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Collins Flita

Mabel Collins

FLITA
(Die Blüte und die Frucht)

Geschichte einer Magierin

ANSATA-VERLAG
Paul A. Zemp
Helfenstein
CH-3150 SCHWARZENBURG
Schweiz
1980
Nachdruck der Ausgabe FLITA in der Übersetzung
von Dr. H.B. und A.M.O. (Adolf Martin Oppel)
erschienen im Jahre 1904 im Sueviaverlag
Jugenheim an der Bergstraße

Das Bild auf dem Schutzumschlag ist ein Ölgemälde


und stammt von Wivica

1980
ISBN 3-7157-0037-8
© Copyright by Ansata-Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschalggestaltung: Paul A. Zemp
Gesamtherstellung: Zobrist & Hof AG, CH-Pratteln
Vorwort.

Di e grossen Kräfte, das Gute und das Böse,


sehen wir in der Welt auf jeder Ebene einander
gegenüberstehen.
Die Geschichte einer schwarzen Magierio heisst
dies Buch, weil es das Streben und das Irren einer
Frau schildert , die Schülerin der schwarzen Magie
gewesen, nun aber in rastlosem, wiewohl bli ndem
Eifer ihre grosse Kraft daransetzt, den Eintritt in die
Weisse Bruderschaft zu erlangen und Gutes anstatt
Böses zu lernen.
folita, die in ihrer früheren Verkörperung selbstisch
aber erfolgreich das Gebiet der Macht betreten, wurde
durch die Gewalt dieser Macht schwarze Magieri n :
sie hatte Wissen und wandte es zu selbstsüchtigen
Zwecken an. Wir finden sie im ersten Kapitel auf
einem Maskenballe b e m üht, durch ihre Künste den
Gefährten so vieler vorangegangener Leben an sich
zu ziehen. Aber ihre Absicht dabei ist, ihn unter den
unmittelbaren Einfluss von Iwan zu bringen, des
Angehörigen der Weissen Bruderschaft, der i n seinem
göttlichen Mitleid seine Hand nach ihr ausgestreckt
hat. Sie will des Okkultisten grosses Erlösungs­
werk beginnen und andere erretten, - vor allem
die, denen sie früher Schaden getan hat.
Aber in was für Leiden verstrickt sie sich durch
ihr Unterfangen, sich und alle, die um sie sind !
Wir sehen Flita unwillkürlich in ihre alten Bräuche
zurückfallen und ihre alten Künste üben ; wir sehen
Hilary betrogen von seinen Sin nen und Leidenschaf­
ten. F lita vergisst, dass die Lotusblum e nur in der
eigenen Seele aufblühen kann ; aber ich bitte dich,
Leser, urteile nicht über Flita und ihre Beziehung
zur Weissen Bruderschaft, ehe du ihrem ungestümen
Fluge bis zu Ende gefolgt bist und gelesen hast,
wie Iwan zuletzt zn ihr spricht : »Tritt ein!«

M. C.
Einleitung.

Zwei trau rige Leben auf Erden.

Zwei selige Zeiten des Schlafes im Himmel.

Eine Lebenszeit.

Ü ben schlingen sich die Aeste der Bäume in­


einander, verdecken den tiefblauen Himmel und
m ildern die sengende Hitze der Sonne. Die Zweige
sind überschüttet mit weissen Blüten, - ein Baldachin
aus kunstvoll gehäuftem Schneegeilock mit rosafar­
benem Zierat da und dort. Es ist ein natürlicher
Fruchtgarten, wie ausgewählt für die wilde Aprikose.
Und zwischen den Bäumen, aus dem Sonnenschein
wieder in den Schatten gleitend, unstät bald hin,
bald wieder zurück sich wendend , verweilt eine
einsame Gestalt. Ein j unges Weib ist es, eine Wilde
aus einem Stamme, der, noch ursprünglich und ohne
Gesittung, hier im unzugänglichen, j ungfräulichen
Walde wie in befestigter Stätte wohnt. Sie ist dunkel­
farbig, aber schön. Ihr blauschwarzes Haar hängt
weit herab über ihren nackten Körper und beschirmt
in seiner Fülle die warme, zitternde, nervöse braune
Haut vor den Strahlen der Sonne. Sie trägt weder
Kleidung noch Schmuck. Ihre Augen sind t ief,
leidenschaftlich und voll Gefühl ; ihr Mund ist zart
1
2 Die Blü te und die Frucht. Einleitung.

u n d natürlich, wie die Lippen einer Blume, die eben


sich öffnet. Sie ist vollkommen ohne Fehl i n ihrer
eigenen, wilden Schönheit und in der naturhaften
Majestät ihrer Weiblichkeit, jungfräulich selbst, wie
ihre Rasse , die unwissend und unverdorben ist.
Aber auf ihrem feinen, offenen Antlitz spiegelt sich
die Einleitung einer gewaltigen Tragödie. Ihre Seele,
ihr Denken ringt nach Erwach en. Sie hat etwas
getan, das für sie ganz einfach, ganz natürlich war;
doch n u n es geschehen ist, entsteht eine blöde Rat­
losigkeit in ihrer verständnisarmen Seele. Während
sie unter den üppigen Massen blütenbelasteter Zweige
hin und her wandert, quält sie sich ab, zum ersten
Mal in ihrem Dasein eine Frage a n sich zu stellen.
D a sie keine Antwort findet, schreitet sie wieder
hin, um das anzuschauen, was sie getan.
Eine Gestalt liegt regungslos auf dem Erdboden
im tiefsten Schatten der dichtstehenden Frucht­
bäume. Ein Jüngling, ein Angehöriger ihres eigenen
Stammes, so schön wie sie selbst, und Kraft und
Stärke in jeder Linie seines Körpers. Aber er ist
tot. Er war ihr Geliebter, und sie fand seine Liebe
süss ; und doch hatte sie ihn mit einer tückischen
B ewegung ihres geschmeidigen Armes getötet. Blut
floss von seiner Stirne, w o der scharfe Stein die
tödliche Wunde geschlagen . Seinem starken jungen
Leib entströmte der Lebenssaft Einen Moment zu­
vor zitterten noch seine Lippen, jetzt waren sie stille.
Warum hatte sie i n dem Augenblick zorniger Auf­
wallung dieses schöne Leben genommen ? Sie liebte
ihn, so gut ihr unwissendes Herz zu lieben verstand ;
aber im Uebermut seiner grösseren Stärke versuchte
er ihre Liebe an sich zu reissen, ehe sie reif war.
Die Blüte und die Frucht. Einleitung. 3

Sie war erst eine Blüte, wie die weissen Blumen


·über ihnen: er wollte sie sich mit gewalttätiger Hand
rauben, als wäre sie eine Frucht, reif und fertig.
Und da, in der plötzlichen Erleuchtung einer wunder­
samen neuen Regung, .wurde dem Weibe bewusst,
dass der Mann ihr Feind war, dass er ihr Herr
sein wollte. Bisher hatte sie ihn so angesehen wie
sich selbst, als etwas zum Lieben, wie sie sich selbst
liebte. mit blindem, rückbilltlosem Vertrauen. Sie
handelte in der Leidenschaftlichkeit unter der Füh­
rung jenes Etwas, jener Regung, die sie bis jetzt
noch nicht gekannt hatte. Er aber, an Tücke oder
Heftigkeit nicht gewöhnt, besorgte nichts Schlimmes
von ihr, und war so, arglos und unvorbereitet, ihr
preisgegeben. Und nun lag er tot zu ihren Füssen.
Und immer noch schien die brennende Sonne durch
die grünen Blätter und die silberweissen Blüten
und flimmerte auf ihrem schwarzen Haar und ihrer
weichen braunen Haut. Sie war schön wie der
Morgen, wenn er über den Wipfeln des weltalten
Waldes emporstieg. Aber in ihren Augen war ein
neues Wundern, eine Frage, die nicht darin stand· ,
ehe das Ungeheure dieser bedeutsamen Stunde an
sie herantrat. \Vie viele Zeitalter müssen über ihren
lichtlosen Geist dahingehen, ehe er die Frage aus.:.
sprechen, ehe er die Antwort vernehm en kann ?
Namenlos, unbekannt ausser in ihrem Stamme,
der sie so gleichgültig ansieht wie irgend sonst ein
Geschöpf der Wälder, hat die Tochter der Wildnis
niemand, ihr beizustehen und die gewaltige Flut­
welle von Energie , die sie ins Rollen gebracht,
schon in den Anfängen zn stellen. Blind lebt sie
die Affekte ihres Innern aus. Sie ist unbefriedigt,
4 Die Blüte und die Frucht. Einleitung.

unruhig, sich eines Fehlers b e wusst. So verlässt sie


die Stätte der wilden Fruchtbäume und lenkt ihre
S chritte dem lichteren Teil des Waldes zu, unter die
grossen Bäume, wo ihr Stamm wohnt. Ihre Lippen
sind verschlossen, ihr Mund bleibt stumm. Niemals
hat jemand verno m m en, dass der, den sie geliebt,
durch ihre Hand den Tod gefunden, denn sie wusste
n icht, wie das Geschehene einkleiden und in Worten
sagen. Es war ein Unergründliches für sie , das
Etwas, das sich zugetragen. Doch es machte sie
traurig, und ihre grossen Augen ·zeigten den Blick
stummer Sehnsucht.
Aber sie war schön, und bald wieder war ein
j unger , kecker Liebhaber stets an ihrer Seite. Er
gefiel ihr nicht ; in seinen Augen war das Leuchten
nicht, das sie einst beglückte , wenn sie in die des
a ndern sah, den sie geliebt hatte. Und dennoch
zog sie sich nicht vor ihm zurück, erhob auch nicht
den Arm im Zorne , sondern hielt ihn fest an ihrer
Seite, damit nicht unversehens ihre Leidenschaft her­
v orbreche. D enn sie fühlte , dass die frühere Tat
ihr nur Leere und Verzweiflung eingetragen hatte;
und diesmal entschied .sie sich, anders zu handeln.
Unbewusst schickte sie sich an, die Aufgabe zu be­
meistern, die an sie herangetreten war. Unbewusst
liess sie sich die Vollstreckerio ihres eigenen Willens
sein und ward folgsame D ienerio und Sklavin eines
Mannes, dessen Leidenschaft voll Tyrannei war und
den sie nicht liebte. Sie widersetzte sich nicht,
wagte es nicht, sich dieser Tyrannei zu widersetzen;
n icht weil sie ihn , sondern weil sie sich selbst
fürchtete. Sie em pfand die ängstliche Scheu, die die
B erührung mit einer neuen , bisher ungekannten
Die Blüte und die Frucht. Ei nleitung. 5

Naturkraft einflösst. Sie bangte, dass Widerstand


und Eigenwille ihr ein noch grösseres Wund er, noch
schwereren Kummer und Verlust bringen könnten,
als sie schon jetzt über sich v erhängt hatte.
Und so unten.varf sie sich dem, das sie in ihrer
ersten Jugend ebensowenig ertragen hätte, wie das
wilde Pferd den Zaum. -
Die Aprikosenblüte ist abgefallen und die Frucht
auf sie gefolgt ; die Blätter liegen unten und die
Bäume stehen kahl. Der Himmel droben ist grau
und unwirsch, der Boden feucht und weich von den
herabgewehten Blättern. Das Aussehen des Ortes
bat gewechselt, aber der Ort ist derselbe; Gesicht
und Gestalt der Frau haben gewechselt, aber sie
ist dieselbe. Wiederum ist sie allein unter den wil­
den Bäumen, und es treibt sie auf den Weg zu der
Stelle, wo ihr erster Liebhaber starb. Sie hat die
Stelle gefunden. Was ist dort ? Etliche weisse
Knochen, die beieinander liegen: ein Skelett. Des
Weibes Augen haften an dem Bild und nehmen es
auf und werden weit und furchtbar. Zuletzt erfasst
Entsetzen bis zuinnerst ihre Seele.
Das ist alles, was übrig ist von ihrer j ungen
Liebe, die durch ihre Hand starb, - weisse Knochen,
in gespenstischer Ordnung ! Und die langen und
beissen Tage und schwülen Nächte ihres Lebens
waren einem Tyrannen hingegeben, der keine wirk­
liche Freude und Befriedigung aus ihrer Unterwer­
fung geerntet hat, denn er hat noch nicht einmal
den Unterschied zwischen Weib und Weib gelernt.
Alle in gleicher Weise sind sie Kreaturen, Sachen, wie
das Getier ; Geschöpfe zum Jagen und zum Erbeuten.
In der Stille ihres unwissenden Herzens tauchen
6 Die Blüte und d i e Frucht. Einleitung.

seltsame Fragen auf. Sie wendet sich weg vom Kirch­


hof ihrer fragelosen Zeit und kehrt zurück in ihre
Sklaverei. Alle die Jahre ihres Lebens barrt sie und
blickt verwundert, verwirrt auf das Leben um sie her.
Wird keine Antwort kommen für ihr Seele ?

Des Schlafes Ende, das Erwachen.

H errlich war der Vorhang, der sie von der


andern Seele schied, der Seele, die sie kannte und
deren Wiedererkennen sie durch rasche, plötzliche
Liebe kundgab. Aber der Vorhang war zwischen
ihnen ; e i n Gewebe schwer von Gold und blitzend
v o n silberigem Gestirn. Und wie sie auf die Sterne
hinstarrte , in Entzücken und Staunen ob ihres Glan­
zes, wurden sie grösser und grösser, bis sie allmäh­
lich ganz ineinander verschwammen und der Vorhang
zu einer einzigen prachtvollen, strahlenden, mit
Goldschmuck durchwirkten Fläche wurde. Nach
u n d nach ward es leichter, hinüberzusehen, vielmehr
es schien den beiden Liebenden leichter. Denn zuvor
hatte der Schleier die Gestalt nur trübe sehen lassen,
j etzt erschien s ie licht, deutlich und in verklärter
Schönheit. Da streckte die Frau ihre Hand aus ,
s i e sehnte sich, durch das l euchtende Gewebe hin­
durch den Druck einer andem Hand zu fühlen.
Und zur gleichen Zeit streckte auch er seine Hand
aus, denn in diesem Augeublick verkehrten ihre
S eelen miteinander und verstanden sich. Ihre Hände
b erührten si ch, der Vorhang riss entzwei ; der Augen­
blick des Glückes war zu Ende, und wiederum be­
gann der Kam pf.
Die Blüte und die Frucht. .Einleitunß. 7

Eine Lebenszeit.

Was da sass und sang auf den Stufen des


alten Palastes und mit den Füssen p lät�cherte im
Wasser des breiten Kanals, war ein Kind, das eben
jetzt m eh r wurde als ein Kind, ein Geschöpf auf
der Schwelle des Lebens, des erwachenden Be wusst­
seins. Ein Mädchen mit rötlichem, goldenem Haare
und unschuldigen Lichtaugen, die in ihrer lebens­
vollen Tiefe den seltsamen, v erwunderten Blick der
wilden Kreatur hatten. Sie war so scplicht und
abgeschieden i n ihrem Glück wie das Tier der Wäl­
der und Berge ; der Sonnenschein, die würzige Luft
mit dem schwachen Salzgeruch, ihre eigene reine,
helle Mädchenstim m e und die heiteren Weisen
ihres Volkes, die sie sang, - das waren ihr Freuden
genug, übergenug.
Aber die Zeit unbewussten Glücks und Un­
glücks, die die realen Schicksale eines Lebens ein­
leitet, war am Ende. Die grosse Woge, nunmehr
im Rollen, nahm an Umfang unaufhörlich zu. Wie
lange wird es währen, bis sie das Ufer erreicht und
an der entle genen Küste brandet ? Niemand kann
es wissen als nur die, deren Blick weiter ist als der
des Menschen. Niem and kann es sagen; und sie
selbst weiss nichts und ahnt nichts. Aber auch
ohne davon zu wissen ist sie doch m itten im \Virbel
der Welle und m achtlos, sie aufzuhalten, -- ehe ihre
Seele erwacht.
»Meine Blüte, meine schöne wilde Blume«, sagte
eine Stimme dicht neben ihr. Ein junger Schiffer
8 Die Blüte und die Frucht. Einleitung.

hatte sein kleines Fahrzeug so behutsam an die Stufen


heran gerudeti, dass sie sein Nahen nicht bemerkt
hatte. Er neigte sich über sein Boot nach ihr hin
und berührte ihre nackten, weissen Füsse mit seiner
Hand. ))Kom m fort mit mir, Wilde Blüte«, sagte er.
>>Verlass d:Is armselige Heim, an dem du hängst.
\\las kann dielt hier noch halten, nun deine Mutter
tot ist ? Dein Vater ist wie ein Wilder, und so lebst
auch du wie eine Wilde. Komm fort mit mir,
wir wollen unter Menschen leben, die dich lieben
und dich schön finden, wie i ch. Willst du mit mir
kommen ? Wie oft habe ich dich schon gefragt,
Wildblüte, und du hast nie geantwort et ! Wirst du
jetzt antworten ?«
))Ja«, sagte das Mädchen und schlug die sprech­
enden, ernsten Augea zu ihm auf, die unter ihrer
Schönheit einen feierlichen Inhalt, eine schwermütige
Frage bargen.
Der Mann sah diesen rätselvollen Blick und
deutete ihn, so weit er es konnte.
))Vertraue mir«, sagte er, ))ich bin kein Wilder
wie dein Vater. Wenn du meine kleine liebe Frau
bist, will ich für dich sorgen, weit besser, als für
m ich selbst. Du wirst meine Seele sein , meine Füh­
rerin, mein Stern. Und ich will dich beschützen ,
wie m eine Seele beschützt ist in meinem Körper,
dir folgen als meinem Vorbild, zu dir aufblicken,
wie zu einem Stern in den blauen Himmeln. 0 ge­
wiss, du kannst meiner Liebe vertrauen, Wildblüte.
Willst du ?«
Er hatte den Zweifel in ihrem Herzen nicht
beantwortet, denn er hatte nicht erraten, was es
war ; sie hätte es ihm auch nicht sagen können.
Die Blüte und llie Frucht. Einleitu ng. 9

Sie selbst hatte noch n i cht gelernt , zu verstehen,


was es war ; sie erkannte davon nicht mehr, als
dass es sie verwirre. Aber sie schob den Zweifel
jetzt beiseite und hiess ihn schweigen, denn der
Augenblick wollte es so. Viel gründlicher noch
musste sie ihre Lektion nützen, ehe d ie Frage auch
nur ihrer eigenen Seele gestellt werden konnte.
Bis dahin musste sie noch oft zum Schweigen ge­
bracht werden.
))Ja«, sagte sie, ))ich will.«
Sie hielt ihm ihre Hand hin, wie u m den Bund
zu bekräftigen . Er legte die Bewegung nach seinem
Wunsche aus, nahm Wildblüte an der Hand u n d
zog sie zu sich her. Sie li . e ss e s geschehen und
stieg i n das Boot. Rasch stiess er dann von der
Treppe ab, senkte die Ruder ins Wasser und war
bald weit den Kanal hinabgefahren. Blüte blickte
gedankenvoll zurück und beobachtete, wie der ehr­
würdige Palast verschwand. In diesen alten Gelas­
sen, auf diesen sonnigen Treppen, war ihr Kindes­
leben verlaufen. Sie verstand, dass das nun z u Ende
war, dass von jetzt ab alles anders sein werde,
konnte sich aber nicht denken, was nun kommen
sollte, und wartete ihrer Zukunft mit einem uner­
klärlichen V e1irauen auf den Gefährten, dem sie zu­
gesagt hatte. Das störte und verblüffte sie. Doch
warum ihm nicht vertrauen ? Sie hatte ihn ja lange
zuvor gekannt und damals unter den wilden Apri­
kosenbäumen seine Liebe und sein Leben wegge­
worfen. Sie hatte ja später die Ausdauer seiner
Liebe geschaut, als ihre Seele im Leben der Seelen
Seite an Seite der seinigen stand.
Einen weiten Weg legten sie zurück in dem
10 Die lllüte und die Frucht. Einleitung.

kleinen Boot. Sie verliessen die Kanäle und bogen


ab, hinaus auf die offen e See, und immer noch
ruderte der Schiffer unermüdlich, mit den Augen
fortwährend bei der schönen Wilden B lüte, die er
geholt und mit sich fortgeführt h atte, damit sie
s ein eigen sei, sein teurer und angebeteter Besitz.
Fernab, längs der Küste, lag ein kleines Dorf von
Fischerhütten. Dies war der Ort, wohin der junge
Mann sein Boot lenkte ; dort wohnte er.
An der Türe seiner Hütte stand seine alte Mut­
ter, eine saubere, betagte Frau mit faltigem, rosigem
G esicht. Sie trug ein ra'.lhes Kleid und ein grobes
Tuch, wie die Fischerfrauen. Die braune Hand zum
Schutz über den Augen, beobachtete sie, wie ihres
Sohnes Boot sich näherte. Jetzt spielte ein Lächeln
u m ihren Mund. »Er hat die Blüte gewonnen, von
der er so oft in seinem Schlaf gesprochen! Wird
er nun glücklich sein, der gute Junge ?« -
Es war wirklich ein guter Junge; seine Mutter
kannte ihn, und je mehr sie ihn erkannte, desto
tiefer wurzelte ihre Liebe. Sie hätte alles, alles
für sein Glück getan. Und j etzt schloss sie auch
dies Kind in ihre Arme, die Blüte, und hielt sie lieb
und wert um seinetwillen. Eh viele Tage ver­
strichen waren, machte das Fischerdorf einen Feier­
tag für die Hochzeit seines tüchtigsten Fischers. Und
die Augen der Frauen füllten sich mit Tränen, wenn
sie in das traurige, sinnende, fragende Gesicht der
s chönen Wilden Blüte blickten.
Sie hatte ihre Liebe gegeben ohne Zaudern,
in völligem Vetirauen. Sie hatte mehr gegeben:
sich selbst ihr Leben, ihre wahre Seele. Die Ueber­
gabe war vollständig.
D i e Blüte und die Frucht. Einleitung. 11

Nun, da alles getan schien und alles vollbracht,


begann ihre Frage b eantwortet zu werden. Dunkel
erkannte sie : trotz dem angetrauten Manne, zu dessen
Füssen sie sass ; trotz den Kindern, die sie auf ihren
Armen hielt, bis ihre schwachen Beinehen stark ge­
nug waren, sie über den Strand an den Uferrand der
blauen Wasser zu tragen ; trotz der heimatlichen
Hütte, die sie schmückte und rein hielt und so sehr
liebte ; trotz alledem, - ihr Herz war hungrig und
leer. Was konnte es bedeuten,. dass, trotzdem sie
alles h atte, sie n ichts hatte ? Blüte war zum Weibe
h erangewachsen, und auf ihrer Stirn h atten Sorge
und Schmerz ihre Linien gezogen. Noch war sie
schön, und noch trug sie ihren Kindesnamen »Blüte«;
aber die Schönheit ihres Gesichts wurde um so
schwermütiger und eigenartiger, je mehr die Jahre
dahinschwanden, Jahre, die lauen Seelen Behagen
und Genüge bringen. Aber die Wilde Blüte h atte
eine rastlose und drängende Seele ; darum konnte
sie die geheimnisvollen Stimmen ihres Herzens nicht
stillen, und diese sagten ihr - vielleicht verstand sie
nicht immer deren Sprache -, dass ihr Gatte nicht
in Wirklichkeit ihr König war ; dass er die Laute
n icht v ernahm aus dem inneren Kreise, in dem sie
vorzugsweise weilte. Für ihn lag die Befriedigung
im äusseren Dasein, im rein physischen Wohlbefinden,
i n den Reizen seines harten Berufs und den Gefahren
der See, i n der Schönheit seines Weibes, im Froh­
sinn seiner glücklichen Kinder. Meh r verlangte er
nicht. Aber der Wilden Blüte Augen hatten das
prophetische Licht in sich. Sie sah , dass a\1 dieser
Friede vergehen musste, dass Freude endet ; sie
erkannte, dass diese Dinge den Geist n icht vollständig
12 Die Blüte und die Frucht. Einleitung.

zufrieden stellten, es nicht konnten ; ihre Seele er­


zitterte, als sie das ferne Heraufdämmern der furcht­
baren Antwort auf ihre tiefernste Frage empfand.

Ein tieferer Ruhetraum; ein herberes Erwachen.

Jahre hernach wohnte in der Fischerhütte am


Ufer der blauen See eine einsam e Frau. Sie war
alt, und von Jahren und Sorgen gebeugt Aber noch
leuchteten ihre Augen heller als die irgend eines
Mädchens im Dorfe und bewahrten die geheimnis­
volle Schönheit der Seele ; noch lockte sich das
einst goldige, jetzt graue Haar um ihre Stirne. Die
Leute liebten sie und waren ihr gefällig, denn sie
war stets sanft und gut. Aber sie verstanden sie
nicht, sie waren lange Zeiten hinter ihr und ihrer
Entwicklung zurück. Sie war reif für die grosse
Haupt prüfung des persönlichen Daseins : zum Leben
i n der Zivilisation. Und als die alte Fischersfrau tot
in ihrer Hütte lag, da ahnten die Leute, die neben
ihrer Hülle trauerten, auch nicht von ferne, welch
hoher, glorreicher Zukunft die Abgeschiedene ent­
gegenging, einer Zukunft voll \Vagnis und Gefahr.
Als ihre Augen im Tode sich schlossen, öff­
nete sich ihr inneres Auge einem Gesichte, das sie
m i t grenzenloser Freude erfüllte. Sie war in einem
Garten von Fruchtbäumen, die in voller Blüte standen.
W ährend sie das Wirrsal weisser Blüten betrach­
tete und sich an ihrer Schönheit labte, erinnerte
sie sich des Namens, den sie auf Erden getragen,
und verstand dunkel seine Bedeutung. Die Blüten
verbargen ihr den Himmel und alles sonst, bis ein
Die Blüte und die Frucht Einleitung. 13

sanfter Druck auf ihre Hand ihren Blick abwärts


lenkte. Und da sah sie neben sich den, den sie die
Zeitalter hindurch geliebt hatte, der Seite an Seite
mit ihr das grosse Geheimnis durchlebte und die
wundersame Lehre der Verkörperung lernte in der
Welt, in der das G eschlecht der oberste und vor­
nehmste Lehrmeister ist. Und mit j eder Phase ihres
Daseins, die diese beiden durchliefen, schmiedeten
sie stärker und stärker die Glieder der Kette, die
sie verband und wieder und wieder ,zwang, sich zu­
sammenzufinden, so dass es ihnen auch beschieden
war, zusammen durch die Entscheidungsstunde zu
gehen, die Stunde, in der das Leben für hohe Ziele
oder leere Taten sich rüstet.
Hier, an dieser geschützten Stätte, wo Blüten
mit Duft und Pracht die Lüfte verklärten, schien es
ihnen, als hätten sie die höchste Fülle von Seligkeit
erreicht. Sie rasteten in unbegrenzter Befriedigung
und genossen mit tiefen Zügen das Glück, zu leben.
Für sie war Dasein als solches die höchste, herr­
lichste Tatsache ; das Dasein, das sie hatten. Der
Augenblick, den sie lebten, genügte, es verlangte
sie nach keinem weiteren, auch keinem andern Ort,
keiner andern Herrlichkeit, als der, die sie hatten.
Niemand weiss, ni em and kann sagen, welche Zeiten
oder Zeitalter vorbeizogen während dieses vollkom­
m enen Genügens, dieser höchsten Glücksverwirk­
lichung.
Schliesslich erwachte der Wilden Blüte Seele
aus . ihrem Schlummer, es war genug. Der Hunger
begann wiederum an ihrem Herzen zu nagen, das
Verlangen, zu wissen, machte sich wieder geltend.
Sie fasste die Hand fester, die in der ihrigen lag, und
14 Die Blüte u nd die Frucht. E,inle itung.

sprang auf von der wohligen Stätte, wo sie geruht.


Das erste, was sie bemerkte, war, dass der Boden
deshalb so weich und angenehm gewesen, weil da,
wo sie gelegen, sich die abgefallenen Baumblüten
zu Massen aufgehäuft hatten. Der Platz war ringsum
w eiss von ihnen, wenn auch schon etliche ange­
fangen hatten, ihre makellose Schönheit zu verlieren,
z u schrumpfen und welk und fleckig zu werden.
Dann schaute sie nach oben und sah, dass die Bäume
zugleich mit den zarten Blütenblättchen ihre erste
Pracht, ihren Frühlingsprunk verloren hatten. Dafür
waren sie dicht behangen mit einer kleinen, grünen
Frucht, die noch ohne rechte Form war, unschön
fürs Auge, hart fürs Anfühlen, herb für den Ge­
schmack. Erschauernd vor Wehmut o b der ent­
schwundenen Frühlingszeit eilte Wilde Blüte hinweg
von den Bäumen , die andere Hand immer noch
fest in der ihrigen. Sie ging neuen, unbekannten
Erlebnissen entgegen , vielleicht schrecklichen Ge­
fahren. Aber ihre A ufgabe war erleichtert durch
die erprobte Kameradschaft und Nähe dessen, der
m it ihr die steile Leiter des Lebens emporklomm.
I.

Im Maskenballe steckt ein Element vom A b e n­


teuer, das den Wagemut beider Geschlechter, die
sprühenden schalkh aften Geister herausfordert. Hilary
Estanol war just, wie der Held einer glänzenden,
rauschenden Festlichkeit sein soll: ein schöner Bursche
mit einnehmenden Zügen und Augen, die ein tiefes
Trauern bargen. In Ruhe war sein Gesicht beinahe
mädchenhaft weich ; aber sein Lächeln verriet einen
Schimmer von Kälte, ein leichter feiner Cynismus
färbte alles, was er sagte. Hilary hatte jedoch keine
Ursache , ein Cyniker zu sein , auch hätte er nie
etwas aus Ueb erspanntheit oder der Mode zulieb
angenomm en. Der Ursprung seiner völlig unbe­
absichtigten Kälte und Gleichgültigkeit lag i n ihm.
Heute war er der Mittelpunkt in Madame Esta­
nols Empfangsräumen. Der Maskenball war zur
Feier seiner Volljährigkeit veranstaltet, und Hilary
hatte nie so m ädchenhaft ausgesehen wie j etzt, da er
inmitten seiner Freunde stand, ihre Glückwünsche
empfing und ihre Geschenke bewunderte. Er trug
das Kleid eines Troubadours, und es passte vortreff­
lich für ihn, der alles vereinte, was das malerische
Kostüm und der Charakter der Rolle erforderten.
16 Die Blüte und die Frucht. I.

Er hatte die Anlage des Improvisators, seine Stimme


war weich und biegsam, seine m usikalischen und
poetischen Gaben waren vielseitig und ihm zur Hand.
Unter seinen· Freunden w urde Hilary vergöttert;
w e r ihn aber nicht liebte, fast hasste, das war seine
allernächste Verwandte - seine Mutter.
Sie stand gerade unweit von ihm, im Gespräch
m it einer Gruppe, die sich um sie gesammelt hatte.
Eine der gewinnendsten Frauen des Tags , noch
schön und voll bestechenden Selbstgefühls, wusste
sie stets einen kleinen Hof um sich zu fesseln.
Ihres Sohnes konnte sie sich nicht freuen, weil sie
seinen Charakter n icht verstand. Nicht lange vor
dem heutigen Abend hatte sie zu einer vertrauten
Freundin gesagt : »Hilary wird seinen Namen und
seine Familie i n Unehre stürzen, ehe sich das erste
graue Haar in seinen schwarzen Locken zeigt. Er
hat die Eigenschaften, die zu Verzweiflung und ver­
hängnisvollen Schritten führen. Gott wird mir ge­
w iss vergebe n , dass ich so von m e inem Sohne
spreche. Aber ich sehe es vor m ir, - einen Ab­
grund, in den er m ich mit sich ziehen wird ; und
jeden Tag watie ich darauf.«
Eine Geladene, eben eingetroffen, näherte sich
Madame Estanol mit einem Lächeln, begrüsste sie
herzlich und sagte dann im Flüstertone: ))Ich habe
eine Fre undin mitgebracht. Reissen Sie die Dame
e instweilen i n ihrer Rolle als Wahrsagerin will­
kommen. Sie ist schlagfertig und ste llt s ich uns
sofort zur Verfügung, wenn es Ihnen Spass macht.«
Sie w andte sich ein wenig zur Seite, und Ma­
dame Estanol sah h i nter i h r eine gebeugte Gestalt
stehen, a lt und hager wie ein Kranich; der Kopf
Die Blüte und die Frucht. I. 17

war schief und die f-Ia:Iid zitterte, während sie den


Krückstock hielt.
))Ei, Gräfin, es ist nicht möglich, Ihre Freundin
in dieser Verkleidung zu erkennen«, sagte Madame
Estanol. ))Wollen Sie mir nicht anvertrauen, wer
sie ist ?«
))Ich bin gebunden, nichts zu verraten, als dass
sie eine Wahrsagerin ist«, sagte die Gräfin Bairoun.
>>Ihren Namen will sie selbst enthüllen, aber nur einer
einzigen Person, und diese Person muss unter dem
Stern geboren sein, der auch ihrer eigenen Geburt
vorstand.«
Die Wahrsagerin drehte ihren gebeugten Kopf
gegen Madame Estanol und heftete ein Paar leuch­
tende, zwingende Augen auf sie. Unmittelbar spürte
Madame Estanol einen starken Einfluss, der sie zu
der geheimnisvollen Persönlichkeit hinzog. Sie trat
vor und streckte ihre Hand aus, um der alten Frau
in ihren Bewegungen quer durch das Zimmer bei­
zustehen.
»Kommt mit mir«, sagte sie , ))ich muss Euch
bei meinem Sohne einführen. Er ist heute der Held
auf der Bühne, denn der Ball findet zu Ehren seiner
Mündigkeitserklärung statt.«
Sie schritten durch die Masken, die nun die gros­
sen Gesellschaftssäle zu füllen begannen, und jeder­
mann wandte sich her , um die befremdliche Figur
der dahinwackelnden Alten zu sehen. Hilary Estanol
lehnte an der hohen, eichenholzgeschnitzten Kamin­
verkleidung des anstossenden Zimmers , umgeben
von einer lachenden Gruppe seiner besten Freunde.
Er hielt seine Maske in der Hand , und als er
so dastand, die dunkeln, vorfallenden Locken in der
2
18 Dte Blüte und die Frucht. I.

Stirne , dachte seine Mutter , während sie näher


kam : »Mein Junge wird jede Stunde seines heitern,
jungen Lebens hübscher.« Als Hilary seiner Mutter
sonderbare Begleiterin sah, trat er einen Schritt vor,
wie um sie zu begrüssen. Aber Madame Estanol
wehrte ihm mit einem Lächeln: >)Ich kann dir un­
sern Gast nicht vorstellen« , sagte sie , >)denn ich
weiss seinen Namen nicht. Sie will ihn nur einer
einzigen Person sagen , die unter dem nämlichen
Stern geboren ist wie sie selbst. Inzwischen m üs­
sen wir sie eben in ihrer Rolle als Wahrsagerin
willkommen heissen.«
Diese Ankündigung wurde allseitig mit einem
Gemurmel freudigen B eifalls aufgenommen.
»Also wird vielleicht unser gütiger Gast seine
Kunst an uns versuchen ?« fragte Hilary und blickte
mit Neugierde auf den zitternden Kopf vor ihm und
die grauen Locken. Die alte Frau wandte sich gegen
ihn und warf ihm aus den so seltsamen und leuch­
tenden Augen einen Blick zu. Auch er spürte, wie
seine Mutter, den Einfluss, der von ihnen ausging.
Er spürte noch mehr. Es erwachte plötzlich etwas
in ihm, ein Ansturm unerklärlicher Empfindungen
v e rsetzte ihn in Bestürzung ; er legte seine Hand auf
die Stirne : er war verwirrt, fast betäubt.
Ein Zimmerehen lag hierzwischen , das einen
Ausgang hatte in den Saal, in dem sie sich b efanden.
Es war so klein , dass es ausser einem Tisch, auf
dem Blumen standen, nur ein Sofa und einen Lehn­
s essel enthielt. Die lachende Schar , die Hilary
umgab, machte sich eifrig daran, dieses Zimmerehen
in das Allerheiligste der Prophetin zu verwandeln.
Sie verstellten, dämpften und verdeckten die Lichter,
Die Blüte und die Frucht. I. 19

zogen die Vorhänge zu , schlossen die Türen und


verriegelten alle bis auf eine. A n diese stellten sie
eine Wache, die unnachgiebig nur eins nach dem
andern und nur diejenigen zuzulassen hatte, die
glücklich genug waren, mit der Sibylle allein sprechen
. zu dürfen ; denn sie wollte nur bestimmte Gäste
sehen, welche sie selbst aus der Menge auswählte,
indem sie Erscheinung und Kleidung dem Hüter
ihres improvisierten Tempels beschrieb. Es waren
lauter Damen von hoher Stellung. Sie traten lachend
und beinahe hochnäsig ein. Sie kamen heraus, blass
und rot, zitternd oder in Tränen. >>Wer kann sie
sein ?« raunten sie i m Tone des Entsetzens einander
zu und zeigten durch diesen Schrecken, wie sie in
ihre Herzen eingedrungen war und an ihre geheim­
sten Gedanken gerührt hatte.
Zuletzt verkündete der Wächter , dass Hilary
selbst kommen solle.
Als Hilary hineinging , wandte sich der junge
Mann, noch während er die Türe zu der Wahrsagerin
hinter dem neuen Gaste schloss , mit lautem Auf­
lachen an die Gruppe hinter sich.
»Schon hat sie ihn in Schrecken versetzt« , be­
richtete er, »ich hörte ihn so etwas wie einen Schrei
ausstossen, als er eintrat.«
»Haben Sie etwas gesehen ?« fragte j emand ;
»vielleicht hat sie vor ihrem Wirte die Verkleidung
abgelegt k<
·

»Nein, ich habe nichts gesehen«, antwortete er.


»Kann von den Damen, die drinnen waren , keine
erraten, wer sie ist ?«
)>Nein« , seufzte ein Mädchen , das aus der
Schreckenskammer mit entfärbten, zitternden Lippen
20 Die Blüte und die Frucht. I.

herausgekommen war , ))das ist unmöglich zu er­


raten. Sie w eiss alles.«
Es war, wie man vermutet hatte. Sie hatte ihre
Verkleidung für ihren Wirt abgeworfen. Der Stecken,
der lange Mantel, die Perrücke und die Haube lagen
,auf dem Boden. Mit Hilfe eines präparierten Tuches
hatte sie rasch von ihrer weissen Haut die dunkle
Farbe der alten Sibylle entfernt. Als Hilary eintrat,
hatte sie ihre eilige Verwandlung beendet und sass
zurückgelehnt auf dem niedem Sessel. Sie trug
eine reiche, dem Abend entsprechende Toilette und
hielt eine Maske zum Gebrauch bereit in ihrer Hand.
N och war ihr Gesicht unbedeckt ; ihre wundersamen,
leuchtenden Augen waren auf Hilary gerichtet , ihr
s chöner Mund bekämpfte ein Lächeln der Belustigung
bei seinem Erstaunen. Es war mehr als Erstaunen,
was ihn befiel. Wiederum bemächtigte sich seines
Gemüts jener unerklärliche Aufruhr. Es war ihm
wie einem Betrunkenen. Einige Augenblicke sah er
s i e sehr ernsthaft an.
))Es ist sicher«, sagte er, ))Wir sind uns früher
schon begegnet.«
>>Wir wurden unter dem nämlichen Stern ge­
boren«, antwortete sie in Lauten, die ihn durchschau­
erten. Bis j etzt hatte er sie noch nicht sprechen
hören. D ie Vorstellung von einem starken Bande,
einem Bündnis, das sie miteinander vereinigte, wurde
doppelt mächtig bei dem Klang dieser vollen, wohl­
tönenden und weichen Stimme. Plötzlich erkannte
er den Sinn seiner Erregung. Er wehrte sich nicht
länger, er wurde auch nicht mehr verwirrt.
Er trat näher und setzte sich neben ihr auf das
Sofa nieder. Er blickte auf sie m it Bewunderung
Die Blüte und die Frucht. I. 21

und Verehrung, nicht länger mit Scheu oder Verlegen­


heit, denn er verstand, dass das Verhängnis, an das
er nie geglaubt hatte, bereits hereingebrochen war,
- er liebte.
)>Sie sagten, Sie würden dem Ihren Namen ent­
hüllen , der unter dem nämlichen Stern wie Sie
geboren wurde.«
»Kennen Sie mich nicht ?« fragte sie mit einem
Blick leichten Erstaunens. Sie dachte , jedermann
kenne sie wenigstens v o n Angesicht.
»Ich kenne Sie nicht«, antwortete er, »jedoch
fällt es mir in der Tat schwer, zu denken, dass ich
bisher gelebt haben soll, ohne Sie zu kennen.«
Schmeicheleien machten keinen Eindruck auf
sie ; die Atmosphäre, in der sie lebte , war ja v oll
davon.
»leb bin die Prinzessin Flita«, antwortete sie.
Hilary stutzte und errötete ein wenig bei diesen
Worten und konnte schlecht seine Erregung verbergen.
Prinzessin Flita nahm einen Rang in der Gesellschaft
des Landes ein, wie er eben jemand zukommt, der
dem Tron eines bedeutenden Regenten so nahe
steht. Sie war eine Persönlichkeit unter gekrönten
Häuptern, der ein Kaiser, ohne sich etwas zu ver­
geben, seine Liebe anbieten durfte ; und er, Hilary,
das Kind eines Österreichischen Offiziers und der
armen Tochter einer herabgekommenen aristokrati­ ·

schen Familie -, er sah sich ausgeliefert einer Liebe


auf den ersten Blick, sein Herz verfügte, er liebe.
Es konnte nie wieder nichtgesagt sein, und das
wusste er. Sein Inneres hatte die Worte geflüstert,
aber er wusste, das Flüstern werde ein hundertfaches
Echo finden. Er musste sie immer lieben.
22 Die Blüte und die Frucht I.

D i e Prinzessin richtete ihre wundervollen Augen


auf ihn und lächelte.
»Ich habe für heute Abend meine Arbeit getan«,
sagte sie. »Ich habe einigen Leuten die Zeit gekürzt,
n u n würde ich gerne tanzen. <<
Hilary war hinreichend Hofmann, u m für diesen
Befehl nicht taub zu sein, wenn auch seine ganze
S eele in seinen Augen w eilte und alle seine Ge­
danken an der Schönheit der Prinzessin hafteten. Er
erhob sich und bot ihr den Arm, sie band die Maske
vor, und so verliessen sie das Zimmer. Als Hilary
unter der Menge, die von allen Seiten die Türe zum
Heiligtum der Wahrsagerin belagerte, erschien, mit
einer schlanken, anmutsvollen Begleiterin, deren Ge­
sicht bis auf die grossen, dunkeln Augen verdeckt
war, entstand unwillkürlich ein Gemurmel der Auf­
regung und Neugierde. »Wer kann sie sein ?« wurde
hundertmal wiederholt. Aber niemand erriet es.
Keiner liess sich träumen, es könne die Prinzessin
Flita s elbst sein ; denn es wären nur wenige Häuser
gewesen , die sie besucht hätte , und nicht einer
konnte daraufkommen , dass ein b estimmter Grund
sie in das der Madame Estanol bätte führen sollen.
Das Geheimnis ihrer Anwesenheit klärte sie Hilary
a uf, während sie miteinander tanzten.
»Ich bin ein Studiosus der Magie«, hub sie an,
))Und ich habe schon manche nützliche G eheimnisse
gelernt. Ich kann in den Herzen der Höflinge, die
mich umgeben, lesen, und ich weiss, wo nach treuen
Freunden zu suchen ist. Letzte Nacht träumte ich
von dem Freunde, den ich hier finden würde. Haben
Sie Neigung für solche mystische Beschäftigungen ?«
))Ich verstehe davon nichts«, sagte Hilary.
D i e Blüte und die Frucht. I. 23

»So lassen Sie sich von mir unterrichten«, sagte


die Prinzessin mit einem leichten Lachen. »Sie
werden ein guter Schüler sein, das weiss ich. Viel­
leicht kann ich einen Jünger aus Ihnen machen. Es
sind nicht viele, mit denen das zu erreichen ist.«
»Wieso ?« fragte Hilary. »Es ist doch sicherlich
ein fesselndes Studium, - wenn man an die Geh eim­
nisse glauben kann.«
»Die grosse Schwierigkeit ist nicht Skeptizismus«,
antwortete die Prinzessin, »sondern Furcht. Der
Schrecken treibt die Menge von der Schwelle zurück.
Nur wenige wagen es, sie zu überschreiten«.
»Sie sind eine der wenigen ?« sagte Hilary, in­
dem er mit Blicken feuriger Bewunderung zu ihr
aufsah.
»Ich habe nie das Gefühl der Furcht gehabt«,
antwortete sie.
»Und sollte es unmöglich sein, es Ihnen beizu­
bringen ?« sagte Hilary. »Ich wäre neugierig !«
»Wollen Sie eine Probe machen ?« erwiderte
sie mit einem Lächeln über seine kecke Sprache, die
übrigens nicht so ungehörig klang, wie sie erscheinen
könnte, denn Hilarys Blick und Ausdruck waren
verklärt von Liebe und Verehrung, und seine Stimme
zitterte vor Leidenschaft.
»Sie können ja den V ersuch anstellen, wenn
Sie wünschen<<, sagte sie, ihn mit einem Blicke der
so wundersamen Augen streifend. »Erschrecken Sie
mich, wenn Sie es können.«
»Nicht hier in meinem Hause, das wäre nicht
gastlich . «
»So kommen Sie z u mir, an irgend einem Tag,
wenn Sie denken, es werde Sie unterhalten. V er-
24 Die B l üte u nd die Frucht. I.

s uchen Sie es und jagen Sie mir Furcht ein. Ich


werde Ihnen mein Laboratorium zeigen, wo ich
Essenzen und Räucherwerk bereite, um die Gnomen
und Gaulen z u ergötzen.«
Hilary nahm m it freudigem Erröten an.
))Führen Sie mich zur Gräfin«, sagte sie zum
Schlusse. ))Ich gehe jetzt, aber ich m öchte, dass
sie mich erst noch Ihrer Mutter v orstellt.«
Die Gräfin war entzückt, dass die Prinzessin
sich hierzu entschlossen hatte. Sie konnte nicht er­
warten, dass Madam e Estanol angenehm berührt ge­
wesen wäre, wenn die hohe Dame nur eine Maske­
rade i n ihren Salons aufgeführt und sich nicht be­
w o gen gefühlt hätte, wenigstens vor ihrer Wirtin
ihre Verkleidung abzulegen. Und die Gräfin schätzte
die Freundschaft der Madame Estanol sehr ; so war sie
froh, dass die eigensinnige Prinzessin gewillt war,
ihr mit Höflichkeit zu begegnen.
Madame Estanol konnte mit Mühe ihre Ueber­
raschung verbergen, als sie erfuhr, welch hoher Rang
es war, der unter der Verkleidung der alten Wahr­
sagerin versteckt gewesen. Ihre Maske n ahm die
Prinzessin n i ch t ab, sondern sagte unter Lachen
warnend zu Madame Estanol, es möchten manche
ihrer Gäste nicht eben erfreut sein, zu entdecken ,
wer die Sybille war, die so scharfsichtig in ihren
Herzen gelesen hatte.
Als sie weg war, waren Hilarys Herz und Seele
mit ihr gegangen. Er schien kaum n o ch Lust zum
Plaudern z u haben und sein Lachen war gänzlich
v e rstummt. Seine Gedanken, sein eigentliches Selbst
folgten der bezaubernden Persönlichkeit, die ihn um­
strickt hatte.
Die B lüte und die Frucht. II. 25

Madame Estanol sah ihm seine Zerstreutheit an,


sie bemerkte seinen unruhigen, suchenden Blick und
den neuen Ausdruck von Schwärmerei in seinen
Augen. Aber sie sagte kein Wort. Sie fürchtete
die Prinzessin , die, wie jedermann wusste , voll
Laune und Eigensinn war. Ihr bangte, Hilary möchte
töricht genug sein, sich dem Zauber der Schönheit
und Ueberlegenheit dieses Mädchens zu überlassen,
jenem Zauber der Macht, der nur einer Person von
königlicher Stellung eigen ist. Aber sie wollte kein
Wort sagen ; d a sie Hilary gut kannte, wusste sie,
dass jeder Versuch, ihn gegenteilig zu beeinflussen,
seine neue Leidenschaft nur verstärken würde.

li.

Z wei Tage später fasste Hilary den Mut , der


Prinzessin seinen Besuch abzustatten. Ihm deuchte,
sie könne dies nicht für zu frühe halten, denn ihm
schienen es ebensoviele Monate, seit er sie gesehen.
Sie lebte in einem Landhause, etliche Meilen
entfernt von der Stadt. Ihres Vaters Palast wollte
ihr nie gefallen ; sie kam dorthin nur, wenn Feste
oder Feierlichkeiten ihre Gegenwart erheischten.
Auf dem Lande, mit ihrer Dame und ihren Diener­
innen, konnte sie tun , was ihr beliebte. Sie waren
ja samt und sonders voll Angst vor ihr, und ihrem
26 Die Blüte und d i e Frucht. II.

»Laboratorium« b e?.eigten sie den allergrössten Re­


spekt. Kaum im äussersten Notfall hätten sie den
R aum betreten.
Hilary wurde in den Garten geleitet, wo die
Prinzessin in einer Allee duftender, blütenbeladener
Bäume lustwandelte. Schon der E m p fang riss ihn
hin ; und nun erst die Stunde verwegensten Rausches,
die er hier im Sonnenschein mit ihr verbrachte! Sie
gaben sich ohne Rückhalt der reizendsten Liebesko­
m ödie hin. Nun, da sich keine fremden Augen auf
sie richteten, liess ihn die Prinzessin vergessen, dass
sie einem andern Range angehörte als er.
Als sie des Gehens müde war, sagte sie : >>Jetzt
werde ich Ihnen mein Laboratorium z eigen. Keins
vom Hause betritt es j e m als. Wenn Sie in der Stadt
sagen würden, Sie seien in diesem Gemache gewesen,
würden Sie mit Fragen bestürmt werden. Haben
Sie acht und sagen Sie nichts.«
))Eher sterben k< rief Hilary aus ; über die Prin­
zessin und ihre Geheimnisse zu sprechen, kam ihm
vor wie Entweihung.
Der Raum war ohne Fenster und vollständig
dunkel ; nur eine Lampe, die oben im Mittelpunkt
der hohen getäfelten Decke hing, spendete ein ge­
dämpftes Licht. An den schwarz angestrichenen
Wänden sah man seltsame Figuren und Gestalten
in Rot. Augenscheinlich stammten sie von keiner
Künstlerhand ; sie waren kühn im Wurf, aber unge­
schickt in der Durchführung. Neben einem grossen
G efässe, das auf dem Boden stand, war ein Sessel,
und i n dem Sessel sass eine Gestalt, die Hilarys
Aufmerksamkeit unverzüglich fesselte.
Er sah auf den ersten Blick, dass es nichts
Die Blüte und die Frucht. II. 27

Menschliches war, auch nicht ein Gliedermann oder


ein Bildhauerwerk. A m meisten glich die Gestalt
einem Gliedermann , aber etwas unbestimmbar
Fremdartiges unterschied sie von jenen leblosen,
mit Draperieen behängten Formen. Auch waren
alle Einzelheiten ausgearbeitet ; die Haut hatte Farbe,
die Augen hatten ihre richtige Tiefe, das Haar schien
menschliches zu sein. Hilary blieb am Eingang stehen,
unfähig, weiter vorwärts zu gehen unter dem Bann,
den die Figur auf ihn ausübte.
Die Prinzessin stand mitten im Zimmer unter
der Lampe und schaute zurück. Sie sah die Richtung
seines Blicks und lachte.
»Sie brauchen sich nicht davor zu fürchten<<,
sagte sie.
»Ist es eine Gliederpuppe ?« fragte Hilary, in­
dem er leichthin zu sprechen suchte, denn es fiel
ihm ein, dass sie nur diej enigen achtete, die keine
Furcht kannten.
»Ja«, antwortete sie, >>es ist meine Gliederpuppe . «
Es lag etwas in ihrem Tone, d a s Hilary stutzig
machte.
»Sind Sie Künstlerin ?« fragte er.
>>Ja«, entgegnete sie, »in Lebendigem, - in mensch­
licher Natur. Ich arbeite nicht mit Stift oder Pinsel ;
ich benütze etwas, was man nicht seh e n kann, wohl
aber fühlen.«
>>Was meinen Sie damit ?« fragte Hilary.
Sie warf einen eigentümlichen Blick auf ihn,
der zuerst misstrauisch war und dann weich und
zärtlich wurde.
»Ich will es Ihnen noch nicht sagen«, antwor­
tete sie endlich.
28 Die Blüte und die Frucht. II.

Hilary gab sich Mühe , ihr unbefangen zu ant­


worten.
»Habe ich eine Probe zu bestehen, ehe Sie es
mir sagen ?«
>> Ja«, erwiderte sie heiter, »und schon sperrt
Ihnen eine solche den Weg. Trauen Sie sich herein
oder nich t ?«
Hilary machte eine gewaltige Anstrengung, den
Zauber zu brechen, der ihn bannte. Er schritt hastig
quer durchs Zimmer bis vor sie hin. Dann begriff
er, dass er wahrhaftig eine Prüfung durchgemacht.
Er hatte einer Kraft Widerstand geleistet, deren
Natur er nicht kannte, und er war als Sieger her­
vorgegangen. D iese Tatsache brachte ihm eine
weitere Ueberzeugung.
»Prinzessin«, sagte er, »hier i n diesem Zimmer
ist j emand ausser Ihnen und mir. Wir sind nicht
allein.«
Er sprach so unmittelbar und unter einem Ge­
fühle so mächtiger Ueberraschung und B eunruhigung,
dass er sich nicht Zeit gelassen hatte, zu überlegen,
ob seine Frage weise sei oder nicht. D i e Prinzessin
lächelte, als sie auf ihn blickte.
»Sie sind sehr sensitiv« , sagte sie. »Gewiss,
wir wurden unter dem nämlichen Stern geboren,
denn wir sind für die gleichen Einflüsse empfänglich.
Nein , wir sind nicht allein. Ich habe Diener hier,
die kein Auge wahrgenommen h at als das m eine.
Haben Sie Lust, sie zu sehen ? Sagen Sie nicht vor­
eilig ja. Es will eine lange und mühselige Lehrzeit,
die Herrschaft über diese Diener zu gewinnen. Aber
ohne sie zu meistern , können Sie m ich nicht oft
b esuchen ; denn wenn Sie viel um mich sind, wer-
Die Blüte und die Frucht. II. 29

den Sie von ihnen gehasst werden, und dieser Hass


ist stärker als Ihre Widerstandskraft gegen ihn.«
Sie sprach j etzt sehr ernst, und Hilary fühlte
eine Erregung seltsamer Art, als er das schöne Mäd­
chen im Schein der Lampe vor sich stehen sah. Er
verspürte eine plötzliche Scheu vor ihr als vor je­
mand Stärkerem, und zugleich ein leidenschaftliches
Verlangen, ihr zu dienen, ihr Sklave zu sein, sein
Leben ganz und gar ihr zu weihen. Vielleicht las
sie die Liebe in seinen Augen, denn sie wandte sich
weg und schritt auf die Figur in dem Sessel zu.
))Ich weiss, das quält Sie , Sie sollen es nicht
länger sehen.« Sie schlug eine grosse Wand aus­
einander, die m it einem goldgetonten Stoff bezogen
und voll schwarzumrissener Bilder war, und stellte
sie so, dass sie die Figur und ebenso das grosse
Gefäss daneben vollständig verdeckte.
))Jetzt werden Sie freier atmen. Ich beabsich­
tige, Ihnen nun etwas zu zeigen. Wir haben den
Sonnenschein nicht ohne Zweck verlassen. Auch
müssen wir flink sein, denn meine gute Tante wird
in Aengsten schweben, wenn sie inne wird , dass
ich Sie hier herein gebracht habe. Ich glaube , sie
wird schwerlich erwarten, Sie lebendig wieder zu
sehen.«
Flita öffnete, während sie sprach, eine goldene
Urne , die auf einer Lade stand, und alsbald ward die
Luft voll eines starken, süsslichen Geruchs. Hilary
legte die Hand an seine Stirne . Konnte es sein, dass
er auf einmal fremden Einflüssen zugänglich gewor­
den war, oder war es Einbildung von ihm� dass die
roten Zeichen und Figuren auf der schwarzen Wand
sich bewegten, ordneten und gruppierten ? Ja , es
30 Die Blüte und die Frucht. · Il.

war so ; vor seinen Augen mischten sich die Formen,


lösten sich auf, mischten sich von n euem . Ein Wort
ward gebildet und danri ein andres. Es prägte sich
Hilarys Gedächtnis immer von selber ein, ehe es
wechselte und verschwan d ; er verfolgte nur den
rätselhaften Vorgang, der sich vor seinen Augen zu­
trug. Plötzlich wurde er gewahr, dass ein Satz ent­
standen , dass hier Vv' otie geschri eben worden waren,
die auszusprechen er nie gewagt hätte, - dass auf
der Wand vor ihm in feurigen Buchstaben das Ge­
h eimnis seines Herzens erschienen war. Er fuhr
zurück, u n d nur mit Mühe l öste er seine Augen von
der Wand, um sie i n äusserster Bestürzung und Ver­
legenheit auf die Prinzessin zu richten. Ihr Antlitz
war über und über rot , ihr Blick leuchtend und
zärtlich.
»Haben Sie es geseh e n ?« fragte er mit beben­
der Stimme.
Einen Augenblick zögerte sie ; dann entgegnete
sie: >>Ja.«
Nun folgte eine kurze Stille. H ilary blickte
wieder auf di e Wand, in der Erwartung, das Denken
seiner Seele dort geschrieben zu sehen. Aber die
Zeichen kehrten zu ihrer ursprünglichen Anordnung
zurück, und der Geruch verzog sich aus der Luft.
»Kommen Sie« , sagte die Prinzessin kurz ab­
brechend , »wir sind lange genug hier gewesen.
Meine Tante wird in Sorge sein. Lassen Sie uns
zu ihr gehen.«
Sie schritt voran aus dem Gemach und Hilary
folgte ihr. Wenige Augenblicke darnach waren sie
in einem grossen Empfangszimmer , inmitten einer
Flut von Sonnenschein und Blumenduft ; der Prin-
Die Blüte und die Frucht: II. 31

zessin Tante w a r mit Seidenfäden beschäftigt , d i e


s i e während d e s Stickens v e rwirrt hatte ; die Prin­
zessin kniete neben ihr und hielt einen Strang gel­
ber Seide auf beiden Händen. Hilary stand einen
Moment vollständig verblüfft da. Hatte er geträumt ?
War jenes schwarze Zimmer und seine entsetzliche
Atmosphäre eine Phantasie ?
Er blieb, so lange es anging, und nahm m it
Widerstreben Abschied. Die Prinzessin, die zere­
moniellen Zwang in ihrem Landhause nicht haben
m o chte, erhob sich von den Knieen und sagte, sie
werde ihm das Tor öffnen. Hilary errötete h o ch­
erfreut bei diesem Zeichen ihrer Gunst.
Der Ausgang, dem sie ihn zuführte, war eng,
ein Piörtchen in einer verstrickten Hecke blühenden
Strauchwerks. Als er hindurchgeschritten , blickte
er zurück und sah die Prinzessin im entzückendsten
Blumenrahmen an der Türe lehnen. Sie lächelte
und streckte ihm die Hand hin. Der Glanz ihrer
Persönlichkeit berauschte ihn und er verlor jeg­
liches Gefühl für die schlechterdings unüberschreit­
bare Kluft zwischen ihnen.
>>Sie haben die Worte gelesen«, sagte er, »und
Sie legen Ihre Hand in die mein e ?«
»leb habe die Worte gelesen«, antwortete sie
mit einer wei chen Stimm e , die sein Herz ergriff,
»und ich lege meine Hand in die Ihrige. Leben
Sie wohl k< -
Sie hatte seine Hand für einen Augenblick be­
rührt und dann war sie gegangen.
Hilary kehrte durch die blühenden Hecken heim
zur Stadt. Sein Herz aber, sein Denken, seine Seele
blieben zurück. Sie hatte die Worte gelesen und
32 Die Blüte und die Frucht. Il.

sie war ihm nicht böse Sie wusste um seine Liebe


zu ihr, und zürnte nicht. Sie hatte in seinem Herzen
gelesen, und war nicht aufgebracht. Was durfte er
da nicht alles noch erhoffen ?
Dann stellte sich ein andrer Gedanke ein. Sie
hatte die Worte gelesen ; das schwarze Gemach war
also nicht eine Phantasie, sondern eine Tatsache, so
wirklich wie der Sonnenschein. Welcher Art m och­
ten die Kräfte dieses seltsamen Geschöpfes sein, das
er liebte ? Er wusste es nicht ; aber er wusste, dass
er sie liebte.
* *
*

Ein überwältigendes V erlangen führte ihn täglich


auf den Weg zwischen den blühenden Hecken dem
Landhause zu. Selten hatte er den Mut, vollends
hineinzugehen. Meist zögerte er vor der kleinen
Pforte und blickte aus diesem Blumenversteck sehn­
süchtig hinüber. Als er das erste Mal eintrat nach
dem Besuche, bei dem sein Geheimnis vor seine
Augen geschrieben worden war, fand er die Prin­
zessin innerhalb des Tores stehen. Sie hielt ihm die
Hand entgegen und sagte einfach : »Ich wusste, dass
Sie kommen. Ich habe etwas vorbereitet und habe
m eine Tante überzeugt, dass keine schrecklichen
Dinge geschehen werden, wenn Sie eine kleine
Weile in meinem Laboratorium sind. Also kommen
Sie mit mir k<
Es war glänzend erleuchtet, das schwarzwandige
G emach, das sie ihr Laboratorium nannte. Das grosse
Gefäss stand mitten auf dem Boden, unter der Lampe,
und Feuer und Qualm stiegen von ihm auf. Ein
scharfer, lebhafter Geruch füllte die Luft, und der
Die Blüte und die Frucht. II. 33

obere Teil des hohen R aumes hing voll Wolken


aus graublauem Rauche, der i m Licht wie Silber
schimmerte.
Neben, im Sessel, lehnte eine Gestalt : es war
die einer schönen Frau. Ein eigenes Gemisch v o n
Gefühlen stürmte a u f Hilary ein. A u f d e n ersten
Blick empfand er, dass die Figur die nämliche war,
die er schon neulich gesehen ; auf den zweiten er­
kannte er seine Mutter. Er stürzte auf sie zu und
wurde gewahr, dass sie leblos war ; fast ausser sich
zürnte er die Prinzessin an, Unwillen und Schrecken
in seinen Mienen.
>>Was haben Sie getan ? Was haben Sie getan ?<<
rief er.
))Nichts«, erwiderte sie mit einem Lächeln. ))Ich
habe nichts Böses angestellt. Sehen Sie nicht, dass
es nur ein Nachbild ist, m eine Puppe, wie ich
Ihnen sagte ?«
Er warf einen langen Blick auf die leblose, un­
beseelte Form, die ein so vollkommenes Abbild
seiner Mutter war, und kehrte sich dann zur Prin­
zessin, noch heftigeren Schrecken im Ausdruck
als zuvor.
>>Was wollen Sie tun ?« fragte er mit stocken­
der Stimme.
>)Nichts Schlimmes !<< antwortete sie leichthin.
»Ihre Mutter h asst und fürchtet mich. Ich will das
nicht h aben. Ich mache, dass sie mich liebt. Ich
mache, dass sie Ihr Hiersein bei mir wünscht.«
Eine Weile standen sie schweigend neben dem
Gefäss und dem Flammenspiel darin. Dann schrie
Hilary plötzlich auf : »Ich kann es nicht aushalten !
Machen Sie dieser schrecklichen Zauberei ein Ende !«
3
34 Die Blüte und die Frucht. III.

»Ja«, sagte die Prinzessin, »ihr wohl, aber nicht


ihren Folgen.<<
Sie zog die Wand vor Sessel und Figur und
warf in das Gefäss etwas, das augenblicklich die
Flamme erstickte.
Dann geleitete sie Hilary aus dem Zimmer.
Draussen gingen sie auf und ab unter den Bäumen und
plauderten, wie Liebende es tun, über Dinge, die
bloss ihnen wichtig sind.
Als Hilary wieder nach Hause kam, erhob sich
seine Mutter von dem Diwan, auf dem sie geruht,
und streckte ihm die Hand hin. Sie zog ihn auf
d e n Platz neben sich.
>> Hilary«, sprach sie, »etwas sagt mir, dass du
bei Prinzessin Flita gewesen bist. Es ist recht und
freut m ich. Sie ist dir eine gute Freundin, frage
sie, ob ich ihr meine Aufwartung machen soll.«
Hilary erhob sich, ohne zu erwidern. Tropfen
perlten auf seiner Stirne. Zum erstenmale ward er
sich wirklicher Furcht bewusst, und diese Furcht
flösste ihm das Weib ein, das er liebte.

III.

In einer Kapelle der grossen Kathedrale der


Stadt war zu bestimmten Stunden regelmässig ein
M önch , der allen Bei stand lieh, die ihn zu Rate
zogen.
Zu diesem Manne begab sich Hilary nach einigen
Tagen. In der Zwischenzeit hatte er die Prinzessin
Die Blüte und die Frucht. III. 35

nicht gesehen. Seine Seele ward herumgezerrt, hin


und her, vom Für zum Wider. D i e Leidenschaft
für die schöne Geliebte hielt i hn fest, während die
Furcht vor der Magierin ihn von ihr wegtrieb. Er
ging zur Nachmittagszeit i n den Dom, entschlossen,
seine Bedrängnisse samt und sonders dem Mönche
zu eröffnen.
Vater Amyot befand sich in der Sakriste i ,
aber es war jem and bei ihm, die Türe war ver­
schlossen. Hilary kniete am Seitenaltar der Kapelle
nieder und wartete. Da liess sich ein schwaches Ge­
räusch hören ; er hob den Kopf, um zu sehen, ob
der Priester j etzt frei sei, und - Prinzessin Flita
stand vor ihm, ihre Augen auf ihn gerichtet : sie
war es, die eben jetzt im Zwiegespräch bei dem
Geistlichen gewesen war. Verblüfft und vor Ueber­
raschung sprachlos v ermochte Hilary nur, sie anzu­
starren. Einen Moment liess sie ihre merkwürdigen,
bezaubernden Augen auf den seinen ruhen, kehrte
sich dann ab und entfernte sich mit eiligen, leichten
Schritten aus der Kapelle.
Hilary blieb, ohne sich zu rühren, vor dem Al­
tare knien, nicht so sehr in Gedanken, als in Er­
staunen versunken. Flita war also nicht, wofür e r
sie hielt. W a r s i e e mpfänglich für religi öse Eindrücke,
so konnte sie nicht die kalte Magierin sein, als die
sie ihm erschien, wenn er sich den letzten Auftritt
im Laboratorium wieder vergegenwärtigte. Nach
alledem n ützte sie ihre Macht vielleicht edel und
zum Guten ? E r fing an , sie in einem andern
Lichte z u sehen und sie nun ob ihrer Seelengüte
ebenso zu vergöttern als zufolge der Macht ihrer Reize.
Sein Herz schlug freudig bei dem Gedanken, dass
36 Die Blüte und die Frucht. III.

ihre Seele so schön sei wie ihr Körper. Er erhob


sich aus seiner knieenden Stellung und schickte sich
u nwillkürlich und ohne Ueberlegung an, ihr zu folgen.
Hierbei begegnete er Vater Amyot, der gemach den
tiefen Chorgang daher kam und sich, ohne irgend­
wem die leiseste Beachtung zu schenken, in voller
Länge auf den Boden hinstreckte. Er trug ein Ge­
wand von grobem, schwarzem Stoff, das u m den
Leib mit einer dicken, schwarzen Schnur zusammen­
gehalten wurde. Eine Kapuze aus demselben Zeug
barg sein langes Haar. Wie ein Skelett war er,
fleischlos und abgemagert. Er lag auf der Seite, mit
der Wange auf dem nackten Steinboden, und schien
b e wusstlos, so völlig war seine Versenkung. Seine
Augen standen offen, hatten aber kein Leben in ihrem
Blick. Es waren grosse , graublaue Augen voll
rührender Wehmut , die ihnen ein Aussehen gab,
als ob Tränen in ihnen ständen. Diese Wehmut er­
griff Hilary ausserordentlich, sie ging ihm zu Herzen
und liess eine tiefsensible Saite seines Wesens er­
zittern und mitschwingen. Er stand still und be­
trachtete eine Weile die hingestreckte Gestalt, um
dann mit einer frommen Verbeugung die Kapelle
zu verlassen.
Prinzessin Flita hatte draussen ihr Pferd warten.
Sie war eine beharrliche und beherzte Reiterirr und
kam selten anders als zu Pferd in die Stadt, zum
Entsetzen der Hofdamen , die in der Residenz
im Wagen fuhren , um sich schön kleiden zu
können. Aber Flita hatte diese Art Eitelkeit nicht.
Wahrscheinlich hätte sich kein anderes Mädchen
ihres Alters zu dem h ässlichen Aufputz der alten
Hexe verstanden und ihn vor so viel neugierigen
Die Blüte und die Frucht. lll . 37

Augen getragen. Ihre eigene Schönheit und Er.:.


scheinung waren Nebensachen in ihrer Gedanken­
welt. Sie liebte es , auf den vornehmen Prome­
naden unter den prächtigen Toiletten der Hofdamen
in ihrem Reitkleide zu erscheinen.
Dies tat sie auch j etzt, während ein Diener das
Pferd auf und ab führte. Hilary beobachtete sie aus
einiger Entfernung, konnte sich aber nicht so viel
Mut holen, um sich ihr inmitten einer derartigen
Menge hoher Herrschaften zu nähern. Da sah ihn
Flita und kam mit ihrem raschen, leichten Schritt
auf ihn zu.
>>Wollen Sie mit mir gehen ?« fragte sie. »Hier
passt mir keiner als Begleiter ausser Ihnen.«
>>Wie kommt das ?« fragte Hilary, während er
strahlenden Gesichts und lebhaften Schritts sich ihr
anschloss.
>>Weil niemand d a ist, der meine Sympathien
teilt. Sie allein sind in meinem Laboratorium ge­
wesen.«
))Aber würden nicht auch diese alle beglückt
sein, wenn Sie ihnen Zutritt gewährten ?«
))Keiner besässe den nötigen Mut, ausgenommen
vielleicht ein paar tolle Waghälse, die blasser Auf­
regung zulieb zu allem bereit sind. Diese wären aber
mir nicht genehm.«
Hilary schwieg. Ihre Worte zeigten ihm un­
verblümt, dass sie ihn leiden mochte. Aber in seinem
Wesen lag eine kühle Nüchternheit, die sich nun
geltend machte. Hier inmitten so vieler Leute war
der Geliebten Einfluss auf ihn verringert, und er
zweifelte mehr denn je an ihr. Spielte sie nur mit
ihm zum Zeitvertreib ? Ihre hohe Stellung gab ihr
38 Die Blüte und die Frucht. III.

d e n Freibrief dazu, und auch er hätte es ihr nicht


v erargen können , denn selbst nur einen Tag ihr
Günstling z u sein wäre von manchem Kavalier als
Auszeichnung a ufgenommen worden , mit der er
hätte prahlen können. Und Hilary war auserlesen
für solch eine Ehrung vor aller Welt ! Er fühlte die
neidisch e n Blicke derer , an denen er vorüberging,
u n d alsbald fiel ein kalter Reif auf sein Herz. Was
lag ihm a n solchem Beneidetwerden ? seinem Ge­
müte war Liebe ein heilig Ding. · Seine Gering­
schätzung des L ebens, sein Zweifel an der m ensch­
lichen Natur erwachten in diesem Augenblicke des
Triumphs. Er sprach n icht, aber die Prinzessin ant­
wortete seinen Gedanken.
>>Besser , wir gehen von hier weg ; auf dem
Lande ist Ihr Herz zu warm, hier werden Sie gleich
blasiert.«
» \\1.ober kennen Sie mein Herz ?« fragte er.
»Wir w urden unter dem nämlichen Stern ge­
boren«, erwiderte sie gelassen.
»Das ist keine genügende Antwort«, entgegnete
er. »Sie bringt mir kein Verständnis, ich weiss
n i chts von den geheimen Wissenschaften, die Sie
studieren.«
»So kommen Sie mit mir«, antwortete sie, »ich
will Sie lehren.«
Sie gab ein Zeichen, und der Diener führte das
Pferd vor ; sie b estieg es und ritt d·avon mit einem
Lächeln noch für Hilary als einzigen Abschiedsgruss.
Sie wusste, dass er trotz den Zweifeln seines Innern
in ihrer Abwesenheit nach ihr verlangen und ihr
bald folgen werde.
Und so kam es a u ch . D i e Promenaden schienen
Die Blüte und die Frucht. III. 39

ihm leer, trotzdem Scharen sich auf ihnen bewegten,


die Stadt ausgestorben und langweilig, trotzdem sie
eine der heitersten der Welt war. Er wandte ihren
Strassen den Rücken, und wie er so weiterschritt
ins Freie, fand er sich bald an dem versteckten Zau­
berpförtchen zu Flitas Landhaus.
Flita wandelte die Allee auf und ab unter den
B äum en. Sie trug jetzt ein weisses, weiches und
sehr langes Gewand, das von den Schultern in breiten
Falten herniederfieL Wie sie so, gemessenen Schrit­
tes, hin und zurück ging und das tanzende Sonnen­
licht auf ihren edlen Formen spielte, schien es Hilary,
als sähe er nicht ein Weib, sondern eine Priesterin.
Jener Besuch in der Kathedrale fiel ihm wieder ein.
Wenn sie Religion im Herzen hatte, - war es
nicht möglich, dass sie trotz all ihrem rätselhaften
Treiben in der Tat keine Magierin, sondern Priesterin
war ? Er kam wieder in seine vorige Stimmung
und war bereit, zu ihren Füssen anzubeten. Sie be­
grüsste ihn mit einem Lächeln, das ihn erbeben
machte ; ihre Augen trafen seiner Seele Innerstes,
und ihr Lächeln erfüllte es mit unbeschreiblichem
Jubel. Sie kehrte um und ging voran dem Hause
z u ; Hilary folgte.
Kaum hatte sie die Türe des Laboratoriums ge­
öffnet, als Hilary schon den scharfen Geruch e ines
starken Räucherwerkes spürte. Der wolkige Dunst
lagerte noch in dem Zim mer, aber die Flamme in
dem Gefäss war v erloschen. Neben dem Gefäss
lag eine Gestalt ausgestreckt. Hilary stiess einen
Schrei aus, als er Pater Amyot erkannte. Er richtete
einen so entsetzten Blick auf die Prinzessin , dass
sie auf seine Gedanken in einem h ochfahrenden
40 Die Blüte und die Frucht. III.

Ton erwiderte, wie er ihn noch nie von ihr ge­


h ört hatte.
»Es ist j etzt nicht an der Zeit, von mir die Auf­
klärung über das, was Sie hier sehen werden, zu
fordern. Eines Tages vielleicht, wenn Sie mehr
wissen, mögen Sie das Recht haben, Fragen an mich
zu stellen, vorerst nicht. Sehen Sie, ich kann die
Aehnlichkeit, die Sie so erschreckt, in einem Augen­
blicke ändern. «
Sie richtete die Figur a u f u n d streifte ihr das
weisse Gewand ab, das dem des Paters glich. Da­
runter war das rote Zeug, in dem Hilary die Puppe
zuerst gesehen hatte. Mit ein paar raschen Griffen
ihrer Hand änderte die Prinzessin den Ausdruck des
Gesichts - : Pater Amyot war weg, und Hilary sah
auf dem Stuhle vor sich das individualitätlose Gebilde
und Gesicht , das ihn bei seinem ersten Besuch im
Laboratorium in so grosse Unruhe versetzt hatte.
Die Prinzessin bemerkte den Widerwillen noch in
seinen Mienen und rückte lachend die Wand vor,
hinter der die Figur für gewöhnlich verborgen war.
))Nun kommen Sie und setzen Sie sich neben
mich auf diesen Diwan.«
Ehe sie sich niederliess, warf sie noch frisches
Räucherwerk in das grosse Gefäss und zündete es
an. Bereits fühlte Hilary, dass schon die vorhandenen
Dämpfe auf sein Gehirn eingewirkt hatten. Die roten
Formen bewegten sich auf der schwarzen Wand,
u n d e r verfolgte sie mit gespannten Blicken.
Diesmal taten sie sich nicht zu Wörtern zusam­
men, sondern zu Bildern. Die Wand, sonst schwarz,
w urde hell und leuchtend. Es war, als sässen Hi­
lary und Flita allein vor einer endlosen Bühne. Sie
Die Blüte und die Frucht. III. 41

hörten die Worte und sahen die Gebärden so deut­


lich und wirklich, als wären die gespenstischen
Schauspieler Wesen von Fleisch und Blut.
Es war ein Drama der Leidenschaften, die Haupt­
spieler waren Hilary und Flita selbst. Hilary ver­
gass beinahe, dass die wahre Flita neben ihm sass,
so vertieft war er in die R olle der Schein-Flita.
Er war verwirrt und konnte den Zusammenhang
von dem, was er so deutlich sah, nicht herausfinden,
obgleich sich die Handlung vor ihm abspielte. Er
sah den Hain m it seinen blühenden Bäumen ; er
sah die herrliche Wilde. Er wusste, dass er selbst
und die Flita an seiner Seite auf irgend eine wun­
derliche \Veise h ier Wilde spielten, aber wie und
was es damit war, konnte er nicht sagen. Flita
lachte, als sie seine Miene betrachtete. »Sie wissen
nicht , wer Sie sind k< rief sie aus. >>Das ist ein
grosser Mangel und macht das Leben um sehr viel
schwieriger. Aber Sie werden es nach und nach
erkennen, falls Sie zu lernen willens sind. Vorerst
aber lassen Sie uns ein weiteres, ganz andres Blatt
unsers Lebens betrachten.«
D ie Bühne wurde dunkler, und· bewegliche
Schatten huschten auf ihr hierhin und dorthin, -
riesige Schatten, die Hilarys Seele mit Grauen erfüll­
ten. Zuletzt zogen sie sich zurück und liessen einen
leeren lichten Platz, wo Flita selbst zu erblicken
war, Flita, in ihrer Gestalt von heute, und doch
auffallend verändert. Sie war älter und viel schöner ;
in ihren Augen leuchtete ein wundersames Feuer.
Ihr Haupt trug eine Krone, und Hilary konnte sehen,
dass ihr grosse Gewalten verliehen waren zum Ge­
brauch oder zum Missbrauch, - es stand geschrieben
42 Die Blüte und die Frucht. III.

auf ihrem Antlitz. Dann zog etwas seine Blicke


nach unten, und er sah eine Gestalt hilflos zu ihren
Füssen liegen . . . Warum blieb die Gestalt so
regungslos ? sie lebte ! . . . ja, aber sie war gebunden
und gefesselt ; geknebelt an Händen und Füssen.
)) W ird Ihnen Angst ?« liess sich jetzt Flitas
Stimme vernehm e n im Tone spötti schen Lachens.
Lassen Sie Ihre Angst beiseite ! - warum sollte i ch
ni cht herrschen ? warum sollten Sie nicht leiden ?
Sie sind j a Pessimist ; gibt es da irgend Gutes zu
erwarten ?«
)) Vielleicht nicht«, sagte Hilary. >>Es mag sein,
dass Sie herzlos und falsch sind. Und doch, so wie
es jetzt m it mir geworden, fühle ich, mögen Sie
mich auch über kurz oder lang v erraten und mich
um Leben und Freiheit bringen, ich liebe auch Ihre
Treulosigkeit.«
Flita lachte laut auf, und Hilary schwieg, betreten
über die Worte, die er hastig l:rervorgestossen, un­
fähig, zu überlegen, ob sie am Platze seien oder
nicht. Gut, es war geschehen. Er h atte von seiner
Liebe gesprochen. Sie konnte ablehnen, ihn je wieder
z u sehen, dann musste er der schwärzesten Finster­
nis verfallen.
))Nein(<, sagte sie, ))ich werde Sie nicht von mir
weisen. Wissen Sie nicht, Hilary Estanol, dass Sie
mein auserwählter Gefährte sind ? Andernfalls,
würden Sie denn jetzt hier sein bei mir ? Das Wort
Liebe schreckt m i ch nicht mehr , ich h abe es z u
o ft gehört. Für mich i s t e s n u r noch sehr bedeu­
tungslos. Lassen wir das für jetzt. Wenn Sie Ihrer
Liebe zu mir nachgeben , m üssen Sie leiden ; und
m i ch verlangt nicht darnach, dass Sie j etzt leiden.
Die Blüte und die Frucht. III. 43

Wenn Kummer bei Ihnen einkehrt, wird die Jugend


aus Ihrem Gesichte schwinden. Sie verständen nicht
sie zu be wahren, und ich will Sie jung sehen.«
Hilary blieb die Antwort schuldig. Es war nich t
leicht, a u f e i n e solche Sprache zu erwidern, u n d e r
w a r nicht i n d e r Verfassung, sich :m f etwas Schwie­
riges einzulassen. Sein Gehirn war gestört von den
Dämpfen des R ä u cherwerks und den seltsamen Be­
gebenh eiten, die so geheimnisvoll unter seinen A u­
gen in Szene gesetzt wurden . Er �wusste kaum,
welche Flita es war, die neben ihm sass. Aber er
wusste, dass er sie liebte, trotzdem er ihr misstraute.
Mit jedem Augenblicke, den er an ihrer Seite weilte,
vergötterte er sie mehr, und sein Zweifeln verm o chte
immer weniger gegen das Hochgefühl, in ihr engstes
Vertrauen gezogen zu sein.
»Jetzt«, fuhr Flita fort , >,möchte ich , dass Sie
etwas Nenes versuchen. Ich möchte, dass Sie Ihren
Willen gebrauchen und m eine Diener, die uns m it
phantastischen B ildern vergnügten , bewegen , uns
eine Phantasie Ihrer eigenen Schöpfung vorzuführen.
Sie vermögen das sehr gut, wenn Sie es wollen.
Einzig nötig ist, dass Sie nicht daran zweifeln , es
fertig zu bringen. Ah, wie flink folgt die Tat dem
Gedanken k< Die letzten Worte klangen wie ein
Ausruf fröhlicher Befriedigung. Denn schon hatten
blitzschnell die nebelhaften Schatten in rascher Folge
die Bühne verdeckt, sich wieder verzogen und die
Gestalt Flitas sichtbar und deutlich hervortreten
lassen, schön, leidenschaftlich, liebestrahlenden Ge­
sichts, umfangen gehalten von Hilarys Armen , ihre
Lippen fest auf die seinen gepresst.
Die wirkliche Flita , die, die neben ihm sass,
44 Die Blüte und die Frucht. III.

erhob sich jetzt m i t Kopfschütteln und einem Lachen,


das nicht ganz echt war. Die Schatten verflossen
allsogleich über der Schaubühn e , einen Augenblick
später war das Blendwerk aufgelöst, und die greif­
bare Wand stand wieder vor Hilarys Auge. Er
hatte sich schon so daran gewöhnt , Augenzeuge
der Wunderwelt dieses Gemaches z u sein, dass er
sich ni cht dabei aufhielt, zu staun e n ; er folgte Flita,
die der Türe zuschritt, auf dem Fuss, getrieben vom
Wunsche, von ihr gehört z u werde n.
))Prinzessin, vergeben Sie mir ! « murmelte er ein
Mal ums andere.
>>Ja doch, es ist Ihnen vergeben«, sagte sie end­
lich leichthi n . »Sie habe n nicht beleidigt, so ist es
unschwer für m ich, z u vergeben . Ich glaube nicht,
dass ein Mensch ändern kann, was in seinem Herzen
ist, wenigstens ni cht der gewöhnliche Mensch. Und
Sie, Hilary, h aben gezeigt, dass Sie wie die übrigen
sein wollen. Genügt Ihnen das ?«
»Nein k< antwotiete Hilary ohne Verzug. Und
während er das Nein aussprach, verstand er zum
ersten Male das Fieber, das all sein kurzes schim­
merndes Leben hindurch ihn nie hatte zur Ruhe
kommen lassen. »Mir genügen ! Wie könnte es das ?
Ueberdies, ist denn unser Stern nicht der Stern der
Rastlosigkeit und cier Arbei t ? «
Jetzt zum ersten M a l schenkte ihm Flita einen
Blick wirklicher Zärtlichkeit und Wärme. Mit di esen
Worten ))Unser Stern« schien er ihr Herz gerührt
zu haben.
),Ach �'-< rief sie aus, ),wie schm erzlich sehne ich
m ich nach einem Gefährten !<.<
Hastig und unvermittelt brach sie ab , und ehe
Die Blüte und die Frucht. III. 45

er eine Bewegung von ihr wahrgenommen , hatte


sie die Türe geöffnet und stand draussen , seiner
wartend.
))Beeilen Sie sich«, sagte sie ungeduldig.
Er folgte ihr ohne Besinnen, ihm blieb ja keine
Wahl. Aber er war unbefriedigt ; und v ollends
enttäuscht war er, als sie mit raschen Schritten den
Weg zu den Zimmern einschlug, in denen ihre Tante
weilte. Dort warf sich Flita in einen Lehnsessel,
griff nach einem grossen goldenen Fächer und be­
gann , sich anzufächeln und dabei über Klatschge­
schichten des Hofes zu pl::� udern. Die Umwandlung
geschah so p lötzlich , dass Hilary ihr nicht sogleich
gerecht werden konnte. Er stand verlegen da, bis
die Tante ihm einen Stuhl hinschob ; er fühlte dabei,
dass die alte Dame nicht befremdet war über sein
Ben�hmen, sondern nur bekümmert um ihn. Jetzt
erlangte in seinem Herzen der Cyniker wieder die
Oberhand. Ein Gedanke , der wie Feuer brannte,
wurde mit einem Mal in ihm lebendig. War die
besinnungslose Aufregung, die, wie er wohl wusste,
aus seinen Mienen sprach, hier auch schon a n an­
dem gesehen worden ? Spielte Flita nicht bloss
mit ihm, sondern spielte sie mit ihm, wie sie schon
mit manchen andern V erliebten gespielt ? Der Ge­
danke war ihm verhasster als irgend einer , unter
dem er j e gelitten hatte ; er verwundete seine Eitel­
keit , die noch empfindlicher und feinfühliger war
als sein Herz.
Flita liess nichts andres aufkommen als ein so
triviales Gespräch , wie er es in ihrer geheiligten
Gegenwart nicht ertragen konnte, und so erhob er
sich endlich und machte sich auf den Weg. Sie
46 Die Blüte und die Frucht. III.

geleitete ihn diesmal n icht zum Tore, sondern liess


ihn allein gehen, und es überkam ihn das Gefühl,
als ob sie ihm in etwas ihre Gunst entzogen habe.
Und doch war das vielleicht töricht, denn alles in
allem, sagte er sich, waren beide, er und sie, heute
zu weit gegangen.
Flita war v erlobt. Sie war bei ihrer Taufe ver­
lobt worden. In kurzem sollte ihre Vermählung
stattfinden ; dann sollte die Kron e , die er in der
Vision geschaut hatte, ihr aufs Haupt gesetzt werden.
Hatte es der Vision bedurft, um ihn an diese Tat­
sache zu erinnern ? f ragte sich Hilary. Wahrlich,
dann war es höchste Zeit, fügte er bitter hinzu, denn
Flita war nicht die Frau, die eine Krone aufgab um
der Liebe willen. Sein Herz ergrimmte in ihm,
w enn er an all das dachte. Warum hatte sie ihn
v ersucht, von Liebe zu sprechen ? Denn sicherlich
wäre er ihr nie damit gekommen, wenn sie ihn nicht
herausgefordert hätte. So dachte er.
Wenn er jetzt hätte Flita sehen könne n ! So­
bald er das Zimm er verlassen hatte, war sie a ufge­
standen und langsamen Schrittes in ihr Laboratorium
zurückgekehrt. Hier zog sie einen Vorhang weg,
der einen tief in die Wand eingelassenen Spiegel
verdeckte. Sie tat es entschlossen, aber wie wider­
strebend. Sofort fesselte das Glas ihren Blick. Sie
sah darin Hilarys G estalt dahinschreiten auf dem
Rückwege zur Stadt. Sie las seine Gedanken und
sein Herz. Endlich zog sie den Vorhang zu und
liess die Arme sinken mit einer Gebärde augen­
scheinlich der Verzweiflung, mindestens tiefer Nie­
dergeschlagenheit. Und wirklich fielen grosse Trä­
n e n vor ihr nieder auf den Fussboden.
Die Blüte und die Frucht. IV. 47

Nie, seit Flita geboren war , hatte j emand sie


Tränen vergiessen sehen !

IV.

P ater Amyot sandte am nächsten Morgen eme


Botschaft an Hilary und liess ihn bitten, bei ihm
vorzusprechen. Hilary willfahrte ungesäumt und
ordentlich in Sorgen, w a s d e r Grund einer derarti­
gen Einladung sein m öchte. Er ging in den Dom
selbst, denn dort, das wusste er, verbrachte der
weltflüchtige Mönch seine ganze Zeit. Wie er ver­
mutet hatte, traf er ihn auch, und zwar auf dem
Boden ausgestreckt, fast in der gleichen Lage, wie
er ihn gestern gesehen. Doppelt schreckhaft, denn
es erinnerte ihn a n die Haltung der i n Flitas Labo­
ratorium bei seinem Eintritt daliegenden Gestalt.
Er musste Pater Amyot berühren, um von ihm be­
merkt zu werden. Nun erst erhob sich der Mönch
und ging voraus in die Kreuzgänge, die die Kirche
mit dem anstossenden Kloster verbanden. Er schritt
wortlos und gesenkten Hauptes dahin ; Hilary blieb
es ü berlassen, i h m zu folgen . Schliesslich erreichten
sie eine kahle Zelle, in der sich von Hausrat nichts
vorfand als ein Kruzifix mit einer ewigen Lampe da­
rüber, und an der Wand eine Bank.
Auf dieser liess sich Pater Amyot nieder und
winkte Hilary, sich neben ihn z u setzen.
Hierauf verfiel er in ein tiefes Träumen, und
Hilary suchte i n höchster Verwunderung z u beobach-
48 Die Blüte und die Frucht. IV.

ten, was i n seinem Geiste vorging. War Flita daran,


ihre Zaubereien auf den Pater wirken und ihre
eigenen Gedanken beliebig in seinem Gehirn auf­
tauchen zu lassen ?
Fast schien es so, denn ihr Name war das erste
Wort, das Amyot aussprach. »Prinzessin Flita«, so
hub er an , »ist im Begriff , auf eine lange und ge­
fährliche Reise zu gehen.«
Hilary fuhr zusamm en und wandte sein Gesicht
w eg, denn er wusste, dass er blass geworden.
Wollte sie richtig die Stadt verlassen ? Wie uner­
wartet ! Wie schreckli ch !
))In ganz kurzer Zeit«, so liess sich der Pater
w e iter vernehmen, ))Wird sich die Prinzessin verehe­
lichen. Es liegt ihr eine Sendung ob, die sie ,vor
ihrer Verheiratung noch erledigen möchte ; und da­
bei, sagt sie, können Sie ihr helfen. Der Erfüllung
dieser Mission wegen unternimmt sie die Reise, von
der ich spreche. Vorausgesetzt, Sie wären einver­
standen, ihr zu helfen, so hätten Sie die Prinzessin
zu begleiten.«
Hilary gab keine Antwort. Er hatte keine. Es
war ihm der Atem benommen, und er konnte ihn
so plötzlich nicht wiederfinden. Die ganze Sache
schien ihm unglaublich , kam ihm unmöglich vor ;
und doch fühlte er auch schon, wie sich die Ueber­
zeugung in ihm bildete, dass alles so gehen werde.
))Natürlicherweise«, so nahm Pater Amyot seine
R ede wieder auf, als er gewahrte, dass Hilary nicht
geneigt war, zu sprechen, »wünschen Sie nunmehr
Ihre Aufgabe kennen zu lernen, fühlen Sie das Be­
dürfnis, zu erfahren, weshalb Sie die Reise machen
sollen. Eine derartige Aufklärung können Sie
Die Blüte und die Frucht. IV. 49

unm öglich erhalten. Die Prinzessin will niemand


wissen lassen, welcher Art ihr Vorhaben ist.«
))Nicht einmal den, von dem sie sagt, er könne
ihr helfen ?)) rief Hilary erstaunt.
>)Nicht einmal Sie.«
))Gut«, sagte Hilary, indem er i n sichtlicher Ent­
rüstung aufsprang, . ))SO mag sie sich jemand anders
suchen, der blindlings ihr nachläuft. Ich bin nicht
der Mann !<<
Währenddessen schritt er geradeswegs durch
die Zelle der Türe zu, wobei er sogar vergass, dem
Pater ein Wort des Grusses zu sagen.
Aber des Priesters Stimme hielt ihn zurü ck.
))Sie würden allein reisen, nur eine Person als
Begleitung ginge noch mit.«
Hilary kehrte u m und starrte den Priester ver­
blüfft an.
))Unmöglich l« rief er aus, ))- und doch, es
ist wahr. . . «
Für Hilary, den Cyniker, nahm die Sache mit
einem Mal eine verständliche Form an. Flita wollte
eine Reise unternehmen, zu der sie etwaiger Gefahren
wegen gern einen Begleiter gehabt hätte , konnte
aber nicht dem nächsten besten ihr Vertrauen schenken.
Sie gedachte nun, sich seine Liebe zu ihr z u nutze
zu machen ; sie bot ihm ihre Gesellschaft a n als
verlockende Entschädigung dafür, dass er sie beschütze,
keine Fragen an sie stelle und reinen Mund halte.
Der Gedanke wollte ihm nicht gefallen.
))Ich habe von Prinzessinnen gehört, die im V er­
trauen auf die Macht ihrer Stellung sich alles erlauben ;
ich habe gehört , dass königliche Launen nicht mit
der Vernunft der andern Männer und Frauen ge-
4
50 Die Blüte und die Frucht. IV.

m essen werden dürfen. Vielleicht ist es so. Aber


Flit a ! Sie glaubte i ch v e rs chieden, sogar von ihrer
eigenen Familie . «
Dies waren d i e ersten Gedanken, d i e i h m durch
d e n Kopf schossen. Seine naheliegende Folgerung
w ar, dass Flita dareinwillige, dass er ihr Liebhaber
sein solle, wofern er auch ihr Diener sein würde.
Aber alsbald trat das herrliche Ebenbild Flitas vor
ihn , in ihren weissen Gewändern und mit dem
Antlitz einer Priesterin. Ihr Ziel war unerforschlich,
wie si e selbst. Er musste das zugeben, wie er so
dastand und Zweifel seinen Geist bestürmten. Da,
plötzlich, strich es wie ein starker D uft durch seine
Sinne - ein W o hlgeruch, den er m it Flitas Gewand
in Verbindung brachte - , und sofort verspürte er
beim Atmen auch einen D uft von Räucherwerk. Ihm
schwindelte, er wankte und musste sich zurücklehnen
an die Wand. Er sah sich nicht m ehr in Pater
Amyots Zelle, er befand sich in Flitas Laboratorium,
und ihre Hand berührte sein Gesicht, ihr Atem um­
spielte seine Stirne. Ein Freudentaumel, bei ihr zu
sein ! Mit ihr z u reisen, ihr Verbündeter und Ge­
fährte zu sein, stündlich, den ganzen Tag, an ihrer
Seite zu weilen ! . . Plötzlich richtete er sich auf
und schritt v orwärts bis ganz nahe vor Amyot hin.
»Ich gehe m it.«
»Es wird Sie teuer zu stehen kommen«, sagte
der Mönch. ))Denken Sie noch nach, ehe Sie ent­
scheiden.«
>>Es ist unnütz , nachzudenken !« rief Hilary.
))\Varum soll ich nachdenken ? Ich empfinde ,
u n d empfinden ist leben k<
Pater Amyot schien ihn nicht z u hören. Er
Die Blüte und die Frucht. iV. 51

war augenscheinlich schon in Gebet v erloren.


Offenbar hatte er alles gesagt, was er hatte sagen
wollen, und nach einem letzten Blick auf ihn ver­
liess denn auch Hilary die Zelle. Er kannte des
Mönchs Gewohnheiten allzugut, u m noch das Wort
an ihn zu richten, wenn einmal die dunklen Schatten
geheimnisvoller Versunkenheit sich über sein Ge­
sicht gelagert hatten.
Er ging seiner Wege und kehrte wieder, wie
er gekommen , durch die Kathedrale zurück. Am
Hochaltar m achte er einen kurzen Halt, kniete nie­
der und verrichtete ein Gebet. Es war ein aus·
wendiggelerntes, und er verband kaum einen Sinn
mit den geläufigen Formeln. Aber das Gefühl, ge­
betet zu haben, tat ihm wohl, so mechanisch auch
sein Beten war. Hilary war eben in all den Ge­
bräuchen des gläubigen griechisch-katholischen Chris­
ten erzogen worden .
Hierauf trat er ins Freie, schlug die Richtung
nach dem Landhause ein und v erfolgte mit langen
Schritten seinen Weg. Er war entschlossen, die
Wahrheit zu erfahren und zwar sogleich. War un­
ter den glänzenden Kavalieren, die sich an ihres
Vaters Hof zusammenfanden, er wirklich der einzige,
der ihr Herz rühren konnte ? Eine Stunde zuvor
hätte er über jeden gelacht, der von ihm gesagt
hätte, er habe es erobert ; aber j etzt glaubte er selbst
daran. Und welch ein Rausch dieser Glaube war !
Zum ersten Mal empfand er der Liebe ganze Ver­
blendung. Und dachte er zurück, so schien es ihm,
dass seine Liebe vor einer Stunde noch gar nicht
Liebe gewesen sei, - dass er Flita nie geliebt habe
vor dieser Minute.
52 Die Blüte und die Frucht. IV.

Er fand sie am Tore stehen unter den Blüten.


Sie war in W eiss gekleidet und hatte ein paar hoch­
rote Rosen vorgesteckt. Ihr Gesicht war wie das
eines Kindes, voll Heiterkeit und Frohsinn. Hilarys
Herz schlug, solches Entzücken machte es ihm, sie
zu sehen, wie sie jetzt war. Sie öffnete ihm das
Tor, und sie gingen miteinander dem Hause zu.
»Ich bin bei Pater Amyot gewesen« , begann
Hilary. »Er sandte heute morgen nach mir.«
))Ja«, erwiderte Flita gelassen. ))Er hatte an Sie
einen A uftrag von mir. Wollen Sie sich einer so
lästigen Zumutung unterziehen, um jemand, den Sie
so wenig kennen, gefällig zu sein ?«
))Meine Prinzessin ! « murmelte Hilary, und be­
gleitete die Worte mit einer Verbeugung.
))Nicht Ihre Königin ?« scherzte Flita in pracht­
voller Anmassung, wie sie nur fertig b ringt , wer
königliches Blut in den Adern hat und weiss, dass
eine Krone seiner wartet.
))Ja, meine Königin ! « entgegnete Hilary.
»Wenn Sie mich so nennen«, sagte Flita rasch
und in verändertem Tone, ))dann huldigen Sie einer
Königswürde, die nicht der Hofmann anerkennt.«
))Ja«, erwiderte Hilary einfach.
))Dem Königtum wirklicher Macht« , fügte Flita
bedeutsam hinzu und mit einem durchdringenden
Blick in seine Augen.
))Heissen Sie es, wie Sie wollen« , antwortete
Hilary, ))Sie sind meine Königin. Von dieser Stunde
an leiste ich Untertanenpflicht.<.<
))Sei es so ! « sagte Flita mit einem h ellen, mäd­
chenhaften Lachen, ))halten Sie sich denn auf mor­
gen Mittag bereit. Ich tue Ihnen noch zu wissen,
Die Blüte und die Frucht. IV. 53

wo Sie mich zu treffen haben. Ich werde Ihnen im


Lauf des Morgens einen Boten senden .«
Da kreuzte Hilarys Gedanken eine plötzliche
Erinnerung , die ihm bisher ganz aus dem Sinn
gekommen war. »Meine Mutter -«
»Ei«, fiel Flita ein, »ich habe Madame Estanol
besucht. Mein Vater begibt sich heute aufs Land,
und sie glaubt, Sie gehen mit ihm. Sie ist erfreut,
dass Sie sich dem Hof anschliessen.«
))Merkwürdig«, sprach Hilary gedankenlos, »sie
hat doch nie gut dazu gesehen .« Erst das Lächeln
in Flitas Gesicht zeigte ihm das Ungeschickte seiner
Worte .
»Es geschieht alles, wie m eine Königin befiehlt.
Augenscheinlich gehorchen ihr Männer und Frauen
aus tiefstem Herzen.«
>>Nein«, sagte Flita und seufzte, >>das ist es eben,
was sie nicht tun. Gerade diese Macht habe ich
noch zu erlangen. Sie gehorchen mir, ja, aber gegen
die Eingebung ihres innersten Herzens. Wenn Sie
mich wirklich liebten, könnten wir diese Macht er­
langen ; aber Sie sind wie die andern. Auch Sie
lieben mich nicht mit Ihrem innersten Herzen.«
>>Ich nicht k< rief Hilary aus , verwundert und
erstaunt o b ihrer Rede.
>>Nein«, antwortete sie traurig, >>auch Sie nicht.
Würden Sie mich wirklich lieben, so würden Sie
nicht a n Chance und Risiko herumrechnen, würden
nicht überlegen, ob ich lasterhaft oder tugendsam
bin, ob meines Vaters Tochter oder ein Kind der
Sterne ! Ich sage Ihnen, Hilary Estanol : wären Sie
mich wahrhaft zu lieben fähig , Sie müssten Ihren
Weg zu den Göttern mit mir finden und unter
54 Die Blüte und die Frucht. IV.

ihnen weilen. Aber so steht es nicht um Sie. Selbst


in Ihrer Liebe schwanken Sie. Sie können sich nicht
ganz hingeben. Sie müssen also leiden , denn Sie
können keine vollkommene Freude an etwas finden,
das Sie mit Misstrauen nehm�n und nur halb geben.
D ennoch sollen Sie mit mir reisen und sollen mein
Gefährte und Freund sein. Es ist sonst niemand,
dem ich diese Ehre antun m ö chte. Was glauben
Sie, wie werden Sie mir lohnen ? Ach, das weiss
ich nur zu gut ! Nun gehen Sie, aber seien Sie be­
reit, wenn ich nach Ihnen sende. «
Mit diesen Worten wandte sie sich u m , trat
ins Haus und liess ihn allein im Garten. Einige
Augenblicke stand er betroffen da und wusste nicht,
was und wohin. Er war aber nicht ärgerlich oder
v erletzt, was in jedem andern Fall sein Selbstgefühl
einer solch hochfahrenden Behandluug gegenüber
v erlangt hätte. Er war erschrocken, entsetzt. Das
war das Mädchen, das er liebte ? Diese Tyrannin,
dieser vermessne Geist, dieses seltsame Weib, das,
ehe er um ihre Liebe geworben, ihm vorwarf, dass
er sie nicht genug lieb e ? Im Hintergrund seines
Wesens, lauerte das Konventionelle, das lebendig
blieb in allen Lagen und selbst neben der tiefstgehen­
den Erregung noch wirksam war. Es litt unter
Flitas ganzem Benehmen dermassen , dass es grollte
und ihn sogar ausschalt ob seiner verrückten Liebe.
Aber das ungestüme \Vachstum dieser Liebe konnte
er dennoch nicht aufhalten. Sie regte sich und
quälte ihn , aber sie zu töten war er nicht stark
genug.
Er trat nicht ins Haus, sondern kehrte langsamen
Schrittes zur Stadt zurück, b eschämt und niederge-
Die Blüte und die Frucht. IV. 55

schlagen. Seine Liebe erniedrigte ihn vor sich selbst.


Er hatte hohe Gedanken gehegt, denen er nun für
immer den Abschied gegeben. Denn er wusste, dass
er morgen eine lange Reise antreten werde, deren
Ende ihm unbekannt war, an der Seite eines Mäd­
chens, das er nie heiraten konnte, dessen erklärter
Liebhaber er j edoch war . . . Gut, es mochte so sein.
Hilary begann die Dinge von einem fatalistischen
Gesichtspunkt aus anzusehen ; seine Schwäche l iess
ihn die Achseln zucken und sagen, dass sein Geschick
stärker sei als er. Verdüstert ging er nach Hause,
jedoch brennenden, fiebernden Herzens. Dort machte
er sich unverzüglich ans Werk und traf Anstalten
für eine Reise auf unbestimmte Zeit. Seine Mutter
fand er vorbereitet, wie es ihm Flita gesagt ; noch
mehr, - sie schien Flita als eine Art gütiger Fee
zu betrachten, die ihm eitel Glück auf seinen Lebens­
weg streute.
»Ich habe mich immer gegen den Gedanken ge­
sträubt, dass du bei Hof herumflanierest«, sagte sie ;
>>etwas andres aber ist es , wenn dich der König
selbst um sich zu haben wünscht. Das muss für
dich zu einer ehrenvollen Stellung führen. Was
ich befürchtete, war, du möchtest ein unbrauchbarer
Taugenichts werden. Zudem bin ich froh, mein
lieber Sohn, dass d u nun aufs Land gehst, denn d u
siehst ausnehmend blass u n d ganz krank aus.« --
Hilary liess stillschweigend und ohne Aufklärung
den Betrug zu, mit dem ihm Flita die Wege g e­
bahnt hatte.
56 Die Blüte und die Frucht. V.

V.

A benteuer sind der Jugend L ust , sagt man.


Wenn das bei Hilary z utraf, so konnte er demnächst
schwelgen im Ueberflusse solcher Lust ; denn in den
folgenden paar Tagen v e rstrich kaum eine Stunde
ohne ein Ereignis, das in seinen A ugen sicherlich ein
bedeutendes Abenteuer war. -
Er war bereit zu der von Flita angegebnen
Zeit, und zwar hatte er sich für die vielerlei Mög­
lichkeiten nur mit dem knappsten Gepäck vorge­
sehen. So viel er w usste, ging die R e ise über Berg
u n d Tal. Zudem kannte er Flitas unprinzessliche
Abneigung gegen Ueberflüssigkeiten und wäre nicht
ü berrascht gewesen, sie im Reitrock und ohne alles
G e päck abreisen zu sehen. Die Schwierigkeit, vor
der ihm noch bangte, war seiner Mutter unvermeid­
liches Befremden über die spärliche Ausrüstung.
Aber ein glückliches Ungefähr - oder war es etwas
anderes ? - führte sie aus dem Hause. Sie war v on
einer kranken Freundin eine kurze Strecke ausserhalb
der Stadt zu Besuch gebeten und nahm Abschied
v o n Hilary vor ih t em Weggehen. So konnte er
seine Vorbereitungen treffen , ohne durch krittelnde
Fragen gestöli zu werden.
Gegen Mittag fand sich ein Junge am Potial
des Estanolsch en Hauses ein mit einem Zettel, den
er, wie er sagte, Hilaty eigenhändig abgeben solle.
Hilary kam sofort und nahm die Botschaft in Emp fan g ;
w i e er vermutete, war sie von Flita. Eine einzige
Linie ! - und keine Unterschrift ! -
Die Blüte und die Frucht. V. 57

))Ich erwarte Sie ausserhalb des NordtoreSJ{


Hilary trug sein Reisebündel mit eigener Hand,
aus Furcht, Flita zu missfallen, wenn er einen Mi et­
wagen nähme und fremden Augen ihre Zusammen­
kunft verriete. Um in der Stadt keine Begegnung
mit Freunden meh r fürchten zu müssen, suchte er
die stillsten Nebenstrassen aus, traf auch wirklich
n iemand, und schritt endlich mit einem Se ufzer der
Erleichterung zum Tor hinaus und auf der andern
Seite weiter, der breiten Landstrasse zu. Unter
einigen Bäumen hielt eine elegante Reisekutsche mit
vier Pferden und mit Postillionen.
Hilary war erstaunt ; er hatte nicht so viel Luxus
erwartet. Sein Erstaunen wuchs, als er den Wagen
erreichte. Flita war eigentlich nicht wie für eine
Reise gekleidet, sie trug einen weit reicheren Anzug
als gewöhnlich und um Kopf und Schultern kostbare
schwarze Spitzen. Mit einem glückseligen träumer­
ischen Ausdruck im Gesicht, der für Hilary neu war,
lehnte sie rückwärts in der Ecke des geräumigen
Wagens. Ihr gegenüber sass Pater Amyot. Hilary
konnte wiederum nur staunen, als er ihn sah. Sollte
die Stadt ihren vielgeliebten Seelsorger missen ? Wie
sollte da a l l den Schwatzbasen zu Hause der Prin­
zessin Flita Reise verborgen bleiben ? Aber Hilary
gedachte sich nicht m it Vermutungen zu plagen.
Er stieg ein, und Flita bedeutete ihm, sich a n ihre
Seite zu setzen.
An ihrer Seite ! Ja, da war sein Platz. Und
Pater Amyot, der volkstümliche, allgemein beliebte
und fast angebetete Prediger, dessen heilige Worte
den Zugang fanden zu den geheimsten Geheimnissen
und Sorgen der Stadt : Amyot, das allbekannte Vor-
58 Die Blüte und die Frucht. V.

bild von Frömmigkeit, sass gegenüber. Bewachte


er die Liebenden ? Offenbar nicht. Seine Augen
waren niedergeschlagen, und seine B licke ersichtlich
auf seine gefalteten Hände gerichtet. Er sass da wie
von Stein. Mehrmals, wenn Hilary Pater Amyots
G esicht betrachtete, kam es ihm vor, als sei der
M önch nur widerwillig hi er. War es so ? war er
Flitas Werkzeug, von ihrem herrseherischen Wesen
gehalten, ihre Gebote auszuführen ? Sicherlich nicht.
Pater Amyot war zu gut als eine Persönlichkeit von
Eigenkraft gekannt, als dass so etwas denkbar ge­
wesen wäre. Hilary tat zum hundertsten Mal seinen
aussichtslosen Grübeleien Einhalt und nahm sich vor,
sich des Augenblicks zu freuen, der ihm gehörte,
und nicht schon um den kommenden zu sorgen,
auch nicht jetzt in andrer Herzen lesen zu wollen.
So lief dieser j unge Philosoph in sein Verderben
und meinte doch, er habe die Augen torweit offen.
Der Wagen rollte im raschesten Laufe davon ;
er wurde von vier prächtigen russischen Pferden ge­
zogen ; die Postillione waren von Flitas eigenen Leu­
ten und an ihrer Herrin Liebhabereien gewöhnt.
Sie war eine verwegene, unerschrockene Reiterin,
und immer, mochte sie reiten oder fahren, musste
es möglichst schnell gehen. Sie hatte Sinn für Tiere,
und ihre Pferde waren die schönsten in der Stadt.
Für Hilary war es ein eigentümliches Gefühl, eine
so einzigartige Selbständigkeit mitansehen zu müssen.
Er seinerseits war noch sehr am G ängelband, hatte
sich keine eigene Stellung geschaffe n und nicht ein­
mal eine Laufbahn vorgenommen. So war er von
seiner Mutter Vermögen abhängig und konnte ohne
ihr Einverständnis nicht viel unternehmen. Freilich
Die Blüte und die Frucht. V. 59

war er noch so j ung, dass das alles ganz natürlich


erschien. Flita aber war zwar noch j ünger als er,
doch vergass man das bei ihrer selbstherrlichen Art
nur zu leicht. Immerhin, wenn man ihr frisches
Gesicht, dessen zarte Konturen je nachdem noch
etwas Kindliches hatten, und ihre bei aller Stattlich­
keit so schlanke Gestalt ansah, so konnte man nicht
verkennen, dass die Prinzessin doch noch ein sehr
junges Mädchen war. Ob wohl der Mann, der sie
heimzuführen im Begriffe war, an seiner j ungen
Königin ein erst frisch der Schule entwachsenes,
unfertiges Geschöpf zu finden glaubte, aus dem seine
Hand noch m achen könne, was ihm beliebe ? . . .
Den ganzen Nachmittag fuhren sie fast ohne
Unterbrechung weiter, und die äusserst spärliche
Unterhaltung hätte wenig dazu beigetragen, die Zeit
zu verkürzen. Für Hilary indessen flohen die Stunden
dahin wie mit Flügeln. Das Neue seiner Lage bot
ihm fürs erste genug. An Flitas Seite z u weilen
und in ihr rätselhaftes Antlitz zu sehen befriedigte
vorläufig seine schmachtende Seele. Flita selbst
schien tief in Gedanken verloren. Sie sass schweigend
da, ihre Augen auf der Gegend, durch sie sie fuhren,
mit ihrem Geist aber, soviel Hilary beurteilen konnte,
auf der Wanderung in einer fernen, fernen Region.
Vater Amyot aber blickte starr auf ein kle ines Kru­
zifix, das er zwischen den gefalteten Händen hielt,
und dann und wann bewegten sich seine Lippen
im Gebet. Auf diesem ernsten Gesicht schien keinem
Ausdruck Raum gewährt als dem der Anbetung
und Betrachtung des Göttlichen.
Mit Sonnenuntergang hielten sie vor einem
kleinen, an der Strasse gelegenen Wirtshause. Hi-
60 Die Blüte um! Llic Frucht. V.

lary dachte gar nicht daran , dass sie hier bleiben


könnten, denn es sah wenig mehr gleich als einer
Haltestelle, wo die Fuhrleute eins trinken und ihre
Pferde füttern. Und doch kam es so. Der Wagen
fuhr in den Hof des kleinen Ha uses, die Pferde
w urden ausgespannt, und Flita nahm den Weg durch
eine Seitentüre ins Haus, gefolgt von ihren beiden
Gefährten.
Drinnen fanden sie eine m ütterliche , schlichte
und freundliche Wirtin , die augenscheinlich Flita
gut kannte ; Hilary erfuhr später , dass die Frau
K ü chenm agd im königli chen H aushalt gewesen. In
d e r Tat ungewohnte D inge, die er da sah . Das
Anwesen war w i rklich n ichts als eine Schenke für
allerlei Leute, die ihr Geschäft vorüberführte. Es
hatte keine Gaststube, noch irgend eine Bequemlich­
keit für R eisende bessern Schlags. Und dass Flita
das gewusst hatte , war ersichtlich auf den ersten
Blick. Sie zog einen der h arten Stühle nach vorne,
nahe an das grosse Feuer, das auf dem vollständig
offenen Kamin flackerte, und setzte sich anscheinend
ganz behaglich nieder.
»Wir müssen etwas z u essen haben«, sagte sie
zur Wirtin. >>Bringen Sie uns , was Sie vermögen.
Können Sie die Nacht Raum beschaffen für diese
Herrn ?«
Die Wirtin trat näher zu Flita heran und sprach
mit gedämpfter Stimme. D ie Prinzessin lachte.
»Es sind scheint's keine Schlafzimmer im Hause«,
sagte sie l aut ; »wirklich, es ist kein Hotel. Sollen
wir weiter fahren, oder wollen wir die Nacht hier
sitzen bleiben ?«
»Die Pferde sind ermüdet«, sagte Pater Amyot,
Die Blüte und die Frucht. V. 61

indem er zum ersten Mal das W oti nahm , seit sie


die Stadt verlassen hatten.
))Wahr«, sagte Flita abwesend, sie schien
schon wieder an etwas ganz anderes zu denken.
))Ich meine, wir m üssen hierbleiben.«
Hilary hatte nie eine Nacht auf so primitive Art
zugebracht, noch je an die Möglichkeit von etwas
Derartigem gedacht. Er liebte den Komfort, sogar
den Luxus. Aber was konnte er machen, wenn
seine Prinzessin, die höchste Dame im Land , ihm
mit ihrem Beispiel v oranging ? Jeder Einwand wäre
unmännlich erschienen , und sein Stolz hiess ihn
schweigen. Als sie aber nach einem sehr frugalen
Imbiss alle zu den harten hölzernen Stühlen beim
Feuer zurückkehrten, wünschte sich Hilary für den
Augenblick aufrichtig nach Hause in seine eigenen
behaglichen Zimmer. Während er dies dachte, spürte
er plötzlich, dass Flitas dunkle Augen sich auf ihn
gerichtet hatten , mochte aber nicht aufschauen, über­
zeugt, sie habe seine Gedanken gelesen. Er wollte,
er hätte diese vor ihr v erheimlichen können , denn
sie sollte ihn nicht für verweichlichter halten , als
sie selbst war.
Es gab eine zweite Schenkstube im Haus , eine
Art Küche , unbequemer noch und unfreundlicher
als der R aum, in dem sie sich befanden. D o rt sas­
sen die Reitknechte und andere Leute, die üblichen
Gäste des Hauses, zusammengepfercht , trinkend,
plaudernd, singend. Ihre Nachbarschaft war greulich
für Hilary, der eine verfeinerte Atmosphäre gewöhnt
war, aber Flita schien gänzlich gleichgültig bei dem
Lärm, den sie machten, und dem schlechten Geruch
ihres Tabaks ; es mochte sein, dass sie überhaupt
62 D i e Blüte und die Frucht. V.

für alles ausser ihren eigenen Gedanken unempfind­


lich war. Sie stützte das Kinn auf die Hand und
blickte ins Feuer ; und so anmutig und vollendet
war sie in ihrer Haltung, dass sie aussah wie ein
Meisterwerk der Kunst mitten unter profanstem Ge­
rümpel. Der Gegensatz machte sie lieblicher als j e,
Hilary aber tat das Missverhältnis wehe.
Die Stille in dem Zimmer , in dem sie sassen,
w u rde i mmer auffallender gegenüber dem zuneh­
menden Lärm in dem übervollen äusseren Raume.
Endlich j edoch kam die Stunde, das Haus z u schlies­
sen, und die Wirtin wies ihren Gästen m it guter
M a nier die Türe ; allen ausser den Fremden, die auf
der Reise waren. Diese mitsamt den Reitknechten
teilten sich in die Kaminecke , wurden schweigsam
und fielen schliesslich in tiefen Schlaf. Hilary kam
es jetzt vor, er durchlebe einen qualvollen Traum.
Er sehnte sich ernstlich, daraus zu erwachen, selbst
u m den Preis, dann z u Haus und fern von Flita zu sein.
Allmählich nahte auch ihm der Schlaf, sein Kopf
neigte sich v ornüber, und bald war er aufrecht auf
seinem Holzstuhle vollends fest eingeschlummert. -
B eim Erwachen schmerzten ihn alle Glieder
i nfolge der Stellung, die er eingenommen hatte,
u n d er konnte sich schwer des Aufschreiens ent­
halten, als er v ersucht e , sich z u bewegen . Aber
rechtzeitig erinnerte er sich, dass die Freunde schlie­
fen und er sie nicht aufwecken dürfe. Geräuschlos
schaute er von dem einen zum andern. Vater Amyot
sass nebenan noch immer mit demselben Blick wie
gestern, als er das Haus betreten ; er hätte eine
Statue sein können. Flitas Stuhl war leer . . .

Hilary raffte sich auf, setzte sich gerade und


Die Blüte und die Frucht. V. 63

starrte nach dem leeren Platz ; dann sah er sich


überall um. Hatte a m Ende die Wirtin doch ein
Winkelchen für die Prinzessin ausfindig gemacht ?
Eine Beklemmung befiel ihn. Im Küchenraum war's
ihm zum Ersticken. Mit Mühe richtete er sich vol­
lends ganz auf, streckte sich und suchte den Weg
hinaus ins Freie.
Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne war
soeben aufgegangen ; die Welt sah aus wie eine
schöne Frau im Schlafe. Wie scharf die würzige,
reine Luft war � Hilary nahm einen tiefen Atemzug.
Die Gegend , in der das vereinzelte kleine Gehöfte
lag, war ungewöhnlich lieblich und trug gerade
j etzt ihre bestechendsten Reize zur Schau. Ein Ge­
fühl der höchsten Wonne beschlich Hilary. Das
Unbehagen der verflossenen Nacht hatte ihn verlas­
sen ; er war heiter, voll Jugend und Stärke.
Vom Hause weg ging er der Strasse nach, ver­
liess diese aber bald und betrat das hohe übertaute
Gras. Vor sich i m Tal gewahrte er einen Fluss
und beschloss, darin zu baden. Schnell hatte er ihn
erreicht, sich entkleidet und in das eiskalte Wasser
gestürzt. Ein berauschendes Kraftgefühl überkam
ihn unter der Wirkung des prickelnden Elements.
Nie hatte er eine solche Fülle Lebens i n sich ver­
spürt ! Doch lange im Wasser zu bleiben war nicht
möglich, so durchdringend kalt war es. Er schwang
sich heraus und stellte sich eine Weile a m Ufer i n
d e n blinkenden Morgensonnenschein, dass seine Haut
leuchtete in flimmerndem Licht : eine prachtvolle,
wie vom Gott des Tags geformte Gestalt. Langsam
begann er endlich, die Kleider wieder anzuziehen,
mit einer Empfindung, als bedeute das gewissermas-
64 Die Blüte und die Frucht. V.

sen eine allmähliche Rückkehr und Ergebung in die


Zivilisation. Etwas vom Wilden, der zuinnerst in
ihm verborgen lag, war geweckt und berührt wor­
den. Ein Feuer brannte in ihm, das er bis jetzt
nicht gekannt hatte , ein V erlangen nach Freiheit
ohne Schranken, nach einem Leben ohne Abhängig­
keit. Und das war Hilary Estanol ! Es schien un­
glaublich , dass ein paar Züge frischer Morgenluft,
ein Sprung in eiskaltes Wasser unter freiem Himmel
genügt haben sollten, den Wilden zu entfesseln,
der in ihm niedergehalten war unter dem kon­
ventionellen , schlaffen Selbst, ebenso wie in uns
und allen, die wir im gewöhnlichen Leben tref­
fen. Er lief drauf los und schritt aus, als ginge
es bis ans Ende der Welt ; aber der Eifer galt
e infach einem neuen Genusse , der Lust an Be­
w egung.
Nah dem Fluss lag ein Wald uralter Eiben, den
Abergläubischen ein heiliger Hain. Kein Wunder,
dass er verehrt wurde, so gewaltig waren die alten
Bäume, so dunkel die Schatten unter ihnen. Von
dem herrlichen Anblick gezogen ging Hilary auf das
ehrwürdige Baumwerk zu ; und wie er sich seinem
Saume näherte, tauchten dunkle Erinnerungen in
ihm auf. Noch nie hatte er die Stadt in dieser Rich­
tung verlassen ; jetzt wollte ihm dünken, dass er
schon so manches Mal beim frühen Morgengrauen
in den Eibenhain eingetreten sei. Wir all e kennen
aus eigner Erfahrung diese sonderbaren Ahnungen.
Hilary lachte drob und wies sie ab ; mochte sein,
er hatte den Platz schon im Traume besucht. Jetzt
war es helllichter Tag, und er fühlte sich jung und
stark wie ein Riese. So trat er hinein in die dunkeln
Die Blüte und die Frucht. V. 65

Schatten, ergötzt von dem Gegenspiel zum blenden­


den Lichte drausssen.
Plötzlich hub sein Herz zu hämmern a n und
i n seinem Kopfe wirbelte es. Denn da, vor ihm,
stand Flita. Die schöne Prinzessin sah aus wie eine
Geistin der Nacht, so bleich, ernst und stolz war
.
ihr Antlitz, so verwandt schien sie dem tiefen Schat­
t (m des Waldes.
»Sind Sie es ?« sagte sie mit Lächeln, einem
Lächeln geheimnisvollen, innersinnlichen, unergründ­
lichen Schauens.
))Ich bin's k< antwortete er und fühlte dabei,
dass er etwas sagte, das er selber nicht verstand.
So verharrten sie eine Weile in Schweigen, Auge
i n Auge. Und dann fiel Hilary ein, dass er allein
mit ihr sei, allein mit diesem Weibe inmitten der
Welt. Es trennte sie von andern Männern und Frauen
die Stunde, denn die Welt lag in lautlosem Schlafe ;
es trennten Sie die dunkeln Schatten des W aldes
von allem sich regenden Leben, das draussen der
Sonne seinen Gegengruss darbrachte. Sie waren
allein, - und ü berwältigt von diesem plötzlichen Be­
wusstsein der Einsamkeit sprach Hilary seine Seele aus.
))Prinzessin«, sagte er, ))ich bin bereit, Ihr blinder
Diener, Ihr stummer Sklave zu sein, der nur redet
und sieht, wann es ihm befohlen wird. Sie wissen
gut, warum ich willens bin, das Werkzeug i n Ihren
Händen zu sein. Weil ich Sie liebe. Aber Sie
müssen einen Preis zahlen für Ihr Werkzeug, wenn
Sie es haben wollen ! Ich kann nicht bloss anbeten
zu Ihren Füssen. Sich selbst m üssen Sie mir geben,
Flita, unbedingt, ganz und gar. Heiraten Sie den
Mann, dem Sie verlobt sind, wenn es Sie v erlangt,
5
66 Die Blüte und die Frucht. V.

Königin zu sein, mir aber müssen Sie Ihre Liebe


schenken, sich selbst. Nein, Flita, Sie können mich
nicht abweisen !«
Flita stand vor ihm, stumm eine ganze Weile
ihren Blick auf ihn gerichtet.
»Nein«, sagte sie, >>ich kann Sie nicht abweisen.«
Ein entsetzlicher Moment für Hilary, denn er
glaubte, in ihren Augen unaussprechliche Verachtung
aufleuchten zu sehen. Und wie Eis war in der Tat
das Lächeln auf ihren Lippen und die Berührung
der Hand, die sie in die seine legte.
»Der Bund sei geschlossen«, sagte sie, »alles,
was du nehmen kannst von mir, sei dein. Und ich
w e rde deine Liebe lohnen mit m einer Liebe. Nie aber
magst du vergessen, dass wir, du und ich, verschie­
den sind, dass wir bei alledem zwei Personen sind
und dass es uns versagt ist, auf eine und dieselbe
W eise zu lieben. V ergiss das nie !«
Hilary wusste nicht, was antworten. Als sie
die letzten Worte sprach, erkannte er in ihr die
Prinzessi n , sah er die Königin vor sich. Was meinte
sie ? Wohl, er war nun einmal der Unglückliche,
dessen Liebe auf eine Dame von königlichem Geblüt
gefallen war. Sie konnte nicht ungeschehen gemacht
werden, diese Tollheit. Er musste zufrieden sein
mit der Rolle, die ein Untertan im Leben einer
Königin spielen kann, sei er auch ihr Geliebter.
Der Gedanke folterte ihn und ein Seufzer ent­
rang sich seinen Lippen. Flita legte ihre Hand auf
seinen Arm.
»Sei nicht so bald schon traurig«, sagte sie,
» warten wir das Leid ab. Komm, lass uns hinaus
i n den Sonnenschein gehen.«
Die Blüte und die Frucht. VI. 67

Sie traten hinaus Hand in Hand ; sie wanderten


am Ufer hin dem Wasser nach und blickten in die
glitzernden Wellen.

VI.

An diesem Tag begann die Fahrt früh und


zog sich sehr in die Länge. Zweimal hielten sie
unterwegs an kleinen Gasthäusern, u m den Pferden
Rast zu gönnen und sich selbst vorsetzen zu lassen,
was es gerade gab. Gegen Abend hatten sie den
vereinsamtesten Teil des m ächtigen Waldes, einer
Zierde des Landes, erreicht. Das Jagdschloss, wo
der König zur Zeit weilte, lag im nämlichen Forste,
nur in andrer Richtung , weit entfernt von der
Wildnis , die Hilary und seine Begleiter durch­
reisten. Hilary war niemals hieraussen gewesen,
wie überhaupt nur wenige Residenzier je in diesen
Urwald eingedrungen waren , ausser im Gefolge
des Königs ; und auch dann bekamen sie nur Strecken
zu sehen, die unter Pflege und Aufsicht standen.
Aus eigner Erfahrung wusste man von diesem
wilden Gebiete nicht viel, und der Abenteurer in
Hilary frohlockte, als sie der Weg durch diese un­
bewohnten Landstriche führte.
Neugier des endlichen Zieles wegen plagte ihn
nicht sonderlich, er fand sein Genügen bei den Ein­
drücken des vorüberziehenden Augenblicks. Dabei
blieb er sich der Kluft bewusst, die dauernd zwi-
68 Die Blüte und die Frucht. VI.

sehen ihm und Flita lag. Er wusste, dass sie ihn


in j eder Hinsicht überragte und dass es nicht allein
die Verschiedenheit der Lebensstellung, sondern
noch wesentlicher die ihrer Gedankenwelt sei, was
ihn stets von ihr trennen werde. D as fühlte er
j etzt doppelt. Aber ihn beglückte schon j eder
Schimmer v o n Zuneigung, der dann und wann aus
ihren Augen in die Tiefe der seinen drang, und
sein Herz pochte, wenn ihre Hand mit einem zurück­
haltenden, kaum merklichen Druck, den nur er ver­
stand, der seinen entgegenkam . 0 dieses heimliche
Einvernehmen, das Liebende von der übrigen Welt
absondert ! \Vie süss, und auch wie seltsam ! Denn
sie stehen im Bann einer gegenseitigen Sympathie,
die sich zugleich als eine höhere Art Erkenntnisver­
m ögen erweist, indem es j edem der beiden die
Fähigkeit verleiht, ins Herz des andern zu sehen.
Selige Augenblicke sind es, wenn dies eingetreten
ist , wenn das Leben ausserhalb des geweihten
Kreises, in dem die zweie weilen, insgesamt dunkel
und verworren erscheint, in ihm aber alles herrlich,
kraftvoll und klar ist. Hilary war schon überzu­
frieden im Bewusstsein der Nähe des geliebten
Wesens, denn nun er um Liebe geworben hatte
und erhört war, gab es für ihn nichts mehr als
diese eine beseligende Tatsache. Die Beschwernisse
der unternommenen Reise, selbst ihre voraussicht­
lichen Gefahren, die auch ein unerschrockenes Ge­
müt hätten einschüchtern können , j egliches wollte
er jetzt erdulden, ja sogar den Tod, wenn nur Flita
damit zu tun hatte. Sie konnte nicht ihr ganzes
Leben mit ihm teilen, er aber mit ihr. - Langt ein
Mann auf diesem Standpunkt an und schliesst einen
Die Blüte und die Frucht. VI. 69

so bescheidenen Pakt mit der angebeteten Frau,


dann mag man füglieh sagen : er liebt.
Die Nacht war schon vorgerückt, die Reise noch
nicht zu Ende, und die prächtigen Pferde waren
sichtlich erschöpft. Aber offenbar sollte ein bestimm­
tes Ziel erreicht werden, und die Postillione trieben
immer wieder an. Flita schien schliesslich ein we­
nig besorgt und erhob sich mehrmals im Wagen,
um Ausschau zu halten oder die Postillione zu be­
fragen , ob sie ihres Weges sicher seien. Sie be­
j ahten ; aber wie ihnen dies möglich war , blieb
Hilary ein Rätsel , denn schon eine gute Weile
waren sie nur über Grasödungen gefahren , deren
es dort die Menge gab, und die sein Auge nicht
voneinander zu unterscheiden vermochte. Aber ent­
weder hatten die Postillione ihre Merkzeichen, die
er nicht entdeckte, oder sie kannten den Weg ganz
genau.
Endlich wurde gehalten, und Hilary sah im Dunkel
seitlich ein Tor, breit genug, um hindurchzufahren,
sonst aber von primitivster Mache. Es hätte zur
Not den Platz einer jungen Baumpflanzung oder ein
sonstiges Gehege absperren können und stand in
einem ebenso primitiven Zaune, der durch das dichte
Gestrüpp einer verwilderten Hecke dem Auge fast
gänzlich entzogen war. Prinzessin Flita brachte aus
ihrem Kleid eine kleine Pfeife hervor und gab ein
weittönendes Signal ; dann sassen sie wieder still
da und warteten. Hilary schien es eine Ewigkeit
zu währen , in Wirklichkeit dauerte es wohl nicht
lange, aber die Nacht war so ruhig , die Stille so
tief, die Erwartung so gespannt. Er war zum ersten
Mal seit ihrer Abreise eigentlich neugierig, was nun
70 Die Blüte und die Frucht. VI.

geschehen werde. Es geschah folgendes. Man ver­


nahm ein Lachen, dann Schritte, und alsbald erschie­
nen zwei Gestalten am Tor, ein grosser Mann und
ein j unges, schlankes Mädchen. Das Tor wurde auf­
geschlossen und weit aufgerissen. Im nächsten Au­
genblick war das j unge Mädchen im Wagen, um Flita
mit stürmischem Jubel und Entzücken zu umarmen.
Hilary wusste kaum wie's zuging, i m Handumdrehen
stand die ganze Gesellschaft j enseits des Tores bei­
sammen, auch der Wagen war eingefahren und schon
ausser Sicht. Dann schloss und verriegelte der grosse
Mann die Einfahrt , kehrte zurück und schritt mit
dem jungen Mädchen voraus , während Hilary mit
Flita folgte. D e r Mond war eben aufgegangen, und
Hilary konnte deutlich ihr schönes Gesicht sehen,
das einen u ngewöhnlich v ergnügten , glückseligen
Ausdruck zeigte, während ihre Lippen über einen
augenblicklichen Gedanken zu lächeln schienen.
D iese trauliche Freundlichkeit hob seines Herzens
Schlag. Das Wiedersehen konnte es kaum mehr
sein, weshalb sie so froh aussah , waren doch die
Freunde v oran und h atten sie allein mit ihm gelassen.
»Flita . . . meine Prinzessin . . . nein, meine Flita«,
sagte er, )>nicht wahr, Sie freuen sich, mit mir zusam­
m e n zu sein ?«
I> Ja, ich freue mich, mit Ihnen zusammen zu sein,
aber Flita bin ich nicht.«
»Nicht Flita �« wiederholte Hilary in merklichstem
Unglauben.
Er blieb stehen, ergriff die Hand seiner Beglei­
terin und prüfte ihr Gesicht. Sie schaute drein mit
ein paar Augen voll versteckter Koketterie und mun­
terer Schelmerei.
Die Blüte und die Frucht. VI. 71

»Ihre Zwillingsschwester könnte ich sein, nicht


wahr, falls ich nicht Flita selbst bin ? Aber nein !
Flita darf am Hofe, ich muss hier im Walde leben.
Leben ! -- nein ! ein Leben ist das nicht ! «
W a s a n dieser Stimme w a r e s nur, d a s sein
Herz in Aufruhr brachte ? Leidenschaftlich redete
er sich vor, es sei die Stimme Flitas, sie müsse es
sein. Kein andres Weib konnte in solchen Lauten
sprechen, keines andern Weibes Worte sein Herz
in einen solchen Freudenrausch versetzen.
))Und doch«, sagte er, »ist es ein Leben . Wenn
man liebt, dann lebt man , wo immer man ist.«
»Vielleicht, j a . . . wenn man liebt ! «
»Heute morgen, Flita, sagten S i e mir, S i e lieben
mich !« rief Hilary in Verzweiflung.
»Aber ich bin ja nicht Flita«, neckte sie und
lachte. Und die Art ihres Lachens schien das zu
bestätigen. Und doch war's Flitas Stimm e ! Zweifel­
los ! Er studierte, horchte, beobachtete - : Stimme,
Gesicht, die wundersamen Augen gehörten Flita.
Flita war's, die neben ihm herging, mochte sie
sagen, was sie wollte !
Sie waren immerfort den andern gefolgt und
hatten nun eine lichte Stelle des Waldes erreicht,
offenbar einen wohlbestellten Blumengarten, wie
Hilary aus der Fülle von Wohlgerüchen schliessen
konnte, die ihm die Nachtluft zufächelte.
»Ich bin froh, dass wir j etzt daheim sind«, sagte
seine Begleiterin, »denn ich bin müde und hungrig.
Sie nicht auch ? Neugierig bin ich, was wir zu essen
bekommen werden. Sie müssen wissen, die Stätte
ist verzaubert, sie heisst bei uns nur das Palais der
Ueberraschungen. Wir sind nie sicher, was alles
72 Die Blüte und die Frucht. VI.

der nächste Augenblick bringt. So kann man sich


hier seiner Feiertage freuen wie nirgend sonst. Zu
Hause herrscht ein fürchterliches Einerlei im Essen
und Trinken. Tadellos ist dort alles, ohne Frage,
aber immer und immer dasselb e . Hier dagegen
haben wir den einen Tag russische Küche , den
andern ungarische. Dabei fortwährend Abwechs­
lung in den Menus, und doch sind alle vorzüglich.
Ist sowas nicht einzig ? Und erst die Weine, grosser
Himmel, welch einen Keller unser ehrwürdiger Vater
hält ! Ich kann n u r v on ganzem Herzen die längst
dahingegangenen Gründer seines Ordens preisen, die
eine solche Zucht und Regel einführten.«
Hilary hatte seine Begleiterin mit wachsendem
Erstaunen betrachtet. Flita sah das sicherlich nicht
ähnlich. Hatte sie ihn zum besten ? Aber bei den
W o rten »ehrwürdiger Vater« wurde dieser sein Ge­
danke von einem neuen v e rdrängt. Was war aus
V ater Amyot geworden ? Er hatte ihn nicht aus­
steigen und nicht mitgehen sehen.
»Na, Ihr heiliger Gefährte ist z u seinen Brüdern
gegangen«, erläuterte das Mädchen lachend. >>Sie
haben einen eigenen Ort, wo sie sich peinigen und
das Fleisch abtöten. Aber sie verpflegen uns gut,
und das bleibt für mich die Hauptsache . . . Ball haben
wir heute abend noch ! Hilary, die Musik hier ! Sie
ist besser als die irgend eines Orchesters in der
Welt.«
>>Wenn Sie nicht Flita sind , wie wissen Sie
m einen Namen ?<<
»Heilige Einfalt ! Die Frage ! Natürlich hat mir
Flita alles von Ihnen erzählt. Hörten Sie nie, dass
die Prinzessin eine Milchschwester habe, und dass
Die Blüte und die Frucht. VI. 73

nie j emand sagen könne , welChe von uns beiden


er vor sich habe, so ähnlich seien wir uns - und
sind es auch ! Hörten Sie nie , dass Flitas Mutter
blond war, geistlos und gewöhnlich, und dass Flita
keinem in der Familie gleicht ? 0 Hilary, frisch aus
der Residenz kommen und rein gar n ichts wissen !«
Eine plötzliche Erinnerung kreuzte Hilarys Ge­
danken.
» Allerdings hab ich gehört« , besann er sich,
»niemand könne sagen, woher Flita ihre Schönheit
habe. Ich für meine Person glaube, Sie haben sie
von Ihrer eigenen schönen Seele.«
»Wie, noch halten Sie mich für Flita ? Unlängst
in der Stadt , hab ich ein paar glückliche Stunden
verlebt , als Flita mich die Prinzessin spielen liess.
Herrlich ! alles dachte einfach, während dieser Zeit,
die Prinzessin sei in einer ungewohnt reizenden,
entzückenden Laune. Und als man sie hernach
wieder sah, war der Humor verflogen, und man ge­
traute sich kaum, sie anzureden . . . Treten Sie gefäl­
ligst ein. Ich sterbe vor Hunger k<
Durch ein breites , niederes Tor gelangten sie
in die Vorhalle. Eine Sehenswürdigkeit, diese Halle �
Der Boden war belegt mit Tierfellen, worunter viele
Prachtexemplare, und grosse steinerne Behälter waren
angebracht mit blühenden Pflanzen , deren Duft die
Luft dick und schwer machte. Ein Holzfeuer pras­
selte in dem mächtigen Kamin, und davor, noch im
Reisekleid, stand - Flita.
Ja, Flita.
Das Mädchen a n Hilarys Seite lachte und klatschte
in die Hände, als er einen Ruf des Erstaunens , j a
des Schreckens ausstiess.
74 Die Blüte und die Frucht. VI.

»Das ist eines Ihrer Zauberstücke, Flita �« ent­


schlüpfte es Hilary.
Die Prinzessin kehrte sich auf diesen Vorwurf
hin um. Sie sah über die Massen feierlich und ernst
aus, so dass ihr Blick Hilary fast beängstigte.
»Nein« , erwiderte sie einfach und in ruhigem
Tone, der Hilary sogar schmerzlich k lingen wollte, »es
ist kein Zauberstück. Alles ist ganz natürlich. Dies ist
Adine, meine kleine Schwester , die mir so gleicht,
dass ich s ie nicht v o n mir selbst unterscheiden kann. «
Sie z o g Adine m it einer gewissen zärtlichen
Fürsorglichkeit zu sich. Das war ganz die Prinzes­
sin, wie sie so sprach, königlich bei aller Güte.
Hilary blieb unfähig, sich zu äussern, zu denken, zu
begreifen ; vor ihm standen die zwei Mädchen, -
jede eine Flita. Nur im Ausdruck konnte er eine
Verschiedenheit zwischen den beiden herausfinden.
Die eine warf ihm den kokettesten, bezauberndsten
Blick zu, als sie auf die andere, die ernste Schwester
zuging. Haarscharf konnte er den Gegensatz im
Wesen der beiden spüren ; und doch , wenn sie,
wie nun, Seite an Seite standen, dann gab es, mochte
auch Flita sie »meine kleine Schwester<.< nennen,
ä usserlich keinen Unterschied zwischen ihnen : Actine
war ebenso gross, ebenso schön , - kurzum die
nämliche in allem !
»Beunruhigen Sie sich nicht« , sagte Flita ge­
lassen, »Sie werden sich bald an das Aehnlichkeits­
wunder gewöhnen.«
»Obgleich ich bezweifle«, fügte Actine mit einem
schelmischen Blick ihrer feurigen Augen hinzu, »dass
Sie uns je auseinanderkennen , ausser wenn wir
nicht beisammen sind . «
Die Blüte und die Frucht. VI. 75

))Komm«, sagte Flita, ))Wir wollen gehn und uns


vom Reiseschmutz befreien. Es ist gleich Essenszeit.«
Flita sprach von Reiseschmutz ; aber wenn Hilary
sie in ihrer fürstlichen Schönheit betrachtet e , dann
sah sie ja so frisch aus, als ob sie eben erst aus
den Händen ihrer Zofe hervorgegangen wäre. Indes­
sen zogen sich die beiden Arm in Arm zurück, und
Adine warf von der Türe aus noch einmal einen
letzten belustigten Blick auf Hilary und sein zum
Erbarmen p erplexes Gesicht. Er blieb allein und
blieb stehen, wo er stand , unfähig zu einem Ge­
danken oder zu einer Bewegung.
Bald kam jemand und berührte seine Schulter ;
dessen bedurfte es, wollte man sich seine Aufmerk­
samkeit verschaffen . Es war der grosse Mann, der
ihnen ans Tor entgegengegangen war. Er hatte
eine gefällige Art, und den heitersten , gutmütigsten
Ausdruck von der Welt ; seine blauen Augen lach­
ten stets.
))Kommen Sie«, sagte er, ))kommen Sie mit auf
Ihr Zimmer. Ich bin hier Zeremonienmeister ; wenden
Sie sich mit allem, was Sie brauchen, an mich, -
auch u m Aufschlüsse. Ich werde sie Ihnen geben,
oder auch nicht, je nachdem die Entscheidung unsrer
allerhöchsten Mächte lautet. Nennen Sie mich Mark.
Ich habe einen bedeutend längern Namen, eigent­
lich ein halbes Dutzend Namen, und obendrein einiges
an Titeln ; die möchten Sie freilich kaum interessieren,
und mitten i m Wald, wo keiner die Rangliste stu­
diert, ist ein Name von einer einzigen Silbe bei
w eitem der beste.« Während er so drauflos schwatzte,
sichtlich unbekümmert, ob ihm zugehört wurde oder
nicht, geleitete er Hilary aus der Halle und einen
76 Die Blüte und die Frucht. VI.

breiten, teppichbelegten Gang hinab. Die letzte


Türe öffnete er und hiess den Gast eintreten.
Hilary sah si ch in einem Gemache, das ihn seine
eignen Zimmer daheim nicht länger vermissen liess,
denn es war noch luxuriöser. Auch w ar schon ein
bequem es Bad von wohlriechendem Wasser bereit,
das zu benützen er sich beei lte, halb und halb mit
der Idee, seine etwaigen Halluzinationen wenigstens
teilweise abzuflössen. Sein bisschen G epäck war
bereits ins Zimm e r gebracht worden, und Hilary
holte sich n un seinen Sammtanzug heraus, die, wie
er dachte, ganz passende Kleidung für einen Abend­
zirkel im »Palais der Ueberraschungen«. Er war kaum
fertig, als es an der Türe klopfte und Mark ohne
weitere Umstände öffnete und den Kopf herein­
streckte.
))Kommen Sie«, sagte er, ))gewartet wird hier
auf keinen. Der Koch würde dies nicht dulden.
Als hochehrwürdiger Bruder, der er ist, lässt er sich
nämlich von niemand etwas dreinreden, ausser von
der Prinzessin selbst. Sie tut stets, was ihr beliebt.
Sind Sie fertig ?«
))Fix und fertig«, antwortete Hilary.
In der Vorhalle standen j etzt die beiden Flügel
einer mächtigen, eichenen, mit vi elem Schnitzwerk
v erzierten Türe weit offen. Mark wies Hilary i n
einen Riesenraum m i t blankgewichsten Dielen, die
wie Spiegel glänzten. In der Mitte dieses Saales
standen zwei Gestalten, beide ganz gleich in Wolken
weisser Spitzen gekleidet : es waren die beiden Flitas,
- wenigstens für Hilarys Augen immer noch.
Wie es ihm ins Herz schnitt, als er sie ansah
und s chmerzlich auf ein Zeichen wartete, auf ein
Die Blüte und die Frucht. VI. 77

Liebesfünkchen zur Erleuchtung, damit er wüsste,


welches seine, seine eigene Flita sei, seine Prinzessin,
der er diente ! Aber es kam keins : sie hatten sich
sehr ernsthaft miteinander besprochen und sahen
beide etwas verstimmt und angegriffen aus.
Wie Hilarys Augen von einem Gesicht zum an­
dem wanderten, ward ihm ganz verworren zu Mute.
D a , urplötzlich huschte der Schimmer eines bestrik­
kend schönen Lächelns über das eine der Gesichter,
und ebenso rasch entschied er , das m üsse Adine
sein. Doch ach , hatte er nicht auf Flitas Antlitz
ebenfalls schon dieses Lachen aufblitzen sehe n ? Aber
das alles flog in der Sekunde vorüber, und mehr
Zeit ward ihm auch nicht zum Ueberlegen gelassen.
Denn an dem andern Ende der Halle bemerkte er
einen Tisch, der der Tafel eines Königs würdig auf­
gedeckt war ; das feinste , mit breiten Spitzen be­
setzte Linnen war darüber gebreitet, darauf standen
goldene Fruchtschalen , und den letzten Schmuck
lieferte das H errlichste aus der Blumenwelt Trotz
seiner sonstigen Kümmernisse m achte Hilary doch
grosse Augen zu dieser Pracht hier mitten im Wald.
War der Luxus Flita zu Ehren entfaltet, die mit un­
gestörter Heiterkeit oder vielmehr Gleichgültigkeit
in einer Bierschenke eine Kruste trockenes Brod
verzehrte ? Flita nahm oben an der Tafel Platz,
wenigstens tat das eine der Schwestern, und die
andere setzte sich neben Hilary ; - welches die eine
und welches die andere war, konnte er noch nicht
entscheiden, und seine Seele war ganz vertieft, dieses
Problem zu lösen. Mark sass am andern Ende des
Tisches, offenbar mit dem Amte betraut, beim Ser­
vieren und Vorlegen, wo nötig, nachzuhelfen. Weitre
78 Die Blüte und die Frucht. VI.

zwei Plätze waren auf der Längsseite vorges ehen,


aber niemand erschien, sie einzunehmen.
Ein ausgetüfteltes Diner wurde serviert, ein Gang
vortrefflicher als der andere. Hilary glaubte , er
d ürfe i m reinen mit sich sein, dass neben ihm Adine
sitze, denn sie verriet sich unverkennbar als kleine
Feinschmeckerin. Er war gerade zu diesem Schlusse
gekommen , als seine Aufmerksamkeit abgelenkt
wurde durch die beiden grossen Türflügel, die sich
zum E mpfang zweier weiteren Gäste auftaten. Je­
dermann erhob sich , sogar Flita , die mit einem
Lächeln den neuen Ankömmlingen entgegenging.
Auch Hilary verliess seinen Platz an der Tafel. Zwei
Männer standen vor ihm : der eine nur wenig älter
als er selbst und eine ausserordentlich vornehme
Erscheinung : kaum über den Jüngling hinaus, hatte
er doch eine Würde, die bedeutend mehr aus ihm
machte, und Hilary fühlte sofort eine Art Eifer­
sucht, eine unerklärliche, unbestimmte, aber immer­
hin unzweifelhafte Eifersucht. Hatte ja doch Flita
ihre beiden Hände dem hübschen, j ungen Manne
hingestreckt und ihn mit grosser Wärme begrüsst.
Der ihm zur Seite stand, war ein schmächtiges, run­
z eliges Männlein , im gleichen Kleide , wie Pater
Amyot immer eines trug. Dieser Umstand erweckte
von neuem Hilarys Wissbegierde , was wohl aus
Pater Amyot geworden sei, schliesslich liess e r sich
dann aber jene Erklärung Adines gefallen.
Ein gewisses Etwas im Gesicht des jungen
Mannes wollte Hilary bekannt vorkommen. Da trat
Flita heran und stellte sie einander vor.
Es war der j unge König, Flita,s V erlabter.
- Diese Geschichte handelt von den Dingen, die
Die Blüte und die Frucht. VI. 79

hinter den Kulissen liegen, nicht von denen, die


alle Welt kennt. Wir wollen dem j ungen Könige
den Namen Otto geben. Sein Reich und seinen
wah:·en Namen zu ergründen mag dem Belieben
eines j eden überlassen sein. -
Er setzte sich Hilary gegenüber, und der alte
Priester nahm den Platz neben ihm ein. Als Hilary
zurückkehrte, war alles, Stärke, Hoffnung, Energie
und Leben, v o n ihm gewichen. Infolge trobiger,
gewaltsamer V erleugnung seiner ganzen Natur und
all seiner j üngsten Stimmungen steifte er sich wieder
auf sein misanthropisches Utieil über die Menschheit
und insbesondere über Flita. Sie hatte ihn hierher
gebracht, einfach u m ihn zu verspotten und ihm die
Torheit und Narrheit klar zu machen, dass er ange­
sichts eines solchen Rivalen um ihre Liebe werbe.
Es traf ihn wie ein Dolchstich ins Herz, den jungen
König so hervorragend zu finden. Aber warum war
Flita zu dieser Begegnung hierhergereist ? Warum
hatte sie ihren unglücklichen Liebhaber mitgebracht ?
Hilary marterte sich mit Zweifeln, Befürchtungen
und Fragen ; er sass da, ohne ein Wort zu reden,
und sah nicht einmal, wie die Platten und Teller
vor ihn gestellt und unberührt wieder abgetragen
wurden. Die andern sprachen und lachten in bester
Laune, da Otto augenscheinlich über hunderterlei
Dinge zu plaudern wusste. Hilary folgte im ein­
zelnen nicht ; es verdross ihn, hören zu müssen, wie
sein Nebenbuhler so gewandt und mit so melodischer
Stimme sprach, während ihm selbst bitteres Weh
Herz und Zunge lähmte.
))Ich sehe Sie traurig«, sagte eine schmeichelnde
Stimme neben ihm, »ja, es ist schlimm, wenn Sie
80 Die Blüte und die Frucht. VI.

Flita lieben u n d müssen zusehen, wie sie der andre


allein in Anspruch nimmt. Wie oft traf mich das­
s elbe Laos ! Na, vielleicht m uss das sein. Und
w arum bemitleide ich Sie eigentlich ? Wäre Otto
nicht da, dann wären Sie es, der Flita ganz in An­
s pruch nähme und für niemand sonst Augen hätte.
. . . 0 ich Aermste k<
Der Seufzer klang so gewählt, die Stimme so
leise und sanft : es musste Flitas Stimme, die h err­
lichen Augen, die j etzt zu ihm aufblickten, mussten
Flitas Augen sein. Ja, so war es. Kannte er denn
nicht Flita nachgerade gut genug ?
»Sie treiben Ihr Spiel mit mir«, rief er gekränkt.
»Sie sind jetzt Flit::� , nicht mehr Adine ! Oder nicht ?
Meine Liebe, Heissgeliebte, seien Sie offen, sagen
Sie es mir !«
E r sprach's gedeckt durch die Stim men der an­
dem, aber Flita sah sich beunruhigt um.
»Stille k< murmelte sie, »nehmen Sie sich in acht.
Ihr L eben wäre gefährdet, wenn Sie hier unser
Geheimnis verrieten. Nach der Mahlzeit kommen
Sie mit mir.«
Diese Abrede machte Hilary wieder glücklich ;
sein Herz lebte auf, seine Pulse schlugen rascher ;
die ganze Welt bekam ein neues Aussehen . Er be­
m e rkte j etzt , dass Früchte vor ihm standen , und
b e gann z u essen u n d vom Wein in seinem Glase
zu trinken. Flita sah ihm zu.
»Jetzt erst fangen Sie zu dinieren an k< sagte sie
halblaut und lächelnd. »Nun j a, es schadet nichts.
Sie sind jung und gesund. Was m einen Sie, trauen
Sie sich zu, ein Teil Ungemach auszuhalten ?«
Hilary gab die selbstverständliche Antwort des
Die Blüte und die Frucht. VI. 81

Liebenden ; überflüssig, sie hier z u wiederholen. Wie


er sich ausdrückte, wusste er nicht, aber der Sinn
war : ihrethalben würde er alles ertragen. Abermals
lachte sie.
>>Sei es so !<< sagte sie, schon wieder tiefernst,
und dabei begegnete er einem so durchdringenden
Blick von ihr, dass einen Moment das Blut in seinen
Adern stockte. Seine schrecklichen Gedanken, seine
Zweifel an ihr, bestürmten ihn wieder um s o mäth­
tiger, als sie eine Weile zurückgedrängt gewesen
waren. Er leerte sein Glas, ass jedoch nichts mehr,
und war froh, als sich bald hernach alles erhob.
Er folgte der Gestalt des Mädchens, das seit Ottos
Eintreffen neben ihm gesessen, denn er glaubte, dass
Flita bei dieser Gelegenheit den Platz getauscht
habe. Sie ging durch den Saal in ein Gewächshaus,
z u dem von hier aus eine Türe führte. Hier prangte
ein herrlicher Wintergarten, voll der seltsamsten
Pflanzen. Sie waren ausnehmend schön, und trotz­
dem erregten sie in etwas Hilarys Widerwillen.
Mannigfach in Farben und Formen gehörten die
Blumen auffälligerweise doch alle zu ein und der­
selben Art.
»Sie sind sehr wertvoll«, sagte Flita, und p rüfte
mit einer gewissen Zärtlichkeit die ihr zunächst
stehenden. »leb gewinne eine seltene, wichtige
Substanz aus ihnen, . . . . Sie haben mich davon
anwenden sehen« , fügte sie nach einer kleinen
Pause hinzu. Hilary sehnte sich aus dem Gewächs­
hause fort irgendwo anders hin, aber das war so
augenscheinlich gegen Flitas W unseh, dass er es
nicht v orbringen konnte. Da und dort zwischen den
Blumen befanden sich Sitze ; auf einen davon liess
6
82 Die Blüte und die Frucht. VI.

sie sich nieder und bedeutete Hilary, neben ihr Platz


zu n ehmen.
>>Und j etzt«, sagte sie, >)werde ich Ihnen eine
ganze Menge Dinge eröffnen , die zu wissen Sie
das Recht erlangt haben. Um damit zu beginnen :
- Sie sind in einem Kloster, das dem strengsten
aller religiösen Orden gehört.«
>)Sind Sie Katholikin ?« fragte Hilary dazwischen,
lachte aber selbst über sich u n d seine Frage. Wie
k onnte er Flita so mechanisch einkatalogisiere n ?
Kannte er sie doch als ein Wesen, dessen Denken
keine Schranken litt.
>)Nein«, antwortete sie einfach. >)Ich bin keine
Katholikin. A ber diesem Orden gehöre ich an. Ich
fürchte, meine Antwort wird dermasse n unverständlich
sein, dass sie unhöflich klingt. Sie m üssen mir das
v erzeihen, Hilary.«
In welcher B etonung sie j etzt sprach ! freundlich,
lieb, - ganz die Stimme des Weibes, das seiner
Liebe vorschwebte. Hilary v erlor alle Selbst­
beherrschung. Er sprang auf und trat vor sie hin.
»Ich will Ihre Religio n nicht wissen«, rief er
leidenschaftlich, »ich begehre nicht zu wissen , wo
wir sind und warum wir hier sind. Nur um eines
frage ich Sie : sind Sie mir das eine, die Geliebte,
die mein sein will, wie Sie es h eute morgen sagten ?
- oder gehört Ihre Liebe dem Könige, und machen
Sie sich nur lustig über mich ? Wie soll ich es anders
a uffassen, nachde m Sie mich h ierhergebracht haben,
wo ich ihm begegnen musste ! Das ist ein grausamer
Hohn, ei n grausames Spiel mit mir ! Von Ihnen
geht es aus, Flita, dass ich Sie liebe von Herzen
und mit meiner ganzen Seele. Ihnen ist mein Leben
Die Blüte und die Frucht. VI. 83

verschrieben, seien Sie offen und sagen Sie mir die


Wahrheit.«
))Sie haben einen gewichtigen Nebenbuhler«,
lautete Flitas behutsame Antwort. ))Ist er nicht
bildschön, ritterlich, j eder Zoll ein König ? Und ihm
bin ich verlobt, j a, Hilary, ihm verlobt. Wollten
Sie, dass das Leben des Weibes, das Sie lieben, u m
Ihretwillen eine Lüge wäre, und dass sie stündlich
den Mann betröge, dem sie angetraut wird ?«
I>Ich will, dass sie mir ihre Liebe schenkt«; rief
Hilary ausser sich, >>Um jeden Preis, allen Verhäng­
nissen zum Trotz. 0 Flita, lassen Sie nicht meine
Seele in dieser Hölle schmachte n ! Noch am Morgen
sagten Sie, dass Sie mich lieben, dass Sie mir gehören
sollen. Und jetzt nehmen Sie die Worte zurück ?«
))Nein«, sagte Flita, ))ich nehme sie nicht zurück.
Denn ich liebe dich, Hilary. - Sah ich dich nicht
zuerst in meinem Schlummer ? träumte mir nicht von
dir ? kam ich nicht auf der Suche nach dir in dein
Haus ? ganz unweiblich, nicht wahr ? Keine - nur
eine Flita - hätte so etwas getan. Und auch Flita
tat es nur aus Liebe. Du weisst nicht, was sie
wagte, was sie noch wagt - für dich ! 0 Hilary,
könntest du ermessen, was für mich auf dem Spiele
steht ! Doch lassen wir das gut sein ; niemand kann
die Gefahren meiner Lage fassen als ich selbst.«
I>So fliehen Sie von hier k< rief Hilary · wie im
Wahnsinn. Ein leidenschaftlicher Wunsch, ihr z u
helfen, überkam ihn u n d verjagte j eden vernünftigen
Gedanken. ))Sie sind so mächtig, sind frei, nichts
zwingt Sie, sich Gefahren auszusetzen. Drohen solche
von diesen Leuten, an dem tollen Platze hier ? Dann
kehren Sie zurück i n die Stadt, nach Hause. Was
84 Die Blüte und die Frucht. VI.

verleitet Sie, Abenteuern nachzurennen, Sie, die Sie


alles haben, was die Welt zu bieten i m stan de ist ?
Gibt es etwas, das Ihnen versagt wäre ?«
»Ja«, erwiderte Flita, :»so etwas gibt es. Mir
fehlt etwas, was mir selbst das mächtigste Königs­
zepter nicht verschafft. Mir fehlt etwas, das zu ge­
winnen ich vielleicht mein Leben einzusetzen habe.
Aber ich bin bereit, auch das zu opfern, - und wie
gerne bereit !Was ist mein Leben für mich ? Was
gilt mir mein L eben ? Nichts k<
Sie hatte sich erhoben und schritt unruhig auf
und ab ; ihre Hände beschrieben die wunderlichsten,
eifrigsten Gesten, und ihre Augen sprühten Flammen.
Das war das Weib, das er liebte. Eine, die sagen
konnte, ihr Leben gelte ihr keinen Deut. Vor dem
einen bittern Gedanken entschwand Hilary alles,
was sonst noch in ihrem Ger�de und Wesen Un­
verständlich es lag. Konnte sie da seine Liebe er­
widern ? - - Nein, es war unmöglich, falls sie diese
schrecklichen, diese abscheulichen Worte ernsthaft
m e inte.
»Ja freilich, das ist es, was mich aufhält«, be­
gann sie von neuem, ehe er zu Wort kam. Ihre
Stimme war anders geworden und ihr Gesicht
blass, dermassen blass, dass er bei diesem Anblick
alles sonst vergass.
1>Das ist's, mein heftiges \Vünschen ist's, was
mich von meiner Stärke trennt !« Und mit einem
schweren Seufzer kehrte sie auf ihren Platz zurück
und liess sich niedergleiten, hinfällig, wie Hilary sie
n o ch nie gesehen. Ihr Kinn berührte die Brust, so
selbstverloren dachte sie in sich hinein. Aber da
sprach sie auch schon wieder weiter , in Sätzen
Die Blüte und die Frucht. VI. 85

ohne Zusammenhang, die Hilary unverständlich vor­


kamen.
))Schon immer war ich zu ungeduldig, zu ge­
waltsam«, sagte sie resigniert. ))Ich habe stets mir
zu nehmen versucht, was ich b egehrte, ohne zuzu­
sehen, bis ich es mir verdient hatte. So war es
einst, Hilary, als wir beide, du und ich, unter den
blühenden Bäumen standen, vor langen Zeiten. Ich
brach den Frieden, der uns gesund und naiv erhielt.
Ich brach dem Uebel die Bresche, und Leiden und
Verantwortung trat in unser Leben ein. Das will
jetzt erfiillt sein. - Ja, Hilary, leider, wir müssen
es ausleben, - darüber hinauskommen ! Wie lange
soll es währen ? wie lange uns hinhalten ?«
Verzweiflung lag in ihrer Stimme u n d Gebärde,
Seelenschmerz, ganz etwas Neues, Unerhörtes. Hilary
war befremdet, kannte sie kaum mehr. Ihre Stim­
mungen wechselten so überraschend, dass er ihnen
nicht folgen konnte , denn ihm fehlte der rechte
Schlüssel ; er konnte nicht entziffern , was in ihr
vorging. So sass er denn dabei und stierte unver­
wandt in ihr trauriges, abgespanntes Gesicht.
))Meine Liebe, meine Geliebte« , murmelte er
endlich im Uebermass eines unstillbaren Verlangens,
wusste aber kaum, dass er sprach, noch, was er
sich dabei gedacht hatte. ))Dass ich dir doch helfen
könnte ! Ach, dass ich dich v erstände !«
>>Willst d u im Ernste ?« fragte Flita, und in ihre
Stimme mischte sich ein schwärmerischer Eifer.
» Weisst du es nicht ?« rief Hilary aus. >>Meine
Seele brennt vor Sehnsucht, der deinigen zu b e­
gegnen und sie zu erkennen, dir zur Seite zu stehen
u nd dich zu unterstützen. Warum bist d u so un-
86 Die Blüte und die Frucht. VI.

n ah bar, so sternengleich, so fern und unverständlich,


da ich dich doch so liebe ! Hilf mir hier Wandel
schaffen und dir näher kommen k<
Flita erhob sich bedächtig und sah ihm prüfend
in die Augen.
>>So komm !« Sie bot ihm die Hand, er legte die
seine darein, und so, Hand in Hand, traten sie heraus
aus ihrem Versteck. Sie nahmen ihren Weg nicht
durch den Saal, denn dort wurde musiziert und ge­
t anzt, wie Hilary sehen und hören konnte, sondern
verliessen die Behausung der seltenen, exotischen
Pflanzen durch einen zweiten Ausgang, der in einen
langen, dunklen Korridor führte. Die Türe öffnete
Flita mit einem Schlüssel, der an einem Kettchen
an ihrem Gürtel hing, und schloss sie hinter sich
wieder ab. Hilary tat keine Fragen, denn Flita schien
so sehr in Gedanken vertieft, dass er sich scheute,
sie zu stören.
Am Ende des Ganges war eine schmale, sehr
niedre Pforte. Vor dieser hielt Flita a n und klopfte,
öffnete aber zugleich, ohne die Antwort abzuwarten.
))Darf ich kommen, Meister ?« fragte sie.
))Nur herei n , Kind« , antwortete eine überaus
freundliche Stimme.
))Ich bringe j em and mit.«
))Nur herein k< rief's wieder.
Sie traten ein. Das Zimmer war klein und von
einer verhängten Lampe m att erleuchtet. Vor ihr
am Tische sass ein Mann und las. Er legte das
grosse Buch, das e r gehalten hatte, auf den Tisch
u n d wandte sich den Eintretenden zu. Hilary er­
blickte den schönsten Mann vor sich, den er je in
Die Blüte und die Frucht. VI. 87

· seinem Leben gesehen hatte. Er war noch j ung,


und doch kam sich Hilary neben ihm wie ein Knabe
vor. Der Mann erhob sich von seinem Sitze und
stand jetzt vor ihnen, hochgewachsen und äusserst
schlank zwar, aber doch sichtlich im Besitz grosser
Körperkraft. Einen Moment betrachtete er Hilary
aufmerksam und wandte sich dann an Flita.
»Lassen Sie ihn hier.« Flita machte eine V er­
beugung und verliess ohne ein weiteres Wort das
Zimmerchen. Hilary sah ihr erstaunt nach. War
das die stolze, herrische Prinzessin, die nun augen..:.
blicklieh und selbstverständlich Gehorsam leistet e ?
Es schien unglaublich. Aber er vergass das ausser­
ordentliche Schauspiel über der Anziehung, die sein
neuer Bekannter a usübte, der gleichzeitig das Wort
an ihn richtete :
»Die Prinzessin hat mir oft von Ihnen gesprochen«,
sagte er, »und ich weiss, sie hat den j etzigen Augen­
blick sehr herbeigewünscht. Sie scheint ihre Be­
friedigung in der sichern Annahme zu finden, dass
Sie mit Ihren innern Sinnen z u würdigen wissen,
welchen Schritt Sie tun, falls Sie sich den Wünsche n
d e r Prinzessin gernäss entschliessen. A b e r ich halte
für richtig, dass Sie in j eder Hinsicht und so voll­
ständig wie irgend möglich über seine Tragweite
aufgeklärt seien. Wollen Sie Flita wirklich kennen
lernen, sie verstehen, i n ihre engeren Kreise treten,
so müssen Sie alles aufgeben, was die Menschen
gemeiniglich in der Welt schätzen.«
»Ich brauche es nicht aufzugeben«, sagte Hilary
ziemlich bitter, »meine Existenz ist nicht glänzend.<.<
»Nein, aber Sie stehen erst am Anfang Ihres
Lebens. Die Zukunft ist noch vielversprechend für
88 Die Blüte und die Frucht. VI.

Sie. Wünschen Sie, Hand in Hand mit Prinzessin


Flita zu gehen, so gehört Ihr Leben nicht länger
Ihnen.«
»Nein, es gehört ihr ! es gehört ihr jetzt schon k<
>>So ist's nicht gemeint. Weder j etzt noch später
kann e s ihr gehören. Auch Ihre Liebe beansprucht
sie nicht für sich. Sie selbst besitzt nichts.«
»Das verstehe ich nicht«, erklärte Hilary un­
umwunden. »Sie ist die Prinzessin dieses Landes,
und wird bald Königin eines andern sein. Sie
besitzt alles, was die Welt einem Weibe geben kann.«
>>Kennen Sie die Frau, die Sie lieben, nicht besser,
als um zu wähnen, es kümmere sie ihre Stellung in
der Welt ?« fragte der Mann, den Flita ihren Meister
nannte. »Ein Wort von mir, und zu j eder Stunde,
jederzeit, wird Flita von ihrem Throne herabsteigen,
um nie mehr dahin zurückzukehren. Dass sie dies
sicherlich eines Tages tun wird, weiss ich bestimmt ;
dann wird die Schwester ihren Platz einnehmen und
die Welt wird nicht klüger sein als j etzt. Flita sieht
diesem Wechsel mit Verlangen entgegen.«
»Möglich ; vielleicht,« gab Hilary zu.
>)Weder Ihre Liebe n o ch Ihr Leben gehört ihr
z u eigen. I n ihr lieben Sie den grossen Orden, dem
sie angehört, und freudig wird sie Ihre Liebe dem
rechtmässigen Eigner überw eisen. Das hat sie schon
getan, und hat Sie zu mir gebracht.«
Hilary fuhr auf, der Schlag war zu stark.
»Das ist offenbarer Unsinn , barer Hohn«, er­
widerte er gereizt , »Flitas eigner Mund gestand,
dass sie meine Liebe annahm.«
»Zugegeben k< lautete die Antwort, »und mit
König Otto ist sie verlobt.<.<
Die Blüte und die Frucht. VI. 89

))Ich weiss es«, sagte Hilary kleinlaut.


))Aber für was hielten Sie eigentlich Flita ? Für
eine, die nur auf V ergnügungen Jagd macht, die,
ohne Ehrgefühl, ohne Grundsätze, wie die andern
mit dem Leben nur spielt ? War das Ihre Meinung
von der Frau, die Sie liebten ? Offenbar � - da Sie
ja sagten, ihre Hand möge sie dem König Otto geben,
sofern Sie nur wissen, dass Ihnen ihre Liebe gehöre !
Und eine solche Frau wären Sie imstande zu liebe n ?
Hilary Estanol, Sie sind in einer andern Schule auf­
gewachsen als in dieser. Beschämt Sie nicht Ihr
eigenes Gewissen ?«
Hilary blieb stumm. Jedes Wort traf. Er wusste
nicht, was sagen. Er hatte vorsätzlich nicht sehen
wollen , j etzt ward ihm die Binde schonungslos
heruntergerissen. Nach einer beträchtlichen Pause
antwortete er zögernd :
))Die Prinzessin kann nicht wie andere Frauen
beurteilt werden, sie ist allen unähnlich.«
))Das trifft nicht zu, wenn sie die ist, die Sie
sich zu denken scheinen ; dann ist sie aufs Haar wie
die übrigen, eine von der allgemeinen Herde.«
>>Wie können Sie in dieser Weise von ihr
sprechen ?))
>>Wie können Sie von ihr denken, wie Sie es
tun, und sie durch Ihre Gedanken entehren ?«
Die zwei standen sich jetzt gegenüber und i hre
Blicke begegneten sich . Ein ganz neues Licht schien
in Hilarys Seele sich Bahn zu brechen, als ihm diese
bittern Worte erbarmungslos i n den Ohren gellten.
Sie entehren ? War das möglich ? Er schwankte
zurück und musste sich a n die Wand lehnen, immer
noch das hochedle Antlitz vor sich anstarrend .
90 Die Blüte und die Frucht. VI.

)) Wer sind Sie ?« fragte er endlich.


))Ich bin Vater Iwan, der Superior des Ordens,
dem Prinzessin Flita angehört«, lautete die Antwort.
Aber hier fiel eine andre Stimme ein, die Antwort
zu vollenden, und Hilary bemerkte, dass Flita einge­
treten war und hinter ihm stand.
))Und er ist der Meister des Wissens, Lebens
und Denkens , und Prinzessin Flita ist nur seine
arme, ungeduldige Schülerin. Meister, vergeben Sie
m i r ! Ich kann nicht mitanhören, wenn Sie sprechen,
als ob Sie ein Mönch wären, das blosse Werkzeug
e iner Religion, Nachbeter wertloser Dogmen.«
Sie sank vor Vater I wan auf die Kniee, mit
Zeichen der äussersten Demut und Unterwürfigkeit.
Der Priester beugte sich vor und hob sie auf. Einige
Augenblicke standen sie schweigend nebeneinander ;
Flitas Augen hafteten auf seinem Antlitz und ver­
schlangen seine Züge in leidenschaftlicher , ver­
götternder Schwärmerei. Wie hervorragend · die
beiden aussahen ! Hilary bem erkte es plötzlich, und
ein wildes, heftiges, allverzehrendes Feuer der Eifer­
sucht loderte i n seinem Herzen auf, - einer Eifer­
sucht, wie sie König Otto, nein, hundert Ottos nicht
i n ihm hätten entfachen können.
Denn er sah, dass dieser Iwan, der eines Priesters
Kleid trug und augenscheinlich doch nicht Priester
war, der sich gab, als ob die Welt keine Bedeutung
mehr für ihn hätte, und doch so herrlich auftrat i n
seiner persönlichen Erscheinung u n d Macht, - er
sah, dass dieser M a n n Flita ebenbürtig war. Und
noch mehr, er gewahrte, wie Flita Zug um Zug
selbstentrückter, hingebender, inniger wurde, je länger
s i e zu ihm aufblickte. Nie hatte H i lary sie so ge-
Die Blüte und die Frucht. VII. 91

sehen . Nie hätte e r sich träumen lassen, dass sie


so blicken könne. Tappend wie ein Blinder langte
er nach der Türe unmittelbar hinter ihm und floh
aus dem Zimmer, - wie ? das wusste e r selbst nicht.
Wie gehetzt rannte er aufs Geratewohl durch die
Räume, und schliesslich war er im Freien . Er lief
mit grossen Schritten durch die hohen Farnkräuter
und das Gestrüpp, bis er sich an einer derartig ver­
einsamten Stelle fand, dass er sich einbilden konnte,
er sei m utterseelenallein in dem weiten Wald. Hier
warf er sich nieder und überliess sich einem Aus­
bruch krampfhafter Verzweiflung, die den Himmel,
die Bäume und alles ringsum vor seinen Blicken in
schwarze Nacht hüllte, wie schweres Wolkenge­
brodel sich auf das Erdreich herabsenkt.

VII.

D as Gewölk lichtete sich und entschleierte ihm


Flitas Antlitz. Sie kniete an seiner Seite, beugte sich
über ihn und schmiegte ihr Gesicht fast an das seine.
»Mein Lieber, m ein Guter«, flüsterte sie schmei­
chelnd, »ist der Schlag zu schwer gewesen ? Sagen
Sie etwas, Hilary, geben Sie mir Beschei d ! Sie sind
doch noch bei Besinnung ?«
»Und du liebst ihn, j enen Mann ?« war Hilarys
ganze Ant wort, während er seine Blicke kalt und
fremd über sie hinlaufen liess.
))Ü Hilary, du richtest üb�r etwas, was dir un­
bekannt und unverständlich ist ! Ich liebe ihn, ja,
92 Die Blüte und die Frucht. VII.

aber mit einer so tiefgeartet en Liebe, dass sie dir


unvorstellbar ist.«
»Und das sagst du mir ! Mir, dem M anne, der
dich liebt und der bereits sein ganzes Leben an dich
hingegeben hat ! Willst du einen Tollhäusler zum
Diener ?«
»Ein Leben ! « rief Flita mit auffälliger, fast gering­
schätziger Betonung. »Was ist ein Leben ? Mir
gilt es nichts. Unsre hohen Ziele liegen jenseits
s olcher Rücksichten.«
Hilary sprang auf und schaute ihr ins Gesicht.
>>Dann sind Sie nicht bei V erstand«, sagte er,
>>Und dann allerdings ist ein Narr für Ihren Dienst
gerade der Rechte. Dabei jedoch, meine Prinzessin,
wollen Si e nicht vergessen, mit was für Kräften Sie
sich abzufinden haben. Ich bin nur ein Mensch,
und Sie haben meine Liebe angenommen. Eben
erst haben Sie mich zum Mörder gemacht, Mörder im
Herzen, - im Wunsch. Wie bald werde ich einer
in Wirklichkeit sein ? Das hä ngt von dir ab, Flita.
Das nächste Mal, - wenn ich dich wieder mit deinem
Blick an jenes Mannes Mienen hängen sehe , wie
vorhin, . . . dann töte ich ihn.«
Flita richtete sich auf zu ihrer vollen Grösse,
das Gesicht gen Himmel gekehrt. Ein krampfhafter
Schauer, wie vor Schmerz , durchlief ihre Gestalt .
Augenblicklich schlug Hilarys Stimmung um. »Sie
sind krank k< rief er aus. Sie suchte ihn mit ihren
Blicken.
»Dann töten Sie in Ihrer Mordlust nicht Vater
Iwan , sondern mich , die Sie zu lieben vorgeben.
Sehen Sie das ein ?«
»Ah, ah !« ächzte Hilary in Tönen, als ob sein
Die Blüte und die Frucht. VII. 93

Herz unter dieser Folter brechen wollte, »freilich,


weil Sie ihn so lieben ! Gut, ich kann nur ducken
und dienen. Ich habe nicht die Macht, mich dem
zu wi dersetzen. Aber ich frage Sie , Prinzessin,
geziemt es sich , eines Mannes Herz zum Spielzeug
Ihrer königlichen Launen zu machen ? Ein König
Ihr Anverlobter . . . . ein verkappter Priester Ihr
Geliebter . . . . ist das nicht genug ? müssen Sie
auch noch einen harmlosen, in solch unglückseligen
Künsten- nicht erfahrneu Knaben kirren , nur um
seine Liebe zu zertreten ? Das sieht nicht nach dem
Edelsinne aus , wie ich ihn in Sie hineingedichtet
habe. Darum Gott befohlen, Prinzessin ! Ich bin
nimmer Ihr Liebhaber, wie ich es ehedem war. Ich
kann an Ihr reines, holdes Herz nicht mehr glauben.
Diesen Morgen noch erschien es mir wie eine Perle,
wie ein leuchtender Tropfen Tau , . . . fahr hin,
mein Idol ! - Doch Ihr stets gehorsamer Diener bin
und bleibe ich, denn Sie sind Herrin meines Lebens,
darüber nach Ihrem Belieben zu schalten und zu
walten. Rufen Sie mich, und ich komme , wie Ihr
Hund ; aber bei Ihnen bleiben will ich nicht, denn
von heut an ist das nichts als nur Elend ohn Ende.«
Mit diesen unbändigen , wilden Vorwürfen,
die die stille Luft des Waldes aufstörten , dass
auch sie von Leidenschaft und Verzweiflung glühte
u,nd loderte, kehrte er Flita den Rücken und verliess
sie. Sie rührte sich nicht, und todmatt fielen ihr die
Augenlider zu ; sie murmelte nur das eine Wort :
))Wir sind unter dem nämlichen Stern geboren k<
So tonlos ihre Stimme klang, erreichte sie doch
Hilarys Ohr, und die Worte trafen wie Geisselhiebe
sein Herz.
94 Die Blüte und die Frucht. VII.

>>Unter dem nämlichen Stern !« sprach er in


Schmerzenslauten nach und stand wie durch einen
Bann gehalten still. >>Nein , Flita , du die Königin,
ich der Untertan . Ach mehr als das ! Sie wissen
es zu gut und gebrauchen Ihre Macht bis zum
Aeussersten. Haben nicht Sie selbst mir gelobt, die
Meine zu sein ? «
>>leb habe versprochen, Ihnen m eine Liebe für
die Ihrige zu geben ; Ihnen alles zu lassen, was Sie
sich von mir nehmen können. Meine Liebe ist grösser,
als Sie sich je vorstellen können , . . . nicht eine
Silbe Ihrer Schmähworte hätte ich sonst angehört ;
sie haben m ich gekränkt und beleidigt, aber ich liess
e s geschehen.«
>>Ach , Flita , was Sie sprechen, sind Rätsel«,
j ammerte Hilary und kehrte auch schon wieder zu
ihr zurück ; >>Sie sind im staude, einen Mann toll zu
machen ; und doch kann ich nicht anders, ich muss
Sie lieben. Wie kommt das ? Alles, was Sie tun,
beweist, dass Sie herzlos und treulos sind, und doch
liebe ich Sie ! Wie kommt das ? 0 könnt ich doch
das Rätsel Ihres Daseins lösen ! Wer sind Sie ? -
Was ist's mit dieser geheimnisvollen Stätte ? Wer ist
der Priester, dessen Oberherrschaft Sie anerkennen ?
Ich will und muss es w issen !«
Ein schnelles, süsses Lächeln Flitas brachte Licht
in sein Inneres, wie der Schein der Lampe einen
dunkeln Raum erhellt.
»Bravo !« rief sie, »finden Sie es heraus ! Sagen
kann ich es Ihnen nicht, aber ich möchte, o, icb
sehne mich darnach, dass Sie es erfahren. Packen
Sie das Geheimnis ! bezwingen Sie es, Hilary !«
Sie sprach das im Eifer und mit dem hellen
Die Blüte und die Frucht. VII. 95

Wohllaut in der Stimme , der sein Herz berückte.


Er vergass die Prinzessin, die Geheimbündlerin, die
Ordensschwester, - er dachte nur an das Mädchen,
das er liebte, das junge, frische, blütengleiche, und
an ihr holdes, wonniges Gesicht neben seinel;Il. Mit
halb verhaltenen Lauten der Zärtlichkeit breitete e r
die Arme nach ihr aus.
»0 Teuerste, du meine Geliebte, komm k< .stam­
melte er, und seine Stimme zitterte_ vor Leidenschaft.
Aber Flita kehrte ihm stumm den Rücken und
schritt durch die hohen, dichten Farnkräuter ; ihr
langes Gewand schleppte auf dem Boden nach.
Kein Blick zurück, kein Wenden des Kopfes, nicht
einmal eine Bewegung der weissen, marmorstarren
herabhängenden Hände. In der einen hielt sie einen
langen Halm, den sie schon auf dem Herwege ge­
pflückt hatte ; er spielte im Winde und schien deimach
so eigen steif, als wäre er ein Stück dieser Statue
geworden, die einen Augenblick zuvor noch eine
Frau gewesen war.
Hilary starrte der sich entfernenden Gestalt nach,
unfähig, sich zu bewegen, unfähig, in seinem Geist
einen Gedanken zu fassen - ausser einem einzigen,
und der war kein Gedanke. Es war ein Wissen, -
ein Bewusstsein. Er wusste, er fühlte, dass er Flita
nicht folgen, noch zu ihr sprechen durfte, wie Männer
mit den Frauen sprechen, die sie lieben ; er durfte
nicht um sie werben mit feurigen Worten auf den
fiebernden Lippen. Und weshalb ? Nicht ihrer könig­
lichen Geburt, ihrer Schönheit, ihrer Ueberlegenheit
wegen. Er wusste nicht warum, er vermochte j a
nicht sich selbst mehr zu verstehen. - Oder war e s
ein Zauberbann, was ihm Sprache und Tatkraft raubte ?
96 Die Blüte und die Frucht. VII.

Als sie endlich ausser Sicht war, kam ein plötz­


licher Rückschlag. Der m ächtige Zündstoff einer
feurigen Jünglingsnatur lohte auf und wütete durch
alle Fibern seines Organismus. Die Ueberlegung
verliess ihn, er spürte nur, dass die Blutwellen ihm
zu Kopfe stiegen und sein Gehirn antrieben, als hätte
er schweren Wein getrunken. Er machte die plötz­
liche Wahrnehmung an sich, dass er älter, erwachsen,
dank den Erlebnissen der letzten Zeitspanne ein
neuer Mensch geworden war. Vor wenigen Minuten
hatte er sich einen Mann genannt, jetzt wusste er,
dass der , der dies gewähnt hatte , nur erst ein
Knabe war. Einen Abgrund von Gefühlen konnte
er überblicken, wenn er auf die Liebe zurücksah,
die damals in ihm gelebt. Jetzt brannte seine Leiden­
schaft lichterloh wie ein Feuer auf dem Altare des
Lebens ; m it j edem Augenblick wurden die Flammen
h eisser und ergriffen ungestümer sein erhitztes
G ehirn.
Der Wilde war zum Durchbruch gekommen ;
der wilde, ungebändigte Mensch , der im Innern
glüht und glostet und sich hinter den gebildeten
Formen eines gesitteten Zeitalters versteckt. Ein
einziger kräftiger Griff in die Saiten der Leidenschaft,
und der als Produkt seiner verfeinerten Zeit so
ritterliche, gefällige Hilary Estanol erfuhr, dass er
Mann, und dass dieser Mann ein Wilder sei. Ein
Wilder voll persönlichen Wünschens und Begehrens,
stets die eigene Befriedigung vor Augen. Aber
Hilary empfand dieses elementare Hervorbrechen
seiner innern Natur wie eine herrliche Offenbarung.
Hoch aufgerichtet, kraftstolz und entschlossen stand
er da. Sein Feuereifer überflog alsbald seine und
Die Blüte und die Frucht. VII. 97

Flitas Lage. Alles bekam mit einem Mal ein neues,


lebendiges, Taten forderndes Aussehen.
Ein Nest von Verschwörern war's, redete er
sich ein. Dieser Mensch, dieser Iwan, war ein Ver­
schworener, oder noch etwas Schlimmeres, sonst
hätte er sich nicht hier versteckt. Welches gekrönte
Haupt mochte es sein, auf das er es abgesehen
hatte ? Er war ein Verbrecher. Hilary wollte sein
Geheimnis aufdecken, Flita von ihm befreien, kraft
seiner Liebe wollte er ihre Liebe ihm abgewinnen ;
sie sollte und musste die Seine werden. Aber -­

ruhig Blut ! es galt kühl und nüchtern sein, denn


ihm war's beschieden, das Geheimnis dieses Platzes
zu lichten.
Er schlenderte langsamst durch den Wald, u m
der wilden Jagd in seinem Gehirn Einhalt zu tun
und das Pochen in Herz und Adern zu beschwichtigen.
Er wusste , dass er nunmehr all seiner Instinkte,
seines vollen natürlichen Verstandes, seiner ganzen
Wehrkraft bedurfte. D enn in seiner verschrobenen
Verfassung lief er als aller Welt Feind herum, und
sein neuester Gefühlsumschlag machte aus jedermann
einen Widersacher. Der junge König Otto hatte
auf dieselbe Flita , deren Besitz auch er anstrebte,
ein älteres Recht ; der war selbstverständlich sein
Gegner. Iwan gar besass ihre Liebe ; wie bitter
hasste Hilary diesen Priester ! Und Adine, die falsche
Flita, - was war sie anders als ein Geschöpf der
Priester, lediglich ihr Werkzeug, um ihn zu betrügen
und hinters Licht zu führen ? Sie_ gerade konnte am
leichtesten seine Schritte auf falsche Fährte bringen,
hatte sie doch sogar seine intime Vertrautheit mit
Flitas geliebten Zügen getäuscht.
7
98 Die Blüte und die Frucht. VII.

Er war ganz Tatkraft und Tatenlust, und sein


Blut verlangte darnach, sich i m Handeln auszutoben.
R asch war er mit sich einig, dass er unverzüglich
z weierlei tun müsse : sich das ganze Haus von aussen
gründlich darauf ansehen, was für Räume es ent­
halte und wozu sie dienen ; und hernach die Grenzen
des Grundstücks darauf prüfen, ob sie einer Flucht
irgendwelche Schw ierigkeiten entgegenstellen. Da
die zweite Aufgabe die meiste Arbeit machte, zog
er vor, sie zunächst in Angriff zu nehmen, und be­
gann eiligst , mit langen Schritten den Wald zu
durchqueren, der R i chtung nach, in der die Grenzen
l i egen mussten. In Kürze hatte er eine beträchtliche
Strecke abgegangen, denn er fühlte sich kräftiger
als je einmal in seinem Leben. Früher war er ein
zarter Bursche gewesen, jetzt war er sonder Zweifel
e i n starker Mann, als ob neues Blut in seinen Adern
flösse. Der Mond stand hoch am Himmel, fast voll,
und schien hell. Bei s e inem Lichte entdeckte er
b ald, dass der abenteuerliche Platz, an dem er sich
befand, eine sinnreichere und wirksamere Schutz­
wehr hatte, als das festeste Mauer- und Pfahlwerk.
Er war eingeschlossen von einem undurchdringlich
verwachsenen Urwalddickicht, in das schwerlich je
e i n Mensch seinen Fuss gesetzt hatte.
Hilary wollte gar nicht glauben, dass es kaum
e ine Spazierfahrt von der Residenz entfernt eine
derartige Wildnis geben könne. Aber sie war da,
und durchzukommen war hier nicht, ausser er
b ahnte sich einen Weg Zoll um Zoll mit der Axt,
w i e es die Holzhauer machen, wenn sie eine Lich­
tung h erstellen. Solch ein Unternehmen war aus­
s i chtslos ; selbst wenn er das nötige Werkzeug zur
Die Blüte und die Frucht. VII. 99

Hand gehabt hätte, wäre es unmöglich gewesen,


die Richtung zu bestimmen.
Zuletzt, nach mannigfachen, fruchtlosen V er­
suchen, trat er den Rückzug an ; es zeigte sich keine
Spur von einem Durchlass. Das Tor, durch das sie
ihren Einzug gehalten, hatte er aufgefunden, auch
gesehen, dass es bewacht war. Eine Gestalt be­
wegte sich langsam im Schatten der B äume hin
und her, aber nicht wie zum Vergnügen, sondern
in dem regelrechten Schritt einer Schild wache. Der
Mann war ihm fremd, trug aber die Ordenstracht.
Hilary ging unauffällig seitwätis dem Pfade nach,
der zum Hause führte. Es war nutzlos, mehr Zeit
auf diese Nachforschung zu verschwenden ; sonnen­
klar, er war ein Gefangener. Ebenso klar erschien
ihm, dass ihn auch die wichtigste Entdeckung nichts
helfe, wenn er nicht damit hinaus konnte. Er musste
sie ungehindert zur Stadt zu Flitas Vater bringen
können, oder, je nachdem, Potentaten andrer Länder
übermitteln. - Während er gemessnen Schrittes
seinen Weg fortsetzte und seine Lage von neuem
überdachte, zeigte sich, dass die Aufgabe, die er
sich gestellt , nicht leicht war , auch für einen
Mann von der Stärke eines Verliebten. Diese
Mönche gehörten einem ausserordentlich mächtigen
Orden an und waren Leute von grosser Befähigung.
Hier also war er m itten im Herzen eines ihrer
geheimen, vermutlich politischen Hauptlager. Flita
und Otto standen unter ihrem Einfluss. Magier
waren sie ; er empfand als gewiss, dass sie mancher­
lei Naturgeheimnisse zu eigen und Flitas okkulte
Kräfte ausgebildet und geschult hatten. Und aus
diesem geborgenen und sorgfältig bewachten Platze
100 Die Blüte und die Frucht. VIII.

war er entschlossen zu fliehen und des Ortes Ge­


heimnis zu entführen - und Flita dazu ! Flita, seine
G eliebte, sein Eigentum, - und doch - - erst zu
gewinnen mit der Stärke seines Armes.

VIII.

In dem langen Korridor , durch den Flita, wie


erzählt, Hilary zu Iwans Gemach geführt hatte, be­
fand sich eine zweite Türe, die durch ihren ungewöhn­
lichen Ve rschluss auffiel. Sie wurde durch Eisen­
stangen zugehalten, die den Beschauer befremden
mussten, denn sie sperrten, wie um ein Gefängnis
zu verwahren, von aussen ab, anstatt für den inwohner
des dahinter liegenden Raumes ein Schutz zu sein.
Jenseits dieser Türe lag j etzt Flita, um für die Nacht
zu ruhen. Wenn Hilary das gewusst hätte, welche
Qualen hätten ihn gemartert ! Er hätte geglaubt, er
m üsse diese Riegel zerbrechen und die Gefangene
befreien , ob es auch übernatürlicher Kräfte dazu
b edurft hätte. Die Folter, es zu wissen, war ihm
indessen erspart, und es war nicht wahrscheinlich,
dass er davon erfuhr, denn eine seltsame Schildwache
durehrnass mit einförmigem Schritt den langen Flur,
- Vater Iwan selbst. Beharrlich, ohne Pause, ging
er auf und ab.
Es mochte Mitternacht sein, da trat Iwan in sein
Zimmer und sah nach der Uhr auf dem Kamin­
aufsatz : noch nicht ganz Mitternacht, aber nah daran.
Hilary lag schlaflos in seinem Gemach und warf
Die Blüte und die Frucht. VIII. 101

sich auf einem luxuriösen Bette hin und her, das


ihm, so einladend es war, keine Aussicht auf Ruhe
brachte. Ein dutzendmal schon war er rings ums
Haus herum geirrt, nur um sich durch die unerforsch­
liche Bauart und durch eine Unmasse die Mauern
versteckenden Strauchwerks verwirrt zu sehen, auch
dämpften die festen Schutzvorrichtungen an allen
leichter zugänglichen Fenstern mindestens seine
Zuversicht. Endlich aber fand er eines weit offen
und das dazugehörige Fenster hell erleuchtet ; eine
Lampe stand auf dem Tisch und wies dem Auge
den behaglichen, gut eingerichteten Raum nebst dem
Bett darin, das mit so feinem Linnen und zierlichen
Spitzen ausgestattet war, wie es vielleicht nur Mit­
glieder eines asketischen Ordens ihren Gästen zu
bieten wissen. Einen Moment stand Hilary davor,
dann plötzlich erkannte er das Zimmer als sein eigenes.
Es verursachte ihm ein wunderliches Gefühl , sich
hier so als Gast gehegt und verpflegt zu sehen, und
doch wie ein Gefangener festgehalten zu sein. Nun
ja, völlig nutzlo s , sich die traurige Tatsache nicht
einzugestehen, - ein Gefangener war er. Für j etzt
gab er sieb besiegt und beschied sich, dies möglichst
gelassen hinzunehmen. Er trat ein , schloss sein
Fenster und die starken Innenläden davor und legte
sich dann ohne Verzug nieder, mit dem Vorsatz,
einzuschlafen. Aber der Schlaf wollte sieb nicht
einstellen, und Hilary fand alle seine Gedanken und
all sein Dichten und Trachten immer wieder um
Vater Iwan gruppiert. Er suchte davon loszukommen,
und konnte nicht ; umsonst haschte er nach Flitas
Bild , - er vermochte sich kaum ihres herrlichen
Gesichts zu erinnern ! Wie war dessen Form und
102 Die Blüte und die Frucht. VIII .

Farb e ? Er plagte sich ab, das Angesicht, das er so


innig liebte, zurückzurufen. Aber immer stand Vater
Iwans Gestalt vor seinen Augen, und mit einem
Male fiel ihm auf, dass die Erscheinung eigentlich
wesenhaft war, denn er sah I wan seine Hand mit
einer befehlenden Gebärde erheben, die offenbar ihm
selbst galt. Einen Moment hernach fiel er in festen
Schlaf, wie ein müdes Kind. - Zur selben Zeit stand
Iwan in seinem eigenen Gemach und warf einen
kurzen Blick auf die Uhr. Er verweilte vielleicht
einen Augenblick länger , als nötig war, um die
Stunde abzulesen , ein Ausdruck des Missfallens
erschien auf seiner reinen, freien Stirne und die fein­
geschweiften Augenbrauen zogen sich zusammen.
Dann drehte er sich rasch um, verliess das Zimmer
und schloss es h inter sich ab. Er lenkte seine Schritte
dem Eingang mit dem starken Verschlusse zu, löste
geräuschlos die Haltestangen, die schwerfällig, aber
ganz sachte zurückschwebten, öffnete vollends und
trat ein.
In einer Art Nische mit Vorhängen stand ein
niedres Ruhebett, das den ganzen Raum in Anspruch
nahm und kaum einen Fuss hoch war. Reichliche
D ecken aus Bären- und Wolfsfellen waren darüber
gebreitet. Darauf ausgestreckt lag Flita, eingehüllt
in einen langen Mantel von einem dicken w e issen
Stoff, der ringsherum mit Pelz verbrämt und eben­
damit auch noch gefüttert war. Und trotzdem war
ihre Hand, als Iwan stehen blieb und sie berührte,
kalt wie Eis.
»Kommen Sie«, sagte er, wandte sich wieder
ab und entfernte sich langsam von ihr. Flita erhob
sich und folgt e ihm nach. Ihre Augen waren halb
Die Blüte und die Frucht. VIII. 103

geschlossen und ähnelten denen einer Schlafwand­


lerin, aber doch nicht ganz und gar, denn obgleich
sie blöde erschienen, als sähen sie nicht, bargen sie
Vorsatz, Bewusstsein und Entschlossenheit. Nur wer
zuvor schon Flita i m gleichen Zustand gesehen, hätte
diese Augen als die ihrigen wiedererkannt, so starr
und fremd waren sie. Iwan näherte sich einem
breiten , gewölbten , verhängten Durchgang , schob
den Vorhang beiseite und bedeutete Flita , voran­
zutreten. Als sie es tat, berührte er die eine ihrer
herabhängenden Hände. Unverzüglich erhob sie diese
Hand , und während der Mantel zurück glitt, zeigte
sich, dass sie eine weisse, seidene Maske hielt. Auch
ihr Kleid war von weisser Seide. Langsam brachte
sie die Maske empor an ihr Gesicht und war daran,
sie anzulegen, da trat, urplötzlich wie ein Tropen­
orkan , ein Wechsel ihres Verhaltens ein. Sie riss
ihre starren Augen weit auf, und Lichtblitze schossen
aus ihnen hervor ; sie schleuderte die Maske weg
auf den Boden und presste heftig ihre Hände gegen­
einander , während ihr ganzer Leib vor Erregung
bebte.
»Weshalb m uss ich eine Maske anlegen ?« rief
sie aus. ))Sie haben mir nicht gesagt, warum.«
»Wohl habe ich es Ihnen gesagt« , erwiderte
Iwan gelassen. »Nie bis heute ist eine Frau dort
eingetreten.<(
>>Was dann ?« rief Flita laut und ungestüm. ))Es
ist keine Schande, ein Weib zu sein ! Habe ich nicht
die Pforte vergebens in einem anderen Kleide zu
nehmen versucht ? Nun , ein Weib , fordere ich
Einlass. Meister, ich will mich nicht verleugnen.«
))Sei es so«, sagte Iwan, »doch nimm die Maske
104 Die Blüte und die Frucht. VIII.

mit, falls je dein Sinn sich wieder ändern sollte.


Du weisst, noch vor einer Weile warst du willens.«
Flita stand regungslos und betrachtete die Maske
auf der Erde. Dann plötzlich hob sie den Kopf und
blickte Iwan bestimmt in die Augen.
))Ich will mein Geschlecht von mir tun ; ich
will meine W eiblichkeit ohne j ede derartige Hilfe
verschwinden lassen«.
Wie sie zu Ende gesprochen hatte, ging Iwan
weiter. Sie waren in einem langen, erleuchteten
B ogengang. Seine Wände tönte ein durchsichtiges
Blassrot, auf dem einzelne silberne Sterne funkelten.
Obschon sehr hell, war der Ort doch ungemein
feierlich.
Woher kam das ? Flita musterte bald die eine,
bald die andre Seite und konnte es doch nicht
herausbringen. Es war etwas ihr Neues dabei, das
sie nicht verstand. In so mancherlei Geheimnissen,
in so vielen Kenntnissen des Ordens war sie unter­
richtet worden, diesen Korridor hatte sie nie be­
treten, ja nicht einmal von dessen Vorhandensein
etwas gewusst. Allmählich näherten sie sich seinem
Ende, an dem sich ein aus Eichenholz gefertigtes,
s ichtlich fest verschlossnes Tor befand. Vater Iwan
jedoch öffnete es auffallend leicht.
»Mein Gott«, rief Flita leise, aber höchlich er­
staunt aus. »Wo bin ich ? In welchem Lande ?
M eister, waren die Hallen ein magischer Zauber?
Das ist nicht mehr mein Land. In welche Fernen
hast du mich geführt in dieser kurzen Zeit« ?
»Einen langen Weg, meine Tochter ; komm,
halte dich nicht auf !«
Eine weite Ebene, einer Prairie gleich, dehnte
Die Blüte ,und die Frucht. VIII. 105

sich vor ihnen aus, zur Rechten eingefasst von den


Ausläufern einer riesigen Gebirgskette, die im fernen
Horizont verschwand. Auf der Ebene war Ein Fleck,
Eine Stelle, da brannte ein blassbläuliches Licht, eine
Flamme, weithin sichtbar , trotzdem die ganze
Szene im hellsten Mondlicht schwamm. Iwan ging
jetzt rasch bergab den steilen Pfad, der vor ihnen
lag ; und nun erst wurde Flita gewahr , dass sie
sich auf einer Anhöhe befanden und in die Ebene
.
lli nunterzusteigen hatten. Sie blickte nicht rück­
wärts ; alle ihre Gedanken galten dem lebhaften
Lichte, das, wie sie sah, aus den Fenstern eines
grossen Gebäudes strahlte. D ann bemerkte sie
plötzlich, dass eine Menge Personen auf der Ebene
waren ; so w eithin sich diese auch ausdehnte, es
waren der Leute doch so viele, dass man sah, wie
die Scharen sich drängten, die von den verschiedenen
Richtungen her sich hier zusammenfanden. Alle
strebten dem Gebäude zu.
»Vater«, sagte sie zu Iwan, der stetig seinen
Weg verfolgte, »werden sie eintreten ?«
))In den Tempel ? diese da in der Ebene ? Doch
nicht. Es sind äusserliche Anbeter. Die Menge hier
ist in der Welt und von der Welt, hat aber doch
den Mut, hierherzukommen, oftmals wenn kein Licht
da ist und die eisigen Winde über die Ebene fegen.«
))Und hinein gelangen sie nie ? Wohl, m ein
Meister, sie haben keine Stärke.«
Iwan blickte rasch nach ihr um, mit einem
eigentümlichen Ausdruck in seinen Augen.
))Es ist nicht immer Stärke, was not tut<.<, sagte
er mit halblauter Stimme. Flita schien ihn nicht zu
hören, ihre Augen waren nach den Tempelfenstern
1 06 Die Blüte und die Frucht. VIII.

gerichtet. Plötzlich blieb sie stehen und rief aus :


))Ist es ein Traum ? «
>>Du schläfst nicht«, sagte Iwan lächelnd.
>>Schlafen ! nein ! « erwiderte sie und setzte ihren
\Veg m it wachsender Eile fort.
Sehr bald waren sie in der Ebene angelangt
und schritten unverweilt auf den Tempel zu. Flita
war von Natur unternehmend ; jetzt vollends schien
ihr der bl asse Gedanke an Müdigkeit schon wider­
sinnig. Ueber die höchsten Berge zu steigen wäre
ihr jetzt nicht zu viel gewesen, um dem Lichte zu
nahen. Was daran war es nur, das sie so anzog ?
Niemand als sie selbst hätte es sagen können.
Jedenfalls schlug ihr Herz bei seinem Anblick in
heissem V erlan gen. Iwan warf ihr einen teilnehmen­
den Blick zu.
>>Bleibe ruhig,« sagte er.
»Ja, Meister, wenn es in menschlicher Macht
liegt !« erwiderte sie mit nervösem Eifer in Ton und
Blick.
Die Massen sammelten sich dem Tempel zu
allmählich, und schweigend und fast bewegungslos
taten sich die einzelnen Gestalten zu Zügen zu­
sam m en . Flita war jetzt unter ihnen, und obwohl
völlig vertieft in den Gedanken an das Ziel vor ihr,
wurde sie doch auf diese Leute und ihr eigentüm­
liches Auss ehen aufmerksam. Sie gehörten allen
Altersstufen und Nationalitäten an, aber mehr als
z we i Drittel waren Männer ; samt und sonders hatten
sie das Ansehen von Schlafwandlern und schienen
schlechterdings nichts zu wissen vom Ort, an dem
sie waren, und vom Grunde, der sie hergeführt.
Ihre ganze Natur war nach innen gekehrt ; so schien
Die Blüte und die Frucht. VIII. 1 07

es Flita. Warum waren sie an diesen ungewöhn­


li chen, so schwierig z u erreichenden Platz gekommen,
wenn sie dann doch nichts zu sehen noch zu hören
vermochten ? Flita überlegte sich all das rasch in
ihrem Geiste und hätte gern eine Aufklärung von
Vater Iwan erbeten, aber während sich ihre Schritte
ein wenig verlangsamten, hatte er offenbar die seinen
be!?chleunigt. Hatte er schon die Türe des Tempels
erreicht ? - Als Flita eintraf, war er nicht da.
Demnach war er eingetreten und Flita legte ohne
Furcht und Zaudern die Hand auf die grosse Stange,
die das Tor zuhi elt, und hob sie aus. Sie war nicht
schwer zu heben, vielmehr schien sie der einfachen
Berührung nachzugeben und schwebte sachte zurück.
Einem leichten Druck öffnete sich das Tor ein wenig,
nicht viel, nur so weit, als sie es gehoben hatte.
Ah ! hier war das Licht ! Da , vor ihren Augen !
Für Flita war es Leben, war es Glück. Unver­
wandten Auges schaute sie auf zu ihm und blieb
eine Weile stehen m it gefalteten Händen und in
einem Zustand erhabener Verzückung.
Jemand streifte sie leicht, ging vorüber an ihr
und vollends hinein. Dies mahnte sie , dass auch
sie hineingehen wollte. Sie nahm ihren Mut zu­
sammen für diese letzte Kraftprobe. Denn sie war
genügend belehrt, um z u wissen, dass nur der Ini­
tiierte hier eintreten konnte ; und sie hatte äusserlich
noch in keinerlei Weise eine Einweihung durchge­
macht. Sie glaubte aber , innerlich in ihrer Seele
habe sich der Vorgang vollzogen. Sie hatte ihre
Gefühle nach j eder Richtu n g hin geprüft und ge­
funden , dass ihr die Welt nichts mehr galt ; sie
hatte ihre Maske weggeworfen in der Meinung,.
108 Die Blüte und die Frucht. VIII.

ihre weibliche Gestaltung und ihr Gesicht seien nur


ä ussere Erscheinungsmerkm ale, die im grossen Mo­
m ent unberücksichtigt bleiben werden. Und eben
j etzt sah sie kaum aus, als ob sie ein Weib wäre,
so verklärt war sie durch die Hoheit ihrer Be­
strebungen, und aussen an der Torschwelle blieb
einer in Ehrfurcht stehen , betroffen ob ihrer könig­
lichen Schönheit. In einem letzten Kampfe beschloss
sie, alles zu wagen - und alles zu gewinnen. Zu­
versichtlich schritt sie durch die Pforte und stieg
drinnen die weissen Marmorstufen hinauf. Eine weite
Halle lag vor ihr, überflutet von dem klaren, milden
Licht , nach dem sie sich so gesehnt ; unzählige
Gegenstände boten sich ihrem staunenden Auge dar,
aber s ie hielt sich nicht damit auf, sie zu betrachten.
Sie erriet es aus dem Gefunkel, dass die Wände
m it Edelsteinen geschmückt seien, erriet aus dem
Glanze und dem Farbenspiel, dass der Fussboden
mit Blumen übersät sei, die auf spiegelnden Silber­
platten lagen, - und wer waren die Gestalten in
Silbergewändern, auf der Spange vor der Brust das
Juwel, das einem strahlenden Auge glich ? . . . Sie
kamen auf sie zu ! . . . Nein, sie wollte sich nicht dem
Uebermasse des Frohlockens überlassen, sie suchte
sich zu beherrschen, doch jählings erfasste ein Jubi­
lieren ihr Herz, denn sie fühlte sich bereits als eine
dieser erlauchten Gemeinschaft. Aber als die sich
enger um sie scharten, waren ihre Gesichter alle
fremd und unbekannt. Sie sah von dem einen
zum andern . . .
»Wo ist Iwan ?« murmelte sie.
Mit einem Schlage war alles verändert. Der
weissen Gestalten wurden mehr, bis es Tausende
Die Blüte und die Frucht. IX. 109

schienen, und mit ausgestreckten Händen trieben


sie Flita die Stufen hinab, - hinab, hinab, hinab,
wie sehr sie sich auch sträuben mochte. Sie tat
noch mehr ; sie wehrte sich, sie kämpfte, sie schrie
laut hinaus, zuerst um Gerechtigkeit, dann um Mit­
leid. Aber da war kein Nachgeben, kein Erweichen
in diesen übermenschlichen Gesichtern. Flita floh
zuletzt vor der Ueberzahl und ihrer unerbittlichen
Härte, und dann liess sich ein lautes Rufen vieler
Stimmen hören, und tausendfach tönten die Worte :
>)Du liebst ihn ! Fort !«
Flita fiel betäubt und gebrochen am Fusse der
äusseren Treppe zusammen, und das mächtige Tor
schloss sich hinter ihr. Aber nur einige Minuten blieb
sie bewusstlos. Bald öffnete sie die Augen wieder
und blickte auf zum gestirnten Himmelszelt. Da
fühlte sie plötzlich, dass sie auch dieses Licht nicht
ertragen konnte, und dass die Sterne in ihrer Seele
lasen. Sie sprang auf und stürzte fort, blindlings
einen Pfad verfolgend, den ihre Füsse fanden. Er
brachte sie an keinen bekannten Ort. Sie sah sich
in einem dunkeln Walde ; das Moos war weich und
duftend, und Veilchen verbreiteten ihren Wohlge­
ruch. Sie legte sich nieder, umhüllte sich mit ihrem
weiten Mantel und barg die Augen vor dem Leuchten
der Sterne.

IX.

Es schien ihr, als sei sie schon lange Zeitalter


allein. Ihr Geist legte riesige Gedankenstrecken
1 10 Die Blüte und die Frucht. IX.

z urück, wie sie es sonst für etwas ihr Unmögliches


gehalten hätte. Sie sah ihre eigene Torheit, ihre
Irrung klar v o r sich. G estern hätte sie es nicht zu­
gegeben, gestern wäre es ihr noch unverständlich
gewesen. Aber sie durchschaute es jetzt und ver­
stand ausserdem, wie schwer und furchtbar ihre
Strafe war. Sie litt ja schon unter ihr, hilflos, wie
sie dalag, die Augen geschlossen, kraftlos der ganze
Körper. Das Strafgericht war da, sie hatte alle
Hoffnung, allen Glauben verloren.
Eine sanfte Berührung ihrer Hand erweckte sie
zum Be wusstsein, aber sie war z u teilnahmlos, um
die Augen zu öffnen. Es kümmerte sie wenig, was
oder wer in ihrer Nähe war. Der Kampf ihrer
Seele war jetzt das einzige Reale im Leben für sie.
Eine Stimme, die ihr auffallend bekannt vorkam,
schlug an ihr Ohr ; als sie dieselbe Stimme das
letztemal gehört hatte, war sie laut, heftig, anmassend
gewesen ; j etzt war sie zärtlich und weich unter
einem Uebermass von Ueberraschung und Mitleid.
»Prinzessin Flita ! Sie hier ? - Mein Gott ! Was
ist geschehen ? Sie kann doch nicht tot sein ? Nein !
Was ist es dann ?«
Flita öffnete langsam die Augen. Es war Hilary.
Sie lag im tauigen Gras , und Hilary kniete dabei ;
die Morgensonne beschien seinen Kopf und leuchtete
auf seinem schönen Knabengesicht Und wie nun
Flita in ihrem halbbewussten Zustand ihn so ansah,
da fühlte sie, sie sei um ein Unberechenbares älter
als er, und sie habe einen Reichtum an Kenntnissen
und Erfahrungen, der seiner Unerfahrenheit gegen­
ü b er unermesslich schien. Und hier lag sie, kraft­
los, hoffnungslos.
Die Blüte und · die Frucht. IX. 111

))Was ist Ihnen ?« forschte Hilary von neuem,


indem er mit jedem Augenblick unruhiger wurde.
>>Wünschen Sie das zu erfahren ?« fragte sie
freundlich und doch mit einer Gütigkeit im Tone,
die fast etwas Demütigendes hatte. ))Sie können es
nicht verstehen.«
))Ü sagen Sie es m ir !« bat Hilary. ))Ich liebe
Sie, lassen Sie mich Ihnen beistehen k<
Sie schien seine Wotie kaum zu . vernehmen,
aber seine eindringliche Stimme liess sie fortfahren
und antwotien.
))Ich habe gewagt, . . . und hab verloren. «
>)Gewagt ?« rief Hilary aus, ))Verloren ? 0 meine
Prinzessin , ich glaube , diese Teufel von Priester
haben Sie fieberkrank gemacht, - Sie wissen nicht,
was Sie reden !«
))Ich weiss es sehr gut«, erwiderte Flita, ))ich bin
nicht im Fieber. Halbtot bin ich, . . . zu verwundern
ist da nichts, denn ich habe Schiffbruch gelitten. «
Hi lary betrachtete s i e von neuem und erkannte, dass
ihre Worte wahr seien. Wie merkwürdig anzusehn
war diese Gestalt, wie sie so unbeweglich, als wäre
sie zerschlagen oder tot, dalag auf dem taufeuchten
Grase, angetan mit der weissen Gewandung. Auch
ihr Antlitz war weiss , von einer erschrecklichen
Weisse ; die grossen Augen blickten traurig, trost­
leer aus dem weissen Gesicht. Konnten diese blassen,
dünnen Lippen je wieder lächeln ? oder war die
strahlende, prunkende Flita für immer verwandelt
in dies gelähmte, sterbensfahle Geschöpf ? Hilary
wusste , selbst dann würde er sie lieben , noch
leidenschaftlicher und inniger als zuvor. Seine Seele
lechzte nach ihr.
112 Die Blüte und die Frucht. IX.

))Sagen Sie mir, erklären Sie mir, was ist vor­


gegangen ?« rief er aus, indem er in seinem heftigen
Schmerze fast keinen Zusammenhang m ehr frmd.
))Ich verlange es zu wissen, bei m einer Liebe zu
Ihnen. Was haben Sie zu tun gewagt in dieser
schrecklichen Nacht ?«
Flita öffnete die schwer herabgesunkenen Lider
und schaute ihn unverwandten Auges an, als sie
antwortete :
))Ich habe meine Hand nach den Insignien der
weissen Brüderschaft ausgestreckt, ich habe versucht,
die erste Weihe des Grossen Ordens zu erlangen.
Nicht im Traume dachte ich, es könne mir fehlen,
denn ich bin durch manche Weihen gegangen, denen
Männer mit Bangen entgegensehen. Aber . . . ich
bin unterlegen. «
))Sie, unterlegen ?« rief Hilary, >>ich kann es nicht
glauben, dass Sie in etwas unterliegen sollten. Si e
träumen, - Sie fiebern. Lassen Sie sich aufrichten,
lassen Sie sich von mir ins Haus tragen. «
)) Ja, ich bin unterlegen« , fuhr Flita m i t matter
Stimm e fort ; ))ich hatte die Stärke meiner Menschen­
natur nicht ermessen. Sie steckt in mir, noch ist
sie in mir ! ich bin dasselbe, was j edes andre Weib
im Lande. Und dünkte mich so erhaben, zu über­
m enschlichen Grasstaten fähig ! Ach , Hilary , die
erste einfache Lektion ist noch nicht gelernt. Ich
bin unterlegen , weil ich liebte, - weil ich liebe,
wie jedes andre unverständige , törichte Weib !
Und doch ist nur Ergebenheit und kein Funke einer
andern Art Liebe in meiner Seele. Das ist zu un­
geheuerlich. Ist es möglich , auch das noch abzu­
stossen? . . . Ja ; die von der Weissen Brüderschaft
Die Blüte und die Frucht. IX. 113

haben es vollbracht. Ich will es auch vollbringen,


und wenn's mich tausend Jahre kostet, ein Dutzend
Lebenszeiten k<
Sie hatte sich aufgerichtet, während sie sprach,
denn statt der dumpfen Hoffnungslosigkeit hatte eine
neue, gewaltige Begeisterung ihr Wesen ergriffen ;
s ie hatte sich auf die Füsse gestellt, aber unfähig,
zu stehen, war sie in die Kniee gesunken. Hilary
horchte, verstand aber kaum , nur einige ihrer Worte
fassten sein Gemüt. Er beugte sich herab, bis sein
Gesicht ihren weissen Mantel unten auf dem Grase
berührte, und küsste ihn unzählige Male.
))Sie haben um der Liebe willen verloren ? Ach '
meine Prinzessin, dann ist nichts verloren ! Um Liebe
lebt der Mensch, u m Liebe stirbt der Mensch ! Sie
ist das güldene Lebenselixier. 0 Prinzessin, lassen
Sie sich von mir w egführen von diesem schauder­
haften Platze, kehren Sie mit m ir zurück in die
Welt, wo Mähner und Frauen es wissen, dass Liebe
die eine hohe Seligkeit ist, um die alles übrige sich
leicht verschmerzt. Flita, solang ich zweifelte, ob
Sie mich lieben, war ich wie Wachs ; aber jetzt, da
ich weiss, dass Sie mich lieben, mit einer Liebe, so
mächtig, dass sie die Kraft hat, den Flug Ihrer Seele
aufzuhalten, jetzt bin ich stark, bin ich fähig, alles
zu tun, was ein starker Mann tun kann. Lassen
Sie sich aufrichten und hinwegbringen von hier
an eine Stätte des Friedens und des Glücks.«
Er hatte sich erhoben und stand vor ihr, bild­
schön im Morgensonnenschein. Er war zart von
Wuchs , aber gerade seine schlanke Figur zeigte
seine Kraft.
War Hilary Estanol seither verzärtelt, so war
8
1 14 Die Blüte und die Frucht. IX.

es nur, weil er sich nie die Mühe genommen hatte,


etwas anderes zu sein. Nun stand er gross und
stattlich vor ihr, die Hände nach ihr ausgestreckt ;
ein Mann, stolz, umgewandelt durch die Gewalt der
Liebe. Als Flita auf ihn blickte, sah sie in seinen
aufleuchtenden Augen das Feuer des sieghaften
vVilden. Sie raffte sich auf wie zur Abwehr.
))Sie sind i m Irrtum«, sagte sie schroff. >>Nicht
Sie sind es, den ich liebe.«
Und ebenso rasch, als Flita sich erhoben und
gesprochen hatte, war auch der Mann vor ihr mit
s e inem Edelsinn verschwunden und nur der Wilde
noch v erblieben ohne den Firnis menschlicher Ge­
sittung.
»Mein Gott«, keuchte Hilary, fast des Atems
beraubt von dem plötzlichen Schlag, ))dann ist es
dieser verwünschte Priester ?«
»Ja«, antwortete Flita, die Augen auf die seinigen
gerichtet, die Stimme verhalten, die ganze Gestalt
wie eine Statue so regungslos, »es ist dieser ver­
wünschte Priester.«
Sie liess ihn stehen und sah nach der Gegend.
Der Ort war ihr bekannt, sie befand sich in der
Waldung beim Kloster und konnte ihren Weg nach
Hause ohne Schwierigkeit finden. Und doch, wie
schwach sie war, und wie schwer ihr jede Be­
wegung fiel, die sie machen musste ! Nach ein paar
S chritten hielt sie an und versuchte, ihre Lebensgeister
zu wecken , ihren mächtigen Willen zur Geltung
zu bringen.
»Wo sind meine Diener ?« sprach sie mit ge­
dämpfter Stimme. »Wo sind sie, die meine Ge­
bote ausführen ?«
Die Blüte und die Frucht. IX. 1 15

Die Augen geschlossen, voll im Sonnenschein


stehend, bot sie ihre ganze Macht auf, um die Kräfte
zu rufen, die sie beherrschen gelernt hatte. Denn
sie war hinreichend geschult in der Magie , um
Herrin über mancherlei Geheimnisse d e r Natur zu
sein. Jetzt aber , schien es , war sie hilflos , -
ihre früheren Kräfte hatten sie verlassen. Ein ge­
presster, bittedieher Angstruf entfuhr ihren Lippen,
als sie die grässliche Tatsache erkannte. Hilary lief,
erschreckt durch den fremden Klang ihrer Stimme,
herbei und sah nun ihr Gesicht. Jene dunkeln,
kraftsprühenden Augen waren jetzt von einer Seelen­
angst erfüllt, wie man sie im Blicke der gehetzten,
sterbenden Kreatur sieht. Trotzdem wurde Flita
nicht ohnmächtig, noch klammerte sie sich an den
starken Mann, der neben ihr stand. Einen Moment
noch, und sie sprach mit schwacher, aber fester
Stimme.
))Kennen Sie den Weg zum Tore ?« fragte sie .
»Ja«, erwiderte Hilary, der in der Tat jüngst
das ganze Grundstück durchstöbert hatte.
))So nehmen Sie meine Hand«, sagte sie, ))Und
führen Sie mich !«
Sie verfügte jetzt wieder über ihre angeborene
Gabe, als Königin zu befehlen ; so elend sie war,
sie war die Prinzessin. Nicht im Traume kam es
Hilary in den Sinn, ihr den Gehorsam zu verweigern.
Er nahm die kalte, leblose Hand, die sie ihm hin­
hielt, und führte die Prinzessin so schnell, als es
möglich war, über das Gras durch die Bäume und
blühenden Sträucher auf den Weg zum Tore. Als
sie diesem nahekamen, sagte sie :
�Sie werden in die Stadt zurückkehren. Fragen
116 Die Blüte und die Frucht. IX.

Sie nicht warum, - Sie müssen ; doch soviel mag


ich Ihnen sagen, es muss sein Ihrer eignen Sicher­
heit wegen. Ich habe meine Kraft verloren, ich
kann Sie nicht mehr schützen, und es gibt Engel
und Teufel hier an diesem Ort. Ich habe alles
v e rloren, alles ! Und ich habe nicht das Recht, Ihr
Heil zu wagen, wie das meinige. Sie m üssen fort.<(
))Und Sie hierlassen ?« sagte Hilary bestürzt.
>>Ich bin sicher«, antwortete sie stolz. »Keine
Macht des Himmels o der der Erde kann mir jetzt
etwas antun, denn ich habe mein alles auf einen
Wurf gesetzt. Sie sollen es wissen, ehe wir schei­
den : ich werde nie nachgeben oder zurückweichen.
Ich werde diese Liebe, die mich um meine Kraft
bringt , austreiben aus meinem Herzen, - ich werde
eintreten in die Weisse Brüderschaft. Und auch du,
Hilary, wirst eintreten. Aber ach ! nicht j etzt. Bittre
Lektionen hast du noch zu lernen. Lebe wohl, mein
Bruder !«
Der Posten, der das Tor zu hüten hatte, näherte
sich j etzt auf seinem Rundgang. Flita trat rasch
auf ihn zu, und nachdem sie ein paar Worte mit­
einander gewechselt, blies der Mann in eine schrille
kleine Pfeife. Dann näherte er sich Hilary.
»Kommen Sie«, sagte er, ))ich will Ihnen ein
Stück weit den Weg zeigen und Ihnen dann ein
Pferd und einen Führer nach der Stadt besorgen.«
Hilary kam ohne Zögern Flitas Anordnungen
nach ; er wusste, er müsse gehen. Nur einmal noch
wollte er in ihr geheimnisvolles Antlitz sehen, aber
als er zurückblickte, war sie nicht mehr da. Er liess
den Kopf sinken und folgte schweigend dem Mönche
durchs Tor in das äussere, freie Waldgebiet. -
Die Blüte und die Frucht. IX. 117

Flita schleppte sich mittlerweile unter dem Schutz


der Bäume zum Haus zurück. Ihre Gestalt glich
der einer alten Frau , denn sie war fast zwiefach
gebeugt und zitterte bei j edem Schritt an allen
Gliedern. Sie vermied den Haupteingang des Hauses
und ging auf ein Fenster · zu , das bis zum Boden
herabreichte und jetzt offenstand. Es war das Fenster
ihres eigenen Zimmers ; sie hastete darauf zu, aber
ihre Schritte waren schwach und unsicher. Ruhe !
Ruhe ! Ich muss ruhen ! murmelte sie fortwährend
in sich hinein. Auf der Schwelle aber strauchelte
sie noch und fiel. Schon stand auch j emand bei ihr
und suchte ihr aufzuhelfen. Es war Vater Iwan.
Flita machte sich los, zitternd, aber bestimmt. Mit
Mühe erhob sie sich und blickte ihn sehr ernst an.
»Und Sie wussten, warum es mir misslingen
musste ?« sagte sie.
»Ja«, antwortete er, »ich wusste es. Sie sind
nicht so stark, um allein zu stehen vor dem Geiste
der Menschheit. Ich wusste, Sie verliessen sich auf
mich. Wohl hatten Sie schwer davon zu leiden.
Ich weiss, dass Sie sehr bald allein stehen werden.«
»Welchen Nutzen hätte die Maske gebracht ?«
fragte Flita, ihre eigenen Gedanken verfolgend.
>>Keinen. Hätten Sie mir nachgegeben und sie
getragen, so wären Sie noch zu verzagten Geistes
gewesen, hätten überhaupt den Tempel nicht erreicht,
geschweige denn die Weisse Brüderschaft gesehen.
Sie haben beides ausgeführt, und das ist mehr, als
j e ein andres Weib geleistet hat.«
»Ich will noch mehr tun«, sagte Flita. »Ich
will ihrer einer sein.«
>>Es sei so«, erwiderte Iwan. »Dann müssen
118 Die Blüte und die Frucht. X.

Sie leiden, wie noch keines Weibes Kraft vermochte.


D a s Menschentum in Ihnen muss zertreten werden
wie eine Viper unter unsern Füssen.<<
))Es soll geschehen. Ich m ag sterben, aber ich
will nicht innehalten. Einen letzten Gruss, mein
Meister ! Wie ich eine Königin in der Welt der
Männer und Frauen bin, so sind Sie ein König i n
d e r Welt d e r Seele ; und Ihnen habe ich gehuldigt.
Diese Huldigung nennen sie Liebe . . . Sie ist es
vielleicht. Ich bin j etzt blind , ich weiss es nicht.
Aber Sie werden mein König nicht länger sein. Ich
stehe allein, und all mein Wissen muss ich künftig
selber mir erringen.«
Iwan neigte sein Haupt, gleichsam als Zeichen,
dass er sich einem unanfechtbaren Beschlusse beuge,
und i m nächsten Augenblick schon schritt seine Ge­
stalt zwischen den Bäumen dahin. Flita starrte ihm
wie versteinert nach, bis er ihr aus den Augen war,
dann schleppte sie sich vollends hinein ins Zimmer,
um dort hilflos zu Boden zu fallen, aufschluchzend
in wilder Verzweiflung und bebend an allen Gliedern.

X.

Es war spät am Tage, als Flita wieder aus


ihrem Zimmer heraustrat. Sie schien ihr natürliches
Wesen und Aussehen wiedergefunden zu haben,
und doch war eine Veränderung mit ihr vorge­
gangen, die j eder, der sie gut kannte, wahrnehmen
musste. Sie war noch nicht in den gemeinsamen
Die Blüte und die Frucht. X. 119

Räumen gewesen, noch hatte sie die andern Gäste


begrüsst ; sie tat es auch jetzt nicht. Auf ihren
Mienen lag Entschlossenheit, aber sie blieb ruhig,
zum mindesten äusserlich. Ohne die Gastzimmer
zu berühren oder die grosse Vorhalle, schlug sie
einen Weg ein , der ums Haus herum zu einer
kleinen , in einem Winkel der Mauer versteckten
Pforte führte. Die Türe sah aus wie ein Keller­
eingang ; als Hilary die Nacht zuvor auf Kundschaft
ausging, hatte er sie kaum beachtet. Aber sie war
aussergewöhnlich massiv und war gut verschlossen.
Flita klopfte auf eine besondre Art mit einem Fächer,
den sie in der Hand hielt. Sogleich wurde ge­
öffnet, und Pater Amyot erschien.
»Bedürfen Sie meiner ?<< fragte er.
»Ja, ich brauche Sie. Sie sollen mir einen Auf­
trag bestellen.«
>>Wohin soll ich gehen ?«
»Ich weiss das nicht ; vermutlich wissen Sie es.
Ich muss einen von der Weissen Brüderschaft
sprechen.«
Amyots Gesicht verdüsterte sich, und er s chaute
sie misstrauisch an.
>>Was können Sie dort zu fragen haben, das
nicht auch Iwan zu beantworten im stande wäre ?«
»Kümmert Sie das ?« sagte Flita befehlerisch.
»Sie sind mein Bote, weiter nichts.«
»Sie können mir nicht mehr befehlen, wie seit­
her«, entgegnete Pater Amyot.
»Was ! Sie wissen, dass ich abgewiesen wurde ?
W eiss es die ganze Welt ?«
»Die Welt ? « wiederholte Amyot verächtlich.
»Nein, aber die ganze Brüderschaft weiss es, und
120 Die Blüte und die Frucht. X.

alle ihre Diener wissen es. Niemand hat es mir ge­


sagt, aber ich weiss es.«
»Natürlich k< sagte Flita zu sich selbst. »Wie
t öricht ich bin .« Sie wandte sich um und ging
auf dem Rasen hin und her, offenbar in tiefen Ge­
danken versunken. Plötzlich warf sie entschlossen
den Kopf zurück und trat auf Amyot zu, der, ohne
sich zu rühren, noch immer im dunkeln Schatten
unter der kleinen Pforte stand. Sie richtete ihre
Augen fest auf ihn ; sie leuchteten in innerem Feuer.
In ihrer Haltung schon lag ein B efehl.
>>Gehen Sie k< gebot sie.
Nur einen Augenblick noch zögerte Amyot auf
seinem Posten, dann k a m er bedächtig heraus und
schloss hinter sich ab.
))Sie haben einen verlorenen Schatz gehoben.
Sie haben Ihren Willen wiedergefunden, ich gehorche.
Haben Sie mir alles gesagt, was Sie wünschen ?«
>>Ja. Einen der Weissen Brüderschaft muss ich
sprechen. Kann ich m eh r sagen ? Ich kann die
Brüder nicht unterscheiden. Vor allem, machen Sie
schnell !«
Alsbald schritt Amyot über den Grasboden weg
und verschwand. Flita entfernte sich langsam, zu
tief in Gedanken, um zu bemerken, dass jemand in
ihrer Nähe war, bis eine Hand leicht ihren A rm be­
rührte. Sie blickte auf und sah den jungen König
Otto vor sich.
>>Sind Sie krank gewesen ?« fragte er mit einem
b esorgten Blick auf ihr Gesicht.
»Doch nicht«, antwortete sie. »Ich habe nur rasch
gelebt, - ein Jahrhundert an Erfahrung in einer
Nacht ! Soll ich Ihnen davon erzählen, mein Freund?«
Die Blüte und die Frucht. X. 121

»Vielleicht besser nicht«, antwortete Otto, der


nun beruhigt neben ihr herging. »Ich würde Sie
doch nicht verstehen. Ich halte vor allem darauf,
nur allm ählich vorzugehen und jede Wahrheit zu
nehmen, wie sie sich jeweils bei mir einstellt. Ich
habe m ich heute des längern mit Pater I wan aus­
einandergesetzt Ich fühle, dass ich die Lehren des
Ordens vorerst nur soweit verstehen kann, als die
Religion sie erläutert.«
»Die Religion ?« sagte Flita. »Sie ist aber doch
bloss eine Aeusserlichkeit k<
>>Wohl wahr, und mit dem Verstand erkenne
.
ich es auch. Aber ich bin nicht stark genug, um
zu stehen, ohne mich an irgend eine äussre Form
anzulehnen. Die Vorschriften der Religion , die
Pflicht des einzelnen gegen die Menschheit , der
Grundsatz der Aufopferung des einen für den andern,
diese Dinge kann ich verstehen. Darüber hinaus
vermag ich nicht zu gehen. Sind Sie enttäuscht ?«
»Durchaus nicht«, antwortete Flita. »Warum
sollte ich es sein ?«
Otto schien erleichtert aufzuatmen. »Ich be­
fürchtete es«, erwiderte er, ))aber ich zog vor, ehrlich
zu sein. Flita , ich bin bereit, ein Mitglied des
Ordens zu sein, ein ergebenes Mitglied der äusseren
Bruderschaft. Wie weit wird mich das von Ihnen
entfernen , die Sie unter den Weisen der innern
Brüderschaft Ihren Platz beanspruchen ?«
Flita schaute ihn sehr ernst und feierlich an.
»Ich strebe ihn an«, sagte sie, ))aber ob er mir
schon gebührt ? Gewinnen werd ich ihn mir noch,
Otto ; und wär es um den höchsten Preis, ich will
ihn mir erwerben.«
1 22 Die Blüte und die Frucht. X.

»Und um welches Opfer ?« fragte Otto. »In


was besteht dieser höchste Preis ? «
»Ich glaube«, sagte sie, »ich fühle schon, worin
er besteht. Ich muss lernen, in der Ebene so zu­
zufrieden zu leben wie auf den G ipfeln der Berge.
Mich verlangte sehnlichst, meinen Platz i n der Welt
mit den Höhen zu vertauschen, auf denen nur die
wenigen Grossen der Erde wohnen, und von diesen
das Geheimnis zu erlernen, wie ich endlich dem
Erdenleben völlig entrinnen möchte. Das, Otto, ist,
in einfachen Worten ausgedrückt, mein Traum ge­
wesen ; der alte Traum der Rosenkreuzer und jener
nach dem Nichtsichtbaren Hungernden, die immer
w ieder die Welt unsicher machten , Gespenstern
gleich, unbefriedigt, heimatlos. Da ich ein Geschöpf
v o n starkem Willen bin, da ich diesen Willen be­
wusst anwenden gelernt habe, da ich in etlichen
Kunststucken der Magie unterwiesen worden bin,
glaubte ich mich v o rbereitet für die Aufnahme in die
W eisse Brüderschaft. Gut, dem ist nicht so, die
Note reichte nicht. Ich werde Ihre Königin sein,
Otto.«
Der junge König schaute auf, ein Gemisch von
G efühlen in den Mienen. »Ist das Ihr Ernst, Flita ?
So will ich Ihnen ein würdiger Gefährte sein.«
Flita hatte wohl bitter, aber nicht unfreundlich
gesprochen. Ottos Entgegnung klang eigentümlich,
Triumph lag darin, Ehrerbietung, Frohlocken, aber
nicht eine Spur von dem, was Leidenschaft und
Liebe heisst. Eine kokette Frau wäre über ein so
ausschliesslich freundschaftliches Verhalten empört
gewesen.
»Ütto«, sagte Flita nach einer kleinen Pause,
Die Blüte und die Frucht. X. 1 23

während der sie miteinander weiter geschritten


waren , »ich muss Ihre Grassmut auf die Probe
stellen. Würden Sie mich jetzt allein lassen ?«
»Meine Grossmut ?« rief Otto aus. »Wie mögen
Sie so reden ?« Ohne j edes weitre Wort zur Sache
machte er Kehrt und ging einfach seiner Wege.
Flita verstand sehr gut, wie er das meinte ; sie
lächelte zutraulich, während sie ihm eine Strecke
weit nachsah. Als er aber fort war , än d erte
sich ihre Miene und Haltung von Grund aus. Eine
kleine Weile noch blieb sie ruhig auf derselben
Stelle, wie in Gedanken verloren. Dann machte sie
sich auf, schritt sicher und hurtig über den Rasen und
hernach ebenso sicher zwischen den Bäumen hin­
durch. Einmal im Gang, zeigte sie kein Zögern mehr
der Richtung wegen, die sie nahm. Und wäre sie
gefragt worden, woher sie den Weg wisse , so
hätte sie geantwortet , dass er sehr leicht zu
zu finden sei. Denn sie wurde durch den unmittel­
baren Ruf Amyots geleitet, der ihr so deutlich zu
Gehör kam wie eine menschliche Stimme, obschon
er nur ihrem innern Ohre vernehmbar war. Flita
war sich des doppelten Lebens bewusst, des spiri­
tuellen und des natürlichen. Auch jenes war für
sie ein Gegenstand unausgesetzter Erfahrung, und
deshalb benötigte sie nicht die Stunden dunkler
Mitternacht, um eine Stimme aus der Welt zu ver­
nehmen, die von gewöhnlichen Menschen die un­
sichtbare genannt wird. Für Flita war diese Welt
nicht unsichtbar und nicht unhörbar. Ueber Raum
und Zeit hinweg sah sie auch den Ort, wo sie am
Ende ihres raschen Laufs Amyot finden, und zu­
gleich die Umstände, unter denen sie ihn treffen
1 24 Die Blüte und die Frucht. X.

werde. Die strahlende Sonne schien mit voller


Kraft auf die seltsame Gestalt des Mönchs, der starr
und steif auf dem Gr2.se lag. Flit a hielt still und
schaute zu ihm herab in sein dem Firmamente zu­
gekehrtes Angesicht. Eine kleine Weile unternahm
sie nichts, sondern blieb in ihrer Stellung, die Stirne
gerunzelt, die dunkeln Augen erregt von wechseln­
den Empfindungen. Amyot befand sich in einem
seiner tiefen Trancezustände , während deren er,
obschon nicht tot, aussah wie ein Toter.
»Schon häufen sich die Schwierigkeiten ringsum« ,
rief Flita laut. ))Was für eine Torheit werde ich
da nächstdem ohne mein Wissen und Wollen
machen ? Mein armer Diener ! - soll ich wagen,
dich ins Leben zurückzurufen, oder wird dir die
Natur eine si chrere Freundin sein ?«
Voll Zweifel und Unschlüssigkeit wandte sie
sich zögernd weg und begann neben der Gestalt
des Priesters auf dem Rasen auf und ab zu gehen.
Mit einem Male spürte sie, sie war nicht allein -,
j emand war in ihrer N ähe. Sie stutzte und schaute
sich rasch um. Iwan stand ihr kaum auf Schritt­
länge gegenüber und sein Blick heftete sich voll
E rnstes auf sie.
Er trug nicht sein Priestergewand, sondern ein
b e quemes Waidmannskostüm, wie es der Jagdlieb­
haber zl! bevorzugen pflegt, oder der König, wenn
er unerkannt sein will. Der Anzug war einfach
und a us grobem Stoff gefertigt, aber sein gefälliger
S chnitt zeigte die wundervolle Figur Iwans, die in
der Mönchskleidung nicht zur Geltung gekommen
war. Sein Gesicht hatte einen hohen, fast erhabe­
n e n Ernst, war aber so anziehend, so fein geformt,
Die Blüte und die Frucht. X. 125

und so hervorragend verschönt durch die tiefen


blauen Augen, deren Farbe gerade im vollen Sonnen­
licht noch ausgesprochener war als sonst, dass er
in d er Tat, so wie er hier stand, einfach als Mann
genommen, das Herz einer jeden Frau, Königin oder
nicht, zu höherem Schlag begeistern musste. Flita
hatte ihn noch nie so gesehen ; für sie war er immer
der Meister gewesen, der Adept des Geheimwissens,
der Einsiedler, der seine Liebe zur Einsamkeit unter
der Mönchstracht verbarg. Dies war Iwan ! Jung,
stattlich, ein Mann, den man lieben m usste ! . . Flita
behielt ihre ruhige, schweigende Haltung und be­
gegnete diesen ernsten , fragenden blauen Augen
mit einem vorsätzlich rebellischen Blicke. So ver­
harrten die beiden ein paar Sekunden Auge in Auge,
ohne zu sprechen, offenbar auch ohne allen Wunsch,
zu sprechen. Aber in dieser Sekunde des Schwei­
gens massen sich ihre Kräfte. Flita begann zuerst.
)) Warum sind Sie gekommen ?« fragte sie. ))Ich
habe nicht Si e gewünscht.«
))Sie haben Fragen zu stellen, die nur ich be­
antworten kann.«
))Sie sind der einzige, der meine Fragen nicht
beantworten kann, denn Ihnen kann ich sie nicht
sagen.«
))Ich bin's, an den Sie die Fragen stellen müssen«,
war Iwans ganze Antwort. Dann fügte er bei :
)) Von mir haben Sie die Antworten zu empfangen.
Sie können vorziehen, sie durch Erfahrung zu lernen
und blindlings. Entscheiden Sie sich, zu sprechen,
so wird Ihnen in Worten Auskunft gegeben. Dies
wird Ihnen viele Mühe ersparen und Jahre sonst
verlorener Zeit retten. - Sind Sie zu stolz ?«
126 Die Blüte und die Frucht. X.

Es folgte eine Pause. Dann erwiderte Flita mit


Nachdruck : ))Ja, ich bin zu stolz.«
Iwan verneigte sich und ging. Vor Pater Amyot
blieb er stehen, nahm ein Fläschchen aus der Tasche
und brachte eine Flüssigkeit auf des Mönches weisse,
starre Lippen.
»Ich v erbiete Ihnen«, sagte Iwan, ))Ihre Macht
über Amyot wieder zu gebrauchen.«
»Sie verbieten es mir ?« wiederholte Flita mit
dem Ausdruck höchsten Erstaunens. Offenbar war
ihr eine solche Sprache neu.
»Ja ; und Sie werden nicht wagen, mir unge­
horsam zu sein. Sind Sie es doch, so werden Sie
unaufhaltsam zu leiden haben.«
Flita gab durch Gebärden eine Ueberraschung
kund, die in Worten auszudrücken offenbar über ihr
Vermögen ging. Iwans Haltung war kalt, beinahe
barsch. Nie war er ihr bis jetzt anders als mit Güte
begegnet. Rasch fasste sie sich wieder, und ohne
ein weiteres Wort an ihn zu richten, brach sie auf
und ging eilig durchs Gehölze zurück zum Hause.
Sie sah Otto an einem der Fenster stehen und
s chritt auf ihn zu.
»Ich möchte sofort nach der Stadt fahren«, sagte
sie, >>wollen Sie mir die Pferde bestellen ?«
»Darf ich mit Ihnen kommen ?«
»Nein, aber wenn Sie wollen, können Sie mir
morgen folgen.«

* *
*
Die Blüte und die Frucht. XI. 127

XI.

Es war Prinzessin Flitas Hochzeitstag und die


Stadt trug ihr festlichstes Gewand.
Hilary Estanol lief durch die Strassen wie ein
besinnungsloses Geschöpf. Er hatte die Prinzessin
nicht mehr zu Gesicht bekommen seit dem Tage,
wo er von dem geheimnisvollen Kloster zurück­
kehrte. Er durfte sich nicht getrauen, ihr zu nahen,
fühlte er doch, dass der Wilde in ihm töten musste,
zerstören musste, wenn ihm allzustarke Zumutungen
gemacht wurden.
Er behielt diesen Wilden unter Aufsicht, so gut
er konnte. Er hätte sich nicht unter ein und das­
selbe Dach gewagt mit der Frau, die er liebte wie
nichts sonst im Leben, und die ihre Liebe ihm ge­
schenkt hatte, während sie einem andern Manne sich
selbst schenkte. Sich selbst ! Wie viel das sagte,
schien Hilary erst jetzt zu erkennen, jetzt, da er
ihrer Hochzeitsglocken Klang härte , jetzt, da sie
endgültig vergeben war. Ja, sie hatte sich an einen
andern Mann verschenkt. War es möglich ? Wieder
und wieder blieb Hilary inmitten der menschen­
vollen Strasse stehen und suchte sich die Worte zu
wiederholen, die sie in dem Eibenhaine an jenem
Morgen an ihn richtete, als sie seine Liebe annahm.
Was hatte sie ihm damals genommen ? Er war seit­
her nie mehr der alte gewesen. Sein Herz lag kalt,
erstarrt und unempfindlich in ihm , solange nicht
ihr Lächeln oder die Erinnerung daran ihn zu Leben
und Freude erweckte. War Leben und Freude dahin
128 Die Blüte und die Frucht. XI.

für immer ? Unmöglich ! Er war noch jung, schier


noch ein Knabe. So viel konnte sie ihm doch nicht
entrissen haben ! Nein, er hatte ältere Rechte, er
wollte ihr Geliebter sein jetzt und immer, wer ihr
nun auch seinen Namen gab. Dies war der Schluss,
auf den Hilary fortwährend zurückkam. Unzweifel­
haft war sie sein, und er wollte sie beanspruchen.
Aber so verdunkelt und überreizt sein Gemüt war,
hatte er doch hinreichend Einsicht, um zu erkennen,
dass sein Anspruch, wenn er auch über jedem an­
dem stand, ein geheimer sein musste. Er konnte
nicht hintreten an den Altar und sie die Seine nennen,
denn sie hatte ihm kein Recht hierzu gegeben. Was
sie sagte, lautete : »Alles, was du nehmen kannst
von mir, sei dein«. Wohl, zu seinem Weibe konnte
er sie nicht machen. Eine königliche Prinzessin
konnte er nicht heiraten. Ihr Rang war ein andrer
als der seine. Also -- was konnte er da noch
weiter erhoffen ? Nichts. Und doch, er besass ihre
Liebe ; ja, der liebe letzte Druck ihrer Hand, das
letzte trauliche, freundliche Lächeln auf ihren Lippen
- sie begleiteten ihn noch, noch jagten sie ja sein
Blut im Aufruhr durch seine Adern.
Endlich kommt der Zug. - Die Soldaten haben
schon die Strassen gesäubert u n d drängen mit ihren
Pferden die Menge zurück. Nun bleibt auch Hilary
stehen, regungslos wie ein Bild aus Stein ; nach dem
einen Antlitz nur späht er. Er sieht es plötzlich -
ab ! wie schön, wie erhaben schön, wie geheimnis­
voll ! - und alles, Himmel und Erde verschwinden
für ihn, sind nicht mehr da vor dem einen teuren
Antlitz. Eine Stimme durchgellt die Luft, deutlich,
laut, die andern Stimmen alle übertönend.
Die Blüte und die Frucht. XI. 129

»Flita ! Flita ! Meine Liebe ! meine Geliebte!«


Was für ein Aufschrei ! Er drang zu Flitas
Ohren, er erreichte das Ohr ihres Bräutigams.
In der Kirche, mitten unter dem Gepränge der
feierlichen Handlung und dem Gedränge der Massen,
tat Otto etwas für die Umstehenden im höchsten
Grade Auffälliges. Er ging zur Braut hin und be ­
rührte ihre Hand.
»Flita«, sagte er, »diese Stimme war die Stimme
eines, der Sie liebt. Weiche Antwort geben Sie
mir darauf?«
Flita legte ihre Hand in die seinige.
»Dies meine Antwort.«
Und dann stiegen sie die breiten, niedem Stufen
hinan zum Altare. Niemand hörte das Gespräch
als der König.
Flitas Vater war ihr auffallend unähnlich. Er war
ein schroffer, einsilbiger, finsterer Mann, schlecht zu
sprechen, wie es schien, auf die ganze Menschheit,
mit Ausnahme der wenigen, die den Schlüssel zu
seinem Wesen besassen. Zu diesen gehörte seine
Tochter, ja manche meinten , sie sei die einzige.
Andere wollten wissen , ihre Macht gründe sich
darauf, dass sie überhaupt nicht seine Tochter, son­
dern das Kind anderer Eltern sei, und hinter dem
Rätsel ihrer Geburt stecke ein Staatsgeheimnis.
Jedenfalls war es in der Tat selten, dass der
König sich mit Flita befasste. Aber jetzt geschah
es, hier, unter den Augen des gesamten Hofes.
Er stand neben ihr und sprach ihr leise ins Ohr.
»Flita, ist diese Heirat recht ?«
Flita zeigte ihm ein Gesicht so voll Qual, so
9
1 30 Die Blüte und die Frucht. XI.

voll tödlicher Verzweiflung, dass er einen Laut des


Schreckens ausstiess.
))Sprich kein Wort, mein Vater ; sie ist recht«,
erwiderte sie.
Und dann wandte sie sich wieder ihrem Bräutigam
zu und richtete ihre herrlichen Augen auf Otto.
Was für eine seltsam schöne Braut sie war !
Gekleidet war sie ungewöhnlich einfach ; ihr Ge­
wand h atte sie eigenhändig in fliessende, edle Linien
geordnet, die vom Nacken herab bis zu ihren Füssen
li efen, und eine lange Schleppe lag hinter ihr auf
dem Boden, aber ohne Stickerei, ohne Spitzen. Sie
trug keine Blumen im Haar , um den Hals keine
Juwelen. Nie war eine Prinzessin so prunklos ge­
kleidet gewesen, eine Prinzessin, die Königin wurde.
D ie Damen des Hofs waren sprachlos vor Erstaunen.
Aber sie wussten es gut : eine so hervorragende
Anmut, eine so vornehme Würde war diesem Königs­
kinde zu eigen, dass sie auch im bescheidensten An­
zug doch alle an Glanz übertraf und jegliche Frau
an ihrer Seite überstrahlen musste.
Niemand härte etwas von dem, was sich zwischen
den drei Hauptbeteiligten dieser Szene zugetragen ;
aber jedermann witterte Ungewöhnliches. Ein Etwas
lag in der Luft, ein Rätsel, eine Spannung, etwas
Ausserordentlich e s . Und doch, wie hätte es anders
sein können, wo Prinzessin Flita mit im Spiele
war ? An ihres Vaters Hofe war sie als ein wildes,
launenhaftes, herrisches Geschöpf angesehen, dessen
Willen niemand entgegentreten konnte. Wenige
h ätten sich gewundert, wenn es geheissen hätte, ihr
Wagen sei über di e Leiche eines erklärten, jetzt
bei Seite geworfenen und abgedankten Liebhabers
Die Blüte und die · Frucht. XI. 131

hin weggefahren. S o legten dieLeute Flitas Charakter


aus. Otto wusste das, fühlte und verstand es ; e r.
wusst e , dass diese ränkelustigen , gefallsüchtigen
Naturen noch m ehr gelästert hätten , wären sie
von Flitas Tugenden so überzeugt gewesen wie er.
Für ihn war sie rein , m akellos , unerreichbar, an
Seele und Denkart jungfräulich. Dies sagte er ihr,
als sie beim V erlassen des Domes allein miteinander
in den Wagen stiegen. Sie hatten zusammen eine
Unmenge Gratulanten abgeschritten, Adlige, Damen
von Rang, Diplomaten aus verschiedenen Ländern
Europas. Sie hatten huldvoll genickt und gelächelt
und leutselig die an sie gerichteten Worte erwidert.
Doch wie weit abseits hiervon waren die ganze
Zeit ihre Gedanken ! Keines von beiden wusste,
vor wem sie gestanden, zu wem sie gesprochen
hatten. Alles ging unter in einer einzigen Idee,
wenn es auch nicht bei beiden dieselbe war. Nein,
wahrlich, ihre Vorstellungen lagen so weit ausein­
ander wie die Pole.
Flita war erfüllt v o m Bewusstsein eines ge­
waltigen Vorhabens. Diese Heirat war nur die
Anfangsnummer in einem Riesenprogramm. Ihre
Gedanken aber waren bereits über die Einleitung
weg zum Schlusse geflogen und weilten bei der
Lösung, ähnlich wie ein Künstler schon mit dem
ersten Skizzenstrich in seinem Geiste das fertige
Gemälde sieht.
Otto dagegen hegte nur einen einzigen über­
mächtigen Gedanken , einen recht einfachen , der
gleich in den ersten Worten Ausdruck fand, als sie
allein waren.
))Flita, Sie wähnten doch nicht, dass ich an
1 32 Die Blüte und die Frucht. XI.

Ihnen zweifelte ? D as kam mir nicht in den Sinn.


Und doch war mir, als liege ein Vorwurf in Ihren
Augen. Nein, Flita, das nie ! Aber die Stimme w ar
so schrecklich , - sie schnitt mir ins Herz . . .
Sie meinten doch nicht, ich hege Zweifel ! - be­
ruhigen Sie mich, Flita k(
))Nein, ich dachte das nicht«, erwiderte Flita ge­
lassen. »Sie wissen , wessen Stimm e es war.«
))Nein, das war nicht zu erkennen, - nichts
war's, als der Schmerzensschrei eines Gemarterten.«
))Ich dagegen, ich wusste es«, sagte Flita. ))Es
war Hilary Estanol, der meinen Namen rief.«
))Er rief ,Flit a , meine Liebe, meine Geliebte' . . .
Hat er das Recht ?«
))Ja«, erwiderte Flita, ohne jegliche Befangenheit,
sogar unnatürlich ruhig. ))Er hat das Recht. Mehr
noch, Otto ; er hat mich vor vielen Jahrhunderten
schon geliebt, als diese Erde noch ein ganz anderes
Aussehen trug, als ihre Oberfläche - samt uns -
noch ursprünglich und sich selbst überlassen war.
Damals spielten wir dasselbe Stück ; wir drei, Alan,
haben es in Szene gesetzt, ohne diesen Pomp zwar,
aber in der natürlichen Pracht wilder Schönheit und
wolkenloser Himmel. Otto, damals habe ich ge­
sündigt . . . und gebüsst für meine Sünde. Wieder
und wieder habe ich für sie gebüsst. Wieder und
wieder hat mich die Natur für mein Vergehen an
ihr bestraft. Jetzt endlich weiss ich mehr, seh und
verstehe ich mehr ; aber die Sünde bleibt. Ich wollte
nehmen, für mich besitzen, eine Siegerin sein . . .
Ich siegte, habe seither fort und fort gesiegt ! Ach,
wie oft ! Das gerade ist m eine Sühne gewesen :
der Ueberdruss ! Nun aber will ich nicht länger
Die Blüte und die Frucht. XI. 133

geniessen. Ich will über Irrtum und Torheit stehn,


will daraus die Kraft gewinnen, die mich über die
armselige kleine Schaubühne erheben wird, wo wir
immerfort die nämlichen Stücke spielen im albernsten
Ueberdruss wiederkehrender Leben.«
Otto bog sich vor und sah sie sich aufmerksam
an, während sie sprach und in ihrer v erhaltenen
Stimme Leidenschaft und Heftigkeit immer mehr
wuchsen. Als sie schloss, griff er mit der Hand
nach der Stirne.
»Flita<-< , fragte er, »treiben Sie eines ihrer Zauber­
spiele mit mir ? Während Sie redeten, sah ich Ihr
Gesicht sich verwandeln in ein anderes, das ich
kannte . . . . in · fernen Zeiten, weit zurück ! Ich
roch den ausgesprochnen , vollen Duft zahlloser
Obstblüten. - Flita, sagen Sie mir, träumen und
fabulieren Sie, oder ist das etwas Wahres ? Hab
ich vordem für Sie gelebt, Sie geliebt, Ihnen ge­
dient, Zeitalter zurück, als die Welt noch in ihrer
Jugend stand ?«
»Ja«, erwiderte Flita.
»Ah k< rief Otto mit einem Male, >>ich fühle
es, . . . es ist Blut an Ihnen . . . Blut an Ihrer
Hand !«
Flita hob ihre schöne Hand und schaute sie mit
einem Ausdruck unsäglicher Trauer an.
»Es ist so«, sagte sie darauf. »Es klebt Blut an
ihr, wird dran kleben bleiben, bis ich über dem B e­
reich von Blut und Tod stehe . . . Damals beherrsch­
ten Sie mich, Otto ; Sie triumphierten durch brutale
Gewalt, ohne zu wissen, dass eine Kraft in mir lag,
von der Sie sich nichts träumen liessen : ein zu
Leben und Tatkraft erwachter Wille. Ich konnte
134 Die Blüte und die Frucht. XI.

Sie zermalmen. Aber schon einmal hatte ich m einen


W i llen gebraucht, und gekostet, welch bittres , unbe­
r e chenbares Leid das bringt. Ich beschloss , die
Natur beobachten und verstehen zu lernen, ehe ich
wieder m eine Macht ausübte. So unterwarf ich
m i ch Ihrer Tyrannei. Sie fanden Gefallen an ihr,
i m Verlauf mancher Leben immer mehr. Schliesslich
hat sie Ihnen eine Krone eingebracht, e inen Haufen
Soldaten zu ihrem Schutz, und ein halbes Dutzend ver­
schmitzter alter Diplo m aten, die Ihren Thron stützen,
weil sie ihn brauche n , und weil sie h offen , Ihr
Handeln just nach den Wünschen ihrer eigenen
Monarchen modeln zu können. Setzen Sie Ihre
Puppen in Bewegung, Otto. Mir steht solch König­
t u m nicht an. Mich lüstet , meine eigne Krone zu
g ewinnen. Königin über Seelen will ich sein, nicht
über Leiber ; eine Königin in der Tat, und nicht dem
Namen nach.«
Es war , als habe sie eine undurchdringliche
Aura aus Hohn und Missachtung um sich geschaffen,
als sie zu reden aufhörte und sich im Wagen zurück­
lehnte.
Otto zitterte vor Wut. Endlich fand er Worte ;
aber der Mann war umgewandelt, ein ganz anderes
Wesen. Unter dem vornehmen S chliff, unter der
g eschmeidigen und glatten Aussenseite brach un­
bändiger Trutzgeist hervor.
))Sie schmälen auf die Krone, derentwillen Sie
mich gefreit ? Ist es so ? Brav ; ich werde Sie lehren,
s i e zu respektieren.«
Ein Lächeln huschte auf in Flitas schwermütigem
Gesicht, und dann war's auch schon wieder weg.
- Das war die ganze Antwort, die sie der königlichen
Die Blüte und die Frucht. XI. 1 35

Drohung zubilligte. Es machte Eindruck auf ihn,


er mass sie lange mit seinen Blicken.
))Ein herrliches Geschöpf«, sagte er, ))Schön und
mit einem Gehirn wie von Stahl ; und das Herz, so
viel ich merke, ist ebenso. Sie haben mir ein gut
Teil abgewonnen in dieser Spanne Zeit. Liess ich
mir nicht den Mummenschanz Ihres geheimnisvollen
Ordens gefallen ? Habe ich nicht Ihren betrügerischen
Mönchen mein Leben anvertraut und mich darein
gefügt , mir die Augen verbinden und mich auf
Schleichwegen in ihren Schlupfwinkel führen zu
lassen ? Und für was ? Iwan redete an mich hin
von hohen Bestrebungen, Ideen, Gedanken, die nur
meine Seele ankränkelten und mich höchstens mit
Scham und Oede erfüllten , denn ich glaube an
Ordnung, eine moralische Norm, eine göttliche Welt­
regierung, wie unsre Religion sie lehrt. Ich sagte
Ihnen zu, ein Mitglied des Ordens zu werden ; ja,
weil meine Natur sich von seinen öffentlich ver­
kündeten Grundsätzen sympathisch berührt fühlt.
Aber seine geheimen Lehren, wie ich sie von Ihnen
gehört habe, muss ich für verwerflich halten. Und
an so etwas, wie die Förderung dieser unseligen
Forschung und Lehre, beabsichtigen Sie, Ihr Leben
zu rücken ? Nein Flita ; Sie sind jetzt meine Königin.«
))Ja«, sagte Flita, ))ich bin jetzt Ihre Königin.
Ich weiss das. Freiwillig habe ich das Los erwählt.
Sie haben nicht nötig, mir noch einmal zu sagen,
dass ich jetzt die Krone trage, die ich zu erheiraten
bezweckte.«
In diesem Augenblick fuhren sie am Palaste vor.
Hier wartete ihrer die Last vorschriftsmässiger
Aeusserlichkeiten und nichtiger Höflichkeitsformali-
136 Die Blüte und die Frucht. XI.

täten, denen sie sich unterziehen mussten, ehe wieder


an ein Alleinsein zu denken war. Otto kehrte zu
der gefälligen und entgegenkommenden Art zurück,
d i e man sonst an ihm gewöhnt war. Flita verfiel
in eine ihrer unnahbaren Launen, und der Hof griff
zu seiner für diese Fälle erprobten Taktik, - er liess
sie unbehelligt. Wenige gelüstete es nach den
spöttischen Abfertigungen , die ihr so prompt von
den Lippen flossen , wenn sie aus einer solchen
Stimmung aufgestört wurde.
Schliesslich aber wagte es doch einer, sie zu
stören, - und siehe da ! ein Lächeln kam auf ihre
Lippen, köstlich wie hervorbrechender Sonnschein.
Es war Hilary Estanol. Bleich, vergrämt, eher
sein Geist als er selbst, die dunkeln Augen unheimlich
gross in dem blassen Gesicht. Sie starrten auf Flita,
wie wenn es sonst in der Welt nichts andres an­
zusehen gäbe .
Flita reichte ihm die Hand hin ; sein Geleitsmann,
ein Offizier vom Dienst, der ihn mit Widerstreben
und nicht ohne Bedenken hergebracht - denn Hilary
hatte keine Freunde bei Hof -, zog sich erstaunt
zurück. Nun verstand er Hilarys Hartnäckigkeit.
Hilary bückte sich nach Flitas Hand und brachte
ihr seine Lippen einen Augenblick nahe, aber ohne
sie zu berühren. Ein Laut wi e ein Schluchzen traf
Flitas Ohr.
»Sie haben mir entsagt ?« fragte sie mit leiser,
v ibrierender Stimme.
»Sie haben m ich abgetan«, erwiderte er.
>>Vielleicht«, fuhr sie fort, »aber Sie haben es
überstanden und begehren jetzt nichts m ehr. Ist es nicht
s o ? Ich lese es in der stummen Klage Ihrer Augen.«
Die Blüte und die Frucht. - XI. 137

>>Ja«, sagt� Hilary, indem er nun aufrecht und


in voller Haltung neben ihr stand und den Blick auf
ihrem schönen dunkeln Haar ruhen liess. ))Es ist so.
Ich mag nicht um den Mond jammern, noch je einem
Weibe den Tag lang machen mit meinen Seufzern
und mit Flehen, selbst Ihnen nicht, wiewohl es keine
Unehre schafft, zu den Füssen eines Wesens wie
Sie den Staub zu küssen. Nein, ich will mein Elend
leiden wie ein Mann. Ich kam her , um Abschied
zu nehmen. Noch sind Sie die Flita, die ich liebte,
morgen werden Sie es nicht mehr sein.«
>)Wie können Sie das sagen ?« entgegnete sie
mit ihrem unergründlichen Lächeln. ))Doch mich
deucht, Sie haben recht. Und da wir nün nicht
länger mehr ein Liebespaar sind, - wollen Sie einen
andern Bund mit mir eingehen ? Wollen Sie m ein
Kamerad sein für die Erfüllung der grossen Aufgabe ?
Ich weiss, Sie sind furchtlos.«
))Die grosse Aufgabe ?« fragte Hilary unsicher
und legte wie suchend seine Hand an die Stirne.
))Die grosse Aufgabe unsers kurzen Lebens :
dessen Lektion zu lernen und seinem Kreislauf zu
entrinnen.«
))Ja, ich will Ihr Kamerad sein« , antwortete
Hilary gelassen, ohne Begeisterung.
))Dann treffen Sie mich um zwei Uhr heute früh
an der Pforte des Landhauses , die Sie gewöhnlich
benützten.«
Es war gerade Mitternacht. Hilary konnte dies
von seinem Platze aus wahrnehmen, denn eine kleine
Uhr stand auf einem Gesimse nahebei. Er blickte
hin, und von ihr zu Flita. Konnte ernst gemeint
sein, was sie sagte ? Aber schon war die Flita, die
138 Die Blüte und die Frucht. XI.

er kannte, verschwunden ; eine kalte, stolze, zurück­


haltende junge Königin empfing die pflichtschuldige
Huldigung eines auswärtigen Ministers. -
Die Gäste begannen sich zu entfernen. Flita und
Otto beabsichtigten nicht, an die Feier eine Hoch­
zeitsreise anzuschliessen, wie es da und dort Sitte
ist ; der König wies ihnen den eiegantest gelegenen
Flügel im Schlosse zur Wohnung an , sie konnten
also bei den Gästen bleiben , bis alle weg waren.
Am nächsten Tag sollte eigentlich Otto seine Königin
heimführen ; aber er musste Flitas und ihres Vaters
Wunsche nachgeben und die Abreise verschieben.
Als der letzte Gast sich entfernt hatte, verliess
Flita in aller Stille die weiten Festräume. Sie huschte
einem flüchtigen Schatten gleich geräuschlos die
Korridore entlang und suchte ihr eigenes Zimmer
auf. Dort fing sie an, ohne eins der diensttuenden
Mädchen zu rufen , sich hastig der Brautkleider zu
entledigen. Auf einem Diwan lag das weisse Ge­
wand und der Mantel , die sie beim Eintritt in die
Halle der Mystiker getragen hatte. Dieses Kleid
legte sie an, und vom Mantel v erhüllt war sie eben
im Begriff , das Zimmer zu verlassen , als sie sich
plötzlich Otto gegenübersah , der geräuschlos ein­
getreten war und schweigend neben ihr stand. Sie
schien ihn kaum zu beachten , änderte aber die
Richtung und ging auf eine andere Türe zu. Rasch
j e doch stellte sich auch da Otto ihr in den Weg.
»Nein«, gebot er, >>du verlässt heute Nacht das
Zimmer nicht.«
»Und warum nicht ?« fragte Flita und blickte
ihm dabei ernst und warnend in sein entschlossenes
Antlitz.
Die Blüte und die Frucht. XI. 139

>>Weil du jetzt meine Frau bist. Ich verbiete


es. Du bleibst hier und bei m ir. Sträube dich nicht,
lass mich dir den Mantel wieder abnehmen ; das
weisse Kleid darunter steht dir noch besser als dein
Hochzeitsgewand.«
Er löste die Spangen, die den Mantel zusammen­
hielten. Flita wehrte nicht ab und heftete nur ihre
Augen fest auf ihn ; er vermied ihren Blick, aber
sein Gesicht war blass, von B egierde und Lei den­
schaft aufs höchste gespannt.
»Erinnern Sie sich<<, sagte Flita, »was Sie zuletzt
taten, als Sie bei Vater Iwan waren ? Denken Sie
daran, dass Sie vor ihm knieten und die Worte
sprachen : - ,Ich schwöre, dem Meister der Wahr­
heit, dem Lehrer des Lebens zu dienen - -'«
»Dem Meister . . . dem Lehrer !<< fuhr Otto da­
zwischen. >>Ich wahtie meine Vernunft selbst in
dem verhexten Zimmer mit euerm Räucherzeug.
Der Meister . . . der Lehrer . . . ist mein eigener Ver­
stand . . . So hab ich's im Herzen gemeint, - einen
andern Meister kenne ich nicht.«
»Ihr eigener V erstand !« wiederholte Flita. »Sie
haben ihn noch nicht gebrauchen lernen. So meinten
Sie es damals nicht , Ihr Gelöbnis ; erst hernach
legten Sie es sich so zurecht, als Sie weg und .lllein
waren und wieder um Ihre selbstsüchtige Freiheit
zu kämpfen begannen. Nein, Otto, Sie haben noch
nicht angefangen, ihre Vernunft zu gebrauchen. Sie
sind noch der Sklave Ihrer Wünsche, verzehrt von
der Sehnsucht nach Macht und den Gelüsten Ihrer
tyrannischen Seele. Sie lieben mich nicht, - besitzen
wollen Sie mich. Sie wähnen, Ihre Macht könne
alles, was Sie von ihr fordern. Wohlan, machen
140 Die Blüte und die Frucht. XI.

wir die Probe. Nehmen Sie den Mantel von meinen


Schultern !<.<
Otto trat näher und griff nach dem Mantel.
Dabei übermannte ihn plötzlich die Leidenschaft und
hiess ihn Flita in die Arm e schliessen und seine
L ippen auf die ihren pressen . . . ! - Doch i m V er­
suche schon ward beides j äh vereitelt. Er taumelte
zurück, bleich, fahl, zitternd.
Flita stand hoch aufgerichtet und gross vor ihm.
»Der Schwur, den Sie geleistet«, sagte sie in
voller Ruhe, »das w issen Sie im Geheimen Ihrer
Seele, in Ihrem unverblendeten Selbst recht wohl, hat
Sie zum Diener der Grossen Brüderschaft gemacht.
Dieser Schwur kann Sie jetzt vor Ihnen selbst er­
retten, wenn Sie nicht allzu verstockt sind und es
verschmähen. Aber erinnern Sie sich daran, ich bin
aufgenommen, Sie sind Diener des Ordens und stehen
als solcher unter meinem Befehl. Ich bin Ihre
Königin, Otto, aber nicht Ihre Frau.<.<
Sie ging a n ihm vorüber, während s ie dies
sagte. Er machte keinen Versuch, sie aufzuhalten,
noch hatte ihn das Zittern nicht verlassen, und er
musste seine ganze Kraft zusammennehmen, darüber
Herr zu werden. Als sie bis zur Türe gekommen
war, fand er die Sprache w ieder.
»Warum haben Sie m ich geheiratet ?<.<
J>Sagte ich es Ihnen nicht ?<.<. erwiderte sie, indem
sie ein paar Sekunden innehielt und ihn ansah. ))Ich
m e ine, ich tat es. - Weil ich lernen muss, in der
Ebene so zufrieden zu leb en wie auf den Höhen der
B erge. l l ierzu gibt es für mich nur Einen Weg,
und der ist, mein Leben als Ihre Königin derselben
hohen Aufgabe zu weihen, der es dienen müsste,
Die Blüte und die Frucht. XII. 141

wär ich schon, wie ich es wünschte, der Einge­


weihten eine im Silbergewand. Ich gehe jetzt und
beginne mein Werk, und ein Liebhaber wird mir
helfen, der seine Liebe zu opfern gelernt hat.«:
In majestätischer H altung verliess sie das Ge­
mach; sie sah noch grösser aus, als ihre Gestalt
in Wirklichkeit war. Und Otto, wortlos, regungslos,
liess sie ziehen.

XII.

Es war eine würzige, duftende Blütennacht ;


Wohlgerüche die Menge strömten rings aus den
nahen Blumenbeeten und kamen noch von fern
herzu mit den kühlenden Lüften. Hilary lehnte a m
Tor und schaute hinaus a n d e n fernen Himmel,
wo ein blasser Zwielichtstreifen die nahende Sonne
meldete. Es war sehr h ell, obschon der Mond nicht
schien ; eine jener warmen, stillen Nächte, in denen
man leicht seinen Weg findet, aber Gesichtszüge
auch aus der Nähe kaum unterscheiden kann , eine
Nacht, in der man wie in einem Traume zwischen
wechselnden Schattengestaltungen wandelt, und in
der das unsichtbare Brüten der Aussenwelt und das
Träumen der Seele gleichsam Eines Wesens sind.
So war Hilarys Stimmung ; so war er herge­
kommen zum Gartentore. Sein Warten galt der
Fran , die er liebte ; einer Frau , die jedes Mannes
letzte Liebe zu einem Weibe sein würde. Und doch
brannte kein Fieber in seinen Adern, nicht mehr
1 42 Die lll üte und die Frucht. XII.

stieg ihm des Herzens Rausch zu Kopf. Wie er


hier so stille in der Stille sich und sein Fühlen
prüfte, da wollte es ihm scheinen, als sei er gestern
unter dem wilden, besinnungslosen Aufschrei ge­
storben, als seien sein Herz und seine Seele, ja sein
ganzes Selbst dahin.
Ein leichtes Berühren streifte seine Schulter,
und zugleich wurde das Tor geöffnet. Er trat ein
und verfolgte neben Flita das blumenumsäumte
W egchen. Sie ging wortlos weiter ; der weisse
Mantel hing lose von ihren Schultern, und wenn
er zurückglitt, leuchteten ihre nackten Arme hervor.
»Sie wissen gar viel«, hub Hilary an, »antworten
Sie mir auf einige Fragen. - Warum sind Sie so
weise ?«
>>Weil ich vor Jahrhunderten schon meine Seele
a usgebrannt habe« , erwiderte Flita. »Wenn Sie
Ihr Herz ausgebrannt haben, werden Sie stark sein
wie ich.«
»Noch eine Frage : Warum ist Ihnen die Auf­
nahme nicht geglückt ?«
Ein Ruck, und Flita stand vor ihm und heftete
ein Paar durchbohrende Augen auf ihn. Fürchterlich
war sie in dieser plötzlichen Zorneswallung. Aber
Hilary hielt ruhigen Blickes aus. Nichts, so schien's
ihm, konnte ihn ferner noch rühren. War er denn
ein Toter, dass er den sengenden Strahlen dieser
blitzenden Augen trotzen konnte ?
»Was bringt Sie auf diese Frage ?« stiess Flita
hervor, und j edes Wort klang wie ein Schmerzens­
laut. »Fordern Sie, es zu wissen ?«
»Ja, ich möchte es wissen.«
Für einen Augenblick presste Flita die Hände
Die Blüte und die Frucht. XII. 143

vors Gesicht und ihre ganze Gestalt .zitterte und


bebte. Einen Moment nur, dann liess sie die Arme
niedergleiten und richtete sich auf, das königliche
Haupt hoch, majestätisch.
))Es gehört zu meiner Strafe<<, sagte sie halblaut
vor sich hin , >>so rasch erfahren zu müssen , wie
z wingend die Bande des Grossen Ordens sind,
und dass der Jünger dem Meister befehlen kann,
wie der Meister dem Jünger.«
Sie brach ab, und indem sie Hilary noch näher
trat, sagte sie rasch und mit Nachdruck :
))Deshalb , weil ich zwar meine Seele ausge­
brannt habe, nicht aber auch mein Herz. Ich kann
nicht mehr lieben, wie die Menschen lieben , und
habe fast vergessen, was Leidenschaft heisst, aber
ich kann ein höheres Wesen, als ich bin, noch so
abgöttisch verehren, dass man das vielleicht Liebe
nennen kann. Ich habe noch nicht gelernt, allein .
zu stehn und mich an Grösse jedem gleich zu wissen,
auch in mir die höchste Möglichkeit, selbst die Gött­
lichkeit zu sehen. Ich lehne mich noch an einen
andem , blicke nach einem andern , hungre nach
dem Lächeln eines andern. Weiche Torheit, da ich
doch so gut weiss, dass ich keine Ruhe finden kann,
solange es so bei mir steht. Iwan ! mein Lehrer,
mein Freund, welche Qual, dein Bild in meinem
Innern von seinem Altar zu stürzen. Ihr Mächte
und Kräfte, deren Natur ewiger Gleichmut ist, euch
rufe ich, euch fordere ich k<
Mit erhobnen Armen hatte sie die Formel ge­
sprochen, und Hilary nahm betroffen war, wie wenig
sie einem menschlichen Wesen glich ; eher dem Geiste
des Morgenlichts. Ihre Stimme klang körperlos und
144 Die Blüte und die Frucht. XII.

klagend aus, wie ein Schrei aus der Tiefe einer ge­
bro ch enen Seele.
Sie liess die Arme sinken , nahm den Mantel
fester und schritt, ohne auf Antwort zu watien,
über das tauige Gras. So schweigsam, so schmerzvoll
wie sie, aber scheinbar ruhig, ging Hilary hinterdrein,
m it gesenktem Haupt. Vor Zeiten . . . noch gestern ­
wie weit zurück das lag ! -- hätte sein Auge sich
nicht trennen können von ihrem glänzenden, dunklen
Haar und den Bewegungen ihrer Gestalt. Plötzlich
blieb Flita stehen, wandte sich um und blickte ihn
an. Ueberrascht sah Hilary auf.
:I> Sie sind nicht mehr von Eifersucht verzehrt«,
s a gt e sie. »Sie können anhören, was ich eben sagte,
ohne dass Sie wieder zum Wilden werden. Was
ist geschehen ?«
Es schien, als suchten ihre Augen hinter seiner
müden äussern Teilnahmlosigkeit seine Seele zu
durchforschen. Wie sie sich sehnte, die eine Ant­
woti aus seinem Munde zu vernehmen , die allein
ihr frommen konnte !
))Ich habe keine Hoffnung mehr«, erwiderte Hilary.
»Auf was ?«
»Auf Ihre Liebe. Sie haben einen hohen Lebens­
zweck, das hab ich endlich verstanden ; ich aber bin
nur wie ein Strohhalm im Strom. Ich glaubte, ein
R e cht auf Sie z u haben. Ich sehe, es kann nicht
sein . Ich ergebe mich in Ihren Willen. Das ist
alles, was mir übrig bleibt.«
Einen Moment sann Flita nach, dann blickte sie
ihn ernst und traurig an.
»Es reicht nicht«, sagte sie. »Du musst Wert­
volleres b eibringen, - eine Leistung.«
Die Blüte und die Frucht. XU. 1 45

Sie nahm ihren Weg zum Hause wieder auf.


D ort war es still und finster, die Läden waren ge­
schlossen ; man sah, das Haus stand leer. Flita öffnete
mit einem Schlüssel, den sie am Gürtel trug, eine
Seitentüre ; beide traten ein ; dann schloss sie wieder
zu. Sie ging voran durch das totenstille Haus zum
Laboratorium ; schweigend überschritten sie die
Schwelle. H ier bot sich Hilary ein ganz neues Bild
und er suchte verwundert sich zurechtzufinden.
Alles war v erblasst, kein Räucherwerk brannte, die
Lampen waren nicht angesteckt, die Farben an den
Wänden verschwunden. Vom Deckenfenster her,
das früher i mmer verhängt gewesen, brach sich ein
mattes, graues Oberlicht mühsam Bahn bis h erab
zum Düster, das unten noch seine Verstecke hütete.
Doch war's hell genug für Hilary, um sich zu ver­
gewissern, dass ein Gegenstand fehlte : die Puppe,
ein ständiger Greuel für ihn, war fort.
))Wo ist sie ?« fragte er alsbald, betroffen ob der
Erleichterung, die er, nun sie nicht mehr da war,
verspürte.
)) Was ? - ach so, die Figur ! \Viederum stellen
Sie eine Frage, die ich wohl oder übel beantworten
muss. Gut denn ! - Ich muss zur Zeit auf diese
Kraft verzichten und mir das Recht darauf erst von
neuem gewinnen.«
>>Wie haben Sie es vormals erworben, dieses
Recht ?« fragte Hilary m it forschendem Blick weiter,
denn ein leidenschaftlicher Wunsch, das zu wissen,
beherrschte ihn.
Abermals fuhr Flita kampfbereit auf, und der
hochfahrende, herrische Zug, der so bezeichnend an
ihr war, kam für einen Augenblick in ihrer Gestalt und
10
146 Die Blüte und die Frucht. XII.

Gebärde zum Vorschein ; aber im nächsten schon


war er wieder v erschwunden, und blass, vornehm
und edel stand sie vor Hilary.
»leb will Sie aufklären« , sagte sie deutlich,
wenn auch leise. »Jenes Recht hab ich mir er­
worben, indem ich dir das Leben nahm .«
Hilary sah sie vollständig fassungslos und be­
stürzt an.
»Kannst du dich nicht besinnen« , so fuhr sie
fort, ))auf Wald und Himmel und j ene neue, junge
Erde von damals ? Ringsum alles so köstlich noch
und frisch und urkräftig ; über uns die Fülle von
Aprikosenblüten und drüber der Him m el ! Ach
Hilary, wie j ugendlich, wie daseinsfreudig war das
Leben damals, als wir lebten und liebten und nicht
verstanden, dass wir das taten. Göttlich war's noch.
Ich liebte dich. Ja, ich liebte dich . . . liebte dich !«
Ihre Stimme zitterte und drohte zu versagen.
In Hilarys erstarrtem Herzen aber regte es sich zu
neuem Leben. Noch nie hatte sie Töne solcher
Zärtlichkeit und Leidenschaft gefunden.
))Flita , m eine Flita , du liebst mich noch , -
j etzt noch !«
Er wollte auf sie zustürzen, aber mit einer ein­
fachen, hoheitsvollen Bewegung ihres Armes schien
sie ihn beiseite zu schieben.
))Mit dieser Art Leidenschaft«, sagte sie hehr
und feierlich, »vermag ich nimmer zu lieben. Nicht
ganz und gar vergessen habe ich, was solche Liebe
ist ; nein, Hilary, ich habe es noch nicht vergessen.
Wie sonst hätte ich dich herausfinden können aus
diesem Gewühl auf Erden ?« Sie streckte ihm ihre
Hand hin, und als er sie umschloss, spürte er, dass
Die Blüte und die Frucht. XII. 147

das warme Lebensblut eines jungen Geschöpfes


seinen Druck erwiderte. ))Ich kannte dich an deinen
treuen Augen, die einst so voll reinster Liebe mich
anschauten, dass sie mir wie Sterne in meinem
Leben waren.«
))Was trat zwischen uns ?« fragte Hilary.
Sie sah ihn seltsam an, entzog ihm ihre Hand,
nahm den Mantel um und antwortete dann das eine
Wort :
))Leidenschaft k<
))Ich erinnere mich k< rief Hilary in plötzlicher
Ekstase aus. ))Mein Gott ! ich sehe die schönen
Züge der Wilden vor mir, die deinen , ich sehe deine
Lippen, lieblich wie die Bl u ten über uns. Flita, ich
liebte dich, wie die Menschen lieben ; Heisshnnger
war's . . . nach dir ! Soll dabei Sünde sein ?«
))Keine«, erwiderte sie, regungslos, einem Stein­
bilde gleich, im langen, weissen Mantel eher ein
lichter Geist als ein lebendiges Weib. >>Keine -
für Menschen, die nur darnach verlangt, Menschen
zu sein, wieder Menschen zu zeugen, nichts Bessres
zu sein und zu tun als das ! In mir aber rührte sich
noch eine andere Kraft, die stärker schien denn ich :
der Drang einer stummen Seele. Als j ener Augen­
blick kam, da kam zugleich die grosse Entscheidung,
der heisse Kampf zwischen zwei Seelen, die mit­
einander aus des Lebens Dunkelheit erhoben wur­
den und Licht - ja Licht ! - fanden im Fieber der
Liebe. Jenes Feuer, das Liebe ist, macht es den
Menschen möglich zu leben. Es verleiht ihnen
die Hoffnung, es beseelt sie, es lässt sie an die Zu­
kunft glauben, es befähigt sie, Menschen zu er­
schaffen, die diese Zukunft ausfüllen und erfüllen.
148 Die Blüte und die Frucht. XII.

))In j enen fernen Tagen, unter den Aprikosen­


blüten, waren wir, du, Hilary, und ich, erst Kinder
auf dieser Erde, erst Anfänger in der Kunst, sie zu
v e rstehen, noch ohne Kenntnis ihres Zweckes. Wie
konnten wir unsere eigenen Führer sein ? Wir
wussten nichts von der grossen Macht des Ge­
schlechts, wir waren noch Neulinge in dieser Schule.
So muss es allen ergehen. Allmählich müssen sie
seiner Führung entwachsen ; vom ersten Mal erraten
sie die Lehre nicht. Auch wir konnten es nicht.
Ich wusste nicht, was ich tat, Hilary, mein Geliebter,
als ich dir das Leben nahm. Hätte ich e s gewusst,
so wäre ich schlimmer als das Raubtier gewesen.
Aber ich wusste es nicht. Du übtest deine Macht
aus : du beanspruchtest mich. Ich übte meine Macht
aus, - i ch siegte. Ich w ollte Macht , und kaum
in mir erwacht, riss dieser Wunsch mich fort. So
tötete ich dich und erlangte das Ersehnte. Nicht
auf einmal, nicht ehe ich geduldig leiden gelernt,
nicht ehe ich schwer gerungen hatte, um mich selbst
zu verstehen und die Kraft, die in mir wirkte. Und
s o Leben auf Leben, Verkörperung auf Verkörperung !
D u liebtest mich nicht blass, sondern du warst mein.
Ich eroberte mir dich und nützte dein Leben und
deine Liebe für meine eigenen Zwecke : meine Macht
stetig zu mehren und mir jeweils Leben und Stärke
zu schaffen, wie ich sie bedurfte. Mit Hilfe deines
Lebens, deiner Kräfte wurde ich Magierin und las
v ermöge meiner Kenntnis die Geheimlehren der
Alchimie und die verschollenen Geheimnisse der
Macht. Gewiss , Hilary , so verhält es sich. Dir
verdanke ich mich, wie ich bin. Ich habe mich be­
freit v o n der Menschheit gewöhnlichen Bürden, den
Die Blüte und die Frucht. XII. 149

Leidensch aften , den persönlichen Wünschen und


dem armseligen Drang, immer ein und dasselbe
wieder und wieder zu erleben, bis durch die Länge
der Zeit die Organe dafür stumpf werden. Ich
habe die Aegypter und Römer, Typen der alten herr­
lichen Zivilisationen, sich abmühen sehen, die Ge­
nüsse, die Pracht ihrer Vergangenheit im modernen
Leben unsrer Tage wieder aufzunehmen. Es ist
vergeblich ; Leben auf Leben voll Selbstsucht und
Vergnügen - das endet mit dem Ueberdruss am
Leben, der die Seele des Mepschen ertötet und sein
Denken umnachtet. Wir aber , Hilary , wir beide
sind heraus aus diesem traurigen Verhängnis. Mir
konnte es nicht genügen, wieder zu leben, was ich
ehedem gelebt hatte, und des Lebens Urkraft, die
in der Liebe liegt, nur fürs Vergnügen zu nützen ,
oder um die Erde mit Ebenbildehen zu versorgen.
Ich entschied mich ; ich wollte steigen, mich und
dich höher heben, aus unsrer Liebe fort und fort
Edleres schaffen, als was wir sind. Ich hatte Erfolg,
Hilary, ich hatte Erfolg. Wir stehen vor der Pforte
zur ersten Initiation. Ich wagte einzutreten, aber
es missglückte mir aus Mangel an Stärke, Hilary,
-- aus Mangel an Stärke ! Ich konnte meines Meisters
Bild nicht ganz und gar aus der Seele reissen : ich
rief ihn , um an ihn mich anzulehnen . . . , nein ,
nur um Zuspruch in des Meisters Angesicht zu lesen.
. . . Hilary, gib mir Stärke ! Sei mein Kamerad !
Hilf mir über die Schwelle zur Weihe, und hunJert­
fach wachsen soll dafür deine Kraft. Denn dein
Lohn wird sein, dass auch du mit mir eintrittst.<<
Von Wort zu Wort hatte sie sich mehr ver­
ändert. Sie sah aus wie eine prophetische Priesterin,
1 50 Die Blüte und die F.rucht. XII.

- wie ein göttliche s Wesen. Jetzt stand sie da,


seltsam anzusehen, einer Flamm e gleich, als ob alles
an ihr, Seele und Selbst, Geist und Körper, in An­
betung gen oben sich erhöben. D er Morgen däm­
m e rte, die ersten Strahlen der Sonne brachen durchs
Fenster droben und fielen auf ihr verklärtes Antlitz
und ihre glänzenden Haarflechten.
Hilary schaute zu ihr auf wie ein Beter zu seiner
Heiligen.
»Ich bin dein«, sagte er, »aber i ch weiss nicht,
w i e es betätigen.«
Sie streckte ihm ihre Hand hin. Das begeisterte
Feuerj das in ihren Augen aufgeflammt war, wich,
bevor sie den seinen begegneten.
»Vlir m üssen das grosse Geheimnis entdecken,
Hilary, wir zusammen. Nicht länger sollst du dich
mir hingeben ohne eigenes Erkennen. Bis jetzt
waren unsere Leben nichts als Leben der Blüte,
j etzt m üssen wir weise sein und uns anschicken,
Früchte zu zeitigen. Wir haben herauszubringen, was
uns die Macht der Sonne ist ; die reine, schöpferische
Kraft müssen wir auffinden. Aber wir haben hierfür
die Stärke noch nicht, Hilary ; ach, so manches
Mal fürchte und zage ich noch, denn . . . mehr
Kraft - m ehr Opfer.«
Sie zog den Mantel fester um sieb, der Glanz
schwand aus Auge und Antlitz und lautlos schritt
s i e in die dunkle Ecke dem Divan zu. Hilary er­
fasste namenloses Weh, sein ganzes Wesen ging
auf in Kummer und Mitgefühl. Er folgte ihr und
setzte sich an ihre Seite . . . Eine weisse Hand ragte
u nter dem Mantel hervor und lag auf dem Polster.
Er legte die seinige darauf und verfiel in tiefes
Die Blüte und die Frucht. XIII. 151

Sinnen . . . S o sassen sie, schweigend, leise atmend,


stundenlang, bis die Sonne hoch stand.
Und noch immer war das Zimmer lichtlos,
frostig, voll fahler Schatten.

XIII.

Am nächsten Tage - eigentlich am nämlichen ,


denn sie sassen noch beieinander im Laboratorium ,
als draussen die Sonne schon schien - erfuhr
Hilary zu seiner eigenen Ueberraschung, dass er
am Hofe der jungen Königin eine regelrechte An-:
stellung habe, durch die er zu ihrem ständigen Ge­
folge gehörte. Und sofort nach dieser Eröffnung
hatte er auch schon sich schleunigst reisefertig zu
machen, um Flita nach ihrem neuen Wahnsitz zu
begleiten. vYie das bewerkstelligt worden war,
konnte niemand sagen, - Hilary zuallerletzt, denn
er bemerkte gleich, als er vor König Otto erschien,
dass er ungnädig und misstrauisch gemustert wurde.
Zuvor hatte ihn Otto so gut wie gar nicht beachtet.
Der. neue Stand der Dinge war entschieden ein
Wechsel zum Schlimmem. Aber Hilary hatte ja
bereits zur Genüge erfahren, dass unter Flita dienen
einem gestrengen Herren dienen hiess. Es blieb
ihm auch keine andre Wahl. Unmöglich war's ihm,
zu leben ohne sie, ohne die Plagen des dornichten
Dienstes bei ihr. Dieses sein Joch schien ihm leicht,
süsser denn j ede Art Freude. Ja, Freude schien
ihm fern von Flita überhaupt undenkbar.
1 52 Die Blüte und die Frucht. XIII.

Und doch war er im stande, noch an ihr zu zweifeln.


Ihre Reisegefährtin hatte sich Flita aus der
königlichen Verwandtschaft gewählt, eine j unge
Herzogin, die denselben Familiennamen wie Flita
trug. Dieses Mädchen war in einem Kloster er­
zogen und dann an den Hof gebracht worden, wo
sie an allem Prunke teilnahm und sich alsbald von
Verehrern umschwärmen liess. Sehr h übsch war
sie nicht, und sicherlich nicht sehr begabt. Mit Flita
w egzugehen schien ihr entzückend, denn es führte
sie an einen neuen Hof und zu einer neuen Auflage
von Anbetern. Hilary fand es höchst sonderbar,
dass Flita dieses Püppchen zur Begleiterin hatte
wählen können. Nicht als ob die Herzogin jünger
als Flita gewesen wäre, - sie waren fast eines
Alters ; aber Flita trug in ihrem schönen Kopfe die
W eisheit von Jahrhunderten, während die Herzogin
bloss ein in der Hofetiquette gedrilltes Kind war.
Diese drei sollten miteinander in Flitas Lieb­
lingskaiesehe fahren. Sie verweigerte es einfach,
sich ihrem Gemahl anzuschliessen. Als er sich des­
w egen an sie wandte, entgegnete sie nur :
))Mir würde die Zeit lange ; überdies habe ich
eine Arbeit vor.«
So reisten sie ab ; und als Hilary seinen Platz
einnahm, gedachte er der seltsamen Fah1i, bei der
Flita, er und Vater Amyot das Trio gebildet hatten.
Während er dieser Erinnerung nachhing, kam ihm
der Wunsch, zu erfahren, was aus Pater Amyot
geworden ; denn der Priester war nicht mehr in
die Stadt zu seinen Berufspflichten zurückgekehrt.
Der Gedanke verfolgte ihn, und er fragte Flita,
warum Amyot nicht da sei.
Die Blüte und die Frucht. XIII. 153

))Ich brauche ihn nicht«, erwiderte sie kühl. -


Die Fahrt zog sich lange hin und war sehr er­
müdend für H ilary, denn die Herzogin, die niemand
sonst hatte, u m zu schäckern, liess nicht ab, auf ihn
einzuschwatzen ; Flita aber lag Stunde um Stunde
mit geschlossenen Augen in ihrer W agenecke.
Was mochte die Arbeit sein, die sie vorhatte ?
Hilary hatte j ene Antwort an den König aufge­
fangen und machte sich seine Gedanken darüber.
Und als er j etzt Flita aufmerksam beobachtete, nahm
er wahr, dass ihre Mienen sich veränderten. Sie um­
düsterten sich, wurden verschlossener, mehr und
mehr auf ein bestimmtes Etwas gerichtet.
Spät am Abend, als sie wirklich ungewöhn­
lich lange fuhren, in der Hoffnung, ihren Bestim­
mungsort noch in der Nacht erreichen zu können,
ereignete sich etwas Merkwürdiges. Den ganzen
Tag war Flita schweigsam gewesen, offenbar in
Gedanken versunken ; so oft aber Hilary nach ihr
hinsah, bemerkte er, dass ihre Lippen sich wie i m
Gespräche bewegten. Wenn möglich, sass e r ihr
gegenüber ; das ging nicht immer, denn sintemal
die junge Herzogin mit ihm plaudern wollte, der
Wagen aber zu breit und geräumig war, musste er
seinen Platz ändern und ihr näher rücken, um das
Gespräch bequemer führen zu können. Aber mit
zunehmender D unkelheit. fühlte sich die Herzogin
abgespannt und lehnte sich schläfrig zurück ; hatten
sie doch in der Tat eine lange Tagereise hinter sich.
Auch Hilary machte sich's nun in seiner Ecke
gegenüber Flita bequem. Es wurde so dunkel, dass
er sie nicht mehr sehen konnte ; sie hatten eine
Hängelampe an der Decke des Wagens , aber er
154 Die Blüte und die Frucht. XIII.

wollte sie nicht anstecken ohne Flitas ausdrücklichen


Wunsch. Auch er sehnte sich übrigens ernstlich nach
Ruhe und Dunkelh eit. Er fühlte sich dann mehr
allein mit ihr, es liess sich leichter versuchen , ihre
Gedanken zu verfolgen und zu erhaschen, ohne die
� g�ung durch das lebh afte Aug.e.:o.spiel un
die fabelhafte Zungenfertigkeit der kleinen Herzogin.
In dieser Stille dachte er an Flita : sie . . . Flita
selbst . . . in ihrer erhabenen Schönheit . . . ihm
gegenüber in verhüllender Nacht ! Der Mann erwachte
in ihm und erinnerte sich seiner, - er liess sich
hinreissen, beugte sich vor und legte seine Hand
auf die ihre. Kaum war das geschehen, als die
Herzogin einen gellenden Schrei ausstiess.
»Um Gottes willen k< rief sie voller Schrecken,
>>wer ist b e i uns im \Vagen ?«
Sie stürzte sich querdurch und drückte sich auf
den Knieen zwischen Hilary und Flita ; ihr Entsetzen
war so gross, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat.
Hilary bog sich über sie, und sofort bemerkte
er, dass sie recht hatte : es war noch ein Mann i m
Wagen ausser ihm.
>>Töte ihn ! töt ihn doch !« schrie die kleine
Herzogin, selbst halbtot vor Angst, »es ist ein Dieb,
ein Mörder, ein Räuber !«
Hilary sprang auf und warf sich auf die Person,
die er nicht sehen konnte. Ein Trieb zur Selbst­
erhaltung und zur Verteidigung der beiden Frauen
ergriff ihn, wie er die Tiere befällt. Er fand den
Mann ebenfalls kampfbereit. Blindlings , wütend
fasste er ihn an, mit einer Wucht sondergleichen.
Hilary war j ung und voll Nervenkraft, aber schlank
und nicht wie ein Athlet gebaut. Dennoch wurde
Die Blüte und die Frucht. XIII. 155

er j etzt ein solcher. Er fand seinen Gegner um


vieles grösser und stärker, als er selbst war.
E'in furchtbarer Kampf folgte. D er Wagen rollte
in schnellster Fahti weiter durch die unsichtbare
Gegend. Flita hätte können halten lassen , wenn
sie das Fenster niedergezogen und den Postillionen
zugerufen hätte. Aber sie rührte sich nicht ; sie schien
ohnmächtig zu sein , so still blieb sie. Die kleine
Herzogin kauerte lediglich am Boden neben ihr und
klammerte sich an ihre regungslose Gestalt an. Das
Mädchen hatte in seinem Schreck nicht die Geistes­
gegenwart , Befehl zum Halten zu geben und so
Hilfe zu beschaffen. Dazu war i.hre Angst zu gross.
Aber es war auch entsetzlich , die schwankenden,
sich windenden Gestalten, bald dicht über den Frauen,
bald auf der andern Seite der Kalesche, es war ein
tödliches , grässliches, gespenstisches Ringen, noch
graussiger der Stille wegen. Kein Schrei, kein Aus­
ruf wurde laut, denn Hilary wenigstens hatte hierfür
keinen Atem übrig. Nur ein Keuchen und schweres
Schnaufen gab's und den grässlichen Ton, der aus
des Menschen Kehle dringt, wenn er um sein Leben
kämpft. Wie lange der abscheuliche Zweikampf
währte, konnte niemand sagen ; am wenigsten küm­
merte sich jetzt Hilary um den V erstrieb der Zeit.
D er Wilde i n ihm hatte so v öllig die Oberhand
gewonnen und alles sonstige Bewusstsein unter­
drückt, dass sein einziger Gedanke war, er müsse
töten - töten - töten ! -- -- und zuletzt war's
v ollbracht. Nur eine Sekunde lang hatte er seinen
Gegner unter sich, konnte er seine volle Kraft ein­
setzen, - dann folgte ein Geröchel, ein unirdischer
Schrei, und - Stille.
1 56 Die Blüte und die Frucht. XIII.

Lautlose Stille für ein Weilchen. Keines rührte,


keines regte sieb. Die Herzogin schien vor Entsetzen
zu Stein geworden. Hilary war erschöpft auf das
Polster n iedergesunken, - nicht allein erschöpft,
s ondern v erwirrt und beklommen, denn die rasende
----- Wti-t egt e ·ieh-jetz- i·es· n :eer nderer
Empfindungen aufko m m en. Was . . . w er . . . war
das Wesen, dem er den Garaus gemacht ? Gleich­
zeitig wurden die Pferde zum Galopp angetrieben,
denn m an fuhr durchs Stadttor. Hilary riss mit
einem Krach das nächste Wagenfenster n ieder. '
»Lichter ! Licht !« rief er h inaus, »bringt Licht k< Der
Wagen hielt, und Mensch en sammelten sieb vor dem
S chlage , Fackelschein fiel herein und verbreitete
Tageshelle. Die kleine Herzogin kauerte totmatt
unten in der Ecke. Flita sass aufrecht da, ausnehmend
blass, aber ruhig. Sonst war nichts zu sehen, weder
Lebendes, noch Totes, ausser Hilary, der wurde aber
b e i dieser Entdeckung von einem solchen Schrecken
gepackt, dass er sich abwandte, sein Gesicht in die
Kissen vergrub und nicht meh r wusste, was er tat,
ob er weinte oder lachte , oder Verwünschungen
ausstiess ; nur frem d klingen de Laute seiner ei gnen
Stimme schlugen an sein Ohr.
Hinter ihnen fuhr ein Dienerschaftswagen ; als
m a n so plötzlich anhielt, stieg alles aus und lief
eiligst nach vorne an die Kutschenschläge.
»Die Herzogin ist ohnmächtig geworden«, teilte
Flita mit und wusste so aufzustehen, dass sie Hilary
verdeckte. »Die Reise war zu lang. Ist ein Haus
in der Nähe, wo sie kurze Zeit ruhen kann, u m uns
dann später ins Schloss nachzufolgen ?«
Sogleich wurde H ilfe angeboten, und die D iener
Die Blüte und die Frucht. XIV. 157

mit andern Willfährigen trugen die arme kleine


Herzogin weg.
>)Ins Schloss !« rief Flita, warf die Türe zu und
zog die Vorhänge herab. Der Kutscher trieb eiligst
die Pferde an.
Plötzlich begann in Hilary das Blut von neuem
zu wallen und sieden. Waren es Flitas Arme, die
ihn umschlangen ? Flitas Lippen, die lebenswarme
Küsse ihm auf Hals, Mund und Haar drückten ?
»Sagen Sie mir die Wahrheit«, rief er, »sind
Sie ein Teufel ?«
»Nein«, erwiderte sie, »ich bin keiner. Ich suche,
meinen Weg zum lautem Guten zu finden , das
über unser Leben herrscht. Wohl aber sind Teufel
um mich herum, und Sie haben einen davon diese
Nacht getötet. Still ! ruhig jetzt ! Erinnern Sie sich,
was wir in den Augen der Welt sind. Hier ist das
Schlossportal, und Otto steht da , um uns zu em­
pfangen.«
Sie stieg aus, die junge Königin.
Hilary folgte ihr, unsichern Schrittes, wie ver­
nichtet. Er blieb einsilbig und schützte Unwohlsein
vor. Im übrigen starrte er staunend auf den glänzen­
den Anblick, der sich ihm darbot.

XIV.

D er grosse Saal des Schlosses war pompös


beleuchtet mitte1st riesiger goldener Drachen, die
hoch oben an den �'änden hingen. Im Innern
158 Die Blüte und die Frucht. XIV.

di eser Wundertiere waren mächtige Scheinwerfer,


deren Licht nicht nur aus den Augen und weitauf­
gerissenen Rachen der B estien hervorbrach, sondern
selbst aus ihren fe urigen Pranken. Die ganze Halle
war davon eitel Gefunkel und Geglitzer ; aber auch
unten, dicht vor H ilary, schimmerte und blitzte es
von den Prachtgewändern, Uniformen und Livreen
des versammelten Hofstaats : alles prangte in Fest­
freude. Der Empfang war j edoch nur ein interner ; es
war spät, und Otto hatte sich jede allgemeine Ver­
anstaltung für die Nacht verbeten. Flita freilich
d urfte nur Kopftuch und Mantel ablegen und hätte
den Mittelpunkt j e der Festlichkeit abgeben können.
Von den Reisestrapazen und von dem fabelhaften,
aufregenden Erlebnis war nicht eine Spur an ihr
sichtbar ; blass, aber ruhig, wies ihr Antlitz seinen
hoheitsvollsten, unnahbarsten Ausdruck. Wolken
von schwarzen Spitzen umhüllten ihre schlanke Ge­
stalt. Otto war voll Genugtuung, als er ihre stolze
Würde und Schönheit beobachtete, aber auch voll
Grimm , wenn er wahrnahm, dass ihre Blicke nie
die seinigen suchten und sie i hn mit genau derselben
Höflichkeit behandelte wie den Oberhofmeister oder
sonst einen Angestellten des königlichen Haushalts.
Niemand konnte das b emerken als er und etwa
Hilary, soweit dieser für etwas anderes als Flita
überhaupt Augen hatte. Sie selbst, die Mystikerin,
das wilde Mädchen, war zu sehr Weltdame, um
auch nur in die oberflächlichsten Geheimnisse ihres
Lebens hineinblicken zu lassen.
Nachdem Flita eine Weile im Festsaal inmitten
des versammelten kleinen Kreises verblieben, zeigte
sie Lust , sich nunmehr für die Nacht in ihre
Die Blüte und die Frucht. XIV. 1 59

Gemächer zurückzuziehen, und es bildete sich ein


stattliches kleines Gefolge , ihr das Geleite dahin
zu geben. Aber ehe sie ging, winkte sie Hilary zu
sich.
))Die Herzogin muss abgeholt werden<<, ordnete
sie an, >>ich wünsche, dass sie die Nacht in meinem
Zimmer zubringe. Entsenden Sie einen Wagen mit
den nötigen Leuten.«
Wie ihre Augen glänzten ! . . . Hatte er sie j e
so lebhaft leuchten sehen ?
))Sagen Sie mir eines«, stiess er hervor, »ich
glaube, Sie haben Leben und Leib des Kerls, den
ich für Sie tötete, in sich aufgenommen. Oder ist
es nicht so ?«
»Wie klug !« sagte sie mit Lachen. »Ja, es ist
so. Mein ganzes Wesen ist gekräftigt durch seinen
Tod ; im selben Augenblick, da Sie ihm seine Lebens­
kraft auswürgten, habe ich sie eingesogen.<<
»Und er ?« fragte Hilary mit verstörtem Blick.
»War eine jener halb menschlichen, halb tieri­
schen Kreaturen, die den Menschen nachstellen und
von Toren Gespenster und Dämonen genannt werden.
Ich habe ihm einen Dienst erwiesen, indem ich sein
Leben in meines aufnahm.«
Hilary schauerte bis ins Innerste.
»Sie glauben mir nicht«, fuhr Flita fort, »Sie
argwöhnen noch immer, ich sei der Teufel. Sei es
so ! Für was Sie mich halten, ist mir gleich, es
hilft Sie nichts, Sie müssen mich lieben und mir
dienen. Wir sind unter dem nämlichen Stern ge­
boren. Jetzt gehen Sie, erteilen Sie die Anweisungen
wegen der Herzogin.«
Unter dem nämlichen Stern ! An diese Worte
1 60 Die Blüte und die Frucht. XIV.

hatte er lange nicht m ehr gedacht ; und doch, wie


furchtbar bewahrheiteten sie sich. Denn er, Hilary,
hatte ja wirklich die grässliche Tat getan und das
unsichtbare , unbekannte , unvorstellbare Geschöpf
getötet. Der Schauder krampfte ihm die Hände zu­
samm en, sobald er daran dachte, dass sie sich an
diesem Ding vergriffen, ja sogar es auf abscheuliche
Art umgebracht hatten . . . Ob es nicht besser gewesen
wäre, Flita aufzugeben ? Ach, er z weifelte stets an
ihr ; aber endgültig an ihr zu verzweifeln, das hiess
ja, sich den Boden unter den eigenen Füssen weg­
ziehen. Er selbst, sein Leben, sein Alles gehörte
ihr, m o chte sie gut sein oder böse. - Schwindlig und
überwältigt v on diesen peinlichen Gedanken, die
sein überreiztes Gehirn marterten, sah er sich plötz­
lich vor einem Esstisch ; und zu erschöpft, um noch
an etwas anderes zu denken als an die Bedürfnisse
seines übermüdeten Körpers, setzte er sich nieder,
um Wein zu trinken und womöglich etwas zu essen.
Dies brachte er nicht fertig, aber der Wein belebte
ihn, und alsbald fiel ihm auch ein, dass ihm be­
fohlen worden war, sich der Herzogin anzunehmen.
Es dauerte nicht lange, und sie wurde ins Schloss
getragen ; stehen konnte sie noch nicht, denn kaum
v on ihrer Ohnmacht erwacht wollte sie schon wieder
in eine andre fallen.
Nun folgte eine b efremdliche und unheimliche
Szene. Nur wenige wohnten ihr bei, so auch Hilary,
der gerade beaufsichtigte, wie man die Herzogin
durch die Vorzimmer Flitas trug. Im Korridor kam
ihnen Flita selbst entgegen ; sie war noch im Reise­
kleid und sah ruhig und fast b esorgt aus. Bei
ihrem Anblick aber schrie die junge Herzogin, wie
Die Blüte und die Frucht. XIV. 161

wenn sie ein Schreckbild sähe ; sie wollte von Flita


nicht angerührt sein und sich schlechterdings nicht
in deren Zimmer bringen lassen.
»Sie müssen aber bei mir bleiben«, flüsterte ihr
Flita zu.
»Und ich will nicht k< erwiderte die Herzogin
mit einer so energischen Bestimmtheit, dass alle,
die sie kannten, sich verwunderten. Sie sprang auf
und lief ohne Hilfe den Korridor zurück und die
Haupttreppe binunter. Dort stiess sie auf den jungen
König, der heraufeilte, weil er ihr auffallendes
Schreien gehört hatte, und sehen wollte, um was
es sich handle.
»Was gibt's denn, Cousinehen ?« erkundigte er
sich, als er ihr aufgeregtes, tränenüberströmtes Ge­
sicht sah.
»Flita mutet mir zu, dass ich die Nacht in ihrem
Zimmer bleibe ! Ich will aber nicht , um alle Welt
nicht ! Sie ist ein Teufel, . . . sie wird mich morden
oder mich von ihrem Liebhaber ermorden lassen,
und niemand wird mehr etwas von mir zu hören
kriegen oder meinen Leichnam finden. Nein ! Nein !«
Und so rannte sie fort, die breiten Stufen hinunter,
und liess Otto wie vom Donner gerührt stehen.
Er bemerkte, dass auf den Pedesten und einzelnen
Stufen sich Leute ansammelten, und entzog sich in
ernster, würdiger Haltung dem kleinen Auflauf, ohne
etwas zu sagen. Dann wählte er den kürzesten
Weg zu Flitas Zimmer. Dort stand sie schweigend
und düster , ein Bild der Trauer. Und noch eine
Person war im Zimmer - : Hilary Estanol.
Der
sprudelte in höchster Erregung abgerissene R eden
und Anschuldigungen hervo r , so ausser sich vor
11
1 62 Die Blüte und die Frucht. XlV.

Schrecken, dass er das Eintreten des Königs gar nicht


b emerkte. Flita j edoch bemerkte den König, warf
ihm rasch einen Blick zu und lächelte. Aber welch
besonderes , süsses , vielsagendes Lächeln ! Selten
in der Tat hatte ihn Flita mit einem solchen Blicke
b e gnadet. Ottos Herz antwortete sofort ; er spürte,
er war ihr Sklave. Ja , von Augenblick zu Augen­
blick wuchs seine Liebe zu ihr, nur ein freundliches
Gesicht brauchte sie ihm zu zeigen, und hellauf
brannte seine liebeheisse Seele. Aber ein unbändiges
Feuer war's. Er wandte sich an Hilary und schnitt
ihm sein Reden ab durch den barschen Befehl :
>>V erlassen Sie das Zimmer ! Auch täten Sie besser,
Sie sprächen, ehe Sie zu Bett gehen , bei Doktor
Brandeuer vor ; entweder haben Sie stark Fieber,
oder Sie sind von Sinnen. Gehen Sie alsbald k<
Hilarys Verfassung war derart, dass ein Befehl
in solchem Ton einfach an Stelle seiner eigenen
Gehirntätigkeit trat ; m e chanisch leistete er ihm Folge.
Das war auch das Beste, was er tun konnte, denn
er hatte in der Tat heftiges Fieber , und wäre
er nicht ohne weiteres Besinnen der gegebenen
\V eisung nachgekommen und zu dem Schlossar:?te
gegangen, so hätte er sich wahrscheinlich die ganze
lange Nacht hindurch wie irr herumgetrieben. So
aber bekam er eine beruhigende Arznei und wurde
in sein Bett gebracht , wo er auch sofort in einen
tiefen, todähnlichen Schlaf fiel.
Nachdem Hilary sich e ntfernt hatte , schloss
Flita hinter ihm die Tür und wandte sich zu Otto.
))Lasse n Sie es heute Nacht zu keiner Willens­
schlacht zwischen uns kommen«, sagte sie durch­
aus herzlich. »Ich gebe Ihnen zu bedenken , dass
Die Blüte und die Frucht. XIV. 1 63

ich stärker bin, als ich war. Ich bin viel stärker
als Sie. Und Sie haben damals schon erfahren
müssen, dass Sie mir nicht einmal so nahe kommen
konnten, um mich anzurühren. Also lassen Sie mich
ruhen, und zwar in Frieden. Ich möchte meine
Schönheit erhalten, um Ihretwillen und um meiti.et­
willen.«
Otto antwortete erst nach einer kleinen Pause
auf diese ungewöhnliche Anrede. Als er dann sprach,
geschah es mit Anstrengung. Grosse Schweisstropfen
standen auf seiner Stirn ; er hob die Hand, sie ab­
zuwischen.
))Ich sehe, Flita, ich bin auch diese Nacht gegen
Sie machtlos«, sagte er, ))Und kann nicht einmal einen
Schritt zu Ihnen hiri machen. Aber lassen Sie sich
warnen ; ich gebe nicht nach und werde das G e­
heimnis Ihres Wesens ergründen ; ich werde zuletzt
noch über Sie siegen. Ich will es, und wenn ich
in die Hölle hinuntersteigen müsste, um den Zauber
zu holen, der stärker an Kraft ist als der Ihrige. «
Flita warf ihr Reisekleid a b und schlüpfte in
ein weissseidenes Gewand, das ihr die Dienerinnen
zur Hand gelegt hatten ; sie löste ihre Haare und
liess sie über ihre schlanke Figur hinabgleiten. Das
Gewand hatte weite Aermel, die von den Schultern
gerade herabfielen und die Arme frei liessen. Diese
hob sie nun in die Höhe, faltete die Hände über dem
Kopfe und lachte dazu wie ein Kind. Wie schön
sie aussah !
D icht neben ihr stand das grosse, weiche Bett
mit Seidenzeug , schaumigen Spitzen und gold­
gestickten Decken. Sie glitt hinein, ihre weissen
Augenlider sanken schwer herab und die langen,
1 64 Die Blüte und die Frucht. XIV.

schwarzen Wimpern lagen wie Pinselstriche auf


ihren Wangen. Alsbald war sie auch tief im
Schlummer, tiefer, als ärztliche Kunst es je hätte
einleiten können ; denn die Magie versteht sich darauf,
in einem Augenblick die Seele der Erde zu ent­
rücken und den Körper traumlos und leidlos zurück­
zulassen, dass er friedlich ruht und sich erholt, wie
es das Kind kann. Und Otto stand dabei, sein Hirn
brannte, und sein Herz fror, während seine Blicke
das verführerische Bild verschlangen. Er liebte sie
so über alle Massen und doch so hoffnungslos, dieses
Weib, das jetzt wirklich seine Frau war. Keine
Anstrengung seines Willens konnte ihn auch nur
um eines Haares Breite n äher zu ihr bringen. Sie
war vollständig beschirmt, vollkommen getrennt von
ihm. Es war in der Tat absonderlich, dass sie einem
unschuldigen Kinde gleich hier schlafen konnte,
während wenige Schritte vor ihr ein Mann stand, -
ihr Gatte , in dem alles , was Leidenschaft heisst,
wie Feuer brannte , und der zu allen Qualen un­
gestillten Sehnens und Schmachtens verurteilt war.
Endlich - als schon die Morgenröte sich durchs
Fenster hereinstahl , riss Otto sich los und verliess
das Zimmer. Er ging mit sachten Schritten die
Haupttreppe hinab, dann weiter über Korridore und
Treppen, bis an ein Pförtchen, das er mit einem
Schlüssel öffnete. Es war ein Nebeneingang vom
Garten und dem darangrenzenden Parke her. Als
er die dünne reine Frühluft einatmete, hier unter
dem weiten, freien Morgenhimmel, schien sein ge­
trübtes Gemüt neue Hoffnung zu schöpfen, sich auf­
zufrischen und aufzuleben. Mit grossen Schritten
durehrnass er den Park und bestieg einen Hügel,
Die Blüte und die Frucht. XIV. 1 65

von dessen G ipfel aus er die ganze Stadt und noch


ein Stück seines Landes übersehen konnte. Der
Anblick erhob und stärkte ihn. E r brauchte sich
nicht als Fürstlein zu fühlen, das nur Regieren spielt.
Wohl war sein Königreich klein, und seine Haupt­
stadt konnte man von einem Ende zum andern über­
schauen auf der Kuppe dieses Hügels. Aber die
Grassmächte Europas blickten mit Interesse auf ihn.
Nicht lange nach ihm war Flita, ganz in Weiss,
auch schon draussen i m Morgengrauen. Sie wandelte
allein durch die Gärten und pflückte einige der
prächtigsten Rosen , um sie in ihren Gürtel zu
stecken. Der Hauch idealer Jugend und Schönheit
lag auf ihrem Gesicht, als sie aus dem Blumen­
reiche heraustrat. Sie hatte dort Tau von den
Gräsern gesammelt und ihre zarten Wangen und
Lippen damit genetzt. Einige Tropfen von einem
Rosenbusch, den sie gestreift hatte, glitzerten fast
schöner als Diamanten auf ihrem schwarzen Haare.
Den ersten Dienern, die ihr in den Weg liefen,
gab sie Auftrag, sich nach der Herzogin und nach
Hilary zu erkundigen, und lehnte jetzt, bis die Ant­
wort kam, an der sonnenbeschienenen Glastüre,
durch die sie eingetreten war, - ein strahlendes
Bild, das, wie der Edelstein, erst im höchsten Licht
seinen schönsten Glanz zeigte. Und ein Edelstein
war diese Flita, mochte ihr Licht v e rsengen oder
erwärmen, gleichviel ; sie war ein Juwel auf Erden.
Die Antworten kamen. Die Herzogin war die
ganze Nacht sehr krank gewesen ; der Arzt war
noch bei ihr und erlaubte nicht, dass man sie störe.
Hilary lag noch immer in dem tiefen Schlafe, der
nun schon Stunden dauerte.
1 66 Die Blüte und die Frucht. XIV.

))Man wecke ihn«, befahl die Königin, »und


sage ihm, ich erwarte ihn binnen einer Stunde bei
der Magnolienlaube.«
Sie trat wieder hinaus und spazierte im Sonnen­
schein auf und ab. Es war ein sorgfältig abgeson­
d e rter Garten, von hohen Mauern umgeben und
hinter Bäumen geborgen, so dass die Majestäten in
Ungezwungenheit Sonne und frische Luft geniessen
konnten. Diese Schutzmassregeln hatten aus dem
ohnehin sonnigen Fleck ein wahres Blumenparadies
gemacht. Flita war für den Augenblick tief glück­
lich hier ; ruhte ihr Geist und sprach die Schönheit
d e r Natur zu ihren Sinnen, so wurde sie wie ein
Kind. Sie suchte sich da und dort noch eine schöne
Rose aus, die ihr zu gefallen wusste, und steckte
sie an ihr Kleid, so dass sie zuletzt, als es Zeit war,
zu den Magnolien zu gehen, aussah wie die Rosen­
königin, so feenhaft war das Blütengewand.
Die Magnolienlaube war der Glanzpunkt des
Schlossgartens. Sie lag den Mittelfenstern gerade
gegenüber, jedoch in einiger Entfernung von ihnen
hinter einem querlaufenden, wohlgepflegten Rasen­
gürtel. Ursprünglich war eine Sommerlaube dort
aufgebaut und seitlich davon, längs der einen Hälfte
d e r Gartenmauer, eine Wurfbahn eingerichtet wor­
den. D e m Hause und den B eeten zu war sie ganz
o ffen und durch eine Dachung vor Regen und Wind
geschützt. Ottos Grassvater hatte die Anlage her­
stellen und mit verschiedneu Arten seltener Bäume
bepflanzen, auch Schlinggewächse anbringen lassen ;
der Ort hatte aber aus irgend einem Grunde den
Magnolienbäumen am besten zugesagt ; sie waren
in solcher Fülle herangewachsen, dass sie schliess-
Die Blüte und die Frucht. XIV. 167

lieh die Stätte für sich allein beanspruchten. Den


ganzen Winter hindurch waren Dach und Säulen
geschmückt mit Massen rankenden Grüns ; wenn
aber die Magnolienblüte begann, war es dort über
allen Begriff reizend. Und nun wurde das, Laube
und Allee zusammen, in übereinstimmendem Em­
pfinden allseitig die Magnolienlaube genannt. Flita
hatte einen vorüberkommenden Gärtner darum be­
fragt. Sie war bezaubert gewesen von dem Platze
und seiner Schönheit, wie sie das erste Mal heraus­
trat, und fühlte sich merkwürdig glücklich und zu
Hause unter dem Schirm und Schutz dieses Orts.
Hier also wandelte sie friedlich auf und ab, als
Hilary kam. Er stand bei ihrem Anblick still, denn
sie schien ihm die Verkörperung alles nur mög­
lichen Schönen. Sie war jünger, anmutiger und
doch energischer im Ausdruck, als er sie je gesehen,
und der natürliche Blumenschmuck kleidete sie rei­
cher, als Diamanten und wertvolle Roben es ver­
mochten. Denn dieses seltene Geschöpf war durch
und durch N atur, heimisch unter den Blumen oder
auf Bergeshöhen, absonderlich und stolz unter Höf­
lingen und im herkömmlichen Treiben der Männer
und Frauen.
»Setzen Sie sich hierher«, sagte Flita, indem sie
selbst sich auf einem bequemen, weich gepolsterten
Diwan in einer schattigen Ecke niederliess. Wie
beruhigend, wie wonnig die Luft war !
»Sie fühlen sich besser«, begann Flita, »ich sehe
es Ihnen an. Sie haben geschlafen wie ein Toter
und sind heute morgen zu einem frischen Leben
erwacht. Das ist recht, das habe ich erwartet ; es
hätte aber auch anders sein können. Nun möchte
168 Die Blüte und die Frucht. XIV.

ich mit Ihnen sprechen. Die Arbeit ruft uns. Um


M ittag muss ich mit dem Ankleiden fertig und bereit
sein, in die Kathedrale zu gehen und mich krönen
zu lassen. Von da ab gehöre ich der Oeffentlichkeit
d e n ganzen langen Tag bis spät in die Nacht. Aber
ich habe gelernt, im Menschengewühle allein zu sein
und eine für j edermann geheime Rolle durchzu­
führen. Sie müssen es auch so machen, unsre Ar­
b e it beginnt heute. Wir haben j etzt die hierfür nö­
tige Stärke gewonnen.«
Hilary fröstelte, sogar hier im Sonnenschein und
m itten unter den Blumen. Er wusste, sie spielte
auf den grässlichen nächtlichen Vorgang von gestern
an, wo er getötet hatte ; aber was - ?
»Flita«, sprach er mit leidlicher Ruhe, »erinnern
Sie sich, was ich die vergangene Nacht zu Ihnen
sagte, als mir befohlen wurde, Sie zu verlassen ?
Habe ich nicht eine Aufklärung verlangt, ehe ich
wieder für Sie zu handeln hätte ?«
»Ja , das haben Sie , und darum habe ich Sie
hierherrufen lassen , um Ihnen alles klarzulegen,
soweit Sie es fassen mögen.« Sie hielt kaum merklich
inne, um dann rasch, aber verständlich fortzufahren.
»Wir haben von unsern längst vergangenen
Leben gesprochen ; dass wir früher auch schon bei­
sammen waren, Hilary, dass wir liebten und uns
verloren und trennten, nur um uns wiederum zu
begegnen und uns wieder zu lieben und zu verlieren.
Wie die Blumen, die jährlich blühn und dann weg­
sterben, bis ein neuer Jahreslauf ihnen ein neues
Leben gibt, so haben wir ehedem in einem der
A eonen auf dieser Erde geblüht und die edelste
B lüte getragen, die diese Erde hervorzubringen im
Die Blüte und die Frucht. XIV. 1 69

stande ist, die Blüte der menschlichen Liebe. Du


willst das nicht verstehen, Hilary, denn es treibt
dich nicht, dein Wissen und dein Erfahrungserbe
anzutreten. Du bist lau und bald befriedigt, arm an
Glauben und noch voll Liebe zum Leben. Darum
bist du noch mein Sklave. Die Macht, die ich mir
gewann, als unsere Seelen zum ersten Male hier
auf Erden sich begegneten, hast du mir nie wieder
entrissen ; ich bin dein Herr geblieben. Jetzt aber
will ich keinen Sklaven mehr, ich brauche einen
Gefährten ; ich selbst heisse dich deinen ganzen
Willen anstrengen, um mir an Wissen und Macht
näher zu kommen. Du weisst, dass ich vor kurzem
in die Weisse Brüderschaft aufgenommen zu werden
versuchte, jenen grossatiigen Orden, der den Erd­
ball beherrscht und die Zügel des bestirnten Uni­
versums in seinen Händen hält. Du weisst, es ist
mir missglückt. Ich bereue nicht, den Schritt ge­
wagt zu haben , denn umzukehren wäre Feigheit
gewesen, nachdem Iwan selbst bereit war, mich an
den Ort der Prüfung zu geleiten. Aber ich war
eine Törin, mein Streben und Wirken so hoch zu
überschätzen. Ich hatte eine gar lange, herbe Lehr­
zeit abgedient, war so müde geworden, die vielen
Leben hindurch, müde der Liebhaber und der Kinder,
dass ich wähnte, jede menschliche Liebe, j ede Liebe,
die an ein einzelnes \V esen in der \V elt sich hängt,
sei ein für allemal mit den Wurzeln herausgerissen,
für imm er. Der ganzen Menschheit wollte ich dienen,
in Rat und Tat jedem Bedürftigen freudig mein
Bestes geben und doch für mich allein auf eignen
Füssen stehen, auf niemand gestützt, mit niemand
verhängt. So dachte ich es mir und damit war das
1 70 Die Blüte und die Frucht. XIV.

Rätsel für mich gelöst. Das Problem der mensch­


lichen Liebe, des Lebens i m Geschlecht, das Problem
der mystischen Zweiheit im Dasein , � das alles
s chien mir für immer zur Ruhe gebracht . . . 0 wäre
e s doch so gewesen ! Dann, Hilary, dann wäre
j etzt auf Erden meine letzte Blütezeit gewesen, ich
hätte in mir selbst die Frucht gefunden, die göttliche
Frucht, die neues Leben verleiht, andersartiges Leben,
göttliches Wissen, unerschütterliche Macht. Aber es
ist missglückt. Ich kam hinein, in ihre Mitte, Hilary,
- ich sah sie. Kein z weites Weib hat sie erblickt,
diese u nirdisch en, hehren, herrlichen Wesen. Aber -
» . . . Du weisst, wie es endete. D u fandest mich ,
sahst, wie i c h niedergesch mettert und gebrochen
war. Bevor du zu mir kamst, hatte ich Worte ver­
nommen, ein Sprechen, wie wenn es von den Sterne n
ausginge und i n den Himmeln widerhallte . Mein
Schicksal wurde mir v erkündet und meine Arbeit mir
gewiesen. Alsbald, mit ganzer K raft, soll ich b eginnen.
Darauf würischte ich einen der Weissen Brüder­
schaft zu spreche n , um eine Bestätigung meiner
Berufung zu erhalten. Es glückte nicht. Und da
verstand ich , dass ich allein stehe, mein eigener
R ichter und Meister.«
Sie erhob sich j etzt und ging vor ihm auf und
ab, während sie vor sich hinsah und langsamer
weitersprach.
»Geliebte, Gattin, Mutter, - das alles kann ich
um der L iebe willen nicht mehr sein. Ich stehe
allein in der Welt, kann mich an keinen Mann mehr
anlehnen, keinen mehr lieben die Zeiten lang, die
i ch noch auf dieser Erde wandern mag. Solch Leben
liegt mir fern, es hat m ich verlassen ein für allemal,
Die Blüte und die Frucht. XIV. 171

ich stehe darüber. Bist d u trptzdem willens, es mit


mir zu halten, mir zur Seite zu stehen, mein Gefährte
zu sein ?«
Hilary atmete schwer auf, ihm war's, als müsste
er seiner Liebe, dem Teuersten seines Herzens, der
einzigen Hoffnung seines Daseins Leb e wohl sagen,
allem, was am Weibe Beglückendes war, allem, was
er je gewünscht hatte und überhaupt zu wünschen
fähig war. Aber da vor sich sah er die hehre weisse
Gestalt einer Priesterin, Flita, zur Heiligen verklärt,
wie sie j etzt die Siegstrahlenden Augen auf ihn
richtete. Er begriff es, ein Fei neres, unendlich Be­
gehrenswerteres und Befriedigenderes musste in
seinem Herzen an Stelle der lieblichen Blüten seiner
seitherigen Liebe treten. - Das alles kam ihm im
Flug eines Augenblicks ; und in demselben Atemzug
stammelte er ein >>Ja«, das sein ganzes Wesen zu
ergreifen schien. Dann aber war blitzschnell, in
der Sekunde, die weisse, blendende Gestalt der
Prophetin vor seinen Augen verschwunden, und
dafür sah er das jugendfrische, herzliebe Gesicht des
Weibes, das er liebte. Ein Stöhnen, wie vor phy­
sischem Schmerz, kam von seinen Lippen.
»Flita, ich kann's nicht«, rief er, »ich kann dir
nicht entsagen.«
))Du hast's schon getan k< triumphierte sie lachend.
Es war ein sonderbares Lachen, nicht weiblich,
und doch klang es beglückt.
»Glaube nicht, du könnest dich dem Gelübde,
das du im Geiste schon abgelegt, deshal b wieder
entziehen, weil dein Herz sich auflehnt !« sagte sie.
»Dein Herz wird sich tausendmal auflehnen : es wird
sich gebärden, als ob es in seinem Leid den ganzen
1 72 Die Blüte und die Frucht. XV.

Körper auflösen müsste. Weiss ich das nicht ? Habe


ich es doch durchlebt, bin ich doch daran gestorben !
Aber das Gelübde, einmal gesprochen , muss erfüllt
werden . . . Ich bin befriedigt, denn ich weiss jetzt,
du wirst meine Arbeit teilen.«
Sie ging schweigend noch ein wenig hin und
her, setzte sich dann wieder neben ihn und sprach
rasch und bestimmt, wie zu Anfang, weiter.

XV.

>>Ich kann nicht allein hinein. Ich für mich


kann gar nicht hinein. Die hohe Lehre der Selbst­
losigkeit habe ich zu lernen, mitbringen muss ich
an jeder Hand eine Seele, beide geschult, geläutert,
zum Opfer auf dem Altar vorbereitet, dass sie dann
Glieder der grossen Brüderschaft werden können.
Ich aber kehre zufrieden um und bleibe aussen. -
Fassbar ist es mir und verständlich, aber ob es ge­
lingt, ob ich es fetiig bringe, ist eine andere Frage,
eine ganz andere Sache. Ach Hilary, wo die b eiden
Herzen finden, zwei starke Seelen , die der ersten
Weihe würdig sind ? «
>>Und ist d i e Pforte glücklich erreicht«, fragte
Hilary in trüber, scheuer Spannung, »müssen dann
wirklich die zwei hin ein und Sie aussen lassen ?«
»Ja«, sagte Flita, »gewiss, so ist' s«.
»Dann m ag ich keiner von den zweien sein«,
rief e r leidenschaftlich. >>Ich liebe Sie und will Sie
nicht lassen, selbst um den Himmel nicht. Ich werde
Die Blüte und die Frucht. XV. 173

Ihnen dienen , wenn Sie es wünschen, aber bei


Ihnen m u s s i c h s e i n dürfen.«
Er sprang auf und lief mitten durch die Rasen­
rabatten weg, wie wenn er ein derartiges Gespräch
nicht weiter anhören könnte ; in wenigen Sekunden
war er zwischen den B äumen verschwunden. Flita
sank erschöpft und entmutigt zurück ; fahle Blässe
trat an Stelle der glänzenden Frische, die eben noch
ihre Mienen so verschönt hatte. Ihre Augen starrten
weit aufgerissen, aber offenbar ohne etwas zu sehen,
unverwandt auf den Grasboden. Sie schien kaum
mehr Atem zu holen. Eine förmliche Lähmung hatte
die schöne, freudige Gestalt befallen.
» Was soll ich tun ?« rief sie endlich gequält,
))Wie kann ich leben in so viel Kampf und Leid? -
Aber ich will ! Das Gesetz des Leids habe ich an­
gerufen ; Freude gibt's nicht mehr für mich, auch
wenn mich noch darnach verlangte.«
Wortlos und regungslos verharrte sie eine Weile.
Dann erhob sie sich und fing an, langsam auf und
ab zu gehe n , sichtlich in tiefem Nachdenken. Ihr
Geist arbeitete fort und fort.
))Es geht nicht allein k< rief sie endlich in heller
Verzweiflung. )) Wer soll mir helfen ? Nicht eine
Ahnung kann ich haben, wer mein z weiter Gefährte
sein soll, die andere Seele, die ich mitzunehmen
habe. 0 mächtige Brüderschaft, es ist nicht leicht·,
was ihr fordert k<
Während ihres Selbstgesprächs hatte sie mutlos
den Kopf sinken lassen. Jetzt, da sie ihn wieder
erhob, sah sie Otto auf dem sonnigen Grase stehen
und sie beobachten. Seine anfangs finstre Miene
wurde freundlicher. Flita streckte ihm ihre Hände
174 Die Blüte und die Frucht. XV.

mit demselben feinen , gewinnenden Lächeln ent­


gegen, mit dem sie ihn schon zuweilen gegrüsst
hatte. Er kam sofort näher.
»Ich habe mir's überlegt«, begann er, »dort auf
dem Hügel. Die ganze Zeit über, seit ich letzte
Nacht von Ihnen ging, hab ich ernstlich nachgedacht,
Flita. Ich betrachte mich nicht gebunden an die
Bruderschaft, der Sie huldigen.«
Flita schaute ihn v erwundert, dann fast streng an.
»Wie nur mögen Sie sich so täuschen«, sagte
sie, ))nachdem Sie doch eben erst den Zügel zu fühlen
hatten, der dem Novizen angelegt ist ?«
>)Wieso ? weil ich Ihnen nicht nahen konnte ?
Sie sind Magierin, ich weiss es wohl ; es ist ganz
unnütz, mir das verhehlen zu wollen, denn ich habe
Sie Ihre Macht gebrauchen sehen. Die Brüder haben
Sie etliche ihrer unheiligen Geheimnisse gelehrt.
Wahrscheinlich könnten Sie auch jetzt einen Kreis
um Ihre Person ziehen, in den ich nicht eintreten
dürfte. Wirklich, ich glaube, Sie haben so etwas getan.
Aber was ist das Besonderes ? Ich habe auch mein
Teil über diese Dinge gelesen und gedacht. Das
Uebernatürliche ist nicht ausserordentlicher als das
Natürliche, sobald man einmal daran gewöhnt ist.
Dass es überhaupt nicht da sei, dass die gesamte
Natur an einem bestimmten Punkt Halt mache, könnte
nur ein blinder Materialist behaupten. Und das bin
ich doch nicht. Aber ich habe auch keine Angst
vor dem Uebernatürlichen, über das ich als Katholik
von Jugend auf belehrt worden bin. - Eure Bruder­
schaft dagegen . . . , das ist doch ganz ein ander
Ding. Sie will etwas schlechthin Reales, so eine
Art Naturkraft sein, eine Macht , die jeder Mensch
:Die Blüte und die Frucht. XV. 175

an einem Zeitpunkt seiner Entwicklung für oder


gegen sich haben müsse. Das ist's doch wohl, was
Sie und Vater Iwan haben sagen w ollen ?«
»Ja«, bestätigte Flita.
»Gut, dahin kann i ch nicht folgen. Ich sehe
nicht, dass die Bruderschaft irgend ein Recht hätte,
einen solchen Anspruch geltend zu machen.«
>>Sie macht nichts geltend«, sagte Flita. »Eine
Tatsache braucht keinen Herold. Warten Sie ab !
Sie werden sich noch von den Tatsachen überzeugen.
Aber ich m öchte darauf lieber nicht eingehen. Eben­
sogut könnten wir darüber streiten, ob die Erde
flach oder rund sei.«
Im ersten Augenblick trieb der Aerger Otto das
Blut ins Gesicht ; denn ihr Ton klang von oben
h erab und verriet eine selbstherrliche Gering­
schätzung , die sich eine Königin allenfalls gegen
Höflinge, nicht aber gegen ihren König erlauben
darf. Doch rasch bezwang er sich wieder.
»Im Grunde genommen«, meinte er dann, »kann
ich mir wohl denken, dass es Ihnen so vorkommen
mag. Weitere Erörterungen sind da allerdings nutz- ·

los. Aber für mich ist das Vorhandensein einer


sotanen Bruderschaft eine rein willkürliche Be­
hauptung. Dass Iwan den meisten Priestern unge­
wöhnlich überlegen ist, weiss ich. Aber wodurch ?
- In erster Linie durch seinen V erstand. Das ist
meine Meinung.«
»Nein«, entgegnete Flita, »der Weisse Stern auf
seiner Stirne ist's, der ihn vor den Menschen aus­
zeichnet und ihn göttlich macht. Iwan lebt für die
Welt, nicht für sich selbst ; wie die ganze Brüder­
schaft ist auch er leidenschaftslos und strebt nach
176 Die Blüte und die Frucht XV.

keinerlei Glück . . . Otto, ich muss diesen Stern ge­


winnen. Wollen Sie mir helfen ?«
»Wie das ? «
»Ein grosses Arbeitsfeld wartet. I c h habe eine
philosophische Schule zu gründen und die Ged a nken
der Menschen auf die höheren Lebenswahrheiten zu
l enken. Das Ziel ist mir gesteckt, und ich brauche
Hilfe. Aber Hilfe leisten kann mir nur, wer keine
Liebe von mir fordert und mich nicht länger als
ein Weib ansieht, sondern als ein Werkzeug der
Weissen Brüderschaft erkennt, wer ohne Sold und
Vergütung zu dienen und zu leiden willens ist und
wahrhaftig darnach verlangt, die Pforte zur Weissen
Brüderschaft zu erreichen.<<
Sie redete rasch, begeistert und voll Zuversicht,
da sein Gesicht den freundlichen, vielversprechenden
Ausdruck die ganze Zeit über behielt.
»Ich kam zu Ihnen her«, antwortete er langsam,
»mit einem Angebot, einem Vorschlag. Hören Sie
ihn. Ich bin bereit, I h r treuer Liebhaber bis zum
Tode, Ihr Freund, ja selbst Ihr Diener zu sein in
allem, was menschlich und natürlich ist, wenn Sie,
Flita , diese unnatürlichen Bestrebungen aufgeben
und m ein Weib, m eine Gehilfin, sein wollen.«
Es war ein gutgemeintes Mannesw01i. Tränen
standen in Flitas Augen, als sie ihn ansah.
>>Ich habe Sie nie geliebt, Otto«, erwiderte sie.
So, wie Sie es meinen, kann ich Sie auch nie lieben ;
aber Sie können mein Wesen bis in seine Tiefen
bewegen und meine Seele rühren. Denn Sie sind
sehr aufrichtig. Doch könnten Sie ebensogut ver­
suchen, den Lauf der Gestirne zu ändern, als die
Gestaltung und Bahn meines Lebens zu verrücken.
Die Blüte und die Frucht. XV. 177

E s ist unwiderruflich vorgezeichnet, . ich selbst hahe


es in das Buch des Schicksals eingetragen durch
mein Wollen , das seit langen, langen Zeiten be­
harrlich das gleiche blieb. Und hätte ich nicht die
Schwierigkeit unterschätzt, so ständ ich schon, un­
erkennbar für Sie , innerhalb der grossen Pforte.
Aber ich hatte den wahren Begriff von der
tiefen Selbstlosigkeit noch nicht , die zu meinem
ernsten Schritt unerlässlich ist. Ich weiss jetzt, dass
ich nie mehr mir selbst, auch nicht den reinsten
Zuneigungen meiner Seele leben darf. Ich habe zu
arbeiten, - ich bitte Sie, helfen Sie mir !«
Otto betrachtete sie wehmütig.
»Ich suche nach einer Hilfe«, sagte er, >>und Sie
tun dasselbe. So sollte es zwischen Mann und
Frau nicht sein. Eines muss dem andern nachstehen .«
Flita blickte auf, und in ihren Augen blitzte es
wie zu einer Kraftprobe. Plötzlich wandte sie sich
mit einem Seufzer ab. Die Schlossuhr schlug. Es
fiel ihr ein, dass es Zeit war, sich hinein zu begeben
und sich für die heutige Festlichkeit vorzubereiten.
Sie hielt noch einmal inne und schaute Otto an.
Sie war j etzt sehr bleich, so dass durch den Gegen­
satz die Rosen noch prunkender erschienen.
»Wollen Sie mich zu Ihrer Königin krönen
lassen ?« fragte sie. »Oder möchten Sie lieber, dass es
nicht geschehe, nachdem Sie mich nun besser kennen?«
))Es bleibt mir keine Wahl« , erwiderte Otto
einigermassen bitter. >>Sie sind in Wirklichkeit meine
Königin schon. Aber Sie haben Ihr eigenes Ge­
wissen, dem Sie über die Art, wie Sie mit mir ver­
fahren, Rede stehen müssen.«
>>Mein eigenes Gewissen !« Die Worte echoten
12
1 78 Die BlUte und die Frucht. XV.

in Flitas Seele fort, als sie, ohne Otto zu antworten,


nunmehr langsam über die Terrasse auf die offene
Glastüre zuschritt.
Habe ich, was er ein Gewissen nennt ? fragte
s i e sich. Soll ich mir Vorwürfe machen um meine
Missetaten ? vergangene Torheiten bereuen ? Nein ;
tät ich das, wie könnte ich leben ? leben mit dem
mystischen Gedächtnis , das den gewöhnlichen
Menschen weislich versagt ist, durch das ich aber
mich sehen kann, wie ich die Leben durchwanderte,
und beobachten kann, wie ich sie verlebte .und was
für Taten ich wirkte ! - Otto wird leiden. Er ist
nicht stark genug, sein Gedächtnis zu fordern, er
liebt die Welt der gesunden menschlichen Natur,
die das Unvermeidliche verkennt und Schicksal ,
das mächtige Gesetz, missachtet, so sicher es auch
auf seine Ziele hinarbeitet. Mein arme r Otto, mein
G atte , Liebhaber , Freund !' - ich wünschte , ich
könnte dir das Leiden ersparen !
Sie hatte inzwischen ihre Gemächer erreicht
und fand sich alsbald von Mädchen umringt, die ihr
Festgewand vorbereiteten, und von h ohen Damen,
die ihr als Gesellschafterinnen bestimmt waren. Sie
war gnädig gegen die einen wie gegen die andern,
aber so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, dass
s i e k au m einen Unterschied machte und mit dem
Mädchen, das ihr Haar ordnete, gleich gütig sprach
wie m it der feinsten Hofdame, die ihr die s chuldige
Ehrerbietung erwies. Alle mussten das sonderbar
finden ; und nun vollends ihr trauriger Gesichts­
ausdruck ! Hatte sie s i ch schon mit ihrem Gemahle
gezankt ? . . . war sie gegen ihren Willen an ihn
verheiratet worden ?
Die Blüte lind die Frucht. XV. 1 79

Der feierliche Akt des Ankleidens war heute


noch weit unangenehmer als sonst ; schon lange vor
Schluss wurde sie bleich und müde. Endlich war
sie fertig und konnte sich erheben ; fast übernatür­
lich schön stand sie da in ihren schleppenden Ge­
wändern , unbeugsame Sicherheit und sieghaftes
Machtgefühl lag in ihren zarten Zügen. Durch einen
magischen Willensakt beseitigte sie ihre Mattigkeit,
und als sie die grosse Kathedrale betr.at und innen
der Mittelpunkt des Krönungszugs wurde, war sie
einmal wieder die strahlende, aller Zuschau er Augen
blendende j unge Königin im Vollbewusstsein ihrer
Schönheit und königlichen Macht.
Und doch , im Grunde ihres Herzens sah es
traurig und trostlos aus.
Die Pforte schien zu fest verschlossen ! Die
beiden, die sie liebten, wollten auch nur wie andre
Menschen lieben. Unmöglich erschien's , sie mit
einem Strahle, einer raschen Vision der erhabenen
Liebe zu erleuchten , die keine Gegengabe will,
sondern göttlicher Natur ist und sich selbst ver­
schenkt. Wo sollte sie nach andern Seelen Um­
schau halten ? An diesem Hofe nicht, wo ihr die
Menschen noch hohlköpfiger und eigennütziger vor­
kamen als die andern, die sie verlassen hatte. Auch
konnte sie niemals hoffen, hier mit ihrer grossen
Aufgabe, der Gründung einer Schule der Philosophie,
zu beginnen. War ihr jede Tür verschlossen ? - Es
schien so.
Zugleich aber, mit dieser Ueberzeugung, erhob
sich neugestärkt und vertieft ihr Entschluss , zu
siegen.
180 Die Blüte und die Frucht. XVI.

XVI.

Ganz und gar alles war ihr verschlossen, stock­


finster lag die Welt vor ihr, nirgends ein Ausweg,
weder rechts noch links. Wer kennt sie nicht, diese
Nacht der Verzweiflung ? Schon in der zarten Kindes­
seele hält sie Einkehr. Im erwachsenen Menschen
wird daraus ein m ächtig Ding, das ihn mit Blindheit
schlägt und oft sein Lebe n für lange verdüstert. Wer
aber so gefährliche, schwierige Pfade wandelt wie
Flita, den überfällt es als Grausen , Zerknirschung,
Verzweiflung. Flita besass mehr Erkenntnis, höhere
Einsichten, als die gewöhnlichen Menschenkinder,
die ihre Blicke und Erwartungen noch nicht über
die einfach en Freuden der Erde erhoben haben. Sie
verfügte über ein Wissen, so gross, dass es als Alp
auf ihr lastete, ja sogar ihren Geist zu zermalmen
drohte, sobald sie sich nicht sagen konnte , wie es
verwenden.
Was sie sollte, war ihr völlig klar, aber wie
nur beginnen ? Sie, die Allgewaltige, Unvergleich­
bare, Niebesiegte, die kein Unstern irre machte, und
die vor keinerlei p ersönlicher Beschwer und Gefahr
wich, sie sah sich nun mattgesetzt Mattgesetzt vor
der Aufgabe, ein anderes menschliches Wesen zu
gewinnen, mitzunehmen und zu leiten ! Allein konnte
sie nimmer voran ; eine andere Seele sollte ihr zur
S eite stehen, und dann noch eine ; aber keine bis
j etzt war dazu willens ! Keine !
Kaum beachtete sie , was um sie her v orging,
Die Blüte und die Frucht. XVI. 181

n u r mechanisch spielte sie ihre Rolle als Königin


und blieb bei allem, was das Fest mit sich brachte,
innerlich teilnahmlos, froh, als sie endlich in ihren
Gemächern war, - endlich in Frieden und von
niemand mehr behelligt, abgesehen von den Dienst­
habenden. Auch diese schickte sie weg , um dann
im Lehnsessel still dazusitzen, allein und doch mit
einem Heere so unbändiger, ungestümer Gedanken,
dass die Luft ringsum von den Schwingungen förm­
lich lebendig wurde und mitvibrierte.
Die Königin war allein ; wie allein, wusste nur
sie selbst. Als eine der Zofen einen Blick ins Zimmer
warf , sah sie ihre junge Fürstin so vollkommen
regungslos dasitzen, dass sie annahm, sie sei in dem
bequemen Lehnstuhl eingeschlafen und dürfe nicht
gestört werden. Flitas Gesicht war zur Seite ge­
wandt und lag auf den seidenen Kissen, ruhig und
leblos, fast eher wie ein Kunstwerk aus Elfenbein,
als wie ein -Antlitz von Fleisch und Blut. Denn alle
Farbe war daraus gewichen, und nicht der leiseste
Wechsel der Schatten verriet ein Mienenspiel.
Flita sah sich allein vor einer entsetzlichen Wirk­
lichkeit, vor einer fürchterlichen Aufgabe, die nur
die Wahl liess : Lösung oder Verzweiflung und Tod.
Und auch der Tod barg für sie nicht, wie für die
meisten, den Gedanken einer Befreiung; denn sie
wusste, sie würde darnach wieder leben und färide
sich wieder vor dieselbe Aufgabe gestellt.
Denn Gesetz herrscht in der ganzen Natur ; wie
die Pflanze wachsen muss, so auch der Mensch :
das Leben schreitet weiter und niemand hält es auf.
Und Flita war in die grosse Strömung denkenden
und gesteigerten Lebens eingetreten, das über dem
1 82 Die Blüte und die Frucht. XVI.

tierischen Dasein liegt, mit welchem sich die meisten


begnügen. Kein Triumph ihres äussern Menschen,
kein Sieg ihrer Schönheit, kein Zauber ihrer per­
sönlichen Reize, keine Vervollkommnung ihrer glän­
zenden V erstarrdesgaben konnte sie ferner erfreuen
oder befriedigen, denn sie hatte ihr Selbstbewusstsein
erweitert durch die Kenntnis ewiger Dinge. Auch
sich wusste sie ewig und unsterblich ; sie musste
also leiden und leiden, bis dieser grässliche tote
Punkt überwunden war.
Es schien ihr unmöglich , ihn zu überwinden.
Sie durfte kein zweites Mal hoffen, sich der Pforte,
der ihr Sehnen galt, zu nähern, ausser sie brachte
andere Seelen mit, geläuterte und bereitete Seelen.
Für deren Rettung, nicht für die eigene, sollte ihre
Kraft, ihr Können eingesetzt werd en.
Aber niemand wollte von ihr gerettet sein.
Diese zwei Menschen, die sie nicht liessen und
die so manches Leben zu ihr gestanden hatten,
waren immer noch, nach den langen Zeiten, blind
vor Liebe zu ihr. Bei dieser Einsicht zog ein Weh
durch ihre ganze Gestalt, dass sie zitterte und zagte
wie ein Leib, der mit dem Tode · ringt.
Diese Lieb e ! - Liebe war das Mittel, durch das
sie die beiden so lange angezogen und geleitet, Liebe,
was die beiden so nahe ans Tor gebracht hatte.
War's möglich, mussten sie jetzt abfallen, - wieder
durch die Liebe ?
Sie sprang auf und lief hin und her. »Soll ich
m eine Macht gebrauchen ? Soll ich mich hässlich
m achen, zur dürren, welken Alten ? Würde das die
Liebe und die Leidenschaft in ihnen ertöten ? Wäre
ich dann ihre Führerin, und nicht mehr bloss das
Die Blüte und die Frucht. XVI. 183

schöne Ding, das jeder für sich selbst begehrt? . . .


Ich muss denken - denken !«
Lange ging sie sinnend auf und ab. Aber keine
Freudigkeit, kein Kraftgefühl klärte ihre Mienen.
»Ich werde es versuchen müssen. Ich will
Jugend und Schönheit opfern . . . Ob wohl die zwei
die Seele da innen entdecken können ? . . . Freilich,
ein grosses - ein entsetzliches Wagnis !<<
Soweit überlegte sie ruhig. Aber plötzlich fuhr sie
auf und schrak zusammen wie unter einem Messerstich.
»Ihr heiligen Mächte !« rief sie schmerzlich.
»Was muss ich entdecken ! . . . Wagnis ? warum ?
weil ihre Seelen etwa verloren gingen, wenn nicht
mehr ich sie leiten könnte ? Torheit ! Wenn ihnen
zu helfen ist, so wird ihnen geholfen, auch ohne
mich . . . Wagnis ? - jawohl, weil ich ihre Liebe
darob verlieren könnte ! so ist's ! Das leidet kein
Verstecken mehr. Belogen hab icn mich ! 0 Hilary !
Otto ! vergebt, dass ich j e zu euch reden konnte, als
wäre ich weiser nnd selbstloser als ihr. Die Maske
ist weg. Ich täusche mich nicht mehr.« - Nicht
im Traume war ihr jemals eingefallen, dass es j e m and
zu fördern und zu retten geben könne ausser jenen
beiden, die ihr Zeitalter hindurch Freunde und Ge­
nossen gewesen waren. Und das war die Flita,
die sich frei wähnte, gerüstet, die Halle der Wahr­
heit zu betreten, berechtigt, vor den hehren Meistern
zu stehen und von ihnen zu lernen ! - »Kann denn
nie meine Seele rein werden«, seufzte sie, »mein Herz
nie ausbrennen ? Greif um dich, Schmerzensfeuer,
und tilg, was krank ist !«
Sie wankte nach ihrem Stuhl und stierte vor
sich hin in den Boden hinein.
1 84 Die Blüte und die Frucht. XVI.

»Wie mag ich diese letzten Schlacken vollends


ausglühen ? Wie greife ich es an ? . . . Und daran
fortdenken zu müssen ! - es einzusehen, so klar,
wie ich es jetzt erkenne, dass ich Leben um Leben
m i ch für einen Schutzengel ausgegeben, der reinen
Herzens nur aufs Wohl der beiden andern bedacht
gewesen ! . . . Diese lange, schmähliche Zeit habe
ich mich bloss an ihrer Liebe gehalten, mich ange­
klammert, wie j e des andere schwache Weib. Liebten
sie nicht, dann dünkte mich, Liebe gebe es gar nicht ;
liefen sie nicht hinter mir drein und huldigten sie
m i r nicht, so hielt ich die Welt für leer. Und Liebe,
wahre Liebe, die Liebe, die immerzu schenkt und
nichts begehrt, ist noch i n mir n icht geboren. Gut
denn, ich bin bestraft, hab e mich selbst gestraft, noch
eh ich m einen Fehler wusste ! Die V\Telt ist nicht leer,
wahrlich nicht, - nur ich stehe einsam in ihr. Ja,
v öllig allein. Mein Meister und m eine Freunde haben
m i ch verlassen. Ich habe all und jedem Unrecht zu­
gefügt, und sie sind gegangen. Darf ich mich dessen
wundern ? Nein, ich habe es v erdient; verdiene es noch.<<
Flita schlug den Mantel u m , der über der Stuhl­
lehne hing. Sie zog ihn über Kopf und Gesicht
und ihre ganze Gestalt, dass sie drinlag, wie eine
Mumie in ihren Tüchern. So verblieb sie stunden­
lang gänzlich regungslos. Mehrmals kam m an ins
Zimm er, nach ihr zu sehen, aber sie lag so stille da
und hatte sich unverkennbar selber so gebettet, dass
man sie nicht stören mochte und j edes glauben
m usste, sie sei eingeschlum mert. Zudem erforderte
k ein zeremonieller Akt m ehr ihr Erscheinen ; König
und Königin sollten unter sich speisen. Doch als Flita
nicht kam, sandte der König auch nicht nach ihr.
Die Blüte und die Frucht. XVI. 1 85

D e r Abend verstrich, und die Nacht brach an.


Nun erhob sich Flita, zog rasch ein unauffälliges
Gewand an, legte ein Tuch um und schlüpfte un­
beobachtet aus dem Zimmer. Wie ein flüchtiger
Schatten huschte sie sachte und verstohlen die Treppe
hinab und gelangte auch unbemerkt in den Garten.
Der würzige Duft der Magnoliablüte hauchte sie an
und einen Augenblick hielt sie inne, indes an ihrem
geistigen Auge die Szenen des Morgens noch einmal
vorüberzogen. Aber endlich riss sie sich los und
lief auf dem dunkeln Rasen fort bis zur Parkmauer.
An ihr tastete sie sich hurtig, aber lautlos weiter.
Offenbar suchte sie nach dem Tore oder sonst
einem Ausgang der Umfriedigung. Nicht um unter
den Bäumen Beschaulichkeit zu pflegen oder den
Wohlgeruch der Blumen zu atmen, war sie hier,
sondern einzig, weil sie anders nicht in die Stadt
zu kommen wusste ; das vordre Hauptportal zu
wählen passte ihr nicht, sie wollte nicht bemerkt
oder begleitet sein. Zuletzt stiess sie auf ein hohes,
mit gefährlichen Spitzen versehenes eisernes Tor.
Sie schaute sich's einen Augenblick an, kletterte
dann plötzlich mit einem Anlaufe hinauf und schwang
sich mit einer Leichtigkeit und Sicherheit hinüber,
die eher der Anspannung ihres Willens entsprang,
als einer Uebung des Körpers. Als sie sich eben
herabliess , hörte sie die Schildwache auf ihrem
R undgang näherkommen. Wie eine Schlange glitt
sie ins Dunkel einiger gegenüberstehenden Bäume.
Trotz ihrer Flinkheit hatte der Wachtposten sie ge­
sehen und in dem flüchtigen Schatten eine Frau er­
kannt, aber der eine Blick in dieses blasse, wilde
Gesicht mit dem unheimlichen Ausdruck schreckte
186 Die Blüte und d i e Frucht. XVI.

ihn von der Verfolgung ab, - er hielt sie nicht für


ein Geschöpf von Fleisch und Blut. Und doch
s chlug arm Flitas Herz in dem glücklich erreichten
Versteck so heftig, dass sie eine Weile still stehen
m usste, um es zur Ruhe kommen zu lassen.
Aber bald gewann s i e ihre Spannkraft wieder
und schritt sicher vorwärts auf die Lichter der Stadt
zu. War es eine Art Instinkt, was sie leitete, oder
ein geheimnisvolles Wissen ? ohne Suchen gelangte
sie geradeswegs in den gewünschten Stadtteil, das
schlimmste Viertel, wo die lange Nacht h indurch
Licht und Feuer nicht erlosch und wüster Lärm von
fremden und rohen Stimmen kein Ende nahm. Hier,
im Herzen der Altstadt, war ein ständiges Zi euner­ g
lager ; Nomaden mussten sie ja wohl bleiben, aber
doch kehrten sie immer wieder hierher an di esen
ihnen zur Heimat gewordenen Sammelplatz zurück.
Und sie schürten die in dem Stamme liegenden
Leidenschaften und den Hang nach Aufregung der­
m assen, dass die Hütten und Schuppen, in denen
sie wohnten, ringsum eine Stätte ewiger, heilloser
Orgien waren.
Flita verfolgte ihren Weg durch die engen,
krummen Gassen des ärmlichen Bezirks mit so
raschem, sicherm Schritt, dass niemand sie ansprach
oder aufhielt, wenn auch mancher stehen blieb und
ihr nachschaute. Si e konnte ihre sternengleiche
Schönheit nicht ganz verbergen. Endlich war sie
am Ziel. Es war ein freier, dreieckiger, gepflasterter
Platz mit einem laufenden Brunnen in der Mitte.
Als dieser Stadtteil gebaut wurde, war er edleren
Zwecken zugedacht : Arbeiter und Handwerker soll­
ten hier wohnen ; - allmählich aber war das ganze
Die Blüte und die Frucht. XVI. 187

Viertel von Räuberbanden, Dieben und Mördern in


Besitz genommen worden, einem Menschenschlag,
der in j eder Grassstadt für sich lebt, weil er nie­
mand anders in seiner Domäne duldet. Dieses
Dreieck war der Mittelpunkt des Quartiers , und
hier, wo fast alle Gassen zusamm enliefen, wurde
des Nachts ein offener Markt abgehalten. Aussen­
herum, am Hauptweg, hätten Bäume stehen sollen,
und neben dem l aufenden Brunnen Gebüsche, aber
die letzte Spur solcher feinerer Ansprüche war
längst verschwunden ; der Ort war dem Schmutz
und der Unsauberkeit verfallen. Als Flita eintraf,
begann der Markt sich gerade zu beleben. Es war
wahrhaftig ein tolles Durcheinander ; an einem Stand
wurde um Lumpen und alte Kochhäfen gefeilscht,
an einem andern um Juwelen v on schon beträcht­
lichem Werte. Aber all die schönen Sachen, die
man hier kaufen konnte, waren eingebettet in die
schwarzbraune Schmutzschicht, die den Grundton
für alles gab.
Flita ging schnurstracks mittendurch auf den
Brunnen zu. Neben . ihm, an der Stelle, auf die sie
zuschritt, war ein wackliges, schmieriges, altes Zelt
aufgeschlagen. Innen war auf nacktem Erdreich ein
Thron aus Lumpen hergerichtet, auf dem ein altes
Weib hockte und den Eingang beherrschte. Die
Bude hatte gerade Raum genug, sie zu fassen. Neben
ihr stand ein hölzerner Stuhl, auf dem sie aus einem
fettigen Bündel alter Karten wahrsagte. Eine Frau
beugte sich jetzt über sie und beobachtete mit atem­
loser Spannung die Kartenblätter, die aufgelegt
wurden.
Flita trat ganz nahe heran und wartete dann,
188 Die Blüte und die Frucht. XVI.

indem sie an dem leeren Brunnen lehnend mit ihren


schönen Augen die gemeine Szene betrachtete.
Im nächsten Augenblick sah die Alte auf. »Ah,
du bist's ?« sagte sie.
))Ja«, erwiderte Flita ; das war alles. Das Weib
las ihre Karten ab und strich die Silbermünzen mit
peinlicher Sorgfalt ein. Als !}Uch ihre Kundin sich
entfernt hatte und v o rerst keine neue zu sehen war,
wandte sie sich wieder an Flita.
>>Wahrsagen lassen ?« fragte sie kurzweg. Sie
redete stets in barschen Abkürzungen und in allerlei
abgerissenen Brocken ; aber es ist fast unmöglich,
ein entsprechendes Bild der eigenartigen Blüten ihres
Stils zn geben, denn sie sprach, jedenfalls m it Flita,
echtes Zigeunerisch. Mit der Frau, die soeben hier
gewesen, hatte sie i n der derben Mundart des Land­
volks geredet.
))Ja«, erwiderte Flita.
Die Alte stiess ein lautes, wunderlich gackerndes
Gelächter aus, zog eine kleine, schwarze Tabakspfeife
hervor und begann sie zu füllen. M ittendrin legte
sie die Pfeife wieder weg und blickte auf.
))Scheint mir fast, dir ist Ernst damit. Ist es
die Möglichkeit ?<i:
»Ja«, sagte Flita zum dritten Male und war
j edesmal blässer ge worden. Die alte Hexe gückelte
unverwandt aus ihren ·kleinen Augen nach ihr hin.
»Dann sind schlimme Zeiten bei dir einge­
kehrt, m ein Liebchen ! . . . Bist doch Königin hier,
oder was ?«
Flita nickte nur.
))Wie machst du es nur, allein an einen Ort
'
wie diese n zu kommen ? - Ja freilich, ich weiss,
Die Blüte und di.e Frucht. XVI. 189

du bist selbst für den Teufel gescheit genug: ·


Was
hat's gegeben, dass du zu mir findest ?«
>lieh habe meine Spur verloren«, gab Flita in
aller Ruhe zur Antwort. 11Ich weiss nicht, welchen
Weg wählen, und du musst mir helfen, den rechten
herauszufinden.«
I>Muss - muss ?« fauchte die Alte und vertauschte
ihre angemasste Vertraulichkeit plötzlich m it einer
feindseligen Giftlaune. >IHast sie schön behalten,
deine Mätzchen ! Wie hast du herausgebracht, dass
ich hier bin ?«
Flita antwortete nicht.
>>Dazu versteht man das Handwerk noch gut
genug, gelt, mein Dirnehen ? Warum kannst dann
nicht selber das Morgen und das Neujahr sehen ?«
Flita faltete die Hände und verharrte bei ihrem
Schweigen.
>IEs bleibt dabei, ich will es wissen«, p lärrte die
Alte in höchster Wut, >loder ich tu dir deinen Willen
nicht, auch wenn du mich vom Scheitel bis zur
Zeh mit Plagen teufelst. Ich kenn dich; es kommt
dir nicht drauf an, du quälst und teufe1st mich wie
früher, um aus mir herauszupressen, was ich weiss.
Nur zu, mach, was du magst ! Ich hab ein neues
Mittelchen dagegen. Nichts tu ich für dich, ausser
du b eichtest, was dich zu mir treibt. Hoffte, seiest
s chon schlohweiss wie eine Lilie, sitzest auf d.e m
Thron und tuest schön mit den Engeln . . . Warum
ist man hier ?«
Solch Gerede hätte den meisten ein Lächeln
entlockt. Aber Flita kannte sich aus, sie wusste,
was es mit ihrer Partnerin und Lehrmeisterin von
ehemals auf sich hatte, und nahm es sehr ernst,
1 90 Die Blüte und die Frucht. XVI.

wog deshalb auch ihre Worte wohl ab , ehe sie


erwiderte.
»leb wagte mich zur Initiation des Weissen
Sternes, und bestand nicht. Meine Kräfte sind dahin,
ich bin blind und allein.«
Die Alte stiess einen eigenartigen Laut aus, einen
triumphierenden Fluch.
»So h och hast du dich verstiegen, so, so ? Ein
Weib - und die Weihe ! war sowas je da ? - Du
bist wert, blind zu sein und stumm dazu für deine
Grosssucht.«
Und dann brach die Hexe in ein Gelächter aus,
während Flita sie geduldig gewähren liess und
wartete.
»leb merk akkurat , was j etzt dein Stolz ist«,
sagte die Alte endlich. >>Seelenretten ! . . . ich
schick sie noch immer justament zur Hölle, wie wir's
in unsern letzten Leben beide getan. Wohl be­
komm' s ! nur wirst du ein Haar in der Sup p e finden.
Niemand läuft dir nach, sobald du einmal dieses Ge­
schäft betreibst.«
»Das habe ich schon erfahren«, sagte Flita.
)>Mir aber laufen sie nach !« schrie die Hexe.
»Daran denk, und vergiss auch nicht, wie hübsch
du bist, und wie hässlich ich bin. D en Leuten ist
recht wohl mit ihren verlorenen Seelen, sie wollen
um alles nicht gerettet sein . . . Heisst das, nur
das Pack, die Masse ; - es gibt schon einen Ge­
wissen, der möchte gerettet sein, der will Hilfe, -
gerade jetzt.«
Flita rührte kein Glied und suchte das Weib
fest unter ihren Blicken zu halten.
»Soll ich dir sagen, wer ?«
Die Blüte und die Frucht. XVI. 191

. »Sag mir die Wahrheit, Etrenella ; ich gebiete es !«


Einen Augenblick noch und die Alte zischelte
leise und minder unwirsch als zuvor :
»Dein Meister ist's , dein Iwan. Gehst schon
einmal auf Seelen aus, so rett die seinige. Brau cht
jemand, der ihm beisteht.«
Flita fuhr unwillkürlich eine Schrittlänge zurück,
ihr zielbewusster , auf Etrenella gerichteter Blick
verlor seine Sicherheit.
»Meinst du das im Ernste ?« rief sie völligim Garn.
Etrenella kicherte befriedigt und nahm ihre ge­
wöhnliche Art wieder auf.
»Tu nicht so, als wüsstest du nicht, ob ich die
W ahrheit rede«, brummte sie ; »bist nicht wieder
zum Kinde worden , das weiss ich gewiss. Nun
gieb acht , edle Königin, ich kann dir was viel
Bessers schenken als Thron, König und Königreich
oder sonstwas auf Erden ; ich kann machen, dass
Iwan dich mehr liebt als selbst den weissen Stern.
Halbwegs soweit ist es schon mit ihm, es will nur
noch ein kleines Schieben. Das kann ich besorgen,
wenn du mir das Stichwort gibst . . . aha ! ich seh
dir's am Gesicht an, m eine schneeweisse Königin,
seh's am Zittern deiner Hände - : das ist's wohl,
warum sie durchfiel, wie ?«
Und die schreckliche Etrenella langte sich wieder
ihren schwarzen Pfeifenstummel, stopfte ihn vollends
und zündete ihn an, während Flita matt und elend am
Brunnen lehnte, mehr tot als lebendig im Strudel der
Gefühle, die auf sie ein wogten. Es war die mächtigste
aller Versuchungen, die je an sie herangetreten waren.
Nach einem boshaften, grausamen Blick auf die
bebende Gestalt fuhr Etrenella zu sprechen foti.
192 Die Blüte und die Frucht.. XVI.

:»Brauchst dich nicht lange zu bedenken. Hast


ja schon Untaten genug auf dem Ge wissen. Ich
seh sie , da überall in der Luft um dich herum.
Was war's denn, das Hilary dir töten musste ? Du
Vampir ! Zn einem Morde hast du ihn verleitet ,
das weisst du wohl. Das Ding war fast schon
menschlich k<
>>Du hast es hergeschickt k< rief Flita, die plötz­
lich die Sprache wieder fand.
>>Ich, ja ich ! Warum auch nicht ? Ich ver­
nahm, du seiest verheiratet , und schickte es aus,
um von dir zu hören. Schlau und durchtrieben von
dir, es zu töten und dir sein L eben zuzulegen !
Sonst lägst du jetzt im Fieber und wärest nah am
Sterben. Die kleine Herzogin treibt's nicht m ehr
lang ; du hast sie so verscheucht, dass sie nicht
drüber wegkommt. Und Hilary Estanol ? Der wird
ja bald vollends durch deine Schönheit seine Seele
verloren haben ? - Die Herrlichkeit mit deinem
Laboratorium ist jetzt auch zu Ende ? Was ?«
))Sprich zu mir, wie es sich für dich geziemt k<
gebot Flita, indem sie sich aufraffte und sofort auch
die Führung wieder übernahm. ))Sag mir, wie und
w o ich meinen Meister finden soll ? «
))Gerade das vermag i c h dir nicht zu offenbaren«,
entgegnete Etrenella. >>Weit hungriger musst du zu­
vor noch sein können, ehe d u ihn findest. So viel
weiss ich. Und noch etwas kann ich dir sagen,
einfach genug, könntest's dir selber lesen : alles wird
dir in die Brüche gehen, nicht bloss die Freunde,
auch Thron und Reich. Man wird sich soviel um
dich kümmern, als wärst du hässlich wie des Teufels
Grossmutter. Da fahr ich besser bei meinem Ge-
Die Blüte und die Frucht. XVII. 193

schäft. Wie ? . . . Raus mit der Sprache , ist's


nicht so ?«
Statt aller Antwort kehrte ihr Flita den Rü cken
und machte sich auf und davon, ohne sie noch eines
Blicks zu würdigen. Augenscheinlich sah sie in
Etrenella alles eher denn eine Respektsperson. Wie
die Alte merkte, dass Flita sich wirklich entfernte,
erhob sie sich halb von ihren Lumpen und krächzte
ihr noch einen Segen nach.
»Ans Tor der Hölle musst du laufen, um ihn zu
finden, das kann ich dir sagen.«
Flita ging scheinbar unberührt ihren Weg weiter.
Aber fort und fort hallten in ihren Ohren diese
Worte wieder, und ihr Echo v erfolgte sie von Gasse
zu Gasse. Alles, die ganze Stadt, war ihres eigenen
Jammers voll, . . . nichts sonst da, kein Ding und
kein Mensch, - nicht hier, nicht in der weiten Welt.

XVII.

S chon tags darauf - nein, noch am selben Tag,


denn der Morgen dämm erte bereits , während Flita
durch die Stadt ging, - begannen sich Etrenellas
Offenbarungen zu erfüllen.
Flita war unangefochten in den Palast gelangt, -
auf welche Weise ? das konnte sie sich schlechter­
dings nicht mehr zurückrufen. Nun lag sie zu der
Stunde, die sie ge wöhnlich draussen bei den Blumen
verbrachte, in einem Halbschlaf der Erschöpfung und
Verzweiflung auf ihrem Bett. Da kam eine Meldung,
Ia
1 94 Die Blüte und die Frucht. XVII.

der König wünsche sie besonderer Umstände halber


zu sehen. Die Botschaft lautete so dringlich , dass
Flita es vorzog, nachzugeben, so schwer ihr's fiel.
Sie erhob sich, warf ein loses weisses Spitzengewand
über und begab sich in ein sonniges Gartenzimmer­
ehen, um sein Kommen zu erwarten. Das Singen
der Vögel tat ihr wehe, sie zog sich vom Fenster,
an das sie aus Gewohnheit getreten war, nach dem
Hintergrunde des Gemaches zurück. Dort stand sie,
als Otto unter der Türe erschien. Einen Augenblick
stockte er , so sehr erschreckte ihn ihr Aussehen.
Die Morgenfrische, die keine nächtliche Anstrengung
jemals ihrem Antlitz geraubt hatte, fehlt e gänzlich ;
es war weiss wie das Kleid, das sie trug, und mit
ihrem schwarzen Haar , das in Strähnen auf ihre
S chultern herabfiel , glich sie eher einem Gespenst
als einem lebenden Weibe.
))Sie sind krank, ernstlich krank k< rief Otto.
Flita trat nachlässig zum Spiegel und blickte
hinein. Sie lächelte. Weich ein bitteres Lächeln !
Si e dachte in ihrem Herzen : Ich fange schon
an zu verblühen ! - die menschliche Maschine macht
immer wieder die alte aufreibende Runde, bald wird
sie m einer überdrüssig sein. Es geht zu Ende ! . . .
Solch schwere Traurigkeit im Herzen wandte
sie sich ohne Antwort ab. Mit einer Gleichgültigkeit,
die geradezu v erletzend wirkte , liess sie sich auf
einem Sopha in der dunkelsten Ecke des Zimmers
n ieder. Otto ärgerte sich und sprach zunächst nicht
mehr von Flitas Befinden.
))Ich habe Ihnen meine Gesellschaft aufgedrängt«,
sagte er steif, ))nur weil es meine Pflicht war. Ver­
gangene Nacht wurde zwischen zwei Grassmächten
Die Blüte und die Frucht. XVII. 1 95

der Krieg erklärt. Meine und meines Reiches Lage


ist einfach die einer Mücke zwischen Zeigefinger
und Daumen ; die verbündeten Mächte sind so stark
und so gelegen, dass ich erdrückt werden muss.
Natürlich muss ich mich wehren, ist das Spiel auch im
voraus unvermeidlich verloren. Sie j edoch dürfen
hier nicht bleiben. Sie müssen auf der Stelle fort.
Noch vierundzwanzig Stunden, und ich kann nicht
mehr für Ihre Sicherheit einstehen, für die ich Ihrem
Vater verantwortlich bin. Also gehen Sie ; machen
Sie sich fertig und verlassen Sie den Ort. Säumen
Sie keine Stunde , keine Minute. Einen Tag lang
sind Sie meine Königin gewesen, - ich glaube, es
war Ihnen lange genug.«
»Vollkommen lange genug« , antwortete Flita
gelassen, »und doch bedünkt mich, der Vorhang
fällt etwas zu früh. Ich wusste um Ihre Lage,
natürlich, glaubte aber, Sie haben die Absicht, sie
zu halten, und rechnen dabei auf meinen Beistand,
Ich dachte, es sei noch eine Sache der Diplomatie.«
»Ja, das war es bis _gestern nacht« , erwiderte
Otto. »Ich hatte keine Ahnung, dass man so rasch
vorgehen wolle. Ich hatte für den Lauf der nächsten
zwei Monate eine Reise mit Ihnen nach London
und Petersburg geplant und gebe gerne zu, dass ich
mir viel von Ihrer Hilfe bei den Verhandlungen mit
diesen Mächten versprach. Aber alles ist mir aus
den Händen gespielt und ohne meine Wissen ab­
geschlossen worden.<{
Er trat ans Fenster, so dass er ihr den Rücken
bot, und fuhr dann in einem Tone tiefer Erregung fort :
»Hab ich das auch Ihrer unglückseligen Zauberei
zu verdanken, Flita ? Haben Sie diese Männer in
1 96 Die Blüte und die Frucht. XVII.

ihren Träumen aufgereizt, sich zu meiner Vernichtung


zu verbinden ?«
Einen Augenblick hatte Flita eine heftige Er­
widerung auf der Zunge , aber sie bezwang sich
und sagte dann gefasst und leise :
»Als Ihre Königin h alte ich treu zu Ihnen.«
Etwas ausserordentlich Nachdruckvolles lag in
der Art, wie sie das betonte. Es gewann Otto so­
gleich. Er wandte sich rasch nach ihr um, mit
l euchtenden, vom regsten Interesse belebten Mienen.
D er erste Strahl durchbrach die Wolke, die ihn,
seit er bei ihr war, fortwährend umdüstert hatte.
>> Vvr ollen Sie sich dem Heere zeigen, ehe Sie
reisen ?« rief er aus. ))Es würde alles ändern. Die
Leute haben keinen Mut.«
»Keinen Mut k< wiederholte Flita und erhob sich
unverzüglich. Zwei Purpurflecke erschienen auf
ihren Wangen, ihre Augen blitzten. >>Wann soll
i ch kommen ?«
»Jetzt - sofort« , antwortete er in gleichem
Eifer. />Auf dem grossen Felde vor der Stadt wird
Parade abgehalten. Wollen Sie mich begleiten ?«
»Einen Augenblick k< rief Flita.
Sie eilte an ihm vorüber in ihr Zimmer und
schloss die Türe hinter sich ab. Niemand war zu­
gegen, sie bediente sich selbst. Es war umso besser,
denn es erleichterte ihr die Aufgabe. Drei Mi­
n uten lang stand sie vollkommen regungslos hinter
der verschlossenen Türe. Ihr Antlitz war wie aus­
gemeisselt, jede Linie scharf und hart , und ihre
Augen glichen denen eines Tigers. Ihr starker Wille,
erweckt und getrieben, durchlief elementarisch all
ihre Fibern und Organe und rief die verborgenen
Die Blüte und die Frucht. XVII. 197

Lebensenergien zur Betätigung auf. Und so voll­


brachte sie ein Wunder, wie es ab und zu auch
ein geschickter Hexenmeister zuwege bringt. Selbst
ihr kam es wie Hexerei vor, als sie nach den drei
Minuten vor den Spiegel trat und sah, wie ihr Ge­
sicht jetzt lebte, ihre Wangen glühten, ihre Augen
blitzten und strahlten, und ihre Jugend frischer als
zuvor sich wieder einstellte. Rasch wand sie ihr
Haar auf und steckte es mit Brillantnadeln fest. Mit
ein paar Strichen über ihr Gesicht erzielte sie denselben
Erfolg, den Frauen sonst mit Pomaden, Schminken
und Puder und halbstündiger Arbeit erreichen :
der zündende Eindruck war, harmonisch verfeinert,
noch verschönt worden. Ihr weisses Kleid legte
sie ab und griff aus ihren Schätzen in Eile ein Ge­
wand von Goldbrokat heraus, über das sie zuletzt
noch einen langen, weissen, goldgestickten und mit
Scharlach gefütterten Mantel warf. So ging sie zur
Tür und öffnete - : >>Ich bin bereit.«
»Mein Gott ! Sie sind wahrhaftig eine Hexe«,
rief Otto. »Sie blühen, Sie strahlen, sind tausendmal
schöner als j e ! 0 Flita, höre mich an. Ich will nie
von deiner Seite weichen, will dir dienen wie ein
Sklave, nur lass mich dich lieben !«
»Sie mich lieben k< rief Flita mit der schneidend­
sten V erächtlichkeit aus. »Nein, täuschen Sie sich
nicht. Sie lieben nur meine Schönheit, - ein Ding
des Augenblicks. Gefiele es mir, statt meiner ein
anderes Mädchen schön zu machen, würden Sie Ihre
Liebe auf dieses übertragen. Kommen Sie, führen
Sie mich zu Ihren Soldaten. Die wenigstens sind
ehrlich. Sie mögen ein Weib, solange es jung und
hübsch ist, und plagen es mit ihrer Liebe ; ist es alt,
198 Die Blüte· und dre Frucht. XVII.

so muss es ihnen kochen und wie ein Esel lasttragen.


Ihr Könige seid ebenso, nur habt ihr den Mut nicht,
es offen herauszusagen. Kommen Sie, ich bin bereit ;
geleiten Sie mich k<
Ihr Wesen war so gebieterisch, dass Otto nichts
übrig blieb, als widerspruchslos zu gehorchen.
Und nun folgte die eine kurze Stunde, während
der sich Flita wirklich als Königin fühlte ; denn das
gestrige Gepränge ha,tte sie nicht berührt. Kaum
traf sie unter den Soldaten ein, so wirkte sie einer
Brandfackel gleich, die kommt und zündet.
Als die Leute die j unge Königin in ihrer sieghaften
S chönheit mitten unter sich erblickten, kannte die
Begeisterung keine Grenzen. Da und dort, wo es
anging, wechselte sie ein paar Worte mit den Mann­
schaften, die sie mit ihren Augen verschlangen und
auf sie lauschten, als bringe sie eine Himmelsbotschaft
Der alte General, der neben ihrem Wagen ritt, schaute
um zwanzig Jahre jünger drein, ob der begeisterten
Gesichter seiner Truppen.
))Ich wünschte, Ihre Majestät zögen mit uns auf
den Kampfplatz k< rief er plötzlich.
))Ich auch«, bekräftigte Otto von der andern
Seite herüber.
))Tu' ich auch«, antwortete Flita ruhig.
)) Was sagen Sie ?« rief Otto in verändertem
Tone. Er hatte nicht daran gedacht, dass sie seine
Worte ernst nehmen könnte, sondern einfach der
Stimmung A usdruck gegeben, die der Anblick ihres
Einflusses in ihm erweckte.
))Sagen Sie den L e uten, General«, gebot Flita,
»dass ich sie aufs Schlachtfeld begleite. Ich werde
sogleich nach dem Schlosse zurückkehren und meine
Die Blüte und die Frucht. XVII. 199

Vorkehrungen treffen. Unnütz allerseits, Einwände


zu erheben, nachdem mein Entschluss feststeht. Ich
gehe mit.«
Sie liess den Kutscher auf der Stelle wenden
und schleunigst zum Schloss zurückfahren, s o dass
niemand Zeit blieb, zu überlegen oder Einhalt zu tun.
- Sie war nun fort, nicht aber ihr Einfluss. Und
als es unter den Leuten herumkam, sie gehe mit
ihnen, stieg der Jubel aufs höchste.
Als erste Truppenbewegung war der M arsch
einer grössern Abteilung an die Grenze beschlossen,
wo sich eine weite Ebene befand, auf der die Armee
lagern sollte. Aller Wahrscheinlich keit nach mussten
hier die ersten Schläge geführt werden. Der König
sowohl wie der General ging m it diesem Teil des
Heeres , und nun auch noch Flita. Alles beneidete
diese Glücklichen , die einem fast sichern Tod ent­
gegenzogen, aber von der j ungen Königin angelächelt
wurden ; so wild schlagen im Kriege die Herzen,
sind sie einmal entflammt. In Flita selber stürmte
es nicht minder. Ihr ward der wütende Tumult,
der ihre Pulse jagte und ihr Blut wieder erwärmte ,
zum förmlichen Erlöser ; es war eine Gnadenfrist,
eine Rast von den drückenden Spannungen ihres
Lebens, vielleicht gerade zur rechten Zeit, ehe der
Riss, unter dem sie litt, sie zum Wahnsinn gebracht
hätte. Als ihr dieser Gedanke zu Sinn stieg, hielt
sie einen Augenblick in ihrem Tun inne und griff
mit beiden Händen nach ihrem Kopfe : Es ist wahr­
haftig möglich, sagte sie zu sich, es hätte ein Leben­
lang Tollhaus daraus werden können. Dieses Kriegs­
fieber ist meine Zuflucht ; solange es vorhält, will ich
mich nicht denken lassen, . . . ich greife zur Leiden-
200 Die Blüte und die Frucht. XVII.

schaft und lebe in ihr. Und sie trieb mit neuem


Schwung die Mädchen an, die für sie packten und
richteten. -- Die Stunde des Abmarsches von der
Stadt hatte ihr nur wenig Zeit für Vorkehrungen
übrig gelassen ; aber sie war mehr als pünktlich,
sie war einige Minuten früher, als sie erwartet wurde,
zur Stelle. Sie erhob sich im Wagen, um sich zu
verneigen i n Erwiderung der begeisterten Begrüssung,
die ihr zu teil wurde. Zur Seite des Wagens ritt
ein Diener, der ein feuriges, junges Ross führte, -­

Flitas Lieblingspferd. Es war dasselbe Tier, auf dem


sie daheim die Strecke zwischen ihrem Landhause
und der Residenz zurückzulegen pflegte, und das
m it ihr in ihre neue Heimat gebracht worden war.
Sie hatte Befehl gegeben, dass es sie jetzt begleiten
solle. Otto fragte, warum ? aber sie gab keine Antwort.
Der Marsch war kurz, er dauerte nur andert­
halb Tage. Flitas Wagen blieb geschlossen, als man
am nächsten Morgen aufbrach ; niemand hatte sie
mehr zu Gesicht bekommen, seit si.e s ich für die
Nacht gelagert hatten, nicht einmal Qtto. Es sah sie
auch niemand, bis zur Mittagsrast kommandiert
wurde und sie aus dem Wagen stieg in einem Reit­
kleid vom feinsten roten Stoffe. Ihr Nichterscheinen
hatte die Geister der Leute etwas gedämpft ; aber
nun sie in dieser ihrer Kleidung in aller Mitte und
vor aller Augen auftrat, war es gerade, als wenn
die Sonne plötzlich aus den Wolken herausgetreten
wäre ; so nämlich sagte ihr der alte General, und er
b at sie, nicht gleich wieder zu verschwinden .
»Ich hab es auch gar n icht im Sinn«, rief Flita,
die in ihrer aufgeräumtesten und gnädigsten Stimmung
zu sein schien.
Die Blüte und die Frucht. XVII. 201

Was das diesen Nach mittag für ein Marsch war !


Keiner von den Leuten, die die Nacht überlebten,
konnte ihn j emals vergessen ; sie redeten späterbin
weit öfter hiervon, als von all dem andem. Die
schlanke Gestalt in dem roten Kleid, wie sie so
fröhlich z wischen dem König und dem Generale
ritt, wirkte wie ein Magnet und zog aller Augen
an. Es war wunderbar, den unmittelbaren , fas­
zinierenden Einfluss zu beobachten, den Flita aus­
übte. Ihre Gegenwart tat es der ganz e n Truppe
an, und überall war Mut und Zuversicht.
Spät am Tage, als die Dämmerung allmählich
hemiedersank, fiel Flita in dumpfes Hinbrüten. Sie
dachte nicht an etwas Besonderes, ihr Geist schien
zu träumen und zu schlafen. Sie vergass, sich nach
rechts und nach links zu wenden und unablässig wie
während des Nachmittags mit einem leuchtenden
Blick ihrer strahlenden Augen die Leute anzufeuern.
Sie starrte geradeaus, jedoch ohne zu sehen, und
ritt teilnahmlos dahin. Als es dunkler wurde, war
ihr so, als ob etwas um sie h erum vorgehe, aber sie
blieb so abgrundtief in die Gedanken und Phantasien,
in die sie sich verloren hatte, versunken, dass sie
sich nicht aufhalten liess, noch irgendwie aufmerkte.
Sie konnte vielleicht nicht, waren doch ihre Augen
so unbeweglich und fremd wie die einer Nacht­
wandlerin. Sie trabte scharf zu durch die herein­
brechende Dunkelheit ; zuletzt erschrack ihr Pferd
vor etwas, scheute und rannte in rasendem Laufe
dahin. Flita behielt den Sitz, indem sie geschmeidig
den Bewegungen des tollen Tieres nachgab, ohne
sich um dessen Führung zu bemühen ; sie liess
die Zügel ganz fallen und fasste eine Handvoll
202 Die Blüte und die Frucht. XVII.

der langen, flatternden Mähne, um sich daran fest­


zuhalten.
Wilde Laute trafen endlich ihr Ohr und weckten
s i e zum Teil aus der Geistesabwesenheit, der sie
erlegen war. Ein wildes Rufen einer bekannten
und doch vor Angst unkenntlichen Stimme. »Flita !
Flita k< trug ihr der Wind zu. Im selben Moment
bäumte sich ihr Pferd , strauchelte und überschlug
s i ch. Dabei stiess es einen letzten Schrei aus, so
entsetzlich, dass er Flita fast von Sinnen brachte.
Im nächsten A ugenblicke war es tot, denn es hatte
einen Schuss erhalten, der glücklicherweise das so­
forti ge Ende herbeiführte. Flita kam wieder auf
i hre Füsse zu stehen und sah nun ringsum das er­
staunlichste B ild. Sie befand sich direkt unter dem
feindlichen Feuer, und um sich her gewahrte sie
nur einige sterbende Männer und Pferde, die beim
V ersuch, in der Richtung der voranreitenden Flita
zu fliehen, niedergeschossen worden waren. Der
Mond schien spärlich und halb hinter Wolken ver­
borgen, gab aber so viel Licht, um Flita deutlich
genug erkennen zu lassen, dass ihre eigenen Sol­
daten nach allen Richtungen v o m Schauplatz flohen,
ebenso dass weiter zurück der Erdboden voll toter
Körper lag. Sie rührte sich nicht von der Stelle
und sah h in, wie erstarrt vor Grausen ; und immer
noch war sie eine Zielscheibe mitten im fortgesetzten
Kugelregen. Aber ihr Leben schien gefeit, sie blieb
w i e angewurzelt. Ein Pferd, zum wildesten Laufe
angetrieben, raste mit dröhnendem Hufschlag auf
sie zu ; und wieder gellte der Ruf : »Flita ! Flita !<<
I m nächsten Moment war das Pferd an ihrer Seite,
h ielt plötzlich an und blieb schnaubend und zitternd
Die Blüte und die Frucht. XVIII. 203

stehen. Jemand beugte sich zu ihr herab : ))Rasch,


rasch, springen Sie auf, hinter mich k< schrie eine
heisere Stimme, entstellt von Angst um sie. Flita
starrte auf das Gesicht. Wie lange schon kannte
sie diese Augen ? Hatten sie nicht Zeitalter hindurch
zu ihr von Liebe gesprochen ? Und doch waren sie
ihr jetzt fremd, sie hatte ganz die Existenz dieses
Mannes, der sie so treu liebte, vergessen.
>>Hilary, du ?« rief sie aus.
))Herauf aufs Pferd«, stiess er hervor. ))Sehen Sie
nicht, dass auf Sie geschossen wird ? Schnell schnell k<
Sie gehorchte ihm ohne weitere Worte , und
alsbald sprengte auch schon das kräftige Tier mit
ihnen in die schützende Nacht hinaus.
Als sie in einiger Sicherheit waren , mässigte
Hilary die Eile, denn er wusste, wenn jetzt das Pferd
nicht geschont wurde, konnte es später versagen.

XVIII.

Endlich dämmerte der Morgen herauf, zu Hilary�


wirklicher Erleichterung, denn es war keine kleine
Aufgabe für ihn gewesen, in der Nacht das Pferd
zu lenken. Nun durften sie ruhig weiter reiten, und
seine Hauptsorge war zunächst behoben. Es herrschte
jene eigene Stille, die das Erwachen des Frühlichts ein­
leitet. Er wandte sich im Sattel und sah Flita an. Sie
begegnete ruhig seinem Blick, schien aber in ihren
eigenen geheimen Gedanken befangen und vertieft
zu sein. »Gerettet !« sagte Hilary laut. Er allein
204 Die Blüte und die Frucht. XVIII.

kannte die namenlos e Angst , die er gelitten, die


Verzweiflung, die ihn fast rasend gemacht hatte,
während er sie kaltblütig im feindlichen Feuer
stehen sah.
»0 Sie Kleinmütiger k< sagte Flita lächelnd.
»Sie hätten getroffen werden können ! « erwiderte
er mit bebender Stimme. »Ihr Mut ist unbezähmbar,
das weiss ich, aber sich als Zielscheibe hinzustellen,
das ist Tollkühnheit, nicht Mut.«
»Ich habe noch eine Aufgabe«, entgegnete Flita.
»Da schwebt man überhaupt nicht in Todesgefahr.
Sie aber , Hilary , haben Ihr gesamtes bisher er­
w o rbenes Wissen unter einer zu dicken Kruste brach­
gelegt ; deshalb sind Sie immer insolvent , wenn
es gilt, Glauben zu haben.«
Sie sprach in einem Tone kühler, unverblümter
Geringschätzung, der Hilary um so mehr v erletzte,
nachdem seine ohnehin reizbare Natur noch die
entsetzliche Angst ausgestanden hatte.
>!Die Kugeln haben erbarmungsl o s gehaust unter
Ihren Leuten , die Sie zur Schlachtbank führten ,
Flita ; und Sie haben o ffenbar nicht einen Gedanken
übrig für die armen Kerls. Haben Sie kein Herz ?«
>IDen "Leuten, die ich führte ?« rief Flita in UD­
geheucheltem Erstaun en. >llch möchte wirklich er­
fahren, was Sie damit meinen ?
>IWas - Sie wissen es nur zu gut. Alle hätten
Kehrt gemacht und längst Fersengeld gegeben, wenn
nicht Sie immer wieder vorwärts gestürmt wären ;
w a r es doch vollkommen klar, dass ein weiteres
Vordringen nichts als Vernichtung bedeuten konnte.
Aber die Leute wären Ihnen überallhin gefolgt, -
sie folgten Ihnen auch . in den Tod.«
Die Blüte und die Frucht. XVIII. 205

))Ihr barmherzigen Mächte k< schrie Flita auf ,


>>und ich, ich schweifte in die Ferne . . . . , weg
vom Schlachtfeld . . . . tausend Meilen weit. Ich
weiss lediglich nichts von dem, was während Abend
und Nacht vorging, Hilary, bis Sie mich fanden, -
ganz und gar nichts. Diese Toten -, ich weiss, ich
habe sie auf der Seele ! es sei ferne von mir, mich
dem entziehen zu wollen. Aber es war nur meine
Gedankenlosigkeit. Ich war fort bei meiner Haupt­
aufgabe , bei der für mich wichtigsten Arbeit ; ich
war die ganze Zeit ausserhalb meines Körpers. Und
blass dieser mein Körper, m ein tierisches, physisches,
äusseres Bild führte die Unglücklichen dem Tod
in die Hände. Welcher Dämon hielt die Zügel meines
Pferdes ? Ich war es nicht ! nein, ich war weit weg.
Wäre ich geblieben, so hätten wir gewonnen.«
Hilary liess sich ü berzeugen angesichts der un­
gemein tiefen Ergriffenheit und Ehrlichkeit, die aus
ihrem Tone sprachen, und lenkte ein.
))Ist das wahr ?« fragte er. ))Lag es in Ihrer
Macht, die Schlacht zu gewinnen ?«
))Nein«, erwiderte Flita, ))denn wie Sie sehen,
habe ich verloren. Ich dachte an die eine mir liebe
Seele und vergass darüber der vielen mir gleich­
gültigen. Dies ist eine arge Sünde, Hilary, auf dem
Pfade, den ich gehe. Ich muss dafür leiden. Ich
erlag, weil mich meine Stärke verliess. Ich hätte
mich gedulden sollen, bis die Schlacht vorüber war.«
))Aber«, warf Hilary ein, ))Vielleicht sollten wir
verlieren.«
>!Freilich, auch auf das nationale Geschick kam
es an, das weiss ich«, entgegnete Flita, ))aber es
gab eine Zeit am Tage, wo ich im stande war, es
206 Die Blüte und die Frucht. XVIII.

mit ihm aufzunehmen, denn so viel wissen auch


Sie, Hilary : ein Wesen, das u m den Preis, wie ich,
Macht erlangt hat, beherrscht die Kräfte, unter deren
Einfluss die Massen stehen.«
Hilary gab keine Antwort , sondern fiel von
einem Nachdenken ins andere.
I> Wir müssen schnellstens eine Stadt erreichen
und eine Station«, fuhr Flita unmittelbar fort. >>Wir
haben einen langen Weg vor uns.«
»Wohin ?« forschte Hilary. ))Ich wusste nicht,
dass wir etwas im Auge hatten, ausser einem Ort
für unsre Sicherheit.«
»Sicherheit k< sagte Flita ungeduldig.
»Gut denn, wohin also gehen wir ?« wieder­
holte Hilary seine Frage mit einer Miene, die seinen
Entschluss bekundete, nicht wieder Erstaunen oder
Sorge blicken z u lassen.
»Nach England«, lautete Flitas Bescheid.
» England !« Hilary konnte nicht anders, er wieder­
holte das Wort mit höchlichem Erstaunen. )) Und
weshalb?«
>> "\�lir haben Arbeit in England. Ich wenigstens.«
»Mein Amt ist es, über Sie zu wachen«, sagte
Hilary in etwas gezwungenem Ton, indem er sicht­
lich eine grosse B ewegung zu bemeistern suchte.
Flita fiel es auf , wiewohl ihre Gedanken gerade
j etzt ganz anderswo weilten, - weit entfernt von
der Landstrasse, auf der sie eben dahinzogen.
))Warum sprechen Sie so eigentümlich ?« fragte
sie.
))Spreche ich anders als sonst ?« entgegnete
Hilary. ))Nun ja, ich habe mein Teil erlebt heute
Nacht. Ich habe Sie mitten i m Kugelregen gesehen - ,
Die Blüte und die Frucht. XVIII. 207

das war an sich schon genug. Aber ich war über­


haupt nie zuvor auf einem Schlachtfelde, und es ist
keine Kleinigkeit, zum ersten Male zuzusehen, wie
ganze Hunderte von Menschen zusammengeschossen
werden.« Ein leiser Laut Flitas unterbrach ihn, aber
er fuhr, offenbar mit Anstrengung, fort : »Ich habe
noch etwas gesehen - : ich sah einen, mit dem ich
mannigfach verbunden war , fallen und qualvoll
enden.«
Flita beugte sich vorwärts, legte ihre Hand auf
Hilarys Schulter und spähte nach seinem Gesicht,
so dass er sich nach ihr umwenden musste. Es kam
ihm vor , als ob sich ihre Augen in sein Gehirn
bohrten und darin läsen.
>>Ich sehe es«, sagte sie endlich unheimlich ruhig,
aber so leidvoll, dass es Hilary ins Herz schnitt, -
Leid um ihr Leid. Sie liess die Hand von seiner
Schulter gleiten und gab seine Augen frei.
»Ich sehe es«, wiederholte sie. »Es ist Ihnen
erspart, mir's zu sagen. , Alles wird abfallen von dir,
deine Freunde, dein König und dein Reich'. Es ist
gekommen und ist schnell gekommen. Du hast ge­
wonnen, Etrenella. Otto ist tot. Und mir ist sein
Tod gebucht. Mein Geschick fegt so gewaltig dahin,
dass die Menschen davon zu Grunde gehen, wenn
ihr Leben das meine streift. Es ist schauerlich. ,Deine
Freunde', sagte sie auch. Ich habe , glaub ich,
keinen Freund, Hilary, wenn ich nicht etwa Sie als
den einzigen rechnen soll. Aber i ch weiss kaum,
ich glaube, die Liebe übertäubt in Ihnen jede Freund­
schaft. Mag sein, wie es will, verlassen werden Sie
mich jedenfalls, . . . und das bald. Und Otto ist tot k<
Sie verfiel wieder in ihr Sinnen, eine Welt tiefsten
208 Die Blüte und die Frucht. XVIII.

Emptindens, so dass Hilary nicht für angezeigt hielt,


das Wort an sie zu richten ; es gehörte Mut dazu,
wenn ihre Miene den abschreckend ernsten Ausdruck,
wie j etzt, angenommen hatte. Was mochte er be­
deuten ? Ku mmer ? Hilary hatte keine Ahnung.
Sie sass dicht bei ihm , er fühlte ihre Gestalt, die ihn
bei jeder Bewegung des Pferdes berühren m usste.
Und doch war sie ferne wie ein Stern am Himmel.
Sie war für ihn ein R ätsel, ein unauflösbares . Dass
ihm ihre Worte unverständlich waren, störte ihn nicht ;
er fand es ja oftmals u n möglich, ihr zu folgen, wenn
sie sich aussprach. Was ihn empörte, war dieser
starre V orhang, der zwischen ihnen herabfiel und
sie ihm weltfern entrückte, sie so weit entrückte,
dass er erkannte, sie war sich nicht einmal physisch
seiner Anwesenheit bewusst. Konnte er je machen,
dass sie mit ihm fühlte, dass sie gar ihn liebte ?
Diese herzbrechende Frage trat ganz neu vor ihn,
wie ihm schien, ganz unbeantwortbar. Er vergass,
wie lange er schon um ihre Liebe geworben hatte,
er wusste nur, dass sie ihm j etzt, gerade jetzt, noch
tausendfach unentbehrlicher geworden war. Er erlag
fast den Qualen, unter denen er sich bewusst wurde,
dass sein Lieben hoffnungslos sei. Denn wie sollte
er diesen Stern, dieses allen bekannten Lebensformen
so weit, weit entfremdete Geschöpf dazu bringen,
ihm einen Teil ihres Herzens zu schenken ? Und
so zogen sie ihres Weges weiter, j edes in trübem
Brüten, jedes vom andern m eerweit geschieden.
Denn Flitas Seele war von einem einzigen grossen
Gedanken erfüllt, einem einzigen, allesverschlingenden
Verlangen, das blendend emporstieg und alles sonst,
selbst die Erinnerungen der Schreckensnacht, ebenso
Die Blüte und die Frucht. XVIII. 209

wie damals die Geschehnisse selber, in Dunkel ver­


sinken liess.
Und dieser eine Gedanke galt dem Stern ihres
Lebens, der andern Seele, um die sich ihr ganzes
Dasein drehte.
Unseliges Kind des erhabenen Sternes ! Warum
muss dich deine menschliche Natur rückwärts zerren
in die Nacht des Fühlens, wo das grosse Licht nicht
sichtbar ist und nur wieder eine andere Seele, ein
armes individuelles Leben dir zum strahle nden Leit­
stern wird ? Flita spürte, wie sie wankte, - sie
wusste ihre Seele hart am Rand eines gähnenden
Abgrundes. Nur ein unbedachter Schritt noch, und
sie sah sich lieben wie andere Frauen - : in An­
betung ihr ganzes Denken einzig auf den Angebeteten
richten und so den Gesichtskreis ihres Lebens auf
die Sehweite seiner Seele und seines Intellekts
einschränken. Plötzlich durchschauerte es Flita und
ihre ganze Gestalt zitterte wie Espenlaub. Ist es
wahr , was Etrenella sagte ? fragte sie sich. Ist
das schon Liebe ? Wirklich schon Liebe ? Hat das
Verhängnis mich schon ereilt ? die Lust schon die
Sünde geboren ? Und ist's wahr, dass auch er, der
Grosse, am Saume des Abgrunds stand, dass es
nur eines leisen Stosses bedurfte ? Ist der Sturz
von solcher Höhe noch m öglich ? - So reihte sie
Gedanken an Gedanken voll tiefer Scham, Kümmer­
nis und Niedergeschlagenheit. Wohl war ihr eigenes
Herz verzehrt von leidenschaftlichem, menschlichem
Sehnen, aber sie wusste genau, welch hohes Mass
von Selbstlosigkeit von den Gliedern der Weissen
Bruderschaft gefordert wurde ; und sie fühlte, dass
Iwans etwaiger Fehltritt etwas viel Schwereres wäre
14
210 Die Blüte und die Frucht. XVIII.

als der ihrige, etwas so unfassbar Schreckliches, dass


dieser Gedanke sie mitten im eigenen Schmachten
entsetzte und beschämte. Ihr Iwankult trug ein
religiöses Gepräge ; Iwan den Fehltritt ansinnen
schien ihr Lästerung. So konnte der Gedanke an
die Möglichkeit seiner Liebe ihr nicht einen Schimmer
Freude bringen. Nicht einen Schimm er ! - wie
seltsam das auch klingt, da sie sich doch in einen
Gefühl szustand hineingesteigert hatte, dass überhaupt
nur noch sein Bild für sie vorhanden war und j e des
Winkelchen ausfüllte. Ihr bekümmertes Herz begriff:
sie zu lieben wäre für ihn Verzweiflung und Schmerz,
und ihr erwüchsen nur endlose Gewissensqualen,
wenn sie ihn von seiner Höhe herabzöge.

So grübelte sie, in Torheit und Täuschung tief


befangen ; ein kläglicher Seufzer entrang sich ihr,
s o kläglich, dass Hilary sich umwandte, ihr Gesicht
zu sehen ; aber sein Blick fand keine Erwiderung,
so dass er seine seitherige Haltung wieder einnahm .
So ritten sie denn weiter, bis sie in die Nähe eines
Städtchens kamen.
»Wir können von hier aus die Bahn benützen«,
bemerkte Hilary. ))Aber ich sehe keine rechte Mög­
lichkeit, wie die Stadt betreten, solange Sie diesen
Anzug tragen. Ich weiss nicht, sind wir hier sicher
oder nicht. Fällt Ihnen nichts ein, um auf irgend
eine Weise zu andern Kleidern zu kommen ?«

Er hielt das Pferd an und Flita sprang herab.


Nun sie sich bewegte, entdeckte sie erst, wie abge­
m attet sie war.
>>leb muss etwas zu essen h aben, ehe ich über­
haupt versuchen kann, zu denken«, antwortete sie ;
Die Blüte und die Frucht. XVITI. 211

»lassen Sie uns nach dem nächsten besten Hause


gehen und vor allem um ein Frühstück bitten.«
Ohne eine Antwort abzuwarten machte sie sich
auf ; Hilary folgte mit dem erschöpften Pferde. Ein
Stück weit rannte sie förmlich, dann blieb sie stehen
vor einem Tore zwischen dichten Hecken. Von
einem Hause sah man nichts. Hilary ahnte nicht
einmal, dass eines da war. Flita aber gebrauchte
feinere Sinne, als sonst die Menschen ; sie wurde
von ihrem Instinkte geleitet, wie wir das mit Gering­
schätzung zu nennen pflegen, wenn wir über die
Tiere reden. Und doch sind dies Geschöpfe, denen
unmittelbares Wissen zu Gebot steht , indem ihre
Entwicklung sie noch nicht in den Lichtkreis des
Intellekts gebracht hat, der, selbst zwar ein macht­
voller Erleuchter, die Finsternis ausserhalb seines
Strahlenbereichs noch vertieft. Flita öffnete das
Türehen und trat, ohne lange zu überlegen, nur
ihrem Instinkte gehorsam, ein und verfolgte einen
schmalen Weg, den ein üppiger, im Morgentau schim­
mernder und perlender Blumenflor einfasste. Der
Weg schien demnächst bei einer dichten Baumgrupp e
z u endigen ; aber hart darnach, als sie unter den
Bäumen angelangt war, erweiterte er sich vor ihr,
machte eine s charfe Biegung und liess sodann de n
von zwei mächtigen Eiben bezeichneten Eingang zu
einer kleinen Hütte sehen. Flita stand alsbald stille,
faltete die Hände und schien Gebets- oder Dankes­
worte zu flüstern. Hilary hatte unterdessen sein
Pferd am Tore angebunden, war ihr dann nachgeeilt
und hatte sie j etzt wieder eingeholt. Er war befrem­
det, dass sie nicht weiterging, und fragte nach dem
Grund ihres Zögerns.
212 D i e Blüte und die Frucht.. XVIII.

»Mein Schicksal«, erwiderte sie, »erhält jetzt


Anschluss an das des Edlen, zu dem ich gehe. Eben
erst habe i ch es b egriffen, und ich erkenne nun auch,
dass die Berührung nur so lange von Bestand sein
kann, als ich mein Denken und Fühlen von trüber
S elbstsucht rein erhalte.«
»Warum sagen Sie das j etzt ?« fragte Hilary, der
sich einer aufkeimenden gewissen Ungeduld zu er­
w ehren hatte über die seiner Meinung nach so gar
nicht hergehörige Auslassung. Andererseits kannte
er Flita gut genug, um überze ugt zu sein, dass sie
ihm nie ungereimt erscheinen würde, wenn er ebens o
viel sehen und hören könnte wie sie.
>>Warum ich das jetzt sage ? Ganz einfach. Ich habe
in jener mörderischen Gedankenlosigkeit ein schweres
V erbrechen begangen, ein V erbrechen, das sich nach
d e n unwandelbaren Gesetzen der Natur früher oder
s päter selber bestrafen muss. Ist es dann wahr­
s cheinlich, dass mich mein eigenes Geschick im
Mo ment der Not mit einem Diener der Weissen
Brüd erschaft zusammenführt ? Nein ; so fügte es das
Ge schick jenes andern, dessen Dienerin i ch bin.
Damit Sie künftig nicht mehr so unwissend sind,
kläre ich Sie auf, dass Eibenbäume in der ganzen
Welt die S chwelle der Getreuen des silbernen Sternes
kennzeichnen. Warum ? - Weil der Eibe ausser­
ordentliche Kräfte und Tugenden eigen sind. Aber
treten wir ein.«
Flita ging voraus durch die weit offene Türe
des Häuschens. Der Innenraum bot das Schlichteste
v on ländlicher Einfachheit. Die ganze Hütte bestand
a ugenscheinlich nur aus zwei ineinandergehenden
Stuben : in der hinteren wurde sämtliche Hausarbeit
Die Blüte und die Frucht. XVIII. 213

verrichtet ; die vordere, geräumigere diente dem In­


sassen zum Schlafen, Wohnen, Speisen, und - zum
Studieren. Da das Studieren sonst nicht zu den
gewöhnlichen Liebhabereien des Landvolks gehört,
so konnte in dieser Umgebung ein kleines Bücher­
brett, eine Reihe alter Bände, imm erhin auffallen.
Niemand war im Hause ; mit zwei Blicken waren
die Zimmer überschaut. Mehr brauchte auch Flita
nicht, um sich dann an einen Eckschrank zu machen
und ihn zu öffnen. Ehe noch Hilary mit seinem
Erstaunen fertig war, hatte sie fast schon den Tisch
besorgt, indem sie zunächst ein weisses Tuch darüber
breitete und dann Käse, Brot und Milch und einen
Napf mit Honig zum Vorschein brachte.
))Nehmen Sie Platz«, sagte sie. ))Dieses Mahl
ist uns vergönnt. Lassen Sie uns essen.<<
Ohne den Fall auf seine Richtigkeit zu prüfen,
wie er es wohl getan hätte, wenn er weniger hungrig
gewesen wäre, setzte sich Hilary nieder und beteiligte
sich mit einem Hochgefühl von Behaglichkeit an dem
Mahl, das die Gunst des Augenblickes spendete.
Sie hatten eben den ersten Heisshunger befriedigt,
als plötzlich ein Schatten den Eingang verdunkelte.
))Sie sind es k< rief Flita im Tone höchster Ueber­
raschung.
Hilary, der mit dem Rücken gegen die Türe sass,
sprang auf und drehte sich um. Er erkannte augen­
blicklich trotz der veränderten Kleidung den M önch,
Pater Amyot.
214 Die Blüte und die Frucht. XIX.

XIX.

J
)) a«, sagte Vater Amyot. ))Sind Sie überrascht,
m i ch zu sehen ?«
))Allerdings«, erwiderte Flita gedehnt.
))Dann kommt Ihnen Ihr Wissen schnell ab­
h anden. Können Sie v e rgessen haben, dass Ob­
l i egenheiten zu erfüllen sind, schon beim Hingang
e ines noch blinden Sklaven der Grossen Brüder­
sch aft, umsomehr also beim Tode eines, der in binden­
der Form ein Anfangsgelübde abgelegt hat ?•:<
Flita staunte ihn, während er sprach, mit der
nämlichen verständnislosen Miene an,· die sie über­
haupt seit seinem Erscheinen gezeigt hatte. Dann
p lötzlich lehnte sie unter dem j ähen Ausruf ))Ab ,
Sie meinen Otto k< den Kopf auf ihre beiden Hände
·und brach in einen Strom von Tränen aus.
Hilary war betäubt wie von einem wuchtigen
S chlage. Er hatte ·Flita nie so weinen sehen, sie
dessen gar nicht für fähig gehalten. Ihre Selbst­
ständigkeit und ihr unerschütterliches Gebahren hatte
er allmählich als wesentliche , unwandelbare Be­
standteile ihres Charakters hingenommen. Und j etzt,
beim Namen ihres toten Gemahls, brach sie zusammen
wie ein hilfloses Kind, und vergoss Tränen wie
eine Frau aus dem Volk, die an ihr Witwenturn ge­
mahnt wird.
Aber es war nur ein ungestümer Wirbelwind,
der sich so rasch legte, als er g�kommen war. Mit
einer entschlossenen Bewegung entriss sie sich ihrer
Die Blüte und die Frucht. XIX. 215

gebeugten Haltung und sprang auf. D i e ganze Zeit


über hatte Amyot seine Augen in Strenge auf sie
geheftet gehabt. Nunmehr streckte er ihr seine
Hände hin, beide voll blühender Kräuter, ein ganzes
Büschel.
/) Wer wird das machen ?« fragte er. »Sie wissen,
was gemeint ist.«
Flita blickte auf die zarten, zierlichen Blüteben
und schauderte.
»Ja, ich weiss, was gemeint ist«, antwortete sie
schmerzlich. >)Ich werde es tun. Das ist m eine
Sache. So viel Macht und Kraft, wie die schwierige
Handlung fordert , habe ich noch behalten. Und
mein Wissen wird mir wieder kommen.«
Sie trat auf ihn zu und nahm mit einer aufge­
regten, selbstbewussten Geste die Kräuter an sich.
Vater Amyot überliess sie ihr ohne ein Wort. Dann
durehrnass er den kleinen Raum und blieb vor Hilary
stehen.
))Ihre Mutter«, begann er, »ist krank, ernstlich
krank ; sie leidet zwiefach durch die Angst um Sie.
Es ist Ihre Pflicht, heimzukehren.«
Hilary entgegnete nicht, warf aber einen Blick
zu Flita hinüber. Amyot nahm die Gebärde auf.
))Sie ist meine Sorge«, sagte er.
Mit unerwünschter Raschheit vollzog sich in
Hilarys Geist die richtige Gedankenfolge : Vater
Amyot würde nicht nur ein ebenso ergebener Be­
gleiter Flitas sein, sondern auch der bei weitem
schicklichere ; er verfügte zudem über geheime Hilfs­
kräfte, die ihm, Hilary, mangelten. Dies alles über­
sah er in kürzester Frist. Aber der rasende A uf­
schrei seines Herzens antwortete : ))Ich will sie nicht
216 Die Blüte und die Frucht. XIX.

verlassen !« und zugleich peinigte ihn die Gewissheit,


dass Flita der Magnet sei, der ihm Pflichterfüllung
zur Unmöglichkeit mache. Mehr als einmal war er
in Erbitterung von ihr gelaufen und hatte sich ge­
lobt, nicht mehr zu ihr zurückzukehren ; aber immer
fand er sich wi eder ihr zu Füssen , hilflos , am
Verschmachten, ausser stande, zu leben ohne ihre
Stimme, ohne ihre Gegenwart. Arme menschliche
Seele ! fristest von Liebe und Leidenschaft dein Dasein
und bringst die beiden so untereinander, dass eines
vom andern nicht mehr wegzukennen ist. Aber
gerade das, diese Mischung von Tierheit und Gott­
heit ist Menschheit. Ein harter Posten, bis wir ihn
redlich abgedient haben ; einstmals waren wir schuld­
frei wie das unmündige Getier, und später werden
wir rein sein wie unsre eigene Gottwesenheit
Aber am Schandpfahl müssen wir gestanden und
die Lehrzeit durchgemacht haben , wie das Kind
erst vom Jüngling aus zum Manne reift und auf den
Jugendstufen die Fähigkeiten und Künste lernt, die
das Mannesalter zieren.
Und Hilary löste jetzt den herbsten Teil der
verwickelten Aufgabe. Die Seite der vielflächigen
S e ele des Menschen , die seinem Erdenleben am
nächsten liegt, ist die des Wünschens. Geschlecht
ist dessen bereitwilligster Gelegenheitsm acher ; •.md
darum nimmt die Welt ohne Unterbrechung ihren
F ortgang, da ja das Erschaffen von Formen die
leichteste Aufgabe des Menschen ist. Dann kommen
die hundertäugigen Gestalten des Wunsches, die der
Seele Begierden aller Art eingeben und sogar die
zartfühlende Mutterliebe zu einer Leidenschaft werden
lassen, sofern auch sie Erwiderung fordert und nicht
Die Blüte und die Frucht. XIX. 217

grassherzig zu geben vermag, falls ihr nicht Liebe


mit Liebe gelohnt wird. -
Hilary sparte Antwort wie Frage. Er nahm die
Richtigkeit der Botschaft Amyots und die Vernünftig­
keit seiner Anordnung ohn e Bedenken an. Denn
der Priester hatte in Hilarys Geburtsstadt, soweit
dieser zurückdenken konnte, als Vorbild eines ge­
weihten Lebens und heiligen Charakters gegolten.
Er säumte nicht zu gehorchen, und erhob sich
von seinem Stuhle, fertig mit sich , das Feld zu
räumen und Flita der Obhut des Mönchs zu über­
lassen. Aber er wusste n icht, wi e ohne ein Woti,
einen Blick oder eine Berührung scheiden von der
Frau, die er anbetete, -- jawohl anbetete, zu Trotz
seinem eigenen heissen Bemühen, sich vqn ihr los­
zureissen. Jetzt während er dastand und sie minuten­
lang ansah, wurde ihm offenbar, wie sehr er noch
Hoffnung gehegt und in der Einbildung geschwelgt
hatte, nach besten Kräften ihr Ritter und Beschützer
auf der Flucht und auf ihrem gefahrvollen Pfade
bleiben zu können, obwohl das Ziel, dem sie nach­
jagte , sie beide schlechterdings trennte und jede
Uebereinstimmung ausschloss. Er trat ihr einen
Schritt näher.
»Leben Sie wohl«, sagte er mit erstickter Stimme.
»Sie bedürfen meiner jetzt nicht.«
Flita kehrte sich zu ihm hin und erwiderte
seinen Blick ; dabei beseelte plötzlich eine innige
Weichheit ihr Antlitz und verdoppelte ihre Schönheit.
»Sie wissen, dass Sie mir immer fehlen«, ent­
gegnete sie gefasst, aber doch so bewegt, dass es
Hilary zu Herzen gehen musste. »Ich habe es Ihnen
schon gesagt, und Sie wissen es, Hilary. Wenn
218 Die Blüte und die Frucht. XIX.

uns Pflicht eine Weile trennt, so sehen Sie mich


nicht mit Augen an, als ob Sie mich für immer ver­
liessen. Das kann gar nicht sein, Hilary, ausser
w enn Sie Ihr Geschick ge waltsam von dem meinigen
lösen. Wir wurden unter dem nämlichen Stern ge­
boren. Freiwillig traten wir einst das nämliche
Schicksal an. Suchen Sie ins Weite zu blicken, er­
kennen Sie die hehren Gesetze, die uns regieren,
und den unermesslichen Lebensraum, der uns zum
Tummelplatz angewiesen ist, dann werden Sie nicht
m ehr derart nnter einer blossen Augenblickssorge
leiden. Es ist, wie wenn der Kummer um ein zer­
brochenes Spielzeug ein Kind so üb.envältigt, dass
es all die Möglichkeiten der Zukunft vergisst. So
steht's um Sie, lieber Hilary ; durch Ihre Leidenschaft
und Ihre Sehnsucht um den flüchtigen Augenblick
lassen Sie sich die Aussicht auf den riesigen Weg
versperren, den Sie zurückzulegen haben . Trödeln
Sie nicht so !«
Sie trug diese kleine Strafpredigt mit so viel
Güte und Zartheit vor, dass sie alles Verletzende
v e rlor und Hilary, den ihre Worte oft schon ver­
drossen hatten, sie diesmal nicht übel nahm. Der
herzliche Blick ihrer schönen Augen berührte sein
Innerstes wie noch nie, und eine tiefe Trauer flutete
plötzlich einer Woge gleich auf ihn ein ; zum ersten
Male dämmerte ein verschwommenes Verständnis
für die Tatsach e in ihm auf, dass gar nicht Flita es
war, die ihm ihre Liebe vorenthielt, sondern dass
das Schicksal sie ihm versagte, unerbittlich, unwider­
ruflich. Es stand nicht in Flitas Macht, sie zu ver­
geben ; ihre Seele drängte ja, sich mit ihm zu ver­
schmelzen. Er las es in ihren Augen, er hörte es
Die Blüte und die Frucht. XIX. 219

a u s ihrer Stimme. Was war d a s für eine Art von


Zärtlichkeit ? Er konnte es nicht sagen ; nur soviel
wusste er : die Liebe, die er sich wünschte, war es
nicht ; und ein scharfer Schmerz, eine verzehrende
Betrübnis zog in sein Herz ein, ein Gram, der nie
wieder verschwinden , höchstens beim Ernst der
Arbeit vergessen werden konnte. Es war das erste
Mal, dass er sein Geschick anerkannte und j egliche
Hoffn ung auf das im gewöhnlichen Leben erreichbare
Glück fahren liess.
Mit einem schweren Seufzer, ohne Abschieds­
gruss, schlich er sich aus der Hütte. Draussen blieb
er einen Augenblick stehen , betroffen ob seiner
eigenen Roheit -: Weil mich der Abschied hart
ankommt, verlasse ich sie ohne ein Wort, w i e ein
Barbar ! Er stürzte zurück zum Eingang.
»Möchten Sie Frieden finden, meine Königin«,
sagte er. Flita blickte auf von den Blumen in ihren
Händen. Er sah, dass sternhelle Tränen in ihren
Augen perlten. Sie lächelte bloss, aber ihr Lächeln
war himm lisch, und das Mass war voll ; er stürzte
hinaus, denn ein Augenblick noch, und seine Fassung
hätte versagt. - Amyot folgte ihm.
»Können Sie gehen«, fragte er, »oder sind Sie
zu erschöpft ?«
»Für einen Marsch auf keinen Fall«, erwiderte
Hilary. »Es gibt wohl nichts Besseres für mich.«
»Dann lassen Sie das Pferd uns. Es ist jetzt
von Kräften, wird sich jedoch nach einem Rasttag
erholt haben. Ein Wagen ist da , ich könnte ein­
spannen und die Königin könnte fahren. So wird's
am besten sein, denn wir müssen uns auf dem
Lande halten und noch eine weite Strecke zurück-
220 Die Blüte und die Frucht. XIX.

legen, ehe wir ein anderes Beförderungsmittel be­


nützen können. Sie dagegen brauchen nur bis zum
nächsten Dorf z u gehen, um eme Postkutsche zu
finden, die Sie nach Hause bringen kann.«
>>\Vollen Sie mir m einen Weg zeigen ?<< sagte
Hilary, als er am Tore stand. Amyot gab ihm die
nötigen Weisungen ; dann, eben als Hilary sich auf­
m a chen wollte, fasste er ihn m it festem Griff an
der Schulter.
»Mein Sohn«, sprach er , »ich habe versucht,
dich Religion zu lehren ; nun möchte ich dich lehren,
dass es etwas über allen Religi onen gibt : die Gottes­
kraft, die sie erschafft, die göttliche Kraft im Menschen
s elbst. Sie ist i n dir, ist stark und m achtvoll ; sonst
könntest du nicht geliebt sein, wie du es bist. Fasse
sie, mach sie zu einem Teil deines Bewusstseins.
Du musst leiden, ich weiss es, aber suche das zu ver­
gessen. Wachstum selber ist oft schwer von Leiden
z u unterscheiden. Geh, m ein Sohn, und nimm die
Pflichten deines Lebens auf dich. Und wenn es dir
an Rat gebricht, so denke daran, du hast j etzt deinen
einstigen Beichtvater als den ergebenen Diener grosser
Meister kennen gelernt ; komm zu m i r , wenn du
Hilfe brauchst.«
»Und wie«, fragte Hilary, der sich schon ausser­
halb des Tores befand, aber innehielt, um auf den
Priester z u hören, »wie kann ich Sie finden ?«
Amyot zog einen Ring vom Finger. Ein ein­
zelner Stein von tiefgelber Farbe war in Gold
gefasst.
»Gebrauche ihn nie zu einem andern Zweck«,
sagte er, »bedarfst du aber wirklich meiner, dann
schau fest in den Stein. Lebe wohl !«
Die Blüte und die Frucht. XIX. 221

Er schritt den schmalen Weg nach der Hütte


zurück, und Hilary schlug den seinigen ein.
Flita stand zwischen den Eibenbäumen am
Eingang.
»Ich bin bereit«, sagte sie mit zerstreuter Miene,
als Amyot näher kam und sie prüfend ansah.
>>Ich will Sie jetzt allein lassen«, antwortete er.
»Sie wissen besser, was zu geschehen hat, als ich ;
ich habe nach dem Pferd und verschiednem anderem
zu sehen. Mit Sonnenuntergang wollen wir auf­
brechen. Ich begleite Sie ; es ist mir zur Pflicht
gemacht worden, während der Handlung auf Sie
acht zu haben. Können Sie sich noch völlig auf
Ihr Wissen verlassen ?
»Völlig«, antwortete Flita.
»Ich werde mit Ihnen gehen«, wiederholte er.
»Ich kenne einen geraden Weg , der es uns er­
m öglicht, nach Aufgang des Mondes an Ort und
Stelle zu sein.«
Flita zog sich ins Haus zurück und schloss und
versicherte die Türe. Sie sollte nun für einige
Stunden allein sein. Aber sie hatte vollauf zu tun,
und machte sich sofort an ihre Aufgabe .
Jeder , der s i e jetzt hätte beobachten können,
wäre äusserst befremdet gewesen , dass sie in der
Hütte so ganz und gar zuhause schien. Sie öffnete
verborgene B ehältnisse und holte, ohne zu suchen,
Gefässe und andere Erfordernisse, auch wenn sie
in dunkle Winkelchen geräumt waren.
Im Grund war aber dabei nichts Besonderes,
denn die Behausungen mit derlei Eibenbäumen am
Eingang sind alle nach ein und demselben Muster
gebaut und für gewisse Zwecke eingerichtet ; ein-
222 Die Blüte und die Frucht. XIX.

m al eingeweiht in ihre Bestimmung, findet man sich


i m einen wie im andern zurecht. Und Flita hatte
m ehrmals in diesen unauffälligen Heiligtümern ver­
weilt und wusste genau darin Bescheid. Si e begab
sich in den hinteren R aum, schaffte dort im Hand­
umdrehen eine völlige Verwandlung : Geräte wurden
umgestellt, Gefässe weggeräumt und andere hervor­
geholt, - und bald war aus der denkbar einfachsten
kleinen Bauernküche ein primitives Allerheiligstes
m it einem schlichten Altare geworden. Ueber dem
Altar hing über einer Weingeistflamme ein seltsam
geformter kupferner Kessel. Im Kupferkessel brodelte
eine schwarze Flüssigkeit und warf wei sslichen
Schaum a uf. Flita hatte das Gemisch verschiedenen
grossen, wohlverpfropften , in einer geheimen Lade
verwahrten Glasflaschen entnommen und ungleiche
Mengen davon ohne langes Besinnen nach Gut­
dünken zusammengeschüttet. Nur manchmal hielt
sie inne, ehe sie eine neue Folge der Arbeit ein­
leitete, und griff nach der Stirne, wie um gewissen­
haft ihr Gedächtnis zu prüfen.
Das Gebräu trieb gehörig Schaum, den Flita
sorgfältig abschöpfte ; und erst als es sich fast schon
geklärt hatte, begann sie, die von Pater Amyot ge­
sammelten Pflänzchen dazuzugeben. Sie hatte sie
sortiert und auf d e m Altare in Häufchen gelegt ; von
denen holte sie nun, offenbar in einer vorgeschriebenen
Reihenfolge, bald da, bald dort etwas weg. Jedes­
mal, wenn sie wieder so ein niedliches kleines
Blüteben oder Blättchen in die siedende Masse warf,
wurde sie tiefer verzückt, und j edesmal verloren
ihre Züge mehr von ihrem eigenen, natürlichen Aus­
druck. Allmählich erhielten ihre Bewegungen hin
Die Blüte und die Frucht. XX. 223

und her, von Häufchen zu Häufchen, einen tanzenden,


rhythmischen Charakter, und mit leiser, fast unhör­
barer Stimme hub sie zu singen an. Ihre Wendungen
wurden geschwinder, auch künstlicher, - ein aus­
gesprochenes Tanzen. Als das letzte Kräutchen ver­
sorgt war, wirbelte sie zurück vom Altar und beschrieb
mit einem Male hochphantastische, verschlungene
Figuren. Das Bewusstsein schien sie ganz verlassen
zu haben, so totenartig ausdruckslos war ihr Gesicht ;
nur ihre Augen blickten gespannt auf die duflkle
Nische des Kamins, wo schon eine breite Wolke
grauen Dunstes vom Kessel aufstieg.
Plötzlich hielt sie an. Völlig regungslos stand
sie vor dem Altar : dort, für ihre Augen sichtbar,
formte sich inmitten des grauen Nebels eine Gestalt.

XX.

Schweigend und in sich gekehrt harrte Flita


der Vollendung des Zaubers. Sein Gelingen wollte
tiefe, gründliche Ruhe nach den Luftschwingungen,
die ihre Kunst erzeugt hatte.
Das ganze Zimmer war voll eines grauen Rauches.
Gerade vor ihr stand die nun deutlich erkennbare
Gestalt.
»Bist du es ?« fragte sie.
»Auf dein Geheiss bin ich hier,« antwortete
eine Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien.
»Aber grausame Marter ist es. Mich halten, wenn
ich zur Seligkeit eingehen will ! warum ?«
224 Die Blüte und die Frucht. XX.

»Tritt näher !« befahl sie in so bestimmtem Ton,


dass kein Widerstand möglich schien. Es wurde
auch keiner versucht. Im nächsten Augenblick nahin
das Gebilde, das erst nur eine dunklere Rauchwolke
gewesen, eine bestimmtere Form an, und Otto, der
tote König, stand Flita gegenüber, gekleidet wie am
Tag der Schlacht, eine Wunde am Kopf und das
Gesicht m it Blut überströmt.
»Lass mich unbehelligt !« murrte er ; »warum
zerrst du m ich wieder in Schmerz un d Todeskampf?
Ruhe will ich und Fr.e ude. Dort lockt ein Ort . . .
ich hatte ihn fast erreicht . . . lass mich hin ! Was
quälst du m ich ?«
»leb quäle dich«, entgegnete Flita ungerührt,
» weil ich m uss. Ich muss dich halten, dass du nicht
dorthin gehst, wo die Geister der Toten unsinnige
Zeiten im Genuss vergeuden. Das kommt dir nicht
zu ; du hast das erste Gelübde der Weissen Brüder­
schaft abgelegt . . . Unablässiges Streben ist j etzt das
Gesetz deines Daseins«, fügte sie hinzu, indem sie
sich in ihrer riesigen Täuschung und leidenschaftlichen
Ueberhebung eine Macht und Kenntnis anmasste,
die hoch über ihr lagen. »Du gehörst nicht länger
zu denen, die von der Erde in die Himm el gehen.
Dein Ohr hat den grossen Ruf vernom men ; bewusst
arbeitest du jetzt für die Welt, bewusst hast du zu
lernen und zu wachsen. Gern möchte ich dich bloss
verwarnen, dass im H i mmel jeder Tropfen Freude für
dich Gift sei, und die Wahl dann dir überlassen ;
doch kann ich's nicht. Nicht mehr bin ich dir Frau,
nicht einmal Geliebte noch Freundin ; es ist der
A u genblick, der unser wahres Verhältnis zu einander
kund tut: du, noch ein Neophyt des Grossen Ordens,
Die Blüte und die Frucht. XX. 225

gebunden kaum erst durch das Anfangsgelübde ,


wenn auch dadurch nicht minder unlösbar gebunden ;
ich - auch ich ein Neophyte, aber über alle All­
fangsprüfungen hinaus und vor der Pforte zum
obersten Wissen. Zu dir bin ich wie ein Meister.
Und gerade j etzt, wahrlich, steh ich vor dir als
unumschränkter Meister, es ist die ganze Brüderschaft,
die durch meine Stimme spricht. Ich befehle dir,
nirgend fröne der Ruhe, nirgend in den Paradiesen
der Seligen noch in den Stätten des innem Friedens,
unbeirrt schreit vorwärts auf deinem Pfade edlen
Strebens ; tritt unverzüglich das Erdenleben wieder
an und rüste dich, in würdiger Demut, aber un­
beugsamen Mutes, seine Lehren zu lernen. Geh hin,
Seele des Toten, werde von neuem die Seele des
Lebenden und tritt in dein neues Leben mit dem
Vorsatz ein, in seinem Verlaufe das nächsthöhere
Gelübde des Neophyten abzulegen !«
Sie hatte gegen den Schluss ihrer Rede ge­
bieterisch die linke Hand erhoben ; eine merkwürdige
Gebärde , beseelt von einem unbewussten , über­
schwenglichen, in seiner Härte fast satanischen Stolz.
Der Schatten wich davor zurück und brachte es zu
keiner neuen Einsprache mehr. Ein übermächtiger
Zauber schien seinen Willen unter Zwang zu halten.
Als die letzten Worte verhallt waren, versank die
Gestalt in dem grauen Rauch. Flita reckte beide
Hände empor und schwang sie über ihrem Kopfe.
Die Wolke vor ihr verzog sich, und der Rauch ver­
lor sich allmählich bis auf den letzten Rest aus dem
Zimmer. Erschöpft warf sich Flita zu Boden und lag
da, als ob auch sie zu den Toten gehöre.
Die Zeit verfloss, - das Haus blieb geräusch-
15
226 Die Blüte und die Frucht. XX.

los und schweigsam. Die Stille konnte nicht tiefer


sein. Endlich seufzte Flita müde und schmerzlich.
Sie regte sich und richtete sich dann entschlossen
empor, nicht ohne Schwierigkeit. Aber sie brachte
es fertig, und während sie vollends ganz aufstand,
blickte sie sich im Zimmer um . Ihr war elend und
schwindlig, und ihre blendende Schönheit war ver­
blasst. Kraft festen W ollens erhielt sie sich aber
den Aufgaben gewachsen, die ihrer warteten. Schwer
genug waren sie, wie sie wohl wusste, auch hatte
s i e sich noch keineswegs von dem Strafgerichte der
vergangeneu Nacht erholt ; aber das festigte nur
ihre Entschiedenheit.
Es dunkelte schon, und sie konnte gerade noch
soviel sehen, um dem kleinen Raum wieder sein
gewöhnliches Aussehen zu geben. Als auch die
letzten Spuren ihrer Tätigkeit, die den ganzen Tag
ausgefüllt hatte, beseitigt waren , ging sie durchs
vordere Zimmer zur Haustüre, öffnete sie und trat
hinaus in die Luft. Es schien eine förmliche Be­
freiung für sie. Eine Weile blieb sie unter den
Eib en stehen und sog die weiche Abendluft ein,
wie u m daran aufzuleben. Inzwischen kam Vater
Amyot den Weg daher. Er warf einen scharfen,
prüfenden Blick auf sie.
))Sie sind fertig ?« fragte er.
)) Ja«, antwortete sie, ))ich bin bereit.«
Sie trat ins Haus zurück, blieb aber einen Augen­
blick zaudernd auf der Schwelle.
))Kann ich dieses Kleid anbehalten ?« fragte sie
z w eifelnd, indem sie au f ihr scharlachenes Gewand
h erabblickte.
))Nein«, erwiderte er ; ))ich habe einen Bäuerinnen-
Die Blüte und die Frucht. XX. 227

anzug für Sie mitgebracht. Er liegt draussen in


dem Wagen , mit dem wir fahren werden. Ich
will ihn holen, und Sie sollten dieses Gewand da
gleich wegtun. Das beste wird vielleicht sein, Sie
geben es mir und ich vergrabe es, dann ist es für
immer beseitigt.«
Als d4ls getan war, ging Amyot voraus ans Tor,
wo das Ross, das Hilary geritten hatte, vor ein
Wägelchen gespannt war. Von den Pferden, die
herrenlos vom Schlachtfelde weggelaufen waren,
hatten die Bauern etliche eingestellt und verwendet,
darum hoffte Amyot, dass er mit dem Tiere kein
Aufsehen erregen werde. Für gewöhnlich ging an
dem Wagen ein Eselehen , aber Amyot hielt eine
raschere Beförderung für unerlässlich.
Sie stiegen auf und fuhren denselben Weg zu­
rück, auf dem Flita in der verflossenen Nacht her­
gekommen war. Beim ersten Blick mussten sie für
jedermann ganz das Aussehen zweier gewöhnlicher
Landleute haben ; und doch hätte sich nur der Ein­
fältigste eines nochmaligen Blickes nach den auf­
fallenden Gesichtern entschlagen können, so skelett­
artig, so durchgeistigt im Ausdruck war dieser Mann,
so schön und dabei so ernst und streng seine Be­
gleiterin.
* *
*

Die Nacht war schon vorgerückt, als sie das


Schlachtfeld erreichten. Der volle Mond schien vom
klaren, blassliehen Himmel und hellte das schauer­
liche Bild bis zu geisterhafter Lebendigkeit auf.
Vater Amyot band das Pferd an einen Baum, sobald
sie an der von ihm in Aussicht genommenen Stelle
228 Die Blüte und die Frucht. XX.

angekommen waren ; dann gingen sie zu Fuss weiter


und begannen ihre Suche unter den Leichen.
Plötzlich blickte Amyot auf und sah, dass Flita
stetig i n einer bestimmten Richtung vorging ; sofort
stellte er sein Absuchen ein und folgte ihr.
Ihre Schritte stockten kein einziges Mal, und
Amyot hatte tüchtig auszuholen, um an ihre Seite
zu kommen. Als er dicht bei ihr war, blickte er
ihr ins Gesicht und gewahrte den unwirklichen Aus­
druck, den in der Regel nur S chlafwandler haben.
Er schien dadurch ganz befriedigt, sah nur noch vor
sich hin und ging einfach weiter wie sie. Nach
vielleicht kaum einer halben Stunde wurde er auf­
gestört, indem Flita ganz plötzlich anhielt. Sie strich
sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte tief.
))Da ist's«, sagte sie und starrte dabei auf eine
wirre Masse menschlicher Körper hart vor ihren
Füssen nieder. Inmitten des Haufens, auf einen
Blick erkennbar lag die heldenhafte und stolze Ge­
stalt des j ungen Königs, die Arme weit ausgebreitet,
das Antlitz nach oben dem Himmel zugekehrt, mit
einem Ausdruck vollkommener Ruhe und tiefen
Friedens, den es im Leben nie gehabt hatte.
Flita kniete nieder und warf einen kurzen aber
inhaltschweren Blick in das Gesicht des Toten. Dann
erhob sie sich rasch und wandte sich an Amyot.
)) Was tun wir ? Müssen wir ihn in den Wald
bringen ?<.<
)) Nicht nötig«, erwiderte Amyot. »Wir sind
nirgends so ungestört wie hier ; kein Mensch wird
das Schlachtfeld bei Nacht betreten. Sehen Sie, dort
ist eine dichtbewachsene Stelle.«
»Sie haben recht«, sagte Flita. »Aber wir müssen
Die Blüte und die Frucht. XX. 229

einen Kreis ziehen, um die Phantome und die Geister­


bestien abzuwehren.«
»Damit werden Sie schnell fertig sein«, antwortete
Amyot. »Ich will ihn zunächst hintragen.«
Flita trat zurück. Sie hätte bereitwillig dabei
geholfen, aber sie wusste, dass Amyot an Kraft ein
Herkules war, obwohl er so abgezehrt aussah, dass
die meisten ihn für schwächlich gehalten hätten.
Er hatte physische Strapazen überstanden und hero­
ische Leistungen vollbracht, denen nur ein Mann von
eisernem Körperbau gewachsen gewesen wäre. So
konnte Flita ihre ganze Aufmerksamkeit dem ihr be­
schiedenen Teil der gemeinsamen Aufgabe schenken.
Sie wartete, bis sich Amyot den Leichnam des jungen
Königs von den gefallenen Soldaten und Offizieren,
unter denen er lag, herausgeholt hatte, und ging
dann ihres Wegs nach dem bezeichneten Gehölze .
Dort waren keine L eichen, weder von Pferden noch
von Menschen, vielleicht weil es das Gelände etwas
überragte, vielleicht auch wegen des Gesträuchs.
Inmitten des Platzes blieb sie stehen und wartete
fast regungslos, bis Amyot mit seiner schweren
Bürde wieder zu ihr stiess. »Hierher !« sagte sie ,
indem sie auf einen kahlen Fleck wies, der so
gut wie kein Gestrüpp teigte und fast den Mittelpunkt
des Dickichts bildete. Amyot bettete den j ungen
König so schonend als möglich, aber immerhin musste
der schwere Körper das spärliche Buschicht zerknicken,
das ihm im Wege war. Flita kam heran und beugte
sich über die ausgestreckte Gestalt. Sie drückte ihm
nicht die Augen zu, was instinktiv der meisten Leute
erste Handlung gewesen wäre. Sie liess sie o ffen,
wie sie waren, und seltsam starrten sie hinauf zum
230 Die Blüte und die Frucht. XX.

mondhellen Himmel. Aber sie hob seine Hände und


legte sie über seiner Brust zusammen. Dabei bemerkte
sie den Siegelring an seinem Finger. Einen Augen­
blick betrachtete sie ihn, dann zog sie ihn ab und
steckte ihn an ihren eigenen Finger zu ihrem Trauring.
))Nur einen Tag war ich deine Königin«, sprach
sie, ))Und nie deine Frau. Dennoch gehört der Ring
mir zu. Du hattest keine andere Königin, und ich
fürchte fast, armer Otto, auch keine andere Liebe.
Armer Otto ! ein Weib zu lieben wie mich, das kein
Herz hat zur Gegengabe k<
Si e sank neben der Leiche auf ihre Kniee und
vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Kaum eine
Sekunde jedoch, und Amyot berührte schon ihre
Schulter. Sie blickte auf und sah ihn neben sich
stehen, grassmächtig und hager, eher ein Geist denn
ein M ensch.
Was bedeutete der rätselhafte Ausdruck in
seinen Mienen ? War es Grausen , war es Wid er­
wille vor dem gefahrvollen magischen Akt, den sie
vorbereitete ?
»Sehen Sie sich vor«, sagte er, »das ist nicht die
Zeit zu Rührszenen. Ich warne Sie aus eigener Er­
fahrung ; könnte ich aufräumen mit den Gefühlen
meiner Seele, so wäre ich der Sklave nicht, der ich
bin. Sie laufen tausendfach Gefahr, wenn Sie j etzt
schwach sind, nachdem Sie doch eben erst die
Dämonen, die das Schlachtfeld umlagern, herausge­
ford ert haben. Stehen Sie auf, nehmen Sie sich
z usammen und treiben Sie die Bande zurück ; sie
möchte Ihnen sonst übermächtig werden, ja, selbst
Ihnen, dem auserwählten Kind des Weissen Sternes.«
Warum legte er auf die Worte einen so ironischen
Die Blüte und die Frucht. XX. 231

Nachdruck ? Sie konnte keinen Vermutungen nach­


hängen ; das Werk, das sie sich vorgesetzt, drängte.
Flita sagte nichts und erhob sich alsbald. Ihr
Ausdruck wechselte , die weichen Linien wurden
streng ; aus den Augen, in denen noch Tränen standen,
blitzte wilde Energie.
Sie sah mit überlegenem Stolz um sich , als
stände sie mitten in einer Pöbelrotte, die gegen sie
anzustürzen droht ; doch war im flutenden Mondlicht
für ein gewöhnliches Auge nichts zu sehen als die
regungslosen Formen der tott:n Menschen und Pferde,
die in unheimlicher Fügung durcheinanderlagen. Flita
lächelte leicht, als sie rings ihre Umgebung musterte.
»Hier, Vater«, sagte sie, »achten Sie auf diese
Stelle.«
Hierauf schien sie sich langsam entfernen zu
wollen, bald aber ward es ersichtlich, dass sie ihren
Gang planmässig leitete und eine Figur abschritt.
Eine verwickelte Figu!' war es, und Amyot, der sie
beobachtete und wohl wusste, was ihre Wendungen
darstellten, wunderte sich doch über die Leichtigkeit,
mit der sie zu Werke ging. In der Tat, ihres Kör­
pers hatte sie vergessen ; die magische Figur stand
vorgeschrieben in ihrem Geiste, und ihre Füsse ver­
folgten die Linien, die fertig vor ihrem innern Auge
lagen.
Sie sang zu ihren Bewegungen in einer gewissen
eintönigen Weise wenige Worte , di e Amyot, so
nahe er ihr war , nicht verstehen konnte ; hin und
wieder reckten sich ihre Arme aus zu einer gebie­
tenden Geste. Am Ende, als sie den ganzen Kreis
umwandelt und die Stelle, von der sie ausgegangen
war, wiederum erreicht hatte, zog sie den Siegelring
232 Die Blüte und die Frucht. XX.

v o m Finger und zeichnete damit eine Formel vor


s ich in die L uft.
»Willst du das Martyrium erfüllen ?« fragte sie.
Sie hielt ihren Blick nur auf den Ring gerichtet,
und woher sie Antwort holte, konnte Amyot nicht
sagen , aber augenscheinlich wurde sie befriedigt,
denn gleich darauf sprach sie : »Es sei so k<
Hierauf stellte sie sich neben Amyot, griff nach
einem mit Edelsteinen besetzten Büchschen, das an
einer kleinen Kette an ihrer Seite herabhing, öffnete
e s und entnahm ihm einen gewöhnlichen Feuerstein
und Stahl. Amyot stand dabei wie ein Steinbild,
anscheinend in Gedanken oder Gebet vertieft, wäh­
rend sie Feuer schlug und die Sträucher und abster­
b enden Farne anzündete. Zuerst gab es keine Flamme,
es schien, als wolle das Grünholz nicht Feuer fangen,
und Flita erhob sich, um unter zürnenden Besprech­
ungen von neuem Funken zu schlagen . Diesmal
sprangen die Flämmchen auf, hüpften hierhin und
dorthin und wurden in wenigen Minuten zu einem
lodernden Feuer. Flita, hochaufgerichtet, strich mit
den Händen darüber hin, wie um die Flammen zu
l enken und ihnen immer wieder die Richtung zum
Leichnam des j ungen Königs zu weisen. Da , als
die Flammenspitzen ihn berührten und sein Antlitz
umzüngelten, ereignete sich etwas Seltsames. Es sah
aus, als ob der Kontakt des Feuers den Körper gal­
vanisierte : er erhob sich zur Hälfte, und ein un­
beschreibliches Aechzen unterbrach die Totenstille.
D o ch das war alles. Kopf und Schulter sanken
rückwärts in ein Glutenmeer, und kein Laut mehr
war zu hören als das Geprassel des Feuers. Die
zwei lebenden Gestalten standen regungslos dabei
Die Blüte und die Frucht. XX. 233

und beobachteten das grässliche Schauspiel, bis Flita


endlich abliess und sich zu Amyot wandte : >>Wir
können jetzt gehen.«
Sie entfernte sich rasch von der Brandstelle ;
plötzlich aber hielt sie inne vor der Linie der von
ihr umschriebenen Figur.
)) Was ist das ?« schrie sie auf. ))Ich kann nicht
hinaus. Ich bin nicht stark genug, diesen Teufeln zu
trotzen ! Da . . . Otto selbst . . . er will mich töten k<
»Ütto selbst ?« erwiderte Amyot, der sich darein
nicht finden konnte.
))Nein , nein« verbesserte sich Flita schnell.
))Nicht Otto, . . . sein tierisches Teil, da3 nun frei ist.
Mit dem hab ich's zu tun ! . . . ganz Ottos Gestalt
und Züge ! Entsetzlich, Amyot !«
))Nein - Feigheit !« schalt Amyot geringschätzig
und ungläubig.
>>Nur nicht drängen !« rief Flita. ))Ich brauche
Zeit und Ueberlegung, wie ich mich wehre. Sehen
Sie nicht, wie es Macht hat und mich Schritt für
Schritt verfolgt ?«
>>Sie müssen vorwärts<< , trieb Amyot , »Sie
müssen � oder elend sterben ! Das Feuer ist dicht
an uns. Haben Sie nicht die Kraft , ihm Einhalt
zu tun ?«
Flita schaute hinter sich. Ein Wort nur presste
s1e hervor in heller Verzweiflung.
))Nein.«
))Ich auch nicht ! aber ich bleibe, mit Ihnen zu
sterben, wenn sonst kein Ausweg für Sie ist.«
))Sterben, ach, wenn es nur das wäre k< sagte
Flita , ))aber ich darf nicht. Wie könnte ich ?
Mein Leben gehört nicht mir. Iwan braucht mich.
234 Die Blüte und die Frucht. XX.

Ich m uss durch. Aber dies Ungeheuer ! die Tier­


bestie hier � Soll ich von solchem Gezüchte um­
kommen, wenn i ch mich vor d em Feuer rette ?«
Während sie noch sprach, schoss eine Fe uer­
säule auf, erwischte ihre Gewandung und flackerte
um ihren rechten Arm. Flita sprang vor und warf
sich in eine grosse Blutlache, die das Feuer löschte,
während Amyot seinen Mantel von den Schultern
riss und ihn über sie deckte, um die Gluten vollends
zu ersticken.
»Stehen Sie auf«, sagte er fast grob. »Vorwärts,
da Sie nun entschieden h aben. Das Feuer gre i ft
rasch um sich.«
»Es kommt nicht mehr weit«, entgegnete Flita,
»es ist zu viel Blut h i er.« Ihre Stimme klang be­
drückt und sch wach, aber sie richtete sich auf.
Welch ein Bild, die G estalt hier i m Mondscheine !
Selbst Amyot, mit seinem immer nach innen ge­
kehtien Blick, sah staunend ihre Schönheit, di e hier in
d e m fahlen Lichte h eller strahlte als je im prächtigst
erleuchteten Saal. Ihr Antlitz war lilienweiss, und
i h re A ugen glänzten wi e schim mernde Sterne. Sie
streckte den greulich verbrannten und blutbesudelten
A rm aus, u m sich ihn zu betrachten.
»Ich kann ihn nicht wieder heil machen«, sagte
sie mit einem besonderen Lächeln.
»Er ist das Mal Ihrer Grosstat«, fügte A myot
bei. >>Vielleicht gewinnt Ihnen diese A u szeichnung
den Einlass, wenn Sie sich wieder zur Aufnahme
in den Grossen Orden stellen.«
Flita gab keine Antwoti, sondern verliess eiligst
die Stätte ; A myot folgte ihr rasch und schweigend.
Die Blüte und die Frucht. XXI. 235

XXI.

Es war helllichter Tag, als sie wieder am Tore


des Gehöftes eintrafen. Amyot hatte nicht rasch
fahren können, denn das plumpe Gefährt schüttelte
unsanft, und er war bange, Flita möchte zu schwach
sein , um das auszuhalten. Sie verlor unterwegs
mehrmals das Bewusstsein und fiel zuletzt in eine
tiefe Ohnmacht, aus der sie nicht zu erwecken war.
Vater Amyot hob sie vom vVagen, als sie endlich
ihre derzeitige Unterkunft erreicht hatten, und trug
sie auf seinen Armen den Weg entlang und dann
zwischen deri Eibenbäumen vollends ins Haus. Dort
bettete er sie mit vieler Sorgfalt auf einige über den
Fussboden gebreitete Wolldecken und schob ihr ein
Kissen unter den Kopf. Alsdann brachte er schleu­
nigst Pferd und Fuhrwerk i n den Schuppen , der
als Stall diente, gab dem Pferd Futter und eilte
wieder ins Haus zurück. Er wandte kein stärkendes
Mittel bei Flita an, wie es andere getan hätten , er
kniete nach einem ernsten Blick auf ihr Gesicht
neben ihr nieder und nahm ihre Hände in die seinen.
Fast sogleich erhob er sich wieder mit einem tiefen
Seufzer.
»Es wird schlimm mit ihr werden<<, murmelte
er. Ȇb sie am Leben bleibt ? Schwer wird' s halten !
Doch was sein soll, muss sein.«
Er begab sich ins innere Zimmerehen und öffnete
einen der verborgenen Schränke , aus denen auch
Flita das Zubehör für ihre Beschwörung entnommen
2 36 Die Blüte und die Frucht. XXI.

h atte. Langsam und b edächtig holte sich Amyot


die gewissen Fläschchen heraus , aus deren j edem
er einige wenige Tropfen in ein eigentümlich vier­
eckiges Glas goss. Als die Mischung fertig war,
entstieg ihr ein ganz dünner Rauch und ein kaum
m e rklicher W ohlgernch. Er behielt das Glas in der
Hand und betrachtete es zweifelnd einige Minuten lang.
»Darf ich's ihr geben ?« fragte er sich laut. Er
hatte die Gewohnheit, mit sich zu reden, während
seines Klosterlebens in der Hauptstadt angenommen,
wo er ein weit abgeschlosseneres Dasein führte, als
in den weltfernen Klöstern oder überhaupt unter
irgend welchen andern Verhältnissen.
»Darf ich's ihr geben ? Ist es m e ine Sache, zu
entscheiden , ob sie leben und das bitterböse Ge­
schick antreten soll, das sie über sich gebracht hat ?
Ich darf es nicht. Es steht bei ihr selbst. Mag sie
das Richtige wählen !<<
Er goss die kostbaren Tropfen aus in die Asche
des Herdes. Ein helles Leuchten, fast eine Flamme,
lebhaft blau, schlug auf und war ebensoschnell er­
loschen. Amyot barg das Glas wieder, schloss das
Versteck und kehrte langsam an Flitas Lager zurück.
Sie hatte j etzt wirklich das Aussehen einer
Toten. Keine Spur von Farbe war auf Gesicht und
Lippen ; nicht das leiseste Atm e n liess sich wahr­
nehmen. Er fühlte nach dem Puls. Auch der
stand stille.
»Sie allein darf entscheiden«, sagte er leise und
b ekümmert. Es sah aus, als ob er nicht von der
Befürchtung loskomme, sie möchte am Ende vor­
ziehen, zu sterben, und als ob ihm dieser Gedanke
die äusserste Qual bereite.
Die Blüte und die Frucht. XXI. 237

))Und doch«, sagte er plötzlich, ))Warum sollte


ich zweifeln, dass sie leben will ? Immer war sie
fertig zur Tat ; niemals für Ruhe, nie für Genuss.
Selbstverständlich will sie leben ! Narr, der ich bin !
Was helfe ich ihr denn nicht ?«
Noch warf er einen Blick auf das weisse, mar­
morne Antlitz , dann ging er rasch wieder dem
innern Zimmer zu, offenbar mit der Absicht, den
Trank , den er in die Asche gegossen hatte , von
neuem zu mischen.
Aber kaum hatte er einen Schritt getan, oder
zwei, als ein Geräusch vom äussern Eingang her
ihn aufhielt. Er schaute zurück. Eine Gestalt stand
dort, - gross, in einem langen Reisemantel, mit
einem breitkrämpigen Hut , der das Gesicht fast
v erdeckte. Aber Amyot kannte sie an den Um­
rissen und grüsste allsogleich mit einer tiefen V er­
neigung.
))Ich habe das Elixier schon einmal gemischt ,
dann es aber weggegossen, weil ich nicht wagte,
für sie über Leben und Tod zu entscheiden. Doch
eben j etzt habe ich mir gesagt, dass sie zweifellos
entschlossen ist, zu leben, und war im Begriff, das
Mittel wieder zu bereiten und ihr zu geben. Soll
ich es tun, Iwan ?«
))Nein«, lautete die Antwort, ))noch nicht. Komm
wir wollen bei ihr wachen. Sie hat Feinde, vor
denen wir sie be wahren können.«
Iwan tat Hut und Mantel ab, und stand nun
i m einfachen Mönchskleide da. Sein Gesicht trug
Spuren strengen, abgezogenen Denkens, die, als 1hn
Hilary im Waldkloster sah, noch nicht dagewesen
waren. Sie waren neu auch für Amyot.
238 Die Blüte und die Frucht. XXI.

»Du bist abgespannt, mein Meister«, sagte Amyot.


»Ich will dir etwas z u essen vorsetzen.«
»N och nicht«, wiederholte Iwan. »Wir m üssen
dort wachen. Ich bin weit hergekommen, um bei
ihr sein zu können.«
Den ganzen langen Morgen hindurch sassen sie
neben Flitas Körper, den Blick unverwandt auf sie
gerichtet, ohne sich z u rühren, ohne z u reden. Wahr­
scheinlich war keinem etwas von Zeit b ewusst ,
weder ob sie schnell, noch ob sie langsam verstrich.
Es war gerade Mittag, als Iwan sich v o n der Stelle
regte. Er erhob sich rasch, aber völlig geräuschlos,
u n d berührte Amyot. Sachte traten sie dann mit­
einander durch den überdeckten Türeingang hinaus
in den Sonnensch ein.
»Sie wird leben«, sagte Iwan. »Ich weiss es
j etzt. Du nicht auch ?«
»Doch«, erwiderte Amyot. »Ich habe übrigens
nicht mehr daran gezweifelt, seit ich es einen Augen­
blick ernstlich überdachte. Nur der Kummer hat
mich anfangs blind gemacht.«
>>Enden wir unser Fasten hieraussen im Freien«,
schlug Iwan vor. »Wir haben die Wache heute
m orgen um neun begonnen, wir wollen sie heute
abend u m neun wiederum antreten. Vor Mitternacht
m uss ihre Seele geschieden oder zurückgekehrt sein.«
Er begann vor der Hütte auf und ab z u wandeln,
indes Amyot ohne weiteres mit seinem gewohnten
herben Ernste das Amt des Dieners übernahm.
Nichts Alltägliches schien für ihn anstössig oder
irgendwie der R ede wert. Während er ab- und zu­
ging, schien seine Seele gleichweit weg und in den­
selben Sphären zu schweben, wie wenn er auf den
Die Blüte und d1e Frucht. XXI. 239

Altarstufen seiner Kath edrale lag. In kürzester Frist


stand ein Tisch auf dem Grase, war ein weisses
Tuch darüber gebreitet und waren Kaffee, Brot und
Obst aufgetragen. Hätte jetzt irgend ein Vorüber­
gehender in das Gärtchen blicken können, so hätte
er nichts weiter gedacht, als dass der freundliche
Hausherr zwei arme Mönche gastlich bewirte. Das
Mahl währte nicht lange ; keiner sprach, hatte doch
j eder zu viel zu denken, als dass er Zeit gehabt
hätte, Worte zu machen. Vielleicht aber war dieses
Schweigen nur ein Zurückfallen in mönchische G e­
wohnheiten und stellte sich ganz natürlich ein ,
wenn die beiden sich beim Mahle wieder zusa mm en­
fanden. Denn sie waren miteinander Zöglinge ge­
wesen , und wenn Amyot zu Iwan ))mein Meister«
sagte, so kam dies rührend bescheiden von seinen
Lippen. Es drückte die ganze Verehrung aus, die
dem Höheren gebührt, während das ausdrückliche
))mein« noch eine Herzenszuneigung bekundete, die
nur der ältere dem jüngern entgegenbringen kann.
Den ganzen sonnenhellen Tag über lag Flita
einer Leiche gleich da, genau wie sie Amyot schon
hingelegt hatte. Sie wurde nie länger als einige
Minuten allein gelassen ; entweder kam Iwan oder
Amyot und setzte sich neben sie. Endlich brach
der Abend an. Um neun Uhr nahmen alle zwei
ihre Plätze zu beiden Seiten von ihr ein. Es war
keine gewöhnliche Nachtwache, denn wickelte sich
auch alles so vollkommen lautlos und still ab,
als ob man einfach bei einer Verstorbenen wachte,
so wnr doch ein Zweck darin, von dem kirchlich
bestellte Totenwacher nichts wissen. Mochte Flita
noch am Leben oder schon tot sein, die Wache
240 Die Blüte und die Frucht. XXI.

musste gehalten werden. Ist der V erband von Körper


und Geist -einmal gelockert, so sind es gerade diese
Stunden, in denen Gefahr droht.
Bis elf Uhr gab es in der Stube keinen Laut
und keine Bewegung ; die Gruppe hätte aus Marmor
gerneisseit sein können. Dann aber zeigte Iwan
eine l eichte Unruhe und legte seine Hand auf A myots
Arm. Der Priester sah auf und wollte sprechen,
fühlte aber alsbald seinen Blick gefesselt, schwieg
und starrte hin.
Nach hinten über Flitas Haupte hing ein dichter
dunkler Schatten, der von Sekunde zu Sekunde
l ichter w urde und eine unterscheidbare Form anzu­
nehmen schien. Aus seiner unbestimmten Masse
heraus trennten und gestalteten sich Figuren. Zu­
letzt waren drei Umrisse einzeln und deutlich zu
erkennen. Flita selbst, bleich, grau, geisterhaft ; ihr
zur Seite Otto, - stark, dunkel, voll Kraft. Amyot
fuhr auf, als er das dritte Gesicht erkannte ; es war
Hilary. Da stand er, dunkel und stark wie Otto ;
und zwischen ihnen strebte Flitas blasses Ebenbild
a uf, gleich einer dünnen Flamme leicht hin und her
schwankend wie aus Mangel an Kraft.
))Weshalb ist sie so schwach ?« flüsterte Amyot
in seinem Mitleid um sie.
))Weisst du es nicht ?« erwiderte Iwan. )) Weil
das ihr Schemen ist, ihre Tierseele. Sie muss ihn
stärker als je sonst verleiblichen, um den zweien
verständlich sprechen zu können. Denn die beiden
leben bewusstlos in der Schattenwelt, während sie
bewusst dort lebt.«
In demselben Augenblick wurde Flitas Schemen
plötzlich stärker und gestaltlieber , auch vernahm
ble BfüJe und die Ftucht. XXI. 24i

A myot ihre Stimme ganz deutlich, doch klang sie


ihm auffallend ferne und von weither. Die Worte
kamen in Abständen heraus , wie wenn sie ihret
Kraft noch nicht sicher wäre.
»Ich rief euch«, begann sie, »euch beide1 damit
ihr mir von Angesicht zu Angesicht Rede steht, ehe
wir in einen neuen Lebensabschnitt eintreten. Könnt
ihr euch, ihr be ide, an jenes ferne Einst erinnern,
als ihr mich erstmals liebtet, wie die Menschen a u f
Erden lieben, u n d als diese Seele, dieses menschliche
Leben zum ersten Bewusstsein erwachte ? Wisst
ihr noch, wie unter den wilden Aprikosenbäumen
Leidenschaft, Begierde und selbstische Wünsche uns
samt und sonders bemeisterten ? Ja , auch mich ;
denn war auch meine tierische Seele damals schon
von der wachsenden Macht des göttlichen Geistes
in mir beeinflusst, so reizte mich doch Selbstsucht,
und ich liebte mich selbst vor allen erschaffenen
Dingen, als ich den Mann tötete, der erstmals meine
Liebe sich zueignen wollte. Ich habe die Sünde
gebüsst, aus ihrer Kraft gewann ich die Macht, die
ich jetzt auswirke. Die Fesseln, die uns verketten,
wurden damals geschmiedet, in jenen alten, noch
ursprünglichen Zeiten ; und sie binden uns jetzt noch.
Aber nun müssen sie verwandelt und umgeformt
werden, oder zerbrechen für immer. Lange Zeiten
habe ich durch euch gelitten, gelitten bis zu dieser
Stunde. Nun habe ich ein Recht darauf, frei zu
sein. Ich habe das Recht, ledig zu sein, nicht euer
ledig, denn eure Zugehörigkeit ist mir teuer, sondern
eurer Liebe, eurer menschlichen Liebe, die das gött­
liche Leben in euch ertötet und zerstört, und in mir
es knebelt. Otto, du weisst, als ich mich neulich
16
242 Die Blüte und die Frucht. XXI.

um dich verkämpfte, zog i ch mir die Feindschaft


deiner tierischen Seele zu, die dich j etzt hier ver­
tritt und deine Gestalt annimmt ; ich schied sie und
dich und hinterliess dich befreit, damit du gereinigt
in andere Leben treten kannst. Soll dieses Ding
mich plagen, solange ich lebe ? mir immer deine
grausame Liebe auffrischen und mich wahnsinnig
machen ? Otto, aus deiner Ruhestätte ruf ich dich
her ; töte das D ing und gib mich frei. Lass mir das
Bild deiner hochherzigen Freundschaft, statt dieses
nimmersatte Unding, das die Menschen Liebe h eissen.«
Eine tiefe Stille folgte auf diesen Anruf, und die
beiden sahen von ihrem Posten aus die Gestalt
Ottos wanken und abnehmen. Zuletzt warf sie
sich auf Flita, wie um sie gewaltsam in die Arme
zu schliessen, aber es war eine Bewegung gleich
d e m Flackern einer Flamme, und indem Flita ihre
Haltung wahrte und den Blick scharf auf das zit­
ternde Gebilde richtete, ertönte ein unbeschreiblich
trauriger, grausiger Schrei in der Luft, und das Ding
war zergangen. Iwan atmete lang und tief auf,
wie in grosser Erleichterung. Flita verblieb in ihrer
Schattenform geradeso statuenhaft wie in ihrem be­
wusstlosen Körper auf dem Boden, bis Hilary sich
näherte u nd sie berührte.
Alsbald wandte sie sich ihm zu, und wiederum
liess sich ihre Stimme vernehmen, diesmal weich,
anders als vorhin , und dabei auffallend traurig.
»Hilary , höre mich an ! Ich fordere von dir,
was i ch von Otto gefordert hahe, dass du sterbest
in dieser G estalt hier. Dasselbe habe ich schon die
ganze Zeit von dir gefordert, seit ich dich als Hilary
kenne. W eisst du nicht, dass deine Liebe eine Last
Die 13Iüte und die Frucht. XXl. 243

für mich ist und deinen eigenen Geist versehrt und


blind und hilflos macht ? Befreie dich von ihr, Hilary !
Erkenne mich als das, was ich bin ; sieh nicht mehr
wie vordem in mir die Frau, ihrer in Liebe zu be­
gehren , sondern einen Schüler des Lichts , einen
Streiter auf dem Pfade zum höheren Leben. Wohl
i st es Zeit, dass du kommst und dich mir zur Seite
stellst, reif bist du ja bis auf diese blinde Leiden­
schaft , die noch dein Auge umflort. So komm,
Hilary, lass dieses wilde Selbst von dir tot sein und
wieder der natürlichen Welt anheimfallen, aus der
es entstand. Du hast es genützt, von ihm gelernt,
mit ihm zur Genüge gelebt. Du l iegst j etzt im
Schlummer in deinem Bette daheim ; ich sehe deinen
Körper viel deutlicher als den Schatten hier vor
mir. Sei so mutig wie Otto, der überwunden hat.
Sein Geist weilt an einer Stätte des Friedens, bis
der nahe Augenblick erscheint, da er zu einem neuen
Tatenleben erwachen wird , ungehindert von den
Banden des Phantoms, das er soeben zerstörte. Noch
steht dein Geist zurück und lässt dem Phantom das
Zepter. - 0 komm zu mir in deinem göttlichen
Selbst und sei mein Freund, mein Genoss e ; komm,
tu es jetzt und verbanne für immer diesen Schatten
mit den hungrigen Augen. Dann, wenn du am
Morgen erwachst, wird der Zwiespalt deines Geistes
und das Fieber deiner Seele weg sein. Du wirst
mich nicht minder lieben, Hilary, aber es wird eine
Liebe sein, die dich fördert, statt dich zu lähmen.
Wir haben die Blüte genossen, Hilary, die Erfüllung
ist da und ihre Blätter fallen ab. Es ist die Zeit
für die Frucht. Komm, Hilary, ich muss vorwärts !
Komm mit mir -«
244 Die Blüte und die Frucht. XXI.

Die Schemen veränderten sich und zerflossen


plötzlich ganz. Neue Formen erschienen , unklar
zuerst, bis allmählich ein Zimmer sichtbar wurde.
Drin lag in tiefem Schlummer Hil�ry Estanols Ge­
stalt. Da plötzlich fuhr der Schläfer auf, und wie
von weiter Entfernung her hörte Amyot seine
Stimme h inausschreien : )>Flita, riefst du nach mir ?
Ich komme - ich komme �«
Und Hilary sprang von seinem Lager und be­
gann, sich hastig anzukleiden . . .

))Umsonst !« sagte Iwan traurig. >>Armes Kind,


sie muss ihre Last noch weiter schleppen.«
Die Finsternis schloss sich um sie ; die Lichter
und Schatten alle waren versunken.
Ein schwacher, unruhiger Ate mzug gemahnte
sie wieder an die tote Flita, die so hilflos dalag.
Stellte sich das Leben wieder bei ihr ein ? I wan
erhob sich und machte Licht. Er kam mit einer
Kerze in der Hand und beugte sich über die liegende
Gestalt. Ja, sie bewegte sich ein wenig ; ein leichtes
Zittern der Lider, dann auf einmal öffneten sie sich
weit und ihre herrlichen Augen sahen gerade in
Iwans. D er leere, matte Blick ver wandelte sich in
Verehrung und seliges Entzücken. In seiner Stellung
konnte Iwan das schwache Flüstern der weissen
Lippen vernehmen.
))Iwan ! Iwan ! du wirst mir helfen !«
Iwan richtete sich auf, gab die Kerze in Amyots
Hand und trat aus dem Zimmer in die dunkle Nacht
hinaus. Hier in der kühlen Luft stand er stille, in
tiefem Sinnen . . . . Ja, das war's ! deshalb war es
ihr fehlgeschlagen mit Hilary ! deshalb ihr auch die
Initiation missglückt ! Nicht Stolz oder Selbstgefühl
Die Blüte und die Frucht. XXII. 245

war ihr V ergehen, nichts, was eine Maske hätte


verdecken können, - ei nfach, dass sie sich an ihn
lehnte, zu ihm aufsah wie zu einem Gott ! Stolze
Seele, wie bitter m uss dir der Misserfolg gewesen
sein � Das furchtlose, kühne Herz , das sich der
hehren Weissen Brüderschaft vor der Zeit nahte !
Was konnte er tun ? Bittere Trübsal blieb ihr noch
vorbehalten ; denn sie sprach die Wahrheit : die
Zeit ihres Blütelebens und seiner Freuden war
dahin. Die Stunde war da, dass die göttliche Frucht
sich gestalte. Weder die Natur, noch die Ueber­
natur kann von eines Adepten Hand oder durch
eines Geistes Gebet und Geheiss aufgehalten werden.
Sein Haupt neigte sich , seine Gedanken ar­
beiteten ; so wanderte er durch die Finsternis weiter,
in den Wald hinein.
Flita aber, der schwache, gebrochene, erschöpfte
Körper Flitas, lag jetzt, nach dem ersten kurzen
Freudenstrahl , wieder krank und elend da ; dann
kamen Fieberschauel' und raubten ihr Bewusstsein
und Denken.

XXII.

A ls Flita wieder zum Bewusstsein erwachte,


fand sie sich in der Hütte auf dem Stubenboden
liegen ; ihr Kopf war von dem untergeschobenen
Kissen herabgeglitten und ruhte auf den Steinplatten.
Wahrscheinlich hatte die Unbchaglichkeit ihrer Lage
geholfen, sie zu wecken. Ein Versuch, sich aufzu-
246 Die Blüte und die Frucht. XXII.

richten, belehrte sie, dass sie z u schwach dazu war.


M it vieler Mühe brachte sie den Kopf wieder aufs
Kissen. Hernach betrachtete sie verwundert und er­
staunt ihre Umgebung Prächtiger Sonnenschein strahlte
durch das Fensterehen und die halboffene Türe herein.
Der Lufthauch, der sie traf, war mild und wohltuend.
In einer matten Zufriedenheit sah sie den Sonnen­
lichtern zu, die auf dem Estrich spielten, und eine
innerliche, kindliche Glückseligkeit erfüllte ihre Seele.
Sie wünschte sich nichts, wusste von nichts, dachte
an nichts.
Jedoch das G ehirn versagte es, untätig zu bleiben :
sein Getriebe setzte sich selber in Gang und brachte
ihr sofort die Greuel des Schlachtfeldes in Erinnerung,
- undeutlich, verworren, unverstä ndlich, aber gräss­
lich. Sie schrie hinaus mit einer fre mden, schrillen
Stimme, zuerst unzusammenhängende Töne, ohne es
zu verständlichen Lauten zu bringen, dann rief sie
A myots Namen immer und i m m er wieder. Aber
niemand gab Antwort, niemand kam ; sie war allein.
Sie hörte auf zu rufen und schloss rein vor Schwäche
die Augen.
Aber das Gedächtnis bestand auf seinem Rechte.
Die Erinnerung an den letzten schrecklichen Zwischen­
fall trat wieder vor ihren Geist, und unverzüglich
riss si e die Augen auf, um die W ahrheit zu erproben.
War nicht alles ein böser Alp gewesen , die Flammen,
das Blut ? Nein ; alles hatte sich wirklich zugetragen,
denn da neben ihr lag ja ihr rechter Arm, versengt,
lahm, verschandiert, abscheulich zu sehen, und Blut
daran . . . , Blut auch an ihrem Kleid. Dieser Anblick
flösste ihr offenbar m eh r Entsetzen ein als irgend
etwas sonst ; die Augen starr und unv erwandt auf
Die Blüte und die Frucht. XXII. 24 7

das Blut gerichtet erneuerte sie den V ersuch, sich


zu erheben. Es verging geraume Zeit, bis es ihr
gelingen wollte, und als sie endlich auf den Füssen
stand, war es nur, um nach einem Stuhle zu wanken
und von neuem niederzusinken. Der Wechsel ihrer
Haltung erweckte ihr zunächst nur das lebhafteste,
alles andere überwiegende Bewusstsein ihrer
Schwäche ; bald aber half er ihr vollends ganz zu
sich selbst kom men : in wenigen Sekunden hatte sie
ihre Lage zu begreifen begonnen.
Da sass sie, an der Wand, auf dem steifen,
hölzernen Bauernstuhl ; ihre Gestalt war halb im
Sonnenschein und halb im Schatten. Wer hätte in
dieser hinfalligen, blasswangigen, entstellten Kranken
die glänzende, jugendliche Fürstin wiedererkannt,
die so königlich im Bewusstsein der ihr eigenen
innern Macht gewesen !
Sie sah auf ihren verunstalteten Arm herab :
))Das hätte nicht geschehen können, wäre ich nicht
in meiner Prüfung durchgefallen. Flita, du arme
Seele, wie krank und sch wach du bist ! Hast du
das Geheimnis der Macht, der Jugend, der Unsterb­
lichkeit verloren ? ist es aus damit ? ist alles dahin
mit deinem Misserfolg ?«
Sie gab sich Haltung und schien ihre Kraft zu
sammeln ; eine unbändige Energie auf ihrem Gesicht
benahm ihm alle Milde und Zartheit. Solchen Blick
wie diesen hatte noch niemand bei ihr gesehen,
selbst in ihren entschlossensten Momenten nicht.
Es war das Bild einer um das Leben kämpfenden
Seele, eines im Ersticken nach Atem ringenden Leibes.
Dann schnellstens änderte sich der Blick ; er wurde
weicher und doch zugleich nachdrücklicher. Sie er-
248 Die Blüte und die Frucht. XXII.

hob sich von ihrem Stuhle und stellte sich aufrecht


hin, als kehrte der Lebensodem wieder neu zum
Körper z urück. Und so war es auch. Sie schritt
durchs Zimm er, langsam, aber besti mmt und ohne
zu schwanken, b etrat die hintere Stube und ging
auf den geheimen Schrank zu. Und nun m a chte
sie sich selbst daran, den Trank z u mischen, den
Amyot für sie bereitet und, als er fertig war, wieder
au sgeschüttet hatte. Sie tat es ohne Zaudern und
B e denken , m u rmelte mit einem langen Blick auf
die Phiole einige Worte und trank sie leer.
Mut, Feuer, Lebenskraft stürmten aus dem Ge­
bräu auf sie über. Sie stand stille , indess das
aufwallende Blut die W angeiJ. rötete und das Ge­
hirn schürte .
»Ich lebe wieder«, sagte sie zu sich, »es heisst
jetzt handeln ! . . . zuerst die Reinigung vollbringen !«
Sie sah sich nach ihrem Bauernflause u m und
fand ihn auch gleich in der v ordem Stube über
einen Stuhl gehängt. Er war unbesudelt und
konnte die Schäden ihres Anz uges verdecken. Sie
schl ü p fte hi nein, so gut es geh en wollte ; war sie
doch noch nicht gewöhnt, nur einen Arm und eine
Hand zu haben . Es war auch eine Kappe daran ;
die zog sie sich über den Kopf. Da fiel etwas her­
aus und flatt erte zu Boden : ein Blatt Papier
zusamm engefaltet. Sie stutzte , griff es auf und
öffnete es. Nur ein Stern war darauf, sonst nichts,
kein einziges Wort. Flita zitterte ein wenig, als sie
den Stern betrachtete.
»Sie wachen also über mich ' . . . die erhabene
Brüdet•schaft wacht über m ich ! Wer war hier ?
Wer hat das dagelassen ? Amyot nicht, ihm ist das
Die Blüte und die Frucht. XXII. 249

Wah rzeichen, das hier inmitten strahlt, nicht geläufig .


. . . Die w eisse Brüderschaft � Kalte Abstraktionen,
keine Menschen mehr �« Sie begann in der engen
Stube hin und her zu gehen, immerfort das Papier vor
Augen . ))Nicht mehr menschlich � . . . An euch
denken dorrt mir die Seele aus , - doch eures­
gleichen zu werde n , zu sein , was ihr , ist meine
ei nzige Hoffnung. Leidenschaft, Leben, Menschen­
tum , das sind fü r mich Feuer des Todes. Ich habe
keine H eimstätte ausser in der Weissen Brüderschaft.<(
Plötzlich blieb sie stehen, faltete das Papier
wieder zusamm en, barg es in ihrem G e wande und
nahm ihr Vorhaben w ieder auf. Sie lenkte ihre
Schritte hinaus zu den Eiben . Hier verweilte sie
einige Augenblicke und prüfte die Bäume aufmerk­
sam aus der Nähe, einen um den andern, bis sie
das Gesuchte fand : an dem einen entdeckte sie ein
paar in die Rinde gekerbte Zeichen, die sie sehr
sorgfältig betrachtete.
Rasch schritt sie dann den Pfa d hinab und bog
in die Landstrasse ein, verliess sie aber möglichst
bald wieder, um eine weglose Oedung zu durch­
queren. Sie hielt offenbar eine ganz bestimmte
Richtung ein, aber ebenso augenscheinlich war es,
dass sie den Weg noch nie zuvor gemacht h atte.
Denn mehrmals war sie sehr in Not, die Fährte über
angeschwollene Wasser zu finden, wenn sie auch
nach vielem Suchen allemal die Stelle traf, von der
aus leicht hinüberzukommen war. Hin und wieder
sah sie sich im nächsten Bereiche von W ohnstätten,
jedenfalls zu ihrem grossen Missbehagen, denn sie
machte jedesmal einen erheblichen Bogen, um ihnen
auszuweichen und dann w ieder den alten Weg
250 Die Blüte und die Frucht.. XXII.

aufzunehmen. Zuletzt betrat sie den Wald, indem


sie sich an ein Gewässer anschloss, das in einer
geraden Linie h ineinführte. Es war nicht leicht, dem
Wasserlauf nachzugeh en, denn an den Rändern war
der Baumstand dicht und überhängend, aber sie blieb
doch hart an seiner Seite, selbst bei seinen Wind­
ungen. Sie wusste, dass er sie an ihr Ziel bringen
werde.
D er Nachm ittag verstrich, und noch war die lange
Wanderung nicht zu Ende. Die Sonne war hinunter ;
au sserhalb des Waldes hielt sich noch die Däm­
m erung , in seinem Schatten war es finstere Nacht.
Flita folgte dem Glitzern des \Vassers, wenn dieses
da und dort einmal Lichtstrahlen auffing und abgab.
D a endlich dunkelte etwas gleich einer schwarzen
Perle vor ihr auf. Sie j ubelte vor Entzücken und
Dank barkeit. Es war ein grosser, tiefer Tümpel, eng
eingeschlossen von Waldbäumen, die noch dicht an
seinem Saume Wurzel fassten. Er war j edoch hin­
reichend breit, um einem Stück Himmel als Spiegel
zu di enen. Und stille war er, gleich als wäre er ein
Todesteich . Aber für Flita schien er Lebeu zu bedeu­
ten. Sie stürmte förmlich ihm entgegen, bis sie sein
Becken erreichte. Dann entledigte sie sich des
Mantels, sowie auch ihres Kleides, und versuchte,
dessen fleckige Stellen abzuwaschen. Sie rieb daran
herum, s o gut sie es m it ihrer einen Hand vermochte ;
abet es war verlorene Mühe, und bald rollte sie das
Kleid zusammen und warf den Bündel ins Dickicht.
Sie stand nun da wie ein Geist, in einem feinen,
weissleinenen Gewand, das sie unter ihre m Reitkleide
getragen hatte. Es war reich gesäumt und überall
mit Stickereien besetzt ; aus der Bauerntracht ent- ·
Die Blüte und die Frucht. XXII. 251

puppte sich wieder die junge Königin, in Purpur


und feinstem Linnen. Di eses hatte keine Flecken
abbekommen, wie sie zu ihrer grossen Freude wahr­
nahm ; sie zog es aus, legte es zum Mantel und ent­
kleidete sich vollends. Eine Sekunde noch, und ein
sch imm ernder Körper stürzte sich in die tiefen
Vl asser. Ihr langes Haar ruhte ausgebreitet auf der
Oberfläche. Flita war eine bemerkens werte Schwimm­
künstlerin, sie liebte das V\lasser, und solange sie
noch in ihrem Landhaus wohnte , h atte sie manche
Stunden der Somm ernächte schwimmend auf dem
See verbracht, der zum Parke gehörte. Jetzt freilich
hatte sie nur den einen Arm zur Verfügung. Geübt
wie sie war, und mit dem Elemente vertraut, konnte
sie sich zwar über Wasser halten und h ierhin und
dorthin steuern ; jedoch tüchtig ausgreifen, in der
Mitte des Weihers herumschwimmen und tauchen,
wie sie es sonst getan hätte, konnte sie nicht.
Sie hi elt lange aus , und als sie schliesslich ans
Ufer zurückkehrte, spielte ein seltsam zufriedenes
Lächeln auf ihren Mienen. Sie drückte ihr triefen­
des Haar aus und kleid ete sich rasch an. Kaum hatte
sie über ihr weisses Linnengewand noch den Mantel
geworfen, trat sie auch sofort den Heimweg wieder
an. Sie schritt leicht und bebende dahin, erhaben,
wie es schien, über das Frieren und unbeirrt von
den nasskalten, klebenden Haarsträhnen.
Es war nahezu Mitternacht, als sie die Hütte
wieder erreichte.
Unmittelbar vor der Türe schaute sie besorgt
nach dem Monde.
))Noch nicht zu spät !« sagte sie.
Sie huschte hinein und verschloss und verriegelte
252 Die Blüte und die Frucht. XXII.

den Eingang. Das Mondlicht sandte durch das


Fensterehen einen langen, geraden Strahl quer in
die Stube. Flita e ntledigte sich des Mantels und
warf sich mitten i n dem weissen Streifen auf die
Kniee nieder.
»So komm denn !« rief sie laut. >,Komm, du,
mein Selbst, m ei n Ich, mein eignes höchstes Wesen !
Lass dich h e rab und sprich mit mir, mein Selbst.
S prich, was ist meines Lebens Ziel ? Wo ist der
\V'eg, auf dem ich gehen soll ?«
Die Mondstrahlen schienen Form an zunehmen ;
Flita sah auf. Eine Gestalt, nicht körperh after als
Mondschein, stand über ihr. Es war sie selbst - ,
j a , ihr eigen Gesicht, i h r eigenes dunkles Haar. Wer,
der sich einmal diesen Moment, den grauenhaften,
he raufbeschworen, kann j e w ieder sein wie andere
Menschen ? Flita schaute hin -: ja, es war ihr
Gesicht, aber -vv i e kalt, wie weiss, wie unerweichl ich !
ihr dunkles Haar, aber vom Schimmer leuchtender
Rosen durchhellt. Und Worte kamen.
»Begehre nicht mit mir z u rede n . Du wandelst
in der Erde Schmutz. Ich bin gekrönt m it Blumen.«
Mit einem wi rren, unartikulierten Schrei fiel
Flita ohnmächtig nach vorwärts . Und lange blieb
sie so i n dem schmalen Mondlichtstreifen liegen , den
weissen Schein auf ihrem Antlitz. Dann fand sie
Bewusstsein und Sprache wieder.
»Wie erfreche ich mich, dieses sternenver wandte
Geistwesen herabzurufen, das ich erniedrigte und
fernhielt von der Pforte und der Initiation. Kein
Wunder, dass die Scham mich ni edergeschmettert
hat. Aber Grosses h a b ich gelernt in dieser einen
dunkeln Stunde des Entrücktseins. Jawohl, Flita,
Die Blüte und die Frucht. XXII. 253

du hast gelernt, jetzt zieh den Nutzen. D iese deine


himmelhohe, blumengekrönte Schwester musst du
an dich ketten, an dich, die unvollkommene und
unw i ss ende Flita der Erde ; und wie ? - Indem du
ihren Willen tust. Wo ist ein Meister, so gewaltig,
so hart, so zwingend, wie sie ? Meines Meisters
Gesicht hab ich wohl im Mitleid weich werden
sehen, - aber dieses da ist erbarmungslos. Von
dieser Stunde ab bin ich an sie gebunden ; ich ge­
horche ihr.«
Was war es, das ihr gewiesen wurde ? Was
war's, das sie sah und börte und lernen sollte? -
Dass sie, die Flita der Erde, nicht frei war, nicht
würdig, zu den Auserwählten einzugehen. Und bis
sie Jas kann, steht jene an der Schwelle und harrt
ihrer, und wartet, eins mit ihr zu werden. Dann
wird j ener Krone die ihre sein.
Die ihre ! Um welchen Preis l Um die letzte
menschliche Regung ; die letzte m enschliche Regung
musste heraus aus ihrer Seele.
))Wohl, mein Meister, die Schuppen sind von
meinen Augen gefallen. Ich weiss, warum ich einsam
bin, weshalb du mich so gar allein gelassen. Ich
habe dich geliebt, ich habe dich angebetet, nicht
anders, als ein Schüler seinen Meister liebt ; aber
doch war es Liebe, ein Schmachten, ein Anschmiegen,
ein hungriges V erlangen nach dir, nach deinen feinen
und geistweckenden Gedanken, nach deiner hehren
Gegenwart, ohne deren zarte Würze das Leben mir
leer und geschmacklos schien. Das ist jetzt alles.
vorb ei. Sie fahre hin, diese Begeisterung, ich habe
keinen Gefallen daran, noch du. Und wenn sie
noch in meinen Adern brennt, - ja, brennt, - um
254 Die Blüte und die Frucht. XXIl.

so gewisser muss sie überwunden werden. Allein


will ich stehen und nirgends Hilfe, nirgends Beistand
suchen als nur in mir selbst.«
S i e erhob sich und regte sich. Ihre Haltung
war frei , als hätte ihr weder Erschöpfung noch
Krankheit je etwas angehabt, d och warf sie einen
sehr bedenklichen Blick auf ihren Arm, der schlaff
an ihrer Seite herabhing.
»Wie ärmlich ich war, das Ding zu fürchten !
Was ist schuld, dass ich nicht mehr Vertr·auen auf
m eine Macht hatte ? Gut, vorbei ! ich muss das Mal
meiner Feigherzigkeit tragen.<(
Das Häuschen blieb w ie ausgestorben, ganz
einsam. Sie hatte seit langem nichts mehr genossen,
schien jedoch auf die Unbehaglichkeit und V erlassen­
heit ihrer Lage gar nicht acht zu haben. Erst wie
sie durchs Zimmer ging, wurde sie gewahr, dass sie
bei den überstandenen ausserordentlichen Anfech­
tungen und Anstrengungen ihre letzte Kraft erschöpft
hatte. Sie lenkte ihre Schritte zum Schrank und
mischte sich noch einmal ein anregendes Mittel.
A lsbald kehrten ihre Lebensgeister zurück. Ein feines
Rot erschien auf ihren Wangen ; sie sah aus wie
d i e Flita der Residenz, die jugendliche Königin voll
Kraftmut, nur lag eine neue Wucht in ihren Zügen,
etwas, das deren Ausdruck- vollständig veränderte.
,./
S i e kehrte zu der grossen Stube zurück und begann
in angestrengtem Nachdenken auf und ab zu gehen.
Die Worte Etrenellas kamen ihr nicht aus dem
Sinn. ,Dein Meister ist's , der J wan ! . . . bist d u
schon einmal a u f Seelen aus, so rette d i e seine ! . . .
, Ans Tor der Hölle musst du laufen , um ihn zu
finden ! . . . Sie stand still und schaute durch das
Die ijlüte und die Frucht. XXII. 255

Fensterehen auf die friedliche Landschaft hinaus,


aber ohne sie zu sehen. Sie ging ganz und gar auf
in ihren inneren Fragen.
>>Welche Verblen dung, ihr zu glauben, der Hexe,
der Betrügerin ?
» \\1 as v erführte mich, zu ihr zu laufen ? War
ich tatsächlich blind vor Liebe ? Ab ! wie i ch darauf
aus war, den Schrecken des Höllenrachens Trotz z u
bieten. Närrin ! so willig i n d i e Falle zu gehen !
Heilloser Stolz, der mich im Handumdrehen verführte,
solchen Blödsinn zu glauben. Vor meinem Meister
abzubitten ist überflüssig , ihn konnten meine tollen
Gedanken nicht verkleinern. Aber du, W eisse Brüder­
schaft, vergöttlichte Menschheit, vergib mir, dass ich
wähnte, auch ihr Reinen, Gottähnlichen könnet von
dieser hehren Stufe aus noch fallen !«
Sie verstand nun, was ihr Gedanken und Herz
so geläutert, dass sie ihre Torheit sah, und weshalb
sie dieser Erleuchtung teilhaftig geworden : - »Ich
habe Hand ans Werk gelegt. Ich habe Otto vor
sich selbst gerettet. Aber zwei waren es, die ich
zur Pforte mitbringen sollte ! Wer ist der andere ?
Hilary ! mit dem ich so viele Misserfolge hatte ?
dessen Berührung m ich wie Tod anmutet, mir die
Erinnerungen weckt an immer wieder begrabene
Liebe ? - Ab, 'Flita ! noch stehst du im Staube der
Erde. Auf denn, ein Herz gefasst und ans Werk
gegangen ! Die Blüte ist j etzt abgefallen und ver­
modert ; ihr süsslicher Duft kränkelt dich an und ist
dir widerlich. Denk auf die Frucht!«
In einem Nu wechselte sie ihre ganze Art. Sie
konnte nicht schnell genug ihr langes Haar aufbinden,
nach dem Mantel greifen und ihn umlegen.
256 Die Blüte und die F'rucht. XXII!.

Nun, zum ersten Mal seit all ihren Fährden un d


Nöten, dachte sie ans Essen. Im Speiseschränkchen
fand sie Brot und Obst und nss davon, fast gierig.
Dann richtete sie ihren Anzug vollends zurecht, ver­
liess d i e Hütte und bra ch te Schloss und Riegel wieder
i n Ordnung.

XXIII.

W elch lange und beschwerliche Reise, die Flita


anzutreten hatte ! Ross und Wagen waren aus dem
Stalle verschwunden, und Geld , sich irgend eine
Fahrgelegenheit zu v e rschaffen, hatte sie nicht. Aber
sie trug eine Anzahl kostbarer Ringe an den Fingern,
u n d um den Nacken eine Schnur noch nicht ge­
schliffener Edelsteine aller Art, einen Schmuck, den
sie seiner echten Ursprünglichkeit halber am liebsten
hatte und ständig unter dem Kleide bei sich trug ;
ein Büchschen hing daran, das einen ihr besonders
teuren Schatz barg. Im nächsten grösseren Orte
gelang es ihr, einen ihrer Ringe um ein Zwanzigstel
seines Weries zu veräussern und einen Bäueri nnen­
anzug dafür einzukaufen. So gekleidet, den Mantel
darüber, und die Haube gehörig ins Gesicht herein­
gezogen , konnte sie unauffällig auf den b esseren
Strassen bleiben. Essen kaufte sie sich je und je,
d e nn sie fand ihre Kräfte unzulänglich für die bevor­
stehenden Strapazen ; aber unter einem D ache z u
schlafen und Rast zu halten brachte sie nicht über
sich, setzte vielmehr Tag und Nacht die Wanderung
Die Blüte und die Frucht. XX Iii. 257

fort. Einen weiten Umweg m achte sie , um das


Schlachtfeld zu vermeiden, den Ort, wo sie in ihrem
verzückten Verlangen , Iwan aufzusuchen und aus
grosser Gefahr zu erretten , ihre Pflicht vergessen
und die Armee nnd den König geopfert hatte. Sie
getraute sich offenbar nicht , ihre Stärke auf die
Probe zu stellen und an der Unglücksstätte selbst
deri Erinnerungen zu trotzen.
Endlich erreichte sie eine grössere Stadt, wo
es Juweliere gab , denen sie die Steine ihres Ge­
schmeides zum Kauf anbieten konnte. Sie waren,
wenn auch unansehnlich und nicht geschliffen, ihrer
Grösse wegen von hohem Wert. Drei davon ver­
handelte sie weit unter dem wirklichen Preis, aber
für sie war der Erlös ein Vermögen, denn sie konnte
nun ihre Reise vollends zu Wagen machen. Sie gab
vor, sie habe die Edelsteine auf dem Schlachtfelde
gefunden, denn der Juwelier, der ihren Bauernanzug
und ihr sorgfältig verstecktes Gesicht vermerkte,
schien sie ernstlich zu beargwöhnen. In Angst,
seine Neugierde möchte ihn zu weiteren Nachforsch­
ungen veranlassen, mietete sie sich rasch im nächsten
besten Gasthaus ein Gefährt und machte sich auf
und davon, ohne sich zu einem Imbiss Zeit zu lassen.
Am selben Abend fuhr Flita durch die Stadt,
in der sie einen Tag lang als Königin geherrscht
und die sie an der Spitze ihrer Armee im Triumphe
verlassen hatte. Die Stadt war geradezu verödet ;
die Geschäfte waren geschlossen, die Strassen leer,
Zeichen der Trauer überall. Flita erblasste und ver­
barg sich , von Entsetzen erfasst, im Innern des
Wagens. Das war ihr Werk ! Einen Augenblick
schien es, als wollten Gewissensqualen sie befallen
17
258 Die Blüte Und die Frucht. XXIII.

und gänzlich niederschmettern. Aber sie unter­


drückte das Gefühl mit herrischem Willen. Nicht
bereuen wollte sie, was geschehen war ; sie wollte
es wieder gut machen.
Und nun sah sie die Strasse vor sich, auf der
sie unlängst gefahren, als sie mit Hilary, der jungen
Herzogin und j enem namenlosen Ding ihre Reise zu
dieser Stadt gemacht hatte. Ihr Blut wollte erstarren
b e i der Erinnerung daran. Warum hatte sie dieses
Satansgezeug durch Hilary töten lassen ? warum sich
nicht aus eigener Kraft seiner erwehrt ? Gewiss
h atte damals schon ihr Unheil begonnen, Ja , so
musste es gewesen sein. Ihre Atmosphäre musste
ihre Reinheit schon verloren haben, dass dieses Ding
sich überhaupt hatte so nahe an sie heranmachen
können ; ihrer Seele fehlte es an Erkenntnis der
eigenen Stärke, als si e Hilary ihren Verteidiger
sein liess.
So überdachte sie j ene seltsamen Vorgänge und
mühte sich ab, den Sinn der Vergangenheit zu er­
gründen. Es waren harte Lehren, die sie sich aus
ihren Erinnerungen holte, und ihr Gesicht verfärbte
sich fast bis zur Leichenblässe.
Endlich tauchten die Türme und blinkenden
Dächer ihrer Heimat, ihrer Vaterstadt vor ihr auf.
Eine kleine Strecke vor den Toren entliess sie den
Wagen : sie wollte ihren Einzug unbemerkt halten.
Es dunkelte, und mit ihrer tief ins G esicht gezogenen
Haube kam sie glücklich von Strasse zu Strasse,
ohne aufzufallen , trotzdem sie so allbekannt war,
dass sie bangte, schon ihr Gang und ihre Haltung
möchten sie v erraten.
Bald bog sie nächst der K athedrale in die lange,
Die Blüte und die Frucht. XXIti. 259

b reite Hauptstrasse ein. Hier war's taghell und leb­


haft wie immer, vielleicht noch lebhafter als sonst,
denn was den Krieg und seine Schrecken fürchtete
und die Freuden des Lebens vorzog , war bei der
ersten Hiobspost aus Ottos H auptstadt hierher enteilt.
Dem Gedränge der Wagen nach musste eine
besondere Festlichkeit im Gange sein. Viele der
Damen kauften erst noch ein ; sie kamen aus den
Blumenläden, von Modistinnen und Juwelieren und
von eiligen Besorgungen aller Art. Flita kannte die
meisten ; es m achte ihr Spass , sich so unbeachtet
als vermeintliche Bäuerin mit der Menge treiben zu
lassen. Wie anders war es sonst, wenn sie auf
dieser Strasse erschien. Neugierig fahndete sie unter­
wegs nach diesem und jenem Gesicht, und so kam
sie allmählich dem königlichen Schlosse näher und
näher und merkte nun auch mit einem Male , was
das Ereignis des Abends war. Das ganze Palais
war festlich erleuchtet ; offenbar war grosse Hoftafel
mit Ball. Plötzlich kam Flita die Idee, Hilary m üsse
auch dort sein, und gleichzeitig stand ihr Entschluss
fest, ebenfalls hinzugehen. Ohne einen Gedanken
an Müdigkeit oder die grosse Entfernung lenkte sie
schon ihre Schritte nach der Strasse , die aus der
Stadt hinaus zu ihrem geliebten Landhause führte.
So weit hatte sie sich im Wagen ausgeruht, dass
sie die Strecke ohne Beschwer zurücklegen konnte.
Wie sie erwartet hatte, fand sie das Haus ganz
verlassen. Wie wohl tat ihr der vertraute würzige
Geruch des Gartens � Ihr war zu Mute, als habe sie
die Erfahrungen eines ganzen Lebens durchgem acht,
seit sie zuletzt hier gewesen war. Und das hatte
sie auch tatsächlich. Dass das Haus verschlossen
260 Die Blüte und die Frucht. XXIII.

und verriegelt war, störte sie nicht ; sie konnte j eder­


zeit auf eine geheime Art in ihr Laboratorium
kommen. Schnell genug war sie innen, dann aber
verharrte sie eine Weile ganz still im D unkel und
labte sich an dem schwachen Räucherduft, der noch
alles durchsetzte. Ein Gefühl der Macht überkam sie.
» Ü wenn ich das Verlorene zurückgewänne !
meine alten Fähigkeiten wieder fände ! . . . Aber weg
mit diesen G edanken ! ich muss mich eilen k<
Trotz der Dunkelheit fand sie sich leicht zurecht,
war ihr doch der Raum ganz vertraut. Gleich
hatte sie Licht und zündete dann die grosse Hä nge­
lampe an, die das ganze Gemach prächtig hell machte.
Unter der Lampe stand der leere Weihrauchkessel.
Sie warf einen sehnsüchtigen Blick nach ihm, liess
es aber mit einem Seufzer bewenden. »Ich darf
nicht«, murmelte sie und machte sich rasch ans Werk.
Ein riesiger, tiefer Schrank, fast ein Saal, war in eine
der dicken Wände eingelassen. Sie öffnete ihn und
sorgte auch hier für Licht. Der Schrank hing voll
mit Kleidern, keinen gewöhnlichen Anzügen, son­
dern eher solchen, wie man sie in den Requisiten­
kammern eines Theaters sieht ; nur dass die ihrigen,
wo der Charakter es nicht verbot, von vornehmer,
kostbarster Durchführung waren. Sie nahm zuerst
ein weisses Gewand heraus, dasselbe, dass sie da­
mals getragen hatte, als Hilary sie auf ihrem Land­
hause besuchte, sie im Gmien traf und trotz seiner
verliebten Blindheit unwillkürlich mit einer Priesterin
verglich. Das Gewand war wirklich von einer
Priesterin eines alten, schon längst für erloschen
angesehenen Ordens.
Vor dem grossen Spiegel des Laboratoriums
Die Blüte und die Frucht. XXIII. 261

widmete sie sich mit d e r grössten Sorgfalt ihrer


äussern Erschein ung. Alle Reisespuren verschwan­
den ; sie verlieh ihrer Haut durch aromatische Wasser
wieder eine zarte Frische, kämmte ihr Haar aus und
flocht es um ihr Haupt zu einer Krone. Dann legte
sie sich das weisse G ewand an und steckte es vorn
mit einer uralten Spange zusamm en, die sie aus einem
wohlverschlossenen Schmuckkasten hervorholte.
Plötzlich flammte es auf in ihren Augen und ihre
Mienen klärten sich i m Lichte einer Schauung. >>Ja,
ich bin sie wieder, dieselbe ! ihr Feuer hab ich, ihren
Mut ; ich bin die Priesterin der stillen Urwälder, die
sich v o m ersten Morgenstrahl ihre Weisung holt,
nicht vom m enschlichen Verstand. So ist es. In
dieser Persönlichkeit bin i c h so mächtig wie i n der
Prinzessin Flita ; ich nehme und nütze den uner­
schöpflichen Mut j ener reinen Naturanbetung. Ich
verlob mich ihr aufs neue, . . . mit neuer Einsicht.
Lernen kann ich nicht mehr bei euch, ihr G eister
der Luft und des Wassers, aber so fernab vom
Menschen stehen wie damals -, das kann ich. So
komm zu mir mit deiner Kraft, d u m ein früheres
Selbst a us der Einsamkeit des Waldaltars . . . !«
Sie trat vom Spiegel zurück und stimmte im
Gehen einen leisen, eintönigen Gesang an. Eintönig
- j a. Aber welche Fülle magischen Zaubers ! Er
trug Feuer in ihr Blut bis ins kleinste Aederchen.
Noch einen Anzug holte sie aus dem Riesen­
schrank, das Kostüm der alten Wahrsagerin, das sie
bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Hilary ge­
tragen hatte. Unter dem weiten Mantel und der
Kapuze verbarg sich ihr weisses Gewand vollständig.
Dazu wählte ste eine Gesichtsmaske , die nur
�62 Die Blüte und die Frucht. XXIV.

ihre Augen sehen liess : nun wirkten sie vollends


Wunder.

XXIV.

Z wei Stunden später stellte sich Flita am Schloss­


p ortale ein. Die Tafel war aufgehoben und die
Gäste drängten dem Tanzsaale zu. Es war kein
M askenball wie damals, als sie dieselbe Verkleidung
trug, und deshalb nicht so einfach, Einlass zu er­
langen .
Zunächst m usterte s i e d i e D ienerschaft, d i e a m
Haupteingang u n d a uf der breiten Eichentreppe ihren
Platz hatt e . Dann wählte sie einen von der Gruppe
aus und ging ohne Umstände auf ihn zu.
»Melden Sie dem König«, redete sie ihn an,
»dass ich mit ihm z u sprechen wünsche. «
Der Mann schaute sich d i e schiefe Figur des alten
Zigeunerweibs an und lachte : »Heute abend nicht !«
»Doch, heute abend«, erwiderte sie und heftete
dabei i hre wunderbaren Augen auf ihn. Das Lächeln
versch wand von seinen Lippen und er antwortete
ernsthaft :
»Es ist unmöglich, in der Tat. Komm am
Morgen wieder.«
»Ich wünsche Zutritt zum Ballsaal«, erklärte
Flita. »Ich weiss die Gäste zu amus1eren. Seine
Majestät wird die Erlaubnis erteile n . «
Der Diener schüttelte den Kopf.
»Heute ab end nicht« , wiederholte er. »Die
Gesellschaft ist zu vornehm.<<
Die Blüte und die Frucht. XXIV. 263

>)Ich werde ihnen Wunderdinge über sie selbst


sagen, dass sie nur so staunen werden ,« fuh r Flita
fort mit einem sonderbaren Lachen, infolgedessen
sie der Diener überrascht anschaute .
))Du darfst hier nicht stehen bleiben«, wehrte
er, als eine Gruppe neuer Gäste ankam. Der alte
rote Zigeunermantel m a chte die Figur sehr auffällig.
Sie verneigte sich tief vor einer schlanken, h übschen
Dame, die an ihr vorüberging.
))Ihr Wunsch wird sich erfüllen, Herzogin«,
zischelte sie, >>aber nicht wie Sie es gerne möchten.
Ihr Gemahl wird heute nacht sein ganzes Vermögen
bei den Karten verspielen und sich erstechen, ehe
er die Tische verlässt.«
Die Dame blieb stehen, starrte sie m it weit auf­
gerissenen, entsetzten Augen an und eilte dann sprach­
los und todbleich weg.
))Jetzt mach aber, dass du fortkom mst«, sagte der
Diener ziemlich un wirsch : ))Das geht nun und nimmer.«
Flita lief rasch der Dame nach, mit der sie ge­
sprochen h atte, und fasste sie am Kleide.
))Helfen Sie mir«, flüsterte sie, >>so helfe ich
Ihnen, ich kann es. Spielen Sie heute Abend und
lassen Sie m ich i n Ihrer Nähe sitzen, Sie werden
dann m ehr gewinnen, als Ihr Gemahl verliert.«
»Unmöglich � « sagte die Herzogin. ))Wie soll
ich das m achen ?«
»Sagen Sie dem Könige, ich m öchte i hn sprechen.
Ich habe Nachrichten von seiner Tochter. Sie ist
gefunden.«
Die Herzogin schaute sie einen Augenblick an,
dann wich aller Schreck aus ihrem Gesicht und sie
brach in ein Lachen aus.
264 Die Blüte und die Frucht. XXIV.

»Du hast dich verrechnet, gute Frau«, sagte sie.


»Ich denk e , ich komme heute abend ohne deine
Hilfe aus.«
Flita trat erstaunt zurück und schwieg.
Abermals kam der Diener und forderte sie auf,
zu . gehen. Da zog sie einen Ring vom Finger und
reichte ihn dem Manne hin.
,,B estellen Sie das dem König und sagen Sie
ihm, die Eigentümerin bitte um Zutritt zum Ballsaa L «
Der Diener zögerte, besah den Ring und war
sichtlich betroffen von seinem Wert und seiner
Schönheit. Er entschloss sich und ging die breite
Treppe hinauf.
Eine gute Viertelstunde dauerte es, bis er wieder
kam . Flita war regungslos stehen geblieben, wo er
sie verlassen hatte.
))Kommen Sie«, sagte er, »der König befiehlt,
Sie sollen eintreten .«
Die gebeugte Gestalt der alten Frau im roten
Mantel stieg nun die blumengeschmückte Treppe
hinauf und h umpelte mitten unter den Grössen des
Hofs und den reichgekleideten Dam en in den Saal.
Jedermann starrte sie an, doch sofort v e rmutete man,
der König habe diese Ueberraschung vorbereitet als
am üsante Zugabe zum heutigen Abend. Dies sagte
auch eine der Damen zum König, als sie den ab­
sonderlichen Gast herankommen sah . Der König
wandte sich hastig um : er war beunruhigt und ge­
spannt, wer die Ueberbringerin des Ringes sein
werde, der seiner Tochter gehörte und von deren
M utter herstammte.
))Ich setzte voraus, es sei Maskenball, Majestät«,
sagte Flita mit sehr leiser Stimme, als sie .sich ihm
Die Blüte und die Frucht. XXIV. 265

näherte. >>Deshalb trage ich dies Kostüm. Ge­


nehmigen Sie mich als Wahrsagerin und gestatten
Sie, dass ich einige Ihrer Gäste vergnüge. Sogleich
will ich Eurer Majestät auch meine Botschaft bestellen.«
»Euer Wunsch sei gewährt«, erwiderte der
König, der keinen bessern Ausweg aus der Lage
sah. »Ihr sollt das kleine goldene Bo udoir zur Ver­
fügung haben und dort Empfang h alten.«
»Gib mir meinen Ring zurück« , sagte Flita
wieder ganz leise. Er zögerte, offenbar unschlüssig,
was er tun solle. Sie brachte ihre linke Hand unter
dem Mantel hervor und hielt sie ihm hin, wie um
den Ring entgegenzunehmen. Er fuhr betroffen zu­
rück, nicht im stande, einen leichten Aufsch rei zu
unterdrücken. Es war eine Hand, die niemand ver­
gass, der sie ein einziges Mal gesehen ; auch kannte
ja der König die Fingerreife. In diese vorgehaltene
Hand, die er so befremdet anstarrte, liess er den
Ring gleiten. Flita barg sie rasch wieder unter den
Mantel ; sie konnte sein Benehmen nicht begreifen
und fand es an der Zeit, den Auftritt zu enden, da
er Aufsehen zu erregen schien.
Im selben Moment erhielt sie Aufklärung.
Denn dort, zur andern Seite, sah sie ihr Ebenbild
auf den König zutreten, schön, triumphierend,
strahlend, mit der grössten Pracht gekleidet und
übersät mit Brillanten. Sofort verstand sie den
ganzen Hergang bis ins einzelne und wunderte sich
ihrer vorherigen Blindheit. Es war - Adine.
Und der Mann an ihrer Seite, der schönste
Mann i m ganzen Saal , jugendlich, gross, das Ge­
sicht leuchtend von Liebe und Stolz, der Mann, an
den Adine sich schmiegte und auf dessen Arm die
266 Die Blüte und die Frucht. XXIV.

Spitzen ihrer b ehandschuhten Finger ruhte n ? Es


w ar Hilary Estanol.
Die Gruppe, deren Mittelpunkt der König bildete,
stand gerade am Eingang des Ballsaales. Eben be­
gann die Musik einen erlesenen Walzer zu spielen,
und Flita sah die beiden Gestalten den Saal hinab­
schweben als das erste und für den Augenblick
einzige tanzende Paar. Wunderbar harmonisch be­
wegten sie sich, wie Phantasien eines Traumreigens.
Flita blickte ihnen nach und wandte sich dann
rasch weg.
»Ich und doch nicht ich« , dachte sie. Aber
ihre Gedanken wurden unterbrochen durch die
W o rte, die sie ringsher vernahm,
»Nein, ein solcher Skandal !« sagte j emand ganz
i n ihrer Nähe. »Für überspannt hielt ich die Prin­
zessin immer ; aber so sich aufzuführe n ! Stellt euch
vor, sie weigerte sich, Trauer anzulegen, oder gar
einigermassen in ihren Gemächern zu bleiben, bloss
weil König Ottos Körper nicht gefu nden worden
ist. Und doch sind heute Abend zwei oder drei
Offiziere anwesend , die ihn fallen sahen. Es ist
schmählich ; ich begreife nicht, wie der König es
duldet !<.<
»Ach der hatte nie die geringste M acht über sie«,
sagte ein anderes. »Sie ist eine Hexe, und er ist
gezwungen , sie gewähren zu lassen , wie ·es ihr
p asst. Aber gar noch geradezu gross tun, ihre Lieb­
schaft mit Hilary Estanol so vor aller Augen affichieren,
und zu einer solchen Zeit, - ein abscheulicher Ge­
schmack ! «
I n diesem Tone ging es noch weiter , aber sie
konnte nicht länger stehen bleiben u n d hören. Es
Die Blüte und die Frucht. XXIV. 267

kam jemand, ihr den Weg in das kleine goldene


Boudoir zu zeigen. Hier setzte sie sich und war zunächst
froh u m j ede Minute Frieden. Sie nahm ihre Maske
ab, stützte den Kopf auf die Hand und versuchte
nachzudenken. A ber schon wurde ein Geräusch
an der Türe laut. Geschwind setzte sie die Maske
wieder auf. Zwei oder drei Hoffräulein sprachen
vor, eine nach der andern, dann auch einige Herrn
vom Hofe. Insgesamt kamen sie betreten und bleich
wieder heraus. Jedes war beunruhigt über die All­
wissenheit der Zigeunerin und jedes hatte seinen
ernsten Denkzettel erhalten. Nun folgte eine kurze
Pause, Flita härte Lachen und sah unter der weit­
geöffneten Türe nebeneinander Hilary und Adine
stehen. Die Wahrsagerin heftete ihre Augen auf
ihr Ebenbild, ohne Hilary mit einem Blick zu streifen.
Die Türe schloss sich, und Adine trat allein ins Zimmer.
Sie schien es wider Willen zu tun , und das
Lachen erstarb auf ihren Lippen. Da warf Flita
Maske und Mantel weg und erhob sich, einen drohen­
den Ausdruck in ihren Mienen. So standen sie
sich einige Augenblicke stumm gegenüber. Dann
sprach Flita kalt und streng :
>)D U hast mein Vertrauen betrogen ; diese Mas­
kerade muss ein Ende nehmen. Ich brauche dich
nicht länger.«
Adine zitterte und verlor alle Farbe.
»Ich glaubte, du seiest tot«, sagte sie völlig
kopflos, sie konnte keine andern Worte zusammen­
bringen. Flita warf ihr einen verächtlichen Blick zu.
))Als ob ich tot sein könnte und d u noch leben«,
sagte sie. >)Es ist genug , dass du die Tage und
Nächte her meine Macht und meinen Namen aus-
268 Die B lüte und die Frucht. XXIV.

genützt und beides , Namen und Macht, geschändet


hast. Fort jetzt ! es ist die h öchste Zeit. Und zwar
gehst du für immer. Du wirst nie wieder m einen
Platz einnehmen. Ins Kloster kannst du nicht zurück,
du hast kein Recht mehr darauf. G eh wieder in
deine Heimat, zu den Bauern ! «
A ctine stiess einen kreischenden Jam merton aus
und wankte, als hätte ihr j emand einen Schlag v er­
setzt. Aber sie sagte nichts. Alle K raft schien sie
v erlassen zu haben.
»Es ist keine Zeit z u verlieren<.<. , fuhr Flita nach
kurzem Schweigen fort. »Du hast Unheil ange­
stiftet, ich muss es wieder ins reine bringen. Spute
dich, leg die Aehnlichkeit mit m ir ab ! fort mit diesem
Gewand, und fort mit den verrückten Torheiten !
D e i n Hirn ist davon verdreht und dein Geist zu
gross für dich geworden !<.<.
\Vährend dieser Worte tat Adine ein paar
Schritte rückwärts und sank in einen Sessel . In
einer Art von Betäub ung und mitleiderregender
Hilflosigkeit tat sie rein m echanisch , was sie ge­
heissen worden. Sie nahm die Juwelen aus dem
I-Iaare, nestelte die Diamantenschnur an ihrem Halse
los und begann mit kraftlosen Fingern das Pracht­
kleid, das sie trug, aufzuschnüren. Flita wachte be­
harrlich über sie, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Das Seltsamste bei der ganzen Szene - schade, dass
ein Zuschauer fehlte, es zu würdigen - war , dass
die Aehnlichkeit zwischen den beiden mit j edem
Augenblick geringer wurde. Actine veränderte sich
sichtlich : sie neigte sich vornüber, so dass ihre Ge­
stalt verringert erschien, ihre A ugen verengten sich
und schwanden ein, ihr Mund v erlor seinen Schwung
bie Blüte und die Frucht. XXIV. B69

und die Unterlippe sank herab ; ihr ganzes Gesicht


bekam eine andere Art. Niemand hätte sie jetzt m it
Flita verwechseln können, obgleich an Wuchs und
Farbe die beiden Mädchen sich noch gleich waren.
Aber aus der einen war der Geist gewichen, wäh­
rend er in der andern zugenommen hatte. Flita
war nie so machtvoll erschienen, so ganz sie selbst,
wie in dieser Stunde. All ihr Mut und Vertrauen
hatte sich i n dem Moment wieder bei ihr einge­
funden, da sie das Handeln als dringende Notwen­
digkeit erkannt hatte.
Sie näherte sich Actine und blieb dicht vor ihr
stehen. »Was tust d u ?« schrie Actine zuletzt mit
vor Furcht und Schreck erstickter Stimme.
,,Ich lese deine Sünden«, antwortete Flita. ))Ich
lese und sehe, dass du für den Tod einer ringenden
Seele aufkommen musst, falls ich diese Sünden nicht
tilgen kann. Du ! - und bist nicht stark genug,
u m für dich selbst einzustehen ! Wie durftest du
mit Hilary Estanol spielen ? Weisst du nicht, dass
er einer der Auserlesenen ist und nicht den andern
Männern gleich, die sich u m dich drängen ? War
dir's nicht genug, meinen Namen zu einer Schmach
für mich und zum Gespötte der Menschen zu machen ?
musstest du dich auch noch an einem Erwählten der
Grossen Brüderschaft versündigen ? Du wusstest,
dass er erwählt war, d u sahst ihn ja dort i m Wald.
Falsche ! Undankbare ! Kaum zum \Verkzeug reichst
du aus ; zum Geistwesen kannst d u i n deinem laster­
haften Körper nicht werden. Geh ! - aber nicht
ich bin's, es ist die Brüderschaft, die dich verUiieilt.
Du hast das V ertrauen getäuscht , das sie i n dich
setzte, du musst dafür leiden.«
2 70 Die Blüte und die Frucht. XXlV.

Flita hörte zu s prechen auf und das Zimmer


war lautlos. A ctine lehnte i n ihrem Sessel und brachte
kein Wort hervor. Flita selbst war in tiefes Nach­
denken v ersunk e n ; sie stand da wie ein Stein bild,
die Augen auf etwas Schreckliches gerichtet, das
aber in seiner Wirklichkeit nur ihre m Geiste sicht­
bar war.
Wiederum sah sie, wie ihr eigenes V erbrechen
durch die Torheit eines Schwächeren sich auswirkte.
Die wilden Stunden jener Verzückung, - wie teuer
musste sie dafür bezahlen ! Ihres Meisters leibhaf­
tiges Abbild war vor ihre Augen getreten und hatte
sie für alles andere blind gemacht ; sie hatte es ge­
schehen lassen, dass die Hexe das berückend süsse
Gift ihr in die Seele träufelte und ihr den Wahn
eingab, der Meister bedürfe ihrer - : nur ein kurzer,
toller Traum war es gewesen, aber eine Armee und
ein König war ihm zum Opfer gefallen. Und nun
gar hatte ihr Selbst, hatte der Teil von ihr, den sie
auf dieses arm e , unwissende Mädchen übertragen
hatte, alles vergessen, was recht und gut ist , und
nur noch ans Vergnügen gedacht. Da war vieles
zu tun ! Und allein m usste sie es tun ! Sie hatte
ja keinen M e ister m ehr, nachdem sie sein Vertrauen
verscherzt !
0 Flita, Flita , eile und begreife rasch diese
grausame Lehre, die z u allererst bewältigt werden
muss. Lerne , dass es nie wieder j emand, nicht
Mann nicht Frau, für dich geben kann zum Lieben,
zum Anlehnen, a uch dich selbst nicht, - nur dein
Streben !
Die Zeit drängte, zu handeln. Rasch kehrte sich
Flita der Türe zu, öffnete ganz wenig und sagte
Die Blüte und die Frucht. XXV. 271

z u m Nächststehenden, d i e Prinzessin verlange nach


dem Könige, er m öge alsbald zu ihr kommen. In
wenigen Minuten schon pochte der König und trat
ein. Flita zog die Türe rasch wieder zu und schloss
sie ab. Der König blieb wie angeheftet stehen und
blickte von einer der Gestalten zur andern. Beide
waren verwandelt, und die Sachlage war unerklärlich.

XXV.

I
)) hr Tag ist zu Ende<<, sagte Flita. ))Sie m uss
gehen !<<
>> Wer aber ist sie ? Was soll das heissen ? In
welch tolle Machenschaft bist du da verwickelt ?«
))D u weisst«, erklärte Flita ruhig, ))dass dieses
Bauernmädchen früher schon meine Stelle hier ein­
genommen hat.«
))Du sagtest mir so, aber ich glaubte es nie.«
))Sicherlich glaubst d u es j etzt. Du sahst meine
Hand und erkannj:est mich, als ich v erkleidet eintrat.«
))Das stimmt. Doch was sollen diese Mummereien?«
))Ich habe es nicht veranlasst, dass sie hier ist.
Es ist ihre eigene Unverfrorenheit, für die sie
leiden muss.«
>>Wie aber ist so etwas möglich, dass m eine
eigenen Augen und Sinne sich täuschen lassen
konnten ? Flita, du hintergehst mich k<
;/Hintergangen wurdest du, gewiss«, erwiderte
Flita kühl. ))Wolltest du auf die Stimme deiner
höheren Eingebungen horchen, so wärest du nicht
272 D i e Blüte und die Frucht. XXV.

so ohne weiteres zu betrügen. Actine mag die


Welt leicht anführen , mag leichtlieh selbst Hilary
täuschen, da er blind vor Verlangen ist. Dich aber
hätte sie, meine ich , nicht hinters Licht führen können,
ausser dank den Dünsten des Weines. Du würdest
deine Tochter kennen , wenn du nicht dein ganzes
verwandtschaftliches Recht auf sie v erwirktest. Nun
komm, lass uns der Szene ein Ende machen. Du
m usst Mittel und Wege finden , Actine ungesehen
aus dem Schlosse zu schaffen , und mich unbem erkt
in meine Zimmer gelangen zu lassen. Ich bin tod­
m üde von all dem Erlebten.«
»Es ist unmöglich �« erklärte der König. >>Das
Zimmer hat keinen zweiten Ausgang.<<
>>Gewiss keinen ?« drängte Flita. >>B esinne
dich !« Sie hatte so wenig im Schlosse gelebt, dass
sie mit seinen Einzelheiten nicht vertraut war. Es
war bekannt dafür, viele geheime Gänge und Türen
zu haben.
>>Bestimmt keinen«, widerholte der König.
>>Dann muss ich für uns alle handeln«, entschied
Flita. >>Vorwärts, Actine, eile dich, lege dein Kleid
ab und gib e s m ir �«
Actine tat es unter Zittern und mit versagenden
Händen . Ihr Gesicht war weiss wie ihr Kleid. Der
König stand dabei und betrachtete sich aufmerksam
ihre Mienen. Plötzlich wandte er sich an Flita.
»W ober hatte das Mädchen die Macht, sich bis
zuletzt als dein Ebenbild zu halten ?«
>>Die Macht wurde ihr verliehen«, sagte Flita,
>>aber sie hat Missbrauch damit getrieben.«
Der König machte eine abwehrende Gebärde
der Ungeduld.
Die Blüte und die Frucht. XXV. 273

>)Immer sprichst du in Rätseln.«


))Ich antworte klar und deutlich«, entgegnete
Flita, >)wie ich jede Frage, die du an mich stellst,
beantworten werde.«
)) Wo ist dein Gemahl ? «
)) E r i s t tot. Ich selbst habe seinen Leichnam
gesehen, habe ihn zu Asche v erbrannt gesehen und
seinen Geist in Freiheit.«
))Ist es also wahr !« sagte der König traurig.
))Ich hatte trotz allem immer noch gehofft.<<
Adine steckte jetzt im Mantel der Wahrsagerin
und hatte deren Maske vorgebunden. Flita hatte
ihr das Priesterinnengewand, das sie selbst trug,
nicht überlassen, sondern ihr den Mantel unmittelbar
über das weisse, spitzenbedeckte Unterkleid geworfen.
Adine war nun völlig unkenntlich.
))Bücke dich, wie ich es tat<.<. , befahl Flita. ))Nur
zu, du verstehst mich gut genug nachzuah men .
Oeffne jetzt die Türe, Vater, und lass sie gehen .
Beeile dich, Adine, mach , dass du nach Hause zu­
rückkehrst und bereust. Und vergiss nicht, ein
Schloss an deinen Mund zu legen und nichts von
dem auszuplaudern, was du erfahren und gesehen
hast, sonst werden die Schwarzen Brüder kommen
und dich m it augenblicklichem Tode heimsuchen.
Sei gewarnt ! <.<.
Der König öffn ete die Türe und Adine trat
hinaus, wobei sie sofort mitten unter eine sich
drängende Menge geriet, die nicht wenig erstaunt
war über ih r Erscheinen. Sie wurde allerseits mit
Fragen bestürmt, blieb aber jede Antwort schuldig.
Ohne eine Silbe zu sprechen hastete sie durch die
Säle und die breite Haupttreppe hinunter.
18
274 Die Blüte und die Frucht. XXV.

»Da ist \\-�ieder etwas geschehen«, raunten die


Gäste einander zu. >>Warum bleiben die bei den,
der König mit der Prinzessin, noch drinnen und
s chliessen s i ch ein ?«
:;, Und wir, was werden wir jetzt tun ?« fragte
der König, indem er die Türe zumachte und sich
wieder zu Flita wandte .
))Du gehst«, entschied sie, während sie in aller
Eile Adines prächtiges Kleid anzog, »und sagst draus­
sen, die Zigeunerin sei gekommen, um mir die sichre
Nachricht von Ottos Tod zu bringen ; sie h abe den
Siegelring, den er am Finger getragen, abgeliefert.
Da sieh, hier ist der Ring ; ich hab ihn selbst von
des Toten Hand gelöst. Entlass die Gäste. Ich sei
i m Begriffe, mich in meine Zimmer zu begeben. Ich
werde meinen Platz einnehmen als seine Witwe,
die zu ihrem Vater zurückgekehrt ist.«
»Du hast recht«, sagte der König. »Es ist der
beste Ausweg. - Bist du bereit ?«
»Ja«, antwortete Flita. »Geh, und lass die Tür
o ffen. Es kann bei mi r eintreten, wer will.«
Sie setzte sich an den Tisch, stützte den Ell­
bogen auf und lehnte den Kopf auf die Hand. Sie
war äusserst erschöpft und wusste, dass sie einfach
sich ihrem wirklichen Elend und Herzeleid zu über­
lassen brauchte, um ohne Heuchelei ein Bild des
Jammers vorzustellen. Mit dem Momente , da sie
s ich nachgab, wich der letzte Lebensfunke aus ihrem
Gesicht, ihre Augen wurden glanzlos , sie gewann
ganz das Aussehen einer vom Schicksal schwer ge­
p rüften Dulderin .
Kaum hatte der König das Gemach verlassen,
b etrat Hilary dessen Schwelle. Als ihm aber Flitas
Die Blüte und die Frucht. XXV . 275

Gestalt zu Gesicht kam, prallte er zurück, hielt inne


und traute sich nicht hinein ; und als er den Konig
sprechen h ö1ie , lau schte er nach ihm hin. Einige
der H ofdamen drängten hinter ihm vorbei der Türe
zu. Er liess es geschehen. Eine Stunde früher hätte
er toll vor Liebe zu Flita allen Auslegungen zum
Trotz als erster sich Zutritt zu ihr verschafft, sobald
er sie in der leisesten Unruhe gesehen hätte. Aber
ein sonderbarer Schauer hatte ihn schon gleich beim
Auftreten der Zigeunerin befallen, als seine und ihre
Blicke sich begegneten. Erkannt hatte er sie nicht,
- war daran überhaupt zu denken, bei seiner gänz­
lichen Verblendung ? - aber er hatte einen Schrecken
bekommen und sich voller Ahnungen nächst der
Türe des Zimmerchens herumgedrückt. Nun er jetzt
ihre Gestalt erblickte , in der starren Haltung, mit
dem schreckhaften, totenähnlichen Gesichtsausdruck,
kam er vor einem ihm unverständlichen, übenn äch­
tigen Etwas ins Wanken. Es war, als hätte eine
eiskalte Hand sein Herz berührt und dessen Schlag
plötzlich stocken gemacht. - Aermster Hilary !
Nach einer halben Stunde war das Schloss so
gut wie leer. Als nur noch einige Nachzügler in
den Zimmern verweilten, erhob sich Flita und schritt
hindurch. Unnahbar, gramYersunken, glasigen Blickes
ging sie vorüber.
»Sie muss ihn doch gerngehabt und ihn wirklich
nicht für tot gehalten haben«, fl � sterten sie unterein­
ander. »Und wir alle dachten, sie sei herzlos ��<
So zog die junge Königin ohne Krone, die
junge Frau ohne Gemahl sich in ihre Gemächer zu­
rück, begle itet von innigem Mitgefühl. Wer aber
konnte die tiefe Einsam keit, die hoffnungslose Be-
276 Die Blüte und die Frucht. XXVI.

kümm ernis dieses Herzens ermessen ? Wer wusste


etwas von der Neophytin, die nicht bestanden und
damit alles verloren h atte, was i h r das Leben teuer
m a chte ? der Jüngerin, die erkannte, dass j edwede
Liebe und Gem e i nschaft für alle Zeit aufgegeben
w e rden niuss ? Das ist die dunkelste Stunde m ensch­
lichen Seins, diese lichtlose, unheimliche Pause vor
dem anbrechenden Tag, wann Neigung und Liebe,
Freundschaft u nd Anhänglichkeit fü r immer darzu­
bringen sind um die aussichtlose, absolute Einsam­
keit, in deren Nacht auch die Pforte des Tempels
v e rsinkt. In solch eine Stunde der Verzweiflung
u n d Seelenpein darf der Unberufene nicht eindringen.
Wie leicht war es also für Flita, als vergrämte
Witwe zu erscheinen, m it j ener tiefen Traurigkeit
im Herzen, die jeder Schüler i m merfort in sich h e rum­
trägt, wenn ihm der Eintritt in die W eisse Brüder­
sch aft nicht gewährt worden ist. Der Schmerz
völligen Darangebens nicht bloss einer, sondern gar
aller Ei nzelliebe berührt aber nicht mehr di e Seele
und entweiht nicht mehr die Gedanken dessen, der
reif für die Halle des \Vissens ist.

XXVI.

Nur zu lei cht ward es für Flita, als Grambe­


drückte zu erscheinen. Sie stand vor der Ent­
scheidungsstund e , der bittersten Leidenszeit ihres
Lebens, i n der es galt, reum ütig mit der Vergangen­
heit Abrechnung zu halten. Als sie sich am M orgen
Die Blüte und die Frucht. XXVI. 277

erhob u n d v o r d e n Spiegel trat, sah s i e e i n m ü des,


bleiches Gesicht, von tiefen Schatten umränderte
Augen, und eine frische Kummerlinie auf ihrer feinen
·
Stirne. Sie bemerkte das wohl, doch ohne darüber
nachzusinnen ; nach dem Sturm, den sie über Nacht
ungehemmt i n ihrer Seele hatte toben lassen, hatte
sie nichts andres erwartet. Ja, die Sühne war da,
-- und Flita war zur Sühnung bereit. -
Es war ein kühler, anregender, klarer Morgen ;
Flita hatte sich sehr frühe erhoben. Sie hatte die
Fenster weit geöffnet und war hinaus auf den Balkon
getreten. Von da konnte sie über die Stadt hin und
bis z u den blauen Hügeln blicken. \Vohl eine volle
Stunde lehnte sie hier und labte sich an der Morgen­
frische ; und von dem lichten Him m el her zog ein
sachter, linder Friede in ihre Seele ein . Endlich
wurde ihre Aufm erksamkeit von einem Geräusch
im Zimmer erregt ; sie warf einen Blick hinein. Es
stand jemand dort ; . wer aber, das sah sie nicht glei ch .
Ja, es war ihr Vater, der König.
Er betrachtete sie sehr ernst, als sie ins Zimmer
zurückkehrte. Sie trug einen losen weissen Schlepp­
rock, über den ihr Haar in wallenden Massen herab­
fiel. Ein schwermütiges Bild.
>>Wunderst du dich über den frühen Besuch ?«
fragte der König. ))Ich konnte durchaus keine Ruhe
finden und machte gerade eine Wanderung d urch
den G arten, als ich dich da stehen sah. Ich bin
heraufgekommen, um eine eigentümliche Frage an
dich z u stellen. Wer bist d u ? Was bist d u ?«
>>Weshalb befrag.:;t du m ich u m diese Dinge ?<<
entgegnete Flita mit fast unhörbarer Stimm e .
>>Weil d u m e i n Kind nicht sein kannst, noch
278 Die Blüte und d i e Frucht. XXVI.

das der Königin. D i e Erfahrung des vergangenen


Abends h at m ich von deinen aussergewöh nlichen
Kräften überzeugt. Du benahmst Adinen die A ehn­
lichkeit mit dir. Wie ? das kann ich nicht sagen.
Ich wollte m ich selther nie daran glauben lassen,
dass du eine Magierin seiest ; aber es ist unnütz,
die Wahrheit länger zu verkennen. Ich habe vom
Garten aus auf dich acht gehabt. Du hast keinen
Zug von uns in Gesicht und Figur. Ich sah dich
soeben , wie ich dich nie zuvor gesehen, - ohne
M aske. Du hast v or mir immer eine Maske ge­
trageiL Jetzt eben habe i ch wieder etwas an dir
entdeckt, das meine Neugierde bis zur Leidenscha ft
stei gert : dein Gesicht hat seine Anmut und Weich­
heit verloren, es ist das Gesicht eines Mannes ; aus
ihm blickt ein Geist , der leidet. Sage mir, was
du bist.«
»Ich bin deine Tochter«, lautete Flitas Antwort.
,,D u brauchst das nicht anzuzweifeln oder dir ein­
zubilden, man habe mich in der Wiege umgetauscht.
.Meine Abstammung ist echt, so unähnlich ich dir
sein mag und meinen weiteren Voreltern.«
»Deine Abstammung ! W eder geistig noch
physisch zeigt sie sich, sie ist in keiner Weise er­
kennbar.«
»Deshalb nicht<.< , erklärte Flita, »weil ich mich
selbst gestaltet h abe, für meine eigenen Ziele.«
»Nun sprichst du, wie d u aussieh st. Du hast
eine geheime Macht. W ober h ast du sie ? Das
soll heissen, was bist d u ? Du bist nicht eine ge­
wöhnliche Sterbliche.«
Flita lächelte ; aber eine unbeschreibliche Trau­
ri gkeit lag in chesem Lächeln,
Die Blüte und die Frucht. XXVI. 279

»Nein, ich bin nicht eine gewöhnliche Sterbliche.


Aber das Besondere an mir ist nur das : ich hatte
herausgefunden, dass es einen geraden Pfad zur
Göttlichkeit gibt. Ich habe diesen Pfad eingeschlagen,
aber m einen Weg verloren.<<
»Du hast ihn nicht erst eingeschlagen, seit ich
dich kenne«, forschte der König. »Du hast damit
zuvor schon begonnen.<< Er sprach mit völlig ver­
änderter Stimme.
»Ja«, sagte Flita , »ich habe früher schon be­
gonnen, in einem vorhistorischen Zeitalter, als die
Welt eine unermessliche Wildnis in u rsprünglicher
Schönheit war. Damals hab ich mein Schicksal aus
seinem Gleise gehoben durch eine G ewalttat, ein
A u flehnen gegen die Leidenschaft, durch die allein
das m enschliche Leben ermöglicht wird, gegen jenen
blinden Hunger der Sinne , der den Menschen in
diese plumpe Welt des Stoffes treibt und ihm un­
zählige Leben der Unwissenheit auferlegt , lebens­
weti nur für das Tierwesen. Ich hasste das ! Ich
griff zur Selbsthilfe � ich erhob meine Hand und
nahm Leben. Das war der erste Schritt auf dem
Wege zur Macht : er hat mir die Sonne für lange
Zeit verfinstert. Ich habe die Folgen getragen, habe
Sühne gewirkt in vielen harten Leben. Aber indem
ich Macht erwarb , erlangte ich \Vissen. Ich be­
gann den gewaltigen Aufstieg , der das L eben der
Göttlichkeit entgegenführt. Und mit j eder Wieder­
geburt gewann ich mehr Macht, mehr Wissen.«
Sie schwieg. Sie hatte leidenschaftlich aus dem
Herzen gesprochen. Der König hatte kein Auge
von ihrem Antlitz verwandt. Er , der rauhe, fast
jeder Gefühlsregung entwöhnte Soldat, befand sich
�80 Die Bl üte und die Frucht. XXVI.

wie unter e inem Zauberbann . Er s a h sich v o r einer


Wirklich keit.
»Sag mir noch meh r(<, hat er. ), Warum h ast du
j etzt so zu l eiden ?<<
»Warum i ch lei d e !'« erwiderte Flita. »Musst
du m i ch das fra gen ?«
>)Mich verlangt sehr, es zu wissen« , sagte der
König mit gesenkter Stimme.
>)Du hast ein Recht , mich darum zu fragen«,
sagte Flita traurig. )) Nicht als Vater, aber als Diener
der Weissen Brücterschaft ; du bist schon unter ihrem
Einfl u ss , u nd hast , ohne davon zu wissen, dich
w illig von ihr leiten l assen. I c h war einer Selbst·
überhebung verfallen, von der ich mir einreden liess,
i ch könne mir das R echt zum Eintritt in den Orden
kraft m einer Stä rke schaffen . Meine Sehnsucht dar­
n a ch verhal f m i r zu der bevorzugten Gebur t in
deinem Hause. [ eh h atte die grössten Förd e rungen
gehabt , aber« , so schloss sie in unendlich weh­
m ütigem Ton, ))es ist nicht gelungen.«
>,I st das dein Leid ?« fragte der König.
)) ein<<, erwiderte Flita. ))Ich leide , wei l die­
selben, die mich schon in jenen Przeiten l i ebten,
i m m ernoch m ich l i eben ; sie sind in jenem wunder­
baren Garten des Lebens gewesen , wo die Natur
in grandioser Ueberfülle Blüten schafft. Schön ist
der Garten, ja ! Nichts kann schöner sein. Aber
überall treibt eine Kraft ohne R ast und Ruh , eine
Kra ft, die Fortschritt heischt. Nach der Blüte die
Frucht. Mann und \iVeib sein, lieben, für einander
l eben, das ist herrlich , wie alles in der Natur. r\ber
es n immt sein Ende. Das Wunder der Verwand­
lung m uss gewirkt werden. Die schmei chelnrle
Die Blüte und d i e Frucht. XXVI. �81

Süsse d e r Bl üte, blosse Schönheit, sie m uss ver­


gehen und die harte Frucht m uss ansetzen und
ihrer Ernte entgegenreifen. Die Reife m uss erworben
werden , die Seele vorwärts schreiten. Ach , und
da ist einer, der mir das Tor verlegt durch seine
Liebe � Aber ich m uss ihn läutern , muss ihm das
Tor zeigen, oder selbst alle Hoffnung aufgeben . <<
Sie schien kaum mehr zu wissen, zu wem s ie
sprach. Nachdem sich ihr verhaltenes Gefühl end­
l ich einmal Bahn gebrochen, fuh r sie bis zum Schlusse
ohne jede Unterbrechung fort. Dann trat für ein
paar M inuten Stille ein, worauf der König sich ihr
näherte.
»Sage m ir�<, bat er sie, >>was bin ich dir ?«
»Ein Freund(<, antwortete sie, »j ederzeit ein guter,
wahrer Fre und. Etwas anderes n icht. D!ö!ine Auf­
gaben i m Leben haben fernab den meinen gelegen.
Niemals sind wir Vater und Tochter zueinander g e ­
wesen ausser im Zufälligen.«
»Es ist wahr«, entgegnete er se ufzend. ,,Aber
ich wünschte, es wäre nicht so. D u bist weit m eh r
a l s ich . Hilf m ir.«
Flita streckte ihm die Hand hin. Der König
ergriff sie, und so blieben sie ei nige Augenblicke
stillschweigend stehen . Dann löste sie sanft i h re
Hand, wandte sich ab und liess sich in einen Stuhl
n iedergleiten. Sie war so blass, dass es den König
beunruhigte, sah sie doch eher einer Toten als einer
Lebenden gleich. Er entfernte sich, um alsbald m it
einem kleinen Glase dunkeln vVeins zurückzukehren.
Er brachte es an ihre Lippen. Da öffnete sie die
/\ugen, l ächelte schwach, wehrte aber seine Hand ab.
»Ich habe das nicht nöti g«, sa gte sie, während
282 Die Blüte und die Frucht. XXVII.

der König das Glas noch b ereit hielt. ))Aber so


den Stufengang seines Lebens z u überblicken, das
ist mehr als ein sterbliches Gehirn ertragen kann.
Der Vernunft will es schwindeln auf ihrem Thron
vor solchem Gesicht. So tief ist der Abgrund, die
H öhe so hoch, so unglaubhaft der Aufstieg. Mein
Geist ist erschöpft. Ich mu9S ruhen, muss schlafen,
o der ich komme von Sinnen. Sorge, dass niemand
mich stört, ehe ich rufe ; aber tu mir den einen Ge­
fallen, mein Vater, und schicke nach Hilary Estanol.
Ich muss ihn sprechen, sobald ich erwache.«
Sie erhob sich und schleppte sich z u ihrem
Bette, um darauf niederzusinken. Welch totenähn­
liche Gestalt. Der König musste sich ab wenden, er
k o nnte den Anblick nicht ertragen. Er verliess das
Zimmer, w inkte eine der diensthabenden Frauen
herbei und schärfte ihr ein, an der Tür Wache zu
halten und niemand als ihm selbst z u öffnen. A u ch
schickte er einen Boten nach Hilary. Hierauf zog
er sich in sein eigenes Arbeitszimmer zurück, wo
er si nnend auf und ab ging ; seine Gedanken
schwärmten aus, verloren sich i n die Vergangenheit
und flogen vorwärts in die Zukunft ; des gegen­
wärtigen Augenblickes war er sich unbewusst, nach­
dem er ihn einmal hatte entschlüpfen lassen.

XXVII.

Drei Stunden später erwachte Flita aus emem


tiefen Schlafe ; sie fühlte sich wie vom Tode aufer-
Die Blüte und die Frucht. XXVII. 283

standen. Ihr G eist war völlig erholt, ihre i nnere


Stärke zurückgekehrt. Sie wusste gleich beim
Erwachen, dass sie nun der Aufgabe, die ihrer
wartete, gewachsen war.
Sie erhob sich, ging zur Türe und rief. Die
Kammerfrau, die dicht nebenan a u f Posten war,
kam herbei. Als sie Flita zum Ankleiden bereit fand,
lief sie eiligst weg, und erschien wieder mit ihren
Nähmädchen, die den ganzen Morgen schon fleissig
bei der Arbeit gewesen waren. Nach einer kleinen
Weile war das Bad beendet, Flitas Haar geflochten
und sorgfältig rund u m den Ko pf geschlungen, und
war sie selbst m it einem schwarz·e n Kleide angetan
- Trauer um ihren EintagsgemahL Der verbrannte,
hilflose Arm war m it schwarzem Seidenzeug um­
wunden und lag in einer Schlinge. Sie sah in den
Spiegel und lächelte. Flita, die Schöne, die Prunkende,
so verunziert, so gekleidet � Rasch wandte sie sich
ab und zog die schwarze Schleppe i n weitem Bogen
nach.
Bereits hatte sie nachgefragt und v ernommen,
dass Hilary Estanol i n ihrem alten Zimmer wartete,
demselben, wo sie einst ihr Heim aufzuschlagen ge­
wohnt war, wenn noch zu ihren Mädchenzeiten
Zwang oder Laune sie bewogen hatten, sich einige
Tage hintereinander im Schlosse zu bequemen. Es
war erhalten geblieben, wie es immer gewesen, -
h ellgolden und weiss, von Licht durchflutet, die
Wände m it Büchern bestellt , die Fenster voll
Blumen.
Hilary fuhr zusammen, als er sie an der Türe
.
hörte. Er stiess einen schmerzlichen Laut aus bei
ihrem Eintritt. Die Verwandlung war in der T a t
284 Die B l ü te u n d die Frucht. XXVll.

z u m Erschrecken - : die blühende A dine, der Aus­


bund von Flitas fröhlichstem Obenhinleben , und
di ese bleiche, sorgenverfallene, ernstaugige Frau.
Ihre Gewandung ga b vol lends den Ausschlag, sie
b efremdete und v erletzte i hn. In seinem j üngsten
Glückstaumel hatte er ganz vet'gessen, dass s i e Ottos
Gemahlin war. Er wandte sich ab und verbarg
sein Gesicht mit den Hände n .
»Nehm en S i e e s nicht s o tragisch«, sagte sie i n
einem überaus gütigen und beherrschten Tone.
»Schrecklich fü r Sie m uss es ja sein, nachdem Sie
gestern noch mit m ei n er neckischen Doppel g ängerin
tanzten. Ich habe ih r für i m mer den Laufpass ge­
g e ben, weil sie zu sehr mein Vertrauen m issbraucht
und Sie verführt hat. Wie ist es m öglich, dass Sie,
geboren gleich mir unter dem Stern des wahren
W issens , ein Kind des Tatenlebens , von ein em
blossen Scheinbild so getäuscht und berückt werden
konnten ? Wohl, ich sehe, Sie haben eine s chmerz­
liche Sehnsucht nach dem Scheinbild, i ch weiss, es
ist Ihnen teuer gewesen. Ich seh e, welche Qual
es l hrem Herzen bereitet, dass i ch vor Ihnen stehe
ohne das gleissneri s ch e Aussenwerk, ohne Schön­
h eit, Jugend und F rohsinn. M e i n teurer Freund, es
h andelt sich für Sie nicht um die vVahl z wischen
Leid und Lust. Die liegt nicht in Ihrer Macht.
Ziehen Sie die Lust vor, so w e rden Sie imme rfort
einem Irrlichte nachja g en, und nie die Lust erreichen ;
die Ja gd wird bald vergällt sein. Nein, diese Wahl
h aben Sie nicht ; aber eine andere kann ich Ihnen
bi eten, der Unterschied wird in Ihren Augen nicht
gross sein. Sie können wählen zwischen der Plita,
die jetzt zu Ihnen s p richt der Diene rin der Weissen
Die Blüte und die Frucht. XXVII. 285

Brüderschaft, und jener Flita, die Sie noch u nlängst


angebetet haben, - meinem neckischen Abbild.«
»Wo kann ich diese Flitn finden ?« fragte Hilary
gepresst.
))Sie werden von ihr bedi ent werden, genau
wie Sie es wünschen, wenn Sie das haben wollen«,
lautete Flitas ganze Antwort.
»Aber Sie, werden Sie di ese Maske tragen ?«
))Ah, Sie möchten die zwei Flita in einer habe n !«
rief sie aus ; >)nein, das liegt hinter uns. So haben
Sie sich's schon vor langer Zeit gewünscht, und
dann und wann fast gemeint, es sei errei cht, ni cht
wahr ? An j enem sonnigen Morgen, als wir unsre
erste Reise miteinander machten, - manchmal auch
auf dem Landhause, - wähnten Sie, die Frau er­
ringen zu können, ohne die Priesterin zu verli eren.
Das ist unmöglich, war nie da, kann nie sein, S i e
müssen die e i n e o d e r die andere haben. Lange
genug habe ich auf Sie gewartet, nun stehen Sie
am Scheideweg. Ich habe die Macht, Ihnen das
zu geben, was Sie wünsch e n . Verlangt Sie nur
nach dem Weibe, dem Dinge, das i n wenig Jahren
sterben wird , dann will ich den Leib , der j etzt
zu Ihnen spricht , j ung , schön und lebensfroh
machen, und Sie mögen Ihre Freude damit haben ;
ich bin ja seiner wahrlich überdrüssig und einzig
Ihrethalben be wohne ich ihn noch . Treffen Sie nun
diese Entscheidung, so trennen wir uns für immer.
- Wählen Sie aber mich, mich selbst, die Dienerin
der Weisheit, dann haben Sie i n mir I hren Meister
zu sehen und nichts von mir zu verlangen als d as
\Vissen, das i ch lhnen zu geben im stande bin.<r-
H ilary sprang auf und trat ans Fenster. Einen
286 Die Blüte und die Frucht. XXVII.

Augenblick war es ihm, als schwänden ihm die


Sinne. Aber gleich darauf wandte er sich wieder
um und starrte sie an.
»Ich bin nicht stark genug, solch eine Wahl zu
treffen«, sagte er mit einem gewissen Trotz in der
Stimme.
»Nicht stark genug !« rief Flita voller Verachtung.
))SO gehe denn , geh deinen eigenen Vl eg , und
deine selbstgesch affene Finsternis wird sich an deine
Fersen heften. Gib niemand anders die Schuld,
was du auch leiden magst. Du hast die falschen
Schatten angerufen , die den Menschen umringen,
der nicht weiss, ob er das Gute wollen soll, oder
das Ueble. Es ist aus.«
Sie kehrte ihm den Rücken und verliess in ab­
gemessenem Schritt m it rauschender Schleppe das
Zimmer. Hilary bog sich vor , wie wenn er sie
zurückreissen m üsste, hielt aber sofort wieder an
sich und blieb regungslos stehen, um mitanzusehen,
wie sie sich entfernte. Die Türe schloss sich, und
noch rührte er sich nicht. Endlich, nach einer langen
Stille, raffte er sich auf, und sein einziges Trachten
\;var j etzt, aus dem Palaste zu kommen, ohne mit
j e mand ein Wort wechseln zu m üssen. Es gelang
ihm, obgleich er fast wie ein Blinder seinen "-r eg
m it den Händen such e n m usste. Er war betäubt,
halb geblendet , kaum sich seines Tuns bewusst.
Eine öde Vereinsamung nagte an seinem Herzen,
ein Hunger frass daran wie wirklicher physischer
Hunger. Denn er hatte Flita - das Weib - m ehr
als angebetet, er hatte gelebt von dem Gedanken
an sie, gezehrt von der Leidenschaft, die er gerade
für ihr sichtbares Bild empfand. Und jetzt war sie
Die Blüte und die . Frucht. XXVII. 287

vor seinen Augen gleichsam in Trümmer g�ga:ngen


und wie eine zerbrochene Statue unwiederbringlich
zerstört. Er richtete sich immer von neue m an dem
Ged:mken auf, sich nicht geradezu für das vergäng­
liche Idol entschieden zu haben. Aber diese Ver­
tröstungen störte fortwährend wieder eine andere
Erinnerung, die Verachtung Flitas, als er bekannte,
er vermöge nicht zu wählen. Das brachte ihn in
eine blöde, wehtuende Verwirrung ; war er doch
nicht bewandert genug, um zu wissen, dass bei vor­
behaltloser Erwählung des Weibes sie weniger Hohn
für ihn gehabt hätte und mehr Mitleid. Die Schwäche
j enes entsetzlichen Augenblicks, der im Nu gekommen
und gegangen, h atte nach der Anschauung Flitas
und ihres Ordens den Stab über ihn gebrochen.
Hätte er nur die Stärke besessen, sich auf jede Ge­
fahr hin fürs Ueble zu entscheiden, so hätte er da­
mit .eine Ueberlegenheit begründet, d i e ihn später­
hin befähigen konnte, in einem folgenden Erdenleben
rück sichtslos das Gute zu erwählen.
Der Augenblick war wirklich wie ein Blitz ge­
komm e n und gegangen, und Hilary meinte, es sei
ihm ga1· nicht die Zeit gegönnt gewesen, sich zu
entscheiden und zu wählen. Dennoch wusste er
unklar : hätten sich auch die Sekunden zu Jahren
v e rlängern lassen, er wäre einer endgültigen Wahl
doch nicht näher gerückt ; auch hatte er ein e dunkle
Ahnung davon, dass der Moment, der ihn so über­
rumpelte, einfach die Schlussformel seines Lebens
war, und dass er immer, seit er Flita kannte, im
nämlichen Zustand hoffnungsloser Unentschlossen­
heit geschwebt hatte. Die grosse Gelegenheit war
ihm geboten worden, er aber war nicht fähig ge-
288 Die Blüte und die Frucht. XXVIII.

wesen, sie zu ergreifen. - Jetzt zerglied erte er sich


den Fall nicht in dieser Form, später j edoch kam
ihm die Einsicht anschaulich genug. Eines allein
wusste er vorerst : Flita hatte er verloren, di e ganze
Flita, die er gekannt und a ngebetet, beide, das \Veib
und die Priesterin.
Es war aus.

XXVIII.

D en nächsten Morgen hatte Flita ein langes


Z wiegespräch mit dem Könige, ein sehr ernstes und
bedeutsames. Am Tage ihrer Unterredung mit Hilary
wollte sie niemand m ehr sehen, auch ihren V ater
n i cht ; sie blieb allein, und niemand wusste, ob sie
schlief oder wachte, o b sie leidend war oder nur
der R uhe bed ürftig. Nun also suchte sie ihren Vater
auf und trat in sein Frühstückszimmer. Sie trug
ihre schwarzen Trauerkleider. Eine grosse V er­
ä nderung war während der Stunden der Einsamkeit
mit ihr vorgegangen ; zuerst dachte der König, ihre
Jugend und Schönheit sei zurückgekehrt. Ein weiterer
Blick belehrte ihn j edoch, dass dem nicht so war.
Der d uftige, m ädchenhafte Zauber, den sie bisher
ausgeübt, war dahin. Sie stand vor ihm, schlank,
auffallend hübsch und von hervorragender Haltung
wie im mer, aber ihre strahlende Schönheit hatte sich
n icht wieder eingestellt. Die Augen blickten ernst,
das über alles süsse Läch eln sch i e n für immer von
ihren Lippen gewichen. Hätte ein Künstler sie z u
seinem Bilde verwendet, so würde e r a u s ihrem
Die Blüte und die Frucht. XXVIII. 289

Gesicht einen j ener geschlechtlosen Engel gemacht


haben, wie die Früh-Italiener sie zu malen verstanden.
>>Ich reise nach England«, waren ihre ersten
Worte. »Willst du mir behilflich sein ?«
))Es ist meine Pflicht«, lautete des Königs Ant­
wort. >>Teile mir deine Wünsche mit.«
Flita setzte sich zu ihm ; sie besprachen s i ch
lange miteinander. Dann kehrte sie auf ihr Zimmer
zurück, der König aber beschied seinen Sekretär
und den Hofmarschall zu sich und traf ohne Zögern
die von ihr vorgesehenen Anordnungen.
Am späten Nachmittag verliess Flita das Schloss.
Sie war i n einen pelzgefütterten Mantel gehüllt, der
das Trauerkleid verdeckte, und ihr blasses Gesicht
war hinter einem schwarzen Spitzenschleier ver­
borgen. Sie schob ihn beiseite und küsste des
Königs Hand, als sie i m Vorsaal des Schlosses den
letzten Abschied nahm.
))Lass es mich ohne Verzug wissen, wenn du
meiner bedarfst«, flüsterte er ihr zu. Sie nickte,
und wandte sich zum Gehen.
Das ganze Gefolge hatte sich zu ihrer Abreise
eingefunden. Niemand aber begleitete sie, niemand
stieg mit ihr i n den Wagen. Diese R eise musste
sie allein antreten. Keine Begleiterin, keinerlei
Dienerschaft war bei ihr.

*
*

19
XXIX.

G ewisse Partien an der Nordostküste Englands


sind e i gent üm lich verödet und wild, und auffallend
e rlassen, da doch die Insel so klein ist. Man
m öchte es kau m für m öglich halten, in einem so
engen, übervölkerten Lande w i e den britischen Inseln
noch e i n e vereinsamte Stätte zu finden. Aber das
Leben des n eunzehnten Jahrhunderts gipfelt i n den
Grossstädten, und die Menschen unterscheiden heutzu­
tage keine Gemarkungen der Natur mehr. Sie kommen
gar nicht auf d ie Vermutung, dass sie an den Dünen
der See wie im Heideland von ätherischen Scharen
u m ringt sein könnten, die mit d iesem bcsondern
Fleck l eben und weben, schon seit das wilde kleine
E iland aus den brandenden \\lassern sich auftürmte.
Es ist - für den, der zwischen den Zeilen der Welten­
geschichte liest - während der historischen Zeiten
der Erde ein Zentrum und ein Platz ganz besonderer
A rt gewesen.
Etliche aber kennen und spüren die für m aterielle
A ugen unsichtbaren Mächte und haben gelernt, sie
s i ch dienstbar zu m ach en. -
In einem abgeschiedenen, m enschenleeren und
u nwitilichen Landstrich der Nordostküste steht ein
D i e ßlüte und die Frucht. XXIX. 291

kleines Haus, wohl verwahrt durch einen hohen,


unm ittelbar dahinter ansteigenden Hügel u nd einen
d ichten Ring von Bäumen. Der Grund und Boden,
worauf das Haus steht, ist der Ueberrest eines grossen
Besitztums, das von e iner Reihe verschwenderischer,
unordentlicher Eigner zerstückelt und in Verkauf ge­
bracht worden i st. D iese Leute hatten normännisches
Blut i n sich und schlugen i n englischer Erde n i e
ganz Wurzel. D a s grosse Schloss, i h r Familiensitz,
war m eist unbewohnt, wie auch der kleine \Vitwen­
sitz am Ufer der See. Es war jetzt Eigentum eines
j üngeren Soh nes, den schwerli ch schon jemand aus
der Gegend gesehen hatte, jedenfall s nich t m ehr
seit seiner ersten Knabenzeit Hin und wieder be­
herbergte das alte Schloss un erwartete Gäste ;
wenigstens erschienen ö fters ganz plötzlich Lichter
hinter den Fenstern, - - die Bauern sagten dann,
dort droben gehe es um. A ber gegenwärtig war
richtiger Besuch da . E i n ausländischer Diener ka m
eines Tages ins Dorf, um Einkäufe zu m achen, und
gab an, dass sein Herr ein Freund des Besitzers, des
Herrn Veryan, sei und das Haus gemietet habe, u m
auf einige Monate darin z u leben. Er erzählte jedem,
der neugierig genug war, ihn zu fragen, dass sein
Herr ein Doktor von grossem Ruf, wenn auch noch
verhältnismässig jung sei, und dass er diesen abge­
le g enen Platz aufgesucht h abe, um i n Ruhe einigen
Fachstudien nachzugehen. E s war n icht anzunehmen,
dass seine Ruhe gestört werde, denn das Schloss
war nur noch eine grosse Ruine und der ältere
Zweig der Familie wurde durch einen Verwalter
vertreten, der sich noch im Zweifel befand, ob er,
um Geld zu machen, das Schloss zu e iner Sehens-
292 Die Blüte und die Frucht. XXIX.

würdigkeit umwandeln, oder es abbrechen und die


Steine, aus denen es erbaut war, versteigern lassen
solle. Niemand hatte irgend eine begründete V er­
mutung, wo der gegenwärtige Eigentümer sich auf­
hielt. So also stand's u m ein altes stolzes Geschlecht.
Ein Besitzstück ums andere war verkauft, sogar das
schöne, altertümliche Familiensilber vor langer Zeit
schon verpackt und nach London zur V eräusserung
geschickt worden.
Es hiess, die Schlimmste in der ganzen Reihe
von Verschwendern, die das vornehme Erbe ver­
schleudert hatten, sei die schöne vVitwe des letzten
Lords gewesen, die Mutter d er zwei Söhne, - der
einzigen noch lebenden Träger des Namens. Sie
war eine Ungarin adeliger Herkunft ; wenigstens
war es so zur Zeit ihrer Verehelichung eingetragen
worden. Dienerschaft und Landleute jedoch er­
klärten stets, sie sei eine Zigeunerin, eine echte und
gerechte Zigeunerin, und dazu noch eine Hexe.
Ausserordentlich schön und bezaubernd, machte sie
mit ihrem Gemahl während der wenigen, kurzen
Jahre ihre Ehe, was ihr nur einfiel.
Ihr Tod war schrecklich gewesen, das Volk
glaubte fest, dass ihr Geist in dem alten S chloss
umgehe. Darum waren auch ihre luxuriös ausge­
statteten, in einem a parten, stillosen G eschmack
eingerichten Gemächer sP-it ihrem Tod unberührt ge­
blieben. Selbst der Verwalter, der augenscheinlich
n u r der Idee nachhing, jeden in Geld umsetzbaren
Gegenstand loszuschlagen, hatte ihre kostbaren
Prachtstücke am gewohnten Platze belassen. Eine
Art abergläubischen Gefühls hatte ihn abgehalten,
auch diese Zimmer zu plündern. Währeml ihres
Die Blüte und die Frucht. XXIX. 293

Lebens hatte er vor der schönen Schlossherrin eme


tolle Angst gehabt, und möglicherweise war er diese
Furcht jetzt noch nicht losgeworden. Nur so liess
sich die Ehrerbietung erklären, mit der diese Zimmer
behandelt wurden, denn der Sohn hatte nichts dar­
über bestimmt.
Der neue Bewohner des Witwensitzes lebte in
grosser Abgeschiedenheit und ganz allein mit seinen
zwei fremdländischen Dienern, die alles für ihn be­
sorgten. Er war ein fleissiger Reiter, aber die Stun­
den, die er ausserhalb seiner Behausung zubrachte,
verlegte er gewöhnlich auf den allerfrühesten Morgen,
so dass er selten gesehen wurde. Imm erhin war
es bald bekannt, dass er ein ausserordentlich schöner
Mann i n der Blüte des Lebens sei. Sofort setzten
sich alle möglichen Gerüchte über ihn in Umlauf.
Ein Einsiedler sollte von rechtswegen alt, gebeugt,
absonderlich im Gebahren sein. Warum mochte
dieser Mann, dem doch j edenfalls das Leben noch seine
ganze Fülle lockender Aussichten bot, sich in völliger
Einsamkeit absperren ? Auch war er, offenbar schon
auf der Rückkehr von einem Spazi erritt, dann und
wann von einem der Landbewohner, die mit der
Sonne aufzustehen und an ihr Tagewerk zu gehen
hatten, angetroffen worden. H i nter solchen Gepflogen­
heiten konnte der trägheitliebende englische Bauer
nur die Ruhelosigkeit einer kranken oder schuldbe­
wussten Seele sehen. Es war j edoch etwas in den
Miene n des Mannes, was derartige Schlüsse gerade­
z u verbot. Der einfältigste Verstand musste schlechter­
dings die M a cht und Kraft anerkennen, die aus diesem
schönen Antlitz sprachen.
Seine Diener sagten stets nur >>Herr« z u ihm,
294 Die 131 üte und die Frucht. XXIX.

ohne Titel und Namen. Sie hielten es offenbar


nicht für erforderlich, den Bauern eingehendere Auf­
schlüsse z u geben, und da nie Briefe ins \iVitwen­
haus kamen, so war mit seinem Insassen auch kein
Name zu verknüpfen. So etwas geht ja den Leuten
schwer ein, aber sie gewöhnen sich bald an die
Tatsachen und denken nichts mehr dabei, sobald
das erste Aergernis e inmal vorüber ist.
Uebrigens ist es einfach unmögl ich, in einer
z ivilisierten Gegend auf die Länge inkognito z u bleiben.
Die Neugier bringt es sicherlich unter i rgend einem
Rechtsvorwand fertig, den zeitweiligen Frieden einer
solchen Vergessenheit zu stören. In unserm Falle
war d ies dem Verwalter vorbehalten. Er ritt eines
Tags nach dem Witwensitz, stieg ab, übergab sein
Pferd und liess sich melden. Ohne V erzug wurde
er in ein Zimmer geführt, das er kaum wieder er­
kannte, eine so gründliche Veränderung war damit
vorgegangen, seit er es zuletzt gesehen hatte. Es
war v ollständig mit einem Stoff bezogen, dessen
Oberfläche gewirkte, unheim lich lebendige Figuren
trug : Kriegsleute, Frauen in Trachten aus ver­
schiedenen Zeiten, Mönche und Bauern. Sie waren
nicht zu Gruppen und Szenen angeordnet, wie es
bei Teppichen üblich ist , sondern standen rings
herum, w i e ebensoviele Zeugen der Vorgänge i m
Zimmer. So natürlich war die Wirkung, dass der
Verwalter fast zweifelte, ob die Unterredung wirk­
lich nur unter vier Augen stattfinde, als der Haus­
herr herv ortrat und auf ihn zukam.
Er hatte graue Jagdkleider an, den einfachsten
Anzug, den ein Engländer auf dem Lande tragen
kann. Aber sie passten vortrefflich und brachten
Die Blüte und d i e Frucht. XXIX. 295

seine klassische Figur und den schönen Kopf so zur


Geltung , dass sein Gast einen Augenblick vor
Ueberraschung stumm dastand. Als er Fassung ge­
nug gefunden, um zu sprechen, geschah dies mit
weit mehr als seiner gewohnten Würde.
))Ich vermute, mein Herr«, begann er, ))dass Sie
einen Grund haben, sich hier aufzuhalten, ohne die
Leute wissen zu lassen, wer Sie sind ; es ü,t d a s
freilich eine eigene Sache, denn früher oder später
m üssen Sie doch erkannt werden. Ich habe Sie nicht
m ehr gesehen, seit Sie ein Kind waren, aber Ihre
Aehnlichkeit mit Ihrer Frau Mutter ist unverkennbar.
D a Herr Harold Veryan m eines Wissens zur Zeit
in Afrika weilt, vermute ich, ich spreche zu Herrn
Iwan Veryan.«
>>Der bin ich«, lautete die Antwort. >>Ich hatte
nicht die Absicht, mich unbedingt zu verleugnen,
das wäre ungereimt. Aber meine Diener nennen
mich stets nur >>Herr« , weil ihnen mein Name
Schwierigkeiten macht ; und da die gewöhnlichen
Leute hier sich m einer doch nicht erinnern, würde
ich vorziehen , dass sie in Unwissenheit darüber
bleiben, wer ich bin. Es i st mir hier u m v öllige
Einsamkeit zu tun und ich möchte nicht i n der
Stellung des nächsten Erben auftreten, von dem man
voraussetzen müsst e , er nehme ein Interesse a m
Schicksal des Schlosses, a m Zustande d e r Bauern­
häuser und am Schlagen des Nutzholzes.«
>>Wenn Ihnen an Einsamkeit gelegen ist , so
dürfte dies hier wohl der schlechtest gewählte Platz
sein«, bemerkte der Verwalter.
))Ich finde hier die Einsamkeit, die mir für den
Augenblick passt« , war die Erwiderung. ))Ich
296 Die Blüte und die Frucht. XXIX.

w ünsche nur etwas, - den Schlüssel zu einem der


Schlosseingänge, denn zum Teil kam ich hi eher, um
die Bibliothek zu benützen, wofern die Bücher nicht
alle verkauft worden sind.«
»Die B ücher sind nicht berührt worden«, ver­
sicherte der Verwalter, ))die Bibliothek gehörte zu
den Lieblingsräumen der Frau Veryan, und von
diesen ist keiner angetastet worden .«
»Dann wäre es m i r lieb, den Schlüssel, sobald
es Ihnen möglich ist, zugestellt zu erhalten . «
»Und S i e wünschen niemand Ihre Anwesen­
h e it w issen zu lassen ?« forschte der Verwalter un­
sicher.
)) Wem könnte daran gelegen sei n ?«
)>Den Familien der Nachbarschaft . . . «, sagte
zögernd der Verwalter, und hätte gar zu gerne die
Ermächtigung herausgeschlagen, sein Plauderstünd­
chen mit Herrn Veryan am nächsten Markttage im
Hauptstädtch en des langen und breiten zum besten
zu geben. Es wurde da i m mer ein Mittagsmahl im
nobelsten Gasthaus veranstaltet, an dem die ver­
schiedenen Honoratioren , Grundbesitzer und Ge­
sch äftsleute teilnah m e n und Neuigkeiten austausch­
ten ; und er hätte an der gesamten Tafel runde eine
dankbare Zuhörerschaft gehabt, wenn er zu verkünden
im stande gewesen wäre, dass einer der V eryans
wirklich und wahrhaftig nach England zurückge­
kehrt sei und das Haus seiner Väter bewohne.
»Wenn ich meiner Nachba rn einen zu sehen
w ünsche, werde i ch ihn zu mir bitten«, lautete die
b ü ndige Antwort, ))bis dahin m öchte i ch, dass nichts
über mich laut wird.«
Die Worte klangen wi e ein endgültiger Befehl.
D i e Blüte und die Frucht. XXX. 297

Der Verwalter sagte nichts weiter dazu, sondern


verabschiedete sich bald. Etwas später am Tage
k a m ein Bote ins Witwenhaus m i t dem Schlüssel
zum Hauptportal und einem zweiten zu einem der
Schlosseingänge.

XXX.

D as alte Schloss der V eryans - ein wunder­


licher Bau, weitläufig, verzweigt, nicht schön, aber
äusserst massiv, und üppig überwuchert von i m m er­
grünem Efeu - stand auf hoher Warte und schaute
weit hinaus über Land und Meer.
Es hatte nicht Schutz und Schirm wie der
\Vitwensitz, sondern trotzte allen Unbilden des
Wetters, semer eigenen Stärke trauend. Kein Ba u m
schlug hier oben \Vurzel, die Lage war z u ausgesetzt.
Gartenanlagen jedoch, früher einmal grassartig u n d
jetzt noch schön, Ueberbleibsel entschwundener
Pracht, flankietien die vier Seiten. Sie hatten den
seltenen, an modernen Gärten unbekannten Reiz,
nie ohne Blumen zu sein. Das ganze Jahr hindurch,
selbst während der strengsten Zeit, verschönten
farbige Streifen und Sterne den Erdboden.
Längs der Steilseite des Gartens war ein Auf­
bau hergestellt, hohes, doppeltes Mauerwerk.
Zwischen diesem lag der »Dam enweg« , ein Oti
zum Entzücken für jeden A ussichtsfreund, der sich
etwa zu diesem einsamen Platze v e rirrte. Ein be­
quemer Kiesweg führte in gerader Linie zur M itte
298 Die B l ü te u n d die Frucht. XXX.

h erab und bildete eine wundervolle trocker:.e Pro­


m enade. An beiden Seiten liefe n breite Blumen­
rabatten voll ausgewählter Pflanzen hin, die an
diesem geschützten Fleck e gut gediehen ; die M auern
aber waren d icht besetzt mit Fruchtbäumen und
rankenden Ziergewächsen, und eben j etzt stand h ier
Blüte a n Blüte. Auf der Seeseite waren h i n und
wieder offene Ni schen a ngebracht, und Ruhebänke
an günstigen, sonnigen Winkelchen luden dazu ein,
die weite Fernsicht zu geniessen.
Dieser Damenweg war's, den I wan am selben
Abend n och aufsuchte, als er das Burggelände b etrat.
Die Beete waren vernachlässigt und die Blumen
überüppig, a n den Mauern hingen die ungekürzten
R anken in dichten M assen herab. Aber der Platz
war ungemein schön, gerade i n der beginnenden
Verwilderung, die als eigenartiger Reiz über der
k u nstvollen Pflege der frühem Zeit lagerte. Zwang­
los l iess er sich gehen wie eine m ü de Schöne,
deren Haare los und offen in i hrer ganzen F ülle
h e rabwallen.
Lange wandelte Iwan den Pfad auf und ab,
voll ernstester Gedanken, dann und wann jedoch
ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
Es war der erste Frühling, und kleine gelbe
B l üten schauten da und dort hervor, bald i n den
B e eten , bald a m Gemäuer. Diese Farbe, die so eng
mit der Geburt des Jahres zusammenhängt, hatte für
Iwan ihre besondere Bedeutung. O ft stand er still,
um sich die Blümchen z u b esehen, aber er pflückte
k eines. Nie brach Iwan eine Blume oder ein Blätt­
chen, ausser er hatte einen besondern Zweck .
Ganz am Ende des Wegs war ein Rosenstrauch,
D i e B l üte und d i e Frucht. XXX. 299

die gewöhnliche Monatrose, an der Mauer hinauf­


geführt, der trug eine blassrote, halbaufgeblüte
Knospe. Sie schien Iwans Aufmerksamkeit wirk­
lich zu fesseln. Er liess sich auf eine Bank neben­
an nieder und betrachtete d i e Knospe eine gute
Weile.
Es war spät am Nachmittag, aber obwohl sich
die Luft bereits erheblich abkühlte, war die Be­
leuchtung noch lebhaft, denn die langen Tage hatten
schon begonnen. Iwan sass nachdenklich d a und
wie des Gehens m üde.
Ein Geräusch von Schritten störte ihn auf. Als
er den Kopf hob, sah er Flita si ch nähern. Sie kam
den Kiesweg herab in der vorneh m stolzen Haltung,
die sie kennzei chnete.
>>Sie Iiessen das Tor für m i ch offen ?« fragte sie.
))Ja«, antwortete er.
))Dann tat ich recht, h i erher zu Ihnen zu kommen.«
))Gewiss taten Sie recht«, betonte er. ))Zweifeln
Sie nie an Ihrem eigenen Wissen. Von Beginn
an wussten Sie, dass es galt, m i ch hier z u treffe n . «
))Ja«, erwidert� sie.
I wan hatte sich, als sie ihm näher kam, er­
hoben ; sie standen ein:mder gegenüber. Seine Augen
waren sehr ernst und fest auf sie gerichtet. Flita
hatte i hn nur flüchtig gestreift und dann auf d i e See
hinausgeblickt. Aber jetzt, in der Pause, die auf
ihre Antwort folgte, schlug s i e plötzlich ihre Augen
auf u nd begegnete seinem Blick .
))Ich bedurfte damals der Maske«, sagte s i e m i t
sichtlicher Uebe·rwindung, >!denn ich war noch
Weib genug, u m Sie als ein herrliches Wesen m einer
Rasse zu verehren. Es war richtig von m i r, die
300 Die B l üte und die Frucht. XXX.

Maske wegzulassen und zu leiden, wie ich es tat,


denn es hat m ei n e Lehrzeit kürzer, freilich auch
härter gemacht. Ich weiss jetzt, Sie sind kein Wesen
meiner R asse, - während i ch dermalen n ichts bin
als ein Weib. D u bist göttl i c h und ein M eister, und
ich kann n ichts weiter als deine Dienerin sein. Lehre
m ich das Dienen ! Lehre m ich die Liebe z u dir so
u m wandeln, dass sie zur lautem Pflichttreue werde,
n icht gegen dich, sondern gegen das Göttliche i n dir.
I c h habe alle Bande durchschnitten, habe alles, was m ich
h e m m te, beiseite geschoben. Meine Pflicht ist getan,
restlos erfüllt. Ich b i n ledig der Vergangenheit.
Lehre m i ch ! «
I wa n trat an den Wegrand u n d pflückte die
blassrote Rosenknospe ab. Er rei chte sie i h r hin.
Flita nahm sie, sah sie aber völlig vcrstnndnislos a n
»Kennst du die Farbe n i cht ?« fragte e r . »Be­
t rittst du die Halle des Lernens, dann wirst du solche
B l üten auf den A ltären sehen. Das Feuerrot der
L e i denschaft brennt aus bis z u diesem zarten Rosa,
d e r Farbe der Auferstehung zugleich u nd des däm-:­
m ernden Morgens. Setze dich, bis i ch zurückkomme.«
E r wandte sich v o n ihr und schritt die G a rten­
wege h inab dem Tore zu. Dort stand Flitas Wagen.
I wan hi ess den M a n n ihre Koffer nach dem Dorf­
w i rtshaus bringen zur Aufbewahrung, b is m a n sie
h o len werde, bezahlte und entl iess ihn. Dann be­
trat er wieder die A nlagen und schloss hinter sich ab.
E r traf Flita am alten Ort, sie sass da wie zu­
vor, und betrachtete die Blüte, die sie in der Hand h ielt.
»Bist du bereit zur Weihe ? «
))Ja, ich bin bereit«, erwiderte s i e , o h n e aufzu­
s ehen.
Die Blüte und d i e Frucht. XXX. 301

))SO komm !«, sagte er, und schritt über die ver­
grasten Wege voran. Sie erhob sich und folgte ihm.
Es war jetzt fast schon dunkel. E r ging ums Schloss
herum zu einer Seitenpforte, und öffnete. Grabes­
kälte drang aus dem Innern des Baues. Flita
schauerte ein wenig, während sie über die Schwelle
trat.
))Fürchtest du dich ?« forschte Iwan, ehe er die
Türe wieder schloss. ))Noch ist es Zeit zur R ü ck­
kehr.«
))Rückkehr - zu was ?« fragte Flita.
))Das vermag ich nicht zu sagen. Ich weiss
nicht, was du zurückgelassen hast.«
))Ich habe alles ertötet«, antwortete sie. ))Es ist
nichts mehr da, zu dem ich zurückkehren könnte. V o r­
wärts ! ich fürchte nichts mehr. Wie sollte ich auch ?«
Nun schloss Iwan ab, ging den Gang entlang,
öffnete eine Tür und sagte : >)Tritt ein k< Flita trat
ein, und wurde augenblicklich gewahr, dass Iwan
hinter ihr zugemacht h atte, ohne selbst mit einzu­
treten, - also war sie allein.
Allein ! - und wo ? Sie hatte keine Ahnung,
- sie wusste sich nur in vollständiger Finsternis.
Zum ersten Male begriff sie völlig, was Finster­
nis und Einsamkeit sind. Sie erschre ckten sie nicht,
stellten sich aber ihrem Bewusstsein als wirkliche
Dinge dar, ja als die einzigen, denen sie sich gegen­
über wusste. Zugleich erkannte sie aufs lebendigste,
dass sie ihnen nicht entrinnen konnte, was ihre
Realität noch verschärfte. Sie kannte keine Richtung,
wusste überhaupt nichts von Richtung, noch dachte
sie daran, dass sie des G ehens mächtig und nicht
hilflos sei. Sie drückte sich an die Tür, durch die sie
302 Die B l ü te und d i e Frucht. XXX.

hereingekommen war, als ob d iese die einzige Ver­


b indung wäre zwischen ihr und der Aussenwelt,
und l iess die Klinke n icht aus der Hand.
Fürs nächste wurde ihr bewusst, dass h i er keine
L u ft war ; wenigstens glaubte sie es, was ebenso
schlimm war, als wenn es s ich so verhalten hätte.
Sie dachte s ich in e i n e m sehr grossen, woh l seit
Jahren schon abgeschlossenen Raum, ob Zimmer oder
H a lle, konnte sie n icht m utmassen .
Anfangs formten s ich schwächliche Vorstellungen
in ihrem Geiste über die Art des Raumes, in dem
sie sich befan d ; alle verschwanden aber sogleich
w i eder, denn sie h atte kei nen A n h a ltspunkt und
k e inen Eindruck, um sich daraus ein Bild zu m achen.
Ihr Gedä chtnis vv urde ganz leer. G leichzeitig be­
m erkte sie auch , dass sie j eglichen Zeitsinn verloren
h atte. Sie hMte nicht sagen können, ob sie M i nuten
oder Stunden so dagestanden. I h r Em pfinden war
h o chgespannt, und dennoch schien es ihr wie n icht
v o rbanden, weil Objekte fehlten . Wieder nach
einer \\Teile schien ihr die Zeit, da Iwan sie hier­
h e rgebracht, schon ungeheuer weit h inten i n der
Vergangenheit Z l.J li egen, und sie fand, dass sie an
Iwan wie an eine G estalt aus i hrem früheren Leben
dachte, die sich nun vollstä ndig daraus zurückge­
zogen habe ; sie konnte sich n icht v orstellen, dass
s i e i h n m orgen sehen würde ; denn ein >>m orgen«
schi e n ihr n icht länger m eh r m öglich. Diese schwarze
N acht sah aus wie etwas Ewiges.
Kein W agnis und Abenteuer, das sie j e be­
standen, h atte sie so vor den K op f geschlagen, wie
dieses Erlebnis. Sie war gänzlich unvorbereitet für
solch einen pl ötzlichen Sturz in den A bgrund des
Die B l üte und die Frucht. XXX. 303

Nichts. Aber sie h atte gerade noch Widerstands­


fähigkeit genug, sich des Satzes zu erinnern, dass
n i chts zu fürchten sei, da ihr in Wirklichkeit nichts
schaden könne. Indem sie d ies fortwährend sich
vorh ielt, wahrte sie Geist und Nerven vor Ueber­
reizung. Aber sie war unfähig, s ich e iner Flut von
Erschöpfung z u erwehren, die allmählich auf sie
einströmte und sie unsicher m achte. Das unfassl i ch
Radikale dieser Stilk und Finsternis war's, was sie
zuletzt um Haltung und Selbstbeherrschung brachte.
Kein Krachen, kein Knarren wurde laut in dem
Hause, kein Echo des \i\.'indes oder der See dra n g
zu ihr.
:Zuletzt fing sie an zu zwe i feln, ob sie am Leben
war, oder sich , statt eine T ü rschv:elle zu über­
schreiten, unbewusst in e i n t iefes Wasser verlaufen
und sich den Tod geholt habe. Aber sie besass zu viel
Erfahrung, ein zu grosses Wi ssen über Leben und
Tod, u m so l e i cht getäuscht zu werden. Dass sie
jetzt sogar e iner physischen Schwäche erlag, rührte
allei n davon her, dass sie sich eines ganz andern
Ganges der D inge v erseh en hatte. Sie glaubte, s i e
h a b e ihr Herz geopfert, habe die Irrtüm er, die s i e
früher h em m ten, h inter s i c h , u n d k ö n n e nun vom
M eister unmittelbar Beistand fordern und erlangen.
Ehvas Entgegenkommendes, Friedseliges, Natürliches
hatte ihr vorgeschwebt , eher denn sonst etwas.
Statt dessen fand sie sich jetzt dem allerbefremd­
l i ebsten Erlebnis gegenüber, das sie je durchgemacht
hatte .
D i e vollendete , absolute Stille marterte ihre
physischen Nervenorgane m ehr als alles andere. Sie
beobachtete, wie sie der Stille nachhing, ihr lauschte,
304 Die Blüte und die Frucht. XXX.

sich zu bewegen fürchtete und den Atem anhielt


in einer unbestim mten, unvernünftigen Besorgnis,
sie zu stören. Sie merkte, es wurde ein Aktives,
P ositives , statt ein Negatives, diese unerbittliche
Stille. Dann aber plötzlich lebte in ihr selbst deut­
lich eine Kraft auf , um sich dem Vorgange zu
widersetzen, - eine überlegene Kraft. Und sobald
dieses G efühl sich bei ihr einfand, war das Schweigen
der Finsternis gebrochen und ein Schwall linder
M u sik erfüllte die L uft, Laute, so weich wie Weinen
und lieblich wie Sonnenschein. Helle Freude zog
in Flitas Gemüt ein ; sie lehnte sich w ider die Tür
und lauschte. Aber da erwachte auch schon ein
Gedanke in ihrem Geist : die Stille ist noch da !
die Musik ist nur mein eigen Werk, um die ver­
h asste Leere zu füllen, - u n d mit dem Gedanken
k e hrte auch die Stille wieder. Flita fiel in die Kniee.
Es war ihre erste Bewegung, seit sie den Ort be­
treten. Mit der Bewegung kam eine ganze Sturm­
flut von Empfindungen, G efühlen und Hirngespinsten,
eine grassartige Phantasmagorie. Sie sah Iwan an
ihrer Seite steh en , mochte ihn aber nicht einmal
b eachten, denn sie wusste, es war n u r ein von ihrer
Sehnsucht geschaffenes Bild. Sie sah den Ort plötz­
lich erleuchtet u n d voller Menschen. Es war eine
grosse, hohe, dämmerige Halle. Drinnen drängten
sich Massen prächtig gekleideter L e ute.
))Ach k< rief Flit2 mit verzweiflungsvol l e r Stim m e ,
>>so genarrt zu werden v o n meinen eigenen Ein­
bildungen !« und mit ihrer Stim m e Klang war d i e
Finsternis wieder da und zog sich bleischwer u m
sie zusam men. Da erhob sie sich und richtete sich
z u ihrer v ollen Höhe auf. Sie hatte V•l ert und Ur-
Die Blüte und die Frucht. XXX. 305

sprung der Vorgänge erkannt, und sofort wurde sie


ruhig und stark.
»Neophytenprüfungen lehne ich ab«, sagte sie
laut. ,,Ich bin nicht m ehr der Sklave m einer Sinne.
Die beherrsche ich ; ich sehe über sie hinaus. Komm
du zu mir, mein eigenes Selbst, das du rein bist,
ungreifbar, stofflos, frei vom gleissnerisch etl Blend­
werk . Komm und führe mich, denn es gibt ausser
dir n i chts und niemand, auf dem mein Bewusstsein
zu ruh en vermöchte.«
Sie suchte Halt an der Türe, denn s i e zitterte
u nter dem Ungestüm ihres eigenen Auftretcns. Die
Türe und der Boden, auf dem sie stand, waren n un­
rnehr für sie die einzigen Verbindungsglieder mit
der realen, materiellen Welt. Von n i chts sonst
wusste sie ; es war ihr, als habe sie die stoffliche Welt
vergessen und unterscheide nicht, ob sie lebe oder
tot sei ; sicherlich verlor sie die Fähigkeit des Hoffen s
und d e s Fürchtens. S i e wurde gleichgültig für alles,
ausser für das Verlangen, ihr eigenes höheres Selbst,
ihre reine Seele, von Angesicht zu Angesicht zu
schauen ; ihr Sehnen, sich selbst gegenüberzustehen
und so Gewissheit und Erkenntnis zu gewinnen,
v erdrängte jeden andern Wunsch. Lange Zeit fuhr
sie fort, energisch die ganze Spannkraft ihres Willens
auf dies eine zu richten, und harrte und dachte jeden
Augenblick, die sternengleiche Gestaltung vor sich
z u sehen. Ein Mal sah sie sich, ganz deutlich, aber
leblos wie eine Marmorfigur. Sie wusste, dass dies
keine Wirklichkeit, sondern nur ihre eigene Ein­
bildung war, und nach dieser kalten Vision begannen
Kraft und Stärke langsam sie zu verlassen.
Bewusstlosigkeit wäre j etzt für Flita gewesen,
20
306 Die Blüte und die Frucht. XXX.

was R egen für ein verschm achtendes Land. Ihr


Gehirn brannte ; wie Blei so sch wer war ihr
Herz.
Aber nichts trat vor sie, nichts wurde sichtbar.
D a \vusste sie, dass sie nicht allein d i e physischen
Sinne und Regungen, sondern a uc h die psychischen
Sinne und Fähigkeiten h i ngegeben habe.
Wieder fiel s i e auf die Kniee und faltete die
H ände wie zum Gebet. I n Wirklichkeit b e fand sie
sich in ti efer innerer Betrachtung. In einer langen
Reihe von Bildern sah sie sich sel bst durch unzählige
Prüfungen geh en. Sie sah sich - ohne V erbitterung,
Reue und Schm erz - in Leid und Freud. Sie be­
obachtete i hre allmähliche Trennung von denen, die
sie liebten, bis zuletzt nun auch Iwan in der Stunde
der Prüfung von ihr ging.
Glänzende Siege, all die Feu erproben der Leiden­
schaften und Gefühle, h atte sie hinter sich. Aber
sie waren wie nichts im Vergleich mit dieser ge­
h e i mnisvollen Leere, di esem endlosen Abgrund der
Finsternis, der nicht blass ausser ihr, sondern ebenso
wirklich auch in ihrer Seele war.
Wie sollte das enden ? Konnte es jemals enden ?
Oder war dieser Zustand das endgültige Ziel, bei dem
e s nun verbleiben sollte, - - nach so v i el Triumph e n ?
Unm öglich ! Das war nicht Leben, es war Tod.
Und war denn nicht d er Preis, um den sie ge­
rungen, Leben, die schöpferische Lebenskraft selbst ?
Tod konnte sicherlich nicht der letzte Sieger sein !
Flita, die m achtbegabte, die wissende Jüngerin,
für die sie sich gehalten hatte, - ein Opfer von
Zweifel und Verzwei flung ! Ihr Selbstvertrauen v er­
liess sie, wenn sie vor sich in diese Leere blickte.
Die Blüte und die Frucht. XXX. 307

Dem Unbekannten gegenüber kann es nie anders


sein.
Plötzlich befiel sie eine neue Sti m mung, eine
Furcht, Form en und Gestalten zu sehen oder. die
Stimme, die Gesichtszüge ei nes, den sie kannte und
liebte, heraufzubeschwören. Am allermeisten bangte
ihr davor, das Bild Iwans wieder an ihrer Seite zu
erblicken.
»Sehe ich dieses«, sagte sie sich, »dann bin ich
wirklich wieder in die Welt der Formen zurück­
gefallen. In die Finsternis m uss sich mein Auge
vertiefen.<.<
Im selben Augenblick legte sich eine Hand ganz
sachte auf ihren Scheitel. Flita war noch nicht ab­
gespannt genug, u m zu beben und aufzuschreien,
aber doch durchrieselte sie die plötzliche Berührung
so merkwürdig, dass sie weder sprechen noch sich
regen konnte. Jetzt vernahm sie Worte :
»Mein Kind«, sagte überaus gütig eine Stimme,
dem Klange nach die einer Frau, »weisst du nicht,
dass auf Chaos Ordnung folgen m uss, auf Finsternis
Liebt, auf ni chts etwas ? Kein Zustand ist immer­
während. Hüte dich vor dem Irrtum, die Rück­
kehr i n d i e Welt der Formen zu fürchten oder
willkommen zu heissen, da d u nun selbst eine der
Gestaltlosen geworden bist.«.
Flita gab keine Antwo1i. Die Stim me , das
fühlte sie, h atte etwas ihr innig Verwandtes, was
sie aber nicht verstehen konnte. Sie fühlte sich zu
Hause, wie ein Kind bei der Mutter. Alle Furcht,
alle Zweifel waren von ihr gewichen.
>>Du sollst dieser Prüfung nicht erliegen«, sagte
die Stimme., »auch bist du schon stundenlang hier.
308 Die Blüte und die Frucht. XXXI .

Komm mit m i r, ich will dich a n eine friedliche


Stätte bringen, wo d u dich erholen kannst.«
Flita erhob sich ; d ie Hand legte sich in die
ihre. Als sie zu gehen versuchte, merkte sie, dass
sie wirklich schon lange hier gewesen sein musste,
denn sie war ganz starr und hilflos, fast unfähig,
ihre Glieder zu gebrauchen. Mechanisch tastete sie
mit ihrer rechten Hand , wie u m eine Stütze zu
s uchen, u n d traute sich selbst nicht, .als sie ihre n
Arm nicht ausstrecken konnte ; d e n n da berührte
sie auch schon eine Mauer vor sich. Es bedurfte
nur einen Moment und sie begriff, dass sie n icht
in einer grossen Halle, sondern in einer engen kleinen
Zelle war, kaum weit genug, um zwei Schritte darin
zu machen. Das schien ihr höchst m erkwürdig ,
h atte sie doch so bestimmt geglaubt , sie sei a n
einem s e h r geräumigen Orte.
»Wie weit doch meine Einbildung noch geht«,
d achte sie, und fast belächelte sie sich. Denn jetzt
hatte s i e Frieden und keine F urcht mehr, obschon
sie nicht wusste, wo sie sich befand und wer bei
ihr war.

XXXI.

E ine Türe ging auf u n d schloss sich wieder.


Flita fühlte sich in eine wohlige, weiche, von rosa­
farbenem Lich t aufgeh ellte Atmosphäre v ersetzt.
Anfangs war es, als könne sie nicht sehen und die
Gegenstände vor ihr nicht untarscheiden. Aber nach
Die Blüte und die Frucht. XXXI. 309

einer Weile schon stellte sich plötzlich ihr gewöhn­


liches Sehverm ögen wieder ein.
Sie befand sich in einem höchst seltsam aus­
gestatteten Zimmer. \N ie in dem, das im Witwen­
hause I wan bewohnte , waren Tapeten an den
Wänden mit Iebensgrossen , eingewirkten Figuren
von so täuschender Arbei t , dass sie dem ersten
Blick wie wirkliche erschienen und überhaupt eher
wie plastische Gestalten als wie flache Darstellungen
aussahen. Der Boden war statt mit Teppichen ganz
mit vertrockneten Farnen und dürrem Laube be­
deckt. Ein Teil davon lag auf einen Haufen ge­
schichtet, und darüber war ein Tigerfell und eine
schafwollene Decke gebreitet. Auf dem geräumig
angelegten Kaminherde nebenan brannte ein Holz­
feuer ; es war nicht gerade gross, aber den durch­
kälteten Gliedern Flitas tat seine Wärme unendlich
wohl. Das gebrochene Licht rührte von ei ner Lampe
her, für die oberhalb des Kamins ein Gesi m s an­
gebracht war. Ein dreibeiniger Hocker vor der
Feuerstelle trug eine grosse , kunstvoll getriebene
silberne Platte mit Brot, Obst und Milch in Silber­
geschirr und feinstem venezianischem Glas.
Flita betrachtete sich m it einem Anflug fast
fröhlicher Laune den seltsamen M ischmasch des
Hausrats. Alles heimelte sie so traulich an wie
vorhin die unbekannte Sti m m e. Nach dieser ersten
flüchtigen Umschau ging sie zum Kamin und be­
gann ohne Zögern von den herzugebrachten L ecker­
bissen zu essen und die Milch zu trinken. Sie setzte
sich auf die Laubstreu, denn im ganzen Raum war
weder Tisch noch Stuhl noch sonst etwas, was einMöbel
genannt werden konnte, m it Ausnahm e des Hockers.
310 Die Blüte und die Frucht. X X XI.

Es war der toten Schlossherrin eigenstes Ge­


m ach . Von h ier aus erstreckte sich eine Reihe
ineinandergehender Zimm er, die einst ebenfalls ihr
zugehörten u n d alle frem dartig und stillos einge­
richtet waren. Diese wurden Besuchern gezeigt.
Jenes eine dagegen wurde n i e betreten. Es hiess,
dass dort gerade wie z u der Herrin Lebzeiten auch
nach ihrem Tode nachts die Lampe brenne und a u f
dem Herde T a g u n d Nacht d a s Feuer nicht ausgehe ;
niemand aber wusste , wer Lampe und Feuer
unterhielt.
Es war ganz und gar das Heim einer Z igeunerin,
einer Nomadin, eines Kindes der Wälder und Felder.
Sie hatte a u f dem Tigerfell geschlafen, wie sie unter
freiem H i m m e l schon a u f ihm geschlafen haben
m o chte. Das Prachtstück, die Platte, und das wert­
volle Silberzeug darauf sahen in dieser Umgebung
wunderlich genug aus, waren aber wiederum be­
zeichnend als Besitzstück des G eschlechtes, das sie
hatte rui nieren helfen.
Ein m erkwürdiger Ha uch von Frieden und Ruhe
lag über dem Gemach. Er kehrte auch in Flitas
Herz e i n und sänftigte sie m ehr, als die Berührung
mit Lebendigem es vermocht hätte.
So erhob sie sich denn rasch und machte sich
das Lager von Fellen und Laub zurecht. E s ent­
ging ihr, dass I wans Mutter auf dem selben Bette ge­
legen. Sie hätte es gewiss erraten, aber sie kümmelie
sich u m nichts. Sie war sorglos, fühlte sich zu­
frieden, und das genügte ihr. Noch ein Weilchen,
und sie war fest eingeschlafen.
Als sie erwachte, war die Lampe erloschen,
die Vorhänge an den hohen Fenstern waren zurück-
Die B lüte und die Frucht. XXXI. 311

gezogen, und heller Sonnenschein strömte herein.


Das Feuer auf dem Herde brannte regelrecht, und
Flita bemerkte a u f d e n ersten Blick, dass nachge­
schaut und nachgelegt worden war. Der H o cker
stand daneben, und die silberne Platte darauf war
mit a llerhand Frühstücksbedarf frisch versehen. Sie
verspürte tüchtigen Hunger, denn ihr physischer
Körper m achte unverkennbar Anstrengungen, sich
von den schweren Strapazen der letzten Woch e n
zu erh olen. Flita hatte neben d e m Kraftvorrat, d e n
sie sich verm öge ihres geschulten Willens ersehEessen
konnte, auch einen Quell natürlicher Jugend in sich,
ein Privilegium ihrer Stufe, ein dauerndes Lehen,
das sie sich erworben.
Nachdem sie gefrühstückt hatte, trat sw ans
Fenster und sah hinaus : eine weite, weisse See
badete i n blinkender Frühlingssonne. Es trieb sie,
die Luft zu kosten, die von da draussen kam. So­
fort brach sie auf und lief der Eingangstüre zu, o b­
wohl ihr ein weni g graute, den Ort wieder z u
durchschreiten, durch d e n sie hierhergelangt war.
Aber nirgends zeigte sich eine Spur von ihm ; dafür
fand sie einen durch die \Vandbekleidung verdeckten
Ausgang. Er brachte sie in ein wunderschönes
Badegemach ; Fliese und Becken waren von Marmor,
und die v\lände m i t tanzenden Figuren bemalt : eine
ganze Schar fröhlicher Festgäste in phantastischen
Kostümen schien im Reigen durchs Zimmer zu
fliegen.
Sie badete i n dem erfrischenden Vv. asser, nahm
ihren weiten Mantel um und versuchte es dann mit
der andern Türe. Diese führte i n ein geräumiges
Besuchszimmer m it einer grassartigen Aussicht auf
312 Die Blüte und die Frucht. XXXI.

die See. So auffallend und schön seine Einrichtung


war, zog es Flita doqh nicht an ; �s hatte die eigen­
tümlich melancholische Stimmung längst verlassener
Wohnräume. Sie schritt rasch hindurch und ge­
langte an einen Pedest, von dem aus eine breite
e i chene Treppe hinauf und hinab führte. Sie fand
n o ch eine Reihe ähnlich gehaltener Zimmer vor,
hatte aber keine Lust, sich weiter darin um zusehen,
sie sehnte sich, h inaus ins Frei e zu kommen und
d i e Seebrise zu atmen. Schnel l lief sie die bequeme
Treppe hinunter, plötzlich aber wurde ihr ein un­
erwartetes Halt geboten durch ein schweres eisernes
Tor, das v erschlossen wat und ihr schlechterdings
d e n Weg verwehrte. Jenseits waren an den Treppen­
stufen Brüche und Kugelscharten, und Flita fröstelte
ein w enig, als sie hier stilistand und sich die düstere
Tragödie ausmalte, von der diese feste Sperre noch
h eute Kunde gab. Ohne daran zu denken, dass die
Türe wirklich, und zwar ihrethalben, verschlossen
sein könnte, rüttelte sie w ieder und wieder daran. Aber
sie war v erschlossen und sehr vorsorglich verwahrt.
Sie kehrte um und durchmusterte die übrigen
Zimmer. Nirgends ein Ausgang. Sie stieg die Treppe
hinauf in die oberen Räume. Aber diese hatten
eine ähnliche Anordnung, ebenfalls ohne Ausgang
ins Freie. Dann kehrte sie höchlichst erstaunt i n
ihr Gem ach zurück, u n d begann nochmals nach
der Türe zu suchen, z u der sie hereingelangt war,
k onnte sie aber wieder nicht finden. Offenbar war
es eine Geheimtüre und alles Suchen vergeblich.
Sie warf den M antel b e iseite, l iess sich am Feuer
nieder und fing an, ernstlich die Verhältnisse zu
überdenken.
Die Blüte und die Frucht. XXXI. 313

E s lag ganz klar, sie war e i n e Gefangene. Sie


verfiel auf Iwan. Er w a r es, d e r s i e i n d i e finstere
Kam m er gebracht hatte. Zweifellos hatte er i h r
dann auch d e n geheimnisvollen Befreier gesandt.
Diese Vermutung befriedigte sie. Doch nur eine
Zeit lang ; bald sah sie ihre Torheit ein. Hatte sie
n i cht durch ihr schwärmerisches V e rl angen Iwans
Führerschaft verscherzt ?
Sie stand vor dem grossen Rätsel, dem sich der
Mensch immer w ieder, selbst nach unzähligen V er­
körperungen und unaufhörlichen Anstrengungen,
gegenübergestellt s ieht.
War es wirklich unmöglich für sie, die V e r­
bindung mit dem Menschentum zu lösen ? Musste
sie sich i m merfort an ihren Meister hängen und von
des Meisters Person Schutz und Stärke erwarten ?
Augenscheinlich glückte es ihr jetzt zum ersten­
mal, sich diese Frage leidenschaftslos vorzulegen.
Alle fremden Fesseln hatte sie abgestrei ft, alle
Bande, die sie n och zurückhielten. Nun stiess s i e
a u f den Widerstand ihrer eigenen Natur.
Sie sass am Kamin und verfiel i n ein plan­
mässiges Nachdenken, eine ernste Zwi esprache m it
sich selbst.
Sie, die H ohe, Mächtige, die Priesterin und
Held in mancher Leben, sie, die i n früheren V er­
körperungen d i e fertige Magierin und die gelehrige
Schülerin der göttlichen Lehrer gewesen, war nun
am Ende langer Entwicklungszeiten bis zum Kern
der Schwierigkeit vorgedrungen : in i hr eigenes
Herz.
D i eselbe Wurzel liegt in jedem, der der Liebe,
des M itgefühls, irgend einer zarten und t iefen Regung
314 D i e B lüte und die Frucht. XXXI.

fähig ist ; zui nnerst i st sie vorhanden. Im sel bstischeu


M e nschen hat sie mächtige Lebensenergien und
breitet s i ch aus, bis sie sein ganzes Wesen einnimmt.
Im Menschen mit göttlichen Anl agen wird s i e stünd­
lich m it seiner Höherent wicklung schwächer und
s ch wächer, bis der Mensch scb l i esslich bei der pein­
vollen Entdeckung anlangt, unter der jetzt Flita litt.
Er wird dann i nne, dass da irgend ein Wesen ist,
- vielleicht ein von ihm abhängi ges Geschöpf, e i n
G ebrechlicher, e i n Kind, das i h m d e n Zweck abgibt,
für den er lebt.
Flita wusste sich auf dem grossen, weiten Meer
unpersönlichen L ebens. Sie fand sich treiben auf
d e n unbegrenzten \iVassern ; sie sah k e inen Horizont
weit und breit, und spähte n a ch keinem, suchte
a u c h n ach keiner Ruhestell e . Aber da war noch e i n
winziges, fruchtbares Inselchen, oder ein kleines
Schiff mit Menschen, zu dem sie imm er wieder
hinblickte. Sie wünschte n i cht, s i ch ihm z u n ahen,
es zu erreichen und den F uss darauf z u setzen, - nur
blieb es ihr unfasslich, wie die Leere zu ertragen
s e i n sollte, wenn auch di eses T üpfelchen noch aus
dem Weltall verschwände und weg \Väre. Das
P ünktchen, an dem sie haftete, war I wan, sein
L eben, Ziel und vVissen. Sie begriff jetzt, w i e das
B e w u sstsein, da!'iS d ieser P u nkt ihrem Denken einen
Halt v e rleihen könne, sie über die v erhängte Prüfung
der Leere binübergehoben b atte. Zu gleich erkannte
sie, dass sie erlegen und ihr Befreier nur ersch ienen
w ar, u m ihren Körper vor Erschöpfung und Elend
zu behüten. D i e l iebevolle Stim m e' hatte also n icht
den S iegeslohn gebracht, es war nur das Scherflein
Mitleid nach dem M isserfolg.
Die Blüte und die Frucht. X XXI. 315

I n dieser Erkenntnis ging Flita daran, d a s Problem


durch den Gedanken zu meistern.
D as ist der schwerste Weg zu seiner Lösung.
Jedoch Flita war m utig ; und hatte sie die leichtere
Aufgabe n i cht bewältigt, so war sie jetzt entschlossen,
in der schwi erigeren den Erfolg z u erzwingen .
Die Sonne stand hoch am Himmel, und wie
bleiches Silber lag die See ; aber See und Sonne
und k östliche Luft, wonach sich Flita noch vorh i n
gesehnt, waren v ergessen. Die sinkende Sonne be­
rührte den Saum des Wassers, - immer noch sass
Flita unbeweglich da. Die D unkelheit brach h erein, -
die Gedankenverlorene bemerkte es nicht. Das Feuer
im Herd brannte n ieder, die Lampe blieb ohne Licht.
Wie die Zeit verstrich, so steigerten sich die
Qualen ihres Innern, wurden b itterer, n agender. D ie
Machtvolle begann ihre Ohnm acht zu fühlen.
Das Pün ktchen war nicht aufzul·ösen. Wie sie
sich i n der vergangenen Nacht während all ihrer
Phantasien stets der Türe, an der sie leh nte, physisch
bewusst gewesen vvar, als der Verbindung zw ischen
ihr und der Körperwelt, so bildete j etzt ihre innige
Vcrehrung für Iwans persönl i chen Charakter das
beharrliche Band z wischen ihr und der Menschheit,
mochte sie im übrigen ihr ganzes Bewusstsein noch
so hoch heben.
Zuletzt war sie überzeugt, das Band zerreissen
hiesse ihr Leben zerstören. Und all ihre Anstreng­
ungen schienen umsonst.
D a sp ürte sie wieder das linde Berühren, und
die traute Sti m m e umsch m eichelte ihr Ohr : »Lieb
Kind, lass dich w arnen. Sollst nicht allzu heiss nach
Erfolg verlangen ; könntest auf deiner stolzen Höhe
316 Die ßlüte und die Frucht. XXXII.

noch das Gleichge wicht v erlieren und dich wieder­


finden im bodenl osen Abgrund der Magie ; dann bist
du nichts Besseres als eine der Schwarzen hierunten
geworden. Es bl eibt dir ja ein dritter Weg. Diene
I wan, sei seine Sklavin, gehorche ihm als einem,
dem du Seele und Urteil verschrieben und ausge­
liefert hast . . . '<

))Nein !« schrie Flita auf, und warf den Kopf


z urück . Ihre Augen suchten in der dichten Finsternis
des Zimm ers. Zu wem hatte sie ges prochen ? -
Ihre Kraft war hin, und mit dem Schrei der Abwehr
und Empörung verlor sie die Herrschaft über sich
u n d brach bew usstlos zusam m en.

XXX I I .

Aller Adel ihrer Natur hatte sich aufgebäumt,


um diese leidenschaftliche aggressive Versuchung,
die im Augenblick ihrer äussersten Ohnmacht a n sie
h erantrat, abzuweisen. Seine Sklavin ! Jetzt wusste
sie es wie nie zuvor, sie li ebte ihn. Sie, die Otto
und Hilary die erhabensten Mysterien ausgelegt
hatte ! sie, die ihre Seel e im Altarfeuer verbrannt
hatte ! Ja, es war so, durch und durch geläutert,
von allen groben Anhängsel n befreit, - dennoch
blieb's da und war Liebe.
Die Versuchung ! Ein so plötzlicher Ueberfall,
eben als sie sich durch ihre v e rzweifelten Anstreng­
u n gen fast schon u m den Verstand gebracht hatte !
Was für ein Gefühlssch wall, der auf s i e eintobte !
Es war unerträglich ; sie hatte gerade noch den Mut
Die Blüte und die Frucht. XXXII. 317

u n d d i e Kraft gehabt, Einhalt zu gebieten, e h e sie


dem Ansturm erlag.
Sie erwachte, um sich all das blitzschnell zu
vergegenwärtigen. Und sie litt dabei, was sie nie
gekannt hatte, solange sie Flita die Starke gewesen
war, sie litt dabei das Weh des gefolterten Herzens.
0, der Augenblick solchen Erwachens ! m it all
seinen Schrecken !
Aber Flita war durch den Schlummer einiger­
m assen zu Kraft gekommen. Wie lange mochte er
gedauert habe n ?
Sie erwachte zu einem Gefühlstumult, wie sie
in ihrem ganzen seltsamen Leben noch keinen durch­
gemacht hatte. Bisher hatte sie verstanden, sich
über ihrer Gemütsbewegung zu erhalten, der A uf­
regung bewusst, und doch ihr entrückt. Jetzt da­
gegen schien es, als müsste sie eine angewachsene
Schuld auf einmal abtragen.
»Also bin ich eben nach alledem immer noch
Weib«, sagte sie wehmütig zu sich selbst. Dann
setzte sie sich auf und blickte um sich .
\V ährend sie geschlafen hatte, war das Zimmer
wieder wohnlich gemacht worden. Das dämmerige
Licht brannte, das Feuer war angefacht, das Silber­
brett stand für sie bereit. Sie sah es; und ein Ge­
fühl äusserster Erschöpfung befiel sie. Sie raffte sich
auf und ass und trank etwas, lief aber dabei rastlos
hin und her. Das war nicht mehr die gelassene,
machtbewusste Flita, die überwunden und so
manchen grausigen Strauss bestanden hatte. Doch
in den früheren Kämpfen hatte sie nur die Leiden­
schaften andrer bekriegt, j etzt stritt sie gegen sich
selbst.
318 Die Blüte und die Frucht. XXXII.

Sie setzte die Milchtasse hin und begann m i t


verschränkten Händen ein M a l ums andere das grosse
Gem ach seiner gan zen Länge nach abzuschreiten,
jedesmal von einem Ende zum andern. Ihre Schlep p e
fegte die rauschenden Blätter rechtshin und l inks­
hin, bis eine lange, saubere Gass e gekehrt war.
Als sie gerade wieder bei dem Fenstervorhang
umbog, sah sie die Tür aufgehen, und Iwan trat
herein. Er b i ieb stehen und betrachtete sie sehr
ernst.
»Der Tiger in dir brüllt«, hub er an. »Ich
brauche ihn ni cht zu reizen. Merke d ir, dass ich e s
für überflüssig erachte, ebensolche Künste mit dir
a nzustellen, wie d u sie in deiner Machtvollkommen­
heit an Hilary Estanol geübt hast, sonst hätte ich
m einen Schatten gesandt, dich z u narren und zu
äffen. Dessen bedarf es nicht. Deine Einbildung ist
m ächtig genug, dir Versuchungen und Selbstquälereien
in Hülle und Fülle vorzuführen. Warum sollte dann
ich dich mit Vorspiegelungen quälen ?«
Flita antwortete nicht, obgleich er innehielt.
Sie blieb still und blickte vor sich hin, wie wenn
ein sichtbares Etwas ihre Aufmerksamkeitauf sich zöge.
»Du siehst dein eigenes Bild ?« sagte er m it
halb e m Lächeln, als er ihren Gesichtsausdruck wahr­
nahm. ))Wirklich, es hat mich fort und fort b e ­
gleitet, s e i t du h i e r bist. Sei a uf der H u t , du
erschaffst ein D ing, mit dem du dich herumzuschlagen
h aben wirst. Lass es nicht allzustark werden, sonst
mag ein Tag kommen, d a du deine Kraft a n ihm
zu messen hast und du i m Streit vielleicht unter­
liegst. Hast d u Gefallen a n ihm ? Liebst du es
denn ? Es gibt nur deine Gedanken wieder. Du
Die Blüte und die Frucht. X XXII. 319

h ast dich ihnen widersetzt, wolltest ihnen k e i n Ge­


hör schenken, aber sie waren kräftig genug, u m
dieses Bild einer leidenschaftlichen Frau z u schaffen ,
das m i r folgt u n d m ich belästigt, wo immer i c h gehe
und steh e. Sei stark, m ach ihm ein Ende, wie d u
mit Adine ein Ende gemacht h ast.<<
Flita richtete sich auf und schien über ihre ge­
wöhnliche Grösse hinauszuwachsen, als sie j etzt
ihre Hände mit e iner gebieterischen G este erhob.
In der nächsten Sekunde taum elte sie einen Schritt
zurück, schien plötzlich zwerghaft zu werden, zu
schrumpfen, als wäre sie auf einm a l zur Greisin
geworden.
))Gut«, fuhr Iwan fort, ))du hast das Ding zer­
stört. Nun ist es leichter für dich , dein V/erk z u
fördern. Sammle dich u n d häre mir zu ! Weisst
du, wer dich hier versorgt und sich deiner ange­
nommen hat ?«
»Nein«, antwortete sie abgespannt.
»Ein Spuck, - ein liebenswürdiger Luftgeist,
einst schon der Dienstling m einer Mutter, nichts
weiter. Er wusste, dass d u einen Schutzengel
brauchtest, und darum kam er dergestalt z u dir.
Aber noch mehr : er hat diesen Ort für dich u n d
deine Sach e h i e r behütet.«
))Dann war's so vorgesehen ?«
>>Gewiss ; der Ort ist voll der Gebilde, deren
d u bedarfst, und für dich wurden sie hinge halten .
Aber die Dienstzeit ist u m . Der arme Geist, wie
i hn die unwissenden Leute nannten, hat lange ge­
nug dir zu Nutz und Frommen i n dieser ihm aufer­
legten Gestalt zugebracht. Auf denn, rufe dich wach,
denn hinfort bist du für dich allein d i e Hüterirr
320 Die Blüte und die Frucht. XXXII.

deines Geschickes. Anders magst d u dein Streben


aufgeben.«
»Ich werde es nicht aufgeben«, erwiderie Flita.
>)Ich schreite vorwärts um jeden Preis.«
>>Sei es so«, sagte er, »dann habe ich dir eine
Gesc h ichte zu erzählen. Höre �«
Er trat zum Kam i n und lehnte sich an die Ein­
fassung. Flita verblieb, wie sie seit seinem Eintritt
gestanden, j edoch statt ins Unbestimmte richtete sie
n u n ihren Blick auf ihn.
»Meine V o rfahren kamen mit einer Armee von
Eroberern auf d iese Insel, aber sie kamen, das Land
zu erretten und einen Samen hierher zu v erpl1anzen,
der ihm in seiner unglückseligen Zukunft zum Heile
gedeihen sollte . Der Kampf der Kräfte ist a�t f d iesem
Eiland entsetzl ich ; es zehrt an ihm das R iesenun­
kraut eines M aterialism us , der aus der Finsternis
seiner p sychischen Natur em porschiesst M erk auf,
Flita ; du m usst diese Dinge wissen. Es streicht ein
\Vind über England hin, der führt eine Unmenge
unsichtbarer Wesen m it sich, die sich hier nieder­
lassen und überall ausbreiten und die psychische und
moralische Atmosphäre verfinste rn . Sie sind es, die
das Land grassmä chtig machen, so klein es ist ; sie
sind es, die ihm den Ein f1uss und Reichtum bringen.
Aber sie verdunkeln ibm seinen Him mel. Sie wirken
wie die Gedanken des M enschen : zu einseitig auf
eine beschränkte Form des Lebens gerichtet, bilden
sie einen geistigen Schleier, der dem Menschen die
Ideen erweiterter, höherer Lebensform en verbirgt. In
der Tat sind jene Wesen nicht viel anderes als Ge­
d anken, die z u selbständigen Kräften geworden sind.
Es existiert eine grosse Zone auf der Erdkugel, in
Die nlütc . und die Frucht. XXXII. 321

deren Bereich sie zu höchster Macht gediehen sind,


immerfort im Anschluss a n die Menschenrassen, die
diese Zone besiedeln und fortfahren, ein Jahrhundert
um das andere, Aeonen auf Aeonen, im engsten
materialistischen Gesichtskreise zu leben.
»Aber auch die andere, die gegenwirkende Macht
gibt es auf der Insel. Während der ganzen ge­
schichtlichen Zeit und vor ihr bestand hier ein ver­
tieftes Leben Seite a n Seite m it jenem geistigen
Dunkel, und Geheimwissen und grosse spirituelle
Vorgänge haben hier eine gut behütete, wenn auch
äusserlich bescheidene Stätte gefunden. Es gibt Plätze
in England, die für das Auge des Okkultisten wie
Flammen leuchten. Das sind die alten, überkommenen
Mittelpunkte des inneren Lebens. London, Bir­
mingham, Manchester prunken auf den Karten, stehen
obenan im Verstand der meisten Menschen ; und die
Eisenbahnen führen zu diesen Plätzen. Doch läuft
auch, für den Seher sichtbar, eine lichte zweite Bahn
mitten über und durch die Insel, und ihre Samm el­
punkte leuchten stets im Zeichen der astralen
Flamme. Das Schloss hier ist ein solcher Sammel­
punkt. Dieses Gemach ist peinlich bewahrt ge­
blieben, Finsternis durfte hier sich nie die Herrschaft
anmassen, ausser in der vergangeneo Nacht, als d u
. i n deinem Ringen mit d i r selbst s i e hereinliessest.
Hier ist die Atmosphäre bereit, aber noch untätig.
Ich kam in diese Gegend, um eine der Obliegen­
heiten meines Lebens zu erfüllen. Ich will diese
Atmosphäre wecken, wieder zu etwas Lebendigem
machen. Ist das h i er getan, so muss es auch a n
andem Plätzen der Strecke geschehen. Das muss
jetzt sein, denn sonst würde die Spur v erblassen
21
322 Die Blüte und die Frucht. XXXII.

und ihr Einfluss sich abschwächen ; schon unter dem


nächsten Gesch lechte wäre sie schwieriger aufzu­
finden. Dazu also brauch e ich deine Hilfe.«
Flita schwieg. Was sollte sie antworten ?
Während Iwan sprach, hatte sie sich einer leidigen
M issstimmung zu erwehren gehabt, aber s o fort
auch erkannt, dass es sich um einen Teil ihrer Schulung
handle, und verstand sie auch noch nicht alles, so
fügte sie sich doch und m u rrte nicht einmal in ihrem
Herzen.
Erst während des folgenden Schweigens, das
I wan geraume Zeit nicht brach , wurde ihr die Natur
des Unm uts klar, der ihr so scharf zusetzte.
Sie, die so lange für andere gelebt, sich deren
Heile so ganz aufgeopfert h atte, war jetzt hungrig
n ach ein bisschen Hilfe für sich selbt, nach persön­
l i cher Unterweisung, einem verein zelten Wörtchen
F ö rderung und Ermutigung. Statt dessen gab man
ih r nun eine noch un persönlichere Aufgabe als je
zuvor. Ein herbes Gefühl der Nutzlosigkeit und
Aussichtslosigk eit des Lebens beschlich sie. Der
M enschheit H i l fe bringen ? für was ? wenn schliess­
lich der \Vohltäter nicht auch seinen Zuwachs an
G lück erhalten sollte ? Die Frage nahm in ihrem
Gemüte Gestalt a n und schien es zuletzt ausschliess­
l i ch zu erfüllen. Finster stand sie da, die Augen
auf den Boden geheftet. Plötzlich fühlte s ie den
T rieb, aufzuschauen, und da gewahrte sie hart an
i h rer Seite ein Geschöpf, weder Mann noch Weib,
aber menschlich von Form , ein Geschöpf , dessen
l e idensch a ftglühende Augen auf sie gerichtet waren
und in ihrem Ausdruck das wiedergaben , was i n
Flitas Geiste vorgegangen war. Einen Augenblick,
Die Blüte und die Frucht. XXXII. 323

und das Gebilde war verschwunden ; eine trübe


Wolke, die im Zimmer geschwebt, war auch weg,
und Iwan stand gelassen vor ihr und beobachtete
sie ernst.
))Das ist eines der \ Vesen, von denen i ch die
R asse zu befreien wünsche<(, sagte er, wandte sich
um und verliess das Zim mer.
Verelendet und trostlos liess sich Flita auf die
Felle nieder, die ihre Lagerstatt ausmachten, und
schloss die Augen, sich Ruhe zu schaffen. Doch
alsbald stand das Geschöpf, das sie gesehen hatte,
wieder da, noch viel lebensfähiger und wirklicher
als zuvor. Nur seine Gestalt hatte sich verändert,
vielmehr sie verwandelte sich zusehends vor ihren
Augen. Und es bedrückte Flita wie ein grässlicher
Alp, diese Verwandlung mitansehen zu m üssen, denn
sie hatte genug gelernt, um genau wahrzunehmen,
dass d ur eh ihr eigenes, verhaltenes Denken und
Fühlen sie selbst diesem Ding eine m enschliche Ge­
stalt gab. Nach w enigen Sekunden war es Iwan,
der vor ih r stan d ; Iwan - m it einem Antlitz , das
den strengen Ernst verloren hatte und dafür in Güte
strahlte.
Er näherte sich ihr , und Flita schaute z u ihm
auf, wi e mit eisernen Fesseln unter einem Banne
gehalten.
>>Wirkst du für die Menschheit, so liegt darin
kein Grund, dein eigen Glück z u opfern<(, sagte er
zu ihr mit einer Stimme, die milder, als Flita sie j e
gehört, von seinen Lippen kam . »Gewiss, ungeteilte
Hingabe an das Werk fordere ich von dir, doch be­
denk, du bist ja in allem m ein Verbündeter. Wir
werden beieinander sein. Gerade unsre Arbeit
324 Die Bl üte und die Frucht. XXXlll.

bringt uns ja zusammen. Macht dir das nicht ein


w enig Freude ? Wir brauchen uns von nun an nie
m eh r zu trennen, Flita, nachdem du dich j etzt mit
mir i n mein Schaffen teilst. So soll es auch sein,
der Gang und das Gesetz des Lebens haben es so
beschlossen. Wir haben nicht für uns selbst nach
Glück gesucht , das Glück ist zu uns gekommen.
Warum es nicht annehmen ? ohne Bedenken , wie
die Blumen den Sonnenschei n ?«
Er trat ihr einen Schritt näher -, und dieser
eine Schritt schien den Zauber , der Flita gebannt
hielt, zu brechen ; es war mehr , als sie ertragen
konnte. Mit einem wilden, eiY' pörten Schrei sprang
sie auf.
»W eich von mir , Teufel ! « rief sie. »Ich bin
stärker als du, so listig du bist.«

XXXIII.

Wie finster, wie einsam, lautlos, still !


Zu diesem Bewusstsein erwachte Flita, zu mehr
nicht. Alles Leben, Feuer, Hoffen schien die \:\.' elt
verlassen zu haben. Und weshalb ? Das war es,
was sie sich i m Augenblick i h res Erwachens fragte.
Aber noch ehe sie zum V ersuche kam, sich darauf
zu antworten, drängte sich ihr eine andere Frage
auf. Aus was war sie denn erwacht ? Schlaf war's
nicht. \lv' as für ein Nichtbewusstsein war es gewesen ?
Ein Augenblick später, und sie h atte vollen Auf­
schluss erlangt.
Die Bl üte und die Frucht. XXXIII. 325

Ihr erging's wie jemand , der unerwartet den


Tod kennen lernen m usste und dem das einzige
geliebte Wesen auf Erden durch ihn entrissen wurde.
Ja, solcher Art war ihre unbeschreibl iche Qual .
Sie blickte in die Vergangenheit zurück - wie
weit ? konnte sie nicht sagen - und sah sich, wie
sie das Wesen, das sie so innig geliebt hatte, von
sich scheuchte, es in dieser Form so entsch ieden
von sich löste, dass es nun wirklich tot war.
Sie wollte es als ihren Meister haben , nicht
als Geliebten, nicht einmal als ihren Freund.
Wie oft hat}e sie schon den Verzicht besprochen
und bedacht ; aber wie es bei einem bedeutsamen
Ereignis im Leben immer geht, sie hatte keine Vor­
stellung von der grausamen Brutalität der Wirklich­
keit gehabt , bis die Wirklichkeit über sie kam.
Sie litt, wie wenn es ihr das Herz Faser um Faser
herauszerrte. Und der Schmerz dauerte an, ja ver­
schärfte sich noch.
Zeitalter hindurch hatte sie a llein gelitten, a l lein
gestanden und allein gehandelt. Aber nie zuvor
h atte sie die äu sserste, letzte, grässlichste Verein­
samung, die des Okkultisten, erlebt ; denn ganz
ohne Liebe zu irgend einem menschlieben Wesen
war sie nie gewesen . Ihr Herz hing immer an
irgendwem, häufig Yielleicht an einem Schwäch eren,
als sie selbst war. Aber nun fand es n ichts mehr
vor, an das es sich anranken konnte. Das letzte
Bild, das ihr geblieben war, h atte sie zerstört, das
letzte Idol, das nicht schon durch Verlauf und Um­
stände des Lebens gestürzt worden war. Dem
Spiel ihrer Einbildungskraft mit Iwan h atte sie ein
Ende gemacht , und nun, nachdem das geschehen
326 Die B l üte um! d i e Frucht. XXXIII.

war, erkannte sie rückblickend, wie diese von ihrer


Einbildung geschaffene Gestalt i hr die Jahre ihres
Lebens zur Seite gewesen war. Nie hatte sie das
mit vollem Bewusstsein d u rchschaut, bis eben j etzt,
da i hre stärkere und bessere Natur die Führung
überno m m e n und das Bild aus ihrer Welt geschafft
hatte ; i m m erhin war sie i n den schwersten Kämpfen
der Vergangenheit von i h m getröstet, erm utigt, j a
i n der Tat gehalten worden.
Jetzt also war es weg, selbst in ihrem Denken
w e g ; sie war allein.
Die Qual, die dieser Zustand verursachte, ent­
s prang dem Gefü h l e der Stum p fheit, der Finsternis
und Leere. Mit G ewalt dachte sie an Iwan : lautere
Oede ! - sein Bild brachte ihr keine Begeisterung,
Gla ubenssel igkei t, Sehnsucht m ehr, wie vordem .
Was war noch da, welcher Inhalt oder Zweck
des Lebens ? Nichts, k e iner. Dies war's, was sie
sich sagte, als sie teilnah mlos auf ihre m absonderlichen
B ette von totem Laub und Tierfell lag, vor s ich das
seltsame kahle Z i m m e r . Ihre A ugen fielen zu, -
waru m sehen . . . ohne Z vveck ? Aber sofort riss
ein Entsetzen sie wieder a u f und starr stierten sie
in die Leere . Flita richtete sich langsam e m por und
sass da, wie z u Stein geworden. Kein grausiges
Gesichte, keine Kraftprobe hatte i hre Seele j em als
s o b estürzt gemacht. \Var es m öglich, weiterzuleben
ohne Anteil, ohne Neigung, ohne Besitz, ohne Herz ?
Nein ! n icht Spuck noch Dämon ist so schaurig wie
die Schrecknis di eser unsagbaren innern Leere.
Sie verkroch sich ; ja, Flita, die Mächtige, die
Zuversichtliche verkroch sich vor der Vision ihrer
eigenen Leere.
Die ßlüte und die Frucht. XXXIII. J:J7

So fortzuleben war unm öglich . Flita aber hatte


nicht die Wahl, wie gewöhnliche Männer und Frauen.
Selbstmord bot ihr keinen Ausweg. Sie wusste,
dass sie zu vorgeschritten war, um irgendwo Ver­
gessen zu finden. Der Tod ko nnte ihr keine Ruhe
bringen ; sie musste ihre Erinnerung m itnehmen und
von neuem in ihr erwachen, wie die Menschen am
Morgen in das Elend neuer Sorgen erwachen. Und
so sah sie sich durch Aeonen des Daseins fortvege­
tieren, leer, hoffnungslos, herzlos ; denn was war da,
um den Horizont auszufüll en ? Was war da, es zu
erhoffen ? Wen gab es zu lieben ? Niemand � Nichts !
So ' lautete beharrlich ihre Antwort, - eine fremde
verlangte s i e nicht ; sie be fragte die eigene Seele
und fand da Bescheid. Mit niemand wünschte sie
zu reden, nicht einmal m it Iwan, denn sie konnte auch
davon sich keinen Trost versprechen. - Arme Ftita !
du kostest nun die ganze Bitternis und Verzweiflung
des Missl i n gens.
l J nd gerade Trost war es, was ihr fehlte !
Schmachtete nicht ihr ganzes Wesen darnach ? Aber
es gab keinen für sie. Sie sah sich weit zurückver­
setzt und auf gleicher Linie mit den stoischen Philo­
sophen. Was für eine kalte, unleidliche Unnot war
Leben in solcher Auffassung !
Die Minuten verrannen so traurig und jammervoll,
dass jede eine wahre Ewigkeit schien. Zuletzt jagte
es sie auf, sie konnte d i e Ruhe nicht m ehr aushalten
und begann wie toll das Zi m m er zu durchmessen,
auf und ab, auf und ab. Wie lang war's her, dass
sie so nicht m ehr gelitten hatte ? Nicht wieder seit
j enem Blumenleben dazumal, seit der Zeit von Blüte
und Leid unter den wilden A prikosenbäumen. Sie
328 Die Blüte und die Frucht. XXXIII.

war immer noch so blind, so voll SehnP.n, voll wilden,


sinnlosen Tatendrangs, wie damals. Waren sie denn
für nichts, ihre langen , schrecklichen Lehrjahre ?
Alles umsonst ? -· Sie wollte verzweifeln vor diesem
Gedanken, und ihre Hände pressten sich krampf­
haft aneinander. Wenn so, dann wahrhaftig blieb
keine Wahl. Wahnsinn war dann König , Hölle
das Reich.
\Vir alle lernen m it dem Schwinden des biss­
chens Lebenszeit auch die tödliche Angst und hoff­
nungslose Verzweiflung kennen, wie sie sich an
persönliche Liebe heften. An uns alle tritt früher
oder später der überwältigende letzte Schmerz her an,
die letzte qualvolle Erfüllung, wenn die persönliche
Liebe auf immer der Seele genommen wird. Flita war
n i cht unwissend, - sie war blind ; denn die Mauer,
gegen die sie anlief, hatte weder Durchlass noch Lücke.
Aber unwissend war Flita nich t ; sie verstand die
Prüfung, in der sie sich befand, und kannte deren
Natur, ja dieses Wissen gab gerade den schärfsten
Stachel hinzu, die eigentliche Marter. Denn Flita
w usste, h i elt s i e nicht aus, so sank sie in die Leere
u n d Finsternis gewöhnlichen menschlichen Lebens
zurück. Sie wusste sich vor der Pforte der Initiation,
und da darf keines stehen bleiben, - es muss hin­
durch oder zurück.
Und Flita - Flita die Starke verzweifelte an
sich. Sie war den Qualen nicht gewachsen, - sie
hatte die Stärke nicht.
Sie dachte zurück, an Hilary Estanol. Hätte sie
ihm zu l eben vermocht, auch nur in dem einen
Leben ? Unmöglich ! Sie wäre des Liebeszwangs in
der ersten Stunde überdrüssig gewesen. Aber auch
Die B l üte und die Frucht. XXXIII. 3�9

i hn hätte sie nicht glücklich m achen können, so un­


ermesslich war der Abstand zwischen ihnen. Wozu
nu r daran denken ? sie wusste es doch ! . . . Otto
- nein � noch weniger. Nun schweifte ihre Seele
zurück zu Iwan, und plötzlich fielen ihr Etrenellas
Worte ein :
,Du m usst zum Tor der Hölle gehen, um ihn
zu finden. '
Wohl, da war sie j etzt ! Aber wie verkehrt
hatte Etrenella herausgeredet � Sie Iwan retten ? -
wie töricht � Als ob er auch nur einen Augenblick
sie zu lieben vermocht hätte, - sie selbst, nicht
bloss die Schülerin. Und doch, was sollte die Ge­
stalt, die ihr mit ihren Verlockungen so m asslos zu­
gesetzt hatte ? War es nicht Iwan ? Nein, ant­
wortete sie sich, ein Phantom war es, eine Ausge­
burt ihrer eigenen Leidenschaft. In dem Sinne,
j a, m o chte alles von Etrenella Prophezeite wahr
sei n ; diesen abscheulichen Moment hatte sie ihr v or­
hergesagt. Und eher als nicht war die Hölle, die
sich jetzt vor Flita auftrat, ebenso ein Phantom wie
I wans Bild �
»Heiss sie we-ichen<(, sagte eine sanfte Stim m e,
»und sie wird verschwinden, wie Iwans Bild ver­
schwand.«
Flita erkannte die Sti m m e , die sich so traulich
anhörte und die sich ihr nun schon zweimal in
ihren bittersten Nöten zugesellt hatte. Ohne i h re
Lage zu ändern oder hinzusehen erwiderte sie :
'j) \Vie aber sollte ich meines Meisters Seele
retten ? Das ist doch jedenfalls eine Lüge gewesen ?«
»Nim m deinen Mantel und geh, wohin ich dich
führe«, lautete die Antwort.
330 Die Blüte und die Frucht. XXXIII.

Flita gehorchte. Ihr Mantel lag n o ch, wo sie


ihn hingeworfen hatte, nachdem sie ärgerlich, einge­
sperrt sein zu sollen, ins Zim m e r zurückgekehrt war.
Sie nahm ihn um und schickte sich an, mit ihrer
Führerirr zu gehen, aber es war niemand sichtbar.
Im ersten Augenblick war sie betroffen und zauderte,
doch gleich hatte sie ihr Wissen wieder in der Ge­
w alt ; sie wusste, dass sie einfach ihrem Instinkte
zu folgen habe.
So verliess sie das Zimmer und gelangte vom
n ächsten aus auf die breite Stiege. Das grosse Tor
stand offen ; sie ging hindurch und befand sich nun
i n der Haupthalle des Schlosses. Auch da waren
die Türflügel nur ang elehnt. Sie begab sich hinaus
in s Freie.
Hier war sie noch m als in Verlegenheit, welchen
Weg sie wählen solle . A ber sie hatte Willen ge­
nug, um den unbestimmten Wunsch nach einer
Führung zu beherrschen und sich z u zwingen, ihrem
eigenen geistigen Instinkte zu gehorchen. Es war
spät am Abend und die Sterne schienen ; sie schaute
zu ihnen hinauf und über die dunkle See. -
\Velche Trostlosigkeit i n der Schönheit der Natur
l iegen kann, weiss nur, wer wirklich gelitten hat.
Sie lief über den Grasboden weiter, entschlossen,
ihre Füsse den \Veg finden z u lassen und kraft ihres
Willens ihr Gemüt zu beschwichtigen. Auf diese
'
Art hatte sie Iwan in der fremden Ge gend aufge­
funden. Auf die nämliche hatte sie ihn wieder aus­
findig zu machen ; n ur schien es diesmal um ein
kleines schwieriger, s ich zur Aufgabe zu zwingen,
denn ihre ganze Seele war in Aufruhr.
Wenige Schritte brachten sie zur Pforte von
Die l3lüte und die Frucht. XXXIII. 331

Iwans Behausung. Sie trat ohne Bedenken ein, denn


die Türen standen offen. An der Schwelle eines
erleuchteten Zimm ers machte sie Halt und blickte
verwundert auf die Szene vor ihr. Der Raum schien
voller L e ute, so lebendig wirkten die Figuren an
den Wänden. Iwan sass vor einem breiten Tische,
auf dem nichts lag als eine grosse, aufgeschlagene
Karte. Flitas okkultes \�lissen, das ihr nicht gänzlich
verloren gegangen war, erwachte i n der mystischen
Atmosphäre, die sie hier umgab. Iwan studierte
über die Karte gebeugt weiter und besah sich zwischen­
hinein die Figuren ringsum. Sie wechselten von
Zeit z u Zeit d ie Erscheinung, und Flita merkte gleich,
dass sie für I wan dasselbe waren, was für sie einst
die Puppe ihres Laboratoriums. Sie selbst hatte
nie die Macht besessen , mehr als j ene eine zu diri­
gieren, wennschon sie mehrere Persönlichkeiten der
Reihe nach auf sie übertragen konnte, während sie
nun hier I wa n eine grosse Anzahl Personen zugleich,
durch ein und denselben magischen Prozess, beein­
flussen sah. Nur wenige Augenblicke merkte sie
auf und schon hub ihr Herz rascher zu schlagen _an,
denn sie nahm wahr, mit welch ge waltigen Einsätzen
er spielte. Die Figuren w aren zu Köni gen, Prinzen,
Kaisern, Diplom aten, Grössen der Politik geworden.
Das Geschick Europas und i n der Folge das des
ganzen zivilisierten Erdenrunds schien in dieses
Mannes Hand zu liegen , oder vielmehr in der
Macht seiner Gedanken. Flita blickte abwechslungs­
weise von den Wänden auf die Karte und fand
heraus, dass der Mittelpunkt des gesamten Dramas,
das eingeleitet wurde, das Kloster in ihres Vaters
Waldungen war. Dieses sollte geschützt werden,
332 Die B l üte und die Frucht. XXXIII.

sollte machtvoll und v erborgen bleiben, und zu dem


Ende v erheerte Krieg ganze Länder ! Das Schau­
spiel in seiner naturh aften Eindringli chkeit erfüllte
i h re Seele m i t Mitleid und l i ess sie einen Wehelaut
ausstossen . Iwan wandt e s i ch um und schaute sie an.
» 0 h ab Erbarm en !« rief sie. )) Was verschlägt
denn äusseres Sch i cksal dem Orden , und wie
viel gilt es diesen armen Bedauernswerten, diesen
Massen von Menschheit, die kein Leben haben ausser
i n der Mensch heit ?«
Nun flog ein Lächeln ungewöhnlicher Milde über
Iwans Gesicht.
»Mein Kind«, sagte er, »lerne verstehen, dass
der Orden auf Erden und in seiner m enschlichen
Form einzig z um Heile dieser Massen da ist, nm sie
vor einer Finsternis und H ilflosigkeit zu behüten,
die schlimmer wäre als die Hölle. Also ist es nur
b i llig, dass sie ihr Leben hingeben, damit der Orden
in seiner S ichtbarli chkeit von einer G eneration zur
andern erhalten bleibe. Ist es nicht so ?«
»Ja«, gab Flita widerstrebend zu, »aber es ist
fürchterl i ch , diese Leiden zu sehen ! diese toten
Menschen, die gebrochenen Herzen, die verwüsteten
W ohnstätten. 0 Meister, hab Erbarmen !<<
»Ist dein H e rz j etzt leer ?«
»Nei n ! « schrie sie auf, ganz von ihren Gedanken
eingeno m m en. »Es kann n i cht l eer sein , bis ich
diesen da geholfen habe. Meister, lass mich ihnen
h el fen � Weise mir den vV eg k<
»Folge m i r auf dem meinen«, antwortete Iwan.
»Es gibt nur diesen. Hilf ihren Seelen, nicht den
Leibern . Tu die Täuschung weg, die dich jetzt noch
trügt, den Irrtum, der mich dir herzlos und grausam
Die Blüte und die Frucht. XXXIII. 333

erscheinen lässt, weil bei mir Blick und Wissen


weiter reicht, als bei dir, und mit grösseren Zeit­
abschnitten rechnet. Streife diese Einbildung ab,
wie du die andern abgestreift hast, - ist ja doch
deine Hölle bereits verschwunden vor der grossen
Liebe zu den Menschen, die in deinem Herzen auf­
gegangen ist ; leg auch sie vollends ab und ver­
suche, mir zur Seite zu stehen. Wirke für den Geist
der Menschheit, nicht für das Wobibefinden ihrer
einzelnen Glieder, und d u wirst dich als ein Teil
von ihr, und dann nie mehr allein und liebeleer,
wiederfinden. - Stimmst du ein ?«
))Ja«, sagte sie sinnend. Und gleichzeitig ward
sie gewahr, dass ausser Iwan und ihr noch andere
in dem Raum waren. Mit Zittern und Beben schaute
sie u m -: da waren sie, die blassen, leidenschaft­
freien Gesichter der Brüder des Weissen Sterns.
Wie schön sie waren, wie liebevoll !
))Morgen nacht« , sprach hvan , ))Wirst d u die
Halle des Lernens betreten. Du hast die Berechtigung
erlangt unct die Macht erworben. Geh zurück i n
den Schutz deiner Zelle u n d denke nach. Ziehe
hin im Frieden k<
Alsbald verliess Flita das Gemach und wanderte
langsam zurück.
Wie nahe schienen die Sterne ihr jetzt ! Wie
stille die See !
334 Die niüte und die Frucht. XXXIV.

XXXIV.

Es war eine Nacht des Friedens für Flita, wie


s i e seit langem keine geh abt hatte. Sie legte sich
auf dem Tigerfell in der Ecke des Gespensterzim m ers
n ieder, dieses Zimm ers, das einer der Gegend nicht
um ein Königrei ch nach Einbruch der Dunkelheit
allein betrete n hätte, und sch l i e f wie ein m üdes
Kind.
Als sie erwachte, graute der Morgen, und däm­
m eriges H al bl icht drang durch die breiten Fenster
ins Gem ach . Inni ges Woh l wo l l e n und ein Ahnen
von Zusamm engehörigkeit erfüllte ihr H erz. Welch
w underbare, herrliche Sache war das L eben, wenn
e s so ganz und gar Liebe ge worden. Sie musste
über ihre eigene Glückseligkeit staunen und suchte sich
deren Ursache klar zu machen. A l sbald sah sie
unzählige M enschengesichter, die eben erst gestreift
vom Morgenlicht sich la ngsam dem Leben des Tages
z u wandten. Scharen v o n Männern und Frauen zogen
an i h rem Bewusstsein vorüber, Arbeitsleute, B ettler,
Handwerker j eglicher A rt ; auch Könige, Königinnen,
Räte kam e n und gingen, ersch ienen aber schwächer,
denn sie hatten n icht die gleiche Kraft, die Vielzahl,
h i nter sich, nicht die angesamm elte Kraft jener
Typen, die in k aum merklichen Spielarten endlos
wiederholt und vervielfältigt w e rden. Und das
war's gerade, das Einerlei, das Aehnliche, Ameisen­
h afte dieser Mengen, was Flita anzog und fesselte
und ihr H erz in einem neuen, i h r bisher unbekannt
Die Blüte und die Frucht. XXXIV. 335

gebliebenen Gefühl erwärmte . Bilder aller Art


treten der Reihe nach vor ihr inneres Gesicht,
Häuslichkeiten mit schlafenden Kindern, Näherin nen,
die i n der Morgenfrühe mit erm üdeten Augen auf­
stehen, um wieder einen Tag zu beginnen, der d e m
gestrigen so ähnlich i s t wie j edes d e r Mädchen d e m
nächsten . . . Männer, d i e b e i m ersten Morgenstrahl
aus schwerem Schlafe sich erheben, um trupp­
weise sich aufzumachen und an die harte Arbeit z u
gehen, Lasttierarbeit, aber ganz angemessen u n d be:­
friedigend für ihre noch nicht erwachten Naturen.
Männer, die unter der Erde, in Gruben, ihre Arbeit
verrichten, unter Gnomen und Salamandern, und
so wenig von der Freude des Sonnenscheins wie
von den Strahlen des Geistes wissen . . . Die un­
gezählte Klasse M enschen, die über die ganze Welt
hin in den Kaufläden und Schreibstuben ver­
wendet sind, beschäftigt mit Waren und Geld, An­
gestellte ohn e Ehrgeiz, alle einander ähnelnd, findig,
aber ohne Wissen, mit schlafenden Seelen . . .
Frauen, die auf den Strassen der Grassstädte leben
und in den zahllosen Häusern, :wo das Laster
wohnt ; Frauen, unter sich noch gleichartiger als
die Männer der Städte und in nur drei oder vier
Typen, j eder aber in Millionen von Individuen, die
sich gleichen wie die Erbsen aus ein und derselben
I
Schote . . . Männer und Frauen im Reichtum und
Ueberfluss, die nichts l eisten, sondern unablässig
auf Genuss und Vergnügen aus sind, - auch da,
wie viele Tausende ! und so unbed e utend vonein­
ander verschieden, und so klein und beschränkt das
Feld, auf dem sie ihre Freuden suchen ! 0 dieses
grosse, wogende Meer m enschlichen Lebens, was
336 Die r.Iüte und die Frucht. XXXIV.

wäre das eine gewaltige, riesige Kraft, wenn sie


einmal erwacht, einmal verständig, unpersönlich,
e i nheitlich wären, in Erkenntnis ihrer geistigen Würde
u n d Absich t ! >>leb sehe es ! Ich sehe es !« rief
Flita aus. »Ich sehe deine Macht, deine Möglich­
keiten, du menschliche Rasse, von der ich ein so
winziger Bruchteil bin. Lasst's m i ch euch sagen,
lasst mich euch wachrufen, euch h elfen, für euch
arbeiten l <<
Sie sprang auf, beseelt von einer Fülle neuer
Tatkraft. Es war h eller Morgen geworden, der Tag
hatte begonnen, und auch ihr Tagwerk musste be­
gmnen. Sie wusste noch nicht, in was es bestehen
w erde ; das aber wusste sie, dass sie bereit sein
musste. Alle Mattigkeit hatte sie verlassen, es
w ollte scheinen, für immer. Sie gin g ins anstossende
Zimmer und stieg in das einladende Bad, das sie mit
eiskaltem Wasser füllte. Die Erfrischung lieh ihr
einen Frohmut, als wäre ihre Jugend wiedergekehrt.
Sie lachte bei sich selbst ob dieser Idee. Sie konnte
die Jugend nicht m ehr verlieren, denn die menschliche
Rasse ist immer j ung, so gut wie alt ! Das war der
G e danke, der ihr so gefiel. Denn, wahrlich, was
konnte es ihr ferner ausmachen, ob sie j ung oder alt,
schön oder unschön war, nachdem sie . gesehen, dass
all das gleichwertige Anteile des menschlichen Lebens
sind, Kräfte in der menschlichen Natur. Und dieser
Gleichmut, diese erweiterte Perspektive trug in ihre
Züge einen neuen Ausdruck ; es war nicht Jugend
und Schönheit, auch nicht Alter oder Krankheit,
sondern etwas nicht zu Beschreibendes, dauernder
als alles das.
»Es ist gut«, sagte sie zu sich selbst. »So brauche
D i e Blüte und die Frucht. XXXIV. 337

ich nicht länger Magierin zu sein, noch mich zu


mühen, an mir selbst oder an andern Wunder zu
wirken. Denn, bin ich schwach, was ist dabei ?
Ich schwimme im grossen Strome des Lebens mit,
und Schwäche kann ebenso edel genützt werden
wie Stärke.«
Als sie das Zimmer verlassen wollte, sah sie sich
unerwartet einem grossen Spiegel gegenüber. Einige
Augenblicke blieb sie mit zusamm engezogenen Brauen
einigermassen betroffen stehen. Sie erkannte sich
zuerst kaum m ehr, so verändert war ihr Gesicht.
Das Glänzende war weg, und an dessen Statt trug
es nun die Ruhe der ägyptischen Statuen zur Schau.
Nachdem sie sich lange und ernst geprüft , glitt ihr
Blick herab auf ihren Anzug. D a erst kam ihr zum
Be wusstsein, welch eine schwere Probezeit sie durch­
lebt und wie abgeschieden sie während der letzten
Stunden Einkehr bei sich selbst gehalten hatte.
Denn sie konnte sich nicht entsinnen, für wen sie
das schwarze Kleid trug. Nebelhafte Erinnerungen
aus verschiedenen Leben eilten an ihr vorüber, da
sie Liebhaber, Gatten, Kind verloren und d ieses
leidige Schwarz getragen. Wer war es diesmal ?
Weiche Kümm ernis hatte ihren Verstand ums Gleich­
gewicht und sie u m ihr Gedächtnis gebracht ? Wie
sie sich so anschaute und besann, blieb ihr Blick
schliesslich an ihrem hilflosen und verstümmelten
Arme haften. Da fiel ihr die Schlacht wieder ein,
und wie sie sich die Verletzung zugezogen h atte .
»Ich bin Flita !« rief sie aus »Nun erinnere ich
mich meiner und der dunkeln Tragödien, die ich
durchlebt.«

22
338 Die Blüte und die Frucht. XXXV.

XXXV.

S ie trat aus dem Schlosse und schritt über den


freien Platz zum Dam enweg, wo sie Iwan bei ihrer
Ankunft getroffen hatte. Der Ort war überaus ein­
sam, aber die Sonne machte ihn einladend. Flita
ging m it langsamem, bestimmtem Schritt auf u n d
und ab, i n Gedanken vertieft.
>>Wozu aber denken ?« rief sie plötzlich und
hielt im Gehen inne. ))Hab ich j e durch Denken
etwas gelernt oder erreicht ? Nein, eine erhabenere
Warte m uss ich finden ! «
S i e verliess d e n Weg und stieg l ange Fluchten
in die Riffe gehauener Staffeln hinunter, die sie bis
hart an die See brachten.
0 der magische Zauber des Morgens mit seiner
Frische und Würze, seinem klaren Licht ! Kindlich
froher Jubel erfüllte Flitas Herz beim Frühgruss der
See. Sie trat dicht zu dem Sau m e der Wellen ,
folgte vergnüglich ihrem Spiel u n d vergass allen
K ummer, alle Sorge um sich und andere, in der
Seligkeit des Augenblicks. Da schaute sie einmal
auf und gewahrte, dass jemand über den Felsschroffen
schritt, eine schwarze, hagere Gestalt, die hierher,
zum heiteren Sonn enschein, nicht stimm en wollte.
Und plötzlich erkannte sie Amyot in seinem Mönchs­
gewande. Ganz natürlich, dass er hier war ; Iwan
war ja da.
>>Mein armer Dien er«, klagte sie, ))ich hatte ihn
vergessen.«
Die Blüte und die Frucht. XXXV. 339

Sie kehrte zurück zu dem Gestäffel und stieg


hinauf. Oben sah sie sich um, auf dem sonnenhellen
Pfad, und konnte anfangs Amyot nicht finden, bald
aber entdeckte sie ihn auf der Aussichtsbank. Sie
ging rasch hin und setzte sich neben ihn, aber der
Mönch beachtete sie nicht.
))Rede m it mir«, sagte sie zutunlich.
Er hob den Kopf und wandte ihr sein mageres
Gesicht mit den eingesunkenen Augen zu.
)) Was soll ich sagen ?«
))Hast du kein Wort des Willkomms ?«
))Keines. Ich kenne dich nicht länger, du bist
eingegangen, ich stehe noch immer aussen.«
))Soweit ist es noch nicht«, w ehrte Flita. ))Ich
bewerbe m ich noch. Z wei Seelen, hiess es, müsse
ich mitbringen , an jeder Hand eine. Jetzt bin
ich belehrt , dass dem nicht so sein kann , dass
diese Täuschung nur ein Kniff war, u m mir und
andern neue Fesseln anzusch mieden. Aber m uss ich
wirklich ganz allein hinei n ? Du solltest mit mir
gehen, z u meiner Rechten, als Sohn der Brüderschaft,
erlöst durch eigenes Wissen, eigenen Wahrheitstrieb.«
))Das kann nicht sein«, entgegnete Am yot. ))Ich
bin müde , ich w ünsche es nicht. Ich habe der
Brüderschaft ehrlich gedient, aber ich kann ihr jenes
Letzte nicht geben , den Kern m einer Seele , das
Selbst, das mir zugehört. Nein, ich vermag's nicht.
Flita, du bist ein Kind im Weltleben neben mir.
Dennoch bin ich dein Diener gewesen, und mehr
bin ich auch jetzt nicht. Ich bin zu stark für einen
Erfolg in eurem Streben, zu stark.«
))ZU stark ? Unmöglich !<( warf Flita dazwischen.
))Und doch wahr«, erwiderte Amyot wehmütig.
340 Die Blüte und die Frucht. XXXV.

»Ich bin so angekettet an dieser Welt, bin so


durchsetzt mit ihrem Element, dass ich von ihr nicht
ohne unüberstehlichen Kampf, der 3chlimmer wäre
als jede Art von Tod, loskommen könnte. Ich habe
das Menschenmögliche getan. Als ich fand, dass
ich mich durch kein anderes Hilfsmittel dahin bringen
konnte, die notwendigen Gesetze des Lebens zu
befolgen und die nötige V ertiefung zu erlangen,
weihte ich mich dem Dienste der Religion. Redlich
habe ich da gedient. Ich, der ich verloren bin, habe
Seelen ohne Zahl gerettet, das Werk der Brüder­
schaft in der Welt gewirkt. Ich, der ich das voll­
brachte, bin jetzt von der Welt v erschlungen.
Wahrlich, es ist nutzlos. Dieses Leben, in dem ich
Sühne gesucht und dieses Kleid getragen habe, ist
tadellos ge wesen und hat mir nur Leiden gebracht.
Aber die Finsternis der Vergangenheit lastet noch
auf mir. Ich kann ihr nicht entrinnen. Weisst du,
warum du heute nacht eintreten sollst ?«
»Nein«, erwiderte Flita, einigermassen überrascht
von der unverm ittelten Frage.
)> Es ist Jahresanfang, der Vollmond des Anfangs.
Es ist das siebente Jahr von sieben Jahren, das
siebenundzwanzigste von siebenundzwanzig. Weisst
du, wie alt du bist ?«
Flita erhob sich unversehens und lief, ohne zu
antworten, den \Veg hinunter.
Hier, unmittelbar vor ihr, stand Iwan. Es lag
etwas in seinen Mienen, was ihr Ehrfurcht und
S chweigen gebot, etwas Ueberlegenes, dermassen
Uebermächtiges, dass sie ein Zittern befiel, so bangte
ihr vor der Betätigung der Kraft, die sie in ihm
wahrnahm. Er redete sie sofort an.
Die Blüte und die Frucht. XXXV. 341

>>Amyot hat recht, aber du hast nicht das Recht,


ihn anzuhören. Du bist es nicht, die ihm helfen
kann, einer der Eingeweihten zu werden. D u ! Wie
bist du deiner Bestim m ung gerecht geworde n ?
Nach Zeitläuften der Erniedrigung, in denen du u m
magische Kräfte deine Seele verschachert hast, bist
du nicht tauglicher, andern zu helfen, als zu Beginn,
da d u auf diese Erde kam st, ein wildes, un wissendes
Geschöpf. Du bist stark, Flita, aber wie Amyot
bist du zu stark. Er jedoch ist ein A userwählter
und wird behütet und bewahrt bleiben, weil er
nicht M acht will zu seinem eigenen Gebrauch, son­
dern nur um zu helfen. Anders du. Du hast
Fühlung gehabt mit dem erhabenen Orden des
Weissen Sternes, mit der Brüderschaft, die nur der
Menschheit zuliebe da ist, hast aber so der Herrsch­
sucht gefrönt, dass du, um Gutes zu tun, stets zum
Ueblen gegriffen hast. Ist es nicht so ? War dir
nicht unzählige Leben hindurch deine Macht über
Hilary Estanol so wert und teuer, dass du sie nicht
missen konntest ? Verliehst d u dir nicht Schönheit
und verführerische Reize, u m Liebe in seinen Auge n
zu lesen ? Als d u d a n n seiner und seiner Schwäche
für dich überdrüssig warst, hast du ihn immer noch
behext, u m die Genugtuung seiner Liebe zu em­
pfinden ; und das noch, als d u selber längst nicht
mehr eine Kreatur zu lieben vermochtest und i ch
deine Seele schon durchaus von Leidenschaft ge­
reinigt hatte. Wahrlich, Flita, allein dieser Hunger
nach Macht war dein Verderben. Warum hast du
nicht die W eisse Brüderschaft zu Ottos R ettung an­
gerufen, anstatt die A ufgabe dir allein vorzubehalten ?
D u warst wieder deinen alten Zauberkünsten v er-
342 Die Blüte und die Frucht. XXXV.

fallen, die du in den finstern Tagen ausübtest, als


ihr beide, du und die Etrenella, m itsammen eure
Frevel aush ecktet. Zauberin � Hexe ! Zur Erlösung
glaubst du Otto verholfen zu haben ? D urch solch
v erderbliche, brutale Formeln und Kräfte meinst du
den göttlichen Geist zu fördern und seine Befreiung
zu erleichtern ? Niemal s ! Erwache aus deinen
Täuschungen ' Noch immer bist du Weib und kannst
dich der Liebe zur Macht und zum G enuss, d en Ge­
setzen, die das Leben der Geschlechter regieren,
nicht entziehen. D u liebst nicht mehr wie die andern
Frauen, aber bist du darum schon besser ? Keines­
wegs ; nur auf eine h öhere Ebene hast du das ge­
schlechtliche Treiben übertragen und hast so dich
schwerer versündigt, als wenn du es auf der ein­
fachen Stufe der gewöhnlichen menschlichen Natur
b elassen hättest. Die gewöhnlichen Leidenschaften,
unter deren Eintluss Mann und Weib stehen, bist
du los ; aber ist der Wunsch, zu herrschen und zu
reizen, zu be zaubern und zu gängeln, irgend dadurch
lobenswerter geworden ? Du trägst die göttliche
Vorausset zung in dir, die Stärke und Selbstkraft des
Okkultisten, ·- ist es möglich , dass du den Schla m m
nicht ge wahrst, in dem d u noch watest ? Raffe
dich auf, blick em por nach dem göttlichen Bewusst­
sein, beachte die Vision der Menschheit, wie ich sie
d ich schauen liess. Nicht an eine einzelne Person
denke, oder an einzelne Personen, sondern an alle
M enschen ; vergiss, dass du Weib bist mit der Gabe,
zu bezaubern, vergiss, dass du Magierirr b i st und
das Szepter der Macht führst. Du weisst, dass
Zauberei in einer Reihe steht m it den Händeln des
Geschlechts ; sie ist selbstisch, will besitzen, alles das
Die Blüte und die Frucht. XXXV. 343

verstärken, was persönlich h eisst. Das weisst du


längst, hast es vor Zeiten schon von mir gelernt.
Und dennoch diese Torheit ! Was du noch immer
nicht gelernt hast, das wird jetzt Hilary Estanol
lernen, dank der Wunde, die du ihm geschlagen,
als du i·hn von dir stiessest. Er wird nicht wieder
lieben, ni cht länger etwas für sich haben und fest­
halten wollen. Er ist frei. Die Erfahrungen des
Geschlechtes hat er zu Ende gelebt ; die Blüte ist
abgefallen. Für ihn gibt es keine Täuschung mehr,
kann es keine geben ; deine Herzlosigkeit hat seine
Seele für im mer befreit davon. Es ist vorbei. A b er
er hat die Frucht gefunden. Seine Seele ging durch
den Schmelzofen, sie ist milde, zart, zur höchsten
Selbstlosigkeit bereit. Ja, als du es am wenigsten
wusstest, l1 ast du ihm seme Erlösung gebracht.
Nun kann er nicht mehr leiden von deinea Händen ;
die Knechtschaft, der er vor langen Zeiten verfiel
dort im Haine der wilden Aprikosenbäume, als er
dich zum ersten Male lieb te und du ihn deine
herrische Macht fühlen liessest, - diese Knechtschaft
hat ihr Ende. Wohl leidet er noch wie i n physischem
Schmerz, so heftig ist seine Verzweif1ung, aber er
öffnet seine Seele der göttlichen Macht, und wiederum
geboren, um die Arbeit von neuem aufzunehmen,
wird er sich stark finden und ruhig, nicht l �iden­
schaftlich mehr ; er wird nicht länger ein Mensch sein,
sondern ein göttliches V/ esen, unbeteiligt, gleich­
mütig, unselbstisch, allliebend, bereitet für meinen
Dienst. Und du ? Amyot hat dir gesagt, dass der
heutige Tag angezeichnet ist in deinem Leben.
Heute musst du die Wahrheit schauen und das
Blendwerk von deinen A ugen tun.«
344 Die Blüte und die Frucht. XXXV.

Zitternd und bebend wankte Flita einen Schritt


zurück. Welches Blendwerk d en n ? War denn
noch etwas übrig geblieben ? Eine A eusserung war
ihr erspart, denn Iwan fuhr fort :
))Du sollst diese Nacht die Halle des Lernens
betreten. Ja : aber nich t ehe d u die Bedi ngungen
erfüllt hast. Du wirst sie erfüllen, i ch weiss es ;
denn trü gest du nich t die Kra ft dazu in dir, s o
h ättest d u längst meine Hilfe und den Schutz des
Weissen Sternes verloren . Heute mit Sonnenunter­
gang trittst du vor die Entscheidung ; die Uhrtafel
dort wird dir den Augenblick weisen, wann du sie
z u treffen hast. Neigt sich die Sonne zum Unter­
gang, dann kannst du, falls du dies Teil erwählst,
die Halle betreten und wahrhaftiger Schü ler der
göttlichen Lehrer werden. Aber dein Geist m uss
frei geworden sein. leb werde dir n i cht beistehen,
m ich wirst du nie m ehr wieder sehen, weder i m
Fleisch e n o c h i m Geist. D u m usst aus eignem, freiem
Willen m e iner Hilfe und Führung entsagen . D u bist
Magierin und h ast es in der Hand, dir ein Abbil d
von m i r zu m ach en, das a n meine Stelle tritt. Lass
allen solchen Trug ; rciss die Verehrung für m ich
aus dem Herzen und b efre i e m ich von ihr. Mich
tuft es anderswohin, i n e i n ander Leben, d u aber
m usst dich frei willi g und ganz und gar von mir
trennen. Du m usst für i m m er deine Liebe zur Macht
aufgeben und deinem Tnnern fei e rlich znschwören,
nie m ehr deine Kräfte z u eigenen Zwecken zu ver­
w e n den. Aus freien Stücken musst du das tun.
Wiederh o l e dir in deinem G ei ste die Reibe der
Täuschungen, d enen du dich ausgeliefert hast. Be­
trachte deine letzte, die spitzfindi gste von allen, in
Die Blüte und die Frucht. XXXV. 345

der du dir die Hoffnung eingabst, demnächst meine


Verbündete und Gehilfin zu werden, u m mit mir
die astralen Pfade für die spätere Menschheit sicht­
bar z u erhalten. Diese Erfahrung half dir auf die
Idee unpersönlicher Arbeit, und deshalb l iess ich sie
dich erleben. Wenn aber auch dein Geist rein genug
war, dem lügnerischen Afterbilde von mir z u wider­
stehen, - warst d u auch fest genug, den letzten
Tropfen des süssen Giftes aus dem Kelche deines
Herzens wegzuschütten ? Blieb nicht noch das
h e imlich gehätschelte Gefühl , du werdest n icht
gänzlich allein sein ? du dürfest, wenn nicht be­
wundern und lieben , mir wenigstens dienen ? Rotte
sie aus, diese Lügen, Flita, mit Stumpf und Stiel
reisse sie aus ! Du musst vergessen, dass du Weib
bist, ja selbst dass d u Person bist. War nicht der
Traum, d u müssest zwei andere Seelen retten und
mit dir zur Halle bringen, ein neuer Ausfluss deiner
Machtsucht ? Wer hatte sie dir erteilt, diese Weisung?
War's nicht deine eigene herrschgierige Seel e ? Ein
feiner Kitzel - nicht wahr ? - für deinen Eintritt
zu bezahlen , an der Schwelle als Handgeld den
A usweis deiner Macht über andere abzugeben. 0
Flita, sei ehrlich gegen dich selbst ! A ls ich eben
kam, standest du vor einer n euen Torheit. Hatten
nicht Amyots traurige Worte dich in Versuchung
gebracht, zu glauben, i n ihm könnest du eine der
zwei Seelen finde n ? Toll e Narrheit ! Durchrieselten
dich nicht die Wonnen einer neuen Glorie, einen so
Vornehmen , wie Amyot , zur Halle geleiten zu
können ? Fass dir den M ut und sieh der Tatsache
ins Gesicht, dass du, für dich, nichts bist, dass du
nur ein Bruchteil bist, getrieben von der Hochflut
346 Die B lüte und die Frucht. XXXV.

der gewaltigen Mächte, die über der Welt schweben.


Ein Teil bist du von ihnen, in deinem innern Selbste
bist du's, und kannst nie ganz von ihnen getrennt
und fallen gelassen werden. Aber du hast dich
Bruchstück bleiben lassen, anstatt Baustein zu werden.
Werde ein Baustein, löse dein Wesen in der unend­
lichen Liebe auf, und es wird dir wie ein Sterben
vorkommen ; aber das Wiedererwachen wird eine
W iedergeburt sein, dergleichen d u noch keine er­
fahren hast. Denn du w irst dann nicht m ehr die
Kraft sein des einen armen menschlichen Wesens,
- arm, ja wahrlich, ob du auch Magierin bist, -
sondern die Kraft des uralten B e wusstseins, das
die Welten schafft. Komm herauf, Flita, in deine
göttliche Heimat ! D ie schwarze Kraft, die dich zur
Zauberin machte, soll, übertragen und verwandelt,
die göttliche Kraft mehren und beleben, damit diese
dich göttlich gestalte. Komm ! Aber vergiss dich
selbst, vergiss deine Macht. Sei m utig !
))Bist du bereit ? Bist du willens, mich ziehen zu
lassen, deinen Meister und Freund, und m i ch frei­
zugeben, ohne dass deine Gedanken mich suchen
und zurückwünschen ? Bist du bereit, allein zu sein,
so allein , dass kein Gesicht , keine menschliche
Stimme dir nahe ist, weder u m dich in der Welt,
noch in dir im Bereiche deiner Gedankenwelt ?
Bist du bereit , mich aus deine m Gedächtnis zu
l öschen ? «
Noch stand Flita da, w i e sie zu Beginn seiner
R ede gestanden, den B lick unverwandt auf ihn ge­
richtet, regungslos seit ihrem Wanken, als wie in
Stein verwandelt. Eine Weile noch blieb sie so,
statuenhaft, wie wenn alle ihre Sinne gelähmt w ären
Die Blüte und die Frucht. XXXV. 347

und sie weder sprechen noch sich be wegen könnte.


Plötzlich aber schien sie wieder die Gewalt über
sich zu erlangen ; sie reckte die Hände aus mit ge­
bietender Gebärde : ))Ich bin bereit, und du magst
in dein höheres Leben ziehen. Ich sehe es leuchten
in unendlichem Triumphe. Von diesen strahlenden
Höhen des Denkens und Fühlens, von dieser hehren
Stätte der Selbsta ufopferung müsste es dir wahrlich
schwer fallen, m it einer Verirrten, so mannigfach Be­
fleckten, wie ich noch bin, i n Berührung z u bleiben.
An deiner Schülerin soll es nicht fehlen , mein
Meister - nun n icht länger mein. Ich will dich
vergessen. leb löse jeden Gedanken, j ede Erinnerung
los von dir. Geh hin ! Ich bin bereit.«
Er wandte sich von ihr und ging den \Veg
hinunter. Flita blickte nach , bis er ihr aus den
Augen war. Dann sah sie sich nach Amyot u m ;
auch er war weg. Sie war allein vor See und
Himmel. Sie gedachte der Sonnenuhr und forschte
nach ihr. Es war ein langes Suchen, denn ein alter
R osenbusch hatte den Stein ganz umrankt, und sie
musste seine Zw eige m it ihren Händen wegbiegen.
Sie sank neben ihm auf ihre Kniee ni eder und v er­
blieb so während der lautlosen Stunden des sonnigen
Nachmittags.
Allein. Dieses eine Wort war jetzt der ganze
Inhalt ihres Denkens. Sie konnte sich nicht davon
losmachen, das schreckliche Bewusstsein aus i hrer
Vision nicht entfernen.
Wenn ein starker physischer Schmerz ohne
Unterbrechung anhält , fängt der Leidende an, s ich
dagegen zu wehren, und wenn nichts mehr hilft,
dann kann es ihm gelingen, sich auf eine andere
3-!8 Die Blüte und die Frucht. XXXV.

Stelle des B e w usstseins zurückzuziehen , wo der


Schmerz zum Ertragen ist, und von hier aus w i eder
auf eine Stelle, w o er sich plötzlich in ein Lustge­
fühl v erwandelt. Das ist das ganze Geheimnis des
den Okkultisten geläufigen Mysteriums, dass Lust
und Schmerz dasselbe sind. Beides sind Gefühle,
und einen stichhaltigen Prüfstein, die Gefühle zu
scheiden, gibt es nicht. Was dem einen Freude ist,
bedeutet für den andern Schm erz. \�'äre Flita im
Herzen Magierin gewesen, durch und durch, so hätte
sie die Einsamkeit, die gänzliche Abgeschiedenheit
als willkommene bergende Hülle empfunden. Die
Abgeschiedenheit hätte ihr Raum zu persönlicher
G edankenvertiefung, zum Schmieden und Er wägen
von Plänen gewährt. Aber sie war eben nicht
Magierin im Herzen, sie war Magierin nur ihrer ein­
geborenen Macht und ihrer blinden Unwissenheit
zu folge. Ihr Herz war jetzt weich, voller Liebe ;
n u n wusste sie nicht , wie bei dieser innern L i ebe
i h re äusserliche Vereinsamung vergessen.
Und doch m usste sie vergessen werden. Es
glückte ihr, das Verhalten zu ändern, sich aus dem
Schmerz zurüc kzuziehen und alles z u Empfindung
schlechthin zu machen, die sie sich als Lustgefühl
vorstellen konnte. Schliesslich wurde es Lust. Aber
sie erkannte, es m üsse mehr sein als das. Es musste
nichts sein �
Endlich kam dieses Unbcwusstsein, ganz plötz­
lich. Die Tatsache, dass sie allein, dass �'.lies und
jedermann von ihr gewichen, \Var nichts. Denn sie
sel bst war nichts.
Darnach loderte eine neue Energie in ihrem
vVesen auf. Etwas so Gewaltiges, als ob Jlüssiges
Die Blüte und die Frucht. XXXV. 349

Licht durch ihre Adern flösse statt Blut. Etwas so


Reines, dass jede Erinnerung an das persönliche Selbst
verlöschte. Nun richtete sie sich hoch auf.
»Für alles, was lebt, lebe ich �«
Ihre Stimme schallte hinaus i n die Luft und
erschreckte sie selbst, so glockengleich klang sie.
Flitas Blicke senkten sich und fielen auf die Sonnen­
uhr. - Sonnenuntergang !
Eine Sekunde noch , gross wie eine allherrliche
Ewigkeit, stand Flita stille, ihr G eist, ihre Seele, ihr
Wesen tauchten ein i n ein Nichtbewusstsein. Dann
stürzte sie, mit dem Gesicht nach vorwärts, z u r
Erde, neben dem Rosenbusch, mitten unter die
Blumen.
350 Die Blüte und die Frucht.

Nachwort.

Zwei Monate später besuchte der Verwalter


d e n j etzt wieder verlassenen Witwensitz und dann
das Schloss. Zum ersten Male, solange er hierher­
kam, fand er die Türe zu dem Gespensterzimmer
offenstehen. Er guckte vorsichtig hinein und sah
n ichts als etliche Herbstblätter, mit denen augen­
s cheinlich der Wind eben noch sein Spiel auf dem
n ackten Estrich getrieben hatte. Ein Gruseln befiel
ihn, er verriegelte den Eingang wieder und machte,
dass er fortkam.
Eine unverm ittelte Laune bestimmte ihn, ehe er
die Schlosshalde verliess, den Damenweg drunten
aufzusuchen, um einen Blick auf die See zu werfen .
Z u diesem Blicke aber k a m er nicht, denn w i e er
den Weg betrat, nahm er eine Gestalt wahr, die
unter den Blumenbüschen lag und auf die sich nun
seine ganze Aufmerksamkeit richtete : eine Frau, -
regungslos, reich gekleidet und mit wun derschönem
losem Haare, das über den Erdboden hingeglitten war.
\V as konnte dies bedeuten ? Er fasste sich ein Herz,
ging auf sie z u und berührte sie. Augenblicklich
m e rkte er, dass si e tot war, und mit Schauder und Angst
h o b er ihr den Kopf nach oben. Was für ein Anblick 1
Niemand hätte sagen können, dass das ein mensch­
liches Antlitz gewesen, ausser nach den Knochen .
Wo war Flitas Schönheit j etzt ? Wo war Flit a ?

- E n d e -
Weitere lieferbare esoterische Romane aus dem Ansata-Verlag, Schwarzenburg:

Edward Bulwer-Lytton
ZANONI
Das Hohelied des Opfers
Esoterischer Roman

428 Seiten, gebunden I Schutzumschlag J S .-

Unter den zahlreichen unvergänglichen Romanen Edward Bulwer-Lytton's


( I 80J-I 87J) ist zweifellos der zauberhafteste von allen sein esoterischer Rosen­
kreuzer-Roman ·Zanoni� . Dieser entstand aus des Autors Bedürfnis, seinen
Gedanken um die tiefsten Geheimnisse des Menschenlebens Gestalt zu geben. Seit
über einem halben Jahrhundert wird dieses geistige Hohelied der Liebe und des
Opfers erstmals wieder in einer v o I I s t ä n d i g e n und ungekürzten deut­
schen Übertragung vorliegen.

Mit den Augen der erwachten Seelen gesehen, sind die handelnden Personen des
Romans Verkörperungen der in jedem Menschen miteinander um die Herrschaft
ringenden Mächte. Denn die innere Seite des Romans offenbart uns innerseelische
Dimensionen von bisher unerkannter Aussagekraft. Hier wurden in einer großarti­
gen und leuchtenden Sprache personifiziert : Die Urgestalt des Lichts unseres
tiefsten Seelengrundes -, die unsterbliche Kraft der höheren Erkenntnis -, die sich
himmelwärts sehnende, unsicher zwischen Zeit und Ewigkeit flatternde Seele -, die
erdwärts sich neigende, sinnengebundene Seele -, die Hüterin der Schwelle als
Königin des Totenreiches und schreckenerregender Dämon der Furcht, sowie die
ungeläuterte, frevelnde Neugier einer unerwachten Seele.

In die Handlung hineingewoben wurden die Erkenntnisse und geheimen Lehrsätze


der erhabenen Bruderschaft der Rosenkreuzer: Perlen uralter Weisheit über eine
magisch-mystische Daseins- und Naturlehre, die Geheimnisse um die Herstellung
des Steins der Weisen und des unsterblichmachenden Elixiers, sowie über das
Mysterium der letzten Dinge an der Grenze menschlichen Verstehens.

Von Edward Bulwer-Lytton wird demnächst im Ansata-Verlag erscheinen :


MARGRAVE
Die seltsame Geschichte eines schwarzen Magiers
(Roman)

Verlagsauslieferung für Deutschland :


Verlag Hermann Bauer KG, Freiburg i. Br.
Weitere lieferbare esoterische Romane aus dem Ansata-Verlag, Schwarzenburg:

Dr. Franz Spunda


BAPHOMET
Der geheime Gott der Templer
Ein alchemistischer Roman

2 5 2 Seiten, gebunden I Schutzumschlag 29. 80

Dr. Franz Spunda ( 1 89o- 1 963) zeigt uns in diesem überaus spannenden
esoterischen Roman das verborgene Weiterwirken des berühmten Templer­
ordens in unseren Tagen. Besonders jener dunkle Aspekt in den geheimen
Lehren und Riten der damaligen wie heutigen Templer wird aufgedeckt, der
im vierzehnten Jahrhundert zur grausamen Verfolgung und zum legendären
Templerprozeß Anlaß gab. Es war und ist dies der geheime Bocksgott
»BAPHOMET., jene entsprechende Schattenseite des universellen Geistes,
den die Templer in ihren Mysterien des »linken Pfades<< verehrt haben.

Vincente Laskari, ein Abkömmling des großen Adepten Lascarius ( 1 8 .


Jahrh.), tritt seine sagenumwobene Erbschaft in einem Herrschaftshause in
Florenz an, die nebst wertvollen hermetischen Tagebüchern auch zum lange
ersehnten Auffinden des Steins der Weisen und der königlichen Tinktur
führt. Damit fordern der junge Laskari und seine in den Klauen des Bapho­
met gefangene Geliebte die Machtgelüste der Templer heraus, die sich
ebenfalls mit allen erdenklichen kriminellen und magischen Mitteln um den
heißbegehrten Adeptenschatz bemühen.

In der packenden Schilderung dieses unermüdlichen Ringens, welche auch


die erschreckenden astralen Welten sowie die tiefsten Regionen der menschli­
chen Seele zum Schauplatz haben, offenbart der Autor seine gründlichen
Kenntnisse um das große Magisterium der Alchemie und des lichten Pfades
der allumfassenden Liebe. Dabei verrät · er uns die großen Geheimnisse
alchimistischer und mystischer Weisheiten und läßt uns die grauenvollen
Tiefen, aber auch die lichtvollen Höhen menschlichen Wesens und Wirkens
erahnen.

Von Dr. Franz Spunda wird demnächst im Ansata-Verlag erscheinen :


DER GELBE UND DER WEISSE PAPST
(Ein magischer Roman)

Verlagsauslieferung für Deutschland:


Verlag Hermann BanP.r KG, Freiburg i. Br.
Weitere lieferbare esoterische Romane aus dem Ansata-Verlag, Schwarzenburg:

Dr. Franz Spunda


DEVACHAN
Ein magischer Roman

Neuausgabe. 208 Seiten, gebunden I Schutzumschlag 28.-

Auf der Suche nach dem Urgrund des Menschen und der Welt vertiefte sich
Dr. Franz Spunda mit faustischem Erkenntnisdrang in die Geheimlehren der
Magie und in die dunkle Welt der Gnosis. In dieser Zeit des seelischen
Ringens um letzte Erkenntnisse entstand im Jahre 1 9 2 1 der magische Roman
•Devachan« genannt nach dem Ort, den das böse Prinzip geschaffen hat.
Hier soll der Mensch zu einem maßlos übersteigerten Sinnengenuß verlockt
und letzten Endes vernichtet werden. Der Weg nach Devachan ist der Weg
der Gier nach Lust und Macht. Ihm steht der erlösende Pfad der Rückbesin­
nung und des schwerelosen Ruhens in göttlicher Geborgenheit entgegen.

In diesem vor 6o Jahren entstandenen Werk hat Spunda in fast prophetischer


Schau einen überaus fesselnden und hochaktuellen Roman geschaffen. Die
Handlung birgt Elemente, welche von der Science-Finction- und Fantasy­
Literatur wieder aufgenommen wurden, und enthält in verblüffender Weise
das ganze Kaleidoskop der geistigen Probleme der modernen Zeit. Menschen
begegnen sich und erfahren ihre unvergängliche, über viele Inkarnationen
dauernde schicksalshafte Verkettung. Wir erleben mit ihnen die beklemmen­
de und angstgeladene Atmosphäre jenseitigen Wirkens, das Emportauchen
unergründlicher Vorwelten und das Grauen endzeitlicher Visionen. Dunkle
Mächte arbeiten mit einer neuentdeckten odhaften Lebensenergie und treiben
damit die Menschheit an den Rand des Abgrunds.

Der Roman gipfelt in der Verkündung des großen mystischen Wissens durch
den heiligen Mönch Irenäus. Er und seine Getreuen der ewigen Liebe
nehmen den Kampf mit den urweltlichen, von machtbesessenen Magiern aus
äonenlangem Schlummer erweckten Dämonen auf.

Verlagsauslieferung für Deutschland :


Verlag Hermann Bauer KG, Freiburg i. Br.

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