Sie sind auf Seite 1von 230

Katja Gramelt

Der Anti-Bias-Ansatz
Katja Gramelt

Der Anti-Bias-Ansatz
Zu Konzept und Praxis einer
Pädagogik für den Umgang
mit (kultureller) Vielfalt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Es handelt sich bei dieser Publikation gleichzeitig um eine von der Bergischen Universität
Wuppertal angenommene Dissertation.

1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010

Lektorat: Katrin Emmerich / Tilmann Ziegenhain

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe


Springer Science+Business Media.
www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson-
dere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein-
speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem


Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten
wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany

ISBN 978-3-531-17133-3
Inhalt

Hinweise zur Form .......................................................................... 9

1 Einleitung ....................................................................................... 11

2 Der theoretische Bezugsrahmen................................................... 19


2.1 Umgang mit Normen in der Pädagogik ................................... 19
2.1.1 Anfänge pädagogischen Denkens ................................... 20
2.1.2 Jean-Jacques Rousseau: Wahrung des Natürlichen ......... 22
2.1.3 Friedrich Schleiermacher: Für den Wandel ..................... 23
2.1.4 Immanuel Kant: Vernunft und Mündigkeit ..................... 24
2.1.5 Johann Friedrich Herbart: Wissenschaftsbasierte
Normierung ..................................................................... 25
2.1.6 Die Suche nach Normen und Werten in der Pädagogik .. 27
2.1.7 Individualisierung von Erziehungszielen ........................ 31
2.1.8 Fazit: Zur Möglichkeit der Normierung
pädagogischen Handelns ................................................. 33
2.2 Kompetenzaspekte pädagogischer Professionalität ................. 34
2.2.1 Anfänge der pädagogischen Professionsforschung ......... 35
2.2.2 Allgemeingültige Elemente pädagogischer Profession ... 37
2.2.3 Kompetenzanalytische Aspekte pädagogischer
Profession ........................................................................ 40
2.2.4 Dynamische Professionalität ........................................... 43
2.2.5 Fazit: Zur Vorbereitung auf die ‚kreative‘ Kunst des
pädagogischen Handelns ................................................. 45
2.3 Umgang mit Pluralität im Bildungssystem.............................. 46
2.3.1 ‚Gestörte‘ Homogenität ................................................... 46
2.3.2 Kultur als Konstrukt ........................................................ 51
2.3.3 Vielfalt aus institutioneller und gesellschaftlicher
Sicht................................................................................. 53
2.3.4 Pädagogik der Vielfalt ..................................................... 55

5
2.3.5 Der positive Blick............................................................ 58
2.3.6 Fazit: Der Umgang mit Heterogenität als pädagogische
Schlüsselkompetenz ........................................................ 61
2.4 Implementationsforschung ...................................................... 62
2.4.1 Von der Innovation zur Routine ...................................... 62
2.4.2 Implementationsstrategien............................................... 65
2.4.3 Implementationsbegünstigende Faktoren ........................ 68
2.4.4 Fazit: Transparenz, Kooperation, Kommunikation
sind bedeutende Bausteine .............................................. 71
2.5 Relevanz des theoretischen Bezugsrahmens für die Studie .... 73

3 Das Forschungsdesign ................................................................... 75


3.1 Methodische Überlegungen..................................................... 75
3.2 Zu den Interviews .................................................................... 78
3.2.1 Experteninterviews .......................................................... 79
3.2.2 Durchführung der Interviews .......................................... 81
3.3 Zur Auswertung....................................................................... 82
3.3.1 Elemente der Dokumentenanalyse in der Auswertung ... 85

4 Wer arbeitet mit dem Anti-Bias-Ansatz ...................................... 87


4.1 Das Projekt Kinderwelten ....................................................... 87
4.2 Das Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis
(FiPP e.V.) ............................................................................... 93
4.3 Die Anti-Bias-Werkstatt .......................................................... 96
4.4 Anti-Bias im Kontext interkultureller und
anti-diskriminierender Pädagogik ........................................... 99

5 Die Ursprünge des Anti-Bias-Ansatzes...................................... 101


5.1 Anti-Bias-Arbeit in den USA ................................................ 101
5.1.1 Ziele............................................................................... 102
5.1.2 Umsetzung ..................................................................... 109
5.1.3 Pädagogische Kompetenzen .......................................... 114
5.2 Anti-Bias-Arbeit in Südafrika ............................................... 117
5.2.1 Ziele............................................................................... 118
5.2.2 Umsetzung ..................................................................... 120
5.2.3 Pädagogische Kompetenzen .......................................... 122

6
6 Anti-Bias-Arbeit: Von Elementarpädagogik bis
Erwachsenenbildung .................................................................... 125
6.1 Anti-Bias in Kindertageseinrichtungen ................................. 125
6.1.1 Die Ziele der Anti-Bias-Arbeit mit Kindern ................. 126
6.1.2 Der Blick auf die Identitätsentwicklung ........................ 127
6.1.3 Bildungsprozesse ermöglichen ...................................... 134
6.1.4 Die Zusammenarbeit mit den Eltern ............................. 136
6.1.5 Der Blick auf die Reproduktion gesellschaftlicher
Verhältnisse in der Kita ................................................. 140
6.1.6 Aktiv angehen gegen Diskriminierung in der Kita........ 142
6.1.7 Empathie vermitteln durch Persona Dolls ..................... 144
6.1.8 Kontextualisierung der Erkenntnisse............................. 147
6.1.9 Implementationsmaßnahmen – und ihre
Gelingensbedingungen .................................................. 148
6.2 Anti-Bias in Schule und offener Jugendarbeit....................... 155
6.2.1 Sensibilisierung für Gerechtigkeit und Fairness............ 156
6.2.2 Vermittlung sozialer Schlüsselkompetenzen ................. 158
6.2.3 Identitätsentwicklung durch Fördern und Fordern ........ 159
6.2.4 Kontextualisierung der Erkenntnisse............................. 160
6.3 Anti-Bias in der Erwachsenenbildung ................................... 161
6.3.1 Auseinandersetzung mit individuellen Prägungen ........ 162
6.3.2 Aufzeigen gesellschaftlicher Bezüge ............................ 164
6.3.3 Sensibilisierung für diskriminierendes Verhalten ......... 166
6.3.4 Diskriminierung verlernen / Handlungsalternativen
entwickeln ..................................................................... 170
6.3.5 Antizipation von Gesellschaft ....................................... 171
6.3.6 Kontextualisierung der Erkenntnisse............................. 172
6.4 Anti-Bias in pädagogischen Fortbildungen ........................... 173
6.4.1 Auseinandersetzung mit den eigenen Normen .............. 175
6.4.2 Die eigene Perspektive erkennen .................................. 177
6.4.3 Der Blick auf die Kinder ............................................... 179
6.4.4 Vorurteilsbewusstes Handeln ........................................ 183
6.4.5 Kontextualisierung der Erkenntnisse............................. 185
6.5 Anti-Bias als pädagogische Leitidee ..................................... 185
6.5.1 Humanistische Grundhaltung ........................................ 186
6.5.2 Wertschätzung ............................................................... 187

7
6.5.3 ‚Kommunikationsbau‘ ................................................... 188
6.5.4 Im Fokus: Strukturen von Macht und Unterdrückung .. 190
6.5.5 Authentizität .................................................................. 192
6.5.6 Kontextualisierung der Erkenntnisse............................. 193

7 Zentrale Elemente einer Anti-Bias-Pädagogik ......................... 195


7.1 Der Blick auf gesellschaftliche Schieflagen .......................... 195
7.2 Anti-diskriminierende Erwachsenenbildung ......................... 196
7.3 Das Ausgleichen institutioneller Schieflagen ........................ 197
7.4 Zum Zusammenhang von Identität und Bildung ................... 198
7.5 Beiträge zur pädagogischen Professionalität ......................... 199
7.6 Anti-diskriminierende Bildungsarbeit mit Kindern............... 202
7.7 Anti-Bias als pädagogische Grundhaltung ............................ 203
7.8 Konklusion ............................................................................ 203

8 Anti-Bias-Arbeit im Spiegel pädagogischer Diskurse .............. 205


8.1 Implikationen zur Normierung pädagogischen Handelns ..... 205
8.2 Implikationen zur pädagogischen Professionalität ................ 209
8.3 Implikationen für eine Pädagogik der Vielfalt ...................... 213
8.4 Implikationen zur Implementation pädagogischer Ansätze .. 218

9 Fazit .............................................................................................. 223

10 Literaturverzeichnis .................................................................... 225

8
Hinweise zur Form

Zitierweise bei Zitaten aus der Fachliteratur und anderen Dokumenten


x Das Zitat steht in Anführungszeichen.
x Es ist eingerückt, sofern es drei Textzeilen oder mehr umfasst.
x [ ] = Auslassung eines Wortes
x […] = Auslassung mehrerer Worte oder ganzer Sätze
x [abc] = hinzugefügter Text durch die Verfasserin

Zitierweise bei Zitaten aus den Transkripten


x Das Zitat ist eingerückt (auch wenn es weniger als drei Zeilen umfasst).
x Das Zitat ist kursiv gedruckt.
x Das Zitat steht in Anführungszeichen.
x Dem Zitat folgend steht in runden Klammern die Quelle. Die Buchsta-
ben beziehen sich dabei auf die Initialen der InterviewpartnerInnen, die
Zahlen beziehen sich auf die Seiten- bzw. Zeilenzahlen in den Trans-
kripten.

Binnen-I
Das Binnen-I war zwar sprachlich nicht immer deutlich herauszuhören. Es wird
aber davon ausgegangen, dass alle InterviewpartnerInnen die weibliche Form mit
einbezogen haben. Daher wird das Binnen-I in die Transkription einbezogen.

9
1 Einleitung

Der Anti-Bias-Ansatz ist ein pädagogisches Konzept, das in den USA entwickelt
wurde und seit mehreren Jahren in Deutschland im Kontext interkultureller und
anti-diskriminierender Arbeit umgesetzt wird. In der vorliegenden Studie werden
die Grundzüge einer Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz herausgearbeitet und
auf Implikationen für theoretische Diskurse hin untersucht.
Das Thema ‚kulturelle Heterogenität‘ drängt immer mehr in den Fokus pä-
dagogischer Forschungen. In den 1980er Jahren lenkten Publikationen wie ‚Risi-
kogesellschaft‘ des Soziologen Ulrich Beck (Beck 1986) oder ‚Erziehung in
einer wertunsicheren Gesellschaft‘ des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang
Brezinka (Brezinka 1986) den Fokus auf den steten Wandel in der Gesellschaft,
der auch für pädagogisches Handeln Veränderungen bedeutet. Kulturelle Hete-
rogenität ist ein bedeutender Aspekt des gesellschaftlichen Wandels. Die Bevöl-
kerung und damit auch das Klientel in pädagogischen Einrichtungen weist im-
mer mehr kulturelle Diversität auf: MigrantInnen der ersten, zweiten, dritten und
bald schon vierten Generation, Menschen mit bi-nationalen Eltern, Menschen,
die von Geburt an in Deutschland leben oder aber erst im Laufe ihres Lebens
herkamen und nun eine individuelle kulturelle Identität aufbauen – all dies führt
dazu, dass die Gesellschaft kulturell heterogener wird und dadurch bestehende
Wertesysteme ins Wanken geraten und neu ausgehandelt werden. Für die Päda-
gogik ist dieser Wandel von Bedeutung. PädagogInnen sind herausgefordert, zu
reagieren und trotz wachsender Heterogenität dafür Sorge zu tragen, dass alle
Kinder das Bildungssystem erfolgreich durchlaufen können.
Die Forderung nach neuen Wegen in der Pädagogik angesichts des gesell-
schaftlichen Wandels wurde verstärkt durch die Ergebnisse der Pisa-Studie.
Diese verdeutlichen, dass in Deutschland die Bildungsbeteiligung entlang sozia-
ler Trennlinien divergiert. Kinder aus Familien mit niedrigen sozialen Status
schneiden bei den Leistungsvergleichsstudien bedeutend schlechter ab als Kinder
aus sozial gut gestellten Familien. Da in Deutschland nach wie vor ein Großteil
der Menschen aus Zuwanderfamilien zur Arbeiterschicht gehört oder sogar An-
lerntätigkeiten ausübt (vgl. Artelt u. a. 2001, 34), wird deutlich, dass vor allem
Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund zu denjenigen gehören, die im
deutschen Bildungssystem schlecht abschneiden. Das Thema Chancengleichheit
im Bildungssystem – gerade mit Blick auf Migrantenkinder – wird intensiv dis-

11
kutiert und beforscht. Der Fokus in der Ursachenforschung liegt dabei zumeist
auf Kindern mit Migrationshintergrund. So wird zum Beispiel auch in der Pisa-
Studie der Zusammenhang von Lesekompetenz und sozialer Herkunft aufgegrif-
fen und die Förderung der Kinder als Lösungsweg angeboten:

„Die transkulturelle Variabilität dieses Zusammenhangs ist jedoch erstaunlich groß.


Während in Deutschland die Kopplung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und
dem Kompetenzerwerb der nachwachsenden Generation ungewöhnlich straff ist, ge-
lingt es in anderen Staaten ganz unterschiedlicher geographischer Lage und kulturel-
ler Tradition, trotz ähnlicher Sozialstruktur der Bevölkerung, die Auswirkungen der
sozialen Herkunft zu begrenzen. Dies ist in der Regel auf eine erfolgreichere Förde-
rung von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Schichten zurückzufüh-
ren.“ (ebd., S. 41)

Der Blick wird auf die Kinder gerichtet. Es gilt, sie zu fördern, um ihre Bil-
dungskarrieren zu unterstützen. Die Pisa-Studie bezieht sich sowohl auf eigene
Ergebnisse als auch auf Ergebnisse der Hamburger Studie zur Lernausgangslage
von SekundarschülerInnen (vgl. Lehmann u.a. 1998), wenn festgehalten wird,
dass die Gründe für die schlechteren Bildungskarrieren von Kindern mit Migra-
tionshintergrund sprachliche Ursachen haben. Die Kinder beherrschen die
deutsche Sprache nicht ausreichend, um im deutschen Bildungssystem bestehen
zu können (vgl. ebd., S. 38). Diese Argumentationslinien, die von einem defizitä-
ren Blick auf die Kinder gezeichnet sind, sind bekannt. Es gilt dennoch die Frage
zu stellen, inwiefern das deutsche Bildungssystem bzw. dessen Akteure mit-
verantwortlich dafür sind, dass Kinder mit Migrationshintergrund die deutsche
Sprache nicht ausreichend beherrschen oder aus anderen Gründen im Bildungs-
system weniger erfolgreich sind als Kinder ohne Migrationshintergrund.
Als eine weitere Ursachenquelle können strukturelle Zusammenhänge gese-
hen werden. Ungleiche Verteilungen von Bildungsmöglichkeiten hängen nicht so
sehr mit kulturellen, sondern vielmehr mit sozio-ökonomischen Faktoren zu-
sammen, Heike Diefenbach weist in diesem Zusammenhang auf die ungleiche
Verteilung von Humankapital hin (vgl. Diefenbach 2008). Paul Mecheril hat
unter dem Schlagwort ‚Migrationspädagogik‘ erläutert, inwiefern gesellschaftli-
che und strukturelle Faktoren die Verteilung von Chancengleichheit im Bil-
dungssystem beeinflussen (vgl. Mecheril 2004). Auch Annedore Prengel (vgl.
Prengel 2006) und Georg Auernheimer (vgl. Auernheimer 2007) lenken den
Fokus auf strukturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge.
Um also PädagogInnen darin zu unterstützen, Mittel, Wege und Methoden
zu finden, mit denen sie der kulturellen Vielfalt in ihren Einrichtungen positiv
begegnen können, lohnt der Blick auf Strukturen, die Gesellschaft und nicht
zuletzt die Praxis und das Professionsverständnis der pädagogischen Fachkräfte.

12
PädagogInnen sind die Fachleute, die dafür Sorge tragen, dass Kinder unabhän-
gig vom kulturellen Hintergrund das deutsche Bildungssystem erfolgreich durch-
laufen können. Sie stehen damit vor einer Aufgabe, von der sie sich häufig über-
fordert fühlen (vgl. Klippert 2006; Rothland 2007). Die Überforderung besteht
darin, dass sich das Klientel in den Einrichtungen wie beschrieben ändert, denn
es wird – wie auch die gesamte Bevölkerung - heterogener, und zwar nicht nur
unter kulturellen Gesichtspunkten. Pädagogische Veränderungen verlangen heute
von PädagogInnen, dass sie auf langsame LernerInnen genauso individuell ein-
gehen wie auf Hochbegabte, dass sie Kinder mit körperlichen und geistigen Be-
hinderungen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen betreuen, dass sie den
Mädchen genauso wie den Jungen gerecht werden und schließlich, dass sie die
kulturelle Heterogenität nutzen und bei all diesen Herausforderungen eine päda-
gogische Umgebung schaffen, in der möglichst konfliktfrei und harmonisch
Bildungserlebnisse möglich werden. Auf der anderen Seite hat sich die Aus-
bildung der PädagogInnen nicht im gleichen Maße gewandelt wie die reale Si-
tuation in der Berufspraxis. Heterogenität wird in Ausbildungsgängen häufig
noch als Sonderfall behandelt. Dies wandelt sich allmählich und das Thema
Heterogenität wird immer mehr und immer häufiger zum Bestandteil päda-
gogischer Ausbildungsgänge. Nichtsdestotrotz zeigen sich PädagogInnen über-
fordert. Sie fühlen sich allein gelassen mit der Situation und sie fühlen sich nicht
angemessen vorbereitet (vgl. ebd.). Einerseits sollen sie Vielfalt nutzen und ze-
lebrieren und individuell auf die Klientel eingehen, andererseits haben sie große
Klassen, einen immer größeren Katalog an weiteren Anforderungen (z. B. Quali-
tätsentwicklung, Eltern- und sogar Stadtteilarbeit etc.), die sie beanspruchen.
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht der Anti-Bias-Ansatz. Es handelt
sich dabei um einen pädagogischen Ansatz, der auf zwei Dinge abzielt: Zum
einen bietet er Methoden an, Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, sich mit
sich und mit Vielfalt auf eine Art auseinanderzusetzen, die von Wertschätzung,
Anerkennung und Empathie geprägt ist und die sie damit in der Entfaltung ihres
Potenzials unterstützt. Gleichzeitig ist es ein Ansatz, der großen Wert legt auf die
Unterstützung von PädagogInnen im Umgang mit Vielfalt, z. B. mittels Fortbil-
dungen. Der Begriff Anti-Bias kommt aus dem Englischen und bedeutet über-
setzt ‚gegen Schieflagen‘. Es ist der Name für ein pädagogisches Programm, in
dessen Zentrum das Anliegen steht, Bildungsprozesse in heterogenen Lerngrup-
pen zu optimieren. Die Grundideen sind in einem Curriculum dargelegt, das in
den 1980er Jahren in den USA als ein Ansatz interkultureller Pädagogik in vor-
schulischen Einrichtungen entwickelt wurde. Zentrales Anliegen ist dabei, Bil-
dungseinrichtungen zu Orten zu machen, in denen Vielfalt als gegeben ange-
nommen wird und pädagogische Maßnahmen darauf ausgerichtet werden, mit
Heterogenität aktiv umzugehen. Um dies zu erreichen, gilt es, die Kompetenzen

13
der Fachkräfte in pädagogischen Einrichtungen zu erweitern. Etwa seit dem Jahr
2000 wird auch in Deutschland nach dem Anti-Bias-Konzept gearbeitet, vor-
nehmlich in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen, und immer mit dem
Schwerpunkt interkultureller Bildung. Der Anti-Bias-Ansatz wurde aus der Pra-
xis entwickelt und wird seitdem in der Praxis weiterentwickelt. Diese Weiter-
entwicklung wird hauptsächlich in Erfahrungsberichten dokumentiert. Eine um-
fassende Darstellung der Anwendungsmöglichkeiten einer Pädagogik nach dem
Anti-Bias-Ansatz gibt es jedoch bisher nicht. Die vorliegende Arbeit möchte
diese Lücke schließen und dabei vor allem folgende Frage beantworten: Wie
kann eine Pädagogik aussehen, die zwar die Erhöhung der Chancengleichheit vor
dem Hintergrund kultureller Heterogenität in den Blick nimmt, dabei aber das
Augenmerk nicht auf Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auf andere
Faktoren richtet? Welche anderen Faktoren spielen eine Rolle? Zielsetzung der
vorliegenden Studie ist, aus der Sicht von PädagogInnen die Anbindung des
Anti-Bias-Ansatzes an diverse pädagogische Kontexte im deutschen Raum zu
rekonstruieren. Darauf aufbauend wird analysiert, welche Impulse eine Pädago-
gik nach dem Anti-Bias-Ansatz geben kann, um den pädagogischen Anforderun-
gen im Kontext von Vielfalt begegnen zu können.
Eine erste explorative Recherche von Internetquellen und Publikationen
führte zu dem Ergebnis, dass der Anti-Bias-Ansatz in Deutschland vor allem in
zwei pädagogischen Tätigkeitsfeldern angewandt wird:

1) Im Kontext frühkindlicher Bildung. Es gibt viele Kindertageseinrich-


tungen [im Folgenden Kitas genannt], die nach dem Anti-Bias-Ansatz
arbeiten. Darüber hinaus finden sich immer wieder Hinweise auf das
Projekt Kinderwelten1, das die Umsetzung des Anti-Bias-Ansatzes in
Kitas unterstützt bzw. anleitet.
2) Im Kontext der Erwachsenenbildung. Es finden sich Anhaltspunkte,
dass der Anti-Bias-Ansatz im Kontext von Anti-Diskriminierungs-, An-
ti-Rassismus-, Friedens- und Demokratie-Seminaren angeboten wird.
Interessierte Erwachsene können an mehrtägigen Fortbildungen zum
Anti-Bias-Ansatz als Konzept anti-diskriminierender Arbeit teilnehmen.

Die beiden Tätigkeitsfelder gestalten sich auf den ersten Blick sehr unterschied-
lich. Im ersten Fall geht es um Kinder und darum, ihre Einrichtung nach einem
pädagogischen Ansatz zu gestalten. Im zweiten Fall geht es um anti-
diskriminierende Arbeit mit Erwachsenen. Eins haben beide Felder gemein: Sie

1
Die Autorin hat den Anti-Bias-Ansatz während einer Tagung des Projekts Kinderwelten ken-
nen gelernt.

14
arbeiten mit und nach dem Anti-Bias-Ansatz. Da die Kontexte, in denen der
Anti-Bias-Ansatz angewandt wird, sehr unterschiedlich sind, wurde in einem
zweiten Schritt unter dem Titel ‚Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile‘
eine Tagung zum Anti-Bias-Ansatz durchgeführt. Diejenigen Menschen zusam-
menzubringen, die in Deutschland mit dem Anti-Bias-Ansatz arbeiten, war Ab-
sicht der Tagung - mit dem Ziel, dass sich diese Menschen über ihre Arbeit aus-
tauschen. Über diesen Austausch sollten Gemeinsamkeiten und auch Unterschie-
de herausgestellt und so mögliche Verknüpfungspunkte offen gelegt werden.
Alle TeilnehmerInnen stellten bei diesem Anlass ihre Arbeit mit dem Anti-Bias-
Ansatz vor. In Diskussionsrunden wurden dann Anknüpfungsmöglichkeiten an
andere Arbeitsfelder besprochen, Fragen geklärt, aber auch neue Fragen aufge-
worfen. Die Ergebnisse dieser Diskussionen ergeben ein Bild davon, welches die
Schwerpunkte im Diskurs über die Anti-Bias-Arbeit in Deutschland sind. Vier
zentrale Themen kristallisierten sich heraus, die für die theoretische Ausrichtung
der Studie richtungweisend sind:

1) Der Umgang mit Normen in der Pädagogik


In pädagogischen Kontexten wird Kindern und Jugendlichen mit Erwartungen
begegnet. Sollen sie in eine Institution aufgenommen werden, so haben sie be-
stimmte Normen zu erfüllen. Stets wird überprüft: Entspricht ihre Entwicklung
der gewünschten Norm? Bringen sie ausreichend Vorwissen und Kompetenzen
mit, um im jeweiligen pädagogischen Rahmen mithalten zu können? Auch der
Blick nach vorn ist von Normen geprägt: Was soll eigentlich pädagogisches
Handeln nach dem Anti-Bias-Ansatz bewirken? Welche Ziele werden im Hin-
blick auf Kinder verfolgt? Wie lassen sich diese Ziele mit allgemeinen Hand-
lungszielen von Pädagogik vereinbaren? Gibt es allgemeine Handlungsziele und
wenn ja, welche? Weil der Zusammenhang von Praxis und Normen in der Päda-
gogik evident ist, wird im theoretischen Bezugsrahmen der Umgang mit Normen
reflektiert.

2) Kompetenzen der handelnden PädagogInnen – Qualitätssicherung


Das Thema Qualitätssicherung löst häufig Diskussionen aus. Die Tatsache, dass
Menschen mit unterschiedlichen Ausbildungen in verschiedenen Kontexten mit
dem Anti-Bias-Ansatz arbeiten, führt zu Verunsicherung. Wie kann abgesichert
werden, dass die Anti-Bias-Arbeit in der Praxis die Ansprüche, die damit ver-
knüpft sind, erfüllt? Damit werden Ausbildungsfragen berührt. Welche Kompe-
tenzen brauchen diejenigen, die pädagogisch mit dem Anti-Bias-Ansatz arbei-
ten? Ein klares Kompetenzprofil für die Arbeit mit dem Ansatz gibt die Mög-
lichkeit, die Menschen, die damit arbeiten wollen, entsprechend auszubilden.

15
Impulse für ein solches Kompetenzprofil lassen sich mit Blick auf die pädagogi-
sche Professionsforschung finden.

3) Anti-Bias als Konzept der interkulturellen Pädagogik


Immer wieder wurde auf Kinder mit Migrationshintergrund Bezug genommen
und debattiert, inwiefern die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz dazu beitragen
kann, diese in pädagogischen Kontexten besser zu integrieren.

4) Implementation der Anti-Bias-Arbeit in verschiedenen Kontexten


Es ist sichtbar geworden, dass der Anti-Bias-Ansatz in verschiedenen Kontexten
angewandt wird. Deutlich kommuniziert wurde auf der Tagung die zum Teil
starke Unzufriedenheit mit der geringen Nachhaltigkeit der Ergebnisse. Die Ein-
drücke und Lerneffekte von Fortbildungen verlieren sich oft schnell. Menschen
werden aus verschiedenen Fortbildungskontexten entlassen, zum Teil gestärkt,
zum Teil verunsichert. Die Effekte auf die Praxis sind kaum sichtbar. Es stellt
sich also die Frage, was getan werden kann, um nachhaltige Effekte der Anti-
Bias-Arbeit in der Praxis zu erzielen. Die Implementationsforschung beschäftigt
sich mit eben diesen Fragen.

Diese vier Themenfelder werden zunächst theoretisch aufgearbeitet, um An-


knüpfungsmöglichkeiten mit dem Anti-Bias-Ansatz verdeutlichen zu können.
Den Kern dieser Arbeit macht die Studie zu Anwendungs- und Umset-
zungskonzepten des Anti-Bias-Ansatzes aus. Dies geschieht mittels Triangu-
lation, also einer Kombination von Methoden. Die empirische Basis dafür sind
zum einen Experteninterviews, die für diese Studie durchgeführt wurden. Inter-
viewt wurden Fachleute, die hier in Deutschland mit und nach dem Anti-Bias-
Ansatz arbeiten. In Leitfadeninterviews ergaben sich Aussagen zu den Adaptio-
nen des Ansatzes im jeweiligen Arbeitskontext. Gleichzeitig werden Dokumente
für die Auswertung herangezogen, die ebenfalls über die Praxis der Anti-Bias-
Arbeit Auskunft geben. So lässt sich ein vertiefender Einblick in die Umsetzung
des Ansatzes gewinnen. Um zu verdeutlichen, wie die Quellen und die Inter-
viewaussagen einzuordnen sind, werden der Studie Porträts der Einrichtungen,
die mit dem Anti-Bias-Ansatz arbeiten, vorangestellt. Die Auswertung der Ex-
perteninterviews geschieht nach einem Verfahren, das von den Sozialforschern
Michael Meuser und Ulrike Nagel entwickelt wurde (Meuser/Nagel 2005). Die-
sem Verfahren folgend werden die Grundzüge einer Praxis nach dem Anti-Bias-
Ansatz nach und nach aufgezeigt. In einem ersten Schritt findet eine Beschrei-
bung der Praxis in den einzelnen Einrichtungsformen statt, im konkreten Fall in
der Kita, in der Schule in der Erwachsenenbildung und in Fortbildungssituatio-
nen. Anschließend werden diese Erfahrungen aus der Praxis gebündelt und the-

16
matisch zusammengefasst. In einem letzten Schritt findet die Anbindung an
theoretische Diskurse statt, wodurch die Grundzüge einer Pädagogik nach dem
Anti-Bias-Ansatz erkennbar werden. Die vorliegende Studie hat dabei nicht den
Anspruch, die Praxis selbst zu untersuchen, sondern die Menschen, die in der
Praxis arbeiten, wurden interviewt. Diese Unterscheidung ist insofern von Be-
deutung, dass sich anhand des vorliegenden Materials keine Feststellungen zur
tatsächlichen Wirksamkeit der Anti-Bias-Arbeit machen lassen. Mechthild Go-
molla hat im Projekt Kinderwelten die Arbeit zum Anti-Bias-Ansatz wissen-
schaftlich begleitet und eine Evaluationsstudie dazu durchgeführt. Die Ergebnis-
se werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgestellt. Das Anliegen ist
dabei, die Ziele und Vorhaben der Menschen, die mit dem Ansatz arbeiten, abzu-
fragen und transparent zu machen.

17
2 Der theoretische Bezugsrahmen

Auf einer Tagung zum Thema Anti-Bias kristallisierten sich in den Beiträgen
und Diskussionen thematische Schwerpunkte heraus, die sich vor allem auf die
folgenden Gesichtspunkte bezogen: Die Ziele der Arbeit mit dem Ansatz; die für
eine Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz notwendigen pädagogischen Kompeten-
zen; die Bezüge zu pädagogischem Handeln in heterogenen Kontexten und die
Umsetzung des Konzepts in die Praxis. Eine Sichtung der Interviews hat den
Bezug der Anti-Bias-Arbeit zu diesen Themen bestätigt. Daher werden im Fol-
genden ausgewählte Aspekte aus den Diskursen der jeweiligen Theoriefelder
dargestellt.

2.1 Umgang mit Normen in der Pädagogik2

Dem Konzept des Anti-Bias-Ansatzes liegt die Feststellung zugrunde, dass die
jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen dazu Anlass geben, die pädagogi-
schen Haltungen und das Verständnis pädagogischen Handelns zu überdenken
und die Ziele und Konzepte den Veränderungen anzupassen. In erziehungswis-
senschaftlichen Diskursen war man lange und auf verschiedenen Wegen bemüht,
pädagogisches Handeln zu normieren. Vorrangiges Ziel dieser Normierungsbe-
mühungen war, pädagogisches Handeln plan- und überprüfbar zu machen und
den Faktor ‚Willkür‘ auszuschließen. Der Anti-Bias-Ansatz schlägt den weitge-
henden Verzicht auf Normen vor und plädiert für einen individuellen Umgang in
pädagogischen Interaktionen. Daher geht es in diesem Kapitel um Normierungs-
bemühungen in der Pädagogik. Um genauer verstehen zu können, was es bedeu-
tet, einen Wandel im pädagogischen Denken zu fordern, soll an dieser Stelle
dargelegt werden, wie sich pädagogisch-wissenschaftliches Denken und Arbei-
ten entwickelt hat. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der normativen Pädagogik,
die beim Entstehen der Disziplin Erziehungswissenschaft eine tragende Rolle

2
Die Begriffe Pädagogik und Erziehungswissenschaft werden hier Benner folgend synonym
verwendet (vgl. Benner 2001, 13). Die Autorin ist sich aber bewusst, dass sich um diese Be-
griffsverwendung fachliche Diskurse und unterschiedliche Positionen entwickelt haben (vgl.
exemplarisch Krüger, 1999).

19
spielte. Welche Einflüsse sie noch heute auf die Pädagogik nimmt und inwiefern
diese noch aktuell sind, soll in diesem Kapitel beschrieben werden.

2.1.1 Anfänge pädagogischen Denkens

Spuren pädagogischen Handelns existieren bereits seit Jahrtausenden – eigent-


lich sogar, seit es menschliches Zusammenleben überhaupt gibt. Geht man davon
aus, dass pädagogisches Handeln alle Bemühungen einschließt, die dazu beitra-
gen, Kinder aufwachsen zu lassen, kann man sogar davon ausgehen, dass es
pädagogisches Handeln schon seit Beginn der Menschheit gegeben hat. Helsper
schränkt diese Sichtweise allerdings ein

„Über lange historische Zeiträume hinweg stellten sich die Fragen nach Form, In-
halt, Ziel und Mitteln pädagogischen Handelns [...] nicht. In traditionalen Gesell-
schaften bestand eine über die Generationen hinweg relativ stabil bleibende soziale
Ordnung und für den größten Teil der Bevölkerung existierte keinerlei gesonderte
Erziehung.“ (Helsper 1995, 16)

Der Beginn reflexiven pädagogischen Denkens3 wird, dem Konsens der bil-
dungshistorischen Forschung folgend, ins 18. Jahrhundert an die Herausbildung
der modernen Gesellschaft geknüpft (vgl. Harney/Krüger 1999, 10). Auch Her-
wig Blankertz beginnt seine ‚Geschichte der Pädagogik’ in der Zeit der Aufklä-
rung (18. Jahrhundert) und begründet dies damit, dass zu jener Zeit die Aufklä-
rung „an einer umfassenden Institutionalisierung der Erziehung interessiert“ war
(Blankertz 1992, 13). Formal lässt sich der Beginn der Pädagogik als Wissen-
schaft auf das Jahr 1779 festlegen. An der Universität Halle wurde der erste
Lehrstuhl für Pädagogik eingerichtet und mit Ernst Christian Trapp besetzt. Der
erste pädagogische Lehrstuhl war offiziell an die Theologische Fakultät ange-
bunden (vgl. Krüger 1995, 304). Diese Tatsache verdeutlicht, dass das pädagogi-
sche Denken in dieser Zeit eng mit theologischen Themen verbunden und damit
auch davon beeinflusst war. Dies schlug sich in den Diskursen nieder und hatte
Einfluss auf das Handeln. Bis dato beschränkte sich pädagogisches Handeln vor
allem auf die häusliche Erziehung und zielte ab auf die Erfüllung religiöser
Glaubenssätze. Pädagogisches Handeln fand also im Familienverbund statt und
war ein „naturwüchsiger Teil der alltäglichen Lebensvollzüge“ (Helsper 1995,
16). Daher lag die Anbindung an die theologische Fakultät nahe und so ist zu-
dem nachvollziehbar, dass erste Versuche, pädagogisches Handeln zu normieren,
religiös begründet wurden.
3
Angelehnt an den Begriff der pädagogischen Reflexion bei Helsper (Helsper 1995, 16).

20
Das 18. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Pädagogik. Es war geprägt
von einschneidenden Veränderungen, die die gesamte Gesellschaft und auch alle
Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beeinflussten: Die Industrialisierung
forderte speziell geschulte/gebildete Arbeitskräfte; Religion differenzierte sich in
eine Pluralität von Konfessionen, so dass Glaubensgrundsätze ins Wanken gerie-
ten und neu ausgehandelt werden mussten; der staatliche Verwaltungsapparat
wurde ausdifferenziert und verlangte, ebenso wie die Industrialisierung, ausge-
bildete Arbeitskräfte. Nicht zuletzt trugen die sich ausprägenden Naturwissen-
schaften dazu bei, dass die Gesellschaft sich insgesamt stark wandelte. Die Men-
schen stellten ihr Verständnis von der Welt in Frage und entwickelten es zum
Teil ganz neu. Damit einher ging die Notwendigkeit, Menschen speziell zu schu-
len, mit bestimmten Informationen und Fertigkeiten auszustatten, ihnen Formen
des sozialen und bedachten Umgangs miteinander zu vermitteln – und dies alles
in weitaus differenzierterer Weise als es noch vor diesen Veränderungen der Fall
4
war (vgl. z. B. Helsper 1995, Blankertz 1992, Tenorth 2000). Mit den gesell-
schaftlichen Veränderungen und Herausforderungen im 18. Jahrhundert änderten
sich auch die Anforderungen an pädagogisches Handeln. Um diesen gerecht zu
werden und Kinder mit dem Wissen und den Kompetenzen auszustatten, die sie
benötigen, um den neuen Herausforderungen zu begegnen, wurden Bildung und
Erziehung zunehmend aus dem häuslichen Familienverbund ausgegliedert. Mit
Beginn des 19. Jahrhunderts wurde sukzessive das Bildungssystem ausgebaut
und differenziert; Bildung wurde institutionalisiert (vgl. Krüger 1995, 304). Im
Zuge der Institutionalisierung konkretisierten sich die Gedanken über Erziehung
und Bildung. Um definieren zu können, welche Anforderungen die jeweiligen
Institutionen – zunächst waren es vor allem Schulen – erfüllen sollen, war vor
allem eine Grundfrage zu klären: Was soll pädagogisches Handeln leisten?
Der Erziehungswissenschaftler Werner Helsper beschreibt die Anfänge ref-
lexiven pädagogischen Denkens als Expansion des Pädagogischen (vgl. Helsper
1995, 14ff.). Dies bezieht sich zum einen auf die institutionalisierenden Maß-
nahmen, zum anderen aber auch auf die pädagogischen Denkrichtungen und
Theorien, die sich ausformten. Wo die Frage ‚Was soll pädagogisches Handeln
leisten? ‘ thematisiert wird, wird meist eine Metapher angeführt, die die diamet-
ralen Grundverständnisse pädagogischen Handelns verdeutlicht: Nämlich die des
Gärtners und des Bildhauers (vgl. z.B. Gudjons 2001; Treml 2000). Betrachtet
man die pädagogisch handelnde Person als Gärtner, so ist sein Schützling die
Pflanze. Eine Pflanze entspringt einem Keim, in dem bereits alle Merkmale und
Eigenschaften angelegt sind. Aufgabe des Gärtners ist, den Keim zu pflegen, zu
4
Ausführliche Eindrücke speziell über Kindheit in den verschiedenen Epochen liefern zum
Beispiel die Werke ‚Deutsche Kinder-Chronik. 400 Jahre Kindheitsgeschichte’ von Katharina
Rutschky (Rutschky 2003) oder Philippe Ariès’ ‚Geschichte der Kindheit’ (Ariès 1978).

21
versorgen und in seiner Entwicklung zu unterstützen. Die Entwicklung ist vor-
bestimmt, die Pflanze wächst ihrer Natur nach. Setzt man PädagogInnen mit
Bildhauern gleich, so ist das Kind in dieser Metapher ein formbarer Gegenstand.
„Handwerkliches Handeln konzentriert sich auf die machende, gestaltende Ver-
änderung der äußeren Natur mit dem Ziele der Herstellung eines nützlichen Pro-
dukts.“ (Treml 2000, 173) Das Kind kann also geformt werden. Allerdings gilt es
für den Erzieher, bevor er formen kann, zu überlegen, was er formen möchte –
ähnlich wie sich der Bildhauer eine Skizze macht, bevor er ans Werk geht –
übertragen auf das Kind also: zu was er es erziehen möchte.
Vor allem in der Anfangszeit pädagogischen Denkens sind die Einflüsse aus
Theologie und Philosophie deutlich erkennbar. Viele Pädagogen waren zugleich
Theologen oder Philosophen. Die frühen Vorstellungen dazu, was pädagogisches
Handeln leisten soll, wurden daher in hohem Maße vor theologischem und philo-
sophischem Hintergrund entworfen, aber auch erste Pädagogen taten sich in
dieser Anfangszeit hervor, so zum Beispiel Johann Friedrich Herbart.
Im Folgenden werden die Positionierungen von Jean-Jacques Rousseau, Fried-
rich Schleiermacher, Immanuel Kant und Johann Friedrich Herbart kurz skiz-
ziert, um die Bandbreite der Anforderungen an pädagogisches Denken und
gleichzeitig die zentralen Diskurse in der Anfangszeit von Pädagogik als Wis-
senschaft aufzuzeigen. Dabei gilt anzumerken, dass die folgenden Darstellungen
lediglich einen Ausschnitt der jeweiligen Theorien abbilden, die hier stark ver-
kürzt dargestellt werden.

2.1.2 Jean-Jacques Rousseau: Wahrung des Natürlichen

1762 veröffentlicht der Pädagoge und Humanist Jean-Jacques Rousseau sein


Werk ‚Emile oder Über die Erziehung‘. Darin beschreibt er die Erziehung der
fiktiven Figur Emile von der Geburt bis zum Zeitpunkt seiner Hochzeit im Alter
von 25 Jahren. Rousseau zeichnet darin ein Bild von Erziehung, deren Aufgabe
es ist, das natürliche Wesen eines Menschen zu unterstützen, es also in seiner
Individualität zu stärken und zum selbstständigen Leben zu befähigen. „Alles,
was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Hän-
den des Menschen.“ (Rousseau 1762, 107) So beginnt Rousseau seine Ausfüh-
rungen und verdeutlicht damit seine Auffassung, dass der Mensch von Natur aus
gut ist und dass es daher Aufgabe der Erziehung ist, das Gute, Natürliche zu
bewahren und den Menschen seinen Neigungen entsprechend „für sich selbst“ zu
erziehen (vgl. ebd., 111). Herwig Blankertz bezeichnet Jean-Jacques Rousseau
als den ersten Pädagogen, der ausdrücklich die Frage nach dem eigenen Ziel der
Erziehung aufwarf und formuliert die ‚Rousseausche Frage‘ so:

22
„Was ist das eigentlich [...], wenn der Mensch handelnd und reglementierend in das
Aufwachsen seiner Kinder eingreift? Ist es die mehr oder weniger gut funktionieren-
de Beeinflussung und Lenkung, mit der die Erwachsenengeneration der Jugend ih-
ren Willen aufzwingt, die Heranwachsenden nach dem Bilde der Älteren formt?
Oder ist Erziehung etwas, was das Eigene im Kind und Jugendlichen respektiert und
von daher Auftrag und Legitimation erhält?“ (Blankertz 1992, 71)

In seiner Einleitung zum „Emile“ formuliert Rousseau folgende Aufgabe von


Erziehung: „Gezwungen, gegen die Natur oder die gesellschaftlichen Institutio-
nen zu kämpfen, muß man sich für den Menschen oder den Staatsbürger ent-
scheiden, denn beide in einer Person kann man nicht schaffen.“ (Rousseau 1762,
111) Es gilt für eineN ErzieherIn also zu entscheiden, ob er einen Menschen für
die Gesellschaft erzieht – und damit zu einem Menschen, der funktioniert, weil
er bestehende Regeln, Normen und Werte für sich übernommen hat – oder ob er
ihn zu einem frei denkenden Menschen erzieht, der seinen Intellekt dazu benutzt,
sich mit Regeln, Werten und Normen auseinanderzusetzen und so dem eigenen
Verstand zu folgen. Es kommt für die erziehende Person darauf an, bewusst die
Möglichkeiten, aber auch die große Verantwortung dieser Aufgabe zu beachten
und abzuwägen. Rousseau selbst plädiert für die freie Erziehung zum autonomen
Menschen. Über gesellschaftliche Normen und Vorgaben schreibt er: „All unsere
Sitten sind nichts als Unterwerfung, Druck und Zwang. Der gesellschaftliche
Mensch kommt als Sklave zur Welt, lebt und stirbt als Sklave.“ (Rousseau 1762,
118) Im Sinne eines freien, unabhängigen Lebens bedeutet dies für Rousseau,
„unsre Organe zu gebrauchen, unsre Sinne, unsre Fähigkeiten, alles was in uns
ist und uns das Bewusstsein unsrer Existenz gibt“ (ebd., 118).

2.1.3 Friedrich Schleiermacher: Für den Wandel

Friedrich Schleiermacher hat sich vor allem als Theologe einen Namen gemacht,
hat aber in seiner Funktion als Theologieprofessor Anfang des 19. Jahrhunderts
an der Universität in Berlin Vorlesungen über Pädagogik gehalten und damit die
pädagogische Wissenschaft in ihren Anfangsjahren entscheidend mitgeprägt.
Schleiermacher stellt vor allem die Frage „Was will denn eigentlich die ältere
Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher 1826, 38) Er stellt damit den bis
dato als natürlich angesehenen Verlauf der Dinge in Frage, nach dem die ältere
Generation unreflektiert die eigenen Werte, Sichtweisen und Fähigkeiten an die
jüngere Generation weitergibt. Schleiermacher konstatiert einen permanenten
Wandel in der Gesellschaft und hält diesen für eine Entwicklung, die nicht igno-
riert werden kann, sondern sich in den pädagogischen Prozessen widerspiegeln
sollte. In Zeiten, in denen die Zukunft nicht mehr vorhersehbar oder planbar ist,

23
kann auch Erziehung nicht mehr nach dem Vorbild-Prinzip stattfinden. Werner
Helsper fasst die Überlegungen Schleiermachers zusammen: „[Es] bedarf Erzo-
gener, die selbst verändert die Fähigkeit zur Transformation besitzen. Die ältere
Generation kann nicht mehr unreflektiertes Vorbild der nächsten sein.“ (Helsper
1995, 17) Schleiermacher stellt damit Pädagogik auch in einen Zusammenhang
mit Politik, Geschichte und Gesellschaft. Dietrich Benner reformuliert Schleier-
machers Ausführungen zum Zweck der Erziehung: „Die Erziehungslehre kann
und darf keine von der jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Situation
abstrahierende und dem Anspruch nach auf jedwede nur denkbare Situation
zutreffende Anleitung der Erziehungspraxis geben.“ (Benner 2001, 51)
Schleiermacher positioniert sich damit gegen eine Normierung pädagogischen
Handelns und fordert vielmehr die Erziehenden auf, Verantwortung zu überneh-
men für die jeweiligen Ziele und Normen im eigenen pädagogischen Handeln.
Schleiermacher entwickelte für die Pädagogik eine Dialektik, in deren Rahmen
die Erziehungsziele diskutiert und für die jeweilige Situation neu überdacht wer-
den konnten. Konträre Erziehungsvorstellungen wurden in Beziehung zueinan-
der gesetzt, um so für den Erziehenden einen Spielraum abzustecken, „innerhalb
dessen der Erzieher sich verantwortlich entscheiden kann“ (Benner 2001, 52).
Beispiele für eine solche Dialektik sind die Gegensatzpaare Rezeptivität und
5
Spontaneität oder Unterstützung und Gegenwirkung (vgl. Blankertz 1992, 114) .
Ohne die Dialektik im einzelnen zu erläutern, kann festgehalten werden, dass
diese Form der pädagogischen Ziel- bzw. Normgewinnung unter Berücksichti-
gung der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Begebenheiten ein weite-
res Indiz dafür ist, dass eine eindeutige und vor allem feststehende Normierung
pädagogischen Handelns von Schleiermacher nicht nur nicht angestrebt wurde,
sondern auch die Möglichkeit, dies zu tun, als nicht gegeben gesehen wurde.
Schleiermacher betrachtet Pädagogik als Einwirkung der älteren Generation auf
die jüngere. Pädagogik habe aber die Möglichkeit, sowohl die individuelle Voll-
kommenheit des einzelnen zu ermöglichen als auch zugleich die Entwicklung der
Menschheit und Gesellschaft im Ganzen zu befördern (vgl. Schleiermacher
1826, 15).

2.1.4 Immanuel Kant: Vernunft und Mündigkeit

Der Philosoph Immanuel Kant hat in seinen Vorlesungen über Pädagogik an der
Universität Königsberg Ende des 18. Jahrhunderts die Erziehung zur Mündigkeit
als Ziel formuliert. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst

5
Siehe hierzu z.B. Benner 2001, 51ff. oder Blankertz 1992, 110ff.

24
verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant 1784, 55)
Dem vorgeschaltet sieht Kant eine weitere Aufgabe von Erziehung darin, diese
Mündigkeit zu ermöglichen, indem dem Menschen durch Erziehung zur Ver-
nunft verholfen wird. „Der Mensch aber hat von Natur einen so großen Hang zu
Freiheit, daß, wenn er eine Zeitlang an sie gewöhnt ist, er ihr alles aufopfert.“
(Kant 1803, 7) Um dieser Gefahr zu entgehen und um zu lernen, den Verstand
einzusetzen, um der Vernunft zu folgen, gilt es, den Menschen durch Erziehung
dazu zu befähigen, denken zu lernen (vgl. ebd., 14) und damit zu Mündigkeit zu
gelangen. Mündigkeit bedeutet hier, den Willen selbst zu bestimmen und ihm
frei folgen zu können. Der Mensch wird so durch Erziehung dazu befähigt, eige-
ne Maxime zu entwickeln und ihnen entsprechend zu leben. Der von Kant ge-
prägte kategorische Imperativ bezieht sich auf diese Forderung an Erziehung:
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kant 1788, 41) Kant formuliert darü-
ber hinaus ein Ziel von Pädagogik, das nicht das Individuum im Blick hat, son-
dern weitreichender ist.

„Vielleicht, daß die Erziehung immer besser werden und daß jede folgende Genera-
tion einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter
der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen
Natur. [...] Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer
besser durch Erziehung werde entwickelt werden und daß man diese in eine Form
bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu
einem künftigen glücklicheren Menschengeschlechte.“ (Kant 1803, 9)

Die Erziehung zu Vernunft und Mündigkeit ist somit ein Weg, die Gesellschaft
insgesamt der Vollkommenheit näher zu bringen.

2.1.5 Johann Friedrich Herbart: Wissenschaftsbasierte Normierung

Johann Friedrich Herbart war nicht nur Pädagoge und Philologe, sondern er gilt
auch als Mitbegründer der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin. So be-
schreiben Eckard König und Peter Zedler seine pädagogische Theorie als das
„erste klassische Konzept einer theoretischen Grundlegung der Erziehungswis-
senschaft.“ (König/Zedler 2002, 19) Herbart fordert, dass derjenige, der pädago-
gisch handeln will, auf Erkenntnisse aus der Wissenschaft zurückgreift und sein
Handeln dadurch normiert, statt sich auf die eigenen Erfahrungen zu verlassen.
So kritisierte er das zu seiner Zeit vorherrschende, unreflektierte pädagogische
Handeln als „Schlendrian“ und als beschränkte Praxis. Er schreibt hierzu:

25
„Unaufhörlich kehrt die Rückwirkung, kehrt der Erfolg seines [des Pädagogen]
Handelns zu ihm wieder, aber ohne ihm zu zeigen, was geschehen wäre, wenn er
anders gehandelt, welchen Erfolg es gehabt hätte,… wenn er pädagogische Mittel,
deren Möglichkeiten ihm nur nicht träumte, in seiner Gewalt gehabt hätte. Von al-
lem diesem weiß seine Erfahrung nichts; er erfährt nur sich, nur sein Verhältnis zu
den Menschen, nur das Misslingen seiner Pläne, ohne Aufdeckung der Grundfehler,
nur das Gelingen seiner Methode, ohne Vergleichung mit den vielleicht weit rasche-
ren und schöneren Fortschritten besserer Methoden.“ (Herbart 1802, 555f.)

Herbart wirft zum einen PädagogInnen vor, das eigene Handeln nicht zu reflek-
tieren und zu sehr auf das intuitive Können zu vertrauen. Dadurch werden Mög-
lichkeiten des Handelns übersehen und nicht angewandt – das ist für Herbart ein
Versäumnis. Denn, und das ist der zweite zentrale Punkt seiner Aussage, Herbart
glaubt daran, dass es pädagogische Möglichkeiten gibt, die durch reflexives
Handeln und daraus entwickelbaren Methoden entstehen und pädagogisches
Handeln optimieren können. Aus dieser Überzeugung heraus hat Herbart vor
allem zwei Ziele verfolgt: Zum einen Pädagogik als eine Wissenschaft zu konzi-
pieren, die ihre Ergebnisse intersubjektiver Überprüfung zugänglich macht und
zum anderen Pädagogik als eine normative Disziplin zu entwickeln, die das
praktische Handeln leiten kann (vgl. König/Zedler 2002, 28)6. Dietrich Benner
merkt an, dass die Pädagogik Herbarts häufig so gedeutet wird, dass Herbart
„das Ziel der Erziehung aus einer ethischen Normwissenschaft ab[leite]“ und
somit eine normative Pädagogik darstelle (Benner 1986, 42). Benner hält dies für
eine Fehlinterpretation und wird darin von Heinz-Elmar Tenorth unterstützt.
Dieser schreibt über die pädagogischen Bemühungen Herbarts:

„Diese Bindung der Theorie an die Praxis des Erziehers versteht Herbart nicht etwa
so, daß die allgemeine Pädagogik [...] dem praktisch tätigen Pädagogen Rezepte an
die Hand gäbe, gar eine Technik des Schulehaltens entwerfen würde. Herbart gibt
vielmehr die Prinzipien, mit denen der Praktiker selbst reflexions- und handlungsfä-
hig wird, kompetent, die Erwartungen zu bewerten, denen er begegnet, und die pä-
dagogischen Maximen zu beurteilen und zu konkretisieren, denen er in seiner eige-
nen Arbeit folgt.“ (Tenorth 2000, 136)

Aus Herbarts Vorlesung über Pädagogik aus dem Jahr 1802 lässt sich herausle-
sen, dass es ihm in der Tat nicht darum ging, ethisch hergeleitete Normen für
pädagogisches Handeln festzulegen. Sein Rückgriff auf die Wissenschaft scheint
vielmehr dazu dienen zu sollen, die eigenen Normen in einen Kontext einordnen

6
Beide Ziele zeigen, dass die normative Pädagogik versucht hat, das von der Professionsfor-
schung so genannte „Technologiedefizit“ auszuloten (vgl. Kap. 2.2). Dieser Begriff mag aus
der Einsicht entstanden sein, dass genau dieses Vorhaben nicht realisierbar ist.

26
zu können. Denn, so Herbarts Begründung, nur, wer sich damit auseinanderge-
setzt habe, was die Wissenschaft, also die Pädagogik, aber auch die Psychologie
und Philosophie über den Menschen sagen, könne einordnen, was das eigene
erzieherische Handeln bewirken kann.

„Es gibt eine Vorbereitung auf die Kunst durch die Wissenschaft, eine Vorbereitung
des Verstandes und des Herzens vor Antretung des Geschäfts, vermöge welcher die
Erfahrung, die wir nur in der Betreibung des Geschäfts selbst erlangen können, al-
lererst belehrend für uns wird. Im Handeln nur lernt man die Kunst, erlangt man
Takt, Fertigkeit, Gewandtheit, Geschicklichkeit; aber selbst im Handeln lernt die
Kunst nur der, welcher vorher im Denken die Wissenschaft gelernt, sie sich zu eigen
gemacht, sich durch sie gestimmt und die künftigen Eindrücke, welche die Erfah-
rung auf ihn machen sollte, vorbestimmt hatte.“ (Herbart 1802, 57)

Im Bestreben, pädagogisches Handeln zu normieren, ging es für Herbart vorran-


gig darum, nicht willkürlich zu handeln, sondern das Handeln mit Zielen und den
unterschiedlichen Mitteln, die zu diesen Zielen führen können, abzugleichen.
Vor diesem Hintergrund kann Herbart als normativer Pädagoge verstanden wer-
den, wenn man die Definition normativer Pädagogik von König und Zedler zu-
grunde legt: „Hinter diesem Konzept steht die Hoffnung, pädagogisches Handeln
wissenschaftlich abzusichern und dem Erzieher begründet sagen zu können, was
zu tun ist.“ (König/Zedler 2002, 28)

2.1.6 Die Suche nach Normen und Werten in der Pädagogik

Aufbauend auf dem Bewusstsein, dass pädagogisches Handeln durch wissen-


schaftliche Erkenntnisse abgesichert werden kann und damit Handlungsperspek-
tiven für die Erziehenden entwickelt werden können, strebte die Pädagogik for-
tan danach, übergeordnete Werte und Normen für pädagogisches Handeln zu
finden. Die Ansätze dazu sind zahlreich. Abhängig von der eigenen Weltsicht,
den pädagogischen Einflüssen und interdisziplinären Zusammenhängen – zum
Beispiel mit der Psychologie oder der Philosophie – wurde immer wieder ver-
sucht, dauerhaft gültige, grundlegende Normen und Werte für pädagogisches
Handeln festzulegen (vgl. hierzu z. B. Tröger 1974, 111ff.; Gudjons 2001,
191ff.).
Theo Dietrich widmet dem Thema ‚Normen in der Erziehung‘7 ein eigenes
Kapitel in seinem Buch ‚Zeit- und Grundfragen der Pädagogik‘ und macht deut-

7
Auf die Theorien zum Erziehungsbegriff wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen. Statt
dessen wird Erziehung hier mit „pädagogischem Handeln“ gleichgesetzt.

27
lich, dass die Fragen danach, ob es allgemeingültige Erziehungsziele gibt und
wenn ja, wer diese festlegt, Fragen sind, „die die Pädagogik seit eh und je be-
schäftigt haben und die in jeder Gegenwart neu zur Diskussion stehen.“ (Dietrich
1992, 68) Er bezeichnet den Versuch, Normen, Werte und Erziehungsziele für
pädagogisches Handeln festzulegen, über weite Strecken als ein Hauptanliegen
erziehungswissenschaftlicher Ausführungen. Daran anschließend schreibt er:

„Die »basalen« Normen und die daraus abgeleiteten Erziehungsziele bleiben in ihren
Grundbestandteilen über die Zeiten hinweg erhalten. Sie sind elementare Bedingun-
gen des menschlichen Zusammenlebens. Aber sie werden vom Zeitgeist und Men-
schenverständnis einer Epoche, einer religiösen, weltanschaulichen oder ideologi-
schen Auffassung und von politischen Herrschaftsverhältnissen aus modifiziert und
der jeweiligen Gegenwart angepaßt.“ (Dietrich 1992, 84)

Dass eine allgemeingültige Festlegung von Normen nicht möglich ist, unters-
treicht auch Bruno Hamann: „Erziehungsziele sind von der jeweiligen histori-
schen Gesamtstruktur einer Gesellschaft und Kultur abhängig. Sie sind also his-
torisch, gesellschaftlich und kulturell bedingt, daher sind sie veränderbar, wan-
delbar.“ (Hamann 1994, 98) Der Wandel von Erziehungszielen hängt ab von
dem Menschenbild, den ökonomischen Bedingungen, den politischen Verhält-
nissen, kulturellen Faktoren und ökologischen Faktoren (vgl. ebd.).
Es scheint also auch mehr als 200 Jahre nach den ersten Überlegungen zur Nor-
mierung pädagogischen Handelns nur einen benennbaren Richtwert zu geben:
Die Erziehung zur Mündigkeit, wie sie Kant, Schleiermacher, Rousseau und
Herbart bereits Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts gefordert haben. Dass
diese Norm heute noch Gültigkeit hat, ist in Deutschland nicht zuletzt im Grund-
gesetz zu lesen. Hier folgt dem „Recht auf Menschenwürde“ (Artikel 1) direkt
das „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Artikel 2) (vgl. Deutscher
Bundestag 2007, 14).
Wie bereits bei Dietrich und Hamann angedeutet, ist eine allgemeingültige,
dauerhafte Normierung pädagogischen Handelns nicht möglich. Aus ihren Äuße-
rungen lassen sich vor allem folgende Kritikpunkte an den Normierungsversu-
chen ablesen: Zum einen sind Erziehungsziele nicht normierbar, da sie vom
jeweiligen Menschenbild des Normgebenden abhängen. Das Menschenbild wird
durch gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse geprägt und kann individuell
unterschiedlich aussehen. Zum anderen unterliegen die gesellschaftlichen und
kulturellen Einflüsse einem historisch-zeitlich bedingten Wandel, der auch von
politischen Verhältnissen und ökonomischen Bedingungen abhängig ist. Jörg
Ruhloff setzt sich in seiner Publikation „Das ungelöste Normproblem der Päda-
gogik“ (1979) ausführlich mit der Objektivität von Normen auseinander, Wolf-
gang Brezinka hinterfragte die pädagogische Normdebatte unter dem Einfluss

28
des historisch-gesellschaftlichen Wandels. Ihre jeweiligen Positionen werden im
Folgenden zusammengefasst dargelegt.
Ziel der Normierung ist die Objektivierung pädagogischen Handelns. Das
bedeutet, durch festgelegte pädagogische Normen und Werte pädagogisches
Handeln sozusagen intersubjektiv austauschbar zu machen. Das Handeln ist
damit unabhängig von den jeweiligen persönlichen Einstellungen und Befind-
lichkeiten. Eine solche Objektivierung sei, so die These von Jörg Ruhloff, aller-
dings schon aus rein theoretischer Sicht nicht möglich, „spätestens dann nicht
mehr, wenn man die Ebene globaler und eben deshalb leicht zustimmungsfähiger
Leitmaßstäbe wie ‚Mündigkeit’ oder ‚Menschlichkeit’ oder ‚Vernünftigkeit’
verläßt und sich den Einzelforderungen zuwendet.“ (Ruhloff 1979, 14) Der
Grund hierfür ist, dass die Festlegung von Normen bereits den Akt der Bewer-
tung beinhaltet; die Festlegung von Normen ist damit nicht objektiv. Ruhloff
führt zur Veranschaulichung das Beispiel unterschiedlicher wissenschaftlicher
Standpunkte an, die dennoch alle durch objektive Studien erlangt wurden.

„Mit den erhofften sicheren Antworten der Wissenschaft auf die Frage nach pädago-
gischen Maßstäben, Kriterien, Normen, Aufgabenbestimmungen ist es offensichtlich
nicht weit her. Die Wissenschaftler geben keine übereinstimmende Auskunft. Ihre
Theorien gehen teils grundsätzlich, teils in Einzelfragen auseinander und widerspre-
chen sich. Sie bestreiten einander den Anspruch, gültige und allgemeinverbindliche
Erkenntnisse über das, was pädagogisch maßgeblich sei, erbracht zu haben.“ (Ruh-
loff 1979, 15)

Herbert Gudjons stellt fest, dass Werte durch den Akt des Bewertens und Ent-
scheidens über die Annahme einer Norm bzw. eines Wertes8 gefunden werden.
Vor dem Hintergrund des jeweils individuellen Wissens- und Glaubensfundus
werden die Werte ausgewählt. Damit kann also nicht von allgemeingültigen
Normen ausgegangen werden, sondern Normen festzulegen ist ein individueller
Akt (vgl. Gudjons 2001, 191f). Zwar schreibt Ruhloff:

„Der Ausgang vom ungelösten Normproblem ist nicht als Bejahung seiner Unlös-
barkeit zu verstehen, sondern so, daß bei der Untersuchung Skepsis walten statt vor-
greifende Zustimmung oder Ablehnung leiten soll.“ (Ruhloff 1979, 18)
Geht man aber davon aus, dass ursprünglich die Normierungsversuche dazu dienen
sollten, pädagogisches Handeln objektiv zu gestalten, so kann man festhalten, dass
die Normfrage in der Pädagogik nicht nur ungelöst, sondern auch unlösbar zu sein
scheint. Bruno Hamann stützt diese These:

8
Zur Unterscheidung zwischen Zielen, Normen und Werten siehe exemplarisch Gudjons 2001,
191f.

29
„Erziehungsziele sind von der jeweiligen historischen Gesamtstruktur einer Gesell-
schaft und Kultur abhängig […] Diesbezüglich vorfindbare Divergenzen sind aller-
dings nicht nur zeit- und raumgebunden, sondern beruhen zum Teil auch auf ver-
schiedenen Ideenwelten in ein und derselben Gesellschaft.“ (Hamann 1994, 98)

Solange es also pädagogisches Handeln geben wird, wird auch jeder pädagogisch
handelnde Mensch nicht umhin kommen, sich mit den individuellen Normen und
Zielen bewusst auseinanderzusetzen.
Der Erziehungstheoretiker Wolfgang Brezinka hat sich der Frage gewidmet,
inwiefern gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse pädagogische Ziele mitbes-
timmen9. Brezinka beschreibt die Gesellschaft als eine Lebensform, in der Unsi-
cherheit herrscht über die bestehenden Werte; über das, was anzustreben oder
abzulehnen ist (vgl. Brezinka 1986, 12). Bereits 1986 schreibt er: „Unser Nach-
wuchs findet einen Zeitgeist vor, der moralisch kraftlos, unentschieden und
nachgiebig ist. Er wächst unter Menschen auf, die über ihre Ideale unsicher sind
oder die meinen, ohne Ideale auskommen zu können.“ (Brezinka 1986, 11). Vor
diesem Hintergrund konstatiert er, dass eine „gute seelische Verfassung“ der
Erzieher das Wichtigste sei (ebd.). Erziehung orientiere sich stets an bestehenden
Werten, die von der älteren Generation an die jüngere weitergereicht werden, so
Brezinka. Auf dieser Annahme aufbauend postuliert er, dass die beschriebene
Wertekrise auch eine Erziehungskrise sei: „Wer erzieht, muss wissen, was er
will. Er braucht Erziehungsziele, und er muß Mittel wählen, durch die sie er-
reicht werden können.“ (Brezinka 1986, 12) Brezinka führt aus, dass eben solche
Erziehungsziele zum einen immer pluraler werden, zum anderen immer mehr das
Individuum in den Mittelpunkt zu rücken scheinen. Denn Rationalismus, Indivi-
dualismus und Hedonismus führten dazu, dass Erziehungsziele sehr einseitig am
Individuum ausgerichtet sind (vgl. ebd., 14). Um aber erfolgreich pädagogisch
handeln zu können, bedürfe es „Wertungsgemeinschaften, die den Glauben an
eine tragfähige Weltdeutung und an uneigennützige gemeinsame Ideale vermit-
teln und stärken.“ (Brezinka 1986, 14) Brezinka fordert eine Besinnung auf zent-
rale Werte und Erziehungsziele, die zielgerichtetes pädagogisches Handeln er-
möglichen. Über diese Werte und Erziehungsziele schreibt er: „Sie setzen nicht
bei Methoden, Techniken oder Organisationsformen der Erziehung an, sondern
bei der Gesinnungseinstellung der Erwachsenen.“ (ebd., 31) Um dies konkret am
Arbeitsfeld von PädagogInnen festzumachen, schlussfolgert Brezinka, dass es
Aufgabe von Menschen in pädagogischen Arbeitsfeldern ist, für sich die beste-
hende Wertunsicherheit zu überwinden und ein klares Bild ihrer eigenen Werte
und Erziehungsziele zu formen, um diese dann weitergeben zu können.

9
Darüber hinaus hat Brezinka sich generell mit Erziehungstheorien und damit mit Sinn, Zweck
und Mitteln von Erziehung befasst (vgl. z.B. Brezinka 1976, Brezinka 1989).

30
„Einen einfacheren Weg gibt es nicht. Er ist freilich nur für aktive Menschen gang-
bar, die sich nicht als wehrlose Opfer einer wertunsicheren Gesellschaft fühlen, son-
dern daran glauben, daß sie sich selbst und ihren Wirkungskreis nach gemeinsamen
Idealen zu ordnen berufen und zu ordnen im Stande sind.“ (Brezinka 1986, 31)

Brezinka formuliert damit indirekt eine Anforderung an pädagogische Professio-


nalität: Aufgabe von PädagogInnen sei es, die Wertunsicherheit zu überwinden
und für sich selbst und das eigene pädagogische Handeln die Ziele und die um-
zusetzenden Werte klar vor Augen zu haben. 17 Jahre später fordert Brezinka in
seiner Publikation ‚Erziehung und Pädagogik im Kulturwandel‘ (2003) deutlich,
sich gegen die Auflösung von Grundwerten zu wehren. „Je schneller sich die
materiell-technischen Lebensbedingungen ändern, desto mehr werden Traditi-
onsgüter gebraucht, weil sie im Wandel die Kontinuität sichern“ (Brezinka 2003,
14). Er legt dar, wie wichtig ein Orientierung gebender roter Faden sei und for-
dert daher die „Pflege der normativen Orientierungsgüter“ (ebd.). Darüber hinaus
kritisiert er das seiner Meinung nach immer weitere verbreitete, aber nicht zwin-
gend stimmige „intellektualistische Menschenbild“, das suggeriert, dass die
Menschen auf der ständigen Suche nach Information und kritischer Durchleuch-
tung sind. Dies habe die „Entzauberung der Welt“ zur Folge, die Demaskierung
10
alles Guten, wodurch das Leben an Schönem verliert (vgl. ebd., 15) .
Für den Kontext dieser Arbeit ist bedeutend, die Forderung Brezinkas fest-
zuhalten, sich auf Werte und Erziehungsziele zu besinnen. Dies ist gerade ange-
sichts der sich stetig (nicht nur) durch migrationssoziologische, historische und
gesellschaftliche Erneuerungen verändernden – vielmehr: verbreiternden – Wer-
tepalette von Bedeutung. Ein Mensch, der pädagogisch handelt, sollte sich der
Ziele seines Wirkens bewusst sein. Darüber hinaus ist eine gewisse Kontinuität
und auch Homogenität im Rahmen aller erzieherischen Einwirkungen auf einen
Menschen wichtig, um Orientierung und Halt zu geben. Brezinka fordert sogar
die stärkere Vermittlung von Werten an die zu erziehenden Personen, um ihnen
Halt und Sicherheit in der unbeständigen, sich permanent wandelnden Gesell-
schaft zu vermitteln (vgl. Brezinka 2003, 6).

2.1.7 Individualisierung von Erziehungszielen

Bis in die 1960er Jahre wurde vom klassischen dreiteiligen Lebenslauf gespro-
chen, der in Kindheits-, Erwachsenen- und Seniorenphase unterteilt war (vgl.
Hurrelmann 2003). Hurrelmann unterstreicht, dass ein solcher ‚Normal-

10
Diese Position soll hier zwar dargestellt werden, ihr wird aber nicht vorbehaltlos zugestimmt.

31
Lebenslauf’ auch heute noch das Orientierungsmuster der Gesellschaftspolitik ist
und durch eine Reihe von gesellschaftlichen Institutionen und politisch-
rechtlichen Regelungen formal gestützt wird. Dadurch wird für jedes Gesell-
schaftsmitglied ein klarer sozialer Erwartungsrahmen gespannt (vgl. ebd.). Ul-
rich Beck zeigt in seiner Beschreibung der „Auflösung der Normalbiographie“
auf, dass ein solcher ‚Normallebenslauf’ nicht mehr existiert (vgl. Beck 1986,
Beck/Beck-Gernsheim 1994). Beck formuliert die Folgen: „Viele assoziieren mit
»Individualisierung« Individuation gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation.
Das mag zutreffen. Vielleicht aber auch das Gegenteil“ (Beck 1986, 207). Siche-
re (familiäre) Bezugsrahmen fallen weg. „Individuen werden innerhalb und au-
ßerhalb der Familie zum Akteur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und
ihrer Biographieplanung und –organisation.“ (Beck 1986, 209) Die Auflösung
der Normalbiographie zwingt dazu, selbstverantwortlich individuelle Lebens-
wegentscheidungen zu treffen und dafür brauchen Menschen andere Unterstüt-
zungssysteme – auch andere pädagogische Unterstützungssysteme – als es noch
11
vor dieser Individualisierung der Fall war. Zwar scheint es nicht möglich, pä-
dagogisches Handeln inhaltlich zu normieren Es ist jedoch dadurch gekenn-
zeichnet, dass eine bewusste Auseinandersetzung mit den Zielen des Handelns
stattgefunden hat, denn, so Herbert Gudjons: „Prinzipiell ist Handeln nicht ohne
Ziele möglich.“ (Gudjons 1995, 193) Aufgabe von PädagogInnen ist demnach,
sich bewusst und reflexiv damit auseinanderzusetzen, welches die eigenen Erzie-
hungsziele sind, welche Normen diesen zugrunde liegen und schließlich auch,
woher diese Normen stammen. Der Schulberater und Lehrerfortbildner Reinhold
Miller schreibt:

„In den letzten Jahren haben unbeabsichtigte und unbewußte Einflüsse auf Kinder
und Jugendliche zugenommen, die Orientierungslosigkeit zur Folge hatten. Die Ba-
lance zwischen intentionaler und funktionaler Erziehung hat sich zu (un-)gunsten
der funktionalen Erziehung ausgewirkt. Die Gefahr wurde deutlich: Erziehung im
eigentlichen Sinn entzog sich so immer mehr dem Bewußtsein und der Verantwor-
tung.“ (Miller 1995, 19)

Diese Worte Millers implizieren, dass die bewusste Auseinandersetzung mit


Zielen und Werten der eigenen Pädagogik notwendig ist, da sonst Erziehung
‚willkürlich‘ und nicht mehr intentional ist. Pädagogische Fachkräfte haben die
Verantwortung, ihre Handlungsmacht bestmöglich zu nutzen. Um dies tun zu
können, ist die bewusste Reflexion dieser Macht und der damit verbundenen,

11
Zum Wandel der Lebensläufe bzw. der Erosion der Normalbiographie und der damit zusam-
menhängenden Bedeutung für die Pädagogik siehe auch Mayer 1998.

32
bisher transportierten und zukünftig zu transportierenden Werte und Ziele not-
wendig.
Dass Werte und Normen in der heutigen Pädagogik eine entscheidende Rol-
le spielen, zeigt Bruno Hamann auf. In seiner ‚Theorie pädagogischen Handelns‘
benennt er drei Funktionen von Normen (vgl. Hamann 1994, 95 ff.). Demnach
sind Normen Ideale, die die Richtung der Erziehungsaufgaben und somit als
Ausfluss einer Lebensauslegung fungieren. Wie im bisherigen Verlauf des Kapi-
tels aufgezeigt, ist es gerade angesichts der Pluralität an gesellschaftlichen Ent-
wicklungen, individuellen Lebensmustern und unterschiedlichen Erziehungs-
theorien von Bedeutung, sich über die eigenen Erziehungsideale im Klaren zu
sein und sich gegebenenfalls mit anderen darüber zu verständigen. Normen sind
außerdem konkrete Handlungsanleitungen, die reale Prozesse und inhaltliche
Aufgaben bestimmen. Die Ideale sind dann Grundlage für das pädagogische
Handeln, das an eben diesen Normen ausgelegt werden kann. Schließlich sind
Normen Vorgaben durch rechtliche, wirtschaftliche bzw. politische Verfassun-
gen. Ein bisher noch nicht angesprochener Aspekt ist die Festlegung von Nor-
men durch nicht nur gesellschaftliche, rechtliche, wirtschaftliche und politische
Vorgaben, sondern letztendlich auch durch administrative Vorgaben, die sich
zum Beispiel in Curricula, Schulprogrammen oder den Positionierungen der
pädagogischen Einrichtungen finden. Nicht zuletzt sind im Grundgesetz, im
Schulgesetz und auch in den Menschenrechten allgemeingültige Normen formu-
liert, die es zu beachtet gilt. Hermann Giesecke merkt an: „Erziehung setzte
immer kollektive Rahmen voraus, in denen (solche) Standards selbstverständlich
galten und erwartet wurden.“ (Giesecke 1996, 391f.).

2.1.8 Fazit: Zur Möglichkeit der Normierung pädagogischen Handelns

Es kann festgehalten werden, dass eine dauerhafte und allgemeine Normierung


pädagogischen Handelns nicht möglich ist. Die Bemühungen dahingehend sto-
ßen an zwei natürliche Grenzen: Zum einen bedeutet gesellschaftlicher Wandel
auch einen Wandel von Erziehungszielen, zum anderen lassen Individualisierung
und die Auflösung von Normalbiographien keine pauschale Festlegung von
Zielen pädagogischen Handelns zu.
Um sinnvoll pädagogisch handeln zu können, ist die bewusste Auseinander-
setzung mit den eigenen Erziehungszielen notwendig. Davon ausgehend, dass es
kein universelles Normen- und Wertemuster gibt und geben kann, lautet die
Aufforderung an PädagogInnen, sich bewusst mit eigenen Werten und Normen,
die diese Ziele beeinflussen, auseinanderzusetzen.

33
Herwig Blankertz kommt in seinem Fazit zur ‚Geschichte der Pädagogik‘
(1992) zu dem Schluss, dass Pädagogik zwar lange auf der Suche nach Normen
war, letztendlich aber immer wieder zurückkommt auf die während der Aufklä-
rung vor allem von Schleiermacher, Kant und Rousseau ausgearbeiteten Theo-
rien, die die Erziehung zu Mündigkeit und Selbstentfaltung als einzigen normati-
ven Richtwert der Pädagogik sehen.

„Thema der Pädagogik ist die Erziehung, die den Menschen im Zustand der Un-
mündigkeit antrifft. Erziehung muss diesen Zustand verändern, aber nicht beliebig,
sondern orientiert an einer unbedingten Zwecksetzung, an der Mündigkeit des Men-
schen. Wo aber findet die Pädagogik den Maßstab für Mündigkeit?“ Im folgenden
Abschnitt heißt es weiter: „Wer pädagogische Verantwortung übernimmt, steht im
Kontext der jeweils gegebenen historischen Bedingungen unter dem Anspruch des
unbedingten Zweckes menschlicher Mündigkeit – ob er das will, weiß, glaubt oder
nicht.“ (Blankertz 1992, 306f.)

Auch wenn es eine allgemeingültige Normierung nicht geben kann, besteht den-
noch die Forderung nach unbedingtem intentionalen pädagogischen Handeln.
Ein wichtiger Aspekt pädagogischer Professionalität ist dabei eine individuelle
Auseinandersetzung mit den Normen und Werten, die dem eigenen pädagogi-
schen Handeln zugrunde liegen. Wie dieser Aspekt im Gesamtbild pädagogi-
scher Professionalität einzuordnen ist, soll im folgenden Kapitel dargestellt wer-
den.

2.2 Kompetenzaspekte pädagogischer Professionalität

Diese Arbeit geht der Frage nach, inwiefern das pädagogische Konzept ‚Anti-
Bias‘ dazu beitragen kann, die Kompetenzen von pädagogischem Personal im
Hinblick auf den Umgang mit Heterogenität zu erweitern. In den Interviews
werden diverse Aspekte dieses Themenkomplexes benannt, die in der Professi-
onsforschung bereits wissenschaftlich beleuchtet werden. Um entsprechende
Verknüpfungen herstellen und weitergehende Thesen entwickeln zu können,
werden an dieser Stelle Aspekte der Professionsforschung aufgearbeitet. Als
themenrelevant hat sich vor allem der Komplex der Kompetenzen in Bezug auf
professionelles pädagogisches Handeln herauskristallisiert. Da sich das Konzept
‚Anti-Bias‘ an pädagogische Fachkräfte aus unterschiedlichen Arbeitskontexten
richtet, geht es in diesem Zusammenhang darum herauszufinden, welches die
grundlegenden Kompetenzen sind, ob es also allgemeingültige pädagogische
Kompetenzen für professionelles Handeln gibt.

34
2.2.1 Anfänge der pädagogischen Professionsforschung

Um Kompetenzen benennen zu können, die für pädagogisches Handeln notwen-


dig sind, ist es zunächst hilfreich, sich das Ziel von Pädagogik zu verdeutlichen.
Die Frage „Was ist pädagogisches Handeln?“ beantwortet Hermann Giesecke im
gleichnamigen Kapitel seiner Publikation ‚Pädagogik als Beruf‘ (1987) wie
folgt:

„Dem ursprünglichen Wortsinn nach hat ‚Pädagogik‘ etwas mit Kindern zu tun. Ziel
pädagogischen Handelns wäre dann ganz allgemein, Kinder bzw. Minderjährige in
ihrer Entwicklung positiv zu fördern und schädliche Einflüsse von ihnen fernzuhal-
ten, ihnen also in diesem Sinne Erziehung und Bildung zu ermöglichen.“ (Giesecke
1987, 19)

Dass auch Erwachsene zur Zielgruppe von pädagogischem Handeln gehören,


bezieht Giesecke wie folgt mit ein: „Pädagogen sind demnach Menschen, die
anderen, ob Kindern oder Erwachsenen, Lernen ermöglichen sollen, sie sind
‚Lernhelfer‘. [...] Gelernt habe ich dann etwas, wenn ich nun etwas weiß oder
kann, was ich vorher nicht gewußt oder gekonnt habe.“ (ebd., 21)
Die Anfänge der allgemeinen Professionsforschung, aus der sich später die
pädagogische Professionsforschung abgeleitet hat, liegen in der Berufssoziologie
(vgl. Terhart 1997, 449). In dem Bestreben, Professionen von anderen Berufen
abzugrenzen und damit auch aufzuwerten, wurden Kriterien entwickelt, die pro-
fessionelles Handeln kennzeichnen12 (vgl. Combe/Helsper 2002, 30). Com-
be/Helsper merken zu diesen Bemühungen an:

„Eine Fassung des Professionsbegriffs, die als eine Addition normativ entworfener
Merkmale und Klassifikationen zur Abgrenzung von anderen Berufen und Tätigkei-
ten angelegt ist, ergibt ein außerordentlich statisches Bild, das weder in der Lage ist,
die historische Wirklichkeit von Professionen noch die Handlungsprobleme der Be-
rufsinhaber und einen je besonderen Tätigkeitstyp zu erfassen.“ (Combe/Helsper
1997, 19)

Combe/Helsper kritisieren vor allem die Starrheit eines solchen Konzeptes von
Profession, das viele Aspekte außer Acht lässt. Im Gegensatz hierzu zeigen sie
einen funktionalen Zugang zur pädagogischen Profession auf.

„Professionen sind [...] mit einer bestimmten Problemsituation befaßt, die ohne Hilfe
und Vermittlung eines Experten dem Klienten nicht mehr lösbar erscheint, deren

12
In den 1960er Jahren waren es vor allem Parson, Marshall und Hughes, die an diesem Vorha-
ben arbeiteten (siehe z. B. Marshall 1963, Parson 1975).

35
Bewältigung aber auch aus dem Blickwinkel der Allgemeinheit als bestandwichtige
Reproduktionsgrundlage des Lebens in einer Gesellschaft angesehen und anerkannt
werden muß.“ (ebd., 21)

Und wenn dem so sei, so heißt es an gleicher Stelle weiter, dann

„verlangt dies soziale Räume für Dispute über den Eigensinn der Arbeit und ständi-
ge Auseinandersetzungen über ihre Bedingungen, Handlungsgrundlagen und Hand-
lungsmöglichkeiten. Eine Selbstthematisierung und ständige Prozeßreflexion ihrer
[der PädagogInnen] Arbeit erscheint unentbehrlich.“ (ebd.)

Die Kriteriensammlungen aus den Anfängen der Professionsforschung, die


Combe/Helsper kritisieren, sind dennoch ein Einstieg gewesen, sich über den
Professionsbegriff Gedanken zu machen. Nicht zuletzt haben sie eine Art Richt-
schnur für die Professionsforschung geboten, die sich von diesem Ansatzpunkt
aus weiter entwickelt. Dass Combe und Helsper die Professionsforschung als
eine „noch tastende Natur“ bezeichnen, deutet an, dass sie diese Konkretisierung
noch nicht für abgeschlossen halten. (vgl. Combe/Helsper 2002, 29)13 Die Suche
nach Kriterien hat sich auch in der pädagogischen Professionsforschung weiter
fortgesetzt. Entscheidende Impulse bekam das Forschungsgebiet durch die Aus-
differenzierung und die „schwunghafte Expansion“ (ebd., 39) von pädagogi-
schen Handlungsfeldern und damit verbunden durch das Entstehen neuer päda-
gogischer Berufsfelder. In diesem Kontext ging es durch die Festlegung von
Kriterien um eine Definition der jeweiligen pädagogischen Berufszweige (vgl.
Combe/Helsper 1997, 39; Combe/Helsper 2002, 39).
Der beschriebene Wandel in der Pädagogik hin zu einer starken Ausdiffe-
renzierung der verschiedenen beruflichen Handlungsfelder fordert eine intensive
Auseinandersetzung mit den Anforderungen an den Beruf und den nötigen
Kompetenzen. Gleichzeitig ist vor diesem Hintergrund zu fragen, ob es so etwas
wie eine allgemeingültige pädagogische Profession überhaupt gibt bzw. geben
kann. Wolfgang Nieke, Professor für allgemeine Pädagogik, stellt dazu die These
auf, dass es eine „basale Struktur pädagogischer Kompetenz“ geben müsse, die
auch eine Abgrenzung zulässt, dass es also etwas „Allgemeines, Fundamentales,
14
Verbindendes gebe und geben müsse“ (Nieke 2002, 14).

13
Weitere Ausführungen zur Theorienbildung in der pädagogischen Professionsforschung – zum
Beispiel von Stütze, Stichweh und Overmann – sind nachzulesen in Combe/Helsper 2002.
14
Siehe hierzu auch: Koring 1990

36
2.2.2 Allgemeingültige Elemente pädagogischer Profession

Im Folgenden werden drei Aspekte dargestellt, die für pädagogisches Handeln


von Bedeutung sind. Es wird aufgezeigt, inwiefern sie es erschweren bzw. un-
möglich machen, normative Aussagen zu professionellem pädagogischen Han-
deln zu treffen. Erläutert werden das Technologiedefizit, das professionelle
Selbst und der pädagogische Takt.
Das Technologiedefizit unterscheidet die Pädagogik von anderen ‚Dienst-
leistungen‘. Die Systemtheoretiker Niklas Luhmann und Karl-Eberhard Schorr
beschreiben in ihrem Werk ‚Reflexionsprobleme‘ (1979) die Eigenheit des
Technologiedefizits damit, „daß eine auf Metaebene nicht behebbare Unsicher-
heit darüber besteht, ob falsch oder richtig gehandelt worden ist“ (Luh-
mann/Schorr 1979, 120).15 Hiermit benennen sie den für den Kontext dieser
Arbeit relevanten Kern des Technologiedefizits. Pädagogisches Handeln ist
demnach nicht planbar und auch nicht bis ins Letzte legitimierbar. Vielmehr geht
es für die pädagogisch handelnde Person darum aushalten, dass das eigene Han-
deln nicht normier- oder planbar ist. Dazu Bernhard Koring: „Es gibt keine voll-
ständige und endgültige erlernbare Technik oder Methode, mit der alle Schwie-
rigkeiten, Ambivalenzen, Konflikte und Widersprüche in pädagogischen Situa-
tionen beherrschbar wären.“ (Koring, 1997, 19) Combe/Helsper beschreiben in
ihren Ausführungen das Handeln in Ungewissheit und halten dazu fest, dass
„sich die Diskussion um die Zukunft pädagogischen Handelns im Fokus der
Ungewissheitsproblematik und einer gelingenden wie mißlingenden Balance von
Antinomien [...] zu bündeln“ (Combe/Helsper 1997, 41) scheint. Sowohl Koring
als auch Combe/Helsper gehen auf den Aspekt der Ungewissheit ein. Zeichen
pädagogischer Professionalität ist demnach, mit dieser Ungewissheit bzw. die-
sem Technologiedefizit umgehen zu können. „Die Bearbeitung der pädagogi-
schen Aufgabe erfordert daher ein hohes Maß an Handlungsautonomie.“ (Koring
1997, 19) Handlungsautonomie hieße dann nicht nur die Ungewissheit zu ertra-
gen, sondern darüber hinaus vor allem, die Verantwortung für das Handeln in
dieser Ungewissheit zu übernehmen auf der Basis, zuvor die „Implikationen für
das Handeln in Ungewißheit zu reflektieren.“ (vgl. Rabe-Kleberg 1997, 295) Der
Soziologe Ulrich Oevermann weist darauf hin, dass das kompetente Handeln in
Ungewissheit eine Stärke sein kann, denn umgekehrt komme „in gewissen Fällen
»technokratische« Expertisierung einer Deprofessionalisierung gleich“ (Oever-
mann 1997, 70). Daraus ergibt sich als Herausforderung an pädagogisches Han-
deln zu akzeptieren, dass das Technologiedefizit nicht beseitigt oder aufgeholt

15
Luhmann/Schorr gehen ausführlich auf die Auswirkungen des Technologiedefizits im System
Ein. Dies wird hier bewusst nicht weiter ausgeführt, da es den Kern dieser Arbeit nicht berührt.

37
werden kann. Vielmehr komme es darauf an, Wege zu er- und begründen, die
das Handeln in Ungewissheit professionell gestalten.
„Das professionelle Selbst ist der im Beruf sichtbar werdende Teil der Per-
sönlichkeit eines Pädagogen.“ (Kraul 2002, 55) Die Pädagogik unterscheidet sich
insofern von anderen Professionen, dass die Personen, die pädagogisch handeln,
ihre Persönlichkeit immer mit in die Situation einbringen:

„Neben gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen der Profession geraten die


Professionellen selbst mit ihren (berufs)biographischen Erfahrungen, Einstellungen
und Kompetenzen sowie den damit möglicherweise verbundenen blinden Flecken
ins Blickfeld. […] Professionelles Handeln benötigt neben disziplinären Ausbildun-
gen auch eine Berücksichtigung biographischer Entwicklungen; die Balancierung
von Widersprüchen und Paradoxien erfordert also Biographizität. Professionelle Ak-
teure müssen ihre Wahrnehmung in verschiedenartigen Bereichen schulen, um ihr
Vorgehen hinterfragen und bewusst zwischen Alternativen wählen zu können. […]
Biographische Reflexion wird damit zu einem zentralen Bestandteil von Professio-
nalität.“ (Kraul/Marotzki/Schweppe 2002a, 9)

Ausgehend davon, dass sich die eigenen Erfahrungen und Einstellungen nie
komplett aus der pädagogischen Interaktion wegdenken lassen, wie Kraul u. a.
deutlich machen, ist Reflexion ein wichtiger Bestandteil pädagogischer Profes-
sionalität.16 Denn nur durch Reflexion ist es möglich, sich die Einflüsse der Per-
sönlichkeit auf das pädagogische Handeln bewusst zu machen. Erst durch die
Bewusstmachung ergibt sich die Möglichkeit des aktiven Lenkens dieser Ein-
flüsse. Folglich ist es auch erst dann möglich, auch das professionelle Selbst zu
einem Teil des professionellen Handelns zu machen – in dem Sinne, dass es als
‚Werkzeug‘ oder Methode eingesetzt werden kann.
Der pädagogische Takt ist ein Phänomen, das zuerst von Johann Friedrich
Herbart benannt und damit geprägt wurde:

„Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten Theoretiker, wenn er seine Theorie
ausübt,… zwischen die Theorie und die Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied
ein, ein gewisser Takt nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die
nicht, wie der Schlendrian, ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine
vollkommen durchgeführte Theorie wenigstens sollte, sich rühmen darf, bei strenger
Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel, zugleich die wahre Forde-
rung des individuellen Falles ganz und gerade zu treffen. Eben weil zu solcher Be-
sonnenheit, zu vollkommener Anwendung der wissenschaftlichen Lehrsätze, ein

16
Die empirische Bildungsforschung ist darum bemüht, Professionalität durch eine Art „Entemo-
tionalisierung“ von pädagogischem Handeln herzustellen. Statt auf Emotionen fußende sollen
vielmehr evidenzbasierte Kompetenzen hergeleitet werden. Allerdings kann dieser Aspekt der
Ausführungen zum pädagogischen Selbst nur ein Baustein pädagogischer Professionalität sein.

38
übermenschliches Wesen erfordert werden würde, entsteht unvermeidlich in dem
Menschen, wie er ist, aus jeder fortgesetzten Übung eine Handlungsweise, welche
zunächst von seinem Gefühl, und nur entfernt von seiner Überzeugung abhängt.“
(Herbart 1802, 56)

Der pädagogische Takt basiert also in der konkreten Situation auf einem Gefühl,
welches das pädagogische Handeln lenkt. Das Handeln wird in dem Augenblick
intuitiv. Und anders als intuitiv, so schreibt Herbart, sei die Situation auch gar
nicht zu bewältigen bzw. dazu bedürfte es eines ‚übermenschlichen Wesens‘.
Dass man in der Situation schnell und intuitiv handeln muss, bedeute aber nicht,
dass das Handeln zugleich unprofessionell sei. Dazu Herbart weiter:

„Es gibt eine Vorbereitung auf die Kunst durch die Wissenschaft, eine Vorbereitung
des Verstandes und des Herzens vor Antretung des Geschäfts, vermöge welcher die
Erfahrung, die wir nur in der Betreibung des Geschäfts selbst erlangen können, al-
lererst belehrend für uns wird. Im Handeln nur lernt man die Kunst, erlangt man den
Takt, Fertigkeit, Gewandtheit, Geschicklichkeit; aber selbst im Handeln lernt die
Kunst nur der, welcher vorher im Denken die Wissenschaft gelernt, sie sich zu eigen
gemacht, sich durch sie gestimmt und die künftigen Eindrücke, welche die Erfah-
rung auf ihn machen sollte, vorbestimmt hat.“ (ebd., 57)

Deutlich wird hier, dass der Professionalisierungsaspekt beim pädagogischen


Takt dadurch erhöht werden kann, dass man sich im Voraus – also nicht erst in
der direkten pädagogischen Situation – reflexiv mit dem Geschehen auseinander-
setzt. Herbart betont, dass es darum gehe, sich durch die Auseinandersetzung mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen das nötige Wissen und die entsprechenden
Fertigkeiten anzueignen, um so das intuitive Handeln vorzubestimmen. Erfah-
rungen werden also durch Vorwissen beeinflusst. Dieses muss nach Herbart
bewusst angeeignet werden. Nur wer sich wissenschaftlich vergewissert und sich
grundlegende Informationen beschafft hat, könne dann in der Praxis gewissen-
haft entscheiden. Nach Herbart liegt es in der Verantwortung eines guten Päda-
gogen, sich theoretisch so weit zu rüsten, dass er in der Praxis die Erfahrungen
nicht intuitiv, sondern wissend einordnen und sie so zur Basis seines Handelns,
und dann auch intuitiven Handelns, machen kann. Diesen knapp skizzierten
allgemeingültigen Elementen pädagogischer Profession wird nun ein Konzept
gegenübergestellt, das die pädagogische Profession aus kompetenzanalytischer
Perspektive beleuchtet.

39
2.2.3 Kompetenzanalytische Aspekte pädagogischer Profession

In der Professionsforschung existieren unterschiedliche Ansätze, um pädagogi-


sche Professionalität zu definieren. Der Kompetenzansatz ist der in den pädago-
gischen Diskursen derzeit vorherrschende. Ein Indiz dafür ist nicht zuletzt die
von Hans-Uwe Otto, Thomas Rauschenbach und Peter Vogel vorgelegte Publi-
kation ‚Erziehungswissenschaft: Professionalität und Kompetenz‘ (2002). Hier
werden Kompetenz und Professionalität direkt in einen Zusammenhang ge-
bracht. Da dieser Ansatz als der für diese Arbeit ergiebigste betrachtet wird, soll
an dieser Stelle der kompetenzbezogene Professionalitätsbegriff näher ausgeführt
werden.17 Wolfgang Nieke entwickelte eine kompetenzanalytische Theorie pä-
dagogischer Professionen, die das Allgemeingültige daran aufgreifen will. Im
Zentrum des folgenden Kapitels steht daher der kompetenzanalytische Professi-
onsbegriff nach Nieke:

„Bezogen auf pädagogische Kompetenz bedeutet dies, dass eine Person dann für
kompetent erachtet werden kann, wenn sie erstens fähig ist, die gegebene Aufgabe
auf der Basis des hierfür grundsätzlich zur Verfügung stehenden Weltwissens, bezo-
gen auf professionelle Kompetenz des Fachwissens, das in der Erziehungswissen-
schaft und deren Bezugsdisziplinen aufbereitet wird, zu bewältigen und zweitens auf
der Basis einer speziellen Berufsethik begründet weiß und entscheiden kann, was im
jeweiligen Fall im wohlverstandenen Interesse der anvertrauten Klientel zu tun und
zu unterlassen ist.“ (Nieke 2002, 16)

Darauf aufbauend erläutert Nieke, dass pädagogische Kompetenz nur dann zum
Tragen kommt, wenn folgende vier Komponenten nicht nur gegeben sind, son-
dern auch zusammenwirken18 (vgl. ebd., 17): Gesellschaftsanalyse, Situations-
diagnose, Selbstreflexion und Professionelles Handeln. Diese vier Komponenten
pädagogischer Professionalität werden im Folgenden erläutert.
Der Aspekt Gesellschaftsanalyse bezieht sich auf Folgendes: „Pädagogische
Aufgaben entstehen im gesellschaftlichen Kontext. Sie werden durch gesell-
schaftliche Institutionen definiert [...] oder durch gesellschaftliche Entwicklun-
gen erzeugt.“ (Nieke 2002, 17) Pädagogisches Handeln findet nicht im Vakuum
statt. Beeinflusst wird es, wie Nieke anführt, durch gesellschaftliche Institutio-
nen, die jeweils eigene Regeln und Mechanismen haben. Es gehört zur fachli-
chen Kompetenz von PädagogInnen, diese Regeln zu erkennen, zu begreifen und
17
Weitere Theorien über pädagogische Profession sind nachzulesen bei z.B. Combe/Helsper
1997, Combe/Helsper 2002.
18
Als Grundlage dieser Kompetenzen zieht Nieke entstehungsgeschichtlich Heinrich Roth heran.
Dieser hat unterschieden zwischen: Sachkompetenz, Sozialkompetenz und Selbstkompetenz
(vgl. ebd. 15, nach Roth 1971).

40
in ihrem Rahmen handeln zu können. Ein weiterer Einflussfaktor sind gesell-
schaftliche Entwicklungen, z. B. durch die Entwicklung neuer Medien. Nieke
fordert in diesem Zusammenhang, sich mit den soziologischen, psychologischen
und soziopolitischen Folgen dieser Wandlungen auseinanderzusetzen. Er fordert
also den genaueren Blick auf Auswirkungen von gesellschaftlichen Entwicklun-
gen und verlangt damit ganz konkret von professionellen PädagogInnen, dass sie
sich „nicht auf ihren innerdisziplinären Kontext beschränken“, sondern dass sie
fachlich auf andere Disziplinen (z. B. Soziologie, Psychologie) blicken, um so
das Verständnis für den eigenen Handlungsraum zu erhöhen (vgl. ebd.).
Mit dem Begriff Situationsdiagnose bezeichnet Nieke die Kompetenz, in re-
levanten pädagogischen Situationen nicht intuitiv, sondern intentional zu han-
deln: „Relevante Bedingungen einer gegebenen Situation sollen unter Verwen-
dung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erhebungsverfahren intersubjektiv
überprüfbar identifiziert und in ihrer Bedeutung für das Handlungskonzept ein-
geordnet werden.“ (vgl. Nieke 2002, 18) In gewisser Weise schließt diese Kom-
petenz an die der Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse an, denn auch bei der Situa-
tionsdiagnose kommt es darauf an, sich im Vorfeld – als Vorbereitung auf die
pädagogische Situation – das notwendige Kontextwissen anzueignen, um in der
Situation möglichst alle relevanten Aspekte im Blick zu haben und adäquat pä-
dagogisch professionell zu agieren. Nieke benennt vier Dimensionen, die es
diesbezüglich zu analysieren gilt: Körper, Seele/psychischer Apparat, Raum und
Interaktion. Bezugsdisziplinen für diese Dimensionen sind vor allem die Psycho-
logie und die Soziologie für die letzten beiden Punkte sowie die Biologie, die
Medizin und die Psychologie für die ersten beiden (vgl. ebd.).
Unter dem Begriff Selbstreflexion versteht Nieke zwei Dimensionen, die
sich auf die Person des/der PädagogIn beziehen. Die erste Dimension ist das
berufliche Selbstkonzept. Hierbei gilt es, Fragen zu beantworten wie zum Bei-
spiel:

x Wer bin ich als PädagogIn?


x Was möchte ich in meinem Beruf erreichen?
x An welchen Maximen orientiere ich mich, wenn ich professionell han-
dele?
x Wie kann ich die Wirkung meines Tuns ermessen?
x Welche Relevanz hat mein Handeln für die Betroffenen und für die ge-
samte Gesellschaft und Menschheit? (vgl. ebd., 21)

Diese Fragen erkunden keine normativen Vorgaben, sondern regen die Reflexion
des professionellen Selbstverständnisses an und tragen damit dazu bei, die pro-
fessionelle Verortung des/der PädagogIn zu stärken. Die zweite Dimension ist

41
die der Selbstbetroffenheit, die ein „Spezifikum“ pädagogischer Berufe ist und
sich darauf bezieht, dass die Person des/der PädagogIn unmittelbar in das profes-
sionelle Handeln einbezogen ist (vgl. Nieke 2002, 21). Nieke bezeichnet die
Persönlichkeit hier als „Werkzeug“, das in der pädagogischen Interaktion einge-
setzt werden kann. Dies ist aber nur dann effektiv, wenn es auch bewusst ver-
wendet wird. Das setzt voraus, dass man sich zuvor über diese Selbstbetroffen-
heit im Klaren ist, es kommt also auf die „permanente Selbstaufmerksamkeit“ an
(ebd.).19
Das professionelle Handeln macht das Kernstück von Niekes Kompetenz-
konzept aus und ist wiederum in fünf Phasen zu unterteilen: 1) Bestimmung des
Ziels, 2) Diagnose der Handlungssituation, 3) Festlegung eines Handlungsplans,
4) Aktion, Tun, Durchführung der Handlung, 5) Evaluation, Überprüfung des
Handlungserfolgs (vgl. Nieke 2002, 22). Während die Punkte eins bis vier im
Grunde lediglich die konkrete Umsetzung der zuvor genannten Aspekte bedeu-
ten, ist Punkt fünf ein neuer Aspekt auf der Kompetenzen-Liste: Evaluation ver-
langt zum einen erneut weitere Kompetenzen, nämlich die der professionellen
Überprüfung, zum anderen ist auch dies ein Mittel, durch das intuitives Handeln
in professionelles Handeln integriert werden kann. Anhand der vorliegenden
Kriterien kann das Handeln analysiert und mit ihnen abgeglichen werden. Daraus
können Konsequenzen für folgendes pädagogisches Handeln gezogen werden.
Um Niekes Kompetenzkonzept zusammenzufassen, lohnt der erneute Blick
auf das Phänomen des pädagogischen Takts nach Herbart. Herbart fordert die
‚Vorbereitung auf die Kunst‘ des pädagogischen Handelns. Die vier von Nieke
beschriebenen Kompetenzfelder liefern eine mögliche Form der Vorbereitung.
Sie zeigen auf, inwiefern Wissensaneignung, Reflexion und die Schaffung eines
gedanklichen Bezugsrahmens dazu verhelfen können, in pädagogischen Situa-
tionen intuitives Handeln insofern zu minimieren, als es durch Vorwissen und
Handeln vorbestimmt ist.

19
‚Biographie und Profession‘ ist der Titel eines Herausgeberbandes von Margret Kraul, Winf-
ried Marotzki, Cornelia Schweppe. Tenor der Beiträge ist, dass die biographische Reflexion
einen zentralen Bestandteil pädagogischer Professionalität ausmachen sollte. Die AutorInnen
fordern eine Berücksichtigung biographischer Entwicklungen als einen Aspekt der disziplinä-
ren Ausbildung.

42
2.2.4 Dynamische Professionalität

Um herausfinden zu können, was das Ziel, Bildung zu ermöglichen, für das pro-
fessionelle pädagogische Handeln bedeutet, ist ein Blick auf das pädagogische
Verständnis von Bildung hilfreich:

„Allgemeinbildung im alten Sinne gibt es nicht mehr, wir sind alle Spezialisten in
unserem Wissen und müssen es sein. [...] Wir haben auch keinen festen Idealtypus
mehr, der als Vorbild wirken könnte. [...] So ist der alte Begriff der Bildung aufge-
löst [...] Was aber geblieben ist und immer bleiben wird, ist [...] der spontane und in
dauernder Spontaneität sich erhaltende Prozeß des Sichbildens. In dieser Verlage-
rung des Wertes von einem fertigen Resultat auf den Prozeß besteht die tiefste Ver-
änderung.“ (Nohl 1950a, 77f.)

Das Bildungsziel hat sich also verändert und damit auch die Anforderungen an
professionelle PädagogInnen. Es geht nun nicht mehr darum, den Bildungsgrad
durch Wissensvermittlung zu erhöhen, sondern darum, Kompetenzen zu vermit-
teln, die es ermöglichen, sich Bildung anzueignen. Rolf Arnold, Pädagogikpro-
fessor an der TU Kaiserslautern, hat das Konzept der ‚Reflexiven pädagogischen
Professionalisierung‘20 entwickelt und betont, dass es zu den Kompetenzen von
Lehrkräften gehört, „nachhaltige Aneignungsprozesse bei Lernenden zu initiie-
ren und diese wirksam zu begleiten“ (Arnold 2005, 170) – dies sei Aufgabe der
Lehrerausbildung. Es geht also um einen dynamischen Bildungsbegriff, der vor
allem zu Folgendem führt: Die traditionelle Aufgabe von PädagogInnen, nämlich
Wissen zu vermitteln, rückt immer mehr in den Hintergrund, wird verdrängt von
der nun wichtigsten Aufgabe: eben solche Bildungsprozesse ermöglichen. Auch
die Professionsforschung muss in Ansätzen dem gesellschaftlichen Wandel Tri-
but zollen, denn wie generell in der Pädagogik geht es auch bei der Festlegung
von Aspekten, die pädagogische Professionalität ausmachen, darum, auf die
vielfältigen Anforderungen zu reagieren. Die Vielfalt entsteht zum einen durch
den zeitlichen Wandel, zum anderen aber auch durch die Individualisierung, die
die Menschen und damit die pädagogischen Bedürfnisse vielseitiger werden
lässt. Eine Folge ist die immer weiter fortschreitende Ausdifferenzierung päda-
gogischer Berufe. Will man also Kriterien der pädagogischen Professionalität
formulieren, so ist diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Es kann, wie
Combe/Helsper es 1997 beschreiben, nicht um eine Addition normativ entworfe-
ner Merkmale gehen, sondern vielmehr um Flexibilität im Denken und Handeln.
Methoden der Reflexion oder Evaluation rücken mehr in das Zentrum professio-
neller pädagogischer Profile.

20
Ausführlichere Ausführungen zu diesem Konzept sind zu finden z. B. bei Arnold 2005.

43
Karl-Oswald Bauer, Andreas Kopka und Stefan Brindt haben diese Aspekte
professioneller Kompetenz genauer betrachtet: „Wissen, was man tut, deutlich
wahrzunehmen, wie man handelt, diese Stufen der Hinwendung zum eigenen
Handeln sind keineswegs alltäglich und selbstverständlich.“ (Bauer u. a. 1999,
11) Eine „klare interne pädagogische Zielorientierung“ (ebd., 14) sei Vorausset-
zung für professionelles Handeln. Hiermit schließen sie an den Aspekt der
‚Selbstreflexion‘ an, den Nieke als einen Aspekt pädagogischer Kompetenz
ausmacht. Bauer u. a. vollziehen also einen Perspektivwechsel auf das eigene
Handeln. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen und Werten (vgl. ebd.,
15) rückt in den Fokus. Hier soll besonders auf die von Bauer u. a. formulierte
Frage „Welche berufsethischen Werte betonen Lehrerinnen und Lehrer?“ (ebd.)
eingegangen werden. Die Frage wird vor dem Hintergrund behandelt, dass die
Auseinandersetzung mit den eigenen, das Handeln prägenden Werten als zentrale
Komponente pädagogischen Handelns gesehen wird, und sie wird zugleich auf
die Zielgruppe pädagogischer Fachkräfte – und nicht nur auf Lehrpersonen –
ausgeweitet. In ihrem Fazit betonen Bauer, Kopka und Brindt: „[P]ädagogische
Kompetenzen wurden im Lehrberuf bisher zum großen Teil beiläufig, während
der Berufsausübung erworben. […] Viele Indizien sprechen aber dafür, daß pä-
dagogische Kompetenzen sich systematisch und gezielt fördern lassen.“ (Bauer
u. a. 1999, 233)
Gefordert wird unter Bezugnahme auf diese These, die gezielte Auseinan-
dersetzung mit und Reflexion von pädagogischen Kompetenzen in den Mittel-
punkt der Ausbildung zu pädagogischen Berufen zu rücken und so das ‚profes-
sionelle Selbst‘ zu formen. Auf das professionelle Selbst wurde bereits einge-
gangen. „Das professionelle Selbst ist die auswählende, ordnende, entscheidende
und wertorientiert handelnde Instanz, die den Zusammenhang zwischen berufli-
cher Erfahrung, Diagnosekompetenz, Handlungsrepertoire und pädagogischen
Werten und Zielen herstellt“ (ebd., 234). Indem dieser Aspekt ins Zentrum päda-
gogischer Ausbildung rückt, weil die pädagogischen Kompetenzen zunehmend
als wichtig eingestuft werden, erhalten die so ausgebildeten Fachkräfte mehr
Handlungsautonomie und können aktiver ihr Berufsfeld ausfüllen. Bauer u. a.
entwerfen die Idee eines ‚Diplomdidaktikers‘, der an die Stelle der traditionellen
Lehrkräfte treten soll. Zu seiner „umfassenden didaktischen Kompetenz gehört
das Verfügen über ein Handlungsrepertoire, durch das soziale Strukturen in
Lerngruppen auf der Grundlage einer entsprechenden Diagnose zur Verwirkli-
chung pädagogischer Werte verändert werden können (soziales Lernen)“ (ebd.,
238).

44
2.2.5 Fazit: Zur Vorbereitung auf die ‚kreative‘ Kunst des
pädagogischen Handelns

Johann Friedrich Herbart hielt bereits im Jahr 1802 seine erste Pädagogik-
Vorlesung, also zum Teil lange, bevor die hier vorgestellten Theorien entstan-
den. Dennoch soll folgendes Zitat aus Herbarts Vorlesung das Fazit einleiten:

„Es gibt eine Vorbereitung auf die Kunst durch die Wissenschaft, eine Vorbereitung
des Verstandes und des Herzens vor Antretung des Geschäfts, vermöge welcher die
Erfahrung, die wir nur in der Betreibung des Geschäfts selbst erlangen können, al-
lererst belehrend für uns wird. Im Handeln nur lernt man die Kunst, erlangt man den
Takt, Fertigkeiten, Gewandtheit, Geschicklichkeit; aber selbst im Handeln lernt die
Kunst nur der, welcher vorher im Denken die Wissenschaft gelernt, sie sich zu eigen
gemacht, sich durch sie gestimmt und die künftigen Eindrücke, welche die Erfah-
rung auf ihn machen sollte, vorbestimmt hat.“ (Herbart 1802, 57)

Das Ziel pädagogischen Handelns lautet, Bildung zu ermöglichen – und hierin


besteht, wie aufgezeigt, ein bedeutender Unterschied zur Idee des Bildung-
Vermittelns. Die Kernkompetenzen, die pädagogische Professionalität ausma-
chen, lassen sich an der Fähigkeit festmachen, das eigene Handeln im ständigen
Dialog mit gesellschaftlichen Veränderungen auf der einen und persönlichen
Werten, Einstellungen und Zielen auf der anderen Seite abzugleichen. Nur wenn
diese Grundkompetenzen vorhanden sind, können PädagogInnen ihre Professio-
nalität in einem dynamischen Sinne an individuelle Situationen, Personen und
Anforderungen anpassen.

„Pädagogisch professionell handelt eine Person, die gezielt ein berufliches Selbst
aufbaut, das sich an berufstypischen Werten orientiert, sich eines umfassenden pä-
dagogischen Handlungsrepertoires zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben sicher ist,
sich mit sich und anderen Angehörigen der Berufsgruppe Pädagogen in einer nicht-
alltäglichen Berufssprache verständigt, ihre Handlungen unter Bezug auf eine Be-
rufswissenschaft begründen kann und persönlich die Verantwortung für Handlungs-
folgen in ihrem Einflußbereich übernimmt.“ (Bauer u. a. 1999, 15)

Vor allem der letztgenannte Punkt – Verantwortung zu übernehmen für die Fol-
gen des eigenen Handelns – erfordert das Bestreben, sein Wissen und Können
ständig zu hinterfragen und somit den Prozess der Professionalisierung des eige-
nen Verhaltens als nie abgeschlossen zu verstehen.

45
2.3 Umgang mit Pluralität im Bildungssystem

In der Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz geht es darum, PädagogInnen mit Kom-
petenzen auszustatten, um Bildungssituationen unter den Bedingungen von Viel-
falt zu gestalten. Dabei ist nicht nur kulturelle Vielfalt gemeint, sondern Hetero-
genität in allen Belangen (z. B. Geschlecht, Religion, familiärer Hintergrund,…).
Im vorliegenden Kapitel wird dennoch zunächst der Umgang mit kultureller
Vielfalt im deutschen Bildungssystem nachgezeichnet. Der Rückblick dazu be-
ginnt mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu Ende des Kapitels wird
dann aufgezeigt, dass es auch im Rahmen der Interkulturellen Pädagogik längst
nicht mehr nur um kulturelle Pluralität geht.
Die Anfänge der interkulturellen Pädagogik als akademische Disziplin wer-
den in den frühen 1970er Jahre angesiedelt. Zu diesem Zeitpunkt besuchten die
ersten (damals so genannten) Gastarbeiterkinder deutsche Schulen. Daher mar-
kieren die frühen 1970er Jahre den Beginn der gemeinsamen Beschulung von
Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, und damit rückte das Bestreben,
diese gemeinsame Beschulung für alle Beteiligten gewinnbringend zu gestalten,
in den Fokus pädagogischer Bemühungen. Seitdem gibt es von wissenschaftli-
cher Seite Interesse und Aufmerksamkeit für den Schulbesuch von Kindern mit
Migrationshintergrund, aus dem sich die ‚Interkulturelle Pädagogik‘ etablierte.
Die Vorläufer und die Genese der Disziplin werden im Folgenden dargestellt.
Die Ausführungen konzentrieren sich dabei darauf, den Umgang mit Menschen
mit Migrationshintergrund in deutschen Bildungseinrichtungen nachzuzeich-
21
nen.

2.3.1 ‚Gestörte‘ Homogenität

Die späten 1960er bzw. frühen 1970er Jahre werden als Beginn der Interkulturel-
len Pädagogik als akademische Disziplin gesehen. Davon unabhängig herrscht
Einigkeit darüber, dass es Migrationsbewegungen und damit auch eine Ausei-
nandersetzung mit migrationsspezifischen Themen schon immer gegeben hat
(vgl. Auernheimer 2007, 16).
1871 wurde das Deutsche Reich gegründet. Seitdem sind gut 135 Jahre ver-
gangen, das ehemals deutsche Reich hat verschiedene politische, gesellschaftli-
che, (auch) durch Kriege bedingte Wandel durchlebt, Grenzen wurden neu gezo-

21
Im weiteren Sinne zählen Forschungsbereiche wie einerseits international vergleichende Päda-
gogik, anti-rassistische Pädagogik, Pädagogik der Entwicklungsländer, Europaerziehung und
andererseits auch die Friedenserziehung oder die demokratische Erziehung dazu.

46
gen und die ursprüngliche Landesbezeichnung existiert nicht mehr. Die Erzie-
hungswissenschaftlerinnen Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz zeigen
auf, dass die Bemühungen von Gesellschaft und Staat, kulturelle und ethnische
Homogenität herzustellen, zur heutigen Bundesrepublik Deutschland führten und
diese sich durch diese Maßnahmen als Nationalstaat etablierte. Die Nationenbil-
dung „war in Deutschland – wie auch in anderen europäischen Staaten – ein
langfristiger Prozess mit je unterschiedlicher Ausprägung, begleitet von einem
Diskurs, der die ‚eigene Nation’ in Opposition zu anderen als ‚fremd’ definierten
setzte, und jede Nation als eine sprachlich, kulturell und ethnisch in sich homo-
gene Einheit behauptete.“ (Gogolin/Krüger-Potratz 2006, 69) Das moderne Bil-
dungswesen hatte in diesem Prozess von Anfang an die Aufgabe, zur Bildung
einer nationalen Identität beizutragen. Diese Nationenbildung kennzeichnen die
Autorinnen als einen „auf Homogenität ausgerichtete[n] Prozess“ (ebd. 70). Paul
Mecheril, Professor für Interkulturelles Lernen und sozialen Wandel an der Uni-
versität Innsbruck, bezeichnet den Prozess der Homogenisierung bezogen auf
Individuen als Ausbildung einer natio-ethno-kulturellen Identität. Er betont in
seinen Ausführungen, dass die Bildung dieser natio-ethno-kulturellen Identität
zwar auch in anderen Ländern vollzogen wurde, dass das Streben nach einem
„ethnisch und kulturell homogenen ,Wir‘“ in Deutschland aber extremer als in
anderen Ländern war und Deutschland deswegen auch heute noch besonders
ausgeprägt die Homogenisierung des ‚Deutsch-Seins‘ internalisiert hat (Mecheril
2004, 24). So begründet Mecheril die Tendenz, dass sich Menschen in Deutsch-
land schwer damit tun, Heterogenität als etwas Gegebenes zu akzeptieren. Dem
schließt sich die international-vergleichende Bildungsforscherin Cristina Alle-
man-Ghionda an. Sie führt aus, dass weltweit ca. 50 Prozent der Bevölkerung
mehrsprachig aufwachsen und Länder wie die Schweiz oder Kanada über mehr
als eine Landessprache verfügen (Allemann-Ghionda 2008). Mehrsprachigkeit
ist in diesen Ländern also historisch gewachsen und wird ebenso als normal
empfunden, keineswegs als Ausnahme (vgl. Allemann-Ghionda 1997). Der Pro-
zess der gesellschaftlichen Homogenisierung, der Ende des 19. Jahrhunderts
begann, dauerte rund 100 Jahre. Nicht verschwiegen werden dürfen in diesem
Zusammenhang die zumeist politisch motivierten Ausprägungen, die zu Frem-
denhass, Vertreibung und nicht zuletzt dem Nationalsozialismus führten. Dass
diese Ereignisse die Gesellschaft zusätzlich prägten, traumatisierten und natür-
lich auch Einfluss auf die Pädagogik in diesen Zeiten nahm, soll erwähnt, hier
aber nicht weiter ausgeführt werden. Der für die vorliegenden Ausführungen
bedeutende Einschnitt liegt in den späten 1960er Jahren, als im Zuge der Anwer-
berabkommen Gastarbeiter und später ihre Familien nach Deutschland kamen.
Ausgelöst durch den wirtschaftlichen Aufschwung und den damit zusam-
menhängenden Arbeitskräftemangel in Deutschland wurden Arbeitsmigranten

47
bzw. Gastarbeiter aus europäischen Nachbarländern nach Deutschland angewor-
ben. Ihre Arbeits-, Wohn- und Aufenthaltsbestimmungen wurden in den so ge-
nannten Gastarbeiter-Anwerbeabkommen festgelegt. Diese sahen vor, dass nach
dem ursprünglich angedachten Rotationsprinzip die Gastarbeiter jeweils nur eine
bestimmte Zeit in Deutschland bleiben und dann durch andere Arbeiter ersetzt
werden sollten. Diese Rotation war jedoch aus wirtschaftlicher Sicht nicht sinn-
voll, so dass Arbeitgeber dazu übergingen, die Gastarbeiter weiter zu beschäfti-
gen und damit deren Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Aufgrund
dieser Verlängerungen gab es neue Regelungen, die auch die häufig im Heimat-
land zurückgebliebenen Familien der Gastarbeiter betrafen. Sie kamen im Zuge
der Maßnahmen zur Familienzusammenführung nach Deutschland, um ebenfalls
auf unbestimmte Zeit hier zu leben. Die Kinder dieser Familien hatten – wenn
auch nicht von Anfang an – ein Schulbesuchsrecht (vgl. Nieke 1995). So nahmen
also Anfang der 1970er Jahre die ersten Gastarbeiterkinder am Unterricht in
deutschen Schulen teil. Ihre Situation in dieser Anfangszeit war geprägt durch
verschiedene Unsicherheiten. Zum einen waren emotionale Aspekte von Bedeu-
tung, wie z. B. die unsichere Verbleibdauer, die Entwurzelung von der Heimat,
die neue, fremde Umgebung und die Annahme, zeitnah wieder in die Heimat
zurückzukehren. Zum anderen gab es pragmatische Besonderheiten: Die Kinder
sprachen z. B. die deutsche Sprache nicht und waren mit kulturellen Gepflogen-
heiten in Deutschland wenig vertraut. Diese Kinder trafen nun auf Lehrkräfte,
die ihrerseits auf die neue Situation nicht genügend vorbereitet waren. Ihre Aus-
bildung setzte ein auf Homogenität ausgerichtetes System voraus. Das Thema
,kulturelle Heterogenität’ kam darin und auch in ihrer bisherigen Berufslaufbahn
nicht vor. Zwar wurde in Leipzig der erste Lehrstuhl für „Deutsch als Fremd-
sprache“ in den 1960er Jahren gegründet, die meisten Lehrkräfte hatten aber
davon zunächst noch nichts mitbekommen und waren völlig unerfahren im Um-
gang mit Kindern, die kein Deutsch sprachen. Sie standen vor der Situation, die
22
Ausländerkinder in ihren Klassen gemeinsam mit den anderen Kindern unter-
richten zu müssen. Ihre Aufgabe war die schulische Integration, die beim genau-
en Hinsehen zwei Schwerpunkte beinhaltete. Zum einen ging es darum, die Gas-
tarbeiterkinder dazu zu befähigen, am Unterricht aktiv teilzunehmen. Zum ande-
ren ging es aber auch darum, ihre Rückkehrfähigkeit zu erhalten. Da sowohl die
Familien als auch die Lehrkräfte von einem vorübergehenden Aufenthalt ausgin-
gen, war es wichtig, die Erinnerung an die Heimat und die dort geltenden kultu-
rellen/gesellschaftlichen Normen präsent zu halten (vgl. Nieke 1995). Die ersten
pädagogischen Maßnahmen konzentrierten sich also auf die beiden Schwerpunk-
22
Die Bezeichnung scheint aus heutiger Sicht politisch nicht korrekt, ist aber bewusst gewählt, da
sie die Sichtweise der Gesellschaft auf die damals Zugewanderten und hier beschriebenen Kin
der dieser Phase wiedergibt.

48
te Sprachförderung23 und Integration. Für beide Ziele führte der Weg über zu-
sätzliche Klassen, in denen die Kinder unabhängig vom Regelunterricht zusätz-
lich gefördert wurden.24 Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Nieke, der
ausführlich die historische Genese der interkulturellen Pädagogik beforscht und
beschrieben hat25, bezeichnet diese erste Phase des Umgangs mit interkulturellen
Themen als ‚Ausländerpädagogik als Nothilfe’. Das oberste Ziel lautete, die
Kinder so zu fördern, dass „sie dem Unterricht überhaupt folgen konnten“ (Nie-
ke 1995, 14). Dass diese erste Phase unter dem Begriff „Ausländerpädagogik“
firmierte, ist bezeichnend: Es zeigt deutlich, welchen Schwerpunkt die Maßnah-
men hatten. Im Fokus standen die Ausländerkinder, die möglichst schnell dazu
befähigt werden sollten, am Unterricht teilnehmen zu können.
Wie aufgezeigt, stellte die schulische Befähigung der Ausländerkinder eine
Anforderung an die Lehrkräfte, die nichts mit den bisherigen Aufgaben zu tun
hatte und somit als Zusatzleistung gesehen werden kann. Vor dem Hintergrund,
dass eine mögliche Rückkehr immer mitgedacht wurde und pädagogische Maß-
nahmen zum Erhalt der Rückkehrfähigkeit getroffen wurden, ist nachvollziehbar,
dass es zu dieser „pragmatische[n] Anpassung der Organisation Schule unter
unklaren Rahmenbedingungen“ (Diehm/Radtke 1999, 134) gekommen ist, die
den reibungslosen Verlauf des Unterrichts im Vordergrund sah.
Die Haltung, dass nicht die Schule den neuen Bedingungen angepasst wurde,
sondern versucht wurde, die Migrantenkinder den hiesigen Bedingungen anzu-
passen, indem alle Maßnahmen ausschließlich auf die Betroffenen gerichtet
waren, bezeichnet Annedore Prengel, die sich als Pädagogik-Professorin mit
Fragen der Vielfalt auseinandersetzt, als ‚assimilierend-kompensatorische Be-
mühungen‘ (vgl. Prengel 2006, 76). Sie verweist damit auf die rein pragmatische
Zielsetzung der Maßnahmen: die Kinder sollten befähigt werden, Anschluss zu
finden und einen Abschluss zu erwerben.
Diese ersten pädagogischen Maßnahmen haben den weiteren Verlauf der
interkulturellen Pädagogik entscheidend geprägt. Die Integration der Ausländer-
kinder war ein langer Prozess, obwohl eigentlich rasche Ergebnisse notwendig
waren, um den Alltag in Schulen möglichst zeitnah reibungslos ablaufen zu las-
sen. Solche raschen Ergebnisse blieben zunächst aus. Die Gastarbeiterkinder

23
Dem Aspekt ‚Sprache‘ wird bis heute ein Großteil der Aufmerksamkeit in der interkulturellen
Arbeit gewidmet.
24
Wie schon in Förderschulen für Kinder mit Behinderung oder im Zuge der Koedukationsdebat-
te speziell für Mädchen Schulen, Schulklassen oder Unterrichtseinheiten eingerichtet wurden,
so wurden auch für Kinder mit Migrationshintergrund Räume geschaffen, in denen sie nach
ihren speziellen Bedürfnissen gefördert werden sollten.
25
Wolfgang Nieke nahm eine Einteilung in Phasen der interkulturellen Pädagogik vor, auf die
auch in der aktuellen Literatur noch häufig Bezug genommen wird.

49
nahmen kaum aktiv am Unterricht teil, ihre Leistungen blieben weit unter denen
der deutschen MitschülerInnen. Aufgrund der sprachlichen Barrieren und der
damit zusammenhängenden eingeschränkten Teilnahme am Unterricht, dem sie
über lange Strecken beiwohnten, ohne etwas zu verstehen und der sie dazu ver-
leitete, sich anders zu beschäftigen, wurden sie teilweise zu echten Störfaktoren.
Die Lehrkräfte reagierten auf die ausbleibenden Integrationserfolge mit der
‚Harmonie der Täuschung’:

„Auf die teilweise unübersehbare Vergeblichkeit ihrer [der LehrerInnen] Versuche,


die Defizite durch fördernden Unterricht zu kompensieren, reagierten sie nicht mit
einer kritischen Überprüfung ihrer Maßnahmen, sondern sie erklärten sich das
Scheitern mit der herkunftskulturell geprägten psycho-sozialen Ausstattung der Kin-
der und ihrer Familien.“ (Diehm/Radtke 1999, 129)

Die Reflexion der eigenen Rolle im Prozess der Integration der Migrantenkinder
fand auf Seiten der Lehrkräfte nicht statt, wie Georg Auernheimer konstatiert:
„Erstaunlicherweise wurden aber […] in der Ausländerpädagogik nicht die Defi-
zite des Systems, sondern die der Migrantenkinder zum Problem gemacht“
(Auernheimer, 2007, 37). Verständlich wird dies vor dem Hintergrund, dass es
für eine solche Reflexion bislang keine Konzepte oder Vorbilder gab. Der kriti-
sche Blick auf die eigene Arbeit hatte keine ausgeprägte Tradition in deutschen
Schulen. Stattdessen wurde versucht, sich dem Phänomen ‚Ausländerkinder‘ auf
andere Weise zu nähern. Forschung und Publikationen konzentrierten sich dar-
auf, Genaueres über diese Jungen und Mädchen herauszufinden. Sie wurden vor
ihrem kulturellen Hintergrund analysiert und ihr Verhalten mit kulturellen Be-
sonderheiten erklärt. Das Bild von Ausländerkindern als defizitären Wesen im
deutschen Bildungssystem festigte sich. Die Rolle der Schule als Institution und
die der Lehrkräfte als in der Institution wirkende Individuen wurde zunächst
nicht reflektiert (vgl. Auernheimer 2007, 46f.).
Nachdem in der so genannten Ausländerpädagogik der Fokus fast ein Jahr-
zehnt auf den zugewanderten Kindern lag, kam es Ende der 1970er Jahre zu
einem Umdenkprozess, der schließlich durch das Kühn-Memorandum 1979 auch
offiziell gefordert wurde. Der damalige Bundesbeauftragte für Ausländerfragen
und ehemalige Ministerpräsident von NRW Heinz Kühn stellt darin fest, dass
„den (vermutlich in großer Zahl) bleibewilligen Zuwanderern […] das Angebot
zur vorbehaltlosen und dauerhaften Integration gemacht werden [muss].“ (Kühn
1979, 5) Daran anschließend werden in dem Memorandum unter anderem fol-
gende Forderungen für den Umgang mit Migranten aufgestellt:

„[Die] Anerkennung der faktischen Einwanderung, [eine] erhebliche Intensivierung


der integrativen Maßnahmen vor allem für die Kinder und Jugendlichen […,], [die]

50
Ablösung aller segregierenden Maßnahmen, im Schulsektor z. B. der ,National-
klassen‘ und ähnliche Unterrichtsformen.“ (Kühn 1979, 4)

Kühn stellt fest, dass Deutschland nun faktisch zum Einwanderungsland gewor-
den sei. Davor dürften die Augen nicht verschlossen werden, vielmehr seien
entsprechende Maßnahmen notwendig. (vgl. ebd., 4). Damit war die Pädagogik
gezwungen, Kinder mit Migrationshintergrund26 als bleibenden Bestandteil an
deutschen Schulen zu akzeptieren und die pädagogischen Maßnahmen entspre-
chend anzupassen. „Voraussetzung dafür war die Anerkennung der ethnischen
Minoritäten als dauerhaftem Bestandteil einer multikulturellen Gesellschaft.“
(Auernheimer 2007, 39) Inhaltlich wurde die pädagogische Idee der reibungslo-
sen Eingliederung in das Schulsystem weiter verfolgt. In der Literatur werden
die darunter fallenden Konzepte häufig als ‚Assimilationspädagogik‘ zusam-
mengefasst. Diese Formulierung macht deutlich, dass der Grundgedanke weiter
darin bestand, ‚Fremdkörper‘ in etwas Bestehendes, Homogenes einzugliedern.
Gogolin/Krüger-Potratz unterstellen der interkulturellen Pädagogik auch noch im
Jahr 2006 eine „Kontinuität der ,assimilativen Logik’“ und begründen dies wie
folgt: „Die Grundeinstellung, dass Kinder und Jugendliche aus Migrantenfami-
lien nicht zur ,normalen Klientel’ der Bildungseinrichtung gehören, und die da-
mit verbundene eher ausgrenzende Struktur der Maßnahmen hat sich nicht ver-
ändert.“ (Gogolin/Krüger-Potratz 2006, 100) Der Fokus der assimilatorischen
Maßnahmen lag somit weiter auf den Kindern mit Migrationshintergrund, die
nun aktiv darin unterstützt wurden, sich möglichst schnell und reibungslos ein-
zugliedern. Diese Strategie wurde lange verfolgt, bevor sich im fachlichen Dis-
kurs allmählich die Idee durchsetzte, nicht nur die Migrantenkinder zu assimilie-
ren, sondern auch das System, die Schule und die daran Beteiligten in die Verän-
derung mit einzubeziehen, wie dies – seiner Zeit voraus – Heinz Kühn 1979
bereits gefordert hatte.

2.3.2 Kultur als Konstrukt

In der Interkulturellen Pädagogik wird Kultur häufig zum Differenzierungsmo-


ment erhoben. Der Begriff von Kultur ist dabei zumeist auf die Nationalkultur
beschränkt: „Sowohl im bildungspolitisch-administrativen und praktischen
Raum als auch in eher theoretisch orientierten Arbeiten wurde ,Kultur’ zunächst
als ,Nationalkultur’ verstanden.“ (Gogolin/Krüger-Potratz 2006, 116) Individuen

26
Dies ist die heute akzeptierte Bezeichnung. Diese Kinder zeichnen sich durch unterschiedliche
Migrationserfahrungen aus. Unterschieden wird auch zwischen MigrantInnen der ersten, zwei
ten, dritten und bald folgenden vierten Generation.

51
wird demnach, je nach im Pass angegebener Nationalität, die Nationalkultur
zugesprochen und ihr Verhalten über stereotype Denkmuster gedeutet. Die
Kompetenzen und Prägungen eines Individuums werden aus seiner Herkunft
abgelesen. Kulturalisierung wird in diesem Kontext also als „die Konstruktion
und Zuschreibung von verallgemeinerten kulturellen Ausdrucksformen zu
Merkmalen und Eigenschaften eines jeden Individuums der entsprechenden
Herkunft“ verstanden (Gogolin/Krüger-Potratz 2006, 117). Dieser Begriff von
Kultur beinhaltet, dass Menschen immer als Teil einer – hier nationalen – Grup-
pe gesehen werden und damit automatisch die für die Gruppe typischen Eigen-
schaften in sich tragen. Individuen werden aufgrund ihrer nationalen Herkunft
Eigenschaften zugeschrieben (vgl. ebd.). Wird Kultur also als hauptsächlich
nationale Kultur betrachtet, so schränkt dies die Sicht auf die individuellen Prä-
gungen eines Menschen ein. Dass die (nationale) Herkunft Einfluss auf das We-
sen und die Identität eines Menschen haben, wird nicht bestritten. Die folgenden
Ausführungen zum Kulturbegriff sollen aber aufzeigen, dass die Nationalkultur
nur einer von vielen Einflussfaktoren auf die Kultur eines Menschen ist. Dieser
Faktor kann sich in eine bestimmte Richtung auswirken, dies muss aber nicht
zwingend der Fall sein. Georg Auernheimer schreibt über die verschiedenen
Möglichkeiten, Kultur zu deuten:

„Wir können nicht mehr hinter die sozialwissenschaftliche Einsicht zurück, daß
Ethnizität ein soziales Konstrukt ist. […] Ethnizität ist nichts Naturgegebenes. […]
Es gibt keine soziale oder kulturelle ,Prägung‘, die nicht seitens des Individuums re-
lativiert werden könnte.“ (Auernheimer 1996, 10ff.)

Diese Erkenntnis ist an dieser Stelle als zentral festzuhalten: Kultur ist ein Kons-
trukt. Paul Mecheril schreibt über die oben beschriebene Verwendung des Kul-
turbegriffs, dass dieser „suggeriert, dass »Kultur« die zentrale Differenzdimensi-
on sei, auf der die relevanten Unterschiede der Besucher und Besucherinnen des
Bildungswesens zu beschreiben, zu untersuchen und zu behandeln sind.“ (Me-
cheril 2004, 16) Mecheril versteht Kultur aber gerade nicht als eine Sammlung
von Merkmalen und Eigenschaften, die man entweder Individuen oder sogar
Gruppen zuordnet und wendet sich ab von dem Verständnis von Kultur als
„Qualitätsmerkmal von Gegenständen und Lebensformen“ (Mecheril 1998, 288).
Vielmehr sieht er Kultur „als Ensemble von Deutungs- und Interpretationsmus-
tern [...], die spezifische Handlungen nahe legen und soziale Wirkungen haben“
und die somit „Kultur als eine soziale Praktik“ definieren (Mecheril 2008, 26).
Mit dieser Deutung von Kultur lenkt Mecheril den Blick in eine vollständig neue
Richtung. Hier geht es nicht darum, anderen Menschen eine Kultur zuzuschrei-
ben und sie somit einordnen zu können. Sondern es geht darum, Kultur zu nut-
zen, um die eigenen Deutungs-, Sicht- und Verständigungsweisen verstehen zu

52
können. Kultur ist demnach die Brille, durch die jeder Mensch blickt und die
auch den Blick auf andere Menschen entsprechend der eigenen Prägungen
schärft. Damit bekommt Kultur einen instrumentellen Charakter. Mecheril be-
zeichnet Kultur als eine Praktik, die angewandt werden kann. Somit ist sie ein
„theoretisches Werkzeug, das den Blick auf soziale Zusammenhänge in spezifi-
scher Weise präformiert“ (Mecheril 2008, 26). Dies schließt nicht aus, dass die
Kultur durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe geprägt wird. Denn Mecheril
bezeichnet Kultur „als Lebensform einer größeren, auf eine Geschichte zurück-
blickenden Menschengruppe, welche die Lebensstile jedes einzelnen Gruppen-
mitglieds grundlegend beeinflußt.“ (Mecheril 1998, 289) Der entscheidende
Punkt aber ist, dass in der Beschäftigung mit Kultur nach Mecheril der Blick
nicht mehr nach außen auf andere, sondern auf die eigene Person gelenkt wird
und damit durch Selbstreflexion zu einem besseren Verständnis der eigenen
Deutungs- und Handlungsmuster führen kann. „Die entscheidende Frage heißt
also nicht: Gibt es kulturelle Unterschiede? Die bedeutsamere Frage lautet viel-
mehr: Unter welchen Bedingungen benutzt wer mit welchen Wirkungen ‚Kul-
tur’?“ (Mecheril 2008, 26) Zu der Beschäftigung mit Interkulturalität im Bil-
dungssystem gehört demnach der Blick auf die eigene Person, auf die Pädago-
gInnen als kulturell handelnde Personen.

2.3.3 Vielfalt aus institutioneller und gesellschaftlicher Sicht

Ein weiterer beeinflussender Faktor in Anbetracht der Frage der Integration von
Migrantenkindern in deutsche Bildungseinrichtungen sind diese Institutionen
selbst. Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke publizierten 2002 eine Fallstu-
die zu Selektionspraktiken an Grundschulen. Sie belegen mit dieser Studie, dass
speziell Kinder mit Migrationshintergrund strukturell im Schulwesen benachtei-
ligt werden und dass die Gründe für diese Benachteiligung häufig nachträglich
kulturell gerechtfertigt werden.

„Diskriminierung ist an den drei beschriebenen Entscheidungsstellen insofern insti-


tutionalisiert, als jeweils um Mitgliedschaftsbedingungen gerungen wird, die Mig-
rantenkinder aufgrund ihrer abweichenden Vorsozialisation in vielen Fällen nicht er-
füllen können. Das zeigt sich bei der Einschulung, bei der Einleitung eines Sonder-
schulaufnahmeverfahrens und bei den Übergängen: es geht der Schule nicht um Na-
tionalität, sondern um Normalität, d. h. um Abweichung von den Normen, die neben
guten Leistungen auch erwartet werden: soziale Integration, Elternmitarbeit, anre-
gungsreiches Milieu und vor allem: keine zusätzlichen Defizite und Bedürfnisse, die
Schwierigkeiten bereiten könnten.“ (Gomolla/Radtke 2002, 263)

53
Gomolla/Radtke gelingt es aufzuzeigen, dass Selektionspraktiken im Laufe der
Grundschulzeit häufig diskriminierende Praktiken sind. Einen Grund dafür sehen
die ForscherInnen in der ‚Gleichbehandlung Ungleicher’ (vgl. Gomolla/Radtke
2002, 264). Alle SchülerInnen werden an den gleichen normativen Maßstäben
gemessen. Anstatt ihre Vorerfahrungen, Entwicklungen und Kompetenzen indi-
viduell zu betrachten und darauf basierend zu entscheiden, werden andere Fakto-
ren wie die Einschätzung des Systems der sozialen Unterstützung oder der kultu-
rellen Verschiedenheit als Gründe angeführt, eine Empfehlung auszusprechen,
die bei gleicher Notenlage für Kinder ohne Migrationshintergrund nicht ausgesp-
rochen worden wäre. Den Grund für ein solches Vorgehen sehen Gomol-
la/Radtke in dem Streben nach Homogenität:

„Die Organisation [Schule] bevorzugt möglichst homogene Lerngruppen (Klassen),


die gemeinsam wie ein Schüler unterrichtet werden können. Darauf ist die Gestal-
tung des Unterrichts in Didaktik und Methodik eingestellt […] Wichtigstes operati-
ves Ziel ist, die eigene Handlungsfähigkeit durch größtmögliche Homogenität der
Eigenschaften/Lernvoraussetzungen der Kinder zu erhalten.“ (ebd., 258)

Gomolla/Radtke erkennen den Grund für ein solches Vorgehen auf Seiten der
PädagogInnen vor allem darin, dass die frühe interkulturelle Pädagogik verstärkt
Konzepte entwickelt hat, die die kulturellen Unterschiede als Begründung für
Situationen und Integrationsprobleme heranzogen. Diese Sichtweisen haben sich
nach Ansicht der AutorInnen in den Köpfen und auch in den Handlungs- und
Argumentationskonzepten der PädagogInnen manifestiert: „Nun aber sind die
kulturalisierenden Geister, die man rief, aus den Schulen nicht mehr zurückzuru-
fen, weil sie ihre Brauchbarkeit in der Praxis der Organisation erwiesen haben.“
(ebd. 275)
Paul Mecheril zog aus der Abkehr von kulturbasierten Erklärungsmustern
und der Einbeziehung institutioneller und struktureller Faktoren als Ursache für
scheiternde Integrationsbemühungen die Konsequenzen und prägte einen neuen
Begriff. Er behandelt die Anforderungen an die Pädagogik im Zuge der anhal-
tenden Migrationsbewegungen und damit steigender Heterogenität in pädagogi-
schen Handlungsfeldern unter dem Schlagwort ‚Migrationspädagogik’: „Migra-
tionspädagogik bezeichnet einen Blickwinkel, unter dem Fragen gestellt und
thematisiert werden, die bedeutsam sind für eine Pädagogik unter den Bedingun-
gen einer Migrationsgesellschaft.“ (Mecheril, 2004, 18) Das Kind/die Person mit
Migrationshintergrund rückt hierbei als direktes Handlungsziel in den Hinter-
grund, betont wird stattdessen die eigene Rolle im Integrationsprozess.

„Gegenstand der Migrationspädagogik sind die durch Migrationsphänomene bestä-


tigten und hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen und insbesondere die Frage,

54
wie diese Ordnungen in bildungsinstitutionellen Kontexten wiederholt, produziert
und verschoben werden.“ (Mecheril 2004, 19).

Damit bringt die Perspektive Migrationspädagogik eine neue Sichtweise für den
Umgang mit kultureller Heterogenität und ist gleichbedeutend mit der Abwen-
dung von Menschen mit Migrationshintergrund als alleiniger Zielgruppe inter-
kultureller Pädagogik. Die Pädagogik an sich und damit die in ihr handelnden
Individuen, also die pädagogischen Fachkräfte, rücken in den Fokus pädagogi-
scher Forschung. Eine zentrale Aufgabe der Migrationspädagogik sieht Mecheril
in der „Beschäftigung mit der Frage, wie der und die Andere unter Bedingungen
von Migration erzeugt wird und welchen Beitrag pädagogische Diskurse und
pädagogische Praxen hierzu leisten“ (Mecheril 2004, 19). Hierbei geht es ver-
stärkt darum, das eigene pädagogische Handeln und Denken genauer zu betrach-
ten, zu analysieren und so die Praxis mit den Anforderungen abzugleichen.27

2.3.4 Pädagogik der Vielfalt

Annedore Prengel fasst die Erkenntnisse aus den Bereichen der Integrationspä-
dagogik, der feministischen Pädagogik und der Interkulturellen Pädagogik zu-
sammen und schließt daran Forderungen an pädagogisches Handeln an, die sie
unter dem Oberbegriff der ‚Pädagogik der Vielfalt’ subsumiert.

„Allen drei Erkenntnisperspektiven ist gemeinsam, dass sie sich darum bemühen,
bestehende hierarchische Verhältnisse nicht zu reproduzieren, sondern in der Erzie-
hung am Abbau von Hierarchien zu arbeiten. Indem sie sich gegen Behindertendisk-
riminierung, Frauenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit, auch Rassismus wen-
den, sind sie einer emanzipatorischen Pädagogik verpflichtet. Sie stellen neue Ant-
worten auf die alte Frage nach der Herstellung des ‚Anderen’ und nach der Emanzi-
pation von in herrschenden Aussagesystemen der bürgerlichen Gesellschaft ‚Ande-
ren‘ zur Diskussion.“ (Prengel 2006, 14)

Prengel stellt bei ihren Ausführungen die Konstruktion der ‚Anderen’ in den
Mittelpunkt und meint damit alle diejenigen, die den Homogenitätserwartungen
in deutschen Bildungseinrichtungen nicht entsprechen.

„Der Ausschluß [der Frauen, der Behinderten und der Angehörigen anderer Kultu-
ren] aus dem sich im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft konsti-

27
In der Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen hat es einen ähnlichen Umdenkprozess
gegeben. Unter dem Schlagwort ‚Doing Gender‘ wurde und wird untersucht, inwiefern das Ge-
schlecht sozial konstruiert wird (vgl. hierzu z.B. Kreienbaum/Urbaniak 2006)

55
tuierenden Bildungswesen ist unmittelbare Folge der Höher- und Minderwertig-
keitsvorstellungen, also Hierarchiebildungen, in ihrem Menschenbild.“ (Prengel
2006, 171)

Prengel veranschaulicht, welchen Beitrag Pädagogik und Bildungseinrichtungen


dazu geleistet haben und immer noch leisten, das ‚Andere‘ zu konstruieren. Sie
beschreibt die Hierarchisierungs- und Assimilationsprozesse und zeigt auf, dass
mit den herkömmlichen pädagogischen Konzepten bisher nicht erreicht werden
konnte, dass Menschen mit ihren unterschiedlichen Vorerfahrungen, Prägungen,
Kompetenzen und Wünschen im Bildungssystem gleichberechtigt sind. Schließ-
lich stellt sie in ihrer Studie die Frage „Kann pädagogisches Handeln der ge-
schlechtlichen, kulturellen und individuellen Verschiedenheit der Menschen
gerecht werden? Wie kann Pädagogik dabei das demokratische Prinzip der
Gleichberechtigung verwirklichen?“ (Prengel 2006, 15) Prengel führt das ‚Ge-
rechtwerden pädagogischen Handelns‘ an und legt damit auch die Verantwort-
lichkeit für gelingende Gleichberechtigung im Bildungssystem in die Hände der
PädagogInnen. Prengel formuliert 17 Thesen für eine Pädagogik der Vielfalt.

„[Die Thesen] sind dem Ziel verpflichtet, für alle Schülerinnen- und Schülergruppen
auf den unterschiedlichen Ebenen der Schulpädagogik den gleichberechtigten Zu-
gang zu den materiellen und personellen Ressourcen der Schule zu schaffen, um auf
der Basis solcher Gleichberechtigungen die je besonderen, vielfältigen Lern- und
Lebensmöglichkeiten zu entfalten. Dieses Ziel der gleichberechtigten Teilhabe an
den Ressourcen von Bildungsinstitutionen gilt für alle Einrichtungen des Bildungs-
wesens.“ (Prengel 2006, 185)

Die Thesen stellen, Axel Honneth folgend, drei Dimensionen der Anerkennung
in den Fokus: Die Anerkennung der einzelnen Person in intersubjektiven Bezie-
hungen, die Anerkennung gleicher Rechte und die Anerkennung der Zugehörig-
keit zu (sub-)kulturellen Gemeinschaften (vgl. Honneth 1992). Prengel bezeich-
net die Formulierung dieser Thesen als einen „Versuch der Annäherung an eine
demokratische Differenzvorstellung“ (Prengel 2006, 167). Im Mittelpunkt einer
solchen Pädagogik steht die Anerkennung der Getrenntheit und Heterogenität
aller Einzelnen und damit die Achtung vor der Einzelpersönlichkeit (vgl. ebd.,
186). Dass diese Anerkennung ausgeprägte pädagogische Kompetenzen erfor-
dert, verdeutlicht folgende Aussage: „Die heterogenen Impulse aus anderen Le-
bensweisen sind weder wahr noch gut, sie selbst sind begrenzt, partikular, konf-
liktreich. Kulturelle Begegnung produziert immer neue, selbst nur partikulare,
veränderliche Möglichkeiten.“ (Prengel 2006, 180) Die drei Dimensionen der
Anerkennung stellen also hohe Anforderungen an pädagogische Fachkräfte. Sie
werden aufgefordert, einen neuen Umgang mit Heterogenität zu erlernen, der die

56
Individuen in all ihrer Komplexität in den Mittelpunkt pädagogischer Bemühun-
gen stellt. Damit einher geht die Einsicht, dass es keine Patentrezepte geben
kann, sondern dass pädagogisches Handeln immer wieder neues, individuelles
Vorgehen erfordert. Prengel sieht ihre Thesen daher als Diskussionsbeitrag, der
Reflexionsarbeit an Widersprüchen und offenen Fragen anregen soll (vgl. ebd.,
196).
Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke haben mit der ‚Harmonie der Täu-
schung’ ein Phänomen beschrieben, das dazu dient, die ‚Schuld’ für nicht gelin-
gende Integrationsmaßnahmen in den anderen – hier den Migrantenkindern – zu
suchen, statt auf das zu blicken, was man selbst als pädagogische Person zu dem
Problem beiträgt. Diehm/Radtke schreiben in diesem Zusammenhang, dass es
wichtig ist, das herkömmliche Verständnis von Kultur zu dekonstruieren.

„Eine auf das Deutungsmuster ,Kultur‘ ausweichende Beschreibung für die han-
delnden Pädagoginnen [vermag] die Komplexität pädagogischer Situationen zu re-
duzieren [ ]. Die betroffenen Migrantenkinder in der Schule oder die Migrantinnen
und Migranten im sozialpädagogischen Feld werden indes durch diese Erklärungen
ihrer (Problem-) Situation eingeschnürt in ein Korsett kultureller Zu- und Fest-
schreibungen.“ (Diehm/Radtke 1999, 69)

Aus einer solch eingeschränkten Deutung von Kultur resultieren zwei Probleme:
Zum einen werden die Migrantenkinder nicht als Individuen gesehen, die ihre
ganz eigenen Eigenschaften, Merkmale und Fähigkeiten mitbringen, zum ande-
ren dient diese Deutung von Kultur als Legitimation, die eigene Rolle im Integ-
rationsprozess nicht zu durchleuchten. Georg Auernheimer hält aber genau dies
für dringend notwendig. Er fordert „stärker als bisher die Selbstreflexion bei den
Fachkräften zu fördern, damit sie fixe Deutungsmuster und eingespielte Routi-
nen in Frage stellen“ (Auernheimer, 2007, 42). Ingrid Gogolin und Marianne
Krüger-Potratz stützen diese Sichtweise und betonen ebenfalls die Hinwendung
zu der pädagogischen Arbeit.

„Das anfangs auch im wissenschaftlichen Diskurs weit verbreitete Verständnis, dass


die Erklärung für Benachteiligungen und die Ansatzpunkte für ihre Beseitigung zu-
allererst bei den Betroffenen selbst liegen: Bei den ihnen zugeschriebenen Merkma-
len, Eigenschaften und Verhaltensweisen“ sei überwunden, es gelte nun, die Frage
zu beantworten, „welche Herausforderungen die zunehmende kulturelle und sprach-
liche Heterogenität an Erziehung und Bildung stellt.“ (Gogolin/Krüger-Potratz 2006,
134)

Auch Annedore Prengel formuliert diese Anforderung an die interkulturelle


Pädagogik. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nach wie vor mehrheitlich

57
Mitglieder der vorherrschenden Kultur in den pädagogischen Einrichtungen
arbeiten, schreibt sie: „Ein wesentlicher Teil der Anstrengungen Interkultureller
Pädagogik richtet sich also an die Angehörigen der dominierenden Kultur.“
(Prengel 2006, 94)
Vor dem Hintergrund, dass interkulturelle Pädagogik nun nicht mehr primär
die Aufgabe hat, Migrantenkinder zu erforschen und so ihr vermeintliches An-
derssein zu erklären, sondern dass es vielmehr darum geht, die Rolle der päda-
gogischen Arbeit im Integrationsprozess zu beleuchten, fasst Auernheimer die
Aufgaben wie folgt zusammen:

„Ziele von interkultureller Erziehung und Bildung sind somit zum einen Haltungen,
zum anderen Wissen und Fähigkeiten, zum Beispiel das Wissen um strukturelle Be-
nachteiligung, Sensibilität für mögliche Differenzen, die Fähigkeit zum Perspektiv-
wechsel […] Verstehen und Dialogfähigkeit sind die anderen übergreifenden Ziele
interkultureller Bildung.“ (Auernheimer 2007, 21)

Festzuhalten sind folgende Punkte:

1) Kultur ist nicht statisch, sondern dynamisch.


2) Die Nationalkultur kann bestenfalls eine Orientierung geben, lässt aber
keine gültigen Schlüsse auf die Individualkultur eines Menschen zu.
3) In der interkulturellen Pädagogik geht es nicht (mehr) um kulturspezifi-
sche, sondern um migrationsspezifische Herausforderungen.
4) PädagogInnen sind aufgefordert, den Blick auf sich selbst und auf ihre
Institution zu richten und darüber hinaus nach Wegen zu suchen, eine
Pädagogik der Vielfalt zu realisieren.

Kultur wird in dieser Arbeit verstanden als ein Ensemble von Deutungs- und
Interpretationsmustern, das die jeweilige Sicht auf und das Verständnis von der
Welt prägt. Aufgabe der interkulturellen Pädagogik ist daher, Wege zu erfor-
schen und aufzuzeigen, die eine Auseinandersetzung mit eben diesen Deutungs-
und Interpretationsmustern ermöglicht.

2.3.5 Der positive Blick

Kulturelle und ethnische Heterogenität wurde in Deutschland lange als „Störfak-


tor“ [gesehen], den es zu ,beseitigen‘ galt“ (Gogolin/Krüger-Potratz, 2006, 70).
Dass dieser „Störfaktor nicht automatisch gegeben, sondern auch vom Bildungs-
system konstruiert ist, postulieren neuere internationale Schulvergleichsstudien.
Die Pisa-Studie hat offen gelegt, dass Kinder mit Migrationshintergrund schlech-

58
tere Bildungschancen haben als ihre MitschülerInnen ohne Migrationshinterg-
rund. Dass dies nicht an den Voraussetzungen der Kinder liegen kann, zeigen in
dieser Vergleichsstudie gute Ergebnisse aus Ländern, die ebenso wie Deutsch-
land Einwanderungsländer sind. Die Tatsache, dass Kinder mit Migrationshin-
tergrund in anderen Ländern schulisch besser dastehen als in Deutschland, legt
das Vorgehen nahe, einen anderen Blick auf diese Kinder einzunehmen. In die-
sem Kapitel wurde bereits dargelegt, dass gerade der defizitäre Blick auf Kinder
mit Migrationshintergrund nicht förderlich ist und dass stattdessen geboten ist,
das eigene pädagogische Handeln in den Mittelpunkt zu rücken. Dennoch gab es
in jüngster Zeit Studien, die die Kinder mit Migrationshintergrund in den Fokus
genommen haben. Im Unterschied zu früheren Studien wird dabei das Positive
betrachtet – also das, was diese Kinder an zusätzlichen Fähigkeiten und Erfah-
rungen mitbringen, und zwar genau dadurch, dass sie einen Migrationshinterg-
rund haben. Leonie Herwartz-Emden schreibt:

„Diese Gruppe von Kindern erfährt im schulischen und ebenso im außerschulischen


Kontext ein sog. negatives ‚Social Mirroring‘, wenn ihnen die soziale Umwelt in
vielfältigen Interaktionen nicht den angemessenen Respekt bezeugt bzw. sie man-
gelnde Akzeptanz erfahren oder direkte Diskriminierung bspw. wegen ihres Ausse-
hens, ihres Verhaltens oder ihrer Muttersprache.“ (Herwartz-Emden 2006, 244)

Es geht nicht mehr nur um bloße Kompetenzen, die es zu erwerben gilt. Allmäh-
lich setzt sich die Erkenntnis durch, dass es darauf ankommt, dass Kinder sich in
ihrer Identität und mit allem, was sie sind, akzeptiert, anerkannt und wertge-
schätzt fühlen. Daher gibt es aktuell auch in der interkulturellen Pädagogik eine
steigende Zahl an Projekten, die sich auf die Förderung dieser Anerkennung
konzentrieren. Gefordert ist ein ressourcenorientierter Blick auf Migrantenkin-
der.

„Anerkennung ist […] eine soziale Struktur, in der es Einzelnen möglich ist, sich als
diejenigen darzustellen und einzubringen, als die sie sich verstehen. Insofern geht es
bei Anerkennungsforderungen um Bedingungen der Möglichkeit, als Subjekt zu
handeln.“ (Mecheril 2004, 217)

Ausgelöst durch die Ergebnisse internationaler Schulvergleichsstudien werden in


den letzten Jahren verstärkt die Bedingungen erforscht, unter denen Lernen of-
fensichtlich auch in heterogenen Gruppen gut funktioniert. So untersuchten zum
Beispiel Petra Stanat und Andrea Müller, welche Faktoren zum Schulerfolg bei
Jugendlichen mit Migrationshintergrund beitragen (vgl. Müller/Stanat 2006).
Tarek Badawia interviewte in seiner Studie ‚Der dritte Stuhl‘ (2002) bil-
dungserfolgreiche Jugendliche mit Migrationshintergrund und zeigt, dass „Im-

59
migrantenjugendliche […] nicht mehr symptomatisch als Träger einer fremden
Kultur, sondern als Menschen mit enormen Ressourcen und Potentialen für die
Transformation einer neuen Gesellschaft“ zu sehen sind (Badawia 2002, 14).
Badawia unterstreicht, dass diese Jugendlichen sich vor allem dadurch auszeich-
nen, dass sie sich aktiv mit ihrer kulturellen Identität auseinandergesetzt haben
und nun sagen, dass sie sich diese selbst geformt haben und selbstbewusst damit
leben können. Seine Ergebnisse untermauern die Aussage von Annedore Pren-
gel:

„Es wäre verfehlt, Migrantenkulturen aufgrund von Kulturbruch und Kulturschock


als defizitäre Kulturen zu begreifen. Sie sind vielmehr kreative Leistungen der wan-
dernden Menschen, welche die für ihr Überleben notwendigen Verständigungen mi-
teinander und mit ihrer Umwelt hervorbringen.“ (Prengel 2006, 85)

David Pollock und Ruth E. Van Reken haben in ihrem Buch ‚Third Culture
Kids‘ (2001) Erfahrungen von Kindern zusammengefasst, die Migrationserfah-
rungen haben und somit eine ‚dritte Kultur‘ für sich entwickelt haben. Dabei
konzentrieren sie sich auf Kinder, die einer höheren sozialen Schicht angehören
als diejenigen, die hier in Deutschland durch die Pisa-Studie als Verlierer im
Bildungssystem ausgemacht wurden28. Hinweise für die Identitätsentwicklung
von Kindern mit Migrationshintergrund können trotzdem abgeleitet werden.

„Sometimes the third culture experience is unfairly blamed for problems it didn’t
generate. At other times it is viewed as a pathology for which therapy is needed and
from which one must recover. It is my conviction that being a TCK [Third Culture
Kid] is not a disease, something from which to recover. It is also not simply okay –
it is more than okay. It is a life healthily enriched by this very TCK experience and
blessed with significant opportunities for further enrichment.” (Pollock, 2001, Intro-
duction xxii)

So nennen Pollock/van Reken unter anderem den erweiterten Blick auf die Welt,
die dreidimensionale Perspektive und die Cross-kulturelle Bereicherung wichtige
Erfahrungen, die Kinder mit Migrationshintergrund gemacht haben und die so-
mit als erworbene Kompetenzen gelten können. Hinzu kommen sicherlich auch
Aspekte wie verschiedene Sprach- und Fremdheitserfahrungen.

28
Es gibt nachgewiesene Korrelationen zwischen dem sozialen Status und dem Bildungserfolg
von Kindern. So sind vor allem die Kinder mit Migrationshintergrund, die einen niedrigen so-
zialen Status haben, die Verlierer im Bildungssystem.

60
2.3.6 Fazit: Der Umgang mit Heterogenität als pädagogische
Schlüsselkompetenz

„Die mit Heterogenität verbundenen Herausforderungen an professionelles Han-


deln werden in Zukunft nicht geringer, sondern wachsen.“ (Krüger-
Potratz/Gogolin 2006, 26) Nicht zuletzt bedingt durch den demographischen
Wandel wird der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund an deutschen
Schulen weiter steigen und die Gesellschaft zunehmend heterogener werden. Die
damit einhergehende Forderung an Bildungseinrichtungen lautet, dass sie sich
der Situation tatsächlich stellen und an Konzepten arbeiten, um das gemeinsame
Lernen in (nicht nur) kulturell heterogenen Gruppen29 für alle gemeinsam erfolg-
reich zu gestalten. Der Umgang mit Pluralität muss also zu einer Schlüsselquali-
fikation und damit zu einem zentralen Teil pädagogischer Ausbildung gemacht
werden, unter dem das eigene berufliche Selbstverständnis reflektiert werden
kann. Erst wenn diese Basis existiert, kann pädagogisches Handeln sinnvoll mit
Methoden, Ideen und Handlungsmöglichkeiten gefüllt werden. Vor diesem Hin-
tergrund bleiben folgende Punkte festzuhalten:

1) Deutschland und damit auch das deutsche Bildungssystem war lange


Zeit auf Homogenität ausgerichtet und tut sich deswegen besonders
schwer, Heterogenität als gegebene Normalität zu betrachten.
2) Deutschland ist nun ein Einwanderungsland. Somit sind das Gesell-
schaftsbild und auch das Bild der Schülerschaft in den Schulen sehr he-
terogen. Dies stellt eine zu bewältigende Herausforderung dar.
3) Kinder mit Migrationshintergrund dürfen nicht auf dieses Merkmal re-
duziert und nicht länger als defizitäre Wesen gesehen werden, die durch
gezielte Hilfe dazu befähigt werden sollen, am Unterricht/an der Gesell-
schaft in Deutschland teilzuhaben.
4) Die Disziplin ‚interkulturelle Pädagogik‘ kann als Teildisziplin der Pä-
dagogik der Vielfalt verstanden werden. Diese verfolgt nicht das primä-
re Ziel, Kinder mit Migrationshintergrund zu integrieren, sondern sie
hat das Ziel, Menschen den Umgang mit Heterogenität zu ermöglichen.
5) Es ist Aufgabe von PädagogInnen, den neuen Anforderungen gerecht zu
werden. Um dies zu ermöglichen, sind interkulturelle Programme not-
wendig, die die Verantwortlichen dazu befähigen, einen wertschätzen-
den (statt einen die Defizite fokussierenden) Blick zu entwickeln.

29
Heterogenität wird auch ansteigen im Hinblick auf Aspekte wie familiärer Hintergrund
(Patchwork-, Ein-Eltern-Familie, gleichgeschlechtliche Eltern), soziale Lage, sexuelle Orien-
tierung…

61
6) Aufgabe der Forschung im Rahmen der interkulturellen Pädagogik ist
demnach, Mittel und Wege zu finden und zu überprüfen, die Menschen,
die in pädagogischen Handlungsfeldern arbeiten, darin unterstützen, die
eigene Arbeit reflektierend und evaluierend betrachten zu können, um
so den Umgang mit Heterogenität zu verbessern.

Die interkulturelle Pädagogik ist also nach wie vor eine Teildisziplin der Erzie-
hungswissenschaften, kann aber – wenn sie als Befähigung für den Umgang mit
Vielfalt betrachtet wird – gleichzeitig als Schlüsselqualifikation für alle Men-
schen in pädagogischen Handlungsfeldern gesehen werden.

2.4 Implementationsforschung

Der Anti-Bias-Ansatz ist ein pädagogisches Konzept, das in den USA entwickelt
wurde und seit nunmehr zehn Jahren in Deutschland in verschiedenen pädagogi-
schen Kontexten umgesetzt bzw. implementiert wird. Da in den Interviews ver-
schiedene Auskünfte über die Erfolge in der Umsetzung des Konzepts gegeben
wurden, sollen die in der Praxis beschriebenen Implementationsmaßnahmen mit
denen abgeglichen werden, die sich in der Forschung als die eine Implementati-
on begünstigende Faktoren erwiesen haben. Im Folgenden wird nachgezeichnet,
wie sich das Feld der Implementationsforschung entwickelt hat, in welche The-
mengebiete es sich aufgliedert und letztendlich welche Implikationen sich ablei-
ten lassen im Hinblick auf eine gelingende Implementation pädagogischer Kon-
zepte in die Praxis.

2.4.1 Von der Innovation zur Routine

Die Implementationsforschung als Teilgebiet der Erziehungswissenschaften


beschäftigt sich mit der Umsetzung pädagogischer Konzepte in die Praxis. Im-
plementation zielt ab auf „die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen
in die gesellschaftliche Praxis“ (Euler/Sloane 1998, 312). Wissenschaftliche
Erkenntnisse werden auch mit der Zielsetzung gewonnen, sie in pädagogische
Konzepte zu übertragen, also pädagogische Innovationen zu generieren, die sich
in der Praxis bewähren sollen. In den Erziehungswissenschaften gibt es – wie in
vielen Disziplinen – eine eigene Forschungsrichtung, die sich mit Innovationen
beschäftigt: die Innovationsforschung.30 Katja Luchte, die sich mit der Imple-

30
Zu Diskursen und Forschungsstand der Innovationsforschung siehe Luchte 2005

62
mentierung pädagogischer Konzepte in soziale Systeme beschäftigt hat, nimmt
folgende Unterscheidung vor: „Während Innovation die Entwicklung und Um-
setzung neuer Produkte und Konzepte umfasst, ist Implementation auf die Um-
setzung beschränkt.“ (Luchte 2005, 46) Da es in der vorliegenden Arbeit um die
Umsetzung eines bereits bestehenden Konzeptes geht, wird der Unterscheidung
Luchtes folgend lediglich auf die Implementationsforschung eingegangen.
Die Unterrichtsforscher Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl be-
schreiben die Frustration von Lehrkräften, für die pädagogische Neuerungen
häufig ‚abstrakte Ideen‘ bleiben; sie beklagen die mangelnde Unterstützung bei
der Umsetzung der Innovationen im Unterrichtsalltag (vgl. Reinmann-
Rothmeier/Mandl 1998, 293). Die Implementationsforschung erforscht die Mög-
lichkeiten der Unterstützung bei eben dieser Umwandlung von Innovationen in
Handlungsoptionen für die Praxis (vgl. ebd., 294). Gerade, weil es darum geht,
alte Handlungsmuster durch neue zu ersetzen, kommt es darauf an, „das Wissen
um neue Möglichkeiten mit alten verfestigten Vorstellungen“ (ebd.) in Einklang
zu bringen. Nicht zuletzt haben die institutionellen Strukturen und Vorgaben
Einfluss auf die Handlungsautonomie der PädagogInnen, ihr pädagogisches
Handeln ist in ein gegebenes Setting eingebunden. Daraus ergibt sich die Frage,
wie mit ‚situativen Hindernissen‘ umgegangen werden kann, die die Neuerungen
be- oder sogar verhindern können (vgl. ebd.).
Die Implementationsforschung befasst sich also mit folgenden Fragen: Wie
kann pädagogisches Personal darin unterstützt werden, Wissen in Können um-
zuwandeln? Wie können routinierte Denk- und Handlungsstrukturen aufgebro-
chen und durch neue Schemata ersetzt werden? Wie können die institutionellen
und organisatorischen Bedingungen so angeglichen werden, dass die Implemen-
tation ohne große Hindernisse vollzogen werden kann?
Der Wirtschaftspädagoge Dieter Euler fand heraus, dass Studierende der
Wirtschaftspädagogik das im Studium Gelernte in der Praxis nur sehr begrenzt
anwenden. Euler merkt in diesem Zusammenhang an, dass „wissenschaftliche
Theorien nicht auf eine ‚unwissende‘ Praxis treffen, sondern daß ihre potentiel-
len Anwender i.d.R. bereits Alltagstheorien über den entsprechenden Gegenstand
des Praxisfeldes besitzen.“ (Euler 1996, 357f.) Er sieht die Abnehmer damit in
einer Position, über die Brauchbarkeit der Theorien und damit letztendlich über
deren Umsetzung in die Praxis zu entscheiden (vgl. ebd.). Euler lenkt also den
Blick auf die Tauglichkeit der Innovationen und damit auf die Konzepte selbst.
„Wissenschaftliche Theorien sind Abstraktionen, die viele jener Größen, die das
konkrete Handeln so unkalkulierbar und schwierig machen, unter die Betonplatte
31
der ceteris-paribus-Klausel zwängen.“ (Euler 1996, 354) Euler wirft den theo-

31
Mit der Ceteris-paribus-Klausel werden experimentelle Settings beschrieben, bei denen ledig-

63
retischen Konzepten mangelnde Passgenauigkeit auf die in der Praxis festgestell-
ten Herausforderungen vor. „Unzulänglich sind wissenschaftliche Theorien für
einen potentiellen Anwender dann, wenn die Antworten der Theorie nicht zu den
Fragen der Praxis passen.“ (ebd.) Eine unübersichtliche Darstellung der Theorie,
eine komplizierte sprachliche Verpackung, die das Verstehen der Theorie für
Praktiker nahezu unmöglich macht oder schlicht und ergreifend eine nur lücken-
haft passende Theorie tragen außerdem dazu bei, dass die Umsetzung in die
Praxis nicht erfolgt (vgl. ebd.).
Es lassen sich weitere Fragen formulieren, die es in der Implementations-
forschung zu beantworten gilt: Welche Bedürfnisse haben die potenziellen An-
wenderInnen? Inwiefern lassen sich die Neuerungen mit der Situation in der
realen Praxis vereinbaren? Wie lassen sich die Aspekte neuer Theorien und Kon-
zepte so kommunizieren, dass sie bei den potenziellen AnwenderInnen ankom-
men? Eulers Fazit lautet: „Wenn Menschen nicht tun, was sie wissen, dann kann
dies zwei Gründe haben. Entweder wollen sie das erworbene Wissen nicht an-
wenden, oder sie können es nicht in praktisches Handeln umsetzen.“ (Euler
1996, 359) Letzteres sieht er als Ansporn, sich über praxisbezogene Vermittlung
von Theorien und über „konkrete Überlegungen zur Förderung des Anwen-
dungstransfers“ Gedanken zu machen (ebd.). Die Unterrichtsforscherinnen Cor-
nelia Gräsel und Ilka Parchmann unterstreichen diese Anforderungen an die
Implementationsforschung:

„Es ist aber durchaus Aufgabe der unterrichtswissenschaftlichen Forschung, Wissen


darüber bereit zu stellen, wie ihre Ergebnisse verbreitet werden können, was geeig-
nete und weniger geeignete Implementationsstrategien sind, welche Faktoren die
Implementation fördern oder hemmen bzw. woran Implementation scheitern kann.“
(Gräsel/Parchmann 2004, 197)

Das Forschungsgebiet hat sich also aus der Erkenntnis heraus entwickelt, dass
viele pädagogische Konzepte, die theoretisch überzeugen und sich in der Erpro-
bung bewähren, sich nicht ohne weiteres dauerhaft in die Praxis umsetzen lassen.
Daher geht es letztendlich darum, wirksamere Mittel und Wege aufzuzeigen, um
pädagogische Konzepte nachhaltig in der Praxis umzusetzen (vgl. Reinmann-
Rothmeier/Mandl 1998, Euler/Sloane 1998, Gräsel/Parchmann 2004).
Ihren Ursprung hat die Implementationsforschung in der Politik-
Entwicklungsforschung (vgl. Wollmann 1980, 10). Die Erkenntnis, dass untaug-
liche Programmstrategien der Grund für Misserfolge politischer Innovations-

lich eine Einflussgröße verändert wird, während alle anderen konstant bleiben. Hier bedeutet
dies, dass Theoriekonzepte, die sich in anderen Kontexten bereits als wirksam erwiesen haben,
als Theoriekonzepte eingeführt werden, ohne dabei den bestehenden Kontext zu beachten.

64
maßnahmen waren (vgl. Pressmann/Wildavsky, 1973), markiert die Anfänge der
politischen Implementationsforschung in den 1960er Jahren. „Die sichtbar wer-
denden Durchführungsprobleme und -hindernisse von Reformpolitik [lenkten]
den Untersuchungsfokus auf die administrative und bürokratische Durchfüh-
rungsphase.“ (Wollmann 1980, 16) In Deutschland habe die Gründung des Ver-
bunds ‚Implementationsforschung‘ Ende der 1970er Jahre erheblich dazu beiget-
ragen, dass sich die Disziplin auch in Deutschland etablieren konnte, so Hübner
(vgl. Hübner 1994). In der Erziehungswissenschaft ist die Implementationsfor-
schung ein noch junges Forschungsfeld. Erste Studien wurden Anfang der
1990er Jahre veröffentlicht.

2.4.2 Implementationsstrategien

Zur Implementation pädagogischer Neuerungen wurden verschiedene Konzepte


entwickelt. Drei werden an dieser Stelle vorgestellt: Top-down-Strategien, sym-
biotische Implementationsstrategien und die systemische Implementationsbera-
tung. Dabei wird vor allem auf zwei Bezugsquellen zurückgegriffen. Zum einen
auf die Erkenntnisse der Implementationsforschung im Bereich der Unterrichts-
forschung – hier sei vor allem auf die Ausführungen der Unterrichtsforscherin-
nen Cornelia Gräsel und Ilka Parchmann verwiesen. Zum anderen basieren sie
auf den Ergebnissen der Forschungen im Bereich der systemischen Organisati-
onsberatung von Eckard König und Katja Luchte.
Als Top-down-Strategien werden solche Strategien bezeichnet, bei denen
„die Innovationen nicht von den Schulen [bzw. Einrichtungen] initiiert [werden],
sondern von einer externen Instanz bzw. externen Experten.“ (Fussan-
gel/Schellenbach-Zell/Gräsel 2008, 52) Es geht also um die Umsetzung bereits
‚fertiger’ Innovationen (vgl. ebd.). Diese Form der Implementation ist gekenn-
zeichnet durch ein hierarchisches Gefälle zwischen den Implementations-
beteiligten. Einerseits gibt es die externen ExpertInnen, die das Konzept mitbrin-
gen und umsetzen, andererseits die PraktikerInnen, die das neue Konzept über-
nehmen sollen. Gekennzeichnet ist diese Methode durch „eine personelle und
zeitliche Trennung zwischen Konzeption und Entwicklung der Innovation einer-
32
seits und ihrer Umsetzung andererseits“ (Gräsel/Parchmann 2004, 199). Grä-
sel/Parchmann zeigen die Schwachpunkte solcher Top-down-Strategien an ei-
nem Beispiel aus dem Jahr 1971 auf. Ein neuer Lehrstil sollte in den Unterricht
implementiert werden. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus, denn fünf Monate

32
Inzwischen hat sich das hierarchische Vorgehen dahingehend verändert, dass PraktikerInnen
stärker mit einbezogen werden (Gräsel/Parchmann 2004, 201).

65
nach Beendigung des Projekts war der Unterrichtsstil nur zu einem geringen
Maße verändert. Als mögliche Gründe hierfür nennen Gräsel und Parchmann,
dass Aspekte wie Erfahrungswissen, Überzeugungssysteme und die Veränderung
von Handlungsroutinen nicht berücksichtig worden seien. Darüber hinaus sei
auch der Einfluss des sozialen Kontextes Schule auf die Umsetzung der Innova-
tion nicht berücksichtigt worden. Dieser Unterrichtsversuch liegt über 30 Jahre
zurück. Gräsel/Parchmann stellen aber die kritische Frage, „ob ein ähnliches
schlichtes Verständnis der ‚Umsetzung‘ fertiger Konzeptionen nicht noch heute
anzutreffen ist“ (Gräsel/Parchmann 2004, 200), so zum Beispiel bei Reformen
im Bildungswesen. Als klassische Form von Top-down-Implementationen be-
zeichnen sie die Einführung neuer Lehrpläne oder Unterrichtsmaterialien, die
von den KultusministerInnen „vor allem als Steuerungsinstrumente“ (ebd.) für
den Unterricht erlassen werden. Hierbei wird die Umsetzung meist den Einrich-
tungen überlassen. Gräsel/Parchmann kommen zu folgendem Schluss: „Betrach-
tet man insgesamt die Forschung zu Top-down-Strategien, dann kann man fes-
thalten, wie mühsam die Prozesse der Veränderung [...] und wie ‚störanfällig’ die
Verbreitung von Innovationen in der Praxis [sind].“ (Gräsel/Parchmann 2004,
204) 2008 fassen Fussangel/Schellenbach-Zell/Gräsel noch einmal zusammen:
„In verschiedenen Studien erwies sich eine so genannte Top-down-Strategie,
also ein Durchsetzen von ‚fertigen‘ Innovationen in der Schule als wenig erfolg-
reich.“ (Fussangel/Schellenbach-Zell/Gräsel 2008, 52)
Das Vorgehen nach symbiotischen Implementationsstrategien erprobten
33
Cornelia Gräsel und Ilka Parchmann im Projekt ‚Chemie im Kontext‘ (ChiK) .
Sie schätzen es als erfolgversprechender ein als die Top-down-Strategie. „Sym-
biotisch“ bedeutet für Gräsel und Parchmann, „dass Akteure mit unterschiedli-
cher Expertise gemeinsam an der Umsetzung pädagogischer Innovationen arbei-
ten“ (Gräsel/Parchmann 2004, 205), und dass zudem die Kooperation der ver-
schiedenen Akteure für die gelingende Implementation notwendig ist. Im Projekt
ChiK werden die Lehrkräfte als „unumstrittene Experten [gesehen], wenn es
darum geht, die Realisierbarkeit bestimmter Konzepte im Unterricht einzuschät-
zen oder schülergerechte Materialien und Aufgaben zu konstruieren.“ (Fussan-
gel/Schellenbach-Zell/Gräsel 2008, 54) Die Implementationsüberlegungen bei
dieser Strategie beginnen bereits bei der Entwicklung des konzeptionellen Rah-
mens. Aspekte zur Entwicklung, Verbreitung, Erprobung und Revision – etwa
während Evaluations- und Reflexionsphasen – werden mitgedacht. Grä-
sel/Parchmann haben verschiedene Studien zu symbiotischen Kooperationsstruk-
turen analysiert und kommen, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in ihrem
eigenen Projekt, zu dem Schluss, „dass die Maßnahmen auf hohe Akzeptanz

33
Vgl. www.chik.de

66
stoßen. Insbesondere beurteilen die Lehrkräfte die Kooperationen in den Ar-
beitsgruppen als positiv.“ (Gräsel/Parchmann 2004, 208) Kooperation bedeutet
auch immer Mitsprachemöglichkeit. Den Beteiligten werden Maßnahmen nicht
aufgedrängt, sondern sie sind in die Entscheidungsprozesse bezüglich der Um-
setzung von Vorhaben einbezogen und können sich so als entscheidungs- und
handlungsfähig wahrnehmen.
Bei der systemischen Implementationsberatung geht es um die Implementa-
tion pädagogischer Konzepte in soziale Systeme. Katja Luchte hat diese Strate-
gie entwickelt und bezieht sich dabei auf das Konzept der systemischen Organi-
sationsberatung nach Eckard König und Gerda Volmer. Systemisch bedeutet
hierbei, „die Aufmerksamkeit nicht nur auf bestimme Inhalte, sondern auf das
soziale System zu richten.“ (König/Volmer 2002, 16) Die systemische Beratung
baut auf den Grundideen der Systemtheorie auf, die Ende der 1940er Jahre ent-
wickelt wurde und im Bereich sozio-psychologischer Studien vor allem von
Gregory Bateson weiterentwickelt wurden (vgl. Bateson 1982). Dem folgend ist
für Luchte der Erfolg der Implementierung eines pädagogischen Konzepts davon
abhängig, „wie weit es gelingt, das pädagogische Konzept im Personensystem zu
etablieren, ein geeignetes Kommunikationssystem aufzubauen und die System-
umwelt entsprechend einzurichten.“ (Luchte 2005, 180) Auf Basis dieser An-
nahmen hat sie ein Konzept zur systemischen Implementationsberatung entwi-
ckelt, für das drei Faktoren relevant sind: die Projektleiter, die Implementations-
beratung und die Analyse des Systems bzw. der Einrichtung. Projektleiter sind
Personen, die in der Institution arbeiten, in der ein neues Konzept implementiert
werden soll. Sie sind gleichzeitig die Personen, die innerhalb der Institution die
direkten Kommunikationspartner in der Implementationsberatung sind, also „bei
der Implementierung pädagogischer Konzepte eine zentrale Position
ein[nehmen]“ (Luchte 2005, 181). Sie sind damit die Schnittstelle, an der das
System und die externe Beratung zusammentreffen. Die Rolle und Position die-
ses/dieser Projektleiters/Projektleiterin bzw. des Projektleiterteams sind dahinge-
hend auszurichten, dass das Team eine gefestigte Position innerhalb der Organi-
sation einnimmt und somit mit Veränderungsvorschlägen auf Akzeptanz und
Kooperation stößt. Das Projektleiterteam trägt die in der Implementationsbera-
tung thematisierten Maßnahmen weiter in die Organisation. Die Implementa-
tionsberatung findet also statt zwischen dem Projektleiterteam und den externen
BeraterInnen. Die Beratung gliedert sich in vier Phasen: Orientierung, Klärung,
Veränderung und Abschluss. Ziel der Orientierungsphase ist, „diejenigen Fakto-
ren zu erkennen, die eine Implementation unterstützen oder ihr entgegenwirken,
sowie neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln (Luchte 2005, 182). Wäh-
rend der Klärungsphase geht es dann darum, die Situation in der Einrichtung
transparent zu machen. Vergleichbar mit Maßnahmen der Evaluation und Refle-

67
xion findet prozesshaft immer wieder eine Rückversicherung statt, inwiefern die
Implementationsmaßnahmen greifen, welche Faktoren als begünstigend und
welche als hinderlich empfunden werden. In der Veränderungsphase geht es
darum, „den Klienten zu unterstützen, neue Lösungen für die weitere Implemen-
tation des Konzeptes zu finden“ (Luchte 2005, 182). Diese Phase steht am Ende
eines Implementationsprojekts und hat zum Teil evaluativen Charakter, da es
darum geht, Handlungsmöglichkeiten festzuhalten, die für das jeweilige Sys-
tem/die jeweilige Einrichtung die Implementation unterstützt, vereinfacht und
vorangebracht haben und dies somit vermutlich auch in Zukunft tun werden.
Hier findet vor allem auch die Kontextualisierung der Maßnahmen statt. In der
Abschlussphase wird ein Handlungsplan für die weiteren Schritte entwickelt,
wobei sowohl Risiken als auch Erfolgsindikatoren in Betracht gezogen werden.
Der Blick geht also über die Implementationsberatung hinaus, indem er auf die
Ermöglichung einer dauerhaften Veränderung gelenkt wird. In der Analyse des
Systems bzw. der Einrichtung wird „die Aufmerksamkeit sowohl auf das Perso-
nensystem als auch auf das Kommunikationssystem“ gerichtet (Luchte 2005,
183). Der Blick wird also gelenkt auf die Personen, auf die Interaktionen und auf
die materielle Systemumwelt. Einer Analyse dieser drei Faktoren folgt die Ent-
wicklung von Handlungsmöglichkeiten auf den jeweiligen Systemebenen, um
die Implementation begünstigend zu beeinflussen.

2.4.3 Implementationsbegünstigende Faktoren

Verschiedene Bemühungen in der Implementationsforschung zielten darauf ab,


implementationsbegünstigende Faktoren, die sich in der Erprobung der verschie-
denen Konzepte zeigten, zu systematisieren. 1990 stellte der Politikwissenschaft-
ler Rainer Rohe ein Implementationssystem vor, in dem der Fokus vor allem auf
den beiden Aspekten ‚Implementationsakteure’ und ‚Programmadressaten’ liegt
(vgl. Rohe 1990, 9f.). Die Wirtschaftspädagogen Dieter Euler und Peter Sloane
haben aus ihren Erfahrungen in der Begleitung von Modellversuchen im schuli-
schen und betrieblichen Kontext Faktoren abgeleitet, die eine gelingende Imple-
mentation unterstützen. Diese Faktoren fassen sie zusammen unter den Katego-
rien 1) sachlich-intentional, 2) personell und 3) institutionell (vgl. Euler/Sloane
1998). Katja Luchte hat ebenfalls verschiedene Implementationsprojekte analy-
siert. Dazu hat sie die in diversen Studien additiv aufgeführten Faktoren, die eine
gelingende Implementation unterstützen (vgl. z.B. Gräsel/Parchmann 2004,
Reinmann-Rothmeier/Mandl 1998, Sonntag/Steigmaier/Jungmann 1998, Eu-
ler/Sloane 1998), zusammengefasst und in Anlehnung an Rohe (1990) und Eu-
ler/Sloane (1998) in vier Kategorien unterteilt: 1) sachlich-intentionale Bedin-

68
gungen, 2) personelle Bedingungen, 3) institutionelle Bedingungen und 4) Prog-
rammadressaten.
Als sachlich-intentional gelten die Faktoren, die die Rahmenbedingungen
für eine gelingende Implementation schaffen sollen. Erstens ist darauf zu achten,
dass die Maßnahmen langfristig angelegt sind; zweitens, dass die Änderungen
nicht punktuell erfolgen, sondern dass eine neue Lern- bzw. Arbeitskultur an-
gestrebt wird (vgl. auch Euler/Sloane 1998); drittens gilt zu analysieren, welche
kurz-, mittel- und auch langfristigen Hindernisse sich ergeben können. Ein Kon-
zept dazu, wie diese von vornherein umgangen oder im konkreten Fall beseitigt
werden können, schafft Handlungssicherheit. Generell kommt es also darauf an,
das Ziel der Implementationsmaßnahmen konkret, deutlich und präzise zu for-
mulieren und es auf seine Umsetzbarkeit zu überprüfen (vgl. Luchte 2005, 47).
Personelle Bedingungen beziehen sich auf die Akteure in den Einrichtun-
gen. „Von Relevanz sind [...] die Anzahl der Akteure, ihre Identifikation mit
Programmzielen, die Qualifikation und die Durchsetzungsfähigkeit der Akteure.“
(Luchte 2005, 47) Dabei kommt es nicht nur auf die Anzahl und die Kompeten-
zen an, sondern vor allem darauf, dass zumindest einzelne Personen dabei sind,
die ein besonders ausgeprägtes Engagement zeigen und die den Willen und das
Durchhaltevermögen haben, im Falle von Hindernissen die Idee der Veränderung
weiter zu verfolgen und andere Beteiligte mitzuziehen (vgl. Euler/Sloane 1998,
324). Es ist unabdingbar, dass alle Beteiligten von der innovativen Idee ausrei-
chend überzeugt sind und ihnen die Notwendigkeit einer Veränderung einleuch-
tet, so dass sie das Ziel der Implementation verstehen und darauf hinarbeiten
können (vgl. ebd., 309).
Herbert Altrichter und Stefan Salzgeber geben in ihrem Aufsatz ‚Mikropoli-
tik der Schule‘ aufschlussreiche Impulse, die für die Implementationsforschung
von Bedeutung sind. Er analysiert die Rahmenbedingungen für Neuerungen im
schulischen Handlungsfeld aus mikropolitischer Perspektive. Als Mikropolitik
wird das Zusammenwirken verschiedener Faktoren verstanden, die dazu führen,
dass ein bestimmtes Bild von einer Organisation gezeichnet wird, das nicht
durch strukturelle Vorgaben oder hierarchische Vorschriften entsteht, sondern
vielmehr durch die Handlungen, Motive und Interessen der in der Organisation
arbeitenden Akteure. „Die mikropolitische Perspektive lenkt das Augenmerk auf
das Handeln der Organisationsmitglieder.“ (Altrichter/Salzgeber 1995, 16) Nach
diesem Verständnis sind Organisationen „keine festen, monolithischen Gebilde,
keine Maschinen, in denen das Funktionieren und Ineinandergreifen der einzel-
nen Teile voll determiniert und unproblematisch wäre“ (ebd., 18). Das Funktio-
nieren von Organisationen hängt damit nicht nur von organisatorischen Regeln,
Vorschriften und Zielvorgaben ab, sondern auch die einzelnen in der Organisati-
on Wirkenden haben immensen Einfluss auf die in einer Organisation bestehen-

69
den Interaktionszusammenhänge. „Die versachlichte Struktur der Organigramme
und der ihnen zugeordneten Aufgabenbeschreibungen sind nicht die Organisati-
on; diese wird vielmehr durch die Handlungen verschiedener Akteure interaktiv
konstituiert und zum Leben gebracht.“ (ebd., 18) Altrichter/Salzgeber lenken
damit den Fokus auf die Menschen und ihre Aktions- und Interaktionsmuster, die
es zu beachten gilt, will man Arbeitsvorgänge und Zielerreichungen in Organisa-
tionen optimieren. „Verschiedene Organisationsmitglieder haben eigene Hand-
lungsziele, die sich nur teilweise überlappen und die nur teilweise mit den offizi-
ell formulierten Organisationszielen übereinstimmen.“ (ebd., 15) Altrich-
ter/Salzgeber liefern damit weitere Argumente dafür, die in den Organisationen
bzw. Institutionen wirkenden Personen, also die Programmadressaten, sowohl in
ihren Arbeitsabläufen und Interaktionszusammenhängen wahrzunehmen als auch
deren Ziele, Motivationen und Vorstellungen ernst zu nehmen und beides bei der
Absprache gemeinsamer Ziele und Vorgehensweisen im Implementationsprozess
zu berücksichtigen.
Bei dem Blick auf Institutionelle Bedingungen wird auf die Einrichtungen
geschaut, die gemeinsam an einem Implementationsvorhaben arbeiten. Bei Im-
plementationsmaßnahmen ist es üblich, dass mindestens zwei unterschiedliche
Institutionen zusammenarbeiten und damit Implementationsträger sind: auf der
einen Seite die Institution, in der das neue Konzept implementiert werden soll,
auf der anderen die Institution, die das neue Konzept einbringt. Je nachdem um
welche Form der Implementation es sich handelt und in welchem Rahmen die
Institution tätig ist, können weitere Implementationsträger eingebunden sein. Vor
diesem Hintergrund nennt Luchte zwei bedeutende Faktoren: zum einen die
Heterogenität der Implementationsträger, zum anderen deren Entscheidungs-
kompetenzen. Die Heterogenität und damit auch die Unterschiedlichkeit in Wir-
kung und Arbeitsweise der beteiligten Einrichtungen sollten als gegeben aner-
kannt und offen kommuniziert und diskutiert werden. Nur so kann das Konflikt-
potenzial gering gehalten werden, vor allem in Anbetracht der Entscheidungs-
kompetenzen. Nach Möglichkeit sind alle Implementationsträger gleichwertig in
Entscheidungsprozesse einzubinden, so dass sie die Möglichkeit der aktiven
Mitgestaltung haben und keine Kommunikationslücken entstehen; diesbezügli-
che Konflikte also vermieden werden (vgl. Luchte 2005, 49). In Ergänzung dazu
schreiben Euler/Sloane:

„Für eine erfolgreiche Implementation wäre es dann bedeutsam, z. B. etwas über die
kulturellen Voraussetzungen der Zielorganisation, ihre innere Verfassung, die for-
mellen und informellen Macht- und Beziehungsstrukturen, die wahren Probleme und
die Veränderungsbereitschaft in Erfahrung zu bringen.“ (Euler/Sloane 1998, 324)

70
Auch sie betonen also eine offene Kommunikationskultur, die Konfliktebenen
anspricht und diese somit transparenter macht. Es geht um eine sichtbare Infor-
mationspolitik, um sicherzustellen, dass das Implementationsziel sowohl mit den
konkreten Situationsbedingungen als auch mit den an strategischen Zielen betei-
ligten Organisationen vereinbar ist (vgl. Sonntag 2000, 342). Um den Bedürfnis-
sen der Einrichtungen gerecht zu werden, sei, so Gräsel/Parchmann, die Kontex-
tualisierung als weitere bedeutende Maßnahme erforderlich. Das Implementa-
tionskonzept müsse thematisch und strukturell an die in der Institution vorfind-
baren Bedingungen angeglichen werden (Gräsel/Parchmann 2004, 208ff.).
Als Programmadressaten werden die Personen bezeichnet, die in den Insti-
tutionen arbeiten und die die Neuerungen in ihre Praxis übernehmen sollen. Eine
begünstigende Voraussetzung dafür, dass alle Beteiligten die Innovationen an-
nehmen, ist, sie möglichst früh in den Prozess mit einzubeziehen (vgl. Sonntag
2000, 342), um so das Zugehörigkeitsgefühl und die Identifikation mit der Maß-
nahme zu steigern. Speziell in einem frühen Stadium besteht die Möglichkeit,
Bedenken oder Ideen zu äußern, die für den weiteren Verlauf und auch die Moti-
vation der Beteiligten von Bedeutung sein können. Um nicht nur die Einstellung
zum Implementationsprozess, sondern vor allem die Qualifikation für die anste-
henden Maßnahmen zu gewährleisten, kann ein fundiertes Training für die Betei-
ligten bedeutsam sein (vgl. Reinmann-Rothmeier/Mandl 1998). Ein solches
Training, das idealerweise nicht nur punktuell, sondern prozessbegleitend statt-
findet, sollte auch Elemente der Selbstreflexion und der kooperativen Qualifizie-
rung beinhalten (vgl. Sonntag 2000, 342), da so auch ohne externe Hilfestellun-
gen Hindernisse erkannt und Lösungen gefunden werden können. Im Rahmen
kooperativer Qualifizierung können darüber hinaus durch Informationsaustausch
eventuelle innerbetriebliche Interessenskonflikte früh identifiziert und Lösungen
dafür ausgehandelt werden (vgl. ebd.). Es kommt also darauf an, die Bedürfnisse
der Programmadressaten zu erkennen und darauf einzugehen, damit diese die
anstehenden Neuerungen dauerhaft in das eigene Handlungsrepertoire überneh-
men.

2.4.4 Fazit: Transparenz, Kooperation, Kommunikation sind bedeutende


Bausteine

Die unterschiedlichen Implementationskonzepte verbinden gemeinsame Schwer-


punkte, wenn es darum geht, die Faktoren zu extrahieren, die sich begünstigend
auf die Implementation auswirken. Die Top-down-Implementationsstrategien
haben sich als wenig erfolgreich erwiesen. Diese Form der Implementation be-
deutet, von außen an eine Institution heranzutreten und ihr ein fertiges Konzept

71
‚überzustülpen‘. Die Interessen, Zweifel und Belange der Mitarbeiter einer Or-
ganisation werden dabei übergangen bzw. nicht wahrgenommen. Erfolgverspre-
chender scheinen sowohl die Maßnahmen zur symbiotischen Implementa-
tionsstrategie als auch zur systemischen Implementationsberatung. Aus beiden
Konzepten lassen sich drei Aspekte herausstellen, die als unverzichtbare Fakto-
ren für eine gelingende Implementation pädagogischer Konzepte gelten können:
Transparenz, Kommunikation und Kooperation. In beiden Konzepten wird die
Offenheit betont. Diejenigen, die das neue Konzept an die Einrichtungen herant-
ragen, haben die Aufgabe, ihr Vorhaben transparent zu machen. Fachkräfte in
den Institutionen, in die ein neues Konzept implementiert werden soll, sollten
möglichst früh, am besten schon bei der Konzeption des Implementationsvorha-
bens, in die Planung einbezogen werden und Mitspracherecht erhalten. Auf diese
Art können Konflikte und Unzufriedenheiten angesprochen und aus dem Weg
geräumt werden. Gleichzeitig wird es so möglich, das System bzw. die Instituti-
on in den Blick zu nehmen, die systemimmanenten Eigenheiten herauszufinden
und so das Implementationsvorhaben zu kontextualisieren. Nicht zuletzt geht es
in der Kooperation auch um eine intensive Planung der Implementationsmaß-
nahmen auch über die Zeit hinaus, in der die externen Konzept-EntwicklerInnen
zugegen sind. Dies kann dazu führen, dass verhindert wird, dass die Neuerungen
zeitgleich mit den EntwicklerInnen wieder verschwinden. Wird eine dauerhafte
Implementation angestrebt, so bedeutet dies auch, dass diese bewusst geplant
wird. Kommunikation und Kooperation sind insofern bedeutsam, dass Personen
mit unterschiedlichen Expertisen zusammenarbeiten sollten: Die MitarbeiterIn-
nen in den Institutionen sind die ExpertInnen für ihr Arbeitsgebiet und für die
Gegebenheiten in der Einrichtung. Diejenigen, die das neue Konzept entwickelt
haben, sind die ExpertInnen für eben dieses Konzept. Beide Expertisen sollten
verknüpft werden, um eine dauerhafte Implementation zu erreichen.

„Der Weg von der Wissenschaft in die [...] Praxis führt nicht über Schienenwege,
sondern erfordert den Fußweg durch zuweilen unwegsames Gelände. Dabei können
wissenschaftliche Theorien gelegentlich die Funktion eines Kompasses übernehmen,
die Entscheidung über die Richtung und die Bewältigung der vielen Unwägbarkeiten
beim Beschreiten des eingeschlagenen Weges liegt letztendlich jedoch in der Hand
der Praktiker.“ (Euler 1996, 355)

Um also langfristige Veränderungen in der Arbeitskultur einer Institution zu


ermöglichen, kommt es darauf an, durch Transparenz, Kommunikation und
Kooperation allen Beteiligten die Möglichkeit der aktiven Teilnahme aufzuzei-
gen und so gemeinsam Ziele zu erarbeiten und an deren Umsetzung mitzuwir-
ken.

72
2.5 Relevanz des theoretischen Bezugsrahmens für die Studie

Der theoretische Bezugsrahmen für diese Arbeit wurde generiert aus den Aspek-
ten, die sich nach der ersten Literatur- und Dokumentensichtung und besonders
auf der Tagung zum Anti-Bias-Ansatz als bedeutsam für diesen Kontext abge-
zeichnet haben. Nachdem die Theorie aufgearbeitet ist, können nun Verknüpfun-
gen und damit Fragen, die die Richtung der Auswertung bestimmen, festgestellt
werden.
Normen im pädagogischen Kontext sind zu verstehen als Zielsetzungen pä-
dagogischer Handlungen. „Was soll erreicht werden?“ ist dabei die zentrale
Fragestellung. In Hinblick auf den Umgang mit Normen in pädagogischen Hand-
lungsfeldern konnte gezeigt werden, dass es zwar, seitdem Pädagogik als Wis-
senschaft existiert, Normierungsversuche gegeben hat, diese aber nie zu einer
Allgemeingültigkeit führten. Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels und der
Individualisierung von Lebensläufen besteht die Notwendigkeit, auch Normen
anzugleichen bzw. aufzulösen. Denn Individualisierung bedeutet auch, im päda-
gogischen Kontext jedes Kind individuell wahrzunehmen. Dies heißt allerdings
nicht, sich von jeglichen Zielen zu lösen. Vielmehr ist in diesem Kontext die
Aufgabe von PädagogInnen, sich individuell, aber zugleich intensiv damit ausei-
nanderzusetzen, welche Ziele in der Arbeit mit den Kindern verfolgt werden.
Hinweise auf Ziele der Anti-Bias-Arbeit lassen sich in den Interviews finden.
Die Fähigkeit, klare Ziele für das eigene pädagogische Handeln zu formu-
lieren, gehört zur Professionalität von PädagogInnen. Professionalität kann nicht
heißen, das pädagogische Handeln plan- und voraussehbar zu gestalten – das
‚Technologiedefizit‘ verhindert dies. Dennoch können PädagogInnen sich auf
pädagogische Situationen vorbereiten, wenn sie die vier von Nieke beschriebe-
nen Kompetenzen der Situationsdiagnose, der Gesellschaftsanalyse, der Selbst-
reflexion und des professionellen Handelns berücksichtigen. Diese Kompetenzen
führen dazu, dass der pädagogische Takt, wie Herbart es genannt hat, nicht will-
kürlich eingesetzt wird, sondern dass pädagogisches Handeln trotz aller Unwäg-
barkeiten intentional bleibt. Das Konzept des Anti-Bias-Ansatzes sieht auch die
Fortbildung von PädagogInnen für die Arbeit mit diesem Ansatz vor. Da Fortbil-
dungen eine Form der Professionalisierung sind, gilt es hierbei abzugleichen, ob
die Kompetenzen, die nach Nieke pädagogische Professionalität ausmachen,
dabei beachtet werden.
Der Umgang mit Vielfalt in pädagogischen Handlungsfeldern hat sich inso-
fern in den vergangenen Jahren stark gewandelt, dass der Blick immer mehr
umgelenkt wird. Im Fokus stehen nicht mehr Kinder mit Migrationshintergrund
als Träger von Merkmalen, die eine gelingende Integration verhindern. Der Blick
ist nun auf die PädagogInnen gerichtet, die in den Einrichtungen arbeiten. Was

73
tragen sie dazu bei, dass Integration und damit Chancengleichheit gefördert oder
auch behindert wird? Der Blick wird außerdem verstärkt auf die Strukturen in
den Einrichtungen gelenkt. Inwiefern tragen sie dazu bei, Ausgrenzung zu ver-
stärken und somit Kindern Zugangsmöglichkeiten zu verweigern? Nicht zuletzt
wirken die in den Einrichtungen herrschenden Strukturen und die in den Einrich-
tungen arbeitenden PädagogInnen aufeinander. PädagogInnen ordnen sich in die
jeweils bestehenden Strukturen ein, gleichzeitig gestalten sie durch ihr Handeln
die Strukturen mit. Um herauszufinden, ob der Anti-Bias-Ansatz ein Konzept ist,
das aktuellen Anforderungen einer Pädagogik für den Umgang mit Vielfalt ge-
recht wird, ist die Frage zu beantworten, wie in der Arbeit nach dem Anti-Bias-
Ansatz mit dem Thema ‚Heterogenität‘ umgegangen wird. Des Weiteren gilt zu
fragen, inwiefern institutionelle Strukturen und Mechanismen in den Blick ge-
nommen werden. Und schließlich wird die Frage aufgeworfen, inwiefern Päda-
gogInnen und ihre Rolle in einer Pädagogik der Vielfalt Beachtung finden.
Der theoretische Rahmen zur Implementation behandelt eine andere Ebene
als die zuvor genannten theoretischen Bezugspunkte. Der Blick auf die Imple-
mentationsforschung lässt Rückschlüsse darauf zu, wie der Anti-Bias-Ansatz in
mögliche pädagogische Praxisfelder implementiert werden kann. Hier kommt es
zunächst darauf an, Hinweise dafür zu erhalten, welche Bedingungen sich be-
günstigend auf das Implementationsvorhaben auswirken. Auf dieser Basis kön-
nen in den Interviews Aussagen dazu gesucht werden, inwiefern diese Faktoren
in den Bemühungen zur Implementation der Anti-Bias-Arbeit in dem jeweiligen
Kontext beachtet werden.
Ein Aspekt, der themenübergreifend alle Theoriefelder verbindet, ist der
Blick auf die Akteure, also auf die PädagogInnen und auf die Strukturen in pä-
dagogischen Einrichtungen. PädagogInnen stehen mit ihrem Bild von Migran-
tenkindern, mit ihrem Selbstverständnis als PädagogInnen, mit ihren Zielsetzun-
gen, ihren Kompetenzen und auch mit ihrer Einwirkung auf Implementations-
prozesse im Fokus der vorliegenden Arbeit. Gleichermaßen bedeutsam sind die
Strukturen und Mechanismen in den Institutionen. Es konnte gezeigt werden,
dass diese bei einer Pädagogik der Vielfalt nicht außer Acht gelassen werden
können. Der Anti-Bias-Ansatz ist ein pädagogisches Konzept für den Umgang
mit Vielfalt. Inwiefern die Ansprüche an diese Pädagogik erfüllt werden und
inwieweit die Kompetenzen von PädagogInnen dabei mit bedacht und gefördert
werden, will die vorliegende Arbeit beantworten.

74
3 Das Forschungsdesign

3.1 Methodische Überlegungen

Die vorliegende Studie will eine umfassende und möglichst vollständige Darstel-
lung der existierenden Verständnis- und Anwendungskonzepte des Anti-Bias-
Ansatzes vorlegen. Das Ziel ist, die Adaptionen des Anti-Bias-Ansatzes in
Deutschland zu dokumentieren und damit das neue Konzept an aktuelle theoreti-
sche Diskurse anzubinden und gleichzeitig die Strukturen und Möglichkeiten
von pädagogischer Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz sichtbar zu machen.
Strukturen, Handlungsweisen und Perzeptionen zu verstehen, ist also das Er-
kenntnisprinzip dieser Studie. Um dieses Ziel zu erreichen, bietet sich ein quali-
tativ forschendes Vorgehen an. Qualitative Forschungsmethoden produzieren
„deskriptive Daten über Individuen, die als Teile eines Ganzen und nicht als
isolierte Variablen gesehen werden“ (Lamnek 2005, 4) und ermöglichen damit,
Zusammenhänge und innere Strukturen der Forschungsgegenstände herauszufin-
den (vgl. ebd.). Die qualitative Forschung zeichnet sich aus durch beschreibende,
interpretierende und damit erkenntnisleitende Vorgehensweisen. „Es geht dabei
um fremde Lebenswelten und Deutungssysteme in der eigenen Gesellschaft,
über die wenig bekannt ist, an deren Beschreibung aber Interesse besteht, inso-
fern sie der Aufklärung [...] dient.“ (Oswald 1997, 79) Das Herausfinden von
Zusammenhängen und Anknüpfungsmöglichkeiten als zielleitendes Erkenntnis-
interesse bedeutet auch, dass ein exploratives Vorgehen vielversprechend ist, da
es darauf ankommt, herauszufinden, welche Möglichkeiten der Arbeit nach dem
Anti-Bias-Ansatz überhaupt bestehen. Als bereichernd für den Erkenntnisgewinn
hat sich die Möglichkeit erwiesen, die Theorien während des Forschungsprozes-
ses zu präzisieren und anzugleichen:

„Im Unterschied zur quantitativen Auffassung ist die Hypothesenentwicklung in der


qualitativen Sozialforschung ein konstitutives Element des Forschungsprozesses.
Kennzeichnend ist der offene Charakter der theoretischen Konzepte, d. h. der stän-
dige Austausch zwischen den qualitativ erhobenen Daten und dem zunächst noch
vagen theoretischen Vorverständnis, sodass es zu einer fortwährenden Präzisierung,
Modifizierung und Revision von Theorien und Hypothesen kommt. Je strukturierter
hingegen die Technik der Datensammlung ist, desto unwahrscheinlicher ist das Auf-

75
finden neuer Fakten, deren Existenz vorher nicht in Rechnung gestellt wurde, oder
die Entdeckung von Hypothesen, die nicht bereits vor Untersuchungsbeginn formu-
liert wurden.“ (Lamnek 2005, 89)

Durch diese Optionen wird es möglich, neue Ideen und Deutungskonzepte im


Zusammenhang mit dem Anti-Bias-Ansatz aufzufinden. Die Studie ist damit
ausdrücklich eine explorative Studie.
Qualitative Forschung basiert im Analyseprozess auf Interpretationen.
„Interpretation ist immer Konstruktion“ schreibt Agi Schründer-Lenzen
(Schründer-Lenzen 2003, 107). Interpretation beinhaltet damit auch, dass immer
mehr als eine mögliche Antwort richtig sein kann. Um Interpretationen abzusi-
chern und mehr als eine Bezugsquelle dafür zu finden, wird in der qualitativen
Forschung häufig die Methode der Triangulation eingesetzt. Schründer-Lenzen
beschreibt Triangulation als eine Variation des methodischen Settings, bei der es
um die Verwendung und Verknüpfung verschiedener methodischer Ansätze geht
(ebd., 107). „Dieser Begriff bezeichnet in der Sozialforschung die Betrachtung
eines Forschungsgegenstandes von (mindestens) zwei Punkten aus. Meist wird
dies durch verschiedene methodische Zugänge realisiert.“ (Flick 2003, 161)
Triangulation geht zurück auf die Methode der ‚multi-trait-multi-method-
matrix‘, die von Donald Campbell und Donald Fiske entwickelt wurde und bei
der es darum geht, unterschiedliche Messverfahren und Methoden zu kombinie-
ren, um so die Verfälschung von Messvorgängen und deren Ergebnissen zu mi-
nimieren (vgl. Campbell/Fiske 1959, 82). Denzin beschreibt die Triangulation
als „einen komplexen Prozess des Gegeneinander-Ausspielens jeder Methode
gegen die andere, um die Validität von Feldforschungen zu maximieren.“ (Den-
zin 1978, 304) Will man versuchen, qualitative Forschung valide zu gestalten, so
muss es zum einen darum gehen, Fehlinterpretationen zu verringern bzw. zu
vermeiden. Eine weitere Herangehensweise ist möglich: Es geht nicht darum, die
eine mögliche interpretative Wahrheit zu entdecken, sondern es geht auch darum,
anzuerkennen, dass „das Verstehen des Anderen […] immer nur annäherung-
sweise möglich“ ist (Schründer-Lenzen 2003, 107). Diese Erkenntnis akzeptie-
rend geht es in der vorliegenden Forschungsarbeit nicht darum, die einzig mögli-
che Wahrheit zu finden. Vielmehr wird anerkannt, dass Interpretationen kons-
truiert sind und nicht zuletzt die Perspektive der forschenden Person einen Ein-
fluss auf die Ergebnisse hat. Auf dieser Basis ist das Ziel des methodischen Vor-
gehens, die eigenen Interpretationswege offen zu legen und nachvollziehbar zu
machen.
In der vorliegenden Arbeit wurde eine Data-Triangulation vorgenommen:
„Data-Triangulation kombiniert Daten aus verschiedenen Quellen oder von ver-
schiedenen Zeitpunkten, Orten oder Personen“ (Flick 2003, 161) – in diesem Fall

76
zum einen die Experteninterviews und deren Auswertung, zum anderen eine
Dokumentenanalyse. Als Besonderheit oder als ‚glücklicher Umstand‘ kann
dabei gelten, dass die Publikationen, die in Deutschland bisher zum Anti-Bias-
Ansatz veröffentlicht wurden, hauptsächlich aus den Federn der Menschen
stammen, die für die Studie interviewt wurden. Es handelt sich hierbei um ver-
schriftlichte Erfahrungen aus der Praxis sowie daraus abgeleitete Konzepte, ver-
bunden mit dem eigenen theoretischen Hintergrund. Diese Dokumente geben
einen tieferen Einblick in die jeweilige Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz. Da
dieses Thema auch ein zentraler Gegenstand der Interviews war, dienen die Ma-
terialien in diesem Sinne dazu, das im Interview Erfahrene insofern besser ei-
nordnen zu können, dass die Schriften Auskünfte über Motivationen, Verständ-
nisse, gedankliche Weiterentwicklungen und Konzeptionen für die Arbeit mit
dem Anti-Bias-Ansatz geben und sie somit helfen, entstehende Lücken zu
schließen. Sie sind also zum einen Hintergrundinformation, und zum anderen
Informationen, die die Aussagen aus den Interviews präzisieren, vertiefen und
auch validieren. Des Weiteren liegen Mitschnitte von Tagungen vor, bei denen
die interviewten Personen Vorträge gehalten oder sich an Diskussionen beteiligt
haben. Auch diese Mitschnitte eröffnen ein tieferes Verständnis von dem, was
Inhalt der Interviews ist. Aus diesem Grund wurden beide Methoden in der
Auswertung insofern miteinander verknüpft, dass unter den jeweiligen themati-
schen Gliederungspunkten Belege sowohl aus den Interviews als auch aus den
als Dokumente vorliegenden Quellen genutzt werden. Sie ergänzen sich gegen-
seitig und komplettieren die jeweilige Thematik. Eine strikte Trennung in der
Auswertung hätte zu Doppelungen geführt und das Gesamtverständnis er-
schwert. Daher ist die Entscheidung, beide Methoden miteinander zu verknüp-
fen, bewusst gefällt worden in dem Wissen, dass durch die jeweiligen Belege die
Herkunft der Erkenntnisse deutlich wird. Auf diese Art können auch die Inter-
pretationswege der Forscherin gut nachvollzogen werden.
Da die Methoden der qualitativen Forschung weniger starren Regeln folgen
als die der quantitativen, kommt dem Forscher [im vorliegenden Fall der For-
scherin] eine gewichtige Rolle zu:

„[E]s liegt überwiegend in seiner Hand, ob sich die von ihm verwendete Methode
als fruchtbar erweist. Dies gilt ebenso für den Auswertungsprozess [...] Es gibt in
der qualitativen Methodologie keine Verselbständigung des technischen Instrumen-
tariums. Dessen fruchtbare Verwendung ist primär von der persönlichen Kompetenz
des Sozialforschers abhängig.“ (Lamnek 2005, 92)

Um über die beschriebenen methodischen Schritte hinaus abzusichern, dass die


Interviewstudie methodisch sauber durchgeführt wird, wurden verschiedene
Maßnahmen unternommen, um das Vorgehen der Forscherin in der Planung, der

77
Durchführung und der Auswertung auf Reliabilität und Objektivität zu überprü-
fen. Das Kriterium Reliabilität bezieht sich auf die Stabilität der Ergebnisse bei
wiederholtem Einsatz des Instruments bei derselben Person. Das Kriterium der
Objektivität bezieht sich auf die Unabhängigkeit der Ergebnisse vom Untersu-
cherverhalten und der Erhebungssituation (vgl. Helfferich 2005, 138).Vor allem
zu Beginn der Analyse hat die Forscherin mit anderen ForscherInnen zusam-
mengearbeitet, die ähnliche Auswertungsverfahren einsetzten. In diesem kom-
munikativen Verfahren ging es darum, eigene Analyse-Gedanken spiegeln zu
lassen und so auf Objektivität zu überprüfen. Zusätzliche Reliabilität wurde
durch das Auswertungsinstrument MAXqda34 möglich. Die Kodierung gleicher
Textstellen zu unterschiedlichen Analysezeitpunkten bot die Möglichkeit, die
Konstanz der eigenen Kodierungsentscheidungen zu überprüfen.

3.2 Zu den Interviews

Für die vorliegende Forschungsarbeit wurden Interviews durchgeführt mit den


Akteuren, die in Deutschland zum Anti-Bias-Ansatz arbeiten. Das erkenntnislei-
tende Interesse in der Vorbereitung der Interviews galt der Frage, in welchen
Kontexten auf welche Weise mit dem Anti-Bias-Ansatz gearbeitet wird. Die
Antworten auf diese Fragen sollten eine Verortung des Anti-Bias-Ansatzes in
pädagogischen Diskursen zum Thema Umgang mit Heterogenität ermöglichen.
Außerdem sollte erkennbar werden, welches die markanten Merkmale einer
Pädagogik nach dem Ansatz sind und wie diese in der Praxis Anwendung finden.
Da das Interesse also der Frage galt, in welchen Kontexten auf welche Weise mit
dem Anti-Bias-Ansatz gearbeitet wird, ergibt sich eine nahezu automatische
Eingrenzung des Personenkreises derer, die für Interviews in Frage kamen. Im
Fokus des Interesses stehen die Fachleute, die in Deutschland mit dem Anti-
Bias-Ansatz arbeiten. Drei Gruppen sind diesbezüglich interessant:

1) PädagogInnen, die in Institutionen zum und mit dem Anti-Bias-Ansatz


arbeiten,
2) PädagogInnen, die institutionsunabhängig Fortbildungen zum Anti-
Bias-Ansatz anbieten, und
3) PädagogInnen, die in andere Arbeitskontexte eingegliedert sind, sich
aber gleichzeitig mit dem Anti-Bias-Ansatz auseinandersetzen und die-

34
MAXQDA ist ein Computerprogramm, das die Auswertung qualitativer Daten erleichtert. Es
wurde in der vorliegenden Studie lediglich als Hilfsmittel zur Sortierung der Daten eingesetzt.
Daher wird auf die weiteren Möglichkeiten des Programms nicht eingegangen. Siehe hierzu:
www.maxqda.de

78
ser einen Bezug zur eigenen Arbeit aufweist bzw. auch in diese einge-
bunden wird.

Bei der Auswahl der InterviewpartnerInnen wurde vor allem darauf geachtet,
dass von jeder Institution, die mit dem Anti-Bias-Ansatz arbeitet, mindestens
einE InterviewpartnerIn zur Verfügung steht.

3.2.1 Experteninterviews

Die durchgeführten Interviews werden hier als Experteninterviews verstanden,


wobei der Begriff ‚Experten‘ in der qualitativen Sozialforschung nicht einheit-
lich definiert ist: „[D]ie Auswahl der Personen, die in der Forschungspraxis als
Experten interviewt werden, [folgt] oft keinen klaren und definierten Kriterien.“
(Meuser/Nagel 2003, 57) Meuser und Nagel legen einen Expertenbegriff zu-
grunde, der davon ausgeht, dass Menschen aufgrund einer beruflichen Stellung
über besonderes Wissen verfügen (vgl. Meuser/Nagel 2005). Daher gilt es an
dieser Stelle, den Begriff ‚Experten‘ für den vorliegenden Arbeitskontext zu
schärfen. Gläser/Laudel definieren Experten als Menschen, die aufgrund unmit-
telbarer Beteiligung einen exklusiven Einblick in Prozesse haben:

„[Es gibt] eine Art besonderen Wissens, über das eigentlich jeder von uns verfügt.
Es ist das Wissen über die sozialen Kontexte, in denen man agiert: Über das Unter-
nehmen oder die Organisation, in der man arbeitet, über die eigenen Arbeitsprozes-
se, über das Wohngebiet, in dem man lebt, über Bürgerinitiativen, in denen man mi-
tarbeitet, über Veranstaltungen, an denen man teilnimmt. Nur die unmittelbar Betei-
ligten haben dieses Wissen, und jeder von ihnen hat aufgrund seiner individuellen
Position und seiner persönlichen Beobachtungen eine besondere Perspektive auf den
jeweiligen Sachverhalt.“ (Gläser/Laudel 2006, 9)

Der Begriff ‚Experte’ bezieht sich also nicht auf spezialisiertes Wissen, sondern
definiert wird der Expertenstatus einer Person vielmehr über deren unmittelbare
Beteiligung an den für den Forschungsgegenstand relevanten Situationen: Es
geht um eine Art Sonderwissen, das die jeweiligen Personen erlangt haben. In
der vorliegenden Studie wird diese Definition von Experten nach Gläser/Laudel
zugrunde gelegt. Experten werden also betrachtet als Menschen, die an bestimm-
ten Situationen beteiligt sind und deswegen über exklusive Sichtweisen und
exklusives Wissen in diesem Zusammenhang verfügen. Im konkreten Fall sind
das die Personen, die in Deutschland an der Adaption und Weiterentwicklung
des Anti-Bias-Ansatzes arbeiten und ihn in ihrem jeweiligen Arbeitskontext in
die Praxis umsetzen. Sie sind insofern ExpertInnen, dass sie Einblick in die Um-

79
setzung von und die praktische Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz haben. Die
Rolle der ExpertInnen ist damit folgende:

„Die Experten sind ein Medium, durch das der Sozialwissenschaftler Wissen über
einen ihn interessierenden Sachverhalt erlangen will. Sie sind also nicht das ‚Objekt’
unserer Untersuchung, der eigentliche Fokus unseres Interesses, sondern sie sind
bzw. waren ‚Zeugen’ der uns interessierenden Prozesse.“ (Gläser/Laudel 2006, 10)

Die Experten sind das Medium, sozusagen eine Eintrittskarte für Bereiche, die
anders nicht zugänglich sind. Damit werden sie als Vermittler betrachtet und
rücken als Personen in den Hintergrund:

„Im Unterschied zu anderen Formen des offenen Interviews bildet bei ExpertInnen-
interviews nicht die Gesamtperson den Gegenstand der Analyse, d. h. die Person mit
ihren Orientierungen und Einstellungen im Kontext des individuellen oder kollekti-
ven Lebenszusammenhangs. Der Kontext, um den es hier geht, ist ein organisatori-
scher oder institutioneller Zusammenhang, der mit dem Lebenszusammenhang der
darin agierenden Personen gerade nicht identisch ist und in dem sie nur einen „Fak-
tor“ darstellen.“ (Meuser/Nagel 2005, 72f.)

Entsprechend gilt die Aufmerksamkeit in der Auswertung alleine den inhaltli-


chen Aspekten der Aussagen. Dies hatte Einfluss auf die Transkription der Inter-
views. Die Interviews wurden von der Autorin selbst transkribiert. Auf diese
Weise fand schon eine erste Sichtung des Interviewmaterials statt, was als erster
Schritt der Auswertung betrachtet werden kann, wie es auch Meuser/Nagel vor-
sehen. Alle Interviews wurden auf Tonband aufgenommen. Sie wurden wortge-
treu transkribiert. Dabei wurde bewusst auf ein aufwändiges Notationssystem
verzichtet. Auch Pausen, Stimmlagen sowie sonstige nonverbale und parasprach-
liche Elemente sind in einem Experteninterview nicht Gegenstand der Interpreta-
tion und wurden demnach nicht berücksichtigt: Es ging nicht um Interpretationen
und Emotionen einzelner Personen, sondern um die Generierung von Wissen
(vgl. Meuser/Nagel 2005, 83). Die Interviews wurden inhaltlich vollständig
transkribiert, Anteile informeller Gespräche, die vor oder nach dem Interview
stattgefunden haben, sind in der Analyse nicht beachtet worden. Wenn im Fließ-
text der vorliegenden Arbeit Interviewpassagen zitiert wurden, so wurden aus
den Transkripten Füllwörter an den Stellen herausgestrichen, an denen sich die
Streichung positiv auf die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Aussagen aus-
wirkt.

80
3.2.2 Durchführung der Interviews

„Jedes Interview ist ein Kommunikations- und Interaktionsprozess. Das heißt auch:
Interviewende und Erzählperson reagieren wechselseitig aufeinander. Wenn sie in
Kontakt treten, schätzen sie sich gegenseitig ein, bilden Erwartungshaltungen und
verhalten sich zu diesen Erwartungen.“ (Helfferich 2005, 105)

Der Kommunikationsprozess in den dieser Studie zugrunde liegenden Interviews


wurde auch dadurch bestimmt, dass sich die Interviewten und die Interviewerin
bereits – bis auf zwei Ausnahmen – aus Arbeitskontexten kannten, sich duzen
und die Interviews in eher informellen Settings – in den Wohnungen der Inter-
viewten oder in ihren Büros –durchgeführt wurden. „Im Unterschied zur stan-
dardisierten Befragung wird der Interviewpartner in qualitativen Befragungen
nicht als objekthafter Datenlieferant einer Untersuchung, sondern als ein Subjekt
in einer möglichst alltagsnahen Gesprächssituation verstanden.“ (Lamnek, 2005,
353) Der Beginn aller Interviews ist markiert durch die Ankündigung des Be-
ginns der Aufzeichnung. Zusätzliche Mitschriften wurden während der Inter-
views nicht gemacht, um den Gesprächsfluss nicht zu stoppen.
Die durchgeführten Interviews sind außerdem Leitfadeninterviews. Neben
dem Beginn der Tonbandaufzeichnung war ein weiteres methodisches Element
der Interviews die Vorstellung des Leitfadens vor Beginn des Interviews. Die
fünf darin festgelegten Themenschwerpunkte wurden genannt, anschließend
begann das Interview mit der ersten Leitfrage, die nach dem Kennenlernen des
Ansatzes fragt.

„Der Leitfaden wird [in Experteninterviews] flexibel und nicht im Sinne eines stan-
dardisierten Ablaufschemas gehandhabt, um unerwartete Themendimensionierungen
durch den Experten nicht zu unterbinden. Diesem wird die Gelegenheit gegeben, zu
berichten, wie er Entscheidungen trifft, anhand von Beispielen zu erläutern, wie er in
bestimmten Situationen vorgeht, zu extemporieren usw.“ (Meuser/Nagel 2003, 58)

Das hier beschriebene Vorgehen wurde gewählt, um den InterviewpartnerInnen


die Möglichkeit zu geben, selbst thematische Schwerpunkte zu setzen. So wur-
den auch Übergänge oder Einschübe zu den anderen Leitfragen von den Inter-
viewpartnerInnen vorgenommen und eingestreut. Für die Auswertung bedeutete
dies auch, dass darauf geachtet werden konnte, welche Schwerpunkte die einzel-
nen Personen wählten, um daraus Rückschlüsse zu ziehen, welche Themen für
sie im Zusammenhang mit Anti-Bias von Bedeutung sind. So zeigen auch Aus-
lassungen einiger Punkte, dass diese thematisch nicht im Vordergrund standen
und daher möglicherweise auch weniger Bedeutung haben. Dies ist zumindest
eine mögliche Deutung.

81
3.3 Zur Auswertung

Die Auswertung von Experteninterviews ist dadurch gekennzeichnet, dass die


Interviews nicht nach Passagen ausgewertet, sondern interviewumfassend thema-
tisch geordnet werden.

„Die Auswertung zielt darauf, im Vergleich der Interviews überindividuell-


gemeinsame Wissensbestände herauszuarbeiten. Anders als beim einzelfallanalyti-
schen Vorgehen orientiert sich die Interpretation an thematischen Einheiten, an in-
haltlich zusammengehörigen, über die Texte verstreute Passagen.“ (Meuser/Nagel
2003, 58)

Im ersten Teil des Analyseprozesses wurde das Computerprogramm MAXqda


zur Hilfe genommen. Dieses Vorgehen diente vor allem dazu, sich mit den Tex-
ten vertraut zu machen und thematische Schwerpunkte zu erkennen. Mittels der
Kodierungsfunktion wurden Textstellen Kategorien zugeordnet. Die Kategorien
wurden induktiv gebildet, das heißt sie wurden im Laufe des Zuordnungsprozess
gesammelt und anschließend systematisiert. Die erstellten Codes dienten damit
vor allem als Wegweiser zu relevanten Themen (vgl. Kuckartz 2005, 64).
In den Interviews gibt es viele thematische Stränge. Die Sichtung und Sor-
tierung des Materials mit MAXqda hat es ermöglicht, diese Schwerpunkte
schnell zu erkennen, in Gruppen einzuteilen und die genaueren Analysefragen
auf dieser Basis zu präzisieren. Das Interviewmaterial wies nach dieser Sichtung
folgende drei Schwerpunkte auf:

1. Informationen über den beruflichen Hintergrund, der in Verbindung mit


der Anti-Bias-Arbeit steht,
2. Informationen über die eigene Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz. Dazu
zählen z. B. Informationen über eigene Herangehensweisen, Arbeits-
schwerpunkte, bisherige Erfahrungen mit der Arbeit und
3. Aussagen zum Verständnis des Anti-Bias-Ansatzes, also zu den Zielen,
den inhaltlichen Schwerpunkten, den Möglichkeiten und den Heraus-
forderungen der Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz.

Da ein Hauptanliegen dieser Arbeit die Untersuchung der Möglichkeiten einer


Anbindung des Anti-Bias-Ansatzes an aktuelle theoretische Diskurse ist, wurde
das Material nach dieser ersten Sortierung durch MAXqda erneut einer Analyse
unterzogen. Diesmal wurde der Blick auf die Aussagen gerichtet, die Auskunft
über folgende Aspekte geben:

82
x Wie verstehen Sie Ihre Rolle im Prozess der Anti-Bias-Arbeit?
x Welche Elemente des Anti-Bias-Ansatzes wenden Sie in Ihrer Arbeit
an?
x Welche Reaktionen bekommen Sie auf die angewandten Elemente der
Anti-Bias-Arbeit?
x Welche Veränderungen haben Sie bemerkt?
x Welche Ziele verfolgen Sie, wenn Sie die Elemente des Anti-Bias-
Ansatzes anwenden?

Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion der Anwendungsformen der jeweiligen
PädagogInnen in Bezug auf den Anti-Bias-Ansatz.
Die Interviews wurden ausgewertet nach einem fünfschrittigen Auswer-
tungs-Verfahren, das die Sozialforscher Michael Meuser und Ulrike Nagel ent-
wickelt haben und das sich gut mit dem explorativen Vorgehen der Studie ver-
binden lässt (vgl. Meuser/Nagel 2005). Folgende fünf Schritte bilden das Verfah-
ren: Transkription, Paraphrase, Überschriften, Thematischer Vergleich, Soziolo-
gische Konzeptualisierung, Theoretische Generalisierung. Es wird hier unter
Auslassung des Punktes ,Transkription‘ – dieser ist bereits weiter oben in diesem
Kapitel dargestellt worden – erläutert.
Paraphrasieren meint das textgetreue Wiedergeben der Interviewaussagen
in eigenen Worten. Die Chronologie muss dabei eingehalten werden, da ein
Weglassen von vermeintlich irrelevantem Material ein ‚Verschenken’ von In-
formationen bedeuten kann (vgl. Meuser/Nagel 2005, 83). Die Paraphrase ist der
erste Schritt zur Verdichtung des Interviewmaterials und deshalb von großer
Bedeutung. „Trennlinien zwischen Themen werden deutlich, Erfahrungsbündel
und Argumentationsmuster schälen sich heraus, Relevanzen und Beobachtungs-
dimensionen nehmen Kontur an.“ (Meuser/Nagel 2003, 84) Um die Vergleich-
barkeit der Paraphrasen sicherzustellen wurden zum einen die paraphrasierten
Interviews zusammen mit den kompletten Transkripten anderen Personen zur
Überprüfung vorgelegt. Zum anderen wurde, Meuser/Nagel folgend, das erste
paraphrasierte Interview anschließend an die übrigen paraphrasierten Interviews
noch einmal paraphrasiert. Auf diese Weise konnten methodische Unstimmigkei-
ten, die durch die Übung und Routine abgestellt werden konnten, aufgefunden
und beseitigt werden.
Der dritte Schritt der Auswertung besteht darin, den Textparaphrasen Über-
schriften zu geben. Diese Überschriften haben noch keinen interpretativen Cha-
rakter. Sie sind nah am Text formuliert und bringen den Gedanken im Abschnitt
auf dem Punkt. Die Chronologie des Textes wird weiter eingehalten, einzelne
Sequenzen können allerdings getrennt werden, wenn es inhaltlich um unter-

83
schiedliche Aspekte geht. Hier wird also bewusst in die Prozessgestalt eingegrif-
fen.

„Anders als in der Erhebungssituation ist im Prozess der Auswertung die Person des
Experten irrelevant, sie bildet lediglich das Medium, durch das wir Zugang zu dem
Bereich, der uns interessiert, erlangen. Wir trennen die Person von ihrem Text ab
und betrachten den Text nicht als Dokument einer sozialen Struktur.“ (Meuser/Nagel
2003, 85)

Der Eingriff in die Sequenzstruktur ist insofern gerechtfertigt, dass es in den


vorliegenden Interviews auch darauf ankam, die ‚Relevanzstrukturen der Inter-
viewten‘ herauszufinden. Dieses Vorgehen wurde auch dadurch unterstützt, dass
der Leitfaden zu Beginn des Interviews vollständig vorgestellt wurde. Dadurch
hatten die Interviewten die Möglichkeit, den thematischen Verlauf des Inter-
views mitzubestimmen. Da sich so Gedankensprünge und somit Verknüpfungen
zu anderen Themenbereichen ergeben haben, wird durch das Unterbrechen der
Sequenzstruktur gewährleistet, dass diese Gedanken nicht verloren gehen oder
der ‚ordnenden Absicht’ zum Opfer fallen. Um die Verzahnung zu verdeutlichen,
werden einzelnen Passagen mehrere Überschriften zugeordnet. Um bei der Zu-
ordnung und Formulierung von Überschriften wirklich nur das Gesprochene zu
verkürzen, wird von einer theoretischen Bezugnahme ausdrücklich Abstand
genommen. Bis zu diesem Punkt der Auswertung geht es lediglich um eine
Komprimierung des Interviewmaterials (vgl. Meuser/Nagel 2003, 86).
Der thematische Vergleich ist die erste Auswertungsstufe, in der die Inter-
views nicht mehr für sich in den Blick genommen werden. „Passagen aus ver-
schiedenen Interviews, in denen das gleiche oder ähnliche Themen behandelt
werden, werden zusammengestellt, die Überschriften werden vereinheitlicht.“
(Meuser/Nagel 2003, 86) Die Terminologie ist weiterhin textnah und noch nicht
theoriegeleitet. Gleichzeitig werden auf dieser Stufe Kategorien gebildet. Ver-
schiedene Textstellen aus unterschiedlichen Interviews werden unter einer Über-
schrift zusammengefasst. Damit ist hier ein erster bedeutsamer Interpretations-
schritt vorzunehmen. Der thematische Vergleich in dieser Arbeit bezieht sich auf
alle Informationen, die zu erhalten sind über die Anwendungsmöglichkeiten und
tatsächlichen Anwendungen des Anti-Bias-Ansatzes in pädagogischen Kontex-
ten. Dementsprechend findet der thematische Vergleich getrennt nach ‚Einsatz-
kontexten’ statt: Kleine Kinder, Schüler und Jugendliche, Erwachsene im Kon-
text antidiskriminierender Arbeit, pädagogische Fortbildungen und nicht zuletzt
als Handlungsrahmen für pädagogische Arbeit mit unterschiedlichen Gruppen.
Auf der Stufe der soziologischen Konzeptualisierung erfolgt eine Ablösung
von den Texten und der Terminologie der Interviewpartner (vgl. Meuser/Nagel
2005, 88); Kategorien werden gebildet: „In einer Kategorie ist das Besondere des

84
gemeinsam geteilten Wissens eines Teils der ExpertInnen verdichtet und explizit
gemacht.“ (Meuser/Nagel 2005, 88) Die Verallgemeinerungen bleiben auf das
vorliegende theoretische Material begrenzt: „Die Anschlussmöglichkeit an theo-
retische Diskussionen [...] ist zwar gegeben, die Verallgemeinerung bleibt aber
auf das vorliegende empirische Material begrenzt, auch wenn sie in einer Be-
grifflichkeit geschieht, die in diesem selbst nicht zu finden ist.“ (ebd., 89)
Auf der fünften Stufe geht es um die theoretische Generalisierung. „Bei
diesem rekonstruktiven Vorgehen werden Sinnzusammenhänge zu Typologien
und zu Theorien verknüpft, und zwar dort, wo bisher Addition und pragmati-
sches Nebeneinander geherrscht haben.“ (Meuser/Nagel 2005, 89) Meuser/Nagel
weisen darauf hin, dass, um einen validen Auswertungsprozess zu garantieren,
alle Stufen der Auswertung durchschritten werden müssen. Darüber hinaus ist es
notwendig, im Verlauf der Auswertung immer wieder zurückzugehen auf vorhe-
rige Auswertungsebenen, um so Verallgemeinerungen zu vermeiden und die
Fundierung der Daten zu kontrollieren (vgl. Meuser/Nagel 2005, 91). In der
vorliegenden Studie wird deshalb immer wieder auf das Originalmaterial zu-
rückgegriffen, um den Kontext der Aussagen sicherzustellen und zu überprüfen,
ob er vergleichbar ist mit den Kontexten der Aussagen anderer Interviewpartner.
Eine letzte Anmerkung zu den Interviews bezieht sich auf die Vollständig-
keit der zitierten Passagen: Aussagen zu einigen Themen haben sich überschnit-
ten. Nach gründlicher Prüfung, ob es inhaltlich keine neuen Aspekte gibt, wer-
den, um Redundanzen zu vermeiden, in solchen Fällen die Textstellen als Beleg
herangezogen, die von der Formulierung her am konkretesten bzw. aussagekräf-
tigsten sind.

3.3.1 Elemente der Dokumentenanalyse in der Auswertung

Gegenstand der Auswertung für die vorliegende Studie waren neben den Exper-
teninterviews auch verschiedene Dokumente. „Dokumentenanalyse will Material
erschließen, das nicht erst vom Forscher durch die Datenerhebung geschaffen
werden muss.“ (Mayring 2002, 47) Als Dokumente gelten nicht nur Schriftstü-
cke, sondern jegliches Material, das Informationen über den Forschungsgegens-
tand freigibt (vgl. Mayring 2002, 47). In der vorliegenden Studie zählen dazu
Bücher, Praxishandbücher, Materialsammlungen, Methodensammlungen, Do-
kumentarfilme, Tagungsmitschnitte in Bild und Ton.
Eine Anonymisierung der Interviews findet bewusst nicht statt. Dies hat
folgende Gründe: Experteninterviews stellen nicht die Interviewten als Objekte
ins Zentrum des Interesses, sondern sie dienen als Medium, das den Zugang zu
Informationen ermöglicht. Die Dokumente, die der Dokumentenanalyse zugrun-

85
de liegen, entstammen zu einem Großteil den Federn der Menschen, die inter-
viewt wurden. Die Kombination der beiden Quellen, also der Dokumente und
der Interviews führt zu einem besseren Verständnis der Gesamtaussage. Eine
Anonymisierung der Interviews würde hier zu Verzerrungen und damit zu einem
erschwerten Verständnis führen35.

35
Entsprechende Einverständniserklärungen zur Verwendung personenbezogener Daten wurden
von allen zitierten InterviewpartnerInnen eingeholt.

86
4 Wer arbeitet mit dem Anti-Bias-Ansatz

Die Personen, die interviewt wurden, sind zum Teil MitarbeiterInnen in Einrich-
tungen, in denen der Anti-Bias-Ansatz einen thematischen Schwerpunkt in der
Arbeit ausmacht. Diese Einrichtungen bzw. Projekte sind namentlich das Projekt
Kinderwelten, das Fortbildungsinstitut FiPP e.V. und die Anti-Bias-Werkstatt.
Die Konzeption und die Arbeitsweise dieser Projekte in Bezug auf den Anti-
Bias-Ansatz werden im Folgenden dargestellt und die InterviewpartnerInnen aus
den Einrichtungen zu Ende der jeweiligen Ausführungen vorgestellt. Des Weite-
ren ist ein Teil der InterviewpartnerInnen in andere Arbeitskontexte eingebun-
den, in denen die Anti-Bias-Arbeit ein Element ist. Diese InterviewpartnerInnen
werden kurz vorgestellt, die Verknüpfungen des Anti-Bias-Ansatzes zur jeweili-
gen Tätigkeit werden aufgezeigt.

4.1 Das Projekt Kinderwelten

Kinderwelten ist der Name eines Projekts zur frühkindlichen Bildung mit Sitz
und Arbeitsschwerpunkt in Berlin. Berlin gilt in Deutschland als führend in der
Pädagogik für vorschulische Einrichtungen. Hier gibt es innovative Konzepte,
lange und flexible Öffnungszeiten, Kindertageseinrichtungen, die sich auf ver-
schiedene Schwerpunkte spezialisiert haben. Dies ist nicht zuletzt dadurch be-
gründet, dass es in Berlin aufgrund der hohen Einwohnerzahl auch einen großen
Bedarf an Betreuung für Kinder gibt. Das Projekt Kinderwelten hat seine Arbeit
in Berlin Kreuzberg begonnen, einem Stadtteil von Berlin, der von Multikultur-
alität geprägt ist. So begann auch die Arbeit von Kinderwelten in Kitas, die einen
Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund von 90 Prozent und mehr hatten.
Das Projekt Kinderwelten wurde im Jahr 1999 durch eine Initiative von Pädago-
gInnen gegründet (www.kinderwelten.net). Die PädagogInnen arbeiteten durch-
gängig im Kontext der Interkulturellen Pädagogik und hatten das Gefühl, dass
ihr bisheriges Wirken häufig in „Sackgassen“ führte (vgl. ebd.). Die Kritik an der
eigenen Arbeit bis zu jenem Zeitpunkt fassen sie so zusammen:

„[..]Eine Zeitlang ‚förderten‘ wir die benachteiligten ‚Ausländerkinder‘ – und nach


20 Jahren war der Förderbedarf nicht weniger, das Bild vom ‚defizitären‘ Immigran-

87
tenkind aber verbreiteter denn je. Wir wollten ‚kulturelle Bereicherung‘ für deutsche
Kinder – und stärkten damit ungewollt stereotype Bilder von den ‚Anderen‘ und ein
Verständnis von ‚Kultur‘ als ‚Nationalkultur der Anderen‘.
Wir propagierten ‚Offenheit‘ und ‚Toleranz‘ – und entpolitisierten damit die inter-
kulturelle Diskussion, in der nicht mehr gesellschaftliche Ungleichheiten und
Machtverhältnisse thematisiert wurden, sondern der Grad des ‚Gewährens‘ und
‚Duldens‘ von kulturellen Unterschieden.
Wir waren überzeugt, dass bei Themen wie Rassismus und Diskriminierung auch
jeder bei sich selbst anfangen müsste – und konstatierten erstaunt, dass kokette Of-
fenbarungen wie ‚Seien wir ehrlich, wir alle sind irgendwie rassistisch!‘ die Runde
machten und folgenlos blieben.“36

Als Konsequenz dieser Selbstkritik suchten die PädagogInnen nach neuen päda-
gogischen Möglichkeiten für den Umgang mit kultureller Vielfalt und wurden in
dem Zusammenhang auf den Anti-Bias-Ansatz aufmerksam, an dem sie von
Anfang an den Blick auf die Strukturen als bereichernd empfanden:

„Uns faszinierte, dass es in diesem Ansatz gegen Einseitigkeiten und Diskriminie-


rung nicht nur um den Umgang mit kulturellen und ethnischen Unterschieden geht,
sondern um die gesellschaftliche Bewertung der Unterschiede nach Geschlecht, so-
zialem Status, Alter, Behinderung/ Beeinträchtigung, Hautfarbe, Sprache, Herkunft,
sexueller Orientierung usw. und deren jeweilige Auswirkung auf das Leben von
Menschen, insbesondere auf kleine Kinder. Uns überzeugte, dass die Ausgrenzung
und Benachteiligung von Menschen nicht den Vorurteilen einzelner Individuen an-
gelastet, sondern im Zusammenhang mit „Institutioneller Diskriminierung“ gesehen
wird, wonach die Bevorzugung oder Benachteiligung von Menschen in die gesell-
schaftlichen Strukturen und ihr Funktionieren eingelassen ist. Uns imponierte das
„Anti“ im Anti-Bias-Ansatz als Positionierung gegen Ideologien wie Rassismus, Se-
xismus, Antisemitismus, Monolingualismus, Homophobie usw., die alle die Überle-
genheit einer bestimmten Gruppe über eine andere behaupten und dazu beitragen,
dass Ungleichbehandlung gerechtfertigt wird“. (ebd.)

Der Anti-Bias-Ansatz wurde zur Grundlage der Arbeit im Projekt Kinderwelten


gemacht. Er wird hier mit dem Situationsansatz37 und der Pädagogik der wech-
selseitigen Anerkennung kombiniert. Den Anfang der Anti-Bias-Arbeit bei Kin-
derwelten markieren Erfahrungen aus der Arbeit im europäischen Netzwerk
DECET38 (Diversity in Early Childhood Education and Training). Die Bernard

36
www.kinderwelten.net/geschichte.php
37
Der Situationsansatz ist ein pädagogisches Konzept, dass in den 1970er Jahren von u. a. Jürgen
Zimmer und Christa Preissing entwickelt wurde und das die Arbeit in Kitas bedeutend refor
miert hat (vgl. Zimmer 1984, Preissing 2003).
38
www.decet.org

88
van Leer Foundation förderte Ende der 90er Jahre die Anfänge dieses Netzwerks,
in dem sich Partnerorganisationen aus dem Bereich der Frühen Bildung zusam-
men schlossen, die inspiriert waren, auf der Grundlage des Anti-Bias Ansatzes
von Louise Derman-Sparks eine Praxis von „Equity & Respect for diversity“ in
Kindertageseinrichtungen zu entwickeln. Auf Einladung der Bernard van Leer
Foundation hielt Louise Derman-Sparks 1998 einen Workshop in den Niederlan-
den, an dem auch MitarbeiterInnen von Kinderwelten teilnahmen. 1999 fand in
Berlin ein weiterer Workshop statt, ebenfalls gefördert von der Bernard van Leer
Foundation. Der Workshop wurde geleitet von Jan Peeters, der mit seiner belgi-
schen Organisation VBJK Gründungsmitglied in DECET war und mithilfe von
Fördermitteln der Bernard van Leer Foundation einen Film über den Anti-Bias-
Approach in Kalifornien erstellt hat. (VBJK: „How good it is to be you“). Dieser
Workshop markiert den Anfang der Anti-Bias-Arbeit im Projekt Kinderwelten.
Das aus diesen Anfängen entstandene pädagogische Konzept wird von Kinder-
welten „vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“ genannt. Dieser Name ba-
siert auf der Übersetzung des englischen ‚Anti-Bias‘ und signalisiert gleichzeitig
die Adaption und damit Weiterentwicklung des Ansatzes für den deutschen Kon-
39
text. Das Wort ‚vorurteilsbewusst‘ in diesem Zusammenhang erläutert Christa
Preissing genauer:

„Hier geht es um eine gleichberechtigte Begegnung, in der sich alle Beteiligten ver-
ändern wollen und gemeinsam versuchen, eine neue Qualität des Zusammenlebens
zu entwickeln. Das Adjektiv ‚vorurteilsbewusst‘ signalisiert, dass dieses Ziel einen
Prozess der Bewusstwerdung voraussetzt. Die gleichberechtigte Begegnung kann
nicht einfach durch guten Willen erfolgen, weil die Beteiligten nicht gleichberechtigt
sind. Bestehende Hierarchien dürfen nicht verleugnet werden, sondern müssen zum
Thema werden.“ (Preissing 2003, 14)

Die Mitarbeiterinnen40 von Kinderwelten stehen im ständigen Kontakt und Aus-


tausch mit der Begründerin des Anti-Bias-Ansatzes, Louise Derman-Sparks (vgl.
Kap.5.1). Gemeinsam wird an der stetigen Weiterentwicklung der Pädagogik
nach dem Anti-Bias-Ansatz gearbeitet.

„Kinderwelten ist ein Projekt zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in Ki-
tas. Es macht aufmerksam auf Einseitigkeiten in Kitas und wie sie Bildungsprozesse
von Kindern behindern. Es bietet Kitateams und Trägern ein erprobtes Konzept zur
vorurteilsbewussten Praxisentwicklung, das auf dem Situationsansatz und dem Anti-
Bias Ansatz (Kalifornien) beruht.“41

39
vgl. www.kinderwelten.net/pdf/10_Ziele_und_Prinzipien .pdf
40
In dem Projekt arbeiten hauptamtlich ausschließlich Frauen.
41
www.kinderwelten.net/wir-ueber-uns.php

89
Das Projekt ist an das Institut für den Situationsansatz (ISTA) an der FU Berlin
angebunden. Unterstützt wird es außerdem seit 2000 von der niederländischen
Bernard van Leer Foundation und seit 2008 vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Programms „Vielfalt tut gut“. Seit
dem Jahr 2000 hat das Projekt Kinderwelten drei aufeinander aufbauende Projek-
te realisiert, deren Struktur im Folgenden nachgezeichnet wird:

1. Projekt (2000 – 2003)

Das erste Projekt war ein Entwicklungsprojekt, dessen Ziel es war, basierend auf
dem Anti-Bias-Curriculum von Louise Derman-Sparks den Anti-Bias-Ansatz auf
deutsche Verhältnisse zu übertragen.

„Uns leuchtete ein, dass der Anti-Bias-Ansatz in Kindertageseinrichtungen nur in


einem Prozess der Praxisentwicklung realisiert werden kann. Und dass die Fachkräf-
te bei der Reflexion und Veränderung ihrer Praxis kontinuierliche und systematische
Unterstützung brauchen.“42

Entsprechend wurde der Schwerpunkt der Projektarbeit auf die Arbeit mit den
ErzieherInnen und LeiterInnen gelegt. In so genannten ‚Entwicklungswerkstät-
ten‘ wurden die Prinzipien des Anti-Bias-Ansatzes in den partizipierenden Kitas
umgesetzt. Am Projekt beteiligt waren vier Kitas in Berlin-Kreuzberg und damit
70 Erzieherinnen und Leiterinnen und über 600 Kinder und ihre Familien. „Das
Ergebnis der Projektarbeit war ein praxiserprobtes Konzept ‚Vorurteilsbewusster
Bildung und Erziehung‘, als kreative Synthese von Situationsansatz, Anti-Bias-
Approach und der Theorie Wechselseitiger Anerkennung“ (ebd.). Das Konzept
für die Fortbildung von ErzieherInnen und LeiterInnen in Kindertageseinrich-
tungen ist 2005 unter dem Titel „Macker, Zicke, Trampeltier“ veröffentlicht
worden.

2. Projekt (2004 – 2008)

Das zweite Projekt diente der bundesweiten Verbreitung der Erkenntnisse. Die-
ses Disseminationsprojekt arbeitet mit 32 Kindertageseinrichtungen aus Thürin-
gen, Baden-Württemberg und Niedersachsen.

42
www.kinderwelten.net/geschichte.php

90
„[Es ist] ein Projekt zur Qualitätsentwicklung, das Kitateams darin unterstützt, ihre
Praxis in Orientierung auf die Ziele und Prinzipien des Ansatzes Vorurteilsbewuss-
ter Bildung und Erziehung zu gestalten. Im Blick sind die Kommunikation und die
Aktivitäten mit Kindern, aber auch die Raumgestaltung, die Regeln und Routinen,
das Spielmaterial und Medien, die Beteiligung von Eltern und Kindern. Vorurteils-
bewusste Qualitätsentwicklung bezieht sich sowohl auf die pädagogische Qualität
als auch auf die strukturelle Qualität der Kindertageseinrichtungen.“43

Das entwickelte Fortbildungsprogramm wurde in dieser Projektphase erprobt


und weiter entwickelt. Ziel des Projekts war außerdem die Etablierung eines
Netzwerks zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Eine bedeutende
Änderung in diesem zweiten Projekt war die Einbeziehung der Kita-Träger:
„Vorurteilsbewusste Qualitätsentwicklung bezieht sich sowohl auf die pädagogi-
sche Qualität als auch auf die strukturelle Qualität der Kindertageseinrichtungen“
(ebd.). Das Ziel war hier, Einfluss auf Strukturen zu nehmen und es wurde im
ersten Projekt deutlich, dass es dazu unabdingbar ist, die Träger einzubeziehen,
damit auch sie verstehen, welche Änderungen die Arbeit mit sich bringt und wie
sie diese unterstützen können.

3. Projekt (2007 – 2010)

Das dritte, zum Enstehungszeitpunkt dieser Arbeit noch andauernde Kinderwel-


ten-Projekt ist erneut ein bundesweites Projekt, an dem sich mehr und weitere
Institutionen als zuvor beteiligen. Hierin wird noch fundierter an der Qualifizie-
rung pädagogischer Fachkräfte für die vorurteilsbewusste Bildung und Erzie-
hung gearbeitet.

„Das Projekt setzt bei den pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen


an, erweitert diese um das Fachpersonal in Grundschulen und bezieht Erzieherfach-
schulen ein, damit die Innovationen bereits in der Ausbildung einen Widerhall fin-
den.“44

Der Anti-Bias-Ansatz wird in die Praxis der jeweiligen Institutionen integriert.


Gleichzeitig werden ‚lokale Kompetenzkerne‘ gebildet, bestehend aus jeweils
vier bis sechs Kitas, einer Grundschule und mindestens einer Erzieher-
fach(hoch)schule. Zweck der Kompetenzkerne ist die Vernetzung, die gegensei-
tige Unterstützung und die gemeinsame Weiterentwicklung der Arbeit. Das Ein-
beziehen von Grundschulen in die Projektarbeit ist auch ein Signal für den näch-

43
www.kinderwelten.net/10a_kurzdarstellung_des-Projekts
44
www.kinderwelten.net/index_mehr.php

91
sten Schritt, den Kinderwelten plant. Es wird an der Frage gearbeitet, was es
bedeuten und wie es funktionieren kann, die Anti-Bias-Ideen in die Schulen zu
übertragen.

Das erste Kinderwelten-Projekt, das von 2000 bis 2003 lief, war explizit als
Entwicklungsprojekt ausgeschrieben, in dem es erst einmal darum ging, heraus-
zufinden, welche Elemente des Anti-Bias-Ansatzes in welcher Form in deutsche
Kitas übertragen werden können. Seit Beginn der Arbeit und seit Beendigung
des ersten Projektes sind viele weitere Entwicklungsschritte durchlaufen worden.
Die der vorliegenden Studie zugrunde liegenden Interviews wurden zu einem
Zeitpunkt durchgeführt, als das erste Projekt bereits abgeschlossen war und das
darauf aufbauende Folgeprojekt schon lief. Die Interviewinhalte beziehen sich
demnach größtenteils auf das Entwicklungsprojekt von Kinderwelten.
Wenn die Implementation der Arbeit in den Fokus rückt, werden auch spätere
Projekterfahrungen eingebunden, da diese Hinweise darauf geben, was es zu
beachten gilt. Darüber hinaus hat die Erziehungswissenschaftlerin Mechtild
Gomolla im Disseminationsprojekt von Kinderwelten die wissenschaftliche
Begleitung übernommen und eine Evaluationsstudie durchgeführt. Die Ergebnis-
se dieser Studie werden ebenfalls im Kapitel zu den Implementationsmaßnahmen
bei Kinderwelten einbezogen.
Aus dem Kontext des Projekts Kinderwelten wurden Anke Krause, Christa
Preissing und Petra Wagner interviewt. Alle drei arbeiten seit den Anfängen im
Jahr 2000 im Projekt Kinderwelten mit. Anke Krause ist Diplom-Pädagogin mit
dem Studienschwerpunkt Kleinkindpädagogik. Im Projekt Kinderwelten ist sie
Koordinatorin und als solche für Kooperationen und Netzwerke zuständig.
Gleichzeitig ist sie Mitarbeiterin in der Gesamtkoordination des europaweiten
Projekts DECET. Ihre thematischen Schwerpunkte bei Kinderwelten sind die
Einführung in die vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, Elterngesprächs-
kreise über Erziehungsfragen, Persona Dolls und Kinderrechte. Dr. Christa
Preissing ist Geschäftsführerin des Instituts für den Situationsansatz an der FU
Berlin. Sie war gemeinsam mit Petra Wagner Projektleiterin des ersten Kinder-
welten-Projekts 2000 bis 2003. Christa Preissing arbeitet seit 30 Jahren in ver-
schiedenen Kontexten zum Situationsansatz, zur Kleinkindpädagogik und zur
Fortbildung von PädagogInnen. Petra Wagner ist Diplom-Pädagogin mit dem
Schwerpunkt interkulturelle Pädagogik und sie ist Projektleiterin von Kinderwel-
ten. Ihre thematischen Schwerpunkte dort sind: Trägerqualität, die Kita vorur-
teilsbewusst leiten, Unterstützung sprachlicher Bildungsprozesse im mehrspra-
chigen Kontext, Anti Bias Approach und Situationsansatz in Theorie und Praxis,
Europäische Vernetzung (DECET). Petra Wagner arbeitet seit über 20 Jahren in
der Kleinkindpädagogik, hat in Kitas gearbeitet und Fortbildungen für Erziehe-

92
rInnen durchgeführt. Barbara Henkys wurde aus zeitlichen Gründen nicht inter-
viewt. Sie hat aber großen Anteil daran, dass die Interviews und damit diese
Studie zustande kommen konnten. Gerade in der Konzeption des Leitfadens und
in der Planung und Durchführung der Tagung zum Anti-Bias-Ansatz hat sie in
Form von informellen Gesprächen, Hinweisen und Erläuterungen zur Strukturie-
rung und zum Verständnis des Anti-Bias-Ansatzes beigetragen. Barbara Henkys
arbeitet ebenfalls seit dem Jahr 2000 im Projekt Kinderwelten.

4.2 Das Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis (FiPP e.V.)

FiPP ist der Name eines freien Trägers von ca. 50 Kinder- und Jugendhilfeein-
richtungen in Berlin (vgl. www.fippev.de). Das Akronym FiPP steht dabei für
‚Fortbildungsinstitut für pädagogische Praxis‘. Der Träger stützt und formt inno-
vative Projekte für Kinder, Jugendliche und Familien in der Stadt Berlin und legt
dabei einen besonderen Fokus auf das Thema „Vielfalt“. Das Ziel des Trägers
ist, Chancengleichheit und Gerechtigkeit zu ermöglichen. Die Prinzipien des
Anti-Bias-Ansatzes spielen in der FiPP-Praxis eine tragende Rolle – seit den
1990er Jahren wird damit gearbeitet, seit 2001 wird er systematisch in die Arbeit
eingebettet; seine Grundideen sind in den Leitlinien verankert. Darüber hinaus
setzt FiPP den Anti-Bias-Ansatz in der Arbeit mit Kitas und Schulen ein.

„Unsere MitarbeiterInnen orientieren sich an den Lebenssituationen, den Bedürfnis-


sen und Vorstellungen der Kinder, Jugendlichen und Familien vor Ort. Auf dieser
Basis entwickelt jede Einrichtung gemeinsam mit allen Beteiligten ein eigenes Pro-
fil. Ziel ist, Kinder und Jugendlichen in ihrer Selbstständigkeit zu stärken, so dass
sie ihre Rechte und Zukunftschancen wahrnehmen können.“45

Das FiPP ist zudem involviert in die Weiterentwicklung von Kitas, kooperative
Schulentwicklung in Zusammenarbeit mit sozialpädagogischen Einrichtungen,
Entwicklung von pädagogischen Modellprojekten und Fortbildungen im Kontext
der Organisationsentwicklung im Bereich der Kitas, Jugendhilfe und Schule.

Anti-Bias-Elemente in der FiPP-Praxis

Das FiPP steht im engen Zusammenhang mit dem Projekt Kinderwelten, nicht
zuletzt, weil Praxisberaterinnen vom FiPP auch zum Team von Kinderwelten
gehören. Sie bringen ihre Erfahrungen der Praxisberatung zur vorurteilsbewuss-

45
www.fippev.de

93
ten Bildung und Erziehung nach dem Anti-Bias-Ansatz in ihre Tätigkeit beim
FiPP ein. Viele der Kitas, die unter der Trägerschaft des FiPP stehen, beziehen
den Anti-Bias-Ansatz als Arbeitsgrundlage in ihre Konzeptionen mit ein. Leite-
rInnen nehmen an Fortbildungen zur vorurteilsbewussten Leitung, ErzieherInnen
an solchen zum Anti-Bias-Ansatz teil. Sechs Kitas beteiligen sich am aktuellen
Kinderwelten-Projekt.
Ein weiterer Baustein der Anti-Bias-Arbeit im FiPP ist die Arbeit an Schu-
len. Von 2002 bis 2007 hat die Netzwerkstelle MITEINANDER Anti-Bias-
Trainings an Berliner Grundschulen durchgeführt und in diesem Zusammenhang
einen Ordner entwickelt, der eine Methodensammlung für die vorurteilsbewusste
Arbeit mit GrundschülerInnen darstellt (vgl. Joggerst/Thiemann 2003). Diese
Methoden ermöglichen es, Kinder darin anzuleiten, sich mit Themen von Viel-
falt, Identität und Ausgrenzung bzw. Inklusion auf altersgerechte Art auseinan-
derzusetzen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt darauf, ausgehend von den Ideen
und Prinzipien des Anti-Bias-Ansatzes die Zusammenarbeit mit den Eltern da-
hingehend zu verändern, dass besonders Eltern mit Migrationshintergrund besse-
re Partizipationsmöglichkeiten vorfinden. Das vom FiPP entwickelte Programm
„Starke Kinder machen Schule“ ist im Anschluss an die Arbeit der Netzwerkstel-
le MITEINANDER begonnen worden. Es basiert auf dem Anti-Bias-Methoden-
Ordner. Relevante Strukturen, Ziele und Methoden des Programms werden im
Folgenden vorgestellt.

Starke Kinder machen Schule

„Starke Kinder machen Schule“ ist der Name eines Modellprojekts des Trägers
FiPP, das folgende Ziele verfolgt:

x Kinder an Grundschulen in ihrem demokratischen Bewusstsein und ih-


ren Handlungskompetenzen zu stärken, schwerpunktmäßig zu den
Themen Vielfalt und Kinderrechte
x demokratische Beteiligungsstrukturen nachhaltig an Grundschulen zu
verankern und Demokratie für Kinder erlebbar zu machen
x in der Einwanderungsstadt Berlin einen Austausch zwischen Grund-
schulen in sehr unterschiedlichen Umfeldern zu ermöglichen und einen
Dialog über gemeinsame Werte anzuregen.46

46
vgl. www.starke-kinder-machen-schule.de

94
Seit 2007 arbeitet das FiPP mit vier Grundschulen in Berlin an der Umsetzung
dieser Ziele in den jeweiligen Einrichtungen. Folgende Fragestellungen werden
bearbeitet:

„Wie können Kinder gestärkt werden? Wie können Beteiligungsmöglichkeiten für


Kinder nachhaltig erweitert werden? Was braucht jede Schule, um zu einem Ort zu
werden, an dem sich Kinder und Erwachsene wohl fühlen?“ (SKMS 2008, 1).

Um Handlungskonzepte zu entwickeln, die eine Antwort auf diese Fragen geben,


wird der Anti-Bias-Ansatz in das Zentrum der pädagogische Konzeptionalisie-
rung gestellt47: „Anti-Bias-Arbeit sensibilisiert für die Ungerechtigkeiten, die
jeder selbst und andere Menschen erfahren“ (vgl. ebd., 3). Hier wird Bezug ge-
nommen auf die grundlegende Idee von Anti-Bias, die als Ausgangslage für alles
weitere pädagogische Handeln dient. Menschen, die mit bzw. nach dem Anti-
Bias-Ansatz arbeiten, werden durch diese Arbeit sensibilisiert für Ungerechtig-
keiten, für Diskriminierung, dafür, wie diese funktioniert und welche Rolle je-
deR einzelne dabei spielt (vgl. Kap. 6.4).

„Das Projekt arbeitet mit allen an Schule Beteiligten (SchülerInnen, Eltern, Lehre-
rInnen, ErzieherInnen und SozialarbeiterInnen) und baut schulübergreifende Struk-
turen des Austausches und gemeinsamen (voneinander) Lernens auf.“48

Im Projekt werden Lernbausteine entwickelt, die die Kinder darin unterstützen


sollen, sich mit Themen wie Identität, Vielfalt und Diskriminierung auseinander-
zusetzen. Die Bausteine werden von den ProjektmitarbeiterInnen in Kooperation
mit den PädagogInnen an den Schulen entwickelt. Die Fortbildung der Pädago-
gInnen zum Anti-Bias-Ansatz ist dabei ein tragendes Element, um die Ideen für
die SchülerInnen umzusetzen.

Das FiPP in dieser Studie

Das FiPP hat in seiner Funktion als Träger die Grundideen des Anti-Bias-
Ansatzes auf vielfältigen Wegen in die eigene Praxis aufgenommen und diese
Prinzipien sowohl in den eigenen Strukturen als auch in den jeweiligen Einrich-
tungen verankert. Aufgrund der langjährigen und vielfältigen Erfahrungen mit

47
Der Anti-Bias-Ansatz ist hierbei einer von zwei pädagogischen Ansätzen. Der andere ist Bet-
zavta, ein Trainingsprogramm zur Demokratie- und Toleranzerziehung (vgl.
www.betzavta.de).
48
www.starke-kinder-machen-schule.de

95
der Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz sind die MitarbeiterInnen vom FiPP als
ExpertInnen für den Ansatz anzusehen.
Aus organisatorischen Gründen wurde mit den MitarbeiterInnern vom FiPP
ein Gruppeninterview durchgeführt. Gespräche in Gruppen, seien es bewusst
initiierte Gruppendiskussionen oder andere Formen von Kommunikation, unter-
liegen anderen Regeln als Einzelinterviews. Die Gruppeninterviews werden
jedoch insofern wie ein Einzelinterview behandelt, dass die dynamischen Struk-
turen und die dadurch möglicherweise entstehenden kollektiven Orientierungs-
muster, die insbesondere bei der Untersuchung von Gruppendiskussionen rele-
vant sind (vgl. Bohnsack 1997), nicht analysiert werden. Im Interview mit den
Mitarbeiterinnen vom FiPP wurden die gleichen Leitfragen wie im Einzelinter-
view gestellt, die Interviewpartnerinnen antworteten der Reihe nach. Es ist nicht
auszuschließen, dass dadurch einerseits Aspekte in den Hintergrund rückten, die
im Einzelinterview mehr Gewicht gefunden hätten. Gleichzeitig ermöglicht diese
Form des Interviews aber die intensivere Auseinandersetzung mit der Hauptfra-
ge: Wie wird der Anti-Bias-Ansatz in seinen Grundsätzen verstanden und wie
wird er dementsprechend in die eigenen Arbeitszusammenhänge eingebaut?
Teilgenommen an der Diskussion haben folgende Mitarbeiterinnen vom
FiPP: Barbara Tennstedt (zum Zeitpunkt des Interviews Geschäftsführerin des
49
FiPP) , Annette Kübler, Zaklina Mamutovic, Karin Joggerst, Elisabeth Gregull.
Während in den Einzelinterviews der jeweilige (berufliche) Werdegang relativ
großen Raum einnahm, war er im Gruppeninterview nur am Rande relevant.
Thema der Diskussion waren die Erfahrungen mit der Arbeit nach dem Anti-
Bias-Ansatz im FiPP. In der Analyse finden nicht alle InterviewpartnerInnen
Berücksichtigung. Das ist auf den Verlauf eines Gruppeninterviews zurückzu-
führen. Oftmals wird der Gesprächsimpuls für ein Thema von einer Person ge-
geben, eine andere bringt die formulierten Gedanken an späterer Stelle im Ge-
spräch auf den Punkt. Patricia Göthe ist Sozialwissenschaftlerin (Magister) und
ebenfalls Mitarbeiterin im FiPP. Sie wurde einzeln interviewt, da ihr Schwer-
punkt auf der Arbeit mit Jugendlichen im schulischen und außerschulischen
Kontext liegt.

4.3 Die Anti-Bias-Werkstatt

Die Anti-Bias-Werkstatt ist ein Verbund interkultureller PädagogInnen mit fol-


gendem Selbstverständnis:

49
Barbara Tennstedt ist inzwischen pensioniert und führt seitdem freiberuflich Weiterbildungen
durch.

96
„Die Anti-Bias-Werkstatt versteht sich als eine Arbeitsgemeinschaft, die sich so-
wohl auf praktischer als auch auf theoretischer Ebene mit dem Anti-Bias-Ansatz be-
schäftigt: Wir bieten für verschiedene Zielgruppen und verschiedene Träger Anti-
Bias-Seminare an und befassen uns gleichzeitig mit der Weiterentwicklung und
theoretischen Fundierung des Ansatzes im Rahmen von wissenschaftlichen Arbei-
ten, Arbeitskreisen und Tagungen.“ (www.anti-bias-werkstatt.de)50

Die Anti-Bias-Werkstatt versteht die Arbeit nach dem Ansatz als ‚antidiskrimi-
nierende Bildungsarbeit‘. Diese zielt darauf ab, „eine durch Einseitigkeit und
Voreingenommenheit entstandene Schieflage ins Gleichgewicht zu bringen und
Diskriminierungen abzubauen“. Davon ausgehend, dass jeder Mensch Vorurteile
hat, geht es um die „erfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit Macht und
Diskriminierung sowie das ‚Verlernen‘ von unterdrückenden und diskriminie-
renden Kommunikations- und Interaktionsformen“. Der inhaltliche Schwerpunkt
der Seminare liegt dementsprechend auf der Auseinandersetzung mit individuel-
len Erfahrungen und Haltungen und der Sensibilisierung für den Themenkomp-
lex Diskriminierung. Die Arbeitsgemeinschaft existiert seit 2003 und bietet sei-
ther Fortbildungsseminare zum Anti-Bias-Ansatz an, die kontextübergreifend für
Menschen angeboten werden, die an antidiskriminierender Arbeit interessiert
sind. Hauptzielgruppe sind dabei Akteure aus pädagogischen Kontexten: Studie-
rende der Erziehungswissenschaften, der Lehrämter, der Sozial- und Politikwis-
senschaften sowie MultiplikatorInnen aus Bildungs- und Fortbildungskontexten.
Darüber hinaus zählen SchülerInnen und LehrerInnen zur Zielgruppe, ebenso
wie Klientel und Tätige in offener Jugendarbeit. Die Anti-Bias-Seminare sind
zunächst als Einstieg gedacht und damit als eine erste Auseinandersetzung mit
dem Anti-Bias-Ansatz.

„In Anti-Bias-Seminaren wird dazu eingeladen, die eigene Praxis zu reflektieren und
Handlungsansätze gegen Diskriminierung und Unterdrückung zu entwickeln. Aus-
gehend von den eigenen Erfahrungen werden die Funktionsweisen von Diskriminie-
rung auf der zwischenmenschlichen, institutionellen und ideologisch-diskursiven
Ebene kognitiv und emotional nachvollziehbar. Dabei wird auch die eigene Position
im Kontext gesellschaftlicher Machtstrukturen reflektiert. Auf dieser Grundlage
können Alternativen zu unterdrückenden und diskriminierenden Kommunikations-
und Interaktionsformen für die eigenen Lebenszusammenhänge entwickelt werden.“
(www.anti-bias-werkstatt.de)

Der Einstieg in die Seminar-Arbeit erfolgt über die Auseinandersetzung mit


eigenen Erfahrungen und Haltungen bezogen auf das Thema Diskriminierung.

50
Die in diesem Kapitel verwandten Informationen entstammen, sofern nicht anders angegeben,
alle der Quelle: www.anti-bias-werkstatt.de

97
Davon ausgehend werden verschiedene Perspektiven in den Fokus gerückt: so-
wohl die zwischenmenschliche Kommunikation als auch die eigene Rolle als
aktives Mitglied der Gesellschaft. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Perso-
nen gesellschaftliche Strukturen reproduzieren, die bestimmt sind von Macht und
Unterdrückung. Es geht in den Seminaren also um die „Auseinandersetzung mit
eigenen Erfahrungen und Haltungen und [um die] Sensibilisierung für den The-
menkomplex Diskriminierung“. Diese Einstiegsseminare erstrecken sich über
eine Dauer von wenigen Tagen. Dem Ziel verpflichtet, über die Sensibilisie-
rungsarbeit hinaus auch die jeweiligen Handlungsfelder zu thematisieren, bietet
die Anti-Bias-Werkstatt – in Kooperation mit verschiedenen Einrichtungen –
Aufbaukurse bzw. mehrmodulige Fortbildungen zur Arbeit nach dem Anti-Bias-
Ansatz an, bei denen ein Schwerpunkt darauf liegt, Handlungsoptionen zu ent-
wickeln. 2007/2008 führte die Anti-Bias-Werkstatt in Kooperation mit der
Heimvolkshochschule Frille eine Seminarreihe unter dem Titel „Wege zu einer
51
vorurteilsbewussten und diskriminierungsfreien Gesellschaft“ durch. Dabei
handelte es sich um eine vierteilige Weiterbildungsreihe, die auf die Anwendung
des Anti-Bias-Ansatzes in der Lebens- und Arbeitswelt der Teilnehmenden ab-
zielte und die mit einem Zertifikat als MultiplikatorIn für den Anti-Bias-Ansatz
abgeschlossen werden konnte52. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der Anti-Bias-
Werkstatt ist die theoretische Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Anti-
Bias-Ansatzes mit dem Ziel, diesen theoretisch zu fundieren und weiter zu ent-
wickeln.
Die Anti-Bias-Werkstatt wurde gegründet von fünf Studierenden der Inter-
kulturellen Pädagogik an der Universität Oldenburg. Oliver Trisch ist einer von
ihnen. Er war von Beginn an maßgeblich beteiligt an der Konzeptionalisierung
und Profilierung der Anti-Bias-Werkstatt. Für die vorliegende Studie wurde er
daher als Vertreter der Anti-Bias-Werkstatt interviewt. Oliver Trisch ist inzwi-
schen unabhängiger Multiplikator für diversitätsbewusste Bildung und Anti-
Bias-Arbeit (vgl. www.olivertrisch.de).

51
Die Heimvolkshochschule Frille sieht enge Verbindungen zwischen der eigenen politischen
Bildungsarbeit und den Inhalten des Anti-Bias-Ansatzes (www.hvhs-frille.de).
52
Weitere Informationen zu dieser Fortbildungsreiche unter www.anti-bias-werkstatt.de und
unter www.hvhs-frille.de

98
4.4 Anti-Bias im Kontext interkultureller und
anti-diskriminierender Pädagogik

Die im Folgenden genannten ExpertInnen haben entscheidend zum Entstehen


dieser Studie beigetragen, da sie entweder durch Interviews oder durch Publika-
tionen Einblicke in ihre Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz gewährt haben.
Dieter Lünse ist Geschäftsführer des IKM Hamburg. IKM steht für kons-
truktive Konfliktaustragung und Mediation53. Der Anti-Bias-Ansatz ist Teil des
Fortbildungsprogramms im IKM, das unter anderem Schulungen zur interkultu-
rellen Konfliktaustragung und zur Zivilcourage anbietet. In diesem Kontext wird
Anti-Bias als ein möglicher Baustein zur Erwachsenenbildung gesehen.
Melanie Stamer ist freie Trainerin für den Anti-Bias-Ansatz und führt Anti-
Bias-Seminare für Jugendliche und Erwachsene durch. Sie ist freie Mitarbeiterin
im IKM.
Fenna Paproth ist interkulturelle Diplom-Pädagogin und Mitarbeiterin im
Leitungsteam der Heimvolkshochschule (HVHS) Frille54. Die HVHS Alte Mol-
kerei Frille ist eine Einrichtung für politische Jugend- und Erwachsenenbildung
in freier Trägerschaft. Fenna Paproth arbeitet dort unter anderem zu den Schwer-
punkten Anti-Diskriminierung und interkulturelle Kommunikation. Unter dem
Oberthema ‚Diversity und Diskriminierung‘ bietet die HVHS Frille in Koopera-
tion mit der Anti-Bias-Werkstatt Seminare zum Anti-Bias-Ansatz an.
Dr. Prasad Reddy führt Erwachsenenbildungs-Seminare zum Anti-Bias-
Ansatz durch. Er ist seit fast 20 Jahren in der entwicklungspolitischen Bildungs-
arbeit tätig und hat in diesem Themenbereich promoviert. Von 1999-2002 war er
Projektleiter des EU-Projekts „Vom Süden Lernen“ des INKOTA-netzwerk
e.V55 in Berlin. Ein inhaltlicher Schwerpunkt des Projekts war die Adaption des
Anti-Bias-Ansatzes aus dem südafrikanischen Kontext. Seit 2008 ist Prasad
Reddy wissenschaftlicher Mitarbeiter am deutschen Institut für Erwachsenenbil-
dung in Bonn56.
Dr. Gisela Führing ist seit mehr als 30 Jahren in der Nord-Süd-Arbeit tätig
und damit im Bereich der entwicklungspolitischen Bildung. Sie leitet Seminare
zum Themenbereich interkulturelles/globales Lernen und lernte den Anti-Bias-
Ansatz Mitte der 1990er Jahre in Deutschland und Südafrika kennen. Sie nahm
an einer mehrmoduligen Fortbildung teil, die u.a. auch in Südafrika stattfand.
Gisela Führing war außerdem die letzten 2,5 Jahre bis zu ihrer Pensionierung als

53
www.ikm-hamburg.de
54
www.hvhs-frille.de
55
www.inkota.de
56
www.die-bonn.de

99
Lehrerin tätig und band Elemente des Anti-Bias-Ansatzes in ihre Lehrtätigkeit
ein.
Dr. Claudia Lohrenscheit leitet die Abteilung für Menschenrechtsbildung
am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin57. Sie begegnete dem Anti-
Bias-Ansatz Mitte der 1990er Jahre in Südafrika. Claudia Lohrenscheit berichtet,
schon immer an bildungspolitischen Themen interessiert gewesen zu sein. Ele-
mente des Anti-Bias-Ansatzes bindet sie in ihre Seminare in der Erwachsenen-
bildung ein.

57
www.institut-fuer-menschenrechte.de

100
5 Die Ursprünge des Anti-Bias-Ansatzes

Die Entwicklung des Anti-Bias-Curriculums im Kontext frühkindlicher Bildung


in den USA markiert den Beginn des Anti-Bias-Ansatzes. Der zweite Schritt ist
die Adaption in Fortbildungseinrichtungen in Südafrika, er bedeutet zugleich die
Weiterentwicklung des Ansatzes für die Erwachsenenbildung. Anschließend
wird die Anti-Bias-Arbeit in Deutschland beschrieben: Zunächst geht es um
Anti-Bias in Kitas, anschließend in Schulen und außerschulischen Einrichtungen,
in der Erwachsenenbildung, in pädagogischen Fortbildungen und schließlich als
pädagogische Leitidee. Die Darstellung folgt in allen Kapiteln dem gleichen
Muster, so wie es im Methodenteil beschrieben wird. Interviewaussagen und
Transkripte aus Dokumenten sind der Ausgangspunkt, um daran anschließend
die pädagogische Praxis nach dem Anti-Bias-Ansatz in den einzelnen Einrich-
tungen zu beschreiben.

5.1 Anti-Bias-Arbeit in den USA

Der Anti-Bias-Ansatz wurde Mitte der 1980er Jahre von einer Gruppe von
KleinkindpädagogInnen unter der Leitung von Louise Derman-Sparks in Kali-
fornien/USA entwickelt. Louise Derman-Sparks war bis zu ihrer Emeritierung
2006 Professorin am Pacific Oaks College in Kalifornien. Ihre Forschungs-
schwerpunkte umfassen zum einen die Bildung in der frühen Kindheit, zum
anderen Fragen interkultureller Pädagogik. In der Konzeption des Anti-Bias-
Ansatzes hat Derman-Sparks ihre Forschungsfelder verbunden und so ein Kon-
zept entwickelt, in dessen Mittelpunkt die frühe Bildung in Kindertageseinrich-
tungen unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede steht. Die Gruppe um
Derman-Sparks arbeitete rund zwei Jahre lang an der Konzeption und Umset-
zung des Anti-Bias-Ansatzes (vgl. Derman-Sparks 1989, iv). Am Ende legten sie
ein tragfähiges Curriculum für vorschulische Bildungseinrichtungen vor. Wie
alle Curricula dient auch das Anti-Bias-Curriculum – generell gesprochen – als
konzeptioneller Handlungsrahmen für Bildungseinrichtungen, in denen es um
institutionalisiertes Lernen geht.
Bevor die Arbeit nach dem Anti-Bias-Curriculum beschrieben wird, sei auf
Folgendes hingewiesen: Das Curriculum wurde 1989 publiziert, also vor ziem-

101
lich genau 20 Jahren. In diesen vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Kita-
Pädagogik in weiten Teilen weiterentwickelt. Viele der hier vorgestellten Me-
thoden und Ideen sind inzwischen Normalität in vielen Kindertageseinrichtun-
gen. Im Bewusstsein dieser Tatsache werden im Folgenden die Anfänge einer
pädagogischen Praxis nach dem Anti-Bias-Ansatz ausführlich beschrieben, um
so auch die Verknüpfung mit pädagogischen Erklärungsmustern für die Metho-
den und Ideen herstellen zu können.

5.1.1 Ziele

Louise Derman-Sparks definiert den Begriff ‚Anti-Bias‘ folgendermaßen:

„[Anti-Bias is a]n active/activist approach to challenging prejudice, stereotyping, bi-


as, and the ‚isms’. In a society in which institutional structures create and maintain
sexism, racism and handicappism, it is not sufficient to be non-biased (and also
highly unlikely), nor is it sufficient to be an observer. It is necessary for each indi-
vidual to actively intervene, to challenge and counter the personal and institutional
behaviors that perpetuate oppression.” (Derman-Sparks 1989, 3)

Es geht in der Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz also darum, Stereotypisierun-


gen und Vorurteilen aktiv zu begegnen. Zugrunde liegt die Annahme, dass es
gesellschaftliche und institutionalisierte Strukturen gibt, die nach diskriminie-
renden Mechanismen funktionieren und aufrechterhalten werden. Die Arbeit
nach dem Anti-Bias-Ansatz ist in diesem Kontext eine Aufforderung an Indivi-
duen, diese Strukturen der Diskriminierung in den Blick zu nehmen und gegen
sie anzugehen. Gemeint sind gesellschaftliche Phänomene wie Rassismus, Vor-
urteilsbildung, Stereotypisierung und Sexismus, denn durch sie werden Men-
schen ausgegrenzt, diskriminiert bzw. hierarchisiert. Was aber haben Vorurteile,
Stereotypisierungen und Diskriminierung mit den Kindern in Kindertagesein-
richtungen zu tun? Derman-Sparks fasst die Ergebnisse früherer amerikanischer
Studien58 zur Entwicklung von Kindern im Vorschulalter zusammen:

„During their third year of life, children begin to notice gender and racial differenc-
es. […] By 2 years of age, children are learning the appropriate use of gender labels
(girl, boy) and learning color names, which they begin to apply to skin color59. By 3

58
Katz 1982, Kohlberg 1966, Alejandro-Wright 1985, Honig 1983, Roopnarine 1984, Maccoby
1966
59
In den USA ist die Hautfarbe ein signifikantes und oft bemühtes Unterscheidungsmerkmal in
interkulturellen Kontexten. Daher beziehen sich viele Beispiele in diesem Kapitel auf dieses
Merkmal.

102
years of age (and sometimes even earlier), children show signs of being influenced
by societal norms and biases and may exhibit “pre-prejudice” towards others on the
basis of gender or race or being differently abled. Between 3 and 5 years of age,
children try to figure out what are the essential attributes of their selfhood, what as-
pects of self remain constant. […]. [Children] use racial reasons for refusing to inte-
ract with children different from themselves and exhibit discomfort and rejection of
differently abled people. The degree to which 4-year-olds have already internalized
stereotypic gender roles, racial bias, and fear of the differently abled forcefully
points out the need for anti-bias-education with young children.” (Derman-Sparks
1989, 2)

In der Anti-Bias-Arbeit ist das Ziel, die Entwicklung von Kindern in diesem
frühen Lebensalter dahingehend zu unterstützen, dass sie die beschriebenen Ver-
stehens- und Deutungsmuster von sich selbst und von ihrer Umwelt nicht unref-
lektiert in Form von ‚Vor-Vorurteilen‘ übernehmen. ‚Empowering young child-
ren‘ lautet der Untertitel des Buches ‚Anti-Bias-Curriculum‘, das Louise Der-
man-Sparks 1989 als erste Publikation zum Anti-Bias-Ansatz veröffentlicht hat.
Ziel des Anti-Bias-Curriculums ist demnach, Kinder zu befähigen, sie zu er-
mächtigen, etwas zu tun. Derman-Sparks führt dies genauer aus:

„Curriculum goals are to enable every child: to construct a knowledgeable, confident


self identity; to develop comfortable, empathetic, and just interaction with diversity;
and to develop critical thinking and the skills for standing up for oneself and others
in the face of injustice.” (Derman-Sparks 1989, ix)

Derman-Sparks nennt hier vier Ziele, die in der Arbeit nach dem Anti-Bias-
Ansatz verfolgt werden. ‘Enable every child to construct a knowledgeable, con-
fident self identity’ lautet das erste Ziel. Kinder sollen dazu befähigt werden, ein
positives Selbstbild und damit eine selbstbewusste Identität zu erlangen, die hier
als Konstrukt verstanden wird. Kinder eignen sich ihre Identität an, sie konstruie-
ren sie und gelangen so zu einem Bewusstsein darüber, wer sie sind - also zu
Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein beinhaltet auch, sich wohl zu fühlen mit
dem, was und wer man ist. Die Identität wird konstruiert im ständigen Dialog mit
der Umwelt: Jeder Mensch erhält von der Umwelt Rückmeldungen über die
eigene Person, die inhärenten Merkmale wie körperliches Aussehen, ethno-
kulturellen Hintergrund oder sozialen Status. Kinder deuten diese Rückmeldun-
gen und nehmen sie in ihr eigenes Selbstverständnis auf, machen sie somit zu
einem Teil ihrer Identität. Sie merken, wie und ob sie wahrgenommen und ak-
zeptiert werden und ordnen dies ein (vgl. Derman-Sparks 1989, 1f.).
Um ein positives Selbstbild entwickeln zu können, brauchen Kinder sowohl
positive Rückmeldungen zu sich selbst als Individuum als auch zu ihrer Zugehö-
rigkeit zu bestimmten Bezugsgruppen:

103
„Sowohl Ich-Identität als auch Gruppenidentität sind hierfür erforderlich. Kinder
müssen wissen, wer sie sind, in ihrer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Und
sie brauchen Hilfe, eine selbstbewusste Identität auf der Grundlage ihrer diversen
Gruppenzugehörigkeiten aufzubauen, nach Ethnie, Geschlecht, Klasse usw. Alle
Kinder brauchen eine starke Ich-Identität und eine starke Gruppen-Identität.“ (Der-
man-Sparks 2001, 11)60

Besonders auf den Aspekt der Gruppenidentität geht Derman-Sparks separat ein.
Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder zu der Gruppe des gleichen
Geschlechts hat Einflüsse darauf, wie Kinder sich und ihre Position wahrneh-
men:

“Empowerment for children of color requires that they develop both a strong self-
identity and a proud and knowledgeable group identity to withstand the attacks of
racism. In contrast, White children’s task is to develop a positive identity without
White ethnocentricism and superiority. Girls need to learn that they can be compe-
tent in all areas and can make choices about their lives. Boys need to learn compe-
tence without also learning to feel and act superior to girls. The developmental tasks
of children with disabilities include learning to use alternative abilities and to gain
skills for countering societal practices that sabotage their opportunities for growth.
Able-bodied children’s tasks include learning ease with differently abled people and
how to resist stereotyping.” (Derman-Sparks 1989, x)

Es kommt im Kontext der Identitätsbildung auch darauf an, diese möglichst


unabhängig von Bezügen zu anderen Menschen wahrzunehmen, also unabhängig
von Gefühlen der Überlegenheit, wie im Zitat beschrieben für weiße Kinder oder
Jungen oder Kinder ohne körperliche Beeinträchtigung. Denkbar sind auch Ge-
fühle der Unterlegenheit, hier beschrieben für schwarze Kinder, Mädchen, Kin-
der mit einer Behinderung. Aus der Thematisierung dieser unterschiedlichen
Konzepte von Zugehörigkeit lässt sich folgender Schluss ziehen: Kinder verbin-
den ihre Identität mit einer bestimmten Positionierung innerhalb der Gesell-
schaft. Davon wird in der Anti-Bias-Arbeit ausgegangen. Pädagogische Aufgabe
ist also, Kinder darin zu unterstützen, eine positive Identität unabhängig von
Gefühlen der Unter- oder Überlegenheit gegenüber anderen Kindern zu entwi-
ckeln.
Ein erster wichtiger Schritt in der Identitätsentwicklung von Kindern ist die
Zugehörigkeit zu einem Geschlecht zu begreifen. Im Alter von ca. zwei Jahren
beginnen Kinder nachzufragen und sich mit körperlichen Unterschieden zu be-
schäftigen (vgl. Derman-Sparks 1989, 21). Derman-Sparks macht an einem Bei-
spiel deutlich, wie die Suche nach der geschlechtlichen Identität in der Praxis

60
Übersetzung von Petra Wagner

104
unterstützt werden kann. Kinder beschreiben und reden über ihre eigenen Körper
und die ihrer Eltern und Geschwister. Sie beschreiben dabei Unterschiede, die sie
wahrnehmen. ErzieherInnen können darauf eingehen und klarstellen: „That is
what makes you (your mom, your sister, your dad, your brother) a girl/boy“
(ebd., 22). Indem auf diese Art die Geschlechtszugehörigkeit an den Ge-
schlechtsmerkmalen festgemacht wird, bekommen Kinder Unterstützung darin,
zu definieren, was einen Jungen und ein Mädchen unterscheiden.

„Knowing that it is anatomy that makes a child a girl or a boy lays the necessary
foundation for constructing nonsexist gender-identity – for understanding that being
a girl or boy does not depend on hair length, clothing, expressions of feelings, or
play choices.“ (Derman-Sparks 1989, 22)

Louise Derman-Sparks führt ein anderes Beispiel für ethnische Zugehörigkeiten


an:

„Maria, a Latino teacher, was reading the book Ten, Nine, Eight (Bang, 1983),
which is about a young Black child’s bedtime ritual with her dad. When Maria got to
the ‘brown toes’ illustration, the children, a mixed group of White, Asian, Black and
Latino children, looked at her. She responded, ‘Yes, I have brown toes. I also have
brown hands, legs, and a brown body.’” (Derman-Sparks 1989, 22)

Die Erzieherin Maria nimmt wahr, dass die Kinder eine Verbindung zwischen
den Abbildungen in dem Buch und ihr herstellen. Indem sie auf ihre Zehen bli-
cken, drücken sie dies nonverbal aus. Die Erzieherin registriert die Blicke und
nutzt die Gelegenheit, um darauf zu reagieren. Sie spricht offen über ihre Zuge-
hörigkeit und räumt den Kindern damit die Möglichkeit ein, darüber nachzuden-
ken, Fragen zu stellen und schließlich ihr eigenes Aussehen einzuordnen. Auch
dies trägt dazu bei, sich selbst zu definieren und damit die eigene Identität zu
begreifen und zu stärken.
Das zweite Ziel, das Derman-Sparks nennt, lautet: ‚Develop comfortable,
empathetic, and just interaction with diversity‘. Es wurde bereits angeführt, dass
Kinder schon früh Unterschiede wahrnehmen. Dass sie aus diesen Schlüsse zie-
hen und diese auch formulieren können, zeigen folgende Beispiele aus der Pra-
xis: „’Ann can’t play with us. She’s a baby’, a 3-year-old tells her teacher. Ann,
4 years old, uses a wheelchair.” (Derman-Sparks 1989, ix) Das dreijährige Kind
formuliert der Erzieherin gegenüber, was sie bisher über Menschen im Rollstuhl
wahrgenommen hat: Sie sind hilflose Babys, sie können nicht mitspielen. „A 4-
year-old boy, wanting to take over the wheel of a pretend bus, tells the child
already there, ‚Girls can’t be bus drivers’.” (ebd.) Der vierjährige Junge hat be-
reits eine Meinung dazu und ein Bild davon, was Mädchen können und nicht

105
können und formuliert diese Meinung. Um Kinder darin zu unterstützen, diese
offensichtlich bereits entstanden Bilder und Vorurteile abzubauen bzw. um Kin-
der davor zu bewahren, solche Vorurteile überhaupt erst aufzubauen, ist ein Ziel
der Anti-Bias-Arbeit, den Umgang mit Vielfalt einzuüben und so zu erfahren,
was möglich ist. Auch hierzu finden sich im ‚Anti-Bias-Curriculum‘ diverse
Beispiele. Eines davon ist das folgende:

„Two 4-year-old friends, one Black, one White, are chatting. Mike: ‘I’m going to get
new pants.’ Doug: ‘What color?’ Mike: ‘Blue.’ Doug: ‘What about brown?’ Mike: ‘I
don’t like brown.’ Doug: ‘Oh, then you don’t like me.’ Mike (looking surprised):
‘Yes, I do.‘ “(Derman-Sparks 1989, 32)

Dieser Dialog zeigt, dass Doug sich mit seiner Hautfarbe beschäftigt und Mikes
Äußerung auch auf diese bezieht. Wenn einE ErzieherIn ein solches Gespräch
hört, könnte sie die beiden Jungen alleine weiterreden lassen. In diesem Fall
könnte es passieren, dass Doug aus dem Gespräch geht in der Annahme, dass
Mike ihn aufgrund seiner Hautfarbe nicht mag. Im beschriebenen Beispiel
schreitet die Erzieherin allerdings ein:

„At this point, the teacher steps in: ‘There’s something important I want to help the
two of you to figure out. Doug, why do you think Mike doesn’t like you?‘ Doug:
‘I’m brown; he said he didn’t like brown.’ Teacher: ‘Mike, Doug thought when you
said you didn’t like brown you meant you didn’t like his brown skin either. Is that
how you feel?’ Mike: ‘No, I don’t like brown pants; I like brown Doug.’ Teacher:
‘Doug, is that ok?’ Doug nods his head yes and the two go off together.” (ebd.)

Indem die Erzieherin sich in das Gespräch einschaltet, nutzt sie den Anlass, dass
beide Jungen deutlicher formulieren, was sie meinen. Auf diese Weise konnte
Doug hören, dass es nicht um seine Hautfarbe geht. Die Erzieherin thematisiert
also die Hautfarbe, die Doug als ein ihm zugehöriges Merkmal identifiziert hat.
In dem Gespräch geht es insofern um das empathische Wahrnehmen von Viel-
falt, dass die verletzten Gefühle von Doug angesprochen werden und Mike sie
somit wahrnehmen und darauf reagieren kann. Derman-Sparks betont, dass die-
ses Einschreiten der Erzieherin ein wichtiger Schritt ist und macht gleichzeitig
deutlich, dass es gerade bei Fragen ethnischer und kultureller Zugehörigkeiten
nicht immer leicht ist, einzuschreiten: „Do not ignore; do not change the subject;
do not answer indirectly. If you are uncomfortable, identify what gets in the way
of your responding directly, matter-of-factly and simply.” (Derman-Sparks 1989,
33)
Das dritte Ziel lautet ‘Develop critical thinking in the face of injustice’.
Aufbauend darauf, dass Kinder verstehen und anerkennen, dass Unterschiede

106
existieren und positiv sind, ist ein nächster Lernschritt zu erkennen, wenn Unge-
rechtigkeiten geschehen. Dazu erneut ein Beispiel aus Louise Derman-Sparks’
Praxiserfahrung:

„A kindergarten teacher shows the children a magazine picture entitled ‚Brides of


America’. All of the women pictured are white. She asks, ‘What do you think of this
picture?’ Sophia responds, ‘That’s a silly picture. My mom was a bride, and she’s
Mexican.’” (Derman-Sparks 1989, ix)

Diese Feststellung der einseitigen Darstellung wurde von der Erzieherin aufgeg-
riffen. Die Aktivität, die darauf folgte, resultierte in einem ‚Redesign‘ der Abbil-
dungen. Die Kinder klebten andere Aufnahmen dazu, schnitten Fotos aus, malten
in den Bildern und gestalteten sie so, dass sie anschließend sagen konnten, dass
nun auch ihre Vorstellungen davon, wie Bräute aussehen, in den Fotos repräsen-
tiert wurden. Das Beispiel zeigt, dass Kinder schon früh in der Lage sind, ver-
zerrte Bilder zu erkennen und Ungerechtigkeiten aufzuspüren. Dazu benötigen
sie aber die Hilfe der Menschen in ihrer Umgebung, in diesem Fall der Erziehe-
rInnen. Wenn Zustände nicht thematisiert, ausgrenzende Situationen nicht an-
gesprochen werden und ErzieherInnen sie geschehen lassen, durchlaufen Kinder
nicht den notwendigen Reflexionsprozess. Sie nehmen das Verhalten oder eine
Darstellung nicht als ausgrenzend wahr – sofern sie nicht betroffen sind – oder
sie deuten das Geschehenlassen als Botschaft, dass ausgrenzendes Verhalten in
Ordnung ist. Erst wenn solche Situationen angesprochen werden, Verzerrungen
und Ausgrenzungen hervorgehoben werden, können Kinder ein Gefühl für sol-
che Ungerechtigkeiten entwickeln und sie fortan selbst erkennen (vgl. ebd.).
Daran anschließend lautet das vierte Ziel der Anti-Bias-Arbeit mit Kindern
‚Develop the skills for standing up for oneself and others in the face of injustice’.
Wenn also Ungerechtigkeiten erkannt werden, kann in einem weiteren Schritt
mit den Kindern daran gearbeitet werden, sie zu beseitigen. In dem oben genann-
ten Beispiel des Mädchens im Rollstuhl können die Erzieherin und die Kinder
etwa gemeinsam überlegen, wie alle miteinander spielen können, ohne dass der
Rollstuhl dabei ein Hindernis ist. Aber dieses vierte Ziel ist noch weitreichender
gedacht. Gegen Ungerechtigkeiten einzustehen bedeutet auch, Position zu bezie-
hen und Dinge anzuprangern, die nicht fair sind. So können Kinder dazu ermun-
tert werden, die Einrichtung oder andere Situationen oder Dinge in den Blick zu
nehmen und zu prüfen, ob sie niemanden ausschließen. Werden Situationen
aufgespürt, die ausgrenzend für einige Kinder sind, können dann gemeinsam
Lösungen gefunden werden, die die Ausgrenzung aufheben. Die Fotos der
‚Amerikanischen Bräute’ wurden ergänzt bzw. komplett umgestaltet basierend
darauf, wie die Kinder später als Bräute aussehen möchten oder wie vielleicht
ihre Mütter als solche ausgesehen haben. Auf diese Weise lernen Kinder, sich

107
aktiv einzusetzen, wenn sie bemerken, dass Menschen ausgeschlossen werden
(vgl. Derman Sparks 1989, ix). Ein anderes Beispiel wird von der Erzieherin
Lissa beschrieben:

„My favorite activism activity is the one I did on ‚flesh-colored‘ [bandages]. One
day, while getting an adhesive bandage for one of my 3-year-olds, the label ‘flesh-
colored’ suddenly hit me. So I said, ‘Look at this – it says on the box that these ban-
dages are flesh-colored. That means they are the same color as our skin. Let’s see if
it is really true.’ We then put bandages on each child’s arm and discovered that they
were only like the color of some of the children.” (Derman-Sparks 1989, 80)

Die Erzieherin hatte als nächsten Schritt vorgeschlagen, mit allen Kindern in der
Kita die Pflaster auszuprobieren. Die Ergebnisse wurden fotografiert und in einer
Collage festgehalten. So wurde deutlich, dass die Pflaster nur für wenige Kinder
wirklich hautfarben sind. Daraufhin entwickelte die Erzieherin die Idee, einen
Brief an die Firma zu schreiben, die die Pflaster herstellt. Die Kinder diktierten
den Brief, der dann gemeinsam zur Post gebracht wurde. Die Firma antwortete,
dass sie das Problem nicht als so gravierend ansieht, dass sie etwas ändern muss.
Sie schickte jedoch für die Kinder transparente Pflaster mit. Wenn also auch die
Aktion nur bedingt von Erfolg gekrönt war, so bewirkte doch die Initiative der
Erzieherin, dass die Kinder aktiv wurden gegen Einseitigkeiten, in diesem konk-
reten Fall die Einseitigkeiten der angeblich hautfarbenen Pflaster.
Die vier Ziele: Kinder darin stützen, ein positives Selbstbild aufzubauen,
den empathischen Umgang mit Empathie zu erlernen, Einseitigkeiten und Disk-
riminierung zu erkennen und schließlich gegen diese anzugehen, werden in dem
Anti-Bias-Curriculum auf die Arbeit mit Kindern herunter gebrochen. Das be-
deutet, Vokabeln wie ‚Diskriminierung‘ oder ‚Vorurteile‘ in der Arbeit mit den
Kindern nicht zu benutzen. Vielmehr führt die Aufmerksamkeit der ErzieherIn-
nen dazu, dass Momente und Situationen, in denen Diskriminierung und das
Ausdrücken von Vorurteilen stattfinden, thematisiert und besprochen werden.
Auf diese Art können die Kinder lernen, was es heißt, empathisch mit anderen
umzugehen und sich gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen.
Die diesbezüglichen Lernziele der Anti-Bias-Arbeit bauen, wie beschrieben,
aufeinander auf und konzentrieren sich darauf, dass Kinder im sozialen Umgang
miteinander lernen, auf der einen Seite ein positives Selbstbild zu entwickeln
und dass ihnen auf der anderen Seite ein offener und empathischer Umgang mit
Unterschieden ermöglicht wird.

„Jedes der vier Anti-Bias-Ziele bezieht sich auf einen bestimmten Bereich des
Wachstums und der Entwicklung und ist dennoch nicht getrennt von den anderen zu
betrachten. Die vier Ziele bauen aufeinander auf und sind aufeinander bezogen: Um

108
ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln, muss man auch kritisch denken können
und wissen, wie man Widerstand leistet. Um andere zu verstehen, muss man wissen,
wer man selbst ist, man muss die Vorurteile überwinden, die man über andere Grup-
pen gelernt hat, man braucht Empathie und ein starkes Gerechtigkeitsempfinden.
Die vier Ziele gelten für jeden.“ (Derman-Sparks 2001, 13)

Nur so kann gewährleistet werden, dass alle Kinder den Raum und die Bedin-
gungen vorfinden, eine selbstbewusste Identität aufzubauen. Dies ist die Basis
dafür, dass sie sich selbst und andere akzeptieren, dass sie empathisch sind ande-
ren gegenüber und erkennen, wenn etwas unfair ist.

5.1.2 Umsetzung

Louis Derman-Sparks und ihre KollegInnen umschreiben in ihren Ausführungen


einen methodischen Rahmen für die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz, der die
Umsetzung der beschriebenen Ziele für die Arbeit mit Kindern unterstützt. Der
Fokus dieses methodischen Gestaltungsrahmens liegt auf Aspekten der Raumge-
staltung, der Zusammenstellung der Materialien und der Kommunikation mit den
Kindern.
Der pädagogische Raum, in dem Kinder einerseits ein positives Selbstbild
und andererseits ein empathisches Umgehen mit Vielfalt entwickeln können,
sollte eine Umgebung sein, die genau diese Möglichkeiten anbietet: „An envi-
ronment that is rich in possibilities for exploring gender, race/ethnicity, and dif-
ferent-abledness sets the scene for praciticing anti-bias curriculum.“ (Derman-
Sparks 1989, 11) Dabei geht es nicht um einen beliebigen Ausdruck von Vielfalt,
sondern die gezeigte Vielfalt dient dazu, den Kindern – und zwar ganz bewusst
allen Kindern – Identifikationsprozesse zu ermöglichen. „There should be: Im-
ages in abundance of all the children, families and staff in your program. Photos
and other pictures reflecting the various backgrounds of the children and staff
should be attractively displayed.” (ebd.) Die Kinder sollen Dinge vorfinden, die
sie repräsentieren, mit denen sie sich identifizieren können und die ihnen die
Möglichkeit geben, sich positiv mit ihrer Person auseinanderzusetzen. Die Not-
wendigkeit darauf zu achten, dass sich wirklich jedes einzelne Kind wiederfin-
det, liegt in Folgendem begründet: „What is in the environment also alerts child-
ren to what the teacher considers important or not important. […] What isn’t
seen can be as powerful a contributor to attitudes as what is seen.” (ebd.) In der
bewussten Gestaltung der Kita als Lernumgebung steckt die Aufforderung, darü-
ber nachzudenken, welche Bilder und damit Darstellungen von Realität in den
Einrichtungen zum Einsatz kommen. Dabei gilt zu fragen, ob sie zum einen die
vielfältigen Merkmale der Kinder widerspiegeln, die sich in dem Raum bewe-

109
gen, und ob sie zum anderen Vielfalt in einer Art darstellen, die stereotype Mus-
ter nicht unterstützen, sondern ein komplexes Bild von Vielfalt aufzeigen. Die
Möglichkeiten der Gestaltung sind dabei vielfältig: Bilder an den Wänden kön-
nen danach ausgesucht werden, ob sie mit stereotypen Mustern aufräumen oder
diese unterstützen, Sprachen können sichtbar gemacht werden durch Beschrif-
tung von Wänden und Gegenständen, Fotos der Kinder, der Familien und der
Dinge, an denen Kindern etwas liegt, können in der Einrichtung ausgestellt wer-
den (vgl. ebd.). Da genau diese Dinge Kinder dazu anregen, sich mit sich und
mit anderen zu beschäftigen, indem sie über Fotos reden, über gezeigte Bilder
nachdenken und sich austauschen, setzen sie sich mit der Vielfalt auseinander,
lernen sie kennen und begreifen. Um sicherzustellen, dass auch Elemente von
Vielfalt dargestellt werden, die in der Gruppe der Kinder nicht vorkommen, gibt
Derman-Sparks weitere Anregungen: Gerade in ethnisch homogenen Gruppen ist
es sinnvoll, dass Bilder von Kindern und Erwachsenen gezeigt werden, die un-
terschiedlichen Gruppen angehören, dass das Alltagsleben von Familien gezeigt
wird, Männer und Frauen, alte Menschen, Menschen mit Behinderungen, unter-
schiedliche Familienformen, berühmte Menschen, die ebenso Vielfalt in körper-
lichen Merkmalen und ethnischen Zugehörigkeiten widerspiegeln; zugleich gilt
es, ‚Quotenbilder‘ zu vermeiden (vgl. Derman-Sparks 1989, 11f.).
Eine weitere Methode zur Umsetzung der Ziele und gleichzeitig ein Aspekt
der Raumgestaltung ist der Einsatz und die Gestaltung der Materialien in der
Kita.

„Every center [or institution] should contain regularly available materials


representing the backgrounds of the families in your classroom and then extending
beyond to the major groups in your community and in the nation.” (Derman-Sparks
1989, 12)

Auch hierbei geht es darum, Vielfalt sicht- und erfahrbar zu machen und gleich-
zeitig allen Kindern Identifikationsmöglichkeiten zu bieten. Die Materialien in
den Spiel-, Bau- und Puppenecken können Vielfalt aufzeigen. Puppen können
sich optisch unterscheiden und kulturelle Merkmale aufweisen, die Bauecke
bietet vielfältige Möglichkeiten, mit stereotypen Mustern aufzuräumen. So kön-
nen zum Beispiel weibliche Spielfiguren auf der Baustelle oder beim Baggerfah-
ren eingesetzt werden, um aufzuzeigen, dass Frauen diese Berufe ebenso ergrei-
fen können wie Männer. Auch bei der Auswahl der Bücher kann das Kriterium
‚Vielfalt‘ mitbestimmend sein: Sie können Aspekte von Vielfalt ansprechen und
diese den Kindern nahe bringen:

„All children’s books reflect social values and attitudes, some more obviously than
others. Many, including books that are considered classics, reflect bias of some kind.

110
Since books are a significant part of young children’s lives in school and child care,
much care must be given to their selection and use.” (Derman-Sparks 1989, 12)

Zur Kommunikation mit den Kindern gehören zum Beispiel Lieder, die gemein-
sam gesungen werden oder Geschichten, die erzählt werden. Auch hierbei gilt es,
sowohl Lieder als auch Geschichten bewusst danach auszuwählen, dass sie Viel-
falt aufzeigen und damit auch zum Gespräch über Vielfalt anregen. Als eine
besondere Kommunikationsmethode in der Anti-Bias-Arbeit stellt Louise Der-
man-Sparks die Arbeit mit den Persona Dolls vor.
Persona Dolls sind Puppen, die von ErzieherInnen gestaltet und mit einer
persönlichen Geschichte ausgestattet und dann den Kindern als diese Puppen mit
ihren Namen und ihren Lebensgeschichten vorgestellt werden: „Each doll has his
or her own life story. Stories reflect the composition of the class and offer a ve-
hicle for introducing differences that do not exist within one classroom.” (Der-
man-Sparks 1989, 16) Persona Dolls kommen zu Besuch in die Kita und treten –
mit Hilfe der ErzieherInnen als Sprachrohr – mit den Kindern in Kontakt. Sie
werden eingesetzt, um Kommunikationsprozesse anzustoßen über Themen, die
den Umgang mit Vielfalt betreffen. Ein Beispiel hierfür ist das folgende, in dem
die Persona Doll Eric vorkommt. Eric fehlt ein Teil seines Beines. Das Beispiel
wird aus der Sicht einer Erzieherin beschrieben:

„‘I don’t want to touch him!’ – was Diana’s first response to Eric, the doll with half
of one leg missing. ‚That leg must scare you, Diana. I’ll come and sit with you. Emi-
ly, will you hold Eric very gently for me while I help Diana?‘ I said. ‘Yes’ said Emi-
ly, ‘I think he’s feeling kind of sad that Diana doesn’t want to touch him.’ ‘I think so
too,’ added Todd. ‘I think it’s hurting his feelings.’ ‘I want to touch him,’ said Anne.
‘Me too,’ said Colin. ‚Well, I think that Diana has never met a person whose body is
very different and I think it scares her. Is that right, Diana?’ ‘Yes,’ she said as she
leaned her head into my lap. ‘We will all help you get to know Eric. He has feelings
and ideas just like all of us, even if his leg is different.’“ (Derman-Sparks 1989, 17)

Die Situation, dass ein Kind eingeschüchtert und verängstigt ist von dem Anb-
lick des fehlenden Beines, eröffnet die Gesprächssituation. Zum einen wird von
den Kindern nahezu automatisch thematisiert, wie sich Eric fühlen muss, wenn
er solche Zurückweisung erlebt. Sie äußern Empathie ihm gegenüber. Zum ande-
ren wird thematisiert, warum Diana das fehlende Bein Angst macht. Die Angst
kann besprochen und erst über diesen Weg auch genommen werden. Diana kann
sich an den Umgang mit Eric gewöhnen. Ihr Spektrum an Vielfalt, die sie kennen
lernt, erweitert sich dadurch. Der Umgang wird einfacher. Alle Kinder machen in
einem solchen Gespräch Erfahrungen mit Vielfalt und lernen, damit empathisch
umzugehen, indem sie sich in die Puppe hineinversetzen und reflektieren, welche

111
Gefühle sie angesichts von Reaktionen entwickelt. Mit Hilfe der Persona Dolls
können auch andere Themen angesprochen werden, die die Kinder direkt be-
schäftigen, über die sie aber nicht unbedingt automatisch reden:

„If I want to talk about what might be exciting or scary, on the first day of school
[…] how it was hard to say good-bye to their parents, how confusing it is to under-
stand new rules, and who had a hard time finding the bathroom [I use the persona
doll].” (Derman-Sparks 1989, 17)

Die Persona Dolls werden eingesetzt, um Themen mit den Kindern anzuspre-
chen, die zum einen das Mitgefühl, zum andern die persönlichen Gefühle der
Kinder ansprechen. “Anti-Bias stories [for persona dolls] emerge from four
sources: (1) issues that emerge from children’s daily lives; (2) events that are
currently happening in the world; (3) information that I, as the teacher, want
children to have; and (4) history.” (Derman-Sparks 1989, 18) Persona Dolls sind
damit ein Mittel, um auch die Aspekte von Vielfalt zur Sprache zu bringen, die
in der Gruppe nicht vorhanden sind. Gleichzeitig dienen sie als Projektionsflä-
che. Themen, die in der Gruppe heikel sein mögen, können mit Hilfe von Perso-
na Dolls angesprochen und aufgearbeitet werden, ohne dabei bestimmte Kinder
in den zu Fokus rücken. Werden Themen angesprochen, die einige Kinder direkt
betreffen, besprechen die ErzieherInnen dies zunächst mit den Kindern, um sie
nicht zu überraschen oder gar bloß zu stellen. Eventuell betroffene Kinder kön-
nen um ihr Einverständnis gebeten werden – damit werden ihre Gefühle und
auch ihre Persönlichkeitsrechte respektiert. Dazu eine Erzieherin:

„The breakup of Diana’s family, several children using ‚Chinese‘ as an insult, and
the boys saying that no girls are allowed on the boat are examples of classroom is-
sues that resulted in stories this year. I always ask the children first if it is alright
with them for me to tell a story that is very much like their own. It is important to re-
spect their privacy and not surprise them. I’ve never had a child say ‘no’.“ (Derman-
Sparks 1989, 18)

Die Kinder wissen einerseits, dass es sich lediglich um Puppen handelt, anderer-
seits lassen sie sich auch gewissermaßen „verzaubern“ und nehmen die Puppe als
existent wahr. So berichtet eine Erzieherin:

„Recently when I was using three dolls to tell a story, Emily said, ‚That’s an artifical
story, isn’t it, Kay? Because it’s all about dolls.‘ The children accept the doll stories
as ‚real‘ but also remember that they are ‘only dolls‘. They do become quite attached
to them. James asked me to be sure and take them home over winter break so they
wouldn’t get lonely all by themselves at school.” (Derman-Sparks 1989, 18)

112
Die Kinder können sich in die Puppen hinein fühlen. Die Arbeit mit den Puppen
ermöglicht es, auch heikle Themen auf indirekte Art mit den Kindern anzuspre-
chen. Der ‚Umweg‘ über die Puppe, die Dinge erlebt hat, erlaubt Abstand zwi-
schen den Gefühlen der Kinder und der Situation.
Erkennbar wird, dass die Methoden in der Anti-Bias-Arbeit stark darauf
ausgerichtet sind, die Lernumgebung für Kinder bewusst vielfältig zu gestalten.
Einige Aspekte mögen dabei selbstverständlich erscheinen. Relevant in der Anti-
Bias-Arbeit ist aber immer die bewusste Auswahl und die bewusste Gestaltung,
die darauf ausgelegt ist, den Kindern Identifikationsmöglichkeiten zu bieten und
für sie Vielfalt erfahrbar zu machen.
Anti-Bias-Arbeit ist darauf ausgelegt, die Einstellungen der Kinder zu Gescheh-
nissen und Realitäten aufzudecken und sich darüber auszutauschen. Gleichzeitig
geht es darum, Kinder in ihrer Vielfalt anzuerkennen und zu respektieren. Diese
Anerkennung ist nur dann möglich, wenn nicht nur jedes Kind, sondern auch alle
Eltern einbezogen werden.
Für die Zusammenarbeit mit den Eltern werden im Anti-Bias-Curriculum
fünf Ziele formuliert. Es geht darum,

1. einen offenen Dialog mit den Eltern anzuregen und so in den Austausch
über Ansichten zu kommen und eventuelle Disparitäten aufzudecken
und für diese Lösungen zu finden;
2. Eltern eine Idee davon zu vermitteln, wie Kinder ihre geschlechtliche
und ethnische Identität konstruieren und sie über die Grundideen von
Anti-Bias-Arbeit zu informieren, um ihnen ein Bild davon zu vermit-
teln, inwiefern Diskriminierungsformen die Entwicklung der Kinder be-
einträchtigen können;
3. Eltern einen Raum zu geben, in dem sie sich über die Anti-Bias-
verwandten Themen austauschen können und in dem sie überlegen
können, ob und wie sie die Anti-Bias-Ideen in den eigenen Umgang mit
Kindern übernehmen wollen/können;
4. die Kooperation von Eltern und ErzieherInnen zu etablieren, um die
Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen;
5. die Eltern in die Geschehnisse und die pädagogischen Entwicklungs-
schritte in der Kita einzubeziehen (vgl. Derman-Sparks 1989, 97).

Um diese Ziele umzusetzen, werden im Anti-Bias-Curriculum verschiedene


Wege aufgezeigt. ErzieherInnen können, gemeinsam mit den Kindern, Informa-
tionsbriefe an die Eltern verfassen, um sie über das, was in der Kita passiert, auf
dem Laufenden zu halten. Zusätzlich können sie Arbeiten wie zum Beispiel
Bilder, Kollagen und Gebasteltes nach Hause schicken oder den Eltern mitgeben

113
und dazu erklären, in welchem Kontext das jeweilige Produkt entstanden ist.
Regelmäßige Elternabende tragen dazu bei, den Eltern die Grundideen der Anti-
Bias-Arbeit zu verdeutlichen, indem die einzelnen Aspekte dort erläutert werden.
Das Gespräch mit den Eltern zu suchen, ihnen die eigenen pädagogischen Leit-
ideen vorzustellen und ihre Einstellungen dazu zu hören, kann dazu führen, dass
unterschiedliche Meinungen sichtbar werden und aufeinander treffen:

„Teaching from an anti-bias perspective means seeking to respect and support each
child’s and parent’s background and reality while introducing a working concept of
diversity that challenges social stereotypes and discrimination. With parents who
agree with the underlying values of anti-bias curriculum, these two goals work to-
gether. With parents who disagree, tension occurs. However, respecting parents does
not necessarily mean acquiescing to all their beliefs. Teachers also demonstrate re-
spect when they challenge parents to struggle with them when there are disagree-
ments, keep communication open, and search for solutions agreeable to both. It is
necessary to acknowledge that a coming together with all parents may not be possi-
ble.” (Derman-Sparks 1989, 97)

Die Lebensumstände, den Hintergrund und die Sichtweisen von Kindern und
ihren Familien zu respektieren, bedeutet, diesen Interesse entgegen zu bringen.
Der aktiv angeregte Austausch ist die Ausdrucksform dieses Interesses. Dieser
Austausch ist mit denjenigen Eltern einfach, die die Anti-Bias-Ideen unterstützen
und mit den ErzieherInnen in den Ansichten und Vorstellungen übereinstimmen.
Derman-Sparks weist aber auch explizit darauf hin, dass es bedeutsam ist, auch
mit den Eltern, mit denen keine Übereinstimmung gefunden werden kann, den
Dialog aufrechtzuerhalten, um so Kompromisse und Lösungen zu finden, die für
alle Seiten akzeptabel sind (vgl. ebd.).

5.1.3 Pädagogische Kompetenzen

Die Anforderungen an pädagogisches Handeln sind im Anti-Bias-Ansatz komp-


lex. Kinder in ihrer Identitätsentwicklung unterstützen und ihnen ermöglichen,
Vielfalt kennen zu lernen bedeutet auch, Kinder vor Ausgrenzung und Herabset-
zung zu schützen. PädagogInnen werden dazu aufgefordert, ausgrenzende Situa-
tionen anzusprechen und diskriminierende Verhaltensweisen aufzudecken. Dar-
über hinaus lautet die Aufgabe, Kinder dazu ermuntern, sich gegen Diskriminie-
rung einzusetzen. Um diese Ziele umsetzen zu können, gilt es die Umgebung, die
Materialien und die Kommunikation in der Einrichtung so zu gestalten, dass sie
frei sind von Stereotypisierungen, von einseitigen Darstellungen. Vielmehr
kommt es darauf an, Vielfalt aufzeigen und allen Kindern Identifikationsmög-

114
lichkeiten einzuräumen. „[I]f children are to grow up with the attitudes, know-
ledge, and skills necessary for effective living in a complex, diverse world, early
childhood programs must actively challenge the impact of bias on children’s
development.“ (Derman-Sparks 1989, 5)
‚Bias‘ bedeutet im Deutschen ‚Schieflagen‘. Dies bezeichnet im konkreten
Fall Schieflagen in der Gestaltung der Einrichtung, also der Kita. Wenn es zum
Beispiel in einer Kita nur weibliche Puppen gibt, so besteht die Schieflage in der
Unterrepräsentation männlicher Puppen bei gleichzeitiger Überrepräsentation
weiblicher. Indem auch männliche Puppen angeschafft werden, wird diese
Schieflage begradigt. Das Gleichgewicht ist hergestellt, Jungen und Mädchen
werden anteilig repräsentiert. Schieflagen finden sich überall dort, wo eine Über-
repräsentation bestimmter Merkmale einerseits und damit gleichzeitig eine Un-
terrepräsentation anderer Merkmale andererseits besteht. Im Kontext Kita bedeu-
tet eine solche ‚schiefe‘ Repräsentation, dass Kinder aufgrund ihrer unterschied-
lichen individuellen Merkmale (z.B. Geschlecht, Körperbau, familiäre Situation)
unterschiedlich stark Anknüpfungs- und damit Identifikationsmöglichkeiten in
der Einrichtung vorfinden. Derman-Sparks formuliert die Anforderung an päda-
gogische Fachkräfte, sich aktiv damit auseinanderzusetzen, welchen Einfluss
Schieflagen auf die Entwicklung von Kindern haben können. Erst wenn diese
Bereitschaft zur Auseinandersetzung vorhanden ist, können Kompetenzen geför-
dert werden, die dazu beitragen, Schieflagen nicht nur zu erkennen, sondern sie
aktiv zu beseitigen: „Like children, grown-ups must learn by doing: by making
mistakes, and thinking about it, and trying again. Anti-bias teaching requires
critical thinking and problem solving by both children and adults.” (Derman-
Sparks 1989, x)
Das Curriculum will pädagogische Fachkräfte in vorschulischen Einrich-
tungen darin unterstützen, Marginalisierung zum Thema und Vielfalt sichtbar zu
machen. Es geht dabei um einen kritischen Blick, um den Willen und die Kom-
petenzen, Schieflagen aufzulösen und ‚zu begradigen‘. Eine Voraussetzung da-
für, dass ErzieherInnen Schieflagen begradigen können, Einseitigkeiten und
Stereotype vermeiden und stattdessen Vielfalt und Identifikationsmöglichkeiten
anbieten, ist folgende: ErzieherInnen sind aufgefordert, besagte Schieflagen und
Einseitigkeiten zu erkennen, einen Blick für Stereotype zu entwickeln, zu hören
und zu erkennen, wenn Kinder sich gegenseitig unfair begegnen. Und sie sind
aufgefordert, Mittel, Wege und Methoden zu kennen, um in solchen Situationen
eingreifen und angemessen reagieren zu können. Nur so kann vermieden werden,
dass sie sich überfordert fühlen. Derman-Sparks merkt an, dass solche Themen
in der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften offenbar (noch) keinen Platz

115
haben61. „Few early childhood educators have been prepared to talk with child-
ren about race, ethnicity, and disabilities.” (ebd., x) Im Anti-Bias-Curriculum
widmen Derman-Sparks und ihre KollegInnen dem Thema ‚Getting started‘ ein
kurzes Kapitel. Der Untertitel ‚A self-education-guide‘ verdeutlicht, dass es hier
darum geht, sich Kompetenzen selbst anzueignen. Die vier Ziele des Selbst-
Bildungs-Plans sind:

1) “To increase awareness of your attitudes about gender, race, ethnicity, and dif-
ferent physical abilities;
2) To learn to identify ways that institutional racism, sexism, and handicapism af-
fect your program;
3) To gain an understanding of how young children develop identity and atti-
tudes;
4) To plan ways to introduce anti-bias-curriculum into your setting.” (Derman-
Sparks 1989, 111)

Im Anti-Bias-Curriculum wird die Pädagogik mit Kindern in Kitas ausführlich


erläutert. ErzieherInnen können sich daraus Ideen und Anregungen holen, um
Anti-Bias-Arbeit umzusetzen. Der Fokus liegt in diesem Anfangsstadium der
Anti-Bias-Arbeit darauf, herauszufinden, welche Methoden wichtig sind, um die
vier Anti-Bias-Ziele für Kinder umzusetzen. Louise Derman-Sparks und viele
der damaligen KollegInnen arbeiteten weiterhin mit dem Anti-Bias-Ansatz und
entwickelten ihn weiter. Folgende Aussage aus dem Jahr 2001 macht deutlich,
dass der Fokus der Arbeit inzwischen auch auf die ErzieherInnen gerichtet wird:

„Anti-Bias-Arbeit muss sowohl mit den Kindern durchgeführt werden als auch mit
den Erwachsenen, die mit den Kindern arbeiten. Wir können nicht mit Kindern nach
dem ABA arbeiten, wenn wir nicht auch uns selbst reflektieren und unsere unter-
schiedlichen Identifikationen verstehen. Wir müssen unsere eigenen Vorurteile auf-
decken, unser eigenes kritisches Denken entwickeln und die Fähigkeit, etwas dage-
gen zu tun, wenn wir finden, es ist unfair. Mit anderen Worten: Erwachsene, die mit
Kindern arbeiten, müssen sich die 4 Ziele des Anti-Bias-Ansatzes auch selbst vor-
nehmen.“ (Derman-Sparks 2001, 14)62

Erst über die Auseinandersetzung mit den eigenen Prägungen, Einflüssen und
Sichtweisen auf die Welt wird es ErzieherInnen möglich, diese durch die Augen
ihrer Schützlinge zu sehen und damit auf Schieflagen aufmerksam zu werden.

61
Zwar stammt diese Aussage aus dem Jahr 1989 und ist damit 20 Jahre alt, sie kann dennoch als
aktuell gesehen werden, denn erst nach und nach gelangen Fragen heterogenitätsbewusster Pä-
dagogik in die Lehrpläne pädagogischer Ausbildungsgänge.
62
Übersetzung von Petra Wagner

116
Dies ist ein notwendiger Schritt für alle weiteren Unternehmungen im Rahmen
der Anti-Bias-Arbeit.
Die Beispiele, die Louise Derman-Sparks gibt und die in diesem Kapitel
aufgeführt werden, machen eins deutlich: Die Anti-Bias-Ziele umzusetzen be-
deutet nicht zusätzliche Arbeit, sondern lediglich eine andere Form der Arbeit.
Es geht um eine Form der Kommunikation; darum, Gesprächs- und auch Hand-
lungssituationen herzustellen, in denen Kinder dazu ermuntert werden genauer
hinzusehen, nachzudenken, ihre Gedanken zu äußern und auszutauschen. Anti-
Bias ist demnach die bewusste Bemühung, Äußerungen und Deutungsmuster
von Kindern aufzugreifen und damit zu arbeiten.
Derman-Sparks und ihre KollegInnen haben mit dem Anti-Bias-Curriculum die
Grundlagen gelegt für eine pädagogische Haltung, die das Thema Diskriminie-
rung und Ausgrenzung bereits mit kleinen Kindern in den Fokus pädagogischer
Bemühungen rückt.
In seinen Ursprüngen in den USA im Kontext vorschulischer Bildung vor
gut 20 Jahren wurde Anti-Bias verstanden als ein pädagogischer Handlungsrah-
men, der Strukturen von Ausgrenzungen in Bildungseinrichtungen aufzeigen und
beseitigen will. Die Grundideen des Ansatzes wurden nach und nach auch in
anderen Arbeitskontexten eingesetzt, zunächst vor allem in Südafrika. Die Adap-
tion des Ansatzes in Südafrika wird im folgenden Kapitel beschrieben.

5.2 Anti-Bias-Arbeit in Südafrika

Über Kooperationen mit Louise Derman-Sparks wurde der Anti-Bias-Ansatz in


pädagogischen Einrichtungen in Südafrika eingeführt und dort umgesetzt, vor
allem in der pädagogischen Fortbildungseinrichtung ELRU (Early Learning
Ressource Unit) in Kapstadt. ELRU ist ein Träger von Einrichtungen frühkindli-
cher Bildung in Südafrika. Er stellt Materialien, Informationen sowie Trainings-
programme zusammen und konzipiert Fortbildungen, durch die MitarbeiterInnen
ihre Kompetenzen für den Umgang mit Vielfalt erweitern können63. „ELRU
offers support to educators and others involved in post-apartheid transformation
so that they are able to influence and promote change in practical ways.“
(www.elru.co.za) 1978 hat ELRU seine Arbeit in Kapstadt begonnen, seit 1990
wird der Anti-Bias-Ansatz in die Fortbildungsarbeit integriert. Der Zeitpunkt ist
nicht zufällig: 1990 wurde in Südafrika das Ende der Apartheid eingeleitet.

63
Das Buch ‚Shifting Paradigms‘ ist eine solche Materialiensammlung. Neben theoretischen
Erläuterungen zum Anti-Bias-Ansatz finden sich vor allem Übungen und Methoden, die die
Arbeit mit dem Ansatz ermöglichen. Die Methoden werden ausführlich beschrieben, so dass
eine Umsetzung möglich ist.

117
5.2.1 Ziele

Mit dem Ende der Apartheid gingen in Südafrika tiefgreifende gesellschaftliche


Veränderungen einher, die Aufhebung der ‚Rassentrennung’ brachte offensich-
tliche strukturelle Veränderungen mit sich.

„’Race’ is a social construct. It does not actually exist but is a concept constructed to
categorise people as a means of social and political control. We [ELRU] do not sub-
scribe to the belief that such a thing as race exists. However to eradicate racism, we
need to talk about it […]. Apartheid in South Africa was a system based on the be-
lief that certain ‘race groups’ were inferior to others and it labelled groups of people
in various ways. It is important to recognise that these labels were imposed on
groups of people – they were not terms which were chosen by a group of people as a
way of identifying themselves.” (ELRU 1997, 5)

Deutlich formuliert wird der starke Einfluss politisch geschaffener Strukturen auf
die persönliche Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität. Das politische
System der Apartheid führte dazu, dass Menschen in Südafrika in einer Gesell-
schaft aufwuchsen und sozialisiert wurden, in der nicht nur eine Trennung, son-
dern auch eine Hierarchisierung von Menschengruppen aufgrund der Hautfarbe
stattfand. ELRU hingegen betont das Bewusstsein, dass das Unterscheidungs-
merkmal ‚Rasse‘ und damit auch die Zugehörigkeit dazu sozial konstruiert ist.
Die Zuordnung sei ein Werkzeug sozialer und politischer Kontrolle. Die mit
diesen Zuordnungen zusammenhängenden diskriminierenden Mechanismen und
Strukturen gehörten zum Alltag in der südafrikanischen Gesellschaft und hatten
und haben weiterhin Einfluss darauf, wie Menschen gesellschaftliches Zusam-
menleben begreifen und gestalten. Die Abschaffung der Apartheid bedeutet auch
die Aufforderung an die Menschen in Südafrika, umzulernen, um das Vorhaben
einer demokratischen Gesellschaft zu verwirklichen.

“Achieving the goal of a multicultural, non-racist, non-sexist, non-classist and dem-


ocratic society involves a process of unlearning und relearning; of reconceptualisa-
tion and creativity. Change is not easy as it often involves moving into relatively
unknown territory and taking risks. It also involves letting go of old and familiar
ways of doing things […] And, a conscious and definite strategy is required to bring
about the paradigm shifts necessary to enable us to create a new society in which all
differences and similarities amongst people are recognised, appreciated and drawn
upon.” (ELRU 1997, 7)

Während der Apartheid wurden Menschen nicht nur getrennt, sondern auch hie-
rarchisiert. Weiße hatten mehr Rechte und Partizipationsmöglichkeiten, sie be-
stimmten die politischen Geschehnisse und deren soziale Auswirkungen.

118
Schwarze Menschen wurden von politischen und gesellschaftlichen Entschei-
dungen ausgeschlossen, sie wurden räumlich getrennt von Weißen und hatten
keine Zugangsmöglichkeiten. Mit Maßnahmen wie diesen wurde gezeigt: Weiße
sind mehr wert als Schwarze. Diese Ansicht wurde allen Menschen, die in Sü-
dafrika in diesem System lebten, vermittelt. Das Aufwachsen in einem solchen
System hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Menschen, auf die eigene
Identität und die eigenen Zugehörigkeiten. Die damit zusammenhängenden Ge-
fühle wurden zu Überzeugungen und wurden als solche in das eigene Bild von
Identität übernommen. Nelson Mandela beschreibt in seinem Buch ‚Der lange
Weg zur Freiheit‘ eine Situation am Flughafen, als er einige Jahre nach seiner
Entlassung aus dem Gefängnis auf dem Weg nach Europa war:

„Als ich in das Flugzeug stieg, sah ich, dass der Pilot schwarz war. Ich hatte noch
nie einen schwarzen Piloten gesehen, und in diesem Augenblick musste ich ein Ge-
fühl der Panik unterdrücken. Wie konnte ein Schwarzer ein Flugzeug fliegen? Doch
einen Augenblick später hatte ich mich wieder gefangen: Ich war in das Denkmuster
der Apartheid gefallen, nach dem Afrikaner minderwertig waren und nur Weiße
fliegen konnten.“ (Mandela 1997, 393)

Das Gefühl der Minderwertigkeit hatte sich bei Mandela festgesetzt; es kostet
ihn zusätzliche Anstrengung, sich aus diesen Denkmustern zu befreien. Es kann
davon ausgegangen werden, dass viele Menschen, die im Apartheidssystem
Südafrikas gelebt haben ebenso diese Gefühle verinnerlicht haben. Weiße Men-
schen internalisierten das Gefühl der Überlegenheit, schwarze Menschen das der
Minderwertigkeit. Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz bedeutet für ELRU, sich
mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen und Methoden bereitzustellen, die
diese Denkmuster bewusst bearbeitbar machen.

“An Anti-bias approach facilitates transformation. It offers support and guidance as


we become aware of the way in which all forms of bias and oppression act as bariers
in moving towards equal opportunities and outcomes. It also assists us in developing
strategies to challenge all barriers – racism, sexism, classism, heterosexism, linguic-
ism, ageism, adultism, able-ism and religious oppression.” (ELRU 1997, 7)

Die Methoden der Anti-Bias-Arbeit werden von ELRU genutzt, um es Menschen


zu ermöglichen, sich bewusst zu werden über die Ausdrucksformen von Unterd-
rückung und ungerechter Teilhabe. Das Zitat von Mandela verdeutlicht, welchen
Einfluss zuschreibende Kategorisierungen auf das Selbst- und Fremdbild von
Menschen haben. Die von der südafrikanischen Regierung geschaffene Normali-
tät, in der Menschen nicht nur kategorisiert wurden, sondern in der sie auch zu
spüren bekamen, welchen Stellenwert sie in der Gesellschaft haben, führte dazu,

119
dass Menschen die Gefühle von Überlegenheit und Unterlegenheit internalisier-
ten.

5.2.2 Umsetzung

Die Auseinandersetzung mit internalisierten Vorstellungen von hierarchischen


Unterschieden, Überlegenheit und Unterlegenheit ist das zentrale Thema der
Anti-Bias-Arbeit in Südafrika. Die Hoffnung ist, dass der Zugang zu diesen
verinnerlichten Sichtweisen dazu beiträgt, dass Menschen diskriminierendes
Verhalten einerseits und auch das Erdulden von diskriminierenden Verhalten
andererseits erkennen, verlernen und alternative Umgangsformen erlernen:

„Unlearning racism and internalised oppression in all their expressions is offered as


a way of understanding how oppression works in any target/non-target relationship.
It is crucial that individuals realize how each person is sometimes in both positions.
For example, a black male may be a target in terms of racism but a non-target in
terms of gender. […] An anti-bias approach, then, involves committing to the
process of altering the variety of ways in which individuals and groups set up one-
up/one-down dynamics so that all differences and similarities between people may
be recognized, valued and utilized.” (ELRU 1997, 29)

Ein erster Schritt, um ein Verständnis davon zu vermitteln, wie Diskriminierung


funktioniert und wirkt und auch um aufzuzeigen, dass sie häufig – aus Sicht der
diskriminierenden Person – unbewusst geschieht, ist die Bereitschaft zur Be-
schäftigung mit dem Thema. Die Auseinandersetzung wird strukturiert durch
Methoden der Selbstreflexion, etwa durch die Übungen „Drawing Oppression“
(ELRU 1997, 117) und „Earliest Encounters“ (ELRU 1997, 129) aus dem Buch
‚Shifting Paradigms‘. Die TeilnehmerInnen werden im ersten Fall aufgefordert,
einen Vorfall/ein Ereignis zu malen, in dem ihr oder ihm Diskriminierung be-
gegnet ist. In der zweiten Übung geht es ebenfalls darum, sich eigene Erfahrun-
gen mit Diskriminierung in Erinnerung zu rufen und sich darüber auszutauschen.
Im Gespräch kann dann darüber geredet werden, was die eigenen Erfahrungen
für die jeweilige Person bedeuten, mit welchen Gefühlen und auch mit welchen
Reaktionen sie verbunden waren oder immer noch sind. Dass solche Übungen
heftige emotionale Reaktionen hervorrufen können, hat Claudia Lohrenscheit
miterlebt. Sie verbrachte einige Zeit in Südafrika und lernte dort im Projekt EL-
RU die Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz kennen.

„Manchmal erzählen Menschen Dinge, die sie selber letztendlich überfordern, weil
schlimme Erfahrungen mit Missbrauch, Unterdrückung und Diskriminierung

120
manchmal nicht wirklich heilen können. Solche Erfahrungen mit anderen zu teilen,
auch den Schmerz darüber, das ist sehr hart. Interessanterweise hat auch die andere
Seite ihren Schmerz, auch die Machtausübung und der Machtmissbrauch – sich das
zurückzuholen und sich bewusst zu machen, d.h. wo du anderen Leuten nicht in
Würde begegnet bist oder nicht ihre Würde wahrgenommen hast, auch das kann
schmerzvoll sein. Und das guckt man sich nicht gerne an.“ (CL64 5, 22-30)65

Claudia Lohrenscheit wirft hier noch einen weiteren Aspekt auf. Die Auseinan-
dersetzung mit eigenen, sehr persönlichen Erfahrungen kann auch immer eine
schmerzhafte Erfahrung sein – und zwar für beide Seiten. Diskriminierung und
Ausgrenzung geschehen nicht immer bewusst, sondern in vielen Fällen unbe-
wusst. Dies zu begreifen und zu erkennen ist nicht leicht. Lohrenscheit berichtet
von einer anderen Übung, die sie während einer Fortbildung bei ELRU kennen
lernte. Zunächst beschreibt sie das Setting:

„Unter anderem bietet ELRU Ausbildung für crèches an, für selbstorganisierte Kin-
derhorts und Kindergärten in den Townships. Diese sind von Müttern organisiert,
um sich gegenseitig zu entlasten. Das heißt: An einem Tag gehen die Kinder zu der
einen Mutter, am nächsten Tag zu einer anderen. Es ging bei den Ausbildungen
darum, dass diese crèches nicht nur eine Aufbewahrungsstätte sind, sondern dass
sie auch ein pädagogisches Konzept haben, d.h. Early Learning.“ (CL 1, 36-40)

Hier wurde offenbar nicht mit ausgebildeten PädagogInnen gearbeitet. Die Men-
schen, die an dem Workshop teilnehmen, leben in den Townships in Kapstadt, es
ist daher davon auszugehen, dass sie alle schwarz sind.

„Natürlich hat Südafrika viel geschafft, hat die Apartheid besiegt auf der formalen
Ebene. Aber die Menschen spüren nach wie vor die innere Unterdrückung und die
Bewertung nach Kategorien und Schwarz und Weiß. Ich hab ein prägnantes Bei-
spiel: In einer Fortbildung bestand die Gruppe aus ungefähr 25 Frauen, die waren
überwiegend älter und kamen alle aus einem Township. Sie bekamen die Aufgabe,
Farben zu assoziieren. Und als die assoziierten Begriffe gesammelt wurden, ergab
sich tatsächlich ein klassisches Bild: z.B. Gelb – Sonne oder Blau – Wasser usw.,
bei den Farben Schwarz und Weiß kam tatsächlich eine klassische Bewertung von
‚Schwarz ist negativ, Gefahr und gefährlich’ und ‚Weiß ist positiv, Reinheit.’“ (CL
1, 43-2, 9)

64
CL heißt in diesem Fall Claudia Lohrenscheit. Die Buchstaben hinter den Interviewaussagen
bestehen also aus den Initialen der Namen der InterviewpartnerInnen.
65
Alle Interviewpassagen werden kursiv gedruckt. Da aufgrund der Triangulation sowohl Zitate
aus Dokumenten als auch aus den Interviews abwechselnd eingesetzt werden, dient dies der
Lesbarkeit und schnelleren Einordnung.

121
Das Beispiel zeigt auf, wie unterschiedliche Methoden in der Anti-Bias-Arbeit
angewandt werden, um Bewusstwerdungsprozesse in Gang zu setzen. Der Unter-
schied zwischen dieser und den ersten beschriebenen Übungen liegt vor allem
darin, dass es hierbei nicht um persönliche Erfahrungen geht. Vielmehr wird eine
Art Sensibilisierung, ein Bewusstsein für das Thema geschaffen. Die verinner-
lichten Vorstellungen und Assoziationen werden sichtbar.

5.2.3 Pädagogische Kompetenzen

Die beschriebenen internalisierten Vorstellungen haben auch Einfluss auf die


Gestaltung pädagogischer Situationen in südafrikanischen Bildungseinrichtun-
gen. Der Umgang mit Heterogenität in Bildungseinrichtungen war zuvor nicht
von großer Bedeutung, da vermeintlich offensichtliche, zumindest kulturelle
Homogenität hergestellt wurde. Als diese Homogenität aufgehoben wurde, er-
kannten PädagogInnen, dass sie für die neue Aufgabe, also die Bildung und Be-
treuung heterogener Gruppen, nicht über ausreichende Kompetenzen verfügen:

„None of us [people working in the field of education] had been trained to teach in
multicultural and multilingual settings or to teach in a democratic style. In fact, the
opposite was true. The majority of us had been educated through the system of apar-
theid education and had grown up in an extremely authoritarian, oppressive and de-
vided era.” (ELRU 1997, 3)

Die PädagogInnen, die in südafrikanischen Bildungseinrichtungen arbeiten,


befanden sich nach Abschaffung der Apartheid in der Situation, lediglich autori-
täre, unterdrückende pädagogische Arbeit zu kennen. Die Erkenntnis, dass dies
den aktuellen Anforderungen nicht genügt, sondern dass es notwendig ist, Kon-
zepte kennen zu lernen, die den PädagogInnen eine demokratische Form päda-
gogischen Handelns vermittelt, hat sich durchgesetzt. Die Suche nach solchen
Konzepten führte in der Fortbildungsorganisation ELRU zum Anti-Bias-Ansatz.
Die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz wurde angestrebt, um die PädagogInnen
mit Kompetenzen für eine Pädagogik unter demokratischen Gesichtspunkten
auszustatten: „The [Anti-Bias] Project set out to help teachers meet the conside-
rable demands arising out of the changing political climate in South Africa.“
(ELRU 1997, 3) Der Schwerpunkt der Anti-Bias-Arbeit in Südafrika liegt dabei,
anders als in den USA, nicht vorrangig auf der Gestaltung pädagogischer Räume
und Prozesse. Vielmehr wird der Ansatz angewandt, um PädagogInnen Wege
der Auseinandersetzung mit den Themen ‚gleichberechtigte Vielfalt‘ und ‚Disk-
riminierung‘ zu ermöglichen.

122
“Through our antibias programme we promote practical skills for dealing with the
long term undermining effects of oppression and support educators in the challenges
of transformation by confronting beliefs, attitudes & practices which are oppres-
sive.” (www.elru.co.za)

Der Fokus liegt auf den PädagogInnen als Personen. Sie werden durch die Arbeit
nach dem Anti-Bias-Ansatz darin unterstützt, die eigenen Prägungen zu hinter-
fragen und zu verstehen, was diese mit den gesellschaftlichen Unterdrückungs-
mechanismen zu tun haben, die so lange in Südafrika vorherrschend waren.
“[Anti-Bias-work] begins with confronting our own bias and prejudices. […] It
is important that we are aware of our own biases and the ways in which we in-
tentionally und unintentionally feed into the oppression of others and ourselves.”
(ELRU 1997, 7)
Die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz bei ELRU ist also Fortbildungsar-
beit für PädagogInnen bzw. für Menschen, die in pädagogischen Kontexten ar-
beiten. Im Mittelpunkt steht das Anliegen, Diskriminierungsprozesse und die
eigene Rolle darin zu verstehen, mit der eigenen Person, den eigenen Sichtwei-
sen, Erklärungsmustern und Prägungen zu arbeiten. Zu diesem Zweck, also um
die Auseinandersetzung mit der eigenen Person im Hinblick auf Prägungen,
Vorurteile, einseitige Sichtweisen auf die Gesellschaft zu ermöglichen, hat EL-
RU Methoden gesammelt, erprobt und optimiert, die diese Auseinandersetzung
anregen und ermöglichen. Diese Methoden sind in dem Buch „Shifting Para-
digms“ ausführlich vorgestellt und beschrieben, so dass sie nachhaltig für eine
demokratische Form von Pädagogik in Südafrika angewandt werden können.

123
6 Anti-Bias-Arbeit: Von Elementarpädagogik bis
Erwachsenenbildung

Das Konzept der Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz wird seit Ende der
1990er Jahre auch in Deutschland angewandt und zwar in unterschiedlichen
Kontexten. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass eine Reihe von Pädago-
gInnen auf unterschiedlichen Wegen den Anti-Bias-Ansatz kennen lernten. Die
einen kamen über Louise Derman-Sparks aus den USA damit in Kontakt und
begriffen ihn somit als ein Konzept für Einrichtungen frühkindlicher Bildung.
Andere trafen in südafrikanischen Kooperationsprojekten auf den Ansatz und
lernten ihn dort im Zusammenhang mit der Erwachsenenbildung kennen. Ent-
sprechend hat sich die Anti-Bias-Arbeit in Deutschland in unterschiedlichen
Zusammenhängen entwickelt. Zu erläutern, wie die Praxis nach dem Anti-Bias-
Ansatz in den jeweiligen Kontexten aussieht, ist Anliegen des folgenden Kapi-
tels.

6.1 Anti-Bias in Kindertageseinrichtungen

Im Projekt Kinderwelten wird seit rund zehn Jahren daran gearbeitet, den Anti-
Bias-Ansatz für deutsche Kitas zu adaptieren und weiterzuentwickeln. Dabei
wird das Anti-Bias-Curriculum zugrundegelegt, das Louise Derman-Sparks und
ihre KollegInnen 1989 veröffentlichten. Die Mitarbeiterinnen im Projekt Kin-
derwelten kooperierten von Anfang an mit Louise Derman-Sparks. Regelmäßig
finden Austausche und gegenseitige Besuche statt. Zum einen wurde gemeinsam
und aufeinander Bezug nehmend gearbeitet, zum anderen aber auch die pädago-
gische Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz an den Standorten weiterentwickelt
und so für den jeweiligen Kontext adaptiert. Im Folgenden wird die Adaption des
Ansatzes im Projekt Kinderwelten vorgestellt. Hierfür wird auf zwei Informati-
onsquellen zugegriffen:

x Auf die Publikationen, die im Laufe der Projektarbeit veröffentlicht


wurden. In diesen Publikationen haben die Mitarbeiterinnen von Kin-
derwelten ihre Erfahrungen niedergeschrieben, strukturiert und letztend-

125
lich als Handbücher herausgegeben. Diese geben somit einen guten
Einblick in die Schwerpunkte der Projektarbeit.66
x Des Weiteren dienen die Interviews mit den Kinderwelten-
Mitarbeiterinnen als Bezugsquelle. Die Interviews wurden durchge-
führt, als das Kinderweltenprojekt in der zweiten Phase war (vgl. S.
79f.).

6.1.1 Die Ziele der Anti-Bias-Arbeit mit Kindern

Kinderwelten versteht Anti-Bias als Bildungskonzept:

„Ein Bildungskonzept für Kindertageseinrichtungen, das Respekt für die Vielfalt mit
dem Nichtakzeptieren von Ungerechtigkeit verbindet. Ein Bildungskonzept, das ste-
reotype Vorurteile, diskriminierende Ausgrenzung und Einseitigkeiten in den Äuße-
rungen und im Verhalten von Individuen wie auch in den Abläufen und Gesetzmä-
ßigkeiten der Institutionen bewusst zum Thema macht, um die lernbehindernden
Implikationen von Ausgrenzung und Abwertung nicht länger zu ignorieren. Ein Bil-
dungskonzept, das Kinder stark macht, weil sie eine positive Resonanz auf das be-
kommen, was sie mitbringen und was sie ausmacht. Weil sie lernen, mit Menschen
respektvoll zusammen zu sein, die anders sind als sie selbst. Und weil sie ermutigt
werden, sich zusammen mit anderen für Gerechtigkeit einzusetzen und unfaires
Verhalten nicht hinzunehmen.“ (Wagner 2008, 10)

In diesem zusammenfassenden Statement von Petra Wagner klingen die vier


Ziele des Anti-Bias-Ansatzes für die Arbeit mit Kindern an, die auch Louise
Derman-Sparks benennt (vgl. Kap. 5.1.1). Im Projekt Kinderwelten werden diese
Ziele wie folgt übersetzt:

„1) Jedes Kind muss Anerkennung und Wertschätzung finden, als Individuum und
als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe. Dazu gehören Selbstvertrauen
und Wissen um seinen eigenen Hintergrund.
2) Auf dieser Basis muss Kindern ermöglicht werden, Erfahrungen mit Menschen
zu machen, die anders aussehen und sich anders verhalten als sie selbst, so dass
die Kinder sich mit ihnen wohl fühlen und Empathie entwickeln können.
3) Das kritische Denken von Kindern über Vorurteile, Einseitigkeiten und Disk-
riminierung anzuregen heißt auch, mit ihnen eine Sprache zu entwickeln, um
sich darüber verständigen zu können, was fair und was unfair ist.

66
Das erste Buch „Kleine Kinder – keine Vorurteile“ lag zum Zeitpunkt der Interviewdurchfüh-
rung bereits vor, das Handbuch „Macker, Zicke, Trampeltier“ war im Entstehungsprozess.

126
4) Von da aus können Kinder ermutigt werden, sich aktiv und gemeinsam mit an-
deren gegen einseitige oder diskriminierende Verhaltensweisen zur Wehr set-
zen, die gegen sie selbst oder gegen andere gerichtet sind.“ (Wag-
ner/Hahn/Enßlin 2006, 19). [Hervorhebungen KG]

Wie die konkrete Umsetzung dieser Ziele im Kita-Alltag aussehen kann, wird im
Folgenden dargestellt. Dabei werden, anstatt chronologisch nach den Zielen eins
bis vier vorzugehen, Schwerpunkte beschrieben, die sich aus den Interviews
ableiten lassen und die die pädagogische Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz gut
verständlich darstellen. Die Bezüge zu den jeweiligen Zielen werden im Textver-
lauf hergestellt.

6.1.2 Der Blick auf die Identitätsentwicklung

Dem ersten Ziel folgend ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit im Projekt Kinder-
welten, Kindern zu ermöglichen, Selbstvertrauen und damit ein positives Selbst-
bild zu entwickeln; sie im Finden ihrer Identität zu unterstützen.

„Menschen haben viele Identitäten: als Familienmitglieder (Mutter, Enkel, Tante),


als arbeitender Mensch (Erzieherin, Lehrer, Schriftstellerin), die Identifikationen mit
bestimmten Talenten und Interessen (als Joggerin, Tänzer, Künstlerin, Musiker). Sie
identifizieren sich mit bestimmten persönlichen Charakteristika (gesprächig, versor-
gend, guter Student) und mit körperlichen Besonderheiten (behindert/beeinträchtigt,
stark, attraktiv). All dies gehört auch zu den Identitäten eines Kindes.“ (Derman-
Sparks 2008, 241)

In Bildungsprozessen, verstanden als Aneignungstätigkeiten, mit denen sich


Kinder ein Bild von der Welt machen, entwickeln sie auch ihr Bild von sich
selbst in der Welt, ihre Identität. Das Bild von der Welt generieren Kinder aus
den Informationen, Bildern und Erfahrungen, die ihnen in der direkten Lebens-
umwelt zur Verfügung stehen. Bezugspunkte sind dafür das, was Erwachsene
ihnen anbieten und in ihr Sichtfeld rücken: Bücher, Fernsehrealitäten, Geschich-
ten, Bilder, die Lebenswelt im Supermarkt, zu Hause, beim Arzt oder auf der
Straße. Kinder entnehmen dem, was sie tagtäglich sehen, Informationen und sie
sind dabei sehr kreativ. Dazu Petra Wagner:

„Kinder sind viel kreativer als wir denken. Sie bringen mit großem Eigensinn Beo-
bachtungen und Erfahrungen zusammen und finden Gesetzmäßigkeiten, aus denen
sie bemerkenswerte Schlussfolgerungen ziehen, wie z.B. die, dass Frauen anders
über die Straße gehen als Männer. In ihren Beobachtungen sind sie aufmerksam für
Merkmale von Menschen, ziehen Schlüsse aus Häufigkeiten und schaffen sich so ih-

127
re Ordnungen bei ihrem Zugang zur Welt – auf sehr eigenwillige Art und Weise.“
(PW 5, 6-10)

Kinder verarbeiten die Informationen, die ihnen dargeboten werden, auf eine
Weise, die für Erwachsene nicht ohne Weiteres sichtbar wird. Was normal
scheint, wird nicht hinterfragt. Kinder erklären nicht, was sie als ‚normal‘ in ihr
Bild von der Welt einfügen, daher bleibt häufig offen, welche Bilder und Erklä-
rungen Kinder abspeichern. Und weil dies so ist, ist eine Anforderung an Erzie-
herInnen, sich bewusst über die Botschaften zu werden, die produziert und ge-
sendet werden:

„Die Aufforderung, sehr aufmerksam dafür zu sein, was für Botschaften man gibt
und wo es überall Botschaften gibt. Zum Beispiel das Nichtgesagte, oder dass du
Kindern Botschaften über das gibst, was nicht vorhanden ist, was systematisch fehlt.
Wenn in bestimmten Zusammenhängen nie Frauen vorkommen, ist das eine Bot-
schaft. Wenn bestimmte Fähigkeiten nie mit Menschen verknüpft sind, die bestimmte
Merkmale haben, ist das auch eine Botschaft. Oder wenn es zu Hause Gespräche
gibt über Kollegin X und Kollegin Y oder Kind X und Kind Y und über manche gar
nicht. Das sagt Kindern auch etwas. Also, es geht hierbei um die Subtilität der Bot-
schaften.“ (PW 5, 12-21)

Die Ausführungen zeigen, dass im Umgang mit und in der Erziehung von Kin-
dern viele Aspekte zu bedenken sind und dass genau zu überlegen ist, welche
Informationen man ihnen anbietet und welche man ihnen vorenthält. Dies bedarf
bewusster Entscheidung- und Gestaltungsprozesse.
Ausgehend davon, dass Identität ein Konstrukt ist, das sich aus sozialen und
gesellschaftlichen Rückmeldungen zusammensetzt, ist der Auftrag in der AB-
Arbeit, Kindern dazu zu verhelfen, eine positive Identität aufbauen zu können.
Christa Preissing hat im Interview das konstruktive Verständnis von Identität
vertieft:

‚Bei Anti-Bias geht es um die Stützung einer Identität, die begriffen wird als nicht
nur individuelle Identität, sondern als soziales Konstrukt. Das heißt, Identität entwi-
ckelt sich immer in der Auseinandersetzung mit anderen und hat damit etwas zu tun
mit Selbstbild und Fremdbild. Also damit, wie ich mich selbst definiere und wie ich
von anderen wahrgenommen werde. Und in der Wechselwirkung entstehen Prozes-
se, die entweder dazu führen, sich in der eigenen Person gestärkt zu fühlen, mit-
zuentscheiden, mitzubestimmen, zu partizipieren an Gesellschaft oder die bestimmt
sind von Erfahrungen von Ausgrenzungen, von Beschädigungen, von Einschränkun-
gen, von Diskriminierung [...]. Was in der Konsequenz dann bedeuten kann, dass
man weniger auf die eigenen Fähigkeiten vertraut, weniger Zutrauen in die eigene

128
Person hat als andere, die weniger von Diskriminierung betroffen sind‘ (Paraphra-
sierung der Interviewpassage CP 3,10-4,14)

Kinder konstruieren ihre Identität, und zwar aus den Informationen und Rück-
meldungen, die sie von der sozialen und gesellschaftlichen Umwelt erhalten.
Sind die Rückmeldungen über das, was sie sind und darstellen, ausgrenzend und
missbilligend, so übernehmen Kinder dies in ihr Selbstbild, nehmen sich als
‚außen vor‘ wahr und fühlen sich entmutigt. Genauso nimmt ein Kind aber posi-
tive Rückmeldungen in sein Selbstbild mit auf:

„Das Kind bildet sein Ich und sein Weltverständnis im Spiegel seiner Umgebung.
Wird ihm gespiegelt, dass es willkommen ist, dass seine Gefühle richtig sind, dass
man sich für seine Äußerungen interessiert, man ihm etwas zutraut und es Vieles
selbst tun kann, so wird es sich selbst bejahen können: ‚Ja, das bin ich, das kann ich
und das macht mich aus!‘ Damit hat es eine gute Grundlage für seine weitere Identi-
tätsentwicklung.“ (Wagner 2005, 3)

Der direkte Zusammenhang von Reaktionen und Verhaltensweisen der Men-


schen in der Umgebung und der Erstellung des eigenen Selbstbilds wird in der
Anti-Bias-Arbeit deutlich hervorgehoben. Dabei gilt es, den Blick nicht nur auf
das Kind als Individuum zu lenken, sondern auch seine Zugehörigkeit zu Be-
zugsgruppen im Blick zu haben:

„Ein kleines Kind identifiziert sich zunächst mit seinen Bezugspersonen: Mit den
Menschen, die zu seiner Familie gehören. Sie sind seine erste Bezugsgruppe. Im
Kindergarten erlebt es eine weitere Gruppenzugehörigkeit, als Krippenkind oder als
Kind in der „Sonnengruppe“ o. ä. Auch diese neue Umgebung wirkt als Spiegel: Sie
sagt dem Kind nicht nur etwas über sich selbst, sondern auch über seine Familie.
Wird ihm gespiegelt, dass es willkommen ist mit den Erfahrungen, die es von zu-
hause mitbringt, dass man ihm und seiner Familie Interesse entgegenbringt, dass sie
zusammen etwas Wichtiges beitragen können und dass seine Gedanken und Gefühle
zählen, so wird es sich bestätigt und gestärkt fühlen.“ (Wagner 2005, 2)

Die Bedeutung von Sprache

In der Arbeit bei Kinderwelten wird die Sprache als ein bedeutender Aspekt von
Identität gesehen67. Vom Umgang mit Kleinkindern ist bekannt, wie aufregend

67
Der Aspekt der Sprache ist neu hinzugekommen. In den USA verliefen die kulturellen Trenn-
linien hauptsächlich entlang der Hautfarbe, da aufgrund der Einwanderungsgeschichte dort die
Sprache kein vordringliches Problem darstellt.

129
es ist, wenn Kinder die ersten Worte sprechen, Sätze bilden und nach und nach
immer kompetenter darin werden, sich mitzuteilen. Sie werden gelobt und un-
terstützt, Eltern sind stolz und zeigen dies den Kindern. Kinder, deren Erstspra-
che nicht Deutsch ist, finden sich manchmal in Situationen wieder, in denen sie
ihre Erstsprache nicht sprechen dürfen oder sie zumindest dazu angehalten wer-
den, es lieber auf Deutsch zu versuchen. Sie bekommen so zurückgemeldet, dass
ihre Erstsprache nicht erwünscht ist.

„Fühlten sie sich vorher in sprachlicher Hinsicht kompetent, weil sie die unter-
schiedlichsten Situationen sprachlich gut handhaben konnten, so wird ihnen jetzt
vermittelt, sie seien inkompetent, weil sie nicht genug Deutsch können. Ihre Fami-
liensprachen gelten nichts mehr, teilweise wird ihr Gebrauch verboten. Wird in Kitas
die Dominanz der deutschen Sprache durchgesetzt, so erleben Kinder, in deren Fa-
milien andere Sprachen verwendet werden, eine Abwertung ihrer Familiensprachen
und damit eines wichtigen Teils ihrer Familienkultur.“ (Ansari/Enßlin 2003, 105)

Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, erfahren auf diese Weise, dass ihre
Sprache ‚weniger wert‘ ist. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite erhalten
Kinder, deren Erstsprache Deutsch ist, auch eine Botschaft aus einem solchen
Vorgehen. Diese lautet: Sprachen sind unterschiedlich ‚wertvoll‘ und der Wert
der deutschen Sprache ist höher als der aller anderen68 (vgl. ebd.). Kinder, die
mit der Erstsprache Deutsch aufwachsen, können daraus ein Gefühl von Überle-
genheit entwickeln und ausleben. Auch dies ist ein Aspekt von Identitätsfor-
mung, der auf alle Kinder Einfluss nimmt. Kinder mit einer anderen Erstsprache
werden in ihrer Identität geschwächt. Sie merken, dass ihre Sprache nicht der
Norm und den Ansprüchen der Umwelt genügt und dass sie keinen Platz hat
bzw. kein Gehör findet in der Kita. Die Arbeit von Kinderwelten nimmt daher
den Aspekt der Sprache in die Arbeit auf. Die Erstsprache als Element von Iden-
tität wird bei allen Kindern gefördert und in der Einrichtung
sichtbar gemacht. Dem Aspekt der Förderung und Würdigung der Erstsprache
wird hohe Bedeutung beigemessen:

„In einer vorurteilsbewussten Kita können Kinder die Erfahrung machen, dass ihre
Familiensprachen nicht als Störung oder Hindernis beim Deutschlernen gelten, son-
dern wertgeschätzt und begrüßt werden. Sie werden in ihrer Identität bestärkt, zu der
ja auch die Familie gehört, wenn deren sprachlichen Besonderheiten Interesse ent-
gegengebracht werden.“ (Ansari/Enßlin 2003, 107)69

68
Dies verhält sich anders in bilingualen Kindergärten. Hier wird der anderen Sprache, meist
Englisch, ein hoher Wert beigemessen.
69
Das Ziel der Sprachförderung wird in der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung im Blick

130
Einer Sprache kann in der Kita dadurch Wertschätzung entgegengebracht wer-
den, dass Kinder und auch Eltern aufgefordert werden, die jeweiligen Sprachen
in der Kita sichtbar zu machen. Ein Beispiel dafür aus dem ersten Projekt Kin-
derwelten ist das folgende zum Thema ‚Namen‘:

„In einer Kindertagesstätte beschäftigen sich die Kinder mit ihren Namen. Sie ma-
chen sich Gedanken über die richtige Aussprache des Namens, seine Bedeutung und
wer ihnen den Namen gegeben hat. Die Kinder und die Erzieherin haben auch mit
den Eltern darüber gesprochen. Dann machen sich alle Kinder bunte Namensschil-
der. Noch nicht vierjährige Kinder können die von der Erzieherin vorgeschriebenen
Buchstaben in ihrer Form erkennen und abmalen. Es entstehen Schilder in verschie-
denen Größen. Dann gehen die Kinder zu ihren Garderobenhaken, ihren Eigentums-
fächern, ihren Zahnputzbechern und überkleben industriell gefertigte, unpersönliche
Motive mit ihren Namen. Als die Eltern zum Abholen kommen, werden sie herum-
geführt. Die Kinder zeigen ihre neuen Schilder. Die Eltern verweilen mit ihren Kin-
dern und kommen über die Namen ihrer Kinder ins Gespräch. Es entsteht eine fami-
lienfestähnliche Atmosphäre in Fluren und Räumen – von denen die Kinder ein
Stück mehr Besitz ergriffen haben. Was jetzt noch fehlt, sind die entsprechenden
Schriftzeichen70 – das werden die Eltern machen.“ (ebd., 116)

Sprache kann auf ganz vielfältige Arten sichtbar gemacht werden. So können
zum Beispiel mehrsprachige Aushänge, mehrsprachiges Personal, gezielte Akti-
vitäten in unterschiedlichen Sprachen, mehrsprachige Lieder, Kassetten, Bücher
etc. deutlich machen, dass in der Einrichtung mehr als eine Sprache gepflegt
wird und dass Kinder dort sind, die diese verschiedenen Sprachen sprechen kön-
nen (vgl. Ansari/Enßlin 2003, 107). Es kommt also darauf an, die Sprachenviel-
falt in einer Art sichtbar zu machen, dass die jeweiligen Kinder stolz darauf sein
können, eine bestimmte Sprache zu sprechen. Es gilt, Wege zu entwickeln, die
diese Kinder als Experten für ihre Sprachen ausweisen und ihnen die Möglich-
keit gibt, etwas zum Kita-Alltag beizutragen, das für alle interessant ist. Wenn
Kinder zum Beispiel die Chance bekommen, anderen Kinder Worte in der je-
weils eigenen Sprache beizubringen oder ein Lied in der Sprache zu singen, das
von den anderen Kindern als schön empfunden wird, so gibt dies dem Kind posi-
tive Rückmeldung. Auch die Eltern können eingebunden werden, wenn es darum
geht, Sprachen sichtbar zu machen:

gehalten und dadurch verfolgt, dass mittels Sprachentwicklungsgeschichten und dazugehörigen


Beobachtungs- und Fördermethoden eine sehr individuelle Sprachförderung stattfindet (vgl.
Ansari/Enßlin 2003, 112f).
70
Die Namen mit zum Beispiel arabischen oder asiatischen Ursprung verwenden andere Schrift
zeichen.

131
„Mütter und andere erstsprachliche Personen können zum Vorlesen, Erzählen, Spie-
len in die Tagesstätte kommen. Kinder können ihre Mütter als Expertin für ihre
Sprache erleben. Mütter erleben die Gruppe und sich selbst in anderer Weise. Erzie-
her/innen und Eltern begegnen sich neu.“ (Ansari/Enßlin 2003, 115)

Die Einbeziehung und Wertschätzung der Erstsprachen ist also auf viele Weisen
denkbar und hat Auswirkungen auf unterschiedliche Bereiche. So werden über
den Zugang zur Sprache Eltern mit in den Kita-Alltag eingebunden und können
partizipieren. Auch sie haben so die Möglichkeit, kompetent aufzutreten und so
wahrgenommen zu werden. All dies trägt dazu bei, dass Kinder ihre Erstsprache
als eine wichtige und anerkannte Komponente ihrer Identität erkennen und sie so
in das positive Selbstbild aufnehmen können. „Vorurteilsbewusste Arbeit in der
Kita muss der Diskriminierung von Sprachenvielfalt Wertschätzung, Anerken-
nung und einen respektvollen Umgang mit Sprache(n) entgegensetzen.“ (ebd.,
107)

Die Bedeutung von Familie

Der kulturelle Hintergrund eines Menschen wird häufig vor allem mit der ‚Na-
tionalkultur‘ in Verbindung gebracht. Es kommt leicht zu Zuschreibungen, wie
deutsche, türkische, amerikanische, spanische oder andere Kinder sind. Diese
Zuschreibungen sind pauschal und verallgemeinernd und werden den Individuen
dahinter nicht gerecht. Nicht alle Deutschen sind pünktlich, nicht alle Italiener
machen gute Pizza usw. Die erste Bezugsgruppe und damit wichtiger Bezugs-
punkt für den Aufbau von Werten, Normen und Weltanschauungen eines Men-
71
schen ist die Familie . Familien haben viele Unterscheidungsmerkmale: die
Anzahl der Kinder, die in der Familie lebenden Erziehungsberechtigten, die
Wohnsituation, die soziale Lage. Darüber hinaus hat jede Familie ihre eigenen
Regeln, Traditionen, Kommunikationsmuster und Wertvorstellungen. All diese
Faktoren lassen sich zusammenfassen als ‚Familienkultur‘.

„Die Familienkultur ist das ganz besondere Mosaik von Wertvorstellungen und
Gepflogenheiten, von Alltagsgestaltung und Sinngebung, von Sprachgebrauch und
Beziehungspflege, das mit dem Begriff ‚Nationalkultur‘ nicht zu fassen ist. Die erste
Bezugsgruppe eines Kindes ist seine Familie. Weitet es seinen Bewegungsradius
aus, kommen weitere Gruppen hinzu: die Kindergartengruppe, die Schulklasse und
Bezugsgruppen wie der Sportverein, die selbst gewählt sind.“ (Wagner 2006, 19f)

71
Kinder, die ohne Eltern aufwachsen müssen, haben in der Regel dennoch von Beginn ihres
Lebens an enge Bezugspersonen, die für sie da sind. Dies können weitere Verwandte sein oder
auch Vormunde o. ä. Sie alle werden an dieser Stelle unter den Begriff Familie gefasst.

132
Die Familienkultur ist identitätsstiftend für ein Kind, es definiert sich über diese
Bezüge. So berichten Kinder zum Beispiel stolz, dass die Mutter Ärztin ist, dass
der Onkel in den USA lebt oder dass am Wochenende gemeinsame Ausflüge in
Freizeitparks geplant sind. Und dann gibt es Kinder, die verschweigen lieber,
dass sie in den Ferien zu den Großeltern in die Türkei fahren oder dass der Vater
arbeitslos ist. Dieses stolze Erzählen auf der einen Seite und das Verschweigen
auf der anderen Seite hat erneut damit zu tun, welche Rückmeldung die Kinder
aus der Umwelt über diese Fakten erhalten. Die Kinder merken, was ‚gut‘ ist und
was ‚nicht gut‘ ist, was anerkannt und bewundert und was abgewertet und ver-
spottet wird. Kinder ziehen daraus Schlüsse, was an ihnen und ihrer Familie
erwünscht oder nicht erwünscht ist und beziehen das in ihr persönliches Selbst-
bild mit ein:

„Je mehr ein Kind erlebt und sieht, dass seine Familie respektiert und geachtet
wird, desto eher kann es ein positives Bild von sich und von sich und der Welt ent-
wickeln. Es stärkt seine Wurzeln und kräftigt seine Flügel, wenn ein Kind im Kin-
dergarten an Vertrautes anknüpfen und von da aus neue Erfahrungen machen kann.
Bildungsprozesse gelingen vor allem dann, wenn ein Kind sich mit all seinen Identi-
tätsaspekten, zu denen auch seine Familie gehört, wohlfühlt.“ (ikcan 2008, 193)

Es gilt also, die Kita zu einem Ort zu machen, in dem alle Kinder ihre Bezugs-
gruppe als anerkannt wahrnehmen und damit die Zugehörigkeit zu dieser Be-
zugsgruppe als positiv in ihr Selbstbild einbauen können. Dies geschieht, wenn
Gelegenheiten geschaffen werden, bei denen Kinder und ihre Familien in der
Kita sichtbar werden. Im Projekt Kinderwelten wurden verschiedene Wege ge-
funden, um Familienkulturen sichtbar zu machen. Die Raumgestaltung wurde
einbezogen und so genannte ‚Familienwände‘ ins Leben gerufen. An diesen
Familienwänden können die Kinder sich selbst und ihre Familie bzw. Aspekte
ihres Familienlebens darstellen. So wurden Haustüren, Zimmer, Familienmitg-
lieder und Lieblingsgegenstände fotografiert und an den Familienwänden für alle
sichtbar aufgehängt. Aber auch Familiensprachen, Familiengeschichten, Werte
der Familie, Gepflogenheiten und Tätigkeiten der Familienmitglieder können
mittels Fotos gezeigt werden (vgl. Wagner 2006, 154). In diesem Zusammen-
hang weist Petra Wagner auf die Intentionalität hin:

„Fotos nicht, weil das hübsch ist und den Kindern gut gefällt, sondern weil diese
starke Verknüpfung zu Identitätsprozessen da ist.“ (PW 7, 23-24)

Kindern werden auf diese Weise Identitätsprozesse ermöglicht. Sie finden sich
an den Wänden und in den Räumen der Kita wieder. Ihre Fotos hängen dort, weil

133
sie Teil der Kita sind. Diese Teilhabe unterstützt das positive Selbstbild der Kin-
der:

„Der Austausch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede kann über die Familien-
wand einen Bezug zu den einzelnen Kindern und ihren Familien herstellen. Er bleibt
an die realen Erfahrungen der Kinder gebunden und bestätigt ihre Verbundenheit mit
der Familie. So werden die Ich-Identität und die Gruppenidentität als Mitglied der
Familiengemeinschaft gestärkt.“ (Wagner/Hahn/Enßlin 2006, 154)

Die Gestaltung der Räume der Kita ist der erste Schritt. Dem folgend tragen
ErzieherInnen dafür Sorge, dass die verschiedenen Familien respektvoll wahr-
genommen werden. Sie achten darauf, dass kein Kind durch die Präsentation der
Familie zur Zielscheibe von Spott und Ausgrenzung wird, sondern dass die Fa-
milienwände und andere Spuren wertschätzend betrachtet werden (vgl. ebd.). Die
Bedeutung davon, dass die Familienkulturen sich in der Kita wiederfinden, fasst
Petra Wagner im Interview wie folgt zusammen:

„Es ist die Aufforderung, dass das Kind in der Kita etwas vorfinden muss, was es
selbst widerspiegelt, um dort mit seinen Bildungsprozessen andocken zu können.
Das ist neu und das verändert auch die Kitas. Also dass man sagt, das Kind muss
etwas von sich hier finden, und dann ist eben die Frage, was das ist oder sein kann.
Das sind Fotos vielleicht von dem Kind, wie es aussieht, aber es muss auch seine
Familie sein. Und vielleicht reichen da nicht Fotos, sondern auch anderes von sei-
ner Familie, also Beiträge, die die Eltern leisten oder Sachen von den Eltern, die da
sind. Es muss sichtbar sein, dass die Fähigkeiten der Kinder anerkannt sind und
Platz finden.“ (PW 6, 38-46)

6.1.3 Bildungsprozesse ermöglichen

Die Mitarbeiterinnen von Kinderwelten betonen in den Interviews deutlich den


Aspekt der Bildung in der Anti-Bias-Arbeit. Dazu sagt Petra Wagner, dass es für
sie eine ganze Weile gedauert hat, bis sie den Zusammenhang von Bildung und
der Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz verstanden hat. Sie sagt über diesen Zu-
sammenhang:

„Es ist diese Art der Gestaltung von Bildungsprozessen, die wir vorurteilsbewusst
nennen. Damit ist gemeint, dass auf die Möglichkeit der Repräsentation aller geach-
tet wird. Dass man sensibel ist für Einseitigkeiten und versucht, diese zu sehen und
dann auch auszugleichen. Es ist das Erkennen, dass so eine Art von pädagogischer
Gestaltung tatsächlich wichtig ist, um bestimmten Kindern überhaupt den Zugang zu
Bildungsprozessen zu geben.“ (PW 12, 20-25)

134
Hierin steckt auch eine Definition von Bildung, die das Kind als aktiv in den
Mittelpunkt des Prozesses rückt. Wagner dazu weiter:

„Wenn ich diese Identifikationsmöglichkeiten nicht bereits Zweijährigen gebe, dann


finden sie nichts für sich. Sie finden nichts, zu dem sie eine vertiefende Verbindung
herstellen können, dann tun sie es nicht, dann kriegen sie oft auch nicht viel mit von
dem, was in der Kita eigentlich geboten ist. Als Außenstehende kommt man rein und
denkt: ‚Wow, gibt es hier viel zu tun!‘ Aber manche Kinder haben gar nichts zu tun,
die finden nicht den Zugang zu dem, was da passiert. Und das ist auch mit die Er-
klärung für solche Phänomene, dass Kinder zwei, drei Jahre in die Kita gehen und
nicht Deutsch sprechen. Es gibt das ja tatsächlich. Oder dass sie wahnsinnig unge-
schickt sind bei der Einschulung. Im Umgang mit den Materialien, mit Stiften und
Scheren zum Beispiel. Es gibt diese Kinder, die jeden Tag in diese Einrichtung
kommen und offenbar nicht das finden, was ihnen hilft, ihre Fähigkeiten zu entfalten
– weil es nicht da ist. Das muss uns alarmieren, denn das ist ein skandalöses Versa-
gen der Bildungseinrichtungen. Und deswegen sprechen wir wirklich ganz bewusst
von „vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung“ und wir beziehen uns auf folgen-
de Unterscheidung: Bildung verstehen wir als Selbstbildung, Bildung ist das, was
die Kinder tun, Erziehung umschreibt die Aufgaben der Fachkräfte, was sie anbie-
ten, was sie gestalten und ermöglichen wollen.“ (PW 12, 28-44)

In der Konsequenz zu diesen Erkenntnissen bezeichnen die Mitarbeiterinnen von


Kinderwelten ihre Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz als ‚vorurteilsbewusste
Bildung und Erziehung‘ (vgl. Kap. 4.1). Den Erläuterungen Wagners ist diesbe-
züglich zu entnehmen, dass es um zwei Dinge geht: erstens um das Ermöglichen
vorurteilsbewusster Erziehung. Hierbei stehen die ErzieherInnen im Vorder-
grund. Das Ziel ist, sie zu befähigen, die Kita, also den Bildungsraum für die
Kinder, in einer vorurteilsbewussten Art und Weise zu gestalten. Das heißt, die
Kita so gestalten, dass alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen,
Hintergründen und Interessen Dinge, Themen und Möglichkeiten zur Anknüp-
fung in der Einrichtung vorfinden. Zweitens geht es um das Ermöglichen vorur-
teilsbewusster Bildung. Mit Blick auf die Kinder zeigt die Kita Materialien,
Anregungen und Aspekte der Vielfalt auf, damit Kinder den Umgang mit Viel-
falt lernen können. Das ist das Bildungsziel:

„Es geht um Bildungsprozesse, bei denen eben auch das ein Gegenstand sein kann,
was die Unterschiede ausmacht. Und das ist spannend: Die Kinder können sich mit
Migration beschäftigen, sie können sich mit den unterschiedlichen Sprachen be-
schäftigen oder mit der Frage, wie es kommt, dass Hautfarben unterschiedlich sind.
Es gibt viele Sachthemen, die da mit einhergehen, die dann unmittelbar der Vertie-
fung in bestimmte Wissensbestände dienen, aber auch dazu dienen, dass ich mehr
über mich selber verstehe. Das ist Bildung.“ (PW 12, 45-13, 2)

135
Im Projekt Kinderwelten hat eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Zu-
sammenhang von Identität und Bildung stattgefunden:

„Bildungs-Benachteiligung beginnt früh: Wenn Kinder im Kindergarten nichts fin-


den, woran sie mit ihren Vorerfahrungen anknüpfen können, bleiben sie passiv. Be-
kommen sie die Botschaft, ihre häusliche Kultur sei „unnormal“ oder nicht wichtig,
so sind sie verunsichert und gehemmt und können ihre Fähigkeiten kaum zeigen. Sie
können vom Bildungsangebot des Kindergartens kaum profitieren. Und bleiben hin-
ter ihren Möglichkeiten, was das Lernen angeht. Werden Kinder bestärkt in dem,
wer sie sind und was sie mitbringen, so werden sie eher aktiv. Erleben sie Respekt
und Zustimmung auch für ihre Familie und für ihre Familienkultur, so können sie
eine Verbindung zwischen sich und der Lernumgebung Kindergarten herstellen und
beteiligen sich selbstsicher am Geschehen. Werden Kinder in ihrer Ich- und Bezugs-
gruppen-Identität gestärkt, so können sie besser lernen!“ (Wagner 2005, 3)

6.1.4 Die Zusammenarbeit mit den Eltern

Handlungsweisen, die die Identitätsbildung von Kindern unterstützen, machen


einen wichtigen Teil der Arbeit zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung
aus. Es gibt aber noch weitere Arbeitsbereiche der vorurteilsbewussten Arbeit in
der Kita. Dazu gehören die Kooperation und Kommunikation mit den Eltern und
die bewusste dialogische Auseinandersetzung mit auftauchenden Konflikten.

Die Kommunikation mit Eltern

Ein Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit im Projekt Kinderwelten ist, die


Kommunikation zwischen den ErzieherInnen und den Eltern – und zwar allen
Eltern – zu verbessern. Die Kommunikation mit den Eltern soll, so steht es im
Kinder- und Jugendhilfegesetz, dem Wohl der Kinder dienen (vgl. BMFSFJ
2006, §22a). In den Dialog mit Eltern zu kommen, gestaltet sich nicht immer
einfach, gerade wenn dem Anspruch nachzukommen ist, die Kommunikation mit
allen Eltern zu fördern. Die reale Situation in den Kitas wird von den ErzieherIn-
nen als unbefriedigend beschrieben, vor allem in Bezug auf den Dialog mit den
Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund. Die ErzieherInnen beklagen
deren mangelnde Beteiligung an dem, was in der Kita passiert und deuten es als
Desinteresse (vgl. ikcan 2003, 78). Häufig erweist sich die Kommunikation als
schwierig. Kommt es dann zufällig zu Gesprächen, zum Beispiel wenn Kinder in
die Einrichtung gebracht oder von dort abgeholt werden, so tauchen sprachliche
Hindernisse oder Missverständnisse auf; die Gesprächsgestaltung ist mühselig.

136
Die Kommunikation mit den Eltern ist kein Bestandteil der ErzieherInnen-
Ausbildung . Dies führt dazu, dass sie die Situationen intuitiv gestalten und so
häufig persönliche Emotionen die Situation und die Deutung der Situation be-
einflussen (vgl. Höhme-Serke/Ansari 2003, 66):

„Ist die Kommunikation mit Eltern unbefriedigend und fühlen sich Erzieher/innen
mit der Situation überfordert und den Aufgaben fachlich nicht gewachsen, so kommt
es insbesondere gegenüber Immigranteneltern leicht zu Schuldzuschreibungen und
Etikettierungen, die weitere Verständigungs-Barrieren bedeuten: Eltern mit Migra-
tionshintergrund werden als fremd wahrgenommen.“ (ebd., 67)

Die Gründe für die Kommunikationsschwierigkeiten werden häufig auf die El-
tern und deren kulturelle Herkunft geschoben, die Einfluss auf das Kommunika-
tionsverhalten hat. Auch Sprachbarrieren sind hier ein schnelles Argument. In
dieser ‚Ethnisierung von Spannungen‘ liegt eine Gefahr: Eine Erklärung für
nicht funktionierende Kommunikation ist gefunden, andere mögliche Gründe
werden nicht weiter gesucht und somit bleibt eine komplexe Ansicht und ein
Gesamtverständnis der Situation aus (vgl. ebd.). Genau dies ist aber notwendig:
Eine exakte Analyse, warum die Kommunikation mit den Eltern sich als schwie-
rig erweist: „Alle möglichen Ursachen für die Nicht-Einbeziehung von Eltern
müssen reflektiert werden, damit es zu Veränderungen kommen kann.“ (Höhme-
Serke/Ansari 2003, 70) Im Projekt Kinderwelten wird daher gemeinsam mit den
ErzieherInnen nach Wegen gesucht, den Blick darauf zu richten, was ErzieherIn-
nen dazu beigetragen können, um einen gelingenden Dialog herzustellen. Erzie-
herInnen müssen sich also auch die Frage stellen, ob ihre Formen der Kommuni-
kation mit den Eltern deren Bedürfnissen angemessen sind (vgl. ebd., 74). Auf-
gabe der Erzieherinnen ist zu überlegen und herauszufinden, welche Bedürfnisse
die Eltern haben. Die Kita soll zu einer Institution werden, die für Eltern offen ist
– und zwar für alle Eltern. Dabei kommt es darauf an zu zeigen, dass genauso
wie alle Kinder auch alle Eltern wichtig sind. Es geht darum, Wege der Kommu-
nikation zu finden, die den Eltern das Gefühl geben, mitreden zu können und auf
Menschen zu treffen, die hören wollen, was sie zu sagen haben. Es geht auch
darum, mit Eltern ins Gespräch zu kommen und so ihre Ansprüche an die Kita,
ihre Hoffnungen, Pläne und auch ihre Sorgen in Erfahrung zu bringen. Schließ-
lich geht es darum, etwas über die Lebenswelten der Kinder zu erfahren. Es liegt
in der Verantwortung der ErzieherInnen, dafür Raum und Gelegenheiten zu
schaffen. „Eltern Raum zu geben heißt: Interesse an ihren Erfahrungen und An-
sichten zeigen; Zusammenkünfte organisieren, in denen sie zu Wort kommen;
Fragen aufwerfen, zu denen alle etwas sagen können.“ (Höhme-Serke/Ansari
2003, 69) Gerade der letztgenannte Punkt, also Fragen zu stellen, zu denen jedeR
etwas sagen kann, bedarf gewissenhafter und reflektierender Vorbereitung. Hier

137
können Fragen über die Kinder in den Vordergrund gerückt werden. Alle Eltern
können diese beantworten, zum Beispiel nach der Bedeutung der Namen, der
Lieblingsbeschäftigung der Kinder zu Hause und Fragen zu weiteren Aspekten
der Lebenswelt der Kinder (vgl. ikcan 2008, 195). Kommunikation mit den
Eltern im Sinne der Anti-Bias-Arbeit legt also Wert darauf, dass alle Eltern ge-
hört werden und sich einbringen können:

„Die Initiative für eine gute Zusammenarbeit geht von den Erzieherinnen und Erzie-
hern aus: Sie warten nicht auf die Eltern, sondern sprechen sie an, um sie für die
vorurteilsbewusste Arbeit zu gewinnen. Sie warten nicht darauf, dass Eltern ihnen
mit Respekt begegnen, sondern sie machen von sich aus Respekt für die unter-
schiedlichen Familienkulturen deutlich. Das ist eine hohe und bisher nicht selbstver-
ständliche Anforderung.“ (Höhme-Serke/Ansari 2003, 64)

Obwohl sich zu Beginn der Arbeit zur vorurteilsbewussten Bildung und Erzie-
hung viele ErzieherInnen skeptisch zeigten, berichteten viele von ihnen von
positiven Effekten der intensivierten Elternarbeit:

„Die Erzieherinnen erlebten den Austausch mit Eltern generell als intensiver und po-
sitiver (z. B. Anerkennung, dass zurückhaltende Kinder stärker beachtet würden
oder dass sie die für sie selbst neuartige Auseinandersetzung mit dem eigenen Kind
als bereichernd empfinden).“ (Gomolla 2007, 76)

Dialog – Familienkulturen achten in Konfliktsituationen

In den Dialog mit Eltern zu treten und dabei Familienkulturen zu achten, wenn
sie mit den in der Einrichtung herrschenden Wertorientierungen übereinstimmen,
ist bereits eine komplexe Anforderung, wenn die Kommunikation systematisch
Teil der pädagogischen Arbeit sein soll. Umso schwieriger wird es, wenn es zu
Konflikten aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen kommt: Anatomisch
korrekte Puppen, Jungen in Mädchenkleidung, getrennter Mittagsschlaf72 sind
nur einige Beispiel aus den Berichten der Kinderwelten-Mitarbeiterinnen. Die
Lösungen für solche Konflikte liegen nicht klar auf der Hand. Setzen ErzieherIn-
nen die in der Kita herrschende und bisher vielleicht nicht hinterfragte Norm
durch, so löst dies nicht den Konflikt. Hinzu kommt, dass die Familienkultur
derer, die das Vorgehen der ErzieherInnen nicht gutheißen, nicht geachtet wird.
Einfach nachzugeben und zum Beispiel ein Kind davon auszuschließen, im

72
Diese Wertkonflikte führen sich in der Schule fort: kein Schwimmunterricht für einige Mäd
chen, kein Sexualkundeunterricht,…

138
Sommer im Planschbecken zu spielen, lässt sich eventuell nicht mit den Zielen,
Werten und Normen in der Einrichtung vereinbaren. Hier gibt es im Rahmen der
vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung nur eine Möglichkeit: Lösungswege
müssen im Dialog ausgehandelt werden.

„Im Dialog geht es immer darum, von- und miteinander zu lernen. Im Mittelpunkt
steht nicht, verschiedene Vorstellungen anzugleichen, Unterschiede zu verwischen,
sondern neue gemeinsame Ziele auszuhandeln. Die praktische Lösung ist dabei nicht
das Wesentliche, sondern der Prozess der Annäherung, der Verständigung und des
Aushandelns. Es geht nicht darum, dass die eine oder die andere Seite Recht be-
kommt, sondern darum, etwas Drittes, Neues zu finden, das für beide Seiten an-
nehmbar ist. Diese dialogische Lösung gilt allerdings nur für den Augenblick und
kann immer wieder neu verhandelt werden.“ (ikcan 2008, 198)

Die Normen und Werte einer Einrichtung werden im Rahmen der vorurteilsbe-
wussten Bildung und Erziehung zwar nicht zur Abstimmung, aber zur Diskussi-
on freigegeben. Wenn ErzieherInnen vorurteilsbewusst erziehen wollen, so heißt
das auch, die eigenen Normen und Werte in Frage zu stellen und genau zu über-
legen, welche dieser Wertvorstellungen aufrecht erhalten werden sollen, viel-
leicht sogar müssen, und welche lediglich das Produkt unreflektierten, routinier-
ten Handelns sind. ikcan weist darauf hin, dass die Lösungen immer wieder neu
zu verhandeln sind. Denn es ist gut möglich, dass für ein und dasselbe Problem
die eine Familie mit einem ausgehandelten Kompromiss einverstanden ist, eine
andere Familie diesen aber nicht gutheißt. Dann gilt es, neu zu verhandeln.
Dass dieses Aushandeln nicht immer einfach ist, berichtet auch Petra Wagner:

„Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie man diese Stränge zu-
sammen bekommt: Die Tatsache von Vielfalt einerseits und die Tatsache, dass wir
uns gegen Diskriminierung positionieren müssen andererseits. Da gibt es keine ein-
fache Antwort, sondern es ist eine Spannung und es muss tatsächlich von Fall zu
Fall geguckt werden, wie man sie austrägt. Das ist ziemlich anspruchsvoll und
heißt, die Spannung zuzulassen. Wenn zum Beispiel Eltern sagen: Meine Tochter
darf auf gar keinen Fall dies und jenes tun, dann entsteht so eine Art Spannung.
Dann muss ich mich fragen, was bewegt mich jetzt in meiner Reaktion? Bin ich viel-
leicht festgefahren und kann hier eine bestimmte Vielfalt nicht respektieren, weil ich
borniert bin? Oder ist hier wirklich etwas verletzt? Aber was ist es dann, welches
Recht ist verletzt? Und dann vor allem in den Dialog zu gehen, das macht es auch
noch mal anspruchsvoll. Also für sich zu verstehen, was macht die Spannung aus,
wo positioniere ich mich und wie finde ich einen Weg in den Dialog.“ (PW 9, 12-24)

Die Anforderungen beziehen sich also auf zweierlei: Erstens sind ErzieherInnen
herausgefordert, sich über ihre eigene Position, ihre Haltung und deren Begrün-

139
dung klar zu werden. Zweitens kommt es dann darauf an, dass sie Wege finden,
den Dialog mit den Eltern so zu gestalten, dass Lösungen gefunden werden kön-
nen, die den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden, die Familienkulturen
anerkennen und zudem das pädagogische Ziel der ErzieherInnen damit vereinen.

6.1.5 Der Blick auf die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse in


der Kita

Die Kita ist eine institutionelle Einrichtung. Sie ist eine Einrichtung, die von
Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit unterschiedlichen kultu-
rellen und sozialen Hintergründen besucht wird. In der Arbeit zur vorurteilsbe-
wussten Bildung und Erziehung wird die Kita gesehen als ein Ort, an dem ge-
sellschaftliche Strukturen reproduziert werden. Dies sind Strukturen von Teilha-
be und Ausschluss, von Macht und Unterdrückung. Macht und Teilhabe haben
die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Sie formen die Dominanzkultur.
Ausgeschlossen und damit unterdrückt werden die Menschen, die nicht zur
Mehrheitsgesellschaft gehören. Ein Blick auf die Personalzusammensetzung in
Einrichtungen gibt erste Hinweise darauf, wie die Reproduktion von Strukturen
in den Einrichtungen wirksam wird:

„Wer hat in Kindergärten und Schulen welche Positionen inne? Üblich ist folgende
‚ethnische Zuordnung‘: Leitung und Fachkräfte sind in der Regel Deutsche. Kräfte
für besondere Förderaufgaben, oft als vorübergehend angelegt, und die Reinigungs-
kräfte sind in der Regel Immigrantinnen.“ (Wagner/Hahn/Enßlin 2006, 18)

Diese personelle Situation wurde auch in den Kitas vorgefunden, die am Projekt
Kinderwelten beteiligt waren. Zwar ändern sich diese Personalzusammensetzun-
gen allmählich und mehr und mehr Menschen mit Migrationshintergrund durch-
laufen Ausbildungsgänge, die in eine Kita münden, dennoch ist es nach wie vor
so, dass die Kita gestaltet wird von Menschen, die der Mehrheitsgesellschaft
angehören73 und die die gesellschaftlichen Strukturen reproduzieren.

„Der Kindergarten als eine gesellschaftliche Institution repräsentiert Normen und


Werte der Dominanzkultur, die ihren Ursprung in der deutschen bürgerlichen Mit-
telschicht haben. Als Akteure innerhalb dieser Institution repräsentieren die Erziehe-
rinnen und Erzieher diese Normen und Werte.“ (ikcan 2008, 187)

73
Nicht zuletzt deswegen, weil nach wie vor Angehörige der Mehrheitsgesellschaft Positionen
auf Leitungs- und Trägerebene innehaben.

140
Die Reproduktion der gesellschaftlichen Strukturen findet sich noch an anderen
Stellen in der Kita wieder. So schlägt sie sich in der Partizipation der Eltern
nieder. Wie beschrieben, gestaltet sich vor allem der Dialog mit den Eltern von
Kindern mit Migrationshintergrund als schwierig. Als Grund dafür wird bei
Kinderwelten unter anderem folgender gesehen:

„Einige [Migranten-]Eltern haben negative Erfahrungen mit deutschen Institutionen


gemacht und sind verunsichert, was sie erwarten und wünschen können. Aus Angst
und Unsicherheit werden sie kaum ihre Bedürfnisse, Anliegen und ihre Bereitschaft
zur Mitwirkung zeigen. Bleiben sie zurückhaltend und still, so werden sie immer
weniger wahrgenommen und nehmen keinen Einfluss auf das Geschehen.“ (ikcan
2008, 189)

Migranteneltern haben also bereits einen sozialen Lernprozess durchschritten,


der ihnen gezeigt hat, dass ihre Partizipation nicht erwünscht bzw. nicht gefragt
ist. Ganz anders sieht dagegen das Verhalten der Mittelschichtseltern und de-
mentsprechend die Einstellung der ErzieherInnen zu diesen, also zu den Eltern
der Kinder der Mehrheitsgesellschaft aus: „Eltern der Mittelschicht [...] formulie-
ren Ansprüche an die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder [...]. Erzieher/innen
müssen ihnen gegenüber offen legen, was sie tun und sie von der Qualität ihrer
Arbeit überzeugen.“ (Höhme-Serke/Ansari 2003, 68) Dieses Verhalten der Eltern
hat auch Einfluss auf die ErzieherInnen. Sie wissen, was die Kinder der
‚deutschstämmigen Mittelschicht‘ wollen und stehen hier – dadurch dass die
Eltern nachfragen, sich beschweren und allgemein präsenter sind – unter einer
Art Kontrolle. Eine logische Folge daraus ist, verstärkt auf die Bedürfnisse dieser
Kinder bzw. ihrer Eltern einzugehen und den Alltag in der Kita ihren Anforde-
rungen entsprechend zu gestalten. Wenn sich die Eltern der Migrantenkinder
zurückhaltend verhalten und nichts einfordern, so ermöglicht dies den Erziehe-
rInnen, diese Kinder nicht in den Fokus ihrer Arbeit zu stellen. Migrantenkinder
haben so weniger Teilhabemöglichkeiten, da diese von ihren Eltern nicht einge-
fordert werden.

„Damit sind auch in der Kita die gesellschaftlich vorhandenen und allgemein akzep-
tierten Machtverhältnisse hergestellt. Sie bestehen insbesondere darin, dass Bedürf-
nisse und Anliegen eines bestimmten Teils der Kinder und Familien nicht wahrge-
nommen werden. [...] Die Ausgrenzung solcher Familien erfolgt oft subtil oder
unabsichtlich, ist häufig nicht als direkter Ausschluss erkennbar. Aber die Familien
erkennen an der Personalzusammensetzung, an den Mahlzeiten, an den Regeln, am
Spielmaterial der Kita, dass ihre Familienkultur hier keinen Platz hat. [...] Ohne eine
deutliche Einladung seitens der Kita, sich zu beteiligen, werden sich diese Familien
kaum zu Wort melden.“ (ebd.)

141
Die Folge daraus ist, dass die Bedürfnisse dieser Kinder nicht so ohne Weiteres
gesehen oder gehört werden. Es liegt in den Händen der ErzieherInnen, hier
Wege zu finden und Methoden zu entwickeln, dieser Reproduktion gesellschaft-
licher Schieflagen entgegenzuwirken, alle Familien zu hören, über diesen Weg
alle Kinder sichtbar zu machen und ihre Bedürfnisse zu erfüllen.

„Wenn die Familienkulturen in der Kita nicht einbezogen werden, werden die Er-
zieherInnen den Kindern nicht gerecht, die damit rechnen müssen, dass möglicher-
weise ihre Familienkonstellation als nicht normal gilt, weil sie irgendwie abweicht.
Und diese Kinder trauen sich dann auch nicht oder fühlen sich nicht gut dabei, ihre
Familienkultur einzubringen, sie werden auch nicht dazu ermutigt. Aber das ist mir
sehr klar geworden, dass das gerade für Kinder aus marginalisierten Familien umso
wichtiger ist. Damit sich nicht eine Art Doppelung ergibt, also: Sie sind gesell-
schaftlich marginalisiert und in der Kita siehst du sie auch nicht. In der Kita wird
die Kultur der Einrichtung von ganz anderen kulturellen Kapitalen bestimmt und
nicht von ihnen – das ist ja wie eine Art Vorbereitung auf Marginalität, mit bestem
Wissen und Gewissen.“ (PW 7, 10-18)

Diese Vorbereitung auf Marginalität zu vermeiden und – im Gegenteil – die Kita


zu einem Ort zu machen, an dem gesellschaftliche Verhältnisse nicht reprodu-
ziert werden, sondern wo Formen des Miteinanders aktiv gestaltet und praktiziert
werden, ist ein Anliegen in der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung.

6.1.6 Aktiv angehen gegen Diskriminierung in der Kita

Jedes Kind fühlt sich wertgeschätzt und anerkannt – das zu gewährleisten wird in
der vorurteilsbewussten Arbeit als Auftrag an die ErzieherInnen gesehen. Dazu
gehört, dass die ErzieherInnen die Kinder schützen vor Ausgrenzung, Spott und
Erniedrigung. Ein formuliertes Ziel der vorurteilsbewussten Arbeit ist in diesem
Zusammenhang, mit Kindern zu den Themen Diskriminierung und Ausgrenzung
zu arbeiten, sie zum einen für auftretende Diskriminierungen zu sensibilisieren,
so dass sie diese erkennen können und sie zum anderen dazu ermuntern und
darin unterstützen, gegen unfaires und ausgrenzendes Verhalten aktiv zu werden.

„Viele pädagogische Fachkräfte bezweifeln, dass es Sinn macht, mit Kindern zu die-
sem Thema [Diskriminierung] zu arbeiten. Sie befürchten, Kinder vorzeitig mit die-
sem schwierigen Thema zu konfrontieren und geben zu bedenken, dass damit Prob-
leme erst geschaffen würden. [...], dass Kinder im Kindergartenalter Diskriminie-
rung noch nicht bewusst erleben und man ihnen eher schadet als nutzt, wenn man
Diskriminierung zum Thema macht.“ (Hahn/Höhme-Serke 2003, 91)

142
Auch Petra Wagner schildert dies:

„Die ErzieherInnen sagen: ‚Diskriminierung gibt es nicht in unserer Kita, außen


schon, aber nicht in unserer Kita. Lasst doch die kleinen Kinder in Ruhe, lasst sie
mal sechs werden und in Ruhe spielen, und dann kommt schon die harte Welt.“ (PW
7, 31-33)

Dem folgend formuliert Wagner den pädagogischen Anspruch in diesem Zu-


sammenhang:

„Es geht darum, Kita zu verstehen als eine kulturelle Sphäre und eben nicht als
Schonraum. Du lässt die Kinder mit bestimmten Erfahrungen jämmerlich alleine,
wenn du sagst, hier ist alles fein, niedlich und draußen kommt dann die schlimme
Welt. Das ist auch neu, also die Kita als eine kulturelle Sphäre zu erkennen, die ge-
sellschaftliche Dominanzverhältnisse abbildet und gleichzeitig auch mit herstellt, in
Prozessen des Positionierens und des Kämpfens um Einflussnahme, an denen alle
beteiligt sind.“ (PW 7, 29-38)

ErzieherInnen tragen dazu bei, wenn sie in Situationen, in denen Kinder ausgeg-
renzt, gehänselt oder diskriminiert werden, nicht eingreifen. Es kommt immer
wieder vor, dass Kinder von Spielen ausgeschlossen werden. Die Begründungen
dazu spiegeln das wieder, was Kinder bisher erfahren und erlebt haben: So dür-
fen Mädchen nicht mit auf dem Piratenschiff spielen, andere Kinder werden
aufgrund körperlicher Eingeschränktheiten außen vorgelassen, Kinder werden
gehänselt und als ‚komisch‘ bezeichnet, weil sie nicht in das Bild passen, dass
die anderen Kinder von der Welt kennen (vgl. Preissing/Wagner 2003, Einband).
Häufig spielen ErzieherInnen diese Situationen herunter, übersehen sie im Kita-
Alltag oder erachten es sogar als pädagogisch wertvoll, wenn sie die Kinder
solche Konflikte alleine austragen lassen. Im Projekt Kinderwelten wird hierzu
klar Position bezogen. Petra Wagner sagt dazu, dass man die Kinder damit
‚jämmerlich‘ alleine lasse. Man zeige damit außerdem, dass das ausgrenzende
Verhalten in Ordnung sei. In der vorurteilsbewussten Pädagogik wird großer
Wert darauf gelegt, dass ErzieherInnen ausgrenzende Situationen erkennen und
eingreifen. So kann es zum Beispiel passieren, dass ein Junge ausgelacht wird,
weil er gerne tanzt und das doch eigentlich ‚Mädchensache‘ ist. Hier wird deut-
lich, dass Jungen, die gerne tanzen, bisher in der Lebenswelt der anderen Kinder
nicht aufgetaucht sind oder, wenn sie aufgetaucht sind, sie ausgrenzend behan-
74
delt wurden . Eine solche Situation kann von den ErzieherInnen aufgegriffen

74
Dieses Beispiel wurde dem Film „Mit Kindern ins Gespräch kommen“ entnommen (vgl. Weck
2008)

143
werden, sie muss – so der Anspruch der vorurteilsbewussten Bildung und Erzie-
hung – sogar aufgegriffen werden, um den Jungen, der gerne tanzt, zu schützen.
Sie muss aber auch aufgegriffen und angesprochen werden, um den anderen
Kindern eine intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik zu ermöglichen.
Die Aufgabe hier besteht darin, „Kindern die Erfahrung ermöglichen [ ], dass
Besonderheiten und Unterschiede geschätzt und nicht in einen hierarchischen
Rahmen von Normalitätsvorstellungen eingeordnet werden.“ (Hahn/Höhme-
Serke 2003, 90) Eine solche Situation kann also als Gesprächsanlass genutzt
werden und einige Fragen können geklärt werden, so zum Beispiel: Warum ist
Tanzen Mädchensache? Gibt es Tänze, die auch für Jungs in Ordnung sind?
Warum sind sie das? Warum sind andere Tanzformen nicht okay? Sind die
Gründe verständlich? Über den Zugang zur Thematik durch solche Fragen wer-
den Möglichkeiten geschaffen, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und so
mit Informationen anzureichern, dass die Situation am Ende nicht mehr als ‚un-
normal‘ gesehen wird, sondern lediglich als etwas, das die Kinder vorher noch
nicht kannten. Die Kinder bekommen so die Möglichkeit, ihren Horizont zu
erweitern: „Auf dieser Grundlage können Kinder allmählich ein Bewusstsein
darüber erlangen, dass es auch andere kulturelle Daseinsformen als die eigene
gibt.“ (Wagner/Hahn/Enßlin 2006, 154) Die Familienwände zum Beispiel bieten
zahllose Möglichkeiten, über ‚Normales‘, Bekanntes, Neues und Ungewohntes
zu sprechen. Dabei lernen die Kinder nicht nur andere Daseinsformen kennen,
sondern sie üben auch den respektvollen Umgang damit:

„Werden Familien [und ihre verschiedenen Kulturen] sichtbar, machen Kinder Er-
fahrungen mit Vielfalt. Sie lernen Menschen kennen, die sich im Aussehen, im Ver-
halten, in der Sprache oder den Gewohnheiten von ihnen unterscheiden. Sie lernen,
sich mit Unterschieden wohl zu fühlen und sie zu respektieren.“ (ikcan 2008, 193)

Indem ErzieherInnen Position beziehen und bei Diskriminierung und unfairem


Verhalten eingreifen, schützen sie zum einen die Kinder und ihr Selbstwertge-
fühl, zum anderen ermöglichen sie auf diese Weise auch allen Kindern, den posi-
tiven, wertschätzenden Umgang mit Unterschieden.

6.1.7 Empathie vermitteln durch Persona Dolls

Die thematischen Bezüge zu Diskriminierung auf der einen Seite und Maßnah-
men zur Inklusion auf der anderen Seite haben im Kita-Alltag einen realen Be-
zug und resultieren häufig aus Situationen, die in der Kita tatsächlich stattgefun-
den haben. Bei der Thematisierung ist eins zu bedenken: Die Kinder, die an

144
diesen Situationen beteiligt waren, werden durch das Aufarbeiten selbiger in den
Mittelpunkt der Gespräche gerückt. Dies kann für Kinder unangenehm sein –
sowohl für die, die unfair behandelt wurden, als auch für diejenigen, die unfair
behandelt haben. In der vorurteilsbewussten Arbeit wird daher verstärkt mit
einem besonderen Hilfsmittel gearbeitet: den Persona Dolls (vgl. Enßlin/Henkys
2003, 119). Die Persona Dolls sind bereits in Kapitel 5.1.2 vorgestellt worden.
An dieser Stelle wird ihr Einsatz erneut dargestellt, da die Aussagen dazu, die
diesmal von den Projektmitarbeiterinnen von Kinderwelten stammen, einen
komplexeren Einblick in die Arbeit mit Persona Dolls in Deutschland geben.

„Persona Dolls sind Puppen mit der Biographie eines Kindes, die äußere Merkmale
und Erfahrungen mit den Kindern einer Kindergruppe teilen und somit zur Identifi-
kation einladen. Sie besuchen die Gruppe und erzählen Geschichten von sich selbst,
schöne und nicht so schöne. Sie erzählen auf eine Weise, die Kinder mitfühlen lässt
und ihr Nachdenken über Problemlösungen ermutigt.“ (ebd., 118)

Persona Dolls werden von den ErzieherInnen eigenständig hergestellt. Auf diese
Weise können einzelne Eigenschaften einiger Kinder aufgenommen werden und
damit den Kindern das Gefühl vermitteln, selbst ‚so oder so ähnlich‘ zu sein. Zu
kaufende Puppen spiegeln oft ein optisches Idealbild wieder, sie sollen vor allem
schön sein und Kinder zum Spiel in einer ‚schönen, idealen‘ Welt einladen. Da-
mit erfüllen sie nicht den Zweck der Persona Dolls. Denn diese „spiegeln die
reale Vielfalt der Kinder in der Gruppe wider und bieten persönliche Erfahrun-
gen über die Grenzen der Gruppe hinaus“ (Enßlin/Henkys 2003, 120). Die Pup-
pen werden mit einer Biographie ausgestattet, die Bezug nimmt auf die Biogra-
phien der Kinder und die ebenfalls Merkmale von Vielfalt in sich trägt, ohne
aber dabei Klischees und Stereotype zu erfüllen.

„Als Informationsquelle für die Biographie der Persona Dolls nutzen die Erzie-
her/innen in erster Linie die Familien der Kinder. Von ihnen bekommen sie Infor-
mationen über Familienstrukturen, Tätigkeiten von Eltern, Gebräuche, Traditionen
und Gewohnheiten, Familiensprachen und den Umgang damit. Vorlieben und Ab-
neigungen von Kindern fließen in die Persönlichkeiten der Puppen ein.“ (ebd., 121)

In der Arbeit mit Persona Dolls spielt die Phantasie der Kinder eine tragende
Rolle. Die Jungen und Mädchen sind in der Kita in einem Alter, in dem sie sich,
auch wenn sie die Puppe vor sich sehen, der Illusion hingeben können, sie sei ein
echter Mensch. Die Kinder identifizieren sich mit der Puppe, trösten sie, wenn
sie berichtet, dass es ihr nicht gut geht, sie schenken ihr Dinge, malen Bilder, auf
denen sie zu sehen ist, sie gehört zum Freundeskreis der Kinder usw. Für die
ErzieherInnen ist die Persona Doll ein Medium, über das zum einen Konfliktfel-

145
der angesprochen werden, zum anderen aber auch ganz unterschiedliche Themen
von Vielfalt thematisiert werden können:

„Die Persona Doll berichtet aus einer Perspektive, dem Erleben und Empfinden ei-
nes Kindes. Sie tut das, indem sie berichtet, was sich ereignet hat, welche Gedanken
sie sich macht, was sie freut, ärgert, was ihr Sorgen macht, was sie nicht versteht.
[...] Solche Geschichten bleiben nicht abstrakt, sondern die Persona Doll hat sie er-
lebt, sie berichtet davon. Sie sind für Kinder zumutbar. Die Kinder können mit der
Persona Doll zusammen daran arbeiten. Sie reden nicht über etwas, sondern mit je-
manden.“ (Enßlin/Henkys 2003, 120)

Mittels der Puppe können also Themen angesprochen werden, die unfaires Ver-
halten, Diskriminierungen oder ‚merkwürdige‘ Erfahrungen widerspiegeln. Die
Kinder können sich gut mit der Persona Doll identifizieren:

„Geradezu magisch fühlen sich die Kinder von der Persona Doll angezogen und
mögen sie. Sie stellen ihr Fragen, wollen sie anfassen, sie halten und liebkosen. Im-
mer wieder vergewissern sie sich ‚Ist Laura [Name der Persona Doll] ein echtes
Kind? Oder ist sie eine Puppe? Holt ihre Mama sie ab? Oder wohnt sie doch im
Schrank von Sylvia, ihrer Erzieherin?‘ Diese kindliche Faszination ist selbst bei Er-
wachsenen noch zu spüren, obwohl die Erzieherin sich mit den Kindern verständigt:
‚Es ist ein Spiel. Wir tun nur so, als ob Laura ein echtes Kind wäre‘. Einmal bleibt
eine Mütze auf der Garderobe liegen. Ein Kind sagt, es könnte die Mütze von Mo-
hammed sein, einer Persona Doll. Vielleicht hat Mohammed sie liegen lassen.“
(Wagner/Hahn/Enßlin 2006, 150)

Persona Dolls sind ein im Projekt Kinderwelten erfolgreich eingesetztes Me-


dium, um Themen der Vielfalt mit den Kindern zu besprechen, Lösungen für
schwierige Situationen zu finden und damit dazu beizutragen, die Ziele der vor-
urteilsbewussten Arbeit umzusetzen. Petra Wagner fasst zusammen, welchen
Auftrag sie für die vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung nach dem Anti-
Bias-Ansatz im Kontext vorschulischer Bildung sieht:

„[Im aktuellen Auftrag an Kindergärten] geht [es] darum, Gleichheit und Differenz
als Thema im Kindergarten anzuerkennen und das zusammenzuholen, was für eine
aktive Thematisierung nötig ist: mehr Wissen darüber, wie Kinder Unterschiede
wahrnehmen und wie sie moralische Überzeugungen aufbauen; Begriffe für das
Verständnis institutionalisierter Formen von Dominanz und Unterdrückung und für
die eigene Eingebundenheit in Machtverhältnisse; Prinzipien für die pädagogische
Praxis und Kriterien, um die Wirksamkeit von pädagogischen Strategien einzuschät-
zen; den fachlichen Diskurs, um die Wahrnehmung von Diskriminierung zu schär-
fen und Rechtfertigungsversuche aufzudecken. Der Kindergarten in Deutschland hat
eine lange Geschichte – auch des Umgangs mit Gleichheit und Differenz. Neue Zu-

146
gänge sind gefragt. Zum Beispiel eine Strategie der Anti-Diskriminierung. Im An-
satz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung ist sie bereits angekommen.“ (Wag-
ner 2008, 31)

6.1.8 Kontextualisierung der Erkenntnisse

Ein zentraler Aspekt der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung nach dem
Anti-Bias-Ansatz ist das Aufdecken gesellschaftlicher Strukturen von Dominanz
und Unterdrückung in Kitas. Ausgangspunkt sind Überlegungen dazu, was Kin-
der brauchen, um ein positives Selbstbild zu entwickeln und damit zu Menschen
heranzureifen, die sich Bildung eigenständig und selbstbewusst aneignen kön-
nen: Sie benötigen ein Umfeld, das ihrer Person und damit dem, was sie ausma-
chen, wertschätzend gegenübertritt. Durch die bewusste Einbeziehung der Her-
kunftssprachen und der Bezugsgruppen der Kinder wird ihnen gezeigt, dass sie
mit dem, was sie an Hintergrund, Erfahrung und Kompetenzen mitbringen, in
der Kita willkommen und anerkannt sind. Sie benötigen außerdem ein Umfeld,
das ihnen die Erfahrung mit Vielfalt ermöglicht, so dass sie zum einen den Um-
gang mit Aspekten von Vielfalt lernen, aber auch, damit sie darin unterstützt
werden, ihr positives Selbstbild unabhängig von Dominanz- oder Unterlegen-
heitsgefühlen gegenüber den anderen Kindern zu entwickeln. Um eine solche
Umgebung zu schaffen, sind die Anforderungen an ErzieherInnen komplex:
Abgesehen von den Handlungskompetenzen im Umgang mit Kindern und mit
Eltern kommt es für sie darauf an, sich zum einen thematisch und inhaltlich in-
tensiv mit der Identitätsentwicklung bei Kindern auseinanderzusetzen; die Zu-
sammenhänge von gesellschaftlichen Macht- und Unterdrückungsstrukturen zu
erkennen und auf die zu Kita übertragen; darauf aufbauend Methoden zu entwi-
ckeln, die eine Reproduktion solcher Strukturen in der Einrichtung verhindern
und nicht zuletzt einen offenen Blick zu haben für alle Aspekte von Vielfalt, die
in der Kita auftauchen können und thematisiert werden sollten.
Mechtild Gomolla zieht in ihrer Evaluation der Arbeit des Projekts Kinder-
welten ein positives Fazit: Das entwickelte Konzept trifft auf Bedarf. „[Es] wur-
de von den Befragten im Vergleich zu früheren Konzepten der Interkulturellen
Pädagogik oder Interkulturellen Öffnung als innovativ und ‚weiterführend‘ be-
wertet.“ (Gomolla 2007, 77) ErzieherInnen, LeiterInnen und Träger-
VertreterInnen berichten von Veränderungen:

„Die Wirksamkeit zeigte sich in vielen Kitas darin, dass es den Projekt-Delegierten
gelungen war, Motivation zu wecken, Kooperationsstrukturen und eine Kommuni-
kation über Projektinhalte zu etablieren und Praxisveränderungen in drei zentralen
Handlungsfeldern (Kita als Lernumwelt, Interaktion in der Kita, Zusammenarbeit

147
mit Eltern) anzustoßen. In allen Kitas haben sich rasch erste Erfolge eingestellt, die
auch für Kinder und Eltern deutlich bemerkbar waren. In einigen Einrichtungen
zeichneten sich ein beachtlicher Sichtwechsel und eine Kompetenzerweiterung der
Fachkräfte im Umgang mit Aspekten der Diversität ab.“ (ebd.)

Gomolla sieht die Gründe für den Mehrwert der Arbeit zur vorurteilsbewussten
Bildung und Erziehung auf Seiten der Kitas neben dem überzeugenden Konzept
vor allem in der gelungenen Implementationsstrategie. Diese ist Thema des fol-
genden Kapitels.

6.1.9 Implementationsmaßnahmen – und ihre Gelingensbedingungen

Kinderwelten ist das einzige Projekt in Deutschland, das seit mehreren Jahren
kontinuierlich an der Implementation des Anti-Bias-Ansatzes in die Arbeit in
Kitas und damit in Bildungseinrichtungen arbeitet. In den Interviews haben die
MitarbeiterInnen auch über ihre Erfahrungen mit den durchgeführten Implemen-
tationsmaßnahmen gesprochen. Diese Erfahrungen werden im Folgenden darges-
tellt. Mechtild Gomolla hat in ihrer projektbegleitenden Evaluationsstudie auch
den Aspekt der Implementation berücksichtigt und die ErzieherInnen, LeiterIn-
nen und Träger-VertreterInnen nach ihrer Einschätzung gefragt. Welche Erfolge
die Implementationsmaßnahmen zeigen, fasst sie wie folgt zusammen:

„Vier wesentliche Gelingensbedingungen ließen sich ausmachen: eine ausreichend


lange Vorlaufphase, in der in den Teams eine gemeinsame Orientierungsgrundlage
zum Projekt erarbeitet wurde; die Involvierung und spezielle Qualifizierung der Ki-
ta-Leitung; das Vorhandensein mehrerer Delegierter; das vorgegebene strukturierte
Programm mit Elementen für die ganzen Teams.“ (Gomolla 2007, 70)

In den Interviews wurde vor allem auf die Themen Zeitfaktor, Änderung von
Routinen, den Umgang mit Widerständen und Kooperationen eingegangen. Die-
se werden hier näher ausgeführt.

Lange Vorlaufphase

Bevor im Projekt Kinderwelten die Arbeit mit den Kitas anfing, also die tatsäch-
liche Umsetzung des Anti-Bias-Ansatzes in die Kita-Praxis, haben sich zunächst
die ProjektmitarbeiterInnen Zeit genommen, zu verstehen, worum es in der Ar-
beit geht:

148
„Wir haben 1998 Louise Derman-Sparks kennen gelernt und wir haben 2000 mit
dem Projekt angefangen. In der Zwischenzeit haben wir wirklich glatte zwei Jahre
lang das Projekt entwickelt. Und das war die Zeit, sich schlau zu machen und zu be-
greifen, worum es geht. Das war ziemlich schwierig, weil der Ansatz noch nicht an-
geeignet war.“ (PW 8, 32-38)

Wagner betont hier, dass die Beschäftigung mit dem Ansatz über so lange Zeit
notwendig war, um ihn zu verstehen, um ihn sich ‚anzueignen‘. Erst als der An-
satz verstanden und verinnerlicht war, kam der nächste Schritt, die inhaltliche
Planung des Projektvorhabens:

„Wir hatten zwischendurch ein halbes Jahr, in dem wir die Situation analysiert ha-
ben. Und dann haben wir uns Zeit genommen für die Entscheidungen, was wir ver-
ändern wollen. Wir haben Felder herausgearbeitet, in denen wir was machen wol-
len. Danach hatten wir Zeit, die zu verändern.“ (PW 11, 3-6)

Dass Neuerungen Zeit brauchen, um begriffen und umgesetzt zu werden, wurde


auch in der zeitlichen Planung des Projekts berücksichtigt. Nicht zuletzt geschah
dies aus dem Grund, dass davon ausgegangen wurde, dass es einen Unterschied
gibt zwischen dem Vorgang, eine Sache rein objektiv zu verstehen und dem
Vorgang, sie so zu durchdringen, dass sie in das eigene Denk- und Verstehens-
muster aufgenommen werden kann. Dies wurde bereits im Projektprogramm
formuliert:

„Für jedes der vier Ziele Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung ist eine 6-
monatige Projektphase vorgesehen, um eine wirkliche Durchdringung der Ziele zu
erreichen, zu der auch die jeweilige Realisierung von Praxisideen gehört. Denn auch
wenn die Ziele eingängig erscheinen, so erschließen sie sich doch nicht auf eine ein-
fache Weise, denn sie stellen verbreitete Vorstellungen von interkultureller Arbeit in
Frage oder ‚auf den Kopf‘ oder legen ihre Verabschiedung nahe.“75

Ein weiterer Grund für die geplante Dauer (lange Phasen) liegt in der Konzeption
des Situationsansatzes76, der im Projekt Kinderwelten mit dem Anti-Bias-Ansatz

75
www.kinderwelten.net/pdf/10_Ziele_und_Prinzipien.pdf
76
Der Situationsansatz ist ein Ansatz der Elementarpädagogik, der diese in den 1970er Jahren
reformierte. Christa Preissing, die den Situationsansatz gemeinsam mit Jürgen Zimmer ent-
wickelte, schreibt über das Konzept: „Es geht darum, Kinder mit ihren Entwicklungsbedürfnis-
sen in ihren Situationen zu verstehen und die Fähigkeiten der Kinder zu fördern, mit sich
selbst, mit anderen und mit einer Sache gut zurechtzukommen“ (Preissing 2003, 13). Die von
Krause genannten Phasen entsprechen den im Situationsansatz zentralen Phasen: Situations-
analyse, Zielklärung, Gestalten, Auswerten.

149
kombiniert wird, um vorurteilsbewusste Qualitätsentwicklung in Kitas zu gestal-
ten.

„Das Projekt war in lang gestreckte Phasen eingeordnet, die im Situationsansatz


wesentlich sind: Erkunden, was die Situation ist; Informationen sammeln; Planen
von konkreten Handlungen; Umsetzen der Handlungen; Reflexion. Das waren je-
weils halbjährige Phasen.“ (AK 3, 20-26)

Das Einplanen von langen Phasen und damit viel Zeit für das Verstehen und das
Umsetzen erwies sich als eine notwendige Maßnahme. Viele der ErzieherInnen,
die am Projekt teilgenommen haben, äußerten, sich stellenweise zeitlich unter
Druck gefühlt zu haben. Sie wünschten sich mehr Zeit für die Umsetzung der
Arbeit (vgl. Gomolla 2007, 72).

Routinen ändern

Es wird deutlich, dass der Zeitaspekt aus zwei Gründen von Bedeutung ist. Zum
einen braucht es Zeit, das neue Konzept zu verstehen und zu begreifen, zum
anderen ist es zeitaufwändig und mühsam, das Verstandene in Handlungen um-
zusetzen:

„Es geht darum, Handgriffe zu verändern. Du bist es gewohnt, etwas auf eine be-
stimmte Art und Weise zu machen und in dem Augenblick, wo du einen Handgriff
veränderst, musst du dich daran gewöhnen. Das heißt, du musst mehr daran denken,
es kostet dich mehr Mühe.“ (AK 15, 1-5)

Es geht im Projekt Kinderwelten darum, Praxis – also ‚Handgriffe‘ – zu verän-


dern. Dass dies ein mühsamer Prozess ist, der neben Übung und Gewöhnung
auch eine konsequente gedankliche Umstellung bedeutet, ist ein weiterer Grund,
um viel Zeit für die Implementation dieser neuen Handlungsmuster einzuräumen
und den Prozess der Umsetzung so zu verlangsamen, dass genug Gelegenheit ist,
um zu verstehen und um das Handeln so zu gestalten, dass nicht nur kurzfristig
Veränderungen wirksam werden, sondern alte Routinen dauerhaft durch neue
ersetzt werden:

„Wir legen Wert auf Langfristigkeit. Die ProjektteilnehmerInnen müssen sich für
drei Jahre verpflichten. Sie verpflichten sich, drei Jahre lang vorurteilsbewusste
Praxis zu entwickeln. Und ‚ja‘ dazu zu sagen, heißt auch ‚nein‘ zu anderem zu sa-
gen, denn der Mensch darf sich nicht überfordern. Und die, die dann mitmachen,
sagen häufig irgendwann auch: ‚Gott sei Dank konzentrieren wir uns nur darauf,
weil das ist schon genug.‘ Und nach drei Jahren sagten die Letzten: ‚Ja, jetzt ist es

150
so richtig gut angelaufen. Jetzt müssten wir eigentlich noch mal für drei Jahre so ein
Projekt haben.‘ Sowas lässt sich dann gar nicht machen, aber es dauert wirklich
lange, bis wir manche Sachen verstehen. Zum Beispiel Routinen verändern; die Art
wie man mit Kindern spricht zu verändern, ist ein langer Prozess.“ (PW 17, 3-13)

Die langfristige Planung ist also das Eingeständnis, dass Veränderungen in der
Praxis Zeit brauchen, um nicht nur kurzfristige Innovationen, sondern dauerhaft
neue Routinen zu werden.

„Das Verführerische am Anti-Bias-Ansatz ist, dass es Übungen gibt und dass man
denkt ‚Ich mache die Übungen und dann gebe ich sie weiter und dann wende ich sie
an.’ Wir haben bei Kinderwelten ziemlich lange Zeit gebraucht, bis die Arbeit bei
den Kindern angekommen ist. Wir haben wirklich lange vorgearbeitet und uns auf
der Teamebene bewegt. Ich glaube, dass das ein wichtiger Teil war, die lange Zeit,
die man sich beschäftigt und in der man nichts machen muss. Wir haben manchmal
auch gedacht, diese Zeit war sinnlos und wir hätten schneller machen können, aber
es war vielleicht genau die Zeit, in der die Gedanken reingekommen sind, in der das
wachsen konnte. Also, einfach eine bestimmte Kultur des Denkens und des Ge-
sprächs. Das war der Nährboden.“ (Henkys 2, 10)77

Barbara Henkys erläutert, dass genau in diesen langen Phasen, in denen kein
Handeln notwendig ist, erst einmal viele Klärungsprozesse angestoßen werden.
Sie erklärt, dass dies für sie einerseits das Verführerische und andererseits das
Trügerische an pädagogischen Konzepten darstellt. Ist die Methode vorhanden,
wird gehandelt und im nächsten Schritt eine Wirkung erwartet. Bewusste Pha-
sen, in denen Handeln nicht nötig ist und in denen sich die beteiligten Akteure
ganz auf sich, auf ihr Verständnis, ihre Fragen ihre Sorgen konzentrieren kön-
nen, sind bedeutsame Phasen. Sie sind der Nährboden dafür, dass Routinen
dauerhaft geändert werden können.

Mit Widerständen umgehen

Die Routinen, die es zu schaffen gilt, bedeuten auch Anstrengungen für die Er-
zieherInnen. In der vorurteilsbewussten Arbeit geht es darum, sich selbst und das
eigene Handeln zu reflektieren. Dass dies nicht immer einfach ist, beschreibt
Christa Preissing:

77
Diese Quellenangabe bezieht sich auf die Dokumentation der Anti-Bias-Tagung in Hannover
im Jahr 2004. Die Dokumentation ist auf zwei CDs gespeichert. „2“ steht hier für CD 2, „10“
für Minute 10.

151
„Die Arbeit mit diesem Konzept ist eine ständige Herausforderung. Das ist nicht so,
dass man das einmal lernt und dann verstanden hat, sondern es bricht ständig wie-
der ein. Von daher muss ich eigentlich tagtäglich immer wieder daran arbeiten und
das ist eine sehr unbequeme Sache. Das ist sehr anstrengend und deshalb erzeugt
das natürlich auch Widerstände. Es ist viel einfacher, zu sagen ‚So ich habe jetzt
mein professionelles Handwerkszeug und das wende ich bis zum Ende an‘. Aber so
geht das nicht. Jeden Tag wird das wieder neu herausgefordert. So erlebe ich das
und so erleben das auch andere und da ist klar, dass es dann auch immer wieder
Abwehr gibt. Man möchte sich dann mehr in sich zurückziehen und es auch mal
wieder vergessen, weil es so anstrengend ist.“ (CP 4, 34-44)

In der vorurteilsbewussten Arbeit geht es aber nicht nur darum, das eigene Han-
deln zu reflektieren. Es geht auch darum, den Blick auf die Strukturen und Me-
chanismen in den Einrichtungen zu richten und festzustellen, inwiefern diese
ausschließend sind. Solche gilt es aufzudecken, anzusprechen und gemeinsam
mit KollegInnen zu verändern. Bei einer solchen Herangehensweise, die immer
auch das eigene Handeln und das Handeln anderer auf den Prüfstand stellt, sind
Konflikte häufig unvermeidbar:

„Die Arbeit mit dem Ansatz bringt bestimmte bestehende Konflikte ans Tageslicht.
Unsere Erfahrung in Berlin war, dass wir in den ersten zwei Jahren ganz stark
Team-Bildung gemacht haben. Wir haben die Teams in den Einrichtungen sozusa-
gen gefördert in ihrer Entwicklung, das war ein ganz, ganz wichtiger Schritt.“ (AK
15, 9-14)

Um eine Basis zu schaffen, solche Konflikte auszuhalten und konstruktiv auszut-


ragen, waren Teambildungs-Maßnahmen ein wichtiges Instrument, um Vertrau-
en und Kooperationsstrukturen zu schaffen. Mechtild Gomolla stellt fest, dass
unter anderem die „Bereitschaft und Fähigkeiten [der Projektmitarbeiterinnen],
Spannungsfelder rechtzeitig sichtbar zu machen und die Austragung von Konf-
likten zu unterstützen“ (Gomolla 2007, 71), für die ErzieherInnen ein Gelingens-
faktor für die Zusammenarbeit war. Personen, die von außen auf die Arbeit
blickten und Konfliktherde ansprachen, sowie weitere Maßnahmen, die den
ErzieherInnen als Auf- bzw. Vorgaben mitgegeben wurden und die deren Praxis
in der Projektzeit steuerten, wurden von den ErzieherInnen als entlastend emp-
funden. „Die Vorgaben wurden in den Kitas als Arbeitsentlastung sowie als
organisationaler Rahmen, der den Akteuren gerade im Umgang mit potentiell
verunsichernden und konfliktträchtigen Themen die nötige Verbindlichkeit und
Sicherheit vermittelte, erlebt.“ (ebd., 72) Gerade konfliktträchtige Themen setzen
Mut und Bereitschaft voraus, wenn sie angesprochen und bearbeitbar werden
sollen. Diese Bereitschaft kann nicht vorausgesetzt werden. Wird der Umgang

152
mit solchen Themen nicht eingefordert, kann es leicht passieren, dass er gemie-
den wird.

Kooperation

Als genauso bedeutsam wie das Vorgeben von Strukturen und Handlungsoptio-
nen wird im Projekt Kinderwelten die Kooperation gesehen. Gemeint ist die
Kooperation zwischen ErzieherInnen und den Mitarbeiterinnen von Kinderwel-
ten. Diese ist die Voraussetzung einer gelingenden Umsetzung der vorurteilsbe-
wussten Bildung und Erziehung, da dafür unterschiedliche Expertisen notwendig
sind:

„Die Expertise, die wir mitbringen, ist die Erfahrung, was es in konkreten Handlun-
gen bedeutet und da geben wir auch Impulse. Oft sind es dann die Erzieherinnen,
die das weiterentwickeln und die sich auch wirklich ganz grandiose Dinge ausden-
ken, wie du die Prinzipien in der Arbeit mit Kindern weiterentwickelst. Wir haben
eine Methode und wir sammeln Ideen, aber die kommen aus der Praxis in die Pra-
xis, das ist wechselseitig.“ (AK 14, 4-9)

Die Kinderwelten-Mitarbeiterinnen sind die Expertinnen für das Konzept der


vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung, die ErzieherInnen sind die Exper-
tInnen für die Kinder und für den Alltag in der Kita. Sie können daher sagen,
was möglich ist und auf dieser Basis Ideen entwickeln. Im Austausch können
dann die Projektmitarbeiterinnen mit den ErzieherInnen überlegen und planen,
welche Maßnahmen sinnvoll sind. Diese Kooperationen ermöglichen auch die
Kontextualisierung der Arbeit. Jede Kita hat ihre eigenen Strukturen, Tagesab-
läufe, thematischen und inhaltlichen Schwerpunkte. Diese können nur in Zu-
sammenarbeit mit den ErzieherInnen und den LeiterInnen erkannt werden.

„Es wird deutlich, dass die Themen regional unterschiedlich sind. Im Süden zum
Beispiel geht es viel um Religion, und zwar um Protestanten und Katholiken, gar
keine anderen. In Thüringen sind es soziale Unterschiede, die Wendegewinner und
die Wendeverlierer. Da wird es auch für uns spannend und darin besteht auch die
Weiterentwicklung unseres Ansatzes, ihn da zu konkretisieren.“ (PW 15, 37-43)

Wagner benennt hier deutliche thematische Unterschiede, die sich im Laufe der
Zeit abzeichneten. Auf diese wird individuell eingegangen. Gemeinsam mit den
ErzieherInnen wird geplant, welche Aspekte der Anti-Bias-Arbeit entsprechend
umgesetzt werden können und sollen. Dass sich aus solchen Kooperationen ganz
unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte ergeben, berichtet auch Christa Preissing:

153
„Daraus folgte, dass auch die Herangehensweise in den einzelnen Kitas unter-
schiedlich war. Einige haben angefangen bei den Eltern, andere bei den Kindern,
andere haben die Raumgestaltung untersucht: ‚Repräsentieren wir Teile von Fami-
lienkulturen der Kinder oder sind wir hier sehr monokulturell; weiß, deutsch sozu-
sagen geprägt, obwohl die Familien und die Kinder aus allen möglichen Kulturen
kommen?‘ Da haben sich die ErzieherInnen mit den vorhandenen Kinderbüchern
auseinandergesetzt und untersucht, was die Materialien repräsentieren, die in den
Kitas sind?“ (CP 6, 28-35)

Eine solche Kontextualisierung ist die Folge der Kooperation, die bei Kinderwel-
ten gleichbedeutend damit ist, dass die ErzieherInnen nicht nur ein Mitsprache-
recht haben, sondern regelrecht zur Mitbestimmung aufgefordert werden.

„Wir haben dann in dem letzen Kinderwelten-Jahr so genannte Entwicklungswerk-


stätten eingerichtet, wo die Erzieherinnen Kita-übergreifend zu bestimmten Metho-
den gearbeitet haben. Und da sind sie natürlich selber auch noch auf ganz viele
Ideen gekommen, um das weiterzuentwickeln. Das ist auch ein Resultat von der Zu-
sammenarbeit.“ (CP 7, 31-35)

Einbeziehung der Leitungsorgane

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung zielt darauf ab, neue Strukturen zu


schaffen: Raum und Zeit für die Kommunikation mit Eltern und der Eltern unte-
reinander, Anschaffung neuer Materialien, Aushandeln von Konflikten mit den
Eltern in einem vorurteilsbewussten Sinne. Im Projekt Kinderwelten hat sich
gezeigt, dass es dafür unvermeidlich ist, die Leitungsorgane und die Träger in
die vorurteilsbewusste Arbeit mit einzubeziehen. Die Leitung einer Einrichtung
und auch die Träger sollten wissen, wie und warum die ErzieherInnen handeln
wie sie handeln; sie sollten außerdem in der Lage und gewillt sein, sie zu unters-
tützen. Dazu ist es notwendig, dass sie die Ideen der vorurteilsbewussten Arbeit
nachvollziehen können, um zu verstehen, dass strukturelle Änderungen notwen-
dig sind, wenn die ErzieherInnen in den Einrichtungen vorurteilsbewusst arbei-
ten sollen. Wenn Leitung und Träger dabei nicht mitmachen, stößt die vorur-
teilsbewusste Arbeit an ihre Grenzen. Dazu Anke Krause:

„Eine wichtige Erkenntnis war, dass die Menschen in den Einrichtungen irgend-
wann an fast natürliche Grenzen stoßen, wenn der Träger nicht mitmacht, weil er
nicht nachvollziehen kann, was passiert. Daher ist es wichtig, die Strukturen in den
Prozess einzubeziehen. Die Arbeit muss also eigentlich ein Echo finden im Träger.
Wir benutzen da das Bild vom dem Kieselstein, der in den Teich geworfen wird und
Kreise zieht. Die Arbeit muss Kreise ziehen, die muss eben auch den Träger und sei-

154
ne Strukturen erreichen. Und das haben wir zu Beginn noch nicht gewusst, dass das
so wesentlich sein wird und das hat eben auch für das neue Projekt Konsequenzen
gehabt.“ (AK 8, 46-9, 6)

Im Projekt Kinderwelten wurden diese Erkenntnisse aufgenommen. In den Fol-


geprojekten zum ersten Projekt, das ausdrücklich ein Entwicklungsprojekt war,
wurde die Einbeziehung von LeiterInnen und Trägern bewusst ins Konzept auf-
genommen.
Im Projekt Kinderwelten wird das Konzept der vorurteilsbewussten Bildung
und Erziehung den Einrichtungen nicht übergestülpt oder aufgedrängt, sondern
es wird gemeinsam daran gearbeitet, das Konzept zu begreifen, zu verinnerlichen
und schließlich gemeinsam die Umsetzung zu planen. Diesen Veränderungen
wurde Zeit gewährt – Zeit, die zum Verstehen und zum Akzeptieren des Kon-
zepts aufgewandt werden musste, aber auch Zeit, um die Neuerungen zur Routi-
ne werden zu lassen. Außerdem erlaubt der flexible Rahmen und die großzügige
Zeitvorgabe den Menschen in den unterschiedlichen Einrichtungen, ihre eigenen
Zugänge zum Anti-Bias-Ansatz und ihre individuelle Umsetzung gemäß des
eigenen kontextuellen Rahmens zu finden.

6.2 Anti-Bias in Schule und offener Jugendarbeit

Im Bereich ‚Anti-Bias-Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Schule und


der offenen Jugendarbeit‘ ist das FiPP die Institution, die am meisten Erfahrung
hat. MitarbeiterInnen des FiPP arbeiten zum einen an so genannten Schulstatio-
nen und zum anderen punktuell durch Projektarbeit mit Schulklassen zusammen.
Schulstationen sind sozialpädagogische Anlaufstellen an Schulen, die ursprüng-
lich vor allem mit verhaltensauffälligen SchülerInnen arbeiten sollten. Inzwi-
schen arbeiten MitarbeiterInnen von Schulstationen grundsätzlich mit den Ge-
samtschülerschaften. Schwerpunkt der Arbeit sind Elemente des sozialen Ler-
nens (vgl. www.fippev.de). Die punktuelle Zusammenarbeit findet immer dann
statt, wenn Projektwochen oder ähnliche Veranstaltungen an Schulen durchge-
führt werden und MitarbeiterInnen des FiPP in diesem Kontext mit SchülerInnen
zum Anti-Bias-Ansatz arbeiten. Das Gruppeninterview mit den MitarbeiterInnen
vom FiPP ist für die folgenden Informationen eine Bezugsquelle. Eine zweite ist
das Interview mit Patricia Göthe, die ebenfalls für das FiPP arbeitet. Sowohl das
FiPP als auch Patricia Göthe haben des Weiteren Erfahrungen mit der Anti-Bias-
Arbeit in außerschulischen Gruppen. Zusätzlich kommen Erfahrungen von Gise-
la Führing zum Tragen. Sie war ebenfalls an Schulen tätig und hat dort Elemente

155
der Anti-Bias-Arbeit in ihre Tätigkeit einfließen lassen. Die Erfahrungen aus den
beschriebenen Arbeitskontexten werden im Folgenden dargestellt.

6.2.1 Sensibilisierung für Gerechtigkeit und Fairness

Das FiPP hat die Ziele der Anti-Bias-Arbeit mit Kindern und Jugendlichen klar
definiert:

„Anti-Bias-Arbeit hat zum Ziel, Kinder und Jugendliche für die Themen Diskrimi-
nierung und Gerechtigkeit zu sensibilisieren. Sie sollen befähigt werden, Vorurteile
und Diskriminierungen zu erkennen, deren negativen Einfluss auf ihre Entwicklung
zurück zu weisen und verantwortungsbewusst für sich selbst und andere einzuste-
hen. Sie lernen, gemeinsam mit anderen Menschen Diskriminierung zu thematisie-
ren und gegen jede Form der Unterdrückung vorzugehen.“ (Joggerst/Thiemann
2003, 10)

Für die Arbeit mit SchülerInnen gab es in der Anti-Bias-Literatur lange keine
Hinweise. Die Ziele der Arbeit sind an die Ziele der Arbeit der Erwachsenenbil-
dung angelehnt. Patricia Göthe hat gemeinsam mit anderen MitarbeiterInnen des
FiPP mit jugendlichen SchülerInnen erste Versuche unternommen, dort Anti-
Bias-Trainings mit den Methoden und thematischen Schwerpunkten aus den
Handbüchern für die Erwachsenenbildung durchzuführen:

„Wir haben versucht, mit den klassischen Anti-Bias-Übungen aus dem ELRU-Buch
‚Shifting Paradigms‘ zu arbeiten. Vor allem wollten wir etwas zum Thema ‚Identi-
tät‘ machen. Wir haben mit einer siebten und einer neunten Klasse gearbeitet und
wir haben schnell festgestellt, dass dieser Einstieg über das Thema ‚Identität‘ für
die Zielgruppe Jugendliche bzw. junge Erwachsene nicht geeignet ist. Die stecken in
der Pubertät und sind viel mit sich beschäftigt, wollen aber gleichzeitig nicht gerne
viel von sich mitteilen. Ein großes Thema bei dieser Altersstufe ist Mobbing und das
Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, Außenseiter zu sein, Angst um die Zukunft
zu haben. Da passt die thematische Auseinandersetzung nicht. Von daher sage ich:
So gut das Anti-Bias-Seminar für mich war, für diese Altersgruppe kam das nicht
an. (PG 6, 15-36)

Jugendliche sind in einer Entwicklungsphase, in der sie zwar viel mit sich be-
schäftigt sind und mit Fragen der eigenen Identität. Sie kämpfen darum aner-
kannt zu werden, dazu zu gehören, einen Platz zu haben. Gleichzeitig, so be-
schreibt es Göthe, machen sie dies vor allem mit sich selbst aus und sind nicht in
dem Maße bereit, sich zu öffnen, wie es Erwachsene sind, die sich zudem noch
freiwillig zu Anti-Bias-Seminaren anmelden. Daher sei das ‚klassische‘ Vorge-

156
hen nach den Methoden der Erwachsenenbildung nicht geeignet. Um eine He-
rangehensweise zu finden, mit Jugendlichen zu den Themen Identität und Disk-
riminierung – diese bezeichnet Göthe als zentrale Themen der Anti-Bias-Arbeit –
zu arbeiten, sei ein anderes Vorgehen notwendig:

„Gerade bei der Arbeit mit jungen Erwachsenen ist es wichtig, Vorarbeit zu leisten,
Vorgespräche zu führen und so herauszufinden, was eigentlich die aktuellen Themen
in den Klassen sind. Wenn wir sagen würden ‚Wir machen jetzt einen Anti-Bias-
Workshop mit euch‘ wäre das viel zu abstrakt und keiner könnte sich darunter etwas
vorstellen. Es sollte darum gehen, die Kinder da abzuholen, wo sie sind und dann zu
gucken, wie man mit Hilfe der Übungen aus dem Anti-Bias-Ordner vielleicht ein
paar Aha-Effekte oder eine Sensibilisierung für das Thema ‚Gegenseitiger Respekt‘
erreichen kann. Es geht also darum, die Erwartungen herunterzuschrauben und
wirklich anders anzusetzen, eben da, wo die Jugendlichen sind.“ (PG 7, 32-43)

Göthe beschreibt, wie die Anti-Bias-Arbeit dahingehend methodisch abgewan-


delt wurde, dass nicht die persönlichen Erfahrungen der SchülerInnen direkt in
den Fokus der Arbeit gerückt wurden, sondern dass vielmehr allgemeingültige
Gesprächsanlässe gewählt wurden, über die die Kommunikation über Respekt
und ähnliche Themen angekurbelt wurde. Göthe und ihre KollegInnen haben hier
einen alternativen Weg gefunden, die Anti-Bias-Ziele mit Schülergruppen umzu-
setzen. Im Zusammenhang mit dem alternativen Vorgehen in der Arbeit mit
Kindern und Jugendlichen erwähnt sie den ‚Anti-Bias-Ordner‘. Um die Arbeit
methodisch gut gestalten zu können, hat das FiPP einen Ordner zusammenges-
tellt, in dem Übungen dargestellt werden, die es ermöglichen, die Ideen des Anti-
Bias-Ansatzes an Schulen und in der offenen Kinder- und Jugendarbeit umzuset-
zen. In diesem Ordner finden sich Übungen, die auf kindgerechte Weise die
Themen Identität und Diskriminierung ansprechen. Ein Beispiel hierzu ist die
Übung ‚Was alles in dir steckt‘. Die Übenden bekommen Bilder vorgelegt, auf
denen unterschiedliche Tiere abgebildet sind. Der Arbeitsauftrag dazu lautet:

„Jedes Kind, jedeR Jugendliche sucht sich nun ein Tier aus, welches seiner/ihrer
Meinung nach zu ihm/ihr passt. Dabei können die Kinder und Jugendlichen ein Tier
aussuchen, von dem sie glauben, dass es Eigenschaften hat, die auch sie selbst haben
oder es kann ein Tier sein, das sie am liebsten mögen oder zu dem sie sich hin gezo-
gen fühlen.“ (Joggerst/Thiemann 2003, 41)

Indem die Kinder und Jugendlichen dann aufgefordert werden, zu berichten,


warum sie welches Tier gewählt haben, wird ein Gesprächsanlass geschaffen, bei
dem Kinder über sich, über das was sie interessiert, was sie ausmacht und auch
was sie können, reden ohne dabei zu persönlich ins Detail gehen zu müssen.

157
Die Übungen in dem Ordner erlauben es gleichzeitig, je nach Situation
Übungen auszuwählen, die passend sind, ohne dass ganze Themeneinheiten
behandelt werden müssen. So wird möglich, mit Kindern und Jugendlichen eine
neue Arbeitsform nach den Ideen des Anti-Bias-Ansatzes umzusetzen. Göthe
berichtet davon, dass sie die Übungen in dem Unterrichtsfach ‚soziales Lernen‘
einbindet:

„Wir haben versucht, Anti-Bias im Unterrichtsfach ‚Soziales Lernen‘ zu integrieren.


Für Grundschüler kann es da um Fragen gehen wie ‚Wie gehen wir miteinander
um?‘ oder es geht darum, sich besser kennen zu lerne oder die Schwächen von an-
deren nicht auszunutzen. Da ist es dann also kein Anti-Bias-Training, sondern es ist
ein Element in dem Unterrichtsfach und es wird dort integriert, ein paar Übungen
werden eingebaut.“ (PG 8, 45-9, 2)

6.2.2 Vermittlung sozialer Schlüsselkompetenzen

Die Umsetzung der Anti-Bias-Ideen in der außerschulischen Jugendarbeit erfolgt


ähnlich wie in der Schule. Der Kontext ist hier die Arbeit mit schuldistanzierten
Jugendlichen, die an die Arbeitswelt herangeführt werden sollen:

„Das Ziel der Maßnahmen ist Berufsorientierung. Und in diesem Rahmen können
wir kleine Projekte machen, bei denen es um Themen wie Toleranz oder Respekt
geht. Wir bezeichnen das dann für die Jugendlichen als Schlüsselqualifikationen, die
sie in der Arbeitswelt brauchen. Zum Beispiel sollen sie sich damit auseinanderset-
zen, dass sie im Beruf immer mal auf Menschen treffen, mit denen sie nicht klar-
kommen und dass sie dann nicht jedes Mal alles hinschmeißen können. Auch hier
bringen wir Anti-Bias-Übungen ein, aber konkret, um zentriert an den Themen zu
arbeiten, die für die Jugendlichen wichtig sind. Und das können jetzt nicht irgend-
welche Anti-Bias-Selbsterlebnis-Seminare sein, sondern es geht gezielt um die The-
men und die Lebenssituation der Jugendlichen.“ (PG 8, 5-16)

Die Themen Identität und Diskriminierung, die Göthe zuvor angeführt hat als
zentrale Themen der Anti-Bias-Arbeit, stehen in diesem Kontext nicht explizit
im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, den Jugendlichen soziale Kompeten-
zen zu vermitteln. Im Rahmen dieser Anstrengungen zum sozialen Lernen wer-
den die Methoden aus dem Anti-Bias-Order eingesetzt.
Mit Kindern und Jugendlichen findet die Anti-Bias-Arbeit also nicht auf der
konkreten Ebene der Trainings und der thematischen Auseinandersetzung statt,
sondern es werden Bezüge zum sozialen Lernen hergestellt. Die Kinder und
Jugendlichen lernen in diesem Zusammenhang den fairen Umgang miteinander.

158
6.2.3 Identitätsentwicklung durch Fördern und Fordern

Ein zentraler Aspekt der Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz ist die Stärkung der
Identität. Für kleine Kinder ist das Ziel, ihnen dazu zu verhelfen, ein positives
Selbstbild zu entwickeln. SchülerInnen haben bereits ein Selbstbild von sich.
Das wird noch geformt und verändert sich, aber Grundlagen sind gelegt. Diese
sind nicht immer positiv:

„Ich habe in den Schulungen die traurige Erfahrung gemacht, dass ein Großteil der
Kinder kein Gefühl hat für die eigenen Stärken und Grenzen. Die können nicht füh-
len, was sie fühlen, weil sie nicht mehr lernen, überhaupt etwas zu fühlen. Sie kön-
nen keine Bedürfnisse formulieren, weil sie nicht gewöhnt sind, dass sie überhaupt
jemand danach fragt. Und wenn ich das nicht berücksichtige in dieser Arbeit, dann
kann ich es gleich lassen. Daher gehört für mich nicht nur dazu, mit Diskriminie-
rung, sondern auch mit Stärken zu arbeiten, denn: Ich gehe davon aus, dass jemand,
der oder die ein gutes, gestärktes Selbstgefühl hat, weniger dazu neigt, andere he-
runterzumachen oder in stereotypen Bildern zu denken, und deswegen finde ich das
ganz fundamental.“ (FiPP/KJ 11, 10-19)

Karin Joggerst hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder häufig kein positives
Selbstbild haben, sondern im Gegenteil kein Gefühl für das haben, was sie sind
und was sie können. Daher sieht sie den Ansatzpunkt für die Arbeit nach dem
Anti-Bias-Ansatz mit SchülerInnen darin, ihnen die Möglichkeit einzuräumen,
die eigenen Stärken zu erfahren und dann auch benennen und in das eigene
Selbstbild mit aufnehmen zu können:

„Es geht auch darum, Kinder zu fördern und zu fordern, also sie auch an Grenzen
zu bringen. In den Gesprächen zur Vorbereitung auf die Seminare erleben wir oft,
dass die LehrerInnen erst mal berichten, wie schlecht eigentlich alle Kinder sind
und dass sie schließlich Hauptschulkinder sind. Und das finde ich einen wichtigen
Punkt: Gerade diese Kinder auch mal an eine Grenze zu bringen, damit sie über-
haupt spüren, was in ihnen steckt.“ (FiPP/KJ 10, 42-11, 2)

Joggerst spricht hier zwei Punkte an. Zum einen betont sie, dass es in der Anti-
Bias-Arbeit darum gehen sollte, Kindern ihre Stärken aufzuzeigen und erfahren
zu lassen, indem sie gefordert und an Grenzen geführt werden. Demgegenüber
führt sie als zweiten Punkt an, dass Lehrkräfte genau dies häufig nicht tun, son-
dern im Gegenteil ihren SchülerInnen nicht viel zutrauen. Dass aber eben dieses
Zutrauen wichtig ist, um ein positives Selbstbild zu entwickeln, wird in der Anti-
Bias-Arbeit erkannt. Gisela Führing berichtet in diesem Zusammenhang von
ihren Erfahrungen mit SchülerInnen, denen sie offen und wertschätzend gegenü-

159
ber getreten ist. Von diesen SchülerInnen bekam sie in einer Abschiedssituation
zurückgemeldet, dass sie diese positive Haltung ihnen gegenüber bemerkt haben:

„Ich habe beim Abschied aus dem Schuldienst ein wunderbares Feedback von den
Schülern bekommen, völlig überraschend für mich: einen dicken Blumenstrauß an
meinem letzten Arbeitstag und ein Briefchen dazu mit: ‚Wir werden Sie vermissen.
Sie waren für uns eine Hälfte Lehrerin, eine Hälfte Freundin. Und Sie haben immer
an uns geglaubt und nicht an das, was in der Zeitung über uns steht.‘ Das ist eine
Hauptschule mit sehr viel Gewalt. Ja und dann dachte ich, das ist Anti-Bias, also
das ist eine Gradwanderung zwischen solidarisch sein und fordern und ich denke,
sie haben gespürt, dass ich sie respektiere, auch wenn ich am Anfang ohne irgen-
deine Vorbereitung da in die zweitschlimmste Hauptschule Berlins gekommen war.
Da habe ich mich gefreut, dass sie das gemerkt haben. Also ich habe es gemerkt für
mich, dass ich sie einfach gerne hatte, egal wie sehr ich mich dann auch immer wie-
der über sie geärgert habe, aber die Grundbasis war immer, ich mag sie, und das ist
angekommen …“ (GF 7, 15-24).

Führing führt hier den Gedanken von Joggerst aus und benennt damit einen wei-
teren Aspekt der pädagogischen Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz: Kindern und
Jugendlichen wertschätzend, fördernd und auch fordernd gegenüberzutreten und
ihnen damit zu zeigen, dass sie wertvoll sind. Dies ist auch die Grundidee, die im
FiPP mit der Arbeit an der Identität mit Kindern und Jugendlichen als eine zent-
rale angesehen wird:

„Identität ist eng gebunden an ein Gespür dafür, woher wir kommen, was wichtig,
richtig und falsch im Leben ist und wie man für sich und andere einstehen kann.
Voraussetzung hierfür ist, dass Kinder und Jugendliche sich selbst ‚gern haben‘ und
wissen, wer sie sind – was in ihnen steckt.“ (Joggerst/Thiemann 2003, 14)

Eine der vordringlichen Aufgaben der PädagogInnen ist also, Kinder dabei zu
unterstützen, herauszufinden, wer sie sind.

6.2.4 Kontextualisierung der Erkenntnisse

Anti-Bias-Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bedeutet vor allem die Vermitt-
lung sozialer Kompetenzen. Das Vokabular wird dem Alter angepasst. Statt von
Diskriminierung wird von Fairness gesprochen. Ein weiterer Aspekt ist die Stär-
kung des Selbstbilds der Kinder. Sie erfahren mithilfe der Anti-Bias-spezifischen
Übungen, was in ihnen steckt, was sie können und wer sie sind. Aufgabe von
Lehrkräften ist in diesem Kontext, die Schule zu einem Umfeld zu machen, in
dem diese positive Bestärkung möglich ist.

160
6.3 Anti-Bias in der Erwachsenenbildung

Welche Rolle spielt Anti-Bias in der Erwachsenenbildung, oder genauer: was


bedeutet Anti-Bias in der anti-diskriminierenden Erwachsenenbildung?
Die Anti-Bias-Werkstatt bietet an der Universität Oldenburg Anti-Bias-
Seminare im Rahmen des Moduls ‚Managing Diversity‘ an und bezeichnet den
Anti-Bias-Ansatz als einen pädagogischen Ansatz, der dazu beitragen will, Disk-
riminierung abzubauen (vgl. www.anti-bias-werkstatt.de). Die Heimvolkshoch-
schule Alte Molkerei Frille schreibt ein Anti-Bias-Grundlagenseminar unter dem
Schlagwort ‚Diversity & Diskriminierung‘ aus (vgl. www.hvhs-frille.de). Prasad
Reddy ist Anti-Bias-Trainer mit einem Fokus auf entwicklungspolitischer Zu-
sammenarbeit. In diesem Kontext bedeutet Anti-Bias für ihn folgendes:

„Anti-Bias ist eine gute Möglichkeit aufzuzeigen, was wir anderen Menschen eigent-
lich antun, was wir uns gegenseitig antun. Und man braucht dieses Bewusstsein,
weil man diese Prozesse von Diskriminierung erlernt.“ (PR 5, 17-27)

Das Thema Diskriminierung steht also im Fokus der Anti-Bias-Arbeit in der


Erwachsenenbildung. Es lassen sich drei Hauptaspekte herausfiltern, die
Schwerpunkte der Anti-Bias-Seminare sind und die das Ziel haben, Diskriminie-
rung zu verhindern:

1. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Person in Bezug auf Prägun-


gen und Vorurteile. Diese werden als Grundlage für diskriminierendes
Verhalten gesehen. Daher ist ein erster Schritt die Bewusstmachung
dieser Prägungen. Dies geschieht zum einen auf individueller Ebene.
Durch biographische Reflexion wird herausgefunden, woher die eige-
nen Prägungen stammen, wodurch das Werte- und Normensystem einer
Person geformt wird. Zum anderen wird der Blick gelenkt auf gesell-
schaftliche Ursachen, Strukturen und Zusammenhänge, die zu Diskri-
minierung führen können;
2. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Diskriminierung. Zunächst
ist hier bedeutsam die Sensibilisierung für eigenes diskriminierendes
Verhalten. Darüber wird auch hier der Blick auf gesellschaftliche Zu-
sammenhänge gelenkt, um aufzuzeigen, wie in diesen Diskriminierung
stattfindet. Ein letzter Schritt in der Auseinandersetzung mit dem The-
ma Diskriminierung ist, diese zu verlernen und gemeinsam neue, alter-
native Handlungsoptionen zu entwickeln;
3. Die Antizipation von Gesellschaft. Hierbei geht es darum, über den ei-
genen Horizont zu blicken und die Gesellschaft als Ganzes in den Blick

161
zu nehmen. Ein Anti-Bias-Seminar dient als Raum, um gemeinsam fo-
kussiert zu überlegen, inwiefern die gesellschaftlichen Strukturen die
eigenen Wünsche, Werte und Normen widerspiegeln. Auf dieser Basis
können diese Wünsche ausgetauscht und gegenseitig erläutert werden.
Der eigene Blickwinkel erweitert sich dadurch, Antizipation von Ge-
sellschaft heißt dann auch, auszuhandeln, was wichtig ist, und zwar
aushandeln in dem Sinne, dass Kompromisse gefunden werden und alle
Meinungen gehört und in den Zukunftsentwurf von Gesellschaft einbe-
zogen werden.

Im Folgenden werden diese Aspekte der Anti-Bias-Arbeit in der Erwachsenen-


bildung anhand des Interviewmaterials und der vorliegenden Dokumente be-
schrieben.

6.3.1 Auseinandersetzung mit individuellen Prägungen

Ein erstes Ziel der Anti-Bias-Arbeit in den Seminaren ist, die eigenen Urteils-
muster und deren Entstehung zu erkennen:

„Es geht darum, sich ein Stück weit mehr kennen zu lernen und zwar hinsichtlich
dessen, wie ich funktioniere mit Vorurteilen, Vorannahmen und wie auch meine
Muster sind, wie ich selber etwas bewerte, woher vielleicht auch meine Bewertun-
gen stammen. Oft liegt dies sehr, sehr weit zurück in meiner Biographie.“ (OT 10,
47-11, 1)

Es geht für Oliver Trisch um eine direkte Auseinandersetzung mit der eigenen
Person. Bewertungsmuster werden unter die Lupe genommen und daraufhin
betrachtet, an welchen Stellen und auf welche Art diese im Laufe der eigenen
Biographie entstanden sind. Auch Gisela Führing führt diesen Punkt an und
definiert das Anliegen von Anti-Bias wie folgt:

„Jeder Mensch hat Prägungen, die ihn im Laufe seiner Sozialisation von der Kind-
heit bis zum Erwachsenwerden prägen, und es geht praktisch darum, als erwachse-
ner Mensch – oder auch als pubertierender Mensch – zu gucken, welche dieser Prä-
gungen will ich eigentlich weiterführen und welche nicht? Was habe ich überhaupt
für Prägungen?“ (GF 5, 22-26)

Sowohl Trisch als auch Führing sprechen den Rückgriff auf bisherige Lebenser-
fahrungen an. Die Übungen ‚Familiennetze‘ und ‚Identitätsmolekül‘ finden sich
beide in der Methodenbox, die die Anti-Bias-Werkstatt zusammengestellt hat.

162
Diese Methodenbox ist auf CD-rom verfügbar und enthält Methoden und Übun-
gen zu den Oberthemen ‚Demokratie lernen‘ und ‚Anti-Bias-Arbeit‘ (vgl. Anti-
Bias-Werkstatt/Europahaus Aurich 2007). Die beiden genannten Übungen ini-
tiieren die biographische Auseinandersetzung mit den eigenen Prägungen.
In der Übung ‚Familiennetze‘ steht das Thema Familie bezogen auf ihre
Traditionen und Werte im Vordergrund. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass
die Familie aus den engsten Bezugspersonen besteht und dass diese einen Men-
schen in seiner Sicht auf und sein Verständnis von der Welt beeinflussen. Re-
geln, Traditionen und Verhaltensweisen, die in Familien existieren, werden in
das eigene Handlungs- und Deutungsschema aufgenommen. Um offen zu legen,
welche Handlungsweisen, Sitten und Traditionen dies sind, geht es in der Übung
darum, individuell zu reflektieren, wer zur eigenen Familie gehört und wodurch
diese sich auszeichnet. Die Frage nach Traditionen und Ritualen innerhalb der
Familie ist ebenso im Fokus wie die Frage danach, wie in der Familie mit dem
Thema ‚Tod und Sterben‘ umgegangen wird. Sogar Essgewohnheiten werden
thematisiert. Auf diese Art der Auseinandersetzung mit ganz konkreten Themen
wird ermöglicht, den Einfluss der eigenen Familie auf das individuelle Werte-
und Normenmuster zu begreifen. Bezüge zwischen eigenen Sichtweisen und den
in der Familie vorherrschenden und vorgelebten können hergestellt werden. Die
Erkenntnisse werden mit der Gruppe geteilt. In diesem Austausch werden Ge-
meinsamkeiten und Unterschiede sichtbar. Dadurch wird auch verdeutlicht, dass
die eigenen Selbstverständlichkeiten lediglich subjektiven Charakter haben. Sie
sind durch die individuellen Erfahrungen geprägt. Menschen mit anderen Erfah-
rungen und anderem familiären Hintergrund haben andere Werte und Normen.
Der enge Zusammenhang der familiären Sozialisation und dem eigenen Ver-
ständnis der Welt wird deutlich.
Die Übung ‚Identitätsmolekül‘ setzt ebenfalls an der biographischen Refle-
xion an und verdeutlicht, wie eigene Zugehörigkeiten die Sicht auf die Welt
beeinflussen. Es geht also erneut um die individuellen Einflussfaktoren auf die
eigene Sozialisation. Der familiäre Rahmen wird allerdings erweitert. In den
Blick genommen werden selbstbestimmbare Zugehörigkeiten. Die Teilnehme-
rInnen ordnen sich Zugehörigkeitsgruppen innerhalb gesellschaftlicher Kontexte
zu. Diese können zum Beispiel sein: Bruder, Studentin, Hundeliebhaber,
Deutsche, Sportler,… Die TeilnehmerInnen tauschen zunächst aus, warum ihnen
die gewählten Zugehörigkeitsgruppen wichtig sind. Anschließend werden Ge-
meinsamkeiten sichtbar gemacht. Zum Beispiel stehen alle Personen auf, die
Geschwister haben oder die in einem Sportverein sind. In der Metadiskussion
wird anschließend diskutiert, welche Befindlichkeiten die Übung ausgelöst hat:
Wie war es, alleine einer Gruppe anzugehören? Wie war es, eine Zugehörigkeit
mit anderen teilen zu können? Welchen Unterschied macht es, ob es eine freiwil-

163
lig gewählte Gruppe (Sportverein) oder eine feststehende Gruppe (Deutsch) ist?
In der Diskussion zu diesen Fragen wird thematisiert, welchen Einfluss die Zu-
gehörigkeiten auf das eigene Befinden haben. Welche Zugehörigkeiten sind
schon mal verschwiegen worden? Warum sind sie verschwiegen worden? Die
Beschäftigung mit solchen Fragen verdeutlicht auf der einen Seite, dass Zugehö-
rigkeiten mit Befindlichkeiten basierend auf der Wahrnehmung durch andere
zusammenhängen. Auf der anderen Seite kann so sichtbar gemacht werden, dass
die eigenen Zugehörigkeiten die Sicht auf die Welt und auf die Menschen in der
Welt und auch die Sicht auf die eigene Person beeinflussen.
Die Sensibilisierung für die Entstehung der eigenen Werte- und Normen-
muster und der darauf basierenden Deutung der Umwelt zeigt auf, dass diese
Deutung eine subjektive ist. Diese Erkenntnis kann die Basis dafür sein, andere
mögliche Deutungsmuster zu erkennen und die eigenen damit abzugleichen.

„Das Bewusstwerden der eigenen Vorurteile und das Verständnis der dahinter lie-
genden Strukturen sind die Voraussetzungen für das Lernen neuer Verhaltenswei-
sen. Anti-Bias-Seminare setzen aus diesem Grund zuerst auf Sensibilisierung und
Bewusstmachung.“ (Winkelmann/Trisch 2007)

Dies ist ein erster Schritt dahin, das eigene Verhalten im Hinblick auf Fehlurtei-
le, auf Vorurteile und damit vorurteilsbehaftetes, diskriminierendes Verhalten zu
beleuchten.

6.3.2 Aufzeigen gesellschaftlicher Bezüge

Die biographischen Einflüsse sind ein Aspekt, der zum Werte- und Normensys-
tem eines Menschen beiträgt. Ein weitere Aspekt sind die gesellschaftlichen und
strukturellen Bezugspunkte.
Diesbezüglich geht es für Trisch darum, diese Zusammenhänge aufzuzeigen:

„Ziel ist, sich die Muster, mit denen wir leben, bewusst zu machen und zu gucken,
wie sich mit diesen umgehen lässt. Darauf aufbauend kann dann geschaut werden,
wie wir damit produktiv umgehen können und woran es überhaupt liegt, dass wir
solche Bewertungsmuster haben. Hier wird sich also auch ein wenig der Überbau
angeguckt, es wird darauf geguckt, was dies alles mit Ideologien zu tun hat oder mit
Gesellschaftsstrukturen.“ (OT 10, 16-22)

Die eigenen Bewertungsmuster werden also von Ideologien und von den Gesell-
schaftsstrukturen, in denen man sozialisiert wird, beeinflusst. Diese Einflüsse
aufzuzeigen, ist ein Anliegen in den Anti-Bias-Seminaren.

164
„Es geht auch darum, zu sehen, dass es viele verschiedene Ebenen gibt. Dass es so-
wohl individuelle, aber auch institutionelle und strukturelle Rassismen oder Diskri-
minierungsformen gibt.“ (OT 11, 3-4)

Eine Methode, um dieses Erkennen der gesellschaftlichen Strukturen als Ein-


flussfaktor auf die eigene Sicht der Welt zu ermöglichen, ist die Übung ‚Power-
Flower‘ (vgl. Anti-Bias-Werkstatt/Europahaus Aurich 2007). Diese Übung wird
mehrfach als eine zentrale Übung der Anti-Bias-Arbeit genannt. Die Übung
findet sich im Buch ‚Shifting Paradigms‘ und wurde von der Anti-Bias-
Werkstatt auf deutsche Verhältnisse übertragen. Ziel dieser Übung ist die Refle-
xion der eigenen gesellschaftlichen Positionierung, das Aufzeigen von Macht-
asymmetrien innerhalb der Gesellschaft und das Aufzeigen von eigenen Macht-
bzw. Ohnmachtspositionen in gesellschaftlichen Bezügen. Die Übung ist zum
einen für die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Person gedacht, zum
anderen als Gesprächs- und Diskussionsimpuls. Bei der PowerFlower-Übung
werden gesellschaftliche Zugehörigkeiten wie zum Beispiel der Bildungsgrad
(Abitur – kein Abitur) oder die geographische Herkunft (Deutschland – anderes
Land) gegenübergestellt. Die Übenden ordnen sich jeweils einem Pendant zu. In
der Diskussion wird reflektiert, was die jeweilige Zuordnung für eine Person
bedeutet, wie es sich anfühlt bei der Kategorie ‚Beschäftigungssituation‘ arbeits-
suchend anzugeben und womit diese Gefühle zu begründen sind. Auf diese Art
wird aufgezeigt, inwiefern die jeweiligen Zugehörigkeiten Einfluss auf das
Selbstbild und das eigene Empfinden haben. Und zum anderen wird aufgezeigt,
welchen Einfluss diese Zugehörigkeiten darauf haben, wie die eigene gesell-
schaftliche Position wahrgenommen wird: welche Mitsprachemöglichkeiten,
welche Einschränkungen, welche Abhängigkeiten ergeben sich daraus? Wenn
auch zu bedenken ist, dass diese schematische Zuordnung zum Teil vereinfacht
ist und die komplexe Realität nicht abbildet, kann doch eins aufgezeigt werden:
Die Zuordnungen sind gesellschaftlich wirksam und sie sind eng mit der Vertei-
lung von Privilegien und mit dem Zugang zu Ressourcen verknüpft. Es geht
daher auch darum, sich selbst als Teil der gesellschaftlichen Strukturen zu be-
greifen und damit zu erkennen, dass man (Re)produzentIn von strukturellen und
institutionellen Begebenheiten und damit im Zweifel auch von strukturellen und
institutionellen Ausgrenzungsmechanismen ist bzw. sein kann.

„Der [Anti-Bias] Ansatz geht davon aus, dass jede/r Vorurteile hat. Es liegt die An-
nahme zugrunde, dass Vorurteile und Diskriminierungen nicht als individuelle Fehl-
urteile zu sehen sind, sondern in der Gesellschaft als Ideologien institutionalisiert
sind und von den Subjekten erlernt werden.“ (Winkelmann/Trisch 2007)

165
Dieses Verständnis äußert auch Christa Preissing:

„Ich bin immer auch Teil der Gesellschaft, also nicht unbedingt nur national, son-
dern auch in transnationalen Zusammenhängen bin ich Teil einer Gesellschaft und
handle als Teil dieser Gesellschaft. Und das muss ich immer wieder für mich reflek-
tieren.“ (CP4, 3-6)

Hier geht es also um Normen und Wertvorstellungen, die dadurch entstehen,


dass sie in einer Gesellschaft transportiert und vermittelt werden, zu einem gro-
ßen Teil auch historisch übermittelt sind. Preissing führt hier das Dominanzge-
fälle zwischen Ost- und Westdeutschland als Beispiel an:

„Es gibt eine klare Hierarchie und eine klare Dominanz der Westdeutschen gegenü-
ber den Ostdeutschen. Ob man das als Individuum will oder nicht, das ist so. Ich als
Westlerin gehörte zu dem dominanten Part dieser Gesellschaft und musste mich da
natürlich mit auseinandersetzen und mich fragen, was das für mich heißt. Meine
Grundhaltung war immer eine kritische gegenüber der herrschenden Politik in der
Bundesrepublik. Und mit einem Mal, nämlich mit der Wende war ich ganz deutlich
auf der Seite derjenigen, die da zu dem unterdrückenden Part gehörten, und das ist
eben keine individuelle Entscheidung. Und das Gleiche war dann im September
2001, da gehörten wir auch zu dem dominanten Teil der Welt, der attackiert wurde –
ob wir das wollten oder nicht. Und da ist man dann auch persönlich berührt.“ (CP
3, 31-42)

Die individuellen Wert- und Normvorstellungen werden also nicht nur von ge-
sellschaftlichen Zugehörigkeiten beeinflusst, sondern zum Teil sogar überwor-
fen. Solche Zugehörigkeiten und deren Auswirkungen werden mit Methoden wie
der ‚PowerFlower‘-Übung sichtbar und damit dem Verständnis zugänglich ge-
macht. Gelingt es, diesen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Sozia-
lisation und dem eigenen Werte- und Normensystem zu verdeutlichen, sind die
Grundlagen für ein weiteres Ziel der Anti-Bias-Arbeit gelegt: das Erkennen von
diskriminierendem Verhalten.

6.3.3 Sensibilisierung für diskriminierendes Verhalten

Melanie Stamer formuliert eine Leitidee der Anti-Bias-Arbeit, die in dieser Form
von mehreren InterviewpartnerInnen benannt wird:

„Das langfristige Ziel – das gehört schon in die Richtung Utopie – ist eine nicht-
diskriminierende Gesellschaft und darauf hinzuarbeiten, finde ich schon gut.“ (MS
10, 21-23)

166
Stamer legt dieses Leitbild zugrunde, um den Anti-Bias-Ansatz daraufhin anzu-
sehen, was er dazu beitragen kann, dieses Ziel zu erreichen. Als einen wichtigen
Baustein bezeichnet sie die Auseinandersetzung mit eigenen Diskriminierungser-
fahrungen:

„Davon ausgehend, dass Diskriminierung häufig ein unbewusster Prozess ist, ist der
Einstieg in die Anti-Bias-Arbeit die persönliche Auseinandersetzung mit eigenen Er-
fahrungen von Diskriminierung. Man stellt sich Fragen wie: Bin ich diskriminiert
worden? Wie war das für mich? Habe ich diskriminiert? Wie ist das gewesen? Wel-
che Erklärungen habe ich dafür? Wie ist das auch gesellschaftlich organisiert, dass
ich diskriminiere? Und darauf aufbauend geht es natürlich darum, möglichst alter-
native Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.“ (MS 4, 32-39)

Eine Übung, die die Auseinandersetzung mit eigenen Diskriminierungserfahrun-


gen ermöglicht, beginnt mit der scheinbar ‚simplen‘ Aufforderung, sich zu erin-
nern:

„Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie diskriminiert wurden. Was ist pas-
siert? Wer war beteiligt? Was haben die Beteiligten gesagt oder getan? Was haben
Sie gesagt oder getan? Wie haben Sie sich dabei gefühlt?“ (Anti-Bias-Werkstatt/
Europahaus Aurich 2007)

SeminarteilnehmerInnen bekommen also Zeit und Raum, ihre eigenen Erfahrun-


gen daraufhin abzuklopfen, ob, wann und in welcher Form sie diskriminiert
wurden. Dies ist der erste Teil der Übung. Im zweiten Teil wird der Blickwinkel
verschoben. Er wird auf Situationen im Leben gelenkt, in denen man selbst der
aktive, also der diskriminierende Teil war. Dass jeder Mensch sowohl Täter als
auch Opfer von Diskriminierung ist, betont auch Fenna Paproth:

„Ich bin nie entweder oder, sondern ich bin immer beides. Auch wenn ich zu einer
marginalisierten Gruppe gehöre – auch dann habe ich Anteile von ‚Täter/Täterin‘ in
mir.“ (FP 5, 41-43)

Insofern lautet der zweite Arbeitsauftrag bei der Übung zu den Diskriminie-
rungserfahrungen:

„Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie diskriminiert haben. Was ist passiert?
Wer war beteiligt? Was haben die Beteiligten gesagt oder getan? Was haben Sie ge-
sagt oder getan? Wie haben Sie sich dabei gefühlt?“ (Anti-Bias-Werkstatt/ Europa-
haus Aurich 2007)

167
Diese Reflexionsanstöße sind die Grundlage der Übung. In der darauf folgenden
Diskussion geht es dann darum, die Bedeutung des Reflektierten zu erkennen.
Die Rückblicke rufen auch Gefühle hervor. Es ist nicht angenehm: Weder ist es
angenehm, sich daran zu erinnern, wie es ist, diskriminiert, ausgeschlossen und
herabgesetzt zu werden. Noch ist es angenehm, sich vor Augen zu führen, dass
man andere Menschen diskriminiert, herabgesetzt und ausgeschlossen hat. Doch
genau dieser letzte Punkt ist ein Kernpunkt von Anti-Bias-Arbeit. Zu verstehen,
dass man Menschen diskriminiert, häufig unbewusst und alleine dadurch, dass
man nicht ausreichend darauf achtet, was die Bedürfnisse dieser Menschen sind
und diese damit übergeht:

„Es geht darum, mir darüber bewusst zu werden, dass ich Vorurteile habe und dass
diese auch nicht unbedingt weg zu kriegen sind. Aber ich sollte versuchen, mir dar-
über klar zu werden und in den Momenten genauer hinzugucken, in denen ich mer-
ke, dass ich mit bestimmten Vorannahmen und vielleicht auch Vorurteilen an eine
Sache herangehe. Nur auf dieser Basis kann ich das Vorurteil dann eventuell auch
revidieren. Es hat für mich sehr viel damit zu tun, wie ich mit Menschen umgehen
möchte und was ich eigentlich gelernt habe, wie ich mit Menschen umgehe und was
ich gelernt habe, wie ich mit bestimmten Menschen umgehen soll.“ (MS 5, 47-6, 6)

Stamer gibt in dieser Aussage einen Einblick, wie ungewolltes diskriminierendes


Verhalten entsteht. Dass die eigenen Prägungen und damit die eigene Sicht der
Welt eine subjektive ist, wurde bereits dargelegt. Diese subjektiven Prägungen
sind das, was Stamer hier mit ‚Vorurteilen‘ bezeichnet: Ein Verständnis von der
Welt bzw. von Situationen und Personen in der Welt, das aus der eigenen Pers-
pektive konstruiert wird. Es führt zu Handlungen aufgrund der Deutung. Diese
Handlungen, die auf die eigene Deutung von Situationen ausgelegt sind, führen
dazu, dass andere Deutungsmuster nicht in Betracht gezogen und somit auch die
Interessen anderer nicht gesehen werden. Diesen Zusammenhang zu verstehen ist
Anliegen der Anti-Bias-Arbeit zum Thema Diskriminierung:

„Es ist erst mal eine Sensibilisierung für diskriminierendes Verhalten oder für Disk-
riminierung innerhalb der Gesellschaft und damit zusammenhängend ist einer der
ersten Schritte das Fördern von Empathie diesbezüglich.“ (MS 10,12-14)

Die eigenen Mechanismen von diskriminierenden Verhalten zu erkennen, ist also


ein wichtiges Element der Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz.
Das Thema Diskriminierung ist komplex und hat viele Facetten. Die oben
beschriebene PowerFlower-Übung liefert Gesprächs- und Austauschmöglichkei-
ten zu den jeweiligen Erfahrungen mit Diskriminierung. Hören und gehört wer-
den sind dabei zwei Elemente, die dazu beitragen, die Komplexität des Themas

168
zu begreifen. Patricia Göthe berichtet von ihren Erfahrungen mit der Übung. Sie
konnte sich an Situationen erinnern, in denen sie diskriminiert wurde, sie konnte
sich an die Gefühle und ihre Reaktion erinnern. Gleichzeitig beschreibt sie ein
weiteres Phänomen:

„Auch wenn ich selbst schon von Diskriminierung betroffen war, ist es trotzdem so,
dass ich viele Diskriminierungs-Erfahrungen von anderen ausblende, vielleicht weil
sie nicht zu meiner Lebenswelt gehören oder weil ich den Bezug nicht habe oder die
Leute nicht kenne.“ (PG 4, 43-5,3)

Es war neu für Göthe, von Diskriminierungserfahrungen anderer zu hören und


dabei zu erkennen, dass dabei die eigene Sicht eine sehr eindimensionale sein
kann. Sie führt aus, dass ihr bewusst geworden ist, dass das bewusste Benennen
können von Diskriminierungserfahrungen nicht dazu führt, dass man Diskrimi-
nierung automatisch erkennt, wenn sie anderen widerfährt. Zu hören, wie andere
Menschen Diskriminierung erlebt haben, hat in Göthe ein neues Verständnis
ausgelöst. Sie spricht hier von der Auseinandersetzung mit Diskriminierungser-
fahrungen. Als Beispiel schildert sie eine Situation, in der eine lesbische Frau
von ihren Diskriminierungserfahrungen berichtet:

„Das ist eine Frau, die ich immer als sehr stark wahrgenommen habe und in dieser
Situation habe ich ihren Schmerz miterlebt. Da habe ich also von einer Erfahrung
gehört, die ich nicht selbst gemacht habe und auch nicht machen kann, weil meine
Biographie eine andere ist. Ich habe auch immer gedacht, dass hier in Berlin mit
dem Thema Homosexualität sehr locker umgegangen wird und dass es kein großes
Thema mehr ist. Aber in dieser Situation habe ich den Schmerz dieser Frau begrif-
fen und verstanden. Und das ist für mich der Ansatz von Anti-Bias: Dieses Erzählen,
Zuhören, Geschichten von anderen einfach auch zu sehen. Und dann zu merken,
dass Diskriminierung ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Ich bin davon be-
troffen, jeder andere hat zumindest in seinem Leben schon mal so eine Erfahrung
gemacht, wie sich das anfühlt und das zu verstehen war für mich sehr bereichernd.“
(PG 5, 12-28)

Die Erfahrung, sich direkt mit den Diskriminierungserfahrungen anderer Men-


schen auseinanderzusetzen und ihre damit verbundenen Emotionen mitzuerleben,
war neu für Göthe. Und genauso neu war die Erkenntnis, dass man durchs Leben
geht und ständig mit Diskriminierung konfrontiert ist, ohne direkt betroffen zu
sein. Für solche Situationen ein Gefühl, einen Blick und ein Bewusstsein zu
entwickeln, war für sie ein intensiver Lerneffekt im Rahmen des Anti-Bias-
Trainings.

169
6.3.4 Diskriminierung verlernen / Handlungsalternativen entwickeln

Es geht in der Anti-Bias-Arbeit also darum, zu lernen und zu erkennen, dass und
wie jeder einzelne Menschen diskriminiert und dazu beiträgt, dass Diskriminie-
rung funktionieren kann. Damit zusammen hängt ein weitere Aspekt, den Fenna
Paproth als bedeutsam und auch als neu betrachtet: die Auseinandersetzung da-
mit, wie es funktionieren kann, dass Diskriminierung verlernt wird.

„Anti-Bias sagt ausdrücklich, dass es auch darum geht, Diskriminierung zu verler-


nen. Diese Begrifflichkeit kannte ich so vorher nicht. Das ist ein Novum, denke ich.
Obwohl ich glaube, dass viele dies beabsichtigen, aber es wird so nicht benannt. Es
ist also ein Einsehen, dass man Diskriminierung praktisch erlernt, ich praktiziere
das auch, ich weiß auch, womit das zusammenhängt, mit bestimmten Privilegien, die
ich habe, aber wie ich das verlerne erfahre ich oft nicht.“ (FP 5, 12-25)

Für Paproth ermöglicht die Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz also die bewusste
Auseinandersetzung damit, wie es funktionieren kann, dass Individuen zum
einen begreifen, dass sie Teil von Diskriminierungsstrukturen sind und dass sie
zu deren Funktion auch beitragen, zum anderen ermöglicht die Arbeit die Ausei-
nandersetzung mit und die Suche nach Wegen, diese Diskriminierungsstrukturen
dadurch aufzubrechen, dass Diskriminierung verlernt wird. Auch Prasad Reddy
sieht darin ein Ziel der Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz:

„Ein Ziel ist, eigene Voreingenommenheiten zu erkennen und zu erkennen, wenn du


andere Menschen mit negativen Einstellungen behandelst. Das zu erkennen ist
schon schwierig. Und dann kommt es darauf an, positive Alternativen zu entwickeln
und zu praktizieren.“ (PR 4, 35-38)

Reddy schließt diese Aussage mit der Erkenntnis ab, dass es zwei unterschiedli-
che Dinge sind, einerseits Alternativen auszudenken und andererseits diese alter-
nativen Handlungsweisen auch zu praktizieren. Anti-Bias-Seminare sind zeitlich
begrenzt. Eine zufällige Gruppe, ausschließlich zu dem Seminaranlass zusam-
men gekommen, arbeitet in einem geschützten Raum – fernab von den Anforde-
rungen des Arbeitsalltags – am Thema Anti-Bias. Dies bedeutet, dass die Hand-
lungsalternativen nicht erprobt oder gar routiniert werden können. Sie können
lediglich entwickelt werden. Das Seminar bietet den Raum und die Zeit, um sich
auf Basis des im Seminar Gelernten mit Fragen bezüglich Diskriminierung im
eigenen Handlungsfeld auseinander zu setzen. Die Anti-Bias-Werkstatt hat hier-
zu Fragen formuliert, die zum Abschluss des Seminars dazu dienen können,
Handlungsalternativen zu entwickeln:

170
„Situationsbeschreibung: Was ist schwierig/problematisch? Wo brennt es? – Situati-
onsverortung: Auf welchen Ebenen spielt sich die Situation ab bzw. welche Ebenen
spielen in die Situation hinein? – Eigener Einflussbereich: Wo liegt mein Einfluss-
bereich? Welche Handlungsspielräume habe ich? – Aktionsplanung: Welche Schrit-
te nehme ich mir vor? Wann finden sie statt und wie sollen sie konkret aussehen?“
(Anti-Bias-Werkstatt/Europahaus Aurich 2007/Handlungsschritte)

Die Beantwortung dieser Fragen entlässt die SeminarteilnehmerInnen mit einer


Idee davon, wie sie das Gelernte in die Praxis umsetzen können. Wie die Umset-
zung konkret aussieht und ob sie funktioniert, muss zum Abschluss der Seminare
offen bleiben.

6.3.5 Antizipation von Gesellschaft

Zentral an allen beschriebenen Übungen und Methoden, die in den Anti-Bias-


Seminaren angewandt werden, sind zwei Elemente: Zum einen geht es immer
um den Rückgriff auf eigene Erfahrungen und deren Reflexion unter bestimmten
Fragestellungen. Zum anderen geht es immer darum, gemeinsam in der Gruppe
die Erfahrungen zu teilen. Dieser Weg führt zu einem breiteren Verständnis von
Deutungs- und Handlungsmustern, da diese bewusst ausgetauscht, gehört und
miteinander reflektiert werden. Gisela Führing hält diesen Austausch besonders
aus dem Grund für bedeutsam, weil Gesellschaft immer pluraler wird. Das heißt,
die Mitglieder einer Gesellschaft haben immer individuellere Lebensläufe. Da-
durch wird es schwieriger zu verstehen, was in anderen vorgeht.

„Je pluraler diese Gesellschaft wird, desto stärker müssen wir kommunizieren, weil
wir nicht mehr wissen, was den Nächsten, der uns nahe kommt, geprägt hat und wie
er kommuniziert, was für ihn wichtig ist. Das heißt, dass dieses In-Kontakt-Gehen
ein wesentlicher Teil der Zukunftsbewältigung ist für diese Gesellschaft. Es geht
dann auch darum, mit dem Gegenüber zusammen zu gucken, wohin wir jeweils ge-
hen würden in Bezug auf eine menschenwürdige Gesellschaft oder menschenwürdi-
ge Zukunft? Also es geht immer auch ein Stück weit darum, eine Richtung zu geben
oder wie wir es aus der globalen Perspektive nennen: „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“. Also, dass wir da praktisch die Zukunft ein Stück antizipieren und sa-
gen, in was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben, was soll unser Zu-
sammensein prägen?“ (GF 5, 31-46)

Dadurch, dass die Lebensentwürfe immer pluraler werden, werden auch Erwar-
tungen an die Gesellschaft, an das Gegenüber und an das, wie die Welt funktio-
niert, pluraler und komplexer. Um gerade in dieser Komplexität dennoch einen
Konsens zu finden und sich darüber zu verständigen, wie der einzelne leben will

171
und wie sich diese Vorstellungen mit den Bedürfnissen anderer decken lassen, ist
es wichtig, im Austausch darüber zu bleiben:

„Es ist die Möglichkeit, zu gucken, wie wir Zusammenleben organisieren können für
uns alle, dass alle sich akzeptiert fühlen und dass sich jeder hier aufgehoben fühlen
kann.“ (PG 14,37-39)

Die Übung ‚Wertebörse‘ ist eine Methode mit dem Ziel, die eigenen Wertvor-
stellungen und die anderer Personen zu reflektieren und zu verstehen (vgl. Anti-
Bias-Werkstatt/Europahaus Aurich 2007). Ausgehend von einer Liste, auf der
Werte wie z.B. Ehrlichkeit, Wohlstand und soziale Verantwortung stehen, sind
die Übenden aufgefordert, zunächst alleine und dann in Gruppen, die jeweils
wichtigsten Werte herauszufinden. Über einen spielerischen Zugang wird in der
Gruppe die Diskussion darüber eröffnet, welche Werte von hoher und welche
von nicht so hoher Bedeutung sind, Gründe hierzu werden ausgetauscht. Erst ein
solcher Austausch ermöglicht es, auch andere Wertvorstellungen als die eigenen
kennen zu lernen und zu verstehen. Das Aushandeln der bedeutsamsten Werte
auf dieser Basis führt auch dazu, dass die Übenden kooperieren, dass sie Komp-
romisse finden und eingehen und dass sie so im Kleinen, nämlich in der Arbeits-
gruppe, neu aushandeln, welche Werte in ihrer Gruppe wichtig sind.
Anti-Bias-Seminare bieten also einen Rahmen, sich in einer Gruppe damit
auseinanderzusetzen, was man von der Gesellschaft erwartet, was man dazu
beitragen kann und auch, sich damit auseinanderzusetzen, was in anderen vor-
geht.

6.3.6 Kontextualisierung der Erkenntnisse

Die Anti-Bias-Seminare in der Erwachsenenbildung legen den Fokus der Arbeit


auf das Thema Diskriminierung. In einem geschützten Raum und zu einer fest-
gesetzten Zeit bekommen TeilnehmerInnen die Möglichkeit, sich mit sich selbst
und mit der Gesellschaft auseinander zu setzen. Aufgezeigt werden eigene Prä-
gungen und daraus entstehende Werte- und Normmuster, die zu Vorurteilen
führen können. Aufgezeigt wird auch, wie Diskriminierung funktioniert und
inwiefern jeder Mensch sowohl Opfer als auch Täter von Diskriminierung wird.
Nicht zuletzt sind Anti-Bias-Seminare ein Raum, in dem es ermöglicht wird,
gemeinsam mit anderen zu überlegen, was jedeR für sich individuell dazu bei-
tragen kann, um der Leitidee der diskriminierungsfreien Gesellschaft näher zu
kommen.

172
6.4 Anti-Bias in pädagogischen Fortbildungen

Die Elemente, die für die Anti-Bias-Arbeit im Rahmen der Erwachsenenbildung


beschrieben wurden, sind auch Elemente des Fortbildungsprogramms für Päda-
gogInnen. Dem Anspruch gerecht zu werden, Identitätsentwicklung zu unterstüt-
zen, den Umgang mit Vielfalt zu ermöglichen und schließlich eine pädagogische
Umgebung zu kreieren, die möglichst frei ist von Schieflagen und einseitigen
Darstellungen von Realität, stellt eine hohe Anforderung an die pädagogischen
Kompetenzen von ErzieherInnen. Die Erfahrungen der Projektarbeit bei Kinder-
welten wurden über die Jahre konkretisiert, bis sie letztendlich in ein handfestes
Fortbildungsprogramm für ErzieherInnen zur vorurteilsbewussten Bildung und
Erziehung umgesetzt werden konnten. Darin besteht auch ein großer Teil der
Weiterentwicklung des Anti-Bias-Ansatzes. Während in dem von Derman-
Sparks und ihren KollegInnen entwickelten Curriculum der Fokus noch eindeu-
tig auf den Kindern lag, betonen die Mitarbeiterinnen des Projekts Kinderwelten
die Rolle, die die ErzieherInnen in den geschilderten Prozessen spielen. Dass
diese Rolle nicht allein mit gutem Willen ausgefüllt werden kann, sondern konk-
reter Methoden und vor allem auch Einsichten und dem Aneignen von Wissen
bedarf, ist im Projekt Kinderwelten deutlich geworden. Die Entwicklung eines
Fortbildungskonzepts ist die Konsequenz aus dieser Erkenntnis. In diesem Kapi-
tel wird deshalb dieses Fortbildungskonzept vorgestellt. Der Blick wird auf Er-
zieherInnen gerichtet und darauf, inwiefern die Fortbildungsarbeit von Kinder-
welten die Kompetenzen von ErzieherInnen erweitern möchte. Die Mitarbeite-
rInnen von Kinderwelten haben dazu ein eigenständiges Fortbildungsprogramm
entwickelt. Im Fokus der Fortbildung steht die Sensibilisierung für Einseitigkei-
ten und Diskriminierung. Das Ziel ist, ErzieherInnen darin zu unterstützten,
Einseitigkeiten und Diskriminierungen zum einen zu erkennen und zum anderen
herleiten zu können, wie diese entstehen und welche Rolle sie selbst in diesem
Prozess spielen: „ErzieherInnen müssen sich also als Personen reflektieren, deren
eigene kulturelle Prägungen in ihre Wertorientierungen und Normvorstellungen
einfließen. Sie müssen verstehen, wie das geschieht und welche Wirkung es hat.“
(Wagner/Hahn/Enßlin 2006, 17) Der Fokus liegt außerdem darauf, ErzieherInnen
zu befähigen, die eigene Biographie mit der beruflichen Praxis in Verbindung zu
setzen und so zu erkennen, dass und inwiefern das professionelle Verhalten von
den eigenen Prägungen beeinflusst wird. Es gibt vier formulierte Ziele für die
Fortbildungen:

„1) ErzieherInnen müssen sich ihrer eigenen Bezugsgruppenzugehörigkeiten be-


wusst werden und erkennen, welchen Einfluss sie auf ihr berufliches Handeln
haben.

173
2) ErzieherInnen finden Wege, wie sie die unterschiedlichen Vorstellungen der
Familien über Erziehung und Bildung in Erfahrung bringen können.
3) ErzieherInnen müssen kritisch sein gegenüber den Diskriminierungen und
Vorurteilen in ihrem Kindergarten, im Elementarbereich und in der Bildungs-
politik überhaupt.
4) ErzieherInnen brauchen die Fähigkeit, Dialoge über Diskriminierung und Vor-
urteile zu initiieren und fortzuführen, denn das ist ihre Form aktiver Einmi-
schung.“ (ebd., 23)

Das Fortbildungskonzept besteht aus methodischen Übungen. Diese Übungen


haben entsprechend der Zielsetzung unterschiedliche Schwerpunkte: den Blick
auf die eigene Identität, das Erkennen von Ideologien, Diskriminierungen und
Momenten kultureller Dominanz und schließlich den Einstieg in die vorurteils-
bewusste Praxis (vgl. ebd., 6). Die Übungen wurden nicht im Projekt selbst ent-
wickelt, sondern entstammen verschiedener Kooperationen mit Louise Derman-
Sparks, Anke van Keulen aus den Niederlanden, den Anti-Bias-TrainerInnen
Beryl Hermanus und Welekazi Dlowa aus Südafrika und Prasad und Anita Red-
dy, ebenfalls Anti-Bias-TrainerInnen in Deutschland. Grundlage für die Übun-
gen war außerdem das Buch Shifting Paradigms, dass von ELRU verfasst wurde
und einen ausführlichen Überblick über Anti-Bias-Übungen gibt, die im südafri-
kanischen Kontext angewandt werden (vgl. ebd., 12f).
Im Folgenden geht es nicht in erster Linie darum, das Fortbildungskonzept
in Gänze vorzustellen. Vielmehr liegt der Fokus darauf, die Erfahrungen der
Kinderwelten-MitarbeiterInnen aus der Fortbildungsarbeit offen zu legen. Zu-
sätzlich werden Interviewpassagen aus dem Interview mit den Mitarbeiterinnen
des FiPP angeführt. Auch Kitas, die unter der Trägerschaft des FiPP stehen,
arbeiten nach dem Anti-Bias-Ansatz. Entsprechend nahmen und nehmen die
MitarbeiterInnen und ErzieherInnen an den Fortbildungen zur Arbeit nach dem
Anti-Bias-Ansatz teil. Die geschilderten Erfahrungen der Kinderwelten- wie der
FiPP-Mitarbeiterinnen enthalten Anhaltspunkte dafür, zu welchen neuralgischen
Punkten die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz führen kann. Es wird deutlich,
dass sich Herausforderungen ergeben haben, die bei der Planung so nicht mitge-
dacht wurden, dass Aspekte ins Zentrum der Arbeit rückten, die eigentlich als
Grundlage gesehen wurden. Dadurch wird offen gelegt, dass die Arbeit pädago-
gische Kompetenzen erfordert, die so nicht selbstverständlich zum professionel-
len Habitus von ErzieherInnen gehören. Und noch eins wird daran deutlich: Dass
im Projekt Kinderwelten so bewusst ein Implementationskonzept zugrunde ge-
legt wurde, das den permanenten Dialog und die Einbeziehung aller in Entschei-
dungs- und Planungsprozesse zur Basis macht, erweist sich wohlbegründet. Im
Folgenden werden also Erfahrungen aus den Fortbildungen im Projekt Kinder-

174
welten vorgestellt und damit weitere Aspekte der Anti-Bias-Arbeit von Kinder-
welten veranschaulicht.

6.4.1 Auseinandersetzung mit den eigenen Normen

‚Sensibilisierung für Einseitigkeiten und Diskriminierung‘ – so lautet der Ans-


pruch der Arbeit mit den ErzieherInnen im Projekt Kinderwelten. Dazu Anke
Krause:

„Wir haben uns einen ganz klaren Rahmen gesetzt, in dem wir arbeiten. Und der
heißt, das professionelle Selbstverständnis von ErzieherInnen und LeiterInnen und
inzwischen ja auch Trägern gemeinsam mit ihnen zu untersuchen in Bezug auf Disk-
riminierung.“ (AK 4, 33-36)

Im Fokus der Arbeit stehen die Erzieherinnen bzw. steht das professionelle
Selbstverständnis der ErzieherInnen. Dieses wird ausgeleuchtet im Hinblick auf
ein konkretes Bezugsfeld: Diskriminierung. Den Blick auf das professionelle
Selbstverständnis zu richten heißt, ihn auf verschiedene Aspekte des professio-
nellen Handelns zu lenken: auf Routinen, auf Mechanismen, auf Handlungskon-
zepte und auf Kommunikationsverhalten im beruflichen Kontext. Es gilt, diese
Aspekte näher zu betrachten und dabei die Aufmerksamkeit auf Hinweise zu
lenken, ob, wie und an welchen Stellen das pädagogische Handeln Elemente von
diskriminierenden Handeln beinhaltet:

„Ziel der Arbeit mit den ErzieherInnen ist, dass sie in eine Auseinandersetzung ge-
hen mit ihrem eigenen kulturellen Hintergrund, und das tatsächlich fachlich bezo-
gen. Es geht darum zu verstehen: ‚Was für eine Auswirkung hat denn, was ich erlebt
habe und welche Normen ich mit mir rumtrage? Was für eine Auswirkung hat das
für meine Arbeit?“ (PW 10, 34-37)

Wagner setzt die individuellen Normen einer Person mit den Auswirkungen auf
pädagogisches Handeln in Beziehung. Sie lenkt den Fokus auf die Prägungen
eines Menschen und darauf, dass diese Prägungen Einfluss auf die Arbeit haben.
Sie greift damit einen Gedanken auf, der in der vorurteilsbewussten Bildung und
Erziehung grundlegend ist: Jeder Mensch bzw. hier auf das konkrete Feld bezo-
gen jedeR ErzieherIn hat einen individuellen kulturellen Hintergrund. Dieser
individuelle Hintergrund setzt sich zusammen aus Normen, Werten, Handlungs-
und Erklärungsmustern, die aus den jeweils einmaligen Erfahrungen und Ein-
flüssen eines Menschen entstehen. Dieser individuelle kulturelle Hintergrund
lenkt den eigenen Blick und bestimmt damit, was und auf welche Art ein

175
Mensch Dinge, Personen und Situationen wahrnimmt. Was wir kennen, beein-
flusst das, was wir sehen, was wir kennen lernen und was wir bewusst aufneh-
men. Die Wahrnehmung beeinflusst wiederum das Handeln einer jeden Person.
Wie eine Person sich Situationen erklärt, hängt ab von den Erklärungsmustern,
die ihr aufgrund ihrer Erfahrungen zur Verfügung stehen. Entsprechend der Deu-
tung einer Situation oder der Deutung dessen, was andere Menschen tun, wird
das eigene Handeln darauf abgestimmt. Auf den professionellen Kontext über-
tragen, bedeutet dies Folgendes: Das pädagogische Handeln wird beeinflusst und
vorherbestimmt von den Prägungen, Normen und Werten, die eine Person mitb-
ringt. In den Fortbildungen zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung geht
es darum, diese das Handeln lenkenden Werte und Normen zu erkennen. Sie
werden in den Blick genommen und daraufhin reflektiert, inwiefern sie das Han-
deln beeinflussen.
Die Grundlage für die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung ist, dass
ErzieherInnen sich mit den eigenen Prägungen und Normen auseinandersetzen
und diese im Hinblick auf ihr professionelles Handeln reflektieren:

„Es geht in dem Anti-Bias-Konzept darum, bereit zu sein und sich in die Lage zu
versetzen, sich gemeinsam mit anderen Vorurteile immer wieder anzugucken. Und
zu verdeutlichen, wo sie das eigene Handeln bestimmen, die Wahrnehmung ein-
schränken und zu unzulässigen Verallgemeinerungen anderen gegenüber führen.“
(CP 4, 30-34)

Preissing führt hier die von Wagner formulierte Zielsetzung genauer aus. Das
professionelle Handeln wird durch individuelle Normen bestimmt. Diese schrän-
ken die Wahrnehmung ein und führen zu unzulässigen Verallgemeinerungen.
Preissing benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff ‚Vorurteile‘. Gemeint
ist damit Folgendes: Prägungen, die sich in Werten und Normen ausdrücken,
führen zu Vorurteilen, wenn sie nicht bewusst durchleuchtet werden. Es geht
darum aufzudecken, dass die eigene Sicht auf die Dinge eben keine allgemein-
gültige ist, sondern nur eine von vielen. Die individuellen Wertmaßstäbe können
nicht als allgemeiner Maßstab gelten, an dem andere Menschen gemessen wer-
den. Wenn dies geschieht, entstehen Vorurteile dadurch, dass die eigenen Nor-
men verallgemeinert und auf andere Menschen übertragen werden. Diese werden
dann daran gemessen, ob sie die Norm erfüllen oder nicht.
In der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung kommt es darauf an, den
ErzieherInnen zu verdeutlichen, wo die eigenen Prägungen zu einer verallgemei-
nernden Norm und damit zu einer eingeschränkten Sicht auf die Kinder führen.
Der eigene Blickwinkel ist immer nur eine von vielen möglichen Alternativen.
Aus jedem Blickwinkel werden nur bestimmte Aspekte einer Person wahrge-
nommen, andere dagegen ausgeblendet. Gelingt das Vorhaben, wird der Blick

176
von ErzieherInnen durch die Fortbildungen zur vorurteilsbewussten Arbeit da-
hingehend geöffnet, dass sie die Notwendigkeit erkennen, die Perspektive zu
wechseln und andere Blickwinkel einzunehmen. Nur so ist es möglich, Kinder
offen und unvoreingenommen zu betrachten und damit zu sehen, welche Kompe-
tenzen, Möglichkeiten und Bedürfnisse sie mitbringen.

6.4.2 Die eigene Perspektive erkennen

Die eigene Perspektive zu erkennen ist gerade mit Blick auf Mitglieder der
Mehrheitsgesellschaft bedeutsam:

„Wichtig und in dieser Radikalität neu finde ich das Eingeständnis, dass wir insbe-
sondere, wenn wir die dominante Perspektive teilen und für normal halten, eine ex-
tra Anstrengung machen müssen, um andere Perspektiven zu verstehen. Das heißt,
man muss erst mal begreifen, dass man begrenzt guckt.“ (PW 8, 17-21)

Es wurde bereits ausgeführt, dass Einrichtungen in Deutschland die hier herr-


schende Mehrheitskultur repräsentieren und auch reproduzieren (vgl. Kap. 6.1.5)
Diese dominanzkulturelle Gestaltung von Kitas wird nicht automatisch hinter-
fragt. Sie kann aber leicht aufgezeigt werden:

„Wir haben einfach mal zusammengestellt, wie das mit dem Personal ist, wir haben
das zusammengefasst und ausgewertet. Oder wir hatten Trainings oder Fortbil-
dungssequenzen, in denen es um die Frage ging, wer erlebt hat, dass die Familien-
sprache mit dem Eintritt in eine Erziehungseinrichtung, sei es Kita oder Schule, un-
ter Druck kam? Und dann waren das eher starke Dialektsprecher oder Menschen
mit Migrationshintergrund. Und dann kannst du natürlich sofort diskutieren, was es
diesbezüglich auch hier für Schieflagen gibt. Auf solchen Erkenntnissen basierend
lässt sich dann zum Beispiel der Schuleintritt für ein Kind, das mit zwei Sprachen
aufwächst, ganz anders gestalten als für ein einsprachiges Kind.“ (PW 8, 9-17)

Wagner benennt hier zwei Beispiele für dominanzkulturelle Prägungen. Durch


das Aufzeigen des Personalschlüssels in den Einrichtungen kann aufgezeigt
werden, ob und inwiefern die Einrichtungen von Mitgliedern der Mehrheitskul-
tur bestimmt wird. Das Beispiel der Dialekte knüpft an den Erfahrungen der
ErzieherInnen an. Über den Bezug zu den eigenen Erfahrungen und das Hervor-
holen der Gefühle, die diese hervorgebracht haben, können Verknüpfungen zu
aktuellen Gestaltungsmomenten in der Kita aufgezeigt und besprochen werden.
Auf Basis der Reflexion der eigenen Erfahrungen und Gefühle können Erziehe-
rInnen sich in die Gefühlswelt der Kinder hineinversetzen. Die Mehrheitspers-

177
pektive wird also in den Einrichtungen widergespiegelt und solange niemand
einfordert, dass die Kita aus einem anderen Blickwinkel gesehen wird, wird nicht
klar, dass dies so ist und an welchen Merkmalen dies erkennbar ist. Erst, wenn
eine andere Perspektive eingenommen wird bzw. die eigene Perspektive verlas-
sen wird, ist zu erkennen, dass der Blick ‚begrenzt‘ ist und Kinder außerhalb
dieser Grenzen nicht mit ihren Fähigkeiten und mit ihren Bedürfnissen wahrge-
nommen werden. Daher ist eine Erweiterung des Blickwinkels nötig:

„Das ist eine besondere Aufgabe für Menschen in Autoritäts- oder Machtpositionen,
weil das ja ziemlich viel anrichten kann, wenn sie in ihrer reduzierten Perspektive
bleiben und diese für alleine richtig und wichtig verkaufen und alles andere nicht
wahrnehmen. Es geht darum zu sehen, dass es dann sein kann, dass ich bestimmte
Fähigkeiten von Kindern überhaupt nicht erkenne, dass ich sie überhaupt nicht
wahrnehme in dem, was sie eigentlich drauf haben. Wenn ich immer nur sage, dass
sie das und das nicht können, dann habe ich vielleicht schon reduzierte Erwartun-
gen an sie und stelle gar keine Anforderungen mehr.“ (PW 8, 22-29)

Eine Konsequenz der eingeschränkten Perspektive wird deutlich. Ein einge-


schränkter Blick ist wie eine Art Kompetenzskala. Aspekte, die für die Erziehe-
rInnen relevant sind, werden erkannt, andere Kompetenzen, die die Kinder viel-
leicht mitbringen, werden dagegen übersehen. Die Kompetenzen, die auf der
eigenen Kompetenzskala nicht vorkommen, werden auch nicht abgefragt. Lü-
cken werden nicht geschlossen. Das Kind bleibt defizitär. Es ist also wichtig, den
eigenen Blickwinkel daraufhin abzuklopfen, ob er vorgefertigte Erwartungen an
Kinder stellt oder ob er offen ist. Wird der Blickwinkel erweitert, hat dies Aus-
wirkungen auf die Wahrnehmungen:

„Du fängst dann an, tatsächlich etwas genauer hinzugucken. Das ist auch etwas,
was vielen Kolleginnen passiert, mit denen wir arbeiten. Die sagen dann: Das Wich-
tigste ist so eine Art Blickveränderung. Sie gehen noch durchs gleiche Leben, aber
mit einem anderen Blick. Sie sehen mehr, als sie vorher gesehen haben, mehr von
diesen Einseitigkeiten.“ (PW 5, 22-26)

Hier wird deutlich, der Blickwinkel wird erweitert. Es geht nicht darum, den
Blick auf anderes zu richten, sondern darum, den Blick zu öffnen. Und das ist
auch der professionelle Anspruch: Alles im Blick zu haben und extra Anstren-
gungen zu unternehmen, um die Aspekte zu sehen, die einem im Alltag nicht
auffallen, weil sie einen selbst nicht betreffen. Wagner gibt hierzu ein sehr plasti-
sches Beispiel aus dem privaten Alltag:

178
„Es ist einem vorher nie aufgefallen, dass bei dieser komischen Miederwäsche im-
mer ‚hautfarben‘ steht. Das ist beige. Sowas völlig Idiotisches, das ist einem nie
aufgefallen, dass das falsch und einseitig ist.“ (PW 5, 27-29)

Diese Schilderung verdeutlicht, dass es nicht um einen Wissenszuwachs geht,


also darum, möglichst viele Perspektiven wissend/bewusst einnehmen zu kön-
nen. Sondern es geht zunächst darum, dafür sensibilisiert zu sein, dass die eigene
Sicht der Dinge nicht die ‚normale‘ also die Normsicht ist, sondern eine durch
die individuellen und dominanzkulturellen Prägungen eingeschränkte.

6.4.3 Der Blick auf die Kinder

Barbara Tennstedt gibt zwei Beispiele dafür, dass der Blick von ErzieherInnen
häufig einer ist, der das Augenmerk auf das Negative richtet, es ist also ein
‚schiefer‘ Blick, der einseitig ist. Beide Beispiele stammen aus Kitas, die vom
FiPP betreut werden:

„Wenn Kinder neu in die Kita kommen, vergeht kein Tag und schon ist klar, dass es
ein bis fünf Kinder gibt, die sozusagen Spezialkinder sind. In diesem Fall ist es in-
sbesondere ein Kind. Das kriegt schon die Botschaft mit, dass man auf den aufpas-
sen muss. Und ich weiß es, von meiner ersten Stunde an kriege ich es mit. Ich merke
es, er ist speziell und ich kriege es aber auch jedes Mal gesagt und mein Kollege vor
Ort, dessen Arbeit ich schätze, der weist mich auch darauf hin. Wenn ich das Ge-
lände betrete, sagt er schon: ‚Das ist Nick‘ oder ‚Da ist Nick‘ oder ‚Da sehen wir
wieder Nick‘ oder so und das ist genau der Blick.“ (FiPP/BT 5, 11-17)

Tennstedt beschreibt hier, dass Kinder schon nach der ersten Begegnung mit den
ErzieherInnen ein Label bekommen. Kinder, die am ersten Tag auffällig sind,
haben erstmal den Ruf, generell auffällig sein. Der Blick auf sie ist ein vor-
schnell urteilender. Ein weiteres Beispiel beschreibt die Benutzung von vernied-
lichenden Spitznamen anstelle der richtigen Namen:

„‘Mäuschen‘ ist so einer. Da sind Erzieherin, frisch aus der Ausbildung, Anfang
zwanzig und sie sagen ‚Mäuschen‘ zu Kindern. Das hat etwas mit Geschmack zu tun
und mit verschiedenen anderem auch, aber es hat auch etwas damit zu tun, ob du
eine Persönlichkeit erkennen willst, erarbeiten willst, dich bekannt machen willst
oder ob du erst mal bei Mäuschen bleibst.“ (FiPP/BT 5, 25-30)

Auch hier wird ein schiefer, vereinfachender Blick beschrieben, der aber gleich-
zeitig auch Zeugnis davon sein kann, dass Kinder hier schon auf eine Persön-
lichkeit festgeschrieben werden. Zu genau diesem Thema gibt es eine konkrete

179
Übung in dem Fortbildungskonzept: ‚Etikettierung im Kita-Alltag‘. Auf dem
Arbeitsblatt ‚So sehe ich meine Kinder‘ sind verschiedene comicartige Skizzen
von Kindern abgebildet. Die Bildunterschriften lauten zum Beispiel ‚Max ist
unser Kasper‘, Lilli ist eine Trödelliese‘ oder ‚Leo ist unser Dickerchen‘. Die
FortbildungsteilnehmerInnen werden aufgefordert, zu überlegen, welche Etiket-
tierungen sie selbst benutzen, in welchen Situationen sie dies tun und welche
Normen dahinter stecken. Die Annahme ist folgende: „Solche Bewertungen sind
nicht zufällig, sondern sie entsprechen bestimmten Stereotypen, zum Beispiel
den Geschlechterrollen: Zu einem Mädchen würde kaum jemand »Raufbold«
sagen, zu einem Jungen sagt selten jemand »Nervensäge«.“ (Wag-
ner/Hahn/Enßlin 2006, 115) Etikettierungen sind „vereinfachende und bewerten-
de Zuschreibungen [ ], zu denen Menschen greifen, um es sich in einer komple-
xen Situation etwas einfacher zu machen“ Kleine Kinder wehren sich in der
Regel nicht gegen solche Zuschreibungen (ebd., 116). In einem weiterführenden
Teil der Übung werden dann ‚Techniken der Beschreibung‘ geübt, die ohne
Zuschreibungen auskommen. ErzieherInnen wird auf diese Weise bewusst, dass
sie Kinder mit solchen Zuschreibungen auf wenige Eigenschaften oder Merkma-
le reduzieren und damit vielleicht auch schon den eigenen Blick auf das Kind
einschränken. Karin Joggerst sieht im Anti-Bias-Ansatz das Potenzial, einen
erweiterten Blick zu vermitteln:

„Ich finde das einfach total feinfühlig, diese Möglichkeit zu vermitteln, dass es noch
andere Wahrnehmungen gibt und das darin ein Potenzial liegt, dass sich da wirklich
etwas weitet.“ (FiPP/KJ 6, 28-30)

Der Blick auf das Kind, also wie ErzieherInnen die Kinder wahrnehmen, ist ein
zentraler Aspekt der Fortbildungen zur vorurteilsbewussten Bildung und Erzie-
hung. Die Erfahrungen der MitarbeiterInnen von Kinderwelten aus zahlreichen
Fortbildungen zeigen eines auf: Das professionelle Selbstverständnis vieler Er-
zieherInnen ist geprägt von dem Anspruch an die eigene Arbeit, alle Kinder
gleich zu behandeln.

„Wir hatten zu Beginn der Arbeit eine Auseinandersetzung mit der Haltung von vie-
len ErzieherInnen, die gesagt haben: ‚Mir ist jedes Kind gleich lieb. Egal welche
Herkunft, egal welche Hautfarbe, egal wie es aussieht, egal welches Geschlecht.
Kinder sind Kinder, die sind mir alle gleich lieb. Das ist ja auch mein Beruf. Also,
ich muss sie auch alle gleich behandeln.‘“ (CP 6, 14-18)

Hier wird ein professionelles Selbstverständnis formuliert, das ganz bewusst


darauf ausgerichtet ist, alle Kinder gleich zu behandeln und auch als gleich zu
sehen. Die Erzieherinnen verstehen dies als ihre Aufgabe. Aufgrund dieser Er-

180
fahrungen wurde im Projekt Kinderwelten erkannt, dass die Auseinandersetzung
mit diesem Verständnis von Profession ein bedeutsamer Teil der Arbeit mit den
ErzieherInnen ist:

„Wir haben sehr schnell gemerkt, dass es darum geht, dass die ErzieherInnen sich
mit ihrer eigenen Wahrnehmung auseinandersetzen. Dass sie schauen, ob sie allen
Eltern gleich begegnen oder ob sie allen Kindern gleich begegnen.“ (CP 6, 12-14)

Es geht also darum, den Blick der ErzieherInnen zu öffnen. Sie betrachten ihre
eigene Praxis und hinterfragen dabei, ob sie dem Anspruch, jedes Kind gleich zu
behandeln, entsprechen. Dafür gilt es zunächst zu hinterfragen, was mit ‚gleich
behandeln‘ gemeint ist. In der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung meint
es, jedem Kind die gleichen Möglichkeiten einzuräumen, so dass jedes Kind in
der Einrichtung etwas vorfindet, mit dem es sich identifizieren und woran es mit
seinen Erfahrungen anknüpfen kann.

„Wenn ich im Sinne von Anti-Bias sage, dass wir nun mal alle Kinder hier betrach-
ten und jedem einzelnen das Recht zugestehen, dass es hier eine Sphäre vorfindet, in
der es in seiner Identität gestärkt wird, dann gilt es zu gucken: Was heißt denn das
jetzt? Was heißt jetzt Bezugsgruppenidentität? Dann musst du auch wieder lernen,
dass zu erfassen, ohne zuzuschreiben, also ohne wieder eine stereotypisierende Zu-
schreibung zu machen und wirklich den Blick offen zu lassen bzw. zu öffnen für das,
was das Kind wirklich mitbringt an Erfahrung und was seine täglichen Erfahrungen
außerhalb der Einrichtung angeht.“ (PW 6, 11-18)

‚Gleich behandeln‘ bedeutet dann, jedes Kind individuell zu behandeln. Allen


Kindern gleiche Möglichkeiten einzuräumen funktioniert demnach nur, wenn
jedes Kind individuell, also unterschiedlich behandelt wird. Diese Definition zu
Grunde legend, kann mit einem Blick auf die Praxis der ErzieherInnen hinter-
fragt werden, ob in diesem Sinne alle Kinder gleich behandelt werden:

„Ein wichtiger Schritt ist, diese Haltung zu durchbrechen und erst mal einen Be-
wusstwerdungsprozess in Gang zu setzen, dass sie keinesfalls alle Kinder gleich
wahrnehmen oder allen Kindern die gleichen Rechte und Chancen zubilligen, son-
dern dass sie sehr wohl Unterschiede machen.“ (CP 6, 18-21)

Die Unterschiede machen die ErzieherInnen immer dann, wenn sie die Kinder in
ihrer Individualität nicht wahrnehmen. Es kommt also darauf an, den Wider-
spruch aufzuzeigen zwischen dem (scheinbaren) Gleichbehandeln der Kinder
einerseits und dem Verwehren gleicher Rechte und Möglichkeiten andererseits.
Es besteht eine Wechselwirkung. Diese gilt es zu verdeutlichen und zu verste-
hen. Kinder sind unterschiedlich, bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit

181
und haben unterschiedliche Bedürfnisse. Aufgabe von ErzieherInnen ist, diese
herauszufinden, zu erkennen und entsprechend zu handeln. Dies zu vermitteln ist
ein Aspekt der Arbeit im Projekt. Es geht also darum, einen Bewusstwerdungs-
prozess in Gang zu setzen, der aufzeigt, dass ‚gleich behandeln‘ bedeutet, gleiche
Chancen und Möglichkeiten einzuräumen. Dies ist nur möglich über individuelle
und damit unterschiedliche, also ungleiche Behandlung.
Das Ziel ist, ErzieherInnen zu verdeutlichen, dass und vor allem auf welche
Weise sie dazu beitragen, dass Kinder nicht gleich behandelt werden. Der Kita-
Alltag ist geprägt von Situationen, Gestaltungsmerkmalen und Handlungsweisen,
die die Bedürfnisse von Kindern nicht erfüllen und damit wird dem Auftrag,
allen Kindern gleiche Möglichkeiten einzuräumen, nicht nachgekommen. Um
diese Situationen und Merkmale aufzuspüren, wird der Blick auf die Praxis ge-
lenkt. Die Einrichtungen werden unter die Lupe genommen. Dabei werden die
ErzieherInnen aktiv: Sie fotografieren ihre Einrichtungen, besichtigen sie ge-
meinsam und nehmen dabei einzelne Aspekte in den Fokus. Um den Blick für
die Momente zu schärfen, die dazu führen, dass einige Kinder nicht die gleichen
Bedingungen vorfinden wie andere, nehmen die ErzieherInnen die Perspektive
der Kinder ein. Auf diese Weise können sie erkennen, ob wirklich jedes Kind
sich in der Einrichtung wieder finden kann bzw. auch um erkennen zu können,
wo und auf welche Weise Kinder ausgeschlossen werden und somit nicht die
gleichen Möglichkeiten wie andere bekommen.

„Da haben wir natürlich überall gesehen, dass das alles voll ist von Klischees und
von monokulturellen Prägungen. Es war dann die Frage, wie wir mehr Vielfalt in
die Ausstattung der Kitas bringen, wie wir Vielfalt auch zum Gegenstand unserer
pädagogischen Arbeit machen, wie wir andere Inhalte integrieren in unser Curricu-
lum, um Kindern überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich mit ihren Gruppenzuge-
hörigkeiten auseinanderzusetzen?“ (CP 6, 35-41)

Das Aufspüren von Klischees und monokulturellen Prägungen in den Kitas hat
es ermöglicht, den ErzieherInnen vor Augen zu führen, dass sie nicht alle Kinder
gleich behandeln und das zum Beispiel dadurch, dass sie ihnen nicht die gleichen
Ausgangsmöglichkeiten einräumen. Erst wenn ErzieherInnen erkennen, dass und
vor allem wo und wie sie dazu beitragen, dass in der Kita mono- bzw. domi-
nanzkulturelle Schieflagen hergestellt werden, kann überlegt werden, was dies
bedeutet und was verändert werden kann bzw. muss, wenn man dem Auftrag
nachkommen will, allen Kindern mit ihren vielfältigen Lebenswelten und Inter-
essen Anknüpfungsmöglichkeiten zu bieten um ihnen so Bildungsprozesse zu
ermöglichen.
Ein wichtiger Baustein der Fortbildungen zur vorurteilsbewussten Bildung
und Erziehung ist also die Sensibilisierung. ErzieherInnen erkennen zum einen

182
die eigenen Prägungen und zum anderen, welchen Einfluss diese auf die Gestal-
tung der pädagogischen Praxis haben.

6.4.4 Vorurteilsbewusstes Handeln

Wenn die ErzieherInnen erkannt haben, dass ihre Prägungen das Handeln im
pädagogischen Kontext beeinflussen, ist ein erster Schritt zur vorurteilsbewuss-
ten Bildung und Erziehung gemacht. ErzieherInnen sind dafür sensibilisiert, dass
pädagogisches Handeln häufig dazu führt, dass Kinder unterschiedliche Mög-
lichkeiten der Anknüpfung und der Teilhabe haben. Basierend auf dieser Erkenn-
tnis kann ein weiterer Baustein angegangen werden: Die Veränderung der Praxis.
Der Anspruch an die Praxis ist, sie so zu gestalten, dass sie allen Kindern Ank-
nüpfungs- und damit Bildungsprozesse ermöglicht.

„Das Ziel ist, pädagogische Arbeit in der Kita besser zu machen. Besser heißt: Allen
Kindern Bildungsprozesse ermöglichen bei gleichzeitiger ganz hoher Unterschied-
lichkeit und Vielfalt, die da existiert. Das ist gar nicht leicht. Das ruft richtig nach
Professionalität, also auch nach Wissen, wie man es macht und auch ganz konkret
nach Methoden, nach bestimmten Vorschlägen, wie du genau dieses tun kannst,
nach Herangehensweisen. Die kannst du lernen. Du kannst mit Kindern Gespräche
so führen, dass einzelne Kinder sich schrecklich vorgeführt fühlen und diese Ge-
spräche hassen. Oder du kannst genau das Kritische unter die Lupe nehmen und so
lange üben, bis du mit Kindern so reden kannst, dass ihr über das Gemeinsame an
die Unterschiede rankommt. Das ist hartes Know-how.“ (PW 13, 27-39)

Den Anspruch zu erfüllen, allen Kindern Bildungsprozesse zu ermöglichen,


bedeutet also, Methoden und Kommunikationsmuster einzuüben und Wege der
Gestaltung auszuprobieren. Zu wissen, dass etwas zu verbessern ist, bedeutet
noch nicht, dass auch klar ist, wie es zu verbessern ist.

„Deswegen auch noch mal die Betonung von Methoden und Vorgehensweisen. Das
muss ganz konkret sein. Man muss was ins Täschchen gepackt haben, wenn man
vorurteilsbewusste Arbeit anbietet. Es geht eben nicht nur darum, sich selbst und die
eigene Arbeit zu reflektieren, sondern es ist wirklich auch verknüpft mit Anregungen
oder Bildern – Bildern, wie es anders sein kann. Wenn so eine Arbeit nicht existiert,
hast du kein Bild davon, wie es sein kann. Das merken wir jetzt gerade in Thüringen.
Dort haben manche Erzieherinnen reflektiert, wie sie selbst als Kind in DDR-Kitas
oder Horten nicht zu Wort kamen und da Erfahrungen von Beschämung und Aus-
grenzung gemacht haben. Und dann hast du ja erst mal kein inneres Bild von einer
Einrichtung, die ganz anders ist. Da brauchst du erst mal Anregungen und dann

183
kannst du gucken, was passt da für dein Kind, was kannst du da verändern.“ (PW
15, 17-27)

Wagner spricht hier einen Aspekt an, der zu bedenken und methodisch anzuge-
hen ist: Es kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass die Erziehe-
rInnen wissen, wie sie die Praxis verändern können, auch wenn sie erkannt ha-
ben, dass Veränderungsbedarf besteht. Der erste Lernschritt ist also zu erkennen,
dass der Bedarf besteht, die Praxis anders zu gestalten. Der zweite Schritt ist
darauf aufbauend, Wege zu finden und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln,
die das Vorhaben unterstützen, allen Kindern Anknüpfungsmöglichkeiten einzu-
räumen. Es bedarf bestimmter Lern-, Übungs- und Reflexionsprozesse, um posi-
tive Anregungen zu erhalten oder Ideen zu entwickeln. Wagner führt hier das
Beispiel der ErzieherInnen an, die in der DDR einen Kindergarten besucht ha-
ben. Die Kindergartenkonzepte und damit der Alltag in den Kindergärten in der
DDR unterschieden sich maßgeblich von denen in Westdeutschland (vgl. Wein-
berg/Töpfer 2006). Sie waren geprägt von einer Haltung und von einem Handeln
der ErzieherInnen, die die Bedürfnisse der Kinder nicht individuell in den Blick
nahmen. Wagner zeigt auf, dass die Erinnerungen einiger ErzieherInnen an ihre
Kindergartenzeit bestimmt sind von Erinnerungen an beschämende und ausgren-
zende Praktiken. Diese ErzieherInnen haben also Ausgrenzung und Unfairness in
einem Maße erfahren, dass es ihnen jetzt noch möglich macht, auf diese Erinne-
rungen zurückzugreifen. Ihre Erfahrungen mögen damit denen der Kinder äh-
neln, die heute Erfahrungen von Unfairness machen. Das Phänomen ist so also
gut zu verdeutlichen. Gleichzeitig spricht Wagner aber noch einen weiteren As-
pekt an: ‚Sie hatten kein Bild‘. Damit beschreibt sie, dass die ErzieherInnen, die
selbst einen Kindergarten besucht haben, der bestimmt war von Ausgrenzung,
nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können, um Ideen zu entwickeln für
pädagogisches Handeln, das alle Kinder wahrnimmt. Dies lässt sich auf Erziehe-
rInnen im Allgemeinen übertragen. Es kann nicht darum gehen, eigene Erfah-
rungen in die heutige Realität umzusetzen. Das kann zwar an manchen Stellen
passend und gut sein, aber Wagners Forderung nach Professionalität wird damit
nicht nachgekommen: Diese zeichnet sich dadurch aus, dass bewusst mit Erfah-
rungen und Bildern umzugehen ist. Dass sie auf heutige Verhältnisse zu übertra-
gen und im Angesicht der Ziele und Vorhaben zu reflektieren sind. Es geht also
darum, verschiedene pädagogische Konzepte, Ideen und Methoden kennen zu
lernen. Erst dann ist das von Wagner angesprochene professionelle pädagogische
Handeln möglich.

184
6.4.5 Kontextualisierung der Erkenntnisse

In der vorurteilsbewussten Arbeit geht es darum, die Kausalkette von individuel-


len kulturellen Prägungen zu durchbrechen. Deren Einflüsse auf das pädagogi-
sche Handeln werden aufgespürt, die dadurch entstehende Reproduktion beste-
hender (gesellschaftlicher) Verhältnisse erkannt. Auch wird so verstanden, dass
damit der Ausschluss von Kindern geschehen und schließlich das Verhindern
von Bildungsmöglichkeiten einhergehen kann. Damit das Durchbrechen dieser
Kausalkette gelingt, sind Kompetenzen notwendig, braucht es wiederholtes
Üben, ein immer wieder einsetzendes Reflektieren und den Willen, permanent an
sich zu arbeiten.

6.5 Anti-Bias als pädagogische Leitidee

Nachdem die Umsetzung des Anti-Bias-Ansatzes in den diversen pädagogischen


Kontexten detailiert beschrieben wurde, stellt das folgende Kapitel eine Schnitt-
stelle dar. Zu Wort kommen erneut interviewte ExpertInnen, die Ausführungen
verharren also auf der Ebene der Auswertung. Gleichzeitig ändert sich der
Blickwinkel auf die Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz, denn die hier zitierte
Gruppe der ExpertInnen, die nicht primär mit dem Ansatz arbeiten, sondern in
andere Kontexte eingebunden sind, nimmt gegenüber dem Anti-Bias-Konzept
eine andere Perspektive ein als diejenigen, die hauptsächlich mit dem Anti-Bias-
Ansatz und an seiner Weiterentwicklung und Adaption arbeiten; die also aus der
Binnenperspektive her urteilen. Die hier zu Wort kommenden Personen nehmen
eher eine komparative Haltung ein. Sie verwenden Elemente des Anti-Bias-
Ansatzes als eines von vielen pädagogischen Konzepten. Indem diese ExpertIn-
nen erläutern, inwiefern der Anti-Bias-Ansatz die jeweilige pädagogische Arbeit
bereichert, nehmen sie gleichzeitig eine Art Charakterisierung der Arbeit nach
dem Ansatz vor. Sie gehen bei ihren Ausführungen nicht so sehr ins Detail wie
es die ‚Anti-Bias-PraktikerInnen‘ tun, sondern sie beziehen sich in ihren Aussa-
gen auf grundlegende Aspekte. Die Grundzüge einer Pädagogik nach dem Anti-
Bias-Ansatz klingen an, eine erste Charakterisierung – aus Sicht der ExpertInnen
– findet statt. Die Ausführungen sind also insofern eine Schnittstelle, weil durch
die Erläuterungen aus Sicht der ExpertInnen zum einen eine Art Zusammenfas-
sung der bisherigen Auswertung stattfindet, zum anderen wird der Boden bereitet
für die anschließend folgende Konzeptualisierung (vgl. Kap. 3.3), die das Ziel
hat, die zentralen Elemente einer Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz darzus-
tellen. Anti-Bias wird von den ExpertInnen verstanden als eine pädagogische
Leitidee, eine pädagogische Haltung. Dazu Fenna Paproth:

185
„Anti-Bias hat viel mit Haltung zu tun, die vermittelt werden soll und mit der auch
Seminare gestaltet werden, so dass du diese Haltung auch als TrainerIn brauchst,
um Anti-Bias-TrainerIn sein zu können. Dazu benutzt du zentrale Methoden oder
zentrales Werkzeug. Das wird als Anti-Bias-Werkzeug oder als Anti-Bias-Methodik
gehandelt.“ (FP 3, 45-50)

Der Ansatz bildet also den pädagogischen Handlungsrahmen, der dann mit Me-
thoden und Handlungsideen gefüllt werden kann. Diese Haltung wird von den
ExpertInnen unter Rückbezug auf vier Komponenten beschrieben: humanistische
Grundhaltung, Wertschätzung, ‚Kommunikationsbau‘, Anerkennung von Macht-
und Unterdrückungsstrukturen und Authentizität.

6.5.1 Humanistische Grundhaltung

Methoden und Ideen des Anti-Bias-Ansatzes werden auch im Institut für Konf-
liktaustragung und Mediation (IKM) in Hamburg eingesetzt, um Menschen zu
Streitschlichtern bzw. Mediatoren auszubilden. Dieter Lünse ist der Geschäfts-
führer des IKM.

„In der pädagogischen Umsetzung geht es jeweils darum, zunächst eine Auseinan-
dersetzung mit sich selbst zu ermöglichen, eigene Vorurteile zu erkennen, Verhalten
zu hinterfragen und im Weiteren zu lernen, sich selbst und andere anzunehmen. [...]
Um [ ] zwischen Konfliktparteien vermitteln zu können, ist die Arbeit an persönli-
cher und sozialer Kompetenz Voraussetzung. [...] Die humanistische Grundhaltung
von Anti-Bias kommt hier insofern zum Tragen, als dass die Gesprächs- und Konf-
liktkultur, die hier erlernt wird, dazu beiträgt, auch streitende Menschen in ihrer Art
zu akzeptieren und Verständnis für ihre Bedürfnisse aufzubringen.“ (Lünse/Stamer
2002, 74)

Melanie Stamer, freie Mitarbeiterin im IKM und Dieter Lünse sehen in der Ar-
beit mit dem Anti-Bias-Ansatz das Potenzial, die soziale Kompetenz von Men-
schen zu fördern. In der Konfliktaustragung ist er insofern eine Unterstützung,
dass die Grundhaltung des Anti-Bias-Ansatzes den KonfliktberaterInnen ermög-
licht, ihrer Klientel emphatisch und wertschätzend gegenüberzutreten – diese
Grundhaltung nennen Lünse/Stamer „humanistisch“. Claudia Lohrenscheit arbei-
tet im Kontext der Menschenrechtsbildung. Sie bindet Methoden und Aspekte
des Anti-Bias-Ansatzes in ihre Arbeit ein ohne ihn explizit zu benennen:

„Ich bin Pädagogin, das heißt für mich ist Anti-Bias eines von vielen Konzepten, das
ich nutzen kann. Ich finde es aber nicht zwingend, jedes Mal den ganzen Kontext von

186
Anti-Bias zu erklären. Manchmal transferiere ich den Anti-Bias Ansatz einfach in
einen anderen Kontext.“ (CL 4, 20-24)

Mit dem ‚anderen Kontext‘ sind hier Themen wie Rassismus und Diskriminie-
rung gemeint:

„Anti-Bias ist als eine meiner Arbeitsgrundlagen immer im Hinterkopf. Manchmal


wende ich Methoden an, wenn es passt oder ich arbeite explizit zum Thema Rassis-
mus/Diskriminierung.“ (CL 3, 47-50)

Lohrenscheit verwendet Aspekte der Anti-Bias-Arbeit also als eine Grundlage,


um ein Verständnis für die Würde von Menschen zu vermitteln:

„Mein Hintergrund für die Anti-Bias-Arbeit sind die Menschenrechte. Letztendlich


geht es um die Würde des Menschen und es gibt nichts, was diesen Anspruch besser
formulieren könnte als die Menschenrechte.“ (CL 2, 43-46)

6.5.2 Wertschätzung

Für Karin Joggerst drückt sich in der Anti-Bias-Haltung Wertschätzung aus:

„Ich finde, Anti-Bias hat viel mit einer Haltung zu tun und das ist so schwer vermit-
telbar. Es hat viel mit einem feinen Gespür zu tun, wie man die Welt wahrnimmt.
Was ich wertschätze, also ob ich zuerst aufs Manko und aufs Defizit gucke oder ob
ich mich einlassen kann auf meine Erfahrung, wie ich die Welt sehe, ob ich einen
sensiblen Blick habe für Diskriminierung im weitesten Sinne, aber auch für das Po-
tenzial, das da drin steckt, was es miteinander verändern kann, wenn sich dieser
Blick ändert, wenn wir Diskriminierung drehen, um diese Schieflage ins Gleichge-
wicht zu kriegen.“ (FiPP/KJ 4, 34-46)

Joggerst beschreibt mit dem Wort ‚wertschätzend‘ die Haltung, die sie als eine
Art, die Welt wahrzunehmen, begreift; ein sensibler Blick, der nicht Defizite in
den Blick nimmt, sondern das Positive. Der Begriff Schieflagen bezieht sich
hierbei auf die ‚schiefe‘ Sichtweise – nur einseitig das Negative und eben nicht
das Positive im Blick zu haben. Dadurch entsteht ein schiefer Blick auf die Welt.
Eine wertschätzende Haltung ist vor allem dann von Bedeutung, wenn sich Wi-
derstände auftun, wenn kontroverse Meinungen vertreten werden oder wenn ein
Seminar nicht so verläuft wie von der Leitung erhofft. Fenna Paproth versteht es
in diesem Kontext als ihre Aufgabe als PädagogIn, mit einer wertschätzenden
Haltung an die Arbeit heranzugehen:

187
„Wenn ich in der Seminarleitung merke, dass mir etwas nicht passt oder die Teil-
nehmerInnen nicht so wollen wie ich will, wenn eben eines von beiden quer schießt,
dann finde ich es nicht in Ordnung, im Prinzip nur, weil ich die Macht habe, als Se-
minarleitung einen autoritären Stil an den Tag zu legen und sozusagen nur zu guck-
en, wie ich mich gut aus der Situation rette. Gerade bei Anti-Bias, so habe ich es
zum Beispiel in einem von Prasad Reddy geleiteten Seminar erlebt, geht es um Acht-
samkeit auf Seiten der Leitung. Die Seminarleitung nimmt Widerstände der Teil-
nehmerInnen war und auf, schätzt sie wert und erkennt sie an. Die Widerstände ver-
dienen genauso viel Wert und Anerkennung wie die Seminarinhalte.“ (FP 9, 23-33)

Oliver Trisch berichtet dazu aus der Sicht eines Seminarteilnehmers, inwiefern er
die Haltung der Seminarleitung als wertschätzend wahrgenommen hat:

„Die Haltung drückte sich dadurch aus, dass Meinungen stehen gelassen wurden
und nicht mit einem ‚aber‘ dagegen argumentiert wurde. Das wurde mit Absicht
vermieden. Und darum ging es auch gerade am Anfang im Lernvertrag. Da wurde
gesagt, dass Meinungen anderer Leute auch wichtig sind, auch wenn sie gegenteili-
ge Meinungen sind. Dass man sie stehen lassen kann und dass dann auch okay ist,
also so was habe ich als wertschätzend empfunden.“ (OT 2, 23-28)

Trisch zeigt auf, dass es von Bedeutung war, dass die Leitung offensichtlich
darauf geachtet hat, keine pauschalen Meinungen oder Allgemeinurteile zu ver-
mitteln oder stehen zu lassen. Vielmehr wurde Wert darauf gelegt, dass Meinun-
gen, auch wenn sie unterschiedlich sind, gehört und anerkannt werden; dass
ihnen Raum gegeben wird.

6.5.3 ‚Kommunikationsbau‘

Für Gisela Führing ist die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz mit einer Haltung
verbunden, die den TeilnehmerInnen ihrer Seminare Interesse und Wertschät-
zung entgegenbringt.

„Anti-Bias ist eine Haltung, die auch heißt: Bin ich interessiert daran, was die an-
deren eigentlich denken oder ausdrücken? Dann muss ich ihnen auch dafür Raum
geben, also die Methode finden, die ihnen diesen Raum gibt. Von daher: Die Grund-
lage bildet die Haltung. Aber eine Haltung ohne Methode geht auch nicht.“ (GF 10,
26-30)

Die Haltung ist geprägt von offenem Interesse. Dieses Interesse drückt sich darin
aus, dass den TeilnehmerInnen Raum gegeben wird, damit sie mitteilen können,
was sie denken, was sie interessiert und was sie ausdrücken wollen. Dieses Vor-

188
gehen ist eine Art der Gestaltung von Bildungsprozessen, die die TeilnehmerIn-
nen insofern in den Fokus rückt, dass sie die Möglichkeit haben, die Bildungs-
prozesse mitzugestalten und mitzulenken. Der Anti-Bias-Ansatz ist für Führing
ein Grundprinzip des Miteinanderumgehens, das sie als Methode versteht und in
ihren pädagogischen Handlungen umsetzt:

„Das Prinzip dahinter ist eigentlich, dass man sich kennen lernt und miteinander
den Raum für diesen Kontakt hat, für diese Kommunikation. Damit ist letztendlich
schon etwas Neues passiert. Am Ende kommt als Reaktion der Teilnehmenden dann
oft bei diesen Seminaren: ‚Haben wir ein Glück, dass wir so nette Leute waren‘ und
dann sage ich immer, das ist kein Glück, das ist inszeniert, das haben wir uns ge-
schaffen, und darum habe ich das auch ganz bewusst so aufgebaut, dass man sich
kennen lernen kann, um miteinander an einem Thema zu arbeiten, aber auch um
diesen Raum zu füllen sozusagen. Das ist eben kein Zufall, sondern das ist das, was
wir möglich machen können, an Raum-Nutzung oder Raum-Bestimmung, an Kom-
munikationsbau. Und insofern würde ich sagen, ist es für meinen Ansatz eigentlich
egal, wo ich bin, das gilt ja nicht nur in Seminaren, sondern das geht auch im nor-
malen Umgang unter Menschen, da ist dieses Denken und Handeln ein Stück Anti-
Bias-Arbeit geworden ohne dass ich es so nennen würde. Ich versuche, den Umgang
miteinander – egal an welcher Stelle – auch immer ein Stück in eine Metadiskussion
mit einzubeziehen um das bewusst zu machen. Das ist immer ein Teil mit, den wir
am Ende reflektieren: wie war das, wie sind wir miteinander umgegangen oder was
haben wir voneinander eigentlich neu gelernt oder welche Fragen bleiben am Ende
usw. Und insofern würde ich sagen, dass Anti-Bias eigentlich so eine Art Grund-
prinzip ist für das Miteinander-Umgehen.“ (GF 6, 1-24)

Kommunikationsbau nennt Führing diese Haltung, mit der sie ihren SchülerIn-
nen und SeminarteilnehmerInnen gegenüber tritt. Es geht dabei darum, eine
Atmosphäre, einen Raum zu schaffen, der davon geprägt ist, dass die Menschen
auf eine bestimmte, wertschätzende und interessierte Art und Weise miteinander
umgehen. Dies wird von der Seminarleitung vorgelebt und schlägt sich in der
Atmosphäre der Gruppe nieder. Für Führing ist diese Form von Kommunikati-
onsbau, dieses Schaffen einer Atmosphäre, die diese Art der Kommunikation
ermöglicht, eine Inszenierung. Lernprozesse werden inszeniert und geschaffen.
Das ist das, was Führing unter Anti-Bias versteht: Ein Grundprinzip für das Mit-
einanderumgehen, das von Anerkennung und Respekt geprägt ist. Diese Metho-
de, Raum zu geben, zielt darauf ab, Menschen mit dem, was sie zu sagen haben,
anzuhören:

„Letztendlich geht es darum, sich gegenseitig darüber zu verständigen, wo auch die


eigenen Ängste oder Wünsche sind, die man ja sehr oft nicht respektiert gefühlt hat.
Und manchmal wird der Raum nur fürs Klagen genutzt. Das gehört dann auch da-

189
zu, aber nicht als Selbstzweck, sondern eher, um sozusagen Raum zu schaffen und
etwas Neues aufzunehmen. Also dieses ‚Gehört werden‘ ist so wichtig – manchmal
hat man das Gefühl, das ist das einzige, was rüberkommt, dass Leute sagen, das Se-
minar war aber prima, mit euch konnte man reden, weil sie einfach viel Raum zum
Zuhören bekommen haben, weil sie den mal brauchten.“ (GF 8, 16-25)

Führing beschreibt, dass Menschen durch die beschriebene Haltung dazu ermun-
tert werden, sich zu öffnen. Und dies sei ein wichtiger Punkt, denn nur so können
verschiedene Standpunkte und Erfahrungen gehört und verstanden werden.

6.5.4 Im Fokus: Strukturen von Macht und Unterdrückung

Für Claudia Lohrenscheit geht es in der Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz um


solche Prozesse, die eigene Denk- und Handlungsstrukturen bewusst machen:

„Es geht bei Anti-Bias darum, die Strukturen, in denen wir denken, fühlen und han-
deln, und die uns ganz normal erscheinen, zu erkennen und sich bewusst zu machen,
d.h. da, wo sie anderen Menschen schaden, Strategien zu entwickeln; das zu bemer-
ken und auch zu verlernen. Letztendlich geht es dabei um die Auseinandersetzung
mit Macht und Unterdrückung; sowohl mit der einen Seite als auch mit der andere
Seite.“ (CL 4, 30-36)

Für Lohrenscheit kommt es darauf an, Denk- und Handlungsstrukturen zu erken-


nen, die ‚ganz normal‘ sind, und eben dieses Normale, Selbstverständliche zu
hinterfragen. Gleichzeitig ist für sie klar, dass einige dieser Strukturen, auch
wenn sie für normal gehalten werden, anderen Menschen schaden können. In der
Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln geht es also darum, diese scha-
denden Handlungen zu erkennen und zu vermeiden bzw. umzulernen. Das Ziel
ist, sich die Mechanismen von Macht und Unterdrückung zu vergegenwärtigen,
sie in kommunikativen Prozessen aufzuspüren und deren Bedeutung zu reflektie-
ren:

„Es geht darum, sich Macht- und Unterdrückungsstrukturen auf den verschiedenen
Ebenen – auf der persönlichen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen Ebene –
sichtbar und bewusst zu machen und bewusste Entscheidungen zu fällen, wie man
sich miteinander verhalten kann und kommunizieren kann, in die Interaktion gehen
kann, ohne dabei Macht zu missbrauchen oder ohne dabei die Unterdrückungsstruk-
turen zu multiplizieren.“ (CL 4, 40-45)

Lohrenscheit betont die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Einflüsse auf


Macht- und Unterdrückungsstrukturen. Das eigene Handeln findet im Schatten

190
von gesellschaftlichen und politischen Einflüssen statt. Damit macht Lohren-
scheit auch klar, dass es nicht um das Aufspüren individueller Fehler geht, son-
dern darum zu erkennen, wo und wie das eigene Verhalten von äußeren Struktu-
ren gelenkt wird. Dieses Erkennen ist die Voraussetzung dafür, bewusst ent-
scheiden und lenken zu können, wie man sich verhalten will und damit auch
bewusst entscheiden und lenken zu können, ob und wie man Macht- und Unterd-
rückungsstrukturen reproduziert oder verhindert. Anti-Bias ist hier also die
Anerkennung, dass das eigene Handeln beeinflusst wird von bestehenden Macht-
und Unterdrückungsstrukturen. Um diese nicht zu reproduzieren, kommt es dar-
auf an, das eigene Handeln entsprechend zu reflektieren und wo nötig zu verän-
dern. Auch Fenna Paproth geht auf das Thema Macht und Unterdrückung ein.
Sie blickt allerdings dabei nicht auf die gesellschaftliche Ebene, sondern bezieht
es ganz konkret auf Seminarsituationen.

„Von der Begrifflichkeit her ist Anti-Bias Arbeit gegen Vorurteile oder gegen Vorur-
teilsbildung. Und ich würde sagen, gegen Voreingenommenheiten, so arbeiten wir
hier in Frille. Die Gruppen, die zu uns kommen, sind im Prinzip zwanghaft zusam-
mengebrachte Gruppen, zum Beispiel eine achte Klasse einer Hautschule oder Er-
zieherInnen im ersten Ausbildungsjahr. Das sind Gruppen, die praktisch gezwungen
werden, eine Zeit ihres Lebens zusammen zu verbringen. Und in solchen Gruppen
gibt es immer Ein- und Ausschlusskriterien. Es gibt Leute, die gehören dazu und es
gibt Leute, die gehören nicht dazu. Und es gibt Dominanz- und Ausgrenzungsprakti-
ken. Und diese Praktiken beziehen sich auf verschiedenste Kategorien. Wir arbeiten
fast immer mit dem Fokus Geschlecht, das passiert einfach. Innerhalb einer ge-
schlechtsheterogenen Gruppe gibt es auch immer wieder Ausgrenzungen und dieses
Thema ist hier präsent. Und das ist der Grund, weswegen ich sagen würde, dass wir
eigentlich Anti-Bias machen oder so arbeiten. Weil wir diese Punkte in den Blick
nehmen und dann versuchen, nicht nur dagegen zu sein, sondern den Leuten auch
andere Formen der Kooperation oder des Miteinanderlebens oder des Miteinander-
lernens anzubieten bzw. sie selbst erfinden diese Dinge neu, also das, was sie gut
finden.“ (FP 3, 5-20)

Paproth beschreibt hier den für sie bedeutsamen Aspekt an der Anti-Bias-Arbeit,
nämlich die Mechanismen von Ausgrenzung und Dominanz in den Blick zu
nehmen, anzusprechen und alternative Handlungsformen vorzuleben bzw. diese
zusammen mit der Gruppe zu entwickeln.

191
6.5.5 Authentizität

Für Fenna Paproth ist die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz nicht abhängig von
bestimmten Methoden und deren Einsatz, sondern von der authentischen Haltung
der Seminarleitung bzw. der Haltung der PädagogInnen gegenüber ihrer Klientel.

„Anti-Bias ist Haltung. Wir sagen auch, geschlechtsbezogene Pädagogik ist keine
Methode, sondern es ist eine Haltung. Die Methodik ist austauschbar. Einige sind
richtig gut, andere weniger toll. Darauf kommt es nicht so an, sondern es kommt auf
die Haltung an, auf das Bewusstsein. Auf das, wie du dich als Seminarleiterin ver-
stehst und wie du dich begreifst und wie du die Welt begreifst, wie du die Menschen
begreifst. Wenn dann eine methodische Einheit nicht so funktioniert, wie du es ei-
gentlich beabsichtigt hast und du diese Haltung nicht in dir als Basis hast, dann
geht die Sache schief. Wenn du sie aber hast, dann kannst du solche methodischen
Ausrutscher korrigieren. So verstehe ich mich auch als Seminarleiterin. Ich bin Pä-
dagogin und ich versuche, authentisch zu sein und mich und meine Biographie als
Lerngegenstand mit einzubringen, meine Haltung anzubieten.“ (FP 4, 18-35)

Paproth geht hier auf die Rolle der Leitung ein. Sie betont, dass diese Rolle mit
einer gewissen Haltung auszufüllen ist, die die Leitung dazu bringt, sich selbst
authentisch in den Seminarverlauf einzubringen.
Prasad Reddy leitet ebenfalls Seminare. Auch er beschreibt seine Haltung
dabei als authentisch: Sie spiegele ehrliches Interesse an den Seminarteilnehme-
rInnen wider:

„Wenn ich ein Training mache, orientiere ich mich zunächst. Ich konzentriere mich
von der ersten Minute an und da ist jede Person für mich wichtig. Nach dem Ein-
stieg ist dies nicht mehr so dringlich, denn dann hat jede Gruppe ihren eigenen Pro-
zess. Ich trete sehr freundlich auf als Trainer, als Facilitator und dabei ist sehr
wichtig, nicht nur den Eindruck zu vermitteln, sondern sich wirklich auf jede Person
zu konzentrieren.“ (PR 6, 11-16)

Reddy betont, dass es bei der Anti-Bias-Haltung darum geht, Authentizität zu


zeigen und zu leben und ‚nicht nur den Eindruck zu vermitteln‘. Dass eine solche
Haltung Wirkung hat und damit auch als pädagogisches Werkzeug gesehen wer-
den kann, zeigen die Erfahrungen, die Oliver Trisch als Teilnehmer eines Anti-
Bias-Trainings gemacht hat. Bei ihm haben die Leitungspersonen tiefen Ein-
druck hinterlassen:

„Es war eine faszinierende Gruppe von TeilnehmerInnen. Und auch die beiden Per-
sonen, die das Seminar geleitet haben, waren sehr beeindruckend und zwar von dem
her, was sie mitgebracht haben, auch wie authentisch sie waren, was sie vieles er-

192
lebt hatten. Das hat mich animiert, da weiter hinzugucken und es hat auf jeden Fall
Prozesse angestoßen. Dabei ging es vor allem um die Haltung den TeilnehmerInnen
gegenüber, das war sehr besonders. Und das hat auch was ganz Besonderes ausge-
löst, glaube ich. Ich würde diese Haltung beschreiben als eine sehr, sehr wertschät-
zende Haltung allen Leuten gegenüber und eine große Offenheit und Authentizität.
Sie waren nicht gekünstelt und sie waren sehr präsent im Raum, aber auch sehr sen-
sibel im Umgang mit ganz vielen Themen. Das hat es sehr stark ausgemacht. Und
auch, dass sie jede Person einzeln im Blick hatten und gleichzeitig aber auch auf die
Gruppenprozesse geachtet haben – das machte es aus.“ (OT 1, 38-2, 18)

Oliver Trisch beschreibt das Beeindruckende an der Leitung als eine Haltung, die
wertschätzend, offen und alle im Blick habend, präsent und sensibel ist. Diese
Haltung hat nach Trischs Einschätzung dazu geführt, dass er sich auf das Semi-
nar einlassen konnte. Vor dem Hintergrund, dass es um die Auseinandersetzung
mit persönlichen Erfahrungen geht, eine Art der Arbeit, die zu Abwehr und Un-
sicherheit führen kann, ist die Bedeutung einer solchen Wirkung der Seminarlei-
tung als bedeutsam einzuschätzen. Die Anti-Bias-Haltung zeigt sich also darin,
dass sie authentisch ist. Die Menschen, die in Seminare kommen, werden wahr-
genommen. Sie werden darüber hinaus wertgeschätzt, unabhängig davon, wel-
chen Standpunkt und welche Meinungen sie vertreten. Auf diese Art werden
kommunikationsfördernde Strukturen geschaffen, die die Beteiligten darin un-
terstützen, sich zu öffnen und sich mitzuteilen. Auf diese Weise wird Kommuni-
kation ermöglicht.

6.5.6 Kontextualisierung der Erkenntnisse

Diese erste Charakterisierung aus Sicht der ExpertInnen hat aufgezeigt, dass eine
Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz vor allem dadurch gekennzeichnet ist,
dass sie sich auf die professionellen Kompetenzen von PädagogInnen konzent-
riert. Diese reflektieren die Einflussmöglichkeiten und die Wirkungen ihres
Handelns und nehmen damit eine sehr bewusst gestaltende Position in pädagogi-
schen Prozessen ein. Gleichzeitig wird der Blick auf Strukturen gerichtet. Anti-
Bias wird verstanden als eine Pädagogik, die bewusst Methoden und Hand-
lungsweisen entwickelt, um Schieflagen entgegenzuwirken, sie auszugleichen.
Soweit die Perspektive der ExpertInnen.

193
7 Zentrale Elemente einer Anti-Bias-Pädagogik

Im Folgenden wird das Wissen der ExpertInnen, das im vorangegangenen Kapi-


tel nach Kontexten getrennt dargestellt wurde, in Kategorien zusammengeführt,
so dass die zentralen Elemente einer Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz
sichtbar werden, um so die bisher erarbeiteten Erkenntnisse in eine Konzeption
zu fassen.
Das methodische Vorgehen, einerseits mittels Dokumentenanalyse, anderer-
seits durch Experteninterviews die erforderlichen Informationen zusammenzut-
ragen, hat sich als effektiv und gewinnbringend herausgestellt. Durch die Trian-
gulation beider Methoden hat sich ein tieferes Verständnis der Arbeit und der
möglichen Wirksamkeit des Anti-Bias-Ansatzes ergeben. Durch die Dokumen-
tenanalyse ergab sich zum einen ein vollständiges Bild von dem, was als Anti-
Bias-Arbeit verstanden wird. Die Breite und die Varianz in den Umsetzungs-
möglichkeiten des Ansatzes werden deutlich. Die Experteninterviews haben es
darüber hinaus möglich gemacht, den Ansatz auch tiefergehend zu verstehen
bezüglich seiner erwünschten und tatsächlich umsetzbaren Auswirkungen und
Einflussmöglichkeiten. Die ExpertInnen stehen nicht als Personen im Mittel-
punkt des Forschungsinteresses, sondern sie gelten als Vermittler, durch die
Informationen zu einem bestimmten Sachinhalt, hier konkret Informationen über
die Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz, erlangt werden können. Es ist vor allem
der Bereitschaft der InterviewpartnerInnen zu verdanken, dass die vorliegende
Studie in dieser Form zu Stande kommen konnte. Ihre Offenheit in Bezug auf die
eigene Arbeit und die persönlichen Erfahrungen damit hat es ermöglicht, einen
Gesamteindruck über die Bandbreite der Anti-Bias-Arbeit zu erhalten. Auf dieser
Basis werden im Folgenden die Grundzüge der Pädagogik nach dem Anti-Bias-
Ansatz dargestellt.

7.1 Der Blick auf gesellschaftliche Schieflagen

Eine diskriminierungsfreie Gesellschaft, in der alle Mitglieder gleiche Teilhabe-


und Gestaltungsmöglichkeiten haben ist das formulierte Leitbild derer, die mit
dem Anti-Bias-Ansatz arbeiten. In der Forderung nach einer solchen Gesellschaft
steckt im Umkehrschluss die Annahme, dass in der bundesdeutschen Gesell-

195
schaft Strukturen und Mechanismen von Diskriminierung existieren. Anti-Bias
richtet den Blick auf diese Strukturen und Mechanismen und begreift sie wie
folgt: Innerhalb einer Gesellschaft gibt es Untergruppen – die größte ist die
Mehrheitsgesellschaft. Sie besteht in Deutschland aus Menschen der Mittel-
schicht, die einen ‚deutschen Hintergrund‘ haben. Die kulturelle Norm in einer
Gesellschaft wird festgelegt von der Mehrheit. Wie eine Gesellschaft geprägt ist,
wie sie funktioniert, welche Regeln, Gesetze und Pflichten herrschen, wird be-
stimmt von den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Neben dieser Mehrheits-
gesellschaft existieren Minderheiten, die von der Mehrheitsgesellschaft divergen-
te Zugehörigkeitsmerkmale aufweisen. Diese spiegeln sich in abweichenden
Interessen, Werten und Haltungen wider. Dadurch entsteht eine Ungleichvertei-
lung der Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten. Im Anti-Bias-Ansatz wird
dies mit ‚Schieflage‘ (Bias) bezeichnet. Schieflagen zu beseitigen und ein
Gleichgewicht herzustellen, allen Mitgliedern der Gesellschaft gleiche Teilha-
bemöglichkeiten zu geben, ist die Leitidee der Anti-Bias-Arbeit. Dies erklärt sich
auch aus dem dem Anti-Bias-Ansatz zugrunde liegenden humanistischen Men-
schenbild: Jeder Mensch soll sich frei entfalten können, soll frei von Diskrimi-
nierung und in Würde leben können.

7.2 Anti-diskriminierende Erwachsenenbildung

Anti-Bias-Seminare in der Erwachsenenbildung werden im Kontext anti-


diskriminierender Arbeit angeboten und setzen bei den internalisierten Zugehö-
rigkeiten von Mitgliedern einer Mehrheitsgesellschaft zu den jeweiligen Normen
und Werten an. Sie beabsichtigen, den Menschen ihre gesellschaftlichen Zugehö-
rigkeiten und deren Einflüsse auf das individuelle Normen-, Werte- und Verhal-
tensmuster aufzuzeigen. Ziel ist, die daraus resultierenden diskriminierenden
Sicht- und Verhaltensweisen zu erkennen und zu ‚verlernen‘. Ersetzt werden
diese dann durch ein Verhalten, das Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe
an gesellschaftlichen Ressourcen ermöglicht. Der Weg dahin führt in der Anti-
Bias-Arbeit mit Erwachsenen über Selbstreflexionsprozesse. In den Blick ge-
nommen werden die Familie und andere Bezugsgruppen. Sie werden daraufhin
ausgeleuchtet, welche Einflüsse sie auf das eigene Verständnis der Welt, auf die
eigenen Normen, Werte und das Verhalten haben. Auch gesellschaftliche Zuge-
hörigkeiten werden bewusst fokussiert: die Nation, das Kollektiv, die Gesell-
schaft usw. Auch deren Regeln, Gesetze, Normen, Werte und Zugehörigkeitsei-
genschaften beeinflussen das Normen-, Werte- und Verhaltenssystem jeder Per-
son. Die Bedeutung dieser Zugehörigkeit ist – so hat es Christa Preissing darges-
tellt – nicht immer bewusst und nicht immer gewollt. Dennoch ist sie existent

196
und übt Einfluss auf eine Person aus. Über diese Zugriffe auf Erfahrungen aus
der Vergangenheit und aus der Biographie sowie über das Reflektieren familiärer
und bezugsgruppenbezogener Besonderheiten in der eigenen Identität wird das
Nachdenken und der Austausch über individuelle Prägungen und deren Auswir-
kungen auf das Handeln angeregt. Verdeutlicht wird dabei, dass der Mensch
immer auch das Produkt seiner Umwelt ist. Die Arbeit nach dem Anti-Bias-
Ansatz will im Rahmen der Erwachsenenbildung dazu beitragen, genau diese
Verstrickungen aufzuzeigen. Menschen können so ihren eigenen Anteil daran
erkennen, dass sie gesellschaftlich einseitige Strukturen reproduzieren. Dieses
Erkennen kann dann die Basis dafür sein, alternative Deutungs- und Handlungs-
muster zu entwickeln, die Schieflagen ausgleichen. Menschen erkennen ihre
Verstrickungen in gesellschaftliche Zusammenhänge und können sich daraus
lösen und – zumindest in ihrem Umfeld – allen Beteiligten gleiche Partizipati-
onsmöglichkeiten einräumen.

7.3 Das Ausgleichen institutioneller Schieflagen

Im Projekt Kinderwelten wurde aufgezeigt, inwiefern Institutionen von der Ge-


sellschaft geprägt sind und inwiefern sie deren Strukturen widerspiegeln. Zu
Beginn des Projekts nahmen die ErzieherInnen gemeinsam mit den Projektmi-
tarbeiterInnen die am Projekt beteiligten Kitas in Augenschein. Dabei stellten sie
fest: Die Schieflagen, die in der Gesellschaft herrschen, weil die Mehrheitsge-
sellschaft die Norm bestimmt, werden auch in der Kita reproduziert. Dafür gibt
es verschiedene Belege: Das Personal in den Kitas setzt sich überwiegend aus
Mitgliedern der Mehrheitskultur zusammen. Dies ist vor allem dann auffällig,
wenn es sich um Kitas handelt, die einen Anteil von Kindern mit Migrationshin-
tergrund von über 90 Prozent vorweisen. Sie liegen in Stadtteilen, deren Bevöl-
kerung kulturell sehr heterogen ist. Die Tatsache, dass dennoch das Personal zu
einem Großteil aus Menschen ohne Migrationshintergrund besteht, zeugt von
einer ersten Schieflage. Das Personal spiegelt nicht den Durchschnitt der Bevöl-
kerung wider.
Ein weiterer auffälliger Aspekt ist der unterschiedliche Grad, mit dem El-
tern involviert sind. Serap ikcan erläutert, dass es die Eltern der Kinder ohne
Migrationshintergrund sind, die ein Auge auf das haben, was in der Kita passiert.
Sie treten in Kontakt mit den ErzieherInnen und stellen Forderungen an die Ge-
staltung des Kita-Alltags. Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund dage-
gen verhalten sich zurückhaltend. Schieflagen werden so produziert bzw. ver-
schärft – nicht zuletzt wegen des Rechenschaftsdrucks gegenüber den Eltern der
Kinder ohne Migrationshintergrund. Dieser führt dazu, dass die Aktivitäten in

197
der Kita mehr nach deren Belangen ausgerichtet werden. Die unausgewogene
Gestaltung der Kitas spiegelt sich zudem in den vorhandenen Materialien wie-
der: Spiel- und Bastelmaterialen, Puppen und Bilderbücher sind einseitig ausge-
legt und bieten vordringlich den Kindern der Mehrheitsgesellschaft Anknüp-
fungspunkte. Die Normen und Werte der deutschen Mittelschicht werden also
auch ‚gegenständlich‘ in den Kitas reproduziert. Die ungleichen Partizipations-
möglichkeiten übertragen sich auf die Einrichtung. Dies hat Folgen. Der Anti-
Bias-Ansatz geht davon aus, dass diese ungleichen Partizipationsmöglichkeiten
der Grund dafür sind, dass Kinder die Bildungsmöglichkeiten in Einrichtungen
so unterschiedlich wahrnehmen. Dass einige Kinder nach dem Besuch der Kita
nicht ausreichende Fortschritte in der Sprachentwicklung gemacht haben oder
dass sie bestimmte Fähigkeiten wie z. B. den Umgang mit der Schere nicht er-
lernt haben, wird damit begründet, dass sie keine Möglichkeiten gefunden haben,
diese Kompetenzen zu entwickeln.

7.4 Zum Zusammenhang von Identität und Bildung

Diese Erkenntnis hat Folgen für die pädagogische Gestaltung in der Kita in der
Anti-Bias-Arbeit. ‚Bildung ist das, was die Kinder tun‘, so hat es Anke Krause
vom Projekt Kinderwelten ausgedrückt. Kinder nutzen das, was ihnen von der
Umgebung und den ErzieherInnen angeboten wird, um sich daraus Erkenntnisse,
Erfahrungen und Wissen anzueignen. Sie deuten und interpretieren, was sie se-
hen. Gleichzeitig lassen sie sich auf Dinge ein, wenn ihr Interesse geweckt ist.
Sie untersuchen Gegenstände, sie experimentieren und finden so Neues heraus;
sie lernen. Kinder experimentieren aber nur, wenn sie sich sicher fühlen. Dazu
brauchen sie ein Gefühl von Geborgenheit und positiver Bestärkung. Dabei hilft,
jemanden in der Nähe zu wissen, dem sie vertrauen und der ihnen vertraut, der
aufmunternde Gesten und Blicke sendet oder dem Kind auf andere Art positiven
Zuspruch gibt. Dieses Verständnis von Bildung hat in dem Anti-Bias-Konzept
dazu geführt, das folgende Ziel zu formulieren: Jedes Kind wird darin unters-
tützt, ein positives Selbstbild aufzubauen. In der Schule, so hat es Karin Joggerst
beschrieben, geschieht diese Bestärkung dadurch, dass die Kinder herausgefor-
dert werden. Sie werden ermuntert, Neues zu probieren, sie werden an Grenzen
geführt und entdecken so, was in ihnen steckt und wozu sie fähig sind.
In der Kita wird die Identität dadurch gestärkt, dass Kinder sich in der Ein-
richtung wiederfinden. Methoden wie die Familienwände, Einbindung der Eltern
in der Kita, Sichtbarmachen der Interessen der Kinder ermöglichen es ihnen, sich
selbst zu definieren und zu präsentieren. Interessierte, wertschätzende und aner-
kennende Rückmeldung von ErzieherInnen und anderen Kindern führt dazu,

198
dass Kinder ein positives Selbstbild entwickeln. Sie entnehmen den Rückmel-
dungen die Botschaft, dass sie gemocht werden, so wie sie sind. Sie bekommen
zu spüren, dass sie gerne gesehen sind in der Einrichtung, dass sie einen Platz
haben und einen wichtigen Beitrag zum Alltag in der Einrichtung liefern. All
dies trägt dazu bei, dass sie ein positives Selbstbild entwickeln und gestärkt und
selbstbewusst werden. Um allen Kindern dieses positive Selbstbild zu ermögli-
chen, bedarf es – ausgehend von der Annahme, dass Identität ein Konstrukt ist –
weiterer Schritte. Das Selbstbild wird im Austausch mit dem Umfeld geformt.
Die Rückmeldungen, die Kinder zu ihrer Person bekommen, sind ein wichtiger
Einflussfaktor darauf, wie sie sich selbst sehen. Wird also das Ziel verfolgt, allen
Kindern zu ermöglichen, ein positives Selbstbild zu entwickeln, ist eine weitere
Aufgabe, alle Kinder darin zu befähigen, andere Kinder so zu nehmen, wie sie
sind, ihnen wertschätzend und interessiert gegenüber zu treten. Ein weiteres Ziel
der Anti-Bias-Arbeit ist daher, Kindern den Umgang mit Vielfalt und das Erler-
nen von Empathie zu ermöglichen. Kinder lernen so auch, das eigene Selbstbild
als positiv zu entwickeln in einem Rahmen, der losgelöst ist von anderen Kin-
dern. Rangordnungen, von Fragen wie ‚Was ist besser? Was ist schlechter?‘,
Wertungen und Zuschreibungen werden also vermieden.
Wenn Kinder in der Kita und der Schule eine Umgebung vorfinden, in der
sie sich selbst repräsentiert sehen und sich angenommen und wertgeschätzt füh-
len, wenn sie positive Rückmeldung zur eigenen Person bekommen, wenn sie
darin unterstützt werden, neue Dinge auszuprobieren, die Mut erfordern, dann
wird ihre Identität gestärkt. Wenn Kinder darüber hinaus noch darin unterstützt
werden, anderen wertschätzend, anerkennend und interessiert gegenüber zu tre-
ten, können alle Kinder diese Stärkung erfahren. Das positive Selbstbild basiert
dann auf den eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten und ist losgelöst vom Ver-
gleich mit anderen Kindern. PädagogInnen sind die Menschen, die dafür Sorge
tragen, dass Kinder in den entsprechenden Einrichtungen das vorfinden, was sie
benötigen, um eine positive Identität zu entwickeln und damit offen zu sein für
Bildungsprozesse. Damit PädagogInnen die Einrichtung und das pädagogische
Handeln darin entsprechend gestalten können, brauchen sie Kompetenzen.

7.5 Beiträge zur pädagogischen Professionalität

Grundannahme der Anti-Bias-Arbeit ist, dass PädagogInnen Mitglieder der Ge-


sellschaft sind, die die herrschenden Normen internalisiert haben und diese in
den pädagogischen Einrichtungen reproduzieren. Wie schon für die Erwachse-
nenbildung beschrieben, geht es auch in den pädagogischen Fortbildungen dar-
um, die individuellen Bezugsgruppen und Einflussfaktoren aufzudecken und ihre

199
Einflüsse sichtbar zu machen. Die Inhalte der anti-diskriminierenden Erwachse-
nenbildung nach dem Anti-Bias-Ansatz bilden einen Baustein in den pädagogi-
schen Fortbildungen. Sie vermitteln das Grundverständnis über Zugehörigkeiten
und dessen Einflüsse auf das eigene Handeln. Pädagogische Fortbildungen gehen
aber insofern über die Anti-Bias-Seminare in der Erwachsenenbildung hinaus,
dass sie auf der Selbstreflexion aufbauend das professionelle Selbst in den Blick
nehmen. Das professionelle Selbst ist der im Beruf sichtbar werdende Teil der
Persönlichkeit. In den Fortbildungen zum Anti-Bias-Ansatz bzw. zur vorurteils-
bewussten Bildung und Erziehung geht es darum, die individuellen Zugehörig-
keiten und Einflussfaktoren und die daraus resultierenden Werte-, Norm- und
Verhaltensmuster zu entdecken, die eine Person prägen und die damit auch ihr
professionelles Selbst ausmachen. Diese Prägungen werden analysiert im Hinb-
lick auf ihre Rolle im Prozess der Reproduktion von Schieflagen. Untersucht
wird, inwiefern die eigenen Prägungen und Sichtweisen die pädagogische Ge-
staltung und das pädagogische Handeln beeinflussen. Für ErzieherInnen geht es
darum, ein Bewusstsein dafür zu erlangen, dass die eigene Sichtweise nur eine
mögliche von vielen ist und dass die eigenen Normen keine universelle Gültig-
keit haben. Dies ist besonders dann wichtig, wenn es darum geht, die Kompeten-
zen von Kindern einzuschätzen. Die Fähigkeiten und die Lernfelder von Kindern
in den Blick zu nehmen, ist Aufgabe von ErzieherInnen. Im Anti-Bias-Ansatz
wird dieser Blick weggelenkt von normativen Kompetenzskalen und Grundla-
gen. Stattdessen geht es darum, Interessen von Kindern aufzuspüren und zu för-
dern und dabei individuell auf jedes Kind einzugehen. Petra Wagner kritisiert
hier deutlich das Vorgehen, Kinder an dem zu messen, was sie nicht können. Sie
schreibt die Verantwortung dafür, dass Kinder zum Beispiel am Ende der Kita-
Zeit nicht die Schere benutzen können, den ErzieherInnen zu. Sie haben es ver-
säumt, Lerngelegenheiten zu schaffen, die das Kind dazu ermuntern, den Um-
gang mit der Schere zu erlernen. Dieser Blickwinkel, der dadurch gekennzeich-
net ist, dass er nicht die Kinder als defizitär ansieht, sondern vielmehr die Erzie-
herInnen (auf)fordert, ist ein pädagogisches Kernstück im Anti-Bias-Ansatz.
Christa Preissing spricht in dem Zusammenhang vom professionellen Selbstver-
ständnis, das ErzieherInnen formuliert haben. Sie sehen es als ihre Aufgabe, alle
Kinder gleich zu behandeln. In der Arbeit zum Anti-Bias-Ansatz wird diese
Sichtweise unter die Lupe genommen und die Anforderung präzisiert. Nicht alle
Kinder gleich zu behandeln ist das Ziel, sondern allen Kindern die gleichen
Möglichkeiten zu eröffnen. Durch den reflektierenden Blick auf die Praxis der
ErzieherInnen konnte in der Anti-Bias-Arbeit im Projekt Kinderwelten gezeigt
werden, dass hierin ein bedeutender Unterschied besteht. Alle Kinder gleich zu
behandeln, kann schnell dazu führen, dass ihre individuellen Bedürfnisse nicht
wahrgenommen werden, sie verschwinden unter dem Deckmantel der Gleichheit.

200
Allen Kindern gleiche Möglichkeiten einzuräumen bedeutet dagegen, die indivi-
duellen Unterschiede als Grundlage dafür zu nehmen, mit den Kindern zu arbei-
ten und die Kita nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Dies ist das Ziel der Päda-
gogik gemäß dem Anti-Bias-Ansatz: Jedes Kind in seiner Individualität wahrzu-
nehmen und es darauf basierend in seiner Entwicklung und in seinem Lernen zu
unterstützen.
Um unvoreingenommen die Individualität der Kinder zu beobachten, ist ein
erster Schritt für ErzieherInnen, zu erkennen, dass die eigene Sicht auf die Kin-
der und auf das Geschehen in der Kita ihre individuelle Sicht ist. Geprägt von
Normvorstellungen und -erwartungen ist der eigene Blick immer eingeschränkt.
Zu verstehen, dass die eigene Perspektive nur eine von vielen möglichen ist,
verändert die Praxis. Dies wird auch deutlich in der Kommunikation mit den
Eltern. In der Anti-Bias-Arbeit wird großer Wert darauf gelegt, alle Eltern in den
Kita-Alltag mit einzubeziehen. Konkret bedeutet das, dass Wert darauf gelegt
wird, die Meinungen der Eltern in Erfahrungen zu bringen und mit ihnen ge-
meinsam das pädagogische Geschehen in der Kita abzustimmen. Dass es hierbei
häufig zu Meinungsverschiedenheiten kommt, gehört dazu – diese Erfahrung
wurde auch im Projekt Kinderwelten gemacht. Den Grundsätzen der Anti-Bias-
Arbeit zu folgen und das eigene Norm- und Werteverständnis in Frage zu stellen,
bedeutet im konkreten Fall, die Meinungsverschiedenheit zu thematisieren und
für das pädagogische Handeln einen Kompromiss zu finden, der für beide Seiten
tragbar ist. Und das ist es, worum es bei der Anti-Bias-Arbeit geht: Menschen
und Situationen individuell in den Blick zu nehmen und das eigene Verhalten
und die eigenen Sichtweise immer wieder zu hinterfragen. Beständiges Hinter-
fragen und damit auch sich selbst in Frage zu stellen, verlangt hohe pädagogi-
sche Kompetenzen und Methoden. Das Einüben bzw. Verinnerlichen dieser
Methoden und der Erwerb dieser Kompetenzen verlangt Zeit und Ruhe. Pädago-
gInnen, darauf weist Barbara Henkys hin, brauchen dafür auch Abstand von der
eigenen Praxis, um sich ganz darauf konzentrieren zu können, dieses Verständnis
von pädagogischem Handeln zu verinnerlichen.
ErzieherInnen oder generell PädagogInnen, die in Bildungseinrichtungen
arbeiten, bekommen durch die Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz ein Gespür
dafür, dass und inwiefern gesellschaftliche Strukturen von Ausgrenzung und
Teilhabe reproduziert werden. Die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz ist in die-
sem Kontext die bewusste Entscheidung, die Verantwortung für das eigene pä-
dagogische Handeln zu übernehmen und die Reproduktion gesellschaftlicher
Verhältnisse in der jeweiligen Bildungseinrichtung zu verhindern. An ihre Stelle
rücken pädagogische Methoden, die die Lernumgebung in der Einrichtung und
die Kommunikation mit den Kindern so verändern, dass alle Kinder individuell

201
wahrgenommen werden. Ihre Bedürfnisse werden sichtbar gemacht und die Bil-
dungsmöglichkeiten entsprechend geschaffen.

7.6 Anti-diskriminierende Bildungsarbeit mit Kindern

Es konnte gezeigt werden, dass sich die Strukturen ungleicher Teilhabe auf die
Bildungsinstitutionen übertragen. Dies hat Folgen. Kinder sind schon ab dem
Alter von drei Jahren fähig, Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmethoden zu
erlernen – das zeigen Beispiele aus der Praxis von Kinderwelten: „Meike will
nicht neben Joshua sitzen, weil er schwarz ist, Timo und Haldun wollen keine
Mädchen aufs Piratenschiff lassen.“ (Preissing/Wagner 2003, Klappentext) Kin-
der, die sich so verhalten, äußern damit Ablehnung gegenüber anderen Kindern
und machen dies an Merkmalen wie der Hautfarbe oder dem Geschlecht fest, sie
haben bereits Vorurteile gegenüber diesen Kindern entwickelt, ausgelöst durch
die Einflüsse und das Verstehen der gesellschaftlichen Realitäten und Zuordnun-
gen. Anti-Bias will dem entgegenwirken. Das Ziel ist zu verhindern, dass Kinder
die existierenden gesellschaftlichen Strukturen und Mechanismen von Teilhabe
und Ausschluss übernehmen bzw. erlernen. Stattdessen werden Kindern von
Beginn an alternative Umgangs- und Gestaltungsformen nahe gebracht. Grund-
lage dafür ist, dass sie Vielfalt erfahren, ihr wertschätzend begegnen und Empa-
thie entwickeln. Aber die pädagogische Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz geht
noch weiter. Mit dem Ziel, alternative Umgangsformen zu entwickeln, werden
Kinder darin unterstützt, ausgrenzendes Verhalten zu erkennen und dagegen
anzugehen (Anti-Bias-Ziele drei und vier). Das Re-Design der Spielmaterialien
und der Fotos von den Bräuten, die Initiative zur Bestellung tatsächlich hautfar-
bener Pflaster – dies sind Beispiele dafür, wie Kinder sich gegen Ausgrenzung
einsetzen können. Sie können bereits im frühen Alter einen Blick für Zuschrei-
bung und Ausgrenzung entwickeln, wenn sie entsprechend an diese Themen
herangeführt werden. Sie können diese benennen und Ideen umsetzen, um sich
daran zu machen, diese zu beseitigen. Kinder lernen so, dass sie nicht ohnmäch-
tig sind, sie merken, dass sie etwas verändern können. Kindern das Verständnis
und das Gefühl dafür zu vermitteln, was fair ist, was gerecht, welches Verhalten
verletzend ist und welche Wirkung verletzendes Verhalten auf einen Menschen
haben kann – dies sind Themen und Fragestellungen, mit denen Kinder schon in
dieser frühen Lebensphase konfrontiert werden können. Der Anti-Bias-Ansatz
setzt dieses Vorhaben in die Praxis um.

202
7.7 Anti-Bias als pädagogische Grundhaltung

Der Anti-Bias-Ansatz weist Ideen, Methoden und Vorgehensweisen auf, die


einen Rahmen für pädagogisches Handeln bieten und die von den Interviewpart-
nerInnen als eine pädagogische Grundhaltung bezeichnet werden. Diese zeichnet
sich vor allem durch wertschätzendes und anerkennendes Verhalten aus. Men-
schen so gegenüberzutreten, bedeutet Interesse an dem zu zeigen, was sie sind,
was sie ausmacht, was sie können. Der Blick auf die Menschen ist dabei offen
und unvoreingenommen. Die Grundhaltung beinhaltet darüber hinaus das Wis-
sen und Bewusstsein davon, dass die eigene Sicht der Welt eine ist, die durch
individuelle Erfahrungen geprägt ist; sie ist damit keine universell gültige Sicht
und kann in Frage gestellt werden. Dies beinhaltet auch, dass die eigene Position
in gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhängen nicht als durch Zugehörig-
keiten vorherbestimmt angesehen wird, sondern dass die eigene Position aushan-
del- und veränderbar ist. Erst durch eine solche Haltung kann ermöglicht werden,
dass alle Menschen einen Platz in der Gesellschaft finden und damit gleichwerti-
ge Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten haben. Das Vorgehen, auf Basis
dieser Grundhaltung pädagogische Prozesse zu gestalten, bezeichnet Gisela Füh-
ring als ‚Kommunikationsbau‘. Es geht dabei um den bewussten Einsatz von
Kommunikations- und Gestaltungsformen, die dafür sorgen, dass die Schü-
ler/Klientel sich wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen.

7.8 Konklusion

Exemplarisch wurde in den Kitas im Projekt Kinderwelten durch verschiedene


Analysen – zum Beispiel der Personalzusammensetzung oder der Materialienge-
staltung – aufgezeigt, dass gesellschaftliche Normen und damit dominanzkultu-
relle Wirklichkeiten in Bildungseinrichtungen reproduziert werden. PädagogIn-
nen sind MultiplikatorInnen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie übertragen
diese auf den Mikrokosmos der pädagogischen Institution. Kita und Schule fin-
den nicht losgelöst von gesellschaftlichen, sozialen und politischen Begebenhei-
ten statt, vielmehr reproduzieren diese Bildungseinrichtungen die gesellschaftli-
chen und politischen Realitäten. In der Anti-Bias-Arbeit geht es darum, die Me-
chanismen der Reproduktion und die Rolle der PädagogInnen dabei aufzuzeigen.
PädagogInnen gestalten den Lebensraum in der Einrichtung. Anti-Bias ist die
bewusste Entscheidung, dies so zu tun, dass gesellschaftliche Gegebenheiten
nicht reproduziert werden, sondern dass eine andere mögliche Form des Zusam-
menlebens und -lernens vorgeschlagen und umgesetzt wird: eine gemeinschaftli-
che Form, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Bemühungen unternimmt, um

203
gleiche Teilhabe und gleiche Partizipationsmöglichkeiten für alle einzuräumen.
„Macht und Verantwortung sind siamesische Zwillinge“, so hat es Claudia Loh-
renscheit formuliert und damit der Aufforderung Ausdruck verliehen, dass Päda-
gogInnen die Verantwortung annehmen, die ihre Machtposition mitbringt. Diese
in positive Gestaltungsmacht umzusetzen und pädagogische Einrichtungen zu
Institutionen zu machen, in denen Diskriminierung nicht vorkommt – dabei un-
terstützt die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz.

204
8 Anti-Bias-Arbeit im Spiegel pädagogischer
Diskurse

Nachdem das pädagogische Konzept des Anti-Bias-Ansatzes, seine Leitideen


sowie das Vorgehen in der Umsetzung dargelegt wurden, sind nun noch folgende
Fragen im Hinblick auf den theoretischen Bezugsrahmen dieser Studie offen:

1) Inwiefern ist der Anti-Bias-Ansatz ein pädagogischer Ansatz für den


Umgang mit Vielfalt?
2) Welche Rückschlüsse lassen sich aus den dargestellten Fortbildungs-
elementen ziehen bezüglich der Professionalisierung von pädagogischen
Fachkräften für einen Umgang mit Vielfalt?
3) Welches Normverständnis liegt der Pädagogik nach dem Anti-Bias-
Ansatz zugrunde? Welche Normen leiten das Handeln?
4) Welche Implikationen lassen die Ausführungen der Mitarbeiterinnen
von Kinderwelten zu im Hinblick auf die Implementation pädagogi-
scher Konzepte in die Praxis?

Diese Fragen werden im Folgenden beantwortet. Das vorliegende Kapitel stellt


die letzte Stufe der Auswertungsmethode von Experteninterviews nach Meu-
ser/Nagel dar (vgl. Kap. 3.3). Auf dieser Auswertungsstufe der ‚Thematischen
Generalisierung‘ geht es darum, den Empirie- mit dem Theorieteil zusammenzu-
führen und die Ausführungen dabei auf eine abstraktere, generalisierende Ebene
zu heben. In den Ausführungen wird bewusst darauf verzichtet, Verweise auf die
jeweiligen Kapitel oder Seiten einzufügen. Diese würden so frequentiert auftau-
chen, dass sie den Lesefluss stören. Um dennoch gut nachvollziehbare Verknüp-
fungen aufzuzeigen, werden verstärkt Namen und Theorien genannt, die im Lau-
fe dieser Arbeit erwähnt und ausgeführt wurden.

8.1 Implikationen zur Normierung pädagogischen Handelns

Pädagogisches Handeln kann, wie jedes andere Handeln, nicht ohne Ziele aus-
kommen; es geschieht immer intentional. Seit Beginn der Pädagogik als Wissen-

205
schaft stellt sich die Frage, wozu Kinder erzogen werden sollen, was also das
Ziel pädagogischen Handelns ist. Die Philosophen Jean-Jacques Rousseau, Im-
manuel Kant und Friedrich Schleiermacher hatten in den Anfangsjahren der
Erziehungswissenschaften bedeutenden Einfluss auf die Diskurse. Ihre Positio-
nen zu den Zielen von Erziehung wurden in der vorliegenden Arbeit in kompri-
mierter Form dargestellt. Jean-Jacques Rousseau argumentiert für eine Erzie-
hung, die Menschen dazu befähigt, ihrem eigenen Willen nachzugehen und sich
so zu entwickeln, wie es von Natur aus vorgesehen ist. Immanuel Kant sieht in
dieser Ausrichtung von Erziehung die Gefahr, dass Menschen so zu sehr von
ihren Trieben geleitet werden und die Vernunft damit außer Acht gelassen wird.
Diese Triebe in geordnete Bahnen zu lenken, sieht Kant als Aufgabe von Erzie-
hung. Das Ziel besteht darin, Menschen zu ‚vernunftbegabten‘ und auf dieser
Basis zu mündigen Bürgern zu erziehen. Kant sieht darin die Möglichkeit, die
Gesellschaft weiterzuentwickeln. Auch Friedrich Schleiermacher bezieht die
Hoffnung auf Weiterentwicklung und damit die Anerkennung der momentanen
Unvollkommenheit von Gesellschaft in seine Theoriebildung ein und zeigt zwei
mögliche Zielrichtungen auf. Zum einen die Erziehung, die die nachwachsende
Generation dazu heranzieht, das Bestehende weiterzuführen, also die herrschen-
den Werte und Normen zu übernehmen. Damit würde das Bestehende erhalten
und die Unvollkommenheit verewigt. Zum anderen könnten Menschen dazu
erzogen werden, dem eigenen Trieb und dem Geschick zu folgen, somit Neue-
rungen zu schaffen und damit auch der Unvollkommenheit zu entkommen (vgl.
Schleiermacher 1826, 30).

„Die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beides in möglichster Zusammen-


stimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet,
aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen. Je
vollkommener beides geschieht, desto mehr verschwindet der Widerspruch.“ (ebd.,
31)

Der Anspruch ist also, dass Gesellschaft sich von Generation zu Generation
ändert und dass bestehende Werte und Normen nicht automatisch auf die nach-
folgende Generation übertragen werden. Aktuellere Diskurse, die unter anderem
von Wolfgang Brezinka und Ulrich Beck genährt werden, zeigen aber noch et-
was anderes auf: Individualisierung und der rasche Wandel sowie die Pluralisie-
rung von möglichen Lebensläufen führen zu Wertunsicherheit und damit einer
Diffusität in den Erziehungszielen. Es geht längst nicht mehr nur um generatio-
nenübergreifende Veränderungen. Der Aspekt der Heterogenität in einer Gesell-
schaft auch innerhalb einer Generation gewinnt so immanenten Einfluss, dass er
pädagogisch mitzudenken ist.

206
Johann Friedrich Herbart wird als der Begründer und damit erster Verfech-
ter der normativen Pädagogik gesehen. Herbart fordert, dass PädagogInnen sich
mit Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse Ziele für ihr pädagogisches
Handeln setzen und dieses dadurch normieren. Darin sieht er eine ‚Vorbereitung
auf die Kunst‘. Nur, wenn PädagogInnen ein eigenes klares Normen- und Werte-
system vor sich haben, können sie die von Brezinka beschriebene ‚Werteunsi-
cherheit‘ überwinden und somit auch in pädagogischen Situationen Kindern und
Jugendlichen einen Halt gebenden Orientierungsrahmen zur Verfügung stellen.
PädagogInnen zu ermöglichen, sich bewusst und intensiv mit dem individuellen
System von Normen und Werten auseinanderzusetzen, ist damit eine Herausfor-
derung an pädagogische Konzepte, die im Rahmen von Professionalisierungs-
prozessen angewandt werden. In der Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz und hier
speziell in den entsprechenden Fortbildungen ist eines der ersten Ziele, dass
PädagogInnen sich mit ihrem eigenen Normen- und Wertesystem auseinander-
setzen, dass sie eruieren, woher die eigenen Bewertungsmuster und Sichtweisen
auf Situationen und Menschen stammen und dass sie beobachten, inwiefern diese
das pädagogische Handeln beeinflussen. Auf dieser Basis können PädagogInnen
erkennen, welche – häufig unbewussten – Normen damit in Form von Erzie-
hungszielen und Leitideen Ausdruck finden im pädagogischen Handeln. Für die
Pädagogik der Vielfalt fordert Annedore Prengel ebenfalls die Abschaffung von
Leitbildern:

„Kindern und Jugendlichen sollte nicht gezeigt werden, was aus ihnen werden soll,
sie brauchen vielmehr Begleitung und Unterstützung auf dem schwierigen Weg der
Gestaltung ihres eigenen Lebens. Unterstützung geschieht im Rahmen einer solchen
Erziehung zur Mündigkeit durch das Herstellen von Freiräumen für eigene Erfah-
rungen im pädagogischen Alltag.“ (Prengel 2006, 192)

Kinder individuell zu unterstützen und ihnen dabei das zu bieten, was sie für eine
optimale Entwicklung benötigen, ist die daraus folgende pädagogische Leitidee.
Für die Anti-Bias-Arbeit mit Kindern werden in den Handbüchern viele Metho-
den beschrieben, wie die Interessen, Neigungen und Potenziale von Kindern
individuell herausgefunden und gefördert werden können. Dieses Vorgehen
basiert auf dem Wissen, dass Kinder individuelle Ansprache benötigen. Kinder
gleich zu behandeln bedeutet, sie individuell zu behandeln, also auf ihre indivi-
duellen Interessen einzugehen, um ihnen so gleiche Möglichkeiten der Teilhabe
einzuräumen. Barbara Henkys hat in diesem Zusammenhang aktuelle Entwick-
lungen in der Frühpädagogik beschrieben. Diese zeigen den Wandel im Umgang
mit Normen in der Pädagogik auf. Lange Zeit wurden gerade in der Frühpädago-
gik Kinder an ihrem Entwicklungsstand gemessen. Es existieren Tabellen und
Vorgaben, über welche Kompetenzen Kinder in den jeweils festgelegten Alters-

207
kohorten verfügen sollten. Diese Messung des Entwicklungsstandes dient einer-
seits der Kontrolle und dem Aufdecken möglicher Förderbedarfe. Gleichzeitig
werden dadurch aber auch Erwartungen an Kinder herangetragen, die sie zu
erfüllen haben. Die Individualität von Kindern, die sich auch darin ausdrückt,
dass sie sich unterschiedlich schnell entwickeln und dabei aber gleichzeitig je-
weils individuelle Kompetenzen erwerben, wird dabei außer Acht gelassen. In-
zwischen schlägt man in der Elementarpädagogik einen anderen Weg ein. In-
strumente werden entwickelt, die den Blick auf die Interessen der Kinder richten
und über diesen Weg untersuchen, was und wie Kinder lernen und wie sie dabei
unterstützt werden können. Die Instrumente basieren auf Dokumentationsmetho-
den; eine der meist eingesetzten ist die Leuvener Engagiertheitsskala (vgl. Lae-
vers 2007). Diese Dokumentationsmethoden werden vor allem in Kindertages-
einrichtungen eingesetzt. Sie richten den Blick auf das, was Kinder mitbringen,
sowie auf das, was Kinder interessiert – gemessen an Skalen des Wohlfühlens
oder der Involviertheit. Je konzentrierter ein Kind auf einen Gegenstand oder
eine Tätigkeit ist, desto höher ist der Grad der Involviertheit, der Indiz für Inter-
esse und weitere Wissbegier ist. Diese Beobachtungsmethoden werden ange-
wandt in dem Bestreben herauszufinden, was die Kinder besonders interessiert,
worin man sie fördern kann, womit man ihren Entdeckergeist unterstützt. Auf
dieser Basis können Bildungsangebote erstellt werden. Barbara Henkys, die in
ihrer Funktion als Praxisberaterin die pädagogische Praxis in vielen Kitas kennt,
78
die mit diesen Methoden arbeiten, erachtet dieses Vorgehen als effektiv . Kin-
der werden nicht als defizitäre Wesen angesehen, bei denen Förderbedarfe fest-
zustellen sind, sondern sie werden vielmehr als kreative, selbstgesteuerte Wesen
wahrgenommen, denen entsprechende Angebote gemacht werden können. So
werden Bildungsprozesse unterstützt.
Eine Normierung pädagogischen Handelns ist also zum einen nicht möglich
und zum anderen auch nicht erstrebenswert – das konnte aufgezeigt werden.
Dennoch – oder umso mehr – ist es notwendig, dass PädagogInnen sich sehr
bewusst mit den eigenen Zielen ihres Handelns auseinandersetzen, diese formu-
lieren, abgleichen und erneuern. Die Fortbildungen zum Anti-Bias-Ansatz bieten
Raum und Gelegenheit, die eigenen Ziele, das eigene Handeln mit Rückgriff auf
persönliche Einflussfaktoren zu reflektieren. Darauf aufbauend und auf Kenn-
tnisse über die Heterogenität unter den Kindern aufbauend, können so indivi-
duelle Ziele für das pädagogische Handeln im jeweiligen Kontext formuliert
werden.

78
Diese Aussagen von Barbara Henkys sind einem unveröffentlichten Tagungsprotokoll ent-
nommen. Der entsprechende Tagungsabschnitt thematisierte den Anti-Bias-Ansatz. Die Ta-
gung fand statt vom 16. bis 20. Januar 2009 in Berlin. Eine Tagungsdokumentation wird
voraussichtlich Ende 2009 veröffentlicht.

208
8.2 Implikationen zur pädagogischen Professionalität

Professionalisierung für den Umgang mit Vielfalt bedeutet im Anti-Bias-Ansatz


vor allem Folgendes: Sensibilisierung für die eigenen Prägungen, Werte und
Normen und deren Einfluss auf die eigene Arbeit sowie Verständnis dafür, dass
ein unbewusster Umgang mit Vielfalt zu Schieflagen führen kann, die Kinder
von Prozessen ausschließt. Professionalisierung bedeutet gleichermaßen, Päda-
gogInnen Werkzeug an die Hand zu geben, das hilft, ein Auge für Vielfalt und
Schieflagen zu entwickeln, sowie letztendlich, ihnen Methoden zu vermitteln,
Schieflagen zu beseitigen und mit Vielfalt auf eine Art umzugehen, die Kindern
dazu verhilft, sich selbst und andere als positiv wahrzunehmen. Als Referenz-
rahmen für pädagogische Professionalität wird in dieser Arbeit der kompetenz-
analytische Professionalitätsbegriff nach Wolfang Nieke zugrunde gelegt. Situa-
tionsdiagnose, Gesellschaftsanalyse, Selbstreflexion und professionelles Handeln
– so lauten die von Nieke postulierten Komponenten, die die Anforderung an
pädagogische Professionalität erfüllen.
Pädagogische Aufgaben werden immer durch gesellschaftliche Entwicklun-
gen erzeugt – so begründet Nieke die notwendige Kompetenz zur ‚Gesellschafts-
analyse‘. Die Ausführungen zum Anti-Bias-Ansatz in der vorliegenden Arbeit
haben gezeigt, dass eine Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge zu den
Grundlagen Anti-Bias-geprägten pädagogischen Handelns gehört. Zugrunde liegt
das Bewusstsein, dass sich in der deutschen Gesellschaft ein Wandel vollzogen
hat. Anhaltende Migrationsbewegungen und generelle Individualisierungsten-
denzen führen dazu, dass die vermeintlich homogene Gesellschaft sich zu einer
Gesellschaft entwickelt hat, die immer weitreichender von Elementen der Hete-
rogenität geprägt wird. Dies stellt die Herausforderung an pädagogisches Han-
deln, diese Heterogenität und die damit zusammenhängenden Implikationen für
pädagogische Situationen im Blick zu haben. Das Wort ‚Schieflagen‘ im Titel
des Anti-Bias-Konzepts verweist auf gesellschaftlich produzierte Schieflagen,
die auch auf pädagogische Kontexte übertragen werden. Diese entstehen da-
durch, dass nach wie vor ‚homogenisierend‘ auf das pädagogische Klientel ge-
blickt wird. Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz bedeutet das bewusste Bemühen,
solche Schieflagen auszugleichen, indem Heterogenität zum Tragen kommt.
Damit geht der Anti-Bias-Ansatz weiter als es der von Nieke definierte Begriff
der Gesellschaftsanalyse suggeriert. Denn dieser wird darauf begrenzt, gesell-
schaftliche Zusammenhänge zu betrachten und ihre möglichen Auswirkungen
auf die Klientel zu bedenken. In der Anti-Bias-Arbeit ist dies lediglich ein erster
Schritt. Darauf aufbauend werden Handlungsmöglichkeiten geplant und umge-
setzt, die Veränderung gesellschaftlicher Gegebenheiten, zumindest im Kontext
der pädagogischen Einrichtung, anstreben. So ist die Leitidee derjenigen, die mit

209
dem Anti-Bias-Ansatz arbeiten, eine ‚diskriminierungsfreie Gesellschaft‘. Vor-
aussetzung ist, dass PädagogInnen diese Möglichkeit erkennen, ihre Handlungs-
macht annehmen und die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen als einen As-
pekt ihrer pädagogischen Professionalität anerkennen. So wurde in Südafrika
Anti-Bias dazu genutzt, demokratische Pädagogik zu erlernen und somit profes-
sionelle Pädagogik in Institutionen grundlegend zu verändern. Im Projekt Kin-
derwelten wird die Elternarbeit dahingehend bewusst gestaltet, dass die gesell-
schaftliche Heterogenität sichtbar wird – als Konsequenz aus der Erkenntnis,
dass herkömmliche pädagogische Gestaltungsmomente dies nicht getan haben.
Auch bei der räumlichen Gestaltung wird darauf geachtet, gesellschaftlich pro-
duzierte Schieflagen nicht zu reproduzieren, sondern im Gegenteil neue Wege
der ausbalancierten Präsentation von den heterogenen Gegebenheiten in der
Gesellschaft zu finden. Gisela Führing hat die ‚Antizipation von Gesellschaft‘ als
ein Ziel der Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz benannt. Menschen tauschen sich
aus, gewähren einander Einblicke in die eigenen Verstehens-, Deutungs-, Glau-
bens- und Handlungsmuster und ermöglichen damit Verständigung. Diese ist
Grundvoraussetzung für eine gelingende, alle einbeziehende Antizipation von
Gesellschaft. So hat Führing dieses Element der Arbeit beschrieben.
‚Situationsdiagnose‘ ist eine weitere Komponente des kompetenzanalyti-
schen Professionsbegriffs nach Nieke. Ziel der Situationsdiagnose ist, intuitives
Handeln weitestmöglich zu vermeiden und stattdessen intentional zu handeln. In
der Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz wird dieser Aspekt aufgegriffen. Eine
intensive Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff, die Erkenntnis, dass
Kinder nur dort gut lernen können, wo sie sich anerkannt und unterstützt fühlen,
sind erste Schritte der Situationsdiagnose in Form einer theoretischen Annähe-
rung an die Situation. Weitere Elemente sind dann der Blick auf die Praxis,
durch den aufgezeigt wird, inwiefern Kinder in der Einrichtung die notwendigen
Bedingungen vorfinden. Indem der Zusammenhang aufgezeigt wird zwischen
bestehenden Gegebenheiten und der Situation der unterschiedlichen Kinder in
Bezug auf ihre Anknüpfungs- und damit Bildungsmöglichkeiten, wird die päda-
gogische Situation analysiert. Das dem folgende intentionale Handeln zielt be-
wusst darauf ab, Kindern Bildungsprozesse zu ermöglichen, indem die Bedin-
gungen dafür mit Blick auf alle Kinder geschaffen werden. Anzuerkennen, dass
– im konkreten Fall – die Kita eine kulturelle Sphäre ist, in der Elemente von
Dominanz und Diskriminierung präsent sind, sind Ergebnisse von Situationsana-
lysen. Patricia Göthe hat für den Kontext Schule beschrieben, wie bedeutsam
eine Situationsdiagnose ist. Einerseits zu hinterfragen, was die Jugendlichen
derzeit interessiert, vor allem aber ihr Entwicklungsalter und die damit zusam-
menhängenden spezifischen Eigenheiten andererseits einzubeziehen – diese
Elemente gehören zur Situationsdiagnose. Der Rückgriff auf Nachbardisziplinen,

210
wie von Nieke gefordert, wird wirksam. Sich aus psychologischer Sicht mit den
möglichen Auswirkungen der Pubertät auf die Jugendlichen zu beschäftigen, ist
ein bedeutender Baustein, Anti-Bias-Arbeit für diese Zielgruppe umzusetzen.
‚Professionelles Handeln‘ bedeutet in der Anti-Bias-Arbeit vor allem be-
wusstes Handeln: Situationen nicht aus dem Weg zu gehen, ausgrenzendes Ver-
halten nicht zu ignorieren und Kinder damit alleine zu lassen, ein Bewusstsein
für die eigenen Botschaften und Handlungen zu entwickeln, Materialien und
Elemente der Raumgestaltung bewusst unter den Gesichtspunkten auszuwählen,
die den Vielfaltsgedanken unterstützen – das alles ist professionelles Handeln im
Anti-Bias-Ansatz. Nieke führt aus, dass das professionelle Handeln in pädagogi-
schen Kontexten häufig ausgeklammert wird und stattdessen Handlungskonzepte
aus dem Bereich der Psychologie herangezogen werden. Letzteren unterstellt er
fehlende pädagogische Zielsetzung und fordert daher, dass die Konzeptionalisie-
rung von professionellem Handeln verstärkt in erziehungswissenschaftlichen
Diskursen geschehen soll (vgl. Nieke 2002, 22). Auch die Ausführungen von
Bauer u. a. stützen diese These. Die AutorInnen beklagen, dass pädagogische
Kompetenzen häufig ‚beiläufig‘ erworben werden und fordern ebenso eine Fo-
kussierung auf diese Form der Professionalisierung (Bauer u. a. 1999).
Konkrete Beispiele für pädagogisches Handeln – im Sinne von intentionalem
Handeln – sind im Anti-Bias-Ansatz: Gestaltung der Räume, Gestaltung der
Kommunikation, konkretes Einüben der Gespräche über Vielfalt mit Hilfe der
Persona Dolls, Elternarbeit und offener Umgang mit Reibungspunkten. Diese
Methoden können insofern als zielgerichtetes pädagogisches Handeln gesehen
werden, dass sie entwickelt, eingeübt und umgesetzt werden mit dem Ziel, Kin-
dern zum einen positive Resonanz zu sich selbst, zu ihren Bezugsgruppen und zu
ihrer ‚Einzigartigkeit‘ zu geben und ihnen somit dazu zu verhelfen, ein positives
Selbstbild aufzubauen. Zum anderen ist das Ziel, Vielfalt sicht- und erfahrbar zu
machen und den Kindern den empathischen Umgang damit zu vermitteln. Petra
Wagner nennt dieses Konzept professionellen Handelns die ‚vorurteilsbewusste
Gestaltung von Bildungsprozessen‘.
Um den Aspekt der ‚Selbstreflexion‘ als Komponente pädagogischer Pro-
fessionalität zu erfüllen, formuliert Nieke Fragen, mit denen sich PädagogInnen
auseinandersetzen sollten. Die Fragen beziehen sich vor allem auf deren gegen-
wärtige Position und Selbstverständnis. Die Relevanz des Handelns, die Maxi-
men des Handelns und die Ziele der Arbeit werden hier genannt. Eine seiner
Beispielfragen lautet: „Wer bin ich als PädagogIn?“ (Nieke 2002, 21) In den
Fortbildungen zur Anti-Bias-Arbeit, wie sie von den Mitarbeiterinnen des Pro-
jekts Kinderwelten beschrieben wurden, ist die Selbstreflexion eine wichtige
Komponente. PädagogInnen werden dazu aufgefordert, in die Vergangenheit zu
blicken und Fragen zu reflektieren, die sich auf die Biographie der Person bezie-

211
hen: Welche Relevanz hat der biographische Hintergrund für das berufliches
Handeln? Woher stammen die eigenen Prägungen? Wer und was hat die jeweili-
ge persönliche Vorgeschichte beeinflusst? Wie und an welchen Stellen beeinf-
lusst sie das Handeln? Woher stammen die individuellen Ansichten, Normen und
Deutungen? Dies sind Fragen, die im Rahmen der Fortbildungen zur Anti-Bias-
Arbeit gestellt und mittels zur Reflexion anleitender Methoden beantwortet wer-
den. Sie führen zugleich hin zu Schlussfolgerungen bezüglich Niekes ‚Identität
als PädagogIn‘, die das professionelle Selbst von PädagogInnen darstellt. Zudem
wird der Forderung von Karl Oswald Bauer, Andreas Kopka und Stefan Brindt
nachgekommen, das Muster der individuellen Ziele und Werte in Bezug auf das
pädagogische Handeln zu reflektieren.
Dass die eigene Person mit ihren individuellen Prägungen einen Faktor im
professionellen pädagogischen Handeln darstellt, hat schon Johann-Friedrich
Herbart in seine pädagogischen Theorien einbezogen, als er vom ‚pädagogischen
Takt‘ sprach. Bauer u. a. bezeichnen diesen Teil von PädagogInnen als ‚Profes-
sionelles Selbst‘ und damit als den Teil einer Person, der in das professionelle
Handeln mit einfließt. Als Technologiedefizit bezeichnen Niklas Luhmann und
Karl-Eberhard Schorr die Tatsache, dass pädagogisches Handeln nicht als reine
Mittel-Zweck-Handlung verstanden werden kann – unter anderem, weil der Fak-
tor der eigenen persönlichen Prägungen das Handeln stets beeinflusst. Nicola
Düro veröffentlichte im Jahr 2008 eine Studie zur Rolle des Geschlechts im
Schulalltag. Ihre Ergebnisse stützen die These, dass individuelle Prägungen gro-
ßen Einfluss auf professionelles Handeln haben: „Die [Ergebnisse] belegen, dass
im Rahmen von Schulentwicklungs- und Professionsforschung die Geschlechter-
frage derzeit nicht vernachlässigt werden kann. Noch spielt das Geschlecht bei
der Berufsausübung von LehrerInnen eine zu große Rolle.“ (Düro 2008, 248)
Das Beispiel aus der Geschlechterforschung verdeutlicht, dass individuelle Prä-
gungen nicht unterschätzt werden dürfen. So ist auch eine Grundannahme des
Anti-Bias-Ansatzes, so beschreiben es Oliver Trisch und Anne Winkelmann,
dass jeder Mensch Prägungen und damit Vorurteile hat, die das eigene Handeln
beeinflussen. Diese Vorurteile basieren nicht auf individuellen Fehlurteilen,
sondern sie sind in der Gesellschaft manifestiert und institutionalisiert. Ziel der
Selbstreflexion ist daher, sich der eigenen Vorurteile und Prägungen bewusst zu
werden bezüglich ihrer Ursprünge und ihrer Einflüsse auf das professionelle
Handeln.
Obwohl der Anti-Bias-Ansatz für die Arbeit mit Kindern entwickelt wurde,
besteht inzwischen, vor allem durch die langjährige professionelle Arbeit von
Kinderwelten, ein durchdachtes und fundiertes Fortbildungskonzept, das die
beschriebenen Komponenten pädagogischer Professionalität speziell für eine
Pädagogik der Vielfalt in Methoden umsetzbar macht. Der Anti-Bias-Ansatz

212
ermöglicht es PädagogInnen, sich mit ihrer professionellen Rolle auseinanderzu-
setzen und darüber hinaus die Anforderungen an diese Rolle im Prozess der
Arbeit sichtbar zu machen um nicht zuletzt Methoden zur Umsetzung zu vermit-
teln. Der Ursprung des Ansatzes in den USA und Südafrika zeigt auf, dass hier
mithilfe von Anti-Bias eine pädagogische Professionalisierung stattfindet, die
neue Formen des pädagogischen Handelns ermöglichen. So beschreiben die
MitarbeiterInnen von ELRU explizit, dass sie auf eine demokratische Form von
Pädagogik nicht vorbereitet wurden und die Fortbildungen zur Pädagogik nach
dem Anti-Bias-Ansatz diese Lücke schließen. Zwar ist die deutsche Geschichte
nicht mit der der USA oder Südafrikas zu vergleichen, dennoch lässt sich auch
für hiesige Verhältnisse festhalten, dass der Umgang mit Heterogenität nach wie
vor nicht selbstverständlich ist. Der Fokus lag lange auf der Erhaltung von Ho-
mogenität – ein Umdenken ist nun erforderlich. Dies braucht jedoch Zeit und es
braucht Methoden. Der Anti-Bias-Ansatz kann als Konzept gesehen werden, das
diese Methoden anbietet.

8.3 Implikationen für eine Pädagogik der Vielfalt

Ein Ziel pädagogischen Handelns ist, Bildung zu ermöglichen. Institutionalisier-


tes pädagogisches Handeln strebt danach, allen Kindern in den jeweiligen Insti-
tutionen Bildung zu ermöglichen. ‚Anti-Bias‘ bedeutet – aus dem Englischen
übersetzt – ‚gegen Schieflagen‘. Mit Schieflagen gemeint ist die Überrepräsenta-
tion und damit Inklusion von den Kindern, die die in der Gesellschaft existieren-
den Normalitätserwartungen erfüllen und andererseits die Unterrepräsentation
und damit Exklusion der Kinder, die diese Normalitätserwartungen nicht erfül-
len. Der Anti-Bias-Ansatz kann damit als Ansatz zur Pädagogik der Vielfalt
eingeordnet werden, denn es geht bei der Arbeit unter anderem darum, Pädago-
gInnen zu verdeutlichen, dass und wie das Nichteinbeziehen von Gesichtspunk-
ten der Vielfalt in pädagogischen Handlungsräumen insofern als ausgrenzend
gelten kann, dass der Blick nicht für Einseitigkeiten geschärft ist und somit lern-
behindernde Implikationen für die Kinder nach sich zieht, die nicht der Mehrheit
angehören.
In den Ausführungen zum Umgang mit Heterogenität im deutschen Bil-
dungssystem konnte aufgezeigt werden, dass es in Deutschland eine lange Tradi-
tion gibt, Homogenität herzustellen. Das dreigliedrige Schulsystem, das grob
nach Leistungsstandards trennt, die altershomogenen Klassen, das Prinzip des
Sitzenbleibens, um ein angeblich homogenes Leistungsniveau zu garantieren –
dies sind nur einige der Aspekte, die die Bemühungen um Homogenität aufzei-
gen. Das Hauptanliegen in der interkulturellen Pädagogik war lange Zeit, Kinder

213
mit Migrationshintergrund in Bildungseinrichtungen zu integrieren. Als Haupt-
gründe für ausbleibende Integrationserfolge wurden der Mangel an Kenntnissen
der hiesigen Kultur und Sprache gesehen. Als ‚Harmonie der Täuschung‘ be-
zeichnen Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke diesen Mechanismus, die Gründe
für scheiternde Integrationsversuche bei den Kindern und nicht im eigenen Sys-
tem oder in der eigenen Person zu suchen. Der Anti-Bias-Ansatz setzt hier an.
Die Gründe für die ungleich verteilten Partizipations- und Bildungserfolge in
Bildungseinrichtungen – hier zunächst in Kitas wie im Projekt Kinderwelten –
werden nicht in den Kindern gesehen. Diese werden vielmehr anerkannt als krea-
tive und konstruktive Wesen, die darauf angewiesen sind, Bildungsmöglichkei-
ten nutzen zu können. Tarek Badawia zum einen sowie David Pollock und Ruth
E. van Reken zum anderen haben in ihren Publikationen den Fokus darauf ge-
richtet, Kinder mit Migrationshintergrund insofern in ein positives Licht zu rück-
en, dass ihre Stärken und Kompetenzen aufgezeigt werden. Dieser positive Blick
auf Kinder wird auch in der Anti-Bias-Arbeit praktiziert. Das Ziel, eine positive
Identitätsentwicklung zu unterstützen, ist ein weiteres Element. Dass dieses Ziel
bedeutsam und nicht ohne Weiteres zu erfüllen ist, zeigt die Thematisierung der
Aspekte von internalisierter Unter- und Überlegenheit. Das Beispiel von Nelson
Mandela hat aufgezeigt, inwiefern gesellschaftlich begründete Mechanismen
Einfluss auf das eigene Selbstbild haben. Im Anti-Bias-Ansatz werden beide
Dimensionen dieses Phänomens berücksichtigt. In der Formulierung der vier
Ziele in der Anti-Bias-Arbeit mit Kindern findet sich dies wieder: Dafür Sorge
zu tragen, dass jedes Kind zum einen ein positives Selbstbild entwickeln kann
und zum anderen den empathischen Umgang mit Vielfalt erlernt, ist ein Vorha-
ben, das dazu beiträgt, die Entstehung solcher Unter- und Überlegenheitszuord-
nungen zu vermeiden. Damit ist Anti-Bias auch ein Konzept, das die Kinder, die
Angehörige der Mehrheitskultur sind, explizit einbezieht. So wird eine weitere
Bedingung an ein Konzept der Pädagogik der Vielfalt erfüllt: „Adressaten der
neuen Ansätze sind immer auch die Angehörigen der dominierenden Gruppe,
deren eigene Partikularität ihrem Universalitätspostulat entgegengehalten wird.“
(Prengel 2006, 178) Das Bestreben, bei existierender Heterogenität Bildungspro-
zesse für alle zu ermöglichen, wird in der Anti-Bias-Arbeit aus einer im Diskurs
der interkulturellen Pädagogik nicht selbstverständlichen Perspektive aufge-
nommen. Im Mittelpunkt stehen nicht Kinder mit Migrationshintergrund bzw.
Merkmalen, die von den herrschenden ‚Normalitätserwartungen‘ abweichen und
damit Merkmale von Vielfalt sind. Der Blick wird vielmehr gerichtet auf gesell-
schaftliche und institutionelle Gegebenheiten und damit auch auf die in den Ein-
richtungen agierenden Fachkräfte. Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke
machen, angelehnt an den Mitgliedschaftsbegriff des Systemtheoretikers Niklas

214
Luhmann (vgl. Luhmann 2000, 112 ff), die Möglichkeiten zur Teilhabe an insti-
tutioneller Bildung an der Mitgliedschaft fest.

„Die Mitgliedschaftsrolle ist verbunden mit einem Set von Aufgaben und Hand-
lungs- und Verhaltenserwartungen; vorausgesetzt wird ein Fundus an Fähigkeiten
und Kenntnissen, den die Organisation für ihre Operationen in Anspruch nehmen
kann.“ (Gomolla/Radtke 2002, 254)

Gomolla und Radtke haben in ihrer Studie zur institutionellen Diskriminierung


aufzeigen können, dass Abweichungen von ‚Normalitätserwartungen‘ dazu füh-
ren, dass die betroffenen Kinder in ihren Bildungskarrieren ausgebremst werden.
Gerold Scholz und Gertrud Beck kommen in einer Studie zu Ergebnissen, die
diese These stützen. Lehrkräfte in der Grundschule entscheiden bereits nach
wenigen Wochen, welche Kinder sie für geeignet halten, das Gymnasium zu
besuchen und welche eher auf einer anderen Schulform gesehen werden. Das
Resultat dieser frühen Zuordnung ist, dass die Kinder im Unterricht quasi von
Beginn an entsprechend angesprochen, gefördert oder eben benachteiligt werden
(vgl. Scholz/Beck 1995). Diese Strukturen institutioneller Diskriminierung sind
nicht zuletzt auf das notwendig gewordene ökonomische Denken auf Seiten der
Menschen, die in den Bildungsinstitutionen arbeiten, zurückzuführen. Gomol-
la/Radtke führen den Aspekt der Wirtschaftlichkeit als Rationalitätsmerkmal an.
Sie zeigen auf, dass die Bemühungen, Homogenität herzustellen, aus dem Be-
streben heraus entstehen, als Bildungsinstitution wirtschaftlich zu handeln. Ge-
rade Schulen werden immer häufiger daran gemessen, wie sie in Schulver-
gleichsstudien oder anderen Ranglisten – auch das Zentralabitur ist eine solche
Maßnahme – abschneiden. Von den Ergebnissen solcher Vergleiche hängt der
Ruf der Schule ab – dieser ist nicht zuletzt bedeutsam im Kampf um Anmelde-
zahlen. Angesichts geburtenschwacher Jahrgänge kann es dazu kommen, dass
Schulen geschlossen werden müssen. Spätestens hier gilt die Leistungsmessung
als ein Indikator dafür, welche Schulen dies am ehesten sein können. Schulen
werden also gezwungen, wirtschaftliche Überlegungen anzustellen. Welche
SchülerInnen tragen dazu bei, bei Leistungsvergleichen gut abzuschneiden?
Welche verlangen die wenigste Aufmerksamkeit und die wenigste ‚Sonderbe-
handlung‘ beim Durchlaufen der Schullaufbahn? Es sind – das zeigen Ergebnisse
von Schulleistungsstudien – die SchülerInnen, die den Normalitätserwartungen
entsprechen (vgl. Artelt 2001). Sie weisen sozusagen die beste ‚Kosten-Nutzen-
Relation‘ auf. Auf diese Art werden förmlich die von Gomolla/Radtke beschrie-
benen Argumentationsstrukturen erzwungen. Begründungen wie mangelnde
Sprachkenntnisse, nicht ausreichend vorhandener familiärer Rückhalt und ähnli-
che reichen aus, solche Kinder, die nicht den Normalitätserwartungen entspre-
chen, von höheren Schulformen fernzuhalten. Ein weiteres Indiz für diese er-

215
zwungene Wirtschaftlichkeit von Schulen liegt in der Feststellung von Gomol-
la/Radtke, dass vor allem Realschulen oder Gymnasien dann ungeachtet von
Barrieren wie zum Beispiel Sprachproblemen, Migrantenkinder beschleunigt
aufnehmen, wenn sie in ihrer Zügigkeit oder ihrem Bestand gefährdet sind (vgl.
Gomolla/Radtke 2002, 259), wenn sie also eine größere Schülerschaft aufweisen
müssen, um nicht geschlossen zu werden. Solche „Haltekräfte“ entwickelte nach
Beobachtungen von Wolfgang Böttcher, Heinz G. Holtappels und Ernst Rösner
auch das Gymnasium in den 1980er Jahren, als jedeR SchülerIn gebraucht wur-
de, um den Erhalt der Schule oder der Lehrerstelle sicherzustellen (vgl. Bött-
cher/Holtappels/Rösner 1988).
PädagogInnen sind die Personen, die in den Institutionen arbeiten und die
Verantwortung dafür tragen, dass die beschriebenen Mechanismen greifen oder
nicht. Sich mit der eigenen Rolle im Prozess der Reproduktion der gesellschaftli-
chen Verhältnisse auseinanderzusetzen ist daher ein Grundstein der Arbeit nach
dem Anti-Bias-Ansatz. Des Weiteren geht es für PädagogInnen darum, zu ver-
stehen, inwiefern die eigenen Prägungen und Normvorstellungen das pädagogi-
sche Handeln beeinflussen. Dieses Vorgehen, ausgehend von eigenen Prägungen
sein professionelles Handeln zu reflektieren, ist nicht neu. ‚Reflexive Koedukati-
on‘ etwa ist ein pädagogisches Konzept, das im Rahmen der Geschlechterfor-
schung entstanden ist:

„Eine reflektierte oder aufgeklärte Pädagogik wird immer bemüht sein, Vorurteile
und Benachteiligungen zu vermeiden. Ist sie konkret auf Geschlechterverhältnisse
bezogen, spricht man von ‚Reflexiver Koedukation‘. Reflektiert wird, inwieweit
Strukturen, Muster, Interaktionen und Einstellungen dazu beitragen, ein bestimmtes
Verhalten hervorzurufen. Themen oder Aufgabenstellungen können zum Beispiel
heimliche Botschaften transportieren, die das Lernen behindern oder fördern. Lehre-
rinnen und Lehrer sind klug beraten, ihre Angebote darauf abzuklopfen, ob sie hin-
reichend offen für alle sind.“ (Kreienbaum/Urbaniak 2006, 132)79

Angebote auf Aspekte der Vielfalt abzuklopfen, wie es Maria Anna Kreienbaum
und Tamina Urbaniak umschreiben, ist auch ein Element der Arbeit mit dem
Anti-Bias-Ansatz. Der Blick wird auf die Raumgestaltung, die Materialien und
die Kommunikation gerichtet und daraufhin untersucht, ob und inwiefern heim-
liche Botschaften transportiert werden, die einige Kinder im Lernen behindern.
Paul Mecherils Dekonstruktion des Kulturbegriffs bietet hier Anknüpfungspunk-
te. Mecheril beschreibt Kultur als ein ‚Ensemble von Deutungsmustern‘ und
damit als ein Werkzeug, das dazu dient, Zugehörigkeiten und Ausschlusskrite-
rien entlang eigener Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln. Menschen, die auf-

79
Zu Konzept und Praxis einer ‚Reflexiven Koedukation‘ siehe auch Kreienbaum 1999.

216
grund dieser Bewertungsmaßstäbe nicht dazu gehören, werden abgewertet und
hierarchisiert (vgl. Prengel 2006). Höhme-Serke, Ansari und ikcan vom Projekt
Kinderwelten haben am Beispiel der Kommunikation mit den Eltern und der
damit zusammenhängenden notwendigen Kritik- und Konfliktfähigkeit aufge-
zeigt, wie im Kita-Kontext diese Kommunikation durch eine solche kulturelle
Brille bestimmt werden kann. Anti-Bias bedeutet in diesem Zusammenhang, die
eigene Sichtweise zu hinterfragen und gegebenenfalls auch zu justieren.
Vielfalt ist komplex und nicht normativ festzulegen. Das bedeutet, dass es
nicht darum gehen kann, Merkmale von Vielfalt zu fixieren und in die Arbeit
einzubinden, sondern dass es vielmehr darauf ankommt, den Blick zu öffnen und
immer wieder neu herauszufinden, welche Elemente von Vielfalt in der pädago-
gischen Situation vorkommen. So führt Annedore Prengel die ‚Innerpsychische
Heterogenität‘ als ein zu beachtendes Element von Vielfalt an:

„Selbstwahrnehmung fördern bedeutet, daß neben der Aufmerksamkeit für bereits


bekannte Seiten der Person auch Aufmerksamkeit für verdrängte Gefühle entsteht,
daß nichtbehinderte Kinder ihre Behinderungen sehen lernen, Jungen ihre Klein-
heitsgefühle, Mädchen ihre Aggressivität und Kinder mit einer Behinderung ihren
Zorn und ihre Traurigkeit darüber.“ (Prengel 2006, 189)

Es wird deutlich, dass jeder Mensch Elemente von Vielfalt in sich trägt, die mal
der Mehrheit entsprechen und mal von dieser abweichend sind. Gleichzeitig
werden jegliche normativen Muster aufgelöst. Dieses Grundverständnis von
Vielfalt liegt dem pädagogischen Handeln nach dem Anti-Bias-Ansatz zugrunde.
Die Übung ‚So sehe ich meine Kinder‘ geht auf diesen Aspekt ein. Hier werden
Kinder nicht auf bestimmte Zuschreibungen festgelegt, sondern, wie Prengel es
nennt, ihre „widersprüchlichen und abgelehnten Seiten der eigenen Persönlich-
keit“ (ebd.) werden wahrgenommen. Das Ziel, Kindern zu ermöglichen, ein
positives und zugleich realistisches Selbstbild zu entwickeln, bedeutet auch,
ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit diesen Aspekten ihrer innerpsychischen
Heterogenität auseinanderzusetzen. Indem PädagogInnen durch die Anti-Bias-
Arbeit Methoden und Werkzeuge an die Hand bekommen, um Vielfalt zu erken-
nen und pädagogisch aufzugreifen, erweitert sich auch der Blick für solche Ele-
mente von Vielfalt. „Man sieht plötzlich mehr“, so hat es Petra Wagner ausged-
rückt. Kinder mit Migrationshintergrund und anderen Vielfalts-Merkmalen sind
als Bereicherung zu sehen und nicht als zusätzliche Anstrengung oder Heraus-
forderung. Die Grundlagen für eine solche Sichtweise werden in der Ausbildung
von PädagogInnen gelegt. Hier gilt es, einen Paradigmenwechsel zu erreichen:
Nicht mehr problemzentriert auf Kinder mit Migrationshintergrund zu schauen,
sondern mit analytischem Vorgehen die pädagogischen Fähigkeiten zu schärfen:

217
Wie können PädagogInnen dazu befähigt werden, das Potenzial dieser Kinder in
die Wahrnehmung von Bildungsmöglichkeiten umzusetzen?
Im Januar 2008 fand in Sachsen-Anhalt eine Tagung statt unter dem Titel „Ist die
deutsche Mehrheitsgesellschaft integrierbar?“ Im Tagungs-Programm hieß es:

„Wenn Handeln auf der Tagesordnung steht, reicht es nicht mehr aus, über die ver-
meintlich «fremde» Kultur zu sinnieren, sondern die Gestaltung des Verhältnisses
von Mehrheit und Minderheiten muss in den Vordergrund gerückt werden.“80

Annedore Prengel legt es in die Verantwortung von PädagogInnen, ein „Klima


der Akzeptanz der Verschiedenheit“ zu schaffen (ebd., 187). Eine Pädagogik der
Vielfalt, wie sie auch im Anti-Bias-Ansatz umgesetzt wird, geht dieses Vorhaben
an. Gesellschaftliche Verhältnisse werden in den Blick genommen, die eigene
Rolle in pädagogischen Prozessen wird daraufhin reflektiert, inwiefern die ge-
sellschaftlichen Verhältnisse bedient werden, um in der Konsequenz in der Ein-
richtung dafür Sorge zu tragen, dass Mechanismen der Ausgrenzung, wie sie in
der Gesellschaft bestehen, nicht reproduziert werden. Stattdessen wird daran
gearbeitet, Schieflagen auszugleichen, allen Kindern Anknüpfungs- und damit
Bildungsmöglichkeiten zu bieten und somit dazu beizutragen, die Chancen-
gleichheit in deutschen Bildungseinrichtungen zu erhöhen.

8.4 Implikationen zur Implementation pädagogischer Ansätze

In den Ausführungen zur pädagogischen Implementationsforschung wurden


vordergründig zwei Strategien als erfolgsversprechend vorgestellt: Symbiotische
Implementationsstrategien, wie sie von Cornelia Gräsel und Ilka Parchmann
umgesetzt und weiterentwickelt werden, und die Systemische Implementations-
beratung, wie sie von Katja Luchte konzeptioniert wurde. Zu den Hauptkompo-
nenten einer gelingenden Implementationsstrategie gehören – dies kann den
Ausführungen zu beiden Konzepten entnommen werden – Transparenz, Kom-
munikation und Kooperation. Diese Erkenntnis erhält weitere Evidenz, betrach-
tet man die implementationsbegünstigenden Faktoren, die Luchte angelehnt an
Rainer Rohe und Dieter Euler und Peter Sloane zusammengetragen hat. Transpa-
renz bezieht sich dabei auf den aufrechtzuerhaltenden Fluss von Informationen.
Die Fachkräfte, die in den Einrichtungen arbeiten und die damit diejenigen sind,
die die Implementationsvorhaben in die Praxis umsetzen, zeigen sich engagier-
ter, wenn sie von Beginn an über die einzelnen Schritte informiert werden und

80
http://www.multikulti-dessau.de/dok/seminar_web.pdf

218
ihnen Mitspracherecht bei Entscheidungen, die die Umsetzung des Vorhabens
betreffen, eingeräumt wird. Der Aspekt der Kommunikation schließt hier direkt
an, gibt es doch bei Implementationsvorhaben immer mindestens zwei Parteien:
zum einen die externen ExpertInnen, die die umzusetzende pädagogische Inno-
vation entweder selbst entwickelt haben oder sie zumindest soweit kennen, dass
sie als ExpertInnen dafür gelten, zum anderen die MitarbeiterInnen in den Insti-
tutionen, in denen neue Konzepte implementiert werden sollen. Sie können ent-
weder die Neuerungen angefordert haben oder aber die Neuerungen sind an sie
herangetragen worden. In beiden Fällen ist davon auszugehen, dass die Fachkräf-
te in den Institutionen sich eine Optimierung ihrer Arbeitsabläufe erwarten. Die
zwei Gruppen bringen also jeweils unterschiedliche Expertisen mit. Diese an-
zuerkennen bedeutet zu kooperieren und so die jeweiligen Kompetenzen zu bün-
deln. Die Kommunikation ist dafür ein unabdingbares Instrument. Gelingende
Implementation hängt also zu einem Großteil davon ab, inwieweit die in den
Institutionen arbeitenden Fachkräfte in die Prozesse eingebunden werden. Diese
These nährt auch Herbert Altrichter. Er warnt vor einer ‚Versachlichung‘ von
Organisationen und liefert weitere Argumente dafür, die Fachkräfte in den Ein-
richtungen mit ihren Bedürfnissen, Anliegen und auch Zweifeln ernst zu nehmen
und diese Aspekte bei der Planung von Implementationsvorhaben zu berücksich-
tigen. Denn die Tatsache, dass die MitarbeiterInnen in den Einrichtungen eine
zentrale Rolle in Implementationsprozessen spielen, bedeutet nicht, dass sie
damit die Hauptverantwortung für das Gelingen tragen. Vielmehr, so postuliert
Euler, sei dies ein Indiz dafür, dass es gilt, den Gelingensfaktoren für die Umset-
zung von Implementationsmaßnahmen erhöhte Aufmerksamkeit, Planung und
Bedachtsamkeit zukommen zu lassen.
Anti-Bias kann als ein Konzept verstanden werden, das ein pädagogisches
Handeln umsetzen will, das einerseits bewusst Heterogenität positiv betonen und
andererseits Mechanismen von Ausgrenzung aktiv beseitigen möchte. Dieses
Vorhaben wird in diversen pädagogischen Kontexten umgesetzt: In Kitas, in
Schulen, in der außerschulischen Jugendarbeit und in der Erwachsenenbildung –
mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. Meist werden lediglich Elemente
des Konzepts übernommen. Dennoch sind aus den Beschreibungen der Umset-
zung in die Praxis Hinweise zu entnehmen, welche Punkte besonders beachtens-
wert sind. Kinderwelten als ein Projekt, das den Fokus seiner Arbeit auf die
Umsetzung und die Weiterentwicklung von pädagogischem Handeln nach dem
Anti-Bias-Ansatz legt, teilt die Umsetzung in Phasen ein, nutzt das Element der
generell großzügigen Zeitplanung, der Anerkennung der mit solchen Innovatio-
nen zusammenhängenden Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte und
der Kooperation mit den MitarbeiterInnen in den Einrichtungen. Angelehnt an
die Phasen im Situationsansatz – Situationsanalyse, Zielklärung, Gestaltung,

219
Auswertung – wurden bereits bei der Planung des Projekts lange Zeitphasen von
sechs Monaten für die Umsetzung der einzelnen Schritte vorgesehen. Dieses
Vorgehen deckt sich zu großen Teilen mit den Phasen, die Katja Luchte für die
Systemische Implementationsberatung festgelegt hat: Orientierungsphase, Klä-
rungsphase, Veränderungsphase und Abschlussphase. Die MitarbeiterInnen von
Kinderwelten nennen mehrere Gründe, warum diese Einteilung als ein wichtiges
Element für das Gelingen der Implementationsmaßnahmen gesehen wird. Die
Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte sind dabei ein bedeutsamer
Faktor. Notwendige Bedingung für eine dauerhafte Implementation neuer Maß-
nahmen ist, dass die Fachkräfte – also die Implementationsträger – die Neuerun-
gen in ihrer Komplexität verstehen; Implementation beginnt folglich in den Köp-
fen, was auch in den Erläuterungen zur Anti-Bias-Arbeit in Südafrika deutlich
wird. Ziel in diesem Kontext war und ist die Implementation eines Konzepts zur
demokratischen Pädagogik. Die MitarbeiterInnen von ELRU hatten damit zu-
nächst keine Erfahrung. So war ein erster Schritt der Arbeit, gemeinsam mit den
PädagogInnen ein Verständnis von den undemokratischen und damit diskrimi-
nierenden Handlungsweisen aufzuzeigen. Erst durch dieses Verständnis wird
sichtbar, inwiefern Änderungen notwendig sind. PädagogInnen dazu zu verhel-
fen, die internalisierten Gefühle und damit verbundenen Deutungs- und Hand-
lungsweisen von Unter- und Überlegenheit zu vermitteln, ist nicht nur ein lang-
wieriger, sondern vor allem ein kräftezehrender, zum Teil schmerzhafter Prozess
– so hat es Claudia Lohrenscheit bezeichnet. Die Erkenntnis, dass dies so ist, hat
zur Konsequenz, dass bei der Planung von Implementationsmaßnahmen solchen
Prozesse viel Zeit und Raum gegeben wird. Erst nachdem solche Verstehens-
und Verarbeitungsprozesse durchlaufen sind, kann darauf aufbauend daran gear-
beitet werden, alternative Konzepte und Methoden zu entwickeln. Dass diese in
den Köpfen der Fachkräfte nicht automatisch existieren, verdeutlicht Petra Wag-
ner. Am Beispiel der ErzieherInnen, die in der DDR aufgewachsen sind, be-
schreibt sie, dass es zu unterscheiden gilt zwischen der Erkenntnis, dass ihr Wir-
ken in der Kita verbesserungswürdig ist, und andererseits sich diese Besserungen
vorstellen oder umsetzen zu können. Auch für die Erwachsenenbildung in
Deutschland wird beschrieben, dass getrennt wird zwischen den Zielen ‚Sensibi-
lisierung für diskriminierendes Verhalten‘ und ‚Diskriminierung verlernen‘ –
Prozesse, die möglicherweise langwierige sind. Diesen Aspekt führt Barbara
Henkys an. Sie betont bezüglich der Arbeit im Projekt Kinderwelten, dass für die
ErzieherInnen die Zeit bedeutsam war, die sie in den Fortbildungen zum Anti-
Bias-Ansatz verbracht haben. Es war Zeit, in der sie freigestellt waren von ihren
Verpflichtungen, von den Strukturen und Mechanismen, denen sie sonst im Be-
rufsalltag unterliegen und von denen sie sich nur schwer freimachen können.
Dies ist ein wichtiger Aspekt für die Implementation neuer pädagogischer Kon-

220
zepte. Gerade wenn es darum geht, Routinen zu verändern, so hat Anke Krause
es genannt, braucht dies Zeit und Freiraum. Fortbildungen sind ein guter Weg,
um diesen gedanklichen Freiraum zu schaffen und die Menschen, die an den
Fortbildungen teilnehmen, für den Moment von ihren Verpflichtungen und Ver-
strickungen zu entbinden. Der Aspekt ‚Routinen ändern‘ birgt weitere Implika-
tionen für eine gelingende Implementation. Innovationen treffen häufig auf jah-
relang eingeübte Routinen, die es dann zu ändern gilt. Da dies nicht schlagartig
geschehen kann, wird auch dieser Aspekt ohne Hast bearbeitet. Krause be-
schreibt in diesem Kontext, auf welche Widerstände und Konflikte man stoßen
kann, wenn Neuerungen umgesetzt werden sollen. So bemerkt sie, dass Neue-
rungen immer auch mit Kritik am Bestehenden und damit nicht zuletzt an den
PädagogInnen selbst verbunden sind. Dies anzuerkennen und beim Auftreten
von Abwehr Gelegenheit für Verstehens- und Aushandlungsprozesse einzuräu-
men, wird im Implementationskonzept von Kinderwelten bedacht. Dass Mitspra-
che und -Mitentscheidungsmöglichkeiten eine bedeutsame Gelingenskompo-
nente bei der Umsetzung von Implementationsmaßnahmen sind, betonen auch
Cornelia Gräsel und Ilka Parchmann.
Die beschriebenen Aspekte des Implementationskonzepts bei Kinderwelten,
angereichert mit Erfahrungen aus Südafrika, implizieren Respekt vor den kogni-
tiven und emotionalen Prozessen, die bei Fachkräften durch Implementations-
maßnahmen ausgelöst werden können. Diese in ihrer Gesamtheit und in ihren
individuellen Ausprägungen anzuerkennen, bedeutet in der Strukturierung von
Implementationsmaßnahmen, Zeit und Raum – möglichst mit Abstand zum pro-
fessionellen Tagesgeschehen – einzuräumen. Damit wird auch der Aufforderun-
gen Altrichters nachgekommen, Versachlichung zu vermeiden und die Personen
in den Einrichtungen einzubeziehen.

221
9 Fazit

Die vorliegende Studie basiert auf der Auswertung von Experten-Interviews. Als
ExpertInnen gelten in diesem Fall PädagogInnen, die den Anti-Bias-Ansatz zu
einer ihrer Arbeitsgrundlagen gemacht haben, die zum Teil an der Adaption und
der Weiterentwicklung des Ansatzes arbeiten und die sich somit mit den mögli-
chen Implikationen einer Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz befassen. Mit-
tels einer Triangulation – zum einen der Auswertung dieser Experteninterviews,
zum anderen einer Dokumentenanalyse von Publikationen, Vortrags- und Ta-
gungsmitschnitten, Materialsammlungen und Filmdokumentationen – wird die
Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz in Deutschland systematisch dargestellt, an
theoretische Diskurse angebunden und auf Implikationen für die Erziehungswis-
senschaft hin untersucht. Die folgenden Erkenntnisse stellen die zentralen Er-
gebnisse dieser Studie dar.
Anti-Bias setzt das Bewusstsein voraus, dass bestehende Verhältnisse in
Bildungseinrichtungen nicht optimal sind; dass sie zu wünschen übriglassen
besonders für Kinder, die nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören. Sie lassen
auch zu wünschen übrig, was die Verteilung von Partizipationsmöglichkeiten
angeht. Das zeigt sich sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf bildungsinstitu-
tioneller Ebene. Am Bewusstsein für diese Zusammenhänge setzt Anti-Bias an.
Es ist ein Ansatz, der zur Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte in Bil-
dungsinstitutionen beitragen kann. Mithilfe der Methoden, die im Rahmen der
Anti-Bias-Arbeit entwickelt wurden, können Schieflagen aufgezeigt und Wege
und Möglichkeiten erarbeitet werden, eben diese zu begradigen. Wenn Pädago-
gInnen eine solche Form der Professionalisierung erfahren und sich ihrer Hand-
lungsmacht in Bezug auf Missstände in Bildungsinstitutionen bewusst werden,
können sie dazu beitragen, dass diese Missstände aufgehoben, Strukturen von
sowohl institutioneller als auch individueller Diskriminierung aufgebrochen
werden und dass Bildungsinstitutionen in Deutschland sich zu Orten entwickeln,
an denen Chancengleichheit besteht.
Die Arbeit nach dem Anti-Bias-Ansatz weist vor allem zwei Schwerpunkte
auf: Die Arbeit mit Kindern verfolgt das Ziel, diese darin zu unterstützen, ein
positives Selbstbild zu entwickeln, Vielfalt kennen und akzeptieren zu lernen.
Auf diese Art kann dazu beigetragen werden, dass alle Kinder sich ihrer Fähig-
keiten und Möglichkeiten bewusst werden, dass sie einen Platz finden und ein-

223
nehmen können; dass sie bestärkt darin werden, Bildungsprozesse erfolgreich zu
durchlaufen.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit PädagogInnen. Die An-
forderungen an pädagogische Kompetenzen haben sich in den letzten Jahren
stark gewandelt. In der Praxis gehört Heterogenität längst zum Alltag, in Aus-
und Fortbildungen liegt nach wie vor der Fokus häufig auf der ‚Entproblemati-
sierung herausfordernder Kinder‘. Diese Fokkusierung bedeutet zumeist, nicht
aufmerksam dafür zu sein, welche anderen Faktoren eine Rolle spielen. Der
Anti-Bias-Ansatz nimmt genau diese anderen Faktoren in den Blick. Weil Hete-
rogenität gegeben ist – und zwar in komplexer Form – , werden PädagogInnen
dafür gerüstet, mit Heterogenität umzugehen, Vielfalt anzuerkennen und Mittel
und Methoden zu erlernen, die Kindern Teilhabe und damit Bildungsprozesse
ermöglichen.
Pädagogik nach dem Anti-Bias-Ansatz bedeutet für PädagogInnen, sich ein
Kompetenz- und Methodenrepertoire anzueignen, dass eine Pädagogik der Viel-
falt ermöglicht. Sie dient also der Professionalisierung von PädagogInnen und
stärkt ihre Kompetenzen im Umgang mit Heterogenität, indem sie Methoden zur
vielfaltsbewussten Gestaltung pädagogischer Handlungsräume zur Verfügung
stellt. Auf diese Weise trägt der Anti-Bias-Ansatz dazu bei, Kindern und Jugend-
lichen Partizipations- und damit Bildungsmöglichkeiten einzuräumen und erhöht
somit die Chancengleichheit.

224
10 Literaturverzeichnis

Alejandro-Wright, M.N. (1985): The child’s conception of racial classification. In: Spenc-
er, M.B./Brookins, G.K./Allen, W.R. (Ed.) (1985): Beginnings. The social and af-
fective development of Black children (pp. 185-200). Erlbaum, Hillsdale, NJ
Allemann-Ghionda, Cristina (1997): Multikultur und Bildung in Europa /Multiculture et
éducation en Europe. 2. Auflage, Lang, Peter Bern.
Allemann-Ghionda, Cristina (2008): Interkulturelle Bildung und soziale Ungleichheit:
eine europäische Perspektive. Unveröffentlichtes Vortragskript. Wuppertal, 6/2008
Altrichter, Herbert/Salzgeber, Stefan (1995): Mikropolitik in der Schule. In: Rolff, Hans-
Günter (Hg.) (1995): Zukunftsfelder von Schulforschung. Deutscher Studien Verlag,
Weinheim. S. 9-40
Ansari, Mahdokht/Enßlin, Ute (2003): „Mein Name bedeutet ‚Geschenk‘!“ – Sprachen-
vielfalt hören, sehen und verstehen. In: Preissing, Christa/Wagner, Petra (Hg.)
(2003): Kleine Kinder, keine Vorurteile. Interkulturelle und vorurteilsbewusste Ar-
beit in Kindertageseinrichtungen. Herder, Freiburg im Breisgau. S. 103-117
Anti-Bias-Werkstatt/Europahaus Aurich (Hg.) (2007): CD-ROM Methoden-box: Demo-
kratie-Lernen und Anti-Bias-Arbeit. Aurich
Ariès, Philippe (1978): Geschichte der Kindheit. DTV, München
Arnold, Rolf (2005): Didaktik der Lehrerbildung – das Konzept der reflexiven pädagogi-
schen Professionalisierung. In: PF:ue, Nr. 3/2005. S. 170-174
Artelt, Cordula/Baumert, Jürgen/Klieme, Eckard/Neubrand, Michael/Prenzel, Manf-
red/Schiefele, Ulrich/Schneider, Wolfgang/Schümer, Gundel/Stanat, Petra/Tillmann,
Klaus-Jürgen/Weiss, Manfred (Hg.) (2001): Pisa 2000 – Zusammenfassung zentraler
Befunde. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Auernheimer, Georg (1996): Einführung in die interkulturelle Erziehung. 2. überarbeitete
und ergänzte Auflage. Primus, Darmstadt
Auernheimer, Georg (2007): Einführung in die interkulturelle Pädagogik. 5. ergänzte
Auflage. WBG, Darmstadt
Auernheimer, Georg (Hg.) (2008): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Profes-
sionalität. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. VS Verlag, Wiesbaden
Badawia, Tarek (2002): "Der dritte Stuhl". Eine Grounded-Theory-Studie zum kreativen
Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz.
IKO, Frankfurt/Main
Bang, Molly (1983): Ten, Nine, Eight. Greenwillow, New York
Bateson, Gregory (1982): Geist und Natur. Suhrkamp, Frankfurt/Main

225
Bauer, Karl-Oswald/Kopka, Andreas/Brindt, Stefan (1999): Pädagogische Professionalität
und Lehrerarbeit. Eine qualitativ empirische Studie über professionelles Handeln
und Bewußtsein. 2. Auflage. Juventa, Weinheim
Baumert, Jürgen/Stanat, Petra/ Watermann, Rainer (Hg.) (2006): Herkunftsbedingte Dis-
paritäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Ver-
teilungsgerechtigkeit. VS Verlag, Wiesbaden
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt/Main
Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten – Individuali-
sierung in modernen Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt/Main
Benner, Dietrich (1986): Die Pädagogik Herbarts. Eine problemgeschichtliche Einführung
in die Systematik neuzeitlicher Pädagogik. Juventa, Weinheim
Benner, Dietrich (2001): Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft. 4. Auflage.
Beltz, Weinheim
Blankertz, Herwig (1992): Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur
Gegenwart. Büchse der Pandora, Wetzlar
BMFSFJ (2006): Achtes Buch Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe - (Artikel 1 des
Gesetzes vom 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) in der Fassung der Bekanntmachung
vom 14. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3134), zuletzt geändert durch Artikel 105 des
Gesetzes vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586)
Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfang (Hg.) (2005): Das Experteninterview.
Theorie, Methode, Anwendung. 2. Auflage. VS Verlag, Wiesbaden
Bohnsack, Ralf (1997): Gruppendiskussionsverfahren und Milieuforschung. In: Frieberts-
häuser, Barbara/Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmetho-
den in der Erziehungswissenschaft. Juventa, Weinheim (1997). S. 492-502
Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried/Meuser, Michael (2003): Hauptbegriffe qualitativer
Sozialforschung. Leske und Budrich, Opladen
Böttcher, Wolfgang/Holtappels, Heinz G./Rösner, Ernst (1988): Wer kann sich Studieren
noch leisten? Die Wende in der staatlichen Ausbildungsfinanzierung und ihre sozia-
len Folgen. Juventa, Weinheim
Brezinka, Wolfgang (1976): Erziehungsziele – Erziehungsmittel – Erziehungserfolg.
Beiträge zu einem System der Erziehungswissenschaft. Reinhardt-Verlag, München
Brezinka, Wolfgang (1986): Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft. Beiträge zu
einer praktischen Pädagogik. Reinhardt-Verlag, München
Brezinka, Wolfgang (1989): Aufklärung über Erziehungstheorien. Beiträge zur Kritik der
Pädagogik. Reinhardt-Verlag, München
Brezinka, Wolfgang (2003): Erziehung und Pädagogik im Kulturwandel, Reinhardt-
Verlag, München
Campbell, Donald/Fiske, Donald (1959): Convergant and discriminant Validation by the
Multitrait-Multimethod Matrix. In: Psychological Bulettin 56 (1959). S. 81-105
Castro Varela, Maria del Mar (Hg.) (1998): Suchbewegungen – Interkulturelle Beratung
und Therapie. Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie. Dgvt-Verlag, Tübingen
Combe, Arno/Helsper, Werner (2002): Professionalität. In: Otto, Hans-Uwe/Rauschen-
bach, Thomas/Vogel, Peter (Hg.) (2002): Erziehungswissenschaft: Professionalität
und Kompetenz. Leske und Budrich, Opladen. S. 29-48

226
Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.) (1997): Pädagogische Professionalität. Untersu-
chungen zum Typus pädagogischen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt/Main
Combe, Arno/Helsper, Werner (1997): Einleitung: Pädagogische Professionalität. Histori-
sche Hypotheken und aktuelle Entwicklungstendenzen. In: Combe, Arno/Helsper,
Werner (Hg.) (1997): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus
pädagogischen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt/Main. S. 9-48
Demuth, Reinhard/Gräsel, Cornelia/Ralle, Bernd/Parchmann, Ilka (Hg.) (2008): Chemie
im Kontext - Von der Innovation zur nachhaltigen Verbreitung einer Unterrichts-
konzeption. Waxmann, Münster
Denzin, Norman (1978): The Research Act. A theoretical introduction to sociological
methods. Prentice Hall, Englewood Cliffs
Derman-Sparks, Louise (2001): Anti-Bias-Arbeit mit kleinen Kindern in den USA. Über-
setzung des Vortrags bei der Fachtagung von Kinderwelten „Kleine Kinder – keine
Vorurteile?“ in Berlin am 15.3.2001 (online unter www.kinderwelten.net)
Derman-Sparks, Louise (2008): Anti-Bias Pädagogik: Aktuelle Entwicklungen und Er-
kenntnisse aus den USA. In: Wagner, Petra (Hg.) (2008): Handbuch Kinderwelten.
Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung.
Herder, Freiburg im Breisgau. S. 239-248
Derman-Sparks, Louise and the A.B.C. Task Force (1989): Anti-Bias-Curriculum. Tools
for EMPOWERING Young Children. National Association for the Education of
Young Children, Washington D.C.
Deutscher Bundestag (2007): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textaus-
gabe. Stand. Januar 2007
Diefenbach, Heike (2008): Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen
Bildungssystem. Erklärungen und empirische Befunde. 2. aktualisierte Auflage, VS
Verlag, Wiesbaden
Diehm, Isabell/Radtke, Frank-Olaf (1999): Erziehung und Migration. Eine Einführung.
Kohlhammer, Stuttgart
Dietrich, Theo (1992): Zeit- und Grundfragen der Pädagogik. 7. Auflage. Klinkhardt, Bad
Heilbrunn
Düro, Nicola (2008): Lehrerin – Lehrer: Welche Rolle spielt das Geschlecht im Schulall-
tag? Barbara Budrich, Opladen
ELRU (Early Learning Resource Unit) (1997): Shifting Paradigms. Using an anti-bias
strategy to challenge oppression and assist transformation in the South African con-
text. Rustica Press, Kapstadt
Enßlin, Ute/Henkys, Barbara: Vielfalt ins Gespräch bringen mit Persona Dolls. In: Preis-
sing, Christa/Wagner, Petra (Hg.) (2003): Kleine Kinder, keine Vorurteile. Interkul-
turelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Herder, Freiburg
im Breisgau. S. 118-131
Euler, Dieter (1996): Denn sie tun nicht, was sie wissen. Über die (fehlende) Anwendung
wissenschaftlicher Theorien in der wirtschaftspädagogischen Praxis. In: Zeitschrift
für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 92. Band, Heft 4 1996. S. 350-365
Euler, Dieter/Sloane, Peter F.E. (1998).: Implementation als Problem der Modellversuchs-
forschung. In: Unterrichtswissenschaft. Zeitschrift für Lernforschung. 26. Jg., 1998,
Heft 4. S. 312-326

227
Flick, Uwe (2003): Triangulation. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried/Meuser, Mi-
chael (2003): Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung. Leske und Budrich, Opla-
den. S. 161-162
Friebertshäuser, Barbara/Prengel, Annedore (Hg.) (1997): Handbuch Qualitative For-
schungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Juventa, Weinheim
Fussangel, Kathrin/Schellenbach-Zell, Judith/Gräsel, Cornelia (2008): Die Verbreitung
von Chemie im Kontext: Entwicklung der symbiotischen Implementationsstrategie.
In: Demuth, Reinhard/Gräsel, Cornelia/Ralle, Bernd/Parchmann, Ilka (Hg.) (2008):
Chemie im Kontext - Von der Innovation zur nachhaltigen Verbreitung einer Unter-
richtskonzeption (S. 49-81). Waxmann, Münster. S. 49-81
Giesecke, Hermann (1987): Pädagogik als Beruf. Grundformen pädagogischen Handelns.
Juventa, Weinheim
Giesecke, Hermann (1996): Das »Ende der Erziehung« Ende oder Anfang pädagogischer
Professionalisierung? In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.) (1997): Pädagogische
Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Suhrkamp,
Frankfurt/M.
Gläser, Jochen/Laudel, Grit (2006): Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. 2.
durchgesehene Auflage. VS Verlag, Wiesbaden
Gogolin, Ingrid/Krüger-Potratz, Marianne (2006): Einführung in die Interkulturelle Päda-
gogik. Budrich, Opladen
Gomolla, Mechtild (2007): Wissenschaftliche Begleitung. Kinderwelten. Vorurteilsbe-
wusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Bundesweites Dissemi-
nationsprojekt (Baden-Württemberg, Niedersachsen, Thüringen). Oktober 2004 –
Dezember 2008. Zwischenbericht. Münster
Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Hers-
tellung ethnischer Differenz in der Schule. Leske und Budrich, Opladen
Gräsel, Cornelia/Parchmann, Ilka (2004): Implementationsforschung – oder: der steinige
Weg, Unterricht zu verändern. In. Unterrichtswissenschaft. Zeitschrift für Lernfor-
schung. 32. JG., 2.Vj. 2004. S.196-214
Gudjons, Herbert (1995): Pädagogisches Grundwissen. 4. Auflage. Klinkhardt, Bad Heil-
brunn
Gudjons, Herbert (2001): Pädagogisches Grundwissen. 7. überarbeitete Auflage. Klink-
hardt, Bad Heilbrunn
Hahn, Stefani/Höhme-Serke, Evelyne (2003): „Das ist nicht fair!“. Bei Diskriminierung
eingreifen – Werte zeigen und Position beziehen. In: Preissing, Christa/Wagner, Pet-
ra (Hg.) (2003): Kleine Kinder, keine Vorurteile. Interkulturelle und vorurteilsbe-
wusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Herder, Freiburg im Breisgau. S. 90-102
Hamann, Bruno (1994): Theorien pädagogischen Handelns. Strukturen und Formen erzie-
herischer Einflussnahme. Auer, Donauwörth
Harney, Klaus/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.) (1999): Einführung in die Geschichte von
Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit. 2. Auflage. Leske und Bud-
rich, Opladen
Helfferich, Cornelia (2005): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung
qualitativer Interviews. 2. Auflage. VS Verlag, Wiesbaden

228
Helsper, Werner (1995): Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. In:
Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (1995): Einführung in Grundbegriffe und
Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Leske und Budrich, Opladen. S.15-34
Herbart, Johann Friedrich (1802): Erste Vorlesung zur Pädagogik. In: Herbart, Johann
Friedrich: Systematische Pädagogik. Gesammelt von Dietrich Benner, Klett-Cotta,
Stuttgart (1986)
Herbart, Johann Friedrich (1986): Systematische Pädagogik. Gesammelt von Dietrich
Benner, Klett-Cotta, Stuttgart (1986)
Herwartz-Emden, Leonie (2006): Schulerfolg und Akkulturationsleistungen von Grund-
schulkindern mit Migrationshintergrund. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft,
9. Jg., Heft 2/2006. S. 240-254
Höhme-Serke, Evelyne/Ansari, Mahdokht (2003): „Ohne Eltern geht es nicht!“. Fami-
lienkulturen achten – auf Eltern zugehen. In: Preissing, Christa/Wagner, Petra (Hg.)
(2003): Kleine Kinder, keine Vorurteile. Interkulturelle und vorurteilsbewusste Ar-
beit in Kindertageseinrichtungen. Herder, Freiburg im Breisgau. S. 63-76
Honig, A.S. (1983): Sex role socialization in early childhood. In: Young Children, 38(6).
pp 57-70
Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer
Konflikte. Suhrkamp, Frankfurt/Main
Hübner, Horst (1994): Entwicklung und Implementation eines curricularen Reformprog-
ramms: Beitrag zu einer sozialwissenschaftlich fundierten und beratungskompeten-
ten Sportpädagogik. Lit-Verlag, Münster/Hamburg
Hurrelmann, Klaus (2003): Der entstrukturierte Lebenslauf. Die Auswirkungen der Ex-
pansion der Jugendphase. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erzie-
hungssoziologie, 23.Jg, H. 2. S. 115-125
INKOTA-netzwerk e.V. (Hg.) (2002): Vom Süden lernen. Erfahrungen mit einem Anti-
diskriminierungsprojekt und Anti-Bias-Arbeit. Hinkelstein Druck, Berlin
Joggerst, Karin/Thiemann, Anne (Hg.) (2003): Der Anti-Bias-Ordner. Zum Einsatz an
Schulen und in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Im Auftrag von: Netzwerk
MITEINANDER Marzahn-Hellersdorf und FiPP e.V.
Kant, Immanuel (1784): Aufsätze zu Geschichte und Philosophie. 2. erweiterte und ver-
besserte Auflage. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Zehbe. Vandenhoeck &
Ruprecht, 1975
Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kant, Imma-
nuel (1784): Aufsätze zu Geschichte und Philosophie. 2. erweiterte und verbesserte
Auflage. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Zehbe. Vandenhoeck & Rup-
recht, 1975
Kant, Immanuel (1788): Kritik der praktischen Vernunft. Herausgegeben von Horst D.
Brandt und Heiner F. Klemme (2003), Meiner, Hamburg
Kant, Immanuel (1803): Über Pädagogik. Herausgegeben von Theo Dietrich (1960),
Klinkhardt, Bad Heilbrunn.
Katz, Lilian G. (Ed.) (1982): Current topics in early childhood education, Vol. 4. Ablex
Publishing Corp., Norwood, NJ

229
Katz, Phyllis (1982): Development of children’s racial awareness and intergroup atti-
tudes. In: Katz, Lilian G. (Ed.) (1982): Current topics in early childhood education,
Vol. 4, pp 17-54. Ablex Publishing Corp., Norwood, NJ
Klippert, Heinz (2006): Lehrerentlastung: Strategien zur wirksamen Arbeitserleichterung
in Schule und Unterricht. Beltz, Weinheim
Kohlberg, Lawrence (1966): A cognitive-developmental analysis of children’s sex-role
concepts and attitudes. In: Maccoby, Eleanor E. (Ed.) (1966): The development of
sex differences. pp. 82-172. Stanford University Press, Stanford, CA
König, Eckard/Volmer, Gerda (2002): Systemisches Coaching. Handbuch für Führungs-
kräfte, Berater und Trainer. Beltz, Weinheim
König, Eckard/Zedler, Peter (2002): Theorien der Erziehungswissenschaft. Einführung in
Grundlagen, Methoden und praktische Konsequenzen. 2. Auflage. Beltz, Weinheim
Koring, Bernhard (1990): Einführung in die moderne Erziehungswissenschaft und Bil-
dungstheorie. Denkanstöße für Studienanfänger. Deutscher Studien-Verlag, Wein-
heim
Koring, Bernhard (1997): Das Theorie-Praxis-Verhältnis in Erziehungswissenschaft und
Bildungstheorie. Auer, Donauwörth
Kraul, Margret/Marotzki, Winfried/Schweppe, Cornelia (Hg.) (2002): Biographie und
Profession. Klinkhardt, Bad Heilbrunn
Kraul, Margret/Marotzki, Winfried/Schweppe, Cornelia (2002a): Biographie und Profes-
sion. Eine Einleitung. In: Kraul, Margret/Marotzki, Winfried/Schweppe, Cornelia
(Hg.) (2002): Biographie und Profession. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. S. 7-18
Kreienbaum, Maria Anna (Hg.) (1999): Schule lebendig gestalten. Reflexive Koedukation
in Theorie und Praxis. Wissenschaftliche Reihe, Band 113. Kleine Verlag, Bielefeld
Kreienbaum, Maria Anna/Urbaniak, Tamina (2006): Jungen und Mädchen in der Schule.
Konzepte der Koedukation. Cornelsen, Berlin
Krüger, Heinz-Hermann (1995): Erziehungswissenschaften und ihre Teildisziplinen. In:
Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hg.) (1995): Einführung in Grundbegrif-
fe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Leske und Budrich, Opladen.
S. 303-318
Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hg.) (1995): Einführung in Grundbegriffe und
Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Leske und Budrich, Opladen
Krüger, Heinz-Hermann (1999): Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungs-
wissenschaft. 2. Auflage. Leske und Budrich, Opladen
Kuckartz, Udo (2005): Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten.
VS Verlag, Wiesbaden
Kühn, Heinz (1979): Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen
Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Memorandum
des Beauftragten der Bundesregierung. September 1979
Laevers, Ferre (2007): Die Leuvener Engagiertheits-Skala für Kinder LES-K: Deutsche
Fassung der Leuven Involvement Scale for Young Children. 2. Auflage. Schlömer
Verlag
Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 4. vollständig überar-
beitete Ausgabe. Beltz, Weinheim

230
Lehmann, Rainer/Peek, Rainer/Gänsfuß, Rüdiger (1998): Bericht über die Erhebung im
September 1998 (LAU 7)
Lenzen, Dieter (Hg.) (1984): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Handbuch und Lexi-
kon der Erziehung in 11 Bänden. Band 6. Erziehung in früher Kindheit – Jürgen
Zimmer (Hg.). Klett-Cotta, Stuttgart
Luchte, Katja (2005): Implementierung pädagogischer Konzepte in soziale Systeme.
Beltz, Weinheim
Lünse, Dieter/Stamer, Melanie (2002): Lifestyle oder Methoden? Über das Verhältnis von
Anti-Bias-Arbeit, konstruktiver Konfliktaustragung und Mediation. In: INKOTA-
netzwerk e.V. (Hg.) (2002): Vom Süden lernen. Erfahrungen mit einem Antidiskri-
minierungsprojekt und Anti-Bias-Arbeit. Hinkelstein Druck, Berlin. S. 73-75
Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. VS Verlag, Wiesbaden
Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard (1979): Reflexionsprobleme im Erziehungssys-
tem. Klett-Cotta, Stuttgart
Maccoby, Eleanor E. (Ed.) (1966): The development of sex differences. Stanford Univer-
sity Press, Stanford, CA
Mandela, Nelson (1997): Der lange Weg zur Freiheit. Fischer Verlag, Frankfurt
Marshall, Thomas H. (1963): The Recent History of Professionalism in Relation to Social
Structure and Social Policy. In: Sociology at the Crossroads and Other Essays. Lon-
don
Mayer, Karl Ulrich (1998): Lebensverlauf. In: Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hg.)
(1998): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Leske und Budrich, Opla-
den S. 438-451
Mayring, Phillip (2002): Qualitative Sozialforschung. 5. überarbeitete und neu ausgestat-
tete Ausgabe. Beltz, Weinheim
Mecheril, Paul (1998): Angelpunkte einer psychosozialen Beratungsausbildung unter
interkultureller Perspektive. In: Castro Varela, Maria del Mar (Hg.) (1998): Such-
bewegungen – Interkulturelle Beratung und Therapie. Deutsche Gesellschaft für
Verhaltenstherapie. Dgvt-Verlag, Tübingen. S. 287-310
Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Beltz, Weinheim
Mecheril, Paul (2008): „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ – Pädagogisches Handeln unter
Einwanderungsbedingungen. In: Auernheimer, Georg (Hg.) (2008): Interkulturelle
Kompetenz und pädagogische Professionalität. 2. aktualisierte und erweiterte Aufla-
ge. VS Verlag, Wiesbaden. S. 15-34
Meuser, Michael/Nagel, Ulrike (2005): ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig
bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner, Alexan-
der/Littig, Beate/Menz, Wolfgang (Hg.) (2005): Das Experteninterview. Theorie,
Methode, Anwendung, 2. Auflage VS Verlag, Wiesbaden. S. 71-94
Meuser, Michael/Nagel, Ulrike (2003): Experteninterviews. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki,
Winfried/Meuser, Michael (2003): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Les-
ke und Budrich, Opladen. S. 57-58
Miller, Reinhold (1995): Lehren lernen. Ein pädagogisches Arbeitsbuch. Beltz, Weinheim
Müller, Andrea/Stanat, Petra (2006). Schulischer Erfolg von Schülerinnen und Schülern
mit Migrationshintergrund: Analysen zur Situation von Zuwanderern aus der ehema-
ligen Sowjetunion und aus der Türkei. In: Baumert, Jürgen/Stanat, Petra/Water-

231
mann, Rainer (Hg.) (2006): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Dif-
ferenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. VS Ver-
lag, Wiesbaden. S 223-255
Nieke, Wolfgang (1995): Interkulturelle Erziehung und Bildung. Leske und Budrich,
Opladen
Nieke, Wolfgang (2002): Kompetenz. In: Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach/Vogel, Peter
(Hg.) (2002): Erziehungswissenschaft: Professionalität und Kompetenz. Leske und
Budrich, Opladen, S. 13-28
Nohl, Herman (1950): Ausgewählte pädagogische Abhandlungen. Besorgt von Josef
Offermann. Ferdinand Schönigh Verlag, Paderborn 1967
Nohl, Herman (1950a): Die Bildung des Erziehers. 1950 In: Nohl, Herman (1950): Aus-
gewählte pädagogische Abhandlungen. Besorgt von Josef Offermann. Ferdinand
Schönigh Verlag, Paderborn 1967. S. 77-86
Oevermann, Ulrich (1997): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionali-
sierten Handelns. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.) (1997): Pädagogische
Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Suhrkamp,
Frankfurt/Main. S. 70-182
Oswald, Hans (1997): Was heißt qualitativ forschen? Eine Einführung in Zugänge und
Verfahren. In: Friebertshäuser, Barbara/Prengel, Annedore (Hg.) (1997): Handbuch
Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Juventa, Wein-
heim. S. 71-87
Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas/Vogel, Peter (Hg.) (2002): Erziehungswissen-
schaft: Professionalität und Kompetenz. Leske und Budrich, Opladen
Parson, Talcott (Hg.) (1975): Soziologie – autobiographisch. Stuttgart 1975
Pollock, David C./Van Reken, Ruth E. (2001): Third culture kids. The experience of
growing up among worlds. Brealey, London
Preissing, Christa/Wagner, Petra (Hg.) (2003): Kleine Kinder, keine Vorurteile. Interkul-
turelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Herder, Freiburg
im Breisgau
Preissing, Christa (2003): Qualität im Situationsansatz. Qualitätskriterien und Materialien
für die Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen. Beltz, Weinheim
Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechti-
gung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 3. Auflage. VS
Verlag, Wiesbaden
Pressmann, Jeffrey L./Wildavsky, Aaron (1973): Implementation. How great expectations
in Washington are dashed in Oakland. University of California Press, Berkeley
Rabe-Kleberg, Ursula (1997): Professionalität und Geschlechterverhältnis. Oder: Was ist
»semi« an traditionellen Frauenberufen? In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.)
(1997): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen
Handelns. Suhrkamp, Frankfurt/Main. S. 276-302
Reinmann-Rothmeier, Gabi/Mandl, Heinz (1998): Wenn kreative Ansätze versanden:
Implementation als verkannte Aufgabe. In: Unterrichtswissenschaft. Zeitschrift für
Lernforschung. 26. Jg., 1998, Heft 4. S.292-311
Rohe, Rainer (1990): Implementation von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen
nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Lit-Verlag, Münster

232
Rolff, Hans-Günter (Hg.) (1995): Zukunftsfelder von Schulforschung. Deutscher Studien
Verlag, Weinheim
Roopnarine, J. (1984): Sex-typed socialization in mixed age preschool children. In: Child
Development, 55. pp. 1078-1084
Roth, Heinrich (1971): Pädagogische Anthropologie. Band II. Entwicklung und Erzie-
hung. Schroedel, Hannover
Rousseau, Jean-Jacques (1762): Emile oder Über die Erziehung. Philipp Reclam, Stutt-
gart. Herausgegeben von Martin Rang, 1963
Ruhloff, Jörg (1979): Das ungelöste Normproblem der Pädagogik. Quelle & Meyer, Hei-
delberg
Rutschky, Katharina (2003): Deutsche Kinder Chronik. 400 Jahre Kindheitsgeschichte.
Glb Parkland, Köln
Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hg.) (1998): Handwörterbuch zur Gesellschaft
Deutschlands. Leske und Budrich, Opladen
Schleiermacher, Friedrich (1826): Pädagogische Schriften. Erster Band. (Die Vorlesung
aus dem Jahre 1826). Verlag Helmut Küpper vormals Georg Bondi, Herausgeber:
Erich Weniger, unter Mitwirkung von Theodor Schulze 1957
Scholz, Gerold/Beck, Gertrud (1995): Beobachten im Schulalltag. Ein Studien- und Pra-
xisbuch. Cornelsen, Frankfurt/M.
Schründer-Lenzen, Agi (1997): Triangulation und idealtypisches Verstehen in der (Re-)
konstruktion subjektiver Theorien. In: Friebertshäuser, Barbara/Prengel, Annedore
(Hg.) (1997): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissen-
schaft. Juventa, Weinheim. S. 107-117
ikcan, Serap (2003): „Die verstehen uns nicht!“. Den Dialog mit Immigranteneltern
eröffnen. In: Preissing, Christa/Wagner, Petra (Hg.) (2003): Kleine Kinder, keine
Vorurteile. Interkulturelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtun-
gen. Herder, Freiburg im Breisgau. S. 77-89
ikcan, Serap (2008): Zusammenarbeit mit Eltern: Respekt für jedes Kind – Respekt für
jede Familie. In: Wagner, Petra (Hg.) (2008): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als
Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Herder,
Freiburg im Breisgau. S. 184-202
SKMS (2008): Informationen zum Modellprojekt ‚Starke Kinder machen Schule‘, FiPP
e.V.(http://starke-kinder-machen-schule.de)
Sonntag, Karlheinz (2000): Leitfaden zur Implementation arbeitsintegrierter Lernumge-
bungen. Bundesinstitut für Berufsbildung Bonn. Bertelsmann, Bielefeld
Sonntag, Karlheinz/Stegmaier, Ralf/Jungmann, Anne (1998): Implementation arbeitsbe-
zogener Lernumgebungen – Konzepte und Umsetzungsverfahren. In: Zeitschrift für
Lernforschung. 26. Jg., 1998, Heft 4. S. 326-346
Spencer, M.B./Brookins, G.K./Allen, W.R. (Ed.) (1985): Beginnings. The social and
affective development of Black children. Erlbaum, Hillsdale, NJ
Tenorth, Heinz-Elmar (2000): Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge
ihrer neuzeitlichen Entwicklung. 3. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Ju-
venta, Weinheim

233
Terhart, Ewald (1997): Berufskultur und professionelles Handeln bei Lehrern. In: Combe,
Arno/Helsper, Werner (Hg.) (1997): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen
zum Typus pädagogischen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt/M.
Treml, Alfred K. (2000): Allgemeine Pädagogik. Grundlagen, Handlungsfelder und Pers-
pektiven der Erziehung. Kohlhammer, Stuttgart
Tröger, Walter (1974): Erziehungsziele. Analyse und Lösungsvorschläge für ein aktuelles
pädagogisches Problem. 2. Auflage. Ehrenwirth, München
Wagner, Petra (2005): Kinder in ihrer Ich- und Bezugsgruppenidentität stärken. Kinder-
welten Projektmaterialien. (www.kinderwelten.net)
Wagner, Petra (Hg.) (2008): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen
einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Herder, Freiburg im Breisgau
Wagner, Petra/Hahn, Stefani/Enßlin, Ute (Hg.) (2006): Macker, Zicke, Trampeltier…
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Handbuch
für die Fortbildung. Verlag das Netz, Weimar
Weck, Roswita (2008) (im Auftrag des Projekts Kinderwelten / Internationale Akademie
an der FU Berlin): Mit Kindern ins Gespräch kommen. Vorurteilsbewusste Bildung
und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. DVD
Weinberg, Anja/Töpfer, Gesine (2006): Kinderkrippe und Kindergarten. Bildung und
Erziehung in der ehemaligen DDR. Tectum-Verlag, Marburg
Winkelmann, Anne/Trisch, Oliver (2007): Vorurteile, Macht und Diskriminierung – die
Bildungsarbeit der Anti-Bias-Werkstatt. In: Sir Peter Ustinov Institut (Hg.) (2007):
Kind und Vorurteil. Erforschung von Ursachen und Strategien. Wien
Wollmann, Hellmut (Hg.) (1980): Politik im Dickicht der Bürokratie. Westdeutscher
Verlag, Opladen
Zimmer, Jürgen (1984): Der Situationsansatz als Bezugsrahmen der Kindergartenreform.
In: Lenzen, Dieter (Hg.) (1984): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Handbuch
und Lexikon der Erziehung in 11 Bänden. Band 6. Erziehung in früher Kindheit –
Jürgen Zimmer (Hg.). Klett-Cotta, Stuttgart. S.21-38

234
Quellen aus dem Internet

[Die hier angegebenen Quellen sind Links zu – in den meisten Fällen – Projekt-
seiten. Sofern nicht anders angegeben, hat der letzte Zugriff auf diese Seiten im
April 2009 stattgefunden.]

www.anti-bias-werkstatt.de
www.betzavta.de
www.chik.de (Projekt „Chemie im Kontext)
www.decet.org
www.die-bonn.de (Deutsches Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-
Zentrum für Lebenslanges Lernen)
www.elru.co.za (Early Learning Ressource Unit, Südafrika)
www.fippev.de (Fortbildungsinstitut für die Pädagogische Praxis e.V.)
www.hamburger-bildungsserver.de (Verlinkung zu den Ergebnissen der Ham-
burger Lernausgangssstudie)
www.hvhs-frille.de (Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille)
www.ikm-hamburg.de (Institut für Konfliktaustragung und Mediation)
www.inkota.de
www.institut-fuer-menschenrechte.de
www.kinderwelten.net81
www.multikulti-dessau.de/dok/seminar_web.pdf (Tagungsprogramm zur Ta-
gung: „Ist die deutsche Gesellschaft integrationsfähig?“)
www.olivertrisch.de
www.starke-kinder-machen-schule.de
www.maxqda.de (MAXQDA – Computerprogramm zur Auswertung qualitativer
Daten)

81
Weitere URL-Angaben von dieser Seite finden sich in der Arbeit als Fußnote zu den Zitaten.
Dieses Vorgehen scheint insofern sinnvoll, da es zu den URLs keine Titelangaben oder ähnliches
gibt. Auf diese Weise sind die URLs leicht den Zitaten zuzuordnen.

235

Das könnte Ihnen auch gefallen