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DIE
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
ZEIT 20. APRIL 2023 N o 17

Wie frei Ein Herz für

ist die Kunst die Moral

Stuckrad-Barres lange
erwarteter Roman

noch?
über ein ganz
fiktives Medienhaus
Feuilleton, S. 45

TikToks
tödliche Seite
Künstler und Kulturschaffende fühlen sich von Wie Kinder bei
der politischen Korrektheit bedroht: sogenannten
Ein falsches Wort, und du stehst im Sturm. Challenges sterben
Wirtschaft, S. 21
Einige wollen jetzt erst recht Ärger machen
Titelillustration: José Navarro für DIE ZEIT

FEUILLETON UND STREIT

Wie geht Liebe?

Schon mehr als 40
EMISSIONEN INNERDEUTSCH
Jahre pflegt eine Mutter
ihre schwerbehinderte

So wird’s nur heißer Die Ossiphobie geht um Tochter

Entdecken, S. 57

Die Wissenschaft rügt, der Kanzler rät, die Aktivisten kleben sich fest – Immer wieder wird der Osten pauschal beurteilt oder gar beschimpft.
eine ganz normale Berliner Klimawoche VON PETRA PINZLER Was ist da bloß mit dem Westen los? VON ANNE HÄHNIG

D S
er Klimawandel bringt ge-
häuft Extremwetterlagen mit
sich. Auch politisch. Zum
Beispiel in dieser Woche. Die
begann am Montag mit der
Wissenschaft: Da warnte der
Expertenrat der Regierung, dass ebendiese ihre
Klimaziele künftig krachend verfehlen werde.
Dann ging es weiter in der Politik: Kanzler
Scholz äußerte nicht etwa sein Bedauern, viel-
mehr rät er seinem Verkehrsminister, dieses
Ergebnis doch bitte nicht zu ernst zu nehmen
und auch nicht das geltende Klimagesetz, das
ihn eigentlich zwingen würde, den Verkehrs-
sektor in eine klimagerechtere Zukunft zu füh-
ren. Und zwar subito.
Die Kluft zwischen Physik und
Politik wird eher tiefer
Enden wird diese Klimawoche dann mit Geset-
zesbrüchen anderer Art und eindeutigerer Natur:
Die »Letzte Generation« will Berlin lahmlegen.
Also nicht das politische Berlin, sondern das
richtige, das mit den Autos und den Menschen.
Wissenschaft – Politik – Protest. Das ist der
eine Dreiklang, doch es gibt in der Klimapolitik
noch einen zweiten, und der geht so: Erkennt-
nis, Kompromiss und noch ein Kompromiss.
Schon als die Regierungen auf dem Pariser Kli-
magipfel beschlossen, die globale Erhitzung stär-
ker bekämpfen zu wollen, stand am Ende ein
Kompromiss: Das Steigen der Durchschnitts-
temperatur, so einigte man sich damals, solle
nicht etwa sobald als möglich gestoppt werden,
sondern erst bei 1,5 Grad oder auch bei zwei,
mal sehen.
Ähnlich ging es dann weiter mit dem Kom-
promiss des Kompromisses. In Deutschland
etwa verabschiedete die große Koalition ein Kli-
maschutzgesetz mit deutschen CO₂-Einsparzie-
len, das die damit verbundenen Lasten weit in
die Zukunft verlegte. So weit, dass schließlich
das Bundesverfassungsgericht einschritt und die
Regierung zwang nachzuschärfen. Dieses Nach-
schärfen endete seinerseits in einem Kompro-
miss, also nicht ganz so scharf. Immerhin müs-
sen die Bundesminister seither jährlich mehr
CO₂ in ihrem Sektor einsparen.
Das Klimaschutzgesetz war also der Kompro-
miss, der aus einem Kompromiss entstand, dem
ein Kompromiss zugrunde lag. Was bleibt, ist
indes ein kompromissloser Verhandlungspart-
ner: die Physik. Und die ist, vorsichtig gesagt,
ziemlich ungnädig.
Die Ampelkoalition hat aus alldem eine
bizarre Konsequenz gezogen. Sie will nicht etwa
mehr Wumms für den Klimaschutz. Sie will das
Gesetz, sagen wir: dehnen. Weg sollen die Jahres-
ziele, weg die Sofortprogramme. Und Scholz will
das alles ab sofort, quasi per Kanzlerautorität und
ohne Abstimmung im Parlament. Nur so ist zu
erklären, dass er seinen Verkehrsminister auffor-
dert, trotz dessen Zurückhaltung beim Klima-
schutz besser kein Sofortprogramm zu schreiben.
Obwohl das Gesetz (noch) das Gegenteil fordert.
Das ist nicht nur ein wenig provozierend für
alle, die auf die außerpolitische Wirklichkeit schau-
en, den Wassermangel in Südeuropa, den ausblei-
benden Schnee in den Alpen, die beschädigten
Wälder. Das untergräbt auch die Legitimität von
Regierungshandeln und die Rolle des Kompro-
misses in der Politik: Der Ausgleich von Interessen
ist eines der edelsten Mittel der Demokratie. Nur
bleibt bei der dritten Ableitung des Kompromisses
vom ursprünglichen Ziel nur noch wenig übrig.
Schon jetzt belegt der Klimarat schließlich,
dass Deutschland sein eigenes Klimaziel für
2030 um 40 Prozent verfehlen wird. Die Kluft
zwischen den realen Notwendigkeiten und der
real existierenden Politik wächst bedenklich.
Und das wiederum bestärkt fälschlicherweise all
die, die längst die Straße für den einzig wirk-
samen Ort der Klimapolitik halten, strafbare
und sehr nervige Aktionen inklusive. Die »Letzte
Generation« erhielt dafür zuletzt immer weniger
Zustimmung – aber immer mehr Zulauf. Und
das kann Scholz doch nicht wirklich wollen.
Immerhin, Widerstand regt sich nun ausge-
rechnet an dem Ort, an dem das Klimagesetz ge-
ändert werden soll: im Bundestag. Denn natürlich
stellt Scholz’ richtliniengeberischer Vorgriff auf
eine Gesetzesänderung eine Kränkung des
Gesetzgebers dar. Folgerichtig hat der einflussrei-
che SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch nun
gefordert, dass es bei der Reform des Gesetzes um
»mehr Verbindlichkeit« gehen müsse. Frei nach
dem Motto: Vertrauen in den Kanzler ist gut,
verpflichtende Maßnahmen sind besser.
Das wäre dann doch mal eine echte kleine
Sensation, wenn die SPD ihrem eigenen Kanzler
ausgerechnet beim Klimaschutz im Parlament in
den Arm fallen würde. Und der nächste Kom-
promiss mal zugunsten der Natur ausginge.
chwer zu sagen, mit wem es ange-
fangen hat. Mit Arnulf Baring
vielleicht, dem berühmten Politik-
wissenschaftler? Er schrieb 1991,
das SED-Regime habe die Men-
schen im Osten »verzwergt, ihre
Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt«, weswegen
viele von ihnen »nicht weiter verwendbar« seien.
Seitdem gehört es irgendwie dazu, den deut-
schen Osten so zu beschimpfen, als wäre er ein
Kollektiv. Jedenfalls kommt das regelmäßig vor.
Nicht nur in internen Nachrichten wie jenen
Mathias Döpfners, des Vorstandsvorsitzenden
der Axel-Springer-Verlagsgruppe, über die die
ZEIT berichtete. Bei vielen Ostdeutschen haben
seine Aussagen Déjà-vu-Gefühle ausgelöst.
Da gab es zum Beispiel einmal einen Bundes-
tagswahlkampf, 2005, in dem Edmund Stoiber
(CSU) fluchte: »Es darf nicht sein, dass die Frus-
trierten über das Schicksal Deutschlands bestim-
men.« Was sein Unionsfreund Günther Oettin-
ger bekräftigte, indem er sagte: »Die Linken und
die Mutlosen im Osten Deutschlands dürfen
nicht entscheiden, wie Deutschland regiert wird.«
»Wie kriegen wir die ostdeutsche
Bevölkerung dahin, endlich zu arbeiten?«
Neben ihren Wahlentscheidungen wurden »die
Ostdeutschen« auch für ihre Arbeitsmoral kriti-
siert. Sie seien »wie Sozialismus-Junkies«, die
»auf die nächste Finanzspritze« warteten, sagte
der Soziologe Thomas Roethe 1999. Man müsse
darüber diskutieren, »wie wir die ostdeutsche
Bevölkerung dahin kriegen, dass sie endlich
anfängt zu arbeiten«. 2016 erklärte wiederum
Armin Laschet, damals Landespolitiker in NRW,
die DDR habe die Köpfe der Menschen nach-
haltig zerstört. Wohingegen Jörg Schönbohm
(CDU), einst Brandenburger Innenminister,
eher sinnliche Dinge umtrieben: Er attestierte
den Ostdeutschen »eine verbreitete Stillosigkeit
– im Umgang wie bei der Kleidung«.
Falls Sie sich nun ertappt fühlen sollten, ähn-
liche Gedanken schon gehabt zu haben: Die
manchmal etwas ethnologisch anmutende
Beschreibung der anderen (oder auch: als anders
Empfundenen) ist halt eine verbreitete Ange-
wohnheit, unter anderem in Westdeutschland.
Nicht nur Ostdeutsche, auch Zugewanderte
oder deren Nachkommen schildern ja regelmä-
ßig die Erfahrung, im Zweifel doch nicht als
PROMINENT IGNORIERT
zugehörig wahrgenommen zu werden. (Und lei-
der machen Migranten diese Erfahrung auch im
Osten, der es besser wissen müsste.) Dieses Land
neigt viel mehr zur Homogenität, als es ihm recht
ist. Was man etwa daran erkennt, dass es sowohl
Ostdeutsche als auch Menschen mit Migrations-
geschichte selten in Führungspositionen schaffen.
Aber das allein erklärt die Ossiphobie noch
nicht. Will man ihr näher kommen, muss man
sich an 1989 erinnern. Das ist nicht nur das Jahr,
in dem ostdeutsche und osteuropäische Träume
wahr wurden. Sondern auch das Jahr, in dem der
Am Fluss
Westen träumte. Nämlich davon, dass nun das Leute, die in Mainz-Laubenheim
Happy End der Weltgeschichte eingeleitet sein den Rhein entlangspazieren, be-
würde. Alle wollten Westen sein. Westen forever. richten von drei neuen Parkbän-
Seit einiger Zeit aber macht der Westen die ken auf Betonfüßen. Seltsam sei
Erfahrung, infrage gestellt zu werden, von äuße- nur, dass man von den Bänken aus
ren Mächten, von China oder Russland. Und: nicht auf den Fluss schaue, son-
von innen. Da ist der Erfolg des Rechtspopulis- dern auf einen Parkplatz. »Auszu-
mus, der sich in vielen Ländern beobachten lässt, bildende«, so die Stadt, hätten die
von den USA bis Ungarn. Zwar mögen die Bänke falsch montiert, die Blick-
jeweiligen rechtspopulistischen Kräfte im Detail richtung werde rasch korrigiert.
verschieden sein, dennoch leben sie alle von Ob junge Leute Autos lieber
einem ähnlichen Spirit. Nämlich dem Wunsch, mögen als den ollen Strom? HBK
die politische Globalisierung einzudämmen, sich
auf den Nationalstaat zurückzubesinnen. Kleine Fotos (v. o.): Jonas Holthaus/laif;
Julia Sellmann für DIE ZEIT;
Die AfD ist eine Spielart dieses Phänomens, Klaus Euteneuer/twitter
profitiert von ähnlichen Mechanismen wie Trump
in den USA, wie die Brexiteers in Großbritannien. Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
Und doch glauben manche Westdeutsche im Über- 20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
schwang ihrer Überforderungsgefühle, ihr Problem DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
wäre gelöst, wenn man AfD-wählenden Ossis end-
ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
lich mal ins Gewissen redete. ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Dabei ist der Rechtspopulismus kein ostdeut-
sches Phänomen, sondern ein weltweites. Er hat ABONNENTENSERVICE:
es, blickt man auf Deutschland, im Osten nur Tel. 040 / 42 23 70 70,
etwas leichter. Weil hier die Selbstzufriedenheit E-Mail: abo@zeit.de
geringer, weil Rassismus schlechter aufgearbeitet
ist, und ja: weil es ein paar offene Einheitsrech- PREISE IM AUSLAND:
nungen gibt. Die Wiedervereinigung ist zwar bis DK 69,00/FIN 9,10/E 7,80/
heute ein echtes Wunder der Weltgeschichte, CAN 7,90/F 7,80/NL 7,20/
A 6,50/CH 8.50/I 7,80/GR 7,80/
aber eben doch nicht in allen Details gelungen. B 7,20/P 7,80/L 7,20/H 3690,00
Sich auf den Osten einzuschießen heißt vor
o
N 17
allem: ihn als Projektionsfläche für das zu be-
nutzen, wovor man Angst hat. So ließen sich die
kindischen Kollektivbeschimpfungen erklären.
Sie zeigen vor allem eines: Viele Westler haben
78. J A H RG A N G C 7451 C
ihr Überlegenheitsgefühl zwar verloren, aber ihre
Arroganz noch nicht überwunden.
17
Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 106207
2 POLITIK 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Fahnenflucht?
Sollte die EU sich von den USA emanzipieren?
Ja, sagt MATTHIAS KRUPA : Wir können nicht ewig auf transatlantischen Beistand setzen.
JAN ROSS entgegnet: Ohne diesen Rückhalt würden wir verwundbarer

D
ie Antwort auf die Frage, ob Europa sich von vergangenen Jahre immer wieder die gleiche Erfahrung ge- Biden Europa jetzt in der Auseinandersetzung mit Russland
den USA emanzipieren müsse, hat Angela macht: Sie haben erlebt, wie abhängig sie von anderen sind. unterstützt. Nur, wie stark sollte man in Zukunft auf dieses
Merkel schon vor einigen Jahren gegeben, in Die Finanzkrise begann damit, dass eine amerikanische In- Glück setzen?
einem bayerischen Bierzelt. »Die Zeiten, in vestmentbank zusammenbrach. In der Pandemie flog China Die Diskussion über Europas strategische Autonomie wird
denen wir uns auf andere völlig verlassen anfangs mit großer Geste Masken ein, die in Europa fehlten; von zwei Missverständnissen begleitet. Sich unabhängiger von
konnten, die sind ein Stück vorbei«, sagte sie später brachen die Lieferketten zusammen. Russlands imperiale den USA zu machen bedeutet nicht, die Nato aufzugeben.
dort im Mai 2017. Und weiter: »Wir Europäer Aggression hat nicht nur Europas Sicherheit erschüttert, son- Und schon gar nicht, dieselbe Distanz zu Washington einzu-
müssen unser Schicksal natürlich in unsere eigene Hand neh- dern auch die Energieversorgung vieler europäischer Länder. nehmen wie zu Peking.
men.« In den USA regierte damals Donald Trump, noch kö- Die EU reagierte auf diese Schläge stets in derselben Logik: Sie Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die Länder Eu-
chelte der Krieg nur im Osten der Ukraine. Und in Paris war ist zusammengerückt, hat gemeinsam Impfstoffe besorgt oder ropas derzeit nicht in der Lage sind, allein die Sicherheit auf
gerade ein sehr junger Mann Präsident geworden. Schulden aufgenommen und alles getan, um widerstands- ihrem Kontinent zu garantieren. Das ist eine bittere, aber
Man kann der nun Alt-Kanzlerin manches vorhalten, aber fähiger zu werden. nicht wirklich überraschende Erfahrung. Entscheidend sind
sicher nicht, dass sie jemals antiamerikanische Gefühle hegte. Strategische Autonomie sei eine »Frage des politischen die Schlussfolgerungen, die Europa daraus zieht. Emmanuel
Ihre tastende Unabhängigkeitserklärung resultierte aus der Ent- Überlebens«, hat der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, Macron hat sein Plädoyer für mehr Autonomie ausdrücklich
täuschung über Trump und folgte einer nüch- im Dezember 2020 geschrieben. Die Staats- mit der Forderung nach einer »europäischen Kriegswirtschaft«
ternen Analyse. Je unberechenbarer die Welt und Regierungschefs der Union hatten sich verbunden. Weder die Aufrüstung noch die Unabhängigkeit
wird, desto unabdingbarer wird es für die
Europäische Union, sich selbst in dieser Welt Pro schon zwei Monate zuvor einstimmig zu
diesem Ziel bekannt. Auch im Koalitionsver-
sind dabei ein Selbstzweck. Sie sind die Voraussetzung dafür,
dass Europa seine Interessen selbst bestimmen kann – und
behaupten zu können. Wenn es sein muss trag der Ampelparteien findet sich die Forde- nicht von anderen bestimmt wird. Denn autonom zu sein
auch ohne, zur Not sogar gegen die USA. rung nach einer »handlungsfähigen und heißt vor allem, Spielraum zu gewinnen. Der Atommacht
Sechs Jahre und eine Pandemie später, Europa nimmt sein strategisch souveränen EU«. Souveränität Frankreich fällt es naturgemäß leichter so zu denken als
mitten in einem Krieg, ist die Welt nicht oder Autonomie sind dabei keine absoluten Deutschland, das gerade erst aus einem sicherheitspolitischen
berechenbarer geworden. Aber die USA Schicksal selbst in Größen. Die Handelsmacht EU kann sich Tiefschlaf erwacht ist.
haben sich doch noch einmal als verläss- die Hand – oder es nicht aus der Welt zurückziehen wie ein Ge- Dass sich diese Auseinandersetzung nun an dem Verhältnis
licher Partner erwiesen. Oder sollte man wird zum Mitläufer müsegärtner, der sich selbst versorgt. Aber sie zu China entzündet, ist kein Zufall. Der Konflikt zwischen
besser sagen: Joe Biden hat sich als ver- muss eigenständiger und unabhängiger wer- Peking und Washington baut sich seit Langem auf. Je offener
lässlicher Partner erwiesen? Ohne die der Geschichte den – auch von den USA. das chinesische Regime die amerikanische Vormacht infrage
militärische Unterstützung aus Wa- Kein amerikanischer Präsident hat Euro- stellt, desto dringender wird es für die Europäer, sich zu dieser
shington wäre Kiew inzwischen sicher- pa so provoziert wie Donald Trump. Doch Auseinandersetzung zu verhalten. Sie stehen dabei unter mas-
lich besetzt und die EU in großer Not. Dass Frankreichs die Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre sind insgesamt sivem Druck aus Washington; anderes zu behaupten wäre
Präsident Emmanuel Macron ausgerechnet in dieser durchwachsen. George W. Bush hat einen völkerrechtswidri- naiv. Bleibt der EU also gar keine Wahl, als sich vorbehaltlos
Situation die »strategische Autonomie« Europas be- gen Krieg gegen den Irak geführt und dabei Gefolgschaft von auf die Seite Washingtons zu stellen? Es ist eine solche Zwangs-
schwört und davor warnt, den USA im Konflikt mit den Europäern erwartet; damit hat er die EU gespalten. Barack läufigkeit, vor der Emmanuel Macron zu Recht gewarnt hat.
China blindlings zu folgen, klingt paradox, ja unver- Obama war cool, interessierte sich aber nur wenig für Europa. Nichts ist verführerischer als eine gute Geschichte. Die
schämt – und ist trotzdem richtig. Dann kam Trump. Selbst Joe Biden hat seine Amtszeit nicht Nato hat den Kalten Krieg gewonnen, die EU ist unter dem
Denn der russische Angriff auf die Ukraine mit transatlantischen Bekenntnissen begonnen, sondern mit Sicherheitsschirm der USA gut gediehen. Aber die Welt sor-
hat die Nato wiederbelebt, aber auch eine gefähr- einem chaotischen Rückzug aus Afghanistan, ohne die Ver- tiert sich gerade neu, und Europa muss sich nun entscheiden:
liche Illusion genährt: die Vorstellung, dass alles bündeten zu konsultieren. Später hat er ein Programm zum Entweder es nimmt sein Schicksal selbst in die Hand und löst
wieder so sein könnte, wie es schon lange nicht klimaneutralen Wiederaufbau der amerikanischen Industrie sich von der Fixierung auf die USA. Oder es wird zum Mit-
mehr war. beschlossen, das viele in der EU als Kampfansage verstehen. läufer der Geschichte. Die Frage, die Macron aufgeworfen hat,
Die Europäische Union und ihre Mit- Merke: Die Amerikaner folgen erst ihren Interessen, dann handelt nur auf den ersten Blick von den USA. Im Kern geht
gliedsländer haben in den vielen Krisen der sorgen sie sich um Verbündete. Natürlich ist es ein Glück, dass es darum, wie viel wir Europäer uns selbst zutrauen.

W
er eine stärkere die Verbündeten der USA an allen Abenteuern ihrer Vormacht Politegoisten und Allianzsaboteure sind wie Trump. Die Angst
Emanzipation beteiligt gewesen. Selbst die Briten, die treuesten Freunde Wa- vor Populismus und Nationalismus liefert in Wahrheit keinen
Europas von den shingtons, haben sich etwa aus dem Vietnamkrieg herausgehalten. Grund dafür, sich lieber mit der EU selbständig zu machen,
Vereinigten Staa- Doch diese Möglichkeit des Neinsagens bedeutet nicht, als an Amerika gekoppelt zu bleiben: Diese Gefahren drohen
ten fordert, sagt dass die EU weltpolitische Eigenständigkeit besitzen würde überall gleichermaßen.
damit zweierlei: oder auf absehbare Zeit erwerben könnte – »strategische Au- Wichtiger noch ist jedoch ein anderes Argument gegen die
dass eine solche tonomie« oder »europäische Souveränität«, wie man das in Loslösung von den Vereinigten Staaten. In Nordamerika und
Emanzipation möglich – und Paris und Brüssel gern nennt. Vielmehr zeigt in diesen Mona- Europa, in Japan und Australien bildet sich im Augenblick
dass sie wünschenswert sei. Das ten der Ukraine-Krieg in geradezu brutaler Klarheit, wie eine erstaunlich einträchtige Lageeinschätzung und Gefahren-
sind durchaus verschiedene abhängig die Europäer von den Amerikanern sind. Ohne analyse heraus, ein gemeinschaftliches Verständnis der Welt,
Annahmen; es könnte sein, militärische Ausrüstung, Geheimdienstunterstützung und in der wir leben. Spätestens der Ukraine-Krieg hat deutlich
dass eine davon zutrifft, die finanzielle Hilfe aus den Vereinigten Staaten hätte die Ukraine gemacht, dass die autoritären Großstaaten China und Russ-
andere nicht. Leider je- dem russischen Angriff auf keinen Fall bis heute standgehal- land geopolitisch in einem Team spielen, dass sie sich gegen-
doch sind beide falsch. ten. Und ohne fortdauernden Rückhalt bei den USA würde seitig in ihrer Machtexpansion unterstützen – und dass nur
Natürlich kann sich Europa verlieren, was es in den kommenden Jahrzehnten ein geeinter Westen gegen sie eine Chance hat. Zumal die
die EU zum Beispiel mehr als alles andere brauchen wird: die Fähigkeit, Russland führenden Länder des Globalen Südens, wie Indien, Brasilien
entscheiden, wie es von weiteren aggressiven Vorstößen abzuschrecken. oder Südafrika, ziemlich ungerührt auf der Zuschauertribüne
offenbar dem franzö- Trotz aller »Zeitenwende«-Rhetorik ist es unvorstellbar, sitzen. Diese Einsicht wird, Trump hin oder her, bis tief in die
sischen Präsidenten dass die Europäer diese Abhängigkeit in überschaubarer Frist Republikanische Partei der Vereinigten Staaten geteilt. Und
Emmanuel Macron überwinden könnten. Nicht bloß, weil auf sie trägt Früchte: Nie im Leben hätte Wladi-
vorschwebt, Taiwan dem Kontinent der politische Wille zu einer mir Putin erwartet, mit seiner Invasion auf
in seiner Ausei-
nandersetzung mit
Art Supermachtwerdung unter Hochdruck,
zur Remilitarisierung eines historisch eben Contra derart massiven, gut abgestimmten euro-
amerikanischen Widerstand zu stoßen – auf
China weniger erst erfolgreich verfriedlichten Europas einen Widerstand, der im Zusammenspiel
entschlossen zu schlicht nicht besteht. Sondern auch, weil mit der Zähigkeit der Ukrainer den russi-
unterstützen, als ein ernsthaft verfolgtes Projekt »strategische »Strategische schen Präsidenten bereits jetzt um den Tri-
die Amerikaner Autonomie« die EU unweigerlich spalten umph gebracht hat, mit dem er fest gerech-
es tun. Nicht und ihre angestrebte Stärkung gerade un- Autonomie« net hatte.
einmal auf möglich machen würde. Die ostmitteleuro- würde die EU Es wirkt, zurückhaltend gesagt, kurios,
dem Hö- päischen Länder, besonders Polen und die unweigerlich sich ausgerechnet diesen Augenblick für eine
hepunkt baltischen Staaten, aber auch etwa Finnland, Distanzierung von den Vereinigten Staaten
des Kalten verspüren durchaus kein Bedürfnis, sich von spalten auszusuchen. Seit dem Ende der Ost-West-
Krieges Washington zu lösen und ihr Heil künftig Konfrontation zu Beginn der 1990er-Jahre
sind mehr in Paris, Berlin oder Brüssel zu suchen; wurde immer wieder nervös gefragt, ob »der
sie trauen weder dem Verteidigungswillen noch, nach Jahren Westen« überhaupt noch existiert, wofür er steht und wozu
der irregeleiteten Russlandversteherei, der außenpolitischen man ihn braucht. Auf einmal ist die Sache sonnenklar. Die
Urteilskraft der EU-Mächte und -Instanzen. Halb Europa hat scheinbar überholte Rede von der »freien Welt« als politischer
gar kein Interesse an »europäischer Souveränität« und lehnt sie Einheit hat neuen Sinn bekommen. Mit einem Programm
sogar prinzipiell ab. narzisstischer Selbstfindung würden die Europäer ihn gleich
Aber selbst wenn eine größere Unabhängigkeit von den wieder verspielen.
Vereinigten Staaten im Moment unrealistisch ist: Wäre sie Es spricht also eine Menge gegen eine Abkehr von den
nicht trotz aller Schwierigkeiten ein erstrebenswertes Ziel? USA. Warum ist die Idee trotzdem so populär? Wahrschein-
Vor allem, weil die USA selbst kein wirklich verlässlicher lich geht es bei der »europäischen Souveränität« gar nicht so
Partner mehr sind, seit sie einmal einen Bündnisveräch- sehr um Europa, nicht um das vermeintliche Ziel des Eman-
ter wie Donald Trump zum Präsidenten gewählt haben? zipationsprozesses. Sondern die Motivation ist negativ, das
Nun ist es zunächst einmal eine Illusion, die euro- Leiden unter der Übermacht der Vereinigten Staaten ein
päische Solidarität automatisch für stabiler zu halten Demütigungsgefühl, von dem man sich endlich befreien
als die atlantische. Es könnte sehr wohl ein franzö- möchte. Der Kern des Verlangens nach größerer europäischer
sischer Präsident (oder eine französische Präsi- Selbstständigkeit ist nicht Strategie, sondern Ressentiment.
dentin) an die Regierung kommen, die ähnliche Das ist in der Politik ein starker Beweggrund. Aber kein guter.

Illustration: Timo Lenzen für DIE ZEIT

DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
D
as Büro sieht aus, als hätte
sie es noch nicht ganz einge-
wohnt. An der Wand hängt
ein Bild, das sie von ihrer
Vorgängerin übernommen
hat. Davor ein Schreibtisch,
dann ein Besprechungstisch,
eine Sofaecke, in der sie noch nie gesessen hat, sagt
sie. Es liegt im zweiten Stock eines Altbaus, die
Fenster zum Hinterhof. Manche Minister können
abends über die flimmernde Stadt blicken. Katja
Kipping muss tagsüber das Licht anmachen.
Links an der Wand steht ein Flipchart. Mit grü-
nem Edding steht darauf geschrieben, was sie noch
erledigen will. Die Senatsvorlage zu den 1000 mobi-
len Flüchtlingsunterkünften. Die Streichung des
Eigenanteils für Taxifahrten von Schwerbehinderten.
Das betreffe zwar nicht viele, sagt sie, aber für dieje-
nigen, die es betreffe, wäre es eine große Erleichte-
rung. Allerdings wartet sie noch auf eine Antwort
vom Finanzsenator. Ganz unten auf dem Flipchart
steht: Bilanz.
Katja Kipping war Landtags- und Bundestags-
abgeordnete, neun Jahre Chefin der Linkspartei
und schließlich 16 Monate Senatorin für Arbeit,
Soziales und Integration in Berlin. Noch bis die-
sen Freitag stimmt die Berliner SPD-Basis darüber
ab, ob ihre Partei eine Koalition mit der CDU
eingehen soll. Entscheiden die Mitglieder wie er-
wartet für das neue Bündnis, endet Kippings
Amtszeit in der nächsten Woche. Sie ist 45 Jahre
alt und seit 25 Jahren Politikerin. Zum ersten Mal
wird sie kein Mandat mehr haben, keine Funktion,
keine Vorstellung, was als Nächstes kommt. In ih-
rem Büro stehen die Umzugskisten. Ein halbes
Leben in der Politik, das sie nun in Kisten ver-
räumt, verpackt und wegsortiert.
Im Bücherregal, zweites Fach von oben:
Sieben Leitz-Ordner, darunter Sprechzettel in
Klarsichtfolien
Die Ordner sind sauber beschriftet: DHH
2024/2025, Kapitel 1140–1192. DHH steht für
Doppelhaushalt und die Kapitel für Kippings Zu-
ständigkeitsbereich. Auf Hunderten Seiten werden
Projekte notiert, 20 Millionen Euro für die Förderung
der Berufsausbildung, 970.000 für psychosoziale
Beratungsprojekte. Auf einem Blatt klebt ein Post-it:
»Halbierung realistisch?«
Sie hat das alles zum ersten Mal gemacht. Katja
Kippings Sehnsucht war stets die Exekutive, ihr
Schicksal war die Opposition. 23 Jahre verbrachte sie
im Mindestabstand zur Macht, als Abgeordnete in
Ausschüssen, wo sie Anträge stellte, die abgelehnt
wurden. Im Dezember 2021 dann wurde sie als
Senatorin in Berlin vereidigt und sofort hineinge-
sogen in den Strudel. Ihre erste Ansprache vor den
Mitarbeitern im neuen Haus hielt sie noch digital,
wegen Corona. Wenige Wochen später schon kamen
jeden Tag Tausende Menschen aus der Ukraine nach
Berlin, innerhalb von zwei Wochen ließ Kipping ein
Ankunftszentrum auf dem Flughafengelände in
Tegel errichten, dann kamen die Energiekrise, die
Rechts oben im Regal: Ein Samowar. Der russische Teekessel hat sie bislang in jedes ihrer Büros begleitet
Ein Päckchen Macht
Ihre Arbeit schätzen auch ihre politischen Gegner, doch jetzt ist die Karriere wohl erst mal vorbei:
Katja Kipping, Senatorin der Linken in Berlin, räumt ihre Schränke leer VON ROBERT PAUSCH
Inflation, Entlastungspakete. Sie setzte durch, dass
Arbeitslose und arme Rentner kostenlos in Berliner
Schwimmbäder dürfen. Sie sorgte dafür, dass in
Berliner Museen, Stadtteilzentren und Bibliotheken
über 400 sogenannte Wärmepunkte entstanden, für
Obdachlose und Menschen, die im Winter aus
Angst vor der Nebenkostenabrechnung ihre Woh-
nung kalt ließen. Vor drei Wochen, die schwarz-roten
Koalitionsverhandlungen waren schon fast ab-
geschlossen, gab sie noch mit Franziska Giffey be-
kannt, dass das Berliner Sozialticket verlängert wird.
700.000 Berliner können für neun Euro pro Monat
den Nahverkehr nutzen.
Fragt man Kipping nach ihrem schönsten Mo-
ment als Senatorin, erzählt sie zum Beispiel von der
Eröffnung eines Ladens auf der Marzahner Prome-
nade, wo es Kleidung, Bücher, Strom und Beratung
für arme Menschen gibt. Das Geld dafür hatte sie
zuvor im Haushalt erkämpft.
Als Parteivorsitzende bestand Politik für sie oft
darin, so zu tun, als ob. Als ob es von Bedeutung sei,
wie die Linke sich zu den Protesten in Venezuela ver-
hält, zur Leitzinserhöhung der EZB oder der EEG-
Umlage. Nächtelang rang sie mit Genossen um
Formulierungen, die folgenlos blieben. Inzwischen
hat sie die Verwaltungssprache gelernt. Sie spricht
vom »Aufpersonalisieren«, von der »Executive Sum-
mary«, den »Verweisgrößen«. Die Konkretion bot ihr
einen Unterschlupf, die großen Fragen blieben un-
gelöst: Warum findet eine Partei, die sich selbst eman-
zipatorisch nennt, keine Distanz zu autoritären Re-
gimen? Wie kann es sein, dass man über Jahre hinweg
immer die gleichen Konflikte austrägt, ohne dass
dabei irgendjemand gewinnt?
»Ich schätze Katja Kipping persönlich sehr. Ich
schätze ihre Arbeit, ich schätze ihre Art«, sagte Giffey
auf der letzten gemeinsamen Pressekonferenz.
Nach der Wahl kursierte ein Thesenpapier des
SPD-Politikers Andreas Köhler. Seine Partei bezeich-
nete er darin als »intellektuell ausgebrannt«, die Se-
natoren seien Totalausfälle und müssten allesamt
ausgewechselt werden. Es ist eine Abrechnung mit
fast allen, die in Berlin zuletzt Verantwortung trugen.
Über Kipping indes schrieb der SPD-Mann: »Wie
unaufgeregt, professionell und fachkundig sie die
Geflüchteten aus der Ukraine integrierte, Kältehilfen
usw. organisierte, ist wirklich bewundernswert.«
Kipping sagt: »Nach einem Vierteljahrhundert in
der Politik hatte ich das Gefühl, sehr schnell und
konkret einen Unterschied machen zu können.« Das
Ende kommt wie ein Unfall. Es gab keinen Fehler,
keine Intrige, keinen Skandal, nur eine vom Vor-
gängersenat vergurkte Wahl. Nun wird der Haus-
haltsentwurf in den Ordnern vermutlich nie verab-
schiedet werden, und im Büro stehen die Umzugs-
kartons.
Das war’s also. Für immer?
Im Schrank rechts: Ein Schuber mit der
Aufschrift »Presse-Archiv 1999 bis 2021«,
daneben ein Ordner »Dokumente PDS-WASG«
Als Katja Kipping 1998 in die PDS eintrat, war sie
eine Exotin. Eine junge Frau, die ihre Zukunft vor
POLITIK
sich hatte zwischen lauter Männern, die der Ver-
gangenheit nachtrauerten. Eine Optimistin um-
zingelt von Nostalgikern. 1999 zog Kipping in den
sächsischen Landtag ein. Sie hatte gerade ein Buch
über ökologische Utopien gelesen, ging in den Ver-
kehrsausschuss und kümmerte sich um grüne The-
men. Im Parlament stellte sie ihre ersten Anfragen.
Einmal musste die Landesregierung zugeben, dass
der Bau neuer Autobahnen nach amtlichen Zahlen
nicht zu mehr Wirtschaftswachstum geführt habe,
sehr wohl aber zu mehr Verkehr.
Sie und ihre Freunde nannte man in der Partei
damals Jugendbrigade. Eine Truppe 20-, 30-Jähriger,
die mit einem VW-Bus durchs Land fuhren, um
Wahlkampf zu machen, zusammen in WGs wohn-
ten, Affären hatten, diskutierten. Heute gehören sie
zum Establishment der Partei. Sie sind Minister ge-
worden, Regierungssprecher, Staatssekretäre, Bundes-
tagsabgeordnete.
Wenn Kipping geht,
weiß sie nicht,
ob ihre Partei bleibt
Auf einem Zeitungsfoto grinsen sie in die Kamera,
vor ihnen eine PDS-Flagge. »Die Partei von Kopf
bis Fuß verjüngen« steht über dem Bericht vom
Jugendtag der sächsischen PDS in Weißwasser,
Februar 1999. Kipping hat die Seite herausgeris-
sen und in einen Schuber gesteckt. Darin sammelt
sie, was ihr wichtig ist. Der Schnipsel aus der
Dresdner Morgenpost, die sie in der Überschrift
»Landtagsküken« nennt. Das große Abschieds-
interview als Senatorin, die kleine Meldung aus
dem Jahr 2005: »Bei Hartz IV Sex nur alle 14 Tage«.
Kipping sagt, sie habe damals recht erfolglos
versucht, Journalisten für die Problematik der
knappen Hartz-IV-Regelsätze zu interessieren. Ge-
klappt habe es, als sie vorrechnete, dass im Leis-
tungskatalog pro Monat bloß 2,73 Euro für phar-
mazeutische Produkte eingeplant seien. Für diesen
Betrag »erhält man an dem diskreten Automaten
in der Herrentoilette seines Vertrauens gerade ein-
mal zwei gute Markenprodukte«, recherchierte die
Sächsische Zeitung und brachte die Meldung auf
der Titelseite.
Auf einer anderen Zeitungsseite ist Kipping ge-
meinsam mit Oskar Lafontaine zu sehen. Sie stecken
die Köpfe zusammen, Kipping zeigt in die Ferne, und
Lafontaine schmunzelt. Es ist ein vertrautes, freund-
schaftliches Bild. »Die Linke hat Parteichef Lafon-
taine viel zu verdanken. Partei-Vize Kipping lobt die
Autorität des Saarländers«, steht darunter. Heute hält
Lafontaine sie für eines der größten Übel der Links-
partei und sie ihn für eine tragische Existenz. Sie
betrachtet das Foto für einen Moment, wie eine Ar-
chäologin, die gerade auf einen rätselhaften Fund
gestoßen ist. Dann sagt sie: »Niemals verhärten, das
habe ich mir immer vorgenommen.«
Das Regal in der Mitte, drittes Fach:
Ihr Buch »Neue linke Mehrheiten. Eine
Einladung«, erschienen 2020
Als das Buch vor drei Jahren erschien, lud Kip-
ping ein paar Journalisten zum Gespräch ein.
Damals, an einem Nachmittag in einem Berliner
Restaurant, konnte man eine Politikerin erleben,
die ernsthaft daran glaubte, nach der Bundes-
tagswahl könne ein Linksbündnis das Land re-
gieren. Sie erzählte von den Gesprächen mit
Grünen und Sozialdemokraten über eine mög-
liche Regierung, von ihrem guten Verhältnis zu
Annalena Baerbock, und immer wieder sprach
sie von dem Möglichkeitsfenster, das sich gerade
öffne. Die Ära Merkel ende, was danach komme,
sei offen. Heute wirkt diese Episode wie aus einer
anderen Zeit.
Wer sich derzeit in der Linkspartei umtut, trifft
lauter Politiker, die dabei sind, ihren Nachlass zu re-
geln. Kipping räumt ihr Büro aus und weiß nicht, ob
sie wiederkommt. Jan Korte, der Hoffnungsträger
der Vernünftigen, hat sich zurückgezogen. Lafontaine
ist ausgetreten. Und Gregor Gysi erklärte neulich in
einem Interview: »Meine historische Aufgabe habe
ich weitgehend erfüllt.« So als sei er schon kein
Politiker mehr, sondern sein eigener Biograf.
Sie waren die Helden eines unwahrscheinli-
chen Erfolgs, nun wirken sie wie Protokollanten
des Niedergangs. Seltsam unbeteiligt stehen sie
am Abgrund. Hier und dort mal ein Kommentar,
hin und wieder ein matter Seitenhieb. Sie wissen,
dass die Spaltung der Linken vermutlich nur eine
Frage des Zeitpunkts ist. Aber niemand bäumt
sich auf, niemand kämpft.
Auch in Kippings Büro, zwischen den Umzugs-
kartons, spürt man nicht einen Hauch von Dramatik.
Sie lamentiert nicht über ihr Schicksal, sie schimpft
nicht mal auf Franziska Giffey, die die Koalition auf-
gekündigt hat. Wenn Kipping über ihre Partei
spricht, senkt sie die Stimme, sodass man ganz genau
hinhören muss. Präzise kann sie die Fehler der Frak-
tionsführung im Bundestag beschreiben, die Chancen
auflisten, die verpasst wurden. Sie seziert die Struktur
der Machtbündnisse, die die Linke Stück für Stück
in den Abgrund führten. Über ihre Konflikte, ihre
Zweifel redet sie offener, ungeschützter als noch zu
ihrer Zeit als Parteichefin. Manchmal hält sie inne,
um ein Argument zu prüfen.
Nur wenn es um ihren eigenen Anteil an der
Existenzkrise ihrer Partei geht, wirkt es plötzlich, als
würde sie einen unsichtbaren Sprechzettel vorlesen.
Sie sagt, ihr Ziel als Vorsitzende sei es gewesen, die
Partei vom SED-Image zu befreien, und das sei im
Großen und Ganzen auch gelungen. Sie sagt, sie habe
einen »verbindenden Ansatz mit klaren Grenzziehun-
gen« verfolgt, und das finde sie nach wie vor richtig.
Sie sagt, auf dem Höhepunkt ihres Konflikts um die
3
Foto: Hannes Jung für DIE ZEIT
Migrationsfrage habe die Linke noch immer bei zehn
Prozent gelegen.
So ähnlich klingt es auch, wenn man mit Dietmar
Bartsch oder Sahra Wagenknecht über die Krise der
Linken spricht. Über die Fehler der anderen könnten
sie Bücher schreiben (oder tun es). Ihre eigenen
Fehler dagegen passen auf einen Bierdeckel. Einen
sehr, sehr kleinen Bierdeckel.
Vor einigen Monaten erklärte Kipping in einem
Interview, dass die Linke ihre Ablehnung der Nato
überdenken müsse. Während ihrer Zeit als Vorsit-
zende indes stellte sie solche Positionen nie zur
Abstimmung. Sie vermied jede grundsätzliche
Diskussion über den außenpolitischen Kurs ihrer
Partei. Sie wollte die Linke regierungsfähig ma-
chen, aber so, dass es niemand merkt. Beim letz-
ten Parteitag, als die Linke um ihre Haltung zu
Russlands Krieg rang, war sie wie viele andere der
Reformorientierten nicht einmal in der Halle. Es
wirkte, als hätten sie aufgegeben.
Ist Ihnen der Erfolg der Linken manchmal un-
heimlich?, wurde Kipping in einem Interview gefragt,
das sie in ihrem Schuber verstaut hat. 15 Jahre ist das
her. Wenn Katja Kipping nun geht, weiß sie nicht,
ob ihre Partei bleibt. Auch das gehört zur Bilanz von
25 Jahren in der Politik.
Ganz oben auf dem Regal: Der Samowar, ein
russischer Teekessel
Nach ihrer Schulzeit, Mitte der Neunzigerjahre,
verbrachte Kipping ein Jahr in Sankt Petersburg.
Sie wohnte bei italienischen Mönchen, tagsüber
arbeitete sie in einem Wohnheim für Jugend-
liche, abends streifte sie durch die Stadt, die sich
gerade neu erfand. Zum ersten Mal in ihrem Le-
ben besuchte Kipping eine Schwulen-Disco, zum
ersten Mal las sie ein Flugblatt über Gender-
politik, in russischer Sprache. Es waren Zeiten
der Freiheit, für Russland und für Katja Kipping.
Kurz danach schenkte ihr jemand den Samowar.
Der Teekessel habe sie bisher in jedes ihrer Büros
begleitet, sagt sie.
Vor einigen Wochen fuhr Kipping in ihre
Heimatstadt, um das Jubiläum ihres Auslands-
jahres zu feiern. Sie und ihre Freunde von damals
schliefen in Dresden-Pappritz in den Baracken, in
denen sie vor ihrem Austausch als Freiwillige
übernachtet hatten. Sie spazierten durch die Stadt,
abends feierten sie. Wenige Tage zuvor hatte Kip-
ping aus der Presse erfahren, dass die SPD mit der
CDU koalieren will. Sie wusste, dass ihre Zeit als
Senatorin endet, als sie sich in Dresden alte Fotos
ansahen und verwackelte Filme. Und plötzlich,
sagt Kipping, habe sie sich an das Gefühl von da-
mals erinnert. Aus einer Zeit, als es noch keine
Kämpfe gab, die man bestehen musste, keine Äm-
ter, die man verlieren konnte. Sie wusste damals
nicht, wohin es sie verschlägt. Die Zukunft war
offen, alles war vorstellbar.
Und eigentlich, sagt Katja Kipping, war das ein
sehr schönes Gefühl.
!www.zeit.de/vorgelesen
4 POLITIK 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Ein ukrainischer Mechaniker repariert ein

erbeutetes russisches Militärfahrzeug
Fotos: Yasuyoshi Chiba/AFP/Getty Images (o.); Social Media Website/via Reuters

»Die Russen wissen nicht, wie weit wir sind«

Gefährden die Pentagon-Leaks die geplante Frühjahrsoffensive der Ukraine? VON OLIVIA KORTAS

D
K schen Toten und Verletzten einschätzen, und dass militärischen Operationen werden ja breitfächrig Das Verhältnis zu den US-Diensten haben die Regierungspositionen, und sie haben das Recht,
er ukrainische Offizier einige in Geheimdienstkreisen kaum an den Erfolg mit etlichen Varianten geplant. Vor allem aber be- Leaks nicht beschädigt. Die Ukraine ist weiterhin so zu reden«, sagt Mychajlo Podoljak, einer der
schnallt sich ab, greift auf einer ukrainischen Gegenoffensive glauben. ruhen die veröffentlichten Informationen auf älte- auf die Zusammenarbeit angewiesen. »Ich bin wichtigsten Berater von Präsident Wolodymyr
die Rückbank seines Autos Das politische Kiew schreibt den Leaks trotz- ren Sachständen, was ihre Relevanz mindert.« davon ausgegangen, dass die US-Dienste ähnlich Selenskyj. »Nicht die Dokumente haben einen
und hält eine rote Mappe in dem von Beginn an kaum Bedeutung zu und ver- Dennoch war die Spitze des ukrainischen Militär- hohe Sicherheitsmaßstäbe anlegen wie wir, aber Einfluss auf die Gegenoffensive, sondern zu
die Kamera. »Sehen Sie, weist darauf, dass die meisten Dokumente öffent- geheimdienstes sehr wohl aufgebracht, als die offensichtlich sind sie lockerer geworden«, sagt Vik- langsame Waffenlieferungen«, sagt er. Die Waf-
auch ich musste erneut ei- lich auffindbar seien und ein Teil gefälscht wurde. Dokumente anfingen, auf prorussischen Telegram- tor Jahun, der zwischen 2014 und 2015 stellvertre- fen aus dem Westen verspäteten sich, weil die
nen Hintergrundcheck be- Aber die betonte Gelassenheit kann eine Frage Kanälen zu zirkulieren. Auf ukrainischer Seite sei tender Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU westlichen Partner zu bürokratisch arbeiteten,
stehen«, sagt er. Er hat einem Videogespräch zu- nicht überspielen: Wirken sich die Leaks auf die man »sehr wütend« gewesen, berichtet ein früherer war. Er sei sich trotzdem sicher, dass die Ukraine weil ihre Waffenproduktion nur zäh anläuft und
gestimmt, aber bittet um Anonymität, weil er für Gegenoffensive aus, deren Beginn die ukrainische Mitarbeiter eines westlichen Geheimdienstes, ein weiterhin genauso viele Informationen mit den weil sie die eigenen Lagerhallen nicht leeren
den Militärgeheimdienst GUR arbeitet und die Öffentlichkeit voller Hoffnung erwartet? Russlandexperte, der noch gut verdrahtet ist, im amerikanischen Diensten teilen werde wie bisher: wollten. »Beim dritten Punkt frage ich mich: Auf
ukrainische Gegenoffensive vorbereitet. Zu seinen »Die Russen wissen nicht, wie weit wir mit den Gespräch mit der ZEIT. Wütend allerdings weniger »Es sind schließlich keine ukrainischen Dokumente welchen Gegner bereitet ihr euch vor? Im konti-
Aufgaben gehört es, Lücken in den russischen Vorbereitungen für die Gegenoffensive sind, sonst wegen der möglichen Folgen, sondern weil es mög- geleakt worden, sondern amerikanische.« nentalen Europa gibt es nur einen Gegner, und
Verteidigungslinien zu finden. »Die Leaks ameri- hätte sich der Kriegsverlauf in den vergangenen Tagen lich war, dass Daten an die Öffentlichkeit gelangten. Besonders eines der Dokumente könnte der das ist Russland«, sagt er.
kanischer Dokumente haben uns aufgerüttelt«, geändert«, sagt der Offizier vom Militärgeheimdienst. »Die geleakten Informationen haben sehr genau die Ukraine indirekt schaden: Es zeigt, dass US- Die Vorbereitungen für die Gegenoffensive
sagt der Offizier. »Obwohl die Schwachstelle nicht »Sie verstehen immer noch nicht, wie und wo wir Schwächen der ukrainischen Streitkräfte offengelegt, Geheimdienste einen Erfolg der ukrainischen laufen in diesen Tagen weiter, ebenso die Spekula-
bei uns lag, prüfen unsere Geheimdienste jetzt unsere wichtigsten strategischen Waffensysteme ein- aber man darf davon ausgehen, dass die Russen Gegenoffensive bezweifeln. Es sei wahrscheinlich, tionen, wann sie beginnt. Podoljak sagt: »Ich finde
ihre Software, ihre Hardware und ihre Leute.« setzen.« In den Tagen nach den Leaks habe es keine diese auch kennen.« heißt es darin, dass der Ukraine aufgrund fehlen- es unterhaltsam, wenn auf einem Dokument ein
Die Dokumente amerikanischer Geheimdiens- Angriffe auf wichtige Ziele gegeben. Hätten die Medien und Politiker spekulierten bald, ob die der Munition und nicht ausreichend ausgebilde- genaues Datum für eine Gegenoffensive steht.
te, die in den vergangenen Wochen publik gewor- Russen Zugriff auf die wichtigsten Daten der Ukrai- Leaks ein gewolltes Täuschungsmanöver seien, ter Soldaten nur bescheidene Rückeroberungen Der Verlauf hängt vom Wetter ab, vom morali-
den sind, erzählen teilweise das, was die ukraini- ner, hätten sie sich zudem entlang der Front bewegt. welches das russische Militär verwirren sollte. gelängen. Das widerspricht den öffentlichen Aus- schen Zustand unserer und der russischen Solda-
sche Führung auch öffentlich sagt: Der Ukraine Die Leaks, da gibt sich der Offizier sicher, wirken sich GUR-Chef Kyrill Budanow ging daraufhin an die sagen der Biden-Regierung und durchbricht die ten, von den zur Verfügung gestellten Waffen.«
geht die Munition aus, und wenn kein Nachschub nicht auf die ukrainischen Manöver aus. Öffentlichkeit. »Russland ist der einzige Nutznie- sorgsam aufgebaute Kriegskommunikation der Aber während die Ukraine auf Waffenlieferungen
kommt, wird sie Angriffe aus der Luft bald nicht Zu dieser Einschätzung kommen auch westli- ßer der Leaks«, sagte er im Interview mit dem Ukraine. Politische Kräfte, die im Westen Ver- warte, hätten die russischen Soldaten mehr Zeit,
mehr abwehren können. Aber sie enthalten auch che Geheimdienstinsider. »Eine Gefährdung der Sender ABC News. Dokumente, die in gefälschten handlungen und einen Stopp der Waffenlieferun- ihre Verteidigungslinien zu stärken. Und das, sagt
Informationen, die die Ukraine geheim hält oder Frühjahrsoffensive sehe ich nicht«, sagt Gerhard Versionen veröffentlicht wurden, stellten die gen fordern, könnte das stärken. Podoljak, erhöhe die Verluste der Ukraine.
die für das Land strategisch unangenehm sind: wie Schindler, der von 2011 bis 2016 Präsident des Opferzahlen der Ukraine höher dar und den Stand »Dies sind Einschätzungen von amerikani-
hoch die US-Amerikaner die Zahl der ukraini- Bundesnachrichtendienstes war. »Solche großen der Luftabwehr schlechter. schen Geheimdienstleuten und nicht offizielle Mitarbeit: Jochen Bittner, Ingo Malcher

»Er hat was Dummes gemacht«

Ein Besuch in North Dighton, der Heimat des Soldaten, der die Geheimpapiere gestreut haben soll VON PAUL MIDDELHOFF

E
N D Diese Frage hört man in North Dighton überall. sichtlich, dass er wenig gemein hat mit der ehema- bekannt ist, nie persönlich getroffen, sondern sich
s ist alles so schrecklich normal Wie konnte ein 21-Jähriger, angestellt beim 102. ligen Soldatin Chelsea Manning oder dem IT-Spe- während der Pandemie online kennengelernt.
hier. In der Einfahrt des Hauses Intelligence-Wing der Nationalgarde von Massachu- zialisten Edward Snowden. Die beiden wollten Un- Die Otis National Guard Air Base liegt hinter
liegt ein Amazon-Paket. Die setts, Zugang zu streng geheimen Informationen der recht enthüllen, Manning das teils brutale Vorgehen Stacheldrahtzaun, Schilder drohen harte Strafen an,
Nachbarn mähen den Rasen, har- US-Geheimdienste erhalten? Wieso bekam er Ein- der US-Armee in Afghanistan und im Irak, Snowden sollte man den Stützpunkt ohne Zugangsberechti-
ken Laub. Auf dem Sportplatz der blick in die Erkenntnisse verdeckter Quellen in das globale System der Überwachung durch die NSA. gung betreten. Jack Teixeira verpasste im Sommer
High School beenden die Mäd- höchsten russischen Regierungskreisen? Wieso konn- So, wie es derzeit aussieht, wollte Teixeira vor allem 2020 die Abschlussfeier seiner High School, weil er
chen gerade ihr Softball-Training. te er Überwachungsprotokolle lesen, in denen sich eines: angeben, vor seinen Freunden im Netz. Jungs, bereits die Grundausbildung der US-Armee in Texas
North Dighton, eine Gemeinde mit 8000 Ein- zwei Berater des südkoreanischen Präsidenten über manche noch jünger als er selbst, mit denen er über absolvierte, ein Jahr später begann er seinen Dienst
wohnern im Süden von Massachusetts, ohne Stau die Unterstützung der Ukraine unterhalten? Ego-Shooter und Waffen chattete, sich Verschwö- hier, auf Cape Cod, einer Halbinsel im Atlantik. Die
schafft man es in einer Stunde von Boston hierher. Und, noch schlimmer: Wieso konnte er die rungstheorien und rassistische Bildchen hin und her Militärbasis liegt abgeschirmt, stattdessen trifft man
Am 13. April aber war hier nichts normal. Poli- Dokumente ausdrucken und mit nach Hause neh- schickte. Und denen er seit dem vergangenen Jahr auf wohlhabende weiße Rentner, die in Klappstühlen
zisten sperrten die Maple Street ab. Ein Panzerwagen men? Abfotografieren? Und dann mit seinen Online- auch kryptische Texte voller militärischer Kürzel zu- am Strand sitzen und über die Salzwiesen schauen,
rollte den Weg zu der kleinen Gärtnerei hinunter, in Freunden im Chat teilen? kommen ließ. Offenbar hatte er selbst Passagen der in denen Austern und allerlei andere Krustentiere
seiner Deckung Spezialeinheiten mit Sturmgewehren. Es gibt auf diese Fragen viele Antworten. Sie Jack Teixeira, Dokumente transkribiert. Später postete er Fotos von leben. Nur wer eine Erlaubnis der Gemeinde hat,
Ihnen entgegen tapste ein schlaksiger Junge mit kommen von grimmig dreinblickenden Generalen wie er ein Selfie macht ausgedruckten Dokumenten, forderte seine Freunde darf nach ihnen buddeln. Man hätte sich einen Waf-
dunklen Haaren und Basketball-Shorts. Er ging rück- und Militär-Experten, die live im Fernsehen erklären, auf, sie zu lesen, um zu verstehen, was wirklich in der fennarren und Militärfan wie Teixeira eher in Florida
wärts, die Hände über dem Kopf. Sein Name: Jack dass Teixeira schließlich eine Geheimhaltungsver- Welt vor sich gehe, sie aber nicht weiterzuschicken. oder Texas vorstellen können, aber nicht hier – im
Teixeira. 21 Jahre alt. Soldat. Gamer. Kein Kind pflichtung unterschrieben habe, so wie alle, die mit Natürlich passierte genau das. Die Informationen wohlhabenden, gebildeten Massachusetts, dem Kern-
mehr, aber auch noch kein Mann. hochsensiblen Informationen zu tun haben – und Papier unterschrieben hat? Trifft wirklich nur ihn verließen die Chatgruppe, wurden weitergereicht land der amerikanischen Liberalen.
Und jetzt? Ist Jack Teixeira ein russischer Spion? das sind in den USA viele Tausend Menschen. Und allein die Schuld an diesem Skandal? über Gamer-Foren und YouTube-Kanäle, bis schließ- Sonntagmorgen in Boston. Das Gericht, in dem
Ein Landesfeind? Ein Hochverräter? dass er diese Verpflichtung nun eben verletzt habe. Ein Nachbar in der Maple Street, etwas älter, hell- lich die US-Behörden darauf aufmerksam wurden Teixeira zwei Tage zuvor dem Haftrichter vorgeführt
Auf dem Parkplatz vor der High School wartet Manche sagen: Die US-Regierung stufe viel zu viele graue Haare, dicke Brille, unterbricht kurz die Gar- und kurz darauf Spezialkräfte das Haus in der Maple wurde, liegt am alten Seehafen. Neben dem Eingang
eine Frau bei heruntergelassenem Fenster in ihrem Dokumente als hochgeheim ein – overclassification tenarbeit. Teixeiras Mutter sei Floristin, eine »sweet Street umstellten. »Er war mein bester Freund« – das hängt eine Steintafel, darauf ein Zitat von John
SUV auf ihre Tochter. »Das hier ist wirklich eine heißt das im Jargon der Geheimdienste. Aber sollten lady«, sagt er. Überhaupt tue ihm die Familie leid. hat ein noch minderjähriger Junge kürzlich der Adams, einem der Gründerväter der USA. Es ist von
tolle Gemeinde. Die Schulen sind gut. Die Leute die Erkenntnisse zu ukrainischen Verlusten und Der Junge habe »etwas Dummes gemacht«. Ein Washington Post über Teixeira gesagt. Der Junge war 1776: »Die Würde und Stabilität der Regierung (...),
geben acht aufeinander«, sagt sie. Und Teixeira? Munitionsdepots denn lieber nicht als streng geheim dummer Fehler, das ist das Urteil, zu dem hier in Mitglied der Chatgruppe, die Teixeira mit den Ge- die Moral des Volkes und das Wohlergehen der Ge-
»Den kannte ich nicht, meine Töchter sind etwas eingestuft werden? Und kann man einem 21-Jährigen North Dighton fast alle kommen. heimdokumenten gefüttert hatte. Er beschreibt sellschaft hängen ab von einer aufrichtigen und
jünger. Aber mal ehrlich: Wieso hatte er überhaupt wirklich die geheimsten Informationen des Landes Auch wenn Teixeira jetzt im Internet von man- Teixeira als eine Art großen Bruder. Dabei haben sich kundigen Anwendung des Rechts.« Im Fall einer Ver-
Zugriff auf diese Dokumente?« anvertrauen, weil er als 18-Jähriger einmal ein Stück chen als Whistleblower gefeiert wird, ist doch offen- die Jungs aus dem Chat nach allem, was bis jetzt urteilung drohen Jack Teixeira 15 Jahre Haft.
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
41,9 Mrd. $
38,5 Mrd. $
B
is 2027 braucht die Ukraine
123,5 Milliarden Dollar.
Um das Militär zu finanzie-
ren. Um Lehrer und Polizis-
ten zu bezahlen. Um trotz
kriegsbedingter Steuerausfäl-
le und Mehrausgaben den
Staatsbetrieb am Laufen zu halten. Den Be-
trag hat ein Expertenteam des Internationalen
Währungsfonds (IWF) in Washington ausge-
rechnet. Es ist das sogenannte baseline scena-
rio. Das heißt: Die 123,5 Milliarden Dollar
sind die Summe, die voraussichtlich anfällt,
wenn der Krieg im kommenden Jahr endet
und sich die ukrainische Wirtschaft danach
allmählich erholt. Die Kosten des Wiederauf-
baus sind nur teilweise berücksichtigt. Dauert
der Konflikt länger, benötigt das Land wahr-
scheinlich noch sehr viel mehr Geld.
In der Debatte über die Unterstützung der
Ukraine geht es meistens um die Lieferung
von Panzern und Raketen. Doch die Liefe-
rung von Kapital ist für das Land genauso
wichtig – und politisch kaum weniger heikel.
Klar ist: Nachdem die Ukraine nach dem
russischen Einmarsch zunächst mit einer Viel-
zahl von bilateralen Hilfszahlungen unterstützt
wurde, soll sich nun der Internationale Wäh-
rungsfonds um die Finanzierung kümmern. Das
ist nicht besonders ungewöhnlich, der IWF ist
2023
2024
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Wer soll das bezahlen?
Die Ukraine braucht dringend Geld, aber woher es
kommen soll, ist unklar VON MARK SCHIERITZ
so etwas wie die Finanzagentur der Staaten-
gemeinschaft. Es ist seine Aufgabe, Ländern in
Geldnot zu helfen. Dafür wurde er vor über ei-
nem halben Jahrhundert gegründet. Für die
Ukraine hat man nun in Washington ein Kredit-
programm aufgelegt, dessen erste Tranche in
Höhe von zweieinhalb Milliarden Dollar bereits
ausbezahlt worden ist.
23,5 Mrd. $
Für Kredite des IWF gibt es normalerweise
recht klare Regeln. So darf Geld nur fließen,
wenn es irgendwann auch wieder zurückbezahlt
werden kann. Sonst würde es sich nicht um ei-
nen Kredit handeln, sondern um einen Transfer.
Und Transfers sind im Geschäftsmodell des
Fonds – der sich aus Einlagen seiner 190 Mit-
gliedsstaaten finanziert – nicht vorgesehen.
Andernfalls wären die Einlagen irgendwann auf-
gezehrt. Und dann könnte kein Geld an andere
Staaten in Asien, Lateinamerika oder Afrika
mehr verliehen werden. Weshalb man dort da-
rauf achtet, dass das Engagement in Europa
nicht zu viele Ressourcen bindet.
Damit die Ukraine überhaupt als kreditwür-
dig eingestuft werden konnte, mussten diese
Regeln geändert werden. Die neuen Vorschriften
besagen: Der IWF darf die Regierung in Kiew
unterstützen, aber nur wenn sich weitere Geld-
geber finden, die das auch tun – und damit die
Zahlungsfähigkeit der Ukraine garantieren.
Konkret bedeutet das: Der IWF übernimmt
2025
Jährlicher Finanzbedarf der Ukraine in Milliarden Dollar für den Fall, dass der
Krieg 2024 endet (Lesebeispiel: 2023 werden 41,9 Milliarden benötigt)
POLITIK
15,6 Milliarden des ermittelten Gesamtbedarfs
von 123,5 Milliarden Dollar, die restlichen
107,9 Milliarden müssen einzelne Staaten auf-
bringen. Das sind bislang im Wesentlichen: die
USA und die EU-Länder.
Der Währungsfonds selbst steuert also trotz
der Lockerung der Kreditvergaberegeln nur
einen kleinen Teil der benötigten Summe bei,
doch vor allem die Amerikaner wollten ihn
unbedingt an Bord haben. Weil er Erfahrung im
Umgang mit Krisenstaaten hat. Aber auch, weil
sie damit signalisieren wollen, dass die Finanzie-
rung der Ukraine eine Aufgabe der gesamten
Staatengemeinschaft ist.
Was die Sache so kompliziert macht: Alle
14,4 Mrd. $
drei Monate wird von nun an geprüft, ob für
die jeweils nächsten zwölf Monate ausrei-
chend Gelder zugesagt sind. Im Moment ist
das der Fall. Die EU hat ein Darlehen in
Höhe von 18 Milliarden Euro (umgerechnet
etwa 19 Milliarden Dollar) gebilligt, die USA
geben 10,9 Milliarden Dollar. Wenn man
dazu kleinere Beträge etwa aus Japan und
Großbritannien addiert, ist der Finanzbedarf
bis April 2024 abgedeckt.
Doch schon wenn im Sommer die nächste
Finanzierungsrunde ansteht, könnte das Geld
knapp werden. Das ist zumindest die Ein-
schätzung in Washington. Und dadurch er-
geben sich weitere Probleme. In den USA
2026
wird im kommenden Jahr ein neuer Präsident
gewählt, und es wird für Joe Biden immer
schwieriger, im Kongress eine Mehrheit für
kostspielige Hilfsprogramme für die Ukraine
zu finden. Das liegt auch daran, dass die Ame-
rikaner ihre Hilfen bislang nicht als Darlehen,
sondern als Transferleistung ausbezahlen. Das
Geld ist also wirklich weg und steht nicht
mehr für die Bezahlung von Lehrern oder
Polizisten im eigenen Land zur Verfügung.
Die Europäer stehen vor einem ähnlichen
Problem. Die EU agiert zwar bislang nur als
eine Art finanzielle Durchgangsstation. Sie
leiht sich Geld am Kapitalmarkt und gibt es
zu günstigen Konditionen als Kredit an die
Ukraine weiter. Dieser Kredit muss aber über
Garantien im europäischen Haushalt abgesi-
chert sein. Und der Spielraum ist dem Ver-
nehmen nach bald ausgeschöpft. Das bedeu-
tet: Damit zusätzliches Geld in die Ukraine
fließen kann, müsste der gemeinsame Haus-
halt möglicherweise aufgestockt werden. Und
5,2 Mrd. $
zwar von den Mitgliedsstaaten der EU.
In der Bundesregierung kann man sich das
vorstellen, in anderen europäischen (auch ost-
europäischen) Ländern eher nicht. Und ein ent-
sprechender Beschluss müsste einstimmig sein.
Beim Finanziellen stößt die Bereitschaft zur
Solidarität offensichtlich an ihre Grenzen – zu-
mal es unklar ist, ob die Ukraine die Darlehen
2027
5
wirklich zurückzahlen wird. Die Staatsverschul-
dung des Landes wird nach Berechnungen des
IWF in diesem Jahr auf fast 100 Prozent der
Wirtschaftsleistung steigen. Das wäre eine Ver-
dopplung im Vergleich zum Vorkriegsniveau.
Im Kreis der Kreditgeber wird deshalb be-
reits darüber nachgedacht, von der Ukraine
selbst eine größere finanzielle Beteiligung an
den Kosten des Krieges einzufordern. Das
Land müsse »Maßnahmen ergreifen«, die den
»Beitrag der heimischen Finanzierung« erhö-
hen, empfiehlt der IWF. So könne sich der
ukrainische Staat mehr Geld bei den ukraini-
schen Banken leihen oder Steuerhinterzieher
aggressiver verfolgen. Ende 2022 standen in
der Ukraine Schätzungen zufolge Steuer-
schulden in Höhe von rund eineinhalb Pro-
zent der Wirtschaftsleistung des Landes aus –
umgerechnet 2,5 Milliarden Dollar.
Die Regierung der Ukraine gilt in Washing-
ton und Brüssel als gutwilliger Schuldner. Die
Zusammenarbeit funktioniere, Reformen wür-
den umgesetzt. Aber es gebe immer noch ein
Korruptionsproblem, und die militärische Lage
könne jederzeit eskalieren. Deshalb wisse nie-
mand, ob sich im Land selbst tatsächlich mehr
Geld mobilisieren lässt. Es ist also möglich, dass
im Sommer ein paar Milliarden für die Ukraine
aufgetrieben werden müssen. Woher? Das ist im
Moment vollkommen unklar.
6 POLITIK 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

»Solche Regime
finden ein Ende«

Foto: Handout/Moscow City Court/via Reuters

Unterdrückungsjustiz wie im Stalinismus: 25 Jahre Haft für den
Putin-Kritiker Wladimir Kara-Mursa VON ANNA SAUERBREY

Wladimir Kara-Mursa vor Gericht in Moskau

I
m Februar 2022 war Russland ein brutaler, ein auto-
ritärer Staat. Aus Putins Russland wird nun zuneh-
mend eine lupenreine Diktatur. Zum ersten Mal seit
dem Ende der Sowjetunion wurde am 17. April ein
Oppositioneller wegen Hochverrats verurteilt. Wla-
dimir Kara-Mursa wurde die längste Haftstrafe aufgebür-
det, die seit 1991 gegen einen Regimegegner verhängt
wurde: 25 Jahre.
Der »Hochverrat«, so behauptet es das Moskauer Stadt-
gericht, besteht darin, dass der 41 Jahre alte Historiker und
Politiker Kara-Mursa die Regierung und den Angriffskrieg
gegen die Ukraine im Ausland kritisiert hat – unter ande-
rem in einer Rede vor dem Parlament des US-Bundes-
staates Arizona im März 2022. Tatsächlich ist das Urteil
wohl Wladimir Putins Rache für Kara-Mursas Lebens-
werk, wobei die Rede in Arizona für dieses Lebenswerk
steht. Und Symbole, das stellt Kara-Mursa in eben dieser
Rede selbst fest, sind Putin sehr wichtig.
Kara-Mursa war Freund, Unterstützer und Mitstrei-
ter einiger von Putins mächtigsten Feinden der vergan-
genen Jahrzehnte. Schon als junger Mann begann er,
mit dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow zusam-
menzuarbeiten, der 2015 in Moskau ermordet wurde.
Er beriet außerdem den zum Dissidenten gewordenen
Oligarchen Michail Chodorkowski, ebenso den britisch-
amerikanischen Investor Bill Browder, der sich in den
2000er-Jahren mit russischen Staatsunternehmen an-
legte, seinen Besitz in Russland verlor und des Landes
verwiesen wurde.
Der eloquente, in Großbritannien ausgebildete Kara-
Mursa besaß nicht zuletzt im Ausland Einfluss. In den
USA machte er sich für das »Magnitski-Gesetz« stark.
Magnitski hatte 2008 Steuerkorruption durch russische
Regierungsbeamte aufgedeckt. Er wurde nach seinen
Enthüllungen selbst verhaftet und starb 2009 in russi-
scher Untersuchungshaft. Das amerikanische Magnitski-
Gesetz von 2012 ermöglicht es der US-Regierung unter
anderem, russische Vermögen einzufrieren.
Ein prominenter Fürsprecher des Gesetzes war der
2018 verstorbene Senator John McCain – der aus Arizo-
na stammt, wo Kara-Mursa 2022 vor Parlamentariern
jene Rede hielt, die ihm das Gericht nun zum Vorwurf
machte. Kara-Mursa erinnerte noch einmal an McCain
und dankte ihm ausdrücklich für seinen Einsatz für das
Gesetz. Dass es gegen mehrere Putin-Vertraute ange-
wandt wurde, dafür rächte sich das Regime an Kara-
Mursa. Er überlebte zwei Giftanschläge, 2015 und 2017.
Trotzdem kehrte er immer wieder nach Russland zurück.
Dafür bezahlt er jetzt mit einer langen Haft. Sie ist tat-
sächlich ein weiterer Anschlag auf sein Leben. Kara-Mur-
sa ist bei schlechter Gesundheit, nach Angaben seiner
Anwältin hat er in Untersuchungshaft bereits 22 Kilo
verloren.
Kara-Mursas »Prozess« fand im Geheimen statt, der
Vergleich mit der Zeit des stalinistischen Terrors drängt
sich nicht nur dem verfolgten Historiker selbst auf.
»Mich hat doch überrascht«, so Kara-Mursa in seinem
Schlusswort, das trotz der Geheimhaltung öffentlich ge-
worden ist, »dass mein Prozess im Jahr 2023 hinsichtlich
des Ausmaßes der Geheimhaltung und der Diskriminie-
rung meiner Verteidigung die ›Prozesse‹ gegen die sowje-
tischen Dissidenten der 1960er- und 1970er-Jahre noch
übertroffen hat. Ganz zu schweigen von der geforderten
Haftstrafe und der Bezeichnung ›Feind‹: Das sind nicht
einmal die 1970er, sondern die 1930er-Jahre.«
So steht das Urteil auch für die tiefgreifende Verände-
rung des russischen Staates seit dem Beginn des Angriffs-
krieges gegen die Ukraine. Das Justizsystem mit seinen
Geheimprozessen und Exzessurteilen ist Teil des Unter-
drückungsapparats.
Es seien sehr dunkle Stunden für Russland, hat Kara-
Mursa im März 2022 in Arizona festgestellt. »Aber wir
wissen auch, dass solche Regime ein Ende finden.« Er er-
innerte an das Jahr 1991, an den Untergang der Sowjet-
union. Kara-Mursa war damals noch ein Kind. Die russi-
schen Bürger, die sich seinerzeit gegen einen reaktionären
Putsch und seine Panzer stellten, sagt er, »hatten nichts,
um sich zu verteidigen, außer ihrer Würde«. Und dann
kollabierte das Regime.
Der Tag werde kommen, schrieb Wladimir Kara-Mursa
im September 2022 in der ZEIT, an dem »wir ein neues,
demokratisches Russland auf den Ruinen von Putins Herr-
schaft erbauen«. Dann werde der Westen Russland helfen
müssen, wie es nur irgend geht.

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Offener Brief für die Freilassung

von Evan Gershkovich
An:
Botschafter Sergei Jurjewitsch Netschajew,
Botschaft der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland,
Unter den Linden 63–65, 10117 Berlin Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

Sehr geehrter Herr Botschafter Netschajew! Sigrun Albert Markus Knall Jan Schilde
Hauptgeschäftsführerin, Bundesverband Chefredakteur, Ippen Digital Chefredakteur, B.Z. Berlin
Digitalpublisher und Zeitungsverleger Wolfgang Krach David Schraven
Wir, Redakteure deutscher Medienhäuser, Publizistinnen, Herausgeber, (BDZV) Chefredakteur, Süddeutsche Zeitung Publisher, Correctiv
Verlegerinnen und Medienschaffende, fordern die russische Regierung auf, Julia Becker Tomasz Kurianowicz Gabor Steingart
Vorsitzende des Aufsichtsrates Chefredakteur, Berliner Zeitung Journalist und Herausgeber,
Evan Gershkovich, der Ende März 2023 in Jekaterinburg festgenommen und Verlegerin, Funke Mediengruppe The Pioneer
Stephan Lamby
wurde, unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Jan Philipp Burgard Filmemacher Coskun Josh Tuna
Chefredakteur, Welt Fernsehen Publisher, Kivvon Media
Giovanni di Lorenzo
Evan Gershkovich, US-amerikanischer Staatsbürger, ist ein angesehener Mathias Döpfner Chefredakteur, DIE ZEIT Prof. Frank Überall
Vorstandsvorsitzender, Axel Springer SE Vorsitzender, Deutscher Journalisten-
Journalist des Wall Street Journal. Für seinen jetzigen Arbeitgeber und für Dr. Rainer Esser
Nora Marx
Verband (DJV)
Gesellschafterin, Funke Mediengruppe
mehrere andere Publikationen hat Evan Gershkovich stets genau, fair und Geschäftsführer, ZEIT Verlagsgruppe
Christian Mihr
Bülend Ürük
Mathis Feldhoff Journalist
ausführlich über Russland berichtet. Vorsitzender, Bundespressekonferenz
Geschäftsführer, Reporter ohne Grenzen
Jakob Wais
Stephanie Nannen
Florian Festl Chefredakteur und Geschäftsführer,
Die gegen ihn vorgebrachten Spionagevorwürfe sind haltlos und ein Akt Publizistin
Chefredakteur Focus Online Business Insider Deutschland
Johann Oberauer
reiner politischer Willkür gegen die Freiheit der Presse. Carsten Fiedler Verleger, Medienfachverlag Oberauer
Maria von Welser
Chefredakteur, Kölner Stadt-Anzeiger Publizistin
Anja Pasquay
Philipp Welte
Die unrechtmäßige Verhaftung von Evan Gershkovich hat westliche Medien Thomas Fricker Geschäftsführerin, Theodor-Wolff-Preis
Vorstand, Hubert Burda Media
Chefredakteur, Badische Zeitung
dazu veranlasst, erneut Korrespondenten aus Moskau abzuziehen. Das höhlt Ernst Fuchs
Benjamin Piel sowie Vorstandsvorsitzender, MVFP
Chefredakteur, Mindener Tageblatt Medienverband der Freien Presse
die Pressefreiheit in Russland weiter aus, denn diese Korrespondenten Chefredakteur, Passauer Neue Presse
Ulf Poschardt Dominik Wichmann
müssen nun aus der Ferne über die Situation in Russland berichten – Ralf Geisenhanslüke Chefredakteur, Welt-Gruppe Publisher, Looping Group
Chefredakteur, Neue Osnabrücker
viele von ihnen aus Berlin. Das ist eine Entwicklung, die die Welt seit dem Zeitung Jörg Quoos Niklas Jakob Wilcke
Chefredakteur, Funke Zentralredaktion Gesellschafter, Funke Mediengruppe
Höhepunkt des Kalten Krieges nicht mehr erlebt hat. Hendrik Groth Berlin
Hans Wilms
Journalist
Marc Rath Chefredakteur, Kreiszeitung
Tina Hassel
Solche Maßnahmen verhindern, dass deutsche Mediennutzer ein authen- Chefredakteurin, ARD-Hauptstadtstudio
Chefredakteur, Mitteldeutsche Zeitung Jennifer Wilton
und Volksstimme Chefredakteurin, Die Welt
tisches Bild Russlands erhalten können. Und sie gefährden und schaden Wilm Herlyn Thomas Rebbe Ulrich Windolph
Russland selbst: Besonders in Deutschland wissen wir, wohin die mutwillige Publizist Chefredakteur, WEB.DE/GMXNews Chefredakteur, Westfalen-Blatt
Marion Horn
Zerstörung von Grundrechten führt. Vorsitzende der Chefredaktionen, Bild
José Redondo-Vega Bernd Ziesemer
Editorial Director, Taos Media Publizist
Michael Husarek Christoph Reisinger
Journalismus ist kein Verbrechen. Evan Gershkovich gehört nicht in ein Chefredakteur, Nürnberger Nachrichten Chefredakteur, Stuttgarter Nachrichten,
Moskauer Gefängnis. Evan Gershkovich muss sofort freigelassen werden Barbara Junge Schwäbischer Bote
Chefredakteurin, taz Stephan Scherzer
und er muss seine Arbeit wieder aufnehmen dürfen: Fakten zu berichten, Steffen Klusmann Bundesgeschäftsführer, MVFP ViSdP:
damit die ganze Welt diese lesen kann. Chefredakteur, Der Spiegel Medienverband der Freien Presse Bülend Ürük, Kruseweg 14, 12279 Berlin
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
Dank Auto und Atom – die FDP verspürt Aufwind. Und einige Jüngere in der Partei wollen das »Vulgärliberale« abschütteln
D
ie FDP befindet sich in einer
schwindelerregenden Lage.
Einerseits wirkt ihr Sturzflug
seit Regierungsantritt in der
Ampel unaufhaltsam. Die
Umfragen bewegen sich nie
sehr weit von der Todeszone
der fünf Prozent weg. In wenigen Wochen wird sie
ziemlich sicher den Einzug in die Bremer Bürger-
schaft verpassen – die sechste Niederlage in Folge.
Und haben nicht Enthüllungen über die SMS-
Nachrichten des Springer-Chefs Mathias Döpfner,
der seine Bild-Redaktionen heftigst zur Unterstüt-
zung der Liberalen drängte, die FDP ein weiteres
Mal als Partei der Besserverdienenden, Fossilisten
und Klimaleugner entlarvt?
Andererseits haben die Liberalen zuletzt in sehr
grundsätzlichen Fragen die Stimmung in einer
Weise getroffen, an die sie selbst schon kaum mehr
glauben mochten. In Sachen Auto, Atomkraft und
Heizung brummte ihnen in Umfragen ein lautes
Ja entgegen. Mehrheiten von über 50 Prozent in
diesen Fragen waren demnach locker drin; ver-
mutlich nicht alles Porschefahrer. Die FDP über-
zeugte – aber gewählt wird sie deshalb noch lange
nicht. Mit jedem Spruch vom »Klima-Blabla«
(Volker Wissing) oder von der »Gratismentalität«
(Christian Lindner) nährt sie das Misstrauen: Die
meinen es nicht ernst. Die sind nicht winterfest.
In der FDP hinter Christian Lindner haben
sich nun einige aufgemacht, diesen Hautgout des
»Vulgärliberalen« aus den Kleidern zu schütteln –
auch indem sie mit ihrer Vita dafür haften.
Dabei haben sich die beiden Bundestagsabge-
ordneten und FDP-Spitzenpolitiker Konstantin
Kuhle und Johannes Vogel besonders hervorgetan.
Ihre beiden Namen fallen, wenn die Frage auf-
kommt, wer denn eines Tages auf Lindner folgen
könnte. Ein neuer gemeinsamer Podcast heißt
forsch »Zukunft«, denn die sei »besser als ihr Ruf«.
Erster Gast: die frühere SPD-Vorsitzende und
Chefin der Bundesanstalt für Arbeit Andrea Nah-
les. Erstes Gesprächsthema: eine moderne Migra-
tionspolitik.
Das riecht nach etwas, was in der FDP von
heute keinesfalls beim Namen genannt werden
darf: sozialliberal. Es ist in der Partei längst zum
Schimpfwort geworden – zu staatstragend, zu
links, zu gestrig. Drei Jahre lang, so berichtet Vo-
gel, habe er es deshalb nicht gewagt, sich für den
Mindestlohn auszusprechen, obwohl er ihn für
eine vernünftige Idee hält.
»Die FDP ist zu klein, um sich in Flügel wie die
›Sozialliberalen‹ zu zerlegen«, meint Konstantin
Kuhle. »Das Etikett wird mir gelegentlich von au-
ßen angeklebt«, er mache sich das ungern zu eigen.
»Es stimmt: Ich bin auch deshalb in der FDP, weil
sie über eine starke Bürgerrechtstradition verfügt,
die durch Politiker wie Gerhart Baum verkörpert
wird.« Aber das sei nicht links, sondern liberale
Mitte, wie zum Beispiel auch Marco Buschmann,
der Justizminister, den sicher noch niemand einen
Linken genannt hat. Hätte Kuhle als linker Rene-
gat gegolten, wäre er kürzlich wohl kaum zum
niedersächsischen Landesvorsitzenden der FDP
gewählt worden.
Der 34-jährige Jurist und Innenpolitiker Kon-
stantin Kuhle – Sohn eines Kapitäns, der mit 13
von der Schule abgegangen und von da an zur
See gefahren war – tritt in seinem Göttinger
Wahlkreis gegen den Grünen Jürgen Trittin an.
Zu den Grünen wollte der 1989 Geborene als
Jugendlicher auf keinen Fall, die waren ihm zu
alt, das waren eher seine Gemeinschaftskunde-
lehrer. Guido Westerwelle hingegen – der sei im-
mer zwanzig Jahre jünger gewesen als alle ande-
ren. Ob es auch eine Rolle gespielt habe, dass
Westerwelle – wie Kuhle – offen schwul war?
Unterbewusst könne das so sein, sagt der Abge-
ordnete. Aber es sei eben auch liberal, Leute nicht
auf ein Identitätsmerkmal festzulegen. Schwul-
sein ist nicht abendfüllend, wie der Autor Max
Goldt sagte. Kuhle will weder zu den Leuten ge-
hören, die den ganzen Tag über Unisex-Toiletten
reden – noch zu denen, die den ganzen Tag über
Leute reden, die den ganzen Tag über Unisex-
Toiletten reden. Trans-Rechte seien genauso
wichtig wie E-Fuels oder Bürokratieabbau, auch
wenn nur eine winzige Minderheit betroffen ist.
Es sei unter der Regierung von CDU/CSU nun
einmal vieles liegen geblieben, um das man sich
jetzt zu kümmern habe, auch wenn es manchmal
nur wenige Menschen betreffe. Der gesellschaftli-
chen Mitte sei »die Komplexität der Welt schon
zuzumuten«.
Im letzten Verhandlungsmarathon der Ampel
positionierte sich die FDP in Sachen Verbrenner
und Heizung auf der Seite der SPD gegen die
Torten
der Wahrheit
VON KATJA BERLIN
POLITIK
Meinen die es ernst?
Grünen. Johannes Vogel sieht das eher als Zufall – ponenten bleibt stabil. Eine Karikatur von Volker
nicht als sozialliberales Fanal. In zwei Wochen, Wissing als Goebbels in der taz, Parolen von
wenn es dann um die Bewaffnung der Ukraine Klimaaktivisten wie »Christian Lindner auf den
oder die Vorratsdatenspeicherung gehe, sehe es Mond / das wär Raumfahrt, die sich lohnt!« hallen
schnell wieder anders aus. Ein Jahr lang war Vogel, durchs Regierungsviertel, oder Jan Böhmermann
der auch parlamentarischer Geschäftsführer der präsentiert ein fiktives Fahndungsplakat mit FDP-
FDP-Bundestagsfraktion ist, als junger Mann bei Größen als neuer RAF (auch Andreas Baader fuhr
den Grünen engagiert, ohne je Mitglied geworden schließlich gern Porsche!) und das Kürzel »AFDP«.
zu sein. Als Vogel merkte, dass die Grünen seine Ob es richtig ist, sich im Partisanenmodus
Begeisterung fürs Unternehmertum nicht so recht durch diesen vermuteten »rot-grünen Main-
teilten und häufig zur Untergangsstimmung neig- stream« zu bewegen – das ist einer der wenigen
ten, entschied er sich für die FDP. Punkte, über die es in der Truppe der Liberalen
00.300 Zn n Dorem ip-
sum dolor sit amet,
Konstantin
Kuhle (rechts)
will ein
modernes
Einwanderungs-
recht. Die
Brandenburgerin
Linda Teuteberg
(unten) warnt
vor Anbiederung
an Rot-Grün
Fotos (Ausschnitte, [M]): Moritz Frankenberg/dpa (o.); Andreas Pein/laif (m.); Peter Rigaud/laif (u.)
Liberal,
nicht links:
Johannes Vogel
hat mal mit
den Grünen
geliebäugelt und
macht sich
heute für CO₂-
Bepreisung stark
Johannes Vogel hat nun aber in Sachen Klima- öffentlichen Streit gibt. Die frühere Generalsekre-
schutz mehrere interessante Erfahrungen gemacht. tärin Linda Teuteberg hatte auf einem Parteitag
Ein Meinungsbeitrag, in dem Vogel das »L-Wort« gefordert, sich klarer von den ARD-Milieus abzu-
Lastenfahrrad bejahend neben das Auto gestellt setzen, statt sich »anzubiedern«. Kuhle und Vogel
hatte, wurde ihm in der Partei verblüffend übel hielten daraufhin in der Welt dagegen: »Die Libe-
genommen. Kurz vor dem 30-stündigen Koali- ralen sind keine weinerlichen Underdogs.« Es sei
tionsmarathon legte Vogel, gemeinsam mit dem ein »gefährlicher Trugschluss«, dass schon die Aus-
Abgeordneten Lukas Köhler, ein Papier vor, das einandersetzung mit bestimmten Themen wie
den Emissionshandel als Königsweg für den Identitätspolitik oder Klima »Anbiederung an den
Klimaschutz preist: CO₂-Bepreisung statt Verbote, Zeitgeist« wäre. Es sei, schrieben die beiden,
gekoppelt mit einem sozialen Ausgleich – das schlichte Anerkennung der Realität.
müsste doch eigentlich die perfekte Kompromiss- Interessanterweise sind die »Bürgerlichen« in
formel für die Ampel sein, für jeden ist was dabei. der FDP womöglich die mit den gewundeneren,
Die Idee spielte dann im Koalitionsausschuss interessanteren Biografien. Die Juristin Linda Teu-
praktisch keine Rolle. Auf die Frage, ob die FDP- teberg, seit 2017 Bundestagsabgeordnete und seit
Spitze selbst Feuer und Flamme für diese Lösung zwölf Jahren im Bundesvorstand der Partei, ist
wäre, bekommt man ausweichende Antworten. schon aus biografischen Gründen nicht für eine
Was immer Vogel und Kuhle tun, es findet in Annäherung an linke Milieus zu haben. Liberalis-
einem Klima statt, in dem die Verachtung für die mus ist für sie keine Geschmacksrichtung, sondern
FDP längst zur Folklore geronnen ist. Die jeder- ein teuer bezahltes Risiko. Geboren 1981 als Kind
zeit abrufbare, gepflegte Abneigung gegen ihre Ex- einer christlichen Mittelschichtsfamilie in der
Wer glaubt, dass die Grünen politisch
richtig viel durchsetzen konnten
Wann man in Deutschland Insekten isst
Anhänger der Grünen Wenn man Hunger hat
Kritiker der Grünen
Wenn man Lust hat, Neues auszuprobieren
Beim Radfahren
DDR, hat für sie das Bekenntnis zu Marktwirt-
schaft und ein instinktiver Antikommunismus ge-
radezu existenzielle Bedeutung. »Wer eine Diktatur
erlebt hat, wird nie wieder vergessen, was Planwirt-
schaft im Alltag bedeutet«, meint Teuteberg. Die-
sen biografischen Hintergrund teilt sie übrigens mit
Franziska Brandmann, der Vorsitzenden der Jungen
Liberalen, deren Mutter ebenfalls in der DDR auf-
gewachsen ist. In der Schule nicht über den eigenen
Glauben sprechen dürfen; erleben, dass Verwandte
im Westen lesen können, was sie wollen, und frei
reisen – auch vor diesem Hintergrund war Teute-
berg als Rednerin auf dem Kongress »Wokes
Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung un-
serer Freiheit?« des CDU-nahen Historikers An-
dreas Rödder aufgetreten. Wie viele Parteifreunde
ist die Brandenburgerin überzeugt, der Neolibera-
lismus sei zu Unrecht in Verruf geraten. »Es war ja
gerade die Lehre aus Manchester-Kapitalismus und
Laisser-faire gewesen, den Markt zum Beispiel
durch Kartellrecht zu regulieren. Da kann auch von
Staatsfeindschaft keine Rede sein«, sagt sie bei
einem Gespräch in der Parlamentarischen Gesell-
schaft. Vergangenen Dezember veranstaltete die
Ludwig Erhard Stiftung, deren stellvertretende Vor-
sitzende Teuteberg ist, ein »Kolloquium Walter
Lippmann Reloaded« – zur Erinnerung an die
Taufe des »Neoliberalismus« vor 125 Jahren. Da
saß sie dann, als einzige Ostdeutsche neben Joachim
Gauck, und stellte fest: Nur die beiden Ossis be-
standen darauf, den Zusammenhang von Freiheit
und Wohlstand in den vergangenen Jahrzehnten
herauszustellen.
Was Deutsche aufregt
Eine Stunde Verspätung wegen Stau
20 Minuten Verspätung wegen Parkplatzsuche
15 Minuten Verspätung wegen eines
vorausfahrenden Zuges
7
VON MARIAM LAU
Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gehört wie Teu-
teberg zu der bürgerlichen Post-Westerwelle-FDP,
für die Liberalismus bittere Konsequenz biografischer
Härten ist. 1976 als Kind einer säkularen Familie in
Teheran geboren, ist er ein paar Straßen von seinem
grünen Bundestagskollegen Omid Nouripour ent-
fernt aufgewachsen. Die Islamische Revolution warf
seine Familie aus der Bahn. Als der Krieg gegen das
Nachbarland Irak begann, fingen die Revolutions-
gardisten an, Schuljungen von der Straße wegzufan-
gen, zum Dienst an der Waffe – der meist auf dem
Schlachtfeld endete, mit einem goldenen Schlüssel-
chen um den Hals für den Zugang zum Paradies. Aus
Angst davor schickte sein Vater den Elfjährigen zu
seinem Onkel nach Deutschland. Das Gesicht des
immer freundlichen Djir-Sarai verfinstert sich, wenn
er davon spricht, dass Grüne wie Joschka Fischer oder
Hans-Christian Ströbele gegen den Schah protestiert
und den Mullahs viele Menschenrechtsverletzungen
nachgesehen hätten. Oder dass ihn sogar ein CDU-
Mann im Auswärtigen Ausschuss »Trumpist« ge-
nannt hat, weil Djir-Sarai das Atomabkommen mit
dem Iran für Augenwischerei hält. Aus der Härte,
mit der er über illegale Migration spricht, kann man
von Ferne ahnen, was es bedeutet, von den Eltern in
die Fremde geschickt zu werden, und sei es noch so
gut gemeint. 2013 entging er bei einem Besuch in
Teheran knapp einer Verhaftung durch das Regime,
das aus Leuten wie ihm gern ein Faustpfand macht.
Die Frontbegehung bei der FDP, Stichwort
Döpfner, muss zwangsläufig auch einen Besuch bei
Ulf Poschardt einschließen. Niemand verkörpert
wie der WeltN24-Chef die politische Nähe zwi-
schen den Liberalen und dem Springer-Verlag. Für
einen nicht unwesentlichen und wachsenden Teil
der Öffentlichkeit – namentlich Bild und Welt –
sind die Grünen Deutschlands Unglück, Robert
Habeck der Wohlstands-Vernichter und »mora-
lische Drehorgelspieler« (Poschardt). Folklore ist
hier der Lastenrad fahrende, Verbote schwingende,
gendernde Bionade-Trinker. Hoffnungsträger und
Stimme der Vernunft ist dagegen die FDP. Ver-
mutlich ist kein Journalist für die Liberalen so
wirkmächtig wie Poschardt. Tweets von ihm bren-
nen sich durch die Partei-Chatrooms; seine Kritik
stürzt gestandene Parteiveteranen ins Unglück.
»Ich bin eine liberale Karikatur: Ich fahre Fer-
rari und liebe die Freiheit über alles« – so Poschardt
über Poschardt. Sein Deutschlandbild ist finster:
»Wir sind eine hochmütige Nation auf dem ab-
steigenden Ast.« Mit einer Jugend, die sich lieber
an die Straße klebe, als Mint-Fächer zu studieren,
sei kein Weiterkommen – aber genau das werde
überall in den Medien hofiert. Die FDP in der
Ampel erlebt er als verblüffend staatsmännisch:
»Justizminister Buschmann fühlt sich verantwort-
lich für das ganze Land. Das ist tief demütiger
Staatsdienst im heroischsten Sinn.« Bei Christian
Lindner sei das so ausgeprägt wie bei sonst kaum
jemandem in der Regierung. Dabei müsse der
Liberale ein Rebell sein. Klar, bei wem Poschardts
Sympathien liegen: »Der Einzige, der es wirklich
bringt, ist Wolfgang Kubicki.«
Das sieht naturgemäß nicht jeder in der FDP
so. »Manche denken, FDP ist, wenn alle uns has-
sen«, sagt Konstantin Kuhle. »Aber es ist doch gar
nicht so schlecht, wenn Leute auch mal sagen:
Dem hab ich gerne zugehört. Das ist doch noch
nicht links!« Dass Springer-Chef Mathias Döpfner
in den erwähnten geleakten SMS klagte, Lindner
habe zuviel Angst, sich eindeutig gegen eine Koali-
tion mit den Grünen zu stellen, wurde in der Par-
tei geradezu mit Erleichterung zur Kenntnis ge-
nommen: Man habe doch gesehen, dass der Partei-
chef sich eben nicht vor den Karren habe spannen
lassen. »Wir haben die Ampel gewollt und wollen
sie noch«, erklärt einer, »ob das Herrn Döpfner
nun passt oder nicht.«
Fragt man den Rechtsphilosophen Christoph
Möllers, dessen Buch Freiheitsgrade von Justiz-
minister Marco Buschmann höchstpersönlich be-
sprochen wurde, hat die Lage der FDP mit einem
Widerspruch zu tun. »Der Liberalismus«, so Möl-
lers, »ist einerseits Opfer seines Erfolgs: Schließlich
sind wir heute alle Liberale, wenn wir nicht grade
Faschisten oder sonst was sind. Andererseits hat er
selbst dazu beigetragen, einseitig mit Wirtschafts-
liberalismus identifiziert zu werden.« Die FDP
leide nun obendrein darunter, dass die politische
Mechanik alle Parteien immer noch dazu zwinge,
sich zwischen links und rechts zu entscheiden –
wenn man das aber tut und sich beispielsweise ein-
deutig zu den Kubicki-Wählern neigt, dann werde
die potenzielle Wählerschaft doch sehr klein. Möl-
lers hat den Eindruck, die FDP verhalte sich de-
fensiv, zentralistisch und inhaltlich wenig ambitio-
niert. Fast als hätte die Partei Angst. Aber was hat
sie noch zu verlieren?
Berichtigung
In dem Artikel »Mit Abstand am besten« über die
deutsche China-Strategie (ZEIT Nr. 16/23) sind
uns folgende Fehler unterlaufen: Anders als im Text
behauptet, hat BASF mehr Stellen in Deutschland
als in China. Auch hat BASF keine 2500 Entlas-
sungen vorgenommen, sondern angekündigt, Stel-
len abzubauen – und in China zehn Milliarden
Euro Investitionen eingeplant. Wir bitten, die Feh-
ler zu entschuldigen.
8 POLITIK
Zwei Männer zerstören ihr Land
Im Sudan kämpfen Armee und Paramilitärs um die Macht und riskieren eine humanitäre Katastrophe
S
tellen Sie sich vor, Sie leben in
einem Viertel, das seit Jahren von
Gangs beherrscht wird. Diese kon-
trollieren fast sämtliche legalen
und illegalen Geschäfte, treiben
Schutzgeld ein, rekrutieren Ju-
gendliche. Dann geraten sie in
Streit um Macht und Beute und beginnen, die
Nachbarschaft zusammenzuschießen.
So fühlen sich wahrscheinlich derzeit die fünf
Millionen Einwohner der sudanesischen Haupt-
stadt Khartum. Und weitere Millionen Menschen
in Port Sudan, Niala, Al-Obeid und anderen
Städten. Nur handelt es sich bei den Kampf-
parteien nicht um rivalisierende Banden, sondern
um die eigene Armee und die größte paramilitä-
rische Truppe, die Rapid Support Forces (RSF).
Und um deren inzwischen in Todfeindschaft ver-
harrende Führer: General Abdel Fattah Burhan,
den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, und Mo-
hammed Hamdan Dagalo, Chef der RSF, be-
kannt unter seinem Spitznamen Hemedti.
Seit vergangenem Samstag ducken sich Men-
schen in Khartum unter Kampfbombern, die im
Tiefflug über Dächer donnern. Hospitäler geraten
unter Beschuss, ebenso die Flughäfen und offen-
bar auch Diplomaten. Am Dienstag meldete die
EU, die Residenz ihres Botschafters Aidan O’Hara
in Khartum sei angegriffen worden, er selbst aber
unverletzt geblieben.
So viel Glück hatten viele Sudanesinnen und
Sudanesen nicht. Auf mindestens 200 wurde die
Zahl der Toten am Dienstagabend geschätzt. Die
Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Tausende
sind verletzt, in den überfüllten Krankenhäusern,
so diese nicht evakuiert werden mussten, fehlt es
an Medikamenten, Blutkonserven und Strom.
Immer mehr Menschen, die sich daheim ver-
schanzt haben, gehen Nahrung und Wasser aus.
Vor vier Jahren stürzte eine Protestbewegung
den langjährigen Diktator Baschir
»Die Leute müssen sich entscheiden, ob sie zu
Hause hungern oder ihre Angst überwinden und
draußen nach Nahrungsmitteln suchen«, sagt
Arshad Malik, Leiter der NGO Save the Children
im Sudan. Man erreicht ihn per WhatsApp-
Anruf in Khartum in seinem Haus, er muss Es-
sen und Wasser für sich und seine Familie ratio-
nieren. Im Hintergrund sind Explosionen zu hö-
ren. Malik kommt aus Pakistan, hat in zahlrei-
chen Krisengebieten gearbeitet, »ich bin also eini-
ges gewöhnt«. Aber eine solche militärische Kon-
frontation zwischen rivalisierenden Streitkräften
inmitten der eigenen dicht besiedelten Städte
habe er noch nie erlebt. In El Fasher, dem Ver-
waltungssitz des Bundesstaates Nord-Darfur, wo
ebenfalls gekämpft wird, wurde das Büro der
NGO geplündert. Wie andere Hilfsorganisatio-
nen hat auch Save the Children seine Arbeit in
weiten Teilen des Sudan vorerst einstellen müs-
sen. Und das in einem rasant verarmenden Land,
wo schon jetzt fast 16 Millionen Menschen, ein
Drittel der Bevölkerung, dringend auf humanitäre
Unterstützung angewiesen sind.
Es ist fast auf den Tag genau vier Jahre her, da
machte der Sudan ganz andere Schlagzeilen in
der Welt: Eine Protestbewegung, wie sie das Land
noch nicht gesehen hatte, stürzte den langjähri-
gen Diktator Omar al-Baschir. Genauer gesagt:
Der Druck der Straße veranlasste Burhan und
Hemedti, nicht mehr auf die Demonstranten zu
schießen, sondern Baschir abzusetzen. Angesichts
der Entschlossenheit und der effektiven dezen-
tralen Organisation der Demokratiebewegung
erschien es ihnen sinnvoller, den Kopf
des Regimes und dessen verhasste isla-
mistische Gefolgschaft zu opfern, um ihre
eigene Macht abzusichern.
Es folgte ein prekäres Powerplay zwi-
schen Militär, RSF und den verschiede-
nen Fraktionen der Opposition, die sich
die Macht zunächst teilten. Bis diese nach
vereinbartem Fahrplan endgültig in zivile
Hände übergehen sollte – worauf Burhan
und Hemedti im Oktober 2021 erneut
putschten und sich zum De-facto-Staats-
chef und zum Vizestaatschef erklärten.
Da wackelte die Zweckgemeinschaft
der beiden bereits. Man jagte zwar immer
noch gemeinsam die inzwischen todes-
mutigen, meist jugendlichen Demons-
tranten, die unermüdlich Demokratie
und Menschenrechte einforderten. Doch
die Risse zwischen Armeechef und Mili-
zenführer wurden deutlicher. Der eine
bezichtigte den anderen des geplanten
Hinterhalts. Beide suchten nach Unter-
stützung, Waffen und Geld im Ausland.
Armeechef Burhan vor allem beim nördlichen
Nachbarn Ägypten, dessen Herrscher Abdel Fat-
tah al-Sissi, selbst ehemaliger General, sein Ver-
trauter ist. Hemedti in den Vereinigten Arabi-
schen Emiraten (VAE) und in Russland.
Vergangenes Jahr ließ Burhan dann eine
wuchtige Mauer rund um das Hauptquartier der
Streitkräfte mitten in Khartum errichten. Nicht
zum Schutz vor Demonstranten, wie diese zu-
nächst dachten. Sondern vor Hemedti und sei-
nen Paramilitärs, die, hochgerüstet und fast
100.000 Mann stark, der Armee ebenbürtig zu
werden drohten.
Als mit viel Druck und auf Vermittlung von
UN, Afrikanischer Union, der EU und den USA
im vergangenen Dezember erneut ein Rahmen-
abkommen für den Übergang zu einer gewählten
Regierung und für die Eingliederung der RSF in
die Armee zustande kam, keimte wieder Hoff-
nung auf. Doch der Streit um die Modalitäten
dieser Eingliederung führte schließlich zur Eska-
lation. Und zu den ersten Schüssen am vergange-
nen Samstag.
Ist also wieder eine demokratische Protest-
bewegung gescheitert? Ob das Land noch Chancen
auf eine Entwicklung in Richtung Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit hat, vermag momentan
niemand zu sagen. Aber ein genauerer Blick auf
die Erfolge der vergangenen Jahre lohnt.
Burhan wie Hemedti regieren im Sudan »Staa-
ten im Staate«. Ähnlich wie das Militär in Ägyp-
ten oder die Revolutionsgarden im Iran herrschen
sie über Wirtschaftsimperien außerhalb jeder of-
fiziellen Haushalts- und Buchführung und kön-
nen qua Gewaltmonopol jederzeit die Staatskasse
ÄG Y P T E N
Rote
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E R I
Khartum TREA
Darfur
EN
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IO
H
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SÜ DSU DA N
Gebiete mit schweren Kämpfen
200 km
ZEIT- GRAFIK
plündern. Im Besitz der Armee befinden sich
zahlreiche Rüstungsfirmen, weitere Industrie-
konzerne sowie große landwirtschaftliche Flä-
chen. Hemedti, dessen RSF aus den berüchtigten
Dschandschawid, den Reitermilizen im Darfur-
Krieg, hervorgegangen sind, kontrolliert zusam-
men mit seiner Familie die lukrativen Goldminen
sowie große Bauunternehmen. Die RSF hat er zu
einer begehrten und gut ausgerüsteten Söldner-
truppe ausgebaut und sie unter anderem an War-
lords in Libyen und an Saudi-Arabien während
des Krieges im Jemen vermietet. In den zuneh-
mend fluiden und entgrenzten Konflikten Ost-
afrikas und des Mittleren Ostens ist er der Proto-
typ des taktisch geschickten, ideologiefreien Ge-
waltunternehmers.
Von Ägypten und dem Iran unterscheidet
sich der Sudan, weil es der Demokratiebewegung
Ein zertrümmertes Haus in
der sudanesischen Hauptstadt
Khartum, fotografiert
am vergangenen Montag
VON ANDREA BÖHM
tatsächlich gelang, die ökonomischen Netzwerke
der RSF, vor allem aber der Armee offenzulegen.
Nach dem Sturz von Baschir wurden Millionen
Hektar Agrarland zurück in die öffentliche
Hand überführt, ebenso ganze Wohngebiete in
Besitz der Generale. Unternehmen der Militärs
sollten wieder unter ziviles Management gestellt
werden, abgezweigte Gelder in die Staatskasse
zurückfließen.
Dieser Angriff auf ihre kleptokratischen Netz-
werke und die Angst vor strafrechtlicher Verfol-
gung für Menschenrechtsverletzungen dürften
den Ausschlag für den Putsch 2021 gegeben ha-
ben. Genau darin lag auch immer das Dilemma
der Opposition: Ohne die Demontage dieser
Schattenimperien ist keine dauerhafte Demokra-
tisierung möglich. Ohne bittere Kompromisse
mit den hochgerüsteten Herrschern die-
ser Imperien aber auch nicht.
Was den Sudan von Ländern wie
Ägypten und Iran noch dazu unterschei-
det: Es gibt gleich zwei Staaten im Staate,
die sich nun wie konkurrierende Mafia-
Organisationen bekämpfen.
Der Mann, der diese Katastrophe
maßgeblich zu verantworten hat, sitzt in
diesen Tagen genauso in der Falle wie der
Rest der Bevölkerung. Omar al-Baschir,
der Ex-Diktator, inzwischen eine poli-
tische Altlast und gesundheitlich ange-
schlagen, pendelte zuletzt in Khartum
zwischen Gefängnis und Krankenhaus –
beides Orte, die seit Samstag von Explo-
sionen erschüttert werden. Es war Ba-
schir, der in seiner fast dreißigjährigen
Herrschaft jene Beute-Ökonomie eta-
blierte, in der eine urbane, militärische
Elite rund um das Zentrum Khartum die
Rohstoffe, vor allem Gold und Öl, in den
Peripherien des Landes ausbeutete und
die betroffenen Regionen verelenden
ließ. In Darfur führten Armutsaufstände zu je-
nem Bürgerkrieg zu Beginn der 2000er-Jahre,
der bis zu 400.000 Menschen das Leben kostete
und Baschir eine Anklage wegen Völkermords
vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den
Haag einbrachte. Für Hemedti, einen besonders
effektiven Anführer von Baschirs gefürchteten
Reitermilizen, war es das Sprungbrett ins Zen-
trum der Macht. Zum großen Ärger der elitären
Generalität holte Baschir den ungebildeten
Außenseiter nach Khartum – als Gegengewicht
zur Armee.
Gut möglich, dass der Ex-Diktator sich in
diesen Tagen wünscht, man hätte ihn in die fried-
lichen Niederlande ausgeliefert. Das haben bis-
lang seine einstigen Gefolgsleute Burhan und
Hemedti verhindert – nicht aus alter Loyalität,
sondern aus Angst vor dem, was er über ihre
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Foto: Stringer/Reuters
Rolle bei Massakern und Massenvertreibungen
erzählen könnte.
Viele Aktivisten der Protestbewegung fürch-
ten jetzt den Erfolg der Armee mehr als den der
RSF. »Es ist mein schlimmster Albtraum«, sagt
Nisreen Elsaim. Auch sie erreicht man per
WhatsApp in ihrem Haus in Khartum. Die
27-jährige Physikerin ist eine der prominentes-
ten Klimaschützerinnen des Landes, 2019 war
sie monatelang gegen den Diktator auf der
Straße. An diesem Dienstag klingt sie völlig er-
schöpft und verängstigt. Sie glaubt, dass der is-
lamistische, Baschir-treue Flügel der Armee
nach einem Sieg über Hemedti und seine RSF
zum Rachefeldzug gegen die Demokratiebewe-
gung aufrufen werde. Solche Drohungen gebe
es bereits.
Wasser und Nahrungsmittel in ihrem Haus,
sagt sie, reichten noch für zwei Tage. Im Hinter-
grund schreit ihr neun Monate alter Sohn. »Am
Wochenende lief noch unser Generator, da hat er
die Bomben nicht so laut gehört.« Seit zwei Tagen
gebe es überhaupt keinen Strom mehr. Die Tem-
peratur steige tagsüber auf 43 Grad, die Kämpfe
rückten näher an ihr Viertel, »und der Kleine
merkt jetzt, dass die Welt da draußen wahnsinnig
geworden ist«.
In den Häusern beginnen die Leichen
zu verwesen, sagt eine Aktivistin
Man möge, sagt sie am Ende des Gesprächs, bitte
noch aufschreiben, dass die Toten zum Problem
werden. In Nachbarhäusern sind Verwundete ge-
storben, die es nicht ins Krankenhaus geschafft
hätten. »Am Wochenende konnten wir den Leu-
ten noch Eisbeutel spenden, damit sie die Leichen
kühlen. Jetzt beginnen sie zu verwesen.«
Ein Ende der Kämpfe war am Dienstagabend
nicht abzusehen. Das übermittelte auch der Chef
der UN-Mission im Sudan, der Deutsche Volker
Perthes, per Video an das UN-Hauptquartier in
New York – auch er bis auf Weiteres eine Geisel
zweier Kriegsherren. Burhan hat die RSF inzwi-
schen zur Rebellengruppe erklärt und ihre Auf-
lösung angeordnet. Anwohner in Khartum be-
richten, dass immer mehr Bewaffnete sich in
Wohnhäusern verschanzen.
Westliche Diplomaten hoffen derzeit allenfalls
auf eine Feuerpause, die im Unterschied zu den
vorangegangenen auch eingehalten wird und Eva-
kuierungen ermöglichen würde. Für die Auslän-
der, nicht für die Sudanesen.
Hören Sie den Podcast
Am Ende der Woche sprechen wir über Politik – was
sie antreibt, was sie anrichtet, was sie erreichen
kann. Jeden Freitag in Das Politikteil.
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10
Foto: Ina Schoenenburg/Ostkreuz
Deutschland und Polen sind so eng verflochten wie noch nie und
sogar gemeinsam Panzer an die Ukraine. Dennoch wird die Stimmung immer
A
W
nna Kwiatkowska neigt eigentlich nicht zu
großen Worten. Polens führende Deutsch-
landversteherin spottet gern über die Nei-
gung der Nachbarn zu pathetischen Formeln
wie Zeitenwende oder Führungsmacht: Ihr
Deutschen mit eurem Bombast! »Ein biss-
chen albern« finde sie die Berliner Neigung,
jeden Politikwechsel zur Wende zu adeln.
Doch die Abteilungsleiterin für Deutschland beim größten
polnischen Thinktank, dem »Zentrum für Oststudien« (OSW),
greift dieser Tage selbst zu Superlativen. Was sich in Deutsch-
land abspiele, sei eine »Revolution«, ein »Identitätswandel«. So
steht es in einer Studie, die Kwiatkowska soeben mit ihrem
Team veröffentlicht hat: 224 Seiten über Deutschlands Umbau
nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, von den Flüssig-
gasterminals über die Debatten zur Ostpolitik bis zu den
Panzerlieferungen. »Die Deutschen und der Krieg. Ein Jahr des
Wandels«, lautet der Titel. Eine Grafik aus der ZEIT schmückt
das Cover: Olaf Scholz, auf einem Panzerrohr balancierend.
So minutiös wie hier in Warschau wird wohl nirgends auf
der Welt die Berliner Politik beobachtet. In einem schmuck-
losen Gebäude mitten in der Hauptstadt, fußläufig zum Au-
ßenministerium, sitzt ein Team von sieben Experten, die sich
ausschließlich mit deutscher Innen- und Außenpolitik be-
schäftigen. Anna Kwiatkowska hat die Gruppe aufgebaut und
forscht selbst seit 18 Jahren am OSW über den großen Nach-
barn. Wer sie in diesen Tagen besucht, spürt sofort, wie exis-
tenziell die Decodierung der deutschen Politik geworden ist.
Wie die beiden Nachbarn aufeinander schauen, war seit dem
Ende des Kommunismus nicht mehr so entscheidend wie heute.
Wirtschaftlich, politisch und geostrategisch kommt es in Europa
auf Berlin und Warschau an. Und dabei nimmt das Gewicht des
traditionell kleineren Partners rapide zu.
Polen ist jetzt fünftwichtigster Handelspartner Deutsch-
lands, nur noch knapp hinter Frankreich. Das Handelsvolumen
Deutschlands mit Polen war im Jahr 2022 bereits dreimal so
groß wie mit Russland (auch aufgrund der Sanktionen), Ten-
denz weiter steigend.
Zudem hat Polen im Schatten des Krieges eine beispiellose
Wiederaufrüstung begonnen. Warschau hat 360 modernste Ab-
rams-Panzer aus den USA und 1000 K2-Panzer aus Südkorea
geordert, dazu Hunderte Panzerhaubitzen und Mehrfachrake-
tenwerfer. Die Rüstungsausgaben liegen aktuell schon bei drei
Prozent der Wirtschaftsleistung, angestrebt sind vier Prozent im
nächsten Jahr. Es ist unter den stark polarisierten polnischen
Parteien unstrittig, dass Polen die größte Nato-Streitmacht in
Europa werden soll.
Wie das erstarkte Polen die europäische Politik künftig mit-
gestalten wird, darüber entscheiden die Parlamentswahlen im
Herbst. Ein breites EU-freundliches Bündnis fordert die national-
konservative Regierung heraus. Es geht in diesem Wahlkampf um
die Unabhängigkeit der Justiz, das harsche Abtreibungsrecht, die
Rechte von Minderheiten, Missbrauch in der katholischen Kirche,
die Energiepreise und die rasende Inflation.
Aber eben auch um die große Frage, wie Europa in einer Welt
neuer Großmachtkonflikte überleben soll – und wo Polens Platz
in der EU ist: als gleichberechtigter Partner oder als Gegenmacht
zu Deutschland? Die regierende PiS steht für Letzteres. Sie denun-
ziert den Herausforderer Donald Tusk von der liberalen Bürger-
plattform in einer brutalen Kampagne als Agenten deutscher In-
teressen in Europa (»Ihr Mann in Brüssel«), als Anführer einer
Verschwörung, die Polen in der EU kleinzuhalten versucht. Wäh-
rend die wirtschaftliche Verflechtung zunimmt und Polen die EU
verteidigungspolitisch antreibt, hat eine Kampagne gegen Deutsch-
land begonnen. Das ist das deutsch-polnische Paradox dieser Tage:
Beide Länder sind so eng verwoben wie noch nie, und doch wächst
das Befremden.
Was also sieht Anna Kwiatkowska, wenn sie in diesem Frühjahr
westwärts schaut? Ein Deutschland, das unter dem Schock des
POLITIK
Grenzenlos
russischen Krieges mit »titanischen Anstrengungen« sein Modell
umzubauen und zu retten versucht. Weg von russischer Energie,
mit einer (dereinst) wehrhafteren Bundeswehr, engagiert für die
Ukraine, mittlerweile auch mit schweren Waffen – das ist alles sehr
im polnischen Sinn.
Kwiatkowska registriert auch, dass es eine ganze Reihe deutscher
Politiker gibt, die sich rückblickend geißeln, etwa den SPD-
Vorsitzenden Lars Klingbeil: Man habe die Osteuropäer ignoriert,
die lange schon vor Russlands Imperialismus warnten und deutsche
Pipeline-Projekte kritisierten. »Wir-hätten-besser-zuhören-müssen«,
stellt sie fest, das sei fast schon ein Refrain geworden in deutschen
Reden. Man hört jetzt auch oft das Bekenntnis: »Europas Mitte
bewegt sich ostwärts«. So hat es Olaf Scholz im letzten Sommer
bei seiner Europa-Rede in Prag formuliert.
Tiefe Genugtuung über solche Äußerungen zieht sich durch
ein gutes Dutzend Begegnungen mit polnischen Politikern,
Expertinnen, Diplomaten und Journalistinnen in diesem Früh-
jahr. Aber eine Frage treibt alle um: Was folgt aus den Demuts-
gesten? Ist Polen für euch Deutsche denn jetzt wirklich wichti-
ger als Russland? Oder wollt ihr doch wieder zurück zu eurer
Sonderbeziehung mit Moskau?
Thomas Bagger ist seit vergangenem Sommer als deutscher
Botschafter in Warschau. Zuvor hat er die außenpolitische Ab-
teilung des Bundespräsidenten geleitet. Eigentlich eine Top-Qua-
lifikation, aber wegen der früheren Russlandpolitik Frank-Walter
Steinmeiers in Warschau auch eine Belastung (selbst wenn Thomas
Bagger persönlich nie zu den Putin-Verstehern unter deutschen
Diplomaten gehörte). Man kann es auch so sehen: Baggers frühere
Nähe zu Steinmeier, der stets gegen polnische Bedenken auf
»Wandel durch Verflechtung« mit Russland gesetzt hatte, verleiht
seinen Äußerungen im neuen Amt eine besondere Relevanz.
Bagger wirkt, als freute er sich über das neue polnische Selbst-
bewusstsein, auch wenn es für ihn oft Gegenwind bedeutet. Er
sieht eine Chance in dem »strategischen polnischen Moment«.
Polen sei infolge von Putins Krieg zur unverzichtbaren Macht in
Europa geworden. Dass man in Warschau diesen Moment genie-
ße und von den Deutschen – also auch vom Botschafter – das
Eingeständnis ostpolitischer Fehler erwarte, findet er berechtigt.
Ein Großteil seiner Arbeit bestehe darin, zu erklären, dass die
»Zeitenwende« echt und irreversibel sei, eine wirkliche politische
und mentale Veränderung.
Über Jahre noch, glaubt Thomas Bagger, werde Deutschland
sich auf Misstrauen in Polen und anderen Ländern Osteuropas
einstellen müssen. »Der Kern des Misstrauens ist die Frage nach
dem Verhältnis zu Russland. Ich sage: Ostpolitik ist jetzt zuallererst
Ukrainepolitik. Und Sicherheit in Europa muss auf absehbare Zeit
vor, nicht mit Russland organisiert werden.«
Das ist Daniel Szeligowskis Kernkompetenz. Der Ökonom
und Politikwissenschaftler leitet das Osteuropa-Team bei PISM,
dem Polnischen Institut für Internationale Politik, einer Denk-
fabrik, die die Regierung berät. Seine Spezialität ist die Ukraine,
er kennt das Land und spricht die Sprache. Szeligowski stellt er-
leichtert einen »eindeutigen Wandel« der Berliner Sicht auf Russ-
land fest: »Die Deutschen machen sich keine Illusionen mehr über
Moskaus Absichten. Wir sind da endlich auf derselben Seite. Nur
was die Antwort angeht, unterscheiden wir uns.«
Man kann Daniel Szeligowskis Verständnis der deutschen
Ukrainepolitik etwa so zusammenfassen: Ihr wollt Russland zu-
rückdrängen, aber es gibt keinen Konsens in eurer Politik, ob
Putin besiegt werden soll, auch wenn Boris Pistorius das jetzt sagt.
Die Ukraine soll sich zwar durchsetzen können, aber gerade genug,
damit man mit Russland verhandeln kann. Das erklärt eure do-
sierten Waffenlieferungen, die ohne dauernden Druck von uns
und anderen noch langsamer vonstatten gehen würden. Ihr wollt
Russland nicht zu sehr schwächen, aus Sorge vor Eskalation. Wir
glauben, dies hat den gegenteiligen Effekt, weil es Putin darin
bestärkt, dass er nur lange genug durchhalten muss. Ihr meint,
Russland managen zu können. Wir wollen eine klare Niederlage,
um den russischen Imperialismus ein für alle Mal zu stoppen. Gut
möglich, dass Putin dafür den Verlust der Krim erleben muss.
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
DEU
POL
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10 km
LAN
ZEIT- GRAFIK
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Eine ehemalige
Fähranlegestelle
an der Oder
im polnischen
Grenzort Bielinek
getrennt
liefern nun
schlechter VON JÖRG LAU
Hakt man nach, ob der Jarosław Kuisz erklärt den sperrigen Begriff so: Die Länder Mittel- und
Ukraine-Spezialist diesen Osteuropas sind von der Erfahrung einer stets gefährdeten Eigenständig-
eindeutigen Sieg ange- keit geprägt. Und diese Erfahrung bestimme den Blick auf die Ukraine:
sichts der unbeweglichen »Für euch Deutsche kam der russische Überfall als ein plötzliches, irratio-
Fronten denn für wahr- nales und unerwartetes Ereignis. Die Osteuropäer sehen ein Muster. Sie
scheinlich hält, weicht erleben den Krieg als Teil eines langen historischen Prozesses, als eine
Daniel Szeligowski aus: Es sei weitere Attacke des russischen Imperialismus auf ihre Souveränität.« Je
denkbar, dass der Krieg ir- näher man einem Ende des Kriegs komme, um so stärker könn-
gendwann in einem »korea- ten sich diese Unterschiede auswirken, fürchtet Kuisz: »Europa
nischen Szenario« zum Stehen kom- wird sich spalten in die Länder, die einen schnellen Frieden
me, auf Dauer eingefroren, ohne wollen, und diejenigen, denen es auf einen deutlichen Sieg
formellen Frieden – so wie schon seit ankommt.«
Jahrzehnten zwischen Nord- und Der polnische Europaminister Szymon Szynkowski vel Sęk
Südkorea. Dann werde man eine sitzt genau an der Stelle, an der die Mentalitäten aufeinander-
massive Aufrüstung der Ukraine stoßen. Der 40-Jährige mit exzellenten Deutschkenntnissen
brauchen, um Russland vor weiteren (aus einem Jahr als Erasmus-Stipendiat in Osnabrück) soll
Angriffen abzuschrecken. Und dafür für die regierenden Nationalkonservativen der PiS die
sei dann Deutschland als das wirtschaftlich Spannungen mit der EU beilegen. Szynkowski vel Sęk ist
stärkste Land Europas entscheidend: der Deutschlandflüsterer einer Partei, die sich permanent
»Putin achtet sehr genau auf Scholz«, sagt gegen Deutschland profiliert. Ein paradoxer Job, und doch
Daniel Szeligowski. »Er denkt wegen gibt der Minister sich beim Gespräch in seinem Warschauer
eurer Russlandpolitik, ihr seid das Büro zuversichtlich.
schwächste Glied in der Kette, Szynkowski vel Sęk erzählt, er komme gerade aus Berlin und
Deutschland sei die Sollbruchstelle des habe dort sehr gute Gespräche mit Robert Habeck, Boris Pistori-
Westens. Er muss verstehen, dass er us und dem Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt geführt. Die
sich darin getäuscht hat und er »gemeinsamen geopolitischen Herausforderungen«, hofft er, wür-
nicht auf Zeit spielen kann.« den Streitigkeiten in »anderen Bereichen« relativieren.
Szeligowski nimmt zwar Danach sieht es allerdings nicht aus. In seinem wichtigstem Dossier,
die Korrekturen in der deut- dem Streit mit der EU um die Justizreformen, geht nichts voran. Polen
schen Politik wahr, aber es ist vom EuGH, dem obersten europäischen Gerichtshof, wegen Ver-
fehle an Tempo, an Dringlichkeit. stößen gegen die Rechtsstaatsprinzipien zu hohen Geldstrafen (täglich
Nur wenige Stunden vergingen rund 1,5 Millionen Euro) verurteilt worden. Die EU-Kommission
letzte Woche zwischen dem polni- sieht die Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts
schen Antrag, Kampfflugzeuge des gefährdet und hält darum 75 Milliarden Euro aus EU-Fonds
Typs MiG (aus ehemaligen Beständen zurück, die Warschau zustehen würden.
der NVA) an die Ukraine weiterzugeben, Szynkowski vel Sęk soll vermitteln, damit die dringend
und der Genehmigung aus Berlin. Die Ko- benötigten Gelder freikommen. Er hat mit Brüssel einen
operation verbessert sich also, und doch Kompromiss ausgehandelt, doch der ist nun durch einen
bleibt für Beobachter wie Daniel Sze- Machtkampf innerhalb der PiS-geführten Regierung blo-
ligowski ein Unterschied. Für Polen sei ckiert und wird nicht umgesetzt.
der Krieg ein existenzieller Konflikt, für Der Europaminister, so sieht es aus, kämpft hier auf
die Deutschen offenbar nicht. verlorenem Posten.
Ein Verdacht zieht sich durch die meis- Und so lobt er die »Panzerkoalition« von
ten Gespräche in Warschau: dass die Deutschen Deutschland und Polen zur Lieferung der
trotz der Bekundungen, die Ukraine »so lange wie nötig« Leoparden an die Ukraine. »Wir muss-
zu unterstützen, irgendwann im Herbst die Nerven verlieren ten Druck ausüben, um die Dynamik zu
und zu Verhandlungen drängen könnten. Jeder weitere »Frie- beschleunigen. Das war für die Bundes-
densappell« in Deutschland füttert diese Angst. Der Politik- regierung sicher nicht angenehm, aber
wissenschaftler Jarosław Kuisz von der Warschauer Univer- es ist etwas Gutes daraus entstanden.«
sität glaubt, dass in dieser Reaktion Erfahrungen zutage treten, Deutschland und Polen werden nun
die weit in die polnische Geschichte zurückreichen. Kuisz hat gemeinsam Kampfpanzer und -flug-
die Zeitschrift kultura liberalna gegründet und ist einer der zeuge an die Ukraine liefern, doch
führenden Intellektuellen des Landes. Er arbeitet zusammen mit diese erstaunliche Annäherung zu
seiner Kollegin Karolina Wigura an einem Buch (es erscheint feiern fällt beiden Seiten schwer. In
im Herbst auf Deutsch bei Suhrkamp), das erklärt, warum der Berlin gibt man nicht gern zu, dass
Krieg in Deutschland und Polen so unterschiedliche Reaktio- Polens Initiative gewirkt hat. Und in
nen triggert. Warschau ist die nationalistische
Der russische Angriff bringe zutage, beobachtet Kuisz, Partei des Europaministers offenbar
wie sehr die Nationen sich in ihren Alpträumen unterschei- fest entschlossen, mit antieuropäischen
den. Das deutsche Trauma sei die Zerstörung durch den und antideutschen Wahlkampfparolen
Krieg, das polnische Trauma die Besatzung. Die Deut- ihre Macht zu verteidigen.
schen fürchteten darum vor allem die Eskalation, die Polen ist durch den Krieg zum strate-
Polen den Verlust der Souveränität – denn für sie (wie gisch entscheidenden Land geworden. Doch
auch für die Balten und andere Osteuropäer) verbin- seine Führung kann sich nicht entscheiden,
de sich mit dem Verlust der Selbstbestimmung mil- ob sie dieses Europa nun anführen oder be-
lionenfaches Leid. Im gesamten Raum, der von kämpfen soll. Der »polnische Moment«, den
NS-Deutschland und der Sowjetunion besetzt, der Botschafter Thomas Bagger beschwört, ist
aufgeteilt und verwüstet wurde, sei das so, hier da, aber er könnte ungenutzt verfliegen.
herrsche bis heute eine »posttraumatische
Souveränität«. ! www.zeit.de/vorgelesen
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12
Wie frei ist die Kunst?
Zehn Persönlichkeiten aus dem Kulturbetrieb sprechen über ihre Sicht auf die Debatte um politische Korrektheit – und darüber,
ob »Cancel-Culture« ihre Arbeit beeinflusst PROTOKOLLE: FLORIAN EICHEL, MARTIN MACHOWECZ, STEFAN SCHIRMER, TANJA STELZER
Der Regisseur:
Ein Makel an mir
Beim Dreh gibt es mittlerweile viele Auflagen.
Schon lange soll in Fernsehfilmen kein Alkohol
getrunken werden, im Auto muss man sich an-
schnallen, Zuschauer sollen nicht auf schlechte
Gedanken gebracht werden. Wenn man als
Drehbuchautor*in einen Stoff verkaufen will,
dann ist man gut beraten, ein paar Namen rein-
zuschreiben, die nicht »biodeutsch« sind.
Die Redaktionen sind angewiesen, Stoffe
divers zu entwickeln. Ich finde das großartig.
Denn so können wir aus der alten Soße raus-
kommen. Nur das Zwangartige stört mich, die
Einteilung von Menschen in Schubladen. Das
engt künstlerische Freiheiten ein – und ich
finde, Film kann und sollte eine Kunstform
sein. Wenn der Spionageserie Bonn vorgehalten
wurde, sie sei nicht divers, benutze langweilige
Rollenbilder – was soll man machen? Die spielt
in den Fünfzigerjahren in Bonn. Dass die
Nazis jede Form vom Aufbruch der Zwanziger-
jahre zerstört haben, ist ein schmerzlicher Teil
unserer Geschichte, ob man mag oder nicht.
Kai Wessel, 61, ist Regisseur
(»Die Flucht«, »Ramstein«)
und Hochschuldozent
Einmal wurde ich als Regisseur für eine
Produktion angefragt. Ob ich die Regie über-
nehmen könne? Das Team bestand aus einer
Producerin, einer Produzentin, einer Autorin,
einer Redakteurin. Es gab trotzdem Beden-
ken – sie mussten sich von höchster Stelle ge-
nehmigen lassen, dass ein Mann in diesem
weiblichen Team die Regie übernehmen darf.
Es war nicht persönlich gemeint, und doch
blieb das Gefühl, ich habe irgendeinen Makel
an mir, der einer Genehmigung bedarf.
Mir persönlich geht es gut. Ich habe tolle,
langfristige Projekte. Dennoch: Ich hatte seit
dem Herbst nur ein einziges Regie-Angebot,
als jemand spontan ersetzt werden musste. Es
gab immer mal Jahre, in denen ich mich fragte:
Ist das Telefon kaputt? Hat jemand einen Bann
über mich verhängt? Aber allseits erklärt man
mir: Du bist hetero, weiß, alt. Du hast das
falsche Geschlecht, den falschen Background.
Ich brauche dich gar nicht erst vorzuschlagen.
Das erzählen mir auch Kolleginnen ab 50.
Ich glaube, dass zurzeit Dinge nachgeholt
werden, die zu lange versäumt wurden. Der
allgemeine Wille zur unbedingten Toleranz
schlägt aber manchmal ins Gegenteil um. Da
laufen Sachen, die widersprechen vielleicht
sogar dem Grundgesetz, kommen zumindest
aber in die Nähe einer Diskriminierung, oder?
Ich träume weiterhin von einer Zeit, in der wir
alle die gleichen Chancen haben. K AI WES SEL
Der Filmförderer:
Mehr Diversity!
Wir haben bei der »Moin Filmförderung Ham-
burg Schleswig-Holstein« Diversity-Check-
listen eingeführt. Wer einen Antrag stellt, füllt
sie aus, die Kriterien orientieren sich am
allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Die
Checklisten wurden von einigen Akteur*innen
mit Leidenschaft angegriffen und von anderen
von Herzen begrüßt. Aus unserer Sicht sind
sie einfach ein Hilfsmittel für das Gremium,
das die Förderung bewilligen soll. Man kreuzt
als Produzent*in an, ob die Geschichte eines
STREIT
Helge Albers, 49, Chef der
Moin Filmförderung Hamburg
Schleswig-Holstein
Drehbuchs Geschlechterrollen, sexuelle Iden-
titäten, den Alltag in der dritten Lebensphase,
Leben mit Behinderung oder anderes betrifft.
Man kreuzt an, ob Geschlechter ausgeglichen
repräsentiert sind, People of Color vorkom-
men und vieles mehr. All das ist keine Voraus-
setzung für Förderung, sondern hilft unseren
Gremien bei ihren Debatten. Unsere Gesell-
schaft verändert sich, auch unsere Branche. In
Hamburg hat rund die Hälfte der Schüler*in-
nen einen Migrationshintergrund. Das ist
unser künftiges Publikum, das sind unsere
Fachkräfte und Talente. Die müssen wir doch
ansprechen! Es gibt bei »Moin« eine Mitarbei-
terin, die sich nur mit Diversität und Inklusi-
on beschäftigt. Das trägt zu einer lebendigeren
Unternehmenskultur bei.
Wird damit Kunstfreiheit beschnitten?
Quatsch. Diversität ist eine Facette von sehr
vielen. Die Diversity-Checkliste ist kein Ra-
ting-System, sondern sorgt für anregende Dis-
kussionen: Wieso wird diese oder jene Figur
besetzt? Wieso stößt ein Witz sauer auf? Wir
haben gerade einen Stoff gefördert, der im
Bonn der Siebziger spielt. Man riecht die Zi-
garette förmlich aus dem Drehbuch. Die
Männergesellschaft. Daran sieht man, dass es
nicht um Dogmatismus geht, sondern um eine
vielfältige Filmlandschaft. HELGE ALBERS
Die Schriftstellerin:
Angst ist gefährlich
Juli Zeh, 48, ist
Schriftstellerin (»Unterleuten«)
und Juristin
Wenn ein Buch erscheint, ist man als Autor
oder Autorin nervös. Man fragt sich, wie es
aufgenommen werden wird, hofft und bangt,
durchlebt vielleicht die eine oder andere schlaf-
lose Nacht. Das ist normal. Jeder Künstler
kennt die Furcht vor Ablehnung und Miss-
erfolg. Solche Ängste sind Teil des Schaffens-
prozesses. Man muss lernen, damit zu leben.
Nicht normal ist es hingegen, wenn sich
eine Autorin während des Schreibprozesses zu
fragen beginnt, ob sie eine Figur erschaffen
darf, die eine andere Herkunft, ein anderes Ge-
schlecht oder eine andere sexuelle Orientierung
besitzt als sie selbst. Oder wenn ein Autor über-
legt, ob es in Ordnung ist, veraltete Sprechwei-
sen zu benutzen. Oder einer Figur provokante
Reizwörter in den Mund zu legen. Ob in einer
Geschichte Figuren mit zweifelhaften politi-
schen Ansichten vorkommen können oder ob
von krasser psychischer oder physischer Gewalt
die Rede sein darf. Solche Fragen betreffen
nicht die literarische Qualität eines Textes.
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Sondern die Frage, ob der Text überhaupt Li-
teratur sein darf. Was tun, wenn einen derarti-
ge Ängste befallen? Mediale Reiz-Reaktions-
Muster kann man nicht ändern. Sich selbst
durch Anpassung dagegen absichern zu wollen
würde die eigene Arbeit gefährden. Ich habe
mich entschieden, mit meinem Verlag darüber
zu sprechen. Zum einen habe ich erklärt, dass
mir Sensitivity-Lektorate nicht helfen, sondern
meine Angst vergrößern. Ein Sensitivity-Lek-
torat ist eine Überprüfung des Textes auf Ver-
letzungsgefahr. Es soll Autorin und Werk da-
vor bewahren, durch faktische Irrtümer oder
durch die Verkennung kultureller Empfind-
lichkeiten versehentlich starke negative Emo-
tionen zu erregen. In Bezug auf faktische Irr-
tümer mag das angehen. Aber wenn eine
Lektorin an den Rand schreibt, dass sich ein
Mädchen im Text besser in eine weibliche
Schulkameradin verlieben sollte, ist das eher
der Versuch, bewusst Progressivität zu demons-
trieren oder sogar sich gegen sogenannte Shit-
storms abzusichern. Solche Lektoratshinweise
führen eher zur Sorge, dass sich in meinen
Texten irgendwann niemand mehr verlieben
darf. Solche Gedanken machen das Erschaffen
von Literatur unmöglich.
Zum anderen ging es mir um die Frage, wie
sich mein Verlag im Falle eines Falles verhalten
würde. Wenn sich die Institutionen des Kultur-
und Öffentlichkeitsbetriebs von einzelnen
Erzeugnissen oder gleich von ganzen Künstlern
distanzieren, gefährden sie die Grundlagen
ihrer eigenen Arbeit. Mein Verlag hat mir ver-
sprochen, zu mir zu halten und sich nicht von
mir oder meiner Arbeit zu distanzieren, sollte
einer meiner Texte einmal Gegenstand eines
Skandals werden. Für meine Arbeitsfähigkeit
ist dieses Versprechen zentral. Als Künstler oder
Künstlerin steht man ziemlich allein. Die In-
stitutionen, die uns vertreten (und Geld mit
unserem Schaffen verdienen), müssen als si-
cherer Hafen und nicht als schwankender
Boden fungieren. Die Öffentlichkeit darf sich
aufregen, man kann das begrüßenswert, fürch-
terlich oder nicht so wichtig finden. Zu einer
Gefahr für Kunstfreiheit und Diskurs wird es
nur, wenn Akteure des Kulturbetriebs diese
Aufregung internalisieren oder gar zu ihrer
Arbeitsgrundlage machen. JULI ZEH
Der Schüler: Kein
rassistisches Wort!
Zugegeben: Ich habe Tauben im Gras von
Wolfgang Koeppen nur in Auszügen gelesen.
Und auch nur, weil dieser Roman ins Gerede
gekommen ist. Fürs Abitur 2024 ist er an be-
ruflichen Gymnasien bei uns in Baden-Würt-
temberg Pflichtstoff. Ein meiner Meinung nach
rassistisches Buch, in dem sehr oft das N-Wort
vorkommt. Eine Deutschlehrerin aus Ulm hat
dagegen eine Petition gestartet, doch das Kul-
tusministerium hält an dem Roman fest. Ob-
wohl dessen Inhalt Menschen verletzen kann!
Meine erste Reaktion: Schock und Unver-
ständnis. Leider wird nicht offengelegt, wie
divers die Kommission besetzt war, die so ein
Buch ausgewählt hat. Vermutlich haben dort
wenige selbst Diskriminierungserfahrungen
gemacht. Anders als ich, geboren in Deutsch-
land: Mein Vater stammt aus der Türkei. »Sie
können aber gut Deutsch«, hat man mir schon
öfter gesagt. Als wäre ich nur aufgrund meines
Berat Gürbüz, 20, ist
Vorsitzender des Landesschüler-
beirats Baden-Württemberg
Namens kein Deutscher. Wer Rassismus erlebt
hat, besitzt mehr Empathie für Menschen, die
mit Rassismus konfrontiert sind. Ich fürchte,
diese Erfahrung fehlt dem Großteil der Lehr-
kräfte, die der Mehrheitsgesellschaft angehören.
Unser Kultusministerium argumentiert,
dass Tauben im Gras zwar rassistische Sprache
nutze, aber in Wahrheit antirassistisch sei. Nur:
Um so ein heikles Buch an Schulen besprechen
zu können, braucht es diversere Kollegien, die
für das mentale Wohlbefinden der Schülerin-
nen und Schüler sorgen. Die Klassenzimmer
müssen safe spaces sein. BER AT GÜRBÜZ
Der Verleger:
Rettet Winnetou!
Gerade stand wieder ein Text in unserer Lokal-
zeitung, der unfreiwillig das Problem auf den
Punkt bringt. Der Fränkische Tag berichtete
über eine Ausstellung von Plakaten mit Win-
netou-Motiven. Karl May, schrieb die Zeitung,
werde »kulturelle Aneignung« vorgeworfen:
»Ist die Ausstellung da noch legitim?« Dass
inzwischen überall die Legitimität von Winne-
tou infrage gestellt wird, ist furchtbar. Klar, ich
Bernhard Schmid, 61, ist
Chef des 1913 gegründeten
Karl-May-Verlags in Bamberg
bin befangen, als Eigentümer des Karl-May-
Verlags und Enkel von Euchar Albrecht
Schmid, der mit Karl May gut bekannt war.
Aber dieser Zeitgeist ist schwer erträglich.
Voriges Jahr hat Ravensburger Bücher und
Puzzle aus dem Programm gestrichen, die zum
Start des Films Der junge Häuptling Winnetou
erschienen waren – weil einige behauptet ha-
ben, da seien Rassismus und kulturelle Aneig-
nung im Spiel. Harmlose Bücher!
Vor Kurzem nahm ich an einer Diskussion
an der Uni Potsdam teil, als Counterpart war
eine Literaturwissenschaftlerin der Uni Frank-
furt auf der Bühne. Sie warf Karl May Sexis-
mus vor. Weil bei ihm angeblich Frauen zu
wenig zu Wort kommen. Wenn ich morgen
einen Roman schreibe, muss ich dann darauf
achten, dass genügend Frauen sprechen? Dieses
Aufrechnen tötet die Kunst. Der Literaturwis-
senschaftlerin habe ich unser Buch Nscho-tschi
und ihre Schwestern geschenkt, damit sie die
starken Frauenfiguren bei May kennenlernt.
Wussten Sie, dass Karl May immer ange-
griffen wurde? Im 19. Jahrhundert dafür, dass
er zu weltoffen und pazifistisch war!
Für das Wort »Indianer« setze ich mich be-
sonders ein. Im Duden steht jetzt, der Begriff
sei diskriminierend. Es gibt Stämme in Ame-
rika, die tragen das Wort im Namen! Diskrimi-
nieren die sich selbst? Ich glaube, in der deut-
schen Sprache hat keine indigene Gruppe ein
besseres Image als Indianer. BERNHARD SCHMID
Der Intendant:
Radierer im Hirn
Glauben Sie mir: Ich finde es gut, dass wir
heute sensibler auf Machtverhältnisse blicken.
Trotzdem hege ich Sorgen um die Freiheit
meines Berufes. Ich spüre, wie sehr ich auf-
passe, was ich als Theaterintendant sage. Ich
nenne das meinen »Radiergummi im Hirn«.
Wenn mir ein Gedanke in den Kopf schießt,
der vielleicht irgendeine Sensibilität berühren
Matthias Brenner, 65, ist
Intendant des Neuen Theaters
Halle und Filmschauspieler
könnte, radiere ich ihn gleich wieder weg. Ein-
mal konnte ich aber nicht an mich halten. Ein
Schauspieler hatte mir erzählt, dass er eine
Fernsehrolle nicht bekommt. Es ging darum,
einen schwulen Mann zu spielen, und man
sagte ihm, um das tun zu können, müsste er
sich öffentlich als homo- oder bisexuell outen.
Ich empfand das als Diskriminierung und als
Bedrohung der Schauspielkunst: Wenn am
Ende nur noch Heteros Heteros spielen dürfen,
nur noch Frauen Frauen, dann war es das. Des-
halb setzte ich einen Facebook-Post ab. Ich
schrieb: »Wehret diesen irrwitzigen Anfängen!«
Ich würde nicht sagen, dass Cancel-Culture
an der Tagesordnung ist. Es gibt im Theater
jedoch eine ungute Tendenz zur Befindlichkeit.
Schauspieler akzeptieren es oft nicht mehr,
wenn sie keine Hauptrolle spielen. Nebenrollen
werden verweigert, mit Sätzen wie »Ich fühle
mich einer Repressalie ausgesetzt ...« Dabei
kann es kein Anrecht auf die große Rolle geben.
Gleichmacherei beschädigt die Kunst. Als In-
tendant höre ich bald auf, vorzeitig, weil es an
der Zeit ist: Eine neue Generation muss ein
neues Theater verhandeln. MATTHIAS BRENNER
Die Kuratorin: Wir
hängen nichts ab
Dagmar Hirschfelder, 49,
ist Direktorin der Berliner
Gemäldegalerie
Verblüfft habe ich verfolgt, dass in Florida
kürzlich eine Lehrerin entlassen wurde, weil
sie ihren Schülern eine Abbildung von Michel-
angelos Marmorstatue des David gezeigt
hatte. Die Nacktheit der Skulptur war von
Eltern der Schüler als pornografisch verurteilt
worden. Wie hätten die Eltern wohl auf Ru-
bens’ lebensgroße Darstellung der nackten,
angeketteten Andromeda in der Berliner Ge-
mäldegalerie reagiert? In diesem Bild wird die
schutzlos dem zu Rubens’ Zeit fraglos als
männlich vorauszusetzenden Betrachterblick
ausgesetzt, sie wird als zugleich erotisches und
bedrohtes Objekt inszeniert, das der Rettung
durch den männlichen Helden bedarf. Noch
dazu stellte Rubens die äthiopische Prinzessin
nicht etwa als Schwarze Frau dar, wie es der
Erzählung aus der griechischen Mythologie
entsprochen hätte, sondern als hellhäutige
Europäerin. Dürfen Museen Werke vergange-
ner Jahrhunderte zeigen, die überholte Ge-
schlechterrollen vermitteln, Frauen zum pas-
siven Objekt eines männlich konnotierten
Blicks machen oder diskriminierende, kolo-
nialistisch geprägte oder rassistische Vorstel-
lungen transportieren?
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Ich glaube, sie müssen sogar. Die Auseinan-
dersetzung mit der kulturellen Vergangenheit
ist zentral für das Verständnis der Gegenwart
und die Weiterentwicklung der Gesellschaft.
Wenn Kunst nicht mehr gesehen werden darf,
weil es als unerträglich empfunden wird, dass
historische Werke nicht mit eigenen Wertvor-
stellungen kompatibel sind, verliert die Gesell-
schaft nicht nur einzigartige Kunst, sondern
auch das Wissen um ihre – gegebenenfalls
problematische – kulturelle Identität und
Herkunft. Werke wie Rubens’ Andromeda er-
möglichen die Auseinandersetzung mit pro-
blematischen Rollenbildern und Stereotypen
der Vergangenheit, die unsere Vorstellungen
und die medialen Bilder von idealer Weiblich-
keit prägen. Ich sehe es als wichtige Aufgabe
von Museen, solche Zusammenhänge aufzuzei-
gen, dafür zu sensibilisieren, zu debattieren. Es
geht darum, Werke in ihrem historischen Kon-
text zu erklären, nicht sie zu zensieren und aus
dem Verkehr zu ziehen. DAGMAR HIRSCHFELDER
Die Autorin:
Es braucht Grenzen
Natürlich habe ich Angst, gecancelt zu werden.
Ich bin Autorin. Wenn niemand meine Texte
lesen würde, wer wäre ich? Bloß wird Canceln
auch total überschätzt. Ich bin zweimal ge-
cancelt worden, einmal von rechts und einmal
von links. In beiden Fällen arbeitete ich danach
weiter für Medien. Meine Karriere – vor allem
ich – war erschüttert, aber nicht ausgelöscht
worden. Trotzdem hat diese Erschütterung
natürlich Auswirkungen darauf, wie ich schrei-
be. Ich bin vorsichtiger geworden: bei neural-
gischen Themen, aber auch in meinen raschen
Urteilen über andere Menschen.
Mithu Sanyal, 51, Autorin,
schrieb den Roman »Identitti«
über Identitätspolitik
Canceln ist wie jedes Thema komplex, wir
tun uns keinen Gefallen damit, es auf dieses
eine (Schimpf-)Wort zu reduzieren. Was pas-
siert, ist, dass wir als Gesellschaft diskutieren,
wie wir öffentlich miteinander und übereinan-
der reden wollen. Und auch über die Grenzen
des Sagbaren. Denn es gibt immer Grenzen:
Volksverhetzung, Verleumdung, Verletzung der
Persönlichkeitsrechte ... Wenn ich mir zwei
Sachen wünschen könnte: Dass wir aufhören,
uns in die Tasche zu lügen, dass nur die andere
Seite Redeverbote ausspricht. Und dass wir
diese Debatte liebevoller führen. MITHU SANYAL
Der Comedian:
Allzu empfindlich
Wir leben in einer Zeit, in der es angesagt ist,
ein Opfer zu sein. Die alten weißen Männer
fühlen sich als Opfer einer woken Bubble, die
ihnen vorschreibt, was sie zu sagen und zu
denken haben – viele haben Sorge, dass ihnen
bald das Gendersternchen via Chip von BioN-
Tech implementiert wird. Auf der anderen
Seite sind da woke Leute, die sich als Opfer der
alten weißen Männer fühlen, die sie permanent
demütigen – schon allein, weil sie da sind. Das
Problem ist: Dort, wo viel gefühlt wird, wird
meist auch wenig gedacht. Dort, wo viel Emp-
findlichkeit herrscht, ist auch die Empörung
nicht weit. Mitleid für sich selbst, Hass für die
Titelthema: Wie frei ist die Kunst noch?
Über ihre Leiche
Der Regisseur DIETRICH BRÜGGEMANN hat eine Tatort-Folge geschrieben, in der ein
ARD-Redakteur ums Leben kommt. Doch kein Sender
will sie produzieren. Woher kommt die Angst? Hier schreibt er darüber
E
in Vormittag im November
2019. Wir fahren durch die
schwäbische Provinz und suchen
Drehorte für einen Tatort. Am
Steuer sitzt die Produktionsleite-
rin, ihr Fahrstil ist unspektaku-
lär, doch dann lässt eine andere
Autofahrerin an einer Ampel die Scheibe herun-
ter und wirft uns vor, wir hätten soeben ein Auto
abgedrängt, wir sollten uns in Acht nehmen, man
habe ein genaues Auge auf uns. Darüber, wen sie
mit »uns« meint, müssen wir nicht lang nach-
denken, denn auf unserem Auto steht in deutli-
chen Lettern »SWR« geschrieben.
Ich hatte von solchen Anfeindungen schon ein
Florian Schroeder, 43, ist halbes Jahr früher eine Portion abgekriegt. Mein
Kabarettist und Autor eines erster Tatort, die Stuttgarter Episode Stau, war 2017
Buchs über Meinungsfreiheit auf allgemeine Zustimmung gestoßen. Der zweite,
in dem der Kommissar zwölfmal denselben Fall
anderen. Man könnte einwenden: Wichtiger lösen muss und jedes Mal erschossen wird, wurde
wäre jemand, der diejenigen, die sich verletzt im Frühjahr 2019 ebenfalls wohlwollend aufge-
fühlen, so vertritt, dass sie ermächtigt werden, nommen, aber im Internet regte sich auch Unmut,
sich nicht länger verletzt zu fühlen. Nein, wir und einige dieser Stimmen fanden nicht nur den
wollen einen, der genauso verletzt wirkt und Film schlecht, sondern das öffentlich-rechtliche
guckt und spricht, wie wir uns fühlen. Das ist
das Emanzipations-Paradox. Befreiung heißt
Fernsehen in seiner Gesamtheit falsch.
Es ist Vorrecht der Kunst, solche Wortmel-
nicht etwa, sich aus schlechten Verhältnissen
befreien zu können, sondern in den schlechten
dungen nicht gleich in Gut und Böse einzuteilen,
sondern mit Interesse zu betrachten. Also schrieb
Verhältnissen zertifiziert noch lauter jammern ich im Sommer 2020 ein Exposé für einen Tatort
zu dürfen – das Wichtigste ist, dass dabei alle mit dem Titel »Zwangsgebühren«, der dieses The-
betroffen nicken und keiner widerspricht. ma anpacken sollte. Er sollte als Musical beginnen:
Wir Komiker wollen für unsere Provoka- Das SEK tanzt, der Kommissar singt, ein Täter wird
tion die maximale Zustimmung, und wenn das mit Pauken und Trompeten festgenommen. Ein
Publikum sie uns verweigert, gar widerspricht, Zuschauer vor dem Fernseher schaltet daraufhin
fühlen wir uns missverstanden und behaupten, wutentbrannt ab, fährt zum Sender, erschießt den
man könne ja nichts mehr sagen. Wir sind Redakteur und nimmt eine Sekretärin als Geisel.
dann so beleidigt wie die Politiker, die wir sonst Mir war klar, dass das vermutlich den Bogen
hochmoralisch dafür tadeln. So werden wir überspannt. Andererseits könnte man fragen, was
selbst zum Teil der empfindlichen Gesellschaft, so schlimm daran sein soll, wenn mal ein Fernseh-
statt sie zu spiegeln. FLORIAN SCHROEDER redakteur dran glauben muss. In gut 52 Jahren
Tatort wurden bestimmt Vertreter jeder Berufs-
gruppe dahingemetzelt. Vielleicht hätte man sich
Und wieso sind im Lauf der Stoffentwicklung darauf geeinigt, dass
nicht der Redakteur erschossen wird, sondern etwa
Tierfilme so brav? der Pförtner, aber Stoffentwicklung fand keine statt,
denn bislang wollte keiner das Projekt haben, ob-
wohl ich es einigen Sendern angeboten habe.
Warum entkommen die Gejagten ständig? Welchen? Verrate ich nicht. Und genauso wenig
Darf die Natur im Film nicht mehr grausam werde ich mich jetzt ins verbreitete ARD-ZDF-
Fotos: dpa; Fabian Schellhorn; Frank Eidel/PR; Anatol Lotte; Karl-May-Verlag; Christoph Hardt/action press; Peter v. Felbert; Uwe Anspach/dpa; Bernd Weißbrod/dpa (v.l.); ZEIT-Grafiken: Kim-Melina Bertram
sein? Vielleicht, weil sie nur schützenswert er- Bashing einreihen, denn das widerspräche meiner
scheint, wenn sie durch und durch gut ist? gesamten Arbeitserfahrung. Bei meinen Filmen war
Diese Fragen nach einer Cancel-Culture im die Zusammenarbeit mit den Sendern immer res-
Naturfilm warf Kathleen Hildebrand kürzlich pektvoll und angenehm, über die Erfolge herrschte
in der Süddeutschen Zeitung auf, nachdem sie allgemeine Freude, Projekte sind in Planung. Wenn
den Kinofilm Die Eiche gesehen hatte. Der wir also herausfinden wollen, ob beim ÖRR trotz-
spielt auf einem 200 Jahre alten Baum, an dem dem etwas nicht ganz rundläuft, dann sollte es nicht
ein Eichelhäher nur knapp dem Habicht ent- darum gehen, welche Sender mein Zwangsgebüh-
kommt, eine Schlange ihren Nestraub ver- ren-Musical abgelehnt haben, sondern um die
masselt und ein Käfer an Altersschwäche stirbt, Frage, warum ein solcher Film nicht denkbar ist,
statt, wie es normal wäre, gefressen zu werden. und zwar bei keinem Sender. Da will ich etwas in
Recht hat die Autorin, wenn sie schreibt, die Debatte werfen, das nichts mit meiner eigenen
dass all das die Natur nicht zeigt, wie sie ist. Tatort-Erfahrung zu tun hat, nämlich: Jede Institu-
Und ja, auch die Attenborough-Dokus der tion schreibt sich einen höchsten Wert auf die
BBC, wie Planet Earth oder The Green Planet, Fahne, aber dieser höchste Wert wird früher oder
sind aus Hunderten Stunden Material zu- später stillschweigend durch einen anderen ersetzt,
sammengeschnitten, nachkoloriert und teils und der neue höchste Wert ist die Institution selbst.
im Studio nachgestellt. Solche Naturfilm-Epen Ich behaupte, dass sich mit diesem Mechanis-
erzählen Evolution als Drama, Heldenreise mus ein Großteil aller Vorgänge in Familien, Fir-
oder Tragödie, also in Kategorien, in denen men, Religionen und Sendeanstalten erklären lässt.
sich Menschen ihre Welt begreiflich machen. Der höchste Wert der katholischen Kirche ist längst
Immer schon zeugte die Darstellung der nicht mehr Nächstenliebe, sondern die katholische
Natur von der Haltung, die Menschen zu ihr Kirche, die sich ja sogar ganz ungeniert als »heilig«
einnahmen. Kann es sein, dass Filmschaffende bezeichnet. So weit sind ARD und ZDF bisher
sich angesichts von Artensterben und Klima- nicht gegangen, aber gegen diese Selbstheiligspre-
wandel liebevoller dem bedrohten Leben zu- chung sind sie so wenig immun wie jede andere
wenden? Naturfilmer haben immer schon Institution. Wenn wir also ein Problem haben, liegt
geschummelt. Antilopen wurden angebunden, die Wurzel hier, und alles andere ergibt sich daraus.
damit der Löwe sie kriegt. Seit je richtet man
Kameras so aus, dass Strommasten, Plastikmüll
Zum Beispiel ergeben sich Intendantendienst-
wagen mit Chauffeur und Massagesitzen. Und
oder sonstige Zeugnisse der Zivilisation nicht
im Bild sind. Dass ein Film eine unverfälschte
lustige Eiertanzrituale. Wenn mal wieder ein Funk-
tionär nach fünf Monaten mit sechsstelliger Ab-
Wahrheit abbildet, ist eine Illusion. Grausam- findung und Ruhegehalt aus dem Amt scheidet,
keit, Moral, Mitgefühl – all das sind Konzepte, darf bei kritischen Äußerungen aus Kollegenmund
wie es sie in der Natur nicht gibt. Die Wildnis nie der Zusatz fehlen: Ich stehe fest zum Öffentlich-
hat keinen Plan, keine Motive, kennt kein Gut Rechtlichen! Ich frage mich immer, was das bedeu-
oder Böse. Seit Homo sapiens bewusst auf ten soll. Ich stehe bestimmt nicht fest zu einer In-
seine Umwelt blickt, ist er entfremdet von ihr. stitution. Ich stehe fest zu den guten Leuten, die
Weil der Mensch tut, während die Natur ein- man in den Sendern trifft, aber die zeichnen sich
fach nur ist, wird er ihr Antagonist bleiben. gerade dadurch aus, dass sie dem institutionellen
Den Schmerz, nicht mehr dazuzugehören, Narzissmus kritisch gegenüberstehen. Zu anderen
kann uns kein Naturfilm nehmen. Kein Weg stehe ich dagegen nicht so fest, etwa zum Fernseh-
führt zurück ins Paradies. DAGNY LÜDEMANN spielchef, der mich anrief, nachdem ich in einer
Zeitung erwähnt hatte, dass mein jüngster Tatort
Dagny Lüdemann, Biologin und Wissen- zunächst bei seinem Sender entstehen sollte, dann
Chefreporterin bei ZEIT ONLINE, ist abgesagt wurde, worauf ich ihn woanders unter-
Mitglied in mehreren Tierfilmpreis-Jurys brachte. Ich fand das nicht besonders kontrovers:
Wenn man die Öffentlichkeit im Namen führt,
sollte Transparenz selbstverständlich sein. Der
Fernsehspielchef jedoch war empört, redete eine
halbe Stunde auf mich ein. Ich war ebenfalls em-
pört, fühlte mich aber auch geehrt, denn ein halb-
stündiges Telefonat mit einem ARD-Fernsehspiel-
chef ist eine Ehre, zu der man als Filmemacher nicht
ohne Weiteres kommt. Hätte ich ein Drehbuch
eingereicht, wäre die Reaktion nicht am selben Tag
erfolgt, vielleicht nach einem halben Jahr oder nie.
Ähnliches berichtet eine befreundete PR-Agentin:
Wenn es ums Image geht, kriegt sie jeden ARD-
Hierarchen in zehn Minuten ans Telefon. Von
Autorinnen oder Regisseuren, die so schnell zurück-
gerufen werden, hat sie nie gehört. Und weil es ums
Image ging, hat der WDR nach dem »Umweltsau«-
Debakel eine PR-Agentur für 580.000 Euro enga-
giert, obwohl man 15 Mitarbeiter für Öffentlich-
keitsarbeit im Haus hatte. Über all das kann man
sich empören, man kann es aber auch als Auszug
aus der Wertehierarchie betrachten, und die besagt,
ich wiederhole: Der höchste Wert ist die Institution
selbst. Wer also etwas verändern will, sollte über-
legen, wie sich diese Mechanismen aushebeln lassen.
Beim Fußball ist das kein Problem. Der institu-
tionelle Narzissmus von Borussia Dortmund endet
in der gegenüberliegenden Fankurve, wo die Luft-
hoheit von Schalke 04 beginnt. Konkurrenz ist also
eine gute Idee. Wir hätten ja sogar ARD und ZDF,
aber die unterscheiden sich voneinander ungefähr
so wie Samstag und Sonnabend. Vermutlich wäre
viel gewonnen, wenn ich als Gebührenzahler alle
drei Monate entscheiden könnte, wer von beiden
In 52 Jahren
»Tatort« starben
Vertreter fast
aller Berufe
mein Geld kriegt. Aber das ist so utopisch wie die
Produktion meines Zwangsgebühren-Tatorts.
In Letzterem fahren Täter und Geisel jetzt ziel-
los durch die Gegend, ein Hauch von Gladbeck,
aber die Pressemeute braucht man heute nicht.
Unser Mann macht Insta-Storys, die Massen schi-
cken Herzchen-Emojis, und spätestens hier stehen
wir als Filmemacher vor der Frage: Wie finden wir
das? Hat der Film ein Urteil parat? Der Täter in
meinem Drehbuch setzt sich komplett ins Unrecht,
der Film steht also fest im Wertesystem, indem er
Kritik am System als kriminell schildert, doch das
hat dem Projekt nicht zu grünem Licht verholfen.
Die wütende Kritik am ÖRR ist anscheinend ein
so heißes Eisen, dass sie sogar als spielerisches Ele-
ment im Tatort tabu ist, da macht man keine Witze.
Aber hier, beim Witzemachen, geraten wir an
den Kern der Kunst: es nie restlos zu entschlüsseln,
ob und wie ein Film das, was er zeigt, bewertet.
Jeder Dialogsatz kann so oder anders gemeint sein.
Von der Jubelarie ist es nur ein kleiner Schritt zur
beißenden Satire, und je ambivalenter, desto besser
ist meist das Werk (und je eindeutiger, desto lang-
weiliger). Literatur und Film schaffen einen Raum,
in dem wir unsere Wertesysteme kritisch von außen
betrachten können. Man könnte die Kunst mit
einigem Recht als Gegengift zum institutionellen
Narzissmus verstehen. Letzterer wittert überall
Feinde, versteht Kritik als Angriff, neigt zur Eska-
lation. Film und Literatur sind multiperspektivisch.
Erzeugen eine Welt, in der wir die Eskalation spie-
lerisch ausagieren und damit entschärfen können.
Weil das Schlüsselwort hier »spielerisch« lautet,
ist mein Tatort-Entwurf eben ein Musical, und ir-
gendwann fängt die Geisel an zu singen. Der Täter
will das unterbinden, aber sie weiß gar nicht, was
13
er von ihr will, denn im Musical wissen die Ak-
teure ja nie, dass sie singen. Konflikte in Filmhand-
lungen drehen sich im Grunde um die Frage,
wessen Version der Realität sich durchsetzt – wenn
hier gesungen wird, obwohl der Protagonist es nicht
will, steht das auch für die Definitionsmacht des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der beschließen
kann, dass wir uns in einem Musical befinden, weil
das seine Version der Realität ist. Am Ende wird
unser Mann festgenommen, und zwar in genau dem
Finale, das wir am Anfang gesehen haben. Das
System hätte gesiegt, zugleich hätte der Film durch
seine Existenz bezeugt, dass es mir gelungen wäre,
einen systemkritischen Musical-Tatort, in dem am
Ende das System siegt, durchs System zu kriegen.
Das blieb mir verwehrt, das System hat gesiegt.
Das ist schade, weil dieser Tatort unterm Strich
eine Hommage ans Öffentlich-Rechtliche gewesen
wäre, genau wie dieser Text. Ein so großer Apparat
ist darauf angewiesen, von den eigenen Leuten,
und zu denen zähle ich mich, stets aufs Neue kri-
tisch beleuchtet zu werden. Sei es die Wagenburg-
und Selbstbedienungsmentalität, die sich in der
RBB-Affäre zeigte, sei es die Staatsnähe, sei es die
Diffamierung Andersdenkender, die wir in der
Corona-Berichterstattung zuweilen sehen mussten.
Oder mein vergeblicher Versuch, meinen im
Grunde harmlosen Zwangsgebühren-Tatort unter-
zubringen – all das hat eine gemeinsame Wurzel.
Um an dieser Stelle einigen naheliegenden
Einwänden zu begegnen: Nein, an meiner be-
kanntermaßen kritischen Haltung zur Corona-
Politik kann die Ablehnung nicht liegen, denn ich
habe mit Redaktionen, die hier abwinkten,
durchaus andere Projekte in Arbeit, da ist das kein
Thema. Ja, mein Zwangsgebühren-Musical ist
waghalsiger als normale Tatorte, aber nicht wag-
halsiger als andere, die es schon gab. Und ja, es
könnte sein, dass mein Text handwerklich
schlecht war, aber das sollte eigentlich kein Hin-
dernis sein, denn handwerklich schlechte Tatorte
habe ich auch schon gesehen.
Zurück zur Wurzel. Wie rücken wir der nun zu
Leibe? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Ganz
sicher nicht mit den handelsüblichen Phrasen über
konsequente Nutzung der »im novellierten Medien-
staatsvertrag angestrebten Möglichkeiten der Fle-
xibilisierung der Angebote« und so weiter, also mit
noch mehr Bürokratenrhetorik und Optimierungs-
turnübungen. Vielleicht hilft ein Blick zum SWR,
wo ich eine Arbeitsatmosphäre erlebte, in der der
ÖRR gar nicht so sehr als höchster Wert im Raum
steht, weil man seinen eigenen lokalen Stolz pflegt.
Am Rande des Schwarzwaldes liegt ein wunder-
voller Schatz an Werkstätten, Fundus und Fach-
wissen. Ich hoffe sehr, dass der noch lang erhalten
bleibt und nicht zugunsten von noch mehr Zeit-
geist-Einheitsbrei eingestampft wird. Die Erfah-
rung zeigt, dass bei Reformen leider oft gerade die
guten Dinge als Erstes kaputtgemacht werden. Und
weil das so ist, unterbreite ich hiermit einen salo-
monischen Vorschlag: Ändern wir einfach gar
nichts. Wir sind angeblich so ein reiches Land.
Wenn wir uns einen Rundfunkapparat für acht
Milliarden Euro leisten wollen, machen wir das
halt. Wir wären nur gut beraten, in diesem System
die Sinne dafür zu schärfen, wie Systeme funk-
tionieren. Und was könnte dafür ein gutes Mittel
sein? Natürlich: Filme.
Ich hätte da einen Tatort namens »Zwangs-
gebühren«, und der ist noch nicht zu Ende. Zum
Schluss, nachdem unser Täter festgenommen
wurde, sehen wir, dass auch das wieder nur ein
Film war. Vor dem Fernseher sitzt erneut ein Zu-
schauer, ärgert sich und zieht los, um die Sache
selbst in die Hand zu nehmen. Zumindest stand
das so im ersten Exposé. Dann aber wies mich ein
Fernsehredakteur (vom ORF, denn ich dachte,
vielleicht habe ich außerhalb Deutschlands
Glück) darauf hin, so eine Möbiusschleife sei
eigentlich der Verlust einer Dimension. Der
Mann hatte recht! Also, Änderung: Der Zuschau-
er schaltet resigniert ab und geht pennen.
Der beste Dienst am System ist Kritik. Je weni-
ger das System sie hören will, desto notwendiger ist
sie. Ich stehe nämlich, falls ich das noch nicht er-
wähnt haben sollte, in unverbrüchlicher Treue fest
zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wenn es
ihn nicht gäbe, müsste man ihn erfinden und
scharf kritisieren.
Dietrich Brüggemann, 47, ist Regisseur. Er drehte
mehrere Tatorte und Kinofilme (»3 Zimmer/Küche/
Bad«). Im April 2021 war er Mit-Initiator der Aktion
»#allesdichtmachen«, die sich kritisch mit Corona-
Einschränkungen für Künstler auseinandersetzte
 14
Foto: Vera Tammen für DIE ZEIT
ZEITNAH
Seine Waffe heißt jetzt Bildung
Lange mussten sich Martina Kix, Chefredakteurin von ZEIT Campus, und ZEIT-
Redakteur Oskar Piegsa bemühen, ehe sie Giwar Hajabi zu seinem Werdegang befragen
konnten. Doch dann gab der im Iran geborene Rapper und Musikproduzent, besser
bekannt unter dem Namen Xatar, im Büro seiner Managerin offen Auskunft über die
Träume seiner Eltern, seine Jahre im Gefängnis und seine Klavierlehrerin WISSEN, S. 36
Foto: Max Slobodda für DIE ZEIT
Unbezahlbar
Die Mieten explodieren, selbst immer mehr Menschen
mit mittlerem Einkommen finden keinen Wohnraum,
den sie sich leisten können. Woran liegt das? Unter-
wegs in Tübingen, auf der Suche nach Antworten auf
die zentrale soziale Frage unserer Zeit DOSSIER, S. 15
IN DEN REGIONALAUSGABEN
ZEIT im Osten Was tut man,
wenn ein Rechtsextremer das
einzige Gasthaus im Ort betreibt?
Uwe Schneider sagt: Man eröff-
net halt einen Imbisswagen.
Zu Besuch in Kloster Veßra
VON MARTIN NEJEZCHLEBA 18
Foto: Osma Harvilahti
So gut wie jeder im Osten kennt
die Triola. Jetzt soll das Instrument
den amerikanischen Markt
erobern – auf der größten Musik-
messe der Welt in Kalifornien
Raus aus dem Grau: Eine
Reise um die Welt mit VON LUK AS RIETZSCHEL 20
dem finnischen Fotografen
Osma Harvilahti ZEIT Schweiz In der Schweiz
fehlen bald 50.000 Wohnungen
18
VON MAT THIAS DAUM
... und trotzdem werden jährlich
circa 5000 Gebäude abgerissen.
Architekten denken jetzt um
VON MAT THIAS DAUM 19
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Foto: Hannes Jung für DIE ZEIT
Olivier Jornot ist einer der mäch-
tigsten Männer im Kanton Genf.
Nun droht ihm Ungemach
VON SASCHA BUCHBINDER
ZEIT Österreich Was ist öster-
reichische Literatur? Zehn Ant-
worten von Marlene Streeruwitz,
Marco Wanda, Lydia Haider und
anderen. Ein Spezial zum Gast-
land Österreich auf der Leipziger
Buchmesse 18
Das Land Niederösterreich will
rechtswidrige Corona-Bußgelder
zurückzahlen und nennt das
»Wiedergutmachung«. Sieht so
Versöhnung aus? Und ist das
juristisch überhaupt möglich?
VON CHRISTIAN BARTL AU,
SIMONE BRUNNER UND
CHRISTINA PAUSACKL
INHALT
Titelthema: Wie frei ist die Kunst noch?
POLITIK
Geopolitik Soll sich Europa stärker
von den USA emanzipieren?
Ein Pro und Contra
VON MAT THIAS KRUPA UND JAN ROS S
Die Linke Auch Gegner schätzen sie,
doch für die Berliner Senatorin Katja
Kipping ist es mit der Politik erst einmal
vorbei VON ROBERT PAUSCH •3
Pentagon-Leaks Wie die Ukraine
auf die Veröffentlichung amerikanischer
Geheimdienst-Dokumente reagiert
VON OLIVIA KORTAS 4
Zu Besuch in der Heimatstadt von Jack
Teixera, der die geheimen Dokumente
zum Krieg in der Ukraine öffentlich
machte
VON PAUL MIDDELHOFF
Ukraine Woher soll das Land Geld
bekommen, wenn der Krieg noch länger
dauert – und zahlt Kiew es irgendwann
zurück? VON MARK SCHIERITZ 5 das die Hausfrau verklärte
Russland Wie Putin sich an einem der
letzten Oppositionellen rächt
VON ANNA SAUERBREY
FDP Werden die Liberalen ihr
Problem-Image los? VON MARIAM L AU 7
Sudan Wie konkurrierende Mafia-
Gruppen bekriegen sich Armee und
Paramilitärs – ohne Rücksicht auf die
Bevölkerung
VON ANDREA BÖHM
Polen Das deutsch-polnische Verhältnis
steckt in einer tiefen Krise – und ist
doch so eng wie nie
• 10
VON JÖRG L AU
STREIT
Titelthema: Wie frei ist die Kunst noch?
Zehn im Kulturbetrieb tätige Menschen
beschreiben, wie sie den wachsenden
Wunsch nach Diversität erleben 12
Der Filmregisseur DIETRICH BRÜGGEMANN
schreibt über ein »Tatort«-Drehbuch,
das bisher kein ARD-Sender verfilmen
möchte 13
DOSSIER
Sie zieht aus Wohnungsnot In vielen deutschen
Städten explodieren die Mieten, finden
Normalverdiener kaum noch eine Bleibe.
Nach 25 Jahren Politik für die Wie es dazu kam – und was dagegen zu
Linken hat Katja Kipping kein tun wäre
VON CATERINA LOBENSTEIN 15
Amt mehr. Wir haben sie beim
Ausräumen ihres Senatorinnen-
GESCHICHTE
büros begleitet POLITIK, SEITE 3
Kriminalität Wie kam der
»Ausländer« in die Kriminalstatistik?
Eine datenhistorische Spurensuche
ZUM HÖREN vom Kaiserreich bis heute
VON TIN FISCHER
Die so gekennzeichneten
Artikel finden Sie als
Audiodatei im »Premium-
VERBRECHEN
bereich« unter
20
www.zeit.de/vorgelesen Betrug Vor dem Hamburger
Amtsgericht tritt eine geprellte
ANZEIGEN IN
DIESER AUSGABE Millionenerbin auf – der Angeklagte ist
ein Kriminalbeamter
Bildungsangebote und
VON ANNE KUNZE 20
Stellenmarkt
(ab Seite 38);
Agenda Kultur:
WIRTSCHAFT
Museen, Kunstmarkt,
Bühnen (Seite 54)
Social Media Junge Menschen spornen
FRÜHER sich auf der Videoplattform TikTok zu
INFORMIERT! gefährlichen Mutproben an. In einigen
Fällen endeten sie tödlich
Die aktuellen Themen
VON HANNAH KNUTH 21
der ZEIT schon am
Mittwoch im ZEIT-Brief,
Logistik Auf einer Raststätte in Hessen
dem kostenlosen
Newsletter streiken Dutzende Fernfahrer gegen ihre
20 www.zeit.de/brief schlechten Arbeitsbedingungen. Ein
Besuch bei den Streikenden – und bei
ihrem Chef in Polen
• 22
VON JONAS SCHULZE PALS
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Globalisierung Der Streit um eine Hollywood Der Streik der
Beteiligung Chinas am Hamburger Hafen Drehbuchautoren
offenbart, wie fragil der Welthandel ist VON K ATJA NICODEMUS 46
VON THOMAS FISCHERMANN 23
Titelthema: Wie frei ist die Kunst noch?
2 Kommentar Warum der Bundestag die Was durfte Kunst früher, und was darf
Rolle des Kanzlers im Cum-Ex-Skandal sie heute nicht mehr?
aufklären sollte
23
VON IJOMA MANGOLD • 47
VON INGO MALCHER
Film Christian Petzolds
Energie Deutschland führe neue
Technologien zum Klimaschutz zu lang-
»Roter Himmel«
VON SABINE HORST 48
sam ein, klagt der Chef des Maschinen-
bauers MAN Energy Solutions 24 Kolumne Grand Slam
VON ANDREA PETKOVIĆ 48
Geldpolitik Immer mehr Länder
werden von ihren Schulden erdrückt. Architektur Ein Interview mit
Droht eine neue globale Krise?
• 25
Jacques Herzog, dem Architekten des
VON KOLJA RUDZIO Museums der Moderne in Berlin 49
Gesundheitswesen Pflegekräfte sind Pop Dieter Bohlen versucht ein
chronisch müde und leiden unter Comeback
• 50
4 Schlafstörungen. Ein Mediziner erprobt VON JENS BALZER
mit ihnen eine Therapie 26
Streaming-Serien Vier muntere Pro-
Marken Tupperware steht vor der Pleite. duktionen gegen die Frühjahrsmüdigkeit
Über das Ende eines Unternehmens,
»Poker Face«
VON ANN-K ATHRIN NEZIK 27 VON SINEM KILIC 51
Wirtschaft in einem Satz 29 »Transatlantic«
6 VON PETER NEUMANN 51
ZEIT für Geld Welche Anfängerfehler
sollte ich bei der Geldanlage vermeiden? »Beef«
VON MONA LINKE 29 VON PETER KÜMMEL 51
»Ted Lasso«
WISSEN VON SOPHIE PAS SMANN 51
Kita Die Kindergartenzeit ihrer Töchter Literatur Eine Biografie des
endet, und unsere Autorin fragt sich:
8
Sind gute Kitas bald Vergangenheit?
Historikers Reinhart Koselleck zu
seinem 100. Geburtstag
Ein offener Abschiedsbrief
• 31
VON ALEX ANDER CAMMANN 52
VON JOHANNA SCHOENER
Mobilität Eine Ausstellung in Wolfs-
Ökologie Der US-Jurist Donald Braman
burg zeigt die Zukunft ohne Auto
will Ölkonzerne wegen fahrlässiger
VON THOMAS AS SHEUER 54
Tötung vor Gericht stellen. Ist das
realistisch?
VON MA XIMILIAN PROB ST 32 GLAUBEN & ZWEIFELN
Natur Ein gewaltiger Bergrutsch könnte Antisemitismus Nach dem Verbot
das Schweizer Dorf Brienz verschütten. judenfeindlicher Demonstrationen in
Viel Zeit haben die Bewohner nicht Berlin: Warum Verbieten nicht genügt,
mehr und woher das Feindbild junger
VON SALOME MÜLLER 33 Palästinenser kommt
VON AHMAD MANSOUR , VOLKER BECK
Drogenpolitik In Deutschland sollen
bald Cannabis-Clubs erlaubt werden. UND ABDEL-HAKIM OURGHI 56
Andere Länder haben damit bereits
Erfahrungen – nicht nur gute
• 35
ENTDECKEN
VON YANNICK R AMSEL
Wie geht Liebe? Was eine Mutter und
Meine Schule des Lebens Er überfiel
einen Goldtransporter und machte als
ihre schwerkranke Tochter seit vierzig
Jahren verbindet
• 57
Rapper Karriere. Der Musikproduzent
Xatar über Gebete im Gefängnis und
VON BRIT TA STUFF
seinen Weg aus der Armut 36 Entdeckt Kaufrausch
59
Schach Die beiden WM-Kämpfer VON DAVID HUGENDICK
in Kasachstan begeistern das globale Propaganda Tausende Deutsche
Publikum twittern seit dem Krieg zugunsten
VON ULRICH STOCK 37 Russlands. Wer sind diese Leute?
Infografik Justus von Liebig 44 VON GÖTZ HAMANN , ANDREAS LOOS
UND K ARSTEN POLKE-MAJEWSKI 60
LEO – DIE SEITE Nepal Auf der Suche nach Einsamkeit
19 und Apfelkuchen bei der Umrundung
FÜR KINDER
der Annapurna
Die Supernasen Bettwanzen, Corona, VON THERESA TRÖNDLE 62
seltene Tiere – was Hunde alles
erschnüffeln können In drei Drinks durch ... Glasgow
VON VIOL A KIEL 43 VON JES SICA BR AUN 63
Interview Wie bildet man Spürhunde Wie es wirklich ist ...
aus? Und welche Rassen sind besonders Menschenhaar zu recyceln
geeignet? Eine Tiertrainerin erzählt 43 VON JANINE FALKE 64
FEUILLETON RUBRIKEN
Literatur »Noch wach?«, Benjamin von Leserbriefe 18
• 34
Stuckrad-Barres Schlüsselroman über
Stimmt’s?
das Medienhaus Springer 45
Gesellschaft In unserer Serie Die Position 38
»Dialog mit den jungen Leuten« liest
Worum geht’s? 39
Dustyn ein Buch
VON MORITZ VON USL AR 46 3½ Fragen 40
Kunst Die Leipziger Digitalkunst- Impressum 52
Ausstellung »Dimensions«
VON HANNO R AUTERBERG 46 Was mein Leben reicher macht 64
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14.04.23 13:56
 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

DOSSIER 15

Auf einem Berg über den Dächern der altehrwürdigen Univer-

sitätsstadt Tübingen liegt eine matschige Brache. Ein steiles
Hanggrundstück, bewachsen mit Gestrüpp. Eine Schmuddel-
ecke, könnte man meinen. In Tübingen aber, wo Bauland immer
kostbarer wird, ist dieser Ort eine Verheißung. Eine Fläche mit
Potenzial, würden Makler sagen. »Ein Riesenglück«, sagt Cord
Soehlke. An einem Vormittag Ende Februar steigt er aus seinem
Elektro-Dienstwagen, eine Aktenmappe unterm Arm. Er blickt
über die Brache. Arbeiter in Neonwesten streifen herum. Ein
Bagger steht einsam im Matsch.
Cord Soehlke ist der Baubürgermeister von Tübingen, ein
Mittfünfziger, parteilos, aber »grün geprägt«, so formuliert er
es. Er ist weniger prominent als sein Chef, der Oberbürger-
meister und Dauer-Talkshowgast Boris Palmer. Doch das
Problem, das Soehlke lösen muss, bewegt das ganze Land:
der Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Viele Hundert feh-
len in Tübingen, Hunderttausende bundesweit. Von der
»zentralen sozialen Frage unserer Zeit« hat Bundeskanzler
Olaf Scholz mal gesprochen.
Soehlke zieht einen Bogen Papier aus der Aktenmappe,
einen Grundriss des Geländes. Man sieht darauf neun weiße
Rechtecke auf grünem Grund. Häuser mit insgesamt 520 Miet-
wohnungen sollen hier entstehen, hell, modern, erschwinglich.
»Die fügen sich ganz organisch in die Landschaft ein«,
schwärmt Soehlke. Die Wohnungen sind für Menschen be-
stimmt, die in Tübingen dringend gebraucht werden: Pflege-
kräfte und Pflegeschüler des Uni-Klinikums.
Die Klinik liegt nicht weit von der Brache entfernt. Sie zählt
zu den berühmtesten der Republik, jedes Jahr werden dort rund
450.000 Patienten behandelt. Sie hat modernste Labore und
millionenschweres Hightechgerät. Nur eines hat sie nicht, zu-
mindest nicht genug: Personal, das die Kranken pflegen und die
Geräte bedienen kann. Regelmäßig werden deshalb Betten ge-
sperrt, gibt es Engpässe im OP-Betrieb und in den Laboren.
Um Fachkräfte anzulocken, hat die Klinik unter anderem die
Gehälter erhöht. Eine Pflegeschülerin im ersten Lehrjahr bekam
vor zehn Jahren rund 1000 Euro. Heute sind es 1370 Euro. Ein
deutliches Plus. Doch es schrumpft sehr schnell zusammen,
wenn man bedenkt, dass etwas anderes ähnlich stark gestiegen
ist: das Tübinger Mietniveau. Bis 2030 rechnet Cord Soehlke
mit einer weiteren, noch stärkeren Zunahme. »Das bereitet
mir schlaflose Nächte«, sagt er.
Wer sich in Deutschland für eine Wohnung bewirbt, muss
in der Regel nachweisen, dass er netto mindestens dreimal so
viel verdient wie die Monatsmiete. Eine Pflegeschülerin hätte
also kaum mehr als 350 Euro für ein Zimmer in Tübingen. Auf
den einschlägigen Online-Portalen findet man mit diesem
Budget fast nichts. Ein 13-Quadratmeter-Zimmer in der Süd-
stadt: 540 Euro. Eine Einraumwohnung im Hochhausviertel
Waldhäuser-Ost: 640 Euro. Ein möbliertes Einzimmerapart-
ment in Uni-Nähe: 840 Euro. Sogar für mehr als 1000 Euro
werden möblierte Zimmer und winzige Wohnungen angeboten.
Der Vorstandschef der Uni-Klinik, ein renommierter Krebs-
forscher namens Michael Bamberg, bezeichnet die hohen Mieten
als »erheblichen Standortnachteil bei der Rekrutierung von Fach-
Fotos: Max Slobodda für DIE ZEIT; Ilkay Karakurt für DIE ZEIT (r.)

kräften«. Zwar könne man auf den Dörfern noch einigermaßen

günstig wohnen. Doch nicht alle seien gut an Bus oder Bahn
angebunden. Und nicht jeder sei bereit, die lange Anfahrt auf
sich zu nehmen. Erst recht nicht, wenn man im Schichtdienst
arbeitet und erst tief in der Nacht aus der Klinik kommt.
In der vergangenen Woche wies die Online-Plattform Immo-
Scout24 auf »dramatische Entwicklungen« auf dem deutschen
Mietmarkt hin. Man beobachte »extreme Anstiege, die so nie
da gewesen sind«. In Berlin warnen Experten vor einer »Mieten-
explosion«. In München hat die Sozialreferentin die »Katastro-
phe« ausgerufen. Was dabei oft vergessen wird: Es trifft längst
nicht nur die Metropolen. Auch in Städten wie Münster, Leip-
zig oder Paderborn sind die Mieten stark gestiegen. Deutlich
stärker als das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung.
Cord Soehlke sagt, nicht ohne Stolz: »Tübingen boomt.«
Blick auf die Tübinger Altstadt. Oben rechts: Nahe der Uni-Klinik soll günstiger Wohnraum für Pflegekräfte entstehen Jedes Jahr wächst die Stadt um etwa tausend Menschen,
90.000 wohnen jetzt hier. Es sei deshalb klar, sagt Soehlke,
dass nicht jede Krankenschwester in zentraler Lage leben
kann. Klar sei aber auch, dass die Stadt ein Problem be-
kommt, wenn im Zentrum nur noch Menschen mit einem
Gehalt auf Chefarztniveau wohnen. Wer kümmert sich um
die Kranken, wenn die Pflegekräfte des Pendelns müde wer-

5 0 Q UA D R AT M E T E R , 310 0 E U RO
den? Wer passt auf die Kinder auf, wenn keine Erzieherin
weit draußen auf dem Dorf leben will? Wer backt die Bröt-
chen, wenn kein Lehrling bereit ist, morgens um halb drei
aufzustehen, damit er pünktlich um vier in der Backstube
steht? Wer kehrt die Straßen, putzt die Büros, erledigt all die
Jobs, für die sich schon heute kaum noch Personal auftreiben
In Deutschland fehlen Hunderttausende Wohnungen, vielerorts explodieren die Mieten. lässt? Die Mietenexplosion ist nicht nur ein Problem für jene,
die gerade eine Wohnung suchen. Sie gefährdet die Funk-
Selbst kleinere Städte sind für Normalverdiener unbezahlbar geworden. tionsfähigkeit der gesamten Stadt.

Auf der Suche nach Erklärungen im schwäbischen Tübingen VON CATERINA LOBENSTEIN Fortsetzung auf S. 16
 16
50 Quadratmeter, 3100 Euro Fortsetzung von S. 15
In Tübingen haben mittlerweile 40 Prozent der Haushalte
Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein, also auf eine
Sozialwohnung. Immer mehr Menschen mit mittlerem Ein-
kommen, insbesondere Familien, hätten »erhebliche Schwierig-
keiten, sich aus eigener Kraft mit angemessenem Wohnraum zu
versorgen«, heißt es im städtischen Sozialbericht. Als vierköpfi-
ge Familie zählt man selbst mit einem Haushaltseinkommen
von rund 70.000 Euro brutto zu diesem Kreis der Bedürftigen.
Sozialwohnungen waren eigentlich mal dazu gedacht, Här-
tefälle aufzufangen: Menschen ohne Arbeit, Alleinerziehende
ohne Unterhalt, Alte, deren Rente nicht zum Leben reicht. In
Tübingen, einer jungen Stadt, in der beinahe Vollbeschäftigung
herrscht, ist die Mitte der Gesellschaft zum Härtefall geworden.
Fragt man Politiker, was sie gegen Wohnungsmangel und
hohe Mieten in Deutschland tun wollen, hört man meist
dieselbe Antwort. »Bauen, bauen, bauen«, empfiehlt die
FDP. »Bauen, bauen, bauen«, fordert auch die CDU. Bun-
desbauministerin Klara Geywitz von der SPD ließ sich sogar
auf eine Zahl festlegen: 400.000 neue Wohnungen sollten in
Deutschland pro Jahr entstehen. Das Angebot vergrößern
und so dafür sorgen, dass auf dem Mietmarkt die Preise sin-
ken: Das wird als Strategie verkündet.
Wenn es nur so einfach wäre.
B R E I T E R W E G 3 – 17
Fotos: Ilkay Karakurt für DIE ZEIT
Sieben Jahre Planung: Die Baustelle am Breiten Weg
Auf der Brache hat sich der Bagger in Bewegung gesetzt. Er
schlägt die Schaufel ins Gestrüpp. Eine Motorsäge heult auf,
Äste krachen zu Boden. Cord Soehlke kramt sein Handy her-
vor und macht ein paar Fotos. Heute werden hier am Hang
die ersten Bäume gefällt. »Endlich«, sagt Soehlke.
Die Idee, hier Wohnhäuser zu bauen, ist alles andere als neu.
Schon 2016 trat der Klinikchef damit an die Stadt heran. Soehl-
ke sagte seine Unterstützung zu, die Klinik begann mit den Pla-
nungen. Sogar eine Adresse wurde festgelegt: Breiter Weg 3–17.
Warum aber sind bis heute nicht mal Baugruben ausgehoben?
Wer in Deutschland Wohnraum schaffen will, muss mit
vielen Hürden kämpfen. Mit dem Mangel an Ingenieuren
und Handwerkern. Mit den steigenden Zinsen und Baustoff-
preisen. Und mit unzähligen Vorschriften: Gesetze des Bun-
des und der Länder, Verordnungen der Kommunen, Emp-
fehlungen der Baustoffhersteller, Normen der Industrie.
Mehr als 3600 Regeln müssen laut der Bundesarchitekten-
kammer beim Bau eines Wohnhauses beachtet werden.
Die Landesbauordnung zum Beispiel. Sie schreibt für
Mehrfamilienhäuser einen bestimmten Anteil rollstuhl-
gerechter Wohnungen vor. Die Klinik muss deshalb teure
Sonderanfertigungen einplanen: breitere Flure, größere Ba-
dezimmer. Das Geld wäre gut investiert, würden die barriere-
freien Wohnungen tatsächlich gebraucht. Doch die Mieter
werden ausschließlich Menschen sein, die in der Pflege ar-
beiten; Menschen, die körperlich hochbelastbar sind. Cord
Soehlke sagt, die Wahrscheinlichkeit, dass am Breiten Weg
mal ein Rollstuhlfahrer einziehe, gehe gegen null.
Oder das Landeswaldgesetz. Es verpflichtet die Klinik, für
jeden Baum, der auf dem Grundstück gefällt wird, einen
neuen zu pflanzen. Der grün geprägte Soehlke findet das
richtig. Doch um eine andere Fläche entsprechend aufzufors-
ten, bedarf es einer Genehmigung. Und die, erklärt Soehlke,
werde von den zuständigen Landesbehörden nur selten er-
teilt. Bis die Klinik sie endlich bekam, seien Jahre vergangen.
So verstrich die Zeit. Die Bauplaner der Klinik wälzten
Gesetzestexte, befolgten Vorgaben zum Natur- und Arten-
schutz, zum Schall-, Brand- und Bodenschutz, zum Erd-
beben- und Hochwasserschutz. Etwa 20 Gutachten ließen
sie erstellen. Neun dicke Leitz-Ordner haben sie damit über
die Jahre gefüllt. Und immer, wenn es so aussah, als hätten
sie alles beisammen, tauchte ein neues Hindernis auf.
Einmal, da war die Planung schon weit fortgeschritten,
meldete sich ein Beamter des örtlichen Baurechtsamts. Er sei
da auf ein Problem beim Schallschutz gestoßen: den Ret-
tungshubschrauber, der ab und zu zur Klinik fliegt. Zu die-
sem Zeitpunkt gab es längst ein Gutachten, das den Hub-
schrauberlärm als unbedenklich eingestuft hatte. Der Beamte
aber blieb dabei. Hätte er sich durchgesetzt, wäre ein Passus
der DIN 4109 zur Geltung gekommen, der Schallschutz-
norm für den Hochbau. Er besagt, dass Mietern in fluglärm-
belastetem Gebiet nicht zugemutet werden darf, zum Lüften
die Fenster zu öffnen. Die Klinik hätte deshalb eine Belüf-
tungsanlage einbauen müssen – und damit eine ganze Kas-
kade von teuren Folgemaßnahmen in Gang gesetzt.
Der Einbau der Anlage erfordert zum Beispiel breitere
Lüftungsschächte und höhere Decken. Das wiederum ver-
größert die Fläche der Außenwand, was einen Mehrbedarf an
Stahlbeton nach sich zieht. Dieser ist in der Herstellung
äußerst energieintensiv, was die CO₂-Bilanz des Gebäudes
trübt, für die ebenfalls strenge Regeln gelten – und so weiter.
Cord Soehlke konnte die Sache mit dem Hubschrauber auf
dem kurzen Dienstweg klären. Bei vielen anderen Vorschriften
DOSSIER
geht das nicht. So verzögert sich der Bau eines Wohnhauses oft
um viele Jahre. Und wird dabei immer teurer. Ursprünglich
hatte die Tübinger Klinik 48 Millionen Euro eingeplant. Mitt-
lerweile sind es mehr als 70 Millionen.
Politiker fordern seit Jahren, das Regelwerk zu entschla-
cken. Es gibt eine Baukostensenkungskommission, die Bun-
desregierung hat sogar ein »Bündnis bezahlbarer Wohnraum«
einberufen. Das Problembewusstsein ist da. Aber es ändert
sich wenig. Wenn es drauf ankommt, ist das Thema irgend-
wie nie wichtig genug.
Als kürzlich der Koalitionsausschuss in einer Mammutsit-
zung beriet, wie sich die Planung wichtiger Infrastruktur be-
schleunigen ließe, versprachen die Ampelparteien für alles
Mögliche ein »neues Deutschlandtempo«: für den Bau von
Solaranlagen, von Windrädern, von Autobahnen. Über den
Bau von Wohnungen verloren sie kein Wort.
Wie schnell es gehen könnte, zeigte sich im Dezember, als in
Wilhelmshaven das erste deutsche Flüssiggasterminal eröffnet
wurde, nach nicht mal 200 Tagen Planungs- und Bauzeit. »Das
ist Weltrekord!«, jubelte der Bundeskanzler. Zuvor hatte er mit-
hilfe eines »LNG-Beschleunigungsgesetzes« die Bauvorschriften
vereinfachen lassen. Zur Einweihung stellte er sich in gelber
Warnjacke und weißem Schutzhelm vor die Kameras. »Wenn
wir uns unterhaken«, sagte Scholz, »schaffen wir es auch in
kürzester Zeit, solche großen Aufgaben zu bewältigen.« Vor
einem zügig errichteten Mietshaus hat der Kanzler bislang nicht
posiert. Auf seiner Regierungsagenda, so scheint es, ist die zen-
trale soziale Frage unserer Zeit zur Nebensache geschrumpft.
Bauen, bauen, bauen – hier am Hang über den Dächern
von Tübingen zeigt sich, warum das Rezept nicht wirkt. Das
Angebot an neuem Wohnraum wächst im Schneckentempo.
Die Nachfrage aber galoppiert davon. Und weil das so ist,
können Wohnungsanbieter auch weiterhin hohe Mieten ver-
langen. Zumindest, solange man sie lässt.
ULRICHSTR ASSE 24
Läuft man von dem Berg, auf dem die Klinik thront, hinunter
ins Tal, gelangt man in die Tübinger Altstadt. Über verwinkel-
te Treppen geht es hinab, bis man am Ufer des Neckars auf den
Turm stößt, in dem einst der umnachtete Hölderlin in einem
möblierten Zimmer wohnte. Überquert man den Fluss, erreicht
man bald die Tübinger Südstadt. Sanierte Altbauten mit bunten
Fensterläden, Gärten mit blühenden Apfelbäumen, Eltern auf
Lastenrädern – das Klischee einer grünen Uni-Stadt. Und eine
Goldgrube für Investoren.
Regina Schöller kauft noch schnell eine Flasche Milch,
dann schließt sie die Haustür auf. Ein historisches Eckhaus
mit Klinkerfassade. Zwei Haushälften, jeweils drei Wohnun-
gen. Im Erdgeschoss ein Steuerberaterbüro und eine Bäcke-
rei, die noch selber backt. »Hereinspaziert!«, ruft Regina
Schöller in schwäbischem Singsang.
Schöller, eine Frau mittleren Alters, heißt eigentlich an-
ders. Sie fürchtet Ärger mit ihrem Vermieter und will deshalb
unerkannt bleiben. In ihrer Wohnung angekommen, klappt
sie den Laptop auf. Daneben liegen das Mieterlexikon und ein
Stapel eng bedrucktes Papier. Schöller hat dokumentiert, was
mit ihrem Haus geschehen ist.
Vor gut zwei Jahren, erzählt sie, starb die langjährige
Eigentümerin, eine alte Dame. Kurz darauf fand Regina
Schöller ein Schreiben der beiden Erben im Briefkasten: Ein
Immobilienfachmann werde sich demnächst die Wohnun-
gen anschauen. An einem Freitag wurde die Eigentümerin
bestattet. Einen Tag später, am Samstag, stand ein Makler vor
der Tür. »Die alte Dame war noch nicht unter der Erde, da
ging die Maschine schon los«, sagt Regina Schöller.
Die Maschine – damit meint Schöller die Wertschöp-
fungskette, die sich mit dem Verkauf einer Immobilie in
Gang setzen lässt. In der Ulrichstraße 24 funktionierte sie so:
Im Frühjahr 2021, wenige Monate nach dem Tod der Eigen-
tümerin, brachte der Makler das Haus im Namen der Erben
auf den Markt, für rund zwei Millionen Euro. Den Zuschlag
bekam ein Bieter namens Terra Consult, eine kleine Immo-
bilienfirma aus Stuttgart. Deren Geschäftsführer kaufte eine
der beiden Haushälften als persönliche Geldanlage. Die
andere ging in den Besitz von Terra Consult über. Die Firma
war fortan der neue Vermieter von Regina Schöller. Zur
Begrüßung schickte Terra Consult einen Brief. Und erhöhte,
da, wo es ging, die Miete.
Wer viel Geld für ein Haus bezahlt, muss dafür sorgen,
dass der Kauf sich rechnet. José Diaz, der Geschäftsführer
von Terra Consult, sagt: »Wir schauen da natürlich, was mög-
lich ist.« Möglich ist laut Gesetz einiges. Zum Beispiel kann
der Hauseigentümer die Miete alle drei Jahre um 15 Prozent
erhöhen. In manchen Städten sogar um 20 Prozent. Dabei
darf zwar die ortsübliche Vergleichsmiete, die im Mietspiegel
festgeschrieben wird, nicht überschritten werden. Doch die
ist keine fixe Größe, sondern geht seit Jahren durch die
Decke. Deshalb wird der Mietspiegel von einigen Experten
auch »Mieterhöhungsspiegel« genannt.
Zerstückelt und verkauft: Ulrichstraße 24
Haus kaufen, Miete erhöhen, Gewinn einstreichen. So sieht,
grob formuliert, die Wertschöpfungskette aus. Allerdings sind
Immobilien mittlerweile derart teuer, dass sich der Kaufpreis
selbst mit üppigen Mieten schwer aufwiegen lässt. Der Chef
von Terra Consult verfolgt deshalb noch eine zweite Strategie:
den Weiterverkauf. »Wir hatten nie vor, das Haus lange zu be-
halten«, sagt er. Ende 2022 bot Terra Consult die Haushälfte,
in der Regina Schöller wohnt, im Internet an. Nicht am Stück,
sondern scheibchenweise, aufgeteilt in Einzelwohnungen. Da-
mit lasse sich am meisten Gewinn erzielen, erklärt Diaz. Allein
für eine der Wohnungen, 88 Quadratmeter groß, verlangte er
knapp 400.000 Euro.
Auf der Homepage von Terra Consult prangt ein Leitspruch:
»Die Kunst, Werte zu entwickeln«. Es scheint, als beherrsche
José Diaz diese Kunst ziemlich gut. Das Kerngeschäft von Fir-
men wie seiner ist nicht die dauerhafte Vermietung von Wohn-
raum. Sondern die schnelle Vermehrung von Geld.
Die Folge: Jedes Jahr werden in Deutschland Abertau-
sende Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewan-
delt. Es wird also nicht nur zu wenig und zu langsam gebaut,
es werden dem Markt auch noch Mietwohnungen entzogen.
»Warum fehlt es an bezahlbaren Wohnungen?«, fragt Regina
Schöller. »Weil es zu wenig Angebot gibt. Und warum gibt es
zu wenig Angebot? Weil es vernichtet wird.«
In Tübingen haben sich die Kaufpreise für Wohnungen
seit 2010 mehr als verdoppelt, von 2900 Euro pro Quadrat-
meter auf über 6000 Euro. Nun, da die Bauzinsen steigen,
haben nur noch Käufer mit sehr viel Eigenkapital eine
Chance. Davon gibt es einige in der wohlhabenden Region.
Da sind aber eben auch die Gering- und Normalverdiener,
die sich eine Eigentumswohnung nicht leisten können. Ihnen
bleibt nur der Mietmarkt, auf dem es immer enger wird.
Regina Schöller sagt, die ersten Wohnungen in ihrem Haus
seien mittlerweile verkauft. Einer der Käufer habe bereits
Eigenbedarf angemeldet. Die Bewohner müssen also spätestens
in ein paar Jahren raus.
Wenn in Deutschland über hohe Mieten gestritten wird,
dann geht es oft um globale Immobilieninvestoren und über-
mächtige Wohnungskonzerne. In der Ulrichstraße 24 wird
klar: Manchmal reichen zwei Erben und eine kleine Firma,
um die Preise nach oben zu treiben. Deutschlandweit sind
nicht einmal zehn Prozent der Mietwohnungen in der Hand
großer Konzerne. Zwei Drittel gehören Privatpersonen.
Einer, der den Tübinger Mietmarkt seit vielen Jahren be-
obachtet, ist der Grünen-Politiker Christian Kühn. Er sitzt für
Tübingen im Bundestag und war mal wohnungspolitischer
Sprecher seiner Fraktion. Kühn glaubt: »Wir haben uns viel zu
lange in ideologischen Grabenkämpfen verrannt.« Die einen
würden sich auf die Enteignung der Konzerne versteifen, die
anderen beim kleinsten Regulierungsversuch »Sozialismus!«
schreien. »Statt über Maximalforderungen zu streiten, sollten
wir dort nachschärfen, wo es schon Gesetze gibt«, sagt Kühn.
Gesetze, die sich verschärfen ließen, gibt es aus Sicht der
Mieter genug. Die Mietpreisbremse zum Beispiel. Sie soll
eigentlich verhindern, dass Wohnungen bei einem Mieter-
wechsel zu teuer werden. Aber sie bietet derart viele Schlupflö-
cher, dass sie in der Praxis nur selten funktioniert. Oder der
Wucherparagraf. Er ist so zahnlos, dass er selbst bei exorbitanten
Mieten nicht greift. Oder die Indexmieten, die in Zeiten hoher
Inflation einfach immer weiter steigen. Man könnte auch die
Berechnung des Mietspiegels reformieren. Oder die Umwand-
lung von Mietwohnungen in Eigentum erschweren.
Zuständig für das Mietrecht ist der FDP-Justizminister und
frühere Wirtschaftsanwalt Marco Buschmann. Man lehnt sich
nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn man behauptet: Zu
seinen Herzensthemen gehört der Schutz der Mieter nicht. Bis-
lang hat er nicht einmal jene Vorhaben umgesetzt, auf die sich
die Ampelparteien im Koalitionsvertrag geeinigt hatten. Bau-
ministerin Klara Geywitz von der SPD soll ihm bereits »Amts-
hilfe« angeboten haben, so erzählt man es in ihrem Haus.
Erkundigt man sich im Justizministerium nach dem
Grund für die Verzögerung, sagt ein Sprecher: Buschmann
stehe »selbstverständlich« hinter dem Koalitionsvertrag. Aber
solange die Kollegen sich ihrerseits gegen Absprachen sperr-
ten, werde er sich nicht bewegen. Wohnungspolitiker aller
drei Ampelparteien erklären die Blockade so: Beim Streit um
ein völlig anderes Thema, die Vorratsdatenspeicherung, hät-
ten die Sozialdemokraten den Liberalen nicht die gewünsch-
ten Zugeständnisse gemacht. Deshalb sperre sich die FDP
nun beim Mietrecht. So wird die zentrale soziale Frage unse-
rer Zeit beim Poker der Koalitionsparteien verzockt.
K A R L S T R A S S E 11
Zehn Minuten Fußweg von Regina Schöllers Haus entfernt, in
einer Fahrradstraße in der Innenstadt, gelangt man zu einem
Neubau mit umlaufenden Balkonen. »Cloud No 7« steht am
Eingang, Wolke sieben. So heißt das Unternehmen, dem das
Gebäude gehört. Bis vor Kurzem befand sich hier eine Baulücke,
eine der wenigen, die es in Tübingen noch gibt.
Man hätte in eine Lücke wie diese alles Mögliche bauen
können. Ein Wohnhaus für die Pflege-Azubis der Uni-Klinik
zum Beispiel. Tatsächlich sind hier Dutzende Apartments ent-
standen. Ihre Bewohner jedoch sehen eher nicht wie Azubis aus.
Ein gewöhnlicher Wochentag. Ein älteres Ehepaar nähert
sich dem Eingangstor, sie mit teurer Handtasche, er mit Stock
und Hut. Sie halten eine Chipkarte vor ein Lesegerät, mit sanf-
tem Surren öffnet sich das Tor. Drinnen verschwindet gerade
ein Herr mit Rollkoffer im Lift. In der ersten Etage schiebt ein
Zimmermädchen einen Putzwagen von Tür zu Tür. In den
Wohnungen hinter den Türen: weiße Wände, weiße Fronten,
Decken aus Sichtbeton. In den Küchen Spülmaschine und In-
duktionsherd. In den Badezimmern Bio-Shampoo, Duftrich-
tung »Damaszener Rose, schwarzer Pfeffer und Salbei«.
Sind das überhaupt noch Wohnungen? Oder schon Hotel-
zimmer? Irgendwas dazwischen, heißt es an der Rezeption,
exclusive serviced apartments sei der Fachbegriff. Für eines dieser
Apartments, 50 Quadratmeter groß, zahlt man inklusive WLAN
und Reinigungsservice 3100 Euro im Monat. Ab dem vierten
Monat erhält man einen Rabatt. Dann sind es 2690 Euro.
»Die perfekte Alternative zum Wohnung mieten in Tübin-
gen«, so wirbt Cloud No 7. Ideal, um »den Kopf für die Ge-
schäftsidee, das Business oder andere wichtige Dinge freizuha-
ben«. Die Zielgruppe: Touristen, Geschäftsreisende, solvente
Gastwissenschaftler. Buchbar sind die Apartments für wenige
Tage, aber auch für länger. »Vermietung zum vorübergehenden
Gebrauch« nennt sich diese Wohnform juristisch. Sie entbindet
den Eigentümer von lästigen Vorgaben: der Mietpreisbremse,
dem Kündigungsschutz. Und sie scheint sich zu lohnen. In
vielen Städten sind zuletzt ähnliche Apartmenthäuser entstan-
den. Auch Privatvermieter nutzen den Trick mit dem Wohnen
auf Zeit, über Plattformen wie Airbnb oder Wunderflats.
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Für Zahlungskräftige: Karlstraße 11
Ein anderer Trick, der immer beliebter wird: möbliert ver-
mieten. Für Einrichtungsgegenstände darf der Vermieter
eine Pauschale verlangen, doch weil kaum jemand prüft, ob
sie angemessen ist, reicht manchmal schon eine Ikea-Couch,
um die Monatsmiete um etliche Hundert Euro anzuheben.
Ein dritter Trick: Studenten-WGs. Man nehme eine Vier-
zimmerwohnung und vermiete jedes Zimmer einzeln – dabei
verdient man deutlich mehr, als wenn man dieselbe Wohnung
einer vierköpfigen Familie gäbe. Studenten-WGs, warnte die
Stadt Tübingen schon vor Jahren in ihrem Wohnraumbericht,
»stechen einkommensschwache Gruppen in der Bewerbung um
die Wohnungen aus«. Kürzlich wurde in der Südstadt eine alt-
eingesessene Familie von Studenten verdrängt. Es sei zu »hand-
greiflichen Auseinandersetzungen« gekommen, berichtete das
Schwäbische Tagblatt. Früher waren WGs in teuren Städten die
Lösung. Heute sind sie Teil des Problems.
Der Baubürgermeister Cord Soehlke nennt die Apartments
in der Karlstraße »Gelddruckmaschinen«. Er sagt, er hätte die
Baulücke gern anders genutzt. Bei städtischen Grundstücken
darf die Kommune entscheiden, wer sie bekommt. In Tübingen
erhalten dann meist Baugruppen oder Genossenschaften den
Zuschlag statt gewinnorientierter Investoren. Die Karlstraße 11
jedoch liegt auf privatem Bauland. Soehlke setzt sich schon
länger dafür ein, dass die Kommunen auch in solchen Fällen
mitreden dürfen. Dafür jedoch bräuchte es schärfere Gesetze.
Soehlke hat Architektur studiert. Er weiß, dass Häuser nicht
nur das Erscheinungsbild, sondern auch das soziale Gefüge einer
Stadt bestimmen. »Nur bauen reicht nicht«, sagt er. »Wir müs-
sen auch entscheiden, was und für wen wir bauen.«
M A X-PL A NCK-R I NG 4
Auf einer Anhöhe im Tübinger Norden, fernab der histori-
schen Altstadt, kann man einen Ausflug in die Zukunft unter-
nehmen. Eine Zeit, in der die Verteilungskämpfe um Wohn-
raum vermutlich noch härter werden. Hier stehen nagelneue
Firmenzentralen und Laborgebäude, vor manchen Eingängen
sieht man meterhohe Stickstofftanks. Am Max-Planck-Ring
4 erhebt sich eine anthrazitgraue Fassade: das Max-Planck-
Institut für intelligente Systeme, wo Ingenieure und Wissen-
schaftler modernste Roboter konstruieren.
Das Institut ist das Herz des »Cyber Valley«, eines Verbunds
aus Tech-Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Amazon
betreibt hier ein Labor für künstliche Intelligenz. In der Nähe
hat CureVac seinen Sitz, das Unternehmen, das beinahe den
ersten Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt hätte. Dahinter
beginnt eine Baustelle. In den nächsten Jahren soll an diesem
Ort das größte KI-Forschungszentrum Europas entstehen.
Ab und zu spazieren Leute über den Campus. Sie spre-
chen Englisch, kommen aus Osteuropa, Indien, China. Die
hoch qualifizierten Fachkräfte, die jede deutsche Stadt sich
wünscht – Tübingen hat sie längst. Die Firmen, für die sie
arbeiten, bescheren der Stadt hohe Steuereinnahmen. Doch
die Gehälter, die sie verdienen, erhöhen zugleich den Druck
auf dem Wohnungsmarkt. Dort sind die Spitzenforscher und
KI-Ingenieure den Pflegekräften und Erzieherinnen überle-
gen. Kürzlich waren hier um die Ecke Apartments im Ange-
bot: 25 Quadratmeter für mehr als 200.000 Euro. »Das ist
der Fluch des Booms«, sagt Cord Soehlke.
Das »Cyber Valley« hat auch eine Kita. Sie heißt »Planckton«,
und wie in fast allen Tübinger Kindergärten fehlt es auch hier
an Erzieherinnen. Die Personalnot in den Kitas machte vor
Kurzem bundesweit Schlagzeilen, denn die Stadt hatte ange-
kündigt, die Öffnungszeiten radikal zu kürzen. Auch die Kita
Planckton warnt auf ihrer Homepage vor »drastischen« Schließ-
zeiten. Fragt man die Leiterin Ylenia Schiavone nach dem Grund
für den Mangel, nennt sie, unter anderem, die hohen Mieten:
»Mit dem Gehalt einer pädagogischen Fachkraft kann man sich
in Tübingen keine Wohnung leisten.«
In einer Art verzweifelter Gegenwehr lässt die Stadt gerade
für zehn Millionen Euro 70 Apartments bauen. Wenn sie fertig
sind, sollen dort Erzieherinnen leben. So wie nahe der Klinik
bald Pflegekräfte einziehen sollen. Die Wohnungen, die Tübin-
gen am nötigsten hat – sie werden nicht von privaten Bauherren
geschaffen, sondern vom Staat. »Wir sehen keine andere Chan-
ce mehr«, sagt der Oberbürgermeister Boris Palmer. »Der Miet-
wohnungsmarkt hat versagt. Und die Kommune bügelt es aus.«
Die Bundesregierung hat vor einiger Zeit eine »Fachkräfte-
offensive« ausgerufen. Mithilfe qualifizierter Migranten will sie
den Wohlstand des Landes bewahren. Doch es gibt einen blin-
den Fleck: Die Offensive wird bislang kaum von wohnungs-
politischen Maßnahmen flankiert. Das gilt auch für jene Men-
schen, deren Zuzug nach Deutschland deutlich umstrittener ist.
Einige Autostunden entfernt vom »Cyber Valley«, im
badischen Lörrach, eskalierte Ende Februar ein Streit, der –
ähnlich wie das Tübinger Kita-Problem – im ganzen Land
durch die Presse ging. Alteingesessene Mieter, darunter Rent-
ner und Geringverdiener, sollten dort ihre Wohnungen für
Geflüchtete räumen. Angesichts der Ankunft zahlreicher
Menschen aus der Ukraine und anderen Ländern hatte die
städtische Wohnungsbaugesellschaft einen Brief verschickt:
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
»Für Sie bedeutet das, dass wir in Kürze das mit Ihnen verein-
barte Mietverhältnis kündigen werden.«
Der Lörracher Bürgermeister betonte zwar, dass die Mie-
ter ohnehin aus den maroden Häusern hätten ausziehen
müssen; auch werde für neue Wohnungen gesorgt. Der Shit-
storm aber war da längst im Gang. Lokalpolitiker der AfD
zogen vor die Wohnhäuser, im Bundestag beraumte die Par-
tei eine Aktuelle Stunde an. »Alte und sozial schwächer
Gestellte werden einfach aus den Wohnungen geworfen!«,
schäumte der AfD-Redner. »Deutschland hat Eigenbedarf!«
Der SPD-Abgeordnete, der danach ans Rednerpult trat,
bezichtigte seinen Vorredner der Hetze. Zur Sicherheit schob
er noch einen Nazi-Vergleich hinterher. Kein Wort verlor er zum
tatsächlich bestehenden Wohnungsmangel. Keine Erklärung
zu den Versäumnissen auch seiner Partei, wenn es um Wohn-
raum für Menschen mit niedrigen Einkommen geht.
Im Berliner Politikbetrieb setzte sich die Lesart durch, die
Verantwortlichen in Lörrach hätten lediglich ein bisschen un-
geschickt agiert. Als ginge es um Stil-, nicht um Verteilungs-
fragen. Die Sache wurde als Kommunikationsdesaster verbucht.
Der Tübinger Baubürgermeister Cord Soehlke hat den Streit
in Lörrach aus der Ferne mitbekommen. Er sagt: »Das ist kein
Kommunikationsdesaster. Das ist ein reelles Ressourcendesaster.«
Auch er habe manchmal nicht mehr gewusst, wo all die Flücht-
linge unterkommen sollen. »Wir waren ja vorher schon im
anaeroben Bereich, wir hatten keine freien Wohnungen mehr.«
H EGE LST R ASSE 21–31
Unweit des Tübinger Hauptbahnhofs, am Rande einer lau-
ten Bundesstraße, steht ein elfgeschossiger Plattenbau. Die
Fassade ist waschbetongrau, vor den Eingängen türmen sich
Müllbeutel. Man sieht es dem Haus nicht an, aber es war mal
Teil eines spektakulären Milliardendeals. Einer gigantischen
staatlichen Wohnraumverteuerungsinitiative.
Vor gut einem Jahrzehnt, im Winter 2012, wurde in der
Landeshauptstadt Stuttgart der Verkauf eines Immobilien-
pakets verhandelt. Es ging um rund 20.000 Wohnungen, in
denen 60.000 Menschen lebten. Sie gehörten dem Land
Baden-Württemberg, genauer: der Landesbank. Gut 500
dieser Wohnungen befinden sich in Tübingen, viele davon in
dem Plattenbau in der Hegelstraße und weiteren Häusern
nebenan. Damals, nach der Weltfinanzkrise, war die Landes-
bank wegen riskanter Geschäfte am Rande der Pleite. Der Staat
versprach Milliardenhilfen. Um an das Geld zu kommen,
musste die Bank eine Bedingung erfüllen: Sie sollte sich von
ihren Immobilienbeständen trennen.
Was nun folgte, nannte das Handelsblatt »einen der größ-
ten Immobiliendeals der jüngeren Vergangenheit«. Ein Inves-
tor aus Augsburg kaufte der Landesbank die 20.000 Woh-
nungen ab. Für 1,4 Milliarden Euro. Damals waren deutsch-
landweit bereits Zehntausende staatliche Wohnungen priva-
tisiert worden, darunter viele Sozialwohnungen. In Dresden
und Berlin, in Bayern, Thüringen und anderswo.
Deutschlands Kommunen waren hoch verschuldet. Zugleich
gingen Deutschlands Politiker davon aus, dass die Bundesrepu-
blik schrumpft. Die Statistikämter hatten Jahr für Jahr sinkende
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DOSSIER
Geburtenraten vermeldet, Forscher vor einer Greisenrepublik
gewarnt. Die Nachfrage nach Wohnraum schien gesättigt.
»Deutschland ist fertig gebaut«, lautete das Credo.
Ungefähr zu der Zeit, als in der Tübinger Hegelstraße das
Hochhaus unter den Hammer kam, bemerkten die ersten
Experten, dass mit dem Credo etwas nicht stimmt. Sie sahen
sich die Daten genauer an: Die Bundesbürger wurden zwar
weniger. Aber die Zahl der Städter und Singlehaushalte nahm
zu – und damit auch der Bedarf an Wohnungen. Außerdem
kamen immer mehr Menschen aus dem Ausland. Arbeitslose
Südeuropäer, die vor der Euro-Krise flohen. Osteuropäer, die
nun zur EU gehörten. Flüchtlinge aus dem Nahen Osten
und aus Afrika. Spätestens 2015 war klar: Auf dem Woh-
nungsmarkt vieler deutscher Städte wird es eng.
In jenem Jahr stieß der Augsburger Investor das Immobi-
lienpaket der Landesbank wieder ab. Für den Plattenbau in
der Hegelstraße und all die anderen Häuser erzielte er einen
Preis von 1,9 Milliarden Euro. Innerhalb von nur drei Jahren
hatte sich der Wert der Wohnungen um eine halbe Milliarde
Euro erhöht. Magische Geldvermehrung. Dieselbe Maschi-
ne, die auch im Haus von Regina Schöller am Werke war.
Befeuert wurde die Maschine durch die Politik der niedrigen
Zinsen. Mit ihnen versuchten Zentralbanken in aller Welt die
Folgen der Finanzkrise zu bekämpfen. Immobilien versprachen
auf einmal ungeahnte Renditen. Aus dem Plattenbau in der
Hegelstraße wurde das vielleicht kostbarste Gut jenes Jahrzehnts:
Betongold. Das Bevölkerungswachstum sorgte dafür, dass die
Wohnungsnachfrage auch bei steigenden Mietpreisen nicht ver-
ebbte. Und die zunehmend ungleiche Vermögensverteilung trug
dazu bei, dass selbst Häuser mit astronomischen Preisen weiter-
hin Käufer fanden. Auf dem Wohnungsmarkt hatte sich – aus
Sicht der Mieter – ein perfekter Sturm zusammengebraut.
Seine Wucht ist bis heute zu spüren.
Um Geringverdiener von solchen Stürmen zu verschonen,
gibt es auf dem Mietmarkt eigentlich eine Art geschützten
Raum: den sozialen Wohnungsbau. Dessen Bestand jedoch
hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren halbiert; auch in
der Hegelstraße wird er schrumpfen. Die Landesbank hatte
beim Verkauf zwar gefordert, die Sozialwohnungen zu
erhalten, doch die Vereinbarung läuft 2026 aus.
Das Hochhaus in der Hegelstraße ist heute in der Hand von
Vonovia, dem größten Wohnungskonzern des Landes. Wenige
Jahre nachdem der Konzern das Immobilienpaket gekauft
hatte, verzeichnete er Milliardengewinne, seinen Aktionären
schüttete er ordentliche Dividenden aus. Glaubt man Mieter-
initiativen, war Vonovia gegenüber den Bewohnern weniger
spendabel. Kaputte Fahrstühle, verdreckte Hauseingänge – das
habe in der Hegelstraße zum Service dazugehört.
Bis heute sieht das Hochhaus heruntergekommen aus. Uwe
Wulfrath sagt: »Hätten wir damals die Häuser gekauft, wären
die Wohnungen deutlich besser in Schuss. Und die Mieten güns-
tiger.« Wulfrath ist der Chef der GWG, einer städtischen Woh-
nungsbaugesellschaft in Tübingen. Auch sie hatte 2012 ein
Angebot für die 20.000 Wohnungen abgegeben, gemeinsam
mit der Stadt Stuttgart und anderen kommunalen Wohnungs-
anbietern. 1,1 Milliarden Euro hatten sie geboten, 300 Millio-
nen weniger als der private Investor. Staatlicher Wohnraum
sollte in staatlichen Händen bleiben. Das war die Idee. Sie war
in jenen Jahren nicht besonders en vogue.
4 Woche
n
GRATIS
Spricht man heute mit älteren Tübingern über die Häuser
in der Hegelstraße, sagen sie nicht: die Vonovia-Häuser. Sie
sagen: die Bahner-Wohnungen. Oder: die Klinik-Wohnun-
gen. Früher befanden sich hier Werkswohnungen der Uni-
Klinik und der Deutschen Bahn. Hier lebten genau jene
Normalverdiener, die heute oft vergeblich nach einer Woh-
nung suchen – und für die die Stadt nun teuer bauen muss.
NECKARBRÜCKE
Wenig Platz, viel Verkehr: Die Neckarbrücke
Ein Baurecht, so überfrachtet mit Vorschriften, dass kaum
noch gebaut wird. Ein Mietrecht, so voller Schlupflöcher, dass
immer mehr Normalverdiener verdrängt werden. Der anhal-
tende Zuzug von Fachkräften, Schutzsuchenden und anderen
Menschen. Was bleibt da einer Stadt?
Die Neckarbrücke, ein steinerner Bogen, der im Som-
mer mit Geranien geschmückt wird, ist ein Nadelöhr des
Tübinger Stadtverkehrs. Busse, Autos, Radfahrer, alle
drängen sich hier über den Fluss. Vor einigen Jahren be-
schloss der Gemeinderat, auf der Brücke Gleise zu verle-
gen. Für die neue Regionalstadtbahn, ein Milliardenpro-
jekt, das die umliegenden Dörfer ans Zentrum anbinden
soll. Die Bahn sollte hinauf zur Klinik führen, im
15-Minuten-Takt, damit Arbeitskräfte unkompliziert in
die Stadt gelangen und das Umland als Wohnort attrakti-
ver wird. Auch am Breiten Weg sollte die Bahn halten. So
17
war es geplant. Bis sich vor gut zwei Jahren eine Bürgerini-
tiative gründete: »Nein zur Tübinger Innenstadtstrecke«.
Sie organisierte einen Bürgerentscheid. 57 Prozent der
Tübinger stimmten gegen die Bahn.
Es ist in Tübingen nicht anders als in den meisten Städ-
ten. Jeder fordert, dass etwas gegen die hohen Mieten getan
wird. Aber kaum jemand nimmt dafür gern Unannehmlich-
keiten in Kauf. Den Baulärm und den Schmutz. Die Bäume,
die gefällt, die Freiflächen, die bebaut, die Gleise, die verlegt
werden müssen. Baubürgermeister Soehlke sagt, wann immer
ein neues Wohnhaus in Planung sei, lauere irgendwo ein
Nachbar, der vor Gericht zu ziehen droht.
B R E I T E R W E G 3 – 17
An einem Vormittag Ende März radelt Cord Soehlke den
Hang zur Uni-Klinik hinauf. Die Brache dort hat sich mitt-
lerweile in eine Baustelle verwandelt. Bulldozer planieren die
Erde, ein Strahlträgerbohrer ragt in den Frühlingshimmel.
Davor ist ein Pavillon mit einem Rednerpult aufgebaut.
Soehlke stellt sein Rad ab. Er schüttelt Hände, begrüßt
den Oberbürgermeister und den Chef der Uni-Klinik. Die
lädt an diesem Tag zum offiziellen Spatenstich. Jetzt werden
sie tatsächlich gebaut: die Wohnhäuser für die Pflegekräfte.
Die Lokalzeitungen haben Reporter geschickt, auch ein
Kamerateam ist gekommen.
Der Klinikchef Michael Bamberg tritt ans Rednerpult, er
dankt der Stadt für die Unterstützung. Auch Boris Palmer
spricht ein Grußwort. Dann will jemand wissen, wie viel die
Wohnungen eigentlich kosten sollen. Derzeit, erklärt Michael
Bamberg, plane man mit 21 Euro pro Quadratmeter. Das ist
der Preis, den die Klinik verlangen muss, um halbwegs die
Kosten zu decken. Ein Raunen geht durch die Menge.
Bezahlbar seien die Wohnungen trotzdem, versichert Bam-
berg. Aber nur, weil sie winzig sind: 14 Quadratmeter messen
die Apartments für die Pflege-Azubis.
Anderswo in Deutschland wird wegen der explodierenden
Kosten gar nicht mehr gebaut. Vonovia hat kürzlich angekün-
digt, sämtliche geplanten Neubauprojekte zu stoppen. Und die
Industrie lädt am Donnerstag dieser Woche zu einem Krisen-
gipfel. Vor einer »scharfen Rezession im Wohnungsbau« warnen
die Unternehmensverbände, vor einem »Gau am Bau«. Entwe-
der die Regierung reiße das Ruder noch herum, »oder wir erle-
ben ein wahres Desaster auf dem Wohnungsmarkt«.
Lange war der Mangel an Wohnraum nicht mehr so groß
wie heute. Doch die Nachfrage führt nicht zum Boom. Sie
führt zu harten Verteilungskämpfen. Mieter- und Sozialver-
bände fordern von Olaf Scholz mittlerweile ein Sonderver-
mögen: 50 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau.
Der Kanzler muss nun zeigen, wie wichtig sie ihm wirklich
ist, die zentrale soziale Frage unserer Zeit.
Als die Reden beendet sind, wird Cord Soehlke zu den
anderen nach vorn gerufen. Er wird vor einem Erdhaufen
postiert, aus dem der Griff eines Spatens ragt, und bekommt
einen Bauhelm übergestülpt. Die Fotografen zücken die
Kameras. Soehlke greift nach der Schippe. Setzt den Fuß an.
Und tritt zu.
Anbieter: ZEIT Akademie GmbH, Buceriusstraße, Hamburg
18
Zur Ausgabe Nr. 15
Alt werden –
Mensch bleiben
Interview: »Wann bin ich alt,
Herr Kruse?« ZEIT NR. 15
Das ist das Beste, was ich seit Langem über
das Alter(n) gelesen habe. Ich (85 Jahre) kann
bestätigen, was der Gerontologe Andreas
Kruse sagt: Ich habe mich nie jünger gefühlt.
Die Neugierde, der wunderbare Jungbrun-
nen, und die Fähigkeit zu staunen, die haben
nicht nachgelassen. Und der Political Cor-
rectness, dieser verdrießlichen Gouvernante
mit der hochgeschlossenen Bluse (sie ist echt
alt!), zeige ich die Zunge wie Albert Einstein.
LUDWIG ENGSTLER-BAROCCO, BONN
Wie gut, dass Emeritus Kruse die besonderen
Probleme von Demenzkranken anspricht. Sie
leben im normalen Altenheimbetrieb wegen
ihres Kontrollverlustes unter unzumutbaren
Bedingungen. Sie laufen weg, fallen aus dem
Rollstuhl, kommen mit den üblichen Mahl-
zeiten nicht zurecht. Wer setzt sich für sie ein,
wenn nicht diejenigen, die in Zukunft be-
troffen sein können, die noch fitten Senioren?
ANNET TE LUK AT, PER E-MAIL
Ich habe beruflich mit Demenz zu tun, und
ich ärgere mich so oft über die negativen Ste-
reotype (»da wäre ich lieber tot«, »am Ende
war er nur noch wie ein Möbelstück« oder
Ähnliches).
Professor Kruse bietet eine andere Logik an,
wenn er sagt, dass »eine Demenz ganz anders
ausgehalten werden könnte, wenn wir ent-
sprechende Bedingungen in der Pflege schaf-
fen würden«.
Zu erleben, dass Menschen mit einer
Demenzerkrankung weiterhin ein wertge-
schätztes Mitglied der Gesellschaft bleiben,
reduziert die Angst bei denen, die noch nicht
erkrankt sind. BARBAR A KLEE-REITER , KÖLN
Zu leicht im Ton
Simon Langemann: »Mein Name
ist Andrew Tate« ZEIT NR. 15
Ein Mann, der mit sexueller Ausbeutung von
Frauen ein Vermögen verdient hat, verkauft
zusätzlich Coachings mit misogynen Inhalten
an Männer, die sich auf solche Weise aufge-
wertet sehen möchten. Seine Strategie, junge
Frauen über psychische Abhängigkeit zu kon-
trollieren, wird Folgen für deren ganzes weite-
res Leben haben. Justizsysteme verschiedener
Länder scheitern an den Winkelzügen von
Anwälten, die sich mit dem Geld pornografi-
scher Geschäfte kaufen lassen.
Der leichte Ton des Texts steht im Missver-
hältnis zu den geschilderten Missständen.
TONIA ACKERMANN , PER E-MAIL
Wer braucht die seltsam ausgeschmückte
Beschreibung eines Mannes, der es auf krimi-
nellen Wegen zu Millionen brachte? Ich war
ein Leben lang Polizist – Beiträge dieser Art
möchte ich weder lesen noch bezahlen.
ADOLF SAUT TER , BAD WALDSEE
BEILAGENHINWEIS
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikationen
in einer Teilauflage: crescendo – das Klassik-
Magazin, 80331 München; Der Freitag Medienge-
sellschaft mbH & Co. KG, 10117 Berlin; In der
Auflage Christ & Welt: Renovabis Stiftung
Renovabis e.V., 85354 Freising
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LESERBRIEFE
Die Revolution wird abgesagt
Jochen Bittner über 1848: »Hauptsache, Ordnung«
Mit Recht beklagen Sie die fehlende Erinnerung
an die Aufbruchsideen von 1848. Es war und ist
des Deutschen Eigenart, Ordnung vor Mut und
Freiheit zu stellen. Frei nach Herman van Veen:
Fallen oder springen? Lieber zögern ...
EBERHARD GOET TE, UPLENGEN
Ein Volk, das sich lange untertänigst und devot
regieren ließ, wird nicht plötzlich einen Eid auf
den Geist der Demokratie schwören. Das Bis-
marcksche Gespenst dreht noch immer seine
Runden. Preußisch, Pickelhaube, Prügel. So ist
die immer noch gegenwärtige German angst auch
nicht verwunderlich.
Da muss erst noch was aufgebrochen werden.
Wie der Schmetterling sich endlich aus seinem
Kokon befreit, so werden wir’s auch. Ganz sicher.
Irgendwann. MICHAEL AY TEN , TRIER
Vor Kurzem besuchte ich den Friedhof der März-
gefallenen in Berlin, den auch der Bundespräsi-
dent anlässlich des 175. Jahrestags des Beginns
der Revolution von 1848 aufgesucht hat. Aber
welcher Tourist findet dorthin?
Es ehrt Bund und Land nicht, dass an diesem Ort
nur ein verkommener Container und einige we-
nige Infotafeln herumstehen. Höchste Zeit, dass
ein würdiges Gedenken möglich wird.
Jochen Bittner zeigt auf, wie andere Länder mit
demokratischen Traditionen umgehen. So sollte
es auch in Deutschland sein. Hoffentlich finden
die Vorschläge des Leitartiklers ein offenes Ohr
bei unseren Politikern.
HERMANN HOLTMANN , ES SEN
Die 1848 in Frankreich ausbrechende Februar-
revolution schwappte in die südwestlichen Staa-
ten des Deutschen Bundes über und führte dort
zu den sogenannten Märzforderungen.
Ja, leider ist die demokratische Revolution damals
gescheitert. Nun liegt es mir fern, Washington
Fantasien für die Ewigkeit
Volker Weidermann: »Worauf freuen Sie sich nach dem Tod?«
Volker Weidemann hat Schriftsteller nach ihren
Hoffnungen für ein Leben im Jenseits gefragt.
Einer ist sogar schon da gewesen. Schon mal da
gewesen? Gute Fantasie, der Mann. Aber Schrift-
steller leben ja davon, dass sie ihre Fantasien an
die Verleger verkaufen.
Was mich angeht, will ich in die Hölle, da sind
interessante Typen, mit denen ich gerne mal spre-
chen würde. Im Himmel ist es stinklangweilig.
HANS-EMIL SCHUSTER , HAMBURG
Als jemand, der sich im Berufsleben viele Jahre in
der Suchtarbeit und Hospizbewegung engagiert
hat, bin ich dankbar für die vielen Gedanken.
Volker Weidermann ist es gelungen, auf positive
Art und Weise (scheinbare) Grenzen überschreit-
bar zu machen. JÜRGEN VOS S , PER E-MAIL
Was für eine wahnsinnig gute Idee, die Frage ge-
rade Literaturschaffenden zu stellen, die im We-
sentlichen doch Fiktionen ersinnen, von denen
sich wiederum so viele Leser Trost und Zuver-
sicht erhoffen! Erstaunlich viele der Gefragten
sind »gespannt« (Navid Kermani) auf eine Trans-
formation, schöpfen Lebenssinn aus dem Ver-
trauen darauf, nach dem Tod in anderen Wesen
weiterzuwirken. Karl Ove Knausgård ersinnt gar
die Vision der Abschaffung des Todes; mir
kommt dabei eine andere Vision in den Sinn: die
Vision der Abschaffung von Kriegen.
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oder London mit dem beschaulichen badischen
Offenburg zu vergleichen. Ebenso gewagt scheint
es, den Big Ben oder das Lincoln Memorial mit
dem Offenburger Gedenken an die revolutionä-
ren Demokratiebewegungen auf eine Stufe zu
stellen. Dennoch empfehle ich Ihnen den Besuch
des Salmen in der Offenburger Innenstadt, eines
Erinnerungsorts der deutschen Demokratie-
geschichte. THOMAS SCHMID, OFFENBURG
Was für ein wunderbarer Beitrag zur Badischen
Revolution – er spricht mir als Badener aus dem
Herzen. Leider nur bis zum letzten Absatz, wo
Jochen Bittner versucht, die badische Freiheits-
bewegung für die »Atomkraft, die Deutschland
weiter bräuchte« zu vereinnahmen.
Welch ein Missbrauch! War es doch die gleiche
freiheitliche Grundhaltung in Baden, die 1848
ermöglichte und in den 1970er-Jahren die breite
Bewegung gegen ein AKW am Kaiserstuhl her-
vorbrachte – mit dem Ergebnis, dass das Verwal-
tungsgericht in Freiburg 1977 den Bau des Atom-
kraftwerks in Wyhl stoppte.
Die Transformation zu einer ökologischen und
freiheitlichen Gesellschaft ist der »Fortschritts-
realismus«, der im Impuls der Badischen Revolu-
tion angelegt war. DR . R ALPH BÜRK , ENGEN
Der These, dass Risiken in Kauf nehmen muss,
wer eine demokratische Moderne will, und dem
Hinweis, dass es ohne »Gewohnheitsstörung«
weder Freiheit noch Wohlstand geben kann,
kann ich nur zustimmen.
Ab da jedoch gerät Jochen Bittner leider genau in
das Verhaltensmuster, das er kritisiert.
Die einzige Möglichkeit, Demokratie, Wohlstand
und Weiterleben zu ermöglichen, ist nämlich ge-
rade nicht das »Weiter wie bisher«, wie es sich in
der Nutzung der Atomkraft und der gnadenlosen
Ausbeutung der Natur widerspiegelt. Revolutio-
när wäre ein bewusster Verzicht, auch wenn das
Aber zurück zu Volker Weidermanns »langer Rei-
se auf der Suche nach verlorenem Trost«! Möge er
weiterhin in ruhigem (!) Fluge rumgeistern und
uns Zutritt verschaffen zur Innenwelt der Dichter
und Denker. So lange ist nichts verloren.
INGEBORG LUK AS , ES SEN
Mir fallen einige Dichter und Denker mit einer
Gegenposition ein.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki: »Der
Tod ist der Schlusspunkt. Alles andere ist
Wunschdenken.«
Der Soziologe Norbert Elias: »Der Tod verbirgt
kein Geheimnis. Er öffnet keine Tür. Es ist das
Ende eines Menschen. Was von ihm überlebt, ist
das, was er anderen Menschen gegeben hat, was
in ihrer Erinnerung bleibt.«
Der Dramatiker Friedrich Hebbel: »Die Mensch-
heit lässt sich keinen Irrtum nehmen, der ihr
nützt. Sie würde an Unsterblichkeit glauben,
selbst wenn sie das Gegenteil wüsste.«
Sein Dichterkollege Johann Wolfgang von Goe-
the: »Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache.«
Und schließlich Altbundeskanzler Helmut
Schmidt, der wiederholt betonte, dass er den Tod
für »endgültig« halte.
R AGNAR REUL AND, PER E-MAIL
Ich habe den Eindruck, Sie bedienen mehr das
Zweifeln. Und übersehen, dass es trotz allem auch
Neue Liebe
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ZEIT NR. 15
zunächst als Wohlstandsverlust erscheinen mag,
ohne den man diesen Wohlstand jedoch nicht er-
halten kann. CL AUDIA PLÖTNER , IDSTEIN
Atomkraft als Fortschrittstechnologie!? Da reibe
ich mir verwundert die Augen! Uranabbau ist
schmutzig, die Lagervorkommen sind bis 2070
ausgebeutet, die CO₂-Neutralität in der gesam-
ten Lieferkette eine Mär. Die Lieferung von Uran
macht uns von zweifelhaften Lieferländern ab-
hängig und erpressbar. Die Stromproduktion
und noch mehr die radioaktiven Abfälle sind alles
andere als risikolos.
Und dann auch noch Frankreich als Beispiel:
Oftmals produziert die Hälfte der Atomanlagen
keinen Strom, weil die AKWs marode sind oder
die Flüsse nicht genügend Wasser zum Kühlen
führen. Sieht so Fortschrittsrealismus aus?
THOMAS LINS , MÜNSTER
Deutschland hat 2022 mehr Strom nach Frank-
reich geliefert, als von dort eingeführt worden ist.
DR . CHRISTIAN NAUNDORF, BERLIN
Als Wissenschaftler, der sich viele Jahre mit der
Sicherheit von Kernkraftwerken beschäftigt hat,
bin ich der Meinung, dass wir die Atomkraft trotz
aller damit verbundenen Risiken als Technologie
für die Überwindung der Klimakrise hochhalten
müssen. Leute, die so denken wie ich, sind keine
»Systemsprenger«. Auch für spätere Generationen
muss diese Technologie weiterentwickelt und ver-
bessert werden. Es gibt technische Lösungen, an
denen weltweit gearbeitet wird.
Ist es nicht an der Zeit, dass wir den Fortschritt,
den uns diese Technologie gebracht hat, realisti-
scher betrachten und der Hybris, die exponentiell
steigenden energetischen Anforderungen mit den
erneuerbaren Energien erfüllen zu wollen, ent-
gegentreten?
DR . ING. PETER ROYL, STUTENSEE-FRIEDRICHSTAL
ZEIT NR. 15
echten Glauben in österlichem Licht gibt, als
Hoffnung, Trost und Ermutigung – und nicht
nur den längst überholten, erstarrten fundamen-
talistischen. Ist Ihnen für die Oster-Ausgabe
wirklich nichts Besseres eingefallen?
K ARL HEINZ KÖNIG, 92 JAHRE, BERGISCH GL ADBACH
Wunderbar: So viele Siege der menschlichen
Glaubensfähigkeit! Nicht allein der religiösen,
auch der säkularen! So lassen sich die großartigen
Worte des Apostel Paulus: »Tod, wo ist dein Sta-
chel? Hölle, wo ist dein Sieg?«, auch ganz weltlich
lesen und verstehen.
ECKHARD HEUMANN , GÖT TINGEN
Wenn einer seine besonders intensiven Träume in
einer lebensbedrohlichen Phase als Erlebnis des
Jenseits ausgibt, hat er wohl geahnt, wie gut er als
Schriftsteller solchen Stoff verkaufen kann.
DR . JÜRGEN SCHRÖDER , FOCKBEK
Zu Ostern feiern wir Christen eigentlich das Fest
der Auferstehung Jesu Christi! Aber wer von uns
feiert wirklich noch diese Auferstehung? Was ha-
ben wir aus Ostern gemacht?
Wir lassen Kinder Ostereier suchen und schen-
ken ihnen allen möglichen und unmöglichen
Krimskrams.Wir essen um die Wette oder lassen
uns sonst wie ablenken. Wir haben an Ostern
»osterfrei«. KL AUS P. JAWOREK , BÜCHENBACH
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Weitere Leserbriefe finden Sie unter
blog.zeit.de/leserbriefe
Pause für die
Wunderwaffe KI
Peter Neumann: »Sind wir denn
dumm?« ZEIT NR. 15
Wehe der Menschheit, wenn die künstliche
Intelligenz, von uns gefüttert, das Zepter
übernimmt!
Fürchten sollten wir die Macht der KI des-
halb, weil es uns schon bald nicht mehr gelin-
gen wird, den Stecker zu ziehen. Geradezu
genial, zu was wir uns im Überlegenheits-
wahn hinreißen lassen!
ANDREAS WENIG, MANNHEIM
Künstliche Intelligenz wird niemals allumfas-
send intelligenter sein als der Mensch. Diese
Barriere hat die Natur eingebaut – allein dank
der gigantischen Energiemengen, die eine KI
verschlingt. Das menschliche Gehirn arbeitet
um ein Vielfaches effizienter.
Bei der hohen Schlagzahl an disruptiven Ent-
wicklungen ist die »Pausentaste« dennoch ein
guter und angemessener Ansatz. Weiterent-
wicklung, Fortschritt ist in der Natur vorgese-
hen. Nur nicht in diesem Tempo. Neuerun-
gen müssen verarbeitet werden.
Derweil sollten wir uns auf unsere Stärken
fokussieren. DIPL .-ING. KL AUS SOMMER , K ARBEN
Es ist überaus bemerkenswert, wenn Tech-
Giganten vor den Risiken der KI warnen. Ich
finde, man sollte die Warnungen derer ernst
nehmen, die etwas von künstlicher Intelligenz
verstehen. Wenn am Ende nur wenige von ihr
profitieren und es für den Rest womöglich
heißt: Big Brother is watching you, gestützt auf
sich selbst weiterentwickelnde Computer-
technologie, dann kann man ihr nicht freien
Lauf lassen. REGINA STOCK , KIEL
Die big five der Tech-Giganten sind die Feld-
herren der modernen Informationskriege.
Und die KI ist die neue Wunderwaffe.
Google, Amazon, Meta, Apple und Microsoft
haben die Welt unter sich aufgeteilt. Aber der
Kampf auch untereinander geht weiter. Im
Westen nichts Neues.
ANDREAS LÖBBERS , DRENSTEINFURT
»Für Panik hingegen, geschweige denn für ein
mal eben einberufenes Moratorium, sind wir
gegenwärtig noch zu klug«, schreibt der Leit-
artikler der ZEIT. Ich sehe das pessimisti-
scher. Ich glaube nicht, dass individuelle
Menschen klug genug sind, die Folgen ihrer
Handlungen auf die Menschheit als Ganzes
zu übertragen. Das wäre neu.
Was ich irritierend finde, ist, dass scheinbar
niemand über KI in Waffen nachdenkt. Was
wäre aus Hitler geworden, wenn er die Atom-
bombe gehabt hätte? Was wird aus Putin und
den anderen Autokraten?
Es wird nichts geben, das von KI nicht beein-
flusst wird. Innehalten und nachdenken wäre
klug, es wird aber nicht passieren. Es wäre das
erste Mal in der Geschichte der Menschheit.
CHRISTIAN FAHN , PER E-MAIL
IHRE POST
erreicht uns am schnellsten unter der
E-Mail-Adresse leserbriefe@zeit.de. Mit der
Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Brief in der ZEIT, deren digitalen Aus-
gaben und im Leser-Blog auf www.zeit.de
unter Nennung Ihres Namens und des
Wohnortes zu veröffentlichen. Für den
Inhalt sind Sie als Einsender verantwortlich;
die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung
und redaktionelle Bearbeitung vor. Zudem
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13.04.23 13:21
 DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
Auch »Nichtdeutsche« unter den Tätern
Der »kriminelle Ausländer« ist ein Dauergast in fast jeder Migrationsdebatte. Wann und wie fand er den Weg
in die Kriminalstatistik? Eine datenhistorische Spurensuche vom Kaiserreich bis heute VON TIN FISCHER
E
s ist ein deutsches Ritual. Wie jedes
Frühjahr wurde kürzlich auf der
Bundespressekonferenz die Polizei-
liche Kriminalstatistik (PKS) vor-
gestellt. Wie immer ging es darum,
ob die Kriminalität gestiegen oder
gesunken ist. Und wie immer folg-
te darauf die Frage nach den Ausländern.
»Deutlich mehr Gewalttaten und Ausländerkrimi-
nalität in Deutschland«, titelte die Junge Freiheit. »An-
teil der ausländischen Tatverdächtigen hat zugenom-
men«, meldete die NZZ. »Die bittere Wahrheit über
kriminelle Flüchtlinge« versprach der Focus – und
gelangte am Ende zu einer altbekannten Erkenntnis:
Ja, der Anteil von Flüchtlingen und anderen »nicht-
deutschen Tatverdächtigen«, wie sie in der PKS hei-
ßen, liegt auch 2022 bei vielen Delikten über dem
Mittel. Und nein, das hat nichts mit ihrer Herkunft
zu tun, sondern mit der sozialen Lage und dem über-
durchschnittlich hohen Anteil junger Männer.
Andere Länder verfahren in ihren Statistiken ähn-
lich; wobei sie in Fragen der Herkunft mit unter-
schiedlichen Begriffen operieren: In den USA wird
nach race (Asian, Native Hawaiian, Black or African
American, American Indian etc.) und ethnicity (His-
panic or Latino oder nicht) unterschieden. Die Briten
orientieren sich an ihrem alten Empire und teilen
Täter wie Opfer auf in: Asiatisch, Schwarz, Weiß,
»Mixed« und Andere. Nach der Staatsangehörigkeit
wie hierzulande zu differenzieren wirkt da vergleichs-
weise unverfänglich. Doch der Blick in die Ge-
schichte zeigt, dass die Kategorie Ausländer in der
deutschen Kriminalstatistik immer wieder auch als
rassische Klassifikation verwendet wurde.
Diese Geschichte beginnt 1882, vor gut 140
Jahren, mit der ersten Reichskriminalstatistik. Über-
all in Europa werden infolge von Industrialisierung
und Nationalstaatsbildung in großem Stil Daten
erhoben – die Geburtsstunde der modernen Büro-
kratie, Big Data im 19. Jahrhundert. Wobei das
Kaiserreich hervorsticht: »Die deutsche Gesellschaft
hatte einige der am besten gepflegten, detailliertesten
Kriminal- und Sozialstatistiken der Welt«, schreibt
der amerikanische Historiker Eric A. Johnson in
seiner Studie Urbanization and Crime.
Für jeden Angeklagten müssen die deutschen
Gerichte eine Karteikarte an das Kaiserliche Statis-
tische Amt in Berlin senden, weiße Karten für Män-
ner, blaue für Frauen. Bei »Ausländern (Nichtdeut-
schen)« ist ein Feld für den »Heimathsstaat« auszu-
füllen. So entstehen Jahr um Jahr Hunderte Tabellen,
die das kriminelle Geschehen von »Strafbarer Eigen-
nutz und Verletzung fremder Geheimnisse« bis zu
»Zweikampf« verzeichnen und nach Kategorien wie
Tatort und -zeit, Alter und Geschlecht der Täter auf-
schlüsseln. »Das Ziel war eine Art Gesamtschau des
moralischen Zustands des Volkes«, sagt der Krimi-
nalhistoriker Herbert Reinke.
Doch so neutral die Statistik wirkt, so sehr ist sie
Foto: Klaus Rose / picture alliance
von Ideen ihrer Zeit geprägt: dass Moral und Krimi-
nalität kulturell erlernt seien und sich je nach Her-
kunft unterschieden. Geordnet ist die Kriminal-
statistik daher auch nach Regionen sowie nach
Religion und Beruf der Täter. Und obwohl im
Deutschen Reich damals weniger als ein Prozent der
Bevölkerung Ausländer sind, erhalten auch sie eine
eigene Schublade.
GESCHICHTE
Was die Statistik zutage fördert, korrespondiert
aufs Engste mit dem landläufigen Täterbild, wie es
der Historiker Johnson anhand von Presseberichten
rekonstruiert hat: Typische Verbrecher, schreibt er,
seien in der Vorstellung der Zeitgenossen »haupt-
sächlich urbane Typen« gewesen, die »entweder
keine wirklichen Deutschen waren, etwa Juden,
Polen und Ausländer, oder politisch Unzufriedene«,
vor allem Sozialisten und meistens Arbeiter.
Die Interpretation der Zahlen übernehmen Be-
völkerungsstatistiker, Moralstatistiker genannt. Einer
der wichtigsten ist Georg von Mayr. Er entdeckt
überall Korrelationen – zwischen Kriminalität, Ge-
treidepreisen und Auswanderung etwa.
In seinem monumentalen Werk Statistik und
Gesellschaftslehre (der erste Band erscheint 1895) geht
Mayr auch der Frage nach, welchen Einfluss die »Ab-
stammung« auf die Kriminalität hat. Wobei er mit
»Abstammung« in erster Linie »Rasse und Volks-
stamm« meint. Doch fehlen ihm entsprechende
Daten. So umfangreich die Reichskriminalstatistik
ist: Sie unterscheidet nicht nach den »großen anthro-
pologisch bestimmten Rassen der Weißen, Gelben,
Roten, Schwarzen«, wie Mayr sie nennt. Der Moral-
statistiker braucht daher Ersatzkategorien, um die
»Rassen-Verfehlichkeit« zu ergründen. Zu diesem
Zweck greift er auf die Nationalität der Täter zurück.
Auch in Staaten wie der Schweiz oder Ungarn
verfahren die Statistiker in dieser Weise. Was Mayr
durchaus kritisch betrachtet. Ihm ist bewusst, dass
sich so »keine maßgebenden Rückschlüsse auf die
Kriminalität der fremden Volksarten« ziehen lassen.
Denn kriminell, das weiß man nicht erst heute,
werden vor allem junge Männer, und Migranten sind
oft: junge Männer. Auch aus den Unterschieden
zwischen einzelnen Nationalitäten wird Mayr nicht
schlau, denn je nach Nation leben Menschen unter
sehr unterschiedlichen ökonomischen Bedingungen
in den Ländern, in die sie ausgewandert sind.
U
m einen »Sondernachweis über Ras-
sen-Verfehlichkeit« zu führen, wendet
sich Mayr den Schwarzen in den USA
und den Juden in Deutschland zu, die
er für isolierbare, homogene Gruppen
hält. Doch die Analyse erbringt auch hier nicht das
angestrebte Ergebnis: Dass Schwarze in Amerika
häufiger im Gefängnis sitzen, könne auch damit zu-
sammenhängen, dass die Gerichte dort »in den
Händen der Weißen« liegen, räumt Mayr ein.
Eine gesteigerte »Verfehlichkeit der Juden« kann
er ebenfalls nicht belegen: In der Reichskriminal-
statistik fallen Juden, im Gegenteil, dadurch auf, dass
sie deutlich weniger Straftaten begehen als Katholiken
und Protestanten. Und hinter den zahlreichen Fällen
aus der Kategorie »Verbrechen gegen den Staat, öffent-
liche Ordnung und Religion« stecken, wie sich zeigt,
überwiegend Verstöße gegen die Sonntagsruhe.
Trotzdem behauptet Mayr, dass die »jüdische Ver-
fehlichkeit [...] mutmaßlich doch auch der Rasse als
solcher« geschuldet sei. Ebenso könnten Staats-
angehörigkeit und kriminelle Neigung zusammen-
hängen, »wenn auch nicht in messbarer Weise«. Eine
bemerkenswerte Aussage für einen Statistiker.
Obwohl der Versuch, einen empirischen Zu-
sammenhang zwischen Kriminalität, Nationalität,
»Rasse« und Religion herzustellen, gescheitert ist,
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geht die Überwachung von Ausländern im ausgehen-
den 19. Jahrhundert erst richtig los. Unter anderem
sehen sich Wanderarbeiter verstärkten Kontrollen
ausgesetzt – durch die Deutsche Arbeiter-Zentrale,
die ursprünglich »mit dem Ziel gegründet wurde,
eine dauerhafte Einwanderung zu erschweren«, wie
Gabriele Franzmann sagt, die beim Leibniz-Institut
für Sozialwissenschaften Statistiken des Deutschen
Reichs digitalisiert hat.
Von den 1880er-Jahren an steigt der Bedarf des
Deutschen Reichs an ausländischen Arbeitskräften in
Industrie und Landwirtschaft kräftig an; in den zwei
Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nimmt auch
die Einwanderung stark zu. Der Ausländer-Anteil an
der Bevölkerung verdoppelt sich von einem auf zwei
Prozent, was sich in der Kriminalstatistik entspre-
chend niederschlägt. Infolge des Weltkrieges und der
anschließenden Wirtschaftskrise gehen die Zahlen
dann wieder zurück. 1933 liegt der Ausländer-Anteil
wieder bei rund einem Prozent.
Unter der nationalsozialistischen Herrschaft ver-
ändert sich das Selbstverständnis von Polizei und
Justiz. »Die kriminalpolizeiliche Arbeit zielte nicht
mehr allein auf strafbares Verhalten, sondern auf ver-
dächtigen Lebenswandel oder soziale Problemlagen«,
schreibt der Historiker Thomas Roth. Ins Visier ge-
raten »Asoziale«, »Arbeitsscheue«, Prostituierte, Ho-
mosexuelle, unangepasste Jugendliche, »Zigeuner«
und andere. Das Handwörterbuch der Kriminologie
von 1933 will überdies von einem »bedeutsamen
Ergebnis« der Forschung wissen, wonach sich Ausmaß
und Schwere der Kriminalität von Einwanderern nach
der Distanz zwischen Ein- und Auswanderungsland
bemesse. Und generell habe die »Rasse« so viel Einfluss
wie Geschlecht und Alter.
Diese Blut-und-Boden-Kriminalistik bricht kei-
neswegs mit früheren Annahmen: Das kriminolo-
gische Handbuch beruft sich maßgeblich auf Mayr,
etwa um die »Kriminalität der Juden« zu begründen.
Anders als Mayr scheren sich die Autoren des Hand-
wörterbuchs aber kaum noch um Zahlen. Zur krimi-
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nellsten »Rasse« gehörten »von jeher« die Schwarzen
in Nordamerika, behaupten sie. Deren europäisches
Pendant seien »mit Recht« die »Zigeuner«. Während
bei den Schwarzen »die sexuellen und blutigen De-
likte« vorherrschten, seien es bei den »Zigeunern«
»Diebstahl und Betrug (Wahrsagerei)«.
Für die Jahre 1936 bis 1938 erscheinen noch
Kriminalstatistiken in den Jahresberichten des neu
geschaffenen Reichskriminalpolizeiamtes. Danach,
während des Krieges, führt man intern weiter Buch,
wobei eine neue Gruppe von Ausländern in den
Fokus rückt, die durch den Krieg rapide wächst:
»Zehn Millionen Menschen vor allem aus Osteuropa,
die man als ›Untermenschen‹ ansah, kommen nun
als Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter ins Reich«,
sagt Patrick Wagner, Historiker an der Martin-
Luther-Universität in Halle-Wittenberg.
I
n der Nachkriegszeit entstehen zwei deut-
sche Staaten mit je eigener Kriminalstatistik:
In der DDR wird sie bald unter Verschluss
gehalten – Kriminalität, heißt es, sei dem
Sozialismus wesensfremd. In der Bundes-
republik erscheint 1953 die erste PKS. Im Ver-
gleich zu ihrem Vorläufer aus dem Kaiserreich
nimmt sie sich geradezu mager aus: 78 Blätter, die
Maschinenschrift mit weitem Durchschuss gesetzt.
Von Juden ist nun keine Rede mehr. Und »nicht-
deutsche Täter« erhalten zwar noch ein eigenes
Kapitel, aber die Zahlen werden kaum noch kom-
mentiert. Vielleicht auch deshalb, weil die Rangliste
von den Amerikanern angeführt wird.
Kein Halten gibt es hingegen in der Beschreibung
zweier anderer Tätergruppen, der »Reisenden Täter«
und der »Landfahrer«. Mit Letzteren sind Sinti und
Roma mit ihrem »eingewurzelten Hang zum Umher-
ziehen mit Fahrzeugen« gemeint.
Zwar wurden Sinti und Roma bereits im Kaiser-
reich in Karteien erfasst und mit Sondergesetzen
schikaniert. In der Statistik aber tauchten sie nicht
gesondert auf. »Das Stereotyp, dass diese Gruppe
kriminell sei, war einfach Konsens«, sagt Markus End,
der an der TU Berlin zu Antiziganismus forscht. »Es
gab damals schlicht keinen Rechtfertigungsdruck.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem national-
sozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma
habe sich das geändert. Dass für sie noch immer
Sonderregeln gelten – die Bayerische Landfahrer-
ordnung erlaubt ihnen etwa das »Umherziehen mit
Fahrzeugen« nur mit ständiger behördlicher Geneh-
migung –, bedarf nun der Rechtfertigung. Diese ver-
sucht die neue Kriminalstatistik zu liefern, doch ohne
Erfolg. Gerade einmal 3559 »Landfahrer-Täter« zählt
die PKS 1953: 0,3 Prozent aller Tatverdächtigen.
Doch davon lässt man sich beim Bundeskriminalamt
nicht entmutigen. Die Zahl sei zwar klein, aber da
die »Landfahrer« »neuerdings motorisiert« seien,
seien sie »schwierig zu ermitteln« und daher »be-
sonders gefährlich«.
Von 1971 an fällt die Kriminalstatistik, nun
EDV-gestützt, wesentlich detaillierter aus. Auch
Angaben zu den Opfern werden jetzt erfasst, nicht
aber ihre Nationalität (erst seit 2013 darf der Aus-
länder auch Opfer sein). Durch den Zuzug der so-
genannten Gastarbeiter ist der Ausländer-Anteil an
der Bevölkerung zwischen 1961 und 1971 von
1,2 auf 5,6 Prozent gestiegen, während der Anteil
19
Ein Beamter des
Bundeskriminalamtes
beim Abgleich von
Fingerabdrücken (1965)
an den Tatverdächtigen etwa das Doppelte beträgt.
Die Gründe – die Sozialstruktur und die hohe Zahl
junger Männer – sind offenkundig.
Beim Bundeskriminalamt vermutet man jedoch
noch weitere Ursachen. Dort versucht der Statistiker
Uwe Dörmann zu erklären, warum die »Krimina-
litätsbelastung« bei Ausländern höher als bei Deut-
schen ist. Das »lebhafte Temperament«, die »leichte
Erregbarkeit« und das »verletzbare Ehrgefühl vieler
Südländer« seien bei Gewaltdelikten zu bedenken,
schreibt er 1975. Dörmann bemüht sich um Ver-
ständnis für die Situation der »Gastarbeiter«, sein
Ton aber ist paternalistisch: Durch ihre Sprachpro-
bleme wirkten Ausländer oft »kindlich«, was dazu
verleite, »sie wie Kinder anzusprechen«. Die Sprach-
schwierigkeiten würden ihnen ferner einen Haupt-
weg versperren, »Affekte verhältnismäßig unschäd-
lich abzuleiten«. In der DDR beklagt derweil die
Volkspolizei, dass Vertragsarbeiter aus Mosambik zu
»Rowdyhandlungen« neigen, weil sie noch nicht in
der Lage seien, den Alkohol in »verträglicher Menge
selbst zu steuern«.
Der Zusammenbruch des Ostblocks und die
Kriege auf dem Balkan lösen in den Neunzigerjahren
eine starke Zuwanderung ins nun wiedervereinigte
Deutschland aus. Es dauert nicht lange, und eine
migrantenfeindliche »Das Boot ist voll«-Stimmung
beherrscht die Diskussion. Befeuert wird sie durch
einen Begriff, der bis in die Achtzigerjahre hinein
wenig geläufig war: »Ausländerkriminalität«. Von
Ausländern verübte Straftaten haben nun einen ei-
genen Namen, so wie Jugendkriminalität, Wirt-
schaftskriminalität oder Drogenkriminalität. Seither
ist kaum eine Migrationsdebatte ohne das Angstbild
vom »kriminellen Ausländer« ausgekommen.
Im Einwanderungsland Bundesrepublik gibt es
indes schon längst nicht mehr nur »Ausländer« und
»Deutsche«, sondern eine große Gruppe von Deut-
schen mit Migrationshintergrund. Manchen Kom-
mentatoren, Politikern und Institutionen scheinen
daher Nationalität und Geburtsort nicht mehr aus-
zureichen, um den »Ausländer« dingfest zu machen.
In Nordrhein-Westfalen führte die Polizei die Kate-
gorie »Clankriminalität« ein. Sie ist »türkisch-
arabischstämmigen Großfamilien« vorbehalten. In
Berlin forderte die CDU die Publikation der Vor-
namen der deutschen Tatverdächtigen bei den
Silvesterkrawallen 2022/23. Im März antwortete der
Berliner Senat auf eine gleichlautende Anfrage der
AfD zu den Messerangriffen 2022 (2428 Tatver-
dächtige, etwa die Hälfte von ihnen Deutsche).
Die viel diskutierte Liste – Christian (9 Nennun-
gen), Nico, Ali (8), Mohamed, Marcel, Alexander
(7), Michael, Justin, Kevin, Ibrahim, David (6),
Tobias, Mohamad, Mustafa, Thomas, Martin, Da-
niel (5) – sagt wenig mehr aus, als dass es Deutsche
mit migrantischen Wurzeln gibt. Kriminalstatistisch
führt sie auf Abwege: Schon der große Moralstatis-
tiker des 19. Jahrhunderts Georg von Mayr hatte
erkannt – sosehr er an rassistischen Ideen festhielt –,
dass Kriminalität vor allem soziale Ursachen hat und
keine Frage der Abstammung ist.
Tin Fischer ist Datenjournalist. 2022 erschien sein
Buch »Linke Daten. Rechte Daten. Warum wir
nur das sehen, was wir sehen wollen«
(Hoffmann und Campe, 240 S.; 25,– €)
20
Die Polizei, dein Freund und Schröpfer
Vor dem Amtsgericht Hamburg geht es um Betrug. Das Opfer: Eine alleinstehende Millionenerbin. Der Angeklagte: Ein Kriminalbeamter
S
ie sind trüb, jene Märztage, als am
Amtsgericht Hamburg ein Be-
trugsfall verhandelt wird. Immer
wenn es so aussieht, als sei ein biss-
chen Klarheit hergestellt, offenbart
sich eine neue Wendung, eine wei-
tere Dimension der Täuschung.
Da ist zunächst das Opfer, die Zeugin Sylvia
Schwarz*, 58, alleinstehend, Ärztin, schlank, lange
blonde Haare. Vor einigen Jahren hat sie ein paar
Millionen Euro geerbt.
Und da sitzt der Angeklagte Erik Manke, 48,
Polizeioberkommissar, beim Hamburger Landes-
kriminalamt lange zuständig für Betrug. Als Experte
ist Manke auch ein beliebter Vortragsgast und Inter-
viewpartner, weshalb er neben seinem Beamtenjob
zusätzlich eine Beratungsfirma namens Nodolos
Fraud Management aufgebaut hat. Der Name klingt
seriös und dubios zugleich (dolos ist Altgriechisch für
Betrug). Der Unternehmer Manke möchte seine
Kunden »schusssicher« machen gegen Betrug.
Bei Verbänden und Firmen wie der Wirt-
schaftsauskunftei Schufa taucht Manke mit Tipps,
Analysen und unterhaltsamen Vorträgen auf, in
denen es auch darum geht, wie selbst einfältige Be-
trüger mit dreisten Maschen immer wieder Erfolg
haben. Aber dagegen gibt es ja Manke, den brillan-
ten Betrugsimprägnierer, der auch gern mit einem
Millionenbetrüger im Schlepptau auftritt, den er
selbst gefasst haben will. Weil: Von solchen Ex-
perten könne man was lernen. Vor dem Hambur-
ger Amtsgericht sieht es allerdings so aus, als habe
Manke ein bisschen zu viel gelernt.
Videos, worin Manke über Betrügereien doziert,
kann man sich im Internet anschauen. Er sieht darin
aus wie ein Fußballprofi nach der aktiven Laufbahn,
blonde Haare, die Seiten kurz rasiert, Haltung und
Körper erinnern sich noch daran, dass sie mal besser
in Form waren. Vor Gericht erscheint Manke dann
mit brauner Glatthaarperücke plus farblich nicht
ganz kompatiblem Anklebebart, dessen Haftungs-
vermögen im Laufe eines Verhandlungstages nach-
lässt. Vielleicht ist es der Auftritt eines Mannes, der
sich dem Gericht als genialer Verwandlungskünstler
präsentieren will.
Seine Meisterklasse beginnt, als er am zweiten Ver-
handlungstag zu sprechen anhebt. Auf die Frage,
warum zwischen ihm und seiner Kundin Sylvia
Schwarz, der alleinstehenden Erbin, keinerlei schrift-
liche Vereinbarung getroffen worden sei, richtet sich
Manke auf und berichtet wortreich von einem »nor-
malen kaufmännischen Vorgang«. Er beherrscht den
selbstbewussten Beraterjargon durchaus: »Sie ist ja in
der Vergangenheit immer wieder auf Betrüger rein-
gefallen. Es ging darum, sie so bullet proof aufzustel-
len, dass das nicht mehr geschieht.«
Die beiden Männer, auf die Sylvia Schwarz
hereingefallen war, wollten sie dabei unterstützen,
einen Secondhandshop für Luxushandtaschen in
einer glanzvollen Gegend Hamburgs aufzubauen. Sie
bekamen von ihr Handtaschen, Designerkleidung,
ein Darlehen für einen Porsche Cayenne. Sie erstan-
den für Frau Schwarz ein gerahmtes Kleid von Andy
Warhol und fälschten die Rechnung zu Ungunsten
von Schwarz. Diese sagt, die angeblichen Freunde
hätten sie um einige Zehntausend Euro erleichtert.
VERBRECHEN
Die Betrugsberatung des Kriminalbeamten sollte die Millionenerbin »schusssicher« gegen Betrug machen
Als ihr klar wurde, dass das Paar sie ausgenutzt
hatte, wandte sich Schwarz an den Anwalt Christian
Abel. Der arbeitete damals bei Norton Rose Ful-
bright, einer internationalen Kanzlei. Abel ist über
Hamburg hinaus bekannt, er brachte sich in die
Schlagzeilen, als er im Hamburger Schanzenpark eine
Bürgerwehr gegen Dealer gründen wollte – ein Vor-
schlag, den er später zurücknahm.
Abel sei auch bei ihr schnell mit Vorschlägen zur
Hand gewesen, erinnert sich Sylvia Schwarz, und
E-Mails, die der ZEIT vorliegen, beweisen das: Sie
solle Strafanzeige gegen die beiden falschen Freunde
erstatten. Am 14. August 2017 schrieb Anwalt Abel
seiner Mandantin: »Ich bin heute absprachegemäß
für Sie zu Herrn Kriminaloberkommissar Manke ge-
fahren und habe die Strafanzeige gegen die o. g. Per-
sonen abgegeben und mit ihm besprochen. Manke
ist Betrugsspezialist beim Landeskriminalamt Ham-
burg (Wirtschaftsdelikte).« Betrugsspezialist Manke,
so fährt der Anwalt fort, gehe davon aus, dass für den
Nachweis eines Betruges die Beweise fehlten.
Frau Schwarz sagt, der Betrugsspezialist habe ihr
später bei einem persönlichen Treffen in der Kanzlei
ihres Anwalts vorgeschlagen, die beiden Verdächti-
gen, die auf einem schwer einsehbaren Grundstück
im Wald lebten, vier bis sechs Wochen lang rund um
die Uhr mit vier Mann zu observieren – aus dem
Gebüsch heraus. Drohnen und Wildtierkameras habe
er ebenfalls einsetzen wollen, allein für die technische
Ausrüstung sollte Schwarz 9000 Euro berappen, um
»gerichtsfeste Beweise« zu sammeln. Das klingt wie
aus dem Baukasten eines Detektivspiels, doch auf
Sylvia Schwarz wirkte es hochseriös.
»Erik Manke wollte ein Bewegungsprofil der
Täter erstellen mit seinen Jungs von der BFE«, sagt
Frau Schwarz zum Gericht. Und nicht nur der Ver-
weis auf »die BFE« (die Beweissicherungs- und Fest-
nahmeeinheit der Polizei) ließ sie glauben, der
Betrugsexperte Manke spreche auch als Beamter zu
ihr: »Ich sprach ja mit einem Oberkommissar der
Polizei. Er hat das alles auf eine so eloquente Art
geschildert. Ich bin juristischer Laie. Daneben saß
mein Anwalt und hat immer wieder genickt.«
Mehrfach hakt der Richter nach, ob Frau Schwarz
nicht stutzig geworden sei, zum Beispiel, weil Mankes
angebliche Verrichtungen nie zu irgendwelchen
Ergebnissen führten. Sie antwortet: »Er hat gesagt,
er darf mir keine Details verraten, damit ich nicht
verbrannt werde, wenn das alles vor Gericht kommt.«
Also zahlte sie. Im Mai, Juli und August des Jahres
2018, insgesamt 57.060 Euro. Bei der letzten Rech-
nung drängte sie Manke noch, handschriftlich »Ab-
schluss-Rechnung« hinzuzufügen, denn: »Ich hatte
Angst, dass es immer mehr wird.«
Der Angeklagte erwidert, Frau Schwarz habe
ihn lediglich für Recherchetätigkeiten bezahlt. Als
Privatermittler, das stellt sich vor Gericht heraus,
hat Manke nämlich gar keine Zulassung, er darf
lediglich durchschnittlich acht Stunden Betrugs-
beratung pro Woche anbieten. Bei Sylvia Schwarz
rechnet er im Verlauf von fünf Monaten 122
Stunden Besprechung ab, darunter mal 14, mal 7
Stunden am Stück. »Absurd«, findet Schwarz, so
lange habe sie nie mit ihm gesprochen.
Manke erzählt dem Gericht, mit den Detektiv-
arbeiten habe er einen Freund beauftragt, der Pro-
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duktionsassistent beim Film ist. Das habe gut gepasst,
fand Manke, denn »sie wollte danach noch einen
Film drehen lassen, zu ihrer eigenen Belustigung«.
Aus diesem Grund sei auch die Drohne angeschafft
worden. Vor Gericht nach einem Beleg für die Tech-
nik gefragt, antwortet Manke: »Ich ärgere mich wie
Krätze, dass ich den nicht finde.«
Warum fällt Sylvia Schwarz auf die Betrüger
herein? In einer Gerichtspause bietet Erik Manke
folgende Deutung an: »Ich glaube, sie wollte sich
ein interessantes Leben kaufen.« In diesem Leben
sollte er, Erik Manke, eine Rolle spielen – und
Christian Abel, der hochkarätige Anwalt. Manke:
»Ich glaube, sie hat gehofft, über den Auftrag, den
sie mir erteilt hat, mit ihrem Anwalt eine Liebes-
beziehung aufzubauen. Der sollte ja bei allen Ge-
sprächen dabei sein, und wenn wir uns getroffen
haben, war da oft noch eine Freundin von ihr da-
bei, mit der ich mich unterhalten sollte. So hatte
sie Zeit, mit ihrem Anwalt privat zu sprechen.«
Manke ist nicht nur Betrugsexperte, sondern
auch Discjockey und Eventmanager
Nach dem Verhandlungstag begleitet die ZEIT Sylvia
Schwarz nach Hause. Als sie von Mankes Liebes-
theorie hört, ärgert sie sich: »Das ist falsch und lä-
cherlich. Ich fühle mich wie in einem Rosenkrieg
nach sieben Jahren Ehe.«
Auf dem Weg erzählt Sylvia Schwarz, dass sie von
ihren leiblichen Eltern misshandelt wurde und daher
in einem Kinderheim aufwuchs, wo sie als Zwölf-
jährige herausadoptiert wurde. Sie sagt: »Meine
Adoptiveltern wollten kein Kind, sondern einen
Erben.« Ihr Vater habe sie immer kurzgehalten. Wie
vermögend die neuen Eltern tatsächlich waren, habe
sie erst nach deren Tod vor einigen Jahren erfahren,
als sie Millionen erbte.
Schwarz, die sich bisweilen von einem Bodyguard
begleiten lässt, lebt allein, ohne Partner, ohne Fami-
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14.04.23 11:13
lie, gut gesichert in zentraler Hamburger Lage. Sie
passiert einige Schranken, bevor sie die Tür zu ihrer
Wohnung aufschließt. Dahinter nimmt ein Mäd-
chentraum Gestalt an: Samt, Plüsch, rosa, weiß,
Kunst an den Wänden, ein beliebtes Motiv ist Mari-
lyn Monroe, im Bad steht Chanel. Schwarz geht in
die Küche und braut einen Espresso. Dann fragt sie
ein bisschen verzweifelt: »Habe ich ein Schild um-
hängen, auf dem steht: Mit mir kann man’s machen?«
Frau Schwarz wird schnell zutraulich, ist gleich
beim Du und teilt Persönliches mit. Berufliche
und private Beziehungen scheinen bei ihr zu ver-
schwimmen. Mitunter wirkt sie hilflos und unsi-
cher, manchmal kokettiert sie mädchenhaft. Sie
scheint von vielem überfordert zu sein, weshalb sie
Entscheidungen delegiert, an Freunde, an Anwäl-
te, an ganze Heerscharen von Ratgebern. Kon-
frontationen meidet sie.
Sie geht ins Wohnzimmer und setzt sich auf einen
plüschigen Sessel. An der Wand dahinter: eine riesige
Kreditkarte von Louis Vuitton. Hinter Glas kleben
dicke, glänzende Geldbündel. Ein Graffito fordert:
money, money, money. Eine ganze Wand als Vision
Board: Was bedeutet ihr Geld? »Viel«, antwortet
Schwarz, »Geld und Liebe sind das Wichtigste.
Manchmal ist das Geld noch wichtiger als die Liebe.
Ohne Geld ist das Leben nicht gut. Und Geld macht
glücklich. Jeder, der etwas anderes behauptet, lügt.«
Sie hat gemerkt, dass sich die Menschen ihr zuwen-
den, wenn sie großzügig ist. Viel Geld hat sie verloren,
falsche Investitionen, schlechte Jahre an der Börse.
Dass die Recherche des Ermittlers Manke zu
keinerlei Ergebnissen führte und die Observation
nicht zustande kam, ist in den Augen des Ange-
klagten allein die Schuld der Sylvia Schwarz. Manke
habe über einen weiteren Anwalt lediglich einen
Ordner mit dem Nachrichten-Verlauf zwischen
ihr und den falschen Freunden bekommen. Den
habe er, Manke, aber nicht gelesen: »Das darf ich
gar nicht«, sagt er zum Richter.
Frau Schwarz stellt die Sache andersherum dar:
Manke habe den Ordner regelrecht »studiert« und
sie dazu so intensiv befragt, dass sie sich in einer
»tiefenpsychologischen Analyse« glaubte. Sie
schrieb Manke am 28. Februar 2019, er habe dank
seiner Ermittlungen und seines Einblicks in ihren
Nachrichtenaustausch mit den Betrügern mitbe-
kommen, wie diese »mich systematisch und im
Laufe der Zeit immer stärker manipuliert und in
finanzieller Hinsicht mehr und mehr ausgenutzt
haben. Umso erstaunter war ich, als ich erkennen
musste, dass nun das Gleiche zwischen dir und mir
stattgefunden hat. Nämlich, dass du diese Ermitt-
lungserkenntnisse gegen mich verwendet hast. Seit
einem ¾ Jahr fühle ich mich von dir abgezockt
und ausgenommen wie eine Weihnachtsgans.«
Denn Betrugsexperte Manke hatte in seinem
Bauchladen noch mehr Überraschungen für seine
solvente Kundin parat. Er ist im Nebenerwerb
nämlich auch Discjockey und Eventmanager, mit
seinem Unternehmen E. Manke Eventtechnik.
Für Frau Schwarz gestaltete er Einladungskarten,
organisierte eine Einweihungsfeier und half bei di-
versen »Salonabenden« und anderen Zusammen-
künften mit Freunden, bei denen auch Manke
selbst und Rechtsanwalt Abel zu Gast waren.
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Illustration: Thomke Meyer für DIE ZEIT
VON ANNE KUNZE
Im Verlauf von einigen Monaten überwies die
Geschröpfte den Unternehmen des Kriminal-
beamten 104.880 Euro. Kein schlechter Deal für
Manke: Als Beamter verdient er nur 3500 Euro
netto im Monat, sagt er dem Gericht.
Erst als Sylvia Schwarz Ende 2018 an einer von
Manke überreichten Fleischtüte eine Edeka-Rech-
nung über 238,83 Euro fand, schwante ihr Übles.
Manke habe behauptet, das Fleisch stamme aus
einem italienischen Feinkostladen und koste 750
Euro, sagt sie. Kurz darauf erklärte Schwarz ihren
»Rücktritt« von sämtlichen Beratungstätigkeiten
des Herrn Manke.
Der beteuert vor Gericht, hochprofessionell zu
sein. Und schnell wie der Blitz. Keiner im chronisch
überlasteten Hamburger Betrugsdezernat habe Akten
in einer vergleichbaren Geschwindigkeit gefressen –
40, 50 Akten habe er an einem halben Tag erledigt.
Dass sich ein derart brillanter Ermittler im Be-
amtenstübchen eingemauert und unter seinen
Möglichkeiten fühlt – wer will’s ihm verübeln? Er
suchte sich halt ein anderes Publikum, um seine
Kompetenz zur Schau zur stellen, er wurde zu ei-
nem Virtuosen des Nebenerwerbs. Wenn man ihn
beobachtet, weiß man nicht, ob es sich bei ihm um
einen Hamburger DJ handelt, der einen LKA-
Beamten spielt, oder um einen LKA-Beamten, der
lieber DJ wäre.
Allerdings dürfte feststehen, dass in seiner Be-
gegnung mit Sylvia Schwarz alle Begabungen des
Erik Manke synergetisch zusammenkamen: der
DJ und der Partymacher, der Ermittler und der
Betrugsexperte, der Menschen gegen Angriffe von
außen zu impfen versteht. Nur was man macht,
wenn der Angriff von innen kommt, dagegen hatte
Manke wohl kein Mittel.
Das Amtsgericht Hamburg verurteilt Manke
wegen Betruges in besonders schwerem Fall zu einer
Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Mona-
ten. Das bedeutet, dass Manke, der seit den ersten
Betrugsvorwürfen im Jahr 2018 an der Polizei-
akademie unterrichtet, aus dem Beamtenverhältnis
entlassen wird und alle Pensionsansprüche verliert.
Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig, Mankes
Verteidiger geht in Berufung. Während des Prozesses
war Manke noch nicht einmal suspendiert worden,
und das, obwohl gegen ihn noch ein weiteres Straf-
verfahren wegen Insolvenzbetrugs und neun Diszipli-
narverfahren laufen, wie Manke sagt.
Und es bleibt noch manche Frage offen: Wel-
che Rolle spielt Anwalt Abel, der Frau Schwarz an
den Kommissar vermittelte? Insgesamt habe sie
Abels damaliger Kanzlei für allerlei rechtliche Fra-
gen mehr als 200.000 Euro überwiesen, sagt die
Mandantin Schwarz. Christian Abel möchte keine
Stellung zu den Fragen der ZEIT nehmen.
Sylvia Schwarz beschäftigt jetzt neue Anwälte,
etwa den Presserechtler Michael Philippi, der ihr
lange zureden musste, bis sie Abel endlich das
Mandat kündigte. Und sie muss ihren Lebens-
unterhalt künftig selbst verdienen. Sie arbeitet
gerade in einem Wiedereinstiegsprogramm für
Ärzte an einer Klinik. Wenn alles gut läuft, kann
sie in ein paar Jahren ihren Facharzt machen.
*Name geändert

WIRTSCHAFT
Millionen Jugendliche verbringen viele Stunden auf der Social-Media-Plattform und spornen sich zu gefährlichen
Mutproben an. Mehrere Kinder sind dabei umgekommen. Wer ist dafür verantwortlich? VON HANNAH KNUTH
D
ieser Text handelt von
einer Mutprobe. Sie
spielt an einem Ort, an
dem Millionen Teen-
ager sich jeden Tag
treffen. Morgens, so-
bald sie wach sind.
Nachmittags, wenn sie aus der Schule kom-
men. Ein Ort, von dem viele Erwachsene
nicht wissen, wie er aussieht. Manche wissen
nicht einmal, dass er existiert.
107 Minuten verbringen Kinder und Ju-
gendliche im Alter von vier bis achtzehn Jahren
im Durchschnitt täglich auf TikTok, der erfolg-
reichsten Social-Media-Plattform der Gegen-
wart. Mehr als eine Milliarde Menschen haben
die App des chinesischen Konzerns ByteDance
auf ihrem Handy installiert. Kein anderes
Medium ist bei Kindern und Jugendlichen
beliebter. In den USA haben laut Bloomberg
mehr als zwei Drittel aller Teenager einen
Account auf der Plattform. Mehr als bei Face-
book, Snapchat, Instagram.
TikTok ist groß geworden durch Kurz-
videos, in denen Nutzer singen und tanzen,
aus ihrem Alltag erzählen und andere zu so-
genannten Challenges anspornen – einer
Herausforderung, einer Art Mutprobe.
Schafft ihr es auch, synchron zu tanzen?
Eine Minute einen Liegestütz zu halten?
Gefrorenen Honig zu essen? Macht ein Vi-
deo davon!
Harmlose Dinge, so fing es an. Mittlerweile
verbreiten sich auf TikTok Mutproben, die
tödlich enden können. Eine vor allem.
Halt mal die Luft an.
Schnür dir die Kehle zu.
Film dich dabei, wie du wieder zu Be-
wusstsein kommst.
Die Blackout-Challenge, auch unter dem
Namen »Choking Game« oder »Space Mon-
key« bekannt, sieht vor, dass sich Menschen
selbst die Luft abschnüren. Mit Gürteln,
Schnürsenkeln, Hundeleinen. Mit den eige-
nen Händen, falls es nicht anders geht. Nach
mehreren Sekunden filmen sie ihren rush,
den euphorischen Moment, wenn sie nach
ihrer Ohnmacht wieder zu Bewusstsein
kommen.
Würge-Spiele unter Jugendlichen gibt es
schon lange. Nur finden sie heute nicht
mehr auf dem Schulhof statt, sondern in
den sozialen Medien, wo sie Millionen junge
Menschen erreichen. Anstiften. Auch Kin-
der, die nicht wissen, was sie tun.
Die ZEIT hat öffentliche Mitteilungen,
Meldungen und Klagen gesichtet. Weltweit
stehen demnach über 15 Todesfälle von Kin-
dern und Jugendlichen im Zusammenhang mit
der Blackout-Challenge auf TikTok. Mehrere
Fälle lassen sich aus den Klageschriften nach-
zeichnen, einige stützen sich auch auf die öf-
fentlichen Schilderungen der Eltern.
Die jüngsten Opfer sind gerade einmal acht,
neun Jahre alt.
Wer ist für diese Tode verantwortlich?
Arriani A., 9 Jahre
Ein Abend im Januar 2021. Arriani A. spielt
mit ihrem jüngeren Bruder zu Hause in Wis-
consin. Die Mutter ist nicht da, sie besucht
eine Veranstaltung in der Kirche. Der Vater
ist im Keller. Arriani steigt in ihrem Zimmer
auf eine Spielzeugtruhe, in der Hand eine
Hundeleine aus Metall. Sie schnallt die Lei-
ne an die Schranktür, so wie sie es auf Tik-
Tok gesehen hat. Legt ihren Kopf hinein,
stößt die Truhe weg. Hängt nun einen hal-
ben Meter über dem Boden. Strampelt. Ihr
Bruder ruft den Vater, der Vater ruft den
Notarzt. Im Krankenhaus können die Ärzte
das Mädchen wiederbeleben. Aber ihr Ge-
hirn hat irreparable Schäden erlitten. Sie
stirbt an den Folgen der Challenge.
Im ersten Jahr der Corona-Pandemie
stieg die Zahl der Downloads von TikTok in
den USA innerhalb von neun Monaten um
75 Prozent an. Kinder und Jugendliche sa-
ßen zu Hause fest, verbrachten Zeit an ihren
Handys. Auf TikTok nahm die Zahl der
Challenges zu.
Schluck mal einen Esslöffel Zimt, ohne
danach Wasser zu trinken!
Randaliere im Badezimmer!
Koch mal ein Hähnchen in Hustensaft!
Zaiden B., 11 Jahre
Juni 2022. Er erzählt seiner Schwester, er
habe auf TikTok eine Challenge gesehen, bei
der man sich so lange würgt, bis man ohn-
mächtig wird. Die Familie findet den Jungen
ZEIT-Grafik
bewusstlos in dem Haus in New Mexico. Er
stirbt an den Folgen der Challenge.
TikTok und der Tod
Lalani W., 8 Jahre
Juli 2021. Sie kommt von einem Besuch bei
den Großeltern in Texas. Lalani sitzt den gan-
zen Tag im Auto, verbringt während der Fahrt
Stunden auf TikTok. Zu Hause angekommen,
soll sie ihr Zimmer aufräumen. Als die Stief-
mutter sie eine Stunde später sucht, findet sie
das Mädchen bewusstlos. Lalani stirbt wenig
später. Nach dem Tod untersucht die Polizei
ihr Telefon und Tablet. Die Beamten finden
Hinweise auf die Blackout-Challenge auf
TikTok. Das Mädchen habe versucht, die Mut-
probe zu bestehen.
Eine Sprecherin von TikTok schreibt, man
empfinde tiefes Mitgefühl für die tragischen
Verluste der Familien, sei aber nicht dafür ver-
antwortlich. Inhalte wie die Blackout-Chal-
lenge seien auf der Plattform verboten, wie
jeder Inhalt, der zu schweren Verletzungen oder
zum Tod führen könne. Man entferne solche
Videos, sobald man sie entdecke. Und: Neben
einer Technologie, die automatisch nach ille-
galen Inhalten suche, seien weltweit mehr als
40.000 Mitarbeiter damit befasst, die Videos
zu löschen. Allein zwischen Oktober und
Dezember 2022 hat TikTok nach eigenen An-
gaben über 85 Millionen Videos gelöscht, die
gegen die Regeln verstießen.
In den vergangenen Monaten hat TikTok
immer wieder darauf verwiesen, dass die ge-
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
fährlichen Mutproben aus anderen Quellen
als TikTok stammten. Dass sie überall im
Internet zu finden seien. Das stimmt. Man
findet sie auch auf YouTube. Ein Video dort,
aufgenommen vor wenigen Wochen, zeigt
einen Jungen, kaum älter als zwölf Jahre. Er
filmt, wie er draußen im Freien die Luft an-
hält, sich die Nase zudrückt. Er bricht den
Versuch ab, bevor er ohnmächtig wird. Ein
paar Tage später macht er ein neues Video,
ein zweiter Versuch. Er sagt: »Weil euch
mein erstes Video dazu so gefallen hat, pro-
biere ich das jetzt noch einmal.«
Es gibt Studien, die zeigen, dass emotionale
Botschaften auf Social Media eine besonders
2.5 M
342
13.1 K
15
Mindestens 15
Todesfälle stehen im
Zusammenhang
mit der Blackout-
Challenge auf TikTok
große Reichweite haben. Inhalte, die aufregen,
berühren, Wut oder Zorn hervorrufen.
»Das Ziel von TikTok ist es, die Nutzer
möglichst lang auf der App zu halten und die
Interaktion mit der Plattform zu steigern«, sagt
Christian Montag. Er ist Professor für Mole-
kulare Psychologie an der Universität Ulm und
hat ein Buch darüber geschrieben, wie Social-
Media-Plattformen ihre Nutzer psychologisch
manipulieren. Diese sollen liken, kommentie-
ren, dranbleiben. Je mehr Zeit sie auf der Platt-
form verbringen, je mehr Daten sie dort hin-
terlassen, desto erfolgreicher kann TikTok
Werbung verkaufen. »Der Algorithmus von
TikTok empfiehlt deshalb personalisiert die
Inhalte, die den Nutzer oder die Nutzerin in-
teressieren.« Montag zweifelt daran, dass Platt-
formen wie TikTok ihre Nutzer wirklich
schützen wollen. Ihr eigenes Geschäftsmodell
stehe dem entgegen.
Auch ein kurzer Versuch der ZEIT zeigt:
Je länger man sich Videos einer bestimmten
Challenge anschaut, desto öfter empfiehlt
der Algorithmus einem ähnliche Videos.
LaTerius S., 9 Jahre
Er würgt sich mit einen Gürtel. Die Mutter
entdeckt ihn bewusstlos in seinem Zimmer.
Auf seinem Handy findet die Polizei Hin-
weise auf die Blackout-Challenge.
Joshua H., 12 Jahre
Er benutzt einen Schnürsenkel, um sich zu
würgen. Sein Zwillingsbruder findet ihn. Im
Krankenhaus versuchen die Ärzte, Joshua
wiederzubeleben. Er stirbt 19 Tage später.
Antonella S., 10 Jahre
Sie hat das Handy zu ihrem zehnten Ge-
burtstag bekommen. Auf TikTok veröffent-
licht sie Videos, in denen sie singt und tanzt.
Im Januar 2021 würgt sie sich mit dem Gür-
tel eines Bademantels, stirbt kurz darauf in
einem Krankenhaus in Palermo.
Eigentlich dürften Kinder wie Antonella
und die anderen gar nicht auf TikTok sein. Die
21
Geschäftsbedingungen der Plattform erlauben
Jugendlichen erst ab 13 Jahren, sich auf TikTok
zu registrieren. Doch bei der Anmeldung wer-
den die Angaben der Nutzer nicht überprüft.
Eine Achtjährige kann einfach angeben, dass
sie 18 ist.
Eine Sprecherin von TikTok verteidigt den
Vorgang, dies sei »eine neutrale, dem Industrie-
standard entsprechende Altersfreigabe«. Die
Moderatoren würden zudem darin geschult,
auf Hinweise zu achten. Könnte ein Konto
einem Kind gehören? Steht vielleicht das Alter
im Profil? Allein zwischen Oktober und De-
zember 2022 hat TikTok weltweit über 17
Millionen Konten gesperrt, die vermutlich Per-
sonen unter 13 Jahren gehörten, schreibt die
Sprecherin. Die Plattform ist bislang nicht
gesetzlich verpflichtet, strengere Regeln zur
Altersüberprüfung einzuführen.
Aber ist sie haftbar, wenn Nutzer infolge
von Videos sterben, die auf ihr verbreitet
werden?
Nylah A., 10 Jahre
Dezember 2021, Pennsylvania. Nylah A. geht
in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie nimmt
den Gurt einer Handtasche. Hängt ihn an den
Schrank. Legt den Kopf hinein. Ihre Mutter
ist zu Hause. Sie findet ihre Tochter zu spät.
Einer forensischen Analyse von Nylahs
Handy zufolge hatte das Mädchen TikTok
zum Zeitpunkt des Vorfalls benutzt. Die
Challenge soll Nylah auf der »Für-Dich-Seite«
empfohlen worden sein.
Die »Für-Dich-Seite« ist das Herzstück der
App, eine Art Startseite, auf der den Nutzern
Videos vorgeschlagen werden, automatisch
bespielt vom Algorithmus der App.
Sowohl in Europa als auch in den USA
können Plattformen wie TikTok nicht ver-
antwortlich gemacht werden für das, was
Nutzer dort veröffentlichen. Werden sie auf
gefährliche Inhalte aufmerksam gemacht,
müssen sie diese aber löschen. Das gilt auch
nach dem Digital Services Act, dem neuen
europäischen Gesetz, das seit dem vergange-
nen November in Kraft ist.
Der Anwalt der Familie von Nylah A. sieht
das anders. Er hat in den USA eine Klage ein-
gereicht: Das Problem sei TikToks Algorith-
mus, der diese Mutproben belohne und sie
Millionen jungen Nutzern anzeige, glaubt er.
In der Klage heißt es: Die App und der Algo-
rithmus hätten Nylah »übermäßig und in un-
annehmbarer Weise« gefährliche Videos auf
ihre »Für-Dich-Seite« gepusht und sie so ermu-
tigt, an den Challenges teilzunehmen. TikTok
sei als Entwickler der App und des Algorithmus
für ein »gefährliches, fehlerhaftes Produkt« zur
Verantwortung zu ziehen.
Die Klage wurde abgewiesen. Die Familie
von Nylah A. ist in Berufung gegangen.
Sie ist nicht die einzige Familie, die wegen
der Blackout-Challenge gegen TikTok klagt.
Auch die Familien von Arriani A. und Lalani
W. haben im vergangenen Jahr Klage einge-
reicht. Ihre Anwälte argumentieren, dass Tik-
Tok im Januar und Juli 2021, als die Mädchen
starben, von der Blackout-Challenge gewusst
haben muss. Und den Kindern dennoch Vi-
deos davon empfohlen habe.
»Das Geschäftsmodell dieser Plattformen
kollidiert mit dem Grundbedürfnis von Kin-
dern und Jugendlichen: den Spieltrieb aus-
zuleben, die eigene Identität zu finden«, sagt
Christian Montag, der Psychologie-Professor
an der Uni Ulm. Solange sich die gesetz-
lichen Regeln für Plattformen wie TikTok
und deren Geschäftsmodelle nicht veränder-
ten, empfehlen Experten wie er vor allem
eines: digitale Bildung. Für Eltern, die ihre
Kinder in jungen Jahren an TikTok heran-
lassen. Für Lehrer, für die Kinder selbst.
»Das Problem ist strukturell«, sagt Mon-
tag. Eltern sollten gemeinsam mit ihren
Kindern über die Erfahrungen auf den Platt-
formen sprechen, sollten dort gemeinsam
Zeit verbringen. Das könne helfen, die guten,
aber auch die düsteren Seiten der Plattfor-
men zu verstehen.
Einige Eltern der verstorbenen Kinder
haben in den sozialen Medien andere Fami-
lien dazu aufgerufen, achtsam zu sein. Mit
den eigenen Kindern über die gefährlichen
Challenges zu sprechen, sie zu warnen.
Die Eltern von Arriani A. sprachen mit
ihrer Tochter vor deren Tod sogar über die
Blackout-Challenge. Warum sie so gefährlich
sei. Warum das Mädchen sie bitte nicht aus-
probieren solle. Arriani A. sei trotzdem zu
neugierig gewesen, heißt es in der Klage.
Konnte man etwas anderes erwarten?
Sie war ein Kind.
22 WIRTSCHAFT 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Letzte Ausfahrt Gräfenhausen

L
ukasz Mazur trägt eine goldene Uhr am
Handgelenk, sein Konferenzraum ist mit
Auch Koba Kvantaliani ist auf den Videos zu se-
hen. Er hält sich im Hintergrund, meidet die Raufe-
Er nennt sie Um seine Familie versorgen zu können, habe er sich
nun 1000 Euro von einem Freund leihen müssen.
Dass Mazur seinen Fahrern ohne Rücksicht auf
geltende Arbeitsverträge neue Konditionen diktie-
Granit ausgelegt, Flatscreen, Lederstühle, reien. Im Gespräch wirkt er nachdenklich. Lange Terroristen, sie ihn Auch Lukasz Mazur hat Frau und Kinder. Seinem ren kann, liegt daran, dass sie nicht direkt bei ihm
ein Hemd spannt sich um die muskulösen bevor er für Lukasz Mazur durch Europa fuhr, habe Sohn folgen mehr als 100.000 Menschen auf TikTok. angestellt sind. Er schließt mit ihnen Dienstverträge
Oberarme. Alles an dem Mann strahlt er Ökonomie studiert. Doch weil er damit keinen einen Mafioso – an Er postet dort Videos von teuren Autos, ab und zu ist ab. Sie garantierten den Fahrern den polnischen
Kraft aus, und so viel stimmt ja auch: Mazur ist einer Job fand, verdingte er sich erst als Elektriker und sein Vater darauf zu sehen. Ein Video zeigt Lukasz Mindestlohn: 4,25 Euro die Stunde. Darüber hi-
der erfolgreichsten Logistikunternehmer Polens, Herr anschließend 14 Jahre als Fahrer für eine Goldmine.
einer Raststätte eskaliert Mazur am Steuer eines Maybach. In einem anderen naus vereinbaren Fahrer und Unternehmen Tages-
über mehr als 2000 Fahrer. Doch gerade macht ihm
das Geschäft schlechte Laune. »Ich werde terrorisiert«,
Vier Tage arbeiten, vier Tage frei, das sei sein Rhyth-
mus gewesen.
der Streit zwischen Clip driftet er mit einem Lkw über einen Parkplatz: Er sätze von 70 bis 90 Euro, abhängig von der Erfah-
rung. Es sei üblich, dass seine Fahrer die Zahlungen
übersteuert das Fahrzeug absichtlich so, dass das Heck
sagt er. Die Terroristen, das sind in Mazurs Augen Mitte 2022 habe er dann über einen Freund von einem Spediteur und in der Kurve ausbricht. Für seine Fahrer ist die Lkw- erst mit sechs Wochen Verzug erhalten, sagt Mazur.
seine eigenen Leute. Zumindest einige von ihnen. Lukasz Mazur erfahren: Der Pole unterstütze bei der Kabine eine Wohnung auf Zeit – für ihn ein Spielzeug? Zuvor müssten die Lieferdokumente geprüft wer-
Vergangene Woche, eine halbe Autostunde von Arbeitserlaubnis in Europa und zahle gut. In Georgien seinen Fahrern Auf die Frage nach den Videos reagiert er gereizt. den. Mazur präsentiert Überweisungsbelege der ver-
Krakau entfernt. Im Erdgeschoss eines Bürogebäu- verdiente Kvantaliani 600 Euro im Monat, von Mazur Zitieren lassen möchte er sich dazu nicht. gangenen Monate. Als er gehört habe, dass es um
VON JONAS SCHULZE PALS
des empfängt Mazur, 41, den Reporter aus Deutsch- bekommt er 2400 Euro. Dafür zahlt er einen Preis: Mazur erzählt lieber, dass er seine zwei Unterneh- die Sonntagszahlungen geht, habe er sofort veran-
land. Dort ist seit Kurzem sein Ruf hinüber. Dabei Der Arbeitstakt ist höher, er fährt jetzt fünf Tage in men Agmaz und Lukmaz 2008 zur Zeit der Finanz- lasst, dass sie ausgezahlt werden, sagt Mazur.
wollte er, so stellt es Mazur dar, doch nur Edwin Atema hält diese Behauptun-
sein Eigentum zurückholen. Stattdessen gen für vorgeschoben. Der niederländi-
wurde er in Deutschland festgenommen, sche Gewerkschafter ist seit mehr als
und das kam so: zehn Jahren auf europäischen Autobah-
Es war Karfreitag, als auf der Rast- nen unterwegs, um Lkw-Fahrer über
stätte Gräfenhausen West zwischen ihre Rechte aufzuklären. Seit März fährt
Frankfurt am Main und Darmstadt ein er fast täglich zur Raststätte Gräfenhau-
gepanzertes Fahrzeug vorfuhr, begleitet sen West. Er kenne Mazur, weil er schon
von einem Audi und mehreren Klein- in den Niederlanden Fahrer von ihm
bussen. Seit Tagen schon hatten in Grä- beraten habe, sagt er. Auch deshalb
fenhausen West Lkw-Fahrer aus Mazurs schaltet er sich nun in den Streik in Süd-
Betrieb gestreikt. Ihr Chef schulde ihnen hessen ein: Die Logistikbranche kennt
Geld, behaupteten sie. Mazur sah und kaum Grenzen. So kam es, dass die Strei-
sieht das bis heute anders, also nahm er kenden Atema zu ihrem Verhandlungs-
die Sache selbst in die Hand: Mit 18 teil- führer ernannten. Immer wieder ver-
weise vermummten Männern tauchte er sammelt er die Fahrer und informiert sie
an der Raststätte auf und begann, die ge- über den aktuellen Stand. Entscheidun-
parkten Lkw der Streikenden wegzufah- gen trifft die Gruppe per Handzeichen.
ren. Es kam zu Handgreiflichkeiten, am Viele Fahrer stammen aus Nicht-EU-
Ende wurde Mazur von der Polizei in Ländern, sie sind schlecht organisiert.
Handschellen abgeführt. »Das ist völlig Für die Gewerkschaften ist der Streik
unverständlich«, ruft er eine Woche spä- daher gerade eine einmalige Möglich-
ter in seiner Firmenzentrale. keit, auf die prekären Arbeitsbedingun-
Auf drei Stockwerken, hinter einer gen in der Branche aufmerksam zu ma-
schwarzen Fassade mit schwarz getönten chen. Streiks wie den in Gräfenhausen
Fenstern, organisieren hier Logistiker Tisch hat es in dieser Form bislang noch nicht
an Tisch den Transport von Waren durch gegeben. »Ehrlich gesagt haben wir da-
ganz Europa. Das alles, fürchtet Mazur, ist rauf seit Jahren gewartet«, sagt ein Mit-
jetzt in Gefahr. Das Logistikgeschäft laufe arbeiter des Deutschen Gewerkschafts-
sowieso schlecht, jetzt kämen wegen des bunds. Auch die deutschen Gewerk-
Streiks noch Vertragsstrafen hinzu. schafter unterstützen die Fahrer vor Ort.
»250.000 Euro verlangt einer meiner Kun- Eines der größten Probleme sei die
den«, sagt er. Einige Geschäftspartner Unwissenheit, sagt Atema. Viele Fahrer
hätten die Zusammenarbeit schon beendet. würden in der Hoffnung auf gute Ver-
Deshalb will er die Geschichte aus sei- dienste in Europa fragwürdige Verträge
ner Sicht erzählen. Eine Geschichte, das ist unterschreiben. Nur die wenigsten wüssten,
für ihn ganz klar, in der er das Opfer ist. dass ihnen die Arbeitgeber eigentlich den
Seine Fahrer sehen das anders: Sie erzählen Mindestlohn jener Länder zahlen müssten,
von einem Mafioso, und der heißt Lukasz in denen sie den Großteil ihrer Arbeit ver-
Mazur. Beide Seiten widersprechen sich in richten. Das ist eben häufig Deutschland.
fast jedem Punkt. Sicher ist nur: der Still- Wegen der großen Abhängigkeit würde
stand, in Gräfenhausen West. aber kaum ein Fahrer gegen seinen Chef
Die Raststätte an der A5 ist ein un- aufbegehren. Denn wem der Vertrag ge-
scheinbarer Streifen Asphalt, ein paar kündigt wird, der verliert Arbeitserlaubnis
Bänke mit Tischen, eine Tankstelle, einmal und Aufenthaltsgenehmigung.
aufs Klo ein Euro, man kennt das. Nun Die Vertragskonstrukte, die Lukasz
tobt ausgerechnet an diesem gewöhnlichen Mazur seinen Fahrern anbietet, hält Ed-
Ort ein ungewöhnlicher Arbeitskampf: Ein win Atema für rechtswidrig. »Es kann
Logistikunternehmer aus einem östlichen doch nicht sein, dass die Leute erst mit
Nachbarland streitet dort mit seinen Mit- sechs Wochen Verzug ihr Geld bekom-
arbeitern. Der Konflikt steht für mehr als men«, sagt er. Außerdem hätten ihm die
für ein windiges Betriebsklima. Er steht für Fahrer erzählt, dass der polnische Unter-
die Folgen des europaweiten Lohngefälles nehmer die Zahlungen immer wieder
und die Auswüchse, die globalisierte Lo- ohne Erklärungen kürzen würde. Mazur
gistikketten nach sich ziehen. bestreitet das auf Nachfrage. Er betont,
Mazurs Kunden heißen unter anderem dass er regelmäßig von polnischen Be-
DHL und VW. Deutsche Firmen wie sie hörden kontrolliert werde.
verlassen sich beim Transport ihrer Waren Atema sagt, dass Mazur auch abgesehen
zunehmend auf günstige osteuropäische von der Szene an Karfreitag bei den Ver-
Logistikfirmen. Die beschäftigen oft Fah- handlungen unkooperativ aufgetreten sei.
rer, die aus Ländern außerhalb der EU »Wir hatten uns schon darauf geeinigt,
stammen. Sie arbeiten unter prekären Be- dass er uns die Vertragsunterlagen und
dingungen, in großer Abhängigkeit von Überweisungen von fünf Fahrern gibt,
ihren Chefs, leben mehrere Monate lang in damit wir seine Behauptungen überprüfen
Lkw-Kabinen, ohne ihre Familien zu tref- können. Dann hat er aber wieder einen
fen. Jetzt wehren sich die ersten. Rückzieher gemacht«, sagt Atema. Mazur
Koba Kvantaliani zum Beispiel. Zwei bestätigt das. Er vertraue dem Niederlän-
Tage vor dem Besuch in Krakau trifft man der nicht. »Der will eine Show auf meine
ihn auf dem Rastplatz, an die Fahrertür Kosten machen!«, ruft er.
seines Lkw gelehnt. Der 44-Jährige trägt Normalerweise verbringen Lkw-Fahrer
einen Trainingsanzug und Sneaker, seine maximal zwei oder drei Nächte in Folge an
Haare sind grau. So sieht also – wenn man einer Raststätte. Die Georgier und Usbe-
Lukasz Mazur glaubt – ein Terrorist aus. ken harren schon seit Wochen auf dem
Seit 30 Tagen weigert sich Kvantaliani, Parkplatz aus. Die ersten Tage seien schwie-
seinen Lkw weiterzufahren. Seit 30 Tagen rig gewesen, erzählen sie. Erst wurde der
Fotos: Anna Ziegler für DIE ZEIT

schläft, duscht und isst der Georgier in
Gräfenhausen West. Er harrt dort mit rund
60 anderen Fahrern aus, die sonst für Lu-
kasz Mazur durch halb Europa fahren. Die
Eisenstreben, die er in Dortmund aufgela-
den hat, will er erst in die Slowakei brin-
gen, wenn Mazur ihm das Geld überweise,
das er ihm schulde, mehr als 4000 Euro.
Der Chef bestreitet das. »Er ist ein ge-
wöhnlicher Mafioso«, sagt Kvantaliani.
»Mit eigenen Augen« habe er am Karfreitag gesehen,
wie sein Chef mit einem gepanzerten Wagen auf der
Raststätte auftauchte, erzählt der Georgier. Ein polni-
scher Internetsender hat die Vorfälle gefilmt, man kann
sich die Videos auf YouTube anschauen. Zu sehen ist
ein schwarzes Auto mit kantiger Karosserie und kleinen
Fenstern. Über der Frontscheibe prangt der Schriftzug
»Rutkowski Patrol«. Das Auto, wie auch die Männer,
Folge bis zu zehn Stunden am Tag. Wenn er frei hat,
ist er oft weit weg von zu Hause, sodass er seine Töch-
ter, 9 und 17, seit Monaten nur noch auf dem Handy-
bildschirm gesehen hat. »Meine kleine Tochter ruft
jeden Tag an«, sagt Kvantaliani. Auf seinem zersprun-
genen Smartphone-Display zeigt er ein Bild von ihr.
Seit zwei Monaten habe sich die Lage verschärft: So
lange wartet der Georgier nach eigenen Angaben schon
auf sein Geld – Mazur wird den Fall später anders er-
Sie harren aus: Koba
Kvantaliani (oberes Bild, ganz
rechts) und seine Mitstreiter
werfen ihrem polnischen Chef vor,
sie nicht zu bezahlen
krise aufgebaut habe. Bis zur Pandemie sei das Geschäft
gut gelaufen, den Umsatz der Firmen verrät er aber
nicht. Es reichte aber offenbar, um eine dritte, Imperia,
zu kaufen. Kompliziert wurde es, als sich Covid-19 in
der Welt ausbreitete und auch bei Mazur die Umsätze
einbrachen. Um seine Unternehmen durch die Krise
zu bringen, habe er mit den Fahrern abgesprochen,
ihnen drei Monate lang kein Geld mehr für Samstage
und Sonntage zu zahlen, an denen sie im Sommer eh
Dieseltreibstoff knapp, mit dem sie nachts
ihre Lkw heizen. Dann fehlte es an Essen.
Mittlerweile bekommen die Fahrer Unter-
stützung: Sie dürfen die Toiletten und
Duschen des Rastplatzes kostenlos nutzen.
Immer wieder kommen Menschen und
bringen Konserven, Wasser und Zigaret-
ten. Ein älteres Ehepaar habe den Fahrern
10.000 Euro in bar überreicht, erzählen
diese. Wie bitte? Die Gewerkschaft bestätigt die
Summe, rund 150 Euro für jeden Streikenden hätten
der Mann und die Frau verteilt, nachdem sie von der
Situation im Radio gehört hatten. »Ich habe nicht
gewusst, dass die Deutschen so hilfsbereit sind«, sagt
Koba Kvantaliani.
Er wolle so lange auf dem Rastplatz bleiben, bis
auch der letzte Kollege sein Geld bekommen habe –
bislang hat Mazur nur eine Handvoll Fahrer ausbezahlt.

die Mazur begleiteten, gehören zum Reich des polni-
schen Millionärs, Privatdetektivs und Ex-Politikers
Krzysztof Rutkowski. »Ich habe ihn gebeten, mich zu
beschützen, weil ich Angst hatte, dass die Fahrer mich
angreifen würden«, erklärt Mazur die Aktion. Außer-
dem habe er sich nicht anders zu helfen gewusst: »Gegen
mich wurde Strafanzeige gestellt, weil ich angeblich die
Ware unterschlagen haben soll«, sagt Mazur.
zählen. Kvantaliani sagt, sein Chef schulde ihm die
Sonntagszahlungen für Januar. Weil er auch anderen
Fahrern dieses Geld nicht überwiesen habe, hätten sie
sich über eine Messenger-App zum Streik verabredet.
Gräfenhausen West sei einfach der Treffpunkt gewesen,
der für die meisten am nächsten lag, um Mazur ein
Zeichen zu senden. Für Februar und März will Kvan-
taliani ebenfalls noch kein Geld bekommen haben.
30
Tage
schlafen, duschen und essen einige
Fahrer nun schon an der Raststätte
nicht arbeiten könnten. Die Fahrer hätten das ak-
zeptiert. Das gleiche Modell habe er dann im Dezem-
ber für Januar und Februar angekündigt. Dieses Mal
sollten nur die Sonntage unbezahlt bleiben. Wieder
habe es keine Klagen gegeben. Und wieder, wie auch
während der Pandemie, habe gegolten: Wer das nicht
akzeptieren wolle, könne kündigen. Umso mehr habe
es ihn überrascht, dass die Fahrer in den Streik gingen.
Der Unternehmer sagt, er gehe nun quasi in Vor-
leistung, damit der Streik endlich beendet werde. Er
hoffe, dass seine Fahrer die Lieferdokumente voll-
ständig nachreichten. Für Kvantaliani wird die Fahrt
in die Slowakei die letzte für Mazur sein. Im Juni wird
er zu einem kasachischen Unternehmen wechseln.
!www.zeit.de/vorgelesen
 DIE ZEIT N o 17 20. April 2023 WIRTSCHAFT 23

ANALYSE

Auf Abstand gehalten

Deutschland will sich von China unabhängiger machen und Teile des Hamburger Hafens nicht einfach so dem chinesischen Staatskonzern Cosco überlassen.
Bald könnte sich der Staat auch bei anderen Unternehmen auf diese Weise einmischen VON THOMAS FISCHERMANN

M
an kann Rüdiger Grube wohl als
einen Pionier der deutschen
Wirtschaft begreifen: Der frühe-
re Bahnchef, der heute dem Auf-
sichtsrat der Hamburger Hafen-
betreibergesellschaft HHLA vorsitzt, kämpft seit
Monaten mit einem neuartigen Ärgernis. In
Deutschland soll es nach Jahren des sorglosen
Globalisierens darum gehen, Abhängigkeiten zu
vermeiden. Der größte Seehafen Deutschlands
hat damit ein Riesenproblem.
In der vergangenen Woche wurde klar, dass es
wohl weitere Verzögerungen bei einem für die
HHLA besonders wichtigen Geschäftsvorhaben
geben wird: Schon seit Monaten will das Bun-
deswirtschaftsministerium keine Genehmigung
Illustration: Timo Meyer für DIE ZEIT
klärt: Wenn man so viele Containerladungen
nach Hamburg bringe wie Cosco, wolle man
auch ein bisschen beim Entladen mitverdienen.
Aber es ist eben nichts mehr so normal in der
vorsichtigen Wirtschaftswelt des Jahres 2023: Nach
den Erfahrungen mit den Gasimporten aus Russ-
land will man im politischen Berlin unbedingt
verhindern, dass Deutschland als Nächstes vom
autoritären China und seinen parteinahen Staats-
konzernen wie Cosco abhängig wird.
Nach monatelangen Verhandlungen um die
Übernahme des Tollerort-Terminals kam jetzt je-
denfalls heraus, dass das Bundesamt für Sicherheit
in der Informationstechnik (BSI) diesen neuerdings
als Teil der »kritischen Infrastruktur« in Deutsch-
land ansieht. Dann hörte man sinngemäß aus dem
Und der Hamburger Hafen ist nur ein besonders
prominentes Beispiel. Tatsächlich betreffen solche
Herausforderungen inzwischen auch Unternehmen,
die früher nie damit gerechnet hätten: »Die Fragen
kritischer Infrastruktur und kritischer Technologien
sind längst auch im Mittelstand angekommen, sogar
dort, wo es nicht um direkte Firmenübernahmen
durch außereuropäische Unternehmen geht«, sagt
Claudia Geercken, eine Anwältin bei der Prüfungs-
und Beratungsgesellschaft Rödl & Partner. »Das kann
auch bereits zum Thema werden, wenn man einfach
nur einen neuen Investor mit ins Boot holt.« Das liegt
daran, dass Gesetze und Vorschriften über die ver-
gangenen Monate hinweg strenger gefasst wurden –
auch die Definition, was hierzulande überhaupt als
eine »kritische Infrastruktur« gelten soll. Und in wel-
die angebliche Bedrohung durch den chinesischen
Telekom-Hersteller Huawei, über die seit 2019 debat-
tiert wird: Sollte es wirklich erlaubt werden, dass
dieses chinesische Unternehmen wichtige Mobilfunk-
Infrastrukturen in Deutschland mit aufbaut? Könnte
dann vielleicht der chinesische Geheimdienst Spiona-
ge über diese Netze betreiben? Bloß hat bis heute noch
niemand irgendwelche Hintertürchen für chinesische
Spione in Huawei-Produkten entdeckt. Spionage
durch andere Staaten wie die USA aber sehr wohl.
Zum Thema der Seehäfen wird ebenfalls schon
länger spekuliert – was schnell zu großem Ärger führt,
wie im vergangenen Oktober die belgische Außen-
ministerin Hadja Lahbib merkte. Nach Informationen
der South China Morning Post standen bei ihr rasch
»wütende chinesische Diplomaten« auf der Matte,
Inzwischen zeigt aber eine große Fülle ähnlicher
Untersuchungen, wie sehr China bereits die Meere
kontrolliert und dass sich dabei manchmal wirtschaft-
liche, geostrategische und sogar militärische Ziele
überlappen. Cosco und die anderen Meeres-Staats-
konzerne haben auf der halben Welt ihre Beteiligun-
gen ausgebaut: Sie besitzen oder betreiben jetzt an die
100 Hafenterminals in mehr als 50 Ländern. In Grie-
chenland etwa kontrolliert Cosco den größten Hafen,
Piräus. Im ostafrikanischen Dschibuti besitzt China
sogar einen Militärstützpunkt in großer Nähe zum
Sueskanal. Von Hambantota in Sri Lanka aus könnte
die Volksrepublik wesentliche Frachtlinien kontrol-
lieren. Aber mal ehrlich: Tollerort?
Die Betreibergesellschaft HHLA entwirft selber ein
finsteres Szenario, aber das sieht völlig anders aus: Ihr

für eine Minderheitsbeteiligung des chinesischen
Schifffahrtkonzerns Cosco am Containertermi-
nal Tollerort erteilen. Das ist der kleinste von vier
Hamburger Terminals dieser Art, und die Chine-
sen versprechen im Gegenzug einen beherzten
Ausbau und mehr Schiffsverkehr. »Völlig norma-
les Geschäft«, sagt dazu Grube, der sich den
Wunsch der Chinesen mit Kaufmannslogik er-
Wirtschaftsministerium: Sorry, die Prüfung der
Übernahme könnte jetzt noch mal länger dauern.
Und das, obwohl auf Druck von Kanzler Scholz
Ende 2022 bereits ein Kompromiss ausgehandelt
worden war: Cosco würde nur 24,9 Prozent statt
wie ursprünglich angestrebt 35 Prozent an dem
Terminal kaufen. »Wir machen uns gegenüber den
Chinesen doch unglaubwürdig«, schimpft Grube.
chen Fällen sie als gefährdet gilt.
Allerdings bleibt ein Problem bei diesen Bedro-
hungsszenarien: Sie sind quasi immer spekulativ. Man
kann gar nicht ganz objektiv darüber entscheiden.
Berliner Politiker, EU-Parlamentarier, Spitzenbeamte
und Berater aus Thinktanks halten es vielleicht für
möglich, dass dieser oder jener Gefahrenfall eintreten
könnte, aber passiert ist es noch nicht. Ein Beispiel ist
nachdem sie in einem Interview über Gefahren für die
belgischen Häfen in Antwerpen und Zeebrugge
spekuliert hatte. Lahbib nannte China dabei einen
»potenziellen Feind« und bezog sich unter anderem
auf einen Forschungsbericht des Brüsseler Politik-
wissenschaftlers Jonathan Holslag, der auch nicht
gerade diplomatisch betitelt war: »Jedes Schiff ist ein
Kriegsschiff«. China reagiert auf so was sensibel.
Worst Case wäre es, wenn die Chinesen wegen des
ganzen politischen Hickhacks die Geduld verlieren
und auf den Einsteig verzichten würden. Wenn sie
ihren nordeuropäischen Container-Schwerpunkt
woanders aufbauten – zum Beispiel in Zeebrugge. Da
wird zwar manchmal böse über sie geredet. Man hat
ihnen aber längst die Mehrheitsbeteiligung an einem
Containerterminal gestattet.

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KOMMENTAR

Erinnern Sie sich!

Die CDU will im Bundestag einen Untersuchungsausschuss
zur Rolle von Bundeskanzler
Mein Geld
macht grün.
Olaf Scholz im Cum-Ex-Skandal einsetzen. Gut so!

Es ist die Aufgabe der Opposition, die Regierung
zu kontrollieren. Dass die Opposition dies gerne
mit möglichst viel Tamtam verbindet, gehört dazu.
Insofern ist es parlamentarisches Alltagsgeschäft,
wenn die CDU-Fraktion im Bundestag einen
Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Skandal
einsetzen will. An diesem Donnerstag plant sie,
einen Antrag dazu im Plenum einzubringen. Aus-
schussvorsitzender wird wohl der finanzpolitische
Sprecher der Fraktion, Matthias Hauer, wie aus
Unionskreisen zu hören ist. Dass die CDU dabei
vor allem die Rolle von Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) beleuchten will, ist erwartbar. Aber nur weil
ein durchsichtiges Polit-Manöver dahintersteht, ist
der Ausschuss noch lange nicht falsch. Denn es gibt
viele offene Fragen in dem Fall.
Cum-Ex steht für einen gigantischen organi-
sierten Steuerraub. Dabei haben Banken und an-
dere Akteure vom Finanzamt Steuern zurückge-
fordert, die sie gar nicht bezahlt haben. Mit cleve-
ren Tricks haben sie den Staat in einen Selbstbe-
dienungsladen für sich und ihre Kunden verwan-
delt. Mehrere Steuerräuber wurden in dem Fall
schon verurteilt. Und erst vor zwei Wochen hat
das Landgericht Bonn die Anklage wegen schwe-
rer Steuerhinterziehung gegen Christian Olearius
zugelassen, den ehemaligen Aufsichtsratschef und
Miteigentümer der Hamburger Warburg-Bank.
Um Olearius und die Warburg-Bank soll es
auch im Untersuchungsausschuss gehen. Konkret
will die größte Oppositionspartei erhellen, wa-
rum der Stadtstaat Hamburg im Jahr 2016 die zu
Unrecht an Warburg gezahlte Kapitalertragsteuer
aus Cum-Ex-Geschäften nicht zurückfordern
und die Sache verjähren lassen wollte.
Unangenehm für Scholz ist daran, dass er im
Jahr 2016 Erster Bürgermeister der Freien und
Hansestadt Hamburg war – und damit politisch
in der Verantwortung stand. Unangenehm für ihn
ist auch, dass das Bundesfinanzministerium – da- Weil ich damit sichere Geldanlage
mals in CDU-Hand – Hamburg im Jahr 2017
formell anweisen musste, nicht noch ein weiteres
mit nachhaltiger Wirkung verbinde.
Mal auf Steuerrückforderungen zu verzichten.
Olaf Scholz hat sich in jener Zeit mehrmals
Jetzt
mit Christian Olearius getroffen, so viel steht fest. informieren!
Worüber er mit ihm gesprochen hat, weiß man
nicht, er wiederholt regelmäßig, er könne sich
nicht erinnern. Deshalb ist die Frage, die die CDU
beantwortet haben will, vollkommen legitim: Hat
die Politik in Hamburg Einfluss genommen auf
den Steuerfall Warburg?
Man könnte einwenden, dass es in der Ham-
burgischen Bürgerschaft hierzu schon einen Un-
tersuchungsausschuss gibt, der bislang keine Bele-
ge dafür fand. Aber das ist nur ein Feierabend-
parlament mit begrenzten Ressourcen, ganz an-
ders als der Bundestag. Und es geht bei dem Fall
eben nicht nur um eine lokale Affäre. Es geht um
Steuern, die auch dem Bund vorenthalten wur-
den – und damit allen Steuerzahlern. Man möchte
daher schon gerne wissen, wie das Verhältnis von
Scholz zu dem Banker Olearius war, der verdäch-
tigt wird, den Staat geprellt zu haben – was Olea-
rius bestreitet. Auch dass Scholz sich zunächst an-
geblich noch an ein Gespräch mit Olearius erin-
nern konnte, bei dem man über »viele Dinge« ge-
sprochen habe, später dann aber keinerlei Erinne-
rungen mehr hatte, wirft Fragen auf.
Insofern gibt es gute Gründe, den Fall auf
Bundesebene aufzugreifen. Dass es der poli-
tischen Oppositionsarbeit hilft und den Kanzler
vor der nächsten Wahl ärgern wird – das ist eben umweltbank.de
politisches Geschäft. Aber vielleicht dient es ja
der Wahrheitsfindung. INGO MALCHER
 24 WIRTSCHAFT 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

»Andere
rennen uns Der promovierte
Ingenieur
Uwe Lauber ist
seit 2015 Chef

davon«
des Augsburger
Maschinenbauers
MAN Energy
Solutions, der
zum VW-Konzern
gehört

Deutschland führt neue

Klimaschutz-Technologien viel zu
langsam ein, sagt Uwe Lauber,
Chef von MAN Energy Solutions

DIE ZEIT: Herr Lauber, Sie kommen gerade von ei-
ner Verkaufstour in den USA. Was haben Sie erlebt?
Uwe Lauber: Dort herrscht eine riesige Dynamik! Es
ist unglaublich, wie da Klimaschutztechniken ge-
pusht werden, während wir in Deutschland leider
noch immer viel zu träge sind.
ZEIT: Haben Sie ein Beispiel?
Lauber: Ich habe in Boston einen Vorvertrag unter-
schrieben mit einem Fernwärmeanbieter. Wir wer-
den ihm eine große Wärmepumpe liefern, mit der er
Wärme aus Flussläufen ziehen kann. Bei der Unter-
zeichnung waren auch Politiker dabei, die begeistert
waren von der Technologie, eine unglaubliche Auf-
bruchsstimmung. Das vermisse ich bei uns. Hier
wird viel zu viel diskutiert und alles zerredet.
ZEIT: Aber in Mannheim soll dieses Jahr doch auch
eine Großwärmepumpe in Betrieb gehen und
Wärme aus dem Rhein gewinnen.
Lauber: Das ist nur eine Demo-Anlage. In Amerika
Fotos: Tom Ziora für DIE ZEIT; SZ Photo (v. l.)
Lauber: Genau, wir sind Weltmarktführer mit unse-
ren CCS-Anlagen und können sie in allen Ländern
der Welt installieren – nur nicht bei uns. In Amerika
ist CCS nicht nur erlaubt, sondern wird auch stark
subventioniert. Das hilft der dortigen Industrie.
ZEIT: Warum?
Lauber: Der Chef eines sehr großen Öl- und Gas-
konzerns in den USA hat mir gesagt: Ich muss meine
Anlagen dekarbonisieren, dafür brauche ich CCS-
Anlagen. Jetzt will er sich dafür unsere CCS-Anlagen
sichern. Auch die amerikanische Zementindustrie
investiert in solche Anlagen. Vielleicht kommen wir
in Deutschland ja irgendwann mal in die Gänge und
heben das Verbot auf – aber dann bin ich womöglich
in der komischen Situation, dass ich gar nicht mehr
liefern kann, weil ich Verpflichtungen gegenüber
anderen habe. Das finde ich schade.
ZEIT: Halten Sie das wirklich für realistisch?
Lauber: Ja, es kann zu einem Wettlauf um die Ver-
Deutschland in Gefahr. Je länger wir mit dem Ein-
satz dieser Technologie warten, desto mehr riskieren
wir die Abwanderung unserer Industrie. Es ist gut,
dass die Bundesregierung das Thema CCS jetzt im-
merhin diskutiert. Aber andere rennen uns davon.
ZEIT: Wäre es nicht sinnvoller, gar kein CO₂ mehr
zu emittieren, anstatt es im Boden zu versenken?
Lauber: Klar. Aber es gibt Branchen wie die Zement-
und Kalkindustrie, die haben diese Möglichkeit
nicht, weil das CO₂ im Herstellungsprozess entsteht.
Technologien zur Abscheidung von CO₂ sind für sie
die einzige Möglichkeit, an der Dekarbonisierung
mitzuarbeiten. Und CO₂ ist ein wichtiger Rohstoff.
Wir müssen ihn abscheiden und wiederverwenden.
ZEIT: In den USA garantieren Politiker deutschen
Firmen sogar billige Energiepreise: Gas für 1,5 Cent
pro Kilowattstunde fest für zehn Jahre – statt dem
dreifachen Preis wie aktuell bei uns.
Lauber: Wenn Sie dann hier noch für Emissionen
Lauber: Ja schon, aber meine Sorge ist, dass wir zu
langsam sind. Wie viele Windräder haben wir
letztes Jahr gebaut? Das darf man doch gar kei-
nem erzählen. Die ganze Welt lacht über uns.
Dabei haben wir in Deutschland längst die Tech-
nologie, um die Energiewende zu schaffen. Auch
in unserer Firma bauen wir Elektrolyseure, um
grünen Wasserstoff zu produzieren, den wir künf-
tig in riesigem Ausmaß brauchen werden. Aber
die Regularien sind viel zu komplex, deshalb dau-
ert alles zu lange. Die Uhr tickt. Ich habe Kinder,
was will ich meinen zwei Bengels sagen, wenn wir
denen eine kaputte Welt hinterlassen?
ZEIT: Wo konkret finden Sie Deutschland zu
langsam und komplex?
Lauber: Wir investieren eine halbe Milliarde Euro
in unsere Wasserstoff-Tochter H-Tec Systems.
Ende April feiern wir in Hamburg den ersten Spa-
tenstich für eine neue Fabrik. Dort fertigen wir
Lauber: Wir haben schon versucht, uns zu weh-
ren, aber wir haben kein richtiges Gehör bekom-
men. Wie oft war ich zu Gesprächen in Berlin.
Irgendwann habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss!
ZEIT: Warum denn das?
Lauber: Wenn man ein Meeting hatte und der Mi-
nister kam immer eine halbe Stunde zu spät und
musste eine Stunde früher gehen, dann blieben oft
nur zehn Minuten oder eine Viertelstunde Zeit.
Das war sinnlos. Wir wurden vielleicht auch nicht
ganz ernst genommen. Dann war die Motivation
bei uns nicht mehr so groß.
ZEIT: Was bedeuten die hohen Subventionen in
den USA und in China für Ihr Geschäft?
Lauber: Wir haben im Vorstand schon oft darüber
diskutiert, ob es bei Elektrolyseuren laufen kann
wie bei Solarpanels, dass die Asiaten uns das Was-
ser abgraben. Da müssen wir aufpassen. Deshalb
ist Geschwindigkeit so wichtig: Wir müssen die

ist die Projektpipeline randvoll mit solchen Groß-
wärmepumpen. Das heißt: Ich darf jetzt die Technik
made in Germany den Amerikanern zur Verfügung
stellen. Dabei hätte ich sie auch gerne bei uns in
Deutschland aufgebaut. Aber wir scheitern hier an
Regularien. Das Schlimmste ist das Thema CCS.
ZEIT: Sie meinen die Technik zur Abscheidung und
Speicherung von CO₂. Die wurde 2009 in einem
deutschen Kohlekraftwerk getestet, durfte aber nie
eingesetzt werden, weil die Bundesländer sie verboten.
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fügbarkeit dieser Technologien kommen.
ZEIT: Was bedeutet das für die deutsche Industrie?
Lauber: Die Unternehmen in Deutschland zahlen
sehr hohe Energiekosten und müssen außerdem
noch viel Geld für jede Tonne CO₂ bezahlen, die sie
ausstoßen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich
bin für den CO₂-Preis, gern auch einen höheren.
Aber: Diese beiden Belastungen haben Firmen in
den USA nicht. Viele meiner deutschen Vorstands-
kollegen in der Industrie sehen den Standort
bezahlen müssen, dann bleibt Ihnen fast nichts
anderes übrig, als die Zelte in Deutschland abzu-
brechen. BASF schaltet in Ludwigshafen gerade die
neueste Ammoniak-Anlage der Welt ab, das spricht
doch für sich.
ZEIT: Die Bundesregierung ist aber nicht untätig. Sie
plant, die erneuerbaren Energien massiv auszubauen,
so sollen die Energiepreise irgendwann sinken. Und
für energieintensive Firmen soll es bald milliarden-
schwere Umstellungshilfen geben.
das Herzstück von Wasserstoff-Elektrolyseuren
– die Zellstapel, auf Englisch Stacks – erstmals in
Deutschland in Serie, rund um die Uhr mit Robo-
tern. Die Genehmigungsprozesse für diese Fabrik
haben über ein Jahr gedauert. Wir wurden ewig
von einer Behörde zur nächsten geschickt.
ZEIT: Warum denn?
Lauber: Wenn ein Stack produziert ist, müssen wir
testen, ob er funktioniert: Wir geben grünen
Strom drauf, dann produziert er Wasserstoff.
Sechs bis sieben Tonnen Wasserstoff werden so
durch den Testbetrieb in unserer neuen Fabrik im
Jahr anfallen. Deshalb hatten meine Kollegen die
sehr sinnvolle Idee, ihn aufzufangen und zu ver-
kaufen, anstatt ihn einfach in die Atmosphäre zu
lassen. Er ist ja ein begehrtes Gut, viele Unterneh-
men würden ihn mir aus der Hand reißen.
ZEIT: Aber?
Lauber: Dann kamen die Behörden und fragten:
Seid ihr jetzt ein Stack-Hersteller oder ein Wasser-
stoff-Produzent? Die Genehmigungsverfahren
sind damit überfordert, dass wir in der neuen Fa-
brik beides gleichzeitig machen wollen, für so et-
Produkte zum Einsatz bringen, Erfahrung sam-
meln und technologisch immer einen Tick besser
sein. Preisführer werden wir wahrscheinlich nicht
sein, aber effizienter. Ich glaube immer noch an
den Standort Deutschland. Wir haben hoch qua-
lifizierte Arbeitskräfte und tolle Universitäten.
ZEIT: Für die Energiewende braucht Deutschland
auch Energiespeicher, zum Beispiel für windstille
Winternächte. Wie weit ist diese Technologie?
Lauber: Kurzzeitig sind Batteriespeicher nicht
schlecht. Aber wenn man größere Mengen über
längere Zeit speichern will, muss man thermische
Speicher bauen. Wir errichten den ersten davon
jetzt nicht in Deutschland, sondern in Manches-
ter. Der nutzt überschüssige Energie, um Luft zu
komprimieren, bis sie flüssig wird. Dann kann
man sie wieder expandieren und dabei Strom er-
zeugen, mit einer Leistung von 50 Megawatt. So
kann man Energie vier Wochen lang speichern
ohne große Verluste. Wir haben auch Salzspeicher
im Angebot, die erhitzen Salz auf 550 Grad und
verflüssigen es so. Nachts kann man mit der ge-
speicherten Wärme dann Dampf erzeugen und

NUR was gibt es bisher keine Richtlinien. So haben wir

Monate verloren. Jetzt ist das endlich geregelt,
aber nicht so richtig sauber. Wir müssen den Was-
serstoff nun als Abfallprodukt deklarieren, dann
daraus wieder Strom.
ZEIT: Die Bundesregierung hat bisher nur Pläne
für Wasserstoff, nicht für andere Speicher.
Lauber: Das ist ein Fehler. Ich vermute, dass Spei-

16,49€ dürfen wir ihn bis zu einer gedeckelten Menge vor

Ort speichern und verkaufen. Dafür brauchten
wir die Unterstützung von Politikern. Das ist ein
Beispiel dafür, dass unsere Bürokratie neue Tech-
cher erst ab 2025/26 so richtig in die Diskussion
kommen. Jetzt werden Solar- und Windkraftwerke
ausgebaut. Erst später wird man sich dann über
das richtige Speichermedium Gedanken machen.

19,99€ nologien nicht beschleunigt, sondern den norma-

len sozialistischen Gang geht. So erreichen wir das
1,5-Grad-Ziel nie im Leben.
ZEIT: Warum bauen Sie Ihre neue Fabrik dann
überhaupt bei Hamburg und nicht in den USA?
Lauber: Weil wir sie schon geplant hatten, bevor es
das große Förderprogramm in den USA mit dem
Inflation Reduction Act gab. Heute würden wir
das vielleicht anders entscheiden. In Deutschland
zu investieren rentiert sich für uns kurzfristig über-
haupt nicht. Aber ich glaube: Wir müssen die
Technologien für eine CO₂-Neutralität erst ein-
mal bereitstellen, das Geld kommt dann später.
Darüber streite ich auch immer konstruktiv mit
meinem Finanzchef.
ZEIT: Sie produzieren jetzt schon Elektrolyseure.
Wie groß ist die Nachfrage?
Lauber: Hoch, davon geht aber nichts nach
Deutschland. Sondern in die nördlichen Länder,
Finnland an erster Stelle, auch Island, wo es schon
heute viel grünen Strom gibt.
ZEIT: Als Mitglied des Nationalen Wasserstoff-
rates haben Sie 50 Vorschläge mitentwickelt, wie
Deutschland die versprochenen neun Milliarden
ZEIT: Ihr Unternehmen ist auch Weltmarktführer
bei großen Schiffsmotoren. Bisher haben die Ree-
der offensichtlich keine Lust, ihre Schiffe auf grü-
nere Antriebe umrüsten zu lassen.
Lauber: Leider. Wir werben seit 2016 für die ma-
ritime Energiewende, auch da geht es zu langsam
voran. Schiffe fahren 30 Jahre lang, deshalb müs-
sen wir die bestehenden Flotten schnell umrüsten.
Ich bin nächste Woche in China bei einer großen
Reederei, die überlegt, ihre Flotte mit zig Schiffen
auf Methanol als Treibstoff umzustellen. Wenn so
jemand mal vorangeht, ist das ein Leuchtturm-
projekt, dann wird ein Ruck durch die Industrie
gehen. Es klopfen auch schon andere an.
ZEIT: Wer denn?
Lauber: Namhafte Reedereien überlegen gerade,
ob sie sich jetzt zusammentun bei der Umrüstung.
Dann würden natürlich die Kosten sinken, wenn
man nicht jedes Schiff aufwendig einzeln umstel-
len muss, sondern das im großen Stil machen
könnte. Bis Mitte des Jahres wird sich zeigen, ob
sie sich darauf einigen.
ZEIT: Die Schiffe würden dann mit Methanol
angetrieben, das man mit viel Energie aus Wasser-

TOP-ANGEBOT DER WOCHE

Vom 24.04 -29.04. Erdinger Brauhaus online bestellen und richtig sparen
Euro an Förderung für den Aufbau einer Wasser-
stoffwirtschaft einsetzen sollte. Wie ist der Stand?
Lauber: Die neun Milliarden sind da, aber wir ge-
ben sie nicht aus. Da sind andere Länder wie die
USA viel, viel schneller. Wir haben schon für un-
sere Vorschläge zwei Jahre gebraucht, weil wir alles
immer abstimmen mussten mit vielen Gremien.
Dann hatten wir einen Regierungswechsel, und
Angebotszeitraum 24.04.23 - 29.04.23. Angebote nur im Liefergebiet der flaschenpost gültig, einsehbar unter flaschenpost.de. Abgabe nur in haushaltsüblichen Mengen die neue Regierung prüft unseren Maßnahmen-
und nur solange der Vorrat reicht. Irrtümer und Druckfehler vorbehalten. flaschenpost SE, Sentmaringer Weg 21, 48151 Münster I Erdinger Brauhaus Helles Lagerbier katalog jetzt auch schon wieder seit einem Jahr.
20 x 0,5 l Glas zzgl. Pfand (1 l = 1,65 € ) I Erdinger Brauhaus Natur Radler 20 x 0,5 l Glas zzgl. Pfand (1 l = 1,65 € ) ZEIT: Warum hat die Industrie diese Fehlentwick-
lungen in den vergangenen Jahren nicht laut und
deutlich benannt?
stoff und CO₂ erzeugen kann. Das wird aber
deutlich teurer sein als die fossilen Brennstoffe.
Lauber: Deshalb brauchen wir endlich Großanla-
gen, keine weiteren Miniaturanlagen. Die müssen
dort gebaut werden, wo der grüne Strom billig ist,
mit viel Wind oder Sonne. In Abu Dhabi wird
jetzt ein 1,3-Gigawatt-Solarpark hingestellt mit
Strompreisen von unter einem Cent. Das geht
schon. Und am Ende würde der Transport eines
Turnschuhs von Asien nach Deutschland mit dem
grünen Treibstoff auch nur ein paar Cent teurer.
Das Gespräch führte Marc Widmann
 DIE ZEIT N o 17 20. April 2023 WIRTSCHAFT 25

Die Gefahr der hohen

Japan
258 %

SCHULDEN
Griechenland USA Sri Lanka Deutschland
177 % 122 % 118 % 67 %

Schulden ausgewählter Länder im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung (BIP) in Prozent in 2022

Immer mehr Länder drohen in finanzielle Not zu geraten, warnt der Internationale Währungsfonds. Wie kommen sie da raus? VON KOLJA RUDZIO

I
n der Eingangshalle eines Bürogebäudes Das Geld, das man sich noch vor Kurzem billig Fonds zeigt. Dessen Experten werteten die Erfahrun- perten dort ein striktes Regelwerk wie die Schul- den Gläubigern fehlt. China hält fast 30 Prozent
in Washington, umringt von Kameras leihen konnte, wird auf einmal richtig teuer. gen von 166 Ländern aus, die in den vergangenen denbremse durchaus kritisch. Und häufig betonen der Auslandsschulden Sambias. Die Konflikte im
und Journalisten, spricht der deutsche Zudem spricht vieles dafür, dass das Wirtschafts- Jahrzehnten versucht haben, ihre Staatsfinanzen zu sie auch, dass Deutschland einen großen Investiti- Gläubigerkreis sind kleinteilig, unter anderem
Finanzminister über Schulden. Europa wachstum nachlässt. Die Experten des Wäh- sanieren. Sparsam haushalten allein – also weniger onsbedarf habe. Dafür könnten Kredite dann geht es aber darum, wieweit auch die Weltbank,
brauche einen verlässlichen Pfad, um rungsfonds rechnen in den nächsten fünf Jah- ausgeben als einnehmen – führte demnach in fast der doch sinnvoll sein. Der Hauptadressat für die die aus Chinas Sicht allzu sehr vom Westen do-
sie abzubauen. ren mit einem so mageren Wachstum wie seit Hälfte aller Fälle nicht zum gewünschten Erfolg. Um Sparappelle sind jedenfalls andere Länder. miniert wird, auf die Rückzahlung von Krediten
Nicht weit entfernt in einem Ta- mehr als 30 Jahren nicht mehr. Höhere Zins- die Schuldenquote zu verringern, müssen weitere Be- Aber was ist, wenn ein Staat schon so tief im verzichtet.
gungssaal berichtet der Schatzmeister von Sam- kosten und weniger Wachstum – das ist eine dingungen erfüllt sein. So müssten Sparprogramme Schuldenschlamassel steckt, dass es auch mit den China ist aber keineswegs der einzige neue
bia, wie es ist, wenn ein Land zu hohe Schulden explosive Mischung. Es ist wie bei einem Haus- an die konjunkturelle Lage angepasst sein. Rabiate härtesten Sanierungsbemühungen nicht mehr da- Gläubiger, der solche Umschuldungsabkommen
hat – und China zu den Gläubigern gehört. bauer, der höhere Kreditraten zahlen muss und Kürzungen inmitten eines Absturzes wären kontra- raus herauskommt? Sri Lanka, Sambia und etliche erschwert. Vor dreißig Jahren waren die Kredit-
Und in einem Nachbargebäude erklärt in ei- zugleich weniger Geld verdient als erwartet. produktiv. andere Entwicklungsländer sind in dieser Situati- geber im Wesentlichen einige reiche Länder und
nem engen Besprechungsraum ein Staatssekretär, Schulden, die eben noch tragbar waren, können Außerdem macht es einen Unterschied, wo man on. Um wieder auf die Beine zu kommen, brau- wenige große Banken. Der sogenannte Pariser
der sein Land bei der Weltbank vertritt, warum dadurch erdrückend werden. Vor allem für ansetzt: bei den Einnahmen oder bei den Ausgaben. chen sie Zugeständnisse von ihren Gläubigern. Club, eine Gruppe der größten Gläubigerländer,
er nicht von einer Schuldenkrise sprechen wolle. ohnehin finanzschwache Entwicklungsländer In Industriestaaten führt es eher zum Erfolg, wenn die Doch Stundungen oder der Verzicht auf einen Teil besaß Mitte der 1990er-Jahre 39 Prozent aller For-
Worte könnten manchmal Ereignisse auslösen. besteht diese Gefahr. Regierung die Ausgaben kürzt, statt die Einnahmen der Forderungen lassen sich heute viel schwerer als derungen. Heute gehört ihm nur noch ein Anteil
Es ist die Frühjahrstagung von Internationa- Aber auch die Industriestaaten drängt der IWF zu vergrößern (also etwa durch Steuererhöhungen). früher aushandeln. von gerade mal 12 Prozent. Ein wachsender Teil
lem Währungsfonds und Weltbank. Wenn zu dazu, ihre hohen Schulden zu verringern. Der In Entwicklungsländern, die oft noch nicht über ein Ein Grund dafür ist China. Für viele Länder ist der Schulden wird inzwischen von einer unüber-
diesem Treffen Politiker und Experten aus aller deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) ausgebautes Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsys- die aufstrebende Großmacht zu einem der wichti- schaubaren Zahl privater Investoren gehalten.
Welt in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten fühlt sich dadurch in seiner Linie bestätigt. »Die tem verfügen, ist es umgekehrt. Wichtig sind außer- gen Kreditgeber geworden. Und die Spannungen Abhilfe schaffen soll nun eine Art Runder Tisch
kommen, wie in der vergangenen Woche, geht es Bundesregierung nimmt das sehr ernst«, sagt er dem begleitende Reformen, die das Leistungsvermö- zwischen China und den USA wirken sich bis in für die Staatsschulden. Das neue Gremium, in
immer um Geld. Und in diesem Jahr besonders bei seinem Auftritt vor den Fernsehkameras. Es sei gen der Wirtschaft erhöhen. Das können zum Bei- die Gespräche über eine Schuldenrestrukturierung dem neben IWF und Weltbank verschiedene
um Geld, das fehlt: um Schulden. nötig, die Staatsausgaben zurückzufahren: »Die spiel Reformen sein, die mehr Menschen in Arbeit hinein aus. Sambias Schatzmeister Felix Nkulukusa Gläubigergruppen vertreten sind, traf sich ver-
Der Internationale Währungsfonds (IWF) ist Zeit der reinen Verteilungspolitik in unserem bringen, Bürokratie abbauen oder die Bedingungen drückte das in Washington so aus: »Wenn zwei gangene Woche zum zweiten Mal. Doch es geht
so etwas wie die Feuerwehr für Finanzkrisen. Er Land ist zu Ende gegangen.« Im Grundsatz ent- für Existenzgründer verbessern. Elefanten sich streiten, leidet das Gras. Und Sam- nur langsam voran. Bis die Finanzprobleme vieler
warnt in seinem zur Tagung veröffentlichten spricht der Sparkurs, für den Lindner eintritt, tat- Auf Deutschland bezogen heißt das: Das Man- bia ist das Gras.« Das hoch verschuldete afrikani- Länder gelöst sind, kann es also noch dauern. So
Wirtschaftsausblick: »Die private und die staat- sächlich der Stoßrichtung des IWF. Denn der tra, das Christian Lindner seit Wochen herunter- sche Land erhält seit 2022 Unterstützung von der drängend die Schulden sind – sie stehen nicht
liche Verschuldung hat in den meisten Volkswirt- pocht gleich aus mehreren Gründen darauf, jetzt leiert – keine Steuererhöhungen, aber Reformen für Weltbank und dem IWF. Doch derzeit ist eine überall ganz oben auf der Tagesordnung.
schaften ein Niveau erreicht, das es seit Jahrzehn- Schulden abzubauen, statt neue aufzutürmen. mehr Wachstum –, passt durchaus zu den aktuellen Hilfszahlung in Höhe von 188 Millionen Dollar
ten nicht gegeben hat.« Bedrohlich sei das ins- Der vielleicht wichtigste Grund: Wer mithilfe Empfehlungen des IWF. Allerdings sehen viele Ex- in der Schwebe, weil dazu eine Übereinkunft mit ! www.zeit.de/vorgelesen
besondere für Entwicklungsländer. Die Welt sei von Krediten zusätzliche Ausgaben finanziere,
»an einem kritischen Punkt«, es brauche inter- erhöhe die Nachfrage und verschärfe so die In- ANZEIGE
nationale Zusammenarbeit, »um die Gefahr einer flation. Während die Notenbanken überall auf
sich rasant ausbreitenden globalen Schuldenkrise der Bremse stehen, um die Nachfrage zu sen-
zu verringern«. Mit anderen Worten: Die Finanz- ken, würde die Regierung also gleichzeitig Gas
feuerwehr warnt vor einem Flächenbrand. geben – Erfolg verspricht das nicht.
In vielen Berichten über das Washingtoner Fi- Ein weiterer Grund ist die schon erwähnte
nanztreffen spielt dieser Alarm allerdings nur eine Krisenvorsorge. »Die letzten Krisen hätten weit-
untergeordnete Rolle. Wahrscheinlich, weil er sich aus schlimmere Folgen gehabt, wenn es keinen
in erster Linie auf die ärmsten Länder bezieht und finanziellen Spielraum gegeben hätte, um sie ab-
nicht auf die Industriestaaten. Doch auch die ha- zufedern«, sagt etwa Alfred Kammer, Direktor
ben nach Einschätzung des IWF ein Schulden- der Europa-Abteilung des IWF. Noch drastischer

problem. Es ist nur weniger
akut: Sie müssten jetzt
Schulden abbauen, sonst
fehle ihnen in der nächsten
Krise das Geld, um diese
durchzustehen. Bei ihnen
geht es also eher um vor-
beugenden Brandschutz.
So oder so – die Schul-
den sind zu hoch. Ein paar
Fjordsommer
klingen Warnungen des
Chefökonomen des Fonds,
Pierre-Olivier Gourinchas.
Er spricht von einem doom
loop, einem Teufelskreis,
bei dem sich die Probleme
»Die Zeit von Banken und öffentli-
chen Finanzen gegenseitig
der reinen verschärfen. »Das ist nicht
bloß ein theoretisches Ku-

Mai–September 2023
Zahlen illustrieren das Aus- riosum, viele Länder haben
maß: Mehr als die Hälfte
der einkommensarmen Län-
Verteilungspolitik das schon erlebt.« Auch bei
der Euro-Krise zwischen
der, 56 Prozent, sind nach
Analyse des IWF über-
in unserem 2012 und 2013 sei das ein
wichtiger Faktor gewesen.
schuldet oder haben ein
hohes Überschuldungsrisi- Land ist zu Ende Die Botschaft ist klar:
Ohne finanzielle Puffer Sparen
ko. In den Jahren vor der kann es schnell zum Kol- Sie bis zu
Corona-Pandemie waren es
nur 36 Prozent. Als über-
gegangen« laps kommen.
Diese Warnung betrifft 1.000 €
schuldet gilt ein Land, Christian Lindner (FDP), vor allem Länder, die heute pro Kabine*
wenn es Probleme hat, sei- Bundesfinanzminister schon hoch verschuldet
ne Schulden zu bedienen, sind. In Europa wären das
und mit seinen Gläubigern etwa Italien oder Griechen-
über eine Lösung verhan- land. Ihre Staatsschulden
deln muss. entsprechen dem IWF zu-
Weltweit betragen die folge 145 beziehungsweise
Staatsschulden aller Länder zusammengenom- 177 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. In Deutsch-
men inzwischen 100 Billionen Dollar. Das ent- land sind es vergleichsweise harmlose 67 Prozent.
spricht 93 Prozent der jährlichen Wirtschafts- Die Zahlen wären noch etwas größer, hätte
leistung. Dieser Vergleichswert ist wichtig, weil die sprunghaft gestiegene Inflation nicht für Er-
es bei Staaten ähnlich wie bei einem privaten leichterung gesorgt. Denn steigende Preise füh-
Haushalt darauf ankommt, wie hoch die Schul- ren zu einer – in Euro gemessen – höheren Wirt-
den im Verhältnis zum Einkommen sind. In der schaftsleistung, die Schulden hingegen bleiben
Europäischen Union gilt schon eine Staatsver- gleich. Dadurch sinkt die Schuldenquote. Die
schuldung von mehr als 60 Prozent der Wirt- Kehrseite ist, dass die Inflation das Leben für

11 Tage jetzt schon ab 2.888 € p.P.* inklusive Flug

schaftsleistung als problematisch. Der IWF er- viele Menschen unerträglich teuer macht. Und
wartet aber, dass die weltweite Schuldenquote diese Methode der Schuldenreduzierung funk-
bis 2028 auf 100 Prozent anschwellen wird. Be- tioniert auch nur für begrenzte Zeit. Bleibt die
sonders rasant wachsen die Verbindlichkeiten Inflation dauerhaft hoch, verlangen Geldgeber Limitiertes Angebot zum Aktionspreis – jetzt buchen!
Chinas und der USA, die bis 2028 auf 105 res- mehr Zinsen, das erhöht dann wieder die Last Im Reisebüro, Tel. (040) 874 087 11 oder unter hurtigruten.de/sommer
ZEIT-Grafik/Quelle: IWF

©Erika Tiren/
Hurtigruten

pektive 136 Prozent der jeweiligen Wirtschafts- der Zahlungsverpflichtungen. Der IWF rät aus-
leistung zusteuern. drücklich davon ab, Schulden durch eine Politik *BASIC-Tarif, limitiertes Kontingent. Gültig für Neubuchungen für die Reiseroute Bergen–Kirkenes–Trondheim.
Und die Schulden sind heute nicht nur be- der Geldentwertung abzuschmelzen.
Hurtigruten GmbH • Große Bleichen 23 • 20354 Hamburg | Veranstalter der Reisen ist die Hurtigruten Global Sales AS • Langkaia 1 • 0150 Oslo • Norwegen
sonders hoch, sie wiegen auch noch schwerer als Wie aber lassen sie sich sonst verringern? Das
früher. Denn die Zeit der Nullzinsen ist vorbei. ist gar nicht so einfach, wie eine neue Analyse des
26 WIRTSCHAFT 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

»Es ist wichtig, nicht in Panik zu geraten«

Schichtdienst, Personalmangel, Dauerstress: Viele Pflegekräfte sind ständig übermüdet. Der Schlafmediziner Kai Spiegelhalder erklärt, was dagegen hilft

DIE ZEIT: Hinter uns liegt ein langer Winter, tagelang nur drei, vier Stunden schlafe – noch
viele Erwachsene und Kinder litten unter schwe- weniger als sowieso schon? Viele sind ja eh schon
ren Infektionen, die Kliniken waren ständig voll. sehr erschöpft.
Was macht das mit den Pflegekräften? ZEIT: Was antworten Sie darauf?
Kai Spiegelhalder: Viele von ihnen leiden sehr Spiegelhalder: Wir raten den Pflegern bei einem
unter den Arbeitsbedingungen in der Pflege. Dazu Vorgespräch, das Schlafprogramm in einer Zeit
gehören der Personalmangel, die knappe Zeit, die zu absolvieren, in der sie vielleicht nicht so viel
Verantwortung. Stress haben.
ZEIT: Welche Folgen hat das für den Einzelnen ZEIT: Ist das nicht gerade für Pflegerinnen und
oder die Einzelne? Pfleger sehr schwer zu planen?
Spiegelhalder: Das alles beeinflusst zum Beispiel Spiegelhalder: Das stimmt natürlich. Wer auf einer
auch den Schlaf. Wer gestresst ist, schläft schlech- Intensivstation arbeitet, muss immer präsent sein.
ter. Wir haben in diesem und im vergangenen Jahr Trotzdem sollte das Schlaftraining nicht im Urlaub
eine Studie zum Thema Schlafstörungen gemacht. durchgeführt werden, sondern im Alltag.
60 bis 70 Prozent der Teilnehmerinnen und Teil- ZEIT: Wenn man am Ende des dritten Therapie-
nehmer waren Pflegende, die auf Covid-Stationen teils angelangt ist, wie sieht dann der vierte aus?
gearbeitet haben – also dort, wo die Arbeitsbelas- Spiegelhalder: Wir liefern beruhigende Informa-
tung extrem hoch war. tionen zum Thema Schlaf. Viele Menschen ma-
ZEIT: In einer Erhebung der Deutschen Schlaf- chen sich zum Teil sehr große Sorgen um die ge-
stiftung gaben über zwei Drittel aller Pflegerinnen sundheitlichen Konsequenzen ihrer Schlafstörung.
und Pfleger an, dass Schlafstörungen ihre Leis- Keine Frage: Schlaf ist wichtig, auch für unsere
tungsfähigkeit einschränkten. Gesundheit. Aber es ist wichtig bei dem Thema,
Spiegelhalder: Dieser Wert überrascht mich nicht. die Balance zu halten und nicht in Panik zu gera-
Das Arbeiten gegen den inneren Rhythmus in ten. Viele gesundheitliche Folgen stellen sich erst
Schichtarbeit und im Zweifel auch die enorme ein, wenn man über einen sehr langen Zeitraum,
Arbeitsbelastung hinterlassen Spuren. über Jahre etwa, unter Schlafstörungen leidet, und
ZEIT: Schon jetzt fehlen überall Pflegekräfte, auch nicht bei allen Patientinnen und Patienten.
viele gehen bald in Rente. Fürchten Sie sich vor ZEIT: Ab wann leidet man denn unter einer
den gesamtgesellschaftlichen Folgen der großen Schlafstörung, die behandelt werden sollte?
Übermüdung? Spiegelhalder: Wir orientieren uns am Leidens-
Spiegelhalder: Was viele Menschen gerne ver- druck der Betroffenen. Es ist letztlich nicht ent-
drängen: Wir werden alle alt oder können schwer scheidend, ob Sie jede Nacht 15 Minuten oder
erkranken. Dann sind wir auf Pflegerinnen und drei Stunden wach in Ihrem Bett liegen, sondern
Pfleger angewiesen, die so ausgeruht sein sollten, ob dies Ihre Leistungsfähigkeit und Ihr Wohl-
dass sie ihre Arbeit verantwortungsbewusst aus- befinden am Tag stark beeinflusst.
führen können. ZEIT: Andersherum gefragt: Was ist guter Schlaf?
ZEIT: Derzeit untersuchen Sie, wie Pfleger besser Spiegelhalder: Schöne Frage! Wenn Sie gut ein-
schlafen können. Können Sie uns etwas über das und durchschlafen und sich gut fühlen. Es geht
Schlafprogramm erzählen? nicht um eine Zahl zwischen sieben und neun
Spiegelhalder: Grundsätzlich wissen wir ziemlich Stunden, sondern um die Qualität des Schlafes.
gut, wie wir Menschen mit Schlafstörungen hel- ZEIT: Wenn ein Pfleger oder eine Pflegerin über
fen können: mit einer kognitiven Verhaltens- Jahre unter massiven Schlafstörungen leidet –
therapie. Was wir uns aber noch nicht angeschaut welche Auswirkungen hat das auf den Körper
haben, ist, ob diese Therapie auch Menschen im und die Psyche?
Schichtdienst wie zum Beispiel Pflegenden helfen Spiegelhalder: Es wurde relativ gut erforscht, was
kann. Das wollen wir mit der laufenden Studie Schlafstörungen langfristig mit unserem Körper
herausfinden. machen: Sie schwächen das Immunsystem, und es
ZEIT: Wie muss man sich die Therapie bei Ihnen kann zu kognitiven Einschränkungen kommen.
vorstellen? Menschen mit Ein- und Durchschlafstörungen
Spiegelhalder: Sie besteht aus vier Bausteinen. Im haben ein höheres Risiko für Angststörungen,
ersten geht es um Aufklärung darüber, was einen Substanzabhängigkeiten und Depressionen. Nicht
guten Schlaf fördert. umsonst ist Schlafentzug eine Foltermethode.
ZEIT: Was denn zum Beispiel? ZEIT: Ohne Schichtdienst ist Pflege kaum denk-
Spiegelhalder: Dass Alkohol beispielsweise kein bar. Müssen sich Pfleger damit abfinden, dass sie
gutes Schlafmittel ist. Dass man, wenn möglich, schlechter schlafen als jemand mit einem Nine-to-
den Schlaf- und Arbeitsort trennt. Dass man five-Job?
nachts nicht auf den Wecker schaut. Spiegelhalder: Nein, ganz bestimmt nicht. Psy-
ZEIT: Wie geht es dann weiter? chische Erkrankungen sind in Deutschland der
Spiegelhalder: Im zweiten Teil geben wir Tipps, Hauptgrund für Fehlzeiten im Job. Wir können
um die Schlafqualität zu verbessern. Das können uns nicht leisten, dass die viel zu wenigen Pflegerin-
Entspannungsübungen sein. Manchmal hilft es nen und Pfleger auch noch krank werden.
aber auch, nach einer Nachtschicht eine Sonnen- ZEIT: Wie könnten Pflegeheime und Kranken-
brille aufzusetzen, um den Körper durch das Ta- häuser ihr Personal unterstützen?
geslicht nicht zu stimulieren, bevor man zu Bett Spiegelhalder: Hilfreich ist viel Mitbestimmung
gehen will. bei der Schichtplanung. Die Schichten sollten eher
Foto: Philotheus Nisch für DIE ZEIT

ZEIT: Das klingt alles recht bekannt.
Spiegelhalder: In der Tat kennen Menschen mit
Schlafproblemen viele dieser Ratschläge schon.
Wir versuchen dann vor allem, sie zu motivieren,
diese auch umzusetzen. Der wichtigste Teil der
Therapie ist aber der dritte.
ZEIT: Was passiert dabei?
Spiegelhalder: Pflegerinnen und Pfleger sollen ihre
Bettzeit vorübergehend stark reduzieren, also die
Zeit, die sie im Bett verbringen. Wir nennen das
die Bettzeitrestriktion.
ZEIT: Moment: Die übermüdeten Pfleger sollen
noch weniger ins Bett kommen?
Spiegelhalder: Die Methode hilft ungemein, um
den Körper wieder daran zu gewöhnen, im Bett
tatsächlich zu schlafen und sich nicht nur wach
herumzuwälzen. Dabei bleibt man für einen ge-
wissen Zeitraum – für ein, zwei oder auch drei
Wochen – nur so lange im Bett, wie man auch
tatsächlich schläft. In der ersten Woche notiert
sich der Pfleger oder die Pflegerin, wie lange er
oder sie tatsächlich schläft. Schläft jemand immer
nur rund fünf Stunden, bleibt er in den nächsten
Wer über lange Zeit zu wenig schläft, schwächt sein Immunsystem und hat
ein höheres Risiko für Angststörungen und Depressionen
Wochen auch nur fünf Stunden im Bett. Selbst wieder ausdehnen. Das Problem ist, dass viele Men-
wenn er dann am Ende nur drei Stunden schläft. schen mit Schlafstörungen sehr viel Zeit im Bett
ZEIT: Das klingt anstrengend. verbringen, einfach weil sie verzweifelt versuchen
Spiegelhalder: Das ist es auch. Nach ein paar Tagen einzuschlafen. Manche liegen acht Stunden im Bett
fühlen sich die Teilnehmer so müde wie vielleicht und schlafen davon aber nur vier oder fünf. Es geht
noch nie in ihrem Leben. Relativ schnell werden sie darum, das Bett wieder mit dem Schlafen zu ver-
aber so erschöpft sein, dass sie schnell einschlafen binden und nicht mit dem Stress, einzuschlafen.
und durchschlafen werden. Gelingt dies immer ZEIT: Trotzdem löst der Ansatz erst einmal Stress
besser, können die Pfleger ihre Bettzeit langsam aus, oder?
Spiegelhalder: Das Programm ist hart, aber es hilft.
Wir bieten den Teilnehmern an, dass sie vorher
mit einer unserer Psychologinnen oder Psycholo-
gen telefonieren können. Dieses Angebot nehmen
viele der Pflegenden an.
ZEIT: Was wollen die Pflegerinnen und Pfleger
denn vor allem wissen?
Spiegelhalder: Viele sagen: Das klingt ja gut! Aber
wie soll ich meinen Alltag bewältigen, wenn ich
vorwärts rotieren, also beispielsweise nach einer
Frühschicht eine Spätschicht folgen. Und es sollte
mindestens elf Stunden Ruhe zwischen den
Schichten geben. Was auch hilft: den Pflegern
während der anstrengenden Nachtschicht ein kur-
zes Schläfchen zu ermöglichen.
ZEIT: Undenkbar im Alltag!
Spiegelhalder: Ja. Wenn wir das den Pflegenden
vorschlagen, sagen die auch: Lustiger Vorschlag,
wie bitte soll das gehen? Aber manchmal ist mehr
möglich, als Pflegende und vielleicht auch deren
Arbeitgeber meinen. Am Ende geht es ja um die
langfristige Gesundheit der Pflegerinnen und Pfle-
ger. Und vielleicht auch darum, ob sie ihren Job
ihr Leben lang ausüben.
Die Fragen stellte Linda Tutmann
Kai Spiegelhalder, 45, ist als Arzt und Psychologe
stellvertretender Leiter der Abteilung für Psycho-
physiologie und Schlafmedizin
am Universitätsklinikum Freiburg und außerplan-
mäßiger Professor an der Universität Freiburg

Was macht der Schlafmangel mit Ihnen?

»Ich bin schlapp und gerädert«
Seit 1988 arbeite ich als Krankenpflegerin, die ersten
Jahre davon im Drei-Schichten-System. Die erste
Schicht begann morgens um sechs Uhr, die zweite um
13 Uhr und die Nachtschicht um 21 Uhr. Ich habe in
dieser Zeit ziemlich starke Schlafstörungen entwickelt.
Bis heute liege ich nachts wach und denke über alles
Mögliche nach. Manchmal lassen mich auch Patien-
tengeschichten nicht mehr los. Neulich war beispiels-
weise eine Dame bei uns auf der Station. Sie war ge-
stürzt, und es war klar, dass sie wohl nicht mehr in ihr
Haus zurückkehren kann, sondern in ein Pflegeheim
umziehen muss. In der Zeit, in der sie bei uns war, hat
sie niemand besucht. So etwas holt mich besonders
nachts ein. Seit Neuestem habe ich eine App, die trackt,
wie lange ich nachts schlafe. Oft sind es nur fünf Stun-
den, manchmal sogar nur drei. Ich fühle mich dann oft
schlapp und gerädert.
Krankenpf legerin, 52 Jahre
»Ich habe ständig Kopfschmerzen«
An manchen Tagen schlafe ich nur drei oder vier Stun-
den, weil ich nicht schnell genug einschlafe oder viel zu
früh aufwache. Den Schlafentzug spüre ich vor allem
körperlich: Ich habe oft Gliederschmerzen und eigent-
lich ständig Kopfschmerzen. Im Dienst funktioniere ich
trotzdem. Unter den Pflegerinnen und Pflegern ist es
normal, dass alle schlecht schlafen. Wir hatten mal ei-
nen Kollegen, der immer nachts um zwei ins Fitness-
studio ging, weil er nicht schlafen konnte. Das ist schon
irgendwie traurig, schließlich haben wir Pfleger noch
ein Leben außerhalb unseres Jobs. Sport versuche ich
regelmäßig zu machen, auch um mich zu entspannen
und das Gedankenkarussell zu stoppen und so meinem
Körper zu helfen, leichter in den Schlaf zu finden. So
wirklich geholfen hat es bisher aber noch nicht.
Ambulante Altenpf legerin, 42 Jahre
»Ich wurde immer unkonzentrierter«
Seit zehn Jahren kämpfe ich mit Schlafstörungen. Als ich
40 wurde, habe ich mit den Nachtschichten aufgehört.
Zu dieser Zeit habe ich manchmal nur zwei, drei Stunden
pro Tag geschlafen. Ich kenne ziemlich viele Pflegerinnen,
die Probleme mit dem Schlafen haben, aber wir haben es
uns scheinbar antrainiert, trotzdem weiterzumachen und
irgendwie klarzukommen. Meine Psyche reagiert natür-
lich: Ich habe das Gefühl, wenig Freude zu empfinden,
und bin manchmal depressiv verstimmt. Wenn ich nicht
richtig schlafe, werde ich lustlos und fange schnell an zu
weinen. Als ich noch im Nachtdienst arbeitete, habe ich
gemerkt, wie ich immer unkonzentrierter wurde. Ich
hatte plötzlich Angst, dass ich etwas falsch mache. Das
war auch ein Grund, warum ich mit den Nachtschichten
aufgehört habe. Damals war ich noch Pflegerin auf der
Kinderintensivstation in einem Krankenhaus. Wenn mir
dort ein Fehler passiert wäre, weil ich nicht genug ge-
schlafen habe, hätte ein Kind sterben können.
Altenpf legerin, 58 Jahre
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023 WIRTSCHAFT 27

W Tote Dose
as sollen Millionen Familien bloß ohne die cen geworden. Noch nie haben mehr Frauen gearbeitet. Drei
Plastikdosen anfangen, die in jeder Küche von vier Müttern mit Kindern unter 18 Jahren waren 2019 in
mindestens eine Schublade füllen? Wohin Deutschland erwerbstätig, ein Anstieg um zehn Prozentpunkte
mit Papas Stullen? Und wie kommt der innerhalb von zehn Jahren. Das männliche Alleinverdiener-
Piña-Colada-Kuchen demnächst zu Kerstins modell wird nur noch in einem Viertel aller Paarfamilien prak-
45. Geburtstag, wenn nicht in diesem praktischen Gebäck- tiziert. Weil Männer gleichzeitig nicht unbedingt weniger ar-
transporter, offizieller Produktname im Tupper-Universum: beiten und sich noch immer wenig am Haushalt beteiligen,
»Tortentwist«?
Tupperware steht am Abgrund. Genau wie andere Marken, die sich an bedeutet das de facto: Frauen haben weniger Zeit fürs Organi-
Aus Orlando, Florida, schwappten vergangene Woche düs-
tere Nachrichten herüber. Tupperware, das Unternehmen hin-
eine bedrohte Spezies richten: Die Hausfrau VON ANN-KATHRIN NEZIK sieren und Einkaufen und alles andere, was man heute unter
Care-Arbeit versteht. Und natürlich haben sie auch weniger
ter den Brotboxen, Salatschüsseln und Vorratsbehältern, steht Zeit für sich selbst.
am Abgrund. Wenn es dem Management nicht gelingt, schnell Unternehmen, die darauf nicht schnell genug reagieren,
frisches Geld aufzutreiben, heißt es wohl schon bald: tote Dose. haben es schwer. Tupperware jedenfalls begann erst vor weni-
Der Aktienkurs brach vergangene Woche auf unter zwei Dollar gen Jahren, seine Produkte online anzubieten, und kam damit
ein; 2017 hatte er noch bei 70 Dollar gelegen. offenbar zu spät. Schaut man sich in der Welt des Konsums
Dass es so schlecht um Tupperware bestellt ist, erklärten Be- um, entdeckt man eine ganze Reihe weiterer Marken, deren
obachter mit dem tantigen Image der Marke. Längst gibt es lässi- einstiger Erfolg auf der verfügbaren Zeit ihrer Kundinnen ba-
gere und günstigere Möglichkeiten, Essen zu verpacken und durch sierte und die heute straucheln.
die Weltgeschichte zu transportieren. Das mag stimmen, aber die Das Diät-Unternehmen Weight Watchers etwa, noch so eine
wahren Gründe für den Abstieg des Unternehmens liegen tiefer. Hausfrauen-Erfolgsgeschichte der amerikanischen Nachkriegszeit.
Sie haben mit einem Wandel der Geschlechterrollen zu tun. Da- Jean Nidetch, eine Hausfrau aus Queens, New York, erfand 1962
mit, wie Menschen – in Wahrheit also Frauen und Mütter – heute ein neues Diätprogramm, das sie anfangs an ihren Freundinnen
leben, die seit je die Kernzielgruppe von Tupperware bildeten. ausprobierte. Wer damit abnehmen wollte, musste nicht nur bei
Um das zu verstehen, muss man ins Jahr 1951 zurückgehen. jeder Mahlzeit Punkte zählen, er – oder besser gesagt: sie – war
Damals hatte die Amerikanerin Brownie Wise, eine alleinerzie- daneben angehalten, regelmäßige Treffen zu besuchen, bei denen
hende, geschiedene Mutter, die ziemlich revolutionäre Idee, sich Diätwillige gegenseitig motivierten. Daraus entstand eine
Hausfrauen Tupper-Produkte in deren eigenem Wohnzimmer globale Bewegung. Inzwischen gibt es effizientere Wege, abzuneh-
zu verkaufen. Die Tupperparty war geboren, eine Veranstal- men, zum Beispiel mit Online-Programmen. Eine Weile ver-
tung, bei der sich Nachbarinnen auf dem Sofa trafen, Käse- suchte Weight Watchers, moderner zu werden, indem es sein
spieße aßen und einer Verkäuferin von Tupperware zuhörten, Angebot stärker auf die sozialen Medien ausrichtete. Mit über-
wie sie die luftdichten Deckel und die Unzerstörbarkeit der schaubarem Erfolg: Der Umsatz des Unternehmens schrumpft
Waren anpries. Diese Vertriebsstrategie machte aus dem bis seit Jahren, auch sein Börsenkurs ist abgestürzt.
dahin mittelmäßig erfolgreichen Unternehmen eine weltweit Oder der Teleshopping-Sender QVC. Dessen Geheimnis
bekannte Marke. bestand darin, Frauen, die vor dem Fernseher Wäsche bügel-
Auf den ersten Blick stand Tupperware für eine frühe Form ten, Eierkocher und Gesichtscreme anzudrehen. Das lief
des female empowerment. Brownie Wise schaffte es als erste Frau jahrelang blendend, weil es diese Frauen in großer Zahl gab.
überhaupt auf das Cover des Wirtschaftsmagazins Business Week. Doch zuletzt machte der Mutterkonzern Qurate Retail Group,
Doch reich wurde sie nicht. 1958 drängte sie der Gründer Earl dem noch ein weiterer Teleshopping-Kanal gehört, über zwei
Tupper aus dem Unternehmen und tilgte ihren Namen aus der Milliarden Dollar Verlust. Im März entließ er zwölf Prozent
Firmenchronik. Ihre Abfindung: 30.000 Dollar. seiner Mitarbeiter.
Die Plastikbehälter und die diversen Back- und Küchenhilfen, Auch der Umsatz des Tiefkühlkost-Lieferanten Eismann

Abb.: The Advertising Archives/Interfoto

die Tupperware anbot, waren mit dem Versprechen verbunden,
das Leben der Kundinnen leichter zu machen, ihnen einen Teil
der Hausarbeit abzunehmen oder diese zumindest zeitsparender
zu erledigen, ähnlich wie Waschmaschinen, Geschirrspüler und
andere Küchengeräte, die zur selben Zeit populär wurden. Aber
auch das stimmte nur halb. Tupper-Produkte zementierten tradi-
tionelle Rollenbilder, denn sie gingen mit impliziten Erwartungen
einher, wie eine gute Ehefrau und Mutter zu sein habe: backend,
kochend, die Familie umsorgend.
Tupperpartys betonten ebenso die Häuslichkeit. Und vor
allem sparten sie Frauen keine Zeit, sondern waren mit ihren
stundenlangen Verkaufsshows vielmehr Zeitfresser – womit
wir beim eigentlichen Grund für den Niedergang wären. Zeit
ist in den meisten Familien heute zur knappsten aller Ressour-
aus Mettmann bei Düsseldorf hat sich zwischen 2008 und
2020 nahezu halbiert, das Unternehmen wurde in den ver-
gangenen Jahren von einem Eigentümer zum nächsten weiter-
gereicht. Das Konzept, Tiefkühlkost an festen Terminen nach
Hause zu liefern, fußt auf der Idee, dass dort jemand wartet.
Und das ist – Homeoffice hin oder her – eben immer seltener
der Fall. Die Idee hat sich überholt, zumal Konkurrenten wie
Gorillas oder Flink damit werben, Lebensmittel in weniger als
einer halben Stunde zu liefern.
Ob Tupperware und die anderen Unternehmen noch ein-
Alles gut verpackt: mal die Wende schaffen? Möglich ist das. Möglich ist aber
So stellten sich Werber in ebenso, dass Marken, die das Modell Hausfrau noch immer
den Sechzigerjahren die typische verklären, nun endgültig verschwinden. Für die Emanzipation
Kundin von Tupperware vor wären das keine schlechte Nachrichten.

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geplant, ausgestattet und gebaut, wie es der mit einer zukunftsfähigen Heizungsvariante
Bauherr wünscht. Vom Ausbauhaus mit Eigen- ohne fossile Energieträger auszustatten. Das
leistungen bis zum schlüsselfertigen Eigenheim, Dach lässt sich von Anfang an mit einer Photo-
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hier ist für jeden das passende Traumhaus hen. So werden Fertighausbesitzer möglichst
dabei. Ob Architektur, Grundriss, Fenster oder unabhängig vom Energiemarkt und halten die
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bieten sich verschiedene Möglichkeiten, wobei Um dem Traum vom Eigenheim ein gutes
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Fertigbaus«.
Foto: © Bien-Zenker
Foto: © Hanse Haus

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DIE ZEIT N|o 17 20. April 2023
ANZEIGE NAME SONDERTHEMA | Ein Spezial des Zeitverlags
WIRTSCHAFT 2
29

Wirtschaft in einem Satz »Ich bin Anfang 30 und möchte mir ein Vermögen aufbauen.
Leider kenne ich mich auf dem Aktienmarkt kaum aus.
Welche Anfängerfehler sollte ich unbedingt vermeiden?«,
Warum lang, wenn es auch kurz geht?
Was diese Woche sonst noch los war fragt Leonie Winter*

Gedroht: Die Gewerkschaften EVG und

ver.di haben bei der Bahn und am
Hamburger Flughafen für die kommenden
ZEIT für Geld
Liebe Frau Winter,
Tage neue Streiks angekündigt Geeinigt: im Silicon Valley gilt angeblich das Mantra:
»Scheitere früh, scheitere oft, damit du schnel-
Fox News zahlt einem Hersteller von ler etwas erreichst.« Fehler sollten lieber ge-
macht als vermieden werden, so sieht man es
offenbar dort. Das Problem beim Anlegen an
Wahlmaschinen 787 Millionen Dollar; den Finanzmärkten ist aber: Schon kleine Irr-
tümer könnten Sie komplett ruinieren. Dann
hätte sich das mit dem Erfolg auch erledigt.
dieser hatte den TV-Sender wegen Die verheerendsten Anfängerfehler sollten Sie
also vermeiden. Doch welche sind das?
Auf Platz eins steht aus meiner Sicht die Nai-
Verleumdung verklagt Gestiegen: Im ersten vität. Glauben Sie nicht jedes Werbeversprechen,
und blicken Sie mit einem gesunden Misstrauen
Sie nicht wissen, welche Aktien steigen oder fallen
werden. Niemand kann das mit Sicherheit vor-
hersagen. Auch nicht die Redakteure von Fach-
zeitschriften, die Ihnen die vermeintlichen »Top-
Picks des Jahres« verraten. Versuchen Sie also gar
nicht erst, besser als der Durchschnitt zu sein.
Setzen Sie lieber auf viele verschiedene Aktien,
und verteilen Sie so Ihr Risiko. Dann bekommen
Sie stets die Rendite, die der Markt im Durch-
schnitt abwirft. Das geht mit Fonds oder ETFs,
die globale Aktienindizes abbilden.
Ein beliebter Fehler ist auch, sich von den
eigenen Gefühlen leiten zu lassen. Gerade bei
Aktien, deren Kurse sich sekündlich ändern, stehen
schnell mal rote Zahlen im Depot. Das kann an
Den nächsten Fehler habe ich selbst vor eini-
gen Jahren begangen und kann deshalb aus Er-
fahrung sprechen. Legen Sie einen Notgroschen
an, ein Reservepolster für unvorhergesehene Aus-
gaben. Ja, das klingt langweilig, ist aber irrsinnig
wichtig. Denn wenn dann doch mal schnell Geld
hermuss, sollten Sie nicht gezwungen sein, Ihr
Aktiendepot zu plündern, weil Sie jeden verfüg-
baren Euro an der Börse investiert haben. Stehen
die Kurse dann gerade schlecht, müssen Sie mit
Verlust verkaufen. Und glauben Sie mir, das tut
noch mehr weh als ein Panikverkauf. Investieren
Sie also nur Geld, das Sie mindestens in den
nächsten 15 Jahren nicht brauchen werden.
Es gibt sicher noch mehr, vor dem ich Sie

Quartal des Jahres wuchs Chinas auf die Angebote und Produkte. Ein Investment,
das mit zehn Prozent garantierter Jahresrendite
wirbt, kann keine »sichere« Anlage sein. Aussicht
den Nerven zehren. Doch als langfristiger Anleger
sollten Sie Ihren Ängsten nicht nachgeben, direkt
das Depot auflösen und alle Verluste realisieren.
warnen könnte. Vor überteuerten Gebühren und
Provisionen etwa oder vor der Neigung, nur das
zu kaufen, was Ihnen vertraut ist. Damit verpassen

Wirtschaft unerwartet stark um 4,5 Prozent auf Gewinne in dieser Größenordnung haben Sie
nur, wenn Sie ein entsprechendes Risiko eingehen.
Skepsis ist auch bei vielen Anbietern von Fi-
Gebacken: 2022 gaben hierzulande nanzprodukten oder Investmentplattformen an-
gebracht. Prüfen Sie, wer hinter der Firma steckt,
wo sie ihren Sitz hat und welche Aufsichtsbehörde
780 Bäckerei-Unternehmen auf, während sie überwacht. Und finden Sie heraus, was mit
Ihrem Geld passiert, sollte der Anbieter pleite-
gehen. Nur so können Sie sicherstellen, dass Sie
nur 422 neu gegründet wurden Gewarnt: nicht versehentlich den Totalverlust riskieren.
Illustration: Arne Bellstorf für DIE ZEIT
Denn solange Sie Ihr Geld über ein paar Tausend
Werte, verschiedene Branchen und Länder verteilt
haben und es noch mindestens 15 Jahre investiert
lassen, müssen Ihnen die Schwankungen keine
Sorgen bereiten. In der Vergangenheit zumindest
ist es irgendwann immer wieder nach oben ge-
gangen, Flauten und Krisen hin oder her.
Aber wie schalten Sie Ihre Gefühle aus? Ich
würde behaupten: durch Wissen. Wenn Sie ein-
mal verstanden haben, worin das Risiko bei Ak-
Sie andere Chancen und streuen Ihr Geld meist
nicht breit genug. Doch selbst wenn Sie all diese
Ratschläge beachten, werden Sie vermutlich mal
einen Fehler machen oder sich über eine Ent-
scheidung ärgern. Das passiert und ist völlig in
Ordnung. Deswegen lautet mein letzter Rat-
schlag: Lassen Sie sich nicht davon lähmen. Zö-
gern Sie das erste Investment nicht ewig hinaus,
weil Sie fürchten, etwas falsch zu machen. Denn
gar nicht erst anzufangen wäre wahrscheinlich der

Hüten Sie sich außerdem vor der eigenen
Hybris. Sich für klüger, schneller oder gewiefter
Google-Chef Sundar Pichai hat als alle anderen zu halten ist einer der meistbegan-
genen Irrtümer unter Investoren. Denn sofern Sie
tien genau besteht, wie ein Index funktioniert größte Fehler, den Sie machen können.
oder warum Fonds sicherer sind als Einzelaktien,
dürften Sie schon ruhiger schlafen. Ich rate Ihnen
deswegen, sich zumindest in die Grundlagen ein-
Ihre Mona Linke

keine illegalen Insidergeschäfte betreiben, können zulesen, bevor Sie das erste Geld investieren. * Name geändert
in einem Interview rechtliche Regeln
für künstliche Intelligenz gefordert In unserer Kolumne beantworten wir jede Woche eine Geldfrage. Es schreiben im Wechsel: Die freie Autorin Mona Linke und
der langjährige ZEIT-Autor Rüdiger Jungbluth. Stellen Sie Ihre Fragen unter: www.zeit.de/geldfrage

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Unabhängig und flexibel bleiben
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Seniorinnen und Senioren
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Mach ich’s, mach ich’s nicht? Im
Alter die bekannten vier Wände
zu verlassen und in ein Wohn-
angebot für Seniorinnen und
Senioren zu ziehen, ist ein sen-
Gaunern den Garaus machen
Sich in sicheren
und geschulten
Händen wissend,
lässt sich das
Älterwerden
ganz beruhigt
genießen.
sibles, oftmals nervenaufreiben-
des Thema. Insbesondere dann,
wenn man geistig wie körperlich
noch relativ fit ist, verschiebt man
gerne das weitere Nachdenken
und damit die Entscheidung auf
später. Grund dafür ist auch die
weitverbreitete Meinung, dass
ein Seniorenheim oder eine Se-
niorenwohnanlage gleichbedeu-
tend mit steriler Krankenhaus-
atmosphäre ist, man sich und das
eigene Leben aufgibt und an den
Rand der Gesellschaft rückt. Ein
Irrglaube. In den vergangenen
Jahren sind viele moderne Kon-
zepte für das Wohnen im Alter
entstanden, die zeigen, dass es
längst anders geht. Dass man sehr
wohl selbstbestimmt und un-
abhängig älter werden kann und
dies in einem dementsprechend
bedürfnisorientierten, niveau-
vollen und adäquaten Umfeld.
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weise richten sich vor allem an all
jene, die ihr Älterwerden gerne
bewusst leben möchten. Senio-
rinnen und Senioren, die Frei-
heit und Flexibilität schätzen
und dabei doch die Gewissheit
bevorzugen, dass im gesund-
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oder eine Pflegekraft sofort zur
Stelle wäre. Auch das wohnliche
Umfeld ist hier ganz auf die Be-
dürfnisse zugeschnitten. So las-
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ein vielfältiges Kultur- und Frei- tur, genießen die Bewohnerinnen
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BERATUNG & VERTRIEB: Ein Unternehmen der ZEIT Verlagsgruppe, Projektmanagement: Flemming Holm; Redaktion: Nicole Maibaum;
T 04103 - 91510 Grafik: Sonja Feldkamp; Lektorat: Egbert Scheunemann; Bilder: iStockphoto.com – Anna Semenchenko / Geber86 /
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Editions: Maren Henke, Tel.: 040 / 32 80 152, maren.henke@zeit.de; Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 68 vom 1. Januar 2023
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Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg; Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser

Bildung ․ Klima ․ Geologie ․ Drogenpolitik ․ Meine Schule des Lebens ․ Infografik: Chemie
W
ie soll ich mich von euch
verabschieden nach acht
Jahren knallvoll mit
Kleinkinderalltag? Ihr
habt unseren Töchtern
Hunderte Windeln ge-
wechselt, die beiden ge-
tragen und getröstet. Ihr habt ihnen gezeigt, wie
man Sahne in Butter verwandelt und Frust in To-
leranz. Ihr habt ihnen beigebracht, wie man Stopp
sagt, was Verzichten heißt und wie man eine gran-
diose Übernachtungsparty schmeißt.
Liebe Erzieherinnen und Erzieher der Kita an
der Christianskirche in Altona, ihr seid das Beste,
was uns als Familie passieren konnte.
Man hört im Moment so viel Schlechtes aus den
Kitas: Überall fehlt Personal, Öffnungszeiten werden
gekürzt, Plätze gestrichen, Standards gesenkt. Oft
kann kaum noch die Aufsichtspflicht erfüllt werden.
Erzieherinnen verzweifeln, weil sie den Kindern
nicht mehr gerecht werden. Eltern verzweifeln, weil
sie ihre Arbeit nicht mehr schaffen. Doch all die
dramatischen Berichte vom Kollaps des Systems ver-
hallen. Es gibt keine Elternstreiks, keinen Krisen-
gipfel im Kanzleramt, keinen Arbeitgeber-Aufstand.
Manchmal denke ich: Es erscheint alles so verkorkst
und aussichtslos. Wen soll das noch motivieren,
diese Institution zu retten? Bringt ja eh nichts. Da-
rum kommt hier zur Abwechslung mal ein offener
Dankesbrief an euch.
Auf den ersten Blick ist die Kita, in der ihr ar-
beitet, nichts Besonderes. Es ist eine von mehr als
200 evangelischen Kindertagesstätten im Ham-
burger Raum. Die Ausstattung ist nicht außer-
gewöhnlich, weder Angebote noch Räume sind
spektakulär. Es seid ihr selbst, die diesen Ort für
90 Kinder zu einem zweiten Zuhause machen, das
ich am liebsten für immer als Wimmelbild fest-
halten möchte.
Im Krippenraum im Erdgeschoss rechts außen
stehst du, Conni, mit den Tattoos an den Armen
und der Ukulele in der Hand. »Eins, zwei, drei, im
Sauseschritt« flitzen all die Ein- und Zweijährigen
um dich herum. In der Küche bereitet Alina, die
Köchin, das Mittagessen vor und freut sich über
jedes Kind, das morgens an Kartoffelsäcken und
Gemüsekisten vorbei zu ihr hereinwinkt. In der
Werkstatt im Keller bearbeitet Dejan mit ein paar
Vorschulkindern, die bereits den Werkzeugführer-
schein haben, ein Holzstück. Später wird es mal als
Krokodil all die Halsketten halten, die gerade im
Raum darüber aufgefädelt werden. In einem ande-
ren Kellerraum bespricht Ute mit einer Mutter,
wie deren Kind sich bei euch entwickelt hat.
Oben rechts im Bild baut die Ergotherapeutin im
Saal einen Parcours für ein Mädchen auf, das moto-
rische Unterstützung braucht. Im Raum daneben
erzählt Johanna mit Holzfiguren die Ostergeschichte
nach. Im Erdgeschoss streiten ein paar Kinder oder
toben in der Kuschelecke herum. Direkt vor ihnen
sitzt die Landschaftsgärtnerin Marie in ihrem kleinen
Bagger, sie schüttet Hügel auf, um das wilde Garten-
gelände noch unwegsamer zu machen. Am linken
Bildrand fütterst du, Jenni, mit ein paar Kindern die
Kaninchen in der Stallzone zwischen Kita und Alten-
heim. Vom Balkon gegenüber schaut euch eine Be-
wohnerin zu.
Natürlich wären auf dem Bild auf den zweiten
Blick auch die Aushänge mit den derzeit grassie-
renden Kita-Seuchen zu sehen. Ein Kind, das
schreit. Eine müde Erzieherin, die sich hinterm
Haus zum Rauchen versteckt. Doch der vorherr-
schende Eindruck wäre: An diesem Ort werden
gemeinsam schöne Dinge gemacht. Jeder Mensch,
ob klein oder groß, findet dort seinen Platz.
Es klingt so kitschig, im echten Leben aber
kommt es ganz natürlich rüber. Ich hätte wahr-
scheinlich nicht mal gemerkt, was für ein Glück
wir mit euch hatten, wenn ich nicht als Journalistin
über frühkindliche Bildung berichten würde. So
erlebte ich andere Einrichtungen, sprach mit Fach-
leuten und wusste: Es ist eben nicht selbstverständ-
lich, dass genug Pädagogen in einer Kita sind, dass
sie bleiben, sich fortbilden und Lust haben, sich
ständig etwas Neues auszudenken. Während unsere
Kinder mit euch Brot backten und Schmetterlinge
züchteten, während sie immer mutiger und sozialer
wurden, ging es für die Kitas insgesamt bergab. Oft
kam es mir vor, als hätte ich sie morgens in einer
Parallelwelt abgegeben.
Fast 90 Prozent der Kitas mussten zuletzt pädagogische Angebote streichen, weil ihnen Personal fehlte, 60 Prozent reduzierten ihre Öffnungszeiten.
Das ergab eine aktuelle Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung unter mehr als 5000 Kita-Leitungen.
WISSEN
Mehr Anschwung!
Die Kindergartenzeit ihrer Tochter ist fast vorbei, und unsere Autorin fragt sich:
Sind gute Kitas bald Vergangenheit? Ein Abschiedsbrief VON JOHANNA SCHOENER
Di
eT
oc
Foto: Jewgeni Roppel für DIE ZEIT
Von Tag eins an schien alles einen Sinn zu haben,
was ihr da tatet mit den Kindern. Darum hatten wir
schnell ein gutes Gefühl, als unsere ältere Tochter im
Einjährigengang die ersten Schritte raus aus unserer
Familie wackelte, vorbei an Max, der sie vor Be-
geisterung immer umschubste, an Nike, die alle an-
quatschte, und an dem Jungen mit den Glitzer-
schläppchen – rein in einen eigenen Alltag. Nach-
mittags spielte sie zu Hause den Morgenkreis mit
ihren Kuscheltieren nach. Sie ging herum, strich Affi
und Fauli sanft mit einer Feder über den Kopf und
zählte dabei laut mit. Wir staunten. Danach wurde
gesungen und vom Wochenende erzählt. Gelegent-
lich wurden die Tiere ermahnt: Wir warten hier, bis
alle fertig sind. Das kannst du doch schon super
alleine anziehen.
Ihr wart ein Booster für Selbstständigkeit. Dabei
sein und dazugehören war wichtiger als die olle Re-
genhose, die im heimischen Flur zum Endgegner
werden konnte. Bis heute unbegreiflich: Wie schafft
Mehr Wissen
Links zu den Quellen der Themen dieser WISSEN-Ausgabe finden Sie unter zeit.de/wq/2023-17
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
hte
r un
se re
r Au
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im G a r te n i
hre r Hamburger
ihr es, jeden Tag Dutzende Kinder wetterfest für den
Garten zu machen, entspannt zu bleiben und die
Älteren einzubeziehen? Komm, hilf mal Naomi mit
dem Reißverschluss. Wer nimmt Theo an die Hand?
Bei euch war Alltag nie etwas, das es nur zu
bewältigen galt. Der Alltag war das Leben: voller
Lerngelegenheiten, überraschender Entdeckungen
und verlässlicher Rituale.
Es wird viel über die Kita als Bildungsort geredet,
zuletzt, als im Herbst deutlich wurde, wie schlecht
viele Grundschüler rechnen und schreiben können.
Was für eine Aufregung, was da jetzt alles passieren
sollte in den ohnehin völlig überlasteten Kitas!
Ihr habt bisher einfach das Naheliegende getan,
ohne viel Aufhebens. Aber natürlich nicht zufällig,
sondern klug gesteuert von der Leitung in dem win-
zigen Raum am Kita-Eingang. Mit Unterstützung
eurer Kirchengemeinde konntet ihr das Personal ein
wenig großzügiger kalkulieren als andere und hattet
noch Geld übrig, um ein Umweltprojekt zu finanzie-
Kita
ren. In anderen Einrichtungen sind oft nicht mal
Arbeitsstunden für die Führung der Kita vorgesehen,
obwohl die ja einem kleinen Unternehmen entspricht.
Weit über hundert Leute gehen Tag für Tag an eurem
Mini-Büro vorbei: Kinder, Eltern, Geschwister und
Großeltern, Erzieher und Erzieherinnen, Lieferanten.
Besucher wie die Ergotherapeutin, die Zahnfee, die
Umweltpädagogin, ein Feuerwehrmann und eine
Polizistin. Ihr seid auch eine Schleuse zum Stadtviertel.
Während der Corona-Zeit musstet ihr sie
dichtmachen und euch so verhalten, dass es
eigentlich unvereinbar mit eurer Haltung war. Euch
abschotten, Kinder voneinander trennen, Hygiene
über Nähe stellen. Konntet ihr euch davon je er-
holen? Ich fürchte: nein. Ihr seid zwar zurückge-
kehrt zu den alten Abläufen, aber sie scheinen heute
viel mehr Kraft zu kosten. Inzwischen haben sich
auch in unserer Kita die Bedingungen verändert.
Während ich dabei bin, diesen Brief zu schreiben,
kommen zwei Mails von euch. In der ersten bittet ihr
31
uns, die Kinder, wenn möglich, diese Woche zu
Hause zu betreuen, da nur eine feste Erzieherin in der
Fledermausgruppe ist. In der zweiten klärt ihr uns
über euren Personalmangel auf: Die Situation sei für
alle »wirklich belastend«, es sei manchmal einfach
nicht mehr möglich, »so zu arbeiten, wie es eigentlich
unser Anspruch ist«.
Früher hattet ihr eine Springerstelle mit einer
Fachkraft, die sofort aushelfen konnte, wenn jemand
krank war. Heute ist sie nicht besetzt, wie auch zwei
weitere pädagogische Stellen. Es gibt einfach keine
Kandidaten. Bewerbungen um ein Freiwilliges
Soziales Jahr bleiben ebenfalls aus. Dazu die Krank-
heitswellen der vergangenen Monate.
Wenn ich unsere Tochter abgebe, habe ich ein
schlechtes Gewissen, weil ich merke, dass ihr euch
oft ziemlich zusammenreißen müsst, um den Tag zu
bewältigen. Ja, bewältigen. Mehr geht häufig nur
noch mit enormer Extra-Anstrengung. So wie neu-
lich, als die Leiterin die Kleinen übernehmen musste,
damit ihr mit den Vorschulkindern den lang er-
sehnten Ausflug ins Planetarium machen konntet.
Der Abschied von dir, Heidi, vor einem halben
Jahr war der Schlüsselmoment, in dem ich merkte:
Die Krise der Kitas kommt nun auch bei uns an. Wie
da die Kinder in allen Größen Spalier standen und
dir Blumen entgegenstreckten. Wir Eltern hatten
lediglich die Aufgabe, Viel Glück und viel Segen zu
singen. Viel Glück und viel Segen auf deinem Weg
in den Ruhestand. Es klang kläglich, beinahe alle
Erwachsenen kämpften mit den Tränen. Verabschie-
deten wir uns hier gerade auch von dem guten Kita-
Leben, das wir bisher gekannt hatten?
Du warst eine Konstante, Heidi. Immer ruhig
und zugewandt. Du schienst nach all den Jahren als
Erzieherin ehrlich neugierig darauf zu sein, was jedes
einzelne Kind zu sagen hatte. Du lachtest gern und
oft, zum Beispiel über die absurde Kurzgeschichte
von der Mücke Pieks, die immer ins Telefon ruft:
»Soll ich Sie mal stechen?« Darum führten die Kinder
die Geschichte für dich auf. Wochenlang hatten sie
mit deinen Kolleginnen heimlich Requisiten gebas-
telt, sich Verkleidungen überlegt, geprobt – und
dichtgehalten. Als unsere Fünfjährige als Mücke Pieks
auf die Bühne schwirrte, wusste ich, warum sie am
Frühstückstisch fast geplatzt wäre. Nie habe ich sie
stolzer gesehen als an diesem Nachmittag.
Werdet ihr auch in Zukunft Kindern die Mög-
lichkeit geben können, so über sich hinauszuwach-
sen? Werdet ihr die Zeit finden, mit ihnen rauszu-
gehen, durch den Stadtteil zu streifen und nach
Zahlen zu suchen? Unsere Töchter haben dabei so
viel mitgenommen. Sie haben gelernt, sich in eine
Gruppe einzufügen und zu behaupten. Mit eurer
Hilfe haben sie durchgehalten, wenn sie mal keinen
Bock auf Kita hatten. Und sie haben erfahren, dass
man vieles auch ganz anders machen kann, als Mama
und Papa das tun. Beste Voraussetzungen für später.
All das ging nur, weil auch ihr gute Vorausset-
zungen hattet.
An die 100.000 Erzieherinnen und Erzieher
fehlen zurzeit in den Einrichtungen. Unserer Tochter
fehlst besonders du, Engin, weil du (sagt sie) einfach
den allerbesten Quatsch machen kannst. Wenn du
sie morgens begrüßt hast, check, war der Tag geritzt.
Das kommt nur leider nicht mehr vor, weil du in
einer anderen Gruppe aushelfen musst. In drei
Monaten wird unsere Tochter eingeschult, und ich
ertappe mich dabei, wie ich denke: Uff, gut, dass wir
dann nicht mehr auf die Kita angewiesen sind.
Doch vor allem bin ich wütend. Jedes Kind sollte
diesen Schwung der ersten Jahre erleben dürfen.
Durch euch weiß ich: Eine gute Kita ist gar kein
Hexenwerk. Aber sie braucht an ganz vielen Stellen
zuverlässige Unterstützer. Warum kämpfen wir als
Gesellschaft nicht um die frühkindliche Bildung?
Wieso passiert politisch so wenig?
Kitas können Superkräfte entwickeln und das
Leben für ein Kind weit und rund machen. Da-
nach, das kenne ich von unserer Drittklässlerin,
werden die Spielräume rasch enger. Die Gesichter
sind dann kaum noch vermatscht, der Kopf wird
wichtiger als der Bauch. Als würden ein paar Far-
ben aus dem Alltag verschwinden.
Fest steht: Wir als Familie werden euch immer
dankbar sein. Ohne euch hätten wir den Wahn-
sinn der ersten Jahre vielleicht nicht überstanden,
ganz sicher jedenfalls nicht so vergnügt.
"www.zeit.de/vorgelesen
 32
»Sie taten alles, um nicht gestoppt zu werden«
Der Juraprofessor Donald Braman will Ölkonzerne wie Shell wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht stellen, weil
sie genau wussten, dass ihre fossilen Brennstoffe den Klimawandel antreiben. Wie realistisch ist sein Vorhaben?
DIE ZEIT: Kürzlich hat die Fachzeitschrift Harvard
Environmental Law Review einen brisanten Kom-
mentar von Ihnen und Ihrem Co-Autor David
Arkush angenommen. Darin argumentieren Sie,
dass Ölfirmen sich wegen Tötungsdelikten vor
Gericht verantworten sollten. Meinen Sie das ernst?
Donald Braman: Es gibt keinen Zweifel daran, dass
die fossile Industrie massiv zum Klimawandel bei-
trägt und dass der Klimawandel Menschen tötet.
Die Unternehmen wussten, dass hohe Risiken mit
Produktion, Vermarktung und Verkauf ihres Pro-
dukts verbunden sind. Die haben sie aber nicht
bekannt gemacht, sondern eine Desinformations-
kampagne gestartet, um die Leute vom Gegenteil
zu überzeugen. Das macht die Firmen kriminell.
ZEIT: Kann man denn die Toten, die der Klima-
wandel heute verursacht, überhaupt mit den ge-
stiegenen Emissionen verbinden? Müsste man für
die Anklage für ein Tötungsdelikt nicht genau
wissen, dass es diese Toten ohne den Klimawandel
nicht gegeben hätte?
Braman: Seit den 1950er-Jahren wissen die Öl-
unternehmen, dass der Klimawandel zu einem
Anstieg des Meeresspiegels führt, zu Fluten und
Stürmen, zu Dürren und Hitze, zu Massenmigra-
tion und Toten. Das ist seit Langem erforscht.
Neu ist heute die Präzision, mit der man Schäden
mit dem Klimawandel verbinden kann. Und
ebenso die Präzision, mit der man die Beiträge der
Unternehmen zum Klimawandel berechnen kann.
ZEIT: Die Ölfirmen haben also wider besseres
Wissen gehandelt.
Foto: Guillaume Herbaut/Agence VU/laif
Braman: Das ist der entscheidende Punkt. Unsere
Argumentation stützt sich auf die Enthüllungen der
letzten Zeit, die zeigen, wie früh und genau Exxon
oder Shell über den Klimawandel Bescheid wuss-
ten. Wissenschaftler von Shell beschrieben 1989
zwei Zukunftsszenarien. In einem gab es eine nach-
haltige Zukunft, weil der Ölverbrauch und die
Emissionen sinken. Das andere Szenario nannten
die Wissenschaftler »globale merkantilistische Zu-
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kunft«: Es zeichnete sich durch einen Anstieg des
Ölverbrauchs aus – einhergehend mit einem kata-
strophalen globalen Klimawandel. Und was hat
Shell gemacht? Ganz auf das zweite Szenario gesetzt.
ZEIT: Hat der Konzern denn gedacht, er käme da-
mit einfach so durch?
Braman: Keine Ahnung. Vielleicht haben sich die
Verantwortlichen gesagt: Irgendwann werden wir
mit Regulierungen daran gehindert, die Katastro-
phe zu befeuern. Sie taten aber alles, um nicht ge-
stoppt zu werden. Heute hat der von Shell pro-
gnostizierte Klimawandel in den USA bereits Tau-
sende Menschen getötet, und es wird erwartet, dass
er in absehbarer Zukunft immer tödlicher wird.
ZEIT: Aber es war nicht strafbar, was Shell tat. Kein
Verbrechen ohne Gesetz, heißt es in der kontinental-
europäischen Rechtsauffassung. Firmen können le-
gal so viel Öl fördern, wie sie wollen.
Braman: Ein Wesensmerkmal des Verbrechens ist in
der Tat, dass ein illegaler Akt begangen wird. Ein
anderes wichtiges Merkmal ist aber, ob es Unrechts-
bewusstsein gab. Dieses Kriterium ist erfüllt: Die
fossile Industrie tat etwas, von dem sie genau wusste,
dass es katastrophal ist. Und sie täuschte darüber
hinweg. Das zusammen macht das Verbrechen aus.
ZEIT: In den 1980er-Jahren waren sich viele Wis-
senschaftler aber noch nicht absolut sicher, welche
Auswirkungen der Klimawandel haben würde.
Braman: In vielen Rechtssystemen werden die Tö-
tungsdelikte danach eingestuft, ob der Angeklagte
mit Absicht, im Wissen um die Folgen, aus Leicht-
fertigkeit oder aus Fahrlässigkeit gehandelt hat.
ZEIT: Was genau ist Ihre Einschätzung?
Braman: Wir behaupten nicht, dass die Ölindustrie
mit Absicht die katastrophalen Zustände und
Todesfälle verursacht, die sie vorausgesehen hat. Ein
Prozess sollte sich auf die verschiedenen Formen der
unbeabsichtigten Tötung konzentrieren.
ZEIT: Nun sind es aber gar nicht die Unternehmen,
die die tödlichen Emissionen produzieren, sondern
die Bürger und Bürgerinnen mit ihrem Konsum.
Eine Aktion von:
WISSEN
Klima
Braman: Die wurden aber getäuscht. Man hatte
ihnen gesagt: Alles halb so schlimm. Niemand
kann juristisch für Leichtgläubigkeit verfolgt wer-
den. Zudem: Um ein Tötungsdelikt zu begehen,
muss man einen wesentlichen Beitrag zum Tod
leisten. Einzelnen Bürgern kann man das nicht
vorwerfen, fossilen Unternehmen schon.
ZEIT: Seit 200 Jahren wird massenhaft CO₂ in die
Atmosphäre emittiert. Der Beitrag von ein paar
Unternehmen fällt vielleicht nicht so ins Gewicht.
Braman: Der größte Beitrag zu den Emissionen ist
geleistet worden, seitdem die Unternehmen
wissen, was sie tun.
ZEIT: Aber wie konnten die Firmen glauben, ver-
brecherisch zu handeln, wo die Regierungen sie
mit Subventionen unterstützten? Müssten nicht
eher die Politiker verklagt werden, die den Öl-
unternehmen grünes Licht gegeben haben?
Braman: Nein, weil die Politiker wie die Bürger
getäuscht wurden. Die fossilen Unternehmen
haben ja massive Lobbyarbeit betrieben. Es hat
auch keine Verschwörung der Gesetzgeber zwecks
Täuschung gegeben, wie dies für die fossile Indus-
trie nachweisbar ist. 1998 etwa haben mehrere Öl-
unternehmen einen Plan ausgearbeitet, um das
Kyoto-Protokoll zu torpedieren.
ZEIT: Wie aber gehen Sie mit der Tatsache um,
dass Präsident Joe Biden jetzt wieder Ölfelder zur
Bohrung freigibt? Wird damit nicht das Vorgehen
der fossilen Industrie legitimiert – und der Vorwurf
der fahrlässigen Tötung ad absurdum geführt?
Braman: Politik unterscheidet sich klar von der
Führung eines Unternehmens. Biden muss viel
bedenken: Wir können nicht aufhören, fossile
Brennstoffe zu nutzen, bis wir eine ausreichende
Energiealternative für den Übergang aufgebaut
haben, sonst bricht die Wirtschaft zusammen. Wie
bei einem Patienten, der von einem lebenswichti-
gen Medikament abhängig ist, das ihm aber zu-
gleich schadet. Kein Arzt würde ein solches Medi-
kament von heute auf morgen wegnehmen. Man
Zunehmende
Waldbrände sind
eine Folge des
Klimawandels. Hier
brennt im August
des vergangenen
Jahres der Wald von
Brocéliande in der
Bretagne
muss herausfinden, wie man es absetzen und eine
andere Art von Behandlung durchführen kann.
ZEIT: Die fossile Industrie könnte sagen, sie habe
Menschenleben gerettet, nicht vernichtet. Das Öl
hat Leute aus der Armut gehoben, ihnen ein war-
mes Haus gegeben, Mobilität ermöglicht.
Braman: Hätten die Unternehmen umfassend über
die Gefahren der fossilen Brennstoffe informiert,
wäre beides möglich gewesen: Wohlstand und
Nachhaltigkeit. Wir wären viel weiter mit Alternativ-
energien. Es wäre auch günstiger gewesen, denn
seit Jahren kommen uns die Kosten durch Anpas-
sungsmaßnahmen an den Klimawandel teuer zu
stehen. Hätten die Ölfirmen ethisch und legal ge-
handelt, hätten wir heute viel weniger Tote zu be-
klagen und viel mehr Menschen von Armut befreit.
ZEIT: Müsste angesichts der Täuschung die Ankla-
ge nicht eher Betrug als fahrlässige Tötung lauten?
Braman: Betrug setzt voraus, dass der Schaden nur
finanziell ist. Aber im internen Shell-Bericht geht
es um Prognosen, die voraussagen, dass große Teile
des Planeten unbewohnbar werden.
ZEIT: Trotzdem gibt es einige Verfahren, in denen
es nicht um Tötungsdelikte, sondern um Betrug
oder die Verletzung von Verbraucherschutz- oder
Umweltschutzgesetzen geht.
Braman: Leider werden diese Klagen kaum die Aus-
wirkungen haben, die eine Anklage wegen eines
Tötungsdelikts hätte. Sie können nur Strafen nach
sich ziehen, die von der Industrie als erträgliche
Kosten angesehen werden. So, wie das bei den
Klagen gegen die Tabakkonzerne der Fall war. Bei
Tötungsdelikten ist die Bandbreite der Maßnahmen
viel größer; sie umfasst nicht nur Geldstrafen, son-
dern auch die Beschlagnahmung von Eigentum,
Unterlassungsklagen, die verpflichtende Teilnahme
an Programmen, die Auferlegung von Entschuldi-
gungen und Gefängnisstrafen.
ZEIT: Sie fordern, dass man die Chefs der Unter-
nehmen ins Gefängnis steckt?
Braman: Nein. Eine Inhaftierung bringt meist
Gratis
Samen-
tütchen
Ab 4.!5. in
Ihrer ZEIT
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
wenig. Viel größer wäre der Nutzen der Straf-
verfolgung, wenn am Ende die Umstrukturierung
der Ölfirmen in Unternehmen steht, die auch ge-
meinnützig ausgerichtet sind.
ZEIT: Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Braman: In der Vergangenheit hat man harte
Strafen vermieden, weil sie den Wert eines Unter-
nehmens hätten zerstören können, zum Schaden
der Öffentlichkeit. Mittlerweile gibt es aber in den
USA Unternehmen, die gewinn- und zugleich ge-
meinwohlorientiert wirtschaften. Und mit einer
Tötungsdelikt-Verurteilung könnte man die Ölfir-
men verpflichten, Teil der Lösung in der Klimakrise
zu sein: sei es, indem sie die Treibhausgase mit neu-
en Technologien aus der Atmosphäre abpumpen,
sei es, indem sie bei Anpassungsmaßnahmen und
der Umstellung auf erneuerbare Energien helfen.
ZEIT: In den USA sind viele Bundesgerichte mit
Richtern besetzt, die oft industriefreundlich ent-
scheiden. Ist das ein Problem für Ihren Ansatz?
Braman: Nein. Tötungsdelikte sind Verbrechen,
die nach Landesrecht von einem lokalen Staats-
anwalt verfolgt werden. Es gibt in den USA über
2000 lokale Staatsanwaltbüros, die für die Straf-
verfolgung zuständig sind. Jedes von ihnen könnte
Anklage wegen Mordes erheben. Einige haben sich
schon bei uns gemeldet und Interesse bekundet.
ZEIT: Aber könnte der Oberste Gerichtshof ein
Urteil am Ende wieder kassieren?
Braman: Dafür gibt es keinen Präzedenzfall. Der
Oberste Gerichtshof hat noch nie eingegriffen,
um ein bundesstaatliches oder lokales Gericht da-
ran zu hindern, eine rechtmäßige Strafverfolgung
wegen eines Tötungsdelikts vorzunehmen, das
Einwohner dieses Staates betroffen hat.
Das Gespräch führte Maximilian Probst
Donald Braman ist seit 2006 an der
George Washington University in Washington.
Er lehrt dort Strafrecht und Beweisführung
Jetzt mitmachen!
Alle Informationen
auf ZEIT ONLINE:
www.zeit.de/1qm
14.04.23 15:15
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
1800 m
1700 m
Ar
lb
erg
do
lom
1600 m
it
Raibler-Formation
W
1500 m
ann
kommt
der Berg?
1400 m Und wenn er
kommt, wohin sol-
len sie dann gehen?
Die Bewohner von Brienz sitzen Donnerstag-
abend vergangener Woche in einer Turnhalle
unten in Tiefencastel und erfahren, dass sie ihr
1300 m Dorf verlassen müssen, noch in diesem Jahr. Der
Berg oberhalb von Brienz rutscht schon länger,
doch ein Teil davon rutscht seit einigen Wochen
immer schneller. Bald werden sich Felsblöcke
lösen und ins Dorf stürzen. Die Evakuierung
von Brienz ist unausweichlich.
1200 m
Die Brienzer begreifen an diesem Abend,
dass die Katastrophe, von der seit Jahren im
Dorf die Rede ist, nun tatsächlich bevorsteht.
Am Ende der Veranstaltung werden sie viele
Daten, Erklärungen und Szenarios gehört ha-
1100 m ben. Aber die existenziellen Fragen bleiben.
Das Bergdorf Brienz liegt im Südosten der
Schweiz, mitten in den Bündner Alpen, auf 1144
Meter über Meer. 80 Menschen leben hier. Fami-
lien, alte Leute, Ferienhausbesitzer, Bauern mit
ihrem Vieh. Die meisten sprechen Rätoroma-
1000 m
nisch. Statt Brienz, wie das Dorf auf Schweizer-
deutsch heißt, sagen sie: Brinzauls. Und zu Brin-
zauls gehörte schon immer, dass es sich bewegt.
Seit dem Ende der Eiszeit rutscht der Unter-
grund. Ein Jahrhundert lang waren es wenige
900 m Zentimeter pro Jahr, in den vergangenen zwanzig
Jahren jedoch hat sich die Bewegung beschleunigt.
Zurzeit rutscht Brienz einen Meter pro Jahr ab-
wärts. Der Turm der Kirche steht leicht schief,
Straßen brechen auf oder sinken ab, Risse gehen
durch Garagen und Ställe. Zäune verziehen sich
800 m wie der Balg eines Akkordeons. Mit dem Dorf
bewegt sich auch der Berg darüber. Aber seit An-
fang des Jahres hat sich die Situation dramatisch
verschlechtert: Der Berg bewegt sich schneller als
das Dorf. Der Berg kommt.
In der Turnhalle sitzen Geologen neben
700 m
Vertretern des Kantons und dem Gemeinde-
präsidenten Daniel Albertin auf dem Podium.
Sie blenden Grafiken ein, zeigen Diagramme.
Sie erläutern die geologische Beschaffenheit des
Hanges, auf dem Brienz liegt.
600 m Im Innern des Berges sind Gesteinsplatten über-
einandergeschichtet: Die Raibler-Formation aus
Rauhwacke und Dolomit liegt auf der Allgäu-
Formation. Diese liegt auf einem Schiefergestein
mit dem Namen Nordpenninscher Flysch. Darun-
ter befindet sich eine dünne Schotterschicht,
500 m durchsetzt mit Wasser, das durch den Berg rinnt.
Auf dieser Schicht gleiten das Dorf und der Berg
selbst den Hang hinab. Eine instabile Felsmasse an
der Oberfläche des Berges, 1,9 Millionen Kubik-
meter Gestein, gleitet schneller als der Rest, und
400 m
sie beschleunigt immer mehr. Die Experten nennen
diese Masse »die Insel«.
Kaum jemand kennt den Berg so gut wie
Stefan Schneider. Er führt in Thusis weiter un-
ten im Tal ein Geologie- und Ingenieurbüro. In
Brienz hat er mit seinen Kollegen vor zwölf Jah-
300 m ren Messgeräte installiert, die den Berg scannen.
Im gesamten Rutschgebiet sind 14 GPS-Statio-
nen aufgestellt, die jeden Tag die Koordinaten
erfassen. Ein Georadar tastet von der gegenüber-
liegenden Talseite den Hang ab. Die Radarbilder
zeigen, wie schnell sich die Gesteinsbereiche am
200 m
Berg verschieben. Schneider und sein Team ha-
ben ein Frühwarnsystem aufgebaut. Und dieses
System kündigt jetzt den Ernstfall an. Schneider
geht davon aus, dass sich die Insel bis Ende des
100 m
SCH WE I Z
Chur
Lantsch/Lenz
Albula/Alvra
BRIENZ/BRINZAULS
G R AU BÜ N D E N
Szenario I:
Felsstürze,
Beschleunigung
Abwärts
der Insel
Szenario II:
zähfließender
Schuttstrom
»Insel«
(instabile Felsmasse aus
1,9 Mio. m3 Gestein)
Ru
tsch Szenario III:
un rasanter
gB Bergsturz
erg
Allgäu-Formation
(Schiefergestein)
Jahres
vom
Berg löst.
»Das zeigen un-
sere Daten.« Denn je
schneller sich die Fels-
masse bewegt, desto wahr-
scheinlicher wird ein Fels-
sturz. Schneider verspricht, dass
sie einen solchen Abbruch »wenige
Wochen im Voraus« vorhersagen kön-
nen. Den Dorfbewohnern blieben dann ein
paar Tage, um ihre Häuser zu räumen. Im Früh-
sommer könnte es soweit sein.
Nur, wann genau ist Frühsommer?
In der Turnhalle in Tiefencastel sitzt Philipp,
er ist mit seiner Tochter gekommen. Unentwegt
zuckt er mit seinem Fuß, trommelt mit den
Fingern auf einer leeren PET-Flasche, schüttelt
wieder und wieder den Kopf. Philipp ist 40 Jahre
alt und wohnt in Brienz, schon immer. Seinen
Nachnamen möchte er nicht in der Zeitung
lesen. Theoretisch beginne der Frühsommer
schon in einem Monat, sagt er. Seiner Tochter
flüstert er zu: »Die Botschaft heute Abend ist
also, dass wir sofort in unsere Häuser sollen und
unsere Sachen packen. Oder etwa nicht?«
Das Geschehen in der Turnhalle wird live
übertragen. Viele Einheimische schauen von zu
Hause zu. Sie wollen nicht schon wieder von
den Medien vorgeführt werden, als Menschen
unter dem Damoklesschwert. Reporter und
Kamerateams sind seit Tagen im Dorf. Das
Schweizer Fernsehen, Blick TV, die NZZ, der
SonntagsBlick berichten. Es gibt Live-Ticker. Ein
Mann bittet um ein Treffen, an dem weder die
Medien noch die Ferienwohnungsbesitzer zuge-
lassen sind. Philipp sagt, er fühle sich manchmal
wie ein Affe im Zoo.
Die Experten auf dem Podium erklären, wo-
rauf sich die Einwohnerinnen und Einwohner
von Brienz einstellen müssen. Auf ihren Folien
präsentieren sie drei verschiedene Szenarios:
In Szenario eins, den Felsstürzen, bewegt sich
die Insel immer schneller. Aus der Gesteinsmasse
lösen sich immer wieder einzelne Felsblöcke und
kleinere Felsstürze von mehreren Hundert bis
mehreren Tausend Kubikmetern.
In Szenario zwei, dem Schuttstrom, wird die
Insel zu einem zäh fließenden Strom aus Schutt.
Der Schutt bewegt sich mehrere Meter pro Wo-
che oder Tag. Wahrscheinlich würde das ganze
Dorf unter der Masse begraben – in Zeitlupe.
In Szenario drei, dem Bergsturz, rast die Insel
zum Tal wie eine Lawine. Die Sturzmasse be-
schleunigt auf mehr als 200 Kilometer pro Stun-
de. Auch in diesem Szenario würde das Dorf be-
graben, diesmal aber in Sekundenschnelle.
In jedem der drei Szenarios müssen die Be-
wohner von Brienz ihr Dorf verlassen. Für ein
paar Wochen, für ein paar Monate – oder für
immer. Der Gemeindepräsident Albertin sagt:
»Heute muten wir Ihnen viel zu. Aber wenn wir
an das Schlimmste gedacht haben, sind wir am
besten vorbereitet.«
Welches der drei Szenarios eintritt, können die
Experten nicht vorhersagen. Noch nicht. Es kom-
2.906mm
2906
Lenzerhorn
1.244 m
Surava
Surava
1144 m
3 km
Die Kirche in Brienz, einem Ort mit
80 Einwohnern in den Bündner Alpen
ZEIT-Grafik: Anne Gerdes; Quelle: Gemeinde Albula/Alvra, Büro für Technische Geologie AG; Fotos: Gian Ehrenzeller/Keystone (2); CSD Ingenieure AG (M.)
WISSEN
Geologie
Seit Jahrtausenden rutscht der Berg über dem Dorf Brienz
in den Schweizer Alpen. Und das Dorf rutscht mit.
Bald aber droht ein gewaltiger Bergsturz, der den
Ort verschütten könnte VON SALOME MÜLLER
Nordpenninscher Flysch,
Schiefergestein
(Schiefergestein)
me
darauf
an, wie viel
Gesteinsmasse
sich wie schnell bewege.
Je näher der Abbruch rücke,
desto genauer lasse sich abschätzen, wie
groß das Volumen sei. Es könne auch sein, dass sich
in der nächsten Zeit viele kleinere Felsstürze ereig-
neten, so wie in den vergangenen Wochen. Dies
würde die Situation etwas beruhigen: Je weniger
Gestein noch oben auf dem Berg liegt, desto ge-
ringer ist der Druck, mit dem es später hinunter-
stürzt. Und desto weniger wahrscheinlich tritt der
Worst Case ein: Der Berg zerstört das ganze Dorf.
Der Geologe Stefan Schneider und seine
Kollegen geben in der Turnhalle eine Schätzung
ab: Der Bergsturz, das schlimmste Szenario, tritt
mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent
ein. Der Schuttstrom, das zweitschlimmste Sze-
nario, tritt zu 30 Prozent ein. Die Felsstürze, das
beste aller schrecklichen Szenarios, treten zu 60
Prozent ein. Die Schätzung, sagt Schneider, solle
den Bewohnern klar machen, dass der beste Fall
noch immer am wahrscheinlichsten sei. Aber
eben auch, dass der schlimmste Fall nicht aus-
geschlossen werden könne.
Drei Szenarios, drei Wahrscheinlichkeits-
angaben. Für Philipp sind Schneiders Berech-
nungen eine Theorie, die er in sein Leben über-
setzen muss, in eine Perspektive für seine Fami-
lie. Und weil kein Mensch in Wahrscheinlich-
keiten leben kann, will er endlich einen Plan.
Vielen im Dorf geht es wie ihm. Ein Ehepaar
war mit dem Wohnmobil in die Ferien auf-
gebrochen. Angesichts der Nachrichtenlage
kehrten die beiden mitten auf dem Weg um und
holten die wichtigsten Habseligkeiten aus ihrem
Haus. Sie werden für längere Zeit wegbleiben
und überlegen, wohin sie später ziehen wollen.
Andere verdrängen die Gefahr und bleiben. Und
manche verstehen erst an diesem Abend, dass sie
für Monate nicht mehr ins Dorf zurückkehren
können. Vielleicht gar nie mehr.
Auf dem Podium ergreift noch einmal der Ge-
meindepräsident Albertin das Wort: »Eine Eva-
kuierung ist kein schöner Gedanke.« Er verspricht,
die Gemeinde werde den Bewohnern »möglichst
praxisnah« helfen. Er stellt eine Telefonhotline vor,
an die sich die Betroffenen künftig wenden kön-
nen. Der Mann, der die Hotline betreuen wird,
sagt, er arbeite seit dreißig Jahren mit Menschen in
Not. Er sei ein guter Zuhörer. »Rufen Sie mich an,
wenn Sie eine Belastung auf dem Herzen haben.«
Der Geologe Stefan Schneider hat den
Berg mit Messgeräten gespickt
Rutschung
von 1877
Brienz
ca. 1 m Rutschung
pro Jahr
Rutsc
hung Dorf
Als je-
mand mit einem Mikrofon durchs Publikum
geht, steht Philipp auf und sagt: »Eine Hotline
ist schön und gut. Aber viele im Dorf leben von
einer kleinen Rente und können sich keine neue
Wohnung leisten.« Das Geld der älteren Men-
schen stecke in den Häusern und Ställen in
Brienz. »Werden sie von der Gemeinde finan-
zielle Hilfe bekommen?« Seit fünf Jahren stelle
er diese Frage, sagt Philipp. Er wolle nun endlich
eine Antwort. Damit die Leute nicht mehr da-
rauf warten, was von oben herunterkommt.
Sondern anfangen, an ihre Zukunft zu denken.
Aber der Gemeindepräsident antwortet nur, dass
die Frage der finanziellen Hilfe ungeklärt sei.
Am nächsten Tag in Brienz. Philipp zeigt sein
Haus. Es steht direkt unter der Insel, dazwischen
liegen nur ein paar Häuser, stehen einige wenige
Bäume. Philipp lebt hier mit zwei Kindern, sei-
ner Frau, vier Hunden und einer Katze. Nachts
hören sie, wie es oben am Berg rumpelt. Immer
wieder stürzen Felsblöcke runter, zertrümmern
Bäume, schlagen Löcher in die Wiesen.
Trifft das wahrscheinlichste Szenario ein,
kommen bald viele Felsstürze herunter: Die
Steinbrocken würden auf die Wiese nebenan
donnern. Sie würden Philipps Haus treffen. Sei-
ner Frau macht das Angst. Sie ist vor zehn Jahren
ihrem Mann zuliebe nach Brienz gezogen. Und
wäre am liebsten schon weg.
Kürzlich hat Philipp eingewilligt, dass sie im
Nachbardorf eine Wohnung mieten und für den
Ernstfall einrichten. »Seit wir diesen Plan B ha-
ben, geht es meiner Frau besser.« Gerade packen
sie ihre Möbel.
Eigentlich ist die Situation in Brienz heute
besser als noch vor ein paar Jahren (ZEIT
Nr. 49/2019). Bis vor Kurzem rutschte das Dorf
immer schneller abwärts. Von wenigen Zenti-
metern beschleunigte es auf 1,6 Meter pro Jahr.
Dann wurde 2021 unterhalb von Brienz für
11 Millionen Franken ein Sondierstollen gebaut,
um der Gleitschicht im Innern des Berges das
Wasser zu entziehen. Und auch, um den Wasser-
druck zu verringern. Der Stollen zeigte Wirkung:
Dass sich Felsbrocken lösen, ist hier
normal. Aber fast die ganze Felswand?
33
50 m
In den ver-
gangenen Monaten
verlangsamte sich der
Rutschprozess auf einen Me-
ter pro Jahr. Der eher trockene Som-
mer und der schneearme Winter bremsten das
Dorf zusätzlich.
Im Dezember 2022 bewilligte die Regie-
rung des Kantons Graubünden 40 Millionen
Franken für den Ausbau des Stollens. Der neue
Abfluss wird zwei Kilometer lang sein und un-
ter dem ganzen Dorf hindurchführen. Der
Geologe Schneider sagt, Brienz werde zwar nie
stillstehen. Die Gleitschicht habe sich aus-
gebildet und bleibe. Aber im besten Fall werde
das Dorf nur noch zehn Zentimeter pro Jahr
abrutschen. Für die Insel kommt der neue
Stollen zu spät. Er wird frühestens in drei Jah-
ren fertiggestellt sein.
Bis dahin müssen die Bewohner schauen, wo
sie unterkommen. In der Turnhalle in Tiefen-
castel findet Philipp: Bei so vielen Millionen für
die Entwässerung sollte auch Geld für die Ersatz-
Wohnungen vorhanden sein. Er hat das mal
durchgerechnet: Mit 1,2 Millionen Franken
könnte jeder der 50 Haushalte eine Wohnung
mieten, die monatlich maximal 2000 Franken
kostet. »Wir alle wären für ein Jahr versorgt.«
Der Gemeindepräsident verweist auf eine Kom-
mission, die sich um alternative Wohnorte küm-
mert. Sie werde bei der nächsten Versammlung
Mitte Mai über das Vorgehen informieren.
So lange wollten Philipp und seine Frau
nicht warten. In der neuen Wohnung in Len-
zerheide steht schon die Kaffeemaschine in der
Küche, gerade wurden neue Matratzen geliefert.
Später am Nachmittag will Philipp dort noch
das neue Sofa zusammenbauen. In Brienz hat
seine Frau die Ski der Familie ins Auto gepackt.
Philipp geht das zu weit. Er nimmt sein Paar
aus dem Kofferraum und lehnt es an die Haus-
wand. Dort sollen die Skier bleiben. So lange
wie möglich.
34 WISSEN 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Schöner Schein (3/4) Frisch erforscht

Die Gier nach Metall schlägt Fragen Sie Ihren
der Erde Wunden Arzt oder die KI
Wenn derzeit von der Revolution der
künstlichen Intelligenz (KI) die Rede ist,
geht es meist darum, dass ihre Texte so
authentisch wirken, als hätte sie ein
Mensch geschrieben, oder dass künstlich
generierte Bilder so echt aussehen, als
hätte der Papst tatsächlich eine Vorliebe für
weiße Daunenjacken (ZEIT Nr. 16/23).
Eher im Hintergrund läuft die Entwick-
lung in anderen Bereichen, etwa in der
Medizin. Dabei tut sich hier sehr viel.
Gerade erst hat eine amerikanische
Studie gezeigt, wie eine KI dabei assis-
tieren kann, die Herzfunktion zu prü-
fen. Wobei: »Assistieren« ist hier nicht
ganz das richtige Wort. In dem Versuch
schnitt die KI nämlich besser ab als der
Mensch. Ersetzt ihn die Technik also
künftig?
In der Studie, erschienen in Nature, trat
ein KI-Programm gegen medizinische
Fachkräfte zum Duell an. Beide Parteien
sollten die linksventrikuläre Ejektions-
fraktion (EF) bestimmen, ein häufig ge-
brauchtes und wichtiges Maß dafür, wie
gut das Herz Blut in den Körper pumpt –
letztlich also dafür, wie gut es funktioniert.
Gemessen wurde das anhand von Bildern
einer Ultraschalluntersuchung des Her-
zens, der Echokardiografie. Erfahrene
Kardiologinnen und Kardiologen bildeten
das Schiedsgericht: Sie kontrollierten die
Foto: Milan Radisics
Im Gegenteil: Ein Kardiologe bleibe der
letzte Experte, der über die Ergebnisse
des KI-Modells urteile, heißt es in der
Pressemitteilung explizit.
Das deckt sich mit der Einschätzung
vieler anderer Experten: Die KI wird
menschliche Fachkräfte in der Medizin
auf absehbare Zeit nicht ersetzen. Sie
kann zwar eine extrem gute Hilfe sein,
die Ärztin oder der Arzt blieben aber die
letzte Instanz: Sie müssten mit ihrer Aus-
bildung und Erfahrung die Arbeit der KI
beurteilen und einordnen.
Eines aber kann die Intelligenz-Tech-
nik schon jetzt: vor akuten Gefahren
warnen, und zwar auch dann, wenn kein
Arzt in der Nähe ist. Zumindest bei
denjenigen, die eine KI am Handgelenk
tragen: Moderne Smartwatches sind
nichts anderes als mobile KI. Und viele
von ihnen haben Sensoren eingebaut,
die wichtige Körperfunktionen messen
und aufzeichnen, ein Elektrokardio-
gramm (EKG) etwa. Es gibt Berichte
von Menschen, bei denen eine Smart-
watch eine Herzrhythmusstörung ange-
zeigt hat oder Ärzten zur Diagnose einer
Lungenembolie verholfen hat, beide Er-
krankungen können akut lebensbedroh-
lich sein. Auch bei der Entdeckung chro-
nischer Leiden können die Smartwatches
eine wertvolle Hilfe sein, vor allem bei

Sieht nur von oben gut aus: Eine Landschaft in Gerena, Spanien
Eine Symphonie aus grauen und erdfarbenen deutschen Vergangenheit. Tatsächlich zu sehen
Tönen. In dicken Schichten aufgetragene Farb- ist hier hingegen das, was bleibt, wenn Kupfer
bahnen und Pigmentflecken. Eine Landschaft, abgebaut wird, in diesem Fall im andalusischen
die an Schutt und Trümmer denken lässt, an Gerena. 25 Prozent des spanischen Kupfer-
Spuren und Schraffuren. Als wäre hier Anselm bedarfs deckt der Minenkomplex ab. Das Foto
Kiefer am Werk gewesen. Der nach Frankreich zeigt Abfälle und toxische Nebenprodukte, die
emigrierte Maler nutzt oft archaische Materia- in Trockenstapelung gelagert werden. Kupfer
lien für seine Bilder: Sand, vertrocknete Pflan- gilt als Metall der Elektrifizierung. Wegen seiner
zen, Asche und immer wieder Blei, meistens in Leitfähigkeit wird es für Kabel, Generatoren
Auseinandersetzung mit den Schrecken der und Elektromotoren verwendet. Nachfrage:
In dieser Serie zeigt der ungarische Fotograf Milan Radisics Luftaufnahmen von verschmutzten Orten, die durch den Rohstoffhunger Europas entstehen
EF-Werte auf Richtigkeit. Dabei wussten
die Richter nicht, wer die EF bestimmt
hatte – die KI oder die Fachkräfte. Das
Ergebnis war eindeutig: Bei den mensch-
lichen Fachkräften mussten die Kardiolo-
gen mehr als jeden vierten Wert korrigieren
(27,2 Prozent), bei der KI war das nur in
rasant steigend. Bis 2035 dürfte sich der welt- 16,8 Prozent der Fälle nötig.
weite Bedarf an dem Material verdoppeln. Der »Diese Studie liefert den eindeutigen
Finanzdienstleister S&P Global warnte kürz- Beweis dafür, dass der Einsatz von KI auf
lich, Kupferknappheit könne in Zukunft »zu neuartige Weise die Qualität und Effek-
einer zentralen destabilisierenden Bedrohung tivität der Echokardiografie für viele
der internationalen Sicherheit werden«. Gewiss Patienten verbessern kann«, sagt der
ist: Wenn sie beschädigt werden sollte, werden Hauptautor David Ouyang laut Presse-
Fotografinnen und Maler zur Stelle sein und die mitteilung des Cedars-Sinai Medical
Wunden auf eine Weise dokumentieren, wie es Center. An der Klinik in Los Angeles
nur die Kunst kann. MA XIMILIAN PROB ST wurde die Studie durchgeführt. Ouyang
fordert aber nicht, dass die KI den
menschlichen Untersucher ersetzen solle.
der Diagnose von Krankheiten am Her-
zen. Das zeigt sich auch in Studien.
Im Februar erst erschien in der Fach-
zeitschrift European Heart Journal –
Digital Health eine Untersuchung, in der
Forscherinnen und Forscher aus London
bei herzgesunden Menschen ein erhöh-
tes Risiko für spätere Herzrhythmus-
störungen diagnostizierten, und zwar
mithilfe eines einfachen, nur 15 Sekun-
den andauernden EKGs – eines, wie es
auch Smartwatches aufzeichnen. Dabei
war noch keine KI im Spiel, die Wissen-
schaftler werteten die aufgezeichneten
EKGs im Nachhinein aus. Bald aber
schon könnte das viel einfacher ablaufen:
per KI auf der Smartwatch, die ihren
Träger warnt. Zum Arzt muss der dann
aber immer noch. JAN SCHWEITZER

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Stimmt’s?
Frühlingsgefühle führen zu
»IST ZURZEIT NICHT vielen Geburten im Winter
LIEFERBAR!« – Die Sonne scheint, es wird wärmer, und nun Jahr für Jahr acht bis zehn Prozent

GEHEN UNS BALD DIE bei vielen Menschen stellt sich Hochstim-
mung ein. Das scheint zu verstärktem
mehr Babys geboren, als bei einer zufäl-
ligen Verteilung zu erwarten wären.

ROHSTOFFE AUS?
Paarungsverhalten zu führen: Im Jahr
2012 sagten in einer repräsentativen Um-
frage 30 Prozent der in einer Beziehung
lebenden Deutschen, dass sie ihren Part-
89. ZEIT FORUM WISSENSCHAFT ner im Frühling kennengelernt hätten –
etwas mehr als die bei einer gleichmäßigen
Verteilung zu erwartenden 25 Prozent.
8. MAI 2023 · BERLIN · 18.00 UHR Schlagen sich aber diese Liebesgefühle
neun Monate später in einer höheren Ge-
burtenzahl nieder? Ich habe die Geburts-
statistiken seit 1950 durchforstet. Dem-
Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
Woran liegt das? Die Fachleute tap-
pen im Dunkeln. Sebastian Klüsener,
Leiter des Forschungsbereichs Demogra-
fischer Wandel und Alterung am Bun-
desinstitut für Bevölkerungsforschung,
erklärte vor ein paar Jahren, dass unser
Fortpflanzungsverhalten früher mehr von
der Landwirtschaft beeinflusst war –
nach einer guten Ernte glaubte man, ein
weiteres Kind durchfüttern zu können,
was dann zu einer Geburt im kommen-

Das 89. ZEIT Forum Wissenschaft zum Thema Rohstoffmangel und Autarkie beschäftigt sich nach war der Monat mit den meisten
Geburten seit 1976 fast immer der Sep-
mit der immer dringlicher werdenden Frage nach unseren Handels- und Produktionssystemen. tember oder der Juli. Vor diesem Jahr war
es mit wenigen Ausnahmen der März.
Abhängigkeiten von Rohstoffen anderer Länder und Nationen stellen immer wieder im ökonomi- Aber fast nie einer der Wintermonate.
schen, geopolitischen und umwelttechnischen Bereich Herausforderungen dar. Die weltpolitische Deutlich wird der Unterschied, wenn
man nicht einzelne Monate betrachtet,
Lage zeigt dies in den letzten Jahren besonders eindrücklich. Wie autark ein Land sein kann und sondern die meteorologischen Jahreszei-
wie es auf dem Rohstoffmarkt weitergeht, darüber diskutieren Andreas Sentker, Geschäftsfüh- ten. Auch da gibt es tatsächlich im Lauf
der Jahrzehnte einen klaren Trend: Wäh-
render Redakteur und Leiter Ressort Wissen, DIE ZEIT und Ralf Krauter, Redakteur »Forschung rend bis in die 1970er-Jahre die meisten
aktuell«, Deutschlandfunk mit Expertinnen und Experten. Babys im Frühling zur Welt kamen, sind
es seitdem die Sommermonate Juni bis
Das 89. ZEIT Forum Wissenschaft findet am 08. Mai 2023 um 18:00 Uhr in der Berlin- August. Und fasst man Juli, August und
September zusammen, dann ist der Wert
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt. noch höher. In diesen Monaten werden
den Frühjahr führte. Aber wer hat in den
1970ern die Familienplanung von der
Ernte abhängig gemacht? Zweite Erklä-
rung: Früher hat man mit dem Sex bis
zur Ehe gewartet, und geheiratet wird
gerne im Sommer. Neuerdings wird ver-
mutet, dass der Klimawandel eine Rolle
spielt – bei heißem Wetter leidet die
Spermaqualität der Männer. Wie dem
auch sei: Der Trend ist in fast allen west-
lichen Gesellschaften zu verzeichnen.
Offenbar gibt es also neun Monate
nach den Frühlingsgefühlen keinen
»Babyboom«. Aber ein Paar, das sich ver-
liebt, muss ja auch nicht gleich zur Zeu-
gung schreiten. CHRISTOPH DRÖS SER

Die Teilnahme ist kostenlos. Um Anmeldung wird gebeten. !www.zeit.de/vorgelesen

Programm und Anmeldung: www.zeit.de/veranstaltungen Diese Woche fragt Eric Tschöp aus Freiburg.
Folgen Sie uns: @ZEITvst | @zeit_veranstaltungen Und worauf suchen Sie eine Antwort? Schreiben Sie an: DIE ZEIT, Wissen-Ressort,
20079 Hamburg, oder stimmts@zeit.de. Das Archiv: www.zeit.de/stimmts

Eine Veranstaltungsreihe von: In Kooperation mit: Freunde der ZEIT

Das Programm für AbonnentInnen

Hören Sie den Podcast

Woher weißt Du das? Unser Wissens-Podcast über Wissenschaft,
Alltag und Gesellschaft. Jetzt anhören unter www.zeit.de/zw-podcast

112764_ANZ_220x220_X4_ONP26 1 14.04.23 15:50

DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
Bald sollen in Deutschland Cannabis-Vereine erlaubt sein. Andere Länder haben damit Erfahrungen gesammelt – nicht nur gute
J
ulen Merino beendet seine Mails gern
»mit chilligen Grüßen«, aber am Tele-
fon klingt der 26-Jährige dieser Tage
doch ein bisschen aufgeregt. Merino ist
Vorsitzender des Cannabis Social Club
Stuttgart e. V., den es seit 2016 gibt.
Nun könnte sein lang gehegter Traum
wahr werden: Nach dem Willen von Gesundheits-
minister Karl Lauterbach soll der Anbau von
Cannabis in Vereinen offiziell erlaubt werden. Was
bisher – mit Ausnahme von medizinisch genutz-
tem Cannabis – verboten war, könnte bald Reali-
tät werden: Merino und seine Mitstreiter dürften
gemeinsam Hanf-Pflänzchen ziehen, deren Blüten
ernten und das weed rauchen – legal, mitten in
Deutschland. Denn in Clubs wie jenen von Merino
setzt Lauterbach große Hoffnungen.
In der vergangenen Woche stellte der Minister
die neuen Eckpunkte zur Cannabislegalisierung
vor – zumindest das, was davon übrig blieb. Denn
die im Koalitionsvertrag vollmundig formulierte
»Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genuss-
zwecken in lizenzierten Geschäften« muss die
Ampelkoalition vorerst verschieben; sie verstieße
wohl gegen EU-Recht. Dafür ist nun unter anderem
Folgendes geplant: Erwachsene dürfen bis zu drei
weibliche Pflanzen besitzen, zudem soll der Besitz
von 25 Gramm Cannabis erlaubt sein. Und: Bis zu
500 volljährige Menschen können sich in einem
Verein zusammentun, gemeinsam Cannabis an-
bauen und es zum Konsum an Mitglieder abgeben.
Hierzu soll Ende April ein Gesetzentwurf folgen.
Die Clubs sollen den illegalen Cannabis-Markt
zurückdrängen. Menschen, die ihr Gras bisher
beim Dealer kauften, so Lauterbachs Hoffnung,
würden in einen legalen Verein wechseln, wenn es
die Möglichkeit dazu gebe. Auf diese Weise könn-
ten die Vereine die Jugend schützen: »Dealer wer-
den einen 17-Jährigen nicht abhängig machen,
wenn sie ihn dann als 18-jährigen Kunden verlie-
ren«, glaubt Lauterbach. Und Agrarminister Cem
Özdemir ergänzte: »Der Schwarzmarkt wird sich
schwarzärgern«.
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Impressionen aus einem Cannabis-Club in Barcelona
Willkommen im Club
Das klingt nach viel Vertrauen in ein hierzu-
lande unbekanntes Modell. Doch ist es gerecht-
fertigt? Welche Erfahrungen haben andere Länder
gemacht? Halten die Vereine, was sich die Politik
von ihnen verspricht?
Tatsächlich ist die Idee der »Cannabis Social
Clubs« weltweit auf dem Vormarsch. In Europa
gibt es sie mittlerweile in mindestens 13 Staaten,
etwa in Großbritannien oder den Niederlanden.
In Spanien wurden die ersten Cannabis Social
Clubs von aktivistischen Konsumenten in den
Neunzigerjahren gegründet. Heute finden sie sich
selbst in Neuseeland, Uruguay, Chile oder Südafri-
ka. Die Zahl ihrer jeweiligen Mitglieder schwankt
dabei je nach Club zwischen sechs und 5000 Mit-
gliedern, in Europa liegt der Durchschnitt bei 335.
Wohl niemand hat diese Vereinsszene so in-
tensiv untersucht wie die portugiesische Krimi-
nalwissenschaftlerin Mafalda Pardal, die Feld-
forschung in Spanien, Belgien und Uruguay be-
trieb und vergangenes Jahr den Sammelband The
Cannabis Social Club herausgab. Detailliert hat sie
die Clubs in Uruguay analysiert, die sich am ehes-
ten mit den deutschen Plänen vergleichen lassen.
Der südamerikanische Staat ist bisher das einzige
Land, das die Clubs im Rahmen seiner Cannabis-
Politik offiziell erlaubt hat. In allen anderen Län-
dern sind die Clubs entweder illegal, oder sie agie-
ren in einer rechtlichen Grauzone, nicht legal,
aber geduldet.
Uruguay hingegen legalisierte die Droge im
Jahr 2013 – seither muss, wer sie konsumieren
möchte, sich bei einer staatlichen Behörde anmel-
den und einen von drei Wegen wählen: Entweder
kann man bis zu sechs Pflanzen zu Hause anbauen,
pro Monat bis zu 40 Gramm in lizenzierten Apo-
theken kaufen oder einem der knapp 300 Anbau-
Vereine beitreten. Diese dürfen maximal 45 Mit-
glieder und 99 Pflanzen besitzen; monatlich dür-
fen sie 40 Gramm pro Mitglied abgeben.
Das Profil der Nutzer beschreiben Pardal und
ihre Co-Autorinnen als »hauptsächlich männlich,
Mittelschicht, eher gebildet«; die meisten hätten
WISSEN
Drogenpolitik
schon vor der Legalisierung Cannabis konsumiert
und sich mit Bekannten zu einem Verein zusam-
mengetan. Und die Mehrheit konsumiere Canna-
bis täglich oder fast täglich. Gelegentliche oder
neue Nutzer verirrten sich eher selten in die Ver-
eine – womöglich auch, weil den Clubs laut Gesetz
Werbung verboten ist. Ein solches Werbeverbot
sehen die Eckpunkte auch für Deutschland vor.
Dennoch scheinen die Vereine in Uruguay
tatsächlich dem Schwarzmarkt Kunden abzuneh-
men. Laut Pardal sagen die meisten Mitglieder in
Uruguay, der Verein sei ihre einzige Bezugsquelle;
sie hätten sich umorientiert, vom illegalen hin
zum legalen Weg. Dabei hätten sich die 40 Gramm
pro Person pro Monat in der Regel als zu viel für
eine Person herausgestellt, erklärt Pardal im Video-
gespräch. Viele uruguayische Mitglieder hätten ihr
Gras oft mit ein bis zwei nicht registrierten Nutzern
geteilt, manchmal verkauft. »So verstärken die
Clubs indirekt einen grauen Markt, der Menschen
vom Illegalen weglenken kann«, sagt Pardal.
In Deutschland sollen sogar 50 Gramm pro
Person im Monat abgegeben werden dürfen, was
diesen Effekt noch verstärken könnte. Dennoch
sollte man die Wirkung solcher Clubs nicht über-
schätzen, warnt der Suchtmediziner Maurice Ca-
banis vom Klinikum Stuttgart. »Wer glaubt, die
Clubs könnten den illegalen Markt verdrängen,
unterschätzt dessen Flexibilität.« Denn den Kon-
sumierenden komme es letztlich vor allem auf den
Preis an. Und wenn die Dealer merkten, dass ihr
Absatz zurückgehe, würden sie den Abgabepreis
einfach senken, sagt Cabanis. »Aus Kanada wissen
wir, dass die Leute schon bei einem Dollar Preis-
unterschied pro Gramm bereit sind, eher auf dem
illegalen Markt zu kaufen.«
Ob die Clubs in Deutschland da mithalten
können? Schließlich sollen sie nicht gewinnorien-
tiert arbeiten; gleichzeitig aber müssen sie – zum
Beispiel über Mitgliedsbeiträge – ihre Kosten für
Miete, Dünger, Wachstumslampen und Sicher-
heitsvorkehrungen decken. Das dürfte den Preis in
die Höhe treiben.
Dennoch hält der Suchtmediziner Maurice
Cabanis die Idee der Clubs für sinnvoll. Sie böten
den Konsumenten immerhin eine neue Option:
»Sie können sich gegen den Schwarzmarkt ent-
scheiden.« Außerdem sei das in den Clubs gehan-
delte Gras potenziell weniger gesundheitsschädlich
als der Stoff vom Schwarzmarkt; der kann von
Pilzen befallen sein, Pestizide enthalten oder syn-
thetische Cannabinoide, die gefährlicher sind als
herkömmliches Cannabis.
All das zeigt, dass viele Aspekte bei der Beurtei-
lung der Club-Idee eine Rolle spielen und eine
pauschale Bewertung schwer möglich ist. Wie hei-
kel die Lage ist, zeigt auch eine 2022 im European
Journal of Criminology erschienene Untersuchung
von Pardal und einigen Co-Autoren: Demnach
baut jeder fünfte Club in Europa das Cannabis für
seine Mitglieder gar nicht selbst an, sondern kauft
es auf dem Schwarzmarkt ein und verkauft es dann
weiter. Deshalb müsse man alle Eventualitäten im
Blick behalten, sagt auch der Strafrechtler Robin
Hofmann von der Universität Maastricht am Tele-
fon. Es müsse sichergestellt werden, dass die Clubs
nicht als illegale Plantagen missbraucht werden.
»Im Grunde muss jede Pflanze ein Namensschild
tragen, und dann müssen die Behörden prüfen:
Gibt es dieses Mitglied überhaupt, oder wandern
die Blüten auf den Schwarzmarkt?« Die Clubs
müssten gut kontrolliert werden, damit sie den ille-
galen Markt am Ende nicht noch stärken.
Uruguay gründete zu diesem Zweck eine ei-
gene Behörde, das Institut für die Regulierung
und Kontrolle von Cannabis (IRCCA). In
Deutschland sollen das laut den aktuellen Vor-
schlägen »Landesbehörden« übernehmen, welche,
ist noch nicht klar, »mit Stichproben und Besu-
chen vor Ort«. Sie sollen unter anderem sicher-
stellen, dass Ernte- und Anbaumengen nur den
Eigenbedarf des Clubs decken und dass kein Im-
oder Export stattfindet.
Damit sich überhaupt Clubs gründen, komme
es auf die richtige Balance zwischen Kontrolle, Re-
gulierung und Autonomie an, sagt Mafalda Pardal.
35
Fotos: Guillaume Darribau für DIE ZEIT
VON YANNICK RAMSEL
Die Erfahrung aus anderen Ländern zeige: Ob die
Clubs erfolgreich Mitglieder ansprächen, komme
vor allem auf die Rahmenbedingungen an, etwa
wie leicht oder schwer die Anmeldung sei. Im
deutschen Eckpunkte-Papier habe Pardal ein
Detail überrascht: Der Konsum in den Clubs
selbst soll verboten sein. In anderen Ländern sei er
in der Regel möglich.
Was durchaus Vorteile haben kann: Denn die
Clubs ermöglichten einen sichereren Drogen-
konsum, ergab eine 2016 erschienene Studie. Die
Qualität des Cannabis sei besser als auf dem illega-
len Markt, Mitglieder hätten sich gegenseitig im
Blick und könnten warnen, wenn jemand zu viel
konsumiere. Diese Art von peer control hat Mafalda
Pardal in Spanien auch beobachtet: »Die Mit-
arbeiter informieren über den THC-Gehalt, es
gibt Workshops zu problematischem Drogen-
konsum, oft in Zusammenarbeit mit Gesundheits-
organisationen.« Demnach wären die Social Clubs
auch ein Instrument, den Konsum der Droge so
sicher und gesund wie möglich zu gestalten. Ande-
rerseits gab in Uruguay ein Drittel der befragten
Mitglieder an, mehr oder deutlich mehr Cannabis
zu konsumieren als vor ihrem Eintritt in den Club.
So sind es am Ende viele Abwägungen und
Details im Gesetzentwurf, die darüber entschei-
den, ob Cannabis-Vereine dem Gesundheitsschutz
eher zuträglich sind oder nicht. Nur in einem sind
sich alle Experten einig: Die Clubs allein werden
den Schwarzmarkt nicht zum Erliegen bringen.
Julen Merino vom Cannabis Social Club in
Stuttgart wartet gespannt auf das Gesetz. Derzeit
informieren er und seine Mitstreiter sich über
Anbaumethoden, kürzlich war Merino in Spanien,
um Kontakte zu knüpfen. Und er beantwortet
Mails. Viele Mails. 50 Mitglieder hatte sein Verein
bis vor Kurzem, mittlerweile sind es schon 248.
Der Ansturm sei aber kein Problem, sagt Merino
heiter. Zur Not könne man ja einfach einen zwei-
ten Verein gründen.
!www.zeit.de/vorgelesen
36
DIE ZEIT: Herr Hajabi, Sie kamen als Kind von
Geflüchteten nach Deutschland, waren Drogen-
dealer und Goldräuber, jetzt sind Sie erfolgreicher
Rapper und Unternehmer. Kann jeder in Deutsch-
land alles schaffen?
Giwar Hajabi: Ich denke schon, nur der Weg ist
nicht für alle gleich. Keine Ahnung, ob es am Ende
vor allem um Bildung, Herkunft oder Ehrgeiz
geht. Ich habe gestern zum Beispiel jemanden auf
einer Party kennengelernt, der war 22 und sagte, er
sei Produktdesigner. Ich so: »Was genau?« Er: »Ich
mach Uhren, Möbel, Bühnenbilder ...« Ich: »Bro,
laberst du Scheiße?« Da zeigte er mir auf dem
Handy sein Portfolio – zu seinen Kunden gehört
TAG Heuer – und sagt: »Ich hab einfach Talent.«
Es gibt also talentierte Leute, bei denen alles
klappt, und es gibt Leute, die müssen schwitzen.
ZEIT: Was war für Ihren Erfolg wichtiger, Talent
oder Fleiß?
Hajabi: Ich weiß gar nicht, was Fleiß ist. Hirn und
Hartnäckigkeit haben mich dahin gebracht, wo
ich heute stehe. Außerdem: Beharrlichkeit. Nicht
loslassen können. Ich wusste früher, ich wollte raus
aus der Armut. Das habe ich geschafft. Ich habe
aber auch gemerkt, je mehr Geld man macht, desto
mehr Verantwortung und Probleme hat man.
ZEIT: Der Regisseur Fatih Akin hat im Kinofilm
Rheingold Ihre Lebensgeschichte verfilmt. Mehr als
eine Million Menschen haben den Film gesehen.
Was hat das verändert?
Hajabi: Sehr viel, die Leute nehmen mich heute
ganz anders wahr. Neulich wurde ich auf der
Straße von einer 80-jährigen deutschen Dame an-
gesprochen, die hat mich gefragt, ob ich der
Rapper aus dem Film sei. Sie hat fast geweint und
gesagt: »Ich konnte drei Tage nicht schlafen wegen
des Films. Ich habe nicht gewusst, was ihr durch-
machen musstet!« Fast jeder Mensch, der aus dem
Iran hierhergekommen ist, hat ähnliche Sachen
erlebt wie meine Familie und ich. Viele Deutsche
können sich bis heute nicht vorstellen, warum wir
hier sind und was im Iran abging. Sie haben nach
dem Film eine andere Empathie. Das ist krass.
ZEIT: Ihr Vater war Komponist in Teheran, Ihre
Mutter Orchestermusikerin und Lehrerin an einer
Grundschule. Dann kam 1979 die Islamische
Revolution, und weltliche Musik wurde verboten.
Hajabi: Ja, und sie hätten wahrscheinlich in einem
anderen Rahmen weiter Musik machen können,
aber sie haben sich dazu entschieden, alles aufzu-
geben. Und dann sind wir auch noch Kurden.
Meine Eltern hatten im Iran keine Chance mehr.
ZEIT: Ihre Eltern sind mit Ihnen geflohen, als Sie
ein Kleinkind waren. Auf der Flucht wurden sie
im Irak festgenommen, weil man sie für Spione
hielt. 1985 kamen Sie mit der Familie in Bonn an,
im Viertel Brüser Berg, einem sozialen Brenn-
punkt, damals waren Sie vier Jahre alt. Wann wurde
Ihnen klar, wie groß der soziale Abstieg war, den
Ihre Eltern erlebt haben?
Hajabi: Das habe ich meine ganze Kindheit lang
gespürt. Ich erinnere mich daran, dass sich mein
Vater mit meinem Musiklehrer voll gut verstanden
hat. Von dem bekam er Anerkennung, die gab es
sonst in Deutschland nicht. Ich glaube, das hat ihn
ziemlich deprimiert, das hat ihn kaputtgemacht.
Meine Eltern haben ja auch alles versucht, sie
wollten ihre Abschlüsse anerkennen lassen, noch
mal studieren, das hat nicht geklappt. Sie wollten
lange nicht akzeptieren, dass hier nichts wert war,
wer sie sind und was sie können.
ZEIT: Bildung war wichtig in Ihrer Familie.
Hajabi: Ja, das ist bei vielen Iranerinnen und Ira-
nern in meiner Generation so. Es heißt: »Werd
Arzt, werd Physiker, werd Anwalt.« Bildung ist
eine gute Waffe. Bildung ist Kapital. Wenn ich in
der Schule Fünfen oder Sechsen hatte, haben mich
meine Eltern nie geschlagen. Aber für gute Noten
habe ich Geld bekommen. Mein Vater war auch
so: Scheiß aufs Geld. Er sprach viel über Kunst.
Dann wiederum sagte meine Mutter: Dein Vater
labert so viel Scheiße, der bringt kein Geld rein,
und ich muss putzen gehen. Das war für mich
eine gute Mischung: Meine Mutter war die Reali-
tät. Ich wusste, Kunst und Business, das muss
zusammengehen. Das ist auch der Grund, warum
ich heute viel Business aus der Kunst mache.
ZEIT: Von wem haben Sie mehr über Musik ge-
lernt, von der Klavierlehrerin, die Sie unterrichtet
hat, seit Sie neun Jahre alt waren, oder vom US-
amerikanischen Rapper Dr. Dre, der das legendäre
Plattenlabel Death Row Records gründete?
Hajabi: Definitiv von der Klavierlehrerin. Dr. Dre
hat mir geilen Geschmack gegeben. Sein Album
The Chronic hat mein Leben verändert, wir haben
uns auf dem Brüser Berg um die CD geschlagen.
Zum Klavierspielen wurde ich von meinen Eltern
gezwungen. Das war halt nervig, als Kind hast du
da keinen Bock drauf, das ist ja Konzentration
ohne Ende. Und dann habe ich mit 14, 15 ge-
merkt, boah, die Mädchen gehen voll drauf ab,
wenn ich Klavier spiele.
ZEIT: Wie groß war die Enttäuschung bei Ihren
Eltern, dass Sie kein Abitur gemacht haben?
Hajabi: Es war eine Katastrophe. Meine Eltern
waren schon getrennt, und das war eine Phase – das
vergesse ich oft –, in der meine Mutter sehr un-
glücklich war und sich viele Vorwürfe gemacht hat.
ZEIT: Wie hat sich das gezeigt?
Hajabi: Da hat sie mich rausgeschmissen! Es war
so: Die achte Klasse musste ich wiederholen. Die
Giwar Hajabi, 41, wurde im Iran geboren und kam mit vier Jahren nach Deutschland. Er verließ das Gymnasium ohne Abitur,
das holte er dann nach. In London studierte er International Business Management und Music Business. 2012 nahm er mit einem
ins Gefängnis geschmuggelten Diktiergerät heimlich das Album »Nr. 415« auf und landete damit in den Charts.
WISSEN
Meine Schule des Lebens
Wie wichtig ist Bildung,
Giwar Hajabi?
»Sie ist
eine gute Waffe«
Er überfiel einen Goldtransporter und machte als Rapper Xatar Karriere.
Der Musikproduzent über Gebete im Gefängnis und seine Klavierlehrerin
neunte und zehnte habe ich geschafft, aber dann Sie in der JVA Rheinbach mit Anti-Gewalt-
musste ich die elfte wiederholen. Ich bin dann Training verbracht. Teil des Programms war eine
1999 nach Köln zu meinem Vater gezogen, dort Gruppentherapie. Hat Ihnen das geholfen?
wieder in die elfte gegangen, hab es wieder Hajabi: Das hat gar nix geholfen! Die Psychologen
verkackt. Irgendwann war klar: Ich habe alles ver- haben 30 Leute zusammengesetzt, und es wurde so
sucht, jetzt gebe ich richtig Gas auf der Straße. Da getan, als hätten die alle dasselbe Problem. Aber
haben meine Eltern mich aufgegeben. Ich habe das stimmte natürlich nicht. Da saß zum Beispiel
viel gemacht, das haben die ja mitbekommen, weil ein Typ, der hat zwei Leute umgebracht, weil die
die Leute darüber gesprochen haben. Schießereien, einen von seinen Leuten getötet hatten. Der hatte
Drogen, Konflikte, alles Mögliche. einen Rachefilm am Laufen. Daneben saß einer,
ZEIT: Sie waren neunfach vorbestraft, als Sie 2009, der hat gesehen, dass ein Mädchen verprügelt wur-
mit 27 Jahren, einen Goldtransporter ausraub- de, und hat den Täter halb tot geschlagen. Der
ten – so steht es im Urteil. hatte Zivilcourage gezeigt. Und daneben saß ein
Hajabi: Kann sein. Typ, der hatte beim Camping-Urlaub das Schwert
ZEIT: Sie wurden dann zu acht Jahren Haft ver- ausgepackt und seine Familie zerstückelt, aus dem
urteilt wegen schweren Raubes und gefährlicher Nichts! Und denen wurde allen erzählt: »Das
Körperverletzung – und nach fünf Jahren vorzeitig nächste Mal, wenn jemand dich beleidigt, was tust
entlassen. Einen großen Teil der Haftstrafe haben du dann? Warte und denk nach!« Es gab allerdings
Gymnasium und Gefängnis
Foto: Vera Tammen für DIE ZEIT
eine Sozialarbeiterin, Doris Gauer, die hat meine
Musik gehört und darin etwas gesehen. Wenn
jemand dafür verantwortlich ist, dass ich resoziali-
siert wurde und wieder auf die Beine kam, dann sie.
ZEIT: Der US-amerikanische Aktivist und Bürger-
rechtler Malcolm X schreibt in seiner Autobio-
grafie, dass man in Haft die Chance bekommt, ein
neuer Mensch zu werden. Ist das Kitsch?
Hajabi: Nein, das ist absolut wahr. Der Knast war
meine Rettung.
ZEIT: Einer Ihrer Songs heißt Knast oder Kugel.
Wenn Sie damals nicht verhaftet worden wären,
wären Sie dann heute tot?
Hajabi: Kann sein. Ich hatte viele Konflikte, die
schon sehr weit eskaliert waren. Enge Freunde
wurden schwer verletzt. Natürlich dachte ich: »Die
anderen sterben, ich nicht.« Aber die Chance ist
immer fifty-fifty. Als meine Mutter mich mal im
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Knast besuchte, sagte sie: »Es ist gut, dass du jetzt
hier bist, weil du hier nicht abgeknallt werden
kannst.« Und: Wenn man jahrelang in so einem
Raum sitzt, da hast du Zeit zum Nachdenken oder
auch zum Lesen.
ZEIT: Was haben Sie gelesen?
Hajabi: Die Bibel. Altes Testament, Neues Testa-
ment, Koran. Wenn man zu Gott findet, dann ist
das krass. Das hat alles geändert.
ZEIT: Haben Sie auch angefangen zu beten?
Hajabi: Ja. Wenn man damit nicht anfängt, muss
man Tabletten nehmen. Deutscher Knast ist heavy.
ZEIT: Auf der Flucht mit Ihren Eltern kamen Sie
in den Achtzigerjahren in Gefangenschaft. Später
saßen Sie in den USA im Gefängnis. Nach dem
Überfall auf den Goldtransporter wurden Sie im
Irak festgenommen. Was unterscheidet die Ge-
fängnisse voneinander?
Hajabi: In jedem Land ist es anders: In Amerika
kriegst du richtiges Scheißessen, und die Toilette
ist manchmal in der Mitte der Zelle. Aber durch
die Gitter kannst du die ganze Zeit mit allen re-
den. In orientalischen Knästen kriegst du Schläge,
denn dort heißt ermitteln, so lange zuzuschlagen,
bis einer was zugibt. Aber dafür bist du in einem
großen Raum mit 20 Leuten. Die Tür ist auf, du
kannst einfach rausgehen in den Hof. In Deutsch-
land ist es so: Keine Schläge, saubere Kissen, aber
die Tür ist zu. Du siehst nichts und niemanden.
Da ist dir irgendwann egal, wie sauber das Kissen
ist. Es gibt so viele Leute, die sterben in deutschen
Knästen. Viele haben Panikattacken. Die klingeln,
aber keiner macht auf. Dann werden sie paranoid.
ZEIT: Im Song Ebbe und Flut rappen Sie vom
»Haftschaden«. Wie äußert sich der?
Hajabi: Das sind verschiedenste Sachen. Ein Jahr
lang konnte ich das Klimpern eines Schlüsselbunds
nicht hören, weil mich das an die Wärter erinnerte.
Wenn wir hier so sitzen, muss ich irgendwann
weg, gehe auf Toilette, bleibe da eine halbe
Stunde, weil ich Zeit für mich brauche. Ich war
fünf Jahre allein, dann kommst du raus, überall
sind Menschen, das ist überfordernd. Aber es gibt
auch positive Sachen. Im Knast kommen die um
fünf Uhr morgens, machen die Tür auf, und dann
muss alles picobello sein. Also: Wenn ich bei je-
mandem penne, ist garantiert um fünf Uhr mor-
gens das Bett gemacht.
ZEIT: Sie sind nicht nur Rapper, Ihnen gehört
auch ein Musiklabel, Sie haben Verantwortung
gegenüber Ihren Mitarbeitern. Nach allem, was
Sie erlebt haben: Wie groß ist heute noch die
Angst vor dem Scheitern?
Hajabi: Wenn man einmal unten war, behält man
da einen kühlen Kopf. Aber Verantwortung emp-
finde ich schon. In erster Linie für meine Familie,
für meine Nachkommen. Aber auch für die
Menschen, die seit Tag eins dabei sind, die Rap-
per Samy, SSIO, Schwesta Ewa. Es wäre gut,
wenn ich es hinkriege, ein Erbe aufzubauen, da-
mit alle so abgesichert sind, dass es auch ohne
mich funktioniert.
ZEIT: Als Rheingold in die Kinos kam, haben Sie
auf Instagram geschrieben, dass Sie sich entschul-
digen möchten. Sie hätten so viele Menschen
enttäuscht, weil Sie ein Jahr lang kaum erreichbar
waren und nicht die Geschäfte führten ...
Hajabi: ... ja, für die Dreharbeiten musste ich Zeit
ohne Ende opfern. Viele Menschen sind nicht
mehr an mich rangekommen. Vor den Dreharbei-
ten hatte der Rapper SSIO zu mir gesagt: »Giwar,
das kann nicht so ein Standard-Deutscher-Rap-
Film werden, du blamierst uns sonst alle.« Der
hatte richtig Schiss. Ich meinte: »Es ist Fatih Akin!
Der wird das schon hinkriegen.« Und dann sagte
SSIO: »Wenn du ihm nicht genug gibst, dann
kann er auch nichts machen. Mach das, und
scheiß auf die Künstler auf unserem Plattenlabel,
kümmere dich um den Film.« Da hat es bei mir
klick gemacht.
ZEIT: Haben Sie in Ihrem Leben viele Menschen
enttäuscht?
Hajabi: Es ist schon eine sehr lange Liste von
Leuten zusammengekommen, die ich verletzt und
enttäuscht habe. Die arbeite ich nach und nach ab,
weil ich das irgendwie wiedergutmachen will.
ZEIT: Rheingold endet mit der Frage: Was hinter-
lasse ich? Im Film sagt Ihre Tochter, dass die ande-
ren Kinder sie ärgern, weil ihr Vater ein Gangster
sei. Ist das etwas, das Sie beschäftigt?
Hajabi: In dieser Szene hat Fatih alles erfunden.
Aber, klar, mit solchen Vorurteilen kämpfe ich den
ganzen Tag. Ich habe ja auch Nachbarn ... aber ich
muss sagen, das ist entspannter geworden. Die
Leute sehen das nicht mehr so eng.
ZEIT: Das Gangstersein?
Hajabi: Ja, zumindest bei mir. Wissen Sie, es gibt
die Reihenhaus-Reichen und die Anwesen-Reichen.
Die Anwesen-Reichen sind entspannt. Die haben
alle Geld ohne Ende und selbst Dreck am Stecken.
Ich hatte mal so ’nen SEK-Einsatz, da dachte ich
erst: »Mann, meine Nachbarn, Blamage, ich wohne
gerade ein Jahr hier.« Aber die kamen danach so:
»Na, alles gut bei dir?« – »Ja, danke, und selbst?«
Das Gespräch führten Martina Kix und
Oskar Piegsa
In unserer Gesprächsreihe
»Meine Schule des Lebens« erzählen prominente
Menschen von ihrem Bildungsweg
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023 SCHACH 37

Foto: David Llada/Fide

Da rutscht ihm gleich im zweiten Zug der Bauer weg: Aber Nepo steht immer wieder auf

Saftiges vom Brett

Ding Liren und Jan Nepomnjaschtschi – zwei WM-Kämpfer in Kasachstan begeistern das globale Publikum VON ULRICH STOCK

Z
wei, die unterschiedlicher nicht
sein könnten, stehen eng bei-
einander auf einer sehr, sehr
langen Liste von Zahlen. Elo
heißt die Maßeinheit, welche die
Schachwelt mit Ehrfurcht betrach-
tet und welche die 360.000 regis-
trierten Amateure, Meister und Großmeister in
eine monatlich neu zu bestimmende Reihenfolge
bringt. Jan »Nepo« Nepomnjaschtschi aus Russ-
land (2795) und Ding Liren aus China (2788)
stehen immer wieder ganz oben. Mal steht der eine
auf Platz zwei und der andere auf Platz drei, mal
umgekehrt. Sie wären die Chefs im Schach, hätten
sie nicht noch einen über sich, der immer auf Platz
eins steht, den Norweger Magnus Carlsen (2853).
Von diesem Dritten wird nun bald weniger die
Rede sein, weil er der vornehmsten Aufgabe eines
Weltmeisters, seinen Titel zu verteidigen, den
Rücken gekehrt hat. Keine Lust mehr. Was okay
ist nach zehn Jahren Titelträgerei. Nicht so okay
ist die Art und Weise, in der es kundgetan hat.
Schleppend, unklar, widerwillig. Carlsen, 32,
scheint nach Wunderkindkarriere und hammer-
harten Zweikämpfen in Indien, Amerika und Ara-
bien eine Sinnkrise zu durchleben, die er mit Poker
und geistigen Getränken bekämpft, die »Drunken
Magnus«-Videos im Netz zeugen davon.
Er hat die Bahn frei gemacht für Nummer zwei
und Nummer drei, die seit Ostern in Astana, Ka-
sachstan um den Titel streiten, der das Kostbarste
ist, das der Weltschachverband Fide zu vergeben
hat. Seit 1886 hat es erst 16 Weltmeister gegeben.
Aufgrund der Vorgeschichte waren die Erwar-
tungen nicht besonders hoch. Die Bewunderer
Carlsens tun den Kampf als zweitklassig ab, und
der Nochweltmeister selbst, gefragt, wer ihm nach-
folgen würde, sagte sinngemäß, das sei ihm »egal«,
gefühlt stand auch noch ein »scheiß-« davor.
Nun geschehen in Astana aber erstaunliche
Dinge. Die WM, gerade zur Hälfte gespielt, er-
weist sich als das ungewöhnlichste und aufregends-
tes Duell am Brett seit Jahrzehnten, zweien sei
Dank, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Am Tag vor der ersten Runde lässt sich Jan Ne-
pomnjaschtschi, 32 Jahre alt, noch einmal be-
fragen zu seiner Person, bevor er für drei Wochen
im Schachtunnel verschwindet, in dem er nur an
Springergabeln, Bauernstellungen und Mattbildern
vorbeirast, rund um die Uhr, wenn es schlecht
läuft und er keinen Schlaf findet, wie in Dubai
2021, wo er unter dem Carlsenschen Druck nach
der sechsten Runde am Ende war.
Fangen wir mit den durchwachten Nächten an.
»Ich habe dieses Mal einen Arzt dabei«, sagt er.
Und der gibt ihm dann Schlaftabletten? »Wenn es
sein muss, auch das.« Vielleicht könnte ein Psy-
chologe helfen? »Ich habe darüber nachgedacht,
aber manchmal ist ein guter Freund besser.«
Und Snezhana sei da, seine Freundin seit fünf-
einhalb Jahren. Spielt sie auch Schach? »Nein.«
Was macht sie von Beruf? »Sie ist Hundetrainerin.«
Und dann erzählt der brummelige Mann von den
Hunden der beiden, dem gut erzogenen großen
und dem weniger gut erzogenen kleinen. Der erste
sei ein Wunschhund gewesen, der zweite, ein Wu-
schel, nach der Niederlage in Dubai plötzlich da-
gewesen, »das war keine Frage von Ja oder Nein,
der kam als Tatsache«. Sind die Hunde auch in
Astana? Nein, das wäre zu kompliziert gewesen,
der Flug, der Zoll. Und dann fällt ihm Alexander
Aljechin ein, der zweimal Weltmeister wurde, in
den 1920er- und 1930er-Jahren, und der ja eine
Katze besessen habe, die ihn sogar zu den Partien
begleitet habe. Eine Geschichte, die zum Nachlesen
animiert; Schach ist ja die Anekdotensportart
schlechthin.
Harter Konter: Was ist mit der russischen Re-
gierung? »Niemand hat mich kontaktiert. Das ist
auch besser so.« Der Satz öffnet ein weites Feld.
Beim Schach ist es immer besser, seine Ruhe zu
haben. Mehrmals hat sich Nepomnjaschtschi ge-
gen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen, was
ihm daheim wohl verziehen würde, wenn es ihm
gelingt, bei der WM den Ruhm Russlands zu
mehren. Anders könnte es aussehen, wenn er als
Verlierer vom Platz geht. Lieber nicht dran denken.
Übrigens wohne er nicht mehr in Moskau,
sondern auf dem Land, eine Autostunde entfernt,
kleines Haus, gutes Internet für das preisbewehrte
Online-Schach, und Snezhana widme sich dem
Garten. »Ich esse, was sie erntet.« Gurken, Toma-
ten, Beeren. Wobei er gewiss kein Vegetarier ist,
hat auch ganz schön zugelegt seit Dubai, ein
wuchtiger Aspirant, sein Leibkoch reist mit.
Ding Liren dagegen, 30, der ganz lange Hem-
den trägt oder Hemden ganz lang erscheinen lässt:
Er kocht sich seinen Reis im Hotelzimmer selbst,
wenn er allein zu Turnieren fährt. Hatte Nepo nach
dem Vorbild Carlsens mit seinen Sekundanten ein
mehrwöchiges Trainingscamp in den Emiraten,
blieb Ding lieber zu Hause in Hangzhou, wo er al-
lein lebt. Seine Sekundanten seien angereist, unter
ihnen auch erstmals einer aus dem Westen, dessen
Namen er zu Beginn des Duells aus Geheimhal-
tungsgründen nicht nennen will, den am nächsten
Tag aber alle Welt kennt, weil er im WM-Hotel
Fahrstuhl fährt: Richard Rapport aus Ungarn, der
zu den kreativsten Großmeistern zählt; die Enthül-
lung ist die erste Überraschung des Turniers.
Wie lief das ab in Hangzhou? »Das war kein
Trainingscamp«, lacht Ding. »Wir haben uns am
Morgen getroffen und am Nachmittag. Manchmal
haben wir abends zusammen gegessen.« Ja, und
dann Eröffnungen studiert? »Wir haben Schnell-
schach gespielt, aber die Atmosphäre war zu freund-
schaftlich, es kam keine Wettkampfstimmung auf.
Dann haben wir es mit Blitzschach versucht, aber
die Qualität der Partien war nicht sehr hoch.«
Klingt so, als ob die Vorbereitung eher hemds-
ärmelig war. »Wir haben uns dann Studien und
Schachaufgaben angesehen.« Sein Coach habe
einen Plan für ihn entworfen, wie er an die WM
herangehen solle. »Aber ich habe jetzt entschieden,
dem Plan nicht zu folgen. Ich ziehe meine übliche
Routine vor. So etwas zu ändern ist schwer.«
Und dann erzählt Ding einen Tag vor der ers-
ten Runde, dass er in ein chinesisches Hotel um-
ziehen werde. Der Beschluss sei so frisch, dass er
seinen Sekundanten noch nicht einmal gefragt
habe, ob er mitkommen wolle. Um Himmels wil-
len: Wenn Magnus Carlsen das erfährt, ein Mann,
der bei seinen Weltmeisterschaften nichts, aber
auch gar nichts dem Zufall überlassen wollte und
damit jede Kreativität im Remis erstickte.
Was Ding am Fünf-Sterne-Hotel St. Regis
nicht gefällt, lässt sich auf den Fluren erfahren:
Seine Suite sei ihm zu groß gewesen. Das kleinere
Zimmer, das man ihm anbot, sei ihm immer noch
zu groß erschienen. So zog er aus, um kurze Zeit
später wieder einzuziehen: In dem anderen Hotel
soll es schlecht gerochen haben.
Auch Nepo ist inzwischen umgezogen: in eine
größere Suite, damit die Tischtennisplatte Platz
findet, die sein Team sich hat anliefern lassen. Sie
spielen ein Match nach dem anderen, der Mann-
schaftsarzt soll in Führung liegen. Klack, klack
macht es aus Nepos Gelass, statt klick, klick, wie
die Maus im üblichen Sekundantenbetrieb, wenn
die Schachprogramme über Nacht nach neuen Er-
öffnungsvarianten abgesucht werden.
Eine Einladung an Ding zum Tischtennis soll
schon ergangen sein, aber gespielt wird erst nach
der letzten Runde. Mal sehen, wer dann noch
Lust hat.
Das Turnier beginnt schlecht für Ding. Erste
Partie mit Müh und Not remis, die zweite eine
furchtbare Niederlage mit Weiß, gar nicht richtig
aus der Eröffnung herausgekommen. Depressiver
Auftritt vor der Presse, war’s das schon? Dann die
wundersame Auferstehung in der dritten: wie ver-
wandelt ans Brett, remis. In der vierten Runde
macht Nepo in Bedrängnis einen Fehler, Ding lässt
ihm keine Chance. Sorgte man sich eben noch um
Ding, wird jetzt – nach Art von Dubai – ein Nepo-
Kollaps befürchtet. In der fünften Runde schlägt
aber Nepo zu: einen geringsten Vorteil zum Matt-
angriff verdichtend, lehrbuchtauglich. Die sechste
Runde wie die fünfte, nur umgekehrt: Ding bringt
die bislang schönste Kombination des Turniers,
ein Mattbild, das selbst kommentierende Groß-
meister nicht sehen.
Das kasachische Publikum ist fasziniert, ange-
fixt, mitgerissen und auch in jeder Hinsicht mit-
genommen: Wann hat man je so saftiges Schach
gesehen? Im Internet schlägt die Stimmung um:
weg von Carlsen, hin zu diesen beiden.
Dann die siebte Runde am Dienstag. Nepo wieder
mit Weiß, Ding will es wissen, verheddert sich, ver-
liert. 4 : 3 für Nepo – wie soll das bloß enden?

Nepo oder Ding?

Im Blatt und im Netz berichten wir in den kommenden Wochen über den Verlauf der WM: www.zeit.de/thema/schach

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 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

38 STELLENMARKT
Die Position:
Wir brauchen ein Davos der Wissenschaft!
Auch Forschung und Universitäten brauchen ein europaweites Forum – für mehr Durchschlagskraft in der Gesellschaft VON MANFRED NETTEKOVEN

Globale Wirtschaftsfragen werden beim Welt-
wirtschaftsforum in Davos diskutiert, interna-
tionale Sicherheitspolitik wird auf der Münch-
ner Sicherheitskonferenz verhandelt. Wo aber
bleibt das Pendant für die Wissenschaft? Ob
global oder regional, an dringlichen Einsatz-
feldern für wirksame Wissenschaft mangelt es
nicht. Wir sehen ein historisch einmaliges
Zusammentreffen gewaltiger Krisen: Wandel
denken und schnell zu handeln, die selbst- den keine Resonanz, gehen unter in der Ge- spielt der parallele Prozess eine Schlüsselrolle: Wir
kritisch und veränderungswillig sind. räuschkulisse der stetig nachfolgenden Papiere bauen einen unterjährig arbeitenden Thinktank
Was also könnte ein erster Schritt in diese und Empfehlungen. Es braucht daher ein für Vordenkerinnen und Vordenker der euro-
Richtung sein? Gipfeltreffen der Davos-Klasse, um wirklich päischen Wissenschaft, der große Visionen ent-
Dringend erforderlich ist ein Pendant zu Gehör und Durchdringung zu finden. Hier wickelt und in umsetzbare Schritte überführt.
Davos und der Münchener Sicherheits- sollen die innovativsten Köpfe aus der euro- Zusammen mit unseren Partnerinstitutionen
konferenz. Die RWTH bietet an, einen solchen päischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik regen wir konkrete Struktur-Experimente an
Diskurs für die Universitäten zu starten: ein aufeinandertreffen, ungeachtet ihrer Zugehö- Universitäten und an der Schnittstelle von
paneuropäisches Forum – ein Davos der rigkeit zu einer bestimmten Institution, Alters- Wissenschaft und Wirtschaft an. Die Ergebnisse

Foto: Peter Winandy

in der Geopolitik, Stresstest für Demokratien,
Klimawandel und neue Existenzbedingungen
für wesentliche westliche Industrien. Parallel
dazu müssen wir ganz massive regionale Um-
brüche wie den Strukturwandel im Rheini-
schen Revier bewerkstelligen.
Gerade in dieser Zeit brauchen wir ein star-
kes Wissenschaftssystem, geprägt von Univer-
sitäten, die der Gesellschaft bestmöglich bei der
Bewältigung unserer großen Herausforderun-
gen helfen.
Wir benötigen Institutionen, die den Mut
und auch den Spielraum haben, strategisch zu
Wissenschaft –, das durch einen hierarchiefreien
Thinktank und praktische Experimente zu
Struktur- und Systemfragen innovativen Input
bekommt. Zwei Aspekte wären entscheidend.
Erstens: das wissenschaftliche Äquivalent zu
Davos zielt weder auf Promi-Faktoren, Exklu-
sivität oder die Symbolträchtigkeit eines Ver-
anstaltungsortes ab, sondern allein auf die
Strahlkraft und das Verfangen von guten Ideen
in den richtigen Köpfen.
Kluge Analysen und Vorschläge zur Revo-
lutionierung des Wissenschaftssystems und der
Universitäten gibt es zuhauf. Die meisten fin-
gruppe oder Karrierestufe. »Share Thoughts.
Dare Innovations« soll das Motto lauten, das
zugleich die Zugangsvoraussetzung zu dem
zweitägigen Treffen festlegt: Teilnehmen darf
– und sollte – jede Person aus Wissenschaft,
Manfred Nettekoven ist Wirtschaft und Politik, die ernsthaftes Interes-
seit 2006 Kanzler der se an Kollaboration und Transparenz mitbringt
Rheinisch-Westfälischen und mutige Veränderungen der Universitäts-
Technischen Hochschule und Wissenschaftslandschaft anstoßen will.
(RWTH) Aachen Zweitens: Ein solches Gipfeltreffen kann zwar
Inspiration und Strahlkraft erzeugen, jedoch
noch nicht die nötige Aktion, um auch zu
faktischen Verbesserungen zu gelangen. Daher
werden über das große Forum in die Breite
getragen. Auf diese Weise machen wir Wirkungs-
zusammenhänge transparent und erarbeiten
praxistaugliche Vorschläge für die Zukunfts-
strategien unserer Universitäten sowie für das
Wissenschaftssystem als Ganzes.
Ein Davos der Wissenschaft wäre ein
Booster für die längst überfällige, gemeinsame
Arbeit hin zu einer neuen Universität in
einem starken Wissenschaftssystem. Ein ver-
gleichsweise kleiner Schritt zu einem großen
Ziel: Mehr Wirksamkeit der Wissenschaft für
die Gesellschaft!

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An der Fakultät Wirtschaftswissenschaf- oder per Post an: Hochschule für

ten ist zum Wintersemester 2023/24 die
Vertretungsprofessur W2 / E13
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Hochschule und zählt zu den leistungsstarken Lehr- und Forschungseinrichtungen
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Dezernat Personalangelegenheiten,
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Referenz-Nr.: 003/2023
Die Hochschule Magdeburg-Stendal im Herzen Sachsen-Anhalts eröffnet mit
ihrer modernen Ausstattung sowohl beste Studien- und Arbeitsbedingungen als
auch zukunftsweisende Forschungsperspektiven. Als Hochschule für angewandte
Wissenschaften mit eigenem Promotionsrecht sind wir stolz auf unsere inter-
disziplinären Fachbereiche, die sich durch hohe Qualitätsstandards in der Lehre und
der anwendungsorientierten Forschung auszeichnen. Wir bieten an unseren beiden
Standorten in Magdeburg und Stendal eine familienfreundliche, kulturell vielfältige
und lebenswerte Infrastruktur.
Am Standort Magdeburg im Fachbereich Wasser, Umwelt, Bau und Sicherheit (WUBS) ist
zum 01.04.2024 folgende Stelle in Vollzeit unbefristet zu besetzen.

Professur für ABWL, insbesondere

Unternehmensführung und Existenzgründung
:: W2-Professur „Konstruktiver Die Hochschule Schmalkalden in Südthüringen ist eine renommierte und
moderne Campus-Hochschule – über 2.500 Studierende in den Fakul-
1 Stelle, Besoldungsgruppe W2, Kennziffer W38 Ingenieurbau – Schwerpunkt täten Elektrotechnik, Informatik, Maschinenbau, Wirtschaftswissen-

Die Stelle steht unbefristet zur Verfügung. Bei der ersten Berufung zur Profes-
Die Universität Kassel ist eine dynamische Universität mit rund 25.000
Studierenden. Sie hat ein außergewöhnlich breites Profil mit den
Massivbau und Betonbrückenbau“ schaften und Wirtschaftsrecht profitieren hier von mehr als 120 Jahren
Erfahrung und Tradition sowie von einem Netzwerk mit über 200 Partner-
hochschulen weltweit.
sorin oder zum Professor erfolgt die Beschäftigung in der Regel zunächst Kompetenzfeldern Natur,Technik, Kultur und Gesellschaft. Nähere Informationen zu dem Stellenangebot finden Sie auf der Internetseite der
befristet für drei Jahre. Ausnahmen hiervon und das Verfahren zur Umwandlung Hochschule Magdeburg-Stendal unter: An der Hochschule ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Position
In der Zentralen Universitätsverwaltung – Stabsstelle Forschungs- und
des Beamt:innenverhältnisses auf Zeit in ein Beamt:innenverhältnis auf Lebens- unbefristet in Vollzeit zu besetzen:
Graduiertenförderung – ist – vorbehaltlich einer noch zu treffenden
zeit entnehmen Sie bitte § 86 Abs. 2 Thüringer Hochschulgesetz (ThürHG).
Personalmaßnahme – baldmöglichst die folgende Stelle zu besetzen:
www.h2.de
Ihre Bewerbung mit aussagefähigen Unterlagen (Lebenslauf, akademische
Urkunden, Nachweise der bisherigen beruflichen Tätigkeit, Veröffentlichungs- Beschäftigte:r im Verwaltungsdienst (m/w/d), EG 13
Erfahrene:r
liste, Lehrevaluationsergebnisse) richten Sie bitte unter Angabe der Kennziffer TV-H, befristet,Teilzeit (derzeit 33,33 Wochenstunden) Wissenschaftsmanager:in (m/w/d)
W38 bis zum 21.05.2023 schriftlich oder per E-Mail an: als Leitung des Dezernats Studium und
Weitere Informationen zum Aufgaben- und
Internationales und des Zentrums für
Kennziffer
Fachhochschule Erfurt 36065
Anforderungsprofil finden Sie im Internet
Dezernat Personal und Recht unter: https://stellen.uni-kassel.de/9zwpk
fakultätsübergreifendes Lernen
Postfach 45 01 55 [Vergütung: E15 TV-L]
Bewerbungsfrist: 04.05.2023
TALENTE TECHNIK ZUKUNFT
99051 Erfurt
E-Mail: bewerbung@fh-erfurt.de Ausführliche Informationen zu den Aufgabengebieten und Anforderungen,
Forschungsreferent/in (w/m/d), EG 13 TV-H, zum Datenschutz, zur Gleichstellung sowie Hinweise für Schwerbehinderte
Vorstellungskosten können nicht erstattet werden. Schriftliche Bewerbungsunter- unbefristet, Vollzeit (derzeit 40 Wochenstunden) finden Sie unter:
lagen reichen Sie bitte in Kopie ein, da nachAbschluss des Verfahrens die Unterlagen
nicht berücksichtigter Bewerber:innen vernichtet werden. Bei gewünschter Kennziffer Weitere Informationen zum Aufgaben- und www.hs-schmalkalden.de/stellenangebote
36066
Rücksendung bitten wir um Beilage eines ausreichend frankierten Rückumschlages. Anforderungsprofil finden Sie im Internet Die Technische Hochschule Mittelhessen (THM) gehört zu den größten Ihre Bewerbung richten Sie bitte bis zum 14. Mai 2023 per E-Mail an
unter: https://stellen.uni-kassel.de/mqoc4 Hochschulen für angewandte Wissenschaften in Deutschland.
Bitte beachten Sie die Hinweise zum Datenschutz: personal@hs-schmalkalden.de oder schriftlich an folgende Adresse:
https://www.fh-erfurt.de/ausschreibungen/datenschutzhinweise- Bewerbungsfrist: 04.05.2023 Zur Verstärkung unseres Kollegiums ist am Campus Gießen im
stellenausschreibungen Fachbereich Mathematik, Naturwissenschaften und Informatik
Im Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften, Institut für (MNI) sowie in Kooperation mit dem Herder-Institut für Historische
Hochschule Schmalkalden
Weitere Details zu den Stelleninhalten und -anforderungen entnehmen Sie bitte Ostmitteleuropaforschung - Institut der Leibniz-Gemeinschaft in Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Mathematik, ist zum 01.04.2024 die folgende Stelle zu besetzen:
unserer Webseite unter: https://www.fh-erfurt.de/ausschreibungen Marburg zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen: Dezernat 3 – Personal und Recht
Blechhammer 4-9 ● 98574 Schmalkalden
W 2 Professur für Analysis partieller
Differentialgleichungen (m/w/d) TANDEM!PROFESSUR www.hs-schmalkalden.de
mit dem Fachgebiet
Kennziffer Weitere Informationen zum Aufgaben- und DATA SCIENCE IN THE HUMANITIES
36067 Bewerbungsende: 10. Mai 2023
Anforderungsprofil finden Sie im Internet
Ref. Nr. B 22-018
unter: https://stellen.uni-kassel.de/5fkgn
Detaillierte Informationen zu der zu besetzenden Tandem-Professur
Bewerbungsfrist: 01.06.2023 – insbesondere die sich aus den §§ 67, 68 und 71 HessHG ergebenden
Einstellungsvoraussetzungen des Landes Hessen – entnehmen Sie TALENTE TECHNIK ZUKUNFT
bitte unserer Homepage unter: karriere.thm.de

Die Hochschule RheinMain als Hochschule für angewandte Wissen- Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist uns ein
schaften mit ihren Standorten Wiesbaden und Rüsselsheim versteht Anliegen. Im Rahmen des audits „familiengerechte
sich als weltoffene, vielfältige Hochschule. Sie ist anerkannt für ihre Hochschule“ arbeiten wir an der Weiterentwicklung
entsprechender Strukturen.
wissenschaftlich fundierte und berufsqualifizierende Lehre sowie
für ihre anwendungsbezogene Forschung, die eng mit der Lehre ver- Die Technische Hochschule Mittelhessen (THM) gehört zu den größten
zahnt ist. Insgesamt studieren an der Hochschule RheinMain rund Hochschulen für angewandte Wissenschaften in Deutschland.
13.000 Studierende. Sie beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter:innen,
Zur Verstärkung unseres Kollegiums ist am Campus Gießen im
davon ca. 250 Professor:innen. Fachbereich Life Science Engineering (LSE) zum nächstmöglichen
An der Hochschule Hannover ist an der Fakultät IV – Wirtschaft und Informatik,
Im Fachbereich Design Informatik Medien ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
Abteilung Wirtschaftsinformatik, zum nächstmöglichen Zeitpunkt unbefristet eine
Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
W2"PROFESSUR
Professur W2-Professur mit dem Fachgebiet
Zivilrecht, insbesondere IT-Recht Otto-Friedrich-Universität Bamberg BIOVERFAHRENSTECHNISCHE PRODUKTION
„Informatik mit Schwerpunkt – Kennziffer W2 14/2022 –
Bewerbungsende: 18. Mai 2023
Ref. Nr. B 23-001
Smart City, Smart Region zu besetzen.
Detaillierte Informationen zu der zu besetzenden Professur – ins-
und Smart Country“ Weitere Einzelheiten zur Professur entnehmen Sie bitte dem Bewerbungsportal der
PROFESSUR (W 3)
besondere die sich aus den §§ 67 und 68 HHG ergebenden Ein-
stellungsvoraussetzungen des Landes Hessen – entnehmen Sie
Hochschule Hannover unter https://karriere.hs-hannover.de oder über den QR-Code.
(Bes. Gr. W2 HBesG) bitte unserer Homepage unter: karriere.thm.de
Kennziffer: DCSM-P-08/23 Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 21.05.2023 an
für Entwicklungspsychologie, Bildung und Lernen
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist uns ein
den Dekan der Fakultät IV, Prof. Dr. Michael Bienert. Die Bewerbung ist bis zum Bewerbungsende: 31. Mai 2023 Anliegen. Im Rahmen des audits „familiengerechte
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung über unser Ablauf dieser Frist online über das Bewerbungsportal möglich.
Hochschule“ arbeiten wir an der Weiterentwicklung
Online-Bewerbungsportal bis zum 17.05.2023. Die vollständige Ausschreibung finden Sie unter
Bei Fragen können Sie den Dekan der Fakultät IV auch per E-Mail kontaktieren: entsprechender Strukturen.
http://www.uni-bamberg.de/abt-personal/stellenausschreibung/.
Detaillierte Informationen erhalten Sie unter: f4-dekan@hs-hannover.de
https://stellenangebote.hs-rm.de/xpovx Otto-Friedrich-Universität Bamberg • 96045 Bamberg
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
Studium generale
BEOBACHTET VON JULIAN FIEBACH
Winter Frühling
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Professur „Wirtschaftsingenieurwesen,
insbesondere Güterverkehr und
Logistik (W2)“
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt · Vollzeit · Campus Recklinghausen
Sie sind Expertin/Experte im Themenfeld der integrierten Güterverkehrs- und
Logistikplanung. Sie haben Erfahrung in mehreren der folgenden Bereiche:
Transportprodukte, internationale Transportketten und -systeme, Einsatz neuer
Technologien, Digitalisierung der Prozesse und Nachhaltigkeit in Güterverkehr
und Logistik (Klimaschutz, Lärmschutz, Luftreinhaltung, Verkehrsverlagerung etc.)
Sie verfügen über eine in der Regel durch Promotion nachgewiesene Befähigung
zu wissenschaftlicher Arbeit. Aus Ihrer fünfjährigen Berufspraxis, davon mindestens
drei außerhalb des Hochschulbereichs, bringen Sie fachbezogene Erfahrungen mit,
zur Anwendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden.
Vor dem Hintergrund Ihres Studiums des (Wirtschafts-)Ingenieurwesens, der
Informatik oder der Logistik wirken Sie mit an der Weiterentwicklung der Studien-
gänge der Lehreinheit Wirtschaftsingenieurwesen mit Blick auf zukunftsfähige
Güterverkehrskonzepte, Digitalisierung und nachhaltige Entwicklung.
Was wir erwarten
• Sie leiten Lehrveranstaltungen auf Deutsch und Englisch
• Sie beteiligen sich an der Akquise, Initiierung und Umsetzung von
Drittmittelprojekten
• Sie vermitteln auch Grundlagenfächer in der Lehreinheit Wirtschaftsingenieur-
wesen, insb. mathematische und/oder ingenieurwissenschaftliche Grundlagen
• Sie übernehmen Aufgaben der Studiengangsentwicklung, -koordination und
-administration
Worauf Sie sich freuen können
• Ein spannendes und abwechslungsreiches Aufgabengebiet im Fachbereich
Ingenieur- und Naturwissenschaften
• Entwicklungsmöglichkeiten dank regelmäßiger Fort- und Weiterbildungs-
angebote
Haben wir Sie neugierig gemacht?
Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung samt der üblichen Unterlagen bis
zum 31.05.2023 auf unserem Online-Bewerberportal
(https://www.w-hs.de/stellenangebote-der-hochschule/).
Bitte beachten Sie auch die Einstellungsvoraussetzungen des Hochschul-
gesetzes NRW,§ 36. Wir wünschen uns mehr Frauen in Lehre und Forschung
und freuen uns deshalb auf qualifizierte Bewerberinnen. Bewerbungen von
Menschen mit einer Schwerbehinderung berücksichtigen wir bei gleicher
Eignung bevorzugt.
An der Hochschule München ist an der Fakultät für Elektrotechnik und
Informationstechnik ab dem Wintersemester 2023/24 oder später folgende
Stelle zu besetzen:
Professur für Technische Informatik –
Schwerpunkt Intelligente
Systeme (W2)
Kennziffer: BV 0472
Erfahren Sie mehr in der detaillierten Stellenausschreibung unter:
https://stellen.hm.edu/kq4d9
An der Fakultät für Technische Systeme, Prozesse und Kommunikation ist ab
dem Sommersemester 2024 oder später folgende Stelle zu besetzen:
Professur für visuelle Gestaltung in der
Technischen Kommunikation (W2)
Kennziffer: BV 0565
Erfahren Sie mehr in der detaillierten Stellenausschreibung unter:
https://stellen.hm.edu/x9zoq
An der Fakultät für Angewandte Naturwissenschaften und Mechatronik ist ab
dem Sommersemester 2024 oder später folgende Stelle zu besetzen:
Professur für Physikalische
Chemie (W2)
Kennziffer: BV 0698
Erfahren Sie mehr in der detaillierten Stellenausschreibung unter:
https://stellen.hm.edu/pzr3f
Bewerben Sie sich über unser Online-Portal.
Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen!
Das sagt der Professor
Dass Moore gegen den Klimawandel helfen können, hat die
Politik erkannt, wir merken das an steigenden Zuwendun-
gen. Aber welche biologischen und chemischen Prozesse
spielen sich bei der Wiedervernässung von trockengelegten
Mooren genau ab? Nasse Moore speichern CO₂, aber aus
ihnen wird auch klimaschädliches Methan freigesetzt. Wie
lässt sich das vermeiden oder reduzieren? Welche unerwünsch-
ten Effekte gibt es noch? Dazu suchen wir interdisziplinär
mit der Landschaftsökologie, der Geochemie, der (Mikro-)
Biologie und Botanik nach Antworten.
Gerald Jurasinski ist Professor für Moorforschung
an der Universität Greifswald
Wissen.
Was praktisch zählt.
Mit diesem Grundsatz setzen
wir an der Westfälischen
Hochschule seit über 25
Jahren regional und interna-
tional Zeichen: von gezielter
Talentförderung hinein in die
praxisnahe Ausbildung von
Fach- und Führungskräften.
An unseren drei Standorten
machen sich rund 8.000
Studierende in knapp 60, vor
allem technisch-ökonomisch
ausgerichteten Studiengängen
fit für den Fortschritt.
Gemeinsam mit über 700
Beschäftigten werden mit
anwendungsorientierter
Forschung Impulse für Ver-
fahren, Produkte und Dienst-
leistungen von morgen
gesetzt.
Noch Fragen?
Melden Sie sich dazu einfach
beim Fachbereich Ingenieur-
und Naturwissenschaften
dekanat.fb8@w-hs.de.
STELLENMARKT 39
Worum geht’s ... in der Moorforschung?
VON CHRISTINE PRUSSKY
Das sagt die Studentin Gut zu wissen
94 Prozent aller Moore in Deutschland sind entwässert. Eine Fach: Mit Mooren beschäftigt sich die Wissenschaft seit
ursprüngliche Moorlandschaft habe ich erst vergangenes Jahr Jahrhunderten. Zunächst ging es allerdings um Fragen der
bei einer Studienexpedition in Litauen gesehen. Bis zum Entwässerung, weil man die Flächen nutzen wollte. In Zeiten
Horizont pure Natur! Überwältigend! Nasse Moore binden des Klimawandels konzentriert sich die Moorforschung nun
klimaschädliches CO₂ und wirken als Wasserspeicher aus- auf die Schaffung und Funktionsweisen von Neumooren.
gleichend bei Starkregen und Dürre. Wir müssen trocken- Beruf und Studium: Für den anstehenden Moorumbau
gelegte Moore unbedingt wiedervernässen. Um dies finan- braucht es an vielen Stellen Expertinnen und Experten: in
ziell interessant zu machen, könnte Fotovoltaik installiert Behörden und Kommunen, in Wasser-, Boden- und Pla-
werden. Die Chancen und Risiken dafür habe ich in meiner nungsverbänden genauso wie in Ingenieurbüros. Das nötige
Bachelorarbeit untersucht. Wissen über Moore bekommt man am besten über ein
Studium der Landschaftsökologie. Vermittelt wird die Exper-
Melissa Seidel studiert im zweiten Mastersemester tise aber auch in der Bodenkunde, den Forstwissenschaften
Bioeconomy an der Universität Greifswald und der Botanik.
LEHREN – FORSCHEN – NEU ENTDECKEN
KOMMEN SIE ALS PROFESSOR_IN AN DIE JADE HOCHSCHULE
Die Bauhaus-Universität Weimar ist eine international etablierte Universität, die
auf eine 160-jährige Geschichte zurückblickt und sich in der Tradition des Bau-
hauses versteht. Sie vereint Wissenschaft, Technik, Kunst und Gestaltung. Diese
Einstellung bestimmt wesentlich das Selbstverständnis der Fakultäten Architektur
und Urbanistik, Bauingenieurwesen, Kunst und Gestaltung sowie Medien. Die
Fakultäten sind über ihre fachspezifischen Aufgaben hinaus der interdisziplinären
Zusammenarbeit sowie der Durchdringung von Praxis, Kunst und Wissenschaft
besonders verpflichtet.
Am Institut für Konstruktiven Ingenieurbau der Fakultät Bauingenieurwesen der
Bauhaus-Universität Weimar ist zum schnellstmöglichen Zeitpunkt die
Die Jade Hochschule in Wilhelmshaven, Oldenburg und Elsfleth zeichnet sich durch innovative Ansätze,
kooperative Zusammenarbeit und eine zugewandte Haltung aus. In allen Bereichen fördert die Hochschule Universitätsprofessur (W3)
Kompetenz und Vielfalt. »Geotechnik«
Fachbereich Wirtschaft am Campus Wilhelmshaven:
zu besetzen.
Professur (m/w/d) für das Gebiet Wirtschaftsinformatik, Die zu berufende Person soll das Gebiet der Geotechnik in Forschung und Lehre
insbesondere Digital Business vertreten und damit einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung der Studierenden
Bes.-Gr. W2 | Kennziffer W 91
in den Studiengängen des Bauingenieurwesens, insbesondere derjenigen im
Konstruktiven Ingenieurbau und in den Umweltingenieurwissenschaften, leisten.
Bewerbungsschluss: 1. Juni 2023 Die Professur betätigt sich an der Fakultät Bauingenieurwesen im Forschungsfeld
des Grundbaus, der Bodenmechanik und der Umweltgeotechnik. Dies schließt
BEWERBUNGEN AN jade-hs.de die Modellierung von Bodenstrukturen, die Weiterentwicklung von numerischen
Methoden der geotechnischen Bemessung, die experimentelle Geotechnik sowie
die theoretische und experimentelle Bodendynamik ein. Die Professur gehört dem
E-Mail: berufungen@jade-hs.de Institut für Konstruktiven Ingenieurbau an.
Die Stellenausschreibung finden Sie unter
Der*Die Stelleninhaber*in soll in Forschung und Lehre Anknüpfung an die bau-
jade-hs.de/professuren ingenieurwissenschaftlich relevanten Fragestellungen suchen. Es wird erwartet,
dass sich die Professur maßgeblich am Ausbau der Forschungsschwerpunkte
»Digital Engineering« sowie »Material und Konstruktion« der Bauhaus-Universität
Weimar und entsprechenden großformatigen Forschungsanträgen beteiligt. Für
experimentelle Arbeiten stehen ein leistungsfähiges geotechnisches Labor sowie
die Versuchstechnische Einrichtung des Instituts zur Verfügung.
Weitere Informationen zur Bauhaus-Universität Weimar sowie die aus-
führliche Stellenausschreibung finden Sie unter www.uni-weimar.de bzw.
www.uni-weimar.de/stellen.
Bewerbungen werden unter Angabe der Kennziffer bis zum 31. Mai 2023 an die
in der ausführlichen Ausschreibung im Internet genannte Adresse erbeten.
Wir freuen uns sehr auf Ihre Bewerbung!
Die Technische Hochschule Aschaffenburg ist eine aufstrebende und familiengerechte Hochschule im Rhein-Main-Gebiet.
Wir zeichnen uns durch hervorragende Studienbedingungen, Praxisorientierung, hohe Qualität und exzellente Leistungen in
Forschung, Lehre, Transfer und Weiterbildung aus. Wir leben eine persönliche und lebendige Lern- und Diskussionskultur
auf dem Campus als einem Ort der Begegnung. Wir kooperieren mit der Wissenschaft und mit Unternehmen im In- und
Ausland und fördern den eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs. Gestalten Sie mit uns die Zukunft.
Am Lehrstuhl für Personal, Führung und Entscheidung im öffentlichen Sektor
unter der Leitung von Frau Univ.-Prof. Dr. Michèle Morner ist ab 01. Juli 2023
W2-Forschungsprofessur - Medizinische Grundlagen der eine halbe Stelle für
Gesundheitswissenschaften wissenschaftliche Mitarbeiter (m/w/d)
m/w/d I BesGr. W2 BayBesG I Kennziffer: ges-w-3
in Entgeltgruppe 13 TV-L (50 %) für die Dauer von einem Jahr (bis 30.06.2024)
Fakultät Gesundheitswissenschaften I zum nächstmöglichen Zeitpunkt mit der Aussicht auf Verlängerung zu besetzen.
Der Aufgabenbereich umfasst die Mitarbeit in der Forschung und Lehre im
Arbeitsgebiet des Lehrstuhls. Neben vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten in
einem interdisziplinären und zukunftsträchtigen Wissenschafts- und Praxis-
Die vollständige Ausschreibung sowie weitere Informationen finden Sie unter: umfeld wird ebenso die Möglichkeit zur Promotion geboten.
www.th-ab.de/professuren Gesucht werden Absolventinnen/Absolventen mit guten quantitativen und
statistischen Methodenkenntnissen wirtschaftswissenschaftlicher, verwaltungs-
wissenschaftlicher, soziologischer, psychologischer oder statistischer Fakultä-
ten. Erwünscht ist außerdem eine Affinität zu und Expertise in den Themen
der Führung, Organisation und Governance oder die Bereitschaft, sich in das
Themengebiet einzuarbeiten. Des Weiteren wird die Bereitschaft vorausge-
setzt, innovative und international anschlussfähige, verhaltenswissenschaftlich
ausgerichtete Forschungsansätze zu verfolgen.
Schwerbehinderte werden bei entsprechender Eignung bevorzugt berücksichtigt.
Die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer ist bestrebt,
LEHREN – FORSCHEN – NEU ENTDECKEN den Anteil an Frauen im wissenschaftlichen Bereich zu erhöhen. Entsprechend
qualifizierte Frauen werden daher besonders gebeten, sich zu bewerben.
KOMMEN SIE ALS PROFESSOR_IN AN DIE JADE HOCHSCHULE Weitere Informationen zur Deutschen Universität und zum Lehrstuhl erhalten
Sie gerne bei Frau Univ.-Prof. Dr. Michèle Morner (06232/654-275) bzw. finden
Sie auf der Website www.uni-speyer.de.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen werden bis zum 28. Mai 2023
unter Angabe der Kennziffer 1923 erbeten an: Deutsche Universität für
Verwaltungswissenschaften Speyer, Freiherr-vom-Stein-Str. 2, 67346 Speyer.
Elektronische Bewerbungen bitte nur im PDF-Format und in einer Datei
(bewerbung@uni-speyer.de).
Die Universität Speyer im Internet: www.uni-speyer.de
Die Jade Hochschule in Wilhelmshaven, Oldenburg und Elsfleth zeichnet sich durch innovative Ansätze,
UNIVERSITÄT GREIFSWALD
kooperative Zusammenarbeit und eine zugewandte Haltung aus. In allen Bereichen fördert die Hochschule
Kompetenz und Vielfalt. Wissen lockt. Seit 1456
Fachbereich Wirtschaft am Campus Wilhelmshaven:
An der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald ist zum nächst-
Professur (m/w/d) für das Gebiet Wirtschaftsprivatrecht möglichen Zeitpunkt im Institut für Data Science eine
und Unternehmensrecht W2-Professur für Machine Learning
Bes.-Gr. W2 | Kennziffer W 96 zu besetzen.
Ein neues interdisziplinäres Institut für Data Science mit einem Schwerpunkt an der Schnittstelle von
Bewerbungsschluss: 1. Juni 2023 angewandter und Grundlagenforschung wird an der Universität Greifswald gegründet. In der Grün-
dungsphase werden zwei neue Professuren geschaffen. Für die hier ausgeschriebene W2-Professur
BEWERBUNGEN AN jade-hs.de wird eine wissenschaftliche Persönlichkeit gesucht, die das Gebiet Data Science in Forschung und
Lehre in seiner gesamten Breite vertritt. International anerkannte Expertise für Datenmodellierung und
Datenanalyse unter Nutzung von Machine Learning und fortgeschrittenen Statistikmethoden ist ebenso
eine Voraussetzung für diese Position, wie Erfahrung mit der Entwicklung von Verfahren (z.B. Deep
E-Mail: berufungen@jade-hs.de Learning, neuro-symbolischen Methoden) und deren Übertragung in die Anwendung. Das Forschungs-
Die Stellenausschreibung finden Sie unter profil von Bewerber*innen sollte an mindestens einem der Forschungsschwerpunkte der Universität
anschlussfähig sein. Weiterhin wird die Bereitschaft zum Aufbau eines kollaborativen Netzwerks zur
jade-hs.de/professuren Stärkung der Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Fakultäten sowie mit den mit der Universität
verbundenen Forschungsinstituten erwartet.
Bewerber*innen sollen einschlägige Erfahrung in interdisziplinärer Forschung durch hervorragende
Veröffentlichungen und Drittmitteleinwerbung sowie Führungserfahrung nachweisen. Die Professur
wird maßgeblich mitverantwortlich sein für einen neu einzurichtenden Data-Science-Masterstudien-
gang. Die Bewerbung soll ein Forschungskonzept und ein Lehrkonzept für Data Science beinhalten. Die
Begeisterung für exzellente Lehre mit entsprechender Lehrerfahrung und die Fähigkeit und Bereit-
BITTE BEACHTEN:
schaft, Studierende in allen Phasen des Studiums auszubilden, akademische Arbeiten zu betreuen und
Vorgezogene Termine für Anzeigen- und akademische Kolleg*innen in der Promotions- und Postdocphase zu unterstützen, sind weitere Anfor-
derungen. Die Bereitschaft zur Mitarbeit in Gremien der akademischen Selbstverwaltung wird erwartet.
Auslandserfahrung ist wünschenswert. Die Fähigkeit und Bereitschaft zur englischsprachigen Lehre
Druckunterlagenschlüsse: werden vorausgesetzt.
Die detaillierte Stellenausschreibung mit Einstellungsvoraussetzungen und weiteren Hinweisen,
insbesondere zu den einzureichenden Bewerbungsunterlagen sowie zum Datenschutz, finden Sie
unter www.uni-greifswald.de/stellen/professuren. Die Bewerbungsfrist endet am 15.05.2023.
6 ZEIT vom 04.05.2023: Freitag, 28.04.2023 – 12 Uhr
6 ZEIT vom 17.05.2023: Freitag, 12.05.2023 – 12 Uhr
40 STELLENMARKT DIE ZEIT N o 17 20. April 2023

Die Zahl 3½ Fragen an: Christin Siegfried

59 %
der Unternehmen in
1.
Was brauchen Sie heute im Beruf,
was Sie im Studium nicht gelernt haben?
Kreativität und Wagemut. Nachdenken, Ideen
die Chance geben, sich zu entwickeln. Das ist
2.
Was hat Sie während eines akademischen
Auslandsaufenthaltes besonders beeindruckt?
Wie unterschiedlich universitäres Lehren und
Lernen praktiziert und gelebt wird. In England
3.
Lektüre muss sein. Welche?
Ich beschäftige mich mit aktuellen und
zukünftigen Herausforderungen im
Lernkontext; deshalb tauche ich gerne auch mal
3½.
Und sonst so?
Rücksichtnahme, Wert-
schätzung, Vertrauen und
Unterstützung sind für
etwas, dem ich im Studium weniger Raum wurde viel durch Fallbeispiele in Kleingruppen in die Vergangenheit ab. Beispiele für meine mich sehr wichtige Werte.
Deutschland bieten einen gegeben habe, viel war ja vorgegeben. Sich gelernt, und der Austausch zwischen Lieblingsbücher sind Der Medicus oder Die
neuen Ideen zuzuwenden, die in der Forschung Studierenden und Dozierenden war sehr Päpstin. Ich finde es dabei besonders spannend,
Bildungsurlaub an. Nur bisher weniger Berücksichtigung fanden, ist intensiv. Dies habe ich als Anregung für welche Parallelen zu heute es bei den
wahnsinnig spannend und glücklicherweise meine eigene Lehre und den Umgang mit den angesprochenen Themen, Problemen und
3,5 Prozent der Beschäftigten mein tägliches Brot. Und dann gilt: Wer nicht Studierenden genutzt. Ich freue mich immer, Potenzialen gibt.
Christin Siegfried, 33, ist
Vertretungsprofessorin für
nehmen das Angebot wahr wagt, der nicht gewinnt. Ich entscheide wenn das auf Zustimmung trifft. Wirtschaftspädagogik an
regelmäßig, ob ich einer neuen kreativen Idee der Georg-August-
Quelle: Ifo-Institut, Personalleiterbefragung nachgehe, ohne zu wissen, ob sie Erfolg hat. Universität in Göttingen

ANZEIGE Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter ZEIT WISSEN³ unter www.zeit.de/wissendrei

Die Universität Graz besetzt am Institut für Geschichte der

TEAMVERSTÄRKUNG An der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität
Bielefeld ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine
Geisteswissenschaftlichen Fakultät eine

Professur für Wirtschafts- und

GESUCHT W2-Professur für Erziehungswissen- Sozialgeschichte
schaft mit dem Schwerpunkt (40 Stunden/Woche; Verfahren gem. § 99 Abs. 1 Universitäts-

Nah dran an der Zukunft
Die 2009 gegründete staatliche Hochschule Hamm-Lippstadt steht für interdisziplinär ausgerichtete Studiengänge mit klarer Orientierung auf aktuelle
und künftige Anforderungen des Marktes. Wir bieten Studiengänge aus den Bereichen Wirtschaft, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Praxis-
bezug, Kreativität, Offenheit, Toleranz und Teamorientierung sind unser Anspruch in Forschung, Lehre und Organisation.
Wir leben Modernität in allen Bereichen und freuen uns auf exzellente Köpfe und engagierte Kolleginnen und Kollegen, die im Team einer innovativen
Hochschule – mitten in Nordrhein-Westfalen – mitarbeiten wollen.
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt besetzen wir im Department
Lippstadt 2 befristet bis zum 31.08.2028 die Stelle einer
W2-Professur (m/w/d) „Design und Konzeption“
Haben Sie Freude daran im Team neue didaktische Konzepte zur
Ausbildung junger Studierender verschiedener Fachrichtungen
zu entwickeln und umzusetzen? Sind Sie bereit, das Themen-
gebiet „Design und Konzeption“ in der Lehre (Bachelor- und
Masterstudiengänge) und angewandter Forschung zu vertreten?
Freuen Sie sich darauf, Lehrveranstaltungen im Bereich Design-
strategie und Konzeption, Industrie- und Interaktionsdesign
sowie Prototyping und Ergonomie zu übernehmen? Dann sind
Sie bei uns richtig!
Sie sind für die Professur optimal geeignet, wenn Sie ein abge-
schlossenes Hochschulstudium im Bereich Design oder einer ver-
wandten Disziplin mit Schwerpunkt Konzeption und Gestaltung
mitbringen. Wünschenswert ist eine überdurchschnittliche
wissenschaftliche Qualifikation im Bereich Design/Designtheorie.
Alternativ weisen Sie die besondere Befähigung zu künstlerischer
Arbeit und zusätzliche künstlerische Leistungen durch ein Portfolio
nach. Zusätzlich verfügen Sie über ausgewiesene Kenntnisse und
einschlägige Praxiserfahrungen in der Konzeption und Gestal-
tung von Dienstleistungen, Produkten und Systemen. Bei der
Ausbildung unserer Studierenden legen wir besonderen Wert
auf Soft Skills und setzen deshalb auch auf Ihr Können, wenn
es um das Vermitteln von Inhalten aus Bereichen wie Projekt-
management, Change Management sowie wissenschaftliches
Arbeiten etc. geht.
Die Bereitschaft zur Unterstützung der Erweiterung des Studien-
angebots der Hochschule und zur Mitwirkung in der Lehre von
Grundlagenfächern sollte für Sie so selbstverständlich sein wie
für uns. Als Hochschule streben wir mit unseren Studiengängen
auch eine aktive Impulssetzung für und effektive Verzahnung
mit Unternehmen der Wirtschaft an, hierbei sind Ihre exzellenten
kommunikativen Fähigkeiten gefragt.
Die Einstellungsvoraussetzungen für Professor*innen richten sich
nach § 36 HG NRW. Die Beschäftigung erfolgt aufgrund einer
Vertretung im Rahmen eines privatrechtlichen Dienstverhältnisses
zunächst befristet bis zum 31.08.2028. Die Vergütung erfolgt
analog der Besoldungsgruppe W2 LBesO NRW.
Allgemeines zu den Stellen:
Sie sollten ein hohes Maß an didaktischer Erfahrung mit einer ausgeprägten Dienstleistungsmentalität sowie der Fähigkeit zum
interdisziplinären Arbeiten kombinieren. Aufgrund der internationalen Ausrichtung unseres Studiengangportfolios sind Sie bereit,
englischsprachige Veranstaltungen durchzuführen. Außerdem kommen Ihre Kompetenzen beim Mitwirken an der akademischen
Selbstverwaltung und beim Erweitern des Studienangebots ins Spiel. Sie tragen zur aktiven Akquirierung und Durchführung von
Drittmittelprojekten bei und setzen die fachliche Expertise auch in Forschung und Transfer ein, um im Team mit Ihren Kolleginnen und
Kollegen den Unternehmen in der Region wissenschaftliche Impulse zu geben.
Die Hochschule hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil an Frauen in Lehre und Forschung zu erhöhen und fordert entsprechend quali-
fizierte Frauen ausdrücklich zur Bewerbung auf. Aufgeschlossenheit in genderspezifischen Fragen wird erwartet. Schwerbehinderte
werden bei gleicher Eignung vorrangig eingestellt. Teilzeitbeschäftigung kann im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen gewährt
werden.
Klingt das nach einer ansprechenden Perspektive für Sie? Dann reichen Sie bitte Ihre Bewerbung nebst
dem ausgefüllten Formular zu Ihrem beruflichen Werdegang, das Sie auf unserer Internetseite www.hshl.de
finden, ausschließlich über das Online-Portal bis zum 22.05.2023 ein.
Präsidentin der Hochschule Hamm-Lippstadt, Dezernat 4 – Personal
Marker Allee 76-78, 59063 Hamm, hshl.de
UNIVERSITÄT GREIFSWALD
Wissen lockt. Seit 1456
An der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald ist am Institut für Erziehungswissenschaft
zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine
W1-Professur für „Grundschulpädagogik mit dem
Schwerpunkt Sachunterricht und dessen Didaktik“
mit Tenure Track auf W3
zu besetzen.
Gesucht wird ein*e hervorragend ausgewiesene*r Wissenschaftler*in, der*die die Grundschulpäda-
gogik für das Fach Sachunterricht und seine Didaktik in Lehre und Forschung vertreten soll. Der*Die
Bewerber*in soll das Fach Sachunterricht und seine Didaktik in der Lehre in beiden inhaltlichen
Themenschwerpunkten (Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften) vollumfänglich ab-
decken können. Die Lehre folgt dem Leitgedanken, Expert*innen für das Lernen von Kindern zu qualifi-
zieren und dabei praxisnah und regional vernetzt zu arbeiten. Eine fachbezogene Promotion von
herausragender Qualität, vorzugsweise im Bereich der empirischen, primarstufenspezifischen Unter-
richts- und Schulforschung mit Bezug zum Fach Sachunterricht und seiner Didaktik, sowie ein ein-
schlägiges Forschungsprofil und eine fundierte Expertise im Bereich der empirischen sachunterrichts-
bezogenen Lehr- / Lernforschung mit einer inhaltlichen Schwerpunktsetzung in mindestens zwei der
folgenden Forschungsfelder werden vorausgesetzt:
„Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)“, „Digitalisierung“, „Innovative Lehr- / Lernkonzepte“,
„Kompetenzentwicklung“, „Videobasierte Unterrichtsforschung, „Reflexion“, „Diagnostik“, „Gender-
forschung“ und „Inklusion“ in der Grundschule. Die Schwerpunktsetzungen sind durch entsprechende
Publikationen zu belegen. Erwartet wird die Beteiligung an den Forschungsaktivitäten des Instituts und
der Fakultät. Erwünscht sind Erfahrungen in der Beantragung von Drittmitteln und in der akademischen
Selbstverwaltung.
Die Einstellungsvoraussetzungen ergeben sich aus § 62 Abs. 1 Landeshochschulgesetz Mecklenburg-
Vorpommern: abgeschlossenes Hochschulstudium, pädagogische Eignung sowie hervorragende
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt besetzen wir im Department
Lippstadt 2 die Stelle einer
W2-Professur (m/w/d) „Informatik“
Haben Sie Freude daran im Team neue didaktische Konzepte zur
Ausbildung junger Studierender verschiedener Fachrichtungen
zu entwickeln und umzusetzen? Möchten Sie das Fachgebiet
Informatik in der Lehre (Bachelor- und Masterstudiengänge) und
angewandter Forschung vertreten? Freuen Sie sich darauf,
praxisnahe Lehrveranstaltungen auf dem Gebiet der angewandten
Informatik durchzuführen? Dann sind Sie bei uns richtig!
Sie sind für die Professur optimal geeignet, wenn Sie ein abge-
schlossenes Hochschulstudium im Bereich Informatik oder eines
vergleichbaren Faches sowie eine überdurchschnittliche wissen-
schaftliche Qualifikation mitbringen. Zusätzlich verfügen Sie
über ausgewiesene Kenntnisse im Bereich der vernetzten Systeme
und einschlägige Praxiserfahrungen in der Erforschung und
Entwicklung von aktuellen Themen der Informatik. Bei der Aus-
bildung unserer Studierenden legen wir besonderen Wert auf
Soft Skills und setzen deshalb auch auf Ihr Können, wenn es um
das Vermitteln von Inhalten aus Bereichen wie Projektmanage-
ment, Change Management sowie wissenschaftliches Arbeiten
etc. geht.
Die Bereitschaft zur Unterstützung der Erweiterung des Studien-
angebots der Hochschule und zur Mitwirkung in der Lehre von
Grundlagenfächern sollte für Sie so selbstverständlich sein wie
für uns. Als Hochschule streben wir mit unseren Studiengängen
auch eine aktive Impulssetzung für und effektive Verzahnung
mit Unternehmen der Wirtschaft an, hierbei sind Ihre exzellenten
kommunikativen Fähigkeiten gefragt.
Die Einstellungsvoraussetzungen für Professor*innen richten sich
nach § 36 HG NRW. Die Besoldung erfolgt nach W2 LBesO NRW.
Machen Sie fest an der nördlichsten
Hochschule Deutschlands
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt ist im Fachbereich Wirtschaft folgende Stelle
zu besetzen:
W2-Professur (m/w/d) für Betriebswirtschaftslehre
mit den Schwerpunkten Human Resource Management
und Digitales Marketing
Die vollständige Stellenausschreibung mit der genauen Beschreibung der
Aufgabengebiete und den Einstellungsvoraussetzungen finden Sie auf unserer
Homepage www.hs-flensburg.de unter der Rubrik Stellenangebote.
Bewerbungsfrist: 17.05.2023
An der Pädagogischen Hochschule
Weingarten ist folgende Stelle
zu besetzen:
ZEIT STELLENMARKT
schulische Inklusion und emotional-
soziale Entwicklungsförderung
zu besetzen.
Im Rahmen des Studiengangs der integrierten Sonderpädagogik
soll der besondere Fokus der Lehre auf Fragen der emotionalen
und sozialen Entwicklungsförderung liegen. Vorausgesetzt
werden neben einer entsprechend sonderpädagogischen
Expertise Arbeits- und Forschungsschwerpunkte, die aus natio-
naler wie internationaler Perspektive einen Beitrag im Sinne einer
inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung leisten. Zusätzlich
wird die Bereitschaft erwartet, in einem der Forschungsverbünde
der Universität sowie an Forschungszusammenhängen der
Bielefeld School of Education (BiSEd) mitzuarbeiten und an den
Aufgaben der Fakultät für Erziehungswissenschaft in Forschung
und Lehre sowie der akademischen Selbstverwaltung mitzuwirken.
Die*Der Stelleninhaber*in soll über ein erziehungswissenschaft-
lich fundiertes Profil im Bereich der inklusiven Pädagogik mit
einem besonderen Fokus auf schulische Erziehungshilfe verfügen
und in einem oder mehreren der folgenden Bereiche ausgewiesen
sein:
– Theoretische und empirische Perspektiven auf Beeinträch-
tigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung
– Diagnostik, unterrichtliche Beziehungsgestaltung und
individuelle Förderung im Kontext schulischer Inklusion
– International-vergleichende Perspektiven auf erschwerte
Entwicklungsbedingungen im schulischen Kontext
Erwartet werden fundierte erziehungswissenschaftliche Kennt-
nisse und eigenständige Beiträge in der einschlägigen inklusions-
bezogenen Schul- und Unterrichtsforschung sowie im aktuellen
Diskurs um Lehrer*innenprofessionalisierung für eine inklusive
Schule. Erwünscht sind Erfahrungen in Forschungsprojekten
und mit der Einwerbung von Drittmitteln.
Einstellungsvoraussetzungen für die ausgeschriebene Professur
sind ein abgeschlossenes einschlägiges Hochschulstudium,
pädagogische Eignung, Promotion sowie zusätzliche wissen-
schaftliche Leistungen, die ausschließlich und umfassend im
Berufungsverfahren bewertet werden (§ 36 HG NRW).
Die Universität Bielefeld setzt sich für Diversität und Chancen-
gleichheit ein. Sie ist als familiengerechte Hochschule zertifiziert
und verfügt über ein Inplacement-Programm. Ihr Ziel ist es, den
Anteil der Wissenschaftlerinnen in Bereichen, in denen Frauen
unterrepräsentiert sind, zu erhöhen und deren Karrieren be-
sonders zu fördern. Sie fordert deshalb einschlägig qualifizierte
Wissenschaftlerinnen nachdrücklich zur Bewerbung auf.
Bewerbungen werden in Übereinstimmung mit dem Landes-
gleichstellungsgesetz behandelt. Familienzeiten werden im
Rahmen der Auswahlentscheidung berücksichtigt.
Bewerbungen geeigneter schwerbehinderter Menschen und
ihnen gleichgestellter behinderter Menschen sind ausdrücklich
erwünscht.
Die Universität Bielefeld unterstützt Dual-Career-Konstella-
tionen bei der Gestaltung eines gemeinsamen Arbeits- und
Lebensmittelpunktes.
Bewerbungen sollen u. a. bestehen aus: Anschreiben, Lebenslauf
mit Darstellung des wissenschaftlichen Werdegangs, 2-seitigem
Forschungs- und Lehrkonzept, Verzeichnis der Veröffentlichungen
mit Kennzeichnung von bis zu 10 im Sinne der Ausschreibung
wichtigsten Publikationen, Verzeichnis der Lehrveranstaltungen,
falls vorliegend Lehrveranstaltungsevaluationen, Zeugnis- und
Urkundenkopien. Von der Einreichung von Schriften bitten wir
zunächst abzusehen.
Bitte reichen Sie Ihre Bewerbung bis zum 31.05.2023 online
über das Berufungsportal der Universität Bielefeld ein:
https://berufungen.uni-bielefeld.de
Kontakt:
Universität Bielefeld
Dekanin der Fakultät für Erziehungswissenschaft
Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld
E-Mail: dekanat.ew@uni-bielefeld.de
Bitte beachten Sie, dass Gefährdungen der Vertraulichkeit und
der unbefugte Zugriff Dritter bei einer Kommunikation per un-
verschlüsselter E-Mail nicht ausgeschlossen werden können.
Informationen zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten
finden Sie unter:
https://uni-bielefeld.de/uni/karriere/2019_DS-Hinweise.pdf
gesetz; auf 5 Jahre befristetes Arbeitsverhältnis nach dem An-
gestelltengesetz; voraussichtlich zu besetzen ab 01. Juli 2023)
Die/Der StelleninhaberIn soll die Bereiche allgemeine Wirt-
schafts- und Sozialgeschichte des 19. – 21. Jahrhunderts mit
Fokus auf globale Wirtschaftsentwicklungen des 20. Jahrhun-
derts, Unternehmensgeschichte sowie Aspekte der ökonomi-
schen, unternehmerischen und sozialen Bedingungen unter
Maßgabe nachhaltiger Ansätze miteinander verbinden kön-
nen. Dabei sollen sowohl regionale, nationale wie auch glo-
bale Bezüge im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die/Der
StelleninhaberIn soll aus den Forschungsthemen heraus be-
darfsgerechte Lehre für StudentInnen anbieten sowie Bache-
lor-, Master- und Doktoratsarbeiten betreuen. In der Lehre ist
der Zeitraum seit der (Proto-)Industrialisierung insbesondere
vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart mit seinen öko-
nomischen, unternehmerischen und sozialen Bedingungen
und deren Veränderungen, auch im Sinne von Aspekten der
Nachhaltigkeit, abzudecken. Zudem erwarten wir Kompetenz
im Bereich des Gender Mainstreaming.
Bewerbungen sind unter Angabe der Kennzahl VV/1/99 ex
2022/23 bis 10. Mai 2023 einzureichen. Informationen zu
den Bewerbungsmodalitäten und weitere Voraussetzungen
finden Sie unter jobs.uni-graz.at.
An der Fakultät für Informatik der Technischen
Universität Dortmund ist zum nächstmöglichen
Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
Universitätsprofessur (W3)
Safe Autonomous Systems
Die Professur ist als Stiftungsprofessur der
KION GROUP AG eingerichtet und soll das Fach „Safe
Autonomous Systems“ in Forschung und Lehre vertreten.
Der Forschungsschwerpunkt der Professur liegt im
Bereich der sicheren autonomen Systeme (z. B. autono-
mer mobiler Roboter, Embodied AI, Simulation-based AI
oder autonomer Systeme in Smart Logistics und
Smart Production).
Den vollständigen Ausschreibungstext
finden Sie unter:
service.tu-dortmund.de/professuren
Bei Interesse senden Sie Ihre Bewerbung bis zum
31.05.2023 per E-Mail an den Dekan der Fakultät für
Informatik: bewerbung@cs.tu-dortmund.de
Hinweise zum Bewerbungsprozess und zur Erstellung
der Bewerbungsunterlagen finden Sie hier:
berufung.tu-dortmund.de/bewerbung
Fragen beantwortet Ihnen der Dekan der Fakultät für
Informatik, Herr Univ.-Prof. Dr.-Ing. Gernot Fink, unter
0231 755-6151 oder dekan.cs@tu-dortmund.de
Am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
wird mit dem Aufbau der ConflictA – Konfliktakademie seit dem
01.04.2023 ein Großvorhaben umgesetzt. Im Rahmen der
Aufbauphase sind zum nächstmöglichen Zeitpunkt mehrere
Stellen zu besetzen:
Wissenschaftliche
Mitarbeiter*innen (m/w/d)
(Kennziff.: Wiss23170, 23213, 23214, 23217, 23220, 23222, E13 TV-L)
Wissenschaftliche*r
Mitarbeiter*in (m/w/d)
(Kennziff.: Wiss23211, E14 TV-L)
Es handelt sich jeweils um befristete Voll- und Teilzeitstellen.
Eine Beschäftigung in Teilzeit bzw. in geringeren Umfängen
ist grundsätzlich möglich.
Bewerbungsfrist: 26.04.2023

Akad. Mitarbeiter*in für Islamische

Promotion im Fach Sachunterricht oder verwandten Disziplinen (z.B. Physik-, Chemie-, Biologie- oder Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
Geschichtsdidaktik). Gemäß § 58 LHG M-V ist vorrangig zu berufen, wer eine zweite Staatsprüfung oder
Auf der Suche nach neuen KollegInnen? www.uni-bielefeld.de
eine gleichwertige Qualifikation sowie eine dreijährige Schulpraxis nachweisen kann.
Die detaillierte Stellenausschreibung mit weiteren Hinweisen, insbesondere zu den Einstellungs-
Schalten Sie schnell und unkompliziert
Theologie/Religionspädagogik
voraussetzungen, den einzureichenden Bewerbungsunterlagen sowie zum Datenschutz, finden Sie Kennziffer IsT502, Vollzeit
unter www.uni-greifswald.de/stellen/professuren. Die Bewerbungsfrist endet am 22.05.2023. Ihre Print-Online-Stellenanzeige: stellenmarkt@zeit.de.
Wir beraten Sie gern.
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
www.ph-weingarten.de/hochschule/karriere
Pädagogische Hochschule, Kirchplatz 2, 88250 Weingarten
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023 STELLENMARKT 41

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ZIA – VISIBLE WOMEN IN SCIENCE AND HUMANITIES

Hannah Bleher Dr. Stefanie Haase Franziska Kraus Dr. Carina Vorisek

Ich bin Theologin und Ethikerin an der Ich bin Fischereibiologin am Thünen-Institut Mit dem Fellowship-Programm Zia Ich bin naturwissenschaftliche Doktorandin Ich bin Wissenschaftlerin, Mutter sowie
Universität Bonn. In meiner Forschung für Ostseefischerei in Rostock. Seit Sommer (*arab.: die Glänzende, *lat.: das Saatkorn) in der Rheumatologie. In meiner in den USA und Deutschland zugelassene
beschäftige ich mich mit ethischen Fragen leite ich die pelagische Arbeitsgruppe am des ZEIT Verlags inspirieren, vernetzen und Promotion untersuche ich den Stoffwechsel Ärztin. Meine klinischen Tätigkeiten in
der Digitalisierung und Künstlichen Intelli- Institut, das heißt ich beschäftige mich mit fördern wir in Zusammenarbeit mit unseren von Immunzellen, um die Entstehung Deutschland und wissenschaftlichen Auf-
genz. Da neue Technologien wie KI unser den Schwarmfischen Hering und Sprotte in Partnern und Förderern rheumatischer Erkrankungen besser zu enthalte an der Harvard Medical School
Zusammenleben grundlegend verändern, der Ostsee. Ein großer Teil meiner Arbeit Wissenschaftlerinnen in ihren verstehen und neue Therapieansätze zu zeigten mir, wie wichtig die Verfügbarkeit
steht im Zentrum der gemeinsamen nehmen die jährlichen Ausfahrten mit Karrieren sowie in ihrer entwickeln. From Bench to Bedside Volley- von Daten ist. Daher forsche ich im Bereich
Forschung mit meinen Kolleg:innen, wie unseren Fischereiforschungsschiffen ein, Persönlichkeitsentwicklung. ballcourt – wenn ich nicht im Labor stehe, Medizininformatik an effizienten und fairen
solche Transformationen gerecht und bei denen wir den aktuellen Zustand der stehe ich auf dem Spielfeld, in der Halle und digitalen Lösungen, von denen die gesamte
verantwortlich gestaltet werden können. Bestände bestimmen. Kontakt: fellowship@zeit.de im Sommer im Sand. Bevölkerung profitieren kann.

Hier stellen wir Ihnen in den nächsten Wochen unsere Zia-Fellows vor.

Am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) in

Wir sind eine junge, innovative Universität mitten in
der Metropole Ruhr. Ausgezeichnet in Forschung und
Lehre denken wir in Möglichkeiten statt in Grenzen
und entwickeln Ideen mit Zukunft. Wir leben
Vielfalt, fördern Potenziale und engagieren uns für Offen im Denken
Bildungsgerechtigkeit, die diesen Namen verdient.
An der Universität Duisburg-Essen ist in der Fakultät für Bildungs-
wissenschaften zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Stelle zu
besetzen:
Universitätsprofessur für Soziale Arbeit
in der Migrationsgesellschaft
(Bes.-Gr. W 2 LBesO W)
Gesucht wird eine Persönlichkeit, die die Soziale Arbeit in Forschung und
Lehre mit dem genannten Schwerpunkt vertritt. Dabei soll die Analyse von
Migrationsverhältnissen und deren Verankerung in Theorie, Methoden und
Handlungsfeldern Sozialer Arbeit im Mittelpunkt stehen. Erwartet werden
einschlägige wissenschaftliche Arbeiten im Hinblick auf gesellschaftliche
Kontexte, institutionelle sowie lebensweltliche Zusammenhänge. Erwünscht
ist zudem Expertise im Bereich intersektionaler Theorie- und Analysezugänge
oder menschenrechtsbasierter Sozialer Arbeit.
Die Kandidatin bzw. der Kandidat soll sich an der Profilbildung von For-
schungsschwerpunkten der Fakultät beteiligen sowie den Ausbau der
Internationalisierung von Forschung und Lehre unterstützen. Erwünscht ist
eine Beteiligung am Interdisziplinären Zentrum für Integrations- und
Migrationsforschung (InZentIM) der Universität Duisburg-Essen.
Die mit Übernahme der Professur verbundenen Lehrleistungen sind
vornehmlich in den BA/MA-Studiengängen „Soziale Arbeit“ zu erbringen.
Bezüge in die anderen bildungswissenschaftlichen Studiengänge sind gleich-
wohl wünschenswert.
Erwartet werden Veröffentlichungen in hochrangigen, referierten Publikations-
organen sowie der ausgeschriebenen Position angemessene Erfahrungen bei
der Durchführung selbst eingeworbener, kompetitiver Drittmittelprojekte,
vorzugsweise DFG-geförderter Projekte.
Die Universität Duisburg-Essen legt auf die Qualität der Lehre besonderen
Wert. Didaktische Vorstellungen zur Lehre – auch unter Berücksichtigung
des Profils der Universität Duisburg-Essen – sind darzulegen.
Die Einstellungsvoraussetzungen richten sich nach § 36 Hochschulgesetz
NRW.
Die Universität Duisburg-Essen verfolgt das Ziel, die Vielfalt ihrer Mitglieder
zu fördern (https://www.uni-due.de/diversity/). Sie strebt die Erhöhung des
Anteils der Frauen am wissenschaftlichen Personal an und fordert deshalb
einschlägig qualifizierte Frauen nachdrücklich auf, sich zu bewerben. Bei
gleicher Qualifikation werden Frauen nach Maßgabe des Landesgleich-
stellungsgesetzes bevorzugt berücksichtigt. Bewerbungen geeigneter
Schwerbehinderter und Gleichgestellter i. S. des § 2 Abs. 3 SGB IX sind
erwünscht.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf mit Angaben zum
wissenschaftlichen und beruflichen Werdegang, Liste der wissenschaft-
lichen Veröffentlichungen, Zeugniskopien, Darstellung des eigenen
Forschungsprofils und der sich daraus ergebenden Perspektiven an
der Universität Duisburg-Essen, Lehr-Lernkonzept unter
Berücksichtigung des Profils der Universität Duisburg-Essen,
Angaben zur bisherigen Lehrtätigkeit, zur Mitwirkung in der
akademischen Selbstverwaltung sowie zu den eingeworbenen
Drittmitteln) sind bis zum 22.05.2023 möglichst in einer
PDF-Datei unter dekanat@bildungswissenschaften.uni-due.de
an die Dekanin der Fakultät für Bildungswissenschaften, Frau
Univ.-Prof. Dr. Gisela Steins, zu richten.
Weitere Informationen zur Stelle, deren Einbettung in die
Universität Duisburg-Essen sowie in die Fakultät für
Bildungswissenschaften finden Sie unter:
https://www.uni-due.de/biwi/stellenausschreibungen.
www.uni-due.de
Über 7.000 junge Menschen studieren und forschen in attraktiven Studien-
gängen an der Hochschule Trier. Wir sind die forschungs- und drittmittelstärkste
Hochschule für angewandte Wissenschaften in Rheinland-Pfalz. Damit bieten
wir sehr gute Bedingungen für die Durchführung von Projekten mit der regionalen
und überregionalen Wirtschaft.
Im Fachbereich Wirtschaft am Hauptcampus in Trier ist schnellstmöglich nach-
folgende Stelle zu besetzen:
W2-Professur
für das Lehrgebiet
Wirtschaftsinformatik, insbesondere betriebliche
Informationssysteme
Für diese Professur suchen wir eine wissenschaftlich einschlägig ausgewiesene
Persönlichkeit, die im genannten Lehrgebiet in verantwortlicher Rolle außerhalb
des Hochschulwesens umfassende praktische Erfahrungen erworben hat und
diese nun in Lehre und angewandter Forschung an unsere Studierenden weiter-
geben möchte.
Das Aufgabenspektrum dieser Stelle umfasst zuvorderst die Lehre zu Themen
der betrieblichen Informationssysteme. Des Weiteren sollen auch einführende
Hamburg ist ab sofort folgende Stelle zu besetzen:
Persönliche:r Referent:in (m/w/d)
des Vorstandsvorsitzenden
Näheres unter jobs.bnitm.de
Bewerbungsfrist: 01.05.2023
Die Hochschule RheinMain als Hochschule für angewandte Wissen-
schaften mit ihren Standorten Wiesbaden und Rüsselsheim versteht
sich als weltoffene, vielfältige Hochschule. Sie ist anerkannt für ihre
wissenschaftlich fundierte und berufsqualifizierende Lehre sowie
für ihre anwendungsbezogene Forschung, die eng mit der Lehre ver-
zahnt ist. Insgesamt studieren an der Hochschule RheinMain rund
13.000 Studierende. Sie beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter:innen,
davon ca. 250 Professor:innen.
Im Fachbereich Design Informatik Medien ist zum nächstmöglichen
Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
Professur
„Angewandte Informatik
mit Schwerpunkt
‘Explainable AI’“
(Bes. Gr. W2 HBesG)
Kennziffer: DCSM-P-12/23
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung über unser
Online-Bewerbungsportal bis zum 21.05.2023.
Detaillierte Informationen erhalten Sie unter:
https://stellenangebote.hs-rm.de/2c77v
Wissensvermittlung mit starkem Praxisbezug – dafür steht die Fachhoch-
schule Kiel seit mehr als 50 Jahren. Dabei arbeiten wir interdisziplinär und
können als größte Hochschule für angewandte Wissenschaften im Land auf
regionale wie internationale Netzwerke zurückgreifen. In den Studiengängen
an unseren sechs Fachbereichen widmen wir uns mit rund 8000 Studierenden
den aktuellen Herausforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Fachhochschule Kiel möchte im Fachbereich Informatik und Elektro-
technik zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Stelle besetzen:
W2-Professur für IT-Sicherheit
Die Komplexität moderner Systeme in virtualisierten, verteilten Umgebungen
führt in vielen Organisationen zu Herausforderungen hinsichtlich der Sicher-
heit von Daten, Anwendungen, Systemen und Netzwerken. Wir suchen eine
Persönlichkeit, die über fundierte Kenntnisse und praktische Erfahrungen in
der Gestaltung und im Management von IT-Sicherheit verfügt.
Es wird erwartet, dass die Person die in der beruflichen Praxis erworbene
Kompetenzen unseren Studierenden vermittelt und die angegeben Fach-
gebiete in Forschung und Lehre anwendungsorientiert vertritt. Dazu steht
bereits umfangreiche Infrastruktur für die Durchführung von Labor-
veranstaltungen und Forschungsexperimenten bereit (isoliertes Malware-
Labor, Cloud Rechencluster u. v. m.). Auf ein ausgeprägtes Netzwerk mit
externen Partnern kann aufgebaut werden.
Vorausgesetzt werden ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Informatik
oder in einem verwandten Fachgebiet sowie umfangreiche in der Praxis eines
Wirtschaftsunternehmens oder einer öffentlichen Organisation erworbene
Kenntnisse in den oben genannten Bereichen.
Die Übernahme von Grundlagenlehrveranstaltungen für unsere Studiengänge
ist integraler Bestandteil der ausgeschriebenen Professur. Die Bereitschaft
zur interdisziplinären Arbeit ist erforderlich. Außerdem liegt die Weiter-
entwicklung des Studienangebots im Aufgabenbereich. Es wird weiterhin
erwartet, Lehrveranstaltungen in englischer Sprache abzuhalten sowie
Projekt- und Abschlussarbeiten zu betreuen.
Neben den Aufgaben in Lehre, Weiterbildung, Forschung und Entwicklung
wird erwartet, dass sich Professorinnen und Professoren verantwortungsvoll
in den Selbstverwaltungsgremien des Fachbereichs und der Fachhochschule
engagieren. Aufgrund der hohen Praxisorientierung der Fachhochschule Kiel
in Forschung und Lehre ist eine aktive Mitwirkung bei der Drittmitteleinwer-
bung und im Rahmen des Technologietransfers zwischen Hochschule und
Wirtschaft unabdingbar. Nebentätigkeiten auf diesen Gebieten sind aus-
drücklich willkommen und werden im Rahmen gesetzlicher Regelungen
Die Westsächsische Hochschule Zwickau bildet rund 3.000 Studierende in acht
Fakultäten aus. Als „Hochschule für Mobilität“ entwickeln wir mit unserer disziplinären
und kulturellen Vielfalt Lösungen für die Zukunftsfragen des Megatrends Mobilität
und liefern substanzielle Beiträge zur Lösung gesellschaftlicher und ökonomischer
Herausforderungen. Das Zusammenwirken zwischen Mensch und Technik ist
dabei der Kristallisationskern unseres interdisziplinären Wirkens. Dem Credo
„innovation meets tradition“ folgend wird der anwendungsorientierten Lehre und
Forschung sowie der angewandten Kunst und des Designs eine hohe Bedeutung
beigemessen, was regelmäßig zu Spitzenplätzen sowohl bei Studienrankings als
auch bei der Drittmittelquote führt. Die Automobil- und Robert-Schumann-Stadt
Zwickau, das Erzgebirge, das Vogtland und der Freistaat Sachsen bieten dafür
ein attraktives Arbeits- und Lebensumfeld.
An der Hochschule ist ab 1. März 2024 die Stelle
der Rektorin/des Rektors (m/w/d)
zu besetzen.
Die Rektorin/Der Rektor bestimmt die Richtlinien des Rektorates, vertritt die
Hochschule und ist Dienstvorgesetzte(r) des wissenschaftlichen Personals. Sie/
Er hat den Vorsitz im Rektorat, Senat sowie Erweiterten Senat und vollzieht die
Beschlüsse dieser zentralen Organe und des Hochschulrats.
Gesucht wird eine führungserfahrene und kommunikative Persönlichkeit. Sie/Er
besitzt den Gestaltungswillen und die Kompetenz, die Attraktivität und zukünftige
Wettbewerbsfähigkeit der Hochschule durch die kontinuierliche Weiterentwicklung
der strategischen Ausrichtung, des Profils und der positiven öffentlichen Wahr-
nehmung der Hochschule zu erhöhen.
Zur Rektorin oder zum Rektor bestellt werden kann, wer einer Hochschule als
Professorin oder Professor angehört oder eine abgeschlossene Hochschulaus-
bildung besitzt und aufgrund einer mehrjährigen leitenden beruflichen Tätigkeit,
insbesondere in Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Verwaltung oder Rechtspflege,
erwarten lässt, dass sie oder er den Aufgaben des Amtes gewachsen ist.
Erwartet werden internationale Erfahrungen im Wissenschafts- und/oder Wirtschafts-
bereich und gute bis sehr gute Englischkenntnisse, möglichst verhandlungssicher,
sowie Kenntnisse im Bereich der hochschulrechtlichen Vorschriften und Aufgaben.
Darüber hinaus soll die Bewerberin oder der Bewerber ein hohes Maß an
Motivations- und Integrationsfähigkeit, Überzeugungskraft, Verhandlungsgeschick
sowie eine ausgeprägte Kommunikationskompetenz besitzen. Außerdem soll
sie/er in der Lage sein, aufgrund ihrer/seiner Persönlichkeit die Verankerung der
Hochschule in der Region und in der sächsischen Hochschullandschaft durch
aktive Repräsentation zu fördern.
Gewünscht ist weiter, dass die Bewerberin oder der Bewerber unter Anwendung
ziel- und dialogorientierter Führungsmethoden und -instrumente diese nach innen
bei der Zusammenarbeit mit allen Gremien und Organisationseinheiten sowie
nach außen im Rahmen von Kooperationen erfolgreich einsetzen wird.
Das mehrstufige Auswahlverfahren folgt den Vorschriften von § 82 Abs. 6 SächsHS-
FG. Die Bestellung erfolgt durch das Sächsische Staatsministerium für Wissen-
schaft, Kultur und Tourismus. Die Amtszeit beträgt 5 Jahre. Eine Wiederwahl
für eine zweite Amtszeit ist zulässig. Das Amt ist der Besoldungsgruppe W3 zu-
geordnet. Darüber hinaus werden Funktionsleistungsbezüge gewährt. Abhängig
von den persönlichen Voraussetzungen erfolgt die Ernennung zur Beamtin/zum
Beamten auf Zeit bzw. die Beschäftigung in einem befristeten privatrechtlichen
Dienstverhältnis.
Die Hochschule strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen
an. Qualifizierte Bewerberinnen sind deshalb ausdrücklich zur Bewerbung aufge-
fordert. Schwerbehinderte Menschen und/oder ihnen gleichgestellte Personen
werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Eine Berücksichtigung
kann nur erfolgen, sofern ein entsprechender Hinweis im Bewerbungsschreiben
oder im Lebenslauf an hervorgehobener Stelle erfolgt und ein Nachweis über die
Schwerbehinderung oder erfolgte Gleichstellung der Bewerbung beigefügt ist.
Bitte senden Sie Ihre ausführlichen und aussagekräftigen Bewerbungsunterlagen
einschließlich der einschlägigen Nachweise bis spätestens 31.05.2023 an:
Geschäftsstelle Hochschulrat
z. Hd. des Vorsitzenden Herrn Dr. Stefan Knupfer
- persönlich/vertraulich -
c/o Westsächsische Hochschule Zwickau
Kornmarkt 1
08056 Zwickau
oder per E-Mail (PDF-Dokument) an geschaeftsstelle-hsr@fh-zwickau.de
Bitte reichen Sie bei einer postalischen Bewerbung in Ihrem Eigeninteresse ledig-
lich Kopien ein. Die Unterlagen werden nicht zurückgesandt, sondern nach
Abschluss des Bewerbungsverfahrens vernichtet. Für Rückfragen steht Ihnen in
der Geschäftsstelle des Hochschulrates gern Herr Dr. Kay Seidemann zur Verfügung
(Telefon 0375/536-1014). Ferner weisen wir darauf hin, dass im Zusammenhang
mit der Bewerbung entstandene Kosten leider nicht erstattet werden können.
Weitere Informationen über die Hochschule erhalten Sie unter www.fh-zwickau.de.
Es wird darauf hingewiesen, dass Sie mit Ihrer Bewerbung
gleichzeitig Ihr Einverständnis zur elektronischen Verarbeitung
Ihrer persönlichen Daten bis zum Abschluss des Bewerbungs-
verfahrens erteilen. Bitte beachten Sie die Hinweise zum Daten-
schutz im Bewerbungsverfahren unter:
https://www.fh-zwickau.de/hochschule/informationen/stellen/
Die Universität Graz besetzt am Institut für Pharmazeutische
Wissenschaften der Naturwissenschaftlichen Fakultät eine
Professur für Pharmakologie
und Toxikologie
An der Universität Münster ist am Fachbereich 06 – Erziehungswissen-
schaft und Sozialwissenschaften, Institut für Soziologie, zum nächst-
möglichen Zeitpunkt eine
W1-Professur mit Tenure Track nach W2
für Soziologie: „Migration, Diversität und
gesellschaftlicher Zusammenhalt“
zu besetzen.
Erwartet wird, dass die*der zukünftige Stelleninhaber*in Lehrerfahrung
hat und sich besonders in den geplanten Master „Diversität und Soziale
Ungleichheit in offenen Gesellschaften“ einbringt, aber auch Lehre in
den anderen M.A.- und B.A.-Studiengängen des Instituts anbietet.
Zudem wird von der*dem Bewerber*in die Fähigkeit zur Verbindung von
Theorie und Empirie erwartet, sowie die Verortung von Forschung und Lehre
im Bereich der Migrationssoziologie und dem Themenfeld Diversität
sowie mindestens in zwei der folgenden konkreten Themenbereiche:
• kulturelle Hybridität
• soziale Differenzierung
• Ungleichheiten und Diskriminierung
• Geschlecht
• Öffentlichkeiten
Gewünscht sind erste Erfahrungen bei der Einwerbung von Drittmitteln,
sehr gute Lehrevaluationen, Zeitschriftenpublikationen, die Anwendung
verschiedener Methoden der Datenerhebung und -analyse, sehr gute
Englischkenntnisse sowie Erfahrung mit internationalen Vergleichen.
Voraussetzungen für die Bewerbung sind eine überdurchschnittlich abge-
schlossene Promotion im Fach Soziologie sowie erste darüber hinaus-
gehende wissenschaftliche Leistungen, die im Rahmen einer Tätigkeit
als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in an einer Hochschule oder außer-
universitären Einrichtung im In- oder Ausland erbracht worden sind.
Die WWU setzt sich für Chancengerechtigkeit und Vielfalt ein. Wir
begrüßen alle Bewerbungen unabhängig von Geschlecht, Nationalität,
ethnischer oder sozialer Herkunft, der Religion oder Weltanschauung,
Beeinträchtigung, Alter sowie sexueller Orientierung oder Identität.
Eine familiengerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen ist uns ein
selbstverständliches Anliegen. Eine Stellenbesetzung in Teilzeit ist
grundsätzlich möglich.
Bewerbungen von Frauen sind ausdrücklich erwünscht; Frauen werden
bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt
berücksichtigt, sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende
Gründe überwiegen.
Bewerbungen mit Lebenslauf, Zeugnissen, Schriftenverzeichnis, Liste der
bisher abgehaltenen Lehrveranstaltungen und ggf. eingeworbener Dritt-
mittel werden bis zum 21.05.2023 per E-Mail (dek.fb06@uni-muenster.de)
erbeten an den:
Universität Münster
Dekan des Fachbereichs 06
Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften
Georgskommende 33
48143 Münster
Werden Sie Teil der Hochschule für Technik und
Wirtschaft des Saarlandes, einer der forschungs-
stärksten Hochschulen für angewandte Wissen-
schaften in Deutschland mit ausgeprägtem Grün-
dergeist. Mit unseren aktiv gelebten Hochschul-
partnerschaften in der ganzen Welt sowie zwölf
deutsch-französischen Studiengängen sind wir
frankophil und international ausgerichtet. An unserer
Hochschule mit aktuell über 6.000 Studierenden im Zentrum der Hauptstadt
des Saarlandes profitieren Sie von einer dynamischen und lebendigen Grenz-
region mit ausgesprochen hoher Lebensqualität. Tragen Sie mit uns dazu bei,
die kommende Generation an Fach- und Führungskräften bestens auszubilden
und auf die Zukunftsaufgaben vorzubereiten.
In der Fakultät für Ingenieurwissenschaften ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt
folgende Stelle zu besetzen:
Nachwuchsprofessur (m/w/d)
mit Tenure Track für Interaktion zwischen
neuronalem Gewebe und technischen Systemen
(Kennziffer 138)

Lehrveranstaltungen zu klassischen Themen der Informatik im wirtschafts-
informatischen Kontext insbesondere im Bereich Programmierung und Software
Engineering gehalten werden. Die Lehre ist in deutscher und in englischer Sprache
zu halten. Darüber hinaus erwarten wir die Bereitschaft zur Übernahme von
Lehrveranstaltungen außerhalb des eigenen Lehrgebiets sowie zur Mitarbeit in
der akademischen Selbstverwaltung.
Als Fachbereich bieten wir ein professionelles, kollegiales und unterstützendes
Umfeld mit vielen Freiräumen für die Durchführung angewandter Forschungs-
und Transferprojekte im Einklang mit den eigenen Interessen.
Darüber hinaus bietet die Hochschule Trier in ihrer Gesamtheit diverse innova-
tive und zukunftsorientierte Forschungsmöglichkeiten sowie internationale und
interdisziplinäre Kooperationsmöglichkeiten. Allen ihren Beschäftigten stellt die
Hochschule ein umfassendes Weiterbildungsangebot zur Verfügung. Überdies ist
sie als familienfreundliche Hochschule zertifiziert und bietet vielfältige Kinder-
betreuungsangebote sowie Unterstützung und Beratung durch ihren Familien-
service und den Dual Career Service.
Das Land Rheinland-Pfalz und die Hochschule Trier vertreten ein Betreuungs-
konzept, bei dem eine hohe Präsenz der Lehrenden am Hochschulort erwartet
wird.
Weitere allgemeine Informationen sind im Internet abrufbar unter:
http://www.hochschule-trier.de/go/Stellenausschreibung
Qualifizierte Frauen werden ausdrücklich zur Bewerbung aufgefordert. Schwer-
behinderte sowie Schwerbehinderten gleichgestellte Menschen nach § 2 Abs. 3
SGB IX werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt.
Rückfragen richten Sie bitte an den Vorsitzenden der Berufungskommission,
Herrn Prof. Dr. Martin Vogt (vogt@hochschule-trier.de) oder das Sekretariat (Tel.
+49 651 8103-299).
Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf, Zeugnisse, Nachweise
über den beruflichen Werdegang, Publikationsverzeichnis, kurze Skizze geplanter
Forschungs- und Transfervorhaben) senden Sie bitte schriftlich in elektronischer
Form (als eine zusammengefasste PDF-Datei, mit dem Vornamen und den Nach-
namen benannt, z. B. thomas-meier.pdf) bis zum 14.05.2023 an die Präsidentin
der Hochschule Trier. Die Datei ist abzulegen auf der gesicherten Plattform
Seafile der Hochschulen des Landes Rheinland-Pfalz:
https://seafile.rlp.net/u/d/68596d34eb1b4ed0a36f/
Präsidentin der Hochschule Trier, Postfach 1826, D-54208 Trier
unterstützt. Die F&E GmbH der Fachhochschule Kiel assistiert bei Bedarf bei
der Umsetzung der betreffenden Aktivitäten. Es ist sehr erwünscht, dass die
Stelleninhaberin oder der Stelleninhaber aktiv ein Netzwerk mit der
regionalen und überregionalen Wirtschaft aufbaut und pflegt.
Bewerberinnen und Bewerber müssen neben den allgemeinen beamtenrecht-
lichen Voraussetzungen die Voraussetzungen des § 61 HSG erfüllen. Danach
sind mindestens ein abgeschlossenes Hochschulstudium, pädagogische und
didaktische Eignung sowie besondere Befähigung zu wissenschaftlicher
Arbeit, die in der Regel durch die gute Qualität einer Promotion nachgewie-
sen wird, erforderlich. Des Weiteren sind besondere Leistungen bei der An-
wendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in
einer mindestens fünfjährigen beruflichen Praxis, von der mindestens drei
Jahre außerhalb des Hochschulbereichs ausgeübt worden sind,
Voraussetzung.
Die Fachhochschule Kiel bietet didaktische Aus- und Fortbildung während
der ersten beiden Beschäftigungsjahre an. Es wird erwartet, dass dieses
Angebot genutzt wird.
Die Hochschule setzt sich für die Beschäftigung von Menschen mit
Behinderung ein. Daher werden schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte
Personen bei entsprechender Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung
bevorzugt berücksichtigt. Die Hochschule ist bestrebt, den Anteil der
Wissenschaftlerinnen zu erhöhen. Sie fordert deshalb insbesondere Frauen
auf, sich zu bewerben. Frauen werden bei gleichwertiger Eignung,
Befähigung und fachlicher Leistung vorrangig berücksichtigt. Ausdrücklich
begrüßen wir es, wenn sich Menschen mit Migrationshintergrund bei uns
bewerben.
Auf die Vorlage von Lichtbildern/Bewerbungsfotos verzichten wir ausdrück-
lich und bitten daher, hiervon abzusehen.
Bewerbungen mit vollständigen Unterlagen sind bitte, zusammengefasst in
einer pdf-Datei, per E-Mail bis zum 04.06.2023 zu rich-
ten an den Dekan des Fachbereichs Informatik und
Elektrotechnik, Herrn Prof. Dr.-Ing. Felix Woelk,
E-Mail: felix.woelk@fh-kiel.de.
Fachliche und inhaltliche Fragen sind an den Vorsitzen-
den des Berufungsausschusses, Herrn Prof. Dr. Robert
Manzke (robert.manzke@fh-kiel.de) zu richten.
(40 Stunden/Woche; Verfahren gem. § 98 Universitätsgesetz; Weitere Informationen sowie die vollständige Stellenausschreibung und eine
unbefristetes Arbeitsverhältnis nach dem Angestelltengesetz; Auflistung der geforderten Unterlagen finden Sie hier:
voraussichtlich zu besetzen ab 01. Oktober 2024) htwsaar.de/stellenausschreibungen
Ihre Bewerbungen richten Sie bitte bis zum 21.05.2023 an
Die am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften eingeglie- berufungsverfahren@htwsaar.de
derte Professur „Pharmakologie und Toxikologie“ soll dieses
Fach in der Forschung und in der Lehre für Studierende der
Pharmazeutischen Wissenschaften und angrenzenden natur-
wissenschaftlichen Studien in vollem Umfang vertreten. Im Mit-
telpunkt der Forschung sollen molekulare Mechanismen bevor-
zugt, aber nicht ausschließlich des kardiovaskulären Systems
und die pharmakologische Modulation entsprechender Erkran-
kungen stehen. Der Fokus soll auf genomischen, genetischen,
biochemischen, zellbiologischen oder funktionellen Analysen
kardiovaskulärer Zell-, Herz- und Gefäß(dys)funktionen liegen.
Alternative Forschungsschwerpunkte können auch entzünd-
liche Erkrankungen, Lipidstoffwechsel oder andere metaboli-
sche Prozesse umfassen. Dabei können in vivo, in vitro oder
Im Fachbereich Mathematik/Informatik/Physik sind zum nächst-
in-silico Modelle zur Anwendung kommen. Das inkludiert z.B.
Tiermodelle (transgene Mäuse) sowie Ersatzmethoden für Tier- möglichen Zeitpunkt folgende Professuren (m/w/d) zu besetzen:
versuche (isolierte Organe, Organoide, und Zellsysteme). Die
Modelle sollen als Basis für eine molekulare und pharmako-
logische Charakterisierung der Prozesse mit „state of the art“ Wissensverarbeitung in hybriden
-Methoden, z.B. in den Bereichen der funktionellen Omics, sin-
gle-cell-Technologien oder Imaging dienen und dabei translati- KI-Systemen
onale Aspekte berücksichtigen. Von den Bewerberinnen oder (Bes. Gr. W3)
Bewerbern erwarten wir hervorragende Qualifikationen in For-
schung und Lehre und Einwerbung von Drittmitteln. Zudem er-
warten wir Kompetenz im Bereich des Gender Mainstreaming. Praktische Informatik/Digitalisierung
(Bes. Gr. W3)
Bewerbungen sind unter Angabe der Kennzahl BV/2/98 ex
2022/23 bis 07. Juni 2023 einzureichen. Informationen zu Bewerbungsschluss: 31.05.2023
den Bewerbungsmodalitäten und weitere Voraussetzungen
finden Sie unter https://jobs.uni-graz.at. Voraussichtlicher Weitere Informationen finden Sie unter:
www.uni-osnabrueck.de/stellenangebote
Termin für das Hearing („Berufungsvorträge“): 20.11.2023
bis 24.11.2023
42 STELLENMARKT 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Das Statistische Amt für Hamburg

Die Hochschule RheinMain als Hochschule für angewandte Wissen-
schaften mit ihren Standorten Wiesbaden und Rüsselsheim versteht
sich als weltoffene, vielfältige Hochschule. Sie ist anerkannt für ihre
wissenschaftlich fundierte und berufsqualifizierende Lehre sowie
für ihre anwendungsbezogene Forschung, die eng mit der Lehre ver-
zahnt ist. Insgesamt studieren an der Hochschule RheinMain rund
13.000 Studierende. Sie beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter:innen,
davon ca. 250 Professor:innen.
Im Fachbereich Design Informatik Medien ist zum nächstmöglichen
Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
Professur
„Künstliche Intelligenz“
(Bes. Gr. W2 HBesG)
Kennziffer: DCSM-P-10/23
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung über unser
Online-Bewerbungsportal bis zum 14.05.2023.
Detaillierte Informationen erhalten Sie unter:
https://stellenangebote.hs-rm.de/37ka3
Im Dezernat Studium und Weiterbildung, Sachgebiet International Office, ist im
Team Strategie und Internationalisierung ab 01.07.2023 eine Stelle als
Referent:in Impact and Third Mission Partnerships (m/w/d)
(bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen E 13 TV-L)
mit 87,5 % der regelm. wöchentl. Arbeitszeit, bis 31.10.2026 (Befristung gem. TzBfG), zu besetzen. Insb. zur
Koordination sowie strategischen Weiterentwicklung von internationalen Partnerschaften u. Allianzen wer-
den Bewerber:innen mit wiss. Hochschulabschluss in geeigneter FR sowie einschlägiger Berufserfahrung im
Hochschulkontext (insb. Wissenschaftsmanagement) u. in der internationalen Partnerschaftsarbeit gesucht.
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter: https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/10351.
und Schleswig-Holstein sucht zum
1. Mai 2024 einen neuen
Die Stadt Münster sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine
VORSTAND LEITUNG STADTBÜCHEREI (m/w/d)
(m/w/d)
Sie führen die Stadtbücherei mit allen Mitarbeitenden und Stadtteilbüchereien
und sind verantwortlich für die fachliche sowie organisatorische Weiterent-
wicklung. Sie entwickeln und pflegen Kooperationen und vertreten die Stadt-
bücherei Münster in der Öffentlichkeit. Sie sind eine kommunikationsstarke,
belastbare und teamorientierte Führungspersönlichkeit mit einschlägiger
Das Statistische Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein Berufserfahrung?
(Statistikamt Nord) erstellt über 300 gesetzlich angeordnete Wir suchen:
Bewerben Sie sich bis zum 07.05.2023 mit aussagekräftigen Bewerbungs-
Statistiken für die beiden Bundesländer. Die Ergebnisse bilden
die Grundlagen für wirtschaftliche und politische Entscheidungen
unterlagen zusammengefasst in einer PDF-Datei bei der von uns beauftragten Talentscout (w/m/d) für mehr Chancengerechtigkeit,
Personalberatung. unbefristet, Vollzeit, EG 13, Einsatzort Gelsenkirchen
und leisten einen wichtigen Beitrag zu demokratischer Teilhabe
und freier Meinungsbildung. Digitale Prozesse, deren beständige Weitere Informationen unter: www.kulturexperten.de/kex_3325
Haben wir Sie neugierig gemacht?
Weiterentwicklung sowie fachliche und politische
Unabhängigkeit prägen die Arbeit des Amtes. Weitere Informationen unter:
Das sind Ihre Aufgaben: https://www.w-hs.de/stellenangebote-der-hochschule
• Sie leiten alleinverantwortlich das Amt mit rund 450 Mitarbei-
tenden in drei Abteilungen an zwei Standorten in personeller,
organisatorischer und technischer Hinsicht;
• Sie sichern zusammen mit dem Verwaltungsrat und den
Trägerländern die Wirtschaftlichkeit und Zukunftsfähigkeit;
• Sie gestalten gemeinsam mit den Leitungen der statistischen WISSEN3
Ämter des Bundes und der anderen Bundesländer die
Entwicklung der amtlichen Statistik in Deutschland aktiv mit;
Nachrichten
• Sie vertreten die Interessen des Statistikamts Nord und der aus Hochschule
beiden Trägerländer in Gremien des föderal organisierten
Statistikverbundes. Wissenschaft,
Ihr Profil Scientific
• abgeschlossenes Hochschulstudium der Wirtschafts-, Sozial- Community
oder Rechtswissenschaften oder vergleichbarer Studiengänge
mit einem Master- oder einem gleichwertigen Abschluss; Jetzt kostenlos abonnieren:
• nachgewiesene Erfahrung in der Führung einer größeren www.zeit.de//wissendrei
Organisationseinheit einschließlich der Führung von
Leitungskräften, vorzugsweise in der öffentlichen Verwaltung;
• als Person im Beamtenstatus erfüllen Sie zusätzlich die Vor-
aussetzungen für den höheren allgemeinen Verwaltungsdienst
bzw. die Ämter für die Laufbahngruppe 2, 2. Einstiegsamt der
Laufbahn allgemeine Dienste.
Jobdetails

Standorte: Hamburg und Kiel

Eintrittsdatum: 1. Mai 2024

Vertragsart: Vollzeit, 5 Jahre

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An der Hochschule Hannover ist an der Fakultät III – Medien, Information und De- Bewerbungsschluss: 15. Mai 2023
sign, Abteilung Information und Kommunikation, zum nächstmöglichen Zeitpunkt
dauerhaft eine Für Fragen zur Bewerbung wenden Sie sich an

W2-Professur (100%)
• Eun-Joung Krüger, Vorsitzende des Verwaltungsrates
0431 988 - 2701
DIE ZEIT erreicht jede Woche
Betriebswirtschaftliche • Renate Cohrs, Vorstand 375.000 Lehrer:innen. AWA 2022
Grundlagen und Prozesse 040 42831 - 1710
in der Veranstaltungswirtschaft Haben wir Ihr Interesse geweckt?
– Kennziffer W2 11/2022 – Dann möchten wir Sie gerne kennenlernen Unser Recruiting
zu besetzen. und freuen uns auf Ihre aussagekräftige
Portfolio entdecken
Bewerbung. Eine detaillierte Beschreibung
Weitere Einzelheiten zu der Professur entnehmen Sie bitte der Website der Hoch- der angebotenen Stelle sowie den Zugang oder direkt an
schule Hannover unter https://karriere.hs-hannover.de oder über den QR-Code. zu unserem Bewerbungsportal
finden Sie auf unserer Website.
stellenmarkt@zeit.de 1
montags und donnerstags
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 21.05.2023 an
den Dekan der Fakultät III, Prof. Timo Schnitt. Die Bewerbung ist bis zum Ablauf
dieser Frist online über das Bewerbungsportal möglich.
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 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
H I E R AU S R E I S S E N!

43

A B E N T E U E R F Ü R K I N D E R

Was Hunde alles riechen

Dr o g e n
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B e d ro h d Jedes Jah
rarten sin Zoll an r findet der
Viele TieZum Glück Flu
Tonnen ghäfen viele
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bedroht Hunde dabei Drogen verbotener
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e lf e n , s ie zu sch nde Beispiel eroin zum
h hutzhu Mensch riecht für
Artensc ffeln etwa
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erschn echsen oder Hunde en nach Essig –
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Und manche M eib-

Trüffeln sind Pi hsen.

so zuverlässig w fast

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lich lecker. Sie si sie so

finden sie unbe
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teuer – auch wei nd.

sich

schwer zu finde
In Experimente .
Trainierte Hunde

nnen.

Trüffelhunden bl n.
ert

schon Krebs erke ch

anders. Es veränd h

ucke

sie nicht verbor

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die Duftstoffe in
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konnten Hunde n
au

Aber geschulten
erkennen Coron

PCR-Test. Wer

hat, riecht näm

Corona

Trüffeln
Schweiß und Sp
mit dem Virus

lze, die
schr
en
ac
nd sehr
n si
l
eiben
ge

Hunde kann auch USB-

Daten sind. Die Hunde
beißen in der Nacht zu.

Sticks oder Festplatten

Parasiten nisten sich in

nehmen Chemikalien
So werden Spürhunde

die dafür sorgen, dass

Gut, dass Bettwanzen

erkennen, auf denen

Wer Bettwanzen hat,

Geruch ausströmen.

Die feine Nase der

dem juckt bald der

Matratzen ein und

zu Kammerjägern.

wahr, etwa solche,

die Speicher nicht

vielleicht geheime
ganze Körper: Die

einen besonderen

Datenspeicher
Bettwanzen

überhitzen.

Foto: plainpicture
Bis zu 300 Millionen Riechzellen hat ein Hund in seiner Nase, viel mehr als der Mensch

»Einen Hund zu täuschen ist nicht leicht«

Claudia Bruckner bildet Spürhunde aus. Im Interview erklärt sie, warum Hunde so super Nasen haben

DIE ZEIT: Frau Bruckner, Hunde können unter-
schiedlichste Dinge erschnüffeln. Was ist das Be-
sondere an einer Hundenase?
Claudia Bruckner: So einiges! Ein Hund hat in
seiner Nase bis zu 300 Millionen Riechzellen,
wir Menschen haben gerade einmal fünf Millio-
nen. Und die Riechschleimhaut eines Hundes
ist auch viel größer, etwa so groß wie ein DIN-
A4-Blatt. Unsere ist ungefähr so groß wie eine
Briefmarke. Außerdem kann ein Hund bis zu
300-mal in der Minute einatmen. Und seine
speziellen Nasenlöcher helfen ihm auch.
ZEIT: Was ist an denen speziell?
Bruckner: Neben den normalen Nasenlöchern
hat der Hund seitlich noch Schlitze in der Nase.
Durch die großen Nasenlöcher atmet er Luft ein
und sortiert die Duftmoleküle – also winzige
Teilchen, die in der Luft herumschwirren. Die
Duftteilchen, die er braucht, bleiben in der
Nase. Und die, die er nicht braucht, atmet er
seitlich durch die Schlitze wieder aus. So kann er
sich auf einen Duft konzentrieren. Der wird
dann im Riechhirn weiterverarbeitet.
ZEIT: Was ist das Riechhirn?
Bruckner: Das ist der Teil des Gehirns, in dem
man Gerüche erkennt und abspeichert. Das
Riechhirn des Hundes ist viel größer als unseres.
Damit und mit seiner feinen Nase kann er eine
Million Gerüche unterscheiden. Menschen
schaffen nur 10.000 verschiedene.
ZEIT: Sie wählen und bilden Spürhunde für den
Einsatz beim Zoll am Flughafen aus. Wie brin-
gen Sie den Tieren bei, was sie suchen sollen?
Bruckner: Die Spürhund-Ausbildung geht da-
mit los, dass wir dem Hund in einem Einmach-
glas einen Duft vorsetzen. Ein paar Sekunden
lassen wir ihn daran riechen, und gleich danach
bekommt er eine Belohnung. Das kann Futter
sein oder das Lieblingsspielzeug. Wenn wir das
ganz oft wiederholen, merkt sich der Hund ir-
gendwann: Dieser Geruch bedeutet für mich
Spaß! Denn ich bekomme etwas, das ich mag.
Wir sagen dazu, dass wir die Tiere »konditionie-
ren«. Danach muss der Hund noch lernen, den
einen Geruch von anderen zu unterscheiden,
ihn auf unser Signal hin zu suchen und uns zu
zeigen, wenn er etwas gefunden hat.
ZEIT: Und wie macht er das?
Bruckner: Wir könnten ihm zum Beispiel an-
trainieren, dass er bellt oder sich einmal im
Kreis dreht. Die Spürhunde, die wir für Kon-
trollen am Flughafen trainieren, müssen an der
Stelle, wo etwas versteckt ist, wie versteinert
stehen bleiben.
ZEIT: Ist ein Spürhund Experte für einen Duft?
Bruckner: Normalerweise ist jeder Spürhund
spezialisiert, ja. Am Flughafen haben wir Hunde
für Rauschgift, für Tabak, für Bargeld und wel-
che, die geschützte Arten erkennen. Sie riechen,
wenn Menschen verbotenerweise Tiere dabeiha-
ben, die unter Artenschutz stehen. Oder Gegen-
stände aus geschützten Tieren – Taschen aus
Krokodilleder oder Figuren aus Elfenbein. Die
Hunde arbeiten auch ganz unterschiedlich. Eini-
ge stehen im Gang und schnuppern die Reisen-
den ab, die an ihnen vorbeigehen. Andere Hunde
suchen Fahrzeuge, Räume oder Gepäck ab.
ZEIT: Wie erkennen Sie, ob ein Hund ein guter
Spürhund ist?
Bruckner: Das testen wir. Spürhunde müssen
lernen wollen. Einen Hund, der glücklich ist,
wenn er ein bisschen spazieren geht und sonst
am liebsten auf der Couch liegt, können wir
nicht einstellen. Wir brauchen ehrgeizige Hunde
mit Beutetrieb!
ZEIT: Was bedeutet das?
Bruckner: Der Hund muss etwas unbedingt auf-
spüren wollen. Es gibt tolle Hunde, die gern
spielen und den ganzen Tag einem Ball hinter-
herlaufen könnten. Aber sobald sich der Ball
– also die Beute – nicht mehr bewegt und in
einer geschlossenen Schublade liegt, verlieren sie
das Interesse. Als Spürhund taugen sie nicht.
ZEIT: Eignen sich alle Hunderassen?
Bruckner: Nein. Es gibt große Unterschiede, al-
lein wegen der Nasenlänge! Hunde, die eine
lange Schnauze haben, haben mehr Riechzellen.
Die kurznasigen, wie der Mops, können schlech-
ter riechen. Oft ist der Deutsche Schäferhund
im Einsatz. Der arbeitet gern und ist fit. Der
Belgische Schäferhund ist auch beliebt. Wir ha-
ben auch Labradore und Jagdhunde und Misch-
linge. Pudel sind ebenfalls sehr intelligent.
ZEIT: Gibt es Rassen, die einfach zu faul sind?
Bruckner: Es gibt vor allem einzelne Hunde, die
faul sind. Das liegt weniger an der Rasse als am
Charakter. Es ist wie bei Menschen: Es gibt wel-
che, die machen in ihrer Freizeit gern Sport, und
es gibt Profisportler. Die Profisportler-Hunde
brauchen wir.
ZEIT: Wie oft machen Spürhunde Fehler?
Bruckner: Ein Hund ist natürlich keine Maschi-
ne. Wenn es sehr kalt ist, breiten sich die Duft-
moleküle schlecht aus. Dann sind nur ganz we-
nige im Umfeld. Bei Sonne und Hitze ist das
Gegenteil der Fall, und der Geruch ist überall.
Auch starker Wind erschwert das Schnuppern.
Und, klar, den Hunden flutscht auch mal etwas
durch. Aber leicht ist es nicht, einen Hund zu
täuschen.
ZEIT: Geht ein Spürhund irgendwann in Rente?
Bruckner: Die Fähigkeit zu riechen nimmt bei
Hunden im Alter nicht ab. Aber die Arbeit ist
anstrengend. Wenn ein Hund etwa zehn Jahre
alt ist, reicht’s. Dann hat er oft schon sieben
oder acht Jahre gearbeitet und sich seine Rente
verdient. Die letzten Jahre kann er gemütlich zu
Hause verbringen – auf der Couch.
Das Gespräch führte Viola Kiel

DER GANZE KOSMOS

ZEIT LEO-WITZETELEFON ZEIT LEO – DAS MAGAZIN DER ZEIT LEO-KINDERRAT

»Treffen sich zwei Holzwürmer im Käse. Sagt der eine: ... erscheint alle sechs Wochen. Auch Tilda, 11 Jahre, aus dem Kinderrat mag Düfte.
Auch Probleme mit den Zähnen?« So sieht die neue Ausgabe aus. Sie würde sogar gern ein Gerät erfinden, das Gerüche
Auf unsere Mailbox gesprochen von Moritz, 12 Jahre, aus Hier kannst du das Magazin mit einfängt, erzählte sie uns. Der Kinderrat unterstützt
Gundelfingen. Kennst du auch einen Witz? Dann ruf uns an: deinen Eltern kostenlos testen: uns regelmäßig bei der Arbeit. Wie du dich bewerben
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44 WISSEN 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Infografik: Chemie

o
N
Wer hat’s ... 721
... erfunden? Justus von Liebig.
Ein Überblick über die vielen Entdeckungen
des vor 150 Jahren gestorbenen Chemikers
VON ANTON HALLMANN (ILLUSTRATION)
Chemie für alle UND MATS SCHÖNAUER (RECHERCHE)

Der bellende Hund

1853 misslang Liebig auf einer
Abendveranstaltung die Vorführung einer
chemischen Reaktion, die wegen des
entstehenden Geräusches »bellender Hund«
Um die Erkenntnisse der genannt wird. Bei der Verbrennung des
Chemie einem größeren Gemischs verletzte er nicht nur sich, sondern
Publikum nahezubringen, auch die Königin von Bayern.
schrieb Liebig »Chemische Der »bellende Hund« wird bis heute in
Briefe«, die in Zeitungen Chemieveranstaltungen durchgeführt.
abgedruckt wurden. Als
Professor in München hielt
er auch öffentliche
Vorlesungen und führte
Abendveranstaltungen mit
Experimenten durch.

Experimentierfreudig
Mit 15 flog Justus von Liebig (12. 5. 1803 bis 18. 4. 1873)
vom Gymnasium, auch seine Apothekerlehre endete
vorzeitig – bei Versuchen mit Silbersalzen hatte er einen
Dachstuhl in Brand gesetzt. Seine Experimentierfreude
sollte sich dennoch auszahlen: Liebigs Arbeiten über Knall-
silber weckten das Interesse von Alexander von Humboldt,
der dem erst 21-Jährigen zu einer Professur verhalf.

An der Universität Gießen revolutionierte Liebig die

5-Kugel-Apparat noch von Alchemie und Mystik geprägte Chemielehre:
Er entwickelte einen Studienplan mit vielen Experimenten,
Mit der Einführung von Liebigs 5-Kugel-Apparat der die Chemie zur exakten Naturwissenschaft erhob
konnten organische Stoffe 40-mal so schnell wie und ihn selbst weltweit bekannt machte. Als Teenager
zuvor auf ihre Bestandteile analysiert werden. hatte Liebig eine Hungersnot erlebt, als Professor
Die routinemäßig einsetzbare Technik verhalf der suchte er deshalb nach Möglichkeiten, die Erträge der
organischen Chemie zu einem rasanten Aufschwung. Landwirtschaft zu steigern – was ihm mit der
Entwicklung des ersten Mineraldüngers auch gelang.
Silberspiegel
Liebig gelang es als Erstem, Glaskörper mit
einer Silberlösung zu beschichten und so zum
Spiegeln zu bringen. Breite Verwendung fand
sein Silberspiegel ab 1886, als Quecksilber-
spiegel wegen ihrer Giftigkeit verboten wurden.

Quellen
Gesellschaft
Deutscher
Chemiker

Justus Liebig-
Gesellschaft zu
Gießen/Liebig-
Museum

Justus-Liebig-
Universität
Gießen

Links zu diesen
und weiteren
Quellen finden
Sie unter
www.zeit.de/
Babynahrung Fleischextrakt Chloroform Backpulver wq/2023-17

Um Säuglinge aus armen
Familien, denen keine
Muttermilch zur Verfügung stand,
vor dem Verhungern zu
bewahren, entwickelte Liebig
eine »Suppe für Säuglinge«.
Er legte damit den Grundstein
für die heutige Babynahrung.
Liebig entwickelte eine Methode
zur Herstellung eines hochkonzentrierten
Fleischextrakts. Zunächst zur Stärkung
von Kranken gedacht, wollte er daraus
ein Nährmittel für die Armen machen,
was aber am Fleischpreis scheiterte.
Später wurde der »Liebig-Fleischextrakt« in
Uruguay produziert und diente als Würze.
Zeitgleich mit zwei anderen
Forschern entdeckte Liebig
1831 das Chloroform (er nannte
es »Chlorkohlenstoff«).
Es wurde später als eines der ersten
Narkosemittel eingesetzt.
Auf der Suche nach einem Gemisch,
mit dem man Brot auch ohne leicht
verderbliche Hefe backen konnte,
entwickelte Liebig mit einem Schüler das
Backpulver. In den USA war es schnell
erfolgreich, in Deutschland fand es erst
später Verbreitung, als August Oetker es
in backfertigen Portionen vermarktete.
Die Kinderseite
der ZEIT
finden Sie auf
der vorigen Seite

Sein
Pakt
mit dem
Turm
E
ine Geschichte über die
Liebe will er eigentlich
schreiben, seit Jahren
schon. Aber irgendwie
gelingt es nicht. Immer
kommt etwas dazwi-
schen, oder die soge-
nannte Liebe zeigt sich ihm immer wieder
in ihrer verletzenden, zerstörerischen, un-
heilvollen Gestalt. Irgendwann beschließt
er dann eben diese Seite der Liebe aufzu-
schreiben. Ihren Missbrauch.
Benjamin von Stuckrad-Barre, 48, sein
erster Roman, Soloalbum, erschien vor 25,
sein bester, Panikherz, vor sieben Jahren, hat
immer dicht am eigenen Leben entlang-
geschrieben. Und auch der Ich-Erzähler
seines heute erscheinenden, enorm erwar-
teten, auf Instagram von zahlreichen Pro-
minenten penetrant beworbenen Romans
Noch wach? trägt alle Züge jenes hyperner-
vösen, drogenabstinenten, unter Bulimie
und Schönheitssucht leidenden, schnell und
hart urteilenden, genial schreibenden Ben-
jamin, den wir seit so vielen Jahren aus sei-
nen Büchern kennen. Doch tritt jetzt etwas
Sonderbares, in Stuckrads Romanwelt bis-
lang Unbekanntes oder bestenfalls Ver-
höhntes hinzu: Moral. Mitgefühl. Verant-
Foto: Jonas Holthaus/laif
wortung. Das ist menschlich interessant
und literarisch ein Ereignis, weil es dem
mitunter engen Coolness-, Super-Ich- und
Selbsterrettungskosmos etwas Neues, Öff-
nendes hinzufügt. Eine Befreiung. Der
Roman besteht aus zwei Handlungssträn-
ANZEIGE
Einzel-, Studenten- oder Familienabo für Apple Music sowie kompatible Hardware und Software erforderlich.
FEUILLETON
gen: Der eine spielt in Los Angeles, im alten
Starhotel Chateau Marmont, dem Ort, an
dem sich schon der drogensüchtige Erzähler
aus Panikherz mühsam ins Leben zurück-
sonnte. Doch diesmal sind wir in jenen
Momenten dabei, in denen der Sturz des
Systems Hollywood vorbereitet wird. Die
Schauspielerin Rose McGowan ist es, die
der Erzähler hier trifft, jene Rose McGo-
wan, die eine der wichtigsten Zeuginnen
war, die den sexuellen Machtmissbrauch des
übermächtigen Filmproduzenten Harvey
Weinstein öffentlich machte. Diese Rose,
so sagen die entspannungsfrohen Gäste des
Chateau, sei in letzter Zeit irgendwie »an-
strengend« geworden. Irgendwie ist ihr
Humor weg. Sie ist so schrecklich ernst
geworden, will immer reden. Muss das
bitte schön sein, hier am Pool? Sie stört.
Diese Rose schickt unseren Ich-Erzähler
praktisch los. Durch sie beginnt er, sein
Gewissen zu entdecken. Sie schenkt ihm
eine Biografie von Monica Lewinsky, jener
Praktikantin aus dem Weißen Haus, die Sex
mit dem damaligen Präsidenten Bill Clinton
hatte. Rose zeichnet eine Faust in das Buch
hinein und schreibt: »Monica was patient
zero.« Das erste weltweit verhöhnte Opfer
von Machtmissbrauch. Sex mit maximalem
Machtgefälle der Beteiligten. Er blieb Prä-
sident. Sie, für den Rest ihres Lebens, ein
leicht verführbares Flittchen. Das Wort
»einvernehmlich« im Zusammenhang mit
Sex hat seitdem für jeden, der nachdenken
möchte, eine zweifelhafte Bedeutung.
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Moralist wider Willen: Benjamin von Stuckrad-Barre
Der Ich-Erzähler war, wie der echte
Benjamin von Stuckrad-Barre, in der frühen
Zeit der Harald Schmidt Show Gagschreiber
der Sendung. Jetzt erinnert sich die Roman-
figur schamvoll daran, wie Harald Schmidt
und seine Jungs damals wochenlang Witz-
chen dieser Art raushauten: »›Viele Mitar-
beiterinnen des Weißen Hauses blasen jetzt
Trübsal!‹ Das war so das LEVEL.« Es habe
Jahre gebraucht, »bis man überhaupt nur
den Gedanken mal fasste, dass Monica
Lewinksky natürlich ein Opfer gewesen war,
in eklatantem Maße«.
Ganz hinten in die Biografie, für den
Fall, dass er sie wirklich bis zum Ende lesen
würde, hat Rose ihm einen Auftrag hinein-
geschrieben: »Wenn Sie sich dir anvertrau-
en – sei kein Arschloch. Hör ihnen zu. Such
nach anderen. Hör ihnen zu. Und dann setz
dich für sie ein. Die Belohnung wird groß
sein: Ihr werdet keine Jobs mehr kriegen,
ihr werdet mit Schmutz beworfen, man
wird euch als Lügner darstellen. Wird lustig.
Bist du bereit? Oder bist du ein Arschloch?«
Das muss unseren Erzähler beeindruckt
haben – jedenfalls wird er sich später in
Deutschland für die, die sich ihm anver-
trauen, einsetzen, so gut er kann. Bei dem
mächtigsten Freund, den er hat.
Und damit zu ihm, dem Mann, von dem
es gerüchteweise lange schon heißt, er kom-
me in fiktiver Form in diesem Roman an
zentraler Stelle vor: Mathias Döpfner, 60,
CEO und Miteigentümer des Springer-
Verlages, langjähriger Freund von Benjamin
von Stuckrad-Barre. Vor anderthalb Jahren
hatte die New York Times eine SMS des Ver-
legers an Stuckrad veröffentlicht, in der er
über den damaligen Chefredakteur der Bild-
Zeitung schrieb, Julian Reichelt sei »halt
wirklich der letzte und einzige Journalist in
Deutschland, der noch mutig gegen den
neuen DDR Obrigkeits-Staat aufbegehrt«.
Diese Nachricht hatte, zusammen mit ers-
ten öffentlichen massiven Hinweisen auf
sexuellen Machtmissbrauch durch Reichelt,
das Haus Springer erschüttert. Irgendwann
danach entstand das Gerücht, Döpfners Ex-
Freund Stuckrad plane ein Enthüllungsbuch
über den Verleger.
Die beiden waren nicht nur jahrelang
ein öffentliches Freundschaftspaar, Stuck-
rad-Barre schrieb dem Hause Springer auch
Teile des Textes einer Revue zum 100. Ge-
burtstag des Gründungsverlegers Axel Cäsar
Springer, unter genüsslicher Berücksichti-
gung von dessen legendären Affären und
sogenannten Frauengeschichten. Zu Beginn
der Revue trat damals Döpfner im Hoodie
mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze auf
die Bühne und verlas einen Brief an den
toten Verleger. Unklar, ob er den Text selbst
geschrieben hatte oder ob er schon Teil des
Stuckrad-Stückes war – der Eindruck jeden-
falls: Der Dichter hatte seinem mächtigen
Freund den Text für die Rolle seines Lebens
geschrieben. Döpfner – eine von Stuckrad-
Barre erschaffene Bühnenfigur. Zur Vor-
geschichte gehört auch das Gerücht des
legendären Gehalts, das Stuckrad auf
In Benjamin von
Stuckrad-Barres lang
erwartetem Roman wird
der Erzähler Zeuge von
Me-Too-Fällen in einem
deutschen Medienhaus.
Es ist ein Lehrstück über
Moral und Macht – und
einen großen Freund
VON VOLKER WEIDERMANN
Geheiß von Döpfner jahrelang vom Sprin-
ger-Verlag bezogen haben soll. Unter der
traditionell neidvollen Gruppe der Journa-
listen aus Berlin-Mitte war der Betrag, den
der Journalist angeblich bezog, mit der Zeit
ins Fantastische gewachsen: 40.000 Euro!
Pro Monat! Und schreiben musste er dafür,
wie es schien: beinahe nichts.
Dieser Mathias Döpfner stand offen-
sichtlich Pate für eine der zentralen Figuren
des Romans. Vom Ich-Erzähler wird er
immer nur »Mein Freund« genannt, bis er
am Ende des Buches dann »mein Ex-
Freund« ist. Dieser Freund ist ein außeror-
dentlich machtvoller Mitbesitzer eines welt-
weit operierenden Medienunternehmens,
das in Berlin in einem legendären Turm
seinen Firmensitz hat. Kern dieses Medien-
hauses ist im Roman nicht die Bild-Zeitung,
sondern ein »Sender«, der mittels einer
»NACHRICHTENSENDUNG genann-
ten Aufwiegelungsgameshow« Menschen
gegen Asylsuchende, bestimmte Politiker
oder Wissenschaftler aufhetzt und auf dem
berlinweit sichtbaren Leuchtband an der
Spitze des Turms so lange eine Hetzjagd auf
die Ex-Freundin eines Fußballers choreo-
grafiert, bis sie sich das Leben nimmt. »Aber
mein Freund bezeichnete all das immer noch
als JOURNALISMUS«, heißt es im Roman.
Dieser Freund ist eine ebenso unglaub-
würdige wie lebensnahe Romanfigur. Er
liebt die Kunst und das Theater, er ist un-
glaublich charmant, er hat neben der alten
Firmenzentrale einen gigantischen Bau
Sämtliche Aufnahmen von
Johann Sebastian Bachs
„Goldberg-Variationen“.
Finde die Interpretation, die du suchst,
jetzt noch schneller.
Jetzt laden
45
errichten lassen, den er »die Zukunft« nennt.
Er ist besessen von technischen Zu-
kunftsprojekten aller Art und fürchtet täg-
lich den Weltuntergang. Er ist ein weltweit
operierender Spieler ohne Ahnung, er will
Twitter kaufen und weiß nicht, dass man
auf der Plattform auch Bilder hochladen
kann, er will Netflix kaufen und weiß nicht
mal, wie man den Sender zu Hause emp-
fangen kann. Er ist ein kleiner Junge mit viel
zu viel Geld, der immer noch darüber zu
staunen scheint, wie er da reingeraten ist, in
diese Welt aus Macht, Einfluss und lächer-
lich großem Vermögen. Er verehrt Elon
Musk, in einer besonders großartigen Szene
im Roman treffen die beiden aufeinander,
tauschen Bewunderungen füreinander aus
und Verachtung für Minister, Demokratie
und den Staat, Musk übernachtet in einem
Baucontainer und liest Ernst Jünger, der
»Freund« will unbedingt, dass der Ich-
Erzähler die beiden beim Plaudern filmt und
diesen Film auf der firmeneigenen Plattform
hochlädt. Dieser hat, obwohl er nicht mehr
für den Konzern arbeitet, noch Zugang zum
firmeninternen Netzwerk. Aber als Kennung
würde unter dem Helden-Film sein Log-in-
Name »Neil Tennant« erscheinen. Erzähler
und Freund haben keine Ahnung, wie sich
das ändern ließe. Musk nimmt das Handy
kurz an sich, tippt ein bisschen, und schon
steht der Name des Senderbesitzers als Ken-
nung darunter. Der Erzähler filmt. Sein
Fortsetzung auf S. 46
46
SERIE »DIALOG MIT DEN JUNGEN LEUTEN«
»Der Geist
braucht Ruhe«
Dustyn, 18, aus Hof/Saale liest ein Buch
VON MORITZ VON USLAR
An einem der ersten frühlingshaft
milden Abende saß er in der nord-
bayerischen Stadt Hof auf einer
Parkbank am Ufer der Saale und las
– noch sehr jung aussehend, viel-
leicht gerade 18 – das Rowohlt-
Taschenbuch von Albert Camus’
Der Fremde. Entschuldigung, fragte
man da im Vorübergehen, wie
kommt es, dass du in dieser stillen
und friedlichen Abendstunde nicht
wie alle Menschen in dein iPhone
guckst, sondern in ein echtes ge-
drucktes Buch?
Der junge Mann stellte sich als
Dustyn vor, bitte mit y, nicht mit i –
er fand das so weit in Ordnung, dass
man ihn ansprach und ihm mit der
nun beginnenden Unterhaltung ein
Aufnahmegerät unter das Kinn hielt
–, der Vater stamme gebürtig aus
dem südostasiatischen Singapur, er,
Dustyn, sei seit acht Monaten 18,
habe im letzten Jahr im Schiller-
Gymnasium Hof ein Einser-Abitur
gemacht und zuletzt der Liebe wegen
ein paar Monate in Hessen verbracht
(die damalige Freundin habe er auf
der Streamingseite Twitch kennenge-
lernt), ab Oktober plane er ein
Studium der Luft- und Raumfahrt-
technik in Stuttgart oder – Achtung,
hier falle in allernächster Zukunft
eine Entscheidung – der Philosophie.
Camus, die allerachtzehnjährigste
Literatur (Existenzialismus). Dustyn
hat das Buch eben erst aufgeschla-
gen, ist auf Seite 17. Er liest nun den
ersten Satz vor, es sei ja ein sehr be-
kannter, oft interpretierter Roman-
anfang: »Heute ist Mama gestorben.
Vielleicht auch gestern, ich weiß
nicht.« In sein Buch hat Dustyn –
Folge 3 der Serie
»Dialog mit den jungen Leuten«
Unser Reporter zieht durch Deutschland und
spricht mit Menschen auf der Straße.
Die Serie erscheint in unregelmäßiger Folge
Sein Pakt ... Fortsetzung von S. 45
Passwort übrigens: »I_love_you_you_
pay_my_rent«. Ich liebe dich, du zahlst
meine Miete.
Bezahlt oder nicht – die Freundschaft
zwischen dem Verleger und dem Erzähler
trägt alle Zeichen einer Liebesgeschichte.
Auf einer einzigen, kursiv gesetzten Buch-
seite, schildert er »Szenen einer Liebe«, die
so echt klingen, als seien sie nicht ausge-
dacht. Die beiden Männer verlieben sich
ineinander in einem »grotesk runterge-
kühlten Büro«, tragen exakt identische
Anzüge, siezen sich aber noch jahrelang.
Einmal gehen sie »miteinander durchs ver-
schneite Fextal in Sils Maria, ein ganzes Tal
nur für uns«, sie legen sich aufs Dach der
Ruine eines abgebrannten Hauses »Arm
in Arm«, später »liegen wir zusammen im
Hotelbett, schauen diesen italienischen
Film, dessen Namen wir uns nie merken
konnten«, essen wahnsinnig viel Schoko-
lade, schmieren das Bett voll, schlafen so
ein, »komplett bekleidet, beide zutiefst
melancholisch, aber zusammen geht’s«.
Wie jede gute Liebesgeschichte, endet
auch diese durch das Auftauchen eines
Dritten. In diesem Fall ist es der Chef-
redakteur des Senders. Die literarische
Figur ähnelt dem Ex-Chefredakteur der
Bild-Zeitung, Julian Reichelt. Die Roman-
UNSERE WOCHE
das muss ja auch hier auf der Park-
bank geschehen sein – zwei Post-it-
Zettel eingeklebt, einen neongelben
und einen pinken.
Blick auf den Jungen neben mir
auf der Bank: der Mittelscheitel, sein
Oberlippenbart-Flaum, die auf an-
genehme Art nicht ausgesucht wir-
kende Garderobe (helle Skaterjeans,
Joggingschuhe von Adidas). Das ist
jetzt Quatsch, ihn die typischen tod-
ernsten Junge-Menschen-Dinge zu
fragen, also nach Putins Krieg, Kli-
maschutz oder ob die Atomkraft-
werke doch besser länger gelaufen
wären. Einfach mitgenießen, wie viel
offenes, ungeklärtes Leben da neben
einem sitzt. Fluss, Enten, ein großer
Himmel mit Kondensstreifen. Die
Girls von Hof tragen Achtziger-
Jahre-New-Wave-Garderobe (Leder-
mantel, gestreifte Krawatte). Dustyn
sagt: »Ich sitze halt hier an der Saale
und lese.« Ja, lieber Dustyn, und das
ist großartig!
Die Entscheidung, nicht in sein
Handy, sondern in ein Taschen-
buch zu gucken, die habe er übri-
gens sehr bewusst getroffen: »Der
Geist braucht Ruhe. Ich habe ge-
merkt, dass die Dauerbeschallung
der Medien auch krank macht.«
Dauerbeschallung: Sofort erfri-
schend ist das, wenn junge Men-
schen Altachtundsechziger-Begriffe
benutzen. Nach einer Viertelstunde
wird es Zeit, schon wieder auf Wie-
dersehen zu sagen. Das wunderbar
Beiläufige der Begegnung droht
sonst zusammenzuklappen. Er legt
die rechte Hand in die aufgeblät-
terten Camus-Seiten. Natürlich,
jetzt wird hier weitergelesen.
figur war, wie Reichelt, früh als Kriegsre-
porter zu einer Art Journalisten-Held
geworden. Aus dieser Erfahrung speist sich
die Grunderzählung seines Lebens. Der
Sender ist sein Kampfgebiet. Seine Leute
im Turm schickt er täglich an die nationale
Front im Meinungskampf. Politisch erfüllt
das unseren Erzähler mit Abscheu, der Ver-
leger ist glücklich damit.
Doch dann geschieht etwas, das den
Erzähler an die Botschaft von Rose
McGowan erinnert: »Wenn sie sich dir
anvertrauen, sei kein Arschloch.« Zu-
nächst ist es nur Sophia, eine Freundin des
Erzählers, jung, »das Gesicht des Senders«,
hatte Sex mit dem Chefredakteur, wurde
fallen gelassen, eine von vielen.
Es ist ziemlich eindrucksvoll, wie es
Stuckrad-Barre gelingt, die Mechanismen
von Machtmissbrauch und Mitmachen
im Turm psychologisch klug und nach-
vollziehbar darzustellen. Die Verzaube-
rung der jungen Frauen am Anfang.
Manche sind Praktikantinnen, andere
Berufsanfängerinnen. Wie sie es genießen,
von ihm, dem Allmächtigen im Turm,
beachtet, in den Konferenzen in den
Mittelpunkt gestellt zu werden. Der Neid
der Kolleginnen. Seine zarte Freundlich-
keit. Das Entsetzen, nachdem sie festge-
stellt haben, nur eine von vielen zu sein.
Das Fallengelassenwerden. Die Einsam-
FEUILLETON
Abb.: Courtesy and © Kurt Hentschläger 2008–2023; Moritz von Uslar (l.); Steffens/ddp (u.)
So herrlich geheimnisvoll: Die Nebel-Licht-Installation »Zee« von Kurt Hentschläger
Liebe Kunst,
erlöse uns
Warum die Datenfirma Palantir viel Geld für eine
Ausstellung in Leipzig ausgibt VON HANNO RAUTERBERG
Ja, es gibt in Leipzig, in den Hallen
der pittoresk verfallenen Pittler-
Fabrik, auch einige umwerfende
Kunstwerke. Noch erstaunlicher
allerdings ist ihr Rahmen. Oder ge-
nauer: ist der wichtigste Geldgeber
dieser ungemein aufwendigen, rein
privat finanzierten Ausstellung na-
mens Dimensions, die in dieser Woche
eröffnet wird (bis zum 9. Juli). Das
Geld stammt von der geheimnisum-
witterten Firma Palantir aus Colora-
do, einem »der umstrittensten Unter-
nehmen der Welt« (Spiegel), bei
Gründung von der CIA mitfinanziert,
als Datenanalyst für Nachrichten-
dienste und Militärs weltweit gefragt.
Und jetzt, in Leipzig, erstmals als
Hauptförderer einer Kunst-Großaus-
stellung engagiert, eingefädelt vom
Kulturunternehmer Walter Smerling.
Auf den ersten Blick eine etwas
vordergründige Inszenierung: Big-
Data-Firma tritt als Sponsor auf –
und zu sehen gibt es was? Digital-
kunst jeder Größe und Güte, aufge-
baut in der Ruine einer Werkzeug-
fabrik, damit alle gleich begreifen,
wie es gemeint ist: Hier blüht ein
neues Morgen im Alten, digital, krea-
tiv und so weiter. Doch ganz so blöd
ist es nicht. Denn neben Refik Ana-
dol, Lu Yang und anderen Stars der
Digitalszene greift die Ausstellung
weit zurück in die Geschichte der
Kunst. Sie zeigt, dass sich schon im
19. Jahrhundert viele Künstler für all
keit dann, der Selbstekel, die Scham: »Und
du kannst dich nirgends beschweren, weil
du dann ja dastehst wie ne Prostituierte.«
Immer wieder wendet sich der Erzähler
an seinen Freund, der müsse was tun. Zeigt
ihm eine SMS des Chefredakteurs, die er
nachts an eine junge Mitarbeiterin schickte:
»Noch wach?« Doch der mächtige Freund
ist skeptisch. Erstens braucht er den Chef-
redakteur ja als Kämpfer gegen die linke
Welt da draußen. Zweitens verlangt er –
nachvollziehbar – gerichtsfeste Belege, Be-
weise, Screenshots, Klarnamen. Dem echten
Julian Reichelt konnte bislang kein miss-
bräuchliches Verhalten nachgewiesen wer-
den, und er bestreitet die gegen ihn erhobe-
nen Vorwürfe.
Als es schließlich im Roman – wie im
echten Leben bei Springer – doch zu einem
Compliance-Verfahren kommt, beschreibt
Stuckrad-Barre, warum es auch hier kaum zu
gerichtsfesten Ergebnissen kommen konnte.
In einem Haus, in dem eine Chefanweisung
als eine Art Kriegsbefehl fungiert, herrscht
kein Klima, das zur Offenbarung intimer
Geschehnisse einlädt. Und sei die Geheim-
haltung noch so garantiert. Die Compliance-
Beauftragten haben sich im achten Stock des
Turms eingerichtet. Natürlich weiß sofort das
ganze Haus, wer gerade »in den achten« ge-
fahren ist. Um dort, davon kann man aus-
gehen, den Chef anzuschwärzen.
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
FILMINDUSTRIE
Wird Hollywood
stillstehen?
In den USA droht ein
Streik der Drehbuchautoren
Scarlett Johansson und Penélope
Cruz fehlt der Schlussdialog für ihre
demnächst in Produktion gehende
130-Millionen-Dollar-Netflix-Ko-
mödie. Die Dreharbeiten zu Serien
und Filmen werden für unbestimmte
Zeit unterbrochen. TV-Shows wie
Saturday Night Live gehen die Witze
aus – das könnte nach dem 1. Mai
geschehen, wenn die Writers Guild
of America ihre Drohung eines
Arbeitskampfes umsetzt. 97,85 Pro-
zent der gewerkschaftlich organisier-
ten Drehbuchautorinnen und -auto-
ren, so vermeldet es die Writers
Guild auf ihrer Website, haben einer
Arbeitsniederlegung zugestimmt,
sollten die großen Studios, TV-Sen-
der und Streamingportale nicht ihrer
Forderung nach besserer Bezahlung
nachkommen. Trotz einer explodie-
renden Nachfrage nach visuellen
Formaten jeglicher Art hätten sich
die Honorare der Autoren seit Jahren
nicht erhöht und seien effektiv sogar
zurückgegangen. Zum Lohndum-
ping-Komplex gehören beispielswei-
se sogenannte Mini-Rooms – Auto-
rengruppen, die bei geringer Bezah-
lung für eine Serien- und Filment-
wicklung angeheuert werden, bevor
das begeistern konnten, was zu ihrer Kollegen Jan Hiesserich und Paula es dafür einen festen Auftrag gibt.
Zeit so an Techniken der Welterkun- Cipierre) ein vieldeutiges Buch heraus: Der Monsterschlund des Contents,
dung entwickelt wurde, für Fotogra- Von Artificial zu Augmented Intelligence so scheint es, bringt sein eigenes
fie, Hologramme, Filme. Die Kunst – Was wir von der Kunst lernen können, Schreib-Prekariat hervor. Den streik-
war in gewisser Weise schon immer um mit Software die Zukunft zu gestal- willigen Autoren steht eine einge-
digital, immer fortschrittsfroh. Das ten (Campus Verlag). Einen Weg »aus bunkerte Industrie gegenüber: Die
will uns die Ausstellung erzählen. der selbst auferlegten Unmündigkeit« großen US-amerikanischen Medien-
Künstler, das waren die Mittler zwi- wollen Karp und Co. aufweisen, plä- unternehmen haben im Konkur-
schen Geist und Technik. dieren kurzerhand für eine »neue digi- renzkampf der letzten Jahre auf
Als solche, nämlich als Brücken- tale Aufklärung«. Und es ist vor allem kopfloses Wachstum gesetzt und
bauer, werden sie denn auch von Ale- die Kunst, die es in ihren Augen rich- sehen sich nun von ihren Aktionären
xander Karp gepriesen, dem CEO ten soll: Ihre Ambiguität wird zum zu Einsparungen verdonnert.
von Palantir, einem intellektuellen Gegengift einer totalitären, weil total Zuletzt gab es einen solchen Streik
Feuerkopf. Erst studierte er Jura in ausrechenbaren Digitalwelt. Einmal im Jahr 2007 – er dauerte hundert
Stanford, dann promovierte er in mehr soll die Kunst uns herausreißen Tage. Allein die Wirtschaft von Los
Frankfurt über »Aggression in der aus dem Vorhersehbaren, soll verhin- Angeles verlor dadurch laut New York
Lebenswelt«. Seine Doktorarbeit wur- dern, dass die Welt an sich selbst, am Times 2,1 Milliarden Dollar. Einer der
de von Jürgen Habermas mitbetreut. eigenen Kontrollwahn, erstickt. berühmtesten Kollateralschäden jenes
In Interviews erzählt Karp heute, er Ist das nur seltsam? Oder eine Arbeitskampfes damals war die Pro-
betrachte sich »eher als Künstler denn spezielle Form von Selbstangst? Ein duktion des James-Bond-Films Ein
als Geschäftsmann«. Und die Kunst, Unternehmen wie Palantir, von dem Quantum Trost. Der Regisseur Marc
stellt sich heraus, gilt ihm als eine Art Versprechen lebend, es könne alles Forster musste die Dreharbeiten ohne
Geheimmacht, als »Zugang zum kol- und jeden durchschauen, preist am ein fertiges Script beginnen. Jahre
lektiven Unterbewusstsein einer Ende das Undurchschaute, Ambiva- später erzählte er, dass er sich überlegt
Gesellschaft und insofern zu Ideen, lente, den künstlerischen Kontroll- habe, aus dem Bond-Movie einen
die heute vielleicht nur von wenigen, verlust. Und überhaupt die Idee einer Rachefilm im Stil der Siebzigerjahre
übermorgen aber von allen verstan- disruptiven Avantgarde. Während zu machen, mit viel Action, vielen
den werden und aus denen dann un- sich also andere, politisch konstrukti- Schnitten und wenigen Worten.
sere Zukunft erwächst«. ve Teile der Kunstszene gerade um Doch das Drehbuch wurde nach
Das mag man für Sponsorengerau- klare Botschaften bemühen und sich Ende des Streiks nachgeliefert. Und
ne halten: »Kunst befreit das Denken«, allzu große Ambiguität verbitten, Bonds Chefin M, gespielt von Judi
schreibt Karp, »Kunst ist Antrieb. weil Ambiguität nur Missverständ- Dench, konnte zu ihrem Agenten 007
Kunst ist Freiheit.« Allerdings ist es nisse schüre, hat der gute alte erlösen- dann doch noch wunderbar therapeu-
mehr als nur Koketterie, wenn er sein de Kunstglaube wieder eine Heimat tische Sätze wie diesen sagen: »Ich
Unternehmen eine »colony of artists« gefunden. In Leipzig, in einer Fabrik- glaube, du bist so geblendet von
nennt. Erst vor einigen Wochen ruine. Unter der Schirmherrschaft untröstlicher Wut, dass es dir egal ist,
brachte Karp (zusammen mit seinen einer neuen Macht. wen du verletzt.« K ATJA NICODEMUS
Immer mehr Frauen wenden sich statt- ben wird, nachdem der Erzähler zusammen ger in der Tradition der frühen Anti-Bild-
dessen an den Erzähler. Er kann es selbst mit ihr den Kampf gegen den Chefredakteur Romanciers und -Reporter Heinrich Böll und
nicht ganz verstehen, wie er da reingeraten begonnen, Zeuginnen versammelt und Günther Wallraff als in der eines Klaus Mann,
ist, und wundert sich: »War ich für sie etwa Strategien überlegt hat, erschüttert ihn sehr. des glühenden Gottfried-Benn-Anhängers,
DIE MORAL oder was? Was für eine Fehl- Aber nicht so sehr, dass er an Sophia irre Junkies und Ästhetizisten, der zärtlich ichver-
besetzung!« Und der Leser wundert sich mit. wird. Er hat das System der Unterwerfung zaubert mit 26 Jahren seine erste Autobiografie
Wie bitte? Ausgerechnet Stuckrad-Barre? im Turm verstanden. Er will den Turm stür- verfasste und später, unter dem Druck der Ver-
Der Junkie, der in seinem bisherigen Werk zen sehen. Er weiß sehr gut: Der Turm, das hältnisse, zu einem hochmoralischen Verant-
selbstbewusst moralfrei die Welt in cool und ist auch die Welt da draußen. wortungsautor und Publizisten und Kämpfer
uncool teilte und Frau- So ist der Erzähler wurde, der das Meisterwerk Mephisto schrieb.
en oft nicht gerade ein- also aus Zufall, Liebe, Und: Nein. Das heißt nicht, dass wir den
fühlsam beschrieb? Der Hass und Eifersucht Nationalsozialismus mit dem Springer-Verlag
dem Autor so auffällig zum Moralisten und vergleichen. Wir wollen nur einen Autor
ähnelnde Erzähler gibt Kämpfer geworden. Ein beschreiben, der, unter dem Druck äußerer
Hinweise, wie es zu Moralist wider Willen. Verhältnisse, die er als Auftrag und Schreibnot-
dieser Fehlbesetzung Für den Roman ist das wendigkeit begreift, zu einem anderen wird.
kommen konnte, und gut. Diese Leidenschaf- Zumindest für eine Romanlänge.
seine Motive sind nicht ten sind einfach ein Wäre dieses Buch, von dem wir hier
so hell, wie sie zunächst ursprünglicherer, wahr- sprechen, ein Sachbuch mit namentlich
scheinen. Im Verlauf Stuckrad-Barre und Mathias haftigerer Antrieb als gekennzeichneten Zeugenaussagen und ge-
des Romans wird deut- Döpfner 2011 in Berlin eine aufgesetzte Moral. richtsfesten Belegen, würde der Turm noch
lich, dass er keineswegs Auch Rache an einem heute zu Staub zerfallen. Aber es ist nur ein
aus reinen Herzensgründen zum Frauen- frühen Gönner kann eine energiereiche lite- Roman. Der Turm steht.
beauftragten im Turm geworden ist. Er will rarische Kraftquelle sein, wie wir spätestens
vor allem aus Eitelkeit und Eifersucht unbe- seit Thomas Bernhards Holzfällen wissen. Benjamin von Stuckrad-Barre: »Noch wach?«
dingt, dass der Freund sich im Zweikampf Auch hilft es, selbst im Herz der Finsternis Kiepenheuer und Witsch. 384 Seiten, 25 Euro
um dessen Gunst für ihn, den Erzähler, und gewohnt zu haben, um sie beschreiben zu
gegen den Chefredakteur entscheidet. Und können. Ein Meister des exakten Mitschrei- Transparenzhinweis:
dann ist da noch: Sophia. Sie liebt der Er- bens unserer Wirklichkeiten ist Stuckrad Volker Weidermann ist seit Oktober 2021
zähler scheu und unausgesprochen. Dass sie immer schon gewesen. im Feuilleton der ZEIT.
mit diesem Schreckensmann geschlafen hat Und so steht auch der Roman des Schrift- Seit 2006 erscheinen seine Bücher auch im
und noch ein weiteres Mal mit ihm Sex ha- stellers Benjamin von Stuckrad-Barre weni- Verlag Kiepenheuer und Witsch
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
Alles so schön keimfrei hier
Warum die Künstler sich nicht mehr trauen, die Bürger zu erschrecken und den gesellschaftlichen Konsens aufzustören
D
ie Autonomie der Kunst war
das große Projekt der Mo-
derne. Ihr sollten durch
keine Moral Fesseln angelegt
werden. Der Künstler, das
Originalgenie, sollte gegen
jeden guten Geschmack ver-
stoßen dürfen, er sollte die moralischen Konven-
tionen seiner Zeitgenossen testen, das war seine
job description. Edel, hilfreich und gut zu sein war
eine Forderung, die für den Philister galt, nicht für
den Künstler. Der war für den Skandal, das Zwei-
deutige, das Dämonische zuständig. Ein Freigeist
– so wie im 18. Jahrhundert in Frankreich der Aus-
druck »Philosoph« Synonym war für Libertin:
jemanden, der sich nicht an den sexuellen Moral-
kodex der Gesellschaft hält.
Als kehrten wir zurück in den Viktorianismus des
nun wiederum 19. Jahrhunderts, hören die Künstler
seit einigen Jahren auf, von diesem Freifahrtschein
Gebrauch zu machen. Die Künste werden immer
stärker auf die neueste Moral der Gegenwart fest-
gelegt, damit ja niemand an ihnen Anstoß zu nehmen
braucht. Zum einen betrifft das das kulturelle Erbe:
Wo die Moralvorstellungen der Gegenwart und der
Vergangenheit zu weit auseinanderklaffen, wird
korrigierend in die Überlieferung eingegriffen. Dann
verzichtet eine niederländische Übersetzung von
Dantes Göttlicher Komödie auf jene Passagen, die
in nicht wertschätzender Weise vom Propheten
Mohammed handeln (der bei Dante mit anderen
Glaubensspaltern in der Hölle schmort). Oder Mark
Twains Roman Tom Sawyer und Huckleberry Finn
wird um das berüchtigte N-Wort bereinigt. Um
Retraumatisierungen zu verhindern, werden an
amerikanischen Universitäten literaturwissenschaft-
liche Seminare über Ovids Metamorphosen mit Trig-
gerwarnungen versehen, weil der römische Dichter
von der Jungfrau Daphne berichtet, die sich den
Nachstellungen durch Apoll nur entziehen kann,
indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandelt. Die
Metamorphosen gehörten in den Giftschrank, weil sie
Ausdruck der rape culture seien. Und an die Berliner
Gemäldegalerie ergeht der Aufruf, Caravaggios
berühmtes Gemälde Amor als Sieger, das einen nack-
ten, sehr appetitlichen Knaben mit geradezu drauf-
gängerischem Geschlechtsteil zeigt, abzuhängen, weil
es Pädophilie verherrliche. Man fühlt sich an die Zeit
der Gegenreformation erinnert, als die Kirchenfürs-
ten in ihren Kunstsammlungen für Ordnung sorgten
und damit begannen, die sinnlichen Geschlechts-
teile auf ihren Renaissance-Gemälden und Skulptu-
ren mit Zweigen, vulgo: Feigenblättern, zu bedecken.
Zum anderen wird die zeitgenössische Kunst-
produktion immer mehr in den Dienst der Reprä-
sentation genommen. Das Zauberwort heißt
Diversity, und keine staatlich subventionierte Kunst-
anstrengung verzichtet darauf, diesen modernen
Gesslerhut zu grüßen: Wenn nur genügend PoCs,
People of Colour, in einer Kunstausstellung oder
Titelthema: Wie frei ist die Kunst noch?
Anstand nun auch in der Schule von Fontainebleau: »Gabrielle d’Estrées und ihre Schwester im Bad«, 1594 und 2023
Theateraufführung vorkommen, dann sind alle be-
ruhigt, und es darf mit dem Segen des Antirassismus-
beauftragten und den Sponsorengeldern der Diver-
sity-Verantwortlichen der Konzerne gemeinschaftlich
gefeiert werden. So geht Nestwärme heute.
Ziel ist es nicht mehr, ästhetisches Neuland zu
betreten, sondern alle öffentlich akklamierten Iden-
titätsgruppen ins Bild zu setzen – wie früher bei
einem Dorfumzug, wo auch alle Stände und Gilden
vertreten sein mussten. Heute lautet die zentrale
Frage nicht mehr: Was hat einer zu sagen? Sondern:
Wer spricht? Beziehungsweise: Wer darf über was
sprechen? Die Sprecherposition ist der Passierschein.
Darf Scarlett Johansson eine Transperson spielen?
(Natürlich nicht!) Darf sich Jeanine Cummins, eine
junge weiße amerikanische Schriftstellerin, in das
Leid mexikanischer Flüchtlinge hineinversetzen?
(Besser nicht – wie nach einem kurzen, aber heftigen
Shitstorm dann auch Cummins’ eigener Verlag ein-
sah …) Darf eine weiße Musikerin mit Dreadlocks
auf einem Konzert für Fridays for Future spielen?
(Nur wenn sie sich ihre Dreads abschneidet.)
Früher war es ein Ritterschlag,
boykottiert zu werden
Der außerkünstlerische Maßstab ist in all diesen
Fällen die Identität. Sie ist die heilige Kuh, vor der
alle das Knie beugen. Da sind keine Frivolitäten
erlaubt. Niemand will hier bei einer Blasphemie
erwischt werden. Deshalb legen Schriftsteller ihre
Manuskripte sogenannten Sensitivity-Readern vor,
die überprüfen, ob der Roman auch so geschrieben
ist, dass die Gefühle etwaiger Minderheitengruppen
nicht verletzt werden. Was gibt den Sensitivity-
Readern ihre Kompetenz und moralische Autorität?
Nun, es ist natürlich wieder die Identität, die zu
einem umso mächtigeren Phantasma aufgebläht wird,
je mehr die westlichen Gesellschaften angeblich divers
und fluide werden. Wer sich öffentlich äußert, gilt
als Stimme einer bestimmten kollektiven Gruppe,
nicht mehr als eigensinniger Denker mit einer alle
überraschenden Meinung zu den Dingen. Es ist,
als wären unsere Gedanken nur mehr ein Ausfluss
unserer Identitäts-DNA. So wie man früher unter
Marxisten nach dem Klassenstandpunkt fragte, ent-
scheidet heute die Identitätszugehörigkeit über das
Gewicht eines Arguments. Der Machtkampf der
Redeordnungen hat sich auf die Hinterbühne ver-
schoben, wo darüber entschieden wird, welche bio-
grafische Konstellation als marginalisiert und damit
als diskursmächtige Sprecherposition gelten kann.
Für die Kunst ist das eine absurde Situation, denn
sie wollte ja genau diese Kategorien sprengen. Die
eigene Herkunft, das eigene Sein zu transzendieren
war einer ihrer höchsten Ansprüche. Die Indivi-
dualität des Künstlers ließ sich nichts vorschreiben,
schon gar nicht ließ er seine Kunst durch kollektive
Gruppen in Anspruch nehmen. Als der Burgschau-
spieler Gert Voss 1990 in einer Inszenierung von
FEUILLETON
George Tabori Shakespeares Othello verkörperte mit
tiefschwarz geschminktem Gesicht, war das ein
künstlerisches Großereignis, nicht die anstößige An-
eignung fremder Hautfarbe und Leidenserfahrung.
Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit fremdem
Leid war aufregend, gerade weil es nicht die eigene
Erfahrung war. Heute würde das kein Theater mehr
wagen, weil die Sache mit dem Schlagwort »Black-
facing« einen Shitstorm auf Twitter auslösen würde
und damit erledigt wäre.
Doch es bleibt ein Trost: Seit die Diversity-
Beauftragten darauf achten, dass identitätspoli-
tisch alles hübsch sauber sortiert ist, hat die Kunst
wieder die Chance, anstößig zu sein. Was könnte
ihr Besseres passieren? Das wäre zumindest die
hoffnungsvolle Dialektik.
Denn eigentlich müssten wir ja in einem goldenen
Zeitalter für eine wilde, rebellische und subversive
Kunst leben. Endlich gibt es wieder Konventionen,
Sprachregelungen, Verbotsschilder, die richtige Moral
und Sitte, gegen die verstoßen werden kann – und
als Träger der Fortschrittsmoral ein Justemilieu, eine
Öffentlichkeit der Rechtschaffenen und Wohlgesinn-
ten, die sich auch bereitwillig provozieren lässt. Bes-
ser geht’s ja eigentlich gar nicht!
Erinnern wir uns: In den Achtzigerjahren war das
höchste der Gefühle, was einem Künstler widerfahren
konnte, dass er wie Dieter Hildebrandt und seine
Kabarett-Sendung Scheibenwischer durch den Baye-
rischen Rundfunk boykottiert wurde – das war der
Ritterschlag, die Feuertaufe, der ultimative Relevanz-
Nachweis: Unsere Kunst ist so unbequem, dass einer
staatsnahen, öffentlich-rechtlichen Institution nichts
Besseres einfällt, als den Stecker zu ziehen.
Dann kamen die postmodernen Neunziger- und
Nullerjahre mit ihrem anything goes: Kein Schocker
vermochte noch irgendjemanden hinter dem Ofen
hervorzulocken, das Abonnementpublikum der
Stadttheater (lange von den Originalgenies des Regie-
Theaters für seine Fixierung auf das sittlich Wert-
volle verhöhnt) nickte mit buddhistischem Gleich-
mut jede Blut-und-Sperma-Orgie auf der Bühne ab.
Es war überhaupt keine Provokation mehr denkbar,
die vom progressiven Bürgertum nicht jovial umarmt
worden wäre. Für die Künstler war das die Hölle – als
würden sie in ihrer Kunstzelle gegen lauter Gummi-
wände rennen. Épater le bourgeois, den Bürger von
den Socken hauen – mit diesem Schlachtruf hatte
doch einst die künstlerische Moderne ihren hero-
ischen Aufbruch gefeiert.
Verzweifelt zitierten die Künstler in den Neunzi-
gerjahren den diktaturerprobten Dramatiker Heiner
Müller, der mit dem ihm eigentümlichen verspielten
Ingrimm festgestellt hatte: »Und natürlich ist eine
Diktatur für Dramatiker farbiger als eine Demokra-
tie. Shakespeare ist in einer Demokratie undenkbar.«
Denn wo jederzeit staatliche Repression droht, da
müssen die Künstler ins Risiko gehen. Es geht um
was, es sind keine Übungen in Gratismut. Große
Kunst braucht Widerstand, sonst wird sie beliebig.
Und genau das war das Schicksal der Künste in den
postmodern-verspielten, den frivolen Nullerjahren:
abgeklärter Ennui, wohin man auch schaute.
Von diesem Zustand des liberalen Ennuis sind die
Künste irgendwann in den vergangenen zehn Jahren
erlöst worden. Und zwar in einer gewaltigen
180-Grad-Drehung: Heute genügt schon oft, um
den Buchtitel des Spiegel-Redakteurs René Pfister zu
zitieren, »ein falsches Wort«, um einen Sturm der
Entrüstung zu ernten. Wie im 19. Jahrhundert gibt
es wieder eine Moral, und wer gegen sie verstößt, wird
erst in den sozialen Medien geächtet und dann meist
von seinen Vorgesetzten im Regen stehen gelassen.
Die Verhinderung von Kunstaufführungen, einst
der feuchte Traum aller unter der Postmoderne lei-
denden Staatskünstler, ist heute wieder eine reale
Option. Es gibt sogar ein neues Wort dafür: »Deplat-
forming«. Da reicht es, an einer Universität einen
Vortrag anzukündigen, weshalb es in der Biologie
zwei Geschlechter gibt – die Folge sind nicht etwa
erregte Diskussionen zur Sache, sondern die Absage
der Veranstaltung durch die Universitätsleitung, weil
offensichtlich schon die Diskussion selbst nieman-
dem zuzumuten ist.
Und selbst das gute alte Mittel der Inquisition,
das Autodafé, die Bücherverbrennung, feiert fröh-
liche Urständ: Einstige Harry-Potter-Fans ver-
brennen mit glühenden Augen die Bücher ihres
früheren Idols, weil sie J. K. Rowlings Position zur
Frage, was eine Frau ist, als transphob empfinden.
Oder der Fall von Wolfgang Koeppens Roman
Tauben im Gras: Eine schwarze Lehrerin in Baden-
Württemberg kündigt ihren Beruf, weil sie anders
gezwungen wäre, über ein Buch zu diskutieren, in
dem im historischen Kontext das Wort »Neger«
vorkommt – und zwar in erlebter Rede, ein Mittel,
zu dem Wolfgang Koeppen griff, um den Rassis-
mus der Nachkriegsbundesrepublik zu entlarven,
der gewissermaßen nahtlos von den Juden auf die
Schwarzen als Zielscheibe übergegangen war!
Man möchte also meinen: Gute Zeiten für die
Kunst – sie lässt niemanden mehr kalt.
Heute nimmt man sich im Zweifel
lieber dezent zurück
Aber das ist leider zu hoffnungsfroh: Tatsächlich
ist eher ein Konformismus ausgebrochen, ein
Gleichlaut, als hätten alle Gleichstellungsbeauf-
tragten der Kommunalverwaltungen und alle
Heads of Diversity der Großkonzerne die Spiel-
pläne der Theater, die Phrasen der Künstler auf
den Vernissagen, die Themen der Autoren kura-
tiert. Überhaupt die Karriere des Worts kuratieren:
Die Kunst ist unter Kuratel gestellt.
Aber es ist keine Repression von oben, sondern es
ist die Selbstzurücknahme aus der Mitte der Zivil-
gesellschaft. Deshalb hat das progressive, das woke
Lager recht, wenn es sich lustig macht über den
Begriff der Cancel-Culture. Dies sei, wie Adrian
47
Montage: DZ (verw. Foto: Erich Lessing/akg; Detail eines anonymen Gemäldes aus der Schule von Fontainebleau, um 1594)
VON IJOMA MANGOLD
Daub in seinem Buch Cancel Culture Transfer: Wie
eine moralische Panik die Welt erfasst erklärt, nur eine
Kampfvokabel von rechts. Sie sei ein Phantom, denn
natürlich könne jeder sagen, was er wolle – er müsse
dann halt akzeptieren, dass er Gegenwind erfährt.
Und ansonsten gilt: Jetzt seien halt mal die anderen
dran, die Nicht-Heteronormativen – wobei Nicht-
Heteronormativität zur neuen Norm wird.
Und es stimmt: In diesem Land, im Westen ins-
gesamt, darf jeder sagen, was er will, niemand wird
hinter Gitter gesperrt, nur weil er nicht gendert. Wir
leben nicht in einer Stasi-Diktatur, der Zensurdruck
geht nicht vom Staat aus. Kein Autor wird gezwun-
gen, sein Manuskript einem Sensitivity-Reader
vorzulegen, sie tun es freiwillig. Auch Scarlett Johans-
son hat »freiwillig« und öffentlich reumütig einge-
räumt, dass es keine gute Idee gewesen sei, eine Trans-
person spielen zu wollen. Es ist die Hasenfüßigkeit,
die für den Konformismus sorgt.
Diversity ist ja keineswegs ein Ausdruck von Sub-
version, sondern es ist die Ideologie der Macht und
des Kapitals. Es sind die größten Weltkonzerne, die
sich Diversity auf die Fahnen geschrieben haben, und
es sind die Verwaltungen und Gremien der staatlichen
und halbstaatlichen Institutionen, die über ihre
Durchsetzung wachen, also die, die öffentliche Mit-
tel oder Sponsorengelder zu vergeben haben.
Woher kommt dieses Bedürfnis nach formierter
Moral? Die tiefe Befriedigung, die es auslöst, wenn
alle dasselbe Vokabular verwenden und durch den
Gebrauch bestimmter Schlüsselwörter ihre Gesin-
nung ins Schaufenster stellen? Da lässt sich nur spe-
kulieren. Vielleicht hat uns Social Media zu unserem
Erschrecken vor Augen geführt, wie heterogen die
Menschen in Wahrheit sind, und diese tatsächliche
Verschiedenheit (die man nur so lange gepriesen hat,
wie sie ein theoretisches Phantom war) soll nun durch
ein großes sprachsymbolisches Pädagogik-Programm
gezähmt werden. Als hätten die Funktionseliten
Angst, dass ihnen sonst alles um die Ohren fliegt.
Halten wir fest: Abweichung haut die Menschen
nach wie vor um. Es verschlägt den Leuten regelrecht
den Atem, wenn sie mit etwas konfrontiert werden,
was in ihrer Bubble »gar nicht geht«. Wenn Juli Zeh
zusammen mit Simon Urban einen zugegeben pla-
kativen Gesellschaftsroman vorlegt, der quer zur
öffentlich-rechtlichen Einnordung steht, dann geben
sich alle entgeistert – wie die Autorin einen so
schlechten Roman habe schreiben können! Und
wenn Uwe Tellkamp in einem Roman seine abwei-
chende Lesart der gesellschaftlichen Konfliktlinien
unserer Zeit ausbreitet, dann schnappt die Öffent-
lichkeit so nach Luft wie jene Eltern in Florida, die
gerade dafür gesorgt haben, dass ein Schulleiter seinen
Stuhl räumen musste, weil im Kunstunterricht
Michelangelos nackter David gezeigt worden war.
Kurz: Die Leute lassen sich wieder schocken.
Liebe Künstler, nutzt diese Chance, das ist euer Job!
! www.zeit.de/vorgelesen
48 FEUILLETON 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

GRAND SLAM
Foto: Christian Schulz; Illustration: Joni Majer für DIE ZEIT (r.)

Neun Schluck
Wasser
Um etwas Großes zu erreichen, setze ich auf
Sommeridyll an der Ostsee: Leon (Thomas Schubert) und Nadja (Paula Beer) Aberglauben. Es funktioniert! VON ANDREA PETKOVIĆ

Ich bin kein religiöser Mensch. Ich leide aber Gemütszustand empfinde. Ich hatte sechs ver-
unter magischem Denken. Nicht Astrologie oder schiedene Gemütszustände allein beim Einspielen,

Der Stoff, der uns retten

Hexenwerk, Liebestrank oder Zauberstabwedeln, und das ist nicht der einzige Unterschied zwischen
eher Dinge wie: erst rechte Socke, dann linke mir und Roger Federer.
Socke, sonst Unglück. Ich nenne es »pragmati- In dem Jahr, als ich das Viertelfinale der US
sches magisches Denken«. Open erreichte, war ich am Tag vor meiner

könnte: Gesammelte
Schon als Tennisspielerin konnte ich mich
einem gewissen Aberglauben nicht entziehen. Ich
trug die gleiche Kleidung beim Warmspielen,
trank im Seitenwechsel immer genau neun
ersten Runde im MoMA gewesen. Ich stand
vor Jackson Pollocks Drip-Painting One: Num-
ber 31 und versuchte, das Bahnbrechende da-
ran zu entdecken. Ich weiß nicht, wie lange ich

Erfahrung, Liebe, Mitgefühl

Christian Petzolds leichtfüßig ernster Film »Roter Himmel«
Irgendwas stimmt nicht. Zwei junge Männer fah- der Wald in hellen Flammen steht, wirkt irreal;
ren durch einen Wald. Kein Mensch weit und Leon nimmt sie nicht zur Kenntnis.
breit, nur ein Wildschwein quiekt, ein Flugzeug Aus der Fassung bringen ihn dagegen die Mü-
düst über die Wipfel. Plötzlich gibt das Auto cken und die Anwesenheit eines Überraschungs-
dampfend den Geist auf, und natürlich: Das gasts. Nadja, ungewohnt bodenständig gespielt
Handy ist off. Es könnte der Anfang einer dieser von Petzolds Undine-Darstellerin Paula Beer, ist
amerikanischen Hinterwäldler-Horrorfilme sein, eine schöne, freundliche junge Frau, die tagsüber
in denen Jugendliche in Partystimmung zur Hölle auf der Strandpromenade Eis verkauft, nachts
geschickt werden. Aber die Musik ist auf einer vitalen Sex mit dem lokalen Rettungsschwimmer
anderen Spur unterwegs: In My Mind, ein sehn- Devid hat und mit ihrem immer gleichen roten
süchtig-hingetupfter Song der österreichischen Kleid im Grün der Umgebung leuchtet wie ein
Band Wallners. Und die Bäume spiegeln sich recht Fliegenpilz. Leon, möchte man sagen, gehen die
verträumt in einer Autoscheibe, dahinter das Augen über.
müde, grantige Gesicht des Protagonisten. Es entfaltet sich ein entspanntes kleines
Wir sind, nach dem Wassermärchen Undine, Sommeridyll, fast französisch in der Betrach-
im neuen Film von Christian Petzold, einmal ge- tung der »Dinge des Lebens«: Essen, Trinken,
plant als Mittelteil einer Trilogie zu Motiven der Plaudern, Baden, Flirten. Alle haben Spaß,
literarischen Romantik. In den drei Jahren, die kümmern sich umeinander, verstehen es, sich
zwischen den Berlinale-Premieren von Undine mit dem Unbequemen zu arrangieren – bis auf
und Roter Himmel liegen, sind wir mit Pandemie, den Protagonisten. Der Österreicher Thomas
Klimakatastrophe und Krieg den letzten Tagen Schubert, 2011 bekannt geworden als ver-
der Menschheit näher gerückt – das frühbürger- schlossener jugendlicher Freigänger in Atmen,
liche 19. Jahrhundert scheint heute sehr weit weg. porträtiert diesen Leon mit einem fabelhaften
Für die Romantik-Verbindung spricht aller- Arsenal unleidlicher Gesichtsausdrücke als em-
dings der Drang des Films ins Freie, in eine pathiefreien Wichtigtuer, der berechtigte Zweifel
Natur, von der man nicht so genau weiß, ob an sich mit dünkelhaften, klassistischen Aus-
man sie heimelig oder unheimlich finden soll. fällen überspielt – gegen die Eisverkäuferin,
Der Schauplatz ist ein Ferienhaus, das noch im den Bademeister, eine Hotelangestellte. Exter-
dichten Wald, aber nur einen Spaziergang weit ne Reize verarbeitet der Mann nur, wenn sie
vom Ostseebad Ahrenshoop entfernt liegt. Hier sich in sein privatliterarisches Weltbild inte-
will Leon, ein intellektueller Berliner in den grieren lassen. Viel Platz ist da nicht.
Zwanzigern, seinem zweiten Roman den letz- Mit seinem untragisch scheiternden, oft
ten Schliff geben; auch sein Freund Felix, des- ziemlich komischen Helden und der warmen
sen Mutter das Haus gehört, hat zu tun. Als die grüngoldenen Farbpalette (Kamera: Hans
beiden ankommen, steht das verwunschene Fromm) ist Roter Himmel einer der unterhal-
Häuschen sperrangelweit offen – Licht dringt tendsten Filme von Christian Petzold. Wann
ein, Vogelzwitschern, Insektengeräusch. Die haben bei ihm schon mal fünf Leute plaudernd
Information, dass dreißig Kilometer entfernt um einen Tisch gesessen? Aber etwas stimmt
VON SABINE HORST
eben nicht, und auf den Spuren der Romanti-
ker ist der Film auch darin, dass er der bürger-
lichen Normalität nicht traut. Der Waldbrand,
der schließlich den Himmel färbt, die Sommer-
gesellschaft zersprengt und Leon einen ster-
benden, schmauchenden Frischling vor die
Füße wirft, ist zugleich konkret und metapho-
risch zu verstehen. Als gedreht wurde, Mitte
2022, brannte es in England, Frankreich, dem
deutschen Osten – Symptom einer langen Krisen-
geschichte, für deren Ende es nur noch abs-
trakte Begriffe gibt, Aussterben, Auslöschung,
etwas in der Art.
Bei erhöhter Betriebstemperatur ist Roter
Himmel nicht weniger gegenwärtig als Petzolds
kühle Betrachtungen von Macht und Politik in
Barbara oder Yella. Leon, der Nörgler, ist die
Chiffre für ein gut situiertes, kulturaffines, all-
zeit diskursbereites deutsches Großstadtmilieu,
das sich mit sich selbst beschäftigt, während die
Welt auf dem Höllentrip ist. Das heißt nicht,
dass der Autor Petzold der Bildung, Kunst, Li-
teratur eine Absage erteilt. Denn sein Drehbuch
ist eine regelrechte Erzählmaschine – rund um
den in Formeln sprechenden und schreibenden
Leon, der für die Stimmungslage und den
Schmerz anderer keinen Blick hat, wird rezitiert
oder ins Blaue fabuliert: vom Heine-Gedicht
über eine Fotostory, die der Freund fast im
Vorbeigehen am Strand zusammenstellt, bis
zur grandiosen, bizarren Anekdote um einen
Seitensprung, einen bärtigen Mann und ein
magisches »Schwulen-Spray«.
Was Leon erst lernen muss, weiß der Film.
Kunst ist eine commodity, eine Ware, die das
Leben in der Krise erträglicher macht. Aber
sie enthält den Stoff, der uns retten könnte:
gesammelte Erfahrung, Liebe, Mitgefühl.
Schluck, weil ich am neunten September geboren
wurde, duschte in der gleichen Weise und Ab-
folge. Solche Dinge: pragmatisches magisches
Denken. Denn ist es noch Aberglaube, wenn es
funktioniert?
Ich versuche Dinge zu kontrollieren – gaukle
mir vor, Dinge zu kontrollieren, die nicht kon-
trollierbar sind. Wie meine Gegnerin auf der ande-
ren Seite des Netzes zum Beispiel. Oder wie ein
Leser oder eine Leserin meine Texte aufnehmen
könnten. Es gibt gewisse Dinge, die ich in der Hand
habe, meine Vorbereitung, meine Recherche, das
Trainieren meines Handwerks, aber das Resultat
liegt außerhalb meines Vermögens. Wenn meine
Gegnerin zu gut ist oder wenn ein Leser meine
Texte hasst. Was dagegen hilft, ist, sich zuerst die
rechte und dann die linke Socke anzuziehen. Rafael
Nadal ist sehr abergläubisch, Roger Federer über-
haupt nicht. Was zeigt: Zwei Wege führen zum
Erfolg, und ich habe zu fünfzig Prozent recht mit
dem, was ich tue.
Im Grunde genommen besteht das Ziel darin,
in den Flow-Zustand zu kommen. Dieser Zustand
ist das paradiesische Gefühl, wenn sich alles fügt,
wenn alle Bewegungen natürlich fließen, Gedanken
spärlich sind und immer Sinn machen, das reine
Unterbewusstsein ist am Werk. Er ist selten, dieser
Zustand. Routinen und Rituale helfen ihn heraus-
zukitzeln. Was er eigentlich ist: eine Art Selbstver-
gessenheit – in der wahrsten Bedeutung des Wortes.
Man vergisst, dass man ist, und existiert einfach nur
vor sich hin. Ein hundertprozentiges Vertrauen in
die Dinge, die man verrichtet, ein Urvertrauen, ein
Gottglaube, eine Schicksalsergebenheit im besten
Sinne. Ich bin überzeugt, dass die Besten der Besten,
die GOATs, wie wir sie heute nennen, die greatest
of all time, diesen Zustand willentlich hervorrufen
können. Unsereins, wir Sterblichen, müssen Socken
und Duschvorhänge in bestimmten Reihenfolgen
an- und zuziehen. Roger Federer sagte mal, dass er
vor jedem Spiel, egal ob erste Runde in Basel oder
Finale in Wimbledon, immer den exakt gleichen
An dieser Stelle erscheinen
im Wechsel vier Kolumnen. Lesen Sie nächstes Mal
»Von unterwegs gesendet« von Christine Lemke-Matwey
dastand, sehr lange. Es war eine schwierige
Phase für mich. Sonst renne ich halb glotzend,
halb fotografierend, heimlich Skulpturen an-
fassend durchs Museum wie jeder normale
Mensch auch. Am nächsten Tag gewann ich.
Also ging ich zurück. Und auch dann gewann
ich. So ging es weiter bis zum Tag vorm
Viertelfinale. Da dachte ich: Andrea, das
brauchst du nicht, das ist magisches Denken.
Prompt verlor ich. Ist es noch Aberglaube,
wenn es funktioniert? Deswegen nenne ich es
pragmatisches magisches Denken. Es funktio-
niert ja. Das Geheimnis des Bildes erschloss
sich mir übrigens nicht.
An Ostermontag war ich wieder im MoMA.
Ferien in Europa, um mich herum Italienerin-
nen und Franzosen, ein paar Deutsche mit
Sonnenbrille im Haar und roten Wangen.
Umhängetaschen überall, lange Schlangen vor
der Pinocchio-Ausstellung Guillermo del Toros.
Ich wusste, wo ich hinwollte. Etage vier, zu
Pollock. Diesmal begann ich zu verstehen. Ich
sah Form und Zielstrebigkeit im Chaos,
Schönheit in der Dreidimensionalität der
Farbschichten, vielleicht meinte ich gar den
Flow-Zustand entdeckt zu haben. Das Bild,
ein dumpfer Fiebertraum. Armer Pollock – mit
vierundvierzig betrunken gegen einen Baum
gefahren.
Ein paar Tage später kam die Deadline mei-
ner Kolumne in atemberaubender Geschwin-
digkeit auf mich zugerast. Wie schnell eine
objektiv messbare Zeiteinheit in subjektiver
Panik zerfallen kann! Ich befürchtete schon,
das Handtuch werfen zu müssen. Dann duschte
ich, trank neun Schluck Leitungswasser, zog
zuerst die rechte, dann die linke Socke an und
erinnerte mich an Jackson Pollock. Und es lief
trotzdem nicht. Irgendwann dann doch. Wenn
ich es jetzt erzähle, lasse ich den Teil des Nicht-
laufens weg. Pragmatisches magisches Denken.
Es funktioniert!

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man sich eigentlich nicht vorstellen.« Xaver von Cranach, Der Spiegel

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© Jonno Rattman

»Liest man Williams’ teuflische Kurzgeschichten,

ist die Hölle nie weit.« Wieland Freund, Welt am Sonntag
 DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
»Man möchte da unbedingt rein«
Gibt es das überhaupt, klimafreundliche Häuser? Der Schweizer Architekt Jacques Herzog über seine neuen
Pläne für das Berliner Museum der Moderne, den Wert der Schönheit und das Ende der Ikonen
DIE ZEIT: Herr Herzog, an Ihren ursprünglichen Plä-
nen für das gerade entstehende Museum der Moderne
in Berlin gab es viel Kritik, aus ästhetischen wie ökolo-
gischen Gründen. Nun haben Sie eine Umplanung vor-
gestellt. Was sind die Veränderungen?
Jacques Herzog: Zum einen wurde geklärt und präzi-
siert, welche Raumkonzeption und damit Klimazonen
es innerhalb des Gebäudes geben wird. Das können wir
als Architekten nicht selbst bestimmen, das muss von
der Bauherrschaft kommen. Diese Umplanung wird
den Energieverbrauch des Gebäudes wesentlich senken.
Zum anderen haben wir die Baumaterialien verändert.
Ein derartiges Museumsgebäude braucht schon Stahl-
beton, um die Qualität und Dauerhaftigkeit des Baus
garantieren zu können. Aber man kann den Anteil des
Stahlbetons reduzieren und gleichzeitig die Verwen-
dung recycelter Materialien so maximal erhöhen, wie es
geht. Das Dach wird nun eine einzige Fotovoltaikanlage.
Es ist ein Konzept, welches wir bereits viel früher ange-
dacht hatten und das nun in dieser sehr elementaren
Form realisiert werden kann, als Haus mit Satteldach.
Die untypische Form des Hauses wird jetzt noch deut-
licher erkennbar.
ZEIT: Reicht das aus, um das Museum, das nun maxi-
mal 470 Millionen Euro kosten soll, in ein klima-
freundliches Projekt zu wandeln?
Herzog: Kein anderes Projekt wäre in der Hinsicht besser
aufgestellt als das, was wir nun machen. Das ist keine
Entschuldigung, das sind Fakten. Architektur ist eine
Kunst des Potenzials, und das heißt: Du musst das
Potenzial, das ein Ort bietet, optimal ausnutzen. Kein
Firlefanz, keine Eitelkeiten, die zu Mehrkosten oder un-
nötigem Ressourcenverschleiß führen. Die Veränderun-
gen an der Planung sind für uns als Architekten auch
überhaupt kein Problem. Wir begrüßen sie. Wir denken
auch nicht im Stillen: Der Entwurf ist jetzt aber nicht
mehr so cool. Im Gegenteil. Wir haben uns sehr darüber
gefreut, als der Anstoß kam, diesen Bau noch wesentlich
nachhaltiger zu gestalten.
ZEIT: Die riesigen Tore an den Gebäudeseiten, die zu
dem spöttischen Spitznamen »Scheune« geführt haben,
sind in den veränderten Plänen verschwunden.
Herzog: Statt der Tore gibt es jetzt eine Raumsequenz,
die totale, fast boulevardhafte Durchwegung des Gebäu-
des ist verschwunden, doch man kann immer noch hin-
durchgehen. Wir haben die Zugänglichkeit des Gebäu-
des viel niederschwelliger gestaltet. Die Tore waren na-
türlich toll, um durch die Betonung der Öffnung eine
einladende Geste auszudrücken. Die Tore machten aber
nur Sinn mit deren elektronischer Bespielung mit Bil-
dern, und die war nicht mehr gewünscht. Eine solche
Entscheidung führt notwendigerweise dazu, dass man
Änderungen vornimmt, damit wieder etwas Kohärentes
entsteht. Wir haben die Eingänge nun viel tiefer und
breiter gestaltet. Das ergibt beinahe die Form eines Pano-
ramas und hat einen Effekt, den man im Schweizerischen
»gwundrig« nennen würde.
ZEIT: Gwundrig?
Herzog: Es macht neugierig. Man möchte da unbedingt
rein. In diesem Sinne ist das Gebäude auch sozial nach-
haltig, es soll Menschen anlocken.
ZEIT: Das ganze Kulturforum soll jetzt zu einer Ver-
längerung des Tiergartens werden, Straßen und Frei-
flächen zwischen Philharmonie, Gemäldegalerie, Neuer
Nationalgalerie und Ihrem Bau sollen begrünt werden.
Soll ein Park entstehen?
Herzog: Das haben wir schon bei unserem ursprüng-
lichen Wettbewerbsbeitrag vorgeschlagen. Unser
Konzept war von Anfang an eines der
Dichte, nicht der Leere.
Berlin ist ja
Abb. (Rendering): © Herzog & de Meuron/Katharina Sieverding/VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Der neue Entwurf fürs Berliner Museum der Moderne: Energieeffizienter und mit mehr Grün drumherum. Jacques Herzog, 73,
gründete 1978 das Büro Herzog & de Meuron mit, das heute für seine spektakulären Gebäude weltberühmt ist
FEUILLETON 49
schon relativ leer, gerade in diesem Zentrum. Men- Generationen hinweg erhält – dazu aber einen un- tur dabei ist, dass alles, was heute gebaut wird, vor fünf
schen aber versammeln sich nicht an Orten der Leere, glaublichen Energieaufwand betreiben muss. Der ge- oder zehn Jahren geplant wurde. Architektur ist lang-
an Nichtorten. Unser Konzept der Dichte sucht die schieht beim Bauen eines Museums und noch mehr sam und wird dafür abgestraft. Oft zu Unrecht, weil die
räumliche Nähe, um eine Verbindung zwischen den be- bei dessen Unterhalt durch die notwendige Klimatisie- technischen Mittel noch nicht ausgereift oder die ge-
stehenden, sich jetzt gegenseitig eigentlich nicht beach- rung der Räumlichkeiten. Das Museum kämpft buch- setzlichen und die ökonomischen Voraussetzungen,
tenden, fast autistisch wirkenden Bauwerken zu aktivie- stäblich gegen den natürlichen Zerfall der Dinge an, diese umzusetzen, noch nicht vorhanden sind.
ren. Die sind jedes für sich grandios, die Philharmonie die wir bewahren wollen. Wir tun das, weil wir etwa ZEIT: Wie verhindert man als Architekt, dass der mög-
von Scharoun, die Neue Nationalgalerie von Mies van Kunst einen Wert zuschreiben, der sie erhaltenswert liche Rückzug des Menschen vor einer zunehmend
der Rohe. Unser Gebäude fordert nun eine Beziehung macht. In dieser Wertschätzung spiegelt sich unsere menschenfeindlicher werdenden Natur dazu führt, dass
mit ihnen ein. Und es fordert die Begrünung der Au- Auffassung von Zeit und von Vergänglichkeit. wir quasi in die Höhlen unserer Urahnen zurückkeh-
ßenbereiche ein. ZEIT: Was hilft es aber, Kunstwerke auf Hunderte Jahre ren? Wie lässt sich auch künftig noch Schönheit in der
ZEIT: Nur ist ein Problem, dass die Umgestaltung der zu konservieren, wenn der Bau neuer Museen und ihre Architektur produzieren?
Außenflächen mit Berlin noch nicht geklärt ist. Klimatisierung gleichzeitig dazu führt, dass Menschen Herzog: Man setzt sich ja nicht hin und sagt sich: Und
Herzog: Niemand kann heute garantieren, dass es so es womöglich schon in wenigen Jahrzehnten klimatisch jetzt produziere ich mal Schönheit. Ich glaube nicht,
kommt in Berlin. Aber ich kann mir nicht vorstellen, nicht mehr aushalten in Städten wie Berlin? dass wir durch den technischen Wandel, der nun nötig
dass dieser Prozess aufgehalten wird. Denn es gibt Din- Herzog: Das ist die große Frage. Wenn wir die Kunst- ist, zwingend an Schönheit verlieren. Ich glaube auch
ge, die sind so offensichtlich, dass man sie gar nicht werke bewahren, den Planeten aber nicht, haben wir nicht, dass Schönheit erst durch den zivilisatorischen
anders denken kann. Wir müssen die Städte verändern. ein Problem. Fortschritt entstanden ist. Schönheit hat es immer
Man braucht an diesem Ort keine weiteren Perspekti- ZEIT: Sie haben immer wieder Gebäude für Gemein- schon gegeben, weil die menschliche Idee der Schön-
ven, keine weiteren Leerräume. Die Leere ist eine ab- schaftserlebnisse geschaffen, und ein solches ist es ja heit davon abhängt, wie wir etwas wahrnehmen. Bis vor
surde Vorstellung. Und die nützt ja nichts, wenn du auch, Kunst in einem Museum zu betrachten. Worin Kurzem bauten wir Architektinnen und Architekten
dich in den heißen Sommern der kommenden Klima- unterscheidet sich dieses Erlebnis für Sie auch in der noch ganz unschuldig mit Sichtbeton, und die Feuille-
katastrophe nicht mehr im Freien aufhalten kannst. Architektur, die es ermöglichen soll, gegenüber dem Be- tons waren voll mit ikonischen Gebäuden, die sich mit
Auch dafür braucht es die Begrünung. trachten von Sport in einem Stadion oder dem Hören Materialien ausdrückten, die heute tabu sind.
ZEIT: Lassen Sie uns ein wenig grundsätzlicher über von Musik in einem Konzertsaal? ZEIT: Sie haben als Büro genau solche ikonischen Ge-
Ihre Architektur sprechen: Sie haben im vergan- Herzog: Zunächst einmal hat sich die Museums- bäude gebaut – die Allianz Arena in München, die Elb-
genen Dezember auf einem Symposium architektur über die vergangenen Jahr- philharmonie in Hamburg, das Olympiastadion in Pe-
einen folgenreichen Satz gesagt:
Architektur sei »der physi-
»Das zehnte sehr stark entwickelt. Als
wir Ende der Achtziger-
king. Entlastet Sie die Entwicklung fort von diesem
Architekturverständnis nun? Oder verwundert Sie das?
sche Ausdruck der
Gesellschaft«. Dach wird eine einzige jahre die ersten Räu-
me für Kunst
Belustigt es Sie sogar?
Herzog: Es ist mir eigentlich wurst. Ich sage das viel-
Nun emp- machten, leicht ein bisschen provokativ, aber das Ikonische hat
finden viele vor
allem junge Menschen,
Fotovoltaikanlage« das Gebäude der
Sammlung Goetz in Mün-
ausgedient. Es gibt andere Probleme. Das heißt nicht,
dass nicht weiter Gebäude entstehen und andere Dinge,
dass sie wegen der Klimakata- Jacques Herzog chen, signalisierte das eine neue die ikonisch sind in dem Sinne, dass sie zu wichtigen
strophe die letzte Generation seien. Art, Kunst zu zeigen, in einer Form, bei Bildern werden für ihre Zeit. Diese wichtigen Bilder,
Kann Architektur diese geistige Verfassung der die Kunst wirklich zum Tragen kommt. Man diese wichtigen Orte, diese wichtigen Räume, von de-
überhaupt nachempfinden? darf nicht vergessen, dass die damals großen Museums- nen wir gesprochen haben, werden immer eine Rolle
Herzog: Die Architektur ist in dieser Hinsicht eigentlich architekten Hans Hollein und James Stirling waren. Mit spielen. Doch wenn das Ikonische eine Art Exzentrik
ohnmächtig. Das Bauen – und dazu gehört die ganze denen verband sich eine ganz andere, viel dekorativere meint, eine Art des noch nie zuvor Gesehenen: Ja, dann
physische Infrastruktur – ist eine der größten Ressour- Haltung, die wir überwinden wollten. Der Fokus lag ein- ist jetzt sicher nicht der Moment, solche Gebäude noch
cenverschwendungen. Nicht nur gemessen am CO₂- deutig auf der Verbindung von Mensch und Kunst. zu wollen, um sie anderen, ebenso exzentrischen trium-
Ausstoß, sondern auch am Abfall, der produziert wird Doch auch davon entwickelte sich das Museum wiede- phal gegenüberzustellen. Solche Bauten sind Ausdruck
durch Zerstörung, sei es durch Abbrüche, sei es gar rum weg, hin zu der Vorstellung eines Ortes, der zugäng- einer bestimmten Zeit gewesen, in der sich Möglich-
durch Kriege. Was derzeit in der Architektur geschieht, lich ist für alle. Das Museum wurde zu einem Ort, an keiten für sie eröffneten, weil die Politik und die Psy-
ist der verzweifelte Versuch, zumindest den CO₂-Ver- den du gehst, auch wenn du gar nicht Kunst anschauen chologie mancher Gesellschaften entsprechend waren.
brauch zu reduzieren. Man versucht, den Problemen möchtest, sondern an dem du eigentlich Menschen ZEIT: Herr Herzog, Sie sind mit 73 Jahren so alt, dass
mit technischen Mitteln zu begegnen. Doch die entste- triffst. Dafür war die Tate Modern in London sicher ein man Sie nach Ihrem Lebenswerk fragen kann und wie
hen letztlich dadurch, dass wir als menschliche Gesell- radikaler Gamechanger, denn da geht jeder hin, es ist ein Sie es betrachten. Ist Ihnen die Frage unangenehm?
schaft bauen; dass wir auf diesem Planeten immer mehr öffentliches Forum. Das ist der riesige Erfolg der Tate. Herzog: Die ist mir nicht unangenehm. Ich stelle mir
sind und dass wir immer mehr Bedarf haben, all die ZEIT: Den Sie etwa mit der riesigen Turbinenhalle als diese Fragen ja auch selbst. Ich bin, merke ich, relativ
Menschen unterzubringen. Gerade in unseren Städten Eingangsbereich dort geschaffen haben, eigentlich ein emotionslos diesen Dingen gegenüber. Der Mensch ist
bauen wir auch, um diesem Druck standzuhalten. Nichtort, der wider alle Erwartung ein Gemeinschafts- ja immer auf einem Weg, das betrifft nicht nur mich:
ZEIT: Das Ökologischste aber wäre, nicht zu bauen? raum wurde, nicht nur für Kunst. Man blickt immer wieder mal zurück, um zu begreifen,
Herzog: Die Frage ist immer, was genau man baut. Herzog: An dem Projekt konnten wir lernen, wie so was man weshalb getan hat. Doch ich selbst schaue lie-
Bauen wir Dinge, die wirklich absolut notwendig sind? etwas geht. Auch das wussten wir vorher nicht. Ein ber nach vorne: Wo befinden wir uns eigentlich? Wel-
Die wenigstens die Grundbedürfnisse des Menschen ab- Museum in dieser Dimension funktioniert aber nur in chen Weg wollen wir gehen? Was soll Architektur dabei
decken? In vielen Teilen der Welt ist ja nicht einmal das London, durch die unglaublichen Touristenströme, die leisten? Bleibt Architektur ein relevantes Medium, eine
gewährleistet: die Basisinfrastruktur und der Wohn- sich durch diese Stadt bewegen. Da sind wir bei der Gesellschaft zu bilden? In der Rückschau auf die eige-
raum. Auch wir in unseren westeuropäischen Städten Psychologie der Stadt: Wie die Architektur diese aus- nen Bauten erkennt man oft erst viel später das eigene
haben nun aber das Problem, dass Wohnraum für viele drückt und umgekehrt auch ein Gefäß ist für diese ver- Denken, das einen einst prägte und von dem man sich
unerschwinglich geworden ist oder zu teuer, was wiede- änderte, sich verändernde Gesellschaft. Museen sind doch ständig wegbewegt. Dieses Sich-Wegbewegen dei-
rum eine Verdrängung aus den Städten nach außen zur Treiber dieser Entwicklung, zugleich müssen sie diese nes Denkens schafft eine Distanz und erlaubt dir als Ar-
Folge hat. Auch deshalb stellt sich die Frage: Was bauen auch abbilden. Sonst sind die Museen tot, sonst geht chitekt einen kritischen Blick zurück. Hält das Gebäude
wir, weil wir uns als Gesellschaft auf eine bestimmte gerade eine jüngere Generation nicht mehr dorthin. diesem Blick stand? Das ist eine so wesentliche und im-
Weise darstellen wollen, etwa in Form von öffentlichen ZEIT: Wie lassen sich unter den Bedingungen der Klima- mer wiederkehrende Frage für einen Architekten, dass es
Gebäuden wie Musiksälen oder Museen? katastrophe nun architektonische Fehler vermeiden? unentbehrlich ist, gnadenlos kritisch auf die eigene Ar-
ZEIT: Wieso also bauen wir die noch? Herzog: Dieser Prozess, der jetzt angelaufen ist, wird beit zu schauen.
Herzog: Unter anderem weil wir uns als Gesellschaft in nicht abgeschlossen sein, bevor nicht das Bauen – aber Das Gespräch führten
Rivalität zu anderen Gesellschaften auszeichnen und auch jede andere Tätigkeit des Menschen – Teil einer Dirk Peitz und
unterscheiden wollen. Bauen geschieht auch aus Eitel- Kreislaufwirtschaft geworden ist. Mit allen anderen Tobias Timm
keit. Eine Stadt will sich gegenüber anderen profilieren, Konzepten überlebt die Menschheit nicht auf diesem
Berlin etwa gegenüber London oder Paris. Ein Planeten. Das ist eine ganz einfache Rechnung. Diese
Museum ist andererseits etwas völlig neue Art zu denken und zu handeln muss
Nachhaltiges, weil man et- aber jetzt beginnen. Ein Pro-
was bewahrt und blem der Ar-
über chitek-
50 FEUILLETON 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Foto (Ausschnitte): Roland Owsnitzki/Votos

Dieter Bohlen auf seinem Comeback-Konzert in Berlin. So viele Leute waren gar nicht da

»Wie findet ihr das,

ihr Schnuckelhasen?«
Er war das Kraftwerk der Achtziger, seine Musik war technisch ganz vorn.
Dahin will Dieter Bohlen jetzt zurück VON JENS BALZER

A
m Sonntagabend fand in der giert er gleichauf mit Sahra Wagenknecht und Katja und Ehre winkte dem Gewinner oder der Gewin- köpfigen Band gekommen, mit drei Männern an von programmierten Playback-Chören und einer
Max-Schmeling-Halle im Berli- Krasavice. Beim Berliner Konzert kann man allerdings nerin ein Auftritt im Vorprogramm der Dieter- Synthesizern, einem Gitarristen, einem Bassisten live operierenden Autotune-Stimmkorrektur –
ner Stadtteil Prenzlauer Berg beobachten, dass diese Berühmtheit sich nicht not- Bohlen-Tournee. So ist es nun der am Samstag zum und einem Schlagzeuger, der hinter einer Profes- sowie von einem halben Dutzend Monitoren am
»das größte Comeback aller Zei- wendig in das Interesse an einer musikalischen Live- neuen Superstar gekürte R’n’B-Sänger Sem Eisinger, sionalität signalisierenden Plexiglaswand wirbelt. Bühnenrand, auf denen ihm die Liedtexte einge-
ten« statt – so lautete es jeden- Darbietung umsetzt. Die ohnehin nicht allzu große der um halb acht in der sich gerade füllenden Halle Wenn man den Tontechnikern im hinteren Hal- spielt werden, falls er mal eine Zeile vergisst (kam
falls in der Ankündigung des Halle ist gerade etwas mehr als zu einem Drittel gefüllt, auftreten darf. Zu diesem Zweck wird er durch den lendrittel über die Schultern schaut, kann man nach devotion jetzt motion oder ocean?). Von At-
Konzerts. Es trat auf: Dieter knapp 4000 Besucher sind gekommen. Das Parkett nachlässig angehobenen Vorhang nach vorne ge- erkennen, dass keines von diesen Instrumenten lantis Is Calling (S.O.S. for Love) über das auch ly-
Bohlen, seit nunmehr fast vierzig Jahren einer der ist großzügig bestuhlt, die oberen Ränge sind verhängt. schubst und singt zu Playback-Begleitung zwei im Mischpult ein Signal erzeugt. Immerhin live risch epochale Cheri Cheri Lady bis zu You’re My
erfolgreichsten deutschen Musiker, Komponisten Lieder. Gern hätte er noch ein drittes aufgeführt, ist der Gesang von Dieter Bohlen, der sich in den Heart, You’re My Soul spielt Bohlen sich durch alle
und Medienschaffenden, berühmt durch die Gruppe Frauen standen ihm sagt er, aber die Regie bedeutet ihm nach etwas folgenden zwei Stunden durch sein Repertoire großen Hits. Und sie sind natürlich alle großartig:
Modern Talking, die er mit einer Unterbrechung im Weg mehr als zehn Minuten, dass seine Zeit abgelaufen arbeitet, von den großen Erfolgen von Modern Wenn man für einen Moment zu vergessen vermag,
von 1984 bis 2003 betrieb, sowie durch die Fern- sei. Die Erniedrigung der Kandidatinnen und Talking am Anfang und Ende des Abends bis zu was er zwischen den Stücken erzählt und wie er sich
sehsendung Deutschland sucht den Superstar, die seit Die Menschen, die zur Feier ihres Idols angereist sind, Kandidaten gehört seit zwanzig Jahren zum festen den Schlager-Kompositionen, die er unter an- in den vergangenen zwanzig Jahren als Fernsehjuror
2002 bis in die Gegenwart ausgestrahlt wird. Darin erwecken denn auch einen etwas irritierten Eindruck Konzept der Superstar-Show, ausgedrückt auch in derem für Chris Norman (Midnight Lady) und benommen hat, kann man an diesem Abend noch
sitzt er einer personell wechselnden Jury vor, die angesichts des Umstands, dass sie so wenige sind. Sie den kalkuliert abschätzigen Sprüchen, mit denen Yvonne Catterfeld (Für dich) geschaffen hat. einmal hören, welche gewaltige Bedeutung Modern
junge Gesangstalente bewertet bei dem Versuch, versuchen sich vor dem Beginn mit »Dieter! Dieter!«- Dieter Bohlen seine vermeintlichen Schützlinge Zwischen den Stücken erzählt er lange Geschich- Talking für die Popmusikgeschichte besitzen.
eine künstlerische Karriere zu starten. Rufen zu enthusiasmieren, aber aus den Rufen entsteht bedenkt. Beim Berliner Auftritt von Sem Eisinger ten über deren Entstehung – und vor allem über Für das Deutschland der Achtzigerjahre wa-
In Umfragen, die sich mit der Frage befassen, kein Chor, man ruft gemeinsam »Dieter! Dieter!«, aber kann man ergänzend feststellen, dass diese Ver- die Vielfalt der Verletzungen und Zurückweisun- ren sie das, was Kraftwerk für das Deutschland
welche Deutschen eigentlich am berühmtesten sind, doch die meiste Zeit gemeinsam aneinander vorbei. achtung nicht nur den Verlierern gilt, sondern auch gen, die er im Verlauf seiner Karriere erfahren der Siebziger waren. Sie experimentierten mit
kommt Dieter Bohlen verlässlich auf einen der vor- Am Vorabend war die zwanzigste Staffel der den Gewinnern. musste. Immer wieder, so lernen wir, standen ihm den damals noch neuen elektronischen Produk-
dersten Plätze. Als er mit Modern Talking begann, war Deutschland sucht den Superstar-Sendung zu ihrem Um acht Uhr fällt der Vorhang, und das Konzert Menschen im Weg bei der Verwirklichung seiner tionsmitteln, mit Sequenzern und Samplern, sie
er ungefähr so bekannt wie Helmut Kohl; heute ran- Finale gekommen. Als besondere Auszeichnung von Dieter Bohlen beginnt. Er ist mit einer viel- künstlerischen Visionen. Und immer wieder hat verbanden die Pflege der musikalischen Tradition
es sich bei diesen Menschen um Frauen gehandelt. mit technischem Erfindergeist, sie eigneten sich
ANZEIGE Die letzte Frau, die ihm dergestalt in den Weg den Sound der damals populären Italo Disco an

KINO
trat, war die schon erwähnte Katja Krasavice. Bei und bestäubten ihn mit melancholischem Senti-
ihr handelt es sich um eine enorm erfolgreiche ment, wie deutsche Hörerinnen und Hörer es bis
!
HALLE OBERHAUSEN
Gute Filme Influencerin, eine operativ vielfach offensiv op-
timierte YouTube-Porno-Protagonistin, Rapperin
heute lieben. Und Thomas Anders, der Apa-
chenhäuptling, war nichts anderes als eine queere

gibt’s nicht
Puschkino
und Sachbuch-Autorin (Die Bitch Bibel). Bohlen Ikone mit seiner kunstvoll ausgefransten Feder-
Lichtburg hatte sie sich zum Zweck des Anschlusses an die frisur und seinen gewaltig auskragenden Schul-
HAMBURG nachwachsende Generation der Millennials in die terpolsterjacketts. Dass der sinnliche Glitzer auf
Abaton
Elbe-Filmtheater
Holi
OCHSENFURT
Casablanca nur im Kino: Deutschland sucht den Superstar-Jury geholt.
Allerdings entdeckte Krasavice schnell die Mög-
seinen Lippen durch Lipgloss erzeugt sei, hat er
später gleichwohl bestritten: Es habe sich stets
THOMAS
SCHUBERT
Koralle
Zeise-Kinos
OLDENBURG
www.zeit.de/ lichkeit, sich mit der Kritik an dem alten weißen
Mann und seinen sexistischen Sprüchen öffent-
um »feuchten Labello« gehandelt.
Hauptsache feucht: Dieter Bohlen hat die

film
Casablanca lich zu profilieren. Modern-Talking-Lieder fast ausschließlich in Moll
PAU L A HANNOVER
BEER Kino am Raschplatz Diese Auseinandersetzung war interessant, komponiert, und der hohe, falsetthafte Gesang, der
OSNABRÜCK
L ANGSTON
weil beide in ihrem Auftreten und ihrer unver- einst aus dem Mund von Thomas Anders zu kom-
HEIDELBERG Cinema-Arthouse
UIBEL Gloriette blümt vorgetragenen Ansicht, dass es in der Pop- men schien und der im Berliner Konzert mit allen
kultur um nichts anderes gehe als ums Geschäf- zur Verfügung stehenden Stimmbearbeitungs-
ENNO KASSEL PFORZHEIM
TREBS temachen und Geldverdienen, einander ver- mitteln emuliert wurde, hat stets etwas erotisch
Bali Kommunales Kino
Fernsehserien schwistert sind. Bloß hatte Krasavice – anders als Verwehtes gehabt – wenn er sich nicht gerade zu
MATTHIAS
BRANDT
KIEL Bohlen – verstanden, dass man heute damit am jenen stoßgehechelten Brunftbekundungen empor-
Studio Filmtheater POTSDAM
Seicht oder suchterzeugend? besten durchkommt, wenn man diese Orientie- schwang, die bei Modern Talking immer dort an-
KÖLN Thalia rung noch mit Begriffen wie »Empowerment« setzten, wo in Popsongs sonst nach Erholung ge-
Cinenova
Die besten Staffeln der Saison garniert und behauptet, dass es einem beim sucht wird: nach dem Ende des Refrains.
REGENSBURG
Odeon
Weißhaus
im Überblick. eigenen Schaffen vor allem auf »Werte«, »Diver- Hier hingegen kommt nach dem Höhepunkt
AB 20. APRIL Kinos im Andreasstadel sität« und »Gleichberechtigung« ankomme. Der immer noch eine weitere Steigerung: Mit dieser
IM KINO LEIPZIG alte Mann sei einfach nur »peinlich«, ließ sie zu- sogenannten Post-Chorus- oder auch Post- oder
Passage ROSTOCK Der bessere Dreh letzt über die Bild-Zeitung verlauten. Multiple-Klimax-Ästhetik wurden Modern Tal-
Kinobar Prager Frühling Lichtspieltheater Wundervoll
Wir schreiben jede Woche king stilbildend für die Popmusik der Neunziger-
LICH Er ist deutsches Kulturerbe jahre, für den Eurodance von Snap! oder Hadda-
Traumstern SAARBRÜCKEN den »Tatort« um. und will es bleiben way. Unter den großen Hitparadenerfolgen die-
Filmhaus ser Zeit wird man kaum ein Lied finden, in dem
LUDWIGSLUST
Luna
STUTTGART
Warum machen Sie das? »Heute darf man ja offenbar nichts mehr sagen«, nach dem Refrain, nach dem Höhepunkt, nicht
ist die Schlussfolgerung, die Dieter Bohlen in noch einmal post-orgiastisch gehechelt oder eine
LÜBECK
Filmhaus
Atelier am Bollwerk Regisseure, Schauspieler, einer seiner langen Zwischenansprachen daraus Oktave höher weitergesungen wird.
EIN FILM VON CHRISTIAN PETZOLD
Drehbuchautoren sprechen zieht. Zum Vergnügen des Publikums inszeniert Wenig später wurde Viagra erfunden. So
LÜNEBURG TRIER
Scala Programmkino
er sich als vom Zeitgeist geschurigelter Mann: blickte man beim Konzert von Dieter Bohlen
Broadway über ihre Projekte. »Bei der letzten DSDS-Staffel wurde mir sogar also nicht nur auf deutsches Kulturerbe. Man
AACHEN BRAUNSCHWEIG ESSEN MAGDEBURG das Wort ›Schnuckelhasen‹ herausgestrichen, hörte noch einmal den Soundtrack aus einer
Moritzhof TROSTBERG
Apollo Universum Eulenspiegel
Und – ob Drama oder weil es angeblich diskriminierend ist. ›Schnu- Epoche, in der alles immer schneller und rausch-
MAINZ Stadtkino ckelhasen‹, o Gott, o Gott. Wie findet ihr das, hafter wurde und in der die Menschen das genos-
BERLIN BREMEN FRANKFURT/MAIN
Capitol Atlantis Cinema
Capitol
TÜBINGEN
Dokumentarfilm – ihr Schnuckelhasen?« Großer Applaus von den sen und mochten. Heute wirkt die Vorstellung,
Palatin
Blauer Stern Harmonie knapp 4000 verbliebenen Schnuckelhasen im musizierende Männer würden mit ihrer Kunst
Delphi Filmpalast
Schauburg
MANNHEIM Arsenal die wichtigsten Kinostarts Publikum. An seinen ehemaligen Modern- sich und anderen multiple Orgasmen verschaf-
fsk-Kino DARMSTADT FREIBURG
Hackesche Höfe Kino, Rex Kandelhof
Odeon Atelier der Woche: alles unter Talking-Kollegen Thomas Anders, der – noch so fen, zweifellos überholt. Doch man kann, wie
MARBURG eine lästige Frau – lange Zeit unter der Knute das Konzert von Dieter Bohlen bewies, auch an
Kino in der Kulturbrauerei,
Kino International DORTMUND GAUTING Capitol ULM www.zeit.de/film seiner Lebensgefährtin Nora stand, erinnert sich überholten Arten der Ästhetik einen Abend lang
Rollberg Roxy Breitwand Mephisto Bohlen, um die Kritik an der Wokeness-Kultur gutes Gefallen finden.
MÜNCHEN
Wolf-Kino Sweet Sixteen GELSENKIRCHEN City-Kinos zu komplettieren, als an »Winnetou, den Apa-
Yorck Kino WIESBADEN chenhäuptling«: »Er hatte ja auch so schöne lange !www.zeit.de/vorgelesen
DRESDEN Schauburg Leopold
Bielefeld
Lichtwerk im Ravensberger Programmkino Ost GERA
Monopol Apollo Haare damals und dann noch dieses Lipgloss.«
Studio Isabella Darum habe er für ihn auch ein »Apachenlied«
Park Schauburg Metropol www.zeit.de Hören Sie den Podcast
Bochum WÜRZBURG komponiert: Geronimo’s Cadillac. Wir sprechen über Phänomene,
MÜNSTER
DÜSSELDORF GIESSEN
Casablanca Cinema Central im Bürgerbräu Das ist eines von insgesamt zehn Liedern von die unsere Zeit ausmachen: im Feuilleton-Podcast
Cinema Kinocenter
BONN NÜRNBERG Modern Talking, die Dieter Bohlen an diesem Die sogenannte Gegenwart.
DUISBURG GÖTTINGEN WUPPERTAL Abend darbietet; und er singt sie tatsächlich selbst, Jetzt anhören unter
Neue Filmbühne Filmhauskino
Rex Filmforum Lumière Metropolis Cinema wenn auch unterstützt von einem Begleitsänger, www.zeit.de/die-sogenannte-gegenwart
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
Die Tage werden endlich wieder länger, die durchwachten
Vier Serien
Irgendwo
in Nevada
Dass alle Menschen Lügner sind, das wusste
der Vorsokratiker Epimenides, das wusste das
Alte Testament, und in der Crime-Serie Poker
Face von Rian Johnson (bekannt für Knives
Out) weiß das auch die übernatürlich begabte
Hobbydetektivin Charlie Cale. Ihr Befund:
»Leute lügen so, wie Vögel zwitschern. Sobald
du genauer hinhörst, ist es verdammt noch
mal überall, die ganze Zeit.« Alle Menschen
lügen, doch niemand entlarvt das Gezwit-
scher derart cool, wie es die kauzige Charlie
tut. Mit einem knappen »Bullshit« stellt sie
selbst Columbos berühmtes »Just one more
thing« in den Schatten.
Charlie Cale hat einen siebten Sinn, der
ihr zuverlässig verrät, wenn jemand nicht die
Wahrheit sagt. In der Vergangenheit hat sie
diese Gabe an Pokertischen erfolgreich ge-
nutzt, doch nach einer verdächtig langen
Gewinnserie musste sie ihre Glücksspielkarriere
an den Nagel hängen.
In Poker Face lernen wir Charlie Jahre
später als Kellnerin in einem heruntergekom-
menen Casino irgendwo in Nevada kennen.
Ihre Freizeit verbringt sie damit, in ihrem
Wohnwagen herumzulungern und fremde
Leute auf Twitter anzupöbeln. Doch als ihre
Kollegin und beste Freundin Natalie unter
mysteriösen Umständen stirbt, schlägt Char-
lies eingerosteter Lügendetektor Alarm und
führt sie auf die Spur eines Komplotts, in das
ihr schmieriger Chef (Adrien Brody) und
dessen Handlanger (Benjamin Bratt) ver-
strickt sind. Natürlich landet sie auf deren
Abschussliste. In ihrem vintageblauen Old-
timer flieht sie quer durch die USA und
begegnet vielen schrägen Vögeln (gespielt
von Gaststars wie Chloë Sevigny, Joseph
Gordon-Levitt und Cherry Jones), vor allem
aber stößt sie auf weitere rätselhafte Todes-
fälle, die sie mit ihrer Superpower zu lösen
versucht.
Es ist ein Glücksfall, dass man für die Rol-
le von Charlie Cale die charismatische Nata-
sha Lyonne (bekannt aus Matrjoschka und
Orange Is the New Black) gewinnen konnte.
Niemand trinkt so lässig aus der Bierdose wie
sie, wenn die Welt mal wieder ins Wanken
gerät; keiner beschwört mit Kratzstimme,
wilder Pudelmähne und coolen Retro-Kla-
motten so mühelos die Nonchalance eines
Rockstars aus den Siebzigern. Am liebsten
möchte man einen Flug nach Las Vegas bu-
chen, sich dort einen Oldtimer mieten und
sein Leben in ihrem Geist weiterführen. Da
das zu aufwendig wäre, begnügen wir uns da-
mit, Charlie Cale zuzuschauen und dabei
Bullshit-Bingo zu spielen. Unschlagbar der
Moment, wenn die Detektivin einen Tatort
betritt, den Braten riecht und stümperhaften
Alibis mit einem durch die Zähne gepfiffenen
»Bullshit« begegnet. Dank Natasha Lyonne
und einer grandiosen Mischung aus bewähr-
ter Erzählmechanik – erst der Mord, dann die
Aufklärung – und den Retro-Vibes der Sieb-
ziger ist dies jetzt schon die Mystery-Serie des
Jahres. Eine zweite Staffel ist in Planung. Wie
schön. Poker Face macht süchtiger als jedes
Glücksspiel! SINEM KILIÇ
Die Serie »Poker Face« ist auf
Sky und WOW zu sehen
FEUILLETON
Streaming-Nächte kürzer. Diese Produktionen dürfen Sie trotzdem nicht verpassen
Letzte Tage im Paradies
Man muss schon eine gewisse Kitsch-Resilienz mitbringen, um
sich in die Netflix-Serie Transatlantic zu stürzen. Doch der Ein-
satz lohnt sich. Denn im Gegensatz zu den meisten bunten
Verfilmungen von Künstlerschicksalen kann die siebenteilige
Mini-Serie von Anna Winger (Unorthodox) mit einer echten
Geschichte punkten: Sie erzählt von der unwahrscheinlichen
Aktion des amerikanischen Emergency Rescue Committee, das
ab dem Herbst 1940 von Marseille aus versucht, Europas be-
deutendste Intellektuelle vor den Nazis nach Amerika zu retten.
Unter ihnen sind so namhafte Künstler und Denker wie
Walter Benjamin (gespielt von Moritz Bleibtreu), Hannah
Arendt (Alexa Karolinski) und Max Ernst (Alexander Fehling),
die sich in der malerischen Villa Air Bel etwas abseits von Mar-
seille einfinden, um in ausgelassener Fin-de-Siècle-Stimmung
auf das Ende Europas anzustoßen. Wirklich gehen will eigent-
lich niemand. Das liegt auch daran, dass die Rettungsaktion
vom Journalisten Varian Fry (Cory Michael Smith) und der
reichen Erbin Mary Jayne Gold (Gillian Jacobs) geleitet wird,
die sich in Abenteurerlaune mit den Behörden diesseits und
jenseits des Atlantiks herumschlagen, um an Visa zu kommen.
Die Besten der Besten sind gerade gut genug, für die anderen
Durchschnittskreativen und Möchtegernkünstler, die vor den
Büros am Hafen Schlange stehen, reichen die Kapazitäten nicht.
Das alles ist so dekorationsbombastisch und musicalhaft
inszeniert, dass man auf historische Faktentreue kaum Anspruch
erheben darf. Man lebt im Paradies, trägt schöne Kleider und
plündert den Weinkeller bis auf den letzten Tropfen. Als Max
Ernst seinen Geburtstag in der Villa feiert, gibt es ein großes
Maskenfest samt Polonaise durchs Haus, bei der die ebenfalls
Die Serie »Transatlantic« ist auf
Netf lix zu sehen
Raserei und Liebe
Man müsste mal über die Rolle deutscher Automarken in
internationalen Filmen nachdenken. Denn es fällt auf, dass
das Böse oft in (süd-)deutschen Autos unterwegs ist. Lee
Sung Jin, der Erfinder und Chefautor von Beef, hat kürzlich
der New York Times erzählt, dass es eine selbst erlebte Wut-
begegnung mit einem BMW auf einer Straße in Los Angeles
war, die ihm die Idee zu dieser Serie gab. Und in Beef beginnt
alles Unheil damit, dass ein Pick-up-Truck-Fahrer mit der
Fahrerin eines weißen Mercedes in Streit gerät.
Hindert sie, Amy, ihn an der Ausfahrt aus einem Parkplatz?
So erlebt er die Szene. Oder scheppert er, Danny, mit seinem
Kleinlaster um ein Haar in die Flanke ihres Luxuswagens? So
jedenfalls sieht sie die Sache. Ursache egal, hier zählen Folgen:
Aus der Sekundenbegegnung entwickelt sich eine Jagd quer
durch Los Angeles und mittelfristig ein in zehn Episoden es-
kalierendes Rachedrama, welches das Leben beider zerfetzt.
Der Truckfahrer wird gespielt von Steven Yeun, den man
aus The Walking Dead kennt, und in der Rolle der Mercedes-
Besitzerin sieht man die Komikerin Ali Wong. Beide sind
Amerikaner mit asiatischen Wurzeln, der Clash ihrer Figuren
hat keine rassistische Unterströmung. Es sind vielmehr zwei
Klassen (zwei Arten von Erschöpfung), die hier aufeinan-
derprallen: Er ist ein heimatlos über die Highways von
Job zu Job rollender Handwerker und Kleinunter-
nehmer, der an Ankunft nicht mehr
glaubt. Sie ist zwar eine erfolg-
Die Serie »Beef« ist auf
Netf lix zu sehen
für den Frühling
anwesende Peggy Guggenheim dem deutschen Maler vor dessen
plötzlich wiederaufgetauchter Frau Luise ihren offiziellen Hei-
ratsantrag machen darf. Der Nazi-Terror findet eigentlich nur
am Rande statt, wenn auch aus Südfrankreich die Konvois
rollen und die Deportationen beginnen.
Und dennoch: Schon allein, dass auch die Geschichte der
schwarzen Résistance in Gestalt des Hotelportiers Paul Kandjo
(Ralph Amoussou) erzählt wird, der dem Treiben des Vichy-
Regimes nicht länger zusehen will und die Intellektuellen, die
er bis eben noch beherbergt hat, zu den Waffen ruft, macht
Transatlantic zu einem lehrreichen Biopic der letzten Tage der
europäischen Intelligenz. Auch das Transatlantische kommt
nicht ohne Risse aus, wie die Exilsehnsucht glauben machen
möchte. Denn während sich im Hintergrund der amerikanische
Präsidentschaftswahlkampf zwischen Franklin D. Roosevelt und
seinem republikanischen Herausforderer Wendell Willkie auch
um die Frage dreht, ob Amerika in Europa intervenieren soll,
plant der amerikanische Botschafter in Marseille Graham Pat-
terson (Corey Stoll) seine Zukunft längst als erster Mann einer
geschäftigen amerikanischen Schreibmaschinen-Firma, die das
Szenario eines von den Nazis beherrschten Europas nicht vor
der Expansion abschreckt. Hauptsache, kein Kommunismus.
Walter Benjamin, der die Überfahrt in die USA nicht
schaffte, sondern sich in einem Dorf in den Pyrenäen das
Leben nahm, nannte die Anekdote einmal den »Straßenauf-
stand« gegen die Geschichte. Und auch wenn in Transatlantic
der Aufstand etwas zu kunterbunt gerät, lässt sich aus dieser
Geschichte lernen, dass in der Not Hilfe eigentlich selten zu
spät kommt. PETER NEUMANN
reiche Businessfrau, aber gerade deshalb hat
sie das Reizbare und Trostlose einer über das
Ziel Hinausgeschossenen. (Ganz ähnlich wie Ali
Wong würde wohl Anke Engelke die Rolle dieser
Burgherrin spielen, die von den Zinnen ihrer Lebensleis-
tung herab nach feindlichen Heeren Ausschau hält.)
Immer dann, wenn es in Beef so aussieht, als läge Ver-
söhnung in der Luft, wenn also die eine Hasspartei in der
anderen den fernen Bruder, die verlorene Schwester erkennt,
reißen Eitelkeit und Stolz beide zurück in die glückliche, or-
gienhafte Hitze: Zorn wird zum Daseinsinhalt, weil andere
Inhalte nicht erreichbar sind.
Die Serie ist wunderbar gespielt, Komik und Grauen hal-
ten sich im Gleichgewicht, und die Autoren verfügen beiläufig
über eine Fülle großartig gezeichneter Nebenfiguren. Knappe,
aber weite Zeitsprünge in die Kindheit lassen ahnen, dass die
Verbitterung von Amy und Danny gute Gründe hat, was wie-
derum bewirkt, dass wir, ihre Zeugen, in ihnen keine bloßen
Witzfiguren sehen, sondern: Geschwister. Der kathartische
Effekt liegt darin, dass die Protagonisten am Ende erkennen,
wie sehr Liebe und Hass verwandt sind. Beide Zustände ver-
langen die volle Aufmerksamkeit der von ihnen Befallenen.
Beide sind Spielarten der Raserei. Anders gesagt: Hass ist in
Beef ein Umweg zur Liebe. Der gerührte Zuschauer nimmt
sich am Ende fest vor, im eigenen Leben auf den Umweg zu
verzichten. PETER KÜMMEL
51
Jetzt neu:
Harmlos!
Normalerweise geht es so: Ein talentierter Come-
Illustrationen: Studio Pong für DIE ZEIT
dian hat das Glück, irgendwann in seinen Zwan-
zigern einen Job bei der amerikanischen Sketch-
Sendung Saturday Night Live zu bekommen.
Dadurch wird er oder sie erst ein Publikums-
liebling und später dann ein Star. Adam Sandler
ging es so, Bill Murray, John Belushi und Dutzen-
den anderen ebenso. Wer hingegen selbst durch
SNL kein Star wird, für den passiert das in der
Regel später in der Karriere auch nicht mehr.
Das galt zumindest so bis zu Jason Sudeikis.
Der hatte sich jahrelang durch die Show ge-
kämpft, ehe er ohne nennenswerten Publikums-
erfolg weiterzog und von der großen kommer-
ziellen Bildfläche weitestgehend verschwand.
2020 tauchte er aber als Ted Lasso in der gleich-
namigen Serie bei Apple TV+ auf, die von Beginn
an so erfolgreich war, dass sie noch während der
Ausstrahlung für eine weitere Staffel erneuert
wurde. Mittlerweile ist die dritte Staffel gestartet.
Lasso ist ein auf den ersten Blick etwas zu
freundlicher College-Footballtrainer aus Kansas,
der durch Zufall der Trainer eines (fiktiven) bri-
tischen Fußballvereins in der Premier League
wird, ohne etwas von der Sportart zu verstehen.
Für einen Coach ist er beklemmend warmherzig
und menschenfreundlich und bringt das zynische
und durchgetaktete Geschäft des Profifußballs
genau damit durcheinander. Beim Versuch, seine
Ahnungslosigkeit mit Liebe wettzumachen, ge-
winnt er Folge für Folge die Herzen seiner Mit-
menschen und bringt ein ganz neues, empathi-
sches Miteinander in den Fußballclub.
Der Plot von Ted Lasso klingt damit eher er-
wartbar. Gut gewinnt gegen Böse, David gewinnt
gegen Goliath, Freundlichkeit schlägt am Ende
Zynismus. Wer aber auch nur eine Folge sieht,
wird verstehen, dass Sudeikis da vielleicht ein ganz
neues Comedy-Subgenre hervorbringt: Harm-
losigkeit. Nach einem Jahrzehnt, in dem viele
weiße heterosexuelle Comedians versucht haben,
die eigene identitätspolitische Belanglosigkeit mit
humoristischen Grenzgängen zu kompensieren,
lehnt sich Sudeikis stattdessen in genau diese
Belanglosigkeit. Ted Lasso geht mit einer Groß-
zügigkeit und Höflichkeit durch die Welt, die sich
aus seinem Bewusstsein speist, dass er es eben ganz
schön gut hatte im Leben. Er und die anderen
männlichen Hauptdarsteller entsprechen dem
Ideal des En-passant-Wokisten, der RomComs
mit starken weiblichen Hauptfiguren liebt und
während einer Coaching-Besprechung seine
Lieblingsfilme mit Julie Andrews diskutiert.
Das könnte pädagogisch sein, wenn es
nicht in jeder Szene hervorragend geschrieben
wäre. Ted Lasso ist eine ständige ironische
Hommage an vermeintlich starke Männer, die
insgeheim Let It Go aus Frozen mitsingen. Und
es ist natürlich ein irre kluger Weg, am Ende
endlich wieder Serien rausbringen zu können,
in denen es um Männer und Männersportar-
ten und Männlichkeit geht, ohne sich vor-
werfen lassen zu müssen, dass diese Geschich-
ten schon so oft erzählt wurden. Es wird in den
kommenden Jahren sicher eine Menge Serien
geben, die versuchen, das zu kopieren, was Ted
Lasso geschafft hat: beweisen, dass es egal ist,
wessen Geschichte erzählt wird, solange sie gut
erzählt wird. SOPHIE PAS SMANN
Die Serie »Ted Lasso« ist auf
Apple TV+ zu sehen
52
Aus dem Lavastrom der Vergangenheit
Geboren vor 100 Jahren: Warum der Historiker Reinhart Koselleck immer noch fasziniert
I
m Schlamm bei Isjum unweit von Charkiw rollte
ein Geschützrad über die Füße des 19-jährigen
Kanoniers, vier Tage vor Beginn der Sommer-
offensive in der Ostukraine. Er musste ins
Lazarett, was ihm sicher das Leben rettete, denn
160.000 deutsche Soldaten seiner 6. Armee
sollten in den kommenden Monaten 1942/1943
im Kessel von Stalingrad sterben. Isjum, Charkiw, Don-
bass, Belgorod: Ortsnamen, existenziell verbunden sind
mit der Biografie dieses blutjungen Artilleristen namens
Reinhart Koselleck, der später zum bedeutendsten deut-
schen Historiker des 20. Jahrhunderts werden sollte.
Heute ist der Klang dieser Ortsnamen uns wieder un-
erwartet nah gerückt, aus dieser fernen Geschichte hinein
in eine bedrohliche, für viele wiederum tödliche Gegen-
wart. Was hätte wohl der 2006 verstorbene Koselleck zu
dieser unheimlichen Laune der Geschichte gesagt?
Überhaupt gehört ja dieser Gelehrte, der am 23. April
1923 in Görlitz geboren wurde, zu jenen Figuren, die man
jetzt dringend zur Lage lesen wollen würde. Der Begriffs-
historiker Koselleck, der jahrzehntelang die Metapher
»Zeitschichten« analytisch begrübelte (die dann zum Titel
seines letzten Essaybandes zu Lebzeiten wurde) – wie hätte
der wohl das plötzlich vom eben noch geschichtsphiloso-
phisch komplett ausgenüchterten Himmel fallende Wort
von der »Zeitenwende« gedeutet, aus dem Mund von Olaf
Scholz ein Begriff mit welthistorischem Hallraum? Dass
ausgerechnet die Artikel »Raum« und »Zeit« nie geschrieben
wurden für jenes achtbändige Lexikon Geschichtliche Grund-
begriffe, das unter Kosellecks Ägide über Jahrzehnte hinweg
entstand und zu den größten Leistungen der deutschen
Geisteswissenschaft nach 1945 gehört: Das ist eine sinnige
Pointe, die der Historiker selbst freimütig einräumte.
Jetzt hat Stefan-Ludwig Hoffmann, der in Berkeley Mo-
derne europäische Geschichte lehrt, ein faszinierendes Buch
über Koselleck veröffentlicht, das eine Biografie ist, auch
wenn der Autor diesen Namen allzu scheu meidet: Der Riss
in der Zeit ist elegant geschrieben, Leben, Werk und die Me-
thode dieses Forschers durchleuchtend, auf Basis intensiver
Archivstudien und vieler Zeitzeugengespräche. Erstmals wird
hier der Denkweg dieses Intellektuellen umfassend gedeutet.
Koselleck war ein Meister der kleinen Form, der in seinem
Leben zahllose bahnbrechende Essays, aber nur zwei Bücher
geschrieben hat, während andere Großhistoriker der Bundes-
republik wie Nipperdey, Wehler und Winkler mehrbändige
Werke auftürmten. Vielleicht verhilft aber auch diese Eigen-
heit Koselleck heute verspätet, aber immerhin posthum zum
internationalen Klassikerstatus, gelesen von Historikern,
Philosophen und Literaturwissenschaftlern.
Äußerlich wird es ein unaufregender akademischer Weg,
von Heidelberg über Bochum dann ab 1973 an der Reform-
universität Bielefeld, neben renommierten Kollegen wie dem
Soziologen Niklas Luhmann, dem Literaturwissenschaftler
Karl Heinz Bohrer, dem Sozialhistoriker Hans-Ulrich
Wehler. Doch hinter seinem Denken stand stets, wie Hoff-
mann überzeugend vorführt, die frühe Erfahrung von Tod
und glücklichem Überleben. Die Tante wird bei einer
Euthanasieaktion der Nazis umgebracht, der kleine Bruder
stirbt mit sieben Jahren bei einem Bombenangriff, der ältere
noch in den letzten Kriegswochen an der Front, mehrere
Frauen der Familie auf der Flucht. Koselleck selbst, mitt-
lerweile genesen und wieder Soldat, ergibt sich am 1. Mai
1945 in Tschechien, muss für ein paar Wochen in Auschwitz
IG-Farben-Fabrikanlagen demontieren und wird für andert-
halb Jahre im fernen Kasachstan interniert. Schwer erkrankt
überlebt er nach einer Operation das Lager, bei seiner Heim-
kehr 1946 erkennt ihn der eigene Vater nicht mehr. Auf die
Frage nach der Prägung antwortet Koselleck 2003: »Krieg
und russische Gefangenschaft = Erfahrungswissenschaft.«
Die Toten im Kopf: Die Forschungen zum europäischen
Totenkult und Gedenken, die Koselleck seit den Achtziger-
jahren verstärkt betreiben wird, ebenso wie seine öffentlichen
Interventionen in den Debatten um die Denkmalskultur der
wiedervereinigten Berliner Republik (Holocaust-Mahnmal,
Gründungsverleger:
Gerd Bucerius (1906–1995)
Herausgeberrat:
Prof. Jutta Allmendinger, Dr. Nicola Leibinger- Kammüller, Anant Agarwala, Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Hanna
Zanny Minton Beddoes, Florian Illies,
Yascha Mounk
Ehemalige Herausgeber:
Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002)
Helmut Schmidt (1918–2015)
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Zeitverlags und Chefredakteur:
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Streit: Dr. Jochen Bittner/Martin Machowecz (verantwortlich), Bildredaktion: Milena Carstens (verantwortlich), Nora Hollstein;
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Dossier: Malte Henk/Wolfgang Uchatius (verantwortlich),
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Kohlenberg, Caterina Lobenstein, Tanja Stelzer (Autorin)
Leserbriefe: Dr. Christof Siemes (verantwortlich),
Jutta Hoffritz
Geschichte: Christian Staas (verantwortlich)
FEUILLETON
Literatur
Ein künftiger Historiker zeichnet: Reinhart Koselleck im Kasseler Schlosspark, Juni 1930
die Kollwitz-Skulptur in der Neuen Wache) haben hier ihren
Ursprung. Seine zahlreichen Texte und Interviews zu diesem
Themenkreis, theoretische wie tagesaktuelle, kann man jetzt
in einem weiteren posthumen Koselleck-Sammelband Ge-
ronnene Lava nachlesen, dazu autobiografische Notizen (Suhr-
kamp, Berlin 2023, 572 S., 38 Euro). Für die Deutschen sei
angesichts der eigenen Verbrechen in der Erinnerung an alle
Toten ein »Minimum an Demonstration, ein Maximum an
Zurückhaltung« geboten, dementsprechend skeptisch fiel
seine Sicht auf die Ergebnisse der hiesigen Gedenkkultur aus.
»Geronnene Lava«: wieder so eine Koselleck-Metapher,
die die Beweglichkeit und die Erstarrung heißer Vergangenheit Der Riss in der Zeit.
demonstriert. Und seine ausdauernden Forschungen zu
europäischen Kriegerdenkmälern – Abertausende hat er auf
seiner Denkmalsjagd über Jahrzehnte fotografiert und inter-
pretiert – bekommen heute angesichts des Kriegs in der Ukrai-
ne eine verstörende Aktualität. Überhaupt das Visuelle, die
Macht der Bilder: Eigentlich hatte er an einer Kunstakademie
studieren wollen, zeichnete zeitlebens während langweiliger
Tagungen Karikaturen von Teilnehmern; Gemälde und Bilder
Wirtschaft: Charlotte Parnack/Roman Pletter (verantwortlich),
Thomas Fischermann, Hannah Knuth, Dr. Ingo Malcher, Ann-Kathrin
Autoren: Antonia Baum, Christoph Dieckmann, Christoph Drösser,
Ronald Düker, Heike Faller, Christiane Grefe, Ulrich Greiner,
Nezik, Marcus Rohwetter, Dr. Kolja Rudzio, Marc Widmann Jana Hensel, Dr. Gunter Hofmann, Jens Jessen, Dr. Josef Joffe,
Green: Dr. Uwe J. Heuser (verantwortlich), Laura Cwiertnia, Rüdiger Jungbluth, Dr. Navid Kermani, Angela Köckritz,
Ricarda Richter Dr. Wolfgang Lechner, Ursula März, Dr. Susanne Mayer, Anna von
Münchhausen, Gero von Randow, Roberto Saviano, Christian
Unterhaltung: Cathrin Gilbert (verantwortlich)
Schmidt-Häuer, Jana Simon, Matthias Stolz, Burkhard Straßmann,
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20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
VON ALEXANDER CAMMANN
seit der Antike bis in 19. Jahrhundert erfassen, von Thuky-
dides bis Tocqueville, dazu schließlich die selbst erlebten
Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts – vielleicht tatsäch-
lich zu viel Stoff für eine geplante Metatheorie der Geschich-
te. Um Brüche, Risse und Wiederholungsstrukturen kreisen
jedenfalls viele Aufsätze, die die in Begriffen sedimentierten
historischen Erfahrungen sichtbar machen.
Entscheidend war dabei seine Skepsis gegenüber der Idee
des Fortschritts. Eine wiederkehrende Figur bei ihm, seit seiner
1954 innerhalb weniger Monate niedergeschriebenen Dis-
sertation Kritik und Krise, die jene französischen Aufklärer des
18. Jahrhunderts ins Visier nahm, die die Unvorhersehbarkeit
der Geschichte leichthändig mit vermeintlich schönen Zielen
hätten aufheben wollen. Das klang bei dem jungen Gelehrten
erst einmal reaktionär, zumal er maßgeblich von Carl Schmitt
beeinflusst war, mit dem er zeitlebens im engen Austausch
blieb, was auch beider 2019 erschienener Briefwechsel zeigt.
Hoffmann belegt nun, dass Koselleck wesentliche Ideen schon
vor der Begegnung mit Schmitt, dem antiliberalen Staats-
rechtler und »Kronjuristen« des »Dritten Reiches« hatte. Und
zudem richtete sich Koselleck dabei erkennbar nicht gegen
die Aufklärung an sich, sondern eher an das 20. Jahrhundert,
wenn er über das 18. schrieb: Geschichte konnte für Koselleck
nach den totalitären Erfahrungen nur noch ohne Heils-
versprechen, Zweck oder gar Ziel daherkommen.
Für den jungen Philosophen Jürgen Habermas war
dieser sechs entscheidende Jahre ältere Historiker natürlich
gleich höchst verdächtig wegen der unverhohlenen Schmitt-
Inspiration. Er schrieb 1960 einen berühmten Verriss im
Merkur, in dem er Koselleck als »Sprachrohr Carl Schmitts
diffamierte«, wie es der Historiker empfand. Koselleck
notierte auf einem Zettel in seinem Exemplar des Struktur-
wandels der Öffentlichkeit, Habermas’ ebenfalls berühmtem
Buch über das 18. Jahrhundert, das man als fortschrittlich-
optimistische Antwort auf Kosellecks Aufklärungsbuch
lesen muss, wie sehr ihn die Attacke getroffen hatte: Erst
habe Habermas ihn »politisch, also polemisch abgeschos-
sen«, um ihn dann in seinem Strukturwandel-Buch seiten-
Foto: Erbengemeinschaft Koselleck (Ausschnitt)
weise zu zitieren, ohne sich wirklich auseinanderzusetzen.
In diesem unscheinbaren akademischen Streit zweier Jung-
akademiker steckt vielleicht tatsächlich der zentrale geistige
Konflikt der Bundesrepublik: Wie hältst du es mit dem
Fortschritt, nach dem Epochenbruch 1945?
Hoffmann zeigt aber auch, wie stark jüdische Emigran-
ten Koselleck beeinflussten, Hannah Arendts Freundin
Charlotte Beradt beispielsweise, zu deren Buch über Träume
im »Dritten Reich« er das Vorwort schrieb und mit der er
korrespondierte. Träume und deren »unentrinnbare Fak-
tizität des Fiktiven« sind ein Thema Kosellecks in diversen
unkonventionellen Essays, wiederum ziemlich originell für
einen Historiker jener Jahre.
Neben den Bildern ist also vor allem die Sprache ein in-
tellektueller Motor für ihn: Zahllose Mappen mit Notizen
zu Worten und Begriffen, teilweise über Jahrzehnte verfolgt,
waren oft Ausgangspunkte seiner Überlegungen. An seine real immer wieder reformuliert, offenbaren dieses ständige La-
erlebte, apokalyptische Vision eines mit halb zerschossenem borieren mit Wörtern und deren Bedeutungen – auch darin
Kopf weitergaloppierenden Pferdes 1942 in der Ukraine er- Carl Schmitt sehr ähnlich. In den 18.000 Bänden seiner
innerte sich Koselleck wenige Jahre vor seinem Tod. Bibliothek, die sich am Ende selbst in das Schwimmbad im
Der Kern von Reinhart Kosellecks Werk ist jedoch sein Keller des Hauses der Familie ausdehnte, finden sich zahllose
Geschichtsdenken. Hoffmann rekonstruiert aus den vielen Notizen und Anmerkungen. So entsteht seine faszinierende
Essays des Historikers dessen Leitmotive – und warum aus Begrifflichkeit in lebenslangen Arbeits-»Zeitschichten«: im
alledem nie sein großes, von vielen erwartetes Werk zur Anlagern, Überlagern und überraschendem Aufbrechen der
Theorie der Geschichte wurde. Den Philosophen Hans eigenen Prosa. Ein langsamer Schreiber war er dabei, wie er
Stefan-Ludwig Blumenberg zum Beispiel irritierte diese Verweigerung, selbst zugab: Zwölf Mahnbriefe schreibt der befreundete
Hoffmann: während er selbst seit den Siebzigerjahren ausgreifende Bücher Althistoriker Christian Meier da schon mal, bis er schließlich
am einsamen Schreibtisch vorantrieb – Koselleck wiederum den dann natürlich bahnbrechenden Aufsatz bekommt.
Kosellecks wollte ihn von dort vergeblich zu Konferenzen weglocken; Gerade die kleine Form des Essays war entscheidend für
ungeschriebene beider Korrespondenz kann man ebenfalls jetzt nachlesen Reinhart Kosellecks Wirkung. Wer Krisenbewusstsein ge-
Historik; (Briefwechsel 1965–1994, Suhrkamp, Berlin 2023, 181 S., winnen möchte im Angesicht von Katastrophen, wer etwas
Suhrkamp, 32 Euro). Koselleck blieb in Tagungen, Kreisen und Projek- vom entzauberten Fortschritt begreifen, wer den Sirenen-
Berlin 2023; ten verstrickt, für ihn wohl Motor und Hemmnis zugleich. klängen von Utopien analytisch lauschen will, ohne ihnen
392 S., 24,– € Dass die weitausgreifenden Interessen und Lektüren zu verfallen, und schließlich: wer Zeitenwenden verstehen
Kosellecks schwer zu bündeln waren, liegt auf der Hand. Er will, der muss auch in den kommenden einhundert Jahren
wollte eigentlich die Erfahrungen geschichtlichen Wandels Reinhart Koselleck lesen.
Pekinger Redaktion: Xifan Yang, Guangming Plaza 1501,
Liangmaqiao Rd 42, Chaoyang, Beijing,
Gutensohn, Hannah Scherkamp, Stefanie Unsleber, Rebekka Wiese
Geld: Jan Guldner (Leitung), Nathanael Häfner, Sina ZEIT-LESERSERVICE
E-Mail: xifan.yang@zeit.de Osterholt, Marilena Piesker Wochenende: Maris Hubschmid (Leitung),
Washingtoner Redaktion: Amrai Coen, Viktoria Morasch, Friederike Oertel, Lars Spannagel
Washington, DC 20009, Tel.: 001-202/617 68 77, ze.tt und ZEIT Campus Online: Amna Franzke/Tessa Högele Leserbriefe
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 54 FEUILLETON 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Ein Vorschlag aus

Schweden: Diese
klimaneutralen Fahrzeuge
sollen auch bei der
Wiederaufforstung helfen

Schwer untermotorisiert
Volkswagen zeigt in seiner Autostadt Ideen zur Zukunft der Mobilität. Private Pkw kommen da nicht mehr vor VON THOMAS ASSHEUER

K
ünftige Ethnologen sind nicht zu be-
neiden. Sie werden die archaischen
Rituale unserer westlichen Stammes-
kulturen erklären müssen, vor allem
den rätselhaften Kult, Automobile
wie irdische Götter zu verehren. Dafür holzten die
Eingeborenen herrliche Wälder ab, vergifteten ihre
Lungen, erhitzten das Klima. Bei grässlichen Un-
fällen verloren Tausende ihr Leben. Als einigen
dämmerte, wie schädlich ihre rituellen Handlun-
gen sind, führte eine Priesterkaste, man nannte sie
Automanager, Millionen Käufer hinters Licht und
manipulierte die Abgaswerte der Kultfahrzeuge.
Beim kriminellen Abwehrzauber ganz vorn mit
dabei: der Volkswagen-Konzern.
Future of Motion heißt die Ausstellung, mit der
Abb.: Umeå Institute of Design
den Individualverkehr überhaupt. Folgt man den
15 Design- und Architekturschulen, deren Ent-
würfe ausgestellt werden, dann gehört die maximale
Anhäufung von privatem Blech auf minimalem
städtischem Raum definitiv der Vergangenheit an.
Die Universität von Monterrey (Mexiko) zeigt
unerschrocken anschaulich, wie soziale Ungleich-
heit und horrende Mieten endlose Verkehrsströme
erzeugen. Zudem habe das »Ideal des Individual-
verkehrs die Städte zerstört«. Eine Beobachtung,
die man in der VW-Autostadt nicht zwingend er-
wartet hätte.
In Zukunft wird man Autos nicht mehr besit-
zen, das scheint ausgemacht. Man wird sie nur
noch benutzen. Entsprechend gleiten in den Ani-
mationsfilmen klimaneutrale Transportkapseln
rücklegen dürfen, man nennt das Mikromobilität.
Ganz anders die Studierenden der schwedischen
Umeå-Universität: Sie machen die Bürger mit
Lufttaxis mobil, wahlweise auch mit schwimm-
fähigen Kleinstfahrzeugen für den Fall, dass den
Städten das Wasser bis zum Hals steht.
Nur die University of Technology im niederlän-
dischen Delft träumt weiter von der autogerechten
Stadt. Sie hat sogar ein Drive-in-Begräbnis im An-
gebot, bei dem die Hinterbliebenen sargnah in einem
verkehrsberuhigten Trauerraum parken. Blumen-
abwurfstelle und Andachtskomponente sind serien-
mäßig. Und geht es auch ganz ohne Fortbewegungs-
mittel? Offenbar schon. Die ETH Zürich hat einen
kreisrunden, festungsähnlichen und ziemlich asep-
tischen Wolkenkratzer entworfen, eine Stadt in der
Kampf gegen Klimawandel und steigende Meeres-
spiegel aufgegeben. Sie zeigt eine hochwasserresisten-
te Megapolis mit Hyperloops, die wie Riesenadern
durch den urbanen Organismus mäandern. Men-
schen sind darin kaum zu sehen, vermutlich lernen
sie gerade in Umerziehungslagern, wie toll ihre
wasserdichte Stadt gelungen ist.
Man sieht schon, auch eine autoferne Zukunft
muss nicht unbedingt ersehnenswert sein. Mit dem
Wissen wächst auch das Unwissen, erst recht über
die Zukunft. Könnte sich die Beschleunigungsmo-
derne nicht auch ganz anders entwickeln, sozusa-
gen gegen ihre kinetische Logik? Das Massachusetts
Institute of Technology ist noch unentschieden
und bringt eine radikal andere Verkehrswende ins
Spiel: Anstatt um den Globus zu hetzen, werden
kleine, mausgrau-klumpige Skulpturen auf Rä-
dern, die aussehen, als sei beim Bleigießen etwas
schiefgelaufen. Es sind Ruinen der untergegange-
nen Jetztzeit, die den Überlebenden als temporäre
Behausung dienen. Was für ein Kontrast: Als im
Jahr 2000 die VW-Autostadt eröffnet wurde,
waren biomorphe Formen groß in Mode; die
Konzernprodukte wurden präsentiert, als seien sie
natürliche Hervorbringungen einer autofreundli-
chen Evolution. In der untermotorisierten Zu-
kunftsfantasie der Yale-Forscher ist es umgekehrt:
Hier sind es die Überreste der technischen Zivilisa-
tion, die mit der Natur verschmelzen und wie
organische Technopflanzen aus der Erde wuchern.
Trotzdem hat die Szenerie nichts Düsteres, im
Gegenteil. Die Menschen leben wieder als Jäger

jetzt die VW-Autostadt in Wolfsburg die Ver-
gangenheit abschütteln und in die Zukunft
schauen will. Kuratiert hat sie die autoverliebte
Norman Foster Foundation, trotzdem hat der
VW-Konzern allen Grund, nervös zu werden.
Denn die Ausstellung ist nicht nur ein Requiem
auf den Verbrenner, sie ist auch ein Abgesang auf
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durch blitzsaubere Straßen und verbinden – wie
ein Entwurf der spanischen Universität Navarra
zeigt – engmaschig Stadt und Land. Manche die-
ser Fahrzeuge sehen aus wie Rennrasenmäher, an-
dere ähneln rollenden Briketts. Einige haben
Dreiräder an Bord, mit denen die Fahrgäste die
letzte Meile zum Arbeitsplatz selbstfahrend zu-
Stadt, bei der sich neue Wohncontainer mithilfe von
Lastendrohnen mühelos aufsetzen lassen. Vollständig
autofrei ist auch der 2,8 Kilometer lange Wander-
und Radweg, den die fröhlichen Urbanisten der Uni-
versität Tokio auf dem alten Express-Highway ihrer
Hauptstadt errichten wollen. Dagegen hat die
Tsinghua-Universität im chinesischen Shenzhen den
die Menschen wieder sesshaft und bleiben schön zu
Hause. Sie führen ein stationäres Leben im Hyper-
lokalen, sie genießen die ferne Nähe in einer selbst
gewählten, kontemplativen Immobilität.
Auch die Tagträumer der Yale-Universität ver-
stehen sich als Ethnologen der Zukunft und be-
enden das Zeitalter der Tempomoderne. Sie zeigen
und Sammler, und unter ihren zusammengelöte-
ten Sonnensegeln scheinen sie von einer postapo-
kalyptischen Heiterkeit ergriffen zu sein. Sie haben
den Fortschritt hinter sich und sind von den Hoff-
nungen der Vergangenheit erlöst. Wenn es ihnen
nicht mehr gefällt, ziehen die neuen Nomaden
einfach weiter. Die Autobahnen sind frei.

2 2 . 0 4 . bis 2 8 . 0 4 . 202 3

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Städtische Galerie, http://galerie.bietigheim-bissingen.de
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bis 14.05.2023: Videonale. 19 Festival für Video und zeitbasierte Kunstformen
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www.weserburg.de, Di–So 11–18 Uhr;
27. 4. – 21. 5. 2023: Lacuna – Inside a Dumpling
bis 23. 4. 2023: What is the Proper Way to Display a Flag?
bis 13. 8. 2023: So wie wir sind 4.0
bis 10. 9. 2023: Von De Stijl bis Boekie Woekie. Künstlerpublikationen
aus den Niederlanden
Kunsthalle Bremen Tel 0421-32 90 80, www.kunsthalle-bremen.de;
22. 4. – 20. 8. 2023: Kunst Vereint! Die frühen Jahre der Sammlung
Museen Böttcherstraße, Paula Modersohn-Becker Museum,
Ludwig Roselius Museum Böttcherstraße 6 – 10, 28195 Bremen,
www.museen-boettcherstrasse.de, Tel 0421-338 82-22;
ab 13. 5. 2023: Die Zeichnerin Paula Modersohn-Becker
Focke-Museum, Bremer Landesmuseum Schwachhauser Heerstraße 240,
Tel 0421-699 600-0, www.focke-museum.de,
Di 10–21 Uhr, Mi–Sa 10–17 Uhr, So 10–18 Uhr;
bis 2. 7. 2023: Olaf Schlote. Memories
bis 30. 6. 2023: Verschleppt. Versklavt. Vergessen? Zwangsarbeit in
Bremen 1939 – 1945
Übersee-Museum Bremen
Bahnhofsplatz 13, Tel 0421-160 38-0, www.uebersee-museum.de;
bis 5. 11. 2023: Kabinettausstellung „American Dreams – Bilder aus den USA“
Gerhard-Marcks-Haus Am Wall 208, 28195 Bremen, www.marcks.de,
Di–So 10–18 Uhr, Do 10–21 Uhr;
bis 7. 5. 2023: Sarah Pschorn. Records of Gravity
Overbeck-Museum Altes Packhaus Vegesack, Alte Hafenstr. 30, 28757 Bremen,
Tel 0421-663 665, www.overbeck-museum.de, Di–Fr 11–18 Uhr, Sa–So 11–17 Uhr;
bis 16. 7. 2023: Auf Sicht – Die Norddeutschen Realisten malen in Bremen
Universum® Bremen Wiener Straße 1a, www.universum-bremen.de,
Tel 0421-33 46-0; Die Mitbauausstellung im Universum® Bremen:
„Wolkenkuckucksheim – Bau dir deine Welt, wie sie dir gefällt!“
Hafenmuseum Speicher XI und Infocenter Überseestadt Am Speicher XI 1,
Tel 0421-303 82 79, www.hafenmuseum-speicherelf.de, Di – So 11 – 18 Uhr;
150 Jahre Hafen- und Stadtentwicklung hautnah!
FRANKFURT AM MAIN
SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT
bis 21.05.2023: Niki de Saint-Phalle
bis 29.05.2023: Monster Chetwynd
bis 29.05.2023: Elizabeth Price
www.schirn.de, Tel. 069/2998820, Römerberg, Di-So 10-19, Mi, Do-22
Städel Museum
bis 23.04.2023: Michael Müller: Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes
bis 03.09.2023: Italien vor Augen. Frühe Fotografien ewiger Sehnsuchtsorte
www.staedelmuseum.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 63, Di, Mi, Fr-So
10-18, Do 10-21 Uhr
GELSENKIRCHEN
Musiktheater im Revier
Großes Haus: Sa 19:30 Die verkaufte Braut (19.00 Einführung)!/!So 11:00 4. Fo-
yerkonzert Recordare!/!So 18:00 Don Pasquale (17.30 Einführung)!/!Kleines
Haus: Sa 19:30 Leonce und Lena, Tel. 0209/4097200
HAGEN
Kunstquartier Hagen
bis 06.08.2023: Outside/Inside – Cassa Nimes und Dia Zékány.
Zeitgenössische Malerei aus Ungarn
bis 30.07.2023: Emil Schumacher - Das frühe Werk und die Sammlung Lepke
bis 04.06.2023: Ulrike Rutschmann - Phantasmagoria into Nature
www.kunstquartier-hagen.de, Museumsplatz 1, 59095 Hagen
HALBERSTADT
Gleimhaus - Museum der deutschen Aufklärung
bis 30.04.2023: Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk der
ersten deutschen Berufsschriftstellerin – Ausstellung zum 300. Geburtstag
38820 Halberstadt, Domplatz 31 – Tel: 03941-68710 – www.gleimhaus.de
HALLE (SAALE)
Franckesche Stiftungen
19.03.2023 bis 04.02.2024: Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18.
Jahrhundert und heute Jahresausstellung
https://www.francke-halle.de, Di-So, Feiertag 10-17 Uhr
Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
bis 21.05.2023: Ich bin Du! Doris Ziegler: Malerei Friedemann-Bach-Platz 5,
06108 Halle (Saale), www.kunstmuseum-moritzburg.de
HAMBURG
Bucerius Kunst Forum
11.02. bis 21.05.2023: GABRIELE MÜNTER. MENSCHENBILDER
www.buceriuskunstforum.de, Alter Wall 12, tägl. 11-19, Do 11-21 Uhr
RALPH
GIBSON
SECRET
OF LIGHT
21. APRIL –
20. AUGUST 2023
#RalphGibsonDTH
DEICHTOR
HALLEN
INTERNATIONALE KUNST
UND FOTOGRAFIE
RALPH GIBSON, AUS DER SERIE THE SOMNAMBULIST, 1970
© RALPH GIBSON HAMBURG
Deichtorhallen Hamburg
bis 18.06.2023: Ragnar Axelsson. Where the world is melting.
bis 20.08.2023: Ralph Gibson. Secret of Light. Deichtorstr. 1-2, 20095 Hamburg,
www.deichtorhallen.de, Di-So 11-18, jeden 1. Do im Monat 11-21 Uhr
Ernst Barlach Haus
Kerben und Kanten Hermann Scherer. Ein Schweizer Expressionist
www.barlach-haus.de, Jenischpark, Hamburg, Di-So, Feiertag 11-18
HAMBURGER KUNSTHALLE
bis 07.05.2023: Paris ist meine Bibliothek. Zeichnungen und Druckgraphik von
Félicien Rops
bis 31.10.2023: Keine Illusionen. Malerei im Raum
bis 18.02.2024: Something new, something old, something desired
bis 31.12.2023: Impressionismus. Deutsch-französische Begegnungen
www.hamburger-kunsthalle.de, Tel. 040/428131200, Glockengießerwall 5, 20095
Hamburg, Di-So 10-18/Do 10-21 Uhr
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
bis 23.04.2023: Contemporary Craft: Young-Jae Lee
bis 20.08.2023: Made in China! Porzellan
bis 03.09.2023: Valentina Karga. Well Beings
bis 17.09.2023: The F*word. Guerrilla Girls und feministisches Grafikdesign
www.mkg-hamburg.de, Steintorplatz, 20099 Hamburg, Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr
Stiftung Historische Museen Hamburg - www.shmh.de
bis 31.07.2023: Museum f. Hamburg. Gesch.: Eine Stadt wird bunt
bis 30.10.0203: Deutsches Hafenmuseum PEKING
bis 07.05.2023: Museum der Arbeit: Wie alles begann
bis 12.02.2024: Jenisch Haus: Elbwärts
KAISERSLAUTERN
Do., 27. April, 20 Uhr: Cape Town Opera Chorus mit Werken von
Palestrina, Byrd, Bruckner, Pärt sowie traditionellen Liedern der
Zulu, Xhosa, Venda und Sotho. Tickets von 10,50 - 26,50 €
Fruchthalle Kaiserslautern, Tel. 0631 365-2316, www.fruchthalle.de
19. April –
3. Oktober 2023
Part 1
Deutsche Bank Collection
KARLSRUHE
ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
bis 23.04.2023: Matter, Non-Matter, Anti-Matter.
bis 04.06.2023: ole scheeren : spaces of life
bis 07.05.2023: Analívia Cordeiro. From Body to Code
bis 04.06.2023: The intelligent.museum is around the corner
bis 07.01.2024: Renaissance 3.0. Neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft
im 21. Jahrhundert
Dauerausstellung: zkm_gameplay. the next level Ausstellungen Online:
fortlaufend Critical Zones – Virtuelle Ausstellung
fortlaufend Iconoclash as a Digital Experience
bis 30.08.2023: Spatial Affairs Worlding – A tér világlása
bis 30.09.2023: Jazmina Figueroa. Call Signs
www.zkm.de, Tel. 0721/81000, Lorenzstr. 19, Mi-Fr 10-18, Do, Sa/So 11-18 Uhr
KASSEL
Fridericianum
03.12.2022 bis 29.05.2023: Roberto Cuoghi
21.01.2023 bis 28.02.2027: Kerstin Brätsch: MIMIKRY
www.fridericianum.org, Tel. +49 561 70727-20, info@fridericianum.org, Friedrichs-
platz 18, 34117 Kassel, Di, Mi, Fr-So, Feiertag 11-18, Do 11-20 Uhr
Hessen Kassel Heritage - Museen, Schlösser, Parks
10 Jahre UNESCO-Welterbe Bergpark Wilhelmshöhe: Schloss Wilhelmshöhe
mit Gemäldegalerie Alte Meister u. Antikensammlung, Löwenburg, Herkules;
Hessisches Landesmuseum, Neue Galerie: about: documenta
www.heritage-kassel.de, Di-So, Feiertag 10-17 Uhr
KIEL
Kunsthalle zu Kiel
bis 28.05.2023: Lovis Corinth – Die Grafik
Dauerausstellung: Wildes, Wüstes, Wunderschönes. Natur im Fokus der
Sammlung
www.kunsthalle-kiel.de, Tel. 0431/8805756, info@kunsthalle-kiel.de, Düstern-
brooker Weg 1, 24105 Kiel, Di, Do-So 10-18, Mi 10-20 Uhr
KÖLN
Kölnisches Stadtmuseum
bis 29.04.2023: POP-UP! BAR/RIKADE. Pop-up-Bar mit Liveprogramm und der
Ausstellung „1848 Revolution in Köln“
Museen der Stadt Köln:
Infos zu Ausstellungen und Veranstaltungen unter:
www.museen.koeln
Museum Ludwig Köln
bis 23.07.2023: Ursula – Das bin ich. Na und?
22.04. bis 27.08.2023: Bild/Gegenbild: Valie Export, Sanja Ivecović, Tarah
Krajnak, Ana Mendieta, Carrie Mae Weems
bis 30.11.2024: Schultze Projects #3 - Minerva Cuevas
Heinrich-Böll-Platz, 50667 Köln, Di-So 10-18 Uhr, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
NS-Dokumentationszentrum
bis 13.08.2023: Un | sichtbarer Terror. Orte rechter Gewalt in Deutschland
Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln, Di-Fr 10-18, Sa, So 11-18, 1. Do im Monat 10-22
Uhr
Rautenstrauch-Joest-Museum
bis 11.06.2023: Counter Images | Gegenbilder
Cäcilienstr. 29-33, 50667 Köln, Di-So 10-18, Do 10-20, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud
bis 23.04.2023: Sensation des Sehens. Die Sammlung Nekes: Vol. 1 Barock
Obenmarspforten, 50667 Köln, Di-So 10-18, 1. + 3. Do im Monat 10-22 Uhr
KÖNIGSTEIN
R EISS & SOHN
Buch- und Kunstantiquariat Auktionen
. schenbilder
Buch- und Graphikauktionen 03.-06. Mai 2023
Online Live-Bieten ohne Zusatzkosten
Neunte deutsche Bibel, Nürnberg 1483
Schätzpreis 70.000 €
Telefon: 0 61 74 - 92 72 0 - Fax: 0 61 74 - 92 72 49 - E-Mail: reiss@reiss-sohn.de
KREFELD
Kunstmuseen Krefeld
Kaiser Wilhelm Museum, Joseph-Beuys-Platz 1, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
ab 02.03.2023: Neue Räume in Sammlung in Bewegung - 15 Räume 15 Ge-
schichten
29.04. bis 15.10.2023: Freunde der Kunst - 40 Jahre sammeln
Haus Lange/Haus Esters, Wilhelmshofallee 91–97, Di-So. 11-17
bis 10.09.2023: Produktive Räume. Kunst und Design aus Krefeld
Tel. 02151 975580, Besuchen Sie uns auch online: www.kunstmuseenkrefeld.de
KÜNZELSAU
MUSEUM WÜRTH
bis 17.09.2023: Fähigkeiten! Kunst von besonderen Menschen in der
Sammlung Würth täglich 11-18 Uhr, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
MUSEUM WÜRTH 2
bis 16.07.2023: David Hockney. A Year in Normandie und Sammlung Würth
bis 16.07.2023: Georg Baselitz zum 85.Geburtstag (Atrium)
täglich 10-18, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
SAARBRÜCKEN
AUSSTELLUNG
Saarlandmuseum - Moderne Galerie
bis 04.06.2023: Hans Purrmann und der Akt – Zwischen Manet und Matisse
bis 06.08.2023: Ukraine – Greifbar: Krieg im Blick ukrainischer Künstler
www.modernegalerie.org, Bismarckstr. 11-15, T.0681.9964-234, Di-So 10-18, Mi-20
SCHWÄBISCH HALL
HIGHLIGHT
JOHANNITERKIRCHE
Dauerausstellung: Alte Meister in der Sammlung Würth
Di-So 11-17 Uhr, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
KUNSTHALLE WÜRTH
bis 05.11.2023: Rosenrot, Grasgrün und Quittengelb – Pflanzengeheimnisse in
der Sammlung Würth
Lange Str.35, täglich 10-18 Uhr, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
SCHWEINFURT
© Samuel Fosso, courtesy Jean Marc Patras, Paris
Samuel Fosso, 70’s Lifestyle series, 1975–78
SIEGEN
Museum für Gegenwartskunst Siegen
17.03. bis 06.08.2023: Laurenz Berges. Halten und Schwinden
17.02.2023 bis 11.02.2024: Neu-Entdeckungen:
Sammlung Lambrecht-Schadeberg und Sammlung Gegenwartskunst
17.03. bis 06.08.2023: Fotonotizen.
Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst
31.03. bis 11.06.2023: Studiolo: Blick ins Grüne
www.mgksiegen.de, Tel. (0271) 405 77 10, Unteres Schloss 1, 57072 Siegen
SINDELFINGEN
SCHAUWERK Sindelfingen
bis 20.08.2023: UNTIEFEN. Werke aus der Sammlung Schaufler
bis 08.10.2023: CHIHARU SHIOTA. Silent Word
www.schauwerk-sindelfingen.de, Mi-So 11-18 Uhr
STUTTGART
tri-bühne
Sa 19:00 Romeo und Julia!/!So 19:00 SETT 23 Das ist keine Bank!/!Fr 19:00
SETT 23 O, mia Dia - Sonnenaufgang der Göttinnen, Tel. 0711/2364610
ULM
HfG-Archiv / Museum Ulm
bis 21.05.2023: No Name Design
www.hfg-archiv.museumulm.de, Tel. +49 (0) 731 161-4381, hfg-archiv@ulm.de, Am
Hochsträß 8, 89081 Ulm, Di-So, Feiertag 11-17 Uhr
LEIPZIG Stadthaus Ulm
bis 01.05.2023: 40 Jahre laif Dokumentarische Fotografie, Eintritt frei
Oper Leipzig stadthaus.ulm.de, Mo-Mi, Fr, Sa 10-18, Do 10-20, So, Feiertag 11-18 Uhr
Opernhaus: Sa 19:00 Solitude!/!So 10:00 Familienführung Opernhaus Probe- kunsthalle weishaupt
bühne 2!/!So 11:00 Premieren-Matinée Parkettfoyer. Zu Benjamin Brittens „Peter bis 18.06.2023: Reine Formsache. Konstruktiv-konkrete Kunst aus der Sammlung
Grimes“!/!So 14:00 Oper zum Mitmachen Man sieht nur mit dem Herzen gut - www.kunsthalle-weishaupt.de, Tel. 0731 161 4360, Di-So 11-17 Uhr
zum Ballett „Der kleine Prinz“!/!So 17:00 Der Freischütz!/!Mo 19:00 Verleih uns VÖLKLINGEN
Frieden Peterskirche!/!Di, Mi 10:00 Gold Konzertfoyer!/!Do 11:00 Der Mann von
Pölarölara Mozart-Foyer!/!Musikalische Komödie: Sa 19:00, So 15:00, Di, Mi 19:30 WELTKULTURERBE VÖLKLINGER HÜTTE
Das Veilchen vom Montmartre (Sa Premiere)!/!Fr 19:30 Der Graf von Monte JULIAN ROSEFELDT. WHEN WE ARE GONE, bis 3.9.23
Christo, www.oper-leipzig.de JENS HARDER. THE STORY OF PLANET A, 16.4. bis 26.11.23
CHRISTIAN BOLTANSKI – Die Zwangsarbeiter|Erinnerungen – Zwei Dauerin-
LÜBECK stallationen Besucherservice: T. 06898/9100100, www.voelklinger-huette.org
Europäisches Hansemuseum Lübeck WEIMAR
bis 23.04.2023: Guter Stoff. Textile Welten von der Hansezeit bis heute
Goethe-Nationalmuseum
www.hansemuseum.eu, Telefon 0451-80 90 99 0, tgl. 10-18 Uhr (außer 24.12.) Goethe-Apparat – Goethes Arbeitszimmer virtuell erleben Frauenplan 1,
LÜNEBURG https://www.klassik-stiftung.de/ihr-besuch/ausstellung/goethe-apparat
Goethe-Nationalmuseum
Kunstsammlung Henning J. Claassen 22.04.-09.07.2023 Lebenswelten. Bürgerliches Wohnen zwischen Ideal und
50 Jahre Zeitgenössische Kunst aus 5 Kontinenten Fiktion Frauenplan 1, www.klassik-stiftung.de/wohnen
www.kunstsammlung-henningjclaassen.de, Do-So 11-18 Uhr
ZITTAU
MANNHEIM
Städtische Museen Zittau, www.museum-zittau.de
Kunsthalle Mannheim www.kuma.art bis 01.07.2023: 1000 & Deine Sicht. Vom Ausbruch zum Aufbruch aus der
bis 08.10.2023: 1,5 Grad Pandemie Klosterstr. 3, Tel. 03583/ 554790, Do/Fr 10-17, Sa/So 14-18 Uhr
bis 23.04.2023: Bildhauerzeichnungen
Tel. 0621/2936423, Friedrichsplatz 4, Di, Do-So/Fei 10-18, Mi-20, 1. Mi/Monat-22h
TECHNOSEUM, Landesmuseum für Technik und Arbeit LIECHTENSTEIN
17.11.2022 bis 12.11.2023: Auf Empfang!
Die Geschichte von Radio und Fernsehen VADUZ
www.technoseum.de, Tel. +49 (0) 621 / 42 98 - 9, info@technoseum.de, Muse-
umsstraße 1, Mannheim, tägl. 09-17 Uhr
50 Shapes of Prey
MÖNCHENGLADBACH
Museum Abteiberg
bis 06.08.2023: SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH
Feldversuch #2: Brecht – Filliou
bis 07.01.2024: 100 JAHRE STIFTUNG WALTER KAESBACH
EXPRESSIONISMUS AM MUSEUM ABTEIBERG
26.03. bis 20.08.2023: JULIA SCHER Hochsicherheitsgesellschaft
www.museum-abteiberg.de, Abteistraße 27 / Johannes-Cladders-Platz
19.01. – 7.05.2023
MÜNCHEN
www.landesmuseum.li
Jüdisches Museum München
Dauerausstellung: Stimmen_Orte_Zeiten – Juden in München
bis 21.05.2023: Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen ei-
ner Idee
www.juedisches-museum-muenchen.de, Tel. 089-233-96096,
juedisches.museum@muenchen.de, St.-Jakobs-Platz 16, 80331 München, Di-So
10-18 Uhr
Kunsthalle München, 03.02.–27.08.2023: ÖSTERREICH
Flowers Forever. Blumen in Kunst und Kultur tägl. 10–20 Uhr, 17.5., 21.6., 19.7.:
10–22 Uhr, www.kunsthalle-muc.de, 089/22 44 12, Theatinerstr. 8, München
WIEN
Literaturhaus München
bis 11.06.2023: SIMONE DE BEAUVOIR & DAS ANDERE GESCHLECHT
Leopold Museum
literaturhaus-muenchen.de, Tel. 089-291934-0, info@literaturhaus-muenchen.de, Dauerausstellung: WIEN 1900. Aufbruch in die Moderne
Salvatorplatz 1, tägl. 11-18 05.04. bis 10.09.2023: AMAZING. The Würth Collection
Museum Villa Stuck, Sonderausstellung: leopoldmuseum.org, Museumsplatz 1, 1070 Wien, Mo, Mi-So, Feiertag 10-18 Uhr
bis 14.05.2023: Alice Rekab - Mehrfamilienhaus. Ricochet #14
Dauerausstellung: Künstlervilla und Historische Räume von Franz von Stuck
www.villastuck.de, Di-So 11-18 Uhr, 1. Freitag im Monat 11-22 Uhr SCHWEIZ
Münchner Stadtmuseum
bis 07.01.2024: Nachts. Clubkultur in München ZÜRICH
22.04.2023 bis 07.01.2024: (K)ein Puppenheim. Alte Rollenspiele und neue Men-
Literaturmuseum Strauhof
www.muenchner-stadtmuseum.de, St.-Jakobs-Pl., T. 089/23322370, Di-So 10-18 02.03. bis 21.05.2023: Satanische Verse & verbotene Bücher
NS-Dokumentationszentrum München
strauhof.ch, Augustinergasse 9, 8001 Zürich, Di, Mi, Fr 12-18, Do 12-22, Sa, So 11-17
Dauerausstellung: München und der Nationalsozialismus Wechselausstellung
TO BE SEEN. queer lives 1900-1950 Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München,
Tel. 089-2336700, Di-So 10-19 Uhr, Di-So 10-19 Uhr, www.nsdoku.de
NEU-ULM
Edwin Scharff Museum. Kunstmuseum & Kindermuseum
03.12.2022 bis 07.05.2023: KAMPF UM SICHTBARKEIT. Künstlerinnen der Natio-
nalgalerie vor 1919.
www.edwinscharffmuseum.de, Tel. +49 731 7050 2555, esm@neu-ulm.de, Petrus-
platz 4, 89231 Neu-Ulm, Di, Mi 13-17, Do, Fr 13-18, Sa, So, Feiertag 10-18 Uhr
NEUMARKT IN DER OBERPFALZ
Museum Lothar Fischer, www.museum-lothar-fischer.de
12.02. bis 11.06.2023: Caroline Achaintre - Doppelgänger
Tel. 09181/510348, Weiherstr. 7 a, Mi-Fr 14-17, Sa/So 11-17 Uhr
NÜRNBERG
GERMANISCHES NATIONALMUSEUM
bis 01.10.2023: Das Mittelalter. Die Kunst des 15. Jahrhunderts.
ab 27.10.2022: Handwerk und Medizin. Neue Dauerausstellung
Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
ab 30.03.2023: Horizonte. Neue Sonderausstellung
Geschichten und Zukunft der Migration.
Tel. 0911-13310, Kartäusergasse 1, Di-So 10-18, Mi-20.30 Uhr, Mo geschl.
Kunstvilla im KunstKulturQuartier
bis 11.06.2023: Naturstoff / Kunststoff. Materialität in der Nürnberger Kunst
kunstvilla.org, Blumenstr. 17, Di, Do-So 11-18, Mi 11-20 Uhr
OBERHAUSEN
LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen
bis 07.05.2023: BARBARA KLEMM - Fotografien von 1967 bis 2019
www.ludwiggalerie.de, Tel. 0208 41249 28, Konrad-Adenauer-Allee 46, 46049
Oberhausen, Di-So, Feiertag 11-18
Nächste
OSNABRÜCK
Woche
Museumsquartier Osnabrück
Urlaub zu
Sammlung Felix Nussbaum bis 6.8.2023: Guez: Inmitten imperialer Gitter
www.museumsquartier-osnabrueck.de in der ZEIT und
auf ZEIT ONLINE
REGENSBURG
Traumpreisen
Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg
31.03. bis 18.06.2023: Emil Orlik an Max Lehrs. Künstlerpost aus aller Welt
www.kunstforum.net, Di-So 10-17, Do 10-20, Feiertag 10-17
Alle Angebote der Reiseauktion
ROSTOCK
finden Sie unter
Kunsthalle Rostock
05.03. bis 30.04.2023: abgegeben - Wochenkrippen in der DDR
www.kunsthallerostock.de, Tel. 03813817000, kunsthalle@rostock.de, Hamburger
5 zeit.de/reiseauktion
Str. 40, Di-So, Feiertag 11-18 Uhr
56 GLAUBEN & ZWEIFELN
Demo verboten – Problem noch da
Nach antisemitischen Parolen wurden jetzt in Berlin zwei Kundgebungen verboten. Vier Autoren erklären, warum das nicht genug ist
Am 8. April, dem
Samstag vor Ostern,
versammelten sich
in Berlin-Neukölln
propalästinensische
Demonstranten. Dabei
sollen judenfeindliche
Slogans gerufen worden
sein. Zwei weitere
Demos, die für das
darauffolgende
Wochenende in der
Hauptstadt geplant
waren, wurden untersagt
Die Wut auf
Israel ist heftig
Ich bin Palästinenser. Mein Großvater kämpfte 1948 aufseiten
der arabischen Armeen gegen den neuen Staat Israel. Ich selbst
wurde 1976 als arabisches Kind in einer israelischen Kleinstadt
geboren und wuchs im Nahostkonflikt auf, bis ich mit 28 Jahren
nach Deutschland kam. Meine Eltern, die noch immer in Israel
leben, aber sich mehr als Palästinenser fühlen, werden manchmal
nur deshalb diskriminiert, weil sie Araber sind. Aber wenn Sie
mich fragen, ob es richtig ist, dass in Berlin zwei propalästinensi-
sche Demonstrationen verboten wurden, antworte ich: Ja, absolut!
Wir erleben in Deutschland immer wieder Kundgebungen
für die palästinensische Sache – was legitim ist. Nicht legitim ist,
wenn es antisemitisch eskaliert. Als Muslim ärgert mich auch,
wenn der Fastenmonat Ramadan für Ausschreitungen benutzt
wird, nach dem Vorbild von Hamas und Hisbollah in Nahost,
die mit Vorliebe in der muslimischen Fastenzeit zur Gewalt gegen
Juden aufstacheln. Ich finde es unerträglich, wenn Palästinenser
in Deutschland sich nicht von judenfeindlichen Klischees dis-
tanzieren. Am Osterwochenende riefen Demonstranten in Berlin
»Tod den Juden«. Ich habe in Israel zwar auch schon einzelne
Idioten rufen hören »Tod den Arabern«. Aber Sorge macht mir
der wachsende Judenhass junger Migranten hierzulande.
In meiner Arbeit als Psychologe und Experte für Gewalt-
prävention ist Israel mittlerweile das emotionalste Thema. Ich
nenne das die TikTok-Radikalisierung: In sozialen Medien wird
der Nahostkonflikt so einseitig, so schwarz-weiß dargestellt, dass
eine enorme Wut auf die Juden entsteht. Neuestes Beispiel dafür
ist das Elf-Sekunden-Video aus der Al-Aksa-Moschee in Jerusa-
lem, das am Karfreitag entstand und zeigt, wie israelische Poli-
zisten in der Moschee auf dem Tempelberg Jugendliche ver-
prügeln. Das hat heftigste Empörung ausgelöst. Und kaum einer,
der das sieht, fragt sich, was junge Männer mit Steinen, Schlag-
stöcken und Feuerwerkskörpern in dem Gotteshaus zu suchen
hatten. Die israelische Polizei hat mit ihrer Reaktion Bilder ge-
schaffen, die den radikalen Islamisten in die Hände spielen. Die
liefern dazu das passende Narrativ, man müsse die Al-Aksa-
Moschee vor einer Übernahme durch die Juden schützen.
Israels Regierung hat immer erklärt, dass das Unsinn ist. In
Wahrheit gibt es nur ein paar wenige Ultraorthodoxe, die von
einem Tempel träumen. Jetzt hat Benjamin Netanjahu, um zu
deeskalieren, sogar den Tempelberg für jüdische Besucher gesperrt.
Aber die Rechten in seiner Regierung bestätigen die Vorurteile
der Islamisten, die den heiligen Berg zum Kulminationspunkt
des Konflikts gemacht haben. Apropos Religion: Meine Familie
war nie fromm, aber ich habe in meiner Jugend einen fundamen-
talistischen Imam verehrt. In Deutschland erlebe ich jetzt, wie
israelbezogener Antisemitismus bei religiösen wie säkularen
Jugendlichen verfängt. Die Demos wurden von einer marxisti-
schen Gruppe angemeldet, aber es liefen auch Islamisten mit.
Ich glaube: Verbieten reicht nicht. Wir müssen junge Migran-
ten genau wie junge Deutsche aufklären und vom Antisemitismus
befreien. Bis jetzt gibt es dafür keine politische Strategie.
Ahmad Mansour, 47, ist Psychologe und Gründer von MIND
Prevention, einer Initiative zur Extremismusprävention.
Zuletzt erschien von ihm »Operation Allah« (S. Fischer) über
die Gefahren des politischen Islams. Er lebt in Berlin
Die Polizei schritt
in Berlin nicht ein
Bei einer Demonstration in Berlin wurden am Karsamstag
Terroristen verherrlicht, die Kassam-Brigaden der Hamas und
die marxistisch-leninistische Terrororganisation PFLP glorifi-
ziert und antisemitische Parolen wie »Tod den Juden! Tod
Israel!« gerufen. Die Polizei schritt nicht ein.
Ein Polizeisprecher sprach im Tagesspiegel gar von »einem
störungsfreien Verlauf der Veranstaltung«. Ermittlungen seien
aber möglich, wenn jemand Anzeige erstatte. Die Behörden in
Berlin haben auf das Judenhass-Happening vor Ostern dann doch
reagiert und Folgedemonstrationen verboten. In zwei Instanzen
wurden die Verbote vor den Verwaltungsgerichten bestätigt.
Allein steht die Polizeipressestelle mit ihrer Fehlleistung nicht:
Diese Woche erklärte die Kassler Staatsanwaltschaft, fast zehn
Monate nach Strafanzeigen wegen Volksverhetzung und Kollek-
tivbeleidigung bei mehreren judenentwürdigenden Kunstwerken
der documenta 15 nicht zu ermitteln. Begründung: Der öffent-
liche Frieden sei nicht gestört.
Meine Gespräche mit jüdischen Gemeinden belegen das
Gegenteil. Doch die Staatsanwaltschaft findet, dass die Beschul-
digten wohl »einem unvermeidbaren Verbotsirrtum« unterlegen
seien. Sie hätten annehmen dürfen, dass ihre Werke von der
Kunst- und Meinungsfreiheit gedeckt seien, da sie über Jahre
hinweg andernorts unbeanstandet ausgestellt wurden. Steht die
Würde von Jüdinnen und Juden jetzt unter Kulturvorbehalt bei
ausländischer Herkunft der Antisemiten? Inakzeptabel!
Während der israelischen Militäroperation »Starker Fels«
2014 als Reaktion auf den Raketenbeschuss aus Gaza verüb-
ten drei Palästinenser einen Brandanschlag auf die Wupper-
taler Synagoge. Deutsche Gerichte sahen keine antisemiti-
schen Motive. Ich frage: Was gibt es Antisemitischeres als das
Anzünden einer Synagoge?
Verantwortlich für die jüngsten Berliner Demos sind Akti-
visten aus dem Umfeld der Gruppe PFLP, in Deutschland durch
die Flugzeugentführung von 1977 bekannt, und ihrer Vorfeld-
organisation Samidoun. Wann erwirkt die deutsche Politik für
sie ein Betätigungsverbot? Vor Jahren haben Jair Lapid, der
spätere Ministerpräsident Israels, und weitere Abgeordnete aus
Knesset und Bundestag, darunter auch ich, den damaligen Innen-
minister de Maizière zu einem Verbot aufgefordert. Nichts ge-
schah. Ich setze darauf, dass Nancy Faeser hier energischer vor-
geht als ihre lustlosen Amtsvorgänger.
Wenn das Bundesverfassungsgericht recht hat, dass »antisemi-
tische Konzepte« gegen die »freiheitlich demokratische Grund-
ordnung« verstoßen, müssen wir die rote Linie, wo Meinungs-,
Versammlungs- und Kunstfreiheit aufhören und der Schutz der
Menschenwürde beginnt, neu vermessen. Bei der Auslegung von
Rechtsbegriffen wie »öffentlicher Frieden« sollten jüdische Per-
spektiven berücksichtigt und nicht übergangen werden.
Berlin, Wuppertal und Kassel zeigen: Israelhass bedroht die
jüdische Gemeinschaft in Deutschland direkt. Mit Sensibilisie-
rung von Polizei und Justiz sowie mit energischen Verboten muss
Deutschland zeigen, dass wir Antisemitismus nicht dulden.
Volker Beck, 62, ist Vorsitzender der Deutsch-Israelischen
Gesellschaft und Geschäftsführer des Tikvah Instituts. Für die
Grünen saß er im Bundestag, war religionspolitischer Sprecher
Palästinenser dürfen
ihren Unmut äußern
Die antisemitischen Parolen auf der Demonstration in Berlin
kommen mir vor wie ein Déjà-vu. Ähnliche Rufe auf deutschen
Straßen hatten wir schon 2014 und zuletzt im Mai 2021, in
beiden Fällen als Reaktion auf militärische Eskalationen zwischen
Israel und der Hamas in Gaza. Die Empörungsreflexe funktio-
nieren ebenfalls identisch. Politik und Öffentlichkeit zeigen sich
schockiert, ein oder zwei Wochen klagt man über Judenhass
unter Muslimen, dann wird das Thema ad acta gelegt. Bis zur
nächsten Runde zwischen Israel und der Hamas.
Natürlich haben diejenigen Recht, die ein stärkeres Vorgehen
der Polizei und Staatsanwaltschat gegen antisemitische Hetze
fordern. Die berechtigte Empörung über offenen Judenhass darf
jedoch nicht dazu führen, dass jeglicher Protest gegen die israe-
lische Besatzung als antisemitisch gebrandmarkt wird. Unter den
Demonstranten gibt es unterschiedliche Menschen – viele sind
muslimisch, einige davon palästinensisch. Ich meine: Gerade für
Palästinenser, die selbst (oder deren Familien) von dem Konflikt
betroffen sind, muss es hierzulande möglich sein, ihren Unmut
über die seit Jahrzehnten andauernde Unterdrückung ihres
Volkes laut zu äußern. Ja, auch auf deutschen Straßen.
Auch ich tue mich mit einigen palästinensischen Positio-
nen schwer und habe in der Vergangenheit immer wieder
hitzige Diskussionen mit Palästinensern geführt. Viele wei-
gern sich bis heute, Israel als Tatsache anzuerkennen – mehr
als 75 Jahre nach der Gründung des Staates. Einige Ge-
sprächspartner tun so, als hätten sie es mit Voldemort aus den
Harry Potter-Büchern zu tun, und möchten nicht einmal das
Wort »Israel« in den Mund nehmen.
Als Israeli und Jude bin ich alles andere als glücklich, wenn
ich feststelle, wie weit verbreitet Ressentiments gegen Israel
(und auch gegen Israelis) unter Palästinensern sind. Doch
dann erinnere ich mich daran, dass Palästinenser gute Gründe
haben, Israel zu hassen. Denn Menschen, die selbst seit Jahr-
zehnten unter einer Besatzung leben müssen oder deren Vor-
fahren vertrieben wurden, haben das Recht darauf, die Besat-
zungsmacht zu hassen, und zwar unabhängig davon, welche
Religion und Nationalität die Besatzer haben.
Nein, Gewaltaufrufe sind nicht zu dulden. Ansonsten
halte ich mich als Israeli aber mit Empfehlungen zurück, was
Palästinenser sagen dürfen und was nicht. So falsch beispiels-
weise ein totaler Boykott Israels auch sein mag: Wäre es nicht
eine Anmaßung, Menschen, die unter einem Besatzungs-
regime leben, zu verbieten, eine solche Forderung zu stellen?
Das deutsche Bekenntnis zu Israel darf jedenfalls nicht so aus-
gelegt werden, dass Palästinenser in Deutschland mundtot
gemacht werden. Das bedeutet keineswegs, dass sie einen
Freifahrtschein für Gewalt oder Hetze bekommen. Ich wün-
sche mir, dass wir die Zeit bis zum nächsten Skandal nutzen,
um aufzuklären, wo die Grenze zwischen leidenschaftlicher
Kritik an Israel und Volksverhetzung verläuft.
Meron Mendel, 47, ist Professor für transnationale Soziale
Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in
Frankfurt am Main. Sein neues Buch Ȇber Israel reden. Eine
deutsche Debatte« (Kiepenheuer & Witsch) wurde soeben für
den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiert
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Foto: Michael Kuenne/ddp
Wir müssen unser
Feindbild korrigieren
Mit 23 Jahren kam ich als Antisemit nach Deutschland. Ich
fürchte, dass es anderen muslimischen Migrantinnen und
Migranten ebenso erging. Denn die Sozialisation in unseren
Herkunftsländern war von Hass gegen Juden geprägt. Ich kam
aus Algerien und hasste vor allem den Staat Israel. Ich glaubte:
Juden sind Täter, Muslime Opfer. Dieser Irrglaube ist bis heute
populär. In Deutschland nimmt man ihn aber nicht ernst.
Immerhin: Nach dem skandalösen Osterwochenende mit
Hetzparolen wie »Tod, Tod Israel« wurden nun solche Demons-
trationen verboten. Doch Verbote bringen den Hass nicht zum
Verschwinden. Wir müssen unser Feindbild korrigieren. Deshalb
habe ich, mittlerweile Dozent für Religionspädagogik in Frei-
burg, den Antisemitismus meiner Herkunftskultur erforscht und
ein Buch geschrieben: Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit
fatalen Folgen. Ich will, dass Muslime und Christen nicht länger
zum Hass gegen Juden erzogen werden, weil ich diesem Hass
selber ausgeliefert war. Schon mit vier oder fünf Jahren hörte ich
das Wort »Jude« (im Algerischen yhūdī) in der Koranschule. Mein
Lehrer sagte zu einem Jungen: »Du Jude, benimm dich.« Ich
wusste nicht, was das Wort bedeutet, aber verstand, dass ich mich
benehmen muss, damit ich nicht als »Jude« beleidigt werde.
Ich erinnere mich auch, wie der Imam, mein Onkel mütter-
licherseits, seine Predigt stets mit dem Bittgebet beendete: »Möge
Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören! Möge
Allah die Muslime im Kampf gegen die Juden unterstützen.« Bis
heute wird dieses Bittgebet in Algerien und anderen arabischen
Ländern gesprochen. Was hilft dagegen? Eine Erinnerungskultur,
die das Verdrängte erkundet. So wurden Juden in Medina im
Jahr 624 auf Befehl des Propheten enteignet und vertrieben,
Kinder und Frauen versklavt, Männer enthauptet. Das Gegen-
beispiel Andalusien, wo im Mittelalter unter muslimischer Herr-
schaft die Juden und Christen in Frieden gelebt haben sollen,
gilt heute als Rückprojektion jüdischer politischer Romantik.
Fest steht: Islamischen Antijudaismus gibt es nicht erst seit
der Staatsgründung Israels. Es gab Pogrome und Vertreibun-
gen in Granada 1066, in Fes 1565, in Bengasi 1785, in Algier
1815, in Kairo 1844. Vor der Kolonisierung des Maghreb
waren Juden dort drastischen Restriktionen unterworfen. In
Algerien und Marokko wurden sie bei der Entrichtung der
Kopfsteuer durch Ohrfeige oder Stockschlag gedemütigt.
Der christliche Antisemitismus dann brachte einen fatalen
Kulturtransfer. So war das gut sichtbare Tragen eines gelben Fli-
ckens auf den Kleidern der Juden eine muslimische Erfindung,
die von der katholischen Kirche des Mittelalters übernommen
und von den Deutschen im Holocaust grausam perfektioniert
wurde. Wer Judenhass heute überwinden will, sollte die Ge-
schichte kennen. Auch die der 900.000 Juden, die seit 1948 aus
den arabischen Staaten und seit 1979 aus dem Iran flohen.
Diese Aufklärung muss im deutschen Schulunterricht stattfin-
den. An meiner Hochschule organisieren wir heute Reisen nach
Israel für muslimische Studierende. Ich wünsche mir, dass sie
etwas anderes über das Judentum lernen als einst ich.
Abdel-Hakim Ourghi, 55, ist Islamwissenschaftler. Sein
neues Buch »Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen
Folgen« erscheint am 22. Mai im Claudius Verlag
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

ENTDECKEN

Foto: Julia Sellmann für DIE ZEIT

Wie geht Liebe?

Besuche bei Helga Appel aus Schleswig und ihrer Tochter Lena VON BRITTA STUFF
58
Der Arzt sagte: Ihr Kind ist schwerbehindert. Es wird wahrscheinlich
ein Leben lang gewickelt und gefüttert werden müssen
Aus dem Buch »Die Dinge. Eine Geschichte
der Frauen in 100 Objekten« von Annabelle
Hirsch: Es ist schon einige Jahrzehnte her,
da wurde die amerikanische Anthropologin
Margaret Mead einmal während eines
Vortrags an einer Universität gefragt, welcher
Gegenstand ihrer Meinung nach als erstes
Anzeichen unserer Zivilisation gewertet
werden kann. Der Student hatte wahrschein-
lich erwartet, dass sie über einen Tontopf oder
eine Speerspitze, vielleicht auch über irgend-
eine Form von technischer Errungenschaft,
irgendetwas Handfestes spricht, doch Mead
antwortete nach kurzem Überlegen kryptisch:
»Ein verheilter Knochen.«
Wenn ein Tier sich in der Natur etwas
breche, so ihre Argumentation, dann wären
seine Überlebenschancen gleich null. Es
dauere mehrere Wochen, bis so eine Fraktur
wieder zusammenwachse, in dieser Zeit könne
es sich weder zu einer Wasserquelle bewegen
noch jagen, es würde also verhungern,
verdursten oder anderen Tieren zum Opfer
fallen. Knochenfunde, die beweisen, dass ein
Mensch viele Jahrtausende vor Christus mit
einem gebrochenen Oberschenkelknochen
überlebt hatte, sprechen dafür, dass jemand
da gewesen war, um sich dieser Person anzu-
nehmen.
Die Mutter fragt: Möchten Sie Bilder sehen?
Dann wischt sie auf ihrem Handy und mur-
melt: Wo ist sie denn? Doch sie findet nur Baby-
fotos ihrer Enkelin, ihr Sohn ist vor Kurzem
Vater geworden. Ich fotografier sie wohl nicht
mehr so oft, sagt die Mutter.
Ein Haus in Schleswig an der Schlei, die
Tochter ist in der Betreuung, die Mutter sitzt am
Küchentisch und sagt: Na ja, sie ist ja auch nicht
die Schönste.
Seit über vierzig Jahren leben die beiden
zusammen.
Wie es begann? Durch Zufälle, sagt sie.
Geburt
Die Mutter stammt aus der Nähe von Rends-
burg, 30 Kilometer von Schleswig entfernt,
geboren 1956. Als sie noch ein Kind war, gab es
in Schleswig eine Einrichtung für Behinderte,
die Rendsburger Kinder zogen einander auf:
Schleswig macht die Tore auf, Helga kommt im
Dauerlauf.
Höchststrafe war das, sagt die Mutter.
Vielleicht hatte sie, gelernte Großhandels-
kauffrau, schon ein bisschen Torschlusspanik,
als sie den zukünftigen Vater ihrer Tochter mit
Mitte zwanzig in einer Disco in Schleswig zum
ersten Mal sah.
Sie kauften ein Reihenhaus, dann schlugen
die Hormone ein, sagt sie.
Im zweiten Monat: Blutungen. Der Frauen-
arzt sagte: Das wird eine Fehlgeburt. Und:
Mutterpass gibt’s erst mal nicht. Ich zieh das jetzt
durch, sagte sie zu sich selbst.
Auf dem Polterabend erzürnten sie einander
so, dass sie dachten, sie sollten es vielleicht lassen.
Man konnte wenig sehen auf dem Ultra-
schallbild, außer dass der Fötus sehr klein war.
Von einer Fruchtwasseruntersuchung sprach
damals keiner.
Ab dem siebten Schwangerschaftsmonat
wies der Arzt sie immer wieder ins Krankenhaus
ein, sie hing am Tropf. Das Kind wollte nicht
kommen.
Im Februar, zwei Wochen nach Termin, Kai-
serschnitt.
Das Fruchtwasser war grün.
Sie wurde mit dem Rollstuhl zum Inkubator
gefahren.
Ein winziges Baby mit spitzen Gesichtszügen.
Es sieht aus wie Micky Maus, dachte sie. Sie
sagte: Gott, ist das hässlich.
Eigentlich sei sie kein Mensch, der leicht in
Panik gerät, sagt die Mutter.
Aufnahmebefund: Blaß-rosiges, deutlich beein-
trächtigt wirkendes, untergewichtiges weibliches
Neugeborenes.
Nach sechs Wochen kamen sie nach Hause.
Sie kaufte ein Fotoalbum und begann, das
Deckblatt auszufüllen.
Buch »Mein Kind«: Du kamst am Freitag ,
dem 11. Februar 1983 um 15.15 Uhr in
Rendsburg auf die Welt und bist im Zeichen
Wassermann geboren. Bei der Geburt warst du
45 cm groß und 2320 gr schwer, hattest blaue
Augen und braune Haare.
Das Kind blieb klein, es wuchs langsam. Es
drehte sich nicht, hob nicht den Kopf, spielte
nicht mit den Händen. Sie dachte: Ich muss
jetzt irgendwie schauen, wie ich da durch-
komme.
Kreiskrankenhaus Schleswig, Röntgenabteilung:
Insgesamt relativ kleiner Schädel.
Augenärztl. Konsil Dr. Oggel: links Iriskolobom
nasal unten als Fehlbildung.
Dr. P. Günter, Facharzt für Orthopädie: Die
Pat. ist eine Mangelgeburt.
In einem Sonderkrankenhaus zur Entwicklungs-
förderung und Rehabilitation, zehn Monate
nach der Geburt, sagte ihr der Arzt: Ihr Kind ist
schwerbehindert, körperlich und geistig. Es wird
wahrscheinlich ein Leben lang gewickelt und
gefüttert werden müssen. Es wird nicht
sprechen, nicht allein leben können. Es wird
vielleicht sehen und hören, aber es wird Sie nicht
verstehen.
Danach rief sie heulend ihre Mutter an und
sagte: Er hat es ausgesprochen.
Kinderzentrum Pelzerhaken, 19.12.1983:
Einen geeigneten Schaumstoffkeil werden wir
den Eltern mitgeben, ebenso eine kippbare
Ortho-Sitzschale mit Fahrgestell aus unserer
Sammelstelle.
Wir sind an der weiteren Entwicklung des
Mädchens interessiert.
Auf den Bildern im Album sieht man das Kind
und die Mutter: überblitzte Geister, die ins Leere
starren.
Buch »Mein Kind«: Deine ersten Krabbelversu-
che unternahmst du am . Deine ersten
Stehversuche gelangen dir am 22.9.84, und seit
dem läufst du selbständig. Deine ers-
ten Worte sprachst du am . Flügelchen ins Wasser geworfen und ihr beim
Sie ließ das Kind taufen, weil sich das so
gehört. In der Kirche hatte sie kurz das Gefühl,
dass sie heulen muss. Dann bekam sie einen
Lachanfall. Wie benehme ich mich denn,
dachte sie über sich selbst. Peinlich.
Sie führte Tagebuch über die Krampfanfälle,
die das Kind in den ersten Jahren hatte, und
heftete die Krankenhausberichte ab, wenn bei-
spielsweise der Notarzt hatte kommen müssen.
Bei der Aufnahme war der zehn Monate alte
Säugling noch krampfbereit mit röchelnder
Atmung.
Über die Uni-Klinik Kiel ließ sie das Blut nach
Texas zur Genanalyse schicken.
Möglicherweise handelt es sich um ein MCA/
MR-Syndrom (multiple cogenital anomalies/
mental retardation syndrome).
Und bekam Antwort.
Trotz umfangreicher Bemühungen bleibt die
diagnostische Zuordnung weiterhin unklar.
Sie blieb zu Hause und arbeitete zunächst in
Minijobs. Sie lernte, dass es ihr nicht guttut,
andere Mütter mit ihren properen Kindern zu
treffen, und dass Blicke immer vom Kind zur
Mutter und wieder zurück gehen. Irgendwo
muss das ja herkommen.
Mit sieben griff die Schulpflicht, Schule für
geistig Behinderte, ganztags.
Aus den Zeugnissen:
In deiner Fensternische fühlst du dich wohl.
In der Einzelförderung hast du runde und kan-
tige Gegenstände ertastet.
Du kannst Berührung in deinem Gesicht zulas-
sen.
Im Vorhaben »Wir säen Körner« hat sie sich sehr
interessiert gezeigt und gerne in die Blumenerde
gegriffen.
Die gesungenen Lieder begleitete sie mit der
Trommel, wobei die Lehrkraft den Takt mit ihr
gemeinsam schlug.
Beim Vorhaben »Ich bin ich« wurde sie durch
die Mitschülerinnen einbezogen.
In dem Vorhaben »Kennenlernen einheimischer
Tiere« konnte sie lebende Hühner anfassen.
Zur Entspannung lag sie gern auf dem Wasser-
klangbett.
Das Kollegium der Peter-Härtling-Schule
wünscht Lena alles Gute auf ihrem weiteren
Lebensweg.
Leben
Die Tochter sitzt auf einem großen Kissen in der
Nähe des Fernsehers, im Wohnzimmer des Klin-
kerhäuschens, sie wiegt sich vor und zurück, gibt
Laute von sich, die zufrieden klingen, sie hat eine
Spieluhr in der Hand, wenn sie die bewegt, ertönt
eine blecherne Melodie. Es ist Frühling, es ist
Sommer, es ist Herbst, es ist Winter.
Was die Mutter häufig hört: Das könnte ich
nicht.
Man kann relativ viel, findet sie.
Sie spricht langsam und sachlich, als würde
sie bei den insgesamt vier Begegnungen, mal in
Anwesenheit der Tochter, mal ohne sie, nicht ihr
Leben wiedergeben, sondern einen Geschäfts-
bericht, bei dem manchmal zu ihren Ungunsten
gemauschelt wurde.
ENTDECKEN
Die Tochter ist 1,31 Meter groß geworden
und wiegt etwa 32 Kilo. Ein Arzt hatte gesagt,
dass er glaube, sie werde die Pubertät nicht erle-
ben, sie werde an ihrem Nierenleiden sterben,
sich verschlucken, einen Krampfanfall nicht
überleben, aber er hat sich geirrt.
Und heute?
Wenn die Mutter von Fremden gefragt wird,
was die Tochter hat, sagt sie: Lange Geschichte,
im Grunde ist sie ein Baby.
Sie kann an beiden Händen gehalten ein paar
Schritte gehen, sie kann sitzen, lächeln, manch-
mal lachen, manchmal weinen. Eine kleine,
gebückte, friedliche Frau.
Manche Kinder, deren Eltern die Fürsorge
mit der Volljährigkeit des Kindes an den Staat
abgeben, kommen in eine spezielle Einrichtung,
Lena kam zur Mutter. Sie hat ihre Tochter gut
kennengelernt in all den Jahren.
Sie hat sie rund 80.000-mal gewickelt, das hat
sie gerade erst für ihre Rede zur Feier des Geburts-
tags der Tochter ausgerechnet. Sie hat sie dreimal
am Tag mit Püriertem gefüttert und zwei Liter
Flüssigkeit täglich über die Schnabeltasse zuge-
führt, weniger darfs nicht sein, wegen der Nieren.
Sie hat ihr ihre Medikamente gegeben, Nacht-
insulin gegen den Diabetes, Vitamin D. Sie hat
sie beim Behindertenschwimmen mit ihren
Planschen zugesehen und sie zur Physiotherapie
gefahren. Sie hat sie geweckt am Morgen und
nachts ins Bett gebracht.
Manchmal, wenn sie einkaufen oder spazieren
geht, lässt sie ihre Tochter allein. Die Mutter
schaut vorher, dass nichts Feuer fangen kann, und
wenn sie zurückkommt, sitzt die Tochter noch
im Kissen. Das Leben der beiden hat kein Publi-
Helga und Lena Appel
kum, aber wer von weit weg durch die Fenster
einen kurzen Blick darauf werfen würde, könnte
denken, die Tochter sei eine Puppe: ausgezogen,
angezogen, gekämmt, gefüttert, gedrückt, zu Bett
gebracht.
Die Mutter sagt: Wenn ich jetzt gehe und nie
wiederkomme, merkt sie es wohl nicht.
Der Vater war weg, bevor die Tochter zur
Schule ging. Auf einem Fest sagte jemand zur
Mutter: Schau mal, dein Mann, pass auf den mal
auf, der redet schon ewig mit dem Mädchen da
hinten. Er verließ sie, als die Tochter fünf Jahre
alt war. So was kommt häufiger vor in unseren
Kreisen, sagt die Mutter. Unsere Kreise, so nennt
sie die Welt der behinderten Menschen und
derer, die für sie sorgen.
Helga Appel: In unseren Kreisen gibt es fast
nur alleinerziehende Frauen.
DIE ZEIT: Wie kommt das?
Appel: Frauen sind stärker.
Warum sie das macht? Die Frage stellt sich nicht,
sie macht es einfach. Sie glaubt nicht ans Schick-
sal, sie sagt: Wenn Gott mir jetzt diese Aufgabe
gegeben hat, weil ich sie schaffe, warum gibt er
die gleiche Aufgabe dann anderen, damit die
scheitern? Es gibt laut der Mutter keinen Gott
und auch kein »warum ich?«. Eher: Warum nicht?
Sie hat ein zweites Kind bekommen, mit
einem anderen Mann, ein paar Jahre später
trennten sie sich. Ihr Sohn kam gesund zur
Welt, ist inzwischen 31 Jahre alt und hat seine
eigene Familie.
Eine Zeit lang hatte die Tochter ihre Periode,
dann hörte das wieder auf. Die Mutter kann sich
nicht ausmalen, dass ihre Tochter eine andere
wäre, sie fragt: Wie soll ich sie mir gesund,
hübsch mit Mann und Kind vorstellen?
Der Alltag läuft. Sie hat gearbeitet, während
die Tochter in der Tagesförderstätte war. Sie hat
China bereist und die Türkei, für die Zeit, in der
sie weg war, hat sie eine Ganztagspflege organi-
siert. Sie lernte DJ Bobo kennen, denn sie hatte
eine VIP-Karte für ein Konzert und reiste bis
nach Stuttgart für Miss Saigon.
Die Mutter hat versucht, auch der Tochter
was zu bieten. Manchmal fahren sie mit dem
Bully nach Sankt Peter-Ording, die Tochter
hinten im Rollstuhl, die Mutter dreht das Radio
laut und singt mit. Sie glaubt, das gefällt ihr.
Sie flog mit ihr bis nach Gran Canaria, aber
das bringt nichts. Die Sonne ist zu heiß für sie
und das Wasser zu kalt. Dass da ein Meer ist, weiß
sie wahrscheinlich nicht.
ZEIT: Was ist der Sinn des Lebens?
Appel: Lass dir nichts gefallen.
Wie man mit ihrer Tochter umgehen sollte?
Man muss sie hören, auch wenn sie die Stillste
im Raum ist.
Einmal holte sie sie aus einer Tagesförder-
stätte ab. Man hatte die Tochter in ihrem Roll-
stuhl ganz nah an den Tisch gefahren. Ihre Arme
waren unter der Tischplatte eingeklemmt. Sie
hatte offenbar versucht, sich zu befreien, denn
die Haut war an den Unterarmen aufgescheuert.
Sie brachte sie nicht wieder dorthin.
Seit Neuestem gehen der Tochter die Haare
aus. Die Mutter brachte sie zum Hausarzt und
Foto: Julia Sellmann für DIE ZEIT
schloss aus dessen Reaktion, dass er dachte: Wozu
braucht die denn Haare?
Kaufen Sie ihr doch eine Perücke, wenn es Sie
stört, habe er gesagt.
Ich setz ihr doch keine Perücke auf, habe sie
gerufen. Gibt es kein Medikament?
Sie hat’s doch eh so schwer, soll sie da auch
noch keine Haare haben?
Die Mutter kennt ihre Rechte. Sie weiß, dass
auch volljährige behinderte Kinder, wenn sie bei
den Eltern leben, Kindergeld beziehen, und
kennt die Sätze der Pflegeversicherung. Sie weiß,
dass die Tochter, Pflegegrad 5, Anspruch auf 901
Euro Pflegegeld im Monat hat und dass sie als
behinderter Mensch, der schon volljährig ist, ein
Anrecht auf ein persönliches Budget hat, in
ihrem Fall: 17½ Stunden Betreuung und Pflege
pro Tag. Sie weiß, dass manche Eltern behinder-
ter Kinder, die sich der Pflege verschrieben haben,
nie ins Berufsleben fanden, von den Hilfen leben
und dass sie Angst haben zu verarmen, wenn die
Kinder sterben.
Sie weiß, dass auch ihre Tochter für eine
Spenderniere infrage kommt und wie man die
Kasse dazu bewegt, die teureren Windeln zu
zahlen, von denen man keinen Ausschlag
bekommt.
Manchmal hat sie das Gefühl, sie stört mit
ihrer Anwesenheit die Idylle der Leute, das war
ihr anfangs peinlich und ist ihr mit den Jahren
scheißegal geworden. Einmal wurde sie von einer
Rentnerin im Park angesprochen. Das sei ja
schlimm, so ein Mensch, ohne jeden Nutzen für
die Gesellschaft, habe sie gesagt, auf die Tochter
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
deutend. Da habe die Mutter geantwortet: Ja, das
muss für Sie auch schlimm sein, Sie braucht
sicher auch keiner mehr.
Neunzig Prozent der Menschen meinen es
gut, sagt die Mutter, sie seien nur unsicher. Für
sie nimmt die Mutter ein bisschen den Druck
raus, wenn sie ratlos vor ihr und der Tochter
stehen, dann sagt sie: Ja, meine Lena ist auch
schon über vierzig. Und die Leute könnten
antworten: Wie toll, das hat sie also geschafft.
Was vorher war, ist nun weit weg. Vielleicht
war sie nie so der emotionale Typ.
Appel: Neulich hat mich ein Mann im Theater
angesprochen, sagte, ich sei seine Jugendliebe
gewesen, er habe damals meinen Namen quer
auf sein Auto geschrieben. Ich habe keine
Erinnerung daran.
Manchmal begegnet sie ihrem Ex-Mann im
Supermarkt, eine Erscheinung aus einem
anderen Universum. Sie findet, er jammert,
über das Alter, das Leben, und dann denkt sie:
Siehst du, niemand kann seinem Schicksal
entfliehen. Die Tochter hat er seit 35 Jahren
nicht gesehen.
Die Mutter leitet heute einen Verein zur
Förderung behinderter Menschen, irgendwann
haben sie das Vereinshaus nach ihr benannt. Sie
baute einen familienentlastenden Dienst auf, der
sich kümmert, um ihre Kreise. Autisten, Kinder
mit Downsyndrom, Frühchen mit Spastik,
gelandet im Rollstuhl. Irgendwo in einer Schub-
lade liegt ein Bundesverdienstkreuz.
Das alles weiß die Tochter natürlich nicht.
ZEIT: Wie lebt man mit jemandem, der nicht
zurücklieben kann?
Appel: Sie kann schon zurücklieben, glaube
ich. Manchmal liegen wir zusammen da, dann
streckt sie mir die Hand entgegen, dann soll
ich draufküssen.
Was die Mutter über die Tochter zu wissen
glaubt:
Sie mag Musik und Fernsehen.
Sie mag salziges Püree lieber als süßes.
Sie hasst Geräusche von Maschinen wie
Mixern oder Lüftern.
Berührungen muss man sachte angehen,
so, dass ihre Tochter weiß, dass sie gleich be-
rührt wird, sonst erschreckt sie sich und weint.
Manchmal werden ihre Hände schwitzig,
dann hat sie wohl Angst.
Nur selten kann die Mutter nicht mehr,
dann brüllt sie die Tochter an.
Jetzt sieh mal zu, dass du deinen Becher
austrinkst.
Jetzt mach mal endlich voran.
Ich mag auch nicht mehr.
Verzeih mir, Lena.
Mit den Jahren hat sie gelernt, einfach
rauszugehen, wenn sie die Fassung verliert.
»Ich liebe dich« sagt sie nicht laut, aber sie
denkt es.
Überleben
Die ersten Jahre sind die schlimmsten, sagt sie
immer.
Obwohl.
Sie sind zusammen alt geworden. Das rechte
Knie der Mutter ist kaputt, der linke Fuß, eine
Achillessehne ist entzündet. Neulich hat sich eine
Netzhaut abgelöst. Sie nimmt das so irritiert
entgegen, als würde ein Programm abstürzen, mit
dem sie immer gut gearbeitet hat.
Lena ist hormonell in den Wechseljahren. Sie
wird krummer, die letzte Blutuntersuchung war
nicht gut, und neulich hat sie aus dem Nichts
einfach losgeweint.
Fast alle, die da waren, als Lena geboren
wurde, sind weg. Der letzte Lebensgefährte der
Mutter starb 2017. Ihre Eltern sind tot, ihr Bru-
der, ihre Schwester starb an Krebs.
Die Mutter hat das mit dem Sterben bereits
durchdacht.
Variante Nummer eins:
Sie stirbt vor Lena.
Zum Sohn soll Lena nicht, das will die Mutter
nicht, er soll ein normales Leben haben. Also
käme Lena wohl in ein Heim, würde wohl schnell
an der Magensonde landen, weil der Pflegeauf-
wand sonst zu hoch wäre. Wahrscheinlich würde
sie bald eingehen, glaubt die Mutter.
Besorgt sie das? Nein, sagt sie, der Logik
verpflichtet: Dann bin ich doch tot.
Variante Nummer zwei:
Lena stirbt vor ihr.
Ist nach jetzigem Wissensstand wahrschein-
licher, sagt sie.
Sie hat schon von Lenas Beerdigung ge-
träumt, Hunderte Leute kamen. Sie hat die
Geschichte nicht zu Ende gebracht, wie meist
bei Träumen. Sie sagt, inzwischen wäre sie so
weit, Lena loszulassen.
Aber wenn sie vorher einen Wunsch frei hätte,
würde sie sie gern noch eine Sache fragen. Etwas,
worauf sie auch eine Antwort bekommt, näm-
lich: War das alles okay für dich? Hat dir dein
Leben gefallen?
!www.zeit.de/vorgelesen
 DIE ZEIT N o 17 20. April 2023 ENTDECKEN 59

RICHTIG GUTE LEUTE

David Hugendick
entdeckt: Folgekosten
Unser Kolumnist braucht dringend einen sprossenfähigen Entsafter. Nur: Wohin damit?

N
eulich wäre ich beinahe Die Küche selbst entwerfen lassen, so alles verschönern und die Laune he-
ein sehr gesunder Mensch ein Entsafter muss ja atmen, und irgend- ben. Ich würde meine Angestellten
geworden. Das möchte wohin müssen die 37 Saftkannen, in übertariflich bezahlen und ihnen, das
ich Ihnen nun möglichst einen Saftkannensalon, und wer so ein ist in der modernen Arbeitswelt in-
dramatisch schildern. Es Zimmer hat, braucht Kannen aus zwischen üblich, auch ein wenig den
fing damit an, dass ich eine Werbung Kristall, das wäre sonst Verschwendung. harten Alltag versüßen, mit einem
für Niedrigrotationsentsafter gesehen Ich sah mir Baugrundstücke im Internet großzügigen Vergnügungspark hin-
habe, damit presst man Früchte und an, allerdings lagen sie schon eher im term Haus, ich hätte Platz dafür, und
Gemüse aus, »vitaminschonend«, so Umland vom Umland, der nächste den Strom könnte ich, wie ein zeitge-
stand es in der Anzeige. Es gibt Hori- Markt mit, natürlich, Biogemüse und mäßer Mensch, selbst produzieren,
zontal- und Vertikalentsafter, es dau- Biofrüchten war etwa 22 Kilometer ein Mini-Atomkraftwerk auf dem
ert zu lange, das genau zu erklären, sie entfernt, also: ein Auto. Balkon wäre ausreichend, das habe
kosten alle zwischen 300 und 1200 Nun halte ich alte, italienische Sport- ich durchgerechnet. Der Kurs für atom-
Euro. Ich gab mir ein vorläufiges wagen für die einzig akzeptable Variante, waffenfähiges Plutonium schwankt lei-
Budget von etwa 700 Euro, die ich leider passt nicht viel rein, ich würde der derzeit ein wenig, aber ich könnte

Foto: Diana Pfammatter für DIE ZEIT

nicht hatte, aber bei reiner Haut und damit nur erlebnisorientierte Südfrüchte mich unverbindlich bei usbekischen
freien Herzkranzgefäßen darf man holen und mir den Rest liefern lassen, Waffenhändlern umhören, ob sie beim
nicht knausern. am besten gleich große Fuhren, wegen Preis noch was machen können. Das
Sicherheitshalber schaute ich ein paar der Umwelt. Nur müssen die irgendwo wäre nur kulant.
Tests auf Websites an, so vergingen die angemessen gelagert werden, an einem Also Kassensturz: Bis zu meinem
Stunden. In einem Video stand eine Frau Kühlraum führt nichts vorbei, mit ersten herrlichen niedrigrotations-
in einem Wintergarten und berichtete Temperaturzonen, so was können nur entsafteten Glas (Ananas, Weizengras,
seltsam erregt, mit welchem Entsafter Spezialisten einbauen, die brauchen sehr armenischer Bergpfirsich, Grünkohl,
Weizengras am wenigsten schäume, und lang und sind auch laut. Rote Bete, Apfel, Alfalfasprossen), das
natürlich wollte ich keinen Schaum in Da ich viel von zu Hause aus ich glücklich trinken werde, hätte ich
meinem Weizengras, nie zuvor habe ich arbeite, müsste ich den Baulärm mit grob überschlagen 203,7 Millionen
Schaum so verachtet, und auch Sprossen etwas außerordentlich Schönem kom- Euro ausgegeben, vielleicht auch In dieser Woche freuen wir uns über: Miryam Schellbach
soll der Entsafter bitte anstandslos hinbe- pensieren, es könnten sechs bis elf rote 205,8 Millionen, je nachdem, wie das
kommen, selbst wenn ich bis dahin gar Pandas bei mir einziehen, ein paar mit den Usbeken so läuft. Das ist, 2014 ging ich für ein Praktikum nach New York, doch ich lang- ein effektiver Individualsport in der Gruppe, nicht besonders
nicht wusste, dass man die auch aus- interessante Uhus vielleicht, allerdings trotz attraktiver Ratenzahlungsoption weilte mich und brach ab. Eine Freundin nahm mich zur Auf- intim, aber dennoch eingliedernd. Der ganze esoterische Über-
pressen kann. Kurzum, ein sprossenfähi- bräuchten sie, da ich ja viel arbeite, fürs eigentliche Gerät, etwas viel. munterung mit in eine ausgebaute Industriehalle in Harlem, um schuss, den Yoga oft hat, fällt weg. In den Studios riecht es nicht
ger, schaumloser Entsafter: 1100 Euro. Betreuung, ich müsste also Service- Doch für den Fall, dass ich je in einen Sport zu probieren, von dem ich noch nie gehört hatte: Hot nach ätherischen Ölen, sondern nach Schweiß.
Prüfend ging ich in die Küche. Ich personal einstellen, das mit ihnen mehreren Lotterien gewinnen sollte, Yoga. Es ist eigentlich, gerade jetzt, eine wahnwitzige Angelegen- Ich habe mir schon oft Gedanken gemacht über dieses Hobby
bräuchte definitiv mehr Platz, so ein spielt und sie hin und wieder mit die kurze Warnung: Sie werden von heit: Ein Raum wird auf vierzig Grad Celsius erhitzt, einander in Zeiten der Ressourcenknappheit. Gerade lernen wir, unsere
Entsafter ist recht groß, da darf man sich Kondensmilch füttert, und da bin ich mir hören. Bis dahin bin ich vielleicht Unbekannte führen auf engsten Raum dicht nebeneinander eine Wohnungen kühl zu halten – und beim Hot Yoga heizen wir die
nichts vormachen. Über den Mietmarkt leider streng: Personal muss Uniform noch nicht der gesündeste Mensch der immer gleiche Yoga-Abfolge aus, in Bikini oder Sport-BH. Räume viel zu stark auf. Vielleicht ist es aber auch so aktuell wie
hört man jedoch wenig Gutes, ich müsste tragen, Seidenoveralls mit Dinosaurier- Welt. Aber ich kann sehr gut mit Wenn ich in eine neue Stadt komme, recherchiere ich immer nie: Wir gehen zum kollektiven Aufwärmen in einen halb öffent-
also kaufen oder besser: bauen! aufdruck, weil Dinosaurieraufdrucke Geld umgehen. erst die Studios. Es ist der optimale Sport für den Spätkapitalismus: lichen Raum, um zu Hause, allein, wieder frieren zu können.

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60 ENTDECKEN

»Russland ist nicht aggressiv!«

Mehrere Tausend Deutsche verbreiten seit dem Krieg in den sozialen Netzwerken
die Propaganda des Angreifers. Wer sind diese Leute, und was treibt sie an?

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VON GÖTZ HAMANN, ANDREAS LOOS UND KARSTEN POLKE-MAJEWSKI

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drücken starker Emotion kombiniert. Die der Physiotherapeut, beide leben in Köln. Geldzuwendungen mehr für

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Ergebnisse landeten in einer Datenbank. Es gab den früheren Rhetorik-Dozenten die korrupte Ukraine!«
Zusammengekommen sind 3,2 Millionen der Universität Tübingen, den Deutsch- Katrin Schoefer

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Tweets seit Kriegsbeginn, verfasst von rund Syrer, der noch studiert, den Betreiber Am Rand der Kleinstadt Bockhorn führt

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3500 Autorinnen und Autoren. Ihre Bei- einer Werbeagentur aus Mannheim, die eine von geklinkerten Häusern gesäumte oft

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träge erreichen zusammen ein Millionen- Hoteliersfrau aus dem Schwarzwald. Wir Straße in die friesische Landschaft hinaus. auch

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Es begann mit einem »Übrigens«. publikum. fanden einen ehemaligen Finanzberater, Dort wohnt Katrin Schoefer. Die schmale durch
»Übrigens sammeln wir seit einer Weile Sie klingen so: »Wer ernsthaft einen Krieg eine IT-Kauffrau, die für einen Zulieferer Frau trägt ihre graublonden Haare zu einem private
prorussische Beiträge auf Twitter und Te- gegen das Land mit den meisten Atom- der deutschen Marine gearbeitet hat, eine Zopf gebunden und bittet in die Küche. Lebenskrisen.
legram.« sprengköpfen gewinnen will, gehört nicht Autorin historischer Liebesromane. Bür- Eine Katze döst auf dem Esstisch. Diesen Menschen
Wie viele haben Sie denn gefunden? ins Kanzleramt, sondern in die Klapse.« gerliche Existenzen, so wie es aussah. Wir haben uns nicht angekündigt und fehle eine Institution, in der
»Mehrere Millionen seit Kriegsausbruch.« Oder so: »Widerliches Pack. Geht selbst Wir versuchten, sie zu erreichen, und werden doch freundlich empfangen. Katrin sie »ihr Leiden gemeinsam verarbei-
Können wir die mal sehen? kämpfen und bleibt da. Wir werden euch tatsächlich waren einige zu einem Schoefer macht sich Sorgen, und die möchte ten können«, so wie ihre Angst vor dem
So startete diese Recherche, durch ein zeigen das wir das Volk sind.« Gespräch bereit. So fing es an. Wir fuhren sie teilen. Politiker versetzten das Volk Krieg, sagt Nachtwey. Früher seien sie zur
Gespräch mit Josephine Ballon, Juristin bei Oder so: »Ein Video der ukrainischen nach Bockhorn in Friesland, ins unter- ständig in Angst und Schrecken, sagt sie. Kirche gegangen, in die Gewerkschaft oder
HateAid, einer gemeinnützigen GmbH, die Polizei belegt, dass es in Butscha kein fränkische Mömbris und an den Fuß des Was schiefläuft, habe sie auf 70 Seiten in eine traditionelle Partei.
Opfer von Online-Hassrede unterstützt. Ihr Massaker der russischen Armee gegeben hat.« Odenwalds und von da weiter nach Berlin, zusammengeschrieben. Daraus twittert sie Was Nachtwey da beobachtet, ist ein
Sätze wie: »Wiederherstellung des Grund- Suchen nach Ordnung, Rettung und See-
gesetzes vom 01.01.2019! Beendigung der lenfrieden. Er sagt in Anlehnung an den
Corona-Diktatur! Ende der Sanktionen! Philosophen Georg Lukács, in vielen sei-
Ende der Einmischung in den Ukrainekrieg ner Tiefeninterviews zeige sich eine »trans-
ANZEIGE durch Deutschland! Das Wohl des Volkes zendentale Obdachlosigkeit des moder-
vor die Ideologie einer Partei stellen! #Am- nen Menschen«. Dieser wisse nicht, wohin
pelDesGrauensRuecktritt«. mit seinem Leid. Also gehe er damit in die
10.000 Tweets schickt sie durchschnitt- Öffentlichkeit und finde dort Gefährten.
lich pro Jahr in die Welt. Sie klagen gemeinsam, klagen an.
Wie passt das zu einem Leben, das von
Wissensdurst und Neugier geprägt war? Die Russlandversteher
Schoefer erzählt, sie habe Medizin studieren Einen Ausschnitt aus diesem Milieu bil-
wollen, doch ihr Vater habe gesagt: »Du bist den die lautstarken »Russlandversteher«,
ein Mädchen, das lohnt sich nicht.« Sie war wie sie sich im Datensatz von HateAid

LUCHS-PREIS 2022
dann Drogistin, Sekretärin, Arzthelferin, finden. Moderate Zweifler an den Waf-
Ernährungsberaterin. »Neun Ausbildungen fenlieferungen für die Ukraine haben
habe ich gemacht«, sagt sie, zuletzt habe sie dort keinen Platz.
20 Jahre lang als IT-Kauffrau gearbeitet. Vielmehr finden sich, wenn auch recht
Nun ist sie 65 Jahre alt und lernt wieder isoliert, Accounts des russischen Außen-
etwas, diesmal das Schneidern. ministeriums und verschiedener Botschaf-
Man traut Schoefer ihre Twitter-Sätze ten. Ihnen folgen treue Claqueure, die alles
DIE VERLEIHUNG DES KINDER- UND gar nicht zu, wie sie da am Küchentisch sitzt weiterverbreiten, was von den Offiziellen
und über ihr Leben plaudert: »Ich bin liberal veröffentlicht wird.
JUGENDBUCHPREISES erzogen worden.« Geprägt habe sie ihr
Lehrer Wolfgang Schmidt, der Bruder des
Das Zentrum bilden die Influencer und
Wortführer. Sie twittern viel, werden auch
späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt. oft retweetet und zitiert. Ihre Informatio-
Ihr seien »die alten Werte wichtig, Respekt, nen suchen sie bei Weitem nicht nur in
Toleranz, Vertrauen, Danke, Bitte, Ent- Russland. Sie zitieren oft die Tagesschau und
26. APRIL 2023 | LEIPZIG schuldigung«. Politisch verortet sie sich in
der Mitte.
die Welt, dazu konservativ-populistische
Journalisten wie Roland Tichy und Boris
Das alles klingt für uns nach einem Reitschuster, den immer schrillen, weit
Leben im Gleichgewicht. Bis Schoefer rechts außen stehenden Ex-Bild-Chef-
davon erzählt, wie es in den vergangenen redakteur Julian Reichelt, prorussische
Jahren aus den Fugen geraten ist. Sie sei Aktivistinnen wie Alina Lipp, Verschwö-
Foto: © Åsmund Holien

schwer krank gewesen, ihr Mann sei rungstheoretiker wie Thomas Röper und
Der LUCHS-Preis 2022 geht an den Autor Gulraiz Sharif für seinen Debüt- gestorben, dann kam die Rente. Und die den vielleicht bekanntesten Verächter der
roman »Ey hör mal!« (erschienen bei Arctis) sowie an die Übersetzerinnen Flüchtlingskrise, Corona, der Krieg. Sie Corona-Politik, Stefan Homburg. Äuße-
hält seitdem große Stücke auf die Tele- rungen von Grünen-Politikern spielen eine
Meike Blatzheim und Sarah Onkels. Die Autorin und Referentin Mehrnousch
fonseelsorge, »die können Überleben recht große Rolle, die AfD eine kleine, die
Zaeri-Esfahani hält die Laudatio. Moderation: Katrin Hörnlein, DIE ZEIT. sichern«. Und twittert deren Nummer. CDU praktisch gar keine.
Aber warum dann diese anderen, so Um diese Wortführer gruppieren sich
Jugendliche und Erwachsene sind herzlich eingeladen, an der feierlichen knallharten Tweets? die übrigen Autorinnen und Autoren.
Preisverleihung teilzunehmen. Gulraiz Sharif »Ich möchte, dass es meinem Bäuchlein Wenn sie nicht über Russland reden,
gut geht«, sagt Schoefer. »Und dem geht es dann über Corona, die Freiheit, die
Eine Veranstaltung in englischer und deutscher Sprache. gut, wenn ich’s ausgesprochen habe.« Genderdebatte. Fast immer geht es fron-
Der Soziologe Oliver Nachtwey von der tal gegen die Bundesregierung. Was diese
Universität Basel hat in den vergangenen Menschen aufbringt, ist nicht die eine
Ort: Ring-Café, Roßplatz 8 | Beginn: 18 Uhr Jahren viele Tiefeninterviews mit Menschen oder andere politische Entscheidung. Sie
Die Teilnahme ist kostenlos. Um Anmeldung wird gebeten. geführt, die gegen die Krisenpolitik der scheinen grundsätzlich zu glauben, dass
Bundesregierung protestiert haben. etwas faul ist mit unserem System.
Programm und Anmeldung: www.zeit.de/veranstaltungen Es seien zumeist Leute, die ihr Leben bis
vor wenigen Jahren im Griff hatten, so wie Eskalationslust in Mömbris
Folgen Sie uns: @ZEITvst | @zeit_veranstaltungen Schoefer. Leistungsorientierte Menschen, »Russland ist nicht aggressiv«
die sich im Beruf oder in ihrer Freizeit ver- Johannes Normann
wirklichen wollten. Aber dann, sagt Nacht- Johannes Normann, Mitte 50, ist ein
Eine Veranstaltung von: In Kooperation mit: Freunde der ZEIT wey, hätten sie einen Kontrollverlust durch Wortführer der Russlandversteher. 45.000
Das Programm für AbonnentInnen die großen Krisen unserer Zeit erlebt – und Follower auf Twitter und Facebook hat er
 ENTDECKEN 61

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das in die Hunderttausende geht. Jahre in eine andere Realität umgezogen. Twitter-Nutzer
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spiralen nach, und ist aber ihr Telegram-Kanal »Neues aus Russ- Und nun? Wir sind drei Menschen von 3500
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er setzt ihnen seine land«. Dort verbreitet sie auf Deutsch und begegnet, die im russischen Krieg gegen die
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Idee der »Redaktionellen Russisch Falschmeldungen aus dem Krieg Ukraine auf der Seite des Angreifers stehen.
Gesellschaft« entgegen. Die an ihre 185.000 Abonnenten: von verletzten Ihre Gründe sind sehr verschieden, von der
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Freiheit des Einzelnen, sich an Ukrainern, deren eigene Leute sie ausweide- Lebensangst bis zum politischen Kalkül.
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ein großes Publikum zu wen- ten, um ihre Organe in den Westen zu ver- Was sie verbindet: Alle drei erlebten
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den, sei ein großer Gewinn, sagt kaufen. Oder von angeblichen ukrainischen persönliche Krisen, deren Ursachen sie
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Pörksen. Aber damit daraus eine Folterkammern in Mariupol. nicht bei sich selber sehen.
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gescheite politische Debatte wird, Was Lipp über ihre Kanäle verteilt, Sie geben zudem der Bundesregierung
müssten sich alle an ein paar Regeln erreicht auch das Milieu, das sich in un- eine große Mitschuld an den Krisen dieser
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halten: »Prüfe deine Informationen und serem Datensatz versammelt hat. Lipp Welt, behaupten wieder und wieder, die
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Quellen, bevor du schreibst. Höre die taucht dort in unzähligen Tweets als Regierung handele aus niederen Motiven
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andere Seite. Mache kein Ereignis größer, als Kronzeugin auf, als Autorität und Quelle gegen die Interessen des Volkes. Dass sie
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es ist. Sei unvoreingenommen. Kritisch »alternativer Wahrheiten«. selbst dazu nicht schweigen, macht sie aus
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gegenüber der Macht – aber auch selbst- ihrer Sicht zu Rebellen, zu Kämpfern
kritisch.« An diese Regeln, so sieht es Pörk- Misstrauen in Mosbach gegen eine Lügenmaschine.
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Pointen sen, hält sich aber kaum jemand. Deshalb »Die Herrschenden gehen nun davon aus, Darüber sind die drei zu Meinungsfüh-
Na

um sich versammelt. Nun steht er auf dem
kleinen Marktplatz von Mömbris, einer
Gemeinde an der Grenze zwischen Bayern
und Hessen. Einen Steinwurf die Straße
hoch liegt das Rathaus. Zwei Steinwürfe
weiter ist man bei ihm zu Hause.
Normann spricht einen hessisch-
pfälzischen Dialekt mit bayerischem Ein-
schlag, der alles sanfter erscheinen lässt.
Aus politisch wird bei ihm »poliddisch«.
Er sagt: Auch poliddischen Gegnern trete
er mit Humor entgegen.
Was ihm zum Krieg in der Ukraine
einfällt, klingt allerdings bitterernst und
herzlos gegenüber den Opfern.
Am 3. April vergangenen Jahres, die Welt
hatte gerade von den ermordeten Ukrainern
in Butscha erfahren, schrieb er: »Auf die
Idee, dass die Bilder aus #Butscha einen ähn-
lichen Wahrheitsgehalt wie der Lebenslauf
›unserer Außenministerin‹ @ABaerbock
haben könnten, kommen ›unsere Regieren-
den‹ und ›unsere Medien‹ natürlich nicht.«
Herr Normann, wieso sprechen Sie so
über den Krieg?
»Alles, was in der Ukraine läuft, wird
von den USA bestimmt. Selenskyj ist ein
Schauspieler, und der ist dafür engagiert
worden, die ›USkraine‹ zu führen. Das
muss endlich aufhören!«
Mit jeder Nachfrage wird klarer: Nor-
mann wird von einem tiefen Anti-Ameri-
kanismus getrieben.
Und was denken Sie über Putin?
»Der läuft jetzt Amok. Er muss weg.
Damit das klar ist: Ich will Frieden in
Europa. Und dass Deutschland endlich
nicht mehr nach der Pfeife der USA tanzt.
Ich bin ein Patriot!«
Aber wenn Sie Putin für einen politi-
schen Amokläufer halten, wieso zeigen Sie
öffentlich kein Mitleid mit seinen Opfern?
»Ich habe mit allen Mitgefühl. Mit
Ukrainern und den Russen.«
Und die Massaker in Butscha? Wie
denken Sie heute darüber? Es gibt keinen
Zweifel an diesen Kriegsverbrechen!
Normann weicht aus. Einmal. Zweimal.
Haben Sie eigentlich Beziehungen zu
Russland?
»Mein Opa ist mit 120 Kilo aus der
russischen Gefangenschaft entlassen wor-
den. Der konnte sehr gut Russisch. Ja,
ich bin russlandfreundlich. Ich kenne die
slawische Seele. Und ich sehe das auch
historisch: Die letzte Zarin war eine Prin-
zessin aus Darmstadt.«
Normann lässt sich in dem mehrstün-
digen Gespräch häufig von seinen eigenen
Geschichten mitreißen, er sucht nach
und kras-
sen Verglei-
chen. In den sozialen
Medien überdreht er noch mehr.
Dort provoziert er, bis zur Volksverhet-
zung. So wie kurz nach Kriegsbeginn. Da
bemühte sich die polnische Regierung
darum, die Deutschen zu mehr Militärhilfe
zu bewegen. Normann postete, Polen wolle
»also mal wieder einen #Weltkrieg provozie-
ren«. Er griff damit die Lüge der National-
sozialisten auf, als sie den Beginn des Zwei-
ten Weltkriegs damit begründeten, sie hätten
auf einen polnischen Angriff reagiert. Den
Tweet hat er dann gelöscht. Der ging ein
bisschen weit, sagt er heute, weist aber sofort
stolz darauf hin, dass ihn sogar das polnische
Fernsehen dazu befragt habe.
Inzwischen seien 1600 Tweets von ihm
gemeldet worden, weil jemand sie anstö-
ßig oder strafbar fand, sagt Normann. Der
Verfassungsschutz habe ihn angesprochen,
und er wurde mehrfach verklagt, aber nur
einmal verurteilt. Die Berufung läuft.
Dass Normann sich damit selber
schadet, leuchtet ihm nicht ein. Er sieht es
eher andersrum. Mit radikalen Stand-
punkten macht er sich einen Namen und
hofft auf ein bezahltes Amt in der AfD.
Doch seit zehn Jahren bekommt Nor-
mann keinen Listenplatz, der ihm den Ein-
zug in den Landtag, den Bundestag oder ins
EU-Parlament garantieren würde, 2013,
2017, 2019 nicht und 2021 auch nicht.
Wenn’s darauf ankam, setzten ihm die
Parteigenossen jemand anderen vor die Nase.
Dieses Frühjahr versucht er es wieder bei der
bayerischen Landtagswahl.
Dabei hat Normann für die Partei und
seine politischen Überzeugungen praktisch
alles aufgegeben. Er verlor darüber seine
Kunden, seine finanzielle Basis, so erzählt er
es. Früher sei er Finanzberater gewesen, das
belegt auch eine Webseite, die man in einem
Internetarchiv findet. Politische Intrigen
hätten ihn aus dem Geschäft gedrängt.
Überprüfen lässt sich das nicht, aber Tatsache
ist: Normann bezieht heute Hartz IV und
wohnt wieder bei seinem Vater.
Am Ende des Gesprächs hinterlässt
Johannes Normann den Eindruck, dass er
genau weiß, was er tut. In Mömbris ist er
der gemäßigte AfD-Mann und beruflich
gescheitert. In den sozialen Netzwerken
ist er dagegen ein Wortführer, der sich
gezielt extrem, manchmal extremistisch
äußert – und dem Tausende folgen. Nor-
mann hat begriffen, dass soziale Medien
denjenigen belohnen, der eskaliert.
Das Recht des Lauteren
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörk-
sen von der Universität Tübingen denkt seit
sei »die offene Gesellschaft derzeit so anfällig dass ihr euch jeder kommenden Aus- rern mit Tausenden von Followern gewor-
für Falschinformationen und staatliche höhlung eurer Grundrechte ebenso klaglos den. Aber dieser Verantwortung stellen sie
Propaganda«. unterwerfen werdet. Das klappt auch sich nicht. Sie stacheln zwar keine einzelnen
Genau das ist auch im Datensatz von wunderbar, siehe #Klimawandel #CO2 Menschen an, aber sie treiben die Eskala-
HateAid zu beobachten. Oberflächlich #Ukraine #Waffenlieferungen #Gasmangel tionsspiralen so gut sie können an.
herrscht ein großes Palaver. Leute rufen sich #Wirtschaft« Das verlockt andere aus dem Daten-
lose Sätze zu und eilen weiter. Wenn sie kurz Katharina Münz satz, noch weiterzugehen: Hunderte Bür-
verweilen, reden sie meistens in Zweideutig- Katharina Münz ist zu einem Video- gerinnen und Bürger aus dieser Gruppe
keiten und grober Ironie: Augenzwinker, du gespräch bereit. Die Kamera zeigt eine Frau haben führende Bundestagsabgeordnete
weißt schon, wie ich’s meine. mit Brille und offen getragenen, dunkel- in den vergangenen Monaten massiv
Da zitiert einer das Schweizer öffent- blonden Haaren, sie sitzt an einem Schreib- beleidigt oder bedroht:
lich-rechtliche Radio: »Die Ukraine soll tisch. Auf Instagram kann man sehen, dass »Was hältst du hässlicher Kadaver
mehr als 100 Leopard-1-Panzer erhalten. an einer Wand gekreuzt ein Schwert und davon sich eine Uniform zu besorgen und
20–25 bis Ende 2023, 88 bis Ende 2024«, eine Axt hängen. Kaum hat das Gespräch an die Front zu gehen?« @swetjev
und schiebt hinterher: »Was wird da ge- begonnen, bricht die Verbindung nach »Ich bin für die Wiedereinführung der
plant?!« Jemand antwortet: »Der Über- Mosbach in Baden-Württemberg schon Verbrennung von hysterischen, kriegstrei-
gang des dritten in den vierten Weltkrieg.« wieder zusammen. Also telefonieren wir. benden Hexen« @Hetmannn
Im Zusammenspiel entsteht ein vergifte- Münz kommt schnell auf den Tag zu Mit diesem Ton werden Außen- und
ter Diskurs voller Halbwahrheiten. sprechen, der sie aus der Bahn geworfen Verteidigungspolitiker inzwischen täglich
Da verbreitet jemand eine Statistik darü- hat. Es war der 3. März 2020. Eine Woche konfrontiert.
ber, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer später sollte in Leipzig die Buchmesse Roderich Kiesewetter, Außenpolitiker
seit Kriegsbeginn im Ausland aufgenommen eröffnet und für Münz zum entscheiden- der CDU/CSU-Fraktion, bekam vor Kur-
worden seien. Mit 2,8 Millionen steht Russ- den Schritt in ihrer Autorenkarriere wer- zem folgende Nachricht: »Weist du was
land an erster Stelle. Die Twitter-Stimme den. Sie hatte mit drei Kolleginnen einen eine russische Rakete kann? Sie kann dich
schreibt dazu: »Der erste ›Vernichtungskrieg‹ Stand gemietet, Bücher und Flyer drucken direkt ins Arschloch treffen. Ungeziefer
und ›Genozid‹ der Menschheitsgeschichte, lassen. Münz, heute 54, schreibt seit 2015 wie du sollte sofort erschossen werden.«
in dem sich die meisten der potenziellen historische Liebesromane, meist spielen Seit Kriegsbeginn gingen zehnmal mehr
Opfer ins Land der angeblichen Täter in sie in der Zeit der Wikinger. Nun wollte Hassmails bei ihm ein als zuvor, sagt er.
Sicherheit bringen.« Die aufgeführten Zah- sie durchstarten. Doch am 3. März wurde Ein ranghoher Grünen-Abgeordneter
len entsprechen den Zählungen des UN- die Messe abgesagt, wegen der Pandemie. wurde bedroht: »Wo du wohnst wissen
Flüchtlingshilfswerks. Doch die allermeisten Erst habe sie noch Hunderte Masken wir sowieso.« Der Angreifer versteckte sich
Ukrainer flohen keineswegs freiwillig nach genäht. »Dann begann ich, mich näher nicht mal. Auf eine angekündigte Straf-
Russland, sondern wurden von der Front mit dem Virus zu beschäftigen«, sagt sie. anzeige reagierte er mit den Worten:
überrollt oder verschleppt. So lügt der Autor Sie meinte, in den Berichten der etablier- »Kommt jemand, erschieß ich euch.«
mit der Wahrheit. ten Medien jede Menge Widersprüche zu Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vor-
Und das sind noch die harmloseren erkennen, und wurde zu einer scharfen sitzende des Verteidigungsausschusses und
Fälle. Bald stoßen wir auf durchschaubare, »Corona-Maßnahmen-Kritikerin«. Ihre eine der wichtigen Unterstützerinnen der
zynische Propagandalügen. In einem Video Kritik, so schreibt Münz in ihrem Blog, Ukraine, erhält seit Kriegsbeginn ebenfalls
unterhält sich Wladimir Putin mit seiner sei aus »vielen kleinen Informationstrop- unablässig Drohungen. Die Absender schrei-
Kinderschutzbeauftragten Maria Lwowa- fen« gewachsen, die sie bei Twitter und ben ihr, sie sei eine »Marionette« oder: »Sie
Belowa über Kinder, die Russland angeb- »alternativen Medien« gefunden habe. So gehören eingesperrt wegen Hochverrat.«
lich aus dem Kriegsgebiet retten musste. entwickelte sie ein fundamentales Miss- Was man weiß: Vor jeder Tat steht das
Auch Lwowa-Belowa hat einen 15-Jährigen trauen gegen die großen Medien und die Wort. Ein Autor aus dem Datensatz von
aus Mariupol aufgenommen, so berichtet Krisenpolitik der Regierung. Der Krieg HateAid schrieb an Marie-Agnes Strack-
sie ihrem Präsidenten: »Es ist schwer, aber ist für sie nur ein weiterer Beweis. Zimmermann: »Dir würde ich gerne mit
wir lieben einander. Ganz sicher.« Der In- Anders als Johannes Normann zeigt Wonne eins auf dein Schandmaul geben!
ternationale Strafgerichtshof in Den sich Münz allerdings empathisch. »Das Elende Kriegstreiberin!«
Haag hat jüngst Haftbefehl gegen Putin erste Opfer des Krieges ist nicht die Wahr- Ein anderer forderte: »Nimm Dir ein
und Lwowa-Belowa wegen der Entführung heit, sondern die Menschlichkeit«, sagt sie. Seil!«
ukrainischer Kinder erlassen. Wenn man sie fragt, ob die Ukraine nicht Von Sicherheitskreisen werden diese
Die russische Propaganda produziert das Recht habe, sich gegen eine Invasion aggressiven Russlandversteher sehr ernst
ständig solche Lügengeschichten. Sie sind zu wehren, antwortet sie: »Was ist das für genommen. Sucht man nach einer Strate-
Teil eines Informationskrieges, den Russ- eine Einstellung, wenn man Grenzen gie des Parlaments, um die Abgeordneten
land seit Jahren führt und für den es an- wichtiger findet als Menschenleben?« vor ihnen zu schützen, findet man wenig.
fänglich seine Staatsmedien Russia Today Für Münz hat sich die Welt aufgespalten Der Bundestag verweist an das Bundes-
und Sputnik nutzen konnte. Inzwischen in ein Oben und ein Unten. Unten die Men- kriminalamt, das regelmäßig die »indivi-
haben die EU-Staaten deren Reichweite schen, die einfach nur leben wollten. Oben duelle Gefährdungslage der zu schützen-
aber stark eingeschränkt. ein Klüngel der Mächtigen, dem jede Lüge den Person« analysiere und »anlassbezo-
An ihre Stelle sind deutsche Einzel- recht ist, um seine Macht zu erhalten. In gen« berate. Die Abgeordneten können
kämpfer getreten. Es sind Propagandisten einem Tweet an ihre mehr als 5000 Follower Fälle bei einer Meldestelle der Bundestags-
wie Thomas Röper, der in St. Petersburg fasst sie es zusammen: »Die Bundesregierung polizei anzeigen. Die gibt sie an die Berli-
lebt und die Website Anti-Spiegel be- vertritt die Interessen der Mitglieder der ner Staatsanwaltschaft weiter. Was daraus
treibt. Oder Aktivistinnen wie die junge, Bundesregierung. Ausschließlich.« wird, weiß danach niemand.
62
A L L E I N G A N G
Einsamkeit und Kuchen, das erhofft sich THERESA TRÖNDLE beim Wandern auf dem Apple-Pie-Trek rund um die Annapurna in Nepal. Doch man kriegt eben nicht immer, was man will
U
m kurz nach sieben, als
sich die Sonne gerade
über den Berg gescho-
ben hat, erreiche ich den
wohl höchsten See der
Welt: den Tilicho-See
auf 4919 Meter, mitten
im Himalaya. Am Ufer drückt der Wind
Dellen ins Wasser, weiter hinten schiebt er
ein paar Eisbrocken darüber hinweg. Ich
bin die erste hier an diesem Morgen, und
genau so habe ich mir das vorgestellt: nur
der See und ich. Bis sich ein Grollen in die
Ruhe schleicht und eine weiße Wolke über
den Hang hinter mir jagt. Dass es in Nepal
Lawinen gibt, wusste ich. Wie man sich
verhält, wenn eine abgeht, weiß ich nicht.
Ich wollte allein wandern, das wird jetzt
mein Problem. Ich entdecke eine Hütte
aus Stein ein paar Hundert Meter entfernt,
renne hin und rette mich hinein.
Im Sommer vergangenen Jahres habe ich
die Alpen überquert, im Herbst fühlte ich
mich bereit für mehr. Himalaya. Die Anna-
purna ist der erste Achttausender, der je
bezwungen wurde, und der, auf dem bisher
die wenigsten Bergsteiger waren; fast jeder
zweite stirbt durch eine Lawine oder einen
Eisschlag. Die Umrundung des Berges ist
einfacher: eine Einsteigertour im Hoch-
gebirge, auf der man sich alle paar Kilo-
meter in Teehäusern mit Apfelkuchen
ausruhen kann – »Apple-Pie-Trek« wird die
Route auch genannt.
Macht euch keine Sorgen, habe ich
meinen Eltern gesagt, da sind jedes Jahr
Tausende Wanderer unterwegs. Für sie war
es ein Problem, dass ich allein loszog – für
mich funktioniert Wandern nur so. Ich will
nicht ständig anhalten oder übers Anhalten
diskutieren, und ich will niemanden um
mich haben, der mir schöne Momente
kaputt plappert.
Für die 230 Kilometer lange Umrun-
dung sollte man 17 Tage einplanen, heißt
es in einem Wanderführer, den meine Eltern
mir irgendwann doch noch schenkten. Ich
werde mich trotzdem jeden Tag verlaufen.
Los geht es in Besisahar, acht Stunden
nordwestlich von Nepals Hauptstadt Kath-
mandu. Als ich aus dem Bus steige, fragt
Odar
Besisahar Jagat 2170 m
810 m 1300 m
Route
Die 230 Kilometer lange Annapurna-
Runde lässt sich abkürzen oder erwei-
tern. Einen guten Überblick gibt das
Buch »Annapurna Treks« von Rother
Auf dem Weg zum Tilicho-See: Das Tal wird abgeriegelt von der »Grande Barrière«, einer rund 7000 Meter hohen vereisten Bergwand
mich der Mann, der drei Reihen vor mir
saß, ob ich auch auf den Annapurna-Trek
starte. Irgendwie tut er mir leid, wie er da so
verloren in der Gegend herumschaut.
»Wollen wir das erste Stück gemeinsam
machen?«, rutscht es mir heraus.
Der Mann heißt Baptiste, kommt aus
Frankreich und arbeitet als Krankenpfleger.
Während er mir unterwegs von seiner letz-
ten Tour in den Wäldern Korsikas erzählt,
frage ich mich, ob mein Rucksack zu schwer
ist. Zwölf Kilo sind das sicher: ein Daunen-
schlafsack für minus 20 Grad, ein Fleece-
Inlet, das noch mal 15 Minusgrade mehr
verspricht, Thermounterwäsche und selbst-
klebende Wärmepads. Ich habe keine Angst,
höhenkrank zu werden auf dem 5416
Meter hohen Pass, über den der Weg führt.
Ich habe nur Angst, zu frieren.
Als es dämmert, stoppen Baptiste und
ich an einem rosafarbenen Betonhaus, in
dessen Garten Rhododendren und ein
Zimtbaum wachsen. Das Hotel Mother’s
wirbt mit »24 hours gas hot shower«, kann
sein Versprechen aber nicht halten. Heiß ist
nur der Apple-Pie, den wir uns zum Nach-
tisch teilen.
Am nächsten Morgen ist Baptiste krank,
der Magen. Er bleibt noch in der Unterkunft;
und ich schäme mich zwar, bin aber erleich-
tert, dass sich unsere Wege trennen. Der Pfad
führt mich durch ein enges Tal, an dessen
Bergflanken sich Kiefern klammern, und
durch Bäche mit moosbedeckten Steinen.
Immer wieder entdecke ich orangefarbene
Blüten, die ich aus dem Garten meiner Oma
im Schwarzwald kenne. »Stinkeblumen«
habe ich sie als Kind genannt.
Außer einem Pärchen, das am Wegesrand
Pause macht, begegne ich ein paar Stunden
lang niemandem. Doch irgendwann ist
dieser graue Rucksack vor mir, mit dem
Mini-Stativ an der Seite. Alle paar Meter
bleibt er stehen – Fotos, Videos, etwas trin-
ken. Und alle paar Meter stehe auch ich, weil
ich nicht aufschließen will. Irgendwann bin
ich genervt und beschleunige. Nur weil man
jemanden trifft, heißt das ja nicht, dass man
zusammen weitergehen muss.
Für Mikolaj schon. Er ist Mitte 30, lebt
in Warschau und schließt sich mir an, als
Upper Pisang Manang
3540 m
3300 m
Ausrüstung
Ein Schlafsack für die Teehäuser
reicht. Den bekommt man günstig in
Kathmandu. Etwa bei Shona’s Alpine
and Sports Wear (hi-himal.com)
REISE
ich wenig später die rot-weiß markierte
Hauptroute verlasse. Seit 2014 wird das
Straßennetz in Nepal ausgebaut. Für
Annapurna-Wanderer heißt das: Wo einst
nur Einheimische mit Eseln unterwegs
waren, drängen sich heute Jeeps und Motor-
räder. Deshalb will ich, oder wollen jetzt wir,
einen der alternativen Wege gehen. Er ist
blau-weiß markiert, zumindest am Anfang.
Doch irgendwann stehen wir in einem
Getreidefeld. Wo zur Hölle ist der Weg?
»Magst du einen Oreo-Keks?«, fragt Mikolaj.
Fünf Stunden später als geplant errei-
chen wir Jagat, eine Handvoll Häuser mit
gelben Giebeln, blauen Balkonen und
grünen Gauben. Kaputt krieche ich um acht
in mein Zimmer. Draußen höre ich alle paar
Minuten Reifen in Schlaglöcher knallen:
Der Straßenausbau bedeutet auch, dass
manche Touristen bis nach Manang fahren,
das letzte Dorf vor dem Pass.
Eine Blechtafel am Wegrand verspricht
am nächsten Tag: »Less traveled route with
visual delights.« Sie führt mich nach Odar,
einem Dorf, in dem 30 Familien leben; ein
paar davon bieten Übernachtungen an. Auf
dem Marktplatz sprechen mich junge Män-
ner an, die Balken für ein Haus sägen. Ich
erzähle ihnen, dass ich einen Schlafplatz
suche, sie telefonieren. Nach zehn Minuten
kommt Govinda Gurung und nimmt mich
mit zu seiner Familie. Unterwegs erzählt er
mir, dass er 29 Jahre alt ist, drei Jahre in
einem Hafen in Malaysia gearbeitet hat und
zurückkam, weil er sich als ältester Sohn um
seine Eltern kümmern muss.
Kurz darauf sitzen wir mit ihnen in der
Küche – unter Ziegenfleisch, das an der
Decke trocknet, und vor Wänden, die
schwarz gefärbt sind von Ruß und Fett. Der
Ofen in unserer Mitte hat keine Chance
gegen die Kälte, die durch die daumen-
breiten Spalten zwischen den Brettern
drängt. Dagegen hilft nur der Schnaps, den
wir aus Teegläsern trinken. Govindas Vater
zeigt mir Fotos aus den Siebzigerjahren, als
er die Wege für Touristen ausbaute. Ich
zeige ihm Bilder von meinem Heimatdorf
im Schwarzwald, tippe auf den Horizont:
»Das sind die Alpen.«
»Wie hoch?«, übersetzt Govinda.
Tilicho-See
Ice Lake 4919 m
4620 m
ZEIT- GRAFIK
Privatunterkunft
Gut möglich im Gurung-Dorf
Odar, etwa bei Govinda Gurung
(+977-984/99 44 986). Oder nach
dem Thorong La, etwa in Tache
»An einem Punkt fast 5000 Meter.«
Der Vater lacht, und Govinda erklärt:
Für Nepalesen seien das Hügel.
In den nächsten Tagen arbeite ich mich
aus dem Tal heraus, passiere eines Morgens
eine Plantage mit Apfelbäumen. An einem
Straßenstand verkauft ein Mann Golden
Delicious, Gala und Fuji – gepresst, ge-
trocknet und zu Apple-Pie gebacken, den
ich mir als zweites Frühstück gönne. Er ist
nicht aus Blätter- oder Mürbeteig wie zu
Hause, sondern aus einer Art frittiertem
Brotteig, außen knusprig und innen saftig.
Am Mittag erreiche ich das Dorf Dhukur
Pokhari vor dem heiligen Berg Swargadwari.
In meinem Wanderführer lese ich: »Für
Buddhisten diente dieser Fels als ›Rampe‹
zum Übergang ins nächste Leben.« Ich
schließe die Augen, die Sonne kribbelt im
Gesicht, die Luft riecht nach Harz und Erde.
Ich denke an den Abend bei Govindas
Familie zurück, der so schön war, weil ich
das Gefühl hatte, zum ersten Mal nah dran
zu sein an den Menschen hier. Weil ich allein
war, denke ich. Da schreit jemand: »Theresa,
is it you?« Es sind Miriam und Sander, ein
Pärchen, das ich am zweiten Tag überholt
und dann immer wieder getroffen habe. Zu
dritt wandern wir nach Upper Pisang.
Am nächsten Morgen stehe ich extrafrüh
auf und gebe Gas. Ich will nicht ständig
wieder den gleichen Leuten begegnen. Und
tatsächlich, ein paar Tage lang geht er auf,
mein Plan. Ich folge dem Flusslauf des
Marshyangdi, der sich verloren durch sein
viel zu großes Kiesbett schlängelt. Mein
erster Begleiter, der mich so wenig stört, dass
ich spüre, wie meine Schuhe in weiche
Kiefernnadeln sinken oder über Schotter-
steine reiben. Allmählich werden die Berge
größer und die Häuser kleiner. Wer hier
oben wohnt, baut mit dem, was die Natur
ihm lässt: Stein und ein bisschen Holz. Eine
triste Landschaft, die etwas Magisches
bekommt, wenn die Sonne den Staub in der
Luft in einen goldenen Schleier verwandelt.
Dann wirken sogar die Yaks, diese zotteli-
gen, oft grimmig dreinschauenden Rinder,
wie friedliche Märchentiere.
Auf 4500 Metern wate ich durch den
ersten Schnee. Ich will zum Ice Lake, ein
Thorong La
5416 m
Jomsom Marpha
2740 m 2670 m
Apple-Pie
Die Dutch Bakery in Tukuche, die
vom nepalesisch-niederländischen
Ehepaar Purna und Patrick geleitet
wird, hat den besten Apple-Pie – mit
Tagesausflug von Manang zur Akklimati-
sierung. Die Sonne scheint, ohne zu wär-
men; neben mir wachsen Eiszapfen in
Bäche, hinter mir schiebt sich das Anna-
purna-Massiv in den Himmel. Ich spüre
seine Kälte im Rücken, meine, eine Lawine
zu hören. Als ich mich umdrehe, sehe ich
sie zum ersten Mal: die 8091 Meter hohe
Annapurna. Sie wirkt so nah, als könnte ich
mal eben auf ihren Gipfel spazieren. An
ihrem Fels türmt sich Eis, um ihre Spitze
spielt Nebel. Wie das wohl da oben ist, in
einer Höhe, in der eigentlich Flugzeuge
fliegen? Wenn man zu sehen glaubt, wie
sich am Horizont die Erde krümmt? Der
Anblick überfordert mich. Ich setze mich,
mache ein paar Fotos, erhebe mich, mache
noch ein paar Fotos, setze mich wieder –
und dann weine ich. »Das Gefühl, da zu
stehen, lässt sich nicht festhalten«, schreibe
ich am Abend einem Freund. »Das war ein
Moment, den ich gerne geteilt hätte.«
Ein Bedürfnis, das in den nächsten Tagen
wächst. Da sind die kleinen Momente, die
zu zweit schöner wären: die Entspannung,
wenn abends in den Stuben der Teehäuser
die Kälte nachlässt. Da sind die großen
Momente, an die man sich zu zweit länger
erinnern könnte: etwa, als ich mich bei
minus 15 Grad im Kegel der Stirnlampe den
5416 Meter hohen Thorong La hinauftaste.
Und dann sind da noch all die Momente,
die zu zweit leichter wären: die Angst, als
sich am Tilicho-See die Lawine löst. Die
Wut, als mir an Tag zwölf Gegenwind die
Freude an den ersten flachen Kilometern
nimmt.
Die meisten Wanderer beenden ihre
Tour im Dorf Jomsom und fahren von dort
im Jeep zurück nach Pokhara. Meine Beine
wollen den Jeep, mein Kopf aber treibt
mich weiter. Ich will noch ein wenig länger
an dieser Ruhe festhalten, die sich einstellt,
wenn die Tage einfacher werden: gehen,
essen, schlafen.
Am nächsten Morgen lese ich, dass man
während der zwei Tage, die man durch das
Kali-Gandaki-Tal wandert, ab elf Uhr mit
starkem Südwind rechnen muss, aber ich
halte es für einen Witz. Wenig später
stemme ich mich Meter für Meter Richtung
Tukuche
Shikha
2590 m
1935 m
frischem Zimt und Nelken.
Schokoladig wird der Pie im Hotel
Monalisa in Shikha. Wer Apfel lieber
als Brandy mag, sollte in Marpha oder
Tukuche eine Brennerei besuchen
20. April 2023 DIE ZEIT N o 17
Foto: Theresa Tröndle; ZEIT-Grafik: Kim-Melina Bertram
Marpha. Ich beschließe, die beiden Etappen
lieber am Stück hinter mich zu bringen –
37 Kilometer. Zum Wind kommt Regen.
Meine Trinkflasche ist irgendwann leer,
meine Snacks sind aufgezehrt. Jetzt ein paar
Oreo-Kekse von Mikolaj!
Am Abend folgt der Höhepunkt meines
Tiefpunktes: Die Hotels, die meine App in
Ghara anzeigt, gibt es nicht mehr. Es ist
schon lange dunkel, als ich ein Schild
entdecke: »Excellent View Guesthouse«.
Das Zimmer ist ein Holzverschlag mit
Spalten zwischen den Wänden und im
Boden – aber noch ist mir das egal. Mit
einem Haufen Reis und einem Apple-Pie
füttere ich meine Energiedepots, dann ver-
abschiede ich mich aus der Küche.
Zurück im Zimmer erwarten mich ein
Dutzend Spinnen an den Wänden; flau-
schig, braun und so groß wie meine Hand.
Der zwölf Jahre alte Sohn der Familie, der
ein wenig Englisch spricht, versichert mir,
sie seien harmlos. Mit einem Besen ver-
scheucht er die Tiere, die aber durch die
Spalten wieder zurückkrabbeln. Zum
Weiterwandern ist es zu spät, zum Drau-
ßenschlafen zu kalt. Also lege ich meine
Brille ab, vielleicht geht es, wenn ich die
Spinnen nicht sehe. Die Nacht ist dann
wie jede andere: Ich schlafe schnell und
träume wenig.
An meinem vorletzten Tag führt mich
der Weg durch kleine Dörfer. An den
Hauswänden hängen Bündel aus Knob-
lauch und Mais. Auf einem der Felder
zieht ein Ochse einen Pflug, auf einem
anderen drischt eine Familie Getreide. Ich
halte an einem Brunnen, um meine Fla-
sche zu füllen, da ruft jemand: »Theresa, is
it you?«
Diesmal ist es die Stimme von Sanne.
Als ich sie kennengelernt habe, war sie
nur mit Sabrina unterwegs, jetzt haben
sie noch Mikolaj dabei. Während die drei
vom Apple-Pie gestern Abend schwärmen
– der bisher einzige mit Schokosoße –,
merke ich, wie ich mich freue.
Am Nachmittag spielen wir Karten
zusammen, am Abend teilen wir uns eine
Pizza, in der Nacht das Zimmer. Und erst
am frühen Morgen hören wir auf zu reden.
Nayapul
1050 m
Hinweis der Redaktion:
Bei unseren Recherchen nutzen wir
gelegentlich die Unterstützung
von Fremdenverkehrsämtern,
Tourismusagenturen, Veranstaltern,
Fluglinien oder Hotelunternehmen.
Dies hat keinen Einfluss auf
den Inhalt der Berichterstattung.
DIE ZEIT N o 17 20. April 2023
W
enn man nach einer Zeit
im Hochland zurück
nach Glasgow kommt,
erscheint einem die größ-
te Stadt Schottlands grau
und laut. Vor der Reise hatte ich meinen
Friseur in Berlin nach den besten Glasgo-
wer Bars gefragt. Er ist Schotte. »Bars?«
Ein ratloser Blick. »Pubs«, hatte ich mich
korrigiert: »die besten Pubs.« Von der
Liste, die er mir diktierte, verstand ich
leider nur »Chip« und »Ashton Lane«. Der
schottische Akzent ist für mich wie ein
dichter Wald, in dessen Unterholz sich
zerzauste Vokale verstecken. Bezaubernd,
aber undurchdringlich. Die Ashton Lane,
lese ich nun im Netz, ist eine Gasse im
Glasgower West End, dem Uni-Viertel,
mit vielen Restaurants und Kneipen. Das
»Chip« heißt eigentlich Ubiquitous Chip
und hat eine Dachterrasse. Perfekt, denn
Glasgow hat einen sonnigen Nachmittag
für uns ausgerollt.
Es ist noch genau ein Tisch frei. Mein
Begleiter setzt sich. Ich hole uns Getränke
von der Bar ein Stockwerk tiefer. Die
Upstairs Bar, wie dieser Teil des Gebäudes
heißt, hat einen schönen alten Holztresen,
im Regal stehen feine Single Malts. Auf den
leuchtend roten Bänken unter den großen
Fenstern sitzen Paare beim Bier. Ich muss
an meinen Friseur denken: Dies ist wirklich
mehr Kneipe als Cocktailbar. »Was trinkt
man hier so?«, frage ich eine Barfrau. »Der
Girders wird oft bestellt.« Sie zeigt auf eine
handbeschriftete Karte an der Wand, auf
der die saisonalen Cocktails gelistet sind.
Zum Girders lese ich: Im-Bru, Ben Lomond
Gin, Aperol, Lillet, Vermouth. Im-Bru sagt
mir nichts. Aber ich mag Wermut. Wird
schon passen. Sie reicht mir einen knallig
orangefarbenen Drink. Meinem Begleiter
bringe ich ein Pale Ale mit. Ich nehme
einen Schluck von meinem Glas. Ganz
schön süß. Er nippt und fragt: »Was ist da
drin?« – »Irgendwas namens Im-Bru.« Er
stutzt. Dann lacht er. »Irn! Wie iron!«
Verfluchtes Schottisch, selbst als Hand-
schrift kaum zu verstehen!
Das in Glasgow produzierte »Eisen-
Gebräu« Irn-Bru ist neben Whisky das
zweite Nationalgetränk der Schotten: eine
neon-orangefarbene Limo mit Koffein.
Lokal trinken? Bestimmt gut fürs Klima.
Aber ich halte mich zukünftig lieber an den
Single Malt.
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Das Ubiquitous Chip ist ein verwinkel-
tes Gebäude, dessen Räume alle unter-
schiedlich gestaltet sind. Als ich die zweite
Runde hole, frage ich die Barkeeperin nach
den fröhlichen Porträts, die an eine Wand
gemalt sind. »Das sind ehemalige Angestell-
te und langjährige Gäste«, sagt sie. »Wie viel
muss man denn bestellen, um hier porträ-
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stammen aus den Achtzigern und Neunzi-
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Es genügt aber auch, den richtigen Namen
zu haben«, fügt sie hinzu und zwinkert
ihrem Kollegen zu. Ich brauche einen
Moment, bis ich ihn auf einem Bild an der
Wand erkenne. »Als das entstand, war ich
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Sohn des Pub-Besitzers, ein wenig ver-
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Ferien am Niederrhein.
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Küche und Kamin.
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in der Natur.
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gehe, frage ich ihn. The Belle, sagt er: »Das
ist der beste Pub im West End.« Kurze
Pause. »Also, nach unserem.«
»Die Schöne« sieht aus, als hätte sie
schon einige Besitzer kommen und gehen
sehen – und als hätte jeder etwas Mobiliar
zurückgelassen: nautische Utensilien, Obst-
stillleben und Pferdefiguren aus Metall.
Die Ledercouch am Kamin stammt wohl
aus den Sechzigern, die Stühle aus der
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63
Whiskys auf die Couch. Der zwölf Jahre
alte Single Malt schmeckt nach in Honig
getauchtem Leder.
Als die Bartenderin Tische feudelnd in
unsere Nähe kommt, versuche ich es noch
mal mit einem Gespräch: Ob sie mir was
über den Laden erzählen könne? Sie über-
legt. »Es soll hier spuken.« Das klingt nach
einer Standardantwort für Touristen. Dann
zeigt sie auf einen älteren Herrn, der Zei-
tung lesend an der Bar sitzt: »Ach so, und
es gibt Hugh. Der kommt jeden Tag her.«
Hugh ist in den Guardian vertieft. »Ich
komme wirklich jeden Tag her«, sagt Hugh.
»Seit mindestens 15 Jahren. Um nach Feier-
abend Zeitung zu lesen.« Dass er mittler-
weile zum Inventar gehört, scheint Hugh
ein wenig stolz zu machen. Vor einigen
Jahren sei ein japanischer Fotograf in die
Bar gekommen. »Der hat mich direkt ver-
ewigt.« Hugh zeigt auf ein Foto hinter dem
Tresen. Eindeutig: ein jüngerer Hugh.
Die Barfrau schickt uns weiter zum
Brett, einer eleganten Weinbar. Doch die
hat schon zu, als wir vor der Tür stehen.
Also weiter durch die leeren, stillen Stra-
ßen zum Stravaigin, einem Tipp von
Hugh. Die moderne Bar ist ein guter End-
punkt für unsere Reise: Stravaigin ist ein
altes schottisches Wort für »herum-
Fotos: Emily Macinnes für DIE ZEIT
wandern«. Bunte Holzbohlen verkleiden
die Wände. Unter der Decke hängt ein
gewaltiger eiserner Leuchter und an der
Wand ein Bild eines schottischen Hoch-
landrinds mit Ponyfrisur.
Die Gäste im Stravaigin sind keine
ungebügelten Strawanzer. Eher Menschen,
die Wein in Flaschen bestellen und sich
vorher überlegen, welcher es sein soll. Uns
The Belle hilft die Barfrau beim Entscheiden: Mein
Begleiter bekommt einen Gin Tonic mit
617 Great Western Road erdigem Caorunn Gin aus den Highlands
Glasgow, G12 8HX – wieder gut fürs Klima; außerdem ist der
Täglich 12–0 Uhr Laden auf Gins spezialisiert. Mir mixt sie
einen »Dahlia« mit Hendrick’s Gin, Holun-
derblütenlikör, Campari, Zitrone und Cava.
Space-Age-Ära. Alles ein wenig abgerockt, Erfrischend und dank des Rosmarinzweigs,
aber gemütlich. Die Barfrau schenkt lieber der seine Nadeln in den rosa Drink dippt,
ein, als zu quatschen. Auf die Frage, wel- auch würzig. Der Geschmack lässt mich an
chen Single Malt sie empfehlen kann, die Highlands denken. Ich werde weh-
antwortet sie: »Balblair. Der ist gerade im mütig, weil dies unser letzter Abend in
Angebot.« Während sie die Gläser füllt, Schottland ist. Glasgow und ich, das hat
lese ich die Karte mit den Barsnacks: »Baby doch gerade erst angefangen. »Am liebsten
Gherkins« und »Pork Scratchings« – das würde ich noch bleiben«, sage ich, »wenigs-
könnten auch Bösewichte aus alten Hor- tens ein paar Tage.« Es muss ja nicht so
rorfilmen sein. Wir setzen uns mit unseren lange sein, bis mein Bild in einer Bar hängt.
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 64 ENTDECKEN 20. April 2023 DIE ZEIT N o 17

Was mein
Du siehst aus, Leben reicher
wie ich mich fühle
WIE ES WIRKLICH IST

macht
... Menschenhaar Wenn an einem ansonsten eisigen Aprilmorgen

zu recyceln die Sonne meinen Fahrradsattel so aufgeheizt hat,

dass ich wie auf einer Wärmflasche sitze.
Karl F. Grimmer, Erlangen

I
m Fernsehen lief mal ein Beitrag über ein Das Telefon klingelt. Ein Videoanruf von meinem
Schiffsunglück vor Mauritius. Da stopften Freund Stephan – derzeit in Singapur. Er erwischt

Der Siamkater Rollo lebt in Hildesheim und ist umgänglicher, als er hier wirkt. Wenn er nicht streng schaut, jagt er Federn oder rollt sich auf Katzenminze. Foto: Elke Vogelsang
Inselbewohner Haare in Strumpfhosen. So mich an einem schlechten Tag. Das will ich ihm
wollten sie das ausgelaufene Öl aufhalten. auch gleich sagen und nehme das Gespräch an.
Meine Schwester hatte den Beitrag zufällig auch Er spricht kein Wort. Man sieht ihn in die Kamera
gesehen, und wir fanden das gleich total spannend. lächeln. Vertraute Musik erklingt. Plötzlich hält er
Ich habe schon lange mit Haaren zu tun, bin ge- ein Mikrofon in der Hand und singt Californica-
lernte Maskenbildnerin und führe einen Friseur- tion – eines meiner Lieblingslieder. Ich sage ihm,
salon in Kiel. Mir war klar, dass Haare Eigenschaf- was er mir für eine Freude bereitet hat.
ten haben, die nicht nachahmbar sind. Was für Er hat immer noch kein Wort gesprochen, zwinkert
einen wertvollen Rohstoff wir eigentlich auf dem mir nur kurz zu und legt auf.
Kopf tragen und einfach entsorgen, dachte ich. Benedikt Stauder, Würzburg
Denn wenn ich das richtig überschlage, werden
etwa 40 Millionen Liter Haarschnitt jedes Jahr aus Die Specht-Percussion aus dem Wäldchen schräg
deutschen Friseursalons in den Müll gekippt. gegenüber.
Also habe ich beim Umweltamt angerufen und Jürgen Sonneck, Walsrode
gefragt, ob die schon mal davon gehört haben, dass
Menschenhaare sinnvoll eingesetzt werden. Nein. Frühling am Viktualienmarkt. In der Sonne
Aber sie machten mich auf einen Ideenwettbewerb sitzend kann man den Wintermantel schon offen
aufmerksam. Wir nahmen mit »FettFressHair« lassen und vom Süden träumen. Ich esse Falafel,
daran teil und haben gewonnen. Seitdem sammeln trinke Ayran. Neben mir stoßen die Münchne-
wir das gewaschene Schnitthaar, auch gefärbtes, rinnen mit Champagner auf den Gardasee an.
und verarbeiten es zu einem braun-gräulichen Vlies. Barbara Lersch, München
Einfach erklärt, kommt es oben in eine riesige
Maschine rein, die wir uns in Fabriken mieten. Als Mitarbeiterin eines ambulanten Hospizes
Dann wird es verpustet und kommt in eine Kadier- begleite ich eine Mutter (und ihre drei Kinder) am
maschine, also eine Rolle mit Eisenpickeln, die das Sterbebett. Der Achtjährige kommt aus der Schule
Haar gleichmäßig verteilt. Danach wird es mit nach Haus. »Bist du schon tot, wenn ich meine
Hunderten von Nadeln ganz schnell vernadelt. So Klassenarbeit wiederbekomme?«, fragt er seine
dick, wie man eben möchte. Mutter. Mir stockt der Atem angesichts der kind-
Wenn man hier in Kiel an der Förde spaziert, lichen Offenheit. Die Mutter dagegen sagt ungerührt:
entdeckt man regelmäßig neue Ölaustritte an »Ganz gleich, wo ich bin, ich erwarte eine Zwei!«
den Booten. Vlies-Schlängel aus Menschenhaar Es ist dann sogar eine Eins geworden, und ich
können ins Wasser gesetzt werden, das Öl ein- bin sicher, dass die Mama nun stolz von oben
grenzen und die Umwelt schützen. Einer austra- auf ihren Jungen herunterblickt.
lischen Studie zufolge kann ein Gramm Haar Christine Knop, Berlin
0,84 Gramm Rohöl aufnehmen. Eines Tages
könnte Menschenhaar vielleicht auch als Dämm- Vergangenen Herbst verlor ich die Sonnengläser,
und Schallschutz funktionieren. Die Ideen dazu die so schön auf meine Brille passten. Nicht billig,
gibt es schon länger, aber aus irgendeinem Grund da nicht zum ersten Mal. Weder mein Mann mit
wurden sie nie professionalisiert. seinen diversen Suchtechniken noch meine Tochter,
Auch wenn wir bis jetzt noch null damit verdient die in der Regel alles findet, konnten weiterhelfen.
haben, glaube ich an unser Projekt. Im Moment Jüngst in den Bergen hab ich die »Klickies« sehr
beliefern uns dreißig Kieler Salons mit Haaren. Ich Folge 358 vermisst und inzwischen auch einen Termin beim
hatte Freunde und Verwandte gefragt, ob sie mit- Optiker vereinbart.
machen wollten. Mein Mann fährt mit dem Lasten- Nun am ersten warmen Wochenende nahm ich das
rad an den Läden vorbei und sammelt alles ein. Im Gärtnern wieder auf, und was fand ich im Gras? Die
Keller meines Salons lagern wir die Haare. verlorenen Sonnengläser! Klick, klick, sie passen
Vor dem Vlies ekelt sich niemand, im Gegenteil: ZEITSPRUNG WORTSCHATZ noch, der Sommer kann kommen.
Alle wollen das Ansichtsexemplar in meinem Salon Bärbel Schnell, Rosdorf, Niedersachsen
anfassen. Die Menschen finden es großartig, dass
ihre Haare noch für etwas Gutes verwendet werden.
Das war ein richtiger Aha-Moment für viele. Die
Robinie verkuhwedelt Per Zug unterwegs nach Hiddensee verpassen wir
auf Rügen unseren Bus zur Fähre. Gemeinsam mit
Haare bekommen dadurch einen Wert. Vielleicht einem Berliner Paar und einem Rollstuhlfahrer
In meiner Kindheit, die ich im Süden
ja auch in der Mode. Ich habe mir schon eine Weste entern wir in Bergen den letzten Linienbus nach
daraus genäht. von Bayern verlebte, nutzten wir den irgendwo – dessen Fahrer dann per Funk unsere
Ausdruck verkuhwedelt, wenn eine vorher Weiterreise organisiert. In Gingst wartet sein Kollege
bestehende Ordnung aufgrund eines schon mit ausgeklappter Rampe auf uns. Wir
plötzlichen Ereignisses aufgehoben wurde bedanken uns begeistert – die Beteiligten (ganz die
und etwas gründlich durcheinandergeriet. Nordlichter) zucken nur mit den Schultern.
Torsten Blochwitz, Dresden
Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

Etwa so wie die Fliegen, die auf dem

Hintern einer Kuh sitzen, kurz aufstieben,
Janine Falke, 39,
lebt in Kiel und ist die Gründerin
wenn der Schwanz vorbeikommt, und
sich dann anderswo niedersetzen. Ob es Machen Sie mit!
von »FettFressHair«
sich dabei um oberbayerische Mundart Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns.
Aufgezeichnet von Claudio Rizzello handelt oder ob sich meine Mutter den
Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
Gewöhnlich gehe ich achtlos an den stacheligen Robinien vorbei. An einem Begriff ausgedacht hat, vermag ich nicht Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg
Wintertag jedoch fiel mir dieser verschneite Zweig auf. Als der Frost weg war, zu sagen. Meine Freundin, die als
versuchte ich ihn wiederzufinden. Dieser hier rechts könnte es sein: Er Oberpfälzerin konsequent Dialekt spricht,
Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist« Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung
begrünt sich, aber zögerlich, als fröre er noch zuweilen. kannte den Ausdruck jedenfalls nicht. Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
berichten möchten, Ihren Beitrag in der ZEIT, in der ZEIT-App, in sozialen Netzwerken oder
melden Sie sich bei uns: wirklich@zeit.de Volker Wille, Hannover Christian Haack, Kaltental, Bayern in einem ZEIT-der-Leser-Sammelwerk zu veröffentlichen

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