“
Getöse aus Gelächter und Applaus erklangen als Antwort und mit einer Selbstverständlichkeit nahm
Matteo Platz am Tisch und viel in das Gelächter ein. Morwen setzte sich an einen der noch freien
Stühle neben den noch immer grinsenden Mann und die gefräßige Frau bot ihr direkt etwas von den
Tellern an.
Nachdem Matteo die nächste Bestellung aufgegeben hatte, fing er an die Unbekannten vorzustellen.
Allesamt waren sie Hafenarbeiter, die eine logistische Arbeit übernommen haben und unter den
Entscheidungen Matteos Vater litten, oder gelitten haben. Noch Während die Gruppe von ihren
Geschichten erzählte, kam eine Gestalt in dunklem Stoff mit Kapuze zu Matteo und Morwen und fuhr
mit einem Krächzen wie ein Keil durch die Unterhaltung: „Entschuldigt die Unterbrechung in solch
geselliger Runde, aber die Krähen ersuchen das Gespräch mit euch am heutigen Abend.“
Augenbrauen zuckten nach oben und die Hand, die das Essen zu Munde führte, blieb reglos in der
Luft hängen. Die Augen der Gestalt waren hinter seiner Kapuze versteckt und es schien unklar, wer
von der Gruppe angesprochen wurde.
„Auf eine solche Einladung kann man nicht mit einen Nein antworten.“ Sicherte Matteo zu, wandte
den Blick von seinen Freunden ab und versuchte die Reaktion der dunklen Figur aufzunehmen.
Die Gestalt in der Kutte schien nun in Morwens Richtung zu blicken. Mit einem leichten heben des
Kopfes kamen dunkle Knopfaugen zum Vorschein, die fragend etwas in Morwens Gesicht zu finden
suchten, dass auf Zustimmung hindeutete.
„Werdet auch ihr euch im Nest einfinden?“ Kam es erneut mit einem kratzenden, fast
unmenschlichen Ton.
Die Eindringlichkeit, mit der die Gestalt Morwens Aufenthalt am Abend erfragte, ließ alle anderen
angespannt werden. Morwen gab ein Nicken vor sich und Matteo meinte eine Entzückung in den
zusammengekniffenen Augen erkennen zu können.
„Dann freut es mich euch heute Abend wieder zu sehen!“ Und mit einer Verbeugung verabschiedete
sich das in Stoff gehüllte, hagere Gerippe vom Tisch und verlor sich zwischen den Menschenmengen.
Die Gruppe schaute die Beiden mit vielsagenden Blicken an und die kleine Kahlköpfige rief in leicht
amüsiertem Tonfall:
„Du scheinst ja eine immer wichtigere Person zu werden. Kaum lässt man dich für ein paar Tage aus
den Augen, wollen die zwei Krähen mit dir reden. Was hast du denn dieses Mal angestellt, ich dachte
sie wollten sich aus politischen Angelegenheiten raushalten.“
Matteo lachte gespielt wissend.
„Ich hatte da einiges in Planung was die nächsten Aufstände angeht. Wir müssen nur noch auf die
passende Schiffsladung warten, aber mit den Krähen hat das alles nichts zu tun. Die Feiglinge haben
ja nie auf mein Erbeten reagiert. Ihr ganzes Potential lassen sie in einem miefenden Keller verrotten.“
Die Erwähnung eines Planes schien die Gruppe in Aufregung zu versetzen. Die Anspannungen
wurden von einer großen Leidenschaft über vergangene und nun kommende Pläne für Aufstände
und Krawalle gegenüber den Verantwortlichen ihres beschriebenen Elends überdröhnt. Scheinbar
gab es schon etwaige Situationen, in denen man in Mal mehr und Mal weniger gewaltsamen
Auseinandersetzungen versuchte das fortlaufende System zu brechen. Jedes Mal schien einer der
Anwesenden Teil des Komplotts gewesen zu sein und hatte sich die Informationen und Verbindungen
seiner Arbeit zunutze gemacht um mit Matteos Hilfe, der über verschiedenste Pläne, Finanzbücher
und Informationen von Konkurrenten seines Vaters verfügte und damit über ein beträchtlichen Teil
des operierenden Systems und seiner Führungsmächte Bescheid wusste, Lieferungen blockiert oder
gekapert.
Morwen verstand recht wenig von der folgenden Unterhaltung. Die diffusen Verstrickungen
verschiedener Familien und das willentliche gegeneinander arbeiten löste bei ihr am ehesten
Unbehagen aus. Trotz Allem war es für sie interessant die Reaktionen der Beisitzenden zu
betrachten. Die Gruppe wirkte, wie ein großes funktionales Rudel, nur dass es keine Führungsrolle
gab. Trotzdem wirkte ihr gemeinsames Streben nicht rollenlos. Für Morwen klang es, als ob jeder
einen unterschiedlichen Bereich der Stadtstruktur verstand und zu manipulieren wusste. Die
Erarbeitung des Plans formte sich durch das gegenseitige Austauschen ihrer erlangten Informationen
und dem Hinterfragen der Funktionalität. Zu keinem Zeitpunkt sprach eine der beteiligten Personen
zu viel oder zu wenig. Es war klar, dass jeder wusste, wann er sich mitzuteilen hatte und auf jede
Frage wurde eingegangen. Alle am Tisch sitzenden hatten einen intrinsischen Wunsch Teil der
Verantwortung zu sein.
So zog sich das Gespräch über den ganzen Tag. Krüge und Teller stapelten sich am Tisch und Morwen
lauschte den Plänen und Vorstellungen der Gruppe, bis die Diskussion unkoordinierte und die
Zwischenrufe frequentierter wurden. Das Glänzen in den Augen der Beteiligten wich einem
matteren, müden Blick. Die Erregung des Körpers in ein, vom Gackern schlaffe Statur. Morwen
spürte, dass der Moment gekommen war, das gemeinsame Sein aufzubrechen und stand auf. Die
anderen schauten überrascht in ihre Richtung und unterbrachen für einen kurzen Moment das
Gelächter, welches die Kammer füllte. Mittlerweile waren sie die einzigen in dem Raum und es wurde
still.
Matteo seufzte und auch er erhob sich von seinem Stuhl. Etwas an seiner grazilen Art verlor sich.
„Ich nehme an es wird Zeit herauszufinden was die verdammten Krähen jetzt von uns wollten.
Vielleicht haben sie ja doch noch gemerkt, dass ihre religiöse Darbietung und Einfluss für mehr als
nur dem Erzählen von Legenden und Mysterien gut sei.“ Rief er mit leichtem lallen aus.
Die kleine glatzköpfige schaute ihn mit erhobener Braue an und meinte:
„Verärgere sie nicht. Sie haben seit jeher einen festen Platz in dieser Stadt. Es ist allein eine große
Hilfe, dass sie sich nicht gegen uns aussprechen. Du weißt letzendlich nicht wie weitreichend ihre
Macht sein könnte und wohin sich ihr Nest ausgebreitet hat!“
Matteo verdrehte darauf die Augen, doch er wusste, dass sie Recht hatte.
Nachdem die beiden sich von der Truppe verabschiedeten liefen sie aus dem Hinterzimmer. Matteo
legte Metall auf den hölzernen Tresen und der Mann dahinter bedankte sich mit einem
verschmitztem Grinsen auf dem Gesicht.
„Ich bin überrascht, dass ihr, von allen Wesen, Krähen anbetet“.
Meinte Morwen als sie ein paar Schritte aus dem großen Holzhaus gemacht hatten.
„Von Anbeten kann bei mir nicht die Reden sein.“ Die Sonne hatte mittlerweile ihre Stärke verloren
und so nah am Meer wurde es durch die Winde kühl. Ein kurzer Schauer durchfuhr ihn. „Aus ihren
Schnäbeln ist bis jetzt nicht mehr als Rätsel und vage Weissagungen gekommen. Sie scheinen überall
ihre Ohren und Augen zu haben, wissen über das meiste Bescheid was in den Mauern dieser Stadt
vor sich geht, doch scheinen nichts unternehmen zu wollen. Bis heute haben wir nicht
herausgefunden wer letzten Endes alles zu ihnen gehört, geschweige denn was ihr Plan ist.
Die knorrige Kreatur, die uns angesprochen hat ist einer ihrer selbsternannten Akolythen, die sich
meist unbemerkt durch die Stadt bewegen. Wie viele es sind, ich habe keine Ahnung, die sehen alle
gleich aus. Ich verstehe auch nicht, wie sie an die Informationen kommen. Es ist, als ob sie wirklich
mit den Krähen auf unseren Dächern reden könnten.“
Da bemerkte Matteo, dass Morwen vielleicht gar keinen Witz gemacht hatte und er fing an in sich
hineinzulachen. Jetzt realisierte er erst was für eine absurde Situation sich gebildet hatte. Was vor
zwei Tagen passierte kam ihm vor als sei es schon ewig her. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf noch
gar nicht verstanden habe, dass es wirklich passiert ist und nicht nur Teil eines Traumes war. Aus
Instinkt blickte er sich trotz allem noch einmal ganz kurz in Richtung Morwen und dachte an ihre
erste Nacht. Dann erkannte er seine ganze Person inmitten der großen Straße neben dem Hafen und
es kam ihm fast surreal vor. Er ist hier aufgewachsen und kannte jede Gasse. Hat sich rumgetrieben
in den oberen und unteren Teilen der Stadt. Zwischen Reichen und Armen, Kranken und Gesunden.
Kannte die Männer und Frauen aus der Schanke, kannte die wichtigen Familien, mit denen sein Vater
arbeitete. Er verstand es mit ihnen zu reden, aber verstanden hat er am Ende selten. Zufriedener war
er mit seinen Freunden vom Pier, wenn er mit ihnen plante. Die wiederkehrenden Gesichter blickten
ihn an. Gesichter die er kannte. All die Leute, die neben ihm entlanggingen, träge von der Arbeit,
keiner wusste was passierte. Was kommen sollte. Niemandem war gewahr was im Wald geschehen
ist. Keiner wusste wer Morwen war und keiner kannte das Potenzial, welches in ihr schlummerte. Mit
einem Schulterzucken und dem Lächeln, das sich auf der rechten Seite seines Mundes nach oben zog
spazierte er weiter und holte zu Morwen auf.
„Nun lass uns die Krähen nicht warten lassen. Wenn man eine Einladung der Guten bekommt, ist das
bekanntlich eine große Ehre.“ Er klang zwar gewitzt, doch lag auch ein Ernst in seiner Stimme den
man nicht überhören konnte.
So begaben sie sich ein weiteres Mal in die wirren Gassen der Stadt und klemmten sich zwischen
dreckigen und stinkenden Arbeitern. Es war zwar nicht allgemein bekannt wo die Krähen lebten,
doch wenn man von ihnen gerufen wurde, dann musste man sich nur in ihr Territorium begeben, ihr
Nest, und sich leiten lassen.
Sie liefen parallel zum Wasser, sodass neben dem städtischen Treiben noch immer das Schlagen der
Wellen zu hören war. Sanft umrahmte es die Geräuschkulisse und fügte sich ruhig zwischen die Rufe
der Menschen um sie herum. Die von Matteo beschrieben Krähen, welche sich auf Dächern befinden
sollten, häuften sich, je weiter sie in die Stadt eindrangen. Stück für Stück entfernten sie sich vom
Wasser, bis das Wuseln der Gestalten und ihre lauten Schreie die Kulisse völlig vereinnahmte. Die
engen Gassen und ihre Verzweigungen erinnerten sie an den Wald, in dem sie lebte. Man konnte
nicht in die Ferne blicken und trat man tiefer ein wurde es unwegsamer, dichter und wenn man nicht
aufpasste, war man schnell verloren, ohne Hoffnung wiedergefunden zu werden. Denn das ungeübte
Auge würde sich hier nur schwer zurechtfinden.
Auch hier gab es zwischen den verschiedensten Wohnunterkünften, die teilweise so
heruntergekommen waren, dass sie wirklich an eine Höhle oder den Bau eines Tieres erinnerten,
Lichtungen, an denen ein Zusammenkommen verschiedener Menschen zu sehen war. Vermehrt
trieben sich die Gestalten in schwarzen Kutten, welche Morwen schon zuvor gesehen hatte, in den
Ansammlungen umher und sie hatte das klare Gefühl von ihnen beobachtet zu werden. Sie befanden
sich Mal alleine, Mal zu zweit an den Ecken, in offenen Türen, oder inmitten des Menschenflockes
und alle schauten schon in ihre Richtung als hätten sie sie bereits erwartet. Sobald Matteo und
Morwen auf sie aufmerksam wurden deutenden sie mit ihrem, in der Kapuze gehüllten, Kopf oder
knorrigen Fingern, die aus den schwarzen Stoffgewändern herausstachen, in eine Richtung, denen
die Beiden folgten. Auch die Vögel auf den Dächern schienen ihr aufmerksam zu folgen. Sie hatte
Schwärme von Vögeln noch nie in so bizarren Bewegungen erlebt. Ganz starr waren sie und dann
Stück für Stück fingen sie an sich zu bewegen, nicht gemeinsam, sondern ganz eigen in ihrer Form.
Sie richtete ihre Konzentration wieder auf die menschlichen Gruppierungen. Sie wusste nicht Recht,
wie sie die Blicke der anderen zu deuten habe. Das Haschen ihrer Gesichter war teils subtil, doch
dann wieder dominant auf sie gerichtet. Alles war gepackt in tägliche Handlungen, oder
Unterhaltungen mit anderen, doch je mehr Morwen von ihnen aufmerksam betrachtete, desto
stärker wuchs in ihr das Gefühl, auch von ihren Augen verfolgt zu werden. Sie spürte, wie sich in ihr
der Drang anbahnte sich zu verstecken. Ein natürlicher Impuls, welchen sie schon lange nicht mehr
vernommen hatte. Doch was nütze es ihr, dachte sie sich. In Starre zu verfallen, sich in den dunklen
Schatten zu verkriechen. Sie kenne die Gegend hier nicht. Sie wisse ja nicht einmal was das Hier sein
möge. Um sich von den Eindrücken loszusagen versuchte sie sich darauf zu konzentrieren, wohin sie
von den hageren Gestalten gelotst wurden. Da fiel ihr auf, dass die sich immer wieder Mal im Kreis
bewegten. Das Gefühl der Mächte aus den vier Richtungen schien sich in einem gleichmäßigem
Rhythmus zu verschieben. Das vermeintlich ziellose Treiben verunsicherte sie zunehmend. Die
weiteren Schritte erzwingend, blickte sie in Richtung Matteo. Auch er schritt mit angespannten Gang
voran. Die sonst lockeren Schultern hingen nicht mehr herunter und seine Blickte schwanken nach
Links und Rechts aus. Morwen trat an ihn heran und sagte zu ihm in einem leisen Ton, als habe sie
Angst die Fremden können ihr Unbehagen bemerken: „Wir laufen hier schon seit einiger Zeit im
Kreis“ Matteo ließ sich ein paar Sekunden Zeit für seine Antwort. Er leckte sich über die Lippen und
antwortete in einem ähnlich flüsterndem Ton: „Das letzte Mal, dass ich hier war, hat es auch ewig
gedauert, bis sie mich ankamen ließen. Ich glaube sie wollen nur sicher gehen, dass wir nicht wissen,
wo sie ihren Unterschlupf haben. Sie sind schüchtern musst du wissen.“ Morwen wartete, bis sie an
einer weiteren Gestalt in Kutte vorbeigingen, die sie in eine schmale Gasse führte, an deren Ende
zwei weitere warteten. „Sie starren auf uns wie Vögel auf Aas.“ Mit einem Schnaufen bestätigte
Matteo ihren Gedanken und blickte sich um. Hinter ihnen befanden sich neben der Gestalt nun
weitere Akolythen und liefen mit Abstand hinter ihnen her.
Die Gasse schien immer enger zu werden, sodass ihre Körper leicht aneinandergedrückt wurden.
„Haben sie dich das letzte Mal auch so in die Enge getrieben?“ fragte Morwen. Die Anspannung in
ihrer Stimme hatte sich nicht gelegt.
„Normalerweise stülpen sie Außenstehenden einen Sack über den Kopf. Das hier ist neu.“ Morwens
Unruhe schien ihn nervöser zu machen, als er es zugeben wollte und ihre Frage ließ ihn in besorgter
Erregung zurück. In einem Automatismus, welchen er über sich über die Jahre angeeignet hatte,
blickte er sich nach erdenklichen Fluchtmöglichkeiten um. Sie standen an den Rückseiten von kleinen
Holzhütten in denen vermutlich Familien lebten. Es waren keine Fenster zu sehen, nur vereinzelt
Hintertüren, die etwas willenlos in ihrer Verankerung hingen. Über ihnen setzten sich immer mehr
Vögel auf die Dächer und starrten auf sie hinunter. Morwen und Matteo blieben in der Mitte der
Gasse stehen. Die Akolythen kamen näher. Die Mimik, welche unter den Kapuzen zu erkennen war,
schien ausdruckslos und die dunklen Augenhöhlen auf sie fixiert. Matteo war bereit durch die Tür zu
brechen und Morwen mit sich zu reißen. Morwen selber schloss kurz die Augen und atmete lange,
tiefe Züge. Die verhüllten Gestalten hielten, in ein paar Schritt vor ihnen, inne und verharrten für
einen kurzen Augenblick in Starre. Als Morwen ihre wie Schlitze geformten Augen öffnete, kramte
der Akolyth, welcher sie ursprünglich in diese Gasse geführt hatte in einer Ledertasche, welche an
seiner Hüfte hing. Die kreideweißen Finger brachten zwei Stofffetzen zum Vorschein in derselben
pechschwarzen Farbe wie ihre Kleider.
Eine krächzende Stimme erschallte, ähnlich derer, welche sie im Haus gehört haben.
„Du kennst die Regeln, eure Augen müssen bedeckt werden.“ Es war schwer zu sagen, welcher der
Gestalten sprach, ihre Münder schienen sich kaum zu regen und der Klang wirkte wie ein Hallen, fast
als käme es vom Himmel selbst und nicht von Unten aus der Gasse.
Die Anspannung ließ von Matteo ab. Morwen blickte sich weiter um. Noch immer hörte sie den
Befehl zwischen den Wänden hallen. Sie starrte hoch zu den Krähen welche ihren Blick, mit
tiefschwarzen Augen erwiderten. Keiner der Krähen wich ihrem Blick aus. Alle warteten sie, bis die
Akolythen den beiden die schwarzen Säcke über den Kopf zogen. In einem letzten Moment öffnete
die Krähe ihren Schnabel und ließ einen lauten Schrei von sich, dann wurde es dunkel um Morwen.

Sie wurden noch einmal durch die Gassen gescheucht, bis sie stehen blieben und eine Tür geöffnet
wurde. Als sie eintraten, gaben die Dielen des Bodens ein leises Knarzen von sich. Von draußen
vernahm Morwen noch immer das Schlagen von Flügeln und ein paar vereinzelte Rufe.
Man setzte die Beiden auf Stühle und zog die Säcke von ihren Köpfen. Sie befanden sich in einem
Raum, dessen Ecken sie in der Dunkelheit nicht ausmachen konnten. Das einzige Licht schien von
zwei einsamen, reglosen Kerzenflammen, welche vor ihnen auf einem hölzernen Tisch standen und
Schemen ihrer Umgebung offenbarten. Gegenüber des sperrigen Holztisches saßen zwei hagere
Figuren. Ihre schwarzen Umhänge ließen es so wirken, als seien sie bleiche Entitäten, die sich
langsam und ungeformt aus den Schatten schälten. In den Augen und auf den kahlen Köpfen der
Gestalten spiegelte sich das Feuer. Ihre Gesichter schienen wie geisterhafte Masken über lange,
dünne Knochen gezogen zu sein, die sich immer weiter zuspitzten. Die rohen Ecken ließen sie alt
aussehen, obwohl die Haut straff und unbenutzt wie geschliffener Alabaster wirkte. Mit
eindringlichen Blicken musterten die zwei Fremden Morwen und Matteo in absoluter Stille, die
schwarz bemalten Lippen zu einem geraden Strich zugezogen. Man konnte es nicht sehen, doch es
war zu spüren, dass noch andere Blicke auf ihnen ruhten. Irgendwo aus der Finsternis starrten sie
mehrere dunkle Augen an.
Dann eine Bewegung. Eine der bleichen Figuren, rechts sitzend, änderte die Haltung ihres Körpers,
langsam und kontrolliert. Die andere Gestalt wand sich mit leicht geöffnetem Mund in ihre Richtung.
Im Profil war der knochige Auswuchs des spitzen Gesichtes noch deutlicher zu erkennen. Die sich
bewegende Gestalt erwiderte den Blick und ihre Münder schienen sich zu kräuseln. Ein grausames
Spektakel, von Fleisch und Knochen, welches sich im Kerzenlicht bot. Nach einem kurzen Moment
blickten sie zurück auf Morwen und Matteo, die sich noch immer nicht auf ihren Stühlen gerührt
haben, besorgt die Stille zu unterbrechen.
„Gut, dass du gekommen bist.“ Kam es aus dem leicht verzerrten Mund der linken Figur.
„Gut, dass der Weg dich gefunden hat. “ Tönte es durch den gesamten Raum, wie ein kleines Beben.
„Wir warteten schon seit einer ganzen Zeit und der Weg… er wurde ungeduldig.“
„Unheil steht vor unseren Türen!“ Ertönte es von der anderen Figur.
„Dämonen, Dämonen, Dämonen!“ Krächzte es aus der Dunkelheit um sie herum.
„Ihr habt es schon gespürt, nicht wahr? Man kann es noch immer in eurer Aura fühlen!“ Langsam
erhob die linke Gestalt die fast unmenschlich langen, weißen Finger, auf denen mit schwarzer Farbe
Muster und Formen gemalt waren, und ließ die Hand sachte, ohne zu zittern durch die Luft gleiten,
als ob sie etwas versuchte zu fassen.
„Ihr hattet Kontakt mit dem Verdorbenen in den Wäldern, man kann es förmlich schmecken.“ Um sie
herum ertönte ein Schmatz ähnliches Geräusch mit einem Ausruf von Ekel.
„Sie sind in den Wäldern und verbreiten sich. Sie werden keinen Halt machen. Tief in unsere Adern
dringen sie vor. Jeden Moment spüren wir sie, wie ihre Verderblichkeit tiefer zu uns dringt. Wie es
sich in das Netz dieser Stadt ergießt. Von allen Seiten will es bis in unserer Mitte dringen!“
„Es wird kommen!“ „Sie werden mehr!“ „Er hat sie auserkoren.“ Rief es in leisen Sprechchören aus
allen Ecken des Raumes.
„Morwen.“ Und der Blick beider Gestalten fixierte sich wieder gnadenlos auf sie. „Eine Wächterin des
Waldes.“ Es machte eine längere Pause, als ob es nachdenken würde, bis die andere Gestalt anstelle
ihrer zu reden begann. „Eine Hüterin des Alten wurde uns versprochen.“ Und so durchmischten sich
die Beiden in ihren Klängen und redeten nicht zueinander, aber miteinander. „Denn dem Übel folgt
auch immer das Heilige. Wenn es Chaos gibt, braucht es Ordnung und gibt es Ordnung so bringen wir
Chaos. Neben der Vernunft sitzt auch die Unvernunft und man erhörte unsere Klagen nicht.“
Die Aussage schien etwas in Matteo zu erregen, denn er fing an die Hände in Höhe zu reißen und in
Empörung laut in den Raum zu rufen:
„ Was sollen eure Klagen sein?“ Im Dunkeln des Raumes gab es Scharren. „Niemand versteht, wovon
genau ihr redet. Ich höre vage Andeutungen so präzise jetzt hier zum ersten Mal in diesem Raum. Ihr
warnt vor Unheil und Bedrohung, doch weder konntet ihr sie beschreiben noch uns sagen, wie wir
vorgehen müssen.“
Matteo gestikulierte nun wild in ihre Richtung. Das Scharren wurde lauter und wilde, schnarrende
Ausrufe wurden durch die eine Ecke zur anderen geworfen.
„Wir versuchen doch das Elend dort draußen zu lösen. Die dreckigen Straßen, in denen man die
Menschen zurücklässt und sie elendig verrecken lässt. Es ist mir völlig unklar, was ihr von euch gebt.
Nein, wie ihr euch gebt. Ihr bietet manchen ein Leben als Asketen an, aber das ist doch keine Lösung.
Völlig heruntergekommen lasst ihr sie zurück, ändert ihre Umstände nicht, lasst sie nur denken es sei
gut so wie es ist. Als ich euch bat, uns, mit eurem Einfluss und eurer Gefolgschaft, zu unterstützen
und wahre Veränderung nicht nur in der Theorie, sondern auch im Realen zu vollbringen, habt ihr uns
abgelehnt, uns für unwürdig gehalten…“ Matteo hielt kurz inne.
„Und ihr hattet völlig recht! Ich verstehe wahrhaftig nicht was ihr mir sagen wollt.“ Er schüttelte den
Kopf und der Raum wurde wieder still.
Die beiden hageren Gestalten blickten zu Matteo. Die eine herabschauend, die andere vergebend, als
hätte sie ein Kind vor sich, dass es nicht besser wisse. Wie sie dort in der ausschweifenden Finsternis
saßen, wirkten sie auf einmal riesig. Schweigsame Riesen die mit ihrer Präsenz den Raum
einzunehmen schienen. Langsam erklangen wieder Geräusche aus dem Dunkeln. Ein säuselndes
Flüstern, voller Zweifel und Fragen.
„Du bist ungestüm Matteo.“ Kam es von der linken Figur in einem ganz neuem, viel klarerem Ton.
„Vergieß dein heißes Blut nicht in diesem Raum. Spare es dir und nutze es, denn es wird fließen“
Falls Matteo es als eine Drohung aufgefasst hatte, schien er es gut zu verbergen. Doch Morwen hatte
nicht das Gefühl von der Gestalt bedroht zu werden. Sie hatte Tiere die Zähne fletschen sehen und
ihnen zugehört, wie sie lautstark ihr Revier verteidigten. Dieser Ton war ein anderer. Auch er war
geprägt von Gefahren, doch kam er nicht von ihnen. Sie dachte zurück an das brennende Feuer und
die Worte, die in dieser Nacht gefallen sind. Sie dachte an das dunkle Treiben im Bach und an das
grausame Gefühl, welches sie in dieser Stadt erfuhr.
Dann ergriff Morwen zum ersten Mal das Wort:
„Ich bin von meinen Wäldern hierher geirrt. Rufend lockte es mich aus der Hütte, und ich folgte ihm
bis hin in einen Wahn. Ihr redet von einem Weg, der mir vorherbestimmt sei? Pfade die auf mich
warteten, ganz ungeduldig und voller Erwartung. Auf eine Wächterin von Altem. Von euren
Erzählungen klingt es fast so als würdet ihr mich kennen, doch meine eigenen Erinnerungen
verblassen immer mehr. Euer Narrativ ist mir gänzlich fremd. Ihr scheint eine Bestimmung zu sehen,
die mir verborgen bleibt, aber auch ihr scheint Mächte wahrzunehmen für die andere erblindet sind.
Ihr könnt das Verdorbene an uns fühlen und wisst, dass sie in den Wäldern warten. Seid ihr Teil des
wachsenden Organismus dieser Stadt? Wart ihr schon da als der Baum das erste Mal seine Früchte
trug?“ Morwen schien weiter aufzublühen, je mehr sie sprach. Während sie zuerst noch direkt in die
schwarz um malten Augen der kahlen Gestalten ihnen gegenübersaß, schweifte ihr Blick nun ab und
verlor sich in transzendenten Bildern. Für einen kurzen Moment schien es, als ob jemand anderes
sprach und bei ihnen saß. Nicht die Person, die Matteo in den letzten zwei Tagen kennengelernt
hatte.
„Ihr gebt euch als hättet ihr Antworten auf Fragen, die noch nicht gestellt worden sind. Doch auch
ihr wirkt machtlos in eurem Gebären gegenüber des Kommenden. Dem was schon unter euch
gewachsen ist und nur darauf wartet über euch herzufallen. Ihr sucht nach mir, nein ihr wartet auf
mich und mein Erscheinen. Dem Zwecke gefügig, was soll ich tun? Was ist das Ich für euch, dass
bewerkstelligen kann, was ihr nicht vollbringt?“ Als Morwen fertig war und fragend in die Richtung
der zwei unbekannten Gestalten schaute setzte Matteo noch einmal hinterher.
„Genau, ihr gebt mehr Fragen als das ihr Antworten für uns habt, obwohl ihr doch so viel wisst und
sieht. Nun sagt uns doch endlich wovon ihr die ganze Zeit redet.“
„Du scheinst dich deiner Rolle zu fügen. Deinen Part im Spiel spielen zu wollen.“ Fing die rechte Figur
wieder an zu krächzen, während die andere zustimmend nickte. „Deine Erinnerungen werden
schwinden je weiter Weg du von deinem ursprünglichen Quell bleibst. Doch dein Wissen über die
Welt wird bleiben. Wir haben vor vielen Jahren jemanden wie dich in der Nähe dieser Stadt gehabt.
Sie hat uns von euch und euren Aufgaben erzählt. Sie wurde aus unserer Stadt gejagt. Man hatte
Angst vor ihrer Macht. Sie warnte uns vor dem was kommen möge. Vor Mächten, die versuchen
würden zu uns zu dringen und von uns Besitz zu ergreifen. Sie verließ uns mit den Worten, dass nach
ihr jemand kommen mag von ihrem Stamm. Wir sollten warten, denn ein Weg würde sich
offenbaren, um die Gefahren zu stoppen. Der Weg würde sie finden und sie erproben.
Für deine Fragen haben wir nur kurze Erklärungen, doch können wir dich zu ihrem Ort führen, an
dem sie lebte. Dort meinte sie, sollst du Antworten finden und dich dem Übel stellen, welches uns
plagt.“ Die Augen, in denen nichts Weißes zu erkennen war ruhten auf den Beiden. Die Köpfe
drehten sich in fragender Art zur Seite, nicht ohne sie weiter zu beobachten. Die linke Kreatur fragte
nun in die Stille hinein:
„Willst du zu deinem Ursprung und dich der Probe stellen, welche dir geboten wird?“
Noch bevor Morwen eine Antwort geben konnte, gab sich Matteo die Blöße und rief noch einmal mit
lauter Stimme:
„Das war Alles? Dafür habt ihr uns durch eure Irrwege geführt? Wozu bin ich denn nun überhaupt
hierhergekommen? Ihr hattet eben doch von Anfang an nie Interesse uns zu unterstützen und
Veränderung hervorzurufen. Und wenn dann Mal eine Gefahr kommt, die mit übernatürlichen
Mächten spielt, dann versteckt ihr euch hinter anderen Legenden und wartet.“
„Auch du wirst bald sehen welche Rolle dir in diesem Spiel zuteilwird Matteo.“ Schnatterte das link
Wesen ihm entgegen. „Wir werden euch führen, bis zu ihrem Ort, wenn ihr es denn wollt, danach ist
es an euch was passieren mag. Wir werden warten und diese Stadt beobachten, wie wir es schon seit
langem getan haben.
Morwen atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Sie wusste nicht genau, was sie
darauf antworten sollte, hatte nur das Gefühl, dass sie am Ende des Gespräches angekommen waren
und nicht mehr von den unbekannten Kreaturen erfahren würden.
„Danke für euer Wissen Krähen. Ich werde einen Moment darüber nachdenken müssen.“ Sagte
Morwen mit ruhiger Stimme und erhob sich von ihrem Stuhl. Matteo schaute sie an, seufzte und
erhob sich ebenfalls.
„Natürlich“ Kam es zeitgleich aus den spitzen Münder und ihre eckigen Köpfe zeigten eine leichte
Verbeugung an. Dann hörten sie Schritte hinter sich und kurz danach überschlug sie eine Dunkelheit
und das Gefühl von kaltem Stoff auf ihrer Haut.
Die Beiden spürten, dass sie das Haus verließen, als bürgerliche Stimmen an ihre Ohren drang.
Zweckmäßig wurden sie wiederholt durch verschiedene Gänge geleitet, bis man ihnen die Säcke vom
Kopf nahm und das Licht der untergehenden Sonne auf ihre Augen fiel. Sie befanden sich an einer
Stelle, die sie aus der Irrfahrt durch die Gassen am Hafen von davor erkannte. Drei verhüllte
Akolythen entfernten sich in langsamen, präzisen Schritten von ihnen und alles was blieb war das
sanfte Geräusch der Wellen, die gegen Holz und Stein schlugen und das vereinzelte Huschen anderer.
Morwen blickte Matteo an und umgekehrt. Beide verloren keinen Ton, doch in ihren Gesichtern
spiegelten sich einige Fragen. Gemeinsam setzten sie sich an eine Bank die nah am Wasser stand und
verharrten dort. Das Aufschlagen der Wellen versetze sie in einen müden Rhythmus, der zum
Grübeln anregte. Doch keiner der Beiden war je ein guter Grübler gewesen. Die Gedanken waren
zäh. Fast dröhnend schlug deren Ungenauigkeit in ihren Köpfen ein und löste dort ein dumpfes
Unwohlsein aus. Bis die letzten Bewohner den Platz verließen und die Sonne mit ihren letzten
Strahlen um den Tag rang, schwiegen beide und blickten auf das blaue Wasser hinaus, welches den
Feuerball immer weiter verschlang. Das Verschwinden der orangenen Kugel war wie ein Signal und
sie schauten sich an. Matteo zog die warme Luft des Sommersabend ein und fragte: „Was jetzt?“
„Was gibt es noch zu tun, als uns endlich von diesem Fleck zu bewegen?“ Meinte Morwen.
„Bewegen werden wir uns, aber willst du den Krähen folgen?“ Hakte er nach.
„Wenn es stimmt was sie gesagt haben, dann wurde ich hierher gerufen. Es scheint mir als würde der
Wald verkümmern und in seinem Elend zurückgelassen.“
„Aber willst du dich noch einmal dagegenstellen? Das waren Biester und Rituale, mit denen ich mich
nicht anlegen wollen würde. Vor allem ist es nicht dein Kampf. Nur weil unsere Autoritäten hier
unwillig sind dagegen vorzugehen. Du kannst auch mit uns arbeiten! Mit deinen Fähigkeiten können
wir noch schneller Veränderung in unser System bringen und uns dann gemeinsam gegen das Übel
vor unserer Stadt stellen.“
„ Du kannst es nicht sehen, aber das Übel wartet nicht vor der Stadt. Es ist bereits hier und verdirbt
euch.“
„Es gibt sicherlich verdorbene Gestalten hier, die meisten davon sitzen in ihren Machtpositionen und
werden fett. Aber das sind doch genau die Leute, die wir ausräuchern wollen. Ignorant und gierig. Sie
werden uns sicherlich nicht beistehen. Solange sie können, rauben sie und bereichern sich an
anderen. Niemand von ihnen hilft den Mittellosen in dieser Stadt, niemand kommt zur Hilfe, wenn sie
erkranken und sie werden auch niemanden zur Hilfe kommen, wenn das was da Draußen auf uns
wartet, kommen wird. Wir bekämpfen dieselben Feinde. Gehen sie, können wir gemeinsam dagegen
vorgehen.“
„Es gibt keine klare Abgrenzung wie du sie siehst. Diese Stadt ist ineinander verwoben. Ist der
Ursprung verunreinigt, trifft es jeden obgleich seiner Einstellung. Durch euch alle fließt dasselbe Blut.
Ich stelle mich dem Verdorbenen aus demselben Grund, aus dem du dich zu anderen gesellst und
gegen deinen Vater auflehnst. Nicht weil du den Kampf selbst austragen müsstest, sondern weil du
es als dein Selbstverständnis siehst.“
Der letzte Teil schien für Matteo einleuchtend und er hatte auch nicht das Gefühl, dass er Morwen
jetzt dazu bewegen könne, für seinen Zweck zu arbeiten. Die Faszination, die er von Beginn an
verspürte blieb jedoch und seine Hoffnung, nachdem sie mehr über sie und die Bedrohungen
herausgefunden haben, sie für seine Motive begeistern zu können saß noch genauso fest in ihm. So
entschied er sich mit ihr mitzugehen, als sie sich von der Bank erhob und umblickte.
Morwen erspähte Krähen auf den Dächern, die sie weiterhin starr anblickten, als ob sie warten
würden, unsicher ob das was sie beobachteten schon tot sei, oder sie sich gedulden müssten.
Als sie auf die Vögel zuliefen, erhoben sie sich mit ihren schwarzen Schwingen und folgten allesamt
einer Richtung außerhalb der Stadt, bis man ihre dunklen Körper im Nachthimmel nicht mehr
erkennen konnte. In flottem Schritte, um die Trägheit aus den Gliedern zu bekommen, folgten sie
ihnen in die Tiefe der Nacht, bis hin zur Stadtmauer. Auf den steinernen Zinnen saßen die Krähen und
schnarrten bewusst provokant in ihre Richtung.
„Die Stadttore werden schon geschlossen sein, aber ich kenne jemanden der uns kurz
durchschleusen könnte. Wird vielleicht schwieriger, da mein Vater gerade ganz genau aufpasst, dass
ich genau das nicht tue.“ Bot Matteo an.
„Ich hätte einen anderen Vorschlag. Erschrick nicht und versuch deine Balance zu halten.“
Meinte Morwen und schloss für einen kurzen Moment die Katzenaugen. Sie spürte die Mächte in
ihrem Körper und ließ die belebende Energie durch die Struktur ihres Körpers fließen, bis sie in den
Boden drang und sich dort ausbreitete. Sie erkannte die wurzelähnlichen Gebilde der Stadt und
packte sie. Noch während sie anfing die Formen zu weben und sich die Erde unter ihren Füßen regte,
spürte sie, wie von Außerhalb eine ihr bekannte Präsenz lauerte. Dicke Wurzeln bepackt mit Erde
ergriffen die beiden und trugen sie langsam entlang der Mauer nach oben. Die lauernde Präsenz
wurde auf sie aufmerksam und kroch in ihre Richtung. Sie befanden sich nun auf der anderen Seite
der Mauer, mehrere Meter über dem Boden, als sie das gackernde Lachen der näherkommenden
Energie vernahm. Unbeirrt kroch es weiter auf sie zu und löste ein Gefühl des starken Unwohlseins
aus. Der Ekel wuchs und kurz bevor es sie erreichte, löste sich Morwen aus der Verbindung mit der
Macht. Die Präsenz war verschwunden, doch niemand kontrollierte mehr die losen Fäden des
Arkanen in den Wurzeln. Chaotisch stoben sie in alle Richtungen aus, in einem Versuch sich wieder
mit etwas zu Verbinden und zu fügen. Sie steuerten nicht mehr behutsam Richtung Boden, sondern
stießen gegen die Mauer der Stadt, als würden sie verzweifelt nach Halt suchen. Andere Wurzeln
fingen an, sich um die Körperteile der beiden zu schlingen. Das starke Reiben an der Haut ließ sie
wund werden und wie ein Raubtier, welches Blut witterte, drängten sich die Wurzeln an diese
Stellen.
„Spring!“ Rief Morwen zu Matteo, der sein Bestes gab einer der sich aufdrängenden Wurzeln vom
seinem Handgelenk fernzuhalten. Der Ruf kam von über ihm, aber Matteo schaute zuerst in Richtung
Boden, fand es jedoch schwer in der Hektik den nur vom Mondlicht beschienen Boden und seine
Entfernung abzuschätzen.
„Spring, bevor sie sich an dir verhärten werden!“ Rief Morwen noch einmal und als er nach Oben in
ihre Richtung blickte, sah er nur noch ihr Schemen gegen die Mondsilhouette, die zu Boden sank. Er
schaute noch einmal gen Tiefe. Ihm war nicht wohl dabei, aber als er eine peitschende Wurzel an
seinem Rücken spürte überwand auch er sich und sprang.

Morwens Sturz wurde von Grass und Schlamm gestoppt. Zwar kam sie unbeschadet unten an,
brauchte aber noch einen kurzen Moment um sich zu orientieren. Gerade rechtzeitig schaute sie
nach oben und sah die Umrisse eines Matteos der auf sie hinunterfiel. Sie breitete die Arme aus und
machte sich bereit ihn aufzufangen. Mit einem Grunzen gingen die Beiden zu Boden und lagen im
Dreck. Nach einem kurzen Stöhnen rollte sich Matteo zur Seite und die Beiden standen wieder auf. Er
schüttelte sich kurz und blickte Morwen an. Er brauchte noch ein paar tiefe Züge, um wieder
sprechen zu können.
„Als du meintest ich solle die Balance nicht verlieren, habe ich nicht erwartet, dass wir von Wurzeln
verdroschen werden.“
Morwen schaute besorgt in seine Richtung.
„Geht es dir gut?“ Fragte sie und fing an seinen Körper abzutasten.
Matteo horchte kurz in seinen Körper und spürte den leichten Druck ihrer Hände auf seiner Haut. Er
zuckte zusammen als sie die von den Wurzeln aufgeriebenen Stellen berührte.
„Kannst du laufen?“
Matteo machte ein paar Schritte. Er spürte die Knochen und vereinzelt Prellungen an seinem Körper,
lief aber weiter.
„Scheint weitestgehend in Ordnung zu sein. Ich bin schon öfter runtergefallen. Ich kenne mich aus.“
Es klang weniger triumphierend als Matteo es wollte, er schien aber trotzdem sicheren Schrittes.
Nachdem Morwen sich sicher war, dass Matteo weiterlaufen konnte, schaute sie sich in der
Umgebung um. Sie befanden sich nun rechts vom Stadttor, weit genug vom Wasser entfernt, sodass
man es nicht hören konnte. Es waren keine Hütten mit Feldern zu sehen, nur Bäume und Sträucher
zwischen Wiesen, die vereinzelt einen erhöhten Pfad beschmückten, der sich in einem Wald auf
einem Hügel verlor. Die Mondsichel hing unsicher vom Himmel herab und ließ ihr fahles Licht auf die
harten grauen Steine fallen, die sich immer wieder durch die Wiesenlandschaft drückten. Sie
versuchte nach den Krähen Ausschau zu halten, doch selbst Morwen konnte nicht tief in den Wald
hineinblicken. Nur ein unverkennbares lautes Krächzen aus dem Inneren des Waldes ließ vermuten,
wo lang sie gehen müssten.
Beide standen sie vor dem düsteren Wald. Der Pfad folgte dem anwachsendem Hügel hinauf in
Richtung eines Vorsprunges der vermutlich der Anfang der Klippen darstellte.
„Du hast mir noch gar nicht erzählt was eigentlich gerade vorgefallen ist. Das letzte Mal schienst du
nicht einfach die Kontrolle zu verlieren und da war die Situation deutlich angespannter.“ Sprach
Matteo in gedämpfter Stimme. Er hatte das Gefühl nicht lauter reden zu sollen. Als hätte er Sorge
den Wald aufzuschrecken.
„Du hast unfreiwillig erlebt was passiert, wenn man mit Mächten spielt, es aber nicht zu Ende bringt.
Ich habe Strukturen der Welt auseinandergerissen, ohne sie wieder zusammenzufügen. Es liegt in
ihrer Natur wieder zusammenkommen zu wollen, sich zu verbinden. In diesem Verlangen greifen sie
nach allem um sich herum. Manchmal hat man Glück und sie finden zu ihrem Ursprung zurück. Wärst
du länger in ihrer Nähe geblieben, hätten sie versucht sich mit dir zu Verbinden. Aus so etwas kann
auch Neues entstehen, eine unbekannte Form der Welt kreieren. Du wärst aber nicht mehr du,
sondern ein Teil von ihnen, sowie sie ein Teil von dir würden. Vielleicht würdest du leben, vielleicht
aber auch nicht. Und wenn du lebst, wirst du nicht mehr derselbe sein. Dein Geist verändert sich. Es
ist also nicht nur eine körperliche Verwandlung.“
„Aber wieso hast du dein Wirken abgebrochen?“ Matteos Stimme war angespannt.
„Als ich mich mit der Energie verband um die Strukturen nach meinen Gedanken zu formen vernahm
ich eine Präsenz. Ich habe sie schon einmal wahrgenommen. Als du am Fluss saßt und einmal bei
dem Baum. Nicht im Baum selber sondern außerhalb. Ich spürte ihr Verlangen zu mir zu kommen.
Dasselbe ist gerade passiert. Sie lungert hier und wartet auf mich. Ich weiß nicht was sie von mir
möchte, doch habe ich noch nie so ein Unbehagen gegenüber etwas verspürt. Jede Faser meines
Körpers hat sich dagegen gesträubt mit ihr in Kontakt zu kommen, also habe ich letztlich die
Verbindung gelöst.“ Erklärte Morwen ihm im ruhigen Ton. Ihre Körperhaltung wirkte gefasst und
noch immer starrte sie in die unendliche Tiefe des Waldes, fast wie hypnotisiert.
In Matteos Gesicht spiegelte sich das Unverständnis über das gerade genannte, kämpfend mit dem
Gefühl der Akzeptanz für Dinge, die über seinen Horizont hinaus gingen. Das Unverständnis Matteos
obsiegte wohl, denn er fragte noch einmal:
„Wenn jetzt also diese Präsenz hier um uns herum wabert, wieso sehen wir sie nicht? Sie müsste und
doch ganz einfach angreifen?“ Die leichte Unruhe blieb bestehen und sein Ton wurde energischer.
Der Wald kam ihm nicht sehr geheuer vor und er hatte das Bedürfnis nach den Bäumen zu greifen,
um zu sehen, ob sie auch wirklich das sind, was sie vorgaben zu sein.
„Ich kann dir nicht genau sagen was dieses Wesen zu sein scheint. Offenbar hat es keinen physischen
Körper, sondern besteht viel mehr aus reiner Energie. Es erscheint nur, wenn ich mit der Macht in
Verbindung bin.“ Während sie redete, schien sie nicht ganz präsent zu sein. Ihr Blick schwenkte noch
immer durch den Wald und ihre Gedanken verloren sich in ihm. Langsam fing sie an in ihn
hineinzugehen und Matteo fragend zurückzulassen.
Ihm war zwar nicht wohl bei der Sache, aber er konnte nicht einfach stehen bleiben. Er atmete zwei
Mal tief ein und wieder aus und bereitete sich darauf vor den ersten Schritt Richtung Wald zu
machen. Er erwartete ein spezielles Gefühl, etwas von Veränderung, als er mit dem Fuß den Boden
berührte, doch es blieb aus. Schulterzuckend lief er hinter Morwen her.
Der Wald war dunkel und die Mondstrahlen konnten sich kaum durch die Kronen kämpfen. Mit
jedem Schritt knackte das Unterholz und die dunklen Büsche streiften ihre Körper. Matteo fühlte sich
an die erste Nacht zusammen mit Morwen erinnert. Auch dort konnte er nur schwer erkennen was
vor ihm war und musste ihr fast wortwörtlich blind vertrauen. Er fing an sich zu fragen, warum er
denn nicht einfach eine Lampe mitgenommen hatte. Morwen vor ihm schien sichtlich kein Problem
zu haben. Ein Umstand, der ihn wenig überraschte und so versuchte er Best möglichst hinter ihr her
zu laufen.
Morwen sprach kein Wort und war noch immer schwer in Gedanken versunken. Sie horchte den
Krähen, die ihnen den Weg durch den Wald wiesen. Unbewusst strich sie mit den Händen über
Baumrinde und Blätter. Es fiel ihr schwer sich auf das Gefühl zu konzentrieren. Sie dachte an die
fieberartige Energie, die sie aus ihrer Hütte getrieben hatte. Wie sie in einem fremden Wald stand,
genau wie jetzt. Der Geruch war derselbe. Das Gefühl mittlerweile düsterer. Die Bindung, die sie
sonst zu einem Wald hatte, blieb aus. Stattdessen spürte sie wieder eine starke Anziehung. In den
Bann gezogen blickte sie nach vorne und lief dem Unbekannten entgegen.
Immer tiefer führten die Vögel sie. Auf ihrem Weg hebten und senkten sich Felsformationen aus dem
Boden. Die meisten schienen von Moos überwachsen zu sein. Überall brachen Wurzeln aus dem
Gestein heraus, um sich Platz zu schaffen. Entlang des Hügels schufen sie Treppenstufen, auf denen
die beiden immer weiter nach oben liefen. Weiter ins Ungewisse rangen sie mit Steinen und Felsen,
dornige Büsche wanden sich über den Boden und Matteo hatte das Gefühl, sie würden nach ihnen
greifen. Er war dankbar für sein Schuhwerk, welches mit jedem Schritt Gewächs zerquetschte und
wunderte sich über Morwen die scheinbar problemlos barfüßig vor ihm her ging.
Sie befand sich wieder in einer Phase, in der alles Ansprechen zwecklos schien. Gedrängt eilte sie den
Rufen der Krähen in die Dunkelheit. Matteo hoffte nur, dass sich der Aufwand lohnte. In ihm wuchs
eine Erwartungshaltung. Es waren zu viele verwunderliche Dinge passiert, als das sie ausbleiben
könnte. Das Ritual am Feuer, Morwen selber und ihre Magie, und schließlich das Zusammenstoßen
mit den Krähen. Er konnte sich auch nicht mehr vorstellen, dass sie wirklich nur alte Greise waren,
die sich einen kleinen Mythos aufgebaut hatten. All das Gesagte klang monumental und er schien
mitten hinein geraten zu sein. Das Alles nur, weil er zu später Stunde in den Wald gelaufen ist, um
der städtischen Masse zu entfliehen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr trieb es ihn hinein
in den Wald zu kommen. Er fing an nach den Vögeln zu schauen und lauschte den Richtungen ihrer
Rufe. Er konnte sich der inneren Unruhe nicht erwehren. Etwas achtlos wollte er zu Morwen
stürmen, doch diese schien stehen geblieben zu sein.
Ihre Hände in die Hüfte gedrückt stand sie dort wie angewurzelt. Matteo folgte ihrem Blick in eine
große Schwärze ohne Baum, Busch oder Fels. Alles was vor ihnen stand war die schimmernde Sichel
des Mondes. In voller Pracht ohne eine Wolke strahlte sie ihr weißes Licht. In einiger Ferne erkannte
er die gesprenkelte Reflektion des Himmelskörpers auf der sich bewegenden Wasseroberfläche.
Jetzt, da sie einen Teil des Waldes verlassen zu schienen haben und die vollen Blätterkronen das Licht
nicht mehr schluckten, wurde ihnen erst gewahr was für eine klare und perfekte Nacht es war.
Zusammen bestaunten sie still das Bild, bis sie ein einziger Krähenschrei aus der Atmosphäre riss. Er
schien von weiter links zu kommen und sie fingen an sich umzuschauen. Hinter ihnen stand starr und
düster der Wald. Sie schienen sich auf einer Anhöhe zu befinden und nach mehreren Schritt führt es
tiefer hinab in Richtung des Wassers. Zu ihrer Rechten erstreckte sich eine Wiese, die von Klippe und
Wald umschlossen wurde. Die linke Seite führte an den Klippen entlang, die sich zu immer größeren
Felsformationen entwickelten. Ihnen folgend liefen sie einem erneutem Krähen entgegen. Nach
kurzer Zeit schienen sie einen Teil des Waldes umrundet zu haben, der ihnen zuvor die Sicht
versperrte. Langsam erkannten sie den Ursprung des Gekrächze. Vor ihnen offenbarte sich ein
größere Wiesenabschnitt, der von hohen Klippen umzingelt wurde. In diesen Klippen öffnete sich
eine Höhle, aus der ein grüngelbes Licht schien, dass sie wie Motten anzog. ( In seiner Mitte stand
eine Hütte aus Stein und Holz von der ein grüngelbliches Licht ausging und sie wie Motten anzog. )

Das Licht schien von Pilzen aus dem Inneren der Höhle zu kommen. In hellem Grün und Gelb
erstrahlten sie in der sonst so tiefen Nacht. An allen Wänden wuchsen sie aus feuchter Erde zwischen
Steinen heraus. Sie hatten lange Fäden, die teilweise bis zum Boden hingen und den Weg tief in die
Höhle erleuchten. Der Eingang der Höhle selbst wies noch einige Morsche Holzpaletten auf, die wohl
einmal als Tür fungierten, der Vergänglichkeit aber zum Opfer gefallen schienen. Um die Höhle
herum hatten sich die Krähen versammelt. Sie waren völlig still und drehten nur den Kopf leicht zur
Seite, als Morwen und Matteo zu ihnen traten. Die schwarzen Knopfaugen reflektierten das Licht und
schauten von allen Seiten herausfordernd in ihre Richtung. Morwen überkam ein Gefühl von
Vertrautheit als sie die Pilze betrachtete. Sie konnte es nicht genau ausmachen, aber das Licht schien
sie an etwas zu erinnern. Auch der Geruch, den sie von der Höhle vernahm ließ sie an ihre Meisterin
denken. Sie wusste nicht mehr was, oder wie, aber ihre Existenz kam ihr in den Sinn. Ihre Augen
folgten weiter dem Licht der Pilze und sie hatte das Gefühl ihre Augen begannen zu tränen. Ihre Sicht
verschwamm leicht und die Pilze wurden zu Sternen, die ihr immer greller werdendes Licht in alle
Richtungen strahlten. Unsicheren Schrittes stieg sie weiter in die Höhle. Die Luft schien Augen und
Rachen immer stärker zu reizen, sodass sie sie für einen kurzen Moment schließen musste. Als sie mit
geschlossenen Augen versuchte der Umgebung zu entkommen spürte sie eine gewisse Schwere in
ihrem Kopf. Sie hatte das Bedürfnis sich hinlegen zu müssen und für einen kurzen Moment stieg ihr
Geist in die Dunkelheit. Sich dem Gefühl nicht hingeben zu wollen, zwang sie sich die Augen zu
öffnen. Ihre Sinne waren noch immer leicht betäubt und die Umgebung grell, aber langsam, Stück für
Stück, wurde ihre Sicht klarer und der Schmerz im Rachen ließ nach. Sie schaute sich noch einmal um.
Noch immer verteilten sich leuchtende Fungi im Schacht der Höhle, doch neben ihnen zogen sich nun
die silbernen Fäden der arkanen Strukturen durch das Gestein. Als würden sie die Wurzeln der Pilze
selber darstellen, verknoteten sie sich um die Pilze und zogen einzeln weiter zum nächsten Pilz. Als
Morwen sich die Fäden genauer anschaute bemerkte sie, dass viele der Strukturen nicht mehr nur
die bekannten Fäden darstellten, sondern um sie herum ein Flackern ausging, als würden sie in Brand
gesetzt sein. Es hinterließ ein mulmiges Gefühl in ihr.
Noch einmal schaute sie sich um. Von Matteo keine Spur. Der Höhlenausgang war nur noch als
kleineres dunkles Loch zu erkennen, doch zog es sie tiefer in die Höhle. Sie war sich sicher, dass sie
weiter hineinmusste.
Ihre einsamen Schritte hallten in der Höhle und die silbernen Strukturen schimmerten immer stärker,
bis es fast unmöglich schien, sie von den Pilzen selber zu unterscheiden. In ihr kam kurz der Gedanke
sich in einen der Pilze fallen zu lassen und mit ihrem Geist in ihn einzudringen, um den Verbindungen
zu folgen. Vielleicht würde sie dann auch Matteo finden. Als ihre Hand in die Nähe einer der
verworrenen Knoten über den Pilzen kam, spürte sie eine enorme Hitze von ihm ausgehen. Schnell
zog sie ihre Hand wieder zurück. Es fühlte sich an, als hätte sie in Feuer gefasst.
So folgte sie weiter dem Schacht in die Tiefe, bis sich eine Öffnung in einen scheinbar breiten Raum
zeigte. Das Arkane zog sich durch alle möglichen Formen, doch war es für Morwen schwer
auszumachen was sich wirklich in dem Raum befand. Die Wände waren zu weit entfernt, sodass das
Licht der Pilze nichts zu erkennen gab. Vor sich spürte sie eine Präsenz. In diesem Raum wartete
etwas auf sie. Das Gefühl des Soges drückte ihren Körper immer weiter nach vorne. Fieberhaft schritt
sie darauf zu.
Sie erinnerte sich an die grauenhafte Präsenz im Feuer der ersten Nacht.
Ein weitere Schritt.
Sie erinnerte sich an das Gefühl im Wald, an das Böse im Wasser, welches Matteo beobachtete.
Noch ein Schritt.
Sie dachte an die Schlechtigkeit, die sie in der Stadt spürte und das Üble was von ihren Bewohnern
ausging.
Ein dritter Schritt.
Das Gefühl von dem Bösen, welches außerhalb der Stadt lauerte und auf sie wartete. Das im Wald in
sie dringen wollte, nach ihr schnappen wollte.
Sie betrat den Raum.
In dem Moment, in dem ihr Körper den Boden berührte entbrannten Flammen in einem fast
künstlich scheinendem Licht zwischen orange und einem grünlichem Gelb. Die Flammen brannten
auf steinernen Zylindern, die zu sechst den Raum einrahmten. Ihr Licht erhellte die Wände, welche
unnatürlich glatt schienen. Auf den Wänden selber waren Farbformen und Schriftzeichen in
verschiedenster Ausprägung zu sehen.
Am Ende des Raumes befand sich eine Kuhle mit einem kleineren altarähnlichem Objekt auf dem
Matteo saß. Seine Arme waren verschränkt und die Augen geschlossen. Misstrauisch schritt Morwen
auf ihn zu in die Mitte des Raumes. Die Wärme der Flammen breitete sich rasch in dem Raum aus,
doch es roch nicht nach Feuer. Es war vielmehr ein schwefeliger Geruch, der in ihrer Nase stach.
Morwens Körper geriet unwillkürlich in eine Anspannung. Ihr Herz klopfte schneller und das Blut
raste durch sie hindurch. Sie spürte wie ihre Hände zu schwitzen begannen und sich ihre
Nackenhaare aufstellten. Das Gefühl beobachtet zu werden breitete sich in ihr aus. Ihr Kopf wurde
klarer und das fieberhafte Rauschen ließ nach. Langsam nahm sie die Situation, in der sie sich befand
immer bewusster wahr. Sie atmete tief ein. Der Wunsch sich umzudrehen wurde stärker. Ein Instinkt
wegzulaufen schrie in ihr, doch Matteo saß noch immer regungslos vor ihr.
Sie gab dem Bedürfnis nach Hinten zu gucken nach, konnte aber nicht mehr erkennen als die
schwach leuchtenden Fäden des Arkanem. Sie wandte sich wieder in Matteos Richtung. Etwas
bewegte sich aus ihren Augenwinkeln heraus. Die Bilder an den Wänden fingen an sich zu bewegen.
Morwen hatte ihnen zuvor keine Beachtung geschenkt, aber die Farbe an der Wand bewegte sich mit
den Strukturen zu einem klaren Bild. Sie blickte noch einmal in Richtung Matteos. Er regte sich nicht.
Sie lief in seine Richtung, entgegen des Unmutes, der in ihr aufstieg. Mit jedem Schritt schaute sie
nach rechts und links. Die wirren Muster der Wände waren unergiebig, doch etwas Ungeheures ging
von ihnen aus.
Sie rief nach Matteo… keine Reaktion. Als sie vor ihm stand und den Blick von den Bildern nahm, um
ihn genauer zu beobachten, wurde ihr unwohl. Seine Brust hob sich nicht und wie er reglos dasaß,
machte er einen sehr toten Anschein. Die Linien des Arkanem die sich durch seinen Körper zogen
waren wirr. Wirrer als sonst. Es war schwer sie zu deuten. Auch hier konnte sie an manchen Fäden
das Wabern, ähnlich dem Feuer erkennen. Die Bewegung verriet ihr zumindest, dass er nicht tot sei.
Wieder vernahm sie Bewegungen an der Wand. Als sie sie noch einmal betrachtete sah sie, dass sich
die Farben zu Bildern formten. Sie erkannte einen Wald. Grobe Muster von Figuren die sich
bewegten. Manche von ihnen menschlich, andere schienen fast wie Tiere, doch keine die sie jemals
gesehen hatte. Die Bilder formten sich weiter. Einer der unmenschlichen Wesen hielt einen kleinen,
funkelnden Kreis in der Hand. Die Menschen gruben ein Loch, indem es das funkelnde Objekt
hineinwarf.
Die Farben bewegten sich weiter und schienen wie nicht getrocknete Farbe aus dem Punkt hinaus
zutropfen. Wurzeln verzweigten sich und über ihnen bildete sich ein mächtiger Stamm mit großer,
leuchtender Krone. Um den Baum herum fingen sich an Formen zu bilden. Die menschlichen Figuren
vermehrten sich, bauten Häuser, schufen Felder. Mit der Zeit verschwanden die unbekannten Wesen
zwischen den Menschen und das Funkeln des Baumes wurde immer schwächer. Vereinzelt
gruppierten sich die unbekannten Wesen um den Baum und nahmen ein ähnlich runden und
funkelnden Kreis von ihm, bis er völlig erlisch. Nur die Wurzeln behielten ihre Kraft und leuchteten
noch weiter, während die vereinzelten strahlenden Punkte Stück für Stück das Bild verließen. Die
Menschen wurden mehr und mehr, es bildeten sich Mauern und Wälle. Schiffe formten sich im
naheliegenden Wasser und fuhren aus. Die Stadt nahm mittlerweile die Größe der gesamten Wand in
Anspruch. Um die Stadt herum bildete sich Feuer und rahmte das Geschehen ein.
Dann hielten die Farben inne. Das Bild der Stadt zerfloss und hinterließ ein Symbol einer Rune.
Morwen kannte das Symbol. Sie holte ihren Dolch aus seiner Scheide. Am Knauf war dasselbe Symbol
eingraviert wie das an der Wand.

Matteo kam mit Würgen und Röcheln zu sich. Um ihn herum war es deutlich dunkler als zuvor und er
erkannte, dass er in einem runden Raum saß. Er wollte nach Morwen rufen, doch ihm blieb die Luft
in der Kehle stecken und es wurde zu einem erbärmlichen Husten. Sein Kopf fühlte sich nicht klar an
und ihm war unglaublich müde. Mit trägen Augen durchblickte er den Raum. Er schien auf einem
Stein an der Wand zu sitzen und ihm gegenüber befand sich vermutlich der Ausgang aus der Höhle.
Zumindest war es die einzige Öffnung im gesamten Raum. Er wollte sich aufrichten, hatte aber das
Gefühl seine Muskeln würden seinem Befehl nicht gehorchen wollen. Sein Kopf war noch immer dick
und alle Gedanken machten den Eindruck, als würden sie eine Ewigkeit brauchen, um gedacht zu
werden. Matteo nahm noch einmal seine gesamte Willenskraft zusammennehmen, um aufzustehen,
da kam ihm eine Silhouette aus dem Eingang entgegen. Es schien wie eine große Katze, die sich
gemächlich auf ihn zu bewegte. Er konnte sie nicht genau erkennen, doch ihre Augen brannten wie
rotes Feuer. Als die Silhouette näher kam formte sie sich mehr und mehr zu einer Frau. Es war ihm
unklar wer zu ihm kam, doch als die Frau den Raum betrat entflammten Fackeln auf allen Seiten des
Raumes. Bilder an den Wänden fingen an sich zu bewegen. Zeigten Flammen und Menschen. Wesen
die Menschen ähnelten aber doch keine sind. Sie hielten funkelnde Kristalle in ihren Händen. Er hatte
das Gefühl die Bilder drängten sich ihm auf, als könne er sie nicht ausblenden. Er sah Menschen und
Wesen gleichsam ums Feuer tanzen. Er sah wie sich eine Stadt um einen Baum bildete, bis sie fast die
gesamte Wand einnahm. Am Rande der Stadt fing dasselbe Feuer wie davor an zu brennen. Es
entflammten die Wurzeln des Baumes und kurz danach die Figuren. Sie verbrannten nicht, doch ihr
Feuer übertrug sich auf die anderen.
Matteo starrte gebannt auf die Bilder. Immer weiter wandelten sich ihre Formen. Er hatte die Gestalt
vor ihm schon fast vergessen, als sie auf einmal vor ihm stand und ein Gefühl einer Präsenz ihn
überschwemmte. Er blickte auf und starrte in das Gesicht Morwens. Völlig nackt und mit brennenden
Augen stand sie über ihm.
„Da bist du ja.“ Flüsterte sie und ihre Lippen durchzog ein leichtes Lächeln. „Ich habe dich gesucht
und endlich gefunden.“
Matteo räusperte sich, fühlte sich aber nicht in der Lage ein Wort hervorzubringen.
„Es hat lange gedauert, bis ein geeignetes Gefäß für die Macht dieser Welt hierhergekommen ist.“
Er blickte nur starr in ihre glühenden Augen. Sie hatten die katzenartigen Schlitze und Formen, die er
von Morwen kannte, doch strahlte in ihnen etwas anderes. Es beschlich ihn das Gefühl die Augen
schoneimal gesehen zu haben.
„Die Stadt hat vergessen.“ Klagte Morwen.
„Alle haben sie vergessen was es bedeutet gemeinsam zu leben. Sie sammeln Macht für sich selbst.
Sorgen nur für sich selbst. Sie haben Angst diese Macht zu verlieren und klammern sich an sie. Dabei
haben sie keine Ahnung was wahre Macht bedeutet.“ Säuselte ihre Stimme.
„Sie haben so viel vergessen. Nicht wahr?“ Erkundigte sie sich. „Aber du kannst sie erinnern lassen.“
Sprach Morwen mit eindringlicher Stimme. „Mit meiner Hilfe können wir sie daran erinnern, was es
heißt gemeinsam zu sein.“
Matteo wich dem intensiven Blick der funkelnden Augen. Er brachte noch immer kein Ton hervor.
Morwen schaute auf sich und ihren Körper herunter.
„Du begehrst sie, nicht wahr?“
Sie? Dachte Matteo. Er blickte überrascht nach oben. Genau in die feurigen Augen, da erinnerte er
sich, wo er diese Augen schon einmal gesehen hatte. Wo er schon einmal die gleiche Präsenz spürte.
Die Augen der Katze seines Traumes beugten sich mit Morwens Körper hinunter zu ihm. Das Gesicht
ganz nah aneinander. Er spürte eine fast unerträgliche Hitze um sich herum.
„Bist du willens dich zu entscheiden?“ Flüsterte sie ihm zu. „Ich kann dir geben was du brauchst um
deine Stadt zu einigen. Deinen Wünschen entsprechend. Der Wut und Frustration endlich Einhalt zu
gebieten.“ Das flammende Gesicht rückte noch näher an Matteo heran. Kaum hörbar sagte sie:
„Alles was ich brauche ist diesen Körper. Ein Leben, für das Wohl deiner Stadt. Ein Leben für die
Freiheit aller!“ Und damit brannte das Feuer aus ihren Augen über ihr Gesicht und den gesamten
Körper, bis dieser verschwand. Matteo verließen die Kräfte und er sank in die brennenden Tiefen
seiner selbst.

Morwen betrachtete die Linien des Arkanem die sich durch den Raum zogen. An allen Wänden
formten sie das Symbol. Es wurde erdrückend warm und sie vernahm wieder eine Präsenz. Doch
dieses Mal war sie anders. Sie wirkte vertraut. Alte Erinnerungen arbeiteten sich ihren Weg in ihr
Bewusstsein. Stück für Stück erlebte sie alte Erfahrungen erneut. Momente in denen sie mit ihrer
Meisterin durch den Wald wanderte. Das, was davor nur noch ein grauer Schemen war, wurde zu
einem immer deutlicherem Bild. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf und folgte den Bildern in ihrem
Kopf. Auf einmal waren es nicht nur ihre eigenen Erfahrungen. Was zuvor ein Moment des
Wiedererkennens war, fühlte sich nun mehr wie ein Traum an. Es war nicht sie, die es erlebt hat,
sondern jemand anderes. Vieles war unbekannt und sie sah fremde Menschen, Pflanzen, Tiere und
Umgebungen. Lernte Namen und Verhalten. Dann kamen Bilder der Höhle. Sie sah anders aus,
bewohnbar, erinnerte Morwen ein wenig an ihre eigene Hütte. Doch es war genau diese Höhle, in
der sie sich nun befand. Sie sah ihre Meisterin, wie sie sich in ihr bewegte, mit Kräutern und Säften
arbeitete.
Ein Schnitt der Szene und sie befand sich nun in dem Raum mit dem Altar und den brennenden
Steinobelisken. Das Feuer wirkte natürlicher. Lediglich zwei der Feuer schienen in dem ihr bekannten
gelb-grünlichem Licht. Ihre Meisterin sprach eindringlich und mit lauter Stimme zu etwas, dass
Morwen nicht sehen konnte. Morwen spürte die ansteigende Hitze im Raum und einen schwefligen
Geruch. Die Meisterin schloss ihre Augen und hob die Hände. Ihre Stimme verebbte und sie wurde
aus dem Raum in den Gang geschleudert. Das Letzt was Morwen sah, bevor die Vision abbrach, war
eine dritte Flamme, die nun auch in einem gelb-grünlichem Licht auf dem Obelisken brannte.
Morwen kam im Raum zu sich, sah die sechs leuchtenden Flammen und Matteo, schlaff, liegend auf dem
Altar. Sie ging auf ihn zu und packte seinen Körper, um ihn hochzuziehen. Langsam spürte sie die Hitze
des Raumes, der ihren Kopf trüb machte. „Los, wach auf, wir müssen hier raus! Die Luft ist nicht gut!“ Rief
Morwen Matteo ins Ohr.
Sein Körper fing an sich zu regen und seine Augen öffneten sich. Sie blickte ihm ins Gesicht und sah das
Feuer in seinen Augen reflektieren.
In seinem Blick lag Begierde und er fing an zu grinsen.

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